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The Project Gutenberg EBook of Die hauptsächlichsten Theorien der Geometrie, by Gino Loria This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Die hauptsächlichsten Theorien der Geometrie Author: Gino Loria Translator: Fritz Schütte Release Date: September 14, 2010 [EBook #33726] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE HAUPTSÄCHLICHSTEN *** Produced by Joshua Hutchinson, Keith Edkins and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images from the Cornell University Library: Historical Mathematics Monographs collection.) Transcriber's note: A few typographical errors have been corrected: they are listed at the end of the text. * * * * * DIE HAUPTSÄCHLICHSTEN THEORIEN DER GEOMETRIE IN IHRER FRÜHEREN UND HEUTIGEN ENTWICKELUNG. HISTORISCHE MONOGRAPHIE VON DR. GINO LORIA, PROFESSOR DER HÖHEREN GEOMETRIE AN DER UNIVERSITÄT ZU GENUA. ------ UNTER BENUTZUNG ZAHLREICHER ZUSÄTZE UND VERBESSERUNGEN SEITENS DES VERFASSERS INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN VON FRITZ SCHÜTTE. MIT EINEM VORWORTE VON PROFESSOR R. STURM. LEIPZIG, VERLAG VON B. G. TEUBNER. 1888. * * * * * Druck von B. G. Teubner in Dresden. * * * * * Seiner teueren Mutter als schwaches Unterpfand inniger Liebe widmet diese Arbeit der Verfasser. {III} * * * * * Vorwort. ------ Diese deutsche Übersetzung der im vergangenen Jahre in den _Memorie della Reale Accademia delle Scienze di Torino_ (Ser. II, Bd. 38) erschienenen Monographie des Herrn Gino Loria: _Il passato e il presente delle principali teorie geometriche_, welche mein Schüler Herr Fritz Schütte angefertigt hat, begleite ich gern mit einem empfehlenden Vorworte, nachdem ich sie mit der Originalschrift und den handschriftlichen Zusätzen und Verbesserungen des Herrn Verfassers in Bezug auf ihre Richtigkeit verglichen habe. Eine Geschichte der Geometrie unserer Zeit, in der jedes Jahrzehnt uns mehr vorwärts bringt, als es früher in einem Jahrhundert geschah, welche uns zu ungeahnten allgemeinen Anschauungen geführt hat, zu besitzen, ist der Wunsch aller Geometer; aber wir wissen auch alle, wie unvergleichlich schwerer die Aufgabe, eine solche zu schreiben, heute ist als vor fünfzig Jahren, wo der _Aperçu historique_ von Chasles erschien. Herr Loria will seine »Chronik«, wie er seine Schrift in der Einleitung nennt, nur als eine Vorarbeit angesehen haben, welche zur Inangriffnahme des großen Werkes der Abfassung einer Geschichte der modernen Geometrie anspornen und diesem Werke dienen soll. Der Umfang, den er zunächst seiner Arbeit gegeben hat, bringt es, wie er selbst mehrfach bemerkt, freilich mit sich, daß die Darstellung bisweilen auf eine bloße Aufzählung von Namen und Schriften hinausläuft. Aber auch in diesem engeren Rahmen ist es, meine ich, dem {IV} Verfasser gelungen, dem Leser, als welchen ich mir in erster Linie einen Studierenden vorstelle, der schon etwas über die Anfänge hinaus ist, eine anschauliche Übersicht der hauptsächlichsten Untersuchungsrichtungen der Geometrie unserer Zeit vorzuführen; für alle Geometer aber werden die reichhaltigen Litteraturnachweise von großem Werte sein. Etwaige Lücken in denselben wird jeder, der unsere fast unübersehbare und den wenigsten vollständig zugängliche mathematische Litteratur kennt, dem Verfasser nicht anrechnen, und jede Mitteilung einer wesentlichen Verbesserung oder Ergänzung wird er gewiß gern entgegennehmen, um seine Schrift noch wertvoller zu machen, falls ihr eine neue Auflage beschieden würde. Die Veränderungen, welche diese Übersetzung im Vergleich mit dem italienischen Originale aufweist, bestehen, außer stark vermehrten Litteraturnachweisen, in einer viel eingehenderen Besprechung der Differentialgeometrie im Abschnitte III und der Umarbeitung der auf die Gestalt der Kurven und der Oberflächen und die abzählende Geometrie bezüglichen Teile der Abschnitte II und III zu einem besonderen Abschnitte. Münster i. W., Ende Mai 1888. R. STURM. {V} * * * * * Inhaltsverzeichnis. ------ Seite Einleitung 1 I. Die Geometrie vor der Mitte des 19. Jahrhunderts 3 II. Theorie der ebenen Kurven 21 III. Theorie der Oberflächen 31 IV. Untersuchungen über die Gestalt der Kurven und Oberflächen. Abzählende Geometrie 60 V. Theorie der Kurven doppelter Krümmung 71 VI. Abbildungen, Korrespondenzen, Transformationen 80 VII. Geometrie der Geraden 98 VIII. Nicht-Euklidische Geometrie 106 IX. Geometrie von n Dimensionen 115 Schluss 124 Abkürzungen für die häufig erwähnten Zeitschriften 130 Verzeichnis der verstorbenen Geometer, deren Lebenszeit angegeben ist 132 {1} * * * * * Einleitung. ------ »Après six mille années d'observations l'esprit humain n'est pas épuisé; il cherche et il trouve encore afin qu'il connaisse qu'il peut trouver à l'infini et que la seule paresse peut donner des bornes à ses connaissances et à ses inventions.« -- Bossuet. Die Fortschritte der exakten Wissenschaft im allgemeinen und der Mathematik im besonderen[1] sind in diesen letzten Zeiten so beträchtlich gewesen, fortwährend folgen weitere nach, so schnell und unaufhaltsam, daß sich lebhaft das Bedürfnis fühlen macht, einen Rückblick auf den schon gemachten Weg zu werfen, welcher den Anfängern ein leichteres Eindringen in die Geheimnisse derselben und den schon Vorgeschrittenen ein sichereres Urteil gestattet, welches die Probleme sind, deren Lösung am dringendsten ist. Der Wunsch, diesem Bedürfnisse zu entsprechen, soweit es die Geometrie anlangt, d. h. soweit es den höheren Teil {2} unserer positiven Kenntnis betrifft -- da, wie Pascal sagte, tout ce qui passe la géométrie nous surpasse -- ist es, der mich veranlaßt, vorliegende Abhandlung zu schreiben. Möge dieser unvollkommene Abriß die Veranlassung sein zu einer Schrift, die der Erhabenheit ihres Zieles würdig ist; möge diese dürftige Chronik der Vorläufer sein einer »Geschichte der Geometrie in unserem Jahrhundert«. {3} * * * * * I. Die Geometrie vor der Mitte des 19. Jahrhunderts. ------ »Alle Entwickelungsstufen der Zivilisation sind so eng miteinander verknüpft, daß man vergebens versuchen würde, irgend einen Zweig der Geschichte von einer bestimmten Epoche ab zu studieren, ohne einen Blick auf die vorhergehenden Zeiten und Ereignisse zu werfen.«[2] Wenn das im allgemeinen wahr ist, so wird es doppelt der Fall sein »bei einer Wissenschaft, die so konservativ ist, wie die Mathematik, welche das Werk der vorhergehenden Periode nicht zerstört, um an dessen Stelle neue Bauten zu errichten«.[3] Daher ist es unerläßlich, daß ich, bevor ich an das eigentliche Thema dieser Abhandlung herantrete, d. h. bevor ich über die moderne Geometrie spreche, kurz angebe, auf welche Weise die Geometrie zu dem Standpunkte gelangt ist, von welchem ab ich vorhabe, ihre Entwickelung eingehender zu verfolgen. Den ersten Ursprung der geometrischen Untersuchungen festzustellen, ist ein fast unausführbares Unternehmen. Die täglichen Erfahrungen jedes denkenden Menschen führen auf eine so natürliche Weise zur Vorstellung der einfacheren geometrischen Formen und zur Erforschung ihrer gegenseitigen Beziehungen, daß man vergebens versuchen würde, den Namen desjenigen zu nennen, der zuerst Geometrie betrieben hat, und anzugeben, zu welcher Zeit sie entstanden ist. Daher sind die Kenntnisse, welche man über die ersten Spuren dieser Disziplin hat, sehr unbestimmt; wer sich {4} vornimmt, sie festzustellen, den umhüllt, wenn nicht völlige Finsternis, so doch nur ein wenig Dämmerlicht, welches ihm nur gestattet, die Umrisse bedeutenderer Bruchstücke, welche sich den Unbilden der Zeit entzogen haben, zu erkennen. So kann ein solcher feststellen, daß die ältesten geometrischen Studien von den Ägyptern gemacht sind, und kann die Erzählung Herodots wiederholen, nach welcher diesem Volke ein sehr wirksamer Antrieb, sich mit Geometrie zu befassen, durch die periodischen Überschwemmungen des Nils gegeben wurde, welche, indem sie die Grenzen zwischen den kleinen Besitzungen, in die Ägypten unter seine Einwohner verteilt war, verwischten, sie nötigten, dieselben jedes Jahr wieder herzustellen.[4] Die Haltbarkeit dieser Hypothese, um die Thatsache zu erklären, daß in Ägypten die Wissenschaft, von der wir handeln, eifrig betrieben sei, wird durch die praktische Natur der Gegenstände bewiesen, welche dort eingehender behandelt wurden: specielle Konstruktionen, Messungen von Längen, Flächeninhalten, Volumen u. s. f.[5] Indem die Kenntnisse der Ägypter nach Griechenland übergingen, erhielten sie durch Thales (640-540)[6] und die Anhänger der ionischen Schule, welche er gründete, eine wissenschaftlichere Gestalt. Thales ist in der That der erste, der sich damit beschäftigt hat, die von den Ägyptern entdeckten Sätze und einige andere streng zu beweisen. Jedoch erhob sich die Geometrie unter seinen Händen noch nicht zur wahren Wissenschaft; diese Würde erlangte sie erst {5} durch die Untersuchungen des Pythagoras (nach einigen 569-470, 580-500 nach anderen) und seiner Schüler. Unglücklicher Weise aber bestand eine der Regeln, welche die Pythagoräer strenge beobachten mußten, darin, daß sie die Lehren, welche der Meister vortrug, geheim halten mußten; daher kam es, dass der geometrische Teil derselben allen, die nicht dieser Schule angehörten, unbekannt blieb. Aber nachdem das Haupt gestorben war, da suchten seine Anhänger, als sie bei den inneren Kämpfen, welche die Republiken Grossgriechenlands zerrissen, besiegt worden waren, Zuflucht in Athen und offenbarten dort, von der Not getrieben, die Geheimnisse, welche sie bis dahin so strenge verwahrt hatten. Und der wohlthätige Einfluß einer grösseren Verbreitung dessen, was die Pythagoräer von der Mathematik wußten, ist durch die wichtigen Forschungen offenbar geworden, welche in der Folgezeit die griechischen Gelehrten in der Periode, welche zwischen Pythagoras und Plato (429-348) liegt, gemacht haben. Sie können in drei Kategorien geteilt werden, benannt nach den berühmten Problemen: der Dreiteilung des Winkels, der Verdoppelung des Würfels, der Quadratur des Kreises, und führten zur Vervollkommnung des mehr elementaren Teiles der ebenen Geometrie. Plato verdanken wir den ersten Anstoß zum methodischen Studium der Stereometrie, und das ist nicht das Einzige, wofür der göttliche Philosoph auf den Dank der Geometer Anspruch erheben könnte; denn ihm ist auch die analytische Methode zuzuschreiben, deren Macht allen bekannt ist, und seiner Schule (Akademie) die Lehre von den Kegelschnitten und, was nicht weniger wichtig ist, die von den geometrischen Örtern. Aus diesen gedrängten Angaben[7] wird man leicht entnehmen können, daß die Bemühungen der angeführten Geometer zu einer Fülle von Eigenschaften der Figuren und zu Methoden, sie zu erklären, geführt und die Elemente für eine methodische Behandlung der Geometrie vorbereitet hatten. {6} Daher dauerte es nicht lange, daß vollständige Zusammenstellungen dessen, was entdeckt war, erschienen. Von vielen kennen wir nur die Existenz; nur eine einzige ist uns vollständig erhalten worden, _die Elemente_ des Euklides, und das glänzende Licht, welches von ihnen ausgeht, führt uns zu der Vermutung, daß alle die anderen Zusammenstellungen durch die Vergleichung mit ihnen verdunkelt sind. Mit diesem Buche, welches nach zweitausend Jahren noch als einzig angesehen wird, »von dem man für die Entwickelung der Jugend diejenigen Resultate erhoffen kann, mit Rücksicht auf die bei allen zivilisierten Nationen der Unterricht in der Geometrie eine solch bedeutende Stellung in der Erziehung der Jugend inne hat«,[8] nimmt die wahre Wissenschaft der Geometrie ihren Anfang. Es ist das granitene Piedestal, auf welchem der großartige Bau der griechischen Mathematik sich erhebt, auf dessen Gipfel sich die anderen Werke Euklids und die unsterblichen Arbeiten von Archimedes (287-212), Eratosthenes (276-194) und Apollonius (ca. 200 v. Ch.) befinden.[9] Diese berühmten Gelehrten bezeichnen den Höhepunkt der griechischen Wissenschaft; nach ihnen beginnt die Periode des Verfalles, ja sogar, trotz einiger wichtiger Untersuchungen eines Hipparch (161-126) und eines Ptolomaeus (125 bis ungefähr 200), trotz der Arbeit eines genialen Kommentators, wie Pappus war (derselbe lebte gegen Ende des {7} dritten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung), kommen wir nach und nach zu einer Periode völliger Unthätigkeit auf dem Gebiete der Geometrie. Die Römer, die Eroberer und Gesetzgeber der Welt, scheinen jedes Untersuchungsgeistes zu entbehren, und wenn die Geometrie in der Epoche, in welcher sie herrschten, nicht ganz verfiel, so geschah das dank ihren Agrimensoren, welche jedoch bei ihren Operationen nur eine Genauigkeit zu erreichen suchten, die für die Bedürfnisse des täglichen Lebens ausreicht.[10] {8} Auch das Mittelalter kann keine Veranlassung geben zu einer längeren Erörterung. Die dichte Finsternis, welche in dieser Zeit die ganze Menschheit bedeckte, gestattete nicht das Auftreten eines Gelehrten, dem man irgend einen bemerkenswerten Fortschritt in der Geometrie verdankt. Man kann nur erwähnen, daß die vielfachen in dieser Zeit errichteten heiligen Bauwerke, die nach dem Ausspruche eines großen Dichters so zahlreich und kühn waren, weil sie die einzigen der menschlichen Intelligenz damals erlaubten Äußerungen darstellen, Kunde davon geben, daß derjenige Teil unserer Wissenschaft, der jedem Baumeister unentbehrlich ist, auch in dieser Zeit im allgemeinen bekannt war. Diese für unsere Wissenschaft so traurige Zeit kann man als beendet ansehen mit Leonardo Fibonacci (etwa 1180-1250); erst als von diesem ausgezeichneten Gelehrten die Algebra nach Europa übergeführt worden war, und seine hervorragenden Arbeiten ihren Einfluß ausübten, da hatte diese Periode der wissenschaftlichen Unthätigkeit ein Ende, und es beginnt eine neue Zeit, deren wir Italiener uns mit Stolz erinnern müssen, da in ihr unser Vaterland das Scepter der Mathematik inne hatte. Jedoch gravitierte diese Periode, wenn sie auch von großer Bedeutung für die analytischen Untersuchungen ist, nicht in merklicher Weise nach den geometrischen. Cardano (1501-1576), Scipio Ferro (?-1525), Tartaglia (1500-1559), Ludovico Ferrari (1522-1565) und andere weniger bedeutende, die dieser Periode angehören, haben den Ruhm, in unserem Lande die Entwickelung eines der wichtigeren Teile der Analysis, nämlich der Theorie der Gleichungen, bewirkt zu haben, sowie auch die Vervollkommnung einiger der schwierigsten Teile derselben gefördert zu haben, dank den öffentlichen wissenschaftlichen Herausforderungen, welche eine charakteristische Eigentümlichkeit dieser Zeit waren. Hingegen überlieferten {9} sie die Geometrie ihren Nachkommen fast in demselben Zustande, in welchem sie dieselbe von den Griechen und den Arabern erhalten hatten.[11] Nach dem Tode dieser tapferen Kämpen ging der Primat in der Mathematik über die Alpen und wurde von Frankreich infolge der Verdienste eines Vieta (1540-1603) und eines Fermat (1590-1663) übernommen. Durch sie bereicherte sich die Geometrie mit Lösungen, die man vorher vergebens gesucht hatte. Auch wurden einige Werke des Apollonius, deren Verlust man beklagt hatte, wieder hergestellt. Nicht viel später vermehrten Pascal (1623-1662) und Desargues (1593-1662) das Erbteil der Geometrie mit originellen Gesichtspunkten, mit neuen Methoden und neuen Sätzen[12]. Aber die von ihnen ausgesprochenen Ideen blieben {10} viele Jahre hindurch unfruchtbar, weil sie von dem analytischen Geiste, dessen überwiegender Einfluß sich schon geltend gemacht hatte, unterdrückt wurden. Gleichwohl war im 17. Jahrhundert das Vorwiegen der Analysis noch nicht ein solches, daß es die Geometer die Probleme, deren Lösung man seit langer Zeit und so lebhaft gewünscht hatte, vergessen ließ. Zwischen den Bestrebungen dieser Zeit und den Wünschen der Gelehrten erhob sich in der Folge ein Wettkampf eigener Art, und aus dem Zusammenstoße verschiedenartiger Ansichten und Bestrebungen entsprang ein Funke, der fähig war, eine Flamme zu erregen, welche die kommenden Generationen erleuchten sollte;[13] es entstand die analytische Geometrie (1637). Wenn man auch schon in einigen Methoden der griechischen Geometer, in einigen praktischen Regeln der Maler, der ägyptischen Astronomen und der römischen Agrimensoren Spuren von dem finden kann, was wir heute rechtwinkliges Cartesisches Koordinatensystem nennen; wenn auch schon die Araber und die italienischen Algebraiker aus der Renaissancezeit geometrische Betrachtungen auf die Lösung der Gleichungen angewandt hatten,[14] wenn auch schon Vieta die Abscissen gebraucht hatte, um vermittelst Zahlen die Punkte einer Geraden zu bestimmen, wenn schließlich Nicolaus Oresme (ca. 1320-1382) und Fermat mehr oder weniger bewußt sich der Koordinaten bedient haben; so scheint doch ganz unbestreitbar Descartes (1596-1650) der erste zu sein, welcher in ihrer ganzen Ausdehnung die volle Einsicht von der Möglichkeit, mit den algebraischen Rechnungszeichen die nach irgend einem Gesetze aufgebauten Formen des Raumes darzustellen, gehabt und der den ganzen Vorteil, den die Analysis und die Geometrie aus ihrer {11} unerwarteten Vereinigung ziehen können, erkannt hat. Mit Recht wird daher Cartesius' Namen immer mit der Entdeckung der analytischen Geometrie verbunden bleiben.[15] Die Leichtigkeit, mit welcher dieses neue Werkzeug Fragen zu lösen gestattete, welche die Alten für unangreifbar hielten, ließ die Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger Descartes' die von Euklides, Archimedes und Apollonius eröffneten Wege ganz vergessen, so dass wir eine Zeitlang niemanden finden, der, um zu irgend einer wichtigen Wahrheit zu gelangen, sie eingeschlagen hätte. Die kurz nach Descartes gleichzeitig von Leibniz (1646-1716) und Newton (1642-1727) neu erfundenen Rechnungsarten betonten gerade diese Richtung, da sie bewirkten, daß man sich um diejenigen Probleme nicht bekümmerte, deren Lösung nicht geeignet war, die Allmacht der Methoden, welche die Welt diesen unsterblichen Geistern verdankt, hervortreten zu lassen, derartig, daß man sagen kann, daß mit Ausnahme der _Philosophiae naturalis principia mathematica_ (1686) von Newton und einiger Seiten von Huygens (1629-1695),[16] von La Hire (1640-1718),[17] von Halley (1656-1742),[18] Maclaurin (1698-1746),[19] Simpson (1687-1768),[20] von Stewart {12} (1717-1785)[21] keine mathematische Produktion jener Zeit dem angehört, was wir heute synthetische Geometrie zu nennen pflegen.[22] Das hindert aber nicht, daß man diese Periode ohne Bedenken zu den erfreulichsten für die Geometrie rechnen muß. In der That ist der größere Teil der Probleme, welche von den Erfindern der Infinitesimalrechnung und ihren unmittelbaren Schülern aufgestellt oder gelöst worden, unter die wichtigsten der ganzen Geometrie zu rechnen, da sie die interessantesten und verstecktesten geometrischen und mechanischen Eigenschaften der Kurven und Oberflächen berühren. Wir sehen daher, daß nicht allein die Zahl der Kurven, welche einer näheren Betrachtung wert sind, sich ausserordentlich vermehrt,[23] sondern auch -- was viel wichtiger ist --, daß die Betrachtung von Singularitäten einer Kurve und anderer neuer mit dieser verbundener Elemente eingefübrt wird, und daß infolge dessen Untersuchungsgebiete sich eröffnen, deren Existenz man vorher gar nicht geahnt hatte. Die Leichtigkeit, welche die Cartesische Methode in der Auflösung einer so großen Anzahl von planimetrischen Aufgaben mit sich brachte, trieb natürlich die Geometer an, {13} eine ähnliche für das Studium der Raumkurven und der Oberflächen zu schaffen. Daher entstand eine Verallgemeinerung dieser Methode, welche Descartes schon angedeutet hatte, und die Schooten (16..-1661)[24] in weiterer Ausführung veröffentlichte. Diese Andeutungen ließen bei Parent (1666-1716) den Gedanken entstehen, eine Oberfläche durch eine Gleichung zwischen den drei Koordinaten eines ihrer Punkte darzustellen,[25] und bereiteten deshalb die analytische Geometrie dreier Koordinaten vor, welche im Jahre 1731 einen wesentlichen Teil der Mathematik zu bilden begann infolge einer klassischen Abhandlung von Clairaut (1715-1765),[26] in welcher er im Alter von nur 16 Jahren mit einer seltenen Eleganz viele von den auf die Kurven doppelter Krümmung bezüglichen Problemen löste, welche ihre entsprechenden in der Ebene finden. Bald nach Clairaut schuf Euler (1707-1783) die analytische Theorie der Krümmung der Oberflächen (1760)[27] und wandte die analytische Methode an, um eine Klassifikation der Oberflächen zweiten Grades zu erhalten, gegründet auf analoge Kriterien, wie diejenigen, welche den Alten dazu gedient hatten, die Kurven zweiter Ordnung in Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln zu unterscheiden. Endlich gehört der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts das riesige Werk von Monge (1746-1818) an. Dieser verschaffte der analytischen Geometrie zweier Koordinaten das Aussehen, welches sie heute besitzt, indem er den methodischen Gebrauch der Gleichung einer Geraden einführte. Er stellte den wichtigen Begriff von Flächenfamilien auf und, indem er einige derselben behandelte (Regelflächen, abwickelbare, Röhrenflächen, »Surfaces moulures«), entdeckte er einen versteckten innigen Zusammenhang zwischen der Theorie der Oberflächen und der Integration der partiellen Differentialgleichungen, {14} was Licht in diese, wie in jene Lehre brachte und den Geometern neue Gesichtspunkte enthüllte.[28] Die geistige Bewegung, welche mit der Renaissancezeit begonnen und Italien an ihrer Spitze hatte, pflanzte sich, wie wir schon gesehen haben, zuerst unter Frankreichs Leitung fort, dann unter der von England und Deutschland. Aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als Euler aufgehört hatte »zu rechnen und zu leben«,[29] stellte sich Frankreich wieder an die Spitze der mathematischen Welt. Nicht allein mit Clairaut, d'Alembert (1716-1783), Lagrange (1736-1813), Laplace (1749-1827), Legendre (1752-1833), Poisson (1781-1840) und anderen gab es den Anstoß zum Studium der reinen und angewandten Analysis, sondern es kehrten auch mit Monge, Carnot (1753-1823) und Poncelet (1788-1867) die Gelehrten zum Studium der geometrischen Formen zurück, in der Weise, wie es die Alten verstanden. Monge schuf, indem er zu einem wissenschaftlichen Ganzen die wenigen Regeln vereinigte, welche die Baumeister und Maler sich geschaffen hatten, um die Bedürfnisse der Kunst zu befriedigen, und glücklich die Lücken ausfüllte, die sich zwischen ihnen noch bemerkbar machten, einen neuen Zweig der Geometrie, die darstellende Geometrie. Mit seinem klassischen Buche, welches er dieser Disziplin widmete,[30] und noch viel mehr mit seinen unvergleichlichen Vorlesungen, die er an der polytechnischen Schule hielt, brachte er das Studium der Geometrie, welches sich auf die direkte Anschauung der Figur stützt, zu Ehren[31] und, indem {15} er die Vorstellung der geometrischen Figuren von drei Dimensionen erleichterte, machte er jene systematische Anwendung von stereometrischen Betrachtungen auf das Studium der ebenen Figuren möglich, welche Pappus schon erkannt hatte.[32] Der _Géométrie descriptive_ von Monge darf man die _Géométrie de position_ von Carnot[33] an die Seite stellen, weil diese, indem sie mit jener das Ziel gemeinsam hat, der Geometrie diejenige Allgemeinheit zu verschaffen, welche man ausschließlich der Analysis zugetraut hatte, nicht weniger als jene dazu beitrug, den Aufschwung der reinen Geometrie vorzubereiten, welchen man von dem Erscheinen des _Traité des propriétés projectives des figures_ (1822)[34] datieren kann. Um zu überzeugen, wie bemerkenswert dieses Datum sei, wird es genügen, zu erwähnen, daß gerade in dem {16} großen Werke von Poncelet die Macht der Zentralprojektion als einer Methode der Demonstration und des Prinzips der Kontinuität als eines Untersuchungsmittels zum ersten Male gezeigt ist;[35] daß das tiefere Studium der Homologie zweier ebener oder räumlicher Systeme in demselben zum Begriffe der Korrespondenz zwischen zwei Mannigfaltigkeiten zweier oder dreier Dimensionen führte; daß die Kenntnisse der Alten über die Polarität in Bezug auf einen Kegelschnitt und die von der Mongeschen Schule gewonnenen über die Polarität in Bezug auf eine Fläche zweiter Ordnung, die dort zum ersten Male sich vereinigt finden, das Gesetz der Dualität vorbereiteten, welches, von Snellius (1581-1626)[36] und Viète[37] in der sphärischen Geometrie erkannt, bestimmt war, in seiner ganzen Allgemeinheit vier Jahre später von Gergonne (1771-1859)[38] ausgesprochen zu werden; daß sich schließlich dort jene eleganten Untersuchungen über die Vielecke, die einem Kegelschnitt ein- und einem anderen umbeschrieben sind, finden, die Jacobi (1804-1851), Richelot (1808-1875) und anderen Gelegenheit geben sollten, davon eine der elegantesten Anwendungen der Theorie der elliptischen Funktionen zu machen, welche man kennt.[39] Die Abhandlungen, welche Poncelet der Theorie der harmonischen Mittel, der reciproken Polaren und der {17} Transversalen widmete, sowie andere weniger bedeutende von Gelehrten, welche zur Mongeschen Schule gehörten, führen uns zum Jahre 1837, in welchem Chasles' (1796-1880) _Aperçu historique sur l'origine et le développement des méthodes en géométrie_[40] veröffentlicht wurde. In diesem unübertrefflichen Werke brachte der Autor, nachdem er in bewunderungswerter Form alles, was das Erbteil der reinen Geometrie in seiner Zeit bildete, zusammengestellt hatte, die Rechte zur Geltung, die sie auf die Beachtung der Gelehrten hatte und welche von den blinden Anbetern der Analysis ihr versagt worden waren, und zeigte durch wichtige und originelle Untersuchungen, mit welchem Rechte er sich zum Beschützer der Sache der Geometrie gemacht hatte.[41] Jedoch in dem Zeitraume, welcher zwischen dem Erscheinen des Ponceletschen Werkes und desjenigen von Chasles liegt, hatte sich Deutschland aus dem Schlafe gerüttelt, in welchen die einschläfernden Arbeiten der Schule {18} der Kombinatoriker es versetzt hatten. Dieses Wiedererwachen bedeutete einen neuen Übergang des Szepters der Mathematik von Frankreich nach Deutschland.[42] In der That sehen wir durch die Arbeiten von Gelehrten wie Möbius (1790-1868),[43] Steiner (1796-1863),[44] {19} Plücker (1801-1868)[45] und von Staudt (1798-1867)[46] die analytische Geometrie sich mit Methoden bereichern, von denen wir nicht wissen, ob wir mehr ihre Eleganz oder ihre Macht bewundern sollen, so der Barycentrische Calcul und die abgekürzte Bezeichnung; wir sehen die synthetische Geometrie Hilfsmittel erwerben für das Studium, der Kurven und Oberflächen, die bis dahin für dieselbe unerreichbar {20} waren, sowie für die Gründung einer reinen Geometrie der Lage, die ganz und gar unabhängig ist von dem Begriffe des Maßes. Dank dem von Crelle (1780-1855) in dieser Zeit gegründeten Journal (1826), das bald zu verdientem Rufe gelangte, vorzüglich durch die Abhandlungen Abels (1802-1829), Jacobis und Steiners verbreiteten sich die eben angeführten Resultate schnell. Und so sehen wir hinter diesen Größen eine zahlreiche und glänzende Anzahl von Schülern, welche, indem sie Ähren lasen auf den Feldern, die von ihren Meistern bebaut waren, die Fruchtbarkeit des Samens zeigten, den jene ausgestreut hatten. Hiermit will ich den Abriß der geistigen Bewegung, welche die neuesten geometrischen Untersuchungen vorbereitet hat, geschlossen haben und ich muß mich nun im einzelnen mit denselben befassen. Um mir nun die vorgenommene Aufgabe der Darlegung derselben zu erleichtern, werde ich meine Darstellung in verschiedene Teile teilen. Zuerst will ich mich mit der Theorie der ebenen Kurven und der Oberflächen beschäftigen, dann, nach einer kurzen Abschweifung zu den Untersuchungen über die Gestalt der Kurven und Oberflächen und über die abzählende Geometrie, werde ich mich mit den Studien über die Raumkurven befassen, um davon zur Darlegung des Ursprunges und der Entwickelung der Lehre von den geometrischen Transformationen überzugehen; darauf wende ich mich zur Geometrie der Geraden, um dann mit der Nicht-euklidischen Geometrie und der Theorie der Mannigfaltigkeiten von beliebig vielen Dimensionen zu schließen.[47] {21} * * * * * II. Theorie der ebenen Kurven. ------ Die allgemeine Theorie der ebenen Kurven entstand zugleich mit der cartesischen Geometrie. Es ist leicht die Gründe für die Thatsache anzugeben, daß das Erscheinen einer so wichtigen Theorie sich bis zu diesem Zeitpunkte verzögert hatte. In der That sind ja die Definition der Ordnung einer Kurve, die daraus folgende Einteilung der Kurven in algebraische und transcendente, der exakte Begriff einer in ihrer Ordnung allgemeinen Kurve ihrer Natur nach wesentlich analytische Begriffe. Sie synthetisch zu bestimmen, ist ein sehr schweres Problem, welches heutzutage erst den wiederholten Anstrengungen der Geometer zu weichen sich anschickt; dagegen, wenn man ein Koordinatensystem anwendet, eine wie leichte Sache ist es dann, diese fundamentalen Begriffe festzustellen, sie unter einander zu verbinden und aus ihnen interessante Folgerungen zu ziehen! Die Wahrheit dieser Behauptung finden wir durch die Thatsache bestätigt, daß kurz nach Descartes wichtige Eigenschaften, die allen algebraischen Kurven gemeinsam sind, entdeckt wurden. Solche sind z. B. diejenigen, welche Newton in den drei berühmten Theoremen, die in seiner _Enumeratio linearum tertii ordinis_ (1706) enthalten sind, bekannt gemacht hat; ferner diejenigen, welche Newtons Schüler Cotes (1682-1716) und Maclaurin als eine Verallgemeinerung der von Newton entdeckten Eigenschaften gaben;[48] {22} schließlich die von Waring (1734-1798)[49] gefundenen. Überdies wurden noch von Maclaurin[50] und Braikenridge (etwa 1700, + nach 1759)[51] einige interessante organische Erzeugungsweisen von Kurven hinzugefügt, die ähnlich denjenigen waren, welche Newton für die Kegelschnitte gegeben hat.[52] Endlich wurden von De Gua (1712-1786)[53] Methoden für die Bestimmung der Singularitäten der durch Gleichungen definierten ebenen Kurven angegeben. Es ist überflüssig zu sagen, daß die ersten methodischen Bearbeitungen der Theorie der ebenen Kurven unter dem Einflüsse der analytischen Geometrie stehen; wir verdanken solche Euler[54] und Cramer (1704-1752)[55]. Diese studierten dieselben von Grund auf (kurz nacheinander, der eine 1748, der andere 1750), indem sie sich vorzugsweise mit den Singularitäten befaßten, besonders mit den Fragen, welche man heute mit Hilfe der Geometrie des unendlich Kleinen löst. In dem Werke von Cramer, das in vielen Beziehungen zu bewundern ist, finden wir auch schon die ersten Untersuchungen über die Schnitte von Kurven und unter diesen auch den Hinweis auf das, was man später »das Cramersche Paradoxon« genannt hat; das ist jener scheinbare Widerspruch zwischen der Zahl der Punkte, die zur Bestimmung einer Kurve von gegebener Ordnung nötig {23} sind, und der Zahl der Schnitte zweier Kurven derselben Ordnung,[56] ein Widerspruch, welcher viele Jahre später (1818) von Lamé (1795-1870) durch das berühmte Prinzip aufgehoben wurde, welches seinen Namen trägt und das man als den Grundstein jenes gewaltigen Bauwerkes ansehen muß, welches aus einer Fülle von Lehrsätzen von Gergonne,[57] Plücker,[58] Jacobi,[59] Cayley[60] errichtet ist, und auf dessen Gipfel die geometrische Interpretation des berühmten Abelschen Theorems[61] steht. Nach den Arbeiten Eulers, Cramers und dem _Examen des différentes méthodes employées pour résoudre les problèmes de géométrie_, in welchem Lamé mit großem Erfolge das vorhin angeführte Prinzip auseinandergesetzt und angewandt hatte, müssen wir uns zu Plücker wenden, um zu Arbeiten zu kommen, welche einen bemerkenswerten Fortschritt in der Theorie, die uns beschäftigt, bewirken. In dem im Jahre 1835 von diesem ausgezeichneten Geometer veröffentlichten _System der analytischen Geometrie_ ist von der Methode der abgekürzten Bezeichnung Gebrauch gemacht und dieselbe für die Vervollständigung der Klassifikation der kubischen ebenen Kurven benutzt worden, welche so viele bedeutende Gelehrte unternommen hatten. In der vier Jahre später gedruckten {24} _Theorie der algebraischen Kurven_[62] findet sich dann noch außer einer Aufzählung der ebenen Kurven vierter Ordnung,[63] welche Bragelogne (1688-1744)[64] und Euler[65] nur versucht hatten, die Aufstellung und Lösung einer Frage von sehr großer Wichtigkeit, derjenigen nämlich, die Beziehungen zwischen den Zahlen der gewöhnlichen Singularitäten einer ebenen Kurve zu finden. Schon Poncelet hatte (1818) den Zusammenhang zwischen der Ordnung und der Klasse einer allgemeinen Kurve ihrer Ordnung gefunden und später den Einfluß eines Doppelpunktes bestimmt; indem er nun auf diese Resultate das Prinzip der Dualität anwandte, stieß er auf jenen anderen scheinbaren Widerspruch, welchen wir heute das Ponceletsche Paradoxon nennen, ohne daß es ihm gelang, dafür eine vollständige Erklärung zu finden. Das geschah durch Plücker vermittelst der berühmten nach ihm benannten Formeln, welche gestatten, drei Charakteristiken einer Kurve zu finden (Ordnung, Klasse, Zahl der Doppelpunkte, der Doppeltangenten, Zahl der Wendetangenten und der Rückkehrpunkte), wenn man die übrigen kennt. Auf die Frage, welche in einem gewissen Sinne reciprok zu der durch die Plückerschen Formeln gelösten ist, ob jeder Lösung derselben eine wirkliche Kurve entspreche, mußte man negativ antworten, da neuere Untersuchungen {25} dargethan haben, daß für gewisse Kurven (die rationalen Kurven) die Zahl der Rückkehrpunkte eine gewisse Grenze nicht übersteigen kann.[66] Auf der anderen Frage, die Plückerschen Formeln auf eine Kurve auszudehnen, welche mit Singularitäten höherer Ordnung ausgestattet ist, beruhen die Untersuchungen von Cayley und anderen,[67] welche zu dem Schlüsse geführt haben, daß jede Singularität einer Kurve als äquivalent einer gewissen Anzahl von Doppelpunkten, Spitzen, Wendetangenten und Doppeltangenten betrachtet werden kann. Ich füge noch hinzu, daß man durch Jacobi,[68] Hesse (1811-1874),[69] Salmon,[70] Cayley[71] und deren zahlreiche Kommentatoren[72] heute im Besitze eleganter Methoden ist, um analytisch die Wendepunkte einer durch eine Gleichung gegebenen Kurve, sowie die Berührungspunkte ihrer Doppeltangenten anzugeben. Dank dem einen der überaus wertvollen Lehrbücher,[73] mit welchen Salmon so gewaltig zur Verbreitung der neuesten algebraischen und geometrischen Methoden beigetragen hat, ist es heutzutage leicht, sich über diese und viele andere Fragen, welche sich auf die analytische Theorie der ebenen Kurven beziehen, eine genaue Kenntnis zu verschaffen. {26} Man braucht aber nicht zu glauben, daß bei diesem Studium der fortwährende Gebrauch der Analysis unumgänglich sei; vielmehr erhob sich bald neben der Darlegung der Theorie der ebenen Kurven durch Euler, Cramer, Plücker, Salmon eine ebenso vollständige, aber mehr geometrische Theorie. In einer berühmten Mitteilung, die im Jahre 1848 der Berliner Akademie gemacht wurde, zeigte Steiner, indem er die Theorie der Polaren eines Punktes in Bezug auf eine Kurve wieder aufnahm, welche Bobillier (1797-1832) schon vordem[74] als eine Erweiterung der Diametralkurven Newtons und Cramers aufgestellt, und mit welcher auch Graßmann (1809-1877) sich beschäftigt hatte,[75] daß dieselbe als Grundlage für ein vom Gebrauche der Koordinaten unabhängiges Studium der ebenen Kurven dienen kann, und führte jene bemerkenswerten zu einer gegebenen Kurve covarianten Kurven ein, die heute seinen, Hesses und Cayleys Namen tragen. Diese kurzen Andeutungen, verbunden mit den Untersuchungen von Steiner selbst, von Chasles[76] und Jonquières[77] über die Entstehung der algebraischen Kurven vermittelst projektiver Büschel von Kurven niederer Ordnung, dienten als Grundlage für die _Introduzione ad una teoria geometrica delle curve piane_,[78] in {27} welcher Cremona in einer einheitlichen Methode zugleich mit vielen neuen Resultaten alles auseinandersetzt, was wichtigeres von den analytischen Geometern, die ihm vorhergingen, erhalten worden war. Bei dem außerordentlichen Interesse der Sache scheint es mir auch, daß man in die Reihe der schon zitierten Arbeiten auch die Serie von Abhandlungen zu stellen hat, in welchen Clebsch (1833-1872) zuerst die Algebra der linearen Transformationen auf die Geometrie angewandt hat, dann, nachdem er die Wichtigkeit des Begriffes des Geschlechtes einer Kurve ins Licht gestellt, die Anwendung der Theorie der elliptischen[79] und Abelschen Funktionen auf die Wissenschaft von der Ausdehnung darlegte und sie für das Studium der rationalen und elliptischen Kurven benützte.[80] Es ist wahr, daß Brill und Nöther in einer Abhandlung,[81] deren Bedeutung von Tag zu Tag wächst, gezeigt haben, daß die Theorie der algebraischen Funktionen in vielen Fällen die der eben angeführten Transcendenten ersetzen kann, aber das vermindert nicht, sondern vergrößert vielmehr das Verdienst, welches man den Methoden von Clebsch zuerkennen muß, da die von hervorragenden Geistern gemachten Anstrengungen, den Gebrauch eines {28} Hilfsmittels vermeiden zu können, der überzeugendste Beweis der Macht desselben sind. Die bis jetzt besprochenen Arbeiten behandeln allgemeine Eigenschaften der ebenen algebraischen Kurven.[82] Aber an sie reiht sich eine große Menge von schönen Spezialabhandlungen, welche eine bestimmte Kategorie von Kurven behandeln; auf diese wollen wir einen kurzen Blick werfen. Unter ihnen sind vor allen zu bemerken die von Maclaurin,[83] von Sylvester,[84] Cayley,[85] Salmon,[86] Durège,[87] Cremona,[88] von Sturm,[89] von Küpper,[90] Graßmann,[91] Milinowski[92] und von anderen über die Kurven dritter Ordnung,[93] die Kapitel des _Barycentrischen Calculs_, dann verschiedene Arbeiten von Em. Weyr,[94] von Clebsch und {29} vielen anderen[95] über die rationalen Kurven; die wichtigen Untersuchungen Steiners und Chasles' über die Kurven, die mit einem Centrum versehen sind,[96] und die von Steiner über die dreispitzige Hypocykloide;[97] ferner die Arbeiten, welche dem Beweise oder der Verallgemeinerung der dort ausgesprochenen Eigenschaften gewidmet sind,[98] die interessanten Untersuchungen von Bertini[99] über rationale Kurven, für welche man willkürlich die vielfachen Punkte bestimmen kann, die wichtigen Studien von Brill über die Kurven vom Geschlechte zwei,[100] dann die eleganten Abhandlungen von Klein und Lie[101] über die Kurven, welche eine infinitesimale Transformation in sich selbst zulassen, endlich die von Fouret über die Kurven, welche die eigenen reciproken Polaren in bezug auf unendlich viele Kegelschnitte sind,[102] und die von Smith (1826-1883) über die Singularitäten der Modularkurven.[103] {30} Neben diesen verdient dann noch eine hervorragende Stelle die Abhandlung von Steiner über die einer ebenen kubischen Kurve[104] oder einer Kurve vierter Ordnung mit zwei Doppelpunkten eingeschriebenen Vielecke, auf welche die jüngsten Arbeiten von Küpper[105] und Schoute[106] von neuem die Aufmerksamkeit der Gelehrten gelenkt haben. Die Knappheit des Raumes nötigt mich, flüchtig hinwegzugehen über die Untersuchungen von Cayley _On polyzomal Curves otherwise the Curves_ [Wurzel]u + [Wurzel]v + ... = 0;[107] von Graßmann, Clebsch,[108] Schröter[109] und Durège,[110] betreffend die Erzeugung ebener Kurven dritter Ordnung, über die von Lüroth,[111] von Casey,[112] Darboux,[113] Siebeck,[114] von Crone,[115] Zeuthen[116] und noch anderen über einige spezielle ebene Kurven vierter Ordnung, über die von Battaglini, die sich auf die syzygetischen Kurven dritter Ordnung beziehen,[117] und andere, welche auch eine besondere Erwähnung verdienen würden. {31} Was ich aber nicht mit Stillschweigen übergehen kann, das sind die Arbeiten von Hesse über die Wendepunkte einer Kurve dritter Ordnung und über die Gleichung, welche zu deren Bestimmung dient;[118] dann die von demselben Hesse,[119] Steiner,[120] Aronhold[121] (1819-1884) über die Doppeltangenten einer Kurve vierter Ordnung, welche eine hervorragende Stelle verdienen, da sie viele bemerkenswerte Eigenschaften derselben ins Licht gestellt haben; dieselben wurden darauf von Geiser[122] durch stereometrische Betrachtungen dargethan, von Clebsch[123] dagegen und Roch[124] vermittelst der Theorie der Abelschen Funktionen untersucht. * * * * * III. Theorie der Oberflächen. ------ Das Streben nach Verallgemeinerung, welches die geometrischen Untersuchungen leitete, seitdem sich der Einfluß der Analysis auf dieselbe mehr oder weniger offen geltend gemacht, trieb alsbald die Gelehrten dazu, sich mit den Erscheinungen des Raumes zu beschäftigen, welche Analogien mit den schon in der Ebene betrachteten darbieten. Daher sehen wir denn auch die Forschungen über die Oberflächen {32} bald denen über die ebenen Kurven folgen. Die Theorie dieser Gebilde ist jedoch neueren Ursprungs. Den griechischen Geometern waren in der That nur einige wenige besondere Oberflächen bekannt (die Kugel, die Cylinder und Kegel, Konoide und Sphäroide, die plektoidischen Oberflächen und wenige andere). Erst Wren (1669), Parent und Euler begannen sich mit den Oberflächen zweiten Grades zu beschäftigen, und wir müssen zur Schule von Monge gehen, um die Eigenschaften von grösserer Wichtigkeit dieser höchst bemerkenswerten Oberflächen anzutreffen.[125] Zu diesen ersten Eigenschaften wurden in unserem Jahrhundert durch das zahlreiche Heer von Geometern, welche die Flächen zweiter Ordnung einer besonderen Betrachtung unterwarfen, viele andere hinzugefügt, und dank den Arbeiten so ausgezeichneter Gelehrter, wie Jacobi,[126] {33} MacCullagh (1809-1847),[127] Chasles,[128] Hesse,[129] Seydewitz (1807-1852),[130] Schröter[131] konnte die Theorie der Oberflächen zweiter Ordnung in den mehr elementaren {34} Unterricht eingeführt werden und methodisch auf analytischem sowohl wie synthetischem Wege behandelt werden.[132] Aber nach der Lehre von den Oberflächen zweiten Grades entstand und entwickelte sich alsbald die der Oberflächen höherer Ordnung. Chasles[133] und Gergonne,[134] als die ersten, entdeckten an diesen Gebilden wunderbare Eigenschaften. Poncelet bestimmte die Klasse einer in ihrer Ordnung allgemeinen algebraischen Oberfläche[135] und eröffnete so die Untersuchungen, welche zu den Beziehungen führen sollten, mit welchen Salmon[136] und Cayley[137] die Lösung der analogen Aufgabe zu derjenigen versuchten, welche Plücker durch seine berühmten Formeln gelöst hatte. Jacobi[138] und später Reye[139] beschäftigten sich mit den Kurven und Gruppen von Punkten, die durch den Schnitt von algebraischen Oberflächen entstehen. Chasles,[140] Cremona,[141] Reye,[139] Escherich,[142] Schur,[143] mit ihrer {35} Entstehung vermittelst projektiver oder reciproker Systeme von Oberflächen niederer Ordnung, Graßmann (1809-1877)[144] mit anderen Erzeugungsweisen; Salmon,[145] Clebsch,[146] Sturm,[147] Schubert[148] und andere behandelten eine wichtige Klasse von Aufgaben, welche sich auf Gerade beziehen, die mit einer gegebenen Oberfläche Berührungen von vorher bestimmter Ordnung haben; schließlich entdeckte Schur vor kurzem eine lineare Konstruktion[149] für Flächen beliebiger Ordnung. Eine interessante Erweiterung der Polarentheorie der Oberflächen beliebiger Ordnung verdanken wir Reye.[150] Trotz dieser und anderer Arbeiten, die ich der Kürze halber stillschweigend übergehen muss, trotz der schönen Darlegungen, welche Salmon[151] und Cremona[152] über sie gemacht haben, kann man doch nicht sagen, daß die Theorie der Oberflächen weit vorgeschritten sei. Die Fragen, die noch zu lösen bleiben, sind zahlreich und von fundamentaler Wichtigkeit, und die Mittel, die zur Überwindung der Schwierigkeiten, welche deren Lösung bietet, zur Verfügung stehen, sind noch nicht genügend vervollkommnet. Vielleicht ist das der Grund dafür, daß so viele Gelehrte sich zum Studium besonderer Flächen wandten, indem sie hofften, nicht nur auf diesem Felde eine reichlichere Ernte von Wahrheiten zu machen, sondern auch zu Untersuchungsmethoden zu gelangen, die der Verallgemeinerung fähig sind. -- Und {36} daß ihre Erwartungen teilweise nicht getäuscht worden sind, das beweisen die zahlreichen Resultate, die man schon über die Oberflächen dritten Grades, sowie über einige von der vierten Ordnung erhalten hat, über welche es mir noch obliegt, Bericht zu erstatten. Es ist allgemein bekannt, daß die beiden hervorragendsten Eigenschaften einer Fläche dritter Ordnung die sind, 27 Gerade zu enthalten, und ein Pentaeder zu besitzen, welches zu Ecken die Doppelpunkte und zu Kanten die Geraden der Hesseschen Fläche jener Oberfläche hat. England und Deutschland können sich um die Ehre, sie entdeckt zu haben, streiten. Wenn auch schon im Jahre 1849 Cayley und Salmon[153] die Geraden einer kubischen Fläche bestimmt haben, und im Jahre 1851 Sylvester[154] das Pentaeder entdeckte, so ist doch nicht minder wahr, daß Steiner unabhängig von ihnen die Existenz jener und dieses in seiner berühmten Mitteilung, welche er der Berliner Akademie im Jahre 1853 machte, behauptet hat.[155] Aber während die Studien der englischen Geometer fast gänzlich der Fortsetzung entbehren,[156] steht die Arbeit von Steiner an der Spitze einer langen Reihe von Schriften, durch welche die Theorie der Oberflächen dritter Ordnung schnell einen ungehofften Grad der Vollendung erhielt. Indem ich die Abhandlungen von Schröter,[157] August[158] u. s. w., in welchen einige der von Steiner ausgesprochenen Sätze bewiesen werden, nur kurz erwähne, will ich mich darauf beschränken, die Aufmerksamkeit der Leser auf die mit Recht berühmten Schriften zu lenken, die von {37} Cremona[159] und von Sturm[160] über diese Oberflächen verfaßt und im Jahre 1866 von der Berliner Akademie mit dem Steiner-Preise gekrönt sind, Arbeiten, auf welche jeder zurückkommen muß, welcher sich mit diesen wichtigen geometrischen Gebilden vertraut machen will. Ich kann mich nicht aufhalten bei den verschiedenen Erzeugungsweisen einer Fläche dritter Ordnung, die Graßmann,[161] August,[162] Affolter[163] und Piquet[164] den von Steiner angegebenen hinzugefügt haben, bei der Konstruktion dieser Flächen, welche Le Paige[165] gegeben hat, bei den vielen Sätzen, die sich auf die Verteilung der Geraden, der dreifach berührenden Ebenen und die Kurven einer kubischen Fläche beziehen und welche vor kurzem von Cremona,[166] Affolter,[167] von Sturm[168] und Bertini[169] entdeckt wurden, endlich bei den von Cremona,[170] Caporali,[171] Reye[172] und Beltrami[173] studierten Eigenschaften gewisser Hexaeder, welche mit einer Fläche dritter Ordnung verknüpft sind, sowie bei den von Zeuthen[174] betrachteten zwölf {38} vollständigen, in sie einbeschriebenen Pentaedern. Ich will noch anführen, daß eine Einteilung dieser Oberflächen, die auf die Betrachtung der 27 auf ihr gelegenen Geraden sich stützt, von Schläfli gemacht ist[175] und eine neuere von Rodenberg,[176] die sich auf das Pentaeder gründet, daß ferner ein genaues und eingehendes Studium der Regelflächen dritten Grades (von denen eine von Cayley entdeckt wurde) den Gegenstand wertvoller Arbeiten Cremonas,[177] Em. Weyrs[178] und Benno Kleins[179] bildet, daß schließlich die sogenannte Diagonalfläche einen wichtigen Teil in einer Untersuchung von Clebsch über die Gleichungen fünftes Grades bildet[180] und daß andere besondere Fälle von Cayley[181] und Eckardt[182] in einigen wertvollen Abhandlungen betrachtet wurden. Wenn ich dann noch gesagt habe, daß die Untersuchungen von Salmon,[183] Clebsch,[184] Gordan[185] und de Paolis[186] die {39} geometrische Bedeutung für das Verschwinden der fundamentalen invarianten Formen der quaternären kubischen Form festgestellt haben, welche gleich Null gesetzt in homogenen Koordinaten eine Fläche dritter Ordnung darstellt, daß schließlich Jordan[187] von Grund auf die Natur der Gleichung studiert hat, welche zur Bestimmung der Geraden einer kubischen Fläche dient, dann glaube ich dem Leser genug Momente an die Hand gegeben zu haben, um daraus den (von mir eben angedeuteten) Schluß zu ziehen, daß die Theorie dieser geometrischen Gebilde, von welchem Punkte man sie auch betrachten mag, heute einen beachtenswerten Grad der Vollendung erreicht hat. Solches kann man jedoch nicht von der Theorie der Oberflächen vierten Grades behaupten, vielmehr sind von ihnen nur wenige Klassen genauer studiert; über jede derselben werde ich kurz sprechen. An die erste Stelle will ich die Developpabele vierter Klasse setzen, die zweien Flächen zweiten Grades umbeschrieben ist, und die geradlinigen Flächen vierten Grades; jene wurde von Poncelet[188] und Chasles[189] untersucht, diese von demselben Chasles,[190] von Cayley[191] und vollständiger von Cremona.[192] Dann lasse ich die Oberflächen vierter Ordnung folgen, auf welchen Scharen von Kegelschnitten existieren und welche alle mit außerordentlichem Scharfsinne von Kummer[193] bestimmt wurden. Unter diesen sind zwei besonderer Erwähnung wert, da sie das Objekt zahlreicher Untersuchungen gewesen sind: die Oberfläche vierter Ordnung mit einem Doppelkegelschnitt und die römische Fläche von Steiner. Von der ersteren entdeckte Kummer im Jahre 1864 die bemerkenswerte Eigenschaft, daß die ihr doppelt {40} umgeschriebene Developpabele aus fünf Kegeln zweiter Ordnung besteht. Gleichzeitig fand Moutard[194] dieselbe Eigenschaft für den Fall, daß die Doppelkurve der Oberfläche der unendlich entfernte imaginäre Kugelkreis ist,[195] und er bemerkte weiter gleichzeitig mit Darboux,[196] daß in diesem Falle die Oberfläche zu einem dreifachen Systeme von orthogonalen Oberflächen, gebildet von Flächen derselben Art, gehören kann. Von jener Zeit ab wurden die Oberflächen vierter Ordnung, welche als Doppelkurve den unendlich entfernten imaginären Kugelkreis haben, wiederholt von Darboux,[197] von Laguerre (1834-1886)[198] und von Casey[199] studiert; hingegen diejenigen, welche als Doppelkurve einen beliebigen Kegelschnitt besitzen, von Cremona,[200] Geiser,[201] Sturm,[202] Zeuthen,[203] von Clebsch,[204] Korndörfer,[205] Berzolari[206] und Domsch[207] -- welcher auf sie die hyperelliptischen Funktionen anwandte -- und diejenigen, welche einen Kuspidalkegelschnitt haben, von Tötössy.[208] Was die Klassifikation dieser Oberflächen betrifft, so möge {41} es mir gestattet sein, meinen Namen anzuführen[209] neben dem meines teuern Freundes Segre.[210] Die römische Fläche von Steiner hat wiederholt die Aufmerksamkeit der Geometer auf sich gezogen und zwar vorzüglich zweier Eigenschaften wegen; die eine derselben, nämlich von jeder Tangentialebene in zwei Kegelschnitten getroffen zu werden, wurde besonders von den Synthetikern betrachtet, die andere, dass die homogenen Koordinaten ihrer Punkte sich als ganz allgemeine ternäre quadratische Formen darstellen lassen,[211] wurde mehr von den analytischen Geometern verwertet. Wer Lust hat, alle Eigenschaften, die sie besitzt, kennen zu lernen,[212] wird dieselben in den synthetischen Abhandlungen von Cremona,[213] Schröter[214] und Sturm,[215] auf den Seiten, welche Reye ihr in seiner {42} _Geometrie der Lage_ (2. Bd.) gewidmet hat, und in den analytischen Abhandlungen von Cayley,[216] Beltrami,[217] Clebsch,[218] Eckardt,[219] Laguerre[220] und Gerbaldi[221] finden. Kummer verdanken wir auch die Kenntnis einer anderen wichtigen Klasse von Flächen vierter Ordnung; dieselbe besteht aus Oberflächen, die nicht singuläre Linien enthalten, sondern nur singuläre Punkte.[222] Wir werden in kurzem (§ VII) sehen, welche Untersuchungen Kummer zu diesen Oberflächen geführt haben; für jetzt genüge es, hervorzuheben, dass die interessanteste unter ihnen (welche man heute die Kummersche Oberfläche nennt) 16 singuläre Doppelpunkte und 16 singuläre Tangentialebenen hat und daß Specialfälle derselben die Wellenfläche von Fresnel[223] und das von Cayley 1846 untersuchte Tetraedroid[224] sind. Eine solche Oberfläche ist zu sich selbst dual.[225] Ihre {43} asymptotischen Kurven wurden von Klein und Lie bestimmt[226] und Reye[227] zeigte, daß jede die Grundkurve eine Büschels von Oberflächen vierter Ordnung ist; zwischen ihnen und den Thetafunktionen existiert eine innige Beziehung, welche Cayley und Borchardt (1817-1880)[228] entdeckt haben und die H. Weber[229] zusammen mit anderen entwickelt hat;[230] die algebraischen Fragen, welche sich an die Bestimmung ihrer Singularitäten knüpfen, wurden von Jordan[231] gelöst; endlich kann man dieselbe, wie Rohn[232] es gethan hat, vermittelst der Theorie der hyperelliptischen Funktionen[233] behandeln. Indem ich die Oberflächen vierter Ordnung, welche als Doppelkurve einen in zwei getrennte oder zusammenfallende Gerade degenerierten Kegelschnitt haben und andere, mit denen Cayley[234] sich beschäftigt hat, übergehe, will ich noch die Monoide erwähnen,[235] die von Rohn studiert sind,[236] und {44} diejenigen Flächen, welche, ohne geradlinig zu sein, eine gewisse Anzahl von Geraden enthalten. Dieselben sind der Ort der Punkte, in welchen vier entsprechende Ebenen von vier kollinearen Räumen sich schneiden; Chasles hat ihre Ordnung bestimmt und Schur eine Menge eleganter Eigenschaften derselben gefunden.[237] Ich will diesen Abschnitt meiner Musterung beschließen, indem ich noch einige Oberflächen von höherer als der vierten Ordnung anführe, welche die Gelehrten schon beschäftigten. Zuerst verdienen die geradlinigen Oberflächen erwähnt zu werden, welche im allgemeinen von Chasles,[238] Salmon,[239] Cayley,[240] von Plücker,[241] La Gournerie (1814-1883),[242] Voss[243] und im besonderen von Chasles,[244] Cremona,[244] Schwarz,[245] La Gournerie[246] (Regelflächen, die in bezug auf ein Tetraeder symmetrisch sind), von {45} Clebsch,[247] Armenante[248] (rationale und elliptische Regelflächen), von Em. Weyr[249] (Regelflächen, erzeugt durch die Verbindungslinien entsprechender Punkte zweier gerader Punktreihen in der Korrespondenz [m, n]), von Ed. Weyr[250] (Oberflächen, erzeugt durch die Bewegung eines variabelen Kegelschnittes), von Eckardt[251] und Chizzoni[252] (Regelflächen, erzeugt durch die Verbindungslinien entsprechender Punkte zweier ebener projektiv bezogener Kurven). Dann folgen solche, die, wenn sie auch nicht Regelflächen sind, doch Gerade enthalten und die von Sturm[253] und Affolter[254] untersucht sind, ferner die algebraischen Minimalflächen, bei welchen Geiser[255] und Lie[256] bemerkenswerte Eigentümlichkeiten fanden. Dann will ich noch einige Flächen nennen, die aus einer Oberfläche zweiten Grades abgeleitet sind (Ort der Krümmungscentren; Fusspunktflächen, Aspidalflächen etc.), sowie die Örter der Spitzen der Kegel zweiten Grades, die m Gerade berühren und durch (6-m) Punkte gehen, welche Flächen eingehend von Chasles,[257] Lüroth,[258] Hierholzer[259] und von Cayley[260] studiert wurden, da sie zur Auflösung gewisser Probleme aus der Theorie der Charakteristiken der einfach unendlichen Systeme von Kegeln zweiter Ordnung dienten; schließlich diejenigen, welche unendlich viele lineare {46} Transformationen zulassen, die kontinuierlich aufeinander folgen;[261] diejenigen, welche die eigenen reziproken Polaren in bezug auf unendlich viele Flächen zweiten Grades sind,[262] diejenigen, welche durch reciproke Cremonasche Systeme erzeugt werden,[263] und diejenigen, welche dieselben Symmetrie-Ebenen wie ein reguläres Polyeder besitzen.[264] Die Untersuchungen über die Oberflächen, mit denen wir uns bis jetzt beschäftigt haben, behandeln Eigenschaften, welche vermittelst einer wohl bekannten Betrachtungsweise auf das Gebiet der projektiven Geometrie zurückgeführt sind oder sich darauf zurückführen lassen. Es giebt aber noch viele andere Untersuchungen, welche Eigenschaften von ganz anderer Art behandeln, die größtenteils auf keine Weise sich als projektiv betrachten lassen, da die Gruppe der Transformationen, die zu ihnen gehört, nicht die der projektiven Geometrie ist.[265] Diese bilden zusammen mit den Studien, die sich auf die Infinitesimaleigenschaften der Raumkurven beziehen (über welche wir einiges im folgenden Paragraphen sagen werden), einen sehr wichtigen Zweig der Geometrie für sich sowohl, als auch wegen der Anwendungen, welche man von ihnen in der Geodäsie und der mathematischen Physik machen kann; man kennt ihn unter dem Namen der Differentialgeometrie. Über die wesentlichen Punkte derselben wollen wir nun einiges sagen. Und da man den Ursprung dieses Teiles der Geometrie von dem Erscheinen der _Application de l'Analyse à la Géométrie_[266] {47} von Monge datieren kann, und das spätere Werk, welches von grösserem Einflüsse war, das von Gauß (1777-1855) ist, welches den Titel trägt: _Disquisitiones generales circa superficies curvas_,[267] so nehmen wir in unserer kurzen Darlegung die von Monge und Gauß angenommene Einteilung des Stoffes als Anhalt, indem wir zuerst besprechen, was diese selbst in Hinsicht auf die von ihnen behandelten Gegenstände geleistet haben, und dann vorführen, was ihre Nachfolger hinzugefügt haben. Der erste Paragraph des Mongeschen Werkes bietet kein besonderes Interesse, da er nur die Bestimmung der Berührungsebenen und Normalen einer Oberfläche zum Zwecke hat; er kann also als Einleitung betrachtet werden. Die vier folgenden Paragraphen behandeln cylindrische Oberflächen, Kegel- und Rotationsflächen und solche, welche (um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen) in einer linearen Kongruenz mit einer unendlich fernen Leitgeraden enthalten sind. Höchst bemerkenswert ist der folgende Paragraph, indem Monge dort bei der Besprechung der Enveloppen den wichtigen Begriff der Charakteristik und der Rückkehrkurve (_arête de rebroussement_) einer Enveloppe eingeführt hat; an diesen Paragraphen schließen sich die drei folgenden enge an; sie behandeln Röhrenflächen mit ebener Leitlinie (§ 7), Flächen, die als Linien größter Neigung gegen eine gegebene Ebene Gerade von konstanter Neigung haben (§ 8), und schließlich Enveloppen einer Oberfläche, die sich unter der Bedingung bewegt, daß ein mit ihr unveränderlich verbundener Punkt eine gegebene Kurve durchläuft (§ 9).[268] -- Von da ab beginnt die Theorie der partiellen {48} Differentialgleichungen die wichtige Rolle zu spielen, die Monge ihr in der analytischen Geometrie zugewiesen hat; von diesem Punkte an zeigt es sich, daß es in vielen Fällen für die Bestimmung der Natur einer Oberfläche nützlicher und bequemer ist, eine Differentialgleichung für sie zu haben, als eine solche in endlichen Ausdrücken. Beispiele hierfür bieten die Flächen, die in einem speziellen linearen Komplexe enthalten sind mit einer unendlich fernen oder endlichen Axe (von Monge im § 10 und § 11 behandelt), fernere Beispiele die abwickelbaren Flächen (§ 12), andere die im § 9 beschriebenen, andere schließlich die Örter beweglicher Kurven, von welchen ein Punkt eine feste Kurve durchläuft (§ 14).[269] -- Die Theorie der Krümmung einer Oberfläche in einem Punkte,[270] sowie das Studium der Verteilung der Normalen derselben Fläche[271] führen zu einer neuen Art von Flächen, die der Betrachtung wert sind; jene und diese finden sich im § 15, der sicherlich einer der wichtigsten des Mongeschen Werkes ist. Der Spezialfall des Ellipsoides ist im § 16 behandelt, derselbe enthält die Bestimmung der Krümmungslinien dieser Fläche.[272] -- Groß an Zahl und von großer Wichtigkeit sind die Fragen, zu denen die Theorie der Krümmung Anlaß giebt. Man kann z. B. die Oberflächen untersuchen, bei denen der eine Krümmungsradius für jeden Punkt denselben Wert hat; Monge fand (§ 18), daß dieselben von einer Fläche von konstanter Form eingehüllt werden, die sich in der {49} vorhin (in den §§ 9 und 13) angegebenen Weise bewegt. Man kann dagegen auch voraussetzen, daß in jedem Punkte die beiden Krümmungsradien gleich und von gleichem Sinne seien: die Oberfläche ist dann eine Kugel. Wenn dagegen die beiden Krümmungsradien in jedem Punkte gleich, aber von entgegengesetztem Sinne sind, so ist die Fläche eine Minimalfläche.[273] Oder es sei in jedem Punkte einer der Krümmungsradien gleich groß (§ 21).[274] An die Theorie der Krümmung schließen sich dann die Studien über die Röhrenflächen mit beliebiger Leitkurve (§§ 22 und 26) und über diejenigen Flächen, bei welchen alle Normalen eine gegebene Kugel (§ 23), einen gegebenen Kegel (§ 24) oder eine gegebene Developpabele (§ 25) berühren. -- Für einige dieser Flächenfamilien hat Monge die Konstruktion angegeben, für alle die Gleichungen, sei es die Differentialgleichungen oder die endlichen, und, da er sich das Problem gestellt und gelöst hat, von jenen zu diesen zu gelangen, so verdient denn sein grosses Werk, daß es auch von denen, welche sich mit der Analysis des Unendlichen beschäftigen, eingehend studiert werde. Kurz nach dem Erscheinen des Werkes von Monge wurde die Differentialgeometrie durch eine höchst wichtige Arbeit bereichert, die _Developpements de Géométrie_ von Ch. Dupin (1813). In derselben wird unter anderem der Begriff der konjugierten Tangenten eines Punktes einer Oberfläche und der der Indikatrix eingeführt; dort sind die asymptotischen Linien (Haupttangentenkurven)[275] untersucht, und {50} der berühmte Satz bewiesen, der unter dem Namen des Dupinschen Theorems allgemein bekannt ist. Als Fortsetzung des Mongeschen Werkes kann man die zahlreichen Untersuchungen über Flächen mit ebenen oder sphärischen Krümmungslinien ansehen, die man Dupin,[276] Alfred Serret (1819-1885),[277] O. Bonnet,[278] Dini,[279] Enneper (1830-1885),[280] Darboux,[281] Picart,[282] Lecornu,[283] Dobriner,[284] Voretsch[285] und anderen verdankt. Von derselben Art, aber von größerer Allgemeinheit sind die wichtigen Untersuchungen von Weingarten über solche Oberflächen, bei denen in jedem Punkte der eine Krümmungsradius eine Funktion des anderen ist,[286] welche Untersuchungen Dini (a. O.), Beltrami[287] und Lie[288] zur Bestimmung der windschiefen Oberflächen mit derselben Eigenschaft geführt haben. Dasselbe kann man von den Untersuchungen sagen, welche man ebenfalls Weingarten verdankt[289] und die sich auf Oberflächen beziehen, deren Normalen eine andere vorgelegte Oberfläche berühren. -- Dem § 20 des Mongeschen Werkes können wir die {51} zahlreichen Abhandlungen anschließen, welche die Minimalflächen behandeln. Wir führen zunächst die von Steiner[290] und Weierstraß[291] an, die sich mit der allgemeinen Theorie befassen, dann die von Scherk[292] und Bonnet,[293] welche einige Spezialfälle derselben bearbeitet haben; Serret[294] beschäftigte sich dann mit solchen, die durch zwei Gerade hindurch gehen, Riemann[295] und Weierstraß[296] mit solchen, die einen gegebenen Umriß haben, Geiser[297] mit algebraischen, Noevius[298] mit solchen periodischen, welche unendlich viele Geraden und unendlich viele ebene geodätische Linien besitzen; Catalan[299] mit solchen, die als geodätische Linie eine Parabel haben, Henneberg[300] mit denen, welche eine semikubische Parabel als geodätische Linie haben; Bonnet[301] untersuchte solche, auf welchen sich eine Schar von ebenen Krümmungslinien befindet; Bour[302] diejenigen, welche auf eine Rotationsfläche sich abwickeln lassen; Schwarz solche, die durch ein windschiefes Vierseit bestimmt sind[303] oder die von Kegeln eingehüllt sind,[304] und solche, die ohne algebraisch zu sein, doch algebraische Kurven enthalten;[305] {52} Enneper[306] untersuchte diejenigen, welche unendlich viele Kreise enthalten, u. s. w. Andere Fragen wurden von Mathet[307] behandelt, von Beltrami,[308] von Lie,[309] Kiepert,[310] Henneberg,[311] Ribaucour,[312] Bianchi[313] und Pincherle.[314] Schließlich ist die Theorie der Minimalflächen einer bemerkenswerten Erweiterung fähig, die von Lipschitz[315] entdeckt wurde. Wir gehen jetzt dazu über, kurz auseinander zu setzen, welches die hervorragenderen Stellen des zweiten Werkes sind, dem wir, wie schon gesagt, die wichtigsten Lehren der Differentialgeometrie verdanken, der _Disquisitiones generales circa superficies curvas_ von Gauß. Schon zu Ende des ersten Paragraphen derselben finden wir einen höchst wichtigen Begriff, nämlich den der sphärischen Abbildung einer Oberfläche, dessen Fruchtbarkeit vielfache Anwendungen, die von ihm gemacht sind, dargethan haben. Kurz darauf (§ IV) treffen wir die zwei unabhängigen Veränderlichen, vermittelst derer man die Koordinaten der Punkte einer Oberfläche ausdrückt, d. h. die krummlinigen Koordinaten auf einer Oberfläche. (Vgl. auch die §§ XVII und XIX). Dann enthält § VI die Erweiterung der Betrachtung, die man gewöhnlich zur Grundlage der Theorie der Krümmung der ebenen und unebenen Kurven nimmt, auf den Raum, aus welcher Erweiterung der Begriff des Krümmungsmaßes einer Oberfläche in einem {53} gewöhnlichen Punkte hervorgegangen ist.[316] Bekanntlich ist dasselbe gleich dem Produkte aus den beiden Hauptkrümmungsradien der Fläche in jenem Punkte[317] (§ VIII). Das Krümmungsmaß einer Oberfläche kann man sowohl durch die gewöhnlichen kartesischen Koordinaten (§§ VII und IX) als auch durch die krummlinigen Koordinaten der Oberfläche ausdrücken (§§ X und XI).[318] Bei der Untersuchung dieses letzteren Ausdruckes bieten sich die Coefficienten E, F, G des Ausdruckes des Kurvenelementes dar, deren Bedeutung in der Theorie der Oberflächen, die auf eine andere abwickelbar sind[319] (§ XII), Gauß zuerst hervorgehoben hat. Dabei stellte er eine neue Betrachtungsweise der Oberflächen auf (§ XIII), indem er dieselben als unendlich dünne, biegsame und unausdehnbare Körper ansah. Die folgenden Paragraphen der Abhandlung von Gauß behandeln die geodätischen Linien und haben die Bestimmung ihrer Differentialgleichungen zum Zwecke (§ XIV und XVIII), dann die Übertragung der Polarkoordinaten, des Kreises (§ XV), der Parallelkurven (§§ XVI), auf die Geometrie auf einer Oberfläche, sowie die Berechnung der totalen Krümmung eines geodätischen Dreiecks (§ XX). Die §§ XXI und XXII beziehen sich auf die Transformation des Ausdruckes für das Kurvenelement, die übrigen behandeln andere Fragen aus der Geodäsie und dürften daher unsere Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen. {54} Schon aus diesen flüchtigen Andeutungen ersieht man, wie reich an fundamentalen Begriffen die Abhandlung von Gauß ist. Die Entwickelungen, die sie gehabt, und die vielen Arbeiten, welche sie hervorgerufen, und von denen wir noch kurz zu sprechen haben, werden ihre Bedeutung noch klarer machen. Unter diesen Arbeiten muß man den schönen _Ricerche di analisi applicata alla geometria_, die Beltrami im zweiten und dritten Bande des _Giornale di Matematiche_ veröffentlicht hat, eine hervorragende Stelle einräumen, dann den Abhandlungen von demselben Verfasser _Dalle variabili complesse su una superficie qualunque_,[320] _Teoria generale dei parametri differenziali_[321] und _Zur Theorie des Krümmungsmasses_.[322] Bemerkenswert sind ferner die Studien von Bonnet[323] und von Darboux[324] über die sphärische Abbildung der Oberflächen, die sich an die ersten in den _Disquisitiones_ enthaltenen Untersuchungen anknüpfen. Der Begriff der Krümmung führte zum Studium der Oberflächen mit konstanter (positiver oder negativer) Krümmung, dem so viele ausgezeichnete Geometer ihre Kräfte gewidmet haben. Unter diesen führen wir die zwei Arbeiten von Beltrami an: _Risoluzione del problema. Riportare i punti di una superficie sopra un piano in modo che le geodetiche vengano rappresentate da linee rette_[325] und _Saggio di una interpretazione della Geometria non-euclidea_,[326] dann die Schriften von Dini,[327] Lie,[328] {55} Bianchi,[329] Bäklund,[330] Darboux[331] und Dobriner.[332] Von derselben Art, aber allgemeiner, sind die Studien von Christoffel[333] über die Bestimmung der Gestalt einer Oberfläche mit Hilfe von auf ihr selbst genommenen Maßen und von Lipschitz[334] über die Oberflächen, welche bestimmte auf die Krümmung bezügliche Eigenschaften haben, oder bei welchen der Ausdruck des Kurvenelements von vornherein festgesetzt ist. An den Abschnitt der Gaußischen Abhandlung, welcher die geodätischen Linien behandelt, knüpfen sich einige Arbeiten von Joachimsthal (1818-1861),[335] Schering,[336] Beltrami,[337] die von Lie[338] gemachte Einteilung der Oberflächen auf Grund der Transformationsgruppen ihrer geodätischen Linien und die Untersuchungen über geodätische Kurven von demselben Verfasser.[339] Mit demjenigen Abschnitte, welcher sich auf die Abwickelbarkeit der Oberflächen bezieht, steht eine wichtige Arbeit von Minding in enger Beziehung,[340] in der zum ersten Male die Frage aufgestellt ist, ob die Gleichheit der Krümmung in entsprechenden Punkten eine hinreichende Bedingung für die Abwickelbarkeit zweier Oberflächen sei: er gelangte für den allgemeinen Fall zu einem negativen Resultate, zu einem {56} positiven dagegen für den Fall konstanter Krümmung. Dasselbe gilt von den Arbeiten von Bour[341] (1832-1866), Codazzi[342] und Bonnet,[343] welche für preiswürdige Antworten auf die im Jahre 1861 von der Pariser Akademie der Wissenschaften gestellte Frage erkannt worden sind. Derselbe Gegenstand oder verwandte Gegenstände wurden dann in den Abhandlungen von Christoffel,[344] von Mangoldt,[345] Weingarten,[346] Brill,[347] Minding,[348] Jellet,[349] Dini,[350] Enneper,[351] Razzaboni,[352] Lecornu,[353] Beltrami[354] und vielen anderen behandelt. Die schöne von Gauß gegründete Theorie der krummlinigen Koordinaten einer Oberfläche ließ den Wunsch entstehen, eine analoge Theorie für den Raum zu haben. Schon im Jahre 1837 stellte Lamé sie für einen Spezialfall auf, nämlich für den der elliptischen Koordinaten,[355] später wies er auf die orthogonalen krummlinigen Koordinaten {57} hin[356] und konstruierte dann die Theorie derselben,[357] ohne ihre Anwendung[358] und Entwickelung[359] zu vernachlässigen. Die berühmten _Leçons sur la théorie des coordonnées curvilignes et leurs diverses applications_ (Paris, 1859) von Lamé fassen zusammen und vervollständigen die glänzenden Resultate, die von Lamé in diesem Zweige der Geometrie erhalten waren. In der Folge haben sich viele andere mit demselben beschäftigt. Vor allen führe ich Aoust an, der ihm viele und wichtige Arbeiten widmete,[360] dann Brioschi,[361] Codazzi,[362] Chelini (1802-1878),[363] Darboux,[364] Combescure,[365] Levy,[366] Royer[367] und noch andere. Hierzu sehe man noch die Schriften, welche dreifache Systeme orthogonaler Oberflächen behandeln und von denen ich nur diejenigen von Bouquet,[368] A. Serret,[369] Bonnet,[370] Catalan,[371] Moutard,[372] Darboux,[373] Cayley,[374] Ribaucour,[375] {58} Weingarten,[376] Schläfli,[377] Hoppe,[378] Bianchi[379] und Molins[380] nennen will. Von den Arbeiten, welche spezielle Oberflächen behandeln, die nicht zu bis jetzt besprochenen Kategorien gehören, führen wir die von Lie[381] an, welche sich auf Oberflächen beziehen, die infinitesimale lineare Transformationen in sich selbst zulassen; dann die von Enneper,[382] die sich auf Oberflächen mit speziellen Meridiankurven beziehen, ferner die von Cayley[383] und Weingarten[384] und die von Willgrod[385] über Oberflächen, welche durch ihre Krümmungslinien in unendlich kleine Quadrate geteilt werden; schließlich die von Bianchi[386] über Schraubenflächen. Ein bemerkenswerter Fortschritt in der analytischen Infinitesimalgeometrie der Oberflächen wurde durch die Bemühungen de Salverts geschaffen, der in einigen eleganten Arbeiten,[387] wahrscheinlich hervorgerufen durch die schönen _Vorlesungen über die analytische Geometrie des Raumes_ von Hesse, zeigte, wie man durch Benutzung der Gleichung einer Oberfläche in ihrer allgemeineren Form, f(x, y, z) = 0, ein bei weitem bequemeres System von Formeln für die Lösung gewisser Probleme aufstellen konnte, als wenn die Gleichung z = [phi](x, y) zu Grunde gelegt wird. {59} Über Differentialgeometrie existieren noch einige gute Darlegungen. Eine verdankt man Hoppe; sie trägt den Titel: _Elemente der Flächentheorie_; eine andere wurde von Brisse unternommen;[388] die neuesten sind die von Bianchi in seinen sehr schönen _Lezioni di geometria differenziale_ (Pisa, 1886) und die, welche Darboux in seinen _Leçons sur la théorie générale des surfaces_ begonnen hat, von denen wir schon den ersten Teil besitzen (Paris, 1887). Wir wollen diesen Abschnitt beschließen, indem wir noch bemerken, daß die Zuhilfenahme der Analysis für das Studium der Infinitesimalgeometrie nicht notwendig ist; vielmehr haben Bertrand[389] und Bonnet[390] zuerst gezeigt, welchen Nutzen man bei diesen Studien auch aus synthetischen Betrachtungen ziehen kann. Außerdem enthalten der erste Band des _Traité de calcul différential et intégral_ von Bertrand und der _Traité de géométrie descriptive_ von de la Gournerie[391] und eine große Zahl von überaus schönen Abhandlungen von Mannheim[392] bemerkenswerte geometrische Untersuchungen, welche dem Zweige der Wissenschaft des Raumes, mit dem wir uns eben beschäftigt haben, angehören. {60} * * * * * IV. Untersuchungen über die Gestalt der Kurven und Oberflächen. Abzählende Geometrie. ------ Bei der Besprechung der bedeutenderen Fortschritte, welche die Theorie der Kurven und die der Oberflächen gemacht, haben wir zwei wichtige Kategorien der Untersuchung übergangen, weil wir dieselben besser in einem besonderen Abschnitte unserer Arbeit zusammenfassen können. Die erstere umfaßt eine Reihe von Studien besonderer Natur und hat zum Zwecke die Bestimmung der Gestalt, welche die Kurven und Oberflächen von gegebener Ordnung annehmen können, und ich halte es für angemessen, bei diesen eine Zeit lang zu verweilen. Die Bestimmung der Gestalt der Kurven zweiter Ordnung reicht schon in das Altertum. Für dieselbe bedurfte es auch nicht eines hervorragenden Geistes, wenn man bedenkt, daß die Alten jene Kurven als Schnitte eines Kreiskegels betrachteten. Dagegen ist die Bestimmung der Gestalt, welche die Kurven dritter Ordnung annehmen können, nicht ohne Schwierigkeit. Newton überwand diese, indem er lehrte, daß alle Kurven dritter Ordnung durch Projektion von fünfen derselben, welche er divergierende Parabeln nannte, erhalten werden können.[393] Zu dieser ersten Einteilung der Formen {61} der Kurven dritter Ordnung fügte Chasles[394] eine weitere hinzu, die, obwohl sie auf einem ganz anderen Gedanken beruhte, mit der von Newton eine nicht zu verkennende Analogie bietet. Nach ihr kann man die Formen der Kurven dritter Ordnung sämtlich auffinden durch Projektion von fünfen derselben, die symmetrisch in bezug auf ein Zentrum sind. Eine dritte Methode der Einteilung endlich stützt sich auf das konstante Doppelverhältnis der vier Tangenten, die man an die allgemeine Kurve dritter Ordnung von einem ihrer Punkte aus ziehen kann; diese wurde von Durège entwickelt.[395] {62} Bei weitem grössere Schwierigkeit bietet das Studium der Gestalt der ebenen Kurven vierter Ordnung, die schon angeführten Arbeiten von Bragelogne, Euler und Plücker bilden hierzu einen wichtigen Beitrag. Es scheint aber nicht, daß man diese -- dasselbe gilt auch von den schon genannten auf die kubische Kurve bezüglichen -- als die Grundlage zu einer allgemeinen Theorie der Gestalt der ebenen Kurven ansehen darf; vielmehr muß man dieselben als die ersten Vorläufer jener Lehren betrachten, die man heute als eine feste Grundlage dieser Theorie ansieht. Solche Lehren gehören in das Gebiet der synthetischen Geometrie, zum Teil aber waren sie das Resultat der Anwendung der Abelschen Funktionen auf die Wissenschaft der Ausdehnung. Von den ersteren wurden einige von Staudt in seiner _Geometrie der Lage_[396] auseinandergesetzt und beziehen sich auf die Gestalten der ebenen Polygone und der Polyeder, die paaren und die unpaaren Züge der Kurven, die Rückkehrelemente der Figuren; andere wurden von Tait[397] angegeben und von J. Meyer entwickelt,[398] andere schließlich von Hart angedeutet[399] und mit vielem Glücke von E. Kötter verallgemeinert.[400] Die zweiten sind fast alle aus der Schule von Klein hervorgegangen. Da ich auf die vielen Einzelheiten dieses Gegenstandes nicht eingehen kann, so möge es hier genügen, unter den schon erhaltenen Resultaten einige besondere Sätze über die Kurve vierter Ordnung anzuführen, die man Zeuthen[401] und Crone[402] verdankt; dann {63} eine sehr wichtige Relation zwischen den Zahlen der reellen und imaginären Singularitäten einer ebenen Kurve, zu welcher Klein geführt wurde,[403] als er die von Plücker[404] und Zeuthen vorgeschlagenen Klassifikationen der Kurven vierter Ordnung studierte; ferner einen sehr schönen Lehrsatz,[405] von Harnack (1851-1888) entdeckt, welcher dadurch, daß er eine unerwartete Beziehung zwischen der Form einer Kurve und ihrem Geschlechte enthüllte, die Wichtigkeit des letzteren von neuem bestätigte. Wenn so die Theorie der Gestaltlichkeit der ebenen Kurven noch weit entfernt vom Zustand der Reife ist, so kann man von den analogen Untersuchungen über die Oberflächen sagen, daß sie sich noch in ihrer Kindheit befinden. Allgemeine Untersuchungen auf diesem Felde existieren meines Wissens nicht, außer denjenigen, die von Möbius in seiner _Theorie der elementaren Verwandtschaften_ niedergelegt sind,[406] und welche, so scharfsinnig und interessant sie auch sind, einen geschickten Nachfolger erwarten lassen, welcher die ganze Fülle derselben zu Tage fördert. Dasselbe gilt für gewisse originelle Gesichtspunkte, die in den vielen Arbeiten von Klein zerstreut sind. Für den Fortschritt der Geometrie würde es von höchstem Interesse sein, beide weiter entwickelt zu sehen; unglücklicherweise wird aber diese Theorie wenig betrieben, in den letzten Jahren ist vielleicht Rohn[407] der einzige, der hierin einige Fortschritte gemacht hat, die wert sind, verzeichnet zu werden. {64} Wenn auch die allgemeine Theorie ein bis jetzt noch unbefriedigtes Bedürfnis ist, so fehlt es doch nicht an Spezialuntersuchungen. Die Bestimmung der Gestalt der Oberflächen zweiten Grades übergehe ich als zu einfach und führe die der Oberflächen dritter Ordnung an, die mit Erfolg von Klein,[408] Schläfli,[409] Zeuthen[410] gemacht ist, und neuerdings von Bauer durch die Untersuchung der Gestalt der parabolischen Kurve vervollständigt wurde;[411] ferner die der Dupinschen Cykliden, die wir Maxwell[412] verdanken; dann die der Oberflächen vierter Ordnung mit Doppelkegelschnitt, die ebenfalls von Zeuthen[413] herrührt; die der Oberflächen vierter Ordnung mit Cuspidalkegelschnitt, die von Crone[414] ausgeführt ist; endlich die der Kummerschen Flächen und der Kegelflächen viertes Grades, welche der Gegenstand wichtiger Untersuchungen von Rohn[415] gewesen sind. Die reichhaltige Sammlung von Modellen von Ludwig Brill, die sich jedes Jahr um neue und interessante Serien vermehrt, zeigt das Interesse, welches das gelehrte Deutschland für vorliegende Untersuchungen hat.[416] Was die Gestalt der Kurven doppelter Krümmung angeht, so existieren darüber bis jetzt noch keine allgemeinen Untersuchungen von Bedeutung; man kann sagen, daß sich dieselben auf die Beobachtungen beschränken, die Chr. Wiener[417] {65} und Björling[418] gemacht haben, indem sie die Modelle der gewöhnlichen Singularitäten einer Raumkurve konstruierten. Eine zahllose Reihe wichtiger Untersuchungen hat die Bestimmung der Anzahl der geometrischen Gebilde zum Ziele, welche Bedingungen genügen, die hinreichen, eine endliche Zahl derselben festzulegen. Der Bézoutsche Lehrsatz, welcher die Zahl der Lösungen eines bestimmten Systems von algebraischen Gleichungen angiebt, ist fast immer nicht verwendbar für die Lösung solcher Fragen, da, während dieser Satz auf allgemeine Gleichungen ihres Grades sich stützt, die Gleichungen, welche man bei dem Versuche, diese Probleme analytisch zu lösen, erhält, von spezieller Form sind. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, daß diese Probleme größtenteils bis in verhältnismäßig neuerer Zeit ungelöst geblieben sind.[419] Auf Chasles fällt der Ruhm, in seiner _Methode der Charakteristiken_ ein feines und mächtiges Hilfsmittel gefunden zu haben (1864), mit dem er eine große Zahl von Problemen der angedeuteten Art für den Fall, daß die betrachteten Gebilde Kegelschnitte in einer Ebene sind, lösen konnte und einen Weg bahnte, um auch in dem Falle, wo die {66} Gebilde beliebige sind, zur Lösung derselben zu gelangen.[420] Der Hauptgedanke desselben war die fortwährende Betrachtung der ausgearteten Kurven und der systematische Gebrauch der Charakteristiken eines einfach-unendlichen Systemes von Kegelschnitten, d. h. der Zahlen, die angeben, wie viele Kegelschnitte des Systemes durch einen gegebenen Punkt gehen, wie viele eine gegebene Gerade berühren. Dadurch, daß man diese Begriffe weiter ausdehnte, konnte man Hilfsmittel erhalten, die auf andere Figuren anwendbar sind. Chasles selbst entdeckte alsbald die Anwendung seiner Untersuchungen auf die Kegelschnitte im Raume[421] und auf die Flächen zweiter Ordnung.[422] Zeuthen und Maillard gaben neue Beispiele der Erweiterung, der eine in der wichtigen Abhandlung, die wir schon Gelegenheit hatten zu zitieren, _Almindelige Egenskaber ved Systemer af plane Kurver_,[423] der andere in seiner Dissertation _Recherches des caractéristiques des systèmes élémentaires de courbes {67} planes du troisième ordre_;[424] andere findet der Leser in den Schriften von Sturm über die kubischen Raumkurven[425] und denen von Schubert über die ebenen Kurven dritter Ordnung und dritter und vierter Klasse, im Raume betrachtet.[426] Ferner sind die von Chasles gemachten Betrachtungen enge mit denjenigen verbunden, welche in den wichtigen Abhandlungen von Cayley, _On the curves which satisfy given conditions_[427] enthalten sind, sowie in einigen Arbeiten von Jonquières über Systeme von Kurven und Flächen.[428] Endlich gehören hierher noch die Untersuchungen von Hirst[429] und Sturm[430] über Systeme von Projektivitäten und Korrelationen, sowie die von Zeuthen[431] über die Plückerschen Charakteristiken der Enveloppen. Wir wollen noch bemerken, daß zwischen den Systemen ebener Kurven und den Differentialgleichungen erster Ordnung mit zwei Variabelen eine sehr innige Beziehung besteht, die sich zu erkennen giebt, indem die Integrale einer dieser Gleichungen ein System von Kurven darstellen. Die gegebene Differentialgleichung läßt jedem Punkte eine bestimmte Anzahl von ihm ausgehender Richtungen entsprechen und einer Geraden eine bestimmte Anzahl auf ihr liegender Punkte. Auf diese Beziehungen wurde Clebsch durch seine Untersuchungen über die Konnexe[432] (vgl. § VI) und unabhängig von Fouret[433] {68} geführt. In ähnlicher Weise kann man eine Beziehung zwischen den Differentialgleichungen erster Ordnung mit drei Variabelen und einem Systeme von Oberflächen aufstellen, wie dies ebenfalls Fouret[434] bemerkt hat. Dieser Zusammenhang ist von grosser Wichtigkeit, weil er gestattet, Sätze auf transcendente Kurven oder Oberflächen auszudehnen, von denen man glaubte, daß sie nur für algebraische Kurven oder Oberflächen gültig seien; so konnte Fouret den Satz über die Zahl der Kurven eines Systemes, welche eine gegebene algebraische Kurve berühren, auf Systeme von transcendenten Kurven ausdehnen,[435] konnte ferner die Ordnung des Ortes der Berührungspunkte eines einfach unendlichen Systemes von Oberflächen mit den Oberflächen eines doppelt unendlichen Systemes bestimmen,[436] ebenso die Ordnung des Ortes der Berührungspunkte der Oberflächen eines doppelt unendlichen Systemes mit einer gegebenen algebraischen Oberfläche[437] u. s. w.[438] Trotz dieser und anderer Arbeiten, die ich der Kürze wegen übergehe, war die ganze Tragweite der Chaslesschen Betrachtungen noch nicht offenbar geworden; das geschah durch den letzten, von dem ich zu sprechen habe, durch Hermann Schubert in seinem _Kalkül der abzählenden Geometrie_.[439] Dieses Buch, das noch viel zu wenig {69} geschätzt wird, kann man mit Recht als dasjenige betrachten, welches zuerst von Grund auf das Problem behandelte, »zu bestimmen, wie viele geometrische Gebilde von gegebener Definition einer hinreichenden Zahl von Bedingungen genügen,« d. h. das Problem der abzählenden Geometrie. Dort sind die Korrespondenzprinzipien unter ihrem wahren Gesichtspunkte auseinandergesetzt,[440] dort ist klar erörtert, was man unter dem Charakteristikenproblem einer bestimmten Figur zu verstehen hat, und sind Methoden von außerordentlicher Macht für dessen Lösung gezeigt. Die Schubertschen Methoden sind dazu bestimmt, eines Tages das übliche Hilfsmittel für den Mathematiker zu werden, wie es augenblicklich die Cartesische Geometrie ist, und niemand wird mich der Übertreibung beschuldigen, der bedenkt, daß dieselben in einer Unzahl von Fällen zur Lösung des allgemeinen Problemes der Elimination dienen, d. h. die Zahl der Lösungen eines Systemes von algebraischen Gleichungen zu bestimmen. Daher müssen alle, Analytiker und Geometer, dem Werke von Schubert, durch welches er die abzählende Geometrie zu einer besonderen Disziplin erhoben hat, reiches Lob zollen, oder besser, anstatt es blos zu bewundern, sich {70} vornehmen, die fruchtbaren Methoden desselben zu vervollkommnen und sie von Mängeln frei zu machen, d. h. sie von dem Tadel, der ihnen von einigen gemacht worden ist, daß sie nicht ganz strenge seien, zu befreien und sie selbst oder wenigstens die Anwendungen, deren sie fähig sind, zu vermehren. Die auf die Theorie der Charakteristiken bezüglichen Andeutungen[441] würden eine unverzeihliche Lücke darbieten, wenn sie nicht einen Hinblick auf eine wichtige Frage böten, die zwischen einigen Geometern ventiliert wurde, und die man heute als schon gelöst betrachten darf. Geleitet nämlich durch einen Induktionsschluß, behauptete Chasles, daß die Zahl derjenigen Kegelschnitte eines einfach unendlichen Systemes, welche einer neuen einfachen Bedingung genügen, ausgedrückt wird durch eine homogene lineare Funktion der Charakteristiken des Systemes, deren Koeffizienten einzig und allein von dieser Bedingung abhängen. Darboux,[442] Clebsch,[443] Lindemann,[444] Hurwitz und Schubert,[445] sowie noch andere glaubten diesen Satz beweisen zu können. Aber daß die von ihnen angeführten Gründe nicht beweiskräftig waren, wurde in einer Reihe von Arbeiten gezeigt, in welchen Halphen[446] die Hinfälligkeit der Vermutung Chasles' klar legte und zeigte, wie man den vorher angeführten Satz modifizieren müsse. In der Theorie der Charakteristiken der Systeme von Flächen zweiten Grades hat man einen analogen Satz, den ebenfalls Halphen[447] entdeckt hat. Jedoch glaube man nicht, daß diese Sätze {71} von Halphen die Resultate zerstören, welche man erhalten, indem man den Chaslesschen Weg einschlug; vielmehr sind dieselben glücklicherweise meistenteils unabhängig von dem fraglichen Theorem, und für die anderen Fälle ist es leicht zu zeigen, welche Korrektionen man machen muß.[448] * * * * * V. Theorie der Kurven doppelter Krümmung. ------ Die Theorie der ebenen Kurven kann man in zwei verschiedenen Richtungen verallgemeinern. Indem man die Thatsache ins Auge faßt, daß eine solche Kurve durch eine Gleichung zwischen den Koordinaten eines Punktes einer Ebene dargestellt wird, so ergiebt sich als Analogon im Raume die Theorie der Oberflächen, indem diese als durch eine Gleichung zwischen den Koordinaten eines Punktes im Raume darstellbar betrachtet werden, auf welche Betrachtung wir im Vorhergehenden eingegangen sind. Wenn man hingegen eine ebene Kurve als eine Reihe von einfach unendlich vielen Punkten ansieht, so kann man die Theorie ausdehnen, indem man die Beschränkung aufhebt, daß diese in einer Ebene gelegen seien: dann entsteht die Theorie der unebenen Kurven. Das Studium der Infinitesimaleigenschaften derselben kann man leicht genug mit Hilfe von Methoden machen, die nicht sehr verschieden sind von denjenigen, die für die {72} ebenen Kurven angewandt werden. Deshalb wurde dasselbe, wie ich schon sagte, vor mehr als einem Jahrhundert von Clairaut unternommen und wurde hernach von Lancret (1774-1807),[449] Monge,[450] Tinseau,[451] de Saint-Venant (1797-1886),[452] von Frenet,[453] Alfred Serret[454] und Paul Serret, von Liouville (1809-1882),[455] Bertrand,[456] von Puiseux (1820-1883),[457] von Lie[458] und vielen anderen fortgesetzt.[459] Aber abgesehen von dieser Betrachtungsrichtung bietet das Studium der übrigen allgemeinen Eigenschaften der unebenen Kurven sehr große Schwierigkeiten. Man vermutete eine Zeit lang, daß jede Kurve im Raume als der vollständige Schnitt zweier Oberflächen angesehen werden und daher durch ein System von zwei Gleichungen zwischen den Koordinaten eines Punktes im Raume dargestellt werden könnte;[460] aber bald erkannte man die Existenz von Kurven, die nicht der vollständige Schnitt von Oberflächen sind, und die Notwendigkeit, dieselben nicht vermittelst zweier, {73} sondern dreier Gleichungen darzustellen, die ebenso vielen durch dieselbe hindurchgehenden Oberflächen entsprechen. Man setzte voraus, daß die Kenntnis der Ordnung zur Einteilung der unebenen Kurven hinreichen würde, aber sobald man an die vierte Ordnung gekommen war, erkannte man, daß dieselbe nicht genüge.[461] Man hätte nun glauben sollen, daß die Ordnung und die Zahl der scheinbaren Doppelpunkte für den besagten Zweck hinreichen würden, aber als man an die neunte Ordnung herantrat, sah man, daß man sich geirrt habe.[462] Auch eine dritte Zahl, die niedrigste Ordnung der Kegel, die durch die von einem Punkte herkommenden Sehnen (Doppelsekanten) der Kurve gehen, konnte nur bei den Kurven von niederer, als der fünfzehnten Ordnung dazu verhelfen. So kam man denn zu dem Schlusse, daß es unmöglich sei, eine gegebene Kurve vermittelst einer bestimmten Menge von vornherein angebbarer Zahlen zu charakterisieren. Ich habe diese Thatsachen anführen wollen, um zu zeigen, daß die allgemeine Theorie der unebenen Kurven keine Ähnlichkeit mit irgend einem anderen Teile der Geometrie zeigt und, indem ich auf die erschreckliche Dunkelheit, die sie darbietet, hinwies, dem Leser das Mittel geben wollen, den Grund zu finden, warum die Kenntnisse, die wir über diese Gebilde haben, so wenig zahlreich und erst neueren Ursprunges sind. Die ersten allgemeinen Resultate über die Kurven doppelter Krümmung verdanken wir Cayley, welcher ihnen zwei wichtige Abhandlungen gewidmet hat. In einer derselben stellte er die Formeln (analog denen von Plücker) auf, welche die Zahl der Singularitäten einer Raumkurve {74} untereinander verbinden.[463] In der anderen führte er für das Studium der Raumkurven von der Ordnung n diejenigen bemerkenswerten Flächen ein, welche er »Monoide« nannte.[464] Nach diesen Arbeiten müssen wir, um einen wirklich bemerkenswerten Fortschritt in der Theorie, welche uns beschäftigt, zu finden, uns zu Halphen und Nöther wenden, deren Abhandlungen[465], im Jahre 1882 von der Akademie zu Berlin mit dem Preise gekrönt, die Grundlage für eine allgemeine Theorie der Raumkurven sind; denn sie behandeln die Probleme: »alle voneinander verschiedenen Kurven von gegebener Ordnung zu bestimmen«, »anzugeben, welche Kurven es auf einer gegebenen Oberfläche giebt« und noch viele andere von nicht geringer Bedeutung. Diese beiden Arbeiten verschlingen sich so enge und durchdringen sich so innig, daß es sehr schwer wird, zu entscheiden, welcher Anteil jedem der beiden Autoren in den vielen gemeinsamen {75} Resultaten zufällt, die sie enthalten. Wenn einerseits Nöther die Theoreme, welche Ende des Jahres 1870 von Halphen in den _Comptes rendus_ und an anderen Stellen[466] ausgesprochen sind, ausbeuten konnte, so konnte dieser sich der Sätze bedienen, welche in der sehr bedeutenden Abhandlung von Brill und Nöther, _Über die algebraischen Funktionen und ihre Anwendung in der Geometrie_[467] enthalten sind, und in derjenigen, in welcher Nöther streng den Fundamentalsatz der Theorie der algebraischen Funktionen dargethan hatte, welcher in der Auseinandersetzung von Halphen unumgänglich notwendig war.[468] Und man glaube nicht, daß die von den beiden Geometern bei ihrem Thema eingeschlagenen Wege im wesentlichen verschieden gewesen seien, vielmehr benutzten sie beide (wie Cayley geraten hatte) Monoide, und wenn der eine vorzugsweise Formeln und Sätze aus der Theorie der Abelschen Integrale gebraucht, so wendet der andere solche Lehrsätze über die algebraischen Funktionen an, welche zu denselben Eigenschaften führen. Jedenfalls steht es außer Zweifel, daß diese beiden hervorragenden Produktionen unseres Zeitalters bestimmt sind, die Grundlage für die zukünftigen geometrischen Untersuchungen zu bilden, und wenn bis jetzt sich ihr Einfluß noch nicht so allgemein geltend gemacht hat, so ist dieses vorzugsweise den großen Schwierigkeiten zuzuschreiben, die ihr Gegenstand noch immer darbietet, und vielleicht auch den Lücken, die in den Methoden vorhanden sind, die man zu Hilfe nehmen könnte, um jene zu überwinden.[469] {76} Aber vor der Begründung der allgemeinen Theorie wurden viele einzelne Kurven einem genaueren Studium unterworfen; da ich aber wünsche, mehr als getreuer, denn als glänzender Geschichtsschreiber angesehen zu werden, so muß ich hier eine Aufzählung der Arbeiten unternehmen, in welchen die hervorragenderen unter diesen Untersuchungen enthalten sind. »_Degli altri fia laudabile il tacerci,_ _Chè il tempo saria corto a tanto suono._«[470] Unter ihnen verdienen den ersten Platz diejenigen, welche die kubischen Raumkurven behandeln. Über diese haben Möbius[471] und Chasles[472] verschiedene sehr schöne Eigenschaften aufgefunden; dieselben vermehrten sich mit solcher Schnelligkeit, daß Staudt[473] binnen kurzem die vollständige Analogie, die zwischen ihnen und den Kegelschnitten besteht, feststellen konnte; diese Analogie hat sich von Tag zu Tag mehr vervollkommnet, dank den Studien von Seydewitz,[474] Joachimsthal[475] Cremona,[476] {77} Schröter,[477] Reye,[478] Emil Weyr,[479] Sturm,[480] Hurwitz,[481] welche nicht allein die Aufstellung einer vollständigen synthetischen Behandlung dieser Kurven gestatten, sondern auch das Terrain für die so elegante analytische Auseinandersetzung ebneten, die mein innigst geliebter Lehrer E. d'Ovidio[482] und Pitarelli[483] gemacht haben. Dann will ich die Theorie der unebenen, auf einem einschaligen Hyperboloide gezeichneten Kurven anführen, für welche Chasles[484] das Fundament gelegt hat, und die von unserem Cremona[485] so sehr bereichert ist. Ferner will {78} ich der vielen Eigenschaften erwähnen, welche Poncelet,[486] Chasles,[487] Cremona,[488] Reye,[489] Paul Serret,[490] Laguerre,[491] Milinowski[492] und viele andere über die Raumkurven vierter Ordnung erster Art gefunden haben, und die schönen Anwendungen, die sie für die Theorie der zweifach periodischen Funktionen geliefert haben, -- Harnack,[493] Lange,[494] Westphal,[495] Léauté[496] u. s. w. Auch kann ich die schönen Arbeiten von Cremona,[497] von Armenante,[498] Bertini[499] und Em. Weyr[500] über die Raumkurven vierter Ordnung zweiter Art nicht stillschweigend übergehen, ferner nicht die von Klein und Lie über die durch unendlich viele lineare Transformationen in sich selbst transformierten {79} Kurven,[501] noch auch die von Fiedler[502] angestellte Bestimmung der Kurven von nicht höherer als neunter Ordnung, die zu ihren eigenen Tangenten-Developpabelen dual sind. Und wie könnte ich es unterlassen, einen Blick auf die große Zahl von Kurven zu werfen, welche Cremona und Sturm[503] studiert haben, indem sie sich mit der Geometrie auf einer Oberfläche dritter Ordnung beschäftigten, dann auf die wichtigen Probleme, die von Clebsch und seinen Schülern über die rationalen,[504] elliptischen und hyperelliptischen[505] Kurven gelöst sind, und die eleganten Eigenschaften, welche Bertini[506] an den rationalen Kurven fünfter Ordnung auffand, sowie W. Stahl[507] bei denjenigen, deren Punkte auf einer Oberfläche zweiten Grades liegen, während die Oskulationsebenen eine solche zweiter Klasse berühren? Indem der unerfahrene Leser so bedeutende und so verschiedene Untersuchungen aufzählen hört, wird er sich von einem gewissen Kleinmute bedrängt fühlen und sich fragen, wie es in kurzer Zeit möglich sei, dieselben, wenn auch nicht alle, so doch größtenteils sich anzueignen? Man beruhige sich. Die Übersicht ist für den Studierenden viel weniger schwierig, als es nach meiner Besprechung scheinen könnte. Die von den Geometern der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts aufgestellten Prinzipien sind so fruchtbar, daß, wenn jemand sich dieselben gründlich zu eigen gemacht hat, er nicht allein selbst viele weitere Untersuchungen ableiten, sondern auch noch darnach streben kann, die Wissenschaft selbst weiter zu fördern. Und dieses -- was sicherlich ein {80} nicht zu unterschätzender Vorzug der heutigen Wissenschaft vor der unserer Väter ist -- wurde in Kürze von einem ihrer Gründer mit den fortan klassischen Worten ausgesprochen: _»Peut donc qui voudra dans l'état actuel de la science généraliser et créer en géométrie; le génie n'est plus indispensable pour ajouter une pierre à l'édifice«_,[508] goldene Worte, welche jeder, der Mathematik betreiben will, sich einprägen muß; indem sie ihn auf einen wahrscheinlichen Sieg hoffen lassen, werden sie ihn anspornen, sich mutig den geistigen Kämpfen entgegenzustellen, die ihn erwarten. * * * * * VI. Abbildungen, Korrespondenzen, Transformationen. ------ Bei dieser flüchtigen Musterung der neuesten geometrischen Entdeckungen gelangen wir nun zur Lehre von den Abbildungen, Korrespondenzen und Transformationen. -- Es ist bekannt, daß zwischen zwei ebenen Punktfeldern eine Korrespondenz (Verwandtschaft) besteht, wenn jedem Punkte des einen eine Gruppe von Punkten des anderen zugeordnet ist; diese heißen dann die »entsprechenden« zu jenem. Wenn im speziellen Falle jeder Punkt des einen Feldes einen einzigen entsprechenden in dem anderen hat, so heißt die Korrespondenz »eindeutig«. Die einfacheren Fälle der eindeutigen Korrespondenz sind die Homologie -- von Poncelet studiert (1822) -- und die Kollineation (Homographie), von Möbius (1827), Magnus (1833) und Chasles (1837) studiert. In diesen Fällen entspricht nicht nur jedem Punkte ein Punkt, sondern {81} auch jeder Geraden eine Gerade. -- Ein Beispiel einer komplizierteren Korrespondenz wurde von Steiner (1832) durch folgende Konstruktion erhalten:[509] Gegeben sind zwei getrennte Ebenen und zwei windschiefe Geraden; durch jeden Punkt der einen von jenen ziehe man die Gerade, welche die beiden gegebenen Geraden schneidet, und bestimme den Schnittpunkt mit der anderen Ebene. Indem man diesen Schnittpunkt dem in der ersten Ebene gewählten Punkte zuordnet, erhält man eine eindeutige Beziehung von der Art, daß jeder Geraden in der einen Ebene ein Kegelschnitt in der anderen entspricht. Läßt man nun die beiden Ebenen zusammenfallen, so erhält man eine Korrespondenz, welche im wesentlichen nicht von der durch Poncelet[510] zwischen in bezug auf ein Kegelschnittbüschel konjugierten Punkten gefundenen verschieden ist, und welche auf analytischem Wege von Plücker[511] untersucht wurde, sodann von Magnus (1790-1861)[512] und von unserem Schiaparelli,[513] synthetisch aber von Seydewitz[514] und später von Reye.[515] -- Auf ein drittes Beispiel führte die Lösung einiger Probleme aus der mathematischen Physik; man gelangt dazu auf folgende Weise: Gegeben sei in einer Ebene ein fester Punkt, man associiert zwei mit ihm in gerader Linie gelegene Punkte, deren Abstände von ihm umgekehrt proportional sind. Man erhält dann eine eindeutige Korrespondenz, welche jede Gerade in einen Kreis, und jeden Kreis wieder in einen Kreis verwandelt. Diese wurde von Sir William Thomson[516] {82} als »Prinzip der elektrischen Bilder« studiert und ist unter dem Namen »Transformation durch reciproke Radien« oder »Inversion« allgemein bekannt.[517] Alle diese Transformationen sind linear oder quadratisch, da sie eine Gerade in eine Kurve erster oder zweiter Ordnung verwandeln. Jedoch machte Magnus schon die Bemerkung, daß, wenn man eine quadratische Transformation wiederholt, man im allgemeinen eine solche höherer Ordnung erhält.[518] Diese wichtige Bemerkung blieb aber bis zu dem Zeitpunkte unfruchtbar (1863), in welchem Cremona von den wenigen bisher erörterten Fällen zur allgemeinen Theorie der geometrischen Transformationen der ebenen Figuren überging.[519] {83} Um dem Leser die Bedeutung der Schriften, welche Cremona dieser Theorie[520] gewidmet hat, zu zeigen, würde ich auseinanderzusetzen haben, auf welche Weise dieser große Geometer das Studium der eindeutigen Transformationen auf das eines homaloidischen Netzes von Kurven zurückgeführt hat, und die Bestimmung eines solchen Netzes auf die Lösung eines unbestimmten Systemes von linearen Gleichungen; aber da die Anlage meiner Abhandlung mir das nicht gestattet, so muß ich mich darauf beschränken, ihn davon durch den alten Beweis des »_consensus omnium_« zu überzeugen. Dann führe ich noch die Namen von Geometern an wie Cayley,[521] Clebsch,[522] Nöther,[523] Rosanes,[524] S. Roberts,[525] die sich bemüht haben, die (bei der ersten Behandlung des Stoffes unvermeidlichen) Lücken, die sich in den Cremonaschen Abhandlungen[526] fanden, auszufüllen; ferner die Arbeiten von Ruffini,[527] Jonquières,[528] Kantor,[529] Guccia,[530] Autonne,[531] welche mit dieser Lehre {84} eng zusammenhängende Fragen behandeln, endlich die von Hirst,[532] T. Cotterill[533] (1808-1881), von Sturm,[534] Schoute[535] und sehr vielen anderen, welche sich das bescheidenere Ziel gesetzt haben, die Verbreitung derselben durch geeignete Beispiele und elegante Formeln zu erleichtern.[536] Unter den Arbeiten, welche sich an die von Cremona anschließen, verdienen eine hervorragende Stelle diejenigen von Bertini,[537] welche er den ebenen involutorischen Transformationen gewidmet hat, welche Arbeiten noch größere Einfachheit und Eleganz erhielten durch den Begriff der Klasse und andere Begriffe, die von Caporali[538] (1855-1886) eingeführt wurden, jenem ausgezeichneten Geometer, dessen frühen Verlust ganz Italien betrauert.[539] {85} Von ganz verschiedenem Charakter sind hingegen die eleganten Untersuchungen von Laguerre über solche Transformationen, welche er »Transformationen durch reciproke Richtungen« nannte; da es nicht möglich ist, den Grundgedanken in wenigen Worten zusammenzufassen und die vielfachen Anwendungen, welche der Erfinder davon gemacht hat, anzudeuten, verweisen wir den Leser auf die Originalarbeiten des hervorragenden französischen Geometers.[540] Von der Theorie, die wir jetzt besprechen, bildet auch die Lehre von den »isogonalen Transformationen« einen Teil, welcher sich auf die geometrische Darstellung der komplexen Zahlen stützt und deren Nützlichkeit (welche vielleicht grösser {86} ist für die mathematische Physik als für die reine Geometrie) Möbius,[541] Siebeck,[542] Durège,[543] Beltrami,[544] Vonder-Mühll,[545] F. Lucas,[546] Wedekind[547] und neuerdings Holzmüller[548] dargethan haben.[549] {87} Den Begriff der eindeutigen Korrespondenz zwischen zwei Ebenen kann man auf verschiedene Weise verallgemeinern; die Weisen, die sich so ziemlich von selbst darbieten, sind folgende: Vor allem, ohne die Ebene zu verlassen, kann man eine Korrespondenz aufstellen zwischen jedem Punkte derselben und einer Kurve eines doppelt unendlichen Systemes in derselben oder auch einer anderen Ebene;[550] diese Art der Korrespondenz ist eine Erweiterung der Korrelation (Reciprocität) zwischen zwei Feldern; angegeben von Plücker, wurde dieselbe von Clebsch[551] entwickelt und veranlaßte die Theorie der Konnexe.[552] {88} Wenn man dann zum Raume übergeht, kann man eine Korrespondenz zwischen den Punkten zweier Oberflächen aufstellen (insbesondere zwischen den Punkten einer krummen Oberfläche und denen einer Ebene) oder zwischen den Punkten zweier Räume. Die Darstellung einer Oberfläche auf einer Ebene kann man bis ins Altertum zurückverfolgen, da schon Hipparch und Ptolomaeus (und wahrscheinlich andere vor ihnen) sich die Aufgabe der Herstellung geographischer Karten gestellt und Lösungen derselben mitgeteilt haben, die auf derjenigen Projektion beruhen, welche man heute die stereographische nennt. -- Die Projektion von Mercator (1512-1594), die Untersuchungen von Lambert (1728-1777) und Lagrange, die berühmte Antwort von Gauß auf eine von der dänischen Akademie gestellte Frage[553] zeigen, wie die täglichen Bedürfnisse der Geographie und Navigationskunde unaufhörlich die Gelehrten angetrieben haben, sich mit dem Probleme der eindeutigen Darstellung der Oberfläche unseres Planeten auf einer Ebene zu beschäftigen.[554] -- Die erste Abbildung einer Oberfläche auf einer anderen jedoch, die nur in der Absicht gemacht wurde, um eine derselben leichter studieren zu können, verdanken wir Gauß, der 1827 in seinen berühmten _Disquisitions generales circa superficies curvas_ es als sehr vorteilhaft erkannte, die Punkte {89} einer beliebigen Oberfläche den Punkten einer Kugelfläche entsprechen zu lassen, indem man zwei solche Punkte zuordnet, deren Normalen einander parallel sind.[555] Eine besondere Eigentümlichkeit dieser Korrespondenz ist die, daß, um Eindeutigkeit zu erhalten, es fast immer nötig ist, nur den Teil der Oberfläche abzubilden, den man gerade ins Auge faßt; wir wollten diese Eigenschaft nicht stillschweigend übergehen, da deren Anführung uns Gelegenheit giebt, den Unterschied hervorzuheben, der zwischen der sphärischen Abbildung und den Abbildungen besteht, welche von Plücker,[556] Chasles[557] und Cayley[558] für das Studium der Geometrie auf einer Fläche zweiten Grades, denen, die von Clebsch[559] und Cremona[560] für das Studium der Geometrie auf einer kubischen Fläche, und von denen endlich, die von späteren Geometern für die Untersuchung anderer Flächen vorgeschlagen sind. Die erste Arbeit, welche _ex professo_ die Theorie der Abbildungen dieser Art behandelt, verdankt man Clebsch.[561] Die zahlreichen Beispiele, durch welche der Verfasser in dieser Arbeit, sowie in einigen älteren und späteren[562] die allgemeine Theorie illustrierte, haben zur Aufstellung der Geometrie auf einer grossen Zahl von Flächen mit vielen Einzelheiten geführt. Ferner haben die fast gleichzeitigen Abhandlungen {90} von Cremona[563] und Nöther,[564] sowie die ihnen folgenden von Armenante,[565] Klein,[566] Korndörfer,[567] Caporali[568] und von noch anderen[569] im Verlaufe weniger Jahre diese Zahl außerordentlich vermehrt.[570] Man kann sich eine ziemlich genaue Vorstellung von dem Reichtum dieses Zweiges der Geometrie machen, wenn man die schöne Abhandlung von Caporali über die dreifach unendlichen linearen Systeme ebener Kurven liest,[571] in welcher er einerseits die Theorie der Abbildung einer Oberfläche auf eine Ebene auf das Studium solcher Systeme anwandte, andererseits in derselben wertvolle Hilfsmittel der Untersuchung fand. Bei dem Studium der Abbildung einer Oberfläche bietet sich von selbst eine wichtige Frage dar, nämlich die, ob sie alle eindeutig auf eine Ebene abbildbar sind, oder allgemeiner: ob zwei Oberflächen sich als Punkt für Punkt {91} einander entsprechend darstellen lassen. Und da man leicht erkannte, daß die Antwort auf diese Frage eine negative sei, so wurde man natürlich auf die andere Frage geführt: Welche Oberflächen lassen sich eindeutig auf einer Ebene abbilden? Oder allgemeiner: Welche Oberflächen kann man eindeutig auf einer gegebenen abbilden? -- Die analoge Frage für zwei (ebene oder unebene) Kurven wurde von Clebsch vermittelst der Betrachtung des Geschlechtes und der Moduln gelöst. Diese Analogie veranlaßte nun Clebsch, die Lösung des vorhin angegebenen Problems in einer Ausdehnung des Begriffes des Geschlechtes auf die Oberflächen[572] zu suchen. Dieser Versuch wurde jedoch nach meinem Dafürhalten nicht von gutem Erfolge gekrönt, und auch heute muß man trotz der nach Clebsch angestellten Versuche ausgezeichneter Mathematiker wie Cayley,[573] Nöther,[574] Zeuthen[575] die Frage als noch ungelöst betrachten; um das zu beweisen, genügt es zu sagen, daß, wenn es auch bekannt ist, daß alle Oberflächen zweiter und dritter Ordnung (die nicht Kegelflächen sind) eindeutig auf einer Ebene abbildbar sind, doch noch nicht alle Oberflächen vierter Ordnung bestimmt sind, welche dieselbe Eigenschaft haben.[576] {92} Die allgemeineren Resultate, die man auf diesem Gebiete kennt, waren, wenn ich nicht irre, von Nöther[577] erhalten; dieser gelangte durch eine überaus elegante analytische Betrachtung bei jeder Oberfläche, welche eine einfach unendliche Schar rationaler Kurven enthält, zu einer Abbildung derselben auf einem Kegel. Die Schwierigkeit aber, auf welche man bei der eindeutigen Abbildung gewisser Oberflächen auf eine Ebene stieß, ließen bei Clebsch den Gedanken entstehen, zwischen einer Oberfläche und einer Ebene eine vielfache Korrespondenz aufzustellen, oder auch (wie er an die Riemannschen Flächen denkend sagte) eine Fläche auf eine vielfache Ebene abzubilden und dann diese auf eine einfache Ebene zu beziehen.[578] Diese Idee, deren Keime sich vielleicht bis zu der von Chasles[579] vorgeschlagenen Verallgemeinerung der stereographischen Projektion zurückverfolgen lassen, konnte nicht mehr vollständig von ihrem Urheber entwickelt werden; jedoch blieben die von ihm gegebenen Andeutungen nicht unfruchtbar, vielmehr entstand aus ihnen die Theorie der doppelten ebenen Transformationen, welche de Paolis aufgestellt und durch vielfache Anwendungen erläutert hat.[580] Die zweite Verallgemeinerung der Cremonaschen Transformationen veranlaßte die Theorie der rationalen Transformationen im Räume. Zwei Beispiele einer solchen Korrespondenz boten sich in der Homographie zweier Räume (und deren Spezialfällen) dar und -- wie Magnus,[581] Hesse[582] und Cremona[583] bemerkt haben -- in der Transformation, die man erhält durch drei zu demselben Räume korrelative (reciproke) Räume, indem man jedem Punkte jenes Raumes {93} den Schnitt der Ebenen zuordnet, die ihm in diesen entsprechen. Die allgemeine Theorie entstand jedoch erst um das Jahr 1870 durch die Bemühungen Cayleys,[584] Nöthers[585] und Cremonas,[586] obwohl schon Magnus[587] Ende 1837 dieselbe angestrebt und ihre Wichtigkeit eingesehen hatte. Von den bemerkenswerten Arbeiten, in welchen diese Gelehrten unsere Theorie im allgemeinen begründeten, ist ohne Zweifel die wichtigste jene, die wir der Feder unseres berühmten Landsmannes verdanken. Geleitet durch die Analogie, welche diese Disziplin mit der der eindeutigen Korrespondenz zwischen zwei Ebenen darbietet, zeigte er, wie jene sich auf das Studium der dreifach unendlichen homaloidischen Systeme von Oberflächen zurückführen läßt. Darauf setzte er auf eine sehr schöne Weise auseinander, wie man unendlich viele solcher Systeme erhalten könne, wenn man die ebene Abbildung einer Oberfläche kennt, und zeigte zuletzt durch treffende Beispiele, wie man die Theorie der rationalen Transformationen auf die Abbildung vieler Flächen auf andere zurückführt, insbesondere auf die ebene Abbildung einiger von ihnen. Diese Anwendung, vereint mit der obenerwähnten Methode, zeigt klar, wie man aus der ebenen Abbildung einer Oberfläche nicht nur die Abbildungen von unendlich vielen anderen erhalten kann, sondern auch unzählig viele rationale Transformationen des Raumes. Ungeachtet der Schriften, durch welche England, Deutschland und Italien so mächtig zur Gründung und Erweiterung dieser Theorie beigetragen haben, kann man doch nicht sagen, daß dieselbe den Grad der Vollendung erreicht habe, {94} den andere erlangt haben. Das kommt vielleicht daher, daß die schwierigsten Fragen, welche sich in derselben darbieten, innig mit der Bestimmung der Singularitäten der Oberflächen zusammenhängen, und über diese -- wir müssen es leider gestehen -- sind unsere Kenntnisse noch sehr beschränkt. Darin hat man vielleicht die Erklärung der Thatsache zu suchen, daß die Geometer, die auf jene oben erwähnten folgten, sich mehr mit der Erläuterung der Methoden ihrer Meister, als mit der Vervollkommnung derselben und der Ausfüllung ihrer Lücken beschäftigt haben.[588] Und dennoch -- wenn auch das Studium der Figur selbst ohne Zweifel dem der transformierten vorzuziehen ist -- giebt es bei dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft sehr wenige Theorien, die so sehr es verdienen, daß man sie in allen ihren Einzelheiten vervollkommne, als gerade diese. In der That, um die Worte eines großen Mannes zu gebrauchen, »wenn man über das Verfahren der Algebra nachdenkt und den Grund {95} der gewaltigen Vorteile aufsucht, die sie der Geometrie bietet, sieht man da nicht, daß sie dieselben der Leichtigkeit verdankt, mit welcher man anfänglich eingeführte Ausdrücke Transformationen unterziehen kann, Transformationen, deren Geheimnis und deren Mechanismus die wahre Wissenschaft bilden und die das ständige Ziel der Analysten sind? Ist es darum nicht natürlich, zu versuchen, in die reine Geometrie analoge Transformationen einzuführen, welche direkt auf die vorgelegten Figuren und ihre Eigenschaften hinsteuern?[589] Auf das allgemeine Studium der Transformationen folgt das solcher Transformationen, bei denen man einen gewissen Zweck im Auge hat,[590] z. B. die Verwandlung der Figuren in sich selbst oder ihre Zurückführung zur ursprünglichen Figur, wenn die Transformationen mehrmals hintereinander angewandt werden. Es existieren in der That auch schon einige gute Arbeiten, in welchen die Kollineationen und Korrelationen behandelt sind, welche eine Fläche zweiter Ordnung, einen linearen Komplex[591] oder eine kubische Raumkurve[592] in sich selbst transformieren, sowie über die cyklischen Projektivitäten.[593] {96} Wir wollen diesen Abschnitt unserer Arbeit beschließen, indem wir noch einige Worte über die vielfachen Transformationen zwischen zwei Gebilden zweiter und dritter Stufe sagen, auf welche ich nur im Vorübergehen hinweisen konnte, indem ich einige Abhandlungen von Paolis anführte. Der erste, der sich mit ihnen beschäftigte, war Chr. Wiener,[594] welcher sie untersuchte, indem er eine eindeutige Korrespondenz in der Ebene herstellte zwischen den Geraden einer Ebene und den Kurven eines linearen Systemes; dann ist einem Punkte, betrachtet als Schnitt zweier Geraden, die Gruppe der Grundpunkte des Büschels zugeordnet, der durch die entsprechenden Kurven konstituiert wird. Diese Art und Weise, vielfache Transformationen zu erzeugen, wurde von Tognoli[595] auf den Raum ausgedehnt; derselbe ließ jedem Punkte, betrachtet als Schnitt dreier Ebenen, die Grundpunkte desjenigen Netzes entsprechen, das durch die drei den drei Ebenen entsprechenden Oberflächen eines dreifach unendlichen linearen Systemes bestimmt wird. Solche Untersuchungen haben sich bis jetzt jedoch noch nicht als sehr fruchtbar gezeigt. Ziemlich wichtig dagegen sind die schon genannten Untersuchungen von Paolis über die doppelten Transformationen. Das zeigen die Arbeiten, in denen Visalli[596] und Jung[597] die vielfachen Transformationen untersucht haben und welche die Fortsetzungen jener sind. Mit einigen speziellen vielfachen Transformationen des Raumes haben sich Reye[598] und Segre[599] beschäftigt und von ihnen elegante Anwendungen gemacht. Aschieri[600] übertrug eine spezielle ebene zweifache Transformation, welche Paolis bearbeitet hatte, auf den Raum und dehnte auch die {97} Anwendungen, die jener davon gemacht hatte, auf die Nicht-Euklidische Geometrie aus. Allgemeine Untersuchungen auf diesem Gebiete haben wir jedoch keine außer den wenigen, die in einer kurzen Arbeit von Reye[601] aufgezeichnet sind, und den sehr wichtigen über die doppelten Transformationen des Raumes von Paolis.[602] Wir zweifeln nicht, daß diese und jene als Grundlage einer allgemeinen Theorie der zweifachen Transformationen, die wir noch erwarten, dienen können; und wir erwarten dieselbe mit Ungeduld, da wir sicher sind, daß dieselbe der Geometrie nicht geringere Dienste leisten wird, als die sehr bekannten, die ihr durch die birationalen Transformationen geleistet sind, und jene, die, wie Paolis bemerkt, die doppelten leisten können. Neben die vielfachen Korrespondenzen zwischen zwei Räumen von Punkten (oder Ebenen) kann man die zwischen einem Punktraume und einem Ebenenraume stellen. Untersucht wurden dieselben für den Fall, daß durch jeden Punkt die entsprechenden Ebenen gehen und in jeder Ebene die entsprechenden Punkte liegen. Zusammen betrachtet bilden die zwei Räume ein höheres Nullsystem oder Punktebenensystem. Die Theorie dieser Systeme ist in diesen letzten Jahren besonders durch die Arbeiten von Ameseder,[603] von Sturm[604] und Voß[605] hervorgetreten, während Reye[606] das Verdienst zukommt, den Begriff des gemeinen Nullsystemes[607] zuerst, doch in einer anderen Weise -- die entsprechenden Elemente sind nicht Punkte und Ebenen, sondern Flächen zweiter Ordnung und zweiter Klasse -- erweitert zu haben. {98} * * * * * VII. Geometrie der Geraden. ------ Die griechische Geometrie betrachtet den Punkt als das erzeugende Element aller Figuren; die analytische Geometrie des Cartesius machte die Bestimmung des Punktes zur Grundlage aller ihrer Rechnungen. Das Prinzip der Dualität führte nun die Gelehrten zu dem Schlüsse, daß die Gerade in der Ebene und die Ebene im Raume mit gleichem Rechte und gleichem Erfolge, wie der Punkt, die Rolle spielen könne, die bis jetzt dieser in der Geometrie inne gehabt, und führte in der Folge dazu, die Gerade und die Ebene als Elemente der Ebene und des Raumes anzunehmen und ein neues System der (synthetischen und analytischen) Geometrie aufzustellen. Das Verdienst dieses bemerkenswerten Fortschrittes gebührt größtenteils Plücker.[608] Aber ganz auf Plücker fällt der Ruhm, ein drittes die räumlichen Gebilde erzeugendes Element -- die Gerade -- eingeführt und auf eine solche Betrachtung eine neue Geometrie des Raumes begründet zu haben. Dieser berühmte Gelehrte kehrte, nachdem er fast zwanzig Jahre hindurch die Geometrie verlassen hatte, um seine bedeutenden Geisteskräfte der Physik zu widmen, zu der Wissenschaft zurück, die ihm ursprünglich seinen Ruhm gesichert hatte, um sie {99} mit einer neuen und wichtigen Disziplin zu beschenken, mit »der Geometrie der Geraden«. Die ersten Mitteilungen über diesen Gegenstand, die im Jahre 1865 der Königlichen Gesellschaft zu London[609] von dem großen deutschen Geometer gemacht wurden, enthalten die Sätze über einige allgemeine Eigenschaften der Komplexe, Kongruenzen und Regelflächen und einige spezielle Eigenschaften der linearen Komplexe und Kongruenzen;[610] die Beweise derselben sind nur angedeutet und sollen, nach Angabe des Autors, vermittelst der Koordinaten einer Geraden im Raume geführt werden, die er als einen eigenen Gedanken eingeführt hatte, die man später aber als Spezialfall dessen erkannte, was schon Cayley[611] aufgestellt hatte, um vermittelst einer einzigen Gleichung eine beliebige Kurve im Raume darstellen zu können. Diese Mitteilungen veranlaßten plötzlich eine Reihe wichtiger Arbeiten, in denen Battaglini nicht nur, was Plücker behauptet hatte, sondern auch viele Lehrsätze bewies, die sich auf die Komplexe zweiten und höheren Grades beziehen.[612] -- Indessen hatte Plücker schon die von ihm {100} skizzierten Gedanken ausgeführt und in dem Werke vereinigt, welches den Titel trägt: _Neue Geometrie des Raumes, gegründet auf die Betrachtung der geraden Linie als Raumelement._[613] Von diesem Buche zu sagen, daß es in allen seinen Teilen gleich wichtig und interessant sei, würde eine der Wahrheit nicht entsprechende Behauptung sein. Plücker schätzte nicht die Eleganz der Rechnung, an die wir durch Lagrange, Jacobi, Hesse, Clebsch gewöhnt sind; er teilte sicherlich nicht mit Lamé[614] die Ansicht, daß »die Bezeichnung für die Analysis das sei, was die Stellung und Wahl der Worte für den Stil ist«; bei ihm brauchte die Rechnung nur der einen Bedingung zu genügen, nämlich schnell zur Lösung der ins Auge gefaßten Probleme zu führen. Dieser Mangel, der allen Arbeiten von Plücker gemeinsam ist, macht sich lebhafter in dem letzten Werke bemerklich, welches einen Wettstreit eingehen sollte mit Mustern der Eleganz, wie den _Vorlesungen über analytische Geometrie des Raumes_ von Hesse und den _Vorlesungen über Dynamik_ von Jacobi, die kurz vorher (1861 und 1866) herausgekommen waren. Außer diesem nicht geringen Mangel ist ein anderer noch bedeutenderer dadurch entstanden, daß Plücker lange Zeit hindurch es vernachlässigt hatte, den Fortschritten der Geometrie nachzugehen. Infolge dieser einseitigen Ausbildung finden wir in seinem Buche eine Menge von Untersuchungen, die uns nicht mehr interessieren, da sie unter andere allgemeinere, schon gemachte fallen, eine große Anzahl von Spezialfällen, von deren Wichtigkeit wir uns nicht überzeugen können, eine Menge von komplizierten Formeln, deren Nutzen wir nicht einsehen. Trotz dieser Fehler -- die ich anführen muß, um die geringe Anzahl der Leser, die sie heute findet, zu begründen -- kann man nicht verkennen, daß die letzte Arbeit von Plücker reich an originellen Blicken ist, und es würde die Lektüre derselben jedem zu raten sein, der das Studium dieses Teiles der Geometrie unternehmen will, wenn nicht die Nachfolger {101} Plückers seine Untersuchungen in besserer Form auseinandergesetzt und mit anderen Methoden ausgeführt, und jene Gedanken, die er nur hingeworfen hat, größtenteils entwickelt hätten. Plücker hatte nicht die Zeit, die Theorie der Komplexe zweiten Grades zu vollenden, da der Tod ihn traf, als er gerade im Begriffe stand, den zweiten Teil seines Buches zu veröffentlichen; aber die Untersuchungen, die er unvollendet zurückließ, wurden von seinem Schüler F. Klein[615] zu Ende geführt. Ihm verdanken wir nicht nur den allgemeinen Begriff der Koordinaten einer Geraden und eine Anzahl sehr schöner Lehrsätze über die Komplexe zweiten Grades, sondern auch verschiedene allgemeine und außerordentlich fruchtbare Ideen über die Geometrie der Geraden. In der That ist es Klein, der, einen Gedanken seines Lehrers präzisierend, die Bemerkung machte, daß man die Geometrie der Geraden ansehen könne als das Studium einer quadratischen Mannigfaltigkeit von vier Dimensionen, enthalten in einem linearen Raume von fünf Dimensionen, und zeigte, daß jeder Komplex durch eine einzige Gleichung zwischen den Koordinaten einer Geraden darstellbar ist. Daß diese Bemerkung und dieser Lehrsatz von der größten Bedeutung für den Fortschritt der Geometrie der Geraden seien, wurde in glänzender Weise durch die schönen Untersuchungen meines lieben Freundes Segre[616] gezeigt, die mit denen von Klein innig zusammenhängen. Gleichzeitig mit Klein beschäftigten sich Pasch,[617] Zeuthen,[618] Drach,[619] später auch Paolis[620] wiederholt {102} mit der Geometrie der Geraden, indem sie verschiedene Fragen derselben vermittelst homogener Koordinaten behandelten. Clebsch[621] wandte auf diese Theorie die Methode der abgekürzten Bezeichnung an; im Jahre 1873 vervollständigte Weiler[622] die Einteilung der Komplexe zweiten Grades nach den Begriffen, die Klein in seiner Dissertation angegeben hatte. Voß[623] studierte in einer Reihe sehr wichtiger Abhandlungen die Singularitäten der Systeme von Geraden; Halphen bestimmte die Zahl der Geraden des Raumes, welche vorher aufgestellten Bedingungen genügen;[624] Nöther,[625] Klein[626] und Caporali[627] beschäftigten sich mit der Abbildung der Komplexe ersten und zweiten Grades auf den gewöhnlichen Raum, Aschieri mit der einiger spezieller Komplexe;[628] Lie stellte den innigen Zusammenhang, der zwischen der Geometrie der Kugel und der Geometrie der Geraden besteht, ins Licht;[629] Reye endlich studierte die Formen der allgemeinen quadratischen Komplexe.[630] Nur mit Hilfe der synthetischen Geometrie wurde unsere Theorie von Chasles studiert[631] -- schon 1839 --, von Reye,[632] {103} von Silldorf,[633] Schur,[634] Bertini,[635] von d'Ovidio[636] und von W. Stahl;[637] Buchheim[638] bediente sich der Quaternionen, um die hauptsächlichsten Eigenschaften der linearen Kongruenzen zu beweisen, während viele Fragen aus der Infinitesimalgeometrie, die sich auf Systeme von Geraden beziehen, glücklich in einigen Abhandlungen von Mannheim,[639] Lie,[640] Klein,[641] Picard[642] und Königs[643] gelöst wurden. Schließlich wurden einige spezielle Komplexe studiert von Aschieri,[644] Painvin,[645] von Reye,[646] Lie,[647] Weiler,[648] Roccella,[649] von Hirst,[650] Voß,[651] Genty,[652] Montesano,[653] von Segre und von mir.[654] Neben der reichhaltigen Schar von Schriften, die wir dem von Plücker gegebenen Anstoße verdanken, müssen wir noch eine andere ebenso glänzende erwähnen, die aber {104} von ganz anderer Art ist. Sie umfaßt die Arbeiten von Dupin,[655] Malus[656] (1775-1811) und Ch. Sturm[657] (1803-1855), Bertrand,[658] Transon[659] über die Normalen von Oberflächen und über die mathematische Theorie des Lichtes, dann die von Hamilton (1805-1865) über Systeme von Strahlen.[660] Diese Arbeiten finden ihre Krönung in zwei berühmten Abhandlungen, die von Kummer in den Jahren 1857 und 1866 veröffentlicht sind. In der ersteren, die im _Journal für Mathematik_[661] abgedruckt ist, hat sich Kummer die Aufgabe gestellt, durch eine einheitliche und einfachere Methode die Resultate von Hamilton darzulegen und sie in den Punkten, wo sie mangelhaft erschienen, zu vervollständigen.[662] In der zweiten,[663] die noch wichtiger ist, stellte er sich, nach einigen schönen allgemeinen Untersuchungen über die Zahl der Singularitäten eines Systemes von Strahlen und seiner Brennfläche, und löste die Frage, alle algebraischen Systeme von Strahlen erster und zweiter Ordnung zu bestimmen, d. h. solche, bei denen durch jeden Punkt des Raumes einer oder zwei Strahlen des Systemes hindurchgehen. Ich möchte wünschen, daß mir hinreichender Raum zu Gebote stände, um den Leser in den Stand zu setzen, die ausgezeichneten Verdienste dieser klassischen Arbeit hoch {105} zu schätzen, um ihn an der tiefen Bewunderung teilnehmen zu lassen, die ich für sie empfinde; ich möchte ihn sehen lassen, mit welch ausserordentlicher Gewandtheit der Verfasser zur Bestimmung aller Strahlensysteme erster und zweiter Ordnung zu gelangen weiß, zu den Gleichungen, die sie und ihre Brennflächen darstellen (welches jene Oberflächen vierter Ordnung mit Doppelpunkten sind, die ich Gelegenheit hatte, im Abschnitt III zu erwähnen), zu den Singularitäten der Systeme, den Konfigurationen, die sie bilden, zum Zusammenhange zwischen ihnen und den Singularitäten der Brennfläche u. s. w. Aber da die Bemessenheit des Raumes es mir verbietet, so muß ich mich darauf beschränken, den Wunsch auszusprechen, daß dieser mein kurzer Überblick es bewirken könne, daß bei jedwedem das Verlangen entsteht, die Untersuchungen Kummers selbst kennen zu lernen und den Weg zu verfolgen, den er mit solchem Glücke eingeschlagen hat; ich spreche diesen Wunsch aus, da mich die Beobachtung schmerzlich bewegt, daß in den zwanzig Jahren, die schon seit dem Erscheinen der Kummerschen Arbeit verflossen sind, es noch nicht gelungen ist, eine solche Theorie, die sich so fruchtbar an schönen Resultaten gezeigt hat, in einer bemerkenswerten Weise zu fördern.[664] {106} * * * * * VIII. Nicht-Euklidische Geometrie. ------ Die letzte Kategorie von Arbeiten, mit denen ich mich zu beschäftigen habe, umfaßt eine Reihe von Untersuchungen, die zu lebhaften Diskussionen Veranlassung gegeben haben und -- wunderbar zu sagen -- eine Zeit lang die Mathematiker in zwei Feldlager geteilt haben, »das eine gewappnet gegen das andere«;[665] heutzutage bilden sie denjenigen Teil der Wissenschaft des Raumes, den man »Nicht-Euklidische Geometrie« und »Theorie der beliebig {107} ausgedehnten Mannigfaltigkeiten« oder »Geometrie von n Dimensionen«[666] nennt. Jeder weiß, daß unter allen Sätzen, die in den _Elementen_ des Euklid enthalten sind, es einen giebt,[667] der nur schlecht dazu paßt, wie es der griechische Geometer gethan hat, unter die Axiome oder die Postulate gestellt zu werden.[668] Derselbe ist von großer Wichtigkeit im Euklidischen System, da auf ihn, wie man sagen kann, die ganze Theorie der Parallelen gegründet ist. Weil es nun nicht auf Grund unmittelbarer Anschauung gerechtfertigt ist, ihn unter diejenigen Sätze zu zählen, für welche es vergeblich ist, einen Beweis zu fordern, so kam man auf die Frage, ob er in der That unbeweisbar sei, und ob man nicht, wenn das der Fall sein sollte, ihn unterdrücken und durch einen anderen ersetzen könne, dessen Wahrheit offenbarer sei? Diese Fragen sind ein natürlicher Ausfluß unseres Zeitalters, von welchem eine der hervorragendsten Eigentümlichkeiten (wie Humboldt bemerkt) die unparteiliche Kritik alles dessen ist, was uns die Vergangenheit hinterlassen hat; sie müssen als der erste Ursprung der Nicht-Euklidischen Geometrie angesehen werden. Die ersten wichtigen Studien auf diesem Gebiete wurden gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts von Legendre[669] {108} gemacht. Dieselben stellten den Zusammenhang klar, der zwischen dem Postulate des Euklid und dem Satze besteht, der sich auf die Winkelsumme eines Dreiecks bezieht, und führten Legendre dazu, nicht nur jenes Postulat durch ein anderes viel wichtigeres zu ersetzen, sondern auch eine Geometrie zu entwerfen, die von eben demselben Postulate unabhängig ist.[670] Nahe zur selben Zeit wie Legendre, befaßte sich Gauß mit dieser Frage. Gleichwohl hat er niemals irgend eine Arbeit auf diesem Gebiete veröffentlicht; seine Korrespondenz mit Schumacher[671] und mit Wolfgang Bolyai (1775-1856)[672] und einige bibliographische Artikel von ihm[673] {109} bezeugen nicht nur das Interesse, das er dafür besaß, sondern bekunden auch die reiche Ernte von Wahrheiten, die er auf diesem, wie auf den anderen von ihm bebauten Feldern eingebracht hat. Und als die Schriften von Lobatschewsky (1793-1856)[674] und Johann Bolyai (1802-1860)[675] über diesen Gegenstand erschienen, da sanktionierte der Fürst der deutschen Mathematiker mit seiner Autorität die Ergebnisse, welche dieselben erhalten hatten. Man kann diese Ergebnisse zusammenfassen, indem man sagt, daß dieselben die Grundlage einer neuen Geometrie sind, die vollständig unabhängig ist von dem Postulate des Euklid (die Nicht-Euklidische Geometrie, oder imaginäre oder auch Pangeometrie), die in gewissen Punkten mit der gewöhnlichen Geometrie übereinstimmt, jedoch in vielen anderen sich von ihr unterscheidet, -- eine Geometrie, die eine Zeit lang einige als absurd verbannt haben wollten, da sie den von einer nur oberflächlichen Sinneswahrnehmung bezeugten Erscheinungen widerspricht, die aber heute allgemein angenommen ist, da ihr logischer Wert außer Zweifel gestellt ist.[676] {110} Zu diesem Siege der Logik über den übertriebenen Empirismus haben in sehr wirkungsvoller Weise einige Schriften von großer Bedeutung beigetragen, die Riemann (1827-1866), von Helmholtz und Beltrami in den Jahren 1867 und 1868 veröffentlichten. Die Riemannsche Schrift: _Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen_[677] -- zwölf Jahre vor ihrer Veröffentlichung geschrieben -- war und ist noch durch die Allgemeinheit der Begriffe und die Knappheit der Form selbst für diejenigen, welche in der Mathematik schon vorgeschritten sind, von schwierigem Verständnisse. Jedoch ein großer Teil der Ideen, welche dieselbe enthält, verbreiteten sich sehr bald, da sie, durch ein glückliches Zusammentreffen, auch von Helmholtz ausgesprochen wurden, und dieser sie nicht nur den Mathematikern in rein wissenschaftlicher Form darlegte,[678] sondern auch in populären Vorträgen und Artikeln in verschiedenen Zeitschriften auch außerhalb des engeren Kreises der Geometer behandelte.[679] Keinen geringeren Einfluß aber als die Schriften des berühmten Verfassers der _Physiologischen Optik_ übte der klassische _Saggio di interpretazione della Geometria non-euclidea_[680] von Beltrami aus. Gerade die Schärfe und analytische Eleganz, welche diese Schrift auszeichnen, lenkte die Aufmerksamkeit der Geometer auf dieselbe; das glänzende und überraschende Resultat, daß die Sätze der Nicht-Euklidischen Geometrie ihre Verwirklichung auf den Oberflächen mit konstanter negativer Krümmung fanden, machte einen tiefen Eindruck auch auf diejenigen, welche jeder nicht durch das {111} Experiment bewiesenen Behauptung allen Wert absprachen, und sicherte den Triumph der neuen Anschauungen; endlich -- die dort verteidigten gesunden Prinzipien einer wissenschaftlichen Philosophie und die glänzende Form, in welcher die Abhandlung geschrieben ist, ließen und lassen noch bei allen eine lebhafte Bewunderung für unseren berühmten Landsmann entstehen, durch dessen Bemühung wiederum einmal die Wahrheit den Sieg davontrug. Daß die Arbeiten dieser drei großen Gelehrten einen wohlthätigen Einfluß auf die ganze Geometrie ausgeübt haben, hat sich zur Evidenz durch die Änderung gezeigt, welche sich in bezug auf die Art und Weise vollzogen hat wie man heutzutage die ihr zu Grunde liegenden Sätze betrachtet.[681] Wenn früher die Geometer den Philosophen die Sorge überließen, zu entscheiden, ob die Wahrheiten, mit denen sie sich beschäftigten, notwendige oder zufällige seien, und dahin neigten, dieselben als notwendige zuzulassen, so streben sie jetzt, nachdem die empirische Grundlage der Geometrie erkannt ist, fortwährend darnach, genau festzusetzen, welche Thatsachen man der Sinneswahrnehmung entnehmen muß, um eine Wissenschaft der Ausdehnung zu gründen.[682] Wer die schönen _Vorlesungen über neuere {112} Geometrie_ (Leipzig, 1882) von Pasch liest, die neueren Lehrbücher prüft und diese und jene mit den älteren Büchern vergleicht, wird wesentliche Unterschiede finden. In den älteren Werken giebt der Lehrer die Voraussetzungen, die er nicht beweist, als notwendige, ewige und unanfechtbare Wahrheiten, in den neueren führt er sozusagen den Schüler dazu, die nötigen Erfahrungen auszuführen, um die Prämissen der späteren Deduktionen festzustellen. In den älteren Arbeiten stellt der Verfasser die Euklidische Geometrie als die einzig denkbare hin, in den neueren als {113} eine der unendlich vielen, die man aufstellen könnte. Und diese Unterschiede bezeichnen einen thatsächlichen Fortschritt, da sie zeigen, daß die Gelehrten sich von einem alteingewurzelten und schädlichen Vorurteile frei gemacht haben; und für den Fortschritt der Wissenschaft hat die Erkenntnis eines Irrtums eine nicht geringere Wichtigkeit, als die Entdeckung einer Wahrheit. Kurz nach der Veröffentlichung der Arbeit von Beltrami erschien eine von F. Klein,[683] die auch von großer Wichtigkeit ist; aber um die Stellung zu kennzeichnen, welche dieselbe in der Geschichte der Nicht-Euklidischen Geometrie einnimmt, muß ich mich einige Jahrzehnte rückwärts wenden. Es ist bekannt, daß infolge des _Traité des propriétés projectives des figures_ eine Unterscheidung aufgestellt wurde zwischen den Eigenschaften der Figuren, die erhalten bleiben, wenn diese projiziert werden, und solchen, die nicht erhalten werden; es ist ferner bekannt, daß unter den ersteren alle Lagen-Eigenschaften, aber nur einzelne metrische Eigenschaften begriffen sind. Nun stellten die Geometer sich die Frage, ob es nicht möglich sei, die metrischen Eigenschaften der Figuren so auszusprechen, daß sie bei der Projektion sämtlich erhalten werden. Für einige Arten der Projektion haben Chasles und Poncelet die Frage gelöst, indem sie den Begriff der unendlich fernen Kreispunkte der Ebene und des unendlich entfernten imaginären Kreises einführten; für andere wurde die Lösung von Laguerre[684] gegeben, dem es gelang, den Begriff des Winkels projektiv zu machen; aber derjenige, welcher die Lösung in ihrer ganzen Allgemeinheit gab, war Cayley[685] (1859), der in dem sechsten von seinen berühmten _Memoirs upon Quantics_ zeigte, daß jede metrische Eigenschaft einer ebenen Figur als in einer {114} projektiven Beziehung zwischen dieser und einem festen Kegelschnitte enthalten betrachtet werden könne. Nun besteht der Hauptzweck der angeführten Abhandlung von Klein eben darin, die innige Beziehung zwischen den Schlüssen Cayleys und denen, zu welchen Bolyai und Lobatschewsky gelangt waren, herzustellen; auf welche lichtvolle Weise dieses Ziel erreicht ist, das beweist der große Ruhm, zu dem diese Schrift alsbald gelangte.[686] An diese Schriften schließen sich viele andere; an die von Riemann und Beltrami einige interessante Arbeiten von de Tilly,[687] Genocchi,[688] von Escherich[689] und Bianchi;[690] an die von Klein verschiedene Abhandlungen von Battaglini,[691] d'Ovidio,[692] de Paolis[693] und Aschieri,[694] Cayley,[695] Lindemann,[696] Schering,[697] von Story,[698] {115} H. Stahl[699] und Voß,[700] von H. Cox[701] und A. Buchheim.[702] Die mathematische Litteratur der allerneuesten Zeit jedoch ist nicht sehr reich an Forschungen auf diesem Gebiete;[703] es hat den Anschein, als wenn jenes Zeitalter, welches man das heroische nennen könnte, und durch welches jede Disziplin einmal hindurchgeht, schon von der Nicht-Euklidischen Geometrie durchlaufen sei. Sollten vielleicht die unermüdlichen Arbeiter der beiden Jahrzehnte 1860-1880 die Minen in jeder Richtung so gründlich durchwühlt haben, daß sie keine goldführende Ader mehr bergen? * * * * * IX. Geometrie von n Dimensionen. ------ Die Theorie der beliebig ausgedehnten Mannigfaltigkeiten oder die Geometrie von n Dimensionen verdankt ihren Ursprung der Unterstützung, welche die Algebra von der Geometrie erhielt, seitdem Cartesius jene auf diese anzuwenden gelehrt hat. In der That ist diese Unterstützung eine begrenzte, da nur die analytischen Thatsachen, welche mit der Theorie der Funktionen einer, zweier oder dreier Variabelen verknüpft sind (oder mit der Theorie der binären, ternären oder quaternären Formen), einer den Sinnen zugänglichen {116} Darstellung fähig sind. Aber der Geist der Verallgemeinerung, der, wie ich schon sagte, einer der mächtigsten Antriebe zu den modernen geometrischen Untersuchungen war und noch fortwährend ist, bewog die Geometer, die Fesseln zu brechen, welche die Natur ihrem Vorstellungsvermögen angelegt zu haben schien, und von beliebig ausgedehnten Räumen zu sprechen.[704] Und sie sprachen davon, ehe sie sich noch mit der mehr philosophischen, als mathematischen Frage beschäftigt hatten, ob in der That solche Räume existieren; und sie thaten dies mit Recht, da sie nur so, ohne ein vielleicht unlösbares Problem in Angriff zu nehmen, ihr Ziel erreichen konnten; durch eine kühne Einbildungskraft verschafften sie sich die (sinnlich wahrnehmbaren oder übersinnlichen) Darstellungen vieler analytischer Resultate.[705] Um zu zeigen, daß man wirklich in der angegebenen Weise zu einer solchen Theorie gekommen ist, begnüge ich mich damit, die Thatsache anzuführen, daß dieselbe von Analysten wie Cauchy[706] (1789-1857) und Riemann[707] aufgestellt wurde; daß sie sich noch bei vielen anderen minder bedeutenden mehr oder weniger versteckt findet in der Absicht, für die Theoreme der Analysis ausdrucksvollere Fassungen zu erhalten; ferner daß Lagrange schon Ende des vergangenen Jahrhunderts die Bemerkung machte, »daß man die Mechanik als eine Geometrie von vier Dimensionen {117} ansehen könne«, in welcher die Zeit als vierte Koordinate fungiert.[708] Dieser Begriff des beliebig ausgedehnten Raumes ist jedoch seinem Ursprunge und seiner Bestimmung nach wesentlich analytisch. Plücker, dem das Schicksal einen so wichtigen Anteil an der Förderung der modernen Geometrie zugeteilt hat, war es vorbehalten, diesem Begriffe ein geometrisches Gewand zu geben, indem er beobachtete, daß man unserem Raume eine beliebige Anzahl Dimensionen zuerteilen kann vermittelst einer passenden Wahl des geometrischen Gebildes, welches man als erzeugendes Element des Raumes auffaßt; so wird er drei Dimensionen haben, wenn man den Punkt oder die Ebene wählt, vier, wenn man die Gerade oder die Kugel nimmt, neun, wenn man die Fläche zweiten Grades nimmt, u. s. w.[709] {118} Dieser Gedanke ist weniger abstrakt als der vorhergehende, und leichter zu begreifen; dessen ungeachtet verbreitete er sich viel langsamer, als der erstere, wahrscheinlich deswegen, weil sein Urheber nicht Worte genug machte, um seine Wichtigkeit zu zeigen. Der andere hingegen wurde besonders infolge der berühmten Abhandlung von Riemann, _Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen_, in vielen Richtungen weiter entwickelt, und die mathematische Litteratur über diesen Gegenstand ist von einer schon beträchtlichen Reichhaltigkeit und wächst noch von Tag zu Tag. Zur Rechtfertigung dieser Behauptung erinnere ich an die schon genannten Abhandlungen von Helmholtz, führe die von Beltrami,[710] Schläfli,[711] Newcomb,[712] Stringham,[713] das neue Buch von Killing[714] an und die darauf folgenden Untersuchungen von Schur,[715] die enge mit der Riemannschen Abhandlung zusammenhängen; die Untersuchung von Betti[716] über den Zusammenhang eines Raumes von n Dimensionen; die von Clifford,[717] Beltrami,[718] Jordan,[719] von Lipschitz,[720] Monro,[721] Scheeffer (1859-1885),[722] Heath[723] und Killing[724] über die Kinematik und Mechanik eines {119} solchen Raumes;[725] ferner die von Jordan[726] und Brunel[727] über die verschiedenen Berührungs- und Schmiegungsräume, welche eine Kurve in einem Raume von n Dimensionen zuläßt,[728] die von Craig[729] über die metrischen Eigenschaften der Oberflächen in einem solchen Raume, die von Kronecker,[730] von Beez,[731] Lipschitz,[732] Christoffel,[733] von Brill,[734] Suworoff[735] und Voß[736] über die Krümmung eines beliebig ausgedehnten Raumes; die von Kronecker und Tonelli[737] über das Potential; die von Lie,[738] Klein,[739] Jordan[726] und Lipschitz[740] über die Erweiterung des Dupinschen und des Eulerschen Lehrsatzes; sodann die konforme Abbildung einer Oberfläche des vierdimensionalen Raumes auf den gewöhnlichen Raum, die von Craig[741] studiert wurde, endlich die von Lipschitz gegebene Verallgemeinerung des berühmten Problemes der drei Körper.[742] Zum Schlusse wollen {120} wir die Aufmerksamkeit des Lesers lenken auf die Erweiterungen gewisser Begriffe, einiger Sätze und Formeln der elementaren Geometrie, die vorzüglich von Rudel,[743] Hoppe,[744] Schlegel[745] und Mehmke[746] gemacht sind; dazu gehören auch die Untersuchungen von Stringham,[747] Hoppe,[748] Schlegel,[749] Scheffler,[750] Rudel,[751] O. Biermann,[752] Puchta[753] und anderen über die regulären Körper des vierdimensionalen Raumes, die soweit gediehen, daß sie Schlegel gestatteten, Modelle der Projektionen dieser Körper auf unseren Raum herzustellen.[754] Außer dieser Richtung wurde eine andere nicht weniger fruchtbare von den Bearbeitern der Mannigfaltigkeiten von n Dimensionen verfolgt, welche projektiv ist, während die erstere wesentlich metrisch ist.--Eine kurze Andeutung, {121} die von Cayley im Jahre 1846 gegeben wurde[755] über eine Methode, um die Konfigurationen von Punkten, Geraden und Ebenen zu untersuchen, kann man als die erste ansehen, welche auf diese neue Richtung hinwies. Aber es scheint, wie Bailly[756] bemerkt hat, »daß die Ideen, wie wir, ein Kindesalter und eine erste Zeit der Schwäche haben; sie sind nicht von Geburt an produktiv, sondern erhalten erst mit dem Alter und mit der Zeit ihre Fruchtbarkeit«. Daher sehen wir denn mehr als 30 Jahre verfließen, ehe der geniale Gedanke des großen englischen Geometers, in der richtigen Weise entwickelt, die synthetische Geometrie der Räume von n Dimensionen, welche wir heute besitzen, hervorrief. Als Einleitung zu derselben muß man die wichtige Arbeit von Clifford ansehen: _On the classification of loci_,[757] in welcher das allgemeine Studium der Kurven in beliebigen linearen Räumen in Angriff genommen ist; jeden Augenblick kommen in demselben Operationen vor, die wirkliche Erweiterungen derer sind, die man in der gewöhnlichen projektiven Geometrie zu machen pflegt. Jedoch kann man sagen, daß dieser neue Zweig der Geometrie mit der Abhandlung beginnt, die Veronese der _Behandlung der projektiven Eigenschaften der Räume von_ n _Dimensionen durch die Prinzipien des Schneidens und Projizierens_ gewidmet hat.[758] In derselben läßt der berühmte Verfasser, Riemann folgend, einen Raum von n Dimensionen entstehen, indem er von demselben einen solchen, der eine Dimension weniger hat, von einem außerhalb gelegenen Punkte projiziert, und {122} indem er sich dieser Erzeugungsweise bedient, gelangt er zur Erweiterung des grösseren Teiles der Theorien der gewöhnlichen Geometrie der Lage.[759] Die Fruchtbarkeit der in dieser grundlegenden Abhandlung erörterten Prinzipien wurde durch viele interessante Arbeiten, welche die Fortsetzung derselben bilden, ins Licht gestellt; dieselben bereichern noch von Tag zu Tag ein Lehrgebiet, in welchem Italien eine hervorragende Stelle einnimmt. Unter ihnen will ich -- abgesehen von denen, die Veronese selbst publiziert hat,[760] -- die Untersuchungen von Segre anführen über die Theorie der quadratischen Gebilde in einem Raume von n Dimensionen und ihre Anwendung auf die Geometrie der Geraden,[761] über die kollinearen und reciproken Korrespondenzen,[762] über die Büschel von Kegeln zweiten Grades,[763] über die Regelflächen,[764] über die Oberflächen vierter {123} Ordnung mit Doppelkegelschnitt[765] und über die Theorie der Systeme von Kegelschnitten,[766] dann die von Bertini[767] und Aschieri,[768] die verwandte Gegenstände behandeln; die Schriften von del Pezzo über die Oberflächen in einem n-dimensionalen Raume.[769] Noch viele andere müßte ich nennen, aber Io non posso ritrar di tutti appieno; Perocchè sì mi caccia il lungo tema, Che molte volte al fatto il dir vien meno.[770] Jedoch Arbeiten, welche zu verschweigen mich keine Betrachtung verleiten könnte, sind die -- viel früher als die von Veronese erschienenen -- von Nöther über die eindeutigen Korrespondenzen zwischen zwei n-dimensionalen Räumen (1869, 1874),[771] jene ebenfalls älteren von Halphen (1875) über die Schnitte der Mannigfaltigkeiten, die in einem beliebigen linearen Raume enthalten sind,[772] von d'Ovidio {124} über die Metrik eines solchen Raumes (1876),[773] endlich die neuerlichen von Schubert über die abzählende Geometrie eines Raumes von solcher Beschaffenheit.[774] * * * * * Schluss. ------ Hiermit scheint es mir angemessen, die vorgenommene Musterung zu beschließen. Freilich sind viele wirklich interessante Untersuchungen derselben entgangen, da sie unter keiner der Kategorien, in welche ich die von mir besprochenen Arbeiten eingeteilt habe, Platz finden konnten. So konnte ich nicht über die Theorie der projektiven Koordinaten berichten, die von Chasles[775] erhalten wurden, als er die gewöhnlichen Cartesischen Koordinaten einer kollinearen Verwandlung unterzog, die dann direkt von Staudt[776] aufgestellt wurde und vollständiger von Fiedler;[777] {125} dann habe ich nicht über die Methode der symbolischen Bezeichnung berichtet, da diese mehr Mittel als Zweck für den Geometer ist; die Theorie der Berührungstransformationen (Lie) und der Differential-Invarianten (Halphen) habe ich stillschweigend übergangen, da sie auf der Grenze zwischen der Geometrie und der Theorie der Differentialgleichungen stehen; über die sogenannte _Analysis situs_ habe ich mich einer Besprechung enthalten, da eben diese Lehre von Riemann geschaffen und von seinen Schülern betrieben wurde, um Probleme der Funktionentheorie zu lösen. Dann haben sich meiner Darlegung die schönen Auseinandersetzungen von Battaglini und Ball entzogen über die Kräfte und Bewegungen,[778] von Chasles, Aronhold, Mannheim und Burmester über die kinematische Geometrie und von Reye über die Trägheitsmomente, da sie bisher[779] mehr zur Mechanik als zur Geometrie gehörig angesehen wurden. Gleiches gilt von den interessanten Experimenten Plateaus (1801-1883) in bezug auf die Minimalflächen, deren Besitz die Physiker für sich beanspruchen, von den schönen Untersuchungen über die Polyeder (Möbius, Bravais, Jordan, Heß), welche den Übergang von der Geometrie zur Mineralogie bilden, und den neuesten Arbeiten über die geometrische Wahrscheinlichkeit (Crofton, Czuber, Cesàro), welche ich geneigt wäre unter die Anwendungen der Geometrie zu rechnen. Dann habe ich nicht über die Methode der Äquipollenzen gesprochen (Bellavitis) und die Theorie der Quaternionen (Hamilton), da beide sich bis jetzt noch {126} nicht von so großer Fruchtbarkeit erwiesen haben, um als notwendiges Hilfsmittel des Geometers angesehen zu werden. Ungern mußte ich hinweggehen über die Theorie der Kugelsysteme, die mit großem Erfolge von Lie und Reye bearbeitet ist. Ich habe keinen Blick auf die Theorie der Konfigurationen werfen können (Reye, Kantor, Jung, Martinetti), da dieselbe gerade noch im Stadium ihrer Bildung begriffen ist, und auf die mehr den Elementen angehörige Erweiterung der Lehre vom Dreiecke, zu welcher Arbeiten von Brocard[780] die Anregung gegeben haben. Kurz erwähnen will ich noch zwei Reihen von Untersuchungen über Maximal- und Minimalfiguren, von denen die einen (Painvin, P. Serret, Lebesgue, Borchardt, Kronecker) das Problem von Lagrange, das Tetraeder größten Inhalts zu finden, von dem die Inhalte der Seitenflächen gegeben sind, und Erweiterungen, bez. Umgestaltungen desselben behandeln,[781] die anderen (Lindelöf, Berner, Edler, Sturm, Schwarz, Lange, Certo) sich an die berühmten Aufsätze von Steiner[782] anschließen.[783] Keinesfalls aber darf mit Stillschweigen übergangen werden, daß es unserem Jahrzehnte vergönnt gewesen ist, die alte Frage der Quadratur des Kreises zur endgiltigen Erledigung zu bringen. Nachdem im vergangenen Jahrhundert Lambert[784] die Zahl [pi] als irrational nachgewiesen, verblieb immer noch der Nachweis, daß [pi] auch nicht Wurzel {127} einer algebraischen Gleichung mit rationalen Koeffizienten sei; denn erst damit ist dargethan, daß die Quadratur des Kreises nicht vermittelst einer endlichen Anzahl von Konstruktionen, welche mit Hilfe des Lineals und des Zirkels ausführbar sind, vollzogen werden könne. Dieser Beweis wurde, unter Benutzung Hermitescher Vorarbeiten über die Exponentialfunktion, 1882 von Lindemann[785] erbracht. Trotz der aufgezählten und unzähliger anderer Unvollkommenheiten des Bildes, das ich über den heutigen Zustand der Geometrie zu entwerfen versucht habe, wird dennoch der Leser, wenn er einen Blick auf dasselbe wirft, von tiefer Verwunderung betroffen sein, nicht allein über die gewaltige Entwickelung der Mathematik in diesen letzten fünfzig Jahren, sondern auch über die neue, schönere, verlockendere Gestalt, welche sie mehr und mehr annimmt. Die geometrischen Figuren, die eine Zeit lang als fest, unbeweglich, leblos erschienen, bekamen eine unerwartete Lebendigkeit durch die Theorie der geometrischen Transformationen, vermöge derer sie sich bewegen, sich in einander verwandeln, gegenseitige Beziehungen enthüllen und unter sich bisher unbekannte Verwandtschaften herstellen. Ferner glaubte man eine Zeit lang, daß wir als dreidimensionale Wesen, die in einem Raume leben, in welchem wir nur drei Dimensionen wahrnehmen können, dazu verurteilt wären, ewig nur die Mannigfaltigkeiten von nicht mehr als drei Dimensionen zu studieren. Jetzt aber ist es uns erlaubt und fast unsere Pflicht, von dieser Idee als einem gefährlichen Vorurteile uns frei zu machen, und die Fülle von Arbeiten, die wir vor uns bewundern, belehren alle diejenigen, welche ihre Augen nicht von der neuen Sonne wegwenden wollen, über die Wichtigkeit dieses Fortschrittes. Endlich ist, kann man sagen, der Kampf zwischen der Geometrie und der Analysis, der sich gegen Ende des {128} vergangenen Jahrhunderts erhoben und zu Anfang dieses fortgesetzt hat, nunmehr beendigt; weder die eine, noch die andere hat den Sieg davon getragen, aber jede hat auch den Ungläubigsten gezeigt, daß sie bei jeglichem Ringen als Siegerin hervorgehen könne. Der _Mécanique analytique_, in welcher Lagrange mit Freuden konstatierte, daß er es soweit gebracht habe, jegliche Figur zu vermeiden, hat ein Lehrbuch der Mechanik einen glänzenden Bescheid gegeben, welches das Motto trägt: »_Geometrica geometrice_«; dem hundertjährigen Dienste, welchen die Algebra der Geometrie bot, können sich heute die zahllosen und unvergleichlichen Vorteile entgegenstellen, welche jene von dieser zog; schließlich wird man doch an Stelle der analytischen oder pseudosynthetischen Theorie der Kurven und Oberflächen in Kurzem die rein synthetische Theorie setzen können, die man gegenwärtig aus dem von Staudt[786] gelieferten Materiale errichtet. Und zu dieser Periode des Friedens oder vielmehr des edlen Wetteifers der Analysis und Geometrie müssen sich alle Glück sagen, da jeder Fortschritt der einen einen entsprechenden in der anderen nach sich zieht oder dazu {129} auffordert. Das entspricht dem heutigen Standpunkte der gesamten Wissenschaft, denn nun funktionieren, wie Spencer sagt, die verschiedenen Disziplinen als Hilfskünste, die einen für die anderen. Diese Stellung der modernen Mathematik jedoch legt jedem, der sie mit Erfolg betreiben will, eine schwere Verpflichtung auf, nämlich die, nicht die eine der beiden Disziplinen, welche sie zusammen bilden, um die andere zu vernachlässigen und sich in der Handhabung der Wissenschaft der Zahlen ebensowohl, als in derjenigen der Ausdehnung auszubilden.[787] Um heiteren Mutes diese vermehrten Anstrengungen auf uns zu nehmen, dazu hilft uns die Betrachtung, »daß die Analysis und Synthesis im Grunde genommen gleichsam immer vereinigt in unseren Arbeiten sind und zusammen das vollständigste Werkzeug des menschlichen Geistes bilden. Denn unser Geist macht keine Fortschritte, als nur mit der Hilfe von Zeichen oder Bildern, und wenn er zum ersten Male in schwierige Fragen einzudringen sucht, so hat er nicht einen Überfluß an diesen beiden Mitteln und jener besonderen Kraft, die er oft genug nur aus ihrem Zusammenwirken schöpft.«[788] Indem wir uns also der Beschränktheit unserer Kräfte bewußt sind, werden wir nur ein kleines Feld wählen, auf dem wir unsere Thätigkeit üben, aber nicht vergessen, daß {130} wir, um alle Früchte, die es zu bieten fähig ist, einzuernten, das Recht und sozusagen die Pflicht haben, alle die Hilfsmittel prüfend anzuwenden, welche der menschliche Geist während so vieler Jahrhunderte unausgesetzter Thätigkeit angehäuft hat, und die jedem zu Gebote stehen, der die Klugheit hat, sie zu Rate zu ziehen, und das Geschick, sie anzuwenden. * * * * * Abkürzungen für die häufig erwähnten Zeitschriften. ------ _Acta math._: Acta mathematica. _Amer. 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Abel 20 -- d'Alembert 14 -- Apollonius 6 -- Archimedes 6 -- Aronhold 31. Baltzer 53 -- Bellavitis 60 -- Benedetti 9 -- Bobillier 26 -- Bolyai, J. 109 -- Bolyai, W. 108 -- Borchardt 43 -- Bour 56 -- Bragelogne 24 -- Braikenridge 22. Caporali 84 -- Cardano 8 -- Carnot 14 -- Cauchy 116 -- Chasles 17 -- Chelini 57 -- Clairaut 13 -- Clebsch 27 -- Clifford 26 -- Cotterill 84 -- Côtes 21 -- Cramer 22 -- Crelle 20. Desargues 9 -- Descartes 10 -- Dirichlet 119 -- Dupin 15. Enneper 50 -- Eratosthenes 6 -- Euler 13. Ferrari 8 -- Fermat 9 -- Ferro 8 -- Fibonacci 8. Gauß 47 -- Gergonne 16 -- La Gournerie 44 -- Graßmann 26 -- De Gua 22. Hachette 15 -- Halley 11 -- Hamilton 104 -- Harnack 63 -- Hesse 25 -- Hipparch 6 -- La Hire 11 -- Hoüel 109 -- Huygens 11. Jacobi 16 -- Joachimsthal 55. Lacroix 15 -- Lagrange 14 -- Laguerre 40 -- Lamarle 125 -- Lambert 88 -- Lamé 23 -- Lancret 72 -- Laplace 14 -- Legendre 14 -- Leibniz 11 -- Liouville 72 -- Lobatschewsky 109. Mac Cullagh 33 -- Maclaurin 11 -- Magnus 81 -- Mascheroni 9 -- Mercator 88 -- Möbius 18 -- Monge 13. Newton 11. Oresme 16. Pappus 6 -- Parent 13 -- Pascal 9 -- Plateau 125 -- Plato 5 -- Plücker 19 -- Poisson 14 -- Poncelet 14 -- Ptolomaeus 6 -- Puiseux 72 -- Pythagoras 5. Richelot 16 -- Riemann 110. Saint-Venant 72 -- Scheeffer 118 -- Schooten 13 -- Serret, A. 50 -- Seydewitz 33 -- Simpson 11 -- Smith 29 -- Snellius 16 -- Spottiswoode 124 -- Staudt 19 -- Steiner 18 -- Stewart 11 --Sturm, Ch. 104. Tartaglia 8 -- Thales 4 -- Transon 81. Vieta 9. Waring 22 -- Wren 32. * * * * * Berichtigung. S. 97 Z. 7 v. o. lies viel- statt zwei-. * * * * * Noten. ------ [1] »It is difficult to give an idea of the vast extent of modern mathematics. This word »extent« is not the right one: I mean extent crowded with beautiful detail -- not an extent of mere uniformity such as an objectless plain, but of a tract of beautiful country seen at first in the distance, but which will bear to be rambled through and studied in every detail of hillside and valley, stream, rock, wood and flower.« (Rede von Cayley i. J. 1883 vor der »British Association for the Advancement of Science« gehalten.) Bei dieser Gelegenheit führen wir noch folgendes Urteil von E. Dubois-Reymond über den Charakter der modernen Wissenschaft an: »Nie war die Wissenschaft entfernt so reich an den erhabensten Verallgemeinerungen, nie stellte sie in ihren Zielen, ihren Ergebnissen eine grössere Einheit dar. Nie schritt sie rascher, zweckbewußter, mit gewaltigeren Methoden voran, und nie fand zwischen ihren verschiedenen Zweigen lebhaftere Wechselwirkung statt.« (_Über die wissenschaftlichen Zustände der Gegenwart_, Reden, Bd. II, S. 452.) [2] _Histoire des sciences mathématiques en Italie_ par G. Libri, 1838. Bd. I, S. 3. [3] Hankel, _Die Entwickelung der Mathematik in den letzten Jahrhunderten_ (Tübingen. II. Aufl. 1885). S. 7. [4] Diese Thatsache könnte man als ein neues Moment ansehen, wie sich -- nach einem berühmten Ausspruche Humboldts -- der Einfluß, den die tellurischen Erscheinungen auf die Richtung unserer wissenschaftlichen Untersuchungen ausüben, geltend macht. [5] Vgl. Emil Weyr, _Über die Geometrie der alten Ägypter_ (Wien, 1881). [6] Für die Mathematiker, welche vor 1200 gelebt haben, sind die hier niedergeschriebenen Jahreszahlen aus den _Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik_ von M. Cantor (I. Bd. Leipzig, 1880) entnommen. Die erste Zahl in der Klammer bezieht sich auf das Geburtsjahr, die zweite auf das Todesjahr. [7] In Bezug auf größere Einzelheiten sehe man Bretschneider, _Die Geometrie und die Geometer vor Euklides_ (Leipzig, 1870). [8] Betti und Brioschi, Vorrede zu _Gli elementi di Euclide_ (Florenz, 1867). Eine gegenteilige Ansicht hat Lacroix in seinem wohlbekannten Buche _Essais sur l'enseignement en général et sur celui des mathématiques en particulier_ (4. Aufl. 1883. S. 296) ausgesprochen. [9] Um zu zeigen, wie glänzend und bewunderungswürdig die noch immer verkannte griechische Mathematik gewesen sein muß, genüge es, die Thatsache anzuführen, daß die Theorie der Kegelschnitte, ein hauptsächlicher Gegenstand des Studiums der alten Geometer, von ihnen zu solcher Vollendung gebracht wurde, dass man im wesentlichen nur weniges hinzuzufügen hätte, um sie auf den Stand zu bringen, auf dem sie sich heute befindet. Die Bewunderung für jene wird noch jeden Tag grösser durch die historischen Forschungen gelehrter Mathematiker [z. B. Zeuthen (s. das Werk _Die Lehre von den Kegelschnitten im Altertume_, deutsch von Fischer-Benzon. Kopenhagen, 1886), P. Tannery (s. _Bull. des sciences math._ und _Mém. de la Société de Bordeaux_) und andere], welche das Vorurteil zu beseitigen suchen, daß die Griechen keine Untersuchungsmethoden gehabt hätten, die vergleichbar sind mit denen, auf welche unsere Zeit so stolz ist, und die als Ersatz dafür die Ansicht aufzustellen streben, daß es ihnen nur an den nötigen Formeln zur Darstellung der Methoden selbst gefehlt habe. [10] Ich kann nicht umhin, die beredten Worte, welche der berühmte Geschichtsschreiber der Mathematik in Italien bei dieser Gelegenheit geschrieben hat, anzuführen: »...... mais bientôt le Romain arrive, il saisit la science personnifiée dans Archimède, et l'étouffe. Partout où il domine la science disparaît: l'Étrurie, l'Espagne, Carthage en font foi. Si plus tard Rome n'ayant plus d'ennemis à combattre se laisse envahir par les sciences de la Grèce, ce sont des livres seulement qu'elle recevra; elle les lira et les traduira sans y ajouter une seule découverte. Guerriers, poètes, historiens, elle les a, oui; mais quelle observation astronomique, quel théorème de géométrie devons-nous aux Romains?« (Libri a. O. S. 186.) Um zu zeigen, in welchem Ansehen unsere Vorfahren die Mathematik hielten, genüge es mitzuteilen (vgl. Hankel, _Zur Geschichte der Mathematik im Altertum und Mittelalter_, Leipzig, 1874. S. 103), daß sie dieselbe oft mit Astrologie und den verwandten Künsten zusammenwarfen. Es darf uns daher nicht Wunder nehmen, wenn wir in dem Codex Justinians unter den gesammelten Bestimmungen unter dem Titel »De maleficis et mathematicis et ceteris similibus« folgendes finden: »Ars autem mathematica damnabilis interdicta est omnino.« Wenn man in demselben Codex etwas weiter die Wendung findet: »Artem geometriae discere atque exercere publice interest,« so muß man sich hüten, sie als eine Übersetzung des Ausspruches Napoleons I. anzusehen: »L'avancement, le perfectionnement des Mathématiques sont liés à la prospérité de l'État,« denn es ist fast sicher, daß der römische Gesetzgeber den praktischen Teil der Geometrie meinte. [11] Unter den Fragen der Geometrie, welche die italienischen Gelehrten des 16. Jahrhunderts sich gegenseitig stellten, finden sich solche von einiger Wichtigkeit, da sie die _»Geometria del compasso«_ (Geometrie des Kreises) entstehen ließen, welcher gerade in dieser Zeit Benedetti (?-1590) eine Schrift widmete, und die in neuerer Zeit von Mascheroni (1750-1808) und Steiner gepflegt wurde. [12] Pascal entdeckte an der Cykloide eine Fülle bemerkenswerter Eigenschaften, wies auf die Perspektivität als eine für das Studium der Kegelschnitte sehr günstige Methode hin, bewies den berühmten Lehrsatz von dem »Hexagramma mysticum,« wie er es nannte, u. s. w. Desargues führte die gemeinsame Betrachtung der drei Kegelschnitte ein, den wichtigen Begriff des unendlich fernen Punktes einer Geraden, den Begriff der Involution von sechs Punkten, löste mehrere wichtige Fragen, die sich auf die Kegelschnitte beziehen, u. s. w. In den Werken von Desargues (vgl. die von Poudra 1864 besorgte Ausgabe) findet sich auch eine Methode vorgeschlagen, um einige projektive Eigenschaften der Kurven zu untersuchen, welche darauf beruht, daß man dieselbe durch Systeme von Geraden ersetzt. Descartes und Poncelet betrachteten die Schlüsse, die auf einer solchen Substitution beruhen, als der Strenge entbehrend (vgl. _Traité des proprietés projectives_, Bd. II, S. 128). Jedoch wurde das von Desargues vorgeschlagene Verfahren in der neueren Zeit wiederholentlich von demselben Poncelet (a.a.O. Bd. I, S. 374), von Jonquières (in verschiedenen Abhandlungen in den _Annali di Matem., Journ. f. Math._ und in den _Math. Ann._), von Cremona (s. die _Introduzione ad una teoria geometrica delle curve piane_) gebraucht, und gehört heute zu den wertvollen Untersuchungsmethoden, die wir dem »Prinzip der Erhaltung der Anzahl« verdanken. [13] Vgl. E. Dubois-Reymond, _Kulturgeschichte und Naturwissenschaft_, in den Gesammelten Reden, Bd. I 1886, S. 207-208. [14] Favaro, _Notizie storico-critiche sulla costruzione delle equazioni. Memorie di Modena_, 18, 1879. Matthiessen, _Grundzüge der antiken und modernen Algebra der litteralen Gleichungen_ (Leipzig, 1878), 7. Abschnitt. [15] Über den Ursprung der analytischen Geometrie sehe man Günther, _Die Anfänge und die Entwickelungsstadien des Coordinatenprincipes_ (_Abhandlungen der naturforsch. Gesellsch. zu Nürnberg_, 6) und über Cartesius die Rede von Jacobi, ins Französische übersetzt und veröffentlicht in _Liouvilles Journ._ 12 unter dem Titel: _De la vie de Descartes et de sa méthode pour bien conduire la raison et chercher la vérité dans les sciences._ [16] Siehe z. B. den _Traité de la lumière_ (Leyden, 1691). [17] _Sectiones conicae in novem libros distributae_ (Paris, 1685), _Mémoires sur les Epicycloides_ (_Anciennes Mémoires de l'Académie des sciences,_ 9), _Traité des roulettes_ etc. (ebendas., 1704). [18] Man sehe die von ihm bewirkte Herausgabe von griechischen Werken nach, sowie seine Versuche, verloren gegangene Bücher (wie das achte Buch von Apollonius' Kegelschnitten) wieder herzustellen. [19] Vergl. sein Buch _A complete System of Fluxions_ (Edinburgh, 1742). [20] _Treatise on conic Sections_ (1735). [21] _General theorems of considerable use in the higher parts of mathematics_ (Edinburgh, 1746); _Propositiones geometricae more veterum demonstratae_ (Edinburgh, 1763). [22] Hinsichtlich der von Simpson und Stewart gemachten Versuche, die griechische Geometrie wieder aufleben zu machen, sehe man Buckle, _Geschichte der Civilisation in England_ (deutsch von A. Ruge), Bd. I, Kap. 5. [23] Die von den Griechen hauptsächlich untersuchten Kurven sind: der Kreis, die Ellipse, die Hyperbel, die Parabel, die Archimedische Spirale, die Diokles'sche Cykloide, die Konchoide des Nikomedes, die Quadratrix des Hippias und Dinostratus, die Schraubenlinien, die Spirallinien und einige andere. Zu diesen fügten die neuen Rechnungsarten hinzu: das Folium und die Ovale von Descartes, die Tschirnhausensche Quadratrix, die Cykloide, die Hypo- und Epicykloiden, die logarithmische Spirale, die Kettenlinie, die Sinuscurve, die Logarithmuscurve und unzählige andere. [24] Siehe das fünfte Buch seiner _Exercitationes geometriae._ [25] Parent, _Essai et Recherches de Mathématiques et de Physique_ (II. Aufl. 1713), Bd. 2. [26] _Traité de Courbes à double courbure._ 4 [27] _Recherches sur la courbure des surfaces (Berliner Abh.)._ [28] Abhandlungen der Akademie von Turin (1770-1773) und von Paris (1784); _Feuilles d'analyse appliquée à la géométrie_ (Paris, 1795), oder _Applications de l'Analyse à la Géométrie_ (Paris, 1801). [29] Ausspruch von d'Alembert. [30] _Leçons de géométrie descriptive_ (Paris, 1794). [31] In Bezug auf Monge sehe man Dupin, _Essai historique sur les services et les travaux scientifiques de Gaspard Monge_ (Paris, 1819); Arago, _Notices biographiques._ Über die Geschichte des Ursprunges und der Entwickelung der darstellenden Geometrie sehe man den ersten Abschnitt des 1. Bandes des Werkes von Chr. Wiener, _Lehrbuch der darstellenden Geometrie_ (Leipzig, 1884, 1887), in welchem der Studierende eine Menge interessanter Einzelheiten finden wird, sei es über die Studien, welche diese Disziplin vorbereiteten, sei es über die Untersuchungen, welche die Nachfolger von Monge gemacht haben. Monge hatte als Mitarbeiter bei seinem reformierenden Werke einige seiner Kollegen [unter anderen Lacroix (1765-1843) und Hachette (1769-1834)], sowie viele von seinen Schülern an der polytechnischen Schule. Der Kürze halber beschränke ich mich darauf, den anzuführen, »der über die anderen wie ein Adler fliegt«, Charles Dupin (1784-1873), vorzüglich wegen seiner klassischen _Développements de géométrie_ (1813), die noch von allen gelesen werden müssen, welche auch nur eine mäßige Kenntnis des heutigen Zustandes der Geometrie erlangen wollen. [32] Monge's Einfluß läßt sich noch in den neuesten Arbeiten bemerken; zum Beweise genüge es, die Idee anzuführen, die Schranken, durch welche die Alten die Planimetrie von der Stereometrie getrennt hatten, niederzureißen, und den glücklichen Versuch, den neuerdings (1884) De Paolis in seinen goldenen _Elementi di Geometria_ (Turin) gemacht hat, dieselbe auszuführen. [33] »La Géométrie de position de Carnot n'aurait pas, sous le rapport de la métaphysique de la Science, le haut mérite que je lui ai attribué, qu'elle n'en serait pas moins l'origine et la base des progrès que la Géométrie, cultivée à la manière des anciens, a fait depuis trente ans en France et en Allemagne« (Arago, _Biographie de Carnot_). [34] Zweite Auflage, 1865, 1866. [35] Den Ursprung dieses Prinzipes betreffend, sehe man die Note von C. Taylor, _On the history of geometrical continuity_ (_Cambridge Proc._, 1880 und 1881). [36] _Doctrina triangulorum canonicae_ u. s. w. (Leyden, 1627). [37] _Variorum de rebus mathematicis responsorum liber VIII._ (Opera Vietae, 1646). [38] _Gergonnes Ann._ 17. [39] Jacobi, _Journ. für Math._ 3; Richelot, das. 5, 38; Rosanes und Pasch, ebendas. 64; Léauté, _Comptes rendus_, 79; Fergola, Padeletti und Trudi, _Napoli Rend._ 21; Simon, _Journ. für Math._ 81; Gundelfinger, das. 83; Halphen, _Liouvilles Journ._ III, 5; _Bull. de la Soc. philom._ VII, 3. Man sehe auch die interessante Abhandlung von Hurwitz: _Über unendlich-vieldeutige geometrische Aufgaben, insbesondere über die Schliessungsprobleme_ (_Math. Ann._ 15) und die Note von Forsith, _On in- and circumscribed polyhedra_ (_Proc. Math. Soc._ 1883). [40] In deutscher Übersetzung von Sohncke: _Geschichte der Geometrie, hauptsächlich in Bezug auf die neueren Methoden_ (Halle, 1839), jedoch ohne das _Mémoire sur deux principes généraux de la science_ (vgl. die folgende Note). Das französische Original erschien 1875 in 2. Auflage. [41] Unter den Arbeiten, welche das Werk von Chasles bilden, verdient eine besondere Erwähnung die Abhandlung (für welche ursprünglich der _Aperçu historique_ als Einleitung dienen sollte) _Sur deux principes généraux de la Science_, welche die allgemeine Theorie der Homographie (Kollineation) und der Reciprocität enthält, sowie die Untersuchung der beiden Fälle, in welchen diese involutorisch ist, und die Anwendung dieser Transformationen auf das Studium der Flächen zweiten Grades und der geometrischen Oberflächen überhaupt, sowie auf die Verallgemeinerung des cartesischen Koordinatensystems. Auch müssen noch die _Noten_ erwähnt werden, da sie eingehende historische Studien und geometrische Untersuchungen von großer Bedeutung enthalten. Unter den letzteren will ich diejenigen anführen, in denen die Theorie des Doppel- oder anharmonischen Verhältnisses und der Involution, die anharmonischen Eigenschaften der Kegelschnitte, die Fokaleigenschaften der Flächen zweiten Grades, viele Lehrsätze über die kubischen Raumkurven, glückliche Versuche, die Sätze von Pascal und Brianchon auf die Flächen zweiten Grades auszudehnen, eine Verallgemeinerung der stereographischen Projektion u. s. w. auseinandergesetzt sind. [42] Dieser Übergang ging nicht friedlich von statten, war vielmehr mit einer Reihe lebhafter Diskussionen verbunden, in welchen Poncelet, Chasles und Bobillier zu Gegnern hatten Plücker, Steiner und Magnus und deren Hauptschauplatz das _Bulletin_ von Férussac war. -- Hier würde es am Orte sein, den Anteil zu bestimmen, der jedem dieser Gelehrten in den Wissensgebieten zukommt, an denen sie zusammen arbeiteten; aber dafür würde die Feder eines competenteren und gelehrteren Mannes, als ich bin, nötig sein. Im Übrigen sind nach meinem Dafürhalten gewisse Produktionen der menschlichen Intelligenz eine natürliche Frucht ihrer Zeit; daher darf es nicht wunder nehmen, wenn sie gleichzeitig aus verschiedenen Köpfen hervorgegangen scheinen, und darum braucht man auch keine Erklärung dieser Thatsache in der »mala fides« dieses oder jenes zu suchen. Daß solches wirklich bei der Erfindung der Differentialrechnung eingetreten ist, steht heute außer allem Zweifel. Daß dies ebenso bei der modernen Geometrie eingetreten ist, kann die Thatsache beweisen, daß dieselbe hervorgegangen ist aus einem allseitig gefühlten Bedürfnisse (man vergleiche dazu den Ausspruch Dupins _[Développements de géométrie]_, der als Motto auf dem _Traité des propriétés projectives des figures_ steht, mit der Vorrede der _Systematischen Entwickelung_ und mit dem _Aperçu historique_ an verschiedenen Stellen) nach allgemeinen Methoden, die als Ariadnefaden dienen sollten zur Führung in dem Labyrinthe von Hilfssätzen, Lehrsätzen, Porismen und Problemen, die von den Vorfahren überliefert sind. [43] Die hauptsächlichste Arbeit von Möbius auf dem Gebiete der reinen Geometrie ist die mit dem Titel: _Der barycentrische Calcul_ (Leipzig, 1827); dort sind die bisherigen Kenntnisse über den Schwerpunkt (Barycentrum) eines Systemes von Punkten einer neuen und wichtigen Rechnungsart zu Grunde gelegt; diese führt zu einem neuen Koordinatensystem, dessen Anwendung auf das Studium der Raumkurven und ebenen Kurven und der Oberflächen der Verfasser darlegt. In demselben werden ferner methodisch und in großer Ausführlichkeit wichtige geometrische Transformationen, die heute noch fortwährend Anwendung finden, betrachtet. Viele spätere Abhandlungen von Möbius sind als Anhänge zum barycentrischen Calcul zu betrachten. (Siehe die beiden ersten Bände der _Gesammelten Werke_ von Möbius, herausgegeben auf Veranlassung der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Leipzig, 1885-1887.) [44] Ich meine das Werk: _Systematische Entwickelung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten von einander_ (Berlin, 1832), in dem »der Organismus aufgedeckt ist, durch welchen die verschiedenartigsten Erscheinungen in der Raumwelt miteinander verbunden sind«. -- Die späteren Schriften von Steiner und diejenigen anderer, welche sich auf das angeführte Werk stützen, zeigen, welches Recht der Verfasser desselben dazu hatte, den Inhalt durch die schon angeführten Worte zu charakterisieren. Steiners _Gesammelte Werke_ sind auf Veranlassung der Akademie der Wissenschaften zu Berlin herausgegeben (Berlin, 1881, 1882). [45] Des Näheren will ich hier nur die drei Bücher anführen: _Analytisch-geometrische Entwickelungen_ (Essen, 1828-1831), _System der analytischen Geometrie_ (Berlin, 1835), _Theorie der algebraischen Kurven_ (Bonn, 1839), sowie die mit ihnen zusammenhängenden Abhandlungen, die in _Gergonnes Ann._ und im _Journ. für Math._ veröffentlicht sind. [46] Das Werk, in welchem Staudt sein System der Geometrie dargelegt hat, wurde im Jahre 1847 zu Nürnberg veröffentlicht unter dem Titel: _Geometrie der Lage_. Die ungemeine Knappheit des Stiles ist vielleicht die Ursache der großen Schwierigkeit, auf welche die Verbreitung desselben stieß; heute erst sind, dank den von Reye (in erster Auflage 1866-1868 erschienenen und) unter demselben Titel veröffentlichten Vorlesungen die in demselben enthaltenen Ideen allen bekannt, die sich mit Geometrie beschäftigen. In Italien wird jetzt zuerst von allen Ländern eine Übersetzung desselben angefertigt. Nicht weniger wichtig sind die _Beiträge zur Geometrie der Lage_ (in 3 Heften), welche Staudt seiner _Geometrie der Lage_ 1866-1860 folgen ließ. Wir beschränken uns darauf, hervorzuheben, daß dort die einzige strenge, allgemeine und vollständige Theorie der imaginären Elemente in der projektiven Geometrie auseinandergesetzt ist; diese Theorie wurde in verschiedener Weise von mehreren Geometern, Lüroth (_Math. Ann._ 8, 11), August (_Progr. der Friedrichs-Realschule in Berlin_, 1872) und Stolz (_Math. Ann._ 4) erläutert; über die eng mit ihr zusammenhängende Rechnung mit den »Würfen« sehe man außer den erwähnten Abhandlungen von Lüroth noch zwei Arbeiten von Sturm _(Math. Ann._ 9) und Schröder (ebendas. 10). [47] Ohne Zweifel ist diese Einteilung etwas willkürlich; vielleicht wird mancher, indem er bedenkt, daß gewisse Theorien mit demselben Rechte zu mehr als einem von den folgenden Abschnitten gehören können, dieselbe unpassend finden. Gleichwohl schmeichle ich mir, daß die meisten nach reiflicher Prüfung des besprochenen Gegenstandes finden werden, daß die von mir gewählte Einteilung nicht ohne bemerkenswerte Vorteile ist. [48] Côtes, _Harmonia mensurarum_ (1722); Maclaurin, _De linearum geometricarum proprietatibus generalibus tractatus_. (Ins Französische übersetzt von de Jonquières und seinen _Mélanges de Géométrie pure_ [Paris, 1856] angehängt.) [49] _Miscellanea analytica_ etc. (1762); _Proprietates geometricarum curvarum_ (1772); _Phil. Trans._ 1763-1791. [50] _Geometria organica_ (1720). [51] _Phil. Trans._ 1735; _Exercitationes Geometriae de descriptione linearum curvarum_ (1733). [52] Übrigens hat, wie C. Taylor (_Cambridge Proc._ 3) bemerkte, Newton selbst seine organische Erzeugungsweise der Kegelschnitte in der _Enumeratio linearum tertii ordinis_ auf Kurven höherer Ordnung ausgedehnt. [53] _Usage de l'analyse de Descartes_ (1740). [54] _Introductio in analysin infinitorum_. 2. Bd. [55] _Introduction à l'analyse des lignes courbes algébriques_. [56] Kurz vor der Veröffentlichung des Cramerschen Werkes fand Euler (man sehe die _Berliner Abh._ 1748), daß von den neun Grundpunkten eines Büschels ebener Kurven dritter Ordnung einer durch die acht übrigen bestimmt ist. [57] _Gergonnes Ann._ 17, 19. [58] _Journ. für Math._ 16; _Theorie der algebraischen Curven_ (wo S. 12-13 sich eine kurze Geschichte dieser Sätze findet). [59] _Journ. für Math._ 15. [60] _Cambridge Journ._ 3; vgl. Bacharach, _Math. Ann._ 26. [61] Riemann, _Journ. für Math._ 54; Clebsch, das. 58; Roch, ebendas. 64; Clebsch und Gordan, _Theorie der Abelschen Funktionen_ (Leipzig, 1866); Brill und Nöther, _Über die algebraischen Funktionen_ u. s. w. (_Math. Ann._ 7); Cremona, _Bologna Mem._ 1870; Casorati, Cremona und Brioschi, _Lombardo Rend._ II, 2. [62] In diesem Werke ist mit ersichtlicher Bevorzugung von dem »Prinzipe der Abzählung der Konstanten« Kenntnis gegeben und Gebrauch gemacht; wir wollen dasselbe erwähnen, da sich darauf eine Untersuchungsmethode stützt, deren ganze Bedeutung aufzuheben nicht gelingen wird, obwohl sich Beispiele von Irrtümern anführen lassen, zu denen es führen kann, wenn es ohne die notwendige Vorsicht angewandt wird. Mit der Theorie der ebenen Kurven befassen sich auch die beiden folgenden Bücher, deren Existenz ich aus einer Anführung Plückers kenne (_Theorie der algebraischen Curven_, S. 206); A. Peters, _Neue Curvenlehre_ 1835; C. C. F. Krause, _Novae theoriae linearum curvarum originariae et vere scientificae specimina quinque prima_. _Edidit Schröder_, 1835. [63] S. auch eine Abhandlung Plückers, _Liouvilles Journ._ 1. [64] _Mém. prés._ 1730-31-32. [65] S. die in Note 54 citierte _Introductio_. [66] Hierzu siehe Clebsch, _Vorlesungen über Geometrie_, S. 352; Malet, _Hermathema_, 1880; Pellet, _Nouv. Ann._ II., 20, 1881. [67] Cayley, _Quart. Journ._ 7 und _Journ. für Math._ 64; La Gournerie, _Liouvilles Journ._ II, 14; Nöther, _Math. Ann._ 9; Zeuthen, das. 10; Halphen, _Comptes rendus_ 78, _Liouvilles Journ._ II, 2, _Mém. prés._ 26; J. S. Smith, _Proc. math. Soc._ 6; Brill, _Math. Ann._ 16; Raffy, das. 23. -- An diese Frage knüpft sich die Untersuchung der Zahl der Schnitte zweier Kurven, welche von einem ihnen gemeinsamen vielfachen Punkte absorbiert werden. Hierzu sehe der Leser die interessante Abhandlung von Zeuthen, _Acta math._ 1. [68] _Journ. für Math._ 40; vgl. Clebsch (das. 63). [69] _Journ. für Math._ 36, 40, 41. [70] _Phil. Mag._ Oktoberheft 1858. [71] _Phil. Trans._ 1859. [72] z. B. Dersch, _Math. Ann._ 7. [73] _A Treatise on higher plane curves_ (1852); ins Deutsche übertragen durch Fiedler (Leipzig, 1873) [74] _Gergonnes Ann._ 19. [75] _Journ. für Math._ 24. -- Die Theorie der Polaren in bezug auf Kurven und Oberflächen wurde in der letzten Zeit auf eine bemerkenswerte Weise von Clifford (1845-1879) (_Proc. math. Soc._ 1868 oder _Mathematical Papers of Clifford_, 1882, S. 115) und von Reye (_Journ. für Math._ 72, 78) verallgemeinert. De Paolis widmete ihr eine interessante Schrift, welche in den _Lincei Mem._ 1885-1886 veröffentlicht ist. [76] _Comptes rendus_, 1853. [77] _Essai sur la génération des courbes géométriques_, 1858 (_Mém. prés._ 16). Vgl. Härtenberger, _Journ. für Math._ 58; Olivier das. 70, 71; Schoute, _Nieuw Archief voor Wiskunde_, 4, und die allerneuesten Untersuchungen von Jonquières über die Maximalzahl der vielfachen Punkte, die man bei einer ebenen Kurve beliebig annehmen kann (_Comptes rendus_ 105). [78] Veröffentlicht im Jahre 1862 in den _Bologna Mem._ Möge es mir gestattet sein, hier den Wunsch auszusprechen, daß der berühmte Cremona, dessen Interesse für die Verbreitung der geometrischen Studien bekannt ist, seine berühmten Schriften über die Theorie der Kurven und Oberflächen durch neue Ausgaben allen zugänglich machen wolle. -- Diese Schriften sind in deutscher Übersetzung von Curtze unter dem Titel: _Einleitung in eine geometrische Theorie der ebenen Kurven_ (Greifswald, 1865), bez. _Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Oberflächen in synthetischer Behandlung_ (Berlin, 1870) erschienen. [79] Als Vorbereitung für solche Untersuchungen sind die von Aronhold (_Berliner Ber._ 1861) anzusehen, dann die von Brioschi (_Comptes rendus_, 1863, 64) über die Darstellung der Koordinaten der Punkte von gewissen Kurven als elliptische Funktionen eines Parameters. [80] _Journ. für Math._ 58, 64. Die von Clebsch erhaltenen Resultate haben sich infolge des schönen Werkes von Lindemann, welches den Titel trägt: _Vorlesungen über Geometrie von A. Clebsch_ (I. Bd. Leipzig, 1876) und von dem das Erscheinen des zweiten Bandes allgemein gewünscht wird, schnell verbreitet. [81] _Über die algebraischen Funktionen und ihre Anwendung in der Geometrie. Math. Ann._ 7. [82] Zu den im Texte angeführten Schriften müssen noch die von Brill hinzugezogen werden (_Math. Ann._ 13), ferner die von Geiser (_Annali di Matem._ II, 9) und die von Del Pezzo (_Napoli Rend._ 22) über den Zusammenhang, der zwischen den Singularitäten einer Kurve und denen ihrer Hesseschen Kurve besteht; ferner die von Laguerre (_Comptes rendus_ 40) und Holst (_Math. Ann._ 11 und _Archiv for Mathematik og Naturvidenskab_ 7), über die metrischen Eigenschaften der Kurven. [83] _De linearum geometricarum proprietatibus generalibus tractatus._ [84] Vgl. Salmon-Fiedler, _Höhere ebene Kurven_, 5. Kap. [85] _Phil. Trans._ 1857; _Liouvilles Journ._ 9, 10. [86] _Journ. für Math._ 42. [87] _Zeitschr. f. Math._ 17; _Prager Ber._ 1871. -- Man sehe auch das Buch _Die ebenen Kurven dritter Ordnung_ (Leipzig, 1871) und die Abhandlung von Gent (_Zeitschr. f. Math._ 17). [88] _Giorn. di Matem._ 2. [89] _Journ. für Math._ 90. [90] _Prager Abh._ VI, 5. [91] _Göttinger Nachr._ 1871 und 1872. [92] _Journ. für Math._ 78. [93] Hierzu Harnack, _Math. Ann._ 9. Caporali, _Lincei Atti_, III, 1; Folie und Le Paige, _Mémoires de l'Académie de Belgique_, 43. Halphen, _Math. Ann._ 15; _Bull. Soc. math._ 9. [94] _Siehe Giorn. di Matem._, _Lombardo Rend._, _Math. Ann._, _Wiener Ber._ und _Prager Ber._ [95] Für die Clebschschen Arbeiten sehe man die in Note 80 angeführten Bände des _Journ. für Math._ nach. Über die ebenen rationalen Kurven dritter Ordnung sehe man die Arbeiten von Durège (_Math. Ann._ 1), Igel (das. 6), Rosenow (Dissertation, Breslau, 1873), Schubert (_Math. Ann._ 12), Dingeldey (das. 27, 28); über die Kurven vierter Ordnung die von Brill (Math. Ann. 12) und Nagel (das. 19); über die fünfter Ordnung von Rohn (das. 25), und über die rationalen Kurven beliebiger Ordnung die Schriften von Haase (_Math. Ann._ 2), von Lüroth (das. 9), Pasch (das. 18), Brill (das. 20), von Weltzien (das. 26) und Garbieri (_Giorn. di Matem._ 16). [96] _Journ. für Math._ 47; _Comptes rendus_, 1871. [97] _Journ. für Math._ 53. [98] Güßfeldt, _Math. Ann._ 2; Laguerre, _Bull. Soc. math._ 7; Cremona und Clebsch, _Journ. f. Math._ 64; Kiepert, _Zeitschr. f. Math._ 17; Frahm ebendas. 18; Milinowski das. 19; Intrigila, _Giorn. di Matem._ 23; Kantor, _Wiener Ber._ 1878 und _Bull. Sciences math._ II, 3. [99] _Giorn. di Matem._ 15. [100] _Journ. für Math._ 65. [101] _Math. Ann._ 4. [102] _Bull. de la Société philomathique_, VII, I. [103] Wenn p das Quadrat des Moduls einer elliptischen Funktion, q das Quadrat des vermittelst einer primären Transformation ungerader Ordnung transformierten Moduls und schließlich F(p, q, 1) = 0 die entsprechende Modulargleichung ist, so ist die Gleichung einer Modularkurve F([alpha], [beta], [gamma]) = 0. Siehe _Proc. math. Soc._ 9. [104] _Journ. f. Math._ 65; vgl. Ed. Weyr das. 73; Hurwitz, _Math. Ann._ 19. [105] _Math. Ann._ 24. [106] _Journ. für Math._ 95, 99; siehe auch die Abhandlung von August, _Grunerts Arch._ 59. [107] _Transactions of the Royal Society of Edinburgh_ 25. [108] _Math. Ann._ 5. [109] _Math. Ann._ 5, 6. Man sehe auch hierzu die Abhandlung von Harnack in der _Zeitschr. f. Math._ 22. Die hauptsächlichsten von Durège und Schröter auf synthetischem Wege gefundenen Lehrsätze sind analytisch von Walter in seiner Dissertation _Über den Zusammenhang der Kurven dritter Ordnung mit den Kegelschnittscharen_ (Gießen, 1878) bewiesen. Den genannten Schriften Schröters über die Kurven dritter Ordnung können wir nun noch sein neuerdings erschienenes rein geometrisches Lehrbuch: _Die Theorie der ebenen Kurven dritter Ordnung_ (Leipzig, 1888) hinzufügen. [110] _Math. Ann._ 5. [111] _Math. Ann._ 1, 13; vgl. Clebsch, _Journ. für Math._ 59. [112] _Irish Trans._ 1869. [113] Siehe dessen Werk, _Sur une classe remarquable de courbes et surfaces algébriques_ (Paris, 1873). [114] _Journ. für Math._ 57, 59, 66. [115] _Tidsskrift for Mathematik_, IV, 3. [116] _Forhandlinger af Videnskabs Selskab af Kjobenhavn_ 1879. [117] Erschienen in den _Collectanea mathematica in memoriam D. Chelini_ (Mailand, 1881). [118] _Journ. für Math._ 28, 34, 38. [119] _Journ. für Math._ 49, 55; vgl. auch Cayley (das. 58). [120] _Journ. für Math._ 49. [121] _Berliner Ber._ 1864, sowie _Nouv. Ann._ II, 11. [122] _Math. Ann._ 1; _Journ. für Math._ 72. [123] Vgl. Note 80. [124] _Journ. für Math._ 66. -- Über die Doppeltangenten einer Kurve vierter Ordnung sehe man auch folgende Arbeiten: Riemann, _Zur Theorie der Abelschen Funktionen für den Fall p=3_. _Gesammelte Werke_ (Leipzig, 1876), S. 456-499; Nöther, _Math. Ann._ 15; Cayley, _Journ. für Math._ 94; Frobenius (das. 99); Freyberg, _Math. Ann. _17; H. Weber (ebendas. 23). [125] Um sich von dem bedeutenden Anteil, welchen die Mongesche Schule an der Schöpfung der Theorie der Flächen zweiten Grades hatte, zu überzeugen, genügt es, sich folgendes zu vergegenwärtigen: Ihr verdanken wir die doppelte Erzeugungsweise des einmanteligen Hyperboloides und des hyperbolischen Paraboloides durch die Bewegung einer Geraden (Monge, _Journ. Éc. polyt._ 1) und die Erzeugung aller Flächen zweiten Grades, mit Ausnahme des hyperbolischen Paraboloides, durch Bewegung eines Kreises (Hachette, _Éléments de Géométrie à trois dimensions_). Monge und Hachette verdankt man den Beweis der Existenz der drei Hauptebenen einer Oberfläche zweiter Ordnung; Monge (_Correspondance sur l'École polytechnique_) die Entdeckung des Ortes der Scheitel der dreirechtwinkligen Triëder, deren Kanten eine Fläche zweiter Ordnung berühren, und Bobillier (_Gergonnes Ann._ 18) die des Ortes der Scheitel der dreirechtwinkligen Triëder, deren Seitenflächen eine Fläche zweiter Ordnung berühren; Monge bestimmte die Krümmungslinien des Ellipsoides (_Journ. Éc. polyt._ 2); Livet (das. 13) und Binet (ebendas. 16) dehnten die bekannten Lehrsätze des Apollonius auf den Raum aus, während Chasles (_Correspondance sur l'Éc. polyt._) andere analoge Sätze gab; Dupin (_Journ. Éc. polyt._ 14) machte einige interessante Methoden zur Erzeugung solcher Oberflächen bekannt. Brianchon (das. 13) zeigte, dass die reciproke Polare einer Fläche zweiten Grades ebenfalls eine Fläche zweiten Grades sei, u. s. w. [126] _Journ. für Math._ 12. [127] _Irish Proc._ 2. [128] _Aperçu historique_, Note 25, 28, 31, 32; _Comptes rendus_, 1855; _Liouvilles Journ._ 1860 u. s. w. [129] _Journ. für Math._ 18, 20, 24, 26, 60, 73, 85, 90. [130] _Grunerts Arch._ 9. [131] _Journ. für Math._ 62. Über die Oberflächen zweiter Ordnung sehe man auch die Abhandlungen von Townsend (_Cambridge Journ._ 3), von Darboux (_Bull. Soc. Math._ 2), von Meray und Cremona (_Annali di matem._ I, 3) u. s. w. und die _Géométrie de direction_ (Paris, 1869) von P. Serret. Eine der wichtigsten Fragen, welche sich in der Theorie der Flächen zweiten Grades darbietet, ist die Konstruktion derselben, wenn neun ihrer Punkte gegeben sind. Dieselbe wurde von Seydewitz (_Grunerts Arch._ 9), Chasles (_Comptes rendus_, 1855), Steiner (_Gesammelte Werke_, II. Bd., _Nachlass_), Schröter (_Journ. für Math._ 62), Sturm (_Math. Ann._ 1) und Dino (_Napoli Rend._ 1879) gelöst. -- Daran knüpft sich die Untersuchung des achten Punktes, der allen Flächen zweiter Ordnung gemeinsam ist, die durch sieben gegebene Punkte gehen. Dieser wurde der Gegenstand wichtiger Untersuchungen von Hesse (_Journ. für Math._ 20, 26, 73, 75, 99), Picquet (das. 73, 99), Caspary, Schröter, Sturm, Zeuthen (das. 99) und Reye (das. 100). Ein anderes interessantes Problem ist die Untersuchung der Flächen zweiten Grades, in bezug auf welche zwei gegebene Flächen zweiten Grades reziproke Polaren voneinander sind; dasselbe wurde analytisch von Battaglini behandelt (_Lincei Atti,_ 1875), von d'Ovidio (_Giorn. di Matem._ 10) und synthetisch von Thieme (_Zeitschr. f. Math._ 22). Über einige Flächen zweiten Grades, welche besondere metrische Eigenschaften besitzen (orthogonale, gleichseitige Hyperboloide), haben geschrieben: Steiner (_Journ. für Math._ 2 und _Systematische Entwickelung_), Chasles (_Liouvilles Journ._ 1 [1836]), Schröter (_Journ. für Math._ 85), Schönfließ (_Zeitschr. für Math._ 23, 24 und _Journ. für Math._ 99), Vogt (_Journ. für Math._ 86) und Ruth (_Wiener Ber._ 80). Zu den neuesten Studien über die Flächen zweites Grades gehören die von Zeuthen (_Math. Ann._ 19, 26) über die Theorie der projektiven Figuren auf einer solchen Fläche; daran schließen sich auch einige schöne Untersuchungen, welche Voß gemacht hat (_Math. Ann._ 25, 26), um gewisse Resultate von Poncelet und Bruno (_Torino Atti_ 17) weiter auszudehnen. Auch sind die Anwendungen der hyperelliptischen Funktionen auf sie bemerkenswert, welche Staude (_Math. Ann._ 20, 21, 25, 27) gemacht hat. [132] Davon geben Zeugnis die Partien, welche in ihren wertvollen Lehrbüchern diesen Oberflächen gewidmet haben: Hesse (_Vorlesungen über die analytische Geometrie des Raumes_), Salmon (_Analytische Geometrie des Raumes_), Cremona (_Preliminari di una teoria geometrica delle superficie_), Reye (_Die Geometrie der Lage_) und Schröter (_Theorie der Oberflächen zweiter Ordnung und der Raumkurven dritter Ordnung_). [133] _Mémoire de géométrie sur deux principes généraux de la science_ (Anhang zum _Aperçu historique_). [134] _Gergonnes Ann._ 17. [135] _Mémoire sur la théorie générale des polaires réciproques_. (_Journ. für Math._ 4). [136] _Cambridge Journ._ 2, 4; _Irish Trans._ 23. [137] _Cambridge Journ._ 7, 8; _Phil. Trans._ 1869, 71 u. 72. Man sehe auch die von Zeuthen in den _Math. Ann._ 4, 9, 10, von Jonquières in den _Nouv. Ann._ 13 und von Halphen in den _Annali di Matem._ II, 9 veröffentlichten Abhandlungen. [138] _Journ. für Math._ 15. [139] _Math. Ann._ 1, 2. Vgl. auch eine Abhandl. von Padova im _Giorn. di Matem._ 9, sowie eine von Valentiner, _Tidsskrift for Mathematik_ IV, 3. [140] _Comptes rendus_ 45. [141] _Preliminari di una teoria geometrica delle superficie_. (_Bologna Mem._ II, 6, 7). [142] _Wiener Ber._ 1877, 1882. [143] _Math. Ann._ 27. [144] _Journ. für Math._ 49. [145] _Cambridge Journ._ 4; _Quart. Journ._ 1; _Phil. Trans._ 1860. [146] _Journ. für Math._ 58, 63. [147] _Journ. für Math._ 72. [148] _Math. Ann._ 10, 11, 12; _Abzählende Geometrie_, 5. Abschnitt. S. auch Krey, _Math. Ann._ 15. [149] _Math. Ann._ 23. [150] _Journ. für Math._ 72, 78, 79, 82. [151] _Geometry of three dimensions_; in deutscher Übersetzung von Fiedler: _Analytische Geometrie des Raumes in zwei Bänden_ (3. Auflage, 1879/80). [152] _Preliminari_ etc. Vgl. Note 141. [153] Vgl. die in Note 136 und 137 angeführten Arbeiten. [154] _Cambridge Journ._ 6. [155] Auch im _Journ. für Math._ 53 publiziert. [156] Die einzige mir bekannte Arbeit, welche mit den Studien von Cayley und Salmon im Zusammenhange steht, ist eine von Schläfli (_Quart. Journ._ 2), die besonders dadurch wichtig ist, daß sie die erste ist, welche den Begriff der »Doppelsechs« enthält. [157] _Journ. für Math._ 62. [158] _Disquisitiones de superficiebus tertii ordinis_ (Berlin, 1862). [159] _Journ. für Math._ 68; ferner _Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Oberflächen_ (Berlin, 1870), in welchem Buche die deutsche Übersetzung der in Note 141 und 152 zitierten »_Preliminari_« und diejenige dieser Preisschrift (durch Curtze) vereinigt sind. [160] _Synthetische Untersuchungen über Flächen dritter Ordnung_. Leipzig, 1867. [161] _Journ. für Math._ 51; vgl. eine von Schröter (das. 96) veröffentlichte Abhandlung. [162] Vgl. die in Note 158 zitierte Arbeit. -- Man sehe auch Schubert, _Math. Ann._ 17. [163] _Grunerts Arch._ 56. [164] _Bull. soc. math._ 4. [165] _Acta math._ 3. [166] _Lombardo Rend._ März 1871. [167] _Grunerts Arch._ 56. [168] _Math. Ann._ 23. [169] _Lombardo Rend._ 1884; _Annali di Matem._ II, 12. [170] _Math. Ann._ 13; _Lincei Mem._ 1876-1877. [171] _Napoli Rend._ 1881. [172] _Journ. für Math._ 78. [173] _Lombardo Rend._ 1879. [174] _Acta math._ 5. [175] _Phil Trans._ 1863; vgl. Cayley (das. 1869). [176] _Math. Ann._ 14. [177] _Lombardo Atti_, 1861. [178] _Theorie der mehrdeutigen Elementargebilde_ u. s. w. Leipzig, 1869; _Geometrie der räumlichen Erzeugnisse ein-zweideutiger Gebilde_, Leipzig, 1870. [179] _Über die geradlinige Fläche dritter Ordnung und deren Abbildung auf eine Ebene._ (Dissertation. Straßburg, 1876.) [180] _Math. Ann._ 4. [181] _Phil. Mag._ 1864. [182] _Math. Ann._ 10. [183] _Phil. Trans._ 150. [184] _Journ. für Math._ 58. [185] _Math. Ann._ 5. [186] _Lincei Mem._ 1880-1881. Man sehe auch eine Note von Brioschi in den _Lincei Atti_ II, 3, in welcher bewiesen wird, daß die 45 dreifach berührenden Ebenen einer Oberfläche dritter Ordnung dreien Oberflächen zehnter Klasse gemeinsam sind. Neuerdings fand Bauer (_Abh. der Bayr. Akad. der Wiss._ 14, 1883) analytisch von neuem, was Sturm schon 1867 in seinen _Synthetischen Untersuchungen über Flächen dritter Ordnung_ erkannt hatte, daß die Schnittkurve einer Oberfläche dritter Ordnung mit ihrer Hesseschen Fläche für beide eine parobolische Kurve ist; ein bemerkenswertes Resultat, weil es das Analogon im Raume zu einem bekannten Satze über die ebene kubische Kurve ist. [187] _Liouvilles Journ._ II, 14; _Traité des substitutions et des équations algébriques_ (Paris, 1870). [188] _Traité des propriétés projectives des figures_. [189] _Comptes rendus_, 1862. [190] Ebendas., 1861. [191] _Phil. Trans._ 1864. [192] _Bologna Mem._ 1868. [193] _Berliner Ber._ 1864; _Journ. für Math._ 64. [194] _Nouv. Ann._ II, 5. [195] Die Dupinsche Cyklide gehört zu diesen. [196] Vgl. _Comptes rendus_ 1864. [197] Die Untersuchungen von Darboux finden sich in dem schon angeführten Buche: _Sur une classe remarquable de courbes et de surfaces algébriques_ (Paris, 1873) zusammengefaßt. [198] S. die Aufzählung der Arbeiten, die zu Ende des in der vorigen Note zitierten Werkes sich findet, und die _Notice sur la vie et les travaux de M. Laguerre_, veröffentlicht von Poincaré in den _Comptes rendus_ 104. [199] _Phil. Trans._ 1871. [200] _Lombardo Rend._ 1871. [201] _Journ. für Math._ 70. [202] _Math. Ann._ 4. [203] _Om Flader af fjerde Orden med Dobbeltkeglesnit_ (Kopenhagen, 1879). Von dieser Abhandlung habe ich eine italienische Übersetzung in den _Annali di Matem._ II, 14 veröffentlicht. [204] _Journ. für Math._ 69. [205] _Math. Ann._ 1, 2, 3, 4. [206] _Annali di Matem._ II, 13. [207] _Leipziger Dissertation_ (Greifswald, 1885). [208] _Math. Ann._ 19. [209] _Torino Mem._ II, 36. [210] _Math. Ann._ 24. Betreffend die Konstruktion einer Oberfläche vierter Ordnung mit Doppelkegelschnitt sehe man eine Abhandlung von Bobek (_Wiener Ber._ 11. und 18. Dez. 1884) und eine von Veronese (_Atti dell' Istituto Veneto_, VI, 1); hinsichtlich der Konstruktion einer Cyklide sehe man eine Abhandlung von Saltel (_Bull. Soc. math._ 3). [211] Weierstraß, _Berliner Ber._ 1863. [212] Unter den Eigenschaften der römischen Fläche von Steiner verdient eine hervorragende Stelle die (durch verschiedene Methoden von Cremona und Clebsch nachgewiesene) Eigenschaft, daß sie zu asymptotischen Kurven (Haupttangentenkurven) rationale Kurven vierter Ordnung hat. Eine andere Eigenschaft derselben wurde von Darboux (_Bull. sciences math._ II, 4) entdeckt und besteht darin, daß sie die einzige Fläche ist, außer den Flächen zweiten Grades und den Regelflächen dritten Grades, bei welcher durch jeden Punkt unendlich viele Kegelschnitte gehen. Neuerdings hat Picard (_Journ. für Math._ 100) gezeigt, daß sie die einzige nicht geradlinige Oberfläche ist, deren sämtliche ebene Schnitte rationale Kurven sind. Man sehe hierzu noch eine Note von Guccia in den _Rendiconti del circolo matematico di Palermo_, 1. -- Lie machte (_Archiv for Math. og Naturvidenskab._ 3) die interessante Bemerkung, daß der Ort der Pole einer Ebene in Bezug auf die Kegelschnitte einer Steinerschen Fläche eine ebensolche Fläche ist. [213] _Journ. für Math._ 63; _Lombardo Rend._ 1867. [214] _Journ. für Math._ 64. [215] _Math. Ann._ 3. [216] _Journ. für Math._ 64; _Proc. math. Soc._ 5. [217] _Giorn. di Matem._ 1; _Bologna Mem._ 1879. [218] _Journ. für Math._ 67. [219] _Math. Ann._ 5. [220] _Nouv. Ann._ II, 11, 12; _Bull. Soc. math._ 1. [221] _La superficie di Steiner studiata nella sua rappresentazione analitica mediante le forme ternarie quadratiche_ (Torino, 1881). [222] _Berliner Abh._ 1866 und _Berliner Ber._ 1864. [223] Diese Oberfläche hat eine fundamentale Bedeutung in der mathematischen Theorie des Lichtes. Es ist in der That bekannt, daß die Bestimmung der Ebenen, welche sie längs Kreisen berühren, Hamilton zur Entdeckung der konischen Refraktion führte, einer Erscheinung, welche der Aufmerksamkeit der Physiker entgangen war. Sie erfreut sich vieler interessanter Eigenschaften und war Gegenstand wichtiger Untersuchungen verschiedener Gelehrten, insbesondere Mannheims (_Comptes rendus_, 78, 81, 85, 88, 90; _Association franç. pour l'avanc. des sciences_ 1874, 75, 76, 78), _Proc. Roy. Soc._ 1882; _Collectanea mathematica_ u. s. w. [224] _Liouvilles Journ._ 11; _Journ. für Math._ 87. Vgl. eine Abhandlung von Segre im _Giorn. di Matem._ 21. Andere Spezialfälle der Kummerschen Fläche wurden von Rohn und Segre (_Leipziger Ber._ 1884) studiert. [225] Diese Eigenschaft der Kummerschen Fläche veranlaßte eine Untersuchung über die Oberflächen beliebiger Ordnung, welche dieselbe besitzen, eine Untersuchung, die schon von Kummer und Cayley unternommen ist, _Berliner Ber._ 1878. [226] _Berliner Ber._ 1870, oder _Math. Ann._ 23. [227] _Journ. für Math._ 97; vgl. Segre das. 98. [228] _Journ. für Math._ 83, 94; oder _Borchardts Gesammelte Werke_ (Berlin, 1888, S. 341); vgl. Brioschi und Darboux, _Compt. rend._, 1881. [229] _Journ. für Math._ 84. [230] S. die in Note 207 zitierte Abhandlung, und für die Geschichte der Anwendung der hyperelliptischen Funktionen auf die Kummersche Oberfläche die Einleitung der Abhandlung von Rohn, _Math. Ann._ 15. [231] _Journ. für Math._ 70. [232] _Münchener Dissertation_, 1878; _Math. Ann._ 15. [233] Die anderen Oberflächen vierter Ordnung mit singulären Punkten wurden von Cayley studiert (_Proc. math. Soc._ 1870, 1871), vollständiger von Rohn in einer sehr schönen Abhandlung, die von der Jablonowskischen Gesellschaft kürzlich prämiiert ist (vgl. _Math. Ann._ 29). Endlich wurden die von Flächen zweiten Grades eingehüllten Flächen vierter Ordnung von Kummer untersucht, _Berliner Ber._ 1872. [234] _On the quartic surfaces_ (+) (u, v, w)^2 = 0 (_Quart. Journ._ 10, 11); _On the quartic surfaces represented by the equation symmetrical determinant_ = 0 (_Quart. Journ._ 14). [235] Bekanntlich nennt man nach Cayley ein Monoid eine Oberfläche n^{ter} Ordnung mit einem (n-1)-fachen Punkte. [236] _Math. Ann._ 24; vgl. auch die Dissertation von Lampe, Berlin, 1864. [237] _Math. Ann._ 18, 17. Außer den im Texte zitierten Oberflächen wurden noch andere spezielle Flächen studiert, die ich der Kürze wegen übergehen muß; der größere Teil derselben wurde vermittelst der Theorie der Abbildungen entdeckt oder betrachtet, siehe § VI. [238] _Correspondance mathématique_ 9; _Liouvilles Journ._ 2. [239] _Cambridge Journ._ 8 und _Irish Trans._ 23. [240] _Phil. Trans._ 1863-1869. In den angeführten Arbeiten haben Cayley und Salmon die Regelflächen bearbeitet als die Örter der Geraden, die drei gegebene Kurven treffen, oder eine einmal und eine zweite zweimal treffen, oder Trisekanten einer Kurve sind. Rupp hat neuerdings diese Betrachtungen wieder aufgenommen, um auf eine andere Weise die Resultate zu erhalten und zu modifizieren, zu denen jene Mathematiker gelangt waren (_Math. Ann._ 18). [241] _Annali di Matem._ II, 1. [242] _Traité de géométrie descriptive_, Art. 629 u. 635. [243] _Math. Ann._ 8, 12, 13. [244] _Comptes rendus_, 1862; vgl. d'Ovidio und Dino, _Giorn. di Matem._ 3. [245] _Dissertation_, gedr. zu Berlin 1864, und _Journ. für Math._ 67. [246] _Recherches sur les surfaces réglées tetraédrales symétriques_ (Paris, 1867). Ich bemerke, daß ein Büschel von Oberflächen, die in Bezug auf ein Tetraeder symmetrisch sind, mit einem projektiven Ebenenbüschel eine bemerkenswerte Fläche erzeugt, die von Eckardt (_Zeitschr. f. Math._ 20) bearbeitet ist und welche die allgemeine Oberfläche dritter Ordnung in sich schließt. [247] _Math. Ann._ 5. [248] _Annali di Matem._ II, 4. [249] _Prager Abhandlungen_ VI, 5. [250] _Mémoires de Bordeaux_ II, 3. [251] _Über die Flächen, deren Gleichungen aus denen ebener Kurven durch eine bestimmte Substitution hervorgehen. Math. Ann._ 7. [252] _Lincei Mem._ 1878-1879. [253] _Math. Ann._ 4. [254] _Math. Ann._ 27, 29. S. auch eine Abhandlung von Eckardt (daselbst 7). [255] _Math. Ann._ 3. [256] das. 14, 15. S. auch eine Bemerkung von Dino, _Napoli Rend._ 19. [257] _Comptes rendus_, 52. [258] _Journ. für Math._ 68. [259] _Math. Ann._ 2. [260] _Proc. math. Soc._ 4; _Comptes rendus_, 1861; vgl. Hungady _Journ. für Math._ 92. [261] Klein und Lie, _Comptes rendus_, 70. [262] Fouret, _Bulletin de la Société philomatique_, VII, 1. [263] Jung, _Lincei Rend._ 1885 und 1886. S. auch zwei Bemerkungen über denselben Gegenstand, veröffentlicht von Visalli (ebendas. 1886). [264] Goursat, _Ann. Ec. norm._ III, 4; Lecornu, _Acta math._ 10. [265] Cfr. die bewunderungswerten _Vergleichenden Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen_ von F. Klein (Erlangen, 1872). [266] Veröffentlicht im Jahre 1795 unter dem Titel: _Feuilles d'Analyse appliquée à la Géométrie_. Die letzte (fünfte) Ausgabe wurde von Liouville im Jahre 1850 besorgt und durch einen Anhang sehr wertvoller Noten bereichert. [267] Der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen überreicht am 8. Oktober 1827 und abgedruckt im 6. Bande der _Commentationes recentiores societatis Gottingensis_. Diese _Disquisitiones_ stehen im 4. Bande der von der genannten Gesellschaft herausgegebenen _Werke_ von Gauß, ferner in französischer Übersetzung in der angeführten Liouvilleschen Ausgabe des Werkes von Monge. [268] Wenn x = e(t), y = f(t), z = g(t) die Ausdrücke der Koordinaten der Punkte dieser Kurve in Funktionen eines Parameters t sind und F(x, y, z) = 0 die Gleichung der gegebenen Oberfläche, so ist die fragliche Enveloppe die der Oberfläche F{x + e(t), y + f(t), z + g(t)} = 0. [269] Über solche Flächen sehe man die neue Arbeit von Lie (_Archiv for Mathematik og Naturvidenskab_ 7). [270] Vor Monge hatten sich schon Euler (_Histoire de l'Académie de Berlin_, 1766) und Meunier (_Mémoires de l'Académie des sciences de Paris_ 10, 1776) mit diesem Thema beschäftigt. [271] Unter den neueren Arbeiten über die Krümmungslinien führen wir nur die von Hamilton, Frost und Cayley an, die sich als Aufgabe gestellt haben, zu finden, wie dieselben um einen Nabelpunkt herum verteilt sind (_Quart. Journ._ 12). [272] Vgl. hierzu eine von Cremona veröffentlichte Arbeit in den _Bologna Mem._ III, 1. Wir führen hier auch einige Noten von Darboux an (_Comptes rendus_, 84, 92, 97), welche die Bestimmung der Krümmungslinien einiger spezieller bemerkenswerter Flächen zum Zwecke haben. [273] Die Differentialgleichung der Minimalflächen verdanken wir Lagrange (_Miscellanea Taurinensia_, 1760-1761); die geometrische Interpretation derselben wurde ein wenig später von Meunier gegeben (vgl. Note 270). [274] An die in den §§ 18 und 21 der _Application_ gemachten Untersuchungen knüpft sich eine Abhandlung von O. Rodrigues, die sich in der _Correspondance sur l'École polytechnique_ 3 findet. [275] Außer den Krümmungs- und asymptotischen Linien auf einer Fläche sind noch diejenigen bemerkenswert, bei denen die Schmiegungskugel in einem beliebigen ihrer Punkte die Oberfläche selbst berührt. Dieselben wurden von Darboux (_Comptes rendus_ 83) und von Enneper (_Göttinger Nachrichten_, 1871) studiert. [276] Dupin fand (_Applications de Géométrie et de Méchanique_, 1822), daß die einzigen Oberflächen, bei denen sämtliche Krümmungslinien Kreise sind, die Kugel, der Rotations-Kegel und -Cylinder und die Cyklide sind, welch letztere er schon als die Enveloppe einer Kugel erkannt hatte, die sich so bewegt, daß sie immer drei feste Kugeln tangiert. [277] _Liouvilles Journ._ 13. [278] _Journ. Éc. polyt._ 19, 35; _Comptes rendus_ 42. [279] _Atti dell' Accademia dei Quaranta_, 1868-1869; _Annali delle Università toscane_, 1869; _Annali di Matem._ II, 1, 4. [280] _Göttinger Abh._ 13, 16, 23; _Journ. für Math._ 94. [281] _Comptes rendus_, 96. [282] das. 46. [283] _Journ. Éc. polyt._ 53. [284] _Journ. für Math._ 94. [285] _Göttinger Dissertation_, 1883. [286] _Journ. für Math._ 59. [287] _Annali di Matem._ I, 8. [288] _Archiv for Math. og Naturvidenskab_, 4; _Bull. Sciences math._ II, 4. [289] _Journ. für Math._ 62. [290] _Berliner Ber._ 1840; _Journ. für Math._ 24. [291] _Berliner Ber._ 1866. [292] _Abhandlungen der Jablonowskischen Gesellschaft zu Leipzig_ 4; _Journ. für Math._ 13. [293] _Liouvilles Journ._ II, 5. [294] das. I, 11. [295] _Göttinger Abh._ 13, _oder Gesammelte Werke_ S. 283 und 417. Niewenglowski hat die Riemannschen Untersuchungen in elementarer Form dargelegt in den _Ann. Éc. norm._ II, 9. [296] _Berliner Ber._ 1867. [297] _Math. Ann._ 1. [298] _Akademiens Afhandlingar_, _Helsingfors_, 1883. [299] _Journ. Éc. polyt._ 37. [300] _Heidelberger Dissertation_, 1875. [301] _Comptes rendus_ 41; vgl. Enneper, _Zeitschr. f. Math._ 7, 9. [302] _Journ. Éc. polyt._ 39. [303] _Bestimmung einer speziellen Minimalfläche_ (Berlin, 1871). Vgl. Cayley, _Quart. Journ._ 14. [304] _Journ. für Math._ 80. [305] das. 87; _Comptes rendus_ 96. [306] _Zeitschr. f. Math._ 14; _Göttinger Nachr._ 1866. [307] _Liouvilles Journ._ II, 8. [308] _Bologna Mem._ II, 7. Die wunderschöne Einleitung dieser Abhandlung enthält die Geschichte der Theorie der Minimalflächen. [309] _Archiv for Math. og Naturv._ 3, 4, 6; _Math. Ann._ 14, 15. [310] _Journ. für Math._ 81, 85. [311] _Annali di Matem._ II, 9. [312] _Étude des élassoides. Mémoires couronnés par l'Académie de Belgique_ 44. [313] _Giorn. di Matem._ 22. [314] _Lombardo Rend._ 1876; _Giorn. di Matem._ 14. [315] _Journ. für Math._ 78. [316] Das Studium der Krümmung einer Oberfläche in einem singulären Punkte wurde von Painvin im _Journ. für Math._ 72 angestellt. [317] Ein analoger Satz wurde neuerdings von Sturm entdeckt (_Math. Ann._ 21). [318] Einige Vervollkommnungen und Ergänzungen dieses Teiles der Gaußischen Abhandlung wurden von Liouville (_Journ. Éc. polyt._ 24), von Baltzer (1818-1887) (_Leipziger Berichte_ 1872) und durch von Escherich (_Grunerts Arch._ 57) vorgenommen. [319] Der Satz von Gauß: »Damit eine Oberfläche auf eine andere abwickelbar sei, ist notwendig, daß die Krümmung in den entsprechenden Punkten gleich sei«, wurde auf verschiedene Arten von Liouville (_Liouvilles Journ._ 12), von Bertrand, Puiseux und Diguet (das. 13) bewiesen. Vgl. auch Minding, _Journ. für Math._ 19. [320] _Annali di Matem._ II, 1. [321] _Bologna Mem._ II, 8. [322] _Math. Ann._ 1. [323] _Comptes rendus_ 37. [324] das. 44, 46, 57, 67. [325] _Annali di Matem._ I, 7. -- Das allgemeinere Problem der Bestimmung zweier Oberflächen, so daß jedem Punkte der einen ein Punkt oder eine Gruppe von Punkten der anderen entspricht, und daß den geodätischen Linien der einen geodätische Linien der anderen korrespondieren, wurde später von Dini behandelt. (_Annali di Matem._ II, 3). [326] _Giorn. di Matem._ 6. [327] _Comptes rendus_, 1865. [328] _Archiv for Math. og Nat._ 4, 5. [329] _Giorn. di Matem._ 16, 20, 21. [330] _Lund Årskrift_ 19. [331] _Comptes rendus_ 96, 97. [332] _Acta math._ 9. [333] _Journ. für Math._ 64. [334] _Berliner Ber._ 1882-1883. -- Hieran schließt sich die Schrift von Lilienthal's: _Untersuchungen zur allgemeinen Theorie der krummen Oberflächen und der geradlinigen Strahlensysteme_ (Bonn, 1886). [335] _Journ. für Math._ 26, 30. -- Joachimsthals Vorlesungen: _Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf die allgemeine Theorie der Flächen und der Linien doppelter Krümmung_ erschienen nach seinem Tode (Leipzig, 2. Auflage, 1881). [336] _Göttinger Nachr._ 1867. [337] _Lombardo Atti_ II, 1. [338] _Programm der Universität von Christiania_, 1879. [339] _Math. Ann._ 20. [340] _Journ. für Math._ 6, 18, 19. [341] _Journ. Éc. polyt._ 39. [342] _Mém. prés._ 27 (1879) (_Mémoire relatif à l'application des surfaces les unes sur les autres_). [343] _Journ. Éc. polyt._ 41, 42. [344] _Berliner Abh._, 1869. [345] _Journ. für Math._ 94. [346] _Berliner Ber._ 1882. [347] _Münchener Abh._ 14. [348] _Journ. für Math._ 6. [349] _Irish Trans._ 22, I. T. [350] _Giorn. di Matem._ 2. [351] _Göttinger Nachr._ 1875. [352] _Giorn. di Matem._ 21. [353] _Journ. Éc. polyt._ 48. [354] _Bologna Mem._ IV, 3. [355] _Mém. prés._ 5; _Liouvilles Journ._ 2. -- Unter den vielen Anwendungen, die man von den elliptischen Koordinaten gemacht hat, wollen wir nur diejenigen anführen, die Jacobi davon gemacht hat bei der Bestimmung der geodätischen Linien (_Journ. für Math._ 14; _Comptes rendus_ 8; _Liouvilles Journ._ 6) und bei einigen Fragen der Dynamik. S. _Vorlesungen über Dynamik_, 1866 in erster, 1884 in zweiter Ausgabe als Supplementband zu den _Gesammelten Werken_ erschienen. [356] _Journ. Éc. polyt._ 23. [357] _Liouvilles Journ._ 5. [358] das. 4. [359] das. 8. [360] _Comptes rendus_ 48, 54; _Journ. für Math._ 58; _Annali di Matem._ I, 6 und II, 1, 3, 5. [361] _Annali di Matem._ II, 1. [362] das. II, 1, 2, 4, 5. [363] _Bologna Mem._ 1868-1869. [364] _Ann. Éc. norm._ II, 7. [365] _Ann. Éc. norm._ I, 4. [366] _Journ. Éc. polyt._ 43. [367] _Annales des mines_ VII, 5. [368] _Liouvilles Journ._ 11. [369] das. 12. [370] _Comptes rendus_ 54. [371] _Mémoires couronnés par l'Académie de Belgique_, 32. [372] _Comptes rendus_ 59. [373] das. 59, 60, 67, 76; _Ann. Éc. norm._ I, 2; II, 3. [374] _Comptes rendus_ 74, 75; _Phil. Trans._ 163. Vgl. Weingarten, _Journ. für Math._ 83. [375] _Comptes rendus_ 76. [376] _Journ. für Math._ 85. [377] das. 76; vgl. Darboux, _Comptes rendus_ 84. [378] _Grunerts Arch._ 55, 56, 57, 58 und 63. [379] _Giorn. di Matem._ 21, 22; _Annali di Matem._ II, 13; _Lincei Rend._ 1886. [380] _Mémoires de l'Académie de Toulouse_ VIII, 1. [381] _Archiv for Math. og Naturv._ 7. [382] _Göttinger Abh._ 19. -- Wenn u der Winkel der Normalen der Oberfläche in einem Punkte mit der z-Axe, und v der Winkel der Projektion derselben auf die xy-Ebene mit der x-Axe ist, so nennt man nach Enneper Kurven, deren Gleichungen u = _const._ oder v = _const._ sind, Meridiankurven. [383] _Comptes rendus_ 74; _Proc. math. Soc._ 4. [384] _Berliner Ber._ 1883. [385] _Göttinger Dissertation,_ 1883. [386] _Giorn. di Matem._ 17. [387] _Mémoires de la société scientifique de Bruxelles_ 5, 7, 8. [388] _Ann. Éc. norm._ II, 3; _Journ. Éc. polyt._ 53. [389] _Liouvilles Journ._ 9, 12. [390] _Journ. Éc. polyt._ 30, 32; _Liouvilles Journ._ 14; _Comptes rendus_ 54. [391] Man sehe auch die _Thèse_ (Dissertation) von Picart, _Essai d'une théorie géométrique des surfaces_ (Paris, 1863). [392] _Liouvilles Journ._ II, 17 und III, 4; _Bull. Soc. math. _2, 5, 6; _Comptes rendus_ 74, 78, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 86, 88; _Proc. math. Soc._ 12; _The Messenger of Mathematics_ II, 8. [393] _Enumeratio linearum tertii ordinis_ (1706). Indem wir eine Bemerkung von Bellavitis (1803-1880) verwerten (s. § 107 der Schrift _Sulla classificazione delle curve di terzo ordine, Memorie della Società italiana delle scienze residente in Modena_, Bd. 25, II. Teil S. 34), geben wir dieses Resultat wieder, indem wir sagen, daß jede Kurve dritter Ordnung sich durch eine geeignete projektive Transformation auf eine der folgenden Formen bringen läßt: Kurve, bestehend aus einem Schlangenzuge und einem Ovale (_parabola campaniformis cum ovali_), Kurve mit einem Doppelpunkte (_parabola nodata_), Kurve, bestehend aus einem Schlangenzuge (_parabola pura_), Kurve mit einem isolierten Punkte (_parabola punctata_), Kurve mit einer Spitze (_parabola cuspidata_). Unter den Beweisen, die für diesen Satz gegeben sind, führe ich den von Möbius an, der sich auf die Prinzipien der analytischen Sphärik gründet (_Gesammelte Werke_, II. Bd. S. 89-176), und den, der aus der Klassifikation von Bellavitis (s. oben) hervorgeht. An Möbius schließt sich an: M. Baur, _Synthetische Einteilung der ebenen Kurven III. Ordnung_ (Stuttgart, 1888). Dann bemerke ich noch hierzu, daß die Einteilungen, die von Möbius und Bellavitis (fast gleichzeitig, da die erste 1852 veröffentlicht wurde und die zweite 1851 geschrieben und 1855 veröffentlicht wurde) vorgeschlagen sind, gemeinsam haben, daß sie die Kollineation als Grundlage der Bildung der Gattungen, die Affinität zur Grundlage der Bildung der Arten dieser Kurven nehmen. Plückers Einteilung befindet sich im _System der analytischen Geometrie_. J. W. Newman hat der _British Association for the Advancement of Science_ (vgl. Report 1869-1870) eine Diskussion der Formen der ebenen kubischen Kurven und eine daraus sich ergebende Nomenklatur vorgelegt, die von der gewöhnlich üblichen abweicht. [394] _Aperçu historique_, Note 20. [395] _Journ. für Math._ 75 und 76. Wir können hinzufügen, daß Reye im Anhange der 3. Auflage des ersten Teiles seiner _Geometrie der Lage_, der vor wenigen Monaten erschienen ist, eine neue und elegante Methode zur Bestimmung der Formen der ebenen kubischen Kurven einführt, indem er sie als die Jacobischen Kurven von Kegelschnittnetzen auffaßte. [396] §§ 12, 13, 14, 15. [397] _The Messenger of Mathematics_ II, 6. [398] _Anwendung der Topologie auf die Gestalten der algebraischen Kurven, speziell der rationalen Kurven vierter und fünfter Ordnung_ (Münchener Dissertation, 1878). [399] _Irish Trans._ 1875. [400] _Beiträge zur Theorie der Oskulationen bei ebenen Kurven dritter Ordnung_ (Berliner Dissertation, 1884). [401] _Math. Ann._ 7, 10. S. übrigens die Abhandlung: _Almindelige Egenskaber ved Systemer af plane Kurver_ (Abh. der Akad. der Wissensch. in Kopenhagen V, 10). [402] _Math. Ann._ 12; _Tidsskrift for Mathem._ IV, 1. [403] _Math. Ann._ 10. Vgl. auch Perrin, _Bull Soc. math._ 6. [404] _Theorie der algebraischen Kurven_ S. 249 flgg. -- Im Anschluß an Plücker mögen noch Beers _Tabulae curvarum quarti ordinis symmetricarum_ (Bonn, 1862) erwähnt werden. [405] »Eine Kurve vom Geschlechte p kann höchstens aus p + 1 Zügen bestehen«. _Math. Ann._ 10. Der Spezialfall dieses Satzes, p = 0, ist seit langer Zeit bekannt; schon Bellavitis hatte denselben in der vorher angeführten Abhandlung besprochen; er erklärt die Benennung _unicursal_, die von Cayley den rationalen Kurven gegeben war, und die von vielen noch heute gebraucht wird. [406] _Gesammelte Werke_ 2, S. 433. [407] _Math. Ann._ 12, 13; _Leipziger Ber._ 1884. [408] _Math. Ann._ 6. [409] _Annali di Matem._ II, 5 und 7. [410] _Math. Ann._ 8. [411] _Münchener Ber._ 1883. [412] _Quart. Journ._ 9. [413] Siehe die schon zitierte Abhandlung: _Om Flader af fjerde Orden med Doppeltkeglesnit_. [414] _Om Flader af fjerde Orden med Tilbagegangskeglesnit_ (Kopenhagen, 1881). [415] _Münchener Dissertation_, 1878; _Math. Ann._ 15, 18, 28, 29. [416] Für den, der sich mit der Konstruktion spezieller Oberflächen befassen will, führe ich die praktischen Regeln an, welche Hicks (_Messenger of Mathematics_ II, 5) für die Konstruktion der Wellenfläche gegeben hat. [417] _Zeitschr. f. Math._ 25. [418] _Modelle von Raumkurven- und Developpabelen-Singularitäten_ (Lund, Gleerup, 1881). [419] Unter den von Steiner ausgesprochenen Sätzen, nach deren Ursprung wir, seine Nachfolger, vergebens suchen, finden sich einige derartige (s. _Journ. für Math._ 37, 45, 49; _Gesammelte Werke_, II. Bd. S. 389, 439 und 613), welche glauben lassen, daß er eine Methode besessen habe, um einige von den im Texte gekennzeichneten Problemen zu lösen. Etliche lassen sich durch eine quadratische Transformation beweisen, wie Berner in seiner Dissertation: _De transformatione secundi ordinis ad figuras geometricas adhibita_ (Berlin, 1864) gezeigt hat. -- Jonquières (_Liouvilles Journ._ II, 6; _Comptes rendus_, 1864, 65 und 66) fand auch eine Weise, um zur Lösung einiger Probleme dieser Art zu gelangen, aber der von ihm eingeschlagene Weg (welcher der Hauptsache nach in einer Anwendung des Bézoutschen Satzes besteht) führte ihn unbedingt zu Irrtümern wegen uneigentlicher (fremder) Lösungen, die er nicht ausgeschieden hatte. Vgl. die schöne Abhandlung von Study in den _Math. Ann._ 27. [420] _Comptes rendus_, 1864; vgl. auch Zeuthen, _Nyt Bidrag til Laeren om Systemer af Keglesnit_ (Kopenhagen, 1865) oder _Nouv. Ann._ II, 5; Dino, _Comptes rendus_, 1867. Die Bände der _Comptes rendus_ von 1864 ab enthalten eine ungeheuere Anzahl von Lehrsätzen verschiedener Art, die von Chasles aufgestellt sind und deren Beweis sich auf die Theorie der Charakteristiken und auf das Korrespondenzprinzip stützt. Unter diesen Arbeiten ist eine der bemerkenswertesten diejenige, in welcher der Verfasser mit Hilfe des Korrespondenzprinzips die Zahl der Schnitte zweier Kurven in einer Ebene bestimmt (_Comptes rendus_ 75). Die dort angewandte Beweisführung kann verallgemeinert werden und in vielen Fällen dazu dienen, die Zahl der Lösungen eines bestimmten Systemes von algebraischen Gleichungen zu finden. (S. Saltel, _Mémoires de l'Académie de Belgique_ 24; _Comptes rendus_ 81; Fouret, _Bull. Soc. math._ 1, 2; _Comptes rendus_ 78. [421] _Comptes rendus_ 61. [422] Ebendas. 62. S. auch Salmon, _Quart. Journ._ 1866; Schubert, _Journ. für Math._ 71 und 73. -- Eine interessante Anwendung der Theorie der Systeme von Flächen zweiter Ordnung auf das Studium der quadratischen (vorletzten) Polaren der Punkte des Raumes in bezug auf eine beliebige algebraische Fläche wurde von Zeuthen gemacht (_Annali di Matem._ II. 4). [423] Vgl. auch _Comptes rendus_ 74, 75. [424] Paris, 1871. [425] _Journ. für Math._ 79, 80. [426] _Göttinger Nachr._ 1874, 75; _Math. Ann._ 13. [427] _Phil. Trans._ 1858. [428] _Recherches sur les séries ou systèmes de courbes et de surfaces algébriques_ (Paris, 1866); _Comptes rendus_, 1866; _Journ. für Math._ 66 u. s. w. Die eleganten analytischen Untersuchungen von Brill und Krey (_Math. Ann._ und _Acta math._) haben zum Ziele die Auflösung von Problemen aus der abzählenden Geometrie, die sich auf Systeme von Kurven und Oberflächen beziehen. [429] _Annali di Matem._ II, 6; _Proc. math. Soc._ 5, 6, 8. [430] _Math. Ann._ 1, 6, 12, 15. [431] _Compt. rend._ 88. Bemerkenswert in dieser Abhandlung ist die Ausdehnung des Begriffes des Geschlechtes einer Kurve auf Systeme von Kurven. [432] _Math. Ann._ 6. [433] _Comptes rendus_ 78 und 86; _Bull. Soc. math._ 2 und 7. [434] _Comptes rendus_ 79, 86. [435] das. 82, 84. [436] das. 80. [437] das. 82. [438] Andere Anwendungen dieses Prinzipes finden sich in den von Fouret veröffentlichten Arbeiten in den _Comptes rendus_ 83, 85, im _Bull. Soc. math._ 6 und im _Bulletin de la Société philomathique_ VI, 11. -- Wir bemerken, daß die geometrische Interpretation der Gleichung ( dz dz ) ( dz ) ( dz ) L ( x -- + y -- - z ) - M ( -- ) - N ( -- ) + R = 0, ( dx dy ) ( dx ) ( dy ) wenn L, M, N, R lineare Funktionen sind, welche von Fouret in den _Comptes rendus_ 83 gegeben ist, ihn zu gewissen Oberflächen führte, die zuerst von Klein und Lie studiert worden waren (_Comptes rendus_ 70). [439] Leipzig, 1879. In demselben sind die früheren Arbeiten von Schubert vereinigt und befinden sich die Grundlagen seiner späteren Arbeiten. [440] Das erste dieser Prinzipien wurde von Chasles für die rationalen Gebilde erster Stufe (_Comptes rendus_ 1864-1866) ausgesprochen und dann von Cayley auf alle Gebilde erster Stufe ausgedehnt (_Comptes rendus_ 62, _Proc. math. Soc._ 1866), und noch vollständiger im _Second memoir on the curves which satisfy given conditions_ (_Phil. Trans._ 158). Bewiesen wurde das Cayleysche Prinzip von Brill (_Math. Ann._ 6 und 7), neuerdings wurde es in einer sehr bemerkenswerten Weise von Hurwitz ausgedehnt (_Math. Ann._ 28). Saltel ergänzte das Chaslessche Korrespondenzprinzip, indem er die Bestimmung der Zahl der Koinzidenzen, die ins Unendliche fallen, zeigte (_Comptes rendus_ 80) und illustrierte seine Resultate durch mehrere Beispiele (_Comptes rendus_ 80, 81, 82, 83, und _Bulletin de l'Académie de Belgique_ II, 92). Für die rationalen Gebilde zweiter und dritter Stufe hat man auch ein Korrespondenzprinzip, welches von Salmon (_Geometry of three dimensions_ II. Aufl.) und von Zeuthen (_Comptes rendus_ 78) entdeckt ist. Für die Gebilde höherer Stufe siehe eine Note von Pieri in den _Lincei Rend._ 1887. [441] Betreffend andere bibliographische Einzelheiten über diesen Zweig der Geometrie vgl. man den Artikel von Painvin, der in dem _Bull. Sciences math._ 3 veröffentlicht ist, sowie einen von mir selbst in der _Bibliotheca mathematica_ II, 2 (1888), S. 39, 67 veröffentlichten Artikel _Notizie storiche sulla geometria numerativa_. [442] _Comptes rendus_ 67. [443] _Math. Ann._ 6. [444] _Vorlesungen über Geometrie_ von A. Clebsch (herausgegeben von Lindemann) (Leipzig, 1876) S. 399. [445] _Göttinger Nachr._ 1876. [446] _Comptes rendus_, 1876; _Journ. Éc. polyt._ 45; _Proc. math. Soc._ 9, 10; _Math. Ann._ 15. [447] _Journ. Éc. polyt._ 45. [448] Auch von dem Satze, den Cremona ausgesprochen hat (_Annali di Matem._ I, 6 und _Giorn. di Matem._ 3) über die doppelt unendlichen Systeme von Kegelschnitten, als Erweiterung des Satzes von Chasles, kann man eine Anwendung machen, worüber man das einsehen möge, was del Pezzo in seiner interessanten Abhandlung _Sui sistemi di coniche_ (_Napoli Rend._ 1884) auseinandergesetzt hat, und neuere Beobachtungen von Study (_Math. Ann._ 27). [449] _Mém. prés._ 1, 1806. [450] das. (ältere Serie) 10, 1785, und die schon zitierte _Application_. [451] _Mém. prés._ 9, 1781. [452] _Journ. Éc. polyt._ 30. [453] _Liouvilles Journ._ 17. [454] das. 16. [455] Man sehe die Noten zur _Application de l'Analyse à la Géométrie_, 5. Aufl. und _Liouvilles Journ._ 17. [456] _Liouvilles Journ._ 15, 16. [457] das. 7. [458] _Forhandlingar i Videnskab-Selskabet i Christiania_, 1882. [459] Eingehenderes findet man in der Note 65 der _Analytischen Geometrie des Raumes_ von G. Salmon, deutsch bearbeitet von W. Fiedler, 3. Aufl. 1880, II. Teil S. 37. -- In Bezug auf eine synthetische Darstellung der Differentialgeometrie der Raumkurven sehe man Schell, _Allgemeine Theorie der Kurven doppelter Krümmung in rein geometrischer Darstellung_ (Leipzig, 1859), und Paul Serret, _Théorie nouvelle géométrique et mécanique des courbes à double courbure_ (Paris, 1860). [460] Vgl. Magnus, _Aufgaben und Lehrsätze aus der analytischen Geometrie des Raumes,_ 1837, S. 160. [461] Die Existenz zweier Raumkurven vierter Ordnung wurde zuerst durch Salmon im Jahre 1850 (_Cambridge Journ._ 5) und darauf von Steiner (_Journ. für Math._ 53) bekannt gemacht. [462] Auf der kubischen Fläche treten schon von der sechsten Ordnung ab gegen die Geraden der Fläche verschiedenartig sich verhaltende Kurven derselben Ordnung auf, die in der Zahl der scheinbaren Doppelpunkte übereinstimmen. Vgl. Sturm, _Math. Ann._ 21. [463] _Liouvilles Journ._ 10, oder _Cambridge Journ._ 5. Dieser Abhandlung folgte eine, die von Salmon in demselben Bande des _Cambr. Journ._ veröffentlicht wurde, und zu ihrer Ergänzung wiederum dient eine von Zeuthen, die in den _Annali di Matem._ II, 3 abgedruckt ist. -- An sie schließen sich ferner die Schriften, welche Cayley (_Phil. Trans._ 153), Piquet (_Comptes rendus_ 77 und _Bull. Soc. math._ 1), und Geiser (_Collectanea mathematica in memoriam D. Chelini_, Mailand, 1881) geschrieben haben über die Geraden, welche eine Raumkurve eine gewisse Anzahl Male schneiden. [464] _Comptes rendus_ 54 und 58. Mit dieser Abhandlung vergleiche man die Dissertation von Ed. Weyr, _Über algebraische Raumkurven_ (Göttingen, 1873) und andere Schriften desselben Verfassers (_Comptes rendus_ 76, _Wiener Ber._ 69). Den zitierten Abhandlungen von Cayley müßte ich noch eine dritte hinzufügen (_Quart. Journ._ 3), in welcher der Autor sich die Aufgabe gestellt hat, eine Kurve als Komplex ihrer Sekanten (im Sinne Plückers) zu betrachten und sie daher mittelst einer einzigen Gleichung zwischen den Koordinaten einer Geraden im Raume darzustellen, aber ich kann davon absehen, da die Fruchtbarkeit einer solchen Betrachtung noch nicht dargethan ist. [465] Halphen, _Mémoire sur la classification des courbes gauches algébriques_ (_Journ. Éc. polyt._ 52). Man sehe auch desselben Autors Abhandlung _Sur les singularités des courbes gauches algébriques_ (_Bull. Soc. math._ 9). -- Nöther, _Zur Grundlegung der Theorie der algebraischen Raumkurven_ (_Berliner Abh._ 1883, _Journ. für Math._ 93). [466] _Comptes rendus_ 70; _Bull. Soc. math._ 1 und 2. [467] _Math. Ann._ 7. [468] _Math. Ann._ 6. Ein anderer Beweis desselben Satzes wurde von Halphen gegeben, _Bull. Soc. math._ 5. [469] Die Gerechtigkeit verlangt, daß ich auch noch eine sehr schöne Arbeit von Valentiner anführe: _Bidrag til Rumcurvener Theori_ (Kopenhagen, 1881) (vgl. auch _Tidsskrift for Math._ IV, 5 und _Acta math._ 2), die fast zu gleicher Zeit mit denen von Halphen und Nöther erschienen ist und mit diesen in den Methoden und den Resultaten bemerkenswerte Berührungspunkte hat. -- Ich will in dieser Note auch noch, da ich es im Texte nicht thun konnte, einen Satz von Cremona anführen (von Dino in den _Napoli Rend._ 1879 bewiesen) und einige von Sturm (_Report of the British Association_, 1881; _Math. Ann._ 19), welche bemerkenswerte allgemeine Eigenschaften der Raumkurven ausdrücken, sowie an die Untersuchungen von Cayley, Piquet und Geiser über eine Raumkurve mehrmals schneidende Geraden erinnern, von denen in der Note 463 gesprochen wurde. Erwähnenswert ist auch die (von Hoßfeld in der _Zeitschr. f. Math._ 29 gefundene) Thatsache, daß die Rückkehrkurve der zweien Oberflächen umbeschriebenen abwickelbaren Fläche nicht der vollständige Schnitt zweier Oberflächen ist. [470] »Von anderen wird es löblich sein zu schweigen, Weil allzukurz die Zeit für die Erzählung.« -- Dantes Göttliche Komödie; _Die Hölle_, 15. Gesang, Vers 104-105. [471] _Der barycentrische Calcül_ (Leipzig, 1827). [472] _Aperçu historique,_ Note 33; _Liouvilles Journ._ 19 (1854). [473] _Beiträge zur Geometrie der Lage_, 3. Heft (Nürnberg, 1860). [474] _Grunerts Arch._ 10. [475] _Journ. für Math._ 56. [476] _Journ. für Math._ 58, 60, 63; _Nouv. Ann._ II, 1; _Annali di Matem._ I, 1, 2, 5; _Lombardo Rend._ II, 12. [477] _Journ. für Math._ 56; _Theorie der Oberflächen zweiter Ordnung und der Raumkurven dritter Ordnung_ (Leipzig, 1880); _Math. Ann._ 25. Vgl. auch eine Note von mir in den _Napoli Rend._, 1885. [478] _Zeitschr. für Math._, 1868; _Geometrie der Lage_. [479] _Lombardo Rend._ 1871. [480] _Journ. für Math._ 79, 80; _Annali di Matem._ II, 3. [481] _Math. Ann._ 20 und 30. [482] _Torino Mem._ II, 32 und _Collectanea mathematica_. An diese Abhandlungen schließt sich eine von Gerbaldi, _Sui sistemi di cubiche gobbe o di sviluppabili di III. classe stabiliti col mezzo di due cubiche punteggiate projettivamente_ (_Torino Mem._ II, 32). [483] _Giorn. di Matem._ 17 (1879). Betreffend die ausgearteten Formen der kubischen Raumkurve sehe man eine Note von Schubert (_Math. Ann._ 15). Die Theorie der kubischen Raumkurven führt zu einer interessanten geometrischen Darstellung der Theorie der binären algebraischen Formen, die von Laguerre (_L'Institut_ 40), von Sturm (_Journ. f. Math._ 86) und von Appell (_Ann. Éc. norm._ II, 5) bearbeitet wurde. Vgl. auch eine Note von J. Tannery (_Bull. sciences math._ 11). Ferner sehe man in bezug hierauf die Note von W. R. W. Roberts (_Proc. math. Soc._ 13) und das Buch von Franz Meyer, _Apolarität und rationale Kurven_ (Tübingen, 1883). Eine gute Darlegung der Theorie der Raumkurven dritter Ordnung hat auch von Drach geliefert in der Schrift _Einleitung in die Theorie der kubischen Kegelschnitte_ (Leipzig, 1867), infolge deren Beltrami interessante _Annotazioni_ geschrieben hat (_Lombardo Rend._ II, 1). [484] _Comptes rendus_ 53 (1861). [485] _Annali di matem._ 4. -- Die Note von Story, _On the number of intersections of curves traced on a scroll of any order_ (_Johns Hopkins Baltimore University Circulars_ 2, 1883) enthält eine Verallgemeinerung eines sehr wichtigen Theoremes von Chasles. [486] Poncelet machte im Jahre 1822 die bemerkenswerte Entdeckung, daß durch jede Raumkurve vierter Ordnung erster Art vier Kegel zweiten Grades hindurchgehen. (S. _Traité des proprietés projectives_ I, S. 385, 2. Aufl.) [487] _Comptes rendus_ 54, 55. [488] _Comptes rendus_ 54; _Bologna Mem._ 1861; _Lombardo rend._ II, 1. [489] _Annali di Matem._ II, 2. [490] _Géometrie de direction_ (Paris, 1869); _Comptes rendus_ 82. [491] _Liouvilles Journ._ II, 15. [492] _Journ. für Math._ 97. -- Eine bemerkenswerte spezielle Raumkurve vierter Ordnung erster Art hat Schröter untersucht: _Journ. für Math._ 93. [493] _Math. Ann._ 12, 13. [494] _Zeitschr. f. Math._ 28. [495] _Math. Ann._ 13. Vgl. Cayley (das. 25). [496] _Comptes rendus_ 82. [497] _Annali di Matem._ I, 4. [498] _Giorn. di Matem._ 11, 12. [499] _Lombardo rend._ 1872. [500] _Wiener Ber._ 1871. Über die rationalen Kurven vierter Ordnung sehe man auch Study (_Leipziger Sitzungsber._ 1886), die _Habilitationsschrift_ von Jolles (Aachen, 1886) und die Abhandlung von Roberts (_Proc. math. Soc._ 14). -- Unter den rationalen Kurven vierter Ordnung ist eine sehr bemerkenswerte diejenige, welche zwei stationäre Tangenten hat. Die eleganten Eigenschaften, welche dieselbe besitzt, wurden von Cremona (_Lombardo Rend._ 1868), Em. Weyr (das. 1871) und Appell (_Comptes rendus_ 83) entdeckt. [501] _Comptes rendus_ 70. [502] _Vierteljahrsschrift der naturf. Ges. in Zürich_ 20. [503] Außer den zitierten _Synthetischen Untersuchungen_ sehe man _Journ. für Math._ 88 und _Math. Ann._ 21. [504] S. Korndörfer und Brill, _Math. Ann._ 3; Saltel, _Comptes rendus_ 80; Genty, _Bull. Soc. math._ 9. [505] Siehe unter anderem die Bemerkung von Buchheim, _On the extension of certain theories relating to plane cubics to curves of any deficiency_ (_Proc. math. Soc._ 13). [506] _Collectanea mathematica_. [507] _Journ. für Math._ 99. [508] Chasles, _Aperçu historique_, 2. Aufl., S. 269; in der deutschen Übersetzung von Sohncke, S. 267. [509] Diese Konstruktion, die von den Deutschen »Steinersche Projektion« genannt wird, wurde im Jahre 1865 von neuem von Transon (1806-1876) gefunden, der ihr den Namen »_projection gauche_« gab (_Nouv. Ann._ II, 4 und 5). [510] _Traité des propriétés projectives_ (1. Aufl. 1822, S. 198). [511] _Journ. für Math._ 5. [512] _Journ. für Math._ 8, und _Aufgaben und Lehrsätze aus der analytischen Geometrie der Ebene_, 1833. [513] _Torino Mem._ 1862. [514] _Grunerts Arch._ 7. [515] _Zeitschr. f. Math._ 11. [516] _Liouvilles Journ_. 10, 12. Vorher hatten schon G. Bellavitis (_Nuovi Saggi dell' Accademia di Padova_ 4 (1836) und Stubbs (_Phil. Mag._ 23, 1843) sich mit dieser Korrespondenz beschäftigt. Man sehe auch Steiners Aufsatz aus dem Jahre 1826: _Einige geometrische Betrachtungen_ (_Journ. für Math._ 1; _Gesammelte Werke_ Bd. I, S. 19) Nr. 20. [517] Auf den Begriff der Inversion ist von Johnson (Analyst 4) eine neue Einteilung der ebenen Kurven gegründet worden. In derselben bedeutet der Name »Kreisgrad« einer Kurve den Grad ihrer Gleichung (in rechtwinkligen cartesischen Koordinaten) in x, y, r = x^2 + y^2; der Kreisgrad einer Kurve wird durch die Inversion nicht verändert. Zwei Kurven, welche denselben Grad haben, gehören zu derselben Kategorie. Diese Einteilung scheint jedoch nicht von großer Wichtigkeit zu sein. [518] _Sammlung von Aufgaben und Lehrsätzen aus der analytischen Geometrie der Ebene_, 1833. [519] In den Jahren 1859 und 1860 studierte Jonquières die (nach seinem Namen benannte) Transformation n^{ter} Ordnung, bei welcher jeder Geraden eine Kurve n^{ter} Ordnung mit einem (n - 1)-fachen Punkte entspricht. Einige seiner Resultate wurden im Jahre 1864 in den _Nouv. Ann._ veröffentlicht, aber das vollständige Werk, welches er dieser Transformation widmete, erschien erst 1885 und zwar durch Guccia (s. _Giorn. di Matem._ 23) herausgegeben. Wir bemerken auch, daß schon 1834 Möbius (_Journ. für Math._ 12; _Gesammelte Werke,_ 1) die eindeutige Korrespondenz zwischen zwei Ebenen, bei denen die Flächeninhalte entsprechender Figuren in einem konstanten Verhältnisse stehen, studiert hat. Die Untersuchungen sind jedoch von ganz anderer Art als die im Texte betrachteten. [520] _Bologna Mem._ 2, 5 (1863 und 1865); _Giorn. di Matem._ 1 und 3; vgl. auch Dewulfs Bearbeitung im _Bull. sciences math._ 5. [521] _Proc. math. Soc._ 3. [522] _Math. Ann._ 4. [523] _Math. Ann._ 3, 5. [524] _Journ. für Math._ 73. [525] _Proc. math. Soc._ 4. [526] Hier will ich einen wichtigen Lehrsatz berühren, der gleichzeitig von Clifford (_Proc. math. Soc._ 3), Nöther (_Göttinger Nachr._ 1870; _Math. Ann._ 3) und Rosanes (_Journ. für Math._ 73) erhalten wurde, und für einen Augenblick die Wichtigkeit der Cremonaschen Transformation aufzuheben schien: »Jede eindeutige Transformation von höherer als erster Ordnung kann man durch Wiederholung von quadratischen Transformationen erhalten.« Dieser Satz ist offenbar die Umkehrung desjenigen von Magnus, der vorhin im Texte angeführt wurde. [527] _Bologna Mem._ 1877-1878. [528] _Comptes rendus_, 1885; _Giorn. di Matem._ 24. [529] _Annali di Matem._ II, 10. [530] _Comptes rendus_, 1885; _Rendic. del Circolo Matematico di Palermo_ 1. [531] Man sehe die in den _Comptes rendus_, 1883, 1884, 1885, 1886 und in _Liouvilles Journ._ 1885, 1886, 1887 veröffentlichten Abhandlungen. [532] _Annali di Matem_. 7, ferner _Giorn. di Matem_. 4. [533] _Proc. math. Soc._ 2. [534] _Math. Ann._ 26. [535] _Bull. sciences math._ II, 6 und 7. [536] Meistenteils wurden die geometrischen Transformationen auf das Studium der algebraischen Kurven angewandt; jedoch fehlt es nicht an Schriften, welche sich mit der Transformation transcendenter Kurven in andere oder in sich selbst befassen: z. B. Magnus, _Sammlung von Aufgaben und Lehrsätzen aus der analytischen Geometrie der Ebene_, 1833, S. 320, 455, 457-459, 497; Klein und Lie, _Math. Ann._ 4. [537] _Annali di Matem._ II, 8; _Lombardo Rend._ 1883. Vgl. auch Geiser, _Journ. für Math._ 67. [538] _Napoli Rend._, 1879. [539] Die neueste Form, welche die Bertinischen Untersuchungen infolge dessen angenommen, machte es meinem Freunde Martinetti leichter, auf dem von diesem Gelehrten vorgezeichneten Wege weiter zu schreiten und die ebenen involutorischen Transformationen dritter und vierter Klasse zu bestimmen (_Annali di Matem._ II, 12, 13). Die Theorie der ebenen Transformationen wird sich binnen kurzem durch die wichtige Arbeit von Kantor bereichern, welche von der Akademie zu Neapel gekrönt worden ist und jetzt gedruckt wird. Einzelne Resultate finden sich in den _Wiener Ber._ 1880 ausgesprochen, sowie in den _Wiener Denkschriften_ 46. Saltel verdanken wir die Idee einer speziellen involutorischen Transformation dritten Grades, die er schon 1872 unter dem Namen »_Transformation arguesienne_« nach Desargues benannt (s. die _Mémoires de l'Académie de Belgique_ 12, _Bulletin de l'Académie de Belgique_ II, 24), studiert hat. Man stellt dieselbe auf folgende Weise her: Gegeben sind in einer festen Ebene [PI] zwei Kegelschnitte [GAMMA]_1 und [GAMMA]_2 und ein fester Punkt O; man läßt entsprechen einem Punkte P von [PI] seinen konjugierten in der Involution, die auf der Geraden OP bestimmt wird durch den Kegelschnittbüschel, den [GAMMA]_1, und [GAMMA]_2 konstituieren. Es sind fundamental der Punkt O und die Grundpunkte dieses Büschels. -- Wenn jene beiden Kegelschnitte [GAMMA]_1 und [GAMMA]_2 zusammenfallen, so reduziert sich diese Transformation offenbar auf die quadratische Inversion von Hirst. -- Im Raume hat man eine ähnliche Transformation. -- Eine andere Transformation (»_transformation hyperarguesienne_«) wurde von demselben Verfasser als Erweiterung der vorhergehenden eingeführt (_Bulletin de l'Académie de Belgique_ II, 12) und wird auf folgende Weise hergestellt: Gegeben in einer Ebene [PI] drei Kegelschnitte [GAMMA]_1, [GAMMA]_2, [GAMMA]_3 und ein fester Punkt O. Man läßt einem Punkte P von [PI] seinen homologen entsprechen in der Projektivität, die bestimmt ist auf OP von den drei Paaren von Punkten, in welchen diese Gerade von den drei Kegelschnitten getroffen wird; jedoch ist diese Korrespondenz offenbar nicht birational. -- Die erste der Saltelschen Transformationen kann zur Lösung von Problemen aus der Theorie der Charakteristiken für die Kurven höherer als zweiter Ordnung dienen (_Bull. Soc. Math._ 2). [540] _Bull. Soc. math._ 8; _Comptes rendus_ 94; _Nouv. Ann._ III, 1, 2. Diese Transformation kann man, wie Laguerre selbst bemerkte, auf den Raum ausdehnen (_Comptes rendus_ 92), jedoch ist die Art der Korrespondenz, die man erhält, keine neue; sie ist nach einer Bemerkung von Stephanos (_Comptes rendus_ 92) dieselbe, vermittelst derer Lie die Geometrie der Geraden mit der der Kugel verknüpfte (_Math. Ann._ 5). [541] Die verschiedenen Abhandlungen von Möbius über diese Theorie finden sich vereint im II. Bande seiner _Gesammelten Werke_ (Leipzig, 1886). [542] _Journ. für Math._ 55, 57, 59; _Grunerts Arch._ 33. [543] _Grunerts Arch._ 42. [544] _Bologna Mem._ 1870. [545] _Journ. für Math._ 69. [546] Des Näheren siehe die Abhandlung: _Géometrie des polynomes_ (_Journ. Éc. polyt._ 28). [547] _Beiträge zur geometrischen Interpretation binärer Formen_ (Erlangen, 1875); vgl. _Math. Ann._ 9; _Studien im binären Wertgebiete_ (Karlsruhe, 1876); _Math. Ann._ 17; _Erlanger Berichte_, 1875. [548] Siehe das Werk: _Einführung in die Theorie der isogonalen Verwandtschaften_ (Leipzig, 1883). [549] Zwischen drei geometrischen Gebilden kann man eine Korrespondenz aufstellen, so daß einem Paare von Elementen, das eine genommen in dem einen, das andere in einem zweiten, eindeutig ein solches im dritten Gebilde entspricht. Wenn unter Festhaltung eines Elementes die anderen beiden projektive Systeme beschreiben, so nennt man die Korrespondenz trilinear, und diese wurde im Falle der Gebilde erster Stufe von Rosanes (_Journ. für Math._ 1888) behandelt, sodann von Schubert (_Math. Ann._ 17 und _Mitteilungen der Math. Ges. in Hamburg_, 1881) und in einem Spezialfalle von Benno Klein (_Theorie der trilinear-symmetrischen Elementargebilde_, Marburg, 1881); im Falle der Gebilde zweiter Stufe von Hauck (_Journ. für Math._ 90, 97, 98), welcher einige Anwendungen derselben auf die darstellende Geometrie machte, die von bemerkenswertem praktischen Nutzen zu sein scheinen. Fast gleichzeitig mit den Arbeiten von Schubert sind diejenigen, in denen Le Paige mit Hilfe der Theorie der algebraischen Formen die trilineare Korrespondenz untersuchte und auf die Geometrie anwandte; man sehe die _Essais de Géométrie supérieure du troisième ordre_ (_Mém. de la Soc. des sciences de Liège_ II, 10) und die Noten, welche im _Bulletin de l'Académie de Belgique_ III, 5 und in den _Wiener Ber._ 1883 veröffentlicht sind. Derselbe Geometer beschäftigte sich auch mit der quadrilinearen Beziehung (_Torino Atti_ 17, 1882) und machte von ihr Anwendung auf die kubischen Flächen und gewisse Flächen vierter Ordnung (_Bulletin de l'Académie de Belgique_ III, 4; _Acta math._ 5). Wir unterlassen nicht, zu erwähnen, daß die duploprojektive Beziehung, durch welche schon 1862 F. August die kubische Oberfläche erzeugte (_Disquisitiones de superficiebus tertii ordinis, Berliner Dissertation_), eine trilineare Beziehung ist. [550] Wenn z. B. ein Dreieck ABC gegeben ist, so sei P ein beliebiger Punkt seiner Ebene. Es giebt nun einen Kegelschnitt K, welcher die Seiten des Dreieckes in den Punkten (PA, BC), (PB, CA), (PC, AB) berührt. Läßt man K dem P entsprechen, so hat man eine Korrespondenz von der im Texte angegebenen Art. Ähnlich erhält man eine duale Korrespondenz. Beide wurden von Montag in seiner Dissertation: _Über ein durch die Sätze von Pascal und Brianchon vermitteltes geometrisches Beziehungssystem_ (Breslau, 1871) studiert. Weitere analoge Korrespondenzen kann man aus der Beobachtung entnehmen, daß jeder Punkt der Ebene ABC der Mittelpunkt eines Kegelschnittes ist, der dem Dreiecke ABC eingeschrieben ist, eines ihm umgeschriebenen und eines solchen, für welchen ABC ein Polardreieck ist. Ähnlich: Gegeben ein Tetraeder ABCD; man kann jedem Punkte P des Raumes die Fläche zweiter Ordnung zuordnen, für welche P das Zentrum ist und in bezug auf welche ABCD ein Polartetraeder ist. [551] _Math. Ann._ 6. [552] Man sehe außerdem die Arbeiten von Godt (_Göttinger Dissertation_, 1873), Armenante (_Lincei Atti_, 1875), Battaglini (_Giorn. di Matem._ 19, 20), Peano (_Torino Atti_ 16) und von Amodeo (_Napoli Rend._ 1887). Die den Konnexen analogen Figuren im Raume wurden von Krause behandelt (_Math. Ann._ 14). Man sehe auch zwei Noten von Lazzeri, _Sulle reciprocità birazionali nel piano e nello spazio_ (_Lincei Rend._ 1886). [553] _Gauss' Werke_, 4. Bd. Eine italienische Übersetzung wurde von Beltrami in den _Annali di Matem_. 4 veröffentlicht. [554] Die Methoden, die geographischen Karten zu konstruieren, gehören in die Anwendungen der Geometrie und befinden sich deshalb nicht unter denjenigen, deren Geschichte wir hier verzeichnen wollen. Wir verweisen daher den, der alle diejenigen kennen lernen will, welche angewandt worden sind, auf die Schriften von Fiorini, _Le projezioni delle carte geografiche_ (Bologna, 1881) und Zöppritz, _Leitfaden der Kartenentwurfslehre_ (Leipzig, 1884). Eine Ausnahme will ich nur machen mit den Arbeiten von Tissot (_Comptes rendus_ 49; vgl. auch Dini, _Memoria sopra alcuni punti della teoria delle superficie_ [Florenz, 1868]; _Journ. Éc. polyt._ 37; _Nouv. Ann._ II, 17 flgg.), weil sie ein großes Interesse auch vom Standpunkte der reinen Wissenschaft haben. [555] Diese Abbildung, die man heute die »sphärische« nennt, wurde vor Gauß von O. Rodrigues im Jahre 1815 angegeben; jedoch hat dieser ihre ganze Fruchtbarkeit nicht so in das Licht gestellt als der große deutsche Geometer. [556] _Journ. für Math._ 34. [557] _Comptes rendus_, 53. [558] _Phil. Mag._ 1861. [559] _Journ. für Math._ 68, oder _Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Oberflächen_ (Berlin, 1870), III. T. [560] _Journ. für Math._ 65. [561] _Math. Ann._ 1. [562] S. _Journ. für Math._, _Math. Ann._ und _Göttinger Nachr._ und _Abh._ [563] _Math. Ann._ 4; _Annali di Matem._ II, 1; _Göttinger Nachr._ 1871 und viele andere Abhandlungen, welche in den _Lombardo Rend._ und den _Bologna Mem._ stehen. In der Abhandlung in den _Annali_ studierte Cremona die Regelflächen (m + n)^{ten} Grades, welche eine m-fache und eine n-fache Leitlinie haben, und fand, daß deren asymptotische Kurven im allgemeinen algebraische Kurven von der Ordnung 2(m + n - 1) sind. Eine Konstruktion dieser Kurven wurde später von Halphen angegeben (_Bull. Soc. math._ 5). [564] _Math. Ann._ 3; vgl. auch das. 21, dann ziehe man auch noch eine Abhandlung von Brill hinzu (_Math. Ann._ 5). [565] _Annali di Matem._ II, 1. [566] _Math. Ann._ 4. [567] _Math. Ann._ 1. [568] _Annali di Matem._ II, 7. [569] Z. B. sehe man Darboux (_Bull. Soc. math._ 2), Frahm (_Math. Ann._ 7), Lazzeri (_Annali della Scuola nuova sup. di Pisa_, 6), Guccia (_Association française pour l'avancement des sciences, Congrès de Reims_, 1880). [570] Ein wichtiger Begriff, den Clebsch bei seinen Studien über die Abbildung der Regelflächen aufstellte (_Math. Ann._ 5), ist der des Typus einer Fläche. Zwei Flächen sind von demselben Typus, wenn bei der Abbildung der einen auf die andere es keine Fundamentalpunkte giebt, z. B, ist die römische Fläche von Steiner von demselben Typus mit der Ebene. [571] S. die _Collectanea mathematica in memoriam D. Chelini_. [572] _Comptes rendus_, 1868. [573] _Math. Ann._ 3. [574] _Annali di Matem._ II, 5; _Göttinger Nachr._ 1871 und 1873. [575] _Math. Ann._ 4, 9, 10. [576] Die Flächen vierter Ordnung, von denen man die Abbildung auf eine Ebene kennt, sind die rationalen Regelflächen, die römische Fläche, die Oberflächen mit einer Doppelgeraden oder einem doppelten Kegelschnitte, die Monoide und eine Oberfläche, die einen uniplanaren Doppelpunkt hat (s. eine Abhandlung von Nöther in den _Göttinger Nachr._ 1871 und eine von Cremona in den _Collectanea mathematica_). Wer die Abbildung einer Oberfläche auf einer anderen studieren will, darf die schönen Untersuchungen von Zeuthen (s. die vorige Note und _Comptes rendus_, 1870) nicht übergehen und die darauf folgenden von Krey (_Math. Ann._ 18) und Voß (_Math. Ann._ 27); einen nicht geringen Nutzen kann er auch aus der von Kantor (_Journ. für Math._ 95) aufgestellten Korrespondenz ziehen, die zwischen den Punkten einer gewissen kubischen Fläche und gewissen Tripeln von Punkten einer Ebene besteht. [577] _Math. Ann._ 3. [578] _Math. Ann._ 3. [579] _Aperçu historique_, Note 28. [580] _Lincei Mem._ 1876, 1877, 1878. Vgl. eine Note von Nöther in den _Erlanger Sitzungsberichten_, 1878. [581] _Aufgaben und Lehrsätze aus der analyt. Geom. d. Raumes_, S. 403 flg. [582] _Journ. für Math._ 49. [583] S. Note 563. Vgl. auch Sturm, _Math. Ann._ 19. [584] _Proc. Math. Soc._ 3. [585] _Math. Ann._ 3. [586] _Lombardo Rend._ 1871; _Annali di Matem._ II, 5; _Bologna Mem._ 1871-1872. Man sehe auch die neuesten Arbeiten desselben Geometers in den _Transactions of Edinburgh_ 32, II. Th. und in den _Irish Trans._ 28 und _Proc. math. Soc._ 15. [587] _Aufgaben und Lehrsätze aus der analyt. Geom. des Raumes_, 1837, S. 417-418, Anmerkung. [588] Unter diesen führe ich die Abhandlung von de Paolis an: _Sopra un sistema omaloidico formato da superficie d'ordine_ n _con un punto_ (n - 1)_-plo (Giorn. di Matem._ 13) die späteren über einige spezielle involutorische Transformationen des Raumes von Martinetti (_Lombardo Rend._ 1885) und von Paolis (_Lincei Trans._, 1885). -- Ich bemerke hier, was ich im Texte nicht thun konnte, daß es möglich ist, das Punktfeld auf einer Geraden abzubilden und den Punktraum auf einer Ebene. Um erstere Abbildung auszuführen, kann man jedem Punkte der Ebene ein Punktepaar der Geraden entsprechen lassen (Übertragungsprinzip von Hesse, _Journ. für Math._ 66). Bei der zweiten kann man einem Punkte des Raumes den Kreis zuordnen, der den Fußpunkt des von jenem auf die darstellende Ebene gefällten Lotes zum Mittelpunkt und zum Radius die Länge dieses Lotes hat, indem man hinzufügt, daß dieser Kreis in dem einen Sinne durchlaufen wird, wenn der Punkt auf der einen (bestimmten) Seite der Ebene liegt, im entgegengesetzten Sinne, wenn auf der anderen. Die Gesetze dieser Korrespondenz wurden von Fiedler vereinigt, um die Cyklographie zu bilden (s. das Werk _Cyklographie_, Leipzig, 1883, und die dritte Ausgabe der _Darstellenden Geometrie_) und wurden von ihm zur Lösung einiger Probleme angewandt (s. einige _Mitteilungen_ für die naturforschende Gesellschaft in Zürich und _Acta math._ 5). Vor ihm jedoch hatte schon Crone verwandte Fragen in einer Dissertation behandelt, die sich in der _Tidsskrift for Mathematik_ 6 findet. [589] Chasles, _Aperçu historique_, 2. Ausg. S. 196. [590] Magnus, _Sammlung von Aufgaben und Lehrsätzen aus der anal. Geom. der Ebene_, 1833, S. 188 und 198. [591] Voß, _Math. Ann._ 13; Segre, _Torino Mem._ II, 37; Sturm, _Math. Ann._ 26. In diesen Abhandlungen wird der Leser auch die weiteren bibliographischen Einzelheiten finden. [592] Sturm, a. a. O.; Montesano, _Lincei Mem._ 1886. [593] Lüroth, _Math. Ann._ 11, 13; Schröter (das. 20); Veronese, _Lincei Mem._ 1881. S. auch einige der Abhandlungen, die sich in den _Gesammelten Werken_ von Möbius 2 finden. Auch die Arbeiten von Rosanes führen wir hier an (_Journ. für Math._ 88, 90, 95, 100), von Sturm (_Math. Ann._ 1, 6, 10, 12, 15, 19, 22, 28; _Proc. math. Soc._ 7), und von Pasch (_Math. Ann._ 23, 26), die verwandte Gegenstände behandeln; dann noch die von Stephanos (_Math. Ann._ 23), von H. Wiener (_Rein geometrische Theorie der Darstellung binärer Formen durch Punktgruppen auf der Geraden_, Darmstadt, 1885), von Segre (_Torino Mem._ II, 28 und _Journ. für Math._ 100), von Sannia (_Lezioni di geometria projettiva_, in Neapel im Drucke befindlich) über die Kollineationen und Korrelationen. [594] _Math. Ann._ 3. [595] _Giorn. di Matem._ 10. [596] Man sehe die beiden von ihm 1884 zu Messina veröffentlichten Abhandlungen. [597] _Lombardo Rend._ 1886; _Lincei Rend._ 1885. [598] _Die Geometrie der Lage._ [599] _Giorn. di Matem._ 21. [600] _Lombardo Rend._ II, 14 und 15. [601] _Journ. für Math._ 94. [602] _Lincei Mem._ 1884-1885. [603] _Wiener Ber._ 1881; _Journ. für Math._ 97. [604] _Math. Ann._ 19 und 28. [605] _Math. Ann._ 23. [606] _Journ. für Math._ 82, in dem Aufsatze über reciproke Verwandtschaft von F^2-Systemen und [Phi]^2-Geweben. [607] Über das gemeine Nullsystem vergl. die Note 610 des nächsten Abschnittes [608] »Bis in die neueren Zeiten stand die analytische Methode, wie sie Cartesius geschaffen, sozusagen nur auf einem Fuße. Plücker kommt die Ehre zu, sie auf zwei gleiche Stützen gestellt zu haben, indem er ein ergänzendes Koordinatensystem einführte. Diese Entdeckung war daher unvermeidlich geworden, nachdem einmal die Tiefblicke Steiners dem Geiste der Mathematiker zugeführt waren.« Sylvester, _Phil. Mag_. III, 37, 1850, S. 363. Vgl. _Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik_ 2, S. 453. [609] S. _Phil. Trans._, 1865, S. 725; 1866, S. 361. [610] Es ist wohl zu beachten, daß ein linearer Komplex ein reciprokes Nullsystem veranlaßt und daß dieses zuerst von Giorgini (_Memorie della Società italiana delle scienze_ 20, 1827), dann aber auch von Möbius (_Lehrbuch der Statik_ I; vgl. auch _Journ. für Math._ 10, 1833) und von Chasles (_Aperçu historique_, 1837) in ihren statischen und kinematischen Untersuchungen und von demselben Chasles und Staudt bei der Bestimmung der involutorischen reciproken Beziehungen gefunden wurde. [611] _Cambridge Trans._ 11, Teil 2; _Quart. Journ._ 3. [612] _Giorn. di Matem._ 6, 7, 10, 18. Wenn auch Battaglini seinen Studien über die quadratischen Komplexe eine Gleichung zu Grunde legte, die nicht den allgemeinsten Komplex ihres Grades darstellt, so gelten doch viele von den Schlüssen, die er gemacht hat, -- man kann sagen alle, mit Ausnahme derjenigen, welche sich auf die singuläre Fläche und die singulären Strahlen des Komplexes beziehen -- für allgemeine Komplexe, indem sie unabhängig sind von der Gestalt dieser Gleichung. Auch die von ihm aufgestellten Formeln passen sich mit leichten Änderungen größtenteils dem allgemeinen Falle an. [613] Leipzig, 1868-1869. [614] S. dessen _Examen des différentes méthodes_ etc. [615] _Math. Ann._ 2, 5, 7, 22, 23 (darin der Wiederabdruck der 1868 in Bonn erschienenen Dissertation: _Über die Transformation der allgemeinen Gleichung des zweiten Grades zwischen Linienkoordinaten auf eine kanonische Form_), 28. Außerdem enthalten viele Arbeiten von Klein über Fragen der höheren Algebra oder der höheren Analysis, die in den _Math. Ann._ und sonst veröffentlicht sind, ziemlich oft Betrachtungen, welche der Geometrie der Geraden angehören. [616] _Torino Mem._ II, 36. [617] _Journ. für Math._ 75, 76; _Habilitationsschrift_ (Gießen, 1870). [618] _Math. Ann._ 1. [619] _Math. Ann._ 2. [620] _Lincei Mem._ 1884-1885. [621] _Math. Ann._ 2, 5. [622] _Math. Ann._ 7. Man kann es nur beklagen, daß die in verschiedener Beziehung so ausgezeichnete Arbeit von Weiler eine große Zahl von Ungenauigkeiten enthält. [623] _Math. Ann._ 8, 9, 10, 12, 13. S. auch Schubert das. 12 und dessen _Abzählende Geometrie_. [624] _Comptes rendus_ 74, 75;_ Bull. Soc. math._ 1. [625] _Göttinger Nachr._ 1869. [626] _Göttinger Nachr._ 1869. [627] _Lincei Mem._ 1877-1878. [628] _Giorn. di Matem._ 8; _Lombardo Rend._ II, 12, 13, 14. [629] _Math. Ann._ 5. Vgl. eine Abhandlung von Cremona, gelesen vor der _Accademia dei Lincei_ (_Atti_ II, 3). [630] _Journ. für Math._ 98. Vgl. auch 95 und 97. [631] _Liouvilles Journ._ 4. [632] _Die Geometrie der Lage_, 2. Abt. 2. Aufl., in der sich die von Reye in dem _Journ. für Math._ veröffentlichten synthetischen Arbeiten über die Geometrie der Geraden vereinigt finden. [633] _Zeitschr. f. Math._ 20. [634] _Dissertation_ (Berlin, 1879) oder _Math. Ann._ 15. [635] _Giorn. di Matem._ 17; _Lincei Rend._ 1879. [636] _Torino Atti_, 1881. [637] _Journ. für Math._ 91, 92, 93, 94, 95, 97. [638] _The Messenger of Mathematics_ II, 13. [639] _Liouvilles Journ._ II, 17. [640] S. Note 629. [641] _Math. Ann._ 5. [642] _Ann. Éc. norm._ II, 6; _Grunerts Arch._ 40. [643] _Ann. Éc. norm._ III, 1. [644] S. Note 628. [645] _Nouv. Ann._ II, 2; _Liouvilles Journ._ II, 19. [646] _Die Geometrie der Lage_. [647] _Göttinger Nachr._ 1870. [648] _Journ. für Math._ 95; _Zeitschr. f. Math._ 24, 27. [649] _Sugli enti geometrici dello spazio di rette generati dalle intersezioni dei complessi correspondenti in due o pin fasci projettivi di complessi lineari_ (Piazza Armerina, 1882). [650] _Proc. math. Soc._ 10; _Collectanea mathematica_, 1881. [651] _Math. Ann._ 13. [652] _Mémoire de géométrie vectorielle sur les complexes du second ordre, qui ont un centre de figure_ (_Liouvilles Journ._ III, 8). [653] _Sui complessi di rette di secondo grado generati da due fasci projettivi di complessi lineari_ (Napoli, 1886), und _Napoli Rend._ 1886. [654] _Math. Ann._ 23; _Giorn. di Matem._ 23; _Torino Atti_, 1884. [655] _Applications de Géometrie et de Mechanique_, 1822. [656] _Journ. Éc. polyt._ 14. [657] _Comptes rendus_ 20. [658] _Liouvilles Journ._ 15. [659] _Journ. Éc. polyt._ 38. [660] _Irish Trans._ 16, 1831. [661] Bd. 57. [662] Die Eigenschaften der unendlich dünnen Strahlenbündel, mit denen Kummer sich in dieser Abhandlung beschäftigt, gaben später (1862) Stoff zu einer schönen Arbeit von Möbius (_Leipziger Ber._ 14; _Werke_ 4), an welche sich dann die von Zech (_Zeitschr. f. Math._ 17) veröffentlichten Untersuchungen knüpfen; vgl. auch eine neuerliche Abhandlung von Hensel (_Journ. für Math._ 102). [663] _Berliner Abh._ 1866. [664] Von noch erschienenen Arbeiten, die man als eine Fortsetzung derer von Kummer ansehen kann oder die auf anderem Wege zu dessen Resultaten geführt haben, erwähne ich: Reye (_Journ. für Math._ 86 und 93), Hirst (_Proc. math. Soc._ 16), Stahl (s. Note 637), Caporali (_Napoli Rend._ 1879), Loria (_Torino Atti_, 1884 und 1886) -- oder von solchen, die zu diesen einige neue Formeln oder ein neues algebraisches Strahlensystem hinzugefügt haben: Kummer (_Berliner Ber._ 1878), Masoni (_Napoli Rend._ 22), Roccella (s. Note 649), Hirst (_Proc. math. Soc._ 16 und 17; _Rendiconti del Circolo mathematico di Palermo_ 1), Sturm (_Math. Ann._ 6; _Journ. für Math._ 101). [665] Zum Beweise, daß die Fragen, auf welche sich diese Arbeiten beziehen, bei einigen Gelehrten jene Ruhe und Unparteilichkeit des Urteils, die immer bei ihren Diskussionen walten sollte, aufgehoben haben, will ich hier zwei Stellen anführen, die eine von einem Schriftsteller, der allen, welche sich mit Philosophie beschäftigen, sehr wohl bekannt ist, die andere aus einer Zeitschrift, die in Deutschland ziemlich verbreitet ist: ».... so gewiß ist es logische Spielerei, ein System von vier oder fünf Dimensionen noch Raum zu nennen. Gegen solche Versuche muß man sich wahren; sie sind Grimassen der Wissenschaft, die durch völlig nutzlose Paradoxien das gewöhnliche Bewußtsein einschüchtern und über sein gutes Recht in der Begrenzung der Begriffe täuschen« (Lotze, _Logik_, S. 217). »Die absolute oder Nicht-Euklidische Geometrie, die Geometrie des endlichen Raumes und die Lehre von n Raumdimensionen sind entweder Karrikaturen oder Krankheitserscheinungen der Mathematik« (J. Gilles, _Blätter für das Bayrische Gymnasial- und Realschulwesen_ 28, S. 423). Man sehe auch die heftigen Äußerungen Dührings, die von Erdmann in seiner trefflichen Abhandlung: _Die Axiome der Geometrie_ (Leipzig, 1877, S. 85) wiedergegeben sind, ferner Kroman, _Unsere Naturerkenntnis_, deutsch von Fischer-Benzon (Kopenhagen, 1883, S. 145 bis 175); endlich die Kap. 13 und 14 des Werkes von Stallo, _La matière et la physique moderne_ (Paris, 1884). Auf Vorwürfe von der oben erwähnten Art erwidern wir mit d'Alembert: »_Allez en avant, et la foi vous viendra!_« [666] Als Litteraturnachweis für diesen Teil der Geometrie sehe man die Artikel von G. Bruce-Halsted, veröffentlicht im _Amer. Journ._ 1 und 2. [667] Es ist dieser Satz: »Wenn bei einer Geraden, welche zwei andere schneidet, die Summe der inneren Winkel auf derselben Seite kleiner als zwei Rechte ist, so schneiden sich letztere auf derselben Seite.« D'Alembert nannte diesen Satz: »_l'écueil et le scandale des éléments de la géométrie_«. [668] Eine Zeit lang glaubte man, daß der fragliche Satz von Euklid unter die Axiome gestellt sei; aber neuere historische Untersuchungen (s. Hankel, _Vorlesungen über komplexe Zahlen und ihre Funktionen_, S. 52) neigen zu der Ansicht, daß derselbe irrtümlicher Weise von den Abschreibern zu den Axiomen geschrieben sei, während er im Originale unter den Postulaten gestanden hatte. [669] Vgl. _Die Elemente der Mathematik_ von Baltzer, 4. Teil, Planimetrie. [670] Man erzählt, Lagrange habe beobachtet, daß die sphärische Geometrie von dem Euklidischen Postulate unabhängig sei, und gehofft, aus dieser Beobachtung eine Art und Weise ableiten zu können, den Ungelegenheiten der Euklidischen Methode zu entgehen, indem er die ebene Geometrie als die Geometrie auf einer Kugel mit unendlich großem Radius betrachtete. [671] _Briefwechsel zwischen Gauss und Schumacher_, herausgegeben von Peters, 6 Bände (Altona, 1860-1865); die betreffenden Stellen dieses Briefwechsels sind von Hoüel ins Französische übersetzt und seiner 1866 erschienenen französischen Übersetzung von Lobatschewskys _Geometrischen Untersuchungen_ (vgl. Note 10) zugefügt. [672] Vgl. die Gedächtnisschrift auf Gauß von Schering in den _Göttinger Abh._ 22 (1877). [673] _Göttingische Gelehrte Anzeigen_, 1816 und 1822; oder _Gauss' Werke_ 4 (1873), S. 364 und 368. Vgl. auch Sartorius von Waltershausen, _Gauss zum Gedächtnis_ (Leipzig, 1856), S. 81. -- Möge es gestattet sein, hier die Mitteilung anzuschließen, daß Gauß das alte Problem der Kreisteilung, in dem man seit zwei Jahrtausenden nicht vorwärts gekommen war, durch Untersuchungen auf einem Gebiete wesentlich gefördert hat, das ohne Zusammenhang mit diesem Problem schien und auf welchem man solchen Gewinnst für die Geometrie nicht erwartete (_Disquisitiones arithmeticae_, Leipzig, 1801; _Werke_ 1; vgl. Bachmann, _Die Lehre von der Kreisteilung_, Leipzig, 1872), indem er zeigte, daß die Teilung in n Teile mit Hilfe von Lineal und Zirkel auch noch möglich ist, wenn n eine Primzahl von der Form 2^m +1 ist. Man sehe hierzu auch Legendre, _Éléments de trigonométrie_, Anhang; Richelot, Staudt, Schröter, _Journ. für Math._ 9, 24, 75; Affolter, _Math. Ann._ 6. [674] _Courier von Kasan_, 1829-1830; _Abhandlungen der Universität Kasan_, 1835, 1836, 1837, 1838; _Geometrische Untersuchungen über die Theorie der Parallellinien_ (Berlin, 1810); _Journ. für Math._ 17. [675] Die Schrift von Johann Bolyai erschien als Anhang des Werkes von W. Bolyai: _Tentamen juventutem studiosam in elementa matheseos purae ..... introducendi_, 2. Bd. (Maros-Vásárhely 1833), wurde dann ins Französische übersetzt von Hoüel _(Mémoires de Bordeaux)_, ins Italienische von Battaglini (_Giorn. di Matem._ 5). [676] Es ist das Verdienst Hoüels (?--1886) und Battaglinis, die Werke von Lobatschewsky und Bolyai durch Übersetzungen und vorzügliche Kommentare (s. Note 7 und 11 und _Giorn. di Matem._ 5 und 8) verbreitet zu haben. -- Heute ist es leicht, die Nicht-Euklidische Geometrie zu lernen, da Flye S^{te} Marie (_Etudes analytiques sur la théorie des parallèles_, Paris, 1871), Frischauf (_Elemente der absoluten Geometrie_, Leipzig, 1876) und de Tilly (_Essai sur les principes fundamentaux de la géométrie et de la mécanique_, Bordeaux, 1879) methodische Bearbeitungen derselben geschrieben haben. In England wurden die neuen Ideen über die Prinzipien der Geometrie bearbeitet und herrlich dargestellt von Clifford; man sehe die Schrift _Lectures and Essays_, sowie die von Smith den _Mathematical Papers by W. K. Clifford_ (London, 1882) vorausgeschickte Einleitung. [677] _Göttinger Abh._ 13 (1867), oder _Gesammelte Werke_ (Leipzig, 1876), ins Französische übersetzt von Hoüel (_Annali di Matem._ II, 3), ins Englische von Clifford (_Nature_ 8 oder _Mathematical Papers_ S. 55). [678] In der Abhandlung _Über die Thatsachen, welche der Geometrie zu Grunde liegen_ (_Göttinger Nachr._ 1868). [679] Hierzu sehe man _Populäre wissenschaftliche Vorträge_ von Helmholtz (Braunschweig, 1871-1876); _Revue des cours scientifiques_, 9. Juli 1870 etc. [680] _Giorn. di Matem._ 6. Dieser Artikel wurde ins Französische übersetzt von Hoüel und veröffentlicht in den _Ann. Éc. norm._ 6, 1869. [681] Man vergleiche hierzu die Worte, mit denen d'Alembert die Meinung zurückwies, daß die Wahrheiten der Mechanik experimentelle seien (_Traité de Dynamique_, Paris, 1858, _Discours préliminaire_, S. XII), mit den folgenden von Clifford (_The Common Sense of the Exact Sciences_, London, 1885, _International Scientific Series_ 51): »In derselben Weise, wie wir, um irgend einen Zweig der Physik zu schaffen, von der Erfahrung ausgehen und auf unsere Experimente eine gewisse Anzahl von Axiomen stützen, welche solchergestalt die Grundlage desselben bilden, so sind die Axiome, die wir als Grundlage der Geometrie nehmen, wenn auch weniger offenbar, in der That ein Ergebnis der Erfahrung.« Man sehe auch das Werk von Hoüel, _Du rôle de l'expérience dans les sciences exactes_ (Prag, 1875), oder die Übersetzung, die davon in _Grunerts Arch._ 59 veröffentlicht wurde. [682] Ich bemerke, daß, wer die _Ausdehnungslehre_ des großen deutschen Geometers und Philologen Hermann Graßmann liest, mit Erstaunen sehen wird, daß er schon 1844 zu Schlüssen gelangt war, die von den im Texte angegebenen nicht sehr verschieden sind. Aber wer weiß nicht, daß, um geschätzt zu werden, dieses ausgezeichnete Werk nötig hatte, daß andere auf einem anderen Wege zu den äußerst originellen Wahrheiten gelangten, die es enthält? -- Hier scheint es mir angebracht zu sein, eine Erklärung zu geben, welche zu meiner Rechtfertigung dient. Bei dieser kurzen Geschichte der Kämpfe, welche die Geometer in diesen letzten Zeiten ausgefochten haben, traf es sich selten und nur flüchtig, daß ich Arbeiten von Graßmann zitierte, und ich glaube nicht, daß ich noch Gelegenheit haben werde, diesen Namen auszusprechen. Das heißt nicht, daß dieser Geometer nicht der Erwähnung würdig sei, daß seine Entdeckungen und seine Methoden nicht verdienten, bekannt zu werden; aber es liegt daran, daß der Formalismus, in den er seine Gedanken gekleidet, sie den meisten unzugänglich gemacht und ihnen fast jede Möglichkeit genommen hat, irgend einen Einfluß auszuüben. Graßmann war während eines großen Teiles seines Lebens ein Einsiedler in der Mathematik; nur während seiner letzten Jahre befaßte er sich damit, etliche seiner Produktionen in modernem Gewande zu veröffentlichen, um deren Verwandtschaft mit denen seiner Zeitgenossen zu zeigen (man sehe _Math. Ann._ 10, 12; _Göttinger Nachr._ 1872; _Journ. für Math._ 84); daher ist es natürlich, daß ihn zu nennen demjenigen selten widerfährt, welcher sich vornimmt, die Errungenschaften zu beschreiben, die man den vereinten Anstrengungen der modernen Geometer verdankt. -- Man vergleiche Peano, _Calcolo geometrico secondo l'Ausdehnungslehre di H. Grassmann preceduto dalle operazioni della logica deduttiva_ (Turin, 1888). -- Über die wissenschaftlichen Verdienste Graßmanns sehe man einen Artikel von Cremona in den _Nouv. Ann._ I, 19, dann den 14. Bd. der _Math. Ann._ und den 11. Bd. des _Bulletino di Bibliografia e di Storia delle Scienze matematiche_. Ein Vergleich zwischen den Methoden Graßmanns und anderen moderneren wurde von Schlegel in der _Zeitschr. f. Math._ 24 gemacht. [683] _Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie_ (_Math. Ann._ 4). [684] _Nouv. Ann._ 12. [685] _Phil. Trans._ 149; vgl. Clifford, _Analytical Metrics_ (_Quart. Journ._ 1865, 1866 oder _Mathematical Papers_, S. 80). [686] Eine spätere Abhandlung von Klein unter demselben Titel (_Math. Ann._ 6) ist zur Ergänzung einiger Punkte der ersteren bestimmt. An dieselbe knüpfen sich die wichtigen Untersuchungen von Lüroth und Zeuthen (_Math. Ann._ 7), von Thomae (vgl. die 2. Aufl. der _Geometrie der Lage_ von Reye), von Darboux (_Math. Ann._ 17), von Schur (das. 18), de Paolis (_Lincei Mem._ 1880-1881) und von Reye (3. Aufl. der _Geometrie der Lage_) über den Fundamentalsatz der projektiven Geometrie. [687] _Études de mécanique abstraite_ (_Mémoires couronnées par l'Académie de Belgique_ 21, 1870). [688] _Bulletin de l'Académie de Belgique_ II, 36; _Torino Mem._ II, 29; _Mem. de la società italiana delle scienze_ III, 2. [689] _Wiener Ber._ 1874. Man sehe auch die schöne Abhandlung von Beltrami: _Sulle equazioni generali dell' elasticità_, in den _Annali di Matem._ II, 10. [690] _Sull' applicabilità delle superficie degli spazii a curvatura costante_ (_Lincei Atti_ III, 2). [691] _Lincei Rend._ 1873 und 1876. [692] _Annali di Matem._ II, 6, 7; _Giorn. di Matem._ 13; _Torino Atti_, 1876; _Lincei Mem._ III, 3; _Lombardo Rend._ 1881. [693] _Lincei Mem._ 1877-1878. [694] _Lombardo Rend._ II, 14, 15. [695] _Math. Ann._ 5. [696] _Math. Ann._ 7. [697] _Göttinger Nachr._ 1873. [698] _Amer. Journ._ 2, 4, 5. [699] _Die Massfunktionen in der analytischen Geometrie._ Programm (Berlin, 1873). [700] _Math. Ann._ 10. [701] _Quart. Journ._ 18. [702] _On the theory of screws in elliptic space._ (_Proc. math. Soc._ 15 und 16). [703] Die interessantesten von den mir bekannten sind die von Segre, _Sulle geometrie metriche dei complessi lineari e delle sfere_, veröffentlicht in den _Torino Atti_, 1883. [704] Das Produkt zweier Strecken ist eine Fläche, das dreier ein Körper, was ist das geometrische Bild des Produktes von vieren? -- Die analytischen Geometer der Cartesischen Epoche bezeichneten dasselbe durch das Wort »sursolide« (überkörperlich), welches sich in ihren Schriften findet; man kann sie daher als diejenigen ansehen, welche zuerst die im Texte erwähnte Richtung eingeschlagen haben. [705] S. Cayley, _A memoir on abstract Geometry_ (_Phil. Trans._ 1870); vgl. auch _Cambridge Journ._ 4, 1845. [706] _Comptes rendus_, 1847. [707] Überdies scheint es außer Zweifel zu stehen, daß Gauß ausgedehnte und bestimmte Ideen über die Geometrie von mehreren Dimensionen gehabt hat; vgl. Sartorius von Waltershausen, a. O. S. 81 (s. Note 673 des vor. Abschn.). [708] _Théorie des fonctions analytiques_ (Paris, an V, S. 223). [709] Ich darf nicht verschweigen, daß schon 1827 Möbius einen Einblick hatte, wie durch Zulassung der Existenz eines vierdimensionalen Raumes ein unerklärlicher Unterschied zwischen der Ebene und dem Raume aufgehoben wird; dieser Unterschied besteht darin, daß, während man zwei in Bezug auf eine Gerade symmetrische ebene Figuren immer zur Deckung bringen kann, es nicht möglich ist, zwei räumliche in Bezug auf eine Ebene symmetrische Figuren zusammenfallen zu lassen. Später bemerkte Zöllner beiläufig, wie die Existenz eines vierdimensionalen Raumes gewisse Bewegungen zulassen würde, die wir für unmöglich halten; die folgenden Resultate können als Beispiele zu dieser Beobachtung dienen: Newcomb zeigte (_Amer. Journ._ 1), daß, wenn es einen Raum von vier Dimensionen giebt, es möglich ist, die beiden Seiten einer geschlossenen materiellen Fläche umzuwechseln, ohne dieselbe zu zerreißen. Klein bemerkte (_Math. Ann._ 9), daß bei dieser Voraussetzung die Knoten nicht erhalten bleiben könnten, und Veronese führte (in der 1881 an der Universität zu Padua gehaltenen _Prolusione_) die Thatsache an, daß man dann aus einem geschlossenen Zimmer einen Körper herausnehmen könne, ohne die Wände desselben zu zerbrechen. Hoppe gab (_Grunerts Arch._ 64) Formeln an, welche die Beobachtungen Kleins illustrierten. Diese Formeln erforderten einige Modifikationen, die von Durège angegeben wurden (_Wiener Ber._ 1880); vgl. auch _Grunerts Arch._ 65 und die synthetischen Betrachtungen von Schlegel, _Zeitschr. f. Math._ 28. [710] _Annali di Matem._ II, 2 und 5. [711] _Journ. für Math._ 65; _Annali di Matem._ II, 5. [712] _Journ. für Math._ 83. [713] _Amer. Journ._ 2. [714] _Die Nicht-Euklidischen Raumformen in analytischer Behandlung_, Leipzig, 1885. [715] _Math. Ann._ 27. [716] _Annali di Matem._ II, 4. [717] _Proc. math. Soc._ 7 oder _Mathematical Papers_, S. 236. [718] _Bull. sciences math._ 11, 1876. [719] _Comptes rendus_, 79. [720] _Journ. für Math._ 70 flgg., _Quart. Journ._ 12. [721] _Proc. math. Soc._ 9. [722] _Berliner Dissertation_, 1880. [723] _Phil. Trans._ 175. [724] _Journ. für Math._ 98. [725] Nach Lipschitz hatte Lejeune-Dirichlet (1805-1859) das allgemeine Gravitationsgesetz im elliptischen Raume studiert. Diese Studien wurden dann von Schering bearbeitet und in den _Göttinger Nachr._ 1870 und 1873 veröffentlicht. [726] _Comptes rendus_ 79. [727] _Math. Ann._ 19. [728] Hoppe machte analoge Untersuchungen für die Kurven des vierdimensionalen Raumes (_Grunerts Arch._ 64). [729] _Amer. Journ._ 4. [730] _Berliner Ber._ 1869. [731] _Math. Ann._ 7; _Zeitschr. f. Math._ 20, 21, 24. [732] _Journ. für Math._ 70 und 72. [733] _Journ. für Math._ 70. [734] _Math. Ann._ 24. [735] _Bull. sciences math._ I, 4. [736] _Math. Ann._ 26. [737] _Collectanea mathematica; Annali di matem._ II, 10. [738] _Göttinger Nachr._, 1871. [739] _Math. Ann._ 5. [740] _Journ. für Math._ 81; _Comptes rendus_ 82. [741] _Amer. Journ._ 4. [742] _Journ. für Math._ 74 oder _Quart. Journ._ 12. Ich füge noch hinzu, daß Salmon und Cayley sich der Räume von mehreren Dimensionen in ihren Untersuchungen über die Theorie der Charakteristiken (§ IV) bedient haben, daß Mehler, _Journ. für Math._ 84, eine Anwendung von der Betrachtung eines vierdimensionalen Raumes für Untersuchungen über dreifache Systeme orthogonaler Oberflächen, und daß Lewis davon eine ähnliche Anwendung machte bei der Betrachtung einiger Trägheitsmomente (_Quart. Journ._ 16). Dann fand Wolstenholme, daß die Zahl der Normalen, die man von einem Punkte eines d-dimensionalen Raumes an eine Oberfläche von der n^{ten} Ordnung ziehen kann, n --- { (n-1)^d - 1 } n-2 beträgt (_Educational Times_ 10). [743] _Von den Elementen und Grundgebilden der synthetischen Geometrie_ (Bamberg, 1887). [744] _Grunerts Arch._ 64. [745] _Bull. Soc. math._ 10. [746] _Grunerts Arch._ 70. [747] _Amer. Journ._ 3. [748] _Grunerts Arch._ 66, 67, 68, 69. [749] _Nova Acta der Leopold.-Carol. Akademie_ 44. [750] _Die polydimensionalen Grössen und die vollkommenen Primzahlen._ [751] _Von Körpern höherer Dimensionen_ (Kaiserslautern, 1882). [752] _Wiener Ber._ 90. [753] _Wiener Ber._ 89 und 90. [754] Diese bilden eine der merkwürdigsten von den durch L. Brill in Darmstadt veröffentlichten Serien von Modellen. [755] _Journ. für Math._ 31, S. 213. Liest man die wenigen Seiten, welche die Abhandlung von Cayley bilden, so gewinnt man die Überzeugung, daß er schon 1846 einen klaren Einblick von der Nützlichkeit hatte, welche der gewöhnlichen Geometrie der Lage die Betrachtung des Raumes von mehreren Dimensionen bringen könne. [756] _Histoire de l'astronomie moderne_ 2, S. 60. [757] _Phil. Trans._ 1878 oder _Mathematical Papers_ S. 305. [758] _Math. Ann._ 19. [759] Unter den in der Abhandlung von Veronese bearbeiteten Untersuchungen sind die über die Konfigurationen besonderer Erwähnung wert, ferner die Formeln, welche -- als eine Erweiterung derer von Plücker und Cayley -- die gewöhnlichen Singularitäten einer Kurve eines n-dimensionalen Raumes unter einander verknüpfen, die Erzeugung von in einem solchen Raume enthaltenen Oberflächen durch projektive Systeme und die Anwendung derselben auf das Studium einiger Oberflächen unseres Raumes; dann kann ich nicht stillschweigend übergehen die Studien über die in einem quadratischen Gebilde von n Dimensionen enthaltenen linearen Räume, die Veronese gemacht hat, um einige Sätze von Cayley zu erweitern (_Quart. Journ._ 12), indem er die von Klein (_Math. Ann._ 5) verallgemeinerte stereographische Projektion anwandte, ferner nicht etliche wichtige Resultate über die Kurven, von denen übrigens einige schon Clifford (_Phil. Trans._, 1878) auf einem anderen Wege erhalten hatte. [760] _Annali di Matem._ II, 11; _Lincei Mem._ 1883-1884; _Atti dell' Istituto Veneto_ V, 8. Letztere Abhandlung ist der darstellenden Geometrie des Raumes von 4 Dimensionen gewidmet und kann daher als die Ausführung eines Gedankens angesehen werden, den Sylvester im Jahre 1869 in seiner Rede vor der British Association angedeutet hat. [761] _Torino Mem._ II, 36. [762] _Lincei Mem._ 1883-1884; _Torino Mem._ II, 37; _Lincei Rend._ 1886. [763] _Torino Atti_ 19. [764] _Torino Atti_ 19, 20, 21; _Math. Ann._ 27. [765] _Math. Ann._ 24. [766] _Torino Atti_ 20. [767] _Lombardo Rend._ 1886; _Lincei Rend._ 1886. Man sehe auch desselben Verfassers wichtige Note: _Sui sistemi lineari, Lombardo Rend._ 82. [768] _Lombardo Rend._ 1885, 1886. [769] _Napoli Rend._ 1885, 1886. Vgl. auch Rodenberg, _Math. Ann._ 26. [770] Ich kann sie alle hier nicht wiederholen, Weil mich des Stoffes Fülle so bedrängt, Daß hinter dem Gescheh'nen oft das Wort bleibt. -- (Dantes _Divina Commedia_, der _Hölle_ 4. Ges. V. 145-147.) [771] _Math. Ann._ 2, 8. Man sehe auch die Abhandlung von S. Kantor, _Sur les transformations linéaires successives dans le même espace à_ n _dimensions_ (_Bull. Soc. math._ 8). [772] _Bull. Soc. math._ 2. Unter den in dieser Arbeit erhaltenen Resultaten heben wir folgendes hervor: »Wenn man in einem Raume von r - 1 Dimensionen zwei algebraische Mannigfaltigkeiten vom Grade [mu] und [nu] ins Auge faßt, bezüglich von m und n Dimensionen, so ist der Schnitt derselben eine Mannigfaltigkeit von n + m - (r-1) Dimensionen und vom Grade [mu][nu], wofern m + n >= r - 1, und die beiden Mannigfaltigkeiten nicht eine solche von m + n - r + 2 oder mehr Dimensionen gemeinsam haben«, um den vollständigen Beweis desselben anzuführen, den Nöther in den _Math. Ann._ 11 geliefert hat. [773] _Lincei Mem._ 1876-1877; vgl. auch Jordan (_Bull. Soc. math._ 3). -- Hier will ich eine Notiz machen, die im Texte nicht Platz finden konnte: Von vielen wurde behauptet, daß in einem Raume von konstanter positiver Krümmung zwei geodätische Linien, wenn sie sich treffen, im allgemeinen zwei Punkte gemeinsam haben; das ist nun nicht wahr, und dieses wurde zuerst von Klein beobachtet (_Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik_ 9, S. 313), dann von Newcomb (_Journ. für Math._ 83) und von Frankland (_Proc. math. Soc._ 8). Über dasselbe Thema sehe man eine Abhandlung von Killing (_Journ. für Math._ 86 und 89). [774] _Math. Ann._ 26; _Acta math._ 8. -- Der Abhandlung von Veronese gehen noch die Untersuchungen von Spottiswoode (1825-1883) voran, über die Darstellung der Figuren der Geometrie von n Dimensionen vermittelst correlativer Figuren der gewöhnlichen Geometrie (_Comptes rendus_ 81). [775] _Mémoire de Géométrie sur deux principes généraux de la science._ [776] _Beiträge zur Geometrie der Lage,_ § 29. [777] _Vierteljahrsschrift der naturforschenden Gesellschaft zu Zürich_ 15, oder _Die darstellende Geometrie._ [778] Vgl. die interessante Abhandlung von Fiedler, _Geometrie und Geomechanik_, erschienen in der genannten _Vierteljahrsschrift_, und in französischer Übersetzung in _Liouvilles Journ._ III, 4 veröffentlicht. [779] Den Nutzen, welcher der Geometrie durch die Annahme einiger Begriffe, die man jetzt noch als der Mechanik angehörig betrachtet, erwachsen würde, bezeugen der _Exposé géométrique du calcul différentiel et intégral_ (Paris, 1861), von Lamarle (1806-1875) verfaßt, die von Mannheim der kinematischen Geometrie gewidmeten Partien in seinem _Cours de géométrie descriptive_ (Paris, 1880) und das schöne jüngst veröffentlichte Buch meines Freundes Peano mit dem Titel: _Applicazioni geometriche del calcolo infinitesimale_ (Turin, 1887). [780] Man sehe die Anhänge der _Proc. math. Soc._ seit Bd. 14. [781] _Nouv. Ann._ II, 1, 2; _Liouvilles Journ._ II, 7; _Berliner Abh._ 1865, 1866; _Berliner Ber._ 1872 oder _Borchardts Gesammelte Werke_, S. 179, 201, 233. [782] Insbesondere _Journ. für Math._ 24 oder _Werke_, Bd. II, S. 177, 241. [783] S. _Acta Societatis scientiarum Fennicae_, 1866; _Bull. de l'Académie de St. Pétersbourg_ 14; _Math. Ann._ 2; _Nouv. Ann._ II, 10; _Zeitschr. f. Math._ 11; _Göttinger Nachr._ 1882 oder _Bull. sciences math._ II, 7; _Journ. für Math._ 96, 97; _Göttinger Nachr._ 1884; _Grunerts Arch._ II, 2; _Giorn. di Matem._ 26. [784] _Mémoires de l'Académie de Berlin,_ 1761; vgl. Legendres _Eléments de Géometrie_, Note IV der älteren Auflagen. [785] _Berliner Ber._ 1882; _Math. Ann._ 20; vereinfacht durch Weierstraß, _Berliner Ber._ 1885; man vgl. auch Rouché, _Nouv. Ann._ III, 2. [786] Die einzigen rein synthetischen Untersuchungen über die Kurven und Oberflächen von höherer als zweiter Ordnung, die ich kenne, sind die von Reye (_Geometrie der Lage_) über die ebenen kubischen Kurven, einige von Thieme (_Zeitschr. f. Math_ 24; _Math. Ann._ 20, 28), von Milinowski (_Zeitschr. f. Math._ 21, 23; _Journ. für Math._ 89, 97) und von Schur (_Zeitschr. f. Math._ 24). Ihnen könnte man die beiden folgenden Arbeiten hinzufügen, die im Jahre 1868 von der Berliner Akademie gekrönt sind: H. J. S. Smith, _Mémoire sur quelques problèmes cubiques et biquadratiques_ (_Annali di Matem._ II, 3); Kortum, _Über geometrische Aufgaben dritten und vierten Grades_ (Bonn, 1869). Die Geometer erwarten ungeduldig die Veröffentlichung einer Schrift von E. Kötter, die 1886 von der Berliner Akademie den Steinerschen Preis erhielt und dazu berufen erscheint, in das Gebiet der reinen Geometrie die allgemeine Theorie der ebenen algebraischen Kurven zu versetzen. (Sie ist während der Anfertigung der Übersetzung vorliegender Schrift in den _Berliner Abh._ 1887 unter dem Titel: _Grundzüge einer rein geometrischen Theorie der algebraischen ebenen Kurven_ erschienen.) [787] Die Angemessenheit des gleichzeitigen Gebrauches der Geometrie und Analysis, auch in den Fragen der angewandten Mathematik, wurde ausdrücklich von Lamé mit folgenden Worten erklärt: _»Quand on médite sur l'histoire des mathématiques appliquées, on est effectivement conduit à attribuer leurs principales découvertes, leurs progrès les plus décisifs à l'association de l'analyse et de la géométrie. Et les travaux, que produit l'emploi de chacun de ces instruments, apparaissent alors comme des préparations, des perfectionnements, en attendant l'époque qui sera fécondée par leur réunion.«_ (_Leçons sur les coordonnées curvilignes_, 1859, S. XIII und XIV.) [788] Poinsot, _Comptes rendus_ 6 (1838) S. 809. * * * * * Corrections made to printed original. page 17, "l'origine et le développement": 'el développement' in original. Footnote 265, "geometrische.": 'geometrisehe' in original. End of the Project Gutenberg EBook of Die hauptsächlichsten Theorien der Geometrie, by Gino Loria *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE HAUPTSÄCHLICHSTEN *** ***** This file should be named 33726-8.txt or 33726-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/3/3/7/2/33726/ Produced by Joshua Hutchinson, Keith Edkins and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images from the Cornell University Library: Historical Mathematics Monographs collection.) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. 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33726-8
The Project Gutenberg EBook of Die hauptsächlichsten Theorien der Geometrie, by Gino Loria This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Die hauptsächlichsten Theorien der Geometrie Author: Gino Loria Translator: Fritz Schütte Release Date: September 14, 2010 [EBook #33726] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE HAUPTSÄCHLICHSTEN *** Produced by Joshua Hutchinson, Keith Edkins and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images from the Cornell University Library: Historical Mathematics Monographs collection.) Transcriber's note: A few typographical errors have been corrected: they are listed at the end of the text. * * * * * DIE HAUPTSÄCHLICHSTEN THEORIEN DER GEOMETRIE IN IHRER FRÜHEREN UND HEUTIGEN ENTWICKELUNG. HISTORISCHE MONOGRAPHIE VON DR. GINO LORIA, PROFESSOR DER HÖHEREN GEOMETRIE AN DER UNIVERSITÄT ZU GENUA. ------ UNTER BENUTZUNG ZAHLREICHER ZUSÄTZE UND VERBESSERUNGEN SEITENS DES VERFASSERS INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN VON FRITZ SCHÜTTE. MIT EINEM VORWORTE VON PROFESSOR R. STURM. LEIPZIG, VERLAG VON B. G. TEUBNER. 1888. * * * * * Druck von B. G. Teubner in Dresden. * * * * * Seiner teueren Mutter als schwaches Unterpfand inniger Liebe widmet diese Arbeit der Verfasser. {III} * * * * * Vorwort. ------ Diese deutsche Übersetzung der im vergangenen Jahre in den _Memorie della Reale Accademia delle Scienze di Torino_ (Ser. II, Bd. 38) erschienenen Monographie des Herrn Gino Loria: _Il passato e il presente delle principali teorie geometriche_, welche mein Schüler Herr Fritz Schütte angefertigt hat, begleite ich gern mit einem empfehlenden Vorworte, nachdem ich sie mit der Originalschrift und den handschriftlichen Zusätzen und Verbesserungen des Herrn Verfassers in Bezug auf ihre Richtigkeit verglichen habe. Eine Geschichte der Geometrie unserer Zeit, in der jedes Jahrzehnt uns mehr vorwärts bringt, als es früher in einem Jahrhundert geschah, welche uns zu ungeahnten allgemeinen Anschauungen geführt hat, zu besitzen, ist der Wunsch aller Geometer; aber wir wissen auch alle, wie unvergleichlich schwerer die Aufgabe, eine solche zu schreiben, heute ist als vor fünfzig Jahren, wo der _Aperçu historique_ von Chasles erschien. Herr Loria will seine »Chronik«, wie er seine Schrift in der Einleitung nennt, nur als eine Vorarbeit angesehen haben, welche zur Inangriffnahme des großen Werkes der Abfassung einer Geschichte der modernen Geometrie anspornen und diesem Werke dienen soll. Der Umfang, den er zunächst seiner Arbeit gegeben hat, bringt es, wie er selbst mehrfach bemerkt, freilich mit sich, daß die Darstellung bisweilen auf eine bloße Aufzählung von Namen und Schriften hinausläuft. Aber auch in diesem engeren Rahmen ist es, meine ich, dem {IV} Verfasser gelungen, dem Leser, als welchen ich mir in erster Linie einen Studierenden vorstelle, der schon etwas über die Anfänge hinaus ist, eine anschauliche Übersicht der hauptsächlichsten Untersuchungsrichtungen der Geometrie unserer Zeit vorzuführen; für alle Geometer aber werden die reichhaltigen Litteraturnachweise von großem Werte sein. Etwaige Lücken in denselben wird jeder, der unsere fast unübersehbare und den wenigsten vollständig zugängliche mathematische Litteratur kennt, dem Verfasser nicht anrechnen, und jede Mitteilung einer wesentlichen Verbesserung oder Ergänzung wird er gewiß gern entgegennehmen, um seine Schrift noch wertvoller zu machen, falls ihr eine neue Auflage beschieden würde. Die Veränderungen, welche diese Übersetzung im Vergleich mit dem italienischen Originale aufweist, bestehen, außer stark vermehrten Litteraturnachweisen, in einer viel eingehenderen Besprechung der Differentialgeometrie im Abschnitte III und der Umarbeitung der auf die Gestalt der Kurven und der Oberflächen und die abzählende Geometrie bezüglichen Teile der Abschnitte II und III zu einem besonderen Abschnitte. Münster i. W., Ende Mai 1888. R. STURM. {V} * * * * * Inhaltsverzeichnis. ------ Seite Einleitung 1 I. Die Geometrie vor der Mitte des 19. Jahrhunderts 3 II. Theorie der ebenen Kurven 21 III. Theorie der Oberflächen 31 IV. Untersuchungen über die Gestalt der Kurven und Oberflächen. Abzählende Geometrie 60 V. Theorie der Kurven doppelter Krümmung 71 VI. Abbildungen, Korrespondenzen, Transformationen 80 VII. Geometrie der Geraden 98 VIII. Nicht-Euklidische Geometrie 106 IX. Geometrie von n Dimensionen 115 Schluss 124 Abkürzungen für die häufig erwähnten Zeitschriften 130 Verzeichnis der verstorbenen Geometer, deren Lebenszeit angegeben ist 132 {1} * * * * * Einleitung. ------ »Après six mille années d'observations l'esprit humain n'est pas épuisé; il cherche et il trouve encore afin qu'il connaisse qu'il peut trouver à l'infini et que la seule paresse peut donner des bornes à ses connaissances et à ses inventions.« -- Bossuet. Die Fortschritte der exakten Wissenschaft im allgemeinen und der Mathematik im besonderen[1] sind in diesen letzten Zeiten so beträchtlich gewesen, fortwährend folgen weitere nach, so schnell und unaufhaltsam, daß sich lebhaft das Bedürfnis fühlen macht, einen Rückblick auf den schon gemachten Weg zu werfen, welcher den Anfängern ein leichteres Eindringen in die Geheimnisse derselben und den schon Vorgeschrittenen ein sichereres Urteil gestattet, welches die Probleme sind, deren Lösung am dringendsten ist. Der Wunsch, diesem Bedürfnisse zu entsprechen, soweit es die Geometrie anlangt, d. h. soweit es den höheren Teil {2} unserer positiven Kenntnis betrifft -- da, wie Pascal sagte, tout ce qui passe la géométrie nous surpasse -- ist es, der mich veranlaßt, vorliegende Abhandlung zu schreiben. Möge dieser unvollkommene Abriß die Veranlassung sein zu einer Schrift, die der Erhabenheit ihres Zieles würdig ist; möge diese dürftige Chronik der Vorläufer sein einer »Geschichte der Geometrie in unserem Jahrhundert«. {3} * * * * * I. Die Geometrie vor der Mitte des 19. Jahrhunderts. ------ »Alle Entwickelungsstufen der Zivilisation sind so eng miteinander verknüpft, daß man vergebens versuchen würde, irgend einen Zweig der Geschichte von einer bestimmten Epoche ab zu studieren, ohne einen Blick auf die vorhergehenden Zeiten und Ereignisse zu werfen.«[2] Wenn das im allgemeinen wahr ist, so wird es doppelt der Fall sein »bei einer Wissenschaft, die so konservativ ist, wie die Mathematik, welche das Werk der vorhergehenden Periode nicht zerstört, um an dessen Stelle neue Bauten zu errichten«.[3] Daher ist es unerläßlich, daß ich, bevor ich an das eigentliche Thema dieser Abhandlung herantrete, d. h. bevor ich über die moderne Geometrie spreche, kurz angebe, auf welche Weise die Geometrie zu dem Standpunkte gelangt ist, von welchem ab ich vorhabe, ihre Entwickelung eingehender zu verfolgen. Den ersten Ursprung der geometrischen Untersuchungen festzustellen, ist ein fast unausführbares Unternehmen. Die täglichen Erfahrungen jedes denkenden Menschen führen auf eine so natürliche Weise zur Vorstellung der einfacheren geometrischen Formen und zur Erforschung ihrer gegenseitigen Beziehungen, daß man vergebens versuchen würde, den Namen desjenigen zu nennen, der zuerst Geometrie betrieben hat, und anzugeben, zu welcher Zeit sie entstanden ist. Daher sind die Kenntnisse, welche man über die ersten Spuren dieser Disziplin hat, sehr unbestimmt; wer sich {4} vornimmt, sie festzustellen, den umhüllt, wenn nicht völlige Finsternis, so doch nur ein wenig Dämmerlicht, welches ihm nur gestattet, die Umrisse bedeutenderer Bruchstücke, welche sich den Unbilden der Zeit entzogen haben, zu erkennen. So kann ein solcher feststellen, daß die ältesten geometrischen Studien von den Ägyptern gemacht sind, und kann die Erzählung Herodots wiederholen, nach welcher diesem Volke ein sehr wirksamer Antrieb, sich mit Geometrie zu befassen, durch die periodischen Überschwemmungen des Nils gegeben wurde, welche, indem sie die Grenzen zwischen den kleinen Besitzungen, in die Ägypten unter seine Einwohner verteilt war, verwischten, sie nötigten, dieselben jedes Jahr wieder herzustellen.[4] Die Haltbarkeit dieser Hypothese, um die Thatsache zu erklären, daß in Ägypten die Wissenschaft, von der wir handeln, eifrig betrieben sei, wird durch die praktische Natur der Gegenstände bewiesen, welche dort eingehender behandelt wurden: specielle Konstruktionen, Messungen von Längen, Flächeninhalten, Volumen u. s. f.[5] Indem die Kenntnisse der Ägypter nach Griechenland übergingen, erhielten sie durch Thales (640-540)[6] und die Anhänger der ionischen Schule, welche er gründete, eine wissenschaftlichere Gestalt. Thales ist in der That der erste, der sich damit beschäftigt hat, die von den Ägyptern entdeckten Sätze und einige andere streng zu beweisen. Jedoch erhob sich die Geometrie unter seinen Händen noch nicht zur wahren Wissenschaft; diese Würde erlangte sie erst {5} durch die Untersuchungen des Pythagoras (nach einigen 569-470, 580-500 nach anderen) und seiner Schüler. Unglücklicher Weise aber bestand eine der Regeln, welche die Pythagoräer strenge beobachten mußten, darin, daß sie die Lehren, welche der Meister vortrug, geheim halten mußten; daher kam es, dass der geometrische Teil derselben allen, die nicht dieser Schule angehörten, unbekannt blieb. Aber nachdem das Haupt gestorben war, da suchten seine Anhänger, als sie bei den inneren Kämpfen, welche die Republiken Grossgriechenlands zerrissen, besiegt worden waren, Zuflucht in Athen und offenbarten dort, von der Not getrieben, die Geheimnisse, welche sie bis dahin so strenge verwahrt hatten. Und der wohlthätige Einfluß einer grösseren Verbreitung dessen, was die Pythagoräer von der Mathematik wußten, ist durch die wichtigen Forschungen offenbar geworden, welche in der Folgezeit die griechischen Gelehrten in der Periode, welche zwischen Pythagoras und Plato (429-348) liegt, gemacht haben. Sie können in drei Kategorien geteilt werden, benannt nach den berühmten Problemen: der Dreiteilung des Winkels, der Verdoppelung des Würfels, der Quadratur des Kreises, und führten zur Vervollkommnung des mehr elementaren Teiles der ebenen Geometrie. Plato verdanken wir den ersten Anstoß zum methodischen Studium der Stereometrie, und das ist nicht das Einzige, wofür der göttliche Philosoph auf den Dank der Geometer Anspruch erheben könnte; denn ihm ist auch die analytische Methode zuzuschreiben, deren Macht allen bekannt ist, und seiner Schule (Akademie) die Lehre von den Kegelschnitten und, was nicht weniger wichtig ist, die von den geometrischen Örtern. Aus diesen gedrängten Angaben[7] wird man leicht entnehmen können, daß die Bemühungen der angeführten Geometer zu einer Fülle von Eigenschaften der Figuren und zu Methoden, sie zu erklären, geführt und die Elemente für eine methodische Behandlung der Geometrie vorbereitet hatten. {6} Daher dauerte es nicht lange, daß vollständige Zusammenstellungen dessen, was entdeckt war, erschienen. Von vielen kennen wir nur die Existenz; nur eine einzige ist uns vollständig erhalten worden, _die Elemente_ des Euklides, und das glänzende Licht, welches von ihnen ausgeht, führt uns zu der Vermutung, daß alle die anderen Zusammenstellungen durch die Vergleichung mit ihnen verdunkelt sind. Mit diesem Buche, welches nach zweitausend Jahren noch als einzig angesehen wird, »von dem man für die Entwickelung der Jugend diejenigen Resultate erhoffen kann, mit Rücksicht auf die bei allen zivilisierten Nationen der Unterricht in der Geometrie eine solch bedeutende Stellung in der Erziehung der Jugend inne hat«,[8] nimmt die wahre Wissenschaft der Geometrie ihren Anfang. Es ist das granitene Piedestal, auf welchem der großartige Bau der griechischen Mathematik sich erhebt, auf dessen Gipfel sich die anderen Werke Euklids und die unsterblichen Arbeiten von Archimedes (287-212), Eratosthenes (276-194) und Apollonius (ca. 200 v. Ch.) befinden.[9] Diese berühmten Gelehrten bezeichnen den Höhepunkt der griechischen Wissenschaft; nach ihnen beginnt die Periode des Verfalles, ja sogar, trotz einiger wichtiger Untersuchungen eines Hipparch (161-126) und eines Ptolomaeus (125 bis ungefähr 200), trotz der Arbeit eines genialen Kommentators, wie Pappus war (derselbe lebte gegen Ende des {7} dritten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung), kommen wir nach und nach zu einer Periode völliger Unthätigkeit auf dem Gebiete der Geometrie. Die Römer, die Eroberer und Gesetzgeber der Welt, scheinen jedes Untersuchungsgeistes zu entbehren, und wenn die Geometrie in der Epoche, in welcher sie herrschten, nicht ganz verfiel, so geschah das dank ihren Agrimensoren, welche jedoch bei ihren Operationen nur eine Genauigkeit zu erreichen suchten, die für die Bedürfnisse des täglichen Lebens ausreicht.[10] {8} Auch das Mittelalter kann keine Veranlassung geben zu einer längeren Erörterung. Die dichte Finsternis, welche in dieser Zeit die ganze Menschheit bedeckte, gestattete nicht das Auftreten eines Gelehrten, dem man irgend einen bemerkenswerten Fortschritt in der Geometrie verdankt. Man kann nur erwähnen, daß die vielfachen in dieser Zeit errichteten heiligen Bauwerke, die nach dem Ausspruche eines großen Dichters so zahlreich und kühn waren, weil sie die einzigen der menschlichen Intelligenz damals erlaubten Äußerungen darstellen, Kunde davon geben, daß derjenige Teil unserer Wissenschaft, der jedem Baumeister unentbehrlich ist, auch in dieser Zeit im allgemeinen bekannt war. Diese für unsere Wissenschaft so traurige Zeit kann man als beendet ansehen mit Leonardo Fibonacci (etwa 1180-1250); erst als von diesem ausgezeichneten Gelehrten die Algebra nach Europa übergeführt worden war, und seine hervorragenden Arbeiten ihren Einfluß ausübten, da hatte diese Periode der wissenschaftlichen Unthätigkeit ein Ende, und es beginnt eine neue Zeit, deren wir Italiener uns mit Stolz erinnern müssen, da in ihr unser Vaterland das Scepter der Mathematik inne hatte. Jedoch gravitierte diese Periode, wenn sie auch von großer Bedeutung für die analytischen Untersuchungen ist, nicht in merklicher Weise nach den geometrischen. Cardano (1501-1576), Scipio Ferro (?-1525), Tartaglia (1500-1559), Ludovico Ferrari (1522-1565) und andere weniger bedeutende, die dieser Periode angehören, haben den Ruhm, in unserem Lande die Entwickelung eines der wichtigeren Teile der Analysis, nämlich der Theorie der Gleichungen, bewirkt zu haben, sowie auch die Vervollkommnung einiger der schwierigsten Teile derselben gefördert zu haben, dank den öffentlichen wissenschaftlichen Herausforderungen, welche eine charakteristische Eigentümlichkeit dieser Zeit waren. Hingegen überlieferten {9} sie die Geometrie ihren Nachkommen fast in demselben Zustande, in welchem sie dieselbe von den Griechen und den Arabern erhalten hatten.[11] Nach dem Tode dieser tapferen Kämpen ging der Primat in der Mathematik über die Alpen und wurde von Frankreich infolge der Verdienste eines Vieta (1540-1603) und eines Fermat (1590-1663) übernommen. Durch sie bereicherte sich die Geometrie mit Lösungen, die man vorher vergebens gesucht hatte. Auch wurden einige Werke des Apollonius, deren Verlust man beklagt hatte, wieder hergestellt. Nicht viel später vermehrten Pascal (1623-1662) und Desargues (1593-1662) das Erbteil der Geometrie mit originellen Gesichtspunkten, mit neuen Methoden und neuen Sätzen[12]. Aber die von ihnen ausgesprochenen Ideen blieben {10} viele Jahre hindurch unfruchtbar, weil sie von dem analytischen Geiste, dessen überwiegender Einfluß sich schon geltend gemacht hatte, unterdrückt wurden. Gleichwohl war im 17. Jahrhundert das Vorwiegen der Analysis noch nicht ein solches, daß es die Geometer die Probleme, deren Lösung man seit langer Zeit und so lebhaft gewünscht hatte, vergessen ließ. Zwischen den Bestrebungen dieser Zeit und den Wünschen der Gelehrten erhob sich in der Folge ein Wettkampf eigener Art, und aus dem Zusammenstoße verschiedenartiger Ansichten und Bestrebungen entsprang ein Funke, der fähig war, eine Flamme zu erregen, welche die kommenden Generationen erleuchten sollte;[13] es entstand die analytische Geometrie (1637). Wenn man auch schon in einigen Methoden der griechischen Geometer, in einigen praktischen Regeln der Maler, der ägyptischen Astronomen und der römischen Agrimensoren Spuren von dem finden kann, was wir heute rechtwinkliges Cartesisches Koordinatensystem nennen; wenn auch schon die Araber und die italienischen Algebraiker aus der Renaissancezeit geometrische Betrachtungen auf die Lösung der Gleichungen angewandt hatten,[14] wenn auch schon Vieta die Abscissen gebraucht hatte, um vermittelst Zahlen die Punkte einer Geraden zu bestimmen, wenn schließlich Nicolaus Oresme (ca. 1320-1382) und Fermat mehr oder weniger bewußt sich der Koordinaten bedient haben; so scheint doch ganz unbestreitbar Descartes (1596-1650) der erste zu sein, welcher in ihrer ganzen Ausdehnung die volle Einsicht von der Möglichkeit, mit den algebraischen Rechnungszeichen die nach irgend einem Gesetze aufgebauten Formen des Raumes darzustellen, gehabt und der den ganzen Vorteil, den die Analysis und die Geometrie aus ihrer {11} unerwarteten Vereinigung ziehen können, erkannt hat. Mit Recht wird daher Cartesius' Namen immer mit der Entdeckung der analytischen Geometrie verbunden bleiben.[15] Die Leichtigkeit, mit welcher dieses neue Werkzeug Fragen zu lösen gestattete, welche die Alten für unangreifbar hielten, ließ die Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger Descartes' die von Euklides, Archimedes und Apollonius eröffneten Wege ganz vergessen, so dass wir eine Zeitlang niemanden finden, der, um zu irgend einer wichtigen Wahrheit zu gelangen, sie eingeschlagen hätte. Die kurz nach Descartes gleichzeitig von Leibniz (1646-1716) und Newton (1642-1727) neu erfundenen Rechnungsarten betonten gerade diese Richtung, da sie bewirkten, daß man sich um diejenigen Probleme nicht bekümmerte, deren Lösung nicht geeignet war, die Allmacht der Methoden, welche die Welt diesen unsterblichen Geistern verdankt, hervortreten zu lassen, derartig, daß man sagen kann, daß mit Ausnahme der _Philosophiae naturalis principia mathematica_ (1686) von Newton und einiger Seiten von Huygens (1629-1695),[16] von La Hire (1640-1718),[17] von Halley (1656-1742),[18] Maclaurin (1698-1746),[19] Simpson (1687-1768),[20] von Stewart {12} (1717-1785)[21] keine mathematische Produktion jener Zeit dem angehört, was wir heute synthetische Geometrie zu nennen pflegen.[22] Das hindert aber nicht, daß man diese Periode ohne Bedenken zu den erfreulichsten für die Geometrie rechnen muß. In der That ist der größere Teil der Probleme, welche von den Erfindern der Infinitesimalrechnung und ihren unmittelbaren Schülern aufgestellt oder gelöst worden, unter die wichtigsten der ganzen Geometrie zu rechnen, da sie die interessantesten und verstecktesten geometrischen und mechanischen Eigenschaften der Kurven und Oberflächen berühren. Wir sehen daher, daß nicht allein die Zahl der Kurven, welche einer näheren Betrachtung wert sind, sich ausserordentlich vermehrt,[23] sondern auch -- was viel wichtiger ist --, daß die Betrachtung von Singularitäten einer Kurve und anderer neuer mit dieser verbundener Elemente eingefübrt wird, und daß infolge dessen Untersuchungsgebiete sich eröffnen, deren Existenz man vorher gar nicht geahnt hatte. Die Leichtigkeit, welche die Cartesische Methode in der Auflösung einer so großen Anzahl von planimetrischen Aufgaben mit sich brachte, trieb natürlich die Geometer an, {13} eine ähnliche für das Studium der Raumkurven und der Oberflächen zu schaffen. Daher entstand eine Verallgemeinerung dieser Methode, welche Descartes schon angedeutet hatte, und die Schooten (16..-1661)[24] in weiterer Ausführung veröffentlichte. Diese Andeutungen ließen bei Parent (1666-1716) den Gedanken entstehen, eine Oberfläche durch eine Gleichung zwischen den drei Koordinaten eines ihrer Punkte darzustellen,[25] und bereiteten deshalb die analytische Geometrie dreier Koordinaten vor, welche im Jahre 1731 einen wesentlichen Teil der Mathematik zu bilden begann infolge einer klassischen Abhandlung von Clairaut (1715-1765),[26] in welcher er im Alter von nur 16 Jahren mit einer seltenen Eleganz viele von den auf die Kurven doppelter Krümmung bezüglichen Problemen löste, welche ihre entsprechenden in der Ebene finden. Bald nach Clairaut schuf Euler (1707-1783) die analytische Theorie der Krümmung der Oberflächen (1760)[27] und wandte die analytische Methode an, um eine Klassifikation der Oberflächen zweiten Grades zu erhalten, gegründet auf analoge Kriterien, wie diejenigen, welche den Alten dazu gedient hatten, die Kurven zweiter Ordnung in Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln zu unterscheiden. Endlich gehört der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts das riesige Werk von Monge (1746-1818) an. Dieser verschaffte der analytischen Geometrie zweier Koordinaten das Aussehen, welches sie heute besitzt, indem er den methodischen Gebrauch der Gleichung einer Geraden einführte. Er stellte den wichtigen Begriff von Flächenfamilien auf und, indem er einige derselben behandelte (Regelflächen, abwickelbare, Röhrenflächen, »Surfaces moulures«), entdeckte er einen versteckten innigen Zusammenhang zwischen der Theorie der Oberflächen und der Integration der partiellen Differentialgleichungen, {14} was Licht in diese, wie in jene Lehre brachte und den Geometern neue Gesichtspunkte enthüllte.[28] Die geistige Bewegung, welche mit der Renaissancezeit begonnen und Italien an ihrer Spitze hatte, pflanzte sich, wie wir schon gesehen haben, zuerst unter Frankreichs Leitung fort, dann unter der von England und Deutschland. Aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als Euler aufgehört hatte »zu rechnen und zu leben«,[29] stellte sich Frankreich wieder an die Spitze der mathematischen Welt. Nicht allein mit Clairaut, d'Alembert (1716-1783), Lagrange (1736-1813), Laplace (1749-1827), Legendre (1752-1833), Poisson (1781-1840) und anderen gab es den Anstoß zum Studium der reinen und angewandten Analysis, sondern es kehrten auch mit Monge, Carnot (1753-1823) und Poncelet (1788-1867) die Gelehrten zum Studium der geometrischen Formen zurück, in der Weise, wie es die Alten verstanden. Monge schuf, indem er zu einem wissenschaftlichen Ganzen die wenigen Regeln vereinigte, welche die Baumeister und Maler sich geschaffen hatten, um die Bedürfnisse der Kunst zu befriedigen, und glücklich die Lücken ausfüllte, die sich zwischen ihnen noch bemerkbar machten, einen neuen Zweig der Geometrie, die darstellende Geometrie. Mit seinem klassischen Buche, welches er dieser Disziplin widmete,[30] und noch viel mehr mit seinen unvergleichlichen Vorlesungen, die er an der polytechnischen Schule hielt, brachte er das Studium der Geometrie, welches sich auf die direkte Anschauung der Figur stützt, zu Ehren[31] und, indem {15} er die Vorstellung der geometrischen Figuren von drei Dimensionen erleichterte, machte er jene systematische Anwendung von stereometrischen Betrachtungen auf das Studium der ebenen Figuren möglich, welche Pappus schon erkannt hatte.[32] Der _Géométrie descriptive_ von Monge darf man die _Géométrie de position_ von Carnot[33] an die Seite stellen, weil diese, indem sie mit jener das Ziel gemeinsam hat, der Geometrie diejenige Allgemeinheit zu verschaffen, welche man ausschließlich der Analysis zugetraut hatte, nicht weniger als jene dazu beitrug, den Aufschwung der reinen Geometrie vorzubereiten, welchen man von dem Erscheinen des _Traité des propriétés projectives des figures_ (1822)[34] datieren kann. Um zu überzeugen, wie bemerkenswert dieses Datum sei, wird es genügen, zu erwähnen, daß gerade in dem {16} großen Werke von Poncelet die Macht der Zentralprojektion als einer Methode der Demonstration und des Prinzips der Kontinuität als eines Untersuchungsmittels zum ersten Male gezeigt ist;[35] daß das tiefere Studium der Homologie zweier ebener oder räumlicher Systeme in demselben zum Begriffe der Korrespondenz zwischen zwei Mannigfaltigkeiten zweier oder dreier Dimensionen führte; daß die Kenntnisse der Alten über die Polarität in Bezug auf einen Kegelschnitt und die von der Mongeschen Schule gewonnenen über die Polarität in Bezug auf eine Fläche zweiter Ordnung, die dort zum ersten Male sich vereinigt finden, das Gesetz der Dualität vorbereiteten, welches, von Snellius (1581-1626)[36] und Viète[37] in der sphärischen Geometrie erkannt, bestimmt war, in seiner ganzen Allgemeinheit vier Jahre später von Gergonne (1771-1859)[38] ausgesprochen zu werden; daß sich schließlich dort jene eleganten Untersuchungen über die Vielecke, die einem Kegelschnitt ein- und einem anderen umbeschrieben sind, finden, die Jacobi (1804-1851), Richelot (1808-1875) und anderen Gelegenheit geben sollten, davon eine der elegantesten Anwendungen der Theorie der elliptischen Funktionen zu machen, welche man kennt.[39] Die Abhandlungen, welche Poncelet der Theorie der harmonischen Mittel, der reciproken Polaren und der {17} Transversalen widmete, sowie andere weniger bedeutende von Gelehrten, welche zur Mongeschen Schule gehörten, führen uns zum Jahre 1837, in welchem Chasles' (1796-1880) _Aperçu historique sur l'origine et le développement des méthodes en géométrie_[40] veröffentlicht wurde. In diesem unübertrefflichen Werke brachte der Autor, nachdem er in bewunderungswerter Form alles, was das Erbteil der reinen Geometrie in seiner Zeit bildete, zusammengestellt hatte, die Rechte zur Geltung, die sie auf die Beachtung der Gelehrten hatte und welche von den blinden Anbetern der Analysis ihr versagt worden waren, und zeigte durch wichtige und originelle Untersuchungen, mit welchem Rechte er sich zum Beschützer der Sache der Geometrie gemacht hatte.[41] Jedoch in dem Zeitraume, welcher zwischen dem Erscheinen des Ponceletschen Werkes und desjenigen von Chasles liegt, hatte sich Deutschland aus dem Schlafe gerüttelt, in welchen die einschläfernden Arbeiten der Schule {18} der Kombinatoriker es versetzt hatten. Dieses Wiedererwachen bedeutete einen neuen Übergang des Szepters der Mathematik von Frankreich nach Deutschland.[42] In der That sehen wir durch die Arbeiten von Gelehrten wie Möbius (1790-1868),[43] Steiner (1796-1863),[44] {19} Plücker (1801-1868)[45] und von Staudt (1798-1867)[46] die analytische Geometrie sich mit Methoden bereichern, von denen wir nicht wissen, ob wir mehr ihre Eleganz oder ihre Macht bewundern sollen, so der Barycentrische Calcul und die abgekürzte Bezeichnung; wir sehen die synthetische Geometrie Hilfsmittel erwerben für das Studium, der Kurven und Oberflächen, die bis dahin für dieselbe unerreichbar {20} waren, sowie für die Gründung einer reinen Geometrie der Lage, die ganz und gar unabhängig ist von dem Begriffe des Maßes. Dank dem von Crelle (1780-1855) in dieser Zeit gegründeten Journal (1826), das bald zu verdientem Rufe gelangte, vorzüglich durch die Abhandlungen Abels (1802-1829), Jacobis und Steiners verbreiteten sich die eben angeführten Resultate schnell. Und so sehen wir hinter diesen Größen eine zahlreiche und glänzende Anzahl von Schülern, welche, indem sie Ähren lasen auf den Feldern, die von ihren Meistern bebaut waren, die Fruchtbarkeit des Samens zeigten, den jene ausgestreut hatten. Hiermit will ich den Abriß der geistigen Bewegung, welche die neuesten geometrischen Untersuchungen vorbereitet hat, geschlossen haben und ich muß mich nun im einzelnen mit denselben befassen. Um mir nun die vorgenommene Aufgabe der Darlegung derselben zu erleichtern, werde ich meine Darstellung in verschiedene Teile teilen. Zuerst will ich mich mit der Theorie der ebenen Kurven und der Oberflächen beschäftigen, dann, nach einer kurzen Abschweifung zu den Untersuchungen über die Gestalt der Kurven und Oberflächen und über die abzählende Geometrie, werde ich mich mit den Studien über die Raumkurven befassen, um davon zur Darlegung des Ursprunges und der Entwickelung der Lehre von den geometrischen Transformationen überzugehen; darauf wende ich mich zur Geometrie der Geraden, um dann mit der Nicht-euklidischen Geometrie und der Theorie der Mannigfaltigkeiten von beliebig vielen Dimensionen zu schließen.[47] {21} * * * * * II. Theorie der ebenen Kurven. ------ Die allgemeine Theorie der ebenen Kurven entstand zugleich mit der cartesischen Geometrie. Es ist leicht die Gründe für die Thatsache anzugeben, daß das Erscheinen einer so wichtigen Theorie sich bis zu diesem Zeitpunkte verzögert hatte. In der That sind ja die Definition der Ordnung einer Kurve, die daraus folgende Einteilung der Kurven in algebraische und transcendente, der exakte Begriff einer in ihrer Ordnung allgemeinen Kurve ihrer Natur nach wesentlich analytische Begriffe. Sie synthetisch zu bestimmen, ist ein sehr schweres Problem, welches heutzutage erst den wiederholten Anstrengungen der Geometer zu weichen sich anschickt; dagegen, wenn man ein Koordinatensystem anwendet, eine wie leichte Sache ist es dann, diese fundamentalen Begriffe festzustellen, sie unter einander zu verbinden und aus ihnen interessante Folgerungen zu ziehen! Die Wahrheit dieser Behauptung finden wir durch die Thatsache bestätigt, daß kurz nach Descartes wichtige Eigenschaften, die allen algebraischen Kurven gemeinsam sind, entdeckt wurden. Solche sind z. B. diejenigen, welche Newton in den drei berühmten Theoremen, die in seiner _Enumeratio linearum tertii ordinis_ (1706) enthalten sind, bekannt gemacht hat; ferner diejenigen, welche Newtons Schüler Cotes (1682-1716) und Maclaurin als eine Verallgemeinerung der von Newton entdeckten Eigenschaften gaben;[48] {22} schließlich die von Waring (1734-1798)[49] gefundenen. Überdies wurden noch von Maclaurin[50] und Braikenridge (etwa 1700, + nach 1759)[51] einige interessante organische Erzeugungsweisen von Kurven hinzugefügt, die ähnlich denjenigen waren, welche Newton für die Kegelschnitte gegeben hat.[52] Endlich wurden von De Gua (1712-1786)[53] Methoden für die Bestimmung der Singularitäten der durch Gleichungen definierten ebenen Kurven angegeben. Es ist überflüssig zu sagen, daß die ersten methodischen Bearbeitungen der Theorie der ebenen Kurven unter dem Einflüsse der analytischen Geometrie stehen; wir verdanken solche Euler[54] und Cramer (1704-1752)[55]. Diese studierten dieselben von Grund auf (kurz nacheinander, der eine 1748, der andere 1750), indem sie sich vorzugsweise mit den Singularitäten befaßten, besonders mit den Fragen, welche man heute mit Hilfe der Geometrie des unendlich Kleinen löst. In dem Werke von Cramer, das in vielen Beziehungen zu bewundern ist, finden wir auch schon die ersten Untersuchungen über die Schnitte von Kurven und unter diesen auch den Hinweis auf das, was man später »das Cramersche Paradoxon« genannt hat; das ist jener scheinbare Widerspruch zwischen der Zahl der Punkte, die zur Bestimmung einer Kurve von gegebener Ordnung nötig {23} sind, und der Zahl der Schnitte zweier Kurven derselben Ordnung,[56] ein Widerspruch, welcher viele Jahre später (1818) von Lamé (1795-1870) durch das berühmte Prinzip aufgehoben wurde, welches seinen Namen trägt und das man als den Grundstein jenes gewaltigen Bauwerkes ansehen muß, welches aus einer Fülle von Lehrsätzen von Gergonne,[57] Plücker,[58] Jacobi,[59] Cayley[60] errichtet ist, und auf dessen Gipfel die geometrische Interpretation des berühmten Abelschen Theorems[61] steht. Nach den Arbeiten Eulers, Cramers und dem _Examen des différentes méthodes employées pour résoudre les problèmes de géométrie_, in welchem Lamé mit großem Erfolge das vorhin angeführte Prinzip auseinandergesetzt und angewandt hatte, müssen wir uns zu Plücker wenden, um zu Arbeiten zu kommen, welche einen bemerkenswerten Fortschritt in der Theorie, die uns beschäftigt, bewirken. In dem im Jahre 1835 von diesem ausgezeichneten Geometer veröffentlichten _System der analytischen Geometrie_ ist von der Methode der abgekürzten Bezeichnung Gebrauch gemacht und dieselbe für die Vervollständigung der Klassifikation der kubischen ebenen Kurven benutzt worden, welche so viele bedeutende Gelehrte unternommen hatten. In der vier Jahre später gedruckten {24} _Theorie der algebraischen Kurven_[62] findet sich dann noch außer einer Aufzählung der ebenen Kurven vierter Ordnung,[63] welche Bragelogne (1688-1744)[64] und Euler[65] nur versucht hatten, die Aufstellung und Lösung einer Frage von sehr großer Wichtigkeit, derjenigen nämlich, die Beziehungen zwischen den Zahlen der gewöhnlichen Singularitäten einer ebenen Kurve zu finden. Schon Poncelet hatte (1818) den Zusammenhang zwischen der Ordnung und der Klasse einer allgemeinen Kurve ihrer Ordnung gefunden und später den Einfluß eines Doppelpunktes bestimmt; indem er nun auf diese Resultate das Prinzip der Dualität anwandte, stieß er auf jenen anderen scheinbaren Widerspruch, welchen wir heute das Ponceletsche Paradoxon nennen, ohne daß es ihm gelang, dafür eine vollständige Erklärung zu finden. Das geschah durch Plücker vermittelst der berühmten nach ihm benannten Formeln, welche gestatten, drei Charakteristiken einer Kurve zu finden (Ordnung, Klasse, Zahl der Doppelpunkte, der Doppeltangenten, Zahl der Wendetangenten und der Rückkehrpunkte), wenn man die übrigen kennt. Auf die Frage, welche in einem gewissen Sinne reciprok zu der durch die Plückerschen Formeln gelösten ist, ob jeder Lösung derselben eine wirkliche Kurve entspreche, mußte man negativ antworten, da neuere Untersuchungen {25} dargethan haben, daß für gewisse Kurven (die rationalen Kurven) die Zahl der Rückkehrpunkte eine gewisse Grenze nicht übersteigen kann.[66] Auf der anderen Frage, die Plückerschen Formeln auf eine Kurve auszudehnen, welche mit Singularitäten höherer Ordnung ausgestattet ist, beruhen die Untersuchungen von Cayley und anderen,[67] welche zu dem Schlüsse geführt haben, daß jede Singularität einer Kurve als äquivalent einer gewissen Anzahl von Doppelpunkten, Spitzen, Wendetangenten und Doppeltangenten betrachtet werden kann. Ich füge noch hinzu, daß man durch Jacobi,[68] Hesse (1811-1874),[69] Salmon,[70] Cayley[71] und deren zahlreiche Kommentatoren[72] heute im Besitze eleganter Methoden ist, um analytisch die Wendepunkte einer durch eine Gleichung gegebenen Kurve, sowie die Berührungspunkte ihrer Doppeltangenten anzugeben. Dank dem einen der überaus wertvollen Lehrbücher,[73] mit welchen Salmon so gewaltig zur Verbreitung der neuesten algebraischen und geometrischen Methoden beigetragen hat, ist es heutzutage leicht, sich über diese und viele andere Fragen, welche sich auf die analytische Theorie der ebenen Kurven beziehen, eine genaue Kenntnis zu verschaffen. {26} Man braucht aber nicht zu glauben, daß bei diesem Studium der fortwährende Gebrauch der Analysis unumgänglich sei; vielmehr erhob sich bald neben der Darlegung der Theorie der ebenen Kurven durch Euler, Cramer, Plücker, Salmon eine ebenso vollständige, aber mehr geometrische Theorie. In einer berühmten Mitteilung, die im Jahre 1848 der Berliner Akademie gemacht wurde, zeigte Steiner, indem er die Theorie der Polaren eines Punktes in Bezug auf eine Kurve wieder aufnahm, welche Bobillier (1797-1832) schon vordem[74] als eine Erweiterung der Diametralkurven Newtons und Cramers aufgestellt, und mit welcher auch Graßmann (1809-1877) sich beschäftigt hatte,[75] daß dieselbe als Grundlage für ein vom Gebrauche der Koordinaten unabhängiges Studium der ebenen Kurven dienen kann, und führte jene bemerkenswerten zu einer gegebenen Kurve covarianten Kurven ein, die heute seinen, Hesses und Cayleys Namen tragen. Diese kurzen Andeutungen, verbunden mit den Untersuchungen von Steiner selbst, von Chasles[76] und Jonquières[77] über die Entstehung der algebraischen Kurven vermittelst projektiver Büschel von Kurven niederer Ordnung, dienten als Grundlage für die _Introduzione ad una teoria geometrica delle curve piane_,[78] in {27} welcher Cremona in einer einheitlichen Methode zugleich mit vielen neuen Resultaten alles auseinandersetzt, was wichtigeres von den analytischen Geometern, die ihm vorhergingen, erhalten worden war. Bei dem außerordentlichen Interesse der Sache scheint es mir auch, daß man in die Reihe der schon zitierten Arbeiten auch die Serie von Abhandlungen zu stellen hat, in welchen Clebsch (1833-1872) zuerst die Algebra der linearen Transformationen auf die Geometrie angewandt hat, dann, nachdem er die Wichtigkeit des Begriffes des Geschlechtes einer Kurve ins Licht gestellt, die Anwendung der Theorie der elliptischen[79] und Abelschen Funktionen auf die Wissenschaft von der Ausdehnung darlegte und sie für das Studium der rationalen und elliptischen Kurven benützte.[80] Es ist wahr, daß Brill und Nöther in einer Abhandlung,[81] deren Bedeutung von Tag zu Tag wächst, gezeigt haben, daß die Theorie der algebraischen Funktionen in vielen Fällen die der eben angeführten Transcendenten ersetzen kann, aber das vermindert nicht, sondern vergrößert vielmehr das Verdienst, welches man den Methoden von Clebsch zuerkennen muß, da die von hervorragenden Geistern gemachten Anstrengungen, den Gebrauch eines {28} Hilfsmittels vermeiden zu können, der überzeugendste Beweis der Macht desselben sind. Die bis jetzt besprochenen Arbeiten behandeln allgemeine Eigenschaften der ebenen algebraischen Kurven.[82] Aber an sie reiht sich eine große Menge von schönen Spezialabhandlungen, welche eine bestimmte Kategorie von Kurven behandeln; auf diese wollen wir einen kurzen Blick werfen. Unter ihnen sind vor allen zu bemerken die von Maclaurin,[83] von Sylvester,[84] Cayley,[85] Salmon,[86] Durège,[87] Cremona,[88] von Sturm,[89] von Küpper,[90] Graßmann,[91] Milinowski[92] und von anderen über die Kurven dritter Ordnung,[93] die Kapitel des _Barycentrischen Calculs_, dann verschiedene Arbeiten von Em. Weyr,[94] von Clebsch und {29} vielen anderen[95] über die rationalen Kurven; die wichtigen Untersuchungen Steiners und Chasles' über die Kurven, die mit einem Centrum versehen sind,[96] und die von Steiner über die dreispitzige Hypocykloide;[97] ferner die Arbeiten, welche dem Beweise oder der Verallgemeinerung der dort ausgesprochenen Eigenschaften gewidmet sind,[98] die interessanten Untersuchungen von Bertini[99] über rationale Kurven, für welche man willkürlich die vielfachen Punkte bestimmen kann, die wichtigen Studien von Brill über die Kurven vom Geschlechte zwei,[100] dann die eleganten Abhandlungen von Klein und Lie[101] über die Kurven, welche eine infinitesimale Transformation in sich selbst zulassen, endlich die von Fouret über die Kurven, welche die eigenen reciproken Polaren in bezug auf unendlich viele Kegelschnitte sind,[102] und die von Smith (1826-1883) über die Singularitäten der Modularkurven.[103] {30} Neben diesen verdient dann noch eine hervorragende Stelle die Abhandlung von Steiner über die einer ebenen kubischen Kurve[104] oder einer Kurve vierter Ordnung mit zwei Doppelpunkten eingeschriebenen Vielecke, auf welche die jüngsten Arbeiten von Küpper[105] und Schoute[106] von neuem die Aufmerksamkeit der Gelehrten gelenkt haben. Die Knappheit des Raumes nötigt mich, flüchtig hinwegzugehen über die Untersuchungen von Cayley _On polyzomal Curves otherwise the Curves_ [Wurzel]u + [Wurzel]v + ... = 0;[107] von Graßmann, Clebsch,[108] Schröter[109] und Durège,[110] betreffend die Erzeugung ebener Kurven dritter Ordnung, über die von Lüroth,[111] von Casey,[112] Darboux,[113] Siebeck,[114] von Crone,[115] Zeuthen[116] und noch anderen über einige spezielle ebene Kurven vierter Ordnung, über die von Battaglini, die sich auf die syzygetischen Kurven dritter Ordnung beziehen,[117] und andere, welche auch eine besondere Erwähnung verdienen würden. {31} Was ich aber nicht mit Stillschweigen übergehen kann, das sind die Arbeiten von Hesse über die Wendepunkte einer Kurve dritter Ordnung und über die Gleichung, welche zu deren Bestimmung dient;[118] dann die von demselben Hesse,[119] Steiner,[120] Aronhold[121] (1819-1884) über die Doppeltangenten einer Kurve vierter Ordnung, welche eine hervorragende Stelle verdienen, da sie viele bemerkenswerte Eigenschaften derselben ins Licht gestellt haben; dieselben wurden darauf von Geiser[122] durch stereometrische Betrachtungen dargethan, von Clebsch[123] dagegen und Roch[124] vermittelst der Theorie der Abelschen Funktionen untersucht. * * * * * III. Theorie der Oberflächen. ------ Das Streben nach Verallgemeinerung, welches die geometrischen Untersuchungen leitete, seitdem sich der Einfluß der Analysis auf dieselbe mehr oder weniger offen geltend gemacht, trieb alsbald die Gelehrten dazu, sich mit den Erscheinungen des Raumes zu beschäftigen, welche Analogien mit den schon in der Ebene betrachteten darbieten. Daher sehen wir denn auch die Forschungen über die Oberflächen {32} bald denen über die ebenen Kurven folgen. Die Theorie dieser Gebilde ist jedoch neueren Ursprungs. Den griechischen Geometern waren in der That nur einige wenige besondere Oberflächen bekannt (die Kugel, die Cylinder und Kegel, Konoide und Sphäroide, die plektoidischen Oberflächen und wenige andere). Erst Wren (1669), Parent und Euler begannen sich mit den Oberflächen zweiten Grades zu beschäftigen, und wir müssen zur Schule von Monge gehen, um die Eigenschaften von grösserer Wichtigkeit dieser höchst bemerkenswerten Oberflächen anzutreffen.[125] Zu diesen ersten Eigenschaften wurden in unserem Jahrhundert durch das zahlreiche Heer von Geometern, welche die Flächen zweiter Ordnung einer besonderen Betrachtung unterwarfen, viele andere hinzugefügt, und dank den Arbeiten so ausgezeichneter Gelehrter, wie Jacobi,[126] {33} MacCullagh (1809-1847),[127] Chasles,[128] Hesse,[129] Seydewitz (1807-1852),[130] Schröter[131] konnte die Theorie der Oberflächen zweiter Ordnung in den mehr elementaren {34} Unterricht eingeführt werden und methodisch auf analytischem sowohl wie synthetischem Wege behandelt werden.[132] Aber nach der Lehre von den Oberflächen zweiten Grades entstand und entwickelte sich alsbald die der Oberflächen höherer Ordnung. Chasles[133] und Gergonne,[134] als die ersten, entdeckten an diesen Gebilden wunderbare Eigenschaften. Poncelet bestimmte die Klasse einer in ihrer Ordnung allgemeinen algebraischen Oberfläche[135] und eröffnete so die Untersuchungen, welche zu den Beziehungen führen sollten, mit welchen Salmon[136] und Cayley[137] die Lösung der analogen Aufgabe zu derjenigen versuchten, welche Plücker durch seine berühmten Formeln gelöst hatte. Jacobi[138] und später Reye[139] beschäftigten sich mit den Kurven und Gruppen von Punkten, die durch den Schnitt von algebraischen Oberflächen entstehen. Chasles,[140] Cremona,[141] Reye,[139] Escherich,[142] Schur,[143] mit ihrer {35} Entstehung vermittelst projektiver oder reciproker Systeme von Oberflächen niederer Ordnung, Graßmann (1809-1877)[144] mit anderen Erzeugungsweisen; Salmon,[145] Clebsch,[146] Sturm,[147] Schubert[148] und andere behandelten eine wichtige Klasse von Aufgaben, welche sich auf Gerade beziehen, die mit einer gegebenen Oberfläche Berührungen von vorher bestimmter Ordnung haben; schließlich entdeckte Schur vor kurzem eine lineare Konstruktion[149] für Flächen beliebiger Ordnung. Eine interessante Erweiterung der Polarentheorie der Oberflächen beliebiger Ordnung verdanken wir Reye.[150] Trotz dieser und anderer Arbeiten, die ich der Kürze halber stillschweigend übergehen muss, trotz der schönen Darlegungen, welche Salmon[151] und Cremona[152] über sie gemacht haben, kann man doch nicht sagen, daß die Theorie der Oberflächen weit vorgeschritten sei. Die Fragen, die noch zu lösen bleiben, sind zahlreich und von fundamentaler Wichtigkeit, und die Mittel, die zur Überwindung der Schwierigkeiten, welche deren Lösung bietet, zur Verfügung stehen, sind noch nicht genügend vervollkommnet. Vielleicht ist das der Grund dafür, daß so viele Gelehrte sich zum Studium besonderer Flächen wandten, indem sie hofften, nicht nur auf diesem Felde eine reichlichere Ernte von Wahrheiten zu machen, sondern auch zu Untersuchungsmethoden zu gelangen, die der Verallgemeinerung fähig sind. -- Und {36} daß ihre Erwartungen teilweise nicht getäuscht worden sind, das beweisen die zahlreichen Resultate, die man schon über die Oberflächen dritten Grades, sowie über einige von der vierten Ordnung erhalten hat, über welche es mir noch obliegt, Bericht zu erstatten. Es ist allgemein bekannt, daß die beiden hervorragendsten Eigenschaften einer Fläche dritter Ordnung die sind, 27 Gerade zu enthalten, und ein Pentaeder zu besitzen, welches zu Ecken die Doppelpunkte und zu Kanten die Geraden der Hesseschen Fläche jener Oberfläche hat. England und Deutschland können sich um die Ehre, sie entdeckt zu haben, streiten. Wenn auch schon im Jahre 1849 Cayley und Salmon[153] die Geraden einer kubischen Fläche bestimmt haben, und im Jahre 1851 Sylvester[154] das Pentaeder entdeckte, so ist doch nicht minder wahr, daß Steiner unabhängig von ihnen die Existenz jener und dieses in seiner berühmten Mitteilung, welche er der Berliner Akademie im Jahre 1853 machte, behauptet hat.[155] Aber während die Studien der englischen Geometer fast gänzlich der Fortsetzung entbehren,[156] steht die Arbeit von Steiner an der Spitze einer langen Reihe von Schriften, durch welche die Theorie der Oberflächen dritter Ordnung schnell einen ungehofften Grad der Vollendung erhielt. Indem ich die Abhandlungen von Schröter,[157] August[158] u. s. w., in welchen einige der von Steiner ausgesprochenen Sätze bewiesen werden, nur kurz erwähne, will ich mich darauf beschränken, die Aufmerksamkeit der Leser auf die mit Recht berühmten Schriften zu lenken, die von {37} Cremona[159] und von Sturm[160] über diese Oberflächen verfaßt und im Jahre 1866 von der Berliner Akademie mit dem Steiner-Preise gekrönt sind, Arbeiten, auf welche jeder zurückkommen muß, welcher sich mit diesen wichtigen geometrischen Gebilden vertraut machen will. Ich kann mich nicht aufhalten bei den verschiedenen Erzeugungsweisen einer Fläche dritter Ordnung, die Graßmann,[161] August,[162] Affolter[163] und Piquet[164] den von Steiner angegebenen hinzugefügt haben, bei der Konstruktion dieser Flächen, welche Le Paige[165] gegeben hat, bei den vielen Sätzen, die sich auf die Verteilung der Geraden, der dreifach berührenden Ebenen und die Kurven einer kubischen Fläche beziehen und welche vor kurzem von Cremona,[166] Affolter,[167] von Sturm[168] und Bertini[169] entdeckt wurden, endlich bei den von Cremona,[170] Caporali,[171] Reye[172] und Beltrami[173] studierten Eigenschaften gewisser Hexaeder, welche mit einer Fläche dritter Ordnung verknüpft sind, sowie bei den von Zeuthen[174] betrachteten zwölf {38} vollständigen, in sie einbeschriebenen Pentaedern. Ich will noch anführen, daß eine Einteilung dieser Oberflächen, die auf die Betrachtung der 27 auf ihr gelegenen Geraden sich stützt, von Schläfli gemacht ist[175] und eine neuere von Rodenberg,[176] die sich auf das Pentaeder gründet, daß ferner ein genaues und eingehendes Studium der Regelflächen dritten Grades (von denen eine von Cayley entdeckt wurde) den Gegenstand wertvoller Arbeiten Cremonas,[177] Em. Weyrs[178] und Benno Kleins[179] bildet, daß schließlich die sogenannte Diagonalfläche einen wichtigen Teil in einer Untersuchung von Clebsch über die Gleichungen fünftes Grades bildet[180] und daß andere besondere Fälle von Cayley[181] und Eckardt[182] in einigen wertvollen Abhandlungen betrachtet wurden. Wenn ich dann noch gesagt habe, daß die Untersuchungen von Salmon,[183] Clebsch,[184] Gordan[185] und de Paolis[186] die {39} geometrische Bedeutung für das Verschwinden der fundamentalen invarianten Formen der quaternären kubischen Form festgestellt haben, welche gleich Null gesetzt in homogenen Koordinaten eine Fläche dritter Ordnung darstellt, daß schließlich Jordan[187] von Grund auf die Natur der Gleichung studiert hat, welche zur Bestimmung der Geraden einer kubischen Fläche dient, dann glaube ich dem Leser genug Momente an die Hand gegeben zu haben, um daraus den (von mir eben angedeuteten) Schluß zu ziehen, daß die Theorie dieser geometrischen Gebilde, von welchem Punkte man sie auch betrachten mag, heute einen beachtenswerten Grad der Vollendung erreicht hat. Solches kann man jedoch nicht von der Theorie der Oberflächen vierten Grades behaupten, vielmehr sind von ihnen nur wenige Klassen genauer studiert; über jede derselben werde ich kurz sprechen. An die erste Stelle will ich die Developpabele vierter Klasse setzen, die zweien Flächen zweiten Grades umbeschrieben ist, und die geradlinigen Flächen vierten Grades; jene wurde von Poncelet[188] und Chasles[189] untersucht, diese von demselben Chasles,[190] von Cayley[191] und vollständiger von Cremona.[192] Dann lasse ich die Oberflächen vierter Ordnung folgen, auf welchen Scharen von Kegelschnitten existieren und welche alle mit außerordentlichem Scharfsinne von Kummer[193] bestimmt wurden. Unter diesen sind zwei besonderer Erwähnung wert, da sie das Objekt zahlreicher Untersuchungen gewesen sind: die Oberfläche vierter Ordnung mit einem Doppelkegelschnitt und die römische Fläche von Steiner. Von der ersteren entdeckte Kummer im Jahre 1864 die bemerkenswerte Eigenschaft, daß die ihr doppelt {40} umgeschriebene Developpabele aus fünf Kegeln zweiter Ordnung besteht. Gleichzeitig fand Moutard[194] dieselbe Eigenschaft für den Fall, daß die Doppelkurve der Oberfläche der unendlich entfernte imaginäre Kugelkreis ist,[195] und er bemerkte weiter gleichzeitig mit Darboux,[196] daß in diesem Falle die Oberfläche zu einem dreifachen Systeme von orthogonalen Oberflächen, gebildet von Flächen derselben Art, gehören kann. Von jener Zeit ab wurden die Oberflächen vierter Ordnung, welche als Doppelkurve den unendlich entfernten imaginären Kugelkreis haben, wiederholt von Darboux,[197] von Laguerre (1834-1886)[198] und von Casey[199] studiert; hingegen diejenigen, welche als Doppelkurve einen beliebigen Kegelschnitt besitzen, von Cremona,[200] Geiser,[201] Sturm,[202] Zeuthen,[203] von Clebsch,[204] Korndörfer,[205] Berzolari[206] und Domsch[207] -- welcher auf sie die hyperelliptischen Funktionen anwandte -- und diejenigen, welche einen Kuspidalkegelschnitt haben, von Tötössy.[208] Was die Klassifikation dieser Oberflächen betrifft, so möge {41} es mir gestattet sein, meinen Namen anzuführen[209] neben dem meines teuern Freundes Segre.[210] Die römische Fläche von Steiner hat wiederholt die Aufmerksamkeit der Geometer auf sich gezogen und zwar vorzüglich zweier Eigenschaften wegen; die eine derselben, nämlich von jeder Tangentialebene in zwei Kegelschnitten getroffen zu werden, wurde besonders von den Synthetikern betrachtet, die andere, dass die homogenen Koordinaten ihrer Punkte sich als ganz allgemeine ternäre quadratische Formen darstellen lassen,[211] wurde mehr von den analytischen Geometern verwertet. Wer Lust hat, alle Eigenschaften, die sie besitzt, kennen zu lernen,[212] wird dieselben in den synthetischen Abhandlungen von Cremona,[213] Schröter[214] und Sturm,[215] auf den Seiten, welche Reye ihr in seiner {42} _Geometrie der Lage_ (2. Bd.) gewidmet hat, und in den analytischen Abhandlungen von Cayley,[216] Beltrami,[217] Clebsch,[218] Eckardt,[219] Laguerre[220] und Gerbaldi[221] finden. Kummer verdanken wir auch die Kenntnis einer anderen wichtigen Klasse von Flächen vierter Ordnung; dieselbe besteht aus Oberflächen, die nicht singuläre Linien enthalten, sondern nur singuläre Punkte.[222] Wir werden in kurzem (§ VII) sehen, welche Untersuchungen Kummer zu diesen Oberflächen geführt haben; für jetzt genüge es, hervorzuheben, dass die interessanteste unter ihnen (welche man heute die Kummersche Oberfläche nennt) 16 singuläre Doppelpunkte und 16 singuläre Tangentialebenen hat und daß Specialfälle derselben die Wellenfläche von Fresnel[223] und das von Cayley 1846 untersuchte Tetraedroid[224] sind. Eine solche Oberfläche ist zu sich selbst dual.[225] Ihre {43} asymptotischen Kurven wurden von Klein und Lie bestimmt[226] und Reye[227] zeigte, daß jede die Grundkurve eine Büschels von Oberflächen vierter Ordnung ist; zwischen ihnen und den Thetafunktionen existiert eine innige Beziehung, welche Cayley und Borchardt (1817-1880)[228] entdeckt haben und die H. Weber[229] zusammen mit anderen entwickelt hat;[230] die algebraischen Fragen, welche sich an die Bestimmung ihrer Singularitäten knüpfen, wurden von Jordan[231] gelöst; endlich kann man dieselbe, wie Rohn[232] es gethan hat, vermittelst der Theorie der hyperelliptischen Funktionen[233] behandeln. Indem ich die Oberflächen vierter Ordnung, welche als Doppelkurve einen in zwei getrennte oder zusammenfallende Gerade degenerierten Kegelschnitt haben und andere, mit denen Cayley[234] sich beschäftigt hat, übergehe, will ich noch die Monoide erwähnen,[235] die von Rohn studiert sind,[236] und {44} diejenigen Flächen, welche, ohne geradlinig zu sein, eine gewisse Anzahl von Geraden enthalten. Dieselben sind der Ort der Punkte, in welchen vier entsprechende Ebenen von vier kollinearen Räumen sich schneiden; Chasles hat ihre Ordnung bestimmt und Schur eine Menge eleganter Eigenschaften derselben gefunden.[237] Ich will diesen Abschnitt meiner Musterung beschließen, indem ich noch einige Oberflächen von höherer als der vierten Ordnung anführe, welche die Gelehrten schon beschäftigten. Zuerst verdienen die geradlinigen Oberflächen erwähnt zu werden, welche im allgemeinen von Chasles,[238] Salmon,[239] Cayley,[240] von Plücker,[241] La Gournerie (1814-1883),[242] Voss[243] und im besonderen von Chasles,[244] Cremona,[244] Schwarz,[245] La Gournerie[246] (Regelflächen, die in bezug auf ein Tetraeder symmetrisch sind), von {45} Clebsch,[247] Armenante[248] (rationale und elliptische Regelflächen), von Em. Weyr[249] (Regelflächen, erzeugt durch die Verbindungslinien entsprechender Punkte zweier gerader Punktreihen in der Korrespondenz [m, n]), von Ed. Weyr[250] (Oberflächen, erzeugt durch die Bewegung eines variabelen Kegelschnittes), von Eckardt[251] und Chizzoni[252] (Regelflächen, erzeugt durch die Verbindungslinien entsprechender Punkte zweier ebener projektiv bezogener Kurven). Dann folgen solche, die, wenn sie auch nicht Regelflächen sind, doch Gerade enthalten und die von Sturm[253] und Affolter[254] untersucht sind, ferner die algebraischen Minimalflächen, bei welchen Geiser[255] und Lie[256] bemerkenswerte Eigentümlichkeiten fanden. Dann will ich noch einige Flächen nennen, die aus einer Oberfläche zweiten Grades abgeleitet sind (Ort der Krümmungscentren; Fusspunktflächen, Aspidalflächen etc.), sowie die Örter der Spitzen der Kegel zweiten Grades, die m Gerade berühren und durch (6-m) Punkte gehen, welche Flächen eingehend von Chasles,[257] Lüroth,[258] Hierholzer[259] und von Cayley[260] studiert wurden, da sie zur Auflösung gewisser Probleme aus der Theorie der Charakteristiken der einfach unendlichen Systeme von Kegeln zweiter Ordnung dienten; schließlich diejenigen, welche unendlich viele lineare {46} Transformationen zulassen, die kontinuierlich aufeinander folgen;[261] diejenigen, welche die eigenen reziproken Polaren in bezug auf unendlich viele Flächen zweiten Grades sind,[262] diejenigen, welche durch reciproke Cremonasche Systeme erzeugt werden,[263] und diejenigen, welche dieselben Symmetrie-Ebenen wie ein reguläres Polyeder besitzen.[264] Die Untersuchungen über die Oberflächen, mit denen wir uns bis jetzt beschäftigt haben, behandeln Eigenschaften, welche vermittelst einer wohl bekannten Betrachtungsweise auf das Gebiet der projektiven Geometrie zurückgeführt sind oder sich darauf zurückführen lassen. Es giebt aber noch viele andere Untersuchungen, welche Eigenschaften von ganz anderer Art behandeln, die größtenteils auf keine Weise sich als projektiv betrachten lassen, da die Gruppe der Transformationen, die zu ihnen gehört, nicht die der projektiven Geometrie ist.[265] Diese bilden zusammen mit den Studien, die sich auf die Infinitesimaleigenschaften der Raumkurven beziehen (über welche wir einiges im folgenden Paragraphen sagen werden), einen sehr wichtigen Zweig der Geometrie für sich sowohl, als auch wegen der Anwendungen, welche man von ihnen in der Geodäsie und der mathematischen Physik machen kann; man kennt ihn unter dem Namen der Differentialgeometrie. Über die wesentlichen Punkte derselben wollen wir nun einiges sagen. Und da man den Ursprung dieses Teiles der Geometrie von dem Erscheinen der _Application de l'Analyse à la Géométrie_[266] {47} von Monge datieren kann, und das spätere Werk, welches von grösserem Einflüsse war, das von Gauß (1777-1855) ist, welches den Titel trägt: _Disquisitiones generales circa superficies curvas_,[267] so nehmen wir in unserer kurzen Darlegung die von Monge und Gauß angenommene Einteilung des Stoffes als Anhalt, indem wir zuerst besprechen, was diese selbst in Hinsicht auf die von ihnen behandelten Gegenstände geleistet haben, und dann vorführen, was ihre Nachfolger hinzugefügt haben. Der erste Paragraph des Mongeschen Werkes bietet kein besonderes Interesse, da er nur die Bestimmung der Berührungsebenen und Normalen einer Oberfläche zum Zwecke hat; er kann also als Einleitung betrachtet werden. Die vier folgenden Paragraphen behandeln cylindrische Oberflächen, Kegel- und Rotationsflächen und solche, welche (um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen) in einer linearen Kongruenz mit einer unendlich fernen Leitgeraden enthalten sind. Höchst bemerkenswert ist der folgende Paragraph, indem Monge dort bei der Besprechung der Enveloppen den wichtigen Begriff der Charakteristik und der Rückkehrkurve (_arête de rebroussement_) einer Enveloppe eingeführt hat; an diesen Paragraphen schließen sich die drei folgenden enge an; sie behandeln Röhrenflächen mit ebener Leitlinie (§ 7), Flächen, die als Linien größter Neigung gegen eine gegebene Ebene Gerade von konstanter Neigung haben (§ 8), und schließlich Enveloppen einer Oberfläche, die sich unter der Bedingung bewegt, daß ein mit ihr unveränderlich verbundener Punkt eine gegebene Kurve durchläuft (§ 9).[268] -- Von da ab beginnt die Theorie der partiellen {48} Differentialgleichungen die wichtige Rolle zu spielen, die Monge ihr in der analytischen Geometrie zugewiesen hat; von diesem Punkte an zeigt es sich, daß es in vielen Fällen für die Bestimmung der Natur einer Oberfläche nützlicher und bequemer ist, eine Differentialgleichung für sie zu haben, als eine solche in endlichen Ausdrücken. Beispiele hierfür bieten die Flächen, die in einem speziellen linearen Komplexe enthalten sind mit einer unendlich fernen oder endlichen Axe (von Monge im § 10 und § 11 behandelt), fernere Beispiele die abwickelbaren Flächen (§ 12), andere die im § 9 beschriebenen, andere schließlich die Örter beweglicher Kurven, von welchen ein Punkt eine feste Kurve durchläuft (§ 14).[269] -- Die Theorie der Krümmung einer Oberfläche in einem Punkte,[270] sowie das Studium der Verteilung der Normalen derselben Fläche[271] führen zu einer neuen Art von Flächen, die der Betrachtung wert sind; jene und diese finden sich im § 15, der sicherlich einer der wichtigsten des Mongeschen Werkes ist. Der Spezialfall des Ellipsoides ist im § 16 behandelt, derselbe enthält die Bestimmung der Krümmungslinien dieser Fläche.[272] -- Groß an Zahl und von großer Wichtigkeit sind die Fragen, zu denen die Theorie der Krümmung Anlaß giebt. Man kann z. B. die Oberflächen untersuchen, bei denen der eine Krümmungsradius für jeden Punkt denselben Wert hat; Monge fand (§ 18), daß dieselben von einer Fläche von konstanter Form eingehüllt werden, die sich in der {49} vorhin (in den §§ 9 und 13) angegebenen Weise bewegt. Man kann dagegen auch voraussetzen, daß in jedem Punkte die beiden Krümmungsradien gleich und von gleichem Sinne seien: die Oberfläche ist dann eine Kugel. Wenn dagegen die beiden Krümmungsradien in jedem Punkte gleich, aber von entgegengesetztem Sinne sind, so ist die Fläche eine Minimalfläche.[273] Oder es sei in jedem Punkte einer der Krümmungsradien gleich groß (§ 21).[274] An die Theorie der Krümmung schließen sich dann die Studien über die Röhrenflächen mit beliebiger Leitkurve (§§ 22 und 26) und über diejenigen Flächen, bei welchen alle Normalen eine gegebene Kugel (§ 23), einen gegebenen Kegel (§ 24) oder eine gegebene Developpabele (§ 25) berühren. -- Für einige dieser Flächenfamilien hat Monge die Konstruktion angegeben, für alle die Gleichungen, sei es die Differentialgleichungen oder die endlichen, und, da er sich das Problem gestellt und gelöst hat, von jenen zu diesen zu gelangen, so verdient denn sein grosses Werk, daß es auch von denen, welche sich mit der Analysis des Unendlichen beschäftigen, eingehend studiert werde. Kurz nach dem Erscheinen des Werkes von Monge wurde die Differentialgeometrie durch eine höchst wichtige Arbeit bereichert, die _Developpements de Géométrie_ von Ch. Dupin (1813). In derselben wird unter anderem der Begriff der konjugierten Tangenten eines Punktes einer Oberfläche und der der Indikatrix eingeführt; dort sind die asymptotischen Linien (Haupttangentenkurven)[275] untersucht, und {50} der berühmte Satz bewiesen, der unter dem Namen des Dupinschen Theorems allgemein bekannt ist. Als Fortsetzung des Mongeschen Werkes kann man die zahlreichen Untersuchungen über Flächen mit ebenen oder sphärischen Krümmungslinien ansehen, die man Dupin,[276] Alfred Serret (1819-1885),[277] O. Bonnet,[278] Dini,[279] Enneper (1830-1885),[280] Darboux,[281] Picart,[282] Lecornu,[283] Dobriner,[284] Voretsch[285] und anderen verdankt. Von derselben Art, aber von größerer Allgemeinheit sind die wichtigen Untersuchungen von Weingarten über solche Oberflächen, bei denen in jedem Punkte der eine Krümmungsradius eine Funktion des anderen ist,[286] welche Untersuchungen Dini (a. O.), Beltrami[287] und Lie[288] zur Bestimmung der windschiefen Oberflächen mit derselben Eigenschaft geführt haben. Dasselbe kann man von den Untersuchungen sagen, welche man ebenfalls Weingarten verdankt[289] und die sich auf Oberflächen beziehen, deren Normalen eine andere vorgelegte Oberfläche berühren. -- Dem § 20 des Mongeschen Werkes können wir die {51} zahlreichen Abhandlungen anschließen, welche die Minimalflächen behandeln. Wir führen zunächst die von Steiner[290] und Weierstraß[291] an, die sich mit der allgemeinen Theorie befassen, dann die von Scherk[292] und Bonnet,[293] welche einige Spezialfälle derselben bearbeitet haben; Serret[294] beschäftigte sich dann mit solchen, die durch zwei Gerade hindurch gehen, Riemann[295] und Weierstraß[296] mit solchen, die einen gegebenen Umriß haben, Geiser[297] mit algebraischen, Noevius[298] mit solchen periodischen, welche unendlich viele Geraden und unendlich viele ebene geodätische Linien besitzen; Catalan[299] mit solchen, die als geodätische Linie eine Parabel haben, Henneberg[300] mit denen, welche eine semikubische Parabel als geodätische Linie haben; Bonnet[301] untersuchte solche, auf welchen sich eine Schar von ebenen Krümmungslinien befindet; Bour[302] diejenigen, welche auf eine Rotationsfläche sich abwickeln lassen; Schwarz solche, die durch ein windschiefes Vierseit bestimmt sind[303] oder die von Kegeln eingehüllt sind,[304] und solche, die ohne algebraisch zu sein, doch algebraische Kurven enthalten;[305] {52} Enneper[306] untersuchte diejenigen, welche unendlich viele Kreise enthalten, u. s. w. Andere Fragen wurden von Mathet[307] behandelt, von Beltrami,[308] von Lie,[309] Kiepert,[310] Henneberg,[311] Ribaucour,[312] Bianchi[313] und Pincherle.[314] Schließlich ist die Theorie der Minimalflächen einer bemerkenswerten Erweiterung fähig, die von Lipschitz[315] entdeckt wurde. Wir gehen jetzt dazu über, kurz auseinander zu setzen, welches die hervorragenderen Stellen des zweiten Werkes sind, dem wir, wie schon gesagt, die wichtigsten Lehren der Differentialgeometrie verdanken, der _Disquisitiones generales circa superficies curvas_ von Gauß. Schon zu Ende des ersten Paragraphen derselben finden wir einen höchst wichtigen Begriff, nämlich den der sphärischen Abbildung einer Oberfläche, dessen Fruchtbarkeit vielfache Anwendungen, die von ihm gemacht sind, dargethan haben. Kurz darauf (§ IV) treffen wir die zwei unabhängigen Veränderlichen, vermittelst derer man die Koordinaten der Punkte einer Oberfläche ausdrückt, d. h. die krummlinigen Koordinaten auf einer Oberfläche. (Vgl. auch die §§ XVII und XIX). Dann enthält § VI die Erweiterung der Betrachtung, die man gewöhnlich zur Grundlage der Theorie der Krümmung der ebenen und unebenen Kurven nimmt, auf den Raum, aus welcher Erweiterung der Begriff des Krümmungsmaßes einer Oberfläche in einem {53} gewöhnlichen Punkte hervorgegangen ist.[316] Bekanntlich ist dasselbe gleich dem Produkte aus den beiden Hauptkrümmungsradien der Fläche in jenem Punkte[317] (§ VIII). Das Krümmungsmaß einer Oberfläche kann man sowohl durch die gewöhnlichen kartesischen Koordinaten (§§ VII und IX) als auch durch die krummlinigen Koordinaten der Oberfläche ausdrücken (§§ X und XI).[318] Bei der Untersuchung dieses letzteren Ausdruckes bieten sich die Coefficienten E, F, G des Ausdruckes des Kurvenelementes dar, deren Bedeutung in der Theorie der Oberflächen, die auf eine andere abwickelbar sind[319] (§ XII), Gauß zuerst hervorgehoben hat. Dabei stellte er eine neue Betrachtungsweise der Oberflächen auf (§ XIII), indem er dieselben als unendlich dünne, biegsame und unausdehnbare Körper ansah. Die folgenden Paragraphen der Abhandlung von Gauß behandeln die geodätischen Linien und haben die Bestimmung ihrer Differentialgleichungen zum Zwecke (§ XIV und XVIII), dann die Übertragung der Polarkoordinaten, des Kreises (§ XV), der Parallelkurven (§§ XVI), auf die Geometrie auf einer Oberfläche, sowie die Berechnung der totalen Krümmung eines geodätischen Dreiecks (§ XX). Die §§ XXI und XXII beziehen sich auf die Transformation des Ausdruckes für das Kurvenelement, die übrigen behandeln andere Fragen aus der Geodäsie und dürften daher unsere Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen. {54} Schon aus diesen flüchtigen Andeutungen ersieht man, wie reich an fundamentalen Begriffen die Abhandlung von Gauß ist. Die Entwickelungen, die sie gehabt, und die vielen Arbeiten, welche sie hervorgerufen, und von denen wir noch kurz zu sprechen haben, werden ihre Bedeutung noch klarer machen. Unter diesen Arbeiten muß man den schönen _Ricerche di analisi applicata alla geometria_, die Beltrami im zweiten und dritten Bande des _Giornale di Matematiche_ veröffentlicht hat, eine hervorragende Stelle einräumen, dann den Abhandlungen von demselben Verfasser _Dalle variabili complesse su una superficie qualunque_,[320] _Teoria generale dei parametri differenziali_[321] und _Zur Theorie des Krümmungsmasses_.[322] Bemerkenswert sind ferner die Studien von Bonnet[323] und von Darboux[324] über die sphärische Abbildung der Oberflächen, die sich an die ersten in den _Disquisitiones_ enthaltenen Untersuchungen anknüpfen. Der Begriff der Krümmung führte zum Studium der Oberflächen mit konstanter (positiver oder negativer) Krümmung, dem so viele ausgezeichnete Geometer ihre Kräfte gewidmet haben. Unter diesen führen wir die zwei Arbeiten von Beltrami an: _Risoluzione del problema. Riportare i punti di una superficie sopra un piano in modo che le geodetiche vengano rappresentate da linee rette_[325] und _Saggio di una interpretazione della Geometria non-euclidea_,[326] dann die Schriften von Dini,[327] Lie,[328] {55} Bianchi,[329] Bäklund,[330] Darboux[331] und Dobriner.[332] Von derselben Art, aber allgemeiner, sind die Studien von Christoffel[333] über die Bestimmung der Gestalt einer Oberfläche mit Hilfe von auf ihr selbst genommenen Maßen und von Lipschitz[334] über die Oberflächen, welche bestimmte auf die Krümmung bezügliche Eigenschaften haben, oder bei welchen der Ausdruck des Kurvenelements von vornherein festgesetzt ist. An den Abschnitt der Gaußischen Abhandlung, welcher die geodätischen Linien behandelt, knüpfen sich einige Arbeiten von Joachimsthal (1818-1861),[335] Schering,[336] Beltrami,[337] die von Lie[338] gemachte Einteilung der Oberflächen auf Grund der Transformationsgruppen ihrer geodätischen Linien und die Untersuchungen über geodätische Kurven von demselben Verfasser.[339] Mit demjenigen Abschnitte, welcher sich auf die Abwickelbarkeit der Oberflächen bezieht, steht eine wichtige Arbeit von Minding in enger Beziehung,[340] in der zum ersten Male die Frage aufgestellt ist, ob die Gleichheit der Krümmung in entsprechenden Punkten eine hinreichende Bedingung für die Abwickelbarkeit zweier Oberflächen sei: er gelangte für den allgemeinen Fall zu einem negativen Resultate, zu einem {56} positiven dagegen für den Fall konstanter Krümmung. Dasselbe gilt von den Arbeiten von Bour[341] (1832-1866), Codazzi[342] und Bonnet,[343] welche für preiswürdige Antworten auf die im Jahre 1861 von der Pariser Akademie der Wissenschaften gestellte Frage erkannt worden sind. Derselbe Gegenstand oder verwandte Gegenstände wurden dann in den Abhandlungen von Christoffel,[344] von Mangoldt,[345] Weingarten,[346] Brill,[347] Minding,[348] Jellet,[349] Dini,[350] Enneper,[351] Razzaboni,[352] Lecornu,[353] Beltrami[354] und vielen anderen behandelt. Die schöne von Gauß gegründete Theorie der krummlinigen Koordinaten einer Oberfläche ließ den Wunsch entstehen, eine analoge Theorie für den Raum zu haben. Schon im Jahre 1837 stellte Lamé sie für einen Spezialfall auf, nämlich für den der elliptischen Koordinaten,[355] später wies er auf die orthogonalen krummlinigen Koordinaten {57} hin[356] und konstruierte dann die Theorie derselben,[357] ohne ihre Anwendung[358] und Entwickelung[359] zu vernachlässigen. Die berühmten _Leçons sur la théorie des coordonnées curvilignes et leurs diverses applications_ (Paris, 1859) von Lamé fassen zusammen und vervollständigen die glänzenden Resultate, die von Lamé in diesem Zweige der Geometrie erhalten waren. In der Folge haben sich viele andere mit demselben beschäftigt. Vor allen führe ich Aoust an, der ihm viele und wichtige Arbeiten widmete,[360] dann Brioschi,[361] Codazzi,[362] Chelini (1802-1878),[363] Darboux,[364] Combescure,[365] Levy,[366] Royer[367] und noch andere. Hierzu sehe man noch die Schriften, welche dreifache Systeme orthogonaler Oberflächen behandeln und von denen ich nur diejenigen von Bouquet,[368] A. Serret,[369] Bonnet,[370] Catalan,[371] Moutard,[372] Darboux,[373] Cayley,[374] Ribaucour,[375] {58} Weingarten,[376] Schläfli,[377] Hoppe,[378] Bianchi[379] und Molins[380] nennen will. Von den Arbeiten, welche spezielle Oberflächen behandeln, die nicht zu bis jetzt besprochenen Kategorien gehören, führen wir die von Lie[381] an, welche sich auf Oberflächen beziehen, die infinitesimale lineare Transformationen in sich selbst zulassen; dann die von Enneper,[382] die sich auf Oberflächen mit speziellen Meridiankurven beziehen, ferner die von Cayley[383] und Weingarten[384] und die von Willgrod[385] über Oberflächen, welche durch ihre Krümmungslinien in unendlich kleine Quadrate geteilt werden; schließlich die von Bianchi[386] über Schraubenflächen. Ein bemerkenswerter Fortschritt in der analytischen Infinitesimalgeometrie der Oberflächen wurde durch die Bemühungen de Salverts geschaffen, der in einigen eleganten Arbeiten,[387] wahrscheinlich hervorgerufen durch die schönen _Vorlesungen über die analytische Geometrie des Raumes_ von Hesse, zeigte, wie man durch Benutzung der Gleichung einer Oberfläche in ihrer allgemeineren Form, f(x, y, z) = 0, ein bei weitem bequemeres System von Formeln für die Lösung gewisser Probleme aufstellen konnte, als wenn die Gleichung z = [phi](x, y) zu Grunde gelegt wird. {59} Über Differentialgeometrie existieren noch einige gute Darlegungen. Eine verdankt man Hoppe; sie trägt den Titel: _Elemente der Flächentheorie_; eine andere wurde von Brisse unternommen;[388] die neuesten sind die von Bianchi in seinen sehr schönen _Lezioni di geometria differenziale_ (Pisa, 1886) und die, welche Darboux in seinen _Leçons sur la théorie générale des surfaces_ begonnen hat, von denen wir schon den ersten Teil besitzen (Paris, 1887). Wir wollen diesen Abschnitt beschließen, indem wir noch bemerken, daß die Zuhilfenahme der Analysis für das Studium der Infinitesimalgeometrie nicht notwendig ist; vielmehr haben Bertrand[389] und Bonnet[390] zuerst gezeigt, welchen Nutzen man bei diesen Studien auch aus synthetischen Betrachtungen ziehen kann. Außerdem enthalten der erste Band des _Traité de calcul différential et intégral_ von Bertrand und der _Traité de géométrie descriptive_ von de la Gournerie[391] und eine große Zahl von überaus schönen Abhandlungen von Mannheim[392] bemerkenswerte geometrische Untersuchungen, welche dem Zweige der Wissenschaft des Raumes, mit dem wir uns eben beschäftigt haben, angehören. {60} * * * * * IV. Untersuchungen über die Gestalt der Kurven und Oberflächen. Abzählende Geometrie. ------ Bei der Besprechung der bedeutenderen Fortschritte, welche die Theorie der Kurven und die der Oberflächen gemacht, haben wir zwei wichtige Kategorien der Untersuchung übergangen, weil wir dieselben besser in einem besonderen Abschnitte unserer Arbeit zusammenfassen können. Die erstere umfaßt eine Reihe von Studien besonderer Natur und hat zum Zwecke die Bestimmung der Gestalt, welche die Kurven und Oberflächen von gegebener Ordnung annehmen können, und ich halte es für angemessen, bei diesen eine Zeit lang zu verweilen. Die Bestimmung der Gestalt der Kurven zweiter Ordnung reicht schon in das Altertum. Für dieselbe bedurfte es auch nicht eines hervorragenden Geistes, wenn man bedenkt, daß die Alten jene Kurven als Schnitte eines Kreiskegels betrachteten. Dagegen ist die Bestimmung der Gestalt, welche die Kurven dritter Ordnung annehmen können, nicht ohne Schwierigkeit. Newton überwand diese, indem er lehrte, daß alle Kurven dritter Ordnung durch Projektion von fünfen derselben, welche er divergierende Parabeln nannte, erhalten werden können.[393] Zu dieser ersten Einteilung der Formen {61} der Kurven dritter Ordnung fügte Chasles[394] eine weitere hinzu, die, obwohl sie auf einem ganz anderen Gedanken beruhte, mit der von Newton eine nicht zu verkennende Analogie bietet. Nach ihr kann man die Formen der Kurven dritter Ordnung sämtlich auffinden durch Projektion von fünfen derselben, die symmetrisch in bezug auf ein Zentrum sind. Eine dritte Methode der Einteilung endlich stützt sich auf das konstante Doppelverhältnis der vier Tangenten, die man an die allgemeine Kurve dritter Ordnung von einem ihrer Punkte aus ziehen kann; diese wurde von Durège entwickelt.[395] {62} Bei weitem grössere Schwierigkeit bietet das Studium der Gestalt der ebenen Kurven vierter Ordnung, die schon angeführten Arbeiten von Bragelogne, Euler und Plücker bilden hierzu einen wichtigen Beitrag. Es scheint aber nicht, daß man diese -- dasselbe gilt auch von den schon genannten auf die kubische Kurve bezüglichen -- als die Grundlage zu einer allgemeinen Theorie der Gestalt der ebenen Kurven ansehen darf; vielmehr muß man dieselben als die ersten Vorläufer jener Lehren betrachten, die man heute als eine feste Grundlage dieser Theorie ansieht. Solche Lehren gehören in das Gebiet der synthetischen Geometrie, zum Teil aber waren sie das Resultat der Anwendung der Abelschen Funktionen auf die Wissenschaft der Ausdehnung. Von den ersteren wurden einige von Staudt in seiner _Geometrie der Lage_[396] auseinandergesetzt und beziehen sich auf die Gestalten der ebenen Polygone und der Polyeder, die paaren und die unpaaren Züge der Kurven, die Rückkehrelemente der Figuren; andere wurden von Tait[397] angegeben und von J. Meyer entwickelt,[398] andere schließlich von Hart angedeutet[399] und mit vielem Glücke von E. Kötter verallgemeinert.[400] Die zweiten sind fast alle aus der Schule von Klein hervorgegangen. Da ich auf die vielen Einzelheiten dieses Gegenstandes nicht eingehen kann, so möge es hier genügen, unter den schon erhaltenen Resultaten einige besondere Sätze über die Kurve vierter Ordnung anzuführen, die man Zeuthen[401] und Crone[402] verdankt; dann {63} eine sehr wichtige Relation zwischen den Zahlen der reellen und imaginären Singularitäten einer ebenen Kurve, zu welcher Klein geführt wurde,[403] als er die von Plücker[404] und Zeuthen vorgeschlagenen Klassifikationen der Kurven vierter Ordnung studierte; ferner einen sehr schönen Lehrsatz,[405] von Harnack (1851-1888) entdeckt, welcher dadurch, daß er eine unerwartete Beziehung zwischen der Form einer Kurve und ihrem Geschlechte enthüllte, die Wichtigkeit des letzteren von neuem bestätigte. Wenn so die Theorie der Gestaltlichkeit der ebenen Kurven noch weit entfernt vom Zustand der Reife ist, so kann man von den analogen Untersuchungen über die Oberflächen sagen, daß sie sich noch in ihrer Kindheit befinden. Allgemeine Untersuchungen auf diesem Felde existieren meines Wissens nicht, außer denjenigen, die von Möbius in seiner _Theorie der elementaren Verwandtschaften_ niedergelegt sind,[406] und welche, so scharfsinnig und interessant sie auch sind, einen geschickten Nachfolger erwarten lassen, welcher die ganze Fülle derselben zu Tage fördert. Dasselbe gilt für gewisse originelle Gesichtspunkte, die in den vielen Arbeiten von Klein zerstreut sind. Für den Fortschritt der Geometrie würde es von höchstem Interesse sein, beide weiter entwickelt zu sehen; unglücklicherweise wird aber diese Theorie wenig betrieben, in den letzten Jahren ist vielleicht Rohn[407] der einzige, der hierin einige Fortschritte gemacht hat, die wert sind, verzeichnet zu werden. {64} Wenn auch die allgemeine Theorie ein bis jetzt noch unbefriedigtes Bedürfnis ist, so fehlt es doch nicht an Spezialuntersuchungen. Die Bestimmung der Gestalt der Oberflächen zweiten Grades übergehe ich als zu einfach und führe die der Oberflächen dritter Ordnung an, die mit Erfolg von Klein,[408] Schläfli,[409] Zeuthen[410] gemacht ist, und neuerdings von Bauer durch die Untersuchung der Gestalt der parabolischen Kurve vervollständigt wurde;[411] ferner die der Dupinschen Cykliden, die wir Maxwell[412] verdanken; dann die der Oberflächen vierter Ordnung mit Doppelkegelschnitt, die ebenfalls von Zeuthen[413] herrührt; die der Oberflächen vierter Ordnung mit Cuspidalkegelschnitt, die von Crone[414] ausgeführt ist; endlich die der Kummerschen Flächen und der Kegelflächen viertes Grades, welche der Gegenstand wichtiger Untersuchungen von Rohn[415] gewesen sind. Die reichhaltige Sammlung von Modellen von Ludwig Brill, die sich jedes Jahr um neue und interessante Serien vermehrt, zeigt das Interesse, welches das gelehrte Deutschland für vorliegende Untersuchungen hat.[416] Was die Gestalt der Kurven doppelter Krümmung angeht, so existieren darüber bis jetzt noch keine allgemeinen Untersuchungen von Bedeutung; man kann sagen, daß sich dieselben auf die Beobachtungen beschränken, die Chr. Wiener[417] {65} und Björling[418] gemacht haben, indem sie die Modelle der gewöhnlichen Singularitäten einer Raumkurve konstruierten. Eine zahllose Reihe wichtiger Untersuchungen hat die Bestimmung der Anzahl der geometrischen Gebilde zum Ziele, welche Bedingungen genügen, die hinreichen, eine endliche Zahl derselben festzulegen. Der Bézoutsche Lehrsatz, welcher die Zahl der Lösungen eines bestimmten Systems von algebraischen Gleichungen angiebt, ist fast immer nicht verwendbar für die Lösung solcher Fragen, da, während dieser Satz auf allgemeine Gleichungen ihres Grades sich stützt, die Gleichungen, welche man bei dem Versuche, diese Probleme analytisch zu lösen, erhält, von spezieller Form sind. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, daß diese Probleme größtenteils bis in verhältnismäßig neuerer Zeit ungelöst geblieben sind.[419] Auf Chasles fällt der Ruhm, in seiner _Methode der Charakteristiken_ ein feines und mächtiges Hilfsmittel gefunden zu haben (1864), mit dem er eine große Zahl von Problemen der angedeuteten Art für den Fall, daß die betrachteten Gebilde Kegelschnitte in einer Ebene sind, lösen konnte und einen Weg bahnte, um auch in dem Falle, wo die {66} Gebilde beliebige sind, zur Lösung derselben zu gelangen.[420] Der Hauptgedanke desselben war die fortwährende Betrachtung der ausgearteten Kurven und der systematische Gebrauch der Charakteristiken eines einfach-unendlichen Systemes von Kegelschnitten, d. h. der Zahlen, die angeben, wie viele Kegelschnitte des Systemes durch einen gegebenen Punkt gehen, wie viele eine gegebene Gerade berühren. Dadurch, daß man diese Begriffe weiter ausdehnte, konnte man Hilfsmittel erhalten, die auf andere Figuren anwendbar sind. Chasles selbst entdeckte alsbald die Anwendung seiner Untersuchungen auf die Kegelschnitte im Raume[421] und auf die Flächen zweiter Ordnung.[422] Zeuthen und Maillard gaben neue Beispiele der Erweiterung, der eine in der wichtigen Abhandlung, die wir schon Gelegenheit hatten zu zitieren, _Almindelige Egenskaber ved Systemer af plane Kurver_,[423] der andere in seiner Dissertation _Recherches des caractéristiques des systèmes élémentaires de courbes {67} planes du troisième ordre_;[424] andere findet der Leser in den Schriften von Sturm über die kubischen Raumkurven[425] und denen von Schubert über die ebenen Kurven dritter Ordnung und dritter und vierter Klasse, im Raume betrachtet.[426] Ferner sind die von Chasles gemachten Betrachtungen enge mit denjenigen verbunden, welche in den wichtigen Abhandlungen von Cayley, _On the curves which satisfy given conditions_[427] enthalten sind, sowie in einigen Arbeiten von Jonquières über Systeme von Kurven und Flächen.[428] Endlich gehören hierher noch die Untersuchungen von Hirst[429] und Sturm[430] über Systeme von Projektivitäten und Korrelationen, sowie die von Zeuthen[431] über die Plückerschen Charakteristiken der Enveloppen. Wir wollen noch bemerken, daß zwischen den Systemen ebener Kurven und den Differentialgleichungen erster Ordnung mit zwei Variabelen eine sehr innige Beziehung besteht, die sich zu erkennen giebt, indem die Integrale einer dieser Gleichungen ein System von Kurven darstellen. Die gegebene Differentialgleichung läßt jedem Punkte eine bestimmte Anzahl von ihm ausgehender Richtungen entsprechen und einer Geraden eine bestimmte Anzahl auf ihr liegender Punkte. Auf diese Beziehungen wurde Clebsch durch seine Untersuchungen über die Konnexe[432] (vgl. § VI) und unabhängig von Fouret[433] {68} geführt. In ähnlicher Weise kann man eine Beziehung zwischen den Differentialgleichungen erster Ordnung mit drei Variabelen und einem Systeme von Oberflächen aufstellen, wie dies ebenfalls Fouret[434] bemerkt hat. Dieser Zusammenhang ist von grosser Wichtigkeit, weil er gestattet, Sätze auf transcendente Kurven oder Oberflächen auszudehnen, von denen man glaubte, daß sie nur für algebraische Kurven oder Oberflächen gültig seien; so konnte Fouret den Satz über die Zahl der Kurven eines Systemes, welche eine gegebene algebraische Kurve berühren, auf Systeme von transcendenten Kurven ausdehnen,[435] konnte ferner die Ordnung des Ortes der Berührungspunkte eines einfach unendlichen Systemes von Oberflächen mit den Oberflächen eines doppelt unendlichen Systemes bestimmen,[436] ebenso die Ordnung des Ortes der Berührungspunkte der Oberflächen eines doppelt unendlichen Systemes mit einer gegebenen algebraischen Oberfläche[437] u. s. w.[438] Trotz dieser und anderer Arbeiten, die ich der Kürze wegen übergehe, war die ganze Tragweite der Chaslesschen Betrachtungen noch nicht offenbar geworden; das geschah durch den letzten, von dem ich zu sprechen habe, durch Hermann Schubert in seinem _Kalkül der abzählenden Geometrie_.[439] Dieses Buch, das noch viel zu wenig {69} geschätzt wird, kann man mit Recht als dasjenige betrachten, welches zuerst von Grund auf das Problem behandelte, »zu bestimmen, wie viele geometrische Gebilde von gegebener Definition einer hinreichenden Zahl von Bedingungen genügen,« d. h. das Problem der abzählenden Geometrie. Dort sind die Korrespondenzprinzipien unter ihrem wahren Gesichtspunkte auseinandergesetzt,[440] dort ist klar erörtert, was man unter dem Charakteristikenproblem einer bestimmten Figur zu verstehen hat, und sind Methoden von außerordentlicher Macht für dessen Lösung gezeigt. Die Schubertschen Methoden sind dazu bestimmt, eines Tages das übliche Hilfsmittel für den Mathematiker zu werden, wie es augenblicklich die Cartesische Geometrie ist, und niemand wird mich der Übertreibung beschuldigen, der bedenkt, daß dieselben in einer Unzahl von Fällen zur Lösung des allgemeinen Problemes der Elimination dienen, d. h. die Zahl der Lösungen eines Systemes von algebraischen Gleichungen zu bestimmen. Daher müssen alle, Analytiker und Geometer, dem Werke von Schubert, durch welches er die abzählende Geometrie zu einer besonderen Disziplin erhoben hat, reiches Lob zollen, oder besser, anstatt es blos zu bewundern, sich {70} vornehmen, die fruchtbaren Methoden desselben zu vervollkommnen und sie von Mängeln frei zu machen, d. h. sie von dem Tadel, der ihnen von einigen gemacht worden ist, daß sie nicht ganz strenge seien, zu befreien und sie selbst oder wenigstens die Anwendungen, deren sie fähig sind, zu vermehren. Die auf die Theorie der Charakteristiken bezüglichen Andeutungen[441] würden eine unverzeihliche Lücke darbieten, wenn sie nicht einen Hinblick auf eine wichtige Frage böten, die zwischen einigen Geometern ventiliert wurde, und die man heute als schon gelöst betrachten darf. Geleitet nämlich durch einen Induktionsschluß, behauptete Chasles, daß die Zahl derjenigen Kegelschnitte eines einfach unendlichen Systemes, welche einer neuen einfachen Bedingung genügen, ausgedrückt wird durch eine homogene lineare Funktion der Charakteristiken des Systemes, deren Koeffizienten einzig und allein von dieser Bedingung abhängen. Darboux,[442] Clebsch,[443] Lindemann,[444] Hurwitz und Schubert,[445] sowie noch andere glaubten diesen Satz beweisen zu können. Aber daß die von ihnen angeführten Gründe nicht beweiskräftig waren, wurde in einer Reihe von Arbeiten gezeigt, in welchen Halphen[446] die Hinfälligkeit der Vermutung Chasles' klar legte und zeigte, wie man den vorher angeführten Satz modifizieren müsse. In der Theorie der Charakteristiken der Systeme von Flächen zweiten Grades hat man einen analogen Satz, den ebenfalls Halphen[447] entdeckt hat. Jedoch glaube man nicht, daß diese Sätze {71} von Halphen die Resultate zerstören, welche man erhalten, indem man den Chaslesschen Weg einschlug; vielmehr sind dieselben glücklicherweise meistenteils unabhängig von dem fraglichen Theorem, und für die anderen Fälle ist es leicht zu zeigen, welche Korrektionen man machen muß.[448] * * * * * V. Theorie der Kurven doppelter Krümmung. ------ Die Theorie der ebenen Kurven kann man in zwei verschiedenen Richtungen verallgemeinern. Indem man die Thatsache ins Auge faßt, daß eine solche Kurve durch eine Gleichung zwischen den Koordinaten eines Punktes einer Ebene dargestellt wird, so ergiebt sich als Analogon im Raume die Theorie der Oberflächen, indem diese als durch eine Gleichung zwischen den Koordinaten eines Punktes im Raume darstellbar betrachtet werden, auf welche Betrachtung wir im Vorhergehenden eingegangen sind. Wenn man hingegen eine ebene Kurve als eine Reihe von einfach unendlich vielen Punkten ansieht, so kann man die Theorie ausdehnen, indem man die Beschränkung aufhebt, daß diese in einer Ebene gelegen seien: dann entsteht die Theorie der unebenen Kurven. Das Studium der Infinitesimaleigenschaften derselben kann man leicht genug mit Hilfe von Methoden machen, die nicht sehr verschieden sind von denjenigen, die für die {72} ebenen Kurven angewandt werden. Deshalb wurde dasselbe, wie ich schon sagte, vor mehr als einem Jahrhundert von Clairaut unternommen und wurde hernach von Lancret (1774-1807),[449] Monge,[450] Tinseau,[451] de Saint-Venant (1797-1886),[452] von Frenet,[453] Alfred Serret[454] und Paul Serret, von Liouville (1809-1882),[455] Bertrand,[456] von Puiseux (1820-1883),[457] von Lie[458] und vielen anderen fortgesetzt.[459] Aber abgesehen von dieser Betrachtungsrichtung bietet das Studium der übrigen allgemeinen Eigenschaften der unebenen Kurven sehr große Schwierigkeiten. Man vermutete eine Zeit lang, daß jede Kurve im Raume als der vollständige Schnitt zweier Oberflächen angesehen werden und daher durch ein System von zwei Gleichungen zwischen den Koordinaten eines Punktes im Raume dargestellt werden könnte;[460] aber bald erkannte man die Existenz von Kurven, die nicht der vollständige Schnitt von Oberflächen sind, und die Notwendigkeit, dieselben nicht vermittelst zweier, {73} sondern dreier Gleichungen darzustellen, die ebenso vielen durch dieselbe hindurchgehenden Oberflächen entsprechen. Man setzte voraus, daß die Kenntnis der Ordnung zur Einteilung der unebenen Kurven hinreichen würde, aber sobald man an die vierte Ordnung gekommen war, erkannte man, daß dieselbe nicht genüge.[461] Man hätte nun glauben sollen, daß die Ordnung und die Zahl der scheinbaren Doppelpunkte für den besagten Zweck hinreichen würden, aber als man an die neunte Ordnung herantrat, sah man, daß man sich geirrt habe.[462] Auch eine dritte Zahl, die niedrigste Ordnung der Kegel, die durch die von einem Punkte herkommenden Sehnen (Doppelsekanten) der Kurve gehen, konnte nur bei den Kurven von niederer, als der fünfzehnten Ordnung dazu verhelfen. So kam man denn zu dem Schlusse, daß es unmöglich sei, eine gegebene Kurve vermittelst einer bestimmten Menge von vornherein angebbarer Zahlen zu charakterisieren. Ich habe diese Thatsachen anführen wollen, um zu zeigen, daß die allgemeine Theorie der unebenen Kurven keine Ähnlichkeit mit irgend einem anderen Teile der Geometrie zeigt und, indem ich auf die erschreckliche Dunkelheit, die sie darbietet, hinwies, dem Leser das Mittel geben wollen, den Grund zu finden, warum die Kenntnisse, die wir über diese Gebilde haben, so wenig zahlreich und erst neueren Ursprunges sind. Die ersten allgemeinen Resultate über die Kurven doppelter Krümmung verdanken wir Cayley, welcher ihnen zwei wichtige Abhandlungen gewidmet hat. In einer derselben stellte er die Formeln (analog denen von Plücker) auf, welche die Zahl der Singularitäten einer Raumkurve {74} untereinander verbinden.[463] In der anderen führte er für das Studium der Raumkurven von der Ordnung n diejenigen bemerkenswerten Flächen ein, welche er »Monoide« nannte.[464] Nach diesen Arbeiten müssen wir, um einen wirklich bemerkenswerten Fortschritt in der Theorie, welche uns beschäftigt, zu finden, uns zu Halphen und Nöther wenden, deren Abhandlungen[465], im Jahre 1882 von der Akademie zu Berlin mit dem Preise gekrönt, die Grundlage für eine allgemeine Theorie der Raumkurven sind; denn sie behandeln die Probleme: »alle voneinander verschiedenen Kurven von gegebener Ordnung zu bestimmen«, »anzugeben, welche Kurven es auf einer gegebenen Oberfläche giebt« und noch viele andere von nicht geringer Bedeutung. Diese beiden Arbeiten verschlingen sich so enge und durchdringen sich so innig, daß es sehr schwer wird, zu entscheiden, welcher Anteil jedem der beiden Autoren in den vielen gemeinsamen {75} Resultaten zufällt, die sie enthalten. Wenn einerseits Nöther die Theoreme, welche Ende des Jahres 1870 von Halphen in den _Comptes rendus_ und an anderen Stellen[466] ausgesprochen sind, ausbeuten konnte, so konnte dieser sich der Sätze bedienen, welche in der sehr bedeutenden Abhandlung von Brill und Nöther, _Über die algebraischen Funktionen und ihre Anwendung in der Geometrie_[467] enthalten sind, und in derjenigen, in welcher Nöther streng den Fundamentalsatz der Theorie der algebraischen Funktionen dargethan hatte, welcher in der Auseinandersetzung von Halphen unumgänglich notwendig war.[468] Und man glaube nicht, daß die von den beiden Geometern bei ihrem Thema eingeschlagenen Wege im wesentlichen verschieden gewesen seien, vielmehr benutzten sie beide (wie Cayley geraten hatte) Monoide, und wenn der eine vorzugsweise Formeln und Sätze aus der Theorie der Abelschen Integrale gebraucht, so wendet der andere solche Lehrsätze über die algebraischen Funktionen an, welche zu denselben Eigenschaften führen. Jedenfalls steht es außer Zweifel, daß diese beiden hervorragenden Produktionen unseres Zeitalters bestimmt sind, die Grundlage für die zukünftigen geometrischen Untersuchungen zu bilden, und wenn bis jetzt sich ihr Einfluß noch nicht so allgemein geltend gemacht hat, so ist dieses vorzugsweise den großen Schwierigkeiten zuzuschreiben, die ihr Gegenstand noch immer darbietet, und vielleicht auch den Lücken, die in den Methoden vorhanden sind, die man zu Hilfe nehmen könnte, um jene zu überwinden.[469] {76} Aber vor der Begründung der allgemeinen Theorie wurden viele einzelne Kurven einem genaueren Studium unterworfen; da ich aber wünsche, mehr als getreuer, denn als glänzender Geschichtsschreiber angesehen zu werden, so muß ich hier eine Aufzählung der Arbeiten unternehmen, in welchen die hervorragenderen unter diesen Untersuchungen enthalten sind. »_Degli altri fia laudabile il tacerci,_ _Chè il tempo saria corto a tanto suono._«[470] Unter ihnen verdienen den ersten Platz diejenigen, welche die kubischen Raumkurven behandeln. Über diese haben Möbius[471] und Chasles[472] verschiedene sehr schöne Eigenschaften aufgefunden; dieselben vermehrten sich mit solcher Schnelligkeit, daß Staudt[473] binnen kurzem die vollständige Analogie, die zwischen ihnen und den Kegelschnitten besteht, feststellen konnte; diese Analogie hat sich von Tag zu Tag mehr vervollkommnet, dank den Studien von Seydewitz,[474] Joachimsthal[475] Cremona,[476] {77} Schröter,[477] Reye,[478] Emil Weyr,[479] Sturm,[480] Hurwitz,[481] welche nicht allein die Aufstellung einer vollständigen synthetischen Behandlung dieser Kurven gestatten, sondern auch das Terrain für die so elegante analytische Auseinandersetzung ebneten, die mein innigst geliebter Lehrer E. d'Ovidio[482] und Pitarelli[483] gemacht haben. Dann will ich die Theorie der unebenen, auf einem einschaligen Hyperboloide gezeichneten Kurven anführen, für welche Chasles[484] das Fundament gelegt hat, und die von unserem Cremona[485] so sehr bereichert ist. Ferner will {78} ich der vielen Eigenschaften erwähnen, welche Poncelet,[486] Chasles,[487] Cremona,[488] Reye,[489] Paul Serret,[490] Laguerre,[491] Milinowski[492] und viele andere über die Raumkurven vierter Ordnung erster Art gefunden haben, und die schönen Anwendungen, die sie für die Theorie der zweifach periodischen Funktionen geliefert haben, -- Harnack,[493] Lange,[494] Westphal,[495] Léauté[496] u. s. w. Auch kann ich die schönen Arbeiten von Cremona,[497] von Armenante,[498] Bertini[499] und Em. Weyr[500] über die Raumkurven vierter Ordnung zweiter Art nicht stillschweigend übergehen, ferner nicht die von Klein und Lie über die durch unendlich viele lineare Transformationen in sich selbst transformierten {79} Kurven,[501] noch auch die von Fiedler[502] angestellte Bestimmung der Kurven von nicht höherer als neunter Ordnung, die zu ihren eigenen Tangenten-Developpabelen dual sind. Und wie könnte ich es unterlassen, einen Blick auf die große Zahl von Kurven zu werfen, welche Cremona und Sturm[503] studiert haben, indem sie sich mit der Geometrie auf einer Oberfläche dritter Ordnung beschäftigten, dann auf die wichtigen Probleme, die von Clebsch und seinen Schülern über die rationalen,[504] elliptischen und hyperelliptischen[505] Kurven gelöst sind, und die eleganten Eigenschaften, welche Bertini[506] an den rationalen Kurven fünfter Ordnung auffand, sowie W. Stahl[507] bei denjenigen, deren Punkte auf einer Oberfläche zweiten Grades liegen, während die Oskulationsebenen eine solche zweiter Klasse berühren? Indem der unerfahrene Leser so bedeutende und so verschiedene Untersuchungen aufzählen hört, wird er sich von einem gewissen Kleinmute bedrängt fühlen und sich fragen, wie es in kurzer Zeit möglich sei, dieselben, wenn auch nicht alle, so doch größtenteils sich anzueignen? Man beruhige sich. Die Übersicht ist für den Studierenden viel weniger schwierig, als es nach meiner Besprechung scheinen könnte. Die von den Geometern der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts aufgestellten Prinzipien sind so fruchtbar, daß, wenn jemand sich dieselben gründlich zu eigen gemacht hat, er nicht allein selbst viele weitere Untersuchungen ableiten, sondern auch noch darnach streben kann, die Wissenschaft selbst weiter zu fördern. Und dieses -- was sicherlich ein {80} nicht zu unterschätzender Vorzug der heutigen Wissenschaft vor der unserer Väter ist -- wurde in Kürze von einem ihrer Gründer mit den fortan klassischen Worten ausgesprochen: _»Peut donc qui voudra dans l'état actuel de la science généraliser et créer en géométrie; le génie n'est plus indispensable pour ajouter une pierre à l'édifice«_,[508] goldene Worte, welche jeder, der Mathematik betreiben will, sich einprägen muß; indem sie ihn auf einen wahrscheinlichen Sieg hoffen lassen, werden sie ihn anspornen, sich mutig den geistigen Kämpfen entgegenzustellen, die ihn erwarten. * * * * * VI. Abbildungen, Korrespondenzen, Transformationen. ------ Bei dieser flüchtigen Musterung der neuesten geometrischen Entdeckungen gelangen wir nun zur Lehre von den Abbildungen, Korrespondenzen und Transformationen. -- Es ist bekannt, daß zwischen zwei ebenen Punktfeldern eine Korrespondenz (Verwandtschaft) besteht, wenn jedem Punkte des einen eine Gruppe von Punkten des anderen zugeordnet ist; diese heißen dann die »entsprechenden« zu jenem. Wenn im speziellen Falle jeder Punkt des einen Feldes einen einzigen entsprechenden in dem anderen hat, so heißt die Korrespondenz »eindeutig«. Die einfacheren Fälle der eindeutigen Korrespondenz sind die Homologie -- von Poncelet studiert (1822) -- und die Kollineation (Homographie), von Möbius (1827), Magnus (1833) und Chasles (1837) studiert. In diesen Fällen entspricht nicht nur jedem Punkte ein Punkt, sondern {81} auch jeder Geraden eine Gerade. -- Ein Beispiel einer komplizierteren Korrespondenz wurde von Steiner (1832) durch folgende Konstruktion erhalten:[509] Gegeben sind zwei getrennte Ebenen und zwei windschiefe Geraden; durch jeden Punkt der einen von jenen ziehe man die Gerade, welche die beiden gegebenen Geraden schneidet, und bestimme den Schnittpunkt mit der anderen Ebene. Indem man diesen Schnittpunkt dem in der ersten Ebene gewählten Punkte zuordnet, erhält man eine eindeutige Beziehung von der Art, daß jeder Geraden in der einen Ebene ein Kegelschnitt in der anderen entspricht. Läßt man nun die beiden Ebenen zusammenfallen, so erhält man eine Korrespondenz, welche im wesentlichen nicht von der durch Poncelet[510] zwischen in bezug auf ein Kegelschnittbüschel konjugierten Punkten gefundenen verschieden ist, und welche auf analytischem Wege von Plücker[511] untersucht wurde, sodann von Magnus (1790-1861)[512] und von unserem Schiaparelli,[513] synthetisch aber von Seydewitz[514] und später von Reye.[515] -- Auf ein drittes Beispiel führte die Lösung einiger Probleme aus der mathematischen Physik; man gelangt dazu auf folgende Weise: Gegeben sei in einer Ebene ein fester Punkt, man associiert zwei mit ihm in gerader Linie gelegene Punkte, deren Abstände von ihm umgekehrt proportional sind. Man erhält dann eine eindeutige Korrespondenz, welche jede Gerade in einen Kreis, und jeden Kreis wieder in einen Kreis verwandelt. Diese wurde von Sir William Thomson[516] {82} als »Prinzip der elektrischen Bilder« studiert und ist unter dem Namen »Transformation durch reciproke Radien« oder »Inversion« allgemein bekannt.[517] Alle diese Transformationen sind linear oder quadratisch, da sie eine Gerade in eine Kurve erster oder zweiter Ordnung verwandeln. Jedoch machte Magnus schon die Bemerkung, daß, wenn man eine quadratische Transformation wiederholt, man im allgemeinen eine solche höherer Ordnung erhält.[518] Diese wichtige Bemerkung blieb aber bis zu dem Zeitpunkte unfruchtbar (1863), in welchem Cremona von den wenigen bisher erörterten Fällen zur allgemeinen Theorie der geometrischen Transformationen der ebenen Figuren überging.[519] {83} Um dem Leser die Bedeutung der Schriften, welche Cremona dieser Theorie[520] gewidmet hat, zu zeigen, würde ich auseinanderzusetzen haben, auf welche Weise dieser große Geometer das Studium der eindeutigen Transformationen auf das eines homaloidischen Netzes von Kurven zurückgeführt hat, und die Bestimmung eines solchen Netzes auf die Lösung eines unbestimmten Systemes von linearen Gleichungen; aber da die Anlage meiner Abhandlung mir das nicht gestattet, so muß ich mich darauf beschränken, ihn davon durch den alten Beweis des »_consensus omnium_« zu überzeugen. Dann führe ich noch die Namen von Geometern an wie Cayley,[521] Clebsch,[522] Nöther,[523] Rosanes,[524] S. Roberts,[525] die sich bemüht haben, die (bei der ersten Behandlung des Stoffes unvermeidlichen) Lücken, die sich in den Cremonaschen Abhandlungen[526] fanden, auszufüllen; ferner die Arbeiten von Ruffini,[527] Jonquières,[528] Kantor,[529] Guccia,[530] Autonne,[531] welche mit dieser Lehre {84} eng zusammenhängende Fragen behandeln, endlich die von Hirst,[532] T. Cotterill[533] (1808-1881), von Sturm,[534] Schoute[535] und sehr vielen anderen, welche sich das bescheidenere Ziel gesetzt haben, die Verbreitung derselben durch geeignete Beispiele und elegante Formeln zu erleichtern.[536] Unter den Arbeiten, welche sich an die von Cremona anschließen, verdienen eine hervorragende Stelle diejenigen von Bertini,[537] welche er den ebenen involutorischen Transformationen gewidmet hat, welche Arbeiten noch größere Einfachheit und Eleganz erhielten durch den Begriff der Klasse und andere Begriffe, die von Caporali[538] (1855-1886) eingeführt wurden, jenem ausgezeichneten Geometer, dessen frühen Verlust ganz Italien betrauert.[539] {85} Von ganz verschiedenem Charakter sind hingegen die eleganten Untersuchungen von Laguerre über solche Transformationen, welche er »Transformationen durch reciproke Richtungen« nannte; da es nicht möglich ist, den Grundgedanken in wenigen Worten zusammenzufassen und die vielfachen Anwendungen, welche der Erfinder davon gemacht hat, anzudeuten, verweisen wir den Leser auf die Originalarbeiten des hervorragenden französischen Geometers.[540] Von der Theorie, die wir jetzt besprechen, bildet auch die Lehre von den »isogonalen Transformationen« einen Teil, welcher sich auf die geometrische Darstellung der komplexen Zahlen stützt und deren Nützlichkeit (welche vielleicht grösser {86} ist für die mathematische Physik als für die reine Geometrie) Möbius,[541] Siebeck,[542] Durège,[543] Beltrami,[544] Vonder-Mühll,[545] F. Lucas,[546] Wedekind[547] und neuerdings Holzmüller[548] dargethan haben.[549] {87} Den Begriff der eindeutigen Korrespondenz zwischen zwei Ebenen kann man auf verschiedene Weise verallgemeinern; die Weisen, die sich so ziemlich von selbst darbieten, sind folgende: Vor allem, ohne die Ebene zu verlassen, kann man eine Korrespondenz aufstellen zwischen jedem Punkte derselben und einer Kurve eines doppelt unendlichen Systemes in derselben oder auch einer anderen Ebene;[550] diese Art der Korrespondenz ist eine Erweiterung der Korrelation (Reciprocität) zwischen zwei Feldern; angegeben von Plücker, wurde dieselbe von Clebsch[551] entwickelt und veranlaßte die Theorie der Konnexe.[552] {88} Wenn man dann zum Raume übergeht, kann man eine Korrespondenz zwischen den Punkten zweier Oberflächen aufstellen (insbesondere zwischen den Punkten einer krummen Oberfläche und denen einer Ebene) oder zwischen den Punkten zweier Räume. Die Darstellung einer Oberfläche auf einer Ebene kann man bis ins Altertum zurückverfolgen, da schon Hipparch und Ptolomaeus (und wahrscheinlich andere vor ihnen) sich die Aufgabe der Herstellung geographischer Karten gestellt und Lösungen derselben mitgeteilt haben, die auf derjenigen Projektion beruhen, welche man heute die stereographische nennt. -- Die Projektion von Mercator (1512-1594), die Untersuchungen von Lambert (1728-1777) und Lagrange, die berühmte Antwort von Gauß auf eine von der dänischen Akademie gestellte Frage[553] zeigen, wie die täglichen Bedürfnisse der Geographie und Navigationskunde unaufhörlich die Gelehrten angetrieben haben, sich mit dem Probleme der eindeutigen Darstellung der Oberfläche unseres Planeten auf einer Ebene zu beschäftigen.[554] -- Die erste Abbildung einer Oberfläche auf einer anderen jedoch, die nur in der Absicht gemacht wurde, um eine derselben leichter studieren zu können, verdanken wir Gauß, der 1827 in seinen berühmten _Disquisitions generales circa superficies curvas_ es als sehr vorteilhaft erkannte, die Punkte {89} einer beliebigen Oberfläche den Punkten einer Kugelfläche entsprechen zu lassen, indem man zwei solche Punkte zuordnet, deren Normalen einander parallel sind.[555] Eine besondere Eigentümlichkeit dieser Korrespondenz ist die, daß, um Eindeutigkeit zu erhalten, es fast immer nötig ist, nur den Teil der Oberfläche abzubilden, den man gerade ins Auge faßt; wir wollten diese Eigenschaft nicht stillschweigend übergehen, da deren Anführung uns Gelegenheit giebt, den Unterschied hervorzuheben, der zwischen der sphärischen Abbildung und den Abbildungen besteht, welche von Plücker,[556] Chasles[557] und Cayley[558] für das Studium der Geometrie auf einer Fläche zweiten Grades, denen, die von Clebsch[559] und Cremona[560] für das Studium der Geometrie auf einer kubischen Fläche, und von denen endlich, die von späteren Geometern für die Untersuchung anderer Flächen vorgeschlagen sind. Die erste Arbeit, welche _ex professo_ die Theorie der Abbildungen dieser Art behandelt, verdankt man Clebsch.[561] Die zahlreichen Beispiele, durch welche der Verfasser in dieser Arbeit, sowie in einigen älteren und späteren[562] die allgemeine Theorie illustrierte, haben zur Aufstellung der Geometrie auf einer grossen Zahl von Flächen mit vielen Einzelheiten geführt. Ferner haben die fast gleichzeitigen Abhandlungen {90} von Cremona[563] und Nöther,[564] sowie die ihnen folgenden von Armenante,[565] Klein,[566] Korndörfer,[567] Caporali[568] und von noch anderen[569] im Verlaufe weniger Jahre diese Zahl außerordentlich vermehrt.[570] Man kann sich eine ziemlich genaue Vorstellung von dem Reichtum dieses Zweiges der Geometrie machen, wenn man die schöne Abhandlung von Caporali über die dreifach unendlichen linearen Systeme ebener Kurven liest,[571] in welcher er einerseits die Theorie der Abbildung einer Oberfläche auf eine Ebene auf das Studium solcher Systeme anwandte, andererseits in derselben wertvolle Hilfsmittel der Untersuchung fand. Bei dem Studium der Abbildung einer Oberfläche bietet sich von selbst eine wichtige Frage dar, nämlich die, ob sie alle eindeutig auf eine Ebene abbildbar sind, oder allgemeiner: ob zwei Oberflächen sich als Punkt für Punkt {91} einander entsprechend darstellen lassen. Und da man leicht erkannte, daß die Antwort auf diese Frage eine negative sei, so wurde man natürlich auf die andere Frage geführt: Welche Oberflächen lassen sich eindeutig auf einer Ebene abbilden? Oder allgemeiner: Welche Oberflächen kann man eindeutig auf einer gegebenen abbilden? -- Die analoge Frage für zwei (ebene oder unebene) Kurven wurde von Clebsch vermittelst der Betrachtung des Geschlechtes und der Moduln gelöst. Diese Analogie veranlaßte nun Clebsch, die Lösung des vorhin angegebenen Problems in einer Ausdehnung des Begriffes des Geschlechtes auf die Oberflächen[572] zu suchen. Dieser Versuch wurde jedoch nach meinem Dafürhalten nicht von gutem Erfolge gekrönt, und auch heute muß man trotz der nach Clebsch angestellten Versuche ausgezeichneter Mathematiker wie Cayley,[573] Nöther,[574] Zeuthen[575] die Frage als noch ungelöst betrachten; um das zu beweisen, genügt es zu sagen, daß, wenn es auch bekannt ist, daß alle Oberflächen zweiter und dritter Ordnung (die nicht Kegelflächen sind) eindeutig auf einer Ebene abbildbar sind, doch noch nicht alle Oberflächen vierter Ordnung bestimmt sind, welche dieselbe Eigenschaft haben.[576] {92} Die allgemeineren Resultate, die man auf diesem Gebiete kennt, waren, wenn ich nicht irre, von Nöther[577] erhalten; dieser gelangte durch eine überaus elegante analytische Betrachtung bei jeder Oberfläche, welche eine einfach unendliche Schar rationaler Kurven enthält, zu einer Abbildung derselben auf einem Kegel. Die Schwierigkeit aber, auf welche man bei der eindeutigen Abbildung gewisser Oberflächen auf eine Ebene stieß, ließen bei Clebsch den Gedanken entstehen, zwischen einer Oberfläche und einer Ebene eine vielfache Korrespondenz aufzustellen, oder auch (wie er an die Riemannschen Flächen denkend sagte) eine Fläche auf eine vielfache Ebene abzubilden und dann diese auf eine einfache Ebene zu beziehen.[578] Diese Idee, deren Keime sich vielleicht bis zu der von Chasles[579] vorgeschlagenen Verallgemeinerung der stereographischen Projektion zurückverfolgen lassen, konnte nicht mehr vollständig von ihrem Urheber entwickelt werden; jedoch blieben die von ihm gegebenen Andeutungen nicht unfruchtbar, vielmehr entstand aus ihnen die Theorie der doppelten ebenen Transformationen, welche de Paolis aufgestellt und durch vielfache Anwendungen erläutert hat.[580] Die zweite Verallgemeinerung der Cremonaschen Transformationen veranlaßte die Theorie der rationalen Transformationen im Räume. Zwei Beispiele einer solchen Korrespondenz boten sich in der Homographie zweier Räume (und deren Spezialfällen) dar und -- wie Magnus,[581] Hesse[582] und Cremona[583] bemerkt haben -- in der Transformation, die man erhält durch drei zu demselben Räume korrelative (reciproke) Räume, indem man jedem Punkte jenes Raumes {93} den Schnitt der Ebenen zuordnet, die ihm in diesen entsprechen. Die allgemeine Theorie entstand jedoch erst um das Jahr 1870 durch die Bemühungen Cayleys,[584] Nöthers[585] und Cremonas,[586] obwohl schon Magnus[587] Ende 1837 dieselbe angestrebt und ihre Wichtigkeit eingesehen hatte. Von den bemerkenswerten Arbeiten, in welchen diese Gelehrten unsere Theorie im allgemeinen begründeten, ist ohne Zweifel die wichtigste jene, die wir der Feder unseres berühmten Landsmannes verdanken. Geleitet durch die Analogie, welche diese Disziplin mit der der eindeutigen Korrespondenz zwischen zwei Ebenen darbietet, zeigte er, wie jene sich auf das Studium der dreifach unendlichen homaloidischen Systeme von Oberflächen zurückführen läßt. Darauf setzte er auf eine sehr schöne Weise auseinander, wie man unendlich viele solcher Systeme erhalten könne, wenn man die ebene Abbildung einer Oberfläche kennt, und zeigte zuletzt durch treffende Beispiele, wie man die Theorie der rationalen Transformationen auf die Abbildung vieler Flächen auf andere zurückführt, insbesondere auf die ebene Abbildung einiger von ihnen. Diese Anwendung, vereint mit der obenerwähnten Methode, zeigt klar, wie man aus der ebenen Abbildung einer Oberfläche nicht nur die Abbildungen von unendlich vielen anderen erhalten kann, sondern auch unzählig viele rationale Transformationen des Raumes. Ungeachtet der Schriften, durch welche England, Deutschland und Italien so mächtig zur Gründung und Erweiterung dieser Theorie beigetragen haben, kann man doch nicht sagen, daß dieselbe den Grad der Vollendung erreicht habe, {94} den andere erlangt haben. Das kommt vielleicht daher, daß die schwierigsten Fragen, welche sich in derselben darbieten, innig mit der Bestimmung der Singularitäten der Oberflächen zusammenhängen, und über diese -- wir müssen es leider gestehen -- sind unsere Kenntnisse noch sehr beschränkt. Darin hat man vielleicht die Erklärung der Thatsache zu suchen, daß die Geometer, die auf jene oben erwähnten folgten, sich mehr mit der Erläuterung der Methoden ihrer Meister, als mit der Vervollkommnung derselben und der Ausfüllung ihrer Lücken beschäftigt haben.[588] Und dennoch -- wenn auch das Studium der Figur selbst ohne Zweifel dem der transformierten vorzuziehen ist -- giebt es bei dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft sehr wenige Theorien, die so sehr es verdienen, daß man sie in allen ihren Einzelheiten vervollkommne, als gerade diese. In der That, um die Worte eines großen Mannes zu gebrauchen, »wenn man über das Verfahren der Algebra nachdenkt und den Grund {95} der gewaltigen Vorteile aufsucht, die sie der Geometrie bietet, sieht man da nicht, daß sie dieselben der Leichtigkeit verdankt, mit welcher man anfänglich eingeführte Ausdrücke Transformationen unterziehen kann, Transformationen, deren Geheimnis und deren Mechanismus die wahre Wissenschaft bilden und die das ständige Ziel der Analysten sind? Ist es darum nicht natürlich, zu versuchen, in die reine Geometrie analoge Transformationen einzuführen, welche direkt auf die vorgelegten Figuren und ihre Eigenschaften hinsteuern?[589] Auf das allgemeine Studium der Transformationen folgt das solcher Transformationen, bei denen man einen gewissen Zweck im Auge hat,[590] z. B. die Verwandlung der Figuren in sich selbst oder ihre Zurückführung zur ursprünglichen Figur, wenn die Transformationen mehrmals hintereinander angewandt werden. Es existieren in der That auch schon einige gute Arbeiten, in welchen die Kollineationen und Korrelationen behandelt sind, welche eine Fläche zweiter Ordnung, einen linearen Komplex[591] oder eine kubische Raumkurve[592] in sich selbst transformieren, sowie über die cyklischen Projektivitäten.[593] {96} Wir wollen diesen Abschnitt unserer Arbeit beschließen, indem wir noch einige Worte über die vielfachen Transformationen zwischen zwei Gebilden zweiter und dritter Stufe sagen, auf welche ich nur im Vorübergehen hinweisen konnte, indem ich einige Abhandlungen von Paolis anführte. Der erste, der sich mit ihnen beschäftigte, war Chr. Wiener,[594] welcher sie untersuchte, indem er eine eindeutige Korrespondenz in der Ebene herstellte zwischen den Geraden einer Ebene und den Kurven eines linearen Systemes; dann ist einem Punkte, betrachtet als Schnitt zweier Geraden, die Gruppe der Grundpunkte des Büschels zugeordnet, der durch die entsprechenden Kurven konstituiert wird. Diese Art und Weise, vielfache Transformationen zu erzeugen, wurde von Tognoli[595] auf den Raum ausgedehnt; derselbe ließ jedem Punkte, betrachtet als Schnitt dreier Ebenen, die Grundpunkte desjenigen Netzes entsprechen, das durch die drei den drei Ebenen entsprechenden Oberflächen eines dreifach unendlichen linearen Systemes bestimmt wird. Solche Untersuchungen haben sich bis jetzt jedoch noch nicht als sehr fruchtbar gezeigt. Ziemlich wichtig dagegen sind die schon genannten Untersuchungen von Paolis über die doppelten Transformationen. Das zeigen die Arbeiten, in denen Visalli[596] und Jung[597] die vielfachen Transformationen untersucht haben und welche die Fortsetzungen jener sind. Mit einigen speziellen vielfachen Transformationen des Raumes haben sich Reye[598] und Segre[599] beschäftigt und von ihnen elegante Anwendungen gemacht. Aschieri[600] übertrug eine spezielle ebene zweifache Transformation, welche Paolis bearbeitet hatte, auf den Raum und dehnte auch die {97} Anwendungen, die jener davon gemacht hatte, auf die Nicht-Euklidische Geometrie aus. Allgemeine Untersuchungen auf diesem Gebiete haben wir jedoch keine außer den wenigen, die in einer kurzen Arbeit von Reye[601] aufgezeichnet sind, und den sehr wichtigen über die doppelten Transformationen des Raumes von Paolis.[602] Wir zweifeln nicht, daß diese und jene als Grundlage einer allgemeinen Theorie der zweifachen Transformationen, die wir noch erwarten, dienen können; und wir erwarten dieselbe mit Ungeduld, da wir sicher sind, daß dieselbe der Geometrie nicht geringere Dienste leisten wird, als die sehr bekannten, die ihr durch die birationalen Transformationen geleistet sind, und jene, die, wie Paolis bemerkt, die doppelten leisten können. Neben die vielfachen Korrespondenzen zwischen zwei Räumen von Punkten (oder Ebenen) kann man die zwischen einem Punktraume und einem Ebenenraume stellen. Untersucht wurden dieselben für den Fall, daß durch jeden Punkt die entsprechenden Ebenen gehen und in jeder Ebene die entsprechenden Punkte liegen. Zusammen betrachtet bilden die zwei Räume ein höheres Nullsystem oder Punktebenensystem. Die Theorie dieser Systeme ist in diesen letzten Jahren besonders durch die Arbeiten von Ameseder,[603] von Sturm[604] und Voß[605] hervorgetreten, während Reye[606] das Verdienst zukommt, den Begriff des gemeinen Nullsystemes[607] zuerst, doch in einer anderen Weise -- die entsprechenden Elemente sind nicht Punkte und Ebenen, sondern Flächen zweiter Ordnung und zweiter Klasse -- erweitert zu haben. {98} * * * * * VII. Geometrie der Geraden. ------ Die griechische Geometrie betrachtet den Punkt als das erzeugende Element aller Figuren; die analytische Geometrie des Cartesius machte die Bestimmung des Punktes zur Grundlage aller ihrer Rechnungen. Das Prinzip der Dualität führte nun die Gelehrten zu dem Schlüsse, daß die Gerade in der Ebene und die Ebene im Raume mit gleichem Rechte und gleichem Erfolge, wie der Punkt, die Rolle spielen könne, die bis jetzt dieser in der Geometrie inne gehabt, und führte in der Folge dazu, die Gerade und die Ebene als Elemente der Ebene und des Raumes anzunehmen und ein neues System der (synthetischen und analytischen) Geometrie aufzustellen. Das Verdienst dieses bemerkenswerten Fortschrittes gebührt größtenteils Plücker.[608] Aber ganz auf Plücker fällt der Ruhm, ein drittes die räumlichen Gebilde erzeugendes Element -- die Gerade -- eingeführt und auf eine solche Betrachtung eine neue Geometrie des Raumes begründet zu haben. Dieser berühmte Gelehrte kehrte, nachdem er fast zwanzig Jahre hindurch die Geometrie verlassen hatte, um seine bedeutenden Geisteskräfte der Physik zu widmen, zu der Wissenschaft zurück, die ihm ursprünglich seinen Ruhm gesichert hatte, um sie {99} mit einer neuen und wichtigen Disziplin zu beschenken, mit »der Geometrie der Geraden«. Die ersten Mitteilungen über diesen Gegenstand, die im Jahre 1865 der Königlichen Gesellschaft zu London[609] von dem großen deutschen Geometer gemacht wurden, enthalten die Sätze über einige allgemeine Eigenschaften der Komplexe, Kongruenzen und Regelflächen und einige spezielle Eigenschaften der linearen Komplexe und Kongruenzen;[610] die Beweise derselben sind nur angedeutet und sollen, nach Angabe des Autors, vermittelst der Koordinaten einer Geraden im Raume geführt werden, die er als einen eigenen Gedanken eingeführt hatte, die man später aber als Spezialfall dessen erkannte, was schon Cayley[611] aufgestellt hatte, um vermittelst einer einzigen Gleichung eine beliebige Kurve im Raume darstellen zu können. Diese Mitteilungen veranlaßten plötzlich eine Reihe wichtiger Arbeiten, in denen Battaglini nicht nur, was Plücker behauptet hatte, sondern auch viele Lehrsätze bewies, die sich auf die Komplexe zweiten und höheren Grades beziehen.[612] -- Indessen hatte Plücker schon die von ihm {100} skizzierten Gedanken ausgeführt und in dem Werke vereinigt, welches den Titel trägt: _Neue Geometrie des Raumes, gegründet auf die Betrachtung der geraden Linie als Raumelement._[613] Von diesem Buche zu sagen, daß es in allen seinen Teilen gleich wichtig und interessant sei, würde eine der Wahrheit nicht entsprechende Behauptung sein. Plücker schätzte nicht die Eleganz der Rechnung, an die wir durch Lagrange, Jacobi, Hesse, Clebsch gewöhnt sind; er teilte sicherlich nicht mit Lamé[614] die Ansicht, daß »die Bezeichnung für die Analysis das sei, was die Stellung und Wahl der Worte für den Stil ist«; bei ihm brauchte die Rechnung nur der einen Bedingung zu genügen, nämlich schnell zur Lösung der ins Auge gefaßten Probleme zu führen. Dieser Mangel, der allen Arbeiten von Plücker gemeinsam ist, macht sich lebhafter in dem letzten Werke bemerklich, welches einen Wettstreit eingehen sollte mit Mustern der Eleganz, wie den _Vorlesungen über analytische Geometrie des Raumes_ von Hesse und den _Vorlesungen über Dynamik_ von Jacobi, die kurz vorher (1861 und 1866) herausgekommen waren. Außer diesem nicht geringen Mangel ist ein anderer noch bedeutenderer dadurch entstanden, daß Plücker lange Zeit hindurch es vernachlässigt hatte, den Fortschritten der Geometrie nachzugehen. Infolge dieser einseitigen Ausbildung finden wir in seinem Buche eine Menge von Untersuchungen, die uns nicht mehr interessieren, da sie unter andere allgemeinere, schon gemachte fallen, eine große Anzahl von Spezialfällen, von deren Wichtigkeit wir uns nicht überzeugen können, eine Menge von komplizierten Formeln, deren Nutzen wir nicht einsehen. Trotz dieser Fehler -- die ich anführen muß, um die geringe Anzahl der Leser, die sie heute findet, zu begründen -- kann man nicht verkennen, daß die letzte Arbeit von Plücker reich an originellen Blicken ist, und es würde die Lektüre derselben jedem zu raten sein, der das Studium dieses Teiles der Geometrie unternehmen will, wenn nicht die Nachfolger {101} Plückers seine Untersuchungen in besserer Form auseinandergesetzt und mit anderen Methoden ausgeführt, und jene Gedanken, die er nur hingeworfen hat, größtenteils entwickelt hätten. Plücker hatte nicht die Zeit, die Theorie der Komplexe zweiten Grades zu vollenden, da der Tod ihn traf, als er gerade im Begriffe stand, den zweiten Teil seines Buches zu veröffentlichen; aber die Untersuchungen, die er unvollendet zurückließ, wurden von seinem Schüler F. Klein[615] zu Ende geführt. Ihm verdanken wir nicht nur den allgemeinen Begriff der Koordinaten einer Geraden und eine Anzahl sehr schöner Lehrsätze über die Komplexe zweiten Grades, sondern auch verschiedene allgemeine und außerordentlich fruchtbare Ideen über die Geometrie der Geraden. In der That ist es Klein, der, einen Gedanken seines Lehrers präzisierend, die Bemerkung machte, daß man die Geometrie der Geraden ansehen könne als das Studium einer quadratischen Mannigfaltigkeit von vier Dimensionen, enthalten in einem linearen Raume von fünf Dimensionen, und zeigte, daß jeder Komplex durch eine einzige Gleichung zwischen den Koordinaten einer Geraden darstellbar ist. Daß diese Bemerkung und dieser Lehrsatz von der größten Bedeutung für den Fortschritt der Geometrie der Geraden seien, wurde in glänzender Weise durch die schönen Untersuchungen meines lieben Freundes Segre[616] gezeigt, die mit denen von Klein innig zusammenhängen. Gleichzeitig mit Klein beschäftigten sich Pasch,[617] Zeuthen,[618] Drach,[619] später auch Paolis[620] wiederholt {102} mit der Geometrie der Geraden, indem sie verschiedene Fragen derselben vermittelst homogener Koordinaten behandelten. Clebsch[621] wandte auf diese Theorie die Methode der abgekürzten Bezeichnung an; im Jahre 1873 vervollständigte Weiler[622] die Einteilung der Komplexe zweiten Grades nach den Begriffen, die Klein in seiner Dissertation angegeben hatte. Voß[623] studierte in einer Reihe sehr wichtiger Abhandlungen die Singularitäten der Systeme von Geraden; Halphen bestimmte die Zahl der Geraden des Raumes, welche vorher aufgestellten Bedingungen genügen;[624] Nöther,[625] Klein[626] und Caporali[627] beschäftigten sich mit der Abbildung der Komplexe ersten und zweiten Grades auf den gewöhnlichen Raum, Aschieri mit der einiger spezieller Komplexe;[628] Lie stellte den innigen Zusammenhang, der zwischen der Geometrie der Kugel und der Geometrie der Geraden besteht, ins Licht;[629] Reye endlich studierte die Formen der allgemeinen quadratischen Komplexe.[630] Nur mit Hilfe der synthetischen Geometrie wurde unsere Theorie von Chasles studiert[631] -- schon 1839 --, von Reye,[632] {103} von Silldorf,[633] Schur,[634] Bertini,[635] von d'Ovidio[636] und von W. Stahl;[637] Buchheim[638] bediente sich der Quaternionen, um die hauptsächlichsten Eigenschaften der linearen Kongruenzen zu beweisen, während viele Fragen aus der Infinitesimalgeometrie, die sich auf Systeme von Geraden beziehen, glücklich in einigen Abhandlungen von Mannheim,[639] Lie,[640] Klein,[641] Picard[642] und Königs[643] gelöst wurden. Schließlich wurden einige spezielle Komplexe studiert von Aschieri,[644] Painvin,[645] von Reye,[646] Lie,[647] Weiler,[648] Roccella,[649] von Hirst,[650] Voß,[651] Genty,[652] Montesano,[653] von Segre und von mir.[654] Neben der reichhaltigen Schar von Schriften, die wir dem von Plücker gegebenen Anstoße verdanken, müssen wir noch eine andere ebenso glänzende erwähnen, die aber {104} von ganz anderer Art ist. Sie umfaßt die Arbeiten von Dupin,[655] Malus[656] (1775-1811) und Ch. Sturm[657] (1803-1855), Bertrand,[658] Transon[659] über die Normalen von Oberflächen und über die mathematische Theorie des Lichtes, dann die von Hamilton (1805-1865) über Systeme von Strahlen.[660] Diese Arbeiten finden ihre Krönung in zwei berühmten Abhandlungen, die von Kummer in den Jahren 1857 und 1866 veröffentlicht sind. In der ersteren, die im _Journal für Mathematik_[661] abgedruckt ist, hat sich Kummer die Aufgabe gestellt, durch eine einheitliche und einfachere Methode die Resultate von Hamilton darzulegen und sie in den Punkten, wo sie mangelhaft erschienen, zu vervollständigen.[662] In der zweiten,[663] die noch wichtiger ist, stellte er sich, nach einigen schönen allgemeinen Untersuchungen über die Zahl der Singularitäten eines Systemes von Strahlen und seiner Brennfläche, und löste die Frage, alle algebraischen Systeme von Strahlen erster und zweiter Ordnung zu bestimmen, d. h. solche, bei denen durch jeden Punkt des Raumes einer oder zwei Strahlen des Systemes hindurchgehen. Ich möchte wünschen, daß mir hinreichender Raum zu Gebote stände, um den Leser in den Stand zu setzen, die ausgezeichneten Verdienste dieser klassischen Arbeit hoch {105} zu schätzen, um ihn an der tiefen Bewunderung teilnehmen zu lassen, die ich für sie empfinde; ich möchte ihn sehen lassen, mit welch ausserordentlicher Gewandtheit der Verfasser zur Bestimmung aller Strahlensysteme erster und zweiter Ordnung zu gelangen weiß, zu den Gleichungen, die sie und ihre Brennflächen darstellen (welches jene Oberflächen vierter Ordnung mit Doppelpunkten sind, die ich Gelegenheit hatte, im Abschnitt III zu erwähnen), zu den Singularitäten der Systeme, den Konfigurationen, die sie bilden, zum Zusammenhange zwischen ihnen und den Singularitäten der Brennfläche u. s. w. Aber da die Bemessenheit des Raumes es mir verbietet, so muß ich mich darauf beschränken, den Wunsch auszusprechen, daß dieser mein kurzer Überblick es bewirken könne, daß bei jedwedem das Verlangen entsteht, die Untersuchungen Kummers selbst kennen zu lernen und den Weg zu verfolgen, den er mit solchem Glücke eingeschlagen hat; ich spreche diesen Wunsch aus, da mich die Beobachtung schmerzlich bewegt, daß in den zwanzig Jahren, die schon seit dem Erscheinen der Kummerschen Arbeit verflossen sind, es noch nicht gelungen ist, eine solche Theorie, die sich so fruchtbar an schönen Resultaten gezeigt hat, in einer bemerkenswerten Weise zu fördern.[664] {106} * * * * * VIII. Nicht-Euklidische Geometrie. ------ Die letzte Kategorie von Arbeiten, mit denen ich mich zu beschäftigen habe, umfaßt eine Reihe von Untersuchungen, die zu lebhaften Diskussionen Veranlassung gegeben haben und -- wunderbar zu sagen -- eine Zeit lang die Mathematiker in zwei Feldlager geteilt haben, »das eine gewappnet gegen das andere«;[665] heutzutage bilden sie denjenigen Teil der Wissenschaft des Raumes, den man »Nicht-Euklidische Geometrie« und »Theorie der beliebig {107} ausgedehnten Mannigfaltigkeiten« oder »Geometrie von n Dimensionen«[666] nennt. Jeder weiß, daß unter allen Sätzen, die in den _Elementen_ des Euklid enthalten sind, es einen giebt,[667] der nur schlecht dazu paßt, wie es der griechische Geometer gethan hat, unter die Axiome oder die Postulate gestellt zu werden.[668] Derselbe ist von großer Wichtigkeit im Euklidischen System, da auf ihn, wie man sagen kann, die ganze Theorie der Parallelen gegründet ist. Weil es nun nicht auf Grund unmittelbarer Anschauung gerechtfertigt ist, ihn unter diejenigen Sätze zu zählen, für welche es vergeblich ist, einen Beweis zu fordern, so kam man auf die Frage, ob er in der That unbeweisbar sei, und ob man nicht, wenn das der Fall sein sollte, ihn unterdrücken und durch einen anderen ersetzen könne, dessen Wahrheit offenbarer sei? Diese Fragen sind ein natürlicher Ausfluß unseres Zeitalters, von welchem eine der hervorragendsten Eigentümlichkeiten (wie Humboldt bemerkt) die unparteiliche Kritik alles dessen ist, was uns die Vergangenheit hinterlassen hat; sie müssen als der erste Ursprung der Nicht-Euklidischen Geometrie angesehen werden. Die ersten wichtigen Studien auf diesem Gebiete wurden gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts von Legendre[669] {108} gemacht. Dieselben stellten den Zusammenhang klar, der zwischen dem Postulate des Euklid und dem Satze besteht, der sich auf die Winkelsumme eines Dreiecks bezieht, und führten Legendre dazu, nicht nur jenes Postulat durch ein anderes viel wichtigeres zu ersetzen, sondern auch eine Geometrie zu entwerfen, die von eben demselben Postulate unabhängig ist.[670] Nahe zur selben Zeit wie Legendre, befaßte sich Gauß mit dieser Frage. Gleichwohl hat er niemals irgend eine Arbeit auf diesem Gebiete veröffentlicht; seine Korrespondenz mit Schumacher[671] und mit Wolfgang Bolyai (1775-1856)[672] und einige bibliographische Artikel von ihm[673] {109} bezeugen nicht nur das Interesse, das er dafür besaß, sondern bekunden auch die reiche Ernte von Wahrheiten, die er auf diesem, wie auf den anderen von ihm bebauten Feldern eingebracht hat. Und als die Schriften von Lobatschewsky (1793-1856)[674] und Johann Bolyai (1802-1860)[675] über diesen Gegenstand erschienen, da sanktionierte der Fürst der deutschen Mathematiker mit seiner Autorität die Ergebnisse, welche dieselben erhalten hatten. Man kann diese Ergebnisse zusammenfassen, indem man sagt, daß dieselben die Grundlage einer neuen Geometrie sind, die vollständig unabhängig ist von dem Postulate des Euklid (die Nicht-Euklidische Geometrie, oder imaginäre oder auch Pangeometrie), die in gewissen Punkten mit der gewöhnlichen Geometrie übereinstimmt, jedoch in vielen anderen sich von ihr unterscheidet, -- eine Geometrie, die eine Zeit lang einige als absurd verbannt haben wollten, da sie den von einer nur oberflächlichen Sinneswahrnehmung bezeugten Erscheinungen widerspricht, die aber heute allgemein angenommen ist, da ihr logischer Wert außer Zweifel gestellt ist.[676] {110} Zu diesem Siege der Logik über den übertriebenen Empirismus haben in sehr wirkungsvoller Weise einige Schriften von großer Bedeutung beigetragen, die Riemann (1827-1866), von Helmholtz und Beltrami in den Jahren 1867 und 1868 veröffentlichten. Die Riemannsche Schrift: _Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen_[677] -- zwölf Jahre vor ihrer Veröffentlichung geschrieben -- war und ist noch durch die Allgemeinheit der Begriffe und die Knappheit der Form selbst für diejenigen, welche in der Mathematik schon vorgeschritten sind, von schwierigem Verständnisse. Jedoch ein großer Teil der Ideen, welche dieselbe enthält, verbreiteten sich sehr bald, da sie, durch ein glückliches Zusammentreffen, auch von Helmholtz ausgesprochen wurden, und dieser sie nicht nur den Mathematikern in rein wissenschaftlicher Form darlegte,[678] sondern auch in populären Vorträgen und Artikeln in verschiedenen Zeitschriften auch außerhalb des engeren Kreises der Geometer behandelte.[679] Keinen geringeren Einfluß aber als die Schriften des berühmten Verfassers der _Physiologischen Optik_ übte der klassische _Saggio di interpretazione della Geometria non-euclidea_[680] von Beltrami aus. Gerade die Schärfe und analytische Eleganz, welche diese Schrift auszeichnen, lenkte die Aufmerksamkeit der Geometer auf dieselbe; das glänzende und überraschende Resultat, daß die Sätze der Nicht-Euklidischen Geometrie ihre Verwirklichung auf den Oberflächen mit konstanter negativer Krümmung fanden, machte einen tiefen Eindruck auch auf diejenigen, welche jeder nicht durch das {111} Experiment bewiesenen Behauptung allen Wert absprachen, und sicherte den Triumph der neuen Anschauungen; endlich -- die dort verteidigten gesunden Prinzipien einer wissenschaftlichen Philosophie und die glänzende Form, in welcher die Abhandlung geschrieben ist, ließen und lassen noch bei allen eine lebhafte Bewunderung für unseren berühmten Landsmann entstehen, durch dessen Bemühung wiederum einmal die Wahrheit den Sieg davontrug. Daß die Arbeiten dieser drei großen Gelehrten einen wohlthätigen Einfluß auf die ganze Geometrie ausgeübt haben, hat sich zur Evidenz durch die Änderung gezeigt, welche sich in bezug auf die Art und Weise vollzogen hat wie man heutzutage die ihr zu Grunde liegenden Sätze betrachtet.[681] Wenn früher die Geometer den Philosophen die Sorge überließen, zu entscheiden, ob die Wahrheiten, mit denen sie sich beschäftigten, notwendige oder zufällige seien, und dahin neigten, dieselben als notwendige zuzulassen, so streben sie jetzt, nachdem die empirische Grundlage der Geometrie erkannt ist, fortwährend darnach, genau festzusetzen, welche Thatsachen man der Sinneswahrnehmung entnehmen muß, um eine Wissenschaft der Ausdehnung zu gründen.[682] Wer die schönen _Vorlesungen über neuere {112} Geometrie_ (Leipzig, 1882) von Pasch liest, die neueren Lehrbücher prüft und diese und jene mit den älteren Büchern vergleicht, wird wesentliche Unterschiede finden. In den älteren Werken giebt der Lehrer die Voraussetzungen, die er nicht beweist, als notwendige, ewige und unanfechtbare Wahrheiten, in den neueren führt er sozusagen den Schüler dazu, die nötigen Erfahrungen auszuführen, um die Prämissen der späteren Deduktionen festzustellen. In den älteren Arbeiten stellt der Verfasser die Euklidische Geometrie als die einzig denkbare hin, in den neueren als {113} eine der unendlich vielen, die man aufstellen könnte. Und diese Unterschiede bezeichnen einen thatsächlichen Fortschritt, da sie zeigen, daß die Gelehrten sich von einem alteingewurzelten und schädlichen Vorurteile frei gemacht haben; und für den Fortschritt der Wissenschaft hat die Erkenntnis eines Irrtums eine nicht geringere Wichtigkeit, als die Entdeckung einer Wahrheit. Kurz nach der Veröffentlichung der Arbeit von Beltrami erschien eine von F. Klein,[683] die auch von großer Wichtigkeit ist; aber um die Stellung zu kennzeichnen, welche dieselbe in der Geschichte der Nicht-Euklidischen Geometrie einnimmt, muß ich mich einige Jahrzehnte rückwärts wenden. Es ist bekannt, daß infolge des _Traité des propriétés projectives des figures_ eine Unterscheidung aufgestellt wurde zwischen den Eigenschaften der Figuren, die erhalten bleiben, wenn diese projiziert werden, und solchen, die nicht erhalten werden; es ist ferner bekannt, daß unter den ersteren alle Lagen-Eigenschaften, aber nur einzelne metrische Eigenschaften begriffen sind. Nun stellten die Geometer sich die Frage, ob es nicht möglich sei, die metrischen Eigenschaften der Figuren so auszusprechen, daß sie bei der Projektion sämtlich erhalten werden. Für einige Arten der Projektion haben Chasles und Poncelet die Frage gelöst, indem sie den Begriff der unendlich fernen Kreispunkte der Ebene und des unendlich entfernten imaginären Kreises einführten; für andere wurde die Lösung von Laguerre[684] gegeben, dem es gelang, den Begriff des Winkels projektiv zu machen; aber derjenige, welcher die Lösung in ihrer ganzen Allgemeinheit gab, war Cayley[685] (1859), der in dem sechsten von seinen berühmten _Memoirs upon Quantics_ zeigte, daß jede metrische Eigenschaft einer ebenen Figur als in einer {114} projektiven Beziehung zwischen dieser und einem festen Kegelschnitte enthalten betrachtet werden könne. Nun besteht der Hauptzweck der angeführten Abhandlung von Klein eben darin, die innige Beziehung zwischen den Schlüssen Cayleys und denen, zu welchen Bolyai und Lobatschewsky gelangt waren, herzustellen; auf welche lichtvolle Weise dieses Ziel erreicht ist, das beweist der große Ruhm, zu dem diese Schrift alsbald gelangte.[686] An diese Schriften schließen sich viele andere; an die von Riemann und Beltrami einige interessante Arbeiten von de Tilly,[687] Genocchi,[688] von Escherich[689] und Bianchi;[690] an die von Klein verschiedene Abhandlungen von Battaglini,[691] d'Ovidio,[692] de Paolis[693] und Aschieri,[694] Cayley,[695] Lindemann,[696] Schering,[697] von Story,[698] {115} H. Stahl[699] und Voß,[700] von H. Cox[701] und A. Buchheim.[702] Die mathematische Litteratur der allerneuesten Zeit jedoch ist nicht sehr reich an Forschungen auf diesem Gebiete;[703] es hat den Anschein, als wenn jenes Zeitalter, welches man das heroische nennen könnte, und durch welches jede Disziplin einmal hindurchgeht, schon von der Nicht-Euklidischen Geometrie durchlaufen sei. Sollten vielleicht die unermüdlichen Arbeiter der beiden Jahrzehnte 1860-1880 die Minen in jeder Richtung so gründlich durchwühlt haben, daß sie keine goldführende Ader mehr bergen? * * * * * IX. Geometrie von n Dimensionen. ------ Die Theorie der beliebig ausgedehnten Mannigfaltigkeiten oder die Geometrie von n Dimensionen verdankt ihren Ursprung der Unterstützung, welche die Algebra von der Geometrie erhielt, seitdem Cartesius jene auf diese anzuwenden gelehrt hat. In der That ist diese Unterstützung eine begrenzte, da nur die analytischen Thatsachen, welche mit der Theorie der Funktionen einer, zweier oder dreier Variabelen verknüpft sind (oder mit der Theorie der binären, ternären oder quaternären Formen), einer den Sinnen zugänglichen {116} Darstellung fähig sind. Aber der Geist der Verallgemeinerung, der, wie ich schon sagte, einer der mächtigsten Antriebe zu den modernen geometrischen Untersuchungen war und noch fortwährend ist, bewog die Geometer, die Fesseln zu brechen, welche die Natur ihrem Vorstellungsvermögen angelegt zu haben schien, und von beliebig ausgedehnten Räumen zu sprechen.[704] Und sie sprachen davon, ehe sie sich noch mit der mehr philosophischen, als mathematischen Frage beschäftigt hatten, ob in der That solche Räume existieren; und sie thaten dies mit Recht, da sie nur so, ohne ein vielleicht unlösbares Problem in Angriff zu nehmen, ihr Ziel erreichen konnten; durch eine kühne Einbildungskraft verschafften sie sich die (sinnlich wahrnehmbaren oder übersinnlichen) Darstellungen vieler analytischer Resultate.[705] Um zu zeigen, daß man wirklich in der angegebenen Weise zu einer solchen Theorie gekommen ist, begnüge ich mich damit, die Thatsache anzuführen, daß dieselbe von Analysten wie Cauchy[706] (1789-1857) und Riemann[707] aufgestellt wurde; daß sie sich noch bei vielen anderen minder bedeutenden mehr oder weniger versteckt findet in der Absicht, für die Theoreme der Analysis ausdrucksvollere Fassungen zu erhalten; ferner daß Lagrange schon Ende des vergangenen Jahrhunderts die Bemerkung machte, »daß man die Mechanik als eine Geometrie von vier Dimensionen {117} ansehen könne«, in welcher die Zeit als vierte Koordinate fungiert.[708] Dieser Begriff des beliebig ausgedehnten Raumes ist jedoch seinem Ursprunge und seiner Bestimmung nach wesentlich analytisch. Plücker, dem das Schicksal einen so wichtigen Anteil an der Förderung der modernen Geometrie zugeteilt hat, war es vorbehalten, diesem Begriffe ein geometrisches Gewand zu geben, indem er beobachtete, daß man unserem Raume eine beliebige Anzahl Dimensionen zuerteilen kann vermittelst einer passenden Wahl des geometrischen Gebildes, welches man als erzeugendes Element des Raumes auffaßt; so wird er drei Dimensionen haben, wenn man den Punkt oder die Ebene wählt, vier, wenn man die Gerade oder die Kugel nimmt, neun, wenn man die Fläche zweiten Grades nimmt, u. s. w.[709] {118} Dieser Gedanke ist weniger abstrakt als der vorhergehende, und leichter zu begreifen; dessen ungeachtet verbreitete er sich viel langsamer, als der erstere, wahrscheinlich deswegen, weil sein Urheber nicht Worte genug machte, um seine Wichtigkeit zu zeigen. Der andere hingegen wurde besonders infolge der berühmten Abhandlung von Riemann, _Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen_, in vielen Richtungen weiter entwickelt, und die mathematische Litteratur über diesen Gegenstand ist von einer schon beträchtlichen Reichhaltigkeit und wächst noch von Tag zu Tag. Zur Rechtfertigung dieser Behauptung erinnere ich an die schon genannten Abhandlungen von Helmholtz, führe die von Beltrami,[710] Schläfli,[711] Newcomb,[712] Stringham,[713] das neue Buch von Killing[714] an und die darauf folgenden Untersuchungen von Schur,[715] die enge mit der Riemannschen Abhandlung zusammenhängen; die Untersuchung von Betti[716] über den Zusammenhang eines Raumes von n Dimensionen; die von Clifford,[717] Beltrami,[718] Jordan,[719] von Lipschitz,[720] Monro,[721] Scheeffer (1859-1885),[722] Heath[723] und Killing[724] über die Kinematik und Mechanik eines {119} solchen Raumes;[725] ferner die von Jordan[726] und Brunel[727] über die verschiedenen Berührungs- und Schmiegungsräume, welche eine Kurve in einem Raume von n Dimensionen zuläßt,[728] die von Craig[729] über die metrischen Eigenschaften der Oberflächen in einem solchen Raume, die von Kronecker,[730] von Beez,[731] Lipschitz,[732] Christoffel,[733] von Brill,[734] Suworoff[735] und Voß[736] über die Krümmung eines beliebig ausgedehnten Raumes; die von Kronecker und Tonelli[737] über das Potential; die von Lie,[738] Klein,[739] Jordan[726] und Lipschitz[740] über die Erweiterung des Dupinschen und des Eulerschen Lehrsatzes; sodann die konforme Abbildung einer Oberfläche des vierdimensionalen Raumes auf den gewöhnlichen Raum, die von Craig[741] studiert wurde, endlich die von Lipschitz gegebene Verallgemeinerung des berühmten Problemes der drei Körper.[742] Zum Schlusse wollen {120} wir die Aufmerksamkeit des Lesers lenken auf die Erweiterungen gewisser Begriffe, einiger Sätze und Formeln der elementaren Geometrie, die vorzüglich von Rudel,[743] Hoppe,[744] Schlegel[745] und Mehmke[746] gemacht sind; dazu gehören auch die Untersuchungen von Stringham,[747] Hoppe,[748] Schlegel,[749] Scheffler,[750] Rudel,[751] O. Biermann,[752] Puchta[753] und anderen über die regulären Körper des vierdimensionalen Raumes, die soweit gediehen, daß sie Schlegel gestatteten, Modelle der Projektionen dieser Körper auf unseren Raum herzustellen.[754] Außer dieser Richtung wurde eine andere nicht weniger fruchtbare von den Bearbeitern der Mannigfaltigkeiten von n Dimensionen verfolgt, welche projektiv ist, während die erstere wesentlich metrisch ist.--Eine kurze Andeutung, {121} die von Cayley im Jahre 1846 gegeben wurde[755] über eine Methode, um die Konfigurationen von Punkten, Geraden und Ebenen zu untersuchen, kann man als die erste ansehen, welche auf diese neue Richtung hinwies. Aber es scheint, wie Bailly[756] bemerkt hat, »daß die Ideen, wie wir, ein Kindesalter und eine erste Zeit der Schwäche haben; sie sind nicht von Geburt an produktiv, sondern erhalten erst mit dem Alter und mit der Zeit ihre Fruchtbarkeit«. Daher sehen wir denn mehr als 30 Jahre verfließen, ehe der geniale Gedanke des großen englischen Geometers, in der richtigen Weise entwickelt, die synthetische Geometrie der Räume von n Dimensionen, welche wir heute besitzen, hervorrief. Als Einleitung zu derselben muß man die wichtige Arbeit von Clifford ansehen: _On the classification of loci_,[757] in welcher das allgemeine Studium der Kurven in beliebigen linearen Räumen in Angriff genommen ist; jeden Augenblick kommen in demselben Operationen vor, die wirkliche Erweiterungen derer sind, die man in der gewöhnlichen projektiven Geometrie zu machen pflegt. Jedoch kann man sagen, daß dieser neue Zweig der Geometrie mit der Abhandlung beginnt, die Veronese der _Behandlung der projektiven Eigenschaften der Räume von_ n _Dimensionen durch die Prinzipien des Schneidens und Projizierens_ gewidmet hat.[758] In derselben läßt der berühmte Verfasser, Riemann folgend, einen Raum von n Dimensionen entstehen, indem er von demselben einen solchen, der eine Dimension weniger hat, von einem außerhalb gelegenen Punkte projiziert, und {122} indem er sich dieser Erzeugungsweise bedient, gelangt er zur Erweiterung des grösseren Teiles der Theorien der gewöhnlichen Geometrie der Lage.[759] Die Fruchtbarkeit der in dieser grundlegenden Abhandlung erörterten Prinzipien wurde durch viele interessante Arbeiten, welche die Fortsetzung derselben bilden, ins Licht gestellt; dieselben bereichern noch von Tag zu Tag ein Lehrgebiet, in welchem Italien eine hervorragende Stelle einnimmt. Unter ihnen will ich -- abgesehen von denen, die Veronese selbst publiziert hat,[760] -- die Untersuchungen von Segre anführen über die Theorie der quadratischen Gebilde in einem Raume von n Dimensionen und ihre Anwendung auf die Geometrie der Geraden,[761] über die kollinearen und reciproken Korrespondenzen,[762] über die Büschel von Kegeln zweiten Grades,[763] über die Regelflächen,[764] über die Oberflächen vierter {123} Ordnung mit Doppelkegelschnitt[765] und über die Theorie der Systeme von Kegelschnitten,[766] dann die von Bertini[767] und Aschieri,[768] die verwandte Gegenstände behandeln; die Schriften von del Pezzo über die Oberflächen in einem n-dimensionalen Raume.[769] Noch viele andere müßte ich nennen, aber Io non posso ritrar di tutti appieno; Perocchè sì mi caccia il lungo tema, Che molte volte al fatto il dir vien meno.[770] Jedoch Arbeiten, welche zu verschweigen mich keine Betrachtung verleiten könnte, sind die -- viel früher als die von Veronese erschienenen -- von Nöther über die eindeutigen Korrespondenzen zwischen zwei n-dimensionalen Räumen (1869, 1874),[771] jene ebenfalls älteren von Halphen (1875) über die Schnitte der Mannigfaltigkeiten, die in einem beliebigen linearen Raume enthalten sind,[772] von d'Ovidio {124} über die Metrik eines solchen Raumes (1876),[773] endlich die neuerlichen von Schubert über die abzählende Geometrie eines Raumes von solcher Beschaffenheit.[774] * * * * * Schluss. ------ Hiermit scheint es mir angemessen, die vorgenommene Musterung zu beschließen. Freilich sind viele wirklich interessante Untersuchungen derselben entgangen, da sie unter keiner der Kategorien, in welche ich die von mir besprochenen Arbeiten eingeteilt habe, Platz finden konnten. So konnte ich nicht über die Theorie der projektiven Koordinaten berichten, die von Chasles[775] erhalten wurden, als er die gewöhnlichen Cartesischen Koordinaten einer kollinearen Verwandlung unterzog, die dann direkt von Staudt[776] aufgestellt wurde und vollständiger von Fiedler;[777] {125} dann habe ich nicht über die Methode der symbolischen Bezeichnung berichtet, da diese mehr Mittel als Zweck für den Geometer ist; die Theorie der Berührungstransformationen (Lie) und der Differential-Invarianten (Halphen) habe ich stillschweigend übergangen, da sie auf der Grenze zwischen der Geometrie und der Theorie der Differentialgleichungen stehen; über die sogenannte _Analysis situs_ habe ich mich einer Besprechung enthalten, da eben diese Lehre von Riemann geschaffen und von seinen Schülern betrieben wurde, um Probleme der Funktionentheorie zu lösen. Dann haben sich meiner Darlegung die schönen Auseinandersetzungen von Battaglini und Ball entzogen über die Kräfte und Bewegungen,[778] von Chasles, Aronhold, Mannheim und Burmester über die kinematische Geometrie und von Reye über die Trägheitsmomente, da sie bisher[779] mehr zur Mechanik als zur Geometrie gehörig angesehen wurden. Gleiches gilt von den interessanten Experimenten Plateaus (1801-1883) in bezug auf die Minimalflächen, deren Besitz die Physiker für sich beanspruchen, von den schönen Untersuchungen über die Polyeder (Möbius, Bravais, Jordan, Heß), welche den Übergang von der Geometrie zur Mineralogie bilden, und den neuesten Arbeiten über die geometrische Wahrscheinlichkeit (Crofton, Czuber, Cesàro), welche ich geneigt wäre unter die Anwendungen der Geometrie zu rechnen. Dann habe ich nicht über die Methode der Äquipollenzen gesprochen (Bellavitis) und die Theorie der Quaternionen (Hamilton), da beide sich bis jetzt noch {126} nicht von so großer Fruchtbarkeit erwiesen haben, um als notwendiges Hilfsmittel des Geometers angesehen zu werden. Ungern mußte ich hinweggehen über die Theorie der Kugelsysteme, die mit großem Erfolge von Lie und Reye bearbeitet ist. Ich habe keinen Blick auf die Theorie der Konfigurationen werfen können (Reye, Kantor, Jung, Martinetti), da dieselbe gerade noch im Stadium ihrer Bildung begriffen ist, und auf die mehr den Elementen angehörige Erweiterung der Lehre vom Dreiecke, zu welcher Arbeiten von Brocard[780] die Anregung gegeben haben. Kurz erwähnen will ich noch zwei Reihen von Untersuchungen über Maximal- und Minimalfiguren, von denen die einen (Painvin, P. Serret, Lebesgue, Borchardt, Kronecker) das Problem von Lagrange, das Tetraeder größten Inhalts zu finden, von dem die Inhalte der Seitenflächen gegeben sind, und Erweiterungen, bez. Umgestaltungen desselben behandeln,[781] die anderen (Lindelöf, Berner, Edler, Sturm, Schwarz, Lange, Certo) sich an die berühmten Aufsätze von Steiner[782] anschließen.[783] Keinesfalls aber darf mit Stillschweigen übergangen werden, daß es unserem Jahrzehnte vergönnt gewesen ist, die alte Frage der Quadratur des Kreises zur endgiltigen Erledigung zu bringen. Nachdem im vergangenen Jahrhundert Lambert[784] die Zahl [pi] als irrational nachgewiesen, verblieb immer noch der Nachweis, daß [pi] auch nicht Wurzel {127} einer algebraischen Gleichung mit rationalen Koeffizienten sei; denn erst damit ist dargethan, daß die Quadratur des Kreises nicht vermittelst einer endlichen Anzahl von Konstruktionen, welche mit Hilfe des Lineals und des Zirkels ausführbar sind, vollzogen werden könne. Dieser Beweis wurde, unter Benutzung Hermitescher Vorarbeiten über die Exponentialfunktion, 1882 von Lindemann[785] erbracht. Trotz der aufgezählten und unzähliger anderer Unvollkommenheiten des Bildes, das ich über den heutigen Zustand der Geometrie zu entwerfen versucht habe, wird dennoch der Leser, wenn er einen Blick auf dasselbe wirft, von tiefer Verwunderung betroffen sein, nicht allein über die gewaltige Entwickelung der Mathematik in diesen letzten fünfzig Jahren, sondern auch über die neue, schönere, verlockendere Gestalt, welche sie mehr und mehr annimmt. Die geometrischen Figuren, die eine Zeit lang als fest, unbeweglich, leblos erschienen, bekamen eine unerwartete Lebendigkeit durch die Theorie der geometrischen Transformationen, vermöge derer sie sich bewegen, sich in einander verwandeln, gegenseitige Beziehungen enthüllen und unter sich bisher unbekannte Verwandtschaften herstellen. Ferner glaubte man eine Zeit lang, daß wir als dreidimensionale Wesen, die in einem Raume leben, in welchem wir nur drei Dimensionen wahrnehmen können, dazu verurteilt wären, ewig nur die Mannigfaltigkeiten von nicht mehr als drei Dimensionen zu studieren. Jetzt aber ist es uns erlaubt und fast unsere Pflicht, von dieser Idee als einem gefährlichen Vorurteile uns frei zu machen, und die Fülle von Arbeiten, die wir vor uns bewundern, belehren alle diejenigen, welche ihre Augen nicht von der neuen Sonne wegwenden wollen, über die Wichtigkeit dieses Fortschrittes. Endlich ist, kann man sagen, der Kampf zwischen der Geometrie und der Analysis, der sich gegen Ende des {128} vergangenen Jahrhunderts erhoben und zu Anfang dieses fortgesetzt hat, nunmehr beendigt; weder die eine, noch die andere hat den Sieg davon getragen, aber jede hat auch den Ungläubigsten gezeigt, daß sie bei jeglichem Ringen als Siegerin hervorgehen könne. Der _Mécanique analytique_, in welcher Lagrange mit Freuden konstatierte, daß er es soweit gebracht habe, jegliche Figur zu vermeiden, hat ein Lehrbuch der Mechanik einen glänzenden Bescheid gegeben, welches das Motto trägt: »_Geometrica geometrice_«; dem hundertjährigen Dienste, welchen die Algebra der Geometrie bot, können sich heute die zahllosen und unvergleichlichen Vorteile entgegenstellen, welche jene von dieser zog; schließlich wird man doch an Stelle der analytischen oder pseudosynthetischen Theorie der Kurven und Oberflächen in Kurzem die rein synthetische Theorie setzen können, die man gegenwärtig aus dem von Staudt[786] gelieferten Materiale errichtet. Und zu dieser Periode des Friedens oder vielmehr des edlen Wetteifers der Analysis und Geometrie müssen sich alle Glück sagen, da jeder Fortschritt der einen einen entsprechenden in der anderen nach sich zieht oder dazu {129} auffordert. Das entspricht dem heutigen Standpunkte der gesamten Wissenschaft, denn nun funktionieren, wie Spencer sagt, die verschiedenen Disziplinen als Hilfskünste, die einen für die anderen. Diese Stellung der modernen Mathematik jedoch legt jedem, der sie mit Erfolg betreiben will, eine schwere Verpflichtung auf, nämlich die, nicht die eine der beiden Disziplinen, welche sie zusammen bilden, um die andere zu vernachlässigen und sich in der Handhabung der Wissenschaft der Zahlen ebensowohl, als in derjenigen der Ausdehnung auszubilden.[787] Um heiteren Mutes diese vermehrten Anstrengungen auf uns zu nehmen, dazu hilft uns die Betrachtung, »daß die Analysis und Synthesis im Grunde genommen gleichsam immer vereinigt in unseren Arbeiten sind und zusammen das vollständigste Werkzeug des menschlichen Geistes bilden. Denn unser Geist macht keine Fortschritte, als nur mit der Hilfe von Zeichen oder Bildern, und wenn er zum ersten Male in schwierige Fragen einzudringen sucht, so hat er nicht einen Überfluß an diesen beiden Mitteln und jener besonderen Kraft, die er oft genug nur aus ihrem Zusammenwirken schöpft.«[788] Indem wir uns also der Beschränktheit unserer Kräfte bewußt sind, werden wir nur ein kleines Feld wählen, auf dem wir unsere Thätigkeit üben, aber nicht vergessen, daß {130} wir, um alle Früchte, die es zu bieten fähig ist, einzuernten, das Recht und sozusagen die Pflicht haben, alle die Hilfsmittel prüfend anzuwenden, welche der menschliche Geist während so vieler Jahrhunderte unausgesetzter Thätigkeit angehäuft hat, und die jedem zu Gebote stehen, der die Klugheit hat, sie zu Rate zu ziehen, und das Geschick, sie anzuwenden. * * * * * Abkürzungen für die häufig erwähnten Zeitschriften. ------ _Acta math._: Acta mathematica. _Amer. Journ._: American Journal of Mathematics pure and applied. _Ann. Éc. norm._: Annales scientifiques de l'École normale supérieure. _Annali di Matem._: Annali di Matematica pura ed applicata. _Berliner Abh._: Mathematisch-physikalische Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. _Berliner Ber._: Monatsberichte, bez. seit 1882 Sitzungsberichte oder auch: Mathematisch-naturwissenschaftliche Mitteilungen derselben Akademie. _Bologna Mem._: Memorie } dell' Accademia di Scienze dell' Istituto _Bologna Rend._: Rendiconti } di Bologna. _Bull. sciences math._: Bulletin des sciences mathématiques (bis 1884: et astronomiques). _Bull. Soc. math._: Bulletin de la Société mathématique de France. _Cambridge Journ._: Cambridge and Dublin mathematical Journal. _Cambridge Proc._: Proceedings } of the Philosophical Society of _Cambridge Trans._: Transactions } Cambridge. _Comptes rendus_: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l'Académie des sciences (de Paris). _Gergonnes Ann._: Annales de Mathématiques. _Giorn. di Matem._: Giornale di Matematiche. _Göttinger Abh._: Abhandlungen } der Gesellschaft der Wissenschaften _Göttinger Nachr._: Nachrichten von } zu Göttingen. _Grunerts Arch._: Archiv der Mathematik und Physik. _Journ. Éc. polyt._: Journal de l'École polytechnique. _Journ. für Math._: Journal für die reine und angewandte Mathematik. _Irish Proc._: Proceedings } of the Irish Academy. _Irish Trans._: Transactions } {131} _Leipziger Ber._: Berichte über die Verhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. _Lincei Atti_: Atti } _Lincei Mem._: Memorie } dell' Accademia dei Lincei. _Lincei Rend._: Rendiconti } _Lincei Trans._: Transunti } _Liouvilles Journ._: Journal de Mathématiques pures et appliquées. _Lombardo Rend._: Rendiconti dell' Istituto Lombardo di scienze e lettere. _Math. Ann._: Mathematische Annalen. _Mém. prés._: Mémoires présentés par divers savants à l'Académie des sciences (de Paris). _Münchener Abh._: Abhandlungen } der Akademie der Wissenschaften _Münchener Ber._: Sitzungsberichte } zu München. _Napoli Rend._: Rendiconti dell' Accademia delle scienze fisiche e matematiche di Napoli. _Nouv. Ann._: Nouvelles Annales de Mathématiques. _Phil. 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Abel 20 -- d'Alembert 14 -- Apollonius 6 -- Archimedes 6 -- Aronhold 31. Baltzer 53 -- Bellavitis 60 -- Benedetti 9 -- Bobillier 26 -- Bolyai, J. 109 -- Bolyai, W. 108 -- Borchardt 43 -- Bour 56 -- Bragelogne 24 -- Braikenridge 22. Caporali 84 -- Cardano 8 -- Carnot 14 -- Cauchy 116 -- Chasles 17 -- Chelini 57 -- Clairaut 13 -- Clebsch 27 -- Clifford 26 -- Cotterill 84 -- Côtes 21 -- Cramer 22 -- Crelle 20. Desargues 9 -- Descartes 10 -- Dirichlet 119 -- Dupin 15. Enneper 50 -- Eratosthenes 6 -- Euler 13. Ferrari 8 -- Fermat 9 -- Ferro 8 -- Fibonacci 8. Gauß 47 -- Gergonne 16 -- La Gournerie 44 -- Graßmann 26 -- De Gua 22. Hachette 15 -- Halley 11 -- Hamilton 104 -- Harnack 63 -- Hesse 25 -- Hipparch 6 -- La Hire 11 -- Hoüel 109 -- Huygens 11. Jacobi 16 -- Joachimsthal 55. Lacroix 15 -- Lagrange 14 -- Laguerre 40 -- Lamarle 125 -- Lambert 88 -- Lamé 23 -- Lancret 72 -- Laplace 14 -- Legendre 14 -- Leibniz 11 -- Liouville 72 -- Lobatschewsky 109. Mac Cullagh 33 -- Maclaurin 11 -- Magnus 81 -- Mascheroni 9 -- Mercator 88 -- Möbius 18 -- Monge 13. Newton 11. Oresme 16. Pappus 6 -- Parent 13 -- Pascal 9 -- Plateau 125 -- Plato 5 -- Plücker 19 -- Poisson 14 -- Poncelet 14 -- Ptolomaeus 6 -- Puiseux 72 -- Pythagoras 5. Richelot 16 -- Riemann 110. Saint-Venant 72 -- Scheeffer 118 -- Schooten 13 -- Serret, A. 50 -- Seydewitz 33 -- Simpson 11 -- Smith 29 -- Snellius 16 -- Spottiswoode 124 -- Staudt 19 -- Steiner 18 -- Stewart 11 --Sturm, Ch. 104. Tartaglia 8 -- Thales 4 -- Transon 81. Vieta 9. Waring 22 -- Wren 32. * * * * * Berichtigung. S. 97 Z. 7 v. o. lies viel- statt zwei-. * * * * * Noten. ------ [1] »It is difficult to give an idea of the vast extent of modern mathematics. This word »extent« is not the right one: I mean extent crowded with beautiful detail -- not an extent of mere uniformity such as an objectless plain, but of a tract of beautiful country seen at first in the distance, but which will bear to be rambled through and studied in every detail of hillside and valley, stream, rock, wood and flower.« (Rede von Cayley i. J. 1883 vor der »British Association for the Advancement of Science« gehalten.) Bei dieser Gelegenheit führen wir noch folgendes Urteil von E. Dubois-Reymond über den Charakter der modernen Wissenschaft an: »Nie war die Wissenschaft entfernt so reich an den erhabensten Verallgemeinerungen, nie stellte sie in ihren Zielen, ihren Ergebnissen eine grössere Einheit dar. Nie schritt sie rascher, zweckbewußter, mit gewaltigeren Methoden voran, und nie fand zwischen ihren verschiedenen Zweigen lebhaftere Wechselwirkung statt.« (_Über die wissenschaftlichen Zustände der Gegenwart_, Reden, Bd. II, S. 452.) [2] _Histoire des sciences mathématiques en Italie_ par G. Libri, 1838. Bd. I, S. 3. [3] Hankel, _Die Entwickelung der Mathematik in den letzten Jahrhunderten_ (Tübingen. II. Aufl. 1885). S. 7. [4] Diese Thatsache könnte man als ein neues Moment ansehen, wie sich -- nach einem berühmten Ausspruche Humboldts -- der Einfluß, den die tellurischen Erscheinungen auf die Richtung unserer wissenschaftlichen Untersuchungen ausüben, geltend macht. [5] Vgl. Emil Weyr, _Über die Geometrie der alten Ägypter_ (Wien, 1881). [6] Für die Mathematiker, welche vor 1200 gelebt haben, sind die hier niedergeschriebenen Jahreszahlen aus den _Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik_ von M. Cantor (I. Bd. Leipzig, 1880) entnommen. Die erste Zahl in der Klammer bezieht sich auf das Geburtsjahr, die zweite auf das Todesjahr. [7] In Bezug auf größere Einzelheiten sehe man Bretschneider, _Die Geometrie und die Geometer vor Euklides_ (Leipzig, 1870). [8] Betti und Brioschi, Vorrede zu _Gli elementi di Euclide_ (Florenz, 1867). Eine gegenteilige Ansicht hat Lacroix in seinem wohlbekannten Buche _Essais sur l'enseignement en général et sur celui des mathématiques en particulier_ (4. Aufl. 1883. S. 296) ausgesprochen. [9] Um zu zeigen, wie glänzend und bewunderungswürdig die noch immer verkannte griechische Mathematik gewesen sein muß, genüge es, die Thatsache anzuführen, daß die Theorie der Kegelschnitte, ein hauptsächlicher Gegenstand des Studiums der alten Geometer, von ihnen zu solcher Vollendung gebracht wurde, dass man im wesentlichen nur weniges hinzuzufügen hätte, um sie auf den Stand zu bringen, auf dem sie sich heute befindet. Die Bewunderung für jene wird noch jeden Tag grösser durch die historischen Forschungen gelehrter Mathematiker [z. B. Zeuthen (s. das Werk _Die Lehre von den Kegelschnitten im Altertume_, deutsch von Fischer-Benzon. Kopenhagen, 1886), P. Tannery (s. _Bull. des sciences math._ und _Mém. de la Société de Bordeaux_) und andere], welche das Vorurteil zu beseitigen suchen, daß die Griechen keine Untersuchungsmethoden gehabt hätten, die vergleichbar sind mit denen, auf welche unsere Zeit so stolz ist, und die als Ersatz dafür die Ansicht aufzustellen streben, daß es ihnen nur an den nötigen Formeln zur Darstellung der Methoden selbst gefehlt habe. [10] Ich kann nicht umhin, die beredten Worte, welche der berühmte Geschichtsschreiber der Mathematik in Italien bei dieser Gelegenheit geschrieben hat, anzuführen: »...... mais bientôt le Romain arrive, il saisit la science personnifiée dans Archimède, et l'étouffe. Partout où il domine la science disparaît: l'Étrurie, l'Espagne, Carthage en font foi. Si plus tard Rome n'ayant plus d'ennemis à combattre se laisse envahir par les sciences de la Grèce, ce sont des livres seulement qu'elle recevra; elle les lira et les traduira sans y ajouter une seule découverte. Guerriers, poètes, historiens, elle les a, oui; mais quelle observation astronomique, quel théorème de géométrie devons-nous aux Romains?« (Libri a. O. S. 186.) Um zu zeigen, in welchem Ansehen unsere Vorfahren die Mathematik hielten, genüge es mitzuteilen (vgl. Hankel, _Zur Geschichte der Mathematik im Altertum und Mittelalter_, Leipzig, 1874. S. 103), daß sie dieselbe oft mit Astrologie und den verwandten Künsten zusammenwarfen. Es darf uns daher nicht Wunder nehmen, wenn wir in dem Codex Justinians unter den gesammelten Bestimmungen unter dem Titel »De maleficis et mathematicis et ceteris similibus« folgendes finden: »Ars autem mathematica damnabilis interdicta est omnino.« Wenn man in demselben Codex etwas weiter die Wendung findet: »Artem geometriae discere atque exercere publice interest,« so muß man sich hüten, sie als eine Übersetzung des Ausspruches Napoleons I. anzusehen: »L'avancement, le perfectionnement des Mathématiques sont liés à la prospérité de l'État,« denn es ist fast sicher, daß der römische Gesetzgeber den praktischen Teil der Geometrie meinte. [11] Unter den Fragen der Geometrie, welche die italienischen Gelehrten des 16. Jahrhunderts sich gegenseitig stellten, finden sich solche von einiger Wichtigkeit, da sie die _»Geometria del compasso«_ (Geometrie des Kreises) entstehen ließen, welcher gerade in dieser Zeit Benedetti (?-1590) eine Schrift widmete, und die in neuerer Zeit von Mascheroni (1750-1808) und Steiner gepflegt wurde. [12] Pascal entdeckte an der Cykloide eine Fülle bemerkenswerter Eigenschaften, wies auf die Perspektivität als eine für das Studium der Kegelschnitte sehr günstige Methode hin, bewies den berühmten Lehrsatz von dem »Hexagramma mysticum,« wie er es nannte, u. s. w. Desargues führte die gemeinsame Betrachtung der drei Kegelschnitte ein, den wichtigen Begriff des unendlich fernen Punktes einer Geraden, den Begriff der Involution von sechs Punkten, löste mehrere wichtige Fragen, die sich auf die Kegelschnitte beziehen, u. s. w. In den Werken von Desargues (vgl. die von Poudra 1864 besorgte Ausgabe) findet sich auch eine Methode vorgeschlagen, um einige projektive Eigenschaften der Kurven zu untersuchen, welche darauf beruht, daß man dieselbe durch Systeme von Geraden ersetzt. Descartes und Poncelet betrachteten die Schlüsse, die auf einer solchen Substitution beruhen, als der Strenge entbehrend (vgl. _Traité des proprietés projectives_, Bd. II, S. 128). Jedoch wurde das von Desargues vorgeschlagene Verfahren in der neueren Zeit wiederholentlich von demselben Poncelet (a.a.O. Bd. I, S. 374), von Jonquières (in verschiedenen Abhandlungen in den _Annali di Matem., Journ. f. Math._ und in den _Math. Ann._), von Cremona (s. die _Introduzione ad una teoria geometrica delle curve piane_) gebraucht, und gehört heute zu den wertvollen Untersuchungsmethoden, die wir dem »Prinzip der Erhaltung der Anzahl« verdanken. [13] Vgl. E. Dubois-Reymond, _Kulturgeschichte und Naturwissenschaft_, in den Gesammelten Reden, Bd. I 1886, S. 207-208. [14] Favaro, _Notizie storico-critiche sulla costruzione delle equazioni. Memorie di Modena_, 18, 1879. Matthiessen, _Grundzüge der antiken und modernen Algebra der litteralen Gleichungen_ (Leipzig, 1878), 7. Abschnitt. [15] Über den Ursprung der analytischen Geometrie sehe man Günther, _Die Anfänge und die Entwickelungsstadien des Coordinatenprincipes_ (_Abhandlungen der naturforsch. Gesellsch. zu Nürnberg_, 6) und über Cartesius die Rede von Jacobi, ins Französische übersetzt und veröffentlicht in _Liouvilles Journ._ 12 unter dem Titel: _De la vie de Descartes et de sa méthode pour bien conduire la raison et chercher la vérité dans les sciences._ [16] Siehe z. B. den _Traité de la lumière_ (Leyden, 1691). [17] _Sectiones conicae in novem libros distributae_ (Paris, 1685), _Mémoires sur les Epicycloides_ (_Anciennes Mémoires de l'Académie des sciences,_ 9), _Traité des roulettes_ etc. (ebendas., 1704). [18] Man sehe die von ihm bewirkte Herausgabe von griechischen Werken nach, sowie seine Versuche, verloren gegangene Bücher (wie das achte Buch von Apollonius' Kegelschnitten) wieder herzustellen. [19] Vergl. sein Buch _A complete System of Fluxions_ (Edinburgh, 1742). [20] _Treatise on conic Sections_ (1735). [21] _General theorems of considerable use in the higher parts of mathematics_ (Edinburgh, 1746); _Propositiones geometricae more veterum demonstratae_ (Edinburgh, 1763). [22] Hinsichtlich der von Simpson und Stewart gemachten Versuche, die griechische Geometrie wieder aufleben zu machen, sehe man Buckle, _Geschichte der Civilisation in England_ (deutsch von A. Ruge), Bd. I, Kap. 5. [23] Die von den Griechen hauptsächlich untersuchten Kurven sind: der Kreis, die Ellipse, die Hyperbel, die Parabel, die Archimedische Spirale, die Diokles'sche Cykloide, die Konchoide des Nikomedes, die Quadratrix des Hippias und Dinostratus, die Schraubenlinien, die Spirallinien und einige andere. Zu diesen fügten die neuen Rechnungsarten hinzu: das Folium und die Ovale von Descartes, die Tschirnhausensche Quadratrix, die Cykloide, die Hypo- und Epicykloiden, die logarithmische Spirale, die Kettenlinie, die Sinuscurve, die Logarithmuscurve und unzählige andere. [24] Siehe das fünfte Buch seiner _Exercitationes geometriae._ [25] Parent, _Essai et Recherches de Mathématiques et de Physique_ (II. Aufl. 1713), Bd. 2. [26] _Traité de Courbes à double courbure._ 4 [27] _Recherches sur la courbure des surfaces (Berliner Abh.)._ [28] Abhandlungen der Akademie von Turin (1770-1773) und von Paris (1784); _Feuilles d'analyse appliquée à la géométrie_ (Paris, 1795), oder _Applications de l'Analyse à la Géométrie_ (Paris, 1801). [29] Ausspruch von d'Alembert. [30] _Leçons de géométrie descriptive_ (Paris, 1794). [31] In Bezug auf Monge sehe man Dupin, _Essai historique sur les services et les travaux scientifiques de Gaspard Monge_ (Paris, 1819); Arago, _Notices biographiques._ Über die Geschichte des Ursprunges und der Entwickelung der darstellenden Geometrie sehe man den ersten Abschnitt des 1. Bandes des Werkes von Chr. Wiener, _Lehrbuch der darstellenden Geometrie_ (Leipzig, 1884, 1887), in welchem der Studierende eine Menge interessanter Einzelheiten finden wird, sei es über die Studien, welche diese Disziplin vorbereiteten, sei es über die Untersuchungen, welche die Nachfolger von Monge gemacht haben. Monge hatte als Mitarbeiter bei seinem reformierenden Werke einige seiner Kollegen [unter anderen Lacroix (1765-1843) und Hachette (1769-1834)], sowie viele von seinen Schülern an der polytechnischen Schule. Der Kürze halber beschränke ich mich darauf, den anzuführen, »der über die anderen wie ein Adler fliegt«, Charles Dupin (1784-1873), vorzüglich wegen seiner klassischen _Développements de géométrie_ (1813), die noch von allen gelesen werden müssen, welche auch nur eine mäßige Kenntnis des heutigen Zustandes der Geometrie erlangen wollen. [32] Monge's Einfluß läßt sich noch in den neuesten Arbeiten bemerken; zum Beweise genüge es, die Idee anzuführen, die Schranken, durch welche die Alten die Planimetrie von der Stereometrie getrennt hatten, niederzureißen, und den glücklichen Versuch, den neuerdings (1884) De Paolis in seinen goldenen _Elementi di Geometria_ (Turin) gemacht hat, dieselbe auszuführen. [33] »La Géométrie de position de Carnot n'aurait pas, sous le rapport de la métaphysique de la Science, le haut mérite que je lui ai attribué, qu'elle n'en serait pas moins l'origine et la base des progrès que la Géométrie, cultivée à la manière des anciens, a fait depuis trente ans en France et en Allemagne« (Arago, _Biographie de Carnot_). [34] Zweite Auflage, 1865, 1866. [35] Den Ursprung dieses Prinzipes betreffend, sehe man die Note von C. Taylor, _On the history of geometrical continuity_ (_Cambridge Proc._, 1880 und 1881). [36] _Doctrina triangulorum canonicae_ u. s. w. (Leyden, 1627). [37] _Variorum de rebus mathematicis responsorum liber VIII._ (Opera Vietae, 1646). [38] _Gergonnes Ann._ 17. [39] Jacobi, _Journ. für Math._ 3; Richelot, das. 5, 38; Rosanes und Pasch, ebendas. 64; Léauté, _Comptes rendus_, 79; Fergola, Padeletti und Trudi, _Napoli Rend._ 21; Simon, _Journ. für Math._ 81; Gundelfinger, das. 83; Halphen, _Liouvilles Journ._ III, 5; _Bull. de la Soc. philom._ VII, 3. Man sehe auch die interessante Abhandlung von Hurwitz: _Über unendlich-vieldeutige geometrische Aufgaben, insbesondere über die Schliessungsprobleme_ (_Math. Ann._ 15) und die Note von Forsith, _On in- and circumscribed polyhedra_ (_Proc. Math. Soc._ 1883). [40] In deutscher Übersetzung von Sohncke: _Geschichte der Geometrie, hauptsächlich in Bezug auf die neueren Methoden_ (Halle, 1839), jedoch ohne das _Mémoire sur deux principes généraux de la science_ (vgl. die folgende Note). Das französische Original erschien 1875 in 2. Auflage. [41] Unter den Arbeiten, welche das Werk von Chasles bilden, verdient eine besondere Erwähnung die Abhandlung (für welche ursprünglich der _Aperçu historique_ als Einleitung dienen sollte) _Sur deux principes généraux de la Science_, welche die allgemeine Theorie der Homographie (Kollineation) und der Reciprocität enthält, sowie die Untersuchung der beiden Fälle, in welchen diese involutorisch ist, und die Anwendung dieser Transformationen auf das Studium der Flächen zweiten Grades und der geometrischen Oberflächen überhaupt, sowie auf die Verallgemeinerung des cartesischen Koordinatensystems. Auch müssen noch die _Noten_ erwähnt werden, da sie eingehende historische Studien und geometrische Untersuchungen von großer Bedeutung enthalten. Unter den letzteren will ich diejenigen anführen, in denen die Theorie des Doppel- oder anharmonischen Verhältnisses und der Involution, die anharmonischen Eigenschaften der Kegelschnitte, die Fokaleigenschaften der Flächen zweiten Grades, viele Lehrsätze über die kubischen Raumkurven, glückliche Versuche, die Sätze von Pascal und Brianchon auf die Flächen zweiten Grades auszudehnen, eine Verallgemeinerung der stereographischen Projektion u. s. w. auseinandergesetzt sind. [42] Dieser Übergang ging nicht friedlich von statten, war vielmehr mit einer Reihe lebhafter Diskussionen verbunden, in welchen Poncelet, Chasles und Bobillier zu Gegnern hatten Plücker, Steiner und Magnus und deren Hauptschauplatz das _Bulletin_ von Férussac war. -- Hier würde es am Orte sein, den Anteil zu bestimmen, der jedem dieser Gelehrten in den Wissensgebieten zukommt, an denen sie zusammen arbeiteten; aber dafür würde die Feder eines competenteren und gelehrteren Mannes, als ich bin, nötig sein. Im Übrigen sind nach meinem Dafürhalten gewisse Produktionen der menschlichen Intelligenz eine natürliche Frucht ihrer Zeit; daher darf es nicht wunder nehmen, wenn sie gleichzeitig aus verschiedenen Köpfen hervorgegangen scheinen, und darum braucht man auch keine Erklärung dieser Thatsache in der »mala fides« dieses oder jenes zu suchen. Daß solches wirklich bei der Erfindung der Differentialrechnung eingetreten ist, steht heute außer allem Zweifel. Daß dies ebenso bei der modernen Geometrie eingetreten ist, kann die Thatsache beweisen, daß dieselbe hervorgegangen ist aus einem allseitig gefühlten Bedürfnisse (man vergleiche dazu den Ausspruch Dupins _[Développements de géométrie]_, der als Motto auf dem _Traité des propriétés projectives des figures_ steht, mit der Vorrede der _Systematischen Entwickelung_ und mit dem _Aperçu historique_ an verschiedenen Stellen) nach allgemeinen Methoden, die als Ariadnefaden dienen sollten zur Führung in dem Labyrinthe von Hilfssätzen, Lehrsätzen, Porismen und Problemen, die von den Vorfahren überliefert sind. [43] Die hauptsächlichste Arbeit von Möbius auf dem Gebiete der reinen Geometrie ist die mit dem Titel: _Der barycentrische Calcul_ (Leipzig, 1827); dort sind die bisherigen Kenntnisse über den Schwerpunkt (Barycentrum) eines Systemes von Punkten einer neuen und wichtigen Rechnungsart zu Grunde gelegt; diese führt zu einem neuen Koordinatensystem, dessen Anwendung auf das Studium der Raumkurven und ebenen Kurven und der Oberflächen der Verfasser darlegt. In demselben werden ferner methodisch und in großer Ausführlichkeit wichtige geometrische Transformationen, die heute noch fortwährend Anwendung finden, betrachtet. Viele spätere Abhandlungen von Möbius sind als Anhänge zum barycentrischen Calcul zu betrachten. (Siehe die beiden ersten Bände der _Gesammelten Werke_ von Möbius, herausgegeben auf Veranlassung der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Leipzig, 1885-1887.) [44] Ich meine das Werk: _Systematische Entwickelung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten von einander_ (Berlin, 1832), in dem »der Organismus aufgedeckt ist, durch welchen die verschiedenartigsten Erscheinungen in der Raumwelt miteinander verbunden sind«. -- Die späteren Schriften von Steiner und diejenigen anderer, welche sich auf das angeführte Werk stützen, zeigen, welches Recht der Verfasser desselben dazu hatte, den Inhalt durch die schon angeführten Worte zu charakterisieren. Steiners _Gesammelte Werke_ sind auf Veranlassung der Akademie der Wissenschaften zu Berlin herausgegeben (Berlin, 1881, 1882). [45] Des Näheren will ich hier nur die drei Bücher anführen: _Analytisch-geometrische Entwickelungen_ (Essen, 1828-1831), _System der analytischen Geometrie_ (Berlin, 1835), _Theorie der algebraischen Kurven_ (Bonn, 1839), sowie die mit ihnen zusammenhängenden Abhandlungen, die in _Gergonnes Ann._ und im _Journ. für Math._ veröffentlicht sind. [46] Das Werk, in welchem Staudt sein System der Geometrie dargelegt hat, wurde im Jahre 1847 zu Nürnberg veröffentlicht unter dem Titel: _Geometrie der Lage_. Die ungemeine Knappheit des Stiles ist vielleicht die Ursache der großen Schwierigkeit, auf welche die Verbreitung desselben stieß; heute erst sind, dank den von Reye (in erster Auflage 1866-1868 erschienenen und) unter demselben Titel veröffentlichten Vorlesungen die in demselben enthaltenen Ideen allen bekannt, die sich mit Geometrie beschäftigen. In Italien wird jetzt zuerst von allen Ländern eine Übersetzung desselben angefertigt. Nicht weniger wichtig sind die _Beiträge zur Geometrie der Lage_ (in 3 Heften), welche Staudt seiner _Geometrie der Lage_ 1866-1860 folgen ließ. Wir beschränken uns darauf, hervorzuheben, daß dort die einzige strenge, allgemeine und vollständige Theorie der imaginären Elemente in der projektiven Geometrie auseinandergesetzt ist; diese Theorie wurde in verschiedener Weise von mehreren Geometern, Lüroth (_Math. Ann._ 8, 11), August (_Progr. der Friedrichs-Realschule in Berlin_, 1872) und Stolz (_Math. Ann._ 4) erläutert; über die eng mit ihr zusammenhängende Rechnung mit den »Würfen« sehe man außer den erwähnten Abhandlungen von Lüroth noch zwei Arbeiten von Sturm _(Math. Ann._ 9) und Schröder (ebendas. 10). [47] Ohne Zweifel ist diese Einteilung etwas willkürlich; vielleicht wird mancher, indem er bedenkt, daß gewisse Theorien mit demselben Rechte zu mehr als einem von den folgenden Abschnitten gehören können, dieselbe unpassend finden. Gleichwohl schmeichle ich mir, daß die meisten nach reiflicher Prüfung des besprochenen Gegenstandes finden werden, daß die von mir gewählte Einteilung nicht ohne bemerkenswerte Vorteile ist. [48] Côtes, _Harmonia mensurarum_ (1722); Maclaurin, _De linearum geometricarum proprietatibus generalibus tractatus_. (Ins Französische übersetzt von de Jonquières und seinen _Mélanges de Géométrie pure_ [Paris, 1856] angehängt.) [49] _Miscellanea analytica_ etc. (1762); _Proprietates geometricarum curvarum_ (1772); _Phil. Trans._ 1763-1791. [50] _Geometria organica_ (1720). [51] _Phil. Trans._ 1735; _Exercitationes Geometriae de descriptione linearum curvarum_ (1733). [52] Übrigens hat, wie C. Taylor (_Cambridge Proc._ 3) bemerkte, Newton selbst seine organische Erzeugungsweise der Kegelschnitte in der _Enumeratio linearum tertii ordinis_ auf Kurven höherer Ordnung ausgedehnt. [53] _Usage de l'analyse de Descartes_ (1740). [54] _Introductio in analysin infinitorum_. 2. Bd. [55] _Introduction à l'analyse des lignes courbes algébriques_. [56] Kurz vor der Veröffentlichung des Cramerschen Werkes fand Euler (man sehe die _Berliner Abh._ 1748), daß von den neun Grundpunkten eines Büschels ebener Kurven dritter Ordnung einer durch die acht übrigen bestimmt ist. [57] _Gergonnes Ann._ 17, 19. [58] _Journ. für Math._ 16; _Theorie der algebraischen Curven_ (wo S. 12-13 sich eine kurze Geschichte dieser Sätze findet). [59] _Journ. für Math._ 15. [60] _Cambridge Journ._ 3; vgl. Bacharach, _Math. Ann._ 26. [61] Riemann, _Journ. für Math._ 54; Clebsch, das. 58; Roch, ebendas. 64; Clebsch und Gordan, _Theorie der Abelschen Funktionen_ (Leipzig, 1866); Brill und Nöther, _Über die algebraischen Funktionen_ u. s. w. (_Math. Ann._ 7); Cremona, _Bologna Mem._ 1870; Casorati, Cremona und Brioschi, _Lombardo Rend._ II, 2. [62] In diesem Werke ist mit ersichtlicher Bevorzugung von dem »Prinzipe der Abzählung der Konstanten« Kenntnis gegeben und Gebrauch gemacht; wir wollen dasselbe erwähnen, da sich darauf eine Untersuchungsmethode stützt, deren ganze Bedeutung aufzuheben nicht gelingen wird, obwohl sich Beispiele von Irrtümern anführen lassen, zu denen es führen kann, wenn es ohne die notwendige Vorsicht angewandt wird. Mit der Theorie der ebenen Kurven befassen sich auch die beiden folgenden Bücher, deren Existenz ich aus einer Anführung Plückers kenne (_Theorie der algebraischen Curven_, S. 206); A. Peters, _Neue Curvenlehre_ 1835; C. C. F. Krause, _Novae theoriae linearum curvarum originariae et vere scientificae specimina quinque prima_. _Edidit Schröder_, 1835. [63] S. auch eine Abhandlung Plückers, _Liouvilles Journ._ 1. [64] _Mém. prés._ 1730-31-32. [65] S. die in Note 54 citierte _Introductio_. [66] Hierzu siehe Clebsch, _Vorlesungen über Geometrie_, S. 352; Malet, _Hermathema_, 1880; Pellet, _Nouv. Ann._ II., 20, 1881. [67] Cayley, _Quart. Journ._ 7 und _Journ. für Math._ 64; La Gournerie, _Liouvilles Journ._ II, 14; Nöther, _Math. Ann._ 9; Zeuthen, das. 10; Halphen, _Comptes rendus_ 78, _Liouvilles Journ._ II, 2, _Mém. prés._ 26; J. S. Smith, _Proc. math. Soc._ 6; Brill, _Math. Ann._ 16; Raffy, das. 23. -- An diese Frage knüpft sich die Untersuchung der Zahl der Schnitte zweier Kurven, welche von einem ihnen gemeinsamen vielfachen Punkte absorbiert werden. Hierzu sehe der Leser die interessante Abhandlung von Zeuthen, _Acta math._ 1. [68] _Journ. für Math._ 40; vgl. Clebsch (das. 63). [69] _Journ. für Math._ 36, 40, 41. [70] _Phil. Mag._ Oktoberheft 1858. [71] _Phil. Trans._ 1859. [72] z. B. Dersch, _Math. Ann._ 7. [73] _A Treatise on higher plane curves_ (1852); ins Deutsche übertragen durch Fiedler (Leipzig, 1873) [74] _Gergonnes Ann._ 19. [75] _Journ. für Math._ 24. -- Die Theorie der Polaren in bezug auf Kurven und Oberflächen wurde in der letzten Zeit auf eine bemerkenswerte Weise von Clifford (1845-1879) (_Proc. math. Soc._ 1868 oder _Mathematical Papers of Clifford_, 1882, S. 115) und von Reye (_Journ. für Math._ 72, 78) verallgemeinert. De Paolis widmete ihr eine interessante Schrift, welche in den _Lincei Mem._ 1885-1886 veröffentlicht ist. [76] _Comptes rendus_, 1853. [77] _Essai sur la génération des courbes géométriques_, 1858 (_Mém. prés._ 16). Vgl. Härtenberger, _Journ. für Math._ 58; Olivier das. 70, 71; Schoute, _Nieuw Archief voor Wiskunde_, 4, und die allerneuesten Untersuchungen von Jonquières über die Maximalzahl der vielfachen Punkte, die man bei einer ebenen Kurve beliebig annehmen kann (_Comptes rendus_ 105). [78] Veröffentlicht im Jahre 1862 in den _Bologna Mem._ Möge es mir gestattet sein, hier den Wunsch auszusprechen, daß der berühmte Cremona, dessen Interesse für die Verbreitung der geometrischen Studien bekannt ist, seine berühmten Schriften über die Theorie der Kurven und Oberflächen durch neue Ausgaben allen zugänglich machen wolle. -- Diese Schriften sind in deutscher Übersetzung von Curtze unter dem Titel: _Einleitung in eine geometrische Theorie der ebenen Kurven_ (Greifswald, 1865), bez. _Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Oberflächen in synthetischer Behandlung_ (Berlin, 1870) erschienen. [79] Als Vorbereitung für solche Untersuchungen sind die von Aronhold (_Berliner Ber._ 1861) anzusehen, dann die von Brioschi (_Comptes rendus_, 1863, 64) über die Darstellung der Koordinaten der Punkte von gewissen Kurven als elliptische Funktionen eines Parameters. [80] _Journ. für Math._ 58, 64. Die von Clebsch erhaltenen Resultate haben sich infolge des schönen Werkes von Lindemann, welches den Titel trägt: _Vorlesungen über Geometrie von A. Clebsch_ (I. Bd. Leipzig, 1876) und von dem das Erscheinen des zweiten Bandes allgemein gewünscht wird, schnell verbreitet. [81] _Über die algebraischen Funktionen und ihre Anwendung in der Geometrie. Math. Ann._ 7. [82] Zu den im Texte angeführten Schriften müssen noch die von Brill hinzugezogen werden (_Math. Ann._ 13), ferner die von Geiser (_Annali di Matem._ II, 9) und die von Del Pezzo (_Napoli Rend._ 22) über den Zusammenhang, der zwischen den Singularitäten einer Kurve und denen ihrer Hesseschen Kurve besteht; ferner die von Laguerre (_Comptes rendus_ 40) und Holst (_Math. Ann._ 11 und _Archiv for Mathematik og Naturvidenskab_ 7), über die metrischen Eigenschaften der Kurven. [83] _De linearum geometricarum proprietatibus generalibus tractatus._ [84] Vgl. Salmon-Fiedler, _Höhere ebene Kurven_, 5. Kap. [85] _Phil. Trans._ 1857; _Liouvilles Journ._ 9, 10. [86] _Journ. für Math._ 42. [87] _Zeitschr. f. Math._ 17; _Prager Ber._ 1871. -- Man sehe auch das Buch _Die ebenen Kurven dritter Ordnung_ (Leipzig, 1871) und die Abhandlung von Gent (_Zeitschr. f. Math._ 17). [88] _Giorn. di Matem._ 2. [89] _Journ. für Math._ 90. [90] _Prager Abh._ VI, 5. [91] _Göttinger Nachr._ 1871 und 1872. [92] _Journ. für Math._ 78. [93] Hierzu Harnack, _Math. Ann._ 9. Caporali, _Lincei Atti_, III, 1; Folie und Le Paige, _Mémoires de l'Académie de Belgique_, 43. Halphen, _Math. Ann._ 15; _Bull. Soc. math._ 9. [94] _Siehe Giorn. di Matem._, _Lombardo Rend._, _Math. Ann._, _Wiener Ber._ und _Prager Ber._ [95] Für die Clebschschen Arbeiten sehe man die in Note 80 angeführten Bände des _Journ. für Math._ nach. Über die ebenen rationalen Kurven dritter Ordnung sehe man die Arbeiten von Durège (_Math. Ann._ 1), Igel (das. 6), Rosenow (Dissertation, Breslau, 1873), Schubert (_Math. Ann._ 12), Dingeldey (das. 27, 28); über die Kurven vierter Ordnung die von Brill (Math. Ann. 12) und Nagel (das. 19); über die fünfter Ordnung von Rohn (das. 25), und über die rationalen Kurven beliebiger Ordnung die Schriften von Haase (_Math. Ann._ 2), von Lüroth (das. 9), Pasch (das. 18), Brill (das. 20), von Weltzien (das. 26) und Garbieri (_Giorn. di Matem._ 16). [96] _Journ. für Math._ 47; _Comptes rendus_, 1871. [97] _Journ. für Math._ 53. [98] Güßfeldt, _Math. Ann._ 2; Laguerre, _Bull. Soc. math._ 7; Cremona und Clebsch, _Journ. f. Math._ 64; Kiepert, _Zeitschr. f. Math._ 17; Frahm ebendas. 18; Milinowski das. 19; Intrigila, _Giorn. di Matem._ 23; Kantor, _Wiener Ber._ 1878 und _Bull. Sciences math._ II, 3. [99] _Giorn. di Matem._ 15. [100] _Journ. für Math._ 65. [101] _Math. Ann._ 4. [102] _Bull. de la Société philomathique_, VII, I. [103] Wenn p das Quadrat des Moduls einer elliptischen Funktion, q das Quadrat des vermittelst einer primären Transformation ungerader Ordnung transformierten Moduls und schließlich F(p, q, 1) = 0 die entsprechende Modulargleichung ist, so ist die Gleichung einer Modularkurve F([alpha], [beta], [gamma]) = 0. Siehe _Proc. math. Soc._ 9. [104] _Journ. f. Math._ 65; vgl. Ed. Weyr das. 73; Hurwitz, _Math. Ann._ 19. [105] _Math. Ann._ 24. [106] _Journ. für Math._ 95, 99; siehe auch die Abhandlung von August, _Grunerts Arch._ 59. [107] _Transactions of the Royal Society of Edinburgh_ 25. [108] _Math. Ann._ 5. [109] _Math. Ann._ 5, 6. Man sehe auch hierzu die Abhandlung von Harnack in der _Zeitschr. f. Math._ 22. Die hauptsächlichsten von Durège und Schröter auf synthetischem Wege gefundenen Lehrsätze sind analytisch von Walter in seiner Dissertation _Über den Zusammenhang der Kurven dritter Ordnung mit den Kegelschnittscharen_ (Gießen, 1878) bewiesen. Den genannten Schriften Schröters über die Kurven dritter Ordnung können wir nun noch sein neuerdings erschienenes rein geometrisches Lehrbuch: _Die Theorie der ebenen Kurven dritter Ordnung_ (Leipzig, 1888) hinzufügen. [110] _Math. Ann._ 5. [111] _Math. Ann._ 1, 13; vgl. Clebsch, _Journ. für Math._ 59. [112] _Irish Trans._ 1869. [113] Siehe dessen Werk, _Sur une classe remarquable de courbes et surfaces algébriques_ (Paris, 1873). [114] _Journ. für Math._ 57, 59, 66. [115] _Tidsskrift for Mathematik_, IV, 3. [116] _Forhandlinger af Videnskabs Selskab af Kjobenhavn_ 1879. [117] Erschienen in den _Collectanea mathematica in memoriam D. Chelini_ (Mailand, 1881). [118] _Journ. für Math._ 28, 34, 38. [119] _Journ. für Math._ 49, 55; vgl. auch Cayley (das. 58). [120] _Journ. für Math._ 49. [121] _Berliner Ber._ 1864, sowie _Nouv. Ann._ II, 11. [122] _Math. Ann._ 1; _Journ. für Math._ 72. [123] Vgl. Note 80. [124] _Journ. für Math._ 66. -- Über die Doppeltangenten einer Kurve vierter Ordnung sehe man auch folgende Arbeiten: Riemann, _Zur Theorie der Abelschen Funktionen für den Fall p=3_. _Gesammelte Werke_ (Leipzig, 1876), S. 456-499; Nöther, _Math. Ann._ 15; Cayley, _Journ. für Math._ 94; Frobenius (das. 99); Freyberg, _Math. Ann. _17; H. Weber (ebendas. 23). [125] Um sich von dem bedeutenden Anteil, welchen die Mongesche Schule an der Schöpfung der Theorie der Flächen zweiten Grades hatte, zu überzeugen, genügt es, sich folgendes zu vergegenwärtigen: Ihr verdanken wir die doppelte Erzeugungsweise des einmanteligen Hyperboloides und des hyperbolischen Paraboloides durch die Bewegung einer Geraden (Monge, _Journ. Éc. polyt._ 1) und die Erzeugung aller Flächen zweiten Grades, mit Ausnahme des hyperbolischen Paraboloides, durch Bewegung eines Kreises (Hachette, _Éléments de Géométrie à trois dimensions_). Monge und Hachette verdankt man den Beweis der Existenz der drei Hauptebenen einer Oberfläche zweiter Ordnung; Monge (_Correspondance sur l'École polytechnique_) die Entdeckung des Ortes der Scheitel der dreirechtwinkligen Triëder, deren Kanten eine Fläche zweiter Ordnung berühren, und Bobillier (_Gergonnes Ann._ 18) die des Ortes der Scheitel der dreirechtwinkligen Triëder, deren Seitenflächen eine Fläche zweiter Ordnung berühren; Monge bestimmte die Krümmungslinien des Ellipsoides (_Journ. Éc. polyt._ 2); Livet (das. 13) und Binet (ebendas. 16) dehnten die bekannten Lehrsätze des Apollonius auf den Raum aus, während Chasles (_Correspondance sur l'Éc. polyt._) andere analoge Sätze gab; Dupin (_Journ. Éc. polyt._ 14) machte einige interessante Methoden zur Erzeugung solcher Oberflächen bekannt. Brianchon (das. 13) zeigte, dass die reciproke Polare einer Fläche zweiten Grades ebenfalls eine Fläche zweiten Grades sei, u. s. w. [126] _Journ. für Math._ 12. [127] _Irish Proc._ 2. [128] _Aperçu historique_, Note 25, 28, 31, 32; _Comptes rendus_, 1855; _Liouvilles Journ._ 1860 u. s. w. [129] _Journ. für Math._ 18, 20, 24, 26, 60, 73, 85, 90. [130] _Grunerts Arch._ 9. [131] _Journ. für Math._ 62. Über die Oberflächen zweiter Ordnung sehe man auch die Abhandlungen von Townsend (_Cambridge Journ._ 3), von Darboux (_Bull. Soc. Math._ 2), von Meray und Cremona (_Annali di matem._ I, 3) u. s. w. und die _Géométrie de direction_ (Paris, 1869) von P. Serret. Eine der wichtigsten Fragen, welche sich in der Theorie der Flächen zweiten Grades darbietet, ist die Konstruktion derselben, wenn neun ihrer Punkte gegeben sind. Dieselbe wurde von Seydewitz (_Grunerts Arch._ 9), Chasles (_Comptes rendus_, 1855), Steiner (_Gesammelte Werke_, II. Bd., _Nachlass_), Schröter (_Journ. für Math._ 62), Sturm (_Math. Ann._ 1) und Dino (_Napoli Rend._ 1879) gelöst. -- Daran knüpft sich die Untersuchung des achten Punktes, der allen Flächen zweiter Ordnung gemeinsam ist, die durch sieben gegebene Punkte gehen. Dieser wurde der Gegenstand wichtiger Untersuchungen von Hesse (_Journ. für Math._ 20, 26, 73, 75, 99), Picquet (das. 73, 99), Caspary, Schröter, Sturm, Zeuthen (das. 99) und Reye (das. 100). Ein anderes interessantes Problem ist die Untersuchung der Flächen zweiten Grades, in bezug auf welche zwei gegebene Flächen zweiten Grades reziproke Polaren voneinander sind; dasselbe wurde analytisch von Battaglini behandelt (_Lincei Atti,_ 1875), von d'Ovidio (_Giorn. di Matem._ 10) und synthetisch von Thieme (_Zeitschr. f. Math._ 22). Über einige Flächen zweiten Grades, welche besondere metrische Eigenschaften besitzen (orthogonale, gleichseitige Hyperboloide), haben geschrieben: Steiner (_Journ. für Math._ 2 und _Systematische Entwickelung_), Chasles (_Liouvilles Journ._ 1 [1836]), Schröter (_Journ. für Math._ 85), Schönfließ (_Zeitschr. für Math._ 23, 24 und _Journ. für Math._ 99), Vogt (_Journ. für Math._ 86) und Ruth (_Wiener Ber._ 80). Zu den neuesten Studien über die Flächen zweites Grades gehören die von Zeuthen (_Math. Ann._ 19, 26) über die Theorie der projektiven Figuren auf einer solchen Fläche; daran schließen sich auch einige schöne Untersuchungen, welche Voß gemacht hat (_Math. Ann._ 25, 26), um gewisse Resultate von Poncelet und Bruno (_Torino Atti_ 17) weiter auszudehnen. Auch sind die Anwendungen der hyperelliptischen Funktionen auf sie bemerkenswert, welche Staude (_Math. Ann._ 20, 21, 25, 27) gemacht hat. [132] Davon geben Zeugnis die Partien, welche in ihren wertvollen Lehrbüchern diesen Oberflächen gewidmet haben: Hesse (_Vorlesungen über die analytische Geometrie des Raumes_), Salmon (_Analytische Geometrie des Raumes_), Cremona (_Preliminari di una teoria geometrica delle superficie_), Reye (_Die Geometrie der Lage_) und Schröter (_Theorie der Oberflächen zweiter Ordnung und der Raumkurven dritter Ordnung_). [133] _Mémoire de géométrie sur deux principes généraux de la science_ (Anhang zum _Aperçu historique_). [134] _Gergonnes Ann._ 17. [135] _Mémoire sur la théorie générale des polaires réciproques_. (_Journ. für Math._ 4). [136] _Cambridge Journ._ 2, 4; _Irish Trans._ 23. [137] _Cambridge Journ._ 7, 8; _Phil. Trans._ 1869, 71 u. 72. Man sehe auch die von Zeuthen in den _Math. Ann._ 4, 9, 10, von Jonquières in den _Nouv. Ann._ 13 und von Halphen in den _Annali di Matem._ II, 9 veröffentlichten Abhandlungen. [138] _Journ. für Math._ 15. [139] _Math. Ann._ 1, 2. Vgl. auch eine Abhandl. von Padova im _Giorn. di Matem._ 9, sowie eine von Valentiner, _Tidsskrift for Mathematik_ IV, 3. [140] _Comptes rendus_ 45. [141] _Preliminari di una teoria geometrica delle superficie_. (_Bologna Mem._ II, 6, 7). [142] _Wiener Ber._ 1877, 1882. [143] _Math. Ann._ 27. [144] _Journ. für Math._ 49. [145] _Cambridge Journ._ 4; _Quart. Journ._ 1; _Phil. Trans._ 1860. [146] _Journ. für Math._ 58, 63. [147] _Journ. für Math._ 72. [148] _Math. Ann._ 10, 11, 12; _Abzählende Geometrie_, 5. Abschnitt. S. auch Krey, _Math. Ann._ 15. [149] _Math. Ann._ 23. [150] _Journ. für Math._ 72, 78, 79, 82. [151] _Geometry of three dimensions_; in deutscher Übersetzung von Fiedler: _Analytische Geometrie des Raumes in zwei Bänden_ (3. Auflage, 1879/80). [152] _Preliminari_ etc. Vgl. Note 141. [153] Vgl. die in Note 136 und 137 angeführten Arbeiten. [154] _Cambridge Journ._ 6. [155] Auch im _Journ. für Math._ 53 publiziert. [156] Die einzige mir bekannte Arbeit, welche mit den Studien von Cayley und Salmon im Zusammenhange steht, ist eine von Schläfli (_Quart. Journ._ 2), die besonders dadurch wichtig ist, daß sie die erste ist, welche den Begriff der »Doppelsechs« enthält. [157] _Journ. für Math._ 62. [158] _Disquisitiones de superficiebus tertii ordinis_ (Berlin, 1862). [159] _Journ. für Math._ 68; ferner _Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Oberflächen_ (Berlin, 1870), in welchem Buche die deutsche Übersetzung der in Note 141 und 152 zitierten »_Preliminari_« und diejenige dieser Preisschrift (durch Curtze) vereinigt sind. [160] _Synthetische Untersuchungen über Flächen dritter Ordnung_. Leipzig, 1867. [161] _Journ. für Math._ 51; vgl. eine von Schröter (das. 96) veröffentlichte Abhandlung. [162] Vgl. die in Note 158 zitierte Arbeit. -- Man sehe auch Schubert, _Math. Ann._ 17. [163] _Grunerts Arch._ 56. [164] _Bull. soc. math._ 4. [165] _Acta math._ 3. [166] _Lombardo Rend._ März 1871. [167] _Grunerts Arch._ 56. [168] _Math. Ann._ 23. [169] _Lombardo Rend._ 1884; _Annali di Matem._ II, 12. [170] _Math. Ann._ 13; _Lincei Mem._ 1876-1877. [171] _Napoli Rend._ 1881. [172] _Journ. für Math._ 78. [173] _Lombardo Rend._ 1879. [174] _Acta math._ 5. [175] _Phil Trans._ 1863; vgl. Cayley (das. 1869). [176] _Math. Ann._ 14. [177] _Lombardo Atti_, 1861. [178] _Theorie der mehrdeutigen Elementargebilde_ u. s. w. Leipzig, 1869; _Geometrie der räumlichen Erzeugnisse ein-zweideutiger Gebilde_, Leipzig, 1870. [179] _Über die geradlinige Fläche dritter Ordnung und deren Abbildung auf eine Ebene._ (Dissertation. Straßburg, 1876.) [180] _Math. Ann._ 4. [181] _Phil. Mag._ 1864. [182] _Math. Ann._ 10. [183] _Phil. Trans._ 150. [184] _Journ. für Math._ 58. [185] _Math. Ann._ 5. [186] _Lincei Mem._ 1880-1881. Man sehe auch eine Note von Brioschi in den _Lincei Atti_ II, 3, in welcher bewiesen wird, daß die 45 dreifach berührenden Ebenen einer Oberfläche dritter Ordnung dreien Oberflächen zehnter Klasse gemeinsam sind. Neuerdings fand Bauer (_Abh. der Bayr. Akad. der Wiss._ 14, 1883) analytisch von neuem, was Sturm schon 1867 in seinen _Synthetischen Untersuchungen über Flächen dritter Ordnung_ erkannt hatte, daß die Schnittkurve einer Oberfläche dritter Ordnung mit ihrer Hesseschen Fläche für beide eine parobolische Kurve ist; ein bemerkenswertes Resultat, weil es das Analogon im Raume zu einem bekannten Satze über die ebene kubische Kurve ist. [187] _Liouvilles Journ._ II, 14; _Traité des substitutions et des équations algébriques_ (Paris, 1870). [188] _Traité des propriétés projectives des figures_. [189] _Comptes rendus_, 1862. [190] Ebendas., 1861. [191] _Phil. Trans._ 1864. [192] _Bologna Mem._ 1868. [193] _Berliner Ber._ 1864; _Journ. für Math._ 64. [194] _Nouv. Ann._ II, 5. [195] Die Dupinsche Cyklide gehört zu diesen. [196] Vgl. _Comptes rendus_ 1864. [197] Die Untersuchungen von Darboux finden sich in dem schon angeführten Buche: _Sur une classe remarquable de courbes et de surfaces algébriques_ (Paris, 1873) zusammengefaßt. [198] S. die Aufzählung der Arbeiten, die zu Ende des in der vorigen Note zitierten Werkes sich findet, und die _Notice sur la vie et les travaux de M. Laguerre_, veröffentlicht von Poincaré in den _Comptes rendus_ 104. [199] _Phil. Trans._ 1871. [200] _Lombardo Rend._ 1871. [201] _Journ. für Math._ 70. [202] _Math. Ann._ 4. [203] _Om Flader af fjerde Orden med Dobbeltkeglesnit_ (Kopenhagen, 1879). Von dieser Abhandlung habe ich eine italienische Übersetzung in den _Annali di Matem._ II, 14 veröffentlicht. [204] _Journ. für Math._ 69. [205] _Math. Ann._ 1, 2, 3, 4. [206] _Annali di Matem._ II, 13. [207] _Leipziger Dissertation_ (Greifswald, 1885). [208] _Math. Ann._ 19. [209] _Torino Mem._ II, 36. [210] _Math. Ann._ 24. Betreffend die Konstruktion einer Oberfläche vierter Ordnung mit Doppelkegelschnitt sehe man eine Abhandlung von Bobek (_Wiener Ber._ 11. und 18. Dez. 1884) und eine von Veronese (_Atti dell' Istituto Veneto_, VI, 1); hinsichtlich der Konstruktion einer Cyklide sehe man eine Abhandlung von Saltel (_Bull. Soc. math._ 3). [211] Weierstraß, _Berliner Ber._ 1863. [212] Unter den Eigenschaften der römischen Fläche von Steiner verdient eine hervorragende Stelle die (durch verschiedene Methoden von Cremona und Clebsch nachgewiesene) Eigenschaft, daß sie zu asymptotischen Kurven (Haupttangentenkurven) rationale Kurven vierter Ordnung hat. Eine andere Eigenschaft derselben wurde von Darboux (_Bull. sciences math._ II, 4) entdeckt und besteht darin, daß sie die einzige Fläche ist, außer den Flächen zweiten Grades und den Regelflächen dritten Grades, bei welcher durch jeden Punkt unendlich viele Kegelschnitte gehen. Neuerdings hat Picard (_Journ. für Math._ 100) gezeigt, daß sie die einzige nicht geradlinige Oberfläche ist, deren sämtliche ebene Schnitte rationale Kurven sind. Man sehe hierzu noch eine Note von Guccia in den _Rendiconti del circolo matematico di Palermo_, 1. -- Lie machte (_Archiv for Math. og Naturvidenskab._ 3) die interessante Bemerkung, daß der Ort der Pole einer Ebene in Bezug auf die Kegelschnitte einer Steinerschen Fläche eine ebensolche Fläche ist. [213] _Journ. für Math._ 63; _Lombardo Rend._ 1867. [214] _Journ. für Math._ 64. [215] _Math. Ann._ 3. [216] _Journ. für Math._ 64; _Proc. math. Soc._ 5. [217] _Giorn. di Matem._ 1; _Bologna Mem._ 1879. [218] _Journ. für Math._ 67. [219] _Math. Ann._ 5. [220] _Nouv. Ann._ II, 11, 12; _Bull. Soc. math._ 1. [221] _La superficie di Steiner studiata nella sua rappresentazione analitica mediante le forme ternarie quadratiche_ (Torino, 1881). [222] _Berliner Abh._ 1866 und _Berliner Ber._ 1864. [223] Diese Oberfläche hat eine fundamentale Bedeutung in der mathematischen Theorie des Lichtes. Es ist in der That bekannt, daß die Bestimmung der Ebenen, welche sie längs Kreisen berühren, Hamilton zur Entdeckung der konischen Refraktion führte, einer Erscheinung, welche der Aufmerksamkeit der Physiker entgangen war. Sie erfreut sich vieler interessanter Eigenschaften und war Gegenstand wichtiger Untersuchungen verschiedener Gelehrten, insbesondere Mannheims (_Comptes rendus_, 78, 81, 85, 88, 90; _Association franç. pour l'avanc. des sciences_ 1874, 75, 76, 78), _Proc. Roy. Soc._ 1882; _Collectanea mathematica_ u. s. w. [224] _Liouvilles Journ._ 11; _Journ. für Math._ 87. Vgl. eine Abhandlung von Segre im _Giorn. di Matem._ 21. Andere Spezialfälle der Kummerschen Fläche wurden von Rohn und Segre (_Leipziger Ber._ 1884) studiert. [225] Diese Eigenschaft der Kummerschen Fläche veranlaßte eine Untersuchung über die Oberflächen beliebiger Ordnung, welche dieselbe besitzen, eine Untersuchung, die schon von Kummer und Cayley unternommen ist, _Berliner Ber._ 1878. [226] _Berliner Ber._ 1870, oder _Math. Ann._ 23. [227] _Journ. für Math._ 97; vgl. Segre das. 98. [228] _Journ. für Math._ 83, 94; oder _Borchardts Gesammelte Werke_ (Berlin, 1888, S. 341); vgl. Brioschi und Darboux, _Compt. rend._, 1881. [229] _Journ. für Math._ 84. [230] S. die in Note 207 zitierte Abhandlung, und für die Geschichte der Anwendung der hyperelliptischen Funktionen auf die Kummersche Oberfläche die Einleitung der Abhandlung von Rohn, _Math. Ann._ 15. [231] _Journ. für Math._ 70. [232] _Münchener Dissertation_, 1878; _Math. Ann._ 15. [233] Die anderen Oberflächen vierter Ordnung mit singulären Punkten wurden von Cayley studiert (_Proc. math. Soc._ 1870, 1871), vollständiger von Rohn in einer sehr schönen Abhandlung, die von der Jablonowskischen Gesellschaft kürzlich prämiiert ist (vgl. _Math. Ann._ 29). Endlich wurden die von Flächen zweiten Grades eingehüllten Flächen vierter Ordnung von Kummer untersucht, _Berliner Ber._ 1872. [234] _On the quartic surfaces_ (+) (u, v, w)^2 = 0 (_Quart. Journ._ 10, 11); _On the quartic surfaces represented by the equation symmetrical determinant_ = 0 (_Quart. Journ._ 14). [235] Bekanntlich nennt man nach Cayley ein Monoid eine Oberfläche n^{ter} Ordnung mit einem (n-1)-fachen Punkte. [236] _Math. Ann._ 24; vgl. auch die Dissertation von Lampe, Berlin, 1864. [237] _Math. Ann._ 18, 17. Außer den im Texte zitierten Oberflächen wurden noch andere spezielle Flächen studiert, die ich der Kürze wegen übergehen muß; der größere Teil derselben wurde vermittelst der Theorie der Abbildungen entdeckt oder betrachtet, siehe § VI. [238] _Correspondance mathématique_ 9; _Liouvilles Journ._ 2. [239] _Cambridge Journ._ 8 und _Irish Trans._ 23. [240] _Phil. Trans._ 1863-1869. In den angeführten Arbeiten haben Cayley und Salmon die Regelflächen bearbeitet als die Örter der Geraden, die drei gegebene Kurven treffen, oder eine einmal und eine zweite zweimal treffen, oder Trisekanten einer Kurve sind. Rupp hat neuerdings diese Betrachtungen wieder aufgenommen, um auf eine andere Weise die Resultate zu erhalten und zu modifizieren, zu denen jene Mathematiker gelangt waren (_Math. Ann._ 18). [241] _Annali di Matem._ II, 1. [242] _Traité de géométrie descriptive_, Art. 629 u. 635. [243] _Math. Ann._ 8, 12, 13. [244] _Comptes rendus_, 1862; vgl. d'Ovidio und Dino, _Giorn. di Matem._ 3. [245] _Dissertation_, gedr. zu Berlin 1864, und _Journ. für Math._ 67. [246] _Recherches sur les surfaces réglées tetraédrales symétriques_ (Paris, 1867). Ich bemerke, daß ein Büschel von Oberflächen, die in Bezug auf ein Tetraeder symmetrisch sind, mit einem projektiven Ebenenbüschel eine bemerkenswerte Fläche erzeugt, die von Eckardt (_Zeitschr. f. Math._ 20) bearbeitet ist und welche die allgemeine Oberfläche dritter Ordnung in sich schließt. [247] _Math. Ann._ 5. [248] _Annali di Matem._ II, 4. [249] _Prager Abhandlungen_ VI, 5. [250] _Mémoires de Bordeaux_ II, 3. [251] _Über die Flächen, deren Gleichungen aus denen ebener Kurven durch eine bestimmte Substitution hervorgehen. Math. Ann._ 7. [252] _Lincei Mem._ 1878-1879. [253] _Math. Ann._ 4. [254] _Math. Ann._ 27, 29. S. auch eine Abhandlung von Eckardt (daselbst 7). [255] _Math. Ann._ 3. [256] das. 14, 15. S. auch eine Bemerkung von Dino, _Napoli Rend._ 19. [257] _Comptes rendus_, 52. [258] _Journ. für Math._ 68. [259] _Math. Ann._ 2. [260] _Proc. math. Soc._ 4; _Comptes rendus_, 1861; vgl. Hungady _Journ. für Math._ 92. [261] Klein und Lie, _Comptes rendus_, 70. [262] Fouret, _Bulletin de la Société philomatique_, VII, 1. [263] Jung, _Lincei Rend._ 1885 und 1886. S. auch zwei Bemerkungen über denselben Gegenstand, veröffentlicht von Visalli (ebendas. 1886). [264] Goursat, _Ann. Ec. norm._ III, 4; Lecornu, _Acta math._ 10. [265] Cfr. die bewunderungswerten _Vergleichenden Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen_ von F. Klein (Erlangen, 1872). [266] Veröffentlicht im Jahre 1795 unter dem Titel: _Feuilles d'Analyse appliquée à la Géométrie_. Die letzte (fünfte) Ausgabe wurde von Liouville im Jahre 1850 besorgt und durch einen Anhang sehr wertvoller Noten bereichert. [267] Der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen überreicht am 8. Oktober 1827 und abgedruckt im 6. Bande der _Commentationes recentiores societatis Gottingensis_. Diese _Disquisitiones_ stehen im 4. Bande der von der genannten Gesellschaft herausgegebenen _Werke_ von Gauß, ferner in französischer Übersetzung in der angeführten Liouvilleschen Ausgabe des Werkes von Monge. [268] Wenn x = e(t), y = f(t), z = g(t) die Ausdrücke der Koordinaten der Punkte dieser Kurve in Funktionen eines Parameters t sind und F(x, y, z) = 0 die Gleichung der gegebenen Oberfläche, so ist die fragliche Enveloppe die der Oberfläche F{x + e(t), y + f(t), z + g(t)} = 0. [269] Über solche Flächen sehe man die neue Arbeit von Lie (_Archiv for Mathematik og Naturvidenskab_ 7). [270] Vor Monge hatten sich schon Euler (_Histoire de l'Académie de Berlin_, 1766) und Meunier (_Mémoires de l'Académie des sciences de Paris_ 10, 1776) mit diesem Thema beschäftigt. [271] Unter den neueren Arbeiten über die Krümmungslinien führen wir nur die von Hamilton, Frost und Cayley an, die sich als Aufgabe gestellt haben, zu finden, wie dieselben um einen Nabelpunkt herum verteilt sind (_Quart. Journ._ 12). [272] Vgl. hierzu eine von Cremona veröffentlichte Arbeit in den _Bologna Mem._ III, 1. Wir führen hier auch einige Noten von Darboux an (_Comptes rendus_, 84, 92, 97), welche die Bestimmung der Krümmungslinien einiger spezieller bemerkenswerter Flächen zum Zwecke haben. [273] Die Differentialgleichung der Minimalflächen verdanken wir Lagrange (_Miscellanea Taurinensia_, 1760-1761); die geometrische Interpretation derselben wurde ein wenig später von Meunier gegeben (vgl. Note 270). [274] An die in den §§ 18 und 21 der _Application_ gemachten Untersuchungen knüpft sich eine Abhandlung von O. Rodrigues, die sich in der _Correspondance sur l'École polytechnique_ 3 findet. [275] Außer den Krümmungs- und asymptotischen Linien auf einer Fläche sind noch diejenigen bemerkenswert, bei denen die Schmiegungskugel in einem beliebigen ihrer Punkte die Oberfläche selbst berührt. Dieselben wurden von Darboux (_Comptes rendus_ 83) und von Enneper (_Göttinger Nachrichten_, 1871) studiert. [276] Dupin fand (_Applications de Géométrie et de Méchanique_, 1822), daß die einzigen Oberflächen, bei denen sämtliche Krümmungslinien Kreise sind, die Kugel, der Rotations-Kegel und -Cylinder und die Cyklide sind, welch letztere er schon als die Enveloppe einer Kugel erkannt hatte, die sich so bewegt, daß sie immer drei feste Kugeln tangiert. [277] _Liouvilles Journ._ 13. [278] _Journ. Éc. polyt._ 19, 35; _Comptes rendus_ 42. [279] _Atti dell' Accademia dei Quaranta_, 1868-1869; _Annali delle Università toscane_, 1869; _Annali di Matem._ II, 1, 4. [280] _Göttinger Abh._ 13, 16, 23; _Journ. für Math._ 94. [281] _Comptes rendus_, 96. [282] das. 46. [283] _Journ. Éc. polyt._ 53. [284] _Journ. für Math._ 94. [285] _Göttinger Dissertation_, 1883. [286] _Journ. für Math._ 59. [287] _Annali di Matem._ I, 8. [288] _Archiv for Math. og Naturvidenskab_, 4; _Bull. Sciences math._ II, 4. [289] _Journ. für Math._ 62. [290] _Berliner Ber._ 1840; _Journ. für Math._ 24. [291] _Berliner Ber._ 1866. [292] _Abhandlungen der Jablonowskischen Gesellschaft zu Leipzig_ 4; _Journ. für Math._ 13. [293] _Liouvilles Journ._ II, 5. [294] das. I, 11. [295] _Göttinger Abh._ 13, _oder Gesammelte Werke_ S. 283 und 417. Niewenglowski hat die Riemannschen Untersuchungen in elementarer Form dargelegt in den _Ann. Éc. norm._ II, 9. [296] _Berliner Ber._ 1867. [297] _Math. Ann._ 1. [298] _Akademiens Afhandlingar_, _Helsingfors_, 1883. [299] _Journ. Éc. polyt._ 37. [300] _Heidelberger Dissertation_, 1875. [301] _Comptes rendus_ 41; vgl. Enneper, _Zeitschr. f. Math._ 7, 9. [302] _Journ. Éc. polyt._ 39. [303] _Bestimmung einer speziellen Minimalfläche_ (Berlin, 1871). Vgl. Cayley, _Quart. Journ._ 14. [304] _Journ. für Math._ 80. [305] das. 87; _Comptes rendus_ 96. [306] _Zeitschr. f. Math._ 14; _Göttinger Nachr._ 1866. [307] _Liouvilles Journ._ II, 8. [308] _Bologna Mem._ II, 7. Die wunderschöne Einleitung dieser Abhandlung enthält die Geschichte der Theorie der Minimalflächen. [309] _Archiv for Math. og Naturv._ 3, 4, 6; _Math. Ann._ 14, 15. [310] _Journ. für Math._ 81, 85. [311] _Annali di Matem._ II, 9. [312] _Étude des élassoides. Mémoires couronnés par l'Académie de Belgique_ 44. [313] _Giorn. di Matem._ 22. [314] _Lombardo Rend._ 1876; _Giorn. di Matem._ 14. [315] _Journ. für Math._ 78. [316] Das Studium der Krümmung einer Oberfläche in einem singulären Punkte wurde von Painvin im _Journ. für Math._ 72 angestellt. [317] Ein analoger Satz wurde neuerdings von Sturm entdeckt (_Math. Ann._ 21). [318] Einige Vervollkommnungen und Ergänzungen dieses Teiles der Gaußischen Abhandlung wurden von Liouville (_Journ. Éc. polyt._ 24), von Baltzer (1818-1887) (_Leipziger Berichte_ 1872) und durch von Escherich (_Grunerts Arch._ 57) vorgenommen. [319] Der Satz von Gauß: »Damit eine Oberfläche auf eine andere abwickelbar sei, ist notwendig, daß die Krümmung in den entsprechenden Punkten gleich sei«, wurde auf verschiedene Arten von Liouville (_Liouvilles Journ._ 12), von Bertrand, Puiseux und Diguet (das. 13) bewiesen. Vgl. auch Minding, _Journ. für Math._ 19. [320] _Annali di Matem._ II, 1. [321] _Bologna Mem._ II, 8. [322] _Math. Ann._ 1. [323] _Comptes rendus_ 37. [324] das. 44, 46, 57, 67. [325] _Annali di Matem._ I, 7. -- Das allgemeinere Problem der Bestimmung zweier Oberflächen, so daß jedem Punkte der einen ein Punkt oder eine Gruppe von Punkten der anderen entspricht, und daß den geodätischen Linien der einen geodätische Linien der anderen korrespondieren, wurde später von Dini behandelt. (_Annali di Matem._ II, 3). [326] _Giorn. di Matem._ 6. [327] _Comptes rendus_, 1865. [328] _Archiv for Math. og Nat._ 4, 5. [329] _Giorn. di Matem._ 16, 20, 21. [330] _Lund Årskrift_ 19. [331] _Comptes rendus_ 96, 97. [332] _Acta math._ 9. [333] _Journ. für Math._ 64. [334] _Berliner Ber._ 1882-1883. -- Hieran schließt sich die Schrift von Lilienthal's: _Untersuchungen zur allgemeinen Theorie der krummen Oberflächen und der geradlinigen Strahlensysteme_ (Bonn, 1886). [335] _Journ. für Math._ 26, 30. -- Joachimsthals Vorlesungen: _Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf die allgemeine Theorie der Flächen und der Linien doppelter Krümmung_ erschienen nach seinem Tode (Leipzig, 2. Auflage, 1881). [336] _Göttinger Nachr._ 1867. [337] _Lombardo Atti_ II, 1. [338] _Programm der Universität von Christiania_, 1879. [339] _Math. Ann._ 20. [340] _Journ. für Math._ 6, 18, 19. [341] _Journ. Éc. polyt._ 39. [342] _Mém. prés._ 27 (1879) (_Mémoire relatif à l'application des surfaces les unes sur les autres_). [343] _Journ. Éc. polyt._ 41, 42. [344] _Berliner Abh._, 1869. [345] _Journ. für Math._ 94. [346] _Berliner Ber._ 1882. [347] _Münchener Abh._ 14. [348] _Journ. für Math._ 6. [349] _Irish Trans._ 22, I. T. [350] _Giorn. di Matem._ 2. [351] _Göttinger Nachr._ 1875. [352] _Giorn. di Matem._ 21. [353] _Journ. Éc. polyt._ 48. [354] _Bologna Mem._ IV, 3. [355] _Mém. prés._ 5; _Liouvilles Journ._ 2. -- Unter den vielen Anwendungen, die man von den elliptischen Koordinaten gemacht hat, wollen wir nur diejenigen anführen, die Jacobi davon gemacht hat bei der Bestimmung der geodätischen Linien (_Journ. für Math._ 14; _Comptes rendus_ 8; _Liouvilles Journ._ 6) und bei einigen Fragen der Dynamik. S. _Vorlesungen über Dynamik_, 1866 in erster, 1884 in zweiter Ausgabe als Supplementband zu den _Gesammelten Werken_ erschienen. [356] _Journ. Éc. polyt._ 23. [357] _Liouvilles Journ._ 5. [358] das. 4. [359] das. 8. [360] _Comptes rendus_ 48, 54; _Journ. für Math._ 58; _Annali di Matem._ I, 6 und II, 1, 3, 5. [361] _Annali di Matem._ II, 1. [362] das. II, 1, 2, 4, 5. [363] _Bologna Mem._ 1868-1869. [364] _Ann. Éc. norm._ II, 7. [365] _Ann. Éc. norm._ I, 4. [366] _Journ. Éc. polyt._ 43. [367] _Annales des mines_ VII, 5. [368] _Liouvilles Journ._ 11. [369] das. 12. [370] _Comptes rendus_ 54. [371] _Mémoires couronnés par l'Académie de Belgique_, 32. [372] _Comptes rendus_ 59. [373] das. 59, 60, 67, 76; _Ann. Éc. norm._ I, 2; II, 3. [374] _Comptes rendus_ 74, 75; _Phil. Trans._ 163. Vgl. Weingarten, _Journ. für Math._ 83. [375] _Comptes rendus_ 76. [376] _Journ. für Math._ 85. [377] das. 76; vgl. Darboux, _Comptes rendus_ 84. [378] _Grunerts Arch._ 55, 56, 57, 58 und 63. [379] _Giorn. di Matem._ 21, 22; _Annali di Matem._ II, 13; _Lincei Rend._ 1886. [380] _Mémoires de l'Académie de Toulouse_ VIII, 1. [381] _Archiv for Math. og Naturv._ 7. [382] _Göttinger Abh._ 19. -- Wenn u der Winkel der Normalen der Oberfläche in einem Punkte mit der z-Axe, und v der Winkel der Projektion derselben auf die xy-Ebene mit der x-Axe ist, so nennt man nach Enneper Kurven, deren Gleichungen u = _const._ oder v = _const._ sind, Meridiankurven. [383] _Comptes rendus_ 74; _Proc. math. Soc._ 4. [384] _Berliner Ber._ 1883. [385] _Göttinger Dissertation,_ 1883. [386] _Giorn. di Matem._ 17. [387] _Mémoires de la société scientifique de Bruxelles_ 5, 7, 8. [388] _Ann. Éc. norm._ II, 3; _Journ. Éc. polyt._ 53. [389] _Liouvilles Journ._ 9, 12. [390] _Journ. Éc. polyt._ 30, 32; _Liouvilles Journ._ 14; _Comptes rendus_ 54. [391] Man sehe auch die _Thèse_ (Dissertation) von Picart, _Essai d'une théorie géométrique des surfaces_ (Paris, 1863). [392] _Liouvilles Journ._ II, 17 und III, 4; _Bull. Soc. math. _2, 5, 6; _Comptes rendus_ 74, 78, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 86, 88; _Proc. math. Soc._ 12; _The Messenger of Mathematics_ II, 8. [393] _Enumeratio linearum tertii ordinis_ (1706). Indem wir eine Bemerkung von Bellavitis (1803-1880) verwerten (s. § 107 der Schrift _Sulla classificazione delle curve di terzo ordine, Memorie della Società italiana delle scienze residente in Modena_, Bd. 25, II. Teil S. 34), geben wir dieses Resultat wieder, indem wir sagen, daß jede Kurve dritter Ordnung sich durch eine geeignete projektive Transformation auf eine der folgenden Formen bringen läßt: Kurve, bestehend aus einem Schlangenzuge und einem Ovale (_parabola campaniformis cum ovali_), Kurve mit einem Doppelpunkte (_parabola nodata_), Kurve, bestehend aus einem Schlangenzuge (_parabola pura_), Kurve mit einem isolierten Punkte (_parabola punctata_), Kurve mit einer Spitze (_parabola cuspidata_). Unter den Beweisen, die für diesen Satz gegeben sind, führe ich den von Möbius an, der sich auf die Prinzipien der analytischen Sphärik gründet (_Gesammelte Werke_, II. Bd. S. 89-176), und den, der aus der Klassifikation von Bellavitis (s. oben) hervorgeht. An Möbius schließt sich an: M. Baur, _Synthetische Einteilung der ebenen Kurven III. Ordnung_ (Stuttgart, 1888). Dann bemerke ich noch hierzu, daß die Einteilungen, die von Möbius und Bellavitis (fast gleichzeitig, da die erste 1852 veröffentlicht wurde und die zweite 1851 geschrieben und 1855 veröffentlicht wurde) vorgeschlagen sind, gemeinsam haben, daß sie die Kollineation als Grundlage der Bildung der Gattungen, die Affinität zur Grundlage der Bildung der Arten dieser Kurven nehmen. Plückers Einteilung befindet sich im _System der analytischen Geometrie_. J. W. Newman hat der _British Association for the Advancement of Science_ (vgl. Report 1869-1870) eine Diskussion der Formen der ebenen kubischen Kurven und eine daraus sich ergebende Nomenklatur vorgelegt, die von der gewöhnlich üblichen abweicht. [394] _Aperçu historique_, Note 20. [395] _Journ. für Math._ 75 und 76. Wir können hinzufügen, daß Reye im Anhange der 3. Auflage des ersten Teiles seiner _Geometrie der Lage_, der vor wenigen Monaten erschienen ist, eine neue und elegante Methode zur Bestimmung der Formen der ebenen kubischen Kurven einführt, indem er sie als die Jacobischen Kurven von Kegelschnittnetzen auffaßte. [396] §§ 12, 13, 14, 15. [397] _The Messenger of Mathematics_ II, 6. [398] _Anwendung der Topologie auf die Gestalten der algebraischen Kurven, speziell der rationalen Kurven vierter und fünfter Ordnung_ (Münchener Dissertation, 1878). [399] _Irish Trans._ 1875. [400] _Beiträge zur Theorie der Oskulationen bei ebenen Kurven dritter Ordnung_ (Berliner Dissertation, 1884). [401] _Math. Ann._ 7, 10. S. übrigens die Abhandlung: _Almindelige Egenskaber ved Systemer af plane Kurver_ (Abh. der Akad. der Wissensch. in Kopenhagen V, 10). [402] _Math. Ann._ 12; _Tidsskrift for Mathem._ IV, 1. [403] _Math. Ann._ 10. Vgl. auch Perrin, _Bull Soc. math._ 6. [404] _Theorie der algebraischen Kurven_ S. 249 flgg. -- Im Anschluß an Plücker mögen noch Beers _Tabulae curvarum quarti ordinis symmetricarum_ (Bonn, 1862) erwähnt werden. [405] »Eine Kurve vom Geschlechte p kann höchstens aus p + 1 Zügen bestehen«. _Math. Ann._ 10. Der Spezialfall dieses Satzes, p = 0, ist seit langer Zeit bekannt; schon Bellavitis hatte denselben in der vorher angeführten Abhandlung besprochen; er erklärt die Benennung _unicursal_, die von Cayley den rationalen Kurven gegeben war, und die von vielen noch heute gebraucht wird. [406] _Gesammelte Werke_ 2, S. 433. [407] _Math. Ann._ 12, 13; _Leipziger Ber._ 1884. [408] _Math. Ann._ 6. [409] _Annali di Matem._ II, 5 und 7. [410] _Math. Ann._ 8. [411] _Münchener Ber._ 1883. [412] _Quart. Journ._ 9. [413] Siehe die schon zitierte Abhandlung: _Om Flader af fjerde Orden med Doppeltkeglesnit_. [414] _Om Flader af fjerde Orden med Tilbagegangskeglesnit_ (Kopenhagen, 1881). [415] _Münchener Dissertation_, 1878; _Math. Ann._ 15, 18, 28, 29. [416] Für den, der sich mit der Konstruktion spezieller Oberflächen befassen will, führe ich die praktischen Regeln an, welche Hicks (_Messenger of Mathematics_ II, 5) für die Konstruktion der Wellenfläche gegeben hat. [417] _Zeitschr. f. Math._ 25. [418] _Modelle von Raumkurven- und Developpabelen-Singularitäten_ (Lund, Gleerup, 1881). [419] Unter den von Steiner ausgesprochenen Sätzen, nach deren Ursprung wir, seine Nachfolger, vergebens suchen, finden sich einige derartige (s. _Journ. für Math._ 37, 45, 49; _Gesammelte Werke_, II. Bd. S. 389, 439 und 613), welche glauben lassen, daß er eine Methode besessen habe, um einige von den im Texte gekennzeichneten Problemen zu lösen. Etliche lassen sich durch eine quadratische Transformation beweisen, wie Berner in seiner Dissertation: _De transformatione secundi ordinis ad figuras geometricas adhibita_ (Berlin, 1864) gezeigt hat. -- Jonquières (_Liouvilles Journ._ II, 6; _Comptes rendus_, 1864, 65 und 66) fand auch eine Weise, um zur Lösung einiger Probleme dieser Art zu gelangen, aber der von ihm eingeschlagene Weg (welcher der Hauptsache nach in einer Anwendung des Bézoutschen Satzes besteht) führte ihn unbedingt zu Irrtümern wegen uneigentlicher (fremder) Lösungen, die er nicht ausgeschieden hatte. Vgl. die schöne Abhandlung von Study in den _Math. Ann._ 27. [420] _Comptes rendus_, 1864; vgl. auch Zeuthen, _Nyt Bidrag til Laeren om Systemer af Keglesnit_ (Kopenhagen, 1865) oder _Nouv. Ann._ II, 5; Dino, _Comptes rendus_, 1867. Die Bände der _Comptes rendus_ von 1864 ab enthalten eine ungeheuere Anzahl von Lehrsätzen verschiedener Art, die von Chasles aufgestellt sind und deren Beweis sich auf die Theorie der Charakteristiken und auf das Korrespondenzprinzip stützt. Unter diesen Arbeiten ist eine der bemerkenswertesten diejenige, in welcher der Verfasser mit Hilfe des Korrespondenzprinzips die Zahl der Schnitte zweier Kurven in einer Ebene bestimmt (_Comptes rendus_ 75). Die dort angewandte Beweisführung kann verallgemeinert werden und in vielen Fällen dazu dienen, die Zahl der Lösungen eines bestimmten Systemes von algebraischen Gleichungen zu finden. (S. Saltel, _Mémoires de l'Académie de Belgique_ 24; _Comptes rendus_ 81; Fouret, _Bull. Soc. math._ 1, 2; _Comptes rendus_ 78. [421] _Comptes rendus_ 61. [422] Ebendas. 62. S. auch Salmon, _Quart. Journ._ 1866; Schubert, _Journ. für Math._ 71 und 73. -- Eine interessante Anwendung der Theorie der Systeme von Flächen zweiter Ordnung auf das Studium der quadratischen (vorletzten) Polaren der Punkte des Raumes in bezug auf eine beliebige algebraische Fläche wurde von Zeuthen gemacht (_Annali di Matem._ II. 4). [423] Vgl. auch _Comptes rendus_ 74, 75. [424] Paris, 1871. [425] _Journ. für Math._ 79, 80. [426] _Göttinger Nachr._ 1874, 75; _Math. Ann._ 13. [427] _Phil. Trans._ 1858. [428] _Recherches sur les séries ou systèmes de courbes et de surfaces algébriques_ (Paris, 1866); _Comptes rendus_, 1866; _Journ. für Math._ 66 u. s. w. Die eleganten analytischen Untersuchungen von Brill und Krey (_Math. Ann._ und _Acta math._) haben zum Ziele die Auflösung von Problemen aus der abzählenden Geometrie, die sich auf Systeme von Kurven und Oberflächen beziehen. [429] _Annali di Matem._ II, 6; _Proc. math. Soc._ 5, 6, 8. [430] _Math. Ann._ 1, 6, 12, 15. [431] _Compt. rend._ 88. Bemerkenswert in dieser Abhandlung ist die Ausdehnung des Begriffes des Geschlechtes einer Kurve auf Systeme von Kurven. [432] _Math. Ann._ 6. [433] _Comptes rendus_ 78 und 86; _Bull. Soc. math._ 2 und 7. [434] _Comptes rendus_ 79, 86. [435] das. 82, 84. [436] das. 80. [437] das. 82. [438] Andere Anwendungen dieses Prinzipes finden sich in den von Fouret veröffentlichten Arbeiten in den _Comptes rendus_ 83, 85, im _Bull. Soc. math._ 6 und im _Bulletin de la Société philomathique_ VI, 11. -- Wir bemerken, daß die geometrische Interpretation der Gleichung ( dz dz ) ( dz ) ( dz ) L ( x -- + y -- - z ) - M ( -- ) - N ( -- ) + R = 0, ( dx dy ) ( dx ) ( dy ) wenn L, M, N, R lineare Funktionen sind, welche von Fouret in den _Comptes rendus_ 83 gegeben ist, ihn zu gewissen Oberflächen führte, die zuerst von Klein und Lie studiert worden waren (_Comptes rendus_ 70). [439] Leipzig, 1879. In demselben sind die früheren Arbeiten von Schubert vereinigt und befinden sich die Grundlagen seiner späteren Arbeiten. [440] Das erste dieser Prinzipien wurde von Chasles für die rationalen Gebilde erster Stufe (_Comptes rendus_ 1864-1866) ausgesprochen und dann von Cayley auf alle Gebilde erster Stufe ausgedehnt (_Comptes rendus_ 62, _Proc. math. Soc._ 1866), und noch vollständiger im _Second memoir on the curves which satisfy given conditions_ (_Phil. Trans._ 158). Bewiesen wurde das Cayleysche Prinzip von Brill (_Math. Ann._ 6 und 7), neuerdings wurde es in einer sehr bemerkenswerten Weise von Hurwitz ausgedehnt (_Math. Ann._ 28). Saltel ergänzte das Chaslessche Korrespondenzprinzip, indem er die Bestimmung der Zahl der Koinzidenzen, die ins Unendliche fallen, zeigte (_Comptes rendus_ 80) und illustrierte seine Resultate durch mehrere Beispiele (_Comptes rendus_ 80, 81, 82, 83, und _Bulletin de l'Académie de Belgique_ II, 92). Für die rationalen Gebilde zweiter und dritter Stufe hat man auch ein Korrespondenzprinzip, welches von Salmon (_Geometry of three dimensions_ II. Aufl.) und von Zeuthen (_Comptes rendus_ 78) entdeckt ist. Für die Gebilde höherer Stufe siehe eine Note von Pieri in den _Lincei Rend._ 1887. [441] Betreffend andere bibliographische Einzelheiten über diesen Zweig der Geometrie vgl. man den Artikel von Painvin, der in dem _Bull. Sciences math._ 3 veröffentlicht ist, sowie einen von mir selbst in der _Bibliotheca mathematica_ II, 2 (1888), S. 39, 67 veröffentlichten Artikel _Notizie storiche sulla geometria numerativa_. [442] _Comptes rendus_ 67. [443] _Math. Ann._ 6. [444] _Vorlesungen über Geometrie_ von A. Clebsch (herausgegeben von Lindemann) (Leipzig, 1876) S. 399. [445] _Göttinger Nachr._ 1876. [446] _Comptes rendus_, 1876; _Journ. Éc. polyt._ 45; _Proc. math. Soc._ 9, 10; _Math. Ann._ 15. [447] _Journ. Éc. polyt._ 45. [448] Auch von dem Satze, den Cremona ausgesprochen hat (_Annali di Matem._ I, 6 und _Giorn. di Matem._ 3) über die doppelt unendlichen Systeme von Kegelschnitten, als Erweiterung des Satzes von Chasles, kann man eine Anwendung machen, worüber man das einsehen möge, was del Pezzo in seiner interessanten Abhandlung _Sui sistemi di coniche_ (_Napoli Rend._ 1884) auseinandergesetzt hat, und neuere Beobachtungen von Study (_Math. Ann._ 27). [449] _Mém. prés._ 1, 1806. [450] das. (ältere Serie) 10, 1785, und die schon zitierte _Application_. [451] _Mém. prés._ 9, 1781. [452] _Journ. Éc. polyt._ 30. [453] _Liouvilles Journ._ 17. [454] das. 16. [455] Man sehe die Noten zur _Application de l'Analyse à la Géométrie_, 5. Aufl. und _Liouvilles Journ._ 17. [456] _Liouvilles Journ._ 15, 16. [457] das. 7. [458] _Forhandlingar i Videnskab-Selskabet i Christiania_, 1882. [459] Eingehenderes findet man in der Note 65 der _Analytischen Geometrie des Raumes_ von G. Salmon, deutsch bearbeitet von W. Fiedler, 3. Aufl. 1880, II. Teil S. 37. -- In Bezug auf eine synthetische Darstellung der Differentialgeometrie der Raumkurven sehe man Schell, _Allgemeine Theorie der Kurven doppelter Krümmung in rein geometrischer Darstellung_ (Leipzig, 1859), und Paul Serret, _Théorie nouvelle géométrique et mécanique des courbes à double courbure_ (Paris, 1860). [460] Vgl. Magnus, _Aufgaben und Lehrsätze aus der analytischen Geometrie des Raumes,_ 1837, S. 160. [461] Die Existenz zweier Raumkurven vierter Ordnung wurde zuerst durch Salmon im Jahre 1850 (_Cambridge Journ._ 5) und darauf von Steiner (_Journ. für Math._ 53) bekannt gemacht. [462] Auf der kubischen Fläche treten schon von der sechsten Ordnung ab gegen die Geraden der Fläche verschiedenartig sich verhaltende Kurven derselben Ordnung auf, die in der Zahl der scheinbaren Doppelpunkte übereinstimmen. Vgl. Sturm, _Math. Ann._ 21. [463] _Liouvilles Journ._ 10, oder _Cambridge Journ._ 5. Dieser Abhandlung folgte eine, die von Salmon in demselben Bande des _Cambr. Journ._ veröffentlicht wurde, und zu ihrer Ergänzung wiederum dient eine von Zeuthen, die in den _Annali di Matem._ II, 3 abgedruckt ist. -- An sie schließen sich ferner die Schriften, welche Cayley (_Phil. Trans._ 153), Piquet (_Comptes rendus_ 77 und _Bull. Soc. math._ 1), und Geiser (_Collectanea mathematica in memoriam D. Chelini_, Mailand, 1881) geschrieben haben über die Geraden, welche eine Raumkurve eine gewisse Anzahl Male schneiden. [464] _Comptes rendus_ 54 und 58. Mit dieser Abhandlung vergleiche man die Dissertation von Ed. Weyr, _Über algebraische Raumkurven_ (Göttingen, 1873) und andere Schriften desselben Verfassers (_Comptes rendus_ 76, _Wiener Ber._ 69). Den zitierten Abhandlungen von Cayley müßte ich noch eine dritte hinzufügen (_Quart. Journ._ 3), in welcher der Autor sich die Aufgabe gestellt hat, eine Kurve als Komplex ihrer Sekanten (im Sinne Plückers) zu betrachten und sie daher mittelst einer einzigen Gleichung zwischen den Koordinaten einer Geraden im Raume darzustellen, aber ich kann davon absehen, da die Fruchtbarkeit einer solchen Betrachtung noch nicht dargethan ist. [465] Halphen, _Mémoire sur la classification des courbes gauches algébriques_ (_Journ. Éc. polyt._ 52). Man sehe auch desselben Autors Abhandlung _Sur les singularités des courbes gauches algébriques_ (_Bull. Soc. math._ 9). -- Nöther, _Zur Grundlegung der Theorie der algebraischen Raumkurven_ (_Berliner Abh._ 1883, _Journ. für Math._ 93). [466] _Comptes rendus_ 70; _Bull. Soc. math._ 1 und 2. [467] _Math. Ann._ 7. [468] _Math. Ann._ 6. Ein anderer Beweis desselben Satzes wurde von Halphen gegeben, _Bull. Soc. math._ 5. [469] Die Gerechtigkeit verlangt, daß ich auch noch eine sehr schöne Arbeit von Valentiner anführe: _Bidrag til Rumcurvener Theori_ (Kopenhagen, 1881) (vgl. auch _Tidsskrift for Math._ IV, 5 und _Acta math._ 2), die fast zu gleicher Zeit mit denen von Halphen und Nöther erschienen ist und mit diesen in den Methoden und den Resultaten bemerkenswerte Berührungspunkte hat. -- Ich will in dieser Note auch noch, da ich es im Texte nicht thun konnte, einen Satz von Cremona anführen (von Dino in den _Napoli Rend._ 1879 bewiesen) und einige von Sturm (_Report of the British Association_, 1881; _Math. Ann._ 19), welche bemerkenswerte allgemeine Eigenschaften der Raumkurven ausdrücken, sowie an die Untersuchungen von Cayley, Piquet und Geiser über eine Raumkurve mehrmals schneidende Geraden erinnern, von denen in der Note 463 gesprochen wurde. Erwähnenswert ist auch die (von Hoßfeld in der _Zeitschr. f. Math._ 29 gefundene) Thatsache, daß die Rückkehrkurve der zweien Oberflächen umbeschriebenen abwickelbaren Fläche nicht der vollständige Schnitt zweier Oberflächen ist. [470] »Von anderen wird es löblich sein zu schweigen, Weil allzukurz die Zeit für die Erzählung.« -- Dantes Göttliche Komödie; _Die Hölle_, 15. Gesang, Vers 104-105. [471] _Der barycentrische Calcül_ (Leipzig, 1827). [472] _Aperçu historique,_ Note 33; _Liouvilles Journ._ 19 (1854). [473] _Beiträge zur Geometrie der Lage_, 3. Heft (Nürnberg, 1860). [474] _Grunerts Arch._ 10. [475] _Journ. für Math._ 56. [476] _Journ. für Math._ 58, 60, 63; _Nouv. Ann._ II, 1; _Annali di Matem._ I, 1, 2, 5; _Lombardo Rend._ II, 12. [477] _Journ. für Math._ 56; _Theorie der Oberflächen zweiter Ordnung und der Raumkurven dritter Ordnung_ (Leipzig, 1880); _Math. Ann._ 25. Vgl. auch eine Note von mir in den _Napoli Rend._, 1885. [478] _Zeitschr. für Math._, 1868; _Geometrie der Lage_. [479] _Lombardo Rend._ 1871. [480] _Journ. für Math._ 79, 80; _Annali di Matem._ II, 3. [481] _Math. Ann._ 20 und 30. [482] _Torino Mem._ II, 32 und _Collectanea mathematica_. An diese Abhandlungen schließt sich eine von Gerbaldi, _Sui sistemi di cubiche gobbe o di sviluppabili di III. classe stabiliti col mezzo di due cubiche punteggiate projettivamente_ (_Torino Mem._ II, 32). [483] _Giorn. di Matem._ 17 (1879). Betreffend die ausgearteten Formen der kubischen Raumkurve sehe man eine Note von Schubert (_Math. Ann._ 15). Die Theorie der kubischen Raumkurven führt zu einer interessanten geometrischen Darstellung der Theorie der binären algebraischen Formen, die von Laguerre (_L'Institut_ 40), von Sturm (_Journ. f. Math._ 86) und von Appell (_Ann. Éc. norm._ II, 5) bearbeitet wurde. Vgl. auch eine Note von J. Tannery (_Bull. sciences math._ 11). Ferner sehe man in bezug hierauf die Note von W. R. W. Roberts (_Proc. math. Soc._ 13) und das Buch von Franz Meyer, _Apolarität und rationale Kurven_ (Tübingen, 1883). Eine gute Darlegung der Theorie der Raumkurven dritter Ordnung hat auch von Drach geliefert in der Schrift _Einleitung in die Theorie der kubischen Kegelschnitte_ (Leipzig, 1867), infolge deren Beltrami interessante _Annotazioni_ geschrieben hat (_Lombardo Rend._ II, 1). [484] _Comptes rendus_ 53 (1861). [485] _Annali di matem._ 4. -- Die Note von Story, _On the number of intersections of curves traced on a scroll of any order_ (_Johns Hopkins Baltimore University Circulars_ 2, 1883) enthält eine Verallgemeinerung eines sehr wichtigen Theoremes von Chasles. [486] Poncelet machte im Jahre 1822 die bemerkenswerte Entdeckung, daß durch jede Raumkurve vierter Ordnung erster Art vier Kegel zweiten Grades hindurchgehen. (S. _Traité des proprietés projectives_ I, S. 385, 2. Aufl.) [487] _Comptes rendus_ 54, 55. [488] _Comptes rendus_ 54; _Bologna Mem._ 1861; _Lombardo rend._ II, 1. [489] _Annali di Matem._ II, 2. [490] _Géometrie de direction_ (Paris, 1869); _Comptes rendus_ 82. [491] _Liouvilles Journ._ II, 15. [492] _Journ. für Math._ 97. -- Eine bemerkenswerte spezielle Raumkurve vierter Ordnung erster Art hat Schröter untersucht: _Journ. für Math._ 93. [493] _Math. Ann._ 12, 13. [494] _Zeitschr. f. Math._ 28. [495] _Math. Ann._ 13. Vgl. Cayley (das. 25). [496] _Comptes rendus_ 82. [497] _Annali di Matem._ I, 4. [498] _Giorn. di Matem._ 11, 12. [499] _Lombardo rend._ 1872. [500] _Wiener Ber._ 1871. Über die rationalen Kurven vierter Ordnung sehe man auch Study (_Leipziger Sitzungsber._ 1886), die _Habilitationsschrift_ von Jolles (Aachen, 1886) und die Abhandlung von Roberts (_Proc. math. Soc._ 14). -- Unter den rationalen Kurven vierter Ordnung ist eine sehr bemerkenswerte diejenige, welche zwei stationäre Tangenten hat. Die eleganten Eigenschaften, welche dieselbe besitzt, wurden von Cremona (_Lombardo Rend._ 1868), Em. Weyr (das. 1871) und Appell (_Comptes rendus_ 83) entdeckt. [501] _Comptes rendus_ 70. [502] _Vierteljahrsschrift der naturf. Ges. in Zürich_ 20. [503] Außer den zitierten _Synthetischen Untersuchungen_ sehe man _Journ. für Math._ 88 und _Math. Ann._ 21. [504] S. Korndörfer und Brill, _Math. Ann._ 3; Saltel, _Comptes rendus_ 80; Genty, _Bull. Soc. math._ 9. [505] Siehe unter anderem die Bemerkung von Buchheim, _On the extension of certain theories relating to plane cubics to curves of any deficiency_ (_Proc. math. Soc._ 13). [506] _Collectanea mathematica_. [507] _Journ. für Math._ 99. [508] Chasles, _Aperçu historique_, 2. Aufl., S. 269; in der deutschen Übersetzung von Sohncke, S. 267. [509] Diese Konstruktion, die von den Deutschen »Steinersche Projektion« genannt wird, wurde im Jahre 1865 von neuem von Transon (1806-1876) gefunden, der ihr den Namen »_projection gauche_« gab (_Nouv. Ann._ II, 4 und 5). [510] _Traité des propriétés projectives_ (1. Aufl. 1822, S. 198). [511] _Journ. für Math._ 5. [512] _Journ. für Math._ 8, und _Aufgaben und Lehrsätze aus der analytischen Geometrie der Ebene_, 1833. [513] _Torino Mem._ 1862. [514] _Grunerts Arch._ 7. [515] _Zeitschr. f. Math._ 11. [516] _Liouvilles Journ_. 10, 12. Vorher hatten schon G. Bellavitis (_Nuovi Saggi dell' Accademia di Padova_ 4 (1836) und Stubbs (_Phil. Mag._ 23, 1843) sich mit dieser Korrespondenz beschäftigt. Man sehe auch Steiners Aufsatz aus dem Jahre 1826: _Einige geometrische Betrachtungen_ (_Journ. für Math._ 1; _Gesammelte Werke_ Bd. I, S. 19) Nr. 20. [517] Auf den Begriff der Inversion ist von Johnson (Analyst 4) eine neue Einteilung der ebenen Kurven gegründet worden. In derselben bedeutet der Name »Kreisgrad« einer Kurve den Grad ihrer Gleichung (in rechtwinkligen cartesischen Koordinaten) in x, y, r = x^2 + y^2; der Kreisgrad einer Kurve wird durch die Inversion nicht verändert. Zwei Kurven, welche denselben Grad haben, gehören zu derselben Kategorie. Diese Einteilung scheint jedoch nicht von großer Wichtigkeit zu sein. [518] _Sammlung von Aufgaben und Lehrsätzen aus der analytischen Geometrie der Ebene_, 1833. [519] In den Jahren 1859 und 1860 studierte Jonquières die (nach seinem Namen benannte) Transformation n^{ter} Ordnung, bei welcher jeder Geraden eine Kurve n^{ter} Ordnung mit einem (n - 1)-fachen Punkte entspricht. Einige seiner Resultate wurden im Jahre 1864 in den _Nouv. Ann._ veröffentlicht, aber das vollständige Werk, welches er dieser Transformation widmete, erschien erst 1885 und zwar durch Guccia (s. _Giorn. di Matem._ 23) herausgegeben. Wir bemerken auch, daß schon 1834 Möbius (_Journ. für Math._ 12; _Gesammelte Werke,_ 1) die eindeutige Korrespondenz zwischen zwei Ebenen, bei denen die Flächeninhalte entsprechender Figuren in einem konstanten Verhältnisse stehen, studiert hat. Die Untersuchungen sind jedoch von ganz anderer Art als die im Texte betrachteten. [520] _Bologna Mem._ 2, 5 (1863 und 1865); _Giorn. di Matem._ 1 und 3; vgl. auch Dewulfs Bearbeitung im _Bull. sciences math._ 5. [521] _Proc. math. Soc._ 3. [522] _Math. Ann._ 4. [523] _Math. Ann._ 3, 5. [524] _Journ. für Math._ 73. [525] _Proc. math. Soc._ 4. [526] Hier will ich einen wichtigen Lehrsatz berühren, der gleichzeitig von Clifford (_Proc. math. Soc._ 3), Nöther (_Göttinger Nachr._ 1870; _Math. Ann._ 3) und Rosanes (_Journ. für Math._ 73) erhalten wurde, und für einen Augenblick die Wichtigkeit der Cremonaschen Transformation aufzuheben schien: »Jede eindeutige Transformation von höherer als erster Ordnung kann man durch Wiederholung von quadratischen Transformationen erhalten.« Dieser Satz ist offenbar die Umkehrung desjenigen von Magnus, der vorhin im Texte angeführt wurde. [527] _Bologna Mem._ 1877-1878. [528] _Comptes rendus_, 1885; _Giorn. di Matem._ 24. [529] _Annali di Matem._ II, 10. [530] _Comptes rendus_, 1885; _Rendic. del Circolo Matematico di Palermo_ 1. [531] Man sehe die in den _Comptes rendus_, 1883, 1884, 1885, 1886 und in _Liouvilles Journ._ 1885, 1886, 1887 veröffentlichten Abhandlungen. [532] _Annali di Matem_. 7, ferner _Giorn. di Matem_. 4. [533] _Proc. math. Soc._ 2. [534] _Math. Ann._ 26. [535] _Bull. sciences math._ II, 6 und 7. [536] Meistenteils wurden die geometrischen Transformationen auf das Studium der algebraischen Kurven angewandt; jedoch fehlt es nicht an Schriften, welche sich mit der Transformation transcendenter Kurven in andere oder in sich selbst befassen: z. B. Magnus, _Sammlung von Aufgaben und Lehrsätzen aus der analytischen Geometrie der Ebene_, 1833, S. 320, 455, 457-459, 497; Klein und Lie, _Math. Ann._ 4. [537] _Annali di Matem._ II, 8; _Lombardo Rend._ 1883. Vgl. auch Geiser, _Journ. für Math._ 67. [538] _Napoli Rend._, 1879. [539] Die neueste Form, welche die Bertinischen Untersuchungen infolge dessen angenommen, machte es meinem Freunde Martinetti leichter, auf dem von diesem Gelehrten vorgezeichneten Wege weiter zu schreiten und die ebenen involutorischen Transformationen dritter und vierter Klasse zu bestimmen (_Annali di Matem._ II, 12, 13). Die Theorie der ebenen Transformationen wird sich binnen kurzem durch die wichtige Arbeit von Kantor bereichern, welche von der Akademie zu Neapel gekrönt worden ist und jetzt gedruckt wird. Einzelne Resultate finden sich in den _Wiener Ber._ 1880 ausgesprochen, sowie in den _Wiener Denkschriften_ 46. Saltel verdanken wir die Idee einer speziellen involutorischen Transformation dritten Grades, die er schon 1872 unter dem Namen »_Transformation arguesienne_« nach Desargues benannt (s. die _Mémoires de l'Académie de Belgique_ 12, _Bulletin de l'Académie de Belgique_ II, 24), studiert hat. Man stellt dieselbe auf folgende Weise her: Gegeben sind in einer festen Ebene [PI] zwei Kegelschnitte [GAMMA]_1 und [GAMMA]_2 und ein fester Punkt O; man läßt entsprechen einem Punkte P von [PI] seinen konjugierten in der Involution, die auf der Geraden OP bestimmt wird durch den Kegelschnittbüschel, den [GAMMA]_1, und [GAMMA]_2 konstituieren. Es sind fundamental der Punkt O und die Grundpunkte dieses Büschels. -- Wenn jene beiden Kegelschnitte [GAMMA]_1 und [GAMMA]_2 zusammenfallen, so reduziert sich diese Transformation offenbar auf die quadratische Inversion von Hirst. -- Im Raume hat man eine ähnliche Transformation. -- Eine andere Transformation (»_transformation hyperarguesienne_«) wurde von demselben Verfasser als Erweiterung der vorhergehenden eingeführt (_Bulletin de l'Académie de Belgique_ II, 12) und wird auf folgende Weise hergestellt: Gegeben in einer Ebene [PI] drei Kegelschnitte [GAMMA]_1, [GAMMA]_2, [GAMMA]_3 und ein fester Punkt O. Man läßt einem Punkte P von [PI] seinen homologen entsprechen in der Projektivität, die bestimmt ist auf OP von den drei Paaren von Punkten, in welchen diese Gerade von den drei Kegelschnitten getroffen wird; jedoch ist diese Korrespondenz offenbar nicht birational. -- Die erste der Saltelschen Transformationen kann zur Lösung von Problemen aus der Theorie der Charakteristiken für die Kurven höherer als zweiter Ordnung dienen (_Bull. Soc. Math._ 2). [540] _Bull. Soc. math._ 8; _Comptes rendus_ 94; _Nouv. Ann._ III, 1, 2. Diese Transformation kann man, wie Laguerre selbst bemerkte, auf den Raum ausdehnen (_Comptes rendus_ 92), jedoch ist die Art der Korrespondenz, die man erhält, keine neue; sie ist nach einer Bemerkung von Stephanos (_Comptes rendus_ 92) dieselbe, vermittelst derer Lie die Geometrie der Geraden mit der der Kugel verknüpfte (_Math. Ann._ 5). [541] Die verschiedenen Abhandlungen von Möbius über diese Theorie finden sich vereint im II. Bande seiner _Gesammelten Werke_ (Leipzig, 1886). [542] _Journ. für Math._ 55, 57, 59; _Grunerts Arch._ 33. [543] _Grunerts Arch._ 42. [544] _Bologna Mem._ 1870. [545] _Journ. für Math._ 69. [546] Des Näheren siehe die Abhandlung: _Géometrie des polynomes_ (_Journ. Éc. polyt._ 28). [547] _Beiträge zur geometrischen Interpretation binärer Formen_ (Erlangen, 1875); vgl. _Math. Ann._ 9; _Studien im binären Wertgebiete_ (Karlsruhe, 1876); _Math. Ann._ 17; _Erlanger Berichte_, 1875. [548] Siehe das Werk: _Einführung in die Theorie der isogonalen Verwandtschaften_ (Leipzig, 1883). [549] Zwischen drei geometrischen Gebilden kann man eine Korrespondenz aufstellen, so daß einem Paare von Elementen, das eine genommen in dem einen, das andere in einem zweiten, eindeutig ein solches im dritten Gebilde entspricht. Wenn unter Festhaltung eines Elementes die anderen beiden projektive Systeme beschreiben, so nennt man die Korrespondenz trilinear, und diese wurde im Falle der Gebilde erster Stufe von Rosanes (_Journ. für Math._ 1888) behandelt, sodann von Schubert (_Math. Ann._ 17 und _Mitteilungen der Math. Ges. in Hamburg_, 1881) und in einem Spezialfalle von Benno Klein (_Theorie der trilinear-symmetrischen Elementargebilde_, Marburg, 1881); im Falle der Gebilde zweiter Stufe von Hauck (_Journ. für Math._ 90, 97, 98), welcher einige Anwendungen derselben auf die darstellende Geometrie machte, die von bemerkenswertem praktischen Nutzen zu sein scheinen. Fast gleichzeitig mit den Arbeiten von Schubert sind diejenigen, in denen Le Paige mit Hilfe der Theorie der algebraischen Formen die trilineare Korrespondenz untersuchte und auf die Geometrie anwandte; man sehe die _Essais de Géométrie supérieure du troisième ordre_ (_Mém. de la Soc. des sciences de Liège_ II, 10) und die Noten, welche im _Bulletin de l'Académie de Belgique_ III, 5 und in den _Wiener Ber._ 1883 veröffentlicht sind. Derselbe Geometer beschäftigte sich auch mit der quadrilinearen Beziehung (_Torino Atti_ 17, 1882) und machte von ihr Anwendung auf die kubischen Flächen und gewisse Flächen vierter Ordnung (_Bulletin de l'Académie de Belgique_ III, 4; _Acta math._ 5). Wir unterlassen nicht, zu erwähnen, daß die duploprojektive Beziehung, durch welche schon 1862 F. August die kubische Oberfläche erzeugte (_Disquisitiones de superficiebus tertii ordinis, Berliner Dissertation_), eine trilineare Beziehung ist. [550] Wenn z. B. ein Dreieck ABC gegeben ist, so sei P ein beliebiger Punkt seiner Ebene. Es giebt nun einen Kegelschnitt K, welcher die Seiten des Dreieckes in den Punkten (PA, BC), (PB, CA), (PC, AB) berührt. Läßt man K dem P entsprechen, so hat man eine Korrespondenz von der im Texte angegebenen Art. Ähnlich erhält man eine duale Korrespondenz. Beide wurden von Montag in seiner Dissertation: _Über ein durch die Sätze von Pascal und Brianchon vermitteltes geometrisches Beziehungssystem_ (Breslau, 1871) studiert. Weitere analoge Korrespondenzen kann man aus der Beobachtung entnehmen, daß jeder Punkt der Ebene ABC der Mittelpunkt eines Kegelschnittes ist, der dem Dreiecke ABC eingeschrieben ist, eines ihm umgeschriebenen und eines solchen, für welchen ABC ein Polardreieck ist. Ähnlich: Gegeben ein Tetraeder ABCD; man kann jedem Punkte P des Raumes die Fläche zweiter Ordnung zuordnen, für welche P das Zentrum ist und in bezug auf welche ABCD ein Polartetraeder ist. [551] _Math. Ann._ 6. [552] Man sehe außerdem die Arbeiten von Godt (_Göttinger Dissertation_, 1873), Armenante (_Lincei Atti_, 1875), Battaglini (_Giorn. di Matem._ 19, 20), Peano (_Torino Atti_ 16) und von Amodeo (_Napoli Rend._ 1887). Die den Konnexen analogen Figuren im Raume wurden von Krause behandelt (_Math. Ann._ 14). Man sehe auch zwei Noten von Lazzeri, _Sulle reciprocità birazionali nel piano e nello spazio_ (_Lincei Rend._ 1886). [553] _Gauss' Werke_, 4. Bd. Eine italienische Übersetzung wurde von Beltrami in den _Annali di Matem_. 4 veröffentlicht. [554] Die Methoden, die geographischen Karten zu konstruieren, gehören in die Anwendungen der Geometrie und befinden sich deshalb nicht unter denjenigen, deren Geschichte wir hier verzeichnen wollen. Wir verweisen daher den, der alle diejenigen kennen lernen will, welche angewandt worden sind, auf die Schriften von Fiorini, _Le projezioni delle carte geografiche_ (Bologna, 1881) und Zöppritz, _Leitfaden der Kartenentwurfslehre_ (Leipzig, 1884). Eine Ausnahme will ich nur machen mit den Arbeiten von Tissot (_Comptes rendus_ 49; vgl. auch Dini, _Memoria sopra alcuni punti della teoria delle superficie_ [Florenz, 1868]; _Journ. Éc. polyt._ 37; _Nouv. Ann._ II, 17 flgg.), weil sie ein großes Interesse auch vom Standpunkte der reinen Wissenschaft haben. [555] Diese Abbildung, die man heute die »sphärische« nennt, wurde vor Gauß von O. Rodrigues im Jahre 1815 angegeben; jedoch hat dieser ihre ganze Fruchtbarkeit nicht so in das Licht gestellt als der große deutsche Geometer. [556] _Journ. für Math._ 34. [557] _Comptes rendus_, 53. [558] _Phil. Mag._ 1861. [559] _Journ. für Math._ 68, oder _Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Oberflächen_ (Berlin, 1870), III. T. [560] _Journ. für Math._ 65. [561] _Math. Ann._ 1. [562] S. _Journ. für Math._, _Math. Ann._ und _Göttinger Nachr._ und _Abh._ [563] _Math. Ann._ 4; _Annali di Matem._ II, 1; _Göttinger Nachr._ 1871 und viele andere Abhandlungen, welche in den _Lombardo Rend._ und den _Bologna Mem._ stehen. In der Abhandlung in den _Annali_ studierte Cremona die Regelflächen (m + n)^{ten} Grades, welche eine m-fache und eine n-fache Leitlinie haben, und fand, daß deren asymptotische Kurven im allgemeinen algebraische Kurven von der Ordnung 2(m + n - 1) sind. Eine Konstruktion dieser Kurven wurde später von Halphen angegeben (_Bull. Soc. math._ 5). [564] _Math. Ann._ 3; vgl. auch das. 21, dann ziehe man auch noch eine Abhandlung von Brill hinzu (_Math. Ann._ 5). [565] _Annali di Matem._ II, 1. [566] _Math. Ann._ 4. [567] _Math. Ann._ 1. [568] _Annali di Matem._ II, 7. [569] Z. B. sehe man Darboux (_Bull. Soc. math._ 2), Frahm (_Math. Ann._ 7), Lazzeri (_Annali della Scuola nuova sup. di Pisa_, 6), Guccia (_Association française pour l'avancement des sciences, Congrès de Reims_, 1880). [570] Ein wichtiger Begriff, den Clebsch bei seinen Studien über die Abbildung der Regelflächen aufstellte (_Math. Ann._ 5), ist der des Typus einer Fläche. Zwei Flächen sind von demselben Typus, wenn bei der Abbildung der einen auf die andere es keine Fundamentalpunkte giebt, z. B, ist die römische Fläche von Steiner von demselben Typus mit der Ebene. [571] S. die _Collectanea mathematica in memoriam D. Chelini_. [572] _Comptes rendus_, 1868. [573] _Math. Ann._ 3. [574] _Annali di Matem._ II, 5; _Göttinger Nachr._ 1871 und 1873. [575] _Math. Ann._ 4, 9, 10. [576] Die Flächen vierter Ordnung, von denen man die Abbildung auf eine Ebene kennt, sind die rationalen Regelflächen, die römische Fläche, die Oberflächen mit einer Doppelgeraden oder einem doppelten Kegelschnitte, die Monoide und eine Oberfläche, die einen uniplanaren Doppelpunkt hat (s. eine Abhandlung von Nöther in den _Göttinger Nachr._ 1871 und eine von Cremona in den _Collectanea mathematica_). Wer die Abbildung einer Oberfläche auf einer anderen studieren will, darf die schönen Untersuchungen von Zeuthen (s. die vorige Note und _Comptes rendus_, 1870) nicht übergehen und die darauf folgenden von Krey (_Math. Ann._ 18) und Voß (_Math. Ann._ 27); einen nicht geringen Nutzen kann er auch aus der von Kantor (_Journ. für Math._ 95) aufgestellten Korrespondenz ziehen, die zwischen den Punkten einer gewissen kubischen Fläche und gewissen Tripeln von Punkten einer Ebene besteht. [577] _Math. Ann._ 3. [578] _Math. Ann._ 3. [579] _Aperçu historique_, Note 28. [580] _Lincei Mem._ 1876, 1877, 1878. Vgl. eine Note von Nöther in den _Erlanger Sitzungsberichten_, 1878. [581] _Aufgaben und Lehrsätze aus der analyt. Geom. d. Raumes_, S. 403 flg. [582] _Journ. für Math._ 49. [583] S. Note 563. Vgl. auch Sturm, _Math. Ann._ 19. [584] _Proc. Math. Soc._ 3. [585] _Math. Ann._ 3. [586] _Lombardo Rend._ 1871; _Annali di Matem._ II, 5; _Bologna Mem._ 1871-1872. Man sehe auch die neuesten Arbeiten desselben Geometers in den _Transactions of Edinburgh_ 32, II. Th. und in den _Irish Trans._ 28 und _Proc. math. Soc._ 15. [587] _Aufgaben und Lehrsätze aus der analyt. Geom. des Raumes_, 1837, S. 417-418, Anmerkung. [588] Unter diesen führe ich die Abhandlung von de Paolis an: _Sopra un sistema omaloidico formato da superficie d'ordine_ n _con un punto_ (n - 1)_-plo (Giorn. di Matem._ 13) die späteren über einige spezielle involutorische Transformationen des Raumes von Martinetti (_Lombardo Rend._ 1885) und von Paolis (_Lincei Trans._, 1885). -- Ich bemerke hier, was ich im Texte nicht thun konnte, daß es möglich ist, das Punktfeld auf einer Geraden abzubilden und den Punktraum auf einer Ebene. Um erstere Abbildung auszuführen, kann man jedem Punkte der Ebene ein Punktepaar der Geraden entsprechen lassen (Übertragungsprinzip von Hesse, _Journ. für Math._ 66). Bei der zweiten kann man einem Punkte des Raumes den Kreis zuordnen, der den Fußpunkt des von jenem auf die darstellende Ebene gefällten Lotes zum Mittelpunkt und zum Radius die Länge dieses Lotes hat, indem man hinzufügt, daß dieser Kreis in dem einen Sinne durchlaufen wird, wenn der Punkt auf der einen (bestimmten) Seite der Ebene liegt, im entgegengesetzten Sinne, wenn auf der anderen. Die Gesetze dieser Korrespondenz wurden von Fiedler vereinigt, um die Cyklographie zu bilden (s. das Werk _Cyklographie_, Leipzig, 1883, und die dritte Ausgabe der _Darstellenden Geometrie_) und wurden von ihm zur Lösung einiger Probleme angewandt (s. einige _Mitteilungen_ für die naturforschende Gesellschaft in Zürich und _Acta math._ 5). Vor ihm jedoch hatte schon Crone verwandte Fragen in einer Dissertation behandelt, die sich in der _Tidsskrift for Mathematik_ 6 findet. [589] Chasles, _Aperçu historique_, 2. Ausg. S. 196. [590] Magnus, _Sammlung von Aufgaben und Lehrsätzen aus der anal. Geom. der Ebene_, 1833, S. 188 und 198. [591] Voß, _Math. Ann._ 13; Segre, _Torino Mem._ II, 37; Sturm, _Math. Ann._ 26. In diesen Abhandlungen wird der Leser auch die weiteren bibliographischen Einzelheiten finden. [592] Sturm, a. a. O.; Montesano, _Lincei Mem._ 1886. [593] Lüroth, _Math. Ann._ 11, 13; Schröter (das. 20); Veronese, _Lincei Mem._ 1881. S. auch einige der Abhandlungen, die sich in den _Gesammelten Werken_ von Möbius 2 finden. Auch die Arbeiten von Rosanes führen wir hier an (_Journ. für Math._ 88, 90, 95, 100), von Sturm (_Math. Ann._ 1, 6, 10, 12, 15, 19, 22, 28; _Proc. math. Soc._ 7), und von Pasch (_Math. Ann._ 23, 26), die verwandte Gegenstände behandeln; dann noch die von Stephanos (_Math. Ann._ 23), von H. Wiener (_Rein geometrische Theorie der Darstellung binärer Formen durch Punktgruppen auf der Geraden_, Darmstadt, 1885), von Segre (_Torino Mem._ II, 28 und _Journ. für Math._ 100), von Sannia (_Lezioni di geometria projettiva_, in Neapel im Drucke befindlich) über die Kollineationen und Korrelationen. [594] _Math. Ann._ 3. [595] _Giorn. di Matem._ 10. [596] Man sehe die beiden von ihm 1884 zu Messina veröffentlichten Abhandlungen. [597] _Lombardo Rend._ 1886; _Lincei Rend._ 1885. [598] _Die Geometrie der Lage._ [599] _Giorn. di Matem._ 21. [600] _Lombardo Rend._ II, 14 und 15. [601] _Journ. für Math._ 94. [602] _Lincei Mem._ 1884-1885. [603] _Wiener Ber._ 1881; _Journ. für Math._ 97. [604] _Math. Ann._ 19 und 28. [605] _Math. Ann._ 23. [606] _Journ. für Math._ 82, in dem Aufsatze über reciproke Verwandtschaft von F^2-Systemen und [Phi]^2-Geweben. [607] Über das gemeine Nullsystem vergl. die Note 610 des nächsten Abschnittes [608] »Bis in die neueren Zeiten stand die analytische Methode, wie sie Cartesius geschaffen, sozusagen nur auf einem Fuße. Plücker kommt die Ehre zu, sie auf zwei gleiche Stützen gestellt zu haben, indem er ein ergänzendes Koordinatensystem einführte. Diese Entdeckung war daher unvermeidlich geworden, nachdem einmal die Tiefblicke Steiners dem Geiste der Mathematiker zugeführt waren.« Sylvester, _Phil. Mag_. III, 37, 1850, S. 363. Vgl. _Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik_ 2, S. 453. [609] S. _Phil. Trans._, 1865, S. 725; 1866, S. 361. [610] Es ist wohl zu beachten, daß ein linearer Komplex ein reciprokes Nullsystem veranlaßt und daß dieses zuerst von Giorgini (_Memorie della Società italiana delle scienze_ 20, 1827), dann aber auch von Möbius (_Lehrbuch der Statik_ I; vgl. auch _Journ. für Math._ 10, 1833) und von Chasles (_Aperçu historique_, 1837) in ihren statischen und kinematischen Untersuchungen und von demselben Chasles und Staudt bei der Bestimmung der involutorischen reciproken Beziehungen gefunden wurde. [611] _Cambridge Trans._ 11, Teil 2; _Quart. Journ._ 3. [612] _Giorn. di Matem._ 6, 7, 10, 18. Wenn auch Battaglini seinen Studien über die quadratischen Komplexe eine Gleichung zu Grunde legte, die nicht den allgemeinsten Komplex ihres Grades darstellt, so gelten doch viele von den Schlüssen, die er gemacht hat, -- man kann sagen alle, mit Ausnahme derjenigen, welche sich auf die singuläre Fläche und die singulären Strahlen des Komplexes beziehen -- für allgemeine Komplexe, indem sie unabhängig sind von der Gestalt dieser Gleichung. Auch die von ihm aufgestellten Formeln passen sich mit leichten Änderungen größtenteils dem allgemeinen Falle an. [613] Leipzig, 1868-1869. [614] S. dessen _Examen des différentes méthodes_ etc. [615] _Math. Ann._ 2, 5, 7, 22, 23 (darin der Wiederabdruck der 1868 in Bonn erschienenen Dissertation: _Über die Transformation der allgemeinen Gleichung des zweiten Grades zwischen Linienkoordinaten auf eine kanonische Form_), 28. Außerdem enthalten viele Arbeiten von Klein über Fragen der höheren Algebra oder der höheren Analysis, die in den _Math. Ann._ und sonst veröffentlicht sind, ziemlich oft Betrachtungen, welche der Geometrie der Geraden angehören. [616] _Torino Mem._ II, 36. [617] _Journ. für Math._ 75, 76; _Habilitationsschrift_ (Gießen, 1870). [618] _Math. Ann._ 1. [619] _Math. Ann._ 2. [620] _Lincei Mem._ 1884-1885. [621] _Math. Ann._ 2, 5. [622] _Math. Ann._ 7. Man kann es nur beklagen, daß die in verschiedener Beziehung so ausgezeichnete Arbeit von Weiler eine große Zahl von Ungenauigkeiten enthält. [623] _Math. Ann._ 8, 9, 10, 12, 13. S. auch Schubert das. 12 und dessen _Abzählende Geometrie_. [624] _Comptes rendus_ 74, 75;_ Bull. Soc. math._ 1. [625] _Göttinger Nachr._ 1869. [626] _Göttinger Nachr._ 1869. [627] _Lincei Mem._ 1877-1878. [628] _Giorn. di Matem._ 8; _Lombardo Rend._ II, 12, 13, 14. [629] _Math. Ann._ 5. Vgl. eine Abhandlung von Cremona, gelesen vor der _Accademia dei Lincei_ (_Atti_ II, 3). [630] _Journ. für Math._ 98. Vgl. auch 95 und 97. [631] _Liouvilles Journ._ 4. [632] _Die Geometrie der Lage_, 2. Abt. 2. Aufl., in der sich die von Reye in dem _Journ. für Math._ veröffentlichten synthetischen Arbeiten über die Geometrie der Geraden vereinigt finden. [633] _Zeitschr. f. Math._ 20. [634] _Dissertation_ (Berlin, 1879) oder _Math. Ann._ 15. [635] _Giorn. di Matem._ 17; _Lincei Rend._ 1879. [636] _Torino Atti_, 1881. [637] _Journ. für Math._ 91, 92, 93, 94, 95, 97. [638] _The Messenger of Mathematics_ II, 13. [639] _Liouvilles Journ._ II, 17. [640] S. Note 629. [641] _Math. Ann._ 5. [642] _Ann. Éc. norm._ II, 6; _Grunerts Arch._ 40. [643] _Ann. Éc. norm._ III, 1. [644] S. Note 628. [645] _Nouv. Ann._ II, 2; _Liouvilles Journ._ II, 19. [646] _Die Geometrie der Lage_. [647] _Göttinger Nachr._ 1870. [648] _Journ. für Math._ 95; _Zeitschr. f. Math._ 24, 27. [649] _Sugli enti geometrici dello spazio di rette generati dalle intersezioni dei complessi correspondenti in due o pin fasci projettivi di complessi lineari_ (Piazza Armerina, 1882). [650] _Proc. math. Soc._ 10; _Collectanea mathematica_, 1881. [651] _Math. Ann._ 13. [652] _Mémoire de géométrie vectorielle sur les complexes du second ordre, qui ont un centre de figure_ (_Liouvilles Journ._ III, 8). [653] _Sui complessi di rette di secondo grado generati da due fasci projettivi di complessi lineari_ (Napoli, 1886), und _Napoli Rend._ 1886. [654] _Math. Ann._ 23; _Giorn. di Matem._ 23; _Torino Atti_, 1884. [655] _Applications de Géometrie et de Mechanique_, 1822. [656] _Journ. Éc. polyt._ 14. [657] _Comptes rendus_ 20. [658] _Liouvilles Journ._ 15. [659] _Journ. Éc. polyt._ 38. [660] _Irish Trans._ 16, 1831. [661] Bd. 57. [662] Die Eigenschaften der unendlich dünnen Strahlenbündel, mit denen Kummer sich in dieser Abhandlung beschäftigt, gaben später (1862) Stoff zu einer schönen Arbeit von Möbius (_Leipziger Ber._ 14; _Werke_ 4), an welche sich dann die von Zech (_Zeitschr. f. Math._ 17) veröffentlichten Untersuchungen knüpfen; vgl. auch eine neuerliche Abhandlung von Hensel (_Journ. für Math._ 102). [663] _Berliner Abh._ 1866. [664] Von noch erschienenen Arbeiten, die man als eine Fortsetzung derer von Kummer ansehen kann oder die auf anderem Wege zu dessen Resultaten geführt haben, erwähne ich: Reye (_Journ. für Math._ 86 und 93), Hirst (_Proc. math. Soc._ 16), Stahl (s. Note 637), Caporali (_Napoli Rend._ 1879), Loria (_Torino Atti_, 1884 und 1886) -- oder von solchen, die zu diesen einige neue Formeln oder ein neues algebraisches Strahlensystem hinzugefügt haben: Kummer (_Berliner Ber._ 1878), Masoni (_Napoli Rend._ 22), Roccella (s. Note 649), Hirst (_Proc. math. Soc._ 16 und 17; _Rendiconti del Circolo mathematico di Palermo_ 1), Sturm (_Math. Ann._ 6; _Journ. für Math._ 101). [665] Zum Beweise, daß die Fragen, auf welche sich diese Arbeiten beziehen, bei einigen Gelehrten jene Ruhe und Unparteilichkeit des Urteils, die immer bei ihren Diskussionen walten sollte, aufgehoben haben, will ich hier zwei Stellen anführen, die eine von einem Schriftsteller, der allen, welche sich mit Philosophie beschäftigen, sehr wohl bekannt ist, die andere aus einer Zeitschrift, die in Deutschland ziemlich verbreitet ist: ».... so gewiß ist es logische Spielerei, ein System von vier oder fünf Dimensionen noch Raum zu nennen. Gegen solche Versuche muß man sich wahren; sie sind Grimassen der Wissenschaft, die durch völlig nutzlose Paradoxien das gewöhnliche Bewußtsein einschüchtern und über sein gutes Recht in der Begrenzung der Begriffe täuschen« (Lotze, _Logik_, S. 217). »Die absolute oder Nicht-Euklidische Geometrie, die Geometrie des endlichen Raumes und die Lehre von n Raumdimensionen sind entweder Karrikaturen oder Krankheitserscheinungen der Mathematik« (J. Gilles, _Blätter für das Bayrische Gymnasial- und Realschulwesen_ 28, S. 423). Man sehe auch die heftigen Äußerungen Dührings, die von Erdmann in seiner trefflichen Abhandlung: _Die Axiome der Geometrie_ (Leipzig, 1877, S. 85) wiedergegeben sind, ferner Kroman, _Unsere Naturerkenntnis_, deutsch von Fischer-Benzon (Kopenhagen, 1883, S. 145 bis 175); endlich die Kap. 13 und 14 des Werkes von Stallo, _La matière et la physique moderne_ (Paris, 1884). Auf Vorwürfe von der oben erwähnten Art erwidern wir mit d'Alembert: »_Allez en avant, et la foi vous viendra!_« [666] Als Litteraturnachweis für diesen Teil der Geometrie sehe man die Artikel von G. Bruce-Halsted, veröffentlicht im _Amer. Journ._ 1 und 2. [667] Es ist dieser Satz: »Wenn bei einer Geraden, welche zwei andere schneidet, die Summe der inneren Winkel auf derselben Seite kleiner als zwei Rechte ist, so schneiden sich letztere auf derselben Seite.« D'Alembert nannte diesen Satz: »_l'écueil et le scandale des éléments de la géométrie_«. [668] Eine Zeit lang glaubte man, daß der fragliche Satz von Euklid unter die Axiome gestellt sei; aber neuere historische Untersuchungen (s. Hankel, _Vorlesungen über komplexe Zahlen und ihre Funktionen_, S. 52) neigen zu der Ansicht, daß derselbe irrtümlicher Weise von den Abschreibern zu den Axiomen geschrieben sei, während er im Originale unter den Postulaten gestanden hatte. [669] Vgl. _Die Elemente der Mathematik_ von Baltzer, 4. Teil, Planimetrie. [670] Man erzählt, Lagrange habe beobachtet, daß die sphärische Geometrie von dem Euklidischen Postulate unabhängig sei, und gehofft, aus dieser Beobachtung eine Art und Weise ableiten zu können, den Ungelegenheiten der Euklidischen Methode zu entgehen, indem er die ebene Geometrie als die Geometrie auf einer Kugel mit unendlich großem Radius betrachtete. [671] _Briefwechsel zwischen Gauss und Schumacher_, herausgegeben von Peters, 6 Bände (Altona, 1860-1865); die betreffenden Stellen dieses Briefwechsels sind von Hoüel ins Französische übersetzt und seiner 1866 erschienenen französischen Übersetzung von Lobatschewskys _Geometrischen Untersuchungen_ (vgl. Note 10) zugefügt. [672] Vgl. die Gedächtnisschrift auf Gauß von Schering in den _Göttinger Abh._ 22 (1877). [673] _Göttingische Gelehrte Anzeigen_, 1816 und 1822; oder _Gauss' Werke_ 4 (1873), S. 364 und 368. Vgl. auch Sartorius von Waltershausen, _Gauss zum Gedächtnis_ (Leipzig, 1856), S. 81. -- Möge es gestattet sein, hier die Mitteilung anzuschließen, daß Gauß das alte Problem der Kreisteilung, in dem man seit zwei Jahrtausenden nicht vorwärts gekommen war, durch Untersuchungen auf einem Gebiete wesentlich gefördert hat, das ohne Zusammenhang mit diesem Problem schien und auf welchem man solchen Gewinnst für die Geometrie nicht erwartete (_Disquisitiones arithmeticae_, Leipzig, 1801; _Werke_ 1; vgl. Bachmann, _Die Lehre von der Kreisteilung_, Leipzig, 1872), indem er zeigte, daß die Teilung in n Teile mit Hilfe von Lineal und Zirkel auch noch möglich ist, wenn n eine Primzahl von der Form 2^m +1 ist. Man sehe hierzu auch Legendre, _Éléments de trigonométrie_, Anhang; Richelot, Staudt, Schröter, _Journ. für Math._ 9, 24, 75; Affolter, _Math. Ann._ 6. [674] _Courier von Kasan_, 1829-1830; _Abhandlungen der Universität Kasan_, 1835, 1836, 1837, 1838; _Geometrische Untersuchungen über die Theorie der Parallellinien_ (Berlin, 1810); _Journ. für Math._ 17. [675] Die Schrift von Johann Bolyai erschien als Anhang des Werkes von W. Bolyai: _Tentamen juventutem studiosam in elementa matheseos purae ..... introducendi_, 2. Bd. (Maros-Vásárhely 1833), wurde dann ins Französische übersetzt von Hoüel _(Mémoires de Bordeaux)_, ins Italienische von Battaglini (_Giorn. di Matem._ 5). [676] Es ist das Verdienst Hoüels (?--1886) und Battaglinis, die Werke von Lobatschewsky und Bolyai durch Übersetzungen und vorzügliche Kommentare (s. Note 7 und 11 und _Giorn. di Matem._ 5 und 8) verbreitet zu haben. -- Heute ist es leicht, die Nicht-Euklidische Geometrie zu lernen, da Flye S^{te} Marie (_Etudes analytiques sur la théorie des parallèles_, Paris, 1871), Frischauf (_Elemente der absoluten Geometrie_, Leipzig, 1876) und de Tilly (_Essai sur les principes fundamentaux de la géométrie et de la mécanique_, Bordeaux, 1879) methodische Bearbeitungen derselben geschrieben haben. In England wurden die neuen Ideen über die Prinzipien der Geometrie bearbeitet und herrlich dargestellt von Clifford; man sehe die Schrift _Lectures and Essays_, sowie die von Smith den _Mathematical Papers by W. K. Clifford_ (London, 1882) vorausgeschickte Einleitung. [677] _Göttinger Abh._ 13 (1867), oder _Gesammelte Werke_ (Leipzig, 1876), ins Französische übersetzt von Hoüel (_Annali di Matem._ II, 3), ins Englische von Clifford (_Nature_ 8 oder _Mathematical Papers_ S. 55). [678] In der Abhandlung _Über die Thatsachen, welche der Geometrie zu Grunde liegen_ (_Göttinger Nachr._ 1868). [679] Hierzu sehe man _Populäre wissenschaftliche Vorträge_ von Helmholtz (Braunschweig, 1871-1876); _Revue des cours scientifiques_, 9. Juli 1870 etc. [680] _Giorn. di Matem._ 6. Dieser Artikel wurde ins Französische übersetzt von Hoüel und veröffentlicht in den _Ann. Éc. norm._ 6, 1869. [681] Man vergleiche hierzu die Worte, mit denen d'Alembert die Meinung zurückwies, daß die Wahrheiten der Mechanik experimentelle seien (_Traité de Dynamique_, Paris, 1858, _Discours préliminaire_, S. XII), mit den folgenden von Clifford (_The Common Sense of the Exact Sciences_, London, 1885, _International Scientific Series_ 51): »In derselben Weise, wie wir, um irgend einen Zweig der Physik zu schaffen, von der Erfahrung ausgehen und auf unsere Experimente eine gewisse Anzahl von Axiomen stützen, welche solchergestalt die Grundlage desselben bilden, so sind die Axiome, die wir als Grundlage der Geometrie nehmen, wenn auch weniger offenbar, in der That ein Ergebnis der Erfahrung.« Man sehe auch das Werk von Hoüel, _Du rôle de l'expérience dans les sciences exactes_ (Prag, 1875), oder die Übersetzung, die davon in _Grunerts Arch._ 59 veröffentlicht wurde. [682] Ich bemerke, daß, wer die _Ausdehnungslehre_ des großen deutschen Geometers und Philologen Hermann Graßmann liest, mit Erstaunen sehen wird, daß er schon 1844 zu Schlüssen gelangt war, die von den im Texte angegebenen nicht sehr verschieden sind. Aber wer weiß nicht, daß, um geschätzt zu werden, dieses ausgezeichnete Werk nötig hatte, daß andere auf einem anderen Wege zu den äußerst originellen Wahrheiten gelangten, die es enthält? -- Hier scheint es mir angebracht zu sein, eine Erklärung zu geben, welche zu meiner Rechtfertigung dient. Bei dieser kurzen Geschichte der Kämpfe, welche die Geometer in diesen letzten Zeiten ausgefochten haben, traf es sich selten und nur flüchtig, daß ich Arbeiten von Graßmann zitierte, und ich glaube nicht, daß ich noch Gelegenheit haben werde, diesen Namen auszusprechen. Das heißt nicht, daß dieser Geometer nicht der Erwähnung würdig sei, daß seine Entdeckungen und seine Methoden nicht verdienten, bekannt zu werden; aber es liegt daran, daß der Formalismus, in den er seine Gedanken gekleidet, sie den meisten unzugänglich gemacht und ihnen fast jede Möglichkeit genommen hat, irgend einen Einfluß auszuüben. Graßmann war während eines großen Teiles seines Lebens ein Einsiedler in der Mathematik; nur während seiner letzten Jahre befaßte er sich damit, etliche seiner Produktionen in modernem Gewande zu veröffentlichen, um deren Verwandtschaft mit denen seiner Zeitgenossen zu zeigen (man sehe _Math. Ann._ 10, 12; _Göttinger Nachr._ 1872; _Journ. für Math._ 84); daher ist es natürlich, daß ihn zu nennen demjenigen selten widerfährt, welcher sich vornimmt, die Errungenschaften zu beschreiben, die man den vereinten Anstrengungen der modernen Geometer verdankt. -- Man vergleiche Peano, _Calcolo geometrico secondo l'Ausdehnungslehre di H. Grassmann preceduto dalle operazioni della logica deduttiva_ (Turin, 1888). -- Über die wissenschaftlichen Verdienste Graßmanns sehe man einen Artikel von Cremona in den _Nouv. Ann._ I, 19, dann den 14. Bd. der _Math. Ann._ und den 11. Bd. des _Bulletino di Bibliografia e di Storia delle Scienze matematiche_. Ein Vergleich zwischen den Methoden Graßmanns und anderen moderneren wurde von Schlegel in der _Zeitschr. f. Math._ 24 gemacht. [683] _Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie_ (_Math. Ann._ 4). [684] _Nouv. Ann._ 12. [685] _Phil. Trans._ 149; vgl. Clifford, _Analytical Metrics_ (_Quart. Journ._ 1865, 1866 oder _Mathematical Papers_, S. 80). [686] Eine spätere Abhandlung von Klein unter demselben Titel (_Math. Ann._ 6) ist zur Ergänzung einiger Punkte der ersteren bestimmt. An dieselbe knüpfen sich die wichtigen Untersuchungen von Lüroth und Zeuthen (_Math. Ann._ 7), von Thomae (vgl. die 2. Aufl. der _Geometrie der Lage_ von Reye), von Darboux (_Math. Ann._ 17), von Schur (das. 18), de Paolis (_Lincei Mem._ 1880-1881) und von Reye (3. Aufl. der _Geometrie der Lage_) über den Fundamentalsatz der projektiven Geometrie. [687] _Études de mécanique abstraite_ (_Mémoires couronnées par l'Académie de Belgique_ 21, 1870). [688] _Bulletin de l'Académie de Belgique_ II, 36; _Torino Mem._ II, 29; _Mem. de la società italiana delle scienze_ III, 2. [689] _Wiener Ber._ 1874. Man sehe auch die schöne Abhandlung von Beltrami: _Sulle equazioni generali dell' elasticità_, in den _Annali di Matem._ II, 10. [690] _Sull' applicabilità delle superficie degli spazii a curvatura costante_ (_Lincei Atti_ III, 2). [691] _Lincei Rend._ 1873 und 1876. [692] _Annali di Matem._ II, 6, 7; _Giorn. di Matem._ 13; _Torino Atti_, 1876; _Lincei Mem._ III, 3; _Lombardo Rend._ 1881. [693] _Lincei Mem._ 1877-1878. [694] _Lombardo Rend._ II, 14, 15. [695] _Math. Ann._ 5. [696] _Math. Ann._ 7. [697] _Göttinger Nachr._ 1873. [698] _Amer. Journ._ 2, 4, 5. [699] _Die Massfunktionen in der analytischen Geometrie._ Programm (Berlin, 1873). [700] _Math. Ann._ 10. [701] _Quart. Journ._ 18. [702] _On the theory of screws in elliptic space._ (_Proc. math. Soc._ 15 und 16). [703] Die interessantesten von den mir bekannten sind die von Segre, _Sulle geometrie metriche dei complessi lineari e delle sfere_, veröffentlicht in den _Torino Atti_, 1883. [704] Das Produkt zweier Strecken ist eine Fläche, das dreier ein Körper, was ist das geometrische Bild des Produktes von vieren? -- Die analytischen Geometer der Cartesischen Epoche bezeichneten dasselbe durch das Wort »sursolide« (überkörperlich), welches sich in ihren Schriften findet; man kann sie daher als diejenigen ansehen, welche zuerst die im Texte erwähnte Richtung eingeschlagen haben. [705] S. Cayley, _A memoir on abstract Geometry_ (_Phil. Trans._ 1870); vgl. auch _Cambridge Journ._ 4, 1845. [706] _Comptes rendus_, 1847. [707] Überdies scheint es außer Zweifel zu stehen, daß Gauß ausgedehnte und bestimmte Ideen über die Geometrie von mehreren Dimensionen gehabt hat; vgl. Sartorius von Waltershausen, a. O. S. 81 (s. Note 673 des vor. Abschn.). [708] _Théorie des fonctions analytiques_ (Paris, an V, S. 223). [709] Ich darf nicht verschweigen, daß schon 1827 Möbius einen Einblick hatte, wie durch Zulassung der Existenz eines vierdimensionalen Raumes ein unerklärlicher Unterschied zwischen der Ebene und dem Raume aufgehoben wird; dieser Unterschied besteht darin, daß, während man zwei in Bezug auf eine Gerade symmetrische ebene Figuren immer zur Deckung bringen kann, es nicht möglich ist, zwei räumliche in Bezug auf eine Ebene symmetrische Figuren zusammenfallen zu lassen. Später bemerkte Zöllner beiläufig, wie die Existenz eines vierdimensionalen Raumes gewisse Bewegungen zulassen würde, die wir für unmöglich halten; die folgenden Resultate können als Beispiele zu dieser Beobachtung dienen: Newcomb zeigte (_Amer. Journ._ 1), daß, wenn es einen Raum von vier Dimensionen giebt, es möglich ist, die beiden Seiten einer geschlossenen materiellen Fläche umzuwechseln, ohne dieselbe zu zerreißen. Klein bemerkte (_Math. Ann._ 9), daß bei dieser Voraussetzung die Knoten nicht erhalten bleiben könnten, und Veronese führte (in der 1881 an der Universität zu Padua gehaltenen _Prolusione_) die Thatsache an, daß man dann aus einem geschlossenen Zimmer einen Körper herausnehmen könne, ohne die Wände desselben zu zerbrechen. Hoppe gab (_Grunerts Arch._ 64) Formeln an, welche die Beobachtungen Kleins illustrierten. Diese Formeln erforderten einige Modifikationen, die von Durège angegeben wurden (_Wiener Ber._ 1880); vgl. auch _Grunerts Arch._ 65 und die synthetischen Betrachtungen von Schlegel, _Zeitschr. f. Math._ 28. [710] _Annali di Matem._ II, 2 und 5. [711] _Journ. für Math._ 65; _Annali di Matem._ II, 5. [712] _Journ. für Math._ 83. [713] _Amer. Journ._ 2. [714] _Die Nicht-Euklidischen Raumformen in analytischer Behandlung_, Leipzig, 1885. [715] _Math. Ann._ 27. [716] _Annali di Matem._ II, 4. [717] _Proc. math. Soc._ 7 oder _Mathematical Papers_, S. 236. [718] _Bull. sciences math._ 11, 1876. [719] _Comptes rendus_, 79. [720] _Journ. für Math._ 70 flgg., _Quart. Journ._ 12. [721] _Proc. math. Soc._ 9. [722] _Berliner Dissertation_, 1880. [723] _Phil. Trans._ 175. [724] _Journ. für Math._ 98. [725] Nach Lipschitz hatte Lejeune-Dirichlet (1805-1859) das allgemeine Gravitationsgesetz im elliptischen Raume studiert. Diese Studien wurden dann von Schering bearbeitet und in den _Göttinger Nachr._ 1870 und 1873 veröffentlicht. [726] _Comptes rendus_ 79. [727] _Math. Ann._ 19. [728] Hoppe machte analoge Untersuchungen für die Kurven des vierdimensionalen Raumes (_Grunerts Arch._ 64). [729] _Amer. Journ._ 4. [730] _Berliner Ber._ 1869. [731] _Math. Ann._ 7; _Zeitschr. f. Math._ 20, 21, 24. [732] _Journ. für Math._ 70 und 72. [733] _Journ. für Math._ 70. [734] _Math. Ann._ 24. [735] _Bull. sciences math._ I, 4. [736] _Math. Ann._ 26. [737] _Collectanea mathematica; Annali di matem._ II, 10. [738] _Göttinger Nachr._, 1871. [739] _Math. Ann._ 5. [740] _Journ. für Math._ 81; _Comptes rendus_ 82. [741] _Amer. Journ._ 4. [742] _Journ. für Math._ 74 oder _Quart. Journ._ 12. Ich füge noch hinzu, daß Salmon und Cayley sich der Räume von mehreren Dimensionen in ihren Untersuchungen über die Theorie der Charakteristiken (§ IV) bedient haben, daß Mehler, _Journ. für Math._ 84, eine Anwendung von der Betrachtung eines vierdimensionalen Raumes für Untersuchungen über dreifache Systeme orthogonaler Oberflächen, und daß Lewis davon eine ähnliche Anwendung machte bei der Betrachtung einiger Trägheitsmomente (_Quart. Journ._ 16). Dann fand Wolstenholme, daß die Zahl der Normalen, die man von einem Punkte eines d-dimensionalen Raumes an eine Oberfläche von der n^{ten} Ordnung ziehen kann, n --- { (n-1)^d - 1 } n-2 beträgt (_Educational Times_ 10). [743] _Von den Elementen und Grundgebilden der synthetischen Geometrie_ (Bamberg, 1887). [744] _Grunerts Arch._ 64. [745] _Bull. Soc. math._ 10. [746] _Grunerts Arch._ 70. [747] _Amer. Journ._ 3. [748] _Grunerts Arch._ 66, 67, 68, 69. [749] _Nova Acta der Leopold.-Carol. Akademie_ 44. [750] _Die polydimensionalen Grössen und die vollkommenen Primzahlen._ [751] _Von Körpern höherer Dimensionen_ (Kaiserslautern, 1882). [752] _Wiener Ber._ 90. [753] _Wiener Ber._ 89 und 90. [754] Diese bilden eine der merkwürdigsten von den durch L. Brill in Darmstadt veröffentlichten Serien von Modellen. [755] _Journ. für Math._ 31, S. 213. Liest man die wenigen Seiten, welche die Abhandlung von Cayley bilden, so gewinnt man die Überzeugung, daß er schon 1846 einen klaren Einblick von der Nützlichkeit hatte, welche der gewöhnlichen Geometrie der Lage die Betrachtung des Raumes von mehreren Dimensionen bringen könne. [756] _Histoire de l'astronomie moderne_ 2, S. 60. [757] _Phil. Trans._ 1878 oder _Mathematical Papers_ S. 305. [758] _Math. Ann._ 19. [759] Unter den in der Abhandlung von Veronese bearbeiteten Untersuchungen sind die über die Konfigurationen besonderer Erwähnung wert, ferner die Formeln, welche -- als eine Erweiterung derer von Plücker und Cayley -- die gewöhnlichen Singularitäten einer Kurve eines n-dimensionalen Raumes unter einander verknüpfen, die Erzeugung von in einem solchen Raume enthaltenen Oberflächen durch projektive Systeme und die Anwendung derselben auf das Studium einiger Oberflächen unseres Raumes; dann kann ich nicht stillschweigend übergehen die Studien über die in einem quadratischen Gebilde von n Dimensionen enthaltenen linearen Räume, die Veronese gemacht hat, um einige Sätze von Cayley zu erweitern (_Quart. Journ._ 12), indem er die von Klein (_Math. Ann._ 5) verallgemeinerte stereographische Projektion anwandte, ferner nicht etliche wichtige Resultate über die Kurven, von denen übrigens einige schon Clifford (_Phil. Trans._, 1878) auf einem anderen Wege erhalten hatte. [760] _Annali di Matem._ II, 11; _Lincei Mem._ 1883-1884; _Atti dell' Istituto Veneto_ V, 8. Letztere Abhandlung ist der darstellenden Geometrie des Raumes von 4 Dimensionen gewidmet und kann daher als die Ausführung eines Gedankens angesehen werden, den Sylvester im Jahre 1869 in seiner Rede vor der British Association angedeutet hat. [761] _Torino Mem._ II, 36. [762] _Lincei Mem._ 1883-1884; _Torino Mem._ II, 37; _Lincei Rend._ 1886. [763] _Torino Atti_ 19. [764] _Torino Atti_ 19, 20, 21; _Math. Ann._ 27. [765] _Math. Ann._ 24. [766] _Torino Atti_ 20. [767] _Lombardo Rend._ 1886; _Lincei Rend._ 1886. Man sehe auch desselben Verfassers wichtige Note: _Sui sistemi lineari, Lombardo Rend._ 82. [768] _Lombardo Rend._ 1885, 1886. [769] _Napoli Rend._ 1885, 1886. Vgl. auch Rodenberg, _Math. Ann._ 26. [770] Ich kann sie alle hier nicht wiederholen, Weil mich des Stoffes Fülle so bedrängt, Daß hinter dem Gescheh'nen oft das Wort bleibt. -- (Dantes _Divina Commedia_, der _Hölle_ 4. Ges. V. 145-147.) [771] _Math. Ann._ 2, 8. Man sehe auch die Abhandlung von S. Kantor, _Sur les transformations linéaires successives dans le même espace à_ n _dimensions_ (_Bull. Soc. math._ 8). [772] _Bull. Soc. math._ 2. Unter den in dieser Arbeit erhaltenen Resultaten heben wir folgendes hervor: »Wenn man in einem Raume von r - 1 Dimensionen zwei algebraische Mannigfaltigkeiten vom Grade [mu] und [nu] ins Auge faßt, bezüglich von m und n Dimensionen, so ist der Schnitt derselben eine Mannigfaltigkeit von n + m - (r-1) Dimensionen und vom Grade [mu][nu], wofern m + n >= r - 1, und die beiden Mannigfaltigkeiten nicht eine solche von m + n - r + 2 oder mehr Dimensionen gemeinsam haben«, um den vollständigen Beweis desselben anzuführen, den Nöther in den _Math. Ann._ 11 geliefert hat. [773] _Lincei Mem._ 1876-1877; vgl. auch Jordan (_Bull. Soc. math._ 3). -- Hier will ich eine Notiz machen, die im Texte nicht Platz finden konnte: Von vielen wurde behauptet, daß in einem Raume von konstanter positiver Krümmung zwei geodätische Linien, wenn sie sich treffen, im allgemeinen zwei Punkte gemeinsam haben; das ist nun nicht wahr, und dieses wurde zuerst von Klein beobachtet (_Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik_ 9, S. 313), dann von Newcomb (_Journ. für Math._ 83) und von Frankland (_Proc. math. Soc._ 8). Über dasselbe Thema sehe man eine Abhandlung von Killing (_Journ. für Math._ 86 und 89). [774] _Math. Ann._ 26; _Acta math._ 8. -- Der Abhandlung von Veronese gehen noch die Untersuchungen von Spottiswoode (1825-1883) voran, über die Darstellung der Figuren der Geometrie von n Dimensionen vermittelst correlativer Figuren der gewöhnlichen Geometrie (_Comptes rendus_ 81). [775] _Mémoire de Géométrie sur deux principes généraux de la science._ [776] _Beiträge zur Geometrie der Lage,_ § 29. [777] _Vierteljahrsschrift der naturforschenden Gesellschaft zu Zürich_ 15, oder _Die darstellende Geometrie._ [778] Vgl. die interessante Abhandlung von Fiedler, _Geometrie und Geomechanik_, erschienen in der genannten _Vierteljahrsschrift_, und in französischer Übersetzung in _Liouvilles Journ._ III, 4 veröffentlicht. [779] Den Nutzen, welcher der Geometrie durch die Annahme einiger Begriffe, die man jetzt noch als der Mechanik angehörig betrachtet, erwachsen würde, bezeugen der _Exposé géométrique du calcul différentiel et intégral_ (Paris, 1861), von Lamarle (1806-1875) verfaßt, die von Mannheim der kinematischen Geometrie gewidmeten Partien in seinem _Cours de géométrie descriptive_ (Paris, 1880) und das schöne jüngst veröffentlichte Buch meines Freundes Peano mit dem Titel: _Applicazioni geometriche del calcolo infinitesimale_ (Turin, 1887). [780] Man sehe die Anhänge der _Proc. math. Soc._ seit Bd. 14. [781] _Nouv. Ann._ II, 1, 2; _Liouvilles Journ._ II, 7; _Berliner Abh._ 1865, 1866; _Berliner Ber._ 1872 oder _Borchardts Gesammelte Werke_, S. 179, 201, 233. [782] Insbesondere _Journ. für Math._ 24 oder _Werke_, Bd. II, S. 177, 241. [783] S. _Acta Societatis scientiarum Fennicae_, 1866; _Bull. de l'Académie de St. Pétersbourg_ 14; _Math. Ann._ 2; _Nouv. Ann._ II, 10; _Zeitschr. f. Math._ 11; _Göttinger Nachr._ 1882 oder _Bull. sciences math._ II, 7; _Journ. für Math._ 96, 97; _Göttinger Nachr._ 1884; _Grunerts Arch._ II, 2; _Giorn. di Matem._ 26. [784] _Mémoires de l'Académie de Berlin,_ 1761; vgl. Legendres _Eléments de Géometrie_, Note IV der älteren Auflagen. [785] _Berliner Ber._ 1882; _Math. Ann._ 20; vereinfacht durch Weierstraß, _Berliner Ber._ 1885; man vgl. auch Rouché, _Nouv. Ann._ III, 2. [786] Die einzigen rein synthetischen Untersuchungen über die Kurven und Oberflächen von höherer als zweiter Ordnung, die ich kenne, sind die von Reye (_Geometrie der Lage_) über die ebenen kubischen Kurven, einige von Thieme (_Zeitschr. f. Math_ 24; _Math. Ann._ 20, 28), von Milinowski (_Zeitschr. f. Math._ 21, 23; _Journ. für Math._ 89, 97) und von Schur (_Zeitschr. f. Math._ 24). Ihnen könnte man die beiden folgenden Arbeiten hinzufügen, die im Jahre 1868 von der Berliner Akademie gekrönt sind: H. J. S. Smith, _Mémoire sur quelques problèmes cubiques et biquadratiques_ (_Annali di Matem._ II, 3); Kortum, _Über geometrische Aufgaben dritten und vierten Grades_ (Bonn, 1869). Die Geometer erwarten ungeduldig die Veröffentlichung einer Schrift von E. Kötter, die 1886 von der Berliner Akademie den Steinerschen Preis erhielt und dazu berufen erscheint, in das Gebiet der reinen Geometrie die allgemeine Theorie der ebenen algebraischen Kurven zu versetzen. (Sie ist während der Anfertigung der Übersetzung vorliegender Schrift in den _Berliner Abh._ 1887 unter dem Titel: _Grundzüge einer rein geometrischen Theorie der algebraischen ebenen Kurven_ erschienen.) [787] Die Angemessenheit des gleichzeitigen Gebrauches der Geometrie und Analysis, auch in den Fragen der angewandten Mathematik, wurde ausdrücklich von Lamé mit folgenden Worten erklärt: _»Quand on médite sur l'histoire des mathématiques appliquées, on est effectivement conduit à attribuer leurs principales découvertes, leurs progrès les plus décisifs à l'association de l'analyse et de la géométrie. Et les travaux, que produit l'emploi de chacun de ces instruments, apparaissent alors comme des préparations, des perfectionnements, en attendant l'époque qui sera fécondée par leur réunion.«_ (_Leçons sur les coordonnées curvilignes_, 1859, S. XIII und XIV.) [788] Poinsot, _Comptes rendus_ 6 (1838) S. 809. * * * * * Corrections made to printed original. page 17, "l'origine et le développement": 'el développement' in original. Footnote 265, "geometrische.": 'geometrisehe' in original. End of the Project Gutenberg EBook of Die hauptsächlichsten Theorien der Geometrie, by Gino Loria *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE HAUPTSÄCHLICHSTEN *** ***** This file should be named 33726-8.txt or 33726-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/3/3/7/2/33726/ Produced by Joshua Hutchinson, Keith Edkins and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images from the Cornell University Library: Historical Mathematics Monographs collection.) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. 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17664-8
Project Gutenberg's Kampagne in Frankreich, by Johann Wolfgang von Goethe This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Kampagne in Frankreich Author: Johann Wolfgang von Goethe Release Date: February 2, 2006 [EBook #17664] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KAMPAGNE IN FRANKREICH *** Produced by Andrew Sly Kampagne in Frankreich Johann Wolfgang von Goethe Den 23. August 1792. Gleich nach meiner Ankunft in Mainz besuchte ich Herrn von Stein den Älteren, königlich preußischen Kammerherrn und Oberforstmeister, der eine Art Residentenstelle daselbst versah und sich im Hass gegen alles Revolutionäre gewaltsam auszeichnete. Er schilderte mir mit flüchtigen Zügen die bisherigen Fortschritte der verbündeten Heere und versah mich mit einem Auszug des topographischen Atlas von Deutschland, welchen Jäger zu Frankfurt unter dem Titel "Kriegstheater" veranstaltet. Mittags bei ihm zur Tafel fand ich mehrere französische Frauenzimmer, die ich mit Aufmerksamkeit zu betrachten Ursache hatte; die eine -- man sagte, es sei die Geliebte des Herzogs von Orleans -- eine stattliche Frau, stolzen Betragens und schon von gewissen Jahren, mit rabenschwarzen Augen, Augenbraunen und Haar; übrigens im Gespräch mit Schicklichkeit freundlich. Eine Tochter, die Mutter jugendlich darstellend, sprach kein Wort. Desto munterer und reizender zeigte sich die Fürstin Monaco, entschiedene Freundin des Prinzen von Condé, die Zierde von Chantilly in guten Tagen. Anmutiger war nichts zu sehen als diese schlanke Blondine: jung, heiter, possenhaft; kein Mann, auf den sie's anlegte, hätte sich verwahren können. Ich beobachtete sie mit freiem Gemüt und wunderte mich, Philinen, die ich hier nicht zu finden glaubte, so frisch und munter ihr Wesen treibend mir abermals begegnen zu sehen. Sie schien weder so gespannt noch aufgeregt als die übrige Gesellschaft, die denn freilich in Hoffnung, Sorgen und Beängstigung lebte. In diesen Tagen waren die Alliierten in Frankreich eingebrochen. Ob sich Longwy sogleich ergeben, ob es widerstehen werde, ob auch republikanisch-französische Truppen sich zu den Alliierten gesellen und jedermann, wie es versprochen worden, sich für die gute Sache erklären und die Fortschritte erleichtern werde, das alles schwebte gerade in diesem Augenblick in Zweifel. Kuriere wurden erwartet; die letzten hatten nur das langsame Vorschreiten der Armee und die Hindernisse grundloser Wege gemeldet. Der gepresste Wunsch dieser Personen ward nur noch bänglicher, als sie nicht verbergen konnten, dass sie die schnellste Rückkehr ins Vaterland wünschen mussten, um von den Assignaten, der Erfindung ihrer Feinde, Vorteil ziehen, wohlfeiler und bequemer leben zu können. Sodann verbracht' ich mit Sömmerrings, Huber, Forsters und andern Freunden zwei muntere Abende: hier fühlt' ich mich schon wieder in vaterländischer Luft. Meist schon frühere Bekannte, Studiengenossen, in dem benachbarten Frankfurt wie zu Hause -- Sömmerrings Gattin war eine Frankfurterin -- sämtlich mit meiner Mutter vertraut, ihre genialen Eigenheiten schätzend, manches ihrer glücklichen Worte wiederholend, meine große Ähnlichkeit mit ihr in heiterem Betragen und lebhaften Reden mehr als einmal beteuernd: was gab es da nicht für Anlässe, Anklänge, in einem natürlichen, angebornen und angewöhnten Vertrauen! Die Freiheit eines wohlwollenden Scherzes auf dem Boden der Wissenschaft und Einsicht verlieh die heiterste Stimmung. Von politischen Dingen war die Rede nicht, man fühlte, dass man sich wechselseitig zu schonen habe: denn wenn sie republikanische Gesinnungen nicht ganz verleugneten, so eilte ich offenbar, mit einer Armee zu ziehen, die eben diesen Gesinnungen und ihrer Wirkung ein entschiedenes Ende machen sollte. Zwischen Mainz und Bingen erlebt' ich eine Szene, die mir den Sinn des Tages alsobald weiter aufschloss. Unser leichtes Fuhrwerk erreichte schnell einen vierspännigen, schwer bepackten Wagen; der ausgefahrne Hohlweg aufwärts am Berge her nötigte uns, auszusteigen, und da fragten wir denn die ebenfalls abgestiegenen Schwäger, wer vor uns dahinfahre? Der Postillion jenes Wagens erwiderte darauf mit schimpfen und Fluchen, dass es Französinnen seien, die mit ihrem Papiergeld durchzukommen glaubten, die er aber gewiss noch umwerfen wolle, wenn sich einigermaßen Gelegenheit fände. Wir verwiesen ihm seine gehässige Leidenschaft, ohne ihn im Mindesten zu bessern. Bei sehr langsamer Fahrt trat ich hervor an den Schlag der Dame und redete sie freundlich an, worauf sich ein junges, schönes, aber von ängstlichen Zügen beschattetes Gesicht einigermaßen erheiterte. Sie vertraute sogleich, dass sie dem Gemahl nach Trier folge und von da baldmöglichst nach Frankreich zu gelangen wünsche. Da ich ihr nun diesen Schritt als sehr voreilig schilderte, gestand sie, dass außer der Hoffnung, ihren Gemahl wieder zu finden, die Notwendigkeit, wieder von Papier zu leben, sie hierzu bewege. Ferner zeigte sie ein solches Zutrauen zu den verbündeten Streitkräften der Preußen, Österreicher und Emigrierten, dass man, wär' auch Zeit und Ort nicht hinderlich gewesen, sie schwerlich zurückgehalten hätte. Unter diesen Gesprächen fand sich ein sonderbarer Anstoß; über den Hohlweg, worin wir befangen waren, hatte man eine hölzerne Rinne geführt, die das nötige Wasser einer jenseits stechenden oberschlächtigen Mühle zubrachte. Man hätte denken sollen, die Höhe des Gestells wäre doch wenigstens auf einen Heuwagen berechnet gewesen. Wie dem aber auch sei, das Fuhrwerk war so unmäßig obenauf bepackt, Kistchen und Schachteln pyramidalisch übereinander getürmt, dass die Rinne dem weiteren Fortkommen ein unüberwindliches Hindernis entgegensetzte. Hier ging nun erst das Fluchen und Schelten der Postillione los, die sich um so viel Zeit aufgehalten sahen; wir aber erboten uns freundlich, halfen abpacken und an der anderen Seite des träufelnden Schlagbaums wieder aufpacken. Die junge, gute, nach und nach entschüchterte Frau wusste nicht, wie sie sich dankbar genug benehmen sollte; zugleich aber wuchs ihre Hoffnung auf uns immer mehr und mehr. Sie schrieb den Namen ihres Mannes und bat inständig, da wir doch früher als sie nach Trier kommen müssten, ob wir nicht am Tor den Aufenthalt des Gatten schriftlich niederzulegen geneigt wären? Bei dem besten Willen verzweifelten wir an dem Erfolg wegen Größe der Stadt, sie aber ließ nicht von ihrer Hoffnung. In Trier angelangt, fanden wir die Stadt von Truppen überlegt, von allerlei Fuhrwerk überfahren, nirgends ein Unterkommen; die Wagen hielten auf den Plätzen, die Menschen irrten auf den Straßen; das Quartieramt, von allen Seiten bestürmt, wusste kaum Rat zu schaffen. Ein solches Gewirr jedoch ist wie eine Art Lotterie, der Glückliche zeiht irgendeinen Gewinn; und so begegnete mir Leutnant von Fritsch von des Herzogs Regiment und brachte mich, nach freundlichstem Begrüßen, zu einem Kanonikus, dessen großes Haus und weitläufiges Gehöft mich und meine kompendiöse Equipage freundlich und bequemlich aufnahm, wo ich denn sogleich einer genugsamen Erholung pflegte. Gedachter junge militärische Freund, von Kindheit auf mir bekannt und empfohlen, war mit einem kleinen Kommando in Trier zu verweilen beordert, um für die zurückgelassenen Kranken zu sorgen, die nachziehenden Maroden, verspätete Bagagewagen und dergleichen aufzunehmen und sie weiter zu befördern; wobei denn auch mir seine Gegenwart zugute kam, ob er gleich nicht gern im Rücken der Armee verweilte, wo für ihn, als einen jungen strebenden Mann, wenig Glück zu hoffen war. Mein Diener hatte kaum das Notwendigste ausgepackt, als er sich in der Stadt umzusehen Urlaub erbat; spät kam er wieder, und des anderen Morgens trieb eine gleiche Unruhe ihn aus dem Haus. Mir war diese seltsame Benehmen unerklärlich, bis das Rätsel sich löste: die schönen Französinnen hatten ihn nicht ohne Anteil gelassen, er spürte sorgfältig und hatte das Glück, sie auf dem großen Platz, mitten unter hundert Wagen haltend, an der Schachtelpyramide zu erkennen, ohne jedoch ihren Gemahl aufgefunden zu haben. Auf dem Weg von Trier nach Luxemburg erfreute mich bald das Monument in der Nähe von Igel. Da mir bekannt war, wie glücklich die Alten ihre Gebäude und Denkmäler zu setzen wussten, warf ich in Gedanken sogleich die sämtlichen Dorfhütten weg, und nun stand es an dem würdigsten Platz. Die Mosel fließt unmittelbar vorbei, mit welcher sich gegenüber ein ansehnliches Wasser, die Saar, verbindet; die Krümmung der Gewässer, das Auf- und Absteigen des Erdreichs, eine üppige Vegetation geben der Stelle Lieblichkeit und Würde. Das Monument selbst könnte man einen architektonisch-plastisch verzierten Obelisk nennen. Er steigt in verschiedenen, künstlerisch übereinander gestellten Stockwerken in die Höhe, bis er sich zuletzt in einer Spitze endigt, die mit Schuppen ziegelartig verziert ist und mit Kugel, Schlange und Adler in der Luft sich abschloss. Möge irgendein Ingenieur, welchen die gegenwärtigen Kriegsläufe in diese Gegend führen und vielleicht eine Zeitlang festhalten, sich die Mühe nicht verdrießen lassen, das Denkmal auszumessen, und, insofern er Zeichner ist, auch die Figuren der vier Seiten, wie sie noch kenntlich sind, uns überliefern und erhalten! Wie viel traurige bildlose Obelisken sah ich nicht zu meiner Zeit erreichten, ohne dass irgendjemand an jenes Monument gedacht hätte! Es ist freilich schon aus einer spätern Zeit, aber man sieht immer noch die Lust und Liebe, seine persönliche Gegenwart mit aller Umgebung und den Zeugnissen von Tätigkeit sinnlich auf die Nachwelt zu bringen. Hier stehen Eltern und Kinder gegeneinander, man schmaust im Familienkreis; aber damit der Beschauer auch wisse, woher die Wohlhäbigkeit komme, ziehen beladene Saumrosse einher, Gewerb' und Handel wird auf mancherlei Weise vorgestellt. Denn eigentlich sind es Kriegskommissarien, die sich und den Ihrigen dies Monument errichteten, zum Zeugnis, dass damals wie jetzt an solcher Stelle genugsamer Wohlstand zu erringen sei. Man hatte diesen ganzen Spitzbau aus tüchtigen Sandquadern roh übereinander getürmt und alsdann, wie aus einem Felsen, die architektonisch-plastischen Gebilde herausgehauen. Die so manchem Jahrhunderte widerstehende Dauer dieses Monuments mag sich wohl aus einer so gründlichen Anlage herschreiben. * * * * * Diesen angenehmen und furchtbaren Gedanken konnte ich mich nicht lange hingeben: denn ganz nahe dabei, in Grevenmachern, war mir das modernste Schauspiel bereitet. Hier fand ich das Korps Emigrierte, das aus lauter Edelleuten, meist Ludwigsrittern, bestand. Sie hatten weder Diener noch Reitknechte, sondern besorgten sich selbst und ihr Pferd. Gar manchen hab' ich zur Tränke führen, vor der Schmiede halten sehen. Was aber den sonderbarsten Kontrast mit diesem demütigen Beginnen hervorrief, war ein großer, mit Kutschen und Reisewagen aller Art überladener Wiesenraum. Sie waren mit Frau und Liebchen, Kindern und Verwandten zu gleicher Zeit eingerückt, als wenn sie den innern Widerspruch ihres gegenwärtigen Zustandes recht wollten zur Schau tragen. Da ich einige Stunden hier unter freiem Himmel auf Postpferde warten musste, konnt' ich noch eine andere Bemerkung machen. Ich saß vor dem Fenster des Posthauses, unfern von der Stelle, wo das Kästchen stand, in dessen Einschnitt man die unfrankierten Briefe zu werfen pflegt. Einen ähnlichen Zudrang hab' ich nie gesehen: zu Hunderten wurden sie in die Ritze gesenkt. Das grenzenlose Bestreben, wie man mit Leib, Seel' und Geist in sein Vaterland durch die Lücke des durchbrochenen Dammes wieder einzuströmen begehre, war nicht lebhafter und aufdringlicher vorzubilden. Vor Langeweile und aus Lust, Geheimnisse zu entwickeln oder zu supplieren, dacht' ich mir, was in dieser Briefmenge wohl enthalten sein möchte? Da glaubt' ich denn eine Liebende zu spüren, die mit Leidenschaft und Schmerz die Qual des Entbehrens in solcher Trennung heftigst ausdrückte; einen Freund, der von dem Freund in der äußersten Not einiges Geld verlangte; ausgetriebene Frauen mit Kindern und Dienstanhang, deren Kasse bis auf wenige Geldstücke zusammengeschmolzen war; feurige Anhänger der Prinzen, die, das Beste hoffend, sich einander Lust und Mut zusprachen; andere, die schon das Unheil in der Ferne witterten und sich über den bevorstehenden Verlust ihrer Güter jammervoll beschwerten -- und ich denke, nicht ungeschickt geraten zu haben. Über manches klärte der Postmeister mich auf, der, um meine Ungeduld nach Pferden zu beschwichtigen, mich vorsätzlich zu unterhalten suchte. Er zeigte mir verschiedene Briefe mit Stempeln aus entfernten Gegenden, die nun den Vorgerückten und Vorrückenden nachirren sollten. Frankreich sei an allen seinen Grenzen mit solchen Unglücklichen umlagert, von Antwerpen bis Nizza; dagegen stünden ebenso die französischen Heere zur Verteidigung und zum Ausfall bereit. Er sagte manches Bedenkliche; ihm schien der Zustand der Dinge wenigstens sehr zweifelhaft. Da ich mich nicht so wütend erwies wie andere, die nach Frankreich hineinstürmten, hielt er mich blad für einen Republikaner und zeigte mehr Vertrauen; er ließ mich die Unbilden bedenken, welche die Preußen von Wetter und Weg über Koblenz und Trier erlitten, und machte eine schauderhafte Beschreibung, wie ich das Lager in der Gegend von Longwy finden würde; von allem war er gut unterrichtet und schien nicht abgeneigt, andere zu unterrichten. Zuletzt suchte er mich aufmerksam zu machen, wie die Preußen beim Einmarsch ruhige und schuldlose Dörfer geplündert, es sei nun durch die Truppen geschehen oder durch Packknechte und Nachzügler; zum Schein habe man's bestraft, aber die Menschen im Innersten gegen sich aufgebracht. Da musste mir denn jener General des Dreißigjährigen Kriegs einfallen, welcher, als man sich über das feindselige Betragen seiner Truppen in Freundesland höchlich beschwerte, die Antwort gab: "Ich kann meine Armee nicht im Sack transportieren," überhaupt aber konnte ich bemerken, dass unser Rücken nicht sehr gesichert sei. Longwy, dessen Eroberung mir schon unterwegs triumphierend verkündigt war, ließ ich auf meiner Fahrt rechts in einiger Ferne und gelangte den 27. August nachmittags gegen das Lager von Praucourt. Auf einer Fläche geschlagen, war es zu übersehen, aber dort anzulangen nicht ohne Schwierigkeit. Ein feuchter, aufgewühlter Boden war Pferden und Wagen hinderlich; daneben fiel es auf, dass man weder Wachen noch Posten noch irgendjemand antraf, der sich nach den Pässen erkundigt und bei dem man dagegen wieder einige Erkundigung hätte einziehen können. Wir fuhren durch eine Zeltwüste, denn alles hatte sich verkrochen, um vor dem schrecklichen Wetter kümmerlichen Schutz zu finden. Nur mit Mühe erforschten wir von einigen die Gegend, wo wir das herzoglich weimarische Regiment finden könnten, erreichten endlich die Stelle, sahen bekannte Gesichter und wurden von Leidensgenossen gar freundlich aufgenommen. Kämmerier Wagner und sein schwarzer Pudel waren die ersten Begrüßenden; beide erkannten einen vieljährigen Lebensgesellen, der abermals eine bedenkliche Epoche mit durchkämpfen sollte. Zugleich erfuhr ich einen unangenehmen Vorfall: des Fürsten Leibpferd, der Amaranth, war gestern nach einem grässlichen Schrei niedergestürzt und tot geblieben. Nun musste ich von der Situation des Lagers noch viel Schlimmeres gewahren und vernehmen, als der Postmeister mir vorausgesagt. Man denke sich's auf einer Ebene am Fuß eines sanft aufsteigenden Hügels, an welchem ein von alters her gezogener Graben Wasser von Feldern und Wiesen abhalten sollte; dieser aber wurde so schnell als möglich Behälter alles Unrats, aller Abwürflinge: der Abzug stockte, gewaltige Regengüsse durchbrachen nachts den Damm und führten das widerwärtigeste Unheil unter die Zelte. Da ward nun, was die Fleischer an Eingeweiden, Knochen und sonst beiseite geschafft, in die ohnehin feuchten und ängstlichen Schlafstellen getragen. Mir sollte gleichfalls ein zelt eingeräumt werden, ich zog aber vor, mich des Tags über bei Freunden und Bekannten aufzuhalten und nachts in dem großen Schlafwagen der Ruhe zu pflegen, dessen Bequemlichkeit von früheren Zeiten her mir schon bekannt war. Seltsam musste man es jedoch finden, wie er, obgleich nur etwa dreißig Schritte von den Zelten entfernt, doch dergestalt unzugänglich bleib, dass ich mich abends musste hinein und morgens wieder heraus tragen lassen. Am 28. August. So wunderlich tagte mir diesmal mein Geburtsfest. Wir setzten uns zu Pferd und ritten in die eroberte Festung; das wohl gebaute und befestigte Städtchen liegt auf einer Anhöhe. Meine Absicht war, große wollene Decken zu kaufen, und wir verfügten uns sogleich in einen Kramladen, wo wir Mutter und Töchter hübsch und anmutig fanden. Wir feilschten nicht viel und zahlten gut und waren so artig, als es Deutschen ohne Tournüre nur möglich ist. Die Schicksale des Hauses während des Bombardements waren höchst wunderbar. Mehrere Granaten hintereinander fielen in das Familienzimmer, man flüchtete, die Mutter riss ein Kind aus der Wiege und floh, und in dem Augenblick schlug noch eine Granate gerade durch die Kissen, wo der Knabe gelegen hatte. Zum Glück war keine der Granaten gesprungen, sie hatten die Möbel zerschlagen, am Getäfel gesengt, und so war alles ohne weiteren Schaden vorübergegangen; in den Laden war keine Kugel gekommen. Dass der Patriotismus derer von Lognwy nicht allzu kräftig sein mochte, sah man daraus, dass die Bürgerschaft den Kommandanten sehr bald genötigt hatte, die Festung zu übergeben; auch hatten wir kaum einen schritt aus dem Laden getan, als der innere Zwiespalt der Bürger sich uns genugsam verdeutlichte. Königisch Gesinnte, und also unsere Freunde, welche die schnell Übergabe bewirkt, bedauerten, dass wir in dieses Warengewölbe zufällig gekommen und dem schlimmsten aller Jakobiner, der mit seiner ganzen Familie nichts tauge, so viel schönes Geld zu lösen gegeben. Gleichermaßen warnte man uns vor einem splendiden Gasthof, und zwar so bedenklich, als wenn den Speisen daselbst nicht ganz zu trauen sein möchte; zugleich deutete man auf einen geringeren als zuverlässig, wo wir uns denn auch freundlich aufgenommen und leidlich bewirtet sahen. Nun saßen wir alte Kriegs- und Garnisons-kameraden traulich und froh wieder neben und gegen einander; es waren die Offiziere des Regiments, vereint mit des Herzogs Hof-, Haus- und Kanzleigenossen; man unterhielt sich von dem Nächstvergangenen, wie bedeutend und bewegt es Anfang Mais in Aschersleben gewesen, als die Regimenter sich marschfertig zu halten Order bekommen, der Herzog von Braunschweig und mehrere hohe Personen daselbst Besuch abgestattet, wobei des Marquis von Bouillé als eines bedeutenden und in die Operationen kräftig eingreifenden Fremden zu erwähnen nicht vergessen wurde. Sobald dem horchenden Gastwirt dieser Name zu Ohren kam, erkundigte er sich eifrigst, ob wir den Herren kennten? Die meisten durften es bejahen, wobei er denn viel Respekt bewies und große Hoffnung auf die Mitwirkung dieses würdigen, tätigen Mannes aussprach, ja es wollte scheinen, als wenn wir von diesem Augenblick an besser bedient würden. Wie wir nun alle hier Versammelten uns mit Leib und Seele einem Fürsten angehörig bekannten, der seit mehreren Regierungsjahren so große Vorzüge entwickelt und sich nunmehr auch im Kriegshandwerk, dem er von Jugend auf zugetan gewesen, das er seit geraumer Zeit getrieben, bewähren sollte, so ward auf sein Wohl und seiner Angehörigen nach guter deutscher Weise angestoßen und getrunken, besonders aber auf des Prinzen Bernhards Wohl, bei welchem kurz vor dem Ausmarsch Obristwachtmeister von Weyrach, als Abgeordneter des Regiments, Gevatter gestanden hatte. Nun wusste jeder von dem Marsch selbst gar manches zu erzählen, wie man, den Harz links lassend, an Goslar vorbei nach Northeim durch Göttingen gekommen; da hörte man denn von trefflichen und schlechten Quartieren, bäurisch-unfreundlichen, gebildet-missmutigen, hypochondrisch-gefälligen Wirten, von Nonnenklöstern und mancherlei Abwechslung des Weges und Wetters. Alsdann war man am östlichen Rand Westfallens her bis Koblenz gezogen, hatte mancher hübschen Frau zu gedenken, von seltsamen Geistlichen, unvermutet begegnenden Freunden, zerbrochenen Rädern, umgeworfenen Wagen buntscheckigen Bericht zu erstatten. Von Koblenz aus beklagte man sich über bergige Gegenden, beschwerliche Wege und mancherlei Mangel und rückte sodann, nachdem man sich im Vergangenen kaum zerstreut, dem Wirklichen immer näher; der Einmarsch nach Frankreich in dem schrecklichsten Wetter ward als höchst unerfreulich und als würdiges Vorspiel beschrieben des Zustandes, den wir, nach dem Lager zurückkehrend, voraussehen konnten. Jedoch in solcher Gesellschaft ermutigt sich einer am anderen, und ich besonders beruhigte mich beim Anblick der köstlichen wollenen Decken, welche der Reitknecht aufgebunden hatte. Im Lager fand ich abends in dem großen Zelt die beste Gesellschaft; sie war dort beisammen geblieben, weil man keinen Fuß heraussetzen konnte; alles war gutes Muts und voller Zuversicht. Die schnelle Übergabe von Longwy bestätigte die Zusage der Emigrierten, man werde überall mit offenen Armen aufgenommen sein, und es schien sich dem großen Vorhaben des revolutionären Frankreichs, durch die Manifeste des Herzogs von Braunschweig ausgesprochen, zeigten sich ohne Ausnahme bei Preußen, Österreichern und Emigrierten. Freilich durfte man nur das wahrhaft bekannt Gewordene erzählen, so ging daraus hervor, dass ein Volk, auf solchen Grad verunreinigt, nicht einmal in Parteien gespalten, sondern im Innersten zerrüttet, in lauter Einzelheiten getrennt, dem hohen Einheitssinn der edel Verbündeten nicht widerstehen könne. Auch hatte man schon von Kriegstaten zu erzählen. Gleich nach dem Eintritt in Frankreich stießen beim Rekognozieren fünf Eskadronen Husaren von Wolfrat auf tausend Chasseurs, die von Sedan der unser Vorrücken beobachten sollten. Die Unsrigen, wohl geführt, griffen an, und da die Gegenseitigen sich tapfer wehrten, auch keinen Pardonannehmen wollten, gab es ein gräulich Gemetzel, worin wir siegten, Gefangene machten, Pferde, Karabiner und Säbel erbeuteten, durch welches Vorspiel der kriegerische Geist erhöht, Hoffnung und Zutrauen fester gegründet wurden. Am 29. August geschah der Aufbruch aus diesen halberstarrten Erd- und Wasserwogen, langsam und nicht ohne Beschwerde: denn wie sollte man Zelte und Gepäck, Monturen und sonstiges nur einigermaßen reinlich halten, da sich keine Stelle fand, wo man irgendetwas zurechtlegen und ausbreiten können! Die Aufmerksamkeit jedoch, welche die höchsten Heerführer diesem Abmarsch zuwendeten, gab uns frisches Vertrauen. Auf das strengste war alles Fuhrwerk ohne Ausnahme hinter die Kolonne beordert, nur jeder Regimentschef berechtigt, eine Chaise vor seinem Zug hergehen zu lassen; da ich denn das Glück hatte, im leichten, offenen Wägelchen die Hauptarmee für diesmal anzuführen. Beide Häupter, der König sowohl als der Herzog von Braunschweig, mit ihrem Gefolge hatten sich da postiert, wo alles an ihnen vorbei musste. Ich sah sie von weiten, und als wir herankamen, ritten Ihro Majestät an mein Wäglein heran und fragten in Ihro lakonischen Art, wem das Fuhrwerk gehöre? Ich antwortete laut: "Herzog von Weimar!" und wir zogen vorwärts. Nicht leicht ist jemand von einem vornehmern Visitator angehalten worden. Weiterhin jedoch fanden wir den Weg hie und a etwas besser. In einer wunderlichen Gegend, wo Hügel und Tal miteinander abwechselten, gab es besonders für die zu Pferde noch trockene Räume genug, um sich behaglich vorwärts bewegen zu können. Ich warf mich auf das meine, und so ging es freier und lustiger fort; das Regiment hatte den Vortritt bei der Armee, wir konnten also immer voraus sein und der lästigen Bewegung des Ganzen völlig entgehen. Der Marsch verließ die Hauptstraße, wir kamen über Arrancy, worauf uns denn Chatillon l'Abbaye, als erste Kennzeichen der Revolution, ein verkauftes Kirchengut, in halb abgebrochenen und zerstörten Mauern zur Seite liegen blieb. Nun aber sahen wir über Hügel und Tal des Königs Majestät sich eilig zu Pferde bewegend, wie den Kern eines Kometen von einem langen, schweifartigen Gefolge begleitet. Kaum war jedoch dieses Phänomen mit Blitzesschnelle vor uns vorbei geschwunden, als ein zweites von einer andern Seite den Hügel krönte oder das Tal erfüllte. Es war der Herzog von Braunschweig, der Elemente gleicher Art an und nach sich zog. Wir nun, obgleich mehr zum Beobachten als zum Beurteilen geneigt, konnten doch der Betrachtung nicht ausweichen, welche von beiden Gewalten denn eigentlich die obere sei? Welche wohl im zweifelhaften Falle zu entscheiden habe? Unbeantwortete Fragen, die uns nur Zweifel und Bedenklichkeiten zurückließen. Was nun aber hierbei noch ernsteren Stoff zum Nachdenken gab, war, dass man beide Heerführer so ganz frank und frei in ein Land hineinreiten sah, wo nicht unwahrscheinlich in jedem Gebüsch ein aufgeregter Todfeind lauern konnte. Doch mussten wir gestehen, dass gerade das kühne persönliche Hingeben von jeher den Sieg errang und die Herrschaft behauptete. Bei wolkigem Himmel schien die Sonne sehr heiß; das Fuhrwerk in grundlosem Boden fand ein schweres Fortkommen. Zerbrochene Räder an Wagen und Kanonen machten gar manchen Aufenthalt, hie und da ermattete Füseliere, die sich schon nicht mehr fortschleppen konnten. Man hörte die Kanonade bei Thionville und wünschte jener Seite guten Erfolg. Abends erquickten wir uns im Lager bei Pillon. Eine liebliche Waldwiesenahm uns auf, der Schatten erfrischte schon, zum Küchfeuer war Gestrüpp genug bereit; ein Bach floss vorbei und bildete zwei klare Bassins, die beide sogleich von Menschen und Tieren sollten getrübt werden. Das eine gab ich frei, verteidigte das andere mit Heftigkeit und ließ es sogleich mit Pfählen und Stricken umziehen. Ohne Lärm gegen die Zudringlichkeiten ging es nicht ab. Da fragte einer von unsern Reitern den andern, die eben ganz gelassen an ihrem Zeug putzten: "Wer ist denn der, der sich so mausig macht?" -- "Ich weiß nicht," versetzte der andere, "aber er hat recht." Also kamen nun Preußen und Österreicher und ein Teil von Frankreich, auf französischem Boden ihr Kriegshandwerk zu treiben. In wessen Macht und Gewalt taten sie das? Sie konnten es in eignem Namen tun, der Krieg war ihnen zum Teil erklärt, ihr Bund war kein Geheimnis; aber nun ward noch ein Vorwand erfunden. Sie traten auf im Namen Ludwigs XVI., sie requirierten nicht, aber sie borgten gewaltsam. Man hatte Bons drucken lassen, die der Kommandierende unterzeichnete, derjenige aber, der sie in Händen hatte, nach Befund beliebig ausfüllte: Ludwig XVI. sollte bezahlen. Vielleicht hat nach dem Manifest nichts so sehr das Volk gegen das Königtum aufgehetzt als diese Behandlungsart. Ich war selbst bei einer solchen Szene gegenwärtig, deren ich mich als höchst tragisch erinnere. Mehrere Schäfer mochten ihre Herden vereinigt haben, um sie in Wäldern oder sonst abgelegenen Orten sicher zu verbergen; von tätigen Patrouillen aber aufgegriffen und zur Armee geführt, sahen sie sich zuerst wohl und freundlich empfangen. Man fragte nach den verschiedenen Besitzern, man sonderte und zählte die einzelnen Herden. Sorge und Frucht, doch mit einiger Hoffnung, schwebte auf den Gesichtern der tüchtigen Männer. Als sich aber dieses Verfahren dahin auflöste, dass man die Herden unter Regimenter und Kompanien verteilte, den Besitzern hingegen ganz höflich auf Ludwig XVI. gestellte Papiere überreichte, indessen ihre wolligen Zöglinge von den ungeduldigen, fleischlustigen Soldaten vor ihren Füßen ermordet wurden, so gesteh' ich wohl: es ist mir nicht leicht eine grausamere Szene und ein tieferer männlicher Schmerz in allen seinen Abstufungen jemals vor Augen und zur Seele gekommen. Die griechischen Tragödien allein haben so einfach tief Ergreifendes. Den 30. August. Vom heutigen Tag, der uns gegen Verdun bringen sollte, versprachen wir uns Abenteuer, und sie blieben nicht aus. Der auf- und abwärts gehende Weg war schon besser getrocknet, das Fuhrwerk zog ungehinderter dahin, die Reiter bewegten sich leichter und vergnüglich. Es hatte sich eine muntere Gesellschaft zusammengefunden, die, wohl beritten, so weit vorging, bis sie einen Zug Husaren antraf, der den eigentlichen Vortrab der Hauptarmee machte. Der Rittmeister, ein gesetzter Mann, schon über die mittleren Jahre, schien unsere Ankunft nicht gerne zu sehen. Die strengste Aufmerksamkeit war ihm empfohlen: alles sollte mit Vorsicht geschehen, jede unangenehme Zufälligkeit klüglich beseitigt werden. Er hatte seine Leute kunstmäßig verteilt, sie rückten einzeln vor in gewissen Entfernungen, und alles begab sich in der größten Ordnung und Ruhe. Menschenleer war die Gegend, die äußerste Einsamkeit ahnungsvoll. So waren wir, Hügel auf Hügel ab, über Mangiennes, Damvillers, Wawrille und Ormont gekommen, als auf einer Höhe, die eine schöne Aussicht gewährte, rechts in den Weinbergen ein Schuss fiel, worauf die Husaren sogleich zufuhren, die nächste Umgebung zu untersuchen. Sie brachten auch wirklich einen schwarzhaarigen, bärtigen Mann herbei, der ziemlich wild aussah und bei dem man ein schlechtes Terzerol gefunden hatte. Er sagte trotzig, dass er die Vögel aus seinem Weinberg verscheuche und niemand etwas zuleide tue. Der Rittmeister schien, bei stiller Überlegung, diesen Fall mit seinen gemessenen Orders zusammenzuhalten und entließ den bedrohten Gefangenen mit einigen Hieben, die der Kerl so eilig mit auf den Weg nahm, dass man ihm seinen Hut mit großem Lustgeschrei nachwarf, den er aber aufzunehmen keinen Beruf empfand. Der Zug ging weiter, wir unterhielten uns über die Vorkommenheiten und über manches, was zu erwarten sein möchte. Nun ist zu bemerken, dass unsere kleine Gesellschaft, wie sie sich den Husaren aufgedrungen hatte, zufällig zusammengekommen, aus den verschiedensten Elementen bestand; meistens waren es gradsinnige, jeder nach seiner Weise dem Augenblick gewidmete Menschen. Einen jedoch muss ich besonders auszeichnen, einen ernsten, sehr achtbaren Mann von der Art, wie sie zu jener Zeit unter den preußischen Kriegsleuten öfter vorkamen, mehr ästhetisch als philosophisch gebildet, ernst mit einem gewissen hypochondrischen Zug, still in sich gekehrt und zum Wohltun mit zarter Leidenschaft aufgelegt. Als wir so weiter vor uns hinrückten, trafen wir auf eine so seltsame als angenehme Erscheinung, die eine allgemeine Teilnahme erregte. Zwei Husaren brachten ein einspänniges zweirädriges Wägelchen den Berg herauf, und als wir uns erkundigten, was unter der übergespannten Leinwand wohl befindlich sein möchte, so fand sich ein Knabe von etwa zwölf Jahren, der das Pferd lenkte, und ein wunderschönes Mädchen oder Weibchen, das sich aus der Ecke hervorbeugte, um die vielen Reiter anzusehen, die ihren zweirädrigen Schirm umzingelten. Niemand blieb ohne Teilnahme, aber die eigentlich tätige Wirkung für die Schöne mussten wir unserm empfindenden Freund überlassen, der von dem Augenblick an, als er das bedürftige Fuhrwerk näher betrachtet, sich zur Rettung unaufhaltsam hingedrängt fühlte. Wir traten in den Hintergrund; er aber fragte genau nach allen Umständen, und es fand sich, dass die junge Person, in Samogneux wohnhaft, dem bevorstehenden Bedrängnis seitwärts zu entfernteren Freunden auszuweichen willens, sich eben der Gefahr in den Rachen geflüchtet habe; wie in solchen ängstlichen Fällen der Mensch wähnt, es sei überall besser als da, wo er ist. Einstimmig ward ihr nun auf das freundlichste begreiflich gemacht, dass sie zurückkehren müsse. Auch unser Anführer, der Rittmeister, der zuerst eine Spionerei hier wittern wollte, ließ sich endlich durch die herzliche Rhetorik des sittlichen Mannes überreden, der sie denn auch, zwei Husaren an der Seite, bis an ihren Wohnort einigermaßen getröstet zurückgebrachte, woselbst sie uns, die wir in bester Ordnung und Mannszucht bald nachher durchzogen, auf einem Mäuerchen unter den Ihrigen stehend, freundlich und, weil das erste Abenteuer so gut gelungen war, hoffnungsvoll begrüßte. Es gibt dergleichen Pausen mitten in den Kriegszügen, wo man durch augenblickliche Mannszucht sich Kredit zu verschaffen sucht und eine Art von gesetzlichem Frieden mitten in der Verwirrung beordert. Diese Momente sind köstlich für Bürger und Bauern und für jeden, dem das dauernde Kriegsunheil noch nicht allen Glauben an Menschlichkeit geraubt hat. Ein Lager diesseits Verdun wird aufgeschlagen, und man zählt auf einige Tage Rast. Den 31. morgens war ich im Schlafwagen, gewiss der trockensten, wärmsten und erfreulichsten Lagerstätte, halb erwacht, als ich etwas an den Ledervorhängen ruaschen hörte und bei Eröffnung derselben den Herzog von Weimar erblickte, der mir einen unerwarteten Fremden vorstellte. Ich erkannte sogleich den abenteuerlichen Grothaus, der, seine Parteigängerrolle auch hier zu spielen nicht abgeneigt, angelangt war, um den bedenklichen Auftrag der Aufforderung Verduns zu übernehmen. In Gefolg dessen war er gekommen, unsern fürstlichen Anführer um einen Stabstrompeter zu ersuchen, welcher, einer solchen besondern Auszeichnung sich erfreuend, alsobald zu dem Geschäft beordert wurde. Wir begrüßten uns, alter Wunderlichkeiten eingedenk, auf das heiterste, und Grothaus eilte zu seinem Geschäft; worüber denn, als es vollbracht war, gar mancher Scherz getrieben wurde. Man erzählte sich, wie er, den Trompeter voraus, den Husaren hinterdrein, die Fahrstraße hinab geritten, die Verduner aber als Sansculotten, das Völkerrecht nicht kennend oder verachtend, auf ihn kanoniert; wie er ein weißes Schnupftuch an die Trompete befestigt und immer heftiger zu blasen befohlen; wie er, von einem Kommando eingeholt und mit verbundenen Augen allein in die Festung geführt, alldort schöne Reden gehalten, aber nichts bewirkt -- und was dergleichen mehr war, wodurch man denn nach Weltart den geleisteten Dienst zu verkleinern und dem Unternehmenden die Ehre zu verkümmern wusste. Als nun die Festung, wie natürlich, auf die erste Forderung, sich zu ergeben, abgeschlagen, musste man mit Anstalten zum Bombardement vorschreiten. Der Tag ging hin, indessen besorgt' ich noch ein kleines Geschäft, dessen gute Folgen sich mir bis auf den heutigen Tag erstrecken. In Mainz hatte mich Herr von Stein mit dem Jägerischen Atlas versorgt, welcher den gegenwärtigen, hoffentlich auch den nächstkünftigen Kriegsschauplatz in mehreren Blättern darstellte. Ich nahm das eine hervor, das achtundvierzigste, in dessen Bezirk ich bei Longwy herein getreten war, und da unter des Herzogs Leuten sich gerade ein Boßler befand, so ward es zerschnitten und aufgezogen und dient mir noch zur Wiedererinnerung jener für die Welt und mich so bedeutenden Tage. Nach solchen Vorbereitungen zum künftigen Nutzen und augenblicklicher Bequemlichkeit sah ich mich um auf der Wiese, wo wir lagerten und von wo sich die Zelte bis auf die Hügel erstreckten. Auf dem großen, grünen, ausgebreiteten Teppich zog ein wunderliches Schauspiel meine Aufmerksamkeit an sich: eine Anzahl Soldaten hatten sich in einen Kreis gesetzt und hantierten etwas innerhalb desselben. Bei näherer Untersuchung fand ich sie um einen trichterförmigen Erdfall gelagert, der, von dem reinsten Quellwasser gefüllt, oben etwa dreißig Fuß im Durchmesser haben konnte. Nun waren es unzählige kleine Fischchen, nach denen die Kriegsleute angelten, wozu sie das Gerät neben ihrem übrigen Gepäck mitgebracht hatten. Das Wasser war das klarste von der Welt, und die Jagd lustig genug anzusehen. Ich hatte jedoch nicht lange diesem Spiel zugeschaut, als ich bemerkte, dass die Fischlein, indem sie sich bewegten, verschiedene Farben spielten. Im ersten Augenblick hielt ich diese Erscheinung für Wechselfarben der beweglichen Körperchen, doch blad eröffnete sich mir eine willkommene Aufklärung. Eine Scherbe Steingut war in den Trichter gefallen. Welche mir aus der Tiefe herauf die schönsten prismatischen Farben gewährte. Heller als der Grund, dem Auge entgegen gehoben, zeigte sie an dem von mir abstehenden Rand die Blau- und Violettfarbe, an dem mir zugekehrten Rande dagegen die rote und gelbe. Als ich mich darauf um die Quelle ringsum bewegte, folgte mir, wie natürlich bei einem solchen subjektiven Versuche, das Phänomen, und die Farben erschienen, bezüglich auf mich, immer dieselbigen. Leidenschaftlich ohnehin mit diesen Gegenständen beschäftigt, machte mir's die größte Freude, dasjenige hier unter freiem Himmel so frisch und natürlich zu sehen, weshalb sich die Lehrer der Physik schon fast hundert Jahre mit ihren Schülern in eine dunkle Kammer einzusperren pflegten. Ich verschaffte mir noch einige Scherbenstücke, die ich hineinwarf, und konnte gar wohl bemerken, dass die Erscheinung unter der Oberfläche des Wassers sehr bald anfing, beim Hinabsinken immer zunahm, und zuletzt ein kleiner weißer Körper, ganz überfärbt, in Gestalt eines Flämmchens am Boden anlangte. Dabei erinnerte ich mich, dass Agricola schon dieser Erscheinung gedacht und sie unter die feurigen Phänomene zu rechnen sich bewogen gesehen. Nach Tisch ritten wir auf den Hügel, der unseren Zelten die Ansicht von Verdun verbarg. Wir fanden die Lage der Stadt als einer solchen sehr angenehm, von Wiesen, Gärten umgeben, in einer heitern Fläche, von der Maas in mehreren Ästen durchströmt, zwischen näheren und ferneren Hügeln; als Festung freilich einem Bombardement von allen Seiten ausgesetzt. Der Nachmittag ging hin mit Errichtung der Batterien, da die Stadt sich zu ergeben geweigert hatte. Mit guten Ferngläsern beschauten wir indessen die Stadt und konnten ganz genau erkennen, was auf dem gegen uns gekehrten Wall vorging: mancherlei Volk, das sich hin und her bewegte und besonders an einem Fleck sehr tätig zu sein schien. Um Mitternacht fing das Bombardement an, sowohl von der Batterie auf unserm rechten Ufer als von einer andern auf dem linken, welche, näher gelegen und mit Brandraketen spielend, die stärkste Wirkung hervorbrachte. Diese geschwänzten Feuermeteore musste man denn ganz gelassen durch die Luft fahren und bald darauf ein Stadtquartier in Flammen sehen. Unsere Ferngläser, dorthin gerichtet, gestatteten uns, auch dieses Unheil im einzelnen zu betrachten; wir konnten die Menschen erkennen, die sich oben auf den Mauern dem Brand Einhalt zu tun eifrig bemühten, wir konnten die frei stehenden, zusammenstürzenden Gesparre bemerken und unterscheiden. Dieses alles geschah in Gesellschaft von Bekannten und Unbekannten, wobei es unsägliche, oft widersprechende Bemerkungen gab und gar verschiedene Gesinnungen geäußert wurden. Ich war in eine Batterie getreten, die eben gewaltsam arbeitete, allein der fürchterlich dröhnende Klang abgefeuerter Haubitzen fiel meinem friedlichen Ohr unerträglich: ich musste mich bald entfernen. Da traf ich auf den Fürsten Reuß den XI., der mir immer ein freundlicher, gnädiger Herr gewesen. Wir gingen hinter Weinbergsmauern hin und her, durch sie geschützt vor den Kugeln, welche heraus zu senden die Belagerten nicht faul waren. Nach mancherlei politischen Gesprächen, die uns denn freilich nur in ein Labyrinth von Hoffnungen und Sorgen verwickelten, fragte mich der Fürst, womit ich mich gegenwärtig beschäftige, und war sehr verwundert, als ich, anstatt von Tragödien und Romanen zu vermelden, aufgeregt durch die heutige Refraktionserscheinung, von der Farbenlehre mit großer Lebhaftigkeit zu sprechen begann. Denn es ging mir mit diesen Entwickelungen natürlicher Phänomene wie mit Gedichten: ich machte sie nicht, sondern sie machten mich. Das einmal erregte Interesse behauptete sein Recht, die Produktion ging ihren Gang, ohne sich durch Kanonenkugeln und Feuerballen im mindesten stören zu lassen. Der Fürst verlangte, dass ich ihm fasslich machen sollte, wie ich in dieses Feld geraten? Hier gereichte mir nun der heutige Fall zu besonderem Nutzen und Frommen. Bei einem solchen Mann bedurft' es nicht vieler Worte, um ihn zu überzeugen, dass ein Naturfreund, der sein Leben gewöhnlich im Freien, es sei nun im Garten, auf der Jagd, reisend oder durch Feldzüge durchführt, Gelegenheit und Muße genug finde, die Natur im großen zu betrachten und sich mit den Phänomenen aller Art bekannt zu machen. Nun bieten aber atmosphärische Luft, Dünste, Regen, Wasser und Erde uns immerfort abwechselnde Farberscheinungen, und zwar unter so verschiedenen Bedingungen und Umständen, dass man wünschen müsse, solche bestimmter kennen zu lernen, sie zu sondern, unter gewisse Rubriken zu bringen, ihre nähere und fernere Verwandtschaft auszuforschen. Hierdurch gewinne man nun in jedem Fach neue Ansichten, unterschieden von der Lehre der Schule und von gedruckten Überlieferungen. Unsere Altväter hätten, begabt mit großer Sinnlichkeit, vortrefflich gesehen, jedoch ihre Beobachtungen nicht fort- und durchgesetzt; am wenigsten sei ihnen gelungen, die Phänomene wohl zu ordnen und unter die rechten Rubriken zu bringen. Dergleichen war abgehandelt, als wir den feuchten Rasen hin und her gingen; ich setze, aufgeregt durch Fragen und Einreden, meine Lehre fort, als die Kälte des einbrechenden Morgens uns an ein Biwak der Österreicher trieb, welches, die ganze Nacht unterhalten, einen ungeheueren wohltätigen Kohlenkreis darbot. Eingenommen von meiner Sache, mit der ich mich erst seit zwei Jahren beschäftigte und die also noch in einer frischen, unreifen Gärung begriffen war, hätte ich kaum wissen können, ob der Fürst mir auch zugehört, wenn er nicht einsichtige Worte dazwischen gesprochen und zum Schluss meinen Vortrag wieder aufgenommen und beifällige Aufmunterung gegönnt hätte. Wie ich denn immer bemerkt habe, dass mit Geschäfts- und Weltleuten, die sich gar vielerlei aus dem Stegreif müssen vortragen lassen und deshalb immer auf ihrer Hut sind, um nicht hintergangen zu werden, viel besser auch in wissenschaftlichen Dingen zu handeln ist, weil sie den Geist frei halten und dem Referenten aufpassen, ohne weiteres Interesse als eigene Aufklärungen; da Gelehrte hingegen gewöhnlich nichts hören, als was sie gelernt und gelehrt haben und worüber sie mit ihresgleichen übereingekommen sind. In die Stelle des Gegenstandes setzt sich ein Wort-Kredo, bei welchem denn so gut zu verharren ist als bei irgendeinem andern. Der Morgen war frisch, aber trocken; wir gingen, teils gebraten, teils erstarrt, wieder auf und ab und shaen an den Weinbergsmauern sich auf einmal etwas regen. Es war ein Pikett Jäger, das die Nacht da zugebracht hatte, nun aber Büchse und Tornister wieder aufnahm, hinab in die niedergebrannten Vorstädte zog, um von da aus die Wälle zu beunruhigen. Einem wahrscheinlichen Tod entgegengehend, sangen sie sehr libertine Lieder, in dieser Lage vielleicht verzeihbar. Kaum verließen sie die Stätte, als ich auf der Mauer, an der sie geruht, ein sehr auffallendes geologisches Phänomen zu bemerken glaubte: ich sah auf dem von Kalkstein errichteten weißen Mäuerchen ein Gesims von hellgrünen Steinen völlig von der Farbe des Jaspis und war höchlich betroffen, wie mitten in diesen Kalkflözen eine so merkwürdige Steinart in solcher Menge sich sollte gefunden haben. Auf die eigenste Weise ward ich jedoch entzaubert, als ich, auf das Gespenst losgehend, sogleich bemerkte, dass es das Innere von verschimmeltem Brot sei, das, den Jägern ungenießbar, mit gutem Humor ausgeschnitten und zu Verzierung der Mauer ausgebreitet worden. Hier gab es nun sogleich Gelegenheit, von der, seitdem wir in Feindesland eingetreten, immer wieder zur Sprache kommenden Vergiftung zu reden; welche freilich ein kriegendes Heer mit panischem Schrecken erfüllt, indem nicht allein jede vom Wirt angebotene Speise, sondern auch das selbstgebackene Brot verdächtig wird, dessen innerer, schnell sich entwickelnder Schimmel ganz natürlichen Ursachen zuzuschreiben ist. Es war den 1. September früh um acht Uhr, als das Bombardement aufhörte, ob man gleich noch immerfort Kugeln hinüber und herüber wechselte. Besonders hatten die belagerten einen Vierundzwanzig-Pfünder gegen uns gekehrt, dessen sparsame Schüsse sie mehr zum Scherz als Ernst verwendeten. Auf der freien Höhe zur Seite der Weinberge, grad' im Angesicht dieses gröbsten Geschützes, waren zwei Husaren zu Pferd aufgestellt, um Stadt und Zwischenraum aufmerksam zu beobachten. Diese blieben die Zeit ihrer Postierung über unangefochten. Weil aber bei der Ablösung sich nicht allein die Zahl der Mannschaft vermehrte, sondern auch manche Zuschauer grad' in diesem Augenblick herbeiliefen und ein tüchtiger Klump Menschen zusammenkam, so hielten jene ihre Ladung bereit. Ich stand in diesem Augenblick mit dem Rücken dem ungefähr hundert Schritt entfernten Husaren- und Volkstrupp zugekehrt, mich mit einem Freund besprechend, als auf einmal der grimmige, pfeifend-schmetternde Ton hinter mir hersauste, so dass ich mich auf dem Absatz herumdrehte, ohne sagen zu können, ob der Ton, die bewegte Luft, eine innere psychische, sittliche Anregung dieses Umkehren hervorgebracht. Ich sah die Kugel, weit hinter der auseinander gestobenen Menge, noch durch einige Zäune rikoschettieren. Mit großem Geschrei lief man ihr nach, als sie aufgehört hatte, furchtbar zu sein; niemand war getroffen, und die Glücklichen, die sich dieser runden Eisenmasse bemächtigt, trugen sie im Triumph umher. Gegen Mittag wurde die Stadt zum zweiten Mal aufgefordert und erbat sich vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit. Diese nutzten auch wir, uns etwas bequemer einzurichten, um zu proviantieren, die Gegend umher zu bereiten, wobei ich denn nicht unterließ, mehrmals zu der unterrichtenden Quelle zurückzukehren, wo ich meine Beobachtungen ruhiger und besonnener anstellen konnte; denn das Wasser war rein ausgefischt und hatte sich vollkommen klar und ruhig gesetzt, um das Spiel der niedersinkenden Flämmchen nach Lust zu wiederholen, und ich befand mich in der angenehmsten Gemütsstimmung. Einige Unglücksfälle versetzten uns wieder bald in Kriegszustand. Ein Offizier von der Artillerie suchte sein Pferd zu tränken, der Wassermangel in der Gegend war allgemein; meine Quelle, an der er vorbei ritt, lag nicht flach genug, er begab sich nach der nahe fließenden Maas, wo er an einem abhängigen Ufer versank: das Pferd hatte sich gerettet, ihn trug man tot vorbei. Kurz darauf sah und hörte man eine starke Explosion im österreichischen Lager, an dem Hügel, zu dem wir hinaufsehen konnten; Knall und Dampf wiederholte sich einige Mal. Bei einer Bombenfüllung war durch Unvorsichtigkeit Feuer entstanden, das höchste Gefahr drohte; es teilte sich schon gefüllten Bomben mit, und man hatte zu fürchten, der ganze Vorrat möcht ein die Luft gehen. Bald aber war die Sorge gestillt durch rühmliche Tat kaiserlicher Soldaten, welche, die bedrohende Gefahr verachtend, Pulver und gefüllte Bomben aus dem Zeltraum eilig hinaustrugen. So ging auch dieser Tag hin. Am andern Morgen ergab sich die Stadt und ward in Besitz genommen; sogleich aber sollte uns ein republikanischer Charakterzug begegnen. Der Kommandant Beaurepaire, bedrängt von der bedrängten Bürgerschaft, die bei fortdauerndem Bombardement ihre ganze Stadt verbrannt und zerstört sah, konnte die Übergabe nicht länger verweigern; als er aber auf dem Rathaus in voller Sitzung seine Zustimmung gegeben hatte, zog er ein Pistole hervor und erschoss sich, um abermals ein Beispiel höchster patriotischer Aufopferung darzustellen. Nach dieser so schnellen Eroberung von Verdun zweifelte niemand mehr, dass wir bald darüber hinausgelangen und in Chalons und Epernay uns von den bisherigen Leiden an gutem Weine bestens erholen sollten. Ich ließ daher ungesäumt die Jägerischen Karten, welche den Weg nach Paris bezeichneten, zerschneiden und sorgfältig aufziehen, auch auf die Rückseite weißes Papier kleben, wie ich es schon bei der ersten getan, um kurze Tagesbemerkungen flüchtig aufzuzeichnen. Den 3. September. Früh hatte sich eine Gesellschaft zusammengefunden, nach der Stadt zu reiten, an die ich mich anschloss. Wir fanden gleich beim Eintritt große frühere Anstalten, die auf einen längeren Widerstand hindeuteten: das Straßenpflaster war in der Mitte durchaus aufgehoben und gegen die Häuser angehäuft; das feuchte Wetter machte deshalb das Umherwandeln nicht erfreulich. Wir besuchten aber sogleich die namentlich gerühmten Läden, wo der beste Likör aller Art zu haben war. Wir probierten ihn durch und versorgten uns mit mancherlei Sorten. Unter andern war einer namens Baume humain, welcher, weniger süß, aber stärker, ganz besonders erquickte. Auch die Drageen, überzuckerte kleine Gewürzkörner in saubern, zylindrischen Deuten, wurden nicht abgewiesen. Bei so vielem Guten gedachte man nun der lieben Zurückgelassenen, denen dergleichen am friedlichen Ufer der Ilm gar wohl behagen möchte. Kistchen wurden gepackt; gefällige, wohlwollende Kuriere, das bisherige Kriegsglück in Deutschland zu melden beauftragt, waren geneigt, sich mit einigem Gepäck dieser Art zu belasten, wodurch sich denn die Freundinnen zu Hause in höchster Beruhigung überzeugen mochten, dass wir in einem Land wallfahrteten, wo Geist und Süßigkeit niemals ausgehen dürfen. Als wir nun darauf die teilweise verletzte und verwüstete Stadt beschauten, waren wir veranlasst, die Bemerkung zu wiederholen: dass bei solchem Unglück, welches der Mensch dem Menschen bereitet, wie bei dem, was die Natur uns zuschickt, einzelne Fälle vorkommen, die auf eine Schickung, eine günstige Vorsehung hinzudeuten scheinen. Der untere Stock eines Eckhauses auf dem Markt ließ einen von vielen Fenstern wohl erleuchteten Fayence-Laden sehen; man machte uns aufmerksam, dass eine Bombe, von dem Platz aufschlagend, an den schwachen steinernen Türpfosten des Ladens gefahren, von demselben aber wieder abgewiesen, andere Richtung genommen habe. Der Türpfosten war wirklich beschädigt, aber er hatte die Pflicht eines guten Vorfechters getan: die Glanzfülle des oberflächlichen Porzellans stand in widerspiegelnder Herrlichkeit hinter den wasserhellen, wohl geputzten Fenstern. Mittags am Wirtstisch wurden wir mit guten Schöpsenkeulen und Wein von Bar traktiert, den man, weil er nicht verfahren werden kann, im Land selbst aufsuchen und genießen muss. Nun ist aber an solchen Tischen Sitte, dass man wohl Löffel, jedoch weder Messer noch Gabel erhält, die man daher mitbringen muss. Von dieser Landesart unterrichtet, hatten wir schon solche Bestecke angeschafft, die man dort flach und zierlich gearbeitet zu kaufen findet. Muntere, resolute Mädchen warteten auf, nach derselben Art und Weise, wie sie vor einigen Tagen ihrer Garnison noch aufgewartet hatten. Bei der Besitznehmung von Verdun ereignete sich jedoch ein Fall, der, obgleich nur einzeln, großes Aufsehen erregte und allgemeine Teilnahme heran rief. Die Preußen zogen ein, und es fiel aus der französischen Volksmasse ein Flintenschuss, der niemand verletzte, dessen Wagestück aber ein französischer Grenadier nicht verleugnen konnte und wollte. Auf der Hauptwache, wohin er gebracht wurde, hab' ich ihn selbst gesehen: es war ein sehr schöner, wohl gebildeter, junger Mann, festen Blicks und ruhigen Betragens. Bis sein Schicksal entschieden wäre, hielt man ihn lässlich. Zunächst an der Wache war eine Brücke, unter der ein Arm der Maas durchzog; er setzte sich aufs Mäuerchen, blieb eine Zeitlang ruhig, dann überschlug er sich rückwärts in die Tiefe und ward nur tot aus dem Wasser herausgebracht. Diese zweite heroische, ahnungsvolle Tat erregte leidenschaftlichen Hass bei den frisch Eingewanderten, und ich hörte sonst verständige Personen behaupten, man möchte weder diesem noch dem Kommandanten ein ehrlich Begräbnis gestatten. Freilich hatte man sich andere Gesinnungen versprochen, und noch sah man nicht die geringste Bewegung unter den fränkischen Truppen, zu uns überzugehen. Größere Heiterkeit verbreitete jedoch die Erzählung, wie der König in Verdun aufgenommen worden: vierzehn der schönsten, wohl erzogensten Frauenzimmer hatten Ihro Majestät mit angenehmen Reden, Blumen und Früchten bewillkommnt. Seine Vertrautesten jedoch rieten ihm ab, vom Genuss Vergiftung befürchtend; aber der großmütige Monarch verfehlte nicht, diese wünschenswerten Gaben mit galanter Wendung anzunehmen und sie zutraulich zu kosten. Diese reizenden Kinder schienen auch unseren jungen Offizieren einiges Vertrauen eingeflößt zu haben; gewiss, diejenigen, die das Glück gehabt, dem Ball beizuwohnen, konnten nicht genug von Liebenswürdigkeit, Anmut und gutem Betragen sprechen und rühmen. Aber auch für solidere Genüsse war gesorgt: denn, wie man gehofft und vermutet hatte, fanden sich die besten und reichlichsten Vorräte in der Festung, und man eilte, vielleicht nur zu sehr, sich daran zu erholen. Ich konnte gar wohl bemerken, dass man mit geräuchertem Speck und Fleisch, mit Reis und Linsen und andern guten und notwendigen Dingen nicht haushältisch genug verfahre, welches in unserer Lage bedenklich schien. Lustig dagegen war die Art, wie ein Zeughaus, oder Waffensammlung aller Art, ganz gelassen geplündert ward. In ein Kloster hatte man allerlei Gewehre, mehr alte als neue, und mancherlei seltsame Dinge gebracht, womit der Mensch, der sich zu wehren Lust hat, den Gegner abhält oder wohl gar erlegt. Mit jener sanften Plünderung aber verhielt es sich folgendermaßen: als nach eingenommener Stadt die hohen Militärpersonen sich von den Vorräten aller Art zu überzeugen gedachten, begaben sie sich ebenfalls in diese Waffensammlung, und indem sie solche für das allgemeine Kriegsbedürfnis in Anspruch nahmen, fanden sie manches Besondere, welches dem einzelnen zu besitzen nicht unangenehm wäre, und niemand war leicht mit Musterung dieser Waffen beschäftigt, der nicht auch für sich etwas herausgemustert hätte. Dies ging nun durch alle Grade durch, bis dieser Schatz zuletzt beinahe ganz ins Freie fiel. Nun gab jedermann der angestellten Wache ein kleines Trinkgeld, um sich diese Sammlung zu besehen, und nahm dabei etwas mit heraus, was ihm anstehen mochte. Mein Diener erbeutete auf diese Weise einen flachen, hohen Stock, der, mit Bindfaden stark und geschickt umwunden, dem ersten Anblick nach nichts weiter erwarten ließ, seine Schwere aber deutete auf einen gefährlichen Inhalt: auch enthielt er eine sehr breite, wohl vier Fuß lange Degenklinge, womit eine kräftige Faust Wunder getan hätte. So zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Erhalten und Verderben, zwischen Rauben und Bezahlen lebte man immer hin, und dies mag es wohl sein, was den Krieg für das Gemüt eigentlich verderblich macht. Man spielt den Kühnen, Zerstörenden, dann wieder den Sanften, Belebenden; man gewöhnt sich an Phrasen, mitten in dem verzweifeltsten Zustand Hoffnung zu erregen und zu beleben; hierdurch entsteht nun eine Art von Heuchelei, die einen besonderen Charakter hat und sich von der pfäffischen, höfischen, oder wie sie sonst heißen mögen, ganz eigen unterscheidet. Einer merkwürdigen Person aber muss ich noch gedenken, die ich, zwar nur in der Entfernung, hinter Gefängnisgittern, gesehen: es war der Postmeister von Sainte Menehould, der sich ungeschickterweise von den Preußen hatte fangen lassen. Er scheute keineswegs die Blicke der Neugierigen und schien bei seinem ungewissen Schicksal ganz ruhig. Die Emigrierten behaupteten, er habe tausend Tode verdient, und hetzten deshalb an den obersten Behörden, denen aber zum Ruhm zu rechnen ist, dass sie in diesem, wie in andern Fällens ich mit geziemender Ruhe und anständigem Gleichmut betragen. Am 4. September. Die viele Gesellschaft, die ab- und zuging, belebte unsere Zelte den ganzen Tag; man hörte vieles erzählen, vieles bereden und beurteilen, die Lage der Dinge tat sich deutlicher auf als bisher. Alle waren einig, dass man so schnell als möglich nach Paris vordringen müsse. Die Festungen Montmedy und Sedan hatte man unerobert sich zur Seite gelassen und schien von der in dortiger Gegend stehenden Armee wenig zu befürchten. Lafayette, auf welchem das Vertrauen des Kriegsvolks beruhte, war genötigt gewesen, aus der Sache zu scheiden; er sah sich gedrängt, zum Feind überzugehen, und ward als Feind behandelt. Dumouriez, wenn er auch sonst als Minister Einsicht in Militärangelegenheiten beweisen hatte, war durch keinen Feldzug berühmt, und aus der Kanzlei zum Oberbefehl der Armee befördert, schien er auch nur jene Inkonsequenz und Verlegenheit des Augenblicks zu beweisen. Von der andern Seite verlauteten die traurigen Vorfälle von der Hälfte des Augusts aus Paris, wo, dem braunschweigschen Manifest zum Trutz, der König gefangen genommen, abgesetzt und als Missetäter behandelt wurde. Was aber für die nächsten Kriegsoperationen höchst bedenklich sei, war am umständlichsten besprochen. Der waldbewachsene Gebirgsriegel, welcher die Aire von Süden nach Norden an ihm herzufließen nötigt, Forêt d'Argonne genannt, lag unmittelbar vor uns und heilt unsere Bewegung auf. Man sprach viel von den Isletten, dem bedeutenden Pass zwischen Verdun und Sainte Menehould. Warum er nicht besetzt werde, besetzt worden sei, darüber konnte man sich nicht vereinigen. Die Emigrierten sollten ihn einen Augenblick überrumpelt haben, ohne ihn halten zu können. Die abziehende Besatzung von Longwy hatte sich, so viel wusste man, dorthin gezogen; auch Dumouriez schickte, während wir uns auf dem Marsch nach Verdun und mit dem Bombardement der Stadt beschäftigten, Truppen quer über durchs Land, um diesen Posten zu verstärken und den rechten Flügel seiner Position hinter Grandpré zu decken und so den Preußen, Österreichern und Emigrierten ein zweites Thermopylä entgegenzustellen. Man gestand sich einander die höchst unglückliche Lage und musste sich in die Anstalten fügen, wonach die Armee, welche unaufhaltsam gerade vorwärts hätten dringen sollen, die Aire hinabziehen sollte, um sich an den verschanzten Bergschluchten auf gut Glück zu versuchen; wobei noch für höchst vorteilhaft galt, dass Clermont den Franzosen entrissen und von Hessen besetzt sei, welche, gegen die Isletten operierend, sie wo nicht wegnehmen, doch beunruhigen konnten. Den 6. September. In diesem Sinn ward nunmehr das Lager verändert und kam hinter Verdun zu stehen; das Hauptquartier des Königs, Glorieux, des Herzogs von Braunschweig, Regret genannt, gab zu wunderlichen Betrachtungen Anlass. An den ersten Ort gelangt' ich selbst durch einen verdrießlichen Zufall. Des Herzogs von Weimar Regiment sollte bei Jardin Fontaine zu stehen kommen, nahe an der Stadt und der Maas; zum Tor fuhren wir glücklich heraus, indem wir uns in den Wagenzug eines unbekannten Regiments einschwärzten und von ihm fortschleppen ließen, obgleich zu bemerken war, dass man sich zu weit entferne; auch hätten wir nicht einmal bei dem schmalen Weg aus der Reihe weichen können, ohne uns in den Gräben unwiederbringlich zu verfahren. Wir schauten rechts und links, ohne zu entdecken, wir fragten ebenso und erhielten keinen Bescheid; denn alle waren fremd wie wir und aufs verdrießlichste von dem Zustand angegriffen. Endlich auf eine sanfte Höhe gelangt, sah ich links unten in einem Tal, das zu guter Jahrszeit ganz angenehm sein mochte, einen hübschen Ort mit bedeutenden Schlossgebäuden, wohin glücklicherweise ein sanfter grüner Rain uns bequem hinunterzubringen versprach. Ich ließ umso eher aus der schrecklichen Fahrleise hinabwärts ausbiegen, als ich unten Offiziere und Reitknechte hin und wider sprengen, Packwagen und Chaisen aufgefahren sah; ich vermutete eins der Hauptquartiere, und so fand sich's: es war Glorieux, der Aufenthalt des Königs. Aber auch da war mein Fragen, wo Jardin Fontaine liege, ganz umsonst. Endlich begegnete ich, wie einem Himmelsboten, Herrn von Alvensleben, der sich mir früher freundlich erwiesen hatte; dieser gab mir denn Bescheid, ich solle den von allem Fuhrwerk freien Dorfweg im Tal bis nach der Stadt verfolgen, vor derselben aber links durchzudringen suchen, und ich würde Jardin Fontaine gar bald entdecken. Beides gelang mir, und ich fand auch unsere Zelte aufgeschlagen, aber im schrecklichsten Zustand: man sah sie in grundlosen Kot versenkt, die verfaulten Schlingen der Zelttücher zerrissen eine nach der andern, und die Leinwand schlug dem über Kopf und Schulter zusammen, der darunter sein Heil zu suchen gedachte. Eine Zeitlang hatte man's ertragen, doch fiel zuletzt der Entschluss dahin aus, das Örtchen selbst zu beziehen. Wir fanden in einem wohl eingerichteten Haus und Hof einen guten neckischen Mann als Besitzer, der ehemals Koch in Deutschland gewesen war; mit Munterkeit nahm er uns auf, im Erdgeschoss fanden sich schöne, heitere Zimmer, gutes Kamin, und was sonst nur erquicklich sein konnte. Das Gefolge des Herzogs von Weimar ward aus der fürstlichen Küche versorgt; unser Wirt verlangte jedoch dringend, ich solle nur ein einziges Mal von seiner Kunst etwas kosten. Er bereitete mir auch wirklich ein höchst wohlschmeckendes Gastmahl, das mir aber sehr übel bekam, so dass ich wohl auch an Gift hätte denken können, wenn mir nicht noch zeitig genug der Knoblauch eingefallen wäre, durch welchen jene Schüsseln erst recht schmackhaft geworden, der auf mich aber, selbst in der geringsten Dosis, höchst gewaltsame Wirkung auszuüben pflegte. Das Übel war bald vorbei, und ich hielt mich nach wie vor desto lieber an die deutsche Küche, solange sie auch nur das mindeste leisten konnte. Als es zum Abschied ging, überreichte der gut gelaunte Wirt meinem Diener einen vorher versprochenen Brief nach Paris an eine Schwester, die er besonders empfehlen wolle; fügte jedoch nach einigem Hin- und Widerreden gutmütig hinzu: "Du wirst wohl nicht hinkommen." Den 11. September. Wir wurden also, nach einigen Tagen gütlicher Pflege, wieder in das schrecklichste Wetter hinausgestoßen; unser Weg ging auf dem Gebirgsrücken hin, der, die Gewässer der Maas und Aire scheidend, beide nach Norden zu fließen nötigt. Unter großen Leiden gelangten wir nach Malancourt, wo wir leere Keller und Küchen wirtlos fanden und schon zufrieden waren, unter Dach, auf trockener Bank eine spärliche, mitgebrachte Nahrung zu genießen. Die Einrichtung der Wohnungen selbst gefiel mir; sie zeugte von einem stillen, häuslichen Behagen: alles war einfach naturgemäß, dem unmittelbarsten Bedürfnis genügend. Dies hatten wir gestört, dies zerstörten wir; denn aus der Nachbarschaft erscholl ein Angstruf gegen Plünderer, worauf wir denn, hinzueilend, nicht ohne Gefahr dem Unfug für den Augenblick steuerten. Auffallend genug dabei war, dass die armen unbekleideten Verbrecher, denen wir Mäntel und Hemden entrissen, uns der härtesten Grausamkeit anklagten, dass wir ihnen nicht vergönnen wollten, auf Kosten der Feinde ihre Blöße zu decken. Aber noch ein eigneren Vorwurf sollten wir erleben. In unser erstes Quartier zurückgekehrt, fanden wir einen vornehmen, uns sonst schon bekannten Emigrierten. Er ward freundlich begrüßt und verschmähte nicht frugale Bissen; allein man konnte ihm eine innere Bewegung anmerken, er hatte etwas auf dem Herzen, dem er durch Ausrufungen Luft zu machen suchte. Als wir nun, früherer Bekanntschaft gemäß, einiges Vertrauen in ihm zu erwecken suchten, so beschrie er die Grausamkeit, welche der König von Preußen an den französischen Prinzen ausübe. Erstaunt, fast bestürzt, verlangten wir nähere Erklärung. Da erfuhren wir nun: der König habe beim Ausmarsch von Glorieux, unerachtet des schrecklichsten Regens, keinen Überrock angezogen, keinen Mantel umgenommen, da denn die königlichen Prinzen ebenfalls sich dergleichen Wetter abwehrende Gewande hätten versagen müssen; unser Marquis aber habe diese allerhöchsten Personen, leicht gekleidet, durch und durch genässt, träufelnd von abfließender Feuchte, nicht ohne das größte Bejammern anschauen können, ja er hätte, wenn es nütze gewesen wäre, sein Leben daran gewendet, sie in einem trockenen Wagen dahin ziehen zu sehen, sie, auf denen Hoffnung und Glück des ganzen Vaterlandes beruhe, die an eine ganz andere Lebensweise gewöhnt seien. Wir hatten freilich darauf nichts zu erwidern, denn ihm konnte die Betrachtung nicht tröstlich werden, dass der Krieg, als ein Vortod, alle Menschen gleich mache, allen Besitz aufhebe und selbst die höchste Persönlichkeit mit Pein und Gefahr bedrohe. Den 12. September. Den andern Morgen aber entschloss ich mich, in Betracht so hoher Beispiele, meine leichte und doch mit vier requirierten Pferden bespannte Chaise unter dem Schutz des zuverlässigen Kämmerier Wagner zu lassen, welchem die Equipage und das so nötige bare Geld nachzubringen aufgetragen war. Ich schwang mit, mit einigen guten Gesellen, zu Pferde, und so begaben wir uns auf den Marsch nach Landres. Wir fanden auf Mitte Wegs Wellen und Reisig eines abgeschlagenen Birkenhölzchens, deren innere Trockenheit die äußere Feuchte bald überwand und uns lohe Flamme und Kohlen, zur Erwärmung wie zum Kochen genugsam, sehr schnell zum besten gab. Aber die schöne Anstalt einer Regimentstafel war schon gestört: Tische, Stühle und Bänke sah man nicht nachkommen, man behalf sich stehend, vielleicht angelehnt, so gut es gehen wollte. Doch war das Lager gegen Abend glücklich erreicht; so kampierten wir unsern Landres, gerade Grandpré gegenüber, wussten aber gar wohl, wie stark und vorteilhaft der Pass besetzt sei. Es regnete unaufhörlich, nicht ohne Windstoß; die Zeltdecke gewährte wenig Schutz. Glückselig aber der, dem eine höhere Leidenschaft den Busen füllte! Die Farbenerscheinung der Quelle hatte mich diese Tage her nicht einen Augenblick verlassen; ich überdachte sie hin und wieder, um sie zu bequemen Versuchen zu erheben. Da diktierte ich an Vogel, der sich auch hier als treuen Kanzleigefährten erwies, ins gebrochene Konzept und zeichnete nachher die Figuren daneben. Diese Papiere besitz' ich noch mit allen Merkmalen des Regenwetters und als Zeugnis eines treuen Forschens auf eingeschlagenem, bedenklichem Pfad. Den Vorteil aber hat der Weg zum Wahren, dass man sich unsicherer Schritte, eines Umwegs, ja, eines Fehltritts noch immer gern erinnert. Das Wetter verschlimmerte sich und ward in der Nacht so arg, dass man es für das höchste Glück schätzen musste, sie unter der Decke des Regimentswagens zuzubringen. Wie schrecklich war da der Zustand, wenn man bedachte, dass man im Angesicht des Feindes gelagert sei und befürchten musste, dass er aus seinen Berg- und Waldverschanzungen irgendwo hervorzubrechen Lust haben könne. Vom 13. bis zum 17. September. Traf der Kämmerier Wagner, den Pudel mit eingeschlossen, bei guter Zeit mit aller Equipage bei uns ein: er hatte eine schreckliche Nacht verlebt, war nach tausend anderen Hindernissen im Finstern von der Armee abgekommen, verführt durch schlaf- und weintrunkene Knechte eines Generals, denen er nachfuhr. Sie gelangten in ein Dorf und vermuteten die Franzosen ganz nahe. Von allerlei Alarm geängstigt, verlassen von Pferden, die aus der Schwemme nicht zurückkehrten, wusste er sich denn so zu richten und zu schicken, dass er von dem unseligen Dorf loskam und wir uns zuletzt mit allem mobilen Hab und Gut wieder zusammenfanden. Endlich gab es eine Art von erschütternder Bewegung und zugleich von Hoffnung: man hörte auf unserm rechten Flügel stark kanonieren und sagte sich: General Clerfiat sei aus den Niederlanden angekommen und habe die Franzosen auf ihrer linken Flanke angegriffen. Alles war äußerst gespannt, den Erfolg zu vernehmen. Ich ritt nach dem Hauptquartier, um näher zu erfahren, was die Kanonade bedeute und was eigentlich zu erwarten sei. Man wusste daselbst noch nichts genau, als dass General Clerfait mit den Franzosen ahndgemein sein müsse. Ich traf auf den Major von Weyrach, der sich aus Ungeduld und Langeweile soeben zu Pferd setze und an die Vorposten reiten wollte; ich begleitete ihn, und wir gelangten bald auf eine Höhe, wo man sich weit genug umsehen konnte. Wir trafen auf einen Husarenposten und sprachen mit dem Offizier, einem jungen, hübschen Mann. Die Kanonade war weit über Grandpré hinaus, und er hatte Order, nicht vorwärts zu gehen, um nicht ohne Not eine Bewegung zu verursachen. Wir hatten uns nicht lange besprochen, als Prinz Louis Ferdinand mit einigem Gefolge ankam, nach kurzer Begrüßung und Hin- und Widerreden von dem Offizier verlangte, dass er vorwärts gehen solle. Dieser tat dringende Vorstellungen, worauf der Prinz aber nicht achtete, sondern vorwärts ritt, dem wir denn alle folgen mussten. Wir warne nicht weit gekommen, als ein französischer Jäger sich von fern sehen ließ, an uns bis auf Büchsenschussweite heransprengte und sodann umkehrend ebenso schnell wieder verschwand. Ihm folgte der zweite, dann der dritte, welche ebenfalls wieder verschwanden. Der vierte aber, wahrscheinlich der erste, schoss die Büchse ganz ernstlich auf uns ab, man konnte die Kugel deutlich pfeifen hören. Der Prinz ließ sich nicht irren, und jene treiben auch ihr Handwerk, so dass mehrere Schüsse fielen, indem wir unsern Weg verfolgten. Ich hatte den Offizier manchmal angesehen, der zwischen seiner Pflicht und zwischen dem Respekt vor einem königlichen Prinzen in der größten Verlegenheit schwankte. Er glaubte wohl, in meinen Blicken etwas Teilnehmendes zu lesen, ritt auf mich zu und saget: "Wenn Sie irgendetwas auf den Prinzen vermögen, so ersuchen Sie ihn, zurückzugehen, er setzt mich der größten Verantwortung aus: ich habe den strengsten Befehl, meine angewiesenen Posten nicht zu verlassen, und es ist nichts vernünftiger, als dass wir den Feind nicht reizen, der hinter Grandpré in einer festen Stellung gelagert ist. Kehrt der Prinz nicht um, so ist in kurzem die ganze Vorpostenkette alarmiert, man weiß im Hauptquartier nicht, was es heißen soll, und der erste Verdruss ergeht über mich ganz ohne meine Schuld." Ich ritt an den Prinzen heran und sagte: "Man erzeigt mir soeben die Ehre, mir einigen Einfluss auf Ihro Hoheit zuzutrauen, deshalb ich um geneigtes Gehör bitte." Ich brachte ihm darauf die Sache mit Klarheit vor, welches kaum nötig gewesen wäre: denn er sah selbst alles vor sich und war freundlich genug, mit einigen guten Worten sogleich umzukehren, worauf denn auch die Jäger verschwanden und zu schießen aufhörten. Der Offizier dankte mir aufs verbindlichste, und man sieht hieraus, dass ein Vermittler überall willkommen ist. Nach und nach klärte sich's auf. Die Stellung Dumouriez' bei Grandpré war höchst fest und vorteilhaft; dass er auf seinem rechten Flügel nicht anzugreifen sei, wusste man wohl; auf seiner Linken waren zwei bedeutende Pässe, La Croix aux Bois und Le Chêne Populeux, beide wohl verhauen und für unzugänglich gehalten; allein der letzte war einem Offizier anvertraut, einem dergleichen Auftrag nicht gewachsenen oder nachlässigen. Die Österreicher griffen an: bei der ersten Attacke blieb Prinz von Ligne, der Sohn, sodann aber gelang es, man überwältigte den Posten, und der große Plan Dumouriez' war zerstört: er musste seine Stellung verlassen und sich die Aisne hinaufwärts ziehen, und preußische Husaren konnten durch den Pass dringen und jenseits des Argonner Waldes nachsetzen. Sie verbreiteten einen solchen panischen Schrecken über das französische Heer, dass zehntausend Mann vor fünfhundert flohen und nur mit Mühe konnten zum Stehen gebracht und wieder gesammelt werden; wobei sich das Regiment Chamborant besonders hervortrat und den Unsrigen ein weiteres Vordringen verwehrte, welche, ohnehin nur gewissermaßen auf Rekognoszieren ausgeschickt, siegreich mit Freuden zurückkehrten und nicht leugneten, einige Wagen gute Beute gemacht zu haben. In das unmittelbar Brauchbare, Geld und Kleidung, hatten sie sich geteilt, mir aber als einem Kanzleimann kamen die Papiere zugute, worunter ich einige ältere Befehle Lafayettes und mehrere höchst sauber geschriebene Listen fand. Was mich aber am meisten überraschte, war ein ziemlich neuer "Moniteur". Dieser Druck, dieses Format, mit dem man seit einigen Jahren ununterbrochen bekannt gewesen und die man nun seite mehreren Wochen nicht gesehen, begrüßten mich auf eine etwas unfreundliche Weise, indem ein lakonischer Artikel vom 3. September mir drohend zurief: _Les Prussiens pourront venir à Paris, mais ils n'en sortiront pas._ Also hielt man denn doch in Paris für möglich, wir könnten hingelangen; dass wir wieder zurückkehrten, dafür mochten die oberen Gewalten sorgen. Die schreckliche Lage, in der man sich zwischen Erde und Himmel befand, war einigermaßen erleichtert, als man die Armee zurücken und eine Abteilung der Avantgarde nach der andern vorwärts ziehen sah. Endlich kam die Reihe auch an uns: wir gelangten über Hügel, durch Täler, Weinberge vorbei, an denen man sich auch wohl erquickte. Man kam sodann zu aufgehellter Stunde in eine freiere Gegend und sah in einem freundlichen Tal der Aire das Schloss von Grandpré auf einer Höhe sehr wohl gelegen, eben an dem Punkt, wo genannter Fluss sich westwärts zwischen die Hügel drängt, um auf der Gegenseite des Gebirgs sich mit der Aisne zu verbinden, deren Gewässer, immer dem Sonnenuntergang zu, durch Vermittlung der Oise endlich in die Seine gelangen; woraus denn ersichtlich, dass der Gebirgsrücken, der uns von der Maas trennte, zwar nicht von bedeutender Höhe, doch von entschiedenem Einfluss auf den Wasserlauf, uns in eine andere Flussregion zu nötigen geeignet war. Auf diesem Zug gelangte ich zufällig in das Gefolge des Königs, dann des Herzogs von Braunschweig; ich unterhielt mich mit Fürst Reuß und andern diplomatisch-militärischen Bekannten. Diese Reitermassen machten zu der angenehmen Landschaft eine reiche Staffage, man hätte einen van der Meulen gewünscht, um solchen Zug zu verewigen: alles war heiter, munter, voller Zuversicht und heldenhaft. Einige Dörfer brannten zwar vor uns auf, allein der Rauch tut in einem Kriegsbild auch nicht übel. Man hatte, so hieß es, aus den Häusern auf den Vortrab geschossen und dieser, nach Kriegsrecht, sogleich die Selbstrache geübt. Es ward getadelt, war aber nicht zu ändern; dagegen nahm man die Weinberge in Schutz, von denen sich die Besitzer doch keine große Lese versprechen durften, und so ging es zwischen Freund- und feindseligem Betragen immer vorwärts. Wir gelangten, Grandpré hinter uns lassend, an und über die Aisne und lagerten bei Vaux les Mourons; hier waren wir nun in der verrufenen Champagne, es sah aber so übel noch nicht aus. Über dem Wasser an der Sonnenseite erstreckten sich wohl gehaltene Weinberge, und wo man Dörfer und Scheunen visitierte, fanden sich Nahrungsmittel genug für Menschen und Tiere, nur leider der Weizen nicht ausgedroschen, noch weniger genugsame Mühlen; Öfen zum Backen waren auch selten, und so fing es wirklich an, sich einem tantalischen Zustand zu nähern. Am 18. September. Dergleichen Betrachtungen anzustellen, versammelte sich eine große Gesellschaft, die überhaupt, wo es Halt gab, sich immer mit einigem Zutrauen, besonders beim Nachmittagskaffee, zusammenfügte; sie bestand aus wunderlichen Elemente, Deutschen und Franzosen, Kriegern und Diplomaten, alles bedeutende Personen, erfahren, klug, geistreich, aufgeregt durch die Wichtigkeit des Augenblicks, Männer, sämtlich von Wert und Würde, aber doch eigentlich nicht in den innern Rat gezogen und also desto mehr bemüht, auszusinnen, was beschlossen sein, was geschehen könnte. Dumouriez, als er den Pass von Grandpré nicht länger halten konnte, hatte sich die Aisne hinaufgzeogen, und da ihm der Rücken durch die Isletten gesichert war, sich auf die Höhen von Sainte Menehould, die Fronte gegen Frankreich gestellt. Wir waren durch den engen Pass hereingedrungen, hatten uneroberte Festen: Sedan, Montmedy, Stenay, im Rücken und an der Seite, die uns jede Zufuhr nach Beleiben erschweren konnten. Wir betraten beim schlimmsten Wetter ein seltsames Land, dessen undankbarer Kalkboden nur kümmerlich ausgestreute Ortschaften ernähren konnte. Freilich lag Reims, Chalons und ihre gesegneten Umgebungen nicht fern, man konnte hoffen, sich vorwärts zu erholen; die Gesellschaft überzeugte sich daher beinahe einstimmig, dass man auf Reims marschieren und sich Chalons' bemächtigen müsse; Dumouriez könne sich in seiner vorteilhaften Stellung alsdann nicht ruhig verhalten, eine Schlacht wäre unvermeidlich, wo es auch sei: man glaubte sie schon gewonnen zu haben. Den 19. September. Manches Bedenken gab es daher, als wir den 19. beordert wurden, auf Massiges unsern Zug zu richten, die Aisne aufwärts zu verfolgen und dieses Wasser sowohl als das Waldgebirge, näher oder ferner, linker Hand zu behalten. Nun erholte man sich unterwegs von solchen nachdenklichen Betrachtungen, indem man mancherlei Zufälligkeiten und Ereignissen eine heitere Teilnahme schenkte; ein wundersames Phänomen zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Man hatte, um mehrere Kolonnen nebeneinander fort zu schieben, die eine querfeldein über flache Hügel geführt, zuletzt aber, als man wieder ins Tal sollte, einen steilen Abhang gefunden; dieser ward nun alsbald, so gut es gehen wollte, abgeböscht, doch blieb er immer noch schroff genug. Nun trat eben zu Mittag ein Sonnenblick hervor und spiegelte sich in allen Gewehren. Ich hielt auf einer Höhe und sah jenen blinkenden Waffenfluss glänzend heranziehen; überraschend aber war es, als die Kolonne an den steilen Abhang gelangte, wo sich die bisher geschlossenen Glieder sprungweise trennten und jeder einzelne, so gut er konnte, in die Tiefe zu gelangen suchte. Diese Unordnung gab völlig den Begriff eines Wasserfalls: eine Unzahl durcheinander hin- und wider blinkender Bajonette bezeichneten die lebhafteste Bewegung. Und als nun unten am Fuß sich alles wieder gleich in Reih' und Glied ordnete und so, wie sie oben angekommen, nun wieder im Tal fortzogen, ward die Vorstellung eines Flusses immer lebhafter; auch war diese Erscheinung umso angenehmer, als ihre lange Dauer fort und fort durch Sonnenblicke begünstigt wurde, deren Wert man in solchen zweifelhaften Stunden nach langer Entbehrung erst recht schätzen lernte. Nachmittags gelangten wir endlich nach Massiges, nur noch wenige Stunden vom Feind; das Lager war abgesteckt, und wir bezogen den für uns bestimmten Raum. Schon waren Pfähle geschlagen, die Pferde drangebunden, Feuer angezündet, und der Küchenwagen tat sich auf. Ganz unerwartet kam daher das Gerücht, das Lager solle nicht statthaben: denn es sei die Nachricht angekommen, das französische Heer zeihe sich von Sainte Menehould auf Chalons; der König wolle sie nicht entwischen lassen und habe daher Befehl zum Aufbruch gegeben: ich suchte an der rechten Schmiede hierüber Gewissheit und vernahm das, was ich schon gehört hatte, nur mit dem Zusatz: auf diese unsichere und unwahrscheinliche Nachricht sei der Herzog von Weimar und der General Heymann mit eben den Husaren, welche die Unruhe erregt, vorgegangen. Nach einiger Zeit kamen diese Generale zurück und versicherten, es sei nicht die geringste Bewegung zu bemerken; auch mussten jene Patrouillen gestehen, dass sie das Gemeldete mehr geschlossen als gesehen hätten. Die Anregung aber war einmal gegeben, und der Befehl lautete: die Armee solle vorrücken, jedoch ohne das mindeste Gepäck, alles Fuhrwerk solle bis Maisons Champagne zurückkehren, dort eine Wagenburg bilden und den, wie man voraussetzte, glücklichen Ausgang einer Schlacht abwarten. Nicht einen Augenblick zweifelhaft, was zu tun sei, überließ ich Wagen, Gepäck und Pferde meinem entschlossenen, sorgfältigen Bedienten und setze mich mit den Kriegsgenossen alsobald zu Pferde. Es war schon früher mehrmals zur Sprache gekommen, dass, wer sich in einen Kriegszug einlasse, durchaus bei den regulierten Truppen, welche Abteilung es auch sei, an die er sich angeschlossen, fest bleiben und keine Gefahr scheuen solle: denn was uns auch da betreffe, sei immer ehrenvoll; dahingegen bei der Bagage, beim Tross oder sonst zu verweilen, zugleich gefährlich und schmählich. Und so hatte ich auch mit den Offizieren des Regiments abgeredet, dass ich mich immer an sie und womöglich an die Leibschwadron anschließen wolle, weil ja dadurch ein so schönes und gutes Verhältnis nur immer besser befestigt werden könne. Der Weg war das kleine Wasser die Tourbe hinauf vorgezeichnet, durch das traurigste Tal von der Welt, zwischen niedrigen Hügeln, ohne Baum und Busch; es war befohlen und eingeschärft, in aller Stille zu marschieren, als wenn wir den Feind überfallen wollten, der doch in seiner Stellung das Heranrücken einer Masse von fünfzigtausend Mann wohl mochte erfahren haben. Die Nacht brach ein, weder Mond noch Sterne leuchteten am Himmel, es pfiff ein wüster Wind; die stille Bewegung einer so großen Menschenreihe in tiefer Finsternis war ein höchst Eigenes. Indem man neben der Kolonne herritt, begegnete man mehreren bekannten Offizieren, die hin und wider sprengten, um die Bewegung des Marsches bald zu beschleunigen, bald zu retardieren. Man besprach sich, man heilt still, man versammelte sich. So hatte sich ein Kreis von vielleicht zwölf Bekannten und Unbekannten zusammengefunden, man fragte, klagte, wundete sich, schalt und räsonierte: das gestörte Mittagessen konnte man dem Heerführer nicht verzeihen. Ein munterer Gast wünschte sich Bratwurst und Brot, ein anderer sprang gleich mit seinen Wünschen zum Rehbraten und Sardellensalat; da das alles aber unentgeltlich geschah, fehlte es auch nicht an Pasteten und sonstigen Leckebissen, nicht an den köstlichsten Weinen, und ein so vollkommnes Gastmahl war beisammen, dass endlich einer, dessen Appetit übermäßig rege geworden, die ganze Gesellschaft verwünschte und die Pein einer aufgeregten Einbildungskraft im Gegensatz des größten Mangels ganz unerträglich schalt. Man verlor sich auseinander, und der einzelne war nicht besser dran als alle zusammen. Den 19. September nachts. So gelangten wir bis Somme Tourbe, wo man Halt machte; der König war in einem Gasthof abgetreten, vor dessen Türe der Herzog von Braunschweig in einer Art Laube Hauptquartier und Kanzlei errichtete. Der Platz war groß, es brannten mehrere Feuer, durch große Bündel Weinpfähle gar lebhaft unterhalten. Der Fürst Feldmarschall tadelte einige Mal persönlich, dass man die Flamme allzu stark auflodern lasse; wir besprachen uns darüber, und niemand wollte glauben, dass unsere Nähe den Franzosen ein Geheimnis geblieben sei. Ich war zu spät angekommen und mochte mich in der Nähe umsehen, wie ich wollte, alles war schon, wo nicht verzehrt, doch in Besitz genommen. Indem ich so umherforschte, gaben mir die Emigrierten ein kluges Küchenschauspiel: sie saßen um einen großen, runden, flachen, abglimmenden Aschenhaufen, in den sich mancher Weinstab knisternd mochte aufgelöst haben; klüglich und schnell hatten sie sich aller Eier des Dorfes bemächtigt, und es sah wirklich appetitlich aus, wie die Eier in dem Aschenhaufen nebeneinander aufrecht standen und eins nach dem andern zu rechter Zeit schlurfbar herausgehoben wurde. Ich kannte niemand vond en edlen Küchengesellen, unbekannt mocht' ich sie nicht ansprechen; als mir aber soeben ein lieber Bekannter begegnete, der so gut wie ich an Hunger und Durst litt, fiel mir eine Kriegslist ein, nach einer Bemerkung, die ich auf meiner kurzen militärischen Laufbahn anzustellen Gelegenheit gehabt. Ich hatte nämlich bemerkt, dass man beim Furagieren um die Dörfer und in denselben tölpisch geradezu verfahre: die ersten Andringenden fielen ein, nahmen weg, verdarben, zerstörten, die folgenden fanden immer weniger, und was verloren ging, kam niemand zugute. Ich hatte schon gedacht, dass man bei dieser Gelegenheit strategisch verfahren und, wenn die Menge von vorne hereindringe, sich von der Gegenseite nach einigem Bedürfnis umsehen müsse. Dies konnte nun hier kaum der Fall sein, denn alles war überschwemmt; aber das Dorf zog sich sehr in die Länge, und zwar seitwärts der Straße, wo wir hereingekommen. Ich forderte meinen Freund auf, die lange Gasse mit hinunterzugehen. Aus dem vorletzten Haus kam ein Soldat fluchend heraus, dass schon alles aufgezehrt und nirgends nichts mehr zu haben sei. Wir sahen durch die Fenster, da saßen ein paar Jäger ganz ruhig; wir gingen hinein, um wenigstens auf einer Bank unter Dach zu sitzen, wir begrüßten sie als Kameraden und klagten freilich über den allgemeinen Mangel. Nach einigem Hin- und Widerreden verlangten sie, wir sollten ihnen Verschwiegenheit geloben, worauf wir die Hand gaben. Nun eröffneten sie uns, dass sie in dem Haus einen schönen, wohl bestellten Keller gefunden, dessen Eingang sie zwar selbst sekretiert, uns jedoch von dem Vorrat einen Anteil nicht versagen wollten. Einer zog einen Schlüssel hervor, und nach verschiedenen weggeräumten Hindernissen fand sich eine Kellertüre zu eröffnen. Hinab gestiegen faden wir nun mehrere etwa zweieimerige Fässer auf dem Lager; was uns aber mehr interessierte, verschiedene Abteilungen in Sand gelegter gefüllter Flaschen, wo der gutmütige Kamerad, der sie schon durchprobiert hatte, an die beste Sorte wies. Ich nahm zwischen die ausgespreizten Finger jeder Hand zwei Flaschen, zog sie unter den Mantel, mein Freund desgleichen, und so schritten wir, in Hoffnung baldiger Erquickung, die Straße wieder hinaufwärts. Unmittelbar am großen Wachfeuer gewahrte ich eine schwere, starke Egge, setzte mich darauf und schob unter dem Mantel meine Flaschen zwischen die Zacken herein. Nach einiger Zeit bracht' ich eine Flasche hervor, wegen der mich meine Nachbarn beriefen, denen ich sogleich den Mitgenuss anbot. Sie taten gute Züge, der letzte bescheiden, da er wohl merkte, er lasse mir nur wenig zurück; ich verbarg die Flasche neben mir und brachte bald darauf die zweite hervor, trank den Freuden zu, die sich's abermals wohl schmecken ließen, anfangs das Wunder nicht bemerkten, bei der dritten Falsche jedoch laut über den Hexenmeister aufschrieen; und es war, in dieser traurigen Lage, ein auf alle Weise willkommener Scherz. Unter den vielen Personen, deren Gestalt und Gesicht im Kreis vom Feuer erleuchtet war, erblickt' ich einen ältlichen Mann, den ich zu kennen glaubte. Nach Erkundigung und Annäherung war er nicht wenig verwundert, mich hier zu sehen. Es war Marquis von Bombelles, dem ich vor zwei Jahren in Venedig, der Herzogin Amalie folgend, aufgewartet hatte, wo er, als französischer Gesandter residierend, sich höchst angelegen sein ließ, dieser trefflichen Fürstin den dortigen Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen. Wechselseitiger Verwunderungsausruf, Freude des Wiedersehens und Erinnerung erheiterten diesen ernsten Augenblick. Zur Sprache kam seien prächtige Wohnung am großen Kanal: es war gerühmt, wie wir daselbst, in Gondeln anfahrend, ehrenvoll empfangen und freundlich bewirtet worden; wie er durch kleine Feste, gerade im Geschmack und Sinn dieser, Natur und Kunst, Heiterkeit und Anstand in Verbindung liebenden Dame, sie und die Ihrigen auf vielfache Weise erfreut, auch sie durch seinen Einfluss manches andere, für Fremde sonst verschlossene Gute genießen lassen. Wie sehr war ich aber verwundert, da ich ihn, den ich durch eine wahrhafte Lobrede zu ergötzen gedachte, mit Wehmut ausrufen hörte: "Schweigen wir von diesen Dingen! Jene Zeit liegt nur gar zu weit hinter mir, und schon damals, als ich meine edlen Gäste mit scheinbarer Heiterkeit unterhielt, nagte mir der Wurm am Herzen: ich sah die Folgen voraus dessen, was in meinem Vaterland vorging. Ich bewunderte Ihre Sorglosigkeit, in der Sie auch die Ihnen bevorstehende Gefahr nicht ahnten; ich bereitete mich im Stillen zur Veränderung meines Zustandes. Bald nachher musst' ich meinen ehrenvollen Posten und das werte Venedig verlassen und eine Irrfahrt antreten, die mich endlich auch hierher geführt hat." Das Geheimnisvolle, das man diesem offenbaren Heranzug von Zeit zu Zeit hatte geben wollen, ließ uns vermuten, man werde noch in dieser Nacht aufbrechen und vorwärts gehen; allein schon dämmerte der Tag, und mit demselben strich ein Sprühregen daher, es war schon völlig hell, als wir uns in Bewegung setzten. Da des Herzogs von Weimar Regiment den Vortrab hatte, gab man der Leibschwadron, als der vordersten der ganzen Kolonne, Husaren mit, die den Weg unserer Bestimmung kennen sollten. Nun ging es, mitunter im scharfen Trab, über Felder und Hügel ohne Busch und Baum; nur in der Entfernung links sah man die Argonner Waldgegend; der Sprühregen schlug uns heftiger ins Gesicht; bald aber erblickten wir eine Pappelallee, die, sehr schön gewachsen und wohl unterhalten, unsere Richtung quer durchschnitt. Es war die Chaussee von Chalons auf Sainte Menehould, der Weg von Paris nach Deutschland; man führte uns drüber weg und ins Graue hinein. Schon früher hatten wir den Feind vor der waldichten Gegend gelagert und aufmarschiert gesehen, nicht weniger ließ sich bemerken, dass neue Truppen ankamen: es war Kellermann, der sich soeben mit Dumouriez vereinigte, um dessen linken Flügel zu bilden. Die Unsrigen brannten vor Begierde, auf die Franzosen loszugehen, Offiziere wie Gemeine hegten den Glühenden Wunsch, der Feldherr möge in diesem Augenblick angreifen; auch unser heftiges Vordringen schien darauf hinzudeuten. Aber Kellermann hatte sich zu vorteilhaft gestellt, und nun begann die Kanonade, von der man viel erzählt, deren augenblickliche Gewaltsamkeit jedoch man nicht beschreiben, nicht einmal in der Einbildungskraft zurückrufen kann. Schon lag die Chaussee weit hinter uns, wir stürmten immerfort gegen Westen zu, als auf einmal ein Adjutant gesprengt kam, der uns zurück beordete: man hatte uns zu weit geführt, und nun erhielten wir den Befehl, wieder über die Chaussee zurückzukehren und unmittelbar an ihre linke Seite den rechten Flügel zu lehnen. Es geschah, und so machten wir Front gegen das Vorwerk La Lune, welches auf der Höhe, etwa eine Viertelstunde vor uns, an der Chaussee zu sehen war. Unser Befehlshaber kam uns entgegen; er hatte soeben eine halbe reitende Batterie hinaufgebracht, wir erhielten Order, im Schutz derselben vorwärts zu gehen, und fanden unterwegs einen alten Schirrmeister, ausgestreckt, als das erste Opfer des Tags, auf dem Acker liegen. Wir ritten ganz getrost weiter, wir sahen das Vorwerk näher, die dabei aufgestellte Batterie feuerte tüchtig. Bald aber fanden wir uns in einer seltsamen Lage: Kanonenkugeln flogen wild auf uns ein, ohne dass wir begriffen, wo sie herkommen konnten; wir avancierten ja hinter einer befreundeten Batterie, und das feindliche Geschütz auf den entgegen gesetzten Hügeln war viel zu weit entfernt, als dass es uns hätte erreichen sollen. Ich hielt seitwärts vor der Front und hatte den wunderbarsten Anblick: die Kugeln schlugen dutzendweise vor der Eskadron nieder, zum Glück nicht rikoschettierend, in den weichen Boden hineingewühlt; Kot aber und Schmutz bespritze Mann und Ross; die schwarzen Pferde, von tüchtigen Reitern möglichst zusammengehalten, schnauften und tosten, die ganze Masse war, ohne sich zu trennen oder zu verwirren, in flutender Bewegung. Ein sonderbarer Anblick erinnerte mich an andere Zeiten. In dem ersten Glied der Eskadron schwankte die Standarte in den Händen eines schönen Knaben hin und wider; er hielt sie fest, ward aber vom aufgeregten Pferd widerwärtig geschaukelt, sein anmutiges Gesicht brachte mir, seltsam genug, aber natürlich, in diesem schauerlichen Augenblick die noch anmutigere Mutter vor die Augen, und ich musste an die ihr zur Seite verbrachten friedlichen Momente gedenken. Endlich kam der Befehl, zurück- und hinab zu gehen; es geschah von den sämtlichen Kavallerie-Regimentern mit großer Ordnung und Gelassenheit, nur ein einziges Pferd von Lottum ward getötet, da wir übrigen, besonders auf dem äußersten rechten Flügel, eigentlich alle hätten umkommen müssen. Nachdem wir uns denn aus dem unbegreiflichen Feuer zurückgezogen, von Überraschung und erstaunen uns erholt hatten, löste sich das Rätsel: wir fanden die halbe Batterie, unter deren Schutz wir vorwärts zu gehen geglaubt, ganz unten in einer Vertiefung, dergleichen das Terrain zufällig in dieser Gegend gar manche bildete. Sie war von oben vertrieben worden und an der andern Seite der Chaussee in einer Schlucht heruntergegangen, so dass wir ihren Rückzug nicht bemerken konnten; feindliches Geschütz trat an die Stelle, und was uns hätte bewahren sollen, wäre beinahe verderblich geworden. Auf unseren Tadel lachten die Burschen nur und versicherten scherzend, hier unter im Schauer sei es doch besser. Wenn man aber nachher mit Augen sah, wie eine solche reitende Batterie sich durch die schreckbaren, schlammigen Hügel qualvoll durchzerren musste, so hatte man abermals den bedenklichen Zustand zu überlegen, in den wir uns eingelassen hatten. Indessen dauerte die Kanonade immer fort: Kellermann hatte einen gefährlichen Posten bei der Mühle von Valmy, dem eigentlich das Feuern galt; dort ging ein Pulverwagen in die Luft, und man freute sich des Unheils, das er unter den Feinden angerichtet haben mochte. Und so bleib alles eigentlich nur Zuschauer und Zuhörer, was im Feuer stand und nicht. Wir hielten auf der Chaussee von Cahlons an einem Wegweiser, der nach Paris deutete. Diese Hauptstadt also hatten wir im Rücken, das französische Heer aber zwischen uns und dem Vaterland. Stärkere Riegel waren vielleicht nie vorgeschoben, demjenigen höchst apprehensiv, der eine genaue Karte des Kriegstheaters nun seit vier Wochen unablässig studierte. Doch das augenblickliche Bedürfnis behauptet sein Recht selbst gegen das Nächstkünftige. Unsere Husaren hatten mehrere Brotkarren, die von Chalons nach der Armee gehen sollten, glücklich aufgefangen und brachten sie den Hochweg daher. Wie es uns nun fremd vorkommen musste, zwischen Paris und Sainte Menehould postiert zu sein, so konnten die zu Chalons des Feindes Armee keineswegs auf dem Weg zu der ihrigen vermuten. Gegen einiges Trinkgeld ließen die Husaren von dem Brot etwas ab, es war das schönste weiße: der Franzos erschrickt vor jeder schwarzen Krume. Ich teilte mehr als einen Laib unter die zunächst Angehörigen, mit der Bedingung, mir für die folgenden Tage einen Anteil daran zu verwahren. Auch noch zu einer andern Vorsicht fand ich Gelegenheit: ein Jäger aus dem Gefolge hatte gleichfalls diesen Husaren eine tüchtige wollene Decke abgehandelt; ich bot ihm die Übereinkunft an, mir sie auf drei Nächte, jede Nacht für acht Groschen, zu überlassen, wogegen er sie am Tage verwahren sollte. Er hielt dieses Bedingnis für sehr vorteilhaft: die Decke hatte ihm einen Gulden gekostet, und nach kurzer Zeit erhielt er sie mit Profit ja wieder. Ich aber konnte auch zufrieden sein: mein köstlichen wollenen Hüllen von Longwy waren mit der Bagage zurückgeblieben, und nun hatte ich doch bei allem Mangel von Dach und Fach außer meinem Mantel noch einen zweiten Schutz gewonnen. Alles dieses ging unter anhaltender Begleitung des Kanonendonners vor. Von jeder Seite wurden an diesem Tag zehntausend Schüsse verwendet, wobei auf unserer Seite nur zweihundert Mann und auch diese ganz unnütz fielen. Von der ungeheuren Erschütterung klärte sich der Himmel auf: denn man schoss mit Kanonen, völlig als wär' es Pelotonfeuer, zwar ungleich, bald abnehmend, bald zunehmend. Nachmittags ein Uhr, nach einiger Pause, war es am gewaltsamsten, die Erde bebte im ganz eigentlichsten Sinn, und doch sah man in den Stellungen nicht die mindeste Veränderung. Niemand wusste, was daraus werden sollte. Ich hatte so viel vom Kanonenfieber gehört und wünschte zu wissen, wie es eigentlich damit beschaffen sei. Langeweile und ein Geist, den jede Gefahr zur Kühnheit, ja zur Verwegenheit aufruft, verleitete mich, ganz gelassen nach dem Vorwerk La Lune hinauf zu reiten. Dieses war wieder von den Unsrigen besetzt, gewährte jedoch einen gar wilden Anblick: die zerschossenen Dächer, die herum gestreuten Weizenbündel, die darauf hie und da ausgestreckten tödlich Verwundeten, und dazwischen noch manchmal eine Kanonenkugel, die, sich herüber verirrend, in den Überresten der Ziegeldächer klapperte. Ganz allein, mir selbst gelassen, ritt ich links auf den Höhen weg und konnte deutlich die glückliche Stellung der Franzosen überschauen; sie standen amphitheatralisch in größter Ruh' und Sicherheit, Kellermann jedoch auf dem linken Flügel eher zu erreichen. Mir begegnete gute Gesellschaft: es waren bekannte Offiziere vom Generalstab und vom Regiment, höchst verwundert, mich hier zu finden. Sie wollten mich wieder mit sich zurücknehmen, ich sprach ihnen aber von besonderen Absichten, und sie überließen mich ohne weiteres meinem bekannten, wunderlichen Eigensinn. Ich war nun vollkommen in die Region gelangt, wo die Kugeln herüber spielten; der Ton ist wundersam genug, als wär' er zusammengesetzt aus dem Brummend es Kreisels, dem Butteln des Wassers und dem Pfeifen eines Vogels. Sie waren weniger gefährlich wegen des feuchten Erdbodens: wo eine hinschlug, blieb sie stecken, und so ward mein törichter Versuchsritt wenigstens vor der Gefahr des Rikoschettierens gesichert. Unter diesen Umständen konnt' ich jedoch bald bemerken, dass etwas Ungewöhnliches in mir vorgehe; ich achtete genau darauf, und doch würde sich die Empfindung nur gleichnisweise mitteilen lassen. Es schien, als wäre man an einem sehr heißen Ort und zugleich von derselben Hitze völlig durchdrungen, so dass man sich mit demselben Element, in welchem man sich befindet, vollkommen glich fühlt. Die Augen verlieren nichts an ihrer Stärke noch Deutlichkeit; aber es ist doch, als wenn die Welt einen gewissen braunrötlichen Ton hätte, der den Zustand so wie die Gegenstände noch apprehensiver macht. Von Bewegung des Blutes habe ich nichts bemerken können, sondern mir schien vielmehr alles in jener Glut verschlungen zu sein. Hieraus erhellt nun, in welchem Sinn man diesen Zustand ein Fieber nennen könne. Bemerkenswert bleibt es indessen, dass jenes grässlich Bängliche nur durch die Ohren zu uns gebracht wird; denn der Kanonendonner, das Heulen, Pfeifen, Schmettern der Kugeln durch die Luft ist doch eigentlich Ursache an diesen Empfindungen. Als ich zurück geritten und völlig in Sicherheit war, fand ich bemerkenswert, dass alle jene Glut sogleich erloschen und nicht das Mindeste von einer fieberhaften Bewegung übrig geblieben sei. Es gehört übrigens dieser Zustand unter die am wenigsten wünschenswerten; wie ich denn auch unter meinen leiben und edlen Kriegskameraden kaum einen gefunden habe, der einen eigentlich leidenschaftlichen Trieb hiernach geäußert hätte. So war der Tag hingegangen; unbeweglich standen die Franzosen, Kellermann hatte auch einen bequemern Platz genommen; unsere Leute zog man aus dem Feuer zurück, und es war eben, als wenn nichts gewesen wäre. Die größte Bestürzung verbreitete sich über die Armee. Noch am Morgen hatte man nicht anders gedacht, als die sämtlichen Franzosen anzuspießen und aufzuspeisen, ja mich selbst hatte das unbedingte Vertrauen auf ein solches Heer, auf den Herzog von Braunschweig zur Teilnahme an dieser gefährlichen Expedition gelockt; nun aber ging jeder vor sich hin, man sah sich nicht an, oder wenn es geschah, so war es, um zu flucehn oder zu verwünschen. Wir hatten, eben als es Nacht werden wollte, zufällig einen Kreis geschlossen, in dessen Mitte nicht einmal wie gewöhnlich ein Feuer konnte angezündet werden; die meisten schwiegen, einige sprachen, und es fehlte doch eigentlich einem jeden Besinnung und Urteil. Endlich rief man mich auf, was ich dazu denke? Denn ich hatte die Schar gewöhnlich mit kurzen Sprüchen erheitert und erquickt; diesmal sagte ich: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." In diesem Augenblick, wo niemand nichts zu essen hatte, reklamierte ich einen Bissen Bort von dem heute früh erworbenen; auch war von dem gestern reichlich verspendeten Wein noch der Inhalt eines Branntweinfläschchens übrig geblieben, und ich musste daher auf die gestern am Feuer so kühn gespielte Rolle des willkommenen Wundertäters völlig Verzicht tun. Die Kanonade hatte kaum aufgehört, als Regen und Sturm schon wieder eindrangen und einen zustand unter freiem Himmel, auf zähem Lehmboden höchst unerfreulich machten. Und doch kam, nach so langem Wachen, Gemüts- und Leibesbewegung, der Schlaf sich anmeldend, als die Nacht hereindüsterte. Wir hatten uns hinter einer Erhöhung, die den schneidenden Wind abhielt, notdürftig gelagert, als es jemanden einfiel, man solle sich für dies Nacht in die Erde graben und mit dem Mantel zudecken. Hierzu machte man gleich Anstalt, und es wurden mehrere Gräber ausgehauen, wozu die reitende Artillerie Gerätschaften hergab. Der Herzog von Weimar selbst verschmähte nicht eine solche voreilige Bestattung. Hier verlangt' ich nun gegen Erlegung von acht Groschen die bewusste Decke, wickelte mich darein und breitete den Mantel noch oben drüber, ohne von dessen Feuchtigkeit viel zu empfinden. Ulyß kann unter seinem auf ähnliche Weise erworbenen Mantel nicht mit mehr Behaglichkeit und Selbstgenügen geruht haben. Alle diese Bereitungen warn wider den Willen des Obersten geschehen, welcher uns bemerken machte, dass auf einem Hügel gegenüber hinter einem Busch die Franzosen eine Batterie stehen hatten, mit der sie uns im Ernst begraben und nach Belieben vernichten konnten. Allein wir mochten den windstillen Ort und unsere weislich ersonnene Bequemlichkeit nicht aufgeben, und es war dies nicht das letzte Mal, wo ich bemerkte, dass man, um der Unbequemlichkeit auszuweichen, die Gefahr nicht scheue. Den 21. September waren die wechselseitigen Grüße der Erwachenden keineswegs heiter und froh, denn man ward sich in einer beschämenden, hoffnungslosen Lage gewahr. Am Rand eines ungeheuren Amphitheaters fanden wir uns aufgestellt, wo jenseits auf Höhen, deren Fuß durch Flüsse, Teiche, Bäche, Moräste gesichert war, der Feind einen kaum übersehbaren Halbzirkel bildete. Diesseits standen wir, völlig wie gestern, um zehntausend Kanonenkugeln leichter, aber ebenso wenig situiert zum Angriff; man blickte in eine weit ausgebreitete Arena hinunter, wo sich zwischen Dorfhütten und Gräten die beiderseitigen Husaren herumtrieben und mit Spiegelgefecht bald vor-, bald rückwärts, eine Stunde nach der andern, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu fesseln wussten. Aber aus all dem Hin- und Hersprengen, dem Hin- und Widerpuffen ergab sich zuletzt kein Resultat, als dass einer der Unsrigen, der sich zu kühn zwischen die Hecken gewagt hatte, umzingelt und, da er sich keineswegs ergeben wollte, erschossen wurde. Dies war das einzige Opfer der Waffen an diesem Tag; aber die eingerissene Krankheit machte den unbequemen, drückenden, hilflosen Zustand trauriger und fürchterlicher. So schlaglustig und fertig man gestern auch gewesen, gestand man doch, dass ein Waffenstillstand wünschenswert sei, da selbst der Mutigste, Leidenschaftlichste nach weniger Überlegung sagen musste: ein Angriff würde das verwegenste Unternehmen von der Welt sein. Noch schwankten die Meinungen den Tag über, wo man ehrenthalben dieselbe Stellung behauptete, wie beim Augenblick der Kanonade; gegen Abend jedoch veränderte man sie einigermaßen, zuletzt war das Hauptquartier nach Hans gelegt und die Bagage herbeigekommen. Nun hatten wir zu vernehmen die Angst, die Gefahr, den nahen Untergang unserer Dienerschaft und Habseligkeiten. Das Waldgebirg' Argonne von Sainte Menehould bis Grandpré war von Franzosen besetzt; von dort aus führten ihre Husaren den kühnsten, mutwilligsten, kleinen Krieg. Wir hatten gestern vernommen, dass ein Sekretär des Herzogs von Braunschweig und einige andere Personen der fürstlichen Umgebung zwischen der Armee und der Wagenburg waren gefangen worden. Diese verdiente aber keineswegs den Namen einer Burg, denn sie war schlecht aufgestellt, nicht geschlossen, nicht genugsam eskortiert. Nun beängstete sie ein blinder Lärm nach dem andern und zugleich die Kanonade in geringer Entfernung. Späterhin trug man sich mit der Fabel oder Wahrheit, die französischen Truppen seien schon den Gebirgswald herab auf dem Weg gewesen, sich der sämtlichen Equipage zu bemächtigen; da gab sich denn der von ihnen gefangene und wieder losgelassene Läufer des General Kalckreuth ein großes Ansehen, indem er versicherte, er habe durch glückliche Lügen von starker Bedeckung, von reitenden Batterien und dergleichen einen feindlichen Anfall abgewendet. Wohl möglich! Wer hat nicht in solchen bedeutenden Augenblicken zu tun oder getan? Nun waren die Zelte da, Wagen und Pferde; aber Nahrung für kein Lebendiges. Mitten im Regen ermangelten wir sogar des Wassers, und einige Teiche waren schon durch eingesunkene Pferde verunreinigt: das alles zusammen bildete den schrecklichsten Zustand. Ich wusste nicht, was es heißen sollte, al sich meinen treuen Zögling, Diener und Gefährten Paul Götze von dem Leder des Reisewagens das zusammengeflossene Regenwasser sehr emsig schöpfen sah; er bekannte, dass es zur Schokolade bestimmt sei, davon er glücklicherweise einen Vorrat mitgebracht hatte; ja was mehr ist, ich habe aus den Fußstapfen der Pferde schöpfen sehen, um einen unerträglichen Durst zu stillen. Man kaufte das Brot von alten Soldaten, die, an Entbehrung gewöhnt, etwas zusammensparten, um sich am Branntwein zu erquicken, wenn derselbe wieder zu haben wäre. Am 22. September hörte man, die Generale Manstein und Heymann seien nach Dampiere in das Hauptquartier von Kellermann, wo sich auch Dumouriez einfinden sollte. Es war von Auswechseln der Gefangnen, von Versorgung der Kranken und Blessierten zum Schein die Rede; im Ganzen hoffte man aber mitten im Unglück eine Umkehr der Dinge zu bewirken. Seit dem 10. August war der König von Frankreich gefangen, grenzenlose Mordtaten waren im September geschehen. Man wusste, dass Dumouriez für den König und die Konstitution gesinnt gewesen; er musste also seines eignen Heils, seiner Sicherheit willen die gegenwärtigen Zustände bekämpfen, und eine große Begebenheit wäre es geworden, wenn er sich mit den Alliierten alliiert und so auf Paris losgegangen wäre. Seit der Ankunft der Equipage fand sich die Umgebung des Herzogs von Weimar um vieles gebessert, denn man musste dem Kämmerier, dem Koch und andern Hausbeamten das Zeugnis geben, dass sie niemals ohne Vorrat gewesen und selbst in dem größten Mangel immer für etwas warme Speise gesorgt. Hierdurch erquickt, ritt ich umher, mich mit der Gegend nur einigermaßen bekannt zu machen, ganz ohne Furcht: diese flachen Hügel hatten keinen Charakter, kein Gegenstand zeichnete sich vor andern aus. Mich doch zu orientieren, forscht' ich nach der langen und hoch aufgewachsenen Pappelallee, die gestern so auffallend gewesen war, und da ich sie nicht entdecken konnte, glaubt' ich mich weit verirrt, allein bei näherer Aufmerksamkeit fand ich, dass sie niedergehauen, weggeschleppt und wohl schon verbrannt sei. An den Stellen, wo die Kanonade hingewirkt, erblickte man großen Jammer: die Menschen lagen unbegraben, und die schwer verwundeten Tiere konnten nicht ersterben. Ich sah ein Pferd, das sich in seinen eigenen, aus dem verwundeten Leibe heraus gefallenen Eingeweiden mit den Vorderfüßen verfangen hatte und so unselig dahinhinkte. Im Nachhausereiten traf ich den Prinzen Louis Ferdinand im freien Feld auf einem hölzernen Stuhl sitzen, den man aus einem untern Dorf heraufgeschafft; zugleich schleppten einige seiner Leute einen schweren, verschlossenen Küchenschrank herbei: sie versicherten, es klappere darin, sie hofften, einen guten Fang getan zu haben. Man erbrach ihn begierig, fand aber nur ein stark beleibtes Kochbuch, und nun, indessen der gespaltene Schrank im Feuer aufloderte, las man die köstlichsten Küchenrezepte vor, und so ward abermals Hunger und Begierde durch eine aufgeregte Einbildungskraft bis zur Verzweiflung gesteigert. Den 24. September. Erheitert einigermaßen wurde das schlimmste Wetter von der Welt durch die Nachricht, dass ein Stillstand geschlossen sei und dass man also wenigstens die Aussicht habe, mit einiger Gemütsruhe leiden und darben zu können; aber auch dieses gedieh nur zum halben Trost, da man bald vernahm, es sei eigentlich nur eine Übereinkunft, dass die Vorposten Friede halten sollten, wobei nicht unbenommen bleibe, die Kriegsoperationen außer dieser Berührung nach Gutdünken fortzusetzen. Dieses war ihre Stellung verändern und uns besser einschließen konnten, wir aber in der Mitte mussten still halten und in unserem stockenden Zustand verweilen. Die Vorposten aber ergriffen diese Erlaubnis mit Vergnügen. Zuerst kamen sie überein, dass, welchem von beiden Teilen Wind und Wetter ins Gesicht schlage, der solle das Recht haben, sich umzukehren und, in seinen Mantel gewickelt, von dem Gegenteil nichts befürchten. Es kam weiter: die Franzosen hatten immer noch etwas Weniges zur Nahrung, indes den Deutschen alles abging; jene teilten daher einiges mit, und man ward immer kameradlicher. Endlich wurden sogar mit Freundlichkeit von französischer Seite Druckblätter ausgeteilt, wodurch den guten Deutschen das Heil der Freiheit und Gleichheit in zwei Sprachen verkündet war; die Franzosen ahmten das Manifest des Herzogs von Braunschweig in umgekehrtem Sinn nach, entboten guten Willen und Gastfreundschaft, und ob sich schon bei ihnen mehr Volk, als sie von oben herein regieren konnten, auf die Beine gemacht hatte, so geschah dieser Aufruf, wenigstens in diesem Augenblick, mehr, um den Gegenteil zu schwächen als sich selbst zu stärken. Zum 24. September. Als Leidensgenossen bedauerte ich auch in dieser Zeit zwei hübsche Knaben von vierzehn bis fünfzehn Jahren. Sie hatten, als Requirierte, mit vier schwachen Pferden meine leichte Chaise bis hierher kaum durchgeschleppt und litten stille, mehr für ihre Tiere als für sich; doch war ihnen so wenig als uns allen zu helfen. Da sie um meinetwillen jedes Unheil ausstanden, fühlte ich mich zu irgendeiner Pietät gedrungen und wollte jenes erhandelte Kommissbrot redlich mit ihnen teilen; allein sie lehnten es ab und versicherten, dergleichen könnten sie nicht essen, und als ich fragte, "was sie denn gewöhnlich genössen?" versetzten sie: "Du bon pain, de la bonne soupe, de la bonne viande, de la bonne bière." Da nun bei ihnen alles gut und bei uns alles schlimm war, verzieh ich ihnen gern, dass sie mit Zurücklassung ihrer Pferde sich bald darauf davonmachten. Sie hatten übrigens manches Unheil ausgestanden, ich glaube aber, dass eigentlich das dargebotene Kommissbrot sie zu dem letzten entscheidenden Schritt, als ein furchtbares Gespenst, bewogen habe. Weiß und schwarz Brot ist eigentlich das Schibboleth, das Feldgeschrei zwischen Deutschen und Franzosen. Eine Bemerkung darf ich hier nicht unberührt lassen: wir kamen freilich zur ungünstigsten Jahrszeit in ein von der Natur nicht gesegnetes Land, das aber denn doch seine wenigen, arbeitsamen, ordnungsliebenden, genügsamen Einwohner allenfalls ernährt. Reichere und vornehmere Gegenden mögen eine solche freilich geringschätzig behandeln; ich aber habe keineswegs Ungeziefer und Bettelherbergen dort angetroffen. Von Mauerwerk gebaut, mit Ziegeln gedeckt sind die Häuser, und überall hinreichende Tätigkeit. Auch ist die eigentlich schlimme Landstrecke höchstens vier bis sechs Stunden breit und hat, sowohl an dem Argonner Waldgebirge her als gegen Reims und Chalons zu, schon wieder günstigere Gelegenheit. Kinder, die man in dem ersten besten Dorfe aufgegriffen hatte, sprachen mit Zufriedenheit von ihrer Nahrung, und ich durfte mich nur des Kellers zu Somme Tourbe und des weißen Brotes, das uns ganz frisch von Chalons her in die Hände gefallen war, erinnern, so schien es doch, als ob in Friedenszeiten hier nicht gerade Hunger und Ungeziefer zu Hause sein müsse. Den 25. September. Dass während des Stillstandes die Franzosen von ihrer Seite tätig sein würden, konnte man vermuten und erfahren. Sie suchten die verlorne Kommunikation mit Chalons wieder herzustellen und die Emigrierten in unserm Rücken zu verdrängen oder vielmehr an uns heranzudrängen; doch augenblicklich ward für uns das Schädlichste, dass sie, sowohl vom Argonner Waldgebirge als von Sedan und Montmedy her, uns die Zufuhr erschweren, wo nicht völlig vernichten konnten. Den 26. September. Da man mich als auf mancherlei aufmerksam kannte, so brachte man alles, was irgend sonderbar scheinen mochte, herbei; unter andern legte man mir eine Kanonenkugel vor, ungefähr vierpfündig zu achten, doch war das Wunderliche daran, sie auf ihrer ganzen Oberfläche in kristallisierten Pyramiden endigen zu sehen. Kugeln waren jenes Tags genug verschossen worden, dass sich eine gar wohl hierüber konnte verloren haben. Ich erdachte mir allerlei Hypothesen, wie das Metall beim Guss oder nachher sich zu dieser Gestalt bestimmt hätte; durch einen Zufall ward ich hierüber aufgeklärt. Nach einer kurzen Abwesenheit wieder in mein Zelt zurückkehrend, fragte ich nach der Kugel; sie wollte sich nicht finden. Als ich darauf bestand, beichtete man: sie sei, nachdem man allerlei an ihr probiert, zersprungen. Ich forderte die Stücke und fand zu meiner großen Verwunderung eine Kristallisation, die, von der Mitte ausgehend, sich strahlig gegen die Oberfläche erweitete. Es war Schwefelkies, der sich in einer freien Lage ringsum musste gebildet haben. Diese Entdeckung führte weiter, dergleichen Schwefelkiese fanden sich mehr, obschon kleiner, in Kugel- und Nierenform, auch in andern weniger regelmäßigen Gestalten, durchaus aber darin gleich, dass sie nirgends angesessen hatten und dass ihre Kristallisation sich immer auf eine gewisse Mitte bezog; auch waren sie nicht abgerundet, sondern völlig frisch und deutlich kristallinisch abgeschlossen. Sollten sie sich wohl in dem Boden selbst erzeugt haben, und findet man dergleichen mehr auf Ackerfeldern? Aber ich nicht allein war auf die Mineralien der Gegend aufmerksam; die schöne Kreide, die sich überall vorfand, schien durchaus von einigem Wert. Es ist wahr, der Soldat durfte nur ein Kochloch aufhauen, so traf er auf die klarste weiße Kreide, die er zu seinem blanken und glatten Putz sonst so nötig hatte. Da ging wirklich ein Armeebefehl aus: der Soldat solle sich mit dieser hier umsonst zu habenden notwendigen Ware soviel als möglich versehen. Dies gab nun freilich zu einigem Spott Gelegenheit: mitten in den furchtbarsten Kot versenkt, sollte man sich mit Reinlichkeits- und Putzmitteln beladen; wo man nach Brot seufzte, sich mit Staub zufrieden stellen. Auch stutzten die Offiziere nicht wenig, als sie im Hauptquartier übel angelassen wurden, weil sie nicht so reinlich, so zierlich wie auf der Parade zu Berlin oder Potsdam erschienen. Die Oberen konnten nicht helfen; so sollten sie, meinte man, auch nicht schelten. Den 27. September. Eine etwas wunderliche Vorsichtsmaßregel, dem dringenden Hunger zu begegnen, ward gleichfalls bei der Armee publiziert: man solle die vorhandenen Gerstengarben so gut als möglich ausklopfen, die gewonnenen Körner in heißem Wasser so lange sieden, bis sie aufplatzen, und durch diese Speise die Befriedigung des Hungers versuchen. Unserer nächsten Umgebung war jedoch eine bessere Beihilfe zugedacht. Man sah in der Ferne zwei Wagen festgefahren, denen man, weil sie Proviant und andere Bedürfnisse geladen hatten, gern zu Hilfe kam. Stallmeister von Seebach schickte sogleich Pferde dorthin; man brachte sie los, führte sie aber auch sogleich des Herzogs Regiment zu; sie protestierten dagegen, als zur österreichischen Armee bestimmt, wohin auch wirklich ihre Pässe lauteten. Allein man hatte sich einmal ihrer angenommen; um den Zudrang zu verhüten und sie zugleich festzuhalten, gab man ihnen Wache, und da sie auch von uns bezahlt erhielten, was sie forderten, so mussten sie auch bei uns ihre eigentliche Bestimmung finden. Eilig drängten sich zu allererst die Haushofmeister, Köche und ihre Gehilfen herbei, nahmen von der Butter in Fässchen, von Schinken und andern guten Dingen Besitz. Der Zulauf vermehrte sich, die größere Menge schrie nach Tabak, der denn auch um teuren Preis häufig ausgegeben wurde. Die Wagen aber waren so umringt, dass sich zuletzt niemand mehr nähern konnte; deswegen mich unsere Leute und Reiter anriefen und auf das dringendste baten, ihnen zu diesem notwendigsten aller Bedürfnisse zu verhelfen. Ich ließ mir durch Soldaten Platz machen und erstieg sogleich, um mich nicht im Gedränge zu verwirren, den nächsten Wagen; dort bepackte ich mich für gutes Geld mit Tabak, was nur meine Taschen fassen wollten, und ward, als ich wieder herab und spendend ins Freie gelangte, für den größten Wohltäter gepriesen, der sich jemals der leidenden Menschheit erbarmt hatte. Auch Branntwein war angelangt; man versah sich damit und bezahlte die Bouteille gern mit einem Laubtaler. Den 27. September. Sowohl im Hauptquartiere selbst, wohin man zuweilen gelanget, als bei allen denen, die von dort herkamen, erkundigte man sich nach der Lage der Dinge: sie konnte nicht bedenklicher sein. Von dem Unheil, das in Paris vorgegangen, verlautete immer mehr und mehr, und was man anfangs für Fabeln gehalten, erschien zuletzt als Wahrheit überschwänglich furchtbar. König und Familie waren gefangen, die Absetzung dessen schon zur Sprache gekommen; der Hass des Königtums überhaupt gewann immer mehr Breite, ja schon konnte man erwarten, dass gegen den unglücklichen Monarchen ein Prozess würde eingeleitet werden. Unsere unmittelbaren kriegerischen Gegner hatten sich eine Kommunikation mit Chalons wieder eröffnet, dort befand sich Luckner, der die von Paris anströmenden Freiwilligen zu Kriegshaufen bilden sollte; aber diese, in den grässlichen ersten Septembertagen, durch die reißend fließenden Blutströme, aus der Hauptstadt ausgewandert, brachten Lust zum Morden und Rauben mehr als zu reinem rechtlichen Kriege mit. Nach dem Beispiel des Pariser Gräuelvolks ersahen sie sich willkürliche Schlachtopfer, um ihnen, wie sich's fände, Autorität, Besitz oder wohl gar das Leben zu rauben. Man durfte sie nur undiszipliniert loslassen, so machten sie uns den Garaus. Die Emigrierten waren an uns herangedrückt worden, und man erzählte noch von gar manchem Unheil, das im Rücken und von der Seite bedrohte. In der Gegend von Reims sollten sich zwanzigtausend Bauern zusammengerottet haben, mit Feldgerät und wild ergriffenen Naturwaffen versehen; die Sorge war gorß, auch diese möchten auf uns losbrechen. Von solchen Dingen ward am Abend in der Herzogs Zelt, in Gegenwart von bedeutenden Kriegsobristen, gesprochen; jeder brachte seine Nachricht, seine Vermutung, seine Sorge als Beitrag in diesen ratlosen rat, denn es schien durchaus nur ein Wunder uns retten zu können. Ich aber dachte in diesem Augenblick, dass wir gewöhnlich in misslichen Zuständen uns gern mit hohen Personen vergleichen, besonders mit solchen, denen es noch schlimmer gegangen; da fühlt' ich mich getrieben, wo nicht zur Erheiterung doch zur Ableitung, aus der Geschichte Ludwigs des Heiligen die drangvollsten Begebenheiten zu erzählen. Der König, auf seinem Kreuzzuge, will zuerst den Sultan von Ägypten demütigen, denn von diesem hängt gegenwärtig das gelobte Land ab. Damiette fällt ohne Belagerung den Christen in die Hände. Angefeuert von seinem Bruder Graf Artois, unternimmt der König einen Zug das rechte Nilufer hinauf, nach Babylon-Kairo. Es glückt, einen graben auszufüllen, der Wasser vom Nil empfängt. Die Armee zeiht hinüber. Aber nun findet sie sich geklemmt zwischen dem Nil, dessen Haupt- und Nebenkanälen; dagegen die Sarazenen auf beiden Ufern des Flusses glücklich postiert sind. Über die größeren Wasserleitungen zu setzen wird schwierig. Man baut Blockhäuser gegen die Blockhäuser der Feinde; diese aber haben den Vorteil des griechischen Feuers. Sie beschädigen damit die hölzernen Bollwerke, Bauten und Menschen. Was hilft den Christen ihre entschiedene Schlachtordnung, immerfort von den Sarazenen gereizt, geneckt, angegriffen, teilweise in Scharmützel verwickelt. Einzelne Wagnisse, Faustkämpfe sind bedeutend, Herz erhebend, aber die Helden, der König selbst wird abgeschnitten. Zwar brechen die Tapfersten durch, aber die Verwirrung wächst. Der Graf von Artois ist in Gefahr; zu dessen Rettung wagt der König alles. Der Bruder ist schon tot, das Unheil steigt aufs Äußerste. An diesem heißen Tag kommt alles darauf an, eine Brücke über ein Seitenwasser zu verteidigen, um die Sarazenen vom Rücken des Hauptgefechtes abzuhalten. Den wenigen da postierten Kriegsleuten wird auf alle Weise zugesetzt, mit Geschütz von den Soldaten, mit Steinen und Kot durch Trossbuben. Mitten in diesem Unheil spricht der Graf von Soissons zum Ritter Joinville scherzend: "Seneschall, lasst das Hundepack bellen und blöken; bei Gottesthron!" -- so pflegte er zu schwören -- "von diesem Tag sprechen wir noch im Zimmer vor den Damen." Man lächelte, nahm das Omen gut auf, besprach sich über mögliche Fälle, besonders hob man die Ursachen hervor, warum die Franzosen uns eher schonen als verderben müssten: der lange ungetrübte Stillstand, das bisherige zurückhaltende Betragen gaben einige Hoffnung. Diese zu beleben, wagte ich noch einen historischen Vortrag und erinnerte mit Vorzeigung der Spezialkarten, dass zwei Meilen von uns nach Westen das berüchtigte Teufelsfeld gelegen sei, bis wohin Attila, König der Hunnen, mit seinen ungeheuren Heerhaufen im Jahr 452 gelangt, dort aber von den burgundischen Fürsten unter Beistand des römischen Feldherrn Aëtius geschlagen worden; dass, hätten sie ihren Sieg verfolgt, er in Person und mit allen seinen Leuten umgekommen und vertilgt worden wäre. Der römische General aber, der die Burgunder Fürsten nicht von aller Furcht vor diesem gewaltigen Feind zu befreien gedachte, weil er sie alsdann sogleich gegen die Römer gewendet gesehen hätte, beredete einen nach dem andern, nach Hause zu ziehen; und so entkam denn auch der Hunnenkönig mit den Überresten eines unzählbaren Volkes. In eben dem Augenblick ward die Nachricht gebracht, der erwartete Brottransport von Grandpré sei angekommen; auch dies belebte doppelt und dreifach die Geister: man schied getrösteter voneinander, und ich konnte dem Herzog bis gegen Morgen in einem unterhaltenden französischen Buch vorlesen, das auf die wunderlichste Weise in meine Hände gekommen. Bei den verwegenen, frevelhaften Scherzen, welche mitten in dem bedrängtesten Zustand noch Lachen erregten, erinnerte ich mich der leichtfertigen Jäger von Verdun, welche Schelmlieder singend in den Tod gingen. Freilich, wenn man dessen Bitterkeit vertreiben will, muss man es mit den Mitteln so genau nicht nehmen. Den 28. September. Das Brot war angekommen, nicht ohne Mühseligkeit und Verlust; auf den schlimmsten Wegen von Grandpré, wo die Bäckerei lag, bis zu uns heran waren mehrere Wagen stecken geblieben, andere dem Feind in die Hände gefallen und selbst ein Teil des Transports ungenießbar: denn im wässerigen, zu schnell gebackenen Brot trennte sich Krume von Rinde, und in den Zwischenräumen erzeugte sich Schimmel. Abermals in Angst vor Gift, brachte man mir dergleichen Laibe, diesmal in ihren inneren Hohlungen hochpomeranzenfarbig anzusehen, auf Arsenik und Schwefel hindeutend, wie jenes vor Verdun auf Grünspan. War es aber auch nicht vergiftet, so erregte doch der Anblick Abscheu und Ekel; getäuschte Befriedigung schärfte den Hunger: Krankheit, Elend, Missmut lagen schwer auf einer so großen Masse guter Menschen. In solchen Bedrängnissen wurden wir noch gar durch eine unglaubliche Nachricht überrascht und betrübt; es hieß, der Herzog von Braunschweig habe sein früheres Manifest an Dumouriez geschickt, welcher, darüber ganz verwundert und entrüstet, sogleich den Stillstand aufgekündigt und den Anfang der Feinseligkeiten befohlen habe. So groß das Unheil war, in welchem wir staken, und noch größeres bevorsahen, konnten wir doch nicht unterlassen, zu scherzen und zu spotten; wir sagten, da sehe man, was für Unheil die Autorschaft nach sich ziehe! Jeder Dichter und sonstige Schriftsteller trage gern seine Arbeiten einem jeden vor, ohne dass er frage, ob es die rechte Zeit und Stunde sei; nun ergehe es dem Herzog von Braunschweig ebenso, der, die Freuden der Autorschaft genießend, sein unglückliches Manifest ganz zur unrechten zeit wieder produzierte. Wir erwarteten nun, die Vorposten abermals puffen zu hören, man schaute sich nach allen Hügeln um, ob nicht irgendein Feind erscheinen möchte; aber es war alles so still und ruhig, als wäre nichts vorgegangen. Indessen lebte man in der peinlichsten Ungewissheit und Unsicherheit, denn jeder sah wohl ein, dass wir strategisch verloren waren, wenn es dem Feind im Mindesten einfallen solle, uns zu beunruhigen und zu drängen. Doch deutete schon manches in dieser Ungewissheit auf Übereinkunft und mildere Gesinnung; so hatte man zum Beispiel den Postmeister von Sainte Menehould gegen die am 20. zwischen der Wagenburg und Armee weggefangenen Personen der königlichen Suite frei und ledig gegeben. Den 29. September. Gegen Abend setzte sich, der erteilten Order gemäß, die Equipage in Bewegung; unter Geleit Regiments Herzog von Braunschweig sollte sie vorangehen, um Mitternacht die Armee folgen. Alles regte sich, aber missmutig und langsam; denn selbst der beste Wille gleitete auf dem durchweichten Boden und versank, eh' er sich's versah. Auch diese Stunden gingen vorüber: Zeit und Stunde rennt durch den rausten Tag! Es war Nacht geworden, und auch diese sollte man schlaflos zubringen; der Himmel war nicht ungünstig, der Vollmond leuchtete, aber hatte nichts zu beleuchten. Zelte waren verschwunden, Gepäck, Wagen und Pferde alles hinweg, und unsere kleine Gesellschaft besonders in einer seltsamen Lage. An dem bestimmten Ort, wo wir uns befanden, sollten die Pferde uns Aufsuchen; sie waren ausgeblieben. So weit wir bei falbem Licht umher sahen, schien alles öd' und leer; wir horchten vergebens: weder Gestalt noch Ton war zu vernehmen. Unsere Zweifel wogten hin und her; wir wollten den bezeichneten Platz lieber nicht verlassen als die Unsrigen in gleiche Verlegenheit setzen und sie gänzlich verfehlen. Doch war es grauerlich, in Feindesland, nach solchen Ereignissen, vereinzelt, aufgegeben, wo nicht zu sein, doch für den Augenblick zu scheinen. Wir passten auf, ob nicht vielleicht eine feindliche Demonstration vorkomme, aber es rührte und regte sich weder Günstiges noch Ungünstiges. Wir trugen nach und nach alles hinterlassene Zeltstroh in der Umgegend zusammen und verbrannten es, nicht ohne Sorgen. Gelockt durch die Flamme, zog sich eine alte Marketenderin zu uns heran: sie mochte sich beim Rückweg in den fernen Orten nicht ohne Tätigkeit verspätet haben, denn sie trug ziemliche Bündel unter den Armen. Nach Gruß und Erwärmung hob sie zuvörderst Friedrich den Großen in den Himmel und pries den Siebenjährigen Krieg, dem sie als Kind wollte beigewohnt haben, schalt grimmig auf die gegenwärtigen Fürsten und Heerführer, die so große Mannschaft in ein Land brächten, wo die Marketenderin ihr Handwerk nicht treiben könne, worauf es denn doch eigentlich abgesehen sei. Man konnte sich an ihrer Art, die Sachen zu betrachten, gar wohl erlustigen und sich für einen Augenblick zerstreuen, doch waren uns endlich die Pferde höchst willkommen; da wir denn auch mit dem Regiment Weimar den ahnungsvollen Rückzug antraten. Vorsichtsmaßregeln, bedeutende Befehle ließen fürchten, dass die Feinde unserm Abmarsch nicht gelassen zusehen würden. Mit Bangigkeit hatte man noch am Tag das sämtliche Fuhrwerk, am bänglichsten aber die Artillerie, in den durchweichten Boden einschneidend, sich stockend bewegen sehen; was mochte nun zu Nacht alles vorfallen? Mit Bedauern sah man gestürzte, geborstene Bagagewagen im Bachwasser liegen, mit Bejammern ließ man zurückbleibende Kranke hilflos. Wo man sich auch umsah, einigermaßen vertraut mit der Gegend, gestand man, hier sie gar keine Rettung, sobald es dem Feind, den wir links, rechts und im Rücken wussten, belieben möchte, uns anzugreifen; da dies aber in den ersten Stunden nicht geschah, so stellte sich das hoffnungsbedürftige Gemüt schnell wieder her, und der Menschengeist, der allem, was geschieht, Verstand und Vernunft unterlegen möchte, sagte sich getrost, die Verhandlungen zwischen den Hauptquartieren Hans und Sainte Menehould seien glücklich und zu unseren Gunsten abgeschlossen worden. Von Stunde zu Stunde vermehrte sich der Glaube; und als ich Halt machen, die sämtlichen Wagen über dem Dorf St. Jean ordnungsgemäß auffahren sah, war ich schon völlig gewiss, wir würden nach Hause gelangen und in guter Gesellschaft (_devant les Dames_) von unseren ausgestandenen Qualen sprechen und erzählen dürfen. Auch diesmal teilt' ich Freunden und Bekannten meine Überzeugung mit, und wir ertrugen die gegenwärtige Not schon mit Heiterkeit. Kein Lager ward bezogen, aber die Unsrigen schlugen ein großes Zelt auf, inwendig und auswendig umher die reichsten, herrlichsten Weizengarben zur Schlafstätte gebreitet. Der Mond schien hell durch die beruhigte Luft, nur ein sanfter Zug leichter Wolken war bemerklich, die ganze Umgebung sichtbar und deutlich, fast wie am Tage. Beschienen waren die schlafenden Menschen, die Pferde, vom Futterbedürfnis wach gehalten, darunter viele weiße, die das Licht kräftig wiedergaben; weiße Wagenbedeckungen, selbst die zur Nachtruhe gewidmeten weißen Garben, alles verbreitete Helle und Heiterkeit über diese bedeutende Szene. Fürwahr, der größte Maler hätte sich glücklich geschätzt, einem solchen Bild gewachsen zu sein. Erst spät legt' ich mich ins Zelt und hoffte des tiefsten Schlafes zu genießen; aber die Natur hat manches Unbequeme zwischen ihre schönsten Gaben ausgestreut, und so gehört zu den ungeselligsten Unarten des Menschen, dass er schlafend, eben wenn er selbst am tiefsten ruht, den gesellen durch unbändiges Schnarchen wach zu halten pflegt. Kopf an Kopf, ich innerhalb, er außerhalb des Zeltes, lag ich mit einem Mann, der mir durch ein grässlich Stöhnen die so nötige Ruhe unwiederbringlich verkümmerte. Ich löste den Strang vom Zeltpflock, um meinen Widersacher kennen zu lernen: es war ein braver, tüchtiger Mann von der Dienerschaft, erlag, vom Mond beschienen, in so tiefem Schlaf, als wenn er Endymion selbst gewesen wäre. Die Unmöglichkeit, in solcher Nachbarschaft Ruhe zu erlangen, regte den schalkischen Geist in mir auf; ich nahm eine Weizenähre und ließ die schwankende Last über Stirn und Nase des Schlafenden schweben. In seiner tiefen Ruhe gestört, fuhr er mit der Hand mehrmals übers Gesicht, und sobald er wieder in Schlaf versank, wiederholt' ich mein Spiel, ohne dass er hätte begreifen mögen, woher in dieser Jahreszeit eine Bremse kommen könne. Endlich bracht' ich es dahin, dass er, völlig ermuntert, aufzustehen beschloss. Indessen war auch mir alle Schlaflust vergangen: ich trat vor das Zelt und bewunderte in dem wenig veränderten Bild die unendliche Ruhe am Rande der größten, immer noch denkbaren Gefahr; und wie in solchen Augenblicken Angst und Hoffnung, Kümmernis und Beruhigung wechselweise auf- und abgaukeln, so erschrak ich wieder, bedenkend, dass, wenn der Feind uns in diesem Augenblick überfallen wollte, weder eine Radspeiche noch ein Menschengebein davonkommen würde. Der anbrechende Tag wirkte sodann wieder zerstreuend, denn da zeigte sich manches Wunderliche. Zwei alte Marketenderinnen hatten mehrere seidene Weiberröcke buntscheckig um Hüfte und Brust übereinander gebunden, den obersten aber um den Hals und oben darüber noch ein Halbmäntelchen. In diesem Ornat stolzierten sie gar komisch einher und behaupteten, durch Kauf und tausch sich diese Maskerade gewonnen zu haben. Den 30. September. So früh sich auch mit Tagesanbruch das sämtliche Fuhrwerk in Bewegung setzte, so legten wir doch nur einen kurzen Weg zurück; denn schon um neun Uhr hielten wir zwischen Laval und Wargemoulin. Menschen und Tiere suchten sich zu erquicken, kein Lager ward aufgeschlagen. Nun kam auch die Armee heran und postierte sich auf einer Anhöhe; durchaus herrschte die größte Stille und Ordnung. Zwar konnte man an verschiedenen Vorsichtsmaßregeln gar wohl bemerken, dass noch nicht alle Gefahr überstanden sei: man rekognoszierte, man unterhielt sich heimlich mit unbekannten Personen, man rüstete sich zum abermaligen Aufbruch. Den 1. Oktober. Der Herzog von Weimar führte die Avantgarde und deckte zugleich den Rückzug der Bagage. Ordnung und Stille herrschten diese Nacht, und man beruhigte sich in dieser Ruhe, als um zwölf Uhr aufzubrechen befohlen ward. Nun ging aber aus allem hervor, dass dieser Marsch nicht ganz sicher sei wegen Streifpartien, welche vom Argonner Wald herunter zu befürchten waren. Denn wäre auch mit Dumouriez und den höchsten Gewalten Übereinkunft getroffen gewesen, welches nicht einmal als ganz gewiss angenommen werden konnte, so gerhorchte doch damals nicht leicht jemand dem andern, und die Mannschaft im Waldgebirge durfte sich nur für selbständig erklären, einen Versuch machen zu unserm Verderben, welches niemand damals hätte missbilligen dürfen. Auch der heutige Marsch ging nicht weit; es war die Absicht, Equipage und Armee zusammen sollten auch gleichen Schritt mit den Österreichern und Emigrierten halten, die, uns zur linken Seite parallel, gleichfalls auf dem Rückzug begriffen waren. Gegen acht Uhr heilten wir schon, bald nachdem wir Rouvroy hinter uns gelassen hatten; einige Zelte wurden aufgeschlagen, der Tag war schön und die Ruhe nicht gestört. Und so will ich denn hier auch noch anführen, dass ich in diesem Elend das neckische Gelübde getan: man solle, wenn ich uns erlöst und mich wieder zu Hause sähe, von mir niemals wieder einen Klagelaut vernehmen über den meine freiere Zimmeraussicht beschränkenden Nachbargiebel, den ich vielmehr jetzt recht sehnlich zu erblicken wünsche; ferner wollt' ich mich über Missbehagen und Langeweile im deutschen Theater nie wieder beklagen, wo man doch immer Gott danken könne, unter Dach zu sein, was auch auf der Bühne vorgehe. Und so gelobt' ich noch ein Drittes, das mir aber entfallen ist. Es war noch immer genug, dass jeder für sich selbst in dem Grad sorget und Ross und Wagen, Mann und Pferd nach ihren Abteilungen regelmäßig zusammenblieben, und so auch wir, sobald still gehalten oder ein Lager aufgeschlagen ward, immer wieder gedeckte Tafeln und Bänke und Stühle fanden. Doch wollte uns bedünken, dass wir gar zu schmal abgefunden würden, ob wir uns gleich bei dem bekannten allgemeinen Mangel bescheiden darein ergaben. Indessen schenkte mir das Glück Gelegenheit, einem bessern Gastmahl beizuwohnen. Es war zeitig Nacht geworden, jedermann hatte sich sogleich auf die zubereitete Streue gelegt; auch ich war eingeschlafen, doch weckte mich ein lebhafter, angenehmer Traum: denn mir schien, als röch' ich, als genöss' ich die besten Bissen, und als ich darüber aufwachte, mich aufrichtete, war mein Zelt voll des herrlichsten Geruchs gebratenen und versengten Schweinefettes, der mich sehr lüstern machte. Unmittelbar an der Natur musste es uns verziehen sein, den Schweinehirten für göttlich und Schweinebraten für unschätzbar zu halten. Ich stand auf und erblickte in ziemlicher Ferne ein Feuer, glücklicherweise oder dem Wind: von da her kam mir die Fülle des guten Dunstes. Unbedenklich ging ich dem schein nach und fand die sämtliche Dienerschaft um ein großes, blad zu Kohlen verbranntes Feuer beschäftigt, den Rücken des Schweins schon beinahe gar, das übrige zerstückt, zum Einpacken bereit, einen jeden aber tätig und handreichend, um die Würste bald zu vollenden. Unfern des Feuers lagen ein paar große Baumstämme; nach Begrüßung der Gesellschaft setzt' ich mich darauf, und ohne ein Wort zu sagen, sah ich einer solchen Tätigkeit mit Vergnügen zu. Teils wollten mir die guten Leute wohl, teils konnten sie den unerwarteten Gast schicklicherweise nicht ausschließen, und wirklich, da es zum Austeilen kam, reichten sie mir ein kostbares Stück, auch war Brot zu haben und ein Schluck Branntwein dazu: es fehlte eben an keinem Guten. Nicht weniger ward mir ein tüchtiges Stück Wurst gereicht, als wir uns noch bei Nacht und Nebel zu Pferde setzten; ich steckte es in meine Pistolenhalfter, und so war mir die Begünstigung des Nachtwindes gut zustatten gekommen. Den 2. Oktober. Wenn man sich auch mit einigem Essen und Trinken gestärkt und den Geist durch sittliche Trostgründe beschwichtigt hatte, so wechselten doch immer Hoffnung und Sorge, Verdruss und Scham in der schwankenden Seele: man freute sich, noch am Leben zu sein; unter solchen Bedingungen zu leben verwünschte man. Nachts um zwei Uhr brachen wir auf, zogen mit Vorsicht an einem Wald vorbei, kamen bei Vaux über die Stelle unseres vor kurzem verlassenen Lagers und bald an die Aisne. Hier fanden wir zwei Brücken geschlagen, die uns aufs rechte Ufer hinüberleiteten. Da verweilten wir nun zwischen beiden, die wir zugleich übersehen konnten, auf einem Sand- Und Weidenwerder, das lebhafteste Küchenfeuer sogleich besorgend. Die zartesten Linsen, die ich jemals genossen, lange, rote, schmackhafte Kartoffeln waren bald bereitet. Als aber zuletzt jene von den österreichischen Fuhrleuten aufgebrachten, bisher streng verheimlichten Schinken gar geworden, konnte man sich genugsam wieder herstellen. Die Equipage war schon herüber; aber bald eröffnete sich ein so prächtiger als trauriger Anblick. Die Armee zog über die Brücken, Fußvolk und Artillerie, die Reiterei durch einen Furt, alle Gesichter düster, jeder Mund verschlossen, eine grässliche Empfindung mitteilend. Kamen Regimenter heran, unter denen man Bekannte, Befreundete wusste, so eilte man hin, man umarmte, man besprach sich, aber unter welchen Fragen, welchem Jammer, welcher Beschämung, nicht ohne Tränen! Indessen freuten wir uns, so marketenderhaft eingerichtet zu sein, um Hohe wie Niedere erquicken zu können. Erst war die Trommel eines allda postierten Piketts die Tafel, dann holte man aus benachbarten Orten Stühle, Tische und machte sich's und den verschiedenartigsten Gästen so bequem als möglich. Der Kronprinz und Prinz Louis ließen sich die Linsen schmecken, mancher General, der von weitem Rauch sah, zog sich darnach. Freilich, wie auch unser Vorrat sein mochte, was solle das unter so viele? Man musste zum zweiten und dritten Mal ansetzen, und unsere Reserve verminderte sich. Wie nun unser Fürst gern alles mitteilte, so hielten's auch seine Leute, und es wäre schwer, einzeln zu erzählen, wie viel der unglücklichen vorbeiziehenden Kranken durch Kämmerier und Koch erquickt wurden. So ging es nun den ganzen Tag, und so ward mir der Rückzug nicht etwa nur durch Beispiel und Gleichnis, nein, in seiner völligen Wirklichkeit dargestellt und der Schmerz durch jede neue Uniform erneuert und vervielfältigt. Ein so grauenvolles Schauspiel sollte denn auch seiner würdig schließen: der König und sein Generalstab ritt von weiten her, hielt an der Brücke eine Zeitlang still, als wenn er sich's noch einmal übersehen und überdenken wollte, zog dann aber am Ende den Weg aller der Seinen. Eben so erschien der Herzog von Braunschweig an der andern Brücke, zauderte und ritt herüber. Die Nacht brach ein, windig aber trocken, und ward auf dem traurigen Weidenkreis meist schlaflos zugebracht. Den 3. Oktober. Morgens um sechs Uhr verließen wir diesen Platz, zogen über eine Anhöhe nach Grandpré zu und trafen daselbst die Armee gelagert. Dort gab es neues Übel und neue Sorgen: das Schloss war zum Krankenhaus umgebildet und schon mit mehreren hundert Unglücklichen belegt, denen man nicht helfen, sie nicht erquicken konnte. Man zog mit Scheu vorüber und musste sie der Menschlichkeit des Feindes überlassen. Hier überfiel uns abermals ein grimmiger Regen und lähmte jede Bewegung. Den 4. Oktober. Die Schwierigkeit, vom Platz zu kommen, wuchs mehr und mehr; um den unfahrbaren Hauptwegen zu entgehen, suchte man sich Bahn über Feld. Der Acker, von rötlicher Farbe, noch zäher als der bisherige Kreideboden, hinderte jede Bewegung. Die vier kleinen Pferde konnten meine Halbchaise kaum erziehen, ich dachte sie wenigstens um das Gewicht meiner Person zu erleichtern. Die Reitpferde waren nicht zu erblicken; der große Küchenwagen, mit sechs tüchtigen bespannt, kam an mir vorbei. Ich bestieg ihn, von Viktualien war er nicht ganz leer, die Küchenmagd aber stak sehr verdrießlich in der Ecke. Ich überließ mich meinen Studien. Den dritten Band von Fischers physikalischem Lexikon hatte ich aus dem Koffer genommen; in solchen Fällen ist ein Wörterbuch die willkommenste Begleitung, wo jeden Augenblick eine Unterbrechung vorfällt, und dann gewährt er wieder die beste Zerstreuung, indem es uns von einem zum andern führt. Man hatte sich auf den zähen, hie und da quelligen roten Tonfeldern notgedrungen unvorsichtig eingelassen; in einer solchen Falge musste zuletzt auch dem tüchtigen Küchengespann die Kraft ausgehen. Ich schien mir in meinem Wagen wie eine Parodie von Pharao im Roten Meer, denn auch um mich her wollten Reiter und Fußvolk in gleicher Farbe gleicher Weise versinken. Sehnsüchtig schaut' ich nach allen umgebenden Hügelhöhen: da erblickt' ich endlich die Reitpferde, darunter den mir bestimmten Schimmel; ich winkte sie mit Heftigkeit herbei, und nachdem ich meine Physik der armen, krankverdrießlichen Küchenmagd übergeben und ihrer Sorgfalt empfohlen, schwang ich mich aufs Pferd, mit dem festen Vorsatz, mich sobald nicht wider auf eine Fahrt einzulassen. Hier ging es nun freilich selbständiger, aber nicht besser noch schneller. Grandpré, das nun als ein Ort der Pest und des Todes geschildert war, ließen wir gern hinter uns. Mehrere befreundete Kriegsgenossen trafen zusammen und traten im Kreis, hinter sich am Zügel die Pferde haltend, um ein Feuer. Sie sagen, dies sei das einzige Mal gewesen, wo ich ein verdrießlich Gesicht gemacht und sie wieder durch Ernst gestärkt, noch durch Scherz erheitert habe. Den 4. Oktober. Der Weg, den das Heer eingeschlagen hatte, führte gegen Buzancy, weil man oberhalb Dun über die Maas gehen wollte. Wir schlugen unser Lager unmittelbar bei Sivry, in dessen Umgegend wir noch nicht alles verzehrt fanden. Der Soldat stürzte in die ersten Gräten und verdarb, was andere hätten genießen können. Ich ermunterte unsern Koch und seine Leute zu einer strategischen Furagierung: wir zogen ums ganze Dorf und fanden noch völlig unangetastete Gräten und eine reiche, unbestrittene Ernte. Hier war von Kohl und Zwiebeln, von Wurzeln und andern guten Vegetabilien die Fülle; wir nahmen deshalb nicht mehr, als wir brauchten, mit Bescheidenheit und Schonung. Der Garten war nicht groß, aber sauber gehalten, und ehe wir zu dem Zaun wieder hinaus krochen, stellt' ich Betrachtungen an, wie es zugehe, dass in einem Hausgarten doch auch keine Spur von einer Türe ins anstoßende Gebäude zu entdecken sei. Als wir, mit Küchenbeute wohl beschwert, wieder zurückkamen, hörten wir großen Lärm vor dem Regiment. Einem Reiter war sein vor zwanzig Tagen etwa in dieser Gegend requiriertes Pferd davon gelaufen, es hatte den Pfahl, an dem es gebunden gewesen, mit fortgenommen; der Kavallerist wurde sehr übel angesehen, bedroht und befehligt, das Pferd wiederzuschaffen. Da es beschlossen war, den 5. in der Gegend zu rasten, so wurden wir in Sivry einquartiert und fanden nach so viel Unbilden die Häuslichkeit gar erfreulich und konnten den französisch-ländlichen, idyllisch-homerischen Zustand zu unserer Unterhaltung und Zerstreuung abermals genauer bemerken. Man trat nicht unmittelbar von der Straße in das Haus, sondern fand sich erst in einem kleinen, offenen, viereckigen Raum, wie die Türe selbst das Quadrat angab; von da gelangte man durch die eigentliche Haustüre in ein geräumiges, hohes, dem Familienleben bestimmtes Zimmer; es war mit Ziegelsteinen gepflastert, links, an der langen Wand, ein Feuerherd, unmittelbar an Mauer und Erde; die Esse, die den Rauch abzog, schwebte darüber. Nach Begrüßung der Wirtsleute zog man sich gern dahin, wo man eine entschieden bleibende Rangordnung für die Umsitzenden gewahrte. Rechts am Feuer stand ein hohes Klappkästchen, das auch zum Stuhl diente; es enthielt das Salz, welches, in Vorrat angeschafft, an einem trocknen Platz verwahrt werden musste. Hier war der Ehrensitz, der sogleich dem vornehmsten Fremden angewiesen wurde; auf mehrere hölzerne Stühle setzten sich die übrigen Ankömmlinge mit den Hausgenossen. Die landsittliche Kochvorrichtung, _pot au feu_, konnt' ich hier zum ersten Mal genau betrachten. Ein großer eiserner Kessel hing an einem Haken, den man durch Verzahnungen erhöhen und erniedrigen konnte, über dem Feuer; darin befand sich schon ein gutes Stück Rindfleisch mit Wasser und Salz, zugleich aber auch mit weißen und gelben Rüben, Porree, Kraut und andern vegetabilischen Ingredienzien. Indessen wir uns freundlich mit den guten Menschen besprochen, bemerkt' ich erst, wie architektonisch klug Anrichte, Gossenstein, Topf- und Tellerbretter angebracht seien. Diese nahmen sämtlich den länglichen raum ein, den jenes Viereck des offenen Vorhauses inwendig zur Seite ließ. Nett und alles der Ordnung gemäß war das Gerät zusammengestellt; eine Magd oder Schwester des Hauses besorgte alles aufs zierlichste. Die Hausfrau saß am Feuer, ein Knabe stand an ihren Knien, zwei Töchterchen drängten sich an sie heran. Der Tisch war gedeckt, ein großer irdener Napf aufgestellt, schönes weißes Brot in Scheibchen hinein geschnitten, die heiße Brühe drüber gegossen und guter Appetit empfohlen. Hier hätten jene Knaben, die mein Kommissbrot verschmähten, mich auf das Muster von bon pain und bonne soupe verweisen können. Hierauf folgte das zu gleicher Zeit gar gewordene Zugemüse, sowie das Fleisch, und jedermann hätte sich an dieser einfachen Kochkunst begnügen können. Wir fragten teilnehmend nach ihren Zuständen: sie hatten schon das vorige Mal, als wir solange bei Landres gestanden, sehr viel gelitten und fürchteten, kaum hergestellt, von einer feindlichen zurückziehenden Armee nunmehr den völligen Untergang. Wir bezeigten uns teilnehmend und freundlich, trösteten sie, dass es nicht lange dauern werde, da wir, außer der Arrieregarde, die letzten seien, und gaben ihnen Rat und Regel, wie sie sich gegen Nachzügler zu verhalten hätten. Bei immer wechselnden Sturm und Regengüssen brachten wir den Tag meist unter Dach und am Feuer zu, das Vergangene in Gedanken zurückrufend, das Nächstbevorstehende nicht ohne Sorge bedenkend. Seit Grandpré hatte ich weder Wagen noch Koffer noch Bedienten wieder gesehen, Hoffnung und Sorge wechselten deshalb augenblicklich ab. Die Nacht war herangekommen, die Kinder sollten zu Bett gehen; sie näherten sich Vater und Mutter ehrfurchtsvoll, verneigten sich, küssten ihnen die Hand und sagten: "Bon soir, Papa! Bon soir, Maman!" mit wünschenswerter Anmut. Bald darauf erfuhren wir, dass der Prinz von Braunschweig in unserer Nachbarschaft gefährlich krank liege, und erkundigten uns nach ihm. Besuch lehnte man ab und versicherte zugleich, dass es mit ihm viel besser geworden, so dass er morgen früh unverzüglich aufzubrechen gedenke. Kaum hatten wir uns vor dem schrecklichen Regen wieder ans Kamin geflüchtet, als ein junger Mann herein trat, den wir als den jüngeren Bruder unseres Wirts wegen entschiedener Ähnlichkeit erkennen mussten; und so erklärte sich's auch. In die Tracht des französischen Landvolks gekleidet, einen starken Stab in der Hand, trat er auf, ein schöner junger Mann. Sehr ernst, ja verdrießlich wild saß er bei uns am Feuer, ohne zu sprechen; doch hatte er sich kaum erwärmt, als er mit seinem Bruder auf und ab, sodann in das nächste Zimmer trat. Sie sprachen sehr lebhaft und vertraulich zusammen. Er ging in den grimmigen Regen hinaus, ohne dass ihn unsere Wirtsleute zu halten suchten. Aber auch wir wurden durch ein Angst- und Zetergeschrei in die stürmische Nacht hinaus gerufen. Unsere Soldaten hatten unter dem Vorwand, Furage auf den Böden zu suchen, zu plündern angefangen, und zwar ganz ungeschickter Weise, indem sie einem Weber sein Werkzeug wegnahmen, eigentlich für sie ganz unbrauchbar. Mit Ernst und einigen guten Worten brachten wir die Sache wieder ins gleiche: Denn es waren nur wenige, die sich solcher Tat unterfingen. Wie leicht konnte das ansteckend werden und alles drunter und rüber gehen! Da sich mehrere Personen zusammengefunden hatten, so trat ein weimarscher Husar zu mir, seines Handwerks ein Fleischer, und vertraute, dass er in einem benachbarten Haus ein gemästetes Schwein entdeckt habe: er feilsche darum, könne es aber von dem Besitzer nicht erhalten; wir möchten mit Ernst dazu tun, denn es würde in den nächsten Tagen an allem fehlen. Es war wunderbar genug, dass wir, die soeben der Plünderung Einhalt getan, zu einem ähnlichen Unternehmen aufgefordert werden sollten. Indessen, da der Hunger kein Gesetz anerkennt, gingen wir mit dem Husar in das bezeichnete Haus, fanden gleichfalls ein großes Kaminfeuer, begrüßten die Leute und setzten uns zu ihnen. Es hatte sich noch ein anderer weimarscher Husar, namens Liseur, zu uns gefunden, dessen Gewandtheit wir die Sache vertrauten. Er begann in geläufigem Französisch von den Tugenden regulierter Truppen zu sprechen und rühmte die Personen, welche nur für bares Geld die notwendigsten Viktualien anzuschaffen verlangen; dahingegen schalt er die Nachzügler, Packknechte und Marketender, die mit Ungestüm und Gewalt auch die letzte Klaue sich zuzueignen gewohnt seien. Er wolle daher einem jeden den wohlmeinenden Rat geben, auf den Verkauf zu sinnen, weil Geld noch immer leichter zu verbergen sei als Tiere, die man wohl auswittere. Seine Argumente jedoch schienen keinen großen Eindruck zu machen, als seine Unterhandlung seltsam genug unterbrochen wurde. An der fest verschlossenen Haustüre entstand auf einmal ein heftiges Pochen: man achtete nicht darauf, weil man keine Lust hatte, noch mehr Gäste einzulassen; es pochte fort, die kläglichste Stimme rief dazwischen, eine Weiberstimme, die auf gut Deutsch flehentlich um Eröffnung der Türe bat. Endlich erweicht, schloss man auf: es drang eine alte Marketenderin herein, etwas in ein Tuch gewickelt auf dem Arm tragend; hinter ihr eine junge Person, nicht hässlich, aber blass und entkräftet, sie heilt sich kaum auf den Füßen. Mit wenigen, aber rüstigen Worten erklärte die Alte den Zustand, indem sie ein nacktes Kind vorwies, von dem jene Frau auf der Flucht entbunden worden. Dadurch versäumt, waren sie, misshandelt von Bauern, in dieser Nacht endlich an unsere Pforte gekommen. Die Mutter hatte, weil ihr die Milch verschwunden, dem Kind, seitdem es Atem holte, noch keine Nahrung reichen können. Jetzt forderte die Alte mit Ungestüm Mehl, Milch, Tiegel, auch Leinwand, das Kind hineinzuwickeln. Da sie kein Französisch konnte, mussten wir in ihrem Namen fordern, aber ihr herrisches Wesen, ihre Heftigkeit gab unseren Reden genug pantomimisches Gewicht und Nachdruck: man konnte das Verlangte nicht geschwind genug herbeischaffen, und das Herbeigeschaffte war ihr nicht gut genug. Dagegen war auch sehenswert, wie behänd sie verfuhr. Uns hatte sie blad vom Feuer verdrängt; der beste Sitz war sogleich für die Wöchnerin eingenommen, sie aber machte sich auf ihrem Schemel so breit, als wenn sie im Haus allein wäre. In einem Nu war das Kind gereinigt und gewickelt, der Brei gekocht; sie fütterte das kleine Geschöpf, dann die Mutter, an sich selbst dachte sie kaum. Nun verlangte sie frische Kleider für die Wöchnerin, indes die alten trockneten. Wir betrachteten sie mit Verwunderung: sie verstand sich aufs Requirieren. Der Regen ließ nach, wir suchten unser voriges Quartier, und kurz darauf brachten die Husaren das Schwein. Wir zahlten ein Billiges; nun sollte es geschlachtet werden; es geschah, und als im Nebenzimmer am Tragebalken ein Kloben eingeschraubt zu sehen war, hing das Schwein sogleich dort, um kunstmäßig zerstückt und bereitet zu werden. Dass unsere Hausleute bei dieser Gelegenheit sich nicht verdrießlich, vielmehr behilflich und zutätig erwiesen, schien uns einigermaßen wunderbar, da sie wohl Ursache gehabt hätten, unser Betragen roh und rücksichtslos zu finden. In demselbigen Zimmer, wo wir die Operation vornahmen, lagen die Kinder in reinlichen Betten, und aufgeweckt durch unser Getöse, schauten sie artig furchtsam unter den Decken hervor. Nahe an einem großen zweischläfrigen Ehebett, mit grünem Rasch sorgfältig umschlossen, hing das Schwein, so dass die Vorhänge einen malerischen Hintergrund zu dem erleuchteten Körper machten. Es war ein Nachtstück ohnegleichen. Aber solchen Betrachtungen konnten sich die Einwohner nicht hingeben; wir merkten vielmehr, dass sie jenem Haus, dem man das Schwein abgewonnen, nicht sonderlich befreundet seien und also eine gewisse Schadenfreude hierbei obwalte. Früher hatten wir auch gutmütig einiges von Fleisch und Wurst versprochen; das alles kam der Funktion zu statten, die in wenig Stunden vollendet sein sollte. Unser Husar aber bewies sich in seinem Fach so tätig und behänd, wie die Zigeunerin drüben in dem ihrigen, und wir freuten uns schon auf die guten Würste und Braten, die uns von dieser Halbbeute zuteil werden sollten. In Erwartung dessen legten wir uns in der Schmiedewerkstatt unseres Wirtes auf die schönsten Weizengarben und schliefen geruhig bis an den Tag. Indessen hatte unser Husar sein Geschäft im Innern des Hauses vollendet, ein Frühstück fand sich bereit, und das übrige war schon eingepackt, nachdem vorher den Wirtsleuten gleichfalls ihr Teil gespendet worden, nicht ohne Verdruss unserer Leute, welche behaupteten: bei diesem Volk sei Gutmütigkeit übel angewendet, sie hätten gewiss noch Fleisch und andere gute Dinge verborgen, die wir auszuwittern noch nicht recht gelernt hätten. Als ich mich in dem innern Zimmer umsah, fand ich zuletzt eine Türe verriegelt, die ihrer Stellung nach in einen Garten gehen musste. Durch ein kleines Fenster an der Seite konnt' ich bemerken, dass ich nicht irre geschlossen hatte: der Garten lag etwas höher als das Haus, und ich erkannt' ihn ganz deutlich für denselben, wo wir uns früh mit Küchenwaren versehen hatten. Die Türe war verrammelt und von außen so geschickt verschüttet und bedeckt, dass ich nun wohl begriff, warum ich sie heute früh vergebens gesucht hatte. Und so stand es in den Sternen geschrieben, dass wir, ungeachtet aller Vorsicht, doch in das Haus gelangen sollten. Den 6. Oktober früh. Bei solchen Umgebungen darf man sich nicht einen Augenblick Ruhe, nicht das kürzeste Verharren irgendeines Zustandes erwarten. Mit Tagesanbruch war der ganze Ort auf einmal in großer Bewegung: die Geschichte des entflohenen Pferdes kam wieder zur Sprache. Der geängstigte Reiter, der es herbeischaffen oder Strafe leiden und zu Fuß gehen sollte, war auf den nächsten Dörfern herumgerannt, wo man ihm denn, um die Plackerei selbst loszuwerden, zuletzt versicherte, es müsse in Sivry stecken; dort habe man vor so viel Wochen einen Rappen ausgehoben, wie er ihn beschreibe; unmittelbar vor Sivry habe nun das Pferd sich losgemacht, und was sonst noch die Wahrscheinlichkeit vermehren mochte. Nun kam er, begleitet von einem ernsten Unteroffizier, der, durch Bedrohung des ganzen Ortes, endlich die Auflösung des Rätsels fand. Das Pferd war wirklich hinein nach Sivry zu seinem vorigen Herrn gelaufen; die Freude, den vermissten Haus- und Stallgenossen wieder zu sehen, sagen sie, sei in der Familie grenzenlos gewesen, allgemein die Teilnahme der Nachbarn. Künstlich genug hatte man das Pferd auf einen Oberboden gebracht und hinter Heu versteckt; jedermann bewahrte das Geheimnis. Nun aber ward es, unter Klagen und Jammern wieder hervorgezogen, und Betrübnis ergriff die ganze Gemeinde, als der Reiter sich darauf schwang und dem Wachtmeister folgte. Niemand gedachte weder eigener Lasten noch des Keineswegs aufgeklärten allgemeinen Geschickes: das Pferd und der zum zweiten Mal getäuschte Besitzer waren der Gegenstand der zusammengelaufenen Menge. Eine augenblickliche Hoffnung tat sich hervor: der Kronprinz von Preußen kam geritten, und indem er sich erkundigen wollte, was die Menge zusammengebracht, wendeten sich die guten Leute an ihn mit Flehen, er möge ihnen das Pferd wieder zurückgeben. Es stand nicht in seiner Macht, denn die Kriegsläufe sind mächtiger als die Könige; er ließ sie trostlos, indem er sich stillschweigend entfernte. Nun besprachen wir wiederholt mit unsern guten Hausleuten das Manöver gegen die Nachzügler; denn schon spukte das Geschmeiß hin und wieder. Wir rieten: Mann und Frau, Magd und Geselle sollten in der Türe innerhalb des kleinen Vorraums sich halten und allenfalls ein Stück Brot, einen Schluck Wein, wenn es gefordert würde, auswendig reichen, den eindringenden Ungestüm aber standhaft abwehren. Mit Gewalt erstürmten dergleichen Leute nicht leicht ein Haus; einmal eingelassen aber werde man ihrer nicht wieder Herr. Die guten Menschen baten uns, noch länger zu bleiben, allein wir hatten an uns selber zu denken: das Regiment des Herzogs war schon vorwärts und der Kronprinz abgeritten; dies war genug, unsern Abschied zu bestimmen. Wie klüglich dies gewesen, wurde uns noch deutlicher, als wir, bei der Kolonne angelangt, zu hören hatten, dass der Vortrab der französischen Prinzen gestern, als er eben den Pass Le Chêne Populeux und die Aisne hinter sich gelassen, zwischen les Grandes und les Petites Armoises von Bauern angegriffen worden; einem Offizier solle das Pferd unterm Leib getötet, dem Bedienten des Kommandierenden eine Kugel durch den Hut gegangen sein. Nun fiel mir's aufs Herz, dass in vergangner Nacht als der bärbeißige Schwager ins Haus trat, ich einer solchen Ahnung mich nicht erwehren konnte. Zum 6. Oktober. Aus der gefährlichen Klemme waren wir nun heraus, unser Rückzug jedoch noch immer beschwerlich und bedenklich, der Transport unseres Haushaltes von Tag zu Tage lästiger; denn freilich führten wir ein komplettes Mobiliar mit uns: außer dem Küchengerät noch Tisch und Bänke, Kisten, Kasten und Stühle, ja ein paar Blechöfen. Wie sollte man die mehreren Wagen fortbringen, da der Pferde täglich weniger wurden! Einige fielen, die überbliebenen zeigten sich kraftlos. Es blieb nichts übrig, als einen wagen stehen zu lassen, um die andern fortzubringen. Nun ward geratschlagt, was wohl das Entbehrlichste sei, und so musste man einen mit allerlei Gerät wohl bepackten Wagen im Stich lassen, um nicht alles zu entbehren. Diese Operation wiederholte sich einige Mal, unser Zug ward um vieles kompendioser, und doch wurden wir aufs neue an eine solche Reduktion gemahnt, da wir uns an den niedrigen Ufern der Maas mit größter Unbequemlichkeit fortschleppten. Was mich aber in diesen Stunden am meisten drückte und besorgt machte, war, dass ich meinen Wagen schon einige Tage vermisste. Nun konnt' ich mir's nicht anders denken, als mein sonst so resoluter Diener sei in Verlegenheit geraten, habe seine Pferde verloren, und andere zu requirieren nicht vermocht. Da sah ich denn in trauriger Einbildungskraft meine werte böhmische Halbchaise, ein Geschenk meines Fürsten, die mich schon so weit in der Welt herumgetragen, im Kot versunken, vielleicht auch über Bord geworfen, und somit, wie ich da zu Pferde saß, trug ich nun alles bei mir. Der Koffer mit Kleidungsstücken, Manuskripten jeder Art und manches durch Gewohnheit sonst noch werte Besitztum, alles schien mir verloren und schon in die Welt zerstreut. Was war aus der Brieftasche mit Geld und bedeutenden Papieren geworden? Aus sonstigen Kleinigkeiten, die man an sich herumsteckt? Hatte ich das alles nun recht umständlich und peinlich durchgedacht, so stellte sich der Geist aus dem unerträglichen Zustand bald wieder her. Das Vertrauen auf meinen Diener fing wieder an, zu wachsen, und wie ich vorher umständlich den Verlust gedacht, so dacht' ich nunmehr alles durch seine Tätigkeit erhalten und freute mich dessen, als läg' es mir schon vor Augen. Den 7. Oktober. Als wir eben auf dem linken Ufer der Maas aufwärts zogen, um an die Stelle zu gelangen, wo wir übersetzen und die gebahnte Hauptstraße jenseits erreichen sollten, gerade auf dem sumpfigsten Wiesenfleck, hieß es, der Herzog von Braunschweig komme hinter uns her. Wir heilten an und begrüßten ihn ehrerbietig; er heilt auch ganz nahe vor uns stille und sagte zu mir: "Es tut mir zwar leid, dass ich Sie in dieser unangenehmen Lage sehe, jedoch darf es mir in dem Sinn erwünscht sein, dass ich einen einsichtigen, glaubwürdigen Mann mehr weiß, der bezeugen kann, dass wir nicht vom Feind, sondern von den Elementen überwunden worden." Er hatte mich in dem Hauptquartier zu Hans vorbeigehend gesehen und wusste überhaupt, dass ich bei dem ganzen traurigen Zug gegenwärtig gewesen. Ich antwortete ihm etwas Schickliches und bedauerte noch zuletzt, dass er, nach so viel Leiden und Anstrengung, noch durch die Krankheit seines fürstlichen Sohnes sei in Sorgen gesetzt worden, woran wir vorige Nacht in Sivry großen Anteil empfunden. Er nahm es wohl auf, denn dieser Prinz war sein Liebling, zeigte sodann auf ihn, der in der Nähe hielt; wir verneigten uns auch vor ihm. Der Herzog wünschte uns allen Geduld und Ausdauer, und ich ihm dagegen eine ungestörte Gesundheit, weil ihm sonst nichts abgehe, uns und die gute Sache zu retten. Er hatte mich eigentlich niemals geliebt, das musste ich mir gefallen lassen; er gab es zu erkennen, das konnt' ich ihm verziehen: nun aber war das Unglück eine milde Vermittlerin geworden, die uns auf eine teilnehmende Weise zusammenbrachte. Den 7. und 8. Oktober. Wir hatten über die Maas gesetzt und en Weg eingeschlagen, der aus den Niederlanden nach Verdun führt; das Wetter war furchtbarer als je, wir lagerten bei Consenvoye. Die Unbequemlichkeit, ja das Unheil stiegen aufs höchste: die Zelte durchnässt, sonst kein Schirm, kein Obdach; man wusste nicht, wohin man sich wenden sollte; noch immer fehlte mein Wagen, und ich entbehrte das Notwendigste. Konnte man sich auch unter einem Zelt bergen, so war doch an keine Ruhestelle zu denken. Wie sehnte man sich nicht nach Stroh, ja nach irgendeinem Brettstück, und zuletzt blieb doch nichts übrig, als sich auf den kalten, feuchten Boden niederzulegen! Nun hatte ich aber schon in vorigen gleichen Fällen mir ein praktisches Hilfsmittel ersonnen, wie solche Not zu überdauern sei; ich stand nämlich so lange auf den Füßen, bis die Knie zusammenbrachen, dann setzt' ich mich auf einen Feldstuhl, wo ich hartnäckig verweilte, bis ich niederzusinken glaubte, da denn jede Stelle wo man sich horizontal ausstrecken konnte, höchst willkommen war. Wie also Hunger das beste Gewürz bleibt, so wird Müdigkeit der herrlichste Schlaftrunk sein. Zwei Tage und zwei Nächte hatten wir auf diese Weise verlebt, als der traurige Zustand einiger Kranken auch Gefunden zugute kommen sollte. Des Herzogs Kammerdiener war von dem allgemeinen Übel befallen, einen Junker, vom Regiment hatte der Fürst aus dem Lazarett von Grandpré gerettet; nun beschloss er, die beiden in das etwa zwei Meilen entfernte Verdun zu schicken. Kämmerier Wagner wurde ihnen zur Pflege mitgegeben, und ich säumte nicht, auf gnädigste vorsorgliche Anmahnung, den vierten Platz einzunehmen. Mit Empfehlungsschreiben and en Kommandanten wurden wir entlassen, und als beim Einsitzen der Pudel nicht zurückbleiben durfte, so ward aus dem sonst so beliebten Schlafwagen ein halbes Lazarett und etwas Menagerieartiges. Zur Eskorte, zum Quartier- und Proviantmeister erhielten wir jenen Husaren, der, namens Liseur, aus Luxemburg gebüritg, der Gegend kundig, Geschick, Gewandtheit und Kühnheit eines Freibeuters vereinigte; mit Behagen ritt er vorauf und machte dem mit sechs starken Schimmeln bespannten Wagen und sich selbst ein gutes Ansehen. Zwischen ansteckende Kranke gepackt, wusst' ich von keiner Apprehension. Der Mensch, wenn er sich getreu bleibt, findet zu jedem Zustand eine hilfreiche Maxime; mir stellte sich, sobald die Gefahr groß ward, der blindeste Fatalismus zur Hand, und ich habe bemerkt, dass Menschen, die ein durchaus gefährliche Metier treiben, sich durch denselben Glauben gestählt und gestärkt fühlen. Die mahomedanische Religion gibt hiervon den besten Beweis. Den 9. Oktober. Unsere traurige Lazarettfahrt zog nun langsam dahin und gab zu ernsten Betrachtungen Anlass, da wir in dieselbe Heerstraße fielen, auf der wir mit so viel Mut und Hoffnung ins Land eingetreten waren. Hier berührten wir nun wieder dieselbe Gegend, wo der erste Schuss aus den Weinbergen fiel, denselben Hochweg, wo uns die hübsche Frau in die Hände lief und zurückgeführt worden; kamen an dem Mäuerchen vorbei, von wo sie uns mit den Ihrigen freundlich und zur Hoffnung aufgeregt begrüße. Wie sah das alles jetzt anders aus! Und wie doppelt unerfreulich erschienen die Folgen eines fruchtlosen Feldzugs durch den trüben Schleier eines anhaltenden Regenwetters! Doch mitten in diesen Trübnissen sollte mir gerade das Erwünschteste begegnen. Wir holten ein Fuhrwerk ein, das mit vier kleinen, unansehnlichen Pferden vor uns herzog; hier aber gab es einen Lust- und Erkennungsauftritt, denn es war mein Wagen, mein Diener. "Paul!" rief ich aus, "Teufelsjunge, bist du's! Wie kommst du hierher?" Der Koffer stand geruhig aufgepackt an seiner alten Stelle: welch erfreulicher Anblick! Und als ich mich nach Portefeuille und anderem hastig erkundigte, sprangen zwei Freunde aus dem Wagen, geheimer Sekretär Weyland und Hauptmann Vent. Das war eine gar frohe Szene des Wiederfindens, und ich erfuhr nun, wie es bisher zugegangen. Seit der Flucht jener Bauerknaben hatte mein Diener die vier Pferde durchzubringen gewusst und sich nicht allein von Hans bis Grandpré, sondern auch von da, als er mir aus den Augen gekommen, über die Aisne geschleppt und immer so fort verlangt, begehrt, furagiert, requiriert, bis wir zuletzt glücklich wieder zusammentrafen und nun, alle vereint und höchst vergnügt, nach Verdun zogen, wo wir genugsame Ruhe und Erquickung zu finden hofften. Hierzu hatte denn auch der Husar weislich und klüglich die besten Voranstalten getroffen: er war voraus in die Stadt geritten und hatte sich, bei der Fülle des Dranges, gar bald überzeugt, dass hier ordnungsgemäß, durch Wirksamkeit und guten Willen eines Quartieramts, nichts zu hoffen sei; glücklicherweise aber sah er in dem Hof eines schönen Hauses Anstalten zu einer herannahenden Abreise, er sprengte zurück, bedeutete uns, wie wir fahren sollten, und eilte nun, sobald jene Partei heraus war, das Hoftor zu besetzen, dessen Schließen zu verhindern und uns gar erwünscht zu empfangen. Wir fuhren ein, wir stiegen aus, unter Protestation einer alten Haushälterin, welche, soeben von einer Einquartierung befreit, keine neue, besonders ohne Billett, aufzunehmen Lust empfand. Indessen waren die Pferde schon ausgespannt und im Stall, wir aber hatten uns in die oberen Zimmer geteilt; der Hausherr, ältlich, Edelmann, Ludwigsritter, ließ es geschehen: weder er noch Familie wollten von Gästen weiter wissen, am wenigsten diesmal von Preußen auf dem Rückzug. Den 10. Oktober. Ein Knabe, der uns in der verwilderten Stadt herumführte, fragte mit Bedeutung: ob wir denn von den unvergleichlichen Verduner Pastetchen noch nicht gekostet hätten? Er führte uns darauf zu dem berühmtesten Meister dieser Art. Wir traten in einen weiten Hausraum, in welchem große und kleine Öfen ringsherum angebracht waren, zugleich auch in der Mitte Tisch und Bänke zum frischen Genuss des augenblicklich Gebacknen. Der Künstler trat vor, sprach aber seine Verzweiflung höchst lebhaft aus, dass es ihm nicht möglich sei, uns zu bedienen, da es ganz und gar an Butter fehle. Er zeigte die schönsten Vorräte des feinsten Weizenmehls; aber wozu nützten ihm diese ohne Milch und Butter! Er rühmte sein Talent, den Beifall der Einwohner, der Durchreisenden und bejammerte nur, dass er gerade jetzt, wo er sich vor solchen Fremden zuzeigen und seinen Ruf auszubreiten Gelegenheit finde, gerade des Notwendigsten ermangeln müsste. Er beschwor uns daher, Butter herbeizuschaffen, und gab zu verstehen, wenn wir nur ein wenig Ernst zeigen wollten, so sollte sich dergleichen schon irgendwo finden. Doch ließ er sich für den Augenblick zufrieden stellen, als wir versprachen, bei längerem Aufenthalt von Jardin Fontaine dergleichen herbeizuholen. Unsern jungen Führer, der uns weiter durch die Stadt begleitete und sich ebenso wohl auf hübsche Kinder als auf Pastetchen zu verstehen schien, befragten wir nach einem wunderschönen Frauenzimmer, das sich eben aus dem Fenster eines wohl gebauten Hauses herausbog. "Ja," rief er, nachdem er ihren Namen genannt, "das hübsche Köpfchen mag sich fest auf den Schultern halten: es ist auch eine von denen, die dem König von Preußen Blumen und Früchte überreicht haben. Ihr Haus und Familie dachten schon, sie wären wieder obendrauf, das Blatt aber hat sich gewendet, jetzt tausch' ich nicht mir ihr." Er sprach hierüber mit besonderer Gelassenheit, als wäre es ganz naturgemäß und könne und werde nicht anders sein. Mein Diener war von Jardin Fontaine zurückgekommen, wohin er, unsern alten Wirt zu begrüßen und den Brief an die Schwester zu Paris wiederzubringen, gegangen war. Der neckische Mann empfing ihn gutmütig genug, bewirtete ihn aufs beste und lud die Herrschaft ein, die er gleichfalls zu traktieren versprach. So wohl sollt' es uns aber nicht werden; denn kaum hatten wir den Kessel übers Feuer gehängt, mit herkömmlichen Ingredienzien und Zeremonien, als eine Ordonnanz herein trat und im Namen des Kommandanten, Herrn von Courbière, freundlich andeutete, wir möchten uns einrichten, morgen früh um acht Uhr aus Verdun zu fahren. Höchst betroffen, dass wir Dach, Fach und Herd, ohne uns nur einigermaßen herstellen zu können, eiligst verlassen und uns wieder in die wüste schmutzige Welt hinaus gestoßen sehen sollten, beriefen wir uns auf die Krankheit des Junkers und Kammerdieners, worauf er denn meinte, wir sollten diese baldmöglichst fortzubringen suchen, weil in der Nacht die Lazarette geleert und nur die völlig intransportablen Kranken zurückgelassen würden. Uns überfiel Schrecken und entsetzen; denn bisher zweifelte niemand, dass von Seiten der Alliierten man Verdun und Longwy erhalten, wo nicht gar noch einige Festungen erobern und sichere Winterquartiere bereiten müsse. Von diesen Hoffnungen konnten wir nicht auf einmal Abschied nehmen; daher schien es uns, man wolle nur die Festung von den unzähligen Kranken und dem unglaublichen Tross befreien, um sie alsdann mit der notwendigen Garnison besetzen zu können. Kämmerier Wagner jedoch, der das Schreiben des Herzogs dem Kommandanten überbracht hatte, glaubte das Allerbedenklichste in diesen Maßregeln zu sehen. Was es aber auch im ganzen für einen Ausgang nähme, mussten wir uns diesmal in unser Schicksal ergeben und speisten geruhig den einfachen Topf in verschiedenen Absätzen und Trachten, als eine andere Ordonnanz abermals herein trat und uns beschied, wir möchten ja ohne Zaudern und Aufenthalt morgen früh um drei Uhr aus Verdun zu kommen suchen. Kämmerier Wagner, der den Inhalt jenes Briefs an den Kommandanten zu wissen glaubte, sah hierin ein entschiedenes Bekenntnis, dass die Festung den Franzosen sogleich wieder würde übergeben werden. Dabei gedachten wir der Drohung des Knaben, gedachten der schönen geputzten Frauenzimmer, der Früchte und Blumen und betrübten uns zum ersten Mal recht herzlich und gründlich über eine so entschieden misslungene, große Unternehmung. Ob ich schon unter dem diplomatischen Korps echte und verehrungswürdige Freunde gefunden, so konnt' ich doch, sooft ich sie mitten unter diesen großen Bewegungen fand, mich gewisser neckischen Einfälle nicht enthalten; sie kamen mir vor wie Schauspieldirektoren, welche die Stücke wählen, Rollen austeilen und in unscheinbarer Gestalt einhergehen, indessen die Truppe, so gut sie kann, aufs beste herausgestutzt, das Resultat ihrer Bemühungen dem Glück und der Laune des Publikums überlassen muss. Baron Breteuil wohnte gegen uns über; seit der Halsbandsgeschichte war er mir nicht aus den Gedanken gekommen. Sein hass gegen den Kardinal von Rohan verleitete ihn zu der furchtbarsten Übereilung; die durch jenen Prozess entstandene Erschütterung ergriff die Grundfesten des Staates, vernichtete die Achtung gegen die Königin und gegen die obern Stände überhaupt: denn leider alles, was zur Sprache kam, machte nur das gräuliche Verderben deutlich, worin der Hof und die Vornehmeren befangen lagen. Diesmal glaubte man, er habe den auffallenden Vergleich gestiftet, der uns zum Rückzug verpflichtete, zu dessen Entschuldigung man höchst günstige Bedingungen voraussetzte: man versicherte, König, Königin und Familie sollten freigegeben und sonst noch manches Wünschenswerte erfüllt werden. Die Frage aber, wie diese großen diplomatischen Vorteile mit allem übrigen, was uns doch auch bekannt war, übereinstimmen sollten, ließ einen Zweifel nach dem andern aufkeimen. Die Zimmer, die wir bewohnten, waren anständig möbliert; mir fiel ein Wandschrank auf, durch dessen Glastüren ich viele regelmäßig beschnittene gleiche Hefte in Quart erblickte. Zu meiner Verwunderung ersah ich daraus, dass unser Wirt als einer der Notablen im Jahre 1787 zu Paris gewesen; in diesen Heften war seine Instruktion abgedruckt. Die Mäßigkeit der damaligen Forderungen, die Bescheidenheit, womit sie abgefasst, kontrastierten völlig mit den gegenwärtigen Zuständen von Gewaltsamkeit, Übermut und Verzweiflung. Ich las diese Blätter mit wahrhafter Rührung und nahm einige Exemplare zu mir. Den 11. Oktober. Ohne die Nacht geschlafen zu haben, waren wir früh um 3 Uhr eben im Begriff, unsern gegen das Hoftor gerichteten Wagen zu besteigen, als wir ein unüberwindliches Hindernis gewahr wurden; denn es zog schon eine ununterbrochene Kolonne Krankenwagen zischen den zur Seite aufgehäuften Pflastersteinen durch die zum Sumpf gefahrene Stadt. Als wir nun so standen, abzuwarten, was erreicht werden könnte, drängte sich unser Wirt, der Ludwigsritter, ohne zu grüßen, an uns vorbei. Unsere Verwunderung über sein frühes und unfreundliches Erscheinen ward aber bald in Mitleid verkehrt; denn sein Bedienter, hinter ihm drein, trug ein Bündelchen auf dem Stock, und so ward es nur allzu deutlich, dass er, nachdem er vier Wochen vorher Haus und Hof wieder gesehen hatte, es nun abermals, wie wir unsere Eroberungen, verlassen musste. Sodann ward aber meine Aufmerksamkeit auf die bessern Pferde vor meiner Chaise gelenkt; da gestand denn die liebe Dienerschaft, dass sie die bisherigen schwachen, unbrauchbaren gegen Zucker und Kaffee vertauscht, sogleich aber in Requisition anderer glücklich gewesen sei. Die Tätigkeit des gewandten Liseurs war hierbei nicht zu verkennen; auch durch ihn kamen wir diesmal vom Fleck: denn er sprengte in eine Lücke der Wagenreihe und hielt das folgende Gespann so lange zurück, bis wir sechs- und vierspännig eingeschaltet waren; da ich mich denn frischer Luft in meinem leichten Wägelchen abermals erfreuen konnte. Nun bewegten wir uns mit Leichenschritt, aber bewegten uns doch; der Tag brach an, wir befanden uns vor der Stadt in dem größtmöglichen Gewirr und Gewimmel. Alle Arten von Wagen, wenig Reiter, unzählige Fußgänger durchkreuzten sich auf dem großen Platz vor dem Tor. Wir zogen mit unserer Kolonne rechts gegen Etain, auf einem beschränkten Fahrweg mit Gräben zu beiden Seiten. Die Selbsterhaltung in einem so ungeheuren Drange kannte schon kein Mitleiden, keine Rücksicht mehr: nicht weit vor uns fiel ein Pferd vor einem Rüstwagen, man schnitt die Stränge entzwei und ließ es liegen. Als nun aber die drei übrigen die Last nicht weiterbringen konnten, schnitt man auch sie los, warf das schwer bepackte Fuhrwerk in den Graben, und mit dem geringsten Aufenthalt fuhren wir weiter und zugleich über das Pferd weg, das sich eben erholen wollte, und ich sah ganz deutlich, wie dessen Gebeine unter den Rädern knirschten und schlotterten. Reiter und Fußgänger suchten sich von der schmalen, unwegsamen Fahrstraße auf die Wiesen zu retten; aber auch diese waren zugrunde geregnet, von ausgetretenen Gräben überschwemmt, die Verbindung der Fußpfade überall unterbrochen. Vier ansehnliche, schöne, sauber gekleidete französische Soldaten wateten eine Zeitlang neben unseren wagen her, durchaus nett und reinlich, und wussten so gut hin und her zu treten, dass ihr Fußwerk nur bis an die Knorren von der schmutzigen Wallfahrt zeugte, welche die guten Leute bestanden. Dass man unter solchen Umständen in Gräben, auf Wiesen, Feldern und Angern tote Pferde genug erblickte, war natürliche Folge des Zustands; bald aber fand man sie auch abgedeckt, die fleischigen Teile sogar ausgeschnitten -- trauriges Zeichen des allgemeinen Mangels! So zogen wir fort, jeden Augenblick in Gefahr, bei der geringsten eigenen Stockung selbst über Bord geworfen zu werden; unter welchen Umständen freilich die Sorgfalt unseres Geleitsmanns nicht genug zu rühmen und zu preisen war. Dieselbe betätigte sich denn auch zu Etain, wo wir gegen Mittag anlangten und in dem schönen, wohl gebauten Städtchen durch Straßen und auf Plätzen ein Sinn verwirrendes Gewimmel um und neben uns erblickten: die Masse wogte hin und her, und indem alles vorwärts drang, ward jeder dem anderen hinderlich. Unvermutet ließ unser Führer die Wagen vor einem wohl gebauten Haus des Marktes halten; wir traten ein, Hausherr und Frau begrüßten uns in ehrerbietiger Entfernung. Man führte uns in ein getäfeltes Zimmer auf gleicher Erde, wo im schwarz-marmornen Kamin behagliches Feuer brannte. In dem großen Spiegel darüber beschauten wir uns ungern: denn ich hatte noch immer nicht die Entschließung gefasst, meine langen Haare kurz schneiden zu lassen, die jetzt wie ein verworrener Hanfrocken umher quollen; der Bart, strauchig, vermehrte das wilde Ansehen unserer Gegenwart. Nun aber konnten wir, aus den niedrigen Fenstern den ganzen Markt überschauend, unmittelbar das grenzenlose Getümmel beinahe mit Händen greifen. Aller Art Fußgänger, Uniformierte, Marode, gesunde aber trauernde Bürgerliche, Weiber und Kinder drängten und quetschten sich zwischen Fuhrwerk aller Gestalt; Rüst- und Leiterwagen, Ein- und Mehrspänner; hunderterlei eigenes und requiriertes Gepferde, weichend, anstoßend, hinderte sich rechts und links. Auch Hornvieh zog damit weg, wahrscheinlich geforderte, weggenommene Herden. Reiter sah man wenig; auffallend aber waren die eleganten Wagen der Emigrierten, vielfarbig lackiert, vergoldet und versilbert, die ich wohl schon in Grevenmachern mochte bewundert haben. Die größte Not entstand aber da, wo die den Markt füllende Menge in eine zwar gerade und wohl gebaute, doch verhältnismäßig viel zu enge Straße ihren Weg einschlagen sollte. Ich habe in meinem Leben nichts Ähnliches gesehen; vergleichen aber ließ sich der Anblick mit einem erst über Wiesen und Anger ausgetretenen Strom, der sich nun wieder durch enge Brückenbogen durchdrängen und im beschränkten Bett weiter fließen soll. Die lange, aus unsern Fenstern übersehbare Straße hinab schwoll unaufhaltsam die seltsamste Woge; ein hoher zweisitziger Reisewagen ragte über der Flut empor. Er ließ uns an die schönen Französinnen denken; sie waren es aber nicht, sondern Graf Haugwitz, den ich mit einiger Schadenfreude Schritt vor Schritt dahinwackeln sah. Zum 11. Oktober. Ein gutes Essen war uns bereitet, die köstlichste Schöpsenkeule besonders willkommen; an gutem Wein und Brot fehlte es nicht, und so waren wir, neben dem größten Getümmel, in der schönsten Beruhigung: wie man auch wohl der stürmenden See, am Fuß eines Leuchtturms auf dem Steindamm sitzend, der wilden Wellenbewegung zusieht und dort und da ein Schiff ihrer Willkür preisgegeben. Aber uns erwartete in diesem gastlichen Haus eine wahrhaft herzergreifende Familienszene. Der Sohn, ein schöner junger Mann, hatte schon einige Zeit, hingerissen von den allgemeinen Gesinnungen, in Paris unter den Nationaltruppen gedient und sich dort hervorgetan. Als nun aber die Preußen eingedrungen, die Emigrierten mit der stolzen Hoffnung eines gewissen Sieges herangelangt waren, verlangten die nun auch zuversichtlichen Eltern dringend und wieder dringend, der Sohn solle seine dortige Lage, die er nunmehr verabscheuen müsse, eiligst aufgeben, zurückkehren und diesseits für die gute Sache fechten. Der Sohn, wider Willen, aus Pietät, kommt zurück, eben in dem Moment, da Preußen, Österreicher und Emigrierte retirieren; er eilt verzweiflungsvoll durch das Gedränge zu seinem Vaterhaus. Was soll er nun anfangen? Und wie sollen wir ihn empfangen? Freude, ihn wieder zu sehen, Schmerz ihn in dem Augenblick wieder zu verlieren, Verwirrung, ob Haus und Hof in diesem Sturm werde zu erhalten sein. Als junger Mann dem neuen Systeme günstig, kehrt er genötigt zu einer Partei zurück, die er verabscheut, und eben als er sich in diese Schicksal ergibt, sieht er diese Partei zugrunde gehen. Aus Paris entwichen, weiß er sich schon in das Sünden- und Todesregister geschrieben; und nun im Augenblick soll er aus seinem Vaterland verbannt, aus seines Vaters Haus gestoßen werden. Die Eltern, die sich gern an ihm letzen möchten, müssen ihn selbst wegtreiben, und er, in Schmerzenswonne des Wiedersehens, weiß nicht, wie er sich losreißen soll; die Umarmungen sind Vorwürfe, und das Scheiden, das vor unsern Augen geschieht, schrecklich. Unmittelbar vor unserer Stubentüre ereignete sich das alles auf der Hausflur. Kaum war es still geworden und die Eltern hatten sich weinend entfernt, als eine Szene, fast noch wunderbarer, auffallender, uns selbst ansprach, ja in Verlegenheit setzte und, obgleich herzergreifend genug, uns doch zuletzt ein Lächeln abnötigte. Einige Bauersleute, Männer, Frauen und Kinder, drangen in unsere Zimmer und warfen sich heulend und schreiend mit zu Füßen. Mit der vollen Beredsamkeit des Schmerzes und des Jammers klagten sie, dass man ihr schönes Rindvieh wegtreibe, sie schienen Pächter eines ansehnlichen Gutes; ich solle nur zum Fenster hinaussehen: eben treibe man sie vorbei, es hätten Preußen sich derselben bemächtigt; ich solle befehlen, solle Hilfe schaffen. Hierauf trat ich, um mich zu besinnen, ans Fenster, der leichtfertige Husar stellte sich hinter mich und sagte: "Verzeihen Sie! Ich habe Sie für den Schwager des Königs von Preußen ausgegeben, um gute Aufnahme und Bewirtung zu finden. Die Bauern hätten freilich nicht hereinkommen sollen; aber mit einem guten Wort weisen Sie die Leute an mich und schein überzeugt von meinen Vorschlägen." Was war zu tun? Überrascht und unwillig nahm ich mich zusammen und schien über die Umstände nachzudenken. Wird doch, sagt' ich zu mir selbst, List und Verschlagenheit im Krieg gerühmt! Wer sich durch Schelme bedienen lässt, kommt in Gefahr, von ihnen irregeführt zu werden. Ein Schakal, unnütz und beschämend, ist hier zu vermeiden. Und wie der Arzt in verzweifelten Fällen wohl noch ein Hoffnungsrezept verschreibt, entließ ich die guten Menschen mehr pantomimisch als mit Worten; dann sagt' ich mir zu meiner Beruhigung: Hatte doch bei Sivry der echte Thronfolger den bedrängten Leuten ihr Pferd nicht zusprechen können, so dürfte sich der untergeschobene Schwager des Königs wohl verzeihen, wenn er die Hilfsbedürftigen mit irgendeiner klugen, eingeflüsterten Wendung abzulehnen suchte. Wir aber gelangten in finsterer Nacht nach Spincourt; alle Fenster waren hell, zum Zeichen, dass alle Zimmer besetzt seien. An jeder Haustüre ward protestiert von den Einwohnern, die keine neuen Gäste, von den Einquartierten, die keine Genossen aufnehmen wollten. Ohne viel Umstände aber drang unser Husar ins Haus, und als er einige französische Soldaten in der Halle am Feuer fand, ersuchte er sie zudringlich, vornehmen Herren, die er geleite, eine Platz am Kamin einzuräumen. Wir traten zugleich herein; sie warne freundlich und rückten zusammen, setzten sich aber bald wieder in die wunderliche Positur, ihre aufgehobenen Füße gegen das Feuer zu strecken. Sie liefen auch wohl einmal im Saal hin und wider und kehrten bald in ihre vorige Lage zurück, und nun konnt' ich bemerken, dass es ihr eigentliches Geschäft sei, den unteren Teil ihrer Gamaschen zu trocknen. Gar bald aber erschienen sie mir als bekannt: es waren eben dieselbigen, die heute früh neben unserm Wagen im Schlamm so zierlich einher traten. Nun, früher als wir angelangt, hatten sie schon am Brunnen die untersten Teile gewaschen und gebürstet, trockneten sie nunmehr, um morgen früh neuem Schmutz und Unrat galant entgegenzugehen. Ein musterhaftes Betragen, an das man sich in manchen Fällen des Lebens wohl wieder zu erinnern hat! Auch dacht' ich dabei meiner lieben Kriegskameraden, die den Befehl zur Reinlichkeit murrend aufgenommen hatten. Doch uns dergestalt untergebracht zu haben, war dem klugen, dienstfertigen Liseur nicht genug; die Fiktion des Mittags, die sich so glücklich erwiesen hatte, ward kühnlich wiederholt: die hohe Generalsperson, der Schwager des Königs, wirkte mächtig und vertrieb eine ganze Masse guter Emigrierten aus einem Zimmer mit zwei Betten. Zwei Offiziere von Köhler nahmen wir dagegen in demselben Raum auf, Ich aber begab mich vor die Haustüre zu dem alten erprobten Schlafwagen, dessen Deichsel, diesmal nach Deutschland gekehrt, mir ganz eigene Gedanken hervorrief, die jedoch durch ein schnelles Einschlummern gar bald abgeschnitten wurden. Den 12. Oktober. Der heutige Weg erschien noch trauriger als der gestrige: ermattete Pferde waren öfter gefallen und lagen mit umgestürzten Wagen häufiger neben der Hochstraße auf den Wiesen. Aus den geborstenen Decken der Rüstwagen fielen gar niedliche Mantelsäcke, einem Emigriertenkorps gehörig, hervor; das bunte, zierliche Ansehen dieses herrenlosen, aufgegebenen Gutes lockte die Besitzlust der Vorbeiwandernden, und mancher bepackte sich mit einer Last, die er zunächst auch wieder abwerfen sollte. Daraus mag denn wohl die Rede entstanden sein, auf dem Rückzug seien Emigrierte von Preußen geplündert worden. Von ähnlichen Vorfällen erzählte man auch manches Scherzhafte. Ein schwer beladener Emigrantenwagen war ebenermaßen an einer Anhöhe stecken geblieben und verlassen worden. Nachfolgende Truppen untersuchen den Inhalt, finden Kästchen von mäßiger Größe, auffallend schwer, belästigen sich gemeinschaftlich damit und schleppen sie mit unsäglicher Mühe auf die nächste Höhe. Hier wollen sie nun in die Beute und in die Last sich teilen: aber welch ein Anblick! Aus jedem zerschlagenen Kasten fällt eine Unzahl Kartenspiele hervor, und die Goldlustigen trösten sich im wechselseitigen Spott durch Lachen und Possen. Wir aber zogen durch Longuyon nach Longwy; und hier muss man, indem die Bilder bedeutender Freudenszenen aus dem Gedächtnis verschwinden, sich glücklich schätzen, dass auch widerwärtige Gräuelbilder sich vor der Einbildungskraft abstumpfen. Was soll ich also wiederholen, dass die Wege nicht besser wurden, dass man nach wie vor zwischen umgestürzten wagen abgedeckte und frisch ausgeschnittene Pferde aber- und abermals rechts und links verabscheute! Von Büschen schlecht bedeckte, geplünderte und ausgezogene Menschen konnte man oft genug bemerken, und endlich lagen auch die vor dem offenen Blick neben der Straße. Uns sollte jedoch auf einem Seitenweg abermals Erquickung und Erholung werden, dagegen aber auch traurige Betrachtungen über den Zustand des wohlhabenden, gutmütigen Bürgers in schrecklichem, diesmal ganz unerwartetem Kriegsunheil. Den 13. Oktober. Unser Führer wollte nicht freventlich seine braven, wohlhabenden Verwandten in dieser Gegend gerühmt haben; er ließ uns deshalb einen Umweg machen über Arlon, wo wir in einem schönen Städtchen, bei ansehnlichen und wackern Leuten, in einem wohl gebauten und gut eingerichteten Haus, von ihm angemeldet, gar freundlich aufgenommen wurden. Die guten Personen freuten sich selbst ihres Vetters, glaubten gewisse Besserung und nächste Beförderung schon in dem Auftrag zu sehen, dass er uns mit zwei Wagen, so viel Pferden und, wie er ihnen glauben gemacht hatte, mit vielem Geld und Kostbarkeiten aus dem gefährlichsten Gewirr herauszuführen beehrt worden. Auch wir konnten seiner bisherigen Leitung das beste Zeugnis geben, und ob wir gleich an die Bekehrung dieses verlorenen Sohnes nicht sonderlich glauben konnten, so waren wir ihm doch diesmal so viel schuldig geworden, dass wir auch seinem künftigen Betragen einiges Zutrauen nicht ganz verweigern durften. Der Schelm verfehlte nicht, mit schmeichelhaftem Wesen das Seinige zu tun, und erhielt wirklich in der Stille von den braven Leuten ein artiges Geschenk in Gold. Wir erquickten uns dagegen an gutem, kaltem Frühstück und dem trefflichsten Wein und beantworteten die Fragen der freilich auch sehr erstaunten, wackeren Leute wegen der wahrscheinlichen nächsten Zukunft so schonend als möglich. Vor dem Haus hatten wir ein paar sonderbare Wagen bemerkt, länger und teilweise höher als gewöhnliche Rüstwagen, auch an der Seite mit wunderlichen Ansätzen geformt. Mit rege gewordener Neugier fragte ich nach diesem seltsamen Fuhrwerk; man antwortete mir zutraulich, aber mit Vorsicht: es sei darin die Assignatenfabrik der Emigrierten enthalten, und bemerkte dabei, was für ein grenzenloses Unglück dadurch über die Gegend gebracht worden. Denn da man sich seit einiger Zeit der echten Assignate kaum erwehren könne, so habe man nun auch, seit dem Einmarsch der Alliierten, diese falschen in Umlauf gezwungen. Aufmerksame Handelsleute hätten dagegen sogleich, ihrer Sicherheit willen, diese verdächtige Papierware nach Paris zu senden und sich von dorther offizielle Erklärung ihrer Falschheit zu verschaffen gewusst; dies verwirre aber Handel und Wandel ins Unendliche: denn da man bei den echten Assignaten sich nur zum Teil gefährdet finde, bei den falschen aber gewiss gleich um das Ganze betrogen sei, auch beim ersten Anblick niemand sie zu unterscheiden vermöge, so wisse kein Mensch mehr, was er geben und was er empfangen solle; dies verbreite schon bis Luxemburg und Trier solche Ungewissheit, Misstrauen und Bangigkeit, dass nunmehr von allen Seiten das Elend nicht größer werden könne. Bei allen solchen erlittenen und noch zu fürchtenden Unbilden zeigen sich diese Personen in bürgerlicher Würde, Freundlichkeit und gutem Benehmen zu unserer Verwunderung, wovon uns in den französischen ernsten Dramen alter und neuer Zeit ein Abglanz herüber gekommen ist. Von einem solchen Zustand können wir uns in eigener vaterländischer Wirklichkeit und ihrer Nachbildung keinen Begriff machen. Die petite ville mag lächerlich sein, die deutschen Kleinstädter sind dagegen absurd. Den 14. Oktober. Sehr angenehm überrascht fuhren wir von Arlon nach Luxemburg auf der besten Kunststraße und wurden in diese sonst so wichtige und wohlverwahrte Festung eingelassen wie in jedes Dorf, in jeden Flecken. Ohne irgend angehalten oder befragt zu werden, sahen wir uns nach und nach innerhalb der Außenwerke, der Wälle, Gräben, Zugbrücken, Mauern und Tore, unserm Führer, der Mutter und Vater hier zu finden vorgab, das weitere vertrauend. Überdrängt war die Stadt von Blessierten und Kranken, von tätigen Menschen, die sich selbst, Pferde und Fuhrwerk wieder herzustellen trachteten. Unsere Gesellschaft, die sich bisher zusammengehalten hatte, musste sich trennen; mir verschaffte der gewandte Quartiermeister ein hübsches Zimmer, das aus dem engsten Höfchen, wie aus einer Feueresse, doch bei sehr hohen Fenstern genugsames Licht erhielt. Hier wusste er mich mit meinem Gepäck und sonst gar wohl einzurichten und für alle Bedürfnisse zu sorgen; er gab mir den Begriff von den Haus- und Mietleuten des Gebäudes und versicherte, dass ich gegen eine kleine Gabe so bald nicht ausgetrieben und wohl behandelt werden sollte. Hier konnt' ich nun zum ersten Mal den Koffer wieder aufschließen und mich meiner Reisehabseligkeiten, des Geldes, der Manuskripte wieder versichern. Das Konvolut zur Farbenlehre bracht' ich zuerst in Ordnung, immer meine früheste Maxime vor Augen: die Erfahrung zu erweitern und die Methode zu reinigen. Ein Kriegs- und Reisetagebuch mocht' ich gar nicht anrühren. Der unglückliche Verlauf der Unternehmung, der noch Schlimmeres befürchten ließ, gab immer neuen Anlass zum Wiederkäuen des Verdrusses und zu neuem Aufregen der Sorge. Meine stille, von jedem Geräusch abgeschlossene Wohnung gewährte mir wie eine Klosterzelle vollkommenen Raum zu den ruhigsten Betrachtungen, dagegen ich mich, sobald ich nur den Fuß vor die Haustüre hinaussetzte, in dem lebendigsten Kriegsgetümmel befand und nach Lust das wunderlichste Lokal durchwandeln konnte, das vielleicht in der Welt zu finden ist. Den 15. Oktober. Wer Luxemburg nicht gesehen hat, wird sich keine Vorstellung von diesem an- und übereinander gefügten Kriegsgebäude machen. Die Einbildungskraft verwirrt sich, wenn man die seltsame Mannigfaltigkeit wieder hervorrufen will, mit der sich das Auge des hin und her gehenden Wanderers kaum befreunden konnte. Plan und Grundriss vor sich zu nehmen wird nötig sein, nachstehendes nur einigermaßen verständlich zu finden. Ein Bach, Petrus genannt, erst allein, dann, verbunden mit dem entgegenkommenden Fluss, die Elze, schlingt sich mäanderartig zwischen Felsen durch und um sie herum, bald im natürlichen Lauf, bald durch Kunst genötigt. Auf dem linken Ufer liegt hoch und flach die alte Stadt; sie, mit ihren Festungswerken nach dem offenen Lande zu, ist andern befestigten Städten ähnlich. Als man nun für die Sicherheit derselben nach Westen Sorge getragen, sah man wohl ein, dass man sich auch gegen die Tiefe, wo das Wasser fließt, zu verwahren habe; bei zunehmender Kriegskunst war auch das nicht hinreichend, man musste, auf dem rechten Ufer des Gewässers, nach Süden, Osten und Norden auf ein- und ausspringenden Winkeln unregelmäßiger Felspartien neue Schanzen vorschieben, nötig immer eine zur Beschützung der andern. Hieraus entstand nun eine Verkettung unübersehbarer Bastionen, Redouten, halber Monde und solches Zangen- und Krakelwerk, als nur die Verteidigungskunst im seltsamsten Fall zu leisten vermochte. Nichts kann deshalb einen wunderlichern Anblick gewähren, als das mitten durch dies alles am Fluss sich hinab ziehende enge Tal, dessen wenige Flächen, dessen sanft oder steil aufsteigende Höhen zu Gärten angelegt, in Terrassen abgestuft und mit Lusthäusern belebt sind; von wo aus man auf die steilsten Felsen, auf hoch getürmte Mauern rechts und links hinaufschaut. Hier findet sich so viel Größe mit Anmut, so viel Ernst mit Lieblichkeit verbunden, dass wohl zu wünschen wäre, Poussin hätte sein herrliches Talent in solchen Räumen betätigt. Nun besaßen die Eltern unseres lockeren Führers in dem Pfaffental einen artigen abhängigen Garten, dessen Genuss sie mir gern und freundlich überließen. Kirche und Kloster, nicht weit entfernt, rechtfertigte den Namen dieses Elysiums, und in dieser geistlichen Nachbarschaft schien auch den weltlichen Bewohnern Ruh' und Friede verheißen, ob sie gleich mit jedem Blick in die Höhe an Krieg, Gewalt und Verderben erinnert wurden. Jetzt nun aber aus der Stadt, wo das unselige Kriegsnachspiel mit Lazaretten, abgerissenen Soldaten, zerstückten Waffen, herzustellenden Achsen, Rädern und Lafetten, zugleich mit sonstigen Trümmern aller Art aufgeführt wurde, in eine solche Stille zu flüchten, war höchst wohltätig; aus den Straßen zu entweichen, wo Wagner, Schmiede und andere Gewerke ihr Wesen öffentlich unermüdet und geräuschvoll trieben, und sich in das Gärtchen im geistlichen Tal zu verbergen, war höchst behaglich. Hier fand ein Ruh- und Sammlungsbedürftiger das willkommenste Asyl. Den 16. Oktober. Die allen Begriff übersteigende Mannigfaltigkeit der auf- und aneinander getürmten, gefügten Kriegsgebäude, die bei jedem Schritt vor- oder rückwärts, auf- oder abwärts ein anderes Bild zeigten, riefen die Lust hervor, wenigstens etwas davon aufs Papier zu bringen. Freilich musste diese Neigung auch wieder einmal sich regen, da seit so viel Wochen mir kaum ein Gegenstand vor die Augen gekommen, der sie geweckt hätte. Unter andern fiel es sonderbar auf, dass so manche gegeneinander über stehende Felsen, Mauern und Verteidigungswerke in der Höhe durch Zugbrücken, Galerien und gewisse wunderliche Vorrichtungen verbunden waren. Irgendjemand vom Metier hätte dieses alles mit Kunstaugen angesehen und sich mit Soldatenblick der sichern Einrichtung erfreut; ich aber konnte nur den malerischen Effekt ihr abgewinnen und hätte gar zu gern, wäre nicht alles Zeichnen an und in den Festungen höchlich verpönt, meine Nachbildungskräfte hier in Übung gesetzt. Den 19. Oktober. Nachdem ich nun also mehrere Tage in diesen Labyrinthen, wo Naturfels und Kriegsgebäu wetteifernd seltsam steile Schluchten gegeneinander aufgetürmt und daneben Pflanzenwachstum, Baumzucht und Luftgebüsch nicht ausgeschlossen, mich sinnend und denkend einsam genug herum gewunden hatte. Fing ich an, nach Hause kommend, die Bilder, wie sie sich der Einbildungskraft nach und nach einprägten, aufs Papier zu bringen, unvollkommen zwar, doch hinreichend, das Andenken eines höchst seltsamen Zustandes einigermaßen festzuhalten. Den 20. Oktober. Ich hatte Zeit gewonnen, das kurz Vergangene zu überdenken, aber je mehr man dachte, je verworrener und unsicherer ward alles vor dem Blick. Auch sah ich, dass wohl das Notwendigste sein möchte, sich auf das unmittelbar Bevorstehende zu bereiten. Die wenigen Meilen bis Trier mussten zurückgelegt werden; aber was mochte dort zu finden sein, da nun die Herren selbst mit andern Flüchtlingen sich nachdrängten! Als das Schmerzlichste jedoch, was einen jeden, mehr oder weniger resigniert wie er war, mit einer Art von Furienwut ergriff, empfand man die Kunde, die sich nicht verbergen ließ, dass unsere höchsten Heerführer mit den vermaledeiten, durch das Manifest dem Untergang gewidmeten, durch die schrecklichsten Taten abscheulich dargestellten Aufrührern doch übereinkommen, ihnen die Festungen übergeben mussten, um nur sich und den Ihrigen eine mögliche Rückkehr zu gewinnen. Ich habe von den Unsrigen gesehen, für welche der Wahnsinn zu fürchten war. Den 22. Oktober. Auf dem Weg nach Trier fand sich bei Grevenmachern nichts mehr von jener galanten Wagenburg; öde, wüst und zerfahren lagen die Anger, und die weit und breiten Spuren deuteten auf jenes vorübergegangene flüchtige Dasein. Am Posthaus fuhr ich diesmal mit requirierten Pferden ganz im stillen vorbei, das Briefkästchen stand noch auf seinem Platz, kein Gedränge war umher, man konnte sich der wunderlichsten Gedanken nicht erwehren. Doch ein herrlicher Sonnenblick belebte soeben die Gegend, als mir das Monument von Igel, wie der Leuchtturm einem nächtlich Schiffenden, entgegenglänzte. Vielleicht war die Macht des Altertums nie so gefühlt worden als an diesem Kontrast: ein Monument, zwar auch kriegerischer Zeiten, aber doch glücklicher, siegreicher Tage und eines dauernden Wohlbefindens rühriger Menschen in dieser Gegend. Obgleich in später Zeit, unter den Antoninen, erbaut, behält es immer noch von trefflicher Kunst so viel Eigenschaften übrig, dass es uns im ganzen anmutig-ernst zuspricht und aus seinen, obgleich sehr beschädigten Teilen das Gefühl eines fröhlich-tätigen Daseins mitteilt. Es hielt mich lange fest; ich notierte manches, ungern scheidend, da ich mich nur desto unbehaglicher in meinem erbärmlichen Zustand fühlte. Doch auch jetzt wechselte schnell wieder eine freudige Aussicht in der Seele, die blad darauf zur Wirklichkeit gelangte. Den 23. Oktober. Wir brachten unserm Freunde, Leutnant von Fritsch, den wir auf seinem Posten widerwillig zurückgelassen, die erwünschte Nachricht, dass er den Militär-Verdienstorden erhalten habe, mit Recht, wegen einer braven Tat, und mit Glück, ohne an unserm Jammer teilgenommen zu haben. Die Sache verhielt sich aber also. Die Franzosen, weil sie uns weit genug ins Land vorgedrungen, uns in bedeutender Entfernung, in großer Not wussten, versuchten im Rücken einen unvermuteten Streich. Sie näherten sich Trier in bedeutender Anzahl, sogar mit Kanonen. Leutnant von Fritsch erfährt es, und mit weniger Mannschaft geht er dem Feind entgegen, der, über die Wachsamkeit stutzend, mehr anrückende Truppen befürchtend, nach kurzem Gefecht sich bis Merzig zurückzieht und nicht wieder erscheint. Dem Freund war das Pferd blessiert, durch dieselbe Kugel sein Stiefel gestreift, dagegen er aber auch, als Sieger zurückkehrend, aufs beste empfangen wird. Der Magistrat, die Bürgerschaft erzeigen ihm alle mögliche Aufmerksamkeit; auch die Frauenzimmer, die ihn bisher als einen hübschen jungen Mann gekannt, erfreuen sich nun doppelt an ihm als einem Helden. Sogleich berichtet er seinem Chef den Vorfall, der, wie billig, dem König vorgetragen wird, worauf denn der blaue Kreuzstern erfolgt. Die Glückseligkeit des braven Jünglings, dessen lebhafteste Freude mitzufühlen, war ein ungemeiner Genuss; ihn hatte das Glück, das uns vermied, in unserm Rücken aufgesucht, und er sah sich für den militärischen gehorsam belohnt, der ihn an einer untätigen Lage zu fesseln schien. Den 24. Oktober. Der Freund hatte mir bei jenem Kanonikus abermals Quartier verschafft. Auch ich war von der allgemeinen Krankheit nicht ganz frei geblieben und bedurfte daher einiger Arznei und Schonung. In diesen ruhigen Stunden nahm ich sogleich die kurzen Bemerkungen vor, die ich bei dem Monument zu Igel aufgezeichnet hatte. Soll man den allgemeinsten Eindruck aussprechen, so ist hier Leben dem Tod, Gegenwart der Zukunft entgegengestellt und beide untereinander im ästhetischen Sinn aufgehoben. Dies war die herrliche Art und Weise der Alten, die sich noch lange genug in der Kunstwelt erhielt. Die Höhe des Monuments kann 70 Fuß betragen, es steigt in mehreren architektonischen Abteilungen obeliskenartig hinauf: erst der Grund, auf diesem ein Sockel, sodann die Hauptmasse, darüber eine Attike, sodann ein Fronton und zuletzt eine wundersam sich aufschlingende Spitze, wo sich die Reste einer Kugel und eines Adlers zeigen. Jede dieser Abteilungen ist mit den Gliedern, aus denen sie besteht, durchaus mit Bildern und Zierraten geschmückt. Diese Eigenschaft deutet denn freilich auf spätere Zeiten: denn dergleichen tritt ein, sobald sich die reine Proportion im Ganzen verliert, wie denn auch hier daran manches zu erinnern sein möchte. Dessen ungeachtet muss man anerkennen, das dieses Werk auf eine erst kurz vergangene, höhere Kunst gegründet ist. So waltet denn auch über das Ganze der antike Sinn, in dem das wirkliche Leben dargestellt wird, allegorisch gewürzt durch mythologische Andeutungen. In dem Hauptfeld Mann und Frau von kolossaler Bildung, sich die Hände reichend, durch eine dritte, verloschene Figur, als einer Segnenden, verbunden. Sie stehen zwischen zwei sehr verzierten, mit übereinander gestellten tanzenden Kindern geschmückten Pilastern. Alle Flächen sodann deuten auf die glücklichsten Familienverhältnisse, überein denkende und -wirkende Verwandte, redliches, genussreiches Zusammenleben darstellend. Aber eigentlich waltet überall die Tätigkeit vor; ich getraue mir jedoch nicht alles zu erklären. In einem Feld scheinen sich Geschäft-überlegende Handelsleute versammelt zu haben; offenbar aber sind beladene schiffe, Delphine als Verzierung, Transport auf Saumrossen, Ankunft von waren und deren Beschauen, und was sonst noch Menschliches und Natürliches mehr vorkommen dürfte. Sodann aber auch im Zodiak ein rennendes Pferd, das vielleicht vormals Wagen und Lenker hinter sich zog, in Friesen, sodann sonstigen Räumen und Giebelfeldern Bacchus, Faunen, Sol und Luna, und was sonst noch Wunderbares Knopf und Gipfel verzieren und verziert haben mag. Das Ganze ist höchst erfreulich, und man könnte, auf der Stufe, wo heutzutage Bau- und Bildkunst stehen, in diesem Sinn ein herrliches Denkmal den würdigsten Menschen, ihren Lebensgenüssen und Verdiensten gar wohl errichten. Und so war es mir denn recht erwünscht, mit solchen Betrachtungen beschäftigt, den Geburtstag unserer verehrten Herzogin Amalie im Stillen zu feiern, ihr Leben, ihr edles Wirken und wohl Tun umständlich zurückzurufen; woraus sich denn ganz natürlich die Aufregung ergab, ihr in Gedanken einen gleichen Obelisk zu widmen und die sämtlichen Räume mit ihren individuellen Schicksalen und Tugenden charakteristisch zu verzieren. Trier, den 25. Oktober. Die mir nunmehr gegönnte Ruh' und Bequemlichkeit benutzte ich nun, ferner manches zu ordnen und aufzubewahren, was ich in den wildesten Zeiten bearbeitet hatte. Ich rekapitulierte und redigierte meine chromatischen Akten, zeichnete mehrere Figuren zu den Farbentafeln, die ich oft genug veränderte, um das, was ich darstellen und behaupten wollte, immer anschaulicher zu machen. Hierauf dacht' ich denn auch, meinen dritten Teil von Fischers physikalischem Lexikon wieder zu erlangen. Auf Erkundigung und Nachforschen fand ich endlich die Küchenmagd im Lazarett, das man mit ziemlicher Sorgfalt in einem Kloster errichtet hatte. Sie litt an der allgemeinen Krankheit, doch waren die Räume luftig und reinlich; sie erkannte mich, konnte aber nicht reden, nahm den Band unter dem Haupt hervor und übergab mir ihn so reinlich und wohl erhalten, als ich ihn überliefert hatte, und ich hoffe, die Sorgfalt, der ich sie empfahl, wird ihr zugute gekommen sein. Ein junger Schullehrer, der mich besuchte und mir verschiedene der neuesten Journale mitteilte, gab Gelegenheit zu erfreulichen Unterhaltungen. Er verwunderte sich, wie so viel andere, dass ich von Poesie nichts wissen wolle, dagegen auf Naturbetrachtungen mich mit ganzer Kraft zu werfen schien. Er war in der Kantischen Philosophie unterrichtet, und ich konnte ihm daher auf den Weg deuten, den ich eingeschlagen hatte. Wenn Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" der ästhetischen Urteilskraft die teleologische zur Seite stellt, so ergibt sich daraus, dass er andeuten wolle: ein Kunstwerk solle wie ein Naturwerk, ein Naturwerk wie ein Kunstwerk behandelt und der Wert eines jeden aus sich selbst entwickelt, an sich selbst betrachtet werden. Über solche Dinge konnte ich sehr beredet sein und glaube, dem guten jungen Mann einigermaßen genutzt zu haben. Es ist wundersam, wie eine jede Zeit Wahrheit und Irrtum aus dem kurz Vergangenen, ja dem längst Vergangenen mit sich trägt und schleppt, muntere Geister jedoch sich auf neuer Bahn bewegen, wo sie sich's denn freilich gefallen lassen, meist allein zu gehen oder einen Gesellen auf eine kurze Strecke mit sich fortzuziehen. Tier, den 26. Oktober. Nun durfte man aber aus solchen ruhigen Umgebungen nicht heraustreten, ohne sich wie im Mittelalter zu finden, wo Klostermauern und der tollste unregelmäßigste Kriegszustand miteinander immerfort kontrastierten. Besonders jammerten einheimische Bürger sowie zurückkehrende Emigrierte über das schreckliche Unheil, was durch die falschen Assignaten über Stadt und Land gekommen war. Schon hatten Handelshäuser gewusst, dergleichen nach Paris zu bringen, und von dort die Falschheit, völlige Ungültigkeit, die höchste Gefahr vernommen, sich mit dergleichen nur irgend abzugeben. Dass die echten gleichfalls dadurch in Misskredit gerieten, dass man bei völliger Umkehrung der Dinge auch wohl die Vernichtung aller dieser Papiere zu fürchten habe, fiel jedermann auf. Dieses ungeheure Übel nun gesellte sich zu den übrigen, so dass es vor der Einbildungskraft und dem Gefühl ganz grenzenlos erschien: ein verzweiflungsvoller Zustand, demjenigen ähnlich, wenn man eine Stadt vor sich niederbrennen sieht. Trier, den 28. Oktober. Die Wirtstafel, an der man übrigens ganz wohl versorgt war, gab auch ein Sinne verwirrendes Schauspiel: Militärs und Angestellte, allerart Uniform, Farben und Trachten, im stillen missmutig, auch wohl in Äußerungen heftig, aber alle wie in einer gemeinsamen Hölle zusammengefasst. Daselbst begegnete mir ein wahrhaft rührendes Ereignis. Ein alter Husarenoffizier, mittlerer Größe, grauen Bartes und Haares und funkelnden Auges, kam nach Tisch auf mich zu, ergriff mich bei der Hand und fragte: ob ich denn das alles auch mit ausgestanden habe? Ich konnte ihm einiges von Valmy und Hans erzählen, woraus er sich denn gar wohl das übrige nachbilden konnte. Hierauf fing er mit Enthusiasmus und warmem Anteil zu sprechen an, Worte, die ich nachzuschreiben kaum wage, des Inhalts: es sei schon unverantwortlich, dass man sie, deren Metier und Schuldigkeit es bleibe, dergleichen Zustände zu erdulden und ihr Leben dabei zuzusetzen, in solche Not geführt, die vielleicht kaum jemals erhört worden; dass aber auch ich -- er drückte seine gute Meinung über meine Persönlichkeit und meine Arbeiten aus -- das hätte mit erdulden sollen, darüber wollt' er sich nicht zufrieden geben. Ich stellte ihm die Sache von der heiteren Seite vor, von der Seite, mit meinem Fürsten, dem ich nicht ganz unnütz gewesen, mit so vielen wackren Kriegsmännern, zu eigner Prüfung diese wenigen Wochen her geduldet zu haben; allein er blieb bei seiner Rede, indessen ein Zivilist zu uns trat und dagegen erwiderte: man sei mir Dank schuldig, dass ich das alles mit ansehen wollen, indem man sich nun gar wohl von meiner geschickten Feder Darstellung und Aufklärung erwarten könne. Der alte Degen wollte davon auch nichts wissen und rief: "Glaubt es nicht, er ist viel zu klug! Was er schreiben dürfte, mag er nicht schreiben, und was er schreiben möchte, wird er nicht schreiben." Übrigens mochte man kaum hie und da hinhorchen, der Verdruss war grenzenlos. Und wie es schon eine verdrießliche Empfindung erregt, wenn glückliche Menschen nicht ablassen, uns ihr Behagen vorzurechnen, so ist es noch viel unausstehlicher, wenn uns ein Unheil, das wir selbst aus dem Sinn schlagen möchten, immer wiederkäuend vorgetragen wird. Von den Franzosen, die man hasste, aus dem Land gedrängt zu sein, genötigt, mit ihnen zu unterhandeln, mit den Männern des 10. Augusts sich zu befreunden, das alles war für Geist und Gemüt so hart, als bisher die körperliche Duldung gewesen. Man schonte der obersten Leitung nicht, und das Vertrauen, das man dem berühmten Feldherrn so lange Jahre gegönnt hatte, schien für immer verloren. Trier, den 29. Oktober. Als man sich nun auf deutschem Grund und Boden wieder fand und aus der ungeheuersten Verwirrung zu entwickeln hoffen durfte, traf uns die Nachricht von Custinens verwegenen und glücklichen Unternehmungen. Das große Magazin zu Speyer war in seine Hände geraten, er hatte darauf gewusst, eine Übergabe von Mainz zu bewirken. Diese Schritte schienen die grenzenlosesten Übel nach sich zu ziehen, sie deuteten auf einen außerordentlichen, so kühnen als folgerechten Geist, und da musste denn schon alles verloren sein. Nichts fand man wahrscheinlicher und natürlicher, als dass auch schon Koblenz von den Franken besetzt sei -- und wie sollten wir unsern Rückweg antreten! Frankfurt gab man in Gedanken gleichfalls auf; Hanau und Aschaffenburg an einer, Kassel an der anderen Seite sah man bedroht, und was nicht alles zu fürchten! Vom unseligen Neutralitätssystem die nächsten Fürsten paralysiert, desto lebendig-tätiger die von revolutionären Gesinnungen ergriffene Masse. Sollte man, wie Mainz bearbeitet worden, nicht auch die Gegend und die nächst anstoßenden Provinzen zu Gesinnungen vorbereiten und die schon entwickelten schleunig benutzen? Das alles musste zum Bedanken, zur Sprache kommen. Öfters hört' ich wiederholen: sollten die Franzosen wohl ohne große Überlegung und Umsicht, ohne starke Heeresmacht solche bedeutende Schritte getan haben? Custinens Handlungen schienen so kühn als vorsichtig; man dachte sich ihn, seine Gehilfen, seine Obern als weise, kräftige, konsequente Männer. Die Not war groß und Sinne verwirrend, unter allen bisher erduldeten Leiden und Sorgen ohne Frage die größte. Mitten in diesem Unheil und Tumult fand mich ein verspäteter Brief meiner Mutter, ein Blatt, das an jugendlich-ruhige, städtisch-häusliche Verhältnisse gar wundersam erinnerte. Mein Oheim, Schöff Textor, war gestorben, dessen nahe Verwandtschaft mich von der ehrenhaft wirksamen Stelle eines Frankfurter Ratsherrn bei seinen Lebzeiten ausschloss, worauf man, herkömmlich löblicher Sitte gemäß, meiner sogleich gedachte, der ich unter den Frankfurter Graduierten ziemlich weit vorgerückt war. Meine Mutter hatte den Auftrag erhalten, bei mir anzufragen: ob ich die Stelle eines Ratsherrn annehmen würde, wenn mir, unter die Losenden gewählt, die goldene Kugel zufiele? Vielleicht konnte eine solche Anfrage in keinem seltsamern Augenblick anlangen als in dem gegenwärtigen; ich war betroffen, in mich selbst zurückgewiesen, tausend Bilder stiegen mir auf und ließen mich nicht zu Gedanken kommen. Wie aber ein Kranker oder Gefangener sich wohl im Augenblick an einem erzählten Märchen zerstreut, so wahr auch ich in andere Sphären und Jahre versetzt. Ich befand mich in meines Großvaters Garten, wo die reich mit Pfirsichen gesegneten Spaliere des Enkels Appetit gar lüstern ansprachen und nur die angedrohte Verweisung aus diesem Paradies, nur die Hoffnung, die reifste, rotbäckigste Frucht aus des wohltätigen Ahnherrn eigner Hand zu erhalten, solche Begierde bis zum endlichen Termin einigermaßen beschwichtigen konnte. Sodann erblickt' ich den ehrwürdigen Altvater um seine Rosen beschäftigt, wie er gegen die Dornen mit altertümlichen Handschuhen, als Tribut überreicht von Zoll befreiten Städten, sich vorsichtig verwahrte, dem edlen Laertes gleich, nur nicht wie dieser sehnsüchtig und kummervoll. Dann erblickt' ich ihn im Ornat als Schultheiß, mit der goldnen Kette, auf dem Thronsessel unter des Kaisers Bildnis; sodann leider im halben Bewusstsein einige Jahre auf dem Krankenstuhl und endlich im Sarg. Bei meiner letzten Durchreise durch Frankfurt hatte ich meinen Oheim im Besitz des Hauses, Hofes und Gartens gefunden, der als wackrer Sohn, dem Vater gleich, die höheren Stufen freistädtischer Verfassung erstieg. Hier, im traulichen Familienkreis, in dem unveränderten, alt bekannten Lokal riefen sich jene Knabenerinnerungen lebhaft hervor und traten mir nun neukräftig vor die Augen. Sodann gesellten sich zu ihnen andere jugendliche Vorstellungen, die ich nicht verschweigen darf. Welcher reichstädtische Bürger wird leugnen, dass er, früher oder später, den Ratsherrn, Schöff und Bürgermeister im Auge gehabt und, seinem Talent gemäß, nach diesen, vielleicht auch nach minderen Stellen emsig und vorsichtig gestrebt: denn der süße Gedanke, an irgendeinem Regiment teilzunehmen, erwacht gar bald in der Brust eines jeden Republikaners, lebhafter und stolzer schon in der Seele des Knaben. Diesen freundlichen Kinderträumen konnt' ich mich jedoch nicht lange hingeben; nur allzu schnell aufgeschreckt, besah ich mir die ahnungsvolle Lokalität, die mich umfasste, die traurigen Umgebungen, die mich beengten, und zugleich die Aussicht nach der Vaterstadt getrübt, ja verfinstert. Mainz in französischen Händen, Frankfurt bedroht, wo nicht schon eingenommen, der Weg dorthin versperrt und innerhalb jener Mauern, Straßen, Plätze, Wohnungen, Jugendfreunde, Blutverwandte vielleicht schon von demselben Unglück ergriffen, daran ich Longwy und Verdun so grausam hatte leiden sehen -- wer hätte gewagt, sich in solchen Zustand zu stürzen! Aber auch in der glücklichsten Zeit jenes ehrwürdigen Staatskörpers wäre mir nicht möglich gewesen, auf diesen Antrag einzugehen; die Gründe waren nicht schwer auszusprechen. Seit zwölf Jahren genoss ich eines seltenen Glückes, des Vertrauens wie der Nachsicht des Herzogs von Weimar. Dieser von der Natur höchst begünstigte, glücklich ausgebildete Fürst ließ sich meine wohlgemeinten, oft unzulänglichen Dienste gefallen und gab mir Gelegenheit, mich zu entwickeln, welches unter keiner andern vaterländischen Bedingung möglich gewesen wäre; meine Dankbarkeit war ohne Grenzen, so wie die Anhänglichkeit an die hohen Frauen Gemahlin und Mutter, an die heranwachsende Familie, an ein Land, dem ich doch auch manches geleistet hatte. Und musste ich nicht zugleich jenes Zirkels neu erworbener höchst gebildeter Freunde gedenken, auch so manches andern häuslich Lieben und Guten, was sich aus meinen treu beharrlichen Zuständen entwickelt hatte! Diese bei solcher Gelegenheit abermals erregten Bilder und Gefühle erheiterten mich auf einmal in dem betrübtesten Augenblick: denn man ist schon halb gerettet, wenn man aus traurigster Lage im fremden Land einen hoffnungsvollen Blick in die gesicherte Heimat zu tun aufgeregt wird; so genießen wir diesseits auf Erden, was uns jenseits der Sphären zugesagt ist. In solchem Sinn begann ich den Brief an meine Mutter, und wenn sich diese Beweggründe zunächst auf mein Gefühl, auf persönliches Behagen, individuellen Vorteil zu beziehen schienen, so hatt' ich noch andere hinzuzufügen, die auch das Wohl meiner Vaterstadt berücksichtigten und meine dortigen Gönner überzeugen konnten. Denn wie sollt' ich mich in dem ganz eigentümlichen Kreis tätig wirksam erzeigen, wozu man vielleicht mehr als zu jedem andern treulich herangebildet sein muss? Ich hatte mich seit so viel Jahren zu Geschäften, meinen Fähigkeiten angemessen, gewöhnt, und zwar solchen, die zu städtischen Bedürfnissen und Zwecken kaum verlangt werden möchten. Ja, ich durfte hinzufügen, dass, wenn eigentlich nur Bürger in den rat aufgenommen werden sollten, ich nunmehr jenem Zustand so entfremdet sei, um mich völlig als einen Auswärtigen zu betrachten. Dieses alles gab ich meiner Mutter dankbar zu erkennen, welche sich auch wohl nichts anderes erwartete. Freilich mag dieser Brief spät genug zu ihr gelangt sein. Trier, den 29. Oktober. Mein junger Freund, mit dem ich gar manche angenehme wissenschaftliche und literarische Unterhaltung genoss, war auch im Geschichtlichen der Stadt und Umgebung gar wohl erfahren. Unsere Spaziergänge bei leidlichem Wetter waren deshalb immer belehrend, und ich konnte mir das Allgemeinste merken. Die Stadt an sich hat einen auffallenden Charakter: sie behauptet, mehr geistliche Gebäude zu besitzen als irgendeine andere von gleichem Umfang, und möchte ihr dieser Ruhm wohl kaum zu leugnen sein; denn sie ist innerhalb der Mauern von Kirchen, Kapellen, Klöstern, Konventen, Kollegien, Ritter- und Brüdergebäuden belastet, ja erdrückt, außerhalb von Abteien, Stiftern, Kartausen blockiert, ja belagert. Dieses zeugt denn von einem weiten geistlichen Wirkungskreis, welchen der Erzbischof sonst von hier aus beherrschte; denn seine Diözes war auf Metz, Toul und Verdun ausgedehnt. Auch dem weltlichen Regiment fehlt es nicht an schönen Besitztümern, wie denn der Kurfürst von Trier auf beiden Seiten der Mosel ein herrliches Land beherrscht; und so fehlt es auch Trier nicht an Palästen, welche beweisen, dass zu verschiedener Zeit von hier aus die Herrschaft sich weit und breit erstreckte. Der Ursprung der Stadt verliert sich in die Fabelzeit; das erfreuliche Lokal mag früh genug Anbauende hierher gelockt haben. Die Trevirer waren ins Römische Reich eingeschlossen, erst Heiden, dann Christen, von Normannen und von Franken überwältigt, und zuletzt ward das schöne Land dem Römisch-Deutschen Reiche einverleibt. Ich wünschte wohl, die Stadt in guter Jahreszeit, an friedlichen Tagen zu sehen, ihre Bürger näher kennen zu lernen, welche von jeher den Ruf haben, freundlich und fröhlich zu sein. Von erster Eigenschaft finden sich in diesem Augenblick wohl noch Spuren, von der zweiten kaum; und wie sollte Fröhlichkeit sich in einem so widerwärtigen Zustand erhalten! Freilich, wer in die Annalen der Stadt zurücksieht, findet wiederholte Nachricht von Kriegsunheil, das diese Gegend betroffen, da das Moseltal, ja der Fluss selbst dergleichen Züge begünstigt. Attila sogar aus dem fernsten Osten hatte mit seinem unzählbaren Heere Vor- und Rückzug, wie wir, durch diese Flussregion genommen. Was erduldeten die Einwohner nicht im Dreißigjährigen Kriege, bis zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts, indem sich der Fürst an Frankreich, als den nachbarlichsten Alliierten, angeschlossen hatte und darüber in langwierige österreichische Gefangenschaft geriet. Auch an inneren Kriegen erkrankte die Stadt mehr als einmal, wie es überall in bischöflichen Städten sich ereignen musste, wo der Bürger mit geistlich-weltlicher Obergewalt sich nicht immer vertragen konnte. Mein Führer, indem er mich geschichtlich unterrichtete, machte mich auf Gebäude der verschiedensten Zeit aufmerksam, wovon das meiste kurios und daher wohl merkwürdig schien, weniges aber dem Geschmacksurteil erfreulich zusagte, wie vorher an dem Monumente zu Igel gerühmt werden konnte. Die Reste des römischen Amphitheaters fand ich respektabel; da aber das Gebäude über sich selbst zusammengestürzt und wahrscheinlich mehrere Jahrhunderte als Steinbruch behandelt war, ließ sich nichts entziffern. Bewundernswert jedoch war noch immer, wie die Alten, ihrer Weisheit gemäß, große Zwecke mit mäßigen Mitteln hervorzubringen suchten und die Naturgelegenheit eines Tals zwischen zwei Hügeln zu nutzen gewusst, wo die Gestalt des Bodens an Exkavation und Substruktion dem Baumeister vieles glücklich ersparte. Wenn man nun von den ersten Höhen des Martisberges, wo diese Ruine gelegen, etwas weiter aufsteigt, so sieht man über alle Reliquien der Heiligen, über Dom, Dächer und Schirme nach dem Apolloberg hinüber, und so behaupten beide Götter, den Merkur zur Seite, ihres Namens Gedächtnis: die Bilder waren zu beseitigen, der Genius nicht. Zu Betrachtung der Baukunst früherer Mittelzeit bietet Trier merkwürdige Monumente: ich habe von solchen Dingen wenige Kenntnis, und sie sprechen nicht zum gebildeten Sinn. Mich wollte der Anblick bei einiger Teilnahme verwirren; manches davon ist verschüttet, zerstückt, zu anderem Gebrauch gewidmet. Über die große Brücke, auch noch im Altertum gegründet, führte man mich im heitersten Moment, hier nun sieht man deutlich, wie die Stadt auf einer mit ausspringendem Winkel nach dem Fluss zudrängenden Fläche, welche denselben gegen das linke Ufer hinweist, erbaut ist. Nun überschaut man vom Fuß des Apolloberges Fluss, Brücke, Mühlen, Stadt und Gegend, da sich denn die noch nicht ganz entlaubten Weinberg, sowohl zu unsern Füßen als auf den ersten Höhen des Martisberges gegenüber, gar freundlich ausnahmen, anschaulich machten, in welcher gesegneten Gegend man sich befinde, und ein Gefühl von Wohlfahrt und Behagen erweckten, welches über den Weinländern in der Luft zu schweben scheint. Die besten Sorten Moselwein, die uns nun zuteil wurden, schienen nach diesem Überblick einen angenehmern Geschmack zu haben. Trier, den 29. Oktober. Unser fürstlicher Heerführer kam an und nahm Quartier im Kloster St. Maximin. Diese reichen und sonst überglücklichen Menschen hatten denn freilich schon eine gute Zeit her große Unruhe erduldet: die Brüder des Königs waren dort einquartiert gewesen, und nachher war es nicht wieder leer geworden. Eine solche Anstalt, aus Ruh' und Frieden entsprungen, auf Ruh' und Friede berechnet, nahm sich freilich unter diesen Umständen wunderlich aus, da, man mochte noch so schonend verfahren, ein gewaltiger Gegensatz des Ritter- und Mönchtums sich hervortat. Der Herzog wusste jedoch hier wie überall, selbst als ungebetener Gast, durch Freigebigkeit und freundliches Betragen sich und die Seinigen angenehm zu machen. Mich aber sollte auch hier der böse Kriegsdämon wieder verfolgen. Unser guter Obrist von Gotsch war gleichfalls im Kloster einquartiert; ich fand ihn zur Nacht seinen Sohn bewachend und besorgend, welcher an der unglücklichen Krankheit gleichfalls hart daniederlag. Hier musst' ich nun wieder die Litanei und Verwünschung unseres Feldzugs aus dem Mund eines alten Soldaten und Vaters vernehmen, der die sämtlichen Fehler mit Leidenschaft zu rügen berechtigt war, die er als Soldat einsah und als Vater verfluchte. Auch die Isletten kamen wieder zur Sprache, und es musste wirklich ein jeder, der sich diesen unseligen Punkt deutlich machte, durchaus verzweifeln. Ich erfreute mich der Gelegenheit, die Abtei zu sehen, und fand ein weitläufiges, wahrhaft fürstliches Gebäude; die Zimmer von bedeutender Größe und Höhe, und die Fußboden getäfelt, Samt und damastne Tapeten, Stuckatur, Vergoldung und Schnitzwerk nicht gespart, und was man sonst in solchen Palästen zu sehen gewohnt ist, alles doppelt und dreifach in großen Spiegeln wiederholt. Auch ward den einquartierten Personen ganz wohl dahier; die Pferde jedoch konnten nicht sämtlich untergebracht werden, sie mussten unter freiem Himmel aushalten, ohne Lagerstätte, Raufen und Tröge. Unglücklicherweise waren die Futtersäcke gefault, und so musste der Hafer von der Erde aufgeschnopert werden. Wenn aber die Stallungen unbedeutend waren, so fand man die Keller desto geräumiger. Noch über die eigenen Weinberge genoss das Kloster die Einnahme von vielen Zehnten. Freilich mochte in den letzten Monaten gar manches Stückfass geleert worden sein, es lagen deren viele auf dem Hof. Den 30. Oktober gab unser Fürst große Tafel: drei der vornehmsten geistlichen Herren waren eingeladen, sie hatten köstliches Tischzeug, sehr schönes Porzellanservice hergegeben; von Silber war wenig zu sehen, Schätze und Kostbarkeiten lagen in Ehrenbreitstein. Die Speisen von den fürstlichen Köchen schmackhaft zubereitet; Wein, der uns früher hatte nach Frankreich folgen sollen, von Luxemburg zurückkehrend, ward hier genossen; was aber am meisten Lob und Preis verdiente, war das kostbarste weiße Brot, das an den Gegensatz des Kommissbrots bei Hans erinnerte. Ich hatte mich, als ich nach Trierscher Geschichte in diesen Tagen forschte, notwendig auch um die Abtei St. Maximin bekümmern müssen; ich konnte daher mit meinem geistlichen Nachbar ein ganz auslangendes, geschichtliches Gespräch führen. Das hohe Alter des Stifts ward vorausgesetzt; dann gedachte man seiner mannigfaltig wechselnden Schicksale, der nahen Lage des Stifts and er Stadt, beiden Teilen gleich gefährlich; wie es denn im Jahr 1674 niedergebrannt und völlig verwüstet wurde. Von dem Wiederaufbau und der allmählichen Herstellung in den gegenwärtigen Zustand ließ ich mich auch unterrichten. Dazu konnte man viel Gutes sagen und die Anstalten preisen, welches der geistliche Herr auch gern vernahm; von den letzten Zeiten aber wollte er nichts Rühmliches wissen: die französischen Prinzen waren da lange im Quartier gelegen, und man hatte von manchem Unfug, Übermut und Verschwendung zu hören. Bei Abwechslung des Gesprächs daher ging ich wieder ins Geschichtliche zurück; als ich aber der früheren Zeit erwähnte, wo das Stift sich dem Erzbischof gleichgesetzt und der Abt Reichsstand des Römisch-Deutschen Reichs gewesen, wich er lächelnd aus, als wenn er eine solche Erinnerung in der neusten Zeit für verfänglich halte. Die Sorge des Herzogs für sein Regiment ward nun tätig und klar; denn als die Kranken zu Wagen fortzubringen unmöglich war, so ließ der Fürst ein Schiff mieten, um sie bequem nach Koblenz zu transportieren. Nun aber kamen andere auf eine eigene Weise presshafte Kriegsmänner an. Auf dem Rückzug hatte man gar blad bemerkt, dass die Kanonen nicht fortzubringen seien: die Artilleriepferde kamen um, eines nach dem andern, wenig Vorspann war zu finden, die Pferde, auf dem Hinzug requiriert, beim Herzug geflüchtet, fehlten überall. Man griff zu der letzten Maßregel: Von jedem Regiment musste eine starke Anzahl Reiter absitzen und zu Fuß wandern, damit das Geschütz gerettet werde. In ihren steifen Stiefeln, die zuletzt nicht mehr durchhalten wollten, litten diese braven Menschen bei dem schrecklichen Wege unendlich; aber auch ihnen erheiterte sich die Zeit, denn es ward Anstalt getroffen, dass auch sie zu Wasser nach Koblenz fahren konnten. November. Mein Fürst hatte mir aufgetragen, dem Marquis Lucchesini aufzuwarten, eine Abschiedsempfehlung auszusprechen und mich nach einigem zu erkundigen. Bei später Abendzeit, nicht ohne einige Schwierigkeiten, ward ich bei diesem mir früher nicht ungewogenen, bedeutenden Mann eingelassen. Die Anmut und Freundlichkeit, mit der er mich empfing, war wohltätig; nicht so die Beantwortung meiner Fragen und Erfüllung meiner Wünsche. Er entließ mich, wie er mich aufgenommen hatte, ohne mich im mindesten zu fördern, und man wird mir zutrauen, dass ich darauf vorbereitet gewesen. Als ich nun die Abfahrt jener kranken und ermüdeten Reiter eifrig betreiben sah, ergriff mich gleichfalls das Gefühl, es sei wohl am besten getan, einen Ausweg auf dem Wasser zu suchen. Sehr ungern ließ ich meine Chaise zurück, die man mir aber nach Koblenz nachzusenden versprach, und mietete ein einmänniges Boot, wo mir denn beim Einschiffen meine sämtlichen Habseligkeiten, gleichsam vorgezählt, einen sehr angenehmen Eindruck machten, indem ich sie mehr als einmal verloren glaubte oder zu verlieren fürchtete. Zu dieser Fahrt gesellte sich ein preußischer Offizier, den ich als alten Bekannten aufnahm, dessen ich mich als Pagen gar wohl erinnerte und dem seine Hofzeit noch gar deutlich vorschwebte; wie er mir denn gewöhnlich den Kaffee wollte präsentiert haben. Das Wetter war leidlich, die Fahrt ruhig, und man erkannte die Anmut dieser Wohltat umso mehr, je mühseliger auf dem Landweg, der sich dem Fluss hie und da näherte, die Kolonnen dahin zogen oder auch wohl von Zeit zu Zeit stockend verweilten. Schon in Trier hatte man geklagt, dass bei so eiligem Rückmarsch die größte Schwierigkeit sei, Quartier zu finden, indem gar oft die einem Regiment angewiesenen Ortschaften schon besetzt gefunden worden, wodurch große Not und Verwirrung entstehe. Die Uferansichten der Mosel waren längs dieser Fahrt höchst mannigfaltig; denn obgleich das Wasser eigensinnig seinen Hauptlauf von Südwest nach Nordost richtet, so wird es doch, da es ein schikanöses gebirgisches Terrain durchstreift, von beiden Seiten durch vorspringende Winkel bald rechts bald links gedrängt, so dass es nur im weitläufigen Schlangengang fortwandeln kann. Deswegen ist denn aber auch ein tüchtiger Fährmeister höchst nötig; der unsere bewies Kraft und Gewandtheit, indem er bald hier einen vorgeschobenen Kies zu vermeiden, sogleich aber dort den an steiler Felswand herflutenden Strom zu schnellerer Fahrt kühn zu benutzen wusste. Die vielen Ortschaften zu beiden Seiten gaben den muntersten Anblick; der Weinbau, überall sorgfältig gepflegt, ließ auf ein heiteres Volk schließen, das keine Mühe schont, den köstlichen Saft zu erzielen. Jeder sonnige Hügel war benutzt, bald aber bewunderten wir schroffe Elsen am Strom, auf deren schmalen vorragenden Kanten, wie auf zufälligen Naturterrassen, der Weinstock zum allerbesten gedieh. Wir landeten bei einem artigen Wirtshaus, wo uns eine alte Wirtin wohl empfing, manches erduldete Ungemach beklagte, den Emigrierten aber besonders alles Böse gönnte. Sie habe, sagte sie, an ihrem Wirtstisch gar oft mit Grauen gesehen, wie diese gottesvergessenen Menschen das liebe Brot kugel- und brockenweise sich an den Kopf geworfen, so dass sie und ihre Mägde es nachher mit Tränen zusammengekehrt. Und so ging es mit gutem Glück und Mut immer weiter hinab bis zur Dämmerung, da wir uns denn aber in das mäandrische Flussgewinde, wie es sich gegen die Höhen von Montroyal herandrängt, verschlungen sahen. Nun überfiel uns die Nacht, bevor wir Trarbach erreichen oder auch nur gewahren konnten. Es ward stockfinster, eingeengt wussten wir uns zwischen mehr oder weniger steilem Ufer, als ein Sturm, bisher schon ruckweise verkündigt, gewaltsam anhaltend hereinbrach: bald schwoll der Strom im Gegenwind, bald wechselten abprallende Windstöße niederstürzend mit wütendem Sausen; eine Welle nach der anderen schlug über den Kahn, wir fühlten uns durchnässt. Der Schiffmeister barg nicht seine Verlegenheit; die Not schien immer größer, je länger sie dauerte, und der Drang war aufs höchste gestiegen, als der wackere Mann versicherte, er wisse weder wo er sei, noch wohin er steuern solle. Unser Begleiter verstummte, ich war still in mir gefasst. Wir schwebten in der tiefsten Finsternis, nur manchmal wollte mir schienen, dass Massen über mir doch noch etwas dunkler als der verfinsterte Himmels ich dem Auge bemerkbar machten; dies gewährte jedoch wenig Trost und Hoffnung: zwischen Land und Fels eingeschlossen zu sein, drang sich immer ängstlicher auf. Und so wurden wir im Stockfinstern lange hin und her geworfen, bis sich endlich in der Ferne ein Licht und damit auch Hoffnung auftat. Nun ward nach Möglichkeit drauf los gesteuert und gerudert, wobei sich Paul nach Kräften tätig erwies. Endlich stiegen wir in Trarbach glücklich ans Land, wo man uns in einem leidlichen Gasthof Henne mit Reis alsobald anbot. Ein angesehener Kaufmann aber, die Landung von Fremden in so tiefer stürmischer Nacht vernehmend, nötigte uns in sein Haus, wo wir bei hellem Kerzenschein, in wohl geschmückten Zimmern englische schwarze Kunstblätter, in Rahm und Glas gar zierlich aufgehangen, mit Freude, ja mit Rührung gegen die kurz vorher erduldeten finsteren Gefährlichkeiten begrüßend erblickten. Herr und Frau, noch junge Leute, beeiferten sich, uns gütlich zu tun; wir genossen des köstlichsten Moselweins, an dem sich mein Gefährte, der eine Wiederherstellung freilich am nötigsten haben mochte, besonders erquickte. Paul gestand, dass er schon Rock und Stiefel ausgezogen, um, wenn wir scheitern sollten, uns durch Schwimmen zu erretten; wobei er sich denn freilich nur allein möchte durchgebracht haben. Kaum hatten wir uns getrocknet und geletzt, als es in mir schon wieder zu treiben anfing und ich fortzueilen begehrte. Der freundliche Wirt wollte uns nicht entlassen, sondern verlangte vielmehr, wir sollten den morgenden Tag noch zugeben, versprach auch von einer benachbarten Höhe die weiteste, schönste Aussicht übe rein bedeutend Gelände und manches andere, was uns zur Erquickung und Zerstreuung hätte dienen können. Aber es ist wunderbar: wie sich der Mensch an ruhige Zustände gewöhnt und in denselben verharren mag, so gibt es auch eine Gewöhnung zum Unruhigen; es war in mir die Nötigung zu einem rollenden Forteilen, der ich nicht gebieten konnte. Als wir daher fortzueilen im Begriff standen, nötigte uns der wackere Mann noch zwei Matratzen auf, damit wir im Schiff wenigstens einige Bequemlichkeit hätten; die Frau gab solche nicht gerne her, welches ihr, da der Barchent neu und schön, gar nicht zu verdenken war. Und so ereignet sich's oft in Einquartierungsfällen, dass bald der eine, bald der andere Gatte dem aufgedrungenen Gast mehr oder weniger wohl will. Bis Koblenz schwammen wir ruhig hinunter, und ich erinnere mich nur deutlich, dass ich am Ende der Fahrt das schönste Naturbild gesehen, was mir vielleicht zu Augen gekommen. Als wir gegen die Moselbrücke zu fuhren, stand uns dieses schwarze mächtige Bauwerk kräftig entgegen; durch die Bogenöffnungen aber schauten die stattlichen Gebäude des Tals, über der Brückenlinie sodann das Schloss Ehrenbreitstein im blauen Duft durch und hervor. Rechts bildete die Stadt, an die Brücke sich anschließend, einen tüchtigen Vorgrund. Dieses Bild gab einen herrlichen, aber nur augenblicklichen Genuss, denn wir landeten und schickten sogleich gewissenhaft die Matratzen unversehrt an das von den wackeren Trarbachern uns bezeichnete Handelshaus. Dem Herzog von Weimar war ein schönes Quartier eingeräumt, worin auch ich ein gutes Unterkommen fand. Die Armee rückte nach und nach heran; die Dienerschaft des fürstlichen Generals traf ein und konnte nicht genug von den Unbilden erzählen, die sie erleiden müssen. Wir segneten uns, die Wasserfahrt eingeschlagen zu haben, und die glücklich überstandene Windsbraut schien nur ein geringes Übel gegen eine stockende und überall gehinderte Landfahrt. Der Fürst selbst war angekommen, um den König versammelten sich viele Generale. Ich aber, in einsamen Spaziergängen den Rhein hin, wiederholte mir die wunderlichen Ereignisse der vergangenen Wochen. * * * * * Ein französischer General, Lafayette, Haupt einer großen Partei, vor kurzem der Abgott seiner Nation, des vollkommensten Vertrauens der Soldaten genießend, lehtn sich gegen die Obergewalt auf, die allein nach Gefangennehmung des Königs das Reich repräsentiert; er entflieht, seine Armee, nicht stärker als 23000 Mann, bleibt ohne General und Oberoffiziere, desorganisiert, bestürzt. Zur selbigen Zeit betritt ein mächtiger König, mit einem 80000 Mann starken verbündeten Heer, den Boden von Frankreich; zwei befestigte Städte, nach geringem Zaudern, ergeben sich. Nun erscheint ein wenig gekannter General, Dumouriez; ohne jemals einen Oberbefehl geführt zu haben, nimmt er, gewandt und klug, eine sehr starke Stellung; sie wird durchbrochen, und doch erreicht er eine zweite, wird auch daselbst eingeschlossen und zwar so, dass der Feind sich zwischen ihn und Paris stellt. Aber sonderbar verwickelte Zustände werden durch anhaltendes Regenwetter herbeigeführt; das furchtbare alliierte Heer, nicht weiter als sechs Stunden von Chalons und zehn von Reims, sieht sich abgehalten, diese beiden Orte zu gewinnen, bequemt sich zum Rückzug, räumt die zwei eroberten Plätze, verliert über ein Drittel seiner Mannschaft, und davon höchstens 2000 durch die Waffen, und sieht sich nun wieder am Rhein. Alle diese Begegnisse, die an das Wunderbare grenzen, ereignen sich in weniger als sechs Wochen, und Frankreich ist aus der größten Gefahr gerettet, deren seien Jahrbücher jemals gedenken. Vergegenwärtige man sich nun die vielen tausend Teilnehmer an solchem Missgeschick, denen das grimmige Leibes- und Seelenleiden einiges Recht zur Klage zu geben schien, so wird man sich leicht vorstellen, dass nicht alles im stillen abgetan ward, und so sehr man sich auch vorzusehen gedachte, doch aus einem vollen Herzen der Mund zuzeiten überging. Und so begegnete denn auch mir, dass ich an großer Tafel neben einem alten trefflichen General saß und vom Vergangenen zu sprechen mich nicht ganz enthielt, worauf er mir, zwar freundlich, aber mit gewisser Bestimmtheit antwortete: "Erzeigen Sie mir morgen früh die Ehre, mich zu besuchen, da wir uns hierüber freundlich und aufrichtig besprechen wollen." Ich schien es anzunehmen, blieb aber aus und gelobte mir innerlich, das gewohnte Stillschweigen so bald nicht wieder zu brechen. Auf der Wasserfahrt sowie auch in Koblenz hatte ich manche Bemerkung gemacht zum Vorteil meiner chromatischen Studien; besonders war mir über die epooptischen Farben ein neues Licht aufgegangen, und ich konnte immer mehr hoffen, die physischen Erscheinungen in sich zu verknüpfen und sie von andern abzusondern, mit denen sie in entfernterer Verwandtschaft zu stehen schien. Auch kam mir des treuen Kämmerier Wagner Tagebuch zu Ergänzung des meinigen gar wohl zustatten, das ich in den letzten Tagen ganz und gar vernachlässigt hatte. Des Herzogs Regiment war herangekommen und kantonierte in den Dörfern gegen Neuwied über. Hier bewies der Fürst die väterlichste Sorgfalt für seine Untergebenen: jeder einzelne durfte seine Not klagen, und soviel nur möglich ward abgestellt und nachgeholfen. Leutnant von Flotow, in der Stadt auf Kommando stehend und dem Wohltäter am nächsten, erwies sich tätig und hilfreich. Dem Hauptbedürfnis an Schuhen und Stiefeln wurde dadurch abgeholfen, dass man Leder kaufte und die im Regiment sich findenden Schuster unter den Meistern der Stadt arbeiten ließ. Auch für Reinlichkeit und Zierde war gesorgt, gelbe Kreide angeschafft, die Kolletts gesäubert und gefärbt, und unsere Reiter trabten wieder ganz schmuck einher. Meine Studien jedoch sowohl als die heitere Unterhaltung mit den Kanzlei- und Hausgenossen wurden gar sehr belebt durch den Ehrenwein, welcher, von trefflicher Moselsorte, unserem Fürsten vom Stadtrat gereicht ward und welchen wir, da der Fürst meist auswärts speiste, zu genießen die Erlaubnis hatten. Als wir Gelegenheit fanden, einem von den Gebern darüber ein Kompliment zu machen, und dankbar anerkannten, dass sie sich bei solcher Gelegenheit um unsertwillen mancher guten Flasche berauben wollen, vernahmen wir die Erwiderung: dass sie uns dies und noch viel mehr gönnten und nur die Fässer bedauerten, welche sie an die Emigrierten wenden müssen, welche zwar viel Geld, aber auch viel Unheil über die Stadt gebracht, ja den Zustand derselben völlig umgekehrt; besonders aber wollte man ihr Betragen gegen den Fürsten nicht rühmen, an dessen Stelle sie sich gewissermaßen gesetzt und gegen seine Willen kühnlich Unverantwortliches unternommen. In der letzten, Unheil drohenden Zeit, war er auch nach Regensburg abgereist, und ich schlich, zu schöner heiterer Mittagsstunde, an sein Schloss hin, das auf dem linken Rheinufer, etwas oberhalb der Stadt, wunderschön, seitdem ich diese Gegen nicht betreten, aus der Erde gewachsen war. Es stand einsam und als die allerneuste, wenn auch nicht architektonische, doch politische Ruine da, und ich hatte nicht den Mut, mir von dem umherwandelnden Schlossvogt den Eingang zu gewinnen. Wie schön war die nähere und weitere Umgebung, wie angebaut und gartenreich der Raum zwischen Schloss und Stadt, die Aussicht den Rhein stromauf ruhig und besänftigend, gegen Stadt und Festung aber prächtig und aufregend. In der Absicht, mich übersetzen zu lassen, ging ich zur fliegenden Brücke, ward aber aufgehalten oder hielt mich vielmehr selbst auf, in Beschauung eines österreichischen Wagentransportes, welcher nach und nach übergesetzt wurde. Hier ereignete sich ein Streit zwischen einem preußischen und österreichischen Unteroffizier, welcher den Charakter beider Nationen klar ins Licht setzte. Vom Österreicher, der hierher postiert war, um die möglich schnelle Überfahrt der Wagenkolonne zu beaufsichtigen, aller Verwirrung vorzubeugen und deshalb kein anderes Fuhrwerk dazwischen zu lassen, verlangte der Preuße heftig eine Ausnahme für sein Wägelchen, auf welchem Frau und Kind mit einigen Habseligkeiten gepackt waren. Mit großer Gelassenheit versagte der Österreicher die Forderung, auf die Order sich berufend, die ihm dergleichen ausdrücklich verbiete; der Preuße ward heftiger, der Österreicher wo möglich gelassener; er litt keine Lücke in der ihm empfohlenen Kolonne, und der andere fand sich einzudrängen keinen Raum. Endlich schlug der Zudringliche an seinen Säbel und forderte den Widerstehenden heraus: mit Drohen und Schimpfen wollte er seinen Gegner ins nächste Gässchen bewegen, um die Sache daselbst auszumachen; der höchst, ruhige, verständige Mann aber, der die Rechte seines Postens gar wohl kannte, rührte sich nicht und hielt Ordnung nach wie vor. Ich wünschte diese Szene wohl von einem Charakterzeichner aufgefasst, denn wie im Betragen so auch in Gestalt unterschieden sich beide: der Gelassene war stämmig und stark, der Wütende -- denn zuletzt erwies er sich so -- hager, lang, schmächtig und rührig. Die auf diesen Spaziergang zu verwendende Zeit war zum Teil schon verstrichen, und mir vertrieb die Frucht vor ähnlichen Retardationen bei der Rückkehr jede Lust, das sonst so geliebte Tal zu besuchen, das doch nur das Gefühl schmerzlichen Entbehrens erregt und mich fruchtlos zu Betrachtung früherer Jahre aufgeregt hätte; doch stand ich lange hinüberschauend, friedlicher Zeiten mitten im verwirrenden Wechsel irdischer Ereignisse treulich eingedenk. Und so traf es zufällig, dass ich von den Maßregeln zum ferneren Feldzug auf dem rechten Ufer näher unterrichtet ward. Des Herzogs Regiment rüstete sich, hinüberzuziehen; der Fürst selbst mit seiner ganzen Umgebung sollte folgen. Mir bangte vor jeder Fortsetzung des kriegerischen Zustandes, und das Fluchtgefühl ergriff mich abermals. Ich möchte dies ein umgekehrtes Heimweh nennen, eine Sehnsucht ins Weite statt ins Enge. Ich stand, der herrliche Fluss lag vor mir: er geleitete so sanft und lieblich hinunter, in ausgedehnter breiter Landschaft; er floss zu Freunden, mit denen ich, trotz manchem Wechseln und Wenden, immer treu verbunden geblieben. Mich verlangte aus der fremden, gewaltsamen Welt an Freundesbrust, und so mietete ich, nach erhaltenem Urlaub, eilig einen Kahn bis Düsseldorf, meine noch immer zurückbleibende Chaise Koblenzer Freunden empfehlend, mit Bitte, sie mir hinabwärts zu spedieren. Als ich nun mit meinen Habseligkeiten mich eingeschifft und sogleich auf dem Strom dahin schwimmen sah, begleitet vom getreuen Paul und einem blinden Passagier, welcher gelegentlich zu rudern sich verband, heilt ich mich für glücklich und von allem Übel befreit. Indessen standen noch einige Abenteuer bevor. Wir hatten nicht lange flussabwärts gerudert, als zu bemerken war, dass der Kahn ein starkes Leck haben müsse, indem der Fährmann von Zeit zu Zeit das Wasser fleißig ausschöpfte. Und nun entdeckte ich erst, dass wir, bei übereilt unternommener Fahrt, nicht bedacht hatten, wie auf die weite Strecke hinab vom Koblenz bis Düsseldorf der Schiffer nur ein altes Boot zu nehmen pflegt, um es unten als Brennholz zu verkaufen und, sein Fährgeld in der Tasche, ganz leicht nach Hause zu wandern. Indessen fuhren wir getrost dahin. Eine sternhelle, doch sehr kalte Nacht begünstigte unsere Fahrt, als auf einmal der fremde Ruderer verlangte, ans Land gesetzt zu werden, und sich mit dem Schiffer zu streiten anfing, an welcher Stelle es denn eigentlich für den Wandrer am vorteilhaftesten sei; worüber sie sich nicht vereinigen konnten. Unter diesen Händeln, die mit Heftigkeit geführt wurden, stürzte unser Fährmann ins Wasser und wurde nur mit Mühe herausgezogen. Nun konnte er bei heller, klarer Nacht nicht mehr aushalten und bat dringend um die Erlaubnis, bei Bonn anfahren zu dürfen, um sich zu trocknen und zu erwärmen. Mein Diener ging mit ihm in eine Schifferkneipe, ich aber beharrte, unter freiem Himmel zu bleiben, und ließ mir ein Lager auf Mantelsack und Portefeuille bereiten. So groß ist die Macht der Gewohnheit, dass mir, der ich die letzten sechs Wochen fast immer unter freiem Himmel zugebracht hatte, vor Dach und Zimmer graute. Diesmal aber entstand daraus für mich ein neues Unheil, welches man freilich hätte vorhersehen sollen: den Kahn hatte man zwar soweit als möglich auf den Strand gezogen, aber nicht so weit, dass er nicht durch das Leck noch hätte Wasser einnehmen können. Nach einem tiefen Schlaf fand ich mich mehr als erfrischt, denn das Wasser war bis zu meinem Lager gedrungen und hatte mich und meine Habseligkeiten durchnässt. Ich war daher genötigt, aufzustehen, das Wirtshaus aufzusuchen und mich in Tabak schmauchender, Glühwein schlürfender Gesellschaft so gut als möglich zu trocknen, worüber denn der Morgen ziemlich herankam und eine verspätete Reise durch frisches Rudern eifrig beschleunigt wurde. Zwischenrede Wenn ich mich nun so, in der Erinnerung, den Rhein hinunter schwimmen sehe, wüsst' ich nicht genau zu sagen, was in mir vorging. Der Anblick eines friedlichen Wasserspiegels, das Gefühl der bequemen Fahrt auf demselben ließ mich nach der kurz vergangenen Zeit zurückschauen wie auf einen bösen Traum, von dem ich mich soeben erwacht fände; ich überließ mich den heitersten Hoffnungen eines nächsten gemütlichen Zusammenseins. Nun aber, wenn ich mitzuteilen fortfahren soll, muss ich eine andere Behandlung wählen, als dem bisherigen Vortrag wohl geziemte: denn wo Tag für Tag das Bedeutendste vor unsern Augen vorgeht, wenn wir mit so viel Tausenden leiden und fürchten und nur furchtsam hoffen, dann hat die Gegenwart ihren entschiedenen Wert und, Schritt vor Schritt vorgetragen, erneut sie das Vergangene, indem sie auf die Zukunft hindeutet. Was aber in geselligen Zirkeln sich ereignet, kann nur aus einer sittlichen Folge der Äußerungen innerlicher Zustände begriffen werden: die Reflexion ist hier an ihrer Stelle, der Augenblick spricht nicht für sich selbst, Andenken an das Vergangene, spätere Betrachtungen müssen ihn dolmetschen. Wie ich überhaupt ziemlich unbewusst lebte und mich vom Tag zum Tage führen ließ, wobei ich mich, besonders die letzten Jahre, nicht übel befand, so hatte ich die Eigenheit, niemals weder eine nächst zu erwartende Person noch eine irgend zu betretende Stelle voraus zu denken, sondern diesen Zustand unvorbereitet auf mich einwirken zu lassen. Der Vorteil, der daraus entsteht, ist groß: man braucht von einer vorgefassten Idee nicht wieder zurückzukommen, nicht ein selbstbeliebig gezeichnetes Bild wieder auszulöschen und mit Unbehagen die Wirklichkeit an dessen Stelle aufzunehmen; der Nachteil dagegen mag wohl hervortreten, dass wir mit Unbewusstsein in wichtigen Augenblicken nur herumtasten und uns nicht gerade in jeden ganz unvorhergesehenen Zustand aus dem Stegreif zu finden wissen. In eben dem Sinn war ich auch niemals aufmerksam, was meine persönliche Gegenwart und Geistesstimmung auf die Menschen wirke, da ich denn oft ganz unerwartet fand, dass ich Neigung oder Abneigung und sogar oft beides zugleich erregte. Wollte man nun auch dieses Betragen als eine individuelle Eigenheit weder loben noch tadeln, so muss doch bemerkt werden, dass sie im gegenwärtigen Fall gar wunderliche Phänomene, und nicht immer die erfreulichsten, hervorbrachte. Ich war mit jenen Freunden seit vielen Jahren nicht zusammengekommen; sie hatten sich getreu an ihrem Lebensgang gehalten, dagegen mir das wunderbare Los beschieden war, durch manche Stufen der Prüfung, des Tuns und Duldens durchzugehen, so dass ich, in eben der Person beharrend, ein ganz anderer Mensch geworden, meinen alten Freunden fast unkenntlich auftrat. Es würde schwer halten, auch in späteren Jahren, wo eine freiere Übersicht des Lebens gewonnen ist, sich genaue Rechenschaft von jenen Übergängen abzulegen, die bald als Vorschritt, bald als Rückschritt erscheinen und doch alle dem Gott geführten Menschen zu Nutz und Frommen gereichen müssen. Ungeachtet solcher Schwierigkeiten aber will ich, meinen Freunden zuliebe, einige Andeutung versuchen. Der sittliche Mensch erregt Neigung und Liebe nur insofern, als man Sehnsucht an ihm gewahr wird: sie drückt Besitz und Wunsch zugleich aus, den Besitz eines zärtlichen Herzens und den Wunsch, ein gleiches in andern zu finden; durch jenes zeihen wir an, durch dieses geben wir uns hin. Das Sehnsüchtige, das in mir lag, das ich in früheren Jahren vielleicht zu sehr gehegt und bei fortschreitendem Leben kräftig zu bekämpfen trachtete, wollte dem Mann nicht mehr ziemen, nicht mehr genügen, und er suchte deshalb die volle, endliche Befriedigung. Das Ziel meiner innigsten Sehnsucht, deren Qual mein ganzes Inneres erfüllte, war Italien, dessen Bild und Gleichnis mir viele Jahre vergebens vorschwebte, bis ich endlich durch kühnen Entschluss die wirkliche Gegenwart zu fassen mich erdreistete. In jenes herrliche Land sind mir meine Freunde gern auch in Gedanken gefolgt, sie haben mich auf Hin- und Herwegen begleitet; möchten sie nun auch nächstens den längeren Aufenthalt daselbst mit Neigung teilen und von dort mich wieder zurück begleiten, da sich alsdann manches Problem fasslicher auflösen wird. In Italien fühlt' ich mich nach und nach kleinlichen Vorstellungen entrissen, falschen Wünschen enthoben, und an die Stelle der Sehnsucht nach dem Land der Künste setzte sich die Sehnsucht nach der Kunst selbst: ich war sie gewahr geworden, nun wünscht' ich sie zu durchdringen. Das Studium der Kunst, wie das der alten Schriftsteller, gibt uns einen gewissen Halt, eine Befriedigung in uns selbst: indem sie unser Inneres mit großen Gegenständen und Gesinnungen füllt, bemächtigt sie sich aller Wünsche, die nach außen strebten, hegt aber jedes würdige Verlangen im stillen Busen; das Bedürfnis der Mitteilung wird immer geringer, und wie Malern, Bildhauern, Baumeistern, so geht es auch dem Liebhaber: er arbeitet einsam, für Genüsse, die er mit andern zu teilen kaum in den Fall kommt. Aber zu gleicher Zeit sollte mich noch eine Ableitung der Welt entfremden, und zwar die entschiedenste Wendung gegen die Natur, zu der ich aus eigenstem Trieb auf die individuellste Weise hingelenkt worden. Hier fand ich weder Meister noch Gesellen und musste selbst für alles stehen. In der Einsamkeit der Wälder und Gärten, in den Finsternissen der dunklen Kammer wär' ich ganz einzeln geblieben, hätte mich nicht en glückliches, häusliches Verhältnis in dieser wunderlichen Epoche lieblich zu erquicken gewusst. Die "Römischen Elegien," die "Venezianischen Epigramme" fallen in diese Zeit. Nun aber sollte mir auch ein Vorgeschmack kriegerischer Unternehmungen werden: denn, der schlesischen, durch den Reichenbacher Kongress geschlichteten Kampagne beizuwohnen beordert, hatte ich mich in einem bedeutenden Land durch manche Erfahrung aufgeklärt und erhoben gesehen und zugleich durch anmutige Zerstreuung hin- und hergaukeln lassen, indessen das Unheil der französischen Staats-Umwälzung, sich immer weiter verbreitend, jeden Geist, er mochte hin denken und sinnen, wohin er wollte, auf die Oberfläche der europäischen Welt zurückforderte und ihm die grausamsten Wirklichkeiten aufdrang. Rief mich nun gar die Pflicht, meinen Fürsten und Herrn erst in die bedenklichen, bald aber traurigen Ereignisse des Tags abermals hinein zu begleiten und das Unerfreuliche, das ich nur gemäßigt meinen Lesern mitzuteilen gewagt, männlich zu erdulden, so hätte alles, was noch Zartes und Herzliches sich ins Innerste zurückgezogen hatte, auslöschen und verschwinden mögen. Fasse man dies alles zusammen, so wird der Zustand, wie er nachstehend skizzenhaft verzeichnet ist, nicht ganz rätselhaft erscheinen; welches ich umso mehr wünschen muss, da ich ungern dem Trieb widerstehe, diese vor vielen Jahren flüchtig verfassten Blätter nach gegenwärtiger Einsicht und Überzeugung umzuschreiben. Pempelfort, November 1792. Es war schon finster, als ich in Düsseldorf landete und mich daher mit Laternen nach Pempelfort bringen ließ, wo ich nach augenblicklicher Überraschung die freundlichste Aufnahme fand; vielfaches Hin- und Hersprechen, wie ein solches wieder Sehen aufregt, nahm einen Teil der Nacht hinweg. Den nächsten Tag war ich durch Fragen, Antworten und Erzählen bald eingewohnt: der unglückliche Feldzug gab leider genugsame Unterhaltung, niemand hatte sich den Ausgang so traurig gedacht. Aber auch aussprechen konnte niemand die tiefe Wirkung eines beinahe vierwöchentlichen furchtbaren Schweigens, die sich immer steigernde Ungewissheit bei dem Mangel aller Nachrichten. Eben als wäre das alliierte Heer von der Erde verschlungen worden, so wenig verlautete von demselben; jedermann, in eine grässliche Leere hineinblickend, war von Furcht und Ängsten gepeinigt, und nun erwartete man mit Entsetzen die Kriegsläufe schon wieder in den Niederlanden, man sah das linke Rheinufer und zugleich das rechte bedroht. Von solchen Betrachtungen zerstreuten uns moralische und literarische Verhandlungen, wobei mein Realismus, zum Vorschein kommend, die Freunde nicht sonderlich erbaute. Ich hatte seit der Revolution, mich von dem wilden Wesen einigermaßen zu zerstreuen, ein wunderbares Werk begonnen, eine Reise von sieben Brüdern verschiedener Art, jeder nach seiner Weise dem Bund dienend, durchaus abenteuerlich und märchenhaft, verworren, Aussicht und Absicht verbergend, ein Gleichnis unseres eigenen Zustandes. Man verlangte eine Vorlesung, ich ließ mich nicht viel bitten und rückte mit meinen Heften hervor; aber ich bedurfte auch nur wenig Zeit, um zu bemerken, dass niemand davon erbaut sei. Ich ließ daher meine wandernde Familie in irgendeinem Hafen und mein weiteres Manuskript auf sich selbst beruhen. Meine Freunde jedoch, die sich in so veränderte Gesinnung nicht gleich ergeben wollten, versuchten mancherlei, um frühere Gefühle durch ältere Arbeiten wieder hervorzurufen, und gaben mir "Iphigenie" zur abendlichen Vorlesung in die Hand; das wollte mir aber gar nicht munden, dem zarten Sinn fühlt' ich mich entfremdet; auch von andern vorgetragen, war mir ein solcher Anklang lästig. Indem aber das Stück gar blad zurückgelegt ward, schien es, als wenn man mich durch einen höheren Grad von Folter zu prüfen gedenke. Man brachte "Ödipus auf Kolonos," dessen erhabene Heiligkeit meinem gegen Kunst, Natur und Welt gewendeten, durch eine schreckliche Kampagne verhärteten Sinn ganz unerträglich schien; nicht hundert Zeilen hielt ich aus. Da ergab man sich denn wohl in die Gesinnung des veränderten Freundes: fehlte es doch nicht an so mancherlei Anhaltepunkten des Gesprächs. Aus den früheren Zeiten deutscher Literatur ward manches einzelne erfreulich hervorgerufen, niemals aber drang die Unterhaltung in einen tieferen Zusammenhang, weil man Merkmale ungleicher Gesinnung vermeiden wollte. Soll ich irgendetwas Allgemeines hier einschalten, so war es schon seit zwanzig Jahren wirklich eine merkwürdige Zeit, wo bedeutende Existenzen zusammentrafen und Menschen von einer Seite sich aneinander schlossen, obgleich von der andern höchst verschieden: jeder brachte einen hohen Begriff von sich selbst zur Gesellschaft, und man ließ sich eine wechselseitige Verehrung und Schonung gern gefallen. Das Talent befestigte seinen erworbenen Besitz einer allgemeinen Achtung, durch gesellige Verbindungen wusste man sich zu hegen und zu fördern, die errungenen Vorteile wurden nicht mehr durch einzelne, sondern durch die übereinstimmende Mehrheit erhalten. Dass hierbei eine Art Absichtlichkeit durchwalten musste, lag in der Sache; so gut wie andere Weltkinder verstanden sie, eine gewisse Kunst in ihre Verhältnisse zu legen: man verzieh sich die Eigenheiten, eine Empfindlichkeit heilt der andern die Wage, und die wechselseitigen Missverständnisse blieben lange verborgen. Zwischen diesem allen hatte ich einen wunderlichen Stand: mein Talent gab mir einen ehrenvollen Platz in der Gesellschaft, aber meine heftige Leidenschaft für das, was ich als wahr und naturgemäß erkannte, erlaubte sich manche gehässige Ungezogenheit gegen irgendein scheinbar falsches Streben; weswegen ich mich auch mit den Gliedern jenes Kreises zu Zeiten überwarf, ganz oder halb versöhnte, immer aber im Dünkel des Rechthabens auf meinem Weg fortging. Dabei behielt ich etwas von der Ingenuität des Voltaireschen Huronen noch im späteren Alter, so dass ich zugleich unerträglich und liebenswürdig sein konnte. Ein Feld jedoch, in welchem man sich mit mehr Freiheit und Übereinstimmung erging, war die westliche, um nicht zu sagen französische Literatur. Jacobi, indem er seinen eigenen Weg wandelte, nahm doch Kenntnis von allem Bedeutenden, und die Nachbarschaft der Niederlande trug viel dazu bei, ihn nicht allein literarisch, sondern auch persönlich in jenen Kreis zu ziehen. Er war ein sehr wohlgestalteter Mann, von den vorteilhaftesten Gesichtszügen, von einem zwar gemessenen, aber doch höchst gefälligen Betragen, bestimmt, in jedem gebildeten Kreis zu glänzen. Wundersam war jene Zeit, die man sich kaum wieder vergegenwärtigen könnte. Voltaire hatte wirklich die alten Bande der Menschheit aufgelöst; daher entstand in guten Köpfen eine Zweifelsucht an dem, was man sonst für würdig gehalten hatte. Wenn der Philosoph von Ferney seine ganze Bemühung dahin richtete, den Einfluss der Geistlichkeit zu midnern und zu schwächen, und hauptsächlich Europa im Auge behielt, so erstreckte de Pauw seinen Eroberungsgeist über fernere Weltteile; er wollte weder Chinesen noch Ägyptern die Ehre gönnen, die ein vieljähriges Vorurteil auf sie gehäuft hatte. Als Kanonikus von Xanten Nachbar von Düsseldorf, unterhielt er ein freundschaftliches Verhältnis mit Jacobi. Und wie mancher andere wäre nicht hier zu nennen! Und so wollen wir doch noch Hemsterhuis einführen, welcher, der Fürstin Gallitzin ergeben, in dem benachbarten Münster viel verweilte. Dieser ging nun von seiner Seite mit Geistesverwandten auf zartere Beruhigung, auf ideelle Befriedigung aus und neigte sich, mit platonischen Gesinnungen, der Religion zu. Bei diesen fragmentarischen Erinnerungen muss ich auch noch Diderots gedenken, des heftigen Dialektikers, der sich auch eine Zeitlang in Pempelfort als Gast sehr wohl gefiel und mit großer Freimütigkeit seine Paradoxen behauptete. Auch waren Rousseaus und Naturzustände gerichtete Aussichten diesem Kreis nicht fremd, welcher nichts ausschloss, also auch mich nicht, ob er mich gleich eigentlich nur duldete. Denn wie die äußere Literatur auf mich in jüngeren Jahren gewirkt, ist an mehreren Orten schon angedeutet. Fremdes konnt' ich wohl in meinem Nutzen verwenden, aber nicht aufnehmen; deshalb ich mich denn über das Fremde mit andern ebenso wenig zu verständigen vermochte. Ebenso wunderlich sah es mit der Produktion aus: diese heilt immer gleichen Schritt mit meinem Lebensgang, und da dieser selbst für meine nächsten Freunde meist ein Geheimnis blieb, so wusste man selten mit einem meiner neuen Produkte sich zu befreunden, weil man denn doch etwas Ähnliches zu dem schon Bekannten erwartete. War ich nun schon mit meinen sieben Brüdern übel angekommen, weil sie Schwester Iphigenie nicht im mindesten glichen, so merkt' ich wohl, dass ich die Freunde durch meinen Groß-Cophta, der längst gedruckt war, sogar verletzt hatte; es war die Rede nicht davon, und ich hütete mich, sie darauf zu bringen. Indessen wird man mir gestehen, dass ein Autor, der in der Lage ist, seine neuesten Werke nicht vortragen oder darüber reden zu dürfen, sich so peinlich fühlen muss wie ein Komponist, der seine neusten Melodien zu wiederholen sich gehindert fühlte. Mit meinen Naturbetrachtungen wollte es mir kaum besser glücken: die ernstliche Leidenschaft, womit ich diesem Geschäft nachhing, konnte niemand begreifen, niemand sah, wie sie aus meinem Innersten entsprang; sie hielten dieses löbliche Bestreben für einen grillenhaften Irrtum, ihrer Meinung nach konnt' ich was Besseres tun und meinem Talent die alte Richtung lassen und geben. Sie glaubten sich hierzu um desto mehr berechtigt, als meine Denkweise sich an die ihrige nicht anschloss, vielmehr in den meisten Punkten gerade das Gegenteil aussprach. Man kann sich keinen isolierteren Menschen denken, als ich damals war und lange Zeit blieb. Der Hylozoismus, oder wie man es nennen will, dem ich anhing und dessen tiefen Grund ich in seiner Würde und Heiligkeit unberührt ließ, machte mich unempfänglich, ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf welche Art es auch sei, auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis aufstellte. Ich hatte mir aus Kants Naturwissenschaft nicht entgehen lassen, dass Anziehungs- und Zurückstoßungskraft zum Wesen der Materie getrennt werden könne; daraus ging mir die Urpolarität aller Wesen getrennt werden könne; daraus ging mir die Urpolarität der Erscheinungen durchdringt und belebt. Schon bei dem früheren Besuch der Fürstin Gallitzin mit Fürstenberg und Hemsterhuis in Weimar hatte ich dergleichen vorgebracht, ward aber, als wie mit gotteslästerlichen Reden, beiseite und zur Ruhe gewiesen. Man kann es keinem Kreis verdenken, wenn er sich ins ich selbst abschließt, und das taten meine Freunde zu Pempelfort redlich. Von der schon ein Jahr gedruckten "Metamorphose der Pflanzen" hatten sie wenig Kenntnis genommen, und wenn ich meine morphologischen Gedanken, so geläufig sie mir auch waren, in bester Ordnung und, wie es mir schien, bis zur kräftigsten Überzeugung vortrug, so musste ich doch leider bemerken, dass die starre Vorstellungsart, nichts könne werden, als was schon sei, sich aller Geister bemächtigt habe. In Gefolg dessen musst' ich denn auch wieder hören, dass alles Lebendige aus dem Ei komme, worauf ich denn mit bitterem Scherz die alte Frage hervorhob: ob denn die Henne oder das Ei zuerst gewesen? Die Einschachtelungslehre schien so plausibel und, die Natur mit Bonnet zu kontemplieren, höchst erbaulich. Von meinen "Beiträgen zur Optik" hatte auch etwas verlautet, und ich ließ mich nicht lange bitten, die Gesellschaft mit einigen Phänomenen und Versuchen zu unterhalten, wo mir denn ganz Neues vorzubringen nicht schwer fiel: denn alle Personen, so gebildet sie auch waren, hatten das gespaltene Licht eingelernt und wollten leider das lebendige, woran sie sich erfreuten, auf jene tote Hypothese zurückgeführt wissen. Doch ließ ich mir dergleichen eine Zeitlang gern gefallen, denn ich heilt niemals einen Vortrag, ohne dass ich dabei gewonnen hätte; gewöhnlich gingen mir unterm Sprechen neue Lichter auf, und ich erfand im Fluss der Rede am gewissesten. Freilich konnte ich auf diese Weise nur didaktisch und dogmatisch verfahren, eine eigentlich dialektische und konversierende Gabe war mir nicht verliehen. Oft aber trat auch eine böse Gewohnheit hervor, deren ich mich anklagen muss: da mir das Gespräch, wie es gewöhnlich geführt wird, höchst langweilig war, indem nichts als beschränkte, individuelle Vorstellungsarten zur Sprache kamen, so pflegte ich den unter Menschen gewöhnlich entspringenden bornierten Streit durch gewaltsame Paradoxe aufzuregen und ans Äußerste zu führen. Dadurch war die Gesellschaft meist verletzt und in mehr als einem Sinn verdrießlich. Denn oft, um meinen Zweck zu erreichen, musst' ich das böse Prinzip spielen, und da die Menschen gut sein und auch nicht gut haben wollten, so ließen sie es nicht durchgehen: als Ernst konnte man es nicht gelten lassen, weil es nicht gründlich, als Scherz nicht, weil es zu herb war; zuletzt nannten sie mich einen umgekehrten Heuchler und versöhnten sich bald wieder mit mir. Doch kann ich nicht leugnen, dass ich durch diese böse Manier mir manche Person entfremdet, andere zu Feinden gemacht habe. Wie mit dem Zauberstäbchen jedoch konnte ich sogleich alle bösen Geister vertreiben, wenn ich von Italien zu erzählen anfing. Auch dahin war ich unvorbereitet, unvorsichtig gegangen; Abenteuer fehlten keineswegs, das Land selbst, seine Anmut und Herrlichkeit hatte ich mir völlig eingeprägt, mir war Gestalt, Farbe, Haltung jener vom günstigsten Himmel umschienen Landschaft noch unmittelbar gegenwärtig. Die schwachen Versuche eigenen Nachbildens hatten das Gedächtnis geschärft, ich konnte beschreiben, als wenn ich's vor mir sähe: von belebender Staffage wimmelte es durch und durch, und so war jedermann von den lebhaft vorbei geführten Bilderzügen zufrieden, manchmal entzückt. Wünschenswert wäre nunmehr, dass man, um die Anmut des Pempelforter Aufenthalts vollkommen darzustellen, auch die Örtlichkeit, worin dies alles vorging, klar vergegenwärtigen könnte. Ein freistehendes geräumiges Haus, in der Nachbarschaft von weitläufigen wohl gehaltenen Gärten, im Sommer ein Paradies, auch im Winter höchst erfreulich. Jeder Sonnenblick war in reinlicher, freier Umgebung genossen; abends oder bei ungünstigem Wetter zog man sich gern in die schönen großen Zimmer zurück, die, behaglich, ohne Prunk ausgestattet, eine würdige Szene jeder geistreichen Unterhaltung darboten. Ein großes Speisezimmer, zahlreicher Familie und nie fehlenden Gästen geräumig heiter und bequem, lud an eine lange Tafel, wo es nicht an wünschenswerten Speisen fehlte. Hier fand man sich zusammen, der Hauswirt immer munter und aufregend, die Schwestern wohlwollend und einsichtig, der Sohn ernst und hoffnungsvoll, die Tochter wohl gebildet, tüchtig, treuherzig und liebenswürdig, an die leider schon vorübergegangene Mutter und an die früheren Tage erinnernd, die man vor zwanzig Jahren in Frankfurt mit ihr zugebracht hatte. Heinse, mit zur Familie gehörig, verstand, Scherze jeder Art zu erwidern, es gab Abende, wo man nicht aus dem Lachen kam. Die wenigen einsamen Stunden, die mir in diesem gastfreisten aller Häuser übrig blieben, wendete ich im Stillen an eine wunderliche Arbeit. Ich hatte während der Kampagne neben dem Tagebuch poetische Tagesbefehle, satirische Ordres du jour aufgezeichnet; nun wollte ich sie durchsehen und redigieren, allein ich bemerkte bald, dass ich, mit kurzsichtigem Dünkel, manches falsch gesehen und unrichtig beurteilt habe, und da man gegen nichts strenger ist als gegen erst abgelegte Irrtümer, es auch bedenklich schien, dergleichen Papiere irgendeinem Zufall auszusetzen, so vernichtete ich das ganze Heft in einem lebhaften Steinkohlenfeuer; worüber ich mich nun insofern betrübe, als es mir jetzt viel wert zur Einsicht in den Gang der Vorfälle und die Folge meiner Gedanken darüber sein würde. In dem nicht weit entfernten Düsseldorf wurden fleißige Besuche gemacht bei Freunden, die zu dem Pempelforter Zirkel gehörten; auf der Galerie war die gewöhnliche Zusammenkunft. Dort ließ sich eine entschiedene Neigung für die italienische Schule spüren, man zeigte sich höchst ungerecht gegen die niederländische; freilich war der hohe Sinn der ersten anziehend, edle Gemüter hinreißend. Einst hatten wir uns lange in dem Saal des Rubens und der vorzüglichsten Niederländer aufgehalten; als wir heraustraten, hing die Himmelfahrt von Guido gerade gegenüber. Da rief einer begeistert aus: "Ist es einem nicht zumute, als wenn man aus einer Schenke in gute Gesellschaft käme!" An meinem Teil konnt' ich mir gefallen lassen, dass die Meister, die mich noch vor kurzem über den Alpen entzückt, sich so herrlich zeigten und leidenschaftliche Bewunderung erweckten; doch sucht' ich mich auch mit den Niederländern bekannt zu machen, deren Tugenden und Vorzüge im höchsten Grade sich hier den Augen darstellten: ich fand mir Gewinn für ganze Leben. Was mir aber noch mehr auffiel, war, dass ein gewisser Freiheitssinn, ein Streben nach Demokratie sich in die hohen Stände verbreitet hatte; man schien nicht zu fühlen, was alles erst zu verlieren sei, um zu irgendeiner Art zweideutigen Gewinnes zu gelangen. Lafayettes und Mirabeaus Büste, von Houdon sehr natürlich und ähnlich gebildet, sah ich hier göttlich verehrt, jenen wegen seiner ritterlichen und bürgerlichen Tugenden, diesen wegen Geisteskraft und Rednergewalt. So seltsam schwankte schon die Gesinnung der Deutschen; einige waren selbst in Paris gewesen, hatten die bedeutenden Männer reden hören, handeln sehen und waren, leider nach deutscher Art und Weise, zur Nachahmung aufgeregt worden, und das gerade zu einer Zeit, wo die Sorge für das linke Rheinufer sich in Furcht verwandelte. Die Not schien dringend: Emigrierte füllten Düsseldorf, selbst die Brüder des Königs kamen an. Man eilte, sie zu sehen; ich traf sie auf der Galerie und erinnerte mich dabei, wie sie durchnässt bei dem Auszug aus Glorieux gesehen worden. Herr von Grimm und Frau von Bueil erschienen gleichfalls. Bei Überfüllung der Stadt hatte sie ein Apotheker aufgenommen: das Naturalienkabinett diente zum Schlafzimmer, Affen, Papageien und andres Getier belauschten den Morgenschlaf der liebenswürdigsten Dame, Muscheln und Korallen hinderten die Toilette, sich gehörig auszubreiten. Und so war das Einquartierungsübel, das wir kaum erst nach Frankreich gebracht hatten, wieder zu uns herübergeführt. Frau von Coudenhoven, eine schöne, geistreiche Dame, sonst die Zierde des Mainzer Hofes, hatte sich auch hierher geflüchtet. Herr und Frau von Dohm kamen von deutscher Seite heran, um von den Zuständen nähere Kenntnis zu nehmen. Frankfurt war noch von den Franzosen besetzt, die Kriegsbewegungen hatten sich zwischen die Lahn und das Taunusgebirge gezogen; bei täglich abwechselnden, bald sichern bald unsichern Nachrichten war das Gespräch lebhaft und geistreich; aber wegen streitenden Interesses und Meinungen gewährte es nicht immer eine erfreuliche Unterhaltung. Ich konnte einer so problematischen, durchaus ungewissen, dem Zufall unterworfenen Sache keinen Ernst abgewinnen und war mit meinen paradoxen Späßen mitunter aufheiternd, mitunter lästig. So erinnerte ich mich, dass an dem Abendtisch der Frankfurter Bürger mit Ehren gedacht ward: sie sollten sich gegen Custine männlich und gut betragen haben; ihre Aufführung und Gesinnung, hieß es, steche gar sehr ab gegen die unerlaubte Weise, wie sich die Mainzer betragen und noch betrügen. Frau von Coudenhoven, in dem Enthusiasmus, der sie sehr gut kleidete, rief aus: sie gäbe viel darum, eine Frankfurter Bürgerin zu sein. Ich erwiderte: das sei etwas Leichtes; ich wisse ein Mittel, werde es aber als Geheimnis für mich behalten. Da man nun heftig und ehftiger in mich drang, erklärt' ich zuletzt, die treffliche Dame dürfe mich nur heiraten, wodurch sie augenblicklich zur Frankfurter Bürgerin umgeschaffen werde. Allgemeines Gelächter! Und was kam nicht alles zur Sprache! Als einst von der unglücklichen Kampagne, besonders von der Kanonade bei Valmy die Rede war, versicherte Herr von Grimm, es sei von meinem wunderlichen Ritt ins Kanonenfeuer an des Königs Tafel die Rede gewesen. Wahrscheinlich hatten die Offiziere, denen ich damals begegnete, davon gesprochen; das Resultat ging darauf hinaus, dass man sich darüber nicht wundern müsse, weil gar nicht zu berechnen sei, was man von einem seltsamen Menschen zu erwarten habe. Auch ein sehr geschickter, geistreicher Arzt nahm teil an unsern Halbsaturnalien, und ich dachte nicht in meinem Übermut, dass ich seiner so bald bedürfen würde. Er lachte daher zu meinem Ärger laut auf, als er mich im Bett fand, wo ein gewaltiges rheumatisches Übel, das ich mir durch Verkältung zugezogen, mich beinahe unbeweglich festhielt. Er, ein Schüler des Geheimrat Hofmann, dessen tüchtige Wunderlichkeiten von Mainz und dem kurfürstlichen Hof aus bis weit hinunter den Rhein gewirkt, verfuhr sogleich mit Kampfer, welcher fast als Universalmedizin galt. Löschpapier, Kreide darauf gerieben, sodann mit Kampfer bestreut, ward äußerlich, Kampfer gleichfalls, in kleinen Dosen, innerlich angewandt. Dem sei nun, wie ihm wolle, ich war in einigen Tagen hergestellt. Die Langeweile jedoch des Leidens ließ mich manche Betrachtung anstellen, die Schwäche, die aus einem bettlägrigen Zustand gar leicht erfolgt, ließ mich meine Lage bedenklich finden: das Fortschreiten der Franzosen in den Niederlanden war bedeutend und durch den Ruf vergrößert, man sprach täglich und stündlich von neu angekommenen Ausgewanderten. Mein Aufenthalt im Pempelfort war schon lang genug, und ohne die herzlichste Gastfreiheit der Familie hätte jeder glauben müssen, dort lästig zu sein. Auch hatte sich mein Bleiben nur zufällig verlängert: ich erwartete täglich und stündlich meine böhmische Chaise, die ich nicht gern zurücklassen wollte; sie war von Trier schon in Koblenz angekommen und sollte von dort bald weiter herab spediert werden; da sie jedoch ausblieb, vermehrte sich die Ungeduld, die mich in den letzten Tagen ergriffen hatte. Jacobi überließ mir einen bequemen, obgleich an Eisen ziemlich schweren Reisewagen. Alles zog, wie man hörte, nach Westfalen hinein, und die Brüder des Königs wollten dort ihren Sitz aufschlagen. Und so schied ich denn mit dem wunderlichsten Zwiespalt: die Neigung hielt mich in dem freundlichsten Kreis, der sich soeben auch höchst beunruhigt fühlte, und ich sollte die edelsten Menschen in Sorgen und Verwirrung hinter mir lassen, bei schrecklichem Weg und Wetter mich nun wieder in die wilde, wüste Welt hinauswagen, von dem Strom mit fortgezogen der unaufhaltsam eilenden Flüchtlinge, selbst mit Flüchtlingsgefühl. Und doch hatte ich Aussicht unterwegs auf die angenehmste Einkehr, indem ich so nahe bei Münster die Fürstin Gallitzin nicht umgehen durfte. Duisburg, November. Und so fand ich mich denn abermals, nach Verlauf von vier Wochen, zwar viele Meilen weit entfernt von dem Schauplatz unseres ersten Unheils, doch wieder in derselben Gesellschaft, in demselben Gedränge der Emigrierten, die nun, jenseits entschieden vertrieben, diesseits nach Deutschland strömten, ohne Hilfe und ohne Rat. Zu Mittag in dem Gasthof etwas spät angekommen, saß ich am Ende der langen Tafel; Wirt und Wirtin, die mir als einem Deutschen den Widerwillen gegen die Franzosen schon ausgesprochen hatten, entschuldigten, dass alle guten Plätze von diesen unwillkommenen Gästen besetzt seien. Hierbei wurde bemerkt, dass unter ihnen, trotz aller Erniedrigung, Elend und zu befürchtender Armut, noch immer dieselbe Rangsucht und Unbescheidenheit gefunden werde. Indem ich nun die Tafel hinaufsah, erblickt' ich ganz oben, quer vor, an der ersten Stelle einen alten, kleinen, wohlgestalteten Mann von ruhigem, beinahe nichtigem Betragen. Er musste vornehm sein, denn zwei Nebensitzende erwiesen ihm die größte Aufmerksamkeit, wählten die ersten und besten Bissen, ihm vorzulegen, und man hätte beinahe sagen können, dass sie ihm solche zum Mund führten. Mir bleib nicht lange verborgen, dass er, vor Alter seiner Sinne kaum mächtig, als ein bedauernswürdiges Automat den schatten eines früheren wohlhabenden und ehrenvollen Lebens kümmerlich durch die Welt schleppe, indessen zwei Ergebene ihm den Traum des vorigen Zustandes wieder herbeizuspiegeln trachteten. Ich beschaute mir die übrigen: das bedenklichste Schicksal war auf allen Stirnen zu lesen, Soldaten, Kommissäre, Abenteurer vielleicht zu unterscheiden; alle waren still, denn jeder hatte sein eigene Not zu übertragen, sie sahen ein grenzenloses Elend vor sich. Etwa in der Hälfte des Mittagmahles kam noch ein hübscher junger Mann herein, ohne ausgezeichnete Gestalt oder irgendein Abzeichen; man konnte an ihm den Fußwanderer nicht verkennen. Er setzte sich still gegen mir über, nachdem er den Wirt um ein Kuvert begrüßt hatte, und speiste, was man ihm nachholte und vorsetzte, mit ruhigem Betragen. Nach aufgehobener Tafel trat ich zum Wirt, der mir ins Ohr sagte: "Ihr Nachbar soll seine Zeche nicht teuer bezahlen!" Ich begriff nichts von diesen Worten, aber als der junge Mann sich näherte und fragte: was er schuldig sei? erwiderte der Wirt, nachdem er sich flüchtig über die Tafel umgeschaut, die Zeche sei ein Kopfstück. Der Fremde schien beteten und sagte, das sei wohl ein Irrtum, denn er habe nicht allein ein gutes Mittagsessen gehabt, sondern auch einen Schoppen Wein; das müsse mehr betragen. Der Wirt antwortete darauf ganz ernsthaft, er pflege seine Rechnung selbst zu machen, und die Gäste erlegten gerne, was er forderte. Nun zahlte der junge Mann, entfernte sich bescheiden und verwundert; sogleich aber löste mir der Wirt das Rätsel. "Dies ist der erste von diesem vermaledeiten Volk," rief er aus, "der Schwarzbrot gegessen hat: das musste ihm zugute kommen." In Duisburg wusst' ich einen einzigen alten Bekannten, den ich aufzusuchen nicht versäumte: Professor Plessing war es, mit dem sich vor vielen Jahren ein sentimental-romanhaftes Verhältnis anknüpfte, wovon ich hier das Nähere mitteilen will, da unsere Abendunterhaltung dadurch aus den unruhigsten Zeiten in die friedlichsten Tage versetzt wurde. "Werther," bei seinem Erscheinen in Deutschland, hatte keineswegs, wie man ihm vorwarf, eine Krankheit, ein Fieber erregt, sondern nur das Übel aufgedeckt, das in jungen Gemütern verborgen lag. Während eines langen und glücklichen Friedens hatte sich eine literarisch-ästhetische Ausbildung auf deutschem Grund und Boden, innerhalb der Nationalsprache, auf das schönste entwickelt; doch gesellte sich bald, weil der Bezug nur aufs Innere ging, eine gewisse Sentimentalität hinzu, bei deren Ursprung und Fortgang man den Einfluss von Yorik-Sterne nicht verkennen darf: wenn auch sein Geist nicht über den Deutschen schwebte, so teilte sich sein Gefühl um desto lebhafter mit. Es entstand eine Art zärtlich-leidenschaftlicher Asketik, welche, da uns die humoristische Ironie des Briten nicht gegeben war, in eine leidige Selbstquälerei gewöhnlich ausarten musste. Ich hatte mich persönlich von diesem Übel zu befreien gesucht und trachtete nach meiner Überzeugung andern hilfreich zu sein; das aber war schwerer, als man denken konnte: denn eigentlich kam es drauf an, einem jeden gegen sich selbst beizustehen, wo denn von aller Hilfe, wie sie uns die äußere Welt anbietet, es sei Erkenntnis, Belehrung, Beschäftigung, Begünstigung, die Rede gar nicht sein konnte. Hier müssen wir nun gar manche, damals mit einwirkende Tätigkeiten stillschweigend übergehen, aber zu unseren Zwecken macht sich nötig, eines andern großen, für sich waltenden Bestrebens umständlicher zu gedenken. Lavaters Physiognomik hatte dem sittlich-geselligen Interesse eine ganz andere Wendung verliehen. Er fühlte sich im Besitz der geistigsten Kraft, jene sämtlichen Eindrücke zu deuten, welche des Menschen Gesicht und Gestalt auf einen jeden ausübt, ohne dass er sich davon Rechenschaft zu geben wüsste; da er aber nicht geschaffen war, irgendeine Abstraktion methodisch zu suchen, so heilt er sich am einzelnen Fall und also am Individuum. Heinrich Lips, ein talentvoller junger Künstler, besonders geeignet zum Porträt, schloss sich fest an ihn, und sowohl zu Haus als auf der unternommenen Rheinreise kam er seinem Gönner nicht von der Seite. Nun ließ Lavater, teils aus Heißhunger nach grenzenloser Erfahrung, teils umso viel bedeutende Menschen als möglich an sein künftiges Werk zu gewöhnen und zu knüpfen, alle Personen abbilden, die nur einigermaßen durch Stand und Talent, durch Charakter und Tat ausgezeichnet ihm begegneten. Dadurch kam denn freilich gar manches Individuum zur Evidenz, es ward etwas mehr wert, aufgenommen in einen so edlen Kreis; seine Eigenschaften wurden durch den deutsamen Meister hervorgehoben, man glaubte, sich einander näher zu kennen: und so ergab sich's aufs sonderbarste, dass mancher einzelne in seinem persönlichen Wert entschieden hervortrat, der sich bisher im bürgerlichen Lebens- und Staatsgang ohne Bedeutung eingeordnet und eingeflochten gesehen. Diese Wirkung war stärker und größer, als man sie denken mag: ein jeder fühlte sich berechtigt, von sich selbst, als von einem abgeschlossenen, abgerundeten Wesen, das Beste zu denken, und in seiner Einzelheit vollständig gekräftigt, hielt es ich auch wohl für befugt, Eigenheiten, Torheiten und Fehler in den Komplex seines werten Daseins mit aufzunehmen. Dergleichen erfolg konnte sich umso leichter entwickeln, als bei dem ganzen Verfahren die besondere individuelle Natur allein, ohne Rücksicht auf die allgemeine Vernunft, die doch alle Natur beherrschen soll, zur Sprache kam; dagegen war das religiöse Element, worin Lavater schwebte, nicht hinreichend, eine sich immer mehr entscheidende Selbstgefälligkeit zu mildern, ja es entstand bei Frommgesinnten daraus eher ein geistlicher Stolz, der es dem natürlichen an Erhebung auch wohl zuvortrat. Was aber zugleich nach jener Epoche folgerecht auffallend hervorging, war die Achtung der Individuen untereinander. Namhafte ältere Männer wurden, wo nicht persönlich, doch im Bild verehrt; und es durfte auch wohl ein junger Mann sich nur einigermaßen bedeutend hervortun, so war alsbald der Wunsch nach persönlicher Bekanntschaft rege, in deren Ermangelung man sich mit seinem Porträt begnügte; wobei denn die mit Sorgfalt und gutem Geschick aufs genauste gezogenen Schattenriss willkommene Dienste leisteten. Jedermann war darin geübt, und kein Fremder zog vorüber, den man nicht abends an die Wand geschrieben hätte; die Storchschnäbel durften nicht rasten. "Menschenkenntnis und Menschenliebe" waren uns bei diesem Verfahren versprochen; wechselseitige Teilnahme hatte sich entwickelt, wechselseitiges Kennen und Erkennen aber wollte sich so schnell nicht entfalten: zu beiden Zwecken jedoch war die Tätigkeit sehr groß, und was in diesem Sinn von einem herrlich begabten jungen Fürsten, von seiner wohlgesinnten, geistreich-lebhaften Umgebung für Aufmunterung und Fördernis nah und fern gewirkt ward, wäre schon zu erzählen, wenn es nicht löblich schiene, die Anfänge bedeutender Zustände einem ehrwürdigen Dunkel anheim zu geben. Vielleicht sahen die Kotyledonen jener Saat etwas wunderlich aus; der Ernte jedoch, woran das Vaterland und die Außenwelt ihren Anteil freudig dahin nahm, wird in den spätesten Zeiten noch immer ein dankbares Andenken nicht ermangeln. Wer Vorgesagtes in Gedanken festhält und sich davon durchdringt, wird nachstehendes Abenteuer, welches beide Teilnehmende unter dem Abendessen vergnüglich in der Erinnerung belebten, weder unwahrscheinlich noch ungereimt finden. Zu manchem andern, brieflichen und persönlichen Zudrang erheilt ich in der Hälfte des Jahrs 1776, von Wernigerode datiert, Plessing unterzeichnet, ein Schreiben, vielmehr ein Heft, fast das Wunderbarste, was mir in jener selbstquälerischen Art vor Augen gekommen: man erkannte daran einen jungen, durch Schulen und Universität gebildeten Mann, dem nun aber sein sämtlich Gelerntes zu eigener innerer, sittlicher Beruhigung nicht gedeihen wollte. Eine geübte Handschrift war gut zu lesen, der Stil gewandt und fließend, und ob man gleich eine Bestimmung zum Kanzelredner darin entdeckte, so war doch alles frisch und brav aus dem Herzen geschrieben, dass man ihm einen gegenseitigen Anteil nicht versagen konnte. Wollte nun aber dieser Anteil lebhaft werden, suchte man sich die Zustände des Leidenden näher zu entwickeln, so glaubte man statt des Duldens Eigensinn, statt des Ertragens Hartnäckigkeit und statt eines sehnsüchtigen Verlangens abstoßendes Wegweisen zu bemerken. Da ward mir denn, nach jenem Zeitsinn, der Wunsch lebhaft rege, diesen jungen Mann von Angesicht zu sehen; ihn aber zu mir zu bescheiden, hielt ich nicht für rätlich. Ich hatte mir, unter bekannten Umständen, schon eine Zahl von jungen Männern aufgebürdet, die, anstatt mit mir auf meinem Wege einer reineren, höheren Bildung entgegenzugehen, auf dem ihrigen verharrend, sich nicht besser befanden und mich in meinen Fortschritten hinderten. Ich ließ die Sache indessen hängen, von der Zeit irgendeine Vermittelung erwartend. Da erhielt ich einen zweiten, kürzern, aber auch lebhafteren, heftigeren Brief, worin der Schreiber auf Antwort und Erklärung drang und, sie ihm nicht zu versagen, mich feierlichst beschwor. Aber auch dieser wiederholte Sturm brachte mich nicht aus der Fassung; die zweiten Blätter gingen mir so wenig als die ersten zu Herzen, aber die herrische Gewohnheit, jungen Männern meines Alters in Herzens- und Geistesnöten beizustehen, ließ mich sein doch nicht ganz vergessen. Die um einen trefflichen jungen Fürsten versammelte weimarsche Gesellschaft trennte sich nicht leicht, ihre Beschäftigungen und Unternehmungen, Scherze, Freuden und Leiden waren gemeinsam. Da ward nun zu Ende Novembers eine Jagdpartie auf wilde Schweine, notgedrungen auf das häufige Klagen des Landvolks, im Eisenachschen unternommen, der ich, als damaliger Gast, auch beizuwohnen hatte; ich erbat mir jedoch die Erlaubnis, nach einem kleinen Umweg mich anschließen zu dürfen. Nun hatte ich einen wundersamen geheimen Reiseplan. Ich musste nämlich, nicht nur etwa von Geschäftsleuten, sondern auch von vielen am Ganzen teilnehmenden Weimarern öfter den lebhaften Wunsch hören, es möge doch das Ilmenauer Bergwerk wieder aufgenommen werden. Nun ward von mir, der ich nur die allgemeinsten Begriffe vom Bergbau allenfalls besaß, zwar weder Gutachten noch Meinung, doch Anteil verlangt, aber diesen konnt' ich an irgendeinem Gegenstand nur durch unmittelbares Anschauen gewinnen. Ich dachte mir unerlässlich, vor allen Dingen das Bergewesen in seinem ganzen Komplex, und wär' es auch nur flüchtig, mit Augen zu sehen und mit dem Geiste zu fassen; denn alsdann nur konnt' ich hoffen, in das Positive weiter einzudringen und mich mit dem Historischen zu befreunden. Deshalb hatt' ich mir längst eine Reise auf den Harz gedacht. Und gerade jetzt, da ohnehin diese Jahrszeit in Jagdlust unter freiem Himmel zugebracht werden sollte, fühlte ich mich dahin getrieben. Alles Winterwesen hatte überdies in jener Zeit für mich große Reize, und was die Bergwerke betraf, so war ja in ihren Tiefen weder Winter noch Sommer merkbar; wobei ich zugleich gern bekenne, dass die Absicht, meinen wunderlichen Korrespondenten persönlich zu sehen und zu prüfen, wohl die Hälfte des Gewichtes meinem Entschluss hinzufügte. Indem sich nun die Jagdlustigen nach einer andern Seite hin begaben, ritt ich ganz allein dem Ettersberge zu und begann jene Ode, die unter dem Titel "Harzreise im Winter" solange als Rätsel unter meinen kleineren Gedichten Platz gefunden. Im düstern und von Norden her sich heranwälzenden Schneegewölk schwebte hoch ein Geier über mir. Die Nacht verblieb ich in Sondershausen und gelangte des andern Tags so bald nach Nordhausen, dass ich gleich nach Tisch weiter zu gehen beschloss, aber mit Boten und Laterne nach mancherlei Gefährlichkeiten erst sehr spät in Ilfeld ankam. Ein ansehnlicher Gasthof war glänzend erleuchtet, es schien ein besonderes Fest darin gefeiert zu werden. Erst wollte der Wirt mich gar nicht aufnehmen: die Kommissarien der höchsten Höfe, hieß es, seien schon lange hier beschäftigt, wichtige Einrichtungen zu treffen und verschiedene Interessen zu vereinbaren, und da dies nun glücklich vollendet sei, gäben sie heute Abend einen allgemeinen Schmaus. Auf dringende Vorstellung jedoch und einige Winke des Boten, dass man mit mir nicht übel fahre, erbot sich der Mann, mir den Bretterverschlag in der Wirtsstube, seinen eigentlichen Wohnsitz, und zugleich sein weiß zu überziehendes Ehebett einzuräumen. Er führte mich durch das weite, hell erleuchtete Wirtszimmer, da ich mir denn im Vorbeigehen die sämtlichen munteren Gäste flüchtig beschaute. Doch sie sämtlich zu meiner Unterhaltung näher zu betrachten, gab mir in den Brettern des Verschlags eine Astlücke die beste Gelegenheit, die, seine Gäste zu belauschen, dem Wirte selbst oft dienen mochte. Ich sah die lange und wohl erleuchtete Tafel von unten hinauf, ich überschaute sie, wie man oft die Hochzeit von Kana gemalt sieht; nun musterte ich bequem von oben bis herab also: Vorsitzende, Räte, andere Teilnehmende und dann immer so weiter, Sekretarien, Schreiber und Gehilfen. Ein glücklich geendigtes beschwerliches Geschäft schien eine Gleichheit aller tätig Teilnehmenden zu bewirken, man schwatzte mit Freiheit, trank Gesundheiten, wechselte Scherz und Scherz, wobei einige Gäste bezeichnet schienen, Witz und Spaß an ihnen zu üben; genug, es war ein fröhliches, bedeutendes Mahl, das ich bei dem hellsten Kerzenscheine in seinen Eigentümlichkeiten ruhig beobachten konnte, eben als wenn der hinkende Teufel mir zur Seite stehe und einen ganz fremden Zustand unmittelbar zu beschauen und zu erkennen mich begünstigte. Und wie dies mir nach der düstersten Nachtreise in den Harz hinein ergötzlich gewesen, werden die Freunde solcher Abenteuer beurteilen. Manchmal schien es mir ganz gespensterhaft, als säh' ich in einer Berghöhle wohlgemute Geister sich erlustigen. Nach einer wohl durchschlafenen Nacht eilte ich frühe, von einem Boten abermals geleitet, der Baumannshöhle zu; ich durchkroch sie und betrachtete mir das fortwirkende Naturereignis ganz genau. Schwarze Marmormassen, aufgelöst, zu weißen kristallinischen Säulen und Flächen wieder hergestellt, deuteten mir auf das fortwebende Leben der Natur. Freilich verschwanden vor dem ruhigen Blick alle die Wunderbilder, die sich eine düster wirkende Einbildungskraft so gern aus formlosen Gestalten erschaffen mag; dafür blieb aber auch das eigne wahre desto reiner zurück, und ich fühlte mich dadurch gar schön bereichert. Wieder ans Tageslicht gelangt, schrieb ich die notwendigsten Bemerkungen, zugleich aber auch mit ganz frischem Sinn die ersten Strophen des Gedichtes, das unter dem Titel "Harzreise im Winter" die Aufmerksamkeit mancher Freunde bis auf die letzten Zeiten erregt hat; davon mögen denn die Strophen, welche sich auf den nun blad zu erblickenden wunderlichen Mann beziehen, hier Platz finden, weil sie mehr als viele Worte den damaligen liebevollen Zustand meines Innern auszusprechen geeignet sind. Aber abseits, wer ist's? Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, Hinter ihm schlagen Die Sträuche zusammen, Das Gras steht wieder auf, Die Öde verschlingt ihn. Ach, wer heilt die Schmerzen Des, dem Balsam zu Gift ward? Der sich Menschenhass Aus der Fülle der Liebe trank? Erst verachtet, nun ein Verächter, Zehrt er heimlich auf Seinen eignen Wert In ungenügender Selbstsucht. Ist auf deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton Seinem Ohre vernehmlich, So erquicke sein Herz! Öffne den umwölkten Blick Über die tausend Quellen Neben dem Dürstenden In der Wüste! Im Gasthof zu Wernigerode angekommen, ließ ich mich mit dem Kellner in ein Gespräch ein; ich fand ihn als einen sinnigen Menschen, der seine städtischen Mitgenossen ziemlich zu kennen schien. Ich sagt' ihm darauf, es sei meine Art, wenn ich an einem fremden Ort ohne besondere Empfehlung anlangte, mich nach jüngern Personen zu erkundigen, die sich durch Wissenschaft und Gelehrsamkeit auszeichneten; er möge mir daher jemanden der Art nennen, damit ich einen angenehmen Abend zubrächte. Darauf erwiderte ohne weiteres Bedenken der Kellner: es werde mir gewiss mit der Gesellschaft des Herrn Plessing gedient sein, dem Sohn des Superintendenten; als Knabe sei er schon in Schulen ausgezeichnet worden und habe noch immer den Ruf eines fleißigen guten Kopfs, nur wolle man seine finstere Lauen tadeln und nicht gut finden, dass er mit unfreundlichem Betragen sich aus der Gesellschaft ausschließe. Gegen Fremde sei er zuvorkommend, wie Beispiele bekannt wären; wollte ich angemeldet sein, so könne es sogleich geschehen. Der Kellner brachte mir bald eine bejahende Antwort und führte mich hin. Es war schon Abend geworden, als ich in ein großes Zimmer des Erdgeschosses, wie man es in geistlichen Häusern antrifft, hineintrat und den jungen Mann in der Dämmerung noch ziemlich deutlich erblickte. Allein an einigen Symptomen konnt' ich bemerken, dass die Eltern eilig das Zimmer verlassen hatten, um dem unvermuteten Gast Platz zu machen. Das hereingebrachte Licht ließ mich den jungen Mann nunmehr ganz deutlich erkennen: er glich seinem Brief völlig, und so wie jenes Schreiben erregte er Interesse, ohne Anziehungskraft auszuüben. Um ein näheres Gespräch einzuleiten, erklärt' ich mich für einen Zeichenkünstler von Gotha, der wegen Familienangelegenheiten in dieser unfreundlichen Jahrszeit Schwester und Schwager in Braunschweig zu besuchen habe. Mit Lebhaftigkeit fiel er mir beinahe ins Wort und rief aus: "Da Sie so nahe an Weimar wohnen, so werden Sie doch auch diesen Ort, der sich so berühmt macht, öfters besucht haben!" Dieses bejaht' ich ganz einfach und fing an, von Rat Kraus, von der Zeichenschule, von Legationsrat Bertuch und dessen unermüdeter Tätigkeit zu sprechen; ich vergaß weder Musäus noch Jagemann, Kapellmeister Wolf und einige Frauen und bezeichnete den Kreis, den diese wackern Personen abschlossen und jeden Fremden willig und freundlich unter sich aufnahmen. Endlich fuhr er etwas ungeduldig heraus: "Warum nennen Sie denn Goethe nicht?" Ich erwiderte, dass ich diesen auch wohl in gedachtem Kreis als willkommenen Gast gesehen und von ihm selbst persönlich als fremder Künstler wohl aufgenommen und gefördert worden, ohne dass ich weiter viel von ihm zu sagen wisse, da er teils allein, teils in andern Verhältnissen lebe. Der junge Mann, der mit unruhiger Aufmerksamkeit zugehört hatte, verlangte nunmehr, mit einigem Ungestüm, ich solle ihm das seltsame Individuum schildern, das so viel von sich reden mache. Ich trug ihm darauf mit großer Ingenuität eine Schilderung vor, die für mich nicht schwer wurde, da die seltsame Person in der seltsamsten Lage mir gegenwärtig stand, und wäre ihm von der Natur nur etwas mehr Herzenssagazität gegönnt gewesen, so konnte ihm nicht verborgen bleiben, dass der vor ihm stehende Gast sich selbst schildere. Er war einige Mal im Zimmer auf und ab gegangen, indes die Magd herein trat, eine Flasche Wein und sehr reinlich bereitetes kaltes Abendbrot auf den Tisch setzte; er schenkte beiden ein, stieß an und schluckte das Glas sehr lebhaft hinunter. Und kaum hatte ich mit etwas gemäßigteren Zügen das meinige geleert, ergriff er heftig meinen Arm und rief: "O verzeihen Sie meinem wunderlichen Betragen! Sie haben mir aber so viel Vertrauen eingeflößt, dass ich Ihnen alles entdecken muss. Dieser Mann, wie Sie mir ihn beschreiben, hätte mir doch antworten sollen! Ich habe ihm einen ausführlichen, herzlichen Brief geschickt, ihm meine Zustände, meine Leiden geschildert, ihn gebeten, sich meiner anzunehmen, mir zu raten, mir zu helfen, und nun sind schon Monate verstrichen, ich vernehme nichts von ihm; wenigstens hätte ich ein ablehnendes Wort auf ein so unbegrenztes Vertrauen wohl verdient." Ich erwiderte darauf, dass ich ein solches Benehmen weder erklären noch entschuldigen könne; so viel wisse ich aber aus eigener Erfahrung, dass ein gewaltiger, sowohl ideeller als reeller Zudrang diesen sonst wohlgesinnten, wohlwollenden und hilfsbereiten jungen Mann oft außerstand setze, sich zu bewegen, geschweige zu wirken. "Sind wir zufällig so weit gekommen," sprach er darauf mit einiger Fassung, "den Brief muss ich Ihnen vorlesen, und Sie sollen urteilen, ob er nicht irgendeine Antwort, irgendeine Erwiderung verdiente." Ich ging im Zimmer auf und ab, die Vorlesung zu erwarten, ihrer Wirkung schon beinahe ganz gewiss, deshalb nicht weiter nachdenkend, um mir selbst in einem so zarten Fall nicht vorzugreifen. Nun saß er gegen mir über und fing an, die Blätter zu lesen, die ich in- und auswendig kannte, und vielleicht war ich niemals mehr von der Behauptung der Physiognomisten überzeugt, ein lebendiges Wesen sei in allem seinem Handeln und Betragen vollkommen übereinstimmend mit sich selbst, und jede in die Wirklichkeit hervorgetretene Monas erzeige sich in vollkommener Einheit ihrer Eigentümlichkeiten. Der Lesende passte völlig zu dem Gelesenen, und wie dieses früher in der Abwesenheit mich nicht ansprach, so war es nun auch mit der Gegenwart. Man konnte zwar dem jungen Mann eine Achtung nicht versagen, eine Teilnahme, die mich denn auch auf einen so wunderlichen Weg geführt hatte: denn ein ernstliches Wollen sprach sich aus, ein edler Sinn und Zweck; aber obschon von den zärtlichsten Gefühlen die Rede war, blieb der Vortrag ohne Anmut, und eine ganz eigens beschränkte Selbstigkeit tat sich kräftig hervor. Als er nun geendet hatte, fragte er mit Hast, was ich dazu sage? Und ob ein solches Schreiben nicht eine Antwort verdient, ja gefordert hätte? Indessen war mir der bedauernswürdige Zustand dieses jungen Mannes immer deutlicher geworden: er hatte nämlich von der Außenwelt niemals Kenntnis genommen, dagegen sich durch Lektüre mannigfaltig ausgebildet, alle seine Kraft und Neigung aber nach innen gewendet und sich auf diese Weise, da er in der Tiefe seines Lebens kein produktives Talent fand, so gut als zugrunde gerichtet; wie ihm denn sogar Unterhaltung und Trost, dergleichen uns aus der Beschäftigung mit alten Sprachen so herrlich zu gewinnen offen steht, völlig abzugehen schien. Da ich an mir und andern schon glücklich erprobt hatte, dass in solchem Falle ein rasche gläubige Wendung gegen die Natur und ihre grenzenlose Mannigfaltigkeit das beste Heilmittel sei, so wagt' ich alsobald den Versuch, es auch in diesem Fall anzuwenden und ihm daher nach einigem Bedenken folgendermaßen zu antworten: "Ich glaube zu begreifen, warum der junge Mann, auf den Sie so viel Vertrauen gesetzt, gegen Sie stumm geblieben: denn seine jetzige Denkweise weicht zu sehr von der Ihrigen ab, als dass er hoffen dürfte, sich mit Ihnen zu verständigen zu können. Ich habe selbst einigen Unterhaltungen in jenem Kreis beigewohnt und behaupten hören: man werde sich aus einem schmerzlichen, selbstquälerischen, düsteren Seelenzustand nur durch Naturbeschauung und herzliche Teilnahme an der äußeren Welt retten und befreien. Schon die allgemeinste Bekanntschaft mit der Natur, gleichviel von welcher Seite, ein tätiges Eingreifen, sei es als Gärtner oder Landbewohner, als Jäger oder Bergmann, ziehe uns von uns selbst ab; die Richtung geistiger Kräfte auf wirkliche, wahrhafte Erscheinungen gebe nach und nach das größte Behagen, Klarheit und Belehrung; wie denn der Künstler, der sich treu an der Natur halte und zugleich sein Inneres auszubilden suche, gewiss am besten fahren werde." Der junge Freund schien darüber sehr unruhig und ungeduldig, wie man über eine fremde oder verworrene Sprache, deren Sinn wir nicht vernehmen, ärgerlich zu werden anfängt. Ich darauf, ohne sonderliche Hoffnung eines glücklichen Erfolges, eigentlich aber um nicht zu verstummen, fuhr zu reden fort. "Mir, als Landschaftsmaler," sagte ich, "musste dies zu allererst einleuchten, da ja meine Kunst unmittelbar auf die Natur gewiesen ist; doch habe ich seit jener Zeit emsiger und eifriger als bisher nicht etwa nur ausgezeichnete und auffallende Naturbilder und Erscheinungen betrachtet, sondern mich zu allem und jedem liebevoll hingewendet." Damit ich mich nun aber nicht ins Allgemeine verlöre, erzählte ich, wie mir sogar diese notgedrungene Winterreise, anstatt beschwerlich zu sein, dauernden Genuss gewährt; ich schilderte ihm, mit malerischer Poesie und doch so unmittelbar und natürlich, als ich nur konnte, den Vorschritt meiner Reise, jenen morgendlichen Schneehimmel über den Bergen, die mannigfaltigsten Tageserscheinungen, dann bot ich seiner Einbildungskraft die wunderlichen Turm- und Mauerbefestigungen von Nordhausen, gesehen bei hereinbrechender Abenddämmerung, ferner die nächtlich rauschenden, von des Boten Laterne zwischen Bergschluchten flüchtig erleuchtet blinkenden Gewässer und gelangte sodann zur Baumannshöhle. Hier aber unterbrach er mich lebhaft und versicherte, der kurze Weg, den er daran gewendet, gereue ihn ganz eigentlich; sie habe keineswegs dem Bild sich gleichgestellt, das er in seiner Phantasie entworfen. Nach dem Vorhergegangenen konnten mich solche krankhafte Symptome nicht verdrießen: denn wie oft hatte ich erfahren müssen, dass der Mensch den Wert einer klaren Wirklichkeit gegen ein trübes Phantom seiner düstern Einbildungskraft von sich ablehnt. Ebenso wenig war ich verwundert, als er auf meine Frage: wie er sich denn die Höhle vorgestellt habe? Eine Beschreibung machte, wie kaum der kühnste Theatermaler den Vorhof des Plutonischen Reiches darzustellen gewagt hätte. Ich versuchte hierauf noch einige propädeutische Wendungen, als Versuchsmittel einer zu unternehmenden Kur; ich ward aber mit der Versicherung, es könne und solle ihm nichts in dieser Welt genügen, so entschieden abgewiesen, dass mein Innerstes sich zuschloss und ich mein Gewissen durch den beschwerlichen Weg, im Bewusstsein des besten Willens, völlig befreit und mich gegen ihn von jeder weiteren Pflicht entbunden glaubte. Es war schon spät geworden, als er mir den zweiten, noch heftigern, mir gleichfalls nicht unbekannten brieflichen Erlass vorlesen wolle, doch aber meine Entschuldigung wegen allzu großer Müdigkeit gelten ließ, indem er zugleich eine Einladung auf morgen zu Tisch im Namen der Seinigen dringend hinzufügte; wogegen ich mir die Erklärung auf morgen ganz in der Frühe vorbehielt. Und so schieden wir friedlich und schicklich. Seine Persönlichkeit ließ einen ganz individuellen Eindruck zurück. Er war von mittlerer Größe, seine Gesichtszüge hatten nichts Anlockendes, aber auch nichts eigentlich Abstoßendes, sein düsteres Wesen erschien nicht unhöflich, er konnte vielmehr für einen wohlerzogenen jungen Mann gelten, der sich in der Stille auf Schulen und Akademien zu Kanzel und Lehrstuhl vorbereitet hatte. Heraustretend fand ich den völlig aufgehellten Himmel von Sternen blinken, Straßen und Plätze mit Schnee überdeckt, blieb auf einem schmalen Steg ruhig stehen und beschaute mir die winternächtliche Welt. Zugleich überdacht' ich das Abenteuer und fühlte mich fest entschlossen, den jungen Mann nicht wieder zu sehen: infolge dessen bestellt' ich mein Pferd auf Tagesanbruch, übergab ein anonymes, entschuldigendes Bleistiftblättchen dem Kellner, dem ich zugleich so viel Gutes und Wahres von dem jungen Mann, den er mir bekannt gemacht, zu sagen wusste; welches denn der gewandte Bursche mit eigner Zufriedenheit gewiss wohl benutzt haben mag. Nun ritt ich an dem Nordosthang des Harzes, im grimmigen, mich zur Seite bestürmenden Stöberwetter, nachdem ich vorher den Rammelsberg, Messinghütten und die sonstigen Anstalten der Art beschaut und ihre Weise mir eingeprägt hatte, nach Goslar, wovon ich diesmal nicht weiter erzähle, da ich mich künftig mit meinen Lesern darüber umständlich zu unterhalten hoffe. Ich wüsste nicht, wie viel Zeit vorübergegangen, ohne dass ich etwas weiter von dem jungen Mann gehört hätte, als unerwartet an einem Morgen mir ein Billett ins Gartenhaus bei Weimar zukam, wodurch er sich anmeldete; ich schrieb ihm einige Worte dagegen, er werde mir willkommen sein. Ich erwartete nun einen seltsamen Erkennungsauftritt, allein er blieb, herein tretend, ganz ruhig und sprach: "Ich bin nicht überrascht, Sie hier zu finden; die Handschrift Ihres Billetts rief mir so deutlich jene Züge wieder ins Gedächtnis, die Sie, aus Wernigerode scheidend, mir hinterließen, dass ich keinen Augenblick zweifelte, jenen geheimnisvollen Reisenden abermals hier zu finden." Schon dieser Eingang war erfreulich, und es eröffnete sich ein trauliches Gespräch, worin er mir seine Lage zu entwickeln trachtete und ich ihm dagegen meine Meinung nicht vorenthielt. Inwiefern sich seine inneren Zustände wirklich gebessert hatten, wüsst' ich nicht mehr anzugeben, es musste aber damit nicht so gar schlimm aussehen, denn wir schieden nach mehreren Gesprächen friedlich und freundlich; nur dass ich sein heftiges Begehren nach leidenschaftlicher Freundschaft und innigster Verbindung nicht erwidern konnte. Noch eine Zeitlang unterhielten wir ein briefliches Verhältnis; ich kam in den Fall, ihm einige reelle Dienste zu leisten, deren er sich denn auch bei gegenwärtiger Zusammenkunft dankbar erinnerte, sowie denn überhaupt das Zurückschauen in jene früheren Tage beiden Teilen einige angenehme Stunden gewährte. Er, nach wie vor immer nur mit sich selbst beschäftigt, hatte viel zu erzählen und mitzuteilen. Ihm war geglückt, im Lauf der Jahre sich den Rang eines geachteten Schriftstellers zu erwerben, indem er die Geschichte älterer Philosophie ernstlich behandelte, besonders derjenigen, die sich zum Geheimnis neigt, woraus er denn die Anfänge und Urzustände der Menschen abzuleiten trachtete. Seine Bücher, die er mir, wie sie herauskamen, zusendete, hatte ich freilich nicht gelesen; jene Bemühungen lagen zu weit von demjenigen ab, was mich interessierte. Seine gegenwärtigen Zustände fand ich auch keineswegs behaglich: er hatte Sprach- und Geschichtskenntnisse, die er so lange versäumt und abgelehnt, endlich mit wütender Anstrengung erstürmt und durch dieses geistige Unmaß sein Physisches zerrüttet. Zudem schienen seine ökonomischen Umstände nicht die besten, wenigstens erlaubte sein mäßiges Einkommen ihm nicht, sich sonderlich zu pflegen und zu schonen; auch hatte sich das düstere jugendliche Treiben nicht ganz ausgleichen können: noch immer schien er einem Unerreichbaren nachzustreben, und als die Erinnerung früherer Verhältnisse endlich erschöpft war, so wollte keine eigentlich frohe Mitteilung stattfinden. Meine gegenwärtige Art, zu sein, konnte fast noch entfernter von der seinigen als jemals angesehen werden. Wir schieden jedoch in dem besten Vernehmen, aber auch ihn verließ ich in Furcht und Sorge wegen der drangvollen Zeit. Den verdienten Merrem besuchte ich gleichfalls, dessen schöne naturhistorische Kenntnisse alsbald eine frohere Unterhaltung gewährten. Er zeigte mir manches Bedeutende vor, schenkte mir sein Werk über die Schlangen, und so ward ich aufmerksam auf seinen weitern Lebensgang, woraus mir mancher Nutzen erwuchs; denn das ist der höchst erfreuliche Vorteil von Reisen, dass einmal erkannte Persönlichkeiten und Lokalitäten unsern Anteil zeitlebens nicht loslassen. Münster, November 1792. Der Fürstin angemeldet, hoffte ich gleich den behaglichsten Zustand, allein ich sollte noch vorher eine zeitgemäße Prüfung erdulden: denn, auf der Fahrt von mancherlei Hindernissen aufgehalten, gelangte ich erst tief in der Nacht zur Stadt. Ich heilt nicht für schicklich, durch einen solchen Überfall gleich beim Eintritt die Gastfreundschaft in diesem Grad zu prüfen; ich fuhr daher an einen Gasthof, wo mir aber Zimmer und Bett durchaus versagt wurde: die Emigrierten hatten sich in Masse auch hierher geworfen und jeden Winkel gefüllt. Unter diesen Umständen bedachte ich mich nicht lange und brachte die Stunden auf einem Stuhl in der Wirtsstube hin, immer noch bequemer als vor kurzem, da beim dichtesten Regenwetter von Dach und Fach nichts zu finden war. Auf diese geringe Entbehrung erfuhr ich den andern Morgen das Allerbeste. Die Fürstin ging mir entgegen, ich fand in ihrem Haus zu meiner Aufnahme alles vorbereitet. Das Verhältnis von meiner Seite war rein, ich kannte die Glieder des Zirkels früher genugsam, ich wusste, dass ich in einen frommen sittlichen Kreis herein trat, und betrug mich darnach. Von jener Seite benahm man sich gesellig, klug und nicht beschränkend. Die Fürstin hatte uns vor Jahren in Weimar besucht, mit von Fürstenberg und Hemsterhuis; auch ihre Kinder waren von der Gesellschaft. Damals verglich man sich schon über gewisse Punkte und schied, einiges zugeben, anderes duldend, im besten Vernehmen. Sie war eines der Individuen, von denen man sich gar keinen Begriff machen kann, wenn man sie nicht gesehen hat, die man nicht richtig beurteilt, wenn man eben diese Individualität nicht in Verbindung sowie im Konflikt mit ihrer Zeitumgebung betrachtet. Von Fürstenberg und Hemsterhuis, zwei vorzügliche Männer, begleiteten sie treulich, und in einer solchen Gesellschaft war das Gute sowie das Schöne immerfort wirksam und unterhaltend. Letzterer war indessen gestorben, jener, nunmehr umso viel Jahre älter, immer derselbe verständige, edle, ruhige Mann; und welche sonderbare Stellung in der Mitwelt! Geistlicher, Staatsmann, so nahe, den Fürstenthron zu besteigen. Die ersten Unterhaltungen, nachdem das persönliche Andenken früherer Zeit sich ausgesprochen hatte, wandten sich auf Hamann, dessen Grab, in der Ecke des entlaubten Gartens, mir bald in die Augen schien. Seine großen, unvergleichlichen Eigenschaften gaben zu herrlichen Betrachtungen Anlass, seine letzten Tage jedoch bleiben ungesprochen: der Mann, der diesem endlich erwählten Kreis so bedeutend und erfreulich gewesen, ward im Tod den Freunden einigermaßen unbequem; man machte sich über sein Begräbnis entscheiden, wie man wollte, so war es außer der Regel. Den Zustand der Fürstin, nahe gesehen, konnte man nicht anders als liebevoll betrachten: sie kam früh zum Gefühl, dass die Welt uns nichts gebe, dass man sich in sich selbst zurückziehen, dass man in einem innern, beschränkten Kreis um Zeit und Ewigkeit besorgt sein müsse. Beides hatte sie erfasst; das höchste Zeitliche fand sie im Natürlichen, und hier erinnere man sich Rousseauscher Maximen über bürgerliches Leben und Kinderzucht. Zum einfältigen Wahren wollte man in allem zurückkehren, Schnürbrust und Absatz verschwanden, der Puder zerstob, die Haare fielen in natürlichen Locken. Ihre Kinder lernten schwimmen und rennen, vielleicht auch balgen und ringen. Diesmal hätte ich die Tochter kaum wieder gekannt. Sie war gewachsen und stämmiger geworden, ich fand sie verständig, liebenswert, haushälterisch, dem halb klösterlichen Leben sich fügend und widmend. So war es mit dem zeitlich Gegenwärtigen; das ewige Künftige hatten sie in einer Religion gefunden, die das, was andere lehrend hoffen lassen, heilig beteuernd zusagt und verspricht. Aber als die schönste Vermittlung zwischen beiden Welten entsprosste Wohltätigkeit, die mildeste Wirkung einer ernsten Aszetik: das Leben füllte sich aus mit Religionsübung und wohl tun; Mäßigkeit und Genügsamkeit sprach sich aus in der ganzen häuslichen Umgebung; jedes tägliche Bedürfnis ward reichlich und einfach befriedigt, die Wohnung selbst aber, Hausrat und alles, dessen man sonst benötigt ist, erschien weder elegant noch kostbar; es sah eben aus, als wenn man anständig zur Miete wohne. Eben dies galt von Fürstenbergs häuslicher Umgebung: er bewohnte einen Palast, aber einen fremden, den er seinen Kindern nicht hinterlassen sollte. Und so bewies er sich in allem sehr einfach, mäßig, genügsam, auf innerer Würde beruhend, alles Äußere verschmähend, so wie die Fürstin auch. Innerhalb dieses Elementes bewegte sich die geistreichste, herzlichste Unterhaltung, ernsthaft, durch Philosophie vermittelt, heiter durch Kunst, und wenn man bei jener selten von gleichen Prinzipien ausgeht, so freut man sich, bei dieser meist Übereinstimmung zu finden. Hemsterhuis, Niederländer, fein gesinnt, zu den Alten von Jugend auf gebildet, hatte sein Leben der Fürstin gewidmet, sowie seine Schriften, die durchaus von wechselseitigem Vertrauen und gleichem Bildungsgang das unverwüstlichste Zeugnis ablegen. Mit eigener scharfsinniger Zartheit wurde dieser schätzenswerte Mann dem Geistig-Sittlichen sowie dem Sinnlich-Ästhetischen unermüdet nachzustreben geleitet. Muss man von jenem sich durchdringen, so soll man von diesem immer umgeben sein; daher ist für einen Privatmann, der sich nicht in großen Räumen ergehen und selbst auf Reisen einen gewohnten Kunstgenuss nicht entbehren kann, eine Sammlung geschnittener Steine höchst wünschenswert: ihn begleitet überall das Erfreulichste, ein belehrendes Kostbares ohne Belästigung, und er genießt ununterbrochen des edelsten Besitzes. Um aber dergleichen zu erlangen, ist nicht genug, dass man wolle; zum Vollbringen gehört, außer dem Vermögen, vor allen Dingen Gelegenheit. Unser Freund entbehrte dieser nicht: auf der Scheide von Holland und England wohnend, die fortdauernde Handelsbewegung, die darin auch hin und her wogenden Kunstschätze beobachtend, gelangte er nach und nach durch Kauf- und Tauschversuche zu einer schönen Sammlung von etwa siebzig Stücken, wobei ihm Rat und Belehrung des trefflichen Steinschneiders Natter für die sicherste Beihilfe galt. Diese Sammlung hatte die Fürstin zum größten Teil entstehen sehen, Einsicht, Geschmack und Liebe daran gewonnen und besaß sie nun als Nachlass eines abgeschiedenen Freundes, der in diesen Schätzen immer als gegenwärtig erschien. Hemsterhuis' Philosophie, die Fundamente derselben, seinen Ideengang konnt' ich mir nicht anders zu eigen machen, als wenn ich sie in meine Sprach übersetzte. Das Schöne und das an demselben Erfreuliche sei, so sprach er sich aus, wenn wir die größte Menge von Vorstellungen in einem Moment bequem erblicken und fassen; ich aber musste sagen: das Schöne sei, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Tätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir, zur Reproduktion gereizt, uns gleichfalls lebendig und in höchste Tätigkeit versetzt fühlen. Genau betrachtet, ist eins und eben dasselbe gesagt, nur von verschiedenen Menschen ausgesprochen, und ich enthalte mich, mehr zu sagen; denn das Schöne ist nicht sowohl leistend als versprechend, dagegen das Hässliche, aus einer Stockung entstehend, selbst stocken macht und nichts hoffen, begehren und erwarten lässt. Ich glaubte mir auch den "Brief über die Skulptur" hiernach meinem Sinn gemäß zu deuten; ferner schien mir das Büchlein "Über das Begehren" auf diesem Weg klar: denn wenn das heftig verlangte Schöne in unsern Besitz kommt, so hält es nicht immer im einzelnen, was es im ganzen versprach, und so ist es offenbar, dass dasjenige, was uns als Ganzes aufregte, im einzelnen nicht durchaus befriedigen wird. Diese Betrachtungen waren umso bedeutender, als die Fürstin ihren Freund heftig nach Kunstwerken verlangen, aber im Besitz erkalten gesehen, was er so scharfsinnig und liebenswürdig in obgemeldetem Büchlein ausgeführt hatte. Dabei hat man freilich den Unterschied zu bedenken, ob der Gegenstand des für ihn empfundenen Enthusiasmus würdig sei: ist er es, so muss Freude und Bewunderung immer daran wachsen, sich stets erneuen; ist er es nicht ganz, so geht das Thermometer um einige Grade zurück, und man gewinnt an Einsicht, was man an Vorurteil verlor. Deshalb es wohl ganz richtig ist, dass man Kunstwerke kaufen müsse, um sie kennen zu lernen, damit das Verlangen aufgehoben und der wahre Wert festgestellt werde. Indessen muss auch hier Sehnsucht und Befriedigung in einem pulsierenden Leben miteinander abwechseln, sich gegenseitig ergreifen und loslassen, damit der einmal Betrogene nicht aufhöre, zu begehren. Wie empfänglich die Sozietät, in der ich mich befand, für solche Gespräche sein mochte, wird derjenige am besten beurteilen, der von Hemsterhuis' Werken Kenntnis genommen hat, welche, in diesem Kreis entsprungen, ihm auch Leben und Nahrung verdankten. Zu den geschnittenen Steinen aber wieder zurückzukehren, war mehrmals höchst erfreulich, und man musste dies gewiss als einen der sonderbarsten Fälle ansehen, dass gerade die Blüte des Heidentums in einem christlichen haus verwahrt und hochgeschätzt werden sollte. Ich versäumte nicht, die allerliebsten Motive hervorzuheben, die aus diesen würdigen, kleinen Gebilden dem Auge entgegen sprangen. Auch hier durfte man sich nicht verleugnen, dass Nachahmung großer, würdiger, älterer Werke, die für uns ewig verloren wären, in diesen engen Räumen juwelenhaft aufgehoben worden; und es fehlte fast an keiner Art. Der tüchtigste Herkules, mit Efeu bekränzt, durfte seinen kolossalen Ursprung nicht verleugnen; ein ernstes Medusenhaupt, ein Bacchus, der ehemals im Medicischen Kabinett verwahrt worden, allerliebste Opfer und Bacchanalien und zu allem diesen die schätzbarsten Porträte von bekannten und unbekannten Personen mussten bei wiederholter Betrachtung bewundert werden. Aus solchen Gesprächen, die ungeachtet ihrer Höhe und Tiefe nicht Gefahr liefen, sich ins Abstruse zu verlieren. Schien eine Vereinigung hervorzugehen, indem jede Verehrung eines würdigen Gegenstandes immer von einem religiösen Gefühl begleitet ist. Doch konnte man sich nicht verbergen, dass die reinste christliche Religion mit der wahren bildenden Kunst immer sich zwiespältig befinde, weil jene sich von der Sinnlichkeit zu entfernen strebt, diese nun aber das sinnliche Element als ihren eigentlichsten Wirkungskreis anerkennt und darin beharren muss. In diesem Geist schrieb ich nachstehendes Gedicht augenblicklich nieder: Amor, nicht das Kind, der Jüngling, der Psychen verführte, Sah im Olympus sich um, frech und der Siege gewohnt; Eine Göttin erblickt' er, vor allen die herrlichste Schöne, Venus Urania war's, und er entbrannte für sie. Ach! Die Heilige selbst, sie widerstand nicht den Werben, Und der Verwegene hielt fest sie im Arme bestrickt. Da entstand aus ihnen ein neuer lieblicher Amor, Der dem Vater den Sinn, Sitte der Mutter verdankt. Immer findest du ihn in holder Musen Gesellschaft, Und sein reizender Pfeil stiftet die Liebe der Kunst. Mit diesem allegorischen Glaubensbekenntnis schien man nicht ganz unzufrieden; indessen blieb es auf sich selbst beruhen, und beide Teile machten sich's zur Pflicht, von ihren Gefühlen und Überzeugungen nur dasjenige hervorzukehren, was gemeinsam wäre und zu wechselseitiger Belehrung und Ergötzung, ohne Widerstreit, gereichen könnte. Immer aber konnten die geschnittenen Steine als ein herrliches Mittelglied eingeschoben werden, wenn die Unterhaltung irgend lückenhaft zu werden drohte. Ich von meiner Seite konnte freilich nur das Poetische schätzen, das Motiv selbst, Komposition, Darstellung überhaupt beurteilen und rühmen, dagegen die Freunde dabei noch ganz andere Betrachtungen anzustellen gewohnt waren. Denn es ist für den Liebhaber, der solche Kleinodien anschaffen, den Besitz zu einer würdigen Sammlung erheben will, nicht genug zur Sicherheit seines Erwerbs, dass er Geist und Sinn der köstlichen Kunstarbeit einsehe und sich daran ergötze, sondern er muss auch äußerliche Kennzeichen zu Hilfe rufen, die für den, der nicht selbst technischer Künstler im gleichen Fach ist, höchst schwierig sein möchten. Hemsterhuis hatte mit seinem Freunde Natter viele Jahre darüber korrespondiert, wovon sich noch bedeutende Briefe vorfanden. Hier kam nun erst die Steinart selbst zur Sprache, in welcher gearbeitet worden, indem man sich der einen in frühern, der andern in folgenden Zeiten bedient; sodann war vor allen Dingen eine größere Ausführlichkeit im Auge zu halten, wo man auf bedeutende Zieten schließen konnte, so wie flüchtige Arbeit bald auf Geist, teils auf Unfähigkeit, teils auf Leichtsinn hindeutete, frühere oder spätere Epochen zu erkennen gab. Besonders legte man großen Wert auf die Politur vertiefter Stellen und glaubte darin ein unverwerfliches Zeugnis der besten Zeiten zu sehen. Ob aber ein geschnittener Stein entschieden antik oder neu sei, darüber wagte man keine festen Kriterien anzugeben; Freund Hemsterhuis habe selbst nur mit Beistimmung jenes trefflichen Künstlers sich über diesen Punkt zu beruhigen gewusst. Ich konnte nicht verbergen, dass ich hier in ein ganz frisches Feld gerate, wo ich mich höchst bedeutend angesprochen fühle und nur die Kürze der Zeit bedaure, wodurch ich die Gelegenheit mir abgeschnitten sehe, meine Augen sowohl als den innern Sinn auch auf diese Bedingungen kräftiger zu richten. Bei einem solchen Anlass äußerte sich die Fürstin heiter und einfach: sie sei geneigt, mir die Sammlung mitzugeben, damit ich solche zu Hause mit Freunden und Kennern studieren und mich in diesem bedeutenden Zweig der bildenden Kunst, mit Zuziehung von Schwefel- und Glaspasten, umsehen und bestärken möchte. Dieses Anerbieten, das ich für kein leeres Kompliment halten durfte und für mich höchst reizend war, lehnt' ich jedoch dankbarlichst ab; und ich gestehe, dass mir im Innern die Art, wie diese Schatz aufbewahrt wurde, eigentlich das größte Bedenken gab. Die Ringe waren in einzelnen Kästchen, einer allein, zwei, drei, wie es der Zufall gegeben hatte, nebeneinander gesteckt: es war unmöglich, beim Vorzeigen am Ende zu bemerken, ob wohl einer fehle; wie denn die Fürstin selbst gestand, dass einst, in der besten Gesellschaft ein Herkules abhanden gekommen, den man erst späterhin vermisst habe. Sodann schien es bedenklich genug, in gegenwärtiger Zeit sich mit einem solchen Wert zu beschweren und eine höchst bedeutende, ängstliche Verantwortung zu übernehmen. Ich suchte daher mit der freundlichsten Dankbarkeit die schicklichsten ablehnenden Gründe vorzubringen, welche Einrede die Freundin wohlwollend in Betracht zu ziehen schien, indem ich nun um desto eifriger die Aufmerksamkeit auf diese Gegenstände, insofern es sich nur einigermaßen schicken wollte, zu lenken suchte. Von meinen Naturbetrachtungen aber, die ich, weil auch wenig Glück für sie hier am Ort zu hoffen war, eher verheimlichte, war ich doch genötigt einige Rechenschaft zu geben. Von Fürstenberg brachte zur Sprache, dass er mit Verwunderung, welche beinahe wie Befremden aussah, hie und da gehört habe, wie ich der Physiognomik wegen die allgemeine Knochenlehre studiere, wovon sich doch schwerlich irgendeien Beihilfe zu Beurteilung der Gesichtszüge des Menschen hoffe lasse. Nun mocht' ich wohl bei einigen Freunden, das für einen Dichter ganz unschicklich gehaltene Studium der Osteologie zu entschuldigen und einigermaßen einzuleiten, geäußert haben, ich sei, wie es denn wirklich auch an dem war, durch Lavaters Physiognomik in dieses Fach wieder eingeführt worden, da ich in meinen akademischen Jahren darin die erste Bekanntschaft gesucht hatte. Lavater selbst, der glücklichste Beschauer organisierter Oberflächen, sah sich, in Anerkennung, dass Muskel- und Hautgestalt und ihre Wirkung von dem entschiedenen inneren Knochengebilde durchaus abhängen müsse, getrieben, mehrere Tierschädel in sein Werk abbilden zu lassen und selbige mir zu einem flüchtigen Kommentar darüber zu empfehlen. Was ich aber gegenwärtig hiervon wiederholen oder in demselben sinn zugunsten meines Verfahrens aufbringen wollte, konnte mir wenig helfen, indem zu jener Zeit ein solcher wissenschaftlicher Grund allzu weit ablag und man, im augenblicklichen geselligen Leben befangen, nur den beweglichen Gesichtszügen, und vielleicht gar nur in leidenschaftlichen Momenten, eine gewisse Bedeutung zugestand, ohne zu bedenken, dass hier nicht etwa bloß ein regelloser Schein wirken könne, sondern dass das Äußere, Bewegliche, Veränderliche als ein wichtiges, bedeutendes Resultat eines innern entschiedenen Lebens betrachtet werden müsse. Glücklicher als in diesen Vorträgen war ich in Unterhaltung größerer Gesellschaft: geistliche Männer von Sinn und Verstand, heranstrebende Jünglinge, wohlgestaltet und wohlerzogen, an Geist und Gesinnung viel versprechend, waren gegenwärtig. Hier wählte ich unaufgefordert die römischen Kirchenfeste Karwoche und Ostern, Fronleichnam und Peter Paul; sodann zur Erheiterung die Pferdeweihe, woran auch andere Haus- und Hoftiere teilnehmen. Diese Feste waren mir damals nach allen charakteristischen Einzelheiten vollkommen gegenwärtig, denn ich ging darauf aus, ein "römisches Jahr" zu schreiben, den Verlauf geistlicher und weltlicher Öffentlichkeiten; daher ich denn auch, sogleich jene Feste nach einem reinen, direkten Eindruck darzustellen imstande, meinen katholischen frommen Zirkel mit meinen vorgeführten Bildern ebenso zufrieden sah als die Weltkinder mit dem Karneval. Ja, einer von den Gegenwärtigen, mit den Gesamtverhältnissen nicht genau bekannt, hatte im Stillen gefragt: ob ich denn wirklich katholisch sei? Als die Fürstin mir dieses erzählte, eröffnete sie mir noch ein anderes: Man hatte ihr nämlich vor meiner Ankunft geschrieben, sie solle sich vor mir in Acht nehmen; ich wisse mich so fromm zu stellen, dass man mich für religiös, ja für katholisch halten könne. "Geben Sie mir zu, verehrte Freundin," rief ich aus, "ich stelle mich nicht fromm, ich bin es am rechten Ort; mir fällt nicht schwer, mit einem klaren, unschuldigen Blick alle Zustände zu beachten und sie wieder auch ebenso rein darzustellen. Jede Art fratzenhafte Verzerrung, wodurch sich dünkelhafte Menschen nach eigener Sinnesweise an dem Gegenstand versündigen, war mir von jeher zuwider. Was mir widersteht, davon wend' ich den Blick weg, aber manches, was ich nicht gerade billige, mag ich gern in seiner Eigentümlichkeit erkennen: da zeigt sich denn meist, dass die andern ebenso recht haben, nach ihrer eigentümlichen Art und Weise zu existieren, als ich nach der meinigen." Hierdurch war man denn auch wegen dieses Punkts aufgeklärt, und eine freilich keineswegs zu lobende heimliche Einmischung in unsere Verhältnisse hatte gerade im Gegenteil, wie sie Misstrauen erregen wollte, Vertrauen erregt. In einer solchen zarten Umgebung wär' es nicht möglich gewesen, herb oder unfreundlich zu sein; im Gegenteil fühlt' ich mich milder als seit langer Zeit, und es hätte mir wohl kein größeres Glück begegnen können, als dass ich nach dem schrecklichen Kriegs- und Fluchtwesen endlich wieder fromme menschliche Sitte auf mich einwirken fühlte. Einer so edlen, guten, sittlich-frohen Gesellschaft war ich jedoch in einem Punkt ungefällig, ohne dass ich selbst weiß, wie es zugegangen ist. Ich war wegen eines glücklichen, freien, bedeutenden Vorlesens berühmt, man wünschte mich zu hören, und da man wusste, dass ich die "Luise" von Voß, wie sie im Novemberheft des "Merkur" 1784 erschienen war, leidenschaftlich verehrte und sie gerne vortrug, spielte man darauf an, ohne zudringlich zu sein; man legte das Merkurstück unter den Spiegel und ließ mich gewähren. Und nun wüsst' ich nicht zu sagen, was mich abhielt; mir war wie Sinn und Lippe versiegelt, ich konnte das Heft nicht aufnehmen, mich nicht entschließen, eine Pause des Gesprächs zu meiner und der andern Freude zu nutzen, die Zeit ging hin, und ich wundere mich noch über diese unerklärliche Verstocktheit. Der Tag des Abschieds nahte heran: man musste doch sich einmal trennen. "Nun," sagte die Fürstin, "hier gilt keine Widerrede! Sie müssen die geschnittenen Steine mitnehmen, ich verlange es." Als ich aber meine Weigerung auf das höflichste und freundlichste fort behauptete, sagte sie zuletzt: "So muss ich Ihnen denn eröffnen, warum ich es fordere. Man hat mir abgeraten, Ihnen diesen Schatz anzuvertrauen, und eben deswegen will ich, muss ich es tun; man hat mir vorgestellt, dass ich Sie doch auf diesen Grad nicht kenne, um auch in einem solchen Fall von Ihnen ganz gewiss zu sein. Darauf habe ich," fuhr sie fort, "erwidert: Glaubt ihr denn nicht, dass der Begriff, den ich von ihm habe, mir lieber sei als diese Steine? Sollt' ich die Meinung von ihm verlieren, so mag dieser Schatz auch hinterdrein gehen." Ich konnte nun weiter nichts erwidern, indem sie durch eine solche Äußerung in eben dem Grad mich zu ehren und zu verpflichten wusste. Jedes übrige Hindernis räumte sie weg; vorhandene Schwefelabgüsse, katalogisiert, waren zu Kontrolle, sollte sie nötig befunden werden, in einem sauberen Kästchen mit den Originalen eingepackt, und ein sehr kleiner Raum fasste die leicht transportablen Schätze. So nahmen wir treulich Abschied, ohne jedoch sogleich zu scheiden; die Fürstin kündigte mir an, sie wolle mich auf die nächste Station begleiten, setze sich zu mir im Wagen, der ihrige folgte. Die bedeutenden Punkte des Lebens und der Lehr kamen abermals zur Sprache: ich wiederholte mild und ruhig mein gewöhnliches Credo, auch sie verharrte bei dem ihrigen. Jedes zog nun seines Weges nach Hause; sie mit dem nachgelassenen Wunsch, mich wo nicht hier, doch dort wieder zu sehen. Diese Abschiedsformel wohl denkender freundlicher Katholiken war mir nicht fremd, noch zuwider: ich hatte sie oft bei vorübergehenden Bekanntschaften in Bädern und sonst meist von wohlwollenden, mir freundlichst zugetanen Geistlichen vernommen, und ich sehe nicht ein, warum ich irgendjemand verargen sollte, der wünscht, mich in seinen Kreis zu ziehen, wo sich nach seiner Überzeugung ganz allein ruhig leben und, einer ewigen Seligkeit versichert, ruhig sterben lässt. * * * * * Durch Vorsorge, auf Anregung der edlen Freundin, ward ich von dem Postmeister nicht allein rasch gefördert, sondern auch durch Laufzettel weiter angemeldet und empfohlen, welches angenehm und höchst notwendig war. Denn ich hatte bei schöner, freundschaftlicher, friedlicher Unterhaltung vergessen, dass Kriegsflucht mir nachstürme; und leider fand ich unterwegs die Schar der Emigrierten, die sich immer weiter nach Deutschland hineindrängte und gegen welche die Postillione ebenso wenig als am Rhein günstig gesinnt waren. Gar oft kein gebahnter Weg, man fuhr blad hüben bald drüben, begegnete und kreuzte sich. Heidegebüsch und Gesträuche, Wurzelstumpfen, Sand, Moor und Binsen, eins so unbequem und unerfreulich wie das andere. Auch ohne Leidenschaftlichkeit ging es nicht ab. Ein Wagen blieb stecken, Paul sprang geschwind herab und zu Hilfe: er glaubte, die schönen Französinnen, die er in Düsseldorf in den traurigsten Umständen wieder angetroffen, seien abermals im Fall, seines Beistandes zu bedürfen. Die Dame hatte ihren Gemahl nicht wieder gefunden und war, in dem Strudel des Unheils mit fortgerissen und geängstigt, endlich über den Rhein geworfen worden. Hier aber in dieser Wüste erschien sie nicht: einige alte ehrwürdige Damen forderten unsere Teilnahme. Als aber unser Postillion halten und mit seinen Pferden dem dortigen Wagen zu Hilfe kommen sollte, weigerte er sich trotzig und sagte, wir sollten nur zu unserm eignen, mit Silber und Gold genugsam beschwerten Wagen ernstlich sehen, damit wir nicht etwa stecken blieben oder umgeworfen würden; denn ob er es gleich mit uns redlich meine, so ständ' er doch in dieser Wüstenei für nichts. Glücklicherweise, unser Gewissen zu beschwichtigen, hatte sich eine Anzahl westfälischer Bauern um jenen Wagen versammelt und gegen ein bedungenes gutes Trinkgeld ihn wieder auf den fahrbaren Weg gebracht. An unserm Fuhrwerk war freilich das Eisen das Schwerste, und der kostbare Schatz, den wir mit uns führten, so leicht, um in einer leichten Chaise nicht bemerkt zu werden. Wie lebhaft wünscht' ich mir mein böhmisches Wägelchen herbei! Gleichwohl gab mir jenes Vorurteil, welches wichtige Schätze bei uns voraussetzte, doch immer eine Art von Unruhe. Wir hatten bemerkt, dass ein Postillion dem andern die Notiz von Überschwere des Wagens und die Vermutung von Geld und Kostbarkeiten jederzeit überlieferte. Nun aber wurden wir wegen vorausgeschickter Postzettel, deren richtige Stunde wir ohnehin des schlechten Wetters wegen nicht einhielten, auf jeder Station eilig vorwärts gedrängt und ganz eigentlich in die Nacht hinaus gestoßen, da uns denn wirklich der bängliche Fall begegnete, dass der Postillion in düsterer Nacht schwur, er könne das Ding nicht weiter fortbringen, und an einer einsamen Waldwohnung stillhielt, deren Lage, Bauart und Bewohner schon beim hellsten Sonnenschein hätten Schaudern erregen können. Der Tag, selbst der grauste, war dagegen erquicklich: man reif das Andenken der Freunde hervor, bei denen man vor kurzem so trauliche Stunden zugebracht; man musterte sie mit Achtung und Liebe, belehrte sich an ihren Eigenheiten und erbaute sich an ihren Vorzügen. Wie aber die Nacht wieder hereinbrach, da fühlte man sich schon wieder von allen Sorgen umstrickt in einem kummervollen Zustand. Wie düster aber auch in der letzten und schwärzesten aller Nächte meine Gedanken mochten gewesen sein, so wurden sie auf einmal wieder aufgehellt, als ich in das mit hundert und aber hundert Lampen erleuchtete Kassel hinein fuhr. Bei diesem Anblick entwickelten sich vor meiner Seele alle Vorteile eines bürgerlich-städtischen Zusammenseins, die Wohlhäbigkeit eines jeden einzelnen in seiner von innen erleuchteten Wohnung und die behaglichen Anstalten zu Aufnahme der Fremden. Diese Heiterkeit jedoch ward mir für einige Zeit gestört, als ich auf dem prächtigen tageshellen Königsplatz an dem wohlbekannten Gasthof anfuhr: der anmeldende Diener kehrte zurück mit der Erklärung, es sei kein Platz zu finden. Als ich aber nicht weichen wollte, trat ein Kellner sehr höflich an den Schlag und bat in schönen französischen Phrasen um Entschuldigung, da es nicht möglich sei, mich aufzunehmen. Ich erwiderte darauf in gutem Deutsch, wie ich mich wundern müsse, dass in einem so großen Gebäude, dessen Raum ich gar wohl kenne, einem fremden in der Nacht die Aufnahme verweigert werden wolle. "Sie sind ein Deutscher!" rief er aus, "das ist ein anderes!" und sogleich ließ er den Postillion in das Hoftor hereinfahren. Als er mir ein schickliches Zimmer angewiesen, versetzte er: er sei fest entschlossen, keinen Emigrierten mehr aufzunehmen. Ihr Betragen sei höchst anmaßend, die Bezahlung knauserig; denn mitten in ihrem Elend, da sie nicht wüssten, wo sie sich hinwenden sollten, betrügen sie sich noch immer, als hätten sie von einem eroberten Land Besitz genommen. So schied ich nun in gutem Frieden und fand auf dem Weg nach Eisenach weniger Zudrang der so häufig und unversehens heran getriebenen Gäste. Meine Ankunft in Weimar sollte auch nicht ohne Abenteuer bleiben; sie ereignete sich nach Mitternacht und gab Anlass zu einer Familienszene, welche wohl in irgendeinem Roman die tiefste Finsternis erhellen und erheitern würde. Nun fand ich das von meinem Fürsten mir bestimmte, erneuerte, wohl eingerichtete Haus schon meistens bewohnbar, ohne dass mir die Freude ganz versagt gewesen wäre, bei dem Ausbau mit- und einzuwirken. Die Meinigen entgegneten mir munter und gesund, und als es an ein Erzählen ging, kontrastierte freilich der heitere, ruhige Zustand, in welchem sie die aus Verdun gesendeten Süßigkeiten genossen, mit demjenigen, worin wir, die sie in paradiesischen Zuständen glaubten, mit aller denkbaren Not zu kämpfen hatten. Unser stiller häuslicher Kreis war nun umso reicher und froher abgeschlossen, indem Heinrich Meyer, zugleich als Hausgenosse, Künstler, Kunstfreund und Mitarbeiter, zu den Unsrigen gehörte und an allem Belehrenden sowie an allem Wirksamen kräftigen Anteil nahm. Das weimarsche Theater bestand seit dem Mai 1791; es hatte sowohl den Sommer genannten Jahres als auch den des laufenden in Lauchstädt zugebracht und sich durch Wiederholung damals gangbarer, meist bedeutender Stücke schon ziemlich gut zusammengespielt. Ein Rest der Bellomoschen Gesellschaft, also schon aneinander gewöhnter Personen, gab den Grund; andere teils schon brauchbare, teils viel versprechende Glieder füllten schicklich und gemächlich die entstandene Lücke. Man kann sagen, dass es damals noch ein Schauspielerhandwerk gab, wodurch befähigt, sich Glieder entfernter Theater gar bald in Einklang setzten, besonders wenn man so glücklich war, für die Rezitation Niederdeutsche, für den Gesang Oberdeutsche herbeizuziehen; und so konnte das Publikum für den Anfang gar wohl zufrieden sein. Da ich teil an der Direktion genommen, so war es mir eine unterhaltende Beschäftigung, gelind zu versuchen, auf welchem Weg das Unternehmen weitergeführt werden könnte. Ich sah gar bald, dass eine gewisse Technik aus Nachahmung, Gleichstellung mit andern und Routine hervorgehen konnte; allein es fehlte durchaus an dem, was ich Grammatik nennen dürfte, die doch erst zum Grund liegen muss, ehe man zu Rhetorik und Poesie gelangen kann. Da ich auf diesen Gegenstand zurückzukehren gedenke und ihn vorläufig nicht gern zerstückeln möchte, so sage ich nur so viel: dass ich eben jene Technik, welche sich alles aus Überlieferung aneignet, zu studieren und auf ihre Elemente zurückzuführen suchte und das, was mir klar geworden, in einzelnen Fällen, ohne auf ein Allgemeines hinzuweisen, beobachten ließ. Was mir bei diesem Unternehmen aber besonders zustatten kam, war der damals überhand nehmende Natur- und Konversationston, der zwar höchst lobenswert und erfreulich ist, wenn er als vollendete Kunst, als eine zweite Natur hervortritt, nicht aber, wenn ein jeder glaubt, nur sein eigenes nacktes Wesen bringen zu dürfen, um etwas Beifallswürdiges darzubieten. Ich aber benutzte diesen Trieb zu meinen Zwecken, indem ich gar wohl zufrieden sein konnte, wenn das angeborne Naturell sich mit Freiheit hervortat, um sich nach und nach, durch gewisse Regeln und Anordnungen, einer höhern Bildung entgegenführen zu lassen. Doch darf ich hiervon nicht weiter sprechen, weil was getan und geleistet worden, sich erst nach und nach aus sich selbst entwickelte und also historisch dargestellt werden musste. Umstände jedoch, die für das neue Theater sich höchst günstig hervortaten, miss ich kürzlich anführen. Iffland und Kotzebue blühten in ihrer besten Zeit, ihre Stücke, natürlich und fasslich, die einen gegen ein bürgerlich rechtliches Behagen, die andern gegen eine lockere Sittenfreiheit hingewendet; beide Gesinungen waren dem Tage gemäß und erhielten freudige Teilnahme; mehrere noch als Manuskript ergötzten durch den lebendigen Duft des Augenblicks, den sie mit sich brachten. Schröder, Babo, Ziegler, glücklich energische Talente, lieferten bedeutenden Beitrag; Bretzner und Jünger, ebenfalls gleichzeitig, gaben anspruchslos einer bequemen Fröhlichkeit Raum. Hagemann und Hagemeister, Talente, die sich auf die Länge nicht halten konnten, arbeiteten gleichfalls für den Tag und waren, wo nicht bewundert, doch als neu geschaut und willkommen. Diese lebendige, sich im Zirkel herumtreibende Masse suchte man mit Shakespeare, Gozzi und Schiller Geister zu erheben; man verließ die bisherige Art, nur Neues zum nächsten Verlust einzustudieren, man war sorgfältig in der Wahl und bereitete schon ein Repertorium vor, welches viele Jahre gehalten hat. Aber auch dem Mann, der uns diese Anstalt gründen half, müssen wir eine dankbare Erinnerung nicht schuldig bleiben. Es war F. J. Fischer, ein Schauspieler in Jahren, der sein Handwerk verstand, mäßig, ohne Leidenschaft, mit seinem Zustand zufrieden, sich mit einem beschränkten Rollenfach begnügend. Er brachte mehrere Schauspieler von Prag mit, die in seinem Sinn wirkten, und wusste die einheimischen gut zu behandeln, wodurch ein innerer Friede sich über das Ganze verbreitete. Was die Oper anlangt, so kamen uns die Dittersdorfischen Arbeiten auf das Beste zustatten. Er hatte mit glücklichem Naturell und Humor für ein fürstliches Privattheater gearbeitet, wodurch seinen Produktionen eine gewisse leichte Behaglichkeit zuteil ward, die auch uns zugute kam, weil wir unser neues Theater als eine Liebhaber-Bühne zu betrachten die Klugheit hatten. Auf den Text, im rhythmischen und prosaischen Sinn, wendete man viel Mühe, um ihn dem obersächsischen Geschmack mehr anzueignen; und so gewann diese leichte Ware Beifall und Abgang. Die aus Italien wiedergekehrten Freunde bemühten sich, die leichteren italienischen Opern jener Zeit, von Paesiello, Cimarosa, Guglielmi und andern, herüberzuführen, wo denn zuletzt auch Mozarts Geist einzuwirken anfing. Denke man sich, dass von diesem allem wenig bekannt, gar nichts abgebraucht war, so wird man gestehen, dass die Anfänge des weimarschen Theaters mit den jugendlichen Zeiten des deutschen Theaters überhaupt oder zugleich eintraten und Vorteile genossen, die offenbar zu einer natürlichen Entwickelung aus sich selbst den reinsten Anlass geben mussten. Um nun aber auch Genuss und Studium der anvertrauten Gemmensammlung vorzubreiten und zu sichern, ließ ich gleich zwei zierliche Ringkästchen verfertigen, worin die Steine mit einem Blick übersehbar nebeneinander standen, so dass irgendeine Lücke sogleich zu bemerken gewesen wäre; worauf alsdann Schwefel- und Gipsabgüsse in Mehrzahl verfertigt und der Prüfung durch stark vergrößernde Linsen unterworfen wurden, auch vorhandene Abdrücke älterer Sammlungen vorgesucht und zu Rate gezogen. Wir bemerkten wohl, dass hier für uns das Studium der geschnittenen Steine zu gründen sei; wie groß aber die Vergünstigung der Freundin gewesen, wurde erst nach und nach eingesehen. Das Resultat mehrjähriger Betrachtung sei deshalb hier eingeschaltet, weil wir wohl schwerlich unsere Aufmerksamkeit so bald wieder auf diesen Punkt wenden dürften. Aus innern Gründen der Kunst sahen sich die weimarschen Freunde berechtigt, wo nicht alle, doch bei weitem die größte Anzahl dieser geschnittenen Steine für echt antike Kunstdenkmale zu halten, und zwar fanden sich mehrere darunter, welche zu den vorzüglichsten Arbeiten dieser Art gerechnet werden durften. Einige zeichneten sich dadurch aus, dass sie als wirklich identisch mit ältern Schwefelpasten angesehen werden mussten; mehrere bemerkte man, deren Darstellung mit andern antiken Gemmen zusammentraf, die aber deswegen immer noch für echt gelten konnten. In den größten Sammlungen kommen wiederholte Vorstellungen vor, und man würde sehr irren, die einen als Original, die andern als moderne Kopien anzusprechen. Immer müssen wir dabei die edle Kunsttreue der Alten im Sinn tragen, welche die einmal glücklich gelungene Behandlung eines Gegenstandes nicht oft genug wiederholen konnte. Jene Künstler hielten sich für original genug, wenn sie einen originellen Gedanken aufzufassen und ihn auf ihre Weise wieder darzustellen Fähigkeit und Fertigkeit empfanden. Mehrere Steine zeigten sich auch mit eingeschnittenen Künstlernamen, worauf man seit Jahren großen Wert gelegt hatte. Eine solche Zutat ist wohl immer merkwürdig genug, doch bleibt sie meist problematisch: denn es ist möglich, dass der Stein alt und der Name neu eingeschnitten sei, um dem Vortrefflichen noch einen Beiwert zu verleihen. Ob wir uns nun gleich hier wie billig alles Katalogisierens enthalten, da Beschreibung solcher Kunstwerke ohne Nachbildung wenig Begriff gibt, so unterlassen wir doch nicht, von den vorzüglichsten einige allgemeine Andeutungen zu geben. Kopf des Herkules. Bewundernswürdig in Betracht des edlen, freien Geschmacks der Arbeit, und noch mehr zu bewundern in Hinsicht auf die herrlichen Idealformen, welche mit keinem der bekannten Herkulesköpfe ganz genau übereinkommen und eben dadurch die Merkwürdigkeit dieses köstlichen Denkmals noch vermehren helfen. Brustbild des Bacchus. Arbeit, wie auf den Stein gehaucht, und in Hinsicht auf die idealen Formen eines der edelsten antiken Werke. Es finden sich in verschiedenen Sammlungen mehrere diesem ähnliche Stücke, und zwar, wenn wir uns recht erinnern, sowohl hoch als tief geschnitten; doch ist uns noch keines bekannt geworden, welches vor dem gegenwärtigen den Vorzug verdiente. Faun, welcher einer Bacchantin das Gewand rauben will. Vortreffliche und auf alten Monumenten mehrmals vorkommende Komposition, ebenfalls gut gearbeitet. Eine umgestürzte Leier, deren Hörner zwei Delphine darstellen, der Körper oder, wenn man will, der Fuß Amors Haupt, mit Rosen bekränzt; zu derselben ist Bacchus' Panther, in der Vorderpfote den Thyrsusstab haltend, zierlich gruppiert. Die Ausführung dieses Steins befriedigt den Kenner, und wer zarte Bedeutung liebt, wird gleichfalls seine Rechnung finden. Maske, mit großem Bart und weit geöffnetem Mund; eine Efeuranke umschlingt die kahle Stirn. In seiner Art mag dieser Stein einer der allervorzüglichsten sein, und ebenso schätzbar ist auch Eine andere Maske mit langem Bart und zierlich aufgebundenen Haaren; ungewöhnlich tief gearbeitet. Venus tränkt den Amor. Eine der lieblichsten Gruppen, die man sehen kann, geistreich behandelt, doch ohne großen Aufwand von Fleiß. Cybele, auf dem Löwen reitend, tief geschnitten: ein Werk, welches als vortrefflich den Liebhabern durch Abdrücke, die fast in allen Pastensammlungen zu finden sind, genugsam bekannt ist. Gigant, der einen Greif aus seiner Felsenhöhle hervorzieht. Ein Werk von sehr vielem Kunstverdienst und als Darstellung vielleicht ganz einzig. Die vergrößerte Nachbildung desselben finden unsere Leser vor dem Voßschen Programm zu der Jenaischen A. L. Z. 1804, IV. Band. Behelmter Kopf im Profil, mit großem Bart. Vielleicht ist's eine Maske; indessen hat sie im geringsten nichts Karikaturartiges, sondern ein gedrungenes heldenmäßiges Angesicht, und ist vortrefflich gearbeitet. Homer, als Herme, fast ganz von vorne dargestellt und sehr tief geschnitten. Der Dichter erscheint hier jünger als gewöhnlich, kaum im Anfang des Greisenalters; daher diese Werk nicht allein von Seiten der Kunst, sondern auch des Gegenstandes wegen schätzbar ist. In Sammlungen von Abdrücken geschnittener Steine wird oftmals der Kopf eines ehrwürdigen bejahrten Mannes mit langem Bart und Haaren angetroffen, der -- jedoch ohne dass Gründe dafür angegeben werden -- das Bildnis des Aristophanes sein soll. Ein ähnlicher, nur durch unbedeutende Abweichungen von jenem sich unterscheidender Kopf ist in unserer Sammlung anzutreffen und in der Tat eins der besten Stücke. Das Profil eins Unbekannten ist vermutlich über der Augenbraune abgebrochen gefunden und in neuerer Zeit wieder zum Ringstein zugeschliffen worden. Großartiger und lebenvoller haben wir nie menschliche Gestalt auf dem kleinen Raum einer Gemme dargestellt gesehen, selten den Fall, wo der Künstler ein so unbeschränktes Vermögen zeigte. Von ähnlichem Gehalt ist auch Der ebenfalls unbekannte Porträtkopf mit übergezogener Löwenhaut; derselbe war auch so wie der vorige über dem Auge abgebrochen, allein das Fehlende ist mit Gold ergänzt. Kopf eines bejahrten Mannes von gedrungenem, kräftigem Charakter, mit kurz geschornen Haaren. Außerordentlich geistreich und meisterhaft gearbeitet; besonders ist die kühne Behandlung des Barts zu bewundern und vielleicht einzig in ihrer Art. Männlicher Kopf oder Brustbild ohne Bart, um das Haar eine Binde gelegt, das reich gefaltete Gewand auf der rechten Schulter geheftet. Es ist ein geistreicher, kräftiger Ausdruck in diesem Werk und Züge, wie man gewohnt ist dem Julius Cäsar zuzuschreiben. Männlicher Kopf, ebenfalls ohne Bart, die Toga, wie bei Opfern gebräuchlich war, über das Haupt gezogen. Außerordentlich viel Wahrheit und Charakter ist in diesem Gesicht, und kein Zweifel, dass die Arbeit echt alt und aus den Zeiten der ersten römischen Kaiser sei. Brustbild einer römischen Dame; um das Haupt doppelte Flechten von Haaren gewunden, das Ganze bewunderungswürdig fleißig ausgeführt und in Hinsicht des Charakters voll Wahrheit, Behaglichkeit, Naivität, Leben. Kleiner, behelmter Kopf, mit starkem Bart und kräftigem Charakter, ganz von vorne dargestellt und schätzbare Arbeit. Eines neuern vortrefflichen Steines gedenken wir zum Schluss: das Haupt der Meduse in dem herrlichsten Karneol. Es ist solches der bekannten Meduse des Sosikles vollkommen ähnlich, und geringe Abweichungen kaum zu bemerken. Allerdings eine der vortrefflichsten Nachahmungen antiker Werke: denn für eine solche möchte er unerachtet seiner großen Verdienste doch zu halten sein, da die Behandlung etwas weniger Freiheit hat und überdies ein unter dem Abschnitt des Halses angebrachtes N doch wohl auf eine Arbeit von Natter selbst schließen lässt. An diesem Wenigen werden wahre Kunstkenner den hohen Wert der gepriesenen Sammlung zu ahnen vermögen. Wo sie sich gegenwärtig befindet, ist uns unbekannt; vielleicht erhielte man hierüber einige Nachricht, die einen reichen Kunstfreund wohl anreizen könnte, diesen Schatz, wenn er verkäuflich ist, sich zuzueignen. Die weimarschen Kunstfreunde zogen, solange diese Sammlung in ihren Händen war, allen möglichen Vorteil daraus. Schon in dem laufenden Winter gab sie der geistreichen Gesellschaft, welche sich um die Herzogin Amalie zu vereinigen pflegte, ausgezeichnete Unterhaltung. Man suchte sich in dem Studium geschnittener Steine zu begründen, wobei uns das Wohlwollen der trefflichen Besitzerin sehr zustatten kam, indem sie uns mehrere Jahre diesen Genuss gönnte. Doch ergötzte sie sich kurz vor ihrem Ende noch an der schönen anschaulichen Ordnung, worin sie die Ringe in zwei Kästchen auf einmal, wie sie solche nie gesehen, vollständig gereiht wieder erblickte und also des geschenkten großen Vertrauens sich edelmütig zu erfreuen hatte. Auch nach einer andern Seite wendeten sich unsere Kunstbetrachtungen. Ich hatte die Farben genugsam in unterschiedenen Lebensverhältnissen beobachtet und sah die Hoffnung, auch endlich ihre Kunstharmonie, welche zu suchen ich eigentlich ausgegangen war, zu finden. Freund Meyer entwarf verschiedene Kompositionen, wo man sie teils in einer Reihe, teils im Gegensatz zu Prüfung und Beurteilung aufgestellt sah. Am klarsten ward sie bei einfachen landschaftlichen Gegenständen, wo der Lichtseite immer das Gelbe und Gelbrote, der Schattenseite das Blau und Blaurote zugeteilt werden musste, aber wegen Mannigfaltigkeit der natürlichen Gegenstände gar leicht durchs Braungrüne und Blaugrüne zu vermitteln. Auch hatten hier schon große Meister durch Beispiel gewirkt, mehr als im Historischen, wo der Künstler bei Wahl der Farben zu den Gewändern sich selbst überlassen bleibt und in solcher Verlegenheit nach Herkommen und Überlieferung greift, sich auch wohl durch irgendeine Bedeutung verführen lässt und dadurch von wahrer harmonischer Darstellung öfters abgeleitet wird. Von solchen Studien bildender Kunst fühle ich mich denn doch gedrungen, wieder zum Theater zurückzukehren und über mein eigenes Verhältnis an demselben einige Betrachtungen anzustellen, welches ich erst zu vermeiden wünschte. Man sollte denken, es sei die beste Gelegenheit gewesen, für das neue Theater und zugleich für das deutsche überhaupt als Schriftsteller auch etwas von meiner Seite zu leisten: denn, genau besehen, lag zwischen oben genannten Autoren und ihren Produktionen noch mancher Raum, der gar wohl hätte ausgeführt werden können; es gab zu natürlich einfacher Behandlung noch vielfältigen Stoff, den man nur hätte aufgreifen dürfen. Um aber ganz deutlich zu werden, gedenk' ich meiner ersten dramatischen Arbeiten, welche, der Weltgeschichte angehörig, zu sehr ins Breite gingen, um bühnenhaft zu sein; meine letzten, dem tiefsten inneren Sinn gewidmet, fanden bei ihrer Erscheinung wegen allzu großer Gebundenheit wenig Eingang. Indessen hatte ich mir eine gewisse mittlere Technik eingeübt, die etwas mäßig Erfreuliches dem Theater hätte verschaffen können; allein ich vergriff mich im Stoff, oder vielmehr ein Stoff überwältigte meine innere sittliche Natur, der allerwiderspenstigste, um dramatisch behandelt zu werden. Schon im Jahr 1785 erschreckte mich die Halsbandsgeschichte wie das Haupt der Gorgone. Durch dieses unerhört frevelhafte Beginnen sah ich die Würde der Majestät untergraben, schon im voraus vernichtet, und alle Folgeschritte von dieser Zeit an bestätigten leider allzu sehr die furchtbaren Ahnungen. Ich trug sie mit mir nach Italien und brachte sie noch geschärfter wieder zurück. Glücklicherweise ward mein "Tasso" noch abgeschlossen, aber alsdann nahm die weltgeschichtliche Gegenwart meinen Geist völlig ein. Mit Verdruss hatte ich viele Jahre die Betrügereien kühner Phantasten und absichtlicher Schwärmer zu verwünschen Gelegenheit gehabt und mich über die unbegreifliche Verblendung vorzüglicher Menschen bei solchen frechen Zudringlichkeiten mit Widerwillen verwundert. Nun lagen die direkten und indirekten Folgen solcher Narrheiten als Verbrechen und Halbverbrechen gegen die Majestät vor mir, alle zusammen wirksam genug. Um den schönsten Thron der Welt zu erschüttern. Mir aber einigen Trost und Unterhaltung zu verschaffen, suchte ich diesem Ungeheuren eine heitere Seite abzugewinnen, und die Form der komischen Oper, die sich mir schon seit längerer Zeit als eine der vorzüglichsten dramatischen Darstellungsweisen empfohlen hatte, schien auch ernstern Gegenständen nicht fremd, wie an "König Theodor" zu sehen gewesen. Und so wurde denn jener Gegenstand rhythmisch bearbeitet, die Komposition mit Reichardt verabredet, wovon denn die Anlagen einiger tüchtigen Bass-Arien bekannt geworden; andere Musikstücke, die außer dem Kontext keine Bedeutung hatten, blieben zurück, und die Stelle, von der man sich die meiste Wirkung versprach, kam auch nicht zustande: das Geistersehen in der Kristallkugel vor dem schlafend weissagenden Cophta sollte als blendendes Final vor allen glänzen. Aber da waltete kein froher Geist über den Ganzen, es geriet ins Stocken, und um nicht alle Mühe zu verlieren, schreib ich ein prosaisches Stück, zu dessen Hauptfiguren sich wirklich analoge Gestalten in der neuen Schauspielergesellschaft vorfanden, die denn auch in der sorgfältigsten Aufführung das Ihrige leisteten. Aber eben deswegen, weil das Stück ganz trefflich gespielt wurde, machte es einen um desto widerwärtigern Effekt. Ein furchtbarer und zugleich abgeschmackter Stoff, kühn und schonungslos behandelt, schreckte jedermann, kein Herz klang an; die fast gleichzeitige Nähe des Vorbildes ließ den Eindruck noch greller empfinden, und weil geheime Verbindungen sich ungünstig behandelt glaubten, so fühlte sich ein großer respektabler Teil des Publikums entfremdet, so wie das weibliche Zartgefühl sich vor einem verwegenen Liebesabenteuer entsetzte. Ich war immer gegen die unmittelbare Wirkung meiner Arbeiten gleichgültig gewesen und sah auch diesmal ganz ruhig zu, dass diese letzte, an die ich so viel Jahre gewendet, keine Teilnahme fand; ja ich ergötzte mich an einer heimlichen Schadenfreude, wenn gewisse Menschen, die ich dem Betrug oft genug ausgesetzt gesehen, kühnlich versicherten, so grob könne man nicht betrogen werden. Aus diesem Ereignis zog ich mir jedoch keine Lehre; das, was mich innerlich beschäftigte, erschien mir immerfort in dramatischer Gestalt, und wie die Halsbandsgeschichte als düstre Vorbedeutung, so ergriff mich nunmehr die Revolution selbst als die grässlichste Erfüllung: den Thron sah ich gestürzt und zersplittert, eine große Nation aus ihren fugen gerückt und nach unserm unglücklichen Feldzug offenbar auch die Welt schon aus ihren Fugen. Indem mich nun dies alles in Gedanken bedrängte, beängstigte, hatte ich leider zu bemerken, dass man im Vaterland sich spielend mit Gesinnungen unterhielt, welche eben auch uns ähnliche Schicksale vorbereiteten. Ich kannte genug edle Gemüter, die sich gewissen aussichten und Hoffnungen, ohne weder sich noch die Sache zu begreifen, phantastisch hingaben; indessen ganz schlechte Subjekte bittern Unmut zu erregen, zu mehren und zu benutzen strebten. Als ein Zeugnis meines ärgerlich-guten Humors ließ ich den "Bürgergeneral" auftreten, wozu mich ein Schauspieler verführte, namens Beck, welcher den Schnaps in den "beiden Billetts" nach Florian mit ganz individueller Trefflichkeit spielte, indem selbst seine Fehler ihm dabei zustatten kamen. Da ihm nun diese Maske so gar wohl anstand, brachte man des gedachten kleinen, durchaus beliebten Nachspiels erste Fortsetzung, den "Stammbaum" von Anton Wall, hervor, und als ich nun auf Proben, Ausstattung und Vorstellung dieser Kleinigkeit ebenfalls die größte Aufmerksamkeit wendete, so konnte nicht fehlen, dass ich mich von diesem närrischen Schnaps so durchdrungen fand, dass mich die Lust anwandelte, ihn nochmals zu produzieren. Dies geschah auch mit Neigung und Ausführlichkeit; wie denn das gehaltreiche Mantelsäckchen ein wirklich französisches war, das Paul auf jener Flucht eilig aufgerafft hatte. Inder Hauptszene erwies sich Malkolmi als alter wohlhabender, wohlwollender Bauersmann, der sich eine gesteigerte Unverschämtheit als Spaß auch einmal gefallen lässt, unübertrefflich und wetteiferte mit Beck in wahrer, natürlicher Zweckmäßigkeit. Aber vergebens! Das Stück brachte die widerwärtigste Wirkung hervor, selbst bei Freunden und Gönnern, die, um sich und mich zu retten, hartnäckig behaupteten: ich sei der Verfasser nicht, habe nur aus Grille meinen Namen und einige Federstriche einer sehr subalternen Produktion zugewendet. Wie mich aber niemals irgendein Äußeres mir selbst entfremden konnte, mich vielmehr nur strenger ins Innere zurückwies, so blieben jene Nachbildungen des Zeitsinnes für mich eine Art von gemütlich tröstlichem Geschäft. Die "Unterhaltungen der Ausgewanderten," fragmentarischer Versuch, das unvollendet Stück "Die Aufgeregten" sind ebensoviel Bekenntnisse dessen, was damals in meinem Busen vorging; wie auch späterhin "Hermann und Dorothea" noch aus derselbigen Quelle flossen, welche denn freilich zuletzt erstarrte. Der Dichter konnte der rollenden Weltgeschichte nicht nacheilen und musste den Abschluss sich und andern schuldig bleiben, da er das Rätsel auf eine so entschiedene als unerwartete Weise gelöst sah. Unter solchen Konstellationen war nicht leicht jemand, in so weiter Entfernung vom eigentlichen Schauplatz des Unheils, gedrückter als ich; die Welt erschien mir blutiger und blutdürstiger als jemals, und wenn das Leben eines Königs in der Schlacht für tausende zu rechnen ist, so wird es noch viel bedeutender im gesetzlichen Kampf. Ein König wird auf Tod und Leben angeklagt: da kommen Gedanken in Umlauf, Verhältnisse zur Sprache, welche für ewig zu beschwichtigen sich das Königtum vor Jahrhunderten kräftig eingesetzt hatte. Aber auch aus diesem grässlichen Unheil suchte ich mich zu retten, indem ich die ganze Welt für nichtswürdig erklärte, wobei mir denn durch eine besondere Fügung "Reineke Fuchs" in die Hände kam. Hatte ich mich bisher an Straßen-, Markt- und Pöbelauftritten bis zum Abscheu übersättigen müssen, so war es nun wirklich erheiternd, in den Hof- und Regentenspiegel zu blicken: denn wenn auch hier das Menschengeschlecht sich in seiner ungeheuchelten Tierheit ganz natürlich vorträgt, so geht doch alles, wo nicht musterhaft, doch heiter zu, und nirgends fühlt sich der gute Humor gestört. Um nun das köstliche Werk recht innig zu genießen, begann ich alsobald eine treue Nachbildung; solche jedoch in Hexametern zu unternehmen, war ich folgenderweise veranlasst. Schon seit vielen Jahren schrieb man in Deutschland nach Klopstocks Einleitung sehr lässliche Hexameter; Voß, indem er sich wohl auch dergleichen bediente, ließ doch hie und a merken, dass man sie besser machen könne, ja er schonte sogar seine eigenen vom Publikum gut aufgenommenen Arbeiten und Übersetzungen nicht. Ich hätte das gar gern auch gelernt, allein es wollte mir nicht glücken. Herder und Wieland waren in diesem Punkte Latitudinarier, und man durfte der Voßschen Bemühungen, wie sie nach und nach strenger und für den Augenblick ungelenk erschienen, kaum Erwähnung tun. Das Publikum selbst schätzte längere Zeit die Voßschen früheren Arbeiten, als geläufiger, über sie späteren; ich aber hatte zu Voß, dessen Ernst man nicht verkennen konnte, immer ein stilles Vertrauen und wäre, in jüngeren Tagen oder anderen Verhältnissen, wohl einmal nach Eutin gereist, um das Geheimnis zu erfahren. Denn er, aus einer zu ehrenden Pietät für Klopstock, wollte, solange der würdige, allgefeierte Dichter lebte, ihm nicht geradezu ins Gesicht sagen: dass man in der deutschen Rhythmik eine striktere Observanz einführen müsse, wenn sie irgend gegründet werden solle. Was er inzwischen äußerte, waren für mich sibyllinische Blätter. Wie ich mich an der Vorrede zu den Georgiken abgequält habe, erinnere ich mich noch immer gerne, der redlichen absicht wegen, aber nicht des daraus gewonnenen Vorteils. Da mir recht gut bewusst war, dass alle meine Bildung nur praktisch sein könne, so ergriff ich die Gelegenheit, ein paar tausend Hexameter hinzuschreiben, die bei dem köstlichsten Gehalt selbst einer mangelhaften Technik gute Aufnahme und nicht vergänglichen Wert verleihen durften. Was an ihnen zu tadeln sei, werde sich, dacht' ich, am Ende schon finden; und so wendete ich jede Stunde, die mir sonst übrig blieb, an eine solche schon innerhalb der Arbeit vorläufig dankbare Arbeit, baute inzwischen und möbilierte fort, ohne zu denken, was weiter mit mir sich ereignen würde, ob ich es gleich gar wohl voraussehen konnte. So weit wir auch ostwärts von der großen Weltbegebenheit gelegen waren, erschienen doch schon diesen Winter flüchtige Vorläufer unserer ausgetriebenen westlichen Nachbarn; es war, als wenn sie sich umsähen nach irgendeiner gesitteten Stätte, wo sie Schutz und Aufnahme fänden. Obgleich nur vorübergehend, wussten sie durch anständiges Betragen, duldsam-zufriedenes Wesen, durch Bereitwilligkeit, sich ihrem Schicksal zu fügen und durch irgendeine Tätigkeit ihr Leben zu fristen, dergestalt für sich einzunehmen, dass durch diese einzelnen die Mängel der ganzen Masse ausgelöscht und jeder Widerwille in entschiedene Gunst verwandelt wurde. Dies kam denn freilich ihren Nachfahrern zeugte, die sich späterhin in Thüringen festsetzten, unter denen ich nur Mounier und Camille Jordan zu nennen brauche, um ein Vorurteil zu rechtfertigen, welches man für die ganze Kolonie gefasst hatte, die sich, wo nicht den Genannten gleich, doch derselben keineswegs unwürdig erzeigte. Übrigens lässt sich hierbei bemerken, dass in allen wichtigen politischen Fällen immer diejenigen Zuschauer am besten dran sind, welche Partei nehmen: was ihnen wahrhaft günstig ist, ergreifen sie mit Freuden, das Ungünstige ignorieren sie, lehnen's ab oder legen's ob oder legen's wohl gar zu ihrem Vorteil aus. Der Dichter aber, der seiner Natur nach unparteiisch sein und bleiben muss, sucht sich von den Zuständen beider kämpfenden Teile zu durchdringen, wo er denn, wenn Vermittlung unmöglich wird, sich entschließen muss, tragisch zu endigen. Und mit welchem Zyklus von Tragödien sahen wir uns von der tosenden Weltbewegung bedroht! Wer hatte seit seiner Jugend sich nicht vor der Geschichte des Jahres 1649 entsetzt, wer nicht vor der Hinrichtung Karls I. geschaudert und zu einigem Troste gehofft, dass dergleichen Szenen der Parteiwut sich nicht abermals ereignen könnten! Nun aber wiederholte sich das alles, gräulicher und grimmiger, bei dem gebildetsten Nachbarvolke wie vor unsern Augen, Tag für Tag, Schritt für Schritt. Man denke sich, welchen Dezember und Januar dijenigen verlebten, die, den König zu retten, ausgezogen waren und nun in seinen Prozess nicht eingreifen, die Vollstreckung des Todesurteils nicht hindern konnten. Frankfurt war wieder in deutschen Händen; die möglichsten Vorbereitungen, Mainz wieder zu erobern, wurden eifrigst besorgt. Man hatte sich Mainz genähert und Hochheim besetzt. Königstein musste sich ergeben. Nun aber war vor allen Dingen nötig, durch einen vorläufigen Feldzug auf dem linken Rheinufer sich den Rücken frei zu machen. Man zog daher am Taunusgebirge hin auf Idstein, über das Benediktinerkloster Schönau nach Kaub, sodann über eine wohl errichtete Schiffbrücke nach Bacharach; von da an gab es fast ununterbrochene Vorpostengefechte, welche den Feind zum Rückzug nötigten. Man ließ den eigentlichen Hunsrück rechts, zog nach Stromberg, wo General Neuwinger gefangen wurde. Man gewann Kreuznach und reinigte den Winkel zwischen der Nahe und dem Rhein; und so bewegte man sich mit Sicherheit gegen diesen Fluss. Die Kaiserlichen waren bei Speyer über den Rhein gegangen, und man konnte die Umzingelung von Mainz den 14. April abschließen, wenigstens vorerst die Einwohner mit Mangel, als dem Vorläufer größerer Not, in Angst setzen. Diese Nachricht vernahm ich zugleich mit der Aufforderung, mich an Ort und Stelle zu zeigen, um, wie früher an einem beweglichen Übel, so nun an einem stationären teilzunehmen. Die Umzingelung war vollbracht, die Belagerung konnte nicht ausbleiben; wie ungern ich mich dem Kriegstheater abermals näherte, überzeuge sich, wer etwa die zweite nach meinen Skizzen radierte Tafel in die Hand nimmt. Sie ist einem sehr genauen Federumriss nachgebildet, den ich wenige Tage vor meiner Abreise sorgfältig auf Papier gebracht hatte. Mit welchem Gefühl, sagen die wenigen dazu gedichteten Reimzeilen: Hier sind wir denn vorerst ganz still zu Haus, Von Tür zu Türe sieht es lieblich aus; Der Künstler froh die stillen Blicke hegt, Wo Leben sich zum Leben freundlich regt. Und wie wir auch durch ferne Lande ziehn, Da kommt es her, da kehrt es wieder hin; Wir wenden uns, wie auch die Welt entzücke, Der Enge zu, die uns allein beglücke. End of the Project Gutenberg EBook of Kampagne in Frankreich, by Johann Wolfgang von Goethe *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KAMPAGNE IN FRANKREICH *** ***** This file should be named 17664-8.txt or 17664-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/1/7/6/6/17664/ Produced by Andrew Sly Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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17664-8
Project Gutenberg's Kampagne in Frankreich, by Johann Wolfgang von Goethe This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Kampagne in Frankreich Author: Johann Wolfgang von Goethe Release Date: February 2, 2006 [EBook #17664] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KAMPAGNE IN FRANKREICH *** Produced by Andrew Sly Kampagne in Frankreich Johann Wolfgang von Goethe Den 23. August 1792. Gleich nach meiner Ankunft in Mainz besuchte ich Herrn von Stein den Älteren, königlich preußischen Kammerherrn und Oberforstmeister, der eine Art Residentenstelle daselbst versah und sich im Hass gegen alles Revolutionäre gewaltsam auszeichnete. Er schilderte mir mit flüchtigen Zügen die bisherigen Fortschritte der verbündeten Heere und versah mich mit einem Auszug des topographischen Atlas von Deutschland, welchen Jäger zu Frankfurt unter dem Titel "Kriegstheater" veranstaltet. Mittags bei ihm zur Tafel fand ich mehrere französische Frauenzimmer, die ich mit Aufmerksamkeit zu betrachten Ursache hatte; die eine -- man sagte, es sei die Geliebte des Herzogs von Orleans -- eine stattliche Frau, stolzen Betragens und schon von gewissen Jahren, mit rabenschwarzen Augen, Augenbraunen und Haar; übrigens im Gespräch mit Schicklichkeit freundlich. Eine Tochter, die Mutter jugendlich darstellend, sprach kein Wort. Desto munterer und reizender zeigte sich die Fürstin Monaco, entschiedene Freundin des Prinzen von Condé, die Zierde von Chantilly in guten Tagen. Anmutiger war nichts zu sehen als diese schlanke Blondine: jung, heiter, possenhaft; kein Mann, auf den sie's anlegte, hätte sich verwahren können. Ich beobachtete sie mit freiem Gemüt und wunderte mich, Philinen, die ich hier nicht zu finden glaubte, so frisch und munter ihr Wesen treibend mir abermals begegnen zu sehen. Sie schien weder so gespannt noch aufgeregt als die übrige Gesellschaft, die denn freilich in Hoffnung, Sorgen und Beängstigung lebte. In diesen Tagen waren die Alliierten in Frankreich eingebrochen. Ob sich Longwy sogleich ergeben, ob es widerstehen werde, ob auch republikanisch-französische Truppen sich zu den Alliierten gesellen und jedermann, wie es versprochen worden, sich für die gute Sache erklären und die Fortschritte erleichtern werde, das alles schwebte gerade in diesem Augenblick in Zweifel. Kuriere wurden erwartet; die letzten hatten nur das langsame Vorschreiten der Armee und die Hindernisse grundloser Wege gemeldet. Der gepresste Wunsch dieser Personen ward nur noch bänglicher, als sie nicht verbergen konnten, dass sie die schnellste Rückkehr ins Vaterland wünschen mussten, um von den Assignaten, der Erfindung ihrer Feinde, Vorteil ziehen, wohlfeiler und bequemer leben zu können. Sodann verbracht' ich mit Sömmerrings, Huber, Forsters und andern Freunden zwei muntere Abende: hier fühlt' ich mich schon wieder in vaterländischer Luft. Meist schon frühere Bekannte, Studiengenossen, in dem benachbarten Frankfurt wie zu Hause -- Sömmerrings Gattin war eine Frankfurterin -- sämtlich mit meiner Mutter vertraut, ihre genialen Eigenheiten schätzend, manches ihrer glücklichen Worte wiederholend, meine große Ähnlichkeit mit ihr in heiterem Betragen und lebhaften Reden mehr als einmal beteuernd: was gab es da nicht für Anlässe, Anklänge, in einem natürlichen, angebornen und angewöhnten Vertrauen! Die Freiheit eines wohlwollenden Scherzes auf dem Boden der Wissenschaft und Einsicht verlieh die heiterste Stimmung. Von politischen Dingen war die Rede nicht, man fühlte, dass man sich wechselseitig zu schonen habe: denn wenn sie republikanische Gesinnungen nicht ganz verleugneten, so eilte ich offenbar, mit einer Armee zu ziehen, die eben diesen Gesinnungen und ihrer Wirkung ein entschiedenes Ende machen sollte. Zwischen Mainz und Bingen erlebt' ich eine Szene, die mir den Sinn des Tages alsobald weiter aufschloss. Unser leichtes Fuhrwerk erreichte schnell einen vierspännigen, schwer bepackten Wagen; der ausgefahrne Hohlweg aufwärts am Berge her nötigte uns, auszusteigen, und da fragten wir denn die ebenfalls abgestiegenen Schwäger, wer vor uns dahinfahre? Der Postillion jenes Wagens erwiderte darauf mit schimpfen und Fluchen, dass es Französinnen seien, die mit ihrem Papiergeld durchzukommen glaubten, die er aber gewiss noch umwerfen wolle, wenn sich einigermaßen Gelegenheit fände. Wir verwiesen ihm seine gehässige Leidenschaft, ohne ihn im Mindesten zu bessern. Bei sehr langsamer Fahrt trat ich hervor an den Schlag der Dame und redete sie freundlich an, worauf sich ein junges, schönes, aber von ängstlichen Zügen beschattetes Gesicht einigermaßen erheiterte. Sie vertraute sogleich, dass sie dem Gemahl nach Trier folge und von da baldmöglichst nach Frankreich zu gelangen wünsche. Da ich ihr nun diesen Schritt als sehr voreilig schilderte, gestand sie, dass außer der Hoffnung, ihren Gemahl wieder zu finden, die Notwendigkeit, wieder von Papier zu leben, sie hierzu bewege. Ferner zeigte sie ein solches Zutrauen zu den verbündeten Streitkräften der Preußen, Österreicher und Emigrierten, dass man, wär' auch Zeit und Ort nicht hinderlich gewesen, sie schwerlich zurückgehalten hätte. Unter diesen Gesprächen fand sich ein sonderbarer Anstoß; über den Hohlweg, worin wir befangen waren, hatte man eine hölzerne Rinne geführt, die das nötige Wasser einer jenseits stechenden oberschlächtigen Mühle zubrachte. Man hätte denken sollen, die Höhe des Gestells wäre doch wenigstens auf einen Heuwagen berechnet gewesen. Wie dem aber auch sei, das Fuhrwerk war so unmäßig obenauf bepackt, Kistchen und Schachteln pyramidalisch übereinander getürmt, dass die Rinne dem weiteren Fortkommen ein unüberwindliches Hindernis entgegensetzte. Hier ging nun erst das Fluchen und Schelten der Postillione los, die sich um so viel Zeit aufgehalten sahen; wir aber erboten uns freundlich, halfen abpacken und an der anderen Seite des träufelnden Schlagbaums wieder aufpacken. Die junge, gute, nach und nach entschüchterte Frau wusste nicht, wie sie sich dankbar genug benehmen sollte; zugleich aber wuchs ihre Hoffnung auf uns immer mehr und mehr. Sie schrieb den Namen ihres Mannes und bat inständig, da wir doch früher als sie nach Trier kommen müssten, ob wir nicht am Tor den Aufenthalt des Gatten schriftlich niederzulegen geneigt wären? Bei dem besten Willen verzweifelten wir an dem Erfolg wegen Größe der Stadt, sie aber ließ nicht von ihrer Hoffnung. In Trier angelangt, fanden wir die Stadt von Truppen überlegt, von allerlei Fuhrwerk überfahren, nirgends ein Unterkommen; die Wagen hielten auf den Plätzen, die Menschen irrten auf den Straßen; das Quartieramt, von allen Seiten bestürmt, wusste kaum Rat zu schaffen. Ein solches Gewirr jedoch ist wie eine Art Lotterie, der Glückliche zeiht irgendeinen Gewinn; und so begegnete mir Leutnant von Fritsch von des Herzogs Regiment und brachte mich, nach freundlichstem Begrüßen, zu einem Kanonikus, dessen großes Haus und weitläufiges Gehöft mich und meine kompendiöse Equipage freundlich und bequemlich aufnahm, wo ich denn sogleich einer genugsamen Erholung pflegte. Gedachter junge militärische Freund, von Kindheit auf mir bekannt und empfohlen, war mit einem kleinen Kommando in Trier zu verweilen beordert, um für die zurückgelassenen Kranken zu sorgen, die nachziehenden Maroden, verspätete Bagagewagen und dergleichen aufzunehmen und sie weiter zu befördern; wobei denn auch mir seine Gegenwart zugute kam, ob er gleich nicht gern im Rücken der Armee verweilte, wo für ihn, als einen jungen strebenden Mann, wenig Glück zu hoffen war. Mein Diener hatte kaum das Notwendigste ausgepackt, als er sich in der Stadt umzusehen Urlaub erbat; spät kam er wieder, und des anderen Morgens trieb eine gleiche Unruhe ihn aus dem Haus. Mir war diese seltsame Benehmen unerklärlich, bis das Rätsel sich löste: die schönen Französinnen hatten ihn nicht ohne Anteil gelassen, er spürte sorgfältig und hatte das Glück, sie auf dem großen Platz, mitten unter hundert Wagen haltend, an der Schachtelpyramide zu erkennen, ohne jedoch ihren Gemahl aufgefunden zu haben. Auf dem Weg von Trier nach Luxemburg erfreute mich bald das Monument in der Nähe von Igel. Da mir bekannt war, wie glücklich die Alten ihre Gebäude und Denkmäler zu setzen wussten, warf ich in Gedanken sogleich die sämtlichen Dorfhütten weg, und nun stand es an dem würdigsten Platz. Die Mosel fließt unmittelbar vorbei, mit welcher sich gegenüber ein ansehnliches Wasser, die Saar, verbindet; die Krümmung der Gewässer, das Auf- und Absteigen des Erdreichs, eine üppige Vegetation geben der Stelle Lieblichkeit und Würde. Das Monument selbst könnte man einen architektonisch-plastisch verzierten Obelisk nennen. Er steigt in verschiedenen, künstlerisch übereinander gestellten Stockwerken in die Höhe, bis er sich zuletzt in einer Spitze endigt, die mit Schuppen ziegelartig verziert ist und mit Kugel, Schlange und Adler in der Luft sich abschloss. Möge irgendein Ingenieur, welchen die gegenwärtigen Kriegsläufe in diese Gegend führen und vielleicht eine Zeitlang festhalten, sich die Mühe nicht verdrießen lassen, das Denkmal auszumessen, und, insofern er Zeichner ist, auch die Figuren der vier Seiten, wie sie noch kenntlich sind, uns überliefern und erhalten! Wie viel traurige bildlose Obelisken sah ich nicht zu meiner Zeit erreichten, ohne dass irgendjemand an jenes Monument gedacht hätte! Es ist freilich schon aus einer spätern Zeit, aber man sieht immer noch die Lust und Liebe, seine persönliche Gegenwart mit aller Umgebung und den Zeugnissen von Tätigkeit sinnlich auf die Nachwelt zu bringen. Hier stehen Eltern und Kinder gegeneinander, man schmaust im Familienkreis; aber damit der Beschauer auch wisse, woher die Wohlhäbigkeit komme, ziehen beladene Saumrosse einher, Gewerb' und Handel wird auf mancherlei Weise vorgestellt. Denn eigentlich sind es Kriegskommissarien, die sich und den Ihrigen dies Monument errichteten, zum Zeugnis, dass damals wie jetzt an solcher Stelle genugsamer Wohlstand zu erringen sei. Man hatte diesen ganzen Spitzbau aus tüchtigen Sandquadern roh übereinander getürmt und alsdann, wie aus einem Felsen, die architektonisch-plastischen Gebilde herausgehauen. Die so manchem Jahrhunderte widerstehende Dauer dieses Monuments mag sich wohl aus einer so gründlichen Anlage herschreiben. * * * * * Diesen angenehmen und furchtbaren Gedanken konnte ich mich nicht lange hingeben: denn ganz nahe dabei, in Grevenmachern, war mir das modernste Schauspiel bereitet. Hier fand ich das Korps Emigrierte, das aus lauter Edelleuten, meist Ludwigsrittern, bestand. Sie hatten weder Diener noch Reitknechte, sondern besorgten sich selbst und ihr Pferd. Gar manchen hab' ich zur Tränke führen, vor der Schmiede halten sehen. Was aber den sonderbarsten Kontrast mit diesem demütigen Beginnen hervorrief, war ein großer, mit Kutschen und Reisewagen aller Art überladener Wiesenraum. Sie waren mit Frau und Liebchen, Kindern und Verwandten zu gleicher Zeit eingerückt, als wenn sie den innern Widerspruch ihres gegenwärtigen Zustandes recht wollten zur Schau tragen. Da ich einige Stunden hier unter freiem Himmel auf Postpferde warten musste, konnt' ich noch eine andere Bemerkung machen. Ich saß vor dem Fenster des Posthauses, unfern von der Stelle, wo das Kästchen stand, in dessen Einschnitt man die unfrankierten Briefe zu werfen pflegt. Einen ähnlichen Zudrang hab' ich nie gesehen: zu Hunderten wurden sie in die Ritze gesenkt. Das grenzenlose Bestreben, wie man mit Leib, Seel' und Geist in sein Vaterland durch die Lücke des durchbrochenen Dammes wieder einzuströmen begehre, war nicht lebhafter und aufdringlicher vorzubilden. Vor Langeweile und aus Lust, Geheimnisse zu entwickeln oder zu supplieren, dacht' ich mir, was in dieser Briefmenge wohl enthalten sein möchte? Da glaubt' ich denn eine Liebende zu spüren, die mit Leidenschaft und Schmerz die Qual des Entbehrens in solcher Trennung heftigst ausdrückte; einen Freund, der von dem Freund in der äußersten Not einiges Geld verlangte; ausgetriebene Frauen mit Kindern und Dienstanhang, deren Kasse bis auf wenige Geldstücke zusammengeschmolzen war; feurige Anhänger der Prinzen, die, das Beste hoffend, sich einander Lust und Mut zusprachen; andere, die schon das Unheil in der Ferne witterten und sich über den bevorstehenden Verlust ihrer Güter jammervoll beschwerten -- und ich denke, nicht ungeschickt geraten zu haben. Über manches klärte der Postmeister mich auf, der, um meine Ungeduld nach Pferden zu beschwichtigen, mich vorsätzlich zu unterhalten suchte. Er zeigte mir verschiedene Briefe mit Stempeln aus entfernten Gegenden, die nun den Vorgerückten und Vorrückenden nachirren sollten. Frankreich sei an allen seinen Grenzen mit solchen Unglücklichen umlagert, von Antwerpen bis Nizza; dagegen stünden ebenso die französischen Heere zur Verteidigung und zum Ausfall bereit. Er sagte manches Bedenkliche; ihm schien der Zustand der Dinge wenigstens sehr zweifelhaft. Da ich mich nicht so wütend erwies wie andere, die nach Frankreich hineinstürmten, hielt er mich blad für einen Republikaner und zeigte mehr Vertrauen; er ließ mich die Unbilden bedenken, welche die Preußen von Wetter und Weg über Koblenz und Trier erlitten, und machte eine schauderhafte Beschreibung, wie ich das Lager in der Gegend von Longwy finden würde; von allem war er gut unterrichtet und schien nicht abgeneigt, andere zu unterrichten. Zuletzt suchte er mich aufmerksam zu machen, wie die Preußen beim Einmarsch ruhige und schuldlose Dörfer geplündert, es sei nun durch die Truppen geschehen oder durch Packknechte und Nachzügler; zum Schein habe man's bestraft, aber die Menschen im Innersten gegen sich aufgebracht. Da musste mir denn jener General des Dreißigjährigen Kriegs einfallen, welcher, als man sich über das feindselige Betragen seiner Truppen in Freundesland höchlich beschwerte, die Antwort gab: "Ich kann meine Armee nicht im Sack transportieren," überhaupt aber konnte ich bemerken, dass unser Rücken nicht sehr gesichert sei. Longwy, dessen Eroberung mir schon unterwegs triumphierend verkündigt war, ließ ich auf meiner Fahrt rechts in einiger Ferne und gelangte den 27. August nachmittags gegen das Lager von Praucourt. Auf einer Fläche geschlagen, war es zu übersehen, aber dort anzulangen nicht ohne Schwierigkeit. Ein feuchter, aufgewühlter Boden war Pferden und Wagen hinderlich; daneben fiel es auf, dass man weder Wachen noch Posten noch irgendjemand antraf, der sich nach den Pässen erkundigt und bei dem man dagegen wieder einige Erkundigung hätte einziehen können. Wir fuhren durch eine Zeltwüste, denn alles hatte sich verkrochen, um vor dem schrecklichen Wetter kümmerlichen Schutz zu finden. Nur mit Mühe erforschten wir von einigen die Gegend, wo wir das herzoglich weimarische Regiment finden könnten, erreichten endlich die Stelle, sahen bekannte Gesichter und wurden von Leidensgenossen gar freundlich aufgenommen. Kämmerier Wagner und sein schwarzer Pudel waren die ersten Begrüßenden; beide erkannten einen vieljährigen Lebensgesellen, der abermals eine bedenkliche Epoche mit durchkämpfen sollte. Zugleich erfuhr ich einen unangenehmen Vorfall: des Fürsten Leibpferd, der Amaranth, war gestern nach einem grässlichen Schrei niedergestürzt und tot geblieben. Nun musste ich von der Situation des Lagers noch viel Schlimmeres gewahren und vernehmen, als der Postmeister mir vorausgesagt. Man denke sich's auf einer Ebene am Fuß eines sanft aufsteigenden Hügels, an welchem ein von alters her gezogener Graben Wasser von Feldern und Wiesen abhalten sollte; dieser aber wurde so schnell als möglich Behälter alles Unrats, aller Abwürflinge: der Abzug stockte, gewaltige Regengüsse durchbrachen nachts den Damm und führten das widerwärtigeste Unheil unter die Zelte. Da ward nun, was die Fleischer an Eingeweiden, Knochen und sonst beiseite geschafft, in die ohnehin feuchten und ängstlichen Schlafstellen getragen. Mir sollte gleichfalls ein zelt eingeräumt werden, ich zog aber vor, mich des Tags über bei Freunden und Bekannten aufzuhalten und nachts in dem großen Schlafwagen der Ruhe zu pflegen, dessen Bequemlichkeit von früheren Zeiten her mir schon bekannt war. Seltsam musste man es jedoch finden, wie er, obgleich nur etwa dreißig Schritte von den Zelten entfernt, doch dergestalt unzugänglich bleib, dass ich mich abends musste hinein und morgens wieder heraus tragen lassen. Am 28. August. So wunderlich tagte mir diesmal mein Geburtsfest. Wir setzten uns zu Pferd und ritten in die eroberte Festung; das wohl gebaute und befestigte Städtchen liegt auf einer Anhöhe. Meine Absicht war, große wollene Decken zu kaufen, und wir verfügten uns sogleich in einen Kramladen, wo wir Mutter und Töchter hübsch und anmutig fanden. Wir feilschten nicht viel und zahlten gut und waren so artig, als es Deutschen ohne Tournüre nur möglich ist. Die Schicksale des Hauses während des Bombardements waren höchst wunderbar. Mehrere Granaten hintereinander fielen in das Familienzimmer, man flüchtete, die Mutter riss ein Kind aus der Wiege und floh, und in dem Augenblick schlug noch eine Granate gerade durch die Kissen, wo der Knabe gelegen hatte. Zum Glück war keine der Granaten gesprungen, sie hatten die Möbel zerschlagen, am Getäfel gesengt, und so war alles ohne weiteren Schaden vorübergegangen; in den Laden war keine Kugel gekommen. Dass der Patriotismus derer von Lognwy nicht allzu kräftig sein mochte, sah man daraus, dass die Bürgerschaft den Kommandanten sehr bald genötigt hatte, die Festung zu übergeben; auch hatten wir kaum einen schritt aus dem Laden getan, als der innere Zwiespalt der Bürger sich uns genugsam verdeutlichte. Königisch Gesinnte, und also unsere Freunde, welche die schnell Übergabe bewirkt, bedauerten, dass wir in dieses Warengewölbe zufällig gekommen und dem schlimmsten aller Jakobiner, der mit seiner ganzen Familie nichts tauge, so viel schönes Geld zu lösen gegeben. Gleichermaßen warnte man uns vor einem splendiden Gasthof, und zwar so bedenklich, als wenn den Speisen daselbst nicht ganz zu trauen sein möchte; zugleich deutete man auf einen geringeren als zuverlässig, wo wir uns denn auch freundlich aufgenommen und leidlich bewirtet sahen. Nun saßen wir alte Kriegs- und Garnisons-kameraden traulich und froh wieder neben und gegen einander; es waren die Offiziere des Regiments, vereint mit des Herzogs Hof-, Haus- und Kanzleigenossen; man unterhielt sich von dem Nächstvergangenen, wie bedeutend und bewegt es Anfang Mais in Aschersleben gewesen, als die Regimenter sich marschfertig zu halten Order bekommen, der Herzog von Braunschweig und mehrere hohe Personen daselbst Besuch abgestattet, wobei des Marquis von Bouillé als eines bedeutenden und in die Operationen kräftig eingreifenden Fremden zu erwähnen nicht vergessen wurde. Sobald dem horchenden Gastwirt dieser Name zu Ohren kam, erkundigte er sich eifrigst, ob wir den Herren kennten? Die meisten durften es bejahen, wobei er denn viel Respekt bewies und große Hoffnung auf die Mitwirkung dieses würdigen, tätigen Mannes aussprach, ja es wollte scheinen, als wenn wir von diesem Augenblick an besser bedient würden. Wie wir nun alle hier Versammelten uns mit Leib und Seele einem Fürsten angehörig bekannten, der seit mehreren Regierungsjahren so große Vorzüge entwickelt und sich nunmehr auch im Kriegshandwerk, dem er von Jugend auf zugetan gewesen, das er seit geraumer Zeit getrieben, bewähren sollte, so ward auf sein Wohl und seiner Angehörigen nach guter deutscher Weise angestoßen und getrunken, besonders aber auf des Prinzen Bernhards Wohl, bei welchem kurz vor dem Ausmarsch Obristwachtmeister von Weyrach, als Abgeordneter des Regiments, Gevatter gestanden hatte. Nun wusste jeder von dem Marsch selbst gar manches zu erzählen, wie man, den Harz links lassend, an Goslar vorbei nach Northeim durch Göttingen gekommen; da hörte man denn von trefflichen und schlechten Quartieren, bäurisch-unfreundlichen, gebildet-missmutigen, hypochondrisch-gefälligen Wirten, von Nonnenklöstern und mancherlei Abwechslung des Weges und Wetters. Alsdann war man am östlichen Rand Westfallens her bis Koblenz gezogen, hatte mancher hübschen Frau zu gedenken, von seltsamen Geistlichen, unvermutet begegnenden Freunden, zerbrochenen Rädern, umgeworfenen Wagen buntscheckigen Bericht zu erstatten. Von Koblenz aus beklagte man sich über bergige Gegenden, beschwerliche Wege und mancherlei Mangel und rückte sodann, nachdem man sich im Vergangenen kaum zerstreut, dem Wirklichen immer näher; der Einmarsch nach Frankreich in dem schrecklichsten Wetter ward als höchst unerfreulich und als würdiges Vorspiel beschrieben des Zustandes, den wir, nach dem Lager zurückkehrend, voraussehen konnten. Jedoch in solcher Gesellschaft ermutigt sich einer am anderen, und ich besonders beruhigte mich beim Anblick der köstlichen wollenen Decken, welche der Reitknecht aufgebunden hatte. Im Lager fand ich abends in dem großen Zelt die beste Gesellschaft; sie war dort beisammen geblieben, weil man keinen Fuß heraussetzen konnte; alles war gutes Muts und voller Zuversicht. Die schnelle Übergabe von Longwy bestätigte die Zusage der Emigrierten, man werde überall mit offenen Armen aufgenommen sein, und es schien sich dem großen Vorhaben des revolutionären Frankreichs, durch die Manifeste des Herzogs von Braunschweig ausgesprochen, zeigten sich ohne Ausnahme bei Preußen, Österreichern und Emigrierten. Freilich durfte man nur das wahrhaft bekannt Gewordene erzählen, so ging daraus hervor, dass ein Volk, auf solchen Grad verunreinigt, nicht einmal in Parteien gespalten, sondern im Innersten zerrüttet, in lauter Einzelheiten getrennt, dem hohen Einheitssinn der edel Verbündeten nicht widerstehen könne. Auch hatte man schon von Kriegstaten zu erzählen. Gleich nach dem Eintritt in Frankreich stießen beim Rekognozieren fünf Eskadronen Husaren von Wolfrat auf tausend Chasseurs, die von Sedan der unser Vorrücken beobachten sollten. Die Unsrigen, wohl geführt, griffen an, und da die Gegenseitigen sich tapfer wehrten, auch keinen Pardonannehmen wollten, gab es ein gräulich Gemetzel, worin wir siegten, Gefangene machten, Pferde, Karabiner und Säbel erbeuteten, durch welches Vorspiel der kriegerische Geist erhöht, Hoffnung und Zutrauen fester gegründet wurden. Am 29. August geschah der Aufbruch aus diesen halberstarrten Erd- und Wasserwogen, langsam und nicht ohne Beschwerde: denn wie sollte man Zelte und Gepäck, Monturen und sonstiges nur einigermaßen reinlich halten, da sich keine Stelle fand, wo man irgendetwas zurechtlegen und ausbreiten können! Die Aufmerksamkeit jedoch, welche die höchsten Heerführer diesem Abmarsch zuwendeten, gab uns frisches Vertrauen. Auf das strengste war alles Fuhrwerk ohne Ausnahme hinter die Kolonne beordert, nur jeder Regimentschef berechtigt, eine Chaise vor seinem Zug hergehen zu lassen; da ich denn das Glück hatte, im leichten, offenen Wägelchen die Hauptarmee für diesmal anzuführen. Beide Häupter, der König sowohl als der Herzog von Braunschweig, mit ihrem Gefolge hatten sich da postiert, wo alles an ihnen vorbei musste. Ich sah sie von weiten, und als wir herankamen, ritten Ihro Majestät an mein Wäglein heran und fragten in Ihro lakonischen Art, wem das Fuhrwerk gehöre? Ich antwortete laut: "Herzog von Weimar!" und wir zogen vorwärts. Nicht leicht ist jemand von einem vornehmern Visitator angehalten worden. Weiterhin jedoch fanden wir den Weg hie und a etwas besser. In einer wunderlichen Gegend, wo Hügel und Tal miteinander abwechselten, gab es besonders für die zu Pferde noch trockene Räume genug, um sich behaglich vorwärts bewegen zu können. Ich warf mich auf das meine, und so ging es freier und lustiger fort; das Regiment hatte den Vortritt bei der Armee, wir konnten also immer voraus sein und der lästigen Bewegung des Ganzen völlig entgehen. Der Marsch verließ die Hauptstraße, wir kamen über Arrancy, worauf uns denn Chatillon l'Abbaye, als erste Kennzeichen der Revolution, ein verkauftes Kirchengut, in halb abgebrochenen und zerstörten Mauern zur Seite liegen blieb. Nun aber sahen wir über Hügel und Tal des Königs Majestät sich eilig zu Pferde bewegend, wie den Kern eines Kometen von einem langen, schweifartigen Gefolge begleitet. Kaum war jedoch dieses Phänomen mit Blitzesschnelle vor uns vorbei geschwunden, als ein zweites von einer andern Seite den Hügel krönte oder das Tal erfüllte. Es war der Herzog von Braunschweig, der Elemente gleicher Art an und nach sich zog. Wir nun, obgleich mehr zum Beobachten als zum Beurteilen geneigt, konnten doch der Betrachtung nicht ausweichen, welche von beiden Gewalten denn eigentlich die obere sei? Welche wohl im zweifelhaften Falle zu entscheiden habe? Unbeantwortete Fragen, die uns nur Zweifel und Bedenklichkeiten zurückließen. Was nun aber hierbei noch ernsteren Stoff zum Nachdenken gab, war, dass man beide Heerführer so ganz frank und frei in ein Land hineinreiten sah, wo nicht unwahrscheinlich in jedem Gebüsch ein aufgeregter Todfeind lauern konnte. Doch mussten wir gestehen, dass gerade das kühne persönliche Hingeben von jeher den Sieg errang und die Herrschaft behauptete. Bei wolkigem Himmel schien die Sonne sehr heiß; das Fuhrwerk in grundlosem Boden fand ein schweres Fortkommen. Zerbrochene Räder an Wagen und Kanonen machten gar manchen Aufenthalt, hie und da ermattete Füseliere, die sich schon nicht mehr fortschleppen konnten. Man hörte die Kanonade bei Thionville und wünschte jener Seite guten Erfolg. Abends erquickten wir uns im Lager bei Pillon. Eine liebliche Waldwiesenahm uns auf, der Schatten erfrischte schon, zum Küchfeuer war Gestrüpp genug bereit; ein Bach floss vorbei und bildete zwei klare Bassins, die beide sogleich von Menschen und Tieren sollten getrübt werden. Das eine gab ich frei, verteidigte das andere mit Heftigkeit und ließ es sogleich mit Pfählen und Stricken umziehen. Ohne Lärm gegen die Zudringlichkeiten ging es nicht ab. Da fragte einer von unsern Reitern den andern, die eben ganz gelassen an ihrem Zeug putzten: "Wer ist denn der, der sich so mausig macht?" -- "Ich weiß nicht," versetzte der andere, "aber er hat recht." Also kamen nun Preußen und Österreicher und ein Teil von Frankreich, auf französischem Boden ihr Kriegshandwerk zu treiben. In wessen Macht und Gewalt taten sie das? Sie konnten es in eignem Namen tun, der Krieg war ihnen zum Teil erklärt, ihr Bund war kein Geheimnis; aber nun ward noch ein Vorwand erfunden. Sie traten auf im Namen Ludwigs XVI., sie requirierten nicht, aber sie borgten gewaltsam. Man hatte Bons drucken lassen, die der Kommandierende unterzeichnete, derjenige aber, der sie in Händen hatte, nach Befund beliebig ausfüllte: Ludwig XVI. sollte bezahlen. Vielleicht hat nach dem Manifest nichts so sehr das Volk gegen das Königtum aufgehetzt als diese Behandlungsart. Ich war selbst bei einer solchen Szene gegenwärtig, deren ich mich als höchst tragisch erinnere. Mehrere Schäfer mochten ihre Herden vereinigt haben, um sie in Wäldern oder sonst abgelegenen Orten sicher zu verbergen; von tätigen Patrouillen aber aufgegriffen und zur Armee geführt, sahen sie sich zuerst wohl und freundlich empfangen. Man fragte nach den verschiedenen Besitzern, man sonderte und zählte die einzelnen Herden. Sorge und Frucht, doch mit einiger Hoffnung, schwebte auf den Gesichtern der tüchtigen Männer. Als sich aber dieses Verfahren dahin auflöste, dass man die Herden unter Regimenter und Kompanien verteilte, den Besitzern hingegen ganz höflich auf Ludwig XVI. gestellte Papiere überreichte, indessen ihre wolligen Zöglinge von den ungeduldigen, fleischlustigen Soldaten vor ihren Füßen ermordet wurden, so gesteh' ich wohl: es ist mir nicht leicht eine grausamere Szene und ein tieferer männlicher Schmerz in allen seinen Abstufungen jemals vor Augen und zur Seele gekommen. Die griechischen Tragödien allein haben so einfach tief Ergreifendes. Den 30. August. Vom heutigen Tag, der uns gegen Verdun bringen sollte, versprachen wir uns Abenteuer, und sie blieben nicht aus. Der auf- und abwärts gehende Weg war schon besser getrocknet, das Fuhrwerk zog ungehinderter dahin, die Reiter bewegten sich leichter und vergnüglich. Es hatte sich eine muntere Gesellschaft zusammengefunden, die, wohl beritten, so weit vorging, bis sie einen Zug Husaren antraf, der den eigentlichen Vortrab der Hauptarmee machte. Der Rittmeister, ein gesetzter Mann, schon über die mittleren Jahre, schien unsere Ankunft nicht gerne zu sehen. Die strengste Aufmerksamkeit war ihm empfohlen: alles sollte mit Vorsicht geschehen, jede unangenehme Zufälligkeit klüglich beseitigt werden. Er hatte seine Leute kunstmäßig verteilt, sie rückten einzeln vor in gewissen Entfernungen, und alles begab sich in der größten Ordnung und Ruhe. Menschenleer war die Gegend, die äußerste Einsamkeit ahnungsvoll. So waren wir, Hügel auf Hügel ab, über Mangiennes, Damvillers, Wawrille und Ormont gekommen, als auf einer Höhe, die eine schöne Aussicht gewährte, rechts in den Weinbergen ein Schuss fiel, worauf die Husaren sogleich zufuhren, die nächste Umgebung zu untersuchen. Sie brachten auch wirklich einen schwarzhaarigen, bärtigen Mann herbei, der ziemlich wild aussah und bei dem man ein schlechtes Terzerol gefunden hatte. Er sagte trotzig, dass er die Vögel aus seinem Weinberg verscheuche und niemand etwas zuleide tue. Der Rittmeister schien, bei stiller Überlegung, diesen Fall mit seinen gemessenen Orders zusammenzuhalten und entließ den bedrohten Gefangenen mit einigen Hieben, die der Kerl so eilig mit auf den Weg nahm, dass man ihm seinen Hut mit großem Lustgeschrei nachwarf, den er aber aufzunehmen keinen Beruf empfand. Der Zug ging weiter, wir unterhielten uns über die Vorkommenheiten und über manches, was zu erwarten sein möchte. Nun ist zu bemerken, dass unsere kleine Gesellschaft, wie sie sich den Husaren aufgedrungen hatte, zufällig zusammengekommen, aus den verschiedensten Elementen bestand; meistens waren es gradsinnige, jeder nach seiner Weise dem Augenblick gewidmete Menschen. Einen jedoch muss ich besonders auszeichnen, einen ernsten, sehr achtbaren Mann von der Art, wie sie zu jener Zeit unter den preußischen Kriegsleuten öfter vorkamen, mehr ästhetisch als philosophisch gebildet, ernst mit einem gewissen hypochondrischen Zug, still in sich gekehrt und zum Wohltun mit zarter Leidenschaft aufgelegt. Als wir so weiter vor uns hinrückten, trafen wir auf eine so seltsame als angenehme Erscheinung, die eine allgemeine Teilnahme erregte. Zwei Husaren brachten ein einspänniges zweirädriges Wägelchen den Berg herauf, und als wir uns erkundigten, was unter der übergespannten Leinwand wohl befindlich sein möchte, so fand sich ein Knabe von etwa zwölf Jahren, der das Pferd lenkte, und ein wunderschönes Mädchen oder Weibchen, das sich aus der Ecke hervorbeugte, um die vielen Reiter anzusehen, die ihren zweirädrigen Schirm umzingelten. Niemand blieb ohne Teilnahme, aber die eigentlich tätige Wirkung für die Schöne mussten wir unserm empfindenden Freund überlassen, der von dem Augenblick an, als er das bedürftige Fuhrwerk näher betrachtet, sich zur Rettung unaufhaltsam hingedrängt fühlte. Wir traten in den Hintergrund; er aber fragte genau nach allen Umständen, und es fand sich, dass die junge Person, in Samogneux wohnhaft, dem bevorstehenden Bedrängnis seitwärts zu entfernteren Freunden auszuweichen willens, sich eben der Gefahr in den Rachen geflüchtet habe; wie in solchen ängstlichen Fällen der Mensch wähnt, es sei überall besser als da, wo er ist. Einstimmig ward ihr nun auf das freundlichste begreiflich gemacht, dass sie zurückkehren müsse. Auch unser Anführer, der Rittmeister, der zuerst eine Spionerei hier wittern wollte, ließ sich endlich durch die herzliche Rhetorik des sittlichen Mannes überreden, der sie denn auch, zwei Husaren an der Seite, bis an ihren Wohnort einigermaßen getröstet zurückgebrachte, woselbst sie uns, die wir in bester Ordnung und Mannszucht bald nachher durchzogen, auf einem Mäuerchen unter den Ihrigen stehend, freundlich und, weil das erste Abenteuer so gut gelungen war, hoffnungsvoll begrüßte. Es gibt dergleichen Pausen mitten in den Kriegszügen, wo man durch augenblickliche Mannszucht sich Kredit zu verschaffen sucht und eine Art von gesetzlichem Frieden mitten in der Verwirrung beordert. Diese Momente sind köstlich für Bürger und Bauern und für jeden, dem das dauernde Kriegsunheil noch nicht allen Glauben an Menschlichkeit geraubt hat. Ein Lager diesseits Verdun wird aufgeschlagen, und man zählt auf einige Tage Rast. Den 31. morgens war ich im Schlafwagen, gewiss der trockensten, wärmsten und erfreulichsten Lagerstätte, halb erwacht, als ich etwas an den Ledervorhängen ruaschen hörte und bei Eröffnung derselben den Herzog von Weimar erblickte, der mir einen unerwarteten Fremden vorstellte. Ich erkannte sogleich den abenteuerlichen Grothaus, der, seine Parteigängerrolle auch hier zu spielen nicht abgeneigt, angelangt war, um den bedenklichen Auftrag der Aufforderung Verduns zu übernehmen. In Gefolg dessen war er gekommen, unsern fürstlichen Anführer um einen Stabstrompeter zu ersuchen, welcher, einer solchen besondern Auszeichnung sich erfreuend, alsobald zu dem Geschäft beordert wurde. Wir begrüßten uns, alter Wunderlichkeiten eingedenk, auf das heiterste, und Grothaus eilte zu seinem Geschäft; worüber denn, als es vollbracht war, gar mancher Scherz getrieben wurde. Man erzählte sich, wie er, den Trompeter voraus, den Husaren hinterdrein, die Fahrstraße hinab geritten, die Verduner aber als Sansculotten, das Völkerrecht nicht kennend oder verachtend, auf ihn kanoniert; wie er ein weißes Schnupftuch an die Trompete befestigt und immer heftiger zu blasen befohlen; wie er, von einem Kommando eingeholt und mit verbundenen Augen allein in die Festung geführt, alldort schöne Reden gehalten, aber nichts bewirkt -- und was dergleichen mehr war, wodurch man denn nach Weltart den geleisteten Dienst zu verkleinern und dem Unternehmenden die Ehre zu verkümmern wusste. Als nun die Festung, wie natürlich, auf die erste Forderung, sich zu ergeben, abgeschlagen, musste man mit Anstalten zum Bombardement vorschreiten. Der Tag ging hin, indessen besorgt' ich noch ein kleines Geschäft, dessen gute Folgen sich mir bis auf den heutigen Tag erstrecken. In Mainz hatte mich Herr von Stein mit dem Jägerischen Atlas versorgt, welcher den gegenwärtigen, hoffentlich auch den nächstkünftigen Kriegsschauplatz in mehreren Blättern darstellte. Ich nahm das eine hervor, das achtundvierzigste, in dessen Bezirk ich bei Longwy herein getreten war, und da unter des Herzogs Leuten sich gerade ein Boßler befand, so ward es zerschnitten und aufgezogen und dient mir noch zur Wiedererinnerung jener für die Welt und mich so bedeutenden Tage. Nach solchen Vorbereitungen zum künftigen Nutzen und augenblicklicher Bequemlichkeit sah ich mich um auf der Wiese, wo wir lagerten und von wo sich die Zelte bis auf die Hügel erstreckten. Auf dem großen, grünen, ausgebreiteten Teppich zog ein wunderliches Schauspiel meine Aufmerksamkeit an sich: eine Anzahl Soldaten hatten sich in einen Kreis gesetzt und hantierten etwas innerhalb desselben. Bei näherer Untersuchung fand ich sie um einen trichterförmigen Erdfall gelagert, der, von dem reinsten Quellwasser gefüllt, oben etwa dreißig Fuß im Durchmesser haben konnte. Nun waren es unzählige kleine Fischchen, nach denen die Kriegsleute angelten, wozu sie das Gerät neben ihrem übrigen Gepäck mitgebracht hatten. Das Wasser war das klarste von der Welt, und die Jagd lustig genug anzusehen. Ich hatte jedoch nicht lange diesem Spiel zugeschaut, als ich bemerkte, dass die Fischlein, indem sie sich bewegten, verschiedene Farben spielten. Im ersten Augenblick hielt ich diese Erscheinung für Wechselfarben der beweglichen Körperchen, doch blad eröffnete sich mir eine willkommene Aufklärung. Eine Scherbe Steingut war in den Trichter gefallen. Welche mir aus der Tiefe herauf die schönsten prismatischen Farben gewährte. Heller als der Grund, dem Auge entgegen gehoben, zeigte sie an dem von mir abstehenden Rand die Blau- und Violettfarbe, an dem mir zugekehrten Rande dagegen die rote und gelbe. Als ich mich darauf um die Quelle ringsum bewegte, folgte mir, wie natürlich bei einem solchen subjektiven Versuche, das Phänomen, und die Farben erschienen, bezüglich auf mich, immer dieselbigen. Leidenschaftlich ohnehin mit diesen Gegenständen beschäftigt, machte mir's die größte Freude, dasjenige hier unter freiem Himmel so frisch und natürlich zu sehen, weshalb sich die Lehrer der Physik schon fast hundert Jahre mit ihren Schülern in eine dunkle Kammer einzusperren pflegten. Ich verschaffte mir noch einige Scherbenstücke, die ich hineinwarf, und konnte gar wohl bemerken, dass die Erscheinung unter der Oberfläche des Wassers sehr bald anfing, beim Hinabsinken immer zunahm, und zuletzt ein kleiner weißer Körper, ganz überfärbt, in Gestalt eines Flämmchens am Boden anlangte. Dabei erinnerte ich mich, dass Agricola schon dieser Erscheinung gedacht und sie unter die feurigen Phänomene zu rechnen sich bewogen gesehen. Nach Tisch ritten wir auf den Hügel, der unseren Zelten die Ansicht von Verdun verbarg. Wir fanden die Lage der Stadt als einer solchen sehr angenehm, von Wiesen, Gärten umgeben, in einer heitern Fläche, von der Maas in mehreren Ästen durchströmt, zwischen näheren und ferneren Hügeln; als Festung freilich einem Bombardement von allen Seiten ausgesetzt. Der Nachmittag ging hin mit Errichtung der Batterien, da die Stadt sich zu ergeben geweigert hatte. Mit guten Ferngläsern beschauten wir indessen die Stadt und konnten ganz genau erkennen, was auf dem gegen uns gekehrten Wall vorging: mancherlei Volk, das sich hin und her bewegte und besonders an einem Fleck sehr tätig zu sein schien. Um Mitternacht fing das Bombardement an, sowohl von der Batterie auf unserm rechten Ufer als von einer andern auf dem linken, welche, näher gelegen und mit Brandraketen spielend, die stärkste Wirkung hervorbrachte. Diese geschwänzten Feuermeteore musste man denn ganz gelassen durch die Luft fahren und bald darauf ein Stadtquartier in Flammen sehen. Unsere Ferngläser, dorthin gerichtet, gestatteten uns, auch dieses Unheil im einzelnen zu betrachten; wir konnten die Menschen erkennen, die sich oben auf den Mauern dem Brand Einhalt zu tun eifrig bemühten, wir konnten die frei stehenden, zusammenstürzenden Gesparre bemerken und unterscheiden. Dieses alles geschah in Gesellschaft von Bekannten und Unbekannten, wobei es unsägliche, oft widersprechende Bemerkungen gab und gar verschiedene Gesinnungen geäußert wurden. Ich war in eine Batterie getreten, die eben gewaltsam arbeitete, allein der fürchterlich dröhnende Klang abgefeuerter Haubitzen fiel meinem friedlichen Ohr unerträglich: ich musste mich bald entfernen. Da traf ich auf den Fürsten Reuß den XI., der mir immer ein freundlicher, gnädiger Herr gewesen. Wir gingen hinter Weinbergsmauern hin und her, durch sie geschützt vor den Kugeln, welche heraus zu senden die Belagerten nicht faul waren. Nach mancherlei politischen Gesprächen, die uns denn freilich nur in ein Labyrinth von Hoffnungen und Sorgen verwickelten, fragte mich der Fürst, womit ich mich gegenwärtig beschäftige, und war sehr verwundert, als ich, anstatt von Tragödien und Romanen zu vermelden, aufgeregt durch die heutige Refraktionserscheinung, von der Farbenlehre mit großer Lebhaftigkeit zu sprechen begann. Denn es ging mir mit diesen Entwickelungen natürlicher Phänomene wie mit Gedichten: ich machte sie nicht, sondern sie machten mich. Das einmal erregte Interesse behauptete sein Recht, die Produktion ging ihren Gang, ohne sich durch Kanonenkugeln und Feuerballen im mindesten stören zu lassen. Der Fürst verlangte, dass ich ihm fasslich machen sollte, wie ich in dieses Feld geraten? Hier gereichte mir nun der heutige Fall zu besonderem Nutzen und Frommen. Bei einem solchen Mann bedurft' es nicht vieler Worte, um ihn zu überzeugen, dass ein Naturfreund, der sein Leben gewöhnlich im Freien, es sei nun im Garten, auf der Jagd, reisend oder durch Feldzüge durchführt, Gelegenheit und Muße genug finde, die Natur im großen zu betrachten und sich mit den Phänomenen aller Art bekannt zu machen. Nun bieten aber atmosphärische Luft, Dünste, Regen, Wasser und Erde uns immerfort abwechselnde Farberscheinungen, und zwar unter so verschiedenen Bedingungen und Umständen, dass man wünschen müsse, solche bestimmter kennen zu lernen, sie zu sondern, unter gewisse Rubriken zu bringen, ihre nähere und fernere Verwandtschaft auszuforschen. Hierdurch gewinne man nun in jedem Fach neue Ansichten, unterschieden von der Lehre der Schule und von gedruckten Überlieferungen. Unsere Altväter hätten, begabt mit großer Sinnlichkeit, vortrefflich gesehen, jedoch ihre Beobachtungen nicht fort- und durchgesetzt; am wenigsten sei ihnen gelungen, die Phänomene wohl zu ordnen und unter die rechten Rubriken zu bringen. Dergleichen war abgehandelt, als wir den feuchten Rasen hin und her gingen; ich setze, aufgeregt durch Fragen und Einreden, meine Lehre fort, als die Kälte des einbrechenden Morgens uns an ein Biwak der Österreicher trieb, welches, die ganze Nacht unterhalten, einen ungeheueren wohltätigen Kohlenkreis darbot. Eingenommen von meiner Sache, mit der ich mich erst seit zwei Jahren beschäftigte und die also noch in einer frischen, unreifen Gärung begriffen war, hätte ich kaum wissen können, ob der Fürst mir auch zugehört, wenn er nicht einsichtige Worte dazwischen gesprochen und zum Schluss meinen Vortrag wieder aufgenommen und beifällige Aufmunterung gegönnt hätte. Wie ich denn immer bemerkt habe, dass mit Geschäfts- und Weltleuten, die sich gar vielerlei aus dem Stegreif müssen vortragen lassen und deshalb immer auf ihrer Hut sind, um nicht hintergangen zu werden, viel besser auch in wissenschaftlichen Dingen zu handeln ist, weil sie den Geist frei halten und dem Referenten aufpassen, ohne weiteres Interesse als eigene Aufklärungen; da Gelehrte hingegen gewöhnlich nichts hören, als was sie gelernt und gelehrt haben und worüber sie mit ihresgleichen übereingekommen sind. In die Stelle des Gegenstandes setzt sich ein Wort-Kredo, bei welchem denn so gut zu verharren ist als bei irgendeinem andern. Der Morgen war frisch, aber trocken; wir gingen, teils gebraten, teils erstarrt, wieder auf und ab und shaen an den Weinbergsmauern sich auf einmal etwas regen. Es war ein Pikett Jäger, das die Nacht da zugebracht hatte, nun aber Büchse und Tornister wieder aufnahm, hinab in die niedergebrannten Vorstädte zog, um von da aus die Wälle zu beunruhigen. Einem wahrscheinlichen Tod entgegengehend, sangen sie sehr libertine Lieder, in dieser Lage vielleicht verzeihbar. Kaum verließen sie die Stätte, als ich auf der Mauer, an der sie geruht, ein sehr auffallendes geologisches Phänomen zu bemerken glaubte: ich sah auf dem von Kalkstein errichteten weißen Mäuerchen ein Gesims von hellgrünen Steinen völlig von der Farbe des Jaspis und war höchlich betroffen, wie mitten in diesen Kalkflözen eine so merkwürdige Steinart in solcher Menge sich sollte gefunden haben. Auf die eigenste Weise ward ich jedoch entzaubert, als ich, auf das Gespenst losgehend, sogleich bemerkte, dass es das Innere von verschimmeltem Brot sei, das, den Jägern ungenießbar, mit gutem Humor ausgeschnitten und zu Verzierung der Mauer ausgebreitet worden. Hier gab es nun sogleich Gelegenheit, von der, seitdem wir in Feindesland eingetreten, immer wieder zur Sprache kommenden Vergiftung zu reden; welche freilich ein kriegendes Heer mit panischem Schrecken erfüllt, indem nicht allein jede vom Wirt angebotene Speise, sondern auch das selbstgebackene Brot verdächtig wird, dessen innerer, schnell sich entwickelnder Schimmel ganz natürlichen Ursachen zuzuschreiben ist. Es war den 1. September früh um acht Uhr, als das Bombardement aufhörte, ob man gleich noch immerfort Kugeln hinüber und herüber wechselte. Besonders hatten die belagerten einen Vierundzwanzig-Pfünder gegen uns gekehrt, dessen sparsame Schüsse sie mehr zum Scherz als Ernst verwendeten. Auf der freien Höhe zur Seite der Weinberge, grad' im Angesicht dieses gröbsten Geschützes, waren zwei Husaren zu Pferd aufgestellt, um Stadt und Zwischenraum aufmerksam zu beobachten. Diese blieben die Zeit ihrer Postierung über unangefochten. Weil aber bei der Ablösung sich nicht allein die Zahl der Mannschaft vermehrte, sondern auch manche Zuschauer grad' in diesem Augenblick herbeiliefen und ein tüchtiger Klump Menschen zusammenkam, so hielten jene ihre Ladung bereit. Ich stand in diesem Augenblick mit dem Rücken dem ungefähr hundert Schritt entfernten Husaren- und Volkstrupp zugekehrt, mich mit einem Freund besprechend, als auf einmal der grimmige, pfeifend-schmetternde Ton hinter mir hersauste, so dass ich mich auf dem Absatz herumdrehte, ohne sagen zu können, ob der Ton, die bewegte Luft, eine innere psychische, sittliche Anregung dieses Umkehren hervorgebracht. Ich sah die Kugel, weit hinter der auseinander gestobenen Menge, noch durch einige Zäune rikoschettieren. Mit großem Geschrei lief man ihr nach, als sie aufgehört hatte, furchtbar zu sein; niemand war getroffen, und die Glücklichen, die sich dieser runden Eisenmasse bemächtigt, trugen sie im Triumph umher. Gegen Mittag wurde die Stadt zum zweiten Mal aufgefordert und erbat sich vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit. Diese nutzten auch wir, uns etwas bequemer einzurichten, um zu proviantieren, die Gegend umher zu bereiten, wobei ich denn nicht unterließ, mehrmals zu der unterrichtenden Quelle zurückzukehren, wo ich meine Beobachtungen ruhiger und besonnener anstellen konnte; denn das Wasser war rein ausgefischt und hatte sich vollkommen klar und ruhig gesetzt, um das Spiel der niedersinkenden Flämmchen nach Lust zu wiederholen, und ich befand mich in der angenehmsten Gemütsstimmung. Einige Unglücksfälle versetzten uns wieder bald in Kriegszustand. Ein Offizier von der Artillerie suchte sein Pferd zu tränken, der Wassermangel in der Gegend war allgemein; meine Quelle, an der er vorbei ritt, lag nicht flach genug, er begab sich nach der nahe fließenden Maas, wo er an einem abhängigen Ufer versank: das Pferd hatte sich gerettet, ihn trug man tot vorbei. Kurz darauf sah und hörte man eine starke Explosion im österreichischen Lager, an dem Hügel, zu dem wir hinaufsehen konnten; Knall und Dampf wiederholte sich einige Mal. Bei einer Bombenfüllung war durch Unvorsichtigkeit Feuer entstanden, das höchste Gefahr drohte; es teilte sich schon gefüllten Bomben mit, und man hatte zu fürchten, der ganze Vorrat möcht ein die Luft gehen. Bald aber war die Sorge gestillt durch rühmliche Tat kaiserlicher Soldaten, welche, die bedrohende Gefahr verachtend, Pulver und gefüllte Bomben aus dem Zeltraum eilig hinaustrugen. So ging auch dieser Tag hin. Am andern Morgen ergab sich die Stadt und ward in Besitz genommen; sogleich aber sollte uns ein republikanischer Charakterzug begegnen. Der Kommandant Beaurepaire, bedrängt von der bedrängten Bürgerschaft, die bei fortdauerndem Bombardement ihre ganze Stadt verbrannt und zerstört sah, konnte die Übergabe nicht länger verweigern; als er aber auf dem Rathaus in voller Sitzung seine Zustimmung gegeben hatte, zog er ein Pistole hervor und erschoss sich, um abermals ein Beispiel höchster patriotischer Aufopferung darzustellen. Nach dieser so schnellen Eroberung von Verdun zweifelte niemand mehr, dass wir bald darüber hinausgelangen und in Chalons und Epernay uns von den bisherigen Leiden an gutem Weine bestens erholen sollten. Ich ließ daher ungesäumt die Jägerischen Karten, welche den Weg nach Paris bezeichneten, zerschneiden und sorgfältig aufziehen, auch auf die Rückseite weißes Papier kleben, wie ich es schon bei der ersten getan, um kurze Tagesbemerkungen flüchtig aufzuzeichnen. Den 3. September. Früh hatte sich eine Gesellschaft zusammengefunden, nach der Stadt zu reiten, an die ich mich anschloss. Wir fanden gleich beim Eintritt große frühere Anstalten, die auf einen längeren Widerstand hindeuteten: das Straßenpflaster war in der Mitte durchaus aufgehoben und gegen die Häuser angehäuft; das feuchte Wetter machte deshalb das Umherwandeln nicht erfreulich. Wir besuchten aber sogleich die namentlich gerühmten Läden, wo der beste Likör aller Art zu haben war. Wir probierten ihn durch und versorgten uns mit mancherlei Sorten. Unter andern war einer namens Baume humain, welcher, weniger süß, aber stärker, ganz besonders erquickte. Auch die Drageen, überzuckerte kleine Gewürzkörner in saubern, zylindrischen Deuten, wurden nicht abgewiesen. Bei so vielem Guten gedachte man nun der lieben Zurückgelassenen, denen dergleichen am friedlichen Ufer der Ilm gar wohl behagen möchte. Kistchen wurden gepackt; gefällige, wohlwollende Kuriere, das bisherige Kriegsglück in Deutschland zu melden beauftragt, waren geneigt, sich mit einigem Gepäck dieser Art zu belasten, wodurch sich denn die Freundinnen zu Hause in höchster Beruhigung überzeugen mochten, dass wir in einem Land wallfahrteten, wo Geist und Süßigkeit niemals ausgehen dürfen. Als wir nun darauf die teilweise verletzte und verwüstete Stadt beschauten, waren wir veranlasst, die Bemerkung zu wiederholen: dass bei solchem Unglück, welches der Mensch dem Menschen bereitet, wie bei dem, was die Natur uns zuschickt, einzelne Fälle vorkommen, die auf eine Schickung, eine günstige Vorsehung hinzudeuten scheinen. Der untere Stock eines Eckhauses auf dem Markt ließ einen von vielen Fenstern wohl erleuchteten Fayence-Laden sehen; man machte uns aufmerksam, dass eine Bombe, von dem Platz aufschlagend, an den schwachen steinernen Türpfosten des Ladens gefahren, von demselben aber wieder abgewiesen, andere Richtung genommen habe. Der Türpfosten war wirklich beschädigt, aber er hatte die Pflicht eines guten Vorfechters getan: die Glanzfülle des oberflächlichen Porzellans stand in widerspiegelnder Herrlichkeit hinter den wasserhellen, wohl geputzten Fenstern. Mittags am Wirtstisch wurden wir mit guten Schöpsenkeulen und Wein von Bar traktiert, den man, weil er nicht verfahren werden kann, im Land selbst aufsuchen und genießen muss. Nun ist aber an solchen Tischen Sitte, dass man wohl Löffel, jedoch weder Messer noch Gabel erhält, die man daher mitbringen muss. Von dieser Landesart unterrichtet, hatten wir schon solche Bestecke angeschafft, die man dort flach und zierlich gearbeitet zu kaufen findet. Muntere, resolute Mädchen warteten auf, nach derselben Art und Weise, wie sie vor einigen Tagen ihrer Garnison noch aufgewartet hatten. Bei der Besitznehmung von Verdun ereignete sich jedoch ein Fall, der, obgleich nur einzeln, großes Aufsehen erregte und allgemeine Teilnahme heran rief. Die Preußen zogen ein, und es fiel aus der französischen Volksmasse ein Flintenschuss, der niemand verletzte, dessen Wagestück aber ein französischer Grenadier nicht verleugnen konnte und wollte. Auf der Hauptwache, wohin er gebracht wurde, hab' ich ihn selbst gesehen: es war ein sehr schöner, wohl gebildeter, junger Mann, festen Blicks und ruhigen Betragens. Bis sein Schicksal entschieden wäre, hielt man ihn lässlich. Zunächst an der Wache war eine Brücke, unter der ein Arm der Maas durchzog; er setzte sich aufs Mäuerchen, blieb eine Zeitlang ruhig, dann überschlug er sich rückwärts in die Tiefe und ward nur tot aus dem Wasser herausgebracht. Diese zweite heroische, ahnungsvolle Tat erregte leidenschaftlichen Hass bei den frisch Eingewanderten, und ich hörte sonst verständige Personen behaupten, man möchte weder diesem noch dem Kommandanten ein ehrlich Begräbnis gestatten. Freilich hatte man sich andere Gesinnungen versprochen, und noch sah man nicht die geringste Bewegung unter den fränkischen Truppen, zu uns überzugehen. Größere Heiterkeit verbreitete jedoch die Erzählung, wie der König in Verdun aufgenommen worden: vierzehn der schönsten, wohl erzogensten Frauenzimmer hatten Ihro Majestät mit angenehmen Reden, Blumen und Früchten bewillkommnt. Seine Vertrautesten jedoch rieten ihm ab, vom Genuss Vergiftung befürchtend; aber der großmütige Monarch verfehlte nicht, diese wünschenswerten Gaben mit galanter Wendung anzunehmen und sie zutraulich zu kosten. Diese reizenden Kinder schienen auch unseren jungen Offizieren einiges Vertrauen eingeflößt zu haben; gewiss, diejenigen, die das Glück gehabt, dem Ball beizuwohnen, konnten nicht genug von Liebenswürdigkeit, Anmut und gutem Betragen sprechen und rühmen. Aber auch für solidere Genüsse war gesorgt: denn, wie man gehofft und vermutet hatte, fanden sich die besten und reichlichsten Vorräte in der Festung, und man eilte, vielleicht nur zu sehr, sich daran zu erholen. Ich konnte gar wohl bemerken, dass man mit geräuchertem Speck und Fleisch, mit Reis und Linsen und andern guten und notwendigen Dingen nicht haushältisch genug verfahre, welches in unserer Lage bedenklich schien. Lustig dagegen war die Art, wie ein Zeughaus, oder Waffensammlung aller Art, ganz gelassen geplündert ward. In ein Kloster hatte man allerlei Gewehre, mehr alte als neue, und mancherlei seltsame Dinge gebracht, womit der Mensch, der sich zu wehren Lust hat, den Gegner abhält oder wohl gar erlegt. Mit jener sanften Plünderung aber verhielt es sich folgendermaßen: als nach eingenommener Stadt die hohen Militärpersonen sich von den Vorräten aller Art zu überzeugen gedachten, begaben sie sich ebenfalls in diese Waffensammlung, und indem sie solche für das allgemeine Kriegsbedürfnis in Anspruch nahmen, fanden sie manches Besondere, welches dem einzelnen zu besitzen nicht unangenehm wäre, und niemand war leicht mit Musterung dieser Waffen beschäftigt, der nicht auch für sich etwas herausgemustert hätte. Dies ging nun durch alle Grade durch, bis dieser Schatz zuletzt beinahe ganz ins Freie fiel. Nun gab jedermann der angestellten Wache ein kleines Trinkgeld, um sich diese Sammlung zu besehen, und nahm dabei etwas mit heraus, was ihm anstehen mochte. Mein Diener erbeutete auf diese Weise einen flachen, hohen Stock, der, mit Bindfaden stark und geschickt umwunden, dem ersten Anblick nach nichts weiter erwarten ließ, seine Schwere aber deutete auf einen gefährlichen Inhalt: auch enthielt er eine sehr breite, wohl vier Fuß lange Degenklinge, womit eine kräftige Faust Wunder getan hätte. So zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Erhalten und Verderben, zwischen Rauben und Bezahlen lebte man immer hin, und dies mag es wohl sein, was den Krieg für das Gemüt eigentlich verderblich macht. Man spielt den Kühnen, Zerstörenden, dann wieder den Sanften, Belebenden; man gewöhnt sich an Phrasen, mitten in dem verzweifeltsten Zustand Hoffnung zu erregen und zu beleben; hierdurch entsteht nun eine Art von Heuchelei, die einen besonderen Charakter hat und sich von der pfäffischen, höfischen, oder wie sie sonst heißen mögen, ganz eigen unterscheidet. Einer merkwürdigen Person aber muss ich noch gedenken, die ich, zwar nur in der Entfernung, hinter Gefängnisgittern, gesehen: es war der Postmeister von Sainte Menehould, der sich ungeschickterweise von den Preußen hatte fangen lassen. Er scheute keineswegs die Blicke der Neugierigen und schien bei seinem ungewissen Schicksal ganz ruhig. Die Emigrierten behaupteten, er habe tausend Tode verdient, und hetzten deshalb an den obersten Behörden, denen aber zum Ruhm zu rechnen ist, dass sie in diesem, wie in andern Fällens ich mit geziemender Ruhe und anständigem Gleichmut betragen. Am 4. September. Die viele Gesellschaft, die ab- und zuging, belebte unsere Zelte den ganzen Tag; man hörte vieles erzählen, vieles bereden und beurteilen, die Lage der Dinge tat sich deutlicher auf als bisher. Alle waren einig, dass man so schnell als möglich nach Paris vordringen müsse. Die Festungen Montmedy und Sedan hatte man unerobert sich zur Seite gelassen und schien von der in dortiger Gegend stehenden Armee wenig zu befürchten. Lafayette, auf welchem das Vertrauen des Kriegsvolks beruhte, war genötigt gewesen, aus der Sache zu scheiden; er sah sich gedrängt, zum Feind überzugehen, und ward als Feind behandelt. Dumouriez, wenn er auch sonst als Minister Einsicht in Militärangelegenheiten beweisen hatte, war durch keinen Feldzug berühmt, und aus der Kanzlei zum Oberbefehl der Armee befördert, schien er auch nur jene Inkonsequenz und Verlegenheit des Augenblicks zu beweisen. Von der andern Seite verlauteten die traurigen Vorfälle von der Hälfte des Augusts aus Paris, wo, dem braunschweigschen Manifest zum Trutz, der König gefangen genommen, abgesetzt und als Missetäter behandelt wurde. Was aber für die nächsten Kriegsoperationen höchst bedenklich sei, war am umständlichsten besprochen. Der waldbewachsene Gebirgsriegel, welcher die Aire von Süden nach Norden an ihm herzufließen nötigt, Forêt d'Argonne genannt, lag unmittelbar vor uns und heilt unsere Bewegung auf. Man sprach viel von den Isletten, dem bedeutenden Pass zwischen Verdun und Sainte Menehould. Warum er nicht besetzt werde, besetzt worden sei, darüber konnte man sich nicht vereinigen. Die Emigrierten sollten ihn einen Augenblick überrumpelt haben, ohne ihn halten zu können. Die abziehende Besatzung von Longwy hatte sich, so viel wusste man, dorthin gezogen; auch Dumouriez schickte, während wir uns auf dem Marsch nach Verdun und mit dem Bombardement der Stadt beschäftigten, Truppen quer über durchs Land, um diesen Posten zu verstärken und den rechten Flügel seiner Position hinter Grandpré zu decken und so den Preußen, Österreichern und Emigrierten ein zweites Thermopylä entgegenzustellen. Man gestand sich einander die höchst unglückliche Lage und musste sich in die Anstalten fügen, wonach die Armee, welche unaufhaltsam gerade vorwärts hätten dringen sollen, die Aire hinabziehen sollte, um sich an den verschanzten Bergschluchten auf gut Glück zu versuchen; wobei noch für höchst vorteilhaft galt, dass Clermont den Franzosen entrissen und von Hessen besetzt sei, welche, gegen die Isletten operierend, sie wo nicht wegnehmen, doch beunruhigen konnten. Den 6. September. In diesem Sinn ward nunmehr das Lager verändert und kam hinter Verdun zu stehen; das Hauptquartier des Königs, Glorieux, des Herzogs von Braunschweig, Regret genannt, gab zu wunderlichen Betrachtungen Anlass. An den ersten Ort gelangt' ich selbst durch einen verdrießlichen Zufall. Des Herzogs von Weimar Regiment sollte bei Jardin Fontaine zu stehen kommen, nahe an der Stadt und der Maas; zum Tor fuhren wir glücklich heraus, indem wir uns in den Wagenzug eines unbekannten Regiments einschwärzten und von ihm fortschleppen ließen, obgleich zu bemerken war, dass man sich zu weit entferne; auch hätten wir nicht einmal bei dem schmalen Weg aus der Reihe weichen können, ohne uns in den Gräben unwiederbringlich zu verfahren. Wir schauten rechts und links, ohne zu entdecken, wir fragten ebenso und erhielten keinen Bescheid; denn alle waren fremd wie wir und aufs verdrießlichste von dem Zustand angegriffen. Endlich auf eine sanfte Höhe gelangt, sah ich links unten in einem Tal, das zu guter Jahrszeit ganz angenehm sein mochte, einen hübschen Ort mit bedeutenden Schlossgebäuden, wohin glücklicherweise ein sanfter grüner Rain uns bequem hinunterzubringen versprach. Ich ließ umso eher aus der schrecklichen Fahrleise hinabwärts ausbiegen, als ich unten Offiziere und Reitknechte hin und wider sprengen, Packwagen und Chaisen aufgefahren sah; ich vermutete eins der Hauptquartiere, und so fand sich's: es war Glorieux, der Aufenthalt des Königs. Aber auch da war mein Fragen, wo Jardin Fontaine liege, ganz umsonst. Endlich begegnete ich, wie einem Himmelsboten, Herrn von Alvensleben, der sich mir früher freundlich erwiesen hatte; dieser gab mir denn Bescheid, ich solle den von allem Fuhrwerk freien Dorfweg im Tal bis nach der Stadt verfolgen, vor derselben aber links durchzudringen suchen, und ich würde Jardin Fontaine gar bald entdecken. Beides gelang mir, und ich fand auch unsere Zelte aufgeschlagen, aber im schrecklichsten Zustand: man sah sie in grundlosen Kot versenkt, die verfaulten Schlingen der Zelttücher zerrissen eine nach der andern, und die Leinwand schlug dem über Kopf und Schulter zusammen, der darunter sein Heil zu suchen gedachte. Eine Zeitlang hatte man's ertragen, doch fiel zuletzt der Entschluss dahin aus, das Örtchen selbst zu beziehen. Wir fanden in einem wohl eingerichteten Haus und Hof einen guten neckischen Mann als Besitzer, der ehemals Koch in Deutschland gewesen war; mit Munterkeit nahm er uns auf, im Erdgeschoss fanden sich schöne, heitere Zimmer, gutes Kamin, und was sonst nur erquicklich sein konnte. Das Gefolge des Herzogs von Weimar ward aus der fürstlichen Küche versorgt; unser Wirt verlangte jedoch dringend, ich solle nur ein einziges Mal von seiner Kunst etwas kosten. Er bereitete mir auch wirklich ein höchst wohlschmeckendes Gastmahl, das mir aber sehr übel bekam, so dass ich wohl auch an Gift hätte denken können, wenn mir nicht noch zeitig genug der Knoblauch eingefallen wäre, durch welchen jene Schüsseln erst recht schmackhaft geworden, der auf mich aber, selbst in der geringsten Dosis, höchst gewaltsame Wirkung auszuüben pflegte. Das Übel war bald vorbei, und ich hielt mich nach wie vor desto lieber an die deutsche Küche, solange sie auch nur das mindeste leisten konnte. Als es zum Abschied ging, überreichte der gut gelaunte Wirt meinem Diener einen vorher versprochenen Brief nach Paris an eine Schwester, die er besonders empfehlen wolle; fügte jedoch nach einigem Hin- und Widerreden gutmütig hinzu: "Du wirst wohl nicht hinkommen." Den 11. September. Wir wurden also, nach einigen Tagen gütlicher Pflege, wieder in das schrecklichste Wetter hinausgestoßen; unser Weg ging auf dem Gebirgsrücken hin, der, die Gewässer der Maas und Aire scheidend, beide nach Norden zu fließen nötigt. Unter großen Leiden gelangten wir nach Malancourt, wo wir leere Keller und Küchen wirtlos fanden und schon zufrieden waren, unter Dach, auf trockener Bank eine spärliche, mitgebrachte Nahrung zu genießen. Die Einrichtung der Wohnungen selbst gefiel mir; sie zeugte von einem stillen, häuslichen Behagen: alles war einfach naturgemäß, dem unmittelbarsten Bedürfnis genügend. Dies hatten wir gestört, dies zerstörten wir; denn aus der Nachbarschaft erscholl ein Angstruf gegen Plünderer, worauf wir denn, hinzueilend, nicht ohne Gefahr dem Unfug für den Augenblick steuerten. Auffallend genug dabei war, dass die armen unbekleideten Verbrecher, denen wir Mäntel und Hemden entrissen, uns der härtesten Grausamkeit anklagten, dass wir ihnen nicht vergönnen wollten, auf Kosten der Feinde ihre Blöße zu decken. Aber noch ein eigneren Vorwurf sollten wir erleben. In unser erstes Quartier zurückgekehrt, fanden wir einen vornehmen, uns sonst schon bekannten Emigrierten. Er ward freundlich begrüßt und verschmähte nicht frugale Bissen; allein man konnte ihm eine innere Bewegung anmerken, er hatte etwas auf dem Herzen, dem er durch Ausrufungen Luft zu machen suchte. Als wir nun, früherer Bekanntschaft gemäß, einiges Vertrauen in ihm zu erwecken suchten, so beschrie er die Grausamkeit, welche der König von Preußen an den französischen Prinzen ausübe. Erstaunt, fast bestürzt, verlangten wir nähere Erklärung. Da erfuhren wir nun: der König habe beim Ausmarsch von Glorieux, unerachtet des schrecklichsten Regens, keinen Überrock angezogen, keinen Mantel umgenommen, da denn die königlichen Prinzen ebenfalls sich dergleichen Wetter abwehrende Gewande hätten versagen müssen; unser Marquis aber habe diese allerhöchsten Personen, leicht gekleidet, durch und durch genässt, träufelnd von abfließender Feuchte, nicht ohne das größte Bejammern anschauen können, ja er hätte, wenn es nütze gewesen wäre, sein Leben daran gewendet, sie in einem trockenen Wagen dahin ziehen zu sehen, sie, auf denen Hoffnung und Glück des ganzen Vaterlandes beruhe, die an eine ganz andere Lebensweise gewöhnt seien. Wir hatten freilich darauf nichts zu erwidern, denn ihm konnte die Betrachtung nicht tröstlich werden, dass der Krieg, als ein Vortod, alle Menschen gleich mache, allen Besitz aufhebe und selbst die höchste Persönlichkeit mit Pein und Gefahr bedrohe. Den 12. September. Den andern Morgen aber entschloss ich mich, in Betracht so hoher Beispiele, meine leichte und doch mit vier requirierten Pferden bespannte Chaise unter dem Schutz des zuverlässigen Kämmerier Wagner zu lassen, welchem die Equipage und das so nötige bare Geld nachzubringen aufgetragen war. Ich schwang mit, mit einigen guten Gesellen, zu Pferde, und so begaben wir uns auf den Marsch nach Landres. Wir fanden auf Mitte Wegs Wellen und Reisig eines abgeschlagenen Birkenhölzchens, deren innere Trockenheit die äußere Feuchte bald überwand und uns lohe Flamme und Kohlen, zur Erwärmung wie zum Kochen genugsam, sehr schnell zum besten gab. Aber die schöne Anstalt einer Regimentstafel war schon gestört: Tische, Stühle und Bänke sah man nicht nachkommen, man behalf sich stehend, vielleicht angelehnt, so gut es gehen wollte. Doch war das Lager gegen Abend glücklich erreicht; so kampierten wir unsern Landres, gerade Grandpré gegenüber, wussten aber gar wohl, wie stark und vorteilhaft der Pass besetzt sei. Es regnete unaufhörlich, nicht ohne Windstoß; die Zeltdecke gewährte wenig Schutz. Glückselig aber der, dem eine höhere Leidenschaft den Busen füllte! Die Farbenerscheinung der Quelle hatte mich diese Tage her nicht einen Augenblick verlassen; ich überdachte sie hin und wieder, um sie zu bequemen Versuchen zu erheben. Da diktierte ich an Vogel, der sich auch hier als treuen Kanzleigefährten erwies, ins gebrochene Konzept und zeichnete nachher die Figuren daneben. Diese Papiere besitz' ich noch mit allen Merkmalen des Regenwetters und als Zeugnis eines treuen Forschens auf eingeschlagenem, bedenklichem Pfad. Den Vorteil aber hat der Weg zum Wahren, dass man sich unsicherer Schritte, eines Umwegs, ja, eines Fehltritts noch immer gern erinnert. Das Wetter verschlimmerte sich und ward in der Nacht so arg, dass man es für das höchste Glück schätzen musste, sie unter der Decke des Regimentswagens zuzubringen. Wie schrecklich war da der Zustand, wenn man bedachte, dass man im Angesicht des Feindes gelagert sei und befürchten musste, dass er aus seinen Berg- und Waldverschanzungen irgendwo hervorzubrechen Lust haben könne. Vom 13. bis zum 17. September. Traf der Kämmerier Wagner, den Pudel mit eingeschlossen, bei guter Zeit mit aller Equipage bei uns ein: er hatte eine schreckliche Nacht verlebt, war nach tausend anderen Hindernissen im Finstern von der Armee abgekommen, verführt durch schlaf- und weintrunkene Knechte eines Generals, denen er nachfuhr. Sie gelangten in ein Dorf und vermuteten die Franzosen ganz nahe. Von allerlei Alarm geängstigt, verlassen von Pferden, die aus der Schwemme nicht zurückkehrten, wusste er sich denn so zu richten und zu schicken, dass er von dem unseligen Dorf loskam und wir uns zuletzt mit allem mobilen Hab und Gut wieder zusammenfanden. Endlich gab es eine Art von erschütternder Bewegung und zugleich von Hoffnung: man hörte auf unserm rechten Flügel stark kanonieren und sagte sich: General Clerfiat sei aus den Niederlanden angekommen und habe die Franzosen auf ihrer linken Flanke angegriffen. Alles war äußerst gespannt, den Erfolg zu vernehmen. Ich ritt nach dem Hauptquartier, um näher zu erfahren, was die Kanonade bedeute und was eigentlich zu erwarten sei. Man wusste daselbst noch nichts genau, als dass General Clerfait mit den Franzosen ahndgemein sein müsse. Ich traf auf den Major von Weyrach, der sich aus Ungeduld und Langeweile soeben zu Pferd setze und an die Vorposten reiten wollte; ich begleitete ihn, und wir gelangten bald auf eine Höhe, wo man sich weit genug umsehen konnte. Wir trafen auf einen Husarenposten und sprachen mit dem Offizier, einem jungen, hübschen Mann. Die Kanonade war weit über Grandpré hinaus, und er hatte Order, nicht vorwärts zu gehen, um nicht ohne Not eine Bewegung zu verursachen. Wir hatten uns nicht lange besprochen, als Prinz Louis Ferdinand mit einigem Gefolge ankam, nach kurzer Begrüßung und Hin- und Widerreden von dem Offizier verlangte, dass er vorwärts gehen solle. Dieser tat dringende Vorstellungen, worauf der Prinz aber nicht achtete, sondern vorwärts ritt, dem wir denn alle folgen mussten. Wir warne nicht weit gekommen, als ein französischer Jäger sich von fern sehen ließ, an uns bis auf Büchsenschussweite heransprengte und sodann umkehrend ebenso schnell wieder verschwand. Ihm folgte der zweite, dann der dritte, welche ebenfalls wieder verschwanden. Der vierte aber, wahrscheinlich der erste, schoss die Büchse ganz ernstlich auf uns ab, man konnte die Kugel deutlich pfeifen hören. Der Prinz ließ sich nicht irren, und jene treiben auch ihr Handwerk, so dass mehrere Schüsse fielen, indem wir unsern Weg verfolgten. Ich hatte den Offizier manchmal angesehen, der zwischen seiner Pflicht und zwischen dem Respekt vor einem königlichen Prinzen in der größten Verlegenheit schwankte. Er glaubte wohl, in meinen Blicken etwas Teilnehmendes zu lesen, ritt auf mich zu und saget: "Wenn Sie irgendetwas auf den Prinzen vermögen, so ersuchen Sie ihn, zurückzugehen, er setzt mich der größten Verantwortung aus: ich habe den strengsten Befehl, meine angewiesenen Posten nicht zu verlassen, und es ist nichts vernünftiger, als dass wir den Feind nicht reizen, der hinter Grandpré in einer festen Stellung gelagert ist. Kehrt der Prinz nicht um, so ist in kurzem die ganze Vorpostenkette alarmiert, man weiß im Hauptquartier nicht, was es heißen soll, und der erste Verdruss ergeht über mich ganz ohne meine Schuld." Ich ritt an den Prinzen heran und sagte: "Man erzeigt mir soeben die Ehre, mir einigen Einfluss auf Ihro Hoheit zuzutrauen, deshalb ich um geneigtes Gehör bitte." Ich brachte ihm darauf die Sache mit Klarheit vor, welches kaum nötig gewesen wäre: denn er sah selbst alles vor sich und war freundlich genug, mit einigen guten Worten sogleich umzukehren, worauf denn auch die Jäger verschwanden und zu schießen aufhörten. Der Offizier dankte mir aufs verbindlichste, und man sieht hieraus, dass ein Vermittler überall willkommen ist. Nach und nach klärte sich's auf. Die Stellung Dumouriez' bei Grandpré war höchst fest und vorteilhaft; dass er auf seinem rechten Flügel nicht anzugreifen sei, wusste man wohl; auf seiner Linken waren zwei bedeutende Pässe, La Croix aux Bois und Le Chêne Populeux, beide wohl verhauen und für unzugänglich gehalten; allein der letzte war einem Offizier anvertraut, einem dergleichen Auftrag nicht gewachsenen oder nachlässigen. Die Österreicher griffen an: bei der ersten Attacke blieb Prinz von Ligne, der Sohn, sodann aber gelang es, man überwältigte den Posten, und der große Plan Dumouriez' war zerstört: er musste seine Stellung verlassen und sich die Aisne hinaufwärts ziehen, und preußische Husaren konnten durch den Pass dringen und jenseits des Argonner Waldes nachsetzen. Sie verbreiteten einen solchen panischen Schrecken über das französische Heer, dass zehntausend Mann vor fünfhundert flohen und nur mit Mühe konnten zum Stehen gebracht und wieder gesammelt werden; wobei sich das Regiment Chamborant besonders hervortrat und den Unsrigen ein weiteres Vordringen verwehrte, welche, ohnehin nur gewissermaßen auf Rekognoszieren ausgeschickt, siegreich mit Freuden zurückkehrten und nicht leugneten, einige Wagen gute Beute gemacht zu haben. In das unmittelbar Brauchbare, Geld und Kleidung, hatten sie sich geteilt, mir aber als einem Kanzleimann kamen die Papiere zugute, worunter ich einige ältere Befehle Lafayettes und mehrere höchst sauber geschriebene Listen fand. Was mich aber am meisten überraschte, war ein ziemlich neuer "Moniteur". Dieser Druck, dieses Format, mit dem man seit einigen Jahren ununterbrochen bekannt gewesen und die man nun seite mehreren Wochen nicht gesehen, begrüßten mich auf eine etwas unfreundliche Weise, indem ein lakonischer Artikel vom 3. September mir drohend zurief: _Les Prussiens pourront venir à Paris, mais ils n'en sortiront pas._ Also hielt man denn doch in Paris für möglich, wir könnten hingelangen; dass wir wieder zurückkehrten, dafür mochten die oberen Gewalten sorgen. Die schreckliche Lage, in der man sich zwischen Erde und Himmel befand, war einigermaßen erleichtert, als man die Armee zurücken und eine Abteilung der Avantgarde nach der andern vorwärts ziehen sah. Endlich kam die Reihe auch an uns: wir gelangten über Hügel, durch Täler, Weinberge vorbei, an denen man sich auch wohl erquickte. Man kam sodann zu aufgehellter Stunde in eine freiere Gegend und sah in einem freundlichen Tal der Aire das Schloss von Grandpré auf einer Höhe sehr wohl gelegen, eben an dem Punkt, wo genannter Fluss sich westwärts zwischen die Hügel drängt, um auf der Gegenseite des Gebirgs sich mit der Aisne zu verbinden, deren Gewässer, immer dem Sonnenuntergang zu, durch Vermittlung der Oise endlich in die Seine gelangen; woraus denn ersichtlich, dass der Gebirgsrücken, der uns von der Maas trennte, zwar nicht von bedeutender Höhe, doch von entschiedenem Einfluss auf den Wasserlauf, uns in eine andere Flussregion zu nötigen geeignet war. Auf diesem Zug gelangte ich zufällig in das Gefolge des Königs, dann des Herzogs von Braunschweig; ich unterhielt mich mit Fürst Reuß und andern diplomatisch-militärischen Bekannten. Diese Reitermassen machten zu der angenehmen Landschaft eine reiche Staffage, man hätte einen van der Meulen gewünscht, um solchen Zug zu verewigen: alles war heiter, munter, voller Zuversicht und heldenhaft. Einige Dörfer brannten zwar vor uns auf, allein der Rauch tut in einem Kriegsbild auch nicht übel. Man hatte, so hieß es, aus den Häusern auf den Vortrab geschossen und dieser, nach Kriegsrecht, sogleich die Selbstrache geübt. Es ward getadelt, war aber nicht zu ändern; dagegen nahm man die Weinberge in Schutz, von denen sich die Besitzer doch keine große Lese versprechen durften, und so ging es zwischen Freund- und feindseligem Betragen immer vorwärts. Wir gelangten, Grandpré hinter uns lassend, an und über die Aisne und lagerten bei Vaux les Mourons; hier waren wir nun in der verrufenen Champagne, es sah aber so übel noch nicht aus. Über dem Wasser an der Sonnenseite erstreckten sich wohl gehaltene Weinberge, und wo man Dörfer und Scheunen visitierte, fanden sich Nahrungsmittel genug für Menschen und Tiere, nur leider der Weizen nicht ausgedroschen, noch weniger genugsame Mühlen; Öfen zum Backen waren auch selten, und so fing es wirklich an, sich einem tantalischen Zustand zu nähern. Am 18. September. Dergleichen Betrachtungen anzustellen, versammelte sich eine große Gesellschaft, die überhaupt, wo es Halt gab, sich immer mit einigem Zutrauen, besonders beim Nachmittagskaffee, zusammenfügte; sie bestand aus wunderlichen Elemente, Deutschen und Franzosen, Kriegern und Diplomaten, alles bedeutende Personen, erfahren, klug, geistreich, aufgeregt durch die Wichtigkeit des Augenblicks, Männer, sämtlich von Wert und Würde, aber doch eigentlich nicht in den innern Rat gezogen und also desto mehr bemüht, auszusinnen, was beschlossen sein, was geschehen könnte. Dumouriez, als er den Pass von Grandpré nicht länger halten konnte, hatte sich die Aisne hinaufgzeogen, und da ihm der Rücken durch die Isletten gesichert war, sich auf die Höhen von Sainte Menehould, die Fronte gegen Frankreich gestellt. Wir waren durch den engen Pass hereingedrungen, hatten uneroberte Festen: Sedan, Montmedy, Stenay, im Rücken und an der Seite, die uns jede Zufuhr nach Beleiben erschweren konnten. Wir betraten beim schlimmsten Wetter ein seltsames Land, dessen undankbarer Kalkboden nur kümmerlich ausgestreute Ortschaften ernähren konnte. Freilich lag Reims, Chalons und ihre gesegneten Umgebungen nicht fern, man konnte hoffen, sich vorwärts zu erholen; die Gesellschaft überzeugte sich daher beinahe einstimmig, dass man auf Reims marschieren und sich Chalons' bemächtigen müsse; Dumouriez könne sich in seiner vorteilhaften Stellung alsdann nicht ruhig verhalten, eine Schlacht wäre unvermeidlich, wo es auch sei: man glaubte sie schon gewonnen zu haben. Den 19. September. Manches Bedenken gab es daher, als wir den 19. beordert wurden, auf Massiges unsern Zug zu richten, die Aisne aufwärts zu verfolgen und dieses Wasser sowohl als das Waldgebirge, näher oder ferner, linker Hand zu behalten. Nun erholte man sich unterwegs von solchen nachdenklichen Betrachtungen, indem man mancherlei Zufälligkeiten und Ereignissen eine heitere Teilnahme schenkte; ein wundersames Phänomen zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Man hatte, um mehrere Kolonnen nebeneinander fort zu schieben, die eine querfeldein über flache Hügel geführt, zuletzt aber, als man wieder ins Tal sollte, einen steilen Abhang gefunden; dieser ward nun alsbald, so gut es gehen wollte, abgeböscht, doch blieb er immer noch schroff genug. Nun trat eben zu Mittag ein Sonnenblick hervor und spiegelte sich in allen Gewehren. Ich hielt auf einer Höhe und sah jenen blinkenden Waffenfluss glänzend heranziehen; überraschend aber war es, als die Kolonne an den steilen Abhang gelangte, wo sich die bisher geschlossenen Glieder sprungweise trennten und jeder einzelne, so gut er konnte, in die Tiefe zu gelangen suchte. Diese Unordnung gab völlig den Begriff eines Wasserfalls: eine Unzahl durcheinander hin- und wider blinkender Bajonette bezeichneten die lebhafteste Bewegung. Und als nun unten am Fuß sich alles wieder gleich in Reih' und Glied ordnete und so, wie sie oben angekommen, nun wieder im Tal fortzogen, ward die Vorstellung eines Flusses immer lebhafter; auch war diese Erscheinung umso angenehmer, als ihre lange Dauer fort und fort durch Sonnenblicke begünstigt wurde, deren Wert man in solchen zweifelhaften Stunden nach langer Entbehrung erst recht schätzen lernte. Nachmittags gelangten wir endlich nach Massiges, nur noch wenige Stunden vom Feind; das Lager war abgesteckt, und wir bezogen den für uns bestimmten Raum. Schon waren Pfähle geschlagen, die Pferde drangebunden, Feuer angezündet, und der Küchenwagen tat sich auf. Ganz unerwartet kam daher das Gerücht, das Lager solle nicht statthaben: denn es sei die Nachricht angekommen, das französische Heer zeihe sich von Sainte Menehould auf Chalons; der König wolle sie nicht entwischen lassen und habe daher Befehl zum Aufbruch gegeben: ich suchte an der rechten Schmiede hierüber Gewissheit und vernahm das, was ich schon gehört hatte, nur mit dem Zusatz: auf diese unsichere und unwahrscheinliche Nachricht sei der Herzog von Weimar und der General Heymann mit eben den Husaren, welche die Unruhe erregt, vorgegangen. Nach einiger Zeit kamen diese Generale zurück und versicherten, es sei nicht die geringste Bewegung zu bemerken; auch mussten jene Patrouillen gestehen, dass sie das Gemeldete mehr geschlossen als gesehen hätten. Die Anregung aber war einmal gegeben, und der Befehl lautete: die Armee solle vorrücken, jedoch ohne das mindeste Gepäck, alles Fuhrwerk solle bis Maisons Champagne zurückkehren, dort eine Wagenburg bilden und den, wie man voraussetzte, glücklichen Ausgang einer Schlacht abwarten. Nicht einen Augenblick zweifelhaft, was zu tun sei, überließ ich Wagen, Gepäck und Pferde meinem entschlossenen, sorgfältigen Bedienten und setze mich mit den Kriegsgenossen alsobald zu Pferde. Es war schon früher mehrmals zur Sprache gekommen, dass, wer sich in einen Kriegszug einlasse, durchaus bei den regulierten Truppen, welche Abteilung es auch sei, an die er sich angeschlossen, fest bleiben und keine Gefahr scheuen solle: denn was uns auch da betreffe, sei immer ehrenvoll; dahingegen bei der Bagage, beim Tross oder sonst zu verweilen, zugleich gefährlich und schmählich. Und so hatte ich auch mit den Offizieren des Regiments abgeredet, dass ich mich immer an sie und womöglich an die Leibschwadron anschließen wolle, weil ja dadurch ein so schönes und gutes Verhältnis nur immer besser befestigt werden könne. Der Weg war das kleine Wasser die Tourbe hinauf vorgezeichnet, durch das traurigste Tal von der Welt, zwischen niedrigen Hügeln, ohne Baum und Busch; es war befohlen und eingeschärft, in aller Stille zu marschieren, als wenn wir den Feind überfallen wollten, der doch in seiner Stellung das Heranrücken einer Masse von fünfzigtausend Mann wohl mochte erfahren haben. Die Nacht brach ein, weder Mond noch Sterne leuchteten am Himmel, es pfiff ein wüster Wind; die stille Bewegung einer so großen Menschenreihe in tiefer Finsternis war ein höchst Eigenes. Indem man neben der Kolonne herritt, begegnete man mehreren bekannten Offizieren, die hin und wider sprengten, um die Bewegung des Marsches bald zu beschleunigen, bald zu retardieren. Man besprach sich, man heilt still, man versammelte sich. So hatte sich ein Kreis von vielleicht zwölf Bekannten und Unbekannten zusammengefunden, man fragte, klagte, wundete sich, schalt und räsonierte: das gestörte Mittagessen konnte man dem Heerführer nicht verzeihen. Ein munterer Gast wünschte sich Bratwurst und Brot, ein anderer sprang gleich mit seinen Wünschen zum Rehbraten und Sardellensalat; da das alles aber unentgeltlich geschah, fehlte es auch nicht an Pasteten und sonstigen Leckebissen, nicht an den köstlichsten Weinen, und ein so vollkommnes Gastmahl war beisammen, dass endlich einer, dessen Appetit übermäßig rege geworden, die ganze Gesellschaft verwünschte und die Pein einer aufgeregten Einbildungskraft im Gegensatz des größten Mangels ganz unerträglich schalt. Man verlor sich auseinander, und der einzelne war nicht besser dran als alle zusammen. Den 19. September nachts. So gelangten wir bis Somme Tourbe, wo man Halt machte; der König war in einem Gasthof abgetreten, vor dessen Türe der Herzog von Braunschweig in einer Art Laube Hauptquartier und Kanzlei errichtete. Der Platz war groß, es brannten mehrere Feuer, durch große Bündel Weinpfähle gar lebhaft unterhalten. Der Fürst Feldmarschall tadelte einige Mal persönlich, dass man die Flamme allzu stark auflodern lasse; wir besprachen uns darüber, und niemand wollte glauben, dass unsere Nähe den Franzosen ein Geheimnis geblieben sei. Ich war zu spät angekommen und mochte mich in der Nähe umsehen, wie ich wollte, alles war schon, wo nicht verzehrt, doch in Besitz genommen. Indem ich so umherforschte, gaben mir die Emigrierten ein kluges Küchenschauspiel: sie saßen um einen großen, runden, flachen, abglimmenden Aschenhaufen, in den sich mancher Weinstab knisternd mochte aufgelöst haben; klüglich und schnell hatten sie sich aller Eier des Dorfes bemächtigt, und es sah wirklich appetitlich aus, wie die Eier in dem Aschenhaufen nebeneinander aufrecht standen und eins nach dem andern zu rechter Zeit schlurfbar herausgehoben wurde. Ich kannte niemand vond en edlen Küchengesellen, unbekannt mocht' ich sie nicht ansprechen; als mir aber soeben ein lieber Bekannter begegnete, der so gut wie ich an Hunger und Durst litt, fiel mir eine Kriegslist ein, nach einer Bemerkung, die ich auf meiner kurzen militärischen Laufbahn anzustellen Gelegenheit gehabt. Ich hatte nämlich bemerkt, dass man beim Furagieren um die Dörfer und in denselben tölpisch geradezu verfahre: die ersten Andringenden fielen ein, nahmen weg, verdarben, zerstörten, die folgenden fanden immer weniger, und was verloren ging, kam niemand zugute. Ich hatte schon gedacht, dass man bei dieser Gelegenheit strategisch verfahren und, wenn die Menge von vorne hereindringe, sich von der Gegenseite nach einigem Bedürfnis umsehen müsse. Dies konnte nun hier kaum der Fall sein, denn alles war überschwemmt; aber das Dorf zog sich sehr in die Länge, und zwar seitwärts der Straße, wo wir hereingekommen. Ich forderte meinen Freund auf, die lange Gasse mit hinunterzugehen. Aus dem vorletzten Haus kam ein Soldat fluchend heraus, dass schon alles aufgezehrt und nirgends nichts mehr zu haben sei. Wir sahen durch die Fenster, da saßen ein paar Jäger ganz ruhig; wir gingen hinein, um wenigstens auf einer Bank unter Dach zu sitzen, wir begrüßten sie als Kameraden und klagten freilich über den allgemeinen Mangel. Nach einigem Hin- und Widerreden verlangten sie, wir sollten ihnen Verschwiegenheit geloben, worauf wir die Hand gaben. Nun eröffneten sie uns, dass sie in dem Haus einen schönen, wohl bestellten Keller gefunden, dessen Eingang sie zwar selbst sekretiert, uns jedoch von dem Vorrat einen Anteil nicht versagen wollten. Einer zog einen Schlüssel hervor, und nach verschiedenen weggeräumten Hindernissen fand sich eine Kellertüre zu eröffnen. Hinab gestiegen faden wir nun mehrere etwa zweieimerige Fässer auf dem Lager; was uns aber mehr interessierte, verschiedene Abteilungen in Sand gelegter gefüllter Flaschen, wo der gutmütige Kamerad, der sie schon durchprobiert hatte, an die beste Sorte wies. Ich nahm zwischen die ausgespreizten Finger jeder Hand zwei Flaschen, zog sie unter den Mantel, mein Freund desgleichen, und so schritten wir, in Hoffnung baldiger Erquickung, die Straße wieder hinaufwärts. Unmittelbar am großen Wachfeuer gewahrte ich eine schwere, starke Egge, setzte mich darauf und schob unter dem Mantel meine Flaschen zwischen die Zacken herein. Nach einiger Zeit bracht' ich eine Flasche hervor, wegen der mich meine Nachbarn beriefen, denen ich sogleich den Mitgenuss anbot. Sie taten gute Züge, der letzte bescheiden, da er wohl merkte, er lasse mir nur wenig zurück; ich verbarg die Flasche neben mir und brachte bald darauf die zweite hervor, trank den Freuden zu, die sich's abermals wohl schmecken ließen, anfangs das Wunder nicht bemerkten, bei der dritten Falsche jedoch laut über den Hexenmeister aufschrieen; und es war, in dieser traurigen Lage, ein auf alle Weise willkommener Scherz. Unter den vielen Personen, deren Gestalt und Gesicht im Kreis vom Feuer erleuchtet war, erblickt' ich einen ältlichen Mann, den ich zu kennen glaubte. Nach Erkundigung und Annäherung war er nicht wenig verwundert, mich hier zu sehen. Es war Marquis von Bombelles, dem ich vor zwei Jahren in Venedig, der Herzogin Amalie folgend, aufgewartet hatte, wo er, als französischer Gesandter residierend, sich höchst angelegen sein ließ, dieser trefflichen Fürstin den dortigen Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen. Wechselseitiger Verwunderungsausruf, Freude des Wiedersehens und Erinnerung erheiterten diesen ernsten Augenblick. Zur Sprache kam seien prächtige Wohnung am großen Kanal: es war gerühmt, wie wir daselbst, in Gondeln anfahrend, ehrenvoll empfangen und freundlich bewirtet worden; wie er durch kleine Feste, gerade im Geschmack und Sinn dieser, Natur und Kunst, Heiterkeit und Anstand in Verbindung liebenden Dame, sie und die Ihrigen auf vielfache Weise erfreut, auch sie durch seinen Einfluss manches andere, für Fremde sonst verschlossene Gute genießen lassen. Wie sehr war ich aber verwundert, da ich ihn, den ich durch eine wahrhafte Lobrede zu ergötzen gedachte, mit Wehmut ausrufen hörte: "Schweigen wir von diesen Dingen! Jene Zeit liegt nur gar zu weit hinter mir, und schon damals, als ich meine edlen Gäste mit scheinbarer Heiterkeit unterhielt, nagte mir der Wurm am Herzen: ich sah die Folgen voraus dessen, was in meinem Vaterland vorging. Ich bewunderte Ihre Sorglosigkeit, in der Sie auch die Ihnen bevorstehende Gefahr nicht ahnten; ich bereitete mich im Stillen zur Veränderung meines Zustandes. Bald nachher musst' ich meinen ehrenvollen Posten und das werte Venedig verlassen und eine Irrfahrt antreten, die mich endlich auch hierher geführt hat." Das Geheimnisvolle, das man diesem offenbaren Heranzug von Zeit zu Zeit hatte geben wollen, ließ uns vermuten, man werde noch in dieser Nacht aufbrechen und vorwärts gehen; allein schon dämmerte der Tag, und mit demselben strich ein Sprühregen daher, es war schon völlig hell, als wir uns in Bewegung setzten. Da des Herzogs von Weimar Regiment den Vortrab hatte, gab man der Leibschwadron, als der vordersten der ganzen Kolonne, Husaren mit, die den Weg unserer Bestimmung kennen sollten. Nun ging es, mitunter im scharfen Trab, über Felder und Hügel ohne Busch und Baum; nur in der Entfernung links sah man die Argonner Waldgegend; der Sprühregen schlug uns heftiger ins Gesicht; bald aber erblickten wir eine Pappelallee, die, sehr schön gewachsen und wohl unterhalten, unsere Richtung quer durchschnitt. Es war die Chaussee von Chalons auf Sainte Menehould, der Weg von Paris nach Deutschland; man führte uns drüber weg und ins Graue hinein. Schon früher hatten wir den Feind vor der waldichten Gegend gelagert und aufmarschiert gesehen, nicht weniger ließ sich bemerken, dass neue Truppen ankamen: es war Kellermann, der sich soeben mit Dumouriez vereinigte, um dessen linken Flügel zu bilden. Die Unsrigen brannten vor Begierde, auf die Franzosen loszugehen, Offiziere wie Gemeine hegten den Glühenden Wunsch, der Feldherr möge in diesem Augenblick angreifen; auch unser heftiges Vordringen schien darauf hinzudeuten. Aber Kellermann hatte sich zu vorteilhaft gestellt, und nun begann die Kanonade, von der man viel erzählt, deren augenblickliche Gewaltsamkeit jedoch man nicht beschreiben, nicht einmal in der Einbildungskraft zurückrufen kann. Schon lag die Chaussee weit hinter uns, wir stürmten immerfort gegen Westen zu, als auf einmal ein Adjutant gesprengt kam, der uns zurück beordete: man hatte uns zu weit geführt, und nun erhielten wir den Befehl, wieder über die Chaussee zurückzukehren und unmittelbar an ihre linke Seite den rechten Flügel zu lehnen. Es geschah, und so machten wir Front gegen das Vorwerk La Lune, welches auf der Höhe, etwa eine Viertelstunde vor uns, an der Chaussee zu sehen war. Unser Befehlshaber kam uns entgegen; er hatte soeben eine halbe reitende Batterie hinaufgebracht, wir erhielten Order, im Schutz derselben vorwärts zu gehen, und fanden unterwegs einen alten Schirrmeister, ausgestreckt, als das erste Opfer des Tags, auf dem Acker liegen. Wir ritten ganz getrost weiter, wir sahen das Vorwerk näher, die dabei aufgestellte Batterie feuerte tüchtig. Bald aber fanden wir uns in einer seltsamen Lage: Kanonenkugeln flogen wild auf uns ein, ohne dass wir begriffen, wo sie herkommen konnten; wir avancierten ja hinter einer befreundeten Batterie, und das feindliche Geschütz auf den entgegen gesetzten Hügeln war viel zu weit entfernt, als dass es uns hätte erreichen sollen. Ich hielt seitwärts vor der Front und hatte den wunderbarsten Anblick: die Kugeln schlugen dutzendweise vor der Eskadron nieder, zum Glück nicht rikoschettierend, in den weichen Boden hineingewühlt; Kot aber und Schmutz bespritze Mann und Ross; die schwarzen Pferde, von tüchtigen Reitern möglichst zusammengehalten, schnauften und tosten, die ganze Masse war, ohne sich zu trennen oder zu verwirren, in flutender Bewegung. Ein sonderbarer Anblick erinnerte mich an andere Zeiten. In dem ersten Glied der Eskadron schwankte die Standarte in den Händen eines schönen Knaben hin und wider; er hielt sie fest, ward aber vom aufgeregten Pferd widerwärtig geschaukelt, sein anmutiges Gesicht brachte mir, seltsam genug, aber natürlich, in diesem schauerlichen Augenblick die noch anmutigere Mutter vor die Augen, und ich musste an die ihr zur Seite verbrachten friedlichen Momente gedenken. Endlich kam der Befehl, zurück- und hinab zu gehen; es geschah von den sämtlichen Kavallerie-Regimentern mit großer Ordnung und Gelassenheit, nur ein einziges Pferd von Lottum ward getötet, da wir übrigen, besonders auf dem äußersten rechten Flügel, eigentlich alle hätten umkommen müssen. Nachdem wir uns denn aus dem unbegreiflichen Feuer zurückgezogen, von Überraschung und erstaunen uns erholt hatten, löste sich das Rätsel: wir fanden die halbe Batterie, unter deren Schutz wir vorwärts zu gehen geglaubt, ganz unten in einer Vertiefung, dergleichen das Terrain zufällig in dieser Gegend gar manche bildete. Sie war von oben vertrieben worden und an der andern Seite der Chaussee in einer Schlucht heruntergegangen, so dass wir ihren Rückzug nicht bemerken konnten; feindliches Geschütz trat an die Stelle, und was uns hätte bewahren sollen, wäre beinahe verderblich geworden. Auf unseren Tadel lachten die Burschen nur und versicherten scherzend, hier unter im Schauer sei es doch besser. Wenn man aber nachher mit Augen sah, wie eine solche reitende Batterie sich durch die schreckbaren, schlammigen Hügel qualvoll durchzerren musste, so hatte man abermals den bedenklichen Zustand zu überlegen, in den wir uns eingelassen hatten. Indessen dauerte die Kanonade immer fort: Kellermann hatte einen gefährlichen Posten bei der Mühle von Valmy, dem eigentlich das Feuern galt; dort ging ein Pulverwagen in die Luft, und man freute sich des Unheils, das er unter den Feinden angerichtet haben mochte. Und so bleib alles eigentlich nur Zuschauer und Zuhörer, was im Feuer stand und nicht. Wir hielten auf der Chaussee von Cahlons an einem Wegweiser, der nach Paris deutete. Diese Hauptstadt also hatten wir im Rücken, das französische Heer aber zwischen uns und dem Vaterland. Stärkere Riegel waren vielleicht nie vorgeschoben, demjenigen höchst apprehensiv, der eine genaue Karte des Kriegstheaters nun seit vier Wochen unablässig studierte. Doch das augenblickliche Bedürfnis behauptet sein Recht selbst gegen das Nächstkünftige. Unsere Husaren hatten mehrere Brotkarren, die von Chalons nach der Armee gehen sollten, glücklich aufgefangen und brachten sie den Hochweg daher. Wie es uns nun fremd vorkommen musste, zwischen Paris und Sainte Menehould postiert zu sein, so konnten die zu Chalons des Feindes Armee keineswegs auf dem Weg zu der ihrigen vermuten. Gegen einiges Trinkgeld ließen die Husaren von dem Brot etwas ab, es war das schönste weiße: der Franzos erschrickt vor jeder schwarzen Krume. Ich teilte mehr als einen Laib unter die zunächst Angehörigen, mit der Bedingung, mir für die folgenden Tage einen Anteil daran zu verwahren. Auch noch zu einer andern Vorsicht fand ich Gelegenheit: ein Jäger aus dem Gefolge hatte gleichfalls diesen Husaren eine tüchtige wollene Decke abgehandelt; ich bot ihm die Übereinkunft an, mir sie auf drei Nächte, jede Nacht für acht Groschen, zu überlassen, wogegen er sie am Tage verwahren sollte. Er hielt dieses Bedingnis für sehr vorteilhaft: die Decke hatte ihm einen Gulden gekostet, und nach kurzer Zeit erhielt er sie mit Profit ja wieder. Ich aber konnte auch zufrieden sein: mein köstlichen wollenen Hüllen von Longwy waren mit der Bagage zurückgeblieben, und nun hatte ich doch bei allem Mangel von Dach und Fach außer meinem Mantel noch einen zweiten Schutz gewonnen. Alles dieses ging unter anhaltender Begleitung des Kanonendonners vor. Von jeder Seite wurden an diesem Tag zehntausend Schüsse verwendet, wobei auf unserer Seite nur zweihundert Mann und auch diese ganz unnütz fielen. Von der ungeheuren Erschütterung klärte sich der Himmel auf: denn man schoss mit Kanonen, völlig als wär' es Pelotonfeuer, zwar ungleich, bald abnehmend, bald zunehmend. Nachmittags ein Uhr, nach einiger Pause, war es am gewaltsamsten, die Erde bebte im ganz eigentlichsten Sinn, und doch sah man in den Stellungen nicht die mindeste Veränderung. Niemand wusste, was daraus werden sollte. Ich hatte so viel vom Kanonenfieber gehört und wünschte zu wissen, wie es eigentlich damit beschaffen sei. Langeweile und ein Geist, den jede Gefahr zur Kühnheit, ja zur Verwegenheit aufruft, verleitete mich, ganz gelassen nach dem Vorwerk La Lune hinauf zu reiten. Dieses war wieder von den Unsrigen besetzt, gewährte jedoch einen gar wilden Anblick: die zerschossenen Dächer, die herum gestreuten Weizenbündel, die darauf hie und da ausgestreckten tödlich Verwundeten, und dazwischen noch manchmal eine Kanonenkugel, die, sich herüber verirrend, in den Überresten der Ziegeldächer klapperte. Ganz allein, mir selbst gelassen, ritt ich links auf den Höhen weg und konnte deutlich die glückliche Stellung der Franzosen überschauen; sie standen amphitheatralisch in größter Ruh' und Sicherheit, Kellermann jedoch auf dem linken Flügel eher zu erreichen. Mir begegnete gute Gesellschaft: es waren bekannte Offiziere vom Generalstab und vom Regiment, höchst verwundert, mich hier zu finden. Sie wollten mich wieder mit sich zurücknehmen, ich sprach ihnen aber von besonderen Absichten, und sie überließen mich ohne weiteres meinem bekannten, wunderlichen Eigensinn. Ich war nun vollkommen in die Region gelangt, wo die Kugeln herüber spielten; der Ton ist wundersam genug, als wär' er zusammengesetzt aus dem Brummend es Kreisels, dem Butteln des Wassers und dem Pfeifen eines Vogels. Sie waren weniger gefährlich wegen des feuchten Erdbodens: wo eine hinschlug, blieb sie stecken, und so ward mein törichter Versuchsritt wenigstens vor der Gefahr des Rikoschettierens gesichert. Unter diesen Umständen konnt' ich jedoch bald bemerken, dass etwas Ungewöhnliches in mir vorgehe; ich achtete genau darauf, und doch würde sich die Empfindung nur gleichnisweise mitteilen lassen. Es schien, als wäre man an einem sehr heißen Ort und zugleich von derselben Hitze völlig durchdrungen, so dass man sich mit demselben Element, in welchem man sich befindet, vollkommen glich fühlt. Die Augen verlieren nichts an ihrer Stärke noch Deutlichkeit; aber es ist doch, als wenn die Welt einen gewissen braunrötlichen Ton hätte, der den Zustand so wie die Gegenstände noch apprehensiver macht. Von Bewegung des Blutes habe ich nichts bemerken können, sondern mir schien vielmehr alles in jener Glut verschlungen zu sein. Hieraus erhellt nun, in welchem Sinn man diesen Zustand ein Fieber nennen könne. Bemerkenswert bleibt es indessen, dass jenes grässlich Bängliche nur durch die Ohren zu uns gebracht wird; denn der Kanonendonner, das Heulen, Pfeifen, Schmettern der Kugeln durch die Luft ist doch eigentlich Ursache an diesen Empfindungen. Als ich zurück geritten und völlig in Sicherheit war, fand ich bemerkenswert, dass alle jene Glut sogleich erloschen und nicht das Mindeste von einer fieberhaften Bewegung übrig geblieben sei. Es gehört übrigens dieser Zustand unter die am wenigsten wünschenswerten; wie ich denn auch unter meinen leiben und edlen Kriegskameraden kaum einen gefunden habe, der einen eigentlich leidenschaftlichen Trieb hiernach geäußert hätte. So war der Tag hingegangen; unbeweglich standen die Franzosen, Kellermann hatte auch einen bequemern Platz genommen; unsere Leute zog man aus dem Feuer zurück, und es war eben, als wenn nichts gewesen wäre. Die größte Bestürzung verbreitete sich über die Armee. Noch am Morgen hatte man nicht anders gedacht, als die sämtlichen Franzosen anzuspießen und aufzuspeisen, ja mich selbst hatte das unbedingte Vertrauen auf ein solches Heer, auf den Herzog von Braunschweig zur Teilnahme an dieser gefährlichen Expedition gelockt; nun aber ging jeder vor sich hin, man sah sich nicht an, oder wenn es geschah, so war es, um zu flucehn oder zu verwünschen. Wir hatten, eben als es Nacht werden wollte, zufällig einen Kreis geschlossen, in dessen Mitte nicht einmal wie gewöhnlich ein Feuer konnte angezündet werden; die meisten schwiegen, einige sprachen, und es fehlte doch eigentlich einem jeden Besinnung und Urteil. Endlich rief man mich auf, was ich dazu denke? Denn ich hatte die Schar gewöhnlich mit kurzen Sprüchen erheitert und erquickt; diesmal sagte ich: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." In diesem Augenblick, wo niemand nichts zu essen hatte, reklamierte ich einen Bissen Bort von dem heute früh erworbenen; auch war von dem gestern reichlich verspendeten Wein noch der Inhalt eines Branntweinfläschchens übrig geblieben, und ich musste daher auf die gestern am Feuer so kühn gespielte Rolle des willkommenen Wundertäters völlig Verzicht tun. Die Kanonade hatte kaum aufgehört, als Regen und Sturm schon wieder eindrangen und einen zustand unter freiem Himmel, auf zähem Lehmboden höchst unerfreulich machten. Und doch kam, nach so langem Wachen, Gemüts- und Leibesbewegung, der Schlaf sich anmeldend, als die Nacht hereindüsterte. Wir hatten uns hinter einer Erhöhung, die den schneidenden Wind abhielt, notdürftig gelagert, als es jemanden einfiel, man solle sich für dies Nacht in die Erde graben und mit dem Mantel zudecken. Hierzu machte man gleich Anstalt, und es wurden mehrere Gräber ausgehauen, wozu die reitende Artillerie Gerätschaften hergab. Der Herzog von Weimar selbst verschmähte nicht eine solche voreilige Bestattung. Hier verlangt' ich nun gegen Erlegung von acht Groschen die bewusste Decke, wickelte mich darein und breitete den Mantel noch oben drüber, ohne von dessen Feuchtigkeit viel zu empfinden. Ulyß kann unter seinem auf ähnliche Weise erworbenen Mantel nicht mit mehr Behaglichkeit und Selbstgenügen geruht haben. Alle diese Bereitungen warn wider den Willen des Obersten geschehen, welcher uns bemerken machte, dass auf einem Hügel gegenüber hinter einem Busch die Franzosen eine Batterie stehen hatten, mit der sie uns im Ernst begraben und nach Belieben vernichten konnten. Allein wir mochten den windstillen Ort und unsere weislich ersonnene Bequemlichkeit nicht aufgeben, und es war dies nicht das letzte Mal, wo ich bemerkte, dass man, um der Unbequemlichkeit auszuweichen, die Gefahr nicht scheue. Den 21. September waren die wechselseitigen Grüße der Erwachenden keineswegs heiter und froh, denn man ward sich in einer beschämenden, hoffnungslosen Lage gewahr. Am Rand eines ungeheuren Amphitheaters fanden wir uns aufgestellt, wo jenseits auf Höhen, deren Fuß durch Flüsse, Teiche, Bäche, Moräste gesichert war, der Feind einen kaum übersehbaren Halbzirkel bildete. Diesseits standen wir, völlig wie gestern, um zehntausend Kanonenkugeln leichter, aber ebenso wenig situiert zum Angriff; man blickte in eine weit ausgebreitete Arena hinunter, wo sich zwischen Dorfhütten und Gräten die beiderseitigen Husaren herumtrieben und mit Spiegelgefecht bald vor-, bald rückwärts, eine Stunde nach der andern, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu fesseln wussten. Aber aus all dem Hin- und Hersprengen, dem Hin- und Widerpuffen ergab sich zuletzt kein Resultat, als dass einer der Unsrigen, der sich zu kühn zwischen die Hecken gewagt hatte, umzingelt und, da er sich keineswegs ergeben wollte, erschossen wurde. Dies war das einzige Opfer der Waffen an diesem Tag; aber die eingerissene Krankheit machte den unbequemen, drückenden, hilflosen Zustand trauriger und fürchterlicher. So schlaglustig und fertig man gestern auch gewesen, gestand man doch, dass ein Waffenstillstand wünschenswert sei, da selbst der Mutigste, Leidenschaftlichste nach weniger Überlegung sagen musste: ein Angriff würde das verwegenste Unternehmen von der Welt sein. Noch schwankten die Meinungen den Tag über, wo man ehrenthalben dieselbe Stellung behauptete, wie beim Augenblick der Kanonade; gegen Abend jedoch veränderte man sie einigermaßen, zuletzt war das Hauptquartier nach Hans gelegt und die Bagage herbeigekommen. Nun hatten wir zu vernehmen die Angst, die Gefahr, den nahen Untergang unserer Dienerschaft und Habseligkeiten. Das Waldgebirg' Argonne von Sainte Menehould bis Grandpré war von Franzosen besetzt; von dort aus führten ihre Husaren den kühnsten, mutwilligsten, kleinen Krieg. Wir hatten gestern vernommen, dass ein Sekretär des Herzogs von Braunschweig und einige andere Personen der fürstlichen Umgebung zwischen der Armee und der Wagenburg waren gefangen worden. Diese verdiente aber keineswegs den Namen einer Burg, denn sie war schlecht aufgestellt, nicht geschlossen, nicht genugsam eskortiert. Nun beängstete sie ein blinder Lärm nach dem andern und zugleich die Kanonade in geringer Entfernung. Späterhin trug man sich mit der Fabel oder Wahrheit, die französischen Truppen seien schon den Gebirgswald herab auf dem Weg gewesen, sich der sämtlichen Equipage zu bemächtigen; da gab sich denn der von ihnen gefangene und wieder losgelassene Läufer des General Kalckreuth ein großes Ansehen, indem er versicherte, er habe durch glückliche Lügen von starker Bedeckung, von reitenden Batterien und dergleichen einen feindlichen Anfall abgewendet. Wohl möglich! Wer hat nicht in solchen bedeutenden Augenblicken zu tun oder getan? Nun waren die Zelte da, Wagen und Pferde; aber Nahrung für kein Lebendiges. Mitten im Regen ermangelten wir sogar des Wassers, und einige Teiche waren schon durch eingesunkene Pferde verunreinigt: das alles zusammen bildete den schrecklichsten Zustand. Ich wusste nicht, was es heißen sollte, al sich meinen treuen Zögling, Diener und Gefährten Paul Götze von dem Leder des Reisewagens das zusammengeflossene Regenwasser sehr emsig schöpfen sah; er bekannte, dass es zur Schokolade bestimmt sei, davon er glücklicherweise einen Vorrat mitgebracht hatte; ja was mehr ist, ich habe aus den Fußstapfen der Pferde schöpfen sehen, um einen unerträglichen Durst zu stillen. Man kaufte das Brot von alten Soldaten, die, an Entbehrung gewöhnt, etwas zusammensparten, um sich am Branntwein zu erquicken, wenn derselbe wieder zu haben wäre. Am 22. September hörte man, die Generale Manstein und Heymann seien nach Dampiere in das Hauptquartier von Kellermann, wo sich auch Dumouriez einfinden sollte. Es war von Auswechseln der Gefangnen, von Versorgung der Kranken und Blessierten zum Schein die Rede; im Ganzen hoffte man aber mitten im Unglück eine Umkehr der Dinge zu bewirken. Seit dem 10. August war der König von Frankreich gefangen, grenzenlose Mordtaten waren im September geschehen. Man wusste, dass Dumouriez für den König und die Konstitution gesinnt gewesen; er musste also seines eignen Heils, seiner Sicherheit willen die gegenwärtigen Zustände bekämpfen, und eine große Begebenheit wäre es geworden, wenn er sich mit den Alliierten alliiert und so auf Paris losgegangen wäre. Seit der Ankunft der Equipage fand sich die Umgebung des Herzogs von Weimar um vieles gebessert, denn man musste dem Kämmerier, dem Koch und andern Hausbeamten das Zeugnis geben, dass sie niemals ohne Vorrat gewesen und selbst in dem größten Mangel immer für etwas warme Speise gesorgt. Hierdurch erquickt, ritt ich umher, mich mit der Gegend nur einigermaßen bekannt zu machen, ganz ohne Furcht: diese flachen Hügel hatten keinen Charakter, kein Gegenstand zeichnete sich vor andern aus. Mich doch zu orientieren, forscht' ich nach der langen und hoch aufgewachsenen Pappelallee, die gestern so auffallend gewesen war, und da ich sie nicht entdecken konnte, glaubt' ich mich weit verirrt, allein bei näherer Aufmerksamkeit fand ich, dass sie niedergehauen, weggeschleppt und wohl schon verbrannt sei. An den Stellen, wo die Kanonade hingewirkt, erblickte man großen Jammer: die Menschen lagen unbegraben, und die schwer verwundeten Tiere konnten nicht ersterben. Ich sah ein Pferd, das sich in seinen eigenen, aus dem verwundeten Leibe heraus gefallenen Eingeweiden mit den Vorderfüßen verfangen hatte und so unselig dahinhinkte. Im Nachhausereiten traf ich den Prinzen Louis Ferdinand im freien Feld auf einem hölzernen Stuhl sitzen, den man aus einem untern Dorf heraufgeschafft; zugleich schleppten einige seiner Leute einen schweren, verschlossenen Küchenschrank herbei: sie versicherten, es klappere darin, sie hofften, einen guten Fang getan zu haben. Man erbrach ihn begierig, fand aber nur ein stark beleibtes Kochbuch, und nun, indessen der gespaltene Schrank im Feuer aufloderte, las man die köstlichsten Küchenrezepte vor, und so ward abermals Hunger und Begierde durch eine aufgeregte Einbildungskraft bis zur Verzweiflung gesteigert. Den 24. September. Erheitert einigermaßen wurde das schlimmste Wetter von der Welt durch die Nachricht, dass ein Stillstand geschlossen sei und dass man also wenigstens die Aussicht habe, mit einiger Gemütsruhe leiden und darben zu können; aber auch dieses gedieh nur zum halben Trost, da man bald vernahm, es sei eigentlich nur eine Übereinkunft, dass die Vorposten Friede halten sollten, wobei nicht unbenommen bleibe, die Kriegsoperationen außer dieser Berührung nach Gutdünken fortzusetzen. Dieses war ihre Stellung verändern und uns besser einschließen konnten, wir aber in der Mitte mussten still halten und in unserem stockenden Zustand verweilen. Die Vorposten aber ergriffen diese Erlaubnis mit Vergnügen. Zuerst kamen sie überein, dass, welchem von beiden Teilen Wind und Wetter ins Gesicht schlage, der solle das Recht haben, sich umzukehren und, in seinen Mantel gewickelt, von dem Gegenteil nichts befürchten. Es kam weiter: die Franzosen hatten immer noch etwas Weniges zur Nahrung, indes den Deutschen alles abging; jene teilten daher einiges mit, und man ward immer kameradlicher. Endlich wurden sogar mit Freundlichkeit von französischer Seite Druckblätter ausgeteilt, wodurch den guten Deutschen das Heil der Freiheit und Gleichheit in zwei Sprachen verkündet war; die Franzosen ahmten das Manifest des Herzogs von Braunschweig in umgekehrtem Sinn nach, entboten guten Willen und Gastfreundschaft, und ob sich schon bei ihnen mehr Volk, als sie von oben herein regieren konnten, auf die Beine gemacht hatte, so geschah dieser Aufruf, wenigstens in diesem Augenblick, mehr, um den Gegenteil zu schwächen als sich selbst zu stärken. Zum 24. September. Als Leidensgenossen bedauerte ich auch in dieser Zeit zwei hübsche Knaben von vierzehn bis fünfzehn Jahren. Sie hatten, als Requirierte, mit vier schwachen Pferden meine leichte Chaise bis hierher kaum durchgeschleppt und litten stille, mehr für ihre Tiere als für sich; doch war ihnen so wenig als uns allen zu helfen. Da sie um meinetwillen jedes Unheil ausstanden, fühlte ich mich zu irgendeiner Pietät gedrungen und wollte jenes erhandelte Kommissbrot redlich mit ihnen teilen; allein sie lehnten es ab und versicherten, dergleichen könnten sie nicht essen, und als ich fragte, "was sie denn gewöhnlich genössen?" versetzten sie: "Du bon pain, de la bonne soupe, de la bonne viande, de la bonne bière." Da nun bei ihnen alles gut und bei uns alles schlimm war, verzieh ich ihnen gern, dass sie mit Zurücklassung ihrer Pferde sich bald darauf davonmachten. Sie hatten übrigens manches Unheil ausgestanden, ich glaube aber, dass eigentlich das dargebotene Kommissbrot sie zu dem letzten entscheidenden Schritt, als ein furchtbares Gespenst, bewogen habe. Weiß und schwarz Brot ist eigentlich das Schibboleth, das Feldgeschrei zwischen Deutschen und Franzosen. Eine Bemerkung darf ich hier nicht unberührt lassen: wir kamen freilich zur ungünstigsten Jahrszeit in ein von der Natur nicht gesegnetes Land, das aber denn doch seine wenigen, arbeitsamen, ordnungsliebenden, genügsamen Einwohner allenfalls ernährt. Reichere und vornehmere Gegenden mögen eine solche freilich geringschätzig behandeln; ich aber habe keineswegs Ungeziefer und Bettelherbergen dort angetroffen. Von Mauerwerk gebaut, mit Ziegeln gedeckt sind die Häuser, und überall hinreichende Tätigkeit. Auch ist die eigentlich schlimme Landstrecke höchstens vier bis sechs Stunden breit und hat, sowohl an dem Argonner Waldgebirge her als gegen Reims und Chalons zu, schon wieder günstigere Gelegenheit. Kinder, die man in dem ersten besten Dorfe aufgegriffen hatte, sprachen mit Zufriedenheit von ihrer Nahrung, und ich durfte mich nur des Kellers zu Somme Tourbe und des weißen Brotes, das uns ganz frisch von Chalons her in die Hände gefallen war, erinnern, so schien es doch, als ob in Friedenszeiten hier nicht gerade Hunger und Ungeziefer zu Hause sein müsse. Den 25. September. Dass während des Stillstandes die Franzosen von ihrer Seite tätig sein würden, konnte man vermuten und erfahren. Sie suchten die verlorne Kommunikation mit Chalons wieder herzustellen und die Emigrierten in unserm Rücken zu verdrängen oder vielmehr an uns heranzudrängen; doch augenblicklich ward für uns das Schädlichste, dass sie, sowohl vom Argonner Waldgebirge als von Sedan und Montmedy her, uns die Zufuhr erschweren, wo nicht völlig vernichten konnten. Den 26. September. Da man mich als auf mancherlei aufmerksam kannte, so brachte man alles, was irgend sonderbar scheinen mochte, herbei; unter andern legte man mir eine Kanonenkugel vor, ungefähr vierpfündig zu achten, doch war das Wunderliche daran, sie auf ihrer ganzen Oberfläche in kristallisierten Pyramiden endigen zu sehen. Kugeln waren jenes Tags genug verschossen worden, dass sich eine gar wohl hierüber konnte verloren haben. Ich erdachte mir allerlei Hypothesen, wie das Metall beim Guss oder nachher sich zu dieser Gestalt bestimmt hätte; durch einen Zufall ward ich hierüber aufgeklärt. Nach einer kurzen Abwesenheit wieder in mein Zelt zurückkehrend, fragte ich nach der Kugel; sie wollte sich nicht finden. Als ich darauf bestand, beichtete man: sie sei, nachdem man allerlei an ihr probiert, zersprungen. Ich forderte die Stücke und fand zu meiner großen Verwunderung eine Kristallisation, die, von der Mitte ausgehend, sich strahlig gegen die Oberfläche erweitete. Es war Schwefelkies, der sich in einer freien Lage ringsum musste gebildet haben. Diese Entdeckung führte weiter, dergleichen Schwefelkiese fanden sich mehr, obschon kleiner, in Kugel- und Nierenform, auch in andern weniger regelmäßigen Gestalten, durchaus aber darin gleich, dass sie nirgends angesessen hatten und dass ihre Kristallisation sich immer auf eine gewisse Mitte bezog; auch waren sie nicht abgerundet, sondern völlig frisch und deutlich kristallinisch abgeschlossen. Sollten sie sich wohl in dem Boden selbst erzeugt haben, und findet man dergleichen mehr auf Ackerfeldern? Aber ich nicht allein war auf die Mineralien der Gegend aufmerksam; die schöne Kreide, die sich überall vorfand, schien durchaus von einigem Wert. Es ist wahr, der Soldat durfte nur ein Kochloch aufhauen, so traf er auf die klarste weiße Kreide, die er zu seinem blanken und glatten Putz sonst so nötig hatte. Da ging wirklich ein Armeebefehl aus: der Soldat solle sich mit dieser hier umsonst zu habenden notwendigen Ware soviel als möglich versehen. Dies gab nun freilich zu einigem Spott Gelegenheit: mitten in den furchtbarsten Kot versenkt, sollte man sich mit Reinlichkeits- und Putzmitteln beladen; wo man nach Brot seufzte, sich mit Staub zufrieden stellen. Auch stutzten die Offiziere nicht wenig, als sie im Hauptquartier übel angelassen wurden, weil sie nicht so reinlich, so zierlich wie auf der Parade zu Berlin oder Potsdam erschienen. Die Oberen konnten nicht helfen; so sollten sie, meinte man, auch nicht schelten. Den 27. September. Eine etwas wunderliche Vorsichtsmaßregel, dem dringenden Hunger zu begegnen, ward gleichfalls bei der Armee publiziert: man solle die vorhandenen Gerstengarben so gut als möglich ausklopfen, die gewonnenen Körner in heißem Wasser so lange sieden, bis sie aufplatzen, und durch diese Speise die Befriedigung des Hungers versuchen. Unserer nächsten Umgebung war jedoch eine bessere Beihilfe zugedacht. Man sah in der Ferne zwei Wagen festgefahren, denen man, weil sie Proviant und andere Bedürfnisse geladen hatten, gern zu Hilfe kam. Stallmeister von Seebach schickte sogleich Pferde dorthin; man brachte sie los, führte sie aber auch sogleich des Herzogs Regiment zu; sie protestierten dagegen, als zur österreichischen Armee bestimmt, wohin auch wirklich ihre Pässe lauteten. Allein man hatte sich einmal ihrer angenommen; um den Zudrang zu verhüten und sie zugleich festzuhalten, gab man ihnen Wache, und da sie auch von uns bezahlt erhielten, was sie forderten, so mussten sie auch bei uns ihre eigentliche Bestimmung finden. Eilig drängten sich zu allererst die Haushofmeister, Köche und ihre Gehilfen herbei, nahmen von der Butter in Fässchen, von Schinken und andern guten Dingen Besitz. Der Zulauf vermehrte sich, die größere Menge schrie nach Tabak, der denn auch um teuren Preis häufig ausgegeben wurde. Die Wagen aber waren so umringt, dass sich zuletzt niemand mehr nähern konnte; deswegen mich unsere Leute und Reiter anriefen und auf das dringendste baten, ihnen zu diesem notwendigsten aller Bedürfnisse zu verhelfen. Ich ließ mir durch Soldaten Platz machen und erstieg sogleich, um mich nicht im Gedränge zu verwirren, den nächsten Wagen; dort bepackte ich mich für gutes Geld mit Tabak, was nur meine Taschen fassen wollten, und ward, als ich wieder herab und spendend ins Freie gelangte, für den größten Wohltäter gepriesen, der sich jemals der leidenden Menschheit erbarmt hatte. Auch Branntwein war angelangt; man versah sich damit und bezahlte die Bouteille gern mit einem Laubtaler. Den 27. September. Sowohl im Hauptquartiere selbst, wohin man zuweilen gelanget, als bei allen denen, die von dort herkamen, erkundigte man sich nach der Lage der Dinge: sie konnte nicht bedenklicher sein. Von dem Unheil, das in Paris vorgegangen, verlautete immer mehr und mehr, und was man anfangs für Fabeln gehalten, erschien zuletzt als Wahrheit überschwänglich furchtbar. König und Familie waren gefangen, die Absetzung dessen schon zur Sprache gekommen; der Hass des Königtums überhaupt gewann immer mehr Breite, ja schon konnte man erwarten, dass gegen den unglücklichen Monarchen ein Prozess würde eingeleitet werden. Unsere unmittelbaren kriegerischen Gegner hatten sich eine Kommunikation mit Chalons wieder eröffnet, dort befand sich Luckner, der die von Paris anströmenden Freiwilligen zu Kriegshaufen bilden sollte; aber diese, in den grässlichen ersten Septembertagen, durch die reißend fließenden Blutströme, aus der Hauptstadt ausgewandert, brachten Lust zum Morden und Rauben mehr als zu reinem rechtlichen Kriege mit. Nach dem Beispiel des Pariser Gräuelvolks ersahen sie sich willkürliche Schlachtopfer, um ihnen, wie sich's fände, Autorität, Besitz oder wohl gar das Leben zu rauben. Man durfte sie nur undiszipliniert loslassen, so machten sie uns den Garaus. Die Emigrierten waren an uns herangedrückt worden, und man erzählte noch von gar manchem Unheil, das im Rücken und von der Seite bedrohte. In der Gegend von Reims sollten sich zwanzigtausend Bauern zusammengerottet haben, mit Feldgerät und wild ergriffenen Naturwaffen versehen; die Sorge war gorß, auch diese möchten auf uns losbrechen. Von solchen Dingen ward am Abend in der Herzogs Zelt, in Gegenwart von bedeutenden Kriegsobristen, gesprochen; jeder brachte seine Nachricht, seine Vermutung, seine Sorge als Beitrag in diesen ratlosen rat, denn es schien durchaus nur ein Wunder uns retten zu können. Ich aber dachte in diesem Augenblick, dass wir gewöhnlich in misslichen Zuständen uns gern mit hohen Personen vergleichen, besonders mit solchen, denen es noch schlimmer gegangen; da fühlt' ich mich getrieben, wo nicht zur Erheiterung doch zur Ableitung, aus der Geschichte Ludwigs des Heiligen die drangvollsten Begebenheiten zu erzählen. Der König, auf seinem Kreuzzuge, will zuerst den Sultan von Ägypten demütigen, denn von diesem hängt gegenwärtig das gelobte Land ab. Damiette fällt ohne Belagerung den Christen in die Hände. Angefeuert von seinem Bruder Graf Artois, unternimmt der König einen Zug das rechte Nilufer hinauf, nach Babylon-Kairo. Es glückt, einen graben auszufüllen, der Wasser vom Nil empfängt. Die Armee zeiht hinüber. Aber nun findet sie sich geklemmt zwischen dem Nil, dessen Haupt- und Nebenkanälen; dagegen die Sarazenen auf beiden Ufern des Flusses glücklich postiert sind. Über die größeren Wasserleitungen zu setzen wird schwierig. Man baut Blockhäuser gegen die Blockhäuser der Feinde; diese aber haben den Vorteil des griechischen Feuers. Sie beschädigen damit die hölzernen Bollwerke, Bauten und Menschen. Was hilft den Christen ihre entschiedene Schlachtordnung, immerfort von den Sarazenen gereizt, geneckt, angegriffen, teilweise in Scharmützel verwickelt. Einzelne Wagnisse, Faustkämpfe sind bedeutend, Herz erhebend, aber die Helden, der König selbst wird abgeschnitten. Zwar brechen die Tapfersten durch, aber die Verwirrung wächst. Der Graf von Artois ist in Gefahr; zu dessen Rettung wagt der König alles. Der Bruder ist schon tot, das Unheil steigt aufs Äußerste. An diesem heißen Tag kommt alles darauf an, eine Brücke über ein Seitenwasser zu verteidigen, um die Sarazenen vom Rücken des Hauptgefechtes abzuhalten. Den wenigen da postierten Kriegsleuten wird auf alle Weise zugesetzt, mit Geschütz von den Soldaten, mit Steinen und Kot durch Trossbuben. Mitten in diesem Unheil spricht der Graf von Soissons zum Ritter Joinville scherzend: "Seneschall, lasst das Hundepack bellen und blöken; bei Gottesthron!" -- so pflegte er zu schwören -- "von diesem Tag sprechen wir noch im Zimmer vor den Damen." Man lächelte, nahm das Omen gut auf, besprach sich über mögliche Fälle, besonders hob man die Ursachen hervor, warum die Franzosen uns eher schonen als verderben müssten: der lange ungetrübte Stillstand, das bisherige zurückhaltende Betragen gaben einige Hoffnung. Diese zu beleben, wagte ich noch einen historischen Vortrag und erinnerte mit Vorzeigung der Spezialkarten, dass zwei Meilen von uns nach Westen das berüchtigte Teufelsfeld gelegen sei, bis wohin Attila, König der Hunnen, mit seinen ungeheuren Heerhaufen im Jahr 452 gelangt, dort aber von den burgundischen Fürsten unter Beistand des römischen Feldherrn Aëtius geschlagen worden; dass, hätten sie ihren Sieg verfolgt, er in Person und mit allen seinen Leuten umgekommen und vertilgt worden wäre. Der römische General aber, der die Burgunder Fürsten nicht von aller Furcht vor diesem gewaltigen Feind zu befreien gedachte, weil er sie alsdann sogleich gegen die Römer gewendet gesehen hätte, beredete einen nach dem andern, nach Hause zu ziehen; und so entkam denn auch der Hunnenkönig mit den Überresten eines unzählbaren Volkes. In eben dem Augenblick ward die Nachricht gebracht, der erwartete Brottransport von Grandpré sei angekommen; auch dies belebte doppelt und dreifach die Geister: man schied getrösteter voneinander, und ich konnte dem Herzog bis gegen Morgen in einem unterhaltenden französischen Buch vorlesen, das auf die wunderlichste Weise in meine Hände gekommen. Bei den verwegenen, frevelhaften Scherzen, welche mitten in dem bedrängtesten Zustand noch Lachen erregten, erinnerte ich mich der leichtfertigen Jäger von Verdun, welche Schelmlieder singend in den Tod gingen. Freilich, wenn man dessen Bitterkeit vertreiben will, muss man es mit den Mitteln so genau nicht nehmen. Den 28. September. Das Brot war angekommen, nicht ohne Mühseligkeit und Verlust; auf den schlimmsten Wegen von Grandpré, wo die Bäckerei lag, bis zu uns heran waren mehrere Wagen stecken geblieben, andere dem Feind in die Hände gefallen und selbst ein Teil des Transports ungenießbar: denn im wässerigen, zu schnell gebackenen Brot trennte sich Krume von Rinde, und in den Zwischenräumen erzeugte sich Schimmel. Abermals in Angst vor Gift, brachte man mir dergleichen Laibe, diesmal in ihren inneren Hohlungen hochpomeranzenfarbig anzusehen, auf Arsenik und Schwefel hindeutend, wie jenes vor Verdun auf Grünspan. War es aber auch nicht vergiftet, so erregte doch der Anblick Abscheu und Ekel; getäuschte Befriedigung schärfte den Hunger: Krankheit, Elend, Missmut lagen schwer auf einer so großen Masse guter Menschen. In solchen Bedrängnissen wurden wir noch gar durch eine unglaubliche Nachricht überrascht und betrübt; es hieß, der Herzog von Braunschweig habe sein früheres Manifest an Dumouriez geschickt, welcher, darüber ganz verwundert und entrüstet, sogleich den Stillstand aufgekündigt und den Anfang der Feinseligkeiten befohlen habe. So groß das Unheil war, in welchem wir staken, und noch größeres bevorsahen, konnten wir doch nicht unterlassen, zu scherzen und zu spotten; wir sagten, da sehe man, was für Unheil die Autorschaft nach sich ziehe! Jeder Dichter und sonstige Schriftsteller trage gern seine Arbeiten einem jeden vor, ohne dass er frage, ob es die rechte Zeit und Stunde sei; nun ergehe es dem Herzog von Braunschweig ebenso, der, die Freuden der Autorschaft genießend, sein unglückliches Manifest ganz zur unrechten zeit wieder produzierte. Wir erwarteten nun, die Vorposten abermals puffen zu hören, man schaute sich nach allen Hügeln um, ob nicht irgendein Feind erscheinen möchte; aber es war alles so still und ruhig, als wäre nichts vorgegangen. Indessen lebte man in der peinlichsten Ungewissheit und Unsicherheit, denn jeder sah wohl ein, dass wir strategisch verloren waren, wenn es dem Feind im Mindesten einfallen solle, uns zu beunruhigen und zu drängen. Doch deutete schon manches in dieser Ungewissheit auf Übereinkunft und mildere Gesinnung; so hatte man zum Beispiel den Postmeister von Sainte Menehould gegen die am 20. zwischen der Wagenburg und Armee weggefangenen Personen der königlichen Suite frei und ledig gegeben. Den 29. September. Gegen Abend setzte sich, der erteilten Order gemäß, die Equipage in Bewegung; unter Geleit Regiments Herzog von Braunschweig sollte sie vorangehen, um Mitternacht die Armee folgen. Alles regte sich, aber missmutig und langsam; denn selbst der beste Wille gleitete auf dem durchweichten Boden und versank, eh' er sich's versah. Auch diese Stunden gingen vorüber: Zeit und Stunde rennt durch den rausten Tag! Es war Nacht geworden, und auch diese sollte man schlaflos zubringen; der Himmel war nicht ungünstig, der Vollmond leuchtete, aber hatte nichts zu beleuchten. Zelte waren verschwunden, Gepäck, Wagen und Pferde alles hinweg, und unsere kleine Gesellschaft besonders in einer seltsamen Lage. An dem bestimmten Ort, wo wir uns befanden, sollten die Pferde uns Aufsuchen; sie waren ausgeblieben. So weit wir bei falbem Licht umher sahen, schien alles öd' und leer; wir horchten vergebens: weder Gestalt noch Ton war zu vernehmen. Unsere Zweifel wogten hin und her; wir wollten den bezeichneten Platz lieber nicht verlassen als die Unsrigen in gleiche Verlegenheit setzen und sie gänzlich verfehlen. Doch war es grauerlich, in Feindesland, nach solchen Ereignissen, vereinzelt, aufgegeben, wo nicht zu sein, doch für den Augenblick zu scheinen. Wir passten auf, ob nicht vielleicht eine feindliche Demonstration vorkomme, aber es rührte und regte sich weder Günstiges noch Ungünstiges. Wir trugen nach und nach alles hinterlassene Zeltstroh in der Umgegend zusammen und verbrannten es, nicht ohne Sorgen. Gelockt durch die Flamme, zog sich eine alte Marketenderin zu uns heran: sie mochte sich beim Rückweg in den fernen Orten nicht ohne Tätigkeit verspätet haben, denn sie trug ziemliche Bündel unter den Armen. Nach Gruß und Erwärmung hob sie zuvörderst Friedrich den Großen in den Himmel und pries den Siebenjährigen Krieg, dem sie als Kind wollte beigewohnt haben, schalt grimmig auf die gegenwärtigen Fürsten und Heerführer, die so große Mannschaft in ein Land brächten, wo die Marketenderin ihr Handwerk nicht treiben könne, worauf es denn doch eigentlich abgesehen sei. Man konnte sich an ihrer Art, die Sachen zu betrachten, gar wohl erlustigen und sich für einen Augenblick zerstreuen, doch waren uns endlich die Pferde höchst willkommen; da wir denn auch mit dem Regiment Weimar den ahnungsvollen Rückzug antraten. Vorsichtsmaßregeln, bedeutende Befehle ließen fürchten, dass die Feinde unserm Abmarsch nicht gelassen zusehen würden. Mit Bangigkeit hatte man noch am Tag das sämtliche Fuhrwerk, am bänglichsten aber die Artillerie, in den durchweichten Boden einschneidend, sich stockend bewegen sehen; was mochte nun zu Nacht alles vorfallen? Mit Bedauern sah man gestürzte, geborstene Bagagewagen im Bachwasser liegen, mit Bejammern ließ man zurückbleibende Kranke hilflos. Wo man sich auch umsah, einigermaßen vertraut mit der Gegend, gestand man, hier sie gar keine Rettung, sobald es dem Feind, den wir links, rechts und im Rücken wussten, belieben möchte, uns anzugreifen; da dies aber in den ersten Stunden nicht geschah, so stellte sich das hoffnungsbedürftige Gemüt schnell wieder her, und der Menschengeist, der allem, was geschieht, Verstand und Vernunft unterlegen möchte, sagte sich getrost, die Verhandlungen zwischen den Hauptquartieren Hans und Sainte Menehould seien glücklich und zu unseren Gunsten abgeschlossen worden. Von Stunde zu Stunde vermehrte sich der Glaube; und als ich Halt machen, die sämtlichen Wagen über dem Dorf St. Jean ordnungsgemäß auffahren sah, war ich schon völlig gewiss, wir würden nach Hause gelangen und in guter Gesellschaft (_devant les Dames_) von unseren ausgestandenen Qualen sprechen und erzählen dürfen. Auch diesmal teilt' ich Freunden und Bekannten meine Überzeugung mit, und wir ertrugen die gegenwärtige Not schon mit Heiterkeit. Kein Lager ward bezogen, aber die Unsrigen schlugen ein großes Zelt auf, inwendig und auswendig umher die reichsten, herrlichsten Weizengarben zur Schlafstätte gebreitet. Der Mond schien hell durch die beruhigte Luft, nur ein sanfter Zug leichter Wolken war bemerklich, die ganze Umgebung sichtbar und deutlich, fast wie am Tage. Beschienen waren die schlafenden Menschen, die Pferde, vom Futterbedürfnis wach gehalten, darunter viele weiße, die das Licht kräftig wiedergaben; weiße Wagenbedeckungen, selbst die zur Nachtruhe gewidmeten weißen Garben, alles verbreitete Helle und Heiterkeit über diese bedeutende Szene. Fürwahr, der größte Maler hätte sich glücklich geschätzt, einem solchen Bild gewachsen zu sein. Erst spät legt' ich mich ins Zelt und hoffte des tiefsten Schlafes zu genießen; aber die Natur hat manches Unbequeme zwischen ihre schönsten Gaben ausgestreut, und so gehört zu den ungeselligsten Unarten des Menschen, dass er schlafend, eben wenn er selbst am tiefsten ruht, den gesellen durch unbändiges Schnarchen wach zu halten pflegt. Kopf an Kopf, ich innerhalb, er außerhalb des Zeltes, lag ich mit einem Mann, der mir durch ein grässlich Stöhnen die so nötige Ruhe unwiederbringlich verkümmerte. Ich löste den Strang vom Zeltpflock, um meinen Widersacher kennen zu lernen: es war ein braver, tüchtiger Mann von der Dienerschaft, erlag, vom Mond beschienen, in so tiefem Schlaf, als wenn er Endymion selbst gewesen wäre. Die Unmöglichkeit, in solcher Nachbarschaft Ruhe zu erlangen, regte den schalkischen Geist in mir auf; ich nahm eine Weizenähre und ließ die schwankende Last über Stirn und Nase des Schlafenden schweben. In seiner tiefen Ruhe gestört, fuhr er mit der Hand mehrmals übers Gesicht, und sobald er wieder in Schlaf versank, wiederholt' ich mein Spiel, ohne dass er hätte begreifen mögen, woher in dieser Jahreszeit eine Bremse kommen könne. Endlich bracht' ich es dahin, dass er, völlig ermuntert, aufzustehen beschloss. Indessen war auch mir alle Schlaflust vergangen: ich trat vor das Zelt und bewunderte in dem wenig veränderten Bild die unendliche Ruhe am Rande der größten, immer noch denkbaren Gefahr; und wie in solchen Augenblicken Angst und Hoffnung, Kümmernis und Beruhigung wechselweise auf- und abgaukeln, so erschrak ich wieder, bedenkend, dass, wenn der Feind uns in diesem Augenblick überfallen wollte, weder eine Radspeiche noch ein Menschengebein davonkommen würde. Der anbrechende Tag wirkte sodann wieder zerstreuend, denn da zeigte sich manches Wunderliche. Zwei alte Marketenderinnen hatten mehrere seidene Weiberröcke buntscheckig um Hüfte und Brust übereinander gebunden, den obersten aber um den Hals und oben darüber noch ein Halbmäntelchen. In diesem Ornat stolzierten sie gar komisch einher und behaupteten, durch Kauf und tausch sich diese Maskerade gewonnen zu haben. Den 30. September. So früh sich auch mit Tagesanbruch das sämtliche Fuhrwerk in Bewegung setzte, so legten wir doch nur einen kurzen Weg zurück; denn schon um neun Uhr hielten wir zwischen Laval und Wargemoulin. Menschen und Tiere suchten sich zu erquicken, kein Lager ward aufgeschlagen. Nun kam auch die Armee heran und postierte sich auf einer Anhöhe; durchaus herrschte die größte Stille und Ordnung. Zwar konnte man an verschiedenen Vorsichtsmaßregeln gar wohl bemerken, dass noch nicht alle Gefahr überstanden sei: man rekognoszierte, man unterhielt sich heimlich mit unbekannten Personen, man rüstete sich zum abermaligen Aufbruch. Den 1. Oktober. Der Herzog von Weimar führte die Avantgarde und deckte zugleich den Rückzug der Bagage. Ordnung und Stille herrschten diese Nacht, und man beruhigte sich in dieser Ruhe, als um zwölf Uhr aufzubrechen befohlen ward. Nun ging aber aus allem hervor, dass dieser Marsch nicht ganz sicher sei wegen Streifpartien, welche vom Argonner Wald herunter zu befürchten waren. Denn wäre auch mit Dumouriez und den höchsten Gewalten Übereinkunft getroffen gewesen, welches nicht einmal als ganz gewiss angenommen werden konnte, so gerhorchte doch damals nicht leicht jemand dem andern, und die Mannschaft im Waldgebirge durfte sich nur für selbständig erklären, einen Versuch machen zu unserm Verderben, welches niemand damals hätte missbilligen dürfen. Auch der heutige Marsch ging nicht weit; es war die Absicht, Equipage und Armee zusammen sollten auch gleichen Schritt mit den Österreichern und Emigrierten halten, die, uns zur linken Seite parallel, gleichfalls auf dem Rückzug begriffen waren. Gegen acht Uhr heilten wir schon, bald nachdem wir Rouvroy hinter uns gelassen hatten; einige Zelte wurden aufgeschlagen, der Tag war schön und die Ruhe nicht gestört. Und so will ich denn hier auch noch anführen, dass ich in diesem Elend das neckische Gelübde getan: man solle, wenn ich uns erlöst und mich wieder zu Hause sähe, von mir niemals wieder einen Klagelaut vernehmen über den meine freiere Zimmeraussicht beschränkenden Nachbargiebel, den ich vielmehr jetzt recht sehnlich zu erblicken wünsche; ferner wollt' ich mich über Missbehagen und Langeweile im deutschen Theater nie wieder beklagen, wo man doch immer Gott danken könne, unter Dach zu sein, was auch auf der Bühne vorgehe. Und so gelobt' ich noch ein Drittes, das mir aber entfallen ist. Es war noch immer genug, dass jeder für sich selbst in dem Grad sorget und Ross und Wagen, Mann und Pferd nach ihren Abteilungen regelmäßig zusammenblieben, und so auch wir, sobald still gehalten oder ein Lager aufgeschlagen ward, immer wieder gedeckte Tafeln und Bänke und Stühle fanden. Doch wollte uns bedünken, dass wir gar zu schmal abgefunden würden, ob wir uns gleich bei dem bekannten allgemeinen Mangel bescheiden darein ergaben. Indessen schenkte mir das Glück Gelegenheit, einem bessern Gastmahl beizuwohnen. Es war zeitig Nacht geworden, jedermann hatte sich sogleich auf die zubereitete Streue gelegt; auch ich war eingeschlafen, doch weckte mich ein lebhafter, angenehmer Traum: denn mir schien, als röch' ich, als genöss' ich die besten Bissen, und als ich darüber aufwachte, mich aufrichtete, war mein Zelt voll des herrlichsten Geruchs gebratenen und versengten Schweinefettes, der mich sehr lüstern machte. Unmittelbar an der Natur musste es uns verziehen sein, den Schweinehirten für göttlich und Schweinebraten für unschätzbar zu halten. Ich stand auf und erblickte in ziemlicher Ferne ein Feuer, glücklicherweise oder dem Wind: von da her kam mir die Fülle des guten Dunstes. Unbedenklich ging ich dem schein nach und fand die sämtliche Dienerschaft um ein großes, blad zu Kohlen verbranntes Feuer beschäftigt, den Rücken des Schweins schon beinahe gar, das übrige zerstückt, zum Einpacken bereit, einen jeden aber tätig und handreichend, um die Würste bald zu vollenden. Unfern des Feuers lagen ein paar große Baumstämme; nach Begrüßung der Gesellschaft setzt' ich mich darauf, und ohne ein Wort zu sagen, sah ich einer solchen Tätigkeit mit Vergnügen zu. Teils wollten mir die guten Leute wohl, teils konnten sie den unerwarteten Gast schicklicherweise nicht ausschließen, und wirklich, da es zum Austeilen kam, reichten sie mir ein kostbares Stück, auch war Brot zu haben und ein Schluck Branntwein dazu: es fehlte eben an keinem Guten. Nicht weniger ward mir ein tüchtiges Stück Wurst gereicht, als wir uns noch bei Nacht und Nebel zu Pferde setzten; ich steckte es in meine Pistolenhalfter, und so war mir die Begünstigung des Nachtwindes gut zustatten gekommen. Den 2. Oktober. Wenn man sich auch mit einigem Essen und Trinken gestärkt und den Geist durch sittliche Trostgründe beschwichtigt hatte, so wechselten doch immer Hoffnung und Sorge, Verdruss und Scham in der schwankenden Seele: man freute sich, noch am Leben zu sein; unter solchen Bedingungen zu leben verwünschte man. Nachts um zwei Uhr brachen wir auf, zogen mit Vorsicht an einem Wald vorbei, kamen bei Vaux über die Stelle unseres vor kurzem verlassenen Lagers und bald an die Aisne. Hier fanden wir zwei Brücken geschlagen, die uns aufs rechte Ufer hinüberleiteten. Da verweilten wir nun zwischen beiden, die wir zugleich übersehen konnten, auf einem Sand- Und Weidenwerder, das lebhafteste Küchenfeuer sogleich besorgend. Die zartesten Linsen, die ich jemals genossen, lange, rote, schmackhafte Kartoffeln waren bald bereitet. Als aber zuletzt jene von den österreichischen Fuhrleuten aufgebrachten, bisher streng verheimlichten Schinken gar geworden, konnte man sich genugsam wieder herstellen. Die Equipage war schon herüber; aber bald eröffnete sich ein so prächtiger als trauriger Anblick. Die Armee zog über die Brücken, Fußvolk und Artillerie, die Reiterei durch einen Furt, alle Gesichter düster, jeder Mund verschlossen, eine grässliche Empfindung mitteilend. Kamen Regimenter heran, unter denen man Bekannte, Befreundete wusste, so eilte man hin, man umarmte, man besprach sich, aber unter welchen Fragen, welchem Jammer, welcher Beschämung, nicht ohne Tränen! Indessen freuten wir uns, so marketenderhaft eingerichtet zu sein, um Hohe wie Niedere erquicken zu können. Erst war die Trommel eines allda postierten Piketts die Tafel, dann holte man aus benachbarten Orten Stühle, Tische und machte sich's und den verschiedenartigsten Gästen so bequem als möglich. Der Kronprinz und Prinz Louis ließen sich die Linsen schmecken, mancher General, der von weitem Rauch sah, zog sich darnach. Freilich, wie auch unser Vorrat sein mochte, was solle das unter so viele? Man musste zum zweiten und dritten Mal ansetzen, und unsere Reserve verminderte sich. Wie nun unser Fürst gern alles mitteilte, so hielten's auch seine Leute, und es wäre schwer, einzeln zu erzählen, wie viel der unglücklichen vorbeiziehenden Kranken durch Kämmerier und Koch erquickt wurden. So ging es nun den ganzen Tag, und so ward mir der Rückzug nicht etwa nur durch Beispiel und Gleichnis, nein, in seiner völligen Wirklichkeit dargestellt und der Schmerz durch jede neue Uniform erneuert und vervielfältigt. Ein so grauenvolles Schauspiel sollte denn auch seiner würdig schließen: der König und sein Generalstab ritt von weiten her, hielt an der Brücke eine Zeitlang still, als wenn er sich's noch einmal übersehen und überdenken wollte, zog dann aber am Ende den Weg aller der Seinen. Eben so erschien der Herzog von Braunschweig an der andern Brücke, zauderte und ritt herüber. Die Nacht brach ein, windig aber trocken, und ward auf dem traurigen Weidenkreis meist schlaflos zugebracht. Den 3. Oktober. Morgens um sechs Uhr verließen wir diesen Platz, zogen über eine Anhöhe nach Grandpré zu und trafen daselbst die Armee gelagert. Dort gab es neues Übel und neue Sorgen: das Schloss war zum Krankenhaus umgebildet und schon mit mehreren hundert Unglücklichen belegt, denen man nicht helfen, sie nicht erquicken konnte. Man zog mit Scheu vorüber und musste sie der Menschlichkeit des Feindes überlassen. Hier überfiel uns abermals ein grimmiger Regen und lähmte jede Bewegung. Den 4. Oktober. Die Schwierigkeit, vom Platz zu kommen, wuchs mehr und mehr; um den unfahrbaren Hauptwegen zu entgehen, suchte man sich Bahn über Feld. Der Acker, von rötlicher Farbe, noch zäher als der bisherige Kreideboden, hinderte jede Bewegung. Die vier kleinen Pferde konnten meine Halbchaise kaum erziehen, ich dachte sie wenigstens um das Gewicht meiner Person zu erleichtern. Die Reitpferde waren nicht zu erblicken; der große Küchenwagen, mit sechs tüchtigen bespannt, kam an mir vorbei. Ich bestieg ihn, von Viktualien war er nicht ganz leer, die Küchenmagd aber stak sehr verdrießlich in der Ecke. Ich überließ mich meinen Studien. Den dritten Band von Fischers physikalischem Lexikon hatte ich aus dem Koffer genommen; in solchen Fällen ist ein Wörterbuch die willkommenste Begleitung, wo jeden Augenblick eine Unterbrechung vorfällt, und dann gewährt er wieder die beste Zerstreuung, indem es uns von einem zum andern führt. Man hatte sich auf den zähen, hie und da quelligen roten Tonfeldern notgedrungen unvorsichtig eingelassen; in einer solchen Falge musste zuletzt auch dem tüchtigen Küchengespann die Kraft ausgehen. Ich schien mir in meinem Wagen wie eine Parodie von Pharao im Roten Meer, denn auch um mich her wollten Reiter und Fußvolk in gleicher Farbe gleicher Weise versinken. Sehnsüchtig schaut' ich nach allen umgebenden Hügelhöhen: da erblickt' ich endlich die Reitpferde, darunter den mir bestimmten Schimmel; ich winkte sie mit Heftigkeit herbei, und nachdem ich meine Physik der armen, krankverdrießlichen Küchenmagd übergeben und ihrer Sorgfalt empfohlen, schwang ich mich aufs Pferd, mit dem festen Vorsatz, mich sobald nicht wider auf eine Fahrt einzulassen. Hier ging es nun freilich selbständiger, aber nicht besser noch schneller. Grandpré, das nun als ein Ort der Pest und des Todes geschildert war, ließen wir gern hinter uns. Mehrere befreundete Kriegsgenossen trafen zusammen und traten im Kreis, hinter sich am Zügel die Pferde haltend, um ein Feuer. Sie sagen, dies sei das einzige Mal gewesen, wo ich ein verdrießlich Gesicht gemacht und sie wieder durch Ernst gestärkt, noch durch Scherz erheitert habe. Den 4. Oktober. Der Weg, den das Heer eingeschlagen hatte, führte gegen Buzancy, weil man oberhalb Dun über die Maas gehen wollte. Wir schlugen unser Lager unmittelbar bei Sivry, in dessen Umgegend wir noch nicht alles verzehrt fanden. Der Soldat stürzte in die ersten Gräten und verdarb, was andere hätten genießen können. Ich ermunterte unsern Koch und seine Leute zu einer strategischen Furagierung: wir zogen ums ganze Dorf und fanden noch völlig unangetastete Gräten und eine reiche, unbestrittene Ernte. Hier war von Kohl und Zwiebeln, von Wurzeln und andern guten Vegetabilien die Fülle; wir nahmen deshalb nicht mehr, als wir brauchten, mit Bescheidenheit und Schonung. Der Garten war nicht groß, aber sauber gehalten, und ehe wir zu dem Zaun wieder hinaus krochen, stellt' ich Betrachtungen an, wie es zugehe, dass in einem Hausgarten doch auch keine Spur von einer Türe ins anstoßende Gebäude zu entdecken sei. Als wir, mit Küchenbeute wohl beschwert, wieder zurückkamen, hörten wir großen Lärm vor dem Regiment. Einem Reiter war sein vor zwanzig Tagen etwa in dieser Gegend requiriertes Pferd davon gelaufen, es hatte den Pfahl, an dem es gebunden gewesen, mit fortgenommen; der Kavallerist wurde sehr übel angesehen, bedroht und befehligt, das Pferd wiederzuschaffen. Da es beschlossen war, den 5. in der Gegend zu rasten, so wurden wir in Sivry einquartiert und fanden nach so viel Unbilden die Häuslichkeit gar erfreulich und konnten den französisch-ländlichen, idyllisch-homerischen Zustand zu unserer Unterhaltung und Zerstreuung abermals genauer bemerken. Man trat nicht unmittelbar von der Straße in das Haus, sondern fand sich erst in einem kleinen, offenen, viereckigen Raum, wie die Türe selbst das Quadrat angab; von da gelangte man durch die eigentliche Haustüre in ein geräumiges, hohes, dem Familienleben bestimmtes Zimmer; es war mit Ziegelsteinen gepflastert, links, an der langen Wand, ein Feuerherd, unmittelbar an Mauer und Erde; die Esse, die den Rauch abzog, schwebte darüber. Nach Begrüßung der Wirtsleute zog man sich gern dahin, wo man eine entschieden bleibende Rangordnung für die Umsitzenden gewahrte. Rechts am Feuer stand ein hohes Klappkästchen, das auch zum Stuhl diente; es enthielt das Salz, welches, in Vorrat angeschafft, an einem trocknen Platz verwahrt werden musste. Hier war der Ehrensitz, der sogleich dem vornehmsten Fremden angewiesen wurde; auf mehrere hölzerne Stühle setzten sich die übrigen Ankömmlinge mit den Hausgenossen. Die landsittliche Kochvorrichtung, _pot au feu_, konnt' ich hier zum ersten Mal genau betrachten. Ein großer eiserner Kessel hing an einem Haken, den man durch Verzahnungen erhöhen und erniedrigen konnte, über dem Feuer; darin befand sich schon ein gutes Stück Rindfleisch mit Wasser und Salz, zugleich aber auch mit weißen und gelben Rüben, Porree, Kraut und andern vegetabilischen Ingredienzien. Indessen wir uns freundlich mit den guten Menschen besprochen, bemerkt' ich erst, wie architektonisch klug Anrichte, Gossenstein, Topf- und Tellerbretter angebracht seien. Diese nahmen sämtlich den länglichen raum ein, den jenes Viereck des offenen Vorhauses inwendig zur Seite ließ. Nett und alles der Ordnung gemäß war das Gerät zusammengestellt; eine Magd oder Schwester des Hauses besorgte alles aufs zierlichste. Die Hausfrau saß am Feuer, ein Knabe stand an ihren Knien, zwei Töchterchen drängten sich an sie heran. Der Tisch war gedeckt, ein großer irdener Napf aufgestellt, schönes weißes Brot in Scheibchen hinein geschnitten, die heiße Brühe drüber gegossen und guter Appetit empfohlen. Hier hätten jene Knaben, die mein Kommissbrot verschmähten, mich auf das Muster von bon pain und bonne soupe verweisen können. Hierauf folgte das zu gleicher Zeit gar gewordene Zugemüse, sowie das Fleisch, und jedermann hätte sich an dieser einfachen Kochkunst begnügen können. Wir fragten teilnehmend nach ihren Zuständen: sie hatten schon das vorige Mal, als wir solange bei Landres gestanden, sehr viel gelitten und fürchteten, kaum hergestellt, von einer feindlichen zurückziehenden Armee nunmehr den völligen Untergang. Wir bezeigten uns teilnehmend und freundlich, trösteten sie, dass es nicht lange dauern werde, da wir, außer der Arrieregarde, die letzten seien, und gaben ihnen Rat und Regel, wie sie sich gegen Nachzügler zu verhalten hätten. Bei immer wechselnden Sturm und Regengüssen brachten wir den Tag meist unter Dach und am Feuer zu, das Vergangene in Gedanken zurückrufend, das Nächstbevorstehende nicht ohne Sorge bedenkend. Seit Grandpré hatte ich weder Wagen noch Koffer noch Bedienten wieder gesehen, Hoffnung und Sorge wechselten deshalb augenblicklich ab. Die Nacht war herangekommen, die Kinder sollten zu Bett gehen; sie näherten sich Vater und Mutter ehrfurchtsvoll, verneigten sich, küssten ihnen die Hand und sagten: "Bon soir, Papa! Bon soir, Maman!" mit wünschenswerter Anmut. Bald darauf erfuhren wir, dass der Prinz von Braunschweig in unserer Nachbarschaft gefährlich krank liege, und erkundigten uns nach ihm. Besuch lehnte man ab und versicherte zugleich, dass es mit ihm viel besser geworden, so dass er morgen früh unverzüglich aufzubrechen gedenke. Kaum hatten wir uns vor dem schrecklichen Regen wieder ans Kamin geflüchtet, als ein junger Mann herein trat, den wir als den jüngeren Bruder unseres Wirts wegen entschiedener Ähnlichkeit erkennen mussten; und so erklärte sich's auch. In die Tracht des französischen Landvolks gekleidet, einen starken Stab in der Hand, trat er auf, ein schöner junger Mann. Sehr ernst, ja verdrießlich wild saß er bei uns am Feuer, ohne zu sprechen; doch hatte er sich kaum erwärmt, als er mit seinem Bruder auf und ab, sodann in das nächste Zimmer trat. Sie sprachen sehr lebhaft und vertraulich zusammen. Er ging in den grimmigen Regen hinaus, ohne dass ihn unsere Wirtsleute zu halten suchten. Aber auch wir wurden durch ein Angst- und Zetergeschrei in die stürmische Nacht hinaus gerufen. Unsere Soldaten hatten unter dem Vorwand, Furage auf den Böden zu suchen, zu plündern angefangen, und zwar ganz ungeschickter Weise, indem sie einem Weber sein Werkzeug wegnahmen, eigentlich für sie ganz unbrauchbar. Mit Ernst und einigen guten Worten brachten wir die Sache wieder ins gleiche: Denn es waren nur wenige, die sich solcher Tat unterfingen. Wie leicht konnte das ansteckend werden und alles drunter und rüber gehen! Da sich mehrere Personen zusammengefunden hatten, so trat ein weimarscher Husar zu mir, seines Handwerks ein Fleischer, und vertraute, dass er in einem benachbarten Haus ein gemästetes Schwein entdeckt habe: er feilsche darum, könne es aber von dem Besitzer nicht erhalten; wir möchten mit Ernst dazu tun, denn es würde in den nächsten Tagen an allem fehlen. Es war wunderbar genug, dass wir, die soeben der Plünderung Einhalt getan, zu einem ähnlichen Unternehmen aufgefordert werden sollten. Indessen, da der Hunger kein Gesetz anerkennt, gingen wir mit dem Husar in das bezeichnete Haus, fanden gleichfalls ein großes Kaminfeuer, begrüßten die Leute und setzten uns zu ihnen. Es hatte sich noch ein anderer weimarscher Husar, namens Liseur, zu uns gefunden, dessen Gewandtheit wir die Sache vertrauten. Er begann in geläufigem Französisch von den Tugenden regulierter Truppen zu sprechen und rühmte die Personen, welche nur für bares Geld die notwendigsten Viktualien anzuschaffen verlangen; dahingegen schalt er die Nachzügler, Packknechte und Marketender, die mit Ungestüm und Gewalt auch die letzte Klaue sich zuzueignen gewohnt seien. Er wolle daher einem jeden den wohlmeinenden Rat geben, auf den Verkauf zu sinnen, weil Geld noch immer leichter zu verbergen sei als Tiere, die man wohl auswittere. Seine Argumente jedoch schienen keinen großen Eindruck zu machen, als seine Unterhandlung seltsam genug unterbrochen wurde. An der fest verschlossenen Haustüre entstand auf einmal ein heftiges Pochen: man achtete nicht darauf, weil man keine Lust hatte, noch mehr Gäste einzulassen; es pochte fort, die kläglichste Stimme rief dazwischen, eine Weiberstimme, die auf gut Deutsch flehentlich um Eröffnung der Türe bat. Endlich erweicht, schloss man auf: es drang eine alte Marketenderin herein, etwas in ein Tuch gewickelt auf dem Arm tragend; hinter ihr eine junge Person, nicht hässlich, aber blass und entkräftet, sie heilt sich kaum auf den Füßen. Mit wenigen, aber rüstigen Worten erklärte die Alte den Zustand, indem sie ein nacktes Kind vorwies, von dem jene Frau auf der Flucht entbunden worden. Dadurch versäumt, waren sie, misshandelt von Bauern, in dieser Nacht endlich an unsere Pforte gekommen. Die Mutter hatte, weil ihr die Milch verschwunden, dem Kind, seitdem es Atem holte, noch keine Nahrung reichen können. Jetzt forderte die Alte mit Ungestüm Mehl, Milch, Tiegel, auch Leinwand, das Kind hineinzuwickeln. Da sie kein Französisch konnte, mussten wir in ihrem Namen fordern, aber ihr herrisches Wesen, ihre Heftigkeit gab unseren Reden genug pantomimisches Gewicht und Nachdruck: man konnte das Verlangte nicht geschwind genug herbeischaffen, und das Herbeigeschaffte war ihr nicht gut genug. Dagegen war auch sehenswert, wie behänd sie verfuhr. Uns hatte sie blad vom Feuer verdrängt; der beste Sitz war sogleich für die Wöchnerin eingenommen, sie aber machte sich auf ihrem Schemel so breit, als wenn sie im Haus allein wäre. In einem Nu war das Kind gereinigt und gewickelt, der Brei gekocht; sie fütterte das kleine Geschöpf, dann die Mutter, an sich selbst dachte sie kaum. Nun verlangte sie frische Kleider für die Wöchnerin, indes die alten trockneten. Wir betrachteten sie mit Verwunderung: sie verstand sich aufs Requirieren. Der Regen ließ nach, wir suchten unser voriges Quartier, und kurz darauf brachten die Husaren das Schwein. Wir zahlten ein Billiges; nun sollte es geschlachtet werden; es geschah, und als im Nebenzimmer am Tragebalken ein Kloben eingeschraubt zu sehen war, hing das Schwein sogleich dort, um kunstmäßig zerstückt und bereitet zu werden. Dass unsere Hausleute bei dieser Gelegenheit sich nicht verdrießlich, vielmehr behilflich und zutätig erwiesen, schien uns einigermaßen wunderbar, da sie wohl Ursache gehabt hätten, unser Betragen roh und rücksichtslos zu finden. In demselbigen Zimmer, wo wir die Operation vornahmen, lagen die Kinder in reinlichen Betten, und aufgeweckt durch unser Getöse, schauten sie artig furchtsam unter den Decken hervor. Nahe an einem großen zweischläfrigen Ehebett, mit grünem Rasch sorgfältig umschlossen, hing das Schwein, so dass die Vorhänge einen malerischen Hintergrund zu dem erleuchteten Körper machten. Es war ein Nachtstück ohnegleichen. Aber solchen Betrachtungen konnten sich die Einwohner nicht hingeben; wir merkten vielmehr, dass sie jenem Haus, dem man das Schwein abgewonnen, nicht sonderlich befreundet seien und also eine gewisse Schadenfreude hierbei obwalte. Früher hatten wir auch gutmütig einiges von Fleisch und Wurst versprochen; das alles kam der Funktion zu statten, die in wenig Stunden vollendet sein sollte. Unser Husar aber bewies sich in seinem Fach so tätig und behänd, wie die Zigeunerin drüben in dem ihrigen, und wir freuten uns schon auf die guten Würste und Braten, die uns von dieser Halbbeute zuteil werden sollten. In Erwartung dessen legten wir uns in der Schmiedewerkstatt unseres Wirtes auf die schönsten Weizengarben und schliefen geruhig bis an den Tag. Indessen hatte unser Husar sein Geschäft im Innern des Hauses vollendet, ein Frühstück fand sich bereit, und das übrige war schon eingepackt, nachdem vorher den Wirtsleuten gleichfalls ihr Teil gespendet worden, nicht ohne Verdruss unserer Leute, welche behaupteten: bei diesem Volk sei Gutmütigkeit übel angewendet, sie hätten gewiss noch Fleisch und andere gute Dinge verborgen, die wir auszuwittern noch nicht recht gelernt hätten. Als ich mich in dem innern Zimmer umsah, fand ich zuletzt eine Türe verriegelt, die ihrer Stellung nach in einen Garten gehen musste. Durch ein kleines Fenster an der Seite konnt' ich bemerken, dass ich nicht irre geschlossen hatte: der Garten lag etwas höher als das Haus, und ich erkannt' ihn ganz deutlich für denselben, wo wir uns früh mit Küchenwaren versehen hatten. Die Türe war verrammelt und von außen so geschickt verschüttet und bedeckt, dass ich nun wohl begriff, warum ich sie heute früh vergebens gesucht hatte. Und so stand es in den Sternen geschrieben, dass wir, ungeachtet aller Vorsicht, doch in das Haus gelangen sollten. Den 6. Oktober früh. Bei solchen Umgebungen darf man sich nicht einen Augenblick Ruhe, nicht das kürzeste Verharren irgendeines Zustandes erwarten. Mit Tagesanbruch war der ganze Ort auf einmal in großer Bewegung: die Geschichte des entflohenen Pferdes kam wieder zur Sprache. Der geängstigte Reiter, der es herbeischaffen oder Strafe leiden und zu Fuß gehen sollte, war auf den nächsten Dörfern herumgerannt, wo man ihm denn, um die Plackerei selbst loszuwerden, zuletzt versicherte, es müsse in Sivry stecken; dort habe man vor so viel Wochen einen Rappen ausgehoben, wie er ihn beschreibe; unmittelbar vor Sivry habe nun das Pferd sich losgemacht, und was sonst noch die Wahrscheinlichkeit vermehren mochte. Nun kam er, begleitet von einem ernsten Unteroffizier, der, durch Bedrohung des ganzen Ortes, endlich die Auflösung des Rätsels fand. Das Pferd war wirklich hinein nach Sivry zu seinem vorigen Herrn gelaufen; die Freude, den vermissten Haus- und Stallgenossen wieder zu sehen, sagen sie, sei in der Familie grenzenlos gewesen, allgemein die Teilnahme der Nachbarn. Künstlich genug hatte man das Pferd auf einen Oberboden gebracht und hinter Heu versteckt; jedermann bewahrte das Geheimnis. Nun aber ward es, unter Klagen und Jammern wieder hervorgezogen, und Betrübnis ergriff die ganze Gemeinde, als der Reiter sich darauf schwang und dem Wachtmeister folgte. Niemand gedachte weder eigener Lasten noch des Keineswegs aufgeklärten allgemeinen Geschickes: das Pferd und der zum zweiten Mal getäuschte Besitzer waren der Gegenstand der zusammengelaufenen Menge. Eine augenblickliche Hoffnung tat sich hervor: der Kronprinz von Preußen kam geritten, und indem er sich erkundigen wollte, was die Menge zusammengebracht, wendeten sich die guten Leute an ihn mit Flehen, er möge ihnen das Pferd wieder zurückgeben. Es stand nicht in seiner Macht, denn die Kriegsläufe sind mächtiger als die Könige; er ließ sie trostlos, indem er sich stillschweigend entfernte. Nun besprachen wir wiederholt mit unsern guten Hausleuten das Manöver gegen die Nachzügler; denn schon spukte das Geschmeiß hin und wieder. Wir rieten: Mann und Frau, Magd und Geselle sollten in der Türe innerhalb des kleinen Vorraums sich halten und allenfalls ein Stück Brot, einen Schluck Wein, wenn es gefordert würde, auswendig reichen, den eindringenden Ungestüm aber standhaft abwehren. Mit Gewalt erstürmten dergleichen Leute nicht leicht ein Haus; einmal eingelassen aber werde man ihrer nicht wieder Herr. Die guten Menschen baten uns, noch länger zu bleiben, allein wir hatten an uns selber zu denken: das Regiment des Herzogs war schon vorwärts und der Kronprinz abgeritten; dies war genug, unsern Abschied zu bestimmen. Wie klüglich dies gewesen, wurde uns noch deutlicher, als wir, bei der Kolonne angelangt, zu hören hatten, dass der Vortrab der französischen Prinzen gestern, als er eben den Pass Le Chêne Populeux und die Aisne hinter sich gelassen, zwischen les Grandes und les Petites Armoises von Bauern angegriffen worden; einem Offizier solle das Pferd unterm Leib getötet, dem Bedienten des Kommandierenden eine Kugel durch den Hut gegangen sein. Nun fiel mir's aufs Herz, dass in vergangner Nacht als der bärbeißige Schwager ins Haus trat, ich einer solchen Ahnung mich nicht erwehren konnte. Zum 6. Oktober. Aus der gefährlichen Klemme waren wir nun heraus, unser Rückzug jedoch noch immer beschwerlich und bedenklich, der Transport unseres Haushaltes von Tag zu Tage lästiger; denn freilich führten wir ein komplettes Mobiliar mit uns: außer dem Küchengerät noch Tisch und Bänke, Kisten, Kasten und Stühle, ja ein paar Blechöfen. Wie sollte man die mehreren Wagen fortbringen, da der Pferde täglich weniger wurden! Einige fielen, die überbliebenen zeigten sich kraftlos. Es blieb nichts übrig, als einen wagen stehen zu lassen, um die andern fortzubringen. Nun ward geratschlagt, was wohl das Entbehrlichste sei, und so musste man einen mit allerlei Gerät wohl bepackten Wagen im Stich lassen, um nicht alles zu entbehren. Diese Operation wiederholte sich einige Mal, unser Zug ward um vieles kompendioser, und doch wurden wir aufs neue an eine solche Reduktion gemahnt, da wir uns an den niedrigen Ufern der Maas mit größter Unbequemlichkeit fortschleppten. Was mich aber in diesen Stunden am meisten drückte und besorgt machte, war, dass ich meinen Wagen schon einige Tage vermisste. Nun konnt' ich mir's nicht anders denken, als mein sonst so resoluter Diener sei in Verlegenheit geraten, habe seine Pferde verloren, und andere zu requirieren nicht vermocht. Da sah ich denn in trauriger Einbildungskraft meine werte böhmische Halbchaise, ein Geschenk meines Fürsten, die mich schon so weit in der Welt herumgetragen, im Kot versunken, vielleicht auch über Bord geworfen, und somit, wie ich da zu Pferde saß, trug ich nun alles bei mir. Der Koffer mit Kleidungsstücken, Manuskripten jeder Art und manches durch Gewohnheit sonst noch werte Besitztum, alles schien mir verloren und schon in die Welt zerstreut. Was war aus der Brieftasche mit Geld und bedeutenden Papieren geworden? Aus sonstigen Kleinigkeiten, die man an sich herumsteckt? Hatte ich das alles nun recht umständlich und peinlich durchgedacht, so stellte sich der Geist aus dem unerträglichen Zustand bald wieder her. Das Vertrauen auf meinen Diener fing wieder an, zu wachsen, und wie ich vorher umständlich den Verlust gedacht, so dacht' ich nunmehr alles durch seine Tätigkeit erhalten und freute mich dessen, als läg' es mir schon vor Augen. Den 7. Oktober. Als wir eben auf dem linken Ufer der Maas aufwärts zogen, um an die Stelle zu gelangen, wo wir übersetzen und die gebahnte Hauptstraße jenseits erreichen sollten, gerade auf dem sumpfigsten Wiesenfleck, hieß es, der Herzog von Braunschweig komme hinter uns her. Wir heilten an und begrüßten ihn ehrerbietig; er heilt auch ganz nahe vor uns stille und sagte zu mir: "Es tut mir zwar leid, dass ich Sie in dieser unangenehmen Lage sehe, jedoch darf es mir in dem Sinn erwünscht sein, dass ich einen einsichtigen, glaubwürdigen Mann mehr weiß, der bezeugen kann, dass wir nicht vom Feind, sondern von den Elementen überwunden worden." Er hatte mich in dem Hauptquartier zu Hans vorbeigehend gesehen und wusste überhaupt, dass ich bei dem ganzen traurigen Zug gegenwärtig gewesen. Ich antwortete ihm etwas Schickliches und bedauerte noch zuletzt, dass er, nach so viel Leiden und Anstrengung, noch durch die Krankheit seines fürstlichen Sohnes sei in Sorgen gesetzt worden, woran wir vorige Nacht in Sivry großen Anteil empfunden. Er nahm es wohl auf, denn dieser Prinz war sein Liebling, zeigte sodann auf ihn, der in der Nähe hielt; wir verneigten uns auch vor ihm. Der Herzog wünschte uns allen Geduld und Ausdauer, und ich ihm dagegen eine ungestörte Gesundheit, weil ihm sonst nichts abgehe, uns und die gute Sache zu retten. Er hatte mich eigentlich niemals geliebt, das musste ich mir gefallen lassen; er gab es zu erkennen, das konnt' ich ihm verziehen: nun aber war das Unglück eine milde Vermittlerin geworden, die uns auf eine teilnehmende Weise zusammenbrachte. Den 7. und 8. Oktober. Wir hatten über die Maas gesetzt und en Weg eingeschlagen, der aus den Niederlanden nach Verdun führt; das Wetter war furchtbarer als je, wir lagerten bei Consenvoye. Die Unbequemlichkeit, ja das Unheil stiegen aufs höchste: die Zelte durchnässt, sonst kein Schirm, kein Obdach; man wusste nicht, wohin man sich wenden sollte; noch immer fehlte mein Wagen, und ich entbehrte das Notwendigste. Konnte man sich auch unter einem Zelt bergen, so war doch an keine Ruhestelle zu denken. Wie sehnte man sich nicht nach Stroh, ja nach irgendeinem Brettstück, und zuletzt blieb doch nichts übrig, als sich auf den kalten, feuchten Boden niederzulegen! Nun hatte ich aber schon in vorigen gleichen Fällen mir ein praktisches Hilfsmittel ersonnen, wie solche Not zu überdauern sei; ich stand nämlich so lange auf den Füßen, bis die Knie zusammenbrachen, dann setzt' ich mich auf einen Feldstuhl, wo ich hartnäckig verweilte, bis ich niederzusinken glaubte, da denn jede Stelle wo man sich horizontal ausstrecken konnte, höchst willkommen war. Wie also Hunger das beste Gewürz bleibt, so wird Müdigkeit der herrlichste Schlaftrunk sein. Zwei Tage und zwei Nächte hatten wir auf diese Weise verlebt, als der traurige Zustand einiger Kranken auch Gefunden zugute kommen sollte. Des Herzogs Kammerdiener war von dem allgemeinen Übel befallen, einen Junker, vom Regiment hatte der Fürst aus dem Lazarett von Grandpré gerettet; nun beschloss er, die beiden in das etwa zwei Meilen entfernte Verdun zu schicken. Kämmerier Wagner wurde ihnen zur Pflege mitgegeben, und ich säumte nicht, auf gnädigste vorsorgliche Anmahnung, den vierten Platz einzunehmen. Mit Empfehlungsschreiben and en Kommandanten wurden wir entlassen, und als beim Einsitzen der Pudel nicht zurückbleiben durfte, so ward aus dem sonst so beliebten Schlafwagen ein halbes Lazarett und etwas Menagerieartiges. Zur Eskorte, zum Quartier- und Proviantmeister erhielten wir jenen Husaren, der, namens Liseur, aus Luxemburg gebüritg, der Gegend kundig, Geschick, Gewandtheit und Kühnheit eines Freibeuters vereinigte; mit Behagen ritt er vorauf und machte dem mit sechs starken Schimmeln bespannten Wagen und sich selbst ein gutes Ansehen. Zwischen ansteckende Kranke gepackt, wusst' ich von keiner Apprehension. Der Mensch, wenn er sich getreu bleibt, findet zu jedem Zustand eine hilfreiche Maxime; mir stellte sich, sobald die Gefahr groß ward, der blindeste Fatalismus zur Hand, und ich habe bemerkt, dass Menschen, die ein durchaus gefährliche Metier treiben, sich durch denselben Glauben gestählt und gestärkt fühlen. Die mahomedanische Religion gibt hiervon den besten Beweis. Den 9. Oktober. Unsere traurige Lazarettfahrt zog nun langsam dahin und gab zu ernsten Betrachtungen Anlass, da wir in dieselbe Heerstraße fielen, auf der wir mit so viel Mut und Hoffnung ins Land eingetreten waren. Hier berührten wir nun wieder dieselbe Gegend, wo der erste Schuss aus den Weinbergen fiel, denselben Hochweg, wo uns die hübsche Frau in die Hände lief und zurückgeführt worden; kamen an dem Mäuerchen vorbei, von wo sie uns mit den Ihrigen freundlich und zur Hoffnung aufgeregt begrüße. Wie sah das alles jetzt anders aus! Und wie doppelt unerfreulich erschienen die Folgen eines fruchtlosen Feldzugs durch den trüben Schleier eines anhaltenden Regenwetters! Doch mitten in diesen Trübnissen sollte mir gerade das Erwünschteste begegnen. Wir holten ein Fuhrwerk ein, das mit vier kleinen, unansehnlichen Pferden vor uns herzog; hier aber gab es einen Lust- und Erkennungsauftritt, denn es war mein Wagen, mein Diener. "Paul!" rief ich aus, "Teufelsjunge, bist du's! Wie kommst du hierher?" Der Koffer stand geruhig aufgepackt an seiner alten Stelle: welch erfreulicher Anblick! Und als ich mich nach Portefeuille und anderem hastig erkundigte, sprangen zwei Freunde aus dem Wagen, geheimer Sekretär Weyland und Hauptmann Vent. Das war eine gar frohe Szene des Wiederfindens, und ich erfuhr nun, wie es bisher zugegangen. Seit der Flucht jener Bauerknaben hatte mein Diener die vier Pferde durchzubringen gewusst und sich nicht allein von Hans bis Grandpré, sondern auch von da, als er mir aus den Augen gekommen, über die Aisne geschleppt und immer so fort verlangt, begehrt, furagiert, requiriert, bis wir zuletzt glücklich wieder zusammentrafen und nun, alle vereint und höchst vergnügt, nach Verdun zogen, wo wir genugsame Ruhe und Erquickung zu finden hofften. Hierzu hatte denn auch der Husar weislich und klüglich die besten Voranstalten getroffen: er war voraus in die Stadt geritten und hatte sich, bei der Fülle des Dranges, gar bald überzeugt, dass hier ordnungsgemäß, durch Wirksamkeit und guten Willen eines Quartieramts, nichts zu hoffen sei; glücklicherweise aber sah er in dem Hof eines schönen Hauses Anstalten zu einer herannahenden Abreise, er sprengte zurück, bedeutete uns, wie wir fahren sollten, und eilte nun, sobald jene Partei heraus war, das Hoftor zu besetzen, dessen Schließen zu verhindern und uns gar erwünscht zu empfangen. Wir fuhren ein, wir stiegen aus, unter Protestation einer alten Haushälterin, welche, soeben von einer Einquartierung befreit, keine neue, besonders ohne Billett, aufzunehmen Lust empfand. Indessen waren die Pferde schon ausgespannt und im Stall, wir aber hatten uns in die oberen Zimmer geteilt; der Hausherr, ältlich, Edelmann, Ludwigsritter, ließ es geschehen: weder er noch Familie wollten von Gästen weiter wissen, am wenigsten diesmal von Preußen auf dem Rückzug. Den 10. Oktober. Ein Knabe, der uns in der verwilderten Stadt herumführte, fragte mit Bedeutung: ob wir denn von den unvergleichlichen Verduner Pastetchen noch nicht gekostet hätten? Er führte uns darauf zu dem berühmtesten Meister dieser Art. Wir traten in einen weiten Hausraum, in welchem große und kleine Öfen ringsherum angebracht waren, zugleich auch in der Mitte Tisch und Bänke zum frischen Genuss des augenblicklich Gebacknen. Der Künstler trat vor, sprach aber seine Verzweiflung höchst lebhaft aus, dass es ihm nicht möglich sei, uns zu bedienen, da es ganz und gar an Butter fehle. Er zeigte die schönsten Vorräte des feinsten Weizenmehls; aber wozu nützten ihm diese ohne Milch und Butter! Er rühmte sein Talent, den Beifall der Einwohner, der Durchreisenden und bejammerte nur, dass er gerade jetzt, wo er sich vor solchen Fremden zuzeigen und seinen Ruf auszubreiten Gelegenheit finde, gerade des Notwendigsten ermangeln müsste. Er beschwor uns daher, Butter herbeizuschaffen, und gab zu verstehen, wenn wir nur ein wenig Ernst zeigen wollten, so sollte sich dergleichen schon irgendwo finden. Doch ließ er sich für den Augenblick zufrieden stellen, als wir versprachen, bei längerem Aufenthalt von Jardin Fontaine dergleichen herbeizuholen. Unsern jungen Führer, der uns weiter durch die Stadt begleitete und sich ebenso wohl auf hübsche Kinder als auf Pastetchen zu verstehen schien, befragten wir nach einem wunderschönen Frauenzimmer, das sich eben aus dem Fenster eines wohl gebauten Hauses herausbog. "Ja," rief er, nachdem er ihren Namen genannt, "das hübsche Köpfchen mag sich fest auf den Schultern halten: es ist auch eine von denen, die dem König von Preußen Blumen und Früchte überreicht haben. Ihr Haus und Familie dachten schon, sie wären wieder obendrauf, das Blatt aber hat sich gewendet, jetzt tausch' ich nicht mir ihr." Er sprach hierüber mit besonderer Gelassenheit, als wäre es ganz naturgemäß und könne und werde nicht anders sein. Mein Diener war von Jardin Fontaine zurückgekommen, wohin er, unsern alten Wirt zu begrüßen und den Brief an die Schwester zu Paris wiederzubringen, gegangen war. Der neckische Mann empfing ihn gutmütig genug, bewirtete ihn aufs beste und lud die Herrschaft ein, die er gleichfalls zu traktieren versprach. So wohl sollt' es uns aber nicht werden; denn kaum hatten wir den Kessel übers Feuer gehängt, mit herkömmlichen Ingredienzien und Zeremonien, als eine Ordonnanz herein trat und im Namen des Kommandanten, Herrn von Courbière, freundlich andeutete, wir möchten uns einrichten, morgen früh um acht Uhr aus Verdun zu fahren. Höchst betroffen, dass wir Dach, Fach und Herd, ohne uns nur einigermaßen herstellen zu können, eiligst verlassen und uns wieder in die wüste schmutzige Welt hinaus gestoßen sehen sollten, beriefen wir uns auf die Krankheit des Junkers und Kammerdieners, worauf er denn meinte, wir sollten diese baldmöglichst fortzubringen suchen, weil in der Nacht die Lazarette geleert und nur die völlig intransportablen Kranken zurückgelassen würden. Uns überfiel Schrecken und entsetzen; denn bisher zweifelte niemand, dass von Seiten der Alliierten man Verdun und Longwy erhalten, wo nicht gar noch einige Festungen erobern und sichere Winterquartiere bereiten müsse. Von diesen Hoffnungen konnten wir nicht auf einmal Abschied nehmen; daher schien es uns, man wolle nur die Festung von den unzähligen Kranken und dem unglaublichen Tross befreien, um sie alsdann mit der notwendigen Garnison besetzen zu können. Kämmerier Wagner jedoch, der das Schreiben des Herzogs dem Kommandanten überbracht hatte, glaubte das Allerbedenklichste in diesen Maßregeln zu sehen. Was es aber auch im ganzen für einen Ausgang nähme, mussten wir uns diesmal in unser Schicksal ergeben und speisten geruhig den einfachen Topf in verschiedenen Absätzen und Trachten, als eine andere Ordonnanz abermals herein trat und uns beschied, wir möchten ja ohne Zaudern und Aufenthalt morgen früh um drei Uhr aus Verdun zu kommen suchen. Kämmerier Wagner, der den Inhalt jenes Briefs an den Kommandanten zu wissen glaubte, sah hierin ein entschiedenes Bekenntnis, dass die Festung den Franzosen sogleich wieder würde übergeben werden. Dabei gedachten wir der Drohung des Knaben, gedachten der schönen geputzten Frauenzimmer, der Früchte und Blumen und betrübten uns zum ersten Mal recht herzlich und gründlich über eine so entschieden misslungene, große Unternehmung. Ob ich schon unter dem diplomatischen Korps echte und verehrungswürdige Freunde gefunden, so konnt' ich doch, sooft ich sie mitten unter diesen großen Bewegungen fand, mich gewisser neckischen Einfälle nicht enthalten; sie kamen mir vor wie Schauspieldirektoren, welche die Stücke wählen, Rollen austeilen und in unscheinbarer Gestalt einhergehen, indessen die Truppe, so gut sie kann, aufs beste herausgestutzt, das Resultat ihrer Bemühungen dem Glück und der Laune des Publikums überlassen muss. Baron Breteuil wohnte gegen uns über; seit der Halsbandsgeschichte war er mir nicht aus den Gedanken gekommen. Sein hass gegen den Kardinal von Rohan verleitete ihn zu der furchtbarsten Übereilung; die durch jenen Prozess entstandene Erschütterung ergriff die Grundfesten des Staates, vernichtete die Achtung gegen die Königin und gegen die obern Stände überhaupt: denn leider alles, was zur Sprache kam, machte nur das gräuliche Verderben deutlich, worin der Hof und die Vornehmeren befangen lagen. Diesmal glaubte man, er habe den auffallenden Vergleich gestiftet, der uns zum Rückzug verpflichtete, zu dessen Entschuldigung man höchst günstige Bedingungen voraussetzte: man versicherte, König, Königin und Familie sollten freigegeben und sonst noch manches Wünschenswerte erfüllt werden. Die Frage aber, wie diese großen diplomatischen Vorteile mit allem übrigen, was uns doch auch bekannt war, übereinstimmen sollten, ließ einen Zweifel nach dem andern aufkeimen. Die Zimmer, die wir bewohnten, waren anständig möbliert; mir fiel ein Wandschrank auf, durch dessen Glastüren ich viele regelmäßig beschnittene gleiche Hefte in Quart erblickte. Zu meiner Verwunderung ersah ich daraus, dass unser Wirt als einer der Notablen im Jahre 1787 zu Paris gewesen; in diesen Heften war seine Instruktion abgedruckt. Die Mäßigkeit der damaligen Forderungen, die Bescheidenheit, womit sie abgefasst, kontrastierten völlig mit den gegenwärtigen Zuständen von Gewaltsamkeit, Übermut und Verzweiflung. Ich las diese Blätter mit wahrhafter Rührung und nahm einige Exemplare zu mir. Den 11. Oktober. Ohne die Nacht geschlafen zu haben, waren wir früh um 3 Uhr eben im Begriff, unsern gegen das Hoftor gerichteten Wagen zu besteigen, als wir ein unüberwindliches Hindernis gewahr wurden; denn es zog schon eine ununterbrochene Kolonne Krankenwagen zischen den zur Seite aufgehäuften Pflastersteinen durch die zum Sumpf gefahrene Stadt. Als wir nun so standen, abzuwarten, was erreicht werden könnte, drängte sich unser Wirt, der Ludwigsritter, ohne zu grüßen, an uns vorbei. Unsere Verwunderung über sein frühes und unfreundliches Erscheinen ward aber bald in Mitleid verkehrt; denn sein Bedienter, hinter ihm drein, trug ein Bündelchen auf dem Stock, und so ward es nur allzu deutlich, dass er, nachdem er vier Wochen vorher Haus und Hof wieder gesehen hatte, es nun abermals, wie wir unsere Eroberungen, verlassen musste. Sodann ward aber meine Aufmerksamkeit auf die bessern Pferde vor meiner Chaise gelenkt; da gestand denn die liebe Dienerschaft, dass sie die bisherigen schwachen, unbrauchbaren gegen Zucker und Kaffee vertauscht, sogleich aber in Requisition anderer glücklich gewesen sei. Die Tätigkeit des gewandten Liseurs war hierbei nicht zu verkennen; auch durch ihn kamen wir diesmal vom Fleck: denn er sprengte in eine Lücke der Wagenreihe und hielt das folgende Gespann so lange zurück, bis wir sechs- und vierspännig eingeschaltet waren; da ich mich denn frischer Luft in meinem leichten Wägelchen abermals erfreuen konnte. Nun bewegten wir uns mit Leichenschritt, aber bewegten uns doch; der Tag brach an, wir befanden uns vor der Stadt in dem größtmöglichen Gewirr und Gewimmel. Alle Arten von Wagen, wenig Reiter, unzählige Fußgänger durchkreuzten sich auf dem großen Platz vor dem Tor. Wir zogen mit unserer Kolonne rechts gegen Etain, auf einem beschränkten Fahrweg mit Gräben zu beiden Seiten. Die Selbsterhaltung in einem so ungeheuren Drange kannte schon kein Mitleiden, keine Rücksicht mehr: nicht weit vor uns fiel ein Pferd vor einem Rüstwagen, man schnitt die Stränge entzwei und ließ es liegen. Als nun aber die drei übrigen die Last nicht weiterbringen konnten, schnitt man auch sie los, warf das schwer bepackte Fuhrwerk in den Graben, und mit dem geringsten Aufenthalt fuhren wir weiter und zugleich über das Pferd weg, das sich eben erholen wollte, und ich sah ganz deutlich, wie dessen Gebeine unter den Rädern knirschten und schlotterten. Reiter und Fußgänger suchten sich von der schmalen, unwegsamen Fahrstraße auf die Wiesen zu retten; aber auch diese waren zugrunde geregnet, von ausgetretenen Gräben überschwemmt, die Verbindung der Fußpfade überall unterbrochen. Vier ansehnliche, schöne, sauber gekleidete französische Soldaten wateten eine Zeitlang neben unseren wagen her, durchaus nett und reinlich, und wussten so gut hin und her zu treten, dass ihr Fußwerk nur bis an die Knorren von der schmutzigen Wallfahrt zeugte, welche die guten Leute bestanden. Dass man unter solchen Umständen in Gräben, auf Wiesen, Feldern und Angern tote Pferde genug erblickte, war natürliche Folge des Zustands; bald aber fand man sie auch abgedeckt, die fleischigen Teile sogar ausgeschnitten -- trauriges Zeichen des allgemeinen Mangels! So zogen wir fort, jeden Augenblick in Gefahr, bei der geringsten eigenen Stockung selbst über Bord geworfen zu werden; unter welchen Umständen freilich die Sorgfalt unseres Geleitsmanns nicht genug zu rühmen und zu preisen war. Dieselbe betätigte sich denn auch zu Etain, wo wir gegen Mittag anlangten und in dem schönen, wohl gebauten Städtchen durch Straßen und auf Plätzen ein Sinn verwirrendes Gewimmel um und neben uns erblickten: die Masse wogte hin und her, und indem alles vorwärts drang, ward jeder dem anderen hinderlich. Unvermutet ließ unser Führer die Wagen vor einem wohl gebauten Haus des Marktes halten; wir traten ein, Hausherr und Frau begrüßten uns in ehrerbietiger Entfernung. Man führte uns in ein getäfeltes Zimmer auf gleicher Erde, wo im schwarz-marmornen Kamin behagliches Feuer brannte. In dem großen Spiegel darüber beschauten wir uns ungern: denn ich hatte noch immer nicht die Entschließung gefasst, meine langen Haare kurz schneiden zu lassen, die jetzt wie ein verworrener Hanfrocken umher quollen; der Bart, strauchig, vermehrte das wilde Ansehen unserer Gegenwart. Nun aber konnten wir, aus den niedrigen Fenstern den ganzen Markt überschauend, unmittelbar das grenzenlose Getümmel beinahe mit Händen greifen. Aller Art Fußgänger, Uniformierte, Marode, gesunde aber trauernde Bürgerliche, Weiber und Kinder drängten und quetschten sich zwischen Fuhrwerk aller Gestalt; Rüst- und Leiterwagen, Ein- und Mehrspänner; hunderterlei eigenes und requiriertes Gepferde, weichend, anstoßend, hinderte sich rechts und links. Auch Hornvieh zog damit weg, wahrscheinlich geforderte, weggenommene Herden. Reiter sah man wenig; auffallend aber waren die eleganten Wagen der Emigrierten, vielfarbig lackiert, vergoldet und versilbert, die ich wohl schon in Grevenmachern mochte bewundert haben. Die größte Not entstand aber da, wo die den Markt füllende Menge in eine zwar gerade und wohl gebaute, doch verhältnismäßig viel zu enge Straße ihren Weg einschlagen sollte. Ich habe in meinem Leben nichts Ähnliches gesehen; vergleichen aber ließ sich der Anblick mit einem erst über Wiesen und Anger ausgetretenen Strom, der sich nun wieder durch enge Brückenbogen durchdrängen und im beschränkten Bett weiter fließen soll. Die lange, aus unsern Fenstern übersehbare Straße hinab schwoll unaufhaltsam die seltsamste Woge; ein hoher zweisitziger Reisewagen ragte über der Flut empor. Er ließ uns an die schönen Französinnen denken; sie waren es aber nicht, sondern Graf Haugwitz, den ich mit einiger Schadenfreude Schritt vor Schritt dahinwackeln sah. Zum 11. Oktober. Ein gutes Essen war uns bereitet, die köstlichste Schöpsenkeule besonders willkommen; an gutem Wein und Brot fehlte es nicht, und so waren wir, neben dem größten Getümmel, in der schönsten Beruhigung: wie man auch wohl der stürmenden See, am Fuß eines Leuchtturms auf dem Steindamm sitzend, der wilden Wellenbewegung zusieht und dort und da ein Schiff ihrer Willkür preisgegeben. Aber uns erwartete in diesem gastlichen Haus eine wahrhaft herzergreifende Familienszene. Der Sohn, ein schöner junger Mann, hatte schon einige Zeit, hingerissen von den allgemeinen Gesinnungen, in Paris unter den Nationaltruppen gedient und sich dort hervorgetan. Als nun aber die Preußen eingedrungen, die Emigrierten mit der stolzen Hoffnung eines gewissen Sieges herangelangt waren, verlangten die nun auch zuversichtlichen Eltern dringend und wieder dringend, der Sohn solle seine dortige Lage, die er nunmehr verabscheuen müsse, eiligst aufgeben, zurückkehren und diesseits für die gute Sache fechten. Der Sohn, wider Willen, aus Pietät, kommt zurück, eben in dem Moment, da Preußen, Österreicher und Emigrierte retirieren; er eilt verzweiflungsvoll durch das Gedränge zu seinem Vaterhaus. Was soll er nun anfangen? Und wie sollen wir ihn empfangen? Freude, ihn wieder zu sehen, Schmerz ihn in dem Augenblick wieder zu verlieren, Verwirrung, ob Haus und Hof in diesem Sturm werde zu erhalten sein. Als junger Mann dem neuen Systeme günstig, kehrt er genötigt zu einer Partei zurück, die er verabscheut, und eben als er sich in diese Schicksal ergibt, sieht er diese Partei zugrunde gehen. Aus Paris entwichen, weiß er sich schon in das Sünden- und Todesregister geschrieben; und nun im Augenblick soll er aus seinem Vaterland verbannt, aus seines Vaters Haus gestoßen werden. Die Eltern, die sich gern an ihm letzen möchten, müssen ihn selbst wegtreiben, und er, in Schmerzenswonne des Wiedersehens, weiß nicht, wie er sich losreißen soll; die Umarmungen sind Vorwürfe, und das Scheiden, das vor unsern Augen geschieht, schrecklich. Unmittelbar vor unserer Stubentüre ereignete sich das alles auf der Hausflur. Kaum war es still geworden und die Eltern hatten sich weinend entfernt, als eine Szene, fast noch wunderbarer, auffallender, uns selbst ansprach, ja in Verlegenheit setzte und, obgleich herzergreifend genug, uns doch zuletzt ein Lächeln abnötigte. Einige Bauersleute, Männer, Frauen und Kinder, drangen in unsere Zimmer und warfen sich heulend und schreiend mit zu Füßen. Mit der vollen Beredsamkeit des Schmerzes und des Jammers klagten sie, dass man ihr schönes Rindvieh wegtreibe, sie schienen Pächter eines ansehnlichen Gutes; ich solle nur zum Fenster hinaussehen: eben treibe man sie vorbei, es hätten Preußen sich derselben bemächtigt; ich solle befehlen, solle Hilfe schaffen. Hierauf trat ich, um mich zu besinnen, ans Fenster, der leichtfertige Husar stellte sich hinter mich und sagte: "Verzeihen Sie! Ich habe Sie für den Schwager des Königs von Preußen ausgegeben, um gute Aufnahme und Bewirtung zu finden. Die Bauern hätten freilich nicht hereinkommen sollen; aber mit einem guten Wort weisen Sie die Leute an mich und schein überzeugt von meinen Vorschlägen." Was war zu tun? Überrascht und unwillig nahm ich mich zusammen und schien über die Umstände nachzudenken. Wird doch, sagt' ich zu mir selbst, List und Verschlagenheit im Krieg gerühmt! Wer sich durch Schelme bedienen lässt, kommt in Gefahr, von ihnen irregeführt zu werden. Ein Schakal, unnütz und beschämend, ist hier zu vermeiden. Und wie der Arzt in verzweifelten Fällen wohl noch ein Hoffnungsrezept verschreibt, entließ ich die guten Menschen mehr pantomimisch als mit Worten; dann sagt' ich mir zu meiner Beruhigung: Hatte doch bei Sivry der echte Thronfolger den bedrängten Leuten ihr Pferd nicht zusprechen können, so dürfte sich der untergeschobene Schwager des Königs wohl verzeihen, wenn er die Hilfsbedürftigen mit irgendeiner klugen, eingeflüsterten Wendung abzulehnen suchte. Wir aber gelangten in finsterer Nacht nach Spincourt; alle Fenster waren hell, zum Zeichen, dass alle Zimmer besetzt seien. An jeder Haustüre ward protestiert von den Einwohnern, die keine neuen Gäste, von den Einquartierten, die keine Genossen aufnehmen wollten. Ohne viel Umstände aber drang unser Husar ins Haus, und als er einige französische Soldaten in der Halle am Feuer fand, ersuchte er sie zudringlich, vornehmen Herren, die er geleite, eine Platz am Kamin einzuräumen. Wir traten zugleich herein; sie warne freundlich und rückten zusammen, setzten sich aber bald wieder in die wunderliche Positur, ihre aufgehobenen Füße gegen das Feuer zu strecken. Sie liefen auch wohl einmal im Saal hin und wider und kehrten bald in ihre vorige Lage zurück, und nun konnt' ich bemerken, dass es ihr eigentliches Geschäft sei, den unteren Teil ihrer Gamaschen zu trocknen. Gar bald aber erschienen sie mir als bekannt: es waren eben dieselbigen, die heute früh neben unserm Wagen im Schlamm so zierlich einher traten. Nun, früher als wir angelangt, hatten sie schon am Brunnen die untersten Teile gewaschen und gebürstet, trockneten sie nunmehr, um morgen früh neuem Schmutz und Unrat galant entgegenzugehen. Ein musterhaftes Betragen, an das man sich in manchen Fällen des Lebens wohl wieder zu erinnern hat! Auch dacht' ich dabei meiner lieben Kriegskameraden, die den Befehl zur Reinlichkeit murrend aufgenommen hatten. Doch uns dergestalt untergebracht zu haben, war dem klugen, dienstfertigen Liseur nicht genug; die Fiktion des Mittags, die sich so glücklich erwiesen hatte, ward kühnlich wiederholt: die hohe Generalsperson, der Schwager des Königs, wirkte mächtig und vertrieb eine ganze Masse guter Emigrierten aus einem Zimmer mit zwei Betten. Zwei Offiziere von Köhler nahmen wir dagegen in demselben Raum auf, Ich aber begab mich vor die Haustüre zu dem alten erprobten Schlafwagen, dessen Deichsel, diesmal nach Deutschland gekehrt, mir ganz eigene Gedanken hervorrief, die jedoch durch ein schnelles Einschlummern gar bald abgeschnitten wurden. Den 12. Oktober. Der heutige Weg erschien noch trauriger als der gestrige: ermattete Pferde waren öfter gefallen und lagen mit umgestürzten Wagen häufiger neben der Hochstraße auf den Wiesen. Aus den geborstenen Decken der Rüstwagen fielen gar niedliche Mantelsäcke, einem Emigriertenkorps gehörig, hervor; das bunte, zierliche Ansehen dieses herrenlosen, aufgegebenen Gutes lockte die Besitzlust der Vorbeiwandernden, und mancher bepackte sich mit einer Last, die er zunächst auch wieder abwerfen sollte. Daraus mag denn wohl die Rede entstanden sein, auf dem Rückzug seien Emigrierte von Preußen geplündert worden. Von ähnlichen Vorfällen erzählte man auch manches Scherzhafte. Ein schwer beladener Emigrantenwagen war ebenermaßen an einer Anhöhe stecken geblieben und verlassen worden. Nachfolgende Truppen untersuchen den Inhalt, finden Kästchen von mäßiger Größe, auffallend schwer, belästigen sich gemeinschaftlich damit und schleppen sie mit unsäglicher Mühe auf die nächste Höhe. Hier wollen sie nun in die Beute und in die Last sich teilen: aber welch ein Anblick! Aus jedem zerschlagenen Kasten fällt eine Unzahl Kartenspiele hervor, und die Goldlustigen trösten sich im wechselseitigen Spott durch Lachen und Possen. Wir aber zogen durch Longuyon nach Longwy; und hier muss man, indem die Bilder bedeutender Freudenszenen aus dem Gedächtnis verschwinden, sich glücklich schätzen, dass auch widerwärtige Gräuelbilder sich vor der Einbildungskraft abstumpfen. Was soll ich also wiederholen, dass die Wege nicht besser wurden, dass man nach wie vor zwischen umgestürzten wagen abgedeckte und frisch ausgeschnittene Pferde aber- und abermals rechts und links verabscheute! Von Büschen schlecht bedeckte, geplünderte und ausgezogene Menschen konnte man oft genug bemerken, und endlich lagen auch die vor dem offenen Blick neben der Straße. Uns sollte jedoch auf einem Seitenweg abermals Erquickung und Erholung werden, dagegen aber auch traurige Betrachtungen über den Zustand des wohlhabenden, gutmütigen Bürgers in schrecklichem, diesmal ganz unerwartetem Kriegsunheil. Den 13. Oktober. Unser Führer wollte nicht freventlich seine braven, wohlhabenden Verwandten in dieser Gegend gerühmt haben; er ließ uns deshalb einen Umweg machen über Arlon, wo wir in einem schönen Städtchen, bei ansehnlichen und wackern Leuten, in einem wohl gebauten und gut eingerichteten Haus, von ihm angemeldet, gar freundlich aufgenommen wurden. Die guten Personen freuten sich selbst ihres Vetters, glaubten gewisse Besserung und nächste Beförderung schon in dem Auftrag zu sehen, dass er uns mit zwei Wagen, so viel Pferden und, wie er ihnen glauben gemacht hatte, mit vielem Geld und Kostbarkeiten aus dem gefährlichsten Gewirr herauszuführen beehrt worden. Auch wir konnten seiner bisherigen Leitung das beste Zeugnis geben, und ob wir gleich an die Bekehrung dieses verlorenen Sohnes nicht sonderlich glauben konnten, so waren wir ihm doch diesmal so viel schuldig geworden, dass wir auch seinem künftigen Betragen einiges Zutrauen nicht ganz verweigern durften. Der Schelm verfehlte nicht, mit schmeichelhaftem Wesen das Seinige zu tun, und erhielt wirklich in der Stille von den braven Leuten ein artiges Geschenk in Gold. Wir erquickten uns dagegen an gutem, kaltem Frühstück und dem trefflichsten Wein und beantworteten die Fragen der freilich auch sehr erstaunten, wackeren Leute wegen der wahrscheinlichen nächsten Zukunft so schonend als möglich. Vor dem Haus hatten wir ein paar sonderbare Wagen bemerkt, länger und teilweise höher als gewöhnliche Rüstwagen, auch an der Seite mit wunderlichen Ansätzen geformt. Mit rege gewordener Neugier fragte ich nach diesem seltsamen Fuhrwerk; man antwortete mir zutraulich, aber mit Vorsicht: es sei darin die Assignatenfabrik der Emigrierten enthalten, und bemerkte dabei, was für ein grenzenloses Unglück dadurch über die Gegend gebracht worden. Denn da man sich seit einiger Zeit der echten Assignate kaum erwehren könne, so habe man nun auch, seit dem Einmarsch der Alliierten, diese falschen in Umlauf gezwungen. Aufmerksame Handelsleute hätten dagegen sogleich, ihrer Sicherheit willen, diese verdächtige Papierware nach Paris zu senden und sich von dorther offizielle Erklärung ihrer Falschheit zu verschaffen gewusst; dies verwirre aber Handel und Wandel ins Unendliche: denn da man bei den echten Assignaten sich nur zum Teil gefährdet finde, bei den falschen aber gewiss gleich um das Ganze betrogen sei, auch beim ersten Anblick niemand sie zu unterscheiden vermöge, so wisse kein Mensch mehr, was er geben und was er empfangen solle; dies verbreite schon bis Luxemburg und Trier solche Ungewissheit, Misstrauen und Bangigkeit, dass nunmehr von allen Seiten das Elend nicht größer werden könne. Bei allen solchen erlittenen und noch zu fürchtenden Unbilden zeigen sich diese Personen in bürgerlicher Würde, Freundlichkeit und gutem Benehmen zu unserer Verwunderung, wovon uns in den französischen ernsten Dramen alter und neuer Zeit ein Abglanz herüber gekommen ist. Von einem solchen Zustand können wir uns in eigener vaterländischer Wirklichkeit und ihrer Nachbildung keinen Begriff machen. Die petite ville mag lächerlich sein, die deutschen Kleinstädter sind dagegen absurd. Den 14. Oktober. Sehr angenehm überrascht fuhren wir von Arlon nach Luxemburg auf der besten Kunststraße und wurden in diese sonst so wichtige und wohlverwahrte Festung eingelassen wie in jedes Dorf, in jeden Flecken. Ohne irgend angehalten oder befragt zu werden, sahen wir uns nach und nach innerhalb der Außenwerke, der Wälle, Gräben, Zugbrücken, Mauern und Tore, unserm Führer, der Mutter und Vater hier zu finden vorgab, das weitere vertrauend. Überdrängt war die Stadt von Blessierten und Kranken, von tätigen Menschen, die sich selbst, Pferde und Fuhrwerk wieder herzustellen trachteten. Unsere Gesellschaft, die sich bisher zusammengehalten hatte, musste sich trennen; mir verschaffte der gewandte Quartiermeister ein hübsches Zimmer, das aus dem engsten Höfchen, wie aus einer Feueresse, doch bei sehr hohen Fenstern genugsames Licht erhielt. Hier wusste er mich mit meinem Gepäck und sonst gar wohl einzurichten und für alle Bedürfnisse zu sorgen; er gab mir den Begriff von den Haus- und Mietleuten des Gebäudes und versicherte, dass ich gegen eine kleine Gabe so bald nicht ausgetrieben und wohl behandelt werden sollte. Hier konnt' ich nun zum ersten Mal den Koffer wieder aufschließen und mich meiner Reisehabseligkeiten, des Geldes, der Manuskripte wieder versichern. Das Konvolut zur Farbenlehre bracht' ich zuerst in Ordnung, immer meine früheste Maxime vor Augen: die Erfahrung zu erweitern und die Methode zu reinigen. Ein Kriegs- und Reisetagebuch mocht' ich gar nicht anrühren. Der unglückliche Verlauf der Unternehmung, der noch Schlimmeres befürchten ließ, gab immer neuen Anlass zum Wiederkäuen des Verdrusses und zu neuem Aufregen der Sorge. Meine stille, von jedem Geräusch abgeschlossene Wohnung gewährte mir wie eine Klosterzelle vollkommenen Raum zu den ruhigsten Betrachtungen, dagegen ich mich, sobald ich nur den Fuß vor die Haustüre hinaussetzte, in dem lebendigsten Kriegsgetümmel befand und nach Lust das wunderlichste Lokal durchwandeln konnte, das vielleicht in der Welt zu finden ist. Den 15. Oktober. Wer Luxemburg nicht gesehen hat, wird sich keine Vorstellung von diesem an- und übereinander gefügten Kriegsgebäude machen. Die Einbildungskraft verwirrt sich, wenn man die seltsame Mannigfaltigkeit wieder hervorrufen will, mit der sich das Auge des hin und her gehenden Wanderers kaum befreunden konnte. Plan und Grundriss vor sich zu nehmen wird nötig sein, nachstehendes nur einigermaßen verständlich zu finden. Ein Bach, Petrus genannt, erst allein, dann, verbunden mit dem entgegenkommenden Fluss, die Elze, schlingt sich mäanderartig zwischen Felsen durch und um sie herum, bald im natürlichen Lauf, bald durch Kunst genötigt. Auf dem linken Ufer liegt hoch und flach die alte Stadt; sie, mit ihren Festungswerken nach dem offenen Lande zu, ist andern befestigten Städten ähnlich. Als man nun für die Sicherheit derselben nach Westen Sorge getragen, sah man wohl ein, dass man sich auch gegen die Tiefe, wo das Wasser fließt, zu verwahren habe; bei zunehmender Kriegskunst war auch das nicht hinreichend, man musste, auf dem rechten Ufer des Gewässers, nach Süden, Osten und Norden auf ein- und ausspringenden Winkeln unregelmäßiger Felspartien neue Schanzen vorschieben, nötig immer eine zur Beschützung der andern. Hieraus entstand nun eine Verkettung unübersehbarer Bastionen, Redouten, halber Monde und solches Zangen- und Krakelwerk, als nur die Verteidigungskunst im seltsamsten Fall zu leisten vermochte. Nichts kann deshalb einen wunderlichern Anblick gewähren, als das mitten durch dies alles am Fluss sich hinab ziehende enge Tal, dessen wenige Flächen, dessen sanft oder steil aufsteigende Höhen zu Gärten angelegt, in Terrassen abgestuft und mit Lusthäusern belebt sind; von wo aus man auf die steilsten Felsen, auf hoch getürmte Mauern rechts und links hinaufschaut. Hier findet sich so viel Größe mit Anmut, so viel Ernst mit Lieblichkeit verbunden, dass wohl zu wünschen wäre, Poussin hätte sein herrliches Talent in solchen Räumen betätigt. Nun besaßen die Eltern unseres lockeren Führers in dem Pfaffental einen artigen abhängigen Garten, dessen Genuss sie mir gern und freundlich überließen. Kirche und Kloster, nicht weit entfernt, rechtfertigte den Namen dieses Elysiums, und in dieser geistlichen Nachbarschaft schien auch den weltlichen Bewohnern Ruh' und Friede verheißen, ob sie gleich mit jedem Blick in die Höhe an Krieg, Gewalt und Verderben erinnert wurden. Jetzt nun aber aus der Stadt, wo das unselige Kriegsnachspiel mit Lazaretten, abgerissenen Soldaten, zerstückten Waffen, herzustellenden Achsen, Rädern und Lafetten, zugleich mit sonstigen Trümmern aller Art aufgeführt wurde, in eine solche Stille zu flüchten, war höchst wohltätig; aus den Straßen zu entweichen, wo Wagner, Schmiede und andere Gewerke ihr Wesen öffentlich unermüdet und geräuschvoll trieben, und sich in das Gärtchen im geistlichen Tal zu verbergen, war höchst behaglich. Hier fand ein Ruh- und Sammlungsbedürftiger das willkommenste Asyl. Den 16. Oktober. Die allen Begriff übersteigende Mannigfaltigkeit der auf- und aneinander getürmten, gefügten Kriegsgebäude, die bei jedem Schritt vor- oder rückwärts, auf- oder abwärts ein anderes Bild zeigten, riefen die Lust hervor, wenigstens etwas davon aufs Papier zu bringen. Freilich musste diese Neigung auch wieder einmal sich regen, da seit so viel Wochen mir kaum ein Gegenstand vor die Augen gekommen, der sie geweckt hätte. Unter andern fiel es sonderbar auf, dass so manche gegeneinander über stehende Felsen, Mauern und Verteidigungswerke in der Höhe durch Zugbrücken, Galerien und gewisse wunderliche Vorrichtungen verbunden waren. Irgendjemand vom Metier hätte dieses alles mit Kunstaugen angesehen und sich mit Soldatenblick der sichern Einrichtung erfreut; ich aber konnte nur den malerischen Effekt ihr abgewinnen und hätte gar zu gern, wäre nicht alles Zeichnen an und in den Festungen höchlich verpönt, meine Nachbildungskräfte hier in Übung gesetzt. Den 19. Oktober. Nachdem ich nun also mehrere Tage in diesen Labyrinthen, wo Naturfels und Kriegsgebäu wetteifernd seltsam steile Schluchten gegeneinander aufgetürmt und daneben Pflanzenwachstum, Baumzucht und Luftgebüsch nicht ausgeschlossen, mich sinnend und denkend einsam genug herum gewunden hatte. Fing ich an, nach Hause kommend, die Bilder, wie sie sich der Einbildungskraft nach und nach einprägten, aufs Papier zu bringen, unvollkommen zwar, doch hinreichend, das Andenken eines höchst seltsamen Zustandes einigermaßen festzuhalten. Den 20. Oktober. Ich hatte Zeit gewonnen, das kurz Vergangene zu überdenken, aber je mehr man dachte, je verworrener und unsicherer ward alles vor dem Blick. Auch sah ich, dass wohl das Notwendigste sein möchte, sich auf das unmittelbar Bevorstehende zu bereiten. Die wenigen Meilen bis Trier mussten zurückgelegt werden; aber was mochte dort zu finden sein, da nun die Herren selbst mit andern Flüchtlingen sich nachdrängten! Als das Schmerzlichste jedoch, was einen jeden, mehr oder weniger resigniert wie er war, mit einer Art von Furienwut ergriff, empfand man die Kunde, die sich nicht verbergen ließ, dass unsere höchsten Heerführer mit den vermaledeiten, durch das Manifest dem Untergang gewidmeten, durch die schrecklichsten Taten abscheulich dargestellten Aufrührern doch übereinkommen, ihnen die Festungen übergeben mussten, um nur sich und den Ihrigen eine mögliche Rückkehr zu gewinnen. Ich habe von den Unsrigen gesehen, für welche der Wahnsinn zu fürchten war. Den 22. Oktober. Auf dem Weg nach Trier fand sich bei Grevenmachern nichts mehr von jener galanten Wagenburg; öde, wüst und zerfahren lagen die Anger, und die weit und breiten Spuren deuteten auf jenes vorübergegangene flüchtige Dasein. Am Posthaus fuhr ich diesmal mit requirierten Pferden ganz im stillen vorbei, das Briefkästchen stand noch auf seinem Platz, kein Gedränge war umher, man konnte sich der wunderlichsten Gedanken nicht erwehren. Doch ein herrlicher Sonnenblick belebte soeben die Gegend, als mir das Monument von Igel, wie der Leuchtturm einem nächtlich Schiffenden, entgegenglänzte. Vielleicht war die Macht des Altertums nie so gefühlt worden als an diesem Kontrast: ein Monument, zwar auch kriegerischer Zeiten, aber doch glücklicher, siegreicher Tage und eines dauernden Wohlbefindens rühriger Menschen in dieser Gegend. Obgleich in später Zeit, unter den Antoninen, erbaut, behält es immer noch von trefflicher Kunst so viel Eigenschaften übrig, dass es uns im ganzen anmutig-ernst zuspricht und aus seinen, obgleich sehr beschädigten Teilen das Gefühl eines fröhlich-tätigen Daseins mitteilt. Es hielt mich lange fest; ich notierte manches, ungern scheidend, da ich mich nur desto unbehaglicher in meinem erbärmlichen Zustand fühlte. Doch auch jetzt wechselte schnell wieder eine freudige Aussicht in der Seele, die blad darauf zur Wirklichkeit gelangte. Den 23. Oktober. Wir brachten unserm Freunde, Leutnant von Fritsch, den wir auf seinem Posten widerwillig zurückgelassen, die erwünschte Nachricht, dass er den Militär-Verdienstorden erhalten habe, mit Recht, wegen einer braven Tat, und mit Glück, ohne an unserm Jammer teilgenommen zu haben. Die Sache verhielt sich aber also. Die Franzosen, weil sie uns weit genug ins Land vorgedrungen, uns in bedeutender Entfernung, in großer Not wussten, versuchten im Rücken einen unvermuteten Streich. Sie näherten sich Trier in bedeutender Anzahl, sogar mit Kanonen. Leutnant von Fritsch erfährt es, und mit weniger Mannschaft geht er dem Feind entgegen, der, über die Wachsamkeit stutzend, mehr anrückende Truppen befürchtend, nach kurzem Gefecht sich bis Merzig zurückzieht und nicht wieder erscheint. Dem Freund war das Pferd blessiert, durch dieselbe Kugel sein Stiefel gestreift, dagegen er aber auch, als Sieger zurückkehrend, aufs beste empfangen wird. Der Magistrat, die Bürgerschaft erzeigen ihm alle mögliche Aufmerksamkeit; auch die Frauenzimmer, die ihn bisher als einen hübschen jungen Mann gekannt, erfreuen sich nun doppelt an ihm als einem Helden. Sogleich berichtet er seinem Chef den Vorfall, der, wie billig, dem König vorgetragen wird, worauf denn der blaue Kreuzstern erfolgt. Die Glückseligkeit des braven Jünglings, dessen lebhafteste Freude mitzufühlen, war ein ungemeiner Genuss; ihn hatte das Glück, das uns vermied, in unserm Rücken aufgesucht, und er sah sich für den militärischen gehorsam belohnt, der ihn an einer untätigen Lage zu fesseln schien. Den 24. Oktober. Der Freund hatte mir bei jenem Kanonikus abermals Quartier verschafft. Auch ich war von der allgemeinen Krankheit nicht ganz frei geblieben und bedurfte daher einiger Arznei und Schonung. In diesen ruhigen Stunden nahm ich sogleich die kurzen Bemerkungen vor, die ich bei dem Monument zu Igel aufgezeichnet hatte. Soll man den allgemeinsten Eindruck aussprechen, so ist hier Leben dem Tod, Gegenwart der Zukunft entgegengestellt und beide untereinander im ästhetischen Sinn aufgehoben. Dies war die herrliche Art und Weise der Alten, die sich noch lange genug in der Kunstwelt erhielt. Die Höhe des Monuments kann 70 Fuß betragen, es steigt in mehreren architektonischen Abteilungen obeliskenartig hinauf: erst der Grund, auf diesem ein Sockel, sodann die Hauptmasse, darüber eine Attike, sodann ein Fronton und zuletzt eine wundersam sich aufschlingende Spitze, wo sich die Reste einer Kugel und eines Adlers zeigen. Jede dieser Abteilungen ist mit den Gliedern, aus denen sie besteht, durchaus mit Bildern und Zierraten geschmückt. Diese Eigenschaft deutet denn freilich auf spätere Zeiten: denn dergleichen tritt ein, sobald sich die reine Proportion im Ganzen verliert, wie denn auch hier daran manches zu erinnern sein möchte. Dessen ungeachtet muss man anerkennen, das dieses Werk auf eine erst kurz vergangene, höhere Kunst gegründet ist. So waltet denn auch über das Ganze der antike Sinn, in dem das wirkliche Leben dargestellt wird, allegorisch gewürzt durch mythologische Andeutungen. In dem Hauptfeld Mann und Frau von kolossaler Bildung, sich die Hände reichend, durch eine dritte, verloschene Figur, als einer Segnenden, verbunden. Sie stehen zwischen zwei sehr verzierten, mit übereinander gestellten tanzenden Kindern geschmückten Pilastern. Alle Flächen sodann deuten auf die glücklichsten Familienverhältnisse, überein denkende und -wirkende Verwandte, redliches, genussreiches Zusammenleben darstellend. Aber eigentlich waltet überall die Tätigkeit vor; ich getraue mir jedoch nicht alles zu erklären. In einem Feld scheinen sich Geschäft-überlegende Handelsleute versammelt zu haben; offenbar aber sind beladene schiffe, Delphine als Verzierung, Transport auf Saumrossen, Ankunft von waren und deren Beschauen, und was sonst noch Menschliches und Natürliches mehr vorkommen dürfte. Sodann aber auch im Zodiak ein rennendes Pferd, das vielleicht vormals Wagen und Lenker hinter sich zog, in Friesen, sodann sonstigen Räumen und Giebelfeldern Bacchus, Faunen, Sol und Luna, und was sonst noch Wunderbares Knopf und Gipfel verzieren und verziert haben mag. Das Ganze ist höchst erfreulich, und man könnte, auf der Stufe, wo heutzutage Bau- und Bildkunst stehen, in diesem Sinn ein herrliches Denkmal den würdigsten Menschen, ihren Lebensgenüssen und Verdiensten gar wohl errichten. Und so war es mir denn recht erwünscht, mit solchen Betrachtungen beschäftigt, den Geburtstag unserer verehrten Herzogin Amalie im Stillen zu feiern, ihr Leben, ihr edles Wirken und wohl Tun umständlich zurückzurufen; woraus sich denn ganz natürlich die Aufregung ergab, ihr in Gedanken einen gleichen Obelisk zu widmen und die sämtlichen Räume mit ihren individuellen Schicksalen und Tugenden charakteristisch zu verzieren. Trier, den 25. Oktober. Die mir nunmehr gegönnte Ruh' und Bequemlichkeit benutzte ich nun, ferner manches zu ordnen und aufzubewahren, was ich in den wildesten Zeiten bearbeitet hatte. Ich rekapitulierte und redigierte meine chromatischen Akten, zeichnete mehrere Figuren zu den Farbentafeln, die ich oft genug veränderte, um das, was ich darstellen und behaupten wollte, immer anschaulicher zu machen. Hierauf dacht' ich denn auch, meinen dritten Teil von Fischers physikalischem Lexikon wieder zu erlangen. Auf Erkundigung und Nachforschen fand ich endlich die Küchenmagd im Lazarett, das man mit ziemlicher Sorgfalt in einem Kloster errichtet hatte. Sie litt an der allgemeinen Krankheit, doch waren die Räume luftig und reinlich; sie erkannte mich, konnte aber nicht reden, nahm den Band unter dem Haupt hervor und übergab mir ihn so reinlich und wohl erhalten, als ich ihn überliefert hatte, und ich hoffe, die Sorgfalt, der ich sie empfahl, wird ihr zugute gekommen sein. Ein junger Schullehrer, der mich besuchte und mir verschiedene der neuesten Journale mitteilte, gab Gelegenheit zu erfreulichen Unterhaltungen. Er verwunderte sich, wie so viel andere, dass ich von Poesie nichts wissen wolle, dagegen auf Naturbetrachtungen mich mit ganzer Kraft zu werfen schien. Er war in der Kantischen Philosophie unterrichtet, und ich konnte ihm daher auf den Weg deuten, den ich eingeschlagen hatte. Wenn Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" der ästhetischen Urteilskraft die teleologische zur Seite stellt, so ergibt sich daraus, dass er andeuten wolle: ein Kunstwerk solle wie ein Naturwerk, ein Naturwerk wie ein Kunstwerk behandelt und der Wert eines jeden aus sich selbst entwickelt, an sich selbst betrachtet werden. Über solche Dinge konnte ich sehr beredet sein und glaube, dem guten jungen Mann einigermaßen genutzt zu haben. Es ist wundersam, wie eine jede Zeit Wahrheit und Irrtum aus dem kurz Vergangenen, ja dem längst Vergangenen mit sich trägt und schleppt, muntere Geister jedoch sich auf neuer Bahn bewegen, wo sie sich's denn freilich gefallen lassen, meist allein zu gehen oder einen Gesellen auf eine kurze Strecke mit sich fortzuziehen. Tier, den 26. Oktober. Nun durfte man aber aus solchen ruhigen Umgebungen nicht heraustreten, ohne sich wie im Mittelalter zu finden, wo Klostermauern und der tollste unregelmäßigste Kriegszustand miteinander immerfort kontrastierten. Besonders jammerten einheimische Bürger sowie zurückkehrende Emigrierte über das schreckliche Unheil, was durch die falschen Assignaten über Stadt und Land gekommen war. Schon hatten Handelshäuser gewusst, dergleichen nach Paris zu bringen, und von dort die Falschheit, völlige Ungültigkeit, die höchste Gefahr vernommen, sich mit dergleichen nur irgend abzugeben. Dass die echten gleichfalls dadurch in Misskredit gerieten, dass man bei völliger Umkehrung der Dinge auch wohl die Vernichtung aller dieser Papiere zu fürchten habe, fiel jedermann auf. Dieses ungeheure Übel nun gesellte sich zu den übrigen, so dass es vor der Einbildungskraft und dem Gefühl ganz grenzenlos erschien: ein verzweiflungsvoller Zustand, demjenigen ähnlich, wenn man eine Stadt vor sich niederbrennen sieht. Trier, den 28. Oktober. Die Wirtstafel, an der man übrigens ganz wohl versorgt war, gab auch ein Sinne verwirrendes Schauspiel: Militärs und Angestellte, allerart Uniform, Farben und Trachten, im stillen missmutig, auch wohl in Äußerungen heftig, aber alle wie in einer gemeinsamen Hölle zusammengefasst. Daselbst begegnete mir ein wahrhaft rührendes Ereignis. Ein alter Husarenoffizier, mittlerer Größe, grauen Bartes und Haares und funkelnden Auges, kam nach Tisch auf mich zu, ergriff mich bei der Hand und fragte: ob ich denn das alles auch mit ausgestanden habe? Ich konnte ihm einiges von Valmy und Hans erzählen, woraus er sich denn gar wohl das übrige nachbilden konnte. Hierauf fing er mit Enthusiasmus und warmem Anteil zu sprechen an, Worte, die ich nachzuschreiben kaum wage, des Inhalts: es sei schon unverantwortlich, dass man sie, deren Metier und Schuldigkeit es bleibe, dergleichen Zustände zu erdulden und ihr Leben dabei zuzusetzen, in solche Not geführt, die vielleicht kaum jemals erhört worden; dass aber auch ich -- er drückte seine gute Meinung über meine Persönlichkeit und meine Arbeiten aus -- das hätte mit erdulden sollen, darüber wollt' er sich nicht zufrieden geben. Ich stellte ihm die Sache von der heiteren Seite vor, von der Seite, mit meinem Fürsten, dem ich nicht ganz unnütz gewesen, mit so vielen wackren Kriegsmännern, zu eigner Prüfung diese wenigen Wochen her geduldet zu haben; allein er blieb bei seiner Rede, indessen ein Zivilist zu uns trat und dagegen erwiderte: man sei mir Dank schuldig, dass ich das alles mit ansehen wollen, indem man sich nun gar wohl von meiner geschickten Feder Darstellung und Aufklärung erwarten könne. Der alte Degen wollte davon auch nichts wissen und rief: "Glaubt es nicht, er ist viel zu klug! Was er schreiben dürfte, mag er nicht schreiben, und was er schreiben möchte, wird er nicht schreiben." Übrigens mochte man kaum hie und da hinhorchen, der Verdruss war grenzenlos. Und wie es schon eine verdrießliche Empfindung erregt, wenn glückliche Menschen nicht ablassen, uns ihr Behagen vorzurechnen, so ist es noch viel unausstehlicher, wenn uns ein Unheil, das wir selbst aus dem Sinn schlagen möchten, immer wiederkäuend vorgetragen wird. Von den Franzosen, die man hasste, aus dem Land gedrängt zu sein, genötigt, mit ihnen zu unterhandeln, mit den Männern des 10. Augusts sich zu befreunden, das alles war für Geist und Gemüt so hart, als bisher die körperliche Duldung gewesen. Man schonte der obersten Leitung nicht, und das Vertrauen, das man dem berühmten Feldherrn so lange Jahre gegönnt hatte, schien für immer verloren. Trier, den 29. Oktober. Als man sich nun auf deutschem Grund und Boden wieder fand und aus der ungeheuersten Verwirrung zu entwickeln hoffen durfte, traf uns die Nachricht von Custinens verwegenen und glücklichen Unternehmungen. Das große Magazin zu Speyer war in seine Hände geraten, er hatte darauf gewusst, eine Übergabe von Mainz zu bewirken. Diese Schritte schienen die grenzenlosesten Übel nach sich zu ziehen, sie deuteten auf einen außerordentlichen, so kühnen als folgerechten Geist, und da musste denn schon alles verloren sein. Nichts fand man wahrscheinlicher und natürlicher, als dass auch schon Koblenz von den Franken besetzt sei -- und wie sollten wir unsern Rückweg antreten! Frankfurt gab man in Gedanken gleichfalls auf; Hanau und Aschaffenburg an einer, Kassel an der anderen Seite sah man bedroht, und was nicht alles zu fürchten! Vom unseligen Neutralitätssystem die nächsten Fürsten paralysiert, desto lebendig-tätiger die von revolutionären Gesinnungen ergriffene Masse. Sollte man, wie Mainz bearbeitet worden, nicht auch die Gegend und die nächst anstoßenden Provinzen zu Gesinnungen vorbereiten und die schon entwickelten schleunig benutzen? Das alles musste zum Bedanken, zur Sprache kommen. Öfters hört' ich wiederholen: sollten die Franzosen wohl ohne große Überlegung und Umsicht, ohne starke Heeresmacht solche bedeutende Schritte getan haben? Custinens Handlungen schienen so kühn als vorsichtig; man dachte sich ihn, seine Gehilfen, seine Obern als weise, kräftige, konsequente Männer. Die Not war groß und Sinne verwirrend, unter allen bisher erduldeten Leiden und Sorgen ohne Frage die größte. Mitten in diesem Unheil und Tumult fand mich ein verspäteter Brief meiner Mutter, ein Blatt, das an jugendlich-ruhige, städtisch-häusliche Verhältnisse gar wundersam erinnerte. Mein Oheim, Schöff Textor, war gestorben, dessen nahe Verwandtschaft mich von der ehrenhaft wirksamen Stelle eines Frankfurter Ratsherrn bei seinen Lebzeiten ausschloss, worauf man, herkömmlich löblicher Sitte gemäß, meiner sogleich gedachte, der ich unter den Frankfurter Graduierten ziemlich weit vorgerückt war. Meine Mutter hatte den Auftrag erhalten, bei mir anzufragen: ob ich die Stelle eines Ratsherrn annehmen würde, wenn mir, unter die Losenden gewählt, die goldene Kugel zufiele? Vielleicht konnte eine solche Anfrage in keinem seltsamern Augenblick anlangen als in dem gegenwärtigen; ich war betroffen, in mich selbst zurückgewiesen, tausend Bilder stiegen mir auf und ließen mich nicht zu Gedanken kommen. Wie aber ein Kranker oder Gefangener sich wohl im Augenblick an einem erzählten Märchen zerstreut, so wahr auch ich in andere Sphären und Jahre versetzt. Ich befand mich in meines Großvaters Garten, wo die reich mit Pfirsichen gesegneten Spaliere des Enkels Appetit gar lüstern ansprachen und nur die angedrohte Verweisung aus diesem Paradies, nur die Hoffnung, die reifste, rotbäckigste Frucht aus des wohltätigen Ahnherrn eigner Hand zu erhalten, solche Begierde bis zum endlichen Termin einigermaßen beschwichtigen konnte. Sodann erblickt' ich den ehrwürdigen Altvater um seine Rosen beschäftigt, wie er gegen die Dornen mit altertümlichen Handschuhen, als Tribut überreicht von Zoll befreiten Städten, sich vorsichtig verwahrte, dem edlen Laertes gleich, nur nicht wie dieser sehnsüchtig und kummervoll. Dann erblickt' ich ihn im Ornat als Schultheiß, mit der goldnen Kette, auf dem Thronsessel unter des Kaisers Bildnis; sodann leider im halben Bewusstsein einige Jahre auf dem Krankenstuhl und endlich im Sarg. Bei meiner letzten Durchreise durch Frankfurt hatte ich meinen Oheim im Besitz des Hauses, Hofes und Gartens gefunden, der als wackrer Sohn, dem Vater gleich, die höheren Stufen freistädtischer Verfassung erstieg. Hier, im traulichen Familienkreis, in dem unveränderten, alt bekannten Lokal riefen sich jene Knabenerinnerungen lebhaft hervor und traten mir nun neukräftig vor die Augen. Sodann gesellten sich zu ihnen andere jugendliche Vorstellungen, die ich nicht verschweigen darf. Welcher reichstädtische Bürger wird leugnen, dass er, früher oder später, den Ratsherrn, Schöff und Bürgermeister im Auge gehabt und, seinem Talent gemäß, nach diesen, vielleicht auch nach minderen Stellen emsig und vorsichtig gestrebt: denn der süße Gedanke, an irgendeinem Regiment teilzunehmen, erwacht gar bald in der Brust eines jeden Republikaners, lebhafter und stolzer schon in der Seele des Knaben. Diesen freundlichen Kinderträumen konnt' ich mich jedoch nicht lange hingeben; nur allzu schnell aufgeschreckt, besah ich mir die ahnungsvolle Lokalität, die mich umfasste, die traurigen Umgebungen, die mich beengten, und zugleich die Aussicht nach der Vaterstadt getrübt, ja verfinstert. Mainz in französischen Händen, Frankfurt bedroht, wo nicht schon eingenommen, der Weg dorthin versperrt und innerhalb jener Mauern, Straßen, Plätze, Wohnungen, Jugendfreunde, Blutverwandte vielleicht schon von demselben Unglück ergriffen, daran ich Longwy und Verdun so grausam hatte leiden sehen -- wer hätte gewagt, sich in solchen Zustand zu stürzen! Aber auch in der glücklichsten Zeit jenes ehrwürdigen Staatskörpers wäre mir nicht möglich gewesen, auf diesen Antrag einzugehen; die Gründe waren nicht schwer auszusprechen. Seit zwölf Jahren genoss ich eines seltenen Glückes, des Vertrauens wie der Nachsicht des Herzogs von Weimar. Dieser von der Natur höchst begünstigte, glücklich ausgebildete Fürst ließ sich meine wohlgemeinten, oft unzulänglichen Dienste gefallen und gab mir Gelegenheit, mich zu entwickeln, welches unter keiner andern vaterländischen Bedingung möglich gewesen wäre; meine Dankbarkeit war ohne Grenzen, so wie die Anhänglichkeit an die hohen Frauen Gemahlin und Mutter, an die heranwachsende Familie, an ein Land, dem ich doch auch manches geleistet hatte. Und musste ich nicht zugleich jenes Zirkels neu erworbener höchst gebildeter Freunde gedenken, auch so manches andern häuslich Lieben und Guten, was sich aus meinen treu beharrlichen Zuständen entwickelt hatte! Diese bei solcher Gelegenheit abermals erregten Bilder und Gefühle erheiterten mich auf einmal in dem betrübtesten Augenblick: denn man ist schon halb gerettet, wenn man aus traurigster Lage im fremden Land einen hoffnungsvollen Blick in die gesicherte Heimat zu tun aufgeregt wird; so genießen wir diesseits auf Erden, was uns jenseits der Sphären zugesagt ist. In solchem Sinn begann ich den Brief an meine Mutter, und wenn sich diese Beweggründe zunächst auf mein Gefühl, auf persönliches Behagen, individuellen Vorteil zu beziehen schienen, so hatt' ich noch andere hinzuzufügen, die auch das Wohl meiner Vaterstadt berücksichtigten und meine dortigen Gönner überzeugen konnten. Denn wie sollt' ich mich in dem ganz eigentümlichen Kreis tätig wirksam erzeigen, wozu man vielleicht mehr als zu jedem andern treulich herangebildet sein muss? Ich hatte mich seit so viel Jahren zu Geschäften, meinen Fähigkeiten angemessen, gewöhnt, und zwar solchen, die zu städtischen Bedürfnissen und Zwecken kaum verlangt werden möchten. Ja, ich durfte hinzufügen, dass, wenn eigentlich nur Bürger in den rat aufgenommen werden sollten, ich nunmehr jenem Zustand so entfremdet sei, um mich völlig als einen Auswärtigen zu betrachten. Dieses alles gab ich meiner Mutter dankbar zu erkennen, welche sich auch wohl nichts anderes erwartete. Freilich mag dieser Brief spät genug zu ihr gelangt sein. Trier, den 29. Oktober. Mein junger Freund, mit dem ich gar manche angenehme wissenschaftliche und literarische Unterhaltung genoss, war auch im Geschichtlichen der Stadt und Umgebung gar wohl erfahren. Unsere Spaziergänge bei leidlichem Wetter waren deshalb immer belehrend, und ich konnte mir das Allgemeinste merken. Die Stadt an sich hat einen auffallenden Charakter: sie behauptet, mehr geistliche Gebäude zu besitzen als irgendeine andere von gleichem Umfang, und möchte ihr dieser Ruhm wohl kaum zu leugnen sein; denn sie ist innerhalb der Mauern von Kirchen, Kapellen, Klöstern, Konventen, Kollegien, Ritter- und Brüdergebäuden belastet, ja erdrückt, außerhalb von Abteien, Stiftern, Kartausen blockiert, ja belagert. Dieses zeugt denn von einem weiten geistlichen Wirkungskreis, welchen der Erzbischof sonst von hier aus beherrschte; denn seine Diözes war auf Metz, Toul und Verdun ausgedehnt. Auch dem weltlichen Regiment fehlt es nicht an schönen Besitztümern, wie denn der Kurfürst von Trier auf beiden Seiten der Mosel ein herrliches Land beherrscht; und so fehlt es auch Trier nicht an Palästen, welche beweisen, dass zu verschiedener Zeit von hier aus die Herrschaft sich weit und breit erstreckte. Der Ursprung der Stadt verliert sich in die Fabelzeit; das erfreuliche Lokal mag früh genug Anbauende hierher gelockt haben. Die Trevirer waren ins Römische Reich eingeschlossen, erst Heiden, dann Christen, von Normannen und von Franken überwältigt, und zuletzt ward das schöne Land dem Römisch-Deutschen Reiche einverleibt. Ich wünschte wohl, die Stadt in guter Jahreszeit, an friedlichen Tagen zu sehen, ihre Bürger näher kennen zu lernen, welche von jeher den Ruf haben, freundlich und fröhlich zu sein. Von erster Eigenschaft finden sich in diesem Augenblick wohl noch Spuren, von der zweiten kaum; und wie sollte Fröhlichkeit sich in einem so widerwärtigen Zustand erhalten! Freilich, wer in die Annalen der Stadt zurücksieht, findet wiederholte Nachricht von Kriegsunheil, das diese Gegend betroffen, da das Moseltal, ja der Fluss selbst dergleichen Züge begünstigt. Attila sogar aus dem fernsten Osten hatte mit seinem unzählbaren Heere Vor- und Rückzug, wie wir, durch diese Flussregion genommen. Was erduldeten die Einwohner nicht im Dreißigjährigen Kriege, bis zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts, indem sich der Fürst an Frankreich, als den nachbarlichsten Alliierten, angeschlossen hatte und darüber in langwierige österreichische Gefangenschaft geriet. Auch an inneren Kriegen erkrankte die Stadt mehr als einmal, wie es überall in bischöflichen Städten sich ereignen musste, wo der Bürger mit geistlich-weltlicher Obergewalt sich nicht immer vertragen konnte. Mein Führer, indem er mich geschichtlich unterrichtete, machte mich auf Gebäude der verschiedensten Zeit aufmerksam, wovon das meiste kurios und daher wohl merkwürdig schien, weniges aber dem Geschmacksurteil erfreulich zusagte, wie vorher an dem Monumente zu Igel gerühmt werden konnte. Die Reste des römischen Amphitheaters fand ich respektabel; da aber das Gebäude über sich selbst zusammengestürzt und wahrscheinlich mehrere Jahrhunderte als Steinbruch behandelt war, ließ sich nichts entziffern. Bewundernswert jedoch war noch immer, wie die Alten, ihrer Weisheit gemäß, große Zwecke mit mäßigen Mitteln hervorzubringen suchten und die Naturgelegenheit eines Tals zwischen zwei Hügeln zu nutzen gewusst, wo die Gestalt des Bodens an Exkavation und Substruktion dem Baumeister vieles glücklich ersparte. Wenn man nun von den ersten Höhen des Martisberges, wo diese Ruine gelegen, etwas weiter aufsteigt, so sieht man über alle Reliquien der Heiligen, über Dom, Dächer und Schirme nach dem Apolloberg hinüber, und so behaupten beide Götter, den Merkur zur Seite, ihres Namens Gedächtnis: die Bilder waren zu beseitigen, der Genius nicht. Zu Betrachtung der Baukunst früherer Mittelzeit bietet Trier merkwürdige Monumente: ich habe von solchen Dingen wenige Kenntnis, und sie sprechen nicht zum gebildeten Sinn. Mich wollte der Anblick bei einiger Teilnahme verwirren; manches davon ist verschüttet, zerstückt, zu anderem Gebrauch gewidmet. Über die große Brücke, auch noch im Altertum gegründet, führte man mich im heitersten Moment, hier nun sieht man deutlich, wie die Stadt auf einer mit ausspringendem Winkel nach dem Fluss zudrängenden Fläche, welche denselben gegen das linke Ufer hinweist, erbaut ist. Nun überschaut man vom Fuß des Apolloberges Fluss, Brücke, Mühlen, Stadt und Gegend, da sich denn die noch nicht ganz entlaubten Weinberg, sowohl zu unsern Füßen als auf den ersten Höhen des Martisberges gegenüber, gar freundlich ausnahmen, anschaulich machten, in welcher gesegneten Gegend man sich befinde, und ein Gefühl von Wohlfahrt und Behagen erweckten, welches über den Weinländern in der Luft zu schweben scheint. Die besten Sorten Moselwein, die uns nun zuteil wurden, schienen nach diesem Überblick einen angenehmern Geschmack zu haben. Trier, den 29. Oktober. Unser fürstlicher Heerführer kam an und nahm Quartier im Kloster St. Maximin. Diese reichen und sonst überglücklichen Menschen hatten denn freilich schon eine gute Zeit her große Unruhe erduldet: die Brüder des Königs waren dort einquartiert gewesen, und nachher war es nicht wieder leer geworden. Eine solche Anstalt, aus Ruh' und Frieden entsprungen, auf Ruh' und Friede berechnet, nahm sich freilich unter diesen Umständen wunderlich aus, da, man mochte noch so schonend verfahren, ein gewaltiger Gegensatz des Ritter- und Mönchtums sich hervortat. Der Herzog wusste jedoch hier wie überall, selbst als ungebetener Gast, durch Freigebigkeit und freundliches Betragen sich und die Seinigen angenehm zu machen. Mich aber sollte auch hier der böse Kriegsdämon wieder verfolgen. Unser guter Obrist von Gotsch war gleichfalls im Kloster einquartiert; ich fand ihn zur Nacht seinen Sohn bewachend und besorgend, welcher an der unglücklichen Krankheit gleichfalls hart daniederlag. Hier musst' ich nun wieder die Litanei und Verwünschung unseres Feldzugs aus dem Mund eines alten Soldaten und Vaters vernehmen, der die sämtlichen Fehler mit Leidenschaft zu rügen berechtigt war, die er als Soldat einsah und als Vater verfluchte. Auch die Isletten kamen wieder zur Sprache, und es musste wirklich ein jeder, der sich diesen unseligen Punkt deutlich machte, durchaus verzweifeln. Ich erfreute mich der Gelegenheit, die Abtei zu sehen, und fand ein weitläufiges, wahrhaft fürstliches Gebäude; die Zimmer von bedeutender Größe und Höhe, und die Fußboden getäfelt, Samt und damastne Tapeten, Stuckatur, Vergoldung und Schnitzwerk nicht gespart, und was man sonst in solchen Palästen zu sehen gewohnt ist, alles doppelt und dreifach in großen Spiegeln wiederholt. Auch ward den einquartierten Personen ganz wohl dahier; die Pferde jedoch konnten nicht sämtlich untergebracht werden, sie mussten unter freiem Himmel aushalten, ohne Lagerstätte, Raufen und Tröge. Unglücklicherweise waren die Futtersäcke gefault, und so musste der Hafer von der Erde aufgeschnopert werden. Wenn aber die Stallungen unbedeutend waren, so fand man die Keller desto geräumiger. Noch über die eigenen Weinberge genoss das Kloster die Einnahme von vielen Zehnten. Freilich mochte in den letzten Monaten gar manches Stückfass geleert worden sein, es lagen deren viele auf dem Hof. Den 30. Oktober gab unser Fürst große Tafel: drei der vornehmsten geistlichen Herren waren eingeladen, sie hatten köstliches Tischzeug, sehr schönes Porzellanservice hergegeben; von Silber war wenig zu sehen, Schätze und Kostbarkeiten lagen in Ehrenbreitstein. Die Speisen von den fürstlichen Köchen schmackhaft zubereitet; Wein, der uns früher hatte nach Frankreich folgen sollen, von Luxemburg zurückkehrend, ward hier genossen; was aber am meisten Lob und Preis verdiente, war das kostbarste weiße Brot, das an den Gegensatz des Kommissbrots bei Hans erinnerte. Ich hatte mich, als ich nach Trierscher Geschichte in diesen Tagen forschte, notwendig auch um die Abtei St. Maximin bekümmern müssen; ich konnte daher mit meinem geistlichen Nachbar ein ganz auslangendes, geschichtliches Gespräch führen. Das hohe Alter des Stifts ward vorausgesetzt; dann gedachte man seiner mannigfaltig wechselnden Schicksale, der nahen Lage des Stifts and er Stadt, beiden Teilen gleich gefährlich; wie es denn im Jahr 1674 niedergebrannt und völlig verwüstet wurde. Von dem Wiederaufbau und der allmählichen Herstellung in den gegenwärtigen Zustand ließ ich mich auch unterrichten. Dazu konnte man viel Gutes sagen und die Anstalten preisen, welches der geistliche Herr auch gern vernahm; von den letzten Zeiten aber wollte er nichts Rühmliches wissen: die französischen Prinzen waren da lange im Quartier gelegen, und man hatte von manchem Unfug, Übermut und Verschwendung zu hören. Bei Abwechslung des Gesprächs daher ging ich wieder ins Geschichtliche zurück; als ich aber der früheren Zeit erwähnte, wo das Stift sich dem Erzbischof gleichgesetzt und der Abt Reichsstand des Römisch-Deutschen Reichs gewesen, wich er lächelnd aus, als wenn er eine solche Erinnerung in der neusten Zeit für verfänglich halte. Die Sorge des Herzogs für sein Regiment ward nun tätig und klar; denn als die Kranken zu Wagen fortzubringen unmöglich war, so ließ der Fürst ein Schiff mieten, um sie bequem nach Koblenz zu transportieren. Nun aber kamen andere auf eine eigene Weise presshafte Kriegsmänner an. Auf dem Rückzug hatte man gar blad bemerkt, dass die Kanonen nicht fortzubringen seien: die Artilleriepferde kamen um, eines nach dem andern, wenig Vorspann war zu finden, die Pferde, auf dem Hinzug requiriert, beim Herzug geflüchtet, fehlten überall. Man griff zu der letzten Maßregel: Von jedem Regiment musste eine starke Anzahl Reiter absitzen und zu Fuß wandern, damit das Geschütz gerettet werde. In ihren steifen Stiefeln, die zuletzt nicht mehr durchhalten wollten, litten diese braven Menschen bei dem schrecklichen Wege unendlich; aber auch ihnen erheiterte sich die Zeit, denn es ward Anstalt getroffen, dass auch sie zu Wasser nach Koblenz fahren konnten. November. Mein Fürst hatte mir aufgetragen, dem Marquis Lucchesini aufzuwarten, eine Abschiedsempfehlung auszusprechen und mich nach einigem zu erkundigen. Bei später Abendzeit, nicht ohne einige Schwierigkeiten, ward ich bei diesem mir früher nicht ungewogenen, bedeutenden Mann eingelassen. Die Anmut und Freundlichkeit, mit der er mich empfing, war wohltätig; nicht so die Beantwortung meiner Fragen und Erfüllung meiner Wünsche. Er entließ mich, wie er mich aufgenommen hatte, ohne mich im mindesten zu fördern, und man wird mir zutrauen, dass ich darauf vorbereitet gewesen. Als ich nun die Abfahrt jener kranken und ermüdeten Reiter eifrig betreiben sah, ergriff mich gleichfalls das Gefühl, es sei wohl am besten getan, einen Ausweg auf dem Wasser zu suchen. Sehr ungern ließ ich meine Chaise zurück, die man mir aber nach Koblenz nachzusenden versprach, und mietete ein einmänniges Boot, wo mir denn beim Einschiffen meine sämtlichen Habseligkeiten, gleichsam vorgezählt, einen sehr angenehmen Eindruck machten, indem ich sie mehr als einmal verloren glaubte oder zu verlieren fürchtete. Zu dieser Fahrt gesellte sich ein preußischer Offizier, den ich als alten Bekannten aufnahm, dessen ich mich als Pagen gar wohl erinnerte und dem seine Hofzeit noch gar deutlich vorschwebte; wie er mir denn gewöhnlich den Kaffee wollte präsentiert haben. Das Wetter war leidlich, die Fahrt ruhig, und man erkannte die Anmut dieser Wohltat umso mehr, je mühseliger auf dem Landweg, der sich dem Fluss hie und da näherte, die Kolonnen dahin zogen oder auch wohl von Zeit zu Zeit stockend verweilten. Schon in Trier hatte man geklagt, dass bei so eiligem Rückmarsch die größte Schwierigkeit sei, Quartier zu finden, indem gar oft die einem Regiment angewiesenen Ortschaften schon besetzt gefunden worden, wodurch große Not und Verwirrung entstehe. Die Uferansichten der Mosel waren längs dieser Fahrt höchst mannigfaltig; denn obgleich das Wasser eigensinnig seinen Hauptlauf von Südwest nach Nordost richtet, so wird es doch, da es ein schikanöses gebirgisches Terrain durchstreift, von beiden Seiten durch vorspringende Winkel bald rechts bald links gedrängt, so dass es nur im weitläufigen Schlangengang fortwandeln kann. Deswegen ist denn aber auch ein tüchtiger Fährmeister höchst nötig; der unsere bewies Kraft und Gewandtheit, indem er bald hier einen vorgeschobenen Kies zu vermeiden, sogleich aber dort den an steiler Felswand herflutenden Strom zu schnellerer Fahrt kühn zu benutzen wusste. Die vielen Ortschaften zu beiden Seiten gaben den muntersten Anblick; der Weinbau, überall sorgfältig gepflegt, ließ auf ein heiteres Volk schließen, das keine Mühe schont, den köstlichen Saft zu erzielen. Jeder sonnige Hügel war benutzt, bald aber bewunderten wir schroffe Elsen am Strom, auf deren schmalen vorragenden Kanten, wie auf zufälligen Naturterrassen, der Weinstock zum allerbesten gedieh. Wir landeten bei einem artigen Wirtshaus, wo uns eine alte Wirtin wohl empfing, manches erduldete Ungemach beklagte, den Emigrierten aber besonders alles Böse gönnte. Sie habe, sagte sie, an ihrem Wirtstisch gar oft mit Grauen gesehen, wie diese gottesvergessenen Menschen das liebe Brot kugel- und brockenweise sich an den Kopf geworfen, so dass sie und ihre Mägde es nachher mit Tränen zusammengekehrt. Und so ging es mit gutem Glück und Mut immer weiter hinab bis zur Dämmerung, da wir uns denn aber in das mäandrische Flussgewinde, wie es sich gegen die Höhen von Montroyal herandrängt, verschlungen sahen. Nun überfiel uns die Nacht, bevor wir Trarbach erreichen oder auch nur gewahren konnten. Es ward stockfinster, eingeengt wussten wir uns zwischen mehr oder weniger steilem Ufer, als ein Sturm, bisher schon ruckweise verkündigt, gewaltsam anhaltend hereinbrach: bald schwoll der Strom im Gegenwind, bald wechselten abprallende Windstöße niederstürzend mit wütendem Sausen; eine Welle nach der anderen schlug über den Kahn, wir fühlten uns durchnässt. Der Schiffmeister barg nicht seine Verlegenheit; die Not schien immer größer, je länger sie dauerte, und der Drang war aufs höchste gestiegen, als der wackere Mann versicherte, er wisse weder wo er sei, noch wohin er steuern solle. Unser Begleiter verstummte, ich war still in mir gefasst. Wir schwebten in der tiefsten Finsternis, nur manchmal wollte mir schienen, dass Massen über mir doch noch etwas dunkler als der verfinsterte Himmels ich dem Auge bemerkbar machten; dies gewährte jedoch wenig Trost und Hoffnung: zwischen Land und Fels eingeschlossen zu sein, drang sich immer ängstlicher auf. Und so wurden wir im Stockfinstern lange hin und her geworfen, bis sich endlich in der Ferne ein Licht und damit auch Hoffnung auftat. Nun ward nach Möglichkeit drauf los gesteuert und gerudert, wobei sich Paul nach Kräften tätig erwies. Endlich stiegen wir in Trarbach glücklich ans Land, wo man uns in einem leidlichen Gasthof Henne mit Reis alsobald anbot. Ein angesehener Kaufmann aber, die Landung von Fremden in so tiefer stürmischer Nacht vernehmend, nötigte uns in sein Haus, wo wir bei hellem Kerzenschein, in wohl geschmückten Zimmern englische schwarze Kunstblätter, in Rahm und Glas gar zierlich aufgehangen, mit Freude, ja mit Rührung gegen die kurz vorher erduldeten finsteren Gefährlichkeiten begrüßend erblickten. Herr und Frau, noch junge Leute, beeiferten sich, uns gütlich zu tun; wir genossen des köstlichsten Moselweins, an dem sich mein Gefährte, der eine Wiederherstellung freilich am nötigsten haben mochte, besonders erquickte. Paul gestand, dass er schon Rock und Stiefel ausgezogen, um, wenn wir scheitern sollten, uns durch Schwimmen zu erretten; wobei er sich denn freilich nur allein möchte durchgebracht haben. Kaum hatten wir uns getrocknet und geletzt, als es in mir schon wieder zu treiben anfing und ich fortzueilen begehrte. Der freundliche Wirt wollte uns nicht entlassen, sondern verlangte vielmehr, wir sollten den morgenden Tag noch zugeben, versprach auch von einer benachbarten Höhe die weiteste, schönste Aussicht übe rein bedeutend Gelände und manches andere, was uns zur Erquickung und Zerstreuung hätte dienen können. Aber es ist wunderbar: wie sich der Mensch an ruhige Zustände gewöhnt und in denselben verharren mag, so gibt es auch eine Gewöhnung zum Unruhigen; es war in mir die Nötigung zu einem rollenden Forteilen, der ich nicht gebieten konnte. Als wir daher fortzueilen im Begriff standen, nötigte uns der wackere Mann noch zwei Matratzen auf, damit wir im Schiff wenigstens einige Bequemlichkeit hätten; die Frau gab solche nicht gerne her, welches ihr, da der Barchent neu und schön, gar nicht zu verdenken war. Und so ereignet sich's oft in Einquartierungsfällen, dass bald der eine, bald der andere Gatte dem aufgedrungenen Gast mehr oder weniger wohl will. Bis Koblenz schwammen wir ruhig hinunter, und ich erinnere mich nur deutlich, dass ich am Ende der Fahrt das schönste Naturbild gesehen, was mir vielleicht zu Augen gekommen. Als wir gegen die Moselbrücke zu fuhren, stand uns dieses schwarze mächtige Bauwerk kräftig entgegen; durch die Bogenöffnungen aber schauten die stattlichen Gebäude des Tals, über der Brückenlinie sodann das Schloss Ehrenbreitstein im blauen Duft durch und hervor. Rechts bildete die Stadt, an die Brücke sich anschließend, einen tüchtigen Vorgrund. Dieses Bild gab einen herrlichen, aber nur augenblicklichen Genuss, denn wir landeten und schickten sogleich gewissenhaft die Matratzen unversehrt an das von den wackeren Trarbachern uns bezeichnete Handelshaus. Dem Herzog von Weimar war ein schönes Quartier eingeräumt, worin auch ich ein gutes Unterkommen fand. Die Armee rückte nach und nach heran; die Dienerschaft des fürstlichen Generals traf ein und konnte nicht genug von den Unbilden erzählen, die sie erleiden müssen. Wir segneten uns, die Wasserfahrt eingeschlagen zu haben, und die glücklich überstandene Windsbraut schien nur ein geringes Übel gegen eine stockende und überall gehinderte Landfahrt. Der Fürst selbst war angekommen, um den König versammelten sich viele Generale. Ich aber, in einsamen Spaziergängen den Rhein hin, wiederholte mir die wunderlichen Ereignisse der vergangenen Wochen. * * * * * Ein französischer General, Lafayette, Haupt einer großen Partei, vor kurzem der Abgott seiner Nation, des vollkommensten Vertrauens der Soldaten genießend, lehtn sich gegen die Obergewalt auf, die allein nach Gefangennehmung des Königs das Reich repräsentiert; er entflieht, seine Armee, nicht stärker als 23000 Mann, bleibt ohne General und Oberoffiziere, desorganisiert, bestürzt. Zur selbigen Zeit betritt ein mächtiger König, mit einem 80000 Mann starken verbündeten Heer, den Boden von Frankreich; zwei befestigte Städte, nach geringem Zaudern, ergeben sich. Nun erscheint ein wenig gekannter General, Dumouriez; ohne jemals einen Oberbefehl geführt zu haben, nimmt er, gewandt und klug, eine sehr starke Stellung; sie wird durchbrochen, und doch erreicht er eine zweite, wird auch daselbst eingeschlossen und zwar so, dass der Feind sich zwischen ihn und Paris stellt. Aber sonderbar verwickelte Zustände werden durch anhaltendes Regenwetter herbeigeführt; das furchtbare alliierte Heer, nicht weiter als sechs Stunden von Chalons und zehn von Reims, sieht sich abgehalten, diese beiden Orte zu gewinnen, bequemt sich zum Rückzug, räumt die zwei eroberten Plätze, verliert über ein Drittel seiner Mannschaft, und davon höchstens 2000 durch die Waffen, und sieht sich nun wieder am Rhein. Alle diese Begegnisse, die an das Wunderbare grenzen, ereignen sich in weniger als sechs Wochen, und Frankreich ist aus der größten Gefahr gerettet, deren seien Jahrbücher jemals gedenken. Vergegenwärtige man sich nun die vielen tausend Teilnehmer an solchem Missgeschick, denen das grimmige Leibes- und Seelenleiden einiges Recht zur Klage zu geben schien, so wird man sich leicht vorstellen, dass nicht alles im stillen abgetan ward, und so sehr man sich auch vorzusehen gedachte, doch aus einem vollen Herzen der Mund zuzeiten überging. Und so begegnete denn auch mir, dass ich an großer Tafel neben einem alten trefflichen General saß und vom Vergangenen zu sprechen mich nicht ganz enthielt, worauf er mir, zwar freundlich, aber mit gewisser Bestimmtheit antwortete: "Erzeigen Sie mir morgen früh die Ehre, mich zu besuchen, da wir uns hierüber freundlich und aufrichtig besprechen wollen." Ich schien es anzunehmen, blieb aber aus und gelobte mir innerlich, das gewohnte Stillschweigen so bald nicht wieder zu brechen. Auf der Wasserfahrt sowie auch in Koblenz hatte ich manche Bemerkung gemacht zum Vorteil meiner chromatischen Studien; besonders war mir über die epooptischen Farben ein neues Licht aufgegangen, und ich konnte immer mehr hoffen, die physischen Erscheinungen in sich zu verknüpfen und sie von andern abzusondern, mit denen sie in entfernterer Verwandtschaft zu stehen schien. Auch kam mir des treuen Kämmerier Wagner Tagebuch zu Ergänzung des meinigen gar wohl zustatten, das ich in den letzten Tagen ganz und gar vernachlässigt hatte. Des Herzogs Regiment war herangekommen und kantonierte in den Dörfern gegen Neuwied über. Hier bewies der Fürst die väterlichste Sorgfalt für seine Untergebenen: jeder einzelne durfte seine Not klagen, und soviel nur möglich ward abgestellt und nachgeholfen. Leutnant von Flotow, in der Stadt auf Kommando stehend und dem Wohltäter am nächsten, erwies sich tätig und hilfreich. Dem Hauptbedürfnis an Schuhen und Stiefeln wurde dadurch abgeholfen, dass man Leder kaufte und die im Regiment sich findenden Schuster unter den Meistern der Stadt arbeiten ließ. Auch für Reinlichkeit und Zierde war gesorgt, gelbe Kreide angeschafft, die Kolletts gesäubert und gefärbt, und unsere Reiter trabten wieder ganz schmuck einher. Meine Studien jedoch sowohl als die heitere Unterhaltung mit den Kanzlei- und Hausgenossen wurden gar sehr belebt durch den Ehrenwein, welcher, von trefflicher Moselsorte, unserem Fürsten vom Stadtrat gereicht ward und welchen wir, da der Fürst meist auswärts speiste, zu genießen die Erlaubnis hatten. Als wir Gelegenheit fanden, einem von den Gebern darüber ein Kompliment zu machen, und dankbar anerkannten, dass sie sich bei solcher Gelegenheit um unsertwillen mancher guten Flasche berauben wollen, vernahmen wir die Erwiderung: dass sie uns dies und noch viel mehr gönnten und nur die Fässer bedauerten, welche sie an die Emigrierten wenden müssen, welche zwar viel Geld, aber auch viel Unheil über die Stadt gebracht, ja den Zustand derselben völlig umgekehrt; besonders aber wollte man ihr Betragen gegen den Fürsten nicht rühmen, an dessen Stelle sie sich gewissermaßen gesetzt und gegen seine Willen kühnlich Unverantwortliches unternommen. In der letzten, Unheil drohenden Zeit, war er auch nach Regensburg abgereist, und ich schlich, zu schöner heiterer Mittagsstunde, an sein Schloss hin, das auf dem linken Rheinufer, etwas oberhalb der Stadt, wunderschön, seitdem ich diese Gegen nicht betreten, aus der Erde gewachsen war. Es stand einsam und als die allerneuste, wenn auch nicht architektonische, doch politische Ruine da, und ich hatte nicht den Mut, mir von dem umherwandelnden Schlossvogt den Eingang zu gewinnen. Wie schön war die nähere und weitere Umgebung, wie angebaut und gartenreich der Raum zwischen Schloss und Stadt, die Aussicht den Rhein stromauf ruhig und besänftigend, gegen Stadt und Festung aber prächtig und aufregend. In der Absicht, mich übersetzen zu lassen, ging ich zur fliegenden Brücke, ward aber aufgehalten oder hielt mich vielmehr selbst auf, in Beschauung eines österreichischen Wagentransportes, welcher nach und nach übergesetzt wurde. Hier ereignete sich ein Streit zwischen einem preußischen und österreichischen Unteroffizier, welcher den Charakter beider Nationen klar ins Licht setzte. Vom Österreicher, der hierher postiert war, um die möglich schnelle Überfahrt der Wagenkolonne zu beaufsichtigen, aller Verwirrung vorzubeugen und deshalb kein anderes Fuhrwerk dazwischen zu lassen, verlangte der Preuße heftig eine Ausnahme für sein Wägelchen, auf welchem Frau und Kind mit einigen Habseligkeiten gepackt waren. Mit großer Gelassenheit versagte der Österreicher die Forderung, auf die Order sich berufend, die ihm dergleichen ausdrücklich verbiete; der Preuße ward heftiger, der Österreicher wo möglich gelassener; er litt keine Lücke in der ihm empfohlenen Kolonne, und der andere fand sich einzudrängen keinen Raum. Endlich schlug der Zudringliche an seinen Säbel und forderte den Widerstehenden heraus: mit Drohen und Schimpfen wollte er seinen Gegner ins nächste Gässchen bewegen, um die Sache daselbst auszumachen; der höchst, ruhige, verständige Mann aber, der die Rechte seines Postens gar wohl kannte, rührte sich nicht und hielt Ordnung nach wie vor. Ich wünschte diese Szene wohl von einem Charakterzeichner aufgefasst, denn wie im Betragen so auch in Gestalt unterschieden sich beide: der Gelassene war stämmig und stark, der Wütende -- denn zuletzt erwies er sich so -- hager, lang, schmächtig und rührig. Die auf diesen Spaziergang zu verwendende Zeit war zum Teil schon verstrichen, und mir vertrieb die Frucht vor ähnlichen Retardationen bei der Rückkehr jede Lust, das sonst so geliebte Tal zu besuchen, das doch nur das Gefühl schmerzlichen Entbehrens erregt und mich fruchtlos zu Betrachtung früherer Jahre aufgeregt hätte; doch stand ich lange hinüberschauend, friedlicher Zeiten mitten im verwirrenden Wechsel irdischer Ereignisse treulich eingedenk. Und so traf es zufällig, dass ich von den Maßregeln zum ferneren Feldzug auf dem rechten Ufer näher unterrichtet ward. Des Herzogs Regiment rüstete sich, hinüberzuziehen; der Fürst selbst mit seiner ganzen Umgebung sollte folgen. Mir bangte vor jeder Fortsetzung des kriegerischen Zustandes, und das Fluchtgefühl ergriff mich abermals. Ich möchte dies ein umgekehrtes Heimweh nennen, eine Sehnsucht ins Weite statt ins Enge. Ich stand, der herrliche Fluss lag vor mir: er geleitete so sanft und lieblich hinunter, in ausgedehnter breiter Landschaft; er floss zu Freunden, mit denen ich, trotz manchem Wechseln und Wenden, immer treu verbunden geblieben. Mich verlangte aus der fremden, gewaltsamen Welt an Freundesbrust, und so mietete ich, nach erhaltenem Urlaub, eilig einen Kahn bis Düsseldorf, meine noch immer zurückbleibende Chaise Koblenzer Freunden empfehlend, mit Bitte, sie mir hinabwärts zu spedieren. Als ich nun mit meinen Habseligkeiten mich eingeschifft und sogleich auf dem Strom dahin schwimmen sah, begleitet vom getreuen Paul und einem blinden Passagier, welcher gelegentlich zu rudern sich verband, heilt ich mich für glücklich und von allem Übel befreit. Indessen standen noch einige Abenteuer bevor. Wir hatten nicht lange flussabwärts gerudert, als zu bemerken war, dass der Kahn ein starkes Leck haben müsse, indem der Fährmann von Zeit zu Zeit das Wasser fleißig ausschöpfte. Und nun entdeckte ich erst, dass wir, bei übereilt unternommener Fahrt, nicht bedacht hatten, wie auf die weite Strecke hinab vom Koblenz bis Düsseldorf der Schiffer nur ein altes Boot zu nehmen pflegt, um es unten als Brennholz zu verkaufen und, sein Fährgeld in der Tasche, ganz leicht nach Hause zu wandern. Indessen fuhren wir getrost dahin. Eine sternhelle, doch sehr kalte Nacht begünstigte unsere Fahrt, als auf einmal der fremde Ruderer verlangte, ans Land gesetzt zu werden, und sich mit dem Schiffer zu streiten anfing, an welcher Stelle es denn eigentlich für den Wandrer am vorteilhaftesten sei; worüber sie sich nicht vereinigen konnten. Unter diesen Händeln, die mit Heftigkeit geführt wurden, stürzte unser Fährmann ins Wasser und wurde nur mit Mühe herausgezogen. Nun konnte er bei heller, klarer Nacht nicht mehr aushalten und bat dringend um die Erlaubnis, bei Bonn anfahren zu dürfen, um sich zu trocknen und zu erwärmen. Mein Diener ging mit ihm in eine Schifferkneipe, ich aber beharrte, unter freiem Himmel zu bleiben, und ließ mir ein Lager auf Mantelsack und Portefeuille bereiten. So groß ist die Macht der Gewohnheit, dass mir, der ich die letzten sechs Wochen fast immer unter freiem Himmel zugebracht hatte, vor Dach und Zimmer graute. Diesmal aber entstand daraus für mich ein neues Unheil, welches man freilich hätte vorhersehen sollen: den Kahn hatte man zwar soweit als möglich auf den Strand gezogen, aber nicht so weit, dass er nicht durch das Leck noch hätte Wasser einnehmen können. Nach einem tiefen Schlaf fand ich mich mehr als erfrischt, denn das Wasser war bis zu meinem Lager gedrungen und hatte mich und meine Habseligkeiten durchnässt. Ich war daher genötigt, aufzustehen, das Wirtshaus aufzusuchen und mich in Tabak schmauchender, Glühwein schlürfender Gesellschaft so gut als möglich zu trocknen, worüber denn der Morgen ziemlich herankam und eine verspätete Reise durch frisches Rudern eifrig beschleunigt wurde. Zwischenrede Wenn ich mich nun so, in der Erinnerung, den Rhein hinunter schwimmen sehe, wüsst' ich nicht genau zu sagen, was in mir vorging. Der Anblick eines friedlichen Wasserspiegels, das Gefühl der bequemen Fahrt auf demselben ließ mich nach der kurz vergangenen Zeit zurückschauen wie auf einen bösen Traum, von dem ich mich soeben erwacht fände; ich überließ mich den heitersten Hoffnungen eines nächsten gemütlichen Zusammenseins. Nun aber, wenn ich mitzuteilen fortfahren soll, muss ich eine andere Behandlung wählen, als dem bisherigen Vortrag wohl geziemte: denn wo Tag für Tag das Bedeutendste vor unsern Augen vorgeht, wenn wir mit so viel Tausenden leiden und fürchten und nur furchtsam hoffen, dann hat die Gegenwart ihren entschiedenen Wert und, Schritt vor Schritt vorgetragen, erneut sie das Vergangene, indem sie auf die Zukunft hindeutet. Was aber in geselligen Zirkeln sich ereignet, kann nur aus einer sittlichen Folge der Äußerungen innerlicher Zustände begriffen werden: die Reflexion ist hier an ihrer Stelle, der Augenblick spricht nicht für sich selbst, Andenken an das Vergangene, spätere Betrachtungen müssen ihn dolmetschen. Wie ich überhaupt ziemlich unbewusst lebte und mich vom Tag zum Tage führen ließ, wobei ich mich, besonders die letzten Jahre, nicht übel befand, so hatte ich die Eigenheit, niemals weder eine nächst zu erwartende Person noch eine irgend zu betretende Stelle voraus zu denken, sondern diesen Zustand unvorbereitet auf mich einwirken zu lassen. Der Vorteil, der daraus entsteht, ist groß: man braucht von einer vorgefassten Idee nicht wieder zurückzukommen, nicht ein selbstbeliebig gezeichnetes Bild wieder auszulöschen und mit Unbehagen die Wirklichkeit an dessen Stelle aufzunehmen; der Nachteil dagegen mag wohl hervortreten, dass wir mit Unbewusstsein in wichtigen Augenblicken nur herumtasten und uns nicht gerade in jeden ganz unvorhergesehenen Zustand aus dem Stegreif zu finden wissen. In eben dem Sinn war ich auch niemals aufmerksam, was meine persönliche Gegenwart und Geistesstimmung auf die Menschen wirke, da ich denn oft ganz unerwartet fand, dass ich Neigung oder Abneigung und sogar oft beides zugleich erregte. Wollte man nun auch dieses Betragen als eine individuelle Eigenheit weder loben noch tadeln, so muss doch bemerkt werden, dass sie im gegenwärtigen Fall gar wunderliche Phänomene, und nicht immer die erfreulichsten, hervorbrachte. Ich war mit jenen Freunden seit vielen Jahren nicht zusammengekommen; sie hatten sich getreu an ihrem Lebensgang gehalten, dagegen mir das wunderbare Los beschieden war, durch manche Stufen der Prüfung, des Tuns und Duldens durchzugehen, so dass ich, in eben der Person beharrend, ein ganz anderer Mensch geworden, meinen alten Freunden fast unkenntlich auftrat. Es würde schwer halten, auch in späteren Jahren, wo eine freiere Übersicht des Lebens gewonnen ist, sich genaue Rechenschaft von jenen Übergängen abzulegen, die bald als Vorschritt, bald als Rückschritt erscheinen und doch alle dem Gott geführten Menschen zu Nutz und Frommen gereichen müssen. Ungeachtet solcher Schwierigkeiten aber will ich, meinen Freunden zuliebe, einige Andeutung versuchen. Der sittliche Mensch erregt Neigung und Liebe nur insofern, als man Sehnsucht an ihm gewahr wird: sie drückt Besitz und Wunsch zugleich aus, den Besitz eines zärtlichen Herzens und den Wunsch, ein gleiches in andern zu finden; durch jenes zeihen wir an, durch dieses geben wir uns hin. Das Sehnsüchtige, das in mir lag, das ich in früheren Jahren vielleicht zu sehr gehegt und bei fortschreitendem Leben kräftig zu bekämpfen trachtete, wollte dem Mann nicht mehr ziemen, nicht mehr genügen, und er suchte deshalb die volle, endliche Befriedigung. Das Ziel meiner innigsten Sehnsucht, deren Qual mein ganzes Inneres erfüllte, war Italien, dessen Bild und Gleichnis mir viele Jahre vergebens vorschwebte, bis ich endlich durch kühnen Entschluss die wirkliche Gegenwart zu fassen mich erdreistete. In jenes herrliche Land sind mir meine Freunde gern auch in Gedanken gefolgt, sie haben mich auf Hin- und Herwegen begleitet; möchten sie nun auch nächstens den längeren Aufenthalt daselbst mit Neigung teilen und von dort mich wieder zurück begleiten, da sich alsdann manches Problem fasslicher auflösen wird. In Italien fühlt' ich mich nach und nach kleinlichen Vorstellungen entrissen, falschen Wünschen enthoben, und an die Stelle der Sehnsucht nach dem Land der Künste setzte sich die Sehnsucht nach der Kunst selbst: ich war sie gewahr geworden, nun wünscht' ich sie zu durchdringen. Das Studium der Kunst, wie das der alten Schriftsteller, gibt uns einen gewissen Halt, eine Befriedigung in uns selbst: indem sie unser Inneres mit großen Gegenständen und Gesinnungen füllt, bemächtigt sie sich aller Wünsche, die nach außen strebten, hegt aber jedes würdige Verlangen im stillen Busen; das Bedürfnis der Mitteilung wird immer geringer, und wie Malern, Bildhauern, Baumeistern, so geht es auch dem Liebhaber: er arbeitet einsam, für Genüsse, die er mit andern zu teilen kaum in den Fall kommt. Aber zu gleicher Zeit sollte mich noch eine Ableitung der Welt entfremden, und zwar die entschiedenste Wendung gegen die Natur, zu der ich aus eigenstem Trieb auf die individuellste Weise hingelenkt worden. Hier fand ich weder Meister noch Gesellen und musste selbst für alles stehen. In der Einsamkeit der Wälder und Gärten, in den Finsternissen der dunklen Kammer wär' ich ganz einzeln geblieben, hätte mich nicht en glückliches, häusliches Verhältnis in dieser wunderlichen Epoche lieblich zu erquicken gewusst. Die "Römischen Elegien," die "Venezianischen Epigramme" fallen in diese Zeit. Nun aber sollte mir auch ein Vorgeschmack kriegerischer Unternehmungen werden: denn, der schlesischen, durch den Reichenbacher Kongress geschlichteten Kampagne beizuwohnen beordert, hatte ich mich in einem bedeutenden Land durch manche Erfahrung aufgeklärt und erhoben gesehen und zugleich durch anmutige Zerstreuung hin- und hergaukeln lassen, indessen das Unheil der französischen Staats-Umwälzung, sich immer weiter verbreitend, jeden Geist, er mochte hin denken und sinnen, wohin er wollte, auf die Oberfläche der europäischen Welt zurückforderte und ihm die grausamsten Wirklichkeiten aufdrang. Rief mich nun gar die Pflicht, meinen Fürsten und Herrn erst in die bedenklichen, bald aber traurigen Ereignisse des Tags abermals hinein zu begleiten und das Unerfreuliche, das ich nur gemäßigt meinen Lesern mitzuteilen gewagt, männlich zu erdulden, so hätte alles, was noch Zartes und Herzliches sich ins Innerste zurückgezogen hatte, auslöschen und verschwinden mögen. Fasse man dies alles zusammen, so wird der Zustand, wie er nachstehend skizzenhaft verzeichnet ist, nicht ganz rätselhaft erscheinen; welches ich umso mehr wünschen muss, da ich ungern dem Trieb widerstehe, diese vor vielen Jahren flüchtig verfassten Blätter nach gegenwärtiger Einsicht und Überzeugung umzuschreiben. Pempelfort, November 1792. Es war schon finster, als ich in Düsseldorf landete und mich daher mit Laternen nach Pempelfort bringen ließ, wo ich nach augenblicklicher Überraschung die freundlichste Aufnahme fand; vielfaches Hin- und Hersprechen, wie ein solches wieder Sehen aufregt, nahm einen Teil der Nacht hinweg. Den nächsten Tag war ich durch Fragen, Antworten und Erzählen bald eingewohnt: der unglückliche Feldzug gab leider genugsame Unterhaltung, niemand hatte sich den Ausgang so traurig gedacht. Aber auch aussprechen konnte niemand die tiefe Wirkung eines beinahe vierwöchentlichen furchtbaren Schweigens, die sich immer steigernde Ungewissheit bei dem Mangel aller Nachrichten. Eben als wäre das alliierte Heer von der Erde verschlungen worden, so wenig verlautete von demselben; jedermann, in eine grässliche Leere hineinblickend, war von Furcht und Ängsten gepeinigt, und nun erwartete man mit Entsetzen die Kriegsläufe schon wieder in den Niederlanden, man sah das linke Rheinufer und zugleich das rechte bedroht. Von solchen Betrachtungen zerstreuten uns moralische und literarische Verhandlungen, wobei mein Realismus, zum Vorschein kommend, die Freunde nicht sonderlich erbaute. Ich hatte seit der Revolution, mich von dem wilden Wesen einigermaßen zu zerstreuen, ein wunderbares Werk begonnen, eine Reise von sieben Brüdern verschiedener Art, jeder nach seiner Weise dem Bund dienend, durchaus abenteuerlich und märchenhaft, verworren, Aussicht und Absicht verbergend, ein Gleichnis unseres eigenen Zustandes. Man verlangte eine Vorlesung, ich ließ mich nicht viel bitten und rückte mit meinen Heften hervor; aber ich bedurfte auch nur wenig Zeit, um zu bemerken, dass niemand davon erbaut sei. Ich ließ daher meine wandernde Familie in irgendeinem Hafen und mein weiteres Manuskript auf sich selbst beruhen. Meine Freunde jedoch, die sich in so veränderte Gesinnung nicht gleich ergeben wollten, versuchten mancherlei, um frühere Gefühle durch ältere Arbeiten wieder hervorzurufen, und gaben mir "Iphigenie" zur abendlichen Vorlesung in die Hand; das wollte mir aber gar nicht munden, dem zarten Sinn fühlt' ich mich entfremdet; auch von andern vorgetragen, war mir ein solcher Anklang lästig. Indem aber das Stück gar blad zurückgelegt ward, schien es, als wenn man mich durch einen höheren Grad von Folter zu prüfen gedenke. Man brachte "Ödipus auf Kolonos," dessen erhabene Heiligkeit meinem gegen Kunst, Natur und Welt gewendeten, durch eine schreckliche Kampagne verhärteten Sinn ganz unerträglich schien; nicht hundert Zeilen hielt ich aus. Da ergab man sich denn wohl in die Gesinnung des veränderten Freundes: fehlte es doch nicht an so mancherlei Anhaltepunkten des Gesprächs. Aus den früheren Zeiten deutscher Literatur ward manches einzelne erfreulich hervorgerufen, niemals aber drang die Unterhaltung in einen tieferen Zusammenhang, weil man Merkmale ungleicher Gesinnung vermeiden wollte. Soll ich irgendetwas Allgemeines hier einschalten, so war es schon seit zwanzig Jahren wirklich eine merkwürdige Zeit, wo bedeutende Existenzen zusammentrafen und Menschen von einer Seite sich aneinander schlossen, obgleich von der andern höchst verschieden: jeder brachte einen hohen Begriff von sich selbst zur Gesellschaft, und man ließ sich eine wechselseitige Verehrung und Schonung gern gefallen. Das Talent befestigte seinen erworbenen Besitz einer allgemeinen Achtung, durch gesellige Verbindungen wusste man sich zu hegen und zu fördern, die errungenen Vorteile wurden nicht mehr durch einzelne, sondern durch die übereinstimmende Mehrheit erhalten. Dass hierbei eine Art Absichtlichkeit durchwalten musste, lag in der Sache; so gut wie andere Weltkinder verstanden sie, eine gewisse Kunst in ihre Verhältnisse zu legen: man verzieh sich die Eigenheiten, eine Empfindlichkeit heilt der andern die Wage, und die wechselseitigen Missverständnisse blieben lange verborgen. Zwischen diesem allen hatte ich einen wunderlichen Stand: mein Talent gab mir einen ehrenvollen Platz in der Gesellschaft, aber meine heftige Leidenschaft für das, was ich als wahr und naturgemäß erkannte, erlaubte sich manche gehässige Ungezogenheit gegen irgendein scheinbar falsches Streben; weswegen ich mich auch mit den Gliedern jenes Kreises zu Zeiten überwarf, ganz oder halb versöhnte, immer aber im Dünkel des Rechthabens auf meinem Weg fortging. Dabei behielt ich etwas von der Ingenuität des Voltaireschen Huronen noch im späteren Alter, so dass ich zugleich unerträglich und liebenswürdig sein konnte. Ein Feld jedoch, in welchem man sich mit mehr Freiheit und Übereinstimmung erging, war die westliche, um nicht zu sagen französische Literatur. Jacobi, indem er seinen eigenen Weg wandelte, nahm doch Kenntnis von allem Bedeutenden, und die Nachbarschaft der Niederlande trug viel dazu bei, ihn nicht allein literarisch, sondern auch persönlich in jenen Kreis zu ziehen. Er war ein sehr wohlgestalteter Mann, von den vorteilhaftesten Gesichtszügen, von einem zwar gemessenen, aber doch höchst gefälligen Betragen, bestimmt, in jedem gebildeten Kreis zu glänzen. Wundersam war jene Zeit, die man sich kaum wieder vergegenwärtigen könnte. Voltaire hatte wirklich die alten Bande der Menschheit aufgelöst; daher entstand in guten Köpfen eine Zweifelsucht an dem, was man sonst für würdig gehalten hatte. Wenn der Philosoph von Ferney seine ganze Bemühung dahin richtete, den Einfluss der Geistlichkeit zu midnern und zu schwächen, und hauptsächlich Europa im Auge behielt, so erstreckte de Pauw seinen Eroberungsgeist über fernere Weltteile; er wollte weder Chinesen noch Ägyptern die Ehre gönnen, die ein vieljähriges Vorurteil auf sie gehäuft hatte. Als Kanonikus von Xanten Nachbar von Düsseldorf, unterhielt er ein freundschaftliches Verhältnis mit Jacobi. Und wie mancher andere wäre nicht hier zu nennen! Und so wollen wir doch noch Hemsterhuis einführen, welcher, der Fürstin Gallitzin ergeben, in dem benachbarten Münster viel verweilte. Dieser ging nun von seiner Seite mit Geistesverwandten auf zartere Beruhigung, auf ideelle Befriedigung aus und neigte sich, mit platonischen Gesinnungen, der Religion zu. Bei diesen fragmentarischen Erinnerungen muss ich auch noch Diderots gedenken, des heftigen Dialektikers, der sich auch eine Zeitlang in Pempelfort als Gast sehr wohl gefiel und mit großer Freimütigkeit seine Paradoxen behauptete. Auch waren Rousseaus und Naturzustände gerichtete Aussichten diesem Kreis nicht fremd, welcher nichts ausschloss, also auch mich nicht, ob er mich gleich eigentlich nur duldete. Denn wie die äußere Literatur auf mich in jüngeren Jahren gewirkt, ist an mehreren Orten schon angedeutet. Fremdes konnt' ich wohl in meinem Nutzen verwenden, aber nicht aufnehmen; deshalb ich mich denn über das Fremde mit andern ebenso wenig zu verständigen vermochte. Ebenso wunderlich sah es mit der Produktion aus: diese heilt immer gleichen Schritt mit meinem Lebensgang, und da dieser selbst für meine nächsten Freunde meist ein Geheimnis blieb, so wusste man selten mit einem meiner neuen Produkte sich zu befreunden, weil man denn doch etwas Ähnliches zu dem schon Bekannten erwartete. War ich nun schon mit meinen sieben Brüdern übel angekommen, weil sie Schwester Iphigenie nicht im mindesten glichen, so merkt' ich wohl, dass ich die Freunde durch meinen Groß-Cophta, der längst gedruckt war, sogar verletzt hatte; es war die Rede nicht davon, und ich hütete mich, sie darauf zu bringen. Indessen wird man mir gestehen, dass ein Autor, der in der Lage ist, seine neuesten Werke nicht vortragen oder darüber reden zu dürfen, sich so peinlich fühlen muss wie ein Komponist, der seine neusten Melodien zu wiederholen sich gehindert fühlte. Mit meinen Naturbetrachtungen wollte es mir kaum besser glücken: die ernstliche Leidenschaft, womit ich diesem Geschäft nachhing, konnte niemand begreifen, niemand sah, wie sie aus meinem Innersten entsprang; sie hielten dieses löbliche Bestreben für einen grillenhaften Irrtum, ihrer Meinung nach konnt' ich was Besseres tun und meinem Talent die alte Richtung lassen und geben. Sie glaubten sich hierzu um desto mehr berechtigt, als meine Denkweise sich an die ihrige nicht anschloss, vielmehr in den meisten Punkten gerade das Gegenteil aussprach. Man kann sich keinen isolierteren Menschen denken, als ich damals war und lange Zeit blieb. Der Hylozoismus, oder wie man es nennen will, dem ich anhing und dessen tiefen Grund ich in seiner Würde und Heiligkeit unberührt ließ, machte mich unempfänglich, ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf welche Art es auch sei, auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis aufstellte. Ich hatte mir aus Kants Naturwissenschaft nicht entgehen lassen, dass Anziehungs- und Zurückstoßungskraft zum Wesen der Materie getrennt werden könne; daraus ging mir die Urpolarität aller Wesen getrennt werden könne; daraus ging mir die Urpolarität der Erscheinungen durchdringt und belebt. Schon bei dem früheren Besuch der Fürstin Gallitzin mit Fürstenberg und Hemsterhuis in Weimar hatte ich dergleichen vorgebracht, ward aber, als wie mit gotteslästerlichen Reden, beiseite und zur Ruhe gewiesen. Man kann es keinem Kreis verdenken, wenn er sich ins ich selbst abschließt, und das taten meine Freunde zu Pempelfort redlich. Von der schon ein Jahr gedruckten "Metamorphose der Pflanzen" hatten sie wenig Kenntnis genommen, und wenn ich meine morphologischen Gedanken, so geläufig sie mir auch waren, in bester Ordnung und, wie es mir schien, bis zur kräftigsten Überzeugung vortrug, so musste ich doch leider bemerken, dass die starre Vorstellungsart, nichts könne werden, als was schon sei, sich aller Geister bemächtigt habe. In Gefolg dessen musst' ich denn auch wieder hören, dass alles Lebendige aus dem Ei komme, worauf ich denn mit bitterem Scherz die alte Frage hervorhob: ob denn die Henne oder das Ei zuerst gewesen? Die Einschachtelungslehre schien so plausibel und, die Natur mit Bonnet zu kontemplieren, höchst erbaulich. Von meinen "Beiträgen zur Optik" hatte auch etwas verlautet, und ich ließ mich nicht lange bitten, die Gesellschaft mit einigen Phänomenen und Versuchen zu unterhalten, wo mir denn ganz Neues vorzubringen nicht schwer fiel: denn alle Personen, so gebildet sie auch waren, hatten das gespaltene Licht eingelernt und wollten leider das lebendige, woran sie sich erfreuten, auf jene tote Hypothese zurückgeführt wissen. Doch ließ ich mir dergleichen eine Zeitlang gern gefallen, denn ich heilt niemals einen Vortrag, ohne dass ich dabei gewonnen hätte; gewöhnlich gingen mir unterm Sprechen neue Lichter auf, und ich erfand im Fluss der Rede am gewissesten. Freilich konnte ich auf diese Weise nur didaktisch und dogmatisch verfahren, eine eigentlich dialektische und konversierende Gabe war mir nicht verliehen. Oft aber trat auch eine böse Gewohnheit hervor, deren ich mich anklagen muss: da mir das Gespräch, wie es gewöhnlich geführt wird, höchst langweilig war, indem nichts als beschränkte, individuelle Vorstellungsarten zur Sprache kamen, so pflegte ich den unter Menschen gewöhnlich entspringenden bornierten Streit durch gewaltsame Paradoxe aufzuregen und ans Äußerste zu führen. Dadurch war die Gesellschaft meist verletzt und in mehr als einem Sinn verdrießlich. Denn oft, um meinen Zweck zu erreichen, musst' ich das böse Prinzip spielen, und da die Menschen gut sein und auch nicht gut haben wollten, so ließen sie es nicht durchgehen: als Ernst konnte man es nicht gelten lassen, weil es nicht gründlich, als Scherz nicht, weil es zu herb war; zuletzt nannten sie mich einen umgekehrten Heuchler und versöhnten sich bald wieder mit mir. Doch kann ich nicht leugnen, dass ich durch diese böse Manier mir manche Person entfremdet, andere zu Feinden gemacht habe. Wie mit dem Zauberstäbchen jedoch konnte ich sogleich alle bösen Geister vertreiben, wenn ich von Italien zu erzählen anfing. Auch dahin war ich unvorbereitet, unvorsichtig gegangen; Abenteuer fehlten keineswegs, das Land selbst, seine Anmut und Herrlichkeit hatte ich mir völlig eingeprägt, mir war Gestalt, Farbe, Haltung jener vom günstigsten Himmel umschienen Landschaft noch unmittelbar gegenwärtig. Die schwachen Versuche eigenen Nachbildens hatten das Gedächtnis geschärft, ich konnte beschreiben, als wenn ich's vor mir sähe: von belebender Staffage wimmelte es durch und durch, und so war jedermann von den lebhaft vorbei geführten Bilderzügen zufrieden, manchmal entzückt. Wünschenswert wäre nunmehr, dass man, um die Anmut des Pempelforter Aufenthalts vollkommen darzustellen, auch die Örtlichkeit, worin dies alles vorging, klar vergegenwärtigen könnte. Ein freistehendes geräumiges Haus, in der Nachbarschaft von weitläufigen wohl gehaltenen Gärten, im Sommer ein Paradies, auch im Winter höchst erfreulich. Jeder Sonnenblick war in reinlicher, freier Umgebung genossen; abends oder bei ungünstigem Wetter zog man sich gern in die schönen großen Zimmer zurück, die, behaglich, ohne Prunk ausgestattet, eine würdige Szene jeder geistreichen Unterhaltung darboten. Ein großes Speisezimmer, zahlreicher Familie und nie fehlenden Gästen geräumig heiter und bequem, lud an eine lange Tafel, wo es nicht an wünschenswerten Speisen fehlte. Hier fand man sich zusammen, der Hauswirt immer munter und aufregend, die Schwestern wohlwollend und einsichtig, der Sohn ernst und hoffnungsvoll, die Tochter wohl gebildet, tüchtig, treuherzig und liebenswürdig, an die leider schon vorübergegangene Mutter und an die früheren Tage erinnernd, die man vor zwanzig Jahren in Frankfurt mit ihr zugebracht hatte. Heinse, mit zur Familie gehörig, verstand, Scherze jeder Art zu erwidern, es gab Abende, wo man nicht aus dem Lachen kam. Die wenigen einsamen Stunden, die mir in diesem gastfreisten aller Häuser übrig blieben, wendete ich im Stillen an eine wunderliche Arbeit. Ich hatte während der Kampagne neben dem Tagebuch poetische Tagesbefehle, satirische Ordres du jour aufgezeichnet; nun wollte ich sie durchsehen und redigieren, allein ich bemerkte bald, dass ich, mit kurzsichtigem Dünkel, manches falsch gesehen und unrichtig beurteilt habe, und da man gegen nichts strenger ist als gegen erst abgelegte Irrtümer, es auch bedenklich schien, dergleichen Papiere irgendeinem Zufall auszusetzen, so vernichtete ich das ganze Heft in einem lebhaften Steinkohlenfeuer; worüber ich mich nun insofern betrübe, als es mir jetzt viel wert zur Einsicht in den Gang der Vorfälle und die Folge meiner Gedanken darüber sein würde. In dem nicht weit entfernten Düsseldorf wurden fleißige Besuche gemacht bei Freunden, die zu dem Pempelforter Zirkel gehörten; auf der Galerie war die gewöhnliche Zusammenkunft. Dort ließ sich eine entschiedene Neigung für die italienische Schule spüren, man zeigte sich höchst ungerecht gegen die niederländische; freilich war der hohe Sinn der ersten anziehend, edle Gemüter hinreißend. Einst hatten wir uns lange in dem Saal des Rubens und der vorzüglichsten Niederländer aufgehalten; als wir heraustraten, hing die Himmelfahrt von Guido gerade gegenüber. Da rief einer begeistert aus: "Ist es einem nicht zumute, als wenn man aus einer Schenke in gute Gesellschaft käme!" An meinem Teil konnt' ich mir gefallen lassen, dass die Meister, die mich noch vor kurzem über den Alpen entzückt, sich so herrlich zeigten und leidenschaftliche Bewunderung erweckten; doch sucht' ich mich auch mit den Niederländern bekannt zu machen, deren Tugenden und Vorzüge im höchsten Grade sich hier den Augen darstellten: ich fand mir Gewinn für ganze Leben. Was mir aber noch mehr auffiel, war, dass ein gewisser Freiheitssinn, ein Streben nach Demokratie sich in die hohen Stände verbreitet hatte; man schien nicht zu fühlen, was alles erst zu verlieren sei, um zu irgendeiner Art zweideutigen Gewinnes zu gelangen. Lafayettes und Mirabeaus Büste, von Houdon sehr natürlich und ähnlich gebildet, sah ich hier göttlich verehrt, jenen wegen seiner ritterlichen und bürgerlichen Tugenden, diesen wegen Geisteskraft und Rednergewalt. So seltsam schwankte schon die Gesinnung der Deutschen; einige waren selbst in Paris gewesen, hatten die bedeutenden Männer reden hören, handeln sehen und waren, leider nach deutscher Art und Weise, zur Nachahmung aufgeregt worden, und das gerade zu einer Zeit, wo die Sorge für das linke Rheinufer sich in Furcht verwandelte. Die Not schien dringend: Emigrierte füllten Düsseldorf, selbst die Brüder des Königs kamen an. Man eilte, sie zu sehen; ich traf sie auf der Galerie und erinnerte mich dabei, wie sie durchnässt bei dem Auszug aus Glorieux gesehen worden. Herr von Grimm und Frau von Bueil erschienen gleichfalls. Bei Überfüllung der Stadt hatte sie ein Apotheker aufgenommen: das Naturalienkabinett diente zum Schlafzimmer, Affen, Papageien und andres Getier belauschten den Morgenschlaf der liebenswürdigsten Dame, Muscheln und Korallen hinderten die Toilette, sich gehörig auszubreiten. Und so war das Einquartierungsübel, das wir kaum erst nach Frankreich gebracht hatten, wieder zu uns herübergeführt. Frau von Coudenhoven, eine schöne, geistreiche Dame, sonst die Zierde des Mainzer Hofes, hatte sich auch hierher geflüchtet. Herr und Frau von Dohm kamen von deutscher Seite heran, um von den Zuständen nähere Kenntnis zu nehmen. Frankfurt war noch von den Franzosen besetzt, die Kriegsbewegungen hatten sich zwischen die Lahn und das Taunusgebirge gezogen; bei täglich abwechselnden, bald sichern bald unsichern Nachrichten war das Gespräch lebhaft und geistreich; aber wegen streitenden Interesses und Meinungen gewährte es nicht immer eine erfreuliche Unterhaltung. Ich konnte einer so problematischen, durchaus ungewissen, dem Zufall unterworfenen Sache keinen Ernst abgewinnen und war mit meinen paradoxen Späßen mitunter aufheiternd, mitunter lästig. So erinnerte ich mich, dass an dem Abendtisch der Frankfurter Bürger mit Ehren gedacht ward: sie sollten sich gegen Custine männlich und gut betragen haben; ihre Aufführung und Gesinnung, hieß es, steche gar sehr ab gegen die unerlaubte Weise, wie sich die Mainzer betragen und noch betrügen. Frau von Coudenhoven, in dem Enthusiasmus, der sie sehr gut kleidete, rief aus: sie gäbe viel darum, eine Frankfurter Bürgerin zu sein. Ich erwiderte: das sei etwas Leichtes; ich wisse ein Mittel, werde es aber als Geheimnis für mich behalten. Da man nun heftig und ehftiger in mich drang, erklärt' ich zuletzt, die treffliche Dame dürfe mich nur heiraten, wodurch sie augenblicklich zur Frankfurter Bürgerin umgeschaffen werde. Allgemeines Gelächter! Und was kam nicht alles zur Sprache! Als einst von der unglücklichen Kampagne, besonders von der Kanonade bei Valmy die Rede war, versicherte Herr von Grimm, es sei von meinem wunderlichen Ritt ins Kanonenfeuer an des Königs Tafel die Rede gewesen. Wahrscheinlich hatten die Offiziere, denen ich damals begegnete, davon gesprochen; das Resultat ging darauf hinaus, dass man sich darüber nicht wundern müsse, weil gar nicht zu berechnen sei, was man von einem seltsamen Menschen zu erwarten habe. Auch ein sehr geschickter, geistreicher Arzt nahm teil an unsern Halbsaturnalien, und ich dachte nicht in meinem Übermut, dass ich seiner so bald bedürfen würde. Er lachte daher zu meinem Ärger laut auf, als er mich im Bett fand, wo ein gewaltiges rheumatisches Übel, das ich mir durch Verkältung zugezogen, mich beinahe unbeweglich festhielt. Er, ein Schüler des Geheimrat Hofmann, dessen tüchtige Wunderlichkeiten von Mainz und dem kurfürstlichen Hof aus bis weit hinunter den Rhein gewirkt, verfuhr sogleich mit Kampfer, welcher fast als Universalmedizin galt. Löschpapier, Kreide darauf gerieben, sodann mit Kampfer bestreut, ward äußerlich, Kampfer gleichfalls, in kleinen Dosen, innerlich angewandt. Dem sei nun, wie ihm wolle, ich war in einigen Tagen hergestellt. Die Langeweile jedoch des Leidens ließ mich manche Betrachtung anstellen, die Schwäche, die aus einem bettlägrigen Zustand gar leicht erfolgt, ließ mich meine Lage bedenklich finden: das Fortschreiten der Franzosen in den Niederlanden war bedeutend und durch den Ruf vergrößert, man sprach täglich und stündlich von neu angekommenen Ausgewanderten. Mein Aufenthalt im Pempelfort war schon lang genug, und ohne die herzlichste Gastfreiheit der Familie hätte jeder glauben müssen, dort lästig zu sein. Auch hatte sich mein Bleiben nur zufällig verlängert: ich erwartete täglich und stündlich meine böhmische Chaise, die ich nicht gern zurücklassen wollte; sie war von Trier schon in Koblenz angekommen und sollte von dort bald weiter herab spediert werden; da sie jedoch ausblieb, vermehrte sich die Ungeduld, die mich in den letzten Tagen ergriffen hatte. Jacobi überließ mir einen bequemen, obgleich an Eisen ziemlich schweren Reisewagen. Alles zog, wie man hörte, nach Westfalen hinein, und die Brüder des Königs wollten dort ihren Sitz aufschlagen. Und so schied ich denn mit dem wunderlichsten Zwiespalt: die Neigung hielt mich in dem freundlichsten Kreis, der sich soeben auch höchst beunruhigt fühlte, und ich sollte die edelsten Menschen in Sorgen und Verwirrung hinter mir lassen, bei schrecklichem Weg und Wetter mich nun wieder in die wilde, wüste Welt hinauswagen, von dem Strom mit fortgezogen der unaufhaltsam eilenden Flüchtlinge, selbst mit Flüchtlingsgefühl. Und doch hatte ich Aussicht unterwegs auf die angenehmste Einkehr, indem ich so nahe bei Münster die Fürstin Gallitzin nicht umgehen durfte. Duisburg, November. Und so fand ich mich denn abermals, nach Verlauf von vier Wochen, zwar viele Meilen weit entfernt von dem Schauplatz unseres ersten Unheils, doch wieder in derselben Gesellschaft, in demselben Gedränge der Emigrierten, die nun, jenseits entschieden vertrieben, diesseits nach Deutschland strömten, ohne Hilfe und ohne Rat. Zu Mittag in dem Gasthof etwas spät angekommen, saß ich am Ende der langen Tafel; Wirt und Wirtin, die mir als einem Deutschen den Widerwillen gegen die Franzosen schon ausgesprochen hatten, entschuldigten, dass alle guten Plätze von diesen unwillkommenen Gästen besetzt seien. Hierbei wurde bemerkt, dass unter ihnen, trotz aller Erniedrigung, Elend und zu befürchtender Armut, noch immer dieselbe Rangsucht und Unbescheidenheit gefunden werde. Indem ich nun die Tafel hinaufsah, erblickt' ich ganz oben, quer vor, an der ersten Stelle einen alten, kleinen, wohlgestalteten Mann von ruhigem, beinahe nichtigem Betragen. Er musste vornehm sein, denn zwei Nebensitzende erwiesen ihm die größte Aufmerksamkeit, wählten die ersten und besten Bissen, ihm vorzulegen, und man hätte beinahe sagen können, dass sie ihm solche zum Mund führten. Mir bleib nicht lange verborgen, dass er, vor Alter seiner Sinne kaum mächtig, als ein bedauernswürdiges Automat den schatten eines früheren wohlhabenden und ehrenvollen Lebens kümmerlich durch die Welt schleppe, indessen zwei Ergebene ihm den Traum des vorigen Zustandes wieder herbeizuspiegeln trachteten. Ich beschaute mir die übrigen: das bedenklichste Schicksal war auf allen Stirnen zu lesen, Soldaten, Kommissäre, Abenteurer vielleicht zu unterscheiden; alle waren still, denn jeder hatte sein eigene Not zu übertragen, sie sahen ein grenzenloses Elend vor sich. Etwa in der Hälfte des Mittagmahles kam noch ein hübscher junger Mann herein, ohne ausgezeichnete Gestalt oder irgendein Abzeichen; man konnte an ihm den Fußwanderer nicht verkennen. Er setzte sich still gegen mir über, nachdem er den Wirt um ein Kuvert begrüßt hatte, und speiste, was man ihm nachholte und vorsetzte, mit ruhigem Betragen. Nach aufgehobener Tafel trat ich zum Wirt, der mir ins Ohr sagte: "Ihr Nachbar soll seine Zeche nicht teuer bezahlen!" Ich begriff nichts von diesen Worten, aber als der junge Mann sich näherte und fragte: was er schuldig sei? erwiderte der Wirt, nachdem er sich flüchtig über die Tafel umgeschaut, die Zeche sei ein Kopfstück. Der Fremde schien beteten und sagte, das sei wohl ein Irrtum, denn er habe nicht allein ein gutes Mittagsessen gehabt, sondern auch einen Schoppen Wein; das müsse mehr betragen. Der Wirt antwortete darauf ganz ernsthaft, er pflege seine Rechnung selbst zu machen, und die Gäste erlegten gerne, was er forderte. Nun zahlte der junge Mann, entfernte sich bescheiden und verwundert; sogleich aber löste mir der Wirt das Rätsel. "Dies ist der erste von diesem vermaledeiten Volk," rief er aus, "der Schwarzbrot gegessen hat: das musste ihm zugute kommen." In Duisburg wusst' ich einen einzigen alten Bekannten, den ich aufzusuchen nicht versäumte: Professor Plessing war es, mit dem sich vor vielen Jahren ein sentimental-romanhaftes Verhältnis anknüpfte, wovon ich hier das Nähere mitteilen will, da unsere Abendunterhaltung dadurch aus den unruhigsten Zeiten in die friedlichsten Tage versetzt wurde. "Werther," bei seinem Erscheinen in Deutschland, hatte keineswegs, wie man ihm vorwarf, eine Krankheit, ein Fieber erregt, sondern nur das Übel aufgedeckt, das in jungen Gemütern verborgen lag. Während eines langen und glücklichen Friedens hatte sich eine literarisch-ästhetische Ausbildung auf deutschem Grund und Boden, innerhalb der Nationalsprache, auf das schönste entwickelt; doch gesellte sich bald, weil der Bezug nur aufs Innere ging, eine gewisse Sentimentalität hinzu, bei deren Ursprung und Fortgang man den Einfluss von Yorik-Sterne nicht verkennen darf: wenn auch sein Geist nicht über den Deutschen schwebte, so teilte sich sein Gefühl um desto lebhafter mit. Es entstand eine Art zärtlich-leidenschaftlicher Asketik, welche, da uns die humoristische Ironie des Briten nicht gegeben war, in eine leidige Selbstquälerei gewöhnlich ausarten musste. Ich hatte mich persönlich von diesem Übel zu befreien gesucht und trachtete nach meiner Überzeugung andern hilfreich zu sein; das aber war schwerer, als man denken konnte: denn eigentlich kam es drauf an, einem jeden gegen sich selbst beizustehen, wo denn von aller Hilfe, wie sie uns die äußere Welt anbietet, es sei Erkenntnis, Belehrung, Beschäftigung, Begünstigung, die Rede gar nicht sein konnte. Hier müssen wir nun gar manche, damals mit einwirkende Tätigkeiten stillschweigend übergehen, aber zu unseren Zwecken macht sich nötig, eines andern großen, für sich waltenden Bestrebens umständlicher zu gedenken. Lavaters Physiognomik hatte dem sittlich-geselligen Interesse eine ganz andere Wendung verliehen. Er fühlte sich im Besitz der geistigsten Kraft, jene sämtlichen Eindrücke zu deuten, welche des Menschen Gesicht und Gestalt auf einen jeden ausübt, ohne dass er sich davon Rechenschaft zu geben wüsste; da er aber nicht geschaffen war, irgendeine Abstraktion methodisch zu suchen, so heilt er sich am einzelnen Fall und also am Individuum. Heinrich Lips, ein talentvoller junger Künstler, besonders geeignet zum Porträt, schloss sich fest an ihn, und sowohl zu Haus als auf der unternommenen Rheinreise kam er seinem Gönner nicht von der Seite. Nun ließ Lavater, teils aus Heißhunger nach grenzenloser Erfahrung, teils umso viel bedeutende Menschen als möglich an sein künftiges Werk zu gewöhnen und zu knüpfen, alle Personen abbilden, die nur einigermaßen durch Stand und Talent, durch Charakter und Tat ausgezeichnet ihm begegneten. Dadurch kam denn freilich gar manches Individuum zur Evidenz, es ward etwas mehr wert, aufgenommen in einen so edlen Kreis; seine Eigenschaften wurden durch den deutsamen Meister hervorgehoben, man glaubte, sich einander näher zu kennen: und so ergab sich's aufs sonderbarste, dass mancher einzelne in seinem persönlichen Wert entschieden hervortrat, der sich bisher im bürgerlichen Lebens- und Staatsgang ohne Bedeutung eingeordnet und eingeflochten gesehen. Diese Wirkung war stärker und größer, als man sie denken mag: ein jeder fühlte sich berechtigt, von sich selbst, als von einem abgeschlossenen, abgerundeten Wesen, das Beste zu denken, und in seiner Einzelheit vollständig gekräftigt, hielt es ich auch wohl für befugt, Eigenheiten, Torheiten und Fehler in den Komplex seines werten Daseins mit aufzunehmen. Dergleichen erfolg konnte sich umso leichter entwickeln, als bei dem ganzen Verfahren die besondere individuelle Natur allein, ohne Rücksicht auf die allgemeine Vernunft, die doch alle Natur beherrschen soll, zur Sprache kam; dagegen war das religiöse Element, worin Lavater schwebte, nicht hinreichend, eine sich immer mehr entscheidende Selbstgefälligkeit zu mildern, ja es entstand bei Frommgesinnten daraus eher ein geistlicher Stolz, der es dem natürlichen an Erhebung auch wohl zuvortrat. Was aber zugleich nach jener Epoche folgerecht auffallend hervorging, war die Achtung der Individuen untereinander. Namhafte ältere Männer wurden, wo nicht persönlich, doch im Bild verehrt; und es durfte auch wohl ein junger Mann sich nur einigermaßen bedeutend hervortun, so war alsbald der Wunsch nach persönlicher Bekanntschaft rege, in deren Ermangelung man sich mit seinem Porträt begnügte; wobei denn die mit Sorgfalt und gutem Geschick aufs genauste gezogenen Schattenriss willkommene Dienste leisteten. Jedermann war darin geübt, und kein Fremder zog vorüber, den man nicht abends an die Wand geschrieben hätte; die Storchschnäbel durften nicht rasten. "Menschenkenntnis und Menschenliebe" waren uns bei diesem Verfahren versprochen; wechselseitige Teilnahme hatte sich entwickelt, wechselseitiges Kennen und Erkennen aber wollte sich so schnell nicht entfalten: zu beiden Zwecken jedoch war die Tätigkeit sehr groß, und was in diesem Sinn von einem herrlich begabten jungen Fürsten, von seiner wohlgesinnten, geistreich-lebhaften Umgebung für Aufmunterung und Fördernis nah und fern gewirkt ward, wäre schon zu erzählen, wenn es nicht löblich schiene, die Anfänge bedeutender Zustände einem ehrwürdigen Dunkel anheim zu geben. Vielleicht sahen die Kotyledonen jener Saat etwas wunderlich aus; der Ernte jedoch, woran das Vaterland und die Außenwelt ihren Anteil freudig dahin nahm, wird in den spätesten Zeiten noch immer ein dankbares Andenken nicht ermangeln. Wer Vorgesagtes in Gedanken festhält und sich davon durchdringt, wird nachstehendes Abenteuer, welches beide Teilnehmende unter dem Abendessen vergnüglich in der Erinnerung belebten, weder unwahrscheinlich noch ungereimt finden. Zu manchem andern, brieflichen und persönlichen Zudrang erheilt ich in der Hälfte des Jahrs 1776, von Wernigerode datiert, Plessing unterzeichnet, ein Schreiben, vielmehr ein Heft, fast das Wunderbarste, was mir in jener selbstquälerischen Art vor Augen gekommen: man erkannte daran einen jungen, durch Schulen und Universität gebildeten Mann, dem nun aber sein sämtlich Gelerntes zu eigener innerer, sittlicher Beruhigung nicht gedeihen wollte. Eine geübte Handschrift war gut zu lesen, der Stil gewandt und fließend, und ob man gleich eine Bestimmung zum Kanzelredner darin entdeckte, so war doch alles frisch und brav aus dem Herzen geschrieben, dass man ihm einen gegenseitigen Anteil nicht versagen konnte. Wollte nun aber dieser Anteil lebhaft werden, suchte man sich die Zustände des Leidenden näher zu entwickeln, so glaubte man statt des Duldens Eigensinn, statt des Ertragens Hartnäckigkeit und statt eines sehnsüchtigen Verlangens abstoßendes Wegweisen zu bemerken. Da ward mir denn, nach jenem Zeitsinn, der Wunsch lebhaft rege, diesen jungen Mann von Angesicht zu sehen; ihn aber zu mir zu bescheiden, hielt ich nicht für rätlich. Ich hatte mir, unter bekannten Umständen, schon eine Zahl von jungen Männern aufgebürdet, die, anstatt mit mir auf meinem Wege einer reineren, höheren Bildung entgegenzugehen, auf dem ihrigen verharrend, sich nicht besser befanden und mich in meinen Fortschritten hinderten. Ich ließ die Sache indessen hängen, von der Zeit irgendeine Vermittelung erwartend. Da erhielt ich einen zweiten, kürzern, aber auch lebhafteren, heftigeren Brief, worin der Schreiber auf Antwort und Erklärung drang und, sie ihm nicht zu versagen, mich feierlichst beschwor. Aber auch dieser wiederholte Sturm brachte mich nicht aus der Fassung; die zweiten Blätter gingen mir so wenig als die ersten zu Herzen, aber die herrische Gewohnheit, jungen Männern meines Alters in Herzens- und Geistesnöten beizustehen, ließ mich sein doch nicht ganz vergessen. Die um einen trefflichen jungen Fürsten versammelte weimarsche Gesellschaft trennte sich nicht leicht, ihre Beschäftigungen und Unternehmungen, Scherze, Freuden und Leiden waren gemeinsam. Da ward nun zu Ende Novembers eine Jagdpartie auf wilde Schweine, notgedrungen auf das häufige Klagen des Landvolks, im Eisenachschen unternommen, der ich, als damaliger Gast, auch beizuwohnen hatte; ich erbat mir jedoch die Erlaubnis, nach einem kleinen Umweg mich anschließen zu dürfen. Nun hatte ich einen wundersamen geheimen Reiseplan. Ich musste nämlich, nicht nur etwa von Geschäftsleuten, sondern auch von vielen am Ganzen teilnehmenden Weimarern öfter den lebhaften Wunsch hören, es möge doch das Ilmenauer Bergwerk wieder aufgenommen werden. Nun ward von mir, der ich nur die allgemeinsten Begriffe vom Bergbau allenfalls besaß, zwar weder Gutachten noch Meinung, doch Anteil verlangt, aber diesen konnt' ich an irgendeinem Gegenstand nur durch unmittelbares Anschauen gewinnen. Ich dachte mir unerlässlich, vor allen Dingen das Bergewesen in seinem ganzen Komplex, und wär' es auch nur flüchtig, mit Augen zu sehen und mit dem Geiste zu fassen; denn alsdann nur konnt' ich hoffen, in das Positive weiter einzudringen und mich mit dem Historischen zu befreunden. Deshalb hatt' ich mir längst eine Reise auf den Harz gedacht. Und gerade jetzt, da ohnehin diese Jahrszeit in Jagdlust unter freiem Himmel zugebracht werden sollte, fühlte ich mich dahin getrieben. Alles Winterwesen hatte überdies in jener Zeit für mich große Reize, und was die Bergwerke betraf, so war ja in ihren Tiefen weder Winter noch Sommer merkbar; wobei ich zugleich gern bekenne, dass die Absicht, meinen wunderlichen Korrespondenten persönlich zu sehen und zu prüfen, wohl die Hälfte des Gewichtes meinem Entschluss hinzufügte. Indem sich nun die Jagdlustigen nach einer andern Seite hin begaben, ritt ich ganz allein dem Ettersberge zu und begann jene Ode, die unter dem Titel "Harzreise im Winter" solange als Rätsel unter meinen kleineren Gedichten Platz gefunden. Im düstern und von Norden her sich heranwälzenden Schneegewölk schwebte hoch ein Geier über mir. Die Nacht verblieb ich in Sondershausen und gelangte des andern Tags so bald nach Nordhausen, dass ich gleich nach Tisch weiter zu gehen beschloss, aber mit Boten und Laterne nach mancherlei Gefährlichkeiten erst sehr spät in Ilfeld ankam. Ein ansehnlicher Gasthof war glänzend erleuchtet, es schien ein besonderes Fest darin gefeiert zu werden. Erst wollte der Wirt mich gar nicht aufnehmen: die Kommissarien der höchsten Höfe, hieß es, seien schon lange hier beschäftigt, wichtige Einrichtungen zu treffen und verschiedene Interessen zu vereinbaren, und da dies nun glücklich vollendet sei, gäben sie heute Abend einen allgemeinen Schmaus. Auf dringende Vorstellung jedoch und einige Winke des Boten, dass man mit mir nicht übel fahre, erbot sich der Mann, mir den Bretterverschlag in der Wirtsstube, seinen eigentlichen Wohnsitz, und zugleich sein weiß zu überziehendes Ehebett einzuräumen. Er führte mich durch das weite, hell erleuchtete Wirtszimmer, da ich mir denn im Vorbeigehen die sämtlichen munteren Gäste flüchtig beschaute. Doch sie sämtlich zu meiner Unterhaltung näher zu betrachten, gab mir in den Brettern des Verschlags eine Astlücke die beste Gelegenheit, die, seine Gäste zu belauschen, dem Wirte selbst oft dienen mochte. Ich sah die lange und wohl erleuchtete Tafel von unten hinauf, ich überschaute sie, wie man oft die Hochzeit von Kana gemalt sieht; nun musterte ich bequem von oben bis herab also: Vorsitzende, Räte, andere Teilnehmende und dann immer so weiter, Sekretarien, Schreiber und Gehilfen. Ein glücklich geendigtes beschwerliches Geschäft schien eine Gleichheit aller tätig Teilnehmenden zu bewirken, man schwatzte mit Freiheit, trank Gesundheiten, wechselte Scherz und Scherz, wobei einige Gäste bezeichnet schienen, Witz und Spaß an ihnen zu üben; genug, es war ein fröhliches, bedeutendes Mahl, das ich bei dem hellsten Kerzenscheine in seinen Eigentümlichkeiten ruhig beobachten konnte, eben als wenn der hinkende Teufel mir zur Seite stehe und einen ganz fremden Zustand unmittelbar zu beschauen und zu erkennen mich begünstigte. Und wie dies mir nach der düstersten Nachtreise in den Harz hinein ergötzlich gewesen, werden die Freunde solcher Abenteuer beurteilen. Manchmal schien es mir ganz gespensterhaft, als säh' ich in einer Berghöhle wohlgemute Geister sich erlustigen. Nach einer wohl durchschlafenen Nacht eilte ich frühe, von einem Boten abermals geleitet, der Baumannshöhle zu; ich durchkroch sie und betrachtete mir das fortwirkende Naturereignis ganz genau. Schwarze Marmormassen, aufgelöst, zu weißen kristallinischen Säulen und Flächen wieder hergestellt, deuteten mir auf das fortwebende Leben der Natur. Freilich verschwanden vor dem ruhigen Blick alle die Wunderbilder, die sich eine düster wirkende Einbildungskraft so gern aus formlosen Gestalten erschaffen mag; dafür blieb aber auch das eigne wahre desto reiner zurück, und ich fühlte mich dadurch gar schön bereichert. Wieder ans Tageslicht gelangt, schrieb ich die notwendigsten Bemerkungen, zugleich aber auch mit ganz frischem Sinn die ersten Strophen des Gedichtes, das unter dem Titel "Harzreise im Winter" die Aufmerksamkeit mancher Freunde bis auf die letzten Zeiten erregt hat; davon mögen denn die Strophen, welche sich auf den nun blad zu erblickenden wunderlichen Mann beziehen, hier Platz finden, weil sie mehr als viele Worte den damaligen liebevollen Zustand meines Innern auszusprechen geeignet sind. Aber abseits, wer ist's? Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, Hinter ihm schlagen Die Sträuche zusammen, Das Gras steht wieder auf, Die Öde verschlingt ihn. Ach, wer heilt die Schmerzen Des, dem Balsam zu Gift ward? Der sich Menschenhass Aus der Fülle der Liebe trank? Erst verachtet, nun ein Verächter, Zehrt er heimlich auf Seinen eignen Wert In ungenügender Selbstsucht. Ist auf deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton Seinem Ohre vernehmlich, So erquicke sein Herz! Öffne den umwölkten Blick Über die tausend Quellen Neben dem Dürstenden In der Wüste! Im Gasthof zu Wernigerode angekommen, ließ ich mich mit dem Kellner in ein Gespräch ein; ich fand ihn als einen sinnigen Menschen, der seine städtischen Mitgenossen ziemlich zu kennen schien. Ich sagt' ihm darauf, es sei meine Art, wenn ich an einem fremden Ort ohne besondere Empfehlung anlangte, mich nach jüngern Personen zu erkundigen, die sich durch Wissenschaft und Gelehrsamkeit auszeichneten; er möge mir daher jemanden der Art nennen, damit ich einen angenehmen Abend zubrächte. Darauf erwiderte ohne weiteres Bedenken der Kellner: es werde mir gewiss mit der Gesellschaft des Herrn Plessing gedient sein, dem Sohn des Superintendenten; als Knabe sei er schon in Schulen ausgezeichnet worden und habe noch immer den Ruf eines fleißigen guten Kopfs, nur wolle man seine finstere Lauen tadeln und nicht gut finden, dass er mit unfreundlichem Betragen sich aus der Gesellschaft ausschließe. Gegen Fremde sei er zuvorkommend, wie Beispiele bekannt wären; wollte ich angemeldet sein, so könne es sogleich geschehen. Der Kellner brachte mir bald eine bejahende Antwort und führte mich hin. Es war schon Abend geworden, als ich in ein großes Zimmer des Erdgeschosses, wie man es in geistlichen Häusern antrifft, hineintrat und den jungen Mann in der Dämmerung noch ziemlich deutlich erblickte. Allein an einigen Symptomen konnt' ich bemerken, dass die Eltern eilig das Zimmer verlassen hatten, um dem unvermuteten Gast Platz zu machen. Das hereingebrachte Licht ließ mich den jungen Mann nunmehr ganz deutlich erkennen: er glich seinem Brief völlig, und so wie jenes Schreiben erregte er Interesse, ohne Anziehungskraft auszuüben. Um ein näheres Gespräch einzuleiten, erklärt' ich mich für einen Zeichenkünstler von Gotha, der wegen Familienangelegenheiten in dieser unfreundlichen Jahrszeit Schwester und Schwager in Braunschweig zu besuchen habe. Mit Lebhaftigkeit fiel er mir beinahe ins Wort und rief aus: "Da Sie so nahe an Weimar wohnen, so werden Sie doch auch diesen Ort, der sich so berühmt macht, öfters besucht haben!" Dieses bejaht' ich ganz einfach und fing an, von Rat Kraus, von der Zeichenschule, von Legationsrat Bertuch und dessen unermüdeter Tätigkeit zu sprechen; ich vergaß weder Musäus noch Jagemann, Kapellmeister Wolf und einige Frauen und bezeichnete den Kreis, den diese wackern Personen abschlossen und jeden Fremden willig und freundlich unter sich aufnahmen. Endlich fuhr er etwas ungeduldig heraus: "Warum nennen Sie denn Goethe nicht?" Ich erwiderte, dass ich diesen auch wohl in gedachtem Kreis als willkommenen Gast gesehen und von ihm selbst persönlich als fremder Künstler wohl aufgenommen und gefördert worden, ohne dass ich weiter viel von ihm zu sagen wisse, da er teils allein, teils in andern Verhältnissen lebe. Der junge Mann, der mit unruhiger Aufmerksamkeit zugehört hatte, verlangte nunmehr, mit einigem Ungestüm, ich solle ihm das seltsame Individuum schildern, das so viel von sich reden mache. Ich trug ihm darauf mit großer Ingenuität eine Schilderung vor, die für mich nicht schwer wurde, da die seltsame Person in der seltsamsten Lage mir gegenwärtig stand, und wäre ihm von der Natur nur etwas mehr Herzenssagazität gegönnt gewesen, so konnte ihm nicht verborgen bleiben, dass der vor ihm stehende Gast sich selbst schildere. Er war einige Mal im Zimmer auf und ab gegangen, indes die Magd herein trat, eine Flasche Wein und sehr reinlich bereitetes kaltes Abendbrot auf den Tisch setzte; er schenkte beiden ein, stieß an und schluckte das Glas sehr lebhaft hinunter. Und kaum hatte ich mit etwas gemäßigteren Zügen das meinige geleert, ergriff er heftig meinen Arm und rief: "O verzeihen Sie meinem wunderlichen Betragen! Sie haben mir aber so viel Vertrauen eingeflößt, dass ich Ihnen alles entdecken muss. Dieser Mann, wie Sie mir ihn beschreiben, hätte mir doch antworten sollen! Ich habe ihm einen ausführlichen, herzlichen Brief geschickt, ihm meine Zustände, meine Leiden geschildert, ihn gebeten, sich meiner anzunehmen, mir zu raten, mir zu helfen, und nun sind schon Monate verstrichen, ich vernehme nichts von ihm; wenigstens hätte ich ein ablehnendes Wort auf ein so unbegrenztes Vertrauen wohl verdient." Ich erwiderte darauf, dass ich ein solches Benehmen weder erklären noch entschuldigen könne; so viel wisse ich aber aus eigener Erfahrung, dass ein gewaltiger, sowohl ideeller als reeller Zudrang diesen sonst wohlgesinnten, wohlwollenden und hilfsbereiten jungen Mann oft außerstand setze, sich zu bewegen, geschweige zu wirken. "Sind wir zufällig so weit gekommen," sprach er darauf mit einiger Fassung, "den Brief muss ich Ihnen vorlesen, und Sie sollen urteilen, ob er nicht irgendeine Antwort, irgendeine Erwiderung verdiente." Ich ging im Zimmer auf und ab, die Vorlesung zu erwarten, ihrer Wirkung schon beinahe ganz gewiss, deshalb nicht weiter nachdenkend, um mir selbst in einem so zarten Fall nicht vorzugreifen. Nun saß er gegen mir über und fing an, die Blätter zu lesen, die ich in- und auswendig kannte, und vielleicht war ich niemals mehr von der Behauptung der Physiognomisten überzeugt, ein lebendiges Wesen sei in allem seinem Handeln und Betragen vollkommen übereinstimmend mit sich selbst, und jede in die Wirklichkeit hervorgetretene Monas erzeige sich in vollkommener Einheit ihrer Eigentümlichkeiten. Der Lesende passte völlig zu dem Gelesenen, und wie dieses früher in der Abwesenheit mich nicht ansprach, so war es nun auch mit der Gegenwart. Man konnte zwar dem jungen Mann eine Achtung nicht versagen, eine Teilnahme, die mich denn auch auf einen so wunderlichen Weg geführt hatte: denn ein ernstliches Wollen sprach sich aus, ein edler Sinn und Zweck; aber obschon von den zärtlichsten Gefühlen die Rede war, blieb der Vortrag ohne Anmut, und eine ganz eigens beschränkte Selbstigkeit tat sich kräftig hervor. Als er nun geendet hatte, fragte er mit Hast, was ich dazu sage? Und ob ein solches Schreiben nicht eine Antwort verdient, ja gefordert hätte? Indessen war mir der bedauernswürdige Zustand dieses jungen Mannes immer deutlicher geworden: er hatte nämlich von der Außenwelt niemals Kenntnis genommen, dagegen sich durch Lektüre mannigfaltig ausgebildet, alle seine Kraft und Neigung aber nach innen gewendet und sich auf diese Weise, da er in der Tiefe seines Lebens kein produktives Talent fand, so gut als zugrunde gerichtet; wie ihm denn sogar Unterhaltung und Trost, dergleichen uns aus der Beschäftigung mit alten Sprachen so herrlich zu gewinnen offen steht, völlig abzugehen schien. Da ich an mir und andern schon glücklich erprobt hatte, dass in solchem Falle ein rasche gläubige Wendung gegen die Natur und ihre grenzenlose Mannigfaltigkeit das beste Heilmittel sei, so wagt' ich alsobald den Versuch, es auch in diesem Fall anzuwenden und ihm daher nach einigem Bedenken folgendermaßen zu antworten: "Ich glaube zu begreifen, warum der junge Mann, auf den Sie so viel Vertrauen gesetzt, gegen Sie stumm geblieben: denn seine jetzige Denkweise weicht zu sehr von der Ihrigen ab, als dass er hoffen dürfte, sich mit Ihnen zu verständigen zu können. Ich habe selbst einigen Unterhaltungen in jenem Kreis beigewohnt und behaupten hören: man werde sich aus einem schmerzlichen, selbstquälerischen, düsteren Seelenzustand nur durch Naturbeschauung und herzliche Teilnahme an der äußeren Welt retten und befreien. Schon die allgemeinste Bekanntschaft mit der Natur, gleichviel von welcher Seite, ein tätiges Eingreifen, sei es als Gärtner oder Landbewohner, als Jäger oder Bergmann, ziehe uns von uns selbst ab; die Richtung geistiger Kräfte auf wirkliche, wahrhafte Erscheinungen gebe nach und nach das größte Behagen, Klarheit und Belehrung; wie denn der Künstler, der sich treu an der Natur halte und zugleich sein Inneres auszubilden suche, gewiss am besten fahren werde." Der junge Freund schien darüber sehr unruhig und ungeduldig, wie man über eine fremde oder verworrene Sprache, deren Sinn wir nicht vernehmen, ärgerlich zu werden anfängt. Ich darauf, ohne sonderliche Hoffnung eines glücklichen Erfolges, eigentlich aber um nicht zu verstummen, fuhr zu reden fort. "Mir, als Landschaftsmaler," sagte ich, "musste dies zu allererst einleuchten, da ja meine Kunst unmittelbar auf die Natur gewiesen ist; doch habe ich seit jener Zeit emsiger und eifriger als bisher nicht etwa nur ausgezeichnete und auffallende Naturbilder und Erscheinungen betrachtet, sondern mich zu allem und jedem liebevoll hingewendet." Damit ich mich nun aber nicht ins Allgemeine verlöre, erzählte ich, wie mir sogar diese notgedrungene Winterreise, anstatt beschwerlich zu sein, dauernden Genuss gewährt; ich schilderte ihm, mit malerischer Poesie und doch so unmittelbar und natürlich, als ich nur konnte, den Vorschritt meiner Reise, jenen morgendlichen Schneehimmel über den Bergen, die mannigfaltigsten Tageserscheinungen, dann bot ich seiner Einbildungskraft die wunderlichen Turm- und Mauerbefestigungen von Nordhausen, gesehen bei hereinbrechender Abenddämmerung, ferner die nächtlich rauschenden, von des Boten Laterne zwischen Bergschluchten flüchtig erleuchtet blinkenden Gewässer und gelangte sodann zur Baumannshöhle. Hier aber unterbrach er mich lebhaft und versicherte, der kurze Weg, den er daran gewendet, gereue ihn ganz eigentlich; sie habe keineswegs dem Bild sich gleichgestellt, das er in seiner Phantasie entworfen. Nach dem Vorhergegangenen konnten mich solche krankhafte Symptome nicht verdrießen: denn wie oft hatte ich erfahren müssen, dass der Mensch den Wert einer klaren Wirklichkeit gegen ein trübes Phantom seiner düstern Einbildungskraft von sich ablehnt. Ebenso wenig war ich verwundert, als er auf meine Frage: wie er sich denn die Höhle vorgestellt habe? Eine Beschreibung machte, wie kaum der kühnste Theatermaler den Vorhof des Plutonischen Reiches darzustellen gewagt hätte. Ich versuchte hierauf noch einige propädeutische Wendungen, als Versuchsmittel einer zu unternehmenden Kur; ich ward aber mit der Versicherung, es könne und solle ihm nichts in dieser Welt genügen, so entschieden abgewiesen, dass mein Innerstes sich zuschloss und ich mein Gewissen durch den beschwerlichen Weg, im Bewusstsein des besten Willens, völlig befreit und mich gegen ihn von jeder weiteren Pflicht entbunden glaubte. Es war schon spät geworden, als er mir den zweiten, noch heftigern, mir gleichfalls nicht unbekannten brieflichen Erlass vorlesen wolle, doch aber meine Entschuldigung wegen allzu großer Müdigkeit gelten ließ, indem er zugleich eine Einladung auf morgen zu Tisch im Namen der Seinigen dringend hinzufügte; wogegen ich mir die Erklärung auf morgen ganz in der Frühe vorbehielt. Und so schieden wir friedlich und schicklich. Seine Persönlichkeit ließ einen ganz individuellen Eindruck zurück. Er war von mittlerer Größe, seine Gesichtszüge hatten nichts Anlockendes, aber auch nichts eigentlich Abstoßendes, sein düsteres Wesen erschien nicht unhöflich, er konnte vielmehr für einen wohlerzogenen jungen Mann gelten, der sich in der Stille auf Schulen und Akademien zu Kanzel und Lehrstuhl vorbereitet hatte. Heraustretend fand ich den völlig aufgehellten Himmel von Sternen blinken, Straßen und Plätze mit Schnee überdeckt, blieb auf einem schmalen Steg ruhig stehen und beschaute mir die winternächtliche Welt. Zugleich überdacht' ich das Abenteuer und fühlte mich fest entschlossen, den jungen Mann nicht wieder zu sehen: infolge dessen bestellt' ich mein Pferd auf Tagesanbruch, übergab ein anonymes, entschuldigendes Bleistiftblättchen dem Kellner, dem ich zugleich so viel Gutes und Wahres von dem jungen Mann, den er mir bekannt gemacht, zu sagen wusste; welches denn der gewandte Bursche mit eigner Zufriedenheit gewiss wohl benutzt haben mag. Nun ritt ich an dem Nordosthang des Harzes, im grimmigen, mich zur Seite bestürmenden Stöberwetter, nachdem ich vorher den Rammelsberg, Messinghütten und die sonstigen Anstalten der Art beschaut und ihre Weise mir eingeprägt hatte, nach Goslar, wovon ich diesmal nicht weiter erzähle, da ich mich künftig mit meinen Lesern darüber umständlich zu unterhalten hoffe. Ich wüsste nicht, wie viel Zeit vorübergegangen, ohne dass ich etwas weiter von dem jungen Mann gehört hätte, als unerwartet an einem Morgen mir ein Billett ins Gartenhaus bei Weimar zukam, wodurch er sich anmeldete; ich schrieb ihm einige Worte dagegen, er werde mir willkommen sein. Ich erwartete nun einen seltsamen Erkennungsauftritt, allein er blieb, herein tretend, ganz ruhig und sprach: "Ich bin nicht überrascht, Sie hier zu finden; die Handschrift Ihres Billetts rief mir so deutlich jene Züge wieder ins Gedächtnis, die Sie, aus Wernigerode scheidend, mir hinterließen, dass ich keinen Augenblick zweifelte, jenen geheimnisvollen Reisenden abermals hier zu finden." Schon dieser Eingang war erfreulich, und es eröffnete sich ein trauliches Gespräch, worin er mir seine Lage zu entwickeln trachtete und ich ihm dagegen meine Meinung nicht vorenthielt. Inwiefern sich seine inneren Zustände wirklich gebessert hatten, wüsst' ich nicht mehr anzugeben, es musste aber damit nicht so gar schlimm aussehen, denn wir schieden nach mehreren Gesprächen friedlich und freundlich; nur dass ich sein heftiges Begehren nach leidenschaftlicher Freundschaft und innigster Verbindung nicht erwidern konnte. Noch eine Zeitlang unterhielten wir ein briefliches Verhältnis; ich kam in den Fall, ihm einige reelle Dienste zu leisten, deren er sich denn auch bei gegenwärtiger Zusammenkunft dankbar erinnerte, sowie denn überhaupt das Zurückschauen in jene früheren Tage beiden Teilen einige angenehme Stunden gewährte. Er, nach wie vor immer nur mit sich selbst beschäftigt, hatte viel zu erzählen und mitzuteilen. Ihm war geglückt, im Lauf der Jahre sich den Rang eines geachteten Schriftstellers zu erwerben, indem er die Geschichte älterer Philosophie ernstlich behandelte, besonders derjenigen, die sich zum Geheimnis neigt, woraus er denn die Anfänge und Urzustände der Menschen abzuleiten trachtete. Seine Bücher, die er mir, wie sie herauskamen, zusendete, hatte ich freilich nicht gelesen; jene Bemühungen lagen zu weit von demjenigen ab, was mich interessierte. Seine gegenwärtigen Zustände fand ich auch keineswegs behaglich: er hatte Sprach- und Geschichtskenntnisse, die er so lange versäumt und abgelehnt, endlich mit wütender Anstrengung erstürmt und durch dieses geistige Unmaß sein Physisches zerrüttet. Zudem schienen seine ökonomischen Umstände nicht die besten, wenigstens erlaubte sein mäßiges Einkommen ihm nicht, sich sonderlich zu pflegen und zu schonen; auch hatte sich das düstere jugendliche Treiben nicht ganz ausgleichen können: noch immer schien er einem Unerreichbaren nachzustreben, und als die Erinnerung früherer Verhältnisse endlich erschöpft war, so wollte keine eigentlich frohe Mitteilung stattfinden. Meine gegenwärtige Art, zu sein, konnte fast noch entfernter von der seinigen als jemals angesehen werden. Wir schieden jedoch in dem besten Vernehmen, aber auch ihn verließ ich in Furcht und Sorge wegen der drangvollen Zeit. Den verdienten Merrem besuchte ich gleichfalls, dessen schöne naturhistorische Kenntnisse alsbald eine frohere Unterhaltung gewährten. Er zeigte mir manches Bedeutende vor, schenkte mir sein Werk über die Schlangen, und so ward ich aufmerksam auf seinen weitern Lebensgang, woraus mir mancher Nutzen erwuchs; denn das ist der höchst erfreuliche Vorteil von Reisen, dass einmal erkannte Persönlichkeiten und Lokalitäten unsern Anteil zeitlebens nicht loslassen. Münster, November 1792. Der Fürstin angemeldet, hoffte ich gleich den behaglichsten Zustand, allein ich sollte noch vorher eine zeitgemäße Prüfung erdulden: denn, auf der Fahrt von mancherlei Hindernissen aufgehalten, gelangte ich erst tief in der Nacht zur Stadt. Ich heilt nicht für schicklich, durch einen solchen Überfall gleich beim Eintritt die Gastfreundschaft in diesem Grad zu prüfen; ich fuhr daher an einen Gasthof, wo mir aber Zimmer und Bett durchaus versagt wurde: die Emigrierten hatten sich in Masse auch hierher geworfen und jeden Winkel gefüllt. Unter diesen Umständen bedachte ich mich nicht lange und brachte die Stunden auf einem Stuhl in der Wirtsstube hin, immer noch bequemer als vor kurzem, da beim dichtesten Regenwetter von Dach und Fach nichts zu finden war. Auf diese geringe Entbehrung erfuhr ich den andern Morgen das Allerbeste. Die Fürstin ging mir entgegen, ich fand in ihrem Haus zu meiner Aufnahme alles vorbereitet. Das Verhältnis von meiner Seite war rein, ich kannte die Glieder des Zirkels früher genugsam, ich wusste, dass ich in einen frommen sittlichen Kreis herein trat, und betrug mich darnach. Von jener Seite benahm man sich gesellig, klug und nicht beschränkend. Die Fürstin hatte uns vor Jahren in Weimar besucht, mit von Fürstenberg und Hemsterhuis; auch ihre Kinder waren von der Gesellschaft. Damals verglich man sich schon über gewisse Punkte und schied, einiges zugeben, anderes duldend, im besten Vernehmen. Sie war eines der Individuen, von denen man sich gar keinen Begriff machen kann, wenn man sie nicht gesehen hat, die man nicht richtig beurteilt, wenn man eben diese Individualität nicht in Verbindung sowie im Konflikt mit ihrer Zeitumgebung betrachtet. Von Fürstenberg und Hemsterhuis, zwei vorzügliche Männer, begleiteten sie treulich, und in einer solchen Gesellschaft war das Gute sowie das Schöne immerfort wirksam und unterhaltend. Letzterer war indessen gestorben, jener, nunmehr umso viel Jahre älter, immer derselbe verständige, edle, ruhige Mann; und welche sonderbare Stellung in der Mitwelt! Geistlicher, Staatsmann, so nahe, den Fürstenthron zu besteigen. Die ersten Unterhaltungen, nachdem das persönliche Andenken früherer Zeit sich ausgesprochen hatte, wandten sich auf Hamann, dessen Grab, in der Ecke des entlaubten Gartens, mir bald in die Augen schien. Seine großen, unvergleichlichen Eigenschaften gaben zu herrlichen Betrachtungen Anlass, seine letzten Tage jedoch bleiben ungesprochen: der Mann, der diesem endlich erwählten Kreis so bedeutend und erfreulich gewesen, ward im Tod den Freunden einigermaßen unbequem; man machte sich über sein Begräbnis entscheiden, wie man wollte, so war es außer der Regel. Den Zustand der Fürstin, nahe gesehen, konnte man nicht anders als liebevoll betrachten: sie kam früh zum Gefühl, dass die Welt uns nichts gebe, dass man sich in sich selbst zurückziehen, dass man in einem innern, beschränkten Kreis um Zeit und Ewigkeit besorgt sein müsse. Beides hatte sie erfasst; das höchste Zeitliche fand sie im Natürlichen, und hier erinnere man sich Rousseauscher Maximen über bürgerliches Leben und Kinderzucht. Zum einfältigen Wahren wollte man in allem zurückkehren, Schnürbrust und Absatz verschwanden, der Puder zerstob, die Haare fielen in natürlichen Locken. Ihre Kinder lernten schwimmen und rennen, vielleicht auch balgen und ringen. Diesmal hätte ich die Tochter kaum wieder gekannt. Sie war gewachsen und stämmiger geworden, ich fand sie verständig, liebenswert, haushälterisch, dem halb klösterlichen Leben sich fügend und widmend. So war es mit dem zeitlich Gegenwärtigen; das ewige Künftige hatten sie in einer Religion gefunden, die das, was andere lehrend hoffen lassen, heilig beteuernd zusagt und verspricht. Aber als die schönste Vermittlung zwischen beiden Welten entsprosste Wohltätigkeit, die mildeste Wirkung einer ernsten Aszetik: das Leben füllte sich aus mit Religionsübung und wohl tun; Mäßigkeit und Genügsamkeit sprach sich aus in der ganzen häuslichen Umgebung; jedes tägliche Bedürfnis ward reichlich und einfach befriedigt, die Wohnung selbst aber, Hausrat und alles, dessen man sonst benötigt ist, erschien weder elegant noch kostbar; es sah eben aus, als wenn man anständig zur Miete wohne. Eben dies galt von Fürstenbergs häuslicher Umgebung: er bewohnte einen Palast, aber einen fremden, den er seinen Kindern nicht hinterlassen sollte. Und so bewies er sich in allem sehr einfach, mäßig, genügsam, auf innerer Würde beruhend, alles Äußere verschmähend, so wie die Fürstin auch. Innerhalb dieses Elementes bewegte sich die geistreichste, herzlichste Unterhaltung, ernsthaft, durch Philosophie vermittelt, heiter durch Kunst, und wenn man bei jener selten von gleichen Prinzipien ausgeht, so freut man sich, bei dieser meist Übereinstimmung zu finden. Hemsterhuis, Niederländer, fein gesinnt, zu den Alten von Jugend auf gebildet, hatte sein Leben der Fürstin gewidmet, sowie seine Schriften, die durchaus von wechselseitigem Vertrauen und gleichem Bildungsgang das unverwüstlichste Zeugnis ablegen. Mit eigener scharfsinniger Zartheit wurde dieser schätzenswerte Mann dem Geistig-Sittlichen sowie dem Sinnlich-Ästhetischen unermüdet nachzustreben geleitet. Muss man von jenem sich durchdringen, so soll man von diesem immer umgeben sein; daher ist für einen Privatmann, der sich nicht in großen Räumen ergehen und selbst auf Reisen einen gewohnten Kunstgenuss nicht entbehren kann, eine Sammlung geschnittener Steine höchst wünschenswert: ihn begleitet überall das Erfreulichste, ein belehrendes Kostbares ohne Belästigung, und er genießt ununterbrochen des edelsten Besitzes. Um aber dergleichen zu erlangen, ist nicht genug, dass man wolle; zum Vollbringen gehört, außer dem Vermögen, vor allen Dingen Gelegenheit. Unser Freund entbehrte dieser nicht: auf der Scheide von Holland und England wohnend, die fortdauernde Handelsbewegung, die darin auch hin und her wogenden Kunstschätze beobachtend, gelangte er nach und nach durch Kauf- und Tauschversuche zu einer schönen Sammlung von etwa siebzig Stücken, wobei ihm Rat und Belehrung des trefflichen Steinschneiders Natter für die sicherste Beihilfe galt. Diese Sammlung hatte die Fürstin zum größten Teil entstehen sehen, Einsicht, Geschmack und Liebe daran gewonnen und besaß sie nun als Nachlass eines abgeschiedenen Freundes, der in diesen Schätzen immer als gegenwärtig erschien. Hemsterhuis' Philosophie, die Fundamente derselben, seinen Ideengang konnt' ich mir nicht anders zu eigen machen, als wenn ich sie in meine Sprach übersetzte. Das Schöne und das an demselben Erfreuliche sei, so sprach er sich aus, wenn wir die größte Menge von Vorstellungen in einem Moment bequem erblicken und fassen; ich aber musste sagen: das Schöne sei, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Tätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir, zur Reproduktion gereizt, uns gleichfalls lebendig und in höchste Tätigkeit versetzt fühlen. Genau betrachtet, ist eins und eben dasselbe gesagt, nur von verschiedenen Menschen ausgesprochen, und ich enthalte mich, mehr zu sagen; denn das Schöne ist nicht sowohl leistend als versprechend, dagegen das Hässliche, aus einer Stockung entstehend, selbst stocken macht und nichts hoffen, begehren und erwarten lässt. Ich glaubte mir auch den "Brief über die Skulptur" hiernach meinem Sinn gemäß zu deuten; ferner schien mir das Büchlein "Über das Begehren" auf diesem Weg klar: denn wenn das heftig verlangte Schöne in unsern Besitz kommt, so hält es nicht immer im einzelnen, was es im ganzen versprach, und so ist es offenbar, dass dasjenige, was uns als Ganzes aufregte, im einzelnen nicht durchaus befriedigen wird. Diese Betrachtungen waren umso bedeutender, als die Fürstin ihren Freund heftig nach Kunstwerken verlangen, aber im Besitz erkalten gesehen, was er so scharfsinnig und liebenswürdig in obgemeldetem Büchlein ausgeführt hatte. Dabei hat man freilich den Unterschied zu bedenken, ob der Gegenstand des für ihn empfundenen Enthusiasmus würdig sei: ist er es, so muss Freude und Bewunderung immer daran wachsen, sich stets erneuen; ist er es nicht ganz, so geht das Thermometer um einige Grade zurück, und man gewinnt an Einsicht, was man an Vorurteil verlor. Deshalb es wohl ganz richtig ist, dass man Kunstwerke kaufen müsse, um sie kennen zu lernen, damit das Verlangen aufgehoben und der wahre Wert festgestellt werde. Indessen muss auch hier Sehnsucht und Befriedigung in einem pulsierenden Leben miteinander abwechseln, sich gegenseitig ergreifen und loslassen, damit der einmal Betrogene nicht aufhöre, zu begehren. Wie empfänglich die Sozietät, in der ich mich befand, für solche Gespräche sein mochte, wird derjenige am besten beurteilen, der von Hemsterhuis' Werken Kenntnis genommen hat, welche, in diesem Kreis entsprungen, ihm auch Leben und Nahrung verdankten. Zu den geschnittenen Steinen aber wieder zurückzukehren, war mehrmals höchst erfreulich, und man musste dies gewiss als einen der sonderbarsten Fälle ansehen, dass gerade die Blüte des Heidentums in einem christlichen haus verwahrt und hochgeschätzt werden sollte. Ich versäumte nicht, die allerliebsten Motive hervorzuheben, die aus diesen würdigen, kleinen Gebilden dem Auge entgegen sprangen. Auch hier durfte man sich nicht verleugnen, dass Nachahmung großer, würdiger, älterer Werke, die für uns ewig verloren wären, in diesen engen Räumen juwelenhaft aufgehoben worden; und es fehlte fast an keiner Art. Der tüchtigste Herkules, mit Efeu bekränzt, durfte seinen kolossalen Ursprung nicht verleugnen; ein ernstes Medusenhaupt, ein Bacchus, der ehemals im Medicischen Kabinett verwahrt worden, allerliebste Opfer und Bacchanalien und zu allem diesen die schätzbarsten Porträte von bekannten und unbekannten Personen mussten bei wiederholter Betrachtung bewundert werden. Aus solchen Gesprächen, die ungeachtet ihrer Höhe und Tiefe nicht Gefahr liefen, sich ins Abstruse zu verlieren. Schien eine Vereinigung hervorzugehen, indem jede Verehrung eines würdigen Gegenstandes immer von einem religiösen Gefühl begleitet ist. Doch konnte man sich nicht verbergen, dass die reinste christliche Religion mit der wahren bildenden Kunst immer sich zwiespältig befinde, weil jene sich von der Sinnlichkeit zu entfernen strebt, diese nun aber das sinnliche Element als ihren eigentlichsten Wirkungskreis anerkennt und darin beharren muss. In diesem Geist schrieb ich nachstehendes Gedicht augenblicklich nieder: Amor, nicht das Kind, der Jüngling, der Psychen verführte, Sah im Olympus sich um, frech und der Siege gewohnt; Eine Göttin erblickt' er, vor allen die herrlichste Schöne, Venus Urania war's, und er entbrannte für sie. Ach! Die Heilige selbst, sie widerstand nicht den Werben, Und der Verwegene hielt fest sie im Arme bestrickt. Da entstand aus ihnen ein neuer lieblicher Amor, Der dem Vater den Sinn, Sitte der Mutter verdankt. Immer findest du ihn in holder Musen Gesellschaft, Und sein reizender Pfeil stiftet die Liebe der Kunst. Mit diesem allegorischen Glaubensbekenntnis schien man nicht ganz unzufrieden; indessen blieb es auf sich selbst beruhen, und beide Teile machten sich's zur Pflicht, von ihren Gefühlen und Überzeugungen nur dasjenige hervorzukehren, was gemeinsam wäre und zu wechselseitiger Belehrung und Ergötzung, ohne Widerstreit, gereichen könnte. Immer aber konnten die geschnittenen Steine als ein herrliches Mittelglied eingeschoben werden, wenn die Unterhaltung irgend lückenhaft zu werden drohte. Ich von meiner Seite konnte freilich nur das Poetische schätzen, das Motiv selbst, Komposition, Darstellung überhaupt beurteilen und rühmen, dagegen die Freunde dabei noch ganz andere Betrachtungen anzustellen gewohnt waren. Denn es ist für den Liebhaber, der solche Kleinodien anschaffen, den Besitz zu einer würdigen Sammlung erheben will, nicht genug zur Sicherheit seines Erwerbs, dass er Geist und Sinn der köstlichen Kunstarbeit einsehe und sich daran ergötze, sondern er muss auch äußerliche Kennzeichen zu Hilfe rufen, die für den, der nicht selbst technischer Künstler im gleichen Fach ist, höchst schwierig sein möchten. Hemsterhuis hatte mit seinem Freunde Natter viele Jahre darüber korrespondiert, wovon sich noch bedeutende Briefe vorfanden. Hier kam nun erst die Steinart selbst zur Sprache, in welcher gearbeitet worden, indem man sich der einen in frühern, der andern in folgenden Zeiten bedient; sodann war vor allen Dingen eine größere Ausführlichkeit im Auge zu halten, wo man auf bedeutende Zieten schließen konnte, so wie flüchtige Arbeit bald auf Geist, teils auf Unfähigkeit, teils auf Leichtsinn hindeutete, frühere oder spätere Epochen zu erkennen gab. Besonders legte man großen Wert auf die Politur vertiefter Stellen und glaubte darin ein unverwerfliches Zeugnis der besten Zeiten zu sehen. Ob aber ein geschnittener Stein entschieden antik oder neu sei, darüber wagte man keine festen Kriterien anzugeben; Freund Hemsterhuis habe selbst nur mit Beistimmung jenes trefflichen Künstlers sich über diesen Punkt zu beruhigen gewusst. Ich konnte nicht verbergen, dass ich hier in ein ganz frisches Feld gerate, wo ich mich höchst bedeutend angesprochen fühle und nur die Kürze der Zeit bedaure, wodurch ich die Gelegenheit mir abgeschnitten sehe, meine Augen sowohl als den innern Sinn auch auf diese Bedingungen kräftiger zu richten. Bei einem solchen Anlass äußerte sich die Fürstin heiter und einfach: sie sei geneigt, mir die Sammlung mitzugeben, damit ich solche zu Hause mit Freunden und Kennern studieren und mich in diesem bedeutenden Zweig der bildenden Kunst, mit Zuziehung von Schwefel- und Glaspasten, umsehen und bestärken möchte. Dieses Anerbieten, das ich für kein leeres Kompliment halten durfte und für mich höchst reizend war, lehnt' ich jedoch dankbarlichst ab; und ich gestehe, dass mir im Innern die Art, wie diese Schatz aufbewahrt wurde, eigentlich das größte Bedenken gab. Die Ringe waren in einzelnen Kästchen, einer allein, zwei, drei, wie es der Zufall gegeben hatte, nebeneinander gesteckt: es war unmöglich, beim Vorzeigen am Ende zu bemerken, ob wohl einer fehle; wie denn die Fürstin selbst gestand, dass einst, in der besten Gesellschaft ein Herkules abhanden gekommen, den man erst späterhin vermisst habe. Sodann schien es bedenklich genug, in gegenwärtiger Zeit sich mit einem solchen Wert zu beschweren und eine höchst bedeutende, ängstliche Verantwortung zu übernehmen. Ich suchte daher mit der freundlichsten Dankbarkeit die schicklichsten ablehnenden Gründe vorzubringen, welche Einrede die Freundin wohlwollend in Betracht zu ziehen schien, indem ich nun um desto eifriger die Aufmerksamkeit auf diese Gegenstände, insofern es sich nur einigermaßen schicken wollte, zu lenken suchte. Von meinen Naturbetrachtungen aber, die ich, weil auch wenig Glück für sie hier am Ort zu hoffen war, eher verheimlichte, war ich doch genötigt einige Rechenschaft zu geben. Von Fürstenberg brachte zur Sprache, dass er mit Verwunderung, welche beinahe wie Befremden aussah, hie und da gehört habe, wie ich der Physiognomik wegen die allgemeine Knochenlehre studiere, wovon sich doch schwerlich irgendeien Beihilfe zu Beurteilung der Gesichtszüge des Menschen hoffe lasse. Nun mocht' ich wohl bei einigen Freunden, das für einen Dichter ganz unschicklich gehaltene Studium der Osteologie zu entschuldigen und einigermaßen einzuleiten, geäußert haben, ich sei, wie es denn wirklich auch an dem war, durch Lavaters Physiognomik in dieses Fach wieder eingeführt worden, da ich in meinen akademischen Jahren darin die erste Bekanntschaft gesucht hatte. Lavater selbst, der glücklichste Beschauer organisierter Oberflächen, sah sich, in Anerkennung, dass Muskel- und Hautgestalt und ihre Wirkung von dem entschiedenen inneren Knochengebilde durchaus abhängen müsse, getrieben, mehrere Tierschädel in sein Werk abbilden zu lassen und selbige mir zu einem flüchtigen Kommentar darüber zu empfehlen. Was ich aber gegenwärtig hiervon wiederholen oder in demselben sinn zugunsten meines Verfahrens aufbringen wollte, konnte mir wenig helfen, indem zu jener Zeit ein solcher wissenschaftlicher Grund allzu weit ablag und man, im augenblicklichen geselligen Leben befangen, nur den beweglichen Gesichtszügen, und vielleicht gar nur in leidenschaftlichen Momenten, eine gewisse Bedeutung zugestand, ohne zu bedenken, dass hier nicht etwa bloß ein regelloser Schein wirken könne, sondern dass das Äußere, Bewegliche, Veränderliche als ein wichtiges, bedeutendes Resultat eines innern entschiedenen Lebens betrachtet werden müsse. Glücklicher als in diesen Vorträgen war ich in Unterhaltung größerer Gesellschaft: geistliche Männer von Sinn und Verstand, heranstrebende Jünglinge, wohlgestaltet und wohlerzogen, an Geist und Gesinnung viel versprechend, waren gegenwärtig. Hier wählte ich unaufgefordert die römischen Kirchenfeste Karwoche und Ostern, Fronleichnam und Peter Paul; sodann zur Erheiterung die Pferdeweihe, woran auch andere Haus- und Hoftiere teilnehmen. Diese Feste waren mir damals nach allen charakteristischen Einzelheiten vollkommen gegenwärtig, denn ich ging darauf aus, ein "römisches Jahr" zu schreiben, den Verlauf geistlicher und weltlicher Öffentlichkeiten; daher ich denn auch, sogleich jene Feste nach einem reinen, direkten Eindruck darzustellen imstande, meinen katholischen frommen Zirkel mit meinen vorgeführten Bildern ebenso zufrieden sah als die Weltkinder mit dem Karneval. Ja, einer von den Gegenwärtigen, mit den Gesamtverhältnissen nicht genau bekannt, hatte im Stillen gefragt: ob ich denn wirklich katholisch sei? Als die Fürstin mir dieses erzählte, eröffnete sie mir noch ein anderes: Man hatte ihr nämlich vor meiner Ankunft geschrieben, sie solle sich vor mir in Acht nehmen; ich wisse mich so fromm zu stellen, dass man mich für religiös, ja für katholisch halten könne. "Geben Sie mir zu, verehrte Freundin," rief ich aus, "ich stelle mich nicht fromm, ich bin es am rechten Ort; mir fällt nicht schwer, mit einem klaren, unschuldigen Blick alle Zustände zu beachten und sie wieder auch ebenso rein darzustellen. Jede Art fratzenhafte Verzerrung, wodurch sich dünkelhafte Menschen nach eigener Sinnesweise an dem Gegenstand versündigen, war mir von jeher zuwider. Was mir widersteht, davon wend' ich den Blick weg, aber manches, was ich nicht gerade billige, mag ich gern in seiner Eigentümlichkeit erkennen: da zeigt sich denn meist, dass die andern ebenso recht haben, nach ihrer eigentümlichen Art und Weise zu existieren, als ich nach der meinigen." Hierdurch war man denn auch wegen dieses Punkts aufgeklärt, und eine freilich keineswegs zu lobende heimliche Einmischung in unsere Verhältnisse hatte gerade im Gegenteil, wie sie Misstrauen erregen wollte, Vertrauen erregt. In einer solchen zarten Umgebung wär' es nicht möglich gewesen, herb oder unfreundlich zu sein; im Gegenteil fühlt' ich mich milder als seit langer Zeit, und es hätte mir wohl kein größeres Glück begegnen können, als dass ich nach dem schrecklichen Kriegs- und Fluchtwesen endlich wieder fromme menschliche Sitte auf mich einwirken fühlte. Einer so edlen, guten, sittlich-frohen Gesellschaft war ich jedoch in einem Punkt ungefällig, ohne dass ich selbst weiß, wie es zugegangen ist. Ich war wegen eines glücklichen, freien, bedeutenden Vorlesens berühmt, man wünschte mich zu hören, und da man wusste, dass ich die "Luise" von Voß, wie sie im Novemberheft des "Merkur" 1784 erschienen war, leidenschaftlich verehrte und sie gerne vortrug, spielte man darauf an, ohne zudringlich zu sein; man legte das Merkurstück unter den Spiegel und ließ mich gewähren. Und nun wüsst' ich nicht zu sagen, was mich abhielt; mir war wie Sinn und Lippe versiegelt, ich konnte das Heft nicht aufnehmen, mich nicht entschließen, eine Pause des Gesprächs zu meiner und der andern Freude zu nutzen, die Zeit ging hin, und ich wundere mich noch über diese unerklärliche Verstocktheit. Der Tag des Abschieds nahte heran: man musste doch sich einmal trennen. "Nun," sagte die Fürstin, "hier gilt keine Widerrede! Sie müssen die geschnittenen Steine mitnehmen, ich verlange es." Als ich aber meine Weigerung auf das höflichste und freundlichste fort behauptete, sagte sie zuletzt: "So muss ich Ihnen denn eröffnen, warum ich es fordere. Man hat mir abgeraten, Ihnen diesen Schatz anzuvertrauen, und eben deswegen will ich, muss ich es tun; man hat mir vorgestellt, dass ich Sie doch auf diesen Grad nicht kenne, um auch in einem solchen Fall von Ihnen ganz gewiss zu sein. Darauf habe ich," fuhr sie fort, "erwidert: Glaubt ihr denn nicht, dass der Begriff, den ich von ihm habe, mir lieber sei als diese Steine? Sollt' ich die Meinung von ihm verlieren, so mag dieser Schatz auch hinterdrein gehen." Ich konnte nun weiter nichts erwidern, indem sie durch eine solche Äußerung in eben dem Grad mich zu ehren und zu verpflichten wusste. Jedes übrige Hindernis räumte sie weg; vorhandene Schwefelabgüsse, katalogisiert, waren zu Kontrolle, sollte sie nötig befunden werden, in einem sauberen Kästchen mit den Originalen eingepackt, und ein sehr kleiner Raum fasste die leicht transportablen Schätze. So nahmen wir treulich Abschied, ohne jedoch sogleich zu scheiden; die Fürstin kündigte mir an, sie wolle mich auf die nächste Station begleiten, setze sich zu mir im Wagen, der ihrige folgte. Die bedeutenden Punkte des Lebens und der Lehr kamen abermals zur Sprache: ich wiederholte mild und ruhig mein gewöhnliches Credo, auch sie verharrte bei dem ihrigen. Jedes zog nun seines Weges nach Hause; sie mit dem nachgelassenen Wunsch, mich wo nicht hier, doch dort wieder zu sehen. Diese Abschiedsformel wohl denkender freundlicher Katholiken war mir nicht fremd, noch zuwider: ich hatte sie oft bei vorübergehenden Bekanntschaften in Bädern und sonst meist von wohlwollenden, mir freundlichst zugetanen Geistlichen vernommen, und ich sehe nicht ein, warum ich irgendjemand verargen sollte, der wünscht, mich in seinen Kreis zu ziehen, wo sich nach seiner Überzeugung ganz allein ruhig leben und, einer ewigen Seligkeit versichert, ruhig sterben lässt. * * * * * Durch Vorsorge, auf Anregung der edlen Freundin, ward ich von dem Postmeister nicht allein rasch gefördert, sondern auch durch Laufzettel weiter angemeldet und empfohlen, welches angenehm und höchst notwendig war. Denn ich hatte bei schöner, freundschaftlicher, friedlicher Unterhaltung vergessen, dass Kriegsflucht mir nachstürme; und leider fand ich unterwegs die Schar der Emigrierten, die sich immer weiter nach Deutschland hineindrängte und gegen welche die Postillione ebenso wenig als am Rhein günstig gesinnt waren. Gar oft kein gebahnter Weg, man fuhr blad hüben bald drüben, begegnete und kreuzte sich. Heidegebüsch und Gesträuche, Wurzelstumpfen, Sand, Moor und Binsen, eins so unbequem und unerfreulich wie das andere. Auch ohne Leidenschaftlichkeit ging es nicht ab. Ein Wagen blieb stecken, Paul sprang geschwind herab und zu Hilfe: er glaubte, die schönen Französinnen, die er in Düsseldorf in den traurigsten Umständen wieder angetroffen, seien abermals im Fall, seines Beistandes zu bedürfen. Die Dame hatte ihren Gemahl nicht wieder gefunden und war, in dem Strudel des Unheils mit fortgerissen und geängstigt, endlich über den Rhein geworfen worden. Hier aber in dieser Wüste erschien sie nicht: einige alte ehrwürdige Damen forderten unsere Teilnahme. Als aber unser Postillion halten und mit seinen Pferden dem dortigen Wagen zu Hilfe kommen sollte, weigerte er sich trotzig und sagte, wir sollten nur zu unserm eignen, mit Silber und Gold genugsam beschwerten Wagen ernstlich sehen, damit wir nicht etwa stecken blieben oder umgeworfen würden; denn ob er es gleich mit uns redlich meine, so ständ' er doch in dieser Wüstenei für nichts. Glücklicherweise, unser Gewissen zu beschwichtigen, hatte sich eine Anzahl westfälischer Bauern um jenen Wagen versammelt und gegen ein bedungenes gutes Trinkgeld ihn wieder auf den fahrbaren Weg gebracht. An unserm Fuhrwerk war freilich das Eisen das Schwerste, und der kostbare Schatz, den wir mit uns führten, so leicht, um in einer leichten Chaise nicht bemerkt zu werden. Wie lebhaft wünscht' ich mir mein böhmisches Wägelchen herbei! Gleichwohl gab mir jenes Vorurteil, welches wichtige Schätze bei uns voraussetzte, doch immer eine Art von Unruhe. Wir hatten bemerkt, dass ein Postillion dem andern die Notiz von Überschwere des Wagens und die Vermutung von Geld und Kostbarkeiten jederzeit überlieferte. Nun aber wurden wir wegen vorausgeschickter Postzettel, deren richtige Stunde wir ohnehin des schlechten Wetters wegen nicht einhielten, auf jeder Station eilig vorwärts gedrängt und ganz eigentlich in die Nacht hinaus gestoßen, da uns denn wirklich der bängliche Fall begegnete, dass der Postillion in düsterer Nacht schwur, er könne das Ding nicht weiter fortbringen, und an einer einsamen Waldwohnung stillhielt, deren Lage, Bauart und Bewohner schon beim hellsten Sonnenschein hätten Schaudern erregen können. Der Tag, selbst der grauste, war dagegen erquicklich: man reif das Andenken der Freunde hervor, bei denen man vor kurzem so trauliche Stunden zugebracht; man musterte sie mit Achtung und Liebe, belehrte sich an ihren Eigenheiten und erbaute sich an ihren Vorzügen. Wie aber die Nacht wieder hereinbrach, da fühlte man sich schon wieder von allen Sorgen umstrickt in einem kummervollen Zustand. Wie düster aber auch in der letzten und schwärzesten aller Nächte meine Gedanken mochten gewesen sein, so wurden sie auf einmal wieder aufgehellt, als ich in das mit hundert und aber hundert Lampen erleuchtete Kassel hinein fuhr. Bei diesem Anblick entwickelten sich vor meiner Seele alle Vorteile eines bürgerlich-städtischen Zusammenseins, die Wohlhäbigkeit eines jeden einzelnen in seiner von innen erleuchteten Wohnung und die behaglichen Anstalten zu Aufnahme der Fremden. Diese Heiterkeit jedoch ward mir für einige Zeit gestört, als ich auf dem prächtigen tageshellen Königsplatz an dem wohlbekannten Gasthof anfuhr: der anmeldende Diener kehrte zurück mit der Erklärung, es sei kein Platz zu finden. Als ich aber nicht weichen wollte, trat ein Kellner sehr höflich an den Schlag und bat in schönen französischen Phrasen um Entschuldigung, da es nicht möglich sei, mich aufzunehmen. Ich erwiderte darauf in gutem Deutsch, wie ich mich wundern müsse, dass in einem so großen Gebäude, dessen Raum ich gar wohl kenne, einem fremden in der Nacht die Aufnahme verweigert werden wolle. "Sie sind ein Deutscher!" rief er aus, "das ist ein anderes!" und sogleich ließ er den Postillion in das Hoftor hereinfahren. Als er mir ein schickliches Zimmer angewiesen, versetzte er: er sei fest entschlossen, keinen Emigrierten mehr aufzunehmen. Ihr Betragen sei höchst anmaßend, die Bezahlung knauserig; denn mitten in ihrem Elend, da sie nicht wüssten, wo sie sich hinwenden sollten, betrügen sie sich noch immer, als hätten sie von einem eroberten Land Besitz genommen. So schied ich nun in gutem Frieden und fand auf dem Weg nach Eisenach weniger Zudrang der so häufig und unversehens heran getriebenen Gäste. Meine Ankunft in Weimar sollte auch nicht ohne Abenteuer bleiben; sie ereignete sich nach Mitternacht und gab Anlass zu einer Familienszene, welche wohl in irgendeinem Roman die tiefste Finsternis erhellen und erheitern würde. Nun fand ich das von meinem Fürsten mir bestimmte, erneuerte, wohl eingerichtete Haus schon meistens bewohnbar, ohne dass mir die Freude ganz versagt gewesen wäre, bei dem Ausbau mit- und einzuwirken. Die Meinigen entgegneten mir munter und gesund, und als es an ein Erzählen ging, kontrastierte freilich der heitere, ruhige Zustand, in welchem sie die aus Verdun gesendeten Süßigkeiten genossen, mit demjenigen, worin wir, die sie in paradiesischen Zuständen glaubten, mit aller denkbaren Not zu kämpfen hatten. Unser stiller häuslicher Kreis war nun umso reicher und froher abgeschlossen, indem Heinrich Meyer, zugleich als Hausgenosse, Künstler, Kunstfreund und Mitarbeiter, zu den Unsrigen gehörte und an allem Belehrenden sowie an allem Wirksamen kräftigen Anteil nahm. Das weimarsche Theater bestand seit dem Mai 1791; es hatte sowohl den Sommer genannten Jahres als auch den des laufenden in Lauchstädt zugebracht und sich durch Wiederholung damals gangbarer, meist bedeutender Stücke schon ziemlich gut zusammengespielt. Ein Rest der Bellomoschen Gesellschaft, also schon aneinander gewöhnter Personen, gab den Grund; andere teils schon brauchbare, teils viel versprechende Glieder füllten schicklich und gemächlich die entstandene Lücke. Man kann sagen, dass es damals noch ein Schauspielerhandwerk gab, wodurch befähigt, sich Glieder entfernter Theater gar bald in Einklang setzten, besonders wenn man so glücklich war, für die Rezitation Niederdeutsche, für den Gesang Oberdeutsche herbeizuziehen; und so konnte das Publikum für den Anfang gar wohl zufrieden sein. Da ich teil an der Direktion genommen, so war es mir eine unterhaltende Beschäftigung, gelind zu versuchen, auf welchem Weg das Unternehmen weitergeführt werden könnte. Ich sah gar bald, dass eine gewisse Technik aus Nachahmung, Gleichstellung mit andern und Routine hervorgehen konnte; allein es fehlte durchaus an dem, was ich Grammatik nennen dürfte, die doch erst zum Grund liegen muss, ehe man zu Rhetorik und Poesie gelangen kann. Da ich auf diesen Gegenstand zurückzukehren gedenke und ihn vorläufig nicht gern zerstückeln möchte, so sage ich nur so viel: dass ich eben jene Technik, welche sich alles aus Überlieferung aneignet, zu studieren und auf ihre Elemente zurückzuführen suchte und das, was mir klar geworden, in einzelnen Fällen, ohne auf ein Allgemeines hinzuweisen, beobachten ließ. Was mir bei diesem Unternehmen aber besonders zustatten kam, war der damals überhand nehmende Natur- und Konversationston, der zwar höchst lobenswert und erfreulich ist, wenn er als vollendete Kunst, als eine zweite Natur hervortritt, nicht aber, wenn ein jeder glaubt, nur sein eigenes nacktes Wesen bringen zu dürfen, um etwas Beifallswürdiges darzubieten. Ich aber benutzte diesen Trieb zu meinen Zwecken, indem ich gar wohl zufrieden sein konnte, wenn das angeborne Naturell sich mit Freiheit hervortat, um sich nach und nach, durch gewisse Regeln und Anordnungen, einer höhern Bildung entgegenführen zu lassen. Doch darf ich hiervon nicht weiter sprechen, weil was getan und geleistet worden, sich erst nach und nach aus sich selbst entwickelte und also historisch dargestellt werden musste. Umstände jedoch, die für das neue Theater sich höchst günstig hervortaten, miss ich kürzlich anführen. Iffland und Kotzebue blühten in ihrer besten Zeit, ihre Stücke, natürlich und fasslich, die einen gegen ein bürgerlich rechtliches Behagen, die andern gegen eine lockere Sittenfreiheit hingewendet; beide Gesinungen waren dem Tage gemäß und erhielten freudige Teilnahme; mehrere noch als Manuskript ergötzten durch den lebendigen Duft des Augenblicks, den sie mit sich brachten. Schröder, Babo, Ziegler, glücklich energische Talente, lieferten bedeutenden Beitrag; Bretzner und Jünger, ebenfalls gleichzeitig, gaben anspruchslos einer bequemen Fröhlichkeit Raum. Hagemann und Hagemeister, Talente, die sich auf die Länge nicht halten konnten, arbeiteten gleichfalls für den Tag und waren, wo nicht bewundert, doch als neu geschaut und willkommen. Diese lebendige, sich im Zirkel herumtreibende Masse suchte man mit Shakespeare, Gozzi und Schiller Geister zu erheben; man verließ die bisherige Art, nur Neues zum nächsten Verlust einzustudieren, man war sorgfältig in der Wahl und bereitete schon ein Repertorium vor, welches viele Jahre gehalten hat. Aber auch dem Mann, der uns diese Anstalt gründen half, müssen wir eine dankbare Erinnerung nicht schuldig bleiben. Es war F. J. Fischer, ein Schauspieler in Jahren, der sein Handwerk verstand, mäßig, ohne Leidenschaft, mit seinem Zustand zufrieden, sich mit einem beschränkten Rollenfach begnügend. Er brachte mehrere Schauspieler von Prag mit, die in seinem Sinn wirkten, und wusste die einheimischen gut zu behandeln, wodurch ein innerer Friede sich über das Ganze verbreitete. Was die Oper anlangt, so kamen uns die Dittersdorfischen Arbeiten auf das Beste zustatten. Er hatte mit glücklichem Naturell und Humor für ein fürstliches Privattheater gearbeitet, wodurch seinen Produktionen eine gewisse leichte Behaglichkeit zuteil ward, die auch uns zugute kam, weil wir unser neues Theater als eine Liebhaber-Bühne zu betrachten die Klugheit hatten. Auf den Text, im rhythmischen und prosaischen Sinn, wendete man viel Mühe, um ihn dem obersächsischen Geschmack mehr anzueignen; und so gewann diese leichte Ware Beifall und Abgang. Die aus Italien wiedergekehrten Freunde bemühten sich, die leichteren italienischen Opern jener Zeit, von Paesiello, Cimarosa, Guglielmi und andern, herüberzuführen, wo denn zuletzt auch Mozarts Geist einzuwirken anfing. Denke man sich, dass von diesem allem wenig bekannt, gar nichts abgebraucht war, so wird man gestehen, dass die Anfänge des weimarschen Theaters mit den jugendlichen Zeiten des deutschen Theaters überhaupt oder zugleich eintraten und Vorteile genossen, die offenbar zu einer natürlichen Entwickelung aus sich selbst den reinsten Anlass geben mussten. Um nun aber auch Genuss und Studium der anvertrauten Gemmensammlung vorzubreiten und zu sichern, ließ ich gleich zwei zierliche Ringkästchen verfertigen, worin die Steine mit einem Blick übersehbar nebeneinander standen, so dass irgendeine Lücke sogleich zu bemerken gewesen wäre; worauf alsdann Schwefel- und Gipsabgüsse in Mehrzahl verfertigt und der Prüfung durch stark vergrößernde Linsen unterworfen wurden, auch vorhandene Abdrücke älterer Sammlungen vorgesucht und zu Rate gezogen. Wir bemerkten wohl, dass hier für uns das Studium der geschnittenen Steine zu gründen sei; wie groß aber die Vergünstigung der Freundin gewesen, wurde erst nach und nach eingesehen. Das Resultat mehrjähriger Betrachtung sei deshalb hier eingeschaltet, weil wir wohl schwerlich unsere Aufmerksamkeit so bald wieder auf diesen Punkt wenden dürften. Aus innern Gründen der Kunst sahen sich die weimarschen Freunde berechtigt, wo nicht alle, doch bei weitem die größte Anzahl dieser geschnittenen Steine für echt antike Kunstdenkmale zu halten, und zwar fanden sich mehrere darunter, welche zu den vorzüglichsten Arbeiten dieser Art gerechnet werden durften. Einige zeichneten sich dadurch aus, dass sie als wirklich identisch mit ältern Schwefelpasten angesehen werden mussten; mehrere bemerkte man, deren Darstellung mit andern antiken Gemmen zusammentraf, die aber deswegen immer noch für echt gelten konnten. In den größten Sammlungen kommen wiederholte Vorstellungen vor, und man würde sehr irren, die einen als Original, die andern als moderne Kopien anzusprechen. Immer müssen wir dabei die edle Kunsttreue der Alten im Sinn tragen, welche die einmal glücklich gelungene Behandlung eines Gegenstandes nicht oft genug wiederholen konnte. Jene Künstler hielten sich für original genug, wenn sie einen originellen Gedanken aufzufassen und ihn auf ihre Weise wieder darzustellen Fähigkeit und Fertigkeit empfanden. Mehrere Steine zeigten sich auch mit eingeschnittenen Künstlernamen, worauf man seit Jahren großen Wert gelegt hatte. Eine solche Zutat ist wohl immer merkwürdig genug, doch bleibt sie meist problematisch: denn es ist möglich, dass der Stein alt und der Name neu eingeschnitten sei, um dem Vortrefflichen noch einen Beiwert zu verleihen. Ob wir uns nun gleich hier wie billig alles Katalogisierens enthalten, da Beschreibung solcher Kunstwerke ohne Nachbildung wenig Begriff gibt, so unterlassen wir doch nicht, von den vorzüglichsten einige allgemeine Andeutungen zu geben. Kopf des Herkules. Bewundernswürdig in Betracht des edlen, freien Geschmacks der Arbeit, und noch mehr zu bewundern in Hinsicht auf die herrlichen Idealformen, welche mit keinem der bekannten Herkulesköpfe ganz genau übereinkommen und eben dadurch die Merkwürdigkeit dieses köstlichen Denkmals noch vermehren helfen. Brustbild des Bacchus. Arbeit, wie auf den Stein gehaucht, und in Hinsicht auf die idealen Formen eines der edelsten antiken Werke. Es finden sich in verschiedenen Sammlungen mehrere diesem ähnliche Stücke, und zwar, wenn wir uns recht erinnern, sowohl hoch als tief geschnitten; doch ist uns noch keines bekannt geworden, welches vor dem gegenwärtigen den Vorzug verdiente. Faun, welcher einer Bacchantin das Gewand rauben will. Vortreffliche und auf alten Monumenten mehrmals vorkommende Komposition, ebenfalls gut gearbeitet. Eine umgestürzte Leier, deren Hörner zwei Delphine darstellen, der Körper oder, wenn man will, der Fuß Amors Haupt, mit Rosen bekränzt; zu derselben ist Bacchus' Panther, in der Vorderpfote den Thyrsusstab haltend, zierlich gruppiert. Die Ausführung dieses Steins befriedigt den Kenner, und wer zarte Bedeutung liebt, wird gleichfalls seine Rechnung finden. Maske, mit großem Bart und weit geöffnetem Mund; eine Efeuranke umschlingt die kahle Stirn. In seiner Art mag dieser Stein einer der allervorzüglichsten sein, und ebenso schätzbar ist auch Eine andere Maske mit langem Bart und zierlich aufgebundenen Haaren; ungewöhnlich tief gearbeitet. Venus tränkt den Amor. Eine der lieblichsten Gruppen, die man sehen kann, geistreich behandelt, doch ohne großen Aufwand von Fleiß. Cybele, auf dem Löwen reitend, tief geschnitten: ein Werk, welches als vortrefflich den Liebhabern durch Abdrücke, die fast in allen Pastensammlungen zu finden sind, genugsam bekannt ist. Gigant, der einen Greif aus seiner Felsenhöhle hervorzieht. Ein Werk von sehr vielem Kunstverdienst und als Darstellung vielleicht ganz einzig. Die vergrößerte Nachbildung desselben finden unsere Leser vor dem Voßschen Programm zu der Jenaischen A. L. Z. 1804, IV. Band. Behelmter Kopf im Profil, mit großem Bart. Vielleicht ist's eine Maske; indessen hat sie im geringsten nichts Karikaturartiges, sondern ein gedrungenes heldenmäßiges Angesicht, und ist vortrefflich gearbeitet. Homer, als Herme, fast ganz von vorne dargestellt und sehr tief geschnitten. Der Dichter erscheint hier jünger als gewöhnlich, kaum im Anfang des Greisenalters; daher diese Werk nicht allein von Seiten der Kunst, sondern auch des Gegenstandes wegen schätzbar ist. In Sammlungen von Abdrücken geschnittener Steine wird oftmals der Kopf eines ehrwürdigen bejahrten Mannes mit langem Bart und Haaren angetroffen, der -- jedoch ohne dass Gründe dafür angegeben werden -- das Bildnis des Aristophanes sein soll. Ein ähnlicher, nur durch unbedeutende Abweichungen von jenem sich unterscheidender Kopf ist in unserer Sammlung anzutreffen und in der Tat eins der besten Stücke. Das Profil eins Unbekannten ist vermutlich über der Augenbraune abgebrochen gefunden und in neuerer Zeit wieder zum Ringstein zugeschliffen worden. Großartiger und lebenvoller haben wir nie menschliche Gestalt auf dem kleinen Raum einer Gemme dargestellt gesehen, selten den Fall, wo der Künstler ein so unbeschränktes Vermögen zeigte. Von ähnlichem Gehalt ist auch Der ebenfalls unbekannte Porträtkopf mit übergezogener Löwenhaut; derselbe war auch so wie der vorige über dem Auge abgebrochen, allein das Fehlende ist mit Gold ergänzt. Kopf eines bejahrten Mannes von gedrungenem, kräftigem Charakter, mit kurz geschornen Haaren. Außerordentlich geistreich und meisterhaft gearbeitet; besonders ist die kühne Behandlung des Barts zu bewundern und vielleicht einzig in ihrer Art. Männlicher Kopf oder Brustbild ohne Bart, um das Haar eine Binde gelegt, das reich gefaltete Gewand auf der rechten Schulter geheftet. Es ist ein geistreicher, kräftiger Ausdruck in diesem Werk und Züge, wie man gewohnt ist dem Julius Cäsar zuzuschreiben. Männlicher Kopf, ebenfalls ohne Bart, die Toga, wie bei Opfern gebräuchlich war, über das Haupt gezogen. Außerordentlich viel Wahrheit und Charakter ist in diesem Gesicht, und kein Zweifel, dass die Arbeit echt alt und aus den Zeiten der ersten römischen Kaiser sei. Brustbild einer römischen Dame; um das Haupt doppelte Flechten von Haaren gewunden, das Ganze bewunderungswürdig fleißig ausgeführt und in Hinsicht des Charakters voll Wahrheit, Behaglichkeit, Naivität, Leben. Kleiner, behelmter Kopf, mit starkem Bart und kräftigem Charakter, ganz von vorne dargestellt und schätzbare Arbeit. Eines neuern vortrefflichen Steines gedenken wir zum Schluss: das Haupt der Meduse in dem herrlichsten Karneol. Es ist solches der bekannten Meduse des Sosikles vollkommen ähnlich, und geringe Abweichungen kaum zu bemerken. Allerdings eine der vortrefflichsten Nachahmungen antiker Werke: denn für eine solche möchte er unerachtet seiner großen Verdienste doch zu halten sein, da die Behandlung etwas weniger Freiheit hat und überdies ein unter dem Abschnitt des Halses angebrachtes N doch wohl auf eine Arbeit von Natter selbst schließen lässt. An diesem Wenigen werden wahre Kunstkenner den hohen Wert der gepriesenen Sammlung zu ahnen vermögen. Wo sie sich gegenwärtig befindet, ist uns unbekannt; vielleicht erhielte man hierüber einige Nachricht, die einen reichen Kunstfreund wohl anreizen könnte, diesen Schatz, wenn er verkäuflich ist, sich zuzueignen. Die weimarschen Kunstfreunde zogen, solange diese Sammlung in ihren Händen war, allen möglichen Vorteil daraus. Schon in dem laufenden Winter gab sie der geistreichen Gesellschaft, welche sich um die Herzogin Amalie zu vereinigen pflegte, ausgezeichnete Unterhaltung. Man suchte sich in dem Studium geschnittener Steine zu begründen, wobei uns das Wohlwollen der trefflichen Besitzerin sehr zustatten kam, indem sie uns mehrere Jahre diesen Genuss gönnte. Doch ergötzte sie sich kurz vor ihrem Ende noch an der schönen anschaulichen Ordnung, worin sie die Ringe in zwei Kästchen auf einmal, wie sie solche nie gesehen, vollständig gereiht wieder erblickte und also des geschenkten großen Vertrauens sich edelmütig zu erfreuen hatte. Auch nach einer andern Seite wendeten sich unsere Kunstbetrachtungen. Ich hatte die Farben genugsam in unterschiedenen Lebensverhältnissen beobachtet und sah die Hoffnung, auch endlich ihre Kunstharmonie, welche zu suchen ich eigentlich ausgegangen war, zu finden. Freund Meyer entwarf verschiedene Kompositionen, wo man sie teils in einer Reihe, teils im Gegensatz zu Prüfung und Beurteilung aufgestellt sah. Am klarsten ward sie bei einfachen landschaftlichen Gegenständen, wo der Lichtseite immer das Gelbe und Gelbrote, der Schattenseite das Blau und Blaurote zugeteilt werden musste, aber wegen Mannigfaltigkeit der natürlichen Gegenstände gar leicht durchs Braungrüne und Blaugrüne zu vermitteln. Auch hatten hier schon große Meister durch Beispiel gewirkt, mehr als im Historischen, wo der Künstler bei Wahl der Farben zu den Gewändern sich selbst überlassen bleibt und in solcher Verlegenheit nach Herkommen und Überlieferung greift, sich auch wohl durch irgendeine Bedeutung verführen lässt und dadurch von wahrer harmonischer Darstellung öfters abgeleitet wird. Von solchen Studien bildender Kunst fühle ich mich denn doch gedrungen, wieder zum Theater zurückzukehren und über mein eigenes Verhältnis an demselben einige Betrachtungen anzustellen, welches ich erst zu vermeiden wünschte. Man sollte denken, es sei die beste Gelegenheit gewesen, für das neue Theater und zugleich für das deutsche überhaupt als Schriftsteller auch etwas von meiner Seite zu leisten: denn, genau besehen, lag zwischen oben genannten Autoren und ihren Produktionen noch mancher Raum, der gar wohl hätte ausgeführt werden können; es gab zu natürlich einfacher Behandlung noch vielfältigen Stoff, den man nur hätte aufgreifen dürfen. Um aber ganz deutlich zu werden, gedenk' ich meiner ersten dramatischen Arbeiten, welche, der Weltgeschichte angehörig, zu sehr ins Breite gingen, um bühnenhaft zu sein; meine letzten, dem tiefsten inneren Sinn gewidmet, fanden bei ihrer Erscheinung wegen allzu großer Gebundenheit wenig Eingang. Indessen hatte ich mir eine gewisse mittlere Technik eingeübt, die etwas mäßig Erfreuliches dem Theater hätte verschaffen können; allein ich vergriff mich im Stoff, oder vielmehr ein Stoff überwältigte meine innere sittliche Natur, der allerwiderspenstigste, um dramatisch behandelt zu werden. Schon im Jahr 1785 erschreckte mich die Halsbandsgeschichte wie das Haupt der Gorgone. Durch dieses unerhört frevelhafte Beginnen sah ich die Würde der Majestät untergraben, schon im voraus vernichtet, und alle Folgeschritte von dieser Zeit an bestätigten leider allzu sehr die furchtbaren Ahnungen. Ich trug sie mit mir nach Italien und brachte sie noch geschärfter wieder zurück. Glücklicherweise ward mein "Tasso" noch abgeschlossen, aber alsdann nahm die weltgeschichtliche Gegenwart meinen Geist völlig ein. Mit Verdruss hatte ich viele Jahre die Betrügereien kühner Phantasten und absichtlicher Schwärmer zu verwünschen Gelegenheit gehabt und mich über die unbegreifliche Verblendung vorzüglicher Menschen bei solchen frechen Zudringlichkeiten mit Widerwillen verwundert. Nun lagen die direkten und indirekten Folgen solcher Narrheiten als Verbrechen und Halbverbrechen gegen die Majestät vor mir, alle zusammen wirksam genug. Um den schönsten Thron der Welt zu erschüttern. Mir aber einigen Trost und Unterhaltung zu verschaffen, suchte ich diesem Ungeheuren eine heitere Seite abzugewinnen, und die Form der komischen Oper, die sich mir schon seit längerer Zeit als eine der vorzüglichsten dramatischen Darstellungsweisen empfohlen hatte, schien auch ernstern Gegenständen nicht fremd, wie an "König Theodor" zu sehen gewesen. Und so wurde denn jener Gegenstand rhythmisch bearbeitet, die Komposition mit Reichardt verabredet, wovon denn die Anlagen einiger tüchtigen Bass-Arien bekannt geworden; andere Musikstücke, die außer dem Kontext keine Bedeutung hatten, blieben zurück, und die Stelle, von der man sich die meiste Wirkung versprach, kam auch nicht zustande: das Geistersehen in der Kristallkugel vor dem schlafend weissagenden Cophta sollte als blendendes Final vor allen glänzen. Aber da waltete kein froher Geist über den Ganzen, es geriet ins Stocken, und um nicht alle Mühe zu verlieren, schreib ich ein prosaisches Stück, zu dessen Hauptfiguren sich wirklich analoge Gestalten in der neuen Schauspielergesellschaft vorfanden, die denn auch in der sorgfältigsten Aufführung das Ihrige leisteten. Aber eben deswegen, weil das Stück ganz trefflich gespielt wurde, machte es einen um desto widerwärtigern Effekt. Ein furchtbarer und zugleich abgeschmackter Stoff, kühn und schonungslos behandelt, schreckte jedermann, kein Herz klang an; die fast gleichzeitige Nähe des Vorbildes ließ den Eindruck noch greller empfinden, und weil geheime Verbindungen sich ungünstig behandelt glaubten, so fühlte sich ein großer respektabler Teil des Publikums entfremdet, so wie das weibliche Zartgefühl sich vor einem verwegenen Liebesabenteuer entsetzte. Ich war immer gegen die unmittelbare Wirkung meiner Arbeiten gleichgültig gewesen und sah auch diesmal ganz ruhig zu, dass diese letzte, an die ich so viel Jahre gewendet, keine Teilnahme fand; ja ich ergötzte mich an einer heimlichen Schadenfreude, wenn gewisse Menschen, die ich dem Betrug oft genug ausgesetzt gesehen, kühnlich versicherten, so grob könne man nicht betrogen werden. Aus diesem Ereignis zog ich mir jedoch keine Lehre; das, was mich innerlich beschäftigte, erschien mir immerfort in dramatischer Gestalt, und wie die Halsbandsgeschichte als düstre Vorbedeutung, so ergriff mich nunmehr die Revolution selbst als die grässlichste Erfüllung: den Thron sah ich gestürzt und zersplittert, eine große Nation aus ihren fugen gerückt und nach unserm unglücklichen Feldzug offenbar auch die Welt schon aus ihren Fugen. Indem mich nun dies alles in Gedanken bedrängte, beängstigte, hatte ich leider zu bemerken, dass man im Vaterland sich spielend mit Gesinnungen unterhielt, welche eben auch uns ähnliche Schicksale vorbereiteten. Ich kannte genug edle Gemüter, die sich gewissen aussichten und Hoffnungen, ohne weder sich noch die Sache zu begreifen, phantastisch hingaben; indessen ganz schlechte Subjekte bittern Unmut zu erregen, zu mehren und zu benutzen strebten. Als ein Zeugnis meines ärgerlich-guten Humors ließ ich den "Bürgergeneral" auftreten, wozu mich ein Schauspieler verführte, namens Beck, welcher den Schnaps in den "beiden Billetts" nach Florian mit ganz individueller Trefflichkeit spielte, indem selbst seine Fehler ihm dabei zustatten kamen. Da ihm nun diese Maske so gar wohl anstand, brachte man des gedachten kleinen, durchaus beliebten Nachspiels erste Fortsetzung, den "Stammbaum" von Anton Wall, hervor, und als ich nun auf Proben, Ausstattung und Vorstellung dieser Kleinigkeit ebenfalls die größte Aufmerksamkeit wendete, so konnte nicht fehlen, dass ich mich von diesem närrischen Schnaps so durchdrungen fand, dass mich die Lust anwandelte, ihn nochmals zu produzieren. Dies geschah auch mit Neigung und Ausführlichkeit; wie denn das gehaltreiche Mantelsäckchen ein wirklich französisches war, das Paul auf jener Flucht eilig aufgerafft hatte. Inder Hauptszene erwies sich Malkolmi als alter wohlhabender, wohlwollender Bauersmann, der sich eine gesteigerte Unverschämtheit als Spaß auch einmal gefallen lässt, unübertrefflich und wetteiferte mit Beck in wahrer, natürlicher Zweckmäßigkeit. Aber vergebens! Das Stück brachte die widerwärtigste Wirkung hervor, selbst bei Freunden und Gönnern, die, um sich und mich zu retten, hartnäckig behaupteten: ich sei der Verfasser nicht, habe nur aus Grille meinen Namen und einige Federstriche einer sehr subalternen Produktion zugewendet. Wie mich aber niemals irgendein Äußeres mir selbst entfremden konnte, mich vielmehr nur strenger ins Innere zurückwies, so blieben jene Nachbildungen des Zeitsinnes für mich eine Art von gemütlich tröstlichem Geschäft. Die "Unterhaltungen der Ausgewanderten," fragmentarischer Versuch, das unvollendet Stück "Die Aufgeregten" sind ebensoviel Bekenntnisse dessen, was damals in meinem Busen vorging; wie auch späterhin "Hermann und Dorothea" noch aus derselbigen Quelle flossen, welche denn freilich zuletzt erstarrte. Der Dichter konnte der rollenden Weltgeschichte nicht nacheilen und musste den Abschluss sich und andern schuldig bleiben, da er das Rätsel auf eine so entschiedene als unerwartete Weise gelöst sah. Unter solchen Konstellationen war nicht leicht jemand, in so weiter Entfernung vom eigentlichen Schauplatz des Unheils, gedrückter als ich; die Welt erschien mir blutiger und blutdürstiger als jemals, und wenn das Leben eines Königs in der Schlacht für tausende zu rechnen ist, so wird es noch viel bedeutender im gesetzlichen Kampf. Ein König wird auf Tod und Leben angeklagt: da kommen Gedanken in Umlauf, Verhältnisse zur Sprache, welche für ewig zu beschwichtigen sich das Königtum vor Jahrhunderten kräftig eingesetzt hatte. Aber auch aus diesem grässlichen Unheil suchte ich mich zu retten, indem ich die ganze Welt für nichtswürdig erklärte, wobei mir denn durch eine besondere Fügung "Reineke Fuchs" in die Hände kam. Hatte ich mich bisher an Straßen-, Markt- und Pöbelauftritten bis zum Abscheu übersättigen müssen, so war es nun wirklich erheiternd, in den Hof- und Regentenspiegel zu blicken: denn wenn auch hier das Menschengeschlecht sich in seiner ungeheuchelten Tierheit ganz natürlich vorträgt, so geht doch alles, wo nicht musterhaft, doch heiter zu, und nirgends fühlt sich der gute Humor gestört. Um nun das köstliche Werk recht innig zu genießen, begann ich alsobald eine treue Nachbildung; solche jedoch in Hexametern zu unternehmen, war ich folgenderweise veranlasst. Schon seit vielen Jahren schrieb man in Deutschland nach Klopstocks Einleitung sehr lässliche Hexameter; Voß, indem er sich wohl auch dergleichen bediente, ließ doch hie und a merken, dass man sie besser machen könne, ja er schonte sogar seine eigenen vom Publikum gut aufgenommenen Arbeiten und Übersetzungen nicht. Ich hätte das gar gern auch gelernt, allein es wollte mir nicht glücken. Herder und Wieland waren in diesem Punkte Latitudinarier, und man durfte der Voßschen Bemühungen, wie sie nach und nach strenger und für den Augenblick ungelenk erschienen, kaum Erwähnung tun. Das Publikum selbst schätzte längere Zeit die Voßschen früheren Arbeiten, als geläufiger, über sie späteren; ich aber hatte zu Voß, dessen Ernst man nicht verkennen konnte, immer ein stilles Vertrauen und wäre, in jüngeren Tagen oder anderen Verhältnissen, wohl einmal nach Eutin gereist, um das Geheimnis zu erfahren. Denn er, aus einer zu ehrenden Pietät für Klopstock, wollte, solange der würdige, allgefeierte Dichter lebte, ihm nicht geradezu ins Gesicht sagen: dass man in der deutschen Rhythmik eine striktere Observanz einführen müsse, wenn sie irgend gegründet werden solle. Was er inzwischen äußerte, waren für mich sibyllinische Blätter. Wie ich mich an der Vorrede zu den Georgiken abgequält habe, erinnere ich mich noch immer gerne, der redlichen absicht wegen, aber nicht des daraus gewonnenen Vorteils. Da mir recht gut bewusst war, dass alle meine Bildung nur praktisch sein könne, so ergriff ich die Gelegenheit, ein paar tausend Hexameter hinzuschreiben, die bei dem köstlichsten Gehalt selbst einer mangelhaften Technik gute Aufnahme und nicht vergänglichen Wert verleihen durften. Was an ihnen zu tadeln sei, werde sich, dacht' ich, am Ende schon finden; und so wendete ich jede Stunde, die mir sonst übrig blieb, an eine solche schon innerhalb der Arbeit vorläufig dankbare Arbeit, baute inzwischen und möbilierte fort, ohne zu denken, was weiter mit mir sich ereignen würde, ob ich es gleich gar wohl voraussehen konnte. So weit wir auch ostwärts von der großen Weltbegebenheit gelegen waren, erschienen doch schon diesen Winter flüchtige Vorläufer unserer ausgetriebenen westlichen Nachbarn; es war, als wenn sie sich umsähen nach irgendeiner gesitteten Stätte, wo sie Schutz und Aufnahme fänden. Obgleich nur vorübergehend, wussten sie durch anständiges Betragen, duldsam-zufriedenes Wesen, durch Bereitwilligkeit, sich ihrem Schicksal zu fügen und durch irgendeine Tätigkeit ihr Leben zu fristen, dergestalt für sich einzunehmen, dass durch diese einzelnen die Mängel der ganzen Masse ausgelöscht und jeder Widerwille in entschiedene Gunst verwandelt wurde. Dies kam denn freilich ihren Nachfahrern zeugte, die sich späterhin in Thüringen festsetzten, unter denen ich nur Mounier und Camille Jordan zu nennen brauche, um ein Vorurteil zu rechtfertigen, welches man für die ganze Kolonie gefasst hatte, die sich, wo nicht den Genannten gleich, doch derselben keineswegs unwürdig erzeigte. Übrigens lässt sich hierbei bemerken, dass in allen wichtigen politischen Fällen immer diejenigen Zuschauer am besten dran sind, welche Partei nehmen: was ihnen wahrhaft günstig ist, ergreifen sie mit Freuden, das Ungünstige ignorieren sie, lehnen's ab oder legen's ob oder legen's wohl gar zu ihrem Vorteil aus. Der Dichter aber, der seiner Natur nach unparteiisch sein und bleiben muss, sucht sich von den Zuständen beider kämpfenden Teile zu durchdringen, wo er denn, wenn Vermittlung unmöglich wird, sich entschließen muss, tragisch zu endigen. Und mit welchem Zyklus von Tragödien sahen wir uns von der tosenden Weltbewegung bedroht! Wer hatte seit seiner Jugend sich nicht vor der Geschichte des Jahres 1649 entsetzt, wer nicht vor der Hinrichtung Karls I. geschaudert und zu einigem Troste gehofft, dass dergleichen Szenen der Parteiwut sich nicht abermals ereignen könnten! Nun aber wiederholte sich das alles, gräulicher und grimmiger, bei dem gebildetsten Nachbarvolke wie vor unsern Augen, Tag für Tag, Schritt für Schritt. Man denke sich, welchen Dezember und Januar dijenigen verlebten, die, den König zu retten, ausgezogen waren und nun in seinen Prozess nicht eingreifen, die Vollstreckung des Todesurteils nicht hindern konnten. Frankfurt war wieder in deutschen Händen; die möglichsten Vorbereitungen, Mainz wieder zu erobern, wurden eifrigst besorgt. Man hatte sich Mainz genähert und Hochheim besetzt. Königstein musste sich ergeben. Nun aber war vor allen Dingen nötig, durch einen vorläufigen Feldzug auf dem linken Rheinufer sich den Rücken frei zu machen. Man zog daher am Taunusgebirge hin auf Idstein, über das Benediktinerkloster Schönau nach Kaub, sodann über eine wohl errichtete Schiffbrücke nach Bacharach; von da an gab es fast ununterbrochene Vorpostengefechte, welche den Feind zum Rückzug nötigten. Man ließ den eigentlichen Hunsrück rechts, zog nach Stromberg, wo General Neuwinger gefangen wurde. Man gewann Kreuznach und reinigte den Winkel zwischen der Nahe und dem Rhein; und so bewegte man sich mit Sicherheit gegen diesen Fluss. Die Kaiserlichen waren bei Speyer über den Rhein gegangen, und man konnte die Umzingelung von Mainz den 14. April abschließen, wenigstens vorerst die Einwohner mit Mangel, als dem Vorläufer größerer Not, in Angst setzen. Diese Nachricht vernahm ich zugleich mit der Aufforderung, mich an Ort und Stelle zu zeigen, um, wie früher an einem beweglichen Übel, so nun an einem stationären teilzunehmen. Die Umzingelung war vollbracht, die Belagerung konnte nicht ausbleiben; wie ungern ich mich dem Kriegstheater abermals näherte, überzeuge sich, wer etwa die zweite nach meinen Skizzen radierte Tafel in die Hand nimmt. Sie ist einem sehr genauen Federumriss nachgebildet, den ich wenige Tage vor meiner Abreise sorgfältig auf Papier gebracht hatte. Mit welchem Gefühl, sagen die wenigen dazu gedichteten Reimzeilen: Hier sind wir denn vorerst ganz still zu Haus, Von Tür zu Türe sieht es lieblich aus; Der Künstler froh die stillen Blicke hegt, Wo Leben sich zum Leben freundlich regt. Und wie wir auch durch ferne Lande ziehn, Da kommt es her, da kehrt es wieder hin; Wir wenden uns, wie auch die Welt entzücke, Der Enge zu, die uns allein beglücke. End of the Project Gutenberg EBook of Kampagne in Frankreich, by Johann Wolfgang von Goethe *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KAMPAGNE IN FRANKREICH *** ***** This file should be named 17664-8.txt or 17664-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/1/7/6/6/17664/ Produced by Andrew Sly Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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The Project Gutenberg EBook of Robert Bontine, by C. Andrews This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Robert Bontine Author: C. Andrews Translator: Marie Schultz Release Date: December 10, 2020 [EBook #64003] Language: German Character set encoding: UTF-8 Produced by: Norbert H. Langkau, Matthias Grammel, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ROBERT BONTINE *** Robert Bontine Enßlins Mark-Bände. In derselben Ausstattung wie der vorliegende Band erschienen in demselben Verlage: =Band= =1: Leben.= Preisgekrönter Münchner Roman. Von C. Camill. =2: Theaterkinder.= Roman von L. Pany. =3: Der goldene Schatten.= Roman von L. T. Meade. =4: Gib mich frei!= Roman von H. Courths-Mahler. =5: Die Bettelmaid.= Roman von J. Fitzgerald Molloy. =6: Sein Recht.= Roman von E. Fischer-Markgraff. =7: Eigenart.= Roman von C. von Ende. =8: Auf eignen Füßen.= Roman von K. Krehmcke. =9: Soldatentöchter.= Offiziergeschichten von Christa Hoch. =10: Die Erbin.= Roman von H. Köhler. =11: Das Recht auf Glück.= Roman von H. Gréville. =12: Der Scharlachbuchstabe.= Roman von N. Hawthorne. =13: Jessika von Duden u. a. Novellen.= Von G. Genzmer. =14: Die goldene Stadt.= Roman von L. vom Vogelsberg. =15: Freie Menschen.= Roman von Thé von Rom. =16: Vom Baum der Erkenntnis.= Roman von H. Hessig. =17: Ebba Hüsing.= Roman von Willrath Dreesen. =18: Des Andern Ehre.= Roman von H. Courths-Mahler. =19: Sulamith.= Roman von A. und C. Askew. =20: Irrende Seelen.= Roman von V. Luzická. =21: Mandus Frixens erste Reise.= Von E. G. Seeliger. =22: Der Herzbruchhügel.= Roman von H. Vielé. =23: Die Kosaken.= Erzählung von Leo A. Tolstoj. =24: Viktoria.= Roman von G. von Mühlfeld. =25: Nordnordwest. -- Die beiden Friesen.= Zwei Inselgeschichten. Von Ewald Gerhard Seeliger. =26: Hilde Schott.= Roman von Adolf Gerstmann. =27: Waldasyl.= Roman von Johanna Klemm. =28: Was Gott zusammenfügt ...= Roman von H. Courths-Mahler. =29: Aus dämmernden Nächten.= Roman von Anny Wothe. =30: Kajus Rungholt.= Roman von Charlotte Niese. =31: Der verkaufte Kuß.= Roman von Alwin Römer. =32: Durch Sturm und Not.= Roman von J. Gräfin Baudissin. =33: Ich will vergelten.= Roman von Ellen Svala. =34: Haus Schottmüller.= Roman von August Niemann. =35: Robert Bontine.= Roman von C. Andrews. Vom 1. August 1914 an erscheinen in monatlichen Zwischenräumen: =36: Käthes Ehe.= Roman von H. Courths-Mahler. =37: Herbstgewitter.= Roman von Anna Behrens. =38: Das arme Glück.= Roman von L. vom Vogelsberg. =39: Die Karsteins.= Roman von H. Lang-Anton. =40: Von fremden Ufern.= Roman von Anny Wothe. _Die Sammlung wird fortgesetzt_. _Preis jedes Bandes_: 1 Mark oder 1 Krone 20 Heller oder 1 Fr. 35 Centimes oder 60 Kopeken. _Zu beziehen durch alle Buchhandlungen._ _Verlangen Sie ~Enßlins~ Mark-Bände!_ Robert Bontine Roman von C. Andrews Autorisierte Übersetzung von Marie Schultz 1. bis 12. Tausend [Illustration] * * * * * Reutlingen Enßlin & Laiblins Verlagsbuchhandlung Nachdruck verboten. Alle Rechte vorbehalten. Übersetzungsrecht vorbehalten. ==Printed in Germany==. Inhaltsverzeichnis Seite Kapitel 1. 5 Kapitel 2. 21 Kapitel 3. 35 Kapitel 4. 48 Kapitel 5. 59 Kapitel 6. 71 Kapitel 7. 83 Kapitel 8. 91 Kapitel 9. 101 Kapitel 10. 113 Kapitel 11. 126 Kapitel 12. 138 Kapitel 13. 152 Kapitel 14. 165 Kapitel 15. 175 Kapitel 16. 189 Kapitel 17. 203 Kapitel 18. 213 Kapitel 19. 224 Kapitel 20. 240 Kapitel 21. 256 Kapitel 22. 265 Kapitel 23. 283 Kapitel 24. 298 Kapitel 25. 309 1. Es schien, als ob das Gewitter sich in wenigen Minuten zusammengezogen hätte. Den ganzen Tag war das Wetter wunderschön gewesen, warm und sonnig. Es war schwer zu entscheiden, ob der Himmel oder das Meer tiefer blau sei, -- an ersterem zeigte sich kaum ein Wölkchen, auf der Meeresfläche kaum eine schaumgekrönte Welle. Dann war plötzlich die Sonne verschwunden, große, schwarze Wolkenbänke schoben sich über die zackigen Bergkuppen, hinter denen sie versanken, und See und Himmel waren grau. Ein fahler Blitz zuckte am Horizont auf, ein dumpfes Donnerrollen unterbrach die schwüle Stille, und schwere Regentropfen begannen zu fallen. Sie rauschten schneller und schneller hernieder, und der Wind erhob sich in heulenden Stößen, als freue er sich des gestörten Friedens in der Natur. »Das ist angenehm! Im Umkreis einer Meile allem Anschein nach keine menschliche Behausung, und dabei ein Gewitter! Sehr angenehm in der Tat!« Bei diesen laut gesprochenen Worten blieb der, der sie sagte, stehen, um den Kragen seines leichten Oberrockes in die Höhe zu schlagen. Auf der breiten, ebenen Fläche, die sich vom Rande der Klippen herüberzog, war kein lebendes Wesen außer ihm zu erblicken, noch irgendein Gebäude, das ihm Obdach hätte gewähren können. Er beugte den Kopf tiefer, als ihm der Wind den Regen ins Gesicht trieb, und eilte schnelleren Schrittes auf dem unebenen Fußpfade, den er seit einer Stunde verfolgt hatte, weiter. Aber sein Fuß zauderte plötzlich, als ob der Donner, der über seinem Haupte krachte, ein Schuß gewesen wäre, der unmittelbar an seinem Ohre abgefeuert worden. »Kehren Sie um!« rief eine Stimme laut hinter ihm. »Sie finden weit und breit kein Obdach und werden bis auf die Haut durchnäßt werden! Hierher! Schnell!« Der Angeredete wandte sich jäh um. Eine kleine Strecke hinter ihm, ungefähr in der Mitte zwischen dem Fußweg und dem steil abfallenden Rande der Klippe, stand eine weibliche Gestalt neben einigen hohen Ginsterbüschen und Farnkraut. Als er einen Augenblick stehen blieb und sie schier verwundert anstarrte, winkte sie ihm gebieterisch mit der Hand. »Schnell!« rief sie ungeduldig. »Ich werde sonst auch noch naß! Beeilen Sie sich, der Regen wird bald noch schlimmer werden als jetzt.« Er lief über den kurzen, schlüpfrigen Rasen, ihrem herrischen Befehle folge gebend. Als er bei ihr anlangte, versank sie plötzlich und verschwand unter dem nassen Gestrüpp. »Kommen Sie herein!« klang es jetzt in dumpfem Tone aus der Tiefe herauf. »Seien Sie vorsichtig -- es kommen drei Stufen. Aber fallen können Sie nicht.« Er schob die Blätter beiseite und folgte ihr. Ein Lichtschein, der zu hell war, als daß er durch das Laub hätte fallen können, zeigte ihm das kleine höhlenähnliche Loch in der Klippe, in das er auf diese Weise Zutritt erlangt hatte, und die drei unebenen Felsstufen, neben denen sie stand. Er war ein hochgewachsener Mann und mußte sich deshalb bücken, um nicht gegen das niedrige Dach zu stoßen, während er vorsichtig hinabstieg. Sie lachte. »Es ist nicht sehr hübsch hier unten,« meinte sie, »aber es ist doch dem Naßwerden vorzuziehen. Geben Sie mir lieber die Hand, sonst möchten Sie straucheln -- der Boden ist so uneben. Warten Sie einen Augenblick! Hören Sie nur, wie es regnet! Ich wußte, daß es noch schlimmer werden würde.« Sie hatte recht gehabt. Der Regen rauschte in Strömen herab und prasselte auf den Felsen nieder. Aufhorchend wandte er seiner Gefährtin das Gesicht zu, aber er konnte das ihre kaum in schwachen Umrissen erkennen. Der helle Lichtschein, der von unten kam, fiel nur bis auf die Hand, mit der sie die seinige ergriffen hatte. »Kommen in dieser Gegend die Gewitter immer so plötzlich zum Ausbruch?« fragte er. »Sehr oft. Es ist das eine Spezialität von Rippondale. Aber ich kenne die Vorboten und konnte deshalb Schutz suchen. Sie sahen mich nicht -- nicht eher?« »Erst als Sie mich anriefen.« »Das dachte ich mir; aber ich sah Sie und wartete am Eingang, um Sie hereinzurufen, aber das erstemal hörten Sie mich nicht. Hierher! Treten Sie dorthin, wohin ich trete, so werden Sie nicht ausgleiten.« Ihre Hand, die kühl und naß vom Regen war, umschloß die seine, und er schritt vorsichtig hinter ihr die schmale, abschüssige Senkung hinunter, an der sie ihn entlangführte. Mit jedem Schritte wurde der Lichtschein heller und das murmelnde Plätschern der Wellen am Fuße der Klippe vernehmlicher. Nach einer Minute etwa ließ sie seine Hand los. »Nicht weiter!« sprach sie ruhig. »Wie ich schon sagte, ist es kein besonders anziehender Zufluchtsort, aber er ist mir schon oft von Nutzen gewesen.« Der abschüssige Gang mündete in eine natürliche Höhle, die sich so groß wie ein kleines Zimmer in der Vorderwand der Klippe befand. Mit einem belustigenden Blick in das Gesicht des Gefährten, das sie jetzt erst deutlich sah, setzte sich das Mädchen gelassen auf einen flachen Vorsprung der Felswand nieder, der groß und niedrig genug für den Zweck war. »Sie haben sich wohl gewundert, wohin ich Sie führte, nicht wahr?« meinte sie. Er schien ihre Frage nicht zu hören. Er hatte sich der Öffnung der Höhle genähert und blickte nach unten. Eine dicht von Schlingpflanzen überwucherte Felsplatte sprang etwa vier oder fünf Fuß vor, dann fiel die Klippenwand senkrecht ins Meer hinunter. Ein Schauder überlief ihn, als er auf die wogende Wasserfläche herniedersah, und er trat aus dem Bereich des herabströmenden Regens zurück. »Sie haben sich einen gefährlichen Zufluchtsort gewählt,« sagte er. »Gefährlich?« gab sie zurück. »Freilich. Im Falle eines Sturzes von hier oben --« »O, eines Sturzes!« Sie zuckte die Achseln. »Daran habe ich nie gedacht,« meinte sie gleichgültig. »Ich werde doch nicht so nahe herangehen, daß ich hinabstürzen könnte.« »Absichtlich vermutlich nicht. Aber,« beharre er, »ein Sturz von hier oben würde den Tod bedeuten.« »Ganz ohne Zweifel. Aber dasselbe ließe sich bei vielen anderen Stellen der Klippen behaupten. Die Felswände sind fast überall furchtbar steil. Es ist schon die Rede davon gewesen, den Klippenpfad durch ein Geländer zu schützen, glaube ich; aber der Plan ist wieder aufgegeben worden. Vielleicht ist es auch kaum nötig, denn die Eingeborenen kennen jeden Schritt und Tritt des Weges, und Fremde, wie Sie, sind eine seltene Erscheinung.« »Sie wissen also,« sagte er langsam, »daß ich hier fremd bin?« »Freilich. Erstens kenne ich Sie nicht, zweitens fragten Sie mich, ob unsere Gewitter sich immer so plötzlich zusammenzögen.« »Und drittens -- wußte ich nichts von diesem Ihrem Zufluchtsort,« ergänzte er. »Das sagt nichts, denn wenige Leute kennen ihn, -- ich glaube, kaum irgend jemand. Ich selbst habe ihn ganz zufällig entdeckt.« »So?« »Ja. Eines Tages hatte ich einen Hund bei mir, und er verschwand in dem Ginstergebüsch, das den Eingang verdeckt. Er muß wohl die Stufen herabgesprungen oder heruntergerutscht sein und konnte sich nicht wieder herausfinden. Ich rief und wartete, und schließlich hörte ich ihn bellen und leise winseln. Da fand ich das Loch und bahnte mir einen Weg hinunter.« »Und so entdeckten Sie die Höhle?« »Ja, und ich rief Sie herein, weil ich wußte, daß Sie bis auf die Haut durchnäßt sein würden, ehe Sie St. Mellions erreichten.« »Ja, ich war auf dem Wege nach St. Mellions.« Sie verriet durch ein leichtes Neigen des Kopfes, daß sie ihn gehört habe, antwortete aber nicht. Sie wandte das Haupt und blickte in den grauen Himmel, auf die graue See, den strömenden Regen und die flammenden Blitze hinaus und gewährte ihm so Gelegenheit, sie ungestört zu mustern. Sie war über Mittelgröße, ohne doch groß zu sein; ihre kaum voll entwickelte Gestalt war biegsam und anmutig; ihr dunkles Sergekleid war so schlicht und einfach, wie ein Kleid nur sein konnte. Dem Beobachter fiel das dicke, lockige kastanienbraune Haar auf, die Schwärze der Brauen und der langen, gebogenen Wimpern, das dunkle, bläulich schimmernde Grau der großen, glänzenden irischen Augen, die schneeige Weiße ihrer Haut und der schöngeschwungene kleine herrische Mund. Sein Urteil lautete, daß sie schön, daß sie sicherlich stolz und wahrscheinlich von heftigem Temperamente war, und er zerbrach sich den Kopf darüber, wer sie wohl sein möge. Hätte sie ihn angeschaut, wozu sie keine Neigung zu verspüren schien, so würde sie einen Mann gesehen haben, der dreißig Jahre alt sein mochte, dessen sehnige, aufrechte Gestalt auf große Energie und Kraft schließen ließ, dessen sonnengebräunte Haut einen wunderlichen Gegensatz zu seinen blonden Haaren und seinem spitzgeschnittenen Vollbart bildete, dessen Züge weder besonders hübsch noch besonders unschön waren, und dessen Äußeres durch die festgeschlossenen Lippen und ein Paar ruhigblickende, kalte blaue Augen nicht anziehender wurde. Er seinerseits hatte schnell genug wahrgenommen, daß sie ohne allen Zweifel eine Dame sei, obgleich ihm der Schnitt ihres Kleides das nicht verriet. Sie ihrerseits war durchaus nicht sicher, ob sie ihn für einen Gentleman halten solle. Eine gewisse kurze Brüskheit des Benehmens, -- zu unbewußt, um als ungezogen zu gelten, -- war den Männern nicht eigen, mit denen täglich zu verkehren ihr Los war. -- Der Donner krachte, die Blitze zuckten, der Regen rauschte hernieder und füllte die Pause aus, die beiden schnell peinlich zu werden anfing. Das junge Mädchen machte eine unruhige Bewegung; sie wollte nicht verraten, daß sie sich der verstohlenen Musterung des Fremden bewußt sei. Sie nahm den Matrosenhut ab, der die losen kastanienbraunen Löckchen, die sich auf ihrer weißen Stirn ringelten, verdeckt hatte. »Es ist unerträglich warm!« meinte sie ungeduldig. »Und dabei sind wir erst in der ersten Hälfte des Juni. Mitte August ist es sonst nicht schlimmer!« »Und ich habe Mitte August Frost erlebt,« gab der Mann ruhig zurück. »Frost?« Sie warf ihm einen schnellen, ungläubig fragenden Blick zu. »Aber nicht in diesem Teile Englands,« erklärte sie sehr entschieden. »Überhaupt nicht in England. Ich spreche von Australien.« »O!« Sie musterte ihn wieder mit ehrlichem Interesse. »Daher kommen Sie also?« »Ich bin vor drei Tagen gelandet.« Er begegnete ihrem Blicke und lachte matt. »Es war ein merkwürdiges Gefühl -- ich werde es niemals vergessen: mir war zumute, als sei ich aus den Wolken auf die Erde niedergefallen.« »Weil Ihnen alles so fremd vorkam?« »Wohl zum Teil, aber mehr noch, weil es in dem ganzen Lande kein Wesen gibt, das ich kenne.« »O!« Die Worte machten ihre schnell gefaßte Vermutung zunichte. »Sie haben also keine Verwandten hier?« »Ich habe nirgends Verwandte, -- die ich kenne.« Er stockte seltsam in der Mitte des Satzes, und sein Lächeln war verschwunden. »Sie glaubten vermutlich, ich ginge nach St. Mellions, um sie aufzusuchen?« »Nein, denn wenn irgend jemand in St. Mellions einen Verwandten in Australien hätte, so würde ich davon gehört haben. Aber da Ihnen ganz England neu ist, so ist es eigentlich wunderlich, daß Sie sich zuerst einen so weltentlegenen Winkel ausgesucht haben. Ich fürchte, Sie ahnen nicht, wie langweilig es hier ist.« »Das glaube ich gern. Aber ich hatte keine Wahl in der Sache.« »So?« Unwillkürlich blickte sie ihn wieder neugierig an. »Dann sind Sie nicht zu Ihrem Vergnügen hergekommen?« »Zu meinem Vergnügen!« Er lachte bitter. »Nein -- in Geschäften!« Sein Ton war so schroff und abweisend, daß sie ihr Gesicht fast beleidigt abwandte und verstummte. Sie blickte wieder in das graue Landschaftsbild und den Regen hinaus und nagte verstimmt an der Lippe. Der andere, der sich seines Vergehens anscheinend nicht bewußt war, hub wieder an: »Da Sie hier so gut Bescheid wissen, können Sie mir vielleicht sagen, wie weit es noch bis St. Mellions ist?« »Ungefähr eine Viertelstunde.« Sie sprach sehr kurz zu ihm. »Weiter nicht? Und doch konnte ich keine Spur von Häusern erblicken.« »Das liegt an der Beschaffenheit des Bodens.« Vielleicht hatte er sie gar nicht beleidigen wollen. Bei dieser Erwägung wurde sie wieder fast liebenswürdig und setzte ihm auseinander, daß das Dorf in einer Talmulde läge. »Der Ort ist hoffentlich nicht so klein, daß er kein Wirtshaus hat?« »Nein -- sogar zwei.« Sie blickte wieder seewärts und fuhr in verändertem Tone fort: »Wir werden nicht mehr lange gefangengehalten werden: die Wolken teilen sich, der Regen wird gleich vorüber sein.« Sie hatte recht, denn wenige Minuten später schien die Sonne, und Meer und Himmel waren blau. Wie sie ihm in die Höhle vorangegangen war, so übernahm sie auch jetzt wieder die Führung den abschüssigen Gang und die drei Felsenstufen hinauf, durch das dichte Ginstergestrüpp, das den Eingang verbarg, bis sie wieder auf der Klippe oben standen. Hier nahm der Fremde ernst den Hut ab und verneigte sich vor ihr. Sie hatte ihm diesmal nicht die Hand gegeben. »Noch einmal tausend Dank,« sprach er. »Sie gehen, -- entschuldigen Sie, -- nicht denselben Weg wie ich?« »Nein.« Sie lächelte, und in ihren grauen Augen blitzte es schelmisch auf. »Dorthin führt mein Weg,« sagte sie leichthin und deutete schräg über die Halde auf eine dichte Baumgruppe, »und Sie können den Ihren nicht verfehlen. Geradeaus! Adieu!« »Einen Augenblick, bitte! Ich fürchte, ich habe einen Verstoß begangen. Wenn das der Fall ist, so müssen Sie das, bitte, meinem Leben in Australien zugute halten. Ich habe Ihre Güte angenommen und müßte Ihnen sicherlich meinen Namen nennen.« »Das steht ganz in Ihrem Belieben,« antwortete sie lächelnd. »Dann will ich es tun. Ich heiße Everard Leath.« »Danke, Herr Leath.« Daß er ihr seinen Namen genannt hatte, in der Hoffnung, sie werde jetzt ein gleiches tun, wußte sie sehr wohl, bereitete ihm aber aus Schelmerei eine Enttäuschung. »Ich will Ihnen auch etwas sagen. Es gibt zwei Wirtshäuser in St. Mellions. Gehen Sie nicht in den Schwarzen Adler -- die Schlafzimmer sind dort feucht. Begeben Sie sich in die Chichester Arms, die den gewissenhaftesten Eigentümer und die beste aller Wirtinnen haben.« »Vielen Dank. Ich werde Ihren Rat befolgen.« Wohl wissend, daß sie ihn hatte abblitzen lassen, machte er noch einen Versuch -- diesmal einen direkten. -- »Wollen Sie Ihrer Freundlichkeit nicht die Krone aufsetzen, indem Sie mich wissen lassen, wem ich zu Dank verpflichtet bin?« »Wie ich heiße, meinen Sie? O ja! Es ist nur natürlich, daß Sie das gerne wissen möchten -- freilich!« Sie entfernte sich bei diesen Worten immer weiter und raffte geschickt ihre Röcke zusammen, damit sie das regenfeuchte Gras nicht streiften. »Nun, wenn Sie nach den Chichester Arms kommen, so fragen Sie nur Ihre Wirtin.« Sie huschte über den blitzenden Rasen fast so leicht und schnell wie ein Vogel dahin und blickte sich mit hellem Lachen noch einmal um. Everard Leath schaute ihr einen Augenblick nach, zuckte dann die Achseln, lachte kurz auf und schlug die Richtung nach St. Mellions ein. Der Abhang, den er hinabsteigen mußte, war so steil, daß der einsame Wanderer fast in die Schornsteine des Dorfes hinabsehen konnte. Er ließ sich von einem Manne im Arbeitskittel, der Wasser aus einem Brunnen schöpfte, zurechtweisen und betrat bald die niedere Gaststube der Chichester Arms. Die rosige und behäbige Wirtsfrau, die eilfertig zu seinem Empfange herbeikam, führte ihn in ein kleines sauberes Wohnzimmer mit getäfelten Wänden und einer Holzdecke, einem Paar blitzblanker Butzenscheibenfenster, einer Fülle leuchtendroter Geranienstöcke und riesigen kissenbedeckten Windsorstühlen. Er hatte sich kalten Aufschnitt und Tee bestellt, und nachdem er sich in einem fünfeckigen Schlafzimmer von dem Reisestaub gesäubert hatte, setzte er sich und wartete darauf. Als er mit der müßigen Neugier, die einem Menschen, der sich an einem fremden Orte befindet, natürlich ist, aus einem der Fenster schaute, sah er einen etwa achtzehnjährigen blonden Burschen vors Haus reiten. Mit schnell erwachtem Interesse in den Zügen wandte er sich an das Mädchen, das gerade die letzten Schüsseln hereinbrachte und auf seinen Tisch stellte, mit der Frage: »Wissen Sie, wer das ist?« »Das, gnädiger Herr?« Das Mädchen steckte ihr blühendes Gesicht durch die Geranien und erhielt sofort einen fröhlichen Gruß von dem Reiter. »O freilich -- das ist Herr Roy!« »Ah!« Ein Lächeln überflog Leaths ernste Züge. »Das sagt mir nicht viel. Wer mag Herr Roy sein?« »Er ist Sir Jaspers Sohn, gnädiger Herr. Er ist sein Einziger. Außerdem ist noch Fräulein Cäcilie da.« »Wie heißt Sir Jasper weiter?« »Sir Jasper Mortlake, Herr.« Das Mädchen blickte ihn verwundert an. Jemand, der Sir Jasper nicht kannte, war augenscheinlich in ihren Augen ein Phänomen. »Sie haben doch sicherlich von ihm gehört?« meinte sie in fast vorwurfsvollem Ton. »Nein -- niemals. Gehört ihm dies Haus?« »Ach nein, gnädiger Herr! Der Schwarze Adler ist seines. Unser Herr ist Herr Chichester. Wünschen Sie sonst noch etwas?« Leath hatte weiter keine Wünsche und begann sein Mahl, aber nicht ehe er Roy Mortlake hatte davonreiten sehen und seiner Reitkunst im stillen Beifall gezollt hatte. Später, als er in einem der großen Stühle saß und seine Zigarre rauchte, klopfte es, und seine rührige Wirtin trat ein, um sich zu erkundigen, ob es ihm geschmeckt habe und wo sie sein Gepäck abholen lassen könne, worauf er ihr sagte, daß es am Bahnhofe in Market Beverley stände. »Wie weit ist es von hier bis dahin?« fragte er. »Das kommt auf den Weg an, den Sie einschlagen, gnädiger Herr. Oben auf den Klippen entlang mögen es wohl anderthalb Meilen sein.« »Den Weg bin ich gekommen.« Ein plötzlicher Gedanke kam der Wirtin. »Wenn Sie zu Fuß von Market Beverley gewandert sind, gnädiger Herr, so müssen Sie von dem Gewitter überrascht worden sein!« rief sie. »Freilich, dort oben auf der Halde. Ah, dabei fällt mir ein, mir ist aufgetragen, Ihnen eine Frage vorzulegen, Frau Buckstone.« »Eine Frage? Mir, gnädiger Herr?« »Ja, -- von einer Dame, die mir als rettender Engel erschien und mich vor dem Naßwerden bewahrt hat. Es war ordentlich ein Abenteuer.« Er schilderte in aller Kürze und in belustigtem Tone sein Erlebnis. »Sie weigerte sich, mir ihren Namen zu nennen, und sagte mir, ich möchte mich an Sie wenden, wenn ich ihn wissen wolle,« schloß er lächelnd, »und fort war sie.« »War sie hübsch, gnädiger Herr?« »Hübsch? Freilich -- mehr als das. Aber wer war es? Können Sie es sich denken?« »O ja, gnädiger Herr!« Die Wirtin lächelte ebenfalls. »Darüber kann kaum ein Zweifel sein. Das war natürlich die Gräfin Florence.« »Gräfin Florence?« Leath wiederholte den Namen mit erstauntem Blick. »Was? Ist die junge Dame verheiratet?« »O nein. Gräfin Florence Esmond ist die Tochter eines Grafen drüben in Irland, der starb, als sie ein ganz kleines Ding war. Sie ist Sir Jasper Mortlakes Nichte -- und wohnt meistens bei ihnen in Turret Court. Sie haben das Schloß vielleicht bemerkt, gnädiger Herr? Es liegt an der anderen Seite der Halde, etwa dreiviertel Stunden von hier.« »Nein, es ist mir nicht aufgefallen,« antwortete Leath und griff wieder nach seiner Zigarre. »Das war also Gräfin Florence Esmond!« sprach er halblaut und gedankenvoll vor sich hin, als die geschäftige Wirtin den Tisch abgeräumt und ihn allein gelassen hatte. »Ein merkwürdiger, ungewöhnlicher Name. Eines Grafen Tochter und lebt in Turret Court.« Er lachte rauh auf, als er aufstand und durch eines der Erkerfenster in den dunkelblauen Abendhimmel hinausblickte. »Es ist ein Glück, daß ich etwas anderes als Narrenpossen im Kopfe habe, sonst könnten mir jene grauen Augen gefährlich werden, fürchte ich!« Aber er hatte etwas anderes im Kopfe, das ihn beschäftigte, und sein Antlitz wurde düsterer und strenger, als er darüber nachsann. Nicht an Florences graue Augen, noch an die hellbraunen Locken auf ihrer weißen Stirn, noch an ihre schöngeschweiften roten Lippen dachte er. Er begann in dem engen Raume hin und her zu schreiten und beim Gehen vor sich hinzumurmeln. »Was wohl das Ende sein wird? Wird überhaupt ein Ende kommen? Jetzt, wo ich hier bin, steigen zum erstenmal Zweifel in mir auf, ob -- wenn ich nicht mein Wort verpfändet hätte -- es nicht verständiger gewesen wäre, ich hätte alles gehen lassen, wie es wollte, und niemals diesen Ort betreten? Mein Plan sah Tausende von Meilen von hier nicht so verwegen, nicht so hoffnungslos aus, wie er mich jetzt dünkt. Soll ich ihn aufgeben, trotz meines gegebenen Wortes wieder gehen?« Seine Augen flammten plötzlich auf; er ballte seine kräftige Hand. »Bah! Welche Feigheit ist das auf einmal! Ihn aufgeben! Ich will der Wolke gedenken, die meine Jugend verdüstert hat, des Sterbebettes, an dem ich vereinsamt stand, meiner acht Jahre einsamer Arbeit und schweren Ringens, und will nicht den Mut sinken lassen, noch ehe meine Arbeit anfängt!« Er blieb stehen, um wieder aus dem Fenster zu starren. »Nun, der erste Schritt ist getan. Ich bin hier in Mellions, dessen Name mir fast von meiner Kindheit an vertraut und verhaßt ist. Aber um wieviel näher bin ich jetzt wohl meinem Ziele -- wieviel näher daran, Robert Bontine zu finden?« 2. Das sogenannte getäfelte Zimmer in Turret Court hatte verschiedene Vorzüge, die es erklärlich machten, daß es der Lieblingsaufenthalt der Damen der Familie war. Die bemalten, in die Wände eingefügten Holzplatten waren hervorragende Kunstwerke; die bis auf den Boden hinabgehenden Glastüren führten auf eine von Schlinggewächsen berankte Veranda, vor der sich gleich einem grünen Sammetteppich ein herrlicher, von prangenden Blumenbeeten und üppigem Gesträuch eingefaßter Rasen ausbreitete, und von der man überdies eine wundervolle Aussicht über die Heide nach den zackigen Bergkuppen hinüber und auf das ferne Meer genoß. Turret Court lag hoch, so hoch, daß man von dort das Tal, in dessen grünem Schoße St. Mellions lag, sehen konnte. Das Zimmer enthielt den einzigen Lehnstuhl im ganzen Hause, in dem die sanfte Lady Agathe behauptete, ein behagliches Mittagsschläfchen halten zu können, und ferner das Klavier, zu dessen Klängen ihre Tochter immer am besten singen konnte. Der größte Vorzug aber von allen war, wie Gräfin Florence mehr als einmal kühn ausgesprochen hatte, daß Sir Jasper seine Schwelle höchstens zwölfmal im Jahre überschritt. Indessen nur Roy pflichtete ihr darin offen bei, denn Sir Jasper war kein angenehmer Mann, und sowohl seine sanfte Frau wie sein hübsches Töchterchen waren viel zu bange vor ihm, um einzugestehen, daß sie sich vor ihm fürchteten. An dem heutigen sonnigen Morgen war er nicht in der Nähe des getäfelten Zimmers, sonst hätte dort nicht so heiteres Behagen geherrscht. Lady Agathe saß an einer der offenen Glastüren in dem Stuhle, den sie so hoch hielt, und las in einem Roman, dessen Gewicht fast zu groß für ihre zarten weißen Hände zu sein schien. Sie war eine schlanke, blasse, blonde Frau, die einst hübsch gewesen war, von jener blonden, rosig angehauchten Schönheit, die meistens so früh verblüht. Ihre zierliche Gestalt und das schmale, feine Antlitz mit den sanften Augen hatten noch etwas Mädchenhaftes, obgleich sie schon zwei oder drei Jahre über die Vierzig hinaus war. Sanft und gutherzig, ohne je eine eigene Meinung zu haben, und keinesweges gescheit, war sie doch in jedem Zoll die vornehme Dame, wie es von der Tochter eines der ältesten irischen Grafengeschlechter zu erwarten war. Das Geschlecht der Mortlakes auf Turret Court sei sehr alt, aber doch nichts gegen die Esmonds von Ballancloona, pflegte Lady Agathe bisweilen mit unschuldiger Eitelkeit zu sagen; nicht um die Welt hätte sie eingestanden, was ihre innerste Überzeugung war, -- daß es eine ziemliche Herablassung von ihr gewesen war, die Frau ihres Mannes zu werden. Ihre Hauptbeschäftigung und Freude war es, Romane zu lesen oder dem Geplauder ihrer beiden jungen Gefährtinnen zu lauschen, die in bequemen Schaukelstühlen auf der Veranda saßen. In ihren weißen Kleidern sahen die beiden Mädchen schneeiggefiederten Vögeln nicht unähnlich. Florences graue Augen blitzten schelmisch, während sie ihre Cousine ansah, aber es leuchtete auch tiefe, leidenschaftliche Zuneigung aus ihnen. Diejenigen, die Florence Esmond am besten kannten, pflegten zu sagen, daß, wenn sie kein Geheimnis daraus machte, Sir Jasper Mortlake, ihren Vormund, beinahe zu hassen, sie seine Frau und Tochter vergötterte und den jungen Roy kaum weniger liebte. Die Behauptung war nicht sehr übertrieben, denn es entsprach des Mädchens innerster Natur, heiß zu lieben, wo es überhaupt liebte. Cäcilie -- im Familienkreis stets Cis genannt -- war ein sehr hübsches Mädchen, -- in der ganzen Grafschaft waren die Mortlakes wegen ihrer Schönheit berühmt, -- klein und zart gebaut, mit goldblondem Haar und lichtbraunen Augen und mit vollendet schönen und zarten Farben. -- Dem Aussehen nach schien sie weit jünger als ihre größere Cousine mit ihrer stolzen, entschlossenen Haltung, ihrem schlanken Hals und Nacken und dem hochmütig getragenen braunen Köpfchen; aber der Altersunterschied zwischen ihnen betrug in Wirklichkeit nur wenige Wochen. Beide hatten im vergangenen Winter ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Während sie so plaudernd dasaßen, sagte Florence: »Wie viele Torheiten habe ich mir im Leben schon zuschulden kommen lassen, die dir nicht einmal eingefallen wären, du gutes kleines Ding! Ich tue freilich in Sack und Asche Buße, das ist wahr, aber was nützt das? Und ach, was noch schlimmer ist, wie zahllose werde ich voraussichtlich noch begehen.« »Das möchte die Herzogin auch wissen,« meinte Cäcilie lächelnd. »Die Herzogin! O!« Florences fröhlicher Mund wurde ernst; sie setzte sich aufrecht in ihrem Stuhle hin. »Liebes Herz, -- dabei fällt mir ein, -- wie du weißt, hatte ich heute morgen Kopfweh und frühstückte oben. Mit einer Tasse Tee überreichte mir meine ahnungslose Jungfer eine Bombe. Die Herzogin hat geschrieben.« »Florence!« Cis sah entsetzt aus. »Sie verlangt nach dir?« »Allerdings. Auf zwei Briefbogen überhäufte sie mich mit Vorwürfen, daß ich sie mitten in der Saison im Stich gelassen, besonders nach der Mühe, die sie sich um meine Toilette gegeben habe; der dritte meldet mir, daß sie sich gar nicht wohl fühle, und daß der Doktor ihr anempfohlen, ohne Aufschub nach Pontresina abzureisen, und der vierte befiehlt mir, heute über acht Tage in London mit ihr zusammenzutreffen und bereit zu sein, sie zu begleiten.« »O Florence! Welch eine schreckliche Enttäuschung! Du sagtest, du wolltest den ganzen Sommer bei uns bleiben, und jetzt sollen wir dich verlieren!« Cis’ schöne Augen füllten sich mit Tränen. Ihre Cousine erhob sich lachend, küßte sie und strich ihr mit der weißen Hand über den blonden Kopf. »Nein, das sollt ihr nicht, du liebes Gänschen! Ich habe schon geschrieben, um Ihrer Durchlaucht respektvoll zu melden, daß ich sie nicht begleiten werde.« »Wie lieb von dir! Aber ich fürchte, sie wird furchtbar böse werden.« »Sie beabsichtigt, ein Vierteljahr fern von England zu bleiben,« gab Florence gelassen zur Antwort. »Bis sie zurückkommt, wird sie es überwunden haben.« »Das will ich um deinetwillen hoffen.« Fräulein Mortlake empfand ein gut Teil Angst und Scham vor Ihrer Durchlaucht der verwitweten Herzogin von Dunbar, da sie ein schüchternes kleines Geschöpf war, und sah fast ebenso ängstlich aus, als hätte sie selbst gewagt, der hochgeborenen Dame Trotz zu bieten. »Ich möchte, sie teilte sich nicht mit meinem Vater in die Vormundschaft über dich, Florence,« sprach sie. »Ein Vormund ist genug.« »Liebste, ich bin oft der Meinung, daß einer schon zu viel ist.« Florence setzte sich wieder in ihren Stuhl, verschränkte die Hände im Nacken unter dem vollen, lose verschlungenen Knoten ihres kastanienbraunen Haares und fuhr langsam fort: »Es ist recht lästig, das muß ich zugeben. Aber siehst du, die Herzogin hat bei mir Gevatter gestanden, und so hätte sie es wohl nicht gern gesehen, wenn sie übergangen worden wäre. Und mein Vater mag wohl der Ansicht gewesen sein, daß Frauen nicht viel von Geschäften verstünden. Er hielt es im Interesse meiner Angelegenheiten für besser, ihr einen männlichen Vormund an die Seite zu stellen, und da war es natürlich, daß seine Wahl auf Sir Jasper, den Mann seiner einzigen Schwester, fiel. Ihre Durchlaucht waren unbedingt froh, mich los zu sein, und jetzt, seitdem ich mündig bin, kann ich überhaupt tun, was mir beliebt -- was meinen Aufenthalt betrifft wenigstens.« Der Ton ließ darauf schließen, daß die Sprecherin in anderer Hinsicht nicht tun könne, was ihr beliebte. »Hast du -- hast du es der Herzogin erzählt, Florence?« fragte Cis, anscheinend ganz ohne allen Zusammenhang, mit gedämpfter Stimme. »Nein, mein Herz. Ich beschloß, damit noch zu warten. Teils weil ich der Ansicht war, mein Brief sei sowieso schon hinreichend, um ihr auf die Nerven zu fallen, -- von der Laune, in die er sie versetzen wird, gar nicht zu reden. Teils weil ich es für möglich hielt, sie könne ihren Doktor samt seinen Verordnungen und Pontresina ganz und gar vergessen und in höchsteigener Person hier auf der Bildfläche erscheinen, um ihre Ansicht kundzutun. Ihre Ansichten sind mir gewöhnlich langweilig.« Sie brach geflissentlich von dem Gegenstande ab und fragte: »Wo ist Roy heute morgen, Cis?« »Ausgeritten, glaube ich. Nein, ich weiß es sogar bestimmt. Er sagte beim ersten Frühstück, er wolle nach Arborfield hinüberreiten.« »Und Harry zum zweiten Frühstück mitbringen!« setzte Florence gleichmütig hinzu. »Weshalb sprichst du nicht zu Ende, Cis?« Sie lachte, während sie in das Porzellangesichtchen schaute, dessen zarte Farbe dunkler wurde. »Wie rot du wirst, Kind, obgleich du schon seit drei Monaten verlobt bist! Vielleicht ist es doch ganz nett, einen Harry zu haben. Weißt du, ich denke mitunter, wie mir das wohl gefallen würde.« »Florence!« Cis richtete ihre kleine Gestalt mit der würdigen Miene, die sie mitunter annahm, empor. »Wie kannst du jetzt nur so etwas noch sagen, wo du --« »Wo ich noch nie verliebt gewesen und moralisch davon überzeugt bin, daß ich es nie sein werde!« beendete Florence munter den Satz. »Ganz recht, mein Herz,« fuhr sie fort, »es geziemt mir gewiß nicht, mich in sentimentalen Erwägungen zu ergehen. In Zukunft will ich mich benehmen, wie es sich gehört, und dich und Harry nur aus dem angemessenen überlegenen und unpersönlichen Gesichtspunkte betrachten. Und darin kann ich gleich anfangen, mich zu üben, denn da sind sie schon.« Zwei junge Leute kamen von den Stallgebäuden her quer über den Rasen -- der blonde, glattwangige, langaufgeschossene Roy Mortlake, dessen Sitz zu Pferde Everard Leath vor drei Tagen vom Erkerfenster der Chichester Arms aus bewundert hatte, und Harry Wentworth, der Sohn und Erbe des Barons Charteries von Arborfield, dessen Verlobungsring Cis seit drei Monaten trug. Er war ein hübscher Mensch mit lebhaften Augen, der aussah, als ob er des noch reizenderen Errötens, mit dem sein Bräutchen ihn begrüßte, würdig sei. Sie wanderten sogleich miteinander davon, Cis’ goldblonder Kopf wurde sorgfältig mit einem Sonnenschirm beschützt, und Roy setzte sich auf eine Stufe der Verandatreppe neben Florences Schaukelstuhl. Lady Agathe hatte die Ankömmlinge nur mit einem freundlichen Lächeln begrüßt, sich aber nicht weiter stören lassen, sondern in ihrem Roman weitergelesen. »Flo,« -- Roy liebte es, Gräfin Florences Namen so abzukürzen, -- »ich habe Chichester gesehen -- Hallo! Zum Kuckuck auch!« Bei diesem Ausruf fuhr Roy von seinem niederen Sitze empor. Sir Jasper riß plötzlich die Tür auf und betrat das Zimmer, zur schreckensvollen Bestürzung seiner Frau und seines Sohnes und zu Florences grenzenlosem Erstaunen, da er sonst, wie gesagt, nie in diesem Raume erschien. Er sah -- wenigstens auf den ersten Blick -- nicht so aus wie jemand, dessen plötzliches Erscheinen geeignet war, eine Störung zu verursachen. Wie alle Mortlakes sah er sehr gut aus. Cis’ hübsches rosiges Gesichtchen hatte nicht regelmäßigere Umrisse und Züge als das seine. Man hätte es fast allzu regelmäßig, zu glatt, zu farblos und ruhig nennen können. An seinem letzten Geburtstage war er sechsundfünfzig gewesen, aber er sah bei weitem nicht so alt aus. Sein blondes Haar war von jener hellen Farbe, die die grauen Fäden nicht hervortreten läßt, sein Antlitz zeigte wenig Falten, seine grauen Augen waren klar und glänzend; daß er nur einen großen Schnurrbart trug und Wangen und Kinn glattrasiert waren, ließ ihn noch jugendlicher erscheinen, und seine hohe, aufrecht getragene Gestalt bewegte sich mit einem leichten, ungezwungenen Anstande, der auf einen viel jüngeren Mann hätte schließen lassen. Ja -- Sir Jasper Mortlake, der Besitzer von Turret Court, war entschieden ein schöner und auf den ersten Blick ein anziehender Mann für fast jeden. Nur bei einem zweiten Blick gewahrten Leute, die sich auf Physiognomik verstanden, daß seine grauen Augen ebenso eisig kalt und strenge wie glänzend waren, daß die schmalen, schöngeschnittenen Lippen sich gewöhnlich fest aufeinanderpreßten, und daß die Umrisse des Oberkiefers und Kinns auf erbarmungslose Härte deuteten. Es gab indessen eine Menge Menschen, deren Augen hierfür blind blieben, ebenso wie ihre Ohren taub gegen die Tatsache waren, daß seine langsame, klare, wohlbeherrschte Stimme einen unerbittlichen scharfen Klang hatte. Diese Leute pflegten Sir Jasper für einen sehr netten Mann und Lady Agathe für eine sehr glückliche Frau zu erklären, eine Ansicht, der zu widersprechen Lady Agathe selbst nie im Traume eingefallen sein würde. Sie fuhr jetzt aus ihrem Stuhle auf und ließ ihren Roman fallen, während ein ängstliches Beben ihre zarte Gestalt durchlief. Roy schlich sich die Verandatreppe hinab, augenscheinlich darauf bedacht, sich womöglich ungesehen aus dem Staube zu machen. Florence gab ihrem Schaukelstuhle einen Ruck und blickte ihren Vormund mit fragenden Augen an. Ihr jagte er nie einen Schrecken ein, hatte es nie getan seit der Zeit, wo sie ein übermütiges, dreizehnjähriges Mädchen in kurzen Kleidern gewesen und er ihr Vormund geworden war. Das war vielleicht ein Grund, weshalb er fast immer höflich und mitunter fast liebenswürdig gegen sie war, obgleich ein anderer Grund in der Tatsache zu finden sein mochte, daß, wenn sie es abgelehnt hätte, wenigstens die Hälfte des Jahres unter seinem Dache zu verbringen, tausend Pfund Sterling jährlich weniger in die Tasche des Barons geflossen sein würden. Es wurde gemeiniglich angenommen, daß Turret Court fast so alt sei wie die Berge, die hinter ihm emporragten, aber an irdischen Gütern hatte das Geschlecht der Mortlakes nie Überfluß besessen. »Ist -- kann ich -- wünschest du irgend etwas, Jasper?« stammelte Lady Agathe ängstlich hervor. »Danke -- nein. Bitte, laß dich nicht stören.« Der Baron warf einen verächtlichen Blick auf den hingefallenen Roman; für die harmlosen Bände, die das Hauptinteresse und Vergnügen seiner Gattin ausmachten, hatte er eine unsägliche Verachtung. »Ich glaubte, Roy wäre hier,« setzte er, sich umblickend, hinzu. »Das ist er auch.« Florence übernahm die Antwort und deutete nickend auf Roys verschwindende Gestalt, wofür ihr ein vorwurfsvoller und entrüsteter Blick wurde. »Wolltest du etwas von ihm, Onkel Jasper?« Niemand außer ihr hätte es gewagt, die Frage zu stellen, oder würde sie gestellt haben, ohne eine beißend sarkastische Antwort zu erhalten. Sir Jasper trat an die offene Glastür. »Ja, danke, meine Liebe.« Er rief seinem Sohne zu: »Roy, du hast nichts zu tun, -- du kannst nach St. Mellions reiten und einen Brief von mir mitnehmen.« »Was, jetzt, Vater?« Roys Gesicht wurde zusehends länger, als er sehr gegen seinen Willen kehrtmachte. »Ich komme gerade eben mit Wentworth aus Arborfield zurück,« sagte er in einem so mißvergnügten Tone, wie er nur anzuschlagen wagte, »und die Sonne scheint so furchtbar heiß -- es ist der reine Backofen. Hat es nicht bis nach dem Frühstück Zeit?« »Es hat nicht bis nach dem Frühstück Zeit. Ich bedaure unendlich, deine kostbare Muße in Anspruch nehmen zu müssen,« antwortete der Baron mit schneidendem Hohn. »Unglücklicherweise habe ich nicht Lust, meine Geschäfte warten zu lassen, bis es dir beliebt, sie zu erledigen. Du wirst Herrn Sherriff das Billett bringen und --« »Herrn Sherriff?« fiel ihm Florence ins Wort. »Der liebe alte Mann -- ich habe ihn seit einer Woche nicht gesehen! Und dabei ist er nicht wohl! Wie schändlich! Das muß ich wieder gutmachen.« Sie sprang auf und sagte mit einer entlassenden Handbewegung: »Schon gut, Roy, du kannst davonlaufen und spielen. Ich will dein Briefchen besorgen, Onkel Jasper.« »Liebes Herz, es ist so heiß! Und du mußt doch erst frühstücken,« wagte ihre Tante milde einzuwenden, während sie ihren Roman aufnahm. »Nein, das brauche ich nicht. Ich werde mich bei Herrn Sherriff zu Gast laden. Er wird das gern sehen, und ich werde ihn aufheitern. Und außerdem muß ich wirklich im Pfarrhause vorsprechen und mich nach dem Datum des Basars erkundigen. Wenn wir uns nicht sputen, so werden Cis und ich das Regiment Puppen dafür nicht rechtzeitig fertig angezogen bekommen. Das Billett, bitte, Onkel Jasper, und ist noch irgend etwas dabei zu bestellen?« Es war nur noch auszurichten, daß der Überbringerin des Briefes eine Antwort mitzugeben sei. Sir Jasper erteilte diese Weisung, sagte seinem Mündel ein paar sehr förmliche Dankesworte und ging hinaus. Florence pfiff ein paar Takte des ›Hausgespenstes‹ vor sich hin, schlug ihrer Tante das Buch wieder auf, gab ihr einen Abschiedskuß und lief auf den Rasen hinaus. »Roy, lauf nach dem Stall hinüber -- tu’s mir zuliebe, und laß Jakob mir Orange Lily satteln. Aber er selbst braucht sich nicht fertigzumachen, denn ich habe keine Lust, ihn hinter mir zu haben.« Sie richtete ihre lustigen Augen auf das Brautpaar und klopfte ihrer Cousine leicht auf die schöne Wange. »Finden Sie nicht, daß Cis gut aussieht, Herr Wentworth? Wissen Sie wohl, daß sie einen demoralisierenden Einfluß auf mich ausübt? Wenn ich sie ansehe, so bin ich wirklich fast geneigt, mich zu verlieben.« »Nun, ich glaubte, der Schritt wäre schon getan, Gräfin Florence!« gab Harry Wentworth lachend zurück. »Das glaubten Sie? Von mir? Du meine Güte, wie kommen Sie nur auf solchen Gedanken? Liege ich nachts wach und kann nicht schlafen? Verliere ich den Appetit? Werde ich rot? Härme und gräme ich mich? Nun, was sagt ihr beide?« »Ich sehe wenigstens keines dieser Symptome,« meinte Harry. »Das werden Sie auch nie, so wahr ich eine Esmond von Ballancloona bin! Lebt wohl! Ich werde Herrn Sherriff von euch grüßen und ihm einen Kuß geben, um ihm meine Liebe zu bezeigen. Ich verliebt! Wirklich, Harry, ich schäme mich Ihrer! Liebe! Wie ist einem denn zumute, wenn sie sich unserer bemächtigt hat?« Sie eilte leichtfüßig über den Rasen dem Hause zu, und ihre Stimme tönte fröhlich zu ihnen herüber, während sie munter vor sich hinträllerte: »Mein Herz, ich will dich fragen, Was ist denn Liebe, sag? Zwei Seelen und ein Gedanke, Zwei Herzen und ein Schlag.« -- »Ist sie nicht ein liebes Geschöpf?« sagte Cis mit zärtlicher Bewunderung und drückte Harrys Arm liebevoll an sich. »Sie ist auf alle Fälle ein Original.« Er lachte. »Und sie ist außerdem verteufelt hübsch. Das steht fest. Ich finde, sie wird jedesmal, daß ich sie sehe, hübscher. Trotzdem, Cis, bin ich ganz ungemein froh, daß ich sie nicht heiraten soll, weißt du. In der Tat, ich beneide einen gewissen Jemand, den wir beide nennen könnten, nicht sonderlich.« »Florence ist viel zu gut für jenen gewissen Jemand,« erklärte Cis. »Das bestreite ich nicht. Ich bin nur froh, daß ich es nicht bin. Welch wunderlicher Einfall veranlaßte sie nur, solche Reden zu führen? Aus dem, was du mir gesagt hast, schloß ich, daß es eine ganz abgemachte Sache sei.« »Das ist es auch. Wenigstens glaube ich es.« »Weiß Sir Jasper darum?« »O ja! Aber die Herzogin noch nicht.« »Und dann spricht deine gräfliche Cousine so? Nette Aussichten!« Harry zuckte die Achseln und lachte. »Ja, ich wiederhole, ich bin von Herzen froh, daß ich nicht in der Haut eines gewissen Jemand stecke.« »Ach,« meinte Cis und schüttelte in sinnendem Widerspruch den hübschen Kopf, »es ist leicht, so zu reden! Ich würde es wohl ebenso machen, wenn ich du wäre. Aber du verstehst Florence nicht.« 3. Gräfin Florence ritt auf ihrem Lieblingspferde Orange Lily, einer Goldfuchsstute, über die Halde und bog in den langsam abwärts führenden Reitweg ein, der in die kleine, krumme Hauptstraße von St. Mellions einmündete. Manche Mützen flogen von den Köpfen, manche Knickse wurden beim Anblick der anmutigen Gestalt des bildhübschen, sonnigen Antlitzes gemacht, das mit dem strahlendsten Lächeln für jeden Gruß dankte. Es gab weder einen Mann, noch eine Frau, noch ein Kind im Orte, die sie nicht kannten, und nur Roy nahm es an allgemeiner Beliebtheit im Dorfe mit ihr auf. Man hatte die sanfte, freundliche Lady Agathe und die hübsche Cäcilie gern, -- wie sie es für ihre Herzensgüte und vielen Wohltaten auch verdienten, -- aber nicht in demselben Grade und nicht nach derselben Art wie Florence. Sie ritt langsam an der alten, grauen Kirche und dem wohnlichen Pfarrhause mit seinen Erkerfenstern vorbei, wandte sich dann rechts und hielt vor einer niedrigen weißen Pforte, die sich inmitten einer hohen Hecke befand, an. Sie beugte sich im Sattel vornüber, sie aufzuklinken, und ritt in den dahinterliegenden Garten. Dort sprang sie mit solcher Leichtigkeit und Behendigkeit vom Pferde, wie Roy es nur hätte tun können, nahm Orange Lilys Zügel und ging den breiten Kiesweg hinauf, der nach dem Hause führte. Es war ein niedriges, kleines Gebäude, das anscheinend nur aus wenigen Zimmern bestand und nur ein Stockwerk hatte. Aus roten Backsteinen aufgeführt, von Schlinggewächsen bis an die niedrigen Schornsteine, die vielen Türen und Fenster überwuchert, mit blühenden Blumen auf den Simsen, mit Balkon und Veranda bot es einen überaus malerischen Anblick dar. Gräfin Florence hatte oft erklärt, daß sie viel lieber im Bungalow -- so hieß es -- wohnen möchte, als in Turret Court. Sie setzte eine kleine silberne Pfeife, die an ihrer Uhrkette hing, an die Lippen und ließ einen hellen Pfiff ertönen. In demselben Augenblick erschien schlürfenden Ganges ein großer junger Mann, der beim Anblick des jungen Mädchens einen riesigen Zeigefinger an sein strohgelbes Haar legte, denn eine Mütze hatte er nicht auf. »Guten Morgen, Joe,« sagte Florence in ihrer liebenswürdigen Weise und dankte ihm mit ihrem reizenden Lächeln für seinen Gruß. Dann erkundigte sie sich, ob Herr Sherriff zu Hause sei, und wies ihn an, Orange Lily zu versorgen, ihr aber nicht zu viel Wasser zu geben, da sie bald wieder heimreiten wolle. Darauf schritt sie über den samtweichen Rasen, stieg die Verandatreppe hinan und blickte durch ein niedriges offenes Fenster. »Herr Sherriff, wissen Sie nicht, daß Sie an diesem wundervollen Tage draußen im Sonnenschein sein sollten?« »Gräfin Florence! Mein liebes Kind, welch eine Freude, Sie zu sehen!« Der Herr, der diese Worte sprach, erhob sich schnell von einem mit Büchern bestreuten Tische, an dem er saß, kam ans Fenster und nahm die Hand, die ihm das junge Mädchen bot. Er war groß und hager, mit breiten Schultern, und ging ein wenig gebückt. Er hatte ein stilles, träumerisches, zerstreutes Wesen. Die meisten würden ihn für einen ganz alten Mann gehalten haben, denn seine Stirn war gefurcht und sein Haar wie sein langer Vollbart schneeweiß; nur die schöngeschwungenen Brauen seiner dunklen Augen waren noch schwarz. Trotzdem zählte Matthias Sherriff noch nicht sechzig, obwohl er gewöhnlich für volle zehn Jahre älter gehalten wurde. »Welch eine Freude, Sie zu sehen, liebes Kind! Wie hat mich der Klang Ihrer Stimme erschreckt!« sagte er und beugte sich mit ritterlicher Artigkeit und Höflichkeit über den kleinen hellbraunen Stulphandschuh. Sir Jasper Mortlake, der sich so viel auf seine weltmännischen Formen zugute tat, war kein so vollendeter Kavalier wie der Hausherr des Bungalow, der auf nichts stolz war als auf seine geliebten Bücher. »Habe ich Sie erschreckt? Das tut mir leid! Es war sehr unüberlegt von mir, Sie so plötzlich anzureden. Soll ich hereinkommen, oder wollen Sie meinen Rat befolgen und mit mir in den Garten gehen?« fragte Florence lächelnd. »Ihr Rat ist immer der beste. Ich will zu Ihnen kommen.« Herr Sherriff stieg bei diesen Worten über die niedrige Fensterbrüstung, zog einen Korbstuhl herbei, der im Schatten der Veranda stand, und wartete, bis sie Platz genommen, ehe er sich einen zweiten herbeiholte. »Führt eine geschäftliche Angelegenheit Sie her, Gräfin, oder sind Sie so freundlich, einem einsamen alten Manne einen Besuch zu machen?« »Beides, Herr Sherriff.« Sie setzte ihm auseinander, was sie hergeführt, und lud sich zum Frühstück bei ihm ein; dabei zog sie Sir Jaspers Brief aus der Tasche ihres Reitkleides. Herr Sherriff nahm ihn ihr ab, las ihn und schob ihn wieder in den Umschlag. »Die Sache ist sehr einfach, und ich glaubte, sie Sir Jasper vorige Woche genügend erklärt zu haben. Wenn Sie gestatten, so werde ich Sie mit ein paar Zeilen für ihn behelligen. Wie geht es allen in Turret Court, Lady Agathe, Fräulein Cäcilie?« »Meine Tante ist so wohl, wie sie überhaupt sein kann, und Cis ist hübscher denn je. Sie und Harry Wentworth machen mich ganz sentimental -- wirklich. Was wollte ich noch sagen? Ach ja! Roy ist sehr fidel und Sir Jasper griesgrämlich. Ich bin, wie Sie mich vor sich sehen.« »Und wie Sie hoffentlich bleiben werden. Besseres können Sie nicht tun, liebes Kind.« Der alte Herr blickte mit wohlwollendem, väterlichem Lächeln in das liebreizende, strahlende Gesicht. »Sie wollen hoffentlich nicht damit sagen, daß irgend etwas Besonderes vorgefallen ist, was Sir Jasper verstimmt hat?« »Du meine Güte, nein. Es ist eben nur sein chronisches Leiden! Wenn ihm einmal wirklich etwas Widerwärtiges zustieße, so würde es ihn vielleicht liebenswürdig machen -- wer weiß? Ich habe jetzt angefangen, ›Das Hausgespenst‹ zu flöten, was der armen Agathe jedesmal einen furchtbaren Schrecken einjagt! Als ob ihr Herr und Gemahl den Gassenhauer kennte!« »Das ist wohl kaum anzunehmen,« meinte Herr Sherriff lächelnd. »Natürlich nicht. Trotzdem sah ich sie erzittern, wenn ich nur die Lippen spitzte. Ich sollte es natürlich nicht tun, nicht wahr? Junge Damen sollten niemals flöten. Da hat die arme Herzogin recht -- kommt dort nicht jemand, Herr Sherriff?« unterbrach sie sich und horchte auf näherkommende Schritte -- Schritte, die ihr ganz fremd waren. Dann fuhr sie empor und rief in grenzenlosem Erstaunen: »Was, Sie sind es? Hier?« Es war Everard Leath, der um die Ecke der Veranda bog, und der bei ihrem Anblick in ebenso großem Staunen stehen blieb. Verwundert über ihr gegenseitiges Erkennen blickte Sherriff von einem zum andern. Leath sprach zuerst. »Ich bitte um Entschuldigung, Gräfin Esmond. Ich hatte keine Ahnung davon, daß Sie hier wären, und erwartete, Herrn Sherriff allein zu finden.« Er verbeugte sich und entfernte sich wieder. Florences graue Augen richteten sich verwundert auf den Hausherrn. »Wie in aller Welt kommt er hierher?« rief sie. »Liebes Kind, erlauben Sie mir erst, Ihnen eine Frage vorzulegen: Wie kommt es, daß Sie ihn kennen und er Sie?« »Wie das kommt?« Sie lachte bei der Erinnerung hell auf. »Soll ich es Ihnen erzählen?« meinte sie schelmisch in überlegendem Tone. »Ja, Sie sollen es hören.« Sie entwarf ihm darauf eine anschauliche und sehr drollige Schilderung, wie es gekommen, daß Everard Leath in ihrem geheimen Schlupfwinkel in der Klippenwand eine Zuflucht gefunden. »Hat er Ihnen nichts davon erzählt?« fragte sie neugierig. »Kein Sterbenswort.« »Auch Sie gar nichts über mich gefragt?« »Mein liebes Kind, Herr Leath hat Ihren Namen mir gegenüber gar nicht in den Mund genommen! Ich hatte keine Ahnung davon, daß Sie ihm je begegnet!« »Höflich! Es nimmt mich sehr wunder, daß er sich überhaupt die Mühe gegeben hat, herauszufinden, wer ich bin. Und jetzt zu meiner Frage, bitte, Herr Sherriff. Wie kommt er hierher? Ich verstand von ihm, daß er keine Seele in St. Mellions kenne.« »Und das ist auch wahr, glaube ich. Ich habe seine Bekanntschaft auf fast ebenso zwanglose Weise gemacht wie Sie. Als ich vor einigen Abenden spazieren ging, überkam mich einer meiner unglücklichen Schwächeanfälle. Ja, ohne ihn würde ich hingestürzt sein, denn ich hatte das Bewußtsein fast gänzlich verloren.« »O, wie mir das leid tut!« Das fröhliche, neugierige Gesicht des jungen Mädchens wurde ernst. »Und er -- dieser Herr Leath -- brachte Sie nach Hause, nicht wahr?« »Ja, mein Kind -- als ich mich hinreichend erholt hatte, um ihm zu sagen, wo ich wohnte, was ohne seine Kognakflasche wohl noch länger gedauert haben würde. Natürlich kamen wir nachher ins Gespräch, und ich erfuhr, daß er hier fremd, daß er aus Australien sei und in den Chichester Arms abgestiegen wäre. Ich sagte ihm, daß er an einem einsamen alten Mann ein gutes Werk tun würde, wenn er mir während seines Aufenthalts in St. Mellions einen Teil seiner Zeit widmen wolle. Er scheint sich auch einsam zu fühlen, denn er ist jeden Tag mehrere Stunden bei mir gewesen. Gestern lud ich ihn für heute zu Tisch ein. Ist diese Erklärung vollständig genug?« »J--a.« Florence zog die Brauen zusammen. »Ausgenommen,« fuhr sie in etwas pikiertem Tone fort, »daß ich nicht recht einsehe, weshalb Sie einen völlig Fremden so gern haben sollten, Herr Sherriff.« »Habe ich gesagt, daß ich ihn sehr gern habe, mein Kind?« »Nein. Aber Sie tun es. Das sehe ich,« schmollte sie. »Selbst wenn dem so wäre, so hat die Sache ihren Präzedenzfall. Vor zehn Jahren zum Beispiel wurde ich einer jungen Dame vorgestellt, die ich immer seither von Herzen liebgehabt habe.« »Es ist so lieb von Ihnen, das zu sagen.« Mit einem reizenden Lächeln legte sie zärtlich die Hand auf seinen Arm. »Aber gestehen Sie -- mögen Sie diesen Herrn Leath leiden? Nun?« »Ich gestehe, mein Herz, daß ich ihn sehr gern habe.« »Und um nichts,« sagte Florence wieder schmollend, »aus keinem besonderen Grunde.« »Gerade ebensowenig Grund haben Sie, ihn nicht leiden zu mögen.« »Mag ich ihn nicht leiden?« Sie lachte. »Ich fühle mich getroffen,« setzte sie freimütig hinzu, »denn jetzt, wo ich darüber nachdenke, glaube ich, daß dem so ist. Und doch kann ich nicht sagen, weshalb eigentlich. Sein Benehmen war allerdings brüsk, aber ich glaube nicht, daß das der Grund war. Aber wir können unseren Antipathien und Sympathien nie auf den Grund kommen, nicht wahr?« Sie blickte nachdenklich auf die Blumenbeete hinaus und zog die Stirn wieder kraus. »Herr Sherriff!« »Ich höre, liebes Kind.« »Glauben Sie, daß er dauernd hier -- in St. Mellions -- bleiben wird?« »Ja, wenigstens vorläufig. Das hat er mir gesagt.« »Ja, ja, aber --« sie stockte. »Sie wissen wohl nicht, was ihn hergeführt?« »Darüber weiß ich ebensowenig wie Sie, mein Kind, gar nichts.« »Vielleicht weiß ich doch etwas. Jedenfalls weiß ich, daß er nicht zum Vergnügen, sondern in Geschäften gekommen ist. Das erzählte er mir, und es war ihm Ernst damit.« »So? Ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, daß er mir nichts davon gesagt hat.« Wieder trat eine Pause ein. Sie blickte mit gerunzelter Stirn in den Garten hinaus. Everard Leath beschäftigte sie merkwürdig. »Herr Sherriff, glauben Sie, daß er arm ist?« »Herr Leath? Arm, wie ich bin, sicherlich nicht,« meinte der alte Mann lächelnd, »auch glaube ich nicht, daß er so reich ist wie Sie. Zwischen diesen beiden Extremen liegt eine weite Kluft, wie Sie wissen.« »Ich bin viel zu reich -- es ist einfach lächerlich! Also Sie glauben, daß er viel Geld hat?« »In bescheidenem Maße -- ja. Im Laufe unserer gestrigen Unterhaltung deutete er an, daß er bis vor etwa einem Jahre mit bitterer Armut gekämpft habe, wo ein Umschwung in seinen Verhältnissen eingetreten sei.« »Welcher Art wohl?« meinte Florence neugierig. »Ich verstand so viel, daß er mit Minen zu tun gehabt -- ich bin zu unwissend in solchen Dingen, um zu sagen, auf welche Weise. Das ist die Glocke, die mich zum Mittagessen ruft. Habe ich Sie recht verstanden, wollten Sie mir die Ehre antun, es als Ihr Gabelfrühstück anzusehen, liebes Kind?« »Ja, wenn Sie mich haben wollen,« antwortete Florence, munter ihren Ernst abstreifend, und dabei nahm sie seinen Arm, was er so gern sah, und ging mit ihm aus der Veranda und durch eine offene Glastür, die in ein hübsches kleines Speisezimmer führte, in dem der ovale Tisch schon für drei Personen gedeckt war. Everard Leath trat bald nach ihnen ins Zimmer und machte so die Gesellschaft vollständig. Daß er überrascht war, sie noch dort zu treffen, und daß ihn das ein wenig aus der Fassung brachte, sah Florence sofort. Dessenungeachtet gefiel es ihr, liebenswürdig gegen ihn zu sein, und sie lächelte ihm zu, als er sich ihr gegenüber niederließ. »Sie haben also Frau Buckstone gefragt, Herr Leath?« fragte sie in leichtem Tone. Er verneigte sich, denn er verstand sie gleich. »Ja, Gräfin.« »Und sie stellte meine Person fest?« »Sofort.« »Wirklich? Sie müssen mich sehr anschaulich geschildert haben.« »Im Gegenteil, ich fand, daß es nicht nötig war, Sie überhaupt zu schildern.« »So? Vermutlich, weil sie fand, daß mein Benehmen mir ›ganz ähnlich‹ sähe.« »Da Sie mich darnach fragen, so glaube ich, daß es sich so verhielt.« »Sie ist mir eine liebe alte Frau, aber ich fürchte, daß sie ebenso entsetzt über mich ist, wie die Herzogin selbst. Und Sie haben Ihres kleinen Abenteuers nie gegen Herrn Sherriff erwähnt?« »Ich wußte nicht, daß Sie Herrn Sherriff kannten, und ich hielt mich nicht für berechtigt, einem Fremden von Ihnen oder Ihrer Freundlichkeit zu reden.« Er war ein wenig steif und gezwungen in seinem Benehmen, obgleich man ihn kaum hätte verlegen nennen können. Florence dachte im stillen, daß sein Leben in Australien ihm wahrscheinlich nur selten Gelegenheit zu vertrautem und leichtem Verkehr mit ihrem Geschlechte gewährt hätte. Aber sie empfand auch, als sie das Gespräch abbrach, weil das kleine Dienstmädchen geschickt das kalte Geflügel und den Salat herumreichte, daß er ein Zartgefühl und eine Zurückhaltung gezeigt, die sie weder von ihm erwartet noch ihm zugetraut hatte. Diese Empfindung stimmte sie freundlich gegen ihn, und sie blieb bei dem nun folgenden Gespräch in der heitersten, liebenswürdigsten Stimmung. Die Unterhaltung drehte sich größtenteils um Australien, aber, obwohl Leath durchaus nicht zu beredt war und seinen charakteristischen, trockenen Ernst nicht leugnete, war ihr doch sowohl der Gesprächsstoff wie seine Art und Weise neu genug, um sie sehr zu interessieren und ihr viele wißbegierige und eifrige Fragen zu entlocken. Als sie endlich, überrascht darüber, wie schnell die Zeit vergangen war, aufstand und erklärte, daß sie fort müsse, war es mit einer leisen Regung des Unmuts, weil sie über den Mann selbst so wenig wie je wußte. Alles, was er erzählt und was sie aus ihm herausgebracht hatte, war so ganz und gar unpersönlich gewesen. »Haben Sie angefangen herauszufinden, daß ich Ihnen nur die Wahrheit über St. Mellions gesagt habe, Herr Leath?« Sie warf die Frage nachlässig hin, nur um etwas zu sagen, als sie in der Veranda stand und zusah, wie ihre Fuchsstute auf und nieder geführt wurde. Drinnen an seinem mit Büchern bedeckten Tische schrieb Sherriff den Brief, den sie Sir Jasper mitnehmen sollte. Leath war ihr hinausgefolgt; wie sie vermutete, um sie aufs Pferd zu heben. »Wie meinen Sie?« sagte er fragend. »Ich glaube, ich sagte Ihnen, daß es ein langweiliges kleines Nest sei. Finden Sie das etwa nicht?« »Es mag langweilig sein, aber nicht langweilig genug, um mich von hier fortzutreiben.« Sie errötete. Es klang, als ob er ihre unausgesprochene Neugier erraten habe. »Sie denken doch sicherlich nicht daran, sich hier niederzulassen?« »Ich kann es nicht sagen, Gräfin. Für den Augenblick bin ich noch zu keinem festen Entschlusse gelangt -- das heißt über meinen künftigen Aufenthaltsort.« »Wirklich? Wissen Sie noch nicht einmal, ob Sie nach Australien zurückkehren werden?« »Noch nicht einmal das, obgleich es sehr wahrscheinlich ist, daß ich dorthin zurückkehren werde. Aber Familienbande fesseln mich an keinen Teil der Welt, und ich kann folglich tun, wie mir beliebt.« »O!« sagte Florence, »ich denke, wenn Sie zum Beispiel eine Frau hätten --« »Das habe ich allerdings nicht.« Ihr Blick hatte die Pause zu einer Frage gemacht. »-- so würde sie möglicherweise Australien nicht gern mit England vertauschen.« »Wahrscheinlich nicht. Aber meine Frau existiert nicht, Gräfin. Wie ich sagte, stehe ich ganz allein in der Welt -- schon seit acht Jahren.« Seine gelassene kalte Stimme wurde nicht weicher oder bewegt bei diesen Worten, und das Antlitz, in das sie schaute, gab ihr keine Ermutigung zu dem teilnehmenden Blick oder der freundlichen Frage, die sie sich sonst vielleicht erlaubt haben würde, obgleich er ihr fast noch ein Fremder war. Sie wandte sich, um Herrn Sherriff das Briefchen abzunehmen, und ärgerte sich über sich selbst, daß sie sich hatte verleiten lassen, ihm so viel Interesse zu bezeigen. Der Mann und seine Angelegenheiten gingen sie, Florence Esmond, allerdings gar nichts an. Er hatte etwas Strenges und Kraftvolles an sich, eine Kälte, die sie abstieß. In ihrem Benehmen gegen ihn lag jetzt keine Liebenswürdigkeit mehr, und die Verbeugung, die sie ihm machte, nachdem er sie in den Sattel gehoben, war so kalt, wie eine Verbeugung nur sein konnte. Aber sie drehte sich um und warf Herrn Sherriff mit ihrer behandschuhten Rechten eine zärtliche Kußhand zu, ehe sie aus dem Garten des Bungalow ritt. Sie wollte ihren alten Freund und Liebling nicht schlecht behandeln, weil er törichterweise so großes Gefallen an Everard Leath zu finden schien. 4. Das Mittagessen in Turret Court war vorüber. Es wurde stets früh gespeist, denn Sir Jasper war magenleidend, und das Mahl war immer ein auserlesenes. Für Lady Agathe war es die qualvollste Stunde des Tages, denn der Hausherr ließ es selten zu, daß die Mahlzeit für irgend jemand angenehm verlief, und am wenigsten naturgemäß für sie. Jetzt hatte er sich in die Bibliothek zurückgezogen, einen Raum, in dem er geruhte, den größten Teil seiner Zeit zuzubringen, und die übrigen begaben sich in den Salon, überaus froh, ihn los zu sein. Lady Agathe saß in dem bequemen Sessel mit einem anderen Bande des Romans, in den sie sich am Morgen schon vertieft hatte. Roy hatte seine langen Gliedmaßen der Länge nach auf dem Sofa ausgestreckt, gab sich Mühe, einzuschlafen, und stöhnte bisweilen über die Hitze; draußen auf der Terrasse gingen Cis und ihr Verlobter langsam auf und nieder; ein Spitzentuch verhüllte den goldblonden Kopf und den Hals des jungen Mädchens. Dicht an einem Fenster, bequem zurückgelehnt in einem ihrer Lieblingsschaukelstühle, die Hände hinter dem kastanienbraunen Haar verschlungen, lag Florence in ihrem langen weißen Kleide -- sie trug im Hause gern übermäßig lange Schleppen -- im Gespräch mit der einzigen noch anwesenden Persönlichkeit. Das war ein Herr, dessen Gesellschaftsanzug tadellos saß, der eine gute Figur sowie eine angenehme Stimme hatte, und dessen Gesicht geradezu schön war. Das einzige, was man an seinem Äußeren und seiner Persönlichkeit hätte aussetzen können, wäre gewesen, daß er älter aussah als er war. Seine schönen Züge waren unbeweglich, -- er hatte fast gar kein Mienenspiel, -- seine Gestalt hatte eine gewisse Behäbigkeit, seine Bewegungen waren schwerfällig und langsam, seine Redeweise eintönig und ernst; seinem Alter nach erst in der Blüte der Jahre, hatte er seine Jugend doch schon eingebüßt: mit achtunddreißig war er entschieden ein Mann mittleren Alters. In seinen ruhigen braunen Augen lag kaum ein Glanz, während er die hin und her schaukelnde, anmutige Gestalt des Mädchens betrachtete und das angeregte, lebhafte Antlitz sich gegenüber sah. »Ich wußte, daß ich dir etwas sagen wollte, was mir mindestens ein halbes dutzendmal wieder entfallen ist,« sagte Florence schaukelnd. »Heute morgen bekam ich einen Brief von der Herzogin.« »Von der Herzogin? So?« »Ja.« Sie erzählte ihm dann kurz den Inhalt des Schreibens, und daß sie es abgelehnt, ihre Patin nach der Schweiz zu begleiten. »Da du der Herzogin geschrieben hast, so ergriffst du vermutlich die Gelegenheit, sie von unserer Verlobung in Kenntnis zu setzen?« fragte Talbot Chichester zögernd. »O! Von unserer Verlobung?« Florence zog die Hände unter dem Kopf fort und verschränkte sie im Schoß. »Nein,« sagte sie ruhig, »um dir die Wahrheit zu gestehen, das habe ich nicht getan. Ich habe natürlich daran gedacht, aber ich kam zu dem Entschlusse, daß es viel besser ist, damit zu warten, bis sie glücklich in Pontresina ist und ihren Ärger darüber, daß ich nicht mit ihr gehe, überwunden hat.« Sie lachte schelmisch. »Aber ich bin nicht derselben Ansicht,« erwiderte Chichester ernst; das Lächeln, mit dem er auf ihr Lachen geantwortet, war nur sehr matt. »Die Stellung, die Ihre Durchlaucht dir gegenüber einnimmt, erheischt es von mir, daß ich sie von unserer Verlobung unterrichte und ihre Einwilligung in unsere Heirat erbitte, wie ich es bei Sir Jasper tat. Ich wollte es sofort tun, aber du schienst es vorzuziehen, es selbst zu übernehmen, obgleich ich gestehen muß, daß ich den Grund nicht recht begriff.« »Einen Grund hatte es nicht; es war eine Laune von mir, es ihr selbst zu erzählen -- warum, weiß ich nicht.« »Natürlich fügte ich mich, da es dein Wunsch war,« fuhr Chichester fort, »es ist freilich wahr, daß es in gewissem Sinne nur eine Form ist, aber ich finde doch, es müßte geschehen.« »Nur eine Form? O, du glaubst also nicht, daß sie etwas dagegen haben wird?« fragte Florence wieder. »Dagegen?« Herr Chichester setzte sich in seinem Stuhle aufrecht. Sein Ton wurde würdevoller, er fühlte, daß das, was Florence sagte, abgeschmackt sei. War nicht die Familie Chichester auf Highmount sogar noch älter als das Geschlecht der Mortlakes, und reich genug, um ihnen ihren ganzen Besitz drei- oder viermal abzukaufen? »Meine liebe Florence,« meinte er nachsichtig, »das ist sicherlich eine ziemlich überflüssige Frage! Wir sind nicht von Adel, das ist freilich wahr, -- wir haben die Ehre immer abgelehnt, -- aber in jeder anderen Hinsicht ist es kaum möglich, daß die Herzogin etwas gegen mich als Bewerber um deine Hand einzuwenden haben könnte. Du kannst das nicht für wahrscheinlich halten.« »Ich durchaus nicht!« sagte Florence fröhlich. »Ich glaube nicht, daß sie etwas dagegen haben wird; weshalb, wie du sagst, sollte sie das? Ich wollte nur gern wissen, wie du darüber dächtest.« »Du gibst mir also die Erlaubnis, ihr binnen kurzem zu schreiben?« »Ja. Sobald sie in Pontresina ist. Ich will ihr mit derselben Post schreiben, damit sie erfährt, daß ich an deinem bisherigen Schweigen schuld bin.« »Danke! Das ist alles, was ich wissen wollte.« Florence nickte leicht und wandte ihr Gesicht dem Fenster zu. Vielleicht verbarg sie ein unterdrücktes Gähnen hinter der weißen Hand, die sie sich vor den Mund hielt. Ein Plauderstündchen mit Talbot Chichester, obgleich er ihr Verlobter war, wirkte nicht sehr belebend auf sie. Cis und Harry kamen am Fenster vorbei; die Hand des jungen Mädchens ruhte auf dem Arm ihres Verlobten; seine Lippen waren dicht an ihrem kleinen Ohre, während er ihr Worte zuflüsterte, die niemand anders verstehen konnte. Florences rote Lippen zuckten eigentümlich bei dem Gedanken, Chichester könne so gehen, so flüstern -- der Einfall belustigte sie. Er hatte es nie getan oder zu tun versucht, weder vor seinem Heiratsantrag noch nachher. Als sie ihm ihr Jawort gab, hatte sie sich gesagt, daß sein großer Vorzug sei, daß er niemals versucht, ihr den Hof zu machen. Andere hatten das getan, und sie hatte das unendlich langweilig gefunden und gleich im Keime erstickt. Talbot Chichester hatte sich solcher Schwäche niemals schuldig gemacht, und sie hatte versprochen, ihn zu heiraten. Cis und Harry gingen wieder vorüber. Herr Chichester saß noch immer stumm da. Florence schaute in den tiefstehenden Mond; das Schweigen dauerte fort. Roy, der seine fruchtlosen Bemühungen, einzuschlafen, aufgab, stand vom Sofa auf und schlenderte auf das Paar am Fenster zu. Florences Verlobung mit dem ›alten Chichester‹, die er anfangs durchaus nicht hatte glauben wollen und mit unbändigem Gelächter aufgenommen hatte, war dem Jüngling noch immer unendlich komisch. Da es ihm jetzt vorkam, als sähe Florence gelangweilt aus, warf er sich in einen Stuhl und machte endgültig den Versuch, die Unterhaltung wieder in Gang zu bringen. »Wie schauderhaft heiß es ist!« sagte er mit einem Gähnen. »Finden Sie das nicht auch, Chichester? Ich habe mich von meinem Morgenritt nach Arborfield noch nicht erholt. Die Sonnenglut auf der Halde war furchtbar. Du hast auch eine gute Dosis davon bekommen, nicht wahr, Flo?« »Ich?« Florence hatte an einer Feder ihres großen gelben Fächers gezupft und ihn nicht gehört -- ihre Augen schauten noch träumerisch in die tiefstehende, lichte Mondscheibe, die am dunkelvioletten Abendhimmel glänzte. »Ich?« sagte sie, sich besinnend, »wovon sprichst du, Roy?« »Ich sage, du mußt es auf der Halde heute morgen sehr heiß gefunden haben, nicht wahr? Wie ging’s dem alten Sherriff? Sie müssen wissen, Chichester, ich behaupte immer, daß Florence in Sherriff verliebt ist. Wenn man es sich recht überlegt, so ist es doch eigentlich ein starkes Stück, daß sie solchem jungen, munteren Hagestolz Besuche macht! Wundere mich oft darüber, daß er in solch gottverlassenem Neste bleibt und die liebenswürdige Laune unseres Alten erträgt.« »Er ist arm, glaube ich,« meinte Chichester gelassen. »Was er von Sir Jasper erhält, kommt zweifelsohne in Betracht bei ihm.« »Das ist’s vielleicht. Aber der Pfarrer behauptet, -- die beiden sind nämlich dicke Freunde, -- daß, wenn Sherriff sich vor Jahren in London niedergelassen hatte, er sich dort durch seine Schriften längst einen Namen gemacht haben würde. Ich muß gestehen, ich begreife es nicht, wie ein Mensch hier in St. Mellions weitervegetieren kann, wenn sich ihm eine Möglichkeit bietet, fortzukommen.« »Herr Sherriff ist alt, Roy,« meinte Florence sanft, »und steht ganz allein in der Welt. Mit seinen Büchern und Blumen ist er hier ebenso glücklich, glaube ich, wie er anderswo sein würde.« »Na, er hätte sich wohl längst aus dem Staube gemacht, wenn das nicht der Fall gewesen wäre,« gab Roy zu. Er gähnte wieder in beängstigender Weise. »Da wir gerade von Leuten reden, die hier an der Scholle kleben, fällt mir ein,« fuhr er mit tränenden Augen fort, »wer ist der Mensch bei Mutter Buckstone?« »In den Chichester Arms?« Talbot Chichester stellte diese Frage. »Ja. Ein ziemlich ansehnlicher Kerl -- sonnverbrannt -- erinnert mich an jemand, den ich gesehen habe,« fuhr Roy unzusammenhängend fort. »Gestern sprach ich mit ihm, oder er mit mir -- ich weiß nicht mehr recht, wie es war -- als ich hinüberritt, um zu sehen, ob mir der alte Buckstone das Öl für mein Rad besorgt hätte. Er wohnt dort, sagte er. Wunderlicher Geschmack! Wer es wohl sein mag? Sie wissen es nicht etwa, Chichester?« »Ich bekümmere mich allerdings nicht um jeden, der in den Chichester Arms absteigt.« Der Redende blickte belustigt. »Ich wußte überhaupt nicht, daß dort jemand wohne. Vermutlich ein auf einer Fußtour begriffener Londoner.« Roy schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Nicht das Genre -- hat nicht den Londoner Dialekt -- versteht zu viel von Pferden, um ein Großstädter zu sein. Kommt wohl aus dem Auslande. Wenn ich ihn wiedersehe, will ich ihn mal danach fragen.« »Laß das nur! Es ist überflüssig. Was seinen Namen anbetrifft, so heißt er Everard Leath und kommt aus Australien. Wer er ist, weiß ich nicht, und was er will, das weiß er hoffentlich selbst.« »Er hat es dir doch nicht etwa erzählt?« »Mein lieber Junge, verzeih, das hat er getan.« »Nun, das ist famos!« Roy riß die Augen noch weiter auf und lachte. »Du warst immer das wunderlichste Mädchen unter der Sonne. Wo in aller Welt hast du den Menschen gesehen?« »Soll ich’s dir sagen?« Sie setzte sich aufrecht und heftete lächelnd ihre schelmisch blitzenden Augen auf das verwunderte und fragende Antlitz ihres Bräutigams. »Ja -- wir sind heute abend alle sehr langweilig, und deshalb will ich es tun.« Harry und Cis waren vor dem Fenster stehen geblieben, und sie winkte ihnen lustig, hereinzukommen. Und vor diesem nicht wenig erstaunten Publikum erzählte sie harmlos plaudernd ihre Begegnung mit Everard Leath. Nach manchen vorwurfsvollen Worten über den Leichtsinn der schönen Cousine schlenderten Cis und Harry davon, und Roy, noch immer gähnend, folgte ihnen. Florence blickte den dreien nach, bis sie verschwanden, und schaute dann mit einem Lächeln zu ihrem Verlobten empor, der aber keinen freundlichen Blick für sie hatte, denn sein Antlitz war ernst, fast finster. Sie sah ihn mit immer größer werdenden Augen und fest aufeinandergepreßten Lippen an und berührte dann leise seinen Arm. »Was ist denn los?« »Los?« »Ja, du siehst auf einmal unheimlich ernst aus. Vielleicht, weil ich sagte, ich wollte Roy meine Höhle zeigen, und dir nicht anbot, mitzugehen? Sei nur recht artig, dann sollst du nächstens auch einmal hin. So!« In ihren Augen blitzte es wieder schalkhaft auf. Sie sprach, als gelte es, ein verdrießliches Kind zu beschwichtigen. Die meisten Männer, die in sie verliebt gewesen, würden sie unwiderstehlich gefunden haben. Chichester blieb ebenso ernst wie vorher. Er nahm die Hand, mit der sie ihm den Arm gestreichelt hatte. Dann begann er in seiner gehaltenen Weise ihr Vorwürfe über ihr unverantwortlich unvorsichtiges Benehmen gegen den Unbekannten zu machen. »Du darfst deine eigene Stellung und Würde nicht vergessen,« schloß er. »Und doch bin ich so stolz, wie es kein Mensch ahnt,« meinte das junge Mädchen sinnend, als spräche sie zu sich selbst. Sie blickte ihn wieder an. »Du magst recht haben,« fuhr sie dann fort. »Ich vergesse meine Würde wohl mitunter. Weißt du, es ist mir gar nicht eingefallen, daß die einzig richtige Handlungsweise gewesen wäre, den Menschen naß werden zu lassen. Welch ein Glück, daß du so etwas nie tun könntest.« Herr Chichester ging jeglicher Sinn für Humor ab -- er war so unendlich mit sich selbst zufrieden. Er lächelte und ließ ihre Hand los. Florence verbarg ein Lächeln, als sie sich nach dem Fenster wandte. Nach wenigen Minuten hatte Chichester Turret Court verlassen. Florence stand allein am Fenster und blickte in den Mond, wie sie vorher getan hatte, als Cis zärtlich den Arm um sie legte. »Fehlt dir etwas, Florence? Du -- du siehst so ernst aus, mein Herz!« »So?« Liebkosend fuhr Florence mit der Hand über Cis’ goldblondes Haar. »Ich sann wohl über mein unschickliches Benehmen nach.« »O,« meinte Cis verständnisvoll, »du meinst gegen jenen Menschen in der Höhle! Nun, ich muß sagen, daß es ziemlich leichtsinnig von dir war, Liebste, aber natürlich hast du es nicht überlegt. Das habe ich auch zu Harry gesagt. Es ist schade, daß du in Chichesters Gegenwart davon gesprochen hast. Ich glaube, die Sache gefiel ihm nicht.« »Ganz und gar nicht. Das sagte er mir.« Cis blickte in das schöne, gedankenvolle Antlitz, dessen gewöhnlich strahlender Ausdruck einem nachdenklichen Ernst gewichen war, und nahm plötzlich all ihren Mut zusammen. »Florence, werde nicht böse, aber ich habe dich schon so oft etwas fragen wollen. Ich kann es gar nicht begreifen -- er ist so ernst und steif und kalt -- in jeder Beziehung so verschieden von dir -- es wundert mich, weshalb du Herrn Chichester dein Jawort gegeben.« »Mich auch,« gab Florence zerstreut zurück, »mich auch!« Diese Antwort hatte Cis jedenfalls nicht erwartet. Sie blickte sich halb entsetzt, halb bestürzt um. Sie antwortete nicht, da sie bange war, näher auf das Thema einzugehen, sah aber die Cousine im Mondschein ungewiß von der Seite an. Als sie wieder sprach, war es in anderem Tone. »Florence!« »Nun, mein Schatz?« »Wie ist dieser Herr Leath? Alt?« »Alt? Nein. Ungefähr dreißig sollte ich denken.« »O, ganz jung! Und hübsch?« »Nein -- und häßlich auch nicht. Ganz gewöhnlich.« »Und ist er nett, Florence?« »Wer?« »Nun, Herr Leath!« »Nett? Nein -- unausstehlich!« sagte Florence schroff. »Ich bin schrecklich müde und muß zu Bette gehen. Gute Nacht, mein Herz!« 5. Unter der schattigen Veranda des Bungalow, wo Gräfin Florence gesessen und mit dem freundlichen alten Hausherrn geplaudert hatte, standen wieder die beiden bequemen Korbstühle; Herr Sherriff saß in dem einen, Everard Leath in dem anderen. Die Blumenbeete draußen lagen im hellen Morgensonnenschein. Leath war vor einer halben Stunde zu einem Plauderstündchen gekommen. Obgleich er noch nicht vierzehn Tage in St. Mellions weilte, war die Zuneigung des Alten, von der er zu Florence gesprochen, täglich gewachsen. Er hatte ihm gerade gesagt, wie große Freude ihm, dem einsamen Manne, der Verkehr mit Leath gewähre, da er außer dem Pfarrer kaum je einen Besuch hatte, obwohl ihm die guten Leute ringsum, denen er manchen kleinen Dienst hatte erzeigen können, alle freundlich gewogen seien. »Sie sehen aber doch Gräfin Esmond mitunter?« »Gräfin Florence? Das ist wahr. Im Augenblick war ich undankbar genug, sie fast zu vergessen. Sie kommt öfter, als man es in Turret Court gern sieht, glaube ich. Aber seit der Zeit, daß sie kurze Kleider trug, hat sie mich liebgehabt, und was mich anbetrifft, so könnte ich kaum mehr von ihr halten, wenn sie meine Tochter wäre.« »Sie ist eine Waise, wenn ich recht verstanden habe?« »Ja -- sie verlor beide Eltern, als sie ein Kind war.« »Und Sir Jasper Mortlake ist ihr Vormund?« »Nur einer ihrer Vormünder. Er teilt sich in die Vormundschaft mit ihrer Patin, der verwitweten Herzogin von Dunbar.« »O, eine Herzogin!« Leath lachte und pfiff vor sich hin. »Gewöhnlich genügt doch ein Vormund, mein’ ich -- weshalb sind hier denn zwei?« »Das kann ich wirklich nicht sagen. Aber bei dem großen Vermögen, das ihr eines Tages gehören wird, hielt ihr Vater es wahrscheinlich für --« »Vermögen?« fiel ihm Leath in verwundertem Tone ins Wort. Er lachte wieder. »Wie viele andere Leute, habe auch ich bisher irische Grafenkronen für gleichbedeutend mit dem Bankerott gehalten. War der verstorbene Graf denn eine Ausnahme?« »Durchaus nicht, er war sehr arm. Gräfin Florence wird ihr großes Vermögen ihrer Mutter verdanken, die eine amerikanische Erbin war.« »Ich verstehe, Sie sagen ›wird verdanken‹. Ist sie denn noch nicht mündig?« »Schon seit einem Jahre. Aber sie gelangt nicht in den Besitz ihres Vermögens, ehe sie dreißig Jahre zählt, es sei denn, -- was wahrscheinlich der Fall sein wird, -- daß sie sich in der Zwischenzeit verheiratet.« »Jedenfalls wird es der Fall sein. Dann fällt es also ihr zu?« »Es fällt ihr zu, wenn sie mit Einwilligung eines oder ihrer beiden Vormünder heiratet; schließt sie eine Ehe ohne diese Einwilligung, so fällt das ganze an verschiedene milde Stiftungen.« »Das ist ein wunderlicher Vorbehalt!« Leath zog die Stirn in Falten. »Wie mag das gekommen sein?« »Ich weiß das nicht recht,« antwortete Sherriff zögernd. »Es ist seltsam, wie Sie sagen. Die einzige Erklärung, die ich dafür habe finden können, ist die, daß ihre Mutter wahrscheinlich nicht allzu glücklich in ihrer Ehe war. Es war ein offenes Geheimnis, daß der Graf seine Frau nur ihres Geldes wegen geheiratet hatte.« »Und die letztwillige Verfügung der Gräfin sollte ihre Tochter wahrscheinlich vor einer ähnlichen Erfahrung bewahren,« bemerkte Leath nachdenklich. »Vermutlich. Weder Sir Jasper noch die alte Herzogin würden zugeben, daß das Mädchen eine unüberlegte Heirat mit einem Glücksjäger einginge. Sollte sie bis zu ihrem dreißigsten Jahre unverehelicht bleiben, so mag die Gräfin sie wohl für alt genug gehalten haben, um ihre Interessen ohne Beistand wahren zu können. Es wundert Sie wohl, daß nur die Zustimmung eines Vormundes notwendig ist? Ich machte dieselbe Bemerkung, als Gräfin Florence, von der ich das Ganze weiß, mir die Sache erzählte. Sie lachte und sagte, daß die Herzogin und Sir Jasper niemals einer Ansicht wären und selten zusammenkämen, ohne sich zu zanken, und daß, wenn sie nicht heiraten sollte, ehe sie sich über den Bräutigam geeinigt hätten, wenig Aussicht dafür vorhanden sei, daß sie in den nächsten Jahren unter die Haube kommen würde.« Sherriff, der gewöhnlich nicht so beredt war, griff jetzt wieder nach seiner Pfeife und begann sie aufs neue zu füllen. »Sie ist wohl noch nicht verlobt?« »Gräfin Florence? Nein -- meines Wissens nicht. Und wenn ich sage, meines Wissens nicht, so heißt das, überhaupt nicht,« meinte der alte Herr lächelnd, »denn andernfalls würde sie es mir anvertraut haben, davon bin ich überzeugt. Nein -- verlobt ist sie nicht. Ich muß gestehen, daß mich das aufrichtig freut; in dieser Gegend wenigstens kenne ich niemand, als dessen Frau ich sie sehen möchte. Wenn mich nicht alles trügt, so hat sie ein Herz, das heiß und innig lieben kann, und dieses Herzens sind nur wenige Männer wert.« »Sie hat es wohl nicht eilig damit?« fragte Leath langsam. »Mit dem Heiraten? Nein -- ich glaube nicht. Im Gegenteil. Auch Sir Jasper nicht. Sie verbringt fast das ganze Jahr in Turret Court -- sie hängt sehr an Lady Agathe und Fräulein Mortlake, und ihre Heirat würde eine Mindereinnahme von tausend Pfund Sterling jährlich für Jasper bedeuten. Und ich bin, wie Sie wohl schon wissen, eine Art Verwalter des Gutes -- ich weiß, daß ihm der Verlust nicht angenehm sein würde. Die Mortlakes sind nicht allzu wohlhabend.« »Es hat mich gewundert,« hub Leath stockend an, »daß Sie Lust zu dem Posten haben. Nach dem, was ich mir aus den Reden der guten Leute hier zusammengereimt habe, scheint es mir nicht leicht, mit Sir Jasper auszukommen.« »Nun,« antwortete der alte Mann mit großer Milde, während er seine Pfeife schmauchte, »das mag im allgemeinen schon so sein. Sir Jasper ist sehr rechthaberisch und oft sehr schlechter Laune, aber mein Gehalt bildet einen willkommenen Zuschuß zu meinem geringen Einkommen. Und ich habe wirklich kein Recht, mich über Sir Jasper zu beklagen. Er behandelt mich auf alle Fälle ebenso gut, wenn nicht besser als andere.« »Ich fürchte, das sagt nicht viel.« Leath blickte mit einem halb zornigen Lächeln in das schöne alte Antlitz, das so sanft und gelassen war. »Nach allem, was ich über ihn hörte, befremdet es mich, daß ein Mann mit Ihren Fähigkeiten sich in eine untergeordnete Stellung einem solchen Menschen gegenüber begeben konnte. Sie nehmen mir meine Offenherzigkeit doch nicht übel?« »Nein, nein,« sagte der andere hastig mit wehmütigem Lächeln und blickte in den Garten hinaus; die Hand, die die Pfeife hielt, zitterte auf seinem Knie. Dann erzählte er mit leiser Stimme, daß er vor langen Jahren -- mehr als dreißig -- einen bitteren Kummer gehabt, der sein ganzes Leben verdüstert, der allen Ehrgeiz, alles Streben in ihm ertödet, der ihn vor der Zeit alt gemacht habe. »Hier, fern von der Welt, im stillen Kreislauf meiner Pflichten, in meinem Garten bei meinen Büchern bin ich so glücklich, wie ich überhaupt je wieder werden kann. Doch genug davon, und genug von mir. Lassen Sie’s gut sein,« schloß er. Er legte die Hand über die Augen und saß ein Weilchen so da. Leath, in dessen Gesicht ein ungewohnter sanfter, weicher Ausdruck getreten war, blickte rücksichtsvoll von ihm fort auf den Rasen hinaus. Als Sherriff wieder zu sprechen anhub, war es mit seiner gewohnten Ruhe und in einem anderen Tone. »Es freut mich, daß wir zufällig auf Sir Jasper zu reden kamen,« sagte er, »denn dabei fällt mir ein, was ich sonst vergessen härte, -- daß ich ihm einen Brief schicken muß, und zwar so bald wie möglich. Joe muß sogleich damit fort.« Leath erhob sich, um Joe herbeizurufen, aber es stellte sich heraus, daß dieser mit einem Auftrage nach Lychet Hook geschickt worden, und zwar von dem Hausherrn selbst, was diesem ganz entfallen. Er erklärte nun, den Brief selbst nach Turret Court bringen zu müssen, aber Leath legte ihm die Hand auf die Schulter, drückte ihn sanft in seinen Stuhl zurück und erbot sich, nach Turret Court zu gehen, das er sich schon längst gern einmal habe ansehen wollen, solange er in der Gegend bleibe. Sherriff, der recht gut wußte, daß ihm die Hitze auf der Halde zu viel werden würde, erhob nur eine schwache Einsprache, die Leath mit einem Kopfnicken abwehrte, den Briefumschlag in die Tasche schob und ins Haus ging, um seinen Hut zu holen. Als er im nächsten Augenblick zurückkehrte, sah er, daß der alte Herr aufgestanden war und mit bekümmertem Ausdruck auf seine bunten Blumenbeete schaute. Auf seinen unwillkürlich fragenden Blick wandte Sherriff sich um und legte ihm die Hand auf die Schulter. Beide waren hochgewachsene Männer, und ihre Augen befanden sich ungefähr in derselben Höhe. »Wir kennen uns noch nicht lange, Leath, aber ich glaube, ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß ich Sie sehr liebgewonnen habe. Sie sprachen eben davon, daß Sie sich Turret Court gern einmal ansehen wollten, solange Sie hier in der Gegend wären. Ich hoffe, das soll nicht heißen, daß Sie daran denken, St. Mellions zu verlassen? Wenigstens jetzt noch nicht?« »Ich weiß nicht. Ich bin noch zu keinem Entschlusse gelangt. Ich bin entmutigt -- ich kann noch nicht sagen, was ich tun werde -- was das beste sein würde.« Erst nach einer sonderbar langen Pause gab er diese Antwort, mit einer seltsamen festen Entschiedenheit, so abgebrochen und ohne Zusammenhang die kurzen Sätze auch hervorgestoßen wurden. Sherriff sah bestürzt aus, sagte aber nichts. Leath, der sein Zartgefühl, das keine Frage stellte, verstand, fuhr langsam fort, als wäge er jeden Satz sorgfältig, ehe er ihn aussprach: »Ich bin hierhergekommen, um, wie ich versprochen und seit meinen Knabenjahren beabsichtigt habe, eine bestimmte Angelegenheit zu erledigen. Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, wenn ich Ihnen nichts Näheres darüber sage. Mein Entschluß, es zu tun, steht unwiderruflich fest, und doch bin ich schwach genug, mich fast entmutigt zu fühlen, weil ich bisher keinen Zoll breit weitergekommen bin: ich hätte, wie es scheint, ebensogut in Australien bleiben können, wie hierherzukommen, und doch ist dieser Ort -- St. Mellions -- der einzige Ausgangspunkt für meine Nachforschungen, den ich kenne. Heute morgen, als ich die Sache überdachte, hielt ich es fast für verständiger, anderswo nach einer Spur zu suchen, die mich vielleicht hierher zurückführen würde. Ich bin noch unentschlossen, ob ich gehen oder bleiben werde. Aber ich glaube, ich werde gehen.« »Das tut mir leid zu hören.« Sherriff mit seinem angeborenen Takte nahm das, was ihm gesagt worden, hin, ohne eine Frage zu stellen. »Ob Sie nun bleiben oder gehen,« sprach er ruhig, »hoffentlich werden Sie nicht vergessen, daß es jedenfalls einen Fleck Erde gibt, wo ein Freund und ein herzliches Willkommen stets Ihrer warten.« »Das werde ich nicht vergessen.« Seine kraftvolle Rechte umschloß fest die zarte Hand des Alten. »Außer Ihnen kenne ich niemand auf der Welt, den ich kenne, der mir eine Freundeshand entgegenstrecken würde, außer Ihrem Dach keines, das mir ein Obdach gewähren würde, ohne daß ich dafür bezahlte.« * * * * * Der Weg über die Halde von St. Mellions nach Turret Court war lang, und in der Glut der Junisonne war es ein sehr heißer Weg, aber Leath, der an sehr viel heißere und längere Märsche gewohnt war, legte ihn schnell und leicht zurück. Am großen Einfahrtstor angekommen, blieb er zögernd stehen und schritt dann auf eine nur angeklinkte Pforte in der hohen roten Mauer zu, durch die er eintrat und gemächlich den Weg nach dem Hause einschlug. Ehe er hundert Meter zurückgelegt hatte, blieb er stehen. In geringer Entfernung von ihm, mit verschlungenen Armen, nach junger Mädchen Art, in lebhaftem Geplauder, schlenderten zwei Damen dahin; in der einen erkannte er sofort die junge Gräfin, während er die andere für Fräulein Mortlake hielt. Als er stehen blieb, drehte die erstere zufällig den Kopf seitwärts und erkannte ihn ebenso schnell, wie er sie erkannt hatte. Der Ausruf des Staunens, der ihr entfuhr, so leise er auch war, veranlaßte Cis, sich ebenfalls umzuwenden. »Wer ist das, Florence?« fragte sie verwundert. »Jener Mensch.« »Welcher Mensch?« »Leath.« »O!« Cis blickte sich wieder um. »O, das ist er also?« sagte sie mit Interesse. »Was mag er nur wollen?« »Das kann uns kaum interessieren. Laß uns nicht stehenbleiben, mein Herz! Wir tun, als hätten wir ihn nicht gesehen!« »Warum denn?« widersetzte sich Cis. »Er sieht sehr nett aus, finde ich,« flüsterte sie, »und ich bin davon überzeugt, daß er weiß, -- wissen muß, -- daß wir ihn gesehen haben. Sei so gut, Florence, und stelle ihn mir vor. Da kommt er. Jetzt mußt du mich ihm vorstellen!« Leath schritt nach kurzem Zögern auf die Damen zu und nahm vor Florence den Hut ab. »Guten Morgen, Gräfin! Ich hoffe, Ihnen nicht als Eindringling zu erscheinen, aber ich bin von Herrn Sherriff beauftragt, Sir Jasper einen Brief zu überbringen.« »Von Herrn Sherriff?« Florence wurde bei Erwähnung ihres alten Freundes milder gestimmt und entschied sich jetzt dafür, liebenswürdig zu sein. »Das ist ein ausreichender Empfehlungsbrief für den Park,« meinte sie lächelnd. »Darf ich Sie meiner Cousine, Fräulein Mortlake, vorstellen? Liebe Cis, du erinnerst dich wohl noch, wie ich neulich dazu gekommen bin, Herrn Leaths Bekanntschaft zu machen?« »Gewiß erinnere ich mich dessen.« Cis verbeugte sich mit ihrem reizendsten Lächeln. Leath war nicht hübsch, wie Harry, der ihr Schönheitsideal war, er sah etwas zu streng und zu ernst aus, aber sie konnte nichts ›Unausstehliches‹ an ihm wahrnehmen und wunderte sich, weshalb Florence ihn so bezeichnet hatte. »Ich habe gelacht, als ich davon hörte, Herr Leath,« sagte sie munter. »Wissen Sie wohl, daß Sie sich geehrt fühlen sollten? Ich glaube, Sie sind der erste Herr, der jemals Florences Felsenkammer hat betreten dürfen.« Florence empfand eine leise Regung der Ungeduld. Sie ärgerte sich fast über Cis. Das allerliebste, muntere, freimütige Benehmen, das sie immer geliebt und bewundert hatte, verdroß sie zum ersten Male. Es entsprach durchaus nicht dem Benehmen, das sie Everard Leath gegenüber für wünschenswert hielt. Sie warf einen mahnenden Blick auf das lustige Gesichtchen und sprach, während sie den kastanienbraunen Kopf hochmütig hob: »Sie sagten, Sie hätten einen Brief für Sir Jasper, Herr Leath? Erwarten Sie eine Antwort, oder soll ich ihn Ihnen abnehmen?« Sie blieb stehen und machte eine Bewegung, als wolle sie die Hand ausstrecken. Sie erwartete augenscheinlich die Aushändigung des Briefes. Leath aber machte keine Anstalt, ihn hervorzuziehen. »Sie sind sehr gütig, Gräfin, aber ich brauche Sie nicht zu bemühen. Als ich mich erbot, das Billett zu besorgen, bat Herr Sherriff mich, Sir Jasper selbst aufzusuchen und eine Antwort von ihm zurückzubringen.« »So! Dann lassen Sie sich, bitte, durchaus nicht aufhalten! Wenn Sie sich rechts wenden, so erreichen Sie das Haus auf dem kürzesten Wege.« Leath verbeugte sich; er war nicht aus der Fassung zu bringen. Cis kniff ihrer Cousine in den Arm und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Was nützte es, sich einen Herrn vorstellen zu lassen, wenn er im nächsten Augenblicke seiner Wege geschickt wurde? Was konnte Florence nur so plötzlich verstimmt haben? Sie hätte vielleicht Einspruch erhoben, denn sie war in ihrer kindlichen Art voll lustiger Ausgelassenheit, wäre nicht eine plötzliche und ganz unvorhergesehene Unterbrechung eingetreten. Ein Schritt ertönte auf einem der Pfade in der Nähe, und Sir Jasper in höchsteigener Person erschien auf der Bildfläche. 6. Cis wich einen Schritt zurück und warf Florence unwillkürlich einen Blick schreckensvoller Bestürzung zu. Sir Jaspers Gegenwart schüchterte seine Tochter fast ebenso ein wie seine Frau. Wie würde er den Fremden empfangen, den er, stehenbleibend, eine leichte Wolke auf dem schönen, ruhigen Gesicht, gemustert hatte -- liebenswürdig, steif und förmlich oder ungezogen? Es kam ganz und gar auf die Stimmung an. Wäre es Cis überlassen geblieben, die nötigen erklärenden Worte zu sprechen, so würde sie sich wohl sehr schlecht aus der Sache gezogen haben. Aber Florence übernahm das, als verstünde es sich ganz von selbst, und tat es mit großer Gewandtheit. »Wir wollten dich gerade aufsuchen, Onkel Jasper,« sagte sie lächelnd. »Du ersparst uns den Weg nach dem Hause. Du hast mich von Herrn Leath reden hören, glaube ich? Wir trafen uns vorige Woche im Bungalow. Er ist so freundlich, dir einen Brief von Herrn Sherriff zu überbringen.« »So?« fragte Sir Jasper. Noch immer war seine Stirn leicht gerunzelt, aber er blickte Leath an, und sein Ausdruck hellte sich auf. »Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Gestatten Sie mir, Ihnen den Brief abzunehmen, dessen Besorgung Sie so freundlich übernommen haben,« sprach er. Leath überreichte ihm mit einer Verbeugung das Schreiben, das der Baron mit einem Wort der Entschuldigung erbrach, las und in die Tasche steckte; dann fragte er den jungen Mann, ob er ihn damit behelligen dürfe, Herrn Sherriff eine Antwort mitzunehmen, was dieser freundlich bejahte. »Vielen Dank -- ich bin Ihnen sehr verbunden. Aber mittlerweile ist die Zeit des zweiten Frühstücks gekommen, und ich hoffe, Sie erzeigen mir die Ehre, es mit uns einzunehmen. Es wird mir eine Freude sein, Sie meiner Frau vorzustellen.« Leath nahm dankend an. Cis riß hinter dem Rücken ihres Vaters ihre blauen Augen auf, so weit sie nur konnte, und kniff ihrer Cousine heftig in den Arm -- beides sollte ihre grenzenlose Überraschung ausdrücken. Was war nur über Sir Jasper gekommen, daß er sich so liebenswürdig zeigte wie noch nie? dachte seine Tochter. Florence, die den Blick durch ein drolliges Emporziehen der Augenbrauen beantwortete, behielt ihre eigene Verwunderung -- nicht über Sir Jaspers Freundlichkeit, sondern über die Gelassenheit und Gewandtheit, mit der Leath die Einladung aufnahm -- für sich. Er hatte keine Spur der Befangenheit und Verlegenheit verraten, die er ihr gegenüber anfangs im Bungalow gezeigt. Sie ging Arm in Arm mit Cis weiter, eine Regung des Interesses und der Belustigung empfindend, sehr ernst und schweigsam, -- etwas äußerst Seltenes bei Gräfin Florence. Aber wenn sie auch mit ihrer gewandten irischen Zunge nicht plauderte, so gebrauchte sie doch ihre großen, glänzenden irischen Augen und wunderte sich, auf einmal das ungewohnte Lächeln aus dem Antlitz ihres Vormundes entschwinden, seine Stirn sich furchen, seine Lippen sich fest aufeinanderpressen und seine Augen verstohlene Seitenblicke auf seinen Gefährten werfen zu sehen. War seine liebenswürdige Anwandlung schon vorüber? Es sah fast so aus. Oder hatte ihn etwas geärgert? So sah es noch mehr aus. Und dennoch, was konnte das gewesen sein? Weder sie noch Cis hatten gesprochen, und Leath hatte nur Sir Jaspers Fragen über die mutmaßliche Dauer seines Aufenthaltes in St. Mellions und Ähnliches beantwortet, und doch sah er ihn mit dem sonderbaren, zornigen, verstohlenen Blicke an. Und auch schweigsam war er geworden. Als er gleich darauf wieder zu sprechen anhub, wandte er hastig die Augen ab; sie fand, daß seine Stimme nie so scharf geklungen wie jetzt. »Habe ich recht verstanden -- Sie kommen aus Australien, Herr Leath?« »Ja, Sir Jasper. Vor acht Wochen habe ich mich eingeschifft.« »Darf ich fragen, wo?« »In Sydney. Aber ich habe in Queensland gelebt.« »Ihr ganzes Leben lang?« »Ja.« »Sie sind früher noch nie in England gewesen?« »Niemals.« »Haben Sie die Absicht, sich in England niederzulassen?« »Augenblicklich habe ich noch keinen bestimmten Entschluß gefaßt. Aber mich fesselt nichts an Australien, und es ist möglich, daß ich es tue.« »Nichts? Sie wollen damit sagen, daß Sie keine Eltern haben?« »Ja. Ich habe weder Vater noch Mutter. Während der letzten acht Jahre -- seitdem ich zweiundzwanzig Jahre alt bin -- habe ich ganz allein in der Welt gestanden.« »Sie haben keine Verwandten in England?« »Ich habe sie, soweit ich sie kenne, in keinem Lande der Welt.« Die Fragen waren in einem herrischen, brüsken Ton gestellt worden, der beinahe ungezogen war; aber Leath hatte mit unverwüstlicher Gelassenheit bereitwillig und deutlich geantwortet, während er ernst vor sich hinblickte. Sie langten am Hause an. Sir Jasper hatte sein Schweigen nicht wieder gebrochen, noch Leath wieder angeblickt. Lady Agathe, der so plötzlich zugemutet wurde, die liebenswürdige Wirtin einem jungen Manne gegenüber zu spielen, von dem sie außer der Geschichte mit Florences Höhle nie etwas gehört hatte, war freundlich und würde noch freundlicher gewesen sein, wäre sie über die Empfindungen ihres Mannes im klaren gewesen. Chichester, der in Turret Court frühstückte, wie er seit seiner Verlobung oft getan hatte, war von angemessener Höflichkeit. Bei Tische saß er natürlich neben seiner Braut, und Cis -- ganz und gar nicht gegen ihren Willen, denn in Harrys Abwesenheit war ihr fast jeder Mann lieber als keiner -- fiel das Amt zu, den Fremden zu unterhalten. Sie, Jasper und seine Frau saßen einander gegenüber, und Roys Stuhl blieb leer -- er war nach Market Beverley geritten. Aber mit dem besten Willen fand Cis ihre Aufgabe nicht leicht. Es mochte daran liegen, daß ihr Nachbar nicht auf ihre Fragen einging, oder daß die allgemeine Atmosphäre etwas Bedrückendes hatte. Außer ihr machte allerdings keiner irgendwelche Anstrengungen, ein Gespräch in Gang zu bringen. Florences sonst so beredte Zunge hatte wenig zu sagen. Sie blickte verwundert und fragend zu ihrem Vormund hinüber; sie antwortete ihrem Verlobten, aber mehr tat sie nicht und wandte sich nicht ein einziges Mal direkt an Everard Leath. »Es ist zu abscheulich von Florence,« dachte Cis und warf vorwurfsvolle Blicke über den Tisch. Weshalb sprach sie nicht -- sie, die immer jedermann amüsieren konnte, wenn sie wollte? -- Die Pause, die nach ihrer letzten Bemerkung und Leaths Antwort eingetreten war, hatte schon beklemmend lange gedauert. Veranlaßt durch die Richtung, die die Blicke ihres Gefährten nahmen, fragte sie schließlich: »Sie haben Herrn Chichester doch schon getroffen, glaube ich, Herr Leath?« »Nein -- aber ich habe von ihm gehört. Ihm gehören die Chichester Arms, nicht wahr?« »Freilich, ihm gehört ein großer Teil von St. Mellions -- mehr als uns,« sprach Cis. »Sein Besitz Highmount ist wirklich wundervoll. Manche finden ihn schöner als Turret Court, aber die Ansicht teile ich nicht. Haben Sie den Park und das Schloß schon gesehen?« »Nur von der Chaussee aus.« Leath blickte wieder über den Tisch hinüber. Chichester sprach gerade mit Florence, die zu ihm aufschaute. »Herr Chichester ist nicht verheiratet, nicht wahr?« »Gewiß nicht! Wissen Sie denn nicht --« Cis brach ab, dunkelrot im Gesicht, und verriet, was sie angefangen auszusprechen, so unbeholfen durch ihr schuldbewußtes Aussehen, daß er sie sofort verstand. Einen Augenblick zog sich seine Stirn in Falten, dann sprach er mit einer kühnen Gelassenheit, die seine Gefährtin verblüffend fand, wenn sie auch erleichtert aufatmete: »Das wußte ich allerdings nicht, Fräulein Mortlake. Verzeihen Sie mir die Frage -- ist Gräfin Esmonds Verlobung augenblicklich noch ein Geheimnis?« »Nein, nein!« sagte Cis hastig, »das nicht! Nichts der Art! Wir alle wissen es, aber sie soll noch nicht veröffentlicht werden, ehe die Herzogin -- die Patin meiner Cousine und ihr zweiter Vormund -- davon in Kenntnis gesetzt ist und ihre Einwilligung gegeben hat.« »Soll Gräfin Florences Verlobung auch vor Herrn Sherriff geheimgehalten werden?« »Vor Herrn Sherriff? Hat sie es ihm nicht erzählt? Sie hält so viel von ihm, daß ich glaubte, er sei einer der ersten, dem sie es mitgeteilt. Sind Sie sicher, daß er es nicht weiß?« »Ganz sicher.« »Das ist sonderbar!« Cis zog die Stirn kraus. »Das sieht ihr gar nicht ähnlich! Bitte, erwähnen Sie lieber nichts davon gegen ihn, Herr Leath -- es könnte ihr unangenehm sein. Die Sache mag wohl so zusammenhängen, daß sie glaubt, daß Herr Sherriff sich nicht darüber freuen würde. Und das glaub’ ich auch. Sehen Sie, Herr Sherriff hat sie so lieb, daß er keinen für gut genug für sie hält.« Leath verneigte sich ernst. Noch einmal wieder richteten sich seine Augen quer über den Tisch hinüber auf das ruhige, schöne Gesicht des Mannes, das sich ein wenig zu dem kastanienbraunen Mädchenkopfe hinabbeugte, -- nur ein wenig mit artiger Höflichkeit, -- nicht mehr vielleicht, als er sich eben zu Cis hinuntergebeugt hatte. Der ihr Bräutigam? Er sah aus, als wäre er schon seit zehn Jahren ihr Gatte, so gleichgültig war er. Cis empfand das Schweigen aufs neue als unbehaglich, und nachdem sie abermals ohne Erfolg zu ihrer Cousine hinübertelegraphiert hatte, begann sie einige Fragen über Australien zu stellen, an die sie, durch eine Antwort ermutigt, weitere anreihte, so daß endlich ein Gespräch zwischen ihr und ihrem Tischnachbar in Gang kam, und was er ihr erzählte, war wirklich amüsant und neu für sie. »Ich glaube, ich selbst möchte gern einmal nach Australien,« meinte sie. »Man macht sich erst eine Vorstellung von einem Orte, wenn jemand redet, der dort gewesen ist, und der einzige außer Ihnen, den ich kenne, ist Lord Carmichael, und der spricht nie davon.« »Lord Carmichael?« Leath blickte schnell auf. »Darf ich fragen, wer das ist, Fräulein Mortlake?« »Wie dumm von mir, -- ich dachte, das wüßten Sie! Es ist Harrys -- Herrn Wentworths Vater.« Sie errötete leicht, als ihr der Name entschlüpfte und sie sich hastig verbesserte, aber sie hatte aus einer seiner Äußerungen entnommen, daß ihr Tischnachbar um ihre Verlobung wisse. »Er ist einmal in Australien gewesen, aber es kann ihm dort nicht sehr gefallen haben, denn er spricht, wie gesagt, nie davon. Ich hatte in der Tat keine Ahnung davon, bis Har-- Herr Wentworth es mir erzählte.« »Wann war er drüben? Kürzlich?« fragte Leath rasch. »Ach nein! Vor vielen Jahren. Ehe er verheiratet war.« »Vor dreißig Jahren vielleicht?« fragte Leath wieder und blickte sie unverwandt an. »Ja -- das mag schon sein! Sein Sohn ist fünfundzwanzig, also muß es ungefähr so lange her sein.« Lady Agathe machte ihrer Tochter und ihrer Nichte das übliche Zeichen und stand auf. Es blieb keine Zeit zu einer Antwort. Leath verabschiedete sich sofort, da die Antwort für Herrn Sherriff ihm schon gegeben worden. Seine Wirtin entließ ihn mit einem Händedruck und einem freundlichen Worte; der Hausherr machte ihm die kälteste und förmlichste Verbeugung. Was war aus Sir Jaspers überraschender Herzlichkeit geworden? Cis blickte wieder mit drolligem Ausdruck zu ihrer Cousine empor, als die beiden Mädchen zusammen am Fenster standen. Lady Agathe hatte mit Chichester, den eine Verabredung mit seinem Verwalter nach Highmount zurückrief, das Zimmer verlassen, und der Baron saß stumm und regungslos vor sich hinbrütend an seinem Platze. »Nun, ich muß gestehen, ich weiß nicht, weshalb du ihn unausstehlich nennst, Florence,« gähnte Cis, »ich muß freilich zugeben, daß es nicht leicht ist, sich mit ihm zu unterhalten, und du wolltest mir nicht helfen, obgleich ich dich absichtlich immer anblickte. Es war zu schlecht von dir.« »Unsere Aufgaben waren geteilt,« gab Florence trocken zurück. »Chichesters Unterhaltungsgabe war auch nicht gerade glänzend.« »Apropos, Florence, ich finde, du hättest Herrn Sherriff deine Verlobung mitteilen müssen. Er hält so viel von dir!« »Herrn Sherriff? Woher weißt du, daß ich das nicht getan habe?« fragte Florence rasch. »Herr Leath sagte es mir, liebes Herz. Es entschlüpfte mir ihm gegenüber, daß du verlobt seiest. Er sagte, er wisse bestimmt, daß Herr Sherriff nichts davon wüßte.« »Was vermutlich heißt, daß sie über mich gesprochen. Das sieht der Unverschämtheit des einen von ihnen wenigstens ganz ähnlich.« Florence trommelte ungeduldig auf der Fensterscheibe, dann lachte sie. »Bah,« sagte sie dann in leichtem Tone, »es tut nichts, liebste Cis, daß du es Herrn Leath gesagt hast; er kann meinetwegen Herrn Sherriff gern aufklären, meinetwegen kann jedermann es erfahren.« Sie trommelte weiter, mit zusammengezogener Stirn. »Cis!« »Ja, Liebste?« »Ist es dir nicht aufgefallen, daß er jemand furchtbar ähnlich sieht?« »Herr Leath? Nein -- ich habe keine Ähnlichkeit gesehen.« »Ich aber --« sagte Florence langsam, als suche sie sich zu vergegenwärtigen, in welchem Zuge die Ähnlichkeit läge, »ich sehe es immer; schon am Tage des Gewitters fiel es mir auf, Cis, und ich habe seitdem immer darüber nachgedacht. Wem von meinen Bekannten er ähnlich sieht, und worin die Ähnlichkeit liegt, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß sie da ist.« »Was sagst du da?« Cis stieß einen leisen Schrei aus. Sie war an ihres Vaters scharfe, herrische Stimme gewöhnt, nicht an die Wut, die jetzt aus seiner Stimme klang. Er hatte sich erhoben und stand vornübergebeugt da, die gespreizten Hände schwer auf den Tisch gestützt. Sein blasses, zorniges Gesicht paßte zu seiner Stimme. Florence, die seine Schroffheit übelnahm, antwortete mit hochmütiger Gelassenheit: »Ich war es, Onkel Jasper, die sprach. Ich sagte, daß Herr Leath irgend jemand außerordentlich ähnlich sähe, und es will mir nicht einfallen, wem.« »Du siehst es? Wie kannst du es sehen? Wie ist es möglich? Was kannst du wissen?« Er brach nach diesen schnell und rauh hervorgestoßenen Worten jäh ab und ließ auch die ungestüm erhobene Hand sinken. »Du sprichst Unsinn, Florence,« sagte er finster. »Unsinn! Hüte deine Zunge besser. An dem Menschen hast du keine Ähnlichkeit zu sehen, und ich rate dir, von dem Manne überhaupt so wenig wie möglich zu sehen. Er hat nichts mit uns zu schaffen, er ist ein Abenteurer, soviel wir wissen. Es war verkehrt von mir, ihn heute hierher einzuladen. Ich werde das nicht wieder tun, und du auch nicht. Und wenn du klug bist, so laß es mich nicht wieder hören, daß du so törichte Reden führst.« Er ging aus dem Zimmer. Die Tür fiel dröhnend hinter ihm ins Schloß. Cis war sprachlos. »Florence, was kann über ihn gekommen sein? Und so zu dir zu reden!« Gräfin Florence sagte nichts. Ihre Stirn war gerunzelt, ihre Augen weit geöffnet; sie hatte keine Antwort bereit. * * * * * Sherriff war über einem seinem Lieblingsschriftsteller fast eingeschlafen, als er durch Everard Leath, der durch die Veranda eintrat, aufgeweckt wurde. Die Worte freudiger Begrüßung, die er auf der Zunge hatte, erstarben bei einem Blick auf den jungen Mann, mit dem eine seltsame Veränderung vorgegangen war. Seine Augen glänzten, sein Gesicht war gerötet, der gelassene Ausdruck verschwunden und einer sonderbaren frohlockenden Erregung gewichen. Leath legte dem Alten, der ihn verwundert ansah, die Hand auf die Schulter. »Heute morgen fragten Sie mich, ob ich in St. Mellions bleiben würde.« »Ja.« »Ich sagte Ihnen, es sei noch unentschieden, ich würde aber wahrscheinlich fortgehen. Ich bin indes anderen Sinnes, -- ganz anderen Sinnes geworden, -- und mein Entschluß ist gefaßt. Ich bleibe hier.« 7. Ein paar Tage waren verstrichen, langsam dahingeschlichen, denn die Hitze hatte noch zugenommen, und sogar in den kühlen, großen, luftigen Räumen von Turret Court empfanden alle sie als sehr lästig. Lady Agathe, ihre Kinder -- Roy in einem weißleinenen Anzuge, in dem er noch länger als sonst aussah -- und Florence saßen vor den Fenstern des getäfelten Zimmers unter zwei alten Platanen auf dem Rasen, wohin auf Florences Vorschlag der Teetisch gebracht worden. Es war dort entschieden kühler als drinnen, und die weißgekleideten Mädchengestalten, die sich licht von dem grünen Hintergrund abhoben, boten ein hübsches Bild. Roy hatte sich aus Kissen und Decken ein Lager zurechtgemacht. Chichester, der wie immer kühl, gelassen und vornehm aussah, erschien gerade, als die ersten Tassen eingeschenkt wurden. »Wünschest du Tee, Talbot, oder ziehst du ein Glas Bischof vor?« fragte ihn Florence. Sie sowohl, wie ihr Verlobter hatten nach Pontresina an die Herzogin geschrieben und beide äußerst befriedigende und herzliche Antworten erhalten. Jetzt, wo Ihre Durchlaucht ihre förmliche Einwilligung zu ihrer Verlobung gegeben, war niemand mehr in Rippondale, der nicht wußte, daß Gräfin Florence Esmond als Herrin in Highmount einziehen würde. Chichester entschied sich für Tee und nahm die Tasse, die Florence ihm reichte. Er hatte Lady Agathe schon seine Verbeugung gemacht und Cis die Hand geschüttelt, die nie einen Versuch machte, eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen -- im stillen hielt sie ihn in der Beziehung noch schlimmer als ›den Menschen Leath‹, was sehr viel sagen wollte. »Ich bin nicht gekommen, um zu bleiben,« sagte er dann, »ich speise heute bei dem Bischof. Ich muß heimfahren, sobald ich Sir Jasper gesprochen habe.« »O, es ist ein geschäftlicher Besuch?« meinte das junge Mädchen lächelnd, »ich hätte dich also mit meinem frivolen Tee gar nicht aufhalten sollen. Mein Onkel ist in der Bibliothek, oder sollen wir ihm sagen lassen, daß du hier bist? Sir Jasper war sehr verstimmt beim Frühstück, Tante Agathe, -- er sitzt zu viel allein -- ich will ihn bitten lassen, zu uns zu kommen.« Sie erteilte dem Bedienten, der gerade eine Schale mit Früchten brachte, die nötige Anweisung, und ein paar Minuten darauf erschien der Hausherr. Er hatte die Aufforderung augenscheinlich ziemlich liebenswürdig aufgenommen. Die geschäftliche Besprechung mit Chichester wurde rasch erledigt, während er den Tee trank, den Florence ihm gereicht hatte. Er kehrte aber nicht ins Haus zurück, wie Cis im stillen gehofft, sondern lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schien aufgelegt, sich zu unterhalten. Roy gähnte ganz unverhohlen; er hatte nicht solche Furcht vor seinem Vater, wie die schüchterne kleine Cis, und sagte: »Das ist eine Hitze heute, wie ich nie etwas Ähnliches erlebt habe! Ich fragte heute morgen Leath, ob es in Queensland noch heißer wäre, und er sagte, dies wäre noch eine kühle Temperatur dagegen. Kühl! Du meine Güte!« »Was heißt das?« Sir Jasper brach mitten im Satz ab und drehte sich schnell nach seinem Sohn und Erben um. »Von wem sprichst du?« fragte er streng. Roy, der ob dieser unerwarteten Unterbrechung sehr verwundert war, antwortete: »Von dem Menschen aus Australien, Everard Leath. Doch du mußt ihn ja kennen, er hat hier vorige Woche gefrühstückt, wie mir Cis erzählt hat.« »Laß deine Schwester gefälligst aus dem Spiel und antworte mir. Wo hast du ihn getroffen?« »Wo--o, ein paarmal bei dem alten Sherriff -- und bei Mutter Buckstone -- und sonst im Orte. Er ist ein netter Mensch, den ich gern leiden mag. Warum, Vater?« »Weil ich wünsche, daß du diese Bekanntschaft abbrichst,« antwortete Sir Jasper in demselben schroffen Tone. »Der Mensch ist für uns ein Fremder -- laß ihn das auch bleiben! Wenn Sherriff sich lächerlich machen will, so mag er es tun. Bitte, ich wünsche ihn nicht wieder von dir genannt zu hören, und damit basta!« Es war vielleicht gut, daß der Baron das Thema fallen ließ, denn Roys Achselzucken und Grimasse verhießen nur geringe Fügsamkeit. Die Familie Mortlake auf Turret Court war immer ein halsstarriges Geschlecht gewesen, und Roy besaß eine gute Portion ihres angeborenen Eigensinns. Er erhob sich langsam aus seiner bequemen Stellung und forderte Cis auf, mit ihm durch den Garten zu gehen. Die Geschwister schlenderten davon, und Lady Agathe, die sich ebenfalls in der Nähe ihres Gatten nicht behaglich fühlen mochte, folgte ihnen bald. Chichester hatte seit dem letzten Heftigkeitsausbruch des Hausherrn mit gerunzelter Stirn dagesessen. Jetzt hub er an: »Entschuldigen Sie -- darf ich fragen, ob Sie irgend etwas von diesem Leath wissen, Mortlake?« »Nichts -- gar nichts, was sollte ich wissen? Was meinen Sie?« »Ich glaubte, daß Sie etwas Nachteiliges von ihm wüßten; da Sie so dagegen sind, daß Roy sich mit ihm abgibt, so könnten Sie möglicherweise einen besonderen Grund dafür haben.« »Allerdings habe ich etwas dagegen, daß mein Sohn in seinem Alter einen freundschaftlichen oder gar intimen Verkehr mit einem Menschen anfängt, den ich nicht kenne. Das ist doch ganz begreiflich.« »Sehr begreiflich, ich bestreite das nicht,« erwiderte Chichester mit gewohntem Gleichmut. »Ich meinte nur, daß -- ich habe ihm gerade heute Lychet Hut -- Sie kennen doch das kleine Haus? -- vermietet, und wenn Sie wirklich etwas gegen ihn haben, so erführe ich es gern.« »Sie haben ihm Lychet Hut überlassen -- ihn als Mieter genommen?« fragte der Baron ungläubig. »Ja, er hat es auf ein halbes Jahr gemietet.« »Ist es fest abgemacht?« »Heute morgen ist es abgemacht worden. Er hat die halbe Miete im voraus bezahlt.« »Und Sie sind verpflichtet, ihn zu behalten? Sie können ihn nicht an die Luft setzen?« »Weshalb? Weil Sie ihn nicht kennen, nicht wissen, wer er ist?« »Freilich. Aber in einem solchen Falle genügt es, wenn ein Mieter die Miete im voraus zahlt. Es steht nicht in meiner Macht, die Sache rückgängig zu machen, selbst wenn ich es wünschte. Herr Sherriff --« »Gut, genug davon! Geschehene Dinge sind nicht zu ändern. Wenn Sie es in der Zukunft bedauern sollten, so denken Sie daran, daß ich Sie gewarnt und Ihnen geraten habe, sich den Menschen vom Halse zu schaffen, solange es noch anging. Sherriff? Sherriff ist ein alter Narr!« Er stand von seinem Stuhle auf. Gräfin Florence und ihr Verlobter blieben allein und sahen ihm nach, wie er rasch dem Hause zuschritt, und blickten dann einander an. Es lag Verwunderung auf beiden Gesichtern -- ratlose Bestürzung auf dem des Mannes -- lebhaftes Staunen auf dem des Mädchens. Florence brach in Lachen aus und zuckte die Achseln; ihre Brauen waren hoch emporgezogen. »Der Tee hat augenscheinlich keinen beschwichtigenden Einfluß auf ihn gehabt,« meinte sie, und setzte dann hinzu. »Wie er den Menschen haßt!« »Leath? Ja, es scheint so. Du weißt nicht, weshalb?« »Ich? Keinen Schimmer! Weshalb hassen oder lieben wir die meisten Leute?« Chichester umging die Antwort und stellte statt dessen eine höfliche Frage: »Hoffentlich mißbilligst du es nicht, daß ich ihm Lychet Hut vermietet habe?« »Durchaus nicht, obgleich ich mich über seinen Geschmack, es zu mieten, wundere. Es ist fast verfallen, nicht wahr?« »Ganz so schlimm nicht, aber das Haus bedarf einiger Ausbesserung. Ich habe schon alles Nötige angeordnet.« »Du bist das Ideal eines Hauswirts!« Das war er wirklich und verdiente das Kompliment. »Er wird es schrecklich einsam dort finden.« »Das sagte ich ihm auch, aber er antwortete, daß er an Einsamkeit gewöhnt sei und eigentlich eine Vorliebe dafür habe.« »Das glaube ich gern. Wie eigentümlich, daß er den Wunsch hat, hier zu bleiben,« sagte sie, die Stirn in Falten ziehend. »Er sagte mir, er würde wahrscheinlich nur drei Monate, möglicherweise nicht einmal so lange bleiben. Es tut mir leid, daß Sir Jasper böse darüber ist.« »Er war furchtbar schroff und verdrießlich, nicht wahr? Und wie er den armen Roy anfuhr! -- Es war ordentlich eine Szene!« Sie lachte schelmisch. »Und eigentlich bin ich doch an allem schuld.« »Du?« »Gewiß. Hätte ich ihn neulich nicht in meine Höhle geladen, so wäre er vielleicht ertrunken!« Chichester zog die Brauen leicht zusammen. Er wurde nicht gern an das ›Höhlenabenteuer‹ seiner Braut erinnert, obwohl er zu gerecht war, um Leath den Vorfall entgelten zu lassen. Dennoch wäre es ihm lieber gewesen, wenn die Anspielung unterblieben. Das wußte Florence, deren wunderschöne, schalkhafte Augen unter den gesenkten Wimpern übermütig blitzten, sehr wohl. In der letzten Zeit war ihr mitunter der Gedanke gekommen, daß sie ihren phlegmatischen Verlobten eifersüchtig machen möchte. Aber sie würde es unter ihrer Würde gehalten haben, irgend etwas zu tun oder zu sagen, was ihm Grund zur Eifersucht gegeben hätte. Cis und Roy, die aus der Ferne gesehen, daß ihr Vater von der Bildfläche verschwunden, kamen wieder herzu. »Was mag Papa verstimmt haben?« fragte Cis. »Ich weiß es wahrlich nicht!« Florence war aufgestanden; es klang etwas wie Ungeduld aus ihrer Stimme. Schlank und aufrecht stand sie in ihrem schlichten weißen Kleide da und nestelte an den mattgelben Rosen an ihrer Brust. »Er mag Herrn Leath nicht leiden,« sagte sie lässig. »Das ist wohl der Grund.« »Ebenso wie du,« meinte Cis in aller Unschuld und ahnte nicht, daß sie Chichester eine Tatsache verriet, die ihre Cousine ihn nicht hatte erfahren lassen wollen. »Weißt du noch, wie böse Papa wurde, als du sagtest, er sehe irgend jemand ähnlich?« »Ja,« antwortete Florence kurz. »Sehe jemand ähnlich?« wiederholte Chichester fragend. »Florence behauptete es. Ich selbst konnte keine Ähnlichkeit sehen. Zuerst war Papa sehr liebenswürdig gegen ihn, und Roy hat ihn sehr gern, nicht wahr, Schatz?« »Das will ich meinen -- viel lieber als die meisten, mit denen ich sonst verkehre. Lassen Sie sich durch meinen Alten nicht gegen ihn einnehmen, Chichester! Er erzählte mir heute morgen, daß er Lychet Hut gemietet hätte. Er ist ein famoser Kerl! Und dabei fällt mir ein,« setzte Roy mit einem Lachen und einem Blick auf seine Schwester hinzu, »es lag ihm sehr viel daran, zu erfahren, wann Harry zurückkäme. Er kennt ihn nicht, nicht wahr?« »Nein,« gab Cis schnell zur Antwort. »Das dachte ich mir schon. Trotzdem wollte er es wissen -- schien sehr erpicht darauf. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, muß ich sagen, daß er mich gehörig über Arborfield ausgepumpt hat. Wunderlich -- nicht wahr?« »Wunderlich? Ich nenne es unverschämt!« rief Cis und warf den goldblonden Kopf empört in den Nacken. 8. Harry war wieder daheim und Cis selig, denn für sie war die Welt voll Sonnenschein. Sie standen nach dem ersten Frühstück zusammen auf dem Flur -- Harry hatte in Turret Court übernachtet, nachdem er in Arborfield über sich und seine Erlebnisse Bericht erstattet hatte -- und überlegten, wie sie den Morgen verbringen wollten. Cis, die in ihrem mattblauen Kleide mit ihren rosigen Wangen und dem goldblonden Köpfchen wie ein Nippfigürchen aussah, erklärte, daß sie weder Lawn-Tennis spielen noch ausfahren noch unter den Platanen vorlesen wolle, und die Frage war noch unentschieden, als Florence die breite Treppe herabkam. Sie trug ein hellgraues Leinenkleid mit roten Bandschleifen und leuchtendrote Rosen auf ihrem großen, weißen Schutzhute, unter dem ihr liebliches Antlitz wie eine taufrische Blume hervorschaute. »Wohin gehst du, Florence?« fragte Cis. »Ich denke, hinaus auf die Halde. Mich verlangt nach der See; ich muß sie sehen und rauschen hören. Deshalb werde ich mir ein nettes Plätzchen aussuchen -- vielleicht meine Höhle -- und dort bleiben, bis ich hungrig werde. Ängstige dich daher nicht, wenn ich nicht zum zweiten Frühstück erscheine. Komm mit, Tramp,« wandte sie sich an den zottigen Hund, der ihr besonderer Liebling und nie fern von ihr war. Er war ihr vor zwei Jahren an einem bitterkalten Wintertage in London halb verhungert und ganz verwahrlost bis an ihre Wohnung nachgelaufen und hatte seitdem ein herrliches Leben geführt, obwohl Roy verächtlich erklärte, das Vieh sei nicht wert, ertränkt zu werden. Cis machte Harry den Vorschlag, sich ihr anzuschließen, und Florence erhob keinen Widerspruch; sie war daran gewöhnt, bei dem Brautpaar die Dritte im Bunde abzugeben, und empfand diese Situation niemals als peinlich. Bücher und Sonnenschirme wurden geholt, und die drei wanderten seewärts. Auf den grasbewachsenen, mit Ginstergestrüpp bedeckten Klippen gab es lauschige Plätzchen genug, und sie machten es sich bald bequem. Die beiden Mädchen setzten sich nieder; der Hund drängte sich dicht an Florence, und Harry streckte sich zu Cis’ Füßen hin. Florence lächelte, als sie das sah, und lächelte noch mehr, als eine kleine rosige Hand anfing, mit seinem dunklen Haar zu spielen und liebkosend darüber hinzustreichen. Sich Chichester in ähnlicher Stellung zu vergegenwärtigen, wäre komisch gewesen. Das junge Mädchen seufzte, während sie auf das weite blaue Meer hinausblickte, und fragte sich wieder: »Warum habe ich es nur getan?« Das Schweigen dauerte nicht lange, denn als Harry seine Zigarre ausgeraucht hatte, nahm er Cis ohne Umstände ihr Buch weg und begann zu plaudern. Er konnte, wenn er wollte, entschieden ein sehr unterhaltender Gesellschafter sein; Florence ließ ebenfalls ihr Buch sinken, und Cis hörte ihm mit Entzücken und Bewunderung zu. Er erzählte von London, das sie, zu ihrem großen Bedauern, sehr wenig kannte, und sie meinte mit einem leisen Seufzer: »Wie gern ginge ich einmal hin, und Roy ebenfalls!« »Roy? Wie schade, daß er nicht mit hingereist ist! Ich wollte, ich hätte daran gedacht, ihm den Vorschlag zu machen. O, dabei fällt mir ein,« sprach Harry in verändertem Tone, »wer ist dieser Mensch eigentlich, der so erpicht darauf sein soll, mich zu sehen?« »Welcher Mensch?« wiederholte Cis. »Der Mensch, der Lychet Hut gemietet hat. Sie müssen ihn kennen, Florence, nicht wahr? Lychet Hut gehört Chichester.« »Sie meinen Herrn Leath -- Everard Leath.« »Ja, so heißt er -- ich konnte nicht auf den Namen kommen. Das ist ja der Mensch, den Sie damals beim Gewitter in Ihre Höhle aufgenommen -- natürlich, jetzt weiß ich schon. Was in aller Welt kann er von mir wollen?« »Ich habe keine Ahnung,« sagte Florence kalt. »Sagte Roy, daß er Sie zu sprechen wünschte?« »Das gerade nicht! Aber er scheint sich verschiedentlich danach erkundigt zu haben, wann ich zurückkäme, und da ich ihn nie mit den Augen gesehen, noch je seinen Namen gehört habe, so ist das doch ziemlich wunderlich.« Florence schwieg. Harry zündete sich eine zweite Zigarre an und meinte dann, daß es bei der Hitze kühler in Florences Höhle sein würde. »Lassen Sie uns hingehen,« antwortete Florence lächelnd. »Es ist nicht weit. Das Gebüsch dort zur Rechten verbirgt den Eingang. Was sagst du dazu, Cis?« Cis meinte freilich, daß sie das Hinabsteigen in das schreckliche Loch immer unheimlich fände und es nebenbei die Kleider verderbe. »Ihr Zufluchtsort ist übrigens vor unbefugten Eindringlingen durch seine versteckte Lage ziemlich sicher, Florence. Finden Sie je dort auch nur ein verirrtes Kaninchen? Aber -- wer -- in des Kuckucks Namen --« Harry stieß die letzten Worte im Tone größter Verwunderung aus, und Cis entfuhr ein leiser Schrei, als sie beide das Gestrüpp anstarrten. Das Farnkraut und die Ginsterbüsche bewegten sich, raschelten und wurden beiseitegeschoben: ein Mann erschien in der Öffnung. Bei seinem Anblick blitzten Gräfin Florences Augen, und ihre Wangen röteten sich vor Zorn. »Es ist der Mensch, von dem Sie eben sprachen -- Everard Leath,« sagte sie kurz, als Antwort auf Harrys Blick. »So? Das nenne ich ziemlich unverfroren,« meinte er lachend, »haben Sie ihm freien Zutritt gewährt, Florence?« »Unsinn! Seien Sie nicht abgeschmackt! Ich weiß nicht, was ihm einfällt. Lächerlich! Blicken Sie nicht hin, Harry; rauchen Sie ruhig weiter! Wir brauchen ihn nicht zu sehen.« »Er hat uns schon gesehen!« sagte Cis kläglich. Sie hatte ganz recht. Everard Leaths blaue Augen waren ebenso weitsichtig wie scharf und glänzend, und er hatte die beiden schlanken Mädchengestalten in ihren blauen und grauen Kleidern sofort erkannt. Ein merkwürdiges Leuchten brach aus seinen Augen und wurde noch heller beim Anblick des jungen Mannes, der zu Cis’ Füßen ausgestreckt lag. Roy war es nicht -- wer anders konnte es sein als ihr Verlobter? Er murmelte etwas zwischen den Zähnen und schritt, den Hut lüftend, auf die Gruppe zu. Wäre Florences schönes Antlitz noch dreimal so hochmütig und kalt gewesen, so würde ihn ihr Ausdruck nicht zurückgehalten haben. Er war entschlossen, sich die Gelegenheit, mit Harry Wentworth zu reden, nicht entgehen zu lassen. Wenn Cis nicht gewesen, so hätte es peinlich für ihn sein können. In ihrer Überraschung über sein plötzliches Auftauchen vergaß sie ganz, daß sie eigentlich böse auf ihn war, und lachte munter, während sie seine Verbeugung erwiderte. Gräfin Florence hatte nur ein unsagbar hochmütiges, kaum merkbares Neigen des Kopfes für ihn. »Was ist Ihnen eingefallen, Herr Leath, in das schreckliche Loch hinunterzuklettern! Ihr Geschmack ist ebenso wunderlich wie der Florences.« Leath antwortete, daß er oft eine Zigarre in der Höhle rauche, die ihm am ersten Tage Schutz gewährt. Und als es ihm gelang, Florences grauen Augen, sehr gegen den Willen ihrer Besitzerin, zu begegnen, setzte er hinzu: »Da ich mich Ihnen dort nie aufgedrängt habe, Gräfin, so darf ich hoffentlich auf Ihre Verzeihung rechnen, daß ich unaufgefordert Ihre Höhle betreten habe?« Florence entgegnete kalt, daß sie kein Anrecht auf ein Loch in den Klippen besäße, und daß nur ihre Cousine aus Unsinn es ›ihre‹ Höhle nenne. Cis wunderte sich im stillen, weshalb Florence so verstimmt sei; der unglückliche Mann hatte doch nichts getan, um solche Behandlung zu verdienen, und sie wurde infolge dieser Erwägung noch liebenswürdiger gegen Leath, den sie dann Wentworth vorstellte. Harry war um seiner kleinen Braut willen herzlich und freundlich, und so geschah es, daß Leath in zwangloser Weise sich als Vierter zu der kleinen Gruppe oben auf der Klippe gesellte. Cis rückte nach einer Weile von den beiden jungen Leuten fort, legte einen Arm um die Taille ihrer Cousine, die sich in ihr Buch vertieft hatte, und fragte sie: »Es ist dir nicht unangenehm, daß er bleibt, nicht wahr, mein Herz?« »Herr Leath?« Sie blickte auf, als habe sie sein Dasein überhaupt vergessen. »Die Klippen sind Gemeingut. Was kann es mir ausmachen?« »Ich dachte, es wäre dir nicht lieb, weil Papa so böse über Herrn Leath war. Weißt du noch?« »Dann erzähle ich ihm lieber nicht, daß wir ihn getroffen haben.« »Natürlich nicht, und ich will auch Harry warnen. Wie lebhaft die beiden sich unterhalten!« »Worüber reden sie denn?« fragte Florence. »Ach, ich weiß nicht! Über Australien, glaube ich. Ich werde deinem Beispiel folgen und lesen. Die Geschichte ist sehr interessant.« Cis schlug ihr Buch auf, und auch Florence las weiter. Sie hörten beide nicht auf die Unterhaltung der Herren. Leath erzählte von seinem Leben in Australien, und Harry meinte, daß er ihn, so rauh und beschwerlich es auch oft gewesen sein möge, fast darum beneiden könnte. Er habe vor einigen Jahren, kurz nachdem er mündig geworden, selbst den Wunsch gehabt, auf einige Zeit hinauszugehen, aber sein Vater, der irgendein Vorurteil gegen Australien hege, habe sich seinem Vorhaben aufs entschiedenste widersetzt. Everard erkundigte sich, ob er nicht wisse, weshalb. Aber Harry verneinte und fragte, ob er schon erwähnt, daß sein Vater, Lord Carmichael, als junger Mensch selbst in Australien gewesen sei. »Nein, aber ich habe davon gehört.« »So? Ja -- ich glaube, er war ungefähr ein Jahr drüben, als er in meinem Alter war, und zwar hauptsächlich in Ihrer Gegend, in Queensland -- das weiß ich. Nun, ich weiß nichts Näheres und würde Ihnen auch, ehrlich gestanden, natürlich nichts darüber erzählen, wenn ich es wüßte, aber ich glaube, er ist dort in Unannehmlichkeiten verwickelt worden.« »So?« »Ja. Was es gewesen, weiß ich nicht, und wahrscheinlich war es nichts Besonderes -- irgendein kleines Techtelmechtel, in das junge Leute sich einlassen, wenn ihnen der Wind erstmals um die Nase weht. Aber er ist ein Mensch, der nicht leicht vergißt, und da mag er sich wohl in den Kopf gesetzt haben, daß mir etwas Ähnliches passieren könnte. Jedenfalls erkläre ich es mir so, daß er mich nicht gehen lassen wollte, und er ist noch heutigentags gegen Australien eingenommen. Es überraschte mich sehr, zu hören, daß er überhaupt dort gewesen. Er hatte nie davon gesprochen.« Harrys Zigarre war ausgegangen; er setzte sich aufrecht, um sie wieder anzuzünden. Leath, der starr, mit finsterem Antlitz auf das Meer hinausblickte, sagte langsam: »Es ist sonderbar, daß er niemals davon geredet hat. Darf ich fragen, ob es viele Jahre her ist, daß Lord Carmichael in Queensland war?« »O, das ist eine Ewigkeit her. Vor meiner Zeit, als er noch unverheiratet war.« »Dreißig Jahre oder mehr vielleicht?« »Dreißig? Ach nein -- so lange nicht. Achtundzwanzig ist das höchste.« Harrys Zigarre brannte, und er stützte sich wieder auf den Ellbogen. »Wissen Sie das gewiß?« »Natürlich, ganz gewiß!« Trotzdem er einige Verwunderung empfand, war der junge Wentworth zu gutmütig, um ungeduldig zu werden. »Rechnen Sie selbst nach,« sagte er leichthin. »Ich bin fünfundzwanzig, und er war gerade ein Jahr verheiratet, als ich mich einstellte. Meine Mutter hat mir erzählt, daß er erst seit ein paar Monaten wieder in England war, als er sie kennen lernte, und sie heirateten, ehe ein halbes Jahr um war. Sie können achtundzwanzig Jahre herausrechnen, die verstrichen, seitdem er nach Australien ging, aber keinen Tag mehr, nicht dreißig oder annähernd soviel.« »Falls Sie sich nicht irren, stimmt das, was Sie sagten.« Leath sprach in ruhigem, hartem Tone. »O, ich irre mich nicht! Im nächsten Monat werden es neunundzwanzig Jahre, daß er seinen Vater verlor, und damals war er in Arborfield. Nein -- vor dreißig Jahren war er in England und niemals weiter als hinüber nach dem Kontinent gewesen. Was sagst du, Cis? Frühstückszeit? Ja, das mag schon sein. Ich bin bereit, wenn du es bist.« Cis und Florence waren aufgestanden, und Harry erhob sich jetzt. Leichten Sinnes, wie er war, empfand er keine Neugier, weshalb er mit so sonderbarem Eifer ausgefragt worden, ja, er dachte gar nicht einmal darüber nach. Er verabschiedete sich mit einigen herzlichen Worten von Leath und versprach, seiner Einladung, ihn in Lychet Hut zu besuchen, sobald er dort eingezogen sei, Folge leisten zu wollen. Cis’ blaue Augen folgten Leaths hoher Gestalt mit fast gereiztem Ausdruck, als er erhobenen Hauptes schnell in der Richtung von St. Mellions dahinschritt. »Welch ein wunderlicher Kauz er doch ist! Und wie albern, sich in deine Höhle zu setzen, Florence! Wenn es nicht zu lächerlich wäre, würde ich behaupten, daß er unverschämt genug ist, sich in dich zu verlieben, Liebling!« Gräfin Florence antwortete nicht. Sie blickte Everard Leaths entschwindender Gestalt mit gerunzelten Brauen nach, einen bestürzten, forschenden Ausdruck in den grauen Augen. Sie hatte bemerkt, was Cis und ihrem Verlobten entgangen -- die merkwürdige Veränderung in dem ernsten, gelassenen Gesicht des Australiers. Was hatte nur jenen zornigen, enttäuschten Ausdruck hervorgerufen? Sie wandte sich mit einer unschuldigen Bewegung ab, böse auf sich selbst, und doch seufzte sie. Es schien, als ob der Mensch sie immer beschäftigen, sie immer beunruhigen sollte. 9. Everard Leath begab sich, ohne seinen Schritt zu verlangsamen, von der Halde geraden Wegs nach St. Mellions hinunter und nach dem Bungalow, der für den Augenblick sein Heim war. Auf Sherriffs dringende Einladung hatte er sein fünfeckiges Zimmer in den Chichester Arms aufgegeben, um bis zum Augenblick, da seine neue Behausung für ihn instand gesetzt sein würde, bei dem liebenswürdigen alten Herrn zu wohnen. Leath ging durch den Garten, dann durch die Veranda in das dahinterliegende Zimmer, wo Sherriff mit der Feder in der Hand über einige Rechnungsbücher gebeugt saß. Er blickte auf, als die Gestalt des jungen Mannes am Fenster erschien, und er sagte, ihn freundlich begrüßend: »Da sind Sie wieder -- das ist recht.« »Ja,« gab Leath einsilbig zurück, »ich störe Sie doch nicht?« »Nicht im mindesten. Sie sind wohl in Ihrer Wohnung gewesen?« »Nein -- draußen auf der Halde.« »So! Es ist ein schöner Morgen für einen Spaziergang. Setzen Sie sich, ich bin gleich mit meiner Schreiberei fertig.« Leath ließ sich auf einem Stuhl am offenen Fenster nieder. Das helle Sonnenlicht fiel voll auf sein Antlitz, auf dem eine finstere Wolke lag; er fuhr mit der Hand durch seinen kurzen, spitzgeschnittenen Bart, während er mit aufgestütztem Ellbogen, anscheinend in düstere Gedanken versunken, dasaß. Dem gleichgültigsten Auge hätte sein ernstes Vorsichhinbrüten auffallen müssen. Sherriff, der aufblickte, als er mit seiner Arbeit fertig war, gewahrte es sofort, und ein Ausdruck der Verwunderung und der Besorgnis überflog sein schönes altes Gesicht. »Sie sehen verstört aus, Leath,« sagte er ruhig. »Ihnen ist hoffentlich nichts Unangenehmes begegnet?« »Unangenehmes?« Leath blickte auf und lachte bitter. »Nein, das kaum. Das heißt, ich sehe ein, daß ich mich geirrt habe -- das ist alles. Bis heute glaubte ich, daß die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, als ich nach St. Mellions kam, fast getan sei -- weit gefehlt! Ich bin gerade so weit wie vorher!« »War diese Idee, die sich jetzt als ein Irrtum herausgestellt hat, die Veranlassung, daß Sie sich entschlossen, hier zu bleiben und Lychet Hut zu mieten?« fragte Sherriff. »Ja. Es wäre besser gewesen, ich hätte den anderen Weg eingeschlagen, nach London zu gehen -- weit besser!« »Heißt das, daß Sie es jetzt tun wollen?« »Vielleicht. Ich weiß es noch nicht. Dieser Mißerfolg hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich bin noch zu keinem Entschlusse gelangt.« Es trat eine Pause ein. Leath blickte finster zu Boden. Der Ältere brach nach einer kleinen Weile das Schweigen und sprach zögernd und vielleicht etwas vorwurfsvoll: »Sie haben mir niemals Ihr Vertrauen geschenkt, Leath. Ich habe kein Recht, dieses Vertrauen zu erzwingen, aber eine Frage möchte ich an Sie richten. Wenn ich in die Sache, von der Sie reden, eingeweiht wäre, könnte ich Ihnen dann bei Ihrem Vorhaben helfen, oder ist das unmöglich?« »Ich fürchte, es ist sehr unwahrscheinlich.« »Und Sie sind nicht geneigt, es mit mir zu versuchen?« Es lag keine Gereiztheit in der ernsten, edlen Stimme, aber für Leaths Ohr klang etwas wie Schmerz hindurch. Er blickte schnell auf. »Halten Sie mich nicht für undankbar, lieber alter Freund,« sagte er, »und glauben Sie nicht, daß ich unempfänglich für Ihre Güte bin. Geben Sie mir ein wenig Zeit, mir klar zu machen, daß ich ein Esel gewesen, und wenn Sie mich dann anhören wollen, so sollen Sie die ganze Sache erfahren, soweit ich weiß. Es ist keine angenehme Geschichte -- das werden Sie sich wohl schon sagen können.« Es lag eine unterdrückte Leidenschaftlichkeit in seinem Tone, die von einer Empörung sprach, die zwar durch eine eiserne Willenskraft niedergehalten wurde, aber doch im Innern weiterglimmen und ihn unaufhörlich martern mußte; das überraschte Matthias Sherriff nicht; vom Anfang ihrer Bekanntschaft an hatte er erraten, daß ein geheimes quälendes Leid am Herzen seines Freundes nage. Es war nicht möglich, sich Everard Leath als einen glücklichen Menschen oder einen Menschen ohne Sorge zu denken. Leath stand auf, trat ans Fenster und wandte Sherriff den Rücken zu. Sherriff folgte ihm mit den Augen, während eine seltsame Veränderung in seinem Gesichte vor sich ging. Als er wieder zu reden anhub, war es mit doch merklicherem Zögern als vorher. »Liegt kein anderer Grund vor als Ihr geheimer Kummer, Leath, weshalb Sie es für besser halten, St. Mellions zu verlassen?« »Ein anderer Grund?« Er drehte sich hastig um. Die fragende Verwunderung, die auf seinen Zügen lag, sah wenigstens echt aus. »Ja, Sie müssen mir nicht zürnen, wenn ich mich irre. Ich habe ebensowenig ein Recht, in dieser Sache Ihr Vertrauen zu erzwangen wie in der anderen,« sagte der Alte hastig, »aber ich habe in den letzten Tagen unter einem Eindruck gestanden, der mich recht beunruhigt hat. Gibt es noch einen anderen Grund, weshalb Sie sich von hier fortwünschen? Und ist es -- Gräfin Florence Esmond?« »Gräfin Esmond?« Das Erstaunen in Leaths Blick und Stimme wurde kaum durch die Röte, die unter seiner sonngebräunten Haut aufflammte, abgeschwächt; er sah aus, als wisse er nicht, ob er recht gehört habe oder nicht. »Sie ist sehr schön,« fuhr Sherriff mit einer Handbewegung fort, die weiteres Leugnen oder Widerspruch abschneiden sollte, »und ich bin nicht so alt, Leath, daß ich vergessen hätte, welchen Einfluß eine Schönheit und ein Liebreiz wie der ihre auf einen jungen Mann naturgemäß ausüben muß. Ich weiß, Sie haben erst wenig von ihr gesehen, aber Sie haben genug gesehen, um unter dem Zauber ihres Wesens zu stehen. Sie haben mir erzählt, daß, obgleich Sie ihre vorübergehenden jugendlichen Schwärmereien gehabt hätten wie wir alle, Sie doch noch keine wirkliche tiefe Liebe für irgendein Weib empfunden haben.« »Das wenigstens ist wahr.« »Und macht die Gefahr für Sie jetzt nur um so größer. Wenn ich die Sache zur Sprache bringe, so geschieht es um Ihretwillen. Irre ich mich oder nicht?« »Ob Sie sich irren? Ich gebe alles zu, was Sie über ihre Schönheit sagen; ich bewundere sie -- jeder Mann würde das tun. Aber ich habe an andere Dinge zu denken, als an Liebestorheiten, auch wenn sie frei wäre und keine gesellschaftliche Kluft des Reichtums und der Vornehmheit zwischen uns gähnte. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse, Herr Sherriff, aber ich bin gefeit. Gräfin Florence wird mich weder hier festhalten, noch mich forttreiben.« Seine Stimme hatte fast ihren düsteren Klang verloren; es lag sogar eine gewisse Belustigung darin, und sein Gesicht hatte sich aufgehellt, als er seinen Stuhl wieder einnahm. Vielleicht gedachte er der Begegnung auf der Halde, der verächtlich blickenden grauen Augen, die sich kaum die Mühe genommen hatten, ihn anzusehen, und des stolz getragenen hochmütigen braunen Köpfchens. Reichtum, Rang, adlige Geburt -- daß sie sich wohl bewußt war, dies alles zu besitzen, hatte sie deutlich genug gezeigt. Sherriff lächelte und setzte sich mit erleichterter Miene wieder nieder. »Also habe ich mich geirrt?« meinte er. »Nun, es freut mich herzlich, das zu hören, mein lieber Junge -- wirklich herzlich! Es kann einen Mann kein zermalmenderer Schlag treffen als der Verlust des Weibes, das er liebt. Es mag töricht von mir gewesen sein, mir den Gedanken in den Kopf zu setzen.« »Ich muß gestehen, es wundert mich, wie Sie überhaupt auf diesen Gedanken gekommen sind.« »Das weiß ich selbst kaum. Er kam mir zuerst, glaube ich, als ihre Verlobung mit Chichester veröffentlicht wurde. Sie schienen verstört, schienen daran zu zweifeln, ob es eine passende Partie sei.« »Ich gebe zu, daß ich das tat. Wie ich Ihnen auseinandersetzte, hatte ich Herrn Chichester in Turret Court getroffen. Ich würde ihn allerdings nicht für den Mann gehalten haben, auf den Gräfin Florences Wahl fallen würde,« gab Leath mit trockener Gelassenheit zur Antwort. »Wenn ich mich nicht irre, so waren auch Sie selbst überrascht.« »Ich war mehr als überrascht.« Sherriff sprach mit einer Schärfe und Gereiztheit, die ihm sonst fremd war. »Wüßte ich nicht, wie unabhängig sie ihrer Stellung und ihrem Charakter nach ist, so wäre ich fast geneigt gewesen, an irgendeine versteckte Einwirkung zu glauben. Ich habe nichts gegen Herrn Chichester; ich halte ihn für einen guten Menschen, aber ich wiederhole es -- er ist weder der Mann, ihre Liebe zu gewinnen, noch sie glücklich zu machen.« »Er scheint das erstere wenigstens getan zu haben,« warf Leath in seinem früheren gelassenen Tone kurz dazwischen. »Ihre Liebe? Armes Kind! Bis jetzt weiß sie kaum, daß sie ein Herz zu verschenken hat!« erwiderte der Alte mit Entschiedenheit. Leath antwortete nicht. Sein Antlitz nahm allmählich wieder einen düsteren, sinnenden Ausdruck an, und Sherriff, der in den Garten hinausblickte, verstummte ebenfalls. Als er wieder zu reden anhub, geschah es mit sichtlicher Überwindung, als werde ihm das Sprechen schwer. »Leath,« sagte er dann, »es gibt viele Männer, -- und Frauen wohl ebenfalls, -- die die Liebe im besten Falle als eine Art Zeitvertreib ansehen, als etwas, mit dem man spielt, über das man lacht und das man so bald wie möglich vergißt. Zu diesen Menschen habe ich nie gehört; für mich ist sie immer die wichtigste Triebkraft gewesen, die ein Menschenleben zum Guten oder Schlechten wenden, glücklich machen oder zugrunde richten kann. Erinnern Sie sich noch, daß ich Ihnen einmal von einem Kummer erzählt habe, der mir widerfahren, als ich jung war -- einem Kummer, der einen vergrämten und mit der Welt zerfallenen Mann aus mir gemacht hat?« »Ich erinnere mich dessen sehr wohl,« antwortete Leath sanft. »Vielleicht haben Sie es erraten, was es gewesen ist?« »Damals nicht, Herr Sherriff. Jetzt tue ich es. Eine Frau.« »Ja, eine Frau -- für mich die einzige Frau auf der Welt. Mit den Einzelheiten will ich Sie verschonen, sie sind nicht notwendig, ich kann Ihnen die Geschichte in wenigen Worten erzählen, ohne auf die näheren Umstände einzugehen. Ich liebte sie -- wie innig, das zu sagen, will ich nicht versuchen; ich glaubte, sie liebte mich auch. Ja -- ich glaube, sie liebte mich, als sie mir versprach, mein Weib zu werden, aber sie war sehr jung, sehr unerfahren -- sie hatte sich vielleicht über sich selbst getäuscht. Dem sei, wie ihm wolle, das werde ich jetzt niemals erfahren. Ich war damals sehr arm und kämpfte einen schweren Kampf, mir notdürftig meinen Unterhalt zu erwerben -- viel zu arm, um ans Heiraten denken zu können. Sie war ebenfalls ganz unbemittelt und stand noch mehr allein als ich. Sie war Erzieherin, und als sie durch eine Familie, in der sie früher unterrichtet hatte, ein Anerbieten erhielt, nach einer unserer Kolonien zu gehen, als Lehrerin für die Kinder eines Millionärs, der wieder hinausging, da fühlten wir beide, daß es bei dem hohen Gehalt, das man ihr bot, ihre Pflicht sei, das Anerbieten anzunehmen, obgleich es unsere Trennung bedingte. Sie sollte zwei Jahre fortbleiben, und dann, bei ihrer Rückkehr, wollten wir -- mochte geschehen was da wollte -- heiraten. Sie ging. Ich kann mir noch jetzt all den Schmerz -- all die Qual jener Trennung von ihr vergegenwärtigen.« Er hielt inne. Leath sprach kein Wort. Gräfin Florence würde sein Gesicht mit dem weichen Ausdruck anteilvollen Mitleids kaum wiedererkannt haben. »Sie erraten das Ende,« nahm Sherriff seine Erzählung wieder auf, »es ist alltäglich genug. Ich hätte es vielleicht erwarten sollen, denn sie war ein schönes Mädchen und mußte die Bewunderung jedes Mannes erregen. Aber ich hegte niemals den leisesten Zweifel an ihr -- niemals! In den ersten Wochen waren ihre Briefe lang, dann wurden sie kurz, und ich fand sie kühl. Dann schrieb sie einige Wochen gar nicht, darauf kam noch ein Brief. Ich könnte ihn Wort für Wort hersagen, obgleich ich ihn seit mehr als dreißig Jahren nicht wieder angesehen habe. Er sagte mir, daß sie verheiratet sei.« Leath entfuhr ein Ausruf, obgleich nicht der Überraschung. »Sie gestand ihren Treubruch ein, erklärte, sie wisse jetzt, daß sie mich niemals geliebt hätte, und beschwor mich, ihr zu vergeben. Ich will nicht davon reden, was ich durchgemacht habe -- ich war jung, und ich hatte sie von ganzer Seele geliebt und ihr vertraut. Sobald ich mich sammeln konnte, schrieb ich ihr, was auch wirklich der Wahrheit entsprach -- daß ich ihr vergebe und von ganzem Herzen hoffte, daß sie glücklich werden möge. Seitdem habe ich niemals wieder etwas von ihr gehört.« »Sie hat Ihren Brief nicht beantwortet?« »Nein -- dessen bedurfte es nicht. Sie mag es für freundlicher gehalten haben, es nicht zu tun. Von dem Tage an war sie für mich tot.« »Sie haben nie wieder auf andere Weise irgend etwas über sie gehört?« »Niemals. Vielleicht ist sie tot. Vielleicht lebt sie noch, mit ebenso weißem Haar wie das meine -- sie, meine kleine, braunhaarige Mary! Es ist seltsam, sich das auszumalen, Leath. Ich sehe ihr junges Gesicht mit den Tränen, die ihr der Abschied erpreßte, deutlicher vor mir, als das Ihrige in diesem Augenblick. Nicht viel daran an der Geschichte, nicht wahr? Und alltäglich genug, wie ich schon sagte. Aber ich hatte das Gefühl, daß -- wie sie nun auch sein mag -- Sie sie hören sollten. Jedenfalls wird sie dazu beitragen, zu erklären, weshalb ich soeben ernst und eindringlich war und weshalb ich mich einen mit der Welt zerfallenen Menschen nenne. Genug von mir, und übergenug! Lassen Sie uns von etwas anderem reden.« Leath stand auf und folgte Sherriff an das Fenster, an das er getreten war. »Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Vertrauen,« sprach er. »Glauben Sie mir, daß ich die Ehre, die Sie mir erzeigt haben, schätze und würdige, denn ich weiß, Sie würden nicht jedem Ihre Geschichte erzählt haben. Ich will Sie mit meinem nutzlosen Mitgefühl nicht behelligen, ich will Sie nur bitten, mich wenigstens teilweise meine eigene, fast unentschuldbare Zurückhaltung, die ich Ihnen gegenüber beobachtet, wieder gutmachen zu lassen.« »Erzählen Sie mir nichts, was Sie mir nicht gern sagen,« wehrte Sherriff hastig ab, »ich verlange es nicht, Leath -- ich bitte Sie sogar, es nicht zu tun.« »Ich will es auch nicht. Aber mit Ihrer Erlaubnis möchte ich Ihnen sagen, was mich von der anderen Seite der Welt hierher nach St. Mellions geführt hat. Ich bin hierhergekommen, um einen Mann aufzusuchen.« »Einen Mann? Wer ist er?« »Wenn ich darauf antworten könnte, so würde meine Aufgabe vollbracht sein. Ich weiß es nicht.« »Was ist er denn?« »Der schlimmste Feind, den ich oder die Meinen je gehabt.« »Suchen Sie ihn denn, um Rache an ihm zu nehmen?« »Ich suche ihn, um Recht zu erlangen.« »Recht für wen?« »Für die Lebenden und die Toten.« »Wissen Sie denn, daß er hier ist?« »Ich weiß, daß er hier war.« »Vor langer Zeit?« »Vor vielen Jahren.« »Und mehr wissen Sie nicht -- nicht einmal seinen Namen?« »Ja, den weiß ich, oder, wenn nicht seinen Namen, so doch den, den er einst führte. Es ist mein einziger Leitfaden. Sie meinten vorhin, Sie könnten mir vielleicht helfen, -- Sie mögen recht haben. Kennen Sie -- haben Sie jemals den Namen Robert Bontine gehört?« »Bontine?« wiederholte Sherriff sinnend. »Nein -- meines Wissens habe ich den Namen niemals gehört.« »Das wissen Sie bestimmt?« »So bestimmt, wie es in solchen Fällen möglich ist. Wenn ich den Namen je gehört habe, so hat er sich meinem Gedächtnis nicht eingeprägt. Aber der Name ist eigenartig, und mein Gedächtnis ist gut -- ich halte es kaum für wahrscheinlich, daß ich ihn vergessen haben sollte.« Er schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er dann entschieden. »Unglücklicherweise kann ich Ihnen nicht helfen, Leath. Ich habe den Namen Robert Bontine nie gehört.« 10. Gräfin Florence hatte im Gespräch mit ihrem Verlobten Lychet Hut einmal als eine Ruine bezeichnet. Das war zwar übertrieben, aber doch nicht allzu sehr. Sie hatte die Behausung auch einsam genannt, und das war durchaus nicht übertrieben. Das Haus lag auf der Halde, am Wege nach Lychet Hook, fast eine halbe Stunde von St. Mellions entfernt, und zwischen ihm und dem Dorfe standen keine Häuser. Es war ein winziges Häuschen mit einem Strohdach und enthielt nur zwei geräumige Zimmer zu ebener Erde, eine Bodenkammer und eine Küche. Es war vor ungefähr zehn Jahren nach eigenem Plane von einer alten, unverheirateten Dame erbaut worden, die ebenso wunderlich wie reich war und von der allgemein angenommen wurde, daß sie infolge einer unglücklichen Liebe der Menschheit entsagt habe. Wie dem auch gewesen sein mochte, so lebte sie dort bis zu ihrem Tode in strenger Zurückgezogenheit nur mit einer Dienerin, die ebenso alt und verschroben war wie sie selbst. Dann hatte Chichester die Wohnung für eine lächerlich kleine Summe von ihren Erben erstanden und war trotzdem nicht auf seine Kosten gekommen, denn es hatte sich nie wieder ein Mieter für das Haus gefunden. Jetzt hatte Everard Leath es bezogen, und obschon er seit drei Wochen darin hauste, hatte man in St. Mellions noch nicht aufgehört, sich über den ›sonderbaren Herrn aus Australien‹ zu wundern. Chichester, der, wie Gräfin Florence ihn mit Recht genannt hatte, der beste Hauswirt war, den man sich nur wünschen konnte, hatte alle notwendigen Ausbesserungen vornehmen lassen, und Leath selbst hatte sich nach Market Beverley begeben und sich dort einfache Möbel und Haushaltungsgegenstände bestellt, die er nach wunderlicher eigner Methode selbst aufgestellt hatte. Darauf hatte er eine ältliche Witwe, eine Schwägerin Buckstones, des Wirts der Chichester Arms, in seinen Dienst genommen, um für ihn und seine Bedürfnisse zu sorgen, und dann sich in der abgelegenen Behausung häuslich niedergelassen, als beabsichtige er den Rest seines Lebens dort zu verbringen. Und über ihn, über seinen Hausstand und sein Benehmen im allgemeinen verwunderte man sich in St. Mellions höchlichst. Aber nach drei Wochen war es ihm gelungen, sich mehr oder weniger beliebt zu machen, trotz der halb argwöhnischen, halb belustigten Neugier, mit der er angesehen wurde -- und zwar nicht nur von den Dörflern. Der Bungalow war nicht länger das einzige Haus, in dem er verkehrte. Er hatte die Bekanntschaft des gutmütigen Pfarrers gemacht, ebenso die des Doktors und seiner zahlreichen Familie; auch mit Bedloc, dem klugen kleinen Advokaten -- ja, fast mit jedem war er bekannt geworden. Und obgleich keine zweite Einladung nach Turret Court erfolgte und Sir Jasper ihn, als er einmal auf der Halde an ihm vorbeigeritten war, kaum gegrüßt hatte, so fand sich doch Roy Mortlake oft in Lychet Hut ein, mit gänzlicher Nichtachtung des herrischen Verbots, das sein Vater gegen seine Besuche erhoben, und mehr als einmal war auch Harry Wentworth bei ihm gewesen. Mitunter auch, zu Pferde oder zu Wagen, auf der Halde und auf den Feldwegen und einmal im Wohnzimmer des Pfarrhauses war Leath mit Florence und ihrer Cousine zusammengetroffen. Cis war ihm bei dieser Gelegenheit recht freundlich begegnet, -- die Besuche ihres Verlobten in Lychet Hut waren ihr kein Geheimnis, -- Florence huldvoll, aber weniger herzlich. Sie war mehrere Male im Bungalow bei Herrn Sherriff gewesen, seitdem Leath ausgezogen, hatte ihn aber zufällig niemals getroffen. Obwohl er nicht selten in ihre Felsenhöhle in der Klippenwand hinabstieg und eine Zigarre rauchte, während er finster auf das Meer hinausschaute, hatte er sie niemals dort gesehen. Einmal hatte er auf der untersten der drei unebenen Felsstufen ein blaues Band gefunden, das wohl von ihrem Kleide abgerissen sein mochte, das war aber auch alles. Vielleicht hielt sie sich absichtlich fern. Jedenfalls glaubte er das. Bewußt oder unbewußt stand sie so für ihn im Zusammenhang mit der Halde, daß er niemals dort spazieren ging, -- was er gewöhnlich jeden Tag tat, -- ohne an sie zu denken. Folglich nahm es ihn kaum wunder, daß er ihr an einem sonnigen Nachmittage endlich dort begegnete. Er schlenderte langsam, dicht am Rande der Klippe, über den wellenförmigen Boden zwischen den Ginsterstauden und dem hohen Farnkraut dahin, und als er plötzlich die Augen von dem kurzen, sonnverbrannten Rasen, auf den er in finsterem Brüten niedergestarrt hatte, emporhob, sah er sie in einiger Entfernung vor sich stehen. Sie stand und wandte ihm das Gesicht zu, als warte sie auf ihn. Sie hatte ihn schon seit mehreren Minuten gesehen. Er beschleunigte seinen Schritt, beschleunigte ihn um so mehr beim Anblick ihres Lächelns, und so standen sie sich nach wenigen Sekunden gegenüber, und er umschloß mit festem Drucke die Hand, die sie ihm bot. Es war das erstemal, daß er sie berührt hatte, seitdem sie sie ihm gereicht, um ihn in die Höhle hinabzuführen. Das fiel ihm ein, während er sich darüber wunderte, weshalb sie ihm heute gereicht wurde. »Wie vertieft in Gedanken Sie waren, Herr Leath! Ich glaubte schon, ich müßte Sie anrufen, damit Sie nicht über mich stolperten,« sagte sie. Ihre Stimme war ebenso herzlich wie ihr Lächeln, ebenso herzlich wie die warme schnelle Berührung ihrer unbehandschuhten Finger. Dennoch dachte sie sich nichts dabei; es war nur eine Laune, daß sie ihn nicht mit leisem, hochmütigem Neigen des Kopfes begrüßte und ohne ein Wort an ihm vorüberschritt. Es fiel ihr zufällig ein, liebenswürdig zu sein, -- das war alles. Er wußte das sehr wohl, denn er verstand sie viel besser, als Gräfin Florence lieb gewesen sein würde, hätte sie darum gewußt. »Ich bitte um Entschuldigung, Gräfin; ich muß gestehen, daß ich Sie nicht gesehen habe. Ich war wohl in meine Gedanken vertieft.« »Und Sie schauten auf den Boden, wo Sie auf die See hätten hinausblicken sollen.« »Sie haben die See gern?« fragte er. »So gern, daß meine Cousine behauptet, ich würde nach meinem Tode in eine Nixe verwandelt werden.« Sie war weitergegangen mit einem Blick und einer Handbewegung, die ihn ermutigt hatten, an ihrer Seite zu bleiben. »Wenn mich der Schein nicht trügt, so lieben Sie sie auch, nicht wahr?« »Sehr!« Ihn durchzuckte der Gedanke, woher sie wisse, mit welcher Regelmäßigkeit er auf der Klippe spazieren ging. »Ich bin oft hier,« setzte er ruhig hinzu. »Ja, es liegt etwas Trauliches in dem Rauschen der Wellen, obschon es so schwermütig ist. Und ich fürchte, Sie müssen sich in Ihrer Klause sehr einsam fühlen.« Aus der lieblichen Stimme klang freundliches Interesse und Mitgefühl, die leuchtenden grauen Augen waren voll Herzensgüte. Cis hätte ihre eigenen blauen Augen weit aufgerissen, wenn sie die ihrer Cousine auf Everard Leaths Antlitz hätte ruhen sehen. Er war sich vollkommen bewußt, daß sie bei ihrer nächsten Begegnung ihn vielleicht kaum kennen würde, aber trotzdem wurde seine eigene Stimme weicher, milderte sich seine gewöhnliche, strenge Schroffheit. Wo gab es einen Mann, den Florence Esmond, wenn sie wollte, nicht hätte bezaubern können? Es war nur eine Grille, daß sie jetzt mit Leath sprach, daß sie ihn verlockte, sich mit ihr zu unterhalten, aber sie brachte ihn dazu. Was würde Sir Jasper Mortlake empfunden haben, wäre er über die Halde gekommen und hätte sein Mündel, bequem an eine mit Farn bewachsene Erhöhung gelehnt, dasitzen sehen, ihren Hut neben sich im Grase, ihr lichtbraunes Haar vom Winde verweht, und Everard Leath dicht neben ihr ausgestreckt, so daß sein aufgestützter Ellenbogen fast den Saum ihres kornblumenblauen Kleides berührte? Sicherlich konnte ihn nur eine direkte Aufforderung bewogen haben, sich dort niederzulassen. »Alles, was Sie mir über Queensland erzählen, gefällt mir eigentlich,« sagte Florence langsam, in Sinnen verloren. Ihre Unterhaltung hatte schon eine Zeitlang gedauert, als sie diese Bemerkung machte. Sie hatte das Kinn auf die Hand gestützt, ihre grauen Augen blickten auf das Meer hinaus, und ihre weiße Stirn war leicht in Falten gezogen. »Ja, -- es gefällt mir entschieden. Ich glaube sogar, ich möchte dort sehr gern leben.« »Das bezweifle ich, obgleich Sie das Leben dort für einen Besuch vielleicht ganz erträglich finden würden -- aber als Heimat, nein!« »Nein? Sie sind sehr bestimmt! Weshalb nicht?« »Ich glaube, Sie würden sich bald nach England zurückwünschen.« »Weil alles, an dem mein Herz hängt, hier ist und ich es als meine Heimat betrachte? Das ist vielleicht wahr. Gerade wie Sie selbst Australien ansehen.« »Ja. Ich werde früher oder später dahin zurückkehren,« sagte Leath ruhig. »Wenn Ihr Geschäft erledigt ist?« »Wenn mein Geschäft erledigt ist -- ja.« Die Antwort genügte; dennoch stieg Florence das Blut in die Wangen, und sie wußte, daß sie sich verletzt fühlte, weil sie nicht mehr enthielt. Gegen ihren Willen dachte sie über ihn nach, und gegen ihren Willen zerbrach sie sich den Kopf über ihn. Was hatte ihn nach St. Mellions geführt? Was hielt ihn dort zurück? Gräfin Esmond hätte es nicht um alles in der Welt über sich vermocht, die Fragen zu stellen, aber sie hätte alles in der Welt darum gegeben, es zu wissen. Leath gewahrte weder ihr Erröten noch das Aufeinanderpressen ihrer Lippen. Er veränderte seine Stellung und runzelte einen Augenblick die Stirn mit einem Ausdruck von Unentschlossenheit, daß ihre Augen ihn unwillkürlich fragend anblickten. Ihrem Blick begegnend, sagte er: »Ich möchte wissen, Gräfin, ob Sie mir wohl gestatten würden, eine Frage an Sie zu richten?« »Eine Frage?« Sie vergaß ihre Gekränktheit über ihrer plötzlich erwachenden Neugier, und außerdem wäre es unerträglich gewesen, ihn glauben zu lassen, daß sie pikiert sei. »Gewiß,« sprach sie lächelnd. »Weshalb nicht? Was ist es?« »Danke! Meine Frage wird Sie vielleicht seltsam dünken,« sagte Leath, der eine direkte Antwort umging, »und es ist sehr unwahrscheinlich, daß Sie sie beantworten können, -- das weiß ich. Und doch habe ich unzählige Male gewünscht, sie zu stellen.« »Weshalb haben Sie es denn nicht getan?« lautete die Gegenfrage, die sie auf der Zunge hatte und die ihr fast entschlüpft wäre, aber sie kannte die Antwort darauf so gut, daß sie noch eben zur rechten Zeit innehielt. Bis zu jenem Tage hatte sie ihm nur wenig Gelegenheit gegeben, es zu wagen, Fragen an sie zu richten. »Fragen Sie mich jetzt!« warf sie leicht hin. »Das will ich sogleich.« Er blickte sie an. »Erinnern Sie sich, daß Sie am ersten Tage unserer Bekanntschaft sagten, Sie kennten die meisten, wenn nicht alle Leute in dieser Gegend?« »So? Habe ich Ihnen das gesagt? Ich kenne allerdings die meisten, wenn nicht alle.« »Und ihre Namen?« »Und ihre Namen, selbstverständlich!« Sie lächelte ein wenig verwundert und belustigt. »Dann also zu meiner Frage. Kennen Sie den Namen Robert Bontine?« Er hatte sich auf dem Ellbogen aufgerichtet, ein gespannter, lebhafter, erregter Ausdruck trat in seine Züge. Florence blickte ihn an und schüttelte langsam den Kopf. »Bontine?« sagte sie -- »Bontine? Das ist ein wunderlicher Name. Nein, Herr Leath, es tut mir leid, Ihnen eine Enttäuschung bereiten zu müssen, aber in ganz St. Mellions habe ich den Namen nicht nennen hören.« »Sie wissen das ganz bestimmt?« fragte Leath. »Ganz bestimmt. Ich könnte Ihnen ein paar Dutzend des Namens Robert oder Bob aufzählen, aber keinen Bontine. Ich würde mich des Namens sicherlich erinnern, wenn ich ihn je gehört hätte.« Sie zögerte einen Augenblick und hub dann mit einem Anfluge von Befangenheit an, über den sie sich ärgerte, weil sie wußte, daß sie ihr so gar nicht ähnlich sah: »Erwarteten Sie, ihn hier zu finden?« »Ich hoffte es.« »Er ist vielleicht fortgezogen.« »Vielleicht, aber es ist kaum anzunehmen.« Er sprach in einem merkwürdigen, erwägenden, mechanischen Tone, gleichsam mehr zu sich selbst, als zu ihr, und blickte düster auf das Meer hinaus. »Nein -- er ist hier, wenn ich ihn nur finden könnte, falls er nicht tot ist.« Die letzten Worte flüsterte er vor sich hin, und Florence hörte sie nicht. »Robert -- Robert?« wiederholte sie sinnend. »So gewöhnlich der Name auch in dieser Gegend sein mag, so habe ich doch außer Sir Jaspers Bruder meines Wissens nie einen Robert kennen gelernt.« »Sir Jaspers Bruder?« Leath wandte sich jäh um. »Ich wußte gar nicht, daß Sir Jasper einen Bruder hat.« »Er lebt nicht mehr. Er starb schon vor Jahren. Er und nicht mein Onkel würde der Besitzer von Turret Court sein, wäre er am Leben geblieben.« »Der Bruder war also der ältere?« »O ja -- er war um mehrere Jahre älter.« »Und er hieß Robert?« »Ja -- Robert Georg Mortlake. Roy sollte, glaube ich, nach ihm genannt werden, aber Tante Agathe wollte es nicht, und so unterblieb es.« »Ist es schon lange her?« »Daß Robert Mortlake starb? O -- viele Jahre -- ehe Sir Jasper heiratete -- etwa dreißig -- oder vielleicht noch länger!« Leath antwortete nicht, er hatte sich schnell erhoben. Durchaus nicht unzufrieden darüber, -- denn sie fand, daß die Unterhaltung lange genug gedauert, und hatte während der letzten Minuten schon überlegt, wie sie ihr am besten ein Ende machen könnte, -- stand Florence ebenfalls auf und nahm die hilfreiche Hand, die er ihr darbot, als etwas Selbstverständliches an. So flüchtig und gleichgültig sie sie auch berührte, so konnte sie doch nicht umhin, zu bemerken, wie kalt sie war, obgleich sie sich kaum die Mühe nahm, sich darüber zu wundern. »Ja,« fuhr sie in leichtem Tone fort, »es muß dreißig Jahre her sein, wenn nicht länger, daß Robert Mortlake starb. Nein -- es sind gerade dreißig Jahre, denn das Datum steht auf seinem Denkstein in der Kirche. Sie können sich ihn ansehen, Herr Leath, wenn es Sie interessiert. Er ist in der südwestlichen Ecke; von unserm Gestühl blickt man gerade darauf hin. Er liegt natürlich in der Familiengruft im Park begraben wie alle Mortlake. Er wurde deshalb hierher geschafft.« »Hierher geschafft?« wiederholte Leath hastig. »Starb er denn im Auslande?« »Freilich! Er war meistens im Auslande -- hat sich in der ganzen Welt umhergetrieben -- wo, weiß ich nicht.« Sie dämpfte die Stimme, beugte sich etwas näher zu ihm hinüber und schlug die grauen Augen mit plötzlicher Vertraulichkeit zu ihm auf. »Wissen Sie, ich sagte eben, Tante Agathe hätte nicht gewollt, daß Roy nach ihm genannt wurde. Nun -- das war der Grund: er war ein schrecklicher Tunichtgut.« »Inwiefern?« »Inwiefern? Was weiß ich!« Sie zuckte die Achseln. »Was meint man gewöhnlich, wenn man von einem Menschen als von einem schrecklichen Tunichtgut spricht? Wohl, daß er’s in jeder Beziehung ist. Mehr habe ich nie darüber gehört, Robert Mortlake ist verfemt in Turret Court.« »Sir Jasper spricht nicht von ihm?« »Nein -- und duldet auch nicht, daß irgendein anderer es tut. Selbst sein unschuldiges Bild hängt verkehrt an der Wand. Ich war indiskret genug, es umzudrehen und mir anzuschauen -- es ist noch gar nicht lange her -- und Sir Jasper war schrecklich -- war furchtbar böse. Ich, o -- o --« Sie trat zurück, ihre grauen Augen hingen mit einem plötzlichen Ausdruck der Bestürzung und Verwunderung an Leaths Antlitz; die frische Farbe wich aus ihren Wangen, und sie wurde bleich. Verwundert über ihr schreckensvolles Erstaunen, das ihm auffallen mußte, blickte er sie an und sagte: »Was ist Ihnen?« »Nichts -- nichts!« Sie schüttelte hastig den Kopf. »Ich muß gehen, Herr Leath; es ist später, als ich dachte. Nein -- kommen Sie nicht mit mir -- bitte, nicht! Leben Sie wohl!« Sie reichte ihm zum Abschiede die Hand, obgleich sie schon zu sich gesagt, daß das eigentlich ganz überflüssig sei, und eilte leichtfüßig über das kurze, braune Gras dahin. Sie warf noch einen Blick über die Schulter zurück und fand bestätigt, was sie schon gewußt, als sie ihn noch auf dem Flecke, wo sie ihn verlassen, stehen und ihr nachblicken sah. Sie ahnte freilich nicht, daß, obwohl seine Augen unverwandt an ihrer hellen Gestalt hingen, er sich dessen nicht bewußt war. Er hatte die Wahrheit gesprochen, als er Sherriff in bitterem Tone erklärte, daß ihn anderes beschäftigte als der Gedanke an die Schönheit einer Frau. »Welch ein dummer Einfall mir da gekommen ist!« sagte sie halblaut in vorwurfsvollem Tone zu sich selbst. »Und doch kam er mir in einem Augenblick und traf mich wie ein Schlag. Natürlich kann es nur Einbildung sein! Natürlich! Und doch würde es erklären --. Bah! Welcher Unsinn! Weshalb sollte ich nach einer Erklärung suchen, wo mir weder an der ganzen Sache noch an dem Manne selbst das mindeste liegt! Es war dumm von mir, so mit ihm zu reden; die Angelegenheit von Turret Court geht ihn gar nichts an. Ich wollte mitunter, ich wäre nicht eine solche Plaudertasche, aber was kann man von einem irischen Mädchen wohl anderes erwarten?« Sie lachte mit einem Anfluge von Ungeduld und fuhr dann in strengem Tone fort: »Auf alle Fälle etwas Besonnenheit. Deshalb, Florence Esmond, solltest du besagtem Individuum wieder auf der Halde begegnen, so wirst du die Güte haben, daran zu denken, daß du nicht mit ihm reden darfst.« Solch einen Entschluß zu fassen, war eine Sache -- ihn auszuführen, eine andere. Möglicherweise waren die Schicksalsgöttinnen ihm abhold, denn es geschah, daß in den zwei oder drei nächsten Wochen weitere Begegnungen auf der Halde stattfanden, und es trug sich ebenfalls zu, daß Gräfin Florence sich meistens am Ende und nicht am Anfang dieser Zusammenkünfte ihres Entschlusses, sich nicht mehr mit Everard Leath zu unterhalten, erinnerte. Es war sehr langweilig in Turret Court, was vielleicht eine Entschuldigung für sie war. 11. »Es ist schon Mitte August, und die Abende werden merklich kürzer. Ich zählte heute morgen acht braune Blätter auf dem Pflaumenbaum. Jeder Sommer ist kürzer als der vorhergehende. Talbot, ich glaube, ich werde alt,« sprach Gräfin Florence. Das Mittagessen in Turret Court war vorüber. Es war sehr langweilig gewesen. Sir Jasper war in seiner wortkargsten, unnahbarsten Stimmung. Harry und Roy hatten in Arborfield gesessen. Jetzt hatte man den Baron sich selbst überlassen, damit er bei seinem Glase Wein ein Schläfchen halte oder grüble, wie es ihm beliebte. Lady Agathe hatte sich in ihren Roman vertieft, und Cis war verschwunden, -- wahrscheinlich, um sich in ungestörter Einsamkeit weiter zu langweilen. Chichester, der beim Betreten des Salons seine Braut an einem der hohen Terrassenfenster stehen sah, hatte sich naturgemäß zu ihr gesellt. »Ja, jeder Sommer ist kürzer als der vorige. Ich glaube, ich werde alt, Talbot!« wiederholte Gräfin Florence mit einem Seufzer. Aber sie lachte, während sie das sagte, denn sie wußte, daß sie Unsinn sprach. Sie sah in der Tat heute abend fast wie ein Kind aus. Sie trug Schwarz, was mitunter eine Laune von ihr war, einen leichten, wolkigen und so dünnen Stoff, daß ihre weich gerundeten Schultern und Arme weiß hindurchschimmerten. Sie hielt einen großen hellblauen Federfächer in der Hand, und ein Sammetband derselben Farbe hielt den lose verschlungenen Knoten ihres kastanienbraunen Haares zusammen. Ihre Lippen waren dunkelrot, ihre lachenden Augen sahen im Zwielicht fast schwarz aus. Chichester blickte zu ihr nieder und lächelte nachsichtig und beifällig. Er bewunderte ihre Schönheit wirklich sehr. Unter den Familienbildern in Highmount gab es viele liebliche Frauengesichter, aber keines war schöner als das ihre. Es war ihm lieb, daß dem so war, und es mahnte ihn daran, daß er ihr heute abend etwas Besonderes zu sagen habe. »Alt?« wiederholte er. »Meine liebe Florence, das wird noch einige Jahre dauern, ehe ich das von mir selbst sage -- wie viele also, ehe du es zu tun brauchst. Willst du nicht Platz nehmen? Ich möchte etwas mit dir besprechen.« Er schob einen ihrer Lieblings-Schaukelstühle für sie in die Fensternische; er war immer außerordentlich aufmerksam und artig. Florence blickte widerstrebend auf den Sessel nieder und schnitt eine kleine Grimasse. Vielleicht wußte sie nur zu gut, wovon er reden wollte. Der Gegenstand war ihr sehr unerwünscht, aber sie war in schalkhafter Stimmung und aufgelegt, ihn zu necken. Sie setzte sich schmollend. Er zog seinen eigenen Stuhl dicht an den ihren und nahm ihre Hand. Gerade so hatte er es gemacht, als er um sie anhielt. Daran mußte das junge Mädchen denken. »Ich habe schon mit Sir Jasper über unsere Hochzeit gesprochen,« hub er an, »ich möchte, daß sie bald stattfände. Ich bitte dich, so bald wie möglich einen Zeitpunkt zu bestimmen! Je früher, desto besser, -- das brauche ich wohl kaum hinzuzusetzen.« Er küßte ihr die Hand, und wieder wurde sie an den Tag, an dem er sich mit ihr verlobte, erinnert; sie wußte noch sehr wohl, wie sie dankbar und erleichtert aufgeatmet, daß das alles gewesen, was er getan. »Ich sehe nicht ein, daß irgendein Grund zur Eile vorliegt,« versetzte sie. »Wir sind erst seit kurzer Zeit verlobt!« Ihre Stimme nahm einen weichen, einschmeichelnden Klang an. »Es kommt mir vor, als sei es erst gestern gewesen!« »Es sind zwei Monate -- eine ziemlich lange Zeit!« »Nein, nein -- eine sehr kurze Zeit! Cis und Harry, die seit undenklichen Zeiten verlobt und seit einer Ewigkeit ineinander verliebt sind, haben noch nicht einmal angefangen, über ihre Hochzeit zu reden!« »Möglicherweise nicht,« beharrte Chichester. »Ich sehe wirklich nicht ein, was uns das angeht. Ich hoffe, du wirst die Frage in Erwägung ziehen. Du wirst sicherlich keinen Grund haben, weshalb du das nicht tun solltest.« »Keinen Grund?« Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und lachte übermütig. »Ich könnte dir ein Dutzend an den Fingern herzählen, aber ich will barmherzig sein und nur einen anführen -- die Herzogin!« »Die Herzogin? Sie hat ihre Einwilligung gegeben!« »Zu unserer Verlobung -- ja. Aber, daß wir auch nur an unseren Hochzeitstag denken ohne ihre erhabene Erlaubnis -- nein, tausendmal nein! Und du verlangst wirklich, daß ich den Tag bestimme, solange sie in Pontresina weilt? Unmöglich!« »Du meinst, wir müssen die Dinge lassen, wie sie sind, bis sie nach England zurückkehrt?« »Allerdings. Ganz entschieden.« »Du scheinst damit andeuten zu wollen, daß jedermann bange vor ihr ist.« Sein Ton klang unverkennbar ungeduldig. »Nur andeuten? Ich behaupte es sogar. Ich persönlich zittere vor ihr. Der Herzog starb jung; wie es hieß, eines unnatürlichen Todes. Man hatte recht -- die Ursache seines vorzeitigen Ablebens war die Herzogin!« Sie bewegte den Fächer hin und her und begann vor sich hinzusummen. »Du bist also allen Ernstes der Ansicht, daß wir alles beim alten lassen, bis sie zurückkommt, was vielleicht erst in vier Monaten geschieht.« »Freilich.« »Und du möchtest nicht, daß ich noch weiter über die Sache rede?« »Bitte, nicht. Es ist doch kein sehr interessantes Thema, nicht wahr? Welch wundervoller Mond? Und schlug nicht dort eine Nachtigall?« Talbot Chichester würdigte sie keiner Antwort. Florence war sich vollkommen bewußt, wie finster sein Antlitz war, und sie begann leise hinter ihrem Fächer zu singen. Plötzlich ließ sie ihn sinken, lehnte sich zurück und blickte mit einem Ausdruck drolliger Zerknirschung zu ihm empor. »Ich bin ein wahrer Kobold,« sagte sie, »das denke ich oft -- wirklich. Ich habe dich eben geneckt, bis ich dich fast böse gemacht habe, und doch wirst du nicht leicht böse. Weshalb habe ich das nur getan? Aus reiner Bosheit, glaube ich. Gib mir eine Ohrfeige dafür, wenn du willst!« Sie beugte sich lachend etwas näher zu ihm. Chichester rührte das hübsche Ohr nicht an. Er lächelte ein wenig gezwungen und begnügte sich damit, ihr die Hand auf die Schulter zu legen. »Meine liebe Florence, ich gestehe, ich möchte dich etwas ernster und vernünftiger in dieser besonderen Sache sehen. Ja, wenn ich offen meine Meinung aussprechen soll, in vielen Sachen.« »Was wohl heißt, daß ich gräßlich oberflächlich bin?« Sie blickte ihn mit funkelnden Augen an. »Ich würde nicht ›gräßlich‹ sagen.« »Nicht? Aber ich. Ja, ich bin ein oberflächliches, törichtes, leichtsinniges Geschöpf, und du bist ein ernster, gesetzter, verständiger Mann. Wir sind grundverschieden, und ich weiß, daß ich dich hin und wieder schrecklich langweilen muß. Und wir sind verlobt -- wollen unser ganzes übriges Leben miteinander verbringen!« Sie entzog ihm die Hand, stand auf und lehnte sich an die Gardine. »Ist dir je der Gedanke gekommen, Talbot, daß wir gar nicht zueinander passen könnten?« fragte sie, zu ihm aufblickend. »Aber, liebe Florence!« wandte er in einem halb nachsichtigen, halb ungeduldigen Ton ein. Sie sah ihn sinnend an. »Ich glaube, ich würde an deiner Stelle mir mein Wort zurückgeben.« »Dir dein Wort zurückgeben?« Er war so grenzenlos überrascht, daß er ihre Worte ganz mechanisch wiederholte, während er sie fassungslos anstarrte. »Ja -- ich würde es wirklich tun. Weshalb nicht? Mit mir ist nicht leicht fertig zu werden, und du liebst ein ruhiges Leben. Wir könnten es ›nach gegenseitiger Übereinkunft‹ tun, wie man sagt. Das ist besser als gegenseitige Uneinigkeit hinterher. Dir würde es das Herz brechen, weißt du, und was mich anbetrifft -- nun, ich habe keines zu brechen! Ich will an die Herzogin schreiben und ihr sagen, daß es allein meine Schuld ist. Soll ich?« Sie hielt die linke Hand empor und zeigte den blitzenden Ring. »Er sitzt sehr lose -- er würde in einem Augenblick abzustreifen sein. Sieh!« Ihre Stimme hatte den munteren, scherzenden Ton behalten, aber es klang ein seltsamer, halb rührender Ernst hindurch. Er ergriff ihre Hand und schob den Ring mit festem Druck wieder an seinen Platz. Er sah verdrießlich aus und gab sich keine Mühe, seine Verstimmung zu verbergen. »Mein liebes Kind, bitte, sei nicht albern! Du bist heute abend wirklich kindischer denn je. Zum Glück fällt es mir nicht im Traume ein, dich ernst zu nehmen. Wenn du nicht aufgelegt bist, über unsere Hochzeit zu sprechen, so will ich dich jetzt nicht durch ein weiteres Eingehen auf die Sache ärgern. Laß uns von etwas anderem reden! Was lasest du eben? Gedichte, glaube ich.« »Ja.« Mit völlig verändertem Tone wandte sie sich von ihm und sank apathisch wieder in ihren Stuhl, während er den zerlesenen braunen Band aufnahm, den sie hatte fallen lassen. »Es sind Adam Lindsay Gordons Gedichte.« »Adam Lindsay Gordon? Ich entsinne mich des Namens gar nicht.« »Vielleicht hast du ihn noch nie gehört. Er ist ein australischer Schriftsteller. Herr Leath hat mir das Buch geliehen.« »Leath?« Chichester runzelte die Stirn und legte das Buch nieder. »Du meinst doch nicht meinen Mieter -- Leath, der in Lychet Hut wohnt?« »Ja, ich kenne keinen anderen Leath,« sagte das Mädchen kurz. »So? Aber ich verstand, daß Sir Jasper ihn nicht leiden könne, und daß er hier nicht verkehrt?« »Das tut er auch nicht, aber ich habe ihn mehrmals im Bungalow gesehen und bin ihm hin und wieder auf der Halde begegnet. Er scheint dort ebensogern umherzuschlendern wie ich.« »Auf der Halde? Aber, meine liebe Florence, er hat es doch sicherlich nicht gewagt, dich dort anzusprechen?« Blick und Ton ließen eine innere Unruhe erkennen; sein glattes schönes Gesicht wurde rot. Florence schaute ihn mit einem Ausdruck gleichgültiger Verwunderung an. »Wir haben uns dort unterhalten, wenn du das meinst,« sagte sie in nachlässigem Tone, »ich weiß aber nicht, wer von uns die Initiative ergriffen hat. Vielleicht bin ich es gewesen. Ich glaube, ich muß es wohl gewesen sein, auf jeden Fall das erstemal. Er spricht sehr gut, und seine Unterhaltung fesselt mich. Heute morgen brachte er mir dies Buch! Ich hatte geäußert, daß ich es gern sehen möchte.« »Du hattest eine Verabredung mit ihm getroffen?« »Nein -- das nicht. Er hatte gesagt, er wolle es mitbringen, auf die Möglichkeit hin, daß ich da sein würde. Ich hatte nichts zu tun und ging hin. Einige der Gedichte sind sehr gut. Du solltest sie lesen.« »Es war eine große Unverschämtheit von ihm, über die ich mich außerordentlich wundere.« Er sagte dies sehr zornig, und sie blickte ihn über ihren Fächer hinweg an, während der halb belustigte, halb spöttische Ausdruck auf ihrem Antlitz deutlicher hervortrat. »Mit mir zu sprechen, wenn ich ihn anredete, nachdem ich ihn mehrmals hier und anderswo getroffen hatte? Oder mir ein Buch zu bringen, das ich gern sehen wollte?« fragte sie kalt. »Ich kann nicht sagen, daß ich mit dir übereinstimme, Talbot. Du hättest doch wohl nicht gewollt, daß ich ihn ohne Grund geschnitten hätte?« »Gewiß nicht -- nein!« Sein ungewohnter Ärger legte sich. »Aber, meine liebe Florence, ich bin, wie du weißt, kein Freund davon, einen vertraulichen Verkehr zwischen den verschiedenen Klassen zu begünstigen. Das ist nach meiner Ansicht einer der verhängnisvollen Fehler unserer Zeit. Du hast ohne Zweifel nicht genug darüber nachgedacht, sonst würdest du diesen Herrn Leath nicht ermutigt haben, als er sich zum erstenmal unterstand, dich anzureden. Ich bin überzeugt davon, daß du das in Zukunft nicht wieder tun wirst.« »Du meinst, ich sollte ihn nicht mehr kennen?« fragte das Mädchen. »Ich bin für ein artiges Benehmen gegen unter uns Stehende. Aber, bitte, laß ihn nicht wieder auf der Halde mit dir reden! Ja, ich muß das dringend von dir fordern. Und ich darf vielleicht hinzusetzen, daß die Tatsache der großen Abneigung, die Sir Jasper gegen ihn hat --« Er brach ab. Florence entfuhr ein leiser Ausruf der Verwunderung. Der Teppich war so dick, und die Schirmlampen erhellten den großen Raum so wenig ausreichend, daß keiner von ihnen das fast geräuschlose Näherkommen des Barons gewahr geworden, und es war kein geringer Schreck, seine hohe Gestalt unmittelbar vor sich zu sehen. Er blickte von einem zum anderen. »Ich glaubte, ich hörte meinen Namen nennen,« sagte er. »Meine große Abneigung wogegen, wenn ich fragen darf?« Seine Stimme hatte ihren schärfsten, spöttischsten Ton; seine kalten grauen Augen hingen an dem Gesicht seines Mündels. Wäre der Blick nicht gewesen, so hätte Florence ihrem Verlobten vielleicht die Antwort überlassen; aber es verdroß sie, und sie gab sofort schroff und schnell zurück -- vielleicht in dem Augenblick nicht ganz ohne die Absicht, ihren Verlobten zu ärgern: »Talbot sprach von Herrn Leath, und ich gab meiner Verwunderung darüber Ausdruck, weshalb du es dir in den Kopf gesetzt hast, ihn nicht leiden zu mögen, Onkel Jasper!« »Leath?« Seine Augen wanderten von einem zum anderen, dann lachte er. »Sie müssen Mangel an Gesprächsstoff haben, Chichester, wenn Sie den jungen Menschen zum Gegenstand Ihrer Unterhaltung machen! Oder sagten Sie vielleicht, daß Sie es bedauerten, meinem Rate nicht gefolgt zu sein und ihm Ihr Haus vermietet haben? Nun, ich habe Sie gewarnt -- vergessen Sie das nicht.« »Ich erinnere mich sehr wohl, daß Sie das getan. Aber als Mieter habe ich mich über Leath nicht zu beklagen,« gab Chichester mit verwundertem Blick zur Antwort, denn er war ein ehrlicher und streng gerechter Mann, und Sir Jaspers Warnung war ihm wie unverständlich. »Ich habe bis jetzt keinen Grund, es zu bedauern, daß ich ihm das Haus vermietet, ja, ich sage sogar, daß er, so viel ich weiß, ein durchaus anständiger Mensch ist.« »Der wahrscheinlich hier am Orte bleiben wird?« »Das vermute ich -- bis sein Mietsvertrag abläuft. Er hat mir indessen zu verstehen gegeben, daß er sich hier wahrscheinlich nur eine Zeitlang aufhalten würde.« »Weshalb nur eine Zeitlang? Was kann er in einem Orte wie St. Mellions zu tun haben?« fragte der Baron in demselben schroffen, kurzen Tone. Er war dicht an das offene Fenster getreten und stand halb im Zimmer, halb draußen, den beiden anderen den Rücken zuwendend. »Ich habe ihn wirklich nie gefragt! Ich dachte an eine geschäftliche Angelegenheit.« »Eine sehr wichtige Angelegenheit,« warf Florence leicht dazwischen. Sie hatte keinen anderen Beweggrund, als die Absicht, ihren Vormund zu ärgern, wie sie vorhin ihren Verlobten geärgert und geneckt hatte. »Herr Leath ist nach St. Mellions gekommen, um jemand zu suchen, Onkel Jasper.« »Was?« Er fuhr zusammen und stand dann wie erstarrt. »Um jemand zu suchen,« wiederholte Gräfin Florence gleichmütig. »Er hat es mir erzählt. Und der Jemand ist ein Mann. Apropos, er hat mir eine Frage gestellt, die ich an dich richten möchte. Kennst du einen Robert Bontine, oder hast du den Namen je gehört?« »Nein!« Er trat wieder auf die Terrasse hinaus. Florence folgte ihm mit den Augen. »Das habe ich mir schon gedacht. Nun, er ist nach St. Mellions gekommen, um den Mann aufzusuchen. Wenn du mich fragst, weshalb, so muß ich gestehen, daß ich das nicht weiß; aber er beabsichtigt, ihn aufzufinden, und ich glaube, es wird ihm gelingen. Ich sagte ihm, ich hätte den Namen nie gehört, und erzählte ihm, der einzige Robert, der zu uns in Turret Court in Beziehung stände, sei dein verstorbener Bruder, Onkel Jasper. Es ist natürlich ihn höchsten Grade unwahrscheinlich, aber ich dachte, ich wollte dich fragen, -- ich muß gestehen, es interessiert mich ein wenig, -- ob du je einen Namen Robert Bontine gehört hättest?« Sir Jasper hatte sich noch weiter aus dem Bereich des Fensters entfernt. Aus der linden Sommernacht klang seine Stimme langsam und scharf zurück. »Ich kenne keinen Robert außer meinem verstorbenen Bruder. Ich habe den Namen Robert Bontine niemals gehört.« 12. Es war ein außerordentlich heißer, drückender Tag gewesen. Seit dem Morgen hingen drohende Wolken tief am Himmel und verhüllten die Bergkuppen; über ihnen stand die Sonne wie eine strahlenlose, dunkelrote Feuerkugel; nicht der mindeste Lufthauch regte sich auf der Halde; die See rauschte nur leise plätschernd gegen das Gestade. In der Atmosphäre hatte jene beängstigende Schwüle gelegen, die einem heraufziehenden Gewitter voranzugehen pflegt. Die Dämmerung brach mit fast tropischer Plötzlichkeit herein. Everard Leath, der allein in seinem Wohnzimmer in Lychet Hut saß, blickte erschrocken auf, als jäh ein schwarzer Schatten auf die Seite des Buches fiel, die er gerade umschlug. Er legte den Band nieder und trat, die Zigarre zwischen den Lippen, an das eine der beiden weit offenstehenden Fenster. Das Zimmer reichte von einem Ende des Häuschens zum andern, und von diesem Fenster blickte man quer über den Garten nach dem Fahrwege hinüber, der nach Lychet Hook führte. »Bei Gott, es wird gleich losbrechen!« sagte er halblaut vor sich hin. Er wartete. Durch das schwere Gewölk zuckten grelle Blitze, auf die ein leises, dumpfes Donnergrollen folgte; der Wind erhob sich in heulenden Stößen, und dann rauschte und prasselte der Regen plötzlich wolkenbruchartig herab. Als Leath an das zweite Fenster eilte, um es zu schließen, da der Regen von jener Seite kam, wurde das fast dunkle Zimmer durch helle, blaue Blitze erleuchtet, und der Donner krachte immer näher. »Schlimmer noch als am Tage meiner Ankunft,« sagte er wieder vor sich hin. »Aber diesmal hat es nicht an warnenden Vorboten gefehlt. In diesem Unwetter möchte ich nicht auf der Halde sein. Die Leute, die behaupten, daß man sein Lebtag an die Rippondaleschen Gewitter denkt, haben recht. Dort ist wahrhaftig noch jemand unterwegs!« Der Hufschlag eines Pferdes, obwohl durch das Toben des Wetters übertäubt, tönte jetzt vernehmlich genug von der Landstraße herüber, wenn auch die Biegung des Weges Leath noch nicht erkennen ließ, wer es war, der dort nahte. Im nächsten Augenblick sprengten Roß und Reiterin durch die offenstehende Pforte quer durch den Garten und verschwanden um die Ecke des Hauses. Mit einem lauten Ausruf ungläubigen Staunens stürzte Leath auf die Tür zu, riß sie auf und kam doch, trotz seiner Hast, kaum rechtzeitig genug, um Florence Esmond aufzufangen und zu stützen, als sie aus dem Sattel sprang. »Sie müssen mich hierbleiben lassen,« rief sie keuchend, während sie sich an seinen Arm klammerte und taumelnd nach Atem rang. »Und die Stute auch, sie hat sich geängstigt, ich habe fast die Herrschaft über sie verloren. Hätte sie noch weiter gemußt, so würde sie ganz und gar mit mir durchgegangen sein.« »Natürlich -- natürlich!« Er faßte nach dem Zügel des erschreckten, sich bäumenden Tieres. »Gehen Sie, bitte, hinein, Gräfin, und lassen Sie mich die Tür schließen. Sie müssen bis auf die Haut durchnäßt sein.« Sie lief ins Haus. Leath führte das zitternde Pferd hinein, machte die Tür zu und führte die Stute durch den schmalen Korridor in die mit Steinfliesen gepflasterte Küche hinter dem zweiten Zimmer, die die andere Seite der einzigen Behausung bildete. Lychet Hut besaß einen Stall, aber er lag jenseits des Gartens, und bei einem solchen Wolkenbruch auch nur die paar Meter zu gehen, konnte nicht in Frage kommen. Einige Augenblicke verbrachte er damit, -- was er sehr gut verstand, -- das am ganzen Leibe bebende, in Schweiß gebadete Tier zu beschwichtigen und zu beruhigen, und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück. Die kurze Zeit hatte für Florence ausgereicht, sich dort schon fast heimisch zu fühlen. Ihr Hut und ihre Stulphandschuhe lagen auf dem Tische; sie schüttelte die Regentropfen von ihrem Reitkleide und wischte sie sich mit dem Taschentuche von Schultern und Armen. Mit einem Lachen blickte sie sich um, als Leath eintrat. »Dies soll ein neuer Patent-Tuchstoff sein,« sagte sie, »der keinen Tropfen Wasser durchläßt. Hoffentlich bewährt er sich, obwohl ich nicht glaube, daß der Verkäufer sich auch für eine Sintflut verbürgte.« »Ich hoffe, Sie sind nicht sehr naß?« »Nein -- dazu hatte ich keine Zeit. Ich war ganz in der Nähe, als der Regen anfing, und bekam nur den ersten Guß. Wie geht es Orange Lily?« »Der Stute? Ganz gut -- ich habe sie beruhigt.« »Das arme Geschöpf hat sich so geängstigt! -- Es war ein Glück, daß mir Lychet Hut einfiel, und daß Sie hier wohnen! Ich würde nie und nimmer über die Halde gekommen sein!« »Allerdings nicht. War es nicht recht unvernünftig, sich ins Freie zu wagen? Das Gewitter stand schon seit einigen Stunden am Himmel.« »Vielleicht. Aber -- o, was für ein Blitzstrahl! Sehen Sie! Ist es nicht wundervoll?« Sie wandte sich dem Fenster zu, und er mit ihr. Über ihnen krachte der Donner wahrhaft betäubend; der Regen goß in Strömen herab, zackige Blitze zuckten durch die nachtschwarzen Wolken, der Horizont erschien auf Augenblicke wie ein loderndes, blaues Flammenmeer. Im Schein der Blitze sah er Florence mit weitgeöffneten Augen und fest aufeinandergepreßten Lippen, bleich, mit angehaltenem Atem dastehen. Leath trat einen Schritt auf sie zu. »Sie ängstigen sich doch hoffentlich nicht?« fragte er in sanftem Tone. »Sonst ängstige ich mich nicht; ich habe unsere Gewitter gern. Aber das heutige hat etwas Furchtbares, nicht wahr? Man könnte fast glauben, die ganze Atmosphäre stände in Flammen! Es freut mich, daß ich nicht allein bin.« »Soll ich die Fensterläden vorlegen?« »Nein, lieber nicht.« »Dann müssen Sie sich setzen.« Er rollte einen großen Lehnstuhl herbei, in den sie sich mechanisch niederließ. »Es muß wenigstens bald vorüber sein,« meinte er, »so kann es nicht lange fortgehen.« »Ganz so schlimm nicht -- aber vor zwei oder drei Uhr morgens wird es kaum vorüber sein. Unsere Gewitter dauern gewöhnlich ziemlich lange, besonders wenn sie sich langsam zusammengezogen haben wie dieses.« Leath fuhr mit einem unwillkürlichen Stirnrunzeln zusammen und blickte sie unruhig an. Ihre Stimme hatte gelassen und unbefangen geklungen, und ihr Antlitz war ihm abgewandt, während er in das Unwetter hinausblickte. Es trat eine Pause ein, während der keiner von den beiden sprach. Dann trat er an den Tisch. »Es ist fast dunkel,« bemerkte er ruhig. »Es wird Ihnen gemütlicher sein, Gräfin, wenn ich die Lampe anzünde.« Er zündete die Lampe an und kehrte dann wieder zu ihr zurück; ehe er zu sprechen anhub, beobachtete er ein Weilchen, wie ihr lichtes Haar im gelben Lampenschein erglänzte. Ihr Liebreiz war ihm der bezauberndste, holdseligste, auf dem seine Augen jemals geruht, obgleich er sich streng sagte, daß er mit Frauenschönheit nichts zu schaffen habe. »Sie wollten mir erzählen, wie es gekommen, daß Sie ausgeritten?« sagte er. »Sie kamen also von Lychet Hook!« »Ja, -- ich war nach Brentwood Hall geritten. Ich habe Marion Lockyer, Lady Brentwoods Nichte, mit der ich seit unserer Kinderzeit sehr befreundet bin, sehr lieb. Marion, die auf einige Zeit aus Schottland zum Besuche eingetroffen, schrieb mir heute morgen und bat mich, zu ihr zu kommen. Das tat ich denn auch, und das erklärt die Sache.« Nichts hätte ungezwungener, freimütiger und herzlicher sein können als ihr Ton und ihr Benehmen. Von jener ›Höflichkeit gegen Untergebene‹, die Herr Chichester so gnädig geruht zu billigen, war nichts zu spüren. »Aber es ist keine Erklärung dafür, daß Sie den Heimritt gewagt, sollte ich denken. Wäre es nicht vernünftiger gewesen, wenn Sie dort geblieben?« »Ohne Frage, so wie sich die Dinge gestaltet haben.« Sie lachte. »Lady Brentwood wollte mich natürlich dort behalten, aber ich glaubte, ich würde noch vor Ausbruch des Gewitters nach Hause gelangen. Ich muß doch wohl nicht so wetterkundig sein, wie ich gedacht habe.« »Ich fürchte, man wird sich in Turret Court um Sie ängstigen.« Sein Benehmen verriet noch eine gewisse Unruhe, sein Ton war kurz und trocken und bildete den denkbar größten Gegensatz zu dem ihren. »Ach nun -- sie werden annehmen, daß ich dort geblieben! In Brentwood Hall wird man sich um mich ängstigen. Aber es ist einzig und allein meine eigene Schuld. Ich wollte durchaus fort und nicht einmal einen Reitknecht mitnehmen. Töricht -- nicht wahr?« »Sehr! Sie hätten bleiben sollen!« Die Worte wurden mit einer schroffen, scharfen Strenge gesprochen, an die Gräfin Florence Esmond durchaus nicht gewöhnt war. In solchem Tone hatte er noch nie zu ihr geredet. Aber sie nahm es nicht übel; der Blick, den sie ihm zuwarf, war halb belustigt und halb verwundert; -- welch peinliche Bestürzung und Ratlosigkeit ihn ihretwegen marterte, davon hatte sie noch nicht die leiseste Ahnung. »Sie sind nicht sehr liebenswürdig, Herr Leath!« Sie verzog schmollend die Lippen, aber sie war dem Lachen viel näher als dem Ärger. »Es war zu schlimm, Ihr Haus so buchstäblich im Sturme zu nehmen, das weiß ich, aber trotzdem brauchen Sie nicht so auszusehen, als wünschten Sie mich dahin, wo der Pfeffer wächst.« »Ich wollte allerdings, Sie wären in Brentwood Hall geblieben!« »Das scheint so.« Sie war so ahnungslos über den Grund seines Stillschweigens und der ungeduldigen Bewegung, die er machte, daß sie nur noch schelmischer lachte. »Ich muß gestehen, daß Sie weder sehr gastfrei noch sehr dankbar sind,« meinte sie vorwurfsvoll und schmollte wieder. »Sie wissen, daß ich Ihnen Schutz gewährte.« »Ich weiß. Das werde ich nie vergessen.« Er durchmaß das Zimmer ruhelos, dann kam er zurück und blickte mit unruhigem, unentschlossenem Ausdruck in den Zügen in ihr lächelndes Antlitz nieder. »Gräfin, Sie müssen wissen, daß Sie absichtlich die Wahrheit verkennen, wenn Sie so tun, als glaubten Sie, daß Sie mir nicht tausendmal willkommen sind, daß ich nicht mit Freuden alles und jedes für Sie täte, was in meiner Macht steht! Aber hier dürfen Sie nicht bleiben!« »Nicht hier bleiben? O, das muß ich aber.« Sie setzte sich in ihrem Stuhle aufrecht und blickte ihn mit verwunderten Augen an -- sie war aufrichtig erstaunt und überrascht; sie verstand ihn nicht im mindesten. »Sehen Sie doch nur -- hören Sie nur! Kann ich in diesem Unwetter über die Halde reiten? Nicht um die Welt täte ich das -- nicht, wenn ich ein Dutzend Leute bei mir hätte!« »Nein -- ich weiß -- ich weiß!« Er machte eine Handbewegung nach dem Fenster hin, gegen das der Regen mit unverminderter Heftigkeit schlug, und sein Gesicht verdüsterte sich noch mehr. »Ich weiß, es ist augenblicklich unmöglich,« sagte er. »Das meinte ich nicht. Aber das Gewitter kann vorüberziehen: in einer Stunde kann alles vorbei sein.« »Vielleicht -- aber nicht wahrscheinlich. Und die Landstraße wird in einen wahren Morast verwandelt sein -- wie immer nach einem unserer Gewitter. Es tut mir sehr leid, Herr Leath, aber ich fürchte, Sie werden mich bis zum Morgen hier behalten müssen.« »Es ist unmöglich, Kind!« In seiner Ratlosigkeit und Gereiztheit stampfte er mit dem Fuße; ihr unschuldiger Eigensinn und ihre arglose Gelassenheit trieben ihn fast zur Verzweiflung, obgleich er sich trotz allem einer Empfindung bitterer Lustigkeit nicht erwehren konnte. Aus ihren letzten Worten klang es wie verwundeter Stolz, wie eine Regung schmerzlichen Ärgers, was die Sache nur noch schlimmer machte. Sie war augenscheinlich nahe daran, böse auf ihn zu werden. »Es ist ausgeschlossen, daß Sie hier bleiben,« sprach er. »Was würden sie in Turret Court denken?« »Nichts, wie ich schon sagte. Sie werden glauben, ich sei bei Brentwoods geblieben.« Sie war noch zu bestürzt und erstaunt, um zornig zu werden; in dem Antlitz, das zu ihm aufblickte, lag nicht das leiseste Verständnis für die Situation. Aber als sie seinen Augen begegnete, errötete sie plötzlich bis zu den Haarwurzeln und wich, nach Atem ringend, zurück. »Ich glaube gar, Sie halten es für unpassend!« rief sie ungläubig, »und meinen, sie werden böse sein, weil ich hier bei Ihnen bin!« »Ich befürchte allerdings, daß Ihr Hiersein Sir Jasper und Lady Agathe verdrießen wird.« Er wagte nicht weniger und nicht mehr zu sagen, als sie ihn mit ihren großen, weitgeöffneten, empörten Augen anblickte. »Aber es ist so töricht -- so lächerlich! Keiner von uns ist doch schuld an dem Gewitter! Und konnte ich anders, als hierherkommen, und konnten Sie sich weigern, mich aufzunehmen? Kann einer von uns dem Regen und den Blitzen Einhalt gebieten? Böse? Wie können sie böse sein? Weshalb sollten sie? Wie kann irgend jemand darüber böse werden?« Er hätte ihr sagen können, wer, denn er dachte an Talbot Chichester, ihren Verlobten, an den sie bisher noch mit keinem Gedanken gedacht. Er hatte den namenlosen Stolz, die kleinliche Empfindlichkeit, die leicht verletzte Eigenliebe des Besitzers von Highmount wohl durchschaut, und erst am gestrigen Tage hatte ihm Roy Mortlake eine spöttische Schilderung entworfen über die Einwendungen, die ›der alte Chichester‹ gegen die Begegnungen und Unterhaltungen auf der Halde erhoben. Die kleine Cis hatte das, was ihre Cousine ihr halb grollend, halb lachend über das bewußte Gespräch mitgeteilt, ihrem Bruder wieder berichtet. »Nein, nein,« versetzte er hastig, »nicht auf Sie! Ich weiß, daß das ausgeschlossen ist. Und hätten Sie überall, nur nicht hier, Schutz gesucht, so hätte es nichts geschadet. Aber ich nehme mir wohl nicht zu viel heraus, wenn ich sage, daß ich in Turret Court nicht gut angeschrieben bin.« »Nein -- das ist wahr!« entfuhr es ihr unwillkürlich. »Sir Jasper kann Sie nicht leiden, obgleich ich nicht weiß, weshalb. Aber was bleibt ihm anders übrig -- was kann irgendeiner, der zu mir gehört, anderes tun -- als Ihnen für den Schutz danken, den Sie mir gewährt haben?« Ihre Wangen erglühten aufs neue, und sie hob hochmütig den Kopf -- er wußte weshalb. »Und was mich anbetrifft, wen gibt es, der es wagen würde, mich für etwas, das ich tue, zur Rechenschaft zu ziehen?« Ein heftiger Donnerschlag unmittelbar über dem Hause, der es bis in seine Grundfesten zu erschüttern schien, und ein flammender Blitz, der gerade zwischen ihnen niederfuhr, machte für den Augenblick eine Antwort unmöglich. Erst als das letzte Donnerrollen in der Ferne verklang, hub Leath langsam an: »Ich fürchte, es war unrecht von mir, so zu sprechen, wie ich getan habe, denn Sie haben recht: Wer, der Sie kennt, würde sich herausnehmen, etwas zu bekritteln, was Sie tun? Aber ich hoffe, Gräfin, Sie wissen, daß das nur geschah, weil ich an Sie und für Sie dachte.« Sie war vor dem grellen Blitz zurückgewichen und dabei wieder in ihren Stuhl gesunken. Von dorther antwortete sie ruhig und freundlich, obgleich auch mit einem Anflug von Kälte: »Gewiß, davon bin ich überzeugt, Herr Leath!« »Ich danke Ihnen. Ich muß wegen meiner Dummheit um Entschuldigung bitten -- es war verkehrt von mir. Allem Anschein nach werden Sie allerdings heute abend nicht mehr nach Turret Court gelangen können.« »Das fürchte ich auch. Es tut mir sehr leid.« »Mir auch, der Aufenthalt hier ist keineswegs so behaglich, wie er sein könnte.« Ihr Ton war jetzt förmlich und gezwungen, er dagegen hatte einen leichten und heiteren angeschlagen. »Selbst wenn das Gewitter vor Mitternacht vorüber sein sollte, -- und jetzt sieht es nicht darnach aus, -- ist es rätselhaft, wie Sie ohne einen Wagen, den ich nicht besitze, über die Halde kommen sollten. Sie müssen hier bleiben und es sich so bequem wie möglich machen, und ich will nach dem Bungalow hinübergehen -- das ist die nächste Behausung. Herr Sherriff wird mir schon ein Unterkommen für die Nacht gewähren. Daran hätte ich schon eher denken sollen.« »Nach dem Bungalow?« wiederholte Florence mechanisch. Sie fuhr wieder von ihrem Stuhl auf. »Das sollen Sie nicht!« sagte sie entschieden. »Sie wollen den weiten Weg -- fast dreiviertel Stunden -- in solch einem furchtbaren Gewitter machen! Sie würden bis auf die Haut durchnäßt -- Sie könnten vom Blitz erschlagen werden. Ich will es nicht, Herr Leath, -- ich gebe es nicht zu, -- Sie können unmöglich glauben, daß ich das dulden würde! Und außerdem würde ich ganz allein sein! Ich könnte es in diesem einsamen Hause, noch dazu bei diesem Gewitter, nicht aushalten! O, Sie müssen mich hier nicht allein lassen -- wirklich nicht! Ich glaube, ich würde vor Angst umkommen, ehe der Morgen anbräche.« »Nein -- nein -- Sie mißverstehen mich! Glauben Sie mir, es ist mir nicht eingefallen, Sie allein zu lassen,« antwortete Leath in sanftem Tone. Es berührte ihn sonderbar, das Zittern der Hand zu spüren, mit der sie sein Handgelenk umfaßte, wie dem angstvollen Flehen ihrer Augen zu begegnen. Dies war nicht Gräfin Esmond, die er zuerst kennen gelernt, auch nicht die Florence, die er auf der Halde getroffen, selbst wenn sie in ihrer zutraulichsten, liebenswürdigsten Stimmung gewesen, sondern ein furchtsames Geschöpfchen, das sich wie ein Kind schutzheischend an ihn klammerte. »Es würde mir nicht im Traume einfallen, Sie hier allein zu lassen,« sprach er beschwichtigend. »Sie kennen die Alte, die für mich sorgt -- Frau Young -- Sie kennen alle Welt in St. Mellions -- Sie werden in ihrer Obhut sicher geborgen sein.« »Ja -- ich -- das mag schon sein. Ich hatte sie vergessen.« Sie ließ seinen Arm los. »Aber, Herr Leath, Sie müssen sich nicht in dies Unwetter hinauswagen, nur weil ich hier bin. Es ist töricht -- abgeschmackt! Ich kann es wirklich nicht zulassen.« »Ich bin an Unwetter gewöhnt,« antwortete Leath heiter, »und gegen alle Unbill der Witterung gefeit. Mir schadet es nicht, bis auf die Haut naß zu werden, und der Blitz wird mich wohl nicht gerade erschlagen. Sie werden sich in Frau Youngs Obhut also nicht fürchten?« »Nein,« stammelte Florence zögernd, »ich glaube nicht, daß ich mich fürchten würde.« »Dann müssen Sie mich gehen lassen! In einer halben Stunde bin ich im Bungalow, und später, wenn das Gewitter nachläßt, will ich nach Turret Court gehen und Ihre Angehörigen wissen lassen, wo Sie sind. Es ist am besten so, glauben Sie mir.« »Gut,« gab das junge Mädchen mit Widerstreben nach. »Trotzdem möchte ich viel lieber, Sie täten es nicht, Herr Leath. Aber Sie warten wenigstens, bis der Regen ein wenig nachläßt? Es gießt in Strömen -- hören Sie nur! Und der Blitz -- sehen Sie!« Der Regen schlug klatschend gegen die Fenster, die Blitze waren noch ebenso blendend und ebenso häufig, der Donner klang noch ebenso nahe. Leath machte die Läden zu und zog die Vorhänge zusammen. »Sie werden weniger ängstlich sein, wenn Sie nicht hinaussehen,« sagte er. »Ich habe hier eine Menge Bücher; Sie müssen versuchen, sich mit ihnen die Zeit zu vertreiben, und das Gewitter vergessen. Ich will eine halbe Stunde warten, ich möchte, wenn es angeht, Ihr Pferd gern sicher in den Stall bringen, ehe ich fortgehe. Wenn Sie mich entschuldigen wollen, so will ich Frau Young aufsuchen und Sie ihrer Fürsorge bis morgen früh empfehlen.« Er verließ das Zimmer. Florence saß, ohne sich zu regen, und blickte mit einem bekümmerten Ausdruck in den Augen gerade vor sich hin; dabei entging es ihr nicht, wie häßlich, wie kahl und schmucklos der ganze Raum war, ohne etwas Hübsches oder Überflüssiges, außer Haufen von Büchern von allen Formen, Farben und Größen! Als Everard Leath seine Wohnung eingerichtet, hatte er augenscheinlich nur an das Notwendigste gedacht. Die Tür öffnete sich, und er kam wieder herein. Beim ersten Blick auf sein Gesicht rief das junge Mädchen unwillkürlich: »Was ist Ihnen?« »Es tut mir sehr leid, Gräfin,« sprach er hastig, »ich hatte ganz und gar vergessen, daß ich Frau Young erlaubt hatte, heute nachmittag auszugehen, sie ist nicht wiedergekommen. Das Gewitter muß sie zurückgehalten haben, daran habe ich nicht gedacht!« 13. Die beiden standen sich einen Augenblick gegenüber und sahen sich an, Leath mit düsterem, verstörtem Antlitz, während Florences Züge nur Erstaunen bekundeten. Dann trug ihr munteres Temperament und ihre Empfindung, daß die Situation wirklich etwas sehr Komisches hatte, plötzlich über ihre augenblickliche Fassungslosigkeit den Sieg davon. Es zuckte schelmisch um ihre Lippen, ihre Augen blitzten -- sie brach in ein silberhelles Lachen aus. »Frau Young sitzt wahrscheinlich wohlgeborgen in den Chichester Arms?« »Vermutlich.« »Und in dem Falle wird sie nicht zurückkommen?« »Nicht vor morgen früh, fürchte ich.« »Ich kenne sie und sage: sicherlich nicht! Es tut mir sehr leid, Herr Leath; ich weiß, daß ich Ihnen schrecklich im Wege bin, aber Sie können mich doch nicht an die Luft setzen.« »Es wäre das letzte, was mir in den Sinn kommen würde.« »Und es ist ebenso unmöglich, daß Sie fortgehen und mich hier allein lassen -- ich würde mich zu Tode ängstigen.« »Ich fürchte, es geht nicht. Ich würde es nicht gegen Ihren Willen tun.« »Ich danke Ihnen. Wir müssen uns also, so gut es geht, in das Unvermeidliche finden, nicht wahr?« »Ja -- das müssen wir wohl.« Ihre Befangenheit war verschwunden: ihre Stimme klang nicht mehr beklommen; in ihrem Lächeln lag keine Verlegenheit; ihm aber war die Sache noch immer peinlich und unbehaglich. Florence sah es, runzelte die Stirn und ging dann entschlossen ans Werk, seine Besorgnisse zu verscheuchen. Als sie auf ihn zutrat, dachte sie bei sich selbst, daß sie sehr nahe daran sei, ihn schließlich doch leiden zu mögen. Sie fühlte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen stieg, obgleich sie sich die größte Mühe gab, nicht rot zu werden. »Bitte, machen Sie sich keine unnötigen Sorgen mehr,« sagte sie freundlich, »wir sind beide das Opfer der Umstände.« Sie lachte munter auf. »Ich bin doch nicht die verfolgte Heldin oder Sie der abgefeimte Schurke des Schauerdramas? Wir sind nur ein paar ganz gewöhnliche Sterbliche, die verständigerweise nicht Lust haben, in den Wasserfluten zu ertrinken. Sagten Sie nicht, Sie wollten versuchen, es meiner Stute für die Nacht behaglich zu machen? Wenn Sie mir den Weg zeigen wollen, so kann ich Ihnen vielleicht helfen, zum Beispiel das Licht halten. Aber ich fürchte, Sie müssen ihr die Augen verbinden, wenn Sie sie nach dem Stall bringen. Es blitzt noch ebensooft wie vorher, und sie ängstigt sich schrecklich.« Sie schritt auf die Tür zu. Leath blieb nichts anderes übrig, als sein Unbehagen zu verbergen, sich in das Unvermeidliche zu finden, so gut er konnte, und ihr zu folgen. Er nahm sie mit in die Küche, wo er das Pferd gelassen, und während sie das noch zitternde Tier streichelte und liebkoste, nahm er ihm behutsam den Sattel ab. Dann warf er einen großen wasserdichten Kutschermantel über, verband der Stute die Augen und führte sie hinaus. Florence stand in der offenen Tür und hielt eine Lampe hoch empor, um ihm zu leuchten. Der Donner war nicht mehr ganz so nahe, aber die Blitze flammten noch unaufhörlich, der Regen goß in Strömen herab, der Garten war in einen Morast verwandelt und der Pfad in einen Bach. Als Leath wieder ins Haus zurückging, nachdem er die Stute in dem Stand neben seinem eigenen Pferde untergebracht hatte, das es mit jedem Rosse, das in den Stallungen von Turret Court oder Highmount zu finden war, aufnehmen konnte, spritzte das Wasser hoch über die hohen Reitstiefel, die er trug, empor. An ein Überschreiten der Halde war heute abend nicht zu denken, das lag auf der Hand! Die Lampe, die Florence für ihn gehalten hatte, stand auf dem Tische, als er wieder in die Küche trat, aber sie selbst war nicht dort. Er entledigte sich seiner Stiefel und seines Regenmantels und ging ins Wohnzimmer zurück. Sie stand am Tische; er sah, daß sie sich ihm lebhaft zuwandte. »Wie lange das gedauert hat!« meinte sie. »Ich fing schon an zu glauben, Sie hätten mir Ihr Wort gebrochen und wären fortgegangen. Ist die Stute ruhig?« »Völlig -- und gut versorgt. Ich bin zum Glück kein schlechter Reitknecht.« »Es ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie sich so viel Mühe gemacht haben.« Sie war wirklich dankbar, denn Orange Lily war ihr besonderer Liebling, und sie schenkte ihm ein Lächeln, das jeden Mann belohnt haben würde. »Hat der Regen nachgelassen?« »Kaum. Es ist gut, daß das Haus hoch liegt, sonst würden wir Gefahr laufen, überschwemmt zu werden.« Sie blickte ihn mit verändertem Ausdruck an. »Wissen Sie, Herr Leath, daß Ihre Uhr eben acht geschlagen hat?« »Ist es schon so spät? Nein -- das wußte ich nicht. Sind Sie müde?« »Gar nicht! Müde um acht Uhr? Aber ich bin schrecklich hungrig. Wissen Sie wohl, daß ich gar nicht zu Mittag gegessen habe?« »Auf mein Wort, daran habe ich gar nicht gedacht! Ich muß um Entschuldigung bitten! Frau Young gibt mir mein Essen gewöhnlich mittags, und --« »Und abends ein Abendbrot!« fiel Florence schnell ein. »Ja, das meinte ich. Ich wollte nur sagen, daß es wohl Zeit zum Abendessen sein müsse. Zeigen Sie mir die Speisekammer und wo Sie Ihr Tischtuch und Ihre Teller aufbewahren, und ich will Ihnen helfen.« Wieder blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu fügen und ihr zu folgen, obgleich sie sich draußen in der Küche viel gewandter als er im Auftreiben des Tischtuches und alles sonstigen Erforderlichen erwies. Messer, Gabeln, Löffel, Teller, Gläser und Plattmenage -- sie fand sie alle und lachte mit drolligem Vergnügen über ihre eigene Pfiffigkeit und vor Freude über die ungewohnte Beschäftigung; ihr fröhliches Lachen war einfach unwiderstehlich. »Es ist wie ein Picknick,« erklärte sie lustig, »ich finde es famos! Eigentlich ist es ein Spaß, daß Frau Young nicht hier ist, sonst hätte sie dies alles getan. Wissen Sie wohl, daß ich wirklich glaube, ich möchte arm sein -- das heißt arm genug, um mich mitunter selbst bedienen zu müssen?« »Ich bezweifle, daß es Ihnen gefallen würde,« antwortete Leath geradezu. Er selbst hatte nicht viel mehr getan, als ihr zugesehen, wie sie im trüben Lampenschein durch die Küche huschte, und die verschiedenen Gegenstände, die sie ihm mit allerhand Anweisungen reichte, gehorsam auf ein Teebrett gestellt. »Nach acht oder vierzehn Tagen, Gräfin, würden Sie wohl anderer Ansicht werden.« »O, das weiß ich doch nicht recht! Wirkliche Armut ist natürlich schrecklich --« »Das ist sie!« fiel er ihr mit bitterem Auflachen ins Wort, und sein Gesicht wurde plötzlich finster, »davon kann ich mitreden, sie ist mir mein Leben lang zur Seite geblieben, bis vor etwa zwei Jahren.« »Aber das meinte ich nicht,« fuhr Florence fort, »nur, daß ich glaube, es lebt sich freier und leichter ohne so viel Geld und so viel Würde und so viel Dienerschaft. O, das ist mitunter sehr lästig, die Versicherung kann ich Ihnen geben -- jedenfalls empfinde ich es als eine Last. Ich glaube, wir haben jetzt alles, nicht wahr? Tragen Sie das Teebrett; ich nehme das Tischtuch, und wir wollen den Tisch decken.« Der Tisch wurde im Triumph gedeckt; dann ging es in die Speisekammer, und der größere Teil ihres Bestandes wurde auf einem anderen Teebrett in das Wohnzimmer befördert. Als sie eine Schale mit Rosen als letztes mitten auf den Tisch gestellt hatte, betrachtete Florence ihr Werk mit drolligzufriedener Miene. »Es sieht wirklich sehr nett aus,« meinte sie. »Wenn Sie kein schlechter Reitknecht sind, Herr Leath, so darf ich wohl sagen, daß ich kein schlechtes Stubenmädchen abgeben würde. Dort ist Ihr Platz, bitte, und hier sitze ich, denn ich glaube nicht, daß ich Enten zerschneiden könnte, ebensowenig, wie ich imstande wäre, sie zu braten.« »Das würde peinlich sein, wenn Sie arm wären, nicht wahr?« fragte Leath trocken, während sie sich setzte und er gehorsam seinen Platz einnahm. Er sprach ernst, aber sein Gesicht hatte seinen verstörten Ausdruck verloren -- er drängte alle unangenehmen Erwägungen entschlossen zurück. Für den Augenblick konnte er nichts anderes tun, als die Wonne ihrer Nähe auf sich einwirken zu lassen und auf ihre heitere Stimmung einzugehen, so gut er konnte. »Bah! Nur ein Weilchen! Ich würde mir ein Kochbuch kaufen und es lernen. Dabei fällt mir ein, daß ich jetzt wunderschönen Kaffee machen kann; deshalb bat ich Sie, den Kessel auf die Spiritusmaschine zu setzen. Nach dem Abendessen wollen wir Kaffee trinken.« Das Gewitter tobte noch mit fast unveränderter Heftigkeit weiter, als sie nach einer Weile in die Küche zurückkehrte, um Kaffee zu kochen, und auch noch nach mehr als einer Stunde, als Florence plötzlich ein Gähnen nicht zu unterdrücken vermochte, während sie sich in ihren großen Korbstuhl zurücklehnte. »Ich glaube, ich werde müde,« sagte sie, »und es ist doch erst zehn Uhr! Sie müssen das auf Rechnung meiner ungewohnten Anstrengung setzen, den Kaffee zu machen und das Abendbrot herzurichten. Aber daran ist mein Mangel an Übung schuld, wissen Sie.« Sie blickte lachend zu ihm hinüber. »Sie haben Orange Lily in ihren Stall gebracht; jetzt muß ich Sie, glaube ich, bitten, mir meinen zu zeigen!« »Sofort, wenn Sie müde sind. Es ist das Zimmer an der anderen Seite -- quer über dem Vorplatz. -- Hoffentlich machen Sie sich nichts daraus, daß es im Erdgeschoß liegt?« »Nicht im mindesten.« Sie hielt zögernd inne. »Aber das ist Ihr Zimmer, nicht wahr?« »Es ist das einzige im Hause, außer diesem, ausgenommen die Küche und Frau Youngs Dachstübchen, wo ich Sie entschieden nicht unterbringen kann.« Er lachte, denn mit einer grimmigen Grimasse schüttelte sie bei der Erwähnung der Bodenkammer den Kopf. »Es tut mir sehr leid, daß meine Behausung räumlich so beschränkt ist, Gräfin.« »Das glaube ich gern -- und zwar, daß es Ihnen um Ihrer selbst willen leid tut, da ich Sie so ohne Umstände aus Ihrem Gemache vertreibe.« Sie besaß zu viel Takt, um Einwendungen zu machen -- sie nahm die Dinge, wie sie lagen. »Und was wollen Sie tun, Herr Leath? Wohl mit einer Decke Ihr Nachtlager auf der Chaiselongue aufschlagen?« »Ja, das ist meine Absicht.« »Ich fürchte, das wird schauderhaft unbehaglich für Sie werden!« »Wenn Sie wüßten, wie oft ich im Freien übernachtet habe, so würden Sie das nicht denken.« Er stand auf und trat an einen Seitentisch. »Sollten Sie nicht schlafen können oder sich in der Nacht ängstigen, so tröste Sie der Gedanke, daß ich Sie hiermit beschirme.« »O!« Sie wich vor dem Revolver, den er ihr entgegenhielt, zurück. »Haben Sie das gräßliche Ding immer bei sich, und geladen?« »Freilich. Ich tat es in Queensland, wenn ich draußen kampierte, und da dies Haus ziemlich einsam liegt, habe ich dies Paar immer in Bereitschaft. Es ist gut, vorsichtig zu sein. Sie würden sich sicherer fühlen, wenn Sie einen mit in Ihrem Zimmer hätten.« »Ich sollte ein solches Ding mitnehmen? O, nicht um die Welt!« -- Unwillkürlich wich sie noch weiter zurück. »Ich wäre bange, es nur anzurühren, und wenn ich jemand erschösse, so würde vermutlich ich selbst es sein. Außerdem fürchte ich mich nicht, wenn Sie hier sind. Weshalb sollte ich auch?« »Weshalb, in der Tat?« Mit einem seltsamen Lächeln, das sie nicht sah, legte er den Revolver nieder. Sie hatte sich jetzt ebenfalls erhoben und sah ihm zu, während er ein Licht herbeiholte und es für sie anzündete. »Herr Leath,« sagte sie unsicher, »-- und morgen früh?« »Ja?« fragte er, als sie zögernd innehielt. »Sie werden nicht sehr früh nach Turret Court gehen, um ihnen zu sagen, wo ich bin, und daß sie mir den Wagen schicken möchten?« »Nicht, ehe Frau Young kommt. Dann aber, sobald ich kann. Ist Ihnen das recht?« »O ja!« Sie blickte von ihm fort. »Ich wollte nur vorschlagen, daß es besser wäre, wenn Sie nach Lady Agathe anstatt nach Sir Jasper fragten. Und wenn Sie zu früh kommen, so wird sie noch nicht unten sein.« Sie hatte ganz vergessen, wie sie ihm in ihrem Ärger und ihrer Verwunderung mit dürren Worten gesagt hatte: »Sir Jasper kann Sie nicht leiden!« und errötete jetzt in peinlicher Verlegenheit bei dem Gedanken, er könne durchschauen, weshalb sie diesen Vorschlag mache, denn sie ahnte nicht, daß er ebensoviel wußte, wie sie ihm sagen konnte. Er verstand das und antwortete vorsichtig, damit sie solche Kenntnis nicht bei ihm voraussetzen sollte: »Ich hätte sowieso nach Lady Agathe gefragt. Es freut mich, daß es das Richtige gewesen sein würde. Vielleicht könnte ich vorschlagen, daß Fräulein Mortlake Sie mit dem Wagen abholte? Was meinen Sie dazu?« »O, Cis wird sicherlich kommen.« Sie ergriff das Licht. »Ich danke Ihnen, Herr Leath. Nun will ich Ihnen gute Nacht wünschen.« »Ich werde Ihnen den Weg zeigen.« Er ging mit ihr über den schmalen Korridor, machte die Tür auf und ließ sie eintreten. »Ich will hier einen Augenblick warten,« sagte er ruhig, »während Sie Umschau halten, ob Ihnen irgend etwas fehlt. In dem Falle kommen Sie und sagen es mir, damit ich es Ihnen bringen kann, wenn es hier zu beschaffen ist.« Es fehlte an nichts, und nach einem Weilchen steckte sie den Kopf durch die Tür, ihm das zu sagen, gab ihm die Hand und wünschte ihm Gutenacht. Dann machte sie die Tür zu, und er kehrte wieder ins Wohnzimmer zurück, wo er gleich darauf die Lampe auslöschte und sich aufs Sofa streckte, den Revolver dicht neben sich, wie er manch liebes Mal unter dem weiten blauen australischen Himmel getan. -- Ein fast ebenso blauer Himmel grüßte ihn, als er am nächsten Morgen erwachte -- das Gewitter war ganz vorüber, und die Sonne schien hell. Er stand leise auf und horchte an der Schlafstubentür, aber außer Gräfin Florences leichtem Atmen, das sein scharfes Ohr vernahm, ließ sich drinnen kein Laut hören. Sie schlief anscheinend. Er schob den Riegel der Haustür vorsichtig zurück, damit er sie nicht störe, und verbrachte die Zeit, die bis zu Frau Youngs Eintreffen verging, damit, im Sonnenschein auf und ab zu gehen. So hell und warm die Sonne auch schien, denn sie stand schon hoch, -- ihm hatten die ersten Nachtstunden keinen Schlummer gebracht, und er hatte viel länger als sonst geschlafen, -- so hatte sie doch die nassen Spuren des Gewitters noch lange nicht aufgetrocknet. Der Weg, in dem er auf und nieder schritt, war ein rieselnder Bach; eine große Wasserlache stand jenseits der Pforte; die Gartengewächse, Blumen sowohl wie Gemüse, lagen ganz verregnet, beschädigt und geknickt da. Einmal blieb Leath stehen und sah sich um. »Da sie überhaupt hier Zuflucht gesucht,« sagte er laut, »freut es mich, daß das Gewitter so heftig gewesen. Ja -- je schlimmer es war, desto besser.« Frau Young erschien bald darauf und war sehr verwundert, ihren Herrn ihrer wartend zu finden. Sie erging sich in wortreichen Entschuldigungen über ihr Ausbleiben am vorigen Abend. Leath schnitt ihr ohne Umstände das Wort ab, führte sie in die Küche und setzte sie dort von Gräfin Florences Anwesenheit in Kenntnis. Dann frühstückte er hastig im Stehen, sattelte sein Pferd und schlug den Weg nach Turret Court ein. Er ritt im schlanken Trabe, denn ihm lag daran, die unangenehme Aufgabe, die er vor sich hatte, möglichst schnell zu erledigen. Nachdem er, so rasch es der Zustand der durchweichten Wege gestattete, an seinem Bestimmungsorte angelangt war, fragte er pflichtschuldigst nach Lady Agathe. Der Diener, der den frühen Besuch verwundert anstarrte, wußte nicht gewiß, ob die Gräfin schon unten sei, und ersuchte ihn, näherzutreten und zu warten, während er sich erkundigte. Leath trat in das bezeichnete Zimmer und wurde dort allein gelassen. Es war die Bibliothek, und er schaute sich voll Interesse um. Bei dem einen unglücklichen Besuch, den er Turret Court abgestattet, war der Speisesaal das einzige Zimmer gewesen, das er betreten. Dies Gemach gefiel ihm besser: groß und hoch, war es ein schöner Raum. Nachdem er einen allgemeinen Überblick gewonnen, trat er an eines der Bücherregale und musterte die Titel der dort aufgereihten Bände. Da öffnete sich die Tür, und er wandte sich um. Aber nicht Lady Agathe, sondern Sir Jasper selbst trat ein. War ihm die Bestellung gemacht worden, oder hatte er einfach seine Frau den Mann nicht empfangen lassen wollen, dem gegenüber er es für gut befunden, eine bittere und durch nichts veranlaßte Abneigung zur Schau zu tragen? Beide Fragen legte sich Leath vor, während er sich umwandte. Beide wurden sofort beantwortet. Sir Jasper hatte nichts von seiner Anwesenheit in dem Zimmer gewußt, denn als ihre Augen sich begegneten, trat ein Ausdruck der Wut, des Staunens und -- ja, war es des Schreckens? -- in sein glattes, schönes Antlitz. Sein jähes Erblassen ließ allerdings auf ein Erschrecken schließen. Er stieß einen heiseren Wutschrei aus und sprang mit erhobener Hand auf den anderen zu, als wolle er ihn niederschlagen. 14. Everard Leath wich vor des Barons erhobener Hand und seinem wutverzerrten, erstaunten, erblaßten Antlitz nicht zurück. Seine eigene Verwunderung hielt ihn gleichsam im Bann, aber selbst wenn dem nicht so gewesen, würde er keine ausweichende Bewegung gemacht haben. Er hätte es in jedem Falle mit dem schlanken, grauköpfigen älteren Manne in seinem tadellos sitzenden schwarzen Überrock aufnehmen können. Es lag ebensoviel spöttische Belustigung wie kühles Erstaunen in seinem Ausdruck. Sir Jasper hielt inne und ließ die Hand sinken. »Was -- was wollen Sie?« Die Worte wurden hervorgestoßen, als seien Zunge und Kehle trocken, aber Leaths Antwort erfolgte umgehend. Seine Belustigung stieg. »Nichts von Ihnen, Sir Jasper -- nicht einmal an die Luft gesetzt zu werden. Ich komme nicht in eigener Angelegenheit und auch durchaus nicht zu meinem Vergnügen. Und gestatten Sie mir die Bemerkung, daß ich nicht nach Ihnen gefragt habe. Ich wünschte Ihre Frau Gemahlin zu sprechen.« »Meine Frau?« wiederholte der andere langsam. Er sprach noch ebenso heiser und undeutlich, schien sich aber Mühe zu geben, seine Fassung wiederzuerlangen. Ein Stuhl stand neben ihm, und er legte eine Hand auf die Lehne, um sich zu stützen. »Ich -- ich begreife nicht, Herr Leath,« sagte er in seiner gewohnten, hochfahrenden Art, »was Sie meiner Frau zu sagen haben können.« »Natürlich nicht,« stimmte ihm Leath gelassen bei. »Ich habe Lady Agathe allerdings nichts zu sagen, was mich angeht, sondern bin nur der Überbringer einer Bestellung an sie.« »Einer Bestellung?« »Ja, -- einer Bestellung Ihres Mündels.« »Meines Mündels?« Das Gesicht des Barons zeigte jetzt Ungläubigkeit anstatt der namenlosen Wut, die es noch eben zur Schau getragen. »Ist es möglich, daß Sie von der Gräfin Florence Esmond reden, Herr Leath?« »Ich spreche allerdings von der Gräfin Florence.« Das spöttische Lächeln war jetzt aus Leaths Antlitz verschwunden. Er sprach mit ruhiger Gelassenheit. »Ich habe Lady Agathe oder, in ihrer Abwesenheit, Ihnen, Sir Jasper, zu bestellen, daß sie -- die Gräfin -- unglücklicherweise gestern abend von dem Gewitter überrascht worden ist.« »Von dem Gewitter? Sie ist in Brentwood Hall geblieben!« »Nein -- leider nicht. Sie verließ Brentwood Hall kurz vor dem Ausbruch des Gewitters, in dem Glauben, daß sie noch vorher heimgelangen würde. Zum Glück brach es nicht los, bis sie fast Lychet Hut erreicht hatte.« »Lychet Hut? Sie meinen doch nicht das Haus, in dem Sie wohnen?« »Freilich meine ich das, Sir Jasper. Ich kenne kein anderes, das so heißt. Und ich preise mich glücklich, daß ich dort war, um der Gräfin ein Obdach anbieten zu können. Ihre Bestellung --« »Wollen Sie damit sagen, daß sie dort ist -- seit gestern abend dort ist?« fragte Sir Jasper barsch. »Zweifelsohne. Es war unmöglich, daß sie sich dem Unwetter aussetzte. Selbst wenn ich ihr einen Wagen hätte zur Verfügung stellen können, -- was nicht der Fall ist, -- wäre es nicht ausführbar gewesen. Sie wollte davon nichts hören, daß ich sie allein ließ, sonst würde ich versucht haben, auf irgendeine Weise hierherzugelangen, um Sie von ihrem Aufenthalt in Kenntnis zu setzen. Sie läßt Sie bitten, ihr sofort einen Wagen zu schicken und ihr Pferd durch einen Reitknecht holen zu lassen. Das ist alles, womit ich Sie zu behelligen habe. Guten Morgen!« Er verließ das Zimmer; der Baron stand noch immer bleich und zornbebend da und umklammerte die Stuhllehne mit einem sonderbaren Ausdruck im Gesicht, der weder Erstaunen noch Ärger ausdrückte, sondern etwas viel Schlimmeres. Draußen berührte plötzlich eine kleine Hand Leaths Ärmel, und als er sich umwandte, sah er sich Cis gegenüber. »O, Herr Leath, ich wollte gerade hereinkommen, und habe gehört, was Sie erzählten! Wie schrecklich für die arme Florence, von dem Gewitter überrascht zu werden! Aber welch ein Glück, daß Sie da waren! Geht es ihr heute morgen gut?« »Hoffentlich; sie ist gerade noch trocken davongekommen; sie schlief noch, als ich fortging, und daher habe ich sie nicht gesehen,« antwortete Leath und blickte lächelnd in die hübschen blauen Augen, während er die freundliche kleine Hand umschlossen hielt. Cis war stets freundlich zu ihm, besonders seitdem Harry Wentworth angefangen, ihn in Lychet Hut zu besuchen, während Leath andererseits oft gedacht hatte, welch ein holdes, liebenswürdiges Schwesterchen sie abgeben würde und in der Tat auch für Roy abgab! »Wir glaubten natürlich alle, daß Florence in Brentwood Hall geblieben wäre. Sonst hätte ich mich wohl halbtot um sie geängstigt. Der Wagen soll sie gleich nach dem Frühstück holen -- bis dahin muß sie warten, da ich natürlich mitfahren werde. Sagen Sie ihr das, bitte, Herr Leath.« »Gräfin Florence erwartet Sie, wie ich weiß,« antwortete Leath ruhig, »aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht versprechen, ihr das auszurichten, Fräulein Mortlake. Ich reite nach dem Bungalow. Vielleicht sind Sie so gut, das Ihrer Cousine zu sagen und mich bei ihr zu entschuldigen.« »Natürlich. Aber es ist eigentlich sonderbar, daß Sie nicht nach Hause zurückkehren, da Sie sie heute morgen noch nicht gesehen haben. Sie wird Ihnen danken wollen,« meinte Cis. Sie wunderte sich über den Ausdruck seines ernsten Gesichtes, den sie sich nicht zu erklären vermochte. »Wollen Sie nicht bleiben, bis Mama herunterkommt? Auch sie wird Ihnen danken wollen.« »Dank ist ganz überflüssig,« antwortete Leath in seiner kurzen Art. »Was ich für die Gräfin getan habe, Fräulein Mortlake, war das mindeste -- in der Tat das einzige, was ich unter den Umständen für sie tun konnte. Sie können Ihrer Frau Mutter alles viel besser erzählen, als ich es vermöchte. Guten Morgen! Hoffentlich wird Ihrer Cousine ihr kleines Abenteuer nicht schaden.« Sein Gesicht war ernst und finster, als er das Haus verließ und zu dem Platze ging, an dem er sein Pferd gelassen. »Sonderbar!« sagte er zu sich selbst. »Nein, mehr als das -- unerklärlich! Ich bin davon überzeugt, daß mein letzter Verdacht so unbegründet ist, wie mein erster war. Ich weiß, daß jener Tote, Robert Mortlake, nicht Robert Bontine war -- nicht gewesen sein kann. Und dennoch scheint dieser Mensch, sein Bruder, bei meinem bloßen Anblick einen tödlichen Schrecken zu empfinden! Er kann mich nicht leiden -- hat etwas gegen mich -- das ist wahr! -- Aber ist das hinreichend, um ein solches Gebaren zu erklären?« * * * * * Lady Agathe, die durch ihre Tochter und ihren Gatten -- von ersterer mit beredtem Wortschwall, von letzterem mit schroffer Kürze -- von dem Abenteuer ihrer Nichte und ihrem jetzigen Zufluchtsorte in Kenntnis gesetzt worden, beeilte sich mit dem Frühstück und dem Ankleiden und fuhr sofort über die Halde nach Lychet Hut. Sie war entsetzt, empört, bekümmert, erschrocken -- die verschiedenartigsten Gefühle stürmten auf die sanfte, schlichte Frau ein, für die das Außergewöhnliche immer etwas Unrechtes war. Die unschuldige Cis, die neben ihr saß, hatte nicht das geringste Verständnis für die nervöse Unruhe der Mutter. Der Vorfall war natürlich etwas unangenehm für Florence gewesen, aber nach ihrer Ansicht doch eigentlich ein ›famoser Spaß‹. Gräfin Florence, die beim Frühstück saß, das die verwunderte und noch immer bestürzte Frau Young sorgfältig für sie hergerichtet hatte, hörte Räderrollen auf der durchweichten Landstraße und sah den Wagen vor der kleinen Pforte halten, durch die sie am vorhergehenden Abend auf ihrem erschreckten Pferde geritten. Es war klar, daß sie erwartet, eine dritte Gestalt neben ihrer Tante und Cousine zu sehen, denn ihr Gesicht umwölkte sich auf einen Augenblick. Die Pforte war zu eng, um den Wagen durchzulassen, und Lady Agathe stieg, auf den Arm des Bedienten gestützt, vorsichtig aus. Cis dagegen bedurfte keiner Hilfe und lief den schlammigen Pfad hinauf, während Florence ihr bis an die Tür des Zimmers entgegeneilte und von der warmherzigen kleinen Cousine mit einer herzlichen Umarmung begrüßt wurde. »O Florence, was für ein Abenteuer!« rief Cis und drückte sie innig an sich. »Und welch ein Glück, daß Herr Leath hier war! Du hättest in Brentwood bleiben sollen. Wie furchtbar, von dem Unwetter überrascht zu werden! Als ich Herrn Leath meinem Vater davon erzählen hörte, fiel ich fast in Ohnmacht.« »Das wäre unnötig gewesen, Liebste,« meinte Florence lächelnd und erwiderte den Kuß ihrer Cousine aufs innigste. »Mir hat es nicht geschadet, wie du siehst. Ist Herr Leath nicht mit euch zurückgefahren?« »Er wollte nicht. Vielleicht ist Vater wieder wunderlich gegen ihn gewesen -- ich glaube es fast. Er erzählte mir, er habe dich heute morgen noch nicht gesehen, und ich meinte, du würdest ihm gewiß gern danken wollen, aber davon nahm er weiter keine Notiz -- du weißt, was er für ein sonderbarer, halsstarriger Mensch ist. Er sagte, er wolle nach dem Bungalow reiten, und bat mich deshalb, ihn zu entschuldigen, was ich hiermit tue, mein Herz! Welch ein kahles, häßliches Zimmer, nicht wahr? Wie in aller Welt kann er hier nur allein hausen? Mich würde es verrückt machen! Dich nicht auch?« Florence antwortete nicht. Lady Agathe kam langsam den Gartenpfad herauf, und sie hatte einen Blick auf ihr blasses, verstörtes Gesicht geworfen. Mit schnell gerunzelten Brauen wandte sie sich nach ihrer Cousine um. »Cis, was fehlt Tante? Sie sieht aus, als hätte sie geweint.« »Ach, ich weiß nicht! Sie hat sich sehr aufgeregt,« meinte Cis inkonsequent. Lady Agathes Eintritt verhinderte Florence, die plötzlich bleicher geworden, an einer Antwort. Sie ging der Eintretenden mit blitzenden Augen entgegen. »Es tut mir leid, Tante Agathe, daß du dich zu so ungewöhnlich früher Stunde herausgemacht hast! Es wäre genug gewesen, wenn Cis mich abgeholt hätte, wenn es nötig war, daß überhaupt jemand kam. Nimm diesen Korbstuhl -- er ist sehr bequem; ich habe gestern den ganzen Abend darin gesessen.« »O, liebes Kind, weshalb bist du nicht in Brentwood geblieben, wie wir natürlich angenommen haben?« »Weil ich eigensinnig und tollkühn war und geglaubt habe, ich würde vor Ausbruch des Gewitters heimgelangen,« antwortete Florence kurz. Sie stand in aufrechter Haltung da; ihre grauen Augen blitzten. »Ich gebe zu, daß es töricht war, den Versuch zu unternehmen. Ist Onkel Jasper deshalb so schrecklich böse? Er sollte doch meine Unbesonnenheit gewohnt sein!« »Deshalb natürlich nicht, liebes Kind!« Lady Agathes Kummer war zu groß -- sie begann zu weinen. »Du mußt doch verstehen, wie ich es meine, Florence. Du bist kein Kind mehr, obwohl du so unbesonnen bist. Du mußt wissen, daß dein Hierbleiben, in diesem elenden Hause, bei Herrn Leath -- einem Menschen nebenbei, von dem niemand irgend etwas weiß, besonders, wo dein Onkel ihn so gar nicht leiden kann, -- nicht -- nicht --« »Passend war!« ergänzte Florence kalt. »Das schien Herr Leath ebenfalls zu finden. Wenigstens sagte er es mir.« »Er sagte es dir?« wiederholte Lady Agathe entsetzt. »Ja. Ich war sehr böse darüber, aber er scheint die Sache richtiger aufgefaßt zu haben als ich. Er wollte durchaus in das Unwetter hinaus und mich hier lassen; er wollte nach dem Bungalow. Ich willigte ein, obgleich ich es ebenso albern und überflüssig fand, wie ich es jetzt noch finde. Aber wir entdeckten, daß sein dienstbarer Geist nicht hier sei: das Gewitter hatte ihn in St. Mellions zurückgehalten. Da wollte ich ihn nicht gehen lassen; mir war bange, hier allein zu bleiben.« »Seine Dienerin -- die Person, die die Haustür aufmachte -- war nicht hier?« rief Lady Agathe. »Nein. Bis zum Morgen, wo sie wiederkam, war niemand hier -- niemand außer uns beiden,« antwortete Florence. Sie war jetzt sehr blaß; ein Lächeln, das sehr verschieden von ihrem gewöhnlichen Lächeln war, spielte um ihre Lippen. Cis blickte sie fast erschrocken an. »Ach, großer Gott!« jammerte ihre Mutter mit schwacher Stimme. »Es ist sogar noch schlimmer, als ich geglaubt habe, Florence. O, sieh nicht so böse aus, liebes Herz! Du weißt, ich mache dir keine Vorwürfe -- ich denke nur daran, was die Leute sagen werden. Und in Rippondale wird so viel geklatscht -- das weißt du recht gut! Natürlich ist es nicht deine Schuld, daß du hierher kamst, aber du hättest nicht bleiben sollen -- wirklich nicht.« Florence verteidigte noch einmal ihre Handlungsweise und die des Herrn Leath. Sie bebte vor Zorn und Ärger und verletztem Stolze. Bei einem Blick auf sie brach Lady Agathe aufs neue in Tränen aus. »Du mußt doch wissen, daß ich nur deinetwegen so besorgt und bekümmert bin,« rief sie schluchzend aus. »Ach, es ist eine unleidige Geschichte! Ich hoffe nur, daß sie der Herzogin nicht zu Ohren kommt. Und mir ist bange; es wird ganz unmöglich sein, sie vor Chichester geheimzuhalten!« »Ganz unmöglich! Ich selbst will sie, wenn nötig, Chichester erzählen.« »Er ist so merkwürdig -- so eigen,« jammerte Lady Agathe, »und unglücklicherweise -- ich muß sagen, es war sehr unrecht und unvorsichtig, mein Kind -- haben dich die Leute mit diesem Herrn Leath auf der Halde sprechen sehen. Chichester erwähnte es erst gestern gegen mich und schien sehr verstimmt darüber, und was er sagen wird, wenn er von dieser --« Sie brach ab. Florence, die nicht mehr ertragen konnte, wandte sich mit jäh ausbrechender Heftigkeit zu ihr. »Was kann er zu sagen wagen?« rief sie. »Was kann irgend jemand, sei es Mann oder Weib, über mich zu sagen wagen? Wir haben genug der Worte verloren, Tante Agathe -- mehr als genug -- ich will nicht mehr hören!« Lady Agathe war zu erschrocken, um weiter zu reden. Sie weinte auf der Rückreise nach Turret Court in ihrer Wagenecke leise vor sich hin, während die kleine Cis ihr gegenüber blaß und bekümmert aussah und Florence, die mit bleichen Wangen und zornigen Augen aufrecht dasaß, kein Wort sprach. -- 15. Als Everard Leath Turret Court verlassen, war er geraden Weges über die Halde nach dem Bungalow geritten. Es führte ihn kein besonderer Grund dorthin; er hatte nur das unbestimmte Gefühl, daß es besser sei, er kehre nicht in seine Behausung zurück, bis Gräfin Florence sie verlassen und die unglückselige Episode vorüber sei. Obwohl er sich immer wieder sagte, daß er sich der Macht der Umstände hatte fügen müssen, daß die Sache nicht zu vermeiden gewesen, so ertappte er sich doch fortwährend auf dem peinlichen Gedanken, daß Chichester beschränkt, argwöhnisch und ein Narr sei, und sagte sich, daß, wenn er hätte voraussehen können, was geschehen würde, er sich lieber die Hand abgehackt hätte, als auf die Halde zu gehen, wo er wußte, daß er dort Florence Esmond begegnen konnte. Er bog in den Garten des Bungalow ein, ließ ein Pferd in Joes Obhut und ging auf das Haus zu. Überall waren auch hier die Spuren des Unwetters sichtbar -- die Blumen waren alle verregnet und geknickt, der Kies war aus den sauber gehaltenen Wegen hinweggeschwemmt. Herr Sherriff stand in der Veranda und schüttelte beim Anblick der Verwüstung traurig den Kopf. Aber sein mildes altes Gesicht hellte sich beim Näherkommen des jungen Mannes auf, und er reichte ihm mit einem Lächeln die Hand. Dann fragte er nach einem Blick in die ernsten Züge des anderen: »Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Leath?« »Ich weiß nicht --,« er hielt inne, »vielleicht ist es besser, ich erzähle Ihnen die Sache, obwohl es eigentlich nicht meine Absicht war. Aber ich weiß, daß Sie so viel von ihr halten, und --« »Von ihr?« fiel ihm der Alte verwundert ins Wort. »Von wem?« »Von Gräfin Florence.« »Gräfin Florence?« »Ja. Das arme Kind hatte keine Schuld, und weiß der Himmel, ich auch nicht. Wenn Sie hereinkommen wollen, so will ich Ihnen alles erzählen. Dabei wird mir vielleicht leichter ums Herz.« Sie gingen in das trauliche Wohnzimmer, in dem wie gewöhnlich Stapel von Büchern umherlagen, und während der alte Herr sich setzte, stellte sich Leath an das offene Fenster und gab einen kurzen Bericht der Vorfälle des gestrigen Abends. Sherriff strich beim Zuhören sinnend über seinen langen weißen Bart. »Sie nehmen die Sache zu ernst, Leath,« sagte er sehr entschieden, als der andere zu Ende war. »Wirklich, mein lieber Junge, Ihre Furcht, irgend jemand könnte glauben, daß das arme Kind durch den Vorfall kompromittiert sei, scheint mir, ehrlich gestanden, durchaus übertrieben zu sein. Sie konnten sie doch nicht ins Unwetter hinausjagen, noch in ihrer Angst allein lassen!« »Sie mögen recht haben,« gab Leath bedrückt zu. »Um ihretwillen hoffe ich es. Aber Chichester ist ein Narr.« »Ein so großer doch kaum.« »Ich weiß nicht recht. Er ist sehr empfindlich, stolz, argwöhnisch, voll engherziger Vorurteile. Sie gehört ihm, ist sein Eigentum, und jeder Makel, der auf sie fällt, fällt auf sein eigenes kostbares Selbst. Ich mag mich ja irren, aber ich wiederhole es -- mir ist bange davor.« »Damit wollen Sie doch nicht sagen, daß Sie glauben, Herr Chichester könne das zum Vorwand nehmen, seine Verlobung zurückgehen zu lassen?« fragte der alte Herr ungläubig. »Das vielleicht kaum. Für einen solchen Esel halte ich ihn doch nicht. Aber er könnte unklug genug sein, argwöhnische Anspielungen ihr gegenüber zu machen, ihr vielleicht eine Strafpredigt zu halten, und was in dem Falle geschehen würde, können wir uns beide denken. Sie besitzt ein leicht erregbares Temperament und ist namenlos stolz. Sie selbst wird die Verlobung auflösen.« »Wenn er das tun sollte -- ja, allerdings. Aber das,« fuhr der alte Herr gelassen fort, »würde kaum ein Unglück sein, so wie ich es ansehe, Leath. Ich habe, wie Sie wissen, die Partie nie für eine passende gehalten, oder nie geglaubt, daß sie durch diese Heirat glücklich werden würde.« »An und für sich kein Unglück -- nein!« Der junge Mann schritt unruhig im Zimmer auf und nieder. »Aber begreifen Sie denn nicht, Herr Sherriff, welche Wirkung das haben wird -- welche Wirkung auf sie? Der Grund wird ruchbar werden -- das muß er, und obgleich sie ist, wie und was sie ist -- kann es möglicherweise ihren Ruf zugrunde richten!« Die fassungslose Bestürzung in Sherriffs Antlitz verriet, daß ihm diese Ansicht der Sache ebenso neu wie unwillkommen sei. Im Augenblicke wußte er nichts zu erwidern. Er fuhr mit der mageren Hand über sein weißes Haar und sagte endlich: »Mein lieber Junge, wir tun Chichester vielleicht schweres Unrecht.« »Ich glaube nicht.« Leath wurde rot. »Zufällig weiß ich, daß ich bei ihm nicht gut angeschrieben bin und daß es meinetwegen schon einen Wortwechsel zwischen dem Brautpaar gegeben hat.« Sherriff antwortete nicht; sein sorgenvolles Gesicht wurde noch ernster. Leath stieß ein zorniges Lachen aus. »Und selbst das ist noch nicht alles, denn ich glaube nicht, daß es in ganz St. Mellions einen Menschen -- sei es Mann, Weib oder Kind -- gibt, der nicht weiß, daß Sir Jasper Mortlake aus irgendeinem unbekannten Grunde mich nicht leiden kann. Ich weiß, daß er gelobt hat, ich solle sein Haus nie wieder betreten. Er ist ihr Vormund, und das wird ebenfalls ins Gewicht fallen. Heute morgen, als ich nach Turret Court kam, um ihnen zu sagen, wo sie sei, da --. Aber still davon! Wäre er ein jüngerer Mann, so hätte ich ihn, glaube ich, niedergeschlagen. Selbst so hätte ich es fast getan, wenn ich dies alles für sie nicht vorausgesehen und gefürchtet hätte, die Sache noch schlimmer zu machen.« Wiederum sagte Sherriff nichts, Leath schritt ruhelos auf und nieder, ehe er wieder anhub: »Ich weiß eigentlich nicht recht, weshalb ich Sie mit diesem allem behellige, aber es hat mein Gemüt erleichtert, mich auszusprechen. Die Frage ist nun -- was soll ich tun?« »Tun?« wiederholte der Alte beklommen. »Ich -- ich verstehe Sie nicht recht, Leath. Was sollten Sie tun?« »Soll ich fortgehen -- diese Gegend verlassen? Ich habe gedacht, das würde vielleicht am besten sein. Was meinen Sie dazu?« »Ich glaube, das würde ich jetzt noch nicht tun,« antwortete der Gefragte nach einigem Sinnen. »Warten Sie, bis Sie sehen, was Chichester tut. Ihr sofortiges Verschwinden könnte wie Davonlaufen aussehen. Ein paar Tage lang wenigstens würde ich nichts tun und mich ganz ruhig verhalten.« »Das ist Ihr Rat?« »Ja, das täte ich an Ihrer Stelle.« »Dann will ich ihn befolgen. Vielleicht haben Sie recht. Aber sobald ich kann, will ich von hier fort. Je eher, desto besser.« »Sie wollen Ihre Wohnung aufgeben?« »Ja. Wenn ich sie nie genommen, würde dies alles nicht geschehen sein. Mein gewöhnliches Glück!« Es trat eine kurze Pause ein. »Leath,« hob Sherriff stockend an. »Sie wissen, daß ich mich nicht in Ihre Angelegenheiten drängen will -- nichts liegt mir ferner. Aber da Sie davon reden, fortzugehen, darf ich mir vielleicht eine Frage erlauben. Sie haben keinen Erfolg gehabt?« »Nicht den geringsten.« »Trotz aller Nachforschungen, die Sie, wie ich weiß, in St. Mellions und der Umgegend angestellt haben, ist es Ihnen nicht gelungen, eine Spur von Robert Bontine aufzufinden?« »Nein!« »Und Sie sind noch nicht entmutigt?« »Das will ich nicht sagen; es würde unwahr sein. Aber ich werde die Nachforschungen nie einstellen.« »Und Sie sind entschlossen, in jedem Falle von hier fortzugehen?« »Ja. Es war verkehrt, hierherzukommen, und noch mehr, zu bleiben,« antwortete Leath finster und in bitterem Tone. »Je eher ich fortkomme, um so besser ist es für mich.« Sein Mund war herb geschlossen, die Stirn gerunzelt, ein dunkles Rot stieg in seine gebräunten Wangen. Mit plötzlich verändertem Ausdruck in den eigenen Zügen stand Sherriff auf und legte dem Freunde die Hand auf die Schulter. »Leath,« sprach er, »ich habe damals doch recht gehabt. Sie ist Ihnen nicht gleichgültig?« Leath drehte den Kopf, begegnete eine Sekunde dem Blicke des anderen und sah dann fort. »Ich bin ein Narr!« sagte er. Das Schweigen, das eintrat, dauerte lange. Leath brach es. Er raffte sich aus seinem Brüten auf und wandte sich vom Fenster ab. Hätte der alte Herr beabsichtigt, auf seine letzten Worte zurückzukommen, so würde sein Ausdruck ihn davon zurückgehalten haben. Seine unglückliche und hoffnungslose Liebe zu Florence Esmond sollte ohne ein weiteres Wort zwischen ihnen begraben sein. »Ich will jetzt gehen,« sagte er, »Sie haben morgens immer zu tun, wie ich weiß. Vielleicht wird ein scharfer Ritt meine trüben Ahnungen verscheuchen.« -- Herr Sherriff konnte seine Gedanken nicht auf seine Arbeit konzentrieren. So viele Befürchtungen, so viele sorgenvolle Erwägungen waren seit Jahren nicht auf den alten Mann eingestürmt. Florence Esmond hatte seit langem seinem Herzen so nahe gestanden, wie eine Tochter nur hätte stehen können, und er wußte jetzt, daß ihm Everard Leath fast so teuer wie ein Sohn geworden war. Sonderbarerweise war es eigentlich nicht der Klatsch, der sie bedrohte, an den er dachte, während er so traurig dasaß und rauchte, sondern die aussichtslose Liebe zu ihr, zu der Leath sich bekannt hatte, als er so rauh gesagt: »Ich bin ein Narr!« Wie hoffnungslos sie war, wie hoffnungslos sie unter allen Umständen bleiben mußte, das konnte er, der ihre Fehler sowohl wie ihre Tugenden so gut kannte, wohl ermessen. Er wußte, was nur die wenigen, die sie wirklich verstanden, ahnten, daß der Stolz auf vornehme Geburt, auf Rang und Abstammung nicht stärker entwickelt sein konnte als bei diesem Mädchen. Und selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, so hatte sie in ihren Unterhaltungen mit ihm niemals aus ihrer Abneigung gegen Everard Leath ein Hehl gemacht. Und nun mußte er diese unselige Leidenschaft für sie fassen! Matthias Sherriff seufzte, als er sich dessen erinnerte und des Schmerzes gedachte, den ihm vor vielen Jahren die eigene Herzenswunde verursacht hatte. Er war alt, sein Haupt war grau, aber die Wunde konnte noch immer wehtun. Es war einige Stunden später -- er hatte noch immer nichts getan, als in wehmütiges Grübeln versunken in seinem Stuhle zu sitzen, -- da wurde der Klopfer an der Haustür laut in Bewegung gesetzt. Ein kurzes Zwiegespräch folgte, das aber zu leise geführt wurde, als daß er hätte hören können, was gesprochen wurde, und dann näherten sich dem Zimmer Schritte. Sherriff erhob sich schnell, denn er wußte sofort, wessen Schritt es war, obwohl es Sir Jasper Mortlake vielleicht kaum zweimal im Jahre einfiel, den Bungalow zu betreten. Was hatte ihn hergeführt? Der alte Mann atmete erregt schneller, als sich die Tür des Zimmers öffnete und der Baron eintrat. * * * * * Ungefähr eine halbe Stunde später, als Everard Leath auf dem Heimwege nach Lychet Hut, nach dem Ritte, durch den er seine erregten Nerven hatte beruhigen wollen, an der Gartenpforte des Bungalow vorbeikam, sah er Sir Jasper Mortlake heraustreten und in seinen Wagen steigen, der gewartet hatte. Ein kurzer Blick in des Barons Gesicht genügte, um ihn plötzlich zum Stillstehen zu bringen und seinen Herzschlag zu beschleunigen. Nicht einmal, als sie sich am Morgen in der Bibliothek von Turret Court gegenüberstanden und er drohend die Hand gegen ihn erhoben harte, war sein Antlitz bleicher und wutentstellter gewesen als jetzt. Was war vorgefallen? Was hatte ihn nach dem Bungalow geführt? In seinem jetzigen Gemütszustande war es ihm unmöglich, ohne Antwort auf diese Fragen nach Hause zu reiten. Leath sprang, seinem Impulse folgend, aus dem Sattel und ging ins Haus. Sherriff stand am Tische; seine gewöhnlich gebückte Gestalt war aufgerichtet, sein von Natur ruhiges altes Gesicht gerötet und zornig. Leath fühlte, daß eine unklare Befürchtung ihm selbst das Blut heiß in die Wangen trieb. Er sagte hastig: »Ich sah Sir Jasper an der Pforte -- ich konnte ihm ansehen und sehe auch Ihnen an, daß nicht alles ist, wie es sein sollte. Betrifft es sie?« Die Stimme versagte ihm vor dem letzten Worte. »Wenn dem so ist, so ziehen Sie meine Besorgnis in Betracht und sagen Sie es mir!« »Verrät mein Gesicht denn so viel?« Mit einem halben Lächeln und seinem gewöhnlichen freundlichen Ausdruck setzte der alte Mann sich in seinen Stuhl. »Ich gestehe, ich bin zornig gewesen,« sagte er ruhig, »und das passiert mir nicht oft. Nehmen Sie Platz, Leath, und Sie sollen hören, weshalb, und mittlerweile machen Sie sich keine Sorge. Sir Jaspers Besuch betraf Gräfin Florence nicht in dem Sinne, den Sie meinen. Er hat in der Tat ihren Namen kaum erwähnt. Der Zweck seines Besuches war, über Sie zu sprechen.« »Über mich?« »Ja. Wissen Sie irgendeinen Grund für den außerordentlichen Haß, den er augenscheinlich gegen Sie empfindet?« »Ich weiß, daß er existiert -- das erzählte ich Ihnen heute morgen -- aber mehr auch nicht.« »Auch nicht, weshalb er Sie aus der Gegend zu entfernen wünscht?« »Durchaus nicht! Wünscht er das?« »Freilich! Es wundert Sie, weshalb er hierhergekommen, um über Sie zu reden? Er kam, um zu verlangen, daß ich, sein Verwalter, der abhängig von ihm ist, der zu ihm und seinem Hause in einer Art von Beziehung steht, unserer Freundschaft sofort ein Ende machen -- kurz Ihnen die Tür weisen sollte.« Leath stieß einen Ausruf zorniger Verwunderung aus. »Nannte er irgendeinen Grund, Herr Sherriff?« »Gewiß -- daß Sie ein Mensch wären, von dem niemand hier etwas wisse, daß Sie ihm persönlich unangenehm seien, daß Sie sich heute morgen in Turret Court sehr unverschämt gegen ihn benommen hätten, und schließlich, -- das war das einzige Mal, daß er Gräfin Florence erwähnte, -- daß Sie vielleicht durch Ihr Benehmen gestern abend den Ruf seines Mündels ernstlich kompromittiert hätten.« »Gütiger Himmel! Das sagte er?« »Ja. Aus diesen Gründen verlangte er, oder vielmehr befahl er mir, daß ich, in meiner abhängigen Stellung, meine Bekanntschaft mit Ihnen abbrechen sollte.« »Darf ich fragen, was Sie ihm darauf geantwortet haben?« »Sehr wenig; aber ich bin nicht länger sein Verwalter.« »Wie?« »Ich habe mich geweigert, mir von ihm Vorschriften machen zu lassen oder meinen Freund zu beleidigen. Ich habe meine Verbindung mit Sir Jasper Mortlake gelöst und mit seinen Angelegenheiten nichts mehr zu schaffen.« »Das haben Sie für mich getan, Herr Sherriff?« Leath sprang auf. »Dessen bin ich nicht wert, fürchte ich.« »Darüber kann ich selbst am besten urteilen,« antwortete der andere mit einem Lächeln, »und würde bei ruhiger Überlegung genau ebenso handeln, wie ich in der Erregung getan. Sie brauchen übrigens nicht zu glauben, daß Sie die einzige Ursache gewesen sind für das, was ich tat. Sir Jasper beging einen nur allzu gewöhnlichen Fehler: er vergaß, daß sein Untergebener zugleich ein Gentleman ist. Nun, das Gehalt war nicht so hoch bemessen, als daß ich nicht ohne es leben könnte. Meine Bücher und Abrechnungen sollen, sobald ich sie fertig habe, nach Turret Court geschickt werden. Je eher, desto lieber. Wenn Sie nichts Besseres zu tun haben, so bleiben Sie vielleicht und helfen mir, sie zusammenzupacken.« »Sofort. Ich habe gar nichts zu tun. Aber ich habe mein Pferd an der Pforte gelassen und will es erst hereinholen.« Als Leath, nachdem er sein Pferd versorgt, wiederkam, fand er Sherriff vor einem großen, altmodischen, messingbeschlagenen offenen Pult, das ihm schon seines Umfanges wegen aufgefallen, das er aber bisher nur verschlossen gesehen. Den Kopf hatte der Greis in die eine Hand gestützt; er schien etwas eifrig zu betrachten. Er war so in Gedanken vertieft, daß er erst, als Leath ihn zum zweiten Male anredete, zusammenfuhr und sich verwirrt umblickte. »Ich störe Sie, Herr Sherriff?« fragte Leath stockend. »Nein -- nein -- durchaus nicht -- gewiß nicht!« Er blickte den jungen Mann an und dann wieder auf das, was er in der Hand hielt. »Ich tat etwas sehr Törichtes,« sprach er traurig, »ich stöberte in toter Asche, mein lieber Junge! Das ist schon ein trauriges Stück Arbeit, solange wir jung sind, aber es ist noch trauriger, wenn wir alt geworden, denn sie kann nie wieder angefacht werden, und es ist keine Hoffnung, daß an ihrer Statt ein neues Feuer brennen wird. Erinnern Sie sich des Tages, wo ich Ihnen meinen kleinen Herzensroman -- den einzigen Roman, den ich erlebt habe -- erzählte?« »Ich erinnere mich dessen sehr wohl,« gab Leath zur Antwort. »Aber ich habe Ihnen, glaube ich, nicht gesagt, daß ich Marys Bild besitze? Es ist gerade angefertigt, ehe sie mich verließ, um ins Ausland zu gehen. Ich habe mich niemals davon getrennt, ebensowenig wie von ihren Briefen, obgleich es Jahre gegeben hat, in denen ich es nicht ertragen konnte, auf das eine oder andere einen Blick zu werfen. Es ist jetzt sehr verblaßt, aber damals war es wunderbar ähnlich -- wunderbar ähnlich! Wollen Sie es ansehen?« Mit leicht zitternder Hand hielt er dem anderen das Bild hin. Leath nahm es, blickte es an, hielt es näher an das Licht, sah genau hin und stieß dann einen lauten Ruf aus. Sherriff erhob sich hastig. »Was gibt’s?« fragte er mit bebender Stimme. »Sie -- haben es doch nicht schon gesehen -- wie?« »Gesehen?« wiederholte Leath. Sein Antlitz war tief erblaßt und verriet grenzenlose Verwunderung. »Dies ist das Bild meiner eigenen Mutter!« 16. »Das ist alles? Ist das genug? Du kannst doch unmöglich erwarten, daß ich diesen -- diesen äußerst bedauerlichen Vorfall so leicht als abgetan ansehe, Florence?« »Ich sehe allerdings keinen Grund, noch eine Silbe weiter darüber zu verlieren,« sagte Gräfin Florence gleichmütig. Aber sie war nicht so ruhig, wie man aus ihren kalt und gelassen gesprochenen Worten hätte schließen können. Ihre Wangen waren sehr blaß, sie hielt den Kopf hoch, und die Augen, mit denen sie ihren Bräutigam ansah, waren unheimlich glänzend. Sie waren allein, denn auf ihre Anordnung war er sofort in ihr Privatwohnzimmer geführt worden, und dort hatte sie ihm mit den kürzesten Worten, die sie finden konnte, die Geschichte der letzten Nacht erzählt -- es unter ihrer Würde haltend, zu erröten, etwas zu beschönigen oder sich zu entschuldigen. Sie wußte kaum, daß sie es mit einer gewissen trotzigen Herausforderung tat, die ihm jede Frage, jeden Zweifel, jeden Ausdruck der Verwunderung abschneiden sollte. In diesem Tone würde sie es ihm nicht erzählt haben, hätte Leath keine Anspielungen auf einen Argwohn gemacht, der ihr anfangs ganz ungeheuerlich, schließlich abgeschmackt vorgekommen, und wären nicht Lady Agathes Tränen und Jammern gewesen. Das Ganze wäre ihr dann nur wie ein Spaß vorgekommen. Das war jetzt unmöglich. Sie erzählte die Geschichte mit trotzig blitzenden Augen und in einem sorglosen, gleichgültigen Tone, ihm es überlassend, sich mit der Sache abzufinden, so gut er es vermochte. Diese Art und Weise war nicht geeignet, Chichester zu besänftigen und zu versöhnen, selbst wenn es sich um etwas ganz anderes gehandelt hätte. Er hatte mit dunkel gerötetem Gesicht und einer zornigen, nervösen, gereizten Fassungslosigkeit zugehört, die in den verdrießlich hervorgestoßenen Worten gipfelte, auf die sie mit so verächtlicher Kälte geantwortet hatte. Er stand auf und trat ans Fenster, denn seine Gereiztheit machte es ihm unmöglich, sitzen zu bleiben, und sie beobachtete ihn, wobei der verächtliche Ausdruck in ihren großen glänzenden Augen noch schärfer hervortrat. »Ich sehe keinen Grund, noch eine Silbe weiter darüber zu verlieren,« sprach sie. »Es war unangenehm, aber es ist vorüber; es war weder Herrn Leaths noch meine Schuld. Ich habe es dir erzählt, und das ist auch vorüber. -- Ich habe es dir aber erzählt, weil ich fand, daß du es erfahren mußtest --« »Weil du fandest, ich müsse es erfahren?« fiel er ihr heftig ins Wort. »Allerdings mußte ich das!« »Ich hielt es für das Richtigste, weil jeder, weil alle Welt alles, was ich tue, gern erfahren kann,« sagte das junge Mädchen hochmütig, »und da es geschehen, wollen wir die Sache, bitte, ruhen lassen. Ich habe das Thema satt.« »Ruhen lassen?« Er wandte sich vom Fenster fort. »Das ist leicht gesagt -- aber vielleicht nicht ebenso leicht getan. Gütiger Himmel, Florence, begreifst du denn nicht, daß die Geschichte dieses -- dieses unseligen Vorfalls vielleicht schon in Rippondale in aller Leute Mund ist?« »Sehr wahrscheinlich,« gab sie kaltblütig zurück. »Wahrscheinlich? Es ist fast unvermeidlich. Ja, es ist unvermeidlich! Die Dienstboten hier müssen davon wissen!« »Allerdings müssen sie das! Zwei von ihnen kamen mit dem Wagen, um mich heute morgen von Lychet Hut abzuholen. Und die Frau, die Herrn Leath den Hausstand führt, muß es wissen. Sie sorgte heute morgen für mein Frühstück.« »Das heißt also, daß sie alle jedem ihrer elenden Bekannten davon erzählen und ihren gemeinen Kommentar dazu abgeben!« rief Chichester. »Und du verlangst, daß ich von dem Thema abbreche -- sagst, daß du es satt hast! Großer Gott! Wir alle, wie wir da sind, werden es noch satt bekommen, ehe es abgetan ist!« Er war auf und nieder geschritten und blieb jetzt vor ihr stehen. »Florence, du scheinst nicht im geringsten zu begreifen, welch unglückselige Sache es ist!« Sie sagte nichts, sie blickte ihn nur an. In seinem gereizten Zustande nur mit sich selbst beschäftigt, war er unfähig, die grenzenlose Verachtung, die in diesem Blick lag, zu lesen. Hätte er es vermocht, so hätte er sich vielleicht jetzt noch beherrscht. Er fing wieder an, auf und nieder zu gehen. »Dein Name in aller Leute Mund zusammen mit dem jenes Menschen! Und man weiß, daß du ihn getroffen -- dich mit ihm unterhalten hast! Das macht es noch schlimmer -- das gerade ist das Allerschlimmste. Wenn das nicht wäre, so würde wohl mit dieser Sache selbst, in der ich dir keine Schuld beimesse, fertig zu werden sein. So aber ist es unmöglich. Es ist mir ganz schrecklich! Es ist unerträglich, entsetzlich, daß dein Name -- der Name meiner zukünftigen Frau -- der Name der Herrin meines Hauses -- auch nur durch einen Hauch getrübt werben sollte!« Er blieb wiederum vor ihr stehen. »Du mußt es doch begreiflich finden, daß es mir unmöglich ist, so etwas leicht zu nehmen?« »Ja -- ich finde es begreiflich!« Die Augen unverwandt in die seinen senkend, lächelte sie. »Es ist allerdings schrecklich, daß der gute Name deiner Zukünftigen angetastet werden sollte. Du tust recht, dich darüber aufzuregen; du hast mein volles Beileid. Denn was würde es dir ausgemacht -- was würde es dir geschadet haben, hätte man nur auf mich -- nur auf Florence Esmond, nur auf ein Weib einen Stein geworfen? Aber es ist deine zukünftige Frau. O, glaube mir, du tust mir aufrichtig leid!« »Was meinst du?« fragte er und wurde rot. »Ich verstehe dich nicht!« »Ich meine, was ich sage,« antwortete sie, »und ich wenigstens verstehe dich. O, glaubst du, ich durchschaute dich nicht? Was macht dir Sorge? Daß ich, ein hilfloses Mädchen, vielleicht von all denen, die mich kennen, schändlich verleumdet werde? Nein, nein! Nur, daß ich deine Braut bin, ein Teil deiner selbst, dein Eigentum, und daß deshalb jeder Stein, der auf mich geworfen wird, auch dich trifft! O, ich weiß -- ich weiß! Es ist genug, Herr Chichester -- auf Sie soll auch nicht der leiseste Schatten meiner Schande fallen.« Sie zog in ungestümer Heftigkeit den Verlobungsring vom Finger und hielt ihn ihm hin: »Ich bin Ihre Braut nicht länger! Ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück, und Sie sind frei!« »Florence!« Er wurde jetzt bleich und griff nach ihrer Hand und dem Ringe zusammen und hielt beide fest. »Das kann dein Ernst nicht sein? Besinne dich! Wenn unsere Verlobung jetzt gelöst würde --« »Sie ist gelöst!« Sie entzog ihm ihre Hand. »Nehmen Sie Ihren Ring zurück, Herr Chichester! Ich werde nie und nimmer Ihre Frau.« »Aber bedenke doch -- ums Himmels willen!« Er trat vor ihrer ausgestreckten Hand, auf deren Innenfläche der blitzende Ring lag, zurück. »Bedenke, welche Wirkung es haben wird, wenn unsere Verlobung jetzt zurückgeht! Das wird den schlimmsten Vermutungen Raum geben und sie zu bestätigen scheinen.« »Das muß dann seinen Lauf haben. Ich weiß, daß es so sein wird. Noch einmal, nehmen Sie Ihren Ring zurück!« »Du bist fest entschlossen? Du willst dich nicht besinnen? Nicht überlegen --?« »Es gibt Dinge, bei denen es keiner Überlegung bedarf. Ein- für allemal, Herr Chichester, ich will Sie nicht heiraten. Und zum drittenmal, nehmen Sie Ihren Ring zurück!« Er antwortete nicht. Er schaute sie an, wie sie in aufrechter Haltung, mit hochgetragenem Haupte und stolz blickenden Augen vor ihm stand. Ihre höhnische Verachtung hatte ihm das Blut in die Wangen getrieben, aber ihre Schönheit beschleunigte noch seinen Pulsschlag. Nein -- er liebte sie nicht, aber es war schwer, ihren Liebreiz zu verlieren. Er schritt zweimal durch das Zimmer, ehe er wieder vor ihr stehen blieb. »Florence, ich bitte dich noch einmal, diesen Entschluß in Erwägung zu ziehen! Denke an die Folgen, wenn du jetzt unsere Verlobung löst. Ich meinerseits habe mich vielleicht zu stark ausgedrückt. -- Gib mir dein Wort, daß du diesen Menschen, diesen Leath, nie wiedersehen, nie wieder eine Silbe mit ihm sprechen willst, und ich --« »Das tue ich nicht,« unterbrach sie ihn. »Sobald Sie fort sind, werde ich nach Lychet Hut reiten, um Herrn Leath für seine gestrige Fürsorge zu danken. Ich hatte heute morgen keine Gelegenheit, das zu tun.« »Ist das dein Ernst?« Sie neigte bejahend den Kopf. Ohne ein Wort weiter nahm er den Ring von ihrer ausgestreckten Hand, verbeugte sich förmlich, drehte sich kurz um und verließ das Zimmer. Drei Minuten darauf sah Florence von ihrem Fenster aus sein Dogcart die Auffahrt hinunter dem großen Eingangstor zurollen und wußte, daß er fort sei, um nicht wiederzukehren. -- Es war ungefähr eine halbe Stunde später, als sie in ihrem Reitkleid auf der Treppe erschien. Noch immer sehr bleich, aber in aufrechter Haltung, mit weitgeöffneten, glänzenden Augen stieg sie herab und schritt durch die innere Halle auf die Windfangtüre zu, die diese abschloß; aber noch ehe sie sie erreicht, wurde schnell eine andere Tür geöffnet und Lady Agathe, mit verweinten Augen und sehr blaß, -- sie hatte stundenlang fast unaufhörlich geweint trotz Cis’ liebevoller Versuche, sie zu trösten, -- kam heraus und hielt sie auf. »O, Florence, ich war gerade im Begriff, zu dir hinaufzukommen, liebes Kind. Ich konnte diese schreckliche Unruhe nicht länger ertragen.« Sie hielt inne, denn anscheinend sah sie erst jetzt, daß das junge Mädchen im Reitkleide war. »Aber du willst doch nicht etwa ausgehen?« »Ja -- aber ich kann ein Weilchen warten. Es tut mir leid, daß du dich geängstigt hast, Tante Agathe. Du hättest mich rufen lassen sollen. Bitte, suche dich zu fassen! Du wirst dich noch krank machen, wenn du dich so aufregst. Weshalb bist du in solcher Unruhe? Was ist denn los?« »Was los ist? O, liebes Herz, wie kannst du nur so fragen?« schluchzte ihre Tante. »Du bist so kalt und schroff und wunderlich, Florence. Ich verstehe dich ganz und gar nicht.« »Nicht?« Ein seltsames Lächeln umspielte die Lippen des Mädchens. »Es tut mir leid,« sprach sie ruhig, »ich wollte dich nicht wieder zum Weinen bringen. Deshalb ängstigst du dich so?« »O, Florence, du mußt doch wissen, in welch schrecklicher Gemütsverfassung ich bin, bis ich höre, was Chichester über diese unselige Sache gesagt hat! Du -- du hast es ihm erzählt?« »Ja, ich habe es ihm erzählt.« »Und -- und es ist alles erledigt und abgetan?« fragte Lady Agathe stockend. »Ja. Es wird nie wieder ein Wort zwischen uns über die Sache verloren werden. Sie ist ganz und gar erledigt. Ist das alles, Tante Agathe?« »Ja, mein Kind. Ach, mir fällt ein Stein vom Herzen, Florence! Ich fürchtete -- ich weiß wirklich nicht recht, was ich eigentlich fürchtete! Es ist sonderbar, finde ich, daß Herr Chichester fortgefahren ist, ohne mit mir oder deinem Onkel zu reden, aber das tut weiter nichts. Er wird wohl zu Tische kommen, nicht wahr?« Mit einem Seufzer der Erleichterung trocknete sich Lady Agathe die Augen. »Wirklich, liebes Herz, du siehst zu blaß aus, um auszureiten! Fühlst du dich auch wohl genug dazu? Wohin willst du?« »Ich will nach Lychet Hut. Ich kann nicht gut anders, als Herrn Leath für die Freundlichkeit danken, die er mir gestern erzeigt hat.« »Florence!« Ihre Tante schlug entsetzt die Hände zusammen. »Dahin willst du! Und allein? Kind, Kind, das darfst du nicht -- wirklich nicht! Das kann ich nicht zugeben!« »Ich bitte um Entschuldigung, Tante Agathe,« sprach Florence kalt, »du vergißt wohl, daß, obgleich ich in deinem und Onkel Jaspers Hause wohne, ich doch mein eigener Herr bin und immer gewesen bin! Es tut mir leid, etwas zu tun, was dir nicht lieb ist, aber ich reite auf alle Fälle nach Lychet Hut.« »Ach du meine Güte!« klagte Lady Agathe. »Bitte, mein Liebling, bedenke doch! Was wird Talbot Chichester sagen, wenn du nach Lychet Hut gehst?« »Nichts --.« Das junge Mädchen schritt auf die Haustür zu, während ein seltsames, bitteres Lächeln ihre Lippen umspielte. »Nichts,« versetzte sie kurz. »Als ich sagte, alles sei abgetan und erledigt, hast du mich mißverstanden, Tante. Mein Gehen und Kommen geht Herrn Chichester nichts weiter an. Unsere Verlobung ist zurückgegangen. Ich habe mich geweigert, ihn zu heiraten.« * * * * * Everard Leath, der rauchend in der Tür seines Hauses stand und auf seinen durchweichten Garten hinausschaute, war so in Gedanken vertieft, daß, obgleich er den näherkommenden Hufschlag eines Pferdes vernahm, er doch nicht die Augen nach der Chaussee wandte, um zu sehen, wer der Reiter sei. So kam es, daß Florence auf ihrer Stute in die Pforte eingebogen und dicht bei ihm war, ehe er sie gewahr wurde. »Gräfin Esmond!« Sie war zu schnell und behende, um seiner Hilfe zu bedürfen, und war vom Pferde herunter, ehe er sich dessen versah. »Sind Sie es wirklich?« »Freilich, Herr Leath, und diesmal von keinem Gewitter hierherverschlagen.« Sie lächelte und war sehr bleich; als sie ihm die Hand hinhielt, lag auf ihrem Antlitz ein Ausdruck, den er noch nie gesehen. Als er ihre Hand nahm, fühlte er, daß das Schlimmste, was er für sie gefürchtet, eingetreten sei, und er konnte nichts tun, als sie ansehen. »Mich führte der Wunsch her, Ihnen für Ihre große Freundlichkeit zu danken.« »Das war ganz unnötig.« Bestürzt, verwundert wie er war, wußte er kaum, daß er ihre Hand noch immer festhielt, noch bemerkte sie es. »Ich weiß Ihre Güte wohl zu schätzen, Gräfin, aber ich hoffe, Sie wissen, daß alles, was ich für Sie tun konnte, gern geschehen ist.« »Das sagten Sie gestern abend, und ich glaubte Ihnen, aber ich danke Ihnen nichtsdestoweniger.« Sie entzog ihm ihre Hand und trat ein wenig zurück. »Sie sehen mich sehr sonderbar an, Herr Leath! Weshalb?« »Ich bitte um Entschuldigung. Ich -- ich wußte das nicht. Sie sind bleich -- Sie sehen ganz anders aus als sonst -- das ist alles.« »Kaum, glaube ich.« Sie hielt mit einem seltsamen, kalten Lächeln inne. »Ich bin nicht nur gekommen, um Ihnen zu danken,« sprach sie, jedes Wort abwägend. »Ich wollte Ihnen auch Glück wünschen.« »Mir Glück wünschen?« wiederholte er. »Ja, zu Ihrem Scharfblick, Ihrem -- wie soll ich es nennen? -- Verständnis für die menschliche Natur.« »Ich verstehe Sie nicht,« sagte er, aber er verstand sie nur zu gut und wurde ebenso blaß wie sie. »Nicht? Dann muß ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen. Ich war gestern abend nicht sehr höflich -- ich nannte Sie albern. Wissen Sie noch?« »Ja.« »Aber Sie waren nicht albern. Die Torheit war auf meiner Seite. Sie meinten viel mehr, als Sie sagten, aber Sie hätten recht gehabt, wenn Sie alles, was Sie dachten, ausgesprochen hätten.« Sie hielt inne. »Meine Verlobung mit Herrn Chichester ist gelöst.« »Das hat er getan!« »Nein, das habe ich getan! Sie begreifen alles so gut -- das sehe ich Ihnen an -- daß ich nichts mehr hinzuzusetzen brauche.« Sie hielt wieder inne. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß in meinen Augen auch nicht der leiseste Vorwurf Sie trifft,« sprach sie langsam, als falle es ihr schwer, die richtigen Worte zu wählen, »und um aufs neue zu wiederholen, daß ich Ihnen danke. Sie sind besorgter um mich gewesen, haben mehr Rücksicht auf mich genommen, als ich selbst getan. Ich war es Ihnen schuldig, Herr Leath, daß Sie dies von meinen eigenen Lippen hörten.« Als sie zu Ende war, hatte sie ihre Fassung fast wieder gewonnen, und das half ihm, die seine wieder zu erlangen. Er begriff vollkommen, daß er kein Wort über Talbot Chichester sagen dürfe -- daß jeglicher Kommentar, jede Frage, jeder Ausdruck der Empörung sie verletzen würde. Aber es war keine leichte Aufgabe, mit der nötigen Gelassenheit und Kürze zu sprechen, wie sehr sie auch gewohnt war, sich zu beherrschen. »Ich danke Ihnen, Gräfin,« sagte er. »Sie sind edelmütig. Eine der wenigen angenehmen Erinnerungen, die ich beim Fortgehen von hier mitnehme, wird die Erinnerung an diese Worte sein.« »Sie gehen fort?« rief sie überrascht. »Ja -- ich werde in ein paar Tagen aus diesem Hause ziehen.« Er legte keinen Nachdruck auf die Worte, aber sie verstand ihn sehr wohl. Er wollte jetzt nicht in einem Hause bleiben, das Talbot Chichester gehörte. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie St. Mellions verlassen?« »Nicht gleich. Ich bleibe vielleicht noch acht oder vierzehn Tage. Ich habe Herrn Sherriff versprochen, während meines Hierbleibens im Bungalow zu wohnen.« »Und wenn Sie fortgehen, gehen Sie auf immer?« »Vermutlich, aber das kann ich noch nicht sagen. Soweit ich es jetzt überblicken kann, ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß ich wiederkommen werde.« Er blickte von ihr fort. Es wurde ihm schwer, ihren Augen zu begegnen, in dem Gefühl, daß seine eigenen möglicherweise das Geheimnis verraten könnten, das er ihr niemals enthüllen durfte. Der bloße Gedanke, daß sie frei sei, hatte ihm das Blut ungestüm durch die Adern getrieben, obgleich er sich deshalb einen Toren gescholten. Denn was konnte es ihm ausmachen, daß Talbot Chichester sich als der große Esel, für den er ihn gehalten, erwiesen hatte? »Und Sie werden nicht wiederkommen?« sagte Florence. Sie blickte ihn ungewiß an. »Ich möchte wohl wissen, Herr Leath, ob ich eine Frage an Sie richten darf?« »Gewiß dürfen Sie jede Frage an mich stellen. Aber die eine, die Sie tun wollen, brauchen Sie nicht zu stellen, ich kann sie ungefragt beantworten. Gehe ich, weil es mir nicht gelungen, das zu tun, was ich hier tun wollte? Das ist die Frage -- nicht wahr?« »Ja.« »Und die Antwort lautet: ›Ja, ich gehe, weil es mir gänzlich mißlungen ist‹.« »Es ist Ihnen nicht geglückt, den Menschen, von dem Sie sprachen, -- Robert Bontine, -- aufzufinden?« »Nein -- ich habe nicht die leiseste Spur von ihm gefunden.« »Und Sie gehen, weil Sie die Nachforschungen aufgeben?« »Nein -- ich gehe, um anderswo meine Nachforschungen fortzusetzen, das ist alles.« »Es ist seltsam!« Florence zog die Brauen zusammen. »Sie waren so sicher, daß er hier sei -- so fest überzeugt davon! Sie haben mir nie gesagt, ob Sie ihn erkennen würden, wenn Sie ihm begegnen sollten.« »Ihn erkennen? Ich habe ihn nie im Leben mit Augen gesehen!« »Nein?« Ihr Gesicht verriet grenzenlose Überraschung. »Was ist er Ihnen denn, Herr Leath?« »Das, verzeihen Sie, ist mein Geheimnis, Gräfin.« »Es wird nicht weniger Ihr Geheimnis sein, wenn Sie es mir sagen. Ich habe kein Recht, Sie darnach zu fragen, das weiß ich wohl -- ich weiß kaum, weshalb ich es tue. Mich geht es nichts an.« Sie blickte ihn an. »Nein, sagen Sie es mir nicht, -- Sie haben völlig recht, es mir abzuschlagen und Ihr Schweigen zu bewahren. Ich bitte Sie um Entschuldigung. Ich frage Sie nicht.« Jedem anderen Fragesteller gegenüber würde er stumm geblieben sein; ihr gegenüber blieb er es nicht. Er sagte es ihr mit zwei Worten. Florence fragte nicht weiter. Sein Aussehen verbot das. Schweigend reichte sie ihm zum Abschied die Hand; schweigend hob er sie auf ihr Pferd, und noch immer schweigend und verwundert ritt sie davon und ließ ihn allein. 17. »Hoffentlich ist mein Besuch Ihnen genehm, Herr Sherriff, obgleich Sie nach Ihrem gestrigen Anfall wohl eigentlich kaum wohl genug sein werden, um auf zu sein,« sagte Everard Leath freundlich. Er war infolge eines am gestrigen Tage gegebenen Versprechens nach dem Bungalow herübergeritten und hatte sich sogleich in das trauliche Wohnzimmer des Hausherrn begeben, dessen bis auf den Boden hinabreichende Fenster auf die von Schlingpflanzen umrankte Veranda und den sonnigen Garten dahinter hinausführten. Der alte Herr, der in seinem großen Stuhle saß, hatte seinen Freund mit einem Lächeln willkommen geheißen, war aber nicht aufgestanden und ihm entgegengegangen. Seine Augen blickten trübe, sein schönes altes Gesicht war eingefallen und blaß, die Hand, die sich dem jungen Manne entgegenstreckte, war kalt und zitterte. Solche Symptome stellten sich immer nach den Ohnmachtsanfällen ein, an denen er hin und wieder litt, und der Anfall am gestrigen Tage war ungewöhnlich schwer gewesen. Er selbst machte nicht viel Aufhebens von diesen Anwandlungen -- die Tatsache, daß er an einer Herzschwäche litt, die auch wahrscheinlich einst die Ursache seines Todes sein würde, beunruhigte ihn nicht; denn er wußte es seit vierzig Jahren. »Es ist schön, daß Sie kommen, mein alter Junge. Ich habe Sie erwartet,« antwortete er mit zitternder Stimme, während er wieder in seinen Sessel sank. »Ich bin noch nicht ganz wieder der alte. Die gestrige Erschütterung --« »Greift es Sie auch nicht zu sehr an, davon zu reden?« warf Leath dazwischen. »Nein, nein! Es läßt mir keine Ruhe! Seitdem ich gestern wieder zu mir kam, habe ich mich gefragt: ›Ist es wahr? Kann es wirklich wahr sein?‹ Setzen Sie sich, lassen Sie sich ansehen, Everard! Wie geht es zu, daß ich in Ihrem Antlitz nie jenes andere Antlitz, dessen ich mich so gut erinnere, gesehen habe? Sie sind Marys Sohn -- meiner Mary Sohn!« Eine wehmütige Zärtlichkeit klang aus seiner Stimme, während seine Augen erregt in den ernsten, gefaßten Zügen des Jüngeren forschten, die, so ernst sie auch waren, doch eine gewisse Weichheit des Ausdrucks zeigten, die ihnen sonst fremd war. Ihn rührte die tiefe Bewegung seines Gefährten, rührte die Treue, die noch nach mehr als dreißig Jahren der einst Geliebten ein solches Gedenken bewahrte. Er drückte die Hand, die die seine umschloß. »Sehen Sie keine Ähnlichkeit?« »Ich glaube doch. In der Bildung der Stirn und dem Ausdruck des Mundes liegt etwas, das mich an Mary erinnert. Aber es liegt mehr Härte darin als je bei ihr. Indessen, Sie sind ein Mann -- Sie haben ein schweres Leben hinter sich -- das vergesse ich. Mary war ein junges Ding, als sie von mir ging -- so rosig und weichherzig wie ein Kind. Zu denken, daß ich die Hand ihres Kindes halte! Ich kann mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen. Everard, haben Sie mir je in einem unserer Gespräche erzählt, daß Sie Ihre Mutter verloren hätten -- daß Mary tot ist?« »Ja, das habe ich Ihnen erzählt. Sie ist vor acht Jahren gestorben.« »Vor acht Jahren! Und ich sitze hier und erfahre es erst heute! Und wie hat sie Sie zurückgelassen? Allein?« »Ganz allein.« »Sie haben keine Geschwister gehabt?« »Nein.« Er hatte bei diesen beiden kurzen Antworten in den Garten hinausgeblickt. Sherriff beobachtete ihn einen Augenblick, öffnete die Lippen, als wollte er reden, schloß sie wieder, seufzte und nahm von dem Tische neben sich das Bild, das am gestrigen Tage zu der Entdeckung geführt hatte. »Dies ist hergestellt worden, als sie ein junges Mädchen war,« sprach er. »Vor acht Jahren ist sie mindestens eine altere Frau gewesen. Trotzdem muß sie sich sehr wenig verändert haben, da Sie das Bild sofort erkannten.« »Sie hatte sich ganz und gar verändert,« antwortete Leath, ohne sich umzuwenden. »Hätte ich nur die Erinnerung an meine Mutter, wie ich sie gekannt, gehabt, so würde ich jenes Bild nie erkannt haben. Aber ich besitze ein ebensolches, das natürlich aus derselben Zeit stammt. Ich weiß noch, daß ich es mitunter ansah und sie anschaute und mich verwundert fragte, ob die beiden Gesichter wirklich einer und derselben Frau gehören könnten.« »Die Veränderung war so groß?« fragte der andere in schmerzlichem Tone. Er legte die Hand über die Augen. »Die Jahre sind unerbittlich,« meinte er dann sanft. »Die Jahre tun viel, aber sie tun nicht alles,« antwortete Leath finster, noch immer, ohne sich zu regen. »Kummer, Gram, Armut sind noch grausamer.« »War das ihr Los?« Die erhobene Hand verdeckte einen Ausdruck tiefen Schmerzes auf dem schönen alten Gesicht. »Das war es. Ich will Ihnen das Herz nicht schwer machen, indem ich Ihnen davon erzähle -- weshalb sollte ich? Jetzt ist es wenigstens vorüber. Eine abgehärmte, traurige, früh gealterte Frau, die gern gestorben wäre, als ihre Stunde schlug, wäre ich nicht gewesen, den sie liebte, wie unsere Mütter uns eben lieben: das ist meine Mutter, wie ich mich ihrer erinnere. Ich entschuldige es nicht, daß Sie Ihnen die Treue gebrochen -- so teuer sie mir war, so kann ich das nicht entschuldigen, aber Sie dürfen mir glauben, wenn ich sage, daß sie schwer dafür gebüßt hat.« »Ich habe es gefürchtet -- gefürchtet!« sagte der alte Mann mit einem tiefen Seufzer. »Ich dachte oft, daß, wäre ihr Leben glücklich gewesen, ich wieder von ihr gehört haben würde, daß sie meiner doch noch gedacht hätte und mich ihr Glück hätte erfahren lassen. Sie haben nie von mir reden hören? Sie hat niemals zu Ihnen von mir gesprochen?« »Mit deutlichen Worten niemals. Sie erzählte mir einmal, daß sie selbst an ihrem Kummer und Leid schuld sei -- daß sie mit offenen Augen als Mädchen ihr Glück von sich gestoßen. Jetzt verstehe ich, was die arme Seele damit meinte! Damals nicht.« Es trat ein kurzes Schweigen ein. Leath starrte noch immer finster zum Fenster hinaus. Sherriff blickte ihn mit merkwürdig zweifelndem Ausdruck zögernd an. Es war, als ob der eine die Worte erwarte, die auszusprechen der andere eine ängstliche Scheu empfand. »Everard --,« es war eine Kleinigkeit, aber es rührte den jungen Mann tief, als er bemerkte, daß ihn Sherriff jetzt bei seinem Vornamen nannte, -- »Everard, ich darf noch eine Frage an Sie richten?« »Das wissen Sie, Herr Sherriff.« »Was -- was haben Sie mir über Ihren Vater zu sagen?« »Was soll’s mit ihm?« Er sprach, ohne sich umzuwenden, aber sein Ton war schroff und scharf, und seine kraftvolle Hand ballte sich. »Er ist tot, vermute ich. Nicht wahr?« »Ich habe ihn nie mit Augen gesehen.« »Ihre Mutter verlor ihn so früh schon? Ehe Sie geboren wurden?« »Allerdings -- ehe ich geboren wurde.« »Und er ließ sie arm zurück?« »Er ließ sie am Bettelstabe.« »Er war also arm?« »Ich weiß nicht, was er war. Ich weiß nichts -- nichts!« »Tragen Sie seinen Namen?« »Seinen Namen? Nein, ich wurde nach dem Bruder meiner Mutter genannt, der als Kind gestorben ist. Das hat sie mir erzählt.« Sein Ton hätte nicht bitterer sein können. Herr Sherriff stand auf und nahm das Bild vom Tische. »Nun, wir wollen jetzt nicht weiter über die Sache reden,« sprach er ruhig, »es geht uns beiden zu nahe. Ein anderes Mal werde ich Sie bitten, mir mehr aus Ihrem Leben, mehr von Ihrer Mutter zu erzählen, aber jetzt nicht.« Er öffnete das alte, messingbeschlagene Pult, legte das Bild hinein und verschloß es sorgfältig. »Haben Sie Zeit, mir, wie Sie versprochen, beim Ordnen der Mortlakeschen Papiere zu helfen?« Leath, der sich gewaltsam seinem Brüten entriß, erklärte sich bereit, suchte aber, allerdings vergeblich, den Alten zu überreden, seines Befindens wegen die Arbeit auf morgen zu verschieben. Nachdem sie einen Kasten mit Briefen geordnet hatten, sagte Sherriff: »Die wichtigen Schriftstücke und Pachtverträge sind in dem feuerfesten Schrank dort am Kamin. Es sind zwei Kasten, die beide in weißen Buchstaben die Aufschrift ›Mortlake‹ tragen.« Leath schloß den Schrank auf, sah die beiden Kasten und stellte sie auf den Tisch. Sherriff bat ihn, den größeren zuerst aufzuschließen, und meinte, mit dem anderen brauchten sie sich kaum zu befassen, da er hauptsächlich Papiere, die noch aus der Zeit des alten Barons, Sir Roberts, stammten, enthielten, und setzte hinzu: »Ich glaube, er ist mir lediglich aus Versehen von meinem Vorgänger geschickt worden. Jedenfalls hat Sir Jasper nicht darum gewußt, denn der Kasten enthielt ein Paket Privatbriefe, die ich nicht sehen sollte. Mein Vorgänger hatte ein Zimmer in Turret Court, in dem er arbeitete, in dem damals all diese Bücher und Schriften aufbewahrt wurden, und er erzählte mir, daß Sir Jasper, der das Päckchen unter seinen Privatpapieren vermißt haben mochte, und dem dann eingefallen, wo es war, ungehalten gewesen sei, daß er den kleineren Kasten mit hierhergeschickt hätte. Er muß sich dann gleich auf den Weg gemacht haben, das Vermißte wiederzuerlangen, denn als ich am Morgen, nachdem ich die Bücher und Kasten erhalten, hier am Tische saß wie jetzt und anfing, sie durchzusehen, ritt Sir Jasper draußen vor. Es war ein bitterkalter Tag, aber er war in so rasender Eile von Turret Court herübergejagt, daß sein Pferd mit Schaum bedeckt war und sein Gesicht -- selbst gestern sah er nicht so aus, wie damals. Er stürzte wie ein Wahnsinniger zu mir herein und fragte, ob ich den kleinen Kasten geöffnet hätte. Ich sagte nichts, denn sein brüskes und heftiges Benehmen verletzte mich, sondern deutete auf den noch unberührt auf dem Tische stehenden Kasten und gab ihm den Schlüssel. Er schloß ihn auf, leerte ihn mit bebenden Händen, nahm ein Paket heraus, schleuderte es ins Kaminfeuer und war ebenso schnell wieder fort, wie er gekommen, und ließ die übrigen Schriftstücke auf dem Tische und Fußboden verstreut liegen.« »Allerdings wunderlich,« bemerkte Leath. »Darf ich fragen, wie das Paket aussah?« »Soweit ich sehen konnte, war es klein und flach und mit einem verblichenen gelben Band zusammengebunden. Haben Sie den großen Kasten ausgepackt? Dann wollen wir jetzt daran gehen.« Nach wenigen Augenblicken indessen lehnte sich Sherriff mit allen Zeichen der Erschöpfung in seinen Stuhl zurück und meinte, daß er sich niederlegen müsse, wolle er einem zweiten Ohnmachtsanfall vorbeugen. Leath geleitete den alten Herrn sorgsam in sein Zimmer, blieb noch eine Weile an seinem Bette sitzen und begab sich dann wieder an die Arbeit. Nach einer halben Stunde war der Inhalt des größeren Kastens geordnet, und während er sich eine Zigarre anzündete, blickte er unschlüssig auf den kleineren. »Soll ich den auch in Angriff nehmen? Es wäre wohl das beste. Er wird kaum ein zweites Geheimnis des Barons bergen.« Er schloß den Kasten auf und packte ihn aus. Der Inhalt war augenscheinlich lange nicht berührt worden, denn ihm entströmte ein dumpfiger Geruch. Mit den alten, vergilbten Papieren war entschieden nicht viel anzufangen. Was war dies hier? Ein Pachtvertrag. Und dies? Irgendein gerichtliches Dokument über das Recht, einen Weg anzulegen. Und wieder dieses zusammengefaltete ölige Pergament, zwischen dessen Falten noch etwas anderes steckte, das sich hineingeschoben haben mochte? Er schlug es langsam auseinander, und ihm fiel ein kleines, flaches Päckchen, das von einem vergilbten gelben Bande zusammengehalten wurde, entgegen. Noch eines! Gab es denn wirklich noch eines? In demselben Augenblicke wurde er rot und starrte erstaunt auf die Papiere nieder. Dann aber lachte er, und mit den Worten: »Ein zufälliges Zusammentreffen, natürlich!« löste er das Band und breitete den Inhalt des Päckchens vor sich aus. Woraus bestand er? Aus einem Bündel Briefe, die mit demselben gelben Bande zusammengebunden waren, einem kleinen, amtlich aussehenden Schriftstück, das für sich allein lag, und einer Photographie. Er nahm sie auf und hielt sie so, daß das Licht darauffiel. Ihm entfuhr kein Schrei, aber die Zigarre entfiel seinen Lippen, seine Augen erweiterten sich, und er saß mit starrem, tieferblaßtem Antlitz da. Während zwei oder drei Minuten verrannen, verharrte er regungslos und stumm, dann erhob er sich mühsam und trat ans Fenster. Der warme frische Luftstrom belebte ihn ein wenig, und er kehrte an seinen Platz zurück. Mit plötzlich wiederkehrender, natürlicher Energie und einem Laut, der wie ein Lächeln klang, ergriff er das kleine Dokument, las es schnell durch, warf es auf den Tisch und streifte das Band von den Briefen. Es war ungefähr ein Dutzend. Alle außer einem trugen die Handschrift einer Frau, und der eine war zerknittert und mitten durchgerissen, wie von zornigen Händen. Die Tinte war verblaßt, die Daten lagen um mehr als dreißig Jahre zurück. Einen nach dem andern, von Anfang bis zu Ende, las Everard Leath, dann ließ er die geballte Faust schwer auf sie niederfallen und saß mit auf die Brust gesenktem Haupte, gerunzelter Stirn und aufeinandergepreßten Lippen in finsterem Brüten da. Er war so in seine Gedanken vertieft, daß er die Schritte draußen auf dem Kies nicht hörte, noch merkte, daß sie auf den Steinfliesen der Veranda anhielten. Erst als sein Name mehr als einmal genannt worden, sprang er auf, die Briefe noch immer in der Hand haltend, und sah Gräfin Florence draußen vor dem offenen Fenster stehen. 18. Florence stand in der Veranda des Bungalow, und der goldene Glanz der Nachmittagssonne fiel auf ihre schlanke weiße Gestalt und verklärte sie förmlich. Der breitrandige Strohhut, den sie trug, beschattete ihr Gesicht, aber ließ doch erkennen, daß sie fast ebenso bleich war wie am gestrigen Tage, und daß ein ungewöhnlich entschlossener Ausdruck um ihre Lippen lag. Mit dem schönen Antlitz war eine rätselhafte Veränderung vorgegangen -- es sah älter und strenger aus. »Ich nannte Sie zweimal bei Namen, Herr Leath, aber Sie haben mich wohl nicht gehört?« Sie sprach in leichtem, nachlässigem Tone, aber es war dennoch nicht der Ton, den sie vor der Gewitternacht stets ihm gegenüber angeschlagen hatte; und trotz seiner ungeheuren Aufregung war Leath sich dessen bewußt. Er versuchte, sich zu fassen, schob die Papiere hastig zusammen und ging ihr entgegen, denn es schien, als warte sie auf eine Aufforderung, ehe sie eintrat. »Ich bitte um Entschuldigung, Gräfin -- ich muß gestehen, daß ich Sie nicht gehört habe. Darf ich Sie bitten, näherzutreten? Herr Sherriff ist augenblicklich nicht hier.« Ihr schien seine halberstickte Stimme, seine Verwirrung und sein starres, blasses Gesicht nicht aufzufallen. Sie trat ruhig durch die Glastür ein und nahm Platz. »Ich bin ein wenig müde. Meine Cousine ist nach dem Pfarrhause weitergefahren und wird mich hier abholen. Lassen Sie sich nicht stören,« sagte sie, nachdem er ihr erzählt, daß Sherriff gestern einen seiner Ohnmachtsanfälle gehabt und sich auch jetzt wieder niedergelegt habe. Leath antwortete nicht. Es drehte sich noch alles mit ihm im Kreise -- ihm war, als müsse er ersticken. Florence schien sein Schweigen nicht zu bemerken. Sie nahm ihren Hut ab und hielt ihn auf dem Schoße. Dabei wurde sie die auf dem Tische verstreuten Papiere, die verschlossenen und offenen Kasten gewahr. Sie wurde rot, wandte sich dann schnell zu ihm und fragte ihn erregt, ob die Szene, die gestern zwischen Sir Jasper und Herrn Sherriff stattgefunden und von der er ja wissen müsse, da sie ihn sonst wohl nicht beim Ordnen dieser Papiere angetroffen haben würde, den Ohnmachtsanfall herbeigeführt habe. Everard verneinte und sagte, er wisse zufällig, daß das Unwohlsein des Alten durch eine ganz andere Gemütsbewegung verursacht worden sei. »Eine andere Gemütsbewegung?« fragte sie und wurde plötzlich sehr bleich. »Er hält viel von mir,« fuhr sie mit leicht bebender Stimme fort, »haben Sie ihm etwa erzählt, daß meine Verlobung zurückgegangen ist?« »Nein -- ich habe nichts davon erwähnt.« Sein schroffer Ton und seine Wortkargheit schienen ihr endlich aufzufallen; sie blickte ihn betroffen an. Hatte er etwas übelgenommen? Es sah so aus, und des gestrigen Tages gedenkend, wollte sie nicht, daß er sich gekränkt fühlen sollte. War er nicht schließlich freundlicher gewesen als Lady Agathe, ritterlicher als ihr eigener Verlobter? Bei dem Gedanken ballten sich ihre Hände. »Es lag kein Grund vor, weshalb Sie es nicht hätten erwähnen sollen,« sprach sie ruhig. »Die Umstände sind nicht gewöhnlicher Art.« Sie hielt inne. »Ich bin gekommen, ihm vor meiner Abreise selbst zu sagen, daß ich Herrn Chichester sein Wort zurückgegeben habe.« »Vor Ihrer Abreise?« wiederholte er. »Ja.« Mit einem leichten, verächtlichen Lächeln zuckte sie die Achseln. »Es ist für mich jetzt kein sehr angenehmer Aufenthalt in Turret Court, und meine Gegenwart macht die Sache noch unliebsamer für meine Tante und meine Cousine. Ich habe sie beide lieb, aber augenblicklich bin ich böse auf sie, und daher ist es besser, wir trennen uns vorläufig. Erst gehe ich zu Freunden nach London und werde dann wahrscheinlich in acht bis vierzehn Tagen mit der Herzogin von Dunbar in Pontresina zusammentreffen. Wollen Sie das, bitte, Herrn Sherriff mit einem herzlichen Gruße bestellen für den Fall, daß ich vor meiner Abreise ihn nicht mehr sehen sollte?« Leath murmelte etwas Unverständliches, was sie als eine Bejahung auffaßte. »Danke. Aber sagen Sie ihm, daß ich morgen wieder vorsprechen würde. Und Sie gehen ja auch fort, Herr Leath. Das vergesse ich ganz und gar.« Sie war aufgestanden und sprach in einem weniger gezwungenen Ton als bisher. »Ich muß Ihnen also auch Lebewohl sagen. Wissen Sie schon, wann Sie reisen?« »Nein,« -- zum ersten Male seit ihrem Eintritt blickte er ihr voll ins Gesicht, -- »ich gehe nicht aus St. Mellions fort, Gräfin.« »Nein? Ihre -- Ihre Pläne haben sich also geändert?« »Ja.« Er deutete auf den Stuhl, von dem sie aufgestanden war. »Setzen Sie sich wieder! Ich habe Ihnen etwas zu sagen.« Es lag geradezu ein Befehl in seinem Tone, und sie war so namenlos überrascht, daß sie unwillkürlich gehorchte. Er blieb vor ihr stehen und preßte die Hand fest auf einen kleinen Stapel Briefe, der vor ihm auf dem Tische lag. »Gräfin, erinnern Sie sich unseres Gespräches gestern an der Pforte meines Gartens?« »Natürlich,« antwortete sie bestürzt. »Ich erzählte Ihnen, daß ich St. Mellions verließe, und weshalb?« »Ja.« »Weshalb war das?« »Weil es Ihnen nicht gelungen, Robert Bontine zu finden.« »Sie richteten eine Frage an mich, ich beantwortete sie. Erinnern Sie sich der Antwort?« »Ja.« Sie wurde immer bleicher, und ihre weitgeöffneten Augen hingen starr an ihm. Sie war sich eines lähmenden Schreckens bewußt, der sich ihrer bemächtigte, als sie seinem Blick begegnete. Aber sie versuchte, sich zusammenzunehmen. »Weshalb stellen Sie mir diese Fragen?« sagte sie. »Weil ich Robert Bontine gefunden habe.« Ihre Lippen öffneten sich, aber sie sagte nichts -- sein Blick machte sie verstummen. Er nahm das eine Schriftstück, das einzeln zusammengefaltet in dem zugebundenen Paket gelegen, und reichte es ihr. »Wollen Sie das lesen?« Sie tat es, und er nahm es ihr wieder aus der Hand. »Verstehen Sie es?« »Ich weiß, was es ist.« »Aber mehr begreifen Sie nicht?« »Nein.« Er suchte unter den Briefen, nahm einen auf und gab ihn ihr. »Lesen Sie den! Er ist der letzte von vielen und führt eine beredte Sprache.« Ihre Finger bebten so heftig, daß das dünne Papier knisterte, während sie den Brief las. Er war nicht lang. Sie ließ die Hand schlaff in den Schoß sinken, und er nahm ihn ruhig wieder an sich. »Sie verstehen, was geschehen war, als jene Zeilen geschrieben wurden, -- welches Unrecht begangen, welche Lüge vorgebracht worden -- nicht wahr?« »Ja, das verstehe ich.« Er nahm einen zweiten Brief, einen, der eine männliche Handschrift trug und ganz zerknittert und mitten durchgerissen war. »Dieser hier,« sagte er langsam und blickte sie dabei an, »wurde, wie ich vermute, -- nein, ich weiß, -- von der Empfängerin dem Schreiber zurückgeschickt. Sie brauchen ihn nicht zu lesen. Der, den Sie gelesen haben, war die Antwort darauf, und Sie können den Inhalt ungefähr erraten. Aber ich möchte, daß Sie ihn ansähen und mir dann sagten, ob Sie begreifen.« Er hielt ihn ihr hin, aber erst nach einer vollen Minute streckte sie die zitternde Hand aus und nahm ihn. Anstatt hinzusehen, wandte sie die Augen mit einem Schauder ab. »Warten Sie einen Augenblick,« bat sie mit schwacher Stimme. »Ich bin ganz verwirrt -- ich ängstige mich! Ehe ich ihn ansehe, ehe ich mich von dem überzeugen lasse, was Sie sich bemühen, mir ohne ein Wort zu beweisen, ich weiß nicht, ob um mich zu schonen oder aus Grausamkeit -- ehe ich das tue, sagen Sie mir, wo Sie diese Briefe gefunden haben.« Er deutete auf den kleineren Kasten. »Ich habe sie dort gefunden.« »Wann?« »Ein paar Minuten, ehe Sie kamen.« »Und keiner weiß davon?« »Außer uns -- keiner. Wollen Sie den Brief ansehen?« Mit einem abermaligen Erschauern folgte sie seinem Geheiß und las ihn von der ersten Seite bis zur Namensunterschrift auf der dritten langsam durch. Ihre Hand sank wieder kraftlos in ihren Schoß. »Ich begreife alles, was Sie wollen, daß ich begreifen soll,« hauchte sie fast unhörbar. Ihr Kopf sank zurück. »Mir wird schlecht, glaube ich,« stammelte sie, »wollen Sie mir etwas Wasser bringen?« Auf dem Büfett stand Wein, den er ihr brachte, weil er ihr besser sein würde wie Wasser, wie er sagte. Es lag keine Zärtlichkeit in seiner Hilfeleistung, kaum sorgliche Beflissenheit -- der ganze Mensch schien ebenso versteinert wie sein starres, fahles Antlitz. Als sie den Wein getrunken hatte, nahm er ihr das Glas aus der Hand und hub wieder zu reden an, ruhig und klar, aber nicht freundlich. »Zweifeln Sie nicht an der Wahrheit! Sie irren sich, wenn Sie das tun. Ich hatte ausreichende Beweise von allem, ehe ich nach England kam. Meine einzige Aufgabe war, den Mann zu finden. Zweifeln Sie daran, daß es mir gelungen?« »Nein -- daran wage ich nicht zu zweifeln. Aber ich bin wie verwirrt. Das Ganze ist so entsetzlich. Lassen Sie mich nachdenken!« Er gehorchte, trat an den Tisch zurück und band die Briefe, das Dokument, die Photographie wieder mit dem gelben Band zusammen. Es sah jetzt wieder wie das unschuldige flache Päckchen aus, das Sir Jasper Mortlake zu Asche verbrannt zu haben glaubte. Florence drückte die Hände gegen die Augen. Als er sich wieder zu ihr wandte und sie sie herabsinken ließ, waren ihre Lippen völlig farblos; nur in ihren großen Augen schien noch Leben zu sein, als sie ihn anblickte. »Was,« hauchte sie in fast unhörbarem Flüstertone, »was wollen Sie tun?« »Tun?« Er wiederholte das Wort, als wundere es ihn, daß sie es brauchte. »Was sollte ich tun, als das eine -- das zu tun ich der Toten feierlich gelobt habe -- die Wahrheit verkünden?« »Nein -- nein -- nur das nicht!« Ihre Stimme klang fast schrill; sie sprang auf und faßte seinen Arm. »Das werden Sie nicht tun! Bedenken Sie nur, was das heißen würde -- die Schande -- die Schmach -- Verzweiflung! Und sie sind unschuldig -- Tante Agathe und ihre Kinder -- sie haben Ihnen nichts zuleide getan. Es würde Tante töten, würde Cis das Herz brechen -- meiner armen kleinen Cis. Roys Leben wäre zugrunde gerichtet. O, seien Sie barmherzig! Überlegen Sie! Schonen Sie ihrer, ich beschwöre Sie!« Ihre Hände umklammerten noch immer seinen Arm. Er machte sich kalt von ihr los, und kein weicherer Zug trat in sein Antlitz. »Ich habe das Gesetz nicht gemacht, Gräfin, daß die Unschuldigen für die Schuldigen leiden müssen. Es ist unerbittlich, weder Sie noch ich können es ändern. Auch ich bedaure die unglückliche Frau und ihre Kinder. Aber könnten Sie deshalb wollen, daß ich die Schande und das Leid, das ich vor Augen gehabt, vergesse -- das zugrunde gerichtete Leben, das ich habe erlöschen sehen, das Sterbebett, an dem ich gestanden, und das Gelübde, das ich dort getan, das Unrecht wieder gutzumachen, wenn es auch mein ganzes Leben in Anspruch nehmen sollte? Könnten Sie wirklich wollen, daß ich dies alles vergesse, daß ich das mir zugefügte Unrecht beiseite schiebe, um ein barmherziges Schweigen zu beobachten? Das können Sie nicht! Es ist zu viel verlangt. Ich muß die Wahrheit sagen.« »O, Sie müssen es nicht -- Sie sollen es nicht!« Sie rang die Hände. »O, bedenken Sie sich -- warten Sie! Sie sind so gut gegen mich gewesen -- es muß doch möglich sein, Sie barmherzig gegen die Armen zu stimmen. Auf irgendeine Weise müssen Sie doch zu erweichen sein, wenn es mir nur einfallen sollte, wie.« Sie blickte ihn flehend an. »Ach, um welchen Preis würden Sie meine Bitte erfüllen? Ich bin reich. Kann nichts, was ich Ihnen zu bieten vermag, Ihr Schweigen erkaufen? Sagen Sie mir, daß Sie jeden Pfennig meines Vermögens nehmen wollen, und sobald es mein ist, gelobe ich, daß es Ihnen gehören soll. Denken Sie, um was ich flehe -- um das Glück und die Ehre dreier unschuldiger Menschen, die ich liebe. O, haben Sie doch Mitleid mit ihnen! Ich will Ihnen alles geben, was ich besitze, und Ihnen danken, daß Sie es nehmen, wenn Sie nur nicht reden wollen!« Sie hielt inne, vor Eifer und Erregung bebend. Leath machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. »Sie vergessen, Gräfin, daß es nicht nur Geld ist, auf das Sie mich zu verzichten bitten! Ihr Vermögen? Stünde es in Ihrer Macht, es in diesem Augenblick in meine Hände zu legen, so würde es keinen Unterschied machen. Ich wiederhole es -- Sie fordern zu viel. Es gibt keinen Preis, um mein Schweigen zu erkaufen.« Sie blickte ihn an, gewahrte die fest aufeinandergepreßten Lippen und die wie geschliffener Stahl blitzenden Augen und las in ihnen, wie hoffnungslos alles weitere Bitten sein würde. Er würde kein Erbarmen haben -- er würde die Wahrheit verkünden! Und weshalb sollte er schonen, er, der nicht geschont worden war -- schonen, wo Recht und Gerechtigkeit auf seiner Seite standen? Sie machte eine hilflose Gebärde der Verzweiflung. »Sie haben recht,« brachte sie mühsam hervor, »es ist zu viel verlangt. Ich sehe es ein -- ich gebe es zu. Weshalb sollten Sie das für Menschen tun, aus denen Sie sich nichts machen? Es ist grausam, es ist schrecklich! Aber Sie müssen es tun, da Sie es nicht anders wollen. Es ist Ihr gutes Recht. Aber ach, -- ich würde fast mein Leben dafür geben, könnte ich Sie davon zurückhalten!« Ihre Erregung überwältigte sie. Sie sank auf einen Stuhl und brach in ein leidenschaftliches Weinen aus. Zum ersten Male ging eine Veränderung mit Leaths unbewegtem Antlitz vor sich, als er sie in ihrem fassungslosen Schmerze schluchzen hörte. Es war ihm unmöglich, länger zu vergessen, wer sie war -- das Weib, das er leidenschaftlich liebte und bis zu diesem Augenblicke niemals gehofft hatte zu erringen. Aber jetzt? Er warf das Paket auf den Tisch und trat zu ihr. »Gräfin,« sprach er mit fester Stimme. »Ich habe eben etwas Unrechtes gesagt. Sie fordern viel von mir, aber nicht zu viel. Es gibt einen Preis!« 19. »Es gibt einen Preis,« wiederholte Everard Leath, »Sie können mein Schweigen erkaufen, wenn Sie wollen.« So ruhig die Worte auch gesprochen wurden, so vernahm die Schluchzende sie doch, ließ vor Verwunderung die Hände herabsinken und wandte ihm ihr von Tränen überströmtes Gesicht zu. Hatte er das wirklich gesagt? Meinte er das so? Das Herz schien ihr fast stillzustehen und klopfte dann wieder ungestüm, als sie ihn ansah. Mit seinem Aussehen war eine Veränderung vorgegangen; sein Antlitz war gerötet, seine Augen blickten glänzend und lebhaft. Sie rang nach Atem, während sie ihn mit weitgeöffneten Augen anstarrte, und umklammerte die Armlehne ihres Stuhles. Hatte er wirklich gesagt, daß er schweigen, daß er barmherzig sein wollte? Er hub wieder an: »Es gibt einen Preis -- alle Menschen sind zu erkaufen, wie man sagt, und das mag wahr sein. Jedenfalls verhält es sich mit mir so. Sie vergaßen, daß Geld an sich nichts ist -- für Ihr Vermögen, wäre es auch zwanzigmal so groß, würde ich das, was Sie von mir heischen, nicht hergeben. Nichtsdestoweniger können Sie mein Schweigen erkaufen, wenn Sie wollen!« »Wenn ich will? Sie wissen, daß ich will! Habe ich das nicht schon gesagt?« Sie hatte nicht die leiseste Ahnung von dem, was er meinte, als sie zitternd, mit gespanntem Ausdruck in den Augen aufstand. »Sagte ich nicht, daß ich fast mein Leben dafür hingeben würde, wenn ich sie dadurch retten könnte? Aber welchen Preis außer meinem Gelde habe ich Ihnen zu bieten?« »Das wissen Sie nicht?« »Nein. Was -- was?« »Sich selbst,« sprach er gelassen. »Mich selbst?« Wie ein Hauch kamen ihr die Worte von den Lippen, während sie in ihren Stuhl zurücksank und ihn noch immer völlig verständnislos anstarrte. Aber als er ihr fest in die Augen sah, schoß eine heiße Blutwelle ihr ins Antlitz, und sie errötete bis zu den Haarwurzeln -- sie verstand ihn! Er sah es und schwieg einen Augenblick, um ihr Zeit zu geben, sich zu fassen. »Um diesen Preis werde ich schweigen,« hub er wieder an. »Ich weiß, es ist der höchste, der mir geboten werden könnte, aber auch der niedrigste, den ich annehmen will. Geben Sie mir jetzt Ihr Wort, daß Sie mein Weib werden wollen, und ich schwöre Ihnen, daß kein Wort über meine Lippen kommen soll.« Sie sagte nichts und rückte in ihrem Sessel nur noch weiter von ihm fort. Sie sah aus wie ein geängstigtes Kind. Als er diese Bewegung wahrnahm, sprach er mit bitterem Auflachen: »O, ich weiß, daß Sie sich nichts aus mir machen! Das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen. Ich habe Ihnen, der Tochter und Erbin eines Grafen, bis zu diesem Augenblicke niemals als ein Ebenbürtiger gegenübergestanden, Gräfin Florence. Wie sollten Sie sich etwas aus mir machen? Und Sie gehörten einem andern; ich habe nicht einmal wagen dürfen, um Sie zu werben. Aber gestatten Sie mir das jetzt, Florence! Lassen Sie mich Sie lehren, wovon Sie ebensowenig wissen wie ein Kind, -- was eines Mannes Liebe sein kann, und ich schwöre Ihnen, Sie sollen mich noch liebgewinnen. Ich bin nicht wie jener fischblütige Narr, dem Sie den Laufpaß gegeben haben. Ich -- aber ich erschrecke Sie. Ich will ganz ruhig sein. Ich will warten, bis Sie zu mir sprechen können.« Erstaunt und erschrocken über sein wie umgewandeltes leidenschaftliches Antlitz, seine leuchtenden Augen, seine beredte Sprache war sie, als er sich über sie beugte, noch weiter von ihm zurückgewichen. Er ging zweimal im Zimmer auf und nieder, ehe er weitersprach. Sie hatte ihre Stellung verändert und saß mit fest zusammengepreßten Händen aufrecht da. »Können Sie mich jetzt anhören?« fragte er ruhig. »Ja.« »Was also ist Ihre Antwort -- ja oder nein?« »Wenn es ›Ja‹ ist, schwören Sie, zu schweigen?« »Das habe ich schon gesagt. Ich gelobe unverbrüchliches Schweigen.« »Für jetzt und allezeit?« »Ja.« Mit einem Schauder deutete sie auf das auf dem Tische liegende Päckchen. »Sie wollen Ihre Beweise dort vernichten?« »Sie selbst sollen sie ins Feuer werfen an dem Tage, an dem Sie mich heiraten.« »Und ebenso die anderen, die Sie besitzen, wie Sie sagen.« »Ebenso.« »Sie wollen niemand erzählen, daß Sie Robert Bontine gefunden haben?« »Ich will den Namen nicht wieder erwähnen, nicht einmal gegen Sie.« »Und Sie wollen -- sie hier -- in Frieden -- in ungestörtem Frieden lassen -- und nach Australien zurückkehren?« »Das haben Sie zu entscheiden -- als meine Frau.« »Hier oder dort werden Sie nichts sagen?« »Nichts! Noch einmal -- lautet Ihre Antwort ›Ja‹ oder ›Nein‹?« »Wenn sie ›Nein‹ lautet, so werden Sie reden?« »Weshalb nicht? Weshalb sollte ich alles um nichts dahingeben?« »Allerdings, weshalb? Das Glück und die Ehre der andern sind Ihnen nichts -- ich gestehe, daß ich kein Recht habe, auf Edelmut bei Ihnen zu rechnen,« sprach sie mit bitterem Auflachen und blickte ihn an. »Und wenn ich Sie heirate, so wollen Sie auf alles verzichten -- wollen das der Toten geleistete Gelübde, von dem Sie sprachen, vergessen?« Sie lachte bitter. »Das will ich. Weshalb nicht? Die Toten sind schließlich tot. Wenn ich irgend jemand durch mein Schweigen ein Unrecht zufüge, so ist es nur mir selbst. Da das der Fall ist, so habe ich das Recht, wenn ich will, die Liebe sowohl der Rache wie der Gerechtigkeit vorgehen zu lassen.« »Liebe?« wiederholte sie mit unsäglicher Verachtung. »Sie sagen, Sie lieben mich?« »Sage, ich liebe Sie?« Er tat einen Schritt auf sie zu, bezwang sich dann aber schnell. »Nein,« sagte er gelassen, »ich brauche nicht erst zu sagen, was Sie wissen.« »Es ist nicht wahr!« widersprach sie mit einer heftigen Bewegung »Ich hatte nie an so etwas gedacht.« »Nein. Das glaube ich. Wer war ich, daß ich Sie lieben sollte? Aber Sie wissen es jetzt.« Sie würde es geleugnet haben, hätte sie es vermocht, aber sie begegnete seinen Augen, und die Worte erstarben ihr auf den Lippen. Ja, es war wahr -- er liebte sie; sein Blick, seine Stimme waren eine Offenbarung. Sie mochte schaudern, mochte sich dagegen auflehnen, aber sie mußte es glauben -- er zwang sie dazu. In all ihrer Aufregung, ihrer Angst, ihrem Zorn mußte sie Talbot Chichesters gedenken, des Mannes, der sie auch geliebt haben sollte, und sie hätte in all ihrem Jammer fast auflachen können. Sie stand auf, stützte sich mit der Hand auf ihren Stuhl und begegnete dem Blick, der sie erbeben machte, dem sie aber nicht ausweichen wollte. »Machen Sie es sich klar,« sprach sie langsam, »daß ich Sie fast hasse, Herr Leath?« »Augenblicklich ja, Gräfin Florence -- völlig.« »Und obwohl Sie das wissen, sind Sie willens, mich zu heiraten?« »Ich liebe Sie, und ich weiß wenigstens, daß Sie keinen andern lieben. Und möge Ihr Gefühl für mich sein, was es wolle, so ist es nicht Verachtung. Die Sache keines Mannes ist einer Frau gegenüber hoffnungslos, solange das nicht der Fall ist,« antwortete Leath kaltblütig. »Sie stellen mir die Frage, und ich beantworte sie. Angesichts Ihres Hasses, Ihres Grolles, Ihrer Empörung -- nennen Sie es, wie Sie wollen -- bin ich willens. Ich will mich des Wortes bedienen, da Sie es gebraucht haben.« »Sie haben wenigstens Mut.« Sie blickte ihn wieder voll Verachtung an. »Die meisten Männer würden es sich, glaube ich, zweimal überlegen, ehe sie unter solchen Bedingungen eine Frau nehmen.« »Nein, Gräfin Florence, nicht, wenn Sie diese Frau wären.« Sie wandte sich von ihm weg. Nach einigen Augenblicken folgte er ihr an das Fenster, an das sie getreten war. »Ich will nicht, daß Sie sich übereilen,« sagte er ruhig; »wenn Sie sagen: ›Gib mir bis morgen Zeit‹, so will ich warten. Aber es ist nicht anzunehmen, daß Sie mich dann weniger hassen werden, noch wird der Preis meines Schweigens bis dahin ein geringerer oder höherer geworden sein.« »Ich weiß, Sie halten mich für brutal, -- ich fürchte, ich bin es auch, -- aber die Umstände entschuldigen mich vielleicht ein wenig. Unfreundliche oder kalte Worte würde ich aus freier Wahl nicht gerade Ihnen gegenüber brauchen. Darüber sollen Sie sich nicht zu beklagen haben, wenn Sie erst meine Frau sind. Ich stelle meine Frage noch einmal -- ist Ihre Antwort ›Ja‹ oder ›Nein‹?« Er wußte die Antwort, und sie ebenfalls -- es konnte nur eine geben. Sie sagte nichts -- Lippen und Zunge waren ihr wie ausgedorrt -- aber langsam, sehr langsam und scheu hielt sie ihm die Hand hin. Er nahm sie, umschloß sie mit festem Drucke während eines Augenblickes und ließ sie dann los. »Sie sollen Ihren Entschluß nie zu bereuen haben,« sprach er. »Von dieser Stunde an wird es meine Aufgabe sein, Sie so glücklich zu machen, wie nur ein Weib, das den Mann liebt, der sie wieder liebt, sein kann. Was das Ziel meines Lebens gewesen, ist jetzt vorüber und abgetan -- ich gewinne unendlich, wenn Sie mir dafür gegeben werden.« Sie gab ihm keine Antwort; sie zitterte heftig; wiederum war sie nahe daran, in hysterisches Weinen auszubrechen. Er rollte den Stuhl heran, auf dem sie sich niederließ. »Sie sind mit Ihrer Kraft zu Ende,« sagte er, »und das ist kein Wunder! Ich darf Sir Jaspers Papiere nicht umherliegen lassen; ruhen Sie sich aus und erholen Sie sich, während ich sie forträume. Wenn Sie bereit sind, will ich Sie nach Turret Court begleiten. Ich habe Ihnen noch etwas zu sagen, ehe wir auseinandergehen.« Florence machte keine Einwendungen. Sie setzte sich wieder -- mit dem hilflosen Gefühl, daß ihr nichts anderes übrigblieb -- daß ihr nie wieder etwas anderes übrigbleiben würde, als sich den Umständen zu fügen, da sie einmal eingewilligt, Everard Leaths Weib zu werden. Sie würde bald aus ihrer dumpfen Betäubung erwachen, würde sich zu leidenschaftlicher Empörung aufraffen, aber jetzt hatte sie keine Kraft, gegen das Unvermeidliche zu kämpfen. Sie konnte nicht einmal hoffen, zu sterben, denn wenn sie stürbe, würde dieser schreckliche, unerbittliche Mensch, der sie bei all seiner mitleidlosen Hartherzigkeit unerklärlicherweise so liebte, keinen Grund haben, zu schweigen -- er würde die furchtbare Wahrheit aussprechen, die zu verkünden in seiner Macht stand. Nein, sie mußte ihn lieben und heiraten. So sehr sie ihn auch hassen mochte, sie mußte sein Weib werden. Sie erhob keinen Widerspruch, als er zu ihr trat und sie fragte, ob sie den Heimweg antreten wolle. Gehorsam stand sie auf und setzte ihren Hut auf. Hatte er doch das Recht, mit ihr zu gehen -- war er nicht ihr zukünftiger Gatte? Die ganze Welt schien aus den Fugen zu sein. Sie wanderten in fast ungebrochenem Schweigen über die Halde -- sie sprach aus freien Stücken keine einzige Silbe -- und doch war alles, was er noch auf dem Herzen gehabt hatte, lange ehe sie Turret Court erreichten, gesagt worden. Es hatte nur weniger deutlichen Worte bedurft. Er blieb stehen, als das Haus in Sicht kam, obwohl, wenn er es an ihrer Seite hätte betreten wollen, sie sich in ihrer augenblicklichen Gemütsverfassung auch darein ergeben haben würde. »Ich will jetzt umkehren,« meinte er, »es würde Sir Jasper ebensowenig lieb sein, mich in seinem Garten anzutreffen wie in seinem Hause. Aber ich will nur umkehren, wenn Sie dabei bleiben, daß Sie es vorziehen, selbst mit ihm zu reden.« »Ich ziehe es vor.« »Sie besitzen solchen Mut, daß ich Ihnen das nicht ausreden will, wenn es Ihr Wunsch ist. Aber Sie haben eine furchtbare Aufregung durchgemacht! Sie wollen doch jetzt nicht mit ihm reden?« »Ja. Glauben Sie, daß ich das noch länger auf dem Herzen behalten könnte? Ich werde sofort zu ihm gehen.« »Tun Sie ganz, wie Sie wollen,« sagte er ruhig. »Sie wollen also Sir Jasper, Ihren Vormund, sofort von Ihrem Versprechen, mich zu heiraten, in Kenntnis setzen? Und ich darf wohl morgen zu Ihnen kommen?« »Weshalb nicht?« Sie lachte fast, während sie ihn ansah. »Sie haben das Recht dazu, Herr Leath.« »Freilich -- es ist mein Recht. Also will ich Ihnen denn für heute Lebewohl sagen.« Er nahm ihre Hand. Sie widerstrebte nicht, aber er fühlte, wie sie vor ihm zurückwich, wie er das schon vorhin empfunden; und sein kurzes Auflachen klang ebenso bitter wie das ihre soeben. »Sie brauchen nicht bange zu sein! Ich will Sie nicht küssen -- noch nicht. Ich glaube nicht, daß mir etwas daran liegen würde, solange Sie solch ein Gesicht machen.« Er nahm auch ihre andere Hand. »Florence, wie lange es wohl dauert, bis Sie mich küssen?« Sie antwortete nicht; ihre Hände bebten hilflos in den seinen; sie vermochte nicht, ihn anzublicken. »Nicht lange, glaub’ ich, nicht lange.« Seine Augen hingen voll Leidenschaft an ihrem blassen Antlitz. »Aber ich möchte wissen, wie viele Küsse jener Tor, der es zuließ, daß Sie mit ihm gebrochen haben, mir geraubt hat?« Ihr Gesicht antwortete ihm. Sie blickte hastig auf, und er las Überraschung, Verachtung, lebhaften Widerspruch in ihren Zügen. Er lachte in ganz anderem Tone. »Was, keinen einzigen? Dann will ich ihm vergeben, wie man einem Narren vergibt -- mehr ist er nicht wert! Ich habe Sie noch mehr zu ehren als ich glaubte, -- um so besser für Sie und für mich!« Seine Stimme wurde weicher und klang nicht mehr triumphierend. »Armes Kind,« sprach er sanft, »Sie hassen mich jetzt mehr als je -- nicht wahr? Das tut nichts. Sie sind erschöpft, und ich halte Sie auf. Bis morgen also, leb’ wohl, leb’ wohl!« Er ließ ihre Hände los. Florence eilte davon; als sie sich bei einer Biegung des Weges umblickte, sah sie ihn noch an derselben Stelle stehen, an der sie ihn verlassen hatte; augenscheinlich wartete er, bis sie außer Sicht sei. Sie eilte jetzt nur um so schneller weiter und hielt sich nicht auf, bis sie das Haus erreicht hatte. Sie fühlte, daß sie ohne Aufschub, ohne Zögern tun müsse, was ihr oblag, wollte sie nicht zusammenbrechen. Sie nahm im Flur ihren Hut ab und begab sich dann in die Bibliothek. Dort mußte sie, wie sie wußte, Sir Jasper antreffen. Er war da. Als Florence eintrat, sah sie ihn in seinem gewohnten Stuhl sitzen, ein Buch in der Hand haltend. Er las nicht, sondern brütete mit finster gerunzelter Stirn vor sich hin. Einen Augenblick blieb sie stehen, und es durchfuhr sie der Gedanke, wie sein Gesicht sich wohl verändern würde, wenn sie mit ihm geredet. Zwischen Vormund und Mündel hatte, seitdem Florence mit Chichester gebrochen, nur eine Zusammenkunft stattgefunden, die nicht sehr angenehm gewesen und in der das junge Mädchen ihn daran erinnert hatte, daß sie mündig sei und daß sie Turret Court auf immer zu verlassen gedenke. Es berührte ihn daher eigentümlich, daß sie ihn aus freien Stücken aufsuchte, und er fragte sie in einem so beißenden Tone, wie er ihn ihr gegenüber noch niemals angeschlagen: »Wie komme ich zu dieser unverdienten Ehre, Florence?« »Ich habe dir etwas zu sagen, Onkel Jasper.« Sie war jetzt ganz nahe, und er schrak beim Anblick ihres Gesichtes unwillkürlich zusammen. Als sie sich mit den Händen auf eine Stuhllehne stützte, als bedürfe sie eines Haltes, erhob er sich von seinem Sitze. »Was gibt’s?« fragte er brüsk. »Weshalb siehst du so aus? Was ist los?« »Um dir das zu sagen, bin ich hier. Ich war heute nachmittag im Bungalow.« »Nun? Was führte dich dorthin?« »Ich wollte Herrn Sherriff vor meiner Abreise von St. Mellions Lebewohl sagen.« »Ah! Du hast, wie ich weiß, eine törichte Zuneigung für den albernen Alten und er für dich. Ich verstehe. Er hat dir eine Szene gemacht und dich gebeten, mich wegen seiner gestrigen Unverschämtheit um Verzeihung zu bitten. Aber damit soll er mir vom Halse bleiben. Wie man sich bettet, so liegt man. Je eher meine Angelegenheiten in andere Hände übergehen, desto besser.« »Du irrst dich. Herr Sherriff hat dir keine Abbitte geschickt. Ich habe ihn nicht gesehen.« »Nein?« Er blickte sie voll Argwohn und Mißtrauen an. »Was hat dich denn so aus der Fassung gebracht?« »Im Bungalow fand ich Herrn Leath.« »Leath? Den -- den Menschen?« Nur zweimal hatte sie sein Antlitz sich so verfinstern sehen wie jetzt -- einmal, als er erklärte, daß Everard Leath niemals wieder Turret Court betreten solle, und dann wieder, als sie ihn gefragt hatte, -- ach, wie unschuldig und arglos! -- ob er je den Namen Robert Bontine gehört hätte. Er stammelte vor Wut. »Und -- und er? Hat er gewagt, mit dir zu sprechen?« »Er hat viel mehr getan als mit mir gesprochen, Onkel Jasper.« Ihre Augen hingen unverwandt an ihm. Sie las in seinem Gesicht das Grauen vor dem, was kam. Er war geisterbleich -- große Schweißtropfen rannen ihm von der Stirn. Er sprach nicht, obgleich er den Mund öffnete und einen dumpfen Kehllaut ausstieß; er stand auf und wartete auf den Schlag. Sie blickte ihn an und versetzte ihm den gefürchteten Streich. »Er hat Robert Bontine gefunden.« Er fiel in seinen Stuhl zurück. Mit verglasten Augen starrte er sie an -- sprachlos. Hätte noch die leiseste Hoffnung in ihrer Brust gelebt, so würde sie vor diesem schrecklichen Antlitz erloschen sein. War er imstande, ihr zuzuhören -- sie zu verstehen? Während sie das erwog, hob er die Hand, bewegte sie hilflos hin und her und stammelte keuchend: »Weiter!« »Er hat Robert Bontine gefunden!« wiederholte sie. »Ich bin hier, um dir das zu sagen. In meinem Herzen war kein Zweifel, wer jener Mann sei, als ich zu dir kam, und jetzt erst recht nicht. Ich habe die Beweise gesehen -- Beweise, die du vernichtet glaubtest -- Beweise, die ein kleines, mit einem gelben Bande zusammengebundenes Paket enthielt. Verstehst du mich?« Er machte ein Zeichen der Bejahung. Sie fuhr fort: »Andere Beweise existieren, wie er mir sagte, in Australien. Ich zweifle nicht daran, daß er die Wahrheit redet. Er hat den Zweck erreicht, der ihn nach England geführt, hat den Gesuchten gefunden -- und wir beide wissen, was er tun könnte, wenn er wollte.« »Wenn er wollte?« Wie er vorhin das ›Weiter!‹ keuchend hervorgestoßen hatte, so stieß er auch diese drei Worte mühsam heraus. Florence wiederholte sie. »Wenn er wollte. Aber er will nicht. Es gab nur einen Preis, der sein Schweigen erkaufen konnte, und es traf sich zufällig, daß ich ihm diesen Preis bieten konnte. Er liebt mich, wie es scheint. Ich habe versprochen, ihn zu heiraten.« Er fuhr aus seinem Stuhle empor, dessen Armlehnen er krampfhaft umklammerte, während er sie ungläubig anstarrte. Sie sprach in demselben ruhigen, entschlossenen Tone weiter: »Ich habe versprochen, seine Frau zu werden, weil er mir sein Wort gegeben hat, in dem Falle den Namen Robert Bontine nie wieder zu erwähnen. Ich mache mir nichts aus ihm -- werde mir nie etwas aus ihm machen, aber ich weiß, daß man sich auf ihn verlassen kann, weiß, daß er sein Wort halten wird. An unserem Hochzeitstage soll ich die Beweise, von denen ich sprach, eigenhändig den Flammen übergeben, -- das hat er mir auch versprochen. Ich werde meinem gegebenen Worte nicht untreu werden, und er auch nicht. Solltest du dich etwa wundern, weshalb ich es ihm gab, so weißt du die Antwort, denke ich -- ich habe Tante Agathe und ihre Kinder sehr lieb.« Es trat ein Schweigen ein. Etwas wie aufdämmerndes Verständnis, wie eine gewisse Erleichterung zeigte sich auf dem Antlitz des Mannes im Lehnstuhle. Langsam kehrte die Farbe in seine Wangen zurück. Florence hatte den Kopf auf die Hände sinken lassen. Nach einer Weile erhob sie sich und schritt auf die Türe zu. Ein bitter ironisches Lächeln zuckte um ihre Lippen, als sie noch einmal stehen blieb und sprach: »Noch etwas bleibt mir zu sagen übrig, ehe ich gehe. Ich fürchte, es ist kaum wahrscheinlich, daß die Herzogin mit meiner Verlobung zufrieden sein wird. Everard Leath, der irgendwo in Australien zu Hause ist, ist keine so annehmbare Partie für mich wie Talbot Chichester von Highmount. Es ist möglich, daß sie ihre Einwilligung versagen wird. In dem Falle ist es mir lieb, zu wissen, daß die Zustimmung meiner Vormünder mir den Besitz meines Vermögens sichert und daß du, Onkel Jasper, die deinige nicht verweigern wirst.« Sie verließ ihn ohne ein weiteres Wort und ging die Treppe hinauf, um sich in ihr Zimmer zu begeben. Sie fühlte, daß es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei sei, daß sie der Ruhe und Einsamkeit bedürfe. Auf der Schwelle des Gemaches traf sie Cis, die es gerade verließ. »O, Florence, da bist du ja!« rief sie. Es war so dunkel im Korridor, daß sie das Gesicht ihrer Cousine nicht deutlich sehen konnte. »Ich wunderte mich, wo in aller Welt du nur stecken könntest! Weshalb hast du nicht im Bungalow auf mich gewartet? Du kannst dir mein Erstaunen vorstellen, als ich dort ankam und hörte, du seiest fort.« »Ja -- ich kann mir denken, daß du erstaunt warest, Cis.« »Erstaunt? Ich war einfach fassungslos bei dem Gedanken, daß du den langen, heißen Weg zu Fuß gemacht hast, noch dazu, wo du nicht wohl bist. Und --« Cis ließ stockend die Stimme sinken, sie wußte nicht recht, wie sie mit der in den letzten paar Tagen merkwürdig verwandelten Florence eigentlich daran war -- »hm -- das Mädchen sagte, Florence, daß Herr Leath mit dir gegangen wäre.« »Ganz recht. Er hat mich nach Hause gebracht.« »Was -- den ganzen Weg? Hierher nach Turret Court?« Aus ihren weitgeöffneten Augen sprach Mißbilligung und Erstaunen. »O, wirklich, Florence, ich finde, das hättest du nicht tun sollen,« meinte sie tadelnd. »Gerade jetzt, wo ihr schon in aller Leute Munde seid! Du hattest ihn nicht mit dir gehen lassen dürfen. Er hat kein Recht, sich dir auf solche Weise aufzudrängen.« Florence lachte und legte der andern die Hände auf die Schultern. »Du bist ein Prachtstück von Sittsamkeit, liebe Cäcilie. Aber in diesem besonderen Falle irrst du dich zufällig ganz und gar. Sowohl vor aller Augen wie hinter dem Rücken von ganz Rippondale hat Herr Leath das Recht, mit mir zu gehen, wenn er Lust hat. Ich habe soeben versprochen, ihn zu heiraten.« 20. In dem getäfelten Zimmer, sonst dem traulichsten und freundlichsten Raume des Schlosses, sah es trübselig aus. Lady Agathe, die in ihrem Lieblingsstuhl saß, hatte ihr Taschentuch an die Augen gedrückt und schluchzte herzzerbrechend; ihr Roman war auf den Boden herabgeglitten und lag dort vergessen. Cis, deren hübsches Gesicht blaß und bekümmert aussah, stand am Fenster und hätte am liebsten auch geweint. Vor noch nicht drei Minuten hatte sich die Tür hinter Sir Jasper geschlossen, der hinausgegangen war und all diesen Jammer zurückgelassen hatte. Wie unwillkommen sein Besuch in dem getäfelten Zimmer auch stets seiner Frau und Tochter sein mochte, so war er doch nie mit einer so niederschmetternden Mitteilung erschienen wie eben, und die Wirkung, wenigstens auf die ältere Dame, war vernichtend gewesen. Mit den kürzesten Worten und dem schroffsten Ton seiner scharfen Stimme hatte er die Verlobung seines Mündels mit Everard Leath und seine eigene Einwilligung mitgeteilt. Nachdem er das getan, ging er hinaus, wie er hereingekommen, und Lady Agathe, die zu eingeschüchtert war, um angesichts seiner kaltblickenden Augen eine Szene zu machen, brach vor Erstaunen, Bestürzung und Entrüstung in Tränen aus. »Mir ist nie etwas so nahegegangen,« schluchzte sie, »niemals, Cäcilie! Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht! Mir ist, als könnte ich meinen Ohren nicht trauen. Wenn dein Vater überhaupt jemals spaßte, so würde ich sagen, er macht einen Scherz mit mir. Aber er sagte ganz deutlich, Florence hätte sich mit Herrn Leath verlobt, nicht wahr?« »Ja, Mutter, das sagte er.« »Und daß er eingewilligt hätte, nicht wahr?« »Ja -- auch das.« »Ich kann -- ich will es nicht glauben!« rief Lady Agathe unter neuem Schluchzen. »Florence sollte sich mit solchem Menschen verlobt haben! Er ist doch durchaus keine Partie für sie! Und dein Vater, der ihn nie ausstehen zu können schien, sagt, daß sie ihn heiraten soll! O, ich bin wie betäubt! Sie macht sich doch gar nichts aus dem Menschen, nicht wahr?« »Ich -- ich fürchte nein, Mutter,« antwortete Cis mit verlegenem Zögern. »Aber ich habe seit langer Zeit gewußt, daß Herr Leath sehr in sie verliebt war.« »Ach, was hat das damit zu tun?« rief Lady Agathe. »Wenn das so ist, so ist es eine unverschämte Anmaßung von ihm. O, wie schade ist es, jammerschade, daß sie nicht mit der Herzogin nach Pontresina gegangen ist! Dann wäre dies alles nicht geschehen, und sie hätte in aller Gemütsruhe Chichester geheiratet. Aber ich kann es nicht glauben, liebes Kind, daß es ihr Ernst ist -- ich kann es nicht. Dein Vater muß sie mißverstanden haben. Nein -- ich glaube nicht, daß es wahr ist, bis Florence selbst es mir bestätigt.« »Aber es ist wahr, Mutter.« Cis wandte sich um. »Florence hat es mir selbst erzählt.« »So?« Lady Agathe hörte auf zu schluchzen. »Sie hat es dir gesagt?« »Ja -- gestern. Anstatt im Bungalow auf mich zu warten, wie wir verabredet, hat sie sich von Herrn Leath, der dort war, nach Hause bringen lassen. Da hat er sich wohl gegen sie ausgesprochen. Auf jeden Fall erzählte sie mir, daß sie sich mit ihm verlobt und daß Vater seine Zustimmung gegeben hatte.« »Fragtest du sie nicht, ob sie den Verstand verloren hätte?« fragte die Mutter mit einem neuen Tränenstrom. »Natürlich tat ich das! Sie war so wunderlich -- so ganz anders als sonst, und sie lachte, als ich zu weinen anfing. Ich wollte es dir erzählen, aber sie sagte ›Nein‹, sie wollte Papa bitten, es dir zu sagen. Du weißt, daß sie gestern nicht zu Tische herunterkam, und als ich heute morgen nach dem ersten Frühstück sie in ihrem Ankleidezimmer aufsuchte, sahen ihre Augen so trübe aus, als habe sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Alles wegen des unseligen Menschen!« rief Cis, in zornige Tränen ausbrechend, »und ich mochte ihn früher ganz gern leiden, den Abscheulichen! Und nun ist das Elend da! Ach, ich wollte, ich wäre tot!« »Doch wohl nicht im Ernst, Cis -- hoffentlich nicht! Unsinn, du kleines Ding! Was Harry wohl sagen würde, wenn er dich hören könnte!« Es war Florence, die so sprach. Vor etwa einer Minute war sie draußen in die Veranda getreten und horchend stehengeblieben, als durch das offene Fenster Stimmen an ihr Ohr schlugen. Lady Agathes Schluchzen allein hätte ihr verraten, wovon die Rede war, aber sie hatte mehr gehört. Sie trat ins Zimmer und sprach mit fester Stimme zu ihr: »Ja, es ist wahr, Tante Agathe, Herr Leath hat gestern um mich angehalten, und ich habe mich mit ihm verlobt. Und es ist ebenfalls wahr, daß Onkel Jasper in unsere Verlobung gewilligt hat. Du mußt meine Verlobung, bitte, als eine abgemachte Sache ansehen.« Sie war noch immer sehr blaß, ihre großen Augen waren glanzlos, aber ihr bleiches Antlitz belebte sich, als sie sanft den Arm um Cis legte und ihr goldblondes Haar küßte. Arme, kleine Cis! Armes, weichherziges kleines Mädchen, das so bitterlich schluchzte! Würde ihr nicht das Herz wirklich gebrochen sein, würde sie nicht ihren fröhlichen jungen Bräutigam verloren haben, wäre nicht diese Verlobung mit Everard Leath gewesen, über die sie so herzbrechend weinte? Was für ganz andere Tränen hätten Mutter und Tochter jetzt vergießen können, hätte sie nicht aus Liebe und Mitleid zu ihnen jenes übereilte Opfer ihrer selbst gebracht! Aber bereute sie es denn? Nein -- sie bereute es nicht; sie wollte es nicht bereuen, obgleich sie schauderte bei dem Gedanken an die bevorstehende Zusammenkunft mit dem Manne, der jetzt das Recht hatte, sich ihren Verlobten zu nennen. Und es würde nur ein kümmerliches Opfer sein, wenn sie sahen, daß sie litt. Sie zwang sich zu einem Lächeln, während sie zu ihrer Tante trat und sanft das Taschentuch fortzog, das die arme Frau noch immer an die Augen drückte. »Aber ich kann es nicht glauben!« rief Lady Agathe, »wir kennen diesen Leath gar nicht! Ich muß offen reden, Florence -- was kann dir nur in den Sinn gekommen sein? Weshalb hast du es getan? Glaubst du, daß Herr Leath dich wirklich liebhat, Florence?« »Mich liebhat?« Sie sah wieder das gerötete, lebhafte Antlitz vor sich, dessen kühler, ruhiger Ausdruck wie umgewandelt war, die leuchtenden Augen, die von verhaltener Leidenschaft vibrierende Stimme -- die ganze Glut des Mannes, die sie erschreckt und doch einen Zauber auf sie ausgeübt hatte. Ob er sie liebte? Mochten seine Sünden gegen sie so groß sein, wie sie wollten, mochte sie vor ihm zurückbeben und ihn hassen, so sehr sie wollte, daran war wenigstens kein Zweifel. »Ja,« sprach sie in sehr leisem Tone, »er liebt mich. Davon kannst du fest überzeugt sein.« »Dann ist wohl nichts an der Sache zu ändern,« meinte Lady Agathe verzweifelt, »aber was die Herzogin sagen wird --« »Es kommt gar nicht weiter in Betracht, Tante, was die Herzogin sagen wird. Onkel Jasper willigt ein, wie du weißt. Das ist genug, um mir mein Vermögen zu sichern, und folglich alles, was nötig ist,« fiel ihr Florence mit einer Bewegung der Gereiztheit ins Wort. »Liebe Florence, ich muß dich noch etwas fragen. Wenn diese Heirat wirklich stattfinden soll, wünschest du, daß die Verlobung geheimgehalten wird?« »Geheim?« Einen Augenblick wandte sich Florence mit blitzenden Augen um. »Nein, ich schäme mich nicht dessen, was ich tue! Weshalb sollte sie geheimgehalten werden?« »Liebes Herz, ich hoffte, du würdest verstehen, was ich meinte,« stammelte Lady Agathe ängstlich. »In Anbetracht all der -- unseligen Klatschereien, die das schreckliche Gewitter verursacht hat, würde es besser sein, sie noch nicht zu veröffentlichen. Du weißt, die Leute lassen sich nicht den Mund verbieten -- es ist schändlich, aber sie werden --« Florence drehte sich jäh um. »Ich möchte nicht böse werden, Tante,« sagte sie und gab sich Mühe, ihre Stimme in der Gewalt zu behalten, während sie die Hand aufs Herz preßte, »aber ich fürchte, ich werde heftig, wenn ich noch länger hier bleibe. Wir wollen nicht weiter über die Sache reden. Herr Leath erwartet mich, ich will gehen.« Plötzlich ging eine Veränderung mit ihrem Antlitz vor; sie lief auf Lady Agathe zu, umschlang sie mit den Armen und rief in ganz anderem Tone: »Nein, nein! Es tut mir leid, daß ich das gesagt habe, mein Herz, -- ich will nicht böse werden! Nur frage mich nichts weiter und weine und härme dich nicht mehr! Laß mich denken, wenn ich dich ansehe, daß du glücklich bist, so stolz auf Roy, -- nicht wahr? -- deinen einzigen geliebten Sohn! Es würde dir das Herz brechen -- nicht? -- und wenn ihm etwas zustieße -- dich vielleicht gar töten? Nein, nein -- sag’ nicht ›Ja‹ -- antworte nicht, ich weiß, daß es so sein würde!« Sie wandte sich zu ihrer Cousine, umarmte sie und schaute ihr lebhaft in die verwundert aufblickenden Augen. »Und du, kleine Cis -- du siehst kläglich aus, -- du bist auch nicht unglücklich, mein Schatz. Du sollst mir zeigen, so oft ich dich und Harry ansehe, wie glücklich ihr seid, wie lieb du ihn hast, wie schrecklich es dir wäre, wenn du nicht seine Frau würdest! Küsse mich, Liebling, und sag’ mir, daß du jetzt ganz glücklich bist. Das ist recht! Dann bin ich es auch. Jetzt laßt mich gehen.« Sie entfernte sich eilfertig auf demselben Wege, auf dem sie gekommen: sie wußte, daß sie in heftiges Schluchzen ausbrechen würde, wenn sie länger bliebe, und auf diese Weise das, was sie bestrebt war zu verbergen, verraten hätte, und sie ging noch immer sehr schnell, selbst als sie vom Fenster aus nicht mehr gesehen werden konnte. In ihrem Kopfe wirbelte es, ihre Pulse flogen; nur ganz mechanisch schlugen ihre Füße die Richtung nach der Stelle ein, an der sie am vorigen Tage verabredet hatte, mit Leath zusammenzutreffen. Als sie ihn dort, anscheinend ihrer harrend, stehen sah, hielt sie im Laufen inne und fühlte plötzlich, wie es sie kalt überlief. Sie blieb stehen, und er kam sofort auf sie zu. »Ich -- ich habe Sie warten lassen,« brachte sie stockend heraus. Etwas mußte sie sagen, und diese Worte fielen ihr zuerst ein. Sie zitterte, als sie seinem Blick begegnete und den festen Druck seiner kräftigen Hand empfand. Sie hatte ihm die ihre nicht gereicht -- er hatte sie genommen, als wäre es etwas, wozu er ein volles Recht habe. »Ein wenig, aber es geziemt mir, auf Sie zu warten.« Er lächelte auf seine ernste Art. »Sie sehen abgespannt aus, Florence, -- Sie sind sehr schnell gegangen, -- das hätten Sie meinetwegen nicht tun sollen. Dort steht eine Bank. Sollen wir uns setzen?« Sie machte eine zustimmende Bewegung, und während sie sich setzten, ließ er sehr langsam ihre Hand los, die er bis jetzt festgehalten hatte. Florence schlug die Augen nicht auf. Sie hatte gesehen, daß er sie ansah, wie er sie am gestrigen Tage angesehen hatte, und das war genug. Es war ein Glück, daß er sich so beherrschte, dachte sie und bemühte sich, ihre innere Angst zu verbergen; wenn die Sache nicht schlimmer wurde als so, konnte sie es ertragen. Er hatte sie allerdings bei ihrem Vornamen genannt, und das Recht mußte sie ihm wohl zugestehen. Aber er hätte mehr tun oder sagen können, wo jeder Blick, jeder Ton eine Liebkosung war? Der Gedanke durchzuckte sie, wie wunderschön es hätte sein müssen, so neben ihm zu sitzen, wenn sie ihn geliebt hätte! Er brach das Schweigen, nachdem er prüfend in ihr gesenktes Antlitz geschaut. »Sie sind sehr bleich,« sagte er sanft, »aber das ist nicht zum Verwundern. Ich fürchte, Sie haben in der letzten Nacht nicht geschlafen?« »Ich habe es gar nicht versucht.« »Armes Kind! Sie müssen es heute nacht nachholen. Soll ich weiterreden, oder möchten Sie lieber, daß ich es nicht täte? Wird es Ihnen zuviel?« »Es wird mir nicht zuviel. Ich kann Sie sehr gut anhören. Sagen Sie mir, bitte, alles, was Sie mir zu sagen haben,« sprach Florence gelassen. »Nun gut. Wir haben gestern so vieles besprochen, daß zum Glück sehr wenig übrigbleibt.« Er nahm ein Band, das an ihrem Kleide herabhing, und wickelte es um die Finger. »Haben Sie gestern eine Unterredung mit Sir Jasper gehabt?« »Ja.« »Und ihm von dem Versprechen, mich zu heiraten, gesagt?« »Ja -- das habe ich getan.« »Er verweigert seine Einwilligung hoffentlich nicht?« »Nein -- das tut er nicht.« »Das ist gut, denn das heißt doch, daß wir der Herzogin nicht bedürfen.« »Nein, die brauchen wir nicht.« »Das ist wieder gut, denn ich muß gestehen, ich würde es vorziehen, daß Sie Ihr Vermögen behalten. Ich bin zwar kein armer Mann, aber ich bin auch nicht reich, und es täte mir leid, wenn Sie als meine Frau irgend etwas entbehren müßten, an das Sie gewöhnt sind.« Er hielt inne und spielte noch immer mit dem Bande. »Ich bin in solchen Sachen recht unwissend,« hub er in demselben nachlässigen, leichten Tone wieder an, »aber da Sir Jasper Ihr Vormund ist, so liegt es mir wohl ob, ihn aufzusuchen, nicht wahr? Soll ich heute zu ihm gehen?« »Nein, heute nicht. Er hat mich beauftragt. Ihnen zu sagen, daß er Sie morgen sehen wolle.« »Gut. Wenn er es vorzieht -- um welche Stunde?« »Das überläßt er Ihnen.« »Dann wollen wir sagen, morgen um zwölf.« Darauf erkundigte sich Leath, ob Lady Agathe und Cis um ihre Verlobung wüßten und wie sie diese aufgenommen hätten, und Florence antwortete, daß sie sehr überrascht und ganz außer sich darüber seien. »Das tut mir leid,« sprach Leath. »Fräulein Mortlake ist ein allerliebstes kleines Geschöpfchen, und ich weiß, Sie halten viel von ihr. Wollen Sie ihnen beiden von mir sagen, ich hoffte, sie würden mit der Zeit freundlicher gegen mich gesinnt werden?« »Ja -- das will ich tun.« Florence lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie war sich einer Regung der Dankbarkeit bewußt. Er hätte ihr die Sache viel schwerer machen können; sie fühlte zwar, er würde unerbittlich darauf bestehen, daß sie ihr Wort halte -- warum sollte er auch nicht? -- aber er war zartfühlend, rücksichtsvoll und freundlich gewesen. Sie widerstrebte nicht, als er wieder ihre Hand nahm, und verbarg, so gut sie konnte, den Schauder, der sie durchbebte, als er die Lippen darauf drückte. Das konnte sie ertragen. Aber sie öffnete gleich darauf die Augen wieder, entzog ihm ihre Hand und erklärte, daß sie Kopfschmerzen von der Sonne habe und nicht länger im Freien bleiben könne. »Das sollen Sie auch nicht.« Er stand auf, als sie sich erhob, und blickte in das blasse, müde Gesichtchen mit den dunklen Schatten unter den Augen, dem Schmerzenszug um die zarten Lippen. »Armes Kind!« entfuhr es ihm plötzlich. »Wie elend Sie aussehen -- wie ein Schatten Ihres lieblichen Selbst! Und daran bin ich wohl schuld? Ich -- gütiger Himmel! Sind Sie sehr unglücklich, Florence?« »Unglücklich?« Sie warf ihm einen Blick zu. Hohn und stumme Vorwürfe lagen darin. »Brauchen Sie die Sache noch schlimmer zu machen dadurch, daß Sie mich darnach fragen?« »Noch schlimmer? Ist es so schlimm?« Er hielt jetzt ihre beiden Hände und blickte mit düsterer Zärtlichkeit auf sie herab. »Ja -- ich bin wohl brutal -- ich weiß, daß Sie mich dafür halten! Ich müßte Sie wohl freigeben, -- das müßte ich eigentlich! Ein guter Mensch würde das tun.« Er hielt inne und holte tief Atem. »Nun, ich fürchte, ich bin kein guter Mensch. Sie sind mein. Ich kann es nicht tun!« »Ich -- ich habe Sie nicht darum gebeten,« sprach Florence mit schwacher Stimme. Wenn er es täte? Wenn er sie des Versprechens entbinden sollte, mit dem sie sein Schweigen erkauft hatte? Schon bei dem bloßen Gedanken überlief es sie kalt, obwohl sie sehr wohl wußte, daß er es niemals tun würde. »Nein -- Sie haben mich nicht darum gebeten, -- das ist wahr. Aber ich kann sehen --« Er brach ab; sein Ton wurde sanft und liebkosend. »Mein armes kleines Lieb -- mein armes kleines Mädchen! Ich liebe es so, daß ich ihm kein Haar krümmen möchte -- liebe es so, daß ich mir die Hand abhauen würde, ihm zu dienen, wenn es sein müßte, und doch bin ich grausam genug, um es so aussehen zu machen!« »Lieben?« Die Versuchung, ihm zu widersprechen, war zu mächtig, um ihr zu widerstehen, trotz des panischen Schreckens, von dem sie sich eben erholt hatte: sie warf ihm einen Blick der Verachtung zu. »Sie mögen vorgeben, mich zu lieben, Herr Leath, aber mehr tun Sie nicht.« »Vorgeben? Glauben Sie, ich tue nur so? Glauben Sie das? Dann denken Sie hieran, mein Lieb, und sagen, wieviel Verstellung daran ist!« Zu plötzlich, als daß sie ihm hätte ausweichen, zu kraftvoll, als daß sie ihm hätte wehren können, schloß er sie fest in die Arme und küßte sie zweimal mit leidenschaftlicher Innigkeit. Im nächsten Augenblick hatte sich Florence mit einem halberstickten Schrei losgerissen und floh über das Gras, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Leath machte keinen Versuch, ihr zu folgen. Nach einer unwillkürlichen Bewegung, sie zurückzuhalten, blieb er regungslos stehen und sah der Davoneilenden mit einem seltsamen Lächeln nach. Erst einige Sekunden, nachdem sie verschwunden, machte er kehrt und verließ den Garten von Turret Court. Er ging über die Halde und durch St. Mellions nach dem Bungalow. In gewohnter Weise durch die Veranda eintretend, fand er Sherriff im Wohnzimmer in seinem großen Stuhl am Tische sitzen. Die beiden Kasten standen vor ihm wie am gestrigen Tage, und der alte Herr hielt einige Schriftstücke in der Hand. Sein schönes Gesicht war noch bleich und abgespannt, aber es hellte sich beim Eintritt des jungen Mannes auf. »Wie Sie sehen, bin ich unfolgsam gewesen, Everard,« sagte er mit einem Lächeln, »und habe mich ohne Sie an die Arbeit gemacht.« »Sie hätten auf mich warten sollen. In einem Augenblick steh’ ich zu Ihren Diensten, aber erst habe ich Ihnen etwas mitzuteilen.« »Mir mitzuteilen?« In der ruhigen, gelassenen Stimme des anderen lag etwas, das Sherriff veranlaßte, schnell aufzublicken. »Hoffentlich nichts Unangenehmes?« fragte er. »Nein -- oder hoffentlich werden Sie es nicht dafür halten.« Er hielt inne. »Erinnern Sie sich noch, daß Sie mich vor einiger Zeit beschuldigten, Gräfin Florence Esmond zu lieben?« »Mein lieber Junge, natürlich erinnere ich mich dessen.« »Ich war nicht imstande, zu leugnen, daß Sie recht hatten, denn ich war mir seit Wochen meiner eigenen Torheit völlig bewußt gewesen. Ich liebte sie -- ich tue es noch -- ich werde sie stets lieben! Aber nichts lag mir damals ferner als der Gedanke, daß ich es ihr je sagen würde. Die Umstände haben sich indessen geändert, und ich habe es ihr gesagt. Was ich Ihnen mitteilen wollte, ist, daß sie eingewilligt hat, meine Frau zu werden.« »Leath!« »Sie sind überrascht; ich wußte, daß Sie das sein würden. Nichtsdestoweniger ist es wahr. Noch mehr: Sir Jasper hat -- ihr, mir zwar noch nicht, -- seine Einwilligung zu unserer Heirat gegeben.« »Seine Einwilligung? Wie? Unmöglich!« »Doch, es ist so. Warum auch nicht, schließlich? Obwohl ich gern zugebe, daß ich keine sogenannte Partie für sie bin.« »Und sie -- Gräfin Florence -- hat versprochen, Sie zu heiraten?« »Ja. Das kommt Ihnen ebenso überraschend, fürchte ich?« »Überraschend? Mein lieber Junge, ich bin mehr als überrascht -- ich bin wie aus den Wolken gefallen!« Sherriff fuhr bestürzt mit der Hand durch das weiße Haar. »Ich hatte keine Ahnung davon,« meinte er langsam, »daß sie Ihre Gefühle für sie erwidere -- nicht die leiseste. Und Sie sagen, sie tut es?« »Bis jetzt -- nein. Aber ich sage, daß sie es soll.« Es klang wie eiserne Entschlossenheit aus der ruhigen, gleichmäßigen Stimme, und der Redende regte sich nicht. Der Alte blickte mit einem Ausdruck zunehmender Besorgnis in den dunklen Augen auf die stolze Gestalt, die so unheimlich gelassen und ruhig dastand. »Everard,« sprach er langsam, »Sie wissen, ich habe euch beide lieb, und nichts könnte mir ein größeres Glück gewähren, als euch miteinander glücklich zu sehen. -- Aber bedenken Sie, lieber Junge, um Florences und um Ihrer selbst willen, -- in der Ehe ist kein Glück möglich, wenn nicht auf beiden Seiten Liebe vorhanden ist.« »Das weiß ich sehr wohl.« »Lassen Sie mich noch eine Frage tun. Sie geben zu, daß Florence sich nicht so viel aus Ihnen macht wie Sie aus ihr. Hat die Art und Weise der Lösung ihres Verlöbnisses mit Chichester sie beeinflußt, Ihren Antrag anzunehmen?« »Nein! Das wird freilich wohl der allgemeine Eindruck sein, obwohl es -- um ihretwillen -- dem schlecht gehen wird, den ich das aussprechen höre! Aber es ist ein Irrtum. Die Tatsache, daß Chichester ein Narr war, -- wofür ich ihm allerdings von Herzen dankbar bin, -- hat nichts damit zu tun, daß sie mir ihr Jawort gegeben.« »Dann will ich keine weiteren Fragen stellen, aber davon bin ich überzeugt,« setzte der alte Mann mit besonderem Nachdruck hinzu, »daß Sie sie nicht heiraten würden, wenn Sie nicht glaubten, daß Sie sie glücklich machen könnten.« Der Ton, in dem er das sagte, machte die Worte zu einer Frage. Es dauerte eine volle Minute, ehe Leath antwortete, und dann sprach er, ohne sich umzuwenden: »Sie haben recht. Ich glaube, nichts könnte mich bewegen, sie zu heiraten, wenn ich nicht fühlte, daß ich sie glücklich machen könnte.« 21. Der September mit seinen kühlen Morgen, seinen sonnigen Tagen und seinen Nachtfrösten war gekommen und fast vorüber. Vier Wochen waren seit der Verlobung der Gräfin Esmond mit Everard Leath vergangen, und die Herzogin war in Turret Court eingetroffen. Nicht der eigene Wille Ihrer Durchlaucht hatte ihr Kommen so verzögert. Ein plötzlich aufgetretenes Unwohlsein, das, wie sie zornig behauptete, allein durch Aufregung veranlaßt worden -- hatte sie in ihrem Gasthofe in Pontresina festgehalten. Sobald ihr Arzt ihr die Erlaubnis gab, zu reisen, wurden ihre Koffer gepackt, und sie befand sich auf dem Wege nach England, mit der Absicht, sofort die unbegreifliche Verlobung, die ihr Mündel eingegangen, zu lösen. -- Die Verlobung, die Sir Jasper Mortlake in sündhafter Borniertheit wahrhaftig gebilligt hatte. Noch nie in ihrem Leben war die Herzogin so empört und entrüstet gewesen, und niemals war ein Gast irgendwo in gereizterer Stimmung angelangt als Ihre Durchlaucht, da sie ihren Einzug in Turret Court hielt. Und niemals erlitt irgend jemand eine größere Niederlage, als ihr bei den Verhandlungen mit ihrem Wirte zuteil wurde. Mit steinerner Höflichkeit hörte der Baron alles an, was die Herzogin zu sagen hatte, und antwortete nur mit wenigen Worten. Er hätte seine Einwilligung zu Florence Esmonds Verlobung mit Herrn Leath gegeben und sähe keinen Grund, sie zurückzunehmen. Wenn es Ihrer Durchlaucht gefallen sollte, die ihrige zu verweigern, so wolle er sie daran erinnern, daß das weiter keinen Unterschied mache, da es nur der Zustimmung eines ihrer Vormünder bedürfe, um Gräfin Esmond ihr Vermögen zu sichern. Er glaube übrigens, daß alles, was nötig, gesagt sei, und schlüge vor, die Unterhaltung abzubrechen. Nichts konnte von steiferer Artigkeit, nichts würdevoller und entschlossener sein als die Verbeugung, die er bei diesen Worten machte. Sie bildete das Ende der Zusammenkunft, aus der sich seine Gegnerin zum erstenmal in ihrem Leben geschlagen zurückzog. »Ihr müßt alle miteinander verrückt geworden sein, Agathe! Eine andere denkbare Erklärung für diese schmachvolle Verlobung gibt es nicht!« rief die Herzogin wütend, als sie sich auf ein Sofa, dem Lehnstuhl der sanften Hausherrin gegenüber, niederließ. Die Durchlaucht war eine blonde, stattliche Frau, deren schwarzes Kleid sie noch hübscher und stattlicher erscheinen ließ. In ihren Adern floß schottisches Blut, und ihr Antlitz mit der scharfgebogenen Nase trug einen herrischen, launischen Zug, der dem seligen Herzog seinerzeit einen heilsamen Schrecken eingeflößt hatte, nicht mehr indessen als der Lady Agathe, der das Herz unter dem Blick der glänzenden hellbraunen Augen angstvoll zu klopfen begann. »Ich -- was meinst du, Honoria?« stammelte sie. »Sprichst du von Florences Verlobung?« »Wovon denn sonst?« rief die Herzogin. »Bitte, weißt du, daß dein Mann zu diesem tollen Unsinn seine Einwilligung gegeben hat?« Lady Agathe lächelte matt. »Gewiß, Honoria. Du wirst dich erinnern, daß ich dir das in meinem Briefe mitteilte.« »Und ich glaubte deinem Briefe nicht. Aber ich finde, daß es wirklich der Fall ist. Er willigte ein und weigert sich -- weigert sich, -- anderen Sinnes zu werden!« »Das habe ich gar nicht anders erwartet, Honoria. Er ist so herrschsüchtig, besteht so sehr auf seinem Willen -- das weißt du doch! Ich machte ihm einmal Vorstellungen, soweit ich konnte,« sagte Lady Agathe in abbittendem Tone, »und er wollte nicht auf mich hören. Er hat sich in der letzten Zeit verändert, oder ich habe es mir eingebildet; er ist wechselnder in seiner Stimmung und schroffer als je. Er --« »Verändert? Ich habe nie in meinem Leben eine solche Veränderung bei einem Menschen gesehen! Er sieht aus wie sein eigenes Gespenst. Was fehlt ihm eigentlich?« »Ich kann es dir nicht sagen. Er hat mir nichts mitgeteilt und wollte nicht auf mich hören, als ich ihn vor einiger Zeit bat, einen Arzt zu Rate zu ziehen. Um auf das zurückzukommen, von dem wir sprachen, so scheint er allerdings zu wollen, -- ich möchte fast sagen, zu wünschen, -- daß Florence Herrn Leath heiratet. Natürlich ist er keine Partie für sie.« »Partie? Gütiger Himmel, wer ist der Mensch?« rief die Herzogin. »Ich kann es dir wirklich nicht sagen. Er ist ein Australier, glaube ich. Er kam nach St. Mellions und ließ sich dort vor etwa einem Vierteljahr häuslich nieder, und --« »Ja, ja, das habe ich alles schon gehört!« fiel ihr die andere ungeduldig ins Wort. »Und Sir Jasper -- was ihm gar nicht ähnlich sieht! -- war wohl unklug genug, einen Narren an ihm zu fressen?« »Nein, nein -- durchaus nicht. Ganz im Gegenteil. Du irrst dich, Honoria. Sir Jasper mochte Herrn Leath nicht leiden. Ja, er wurde sehr böse mit Roy, weil er die Bekanntschaft fortsetzte. Er schien unerklärlicherweise etwas gegen ihn zu haben.« »So.« »Ja, er weigerte sich sogar, ihn wieder bei sich zu sehen,« setzte Lady Agathe hinzu. »Und jetzt sagst du mir, es sei sein Wunsch, daß Florence ihn heiratet?« »Er scheint es allerdings zu wünschen.« Die Herzogin lehnte sich mit einer Gebärde der Verzweiflung in die Sofakissen zurück. »Vielleicht bist du so gut, Agathe, diese beiden Behauptungen in Einklang zu bringen. Ich gestehe, daß ich nicht dazu imstande bin.« »In Einklang bringen?« stammelte Lady Agathe. »Ja!« Die Herzogin beugte sich vor und fuhr fort: »Ich muß dir ganz ehrlich gestehen, Agathe, daß das Ganze mir sehr rätselhaft vorkommt. Dir mag die Sache ja völlig klar sein, aber ich gestehe offen, daß mein armer Verstand das nicht zu fassen vermag.« Lady Agathe fing an zu weinen. »Es nützt nichts, daß du so über mich herfällst, Honoria,« sprach sie und drückte ihr Taschentuch an die Augen, »gar nichts. Sprich lieber mit Florence. Ich kann nichts bei der unseligen Sache tun.« »Ich beabsichtige auch, mit ihr zu reden. Wenn sie nicht ganz verrückt geworden ist, so will ich sie schon zur Vernunft bringen. Bleibe, bitte, hier, Agathe; es ist mir lieber, du hörst, was ich sage. Mit deiner Erlaubnis werde ich sie sofort kommen lassen.« Die Herzogin zog heftig die Klingel und erteilte ihren Befehl in herrischem Tone. Sie thronte wieder majestätisch auf dem Sofa, und Lady Agathe trocknete sich noch die Augen, als die Tür aufging und Florence gemächlich eintrat. Sie sah entzückend aus: sie trug ein dunkelrotes Samtkleid mit einem breiten Kragen und Manschetten aus alten gelblichen Spitzen, und ihr kastanienbraunes Haar war tief im Nacken lose zusammengedreht. Ihre großen, grauen Augen leuchteten, sie hatte frische, schöne Farben, und sie lächelte, als sie mit stolz erhobenem Köpfchen näher trat. Dem verwunderten, entrüsteten Blicke der Herzogin schien sie glücklich, zuversichtlich, belustigt, von schelmischem Trotz beseelt zu sein. Aber ihre Tante wußte, daß ihre Figur schlanker war, als sie vor einem Monat gewesen. »Durchlaucht haben mich rufen lassen. Wie erhitzt Sie aussehen! Ich glaube, ich würde ein wenig vom Kaminfeuer fortrücken. O, Tante Agathe, was fehlt dir denn, liebes Herz?« Die spöttische Heiterkeit war auf einmal wie weggewischt aus ihren Zügen, als sie auf Lady Agathe zueilte und zärtlich tröstend, wie schützend, den Arm um sie legte. Die stattliche Herzogin auf dem Sofa sah noch stattlicher aus. In dem Auftreten des Mädchens lag entschieden unverschämte Herausforderung. »Es ist kein Wunder, daß deine Tante weint, Florence! Sie tut wohl daran, dünkt mich.« »Nein -- es ist kein Wunder, weil Sie sie dazu gebracht haben. Trockne dir die Augen, Tantchen; wenn Durchlaucht böse ist, so ist sie es auf mich, nicht auf dich.« Sie blickte ihre Patin mit kühler Gelassenheit an und fragte: »Ich fürchte, Durchlaucht sind wieder böse?« »Böse?« wiederholte die empörte Herzogin zornig. Sie hätte ihr Mündel in diesem Augenblick mit der größten Wonne ohrfeigen können. »Ja -- das sieht man Ihnen an. Es ist nicht das Feuer, das Ihnen diese Röte gibt.« In derselben nachlässigen Art trat sie hinter einen Stuhl und legte die verschränkten Arme auf die Lehne. »Es handelt sich natürlich um meine Verlobung. Lassen Sie mich ganz offen und deutlich reden. Nun denn, ich bin mündig und habe Herrn Leath versprochen, ihn zu heiraten. Nichts wird an meinem Entschlusse etwas ändern. Bleiben wir beide am Leben, so werde ich sicher seine Frau. Was auch geschehen möge, ich werde ihm mein Wort nicht brechen, und das weiß er.« »Gütiger Himmel, Kind! Du mußt verrückt geworden sein! Du willst mir doch nicht sagen, daß du in ihn verliebt bist?« »Weshalb nicht? Könnte es einen besseren Grund geben, ihn zu heiraten?« »Du hast ein empfänglicheres Herz, als ich dir zugetraut habe, Florence! Vielleicht hattest du dich auch in Herrn Chichester verliebt?« »Nein, ich war niemals in Herrn Chichester verliebt.« »Und du gestehst geradezu, in diesen Menschen verliebt zu sein?« »Jedenfalls will ich ihn heiraten. Wir wollen es dabei bewenden lassen. Und nennen Sie ihn, bitte, nicht ›diesen Menschen‹. Das ist nicht sehr fein. Ich glaube zwar nicht, daß er je im Leben eine Herzogin gesehen hat, aber ich bin überzeugt davon, daß er Durchlaucht nie ›diese Frau‹ nennen würde.« »Du weigerst dich also, mit ihm zu brechen?« »Ja, entschieden! Ich werde ihn heiraten.« »Nun gut!« Die Herzogin lehnte sich vorwurfsvoll zurück. »Jetzt höre mich an, Florence! Durch die unglaubliche Verrücktheit von Sir Jasper Mortlake -- ich darf kein Blatt vor den Mund nehmen, Agathe, und ich wiederhole: unglaubliche Verrücktheit -- hast du, die du bei deiner gesellschaftlichen Stellung, deiner Schönheit, deinem Vermögen die glänzendste Partie hättest machen können -- die Einwilligung eines der Vormünder zu dieser schmachvollen Heirat erlangt, durch die du dich zugrunde richten wirst. Nun mache dir klar, daß du meine Zustimmung nie erhalten wirst. Was deine Verwandten hier tun werden, kommt für mich nicht in Betracht: ich maße mir nicht an, ihnen Vorschriften machen zu wollen. Wenn sie diesen Menschen als deinen Mann bei sich sehen wollen, so ist es gut. Ich aber habe nichts mehr mit dir zu tun, sobald du seine Frau bist. Und damit basta!« Ihr blühendes Gesicht war blaß vor Zorn geworden, und Florence wußte, daß nichts sie von diesem Entschlusse abbringen würde. »Das habe ich gar nicht anders erwartet, und ich beklage mich nicht,« sprach sie ruhig, »aber selbst wenn die ganze Welt sich von mir lossagte, so würde ich doch mein Wort halten und Herrn Leath heiraten. Ich kenne den Preis, den ich zu zahlen habe, und ich bin willens, ihn zu zahlen!« Sie machte einen Schritt auf die Tür zu und fragte in demselben gelassenen Tone: »Haben Durchlaucht mir noch sonst irgend etwas zu sagen, ehe ich gehe?« »Ja -- noch eins!« Die Herzogin erhob sich wütend. »Die Chance ist wenigstens nicht ausgeschlossen,« sagte sie eisig, »daß dieser Mensch weniger hartköpfig ist, als du zu sein scheinst. Wenn er dich heiratet, so richtet er dich in sozialer Hinsicht zugrunde, und wenn niemand vernünftig genug ist, ihm dies zu sagen, so soll er es von mir hören!« »Zu welchem Zweck?« fragte Florence ruhig. »Zweck? Auf die Chance hin, -- die zwar nur gering ist, das gebe ich zu, -- daß er gesunden Menschenverstand und Herz genug besitzt, dich freizugeben.« »Das wird er niemals tun,« -- sie lächelte matt, -- »nicht wenn Durchlaucht ihm das Zweifache meines Vermögens bieten würde. Ich muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat nur einen Grund für den Wunsch, mich heiraten zu wollen -- er liebt mich.« »Liebt dich? Täte er das, so würde er dich nicht auf diese schändliche Weise hinopfern!« erwiderte die Herzogin heftig. »Ob er dich nun liebt oder nicht, er soll erfahren, was er dir antut, dazu bin ich fest entschlossen. Wann kann ich ihn sprechen?« Ein Diener trat ein. Nachdem Florence seine Meldung entgegengenommen, blickte sie die Herzogin an und sagte: »Wenn es Durchlaucht beliebt, Herr Leath ist jetzt hier.« »Hier? Du meine Güte! Verkehrt der Mensch hier?« Florence lächelte kalt. »Durchlaucht scheinen zu vergessen, daß ich mit Sir Jaspers voller Einwilligung mit Herrn Leath verlobt bin. Unter diesen Umständen würde es schwer sein, ihm das Haus zu verbieten, obwohl Tante Agathe Ihnen bestätigen wird, daß er sich nur sehr selten blicken läßt und die Gastfreundschaft des Hauses nicht mißbraucht. Seine Besuche hier werden mir abgestattet. Es ist mein Recht, meinen zukünftigen Gatten zu empfangen. Sie wünschen ihn zu sprechen? In fünf Minuten werde ich mit ihm hier sein.« 22. Everard Leath stand, seine Braut erwartend, in dem getäfelten Zimmer, in das er stets geführt wurde, wenn er nach Turret Court kam. Mitunter war Roy zugegen, der ihn mit lauter Stimme herzlich begrüßte, oder Cis, oder schließlich Lady Agathe, die sich mit ein paar verlegenen Worten und einer steifen, halb ängstlichen Verbeugung hastig aus dem Staube machte; aber in der Regel sah er niemand als Florence. Er wünschte allerdings auch niemand sonst zu sehen, denn es schien ihm äußerst gleichgültig zu sein, mit welchen Augen ihn die Familie im allgemeinen ansah. Auf seine einzige Unterhaltung mit Sir Jasper war nie eine zweite gefolgt, und damals hatten sie kaum ein Dutzend Sätze gewechselt. Eine oder zwei Einladungen zum Mittagessen waren von dem Baron an ihn ergangen, aber er hatte sie alle kurz abgelehnt, und von dem Tage an, an dem sie versprochen, sein Weib zu werden, bis heute, hatte er treu Wort gehalten und nicht ein einziges Mal den Namen Robert Bontine gegen Florence erwähnt. Die Tür ging auf, und sie trat eilfertiger als sonst ein -- gewöhnlich zögerte sie ein wenig, ehe sie zu ihrem Verlobten kam, dem sie die täglichen Zusammenkünfte gewährt, weil sie es nicht wagte, sie ihm abzuschlagen. Ihm fiel der Unterschied sofort auf, ebensowohl wie das ungewohnte Beben ihrer Hand, als er diese faßte. Er tat selten mehr als das, aber der wenigen Male, da er sie geküßt hatte, erinnerte er sich nicht besser als sie. »Du bist erregt,« sprach er sanft. »Wie deine Hand zittert, Kind! Was gibt es denn?« Er hielt sie dabei viel zu fest, als daß sie noch hätte zittern können, und blickte zu ihr nieder. Der Tag war ungewöhnlich düster und grau gewesen, und obgleich der Abend kaum angebrochen, war es dunkel im Zimmer, denn das Kaminfeuer war tief herabgebrannt und verbreitete nur wenig Helligkeit. Er erriet, mehr als daß er sah, daß sie blaß war und ihre großen verstört blickenden Augen einen ihm fremden Ausdruck hatten. Es geschah nicht oft, daß sie so zu ihm emporsahen, und für den Augenblick bezauberten sie ihn so, daß er die ängstliche Vorsicht, mit der er sich zwang, ihr zu begegnen, außer acht ließ. Er schloß sie warm und zärtlich in die Arme, wie er es hätte tun können, wenn sie ihn geliebt hätte. »Was gibt es, Florence? Was hat dich so aus der Fassung gebracht, mein Liebling?« Wenn sie ihn geliebt hätte, wie würde sie sich innig an ihn geschmiegt, wie würden sie zusammen gelacht haben über die Herzogin und ihre Drohungen und ihren Zorn! Der Gedanke durchzuckte sie, während sie erschauerte und -- zu stolz, sich zu wehren -- starr dastand. »Lassen Sie mich los, bitte!« stieß sie zwischen den Zähnen hervor. »Ich habe Sie schon öfter gebeten, mir dies zu ersparen, Herr Leath.« »Ich bitte um Entschuldigung!« Mit einem Lachen gab er sie frei. »Ich vergesse mitunter, wie du mich hassest -- und habe freilich nur mir selbst deshalb Vorwürfe zu machen! Du sorgst dafür, daß ich es nicht vergesse. Aber ich bitte nochmals um Verzeihung -- darum handelt es sich jetzt nicht. Es ist irgend etwas vorgefallen, nicht wahr?« »Vorgefallen kaum.« Sie schlug wieder ihren gewohnten, nachlässig gleichgültigen Ton gegen ihn an und trat einen Schritt von ihm fort. »Sie kommen zufällig zu sehr gelegener Zeit.« »Darf ich fragen, weshalb?« »Es ist gerade nach Ihnen gefragt worden.« »So? Wenn Sir Jasper mich zu sprechen wünscht --« »Nicht Sir Jasper. Er ist in Geschäften nach Beverley und wird nicht vor Tische heimkommen. Vielleicht wissen Sie, daß die Herzogin hier ist?« »Allerdings. Roy hat es mir heute morgen in St. Mellions erzählt. Sie wünscht doch nicht etwa, mich zu sehen?« »Ja. Sie hat den Wunsch geäußert.« »Und wünschest du, daß ich zu ihr gehe?« »Ich halte es für das beste,« sagte sie stockend. »Dann stehe ich natürlich ganz zu deinen Diensten.« Er tat einen Schritt auf die Tür zu. Als Florence auf die aufrecht getragene Gestalt, in das gelassene, sonnengebräunte Antlitz blickte, regte sich, nicht zum erstenmal, ein wunderliches Gefühl in ihr. Er mochte, wie sie geäußert, nie im Leben eine Herzogin gesehen haben, aber er verriet keine Befangenheit oder Unruhe bei der Aussicht, dieser einen gegenüber stehen zu müssen. Sie mochte ihn hassen, mochte sich aufbäumen gegen die Bande, die sie an ihn fesselten, aber es war unmöglich, daß sie sich jemals seiner zu schämen hätte. Sie wäre kein Weib gewesen, hätte sie nicht etwas wie Erleichterung und Stolz bei dem Gedanken empfunden. An seinem Auftreten, seinem Benehmen konnte selbst die Herzogin nichts auszusetzen finden. In dem Bewußtsein lag ein Trost, und ein weicherer Ausdruck trat in ihr Antlitz, als sie durch ein Zeichen ihn an ihre Seite zurückrief. »Bitte, warten Sie einen Augenblick! Ich will mit Ihnen gehen, aber vorher möchte ich noch etwas sagen.« Sie berichtete ihm dann kurz, wie empört ihre Patin über ihre Verlobung sei, und setzte hinzu: »Das berührt mich nicht weiter, da sie meinem Herzen nie nahe gestanden hat, aber es ist mir sehr schwer geworden, ihr gegenüber so gleichgültig und so -- zufrieden zu scheinen, wie ich wünschte. Sie ist eine kluge Frau und nicht so leicht zu täuschen wie Tante Agathe, und sie darf mir nicht noch ein zweites Mal zusetzen, solange sie hier ist. Sie darf es um keinen Preis!« Ihre Stimme bebte: die Unterredung mit der Herzogin hatte sie tiefer erschüttert, als sie selbst wußte. Er legte seine Hand ruhig und fest über die zitternden Finger, die sie auf den Kaminsims gelegt hatte. »Das soll sie auch nicht. Laß mich hören, was du wünschest, daß ich ihr sagen soll, du weißt, ich tue, was du willst.« »Ja -- ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen.« Es war das Freundlichste, was sie ihm je gesagt, und es hatte noch dazu den Vorzug, durchaus wahr zu sein. »Sagen Sie ihr,« fuhr sie fort, »was vollkommen der Wahrheit entspricht, -- daß ich mich weigere, unsere Verlobung rückgängig zu machen oder Sie zu bitten, mich freizugeben. Sie werden sie furchtbar böse machen, aber das tut nichts. Sie wird an Ihren Stolz appellieren, Ihnen sagen, daß ich mich durch eine Heirat mit Ihnen zugrunde richte. Hören Sie nicht auf sie; lassen Sie sich in keine Auseinandersetzungen mit ihr ein. Vielleicht wird sie Sie beleidigen -- machen Sie sich nichts daraus. Denken Sie nur daran, daß es furchtbar schwer für mich ist, und daß ich Sie bitte, es mir zu erleichtern, so viel Sie können.« Es war das erstemal, daß sie ihn um etwas bat; sie wußte kaum, wie rührend und eindringlich sie sprach, wie flehend ihre großen Augen, die voll Tränen standen, ihn anblickten. Seine Hand umschloß die ihre noch fester. »Es gibt nur sehr wenige Dinge -- nur ein einziges, glaube ich -- die ich nicht tun würde, bätest du mich darum,« sprach er ruhig, »und dies ist nicht jenes eine. Was könnte ich wohl lieber tun, als darauf bestehen, daß du mein bleibst? Du kannst dich darauf verlassen, ich werde den Ton anschlagen, den du wünschest. Möchtest du noch warten, oder wollen wir gleich gehen, damit es überstanden ist?« Nach kurzem Zögern legte sie ruhig die Hand auf seinen Arm: das hatte sie aus freien Stücken noch nie getan. »Danke,« sagte sie einfach. »Ich will jetzt gehen, damit wir es, wie Sie sagen, hinter uns haben.« Mit so stolz getragenem Haupte wie nur je in ihrem Leben trat sie, noch immer an seinem Arme, vor die Herzogin und stand neben ihm, wie ein Weib an der Seite des Mannes, den sie liebt, stehen sollte -- lächelnd, in unbekümmerter Heiterkeit, voll Zuversicht auf ihn und sich selbst. Die Unterredung dauerte nicht lange. Die Herzogin hatte schon zwei Niederlagen erlitten, und keiner ihrer beiden siegreichen Gegner war ihr mit kühlerer Gelassenheit gegenübergetreten, als Everard Leath. Auch ohne Florences Bitte würde er das wahrscheinlich getan haben. Die Herzogin war eine viel zu kluge Frau, um nicht zu wissen, daß sie eine Niederlage erlitten und daß ein fernerer Kampf hoffnungslos sei. In den wenigen kurzen Worten, mit denen Leath ihr antwortete, lag eine Entschlossenheit, die durch keinen Angriff ihrerseits zu erschüttern war. Die höhnische Anklage, die sie ihm entgegengeschleudert, hatte nicht einmal eine Veränderung in seinem Gesichtsausdruck hervorgerufen. »Gräfin Florence weiß, Durchlaucht,« sprach er ruhig, »daß ihr Vermögen mir sehr gleichgültig ist. Wenn ich wünsche, daß sie es behalten möchte, so geschieht es nur, weil ich kein so reicher Mann bin, wie ich es ihretwegen zu sein wünschte. Könnte Durchlaucht ihr es morgen bis auf den kleinsten Bruchteil nehmen, so würde das an unserem gegenseitigen Verhältnis nichts ändern.« »Nicht das mindeste,« stimmte ihm Florence bei, »ich würde dich doch heiraten, Everard.« Die trauliche Anrede klang ihr sehr ungewohnt im Ohre, aber sie brachte sie entschlossen über die Lippen -- war es doch nach ihrer Ansicht nur eine letzte, notwendige Heuchelei mehr und keine größere als ihre Hand auf seinem Arm, ihre Stellung an seiner Seite. »Geld hatte nichts mit dem Versprechen, das ich dir gab, zu schaffen -- das weißt du. Ich glaube, Durchlaucht, damit wäre die Sache erledigt.« Eine zornige Handbewegung der Herzogin war ihre einzige Entlassung. Sie verließen das Zimmer Arm in Arm, wie sie es betreten. Lady Agathe hatte während der ganzen Zeit, das Tuch an die Augen gedrückt, bitterlich weinend dagesessen und kein einziges Wort gesagt. Erst als sie wieder in dem getäfelten Zimmer waren, zog Florence die Hand zurück. Eine Lampe war in der Zwischenzeit angezündet worden, und sie sah in dem gelben Lichtschein geisterbleich aus. All der mühsam behauptete Trotz war wie weggewischt aus ihren Zügen, jetzt, wo die Augen der Herzogin nicht mehr darauf ruhten. Sie blickte ihn mit müdem, ironischem Lächeln an. »Wir sind wieder hinter den Kulissen,« sprach sie in bitterem Tone, »ich fange an, zu glauben, daß ich keine schlechte Schauspielerin bin. Ich möchte wohl wissen, ob es unsere Natur oder unser Schicksal ist, das uns Frauen zu Heuchlerinnen macht? Beides vielleicht. Die Herzogin wird mich hinfort wohl in Ruhe lassen, aber das wäre nicht der Fall, wenn Sie mir nicht geholfen hätten. Das vergesse ich nicht. Ich danke Ihnen, Herr Leath.« »Du hast mir nichts zu danken!« Wenn ihm die Veränderung in ihrem Blick und Ton weh tat, so verriet er es durchaus nicht. Er gewahrte die müde Haltung der schlanken Gestalt, die Blässe des schmalen Gesichtchens. »Es ist zu viel für dich, armes Kind,« meinte er sanft. »Du siehst ganz erschöpft aus und bedarfst der Ruhe. Soll ich bleiben, oder möchtest du, daß ich jetzt gehe?« Sie war allerdings mit ihrer Kraft zu Ende, ihre Nerven befanden sich in einem solchen Zustande der Erregung, daß die weiche Zärtlichkeit seiner Worte, obwohl sie von ihm kam, hinreichte, sie um ihre Selbstbeherrschung zu bringen. Sie brach in heiße Tränen aus und schluchzte fassungslos. Im nächsten Augenblick hatte er sie in die Arme geschlossen und beschwichtigte sie an seinem Herzen, wie er ein Kind hätte beschwichtigen können. Sie hatte bisher nie seine Umarmung geduldet; aus reiner Ermüdung tat sie es jetzt, zu schwach, sich zu widersetzen oder über seine Küsse zu zürnen. Seine Kraft war zu mächtig für sie, und dennoch lag ein merkwürdiger Trost darin. So ließ sie sich ohne Widerstreben von ihm umfangen, barg ihre Tränen an seiner Schulter und empfand fast etwas wie Freude über die innigen Liebesworte, die er ihr ins Ohr flüsterte. Selbst als ihr Schluchzen nachließ und sie den Kopf hob, lag nichts wirklich Abwehrendes in der Bewegung, mit der sie sich ihm zu entziehen suchte. »Ich bin müde,« sagte sie mit schwacher Stimme, gleichsam als Entschuldigung für diese Anwandlung von Schwäche, über die sie doch kaum das Herz hatte, böse zu sein, »schrecklich müde. Ich habe vorige Nacht nicht geschlafen. Mir wird gleich besser werden. Sie sind -- sehr gut gegen mich gewesen, aber jetzt gehen Sie lieber, bitte.« »Ja, ich will gehen, mein Herzlieb. Du sollst allein bleiben, um dich auszuruhen, wenn du kannst.« Er hatte den Arm noch immer um sie gelegt und hob jetzt sanft ihr tränenfeuchtes Gesicht zu dem seinen empor. »Florence,« fragte er im Flüstertone, »wenn du wirklich findest, daß ich gut gewesen bin, könntest du mir dann nicht ein einziges Mal danken, Kind?« Fast mechanisch hob sie das Gesicht; der Sinn seiner Worte war ihr kaum zum Bewußtsein gekommen, aber als er sie küßte, überflutete eine heiße Blutwelle ihr Antlitz und ihren Hals. Sie rang nach Luft und versuchte, sich loszureißen, aber er hielt sie fest. »Florence,« sagte er langsam, »weißt du, was du mich hast sehen lassen? Daß, wenn ich dir als Gleichberechtigter hätte gegenübertreten können, du mich jetzt schon lieben würdest. Ja, das würdest du -- das weiß ich!« »Nein!« Mit einer kräftigen Anstrengung machte sie sich los. »Niemals!« erklärte sie heftig, die Hand an die wogende Brust gedrückt. »Ich mache mir nichts aus Ihnen -- ich kann es nicht -- ich werde es nie tun! Ich wollte Ihnen danken, weil Sie freundlich gewesen zu sein schienen -- aber mich nicht so -- so von Ihnen küssen lassen -- das wissen Sie recht gut! Ich werde Ihre Frau, weil ich muß, weil Sie mich dazu zwingen, aber lieben werde ich Sie nie -- nimmermehr! Unter keinen Umständen je hätte ich Sie lieben können -- das weiß ich!« »Wirklich nicht?« Er blickte in das leidenschaftlich erregte Antlitz, sah die Gebärde empörter Abwehr und lächelte wehmütig. »Nun, vielleicht hast du recht, und vielleicht habe auch ich recht. Wir wollen nicht darüber streiten. Die Schicksalsgöttinnen sind dir nicht besonders hold gewesen, armes kleines Mädchen -- aber auch mit mir sind sie nicht besonders gnädig verfahren! Laß mir diese einzige Eitelkeit, Kind! Sie kann niemand schaden! Ich bleibe dabei, hätte ich nur eine Chance dir gegenüber gehabt, so hättest du mich jetzt schon lieben sollen.« »Niemals!« stieß sie wieder zwischen den Zähnen hervor. »Sie täuschen sich selbst, wenn Sie das glauben! Niemals!« Und so verließ er sie, und ihr ›Niemals!‹ klang ihm im Ohre nach. Er würde sich in der Halle nicht aufgehalten haben -- er pflegte immer Turret Court so schnell wie möglich zu verlassen, sowie seine Zusammenkunft mit Florence vorüber war, und es geschah selten, daß eine Begegnung mit irgend jemand ihn aufhielt. Aber der heutige Tag bildete eine Ausnahme. Ein Feuer brannte in der inneren Halle, und in einem großen Lehnstuhl daneben lag Roy bequem hingestreckt. Er war unter dem Einfluß der einschläfernden Wärme halb eingeschlummert, aber, durch die näherkommenden Schritte ermuntert, stand er auf, dehnte seine langen Gliedmaßen und gähnte ungezwungen. »O, Sie sind’s, Leath? Wie geht es Ihnen? Wußte gar nicht, daß Sie da waren, alter Junge. Habe ein wenig genickt, glaube ich. Im Begriff, fortzugehen -- wie?« »Ja. Weshalb?« »O, nichts Besonderes! Sie würden zu Tisch bleiben, wenn Sie irgendein anderer wären, aber ich weiß, es nützt nichts, Sie einzuladen. Heute gäbe es freilich einen Extraspaß. Sie könnten die Herzogin zu Tisch führen.« »Das bezweifle ich. Ihre Durchlaucht geruhte eben mir mitzuteilen, daß ich Luft für sie sei.« »O! Sie haben sie wohl gesprochen?« Roy verzog grinsend den Mund. »Hat wohl eine böse Auseinandersetzung gegeben?« »Kurz, aber durchaus nicht angenehm,« antwortete Leath wortkarg. »Ein Glück für Sie, daß sie kurz war! Sie und der Alte hatten heute morgen ein hitziges Wortgefecht. Ich hörte etwas davon -- war ein Hauptspaß! Sie zog indessen den kürzeren. Wird bei Ihnen wohl ebenso gegangen sein? Gehört sich auch so! Sehe gar nicht ein, warum die alte Dame sich dazwischenstecken will! Was in aller Welt kann es ihr ausmachen, ob Florence Sie nimmt oder den alten Chichester? Geradezu unverschämt nenne ich es. Wollen wohl nach Hause reiten, wie?« »Nein, ich bin zu Fuß gekommen. Weshalb?« »Nichts, als daß Sie einen schrecklich dunklen Marsch über die Halde haben werden. Apropos, haben Sie den Alten gesehen?« »Nein -- und hätte es auch nicht können, gesetzt den Fall, ich hätte den Wunsch gehabt. Er ist in Market Beverley, wie ich höre.« »O, das hat Ihnen wohl Florence gesagt? Sie irrt sich aber, er kam vor zwei Stunden heim und sitzt in seinem Zimmer. Ich meinte nicht, ob Sie ihn heute gesehen, sondern ob Ihnen in der letzten Zeit nichts an ihm aufgefallen ist?« Es lag etwas Ungewöhnliches in dem Tone und dem Gesichtsausdruck des jungen Menschen. Mit einem schnellen fragenden Aufblick schüttelte Leath den Kopf. »Ich glaube, ich habe Sir Jasper in den letzten vier Wochen kaum dreimal gesehen -- jedenfalls nicht zwanzig Worte mit ihm gewechselt. Was sollte mir aufgefallen sein?« »Nun, wie er sich verändert hat!« »Hat er sich verändert?« »Und ob! Wenn Sie ihn beobachtet hätten, würden Sie nicht fragen. Er hat nie viel Fleisch auf den Knochen gehabt, aber jetzt ist er mager wie ein Skelett, und das ist kein Wunder, denn er ißt kaum genug für einen Papagei! Und ein sehr lebhafter Gesellschafter ist er zwar auch nie gewesen, aber letzthin ist er mit wahrer Leichenbittermiene einhergegangen; und er ist in einer Stimmung, von der ich lieber gar nicht reden will! Mit ihm muß etwas nicht in Ordnung sein. Ich möchte mit der Mutter und den Mädchen nicht gern darüber reden, aber ich bin überzeugt davon, daß es auch ihnen auffallen muß. Erst gestern, in St. Mellions, redete mich der alte Burrows -- Sie wissen, Doktor Burrows -- auf der Straße an und wollte wissen, was mit ihm los wäre. Sagte, er hätte es schon längst bemerkt, und sein Aussehen gefiele ihm ganz und gar nicht.« »Was wollte er damit sagen?« »Weiß ich nicht! Er ging wie die Katze um den heißen Brei und wollte nicht mit der Sprache heraus. Sie kennen ja die Ärzte mit ihrem gelehrten Kauderwelsch. Jedenfalls schien ihm des Alten Zustand zu ernsten Besorgnissen Anlaß zu geben. Aber was mir nicht gefällt, ist seine neue Angewohnheit, draußen umherzuschleichen.« »Umherzuschleichen?« »Ja -- zu allen Stunden und bei jedem Wetter, mitunter abends, mitunter morgens; ehe jemand von uns anderen auf den Beinen ist, ist er aus dem Bett und draußen. Wunderlich, nicht wahr? Das hat er früher nie getan, ja, er haßte das Spazierengehen geradezu. Jetzt wandert er meilenweit. Vorgestern abend -- wissen Sie noch, wie es regnete? -- war er stundenlang draußen auf der Halde und kam bis auf die Haut durchnäßt zurück. In der Tat, ganz unter uns gesagt, die halbe Zeit, wenn die Mutter glaubt, er sitzt ruhig in seinem Zimmer, wie er sonst zu tun pflegte, schleicht er draußen irgendwo umher. Ich weiß es meistens, denn seitdem ich es bemerkt habe, halte ich die Augen offen. Aber es muß etwas nicht in Ordnung sein und darf nicht so fortgehen. Wüßte ich nur, was es ist! Er hat doch keinen geheimen Kummer.« »Nein,« stimmte ihm Leath trocken bei, »er hat keinen Kummer.« Er zog sich seinen leichten Überzieher an und sagte dabei: »Es ist allerdings sonderbar. Er sollte lieber einen Arzt zu Rate ziehen.« »Freilich. Ich will Burrows veranlassen, einmal freundschaftlich bei uns vorzusprechen. Der Alte würde mich gehörig heruntermachen, wenn er wüßte, daß ich ihn gebeten, zu kommen. Wollte ’mal mit Ihnen darüber sprechen, Leath, denn die Sache hat mich gequält. Trage fürs erste noch kein Verlangen danach, Sir Roy zu werden. Gehen Sie jetzt? Guten Abend, alter Junge -- möchte nur, Sie blieben zu Tische. Beneide Sie nicht um Ihren Weg über die öde Halde.« Öde sah die Halde allerdings aus, als Leath hinaustrat. Ein kalter Regen fing an herabzurieseln, der Wind, der von der Küste herüberwehte, war sehr scharf, und Leath knöpfte instinktiv seinen Überzieher zu. Weiter aber schenkte er dem Wetter keine Beachtung: seine Gedanken waren trübe und nahmen ihn ganz in Anspruch. Jenes letzte ›Niemals!‹ von Florences Lippen klang in ihm nach; ihren Blick, als sie das sagte, sah er noch deutlich vor Augen, und das machte ihn blind und taub gegen alles andere. Er hatte keinen glücklichen Augenblick gehabt, seitdem sie ihm ihr Wort gegeben, sein Weib zu werden, aber er war nie so niedergeschlagen und unglücklich gewesen wie heute abend. Wenn sie mit ihrem ›Niemals!‹ recht hätte! Wenn sie wirklich ihn und das Band, das sie an ihn knüpfte, hassen sollte? Wenn sie erst sein Weib war, so würde das entsetzlich sein! Konnte ihm irgend etwas für solches Elend Ersatz gewähren? Wäre es nicht tausendmal besser gewesen, wenn er nie nach England gekommen, nie ihr Antlitz geschaut, nie seine Nachforschungen nach Robert Bontine begonnen hätte? Würde es möglich sein, ihr zu entsagen, nach Australien zu seinem dortigen Leben zurückkehren, aus seinem Gedächtnisse die Erinnerung an die Erlebnisse der letzten drei Monate so auszulöschen, als seien sie nie gewesen? Er gedachte der Schönheit, die es ihm angetan hatte, schon damals, als er sich gesagt, daß er an anderes zu denken habe als an Frauen und Frauenliebe; er gedachte ihrer bebenden Gestalt, die er in den Armen gehalten, als sie schluchzend den Kopf an seine Schulter gelehnt; er gedachte des heißen Errötens, das ihr Antlitz bei seinem leidenschaftlichen Kusse übergossen. Nein -- es war nicht möglich! Sie sollte ihn noch lieben lernen! Er blieb stehen. In seiner Zerstreuung war er weit von dem Fußwege abgekommen, den er hätte einhalten sollen, um nach St. Mellions zu gelangen. Das leise, dumpfe Rauschen der Brandung gegen den felsigen Strand tief unten schlug an sein Ohr; er befand sich dicht am Rande der Klippe, -- so dicht, daß ein paar Schritte ihn unmittelbar an die scharfe Kante gebracht hätten, und er blieb einen Augenblick erschrocken stehen. »Es wäre für niemand ein Verlust gewesen, wenn ich hinabgestürzt wäre,« sagte er halblaut, mit bitterem Auflachen. Er schritt weiter, dem Branden der Wogen lauschend, und blickte mit starrem, finsterem Gesicht geradeaus. Der dunkle Himmel hellte sich am Horizont auf, das schwere Gewölk teilte sich, ein schwacher gelblicher Nebel bezeichnete die Stelle, wo der Mond durchbrechen wollte. Er sah nichts von alledem. Florences ›Niemals!‹, Florences Antlitz verfolgten ihn noch immer. »Es war ihr Ernst damit!« sprach er vor sich hin, »es war ihr Ernst. Ob sie recht hat? Wird ihr Haß dauern -- trotz meiner Liebe? Es wäre furchtbar für uns beide -- furchtbar! Armes Kind -- armes kleines Mädchen -- und weshalb sollte er schwinden? Ich habe, bei Licht besehen, wie ein Schurke, wie ein Feigling an ihr gehandelt! Soll ich diese Leidenschaft aus dem Herzen reißen und sie freigeben? Soll ich ihr entsagen? Wenn ich --« Die Worte endeten in einem heiseren Aufschrei. Hinter ihm ertönten hastige Schritte, ihn traf ein Schlag vor die Stirn, daß vor seinen Augen grelle Flammen über den schwarzen Himmel und das schwarze Meer zuckten. Seine Arme wurden mit eisernem Griffe gepackt, er war hilflos, wehrlos, er konnte nicht mit dem Angreifer ringen, der ihn so hinterrücks überfallen und ihn immer näher an die Felskante drängte; der Schlag auf den Kopf hatte ihn halb betäubt, er konnte sich nicht zur Wehr setzen. Eine verzweifelte Anstrengung machte er, sein Gleichgewicht wieder zu erlangen, aber sein Fuß glitt auf dem kurzen schlüpfrigen Gras aus, und mit einem lauten Aufschrei stürzte er kopfüber hinunter, sich im Fallen an dem groben Gestrüpp festhaltend, das über den Klippenrand hinüberhing. Die Zweige knickten ab und glitten ihm aus den Fingern, wieder tastete er nach einem Halt, erhaschte etwas, das standhielt, ergriff es auch mit der anderen Hand, fühlte, daß die Wucht seines Falles gebrochen sei, daß er festen Boden unter den Füßen habe. Während der Dauer einer grausigen Sekunde, halb schwebend, halb liegend, verharrte er so, dann nahm er mit verzweifelter Anstrengung seine fast erschöpften Kräfte zusammen und schleppte sich von dem Felsvorsprung in das Innere einer Höhle, und vorwärtsstolpernd, brach er, nach Atem ringend, arg zerschunden, blutend, fast bewußtlos auf dem steinigen Boden von Florences Felsenkammer zusammen. 23. Es regnete unaufhörlich fast die ganze Nacht, aber gegen Morgen klärte es sich auf. Ein scharfer Wind von der See her blies die Wolken fort, der Himmel wurde blau, und die Sonne schien so hell, als Sherriff das kleine Speisezimmer im Bungalow betrat, wo der Frühstückstisch gedeckt stand, daß er geblendet die Hand über die Augen legte. »Es wird schließlich doch ein schöner Tag werden,« sagte er in seiner freundlichen Art zu dem nett aussehenden Mädchen, das eilfertig mit der Kaffeekanne eintrat. »Als ich heute nacht den Regen hörte, glaubte ich, eine zweite Sintflut bräche herein. Ich erinnere mich kaum eines so kalten und nassen Septembers, wie der diesjährige gewesen. Herr Leath ist wohl noch nicht unten? Klopfen Sie lieber bei ihm an, Ellen.« »Herr Leath ist schon lange unten und ausgegangen, gnädiger Herr. Als ich bei ihm anklopfte, um ihn zu wecken, bekam ich keine Antwort; er muß also schon fort gewesen sein. Er ruft immer in demselben Augenblick, wo ich klopfe, er hat einen so leisen Schlaf,« sagte das Mädchen. »O, er macht sicher einen Morgenspaziergang,« bemerkte der alte Mann gleichmütig; »er wird wohl gleich heimkommen, Ellen. Und doch,« fuhr er, zu sich selbst redend, fort -- in den langen Jahren der Einsamkeit hatte er sich halblaute Selbstgespräche angewöhnt, -- »ist es sonderbar, daß der Junge so früh auf und davon ist, da er gestern abend erst so spät nach Hause gekommen ist. Es muß zwölf gewesen sein, denn ich habe ihn gar nicht mehr gehört. Er ist natürlich zu Tisch in Turret Court geblieben. Nun, das ist gut. Ich wollte, das täte er öfter, aber es ist wohl seine eigene Schuld, daß es nicht geschieht.« Der Alte seufzte. »Ich bin ein alter Narr, aber ich wollte, ich wäre fester davon überzeugt, als ich bin, daß es eine glückliche Ehe werden wird. Aber sowohl in seinem wie in ihrem Benehmen ist etwas, das mich glauben läßt --. Ah, das ist sein Schritt, ja -- er ist es.« Der Schritt kam näher, ein Schatten verdunkelte die offene Fenstertür, der Sherriff mit freundlichem Lächeln, das schnell einem Ausdruck der Verwunderung und Bestürzung wich, den Blick zuwandte. »Gütiger Himmel, Leath, was ist geschehen?« rief er. »Schon gut, Herr Sherriff. Erschrecken Sie nicht! Mir wird gleich wieder besser werden,« antwortete Leath, als er ins Zimmer trat und auf den nächsten Stuhl sank. In seinem zerrissenen, schlammbedeckten Anzuge, mit seinem leichenblassen Gesicht, das mit geronnenem Blute, das einer Kopfwunde entströmte, bedeckt war, sah er allerdings zum Erschrecken aus. Staunen und Entsetzen machten den Alten stumm. Der Jüngere hub wieder an: »Ich habe einen Unfall gehabt. Gestern abend, als ich von Turret Court zurückkam, stürzte ich von der Klippe.« »Der Klippe? Großer Gott! Du gingst zu nahe an die Kante und glittest aus? Und doch bist du hier, und am Leben! Der Sturz hätte einen Menschen zweimal töten können!« rief Sherriff. »Wie er mich getötet haben würde, wäre ich zufällig an irgendeiner anderen Stelle hinabgefallen. Es ist ein wahres Wunder, daß ich noch lebe,« antwortete Leath. »Sie kennen die Stelle -- die kleine Höhle, die sie -- Florence -- ihre Felsenkammer nennt?« »Natürlich. Sie hat mich einmal mit hinabgenommen. Dort stürztest du hinunter?« »Ja. Der Felsenvorsprung vor der Höhle hat mich gerettet. Ich hielt mich an irgend etwas fest -- wie, weiß ich nicht. Es brach die Wucht meines Falles, und ich brachte es fertig, hineinzukriechen. Aber mein Leben hing an einem Haar -- so nahe habe ich dem Tode noch niemals ins Auge geschaut, obwohl er mir mehrmals nahe genug gewesen ist. -- Wollen Sie mir etwas Kognak geben? Ich war einfältig genug, ohnmächtig zu werden, und kam erst vor etwa einer Stunde wieder ordentlich zu mir.« Sherriff, dessen Hände so zitterten, daß er die Flasche kaum halten konnte, holte schnell den Kognak herbei. Leath leerte das Glas mit einem Zuge, und die gesunde Farbe, die er von Natur hatte, kehrte allmählich in sein Antlitz zurück. »Das tut gut,« sagte er. »Ich muß gestehen, daß ich mich sehr schwach fühle. Daran ist wohl der Schlag auf den Kopf schuld.« »Ja, wie ist das zugegangen?« fragte der Alte. »Schlugst du beim Ausgleiten mit dem Kopfe auf?« »Nein, ich bin nicht ausgeglitten,« antwortete Leath finster. »Nicht?« »Nein, ich wurde hinuntergestoßen.« »Hinuntergestoßen?« antwortete Sherriff voll Entsetzen. »Ja; ich war hart am Rande der Klippe und wurde gepackt und festgehalten, ehe ich wußte, woran ich war; ich konnte mich nicht zur Wehr setzen. Der Schlag wurde zuerst nach mir geführt -- ich weiß nicht, womit, und dann, ehe ich mich davon erholen kannte, wurde ich, wie gesagt, hinabgestürzt.« »Aber, gütiger Himmel, Leath, das war Mord!« rief Sherriff entsetzt. »Es sollte auch ein Mord sein,« wiederholte er. »Der Mensch, der mich von der Klippe hinabstieß, wollte mich aus der Welt schaffen, so gewiß, wie wir beide einander gegenübersitzen. Es war vielleicht kein überlegter Mordanschlag, das behaupte ich nicht -- das glaube ich kaum. Er mag mir absichtlich gefolgt sein oder auch nicht. Ich kann es nicht sagen, und es kommt auch nicht sonderlich darauf an. Aber er beabsichtigte, mich zu töten, und glaubte ohne Zweifel, daß er es getan. Und wenn es ihm gelungen, wenn ich tot auf dem Felsen gefunden worden wäre, was würde es anders gewesen sein als ein Unfall, ein Ausgleiten im Dunkeln?« Er lachte wieder bitter auf. »Er würde sicher genug, vollkommen sicher gewesen sein! Wer hätte daran gedacht, Sir Jasper Mortlake mit dem Tode eines Menschen in Verbindung zu bringen, der mit seiner Einwilligung sein Mündel heiraten sollte?« »Sir Jasper Mortlake?« stieß Sherriff hervor und sprang auf. »Freilich -- er und kein anderer! Ich habe sein Gesicht gesehen; dazu war es nicht zu dunkel, und hätte ich es auch nicht erkannt, so würde ich es doch gewußt haben. Er hat Grund genug, meinen Tod zu wünschen -- hatte es, wie ich jetzt weiß, seitdem er mich zum ersten Male gesehen und mich haßte wegen der Ähnlichkeit, an die zu glauben er sich fürchtete. Damals konnte ich es mir nicht erklären, seitdem habe ich darüber gelacht, und ebenfalls über meine eigene Dummheit, keinen Verdacht zu schöpfen.« »Großer Gott! Welchen Verdacht?« »Das will ich Ihnen erzählen. Vor Ihnen wenigstens kann ich es jetzt nicht länger geheimhalten, und Sie haben ein Recht auf mein Vertrauen, um meiner Mutter willen. Aber denken Sie daran, daß es fürs erste nicht weiter geht, um ihretwillen, obwohl ich gleich jenem Menschen gegenübertreten und ihm seinen Mordversuch vorwerfen will.« »Um -- um deiner Mutter willen?« fragte Sherriff bestürzt. »Nein -- um ihret-, um Florences willen. Sie haben sich gewundert, weshalb sie versprochen hat, mein Weib zu werden; Sie haben sich gewundert, weshalb Sir Jasper seine Einwilligung gegeben hat; Sie haben sich noch über manches andere gewundert. Sie wundern sich jetzt, weshalb er versucht hat, mich zu ermorden. Hören Sie mir ein paar Minuten zu, so sollen Sie es erfahren.« * * * * * »Ich will Harry entgegengehen, Florence. Er muß sicher bald hier sein -- er versprach, zum Frühstück zu kommen, und es ist ein so wundervoller Morgen nach dem Regen, daß es mich eine Sünde dünkt, im Hause zu hocken. Willst du auch mit, liebes Herz?« fragte Cis. Sie kam die Treppe herab und knöpfte sich die Handschuhe zu, als sie ihrer Cousine ansichtig wurde, die zwischen den Vorhängen des einen der großen, viereckigen Fenster stand, durch die die innere Halle Licht empfing. Sie war so in Gedanken versunken, während sie hinausblickte, daß sie sich erst, als die andere sie berührte, zusammenschreckend umwandte. »Du gehst aus, Cis? Harry entgegen? Das ist recht! Du siehst so hübsch aus, Schatz!« »So?« Cis lächelte. »Blau steht mir immer gut, aber nicht besser als dir. Willst du nicht mitkommen, Florence? Du siehst so blaß aus, und deine Augen sind so trübe. Die Luft würde dir sicher gut tun!« »Blaß -- so?« Florence fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich habe seit einiger Zeit die dumme Angewohnheit, nicht zu schlafen, das ist wohl schuld daran. Nein, ich glaube, ich gehe nicht mit, Herzchen; ich bin nicht recht aufgelegt dazu!« »Du mußt krank sein, du warst sonst immer zu allem aufgelegt,« sagte Cis mit zärtlicher Teilnahme. »Du bist auch viel magerer geworden, Liebling; gestern habe ich noch mit Mutter darüber gesprochen. Und du siehst in dem langen, schwarzen Kleide wie eine Nonne aus. Ich wollte, du trügest es nicht.« »So? Nun, ich sehe neben dir wohl etwas düster aus,« meinte Florence mit schwachem Lächeln. »Mache dir um mich und mein Aussehen keine Sorge, kleine Cis; mir geht es ganz gut. Vielleicht unternehme ich nachher einen Spazierritt. Wo ist Tante Agathe? Im getäfelten Zimmer?« »Ja. Aber ich würde sie dort nicht aufsuchen, Florence; die Herzogin ist bei ihr.« »Dann werde ich sicherlich nicht hingehen. Ihre Durchlaucht und ich haben hoffentlich das letzte notwendige Wort miteinander gesprochen. Will sie wirklich heute fort?« »Ich glaube, -- weiß es aber nicht gewiß. Sie hat Mutter gesagt, sie würde abreisen, sobald sie Vater noch einmal gesprochen habe. Wie seltsam, daß er gestern abend nicht zu Tisch herunterkam! Roy behauptet, er habe sich vor einem zweiten Wortgefecht mit ihr gefürchtet!« sagte Cis lachend. »Kaum, sollte ich denken.« Florence lächelte kalt. »O, natürlich war es nur ein Spaß! Trotzdem bleibt sein Erscheinen sonderbar. Er ist wahrscheinlich sehr müde von Market Beverley zurückgekommen. Ich finde, er hat in der letzten Zeit sehr elend ausgesehen und ist so verdrießlich wie möglich gewesen. Nun, wenn du wirklich nicht mit willst, so muß ich fort, sonst verfehle ich Harry.« Sie trippelte davon, die Flügeltüren fielen hinter ihr zu. Das Lächeln wich aus Florences Antlitz, als ihre Cousine verschwand; sie sank auf die breite Fensterbank und fuhr müde mit der Hand über Stirn und Augen. »Ich wollte, ich könnte schlafen, wie ich sonst geschlafen habe,« sagte sie halblaut, »diese schlaflosen Nächte fangen an, mich zu ängstigen. Gesetzt, ich würde krank, -- gesetzt, ich bekäme Fieber? Ich könnte phantasieren -- könnte alles erzählen, verraten? Wer weiß? Ich habe sagen hören, Fieberkranke redeten immer von dem, was sie am meisten beschäftigt. Ich muß einen Doktor zu Rate ziehen, muß mir irgendein Beruhigungsmittel verschreiben lassen. Wenn ich endlich schlafe, so ist es fast schlimmer, als wach zu liegen -- ich habe so gräßliche Träume! Gestern nacht war es schlimmer denn je.« Sie schauderte. »Ich möchte wissen, ob es das Vernünftigste wäre, wenn ich täte, was er zweimal in mich gedrungen, zu tun -- und ihm sagte, ich wollte ihn bald heiraten und mit ihm fortgehen? Mitunter glaube ich es fast. Es würde wenigstens überstanden -- unwiderruflich sein, und da es geschehen muß, was frommt es, es aufzuschieben? Ich muß es tun -- ich habe mein Wort gegeben! Und weshalb sollte er sein Wort halten, wenn ich zögere, meines einzulösen? Was ist das? So früh? Weshalb kommt er heute so früh?« Sie kannte den Schritt, der durch die äußere Halle kam; niemals hatte sie Everard Leaths festen Schritt vernommen, ohne daß ihr Pulsschlag sich, halb aus Zorn, halb aus Angst, beschleunigt hatte, aber sie war immer bestrebt gewesen, ihre Erregung unter der nachlässigen Kälte zu verbergen, die sie ihm gegenüber gewöhnlich zur Schau trug, denn sie wollte nicht, daß er sehen sollte, daß er sie überhaupt nach irgendeiner Richtung hin erregen konnte. Sie erhob sich jetzt und wandte sich mit ganz gefaßtem, gleichgültigem Gesicht der Flügeltür zu. Kam noch jemand mit ihm? Fast klang es so. Die Tür ging auf, und Leath trat ein mit Herrn Sherriff. Dem Mädchen entfuhr ein Schrei schreckensvoller Bestürzung. Leaths zerrissener und beschmutzter Anzug war durch einen sauberen ersetzt worden, die Blutspuren waren von Kopf und Antlitz fortgewaschen, aber das Haar war an der einen Seite weggeschnitten worden und ließ eine weiße Binde sehen. Das sowohl wie seine finster blickenden Augen und sein totenbleiches Gesicht hatten Florence den Schrei entlockt. Sie beachtete Sherriff kaum, noch wunderte sie sich über sein Erscheinen. Sie eilte auf Leath zu. »Was ist geschehen? Sie sind verletzt worden? Sie haben sich weh getan!« »Ja;« er nahm ihre Hand; noch nie hatte er sie mit so schmerzlichem Drucke festgehalten. »Ich -- wußte nicht, daß du hier bist,« sprach er, »ich wollte dich nicht erschrecken, Kind. Ich komme, um Sir Jasper aufzusuchen.« »Sir Jasper? Aber was ist denn geschehen? Wie sind Sie zu der Wunde gekommen?« Sie blickte Sherriff an und dann wieder ihren Verlobten, und etwas wie schreckensvolles Verständnis dämmerte in ihren Zügen auf. »Sie sind verletzt -- Sie kommen her, um mit Sir Jasper zu reden? Herr Sherriff,« rief sie gebieterisch, »lassen Sie ihn mir erzählen, was das alles zu bedeuten hat!« Leath wandte sich zu seinem Begleiter, ehe dieser antworten konnte. »Soll ich es ihr sagen? Sie wenigstens muß es doch wohl erfahren?« »Erzähle es ihr lieber! Wie kannst du es jetzt noch vor ihr geheimhalten? Und sie hat ein Recht, es zu wissen.« »Ich will es wissen,« sprach Florence, »sagen Sie es mir.« Er tat es. Das junge Mädchen saß auf der Fensterbank und hörte mit weitgeöffneten, entsetzten Augen, die unverwandt an seinem Gesichte hingen, der Erzählung zu, die er barmherzigerweise so kurz machte, wie er konnte. Er war seit einer vollen Minute zu Ende, ehe sie den Kopf hob und auf Sherriff deutete. »Sie haben ihm alles gesagt?« »Alles. Mir blieb kaum eine Wahl -- ich konnte nicht länger schweigen. Ich weiß, damit habe ich gewissermaßen unser Übereinkommen gebrochen, aber nicht in Wirklichkeit. Du kennst deinen alten Freund. Du weißt, du darfst dich darauf verlassen, daß er ein ebenso unverbrüchliches Schweigen beobachten wird wie du oder ich.« »Sie dürfen mir trauen, meine Liebe,« sprach Sherriff mit versagender Stimme. Er war bleicher als der junge Mann; die seelische Erregung hatte tiefe Spuren in seinen Zügen zurückgelassen. »Ich -- bin entsetzt -- bin bestürzt! Aber um Ihrer selbst willen, um der Lebenden und der einen Toten willen können Sie sich wirklich auf mich verlassen, mein Kind.« »Ich kann mich auf Sie verlassen?« wiederholte Florence verständnislos. »Ja, das weiß ich. Das macht keinen Unterschied. Aber das andere?« Sie blickte scheu zu Leath hinüber. »Was wollen Sie tun?« »Sir Jasper aufsuchen. Endlich müssen wir ein paar deutliche Worte miteinander reden.« Er sah Sherriff an. »Und um meiner eigenen Sicherheit willen, um jeder Möglichkeit vorzubeugen, daß sich der gestrige Vorfall wiederholt, ist es ebensogut, daß bei diesen Worten ein Zeuge zugegen ist.« »Ja?« Sie blickte noch ängstlicher. »Und hinterher -- was dann?« »Hinterher? Nichts weiter! Was sollte dann noch kommen?« Es klang wie Verwunderung aus seinem Tone, und zum ersten Male etwas wie Zärtlichkeit -- liebevolle Zärtlichkeit, die das Grauenvolle der Situation bisher verboten hatte. Er machte eine Bewegung, ihre Hand zu ergreifen. Erleichterung und Dankbarkeit verdrängten die Kälte aus ihrem Antlitz, als sie die Augen zu ihm aufschlug. Sofort trat aber ein anderer Ausdruck in ihre Züge, der ihn veranlaßte, sich jäh umzuwenden, und als er das tat, öffnete Sir Jasper die Tür der Bibliothek und trat in die Halle. Er ging sehr schnell, aber bei Everard Leaths Anblick blieb er plötzlich stehen, als sei er wie vom Donner gerührt. Eine seltsame, schreckliche Blässe überzog sein Gesicht, das fast fahl wurde, er rang schwer nach Atem. Mit der Hand tastete er hilflos nach einem Halt, erfaßte eine Stuhllehne und klammerte sich taumelnd daran fest -- ein grausiger Anblick. Leath hub zu reden an. »Sie sehen, es ist Ihnen mißglückt. Ihr Versuch, mich gestern abend auf der Klippe ums Leben zu bringen, ist fehlgeschlagen. Ich bin hier -- und am Leben.« Sir Jasper gab keine Antwort. Leath sprach in demselben erbarmungslosen, einförmigen Tone weiter. Florence saß bleich, mit weitoffenen Augen und fest zusammengepreßten Händen da. Sherriff stand neben ihr; die eine Hand hatte er auf ihre Schulter gelegt, mit der andern beschattete er seine Augen. »Es wäre besser gewesen, ich hätte damals, als ich zu Ihnen kam, Sie um Gräfin Florences Hand zu bitten, die wenigen unverblümten Worte gesprochen, Sir Jasper, die ich jetzt sagen werde. Aber es war Florences Wunsch, daß alles, was zwischen uns lag, unerörtert bleiben sollte, und ich fügte mich ihm. Sie wußten, welches der Preis war, den ich für die Einwilligung Florences, meine Frau zu werden, zahlte, und für den sie willens war, sich zu opfern. Ich meinerseits wußte, daß Sie nicht wagen würden, Ihre Zustimmung zu unserer Heirat zu verweigern -- Sie durften es nicht, um Ihrer eigenen Stellung willen, durften es nicht, um Ihrer beiden Kinder und um der unglücklichen Frau willen, die sich für Ihre Gattin hält.« Er hielt inne. Sir Jasper taumelte schwer gegen die Stuhllehne, die er umklammert hatte, machte aber sonst keine Bewegung, noch ging in seinem starren Antlitz eine Veränderung vor. Leath fuhr fort: »Sie ist nie Ihre Frau gewesen, und an jenem Tage hörten Sie es. Sie erfuhren, daß Gräfin Florence die Beweise gesehen hatte, die Sie für vernichtet hielten -- Beweise, deren Duplikate in Australien sind, -- die Beweise Ihrer Heirat mit Mary Ralston in Melbourne, vor einunddreißig Jahren, mit der Sie sich unter dem Namen Robert Bontine haben trauen lassen. Sie erfuhren, nachdem Sie ihrer überdrüssig geworden und sie schon nach einem halben Jahre ihrem Schicksal überlassen hatten, daß sie bis vor acht Jahren am Leben gewesen. Sie wußten, daß ich die Heirat beweisen konnte, wenn es mir beliebte, daß ich meine eigene rechtmäßige Geburt beweisen konnte, denn Sie wußten, daß ich Ihr Sohn war!« Er hielt wieder inne. Der Baron starrte ihn noch immer an, aber das Hinundherschwanken hatte aufgehört. »Sie wußten, daß ich Ihr Sohn war!« wiederholte Leath. »Sie hatten es gefürchtet und geargwöhnt, das weiß ich jetzt, seit dem Tage, an dem Sie mich zum ersten Male gesehen und in meinen Zügen die Ähnlichkeit meiner verstorbenen Mutter entdeckt haben.« Er lachte ingrimmig auf. »Sie haben sie verlassen, haben Ihre Ehe mit ihr geleugnet, haben sie in Armut und Schande verkommen lassen -- jetzt, nach über dreißig Jahren, hat Sie die Rache ereilt. Die erste Geschichte, die ich von ihren Lippen vernahm, als ich alt genug war, sie zu verstehen, war diese -- die Geschichte meines Vaters Robert Bontine. Die letzten Worte, die ich zu ihr, der Sterbenden, sprach, waren ein Gelübde, daß ich den Mann an dem Orte in England, den er als seine Heimat bezeichnet hatte, aufsuchen und meinen Namen, meine Rechte von ihm fordern wolle. Es dauerte acht Jahre, aber ich habe jenes Versprechen nie aus den Augen verloren. Sie wissen, weshalb ich es gebrochen, ebensogut, wie ich weiß, weshalb Sie gestern abend versucht haben, mich zu ermorden. Solange ich lebte, fürchteten Sie mich, trotz meines gegebenen Wortes. War ich tot, so konnten Sie keinen Grund zum Fürchten mehr haben.« Florence schrie auf. Sir Jasper stürzte hilflos zu Boden. Das junge Mädchen sank auf die Knie und hob sein Haupt empor. Sein Gesicht war schrecklich verzerrt, seine weitoffenen Augen blickten leer und starr, als sähen sie nichts. Sherriff, der sich ebenfalls niedergebeugt hatte, schaute mit einem Ausdruck des Entsetzens zu dem jüngeren Manne empor. »Gütiger Himmel, Leath, was ist das? Der Tod?« »Nein,« antwortete Leath, »noch nicht. Aber es ist Tod bei lebendigem Leibe -- ein Schlaganfall!« 24. Eine Woche war vergangen, seitdem Sir Jasper Mortlake wie vom Blitze getroffen vor Everard Leath hingestürzt war, und so lag er noch immer. In Turret Court herrschte Schweigen und Trauer. Die drei Ärzte, die herbeigerufen wurden, erklärten, ihr Patient könne noch Jahre so daliegen wie jetzt -- unverständliche Laute vor sich hinmurmelnd und ins Leere starrend. Es wäre möglich, daß er nach einiger Zeit in beschränktem Maße die Gliedmaßen wieder werde bewegen können, aber das Gehirn werde nie wieder funktionieren -- das sei ausgeschlossen. Sie stimmten auch darin überein, diese ernsten Doktoren, daß der Anfall sich wahrscheinlich schon seit geraumer Zeit vorbereitet habe. Was ihn schließlich veranlaßt hätte, könne man unmöglich sagen. Eine große Erschütterung möglicherweise. Wußte Lady Agathe, ob er irgendeine solche Erschütterung gehabt hatte? Lady Agathe, die in diesen ersten Tagen des Kummers und Schreckens kaum fähig war, etwas anderes zu tun, als zu weinen und sich in hilfloser Abhängigkeit an ihre Nichte zu klammern, die so viel stärker war, ihr so viel besser Trost zusprechen konnte als ihre Tochter, weinte bei diesen Fragen nur aufs neue und erklärte schluchzend, es habe nichts vorgelegen. Sir Jasper sei in der letzten Zeit anscheinend leidend und verstimmt gewesen, er sei wortkarger und vielleicht ein -- wenig grämlicher geworden, gab die unglückliche Frau zu. Sie hätte ihrem Tyrannen jetzt, wo er sie nicht mehr tyrannisieren konnte, gern jegliche Tugend zuerkannt -- aber das war alles. An dem Abend, der dem Schlaganfall vorangegangen, war er nicht zum Essen heruntergekommen, -- etwas sehr Ungewohntes von ihm, -- aber sie hatte dem keine weitere Bedeutung beigemessen. Als er den Schlag bekam, unterhielt er sich ruhig in der Halle mit ihrer Nichte und ihrem Verlobten. »Nein -- von einer besonderen Gemütsbewegung war keine Rede gewesen,« beteuerte Lady Agathe unschuldig. Gräfin Florence würde ihnen dasselbe sagen. Gräfin Florence, die in diesen Tagen des Leids stets in unmittelbarer Nähe ihrer Tante blieb, ausgenommen, wenn sie die kleine Cis tröstete, deren leidenschaftliche Schmerzensausbrüche selbst Harry nicht beschwichtigen konnte, sagte ihnen dasselbe. Sir Jasper habe bleich und wunderlich ausgesehen; er habe sich eine Weile an einem Stuhle festgehalten und sei dann plötzlich zu Boden gestürzt. Herr Leath, ihr Verlobter, würde ihnen das bestätigen, und ebenfalls Herr Sherriff, der zugegen gewesen. Aber die Ärzte meinten, es sei nicht nötig, sie zu befragen, Lady Agathes Bericht sei vollständig zufriedenstellend und ausreichend. Es wäre unmöglich, den Zeitpunkt, an dem ein solcher Schlaganfall eintreten würde, vorherzubestimmen oder ihn abzuwenden; die Wissenschaft vermöge viel, aber das könnte sie doch noch nicht. Und kopfschüttelnd verließen die Doktoren Turret Court, und noch zwei Tage schleppten sich schwer dahin. Es war kaum fünf Uhr, aber trotzdem brach die Dämmerung des trüben Oktobertages herein; in dem getäfelten Zimmer wäre es schon dunkel gewesen, hätte nicht das Feuer gebrannt. Das prasselte hell empor und zeigte Florence, die in einem bequemen Lehnstuhl vor dem Kamin saß. In dem langen, schwarzen Kleide, das Cis nicht leiden mochte, -- sie hatte in den letzten Tagen nichts anderes getragen, -- sah sie sehr zart und schlank und jung aus. Den Kopf lehnte sie müde zurück; ihre Augen waren geschlossen, und die langen, schwarzen, dichten Wimpern machten die Blässe ihres Gesichtes nur noch auffallender. Lady Agathe, bei all ihrem schmerzlichen Weinen und Jammern, sah nicht erschöpfter und gebrochener aus als das Mädchen, das, seitdem der Schlag gefallen, keine Träne vergossen hatte. Tränen gab es für sie nicht mehr, hatte sie zu sich gesagt, während sie halb verwundert, halb neidisch zusah, wie ihre Tante weinte und wie die kleine Cis schluchzte und sich nicht trösten lassen wollte. Die Florence Esmond, die lachen und weinen konnte, war vor mehr als einem Monat gestorben -- an jenem sonnigen Nachmittage im Bungalow, und für sie gab es kein Auferstehen. Sie schlummerte nicht, obgleich sie seit fast einer Stunde ihre Stellung nicht verändert hatte. Ein Diener trat ein, und sie fuhr mit weitgeöffneten Augen empor. »Herr Leath ist da, gnädiges Fräulein. Er fragt, ob das gnädige Fräulein wohl genug sei, ihn heute ein paar Minuten zu empfangen?« Jeden Tag seit Sir Jaspers Schlaganfall war Everard Leath nach Turret Court gekommen, aber nur einmal, und dann für die denkbar kürzeste Zeit, hatte er seine Braut gesehen; sie hatte sich sonst immer entschuldigt. Sie wußte indessen, daß das nicht stets so weitergehen konnte und hatte heute im getäfelten Zimmer auf sein Kommen gewartet. Sie mußte ihn sehen -- er hatte ein Recht, sie zu sehen. Ihr gegebenes Wort mußte sie halten wie er das seine, um Lady Agathes und ihrer Kinder willen mußte alles bleiben, wie es gewesen. Daß Everard Leath in Wahrheit Everard Mortlake war, der Erbe -- man hätte sagen können der Besitzer -- von Turret Court, war eine Tatsache, die nie bekannt werden durfte. Florence stand langsam auf und strich ihr in Unordnung geratenes Haar zurück. »Ja,« sagte sie, »ich will Herrn Leath sehen. Sie können ihn hier hereinführen, Morgan.« Sie sprach ruhig, aber sie hatte ihre Nerven nicht so in der Gewalt wie ihre Stimmung; sie begann beim Tone der nahenden Schritte zu zittern, und als die Tür aufging, sank sie wieder in ihren Stuhl. Leath sah, wie sie sich in die Polster schmiegte und ihn mit flehenden, erschreckenden Augen anblickte. Ein seltsamer Ausdruck -- es war ein ironisches Lächeln und ein schmerzliches Zucken, beides zu gleicher Zeit -- glitt über sein Gesicht, aber er war im nächsten Augenblick wieder verschwunden. Er streckte die Hand aus und ergriff die von Florence, welche bebend in ihrem Schoße lag. »Hoffentlich geht es dir besser?« fragte er. »Du siehst sehr blaß aus.« »Danke, ich bin so wohl, wie ich nur erwarten kann, zu sein,« antwortete sie. »Wohl genug, daß ich mit dir sprechen kann? Wenn nicht, so sage es. Dann werde ich bis morgen warten.« »Das ist nicht nötig. Ich hatte mich schon entschlossen, Sie zu sehen, wenn Sie heute vorkämen. Es war sehr lieb von Ihnen, daß Sie nicht eher darauf drangen.« Sie stockte und blickte zu ihm auf. »Wollen Sie nicht Platz nehmen?« »Nein, danke. Ich bleibe nur ein paar Minuten.« Er hielt inne. »Es ist wohl keine Veränderung eingetreten?« »In Sir Jaspers Zustand? Nein -- keine. Sie wissen, daß das auch nicht zu erwarten ist, nicht wahr?« »Allerdings. Es ist, wie ich es nannte, Tod bei lebendigem Leibe. Rache genug für mich, wenn ich danach verlangte.« Seine Stimme war dumpf, aber nicht scharf, sein Gesicht merkwürdig gefaßt und ernst. Sein ganzes Wesen war seltsam und für Florence unerklärlich verändert. Er hatte ihre Hand nicht behalten -- hatte sie nur eben lose einen Augenblick erfaßt und dann losgelassen -- er, dessen Händedruck immer eine innige Liebkosung an sich gewesen war. Unzählige Male hatte sie sich dagegen aufgelehnt, hatte sich gesagt, daß sie es hasse, aber ihr fiel die Unterlassung sofort auf. Weshalb sah er so aus? Was wollte er ihr sagen? Eine angstvolle Beklommenheit, die jede Sekunde seines Schweigens nur steigerte, beschleunigte den Herzschlag des Mädchens. Sie sprach endlich, denn sie fühlte, daß sie es nicht länger ertragen konnte. »Ist -- ist irgend etwas passiert?« stammelte sie. »Sie sehen so sonderbar aus!« »Sonderbar? -- So?« Er hob den Kopf und blickte sie an. »Nein, -- passiert ist nichts. Ich habe einen Kampf auszukämpfen gehabt, und zwar keinen leichten -- das ist alles. Aber er ist vorüber -- er liegt hinter mir. Um so besser für mich. Ich überlegte nur, wie ich es dir am besten sage.« »Mir sage?« wiederholte sie. »Ja. Sieh nicht so ängstlich aus, Kind! Den Ausdruck habe ich allzuoft auf deinem Gesicht gesehen -- ich möchte lieber eine andere Erinnerung mit hinwegnehmen. Es ist wohl am besten, ich fasse mich so kurz wie möglich. Ich gehe fort, Florence.« »Fort?« rief sie. »Nach London?« »London? Was habe ich in London zu suchen? Ich gehe nach Australien zurück -- dem einzigen Fleck Erde, der mich angeht, den nie zu verlassen ich gut getan hätte. Ich fahre mit der ›Etruria‹. Sie geht in vier Tagen.« »Und -- und ich?« Sie stieß die Worte, nach Atem ringend, hervor, während sie emporfuhr und ihn mit weitgeöffneten, ungläubigen Augen anstarrte -- Verwunderung, Schrecken, Seelenqual sprachen aus ihren Zügen. Sie war totenbleich geworden. Er ergriff die bebende Hand, die sie ihm entgegenstreckte, hielt sie einen Augenblick fest umschlossen und drängte sie dann sanft von sich. »Sie bleiben hier,« sprach er ruhig. »Ich entbinde Sie von Ihrem Versprechen, mich zu heiraten.« Florence sprach nicht. Atemlos stand sie da, und ihre großen, schreckhaft erweiterten Augen hingen unverwandt an den seinen, als fürchte sie sich, sie abzuwenden. »Ich entbinde Sie Ihres Versprechens, mich zu heiraten,« wiederholte er mit fester Stimme. »Ich befreie Sie von einer Verpflichtung, die Sie hassen und die Sie nie hätten eingehen sollen. Ich habe einen schändlichen Pakt mit Ihnen abgeschlossen, Kind -- ich wußte es, als ich es tat -- ich habe mir feige Ihre Zuneigung für die Ihren und Ihre Selbstaufopferung zunutze gemacht. Aber ich liebe Sie, und die Liebe zu einem Weibe hat schon manchen Mann unwürdige Handlungen begehen lassen. Dem sei nun, wie ihm wolle, ich bin nicht verworfen genug, Sie zu einer Ehe, die Sie unglücklich machen muß, zu zwingen, und als ich glaubte, Ihre Liebe erringen zu können, mag ich wohl ein Tor gewesen sein. Sie hassen mich. Und haßten Sie mich, wenn Sie mein Weib wären, so würde ich uns beide, Sie und mich selbst, ums Leben bringen, glaube ich. Aber das ist eine Frage, die wir nicht weiter zu erörtern brauchen; denn Sie werden nie meine Frau werden. Ich wiederhole es -- ich gebe Sie frei. Ich gehe nach Australien zurück. Sie sind mich für den Rest Ihres Lebens los.« Er hielt inne. Das junge Mädchen tastete nach dem Kaminsims, neben dem sie stand, und hielt sich daran fest; aber ihr Gesicht veränderte sich nicht, und sie machte gar keinen Versuch, etwas zu erwidern. Ehe Leath weiterreden konnte, ging die Tür auf, und Lady Agathe und ihre Tochter traten ein. »Liebe Florence -- o, Herr Leath, Sie sind es!« stammelte Lady Agathe verwirrt, »ich wußte nicht, daß Sie hier sind!« Sie wandte sich wieder nach der Tür, aber Leath hielt sie zurück, ehe sie dieselbe erreicht hatte. »Ich bitte um Vergebung, Lady Agathe. Darf ich Sie bitten, einen Augenblick zu verweilen? Wären Sie nicht hereingekommen, so würde ich Sie vor meinem Fortgange um eine Unterredung gebeten haben.« »Mich -- um eine Unterredung?« stammelte die Angeredete. »Ja. Ich möchte Ihnen sagen, daß ich Gräfin Florence ihr Wort zurückgegeben habe. Unsere Verlobung ist aufgehoben.« »Sie haben sie freigegeben?« rief Lady Agathe verwundert. Cis stieß einen leisen Schrei aus und lief auf ihre Cousine zu. »Ich habe sie freigegeben,« wiederholte Leath in demselben ruhigen Tone. Er sah Florence nicht an, ja, warf ihr nicht einmal einen Blick zu. »Wenn einen von uns ein Vorwurf trifft, so trifft er ganz allein mich. Ihre Nichte macht sich nichts aus mir, hat nie vorgegeben, etwas von mir zu halten. Sie hat mich nicht getäuscht, aber das Ganze war ein unseliger Irrtum. Unsere Verlobung hätte nie stattfinden sollen.« »Nun wirklich, Herr Leath, da Sie so offen reden, muß ich sagen, daß ich völlig mit Ihnen übereinstimme,« sagte Lady Agathe und drückte das Taschentuch an die Augen. »Die Verlobung ist mir immer ein Rätsel, ein dunkles Rätsel gewesen -- wie Florence selbst weiß. Ich kann nicht glauben, daß Ihre Ehe für einen von Ihnen glücklich ausgefallen wäre -- ich habe es nie geglaubt. Die äußeren Verhältnisse und alles war so ungleich. Und da Sie, wie Sie sagen, wissen, daß Florence sich nie etwas aus Ihnen gemacht hat, so ist es wirklich nur Ihre Pflicht, daß Sie sie freigeben.« »Ja,« antwortete Leath, »nur meine Pflicht.« Ein finsteres Lächeln umspielte seine Lippen einen Augenblick; aber wenn auch Lady Agathe es gesehen hätte, so würde sie doch weit entfernt davon gewesen sein, seine Bedeutung zu verstehen. Er hielt ihr die Hand hin und sprach freundlich: »Sie haben keinen Grund, mich gern zu haben, Lady Agathe, und ich weiß, Sie haben mich nicht leiden können. Aber da ich nach Australien zurückkehre und aller Wahrscheinlichkeit nach England niemals wiedersehen werde, wollen Sie mir da Lebewohl sagen und mir gestatten, Ihnen meine Wünsche auszusprechen, daß auch für Sie glücklichere Zeiten kommen mögen!« Die gute Lady Agathe, die gerührt war, ohne zu wissen, weshalb, gab ihm mit einer gewissen Herzlichkeit die Hand. Er beugte sich auf sie herab und ließ sie dann los. Darauf wandte er sich zu Cis und schloß sie, zu des jungen Mädchens unsagbarer Verwunderung, in die Arme und küßte sie. »Leben Sie wohl, liebes Kind,« sprach er. »Möge Ihnen ein glückliches Leben beschieden sein!« Er schritt auf die Tür zu und drehte sich -- die Hand schon auf dem Türgriff -- noch einmal um und blickte nach der regungslosen Gestalt am Kamin hinüber. »Lebe wohl, Florence,« sagte er fast im Flüstertone, »lebe wohl!« Die Tür fiel ins Schloß -- er war fort. Cis, die sich von ihrem Erstaunen erholt hatte, sprudelte hervor: »Was soll das alles heißen? Florence, was soll das heißen? Er vergötterte dich -- das weiß ich -- und doch löst er eure Verlobung und geht so davon! Er hat dir nicht einmal die Hand gegeben. Und,« fuhr sie in grenzenloser Bestürzung fort, »warum hat er mich geküßt?« Aber der kleinen Cis sollte auf diese Frage nie eine Antwort werden, sie sollte es nie erfahren, daß Everard Leath den Kuß eines Bruders auf ihre Wange gedrückt hatte. Florence hörte sie nicht einmal. Sie stand stumm, wie betäubt da. Sie konnte es nicht fassen, daß ihre Ketten von ihr gefallen -- daß er fort und sie frei war. 25. Everard Leath ging über die Halde nach dem Bungalow zurück. Es war ganz dunkel, ehe er dort anlangte, und die Lampen brannten schon, als er ins Wohnzimmer trat. Sherriff, der in einem Stuhl am Kamin ein Schläfchen gehalten, richtete sich bei seinem Eintritt auf. Leath zog einen Sessel heran und setzte sich. »Ich bin in Turret Court gewesen,« sagte er auf einen fragenden Blick des andern. »Das habe ich mir gedacht, mein Junge. Dort steht wohl alles beim alten, und es ist keine Wendung zum Besseren eingetreten?« »Nein -- nicht die mindeste. Es ist nicht zu erwarten. Wie Sir Jasper jetzt daliegt, so kann er vielleicht, wenn seine Lebenskraft so lange ausreicht, noch fünf Jahre liegen.« Ein finsteres Lächeln zuckte um die Lippen des jungen Mannes. »Wenn wir nach Rache getrachtet, so ist sie uns jetzt in vollem Maße geworden.« »Ich trachte nicht darnach,« versetzte der Alte sanft, »nicht einmal um Marys willen. Aber ich bin alt. Ich leugne nicht, daß ich vielleicht anders darüber gedacht haben würde, Everard, wäre ich so jung wie du.« »Mich verlangt auch nicht darnach,« antwortete Leath mit einem Stirnrunzeln, »man führt keinen Streich nach einem Toten, und in Wirklichkeit ist er tot.« »Das ist wahr! Besser für seine Umgebung, er wäre es in der Tat.« Sherriff hielt zögernd inne. »Du glaubst, Lady Agathe hat keine Ahnung, daß -- etwas nicht in Ordnung ist?« »Durchaus keine. Wie sollte sie auch? Wer sollte es ihr sagen? Ihr Sohn wird Sir Roy werden. Sie wird nie was anderes erfahren.« »Ich hoffe nicht. Ganz von ihren Kindern abgesehen, würde ein solcher Schlag sie getötet haben. Nun, du hast auf vieles -- auf sehr vieles verzichtet, Everard, hast viel aufgegeben, aber du hast drei Unschuldige geschont, und was dir dafür wird, überwiegt alles andere weit, das weiß ich.« »Was mir dafür wird?« Leath lachte bitter auf. »Was ist das, wenn ich fragen darf?« »Was?« gab Sherriff verwundert zurück. »Das Weib, das du liebst.« »Und das mich haßt!« Mit einem Lachen erhob er sich. »Es ist für mich am besten, sich kurz zu fassen, wie ich auch ihr soeben sagte. Ich habe Gräfin Florence ihr Wort zurückgegeben.« »Du hast sie freigegeben?« »Ja -- freigegeben. Ich war ein Schuft, ihr das Versprechen abzuzwingen, ein Narr, zu glauben, daß ich ihre Liebe erringen könne. Sie haßt mich, und ich habe sie deshalb freigegeben. Es ist vorüber -- ich habe ihr Lebewohl gesagt. Damit ist genug über die Sache geredet; ich wäre ein schlechterer Kerl, als ich bin, hätte ich sie in eine unglückliche Ehe hineinzwingen wollen. Sie brauchen mich nicht so anzusehen, mein lieber alter Freund. Es hat einen Kampf gekostet, das leugne ich nicht, aber ich glaube, ich habe das Schwerste jetzt überstanden. Wenn nicht, nun, so werde ich in Australien besser damit fertig werden als hier.« »In Australien?« »Ja. Ich habe mich entschlossen, dorthin zurückzukehren. Da wartet meiner wenigstens Arbeit. Die ›Etruria‹ geht in vier Tagen ab. Mit der fahre ich.« Er hielt inne und blickte in das erregte Gesicht des alten Mannes, der eine bebende Hand auf seinen Arm legte. »Soll ich zwei Fahrkarten nehmen, Herr Sherriff?« »Zwei?« wiederholte der andere. »Ja -- wollen Sie mit mir kommen? Ich habe Sie danach fragen wollen, seitdem ich zu dem Entschlusse gekommen bin, daß ich sie freigeben müsse. Wenn mich hier nichts zurückhält, so haben auch Sie keine Angehörigen hier.« Er legte dem Alten die Hand auf die Schulter -- zum ersten Male versagte ihm fast die Stimme -- und fuhr fort: »Ich hoffe, Sie kommen mit -- von ganzem Herzen hoffe ich es. Mehr als einmal haben Sie geäußert, daß Sie mich so liebhätten, als sei ich Ihr Sohn; aus tiefster Seele wünsche ich, ich wäre es. Ich habe, wie Sie wissen, nie einen Vater gekannt, aber etwas von dem, was man für einen Vater empfinden sollte, empfinde ich für Sie, das weiß ich. Das Scheiden ist schwer in Ihrem Alter -- mir in meiner Einsamkeit wird unsere Trennung sehr schwer fallen. Wollen Sie mitkommen?« »Ich will mitgehen,« antwortete Sherriff. »Ich bin freilich recht alt dafür, um ein neues Leben in einem neuen Lande anzufangen, Everard -- aber ich kann mich von Marys Sohn nicht trennen!« Ein langer und fester Händedruck besiegelte den Vertrag, und das Gespräch der beiden drehte sich für den Rest des Abends nur um die nahe bevorstehende Reise und die nötigen Vorbereitungen. Beide waren ruhig und heiter, und der Name der Gräfin Florence wurde nicht ein einziges Mal erwähnt. Nur als sie sich ›Gute Nacht‹ wünschten und Sherriff die Hand seines jungen Freundes in der seinen hielt, sagte er: »Noch ein Wort, mein lieber Junge, und wenn es gesprochen, brauchen wir, nur wenn du es wünschen solltest, das Thema nie wieder zu berühren. Es mag vielleicht unrecht gewesen sein -- ja, ich leugne es nicht, es war unrecht -- Gräfin Florence zu zwingen, sich mit dir zu verloben; aber ich begreife wohl, wie groß die Versuchung war, da ich weiß, wie innig du sie liebst, und ich muß dir sagen, daß du das mehr als wieder gutgemacht und edel gehandelt hast, als du ihr ihr Wort zurückgegeben und doch alles geopfert hast, was dir von Rechts wegen gehört hätte. Du hast wie ein Ehrenmann gehandelt, und ich bin stolz auf dich.« »Ich tat das einzige, was ich überhaupt konnte,« gab Leath düster zur Antwort. »Vielleicht barg sich ebensoviel Selbstsucht wie Selbstaufopferung dahinter. Ich konnte jener armen Frau nicht das Herz brechen und nicht Schmach und Schande über ihre beiden Kinder bringen. Ich weiß überhaupt nicht, ob ich es je fertig gebracht hätte, das zu tun. Der Gedanke wollte mir nie recht in den Sinn, das weiß Gott! Und das Mädchen, das ich liebe, zum Weibe zu haben, während sie mich gehaßt, würde mich, glaube ich, zum Wahnsinn getrieben haben.« »Das glaube ich gern. Und deshalb,« sprach der alte Mann, »gehen wir miteinander nach Australien, Everard, und von allem, was du zu erlangen hofftest, nimmst du nichts mit zurück -- gar nichts!« »Nichts!« lautete die bittere Antwort. »Nicht einmal ein Wort des Dankes von ihr dafür, daß ich sie freigegeben!« * * * * * Unter einem grauen Oktoberhimmel, der nur im Westen, wo die Sonne eben untergegangen, rot erglühte, stampfte der große Ozeandampfer, die ›Etruria‹, durch die sich höher und höher auftürmenden Wogen. Die Klippen der felsigen Küste Cornwalls waren nur noch in nebelhaften Umrissen wahrnehmbar, nur die beiden großen, violetten Spitzen von Kap Lizard ragten noch klar und deutlich empor -- das letzte sichtbare Wahrzeichen Englands. Viele Augen an Bord des großen Schiffes waren traurig und sehnsüchtig darauf gerichtet, als es nach und nach in der Ferne verschwamm, -- war es doch für viele der letzte Blick auf jenes Land, das ihnen, auch in weiter, weiter Ferne, doch stets die Heimat bleiben würde. Aber kein Auge blickte wehmütiger als das des hohen, weißhaarigen alten Mannes, der neben einem jüngeren in einem stillen Winkel des oberen Decks stand, halb verborgen durch die hoch aufgestapelten Koffer und sonstigen Gepäckstücke, die mit den letzten Passagieren in Plymouth an Bord genommen und noch nicht in den Gepäckraum hinabgeschafft worden waren. Das große Vorgebirge war nur noch ein wolkiger Fleck zwischen dem grauen Wasser und dem grauen Himmel, und als Sherriff sich mit einem Seufzer umwandte, begegnete er dem stillen, teilnehmenden Blicke seines Gefährten. »Es wird mir schwer, Everard,« sprach er, gleichsam als Antwort auf diesen Blick, »ich leugne nicht, daß es mir schwer fällt. Ich bin, wie gesagt, eigentlich zu alt, um anderswo Wurzel zu schlagen, mein Junge! Aber es ist überstanden, und ich bin froh, daß ich hier bin. Den Verlust Englands werde ich nicht so empfinden, wie ich deinen Verlust empfunden hätte.« Sie gaben sich die Hände. »Ich hoffe, daß Sie es nie bereuen mögen,« meinte Leath leise. »Bereuen werde ich es nicht. Das Trennungsweh ist überstanden mit dem letzten Blick auf England. In dem Lande, das das Grab meiner Mary umschließt, in dem der Sohn meiner Mary lebt, werde ich mich sicherlich zu Hause fühlen.« Es trat ein kurzes Schweigen ein, dann hub Sherriff in heiterem Tone wieder an: »Ich will ein Weilchen hinuntergehen, Everard. Ich bin, wie gesagt, ein alter Bursche, und die Unruhe und Aufregung der letzten Tage hat mich doch ziemlich angegriffen. Nein, gehe nicht mit, das ist nicht nötig. Du wolltest rauchen, bleibe hier und zünde dir eine Zigarre an.« -- Er entfernte sich. Leath folgte der hohen, weißhaarigen Gestalt mechanisch mit den Augen und wandte sich dann wieder landwärts. So scharf auch seine Augen waren, so konnten sie jetzt nichts mehr unterscheiden. Himmel und See allein waren sichtbar. England war verschwunden. Er zuckte die Achseln und brach in ein bitteres Lachen aus. »Verschwunden!« sagte er halblaut vor sich hin. »Um so besser für mich! Wenn ich es nie gesehen, würde es noch besser sein -- und hätte ich sie nie mit Augen geschaut, am besten!« Es kam jemand hinter dem großen Stapel Kisten und Koffer hervor. Die Person war ihm so nahe, daß er sie hätte berühren können, wenn er die Hand ausgestreckt hätte; aber ihre behutsamen Bewegungen waren lautlos, und er wandte sich nicht um. Seine Augen blickten unverwandt in die Ferne, als er am Schiffsbord lehnte -- für ihn waren der bleifarbene Himmel und das graue Meer von Bildern belebt, von Bildern eines einzigen Gesichtes. Heiter und sinnend, lächelnd und wehmütig, liebevoll und leidenschaftlich erregt, reizend in jedem wechselnden Ausdruck schwebte Florences holdseliges, verlorenes Antlitz vor ihm. Nur ein Ausdruck ließ es kalt und starr erscheinen, und den trug es am häufigsten. Welcher Haß, welch angstvolle Scheu, welch zornige Empörung lagen darin! Was Leath auch sonst vergessen mochte, nie würde das Antlitz aus seinem Gedächtnisse entschwinden, mit dem sie an jenem Abend vor ihm zurückgewichen, als sie ihm ihr ›Niemals -- niemals!‹ zugerufen hatte. »Sie mag recht gehabt haben,« sagte er, unwillkürlich wieder vor sich hinsprechend, »es sprach Haß aus ihren Zügen. Und doch, jetzt, wo alles vorüber ist, kann ich nicht anders als mir die Frage vorlegen: Bin ich ein Tor gewesen, sie aufzugeben? Wenn ich sie gezwungen, ihr Wort zu halten, würde ich trotz allem ihre Liebe gewonnen haben? Es hätte wenigstens sein können. Ja -- und vielleicht hätte sie mich ewig gehaßt. Besser so!« Die Gestalt schlich näher, aber sie glitt so leise und still wie ein Schatten dahin. Everard richtete sich mit einer ungeduldigen Bewegung empor. »Ich bin ein weichmütiger Narr, daß es mir so nahe geht,« murmelte er, »aber sie hätte mir doch Lebewohl sagen können! Sie hätte mir wenigstens ein Wort des Dankes gönnen müssen dafür, daß ich sie freigegeben.« »Everard!« Der Name wurde von Lippen geflüstert, die dicht an seiner Schulter waren; eine Hand berührte ihn. Mit einem Schrei, den er nicht unterdrücken konnte, drehte er sich hastig, von Staunen überwältigt, ungläubig um. Florence war neben ihm, Florence, mit einem Gesicht, in dem Weinen und Lachen miteinander kämpften! Dann, im nächsten Augenblicke, war Florence in seinen Armen und schmiegte sich an ihn -- Liebe lag in ihrer Berührung, Liebe in ihren Augen, Liebe in den bebend hervorgestoßenen Worten der Abwehr und des Flehens, Liebe in dem Kusse, mit dem ihre Lippen den seinen begegneten, als er sie voll Leidenschaft an die Brust drückte. Aber er war bestürzt, wie betäubt von einer Freude, an die er nicht zu glauben wagte. »Du mußt umkehren, Kind,« sagte er. »Du mußt wieder umkehren,« und während er das sagte, zog er sie nur fester an sich und küßte sie noch heißer. Nach einer Weile richtete sie sich in seinen Armen auf und blickte ihn mit feuchtschimmernden Augen an, die Hände um seinen Hals gelegt. »Ich muß umkehren?« meinte sie mit fröhlichem Lachen, »und das Land ist außer Sicht? Nein -- nein! Ich bin zu klug -- ich wollte mich nicht blicken lassen, ehe es zum Umkehren zu spät war. In Plymouth bin ich an Bord gekommen, und ich sah dich, sowie ich das Schiff betrat, aber ich verstellte mich. Umkehren?« Sie lachte. »Und wenn ich es täte, was dann? Sie machten Aufhebens genug davon, als du mich in jener Gewitternacht unter deine Obhut genommen. Was würden sie wohl von mir sagen, wenn ich mit dir davonliefe und du mich nicht heiraten wolltest?« Er lachte auch und legte den Arm fester um sie, aber er sprach nicht. Er war seiner Bestürzung noch nicht Herr geworden: sie zu umfassen, sie anzuschauen, das schien alles zu sein, was er vermochte. Ihre Hand legte sich wieder um seinen Nacken. »Umkehren?« sagte sie. »Zurückkehren zu dem Grauen, das mich befiel, als es mir zum Bewußtsein kam, daß du fort seiest? Zu der unerträglichen Pein, zu wissen, daß, so lange wir beide lebten, ich niemals dein Antlitz wiedersehen, noch deine Stimme je wieder hören würde? Zu der Qual, die mir fast das Herz brach, als ich fühlte, daß ich dich verloren? Nein, nein! Nur das nicht!« Mit einem Schauder schmiegte sie sich an ihn. »Ach, wie sehr hast du recht gehabt, mein Geliebter, als du sagtest, du würdest mich dazu bringen, dich zu lieben, und wie sehr hatte ich in meiner törichten Verblendung unrecht! Wie lange habe ich dich wohl schon geliebt und meine Liebe Haß genannt? Oder habe ich dich erst geliebt, nachdem du mich verlassen? Ich weiß es nicht -- es kommt auch nicht darauf an -- hier bin ich und kann nicht wieder zurück. Ach, du gabst mir meine Freiheit wieder, Everard, aber wie konnte ich sie hinnehmen und dir dafür danken, wenn du mir mein Herz nicht zurückgabst. Du nimmst es mit dir und doch sagst du zu mir: ›Kehre um‹!« »Umkehren? Nie und nimmermehr, und sollte ich mit der ganzen Welt kämpfen müssen, um dich zu behalten!« Er küßte sie auf die Lippen. »Florence, wissen es die Deinen?« »Ja -- jetzt wissen sie es. Als ich Turret Court verließ, wußten sie es noch nicht. Ich habe mich ohne ihr Wissen davongemacht. Ich wollte nicht Abschied nehmen -- das hätte Tränen gekostet -- Szenen gegeben. Das wollte ich nicht; ich wollte nur zu dir. Aber sie wissen es jetzt. Ich habe der Herzogin geschrieben, habe Briefe für Tante Agathe und Cis und einen Gruß für Roy zurückgelassen. Sie wissen, daß ich dir nachgereist bin, und weshalb. Ich habe ihnen gesagt, daß ich, wenn sie wieder von mir hörten, nicht mehr Florence Esmond, sondern Florence Leath sein würde. Ich habe mir den Namen angeeignet, ehe du ihn mir gegeben hast. Du siehst, meine Schiffe sind hinter mir verbrannt,« schloß sie lächelnd. Ein Schweigen trat ein. Er brach es, indem er ihr Gesicht emporhob und sich zuwandte. »Florence, hast du auch bedacht, was dieser Schritt dich kostet? Du gibst sehr viel auf, mein Lieb!« »Du hast alles für mich aufgegeben, sogar mich selbst,« antwortete sie innig, »was ich verliere, verliere ich um dich.« »Es kostet dich dein Vermögen?« »Die Herzogin ist jetzt in Wirklichkeit mein einziger Vormund, und die Herzogin wird mir niemals vergeben. Ja -- das kostet es mich.« »Du verlierst alle diejenigen, die du dein Leben lang geliebt hast, Kind!« »Ich gewinne nur.« Sie lächelte dabei. »Ich bin bei einem, den ich viel mehr liebe.« »Für dich bedeutet es ein in die Verbannung Gehen, mein Weib.« »Mit dir, meinem Gatten,« gab sie leise zurück. Er sagte nichts mehr. Er zog sie fester in die Arme, und sie küßten sich wieder. Das beredteste Wort war arm solch glückseligem Schweigen gegenüber. Keiner von ihnen hatte wieder gesprochen, als ein näherkommender Schritt sie veranlaßte, sich umzuwenden. Beide erkannten Sherriffs hohe Gestalt, der langsam herankam und im Zwielichte in der ihm noch unvertrauten Umgebung suchend umherspähte. Florence faßte die Hand ihres Verlobten und trat ein wenig vor. »Er liebt dich, als ob er dein Vater wäre,« sprach sie. »Schon deshalb würde ich ihn lieben, hätte ich ihn nicht immer liebgehabt. Er soll auch mein Vater sein. Laß uns gehen und es ihm sagen.« Notizen des Bearbeiters: Inhaltsverzeichnis eingefügt. Fett gedruckter Text markiert durch: = ... = Gesperrt gedruckter Text markiert durch: _ ... _ Unterstrichener Text markiert durch: ~ ... ~ Unterschiedliche Schreibweisen im Original wurden beibehalten. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert. *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ROBERT BONTINE *** ***** This file should be named 64003-0.txt or 64003-0.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/6/4/0/0/64003/ Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. They may be modified and printed and given away--you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. 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60089-8
The Project Gutenberg EBook of Der Snob, by Carl Sternheim This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. 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SYBIL ~tritt auf~: Was gibt's Wichtiges? CHRISTIAN: Mein Vater im sechzigsten Jahr hat sich einen Bastard geleistet. In der Klemme verlangt er "Verauslagung der durch geburtshilfliche Praktiken ihm erstandenen Verpflichtungen" von mir. Was sagst du? SYBIL: Nichts, als daß ich durch dich in gleicher Lage sein möchte wie jene Frau durch deinen Erzeuger. CHRISTIAN: Laß die Albernheiten. Es ist himmelschreiend und wird von mir aus ein unerwartetes Gegenspiel haben. Ferner -- ich habe auch mit dir ernst zu reden. SYBIL: Ich muß heim. CHRISTIAN: Der gestrige Tag war in meinem Leben ein Abschnitt. Vier Jahre, die du mit mir lebst, sahst du mich von Tag zu Tag meinem Ziel näher kommen. SYBIL: Du hast wie ein Neger gearbeitet. CHRISTIAN: Die unter meiner Mitwirkung gegründeten afrikanischen Minen prosperieren, es ist kein Zweifel, der gestern in der Sitzung des Aufsichtsrats gemachte Vorschlag, mich zum Generaldirektor der Gesellschaft zu ernennen, wird von den Aktionären akzeptiert. SYBIL: Welcher Erfolg! CHRISTIAN: Ich besitze heimlich ein Fünftel der Aktien, die ich kaufte, als sie niemand mochte. Was ich, nunmehr im Sattel, an Möglichkeiten des Vermögens und sozialer Stellung für mich voraussehe, ist glänzend. SYBIL: Wer wies zuerst auf deine kaufmännischen Talente und machte dem traurigen Studium der Philologie ein Ende? CHRISTIAN: Du hobst mich aus dem tiefsten Elend, lehrtest mich Kleider anständig tragen, gabst mir, soweit es in deiner Macht stand, Umgangsformen. SYBIL: Was warst du für eine Erscheinung in zu kurzen Hosen und ausgefransten Ärmeln! CHRISTIAN: Gabst dich selbst dazu und Geld bisweilen. SYBIL: Das Entscheidende zuletzt -- mich selbst. Lebenssache. CHRISTIAN: Ganz klar möchte ich einmal vor uns beide hinstellen, wie tief ich dir verpflichtet bin; an so entscheidendem Tag zurückblicken ... SYBIL: Laß das. CHRISTIAN: Voll Dankbarkeit, um mich alsdann zu vergleichen und es für immer zu vergessen. SYBIL: Das wäre bequem. CHRISTIAN: Ich trete in kein neues Viertel meines Lebens, ohne daß aus dem vergangenen die Schuld bezahlt ist. In dieses Buch habe ich nach bestem Wissen und Gewissen aufgezeichnet, was du an Aufwendungen für mich geleistet. Dazu wurde die Summe fünfprozentig von mir verzinst. SYBIL: Christian! CHRISTIAN: Möglichkeiten, die du durch den Umgang mit mir versäumtest, sind ins Auge gefaßt, und ich kam auf eine Summe von vierundzwanzigtausend Mark, die ich dir schulde, und die du heute überwiesen erhältst. SYBIL ~nach einer Pause~: Mit Empfindlichkeiten zu kommen ... CHRISTIAN: Die du selbst in entscheidenden Dingen mir aberzogen, mit eisernem Besen aus mir herausgekehrt hast. Heute ist Abrechnung. Kein Fehler in der Addition und im Kalkul! Unsere Beziehungen im Vergangenen sind durch meine wirtschaftliche Gebundenheit in ihrem langen Charakter erklärt. Für die Zukunft hätte ich solche Begründung vor mir selbst nicht mehr. Um den nötigen Glauben an die Wirklichkeit meiner neuen Stellung zu haben, muß sich mit ihr alles um mich entsprechend ändern. Entweder du ziehst diesen Schluß der Vernunft ... SYBIL: Er heißt? CHRISTIAN: Wie sage ich es? Einfach mehr Distanz in Zukunft. Die genannte Summe und eine monatliche Apanage zwischen uns gesetzt, sorgt schon dafür. SYBIL: Ich bin in Empfindungen zerrissen. CHRISTIAN: Du weißt, ich habe nach deinen Lehrsätzen recht. Nur schmerzt es, sie auf dich angewendet zu sehen. Ich trete in das öffentliche Leben. Nirgends ein Fehler im Kalkul. SYBIL: Die Welt gestattet dir zwar eine bezahlte ... CHRISTIAN ~hält ihr den Mund zu~: Und so weiter. SYBIL: Bin ich denn in deinem Leben der einzige Punkt, der für die Zukunft bedenklich war? Gibt es nichts, das dich entscheidender in deinem Trieb, bürgerliches Ansehen zu gewinnen, stören könnte als ich in meiner bisherigen Stellung zu dir? CHRISTIAN: Du weißt es. SYBIL: Willst du folgerichtig handeln ... CHRISTIAN: Ich mache kein Hehl daraus. Was ich selbst bin, Erscheinung und Gedankenwelt, dafür bürge ich der Welt. Aber meine Eltern, dir ist es bekannt, sind Leute aus dem Volk. SYBIL: Tauchst du also jetzt in die Welt auf ... CHRISTIAN: Laß mich meine Gedanken selbständig denken. Du weißt, ich kann's. Leute aus dem Volk. Meine gute Mutter besonders. SYBIL: Sie konnten dir das gesellschaftlich Primitivste nicht beibringen. CHRISTIAN: Der Weg, den ich mache, ist durch meine Geburt ein besonders ungewöhnlicher. Daß es falsch wäre, durch Hervorzerren der Erzeuger den Abgrund zwischen Herkommen und errungener Stellung offenbar zu erhalten, liegt auf der Hand. Es wäre mehr als töricht-geschmacklos. SYBIL: Und da du heute nur den guten Geschmack anbetest ... CHRISTIAN: Ironien auf dem schlechten Gewissen deiner eigenen Vergangenheit wirken nicht. Was weiß irgend jemand von _deinen_ Eltern? Du hast sie einfach unterschlagen, still gemordet. Vielleicht saß dein Vater im Zuchthaus? Hieß er wirklich Hull? ~Er lacht~: Du hättest doch den Reiz, von dem du lebst. Er hatte in jedem Falle Eigenschaften, da der Glanz solcher Tochter von ihm ausging. Du unterbrachst mich mit deiner Zwischenrede. Die Differenz zwischen Herkunft und Heute ist erläutert. Doch kommt noch hinzu: das Bewußtsein, überhaupt zu verdanken, sei es das Leben, ist in meiner Rüstung ein schwacher Punkt. Wie alles in meiner Welt aus mir entstand, wie ich nur auf mich beziehe, für mich hoffe und fürchte, muß ich frei sein von Rücksicht auf jedermann, um zu marschieren. Und so fürchte ich Vater und Mutter. SYBIL: Was willst du tun? Ihnen eine Summe bieten, daß sie fortbleiben? CHRISTIAN: Mein Vater ist nicht schüchtern; hier verlangt er sie selbst. SYBIL: Du hast gelernt mit Geld umgehen. CHRISTIAN: Ich habe allerhand gelernt. SYBIL: Und da du konsequent bist, muß, wer dich liebt, zwar schweren Herzens zustimmen. CHRISTIAN: Die gleiche Einsicht hoffe ich von den Eltern. Wir sind einig? SYBIL: Ich erlebe die Änderung gerade: dich aus einer gewissen Entfernung mit einer Spur von Unterwürfigkeit ansehen. CHRISTIAN: Dinge gewinnen nicht an Wahrheit, wenn man sie ausspricht; wenn man sie tut. SYBIL: Doch an Klarheit. CHRISTIAN: Kluger Kopf. SYBIL: Ich liebe dich, Christian. Du bist der Fehler in der Rechnung meines Lebens. Ich gäbe die vierundzwanzigtausend für deinen Besitz jetzt. CHRISTIAN: So verdienst du in Not und Elend zu sterben. Da nimm einen Kuß umsonst. -- Du hast mir die Krawatte verschoben. SYBIL: Sie saß schon vorher infam. CHRISTIAN: So viel ich von dir lernte, das allein faßte ich nicht: den tadellosen Sitz einer Krawatte. Zeig ihn mir zum hundertsten Male. SYBIL ~bindet die Krawatte um den Hals einer großen Vase~: Zuerst einfaches Schlingen des Knotens. Zweitens Unterlegen des einen Endes als Masche. Durchziehen des anderen drittens. CHRISTIAN: Steht rechts ein Stück vor. SYBIL: Man schneidet's mit der Schere fort. CHRISTIAN: Kostet jedes Binden eine Krawatte. SYBIL: Und bringt ein: die Anerkennung der Verstehenden. CHRISTIAN: Worauf es bei allen Dingen ankommt. SYBIL, ~tiefer Knicks~: Ergebene Dienerin, Herr Generaldirektor. CHRISTIAN: Keinen Scherz. SYBIL: Ich habe vollkommen begriffen. ~Sybil exit.~ ZWEITER AUFTRITT CHRISTIAN: Angenehme Person alles in allem. ~Am Schreibtisch~: Aber nun den Verstand zusammengenommen. ~Er schreibt~: »Verehrter Graf Palen, die Einladung zum 26. d. Monats nehme ich mit ergebenem Danke an.« Ergebener Dank? Wollen sehen. »Empfehlungen an die Komtesse.« Zu familiär. Teils zu ergeben, teils zu vertraut. Vor allem darf er nicht merken, wie gern ich komme. Das Papier ist falsch. Besser Bogen mit Firmenkopf: Sekretariat der Monambominen. »Sehr verehrter Graf von Palen«. Wie das eingeschobene »_von_« distanziert! Die Sache muß als erste schriftliche Äußerung meinerseits in diesen Kreis hinein tadellos korrekt und doch irgendwie bedeutend sein. Wie schreibt er selbst? »Lieber Herr Maske, wollen Sie am 26. mit uns zu Abend essen, tout en petit comité? Der Ihre.« Auf schlichtem billigen Papier. Das hat den Ton freundschaftlich oberflächlicher Vertrautheit. »_Abendessen_« ist himmlisch! Bleiben wir um einen Grad förmlicher, aber so, daß immerhin -- ich möchte eine lateinische Vokabel einstreuen, die den Tenor männlich macht. Wie wird man mit vier fünf Silben solchen Gehirnen einen Augenblick wichtig? Das ist eine Preisfrage, aber sie muß gelöst werden. Einen Fünfsilber mit viel Vokalen und rollendem Takt für den Anfang. ~Er geht durch das Zimmer~: Dúm da da dúm da. Únaufgefórdert. Die zweite Silbe ist für mein Ohr länger als die erste. Falscher Takt. -- Pränumerándo -- das ist's im Ton, gibt aber natürlich keinen Sinn. Dúm da da dúm da. Ich muß es finden. DRITTER AUFTRITT THEOBALD MASKE ~tritt auf~: Da bin ich selbst. Mutter wartet unten. CHRISTIAN: Vater! THEOBALD: Das Malheur geschah gegen meinen Willen. Mir sind Knalleffekte zuwider. Aber bei Frauenzimmern stets das gleiche Unmaß. Jetzt soll man der Sache ins Auge sehen. CHRISTIAN: Seit deiner Pensionierung gibst du jedes Jahr eine Überraschung. THEOBALD: Ich hätte aus meinem Geleise nicht heraus sollen. Du hast mich zu früh zum Nichtstun gebracht. Die Kräfte sind nicht lahm und gehen nach allen Seiten in die Mannigfaltigkeit auseinander. Ich muß mit ihr erst einen Modus finden. CHRISTIAN: Ich rufe vor allem Mutter herauf. THEOBALD: Wir haben erst unsere Angelegenheit. CHRISTIAN: Die ordnen wir mit allem andern, ohne daß sonst jemand versteht. THEOBALD: Wie? CHRISTIAN: In unseren Gesprächen wird eine Summe genannt werden. THEOBALD: Inwiefern? Was gibt's? CHRISTIAN: Eine Summe sage ich, ein vielfacher Tausender. Du darfst, werden wir beide während der Auseinandersetzung sonst einig, stillschweigend tausend Mark für deine Verlegenheit hinzurechnen. THEOBALD: Du hast Bedingungen? CHRISTIAN: Ich stelle Bedingungen. THEOBALD: Da bin ich neugierig. CHRISTIAN ~am Fenster~: Dort steht sie. ~Er winkt~: Sie hat gesehen, kommt. -- Aber das unmögliche Kostüm! Du sagtest vorhin zu Anfang ein Wort, das mir auffiel. THEOBALD: In welchem Zusammenhang? CHRISTIAN: Es hatte einen anderen Rhythmus; aber es schallte doch. Erinnere mich später, gleich ... THEOBALD: Tausend Mark? CHRISTIAN: Wenn wir sonst ins reine kommen. ~Exit.~ THEOBALD: Da bleibe ich gespannt. VIERTER AUFTRITT ~Christian und Luise Maske treten auf.~ THEOBALD: Setz deinen Hut gerade, Luise. Der steht dir in die Stirn wie ein Studentenstürmer. Wir wollen hierher in die Großstadt ziehen, ich werde mich mit ihr in irgendeiner Beziehung einlassen und mich inwendig lebendig erhalten. LUISE: Es ist so eine Idee von Vater. CHRISTIAN: Zu einer Zeit, da meine angestrengte Aufmerksamkeit dem Ziel gilt, das ich vorhabe, könnte ich für euch keinen freien Augenblick aufbringen. LUISE: Dann freilich -- ich dachte es schon. THEOBALD: Wir sind letzthin gewöhnt, du kümmerst dich wenig um uns. Was ist das für ein Ziel? CHRISTIAN: Ich habe Aussicht, Generaldirektor der Gesellschaft zu werden, für die ich arbeite. LUISE: General! THEOBALD ~herrscht sie an~: Direktor! CHRISTIAN: Soll ich es zu Außergewöhnlichem bringen, müßt ihr Rücksicht nehmen, und diese Rücksicht fordert vor allem ... THEOBALD: Erlaube ... Wir haben uns zwanzig Jahre lang krumm gelegt, gaben dir eine Bildung, die sich sehen lassen kann. Oft unterblieb ein Sonntagsbraten. Denn wir liebten dich affenartig. LUISE ~leise zu sich~: Generaldirektor. CHRISTIAN: Dúm da da ... THEOBALD: Wir duckten uns, damit du in bessere Welt kommen konntest. Darüber sind wir zu Jahren gekommen, und heute steht es so: wollen wir noch etwas von dir haben, müssen wir uns beeilen. CHRISTIAN: Ich will sofort einen groben Irrtum beseitigen: seit meinem sechzehnten Jahr ist mir kein einziges Opfer deinerseits für mich bekannt. THEOBALD: Das ist stark! LUISE: Vater! CHRISTIAN: Ich habe dich von jeher in der Erinnerung, wie du im Haus vierfünftel des Platzes einnahmst, jeder Gedanke um dich kreiste. Schon auf dem Gymnasium erhielt ich mich durch Stundengeben, mein Studium und ferneres Leben bezahlte ich selbst. Wer einen siebzehnjährigen Sohn zwang, das Mittagsmahl in Gegenwart des Vaters stehend einzunehmen ... THEOBALD: Affenartig liebte ich dich. Du warst ein leckerer kleiner Kerl. Ist's wahr, Mutter? LUISE ~zeigt~: So klein. CHRISTIAN: Du hast, stets mit dir selbst beschäftigt, mein Leben bis zum heutigen Tag nicht angeschaut. In letzter Zeit mag dir eine sehr deutlich ins Auge springende Veränderung, meine breitere Lebensführung aufgefallen sein. THEOBALD: Das ist langweilig. Kurz -- was soll sein? CHRISTIAN: Ihr trefft mich an einem Tag, an dem ich vergangenes Leben bilanziere. Da nehme ich keinen falschen Posten auf. LUISE: Was meint er? THEOBALD: Wirst du schon hören. CHRISTIAN: Was an Aufwendungen wirklich für mich geleistet ist, habe ich nach bestem Erinnern in dieses Buch aufgezeichnet. Dazu wurde die Summe mit fünf vom Hundert verzinst. THEOBALD: Du willst eine Abrechnung? CHRISTIAN: Ja. THEOBALD ~setzt sich~: Laß sehen. ~Er setzt eine Brille auf.~ LUISE: Was meinst du? CHRISTIAN: Es kommt schon, Mutter. THEOBALD ~liest~: Unterhalt vom ersten bis zum sechzehnten Jahr -- pro Anno sechshundert Mark. Sechshundert Mark einschließlich Doktor und Apotheker ist etwas mager. CHRISTIAN: Ich war nicht krank. THEOBALD: Masern und Stockschnupfen fallen mir aus dem Kopf ein. Ich sehe deine ewige Rotznase vor mir. Wir wandten Kamillenspülungen an. LUISE: Eines Morgens hattest du vierzig Grad Fieber, ich fühlte mein Herz nicht mehr. CHRISTIAN: Die eingesetzte Summe reicht aus. LUISE: Kreisrunde rote Flecken auf dem ganzen Leibchen. THEOBALD: Sechzehnmal sechshundert ist neuntausendsechshundert Mark. Sieh mal an. »An einmaligen Zuwendungen.« Wie willst du dich sämtlicher Zuwendungen durch sechzehn Jahre erinnern? Die sind Legion. Der Posten ist von vornherein dubios. CHRISTIAN: Du findest von meiner Seite euch besonders in der letzten Zeit Gegebenes nicht gegenvermerkt. THEOBALD: Das wäre noch schöner. CHRISTIAN ~zu sich~: Ich gäbe etwas für das Wort. ~Er starrt in den Brief auf dem Schreibtisch.~ LUISE ~schüchtern zu ihm~: Und einmal das Geschwür am Hals. CHRISTIAN: Richtig, Mütterchen. THEOBALD: Ein halbes Dutzend Hemden von Hemdentuch nebst Kragen, zwei Paar Stiefel, als ich zur Universität ging -- fünfzig Mark. Ein goldener Ring -- da hört sich alles auf! Hat die Frau dem Burschen doch den Ring gesteckt. Und ich kehrte damals das Unterste zu oberst, ihn wiederzufinden. CHRISTIAN: Er war Mutters Eigentum und ihr Geleit ins Leben. THEOBALD: Mit hundert Mark ist er bezahlt. LUISE: Trägst du ihn noch? CHRISTIAN ~zeigt ihn am Finger~: Obwohl er mir täglich enger wird. THEOBALD: Immerhin eine tolle Angelegenheit und echt Luise. Endsumme rund elftausend. Samt Zinsen elftausendachthundert Mark. CHRISTIAN ~mit Betonung~: Elftausendachthundert. ~Räuspert sich.~ THEOBALD: Verstehe; die du mir zahlen willst? CHRISTIAN: Die ich dir schulde. THEOBALD: Du willst dich dieser Schuld entledigen? CHRISTIAN: Ich werde bezahlen. LUISE ~seine Hand in Händen~: Man kann ihn weiter machen. THEOBALD: Sieh einmal an! Das nenne ich nobel, mein lieber guter Junge. Apart, wie du die Geschichte behandelst. ~Er umarmt ihn~: Es liegt etwas Forsches darin, und wir wissen das durchaus zu würdigen. Man wäre also auf die vollkommenste Weise einig. CHRISTIAN: Du sprachst die Absicht aus, deinen Wohnsitz hierher zu verlegen. Das will ich nicht. THEOBALD: Machst du mir Vorschriften? CHRISTIAN: Ich erweise dir mit der Auszahlung des Geldes eine Gefälligkeit und erwarte eine andere von dir. THEOBALD: Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt. LUISE: Der Junge muß doch Gründe haben. THEOBALD: Das Weib bringt mich um den Verstand! Es ist in ihrer Gegenwart kein vernünftiges Wort möglich. CHRISTIAN ~geleitet Luise zur Tür~: Willst du dir ansehen, wie ich sonst wohne und schlafe, Mutter? LUISE ~leise~: Bleib nur ruhig. Es geschieht alles, wie du willst. ~Exit.~ CHRISTIAN: Euer Hiersein würde, wie gesagt, Kräfte brechen, die ich insgesamt brauche. THEOBALD: Ist es die Bedingung für die elftausendachthundert und so weiter? CHRISTIAN: Voraussetzung. THEOBALD: Da heißt es einfach überlegen: wo liegt schließlich unser Vorteil? Denn Affenliebe einmal beiseite, man muß in gesicherten Bezirken leben. Was wirft die Summe für eine Rente? CHRISTIAN: Sechshundert Mark in Industriepapieren. THEOBALD: Bist du von Gott verlassen! Mein Geld bekommt die Sparkasse. CHRISTIAN: Rund fünfhundert. THEOBALD: Das ist nicht üppig. Elftausend läßt sich an. Fünfhundert ist für die Katze, und dafür soll ich meine Freizügigkeit hergeben, das einzige Gut des bescheidenen Mannes? Darüber mußt du mal ruhig nachdenken, Gründe und Gegengründe erwägen. Nein -- verspräche ich dir wirklich auf Manneswort, wir bleiben, wo wir sind ... CHRISTIAN: Das will ich nicht. THEOBALD: Das willst du nicht; dies nicht und jenes nicht? Um alles in der Welt, was soll denn hier vor sich gehen? CHRISTIAN: Dein heutiger Überfall beweist, ich wäre auch in Zukunft vor euren Besuchen nicht sicher. THEOBALD: Überfall -- das ist ja! CHRISTIAN: In dem erörterten Sinne gemeint. Mein Leben steht vor einer vollkommenen Wendung. Ich muß, für die nächste Zeit vor allem, von verwandtschaftlichen Rücksichten frei sein. THEOBALD: Das ist in der Weltgeschichte beispiellos! Und wir, die sich deinetwegen die Butter vom Brot sparten, Opfer auf Opfer häuften trotz deiner Einrede? Sind denn Eltern ohne Opfer denkbar? Bedeutet nicht jeder Atemzug einer so kleinen Range Schmälerung irgendeines Genusses der Alten? Stört sie nicht im Schlaf, am Mittagstisch, in jeder Bequemlichkeit? Hat sie doch immer einen Defekt, den man mit Ärger und Kosten ausbessern muß. Bald bläst sie vorn, bald hinten nicht. Dazu eine Reihe alberner Feste, um die man sich inkommodiert. ~Zu Christian, der schweigend in einem Lehnstuhl sitzt, laut~: Schöne Kindesliebe das! ~Schlägt mit geballter Faust auf einen Tisch~: Schöne Kindesliebe! LUISE ~steckt den Kopf durch die Tür und macht, von Theobald ungesehen, Christian beruhigende Zeichen~: Ich sorge schon. THEOBALD: Wie? ~Da Christian still bleibt, wirft er sich entfernt von ihm in einen Stuhl und sagt ruhig~: Hätte ich das gewußt, im ersten Bade wärest du ersäuft. ~Pause.~ THEOBALD: Und sind doch mehr als hundert Kilometer von dir entfernt. Das ist die vielgerühmte Kindesliebe. Ja, ja. ~Er lacht auf~: Ha! Und praktisch? Wie denkst du dir denn praktisch die Angelegenheit? Kommen wir auch in den gewohnten Verhältnissen mit meiner Pension und den fünfhundert zur Not aus, kein Mensch wird uns zumuten, die Unbequemlichkeiten der Übersiedlung, Schwierigkeiten neuer Wohnsitzgründung ohne ein Äquivalent auf uns zu nehmen. CHRISTIAN: Das wird kein Mensch euch zumuten. THEOBALD: Ohne ein bedeutendes Äquivalent. Wer will es leisten? CHRISTIAN: Unter Umständen ich. THEOBALD: Sieh mal an. CHRISTIAN: Wir haben eine ganze Reihe durch landschaftliche Reize und ökonomische Vorteile ausgezeichneter Städte auch in Europa, ziehst du nicht von vornherein Amerika vor. THEOBALD: Was?! CHRISTIAN: Gut, gut. ~Er hat einen großen Atlas und einen Baedeker zur Hand genommen~: Es käme zum Beispiel Brüssel in Frage. ~Liest aus dem Buche~: Brüssel, des Königreichs Belgien Hauptstadt, mit achthunderttausend Einwohnern. Die Stadt liegt in fruchtbarer Gegend an den Ufern der Senne, eines Nebenflusses der Schelde. Die Oberstadt mit den Staatsgebäuden ist Sitz der Aristokratie und der vornehmen Gesellschaft. THEOBALD, ~der bequem sitzt und andächtig zuhört~: Nicht übel, zeig das Buch. ~Er liest vor~: »Und der vornehmen Gesellschaft. Sprache und Sitte französisch.« Und du glaubst, ein Deutscher von Schrot und Korn läßt sich dazu herbei, welsche Sitten anzunehmen? Basta! CHRISTIAN: Wohin ich in allererster Linie dachte, ist Zürich. Ein völlig idealer Aufenthalt, ein kleines Paradies in jeder Hinsicht. Und die Sprache ist Deutsch. THEOBALD: Laß etwas davon hören. CHRISTIAN ~liest aus einem anderen Bande vor~: Mit annähernd zweihunderttausend Einwohnern ist Zürich die bedeutendste Stadt der Schweiz am Züricher See und der immergrünen Limmat. THEOBALD: Immergrün sagt man sonst vom Tannenbaum. CHRISTIAN: An der Westseite fließet die im Frühjahr reißende Sihl. THEOBALD: Die ist schon überflüssig, Wasser wär's genug. Bedauerlich, daß ich nicht schwimmen kann. Christian ~liest~: Die Lage der Stadt ist herrlich an dem kristallklaren See, dessen sanft ansteigende Ufer mit hohen Häusern, Obst- und Weingärten besät sind. THEOBALD: Niedlich. CHRISTIAN ~liest~: Im Hintergrund die schneebedeckten Alpen, ganz links grüßt der gewaltige Rücken des Glärnisch. ~Er zeigt im Atlas~: Hier das Weiße! THEOBALD: Teufel! CHRISTIAN ~liest~: Die Küche ist gut. Die Bevölkerung derb und bieder. THEOBALD: Sozusagen. CHRISTIAN: Dazu Ausflüge in die hinreißende Umgebung. THEOBALD: Das reine Kanaan. CHRISTIAN: Luzern und Interlaken, ja das gesamte Alpenland wird dir unmittelbar erreichbar, gewissermaßen Eigentum. Ahnst du, was ein Alpenglühen bedeutet? THEOBALD: Was denn weiter? CHRISTIAN: Ein Naturschauspiel von fulminanter Großartigkeit, ein Nonpareille. In Zürich könnte ich mit der Bedingung, ihr überlaßt mich die nächsten Jahre durchaus mir selbst, deine Bezüge zu einer ausreichenden Rente aufrunden. THEOBALD ~nach einer Pause~: Ich habe rein menschliche Bedenken. CHRISTIAN: Unterlaß alle Anmerkungen. THEOBALD: Man soll sich aussprechen. CHRISTIAN: Das Leben eines Menschen meiner Art setzt sich aus Fakten zusammen. Mit Gesprächen hältst du mich auf. Hinter diesem wartet ein anderes Wichtiges. THEOBALD: Sechzig Jahre bin ich heute, deine Mutter fast ebenso alt. Wir haben im Leben nicht viel Gutes gehabt, bleiben auch nicht mehr lange in dieser Welt mit dir beisammen. CHRISTIAN: Spürst du nicht, dieser Ton ist machtvolleren Dingen gegenüber eindruckslos? Kommt schon die Stunde, wo wir, einzelnes erläuternd, bequem davon reden können. Jetzt gehts Schlag um Schlag. Zweitausendvierhundert Franken kommen von mir aus jährlich zu deinen Einkünften. In drei Wochen seid ihr übersiedelt. Hurtig, Vater, mir brennt's in den Eingeweiden. Der Kampf um die sichtbare Stelle im Leben ist gewaltig, der Menschen unzählige. Wo ich einen Fußbreit auslasse, drängt eine Legion den Schritt ein. THEOBALD: Ich bin ganz paff. Habe nie so eine Kreatur gesehen. Wie soll ich über all diese Novitäten ins reine kommen, wann einsehen, wo für mich der höhere Sinn darin sich zeigt? CHRISTIAN: Hier, jetzt. Fünf Minuten gebe ich dir. THEOBALD: So folge ich dir unentschieden und werde wie ein Begossener und Halbertrunkener sein. CHRISTIAN: Vertraue! THEOBALD: Wo soll für mich der höhere Sinn stecken? CHRISTIAN: Später. Abgemacht, Vater? THEOBALD: Donner und Doria! Meine ganze Welt ist durcheinander. CHRISTIAN: Zweitausendvierhundert, das ist neunzehnhundert Mark. THEOBALD: Und fünfhundert -- macht mit dem Meinen annähernd fünftausendsechshundert. CHRISTIAN: Siebentausend Franken. ~An der Tür~: Mutter! THEOBALD: An der Limmat? Ich bin starr. CHRISTIAN ~reicht ihm Atlas und Reisebücher~: Informiere dich. LUISE ~tritt auf, leise zu Christian~: Ich sorge schon, daß alles geschieht. Dies Tuch auf deinem Nachttisch, solche Wäsche, Spitze und Batist -- ach Christel, sei vorsichtig mit den Frauen. Verführung zum Genuß, ich weiß, jedem kommt es einmal. Aber hat man dann Kinder, und wird Generaldirektor und kann stolz vor Gott sagen: meine Mutter war makellos! THEOBALD ~fassungslos~: Unter Tirolern! LUISE: Das ist auch etwas. Ein herrlicher Lohn. CHRISTIAN: Gewiß, Mutter. ~Umarmt sie.~ LUISE ~im Hinausgehen~: Mein Christel. ~Luise, Theobald, Christian exeunt.~ FÜNFTER AUFTRITT CHRISTIAN ~kommt schnell zurück~: Einmal hatte ich das Wort beinahe. ~Er sieht in den Brief~: Er sagte es im Zusammenhang mit seiner zu frühen Pensionierung, und daß jetzt seine Kräfte schweiften -- wohin -- wohin? In -- Mannigfaltigkeit! Das ist es! ~Er schreibt~: »Mannigfaltigkeit der Geschäfte, verehrter Graf Palen, verhindert mich leider, Ihre liebenswürdige Einladung anzunehmen.« So ist es eine Absage geworden, doch wer weiß, wozu sie gut ist. ~Es hat geläutet. Exit.~ SECHSTER AUFTRITT ~Christian und Graf Palen treten gleich darauf auf.~ GRAF: Ich komme, die angeschnittene Frage Ihrer Ernennung persönlich noch einmal mit Ihnen durchzusprechen. Der Aufsichtsrat muß, ehe er sie den Aktionären gültig anbietet, bis ins letzte wissen, wessen sich die Gesellschaft von Ihnen zu versehen hat. Als Feind geschäftlicher Auseinandersetzungen bat ich Baron Rohrschach, den Besuch zu übernehmen, doch fand man es schicklicher, ich ordne die Sache, da meine Beziehungen zu Ihnen vertrautere sind. CHRISTIAN: Danke, Graf. GRAF: Die Monambominen sind die Unternehmung einer kleinen Gruppe von Menschen, die denselben Überzeugungen leben. Haben nun auch Geschäfte und gesellschaftliche Anschauung nicht ohne weiteres einen Zusammenhang, ist doch einzusehen, man will einen Mann an der Spitze seiner Geschäfte, der der ganzen Lebensauffassung nach zu uns gehört. ~Christian verbeugt sich.~ GRAF: Wir glauben nun, in Ihnen den gefunden zu haben, der mit Tüchtigkeit die noch seltenere Gabe vereinigt, ein Empfinden für die durch Kult errungenen Werte des feineren Geschmacks zu besitzen, das insbesondere da am Platz ist, wo die brutale Wahrheit der Zahlen ein bedeutendes Gegengewicht fordert. ~Christian verbeugt sich.~ GRAF: Sie haben sich mir gegenüber des öfteren in Fragen des Lebens in einem Sinne geäußert, der durchaus mit der Meinung unserer Kreise übereinstimmt, an Schärfe dieselbe fast übertrifft. Ich würde mit dem Wortschatz der liberalen Partei ihn als aristokratisch reaktionär bezeichnen, ~er lacht.~ und zwar, was mich am stärksten berührte, die Eindringlichkeit Ihres Vortrages schien auf Herzenssache zu deuten. Bitte? CHRISTIAN: Es ist so. GRAF: Merkwürdig. Gibt zu Überlegungen Anlaß. Ich bin durchdrungen. Sie stammen aus einem ausgezeichneten Haus. Ihre Erziehung ist vollendet sogar in dem Sinne, daß Sie erkannten, auf der Basis gewisser selbstverständlicher Besonderheiten, die wir errangen, ist das unauffällig Uniforme das Korrekte. Man sieht's an Gesten, aber auch am Sitz einer Krawatte. Kurz und gut, was uns noch fehlt, ist irgendeine von Ihnen gegebene Versicherung, die Niederlegung in einen verpflichtenden Satz, den wir den Beteiligten als Ihr Bekenntnis vorstellen können. CHRISTIAN: Ich verstehe. GRAF: Bei einem Rohrschach bedeutet das Prädikat »Baron« gar nichts anderes als diesen Satz, vorausgesetzt, der Mann ist kein Deklassierter. Gewisse Garantien nach gewissen Richtungen. Bei Bürgerlichen können markante Taten von Vorfahren bedingungsweise Gewähr leisten. CHRISTIAN: Wovon in meinem Fall keine Rede ist. GRAF: Welches Urteil durchaus keinen Tadel einschließt. Auch in zu hohem bürgerlichen Ansehen gelangten Familien begnügt man sich mit diesem alle Mitglieder einschließenden Gut. Es reicht hin, Sie finden aus der in Ihnen von Voreltern aufgespeicherten gesellschaftlichen Überlegenheit das packende Wort. Ich habe nicht das Vergnügen, Ihren Herrn Vater, Ihre Eltern, kurz ... CHRISTIAN: Tot. Alles tot. GRAF: Und mit Genugtuung darf ich sagen, Sie genügen mir als Repräsentant. Ich sehe Sie ergriffen? CHRISTIAN: Ich bin's, Graf, in dem Augenblick, da ich aussprechen darf, was mein Herz seit der Jugend bewegt, da ich es sagen soll: nie habe ich eine andere Sehnsucht gehabt, als zu sein wie jene, die auch äußerlich sichtbar in einem Adelsdiplom den Adel der Taten ihrer Ahnen tragen, an ihrer Seite, von ihnen als Helfer angenommen, die Grundsätze zur Geltung bringen zu dürfen, deren geschichtliche Vertreter sie sind. Es steht mir nicht zu, aufzuzählen, welche Opfer ich diesem Ziele schon gebracht, doch bin ich bereit, Ihnen in die Hand zu schwören, mein irdisches Leben ist ihm einzig geweiht. GRAF: Sie sind ein prächtiger Kerl, aus einem Guß. In diesem Augenblick haben Sie mich überzeugt. Ich danke. Glaube für Ihre Ernennung bürgen zu können. Darf ich rauchen? Meiner Einladung zum Freitag werden Sie folgen? CHRISTIAN: Das heißt ... GRAF: Wie denn? CHRISTIAN: Also dann -- trotz der _Mannigfaltigkeit_ meiner Geschäfte. GRAF: Glaub's, daß Sie arbeiten. In meiner Tochter Marianne finden Sie einen Menschen, der an einem Charakter wie dem Ihren Gefallen hat. CHRISTIAN: Von den bedeutenden Gaben der Komtesse hörte ich mehrfach sprechen. GRAF: Enchanté, lieber Maske. CHRISTIAN: Nehmen Sie meinen Dank, Herr Graf. GRAF: Herr Graf? Also auch Sinn für die Nuance. CHRISTIAN: Auf dem Boden der Voraussetzung sonstiger Uniformität. GRAF: Geistreich und sehr charmant, lieber Freund. ~Exit.~ CHRISTIAN, ~der ihn bis zur Tür begleitet, kehrt zurück, sieht flüchtig in den Spiegel und beginnt dann, an einer Vase eine Krawatte zu binden~: Erstens einfacher Knoten. Unterlegen des einen Endes als Masche. Durchziehn des anderen. Und nun die Schere. ~Er schneidet~: Was dich ärgert -- dein linkes Auge, wirf es von dir. Diese Krawatte sitzt tadellos. Das ist erreicht! DER ZWEITE AUFZUG ~Salon bei Christian Maske.~ ERSTER AUFTRITT GRAF: Er muß nach Worten des Dieners sofort zurück sein. MARIANNE: Wir kamen zehn Minuten vor der festgesetzten Zeit. -- Da ist der Corot. GRAF: Der den Vorwand für unseren Besuch gibt. MARIANNE: Ein schönes Bild. Glück, mit solchen Dingen leben zu dürfen. GRAF: Es kann dir werden. MARIANNE: Als seine Frau? Ist es dein Ernst, Vater? GRAF: Ernst, Marianne. Beschäftigt uns beide nicht seit Wochen der Gedanke, ohne daß wir ihn erörtern? Des Mannes Auftreten ward letzthin so dringend ... MARIANNE: Liebt er mich? GRAF: Wollen wir nicht anders fragen? Nähmst du ihn auch, besäße er seine Reichtümer nicht, die uns aus einer Reihe schwieriger Umstände retten? MARIANNE: Auf diese Frage kann ich nicht antworten. Als du ihn die ersten Male brachtest, wußte ich kaum, wer er war; nichts von seiner Situation. Mein Gefühl entschied frei. Ich empfinde, wie jedes Ding, auf das er seinen Willen wirft, sich mit dem Glück, aus dem heraus man sich einer Naturkraft beugt, schließlich hingeben muß. GRAF: Tiens! MARIANNE: Ja, Väterchen, hier liegt Entscheidung für Marianne. GRAF: Ich hatte vorausgesetzt, du würdest Widerstände in dir zu besiegen haben. MARIANNE: Sie sind noch sämtlich unbesiegt. Wir kamen uns nicht nahe, unser Gespräch verließ die Konvention niemals, doch fühlte ich, trat er zu mir, und meine Person richtete sich angegriffen hoch, wie er, just er, mich völlig niederwerfen konnte. GRAF: Mich juckt's mit ihm. MARIANNE: Warum? Ist dir ein Zug von ihm bekannt, der nicht korrekt war? GRAF: Nein. MARIANNE: Lebt er nach unseren Gesetzen? GRAF: Durchaus. Doch gerade dagegen sträubt sich letzten Endes mein Sinn. Ich beobachte ihn seit zwei Jahren, und was mich anfangs rührte, entsetzt mich jetzt beinahe. Folgt wirklich dieser Bürgerliche seiner Natur, lebt er unser Leben, wodurch unterscheiden wir uns von ihm? Du weißt, ich halte Adel für ein Produkt der Züchtung im Hinblick auf Werte, die ihr Wesen in der Zeit haben, also nicht in einer Generation zu erringen sind. Wie der Herzog von Devonshire, von einem Heraufkömmling um die Pracht der Rasenflächen in seinen Gärten beneidet, und wegen der Pflege um Rat gefragt, zur Antwort gab, man müsse, um solche zu erhalten, nichts tun, als den Rasen früh morgens ein paar Jahrhunderte lang tüchtig bürsten. Voilà. Ich habe in meinem Leben Sonderliches zustande zu bringen nie versucht, war nur ein Adliger mit dem Bewußtsein angeborener Besonderheiten. Offenbart dieser Mann, es bedarf keiner Vorfahren, um gewisse unschätzbare Güter zu besitzen, bin ich in meiner Bedeutung vor mir selbst geleugnet. MARIANNE: Kann von einem außerordentlichen Verstand die Summe des uns Eigentümlichen nicht erfaßt, mit Eindringlichkeit der Arbeit an sich selbst langsame Veredelung durch Generationen nicht eingeholt werden? GRAF: Besitz, welcher Art er auch sei, wird ersessen. Fehlt ihm dieses Merkmal, ist er erborgt, und es kommt der Augenblick, wo ungünstige Beleuchtung, irgendein Mißgeschick, die Vorspiegelung aufdeckt. Den Moment erwarte ich bei diesem Manne. MARIANNE: Mithin stehst auch du in sein Leben verstrickt. GRAF: Doch nicht, um mich von ihm besiegen zu lassen, sondern um an ihm die klaffende Wunde zu entdecken, die ihn hinwirft. Ja, selbst um sie ihm bei Gelegenheit beizubringen. MARIANNE: So könnte es das Schicksal fügen, ich stünde gegen dich. GRAF: Das verhüte Gott! MARIANNE: Verhüte du's. Von diesem Manne empfange ich die erste volle Empfindung meines Lebens. Noch schwärmt sie ungeklärt, und mit Glück ist Abwehr gemischt. Ein seliges Geheimnis, das sich natürlich entdecken, doch nicht führen lassen will. GRAF: Entlarvt er sich aber vor unseren Augen selbst? MARIANNE: Er wird uns im Gegenteil immer undurchdringlicher und überraschender kommen. Die wenigen Zeichen, die ich von seiner Person habe, geben mir Gewißheit, er ist außerordentlich und steht über unserer Voraussicht. GRAF: Marianne! MARIANNE: So glaube, so fühle ich, Vater. Aber was auch kommen mag, du hast mich eine herrliche Jugend leben lassen. Fünfundzwanzig glückliche Jahre habe ich durch deine Güte gehabt. GRAF: Ich war zu nachgiebig. MARIANNE: Und wirst es ferner sein. GRAF: Nur bis an die Grenze des Möglichen. MARIANNE ~eindringlich~: Liebe steckt die Grenzen weit. ZWEITER AUFTRITT CHRISTIAN ~im Reitanzug tritt schnell auf~: Gnädigste Komtesse. Graf. Wenigstens kann ich zu meiner Entschuldigung sagen, der Kolonialminister hielt mich auf, wollte meinen Rat. GRAF: Er ist des Lobes voll von Ihnen, will Sie nächstens unserer allergnädigsten Majestät präsentieren. CHRISTIAN: Zur Entscheidung seiner Frage hätte es Genies bedurft, das ich nicht besitze. Die ungeheuere Verantwortung bricht in Dingen, die das Wohl des Staates angehen, die Kraft jeder Meinung, die ihr Bewußtsein nicht in Gott hat. GRAF: Magnifique! Was ritten Sie heute? CHRISTIAN: Einen Chamantsproß aus der Miß Gorse. -- Gefällt Ihnen das Bild, Komtesse? MARIANNE: Ich habe in solchen Dingen nicht Urteil genug. Doch ergreift es mich. CHRISTIAN: Es ist kein Meisterwerk Corots; Valeurs und Tonalität aber eigenartig. GRAF: Können Sie so etwas bestimmen? CHRISTIAN: In meinem Leben sah ich zwei- bis dreihundert Bilder des Malers. GRAF: Wo nehmen Sie die Zeit her? CHRISTIAN: Ich nehme sie kaum. Nicht viel mehr als ein Blitz kam von der ersten Leinwand zu mir. Doch zündete sie, und ich war für den Rest lebendig. ~Zu Marianne~: So geht es mit allen Dingen. GRAF: Wir müssen fort. ~Zu Marianne~: Für ein halb zwölf hast du dich zu Friesens angesagt. CHRISTIAN ~zum Grafen~: Begleiten Sie die Komtesse oder darf ich Sie um ein paar Minuten bitten? GRAF ~zu Marianne~: Brauchst du mich? MARIANNE: Bleib. CHRISTIAN ~zu Marianne~: Ich bringe Sie zum Wagen. ~Marianne und Christian exeunt.~ DRITTER AUFTRITT ~Graf nimmt von einem Tisch ein Buch~: Gothaer Almanach. Gräfliches Taschenbuch. Er hat sich unterrichtet. ~Er blättert und liest~: Palen. Westfälischer Uradel, der mit Rütger Palen 1220 urkundlich zuerst erscheint. Augustus Aloysius mit Elisabeth Gräfin von Fürstenbusch, gestorben auf Ernegg sechzehnten Juli 1901. Meine gute Lisbeth. Kinder: Friedrich Mathias, unseres Geschlechtes letzter Sproß, und Marianne Josefa, die nun einen Herrn Maske heiratet. VIERTER AUFTRITT CHRISTIAN ~tritt auf~: Die Komtesse hofft vorbeifahrend Sie gegen zwölf Uhr hier abholen zu können. Graf Augustus von Palen, ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter Marianne. GRAF: Da Sie den Antrag so bündig stellen, haben Sie ihn nach jeder Richtung hin reiflich erwogen. CHRISTIAN: So reiflich, Graf, wie Sie mit Ihrer Tochter die Antwort. GRAF: Nicht doch. Ich kenne die Entscheidung der Komtesse nicht unbedingt. CHRISTIAN: Wie lautet sie bedingt? Verzeihung, erst Ihre eigene Meinung. GRAF: Ich selbst bin gegen die Verbindung. Doch wird meine Ansicht nur gehört und bleibt ohne entscheidenden Einfluß. Haben Sie mit meiner Zustimmung gerechnet? CHRISTIAN: Ich fühlte Ihre starken Widerstände. GRAF: Sie bewundernd, mußte ich mich doch fortgesetzt stärker zu Ihnen distanzieren. Die Komtesse dagegen scheint, der Wahrheit die Ehre, einigermaßen von Ihnen emballiert. CHRISTIAN: Soll ich meine äußeren Umstände näher auseinandersetzen? GRAF: Ich kenne Ihre Laufbahn aus eigener Anschauung, alle überraschenden Erfolge finanzieller und gesellschaftlicher Art. Von Ihrer großen Zukunft bin ich felsenfest überzeugt. CHRISTIAN: Gab mein Charakter Grund zu Bedenken? GRAF: Er gab keine Angriffsfläche. CHRISTIAN: Darf ich fragen? GRAF: Ganz offen: Standesvorurteile. CHRISTIAN: Danke. Das muß sein. Eben diese innerliche Abgeschlossenheit ist eine Eigenschaft Ihrer Kreise, die ich verehre. Nur gegen meine Person gerichtet, hätte es mich stärker berührt. GRAF: Aber Sie können nicht Verehrer eines Prinzips und zugleich Angreifer desselben sein. CHRISTIAN: Ich liebe Ihre Tochter. GRAF: Sie heirateten sie auch, wäre sie nicht Gräfin Palen? CHRISTIAN: Das weiß ich nicht; sie ist als Reiz unteilbar. GRAF: Mit der Voraussetzung, die Komtesse nähme Ihren Antrag an. CHRISTIAN ~macht eine unwillkürliche Bewegung, die seine Erschütterung verrät~. GRAF: Bis eben meinte ich, Sie zu kennen. Jetzt, da die Möglichkeit auftaucht, Sie uns näher attachiert zu finden, sehe ich, wie fremd Sie noch blieben. CHRISTIAN: Man hat unsereinem gegenüber nicht die Mittel, sich aus einem Buch über den Stall, aus dem er kommt, zu belehren. Tappt gegen eine dunkle Sache. GRAF: Wirklich läßt, mit geringen Ausnahmen, der bürgerliche Name seinen Träger anonym. Unaufgezeichnet ist er ungemerkt und in seinen Handlungen unbeaufsichtigt. Wir, die in dieses Buch verzeichnet sind, handeln unter den Augen unserer Sippen das Leben ab, und der Verzicht auf die Wollüste eines freien Lebens in namenloser Masse gibt uns ein Recht, unsere Verdienste bemerkt und belohnt zu sehen. CHRISTIAN: Ohne Frage. Doch müßte dem Mann, der den nicht zu beugenden Willen hat, die Konsequenzen solcher Anschauungen zu tragen, der Eintritt in die Gemeinschaft frei sein. GRAF: Unbeugsamkeit beweist erst die Zeit an Geschlechtern. CHRISTIAN: Die Disposition ist auch aus bürgerlichen Vorfahren zu erkennen. GRAF: Ihre Eltern, Voreltern? CHRISTIAN: Beamte. Durch das Bewußtsein, dem Staat zu dienen, vorbereitet. Kleine Beamte nur -- mein Vater ... GRAF: Die schlichte Abstammung offenbart persönliches Verdienst um so bedeutender, wie uns der allerhöchste Herr erst kürzlich wieder belehrte. Der Fall unseres Postministers, der aus ähnlichem Milieu wie Sie stammt, ist der einleuchtendste. CHRISTIAN ~laut lachend~: Überhaupt beginnt das ärmlich, aber reinlich gekleidete Elternpaar allenthalben aufzukommen. GRAF: In der Tat. Wir kennen nun uns're Ansichten. Die Entscheidung hängt von uns nicht ab -- warten wir. Ich muß aber noch hinzufügen: meine Tochter bringt keine Mitgift in die Ehe. Sie wurden reich, wir verloren bis auf Reste unser Vermögen und schränken uns ein, meinem Sohn den Zuschuß zu gewähren, den das Regiment verlangt. CHRISTIAN ~verneigt sich~: Darüber ist kein Wort zu verlieren. DER DIENER ~tritt auf~: Der Wagen der Komtesse. GRAF ~exit~: Ich übermittele Ihnen die Entscheidung. FÜNFTER AUFTRITT CHRISTIAN: Jetzt hätte ich es sagen können: Sie leben in Zürich. Vorbereitet und durch das Geständnis seiner Mittellosigkeit in Verlegenheit, hätte er es geschluckt, und sie waren offiziell präsentiert. Nun heißt es, die neue Gelegenheit abpassen; aber ich fühle, sie ist völlig in meiner Gewalt. Warum dann warten? Hierher müssen sie. Sofort! Und ist der Augenblick gekommen -- persönlich sie vorstellen. Mediam in figuram jedermann. Wollen doch sehen! Wie die Alten sich freuen werden! ~Er schreibt und liest~: Kommt mit dem nächsten Zug. Erwartet euch hier freudigste Überraschung. ~Er läutet~: Von dem Wagen, mit dem ich sie am Bahnhof hole, bis zum eigenen Bad an ihren Zimmern muß ihnen alles ein großes Staunen sein. DIENER ~tritt auf~. CHRISTIAN: Das Telegramm sofort abtragen. DIENER ~exit~. CHRISTIAN: Mutter soll auch ihre Schlummerrolle ins Bett haben. Wenn sie vorm Einschlafen überdenkt, was sie und ich von meiner Zukunft geträumt, und wie es noch viel besser gekommen ist, muß sie ein erfülltes Leben spüren. Sie werden sich schnell anpassen. Die schlimmsten Unarten sind bald abgewöhnt, und Schneider und Putzmacherin tun das letzte. SECHSTER AUFTRITT ~Sybil tritt auf.~ CHRISTIAN: Kind, ich bin froh. Weißt du, wer kommt? SYBIL: Die Eltern. CHRISTIAN: Wer sagt dir das? SYBIL: Notwendigkeit. Zwei Jahre, seit ihrem Abschied, zappelst du an dem Haken deiner Sehnsucht. Ich wußte, an wen du beim Einschlafen dachtest. Warum, wenn du von großen Gewinsten sprachst, dein Auge hochzuckte. Durch die räumliche Trennung hast du dich auf deine Art völlig in die beiden alten Menschen verrannt. Schließlich brachtest du nichts mehr vor, ohne gleichnishaft einen von ihnen zu erwähnen. CHRISTIAN: Ich entbehrte sie schwer. SYBIL: Am Ende hattest du dir die Überzeugung beigebracht. CHRISTIAN: Mutter und ich waren stets eine Seele. Sie kannte sich gar nicht außer mir. Wie ein kleiner König stand ich zu ihr. Meine große Zukunft bejahte sie im voraus. Wir brauchten uns in dem Gedanken nur anzusehen und lachten. Vater war wie die Begleitung im Kontrabaß dazu. SYBIL: Hast du nicht dasselbe Vertrauen unbedingt bei mir gefunden? CHRISTIAN: Doch wolltest du Dank. Hier aber war ein Mensch stets unbedankt, stets durch mich glücklich. SYBIL: Dafür hat sich dein Vater während dieser Zeit schamlos gegen dich betragen. In der Überzeugung, dich durch sein Erscheinen schrecken zu können, hat er ein über das andere Mal von dir die Summen erpreßt, die er brauchte. CHRISTIAN: Insgesamt nicht viel mehr als ein paar Tausender. SYBIL: Hätte er eine Vorstellung von deiner geänderten Lebensführung, er wäre anders ins Zeug gegangen. Er würde sich, sähe er die Wirklichkeit, gütlich tun. CHRISTIAN: Er soll's. Nichts anderes wünsche ich. Das ist das Dämonische an diesen Geschlechtern, deren Wurzeln noch auf dem Erdboden laufen, die Gesamtheit fühlt nicht einheitlich, atmet und bewegt sich nicht mit einem Ruck von einem Zentrum aus. Es praßt der eine, wo der andre darbt. Ist aber der Gedanke lebendig, von einem Stamm entsprossen, mit ihm durch feinste Adern noch verbunden, ist unser Wohl von seiner Gesundheit abhängig, so freut uns jedes Glück, das ihn in irgendeinem Ast trifft. SYBIL: Der Gedanke ist schrecklich altertümlich, nicht aus unserer Zeit heraus. CHRISTIAN: Darfst du das behaupten, Mädchen? Weißt du mehr von den Erschütterungen der Epoche als ich? Weil du dich an Phrasen der Sozialdemokratie berauschst, die dir mit dem Recht, das noch der Jämmerlichste hat, die Ohren vollbläst. SYBIL: Ich sehe Wirklichkeit. Millionen, die den Hunger zu stillen über den, der den Weg zum Brot sperrt, müssen. CHRISTIAN: Kämpfe ums Dasein. Die habe ich auch durchgemacht und dabei ganz anders als Myriaden den Boden in mir aufgerissen; von Trieben geschnellt, flog ich durch den Brei der Bequemen, weil ich wußte, jenseits fängt erst das Leben an. Du sahst ja, wie ich ankam, die Fetzen mir vom Leibe riß und das flatternde Band am Halse zu einer festen Krawatte knüpfte. Mich allmählich zur Form erzog, der der höhere Mensch im Zusammenleben bedarf. SYBIL: Nie ruht der Kampf. Auf jeder nächsten Stufe, auf der höchsten, steht der Stärkere, der Todfeind, den du besiegst, oder er vernichtet dich. CHRISTIAN: Das ist proletarisch gedacht. Generationen hast du noch zu laufen, bis dir die Wahrheit schwant. SYBIL: Und dabei war ich es, die ihn lehrte ... CHRISTIAN: Den Fisch nicht mit dem Messer zu fressen, daß ich nicht in den Zähnen stocherte! Über all den äußeren Kram bist du nicht hinweggekommen. Dein Anzug ist der Anzug der Frau von Welt. Aber in welcher inneren Notwendigkeit bist du ihr inzwischen angenähert? SYBIL: Das war nicht mein Ziel. CHRISTIAN: Ressentiment. SYBIL: Und du, weil du dich zu dem Entschluß verstiegst, deine Eltern zurückzuholen ... CHRISTIAN: Die ich liebe. SYBIL: Da es in der Welt plötzlich Beispiele schlichter Erzeuger gibt. CHRISTIAN: Vergöttere! SYBIL ~lacht~: Weil es schick wird. Nie würde ein liebender Sohn dulden ... CHRISTIAN: Kein Wort mehr! SYBIL: Daß deine neuen Kreise sich an der famosen Strohkapotte deiner Mutter, an deines Vaters Schmierstiefeln berauschen. Deine erste Tat, die sie vor Entwürdigung und dich vor Demütigung schützte, war zarteste Rücksicht für sie und klug dazu, wie dein Erfolg lehrt. CHRISTIAN: Ich erwarb Geld und muß nicht mehr vor den Nöten des Lebens flüchten. Endlich darf ich verweilen und die irdischen Güter betrachten. Der erste Luxus, den der reiche Mann treibt, ist seine Familie. SYBIL: Dein Vater, deine Mutter sind nicht Luxusgegenstände. Liebst du sie wirklich, treibe den Kult im Kämmerlein. Doch opfere sie nicht der Eitelkeit, daß bei dir alles sein muß, wie der gute Ton es vorschreibt. Du willst die Gräfin heiraten. Tu's. Aber gib ihr mit deinen Eltern kein Gleichnis, aus dem sie dich beurteilen kann. Bleib ihr fremd und geheimnisvoll. Du hast so viel, was keiner außer dir besitzt, du mußt nicht auch noch Eltern haben. CHRISTIAN: Närrisch bin ich mit dem Gedanken. Meine gesamte Ziffernmacht, allen Einfluß strenge ich bis zum äußersten an, meinem Vater Geltung zu verschaffen. Keine Widerworte! Ich will! Das sind Dinge, für die in dir jede Voraussetzung fehlt, da von deiner Geburt an alles Zufall in dir war. SYBIL: Du möchtest eine Kluft zwischen uns aufreißen. CHRISTIAN: Sie ist seit langem da. Im Handeln und Denken. Wir sind Fremde. Geh! SYBIL: Wirklich so fremd, Junge? Du warst doch der, der Zwanzigmarkstücke von mir nahm? CHRISTIAN: Du träumst. Ich bin der, der dich bezahlte, und der dich in diesem Augenblick ablohnt. Spare alle Worte. SYBIL: Ein einziges -- mein Leben dafür --, das dich kennzeichnete und ausdrückte, wie niedrig ich dich empfinde. CHRISTIAN: Finde es zu Haus. Entstellst du mich mit Verdächtigungen wie den eben geäußerten vor dir selbst, zerstörst du dir das Andenken deiner großen Leidenschaft. Doch bleibt das deine Sache. Wagst du sie vor anderen, drohen dir unnachsichtlich die Gerichte. ~Sybil steht ihm gegenüber, starrt ihn an und stürzt hinaus.~ SIEBENTER AUFTRITT CHRISTIAN: Endlich. Diese Brücke abgebrochen zu Ufern, die man nicht mehr sah. Versuche eines Embryos des Menschtums, dich mit Redensarten deiner Natur und notwendigen Schlüssen abspenstig zu machen. ~Er hat ein Florett zur Hand genommen und macht Fechtübungen~: Aber da dir die Kulöre deines Temperaments genau bekannt sind, werde nicht blaß vor dir selbst, mach ein Bild, eine saftige Figur aus dir und denk nicht an die Unterschrift, die die Zuschauer geben. ~Da es wiederholt geläutet, geht er öffnen~: Wer ist das? ~Nach einem Augenblick hört man draußen seinen Aufschrei~: Mutter! ACHTER AUFTRITT ~Treten auf Theobald Maske in Trauer und Christian.~ THEOBALD ~nach einer Pause, während der Christian, gegen die Tür gelehnt, schluchzend steht~: Am Schicksal ist nicht zu deuten. Jetzt soll man der Sache ins Auge sehn. Wäre es nicht wie der Blitz gekommen, hätte ich dich vorbereitet. Aber sie war immer für das Überraschende und hat es noch mit dem Tode so gehalten. CHRISTIAN: Wir müssen sie überführen und hier mit gebührendem Pomp ... THEOBALD: Auch das ist seit gestern vorbei. CHRISTIAN: Nicht einmal dazu riefest du mich! THEOBALD: Warum sollte ich dir Umstände machen? Und noch dazu wußte ich nicht, ob's dir hier in den Kram paßte. Beerdigung ist immerhin eine offizielle Angelegenheit. Die Sekunde, in der ihr während der ganzen windschnellen Katastrophe schwante, um was es sich für sie handele, hauchte sie auch: Daß nur Christian nichts davon erfährt. Also ganz in ihrem Sinn. Friert dich? ~Christian exit.~ THEOBALD: Es hat doch starken Eindruck auf ihn gemacht. Sieh mal an. CHRISTIAN ~kommt zurück, einen schwarzen Anzug über dem Arm. Er kleidet sich während des folgenden, teilweise hinter einem Wandschirm, um~: Du darfst jetzt ruhig berichten. THEOBALD: Das ist gleich getan. Sie saß auf ihrer Bank, trank Kaffee, wie sie das so machte, immer das Stück Zucker auf der Zunge. Sie hätte Hitze, sagt sie, und sank hin. CHRISTIAN ~schluchzt beherrscht~: Keine Krankheit vorher, kein Leid? THEOBALD: Nichts. CHRISTIAN: Wie lebte sie letzter Tage? War sie froh? THEOBALD: Man hatte immer den gleichen Eindruck: es ist eben Luise. CHRISTIAN: Wie standest du zu ihr nach jenem Malheur? THEOBALD: Ich habe das nie übertrieben; ihr blieb alles, mit Seltenheit und Regelmäßigkeit geführt, verborgen. CHRISTIAN: Du hast damals nicht mit jenem Weibe gebrochen? THEOBALD: Sie war mir zu phantastisch dazu. Ich schob es besser auf die lange Bank. So blieb es, nicht aufgebauscht, ganz unwichtig und lief ins Gleichmaß der Dinge. Durch mich hatte deine Mutter letzthin angenehme ruhige Tage. CHRISTIAN: Ich werde mit dem Architekten, einem Bildhauer wegen des würdigen Grabmals gleich mich ins Vernehmen setzen. Niemandem kann ich anvertrauen, wie ich an ihr gehangen. Vielleicht findet der Künstler den Ausdruck dafür. THEOBALD: Vielleicht. ~Pause, während der Christian noch Zeichen seines Schmerzes gibt und sein Trauerkleid vollendet.~ CHRISTIAN: Welch trostlose Verkettung der Umstände. Heute hättest du bei dir zu Haus das Telegramm gefunden, das euch zu den glücklichsten Eröffnungen herrief. THEOBALD: Du hast uns telegraphiert? CHRISTIAN: Ich erwartete euch mit Ungeduld. THEOBALD: Was ist hier Wichtiges vorgefallen? CHRISTIAN: Kamst du einige Stunden später, du hättest deinen Sohn verlobt gefunden. THEOBALD: Schau! Ist das Mädchen hübsch? CHRISTIAN: Es ist -- Gräfin. THEOBALD: Christian! Wo hast du den Mut her? CHRISTIAN: Gehört Mut dazu? THEOBALD: Jeder aus seiner Haut; denke ich aber, du steckst ein wenig in meiner -- da hast du ja einen tollen Satz gemacht. CHRISTIAN: Über uns fort, Vater. THEOBALD: Es ist unheimlich. Und jene? CHRISTIAN: Das ist alles, was du mir dazu sagst? THEOBALD: Aus meiner Natur ist es wie ein Knalleffekt! CHRISTIAN: In einer ganz natürlichen Entwicklung eine logische Folge. THEOBALD: Ein subalterner Beamter ich, deine Mutter Schneiderstochter -- es hat etwas von einer Gewalttat an sich. Und der Vater Graf, die ganze Verwandtschaft -- Junge, du bist verrückt! CHRISTIAN: Was heißt der Unsinn? THEOBALD: Das ist doch toller als alle Komödien der Welt. Da machst du einen ja lächerlich. Kennst du denn gar keine Rücksichten mehr? Einen Grafen habe ich überhaupt noch nicht bei Leibe gesehen. Kann man denn nicht zu dir kommen, ohne daß du das Unterste zu oberst kehrst? Ich sage doch! Ein Subalterner in Pension. CHRISTIAN: Das ist Larifari. THEOBALD: Ein Unglück ist es! Wie wagst du eigentlich, mir das anzutun? Mit Fingern müssen die Leute auf mich zeigen. CHRISTIAN ~betreten~: Aber ... THEOBALD: Die Seyfferts! Schon deine Mutter war eine überspannte Person. Ich werde närrisch. Habe ich mich doch nicht so, als du damals die Sperenzien mit uns machtest, über den Tod meiner Frau habe ich mich nicht so aufgeregt. CHRISTIAN: Aber Vater ... THEOBALD ~immer erregter~: Die Maus mit der Giraffe willst du verkuppeln, Seiltänzerstücke machen, ins Anomalische steigst du ja! Deine Mutter stirbt mir mit sechzig Jahren, ich bin sie gewöhnt, mir war's ein Schlag, aber schließlich flüchtet man in die Natur der Sache. Maskes aber, hier dieser gewisse, allenthalben genau bekannte Theobald und eine ganze Grafenfamilie! Es ist um den Verstand zu verlieren. ~Christian hat in Resignation das Florett genommen.~ THEOBALD ~ganz außer sich~: Willst du mich morden? Besser bleibe ich ein normaler Beamter hier auf dem Platz, als daß ich der allgemeinen Belustigung zum Opfer falle. Hast du denn aus der Jugend keine Erinnerung mehr? An unsere Stübchen und den Kanarienvogel; nicht wie wir über den Graben schlurften, und du an unserer Seite den Herrn Kanzleirat ehrfürchtig grüßen mußtest? Was aber kann ein Kanzleirat gegen einen Grafen. CHRISTIAN ~ängstlich~: Hör mir doch zu ... THEOBALD: Und wer sind wir erst auf der Stufenleiter? Daß ich nicht närrisch werde! CHRISTIAN: Mir ist deine furchtbare Aufregung unverständlich. THEOBALD: Und die Folgen? Ist dir von unmittelbaren, verhängnisvollen Folgen nichts eingefallen, die jedes Kind sieht? Als du uns beide alte Leute in die Fremde schicktest, schäumte ich vor Wut; allmählich aber sah ich mit Luisens Hilfe eine zwar grausame Vernunft darin, den höheren Sinn des Handels für dich, wenn auch nicht für mich. Und da du es sonst an nichts fehlen, den anderen Teil leben ließest, kam ich zur Ruhe. ~Er springt auf~: Und jetzt wagst du solchen ... CHRISTIAN: Ich unterbreche dich. Sogar ehe an diese Heirat zu denken war, überwältigte mich ein Begehren, das vom Augenblick unserer Trennung an in mir immer stärker geworden ist. Von nun an dachte ich mit euch, da es anders beschlossen ist, mit dir sehr innig gemeinschaftlich zu leben. Ich wollte dich bitten, deinen Wohnsitz überhaupt hierher zu verlegen. THEOBALD ~fällt in einen Stuhl~: Das ist klassisch! CHRISTIAN: Du ... THEOBALD: Nicht dein Ernst? CHRISTIAN: Völlig. Ich konnte diesen Grad der Abneigung deinerseits nicht voraussehen. THEOBALD: Dein Ernst?! CHRISTIAN: Ich begreife nicht. THEOBALD ~auf ihn zu~: Wie? CHRISTIAN ~weicht unwillkürlich zurück~: Begreife nicht ... THEOBALD: Immer noch nicht? CHRISTIAN: Das heißt, verstehe wohl, was du meinst. Halte aber dein Bedenken für übertrieben ... teilweise. THEOBALD: Übertrieben? CHRISTIAN: Andererseits ... THEOBALD: Übertrieben?! CHRISTIAN ~eingeschüchtert~: Natürlich andererseits -- wenn wirklich -- natürlich. Mein Gott, müßte man eben auf seinen Lieblingswunsch verzichten -- schweren Herzens. Auf deiner Teilnahme an der Hochzeit bestehe ich aber unter allen Umständen. THEOBALD: Darauf noch die Antwort: Entweder du machst diesen Vorschlag unbefangen nur so hin, dann bemerke ich: deinen Vater als Clown bei diesem Witz mitwirken sehn zu wollen, ist Unsittlichkeit. Mit einer Gräfin am Arm in meiner Aufmachung durch die Kirche Spießruten zu laufen, später als Mann aus dem Volk lächerlich bei Tisch zu sitzen ... CHRISTIAN: Vater! THEOBALD: Danke. Oder du willst an mir niedrige Rache dafür nehmen, daß ich dich in deiner Jugend meine väterliche Gewalt fühlen ließ, indem du jetzt vor aller Welt mein Selbstgefühl demütigst; vielleicht aber soll diese Einladung gar ein Pflaster für Mutters Tod sein. Nein, Christian, um Gottes willen nicht! Tu für mich, was du bisher getan, und ich bin zufrieden, und willst du mehr, so überlege noch einmal gründlich, was du vorhast. In jedem Falle aber mußt du mich als eine bestimmte Größe in deinem Lebensplan einstellen: einer, der mit solchen Sachen nichts zu tun hat, dich aber unter keinen Umständen, nicht im geringsten molestiert. Darum bin ich vorhin die Hintertreppe heraufgekommen. Und nun will ich mir nur noch etwas Garderobe kaufen. CHRISTIAN: Mein Schneider, meine Lieferanten selbstverständlich ... THEOBALD: Die sind auf unsereinen nicht eingerichtet. Ich habe andere Quellen. Und abends reise ich heim. ~Er nimmt Hut und Stock.~ CHRISTIAN ~ängstlich~: Ein paar Tage solltest du wenigstens bleiben. THEOBALD: Ich sollte nicht! Laß doch den Firlefanz. Warum sprichst du überhaupt nicht in dem alten vernünftigen Ton mit mir? Ungesehen verschwinde ich auf dem Wege, auf dem ich kam, brauchst mich nicht zu bringen. In der nächsten besten Kneipe esse ich etwas. Und kommst du mal vorbei, ihr Grab zu sehen, soll's mich freuen. Bist, von diesem Unsinn abgesehen, sonst ein guter Kerl; läßt einen leben. NEUNTER AUFTRITT DIENER ~tritt auf~: Graf Palen! GRAF ~folgt sofort~: Marianne wollte zuerst, einem schönen Drange folgend, es Ihnen selbst sagen -- sie war sehr glücklich -- innig beglückt -- ~Theobald hat den Versuch gemacht, zu verschwinden.~ GRAF: Bitte mich vorzustellen. CHRISTIAN ~in höchster Verwirrung~: Mein Vater ... bitte. GRAF: Tiens. Ah das --! Nein das -- aber sehr angenehm. Graf Palen. Sehr erfreut! ~Reicht Theobald beide Hände~: Und dachte ich immer -- wie kam ich nur darauf? Sah unseren Freund als Waise -- ~Er lacht~: Wahrhaftig! Doch um so angenehmer. Charmant. CHRISTIAN: Mein Vater, von Zürich kommend, wo er lebt, kündigt mir den Tod meiner Mutter an. So gewinne ich Marianne im rechten Augenblick. ~Er sinkt dem Grafen an die Brust.~ GRAF: Meine aufrichtige Teilnahme. ~Zu Theobald~: Auch Ihnen, verehrter Herr. THEOBALD ~verbeugt sich~: Danke, Herr Graf. GRAF: Ich kann nichts Besseres raten: eilen Sie zu Ihrer Braut. Inzwischen bleiben die alten Herren beisammen. ~Zu Theobald~: Haben Sie gefrühstückt? Nein? Also auf! Die Frau, eine Braut ersetze ich nicht, doch was ein anständiges Essen vermag ... CHRISTIAN: Mein Vater wollte gleich zurück. GRAF: Aber das muten wir ihm nicht zu. THEOBALD: Frühstücken sollte man in jedem Fall. GRAF: Das ist jetzt mein Ehrenamt. Mit Kondolieren und Glückwünschen verbringen wir die kürzeste Zeit. Ihr Sohn hat Sie lange genug unter Verschluß gehalten; bei einer Flasche Rotspon beschnuppert man sich. THEOBALD: Beschnuppert -- ist gut. GRAF: Sagt man nicht so? THEOBALD ~lacht~: Ich würde beschnuppert sagen, Herr Graf. CHRISTIAN ~bei Theobald, zischt~: Graf! ~Zum Grafen~: Mein Vater will unbedingt mit dem Mittagszug heim. GRAF ~energisch~: Aber lassen Sie doch endlich! Der alte Herr muß vor allem ausgiebig frühstücken. Und alles andere findet sich später. Kommen Sie! ~Graf und Theobald exeunt.~ ZEHNTER AUFTRITT CHRISTIAN: Was war das plötzlich für ein Ton von ihm? Habe ich einen Fehler gemacht? ~Am Fenster~: Er läßt ihn vor sich in den Wagen steigen? Welch umständliche Höflichkeit. -- Ich habe einen Fehler gemacht! Meine Hilflosigkeit, meine Verlegenheit um ihn hat er bemerkt. Bin ich rot, blaß? ~Er läuft zum Spiegel~: Ich zittre ja wie Espenlaub! ~Er springt auf einen Stuhl am Fenster~: Er offeriert ihm eine Zigarre. Beide lachen über's ganze Gesicht. Worüber? Über mich? Herrgott, einen furchtbaren Fehler habe ich gemacht! Wollte ich nicht auftrumpfen, habe ich vor fünf Minuten hier nicht geschworen, mich mit ihm brüsten, rühmen zu wollen? Hatte ich doch den einzig richtigen Instinkt. Und nun wird er es Marianne, wird es der ganzen Familie klatschen, ich wollte meinen Vater verleugnen. Kann er nicht behaupten, ich hätte ihn ehemals totgesagt? Das leugne ich ihm aber brüsk ins Gesicht ab. Gegenmaßregeln! Schnell! Was? ~Er läutet. Diener tritt auf.~ Setzen Sie die Fremdenzimmer in Bereitschaft. Mein Vater kam an. Dem alten Herrn soignierteste Bedienung. ~Diener exit.~ CHRISTIAN ~ihm bis zur Tür nach~: Halt! Wartet man nicht besser ab, was kommt? Vielleicht bekäme man ihn doch noch ohne allzu großes Aufsehen fort. Nein, nein und endlich nein! Wie ich es heute morgen in mir wußte, wie es sich schon bewiesen hat: mit größter Geste muß ich ihn als etwas Außergewöhnliches darbieten. Sofort in Szene setzen! Von weither vorbereiten! Und es soll die ganze Familie umfassen. Wenn es nicht schon eine Katastrophe ist. ~Er läuft im Zimmer umher~: Was werden sie am Weintisch tun? Was wird er aus dem Alten herausholen? Wenn er, wenn der andere besoffen ist? Warum bin ich denn nicht mit von der Partie?! ~Außer sich~: Um Gottes willen! Ja um Gottes willen! ~Er heult auf~: Statt meinem schlichten Kindesinstinkt zu folgen. Ich könnte mich ohrfeigen!! DER DRITTE AUFZUG ~Salon eines Hotels, reich mit Blumen geschmückt. Im Hintergrund ein breiter Vorhang.~ ERSTER AUFTRITT ~Christian im Frack und Orden unter dem Mantel, Marianne Brautkleid unter dem Überwurf treten auf.~ CHRISTIAN: Endlich Luft, Ruhe. MARIANNE: Diese Blumen. ~Bei einem Strauß~: Vaters. ~Sie nimmt eine Karte und liest~: Für meinen verlorenen Engel Marianne. Und hier hier -- welch himmlische Orchideen! ~Liest~: Von einer Unbekannten. CHRISTIAN: So? Sentiment. -- Was sprach er am Tisch fortwährend mit meinem alten Herrn. Hörtest du die beiden? MARIANNE: Wer soll das sein? CHRISTIAN: Fiel's dir nicht auf? Keiner war für seine Tischdame zu haben. Die dicke Gräfin ... MARIANNE: Tante Ursula ist fast taub und hatte schließlich das halbe Essen auf der Serviette. CHRISTIAN: Wer war der Johanniter zwei Plätze rechts von ihr? MARIANNE: Mutters Vetter Albert Thüngen. CHRISTIAN: Der Bengel starrte mich unaufhörlich wie eine Erscheinung an und aß darüber nicht. MARIANNE: Er hat eine richtige Froschschnute; heißt Frosch darum. CHRISTIAN: Seltene Dekorationen waren am Tisch. Bist du mit der Prinzessin so intim, wie sie dich behandelte? MARIANNE: Wir wurden sieben Jahre gemeinsam erzogen. CHRISTIAN: Sieben Jahre. Ihr duzt euch? MARIANNE: Sind doch durch unsere Urgroßmutter miteinander verwandt. CHRISTIAN: Die Erzherzogin? JUNGFER ~tritt auf~: Wollen gnädigste Komtesse sich nicht umkleiden? MARIANNE: Ich bin nun gnädige Frau geworden, Anna. JUNGFER: Gut, gnädige Komtesse. MARIANNE: Aus mit der Komtesse und Albernheiten. Ich verlange Respekt! JUNGFER ~schluchzt~: Ja, gnädige Frau. MARIANNE: Was gibt's? JUNGFER ~auf Mariannes Hand gebeugt~: Es ist alles so rührend; gnädige Frau gehören uns nicht mehr. MARIANNE: Mir selbst nicht mehr. Mädchenlos. Auch deins. ~Beide durch den Vorhang ab.~ ZWEITER AUFTRITT CHRISTIAN ~springt an den Vorhang und lauscht nach hinten~: Diese Anna, das richtige Galgengesicht. Was solche Domestikenbagage hinter Schlüssellöchern auffängt und weitergibt ... DER JUNGFER STIMME: ... Sahen überirdisch aus. Der Herr Pastor weinte ... MARIANNES STIMME: ... alte Jansen ... Unsinn! DER JUNGFER STIMME: ... echte Brüsseler Spitze ... nein, Brüsseler in breiten Volants ... Rosenknospe ... MARIANNES STIMME: ... Ilse Zeitlow hellblau Atlas zum blonden Haar ... DER JUNGFER STIMME: ... Sah man doch ~leiser~: ihren Busen mit Absicht. MARIANNES STIMME: Um Gottes willen! ~Gekicher, dann Geflüster.~ CHRISTIAN ~sich näher hinbeugend~: Ah! Das Gewisper wie stets und überall. Wo ich hinkomme, erschlägt's das Wort. Flüstern und zu Boden sehen. ~Gelächter in Absätzen.~ DER JUNGFER STIMME: ... Schnurrbartspitzen. CHRISTIAN: Das bin ich! Jener Tag war mein Waterloo. DER JUNGFER STIMME: ... ein bißchen lächerlich. MARIANNES STIMME: Still! CHRISTIAN: Canaille! Hab's schon gehört, Marianne. Doch diesen Abend noch dringe ich in den Tempel deines Herzens und stelle fest, was du weißt. ~Neues Gelächter.~ CHRISTIAN: Nur gelacht. Schadenfreude heraus! Öffne, Viper, alle Ventile in ihre Blutbahnen. Denn nachher spüle ich mein Weib bis zum letzten Molekül rein von deinem Gift. DER JUNGFER STIMME: Es war zu komisch. CHRISTIAN: Nicht so, Äffin, wie du meinst, und noch ist nicht aller Tage Abend. Meine Konterminen sind geladen. Losgeschossen, überdonnern sie alles, was vorher laut wurde. ~Es ist hinten ganz still geworden.~ Still? Was haben sie jetzt? ~Er kniet zur Erde und versucht, unter dem Vorhang hindurchzusehen~: Wäsche, Fleisch und Gesten. Aber ein Wort ist hier not, das Geständnis, wieviel die Welt dir geklatscht, vom Vater angefangen bis zu dieser Laus. Ich habe einen so bedeutenden Plan angelegt, es aus dir herauszulocken, daß es dir schwer werden soll, ein Tittel für dich zu behalten. Du trittst nicht über die Schwelle meines Namens, Weib, es sei denn, derselbe ist ehrfürchtig und gerührt von dir empfunden. DIE JUNGFER ~tritt auf~: Darf ich an den Koffer der gnädigen Frau? ~Sie entnimmt demselben einen Gegenstand und verschwindet durch den Vorhang.~ CHRISTIAN: Man ließ mich nicht früher an dich heran, wie man sich selbst verhüllte. Doch heute bist du mir zum Examen ausgeliefert. Mit Finessen will ich rekognoszieren, wo in deiner Familie mein grimmigster Feind sitzt. Er muß mit all seinen Schikanen ans Licht, und sollte ich dein Gewissen bis zum Zerreißen spreizen. ~Er stiert in den Koffer~: Was stopfte man dir in die Tasche? Was gibt's in dem Koffer an Büchern? Schmähschriften? ~Er zieht ein Buch aus dem Koffer~: Das Neue Testament. Was mag tiefer in den Eingeweiden gegen mich aufgehäuft sein? Das wollen wir bei Gelegenheit bis in die Nieren bloßlegen. DRITTER AUFTRITT ~Theobald im Frack steckt den Kopf durch die Tür~: CHRISTIAN: Das ist unerhört! THEOBALD: Nur einen Augenblick. CHRISTIAN: Was gibt's noch? THEOBALD: Zärtlichkeit. CHRISTIAN: Du bist betrunken. THEOBALD: Teilweise. Aber ich bin auch zärtlich. Wollte den ganzen Abend dir einen Kuß hinhauchen, doch erwischte ich dich nicht. Räsoniere nicht, Bengel. Du bist ein Tausendsasa und ich durch und durch stolz auf dich. Du hast mir alle Vorbehalte von der Seele gerissen wie Papierhemden. Als Sieger bist du über meine Meinungen und Prinzipien hinweggegangen. Ich lebte allzeit von Sprichwörtern: Schuster, bleib bei deinen Leisten und so weiter. Du aber ganz einfach aus dir selbst. Wie du heute mit diesen Leuten umgingst, nicht wie mit deinesgleichen, sondern fast von oben herab; wie sie dich voll bodenlosen Respekts anstaunten, und wie du dir so ein adeliges Hühnchen ins Bett holst, das brachte mein Bürgerblut zum Sausen. Da hast du mich weich gemacht; ich sinke hin an deine Brust. ~Umarmt ihn.~ CHRISTIAN: Leise, sie ist dort. Bist du nicht betrunken? THEOBALD: Teilweise. Aber was ich sage, gilt für voll. Bei Tisch, als alles in Orden prangte, war es dein stolzes Köpfchen ... CHRISTIAN: Vater! THEOBALD: Stolzes Köpfchen, mein geliebter Junge, wie ich sage. Unsere Mutter hätte dabei sein sollen. Morgenröte, Morgenröte war mein Gefühl, soll man's für möglich halten! CHRISTIAN: Ist es denn wahr? THEOBALD: In dir ist alles Maskesche um ein paar Löcher weiter geschnallt. Ich seh doch, wie's in den Scharnieren hinaufgleitet. Du hast mich völlig in dir; schweig. Jetzt kommt das Geständnis, eine ehrwürdige Sache. Das sagt sonst ein Vater zum Sohn nicht: Ich bin überflüssig, verschwinde in die Versenkung. Meine Beziehung zur Welt, der höhere Sinn von mir -- bist du. Wegjagen wolltest du mich. Hattest es schon eher im Bewußtsein, doch mir schien es Gewaltsache mit Feindlichkeiten. Heute ist es ein angenehm glattes Ding: beiderseitige grenzenlose Zufriedenheit. Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder. Glücklich nach Zürich, große Hauptgasse No. 16. Da lebt Maske als Kanzleirat a. D. und stiert begeistert seinen Sohn an. CHRISTIAN: Man kommt! THEOBALD: Laß sie. Wir sind jetzt ein und dieselbe Sache. Mach weiter so und keinen Fehler ... Sie haben Mißtrauen, Abscheu, Haß und so weiter; aber sie haben bodenlose Achtung aus Verständnislosigkeit. CHRISTIAN: Das sagst du? THEOBALD: Auf der Basis einer allgemeinen großen Trunkenheit habe ich mich in ihr Vertrauen geschlichen. Da man das Band des Adlers von Hohenzollern für das Eiserne Kreuz hielt, öffneten sie sich bis in die Eingeweide. CHRISTIAN: Und der Alte? Der Lapsus jenes fatalen Tages? THEOBALD: Da hatte er wohl Verdacht, und er mag in ihm weitergelebt haben. Da aber heute die Tafelrunde: als schließlich ich mich lichterloh an dir entzündete, ergriff ihn die Flamme gleichfalls. Zudem hatte die rührende Taube da drin das Vaterherz schon vorher mürbe gemacht. Es kapitulierte vollständig. CHRISTIAN: Fertig also mit ihnen? THEOBALD: Sie sind hin. Und nun greif fester zu. Nicht nachlassen. Auf meine Art hatte ich stets die Überzeugung von der Bedeutung unseres Stammes. Konnte sie aber nur den Allernächsten mitteilen. CHRISTIAN: Mir! THEOBALD: Und du schnellst uns weiter. CHRISTIAN: Ich spannte den Bogen. In meinen Fäusten klirrt die Sehne. THEOBALD: Ihr den ersten Pfeil. Triff tief. CHRISTIAN: Wir kletten uns fest. THEOBALD: Ins Gewebe. CHRISTIAN: Ich setze den Trumpf auf. Den Trumpf! THEOBALD ~späht durch den Vorhang~: Respekt! CHRISTIAN: He? THEOBALD: Hehe! ~Beide kichern und fallen sich in die Arme.~ CHRISTIAN: Maske for ever! THEOBALD: Verstehe, oder so ähnlich. Blutsache! ~Er hüpft zur Ausgangstür, wirft Kußhände. Exit.~ CHRISTIAN: Hier stand Leben auf der Höhe eines Schauspiels. Ein Ziel ward gekrönt. Zerknirschung des Feindes, Verbeugung vor dem Sieger. Abgang durch die Mitte. Aber es kommt noch bedeutender: Probe auf das Exempel, wie weit wirklich die nähere Umgebung hinsank; und dann soll die Frau, auf die es vor allem ankommt, an diesem feierlichen Abend grenzenlose Ehrfurcht zelebrieren. Das muß vor mir ein glattes Hinschlagen sein. VIERTER AUFTRITT MARIANNE ~in einem Negligé tritt auf~: Gefall ich dir? CHRISTIAN ~zu sich~: Darauf kommt jetzt nichts an. MARIANNE: Die Spitzen haben eine zärtliche Geschichte. Mutter trug sie an dem betreffenden Abend ihres Lebens. CHRISTIAN: Nichts entspricht. MARIANNE: Ich -- keiner aus deiner Vergangenheit? Sag mir alles. Du sollst kein Geheimnis vor mir haben. Die wievielte bin ich, und welche war besonders? Ist ein Gedanke, ein Hauch von einer anderen noch bei dir? CHRISTIAN: Welche Sprache! Wie komme ich da zur Vernunft? MARIANNE ~die Arme um seinen Hals~: Einmal mochte ich einen Fähnrich; ich erst sechzehn. Er weiß und rosa mit blonden Haaren auf der Lippe; weiter wußte ich nichts von ihm. CHRISTIAN: Was weißt du von mir? MARIANNE: Schließe ich die Augen: Du bist groß und dunkel, hast breite Glieder und wippst beim Gehen. CHRISTIAN: Ist das wahr? ~Er geht vor den Spiegel und macht ein paar Schritte.~ Allenfalls könnte man von einem wiegenden Gang sprechen. Rhythmus ist in der Bewegung. MARIANNE ~lacht hell~: Und wie marschiere ich? ~Hebt den Rock und trippelt.~ CHRISTIAN: Was sonst noch? Was ich treibe? MARIANNE: Geschäfte. CHRISTIAN: Welcher Art? MARIANNE: Bank. Kommt es darauf an? CHRISTIAN: Mit sechsunddreißig Jahren bin ich Generaldirektor unseres größten wirtschaftlichen Konzerns. Kontrolliere einen fünften Teil des Nationalvermögens. MARIANNE: Tiens! CHRISTIAN: Das Wort gehört deinem Vater. Sprach er von meinen Angelegenheiten mit dir? MARIANNE: So hin. CHRISTIAN: So hin. Darin liegt alles. MARIANNE: Ich bin müde. CHRISTIAN ~für sich~: Aufforderung zum Tanz. ~Laut~: Zu früh. Bin ich dir nicht ein völlig Fremder, da dein Vater nicht ernsthaft über mich sprach -- wirklich nie, denke nach! Kam er nicht eines Tages fieberhaft erregt nach Haus? Besinne dich! MARIANNE: Fieberhaft erregt sah ich ihn nie. CHRISTIAN: Also wirklich nicht! Kurz, es ist Verdienst, steht ein Mann so jung auf solchem Posten. Wie wenn einer mit sechsunddreißig Jahren General wäre. MARIANNE: Das kann höchstens ein Prinz. ~Sie sitzt auf seinem Schoß.~ CHRISTIAN: Oder? MARIANNE: Wer? CHRISTIAN: Denk nach. MARIANNE: Ich weiß nicht. CHRISTIAN: Der geniale Mensch. Man wollte im Verlauf dieses Jahres bei einundvierzig Gesellschaften die Emission neuer Aktien im Gesamtbetrage von etwa dreiviertel Milliarde Mark beantragen. Da sagte ich, aus folgenden Gründen sei ich dagegen: Für diese siebenhundertfünfzig Millionen werden dem Publikum in der Hauptsache nicht gefundene Schätze, sondern das Produkt der Anstrengungen rund einer halben Million Menschen mehr geboten, die das Land ermutigt wird, hervorzubringen. Das Aktienkapital der Industriegesellschaften besteht in Hauptsache und Zinsen überhaupt nur aus Menschenmasse und deren Arbeitsresultat. Verstehst du? MARIANNE ~immer auf seinem Schoß~: Ich versuche. CHRISTIAN: Gib acht! Ist keine Arbeit da, stopft die Masse den Zeugungsapparat. Wachsen neue Kamine hoch, öffnet man hastig das Ventil. So stehen wir Kapitäne, sagte ich, am Haupthahn der Bevölkerungsdichte und müssen sorgen, daß die geschafften Kapitale dem natürlichen Zuwachsbedürfnis nicht vorgreifen, sondern es äquilibrieren. Verstehst du? MARIANNE: Ich glaube. CHRISTIAN: Eher müssen wir durch Verlangsamung des Menschenproduktionstempos für bessere Qualität sorgen. Da hast du einen kleinen Eindruck, wie ich Nationalökonomie praktisch treibe. ~Er hat sie vom Schoß gestoßen und geht aufgerichtet durchs Zimmer~: He? Das ist Klasse, hätte Helmholtz gesagt. ~Er faßt Marianne bei einem Knopf ihres Kleides und schüttelt sie sanft hin und her, während er ihr starr ins Auge sieht~: Ich könnte dir noch einen ähnlich fabelhaften Bescheid meinerseits in Fragen der Herabsetzung der Zwischendecksrate bei unseren Schiffsgesellschaften anführen. Die Menschen sind kurzsichtig, und in den Händen weniger ruht das wirtschaftliche Schicksal von Millionen. MARIANNE: Bist du so reich? CHRISTIAN: Ein Krämerwort. Ich habe Macht zu dem Erdenkbaren aus der Kraft meines Blutes. Du sahst nun meinen Vater einige Male. Persönlichkeit! Wie? Schon prägten sich auch in ihm markant die besonderen Eigenschaften der Rasse aus. Nichts überflüssig, höchst zweckvoll alles. Merktest du, wie er heute bei Tisch am aller bedeutendsten zum Glase griff? Schade, daß du meinen Großvater nicht kanntest. Ein tolles Huhn -- aber --! Das wächst mir also alles aus Ahnen zu, fand aber doch erst in meiner Person den konsequentesten Ausdruck. DIE JUNGFER ~tritt auf~: Wollen gnädige Frau die Brillanten nicht in Verwahrung nehmen? Hier im Hotel -- der gnädige Herr vielleicht? ~Christian nimmt ein Diadem in Form einer Krone.~ JUNGFER: Gute Nacht. ~Exit.~ CHRISTIAN: Welch merkwürdige Form eigentlich. MARIANNE ~setzt es auf~: Eine Marquiskrone. Aus deren Vermächtnis sie stammt, für die Frauen unseres Geschlechts am Hochzeitstage zu tragen, war eine Marquise d'Urfés, Großtante meiner Mutter. CHRISTIAN: Bon. -- Was sagte ich noch? -- Aber ich habe eine Überraschung für dich. MARIANNE ~klatscht in die Hände~: Zeig! CHRISTIAN: Dreh dich um einen Augenblick, bis ich ausgepackt und bereitgestellt. MARIANNE ~abgewandt~: Eins zwei drei -- CHRISTIAN ~hat ein Bild, das in ein Tuch gehüllt an der Wand lehnte, freigemacht und gegen seine Beine gelehnt vor sich gestellt~: Jetzt sieh her. ~Marianne sieht auf ein weibliches Porträt.~ CHRISTIAN: Meine Mutter, Marianne, die dich an diesem Tag auch von Angesicht zu Angesicht sehen will. Meine Mutter, die ihren Jungen heiß geliebt. MARIANNE: Welch bedeutendes Antlitz! CHRISTIAN: Nicht wahr. Von Renoir gemalt. MARIANNE ~fliegt Christian an den Hals~: Ich will ihn liebhaben über mich selbst hinaus, deinen Sohn, meinen Christian. CHRISTIAN: Sachte; daß du ein solches Kunstwerk nicht beschädigst. ~Er hat das Bild gegen einen Tisch gelehnt.~ MARIANNE: Das dichte braune Haar. Deine Farbe. Und solch ein Teint! CHRISTIAN: Sie kam aus einem Jahrhunderte alten Bauerngeschlecht. Wikingersachen werden gefaselt. Sieh den tüchtigen Familienschmuck, die rote Koralle im Ohr. Einer ihrer Altvordern war Amtmann auf Dalarö in den schwedischen Schären. Von seiner Begegnung mit Karl XII. existiert eine Anekdote. MARIANNE: Das wundervolle Haar! CHRISTIAN: Es reichte aufgelöst bis in die Kniekehlen. Renoir sah sie eines Tages im Bois de Boulogne. Der Entschluß, sie zu malen, soll augenblicklich festgestanden haben. MARIANNE: Das läßt sich denken. CHRISTIAN: Aber der Anlaß! Das war ja das Allerbeste. Nun knöpf mal deine Öhrchen auf, es kommt das Niedlichste von der Welt. Vater und Mutter also im Bois, nach einem solennen Frühstück in den Kaskaden, spazierend. Eine Flasche Burgunder hatte nicht gefehlt. Plötzlich -- die Frau steht wie angewurzelt, weicht nicht von der Stelle. Vater, den grauen Zylinder keck auf dem Kopf -- er hat mir die Situation oft geschildert -- ruft, lockt -- sie weicht nicht. MARIANNE: Was hatte sie? ~Christian flüstert ihr ins Ohr.~ MARIANNE ~hell auflachend~: Die Hose! Aber das ist ja entzückend! Himmlisch! CHRISTIAN ~aus vollem Halse lachend~: Und nun Renoir! Kannst du dir vorstellen; er hat mir das oft erzählt. Aus dem Häuschen, aber aus dem Häuschen. Es soll ein Anblick für Götter gewesen sein. MARIANNE: Die entzückende Frau so in der Sonne stehend. CHRISTIAN: Kurz. Er verschafft sich Zutritt in die junge Menage und mit ihm ein französischer Vicomte, der die Szene gleichfalls sah. MARIANNE: Wie lange ist das her? CHRISTIAN: Es mag ein Jahr vor meiner Geburt gewesen sein. MARIANNE: Wie das persönliche Erlebnis einem die Menschen näher bringt. Ich kenne sie jetzt viel besser. Für deinen Vater war die Lage nicht angenehm. CHRISTIAN: Der war immer und ist der bon garçon mit Sinn für das appetitlich Komische. Er adorierte sein junges Gespons und war gleichfalls ganz gefangen von dem Charme der Erscheinung. MARIANNE: Viel Geschmack im Anzug. CHRISTIAN: Darin war sie Meister. MARIANNE: Eine reizende Mode! Wie kleidsam die Kapotte. Und all die himmlischen Frauen, die sich so trugen, sind tot. CHRISTIAN: Ich lasse ihr in Buchow ein Monument errichten. ~Er hängt das Bild an die Wand.~ MARIANNE: Hast du das Gut gekauft? CHRISTIAN: Ich kaufe es. Zu diesem Zweck in erster Linie. Die Frau war alles in allem etwas so Überlebensgroßes, daß sie ein Recht auf solche Ehrung hat. MARIANNE: Wie falsch ich die Deinen bis hierher sah. Jetzt erst habe ich den rechten Begriff von ihnen. Du hast die Gabe, Menschen plastisch zu machen. CHRISTIAN: Besser gesprochen nennt man's die Fähigkeit der Begriffsbildung. Was aus der Menschen Mund gewöhnlich kommt, sind Worte, nur Worte. MARIANNE: Ich brauche Anna noch einmal. CHRISTIAN: Doch nicht wieder das Mädchen! MARIANNE: Ich kann das Kleid auf dem Rücken nicht öffnen. CHRISTIAN: Gib her. ~Er fängt an, die Ösen zu suchen.~ Worte, unter denen nicht zwei Gehirne das gleiche verstehen, durch die man sich also auch nicht von Mensch zu Mensch restlos verständigen kann. ~Marianne gähnt.~ CHRISTIAN: Die reine Vernunft reißt Gruppen gleichartiger Gebilde der Erscheinungs- oder Willenswelt in einen Ausdruck hinein, der den Komplex in seinem Wesentlichen festlegt, und der _Begriff_ heißt. ~MARIANNE gähnt~: Aha! CHRISTIAN ~knöpft~: Überwindung von Mannigfaltigkeit ist das. Das Unterhemdchen auch? MARIANNE: Bitte. CHRISTIAN: Überhaupt, Marianne, und jetzt höre ernsthaft zu: Alle Tat, die Menschengeist verrichtet, will schließlich nur das eine: sie orientiert über das ungeheure Gebiet umgebender Welt, indem sie Mannigfaltigkeit überwindet. So: Buche, Eiche, in deren Namen schon vorher die eigene Mannigfaltigkeit bezwungen ist, sind schließlich Wald. ~Er ist mit Knöpfen fertig.~ MARIANNE: Danke. ~Sie setzt den Fuß auf einen Stuhl und knöpft die Stiefel auf.~ CHRISTIAN: Ein Dummkopf würde den Witz machen: man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. ~Marianne geht durch den Vorhang ins Schlafzimmer.~ CHRISTIAN: Wo willst du hin? Während es heißen muß: man sieht keinen Baum mehr vor lauter Wald. ~Er ist ihr gefolgt und bleibt im Vorhang stehen~: Wenn du das begriffst, hast du eigentlich die ganze Erkenntnistheorie in der Tasche. ~Er kommt nach vorn zurück, sagt laut nach hinten~: Jedenfalls einen Begriff von der Arbeit eines Gehirns wie das meine. He? ~Reibt sich die Hände, zu sich~: ça marche ce soir. ~Bleibt vor dem Bilde stehen, und sagt tief ergriffen~: Meine gute Mutter! ~laut~: Als junges Mädchen machte sie mit Freunden eine Reise in die Vereinigten Staaten und kam von dort über die Südseeinseln, Asien zurück. In Honolulu verliebte sich der König Kalakaua sterblich in sie. ~Man hört, wie hinter dem Vorhang jemand zu Bett geht~: Das war achtzehnhundertachtzig oder einundachtzig. ~Er hat sich die Stiefel ausgezogen und dann erst den Mantel abgelegt, so daß er plötzlich im Glanze seiner Orden dasteht.~ ~Er hebt die Arme und sieht sich wie wartend um.~ ~Pause.~ MARIANNES STIMME: Was wurde denn aus dem Vicomte? CHRISTIAN: Welcher Vicomte? MARIANNES STIMME: Der die Geschichte im Bois de Boulogne sah und deine Eltern kennen lernte. CHRISTIAN: Ach, der Vicomte! Tja -- -- der -- ~Er steht vor dem Bild der Mutter starr. Pause.~ MARIANNES STIMME: Was wurde denn mit ihm? CHRISTIAN ~zu sich~: Donnerwetter! ~Er geht durchs Zimmer am Spiegel vorbei.~ Hm. MARIANNE: Ist denn da ein Geheimnis? CHRISTIAN ~zu sich~: Wüßte ich jetzt -- aber natürlich -- o großer Gott! Da packe ich dich, da schmeiße ich dich ganz, Komteßchen. ~Er geht zum Vorhang und flüstert hinein~: Marianne! MARIANNE ~mit erregter Stimme~: Ich komme! ~Sie erscheint in einem übergeworfenen Schlafrock.~ CHRISTIAN: Ich sehe Schicksal in deiner plötzlichen Frage. MARIANNE: Was sagte ich denn? CHRISTIAN: Mit dem Vicomte; was wurde? MARIANNE: Ja? CHRISTIAN: Nie hätte ich die Zähne geöffnet. MARIANNE: Christian! Was denn? CHRISTIAN: Unmöglich! Nie! MARIANNE: Christian! Ich bin dein Weib -- habe ein Recht ...! CHRISTIAN: Ich bin auch ein Sohn. MARIANNE: Du hast Pflichten vor mir. CHRISTIAN: Aber auch Scham und Ehrfurcht vor der Mutter. MARIANNE: Jener ...? CHRISTIAN: Du bekommst kein Wort aus mir heraus. MARIANNE: Der also -- der Vicomte ...?! CHRISTIAN ~stark~: Und ich verbiete dir, für unser ganzes Leben, jemals daran zu rühren; jemals jemanden, auch mich selbst, ahnen zu lassen, was du vermutest, was du meinst. Ich heiße Maske und basta! MARIANNE ~erschüttert~: Heiland im Himmel! Gewiß ich schweige. Wie ich dich aber von jetztab sehe, das ist meine Sache. ~Leise~: Und mir ist, als ob doch eine letzte Wand zwischen uns niederfällt, als ob erst jetzt ich ungehemmt in dich versänke. ~Mit ausgebreiteten Armen vor dem Bild~: Süße Mutter Ehebrecherin! ~An Christian niedergleitend~: Mein lieber Mann und Herr! ~Christians Lächeln und erlöste große Gebärde.~ FINIS. Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript. Druck der Offizin W. Drugulin in Leipzig. INSEL-VERLAG ZU LEIPZIG ~CARL STERNHEIM~: _DON JUAN._ Eine Tragödie. Geheftet M. 5.--, in Halbleder M. 8.--, in Ganzleder M. 15.-- _ULRICH UND BRIGITTE._ Ein dramatisches Gedicht. _Zweite Auflage._ Geheftet M. 3.--, in Leinen M. 4.-- ~AUS DEM BÜRGERLICHEN HELDENLEBEN~: I. _Die Hose._ Lustspiel. Geheftet M. 3.--, in Halbpergament M. 4.-- II. _Die Kassette._ Komödie in fünf Aufzügen. Geh. M. 3.--, in Leinen M. 4.-- III. _Bürger Schippel._ Komödie in fünf Aufzügen. Geh. M. 3.--, in Leinen M. 4.-- IV. _Busekow._ Eine Novelle. (Kurt Wolff Verlag, Leipzig.) V. _Der Snob._ Komödie in drei Aufzügen. Geheftet M. 3.--, in Leinen M. 4.-- VI. _Der Kandidat._ Politische Komödie in vier Aufzügen nach Flaubert. Geheftet M. 3.--, in Leinen M. 4.--. +----------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription | | | | Inkonsistenzen wurden beibehalten, wenn beide Schreibweisen | | gebräuchlich waren, wie: | | | | deines -- deins | | Durchziehen -- Durchziehn | | Geschlechtes -- Geschlechts | | sehen -- sehn | | ungeheuere -- ungeheure | | | | Interpunktion wurde ohne Erwähnung korrigiert. | | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen: | | | | S. 9 »gibts« in »gibt's« geändert. | | S. 12 »largen Charakter« in »langen Charakter« geändert. | | S. 12 »Ansehn« in »Ansehen« geändert. | | S. 13 »kanns« in »kann's« geändert. | | S. 16 »schneidets« in »schneidet's« geändert. | | S. 17 »ists« in »ist's« geändert. | | S. 18 »gibts« in »gibt's« geändert. | | S. 22 »Ists« in »Ist's« geändert. | | S. 23 »Sechszehnmal« in »Sechzehnmal« geändert. | | S. 29 »Bädeker« in »Baedeker« geändert. | | S. 31 »wärs« in »wär's« geändert. | | S. 32 »THEOBAD« in »THEOBALD« geändert. | | S. 33 »brennts« in »brennt's« geändert. | | S. 37 »siehts« in »sieht's« geändert. | | S. 38 »bins« in »bin's« geändert. | | S. 38 »Glaubs« in »Glaub's« geändert. | | S. 44 »juckts« in »juckt's« geändert. | | S. 45 »sich selbt« in »sich selbst« geändert. | | S. 53 »unsre« in »uns're« geändert. | | S. 56 »solls« in »soll's« geändert. | | S. 61 »obs« in »ob's« geändert. | | S. 65 »Anormalische« in »Anomalische« geändert. | | S. 65 »wars« in »war's« geändert. | | S. 69 »solls« in »soll's« geändert. | | S. 72 »übers« in »über's« geändert. | | S. 77 »Christian Frack« in »Christian im Frack« geändert. | | S. 77 »Fiels« in »Fiel's« geändert. | | S. 79 »gibts« in »gibt's« geändert. | | S. 80 »erschlägts« in »erschlägt's« geändert. | | S. 80 »Habs« in »Hab's« geändert. | | S. 81 »gibts« in »gibt's« geändert. | | S. 82 »gibts« in »gibt's« geändert. | | S. 83 »mans« in »man's« geändert. | | S. 84 »eiserne Kreuz« in »Eiserne Kreuz« geändert. | | S. 95 »mans« in »man's« geändert. | | S. 96 »vor lauterem Wald« in »vor lauter Wald« geändert. | | | +----------------------------------------------------------------+ End of the Project Gutenberg EBook of Der Snob, by Carl Sternheim *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SNOB *** ***** This file should be named 60089-8.txt or 60089-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/6/0/0/8/60089/ Produced by Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This transcription was produced from images generously made available by Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State Library.) 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60089-8
The Project Gutenberg EBook of Der Snob, by Carl Sternheim This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org/license Title: Der Snob Author: Carl Sternheim Release Date: August 11, 2019 [EBook #60089] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SNOB *** Produced by Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This transcription was produced from images generously made available by Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State Library.) +------------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription | | | | Gesperrter Text ist als _gesperrt_ dargestellt, Kursivschrift | | als ~kursiv~. | | Eine Liste der Änderungen befindet sich am Ende des Buchs. | +------------------------------------------------------------------+ [Illustration] DER SNOB Komödie in drei Aufzügen von Carl Sternheim Leipzig im Insel-Verlag 1914 PERSONEN: THEOBALD MASKE LUISE MASKE, seine Frau CHRISTIAN MASKE, sein Sohn Graf ALOYSIUS PALEN MARIANNE PALEN, seine Tochter SYBIL HULL Eine Jungfer Ein Diener DER ERSTE AUFZUG ~Möbliertes Zimmer Christian Maskes.~ ERSTER AUFTRITT Christian ~erbricht einen Brief~: Das ist grotesk! ~An einer Tür~: Komm heraus, Sybil. SYBIL ~tritt auf~: Was gibt's Wichtiges? CHRISTIAN: Mein Vater im sechzigsten Jahr hat sich einen Bastard geleistet. In der Klemme verlangt er "Verauslagung der durch geburtshilfliche Praktiken ihm erstandenen Verpflichtungen" von mir. Was sagst du? SYBIL: Nichts, als daß ich durch dich in gleicher Lage sein möchte wie jene Frau durch deinen Erzeuger. CHRISTIAN: Laß die Albernheiten. Es ist himmelschreiend und wird von mir aus ein unerwartetes Gegenspiel haben. Ferner -- ich habe auch mit dir ernst zu reden. SYBIL: Ich muß heim. CHRISTIAN: Der gestrige Tag war in meinem Leben ein Abschnitt. Vier Jahre, die du mit mir lebst, sahst du mich von Tag zu Tag meinem Ziel näher kommen. SYBIL: Du hast wie ein Neger gearbeitet. CHRISTIAN: Die unter meiner Mitwirkung gegründeten afrikanischen Minen prosperieren, es ist kein Zweifel, der gestern in der Sitzung des Aufsichtsrats gemachte Vorschlag, mich zum Generaldirektor der Gesellschaft zu ernennen, wird von den Aktionären akzeptiert. SYBIL: Welcher Erfolg! CHRISTIAN: Ich besitze heimlich ein Fünftel der Aktien, die ich kaufte, als sie niemand mochte. Was ich, nunmehr im Sattel, an Möglichkeiten des Vermögens und sozialer Stellung für mich voraussehe, ist glänzend. SYBIL: Wer wies zuerst auf deine kaufmännischen Talente und machte dem traurigen Studium der Philologie ein Ende? CHRISTIAN: Du hobst mich aus dem tiefsten Elend, lehrtest mich Kleider anständig tragen, gabst mir, soweit es in deiner Macht stand, Umgangsformen. SYBIL: Was warst du für eine Erscheinung in zu kurzen Hosen und ausgefransten Ärmeln! CHRISTIAN: Gabst dich selbst dazu und Geld bisweilen. SYBIL: Das Entscheidende zuletzt -- mich selbst. Lebenssache. CHRISTIAN: Ganz klar möchte ich einmal vor uns beide hinstellen, wie tief ich dir verpflichtet bin; an so entscheidendem Tag zurückblicken ... SYBIL: Laß das. CHRISTIAN: Voll Dankbarkeit, um mich alsdann zu vergleichen und es für immer zu vergessen. SYBIL: Das wäre bequem. CHRISTIAN: Ich trete in kein neues Viertel meines Lebens, ohne daß aus dem vergangenen die Schuld bezahlt ist. In dieses Buch habe ich nach bestem Wissen und Gewissen aufgezeichnet, was du an Aufwendungen für mich geleistet. Dazu wurde die Summe fünfprozentig von mir verzinst. SYBIL: Christian! CHRISTIAN: Möglichkeiten, die du durch den Umgang mit mir versäumtest, sind ins Auge gefaßt, und ich kam auf eine Summe von vierundzwanzigtausend Mark, die ich dir schulde, und die du heute überwiesen erhältst. SYBIL ~nach einer Pause~: Mit Empfindlichkeiten zu kommen ... CHRISTIAN: Die du selbst in entscheidenden Dingen mir aberzogen, mit eisernem Besen aus mir herausgekehrt hast. Heute ist Abrechnung. Kein Fehler in der Addition und im Kalkul! Unsere Beziehungen im Vergangenen sind durch meine wirtschaftliche Gebundenheit in ihrem langen Charakter erklärt. Für die Zukunft hätte ich solche Begründung vor mir selbst nicht mehr. Um den nötigen Glauben an die Wirklichkeit meiner neuen Stellung zu haben, muß sich mit ihr alles um mich entsprechend ändern. Entweder du ziehst diesen Schluß der Vernunft ... SYBIL: Er heißt? CHRISTIAN: Wie sage ich es? Einfach mehr Distanz in Zukunft. Die genannte Summe und eine monatliche Apanage zwischen uns gesetzt, sorgt schon dafür. SYBIL: Ich bin in Empfindungen zerrissen. CHRISTIAN: Du weißt, ich habe nach deinen Lehrsätzen recht. Nur schmerzt es, sie auf dich angewendet zu sehen. Ich trete in das öffentliche Leben. Nirgends ein Fehler im Kalkul. SYBIL: Die Welt gestattet dir zwar eine bezahlte ... CHRISTIAN ~hält ihr den Mund zu~: Und so weiter. SYBIL: Bin ich denn in deinem Leben der einzige Punkt, der für die Zukunft bedenklich war? Gibt es nichts, das dich entscheidender in deinem Trieb, bürgerliches Ansehen zu gewinnen, stören könnte als ich in meiner bisherigen Stellung zu dir? CHRISTIAN: Du weißt es. SYBIL: Willst du folgerichtig handeln ... CHRISTIAN: Ich mache kein Hehl daraus. Was ich selbst bin, Erscheinung und Gedankenwelt, dafür bürge ich der Welt. Aber meine Eltern, dir ist es bekannt, sind Leute aus dem Volk. SYBIL: Tauchst du also jetzt in die Welt auf ... CHRISTIAN: Laß mich meine Gedanken selbständig denken. Du weißt, ich kann's. Leute aus dem Volk. Meine gute Mutter besonders. SYBIL: Sie konnten dir das gesellschaftlich Primitivste nicht beibringen. CHRISTIAN: Der Weg, den ich mache, ist durch meine Geburt ein besonders ungewöhnlicher. Daß es falsch wäre, durch Hervorzerren der Erzeuger den Abgrund zwischen Herkommen und errungener Stellung offenbar zu erhalten, liegt auf der Hand. Es wäre mehr als töricht-geschmacklos. SYBIL: Und da du heute nur den guten Geschmack anbetest ... CHRISTIAN: Ironien auf dem schlechten Gewissen deiner eigenen Vergangenheit wirken nicht. Was weiß irgend jemand von _deinen_ Eltern? Du hast sie einfach unterschlagen, still gemordet. Vielleicht saß dein Vater im Zuchthaus? Hieß er wirklich Hull? ~Er lacht~: Du hättest doch den Reiz, von dem du lebst. Er hatte in jedem Falle Eigenschaften, da der Glanz solcher Tochter von ihm ausging. Du unterbrachst mich mit deiner Zwischenrede. Die Differenz zwischen Herkunft und Heute ist erläutert. Doch kommt noch hinzu: das Bewußtsein, überhaupt zu verdanken, sei es das Leben, ist in meiner Rüstung ein schwacher Punkt. Wie alles in meiner Welt aus mir entstand, wie ich nur auf mich beziehe, für mich hoffe und fürchte, muß ich frei sein von Rücksicht auf jedermann, um zu marschieren. Und so fürchte ich Vater und Mutter. SYBIL: Was willst du tun? Ihnen eine Summe bieten, daß sie fortbleiben? CHRISTIAN: Mein Vater ist nicht schüchtern; hier verlangt er sie selbst. SYBIL: Du hast gelernt mit Geld umgehen. CHRISTIAN: Ich habe allerhand gelernt. SYBIL: Und da du konsequent bist, muß, wer dich liebt, zwar schweren Herzens zustimmen. CHRISTIAN: Die gleiche Einsicht hoffe ich von den Eltern. Wir sind einig? SYBIL: Ich erlebe die Änderung gerade: dich aus einer gewissen Entfernung mit einer Spur von Unterwürfigkeit ansehen. CHRISTIAN: Dinge gewinnen nicht an Wahrheit, wenn man sie ausspricht; wenn man sie tut. SYBIL: Doch an Klarheit. CHRISTIAN: Kluger Kopf. SYBIL: Ich liebe dich, Christian. Du bist der Fehler in der Rechnung meines Lebens. Ich gäbe die vierundzwanzigtausend für deinen Besitz jetzt. CHRISTIAN: So verdienst du in Not und Elend zu sterben. Da nimm einen Kuß umsonst. -- Du hast mir die Krawatte verschoben. SYBIL: Sie saß schon vorher infam. CHRISTIAN: So viel ich von dir lernte, das allein faßte ich nicht: den tadellosen Sitz einer Krawatte. Zeig ihn mir zum hundertsten Male. SYBIL ~bindet die Krawatte um den Hals einer großen Vase~: Zuerst einfaches Schlingen des Knotens. Zweitens Unterlegen des einen Endes als Masche. Durchziehen des anderen drittens. CHRISTIAN: Steht rechts ein Stück vor. SYBIL: Man schneidet's mit der Schere fort. CHRISTIAN: Kostet jedes Binden eine Krawatte. SYBIL: Und bringt ein: die Anerkennung der Verstehenden. CHRISTIAN: Worauf es bei allen Dingen ankommt. SYBIL, ~tiefer Knicks~: Ergebene Dienerin, Herr Generaldirektor. CHRISTIAN: Keinen Scherz. SYBIL: Ich habe vollkommen begriffen. ~Sybil exit.~ ZWEITER AUFTRITT CHRISTIAN: Angenehme Person alles in allem. ~Am Schreibtisch~: Aber nun den Verstand zusammengenommen. ~Er schreibt~: »Verehrter Graf Palen, die Einladung zum 26. d. Monats nehme ich mit ergebenem Danke an.« Ergebener Dank? Wollen sehen. »Empfehlungen an die Komtesse.« Zu familiär. Teils zu ergeben, teils zu vertraut. Vor allem darf er nicht merken, wie gern ich komme. Das Papier ist falsch. Besser Bogen mit Firmenkopf: Sekretariat der Monambominen. »Sehr verehrter Graf von Palen«. Wie das eingeschobene »_von_« distanziert! Die Sache muß als erste schriftliche Äußerung meinerseits in diesen Kreis hinein tadellos korrekt und doch irgendwie bedeutend sein. Wie schreibt er selbst? »Lieber Herr Maske, wollen Sie am 26. mit uns zu Abend essen, tout en petit comité? Der Ihre.« Auf schlichtem billigen Papier. Das hat den Ton freundschaftlich oberflächlicher Vertrautheit. »_Abendessen_« ist himmlisch! Bleiben wir um einen Grad förmlicher, aber so, daß immerhin -- ich möchte eine lateinische Vokabel einstreuen, die den Tenor männlich macht. Wie wird man mit vier fünf Silben solchen Gehirnen einen Augenblick wichtig? Das ist eine Preisfrage, aber sie muß gelöst werden. Einen Fünfsilber mit viel Vokalen und rollendem Takt für den Anfang. ~Er geht durch das Zimmer~: Dúm da da dúm da. Únaufgefórdert. Die zweite Silbe ist für mein Ohr länger als die erste. Falscher Takt. -- Pränumerándo -- das ist's im Ton, gibt aber natürlich keinen Sinn. Dúm da da dúm da. Ich muß es finden. DRITTER AUFTRITT THEOBALD MASKE ~tritt auf~: Da bin ich selbst. Mutter wartet unten. CHRISTIAN: Vater! THEOBALD: Das Malheur geschah gegen meinen Willen. Mir sind Knalleffekte zuwider. Aber bei Frauenzimmern stets das gleiche Unmaß. Jetzt soll man der Sache ins Auge sehen. CHRISTIAN: Seit deiner Pensionierung gibst du jedes Jahr eine Überraschung. THEOBALD: Ich hätte aus meinem Geleise nicht heraus sollen. Du hast mich zu früh zum Nichtstun gebracht. Die Kräfte sind nicht lahm und gehen nach allen Seiten in die Mannigfaltigkeit auseinander. Ich muß mit ihr erst einen Modus finden. CHRISTIAN: Ich rufe vor allem Mutter herauf. THEOBALD: Wir haben erst unsere Angelegenheit. CHRISTIAN: Die ordnen wir mit allem andern, ohne daß sonst jemand versteht. THEOBALD: Wie? CHRISTIAN: In unseren Gesprächen wird eine Summe genannt werden. THEOBALD: Inwiefern? Was gibt's? CHRISTIAN: Eine Summe sage ich, ein vielfacher Tausender. Du darfst, werden wir beide während der Auseinandersetzung sonst einig, stillschweigend tausend Mark für deine Verlegenheit hinzurechnen. THEOBALD: Du hast Bedingungen? CHRISTIAN: Ich stelle Bedingungen. THEOBALD: Da bin ich neugierig. CHRISTIAN ~am Fenster~: Dort steht sie. ~Er winkt~: Sie hat gesehen, kommt. -- Aber das unmögliche Kostüm! Du sagtest vorhin zu Anfang ein Wort, das mir auffiel. THEOBALD: In welchem Zusammenhang? CHRISTIAN: Es hatte einen anderen Rhythmus; aber es schallte doch. Erinnere mich später, gleich ... THEOBALD: Tausend Mark? CHRISTIAN: Wenn wir sonst ins reine kommen. ~Exit.~ THEOBALD: Da bleibe ich gespannt. VIERTER AUFTRITT ~Christian und Luise Maske treten auf.~ THEOBALD: Setz deinen Hut gerade, Luise. Der steht dir in die Stirn wie ein Studentenstürmer. Wir wollen hierher in die Großstadt ziehen, ich werde mich mit ihr in irgendeiner Beziehung einlassen und mich inwendig lebendig erhalten. LUISE: Es ist so eine Idee von Vater. CHRISTIAN: Zu einer Zeit, da meine angestrengte Aufmerksamkeit dem Ziel gilt, das ich vorhabe, könnte ich für euch keinen freien Augenblick aufbringen. LUISE: Dann freilich -- ich dachte es schon. THEOBALD: Wir sind letzthin gewöhnt, du kümmerst dich wenig um uns. Was ist das für ein Ziel? CHRISTIAN: Ich habe Aussicht, Generaldirektor der Gesellschaft zu werden, für die ich arbeite. LUISE: General! THEOBALD ~herrscht sie an~: Direktor! CHRISTIAN: Soll ich es zu Außergewöhnlichem bringen, müßt ihr Rücksicht nehmen, und diese Rücksicht fordert vor allem ... THEOBALD: Erlaube ... Wir haben uns zwanzig Jahre lang krumm gelegt, gaben dir eine Bildung, die sich sehen lassen kann. Oft unterblieb ein Sonntagsbraten. Denn wir liebten dich affenartig. LUISE ~leise zu sich~: Generaldirektor. CHRISTIAN: Dúm da da ... THEOBALD: Wir duckten uns, damit du in bessere Welt kommen konntest. Darüber sind wir zu Jahren gekommen, und heute steht es so: wollen wir noch etwas von dir haben, müssen wir uns beeilen. CHRISTIAN: Ich will sofort einen groben Irrtum beseitigen: seit meinem sechzehnten Jahr ist mir kein einziges Opfer deinerseits für mich bekannt. THEOBALD: Das ist stark! LUISE: Vater! CHRISTIAN: Ich habe dich von jeher in der Erinnerung, wie du im Haus vierfünftel des Platzes einnahmst, jeder Gedanke um dich kreiste. Schon auf dem Gymnasium erhielt ich mich durch Stundengeben, mein Studium und ferneres Leben bezahlte ich selbst. Wer einen siebzehnjährigen Sohn zwang, das Mittagsmahl in Gegenwart des Vaters stehend einzunehmen ... THEOBALD: Affenartig liebte ich dich. Du warst ein leckerer kleiner Kerl. Ist's wahr, Mutter? LUISE ~zeigt~: So klein. CHRISTIAN: Du hast, stets mit dir selbst beschäftigt, mein Leben bis zum heutigen Tag nicht angeschaut. In letzter Zeit mag dir eine sehr deutlich ins Auge springende Veränderung, meine breitere Lebensführung aufgefallen sein. THEOBALD: Das ist langweilig. Kurz -- was soll sein? CHRISTIAN: Ihr trefft mich an einem Tag, an dem ich vergangenes Leben bilanziere. Da nehme ich keinen falschen Posten auf. LUISE: Was meint er? THEOBALD: Wirst du schon hören. CHRISTIAN: Was an Aufwendungen wirklich für mich geleistet ist, habe ich nach bestem Erinnern in dieses Buch aufgezeichnet. Dazu wurde die Summe mit fünf vom Hundert verzinst. THEOBALD: Du willst eine Abrechnung? CHRISTIAN: Ja. THEOBALD ~setzt sich~: Laß sehen. ~Er setzt eine Brille auf.~ LUISE: Was meinst du? CHRISTIAN: Es kommt schon, Mutter. THEOBALD ~liest~: Unterhalt vom ersten bis zum sechzehnten Jahr -- pro Anno sechshundert Mark. Sechshundert Mark einschließlich Doktor und Apotheker ist etwas mager. CHRISTIAN: Ich war nicht krank. THEOBALD: Masern und Stockschnupfen fallen mir aus dem Kopf ein. Ich sehe deine ewige Rotznase vor mir. Wir wandten Kamillenspülungen an. LUISE: Eines Morgens hattest du vierzig Grad Fieber, ich fühlte mein Herz nicht mehr. CHRISTIAN: Die eingesetzte Summe reicht aus. LUISE: Kreisrunde rote Flecken auf dem ganzen Leibchen. THEOBALD: Sechzehnmal sechshundert ist neuntausendsechshundert Mark. Sieh mal an. »An einmaligen Zuwendungen.« Wie willst du dich sämtlicher Zuwendungen durch sechzehn Jahre erinnern? Die sind Legion. Der Posten ist von vornherein dubios. CHRISTIAN: Du findest von meiner Seite euch besonders in der letzten Zeit Gegebenes nicht gegenvermerkt. THEOBALD: Das wäre noch schöner. CHRISTIAN ~zu sich~: Ich gäbe etwas für das Wort. ~Er starrt in den Brief auf dem Schreibtisch.~ LUISE ~schüchtern zu ihm~: Und einmal das Geschwür am Hals. CHRISTIAN: Richtig, Mütterchen. THEOBALD: Ein halbes Dutzend Hemden von Hemdentuch nebst Kragen, zwei Paar Stiefel, als ich zur Universität ging -- fünfzig Mark. Ein goldener Ring -- da hört sich alles auf! Hat die Frau dem Burschen doch den Ring gesteckt. Und ich kehrte damals das Unterste zu oberst, ihn wiederzufinden. CHRISTIAN: Er war Mutters Eigentum und ihr Geleit ins Leben. THEOBALD: Mit hundert Mark ist er bezahlt. LUISE: Trägst du ihn noch? CHRISTIAN ~zeigt ihn am Finger~: Obwohl er mir täglich enger wird. THEOBALD: Immerhin eine tolle Angelegenheit und echt Luise. Endsumme rund elftausend. Samt Zinsen elftausendachthundert Mark. CHRISTIAN ~mit Betonung~: Elftausendachthundert. ~Räuspert sich.~ THEOBALD: Verstehe; die du mir zahlen willst? CHRISTIAN: Die ich dir schulde. THEOBALD: Du willst dich dieser Schuld entledigen? CHRISTIAN: Ich werde bezahlen. LUISE ~seine Hand in Händen~: Man kann ihn weiter machen. THEOBALD: Sieh einmal an! Das nenne ich nobel, mein lieber guter Junge. Apart, wie du die Geschichte behandelst. ~Er umarmt ihn~: Es liegt etwas Forsches darin, und wir wissen das durchaus zu würdigen. Man wäre also auf die vollkommenste Weise einig. CHRISTIAN: Du sprachst die Absicht aus, deinen Wohnsitz hierher zu verlegen. Das will ich nicht. THEOBALD: Machst du mir Vorschriften? CHRISTIAN: Ich erweise dir mit der Auszahlung des Geldes eine Gefälligkeit und erwarte eine andere von dir. THEOBALD: Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt. LUISE: Der Junge muß doch Gründe haben. THEOBALD: Das Weib bringt mich um den Verstand! Es ist in ihrer Gegenwart kein vernünftiges Wort möglich. CHRISTIAN ~geleitet Luise zur Tür~: Willst du dir ansehen, wie ich sonst wohne und schlafe, Mutter? LUISE ~leise~: Bleib nur ruhig. Es geschieht alles, wie du willst. ~Exit.~ CHRISTIAN: Euer Hiersein würde, wie gesagt, Kräfte brechen, die ich insgesamt brauche. THEOBALD: Ist es die Bedingung für die elftausendachthundert und so weiter? CHRISTIAN: Voraussetzung. THEOBALD: Da heißt es einfach überlegen: wo liegt schließlich unser Vorteil? Denn Affenliebe einmal beiseite, man muß in gesicherten Bezirken leben. Was wirft die Summe für eine Rente? CHRISTIAN: Sechshundert Mark in Industriepapieren. THEOBALD: Bist du von Gott verlassen! Mein Geld bekommt die Sparkasse. CHRISTIAN: Rund fünfhundert. THEOBALD: Das ist nicht üppig. Elftausend läßt sich an. Fünfhundert ist für die Katze, und dafür soll ich meine Freizügigkeit hergeben, das einzige Gut des bescheidenen Mannes? Darüber mußt du mal ruhig nachdenken, Gründe und Gegengründe erwägen. Nein -- verspräche ich dir wirklich auf Manneswort, wir bleiben, wo wir sind ... CHRISTIAN: Das will ich nicht. THEOBALD: Das willst du nicht; dies nicht und jenes nicht? Um alles in der Welt, was soll denn hier vor sich gehen? CHRISTIAN: Dein heutiger Überfall beweist, ich wäre auch in Zukunft vor euren Besuchen nicht sicher. THEOBALD: Überfall -- das ist ja! CHRISTIAN: In dem erörterten Sinne gemeint. Mein Leben steht vor einer vollkommenen Wendung. Ich muß, für die nächste Zeit vor allem, von verwandtschaftlichen Rücksichten frei sein. THEOBALD: Das ist in der Weltgeschichte beispiellos! Und wir, die sich deinetwegen die Butter vom Brot sparten, Opfer auf Opfer häuften trotz deiner Einrede? Sind denn Eltern ohne Opfer denkbar? Bedeutet nicht jeder Atemzug einer so kleinen Range Schmälerung irgendeines Genusses der Alten? Stört sie nicht im Schlaf, am Mittagstisch, in jeder Bequemlichkeit? Hat sie doch immer einen Defekt, den man mit Ärger und Kosten ausbessern muß. Bald bläst sie vorn, bald hinten nicht. Dazu eine Reihe alberner Feste, um die man sich inkommodiert. ~Zu Christian, der schweigend in einem Lehnstuhl sitzt, laut~: Schöne Kindesliebe das! ~Schlägt mit geballter Faust auf einen Tisch~: Schöne Kindesliebe! LUISE ~steckt den Kopf durch die Tür und macht, von Theobald ungesehen, Christian beruhigende Zeichen~: Ich sorge schon. THEOBALD: Wie? ~Da Christian still bleibt, wirft er sich entfernt von ihm in einen Stuhl und sagt ruhig~: Hätte ich das gewußt, im ersten Bade wärest du ersäuft. ~Pause.~ THEOBALD: Und sind doch mehr als hundert Kilometer von dir entfernt. Das ist die vielgerühmte Kindesliebe. Ja, ja. ~Er lacht auf~: Ha! Und praktisch? Wie denkst du dir denn praktisch die Angelegenheit? Kommen wir auch in den gewohnten Verhältnissen mit meiner Pension und den fünfhundert zur Not aus, kein Mensch wird uns zumuten, die Unbequemlichkeiten der Übersiedlung, Schwierigkeiten neuer Wohnsitzgründung ohne ein Äquivalent auf uns zu nehmen. CHRISTIAN: Das wird kein Mensch euch zumuten. THEOBALD: Ohne ein bedeutendes Äquivalent. Wer will es leisten? CHRISTIAN: Unter Umständen ich. THEOBALD: Sieh mal an. CHRISTIAN: Wir haben eine ganze Reihe durch landschaftliche Reize und ökonomische Vorteile ausgezeichneter Städte auch in Europa, ziehst du nicht von vornherein Amerika vor. THEOBALD: Was?! CHRISTIAN: Gut, gut. ~Er hat einen großen Atlas und einen Baedeker zur Hand genommen~: Es käme zum Beispiel Brüssel in Frage. ~Liest aus dem Buche~: Brüssel, des Königreichs Belgien Hauptstadt, mit achthunderttausend Einwohnern. Die Stadt liegt in fruchtbarer Gegend an den Ufern der Senne, eines Nebenflusses der Schelde. Die Oberstadt mit den Staatsgebäuden ist Sitz der Aristokratie und der vornehmen Gesellschaft. THEOBALD, ~der bequem sitzt und andächtig zuhört~: Nicht übel, zeig das Buch. ~Er liest vor~: »Und der vornehmen Gesellschaft. Sprache und Sitte französisch.« Und du glaubst, ein Deutscher von Schrot und Korn läßt sich dazu herbei, welsche Sitten anzunehmen? Basta! CHRISTIAN: Wohin ich in allererster Linie dachte, ist Zürich. Ein völlig idealer Aufenthalt, ein kleines Paradies in jeder Hinsicht. Und die Sprache ist Deutsch. THEOBALD: Laß etwas davon hören. CHRISTIAN ~liest aus einem anderen Bande vor~: Mit annähernd zweihunderttausend Einwohnern ist Zürich die bedeutendste Stadt der Schweiz am Züricher See und der immergrünen Limmat. THEOBALD: Immergrün sagt man sonst vom Tannenbaum. CHRISTIAN: An der Westseite fließet die im Frühjahr reißende Sihl. THEOBALD: Die ist schon überflüssig, Wasser wär's genug. Bedauerlich, daß ich nicht schwimmen kann. Christian ~liest~: Die Lage der Stadt ist herrlich an dem kristallklaren See, dessen sanft ansteigende Ufer mit hohen Häusern, Obst- und Weingärten besät sind. THEOBALD: Niedlich. CHRISTIAN ~liest~: Im Hintergrund die schneebedeckten Alpen, ganz links grüßt der gewaltige Rücken des Glärnisch. ~Er zeigt im Atlas~: Hier das Weiße! THEOBALD: Teufel! CHRISTIAN ~liest~: Die Küche ist gut. Die Bevölkerung derb und bieder. THEOBALD: Sozusagen. CHRISTIAN: Dazu Ausflüge in die hinreißende Umgebung. THEOBALD: Das reine Kanaan. CHRISTIAN: Luzern und Interlaken, ja das gesamte Alpenland wird dir unmittelbar erreichbar, gewissermaßen Eigentum. Ahnst du, was ein Alpenglühen bedeutet? THEOBALD: Was denn weiter? CHRISTIAN: Ein Naturschauspiel von fulminanter Großartigkeit, ein Nonpareille. In Zürich könnte ich mit der Bedingung, ihr überlaßt mich die nächsten Jahre durchaus mir selbst, deine Bezüge zu einer ausreichenden Rente aufrunden. THEOBALD ~nach einer Pause~: Ich habe rein menschliche Bedenken. CHRISTIAN: Unterlaß alle Anmerkungen. THEOBALD: Man soll sich aussprechen. CHRISTIAN: Das Leben eines Menschen meiner Art setzt sich aus Fakten zusammen. Mit Gesprächen hältst du mich auf. Hinter diesem wartet ein anderes Wichtiges. THEOBALD: Sechzig Jahre bin ich heute, deine Mutter fast ebenso alt. Wir haben im Leben nicht viel Gutes gehabt, bleiben auch nicht mehr lange in dieser Welt mit dir beisammen. CHRISTIAN: Spürst du nicht, dieser Ton ist machtvolleren Dingen gegenüber eindruckslos? Kommt schon die Stunde, wo wir, einzelnes erläuternd, bequem davon reden können. Jetzt gehts Schlag um Schlag. Zweitausendvierhundert Franken kommen von mir aus jährlich zu deinen Einkünften. In drei Wochen seid ihr übersiedelt. Hurtig, Vater, mir brennt's in den Eingeweiden. Der Kampf um die sichtbare Stelle im Leben ist gewaltig, der Menschen unzählige. Wo ich einen Fußbreit auslasse, drängt eine Legion den Schritt ein. THEOBALD: Ich bin ganz paff. Habe nie so eine Kreatur gesehen. Wie soll ich über all diese Novitäten ins reine kommen, wann einsehen, wo für mich der höhere Sinn darin sich zeigt? CHRISTIAN: Hier, jetzt. Fünf Minuten gebe ich dir. THEOBALD: So folge ich dir unentschieden und werde wie ein Begossener und Halbertrunkener sein. CHRISTIAN: Vertraue! THEOBALD: Wo soll für mich der höhere Sinn stecken? CHRISTIAN: Später. Abgemacht, Vater? THEOBALD: Donner und Doria! Meine ganze Welt ist durcheinander. CHRISTIAN: Zweitausendvierhundert, das ist neunzehnhundert Mark. THEOBALD: Und fünfhundert -- macht mit dem Meinen annähernd fünftausendsechshundert. CHRISTIAN: Siebentausend Franken. ~An der Tür~: Mutter! THEOBALD: An der Limmat? Ich bin starr. CHRISTIAN ~reicht ihm Atlas und Reisebücher~: Informiere dich. LUISE ~tritt auf, leise zu Christian~: Ich sorge schon, daß alles geschieht. Dies Tuch auf deinem Nachttisch, solche Wäsche, Spitze und Batist -- ach Christel, sei vorsichtig mit den Frauen. Verführung zum Genuß, ich weiß, jedem kommt es einmal. Aber hat man dann Kinder, und wird Generaldirektor und kann stolz vor Gott sagen: meine Mutter war makellos! THEOBALD ~fassungslos~: Unter Tirolern! LUISE: Das ist auch etwas. Ein herrlicher Lohn. CHRISTIAN: Gewiß, Mutter. ~Umarmt sie.~ LUISE ~im Hinausgehen~: Mein Christel. ~Luise, Theobald, Christian exeunt.~ FÜNFTER AUFTRITT CHRISTIAN ~kommt schnell zurück~: Einmal hatte ich das Wort beinahe. ~Er sieht in den Brief~: Er sagte es im Zusammenhang mit seiner zu frühen Pensionierung, und daß jetzt seine Kräfte schweiften -- wohin -- wohin? In -- Mannigfaltigkeit! Das ist es! ~Er schreibt~: »Mannigfaltigkeit der Geschäfte, verehrter Graf Palen, verhindert mich leider, Ihre liebenswürdige Einladung anzunehmen.« So ist es eine Absage geworden, doch wer weiß, wozu sie gut ist. ~Es hat geläutet. Exit.~ SECHSTER AUFTRITT ~Christian und Graf Palen treten gleich darauf auf.~ GRAF: Ich komme, die angeschnittene Frage Ihrer Ernennung persönlich noch einmal mit Ihnen durchzusprechen. Der Aufsichtsrat muß, ehe er sie den Aktionären gültig anbietet, bis ins letzte wissen, wessen sich die Gesellschaft von Ihnen zu versehen hat. Als Feind geschäftlicher Auseinandersetzungen bat ich Baron Rohrschach, den Besuch zu übernehmen, doch fand man es schicklicher, ich ordne die Sache, da meine Beziehungen zu Ihnen vertrautere sind. CHRISTIAN: Danke, Graf. GRAF: Die Monambominen sind die Unternehmung einer kleinen Gruppe von Menschen, die denselben Überzeugungen leben. Haben nun auch Geschäfte und gesellschaftliche Anschauung nicht ohne weiteres einen Zusammenhang, ist doch einzusehen, man will einen Mann an der Spitze seiner Geschäfte, der der ganzen Lebensauffassung nach zu uns gehört. ~Christian verbeugt sich.~ GRAF: Wir glauben nun, in Ihnen den gefunden zu haben, der mit Tüchtigkeit die noch seltenere Gabe vereinigt, ein Empfinden für die durch Kult errungenen Werte des feineren Geschmacks zu besitzen, das insbesondere da am Platz ist, wo die brutale Wahrheit der Zahlen ein bedeutendes Gegengewicht fordert. ~Christian verbeugt sich.~ GRAF: Sie haben sich mir gegenüber des öfteren in Fragen des Lebens in einem Sinne geäußert, der durchaus mit der Meinung unserer Kreise übereinstimmt, an Schärfe dieselbe fast übertrifft. Ich würde mit dem Wortschatz der liberalen Partei ihn als aristokratisch reaktionär bezeichnen, ~er lacht.~ und zwar, was mich am stärksten berührte, die Eindringlichkeit Ihres Vortrages schien auf Herzenssache zu deuten. Bitte? CHRISTIAN: Es ist so. GRAF: Merkwürdig. Gibt zu Überlegungen Anlaß. Ich bin durchdrungen. Sie stammen aus einem ausgezeichneten Haus. Ihre Erziehung ist vollendet sogar in dem Sinne, daß Sie erkannten, auf der Basis gewisser selbstverständlicher Besonderheiten, die wir errangen, ist das unauffällig Uniforme das Korrekte. Man sieht's an Gesten, aber auch am Sitz einer Krawatte. Kurz und gut, was uns noch fehlt, ist irgendeine von Ihnen gegebene Versicherung, die Niederlegung in einen verpflichtenden Satz, den wir den Beteiligten als Ihr Bekenntnis vorstellen können. CHRISTIAN: Ich verstehe. GRAF: Bei einem Rohrschach bedeutet das Prädikat »Baron« gar nichts anderes als diesen Satz, vorausgesetzt, der Mann ist kein Deklassierter. Gewisse Garantien nach gewissen Richtungen. Bei Bürgerlichen können markante Taten von Vorfahren bedingungsweise Gewähr leisten. CHRISTIAN: Wovon in meinem Fall keine Rede ist. GRAF: Welches Urteil durchaus keinen Tadel einschließt. Auch in zu hohem bürgerlichen Ansehen gelangten Familien begnügt man sich mit diesem alle Mitglieder einschließenden Gut. Es reicht hin, Sie finden aus der in Ihnen von Voreltern aufgespeicherten gesellschaftlichen Überlegenheit das packende Wort. Ich habe nicht das Vergnügen, Ihren Herrn Vater, Ihre Eltern, kurz ... CHRISTIAN: Tot. Alles tot. GRAF: Und mit Genugtuung darf ich sagen, Sie genügen mir als Repräsentant. Ich sehe Sie ergriffen? CHRISTIAN: Ich bin's, Graf, in dem Augenblick, da ich aussprechen darf, was mein Herz seit der Jugend bewegt, da ich es sagen soll: nie habe ich eine andere Sehnsucht gehabt, als zu sein wie jene, die auch äußerlich sichtbar in einem Adelsdiplom den Adel der Taten ihrer Ahnen tragen, an ihrer Seite, von ihnen als Helfer angenommen, die Grundsätze zur Geltung bringen zu dürfen, deren geschichtliche Vertreter sie sind. Es steht mir nicht zu, aufzuzählen, welche Opfer ich diesem Ziele schon gebracht, doch bin ich bereit, Ihnen in die Hand zu schwören, mein irdisches Leben ist ihm einzig geweiht. GRAF: Sie sind ein prächtiger Kerl, aus einem Guß. In diesem Augenblick haben Sie mich überzeugt. Ich danke. Glaube für Ihre Ernennung bürgen zu können. Darf ich rauchen? Meiner Einladung zum Freitag werden Sie folgen? CHRISTIAN: Das heißt ... GRAF: Wie denn? CHRISTIAN: Also dann -- trotz der _Mannigfaltigkeit_ meiner Geschäfte. GRAF: Glaub's, daß Sie arbeiten. In meiner Tochter Marianne finden Sie einen Menschen, der an einem Charakter wie dem Ihren Gefallen hat. CHRISTIAN: Von den bedeutenden Gaben der Komtesse hörte ich mehrfach sprechen. GRAF: Enchanté, lieber Maske. CHRISTIAN: Nehmen Sie meinen Dank, Herr Graf. GRAF: Herr Graf? Also auch Sinn für die Nuance. CHRISTIAN: Auf dem Boden der Voraussetzung sonstiger Uniformität. GRAF: Geistreich und sehr charmant, lieber Freund. ~Exit.~ CHRISTIAN, ~der ihn bis zur Tür begleitet, kehrt zurück, sieht flüchtig in den Spiegel und beginnt dann, an einer Vase eine Krawatte zu binden~: Erstens einfacher Knoten. Unterlegen des einen Endes als Masche. Durchziehn des anderen. Und nun die Schere. ~Er schneidet~: Was dich ärgert -- dein linkes Auge, wirf es von dir. Diese Krawatte sitzt tadellos. Das ist erreicht! DER ZWEITE AUFZUG ~Salon bei Christian Maske.~ ERSTER AUFTRITT GRAF: Er muß nach Worten des Dieners sofort zurück sein. MARIANNE: Wir kamen zehn Minuten vor der festgesetzten Zeit. -- Da ist der Corot. GRAF: Der den Vorwand für unseren Besuch gibt. MARIANNE: Ein schönes Bild. Glück, mit solchen Dingen leben zu dürfen. GRAF: Es kann dir werden. MARIANNE: Als seine Frau? Ist es dein Ernst, Vater? GRAF: Ernst, Marianne. Beschäftigt uns beide nicht seit Wochen der Gedanke, ohne daß wir ihn erörtern? Des Mannes Auftreten ward letzthin so dringend ... MARIANNE: Liebt er mich? GRAF: Wollen wir nicht anders fragen? Nähmst du ihn auch, besäße er seine Reichtümer nicht, die uns aus einer Reihe schwieriger Umstände retten? MARIANNE: Auf diese Frage kann ich nicht antworten. Als du ihn die ersten Male brachtest, wußte ich kaum, wer er war; nichts von seiner Situation. Mein Gefühl entschied frei. Ich empfinde, wie jedes Ding, auf das er seinen Willen wirft, sich mit dem Glück, aus dem heraus man sich einer Naturkraft beugt, schließlich hingeben muß. GRAF: Tiens! MARIANNE: Ja, Väterchen, hier liegt Entscheidung für Marianne. GRAF: Ich hatte vorausgesetzt, du würdest Widerstände in dir zu besiegen haben. MARIANNE: Sie sind noch sämtlich unbesiegt. Wir kamen uns nicht nahe, unser Gespräch verließ die Konvention niemals, doch fühlte ich, trat er zu mir, und meine Person richtete sich angegriffen hoch, wie er, just er, mich völlig niederwerfen konnte. GRAF: Mich juckt's mit ihm. MARIANNE: Warum? Ist dir ein Zug von ihm bekannt, der nicht korrekt war? GRAF: Nein. MARIANNE: Lebt er nach unseren Gesetzen? GRAF: Durchaus. Doch gerade dagegen sträubt sich letzten Endes mein Sinn. Ich beobachte ihn seit zwei Jahren, und was mich anfangs rührte, entsetzt mich jetzt beinahe. Folgt wirklich dieser Bürgerliche seiner Natur, lebt er unser Leben, wodurch unterscheiden wir uns von ihm? Du weißt, ich halte Adel für ein Produkt der Züchtung im Hinblick auf Werte, die ihr Wesen in der Zeit haben, also nicht in einer Generation zu erringen sind. Wie der Herzog von Devonshire, von einem Heraufkömmling um die Pracht der Rasenflächen in seinen Gärten beneidet, und wegen der Pflege um Rat gefragt, zur Antwort gab, man müsse, um solche zu erhalten, nichts tun, als den Rasen früh morgens ein paar Jahrhunderte lang tüchtig bürsten. Voilà. Ich habe in meinem Leben Sonderliches zustande zu bringen nie versucht, war nur ein Adliger mit dem Bewußtsein angeborener Besonderheiten. Offenbart dieser Mann, es bedarf keiner Vorfahren, um gewisse unschätzbare Güter zu besitzen, bin ich in meiner Bedeutung vor mir selbst geleugnet. MARIANNE: Kann von einem außerordentlichen Verstand die Summe des uns Eigentümlichen nicht erfaßt, mit Eindringlichkeit der Arbeit an sich selbst langsame Veredelung durch Generationen nicht eingeholt werden? GRAF: Besitz, welcher Art er auch sei, wird ersessen. Fehlt ihm dieses Merkmal, ist er erborgt, und es kommt der Augenblick, wo ungünstige Beleuchtung, irgendein Mißgeschick, die Vorspiegelung aufdeckt. Den Moment erwarte ich bei diesem Manne. MARIANNE: Mithin stehst auch du in sein Leben verstrickt. GRAF: Doch nicht, um mich von ihm besiegen zu lassen, sondern um an ihm die klaffende Wunde zu entdecken, die ihn hinwirft. Ja, selbst um sie ihm bei Gelegenheit beizubringen. MARIANNE: So könnte es das Schicksal fügen, ich stünde gegen dich. GRAF: Das verhüte Gott! MARIANNE: Verhüte du's. Von diesem Manne empfange ich die erste volle Empfindung meines Lebens. Noch schwärmt sie ungeklärt, und mit Glück ist Abwehr gemischt. Ein seliges Geheimnis, das sich natürlich entdecken, doch nicht führen lassen will. GRAF: Entlarvt er sich aber vor unseren Augen selbst? MARIANNE: Er wird uns im Gegenteil immer undurchdringlicher und überraschender kommen. Die wenigen Zeichen, die ich von seiner Person habe, geben mir Gewißheit, er ist außerordentlich und steht über unserer Voraussicht. GRAF: Marianne! MARIANNE: So glaube, so fühle ich, Vater. Aber was auch kommen mag, du hast mich eine herrliche Jugend leben lassen. Fünfundzwanzig glückliche Jahre habe ich durch deine Güte gehabt. GRAF: Ich war zu nachgiebig. MARIANNE: Und wirst es ferner sein. GRAF: Nur bis an die Grenze des Möglichen. MARIANNE ~eindringlich~: Liebe steckt die Grenzen weit. ZWEITER AUFTRITT CHRISTIAN ~im Reitanzug tritt schnell auf~: Gnädigste Komtesse. Graf. Wenigstens kann ich zu meiner Entschuldigung sagen, der Kolonialminister hielt mich auf, wollte meinen Rat. GRAF: Er ist des Lobes voll von Ihnen, will Sie nächstens unserer allergnädigsten Majestät präsentieren. CHRISTIAN: Zur Entscheidung seiner Frage hätte es Genies bedurft, das ich nicht besitze. Die ungeheuere Verantwortung bricht in Dingen, die das Wohl des Staates angehen, die Kraft jeder Meinung, die ihr Bewußtsein nicht in Gott hat. GRAF: Magnifique! Was ritten Sie heute? CHRISTIAN: Einen Chamantsproß aus der Miß Gorse. -- Gefällt Ihnen das Bild, Komtesse? MARIANNE: Ich habe in solchen Dingen nicht Urteil genug. Doch ergreift es mich. CHRISTIAN: Es ist kein Meisterwerk Corots; Valeurs und Tonalität aber eigenartig. GRAF: Können Sie so etwas bestimmen? CHRISTIAN: In meinem Leben sah ich zwei- bis dreihundert Bilder des Malers. GRAF: Wo nehmen Sie die Zeit her? CHRISTIAN: Ich nehme sie kaum. Nicht viel mehr als ein Blitz kam von der ersten Leinwand zu mir. Doch zündete sie, und ich war für den Rest lebendig. ~Zu Marianne~: So geht es mit allen Dingen. GRAF: Wir müssen fort. ~Zu Marianne~: Für ein halb zwölf hast du dich zu Friesens angesagt. CHRISTIAN ~zum Grafen~: Begleiten Sie die Komtesse oder darf ich Sie um ein paar Minuten bitten? GRAF ~zu Marianne~: Brauchst du mich? MARIANNE: Bleib. CHRISTIAN ~zu Marianne~: Ich bringe Sie zum Wagen. ~Marianne und Christian exeunt.~ DRITTER AUFTRITT ~Graf nimmt von einem Tisch ein Buch~: Gothaer Almanach. Gräfliches Taschenbuch. Er hat sich unterrichtet. ~Er blättert und liest~: Palen. Westfälischer Uradel, der mit Rütger Palen 1220 urkundlich zuerst erscheint. Augustus Aloysius mit Elisabeth Gräfin von Fürstenbusch, gestorben auf Ernegg sechzehnten Juli 1901. Meine gute Lisbeth. Kinder: Friedrich Mathias, unseres Geschlechtes letzter Sproß, und Marianne Josefa, die nun einen Herrn Maske heiratet. VIERTER AUFTRITT CHRISTIAN ~tritt auf~: Die Komtesse hofft vorbeifahrend Sie gegen zwölf Uhr hier abholen zu können. Graf Augustus von Palen, ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter Marianne. GRAF: Da Sie den Antrag so bündig stellen, haben Sie ihn nach jeder Richtung hin reiflich erwogen. CHRISTIAN: So reiflich, Graf, wie Sie mit Ihrer Tochter die Antwort. GRAF: Nicht doch. Ich kenne die Entscheidung der Komtesse nicht unbedingt. CHRISTIAN: Wie lautet sie bedingt? Verzeihung, erst Ihre eigene Meinung. GRAF: Ich selbst bin gegen die Verbindung. Doch wird meine Ansicht nur gehört und bleibt ohne entscheidenden Einfluß. Haben Sie mit meiner Zustimmung gerechnet? CHRISTIAN: Ich fühlte Ihre starken Widerstände. GRAF: Sie bewundernd, mußte ich mich doch fortgesetzt stärker zu Ihnen distanzieren. Die Komtesse dagegen scheint, der Wahrheit die Ehre, einigermaßen von Ihnen emballiert. CHRISTIAN: Soll ich meine äußeren Umstände näher auseinandersetzen? GRAF: Ich kenne Ihre Laufbahn aus eigener Anschauung, alle überraschenden Erfolge finanzieller und gesellschaftlicher Art. Von Ihrer großen Zukunft bin ich felsenfest überzeugt. CHRISTIAN: Gab mein Charakter Grund zu Bedenken? GRAF: Er gab keine Angriffsfläche. CHRISTIAN: Darf ich fragen? GRAF: Ganz offen: Standesvorurteile. CHRISTIAN: Danke. Das muß sein. Eben diese innerliche Abgeschlossenheit ist eine Eigenschaft Ihrer Kreise, die ich verehre. Nur gegen meine Person gerichtet, hätte es mich stärker berührt. GRAF: Aber Sie können nicht Verehrer eines Prinzips und zugleich Angreifer desselben sein. CHRISTIAN: Ich liebe Ihre Tochter. GRAF: Sie heirateten sie auch, wäre sie nicht Gräfin Palen? CHRISTIAN: Das weiß ich nicht; sie ist als Reiz unteilbar. GRAF: Mit der Voraussetzung, die Komtesse nähme Ihren Antrag an. CHRISTIAN ~macht eine unwillkürliche Bewegung, die seine Erschütterung verrät~. GRAF: Bis eben meinte ich, Sie zu kennen. Jetzt, da die Möglichkeit auftaucht, Sie uns näher attachiert zu finden, sehe ich, wie fremd Sie noch blieben. CHRISTIAN: Man hat unsereinem gegenüber nicht die Mittel, sich aus einem Buch über den Stall, aus dem er kommt, zu belehren. Tappt gegen eine dunkle Sache. GRAF: Wirklich läßt, mit geringen Ausnahmen, der bürgerliche Name seinen Träger anonym. Unaufgezeichnet ist er ungemerkt und in seinen Handlungen unbeaufsichtigt. Wir, die in dieses Buch verzeichnet sind, handeln unter den Augen unserer Sippen das Leben ab, und der Verzicht auf die Wollüste eines freien Lebens in namenloser Masse gibt uns ein Recht, unsere Verdienste bemerkt und belohnt zu sehen. CHRISTIAN: Ohne Frage. Doch müßte dem Mann, der den nicht zu beugenden Willen hat, die Konsequenzen solcher Anschauungen zu tragen, der Eintritt in die Gemeinschaft frei sein. GRAF: Unbeugsamkeit beweist erst die Zeit an Geschlechtern. CHRISTIAN: Die Disposition ist auch aus bürgerlichen Vorfahren zu erkennen. GRAF: Ihre Eltern, Voreltern? CHRISTIAN: Beamte. Durch das Bewußtsein, dem Staat zu dienen, vorbereitet. Kleine Beamte nur -- mein Vater ... GRAF: Die schlichte Abstammung offenbart persönliches Verdienst um so bedeutender, wie uns der allerhöchste Herr erst kürzlich wieder belehrte. Der Fall unseres Postministers, der aus ähnlichem Milieu wie Sie stammt, ist der einleuchtendste. CHRISTIAN ~laut lachend~: Überhaupt beginnt das ärmlich, aber reinlich gekleidete Elternpaar allenthalben aufzukommen. GRAF: In der Tat. Wir kennen nun uns're Ansichten. Die Entscheidung hängt von uns nicht ab -- warten wir. Ich muß aber noch hinzufügen: meine Tochter bringt keine Mitgift in die Ehe. Sie wurden reich, wir verloren bis auf Reste unser Vermögen und schränken uns ein, meinem Sohn den Zuschuß zu gewähren, den das Regiment verlangt. CHRISTIAN ~verneigt sich~: Darüber ist kein Wort zu verlieren. DER DIENER ~tritt auf~: Der Wagen der Komtesse. GRAF ~exit~: Ich übermittele Ihnen die Entscheidung. FÜNFTER AUFTRITT CHRISTIAN: Jetzt hätte ich es sagen können: Sie leben in Zürich. Vorbereitet und durch das Geständnis seiner Mittellosigkeit in Verlegenheit, hätte er es geschluckt, und sie waren offiziell präsentiert. Nun heißt es, die neue Gelegenheit abpassen; aber ich fühle, sie ist völlig in meiner Gewalt. Warum dann warten? Hierher müssen sie. Sofort! Und ist der Augenblick gekommen -- persönlich sie vorstellen. Mediam in figuram jedermann. Wollen doch sehen! Wie die Alten sich freuen werden! ~Er schreibt und liest~: Kommt mit dem nächsten Zug. Erwartet euch hier freudigste Überraschung. ~Er läutet~: Von dem Wagen, mit dem ich sie am Bahnhof hole, bis zum eigenen Bad an ihren Zimmern muß ihnen alles ein großes Staunen sein. DIENER ~tritt auf~. CHRISTIAN: Das Telegramm sofort abtragen. DIENER ~exit~. CHRISTIAN: Mutter soll auch ihre Schlummerrolle ins Bett haben. Wenn sie vorm Einschlafen überdenkt, was sie und ich von meiner Zukunft geträumt, und wie es noch viel besser gekommen ist, muß sie ein erfülltes Leben spüren. Sie werden sich schnell anpassen. Die schlimmsten Unarten sind bald abgewöhnt, und Schneider und Putzmacherin tun das letzte. SECHSTER AUFTRITT ~Sybil tritt auf.~ CHRISTIAN: Kind, ich bin froh. Weißt du, wer kommt? SYBIL: Die Eltern. CHRISTIAN: Wer sagt dir das? SYBIL: Notwendigkeit. Zwei Jahre, seit ihrem Abschied, zappelst du an dem Haken deiner Sehnsucht. Ich wußte, an wen du beim Einschlafen dachtest. Warum, wenn du von großen Gewinsten sprachst, dein Auge hochzuckte. Durch die räumliche Trennung hast du dich auf deine Art völlig in die beiden alten Menschen verrannt. Schließlich brachtest du nichts mehr vor, ohne gleichnishaft einen von ihnen zu erwähnen. CHRISTIAN: Ich entbehrte sie schwer. SYBIL: Am Ende hattest du dir die Überzeugung beigebracht. CHRISTIAN: Mutter und ich waren stets eine Seele. Sie kannte sich gar nicht außer mir. Wie ein kleiner König stand ich zu ihr. Meine große Zukunft bejahte sie im voraus. Wir brauchten uns in dem Gedanken nur anzusehen und lachten. Vater war wie die Begleitung im Kontrabaß dazu. SYBIL: Hast du nicht dasselbe Vertrauen unbedingt bei mir gefunden? CHRISTIAN: Doch wolltest du Dank. Hier aber war ein Mensch stets unbedankt, stets durch mich glücklich. SYBIL: Dafür hat sich dein Vater während dieser Zeit schamlos gegen dich betragen. In der Überzeugung, dich durch sein Erscheinen schrecken zu können, hat er ein über das andere Mal von dir die Summen erpreßt, die er brauchte. CHRISTIAN: Insgesamt nicht viel mehr als ein paar Tausender. SYBIL: Hätte er eine Vorstellung von deiner geänderten Lebensführung, er wäre anders ins Zeug gegangen. Er würde sich, sähe er die Wirklichkeit, gütlich tun. CHRISTIAN: Er soll's. Nichts anderes wünsche ich. Das ist das Dämonische an diesen Geschlechtern, deren Wurzeln noch auf dem Erdboden laufen, die Gesamtheit fühlt nicht einheitlich, atmet und bewegt sich nicht mit einem Ruck von einem Zentrum aus. Es praßt der eine, wo der andre darbt. Ist aber der Gedanke lebendig, von einem Stamm entsprossen, mit ihm durch feinste Adern noch verbunden, ist unser Wohl von seiner Gesundheit abhängig, so freut uns jedes Glück, das ihn in irgendeinem Ast trifft. SYBIL: Der Gedanke ist schrecklich altertümlich, nicht aus unserer Zeit heraus. CHRISTIAN: Darfst du das behaupten, Mädchen? Weißt du mehr von den Erschütterungen der Epoche als ich? Weil du dich an Phrasen der Sozialdemokratie berauschst, die dir mit dem Recht, das noch der Jämmerlichste hat, die Ohren vollbläst. SYBIL: Ich sehe Wirklichkeit. Millionen, die den Hunger zu stillen über den, der den Weg zum Brot sperrt, müssen. CHRISTIAN: Kämpfe ums Dasein. Die habe ich auch durchgemacht und dabei ganz anders als Myriaden den Boden in mir aufgerissen; von Trieben geschnellt, flog ich durch den Brei der Bequemen, weil ich wußte, jenseits fängt erst das Leben an. Du sahst ja, wie ich ankam, die Fetzen mir vom Leibe riß und das flatternde Band am Halse zu einer festen Krawatte knüpfte. Mich allmählich zur Form erzog, der der höhere Mensch im Zusammenleben bedarf. SYBIL: Nie ruht der Kampf. Auf jeder nächsten Stufe, auf der höchsten, steht der Stärkere, der Todfeind, den du besiegst, oder er vernichtet dich. CHRISTIAN: Das ist proletarisch gedacht. Generationen hast du noch zu laufen, bis dir die Wahrheit schwant. SYBIL: Und dabei war ich es, die ihn lehrte ... CHRISTIAN: Den Fisch nicht mit dem Messer zu fressen, daß ich nicht in den Zähnen stocherte! Über all den äußeren Kram bist du nicht hinweggekommen. Dein Anzug ist der Anzug der Frau von Welt. Aber in welcher inneren Notwendigkeit bist du ihr inzwischen angenähert? SYBIL: Das war nicht mein Ziel. CHRISTIAN: Ressentiment. SYBIL: Und du, weil du dich zu dem Entschluß verstiegst, deine Eltern zurückzuholen ... CHRISTIAN: Die ich liebe. SYBIL: Da es in der Welt plötzlich Beispiele schlichter Erzeuger gibt. CHRISTIAN: Vergöttere! SYBIL ~lacht~: Weil es schick wird. Nie würde ein liebender Sohn dulden ... CHRISTIAN: Kein Wort mehr! SYBIL: Daß deine neuen Kreise sich an der famosen Strohkapotte deiner Mutter, an deines Vaters Schmierstiefeln berauschen. Deine erste Tat, die sie vor Entwürdigung und dich vor Demütigung schützte, war zarteste Rücksicht für sie und klug dazu, wie dein Erfolg lehrt. CHRISTIAN: Ich erwarb Geld und muß nicht mehr vor den Nöten des Lebens flüchten. Endlich darf ich verweilen und die irdischen Güter betrachten. Der erste Luxus, den der reiche Mann treibt, ist seine Familie. SYBIL: Dein Vater, deine Mutter sind nicht Luxusgegenstände. Liebst du sie wirklich, treibe den Kult im Kämmerlein. Doch opfere sie nicht der Eitelkeit, daß bei dir alles sein muß, wie der gute Ton es vorschreibt. Du willst die Gräfin heiraten. Tu's. Aber gib ihr mit deinen Eltern kein Gleichnis, aus dem sie dich beurteilen kann. Bleib ihr fremd und geheimnisvoll. Du hast so viel, was keiner außer dir besitzt, du mußt nicht auch noch Eltern haben. CHRISTIAN: Närrisch bin ich mit dem Gedanken. Meine gesamte Ziffernmacht, allen Einfluß strenge ich bis zum äußersten an, meinem Vater Geltung zu verschaffen. Keine Widerworte! Ich will! Das sind Dinge, für die in dir jede Voraussetzung fehlt, da von deiner Geburt an alles Zufall in dir war. SYBIL: Du möchtest eine Kluft zwischen uns aufreißen. CHRISTIAN: Sie ist seit langem da. Im Handeln und Denken. Wir sind Fremde. Geh! SYBIL: Wirklich so fremd, Junge? Du warst doch der, der Zwanzigmarkstücke von mir nahm? CHRISTIAN: Du träumst. Ich bin der, der dich bezahlte, und der dich in diesem Augenblick ablohnt. Spare alle Worte. SYBIL: Ein einziges -- mein Leben dafür --, das dich kennzeichnete und ausdrückte, wie niedrig ich dich empfinde. CHRISTIAN: Finde es zu Haus. Entstellst du mich mit Verdächtigungen wie den eben geäußerten vor dir selbst, zerstörst du dir das Andenken deiner großen Leidenschaft. Doch bleibt das deine Sache. Wagst du sie vor anderen, drohen dir unnachsichtlich die Gerichte. ~Sybil steht ihm gegenüber, starrt ihn an und stürzt hinaus.~ SIEBENTER AUFTRITT CHRISTIAN: Endlich. Diese Brücke abgebrochen zu Ufern, die man nicht mehr sah. Versuche eines Embryos des Menschtums, dich mit Redensarten deiner Natur und notwendigen Schlüssen abspenstig zu machen. ~Er hat ein Florett zur Hand genommen und macht Fechtübungen~: Aber da dir die Kulöre deines Temperaments genau bekannt sind, werde nicht blaß vor dir selbst, mach ein Bild, eine saftige Figur aus dir und denk nicht an die Unterschrift, die die Zuschauer geben. ~Da es wiederholt geläutet, geht er öffnen~: Wer ist das? ~Nach einem Augenblick hört man draußen seinen Aufschrei~: Mutter! ACHTER AUFTRITT ~Treten auf Theobald Maske in Trauer und Christian.~ THEOBALD ~nach einer Pause, während der Christian, gegen die Tür gelehnt, schluchzend steht~: Am Schicksal ist nicht zu deuten. Jetzt soll man der Sache ins Auge sehn. Wäre es nicht wie der Blitz gekommen, hätte ich dich vorbereitet. Aber sie war immer für das Überraschende und hat es noch mit dem Tode so gehalten. CHRISTIAN: Wir müssen sie überführen und hier mit gebührendem Pomp ... THEOBALD: Auch das ist seit gestern vorbei. CHRISTIAN: Nicht einmal dazu riefest du mich! THEOBALD: Warum sollte ich dir Umstände machen? Und noch dazu wußte ich nicht, ob's dir hier in den Kram paßte. Beerdigung ist immerhin eine offizielle Angelegenheit. Die Sekunde, in der ihr während der ganzen windschnellen Katastrophe schwante, um was es sich für sie handele, hauchte sie auch: Daß nur Christian nichts davon erfährt. Also ganz in ihrem Sinn. Friert dich? ~Christian exit.~ THEOBALD: Es hat doch starken Eindruck auf ihn gemacht. Sieh mal an. CHRISTIAN ~kommt zurück, einen schwarzen Anzug über dem Arm. Er kleidet sich während des folgenden, teilweise hinter einem Wandschirm, um~: Du darfst jetzt ruhig berichten. THEOBALD: Das ist gleich getan. Sie saß auf ihrer Bank, trank Kaffee, wie sie das so machte, immer das Stück Zucker auf der Zunge. Sie hätte Hitze, sagt sie, und sank hin. CHRISTIAN ~schluchzt beherrscht~: Keine Krankheit vorher, kein Leid? THEOBALD: Nichts. CHRISTIAN: Wie lebte sie letzter Tage? War sie froh? THEOBALD: Man hatte immer den gleichen Eindruck: es ist eben Luise. CHRISTIAN: Wie standest du zu ihr nach jenem Malheur? THEOBALD: Ich habe das nie übertrieben; ihr blieb alles, mit Seltenheit und Regelmäßigkeit geführt, verborgen. CHRISTIAN: Du hast damals nicht mit jenem Weibe gebrochen? THEOBALD: Sie war mir zu phantastisch dazu. Ich schob es besser auf die lange Bank. So blieb es, nicht aufgebauscht, ganz unwichtig und lief ins Gleichmaß der Dinge. Durch mich hatte deine Mutter letzthin angenehme ruhige Tage. CHRISTIAN: Ich werde mit dem Architekten, einem Bildhauer wegen des würdigen Grabmals gleich mich ins Vernehmen setzen. Niemandem kann ich anvertrauen, wie ich an ihr gehangen. Vielleicht findet der Künstler den Ausdruck dafür. THEOBALD: Vielleicht. ~Pause, während der Christian noch Zeichen seines Schmerzes gibt und sein Trauerkleid vollendet.~ CHRISTIAN: Welch trostlose Verkettung der Umstände. Heute hättest du bei dir zu Haus das Telegramm gefunden, das euch zu den glücklichsten Eröffnungen herrief. THEOBALD: Du hast uns telegraphiert? CHRISTIAN: Ich erwartete euch mit Ungeduld. THEOBALD: Was ist hier Wichtiges vorgefallen? CHRISTIAN: Kamst du einige Stunden später, du hättest deinen Sohn verlobt gefunden. THEOBALD: Schau! Ist das Mädchen hübsch? CHRISTIAN: Es ist -- Gräfin. THEOBALD: Christian! Wo hast du den Mut her? CHRISTIAN: Gehört Mut dazu? THEOBALD: Jeder aus seiner Haut; denke ich aber, du steckst ein wenig in meiner -- da hast du ja einen tollen Satz gemacht. CHRISTIAN: Über uns fort, Vater. THEOBALD: Es ist unheimlich. Und jene? CHRISTIAN: Das ist alles, was du mir dazu sagst? THEOBALD: Aus meiner Natur ist es wie ein Knalleffekt! CHRISTIAN: In einer ganz natürlichen Entwicklung eine logische Folge. THEOBALD: Ein subalterner Beamter ich, deine Mutter Schneiderstochter -- es hat etwas von einer Gewalttat an sich. Und der Vater Graf, die ganze Verwandtschaft -- Junge, du bist verrückt! CHRISTIAN: Was heißt der Unsinn? THEOBALD: Das ist doch toller als alle Komödien der Welt. Da machst du einen ja lächerlich. Kennst du denn gar keine Rücksichten mehr? Einen Grafen habe ich überhaupt noch nicht bei Leibe gesehen. Kann man denn nicht zu dir kommen, ohne daß du das Unterste zu oberst kehrst? Ich sage doch! Ein Subalterner in Pension. CHRISTIAN: Das ist Larifari. THEOBALD: Ein Unglück ist es! Wie wagst du eigentlich, mir das anzutun? Mit Fingern müssen die Leute auf mich zeigen. CHRISTIAN ~betreten~: Aber ... THEOBALD: Die Seyfferts! Schon deine Mutter war eine überspannte Person. Ich werde närrisch. Habe ich mich doch nicht so, als du damals die Sperenzien mit uns machtest, über den Tod meiner Frau habe ich mich nicht so aufgeregt. CHRISTIAN: Aber Vater ... THEOBALD ~immer erregter~: Die Maus mit der Giraffe willst du verkuppeln, Seiltänzerstücke machen, ins Anomalische steigst du ja! Deine Mutter stirbt mir mit sechzig Jahren, ich bin sie gewöhnt, mir war's ein Schlag, aber schließlich flüchtet man in die Natur der Sache. Maskes aber, hier dieser gewisse, allenthalben genau bekannte Theobald und eine ganze Grafenfamilie! Es ist um den Verstand zu verlieren. ~Christian hat in Resignation das Florett genommen.~ THEOBALD ~ganz außer sich~: Willst du mich morden? Besser bleibe ich ein normaler Beamter hier auf dem Platz, als daß ich der allgemeinen Belustigung zum Opfer falle. Hast du denn aus der Jugend keine Erinnerung mehr? An unsere Stübchen und den Kanarienvogel; nicht wie wir über den Graben schlurften, und du an unserer Seite den Herrn Kanzleirat ehrfürchtig grüßen mußtest? Was aber kann ein Kanzleirat gegen einen Grafen. CHRISTIAN ~ängstlich~: Hör mir doch zu ... THEOBALD: Und wer sind wir erst auf der Stufenleiter? Daß ich nicht närrisch werde! CHRISTIAN: Mir ist deine furchtbare Aufregung unverständlich. THEOBALD: Und die Folgen? Ist dir von unmittelbaren, verhängnisvollen Folgen nichts eingefallen, die jedes Kind sieht? Als du uns beide alte Leute in die Fremde schicktest, schäumte ich vor Wut; allmählich aber sah ich mit Luisens Hilfe eine zwar grausame Vernunft darin, den höheren Sinn des Handels für dich, wenn auch nicht für mich. Und da du es sonst an nichts fehlen, den anderen Teil leben ließest, kam ich zur Ruhe. ~Er springt auf~: Und jetzt wagst du solchen ... CHRISTIAN: Ich unterbreche dich. Sogar ehe an diese Heirat zu denken war, überwältigte mich ein Begehren, das vom Augenblick unserer Trennung an in mir immer stärker geworden ist. Von nun an dachte ich mit euch, da es anders beschlossen ist, mit dir sehr innig gemeinschaftlich zu leben. Ich wollte dich bitten, deinen Wohnsitz überhaupt hierher zu verlegen. THEOBALD ~fällt in einen Stuhl~: Das ist klassisch! CHRISTIAN: Du ... THEOBALD: Nicht dein Ernst? CHRISTIAN: Völlig. Ich konnte diesen Grad der Abneigung deinerseits nicht voraussehen. THEOBALD: Dein Ernst?! CHRISTIAN: Ich begreife nicht. THEOBALD ~auf ihn zu~: Wie? CHRISTIAN ~weicht unwillkürlich zurück~: Begreife nicht ... THEOBALD: Immer noch nicht? CHRISTIAN: Das heißt, verstehe wohl, was du meinst. Halte aber dein Bedenken für übertrieben ... teilweise. THEOBALD: Übertrieben? CHRISTIAN: Andererseits ... THEOBALD: Übertrieben?! CHRISTIAN ~eingeschüchtert~: Natürlich andererseits -- wenn wirklich -- natürlich. Mein Gott, müßte man eben auf seinen Lieblingswunsch verzichten -- schweren Herzens. Auf deiner Teilnahme an der Hochzeit bestehe ich aber unter allen Umständen. THEOBALD: Darauf noch die Antwort: Entweder du machst diesen Vorschlag unbefangen nur so hin, dann bemerke ich: deinen Vater als Clown bei diesem Witz mitwirken sehn zu wollen, ist Unsittlichkeit. Mit einer Gräfin am Arm in meiner Aufmachung durch die Kirche Spießruten zu laufen, später als Mann aus dem Volk lächerlich bei Tisch zu sitzen ... CHRISTIAN: Vater! THEOBALD: Danke. Oder du willst an mir niedrige Rache dafür nehmen, daß ich dich in deiner Jugend meine väterliche Gewalt fühlen ließ, indem du jetzt vor aller Welt mein Selbstgefühl demütigst; vielleicht aber soll diese Einladung gar ein Pflaster für Mutters Tod sein. Nein, Christian, um Gottes willen nicht! Tu für mich, was du bisher getan, und ich bin zufrieden, und willst du mehr, so überlege noch einmal gründlich, was du vorhast. In jedem Falle aber mußt du mich als eine bestimmte Größe in deinem Lebensplan einstellen: einer, der mit solchen Sachen nichts zu tun hat, dich aber unter keinen Umständen, nicht im geringsten molestiert. Darum bin ich vorhin die Hintertreppe heraufgekommen. Und nun will ich mir nur noch etwas Garderobe kaufen. CHRISTIAN: Mein Schneider, meine Lieferanten selbstverständlich ... THEOBALD: Die sind auf unsereinen nicht eingerichtet. Ich habe andere Quellen. Und abends reise ich heim. ~Er nimmt Hut und Stock.~ CHRISTIAN ~ängstlich~: Ein paar Tage solltest du wenigstens bleiben. THEOBALD: Ich sollte nicht! Laß doch den Firlefanz. Warum sprichst du überhaupt nicht in dem alten vernünftigen Ton mit mir? Ungesehen verschwinde ich auf dem Wege, auf dem ich kam, brauchst mich nicht zu bringen. In der nächsten besten Kneipe esse ich etwas. Und kommst du mal vorbei, ihr Grab zu sehen, soll's mich freuen. Bist, von diesem Unsinn abgesehen, sonst ein guter Kerl; läßt einen leben. NEUNTER AUFTRITT DIENER ~tritt auf~: Graf Palen! GRAF ~folgt sofort~: Marianne wollte zuerst, einem schönen Drange folgend, es Ihnen selbst sagen -- sie war sehr glücklich -- innig beglückt -- ~Theobald hat den Versuch gemacht, zu verschwinden.~ GRAF: Bitte mich vorzustellen. CHRISTIAN ~in höchster Verwirrung~: Mein Vater ... bitte. GRAF: Tiens. Ah das --! Nein das -- aber sehr angenehm. Graf Palen. Sehr erfreut! ~Reicht Theobald beide Hände~: Und dachte ich immer -- wie kam ich nur darauf? Sah unseren Freund als Waise -- ~Er lacht~: Wahrhaftig! Doch um so angenehmer. Charmant. CHRISTIAN: Mein Vater, von Zürich kommend, wo er lebt, kündigt mir den Tod meiner Mutter an. So gewinne ich Marianne im rechten Augenblick. ~Er sinkt dem Grafen an die Brust.~ GRAF: Meine aufrichtige Teilnahme. ~Zu Theobald~: Auch Ihnen, verehrter Herr. THEOBALD ~verbeugt sich~: Danke, Herr Graf. GRAF: Ich kann nichts Besseres raten: eilen Sie zu Ihrer Braut. Inzwischen bleiben die alten Herren beisammen. ~Zu Theobald~: Haben Sie gefrühstückt? Nein? Also auf! Die Frau, eine Braut ersetze ich nicht, doch was ein anständiges Essen vermag ... CHRISTIAN: Mein Vater wollte gleich zurück. GRAF: Aber das muten wir ihm nicht zu. THEOBALD: Frühstücken sollte man in jedem Fall. GRAF: Das ist jetzt mein Ehrenamt. Mit Kondolieren und Glückwünschen verbringen wir die kürzeste Zeit. Ihr Sohn hat Sie lange genug unter Verschluß gehalten; bei einer Flasche Rotspon beschnuppert man sich. THEOBALD: Beschnuppert -- ist gut. GRAF: Sagt man nicht so? THEOBALD ~lacht~: Ich würde beschnuppert sagen, Herr Graf. CHRISTIAN ~bei Theobald, zischt~: Graf! ~Zum Grafen~: Mein Vater will unbedingt mit dem Mittagszug heim. GRAF ~energisch~: Aber lassen Sie doch endlich! Der alte Herr muß vor allem ausgiebig frühstücken. Und alles andere findet sich später. Kommen Sie! ~Graf und Theobald exeunt.~ ZEHNTER AUFTRITT CHRISTIAN: Was war das plötzlich für ein Ton von ihm? Habe ich einen Fehler gemacht? ~Am Fenster~: Er läßt ihn vor sich in den Wagen steigen? Welch umständliche Höflichkeit. -- Ich habe einen Fehler gemacht! Meine Hilflosigkeit, meine Verlegenheit um ihn hat er bemerkt. Bin ich rot, blaß? ~Er läuft zum Spiegel~: Ich zittre ja wie Espenlaub! ~Er springt auf einen Stuhl am Fenster~: Er offeriert ihm eine Zigarre. Beide lachen über's ganze Gesicht. Worüber? Über mich? Herrgott, einen furchtbaren Fehler habe ich gemacht! Wollte ich nicht auftrumpfen, habe ich vor fünf Minuten hier nicht geschworen, mich mit ihm brüsten, rühmen zu wollen? Hatte ich doch den einzig richtigen Instinkt. Und nun wird er es Marianne, wird es der ganzen Familie klatschen, ich wollte meinen Vater verleugnen. Kann er nicht behaupten, ich hätte ihn ehemals totgesagt? Das leugne ich ihm aber brüsk ins Gesicht ab. Gegenmaßregeln! Schnell! Was? ~Er läutet. Diener tritt auf.~ Setzen Sie die Fremdenzimmer in Bereitschaft. Mein Vater kam an. Dem alten Herrn soignierteste Bedienung. ~Diener exit.~ CHRISTIAN ~ihm bis zur Tür nach~: Halt! Wartet man nicht besser ab, was kommt? Vielleicht bekäme man ihn doch noch ohne allzu großes Aufsehen fort. Nein, nein und endlich nein! Wie ich es heute morgen in mir wußte, wie es sich schon bewiesen hat: mit größter Geste muß ich ihn als etwas Außergewöhnliches darbieten. Sofort in Szene setzen! Von weither vorbereiten! Und es soll die ganze Familie umfassen. Wenn es nicht schon eine Katastrophe ist. ~Er läuft im Zimmer umher~: Was werden sie am Weintisch tun? Was wird er aus dem Alten herausholen? Wenn er, wenn der andere besoffen ist? Warum bin ich denn nicht mit von der Partie?! ~Außer sich~: Um Gottes willen! Ja um Gottes willen! ~Er heult auf~: Statt meinem schlichten Kindesinstinkt zu folgen. Ich könnte mich ohrfeigen!! DER DRITTE AUFZUG ~Salon eines Hotels, reich mit Blumen geschmückt. Im Hintergrund ein breiter Vorhang.~ ERSTER AUFTRITT ~Christian im Frack und Orden unter dem Mantel, Marianne Brautkleid unter dem Überwurf treten auf.~ CHRISTIAN: Endlich Luft, Ruhe. MARIANNE: Diese Blumen. ~Bei einem Strauß~: Vaters. ~Sie nimmt eine Karte und liest~: Für meinen verlorenen Engel Marianne. Und hier hier -- welch himmlische Orchideen! ~Liest~: Von einer Unbekannten. CHRISTIAN: So? Sentiment. -- Was sprach er am Tisch fortwährend mit meinem alten Herrn. Hörtest du die beiden? MARIANNE: Wer soll das sein? CHRISTIAN: Fiel's dir nicht auf? Keiner war für seine Tischdame zu haben. Die dicke Gräfin ... MARIANNE: Tante Ursula ist fast taub und hatte schließlich das halbe Essen auf der Serviette. CHRISTIAN: Wer war der Johanniter zwei Plätze rechts von ihr? MARIANNE: Mutters Vetter Albert Thüngen. CHRISTIAN: Der Bengel starrte mich unaufhörlich wie eine Erscheinung an und aß darüber nicht. MARIANNE: Er hat eine richtige Froschschnute; heißt Frosch darum. CHRISTIAN: Seltene Dekorationen waren am Tisch. Bist du mit der Prinzessin so intim, wie sie dich behandelte? MARIANNE: Wir wurden sieben Jahre gemeinsam erzogen. CHRISTIAN: Sieben Jahre. Ihr duzt euch? MARIANNE: Sind doch durch unsere Urgroßmutter miteinander verwandt. CHRISTIAN: Die Erzherzogin? JUNGFER ~tritt auf~: Wollen gnädigste Komtesse sich nicht umkleiden? MARIANNE: Ich bin nun gnädige Frau geworden, Anna. JUNGFER: Gut, gnädige Komtesse. MARIANNE: Aus mit der Komtesse und Albernheiten. Ich verlange Respekt! JUNGFER ~schluchzt~: Ja, gnädige Frau. MARIANNE: Was gibt's? JUNGFER ~auf Mariannes Hand gebeugt~: Es ist alles so rührend; gnädige Frau gehören uns nicht mehr. MARIANNE: Mir selbst nicht mehr. Mädchenlos. Auch deins. ~Beide durch den Vorhang ab.~ ZWEITER AUFTRITT CHRISTIAN ~springt an den Vorhang und lauscht nach hinten~: Diese Anna, das richtige Galgengesicht. Was solche Domestikenbagage hinter Schlüssellöchern auffängt und weitergibt ... DER JUNGFER STIMME: ... Sahen überirdisch aus. Der Herr Pastor weinte ... MARIANNES STIMME: ... alte Jansen ... Unsinn! DER JUNGFER STIMME: ... echte Brüsseler Spitze ... nein, Brüsseler in breiten Volants ... Rosenknospe ... MARIANNES STIMME: ... Ilse Zeitlow hellblau Atlas zum blonden Haar ... DER JUNGFER STIMME: ... Sah man doch ~leiser~: ihren Busen mit Absicht. MARIANNES STIMME: Um Gottes willen! ~Gekicher, dann Geflüster.~ CHRISTIAN ~sich näher hinbeugend~: Ah! Das Gewisper wie stets und überall. Wo ich hinkomme, erschlägt's das Wort. Flüstern und zu Boden sehen. ~Gelächter in Absätzen.~ DER JUNGFER STIMME: ... Schnurrbartspitzen. CHRISTIAN: Das bin ich! Jener Tag war mein Waterloo. DER JUNGFER STIMME: ... ein bißchen lächerlich. MARIANNES STIMME: Still! CHRISTIAN: Canaille! Hab's schon gehört, Marianne. Doch diesen Abend noch dringe ich in den Tempel deines Herzens und stelle fest, was du weißt. ~Neues Gelächter.~ CHRISTIAN: Nur gelacht. Schadenfreude heraus! Öffne, Viper, alle Ventile in ihre Blutbahnen. Denn nachher spüle ich mein Weib bis zum letzten Molekül rein von deinem Gift. DER JUNGFER STIMME: Es war zu komisch. CHRISTIAN: Nicht so, Äffin, wie du meinst, und noch ist nicht aller Tage Abend. Meine Konterminen sind geladen. Losgeschossen, überdonnern sie alles, was vorher laut wurde. ~Es ist hinten ganz still geworden.~ Still? Was haben sie jetzt? ~Er kniet zur Erde und versucht, unter dem Vorhang hindurchzusehen~: Wäsche, Fleisch und Gesten. Aber ein Wort ist hier not, das Geständnis, wieviel die Welt dir geklatscht, vom Vater angefangen bis zu dieser Laus. Ich habe einen so bedeutenden Plan angelegt, es aus dir herauszulocken, daß es dir schwer werden soll, ein Tittel für dich zu behalten. Du trittst nicht über die Schwelle meines Namens, Weib, es sei denn, derselbe ist ehrfürchtig und gerührt von dir empfunden. DIE JUNGFER ~tritt auf~: Darf ich an den Koffer der gnädigen Frau? ~Sie entnimmt demselben einen Gegenstand und verschwindet durch den Vorhang.~ CHRISTIAN: Man ließ mich nicht früher an dich heran, wie man sich selbst verhüllte. Doch heute bist du mir zum Examen ausgeliefert. Mit Finessen will ich rekognoszieren, wo in deiner Familie mein grimmigster Feind sitzt. Er muß mit all seinen Schikanen ans Licht, und sollte ich dein Gewissen bis zum Zerreißen spreizen. ~Er stiert in den Koffer~: Was stopfte man dir in die Tasche? Was gibt's in dem Koffer an Büchern? Schmähschriften? ~Er zieht ein Buch aus dem Koffer~: Das Neue Testament. Was mag tiefer in den Eingeweiden gegen mich aufgehäuft sein? Das wollen wir bei Gelegenheit bis in die Nieren bloßlegen. DRITTER AUFTRITT ~Theobald im Frack steckt den Kopf durch die Tür~: CHRISTIAN: Das ist unerhört! THEOBALD: Nur einen Augenblick. CHRISTIAN: Was gibt's noch? THEOBALD: Zärtlichkeit. CHRISTIAN: Du bist betrunken. THEOBALD: Teilweise. Aber ich bin auch zärtlich. Wollte den ganzen Abend dir einen Kuß hinhauchen, doch erwischte ich dich nicht. Räsoniere nicht, Bengel. Du bist ein Tausendsasa und ich durch und durch stolz auf dich. Du hast mir alle Vorbehalte von der Seele gerissen wie Papierhemden. Als Sieger bist du über meine Meinungen und Prinzipien hinweggegangen. Ich lebte allzeit von Sprichwörtern: Schuster, bleib bei deinen Leisten und so weiter. Du aber ganz einfach aus dir selbst. Wie du heute mit diesen Leuten umgingst, nicht wie mit deinesgleichen, sondern fast von oben herab; wie sie dich voll bodenlosen Respekts anstaunten, und wie du dir so ein adeliges Hühnchen ins Bett holst, das brachte mein Bürgerblut zum Sausen. Da hast du mich weich gemacht; ich sinke hin an deine Brust. ~Umarmt ihn.~ CHRISTIAN: Leise, sie ist dort. Bist du nicht betrunken? THEOBALD: Teilweise. Aber was ich sage, gilt für voll. Bei Tisch, als alles in Orden prangte, war es dein stolzes Köpfchen ... CHRISTIAN: Vater! THEOBALD: Stolzes Köpfchen, mein geliebter Junge, wie ich sage. Unsere Mutter hätte dabei sein sollen. Morgenröte, Morgenröte war mein Gefühl, soll man's für möglich halten! CHRISTIAN: Ist es denn wahr? THEOBALD: In dir ist alles Maskesche um ein paar Löcher weiter geschnallt. Ich seh doch, wie's in den Scharnieren hinaufgleitet. Du hast mich völlig in dir; schweig. Jetzt kommt das Geständnis, eine ehrwürdige Sache. Das sagt sonst ein Vater zum Sohn nicht: Ich bin überflüssig, verschwinde in die Versenkung. Meine Beziehung zur Welt, der höhere Sinn von mir -- bist du. Wegjagen wolltest du mich. Hattest es schon eher im Bewußtsein, doch mir schien es Gewaltsache mit Feindlichkeiten. Heute ist es ein angenehm glattes Ding: beiderseitige grenzenlose Zufriedenheit. Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder. Glücklich nach Zürich, große Hauptgasse No. 16. Da lebt Maske als Kanzleirat a. D. und stiert begeistert seinen Sohn an. CHRISTIAN: Man kommt! THEOBALD: Laß sie. Wir sind jetzt ein und dieselbe Sache. Mach weiter so und keinen Fehler ... Sie haben Mißtrauen, Abscheu, Haß und so weiter; aber sie haben bodenlose Achtung aus Verständnislosigkeit. CHRISTIAN: Das sagst du? THEOBALD: Auf der Basis einer allgemeinen großen Trunkenheit habe ich mich in ihr Vertrauen geschlichen. Da man das Band des Adlers von Hohenzollern für das Eiserne Kreuz hielt, öffneten sie sich bis in die Eingeweide. CHRISTIAN: Und der Alte? Der Lapsus jenes fatalen Tages? THEOBALD: Da hatte er wohl Verdacht, und er mag in ihm weitergelebt haben. Da aber heute die Tafelrunde: als schließlich ich mich lichterloh an dir entzündete, ergriff ihn die Flamme gleichfalls. Zudem hatte die rührende Taube da drin das Vaterherz schon vorher mürbe gemacht. Es kapitulierte vollständig. CHRISTIAN: Fertig also mit ihnen? THEOBALD: Sie sind hin. Und nun greif fester zu. Nicht nachlassen. Auf meine Art hatte ich stets die Überzeugung von der Bedeutung unseres Stammes. Konnte sie aber nur den Allernächsten mitteilen. CHRISTIAN: Mir! THEOBALD: Und du schnellst uns weiter. CHRISTIAN: Ich spannte den Bogen. In meinen Fäusten klirrt die Sehne. THEOBALD: Ihr den ersten Pfeil. Triff tief. CHRISTIAN: Wir kletten uns fest. THEOBALD: Ins Gewebe. CHRISTIAN: Ich setze den Trumpf auf. Den Trumpf! THEOBALD ~späht durch den Vorhang~: Respekt! CHRISTIAN: He? THEOBALD: Hehe! ~Beide kichern und fallen sich in die Arme.~ CHRISTIAN: Maske for ever! THEOBALD: Verstehe, oder so ähnlich. Blutsache! ~Er hüpft zur Ausgangstür, wirft Kußhände. Exit.~ CHRISTIAN: Hier stand Leben auf der Höhe eines Schauspiels. Ein Ziel ward gekrönt. Zerknirschung des Feindes, Verbeugung vor dem Sieger. Abgang durch die Mitte. Aber es kommt noch bedeutender: Probe auf das Exempel, wie weit wirklich die nähere Umgebung hinsank; und dann soll die Frau, auf die es vor allem ankommt, an diesem feierlichen Abend grenzenlose Ehrfurcht zelebrieren. Das muß vor mir ein glattes Hinschlagen sein. VIERTER AUFTRITT MARIANNE ~in einem Negligé tritt auf~: Gefall ich dir? CHRISTIAN ~zu sich~: Darauf kommt jetzt nichts an. MARIANNE: Die Spitzen haben eine zärtliche Geschichte. Mutter trug sie an dem betreffenden Abend ihres Lebens. CHRISTIAN: Nichts entspricht. MARIANNE: Ich -- keiner aus deiner Vergangenheit? Sag mir alles. Du sollst kein Geheimnis vor mir haben. Die wievielte bin ich, und welche war besonders? Ist ein Gedanke, ein Hauch von einer anderen noch bei dir? CHRISTIAN: Welche Sprache! Wie komme ich da zur Vernunft? MARIANNE ~die Arme um seinen Hals~: Einmal mochte ich einen Fähnrich; ich erst sechzehn. Er weiß und rosa mit blonden Haaren auf der Lippe; weiter wußte ich nichts von ihm. CHRISTIAN: Was weißt du von mir? MARIANNE: Schließe ich die Augen: Du bist groß und dunkel, hast breite Glieder und wippst beim Gehen. CHRISTIAN: Ist das wahr? ~Er geht vor den Spiegel und macht ein paar Schritte.~ Allenfalls könnte man von einem wiegenden Gang sprechen. Rhythmus ist in der Bewegung. MARIANNE ~lacht hell~: Und wie marschiere ich? ~Hebt den Rock und trippelt.~ CHRISTIAN: Was sonst noch? Was ich treibe? MARIANNE: Geschäfte. CHRISTIAN: Welcher Art? MARIANNE: Bank. Kommt es darauf an? CHRISTIAN: Mit sechsunddreißig Jahren bin ich Generaldirektor unseres größten wirtschaftlichen Konzerns. Kontrolliere einen fünften Teil des Nationalvermögens. MARIANNE: Tiens! CHRISTIAN: Das Wort gehört deinem Vater. Sprach er von meinen Angelegenheiten mit dir? MARIANNE: So hin. CHRISTIAN: So hin. Darin liegt alles. MARIANNE: Ich bin müde. CHRISTIAN ~für sich~: Aufforderung zum Tanz. ~Laut~: Zu früh. Bin ich dir nicht ein völlig Fremder, da dein Vater nicht ernsthaft über mich sprach -- wirklich nie, denke nach! Kam er nicht eines Tages fieberhaft erregt nach Haus? Besinne dich! MARIANNE: Fieberhaft erregt sah ich ihn nie. CHRISTIAN: Also wirklich nicht! Kurz, es ist Verdienst, steht ein Mann so jung auf solchem Posten. Wie wenn einer mit sechsunddreißig Jahren General wäre. MARIANNE: Das kann höchstens ein Prinz. ~Sie sitzt auf seinem Schoß.~ CHRISTIAN: Oder? MARIANNE: Wer? CHRISTIAN: Denk nach. MARIANNE: Ich weiß nicht. CHRISTIAN: Der geniale Mensch. Man wollte im Verlauf dieses Jahres bei einundvierzig Gesellschaften die Emission neuer Aktien im Gesamtbetrage von etwa dreiviertel Milliarde Mark beantragen. Da sagte ich, aus folgenden Gründen sei ich dagegen: Für diese siebenhundertfünfzig Millionen werden dem Publikum in der Hauptsache nicht gefundene Schätze, sondern das Produkt der Anstrengungen rund einer halben Million Menschen mehr geboten, die das Land ermutigt wird, hervorzubringen. Das Aktienkapital der Industriegesellschaften besteht in Hauptsache und Zinsen überhaupt nur aus Menschenmasse und deren Arbeitsresultat. Verstehst du? MARIANNE ~immer auf seinem Schoß~: Ich versuche. CHRISTIAN: Gib acht! Ist keine Arbeit da, stopft die Masse den Zeugungsapparat. Wachsen neue Kamine hoch, öffnet man hastig das Ventil. So stehen wir Kapitäne, sagte ich, am Haupthahn der Bevölkerungsdichte und müssen sorgen, daß die geschafften Kapitale dem natürlichen Zuwachsbedürfnis nicht vorgreifen, sondern es äquilibrieren. Verstehst du? MARIANNE: Ich glaube. CHRISTIAN: Eher müssen wir durch Verlangsamung des Menschenproduktionstempos für bessere Qualität sorgen. Da hast du einen kleinen Eindruck, wie ich Nationalökonomie praktisch treibe. ~Er hat sie vom Schoß gestoßen und geht aufgerichtet durchs Zimmer~: He? Das ist Klasse, hätte Helmholtz gesagt. ~Er faßt Marianne bei einem Knopf ihres Kleides und schüttelt sie sanft hin und her, während er ihr starr ins Auge sieht~: Ich könnte dir noch einen ähnlich fabelhaften Bescheid meinerseits in Fragen der Herabsetzung der Zwischendecksrate bei unseren Schiffsgesellschaften anführen. Die Menschen sind kurzsichtig, und in den Händen weniger ruht das wirtschaftliche Schicksal von Millionen. MARIANNE: Bist du so reich? CHRISTIAN: Ein Krämerwort. Ich habe Macht zu dem Erdenkbaren aus der Kraft meines Blutes. Du sahst nun meinen Vater einige Male. Persönlichkeit! Wie? Schon prägten sich auch in ihm markant die besonderen Eigenschaften der Rasse aus. Nichts überflüssig, höchst zweckvoll alles. Merktest du, wie er heute bei Tisch am aller bedeutendsten zum Glase griff? Schade, daß du meinen Großvater nicht kanntest. Ein tolles Huhn -- aber --! Das wächst mir also alles aus Ahnen zu, fand aber doch erst in meiner Person den konsequentesten Ausdruck. DIE JUNGFER ~tritt auf~: Wollen gnädige Frau die Brillanten nicht in Verwahrung nehmen? Hier im Hotel -- der gnädige Herr vielleicht? ~Christian nimmt ein Diadem in Form einer Krone.~ JUNGFER: Gute Nacht. ~Exit.~ CHRISTIAN: Welch merkwürdige Form eigentlich. MARIANNE ~setzt es auf~: Eine Marquiskrone. Aus deren Vermächtnis sie stammt, für die Frauen unseres Geschlechts am Hochzeitstage zu tragen, war eine Marquise d'Urfés, Großtante meiner Mutter. CHRISTIAN: Bon. -- Was sagte ich noch? -- Aber ich habe eine Überraschung für dich. MARIANNE ~klatscht in die Hände~: Zeig! CHRISTIAN: Dreh dich um einen Augenblick, bis ich ausgepackt und bereitgestellt. MARIANNE ~abgewandt~: Eins zwei drei -- CHRISTIAN ~hat ein Bild, das in ein Tuch gehüllt an der Wand lehnte, freigemacht und gegen seine Beine gelehnt vor sich gestellt~: Jetzt sieh her. ~Marianne sieht auf ein weibliches Porträt.~ CHRISTIAN: Meine Mutter, Marianne, die dich an diesem Tag auch von Angesicht zu Angesicht sehen will. Meine Mutter, die ihren Jungen heiß geliebt. MARIANNE: Welch bedeutendes Antlitz! CHRISTIAN: Nicht wahr. Von Renoir gemalt. MARIANNE ~fliegt Christian an den Hals~: Ich will ihn liebhaben über mich selbst hinaus, deinen Sohn, meinen Christian. CHRISTIAN: Sachte; daß du ein solches Kunstwerk nicht beschädigst. ~Er hat das Bild gegen einen Tisch gelehnt.~ MARIANNE: Das dichte braune Haar. Deine Farbe. Und solch ein Teint! CHRISTIAN: Sie kam aus einem Jahrhunderte alten Bauerngeschlecht. Wikingersachen werden gefaselt. Sieh den tüchtigen Familienschmuck, die rote Koralle im Ohr. Einer ihrer Altvordern war Amtmann auf Dalarö in den schwedischen Schären. Von seiner Begegnung mit Karl XII. existiert eine Anekdote. MARIANNE: Das wundervolle Haar! CHRISTIAN: Es reichte aufgelöst bis in die Kniekehlen. Renoir sah sie eines Tages im Bois de Boulogne. Der Entschluß, sie zu malen, soll augenblicklich festgestanden haben. MARIANNE: Das läßt sich denken. CHRISTIAN: Aber der Anlaß! Das war ja das Allerbeste. Nun knöpf mal deine Öhrchen auf, es kommt das Niedlichste von der Welt. Vater und Mutter also im Bois, nach einem solennen Frühstück in den Kaskaden, spazierend. Eine Flasche Burgunder hatte nicht gefehlt. Plötzlich -- die Frau steht wie angewurzelt, weicht nicht von der Stelle. Vater, den grauen Zylinder keck auf dem Kopf -- er hat mir die Situation oft geschildert -- ruft, lockt -- sie weicht nicht. MARIANNE: Was hatte sie? ~Christian flüstert ihr ins Ohr.~ MARIANNE ~hell auflachend~: Die Hose! Aber das ist ja entzückend! Himmlisch! CHRISTIAN ~aus vollem Halse lachend~: Und nun Renoir! Kannst du dir vorstellen; er hat mir das oft erzählt. Aus dem Häuschen, aber aus dem Häuschen. Es soll ein Anblick für Götter gewesen sein. MARIANNE: Die entzückende Frau so in der Sonne stehend. CHRISTIAN: Kurz. Er verschafft sich Zutritt in die junge Menage und mit ihm ein französischer Vicomte, der die Szene gleichfalls sah. MARIANNE: Wie lange ist das her? CHRISTIAN: Es mag ein Jahr vor meiner Geburt gewesen sein. MARIANNE: Wie das persönliche Erlebnis einem die Menschen näher bringt. Ich kenne sie jetzt viel besser. Für deinen Vater war die Lage nicht angenehm. CHRISTIAN: Der war immer und ist der bon garçon mit Sinn für das appetitlich Komische. Er adorierte sein junges Gespons und war gleichfalls ganz gefangen von dem Charme der Erscheinung. MARIANNE: Viel Geschmack im Anzug. CHRISTIAN: Darin war sie Meister. MARIANNE: Eine reizende Mode! Wie kleidsam die Kapotte. Und all die himmlischen Frauen, die sich so trugen, sind tot. CHRISTIAN: Ich lasse ihr in Buchow ein Monument errichten. ~Er hängt das Bild an die Wand.~ MARIANNE: Hast du das Gut gekauft? CHRISTIAN: Ich kaufe es. Zu diesem Zweck in erster Linie. Die Frau war alles in allem etwas so Überlebensgroßes, daß sie ein Recht auf solche Ehrung hat. MARIANNE: Wie falsch ich die Deinen bis hierher sah. Jetzt erst habe ich den rechten Begriff von ihnen. Du hast die Gabe, Menschen plastisch zu machen. CHRISTIAN: Besser gesprochen nennt man's die Fähigkeit der Begriffsbildung. Was aus der Menschen Mund gewöhnlich kommt, sind Worte, nur Worte. MARIANNE: Ich brauche Anna noch einmal. CHRISTIAN: Doch nicht wieder das Mädchen! MARIANNE: Ich kann das Kleid auf dem Rücken nicht öffnen. CHRISTIAN: Gib her. ~Er fängt an, die Ösen zu suchen.~ Worte, unter denen nicht zwei Gehirne das gleiche verstehen, durch die man sich also auch nicht von Mensch zu Mensch restlos verständigen kann. ~Marianne gähnt.~ CHRISTIAN: Die reine Vernunft reißt Gruppen gleichartiger Gebilde der Erscheinungs- oder Willenswelt in einen Ausdruck hinein, der den Komplex in seinem Wesentlichen festlegt, und der _Begriff_ heißt. ~MARIANNE gähnt~: Aha! CHRISTIAN ~knöpft~: Überwindung von Mannigfaltigkeit ist das. Das Unterhemdchen auch? MARIANNE: Bitte. CHRISTIAN: Überhaupt, Marianne, und jetzt höre ernsthaft zu: Alle Tat, die Menschengeist verrichtet, will schließlich nur das eine: sie orientiert über das ungeheure Gebiet umgebender Welt, indem sie Mannigfaltigkeit überwindet. So: Buche, Eiche, in deren Namen schon vorher die eigene Mannigfaltigkeit bezwungen ist, sind schließlich Wald. ~Er ist mit Knöpfen fertig.~ MARIANNE: Danke. ~Sie setzt den Fuß auf einen Stuhl und knöpft die Stiefel auf.~ CHRISTIAN: Ein Dummkopf würde den Witz machen: man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. ~Marianne geht durch den Vorhang ins Schlafzimmer.~ CHRISTIAN: Wo willst du hin? Während es heißen muß: man sieht keinen Baum mehr vor lauter Wald. ~Er ist ihr gefolgt und bleibt im Vorhang stehen~: Wenn du das begriffst, hast du eigentlich die ganze Erkenntnistheorie in der Tasche. ~Er kommt nach vorn zurück, sagt laut nach hinten~: Jedenfalls einen Begriff von der Arbeit eines Gehirns wie das meine. He? ~Reibt sich die Hände, zu sich~: ça marche ce soir. ~Bleibt vor dem Bilde stehen, und sagt tief ergriffen~: Meine gute Mutter! ~laut~: Als junges Mädchen machte sie mit Freunden eine Reise in die Vereinigten Staaten und kam von dort über die Südseeinseln, Asien zurück. In Honolulu verliebte sich der König Kalakaua sterblich in sie. ~Man hört, wie hinter dem Vorhang jemand zu Bett geht~: Das war achtzehnhundertachtzig oder einundachtzig. ~Er hat sich die Stiefel ausgezogen und dann erst den Mantel abgelegt, so daß er plötzlich im Glanze seiner Orden dasteht.~ ~Er hebt die Arme und sieht sich wie wartend um.~ ~Pause.~ MARIANNES STIMME: Was wurde denn aus dem Vicomte? CHRISTIAN: Welcher Vicomte? MARIANNES STIMME: Der die Geschichte im Bois de Boulogne sah und deine Eltern kennen lernte. CHRISTIAN: Ach, der Vicomte! Tja -- -- der -- ~Er steht vor dem Bild der Mutter starr. Pause.~ MARIANNES STIMME: Was wurde denn mit ihm? CHRISTIAN ~zu sich~: Donnerwetter! ~Er geht durchs Zimmer am Spiegel vorbei.~ Hm. MARIANNE: Ist denn da ein Geheimnis? CHRISTIAN ~zu sich~: Wüßte ich jetzt -- aber natürlich -- o großer Gott! Da packe ich dich, da schmeiße ich dich ganz, Komteßchen. ~Er geht zum Vorhang und flüstert hinein~: Marianne! MARIANNE ~mit erregter Stimme~: Ich komme! ~Sie erscheint in einem übergeworfenen Schlafrock.~ CHRISTIAN: Ich sehe Schicksal in deiner plötzlichen Frage. MARIANNE: Was sagte ich denn? CHRISTIAN: Mit dem Vicomte; was wurde? MARIANNE: Ja? CHRISTIAN: Nie hätte ich die Zähne geöffnet. MARIANNE: Christian! Was denn? CHRISTIAN: Unmöglich! Nie! MARIANNE: Christian! Ich bin dein Weib -- habe ein Recht ...! CHRISTIAN: Ich bin auch ein Sohn. MARIANNE: Du hast Pflichten vor mir. CHRISTIAN: Aber auch Scham und Ehrfurcht vor der Mutter. MARIANNE: Jener ...? CHRISTIAN: Du bekommst kein Wort aus mir heraus. MARIANNE: Der also -- der Vicomte ...?! CHRISTIAN ~stark~: Und ich verbiete dir, für unser ganzes Leben, jemals daran zu rühren; jemals jemanden, auch mich selbst, ahnen zu lassen, was du vermutest, was du meinst. Ich heiße Maske und basta! MARIANNE ~erschüttert~: Heiland im Himmel! Gewiß ich schweige. Wie ich dich aber von jetztab sehe, das ist meine Sache. ~Leise~: Und mir ist, als ob doch eine letzte Wand zwischen uns niederfällt, als ob erst jetzt ich ungehemmt in dich versänke. ~Mit ausgebreiteten Armen vor dem Bild~: Süße Mutter Ehebrecherin! ~An Christian niedergleitend~: Mein lieber Mann und Herr! ~Christians Lächeln und erlöste große Gebärde.~ FINIS. Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript. Druck der Offizin W. Drugulin in Leipzig. INSEL-VERLAG ZU LEIPZIG ~CARL STERNHEIM~: _DON JUAN._ Eine Tragödie. Geheftet M. 5.--, in Halbleder M. 8.--, in Ganzleder M. 15.-- _ULRICH UND BRIGITTE._ Ein dramatisches Gedicht. _Zweite Auflage._ Geheftet M. 3.--, in Leinen M. 4.-- ~AUS DEM BÜRGERLICHEN HELDENLEBEN~: I. _Die Hose._ Lustspiel. Geheftet M. 3.--, in Halbpergament M. 4.-- II. _Die Kassette._ Komödie in fünf Aufzügen. Geh. M. 3.--, in Leinen M. 4.-- III. _Bürger Schippel._ Komödie in fünf Aufzügen. Geh. M. 3.--, in Leinen M. 4.-- IV. _Busekow._ Eine Novelle. (Kurt Wolff Verlag, Leipzig.) V. _Der Snob._ Komödie in drei Aufzügen. Geheftet M. 3.--, in Leinen M. 4.-- VI. _Der Kandidat._ Politische Komödie in vier Aufzügen nach Flaubert. Geheftet M. 3.--, in Leinen M. 4.--. +----------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription | | | | Inkonsistenzen wurden beibehalten, wenn beide Schreibweisen | | gebräuchlich waren, wie: | | | | deines -- deins | | Durchziehen -- Durchziehn | | Geschlechtes -- Geschlechts | | sehen -- sehn | | ungeheuere -- ungeheure | | | | Interpunktion wurde ohne Erwähnung korrigiert. | | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen: | | | | S. 9 »gibts« in »gibt's« geändert. | | S. 12 »largen Charakter« in »langen Charakter« geändert. | | S. 12 »Ansehn« in »Ansehen« geändert. | | S. 13 »kanns« in »kann's« geändert. | | S. 16 »schneidets« in »schneidet's« geändert. | | S. 17 »ists« in »ist's« geändert. | | S. 18 »gibts« in »gibt's« geändert. | | S. 22 »Ists« in »Ist's« geändert. | | S. 23 »Sechszehnmal« in »Sechzehnmal« geändert. | | S. 29 »Bädeker« in »Baedeker« geändert. | | S. 31 »wärs« in »wär's« geändert. | | S. 32 »THEOBAD« in »THEOBALD« geändert. | | S. 33 »brennts« in »brennt's« geändert. | | S. 37 »siehts« in »sieht's« geändert. | | S. 38 »bins« in »bin's« geändert. | | S. 38 »Glaubs« in »Glaub's« geändert. | | S. 44 »juckts« in »juckt's« geändert. | | S. 45 »sich selbt« in »sich selbst« geändert. | | S. 53 »unsre« in »uns're« geändert. | | S. 56 »solls« in »soll's« geändert. | | S. 61 »obs« in »ob's« geändert. | | S. 65 »Anormalische« in »Anomalische« geändert. | | S. 65 »wars« in »war's« geändert. | | S. 69 »solls« in »soll's« geändert. | | S. 72 »übers« in »über's« geändert. | | S. 77 »Christian Frack« in »Christian im Frack« geändert. | | S. 77 »Fiels« in »Fiel's« geändert. | | S. 79 »gibts« in »gibt's« geändert. | | S. 80 »erschlägts« in »erschlägt's« geändert. | | S. 80 »Habs« in »Hab's« geändert. | | S. 81 »gibts« in »gibt's« geändert. | | S. 82 »gibts« in »gibt's« geändert. | | S. 83 »mans« in »man's« geändert. | | S. 84 »eiserne Kreuz« in »Eiserne Kreuz« geändert. | | S. 95 »mans« in »man's« geändert. | | S. 96 »vor lauterem Wald« in »vor lauter Wald« geändert. | | | +----------------------------------------------------------------+ End of the Project Gutenberg EBook of Der Snob, by Carl Sternheim *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SNOB *** ***** This file should be named 60089-8.txt or 60089-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/6/0/0/8/60089/ Produced by Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This transcription was produced from images generously made available by Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State Library.) 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Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. *** START: FULL LICENSE *** THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License (available with this file or online at http://gutenberg.org/license). Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. 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The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. 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Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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The Project Gutenberg eBook, Der Schwimmer, by John Henry Mackay This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Der Schwimmer Author: John Henry Mackay Release Date: February 15, 2005 [eBook #15068] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 ***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SCHWIMMER*** E-text prepared by Hubert Kennedy DER SCHWIMMER Die Geschichte einer Leidenschaft Roman von JOHN HENRY MACKAY Meiner geliebten Kunst--des Schwimmens--gewidmet... Erster Teil 1 Wann er schwimmen gelernt hatte?--Man hätte ihn ebensogut fragen können, wie und wann er gehen gelernt habe. Er wußte nicht mehr, wann er das erstemal ins Wasser gegangen war; aber seine ersten Kindheitserinnerungen waren mit dem Wasser verknüpft, das sein Element war und in dem er lag, wie er auf der Erde ging. Er war ein geborener Schwimmer. 2 Er hieß Franz Felder und war der Sohn sehr braver und sehr armer Eltern in Berlin O, der fünfte unter achten. Alle waren es stämmige Kerle mit dunklen Haaren und klaren Augen, und beide Eltern hatten vollauf zu tun, die hungrigen Mäuler vom Morgen bis zum Abend zu stopfen, von denen mindestens eines immer nach einer Stulle aufgesperrt war. Sie taten es redlich und gern, und zu hungern brauchte keines. Aber damit war auch der Kreis ihrer elterlichen Pflichten geschlossen, und sobald wie nur möglich blieben die Kinder einander und sich selbst überlassen und mußten sich mit durchs Leben helfen, so gut oder so schlecht, wie es eben ging. Der Älteste lernte eben aus, als der kleine Franz geboren wurde, und nach diesem kamen dann noch drei, die--wie er vordem den vorhergegangenen älteren--so nun seiner Obhut mit anvertraut wurden, sobald er selbst auf den Füßen stehen konnte. Ohne viel Worte und ohne jede Zärtlichkeit herrschte immer ein gutes Zusammenhalten zwischen den Brüdern. Es äußerte sich hauptsächlich ebensowohl in derben Prügeleien, wie in solidarischem Durchhelfen bei allen kleinen und großen Fährlichkeiten ihrer im ganzen und großen recht mühseligen, aber nicht unglücklichen Jugend. 3 Er hatte das Schwimmen nie "gelernt"; wenigstens konnte er schwimmen, solange er zurückzudenken vermochte, und das war etwa bis in sein viertes Jahr. Damals fiel er auf einer Landpartie, deren Höhepunkt eine Kahnfahrt bildete, ins Wasser--die Frauen kreischten und die Männer fluchten, während er herausgeholt wurde; aber ihm machte die Sache Spaß, und er lachte seelenvergnügt, so daß jemand sagte: "Der fällt uns gleich zu seinem eigenen Vergnügen nochmal hinein..."--was die entsetzte Mutter veranlaßte, ihren Franz für diesen Tag wenigstens nicht mehr von der Seite zu lassen. Aber das war eine jener Erinnerungen, die nur deshalb so stark in uns zu liegen scheinen, weil wiederholte Erzählungen anderer sie stürzen und halten. In Wirklichkeit sah sich Franz Felder in seinen Gedanken zuerst als kleinen Jungen von fünf Jahren lange, lange, warme Sommernachmittagsstunden am Ufer der Spree bei Treptow. Seine Eltern wohnten damals in zwei kleinen, heißen Zimmern in einem Hinterhause der Fruchtstraße, aber der Vater hatte es zum großen Jubel der ganzen Familie fertig gebracht, für den Sommer auf einem der Felder am Treptower Bahnhof eine der vielen "Lauben" zu mieten, und man hatte nun ein winziges Stückchen Erde, auf dem man einige Kohlköpfe ziehen und zu dem man hinauspilgern konnte in dem stolzen Gefühl eigenen Besitztums. Der Vater und der eine oder andere der älteren Brüder, die schon arbeiteten, kamen erst des Abends; aber die Mutter, welche kränkelte, verbrachte oft mit den Jüngsten ganze Tage auf dem reizlosen Fleck, wo sie wenigstens in freier Luft war. Sooft er nur konnte, rückte Franz aus. Erst klagte und schalt die Mutter, dann ließ sie ihn laufen, da es doch nichts half, ihn zurückhalten zu wollen. Eine besondere Anziehungskraft hatte für ihn ein großer Holzplatz an der Spree. Seit er einmal, dort umherschlendernd, für den Zimmermeister eine Weiße geholt hatte, stand ihm der Zutritt gegen Leistung gelegentlicher gleicher und ähnlicher kleiner Dienste offen, und nichts hinderte ihn, zwischen den Balken und Stämmen herumzuklettern, soviel er wollte. So wurde der Holzplatz seine Heimat für diesen Sommer. Aus Spänen kleine Kähne zu bauen, sie mit einem Knopf oder irgend etwas anderem zu "befrachten", sie dem großen Wasser anzuvertrauen und zu sehen, wie es sie hintrieb und verschlang, wurde er nie müde; oder Gräben und Buchten zu bilden und das Wasser hineinzuleiten und herumzupantschen und zu mantschen, bis der Feierabend allen seinen Spielen für diesen Tag ein Ende machte. Ein besonderes Fest war es jedesmal, wenn er in einem wirklichen großen Boote, das von der anderen Seite herübergekommen war und anlegte, ein Stück mitgenommen wurde oder etwa gar selbst eine Pätschel führen durfte. Aber am meisten von allem lockte ihn das Wasser selbst; und sechsmal an heißen Sommertagen mindestens warf er Hemde und Hose in den Sand und tauchte sich in die braune, träge, lauwarme Flut. Er schwamm schon wie ein Fisch. Er ging auf den Grund und holte Steine aus dem Schlamm herauf. Er glitt unter den Flößen durch und verschwand hier, um dort in die Höhe zu kommen.--Und er lernte seinen ersten Sprung, den einfachen Kopfsprung. Erst von dem Rand des Floßes, dann von dem des Nachens, endlich von dem des großen Spreekahnes plumpste er--den Kopf voran und mit ausgespreizten Beinen--wie ein Frosch ins Wasser. Ach, und wie war es schön, den nassen Körper in das heiße Sägemehl zu werfen, sich auf Bauch und Rücken darin herumzuwälzen und dann den weißen Pelz mit einem Sprunge wieder abzuwaschen!... Und stundenlang in der Sonne zu liegen und die Kähne und Dampfer mit festlich geputzten und fröhlichen Menschen auf der Spree vorüberziehen zu sehen, während die roten Wände der Fabriken und die weißen der Villen im Glanz des Sommertages aus dem Grün der Ufer hervorleuchteten und der blaue Himmel sich über alles spannte, die Ringbahnzüge über die nahe Eisenbahnbrücke donnerten und unter ihr die Dampfer pfiffen und läuteten... Es war ein großer Sommer für den kleinen Kerl, der von den Arbeitern auf dem Platz, die sich nur selten und nur bei übergroßer Hitze ins Wasser wagten, wie ein kleines Wundertier angestaunt und ihre "Otter" genannt wurde, wenn er plötzlich zu aller Ergötzen im Wasser lag und seine ersten, kleinen Kunststücke zeigte. Im Herbst dieses Sommers war er braun wie ein Neger, gesund und immer hungrig wie ein Haifisch, und er begann bereits, sich etwas einzubilden auf seine frühe Kunstfertigkeit... 4 Mit sechs Jahren kam er, wie jeder andere Berliner Junge, in die Volksschule um bis zu seinem vierzehnten Jahre, dem der Einsegnung, in ihr zu bleiben. In diesen Jahren lernte er schreiben, rechnen und lesen und einige allgemeine, elementare Kenntnisse, das heißt, Franz Felder lernte auch hiervon nur das allernotwendigste. Seine Schrift behielt immer die klobigen Formen der Ungewandtheit, und man sah ihr an, wie mühsam es ihm wurde, die Feder zu führen; sein Rechnen ging gerade so weit, um zur Zusammenzählung seiner kleinen Ausgaben und Einnahmen zu dienen; und sein Lesen--ach, der arme Franz Felder hat in seinem kurzen Leben wenig mehr gelesen, als hier und da den "Lokalanzeiger" und eine Annonce an der Litfaßsäule, denn es ist ihm ewig unverständlich geblieben, wozu Bücher überhaupt anders existierten als um den Überfluß an Zeit zu beseitigen. Er brachte sich mühsam durch die acht Klassen bis zur ersten hinauf. Zweimal blieb er sitzen, und dreimal half ihm sein "gutes Betragen" durch. Auch die guten Schüler konnten es nicht weiter bringen, denn bis zum vierzehnten Jahre mußten sie alle miteinander in der Schule bleiben. Dann begann für sie alle das Leben--die Arbeit. Franz war durchaus kein guter, aber auch grade kein schlechter Schüler. Es gab noch viel Dümmere als ihn. Er begriff das wenige, was er zu begreifen hatte, schwer und manches gar nicht; aber was er einmal in sich aufgenommen hatte, war auch sein geworden. Im allgemeinen war ihm die Schule höchst gleichgültig; er ging hin, weil es nun einmal sein mußte. 5 Aber nicht allein durch die Schule, sondern auch durch die Notwendigkeit frühen Verdienens wurde seine Zeit in Anspruch genommen, und desto mehr, je älter er wurde. Zwar folgten auf jenen ersten Sommer frohen Umhertummelns und sorglosen Genießens noch einige andere gleich und ähnlich schöne, aber immer öfter hieß es: "Du mußt dies und das tun und holen"--und ein jeder solcher Befehle vernichtete einen Wunsch. Es kam auf jeden Groschen an, der verdient werden mußte, und zudem verlangten die jüngeren Brüder Beaufsichtigung und Fürsorge von den älteren, wie er sie selbst von den Voraufgegangenen genossen. Dennoch gab es immer noch viele Stunden ungetrübter Seligkeit für den Knaben, wenn er hinaus konnte ins Freie zum Baden. Es waren die Stunden, für die er lebte, an die er stets und ständig am Tage dachte und von denen er des Nachts träumte--seine größte Freude und sein durch kein anderes übertroffenes Vergnügen. Im Sommer mußte einmal am Tage wenigstens gebadet werden; das war Selbstverständlich, und der Tag verloren, an dem es nicht sein konnte. Aber nicht etwa baden, was die anderen so nannten: aus den Kleidern ins Wasser und wieder hinein--sondern hinein und hinaus und in die Sonne, und wieder und wieder ins Wasser, und am liebsten so den ganzen Nachmittag. Und schwimmen und springen und tauchen und im Wasser wühlen wie ein Seehund--das nannte _er_ baden. Als er noch ein kleiner Kerl war, gab es überall an der Spree Gelegenheit, splitternackt ins Wasser zu springen, wenn man nur aufpaßte, daß kein Schutzmann in der Nahe war. Aber als er älter wurde, ging es doch nicht mehr so gut außerhalb der Badeanstalt und ohne Badehose. Vor dem Schlesischen Tor war ein großes Stück Spree am Ufer durch einen hohen Zaun abgetrennt. Auf seiner Innenseite zog sich ein Gang an allen Seiten hin, und es liefen Bänke an ihm entlang, über denen Nägel zum Aufhängen der Kleider eingeschlagen waren. Außerdem gab es noch ein wackeliges Sprungbett auf einer Art Turm, von dem man "bei Strafe" hinunterspringen mußte, wenn man ihn betreten hatte, und im Wasser lag ein Kreuz aus Balken zur Belustigung der Badenden. Das war die große Schwimm- und Badeanstalt "Osten", die größte Berlins. Die Balken und Bretter waren schwarz und morsch vor Alter und die Nägel verrostet, und nie wurde ein neuer eingeschlagen, denn das hätte ja Kosten und Mühe verursacht. Alles war verwahrlost, aber Raum gab es hier in Fülle, und an allen heißen Sommertagen waren die Gänge vom Morgen bis zum Abend dicht besetzt mit vielen Hunderten von nackten, schwitzenden Körpern, und der Lärm in und außer dem Wasser nahm kein Ende, ob am Nachmittag die barfüßige Jugend des Ostens oder am Abend die schwarze Arbeiterschaft nach ihrem Tagewerk anrückte. Das Bad kostete einen Groschen, und den ganzen Sommer konnte man hier für einen Taler baden. Was aber Franz Felder vor allem reizte, das war, daß man hier nie oder doch nur ganz selten hinausgeschmissen wurde, auch wenn man die formell vorgeschriebene Badezeit von einer Stunde längst überschritten hatte. Bei der ungeheuren Menge von Badenden war es den Bademeistern ganz unmöglich, irgendeine Kontrolle auszuüben, und es war ihnen auch ganz gleichgültig, mochten sich die Körper in und außer dem Wasser stoßen und drängen und die Kleider über- und die Stiefel durcheinander geworfen werden--solange man sich nur nicht prügelte oder einer am Ertrinken war und herausgeholt werden mußte, rührte sich keiner vom Flecke. Franz beschloß, hierher die Stätte seiner sommerlichen Tätigkeit zu verlegen und daher mußte er den Taler haben. Das war sehr viel Geld auf einmal, aber unmöglich schien es ihm nicht, ihn für sich zusammenzubringen, ohne daß die Mutter es merkte; denn die hätte natürlich gesagt, einmal in der Woche zu baden sei genug--(soviel verstand die davon!)--und hätte ihm das Geld abgenommen. Im März fing er an zu sparen: Sechser für Sechser und Groschen für Groschen, und er hatte ein wundervolles Versteck auf dem Dachboden des Hauses in einem alten Strumpf und in einer Ecke, wo nie jemand hinkam, da kein anderer im ganzen Hause so geschmeidig war, sich bis dahin durch Bretter, Balken und Gerumpel durchzuwinden. Aber im Mai wurde der Vater krank, und eines Abends kroch Franz voll Edelmut, aber nicht ohne Bitterkeit hin zu seinem Schatz und trug ihn in die Apotheke. Jetzt mußte er von neuem anfangen, und er tat es: er trug des Morgens Frühstück aus, bevor er zur Schule ging, und lauerte am Nachmittag auf die Reisenden am Schlesischen Bahnhof, denen er hier und da ein Stück Gepäck trug, und als im Juni nach einem kalten Frühling der herrliche, geliebte Sommer und seine Sonne kam, lag er im Wasser und schwamm, daß es eine Art hatte. Diese Sommernachmittage waren noch sein--in diesen und in den nächsten Jahren--solange er auf der Schule war. Er ließ sie sich nicht verkürzen. Nach dem Essen rückte er aus und kam am Abend wieder, mochten sie daheim sagen, was sie wollten. Zwischen diesen vier schwarzen, häßlichen Bretterwänden, die alles, nur nicht den Himmel versperrten, verbrachte er die langen Stunden ungezählter Nachmittage. Hier war die Welt, in der er lebte. Hier lernte er seine ersten, kunstgerechten Sprünge, und hier bildete er seinen kleinen Körper in unausgesetzter Übung zu der Kraft aus, die ihn später zu den Leistungen seiner Siege befähigen sollte. Solange er noch nicht eingesegnet war, brachte er es fertig, sich für jeden Sommer seinen Taler zusammenzusparen, und diese Sommer vergingen ihm fast wie ein einziger, langer, warmer Sonnentag, den er--durchschwamm.-- Aber auch die Winter dieser Jahre seiner frühen Kindheit waren nicht ohne alle Freuden. Die Stadt Berlin hatte nach langem Zögern im Osten ein großes, rotes Gebäude errichtet: eine Volksbadeanstalt mit musterhafter Einrichtung, die neben den mancherlei Arten von Wannen- und Brausebädern als Mittelpunkt auch eine große Schwimmhalle umfaßte, die Sommer wie Winter geöffnet war und das Schwimmen zu jeder Jahreszeit ermöglichte. Es war die zweite städtische Anstalt dieser Art. Bisher hatten sich in Berlin nur zwei oder drei andere Privat-Anstalten mit Schwimmbassins mühsam zu halten vermocht, da die wenigsten Menschen überhaupt von der Möglichkeit, "im Winter zu schwimmen", eine Vorstellung hatten und die Existenz solcher Schwimmhallen ihnen daher einfach unbekannt und unverständlich war. Für Franz Felder waren diese privaten Anstalten deshalb nicht in Betracht gekommen, einmal weil sie viel zu entfernt lagen, und dann, weil das Baden in ihnen viel zu teuer war. So war die neue Anstalt der Stadt wie für ihn gebaut, und wenn er auch im Sommer an dem schmucken Gebäude mit Verachtung vorbei und in den großen Kasten an der Spree lief, so wandte sich ihm doch seine ganze Aufmerksamkeit zu, als der "Osten" sich hinter ihm als dem letzten Badenden bis zum nächsten Sommer schloß und der alte Bademeister, als er ihn endlich endgültig hinausschmiß, halb brummend, halb lachend gemeint hatte: "Na, weeßte, du hast ooch mehr an uns als wir an dir verdient!"... Franz brachte es fertig, Eintritt auch in das neue Ziel seiner Wünsche zu erlangen. Es war allerdings nicht an ein Abonnement für den ganzen Winter zu denken--eine unerschwingliche Summe, die er weder zusammengebracht hätte, noch gewagt haben würde, selbst für diesen Zweck zu verwenden, auch wenn er im Winter die Zeit gehabt hätte zu täglichem Baden; schon die einzelnen Bäder waren für ihn teuer. Aber sie waren doch zuweilen erschwingbar, und außerdem wurden von der Gemeindeschule aus die jüngeren Schüler ein- oder zweimal wöchentlich vom Lehrer hierher geführt, und bei dieser Gelegenheit überkam Franz eine Ahnung von dem Zweck und Nutzen der Schule. Diese Freibäder versöhnten ihn mit mancher anderen langweiligen und lästigen Stunde. Das einzige, was ihm diese Freibäder im Winter zu verkümmern vermochte, war die Kürze der vorgeschriebenen Zeit, in der die Kinder im Wasser verweilen durften, und ob auch der Lehrer, selbst ein großer Schwimmer und gütiger Freund seiner Kleinen, bei Franz ein Auge zudrückte, wenn dieser selbst durch die Schnelligkeit, mit der er sich in seine Kleider warf, ein paar Augenblicke längeren Verweilens in dem geliebten Naß zu ergattern vermochte, so war es Franz doch immer, als sei er kaum einmal untergetaucht, und er hatte im Grunde seines Herzens für diese Art von Schwimmerei immer nur das eine Wort tiefer Verachtung: "Det is ja jarnischt!"--Und trotzdem hätte er selbst diese in seinen Augen so flüchtigen Augenblicke nicht missen können und wollen, denn immer seltener wurden die Male, in denen er allein diese wunderbare, warme Halle, die ihm der Inbegriff aller Weite und Schönheit war, besuchen und mit dem Aufgebot aller Schliche so lange als irgend möglich in ihr verweilen konnte; und immer seltener und begehrter zu Hause wurden die Groschen, die er sich durch kleine Beschäftigungen, wie das Brotaustragen am frühen, kalten Morgen vor der Schule und den Verkauf von kleinen Straßenwaren in den Weihnachtstagen, durch stetes Aufpassen auf jede andere mögliche Gelegenheit zuverdienen wußte. Früh wurde sein junges Leben mühsam und ernst. Aber unglücklich war er nicht, denn er konnte ja schwimmen, Sommer wie Winter schwimmen. Unglücklich wäre er nur geworden, wenn man ihm dies sein einziges Vergnügen ganz genommen hätte. Aber daran dachte keiner, denn keiner verstand, wie es ein so großes Vergnügen sein konnte. So erreichte Franz Felder sein vierzehntes Lebensjahr. 6 Bisher hatte er von seinem Schwimmen nichts gehabt als sein Vergnügen. "Brotlose Künste!" sagte sein Vater eines Tages, als Franz wieder einmal sein Fortbleiben an einem ganzen Nachmittag und einem halben Abend mit nichts anderem zu entschuldigen wußte, und dieser konnte sich nur mit dem Gedanken über diesen Ausspruch trösten, daß sein Vater eben auch nichts vom Schwimmen verstehe. Er bedauerte ihn deshalb tief, denn für ihn gab es nur zwei Arten von Menschen: solche, die schwimmen, und solche, die nicht schwimmen konnten. Die letzteren waren für ihn eine untergeordnete Klasse von Menschen, jedes Mitleids würdig. Nun aber--er stand in seinem dreizehnten Lebensjahre--brachte ihm seine Fähigkeit den ersten Erfolg in den Augen der Menschen, und einen schönen.-- Es war an einem Sonntagnachmittag, und Franz lag im Grase an der Spree nahe der Kirche in Stralau, die ihren grauen Turm aus alten Linden und Ulmen heraus neugierig in den wolkenlosen Himmel streckte. Franz war ganz allein. Seinen Freunden, die ihn zu einer Wasserpartie nach Sadowa überreden wollten, hatte er einen Korb gegeben--einmal, weil ein paar mitmachten, die ihm nicht paßten, da sie ihm zu rüdig waren; und sodann, weil er nur drei Sechser in der Tasche hatte, über die bereits anderweitig für morgen verfügt war. Zudem war er ganz gern allein, und die Pätschelei machte ihm nur dann Vergnügen, wenn sie mit einem regelrechten Bade verbunden war. Franz also lag in dichtem Grase, sog an ausgerupften Halmen und ließ in augenblicklicher Ermangelung eines Besseren einen um den anderen seiner nackten Füße ins Wasser hängen. Erst harte es ihm Spaß gemacht, nach den Sommergärten von Treptow, die alle schwarz von Menschen waren, und auf die Spree, wo sich Unmengen von kleinen Boten, Kähnen und Seglern herumtrieben, hinauszuschauen, und er hatte sich vorgenommen, einmal aufzupassen, wie lange es wohl dauern würde, bis eine dieser meist von den ungeübtesten Händen gelenkten Schalen in den Kurs eines der schwerfälligen Dampfer kam, die einer nach dem andern menschenüberladen und unter ohrbetäubenden Geklingel spreeauf- und abwärts an ihm vorbeiführen. Denn alle Sonntage kamen hier einer oder mehrere Unfälle vor, und das Gottvertrauen, mit dem der Handlungsgehilfe aus NO und der Friseur aus SW, denen doch sonst vor jeder Berührung mit dem Wasser inner- und äußerlich graute, die Boote mit ihren Schönen beluden und direkt auf die Dampfer losfuhren, hatte etwas Rührendes. Aber, wie es immer ist: wenn wir auf ein Ereignis warten, kommt es nicht, und so wurde auch Franz bald müde, auf die Wasserfläche hinauszublinzeln, und er sah zur Abwechselung hinauf in den Himmel, indem er sich auf den Rücken warf. Ob es wohl ein Wasser gab, das so tief und so blau war, wie dieser Himmel dort oben? Was mußte das für eine Lust sein, darin zu baden!-- Er dachte an einen seiner Lehrer, der einmal von einem Märchen erzählt hatte. In dem kam ein Bergsee vor, der sollte "so tief wie das Meer und so blau wie der Himmel" sein. Aber Franz konnte sich keine rechte Vorstellung von einem Bergsee machen, und außerdem war es ja ein Märchen, das der Lehrer erzählte. Die Spree war immer dunkelbraun und schmutzig, und auch in dem Volksbad konnte man nicht auf den Grund sehen, auch dann nicht, wenn das Bassin gereinigt und mit frischem Wasser gefüllt war. Aber es mußte doch wunderschön sein, einmal in einem so ganz klaren, durchsichtigen Wasser zu baden... Und da empfand Franz auch schon mit heftigem Unbehagen, daß er heute noch gar nicht im Wasser gewesen war. Wenn er es wagte? Aber das wäre doch wohl eine zu große Frechheit gewesen, am Sonntag, hier vor allen Leuten--wenn ihn da ein Schutzmann erwischte, würde es schöne Senge absetzen, und nicht die allein. Nein, er mußte schon warten, bis es dunkel geworden war, und dann auf dem Heimweg noch schnell einmal irgendwo hineinspringen. Weshalb waren doch nur alle Badeanstalten am Sonntagnachmittag geschlossen--das war doch zu dumm!--Wo alle anderen Vergnugungslokale geöffnet waren, blieben die, wo es das allergrößte gab, zu!-- Und wenn er nun doch jetzt sein Bad nähme!--Er getraute es sich, seine Kleider abzuwerfen, so lautlos ins Wasser zu schlupfen, unter ihm hin eine Strecke zu schwimmen, einmal aufzutauchen, um Atem zu schöpfen, und dann ebenso lautlos wieder zurückzuschwimmen, daß kein Mensch ihn bemerken sollte. Aber eine bodenlose Frechheit wäre es doch gewesen und wenn wirklich ein Schutzmann in der Nähe war--und immer war ein solcher Kerl irgendwo in der Nähe!--und die Kinder ein Geschrei erheben würden... War da schon einer?--Schrieen die Kinder oder wer schrie so?--Franz sprang in die Höhe. Hatte er es nicht gleich gesagt?--Na ja, gleich der ganze Kahn um und alles ins Wasser!--Und ein Geschrei und Gerufe und ein Laufen--jetzt aber raus aus dem Hemde und ins Wasser!--Er fuhr durch das Wasser wie nie in kurzen, kräftigen Stößen. Er wollte schon auf den Kahn zu, als er--noch ein Stück von ihm entfernt--etwas auf dem Wasser kämpfen und untersinken sah: einen Jungen, ein paar Jahre jünger nur, als er selbst. Er erreichte ihn noch gerade und packte ihn beim Arm. Aber der klammerte sich auch gleich an ihm fest, und Franz hatte Mühe wieder loszukommen. Denn so ging das ja nicht. Er schrie ihm zu, ganz ruhig zu sein, er bringe ihn schon ans Land. Aber der andere war schon wieder mit dem Kopfe unter Wasser und hörte nichts mehr. Da ließ ihn Franz einen Augenblick ganz los, griff ihn dann fest unter dem Arm und brachte nun den sich nicht mehr Sträubenden.--denn der hatte einstweilen genug Wasser geschluckt--langsam, aber in sicheren und kräftigen Stößen ans Land. Dort streckten sich schon hundert Hände aus--nicht nach dem Retter, um den kümmerte sich keiner--sondern nach dem andern, und Franz war froh, daß man ihn in Ruhe ließ. Er suchte nach seinen Kleidern. Alles lag noch da, aber seine Jacke fehlte. Er suchte und suchte, ohne sie finden zu können. Erst wollte er Skandal machen. Doch dann hätten sich alle die Menschen, die sich dort um den Geretteten bemühten oder ihn neugierig umstanden, nach ihm gewandt und ihn ausgefragt. Fragen aber war ihm ein Greuel. Und es nützte ja doch nischt!--der seine Jacke mitgenommen hatte, der Halunke, war jetzt doch schon über alle Berge! Er machte besser, daß er fort kam, denn er glaubte, einen Lehrer am Ufer erkannt zu haben. Nur keine Quatscherei! Er sah noch gerade, daß der Junge wieder aufrecht stand, den er herausgeholt; dann rannte er, was er konnte. Und als wirklich der Lehrer sich nach ihm umsah, war Franz längst verschwunden. Er trottete in Hemdsärmeln nach Hause. Sein Bad hatte er ja nun gehabt. Aber als er mit gesenktem Kopf an den Scharen der sonntäglichen Spaziergänger die lange Straße längs der Spree nach Hause trabte, mußte er einmal doch die aufsteigenden Tränen hinunterschlucken, als er daran dachte, daß er nun ohne Jacke nach Hause kam, und an den Skandal, den es absetzen würde. Denn sagen, wie es wirklich gewesen war, das konnte er doch nicht. 7 Er hatte die ganze Sache längst vergessen, und auch der Lärm um die Jacke zu Hause war verhallt, als ihm eines Tages in der Schule die Eröffnung wurde, daß ihm "für seine mutige Tat" die Rettungsmedaille verliehen werden und daß er sie am Tage der Entlassung aus der Schule in öffentlicher Feierlichkeit erhalten sollte. Er wußte zuerst nicht, was er dazu sagen sollte, und hoffte die Sache damit zu erledigen, daß er nicht daran glaubte. Das war auch nur wieder so eine Quatscherei--wegen so was! Aber er irrte sich. Die Medaille war ihm wirklich zuerkannt, und zwar auf Betreiben desselben Lehrers an seiner Schule, der zufällig an jenem Sonntag in der Nähe gewesen war und vergebens nach seinem Schüler gesucht hatte, nachdem er durch seine praktischen Anordnungen den Geretteten wieder soweit gebracht, daß er Luft schnappen konnte. Franz machte diese Feier kein Vergnügen. Es war ihm unangenehm, so vorgerufen und von allen Augen angestaunt zu werden, als habe er Gott weiß was getan, und er hätte sich am liebsten in die Erde, oder noch weit lieber: ins Wasser verkrochen. Aber das ging nun einmal nicht. Der Rektor hielt eine Rede, von der er wenig verstand, da er nicht zuhörte. Dann mußte Franz vortreten vor die andern Schüler und die Herren in schwarzen Röcken hin, und er fühlte, daß er rot wurde, als ihm die kleine, braune Bronze-Medaille an die Brust gesteckt wurde. Aber trotz aller Unbehaglichkeit durchdrang ihn doch in diesem Augenblicke ein Gefühl großer Gehobenheit, etwa ähnlich dem, das er empfand, wenn er ganz allein draußen in seinem Elemente schwamm und fühlte, wie er es beherrschte. Und dies Gefühl mußte sich in seinen Augen widerspiegeln, mit denen er jetzt aufschaute zu dem sonst so gefürchteten Rektor. Denn als dieser den Ausdruck stummer Begeisterung in den blauen, ehrlichen Augen des Knaben sah, ihm so ungewohnt bei seinen kühlen, früh lebensklugen Berliner Kindern, legte er noch einmal seine Hand auf den kurzgeschorenen Kopf vor ihm, und sich etwas niederbeugend, fügte er seinen Worten noch hinzu:--Du wirst gewiß einmal ein sehr tüchtiger Schwimmer werden... Da aber antwortete Franz mit einer seiner sonstigen Schwerfälligkeit ganz fremden Plötzlichkeit und Schlagfertigkeit--und wieder stand das seltsame Leuchten in seinen Augen--: --Der bin ich schon! Der Rektor lächelte. --Aber ja. Sonst hättest du dir das da nicht verdient. Ich meinte auch nur, daß du dich noch weiter ausbilden kannst; das willst du doch gewiß? Franz war wieder der alte, und er antwortete mit seiner eben zu der Einsegnung eingelernten Verbeugung, die das einzige war, was ihm von der ganzen Geschichte "dieser heiligen Handlung" geblieben war: --Jawohl, Herr Rektor! Die Feierlichkeit war zu Ende und keiner froher darüber, als Franz, der sofort nach der Volksbadeanstalt stürzte und sie gerade noch lange genug offen fand, um im Wasser für eine halbe Stunde zu vergessen, was auf der Erde um ihn vorging. Acht Tage vorher war er eingesegnet worden, und so waren die beiden größten äußeren Ereignisse seiner bisherigen kindlichen Jugend zusammengefallen. Die Einsegnung selbst hafte ihn ganz kalt gelassen und er hatte mit dem besten Willen nicht die üblichen Tränen hervorquetschen können, die bei dieser Gelegenheit erwartet wurden. Aber die Verleihung der Medaille hatte ihn doch etwas innerlich erregt, da die andern so viel Wesens davon machten und ihn anstaunten, wo er ging und stand. Den tiefsten Eindruck machte es ihm, daß sein Name in den Zeitungen stand, und als an einem Abend dieser Woche der Onkel Sattlermeister aus der kleinen Markusstraße in dem elterlichen Keller erschien und mit dröhnender Stimme bei verschiedenen Weißen die Notiz im "Lokal-Anzeiger" über seinen Neffen vorlas, da war dieser fast so glücklich, wie einige Tage später, als derselbe Onkel ihn "zur Einsegnung" mit einer silbernen Taschenuhr beschenkte. Jetzt war er von der Schule endgültig frei, die er im letzten Jahre geradezu gehaßt hatte. Er war nun darauf angewiesen, auf eigenen Füßen zu stehen, Geld zu verdienen, um seinen Eltern ein Kostgeld zu zahlen, mit einem Wort: sich durchs Leben zu schlagen, so gut es ging. Für einen bestimmten Beruf, konnte er sich noch nicht entscheiden. Die besseren Berufsarten, die der Mechaniker, Ingenieure usw., bei denen ein Lehrgeld in der Höhe von mehreren hundert Mark zu bezahlen war, waren überhaupt ausgeschlossen, da sein Vater nie in der Lage gewesen wäre, auch nur hundert Mark auf einmal für einen seiner Söhne aufzutreiben. Aber auch die Lehrstellen, bei denen ein Lehrgeld nicht gefordert wurde, die nur die drei- oder vierjährige Verpflichtung unentgeltlicher Kraft verlangten oder nach einiger Zeit und sogar von Anfang an ein kleines, von Jahr zu Jahr um etwas höher werdendes Gehalt bewilligten, waren ihm versagt, denn jetzt wo er vierzehn Jahre alt geworden war, erklärten die Eltern, ihn nur bei sich behalten zu können, wenn er wöchentlich seinen Beitrag für Wohnung und Essen beisteuerte. Alle seine Brüder hatten das getan, bevor sie sich selbständig gemacht, das heißt geheiratet hatten oder in die Fremde gegangen waren, und Franz wäre der letzte unter ihnen gewesen, der nicht eingesehen hätte, wie berechtigt die Forderung war. Die Familie Felder hatte immer zusammengehalten und gesucht, sich das Leben gegenseitig zu erleichtern; daß es so schwer war, nahmen alle als eine unabänderliche Notwendigkeit, und Franz machte keine Ausnahme, wenn er nicht darüber nachdachte, warum es eigentlich für sie alle so schwer war... Er ging ohne Zaudern daran, sich Arbeit zu suchen. Er schreckte vor keiner zurück. Im Winter war er Laufbursche und Austräger in verschiedenen Geschäften, hatte dann eine Stelle als Bote in einem großen Zigaretten-Importgeschäft, zu dem er in einer auffallenden Uniform und in einer Mütze mit Aufschrift gehen mußte; und im darauffolgenden Sommer zog er für eine Papeteriewarenhandlung mit einem Karren und einem Hunde, meist allein, zuweilen aber auch mit einem zweiten Jungen, vom Morgen bis zum Abend in der ganzen Umgegend von Berlin herum um Waren abzuliefern. So brachte er es fertig, während dieses ganzen Jahres nie weniger als zehn Mark die Woche zu verdienen, und meistens noch etwas mehr, bis zu dreizehn und selbst vierzehn, die Trinkgelder eingerechnet. 8 Alles, was er an Geld und Zeit erübrigen konnte, gehörte bis auf die letzte Minute und den letzten Pfennig seiner ersten Liebe: dem Wasser!-- Immer brachte er es fertig, auf seinen Geschäftsgängen--und mußte er sich noch so sehr vorher und nachher beeilen--so viel an Zeit zu erübrigen, daß er in das zunächst gelegene Schwimmbad eilen konnte auf ein kurzes, oder, wenn es irgend anging, auf ein langes Bad. Im Sommer fast täglich: da befand er sich meist in den Vororten von Berlin, und statt der wenigen Winter-Schwimmbäder der Stadt fand er überall ein Sommerbad. Und mochte er in Reinickendorf oder Steglitz, am Plötzensee oder in Rixdorf sein--im Sommer wenigstens durfte kein Tag vergehen, an dem er nicht in die Fluten tauchen konnte, die sein Element waren. Er verzichtete auf die Mittagsruhe unter einem Baum auf dem Felde; er überredete seinen Kameraden, mit dem Wagen eine halbe Stunde auf ihn zu warten, und versuchte es auf alle Weise-- selbst durch Bestechung mit einem Sechser oder mit einem Glas Bier; er stellte den Wagen bei Bekannten, die er überall machte, für eine Stunde unter, nur um auf sein Vergnügen nicht verzichten zu müssen. Sonst so schwerfällig, wurde er schlau in der Anwendung der Mittel, die ihn zu seinem Ziele führen konnten: seinem täglichen Bade. Übrigens fand er im Sommer meist Zeit. Bei diesen weiten, tagelangen Fahrten konnte sein Fortbleiben vom Geschäft aus nur selten so genau kontrolliert werden, wie im Winter; wenn er abends, und mochte es auch schon spät sein, mit dem leeren Wagen nach Hause kam und nur alle Bestellungen abgeliefert waren, war der Chef zufrieden, um so mehr, als Franz sehr zuverlässig und ehrlich war, so daß ihm oft große Summen zur Einkassierung anvertraut wurden. Auch die paar Groschen für das Bad fand er immer. Sie waren seine einzige Ausgabe. Er hatte sonst kein Bedürfnis und verzichtete lieber auf sein Glas Bier, als auf sein Bad. Er konnte hungern und dursten-- und oft genug tat er beides--: aber sein Vergnügen ließ er sich nicht nehmen. Auch war es ja ein so billiges Vergnügen. Da er sich immer noch in vielen Fällen auf ein Kinderbillet durchschmuggelte, so kostete ihm sein Hallenbad nicht mehr als zwanzig, sein Sommerbad meist aber nur zehn Pfennig. Das konnte er sich schon leisten. Nur sprach er nicht mehr so viel von seinem Vergnügen. Die Mutter hätte selbst über die kleine Ausgabe geklagt, und seine Freunde verstanden seine Leidenschaft doch nicht so, wie er sie fühlte. So umgab er sie mit der ganzen Heimlichkeit einer wirklich ersten Liebe und stahl sich zu seinem einzigen und größten Vergnügen wie zu einem Stelldichein. Seine kleine Badehose, die zusammengerollt nicht großer war als seine Faust, trug er mit sich, wo er ging und stand. Und mehr als sie, den Groschen und eine Stunde Zeit, brauchte er ja nicht!... Es war eine harte und freudlose Kindheit, die dem Knaben beschieden war. Aber eine große Freude, die schon jetzt etwas von der alles in ihm beherrschenden, verzehrenden Leidenschaft späterer Jahre an sich hatte, übergoldete ihre graue Nüchternheit, ließ ihn Müdigkeit und Entbehrungen vergessen, und diese Freude war es, in der er seine ganze Jugend auslebte und auskostete in ihrer ersten Kraft und in ihrem ersten unendlichen Genießen. 9 Ihm war das Schwimmen noch keine Kunst. Er ahnte noch nicht einmal, daß es als eine solche betrachtet werden konnte. Wohl wußte er von der sportlichen Ausbildung der Schwimmer, aber diese reizte ihn nicht. Sie war ihm fremd. Wie als kleiner Kerl von fünf Jahren, so tummelte er sich auch jetzt noch im Wasser, nur daß er mit seiner zunehmenden Kraft gelernt hatte, es jetzt völlig zu beherrschen. Als nochmals ein Sommer zu Ende ging, da gab es für den jungen Burschen kein Wasser in der ganzen näheren Umgebung von Berlin, wenn es nur eben so groß war, daß man in ihm baden konnte, in dem er nicht geschwommen hätte. Berlin war eine große Stadt mit vielen Straßen und unzähligen Häusern, aber ihre Bedeutung bestand doch nur darin, daß um sie herum die Teiche und Seen lagen und daß sie der dunkle Fluß durchzog... Er schwamm nur zu seinem Vergnügen und nur zu eigener Lust. Sein einziger Wunsch war, den ganzen Tag im Wasser zu liegen, und er war glücklich über die langen Sonntagnachmittage, an denen er es konnte. Mit seinen kurzen, stämmigen Beinen seinen festen Armen, an denen sich die Muskeln auszubilden begannen, beherrschte er das Wasser mit vollkommener Sicherheit. Es war sein Freund, zu dem er unbedingtes Vertrauen hatte--sein bester, sein einziger Freund. An seiner Brust vergaß er alle Mühseligkeiten seines jungen Lebens, und wenn er bei ihm sein durfte, war er glücklich. Und das Wasser vergalt ihm seine Liebe. Es war wie ein Aufschrei der Freude seiner Wellen, wenn es ihn umfing, und es trug ihn sicher und freundlich, wie er nur wollte. Sie spielten, sie rangen miteinander, wie Knaben es tun, um ihre Kraft zu messen, aber sie vertrugen sich immer. Ach, und wie der Knabe es liebte! Wie andere Kinder den weißen Sand, mit dem sie spielen, durch die Hände gleiten lassen, so nahm er oft, auf dem Rücken liegend, das flüssige, rätselhafte Element, um es zu fassen, in die Hände und es zwischen den Fingern zerrinnen zu sehen in flüchtigen Blasen. Wie andere Kinder zu ihrer Mutter gehen mit ihren Klagen und Wünschen, so kam er zu ihm, um sich trösten zu lassen. Sein ganzer, kleiner Körper zitterte vor Aufregung, wenn er das Wasser sah, und er suchte den köstlichen Augenblick zu verlängern, in dem er hinein durfte. Lag er dann im Wasser, so rollte er sich zunächst förmlich über die Fläche hin, überschlug sich vor Wonne und kugelte sich zusammen, ging unter und kam wieder hervor, streckte die Glieder in unendlichem Wohlbehagen und glitt auf der Oberfläche hin, wie eine Schlange, bis er zu schwimmen begann. Dann schwamm er, ruhig, langsam und lautlos, fast andächtig; oder in voller Kraft auf ein Ziel los, daß das Wasser rauschte. Er schwamm, und er wurde nie müde. Er tauchte, und seine kleine Brust weitete sich mühelos. Er schwamm und schwamm, wo und wann er konnte.--Es war ein heißer Sommer, ein langer Sommer, ein arbeitsvoller Sommer. Aber es war doch ein Sommer voll Freude. Viel noch sollte Franz Felder in seinem Leben schwimmen. So sorglos, so unbekümmert vielleicht nie mehr. Zweiter Teil 1 Auch dieser Sommer war vorbei, und wieder war es zu kalt geworden, um im Freien zu baden. Die offenen Sommeranstalten schlössen sich. Franz Felder hatte seine Stelle aufgeben müssen, da im Geschäft nicht mehr genug zu tun war, und suchte nun, nach einem gerührten Abschied von Cäsar, dem treuen Gefährten so vieler schöner, heller Sommertage, eine neue Stelle für den Winter. Einstweilen nahm er mit, was er kriegen konnte. So oft er konnte, ging er nun wieder in das große Volksbad, dessen hohe, warme Halle sich das ganze Jahr über nur an den zweiten Feiertagen schloß und immerweniger besucht wurde, je kälter es draußen wurde. Es war ja nicht dasselbe, sagte Franz zu sich, wie das Baden im Freien. Aber es war doch wenigstens ein Wasser, in dem man schwimmen konnte. Als er sich eines Abends so mit seinen Kameraden im Bassin tummelte und sie gerade in einer kleinen Race auf 50 Meter spielend geschlagen hatte, kam ein Herr auf ihn zu, den er schon oft gesehen, und fragte ihn, ob er denn nicht Lust habe, in einen Schwimmverein einzutreten. Es war nicht das erstemal in letzter Zeit, daß an den Jungen diese Frage gestellt wurde, und schon wollte er sagen, daß er einstweilen noch etwas warten wolle, als er hörte, was der Herr weiter sagte: --Sie müssen wissen, wir nehmen nicht jeden in unsere Jugendabteilung, sondern nur Kräfte, von denen wir uns etwas für unseren Verein versprechen. Und plötzlich schoß es Franz durch den Kopf: der Herr gehörte ja zum "Schwimmklub Berlin von 1879"--dem ältesten und angesehensten Schwimmverein Berlins, dem so viele Meisterschaftsschwimmer entstammten, der die großen Feste gab, und in den einzutreten überhaupt eine Unmöglichkeit schien ... und noch etwas außer Atem und ganz hochrot fragte er fast ungläubig: --Schwimmklub Berlin von 1879?-- Der Herr lächelte. --Jawohl. Sie wissen vielleicht, unsere Beiträge sind um etwas höher, als in den anderen Vereinen, aber wir sind nicht rigoros in dieser Beziehung, und der gute Wille zählt hier mit, wenn es einmal nicht so geht. Übrigens haben Sie so viele andere Vorteile bei uns, besonders wenn Sie viel baden, daß sich das schon machen lassen wird... Als er sah, daß Franz noch immer nicht antwortete, lächelte er wieder und machte eine Bewegung: --Ich will Sie übrigens nicht überreden... Sie können sich die Sache ja überlegen-- Aber da sagte Franz hastig, als könne ihm das unerwartete Glück wieder entgehen: --Nein, nein, ich will schon gern-- Der Herr zog sein Notizbuch hervor: --Also, der Name... --Franz Felder-- --Adresse? --Berlin O, Münchebergerstraße 102, und etwas zögernder: --Hof--im Keller-- Der andere schrieb alles auf. Dann reichte er ihm die Hand: --Unsere Übungsstunden für die Jugendabteilung kennen Sie wohl?-- Jeden Dienstag und Freitag abends acht Uhr. Franz nahm die dargebotene Hand, machte eine tiefe und respektvolle Verbeugung, wie er sie vor seinem Pfarrer und seinem Rektor gemacht hatte, sah, wie der Herr wegging, und fühlte zugleich einen freundschaftlichen Rippenstoß in der Seite: --Du, wat hat denn der von dir jewollt? Er sah seine Freunde um sich und sagte nur von oben herab: --Ich bin aufgefordert worden, dem "Schwimmklub Berlin 1879" beizutreten, und ließ sie stehen. Nun, da er es ausgesprochen hatte, glaubte er es selbst, und eine unbändige Freude ergriff ihn. O, er wollte Ehre einlegen!--Und die siebzig Pfennige Monatsbeitrag wollte er schon aufbringen und so pünktlich zahlen, daß man ihm deshalb nie einen Vorwurf machen sollte, wenn er auch einstweilen noch nicht wußte, wie sie aufzutreiben waren. Im Geiste sah er sich schon in dem blaugesäumten Trikot und der Badehose, die in Blau die gestickten Anfangsbuchstaben und die Zahl 1879 trug, und er machte vom Sprungbrett einen Freudensprung, aber so ungeschickt in seiner Aufregung, daß nur eine gewandte Wendung im letzten Moment ihn davor bewahrte, flach aufzuschlagen. Daran, daß es ihm nie als ein besonderes Vergnügen erschienen war, einem Verein anzugehören, daß er den Zwang der Stunde, das Schwimmen- Müssen um bestimmte Längen, dabei unter schärfster Aufsicht und steter Kritik, daran, daß ihn das ganze Klubleben, soweit er es kannte, mit einem Wort: das "offizielle Schwimmen" nie angezogen hatte, an all dies dachte er nun nicht mehr. Sein Ehrgeiz war angestachelt. Man hatte ihn bemerkt und so ausgezeichnet, ihn zur Mitgliedschaft an dem ersten und ältesten Schwimmverein Berlins aufzufordern. Er gehörte von heute ab dem "Schwimmklub Berlin 1879" an, und allen, die es hören wollten, und sehr vielen, die es nicht hören wollten, erzählte er die ihm selbstunglaublich erscheinende Tatsache, tief entrüstet über die Gleichgültigkeit, mit der sie allgemein aufgenommen wurde. 2 Es gab kein jugendliches Mitglied des Vereins, das pünktlicher zu den Übungsabenden gekommen wäre, keines, daß sich williger und begeisterter jeder Anordnung an diesen Abenden gefügt hätte, als Franz Felder. Man merkte es bald, und er erwarb sich manche Bekanntschaft im Klub dadurch auch von solchen, die der Einführung von Mitgliedern, und noch so verheißungsvollen, aus, wie sie es nannten, "anderen Verkehrskreisen", fremd, ja feindlich gegenüberstanden. Bei fast allen von ihnen erwarb sich der neue Ankömmling Achtung und Sympathie, einmal wegen des leidenschaftlichen, fast komisch-weihevollen Ernstes, mit der er die Sache betrieb, und dann wegen der Bescheidenheit und Ehrlichkeit seines Wesens, das sich nie vordrängte. Man setzte bald große Hoffnungen auf ihn und ließ ihn nicht aus den Augen. Das nächste große Ereignis, das sein Eintritt in den Klub zur Folge hafte, war eine Lehrstelle in einer großen mechanischen Werkstätte, die ihm durch einen seiner neuen Sportfreunde dort verschafft wurde. Er sollte gleich von Anfang an einen Wochenlohn erhalten und erhielt die Zusicherung sorgfältiger und vollständiger Ausbildung. Da unterdessen auch seine Brüder in besseren Stellungen waren und die Einsegnung eines jüngeren bevorstand, trat er die Stelle an. Er blieb bei seinen Eltern wohnen und der größte Teil seines wöchentlichen Verdienstes wanderte nach wie vor in ihre Hände. Was er für sich behielt, brauchte er dazu, um am Sonntag auf den Ausflügen mit seinen Klubgenossen ein Glas Bier zu trinken, und für die ersten paar Mark, die er erübrigte, schaffte er sich ein tadelloses Trikot an, eine Sportmütze und das Klubabzeichen, ein kleines Schild, das auf dem Rockaufschlag getragen wurde. Er ging nun völlig auf im dem Leben des Vereins. Die Vergnügungen des Klubs waren seine Erholungen, seine Arbeit die seine. Die Sportkameraden waren seine Freunde, mit denen er alles teilte. Die Arbeit des Tages in der Fabrik tat er, weil sie getan werden mußte, und er tat sie gut und fleißig. Seine Familie sah er nur, wenn es unbedingt nötig war, bei den unerläßlichen Geburtstags- und anderen Feiern; mit den paar Freunden seiner Kinderzeit verkehrte er fast gar nicht mehr. Seine Dankbarkeit gegen seinen Klub wuchs allmählich ins Ungemessene. Er konnte sie einstweilen nur durch völlige Hingabe beweisen. Aber immer wieder schwur er sich selbst zu: seinem Klub Ehre zu machen in jeder Beziehung, Ehre um jeden Preis. Er sollte keinen Unwürdigen in ihm aufgenommen haben. Er wußte, daß er über eine Kraft verfügte, die ihn vielleicht einmal zu Siegen führen konnte, wenn er sie stählte und übte. Nicht für sich wollte er diese Siege erringen, daran dachte er nicht. Doch er träumte bereits im stillen davon, um den alten Namen des Vereins neue Lorbeeren zu schlingen, die er selbst in heißem Kampfe erfechten würde. Er schwamm nicht mehr nur ausschließlich zu seinem Vergnügen, er schwamm um ein Ziel, und begeisterter schwenkte keiner die Sportmütze, lauter schrie keiner mit, wenn das "Gut Naß!--Hurra! Hurra! Hurra!" erscholl, als Franz. 3 Seine Fortschritte waren rapide und setzten selbst seine neuen Lehrer in Erstaunen. Bei all seinen Fähigkeiten und all seiner unvergleichlichen Liebe zur Sache war es doch ein rohes Material, das hier in Ausbildung genommen wurde. Dieses jüngste Mitglied der Jugend-Abteilung--zu der die jungen Leute meist aus der Knabenabteilung mit ihrem vierzehnten Jahr kamen und in der sie etwa bis zu ihrem siebzehnten blieben--war bei seinem Eintritt ein guter Schwimmer gewesen, aber sonst auch nichts. Stil und Form bekam sein Schwimmen erst jetzt unter der steten und strengen Bewachung an den Übungsabenden. Aber wie bald wurde die Form schön und sein Stil sicher!--Nach ein paar Wochen schon war Felder der anerkannt beste Schwimmer seiner Abteilung. Auf dem internen Wettschwimmen des Klubs, das alljährlich im Winter in der Schwimmhalle des Volksbades stattfand und auf dem mit Ausnahme eines Gastschwimmens befreundeter Klubs nur Klubmitglieder schwammen, holte sich Franz seinen ersten Preis: den im Junioren-Schwimmen über 50 Meter. Es war ein kleiner, einfacher Lorbeerkranz mit bedruckter Schleife, den er nach Hause trug. Es war nicht das erstemal, daß er ein Schwimmfest sah, denn er war in letzter Zeit oft zu solchen mitgenommen und hatte mit tiefer, innerer Erregung den Wettkämpfen zugesehen, an denen er sich noch nicht beteiligen durfte. Nun schwamm er zum ersten Male mit. Er wußte, daß er siegen würde, denn er kannte ja alle seine Gegner und hatte jeden einzelnen bei den Übungen wieder und wieder geschlagen. Dennoch war er aufgeregt und freute sich, als es vorbei war. Befangen, wie damals, als ihm der Rektor das Rettungszeichen an die Brust heftete, nahm er seinen ersten, kleinen Siegerpreis in Empfang. Aber im Grunde war er doch mächtig stolz, als er den Kranz zu Hause in dem gemeinschaftlichen Schlafzimmer über dem schmalen Bett aufhing, in dem er mit einem jüngeren Bruder den festen, traumlosen Schlaf der gesunden Jugend schlief, und bei Strafe unermeßlicher Schläge verbot er der ganzen Gesellschaft, auch nur ein Blatt zu berühren. Der Kranz wurde erst angestaunt, blieb hängen und wurde dann über höheren und reicheren Ehrungen vergessen, verdorrte und verstaubte, und war doch der erste Lorbeer der diese junge Stirn berührt hatte. 4 Wieder folgte für Franz Felder auf seinen ersten kleinen Sieg ein Jahr ernsten Strebens. Es galt jetzt nicht mehr, sich mit seinen Klubgenossen zumessen, sondern seine Kräfte an weitere, außenliegende Ziele zu wagen. Er war sehr in die Höhe geschossen, und die Schlankheit seines Körpers verriet nicht, wie groß die Kraft war, die in ihm lag. Aus dem stämmigen, dicken jungen mit den behaglichen, etwas schwerfälligen Gliedern wurde schnell ein sehniger, junger Mann. Nur das Gesicht blieb noch ganz dasselbe: die blauen, treuherzigen Augen, die vollen, roten Lippen und Wangen und die eigenwillige Stirn, über die das schwarze Haar jetzt immer in einem Büschen niederfiel, so daß es alle Augenblicke zurückgestrichen werden mußte, waren dieselben-- das unschuldige, vertrauensvolle Gesicht eines Kindes, das noch vom Leben nichts erlebt hatte. Und derselbe blieb auch der Blick dieser Augen. Es war der gedankenlose, etwas träumerische Blick eines Menschen, in dessen Gehirn mit hartnäckiger Zähigkeit immer und immer wieder nur eine Idee wiederkehrt--eine Idee, die in der Zukunft lebt, einer Zukunft voll großer Erfüllung verschwiegener, noch unausgesprochener, nicht einmal erkannter Wünsche.-- Fehlers Zeit war jetzt völlig eingeteilt. Kam er von der Arbeit des Tages, so war am Abend immer etwas los: entweder es fanden Übungsstunden statt, oder Sitzungen, oder es galt Vorbereitungen für irgendein Fest zu treffen--immer nahm ihn sein Klub in Beschlag. Auch die Sonntage gehörten nach wie vor ausschließlich dem Verkehr mit den Sportgenossen--der Besuch fremder Schwimmfeste, anderer sportlicher Veranstaltungen, geselliger Vereinigungen zu: Musik und Tanz, im Sommer Ausflüge in die Umgegend, Kahnpartien und vor allem die langen Bäder (überall da, wo Wasser war) füllten sie aus und waren seine Freude und seine Erholung. Franz Felder blieb still, wie er es schon als Kind gewesen war, und beteiligte sich höchstens an den Gesprächen über schwimmsportliche Fragen. Sie waren auch die einzigen, die ihn interessierten. Für keinen anderen Sport hatte er das geringste Interesse; in keinem anderen dachte er auch nur daran, sich zu versuchen. Er kannte nur einen einzigen, neben dem alle anderen verblaßten und gleichgültig erschienen. Es dauerte ziemlich lange, bis er sich heimisch in dem neuen Kreise fühlte. Wenn er auch nie Gefallen an den rüden und lauten Belustigungen seiner früheren Schulkameraden und Altersgenossen gehabt hatte, so waren ihm doch die Verkehrsart und der Ton seiner neuen Bekannten zu fremd, als daß er sich hätte so leicht in sie finden können. Aber diese neuen Freunde hatten ihn wirklich gern und taten ihr Bestes, indem sie ihn überallhin mitnahmen und jetzt ganz als den Ihrigen betrachteten. Langsam trat so eine Wandlung nach der anderen in ihm ein. Auch in seinem Äußeren. Er war nicht mehr der arme Junge in geflickten Kleidern und dem offenen Hemde, sondern ein sauber, oft mit ziemlich geschmackloser Eleganz gekleideter junger Mann, dessen regelmäßige, wenn auch einstweilen nur geringe Einnahmen ihm erlaubten, etwas auf sich zu halten. Vermochte er auch nie eine gewisse Schwerfälligkeit und Langsamkeit zu überwinden, so beeinflußte ihn doch in allem der gute Ton seines Klubs zum Guten. Er lernte sich in Lebensformen fugen, die ihm bisher unbekannt geblieben waren und die ihn zwanglos das eine tun und das andere lassen ließen--Dinge, an die er bisher überhaupt nicht gedacht hatte. Jene unausbleiblichen Streitigkeiten des Sportlebens mit Ernst und Freundlichkeit zu schlichten, auch laute Fröhlichkeit nie in Rohheit und Zank ausarten zu lassen, und vor allem das Prinzip der Schwimmkunst als eines edlen, den Menschen durch und durch erfrischenden und veredelnden Sports, hoch zu halten--das war von jeher die Aufgabe dieses Vereins mit dem einfachen Namen und der stolzen Vergangenheit gewesen, der mehr als irgendein anderer dazu beigetragen hatte, das Interesse für eine Sache zu wecken, die überhaupt bis vor kurzem noch als keine Kunst, sondern fast allgemein nur als Mittel zu der zeitweiligen, notwendigen Reinigung des Körpers betrachtet wurde. War--vielleicht nicht zum wenigsten infolge der strengen Befolgung dieses Prinzips, das mehr im allgemeinen für die Sache des Schwimmens zu wirken versuchte, als auf Züchtung großer Erfolge und mit ihnen verbundener Namen ausging--der "Schwimmklub Berlin 1879" in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund getreten und an Mitgliederzahl und äußerer Bedeutung von dem einen oder anderen neueren Verein übertroffen, so war er doch durchaus nicht gewillt, auf seinen alten Ruf, erstklassige Schwimmer und Springer hinauszusenden, zu verzichten und stets bereit, neue Lorbeeren zu den alten zu fügen. Die nächsten Jahre sollten auch nach außen hin wieder zeigen, daß der Klub in keiner Weise zurückgeblieben war--dahin gingen die Wünsche der Mitglieder einstimmig. Sie sollten beweisen, daß man nicht schlief, wenn man auch nicht immer mitschrie. Man setzte, wie gesagt, große, noch unausgesprochene Hoffnungen auf Franz Felder. Wenn irgendeiner, so war er es, der den Klub zu außergewöhnlichen Erfolgen zu führen versprach. Derselbe Herr, der zuerst stillschweigend auf den kräftigen Jungen aufmerksam gemacht hatte, der sich mit so erstaunlicher Sicherheit und so unbändiger Wonne im Wasser herumwälzte, war und blieb sein treuer Berater. Er wachte mit fast ängstlicher Sorgfalt über seinem Zögling. Bernhard Nagel, von Beruf Chemiker, war seit zwei Jahren wieder Schwimmwart des "S.-C. B. 1879". Selbst in früheren Jahren ein berühmter Schwimmer, lange Zeit der unangefochtene Inhaber so mancher Meisterschaft, ein ausgezeichneter Turner auch heute noch und von jeher ein allbeliebtes Klubmitglied, hatte sich--gerade zur rechten Zeit, auf seiner Höhe--von jeder aktiven Tätigkeit zurückgezogen und sein Name erschien schon lange nicht mehr öffentlich in den Programmen der Schwimmfeste. Damit aber war sein Interesse an seinem Klub um nichts vermindert. Seine Kraft gehörte jetzt mehr als je den Fortschritten der Sache, und seine Tätigkeit erstreckte sich vor allem auf die Ausbildung der Jugendabteilung. Wie sein scharfes Auge gleich in dem unbekümmerten, wasserfrohen Knaben den geborenen Schwimmer erkannt hatte, so nahm er sich nun seiner von der ersten Stunde hilfreich an. Er war ein strenger Lehrmeister, der scharf aufpaßte und so leicht nichts durchgehen ließ. Bei Felder hatte er indessen eigentlich mehr zu zügeln, als anzuspornen, denn dessen hauptsächlichster Fehler bestand darin, daß er immer gleich zu heftig ins Zeug ging, Um dann am Schluß eines Rennens den Anstrengungen, denen sein Körper noch nicht gewachsen war, und somit erfahreneren und geübteren Schwimmern gegenüber zu unterliegen. Aber das gab sich von Woche zu Woche, und Franz lernte allmählich mit seiner Kraft haushalten. Er vergalt das Interesse seines Schwimmwarts mit unbegrenzter Dankbarkeit. Nicht nur, daß er diesem Manne den Eintritt in den Klub und damit in ein für ihn ganz neues Leben, sowie die Stellung verdankte, die ihn der Not um sein tägliches Brot enthob--er fühlte ganz gut, daß jener Hoffnungen auf ihn setzte; und immer wieder schwur er sich im stillen zu, ihm seine Dankbarkeit eines Tages auch durch Taten zu zeigen. Daher hörte er auf jedes Wort des Tadels und der Ermutigung, wie auf ein Gebot, und das eine konnte ihn ebenso beseligen, wie ihn das andere niederzudrücken vermochte. Bei der Unzugänglichkeit seines Wesens und seiner Schweigsamkeit, die selten das erste Wort fand, um sich auszudrücken, schloß er sich nur schwer und langsam an seine anderen Kameraden an und ließ sie lieber zu sich kommen, als daß er sich ihnen von selbst genähert hätte. So kam es, daß er zwar mit den meisten in gutem und freundlichem Einvernehmen stand, aber doch keine näheren Freundschaften schloß. Unter den Jugendmitgliedern, seinen Altersgenossen, hatte er manchen Gegner--schon jetzt, wo es noch keine besonderen Erfolge zu beneiden gab. Davon merkte Franz nun zwar noch nichts. Seine glückliche Unbekümmertheit, seine reine Freude an der Sache überhörte oder verstand die unausbleiblichen Bemerkungen nicht, die schon gemacht wurden, als er noch gar nicht öffentlich geschwommen hatte. Er konnte sich nicht denken, daß sie ihm galten. Was war überhaupt die Person! --Wenn nur der Klub siegte!-- Dagegen fielen ihm zwei Freundschaften zu, um die er sich in keiner Weise bemühte. Als er in den Klub trat, fand er unter den vielen fremden Gesichtern ein bekanntes--das eines Altersgenossen, der eine Zeitlang in demselben Hause wie Franz gewohnt und mit ihm in dieser Zeit auch oft gesprochen hatte. Koepke war seitdem Kaufmann geworden, fast schon mit seiner Lehrzeit in einem großen Manufakturwarenmagazin zu Ende und sah bereits seiner Anstellung als wohlbestallter Kommis mit Selbstgefühl entgegen. Wie er in den Schwimmklub Berlin 1897 gekommen war, das war vielen der Jüngeren ein Rätsel, denn er schwamm wie ein Klotz und befand sich allem Anschein nach auf dem Lande weit wohler als im Wasser. Aber die älteren Mitglieder des Klubs wußten, daß sie ihn eines Verwandten wegen aufnehmen mußten, der vor Jahren dem Verein große Dienste geleistet und seinen Eintritt dringend gewünscht hatte. Man hatte ihn sogar nicht einmal ungern aufgenommen. Es gab in jedem Schwimmverein Mitglieder, die--wenn sie es auch ausübend zu nichts brachten--sich doch ganz gut gebrauchen ließen, um in der "Verwaltung" tätig zu sein, wo es immer genug zu rechnen und zu schreiben gab, und die sich sehr wohl fühlten, wenn sie von ihrem Schreibzeug aus die Interessen des Klubs mit Leidenschaft wahrnehmen durften und nicht ins Wasser brauchten. Koepke war dazu die rechte Person. Voll Diensteifer stürzte er sich auf jede ihm zugeschanzte Arbeit. Seine Leidenschaft für das Wasser aus der Ferne war zudem über jeden Zweifel erhaben, und atemloser verfolgte kein Zuschauer die Wettkämpfer, feierlicher notierte keiner die Zahlen in das Programm, als er. Als er Franz zum ersten Male im Klub sah, kam er ihm gleich entgegen und begrüßte ihn als alten Bekannten aus der Jugendzeit. Er war ein gutmütiger und in keiner Weise überheblicher Mensch. Daß sein Spielkamerad in seinen einfachen Arbeitskleidern vor ihm, dem geschniegelten Kommis, stand, merkte er ebensowenig, wie er es ihn früher irgendwie hatte fühlen lassen, daß seine Eltern im ersten Stock des Vorderhauses und die Franz Felders im Hof wohnten. Der letztere--immer in dieser Beziehung zum Mißtrauen geneigt--merkte es gleich wieder. Man schüttelte sich die Hand. Als Franz aber seinen ersten kleinen Sieg erfochten, besaß er einen ergebenen und ihn schon sehr bewundernden Freund an dem "zweiten Schriftführer" des Vereins. Bei einem anderen Klubgenossen bedurfte es für ihn nicht erst dieses Sieges, um in ihm einen ausgesprochenen Gönner zu haben. Der dicke Brüning war der letzte Inhaber der Hauptschwimmeisterschaften im Klub gewesen und sein fabelhafter Stoß hatte die Gewässer der halben Welt durchfurcht. Nach seinem Rücktritt war in dem Siegeslauf des Klubs die große Pause eingetreten, die heute noch währte. Übrigens waren in diesen Jahren auch sonst keine Siege im Schwimmsport zu verzeichnen, denen die Brünings aus früherer Zeit nicht mindestens ebenbürtig gewesen wären. Darüber freute er sich noch heute. Einer reichen Charlottenburger Familie entstammend und im Besitz eigenen Vermögens konnte er es sich leisten, seine Jugend dem Vergnügen eines Sports zu widmen, und nachdem er erst in Deutschland überall gesiegt, war er auch außerhalb jahrelang zu allen großen Festen auf seine eigenen Kosten gereist, um überall sich und den Farben seines Klubs Ehre auf Ehre zu erobern und dem Namen des "S.-C. B. 1879" eine internationale Berühmtheit zu verschaffen. Das konnte und wollte ihm sein Klub nie vergessen, und allein sein Name bedeutete heute in ihm noch eine Tat--einen Sieg, so frisch, als wäre er erst gestern erfochten. Jetzt war der Meister dick geworden und schwamm nur noch "zu seinem eigenen Vergnügen", wie er sagte. Wenn er ins Wasser ging, sah ihm noch jeder nach. Aber nur bei der älteren Generation lebte noch die Erinnerung an jenen furchtbaren Schwimmer, der mit der phänomenalen Kraft und Wucht seiner Leistungen einfach alles andere totgeschlagen hatte. Brüning selbst hatte ohne großes Bedauern seinen Erfolgen Lebewohl gesagt, sich dem Sportleben im allgemeinen zugewandt und ließ jetzt rennen. Übrigens verstand er nichts von Pferden. Zuweilen noch, aber doch nur selten, erschien er an einem Übungsabend oder auf einer Veranstaltung seines alten Klubs. Wenn er kam, erhob sich ein allgemeines Hurra, denn er war allgemein beliebt, weil er ein nobler Kerl war: immerlustig und aufgelegt, immer bereit zu helfen mit Geld und Rat und riesig freigebig, wenn es galt, die Zeche zu bezahlen. Bei den Jüngeren hieß er nur der "Sektonkel", aber die Älteren hielten große Stücke auf sein erprobtes und unbeeinflußbares Urteil. Als er eines Abends in der Schwimmhalle neben dem Schwimmwart Nagel stand, machte ihn dieser auf das neue Mitglied aufmerksam, das gerade stillvergnügt für sich hundert Meter schwamm. Brüning kniff die Augen etwas zusammen, wie es ihm eigen war, wenn er das tat, was er nachdenken nannte, sagte aber noch nichts. Als Franz aus dem Wasser kam, musterte er ihn, wie er seine Pferde prüfte. Das Resultat war sehr zufriedenstellend. Er gratulierte Nagel zu seiner Akquisition, schüttelte Franz kameradschaftlich die Hand, und dieser hatte sich von dem Tage an seiner ausgesprochenen Protektion zu erfreuen. Mit der Zeit erklärte ihn Brüning unter vier Augen als den einzigen im ganzen Klub, der vielleicht eines Tages sein ebenbürtiger Nachfolger werden könne, "wenn er hielt, was er versprach". Das Interesse Nagels vergalt Franz mit unauslöschlicher Dankbarkeit; die Freundschaft Koepkes ließ er sich gefallen; an das Wohlwollen Brünings aber glaubte er lange Zeit nicht. Als er dann sah, wie stetig und warm es war, freute er sich sehr; und er blieb immer einer der wenigen, die die Freigebigkeit des Sektonkels nie mißbrauchten. 5 Die Kunst des Schwimmens ist eine junge Kunst. Man kann von ihr als solcher erst im vorigen Jahrhundert sprechen, und recht eigentlich erst in seiner letzten Hälfte. Das Schwimmen als körperliche Übung ist von jeher geübt, wenn es auch nie wieder zu der allgemeinen Notwendigkeit wurde, die es in jenen Tagen des Altertums war, von deren Schönheitsfreude noch heute die gigantischen Thermentrümmer der Alten in beredsamem Schweigen zeugen. In Deutschland kam sie erst wieder in Aufnahme, als an der Spree durch die Initiative eines preußischen Generals die große Anstalt entstand, die noch heute seinen Namen trägt. Bedeutet der Name von Pfuel so ein Wiedererwachen langverlernter Übung, so kann von einer Kunst des Schwimmens doch noch kaum geredet werden, als sich in den sechziger Jahren die ersten Hallenschwimmbäder in Deutschland öffnen, sondern mit Recht erst dann, als sich die ersten Schwimmer zusammentun, um ihre Kräfte unter- und gegeneinander zu messen. Erst spärlich und fast unbeachtet--einer der ersten unter ihnen der "S.-C. B. 1879"--wachsen und vermehren die Schwimmvereine sich nur langsam, kämpfen wohl schon zu Beginn der achtziger Jahre ihre Meisterschaften aus, gelangen aber erst um die Hälfte dieses Jahrzehnts zu allgemeinen Wettschwimmbestimmungen, auf die hin sie sich einigen. Aber von da an geht es schneller. Mit den Winterschwimmbädern in vielen Städten entstehen überall auch Schwimmvereine, die sich erst unter sich und dann in dem großen Verbande zusammenschließen, dessen Ziel es ist, alle Vereine und Unterverbände zu einer gemeinsamen Bestrebung für die neue Sache zu vereinigen. Ein Jahrzehnt später, und auch die Kunst des Wasserspringens hat ihre Wertungsform gefunden. Man hat gesiegt. Das jüngste Stiefkind des Sports hat sich Beachtung und Achtung errungen. Weit mehr gebunden, als irgendein anderer Sport an bestimmte Bedingungen, hat er sich kühnlich neben jeden anderen gestellt; und eines hat er vor jedem voraus: er feierte seine Feste Sommer und Winter. Im Sommer unter blauem Himmel, in jedem Wasser, dessen Ausdehnung es erlaubt; im Winter unter den hohen Wölbungen von Eisen und Glas. Natürlich bleibt der Sommer die Hauptsaison und die größten und wichtigsten Feste fallen in seine Zeit. Doch kam es auch vor, daß die wichtigsten internen Veranstaltungen einzelner oder vereinigter Klubs in den Winter fielen, da der Sommer zu viel von auswärtigen Interessen in Anspruch genommen wird. Jetzt gibt es nicht mehr nur vereinzelte Vereine in einzelnen Städten. Wie die Pilze wachsen die Klubs aus der Erde--ihre Namen mit Vorliebe den alten Wassergöttern und allem möglichen Wassergetier entlehnend--, vereinigen und--bekämpfen sich untereinander, erbittert und leidenschaftlich; jetzt drängen sich die kleinen und großen Feste Sonntag auf Sonntag, und kaum einer im Jahre ist frei von einem solchen Feste in einer Stadt wie Berlin. Es ist die Zeit des reichsten Wachstums und damit der stürmischsten Gärung, der der alte "S.-C. B. 1879" fast allein ruhig zusehen kann, da beides bereits hinter ihm liegt; und es ist die Zeit, als Franz Felder in ihm in unablässigem Training um seine ersten Siege ringt.-- Der Verlauf der Schwimmfeste ist im allgemeinen ein ziemlich gleicher, und sie unterscheiden sich wesentlich nur durch ihre Ausdehnung. Von den kleinen, internen Veranstaltungen der Klubs unter sich an den Sonntagnachmittagsstunden angefangen erstrecken sie sich bei den großen nationalen und internationalen Meetings oft über zwei Tage. Auf dreierlei Art wird auf allen gekämpft: im Schwimmen, im Springen und im Tauchen. Geschwommen wird um kürzere oder längere Strecken, und zwar ist entweder der Stil freigestellt oder als Brust-, Seiten- und Rückenschwimmen vorgeschrieben. Geschwommen werden kann in stromfreiem Wasser, Seen und künstlichen Bassins, oder auch in Flüssen mit zu überwindendem Strömungswiderstand. Die Zahl der Sprünge ist naturgemäß eine begrenzte. Die Sprungtabelle des Deutschen Schwimmverbandes von 1891 weist deren fünfunddreißig auf, die nach den Punkten 0-5 und dem Schwierigkeitsgrade 1-6 gewertet werden. Von dem einfachen Abfallen und dem Abrenner, den einfachen und schwierigeren Kopfsprüngen steigen sie langsam auf zu den Hecht- und Schlußsprüngen in ihren verschiedenen Drehungen des Körpers. Aber es herrscht eine große Mannigfaltigkeit unter ihnen. Die Höhe des Sprungbrettes wechselt von einem zu drei und sechs Metern. Viele Sprünge können ebensowohl aus dem Stand, wie mit Anlauf gemacht werden; und bei vielen tritt hinzu, daß sie sowohl vor-, als auch seit- oder auch rückwärts ausgeführt werden können. Daher ist das Amt eines Preisrichters für das Springen kein leichtes und erfordert langgeübte und intime Kenntnis der einzelnen Sprünge und ihrer Werte. Auf den Festen gibt es ebensowohl Konkurrenzen für Pflicht-, wie für Kürsprünge. Das Tauchen ist einfach. Man taucht entweder in die Tiefe nach Tellern (Sieger ist, wer in der kürzesten Zeit die größte Anzahl hervorholt), oder in die Länge: das Hechttauchen--man schwimmt unter dem Wasser, und die dort in gerader Richtung erreichte Meterzahl gibt den Ausschlag. Auf jedem Feste findet auch ein Mehrkampf statt, der meist sehr interessant verläuft: gekämpft wird in allen drei Arten, und Sieger bleibt, wer durchschnittlich in allen die höchste Punktzahl erreicht. Die Preise werden entweder Eigentum des Siegers oder gehen in den Besitz seines Klubs über. Sie bestehen bei den großen Meisterschaften oft in wertvollen Gegenständen, die die Veranstalter oder auch die Stadt stiften; oder in Medaillen, Ehren-Urkunden und dem einfachen Lorbeer mit den farbigen Schleifen, die in goldenen Lettern von dem heißerrungenen Ruhme erzählen--unvergeßliche Andenken!--Es gibt Preise, die dem Sieger sofort zufallen; aber es gibt auch Wanderpreise, die erst nach mehrmaligem schwererstrittenen Sieg erringbar sind und mehrere Jahre hintereinander ausgefochten werden müssen, ehe sie in den Besitz des Siegers übergehen oder Klubeigentum werden. Was sonst die Feste noch zeigen, dient mehr zu ihrer äußerlichen Bereicherung und Ausschmückung. Das Schwimmen "älterer Herren", die die Zeit der höchsten Ausbildung ihrer Stärke bereits hinter sich, wie die einleitenden Schwimmen der Knaben und Junioren, die sie noch nicht erreicht haben, diese Trost- und Ermunterungs-Schwimmen können bei weitem nicht das Interesse erwecken, das die jungen Leute vor oder nach ihrem zwanzigsten Jahre in der höchsten Leistungsfähigkeit ihrer Kraft bieten, und deren Namen daher mit Recht in der Mitte aller Programme stehen. Groteske und lustige Wasserpantomimen sollen so manchen geduldigen Zuschauer, der wenig oder nichts von den für Nichtkenner oft eintönigen Kämpfen versteht, entschädigen, und einlautes, lebhaftes Wasser-Polo, in dem Klub gegen Klub sich mißt, fehlt heute auf keinem als Abschluß. Die Preisverteilung findet am Abend des Festes statt. Musik und Tanz "halten die Teilnehmer noch lange zusammen", wie es stets am Ende aller Berichte heißt. --Gut Naß!--Hurra! Hurra! Hurra! 6 Auf der Meldeliste des "Schwimmklub Berlin 1879" für das diesjährige große Wettschwimmen des Berliner Schwimmerbundes stand zum ersten Male der Name Franz Felder. Der Inhaber dieses Namens war gemeldet für das Schwimmen um die Meisterschaft der Stadt Berlin. Es war Brünings gewichtiges Wort gewesen, das, für das Junge Mitglied in die Wagschale gelegt, sie in der langen Beratung endlich zu Felders Gunsten sinken ließ. Franz vergaß es ihm nie. Er war erst fast bestürzt, als er von der Entscheidung hörte, trotzdem sie kaum anders hätte ausfallen können, wollte der Klub sich überhaupt beteiligen. Dann ergriff ihn einfach ein Freudentaumel. Sein Klub sandte _ihn_ hinaus auf das große Schwimmfest des Winters, auf ihm um eine Meisterschaft, um die Meisterschaft der Stadt Berlin über die kurze Strecke von 100 Metern zu ringen!--Er sollte sich auf dem jährlichen Wettschwimmen des großen Berliner Schwimmerbundes mit ersten Schwimmern--unter ihnen alten Siegern--im Kampf um die silberne Medaille messen!! Es war nur die Meisterschaft um eine Stadt, nicht die um ein Land oder gar um einen Erdteil, aber es war immerhin die Meisterschaft um die Hauptstadt, in der wie in keiner anderen der ganzen Welt der Sport des Schwimmens grünte und blühte, die überallhin die besten und gefürchtetsten Kräfte stellte, wo es galt, erste Erfolge zu erzielen. Eine Meisterschaft im Berliner Schwimmerbunde, der den größten Teil der Berliner Schwimmvereine umfaßte, der im Allgemeinen Deutschen Schwimmverbande die erste Stelle einnahm, war ein großer Sieg--ein Sieg ersten Ranges, vielumstritten und heißbegehrt... Und _sein_ Klub sandte ihn, den jungen, unbekannten Franz Felder, hinaus, diese Meisterschaft zu erkämpfen!--Sein Klub, der vor vielen Jahren zuerst die Initiative zur Gründung eben dieses Schwimmerbundes gegeben hatte, sein Klub, der älteste und angesehenste Berlins, mit dessen schlichtem und doch so berühmtem Namen die so vieler erster Schwimmer der Welt unauslöschlich verbunden waren, der nicht nur für sich und seine Mitglieder, sondern für die ganze Sache des Schwimmens von jeher ein unnachahmliches Beispiel gewesen war--der "S.-C. B. 1879" entsandte _ihn_ zum diesjährigen Wettbewerb! Wenn er sein junges Mitglied in dieser Weise allen anderen vorzog, so wußte er, was er tat. Dann war es ohne Zweifel sein bester Schwimmer. Aber was mehr war, als diese äußere Anerkennung seiner Kraft, war die innere: der Klub hätte nie ein Mitglied hinausgesandt, von dessen innerlicher Zusammengehörigkeit mit den Bestrebungen und Zielen des Klubs--und das waren in der Sache unbedingt die höchsten--er nicht überzeugt gewesen wäre. Er hatte sich jahrelang von den Festen zurückhalten können, stolz auf alte Erfolge und unbekümmert um neue, als die alten Kräfte, die sich zurückziehen mußten, nicht sogleich durch neue von gleicher Stärke ersetzt werden konnten; und er würde sich Zeit genommen haben, im nötigen Falle nochmals jahrelang zuwarten, denn nicht um künstliche Züchtung einzelner Größen und die Erlangung lauter Triumphe, sondern um die allgemeine Hebung der Sache war es ihm stets in erster Linie zu tun gewesen. Entschloß man sich daher heute zu neuer aktiver Beteiligung, so mußte man des Sieges ziemlich gewiß sein--und nicht nur dieses einen Sieges, sondern eines neuen Ruhmesblattes in dem alten Kranze... Felder war sich über all dies durchaus nicht klar. Er fühlte nur, wie sehr man ihn auszeichnete, nicht nur als Schwimmer, sondern auch als Menschen, indem man seinen Namen als Vertreter seines Klubs zum ersten Male öffentlich nannte; er wußte, man vertraute ihm die Ehre des Klubs an, nicht nur einen neuen Erfolg. Weiter sah er noch nicht. So ging sein ganzer Ehrgeiz einstweilen dahin, diesen Sieg, auf den es ankam, für seinen Klub zu erfechten. Er fühlte, er _mußte_ ihn erringen! Er war sehr stolz und sehr glücklich. Aber er hatte Angst, richtige Angst--zum erstenmal in seinem Leben. Er wußte bisher nicht, was Angst war. Nie hatte er sie empfunden. Aber nun ergriff sie ihn. Es war das Kanonenfieber des Soldaten, der zum ersten Male in die Schlacht geht. Denn wenn er unterlag?--Wenn er nur einen zweiten, dritten oder überhaupt keinen Preis erhielt?--Er kannte seine Gegner wohl. Fast alle hatte er wiederholt auf den Schwimmfesten gesehen und bewundert. Aber mit keinem hatte er sich bisher je gemessen.--Außer dem seinen stand nur noch ein neuer Name unter den Meldungen. Und er war der Jüngste von allen!-- Wohl schlug er schon die Ältesten seines Klubs über die kurze Strecke. Aber sein Klub hatte, so lange er in ihm war, keine Meisterschaften mehr aufzuweisen. Was wollte es also sagen, daß er, Franz Felder, sein bester Schwimmer war?--Nicht allzu viel. Nagel, der seine innere Aufregung sah, redete ihm wiederholt ernstlich zu. Er war besorgt um seinen Zögling--nicht, weil er fürchtete, daß er unterliegen könne, sondern weil er sah, in welcher verzehrenden Unruhe er umherging und übte. Er warnte ihn, allzu viel Wert auf dies Rennen zu legen. Was war es denn, wenn er auch unterlag?--Was heute Niederlage war, konnte morgen zum Siege werden, und umgekehrt. Er hatte das mitangesehen, viele Male, und es an sich selbst erlebt; und auch Franz würde das erleben. Das war nicht das erste und letzte Schwimmen, gewiß nicht--und immer wiederholte der gute und erfahrene Freund: --Schwimm so gut, wie du kannst. Kümmere dich um nichts, als um dein Ziel. Mehr kannst du nicht tun, als was deine Kraft dir erlaubt, zu tun. Damit sei zufrieden... Felder hörte zum ersten Male seinem Freund nur halb zu. Sein Klub hatte _ihn_ hinausgesandt. In seinen Händen lag seine Ehre. Er durfte ihm keine Schande machen; er mußte siegen--er _mußte!_-- 7 So kam der Sonntag des Festes heran. Franz hatte in der letzten Woche nach der Arbeit des Tages noch allabendlich trainiert. Gestern war er früh zu Bett gegangen, aber er hatte wenig schlafen können. Am liebsten hätte er am Morgen noch einmal die Strecke geschwommen-- nur einmal ... aber das wurde ihm natürlich nicht erlaubt. So verging der Vormittag in untätiger Ungeduld. Er aß mäßig und trank fast nichts. Man hatte in dem Restaurant des Klublokals in der Lindenstraße gegessen und spielte nun gemütlich im Sitzungszimmer einen Kaffeeskat an verschiedenen Tischen. Franz, der keine Karte anrührte, sah wie gewöhnlich zu, aber es wurde ihm diesmal nicht leicht, ruhig zu bleiben. Er ging von Tisch zu Tisch, bis ihn eine plötzliche Müdigkeit überfiel und er vor sich hindruselte. --Leg' dich doch hin, wir wollen dich schon wecken, wenn es Zeit ist! rief Brüning ihm zu und Franz rollte sich hinter dem großen Tisch auf dem alten, knarrenden Sofa zusammen, auf dem sonst bei den feierlichen Beratungen der Vorsitzende saß. Nach zwei Minuten schlief er wie ein Toter. Allmählich leerten sich die Tische; man ging zum Fest. Der, an dem Nagel und Brüning saßen, spielte ruhig weiter. Um halb vier warf Brüning die Karten zusammen und zog seine goldene Uhr: Massenhaft Zeit noch!--Aber wollen doch lieber gehen... Er und Nagel standen vor dem Sofa, auf dem Franz noch immer schlief. Er lag da wie ein Kind, und sein Atem ging still und friedlich durch die etwas geöffneten Lippen. Sicherlich träumte er jetzt von keiner Niederlage. Brüning betrachtete ihn mit fast zärtlichem Lächeln. --Wie ein junger Gott, was?--Und noch das reine Kind!--Aber wecken wir unseren jungen Sieger! --Er ist es noch nicht, sagte Nagel und rührte den Schlafenden bei der Schulter. Franz führ in die Höhe, und sein erster Griff war nach der Uhr. --Aber wir versäumen das Schwimmen, rief er außer sich, als er sah, daß sie bereits über halb vier zeigte. Die anderen lachten ihn aus, packten ihn in eine Droschke und fuhren mit ihm zum Fest.-- Die enorme Halle des großen Schwimmbassins der Wasserfreunde war festlich geschmückt. Der weite Raum mit den hohen, gotischen Wölbungen war bis in den letzten Winkel durch die großen, elektrischen Bogenlampen erleuchtet, denn durch die bunten Fensterdrang nur noch das trübe Licht eines frühdunklen Wintertages. Die sonst so kahle Halle war nicht wiederzuerkennen. An der Rückwand hingen von der Decke bis zur Galerie die langen Fahnen der veranstaltenden Vereine herab und verhüllten die weiße Fläche der Mauern mit ihren bunten Farben. An den Langseiten zogen sich von Pfeiler zu Pfeiler in langen Reihen hunderte von winzigen, auf Seile gezogenen Fähnchen in buntem Farbengemisch, und hoch von der Wölbung der Decke hernieder schwebte regungslos über der Mitte des Bassins die mächtige weiße Fahne des "S.-C. B. 1879" mit dem blauen Rande und dem blauen Namenszuge in der linken Ecke. An der Eingangsseite bei dem großen, sechs Meter hohen Sprungbrett spielte--hinter grünem Blattwerk verborgen--die Musik. Die Seiten des Bassins und die breiten Galerien waren dicht mit Zuschauern besetzt, die sich gespannt vornüber beugten, um besser die Wasserfläche unter sich überschauen zu können, in der die Wettkämpfe stattfanden. Die engen Reihen boten ein buntes Bild: jung und alt-- alles saß hier durcheinander, und unter die dunklen Röcke der Herren mischten sich die festlichen Toiletten der Damen und gruppenweise die weißen, buntgeränderten Mützen der zahllosen Sportgenossen. Alle Schwimmvereine Berlins waren vertreten und scharten sich ihrer Zusammengehörigkeit nach hier und dort zusammen. In den Pausen und zu Beginn jedes neuen Rennens waren alle Augen auf die Eingangswand gerichtet. Dort saß unter der Galerie an einem mit Papieren bedeckten Tische der Ausschuß des Festes: die Preis- und Zielrichter, die beiden Schiedsrichter und in ihrer Nähe einige hervorragende Gäste, Vertreter der Stadt Berlin und einiger Behörden. Hier befanden sich auch die reservierten Plätze für die Vorstände der Vereine, denn hier nahmen die Rennen ihren Anfang. Als Felder und seine Begleiter ankamen, mußten sie sich an der Aufgangstreppe, wo an der Kasse die üblichen fünfzig Pfennig als Entree erhoben und von Sportkameraden die Programme verkauft und die Besucher empfangen wurden, bereits durch dichte Menschenmassen arbeiten und hatten Mühe, sich durchzudrängen, um zu den Auskleideräumen zu gelangen. Es war gerade eine Pause, und die Wölbung hallte wider von dem erregten Sprechen und Lachen der vielen Menschen. Es war bereits erstickend heiß. Über der noch vom letzten Rennen her leise bewegten Wasserfläche zogen sich leichte, weiße Streifen, und die ganze Halle dampfte von dem Dunst des Wassers und der Menschen. Die Uhr wies über die vierte Stunde hinaus. Man näherte sich den großen Wettkämpfen. Längst war die stereotype Eröffnungsrede des Vorsitzenden des Berliner Schwimmerbundes, eines redegewandten und liebenswürdigen Herrn, in seiner bekannten eleganten Weise gehalten und der Eröffnungsreigen geschwommen. Bereits war das Schwimmen der Knaben und Junioren, der Kleinen bis zum vierzehnten und der Knaben bis zum siebzehnten Lebensjahre vorbei, und künftige Meister hatten den ersten Anhauch ihrer Erfolge auf der heißen Stirn gespürt.--Auch die älteren Herren, die über dreißig, hatten geschwommen und vielleicht zum letzten Male die Hand nach dem Siegeskranze gestreckt. Endlich war bereits ein interessanter Mehrkampf ausgefochten worden, über dessen unerwartetes Resultat noch hin und her geredet wurde. Nun kam ein Brustschwimmen und ein großes Tellertauchen mit unzähligen Konkurrenzen an die Reihe. Es konnte also noch lange dauern, bevor die Meisterschaft Berlins ausgefochten werden sollte-- für alle Kenner der Clou des Tages. Felder wollte sich ausziehen, aber Nagel riet ihm ab. Wozu?--Man hatte noch lange Zeit. Man gesellte sich also noch zu den Klubgenossen, die eine ausgezeichnete Ecke am Anfang der Galerie erobert hatten und besetzt hielten. Hier war man unter sich, unter lauter Bekannten und Freunden, denn auch die Damen, die heute mitgekommen waren, waren von so vielen geselligen Veranstaltungen des Vereins her alte Bekannte. Es war wie eine große Familie, diese Ecke. Koepke empfing Franz mit der gewohnten Lebhaftigkeit. Er war so erregt, als solle er selbst um den Preis schwimmen. Er war natürlich wieder voll von Neuigkeiten, von denen kein Mensch etwas wußte. Georgy vom S.-C. "Spree" sollte nicht mitschwimmen infolge eines Zerwürfnisses mit seinem Klub. Aber Wenzel war da; und Hoffmann, der gefürchtete vom "Triton", auch. Hatte Franz ihn schon gesehen?--Dort unten stand er, der lange mit der Hakennase und den mächtig vielen Bändern über der Brust.--Und Riesecker war da, der heute zum ersten Male seit zwei Jahren wieder mitschwamm. Aber es würde ihm wohl nichts helfen... Felder hörte kaum auf das Geschwätz. Er hatte seinem Freunde das Programm aus der Hand genommen, und instinktiv suchte er seinen eigenen Namen. Er brauchte in dem kleinen Heft nicht lange zu blättern. Da stand es: _IX. Schwimmen um die Meisterschaft der Stadt Berlin_ Offen für alle Mitglieder. Bahnlänge 100 Meter gleich 4 Längen. 1. B. Riesecker ...... (1. Berliner Amateur-S.-C.) schwarze Kappe 2. K. Wenzel ...... (S.-C. "Poseidon") gelbe Kappe 3. W. Georgy ...... (S.-C. "Spree") rot-weiße Kappe 4. F. Felder ...... (S.-C. Berlin 1879) blaue Kappe 5. P. Hoffmann ...... (S.-C. "Triton") weiße Kappe 6. W. Hofstetter ...... (Berl. S.-Sport-C.von 1888) rote Kappe Darunter war der Raum freigelassen zum Einzeichnen der Sieger: Erster: ........... Zeit: .... Min. .... Sek. Zweiter: .......... Zeit: .... Min. .... Sek. Da stand sein Name. Noch keine Stunde würde vergangen sein, und die Entscheidung war erfolgt. Welcher unter diesen sechs Namen würde eingetragen werden in die kleine leere Stelle?--Der seine?-- Er hielt es nicht mehr aus. Der Gleichmut seiner Freunde erregte ihn. Ahnten sie, wußten sie denn nicht, was auf dem Spiele stand?--Warum lachten sie noch?... Außer dem dummen Koepke schien keiner von der Größe des Augenblicks erfüllt zu sein. Das Tauchen hatte begonnen. Es würde bei der großen Beteiligung mindestens eine halbe Stunde dauern. Aber Franz ertrug es nicht länger, ihm untätig zuzusehen. Die Zeit, in der die ersten beiden unter Wasser blieben, erschien ihm endlos. Er stahl sich weg und suchte einen der hinten gelegenen Auskleideräume auf. In dem ersten, den er betrat, hatten sich bereits sechs oder sieben Teilnehmer ausgezogen. Ein wüstes Durcheinander herrschte in dem engen Gelaß. Der Boden triefte von Nässe und Schmutz, unter den Lattenbelägen standen Wasserlachen, Stiefel lagen herum, die nicht zueinander paßten, und Kleidungsstücke verschiedenster Art waren wahllos übereinander geworfen--friedlich vereinigten sich hier die toten Dinge, während sich draußen ihre Besitzer so bitter bekämpften. Felder bemerkte das alles kaum. Er war es nicht anders gewohnt. Er war zufrieden, noch einen freien Haken zu finden, und kleidete sich langsam aus. Er war ganz allein in dem abgelegenen Räume, in dem ein trübes Dunkel herrschte, da man vergessen hatte, hier Licht anzuzünden. Durch die engen Fenster sah mit ihrem letzten Schein die früh erlöschende Wintersonne, und nur von ferne drangen verlorene Rufe aus der Halle bis hierher. Als er das Trikot angelegt hatte und darüber die weiße Badehose mit dem blauen Rande streifte, überkam ihn wieder die zeitweilige Mutlosigkeit der letzten Tage. Er hüllte sich in sein Badetuch und setzte sich in eine Ecke. Er wußte, daß man ihn rufen würde, wenn es Zeit war, und es war ihm ganz lieb, daß man ihn bis dahin allein ließ. Er glaubte nicht mehr daran, daß er siegen konnte. Es war eine Vermessenheit von ihm, zu schwimmen; und es war mehr als eine solche von seinem Klub, ihn zu diesem Wagnis verleitet zu haben. Auf ihn fiel die Schmach, wenn er unterlag. Und er mußte ja unterliegen--wenn nicht gegen die anderen, so doch gegen Wenzel. War überhaupt jemals ein Mensch gegen den aufgekommen? Und gerade heute nach einjähriger Pause schwamm der wieder mit! Er sah trübe vor sich hin. Plötzlich wurde er aus seinem Sinnengerissen. Zwei nasse Gestalten stürzten herein und suchten lärmend nach ihren Kleidern, während sie laut miteinander über das eben beendete Tauchen sprachen. Hinter ihnen her Koepke. --Wo bleibst du denn, Mensch?--Jetzt wird es aber wirklich Zeit. So komm doch--alle warten schon auf dich! Felder ließ sein großes Badetuch von den Schultern gleiten und folgte dem wieder Forteilenden langsam. Als er sich mühsam durch die immer enger zusammengepreßte Menschenmenge zu seinen Leuten durchgerungen hatte, kam eben der letzte Taucher, mit seinen zwanzig Tellern beladen, blaß und schweratmend an die Oberfläche. Es herrschte an der Eingangsseite ein unglaubliches Gedränge. Alles stieß sich durcheinander: Herren vom Wettschwimm-Ausschuß in schwarzen Fräcken; Kellner mit gefüllten Biergläsern; Bademeister in hellen, frischgewaschenen Leinwandanzügen; Klubmitglieder in Mützen und Abzeichen, viele die Brust mit Medaillen und Schleifen übersät, freundlich oder feindlich gesinnt, und sich entweder herzlich begrüßend oder höflich ausweichend; und Gäste des Festes, jeden Alters und Standes und Geschlechtes--alles mußte hier durch, um hinaus oder zu seinem Platz zurückzugelangen, und kaum wurde den Schwimmern ausgewichen, die triefend von Wasser durch sie alle hindurch und zu ihren Kleidern zu gelangen suchten. Die Halle dröhnte wider von dem Durcheinanderlärmen zahlloser Stimmen. Man machte vor dem Hauptrennen des Festes die kurze Pause um einige Minuten länger, während welcher die Starter versuchten, einen kleinen Raum um die Sprungbretter herum zu schaffen. Felder stand eingekeilt in einer Ecke. Nagel hatte ihm selbst die blaue Kappe übergezogen, die ihm das Los bestimmt hatte, und erinnerte ihn noch einmal an seine Platznummer: "Du hast also Nr. 3 und schwimmst in der Mitte zwischen zwei Gegnern!" Er hörte Brünings spöttische Stimme, der über den "Blödsinn des übertriebenen Tauchens" sprach und fühlte dabei, wie sein Blick aufmerksam auf ihm ruhte. Als er ihm begegnete, versuchte er, sorglos zu lächeln, aber er konnte es nicht. Er hatte nur den einen Wunsch, daß alles vorbei sein möchte. Dann sah er, wie der Starter auf das eine der unteren Sprungbretter trat und seine Fahne schwang. Der Lärm in der Halle verminderte sich, Rufe um Rufe wurden laut, und eine klare Stimme tönte bis in den fernsten Winkel des Raumes: --Neunte Konkurrenz: Schwimmen über hundert Meter um die diesjährige Meisterschaft Berlins. Herr Wenzel vom Schwimmklub "Poseidon" schwimmt wegen plötzlich eingetretenen Unwohlseins nicht mit. Ein Murmeln der Überraschung erhob sich auf verschiedenen Seiten. Dann lösten sich aus den dunklen Massen schnell einige helle, nackte Gestalten und sprangen mit kurzem Ruck in das Wasser. Felder hatte kein Wort verstanden. Er fühlte sich plötzlich vorwärts gestoßen und sah, wie der Raum vor ihm frei wurde. Er trat vor. Einen Augenblick--eine kurze Sekunde--stand seine jugendlich-schlanke, ebenmäßige Gestalt allein über dem Bassinrand in der Mitte unzähliger Blicke und überstrahlt von dem grellen Lichte der Bogenlampen, als könne sie sich nicht entschließen, den Sprung zu tun--dann streckte Felder die Arme aus, neigte sich vor und ging mit glattem Sprunge in das Wasser unter sich. Und in demselben Augenblick, als sein heißes Gesicht in die kühle Flut tauchte und seine Hand nach der Stelle des Brettes griff, wo seine Nummer stand, war es ihm, als müsse er aufschreien vor Lust, und er fühlte nichts anderes in dieser Minute mehr, als die maßlose Seligkeit, schwimmen, jetzt losschwimmen zu dürfen!--Endlich im Wasser, war er jetzt wieder Herr seiner selbst und seiner ganzen Kraft, und den Blick geradeaus auf die glatte Fläche vor sich geheftet, hörte er die Stimme des Starters auf dem Sprungbrett über sich: --Sind die Herren bereit?-- Der Platz neben Felder lag leer. Aber dieser hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn schon erklang über ihm wieder die feste Stimme: --Achtung!--...--Fertig! Und sofort danach mit dem gleichzeitigen Schwung der Fahne durch die Luft: --Los!-- Fünf Hände ließen das Brett los, und fünf Gestalten durchschnitten mit rasender Geschwindigkeit das Wasser. Die Musik setzte ein, und es wurde so still unter der ungeheuren Wölbung, daß man außer ihr nur das Rauschen des Wassers unter den peitschenden Schlägen der Arme und Hände vernahm. Eine atemlose Spannung ergriff selbst die Fernsitzenden unter den Zuschauern, und allen teilte sich etwas von der inneren Erregung mit, die von diesem Kampfe ausging. Die erste Länge von fünfundzwanzig Metern wurde fast gleich genommen. Beim Wenden legte der Tritone in weißer Kappe sich vor und blieb so liegen bis rast an das Ende der zweiten Länge, wo er seinen Vorsprung gegen drei Gegner, unter ihnen Felder wieder verlor. Wieder stießen fast gleichzeitig vier der Schwimmer zur dritten Länge ab; der fünfte war zurückgeblieben und blieb es. Die vier Körper lagen nun fast nebeneinander. Bei jedem Stoß verschwanden die Köpfe mit den bunten Mützen unter der Wasserwoge, die über sie wegging; dann sah man, wie sich die Arme wieder hoben, um zu neuem Schlage auszuholen und die Körper, von neuem, mächtigen Stoße der Beine getrieben, vorwärts flogen, als würden sie gezogen... Gegen Ende der dritten Länge schien es, als schwämmen die vier auf einen bestimmten Punkt zu, so sehr näherten sie sich einander. Aber dann gingen sie wieder auseinander und jeder auf seine Nummer los. Wieder erfolgte der Anschlag fast gleichzeitig; doch hatten sowohl die rot-weiße wie die rote Kappe eingebüßt, da ihnen die Richtung ein wenig verloren gegangen war. So kam es, daß Felder zuerst, oder doch fast gleichzeitig mit dem Träger der schwarzen, wenden konnte. Die Musik schwieg plötzlich und die ersten vereinzelten Rufe der Teilnahme und der Ermutigung wurden laut. Auf der Galerie waren die Zuschauer aufgestanden und überall drängten sich die Köpfe so weit wie nur möglich vor. Die Spannung erreichte den höchsten Grad. Die ersten Längen hatte Franz geschwommen wie er immer schwamm: ohne Aufbietung seiner letzten Kraft. Er war so glücklich, schwimmen zu können, daß er fast vergessen hatte, um was es sich handelte. Nun erwachte er plötzlich wie aus einem Traum: er hörte die Rufe und sah dicht neben sich den langen Riesecker, der sich eben wandte und ihm mit dem nächsten Stoß schon voraus war. Da packte ihn eine fürchterliche Wut. Er wußte wieder, wo er war--und tief Atem holend, stieß er sich ab. Ganz einerlei jetzt--ob er siegte oder nicht; aber leicht wollte er jenem den Sieg nicht machen! Er griff in das Wasser und schoß in ihm hin; er kämpfte mit ihm wie mit einem persönlichen Feinde, außer sich vor Wut und Raserei. Die Zuschauer sahen wie sich die zu Anfang der Endlänge nicht mehr gerade Linie der vier Köpfe wieder schloß--wie der zweite dem ersten wieder näher und näher kam und wie sich ihm die beiden anderen zugesellten. In der Mitte des Bassins lagen die Schwimmer fast so wieder zusammen, wie zu Anfang des Rennens. Die Aufregung der Zuschauer stieg ins maßlose. Man rief nicht mehr, man schrie den Schwimmern von allen Seiten zu, und jeder ihrer vier Namen erklang aufmunternd, anfeuernd--drohend von überallher... Franz nahm seine letzte Kraft zusammen. Er hörte und sah nichts mehr. Er wußte nicht mehr, wohin er schwamm, ob er überhaupt noch in einer Richtung ging. Neben ihm peitschte irgend etwas mit beiden Armen wie ein Ertrinkender das Wasser--er sah und hörte nichts mehr. Er fühlte kaum, wie seine Finger das Holz des Brettes berührten... Er wußte nicht einmal mehr, war es nun zu Ende oder nicht... Dann vernahm er das frenetische Jubelgeschrei, das die Halle durchbrauste und das den Tusch der Musik völlig übertönte. Über sich sah er erregte Gesichter und neben sich für einen Augenblick seine Gegner--erschöpft wie er. Wie sie holte er noch einmal tief Atem. Dann tauchte er unter und schwamm mit einem Stoß auf die Leiter zu. Er hatte sich vollkommen ausgegeben, Er hörte nicht, was die Umstehenden sagten. Er hatte nur das eine Bedürfnis sich jetzt hinsetzen zu dürfen. Er drängte sich aufs Geratewohl durch die Menschen, die ihm keinen Platz machten. Man hatte ihm ein Tuch übergeworfen, wie einem Pferde nach dem Rennen die Decke. Er hüllte sich fest hinein, um das Zittern seiner Glieder zu verbergen, und machte sich rücksichtslos Platz. So gelangte er zu dem Raum, wo seine Kleider hingen, und setzte sich, noch immer keuchend, in eine Ecke. Sie drängten sich ihm alle nach, seine Freunde, lachend über seine eilige Flucht und sein böses Gesicht, und versuchten, ihm die Hand zu drücken. Als er sie alle vor sich sah, die bekannten Gesichter, wurde er noch böser: --Aber warum denn?--Ich war doch nicht erster!-- Er sah, wie sie wieder lachten. --Wer denn sonst, fragte Brüning. Franz sah von einem zum andern. Ohne Zweifel, sie lachten ihn aus. Dann erblickte er seinen Schwimmwart und sah ihn an. Und eine Ahnung stieg in ihm auf, daß es wahr sein könne. Wenn Nagel es sagte, dann glaubte er es. Und als auch dieser nickte und sagte: --Mit 2/5 Sekunden etwa... da war ihm, als löse sich von seiner Brust der ungeheure Druck und eilig sprang er auf, um nach seinen Kleidern zu greifen. Hastig riß er Badehose und Trikot herunter und warf sich in seinen Anzug. Um ihn herum ließen die Mitglieder des "S.-C. B. 1879" jetzt ihren Gefühlen freien Lauf. Lebhaft wurde das eben beendete Rennen besprochen. Allgemein stimmte man darin überein, daß es ein ganz außergewöhnliches Rennen gewesen war, "wieder einmal eines von jenen, bei denen alles anders gekommen war..." Am äußergewöhnlichsten sicherlich das Endresultat. Nur einer war ganz zurückgeblieben; einer hatte nicht mitgeschwommen. Die übrigen vier waren fast gleichzeitig durchs Ziel gegangen. Es konnte sich bei ihnen nur um ein paar Sekundenfünftel handeln. Aber Felder hatte unbedingt zuerst angeschlagen. Sie alle hatten es gesehen. Gleich nach ihm hatte Riesecker die Hand angelegt, und es hatte sich vielleicht nur um dies Anlegen der Hand gehandelt; dann Georgy vom "Spree "-Verein, und wieder fast gleichzeitig mit diesem der junge Erstlingsschwimmer Hofstetter, dem das kein Mensch zugetraut hätte. Hoffmann, der berühmte Hoffmann vom "Triton", der Meister des Vorjahres, war überhaupt ganz zurückgeblieben und hatte zu Ende der dritten Länge schon gänzlich ausgesetzt. Das an den Richtertisch gesandte Mitglied, wo unterdessen die Zeit festgestellt und bekannt geworden war, kam zurück und bestätigte fast jede Einzelheit. Die hundert Meter waren geschwommen in der Zeit von 1:23 4/5 bis 1:25 Minuten. Riesecker hatte den zweiten Preis mit 24 1/5; der dritte hatte mit 1:24 3/5 abgeschnitten und mit 1/5 Sekunde später der junge Hofstetter. Der Rekord für Deutschland betrug 1:18 Minuten. Er war also keineswegs erreicht, wie überhaupt in den letzten Jahren nicht mehr. Was aber die Leistung Felders zu einer so außergewöhnlichen machte, war die Jugend des Siegers. Wenn man sie in Betracht zog, war es ein Erfolg, fast einzig in seiner Art. Neueintretende erzählen von der allgemeinen Verblüffung. Der ganze Amateur-Schwimmklub sei in Aufruhr und wolle das Resultat anfechten, da zwischen seinem Mitglied und Felder ein totes Rennen stattgefunden habe: man habe ganz genau gesehen, daß Riesecker und Felder zu gleicher Zeit angeschlagen hätten, und man habe es von ihrem Platze aus besser sehen können, als von dem Tische der Richter. Die Freude der Mitglieder wurde durch die Nachricht von dem Arger der anderen natürlich nur erhöht, und man freute sich im voraus auf die nicht ausbleibenden Reibereien der nächsten Zeit. Nur Franz war merkwürdig still geworden. Jetzt, wo er wirklich diesen so heißersehnten und noch immer unbegreiflichen Sieg sein eigen nannte, erschien ihm so wenig, was er errungen. Die Unruhe und Angst der letzten Zeit waren vorbei. Aber geschwunden war auch zugleich mit ihnen und wie mit einem Schlage das Gefühl des Angespanntseins, das einer inneren Gehobenheit trotz aller Verzagtheit... Was hatte er getan?--Wofür wurde er gelobt?--Er hatte geschwommen, wie schon hundert Male, von Rand zu Rand der Wasserfläche--etwas besser, nicht viel schlechter heute, als sonst. Nur hatte er diesmal etwas getan, was andere nicht gekonnt: um den Bruchteil einer Sekunde, um einen Augenblick früher hatte er die Hand zum Anschlagen erhoben, und diese eine, diese einzige Bewegung der Arme und der Hand erhob ihn plötzlich so, daß ihn alle anstarrten wie ein Wundertier. Wäre er unterlegen, ja, wäre er nur zweiter geworden, kein Mensch würde sich um ihn kümmern, niemand seinen Namen nennen... Außerdem: Wenzel hatte nicht mit geschwommen. Wäre er nicht erkrankt, so hätten sie alle miteinander einpacken und zusehen können! Er wollte wissen, wie er geschwommen hatte. Nagel würde es ihm sagen. Er drängte sich zu ihm, als er fertig war, und ging mit ihm hinaus. Dann hörte er es: "Ein schöner Sieg, weil er so schwer errungen wurde. Wie du geschwommen hast?--Die ersten drei Längen ganz gut. Bei der letzten hast du natürlich den Stil verloren und bist über deine Kräfte hinausgegangen. Sonst hättest du auch nicht gesiegt.--Freu' dich nur ruhig. Wir freuen uns auch." Ja, Franz freute sich, als er dies hörte, und zog sich seine Sportmütze über die noch nassen Haare. Jetzt erst freute er sich _wirklich!_-- Mit den anderen ging er hinaus, und eine Weile noch standen alle in ihrer Ecke der Galerie, wo der Sieger mit neuen Glückwünschen empfangen wurde. Die schwüle Hitze in der Halle hatte noch zugenommen. Der Dunst des warmen Wassers und der vielen Menschen war erdrückend. Überall sah man rote Gesichter, auf denen der Schweiß stand, und alles versuchte die innere Glut mit großen Gläsern Bier zu löschen. Aber noch immer erschienen die Reihen der Zuschauer ungelichtet. Man blieb, weil man einmal da war, oder auch, weil man noch das Wasserpolo und die lustige Pantomime am Schluß nicht aufgeben wollte. Die letzten Rennen gingen unter allgemeiner Interesselosigkeit vorüber. Selbst ein langes, aber vortreffliches Kürspringen vermochte es kaum mehr aufrecht zu erhalten. Wie immer, rächte sich an diesen letzten Nummern die offenbar unvermeidliche Überladung des Programms. In der Ecke der 79er drängte Brüning seine näheren Freunde zum Aufbruch, endlich "dies verfluchte Schwitzbad" zu verlassen. Er könne es nicht mehr aushalten, und wenn sie noch zehn Minuten länger hierblieben, könnten sie es erleben, daß er sich auszog und ins Wasser ging. Er hatte aus Anlaß des Sieges sogleich ein kleines Festessen geplant und den immer bereiten Koepke (der als Belohnung dafür mit eingeladen wurde) in ein benachbartes Weinrestaurant geschickt, wo die Nennung seines Namens und kurze Angaben genügten, um eine gemütliche Nische und ein ausgesuchtes kleines Souper für sechs Personen nach einer Stunde bereit zu finden. Die Geladenen verabschiedeten sich für ein paar Stunden von ihren Leuten und verließen, von vielen Blicken gefolgt, die heiße Halle.-- Bei Tisch herrschte die lebhafteste Fröhlichkeit. Franz saß zunächst dem Gastgeber, neben ihm ein älterer Schwimmer mit großem Namen, und ihm gegenüber sein verehrter Schwimmwart. Er war äußerlich still, wie immer, aber innerlich war jetzt alle Sorge von ihm genommen, und er ließ sich alle die guten und ungewohnten Dinge, die auf den Tisch kamen, mit dem ganzen unverdorbenen Appetit seiner jungen Jahre schmecken. Aber als Brüning zum Schluß, als der Sekt kam, das Glas in die Hand nahm und--halb ernsthaft, halb launig, wie es so seine Art war--eine Rede auf ihn hielt und alle aufstanden, um auf den heurigen und alle künftigen Erfolge mit ihm anzustoßen, da übermannte ihn fast die Rührung über so viel unverdiente Freundschaft. Ein großer Entschluß keimte in ihm auf, und während die anderen schon weiteraßen und weiterlachten, stand er plötzlich auf und sagte geradeausschauend und ganz schnell: --Es lebe der Schwimmklub Berlin 1879. Ich danke ihm, daß er mich aufgenommen hat, und ich werde mich anstrengen, ihm immer so Ehre zu machen, wie heute... Das war ein kurzer Toast, aber ein guter, und alle wunderten sich, daß er ihn so zustande gebracht hatte; Brüning nannte ihn sogar einen Beweis für "die unvermutet glänzende Rednergabe unseres lieben Mitgliedes Franz Felder". Aber das störte diesen nicht weiter, und äußerlich still, aber innerlich glücklich blieb er den ganzen Abend: während der Droschkenfahrt nach dem Lokal, wo die Preisverteilung stattfand; während dieser selbst, als er--noch einmal der Zielpunkt aller Blicke--die silberne Medaille und die Urkunde, die ihn den Meister von Berlin für das kommende Jahr nannte, erhielt; und während der langen Stunden, die sich noch durch die halbe Nacht zogen, als man an den Tischen zu seiten des großen Saales saß, in dem unermüdlich getanzt wurde, und als immer wieder und wieder von allen Seiten alte und neue Bekannte kamen, um mit ihm anzustoßen, zutrinken und ein Wort zu wechseln... Und glücklich war er, als er endlich durch die helle und kalte Winternacht heimwärts ging. Denn wie der Himmel dort oben, so war auch seine Zukunft voll lichter Sterne, und ein jeder von ihnen war ein neuer, ein großer und ein immer größerer Erfolg! 8 Er durfte seinen Sternen vertrauen. Einer nach dem anderen neigte sich gegen ihn und fiel nieder in seine jungen, hoch emporgestreckten Hände--Sieg um Sieg!-- Die Meisterschaff der kurzen Strecke für Berlin hatte Franz Felders Namen mit einem Schlage bekanntgemacht. Jetzt konnte im Klub kaum mehr darüber gestritten werden, wer zu den nächsten Schwimmkonkurrenzen entsandt werden sollte; es handelte sich nur noch darum, an welchen Schwimmen er sich beteiligen konnte, und bei welchen es besser war, von einer Beteiligung noch abzusehen. Das galt natürlich in erster Linie bei den langen Strecken, für die es im Klub kein Mitglied gab, das sich mit den Meistern dieser Jahre über sie hätte messen können. Aber man konnte sich nach dem unverhofften Triumphe seines jungen Mitgliedes jetzt nicht mehr zurückziehen, um so weniger, als man neben Felder einen ausgezeichneten Springer, Grafenberger, herangebildet hatte, der sich auf dem Bundesschwimmen einen zweiten Preis geholt, und auf den man als Springer ebensolche Hoffnungen zu setzen begann, wie auf Felder als Schwimmer. So war der alte Schwimmklub Berlin von 1879 mit einem Schlage wieder in den Vordergrund des Interesses getreten, und seine alten Mitglieder sahen wohl ein, daß sie dem Drängen der jüngeren nicht länger widerstreben durften und konnten, sondern verpflichtet waren, das Eisen zu schmieden, das wieder zu glühen begann. Mit der Hoffnung auf neue, rege Beteiligung an der Öffentlichkeit und mit der begründeten Aussicht auf neue Siege begann sich ein neues, frisches Leben in den Sitzungen, wie auf den Übungsabenden zu entfalten, und nie war der Ton bei den Zusammenkünften so frei und fröhlich gewesen, wie zu Beginn dieses Sommers... Felder übte unablässig. Als der laute Tag vorbeigerauscht war, der ihm seinen so heißersehnten Sieg gebracht, erschien es ihm wieder so wenig, was er getan, daß ein tiefes Gefühl der Unbefriedigtheit ihn fast nicht mehr verließ. Ja, er hatte gesiegt--aber war das ein Sieg gewesen, wie er zu wünschen war?--Weder war seine Zeit eine besondere gewesen, noch sein Stil bis zu Ende rein geblieben; dabei hatte er seine Kraft völlig verausgabt; und endlich hatte Wenzel, der Meistgefürchtete, nicht teilgenommen. Alles das beeinträchtigte den Wert seines Sieges in seinen Augen bedeutend und er war ungeduldig nach neuen Kämpfen. Er übte unermüdlich. Er erreichte es zunächst, die hundert Meter in derselben Zeit, wie auf dem Bundesschwimmen, aber in glatt durchgeführtem Stil zu schwimmen; dann verbesserte er seine Zeit von Woche zu Woche um ein weniges. Als der Frühling kam und die ersten Ausschreibungen für die Sommerfeste erlassen wurden, begann er, das frühere Training für Strecken über drei- und fünfhundert Meter wieder aufzunehmen. Seine Fortschritte setzten selbst seine Klubgenossen in Erstaunen. Sogar Nagel, der ihn unausgesetzt beobachtete, sagte nichts mehr. Nach außenhin bewahrte der Klub absolutes Stillschweigen. Dann kamen die Siege dieses Sommers, einer nach dem andern: er siegte zweimal auf den internen Veranstaltungen seines Klubs gegen seine eigene Mannschaft, war dessen erklärter bester Schwimmer über alle Strecken und in jeder Stilart und verzichtete damit fürs erste auf die Beteiligung an Kämpfen mit seinen eigenen Leuten. Er schlug auf dem schönen Fest des "Delphin" dessen besten Schulschwimmer im Brustschwimmen über 150 Meter; er holte sich ein Diplom in Reinickendorf und einen Ehrenpreis in Halensee. Und er erlebte einen anderen, in seiner Art merkwürdigen Triumph. Er erreichte auf dem diesjährigen großen Verbandsschwimmen im Kochsee, auf dem er zu dem großen 500-Meter-Schwimmen um den Hauptpreis nicht gemeldet war, da diesmal die abmahnenden Stimmen seines Klubs, die vor allzu hastigem Vorgehen warnten, im Übergewicht gewesen waren, er erreichte auf diesem Fest im Juniorenschwimmen über dieselbe Strecke, bei dem er natürlich startete, eine Zeit, die so nahe an die des Siegers im Hauptschwimmen heranreichte, daß alle Gegner schweigen und denen recht geben mußten, die schon für dieses Jahr ungestüm eine Beteiligung Franz Felders an ersten Konkurrenzen gefordert hatten.-- Das war auch ein Sieg, und nicht der schlechteste! Dazu kamen noch in diesem Sommer seine ersten Reisen. Sie wurden über den Sonntag gemacht, da er zur festgesetzten Zeit wieder bei seiner Arbeit sein mußte. Im Fluge hin, im Fluge zurück; oft im Morgengrauen zur Bahn, eine lange Fahrt, ein hastiger Sieg, ein Telegramm an den Klub, und schon wieder zum Bahnhof zurück... Nur einmal konnte er ein paar Tage Urlaub benutzen, um nach Stuttgart zu gehen, wo er zwei Tage blieb. Auf diesen seinen ersten Reisen, die mehr Ausflüge waren, unternommen auf Kosten seines Klubs und stets in Begleitung irgendeines Kameraden, kam er nacheinander nach Magdeburg, Hamburg und Stuttgart und im Spätherbst nochmals nach Hamburg, wo er den schönsten aller seiner bisherigen Siege errang: in dem deutschen Schulschwimmen einen Ehrenkranz mit Gravierung für ein tadellos durchgeführtes Brustschwimmen von hundert Metern gegen und hundert Metern mit dem Strom, bei dem die Art des Schwimmens, nicht nur die Schnelligkeit gewertet wurde. In Stuttgart holte er sich den zweiten Preis im Wettschwimmen über einhundert Meter, in Magdeburg den ersten im Hindernisschwimmen: ein in seiner künstlerischen Ausführung wirklich wertvolles Diplom. Und dann hatte sich Felder im folgenden Winter in seiner Meisterschaft von Berlin im Schwimmerbund über die kurze Strecke zu behaupten: diesmal gegen Wenzel vom "Poseidon" und die besten Berliner Schwimmer, und er tat es in einer Weise, die deutlich zeigte, welche Sicherheit ihm bereits die sommerlichen Siege verliehen hatten--er schwamm die kurze Strecke nicht nur in reinstem spanischem Stil und verbesserte seine eigene Zeit gegen das Vorjahr nicht nur um fast drei Sekunden, sondern er schlug den gefürchtetsten Gegner, der alles daran setzte, die verlorene Meisterschaft wieder zu gewinnen, um eine ganze Sekunde. Zum zweiten Male war er Meister von Berlin geworden. Kaum war ein kurzes Jahr vergangen, und doch: welcher Unterschied zwischen heute und damals! Als er--umstanden von seinen jungen und alten Klubfreunden--sein Trikot überzog und der immer behäbiger werdende Brüning den anderen in seiner spöttisch-gutmütigen Art erzählte, wie sie ihn damals vom Sofa aufgeweckt und den Mutlosen in einer Droschke hierher gebracht, dachte Felder selbst einen Augenblick an die trübe, einsame Viertelstunde, in der er hier allein niedergedrückt bei dem grauen Zwielicht eines trüben Wintertages gesessen, fast verzweifelnd an sich und seiner Zukunft. Heute zweifelte er nicht mehr. Er dachte überhaupt wenig mehr an Siegen und Unterliegen. Die heitere Zuversicht der Ruhe, erworben in so manchen ernsten Kämpfen des letzten Jahres, war über ihn gekommen, und kaum ließ die Erwartung jetzt sein Herz höher schlagen, wenn ein neuer Sieg ihn reizte. Er wußte, er tat, was er konnte, und er tat es in erster Linie für seinen geliebten Klub. Er hatte ihm bereits Ehre gemacht. Er wußte es, und er war stolz darauf. Als das Diplom des Bundesschwimmens, das seinen Namen trug, in dem alten, gemütlichen Klubzimmer der Lindenstraße, wo der Klub nun schon seit fast einem Jahrzehnt tagte, dieser Stätte so zahlreicher, erregter Debatten, so zahlloser freudiger und gehobener Stunden, zwischen der Unmenge Ehrengeschenke und Urkunden vergangener Tage seinen Platz fand, wich zum ersten Male recht eigentlich das Gefühl einer gewissen Fremdheit, das ihn nie ganz verlassen hatte, von ihm: denn jetzt hatte der Arbeitersohn aus dem Osten angefangen, seine Schuldzurückzuzahlen, und man brauchte es nicht mehr zu bereuen, den armen Jungen unter sich aufgenommen zu haben. Und er schwur sich damals und viele Male später, immer und immer wieder zu: ganz und bis aufs letzte die in seinen Augen so unermeßliche Schuld zurückzuzahlen, und vielleicht nicht nur das, sondern dem "S.-C. B. 1879" mit Zinsen und Zinseszinsen zu vergelten, was er an ihm getan. Daher freute er sich an jedem seiner Erfolge, nicht nur für sich, sondern auch für seinen Klub mit. Und so glücklich er auch war, einen Preis nach Hause tragen zu dürfen und die Ehrenzeichen und Medaillen auf seiner Brust sich vermehren zu sehen--lieber war es ihm doch noch und größer seine Siegerfreude, wenn er seine Preise in den Besitz des Klubs übergehen und dort die Wand zieren sah, während ihm selbst nur eine einfache Urkunde--gewissermaßen als Bestätigung--zuteil wurde. So rein und ehrlich war seine Freude, daß er fast noch keine Neider hatte, wenigstens nicht unter seinen Leuten. Er war noch ganz der, als den sie ihn damals aufgenommen hatten, wenn er auch äußerlich ein junger, eleganter Mann geworden war, der es lernte, Wert auf sein Äußeres zu legen. Auf seinen Lippen zeigte sich der erste Flaum, aber sein Körper--obwohl Felder auch im letzten Jahre tüchtig in die Höhe geschossen war--zeigte noch immer die unentwickelte Formen des Knaben, und wenn er an den Start ging, verschwand seine Gestalt fast neben denen der anderen. Wer ihn nicht kannte, prophezeite ihm vor seinen meist voll entwickelten, muskulösen Gegner sicher nicht den Sieg, bis er ihn mit kurzen und sicheren Schlägen das Wasser teilen und den schmächtigen Schwimmer schnell allen vorauseilen sah. Diese Liebe zu seinem Klub, diese fast kindliche Freude an seinen ersten Triumphen, diese so bescheidene und doch selbstbewußte Zurückhaltung und Ruhe, die Felder eigen war, erhöhte seine Beliebtheit im Klub von Tag zu Tag; und wann immer er kam, woran er auch teilnahm, stets war er gern gesehen und fühlte sich mehr und mehr heimisch in diesem Leben, das mehr als je fast jede seiner nicht der Tagesarbeit gewidmeten Stunden in Anspruch nahm. Noch immer waren und blieben die besten seiner Freunde die alten: Nagel, der treue und ernste Berater; Brüning, dessen ausgesprochener Schützling er blieb und der, so oft er nur konnte, den Unerfahrenen auf seinen Reisen begleitete und natürlich stets alles zahlte; und Koepke, der Unzertrennliche, sein Schatten, der bei jedem neuen Siege von neuem aus dem Häuschen geriet und ihm Erfolge voraussagte, über die Felder selbst einstweilen nur lächelte. Aber auch an manchen anderen Klubgenossen hatte er wahre und aufrichtige Freunde, die verlernt hatten, sich an seiner Schwerfälligkeit und Wortkargheit zu stoßen und ihm näher standen, als Felder es selbst wußte. Und noch eines trug dazu bei, seine Beliebtheit zu erhöhen: trotz seiner erstaunlichen Fortschritte und der in Anbetracht seiner Jugend außergewöhnlichen Siege drängte er sich doch nie zu den Konkurrenzen, und immer war es der freie Entschluß seines Klubs, der ihn--vor der von Brüning und einigen anderen gelenkten Majorität sich beugend-- hinaussandte. So ließ er sich ruhig mitnehmen in die fremden Städte, überwand schnell das anfängliche Unbehagen der hastigen und überstürzten Fahrten, und tat sein Bestes, sich für die Kämpfe möglichst frisch zu erhalten, indem er geduldig die Ratschläge seiner Begleiter über sich ergehen ließ und aß und schlief, wenn diese es für nötig erachteten, und nicht, wenn er hungrig und müde war. Die Reisen selbst interessierten ihn wenig: er sah wohl hier und da eine Sehenswürdigkeit der fremden Stadt, wenn es zufällig eine freie Zwischenstunde erlaubte, auch machte das neue und bunte Hafenleben Hamburgs einigen Eindruck auf den Binnenländer, aber im allgemeinen drehten sich seine Erinnerungen an diese Reisen doch nur um deren Zweck und Ziel: um die Wettläufe am Nachmittag und die Preisverteilung am Abend, und die glichen sich alle mehr oder minder, mochte es nun in Hamburg sein oder in Stuttgart oder Berlin. Aus diesem Jahre, vielleicht dem glücklichsten seines kurzen Lebens, stammte eine Photographie, auf der er sich zum ersten Male bildlich im Schmucke seiner Siegeszeichen zeigte. Die kleine, braune Rettungsmedaille war fast nicht mehr sichtbar unter den sechs bis sieben großen Silbermünzen, die bereits eine ganze Reihe auf der linken Brustseite bildeten; und um den Hals trug der junge Meister bereits das breite Band mit der kleinen, vergoldeten Medaille, das in leuchtenden Buchstaben den frühen Ruhm seines Trägers verkündete. Als der "Welt-Sport", das berühmte und angesehenste Sportblatt der ganzen Welt, Felder um sein Bild bat und es zu Ende dieses Winters seinen Lesern zeigte, schrieb es dazu: "Wenn wir heute--entgegen unserer sonstigen Gewohnheit--unseren Lesern das Bild eines jungen Schwimmers zeigen, dessen Name, obwohl bereits rühmlich bekannt in seinen Kreisen, doch noch keine eigentlich nationale Geltung erlangt hat, so tun wir es in der sicheren Überzeugung, daß der Name Franz Felder eines, vielleicht nicht einmal fernen Tages über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus genannt werden wird. Was uns zu diesem Ausspruch treibt, sind nicht so sehr die in Anbetracht seiner Jugend allerdings außergewöhnlichen Leistungen und staunenswert schnellen Fortschritte dieses Schwimmers, sondern vor allem die Beobachtung der ganz nur auf ein Ziel gerichteten Energie dieses jungen Mannes, mit der er von früh auf sich selbst gesteckte Ziele rastlos und unbekümmert zu verfolgen scheint... Wir wüßten unter allen deutschen Schwimmern der jüngeren Generation keinen, der uns so zu den höchsten Hoffnungen berechtigt erscheint, wie Franz Felder, der Meister von Berlin über die kurze Strecke der letzten beiden Jahre..." Als an einem Sitzungsabend des Klubs die Nummer herumgereicht und von allen Seiten mit launigen und spöttischen Bemerkungen über den Schreiber begleitet wurde, war es wieder nur Nagel, der ernst blieb. Indem er verstohlen das Bild mit dem ihm seit Jahren bekannten Gesicht verglich und Zug für Zug hier wiederfand, was er dort so gut kannte: die niedrige, trotzige Stirn, den Mund mit den ausdrucksvollen, gewölbten Lippen, das energische Kinn und die oft so unnatürlich ernsthaft blickenden blauen Augen mit den scharf gezogenen Brauen darüber--da mußte er innerlich dem gewiegten und in allen Lebenssätteln gerechten Menschenkenner des großen Sportsblattes recht geben und seiner Beobachtungsgabe Bewunderung zollen. Aber was jenen, den gleichgültigen Kritiker, so zu überschwänglichen Prophezeiungen begeisterte, erfüllte ihn mit heimlich-banger Sorge um seinen Schützling. Er sprach nicht aus, was er dachte. Man würde ihn mitverlacht haben. Denn für die meisten anderen lag alles dies, was er in diesem Augenblick in voller Schärfe sah, noch verborgen unter der Weichheit der Jugend, die in diesen Zügen noch nichts Hartes hervortreten ließ, und gerade in dieser Stunde, in diesem lustigen Kreise, unter diesen ihm so vertrauten und lieben Menschen, kam alles, was in Felders Natur an unbekümmerter Fröhlichkeit, an sich und anderen vertrauender Güte und natürlicher Liebenswürdigkeit lag, hervor. Mit den anderen lachte er über die Überschwänglichkeiten des Reporters, denn wenn je in ihm die Stimme des Ehrgeizes geschwiegen hatte, so rat sie es jetzt. Seine ersten Siege hatten ihn beruhigt. Wenn es so leicht war, zu siegen--nun, dann wollte er noch oft siegen. Aber wozu darüber nachdenken?--Das würde alles schon kommen, wie es kommen sollte. Für ihn war die Hauptsache, daß er seinem Klub Ehre und Freude machte. Hier hatte er die Heimat seiner knabenhaften Wünsche gefunden, und hier wollte er bleiben. Sein Klub würde ihn leiten und ihm sagen, wie weit er zu gehen, wo er stehen zu bleiben hatte. Er vertraute sich ihm ganz. Er war ganz ruhig, ganz sicher, ganz glücklich. Er hatte ein großes Vertrauen in seine Kraft gewonnen. Denn er fühlte sie wachsen von Tag zu Tag, von Tag zu Tag! 9 Sie waren eine glückliche Zeit für den jungen Schwimmer--die Jahre dieses rapiden, sicheren und doch nicht überhasteten Aufstiegs. Aber nie schien ein Sommer in Franz Felders Leben so voll Sonne zu werden wie dieser nächste, der seines achtzehnten Lebensjahres, in dem er seine Lehrzeit beendete und in dem er in einer Fülle anderer erstklassiger Siege, die sich Schlag auf Schlag in fast beängstigender Schnelle folgten, auch seine erste, ganz große Meisterschaft und mit ihr die große goldene Medaille erfocht: die Jahresmeisterschaft von Deutschland über die große Strecke von tausend Metern--den schönsten und reinsten aller seiner bisherigen Siege. Der Wunsch, sich an diesem höchsten Wettkampf zu beteiligen, um den alle ersten Schwimmer Deutschlands Jahr für Jahr mit ihrem besten Können rangen, hatte lange in ihm gelegen, bevor er sich hervortraute. Die kurze Strecke, über die er sich Meister fühlte, reizte ihn schon nicht mehr. So kam es, daß er sich mehr und mehr auf die langen Strecken legte und im Frühjahr dieses Jahres wochenlang überhaupt nur noch über tausend Meter trainierte, bis er auch hier Zeiten erreichte, die sich kühnlich neben anderen sehen lassen konnten. Aus dem unübertrefflichen Flieger war ein ausgezeichneter Steher geworden. Als daher die Beratungen über die jährliche Beteiligung begannen, konnten die schwachen und vereinzelten Einwände meist älterer Mitglieder gegen ihn nur seiner Jugend gelten, und sie wurden von dem allgemeinen lebhaften Verlangen des Klubs nach neuen und größeren Siegen auf neuem Gebiet glatt überstimmt. Das große Schwimmen des "Allgemeinen Deutschen Schwimmverbandes" sollte in diesem Jahre besonders großartig ausgestaltet werden, jede Art von Konkurrenz im Schwimmen, Springen und Tauchen umfassen und sich über zwei ganze Tage erstrecken, einen Sonnabend und einen Sonntag im Juli. Als Ort war diesmal Grünau gewählt, der allbekannte Sportplatz an der Dahme, der "wendischen Spree", dem Heim der großen Regatten. Seit Jahren waren keine zahlreicheren und bedeutsameren Meldungen aus allen Orten Deutschlands eingetroffen, und die gesamte Schwimmwelt blickte den entscheidenden Tagen mit außergewöhnlicher Spannung entgegen. Der "Schwimmklub Berlin 1879" hatte neben Felder, der am ersten Tage in einem 200-Meter-Schwimmen, am zweiten sich an dem großen Schwimmen beteiligen sollte, seinen ausgezeichneten Springer, Grafenberger, und zu den kleineren Wettkämpfen mehrere verheißungsvolle Kräfte gemeldet, so daß er schon nach der Zahl seiner Meldungen im Vordergrund des Interesses stand!-- Der Eröffnungstag, der Sonnabend, war nicht vom Wetter begünstigt und verlief auch sonst unbefriedigend. Grafenberger hatte seinen schlechten Tag, und sogar Felder holte sich nur einen zweiten Preis, indem er gegen den Meisterschwimmer Westdeutschlands aus Frankfurt über die 200-Meter-Strecke unterlag. Man trennte sich unter strömendem Regen früh, um sich zu dem Haupttage durch ausgiebigen Schlaf zu rüsten. Um so zahlreicher und auserlesener war am Sonntag die Zuschauermenge, die in dichten Reihen die Holzbänke an dem sanft aufsteigenden Ufer zu vielen Hunderten schon vor der angesetzten dritten Stunde des Beginnes besetzt hielt, während von einem wolkenlosen, blauen Himmel die Sonne in vollster Pracht auf Wasser, Wälder und sie, die Menschen, herniederstrahlte. Fast alles, was in der Welt des Schwimmsports einen Namen hatte, war vertreten. Man sah mehr bunte Mützen und Farben als je zuvor, und aus der Zahl der Zuschauer und der Vertreter und Deputierten öffentlicher Behörden konnte man ersehen, welchen Aufschwung das Schwimmwesen in den letzten Jahren genommen und wie sehr es an Interesse in weiteren Kreisen gewonnen haben mußte. Von Anfang an wurden alle Rennen mit allgemeinster Aufmerksamkeit verfolgt, und selbst solche, die sonst nur Ermüdung und Langeweile bei den Zuschauern hervorzurufen pflegten, wurden mit Beifall begleitet. Als dann aber das Hauptschwimmen kam, als die schlanke, ebenmäßige Gestalt Felders die Flut mit der Regelmäßigkeit und Kraft eines Dampfers durchschnitt, als er erst den bestaunten Koloß der Hamburger, dann den Meister der langen Strecke von Süddeutschland, endlich in der letzten Länge auch den bisher als unbesieglich geltenden Karl Becker, den Sieger des Vorjahres, hinter sich ließ und vor allem ebenso ruhig aus dem Wasser stieg, wie er hineingegangen war, da löste sich die aufs höchste gestiegene Spannung in einem nicht endenwollenden Jubel. Es war ein Sieg, so rein und schön erfochten, daß jedes Mäkeln und Deuteln vor ihm verstummte; und so einfach und ungezwungen war die Haltung des Siegers (als habe er das Selbstverständlichste der Welt getan), daß man nicht anders konnte, als ihn bewundern und lieben zu gleicher Zeit. Felder konnte sich vor den Beglückwünschungen kaum retten. Da es ihm bei seiner Schwerfälligkeit noch immer lästig war, vor so vielen fremden Menschen Rede und Antwort zu stehen, suchte er sich ihnen möglichst bald zu entziehen. Heute hatte er einen guten Grund. Seine ganze Familie hatte heute ausnahmsweise "nach Grünau hinausgemacht", um "einmal zu sehen, auf welche Weise er denn zu all diesen schönen Geschenken und den Medaillen käme". Franz hatte zuerst protestiert. Was fiel ihnen plötzlich ein?--Er wollte sie nicht da haben. Sie sollten ihre eigenen Wege gehen, wie er die seinen ging. Aber er konnte ihnen schließlich nicht verbieten, unter den Zuschauern zu sein und zuzusehen. So hatte er ihnen denn möglichst gute Plätze verschaffe und im benachbarten Restaurant einen großen Tisch am Wasser belegt. "Einen recht großen, denn es würden noch mehrere dabei sein", meinte sein Vater. Jetzt kam ihm diese ganze Familiengeschichte gerade recht, um sich auf eine Stunde den anderen zu entziehen. Auch war er ganz zufrieden, daß die Seinen nun endlich einmal gesehen hatten, was aus ihm geworden war, wenn sie auch nicht viel davon verstanden. Denn mehr als je zerfielen für ihn die Menschen in die zwei Klassen: in die, die schwimmen konnten, und in die, die es nicht konnten... Als er--die Brust bedeckt mit seinen Siegeszeichen--an den Tisch trat, fand er auch bereits seine Familie fast vollzählig vor: die Geschwister, verheiratete und unverheiratete, waren da, die Kinder der ersteren und andere Verwandte. Außerdem befreundete Familien, von denen er nur einzelne Mitglieder kannte--alle bunt durcheinander. Man hatte ihm einen Ehrenplatz oben am Tische aufgehoben. Er sah sich flüchtig um. Zu seiner Linken saß ein junges Mädchen, das ihm fremd war, zur Rechten seine alte Mutter. Ein paar Plätze von ihm entfernt machte sich ein beleibter Herr mit einer mächtigen Bowle zu schaffen. Überall bekannte Gesichter. Franz nickte seiner Mutter zu. Mit einem schwachen und seltenen Versuch, zu scherzen (sein neuer Sieg hatte ihm Mut gemacht) meinte er: --Na, Mutter, heute ging es ja noch mal gut; aber das nächste Mal ertrinke ich dann sicher.--Die alte Frau glaubte nämlich noch immer, ihr Franz müsse eines schönen Tages seinen Tod im Wasser finden. Ins Wasser gehen bedeutete für sie, sich ganz unnötigerweise einer Gefahr aussetzen; und wenn sie in letzter Zeit auch begriff, weshalb ihr Sohn das tat--denn er brachte doch die schönen Preise nach Hause--so war sie doch immer noch nicht aller Sorge ledig. So antwortete sie denn nur: --Wenn du auch schwimmen kannst, ertrinken kannst du doch!... Man lachte sehr über ihre Antwort, und Franz lachte mit, obwohl er sich ein wenig über das Unverständnis der alten Frau ärgerte. Da hörte er sich plötzlich von links her angesprochen: --Kennen Sie mich denn wirklich nicht mehr, Herr Felder?-- Er sah seine Nachbarin überrascht an. Schon als er sich setzte, war sie ihm aufgefallen, und er hatte gedacht, wer sie wohl sei. Sie war noch ganz jung, etwa in seinem Alter, und sehr elegant gekleidet: ein weißes Sommerkleid mit rotem Besatz, ein großer Strohhut, blonde Haare und ein Stumpfnäschen, sehr hübsch und schon recht selbstbewußt--so kam sie ihm vor. Er sah ihr nun gerade ins Gesicht; dann sagte er aufs Geratewohl: --Aber gewiß, Fräulein, voriges Jahr auf dem Bundesfest... Er hatte sie nie gesehen. Es kam überhaupt selten vor, daß er mit Damen sprach. Höchstens auf den Vereinsvergnügungen oder auf den Schwimmfesten, wo er von den Damen, die den Sieger in der Nähe sehen wollten, zum Tanze geholt wurde, machte er eine flüchtige Bekanntschaft. Sie lachte laut. --Nein, sagte sie, es ist viel länger her... --Viel länger her?-- Er wußte nicht, was sie meinte. Er wußte es wirklich nicht, soviel er sie auch ansah. Sie lachte noch immer; dann kam sie ihm zu Hilfe. --Na, wir haben doch immer zusammen gespielt, als wir noch Kinder waren. Wissen Sie denn nicht mehr, in der Fruchtstraße, im Hof, da wohnten wir doch. Vatern gehörte doch dazumalen das Haus... Ja, jetzt erinnerte er sich dunkel, aber auch nur ganz dunkel. So oft, wie sie sagte, "immer", konnten sie übrigens nicht zusammen gespielt haben, denn er war doch meist fort gewesen, am Wasser. Aber daß sie sich als Kinder gekannt hatten, war schon richtig, denn er erinnerte sich jetzt sogar ihres Namens: Elise Heinecke. --Na, Sie hätte ich aber nicht wiedererkannt, Fräulein Heinecke! --Ja, glauben Sie, ich Sie?--Aber als wir neulich Ihren Namen im "Morgenblatt" lasen, meinte Vater, ob das wohl dieselben Felders sind, die dazumal in der Fruchtstraße bei uns gewohnt haben; und da er doch alles kennt, ist er denn gleich zu dem Herrn Faßbender, was doch der Vorsitzende von Ihrem Verein ist, gegangen, und der hat ihm gesagt, wenn wir uns überzeugen wollten, brauchten wir nur heute nach Grünau zu machen, da würden wir Sie schon in Ihrem Glänze sehen. "Machen wir!" sagte Vater, und auf dem Bahnhof haben wir denn auch gleich Ihre Eltern getroffen. Nein, können Sie aber schwimmen! Die letzte Bemerkung machte Franz warm. Überhaupt, er wußte nicht, was es war, aber sie gefiel ihm ausnehmend. Es war so leicht, sich mit ihr zu unterhalten. Sie fragte und verstand immer Dinge zu fragen, auf welche er Antwort zu geben wußte. Und wenn er keine gab, so sprach sie gleich weiter und nahm es nicht weiter übel. Das Schwimmen war vorüber, und der große Garten füllte sich bis auf den letzten Platz mit Sportsfreunden und Zuschauern. Überall an den Tischen gruppierten sich die durstigen Mitglieder der vielen Vereine und ihre zahlreichen Angehörigen. Ganz dicht am Wasser an der anderen Seite hatte sich der S.-C. B. 1879--heute der Mittelpunkt aller anderen--einen langen Tisch reserviert. Als Felder, bereits von allen Seiten vermißt, von seinen Leuten gefunden und fortgeholt wurde, war er erstaunt, zu hören, wie schnell die Zeit vergangen war. Er mußte versprechen, nach der Preisverteilung wiederzukommen, um teil an der Bowle zu nehmen, und der alte Heinecke, stolz auf sein gelungenes Werk, sagte ihm mindestens dreimal, sie sei nur ihm zu Ehren angesetzt. Wichtiger aber war für Franz, was auch die Tochter sagte, als er ging: "Ja, Herr Felder, kommen Sie bald wieder. Sie müssen mir noch viel über Ihre Siege erzählen." Er dachte an sie, als er unter seinen Freunden saß, und zum ersten Male, solange er denken konnte, hätte er eine andere Gesellschaft als die seines Klubs vorgezogen, und immer wieder blickte er nach dem Tische hinüber, von wo ein weißes Kleid wie grüßend zu ihm herüberschimmerte. Als jedoch die Preisverteilung in dem großen Saale des Restaurants stattfand, als er aus den Händen des ersten Verbandsvorsitzenden die schöne große Medaille von Gold erhielt und ihm das breite, dreifarbige Band, an dem sie hing, um den Hals gelegt wurde, als an sein Ohr die Worte schlugen, die ihm galten--: "Wohl noch nie ist ein Sieg, wie der heutige, von einer so jungen Kraft errungen worden. Was aber seinen Wert noch erhöht, ist die tadellose Art, in der er gewonnen wurde. Indem ich Ihnen, Herr Franz Felder, daher hiermit den großen Preis Ihres Sieges, den von allen deutschen Schwimmern am heißesten begehrten, überreiche, kann ich keinem anderen Wunsche Ausdruck geben als dem: Möchten alle Ihre künftigen Siege, mein junger Meister von Deutschland, so rein und schön sein wie dieser heutige..."--als diese Worte an Felders Ohr klangen und ihn dann wieder der ungezügelte Jubel des ganzen Saales umtoste, da hatte er alles, alles in der Welt vergessen, bis auf seinen geliebten Sport, und nur ein Wunsch, eine Sehnsucht hielt ihn wieder gefangen: sich immer würdig zu zeigen der hohen und großen Ehre dieses Tages. So sehr hatten ihn die einfachen, warmen Worte des alten Herrn ergriffen, daß er lange Zeit brauchte, um sich zu sammeln. Jeder wollte mit ihm sprechen, jeder ihn und sein Ehrenzeichen sehen. Man zog ihn an diesen Tisch und an jenen, überall wurden ihm offene Hände und gefüllte Gläser entgegengestreckt; er mußte antworten, anstoßen und mittrinken, und als er sich endlich seines Versprechens erinnerte und an den Tisch zurückkehrte, wo ihn die Bowle, seine Familie und ein junges Mädchen erwarteten, da begannen bereits die ersten Schatten des Abends zu fallen. Wie er sie wiedersah, war er gleich wieder in dem Bann dieser braunen, lustigen Augen. Er nahm die Glückwünsche seiner Familie und eine lange, schwülstige Rede des dicken Hausbesitzers hin, weil es so sein mußte, aber er sprach fast nur mit ihr. Sie schmollte erst ein wenig mit ihm, daß er nicht eher gekommen war, aber sie begriff doch, daß er an einem solchen Tage viele Verpflichtungen habe; denn wenn sie auch, wie sie lachend meinte, wohl seine älteste Bekannte hier im Garten sei, so kannten ihn doch alle anderen besser als sie. Sie erzählte ihm, wie sie im Saale gewesen sei und ganz dicht bei der Tribüne gestanden habe, so daß sie jedes Wort gehört habe. Sie bewunderte nach Gebühr seine neue Medaille und las Wort für Wort die Inschrift auf dem Bande, wobei sie es, wie liebkosend, durch die Hand gleiten ließ. Dann kam sie auf die vorhin unterbrochenen Erklärungen seiner anderen Preise zurück, und von neuem mußte Franz ihr Herkunft und Bedeutung eines jeden erklären. So erfuhr sie von allem, was seinem Leben bisher Inhalt und Wert gegeben, und es schien sie aufrichtig zu interessieren, so daß sich Felder sagte: das ist nicht nur ein schönes, sondern auch ein kluges Mädchen. Später gingen sie miteinander durch den Garten, und wieder stellte sie Fragen, die zu beantworten ihm Freude machte. Sie wollte wissen, wer die an diesem und die an jenem Tische waren, ob es befreundete oder fernstehende Vereine waren. Sie fragte nach den Namen von solchen, deren Brust sie, wie die seine, mit Preisen bedeckt sah.-- Waren es Springer oder Schwimmer, wie er?--Hatte er schon mit ihnen gekämpft und hatte er sie geschlagen? Es machte ihr offenbar Freude, so an seiner Seite durch die Reihen der Tische zu gehen, zu sehen, wie Felder überall von Grüßen und Zurufen begleitet wurde, und dabei mit angesehen zu werden. In demselben Saale, in dem die Preisverteilung stattgefunden, wurde jetzt getanzt. Als sie hörte, daß er zwar etwas tanze, sich aber nichts daraus mache, meinte sie auch, es könne kein besonderes Vergnügen sein, in dem heißen und überfüllten Räume sich herumzudrehen, wo es doch draußen jetzt so schön kühl geworden sei. Die Bowle war fast geleert, und überall im Garten brannten die Lichter, als sie von ihrem Rundgang an ihren Tisch zurückkehrten. Man war natürlich wieder dagewesen und hatte nach Franz gefragt. Die alten Leute waren müde geworden und wollten nach Hause. Die Kinder schliefen schon zum Teil, und man brach auf, da man dem kolossalen Gedränge der letzten Züge und der Gefahr, überhaupt nicht mehr mitzukommen, entgehen wollte. So brach die ganze Gesellschaft zusammen auf. Franz wollte sie noch bis zum Bahnhof begleiten, bevor er sich endlich wieder zu seinen Kameraden gesellte. Man ging in einer langen Reihe durch den Kiefernforst zu der etwa zehn Minuten entfernten Station. Es kam wie von selbst, daß der junge Mann und das junge Mädchen die letzten wurden. Als die Lichter der Häuser in Grünau hinter ihnen lagen, umgab sie die Dunkelheit des Waldes, und sie konnten nur noch die Zurufe der vor ihnen Gehenden hören, ohne die Gestalten mehr recht zu unterscheiden. Die beiden gingen dicht nebeneinander, so schmal war der Weg. Unsicher über seine Richtung in dem tiefen Dunkel unter dem dichten Nadelholz, kam es, daß sie sich berührten, wenn sie ihn mit ihren Schritten suchten. Sie war Stumm geworden, und er, nicht mehr von ihr gefragt, wußte nicht, was er sagen sollte. Sie mußten ziemlich weit zurückgeblieben sein, denn das Sprechen und das Gelächter der Ihren tönte zu ihnen zurück wie aus weiter Ferne. Wieder stießen sie in der Dunkelheit aneinander, und er hörte, wie sie lachte. Ihr Lachen machte ihm Mut, und er fragte: --Soll ich Ihnen nicht meinen Arm geben, Fräulein? Sie werden sonst noch fallen. --Nehmen Sie mich bei der Hand, gab sie zur Antwort, und er fühlte ihre weichen, warmen Finger in den seinen. Und dann--wie es kam, wußte er nicht--blieben sie beide stehen. Er legte seinen Arm um ihre Taille und beugte sich nieder, um sie zu küssen. Er stieß erst gegen ihren breiten Sommerhut, berührte ihre Wange und küßte sie dann mitten auf den Mund. Sie hielt ganz still. Dann sagte sie nur: --Aber nicht doch, Herr Felder...-- Aber sie ließ seine Hand nicht los, und nach einigen Schritten blieben sie wieder stehen. Diesmal brauchte er nicht zu suchen, denn sie hob das Gesicht zu ihm empor, und er küßte sie wieder und wieder und wieder, und er täuschte sich nicht, wenn er fühlte, wie ihr Mund seinen Mund immer von neuem suchte. Endlich aber wich sie von ihm zurück. --Wir müssen uns eilen, sagte sie hastig und eindringlich, die anderen müssen schon am Bahnhof sein. Sie gingen Hand in Hand so schnell wie möglich, aber keines von ihnen sprach ein Wort. Sie war es, die vorwärts trieb. Bevor sie in die vor ihnen heller und heller aufleuchtenden Lichter hinaustraten, suchte er sie noch einmal an der Hand zurückzuhalten. Aber sie sagte: --Nein, nein. Wir müssen uns eilen.--Und sie gingen weiter. Sie wurden von der ganzen Gesellschaft gesehen, wie sie aus dem Walde traten. Sie warteten alle vor dem Bahnhof auf den Abgang des Zuges. Der alte Heinecke machte ein böses Gesicht und ging auf seine Tochter zu. Man suchte den Wartesaal auf. Der Zug hatte natürlich Verspätung. Dort, in der gräßlichen Enge und Hitze des vollgedrängten Raumes, suchte sich Felder dem Mädchen vergebens noch einmal zu nähern. Nur, als endlich alle auf den Bahnsteig strömten, gelang es ihm, ihr noch einige Worte zu sagen: --Sie werde doch ganz sicher in acht Tagen auf das Kochseefest kommen?--Vater sei sehr böse, flüsterte sie zurück,--aber sie wolle sehen... Der Ausdruck ihres Gesichtes erschien ihm ganz verändert, wie sie an ihm vorbeiging. Alle Freundlichkeit schien aus ihm geschwunden; es war eine ganz andere als die, welche er noch eben in seinen Armen gehalten. Als sie alle in dem bereits überfüllten Zuge untergebracht waren--die einen hier, die anderen dort, aber alle auseinander gerissen--und er Eltern und Verwandten Adieu gesagt, suchte er sie noch einmal mit den Augen. Aber er fand die Abteilung nicht mehr, wo sie eingestiegen war. Eilig ging er den Weg zum Garten zurück. Er fühlte sich so leicht und glücklich wie nie zuvor in seinem Leben. Als er unter seine Freunde trat, wurde er mit Jubel, aber auch mit unmutigen Bemerkungen über sein Fernbleiben empfangen. Ob er wohl lange genug Familie gesimpelt habe?--Und ein anderer rief über den Tisch hin: --Laßt ihn, Franz hat eine Braut...-- Felder kümmerte sich um nichts, sondern griff nach einem Glase. Er war durstig, durstig und glücklich, und er wurde selbst nicht böse, als ihm ein Dritter in täppischer Vertraulichkeit zuflüsterte: --Du, die kleine Heinecke mußt du dir festhalten. Der Alte hat Moneten wie Heu. Zwei Holzplätze im Norden... Ob er sich wohl _darum_ gekümmert hatte!--Er wußte nicht einmal, was der Alte war. Aber das hatte er sich schon gedacht, daß die Bemerkungen nun nicht ausbleiben konnten. Ein Übermut ergriff ihn, der ihm sonst ganz fremd war. Er hörte nicht, was die anderen sagten. Er lachte und trank und ließ sie reden. Ein schönes Mädchen, ein kluges Mädchen, und wie sie küssen konnte!... Es war ein wunderbarer Sommerabend, weich und warm. Die breite Wasserfläche lag still und schwarz und nur vom anderen Ufer her blinkten noch einige Lichter. Die Bänke und Tische wurden leerer und leerer. Aber noch gegen Mitternacht, als sich der Schwarm verlaufen hatte, kamen an dem Tische der 79er einige der angesehensten Sportkameraden zusammen, um unter sich bei einem letzten Glase nochmals den Sieg des heutigen Tages zu feiern, und unter allen Ehrungen dieses und aller vorhergehenden Feste war keine schöner und wertvoller für den jungen Sieger als die einfache und neidlose Bewunderung, die ihm die Besten ihrer Kunst in dieser späten Stunde darbrachten, indem sie sich zu ihm gesellten. Wieder wurde er ganz der Schwimmer, der er mit Leib und Seele war, und wieder fühlte er sich hier, nur hier unter den Seinen, zu Hause wie sonst nirgends auf der Welt. Erst als sie lange nach Mitternacht Brünings Motorboot bestiegen und das sicher gelenkte, elegante Fahrzeug lautlos an den flachen Ufern vorüberglitt, während sich die Müdigkeit über die in den Ecken Hockenden und Liegenden breitete, kehrten seine Gedanken noch einmal zu dem jungen Mädchen zurück, das er heute in seinen Armen gehalten und das seine Küsse so willfährig und so innig erwidert hatte, und er konnte in dieser stillen Stunde dem sehnsüchtigen Wunsche nicht wehren, nur noch einmal wieder diese Lippen mit den seinen zu berühren, diese weichen Lippen, die so verständnisvoll zu fragen, so freundlich zu lächeln und so heiß zu küssen verstanden. 10 Acht Tage später schwamm er auf dem Feste des "Deutschen Wettschwimmkartells". Zum ersten Male, solange Felder sich an den Kämpfen beteiligte, waren seine Gedanken nicht ganz und ungeteilt bei seiner Aufgabe, obwohl es durchaus kein sicheres Schwimmen für ihn war. Es galt einen vielbegehrten Wanderpreis, der erst nach dreijährigem, Jahr auf Jahr errungenem Siege in den Besitz des Klubs überging, den Preis der Stadt Charlottenburg, zum zweiten Male zu gewinnen, und Felder wußte ganz gut, daß sein großer Sieg des letzten Sonntags die Gegner nur noch hitziger gemacht hatte. War doch der Sieger des vorletzten Jahres, Biedermann vom "Ersten Charlottenburger Schwimmklub", unter seinen Gegnern und brannte darauf, ihm heute den bereits einmal erstrittenen, dann wieder verlorenen Preis seiner eigenen Stadt streitig zu machen. Er wußte also gut, daß er sich zusammenzunehmen hatte. Aber er konnte nicht so ruhig sein wie sonst. Immer wieder überflog sein Auge die Menschenmengen, die an dem abgegrenzten Ufer des Wassers langsam die Zuschauerreihen der Bänke zu füllen begannen, ohne unter ihnen das weiße Kleid mit dem roten Besatz und den großen Hut erkennen zu können. Selbst als sein Schwimmen begann, und er an den Start ging, suchte noch sein Blick in dem dichten Gewühl eine Gestalt zu unterscheiden, ohne daß es ihm gelang. War sie gekommen, wie sie versprochen? Oder nicht? Er dachte immer wieder daran, als er im Wasser lag und die ersten Längen schwamm. Und so kam es, daß er in der Mitte der vierten plötzlich dicht vor sich den Charlottenburger und neben sich einen zweiten Gegner sah, von dem er nicht einmal wußte, wer es war, so wenig hatte er die Konkurrenzen im Gedächtnis. Ein gewaltiger Schrecken durchfuhr ihn. Mit mächtigem Schlage ausholend, ließ er den neben ihm Liegenden hinter sich, erreichte Biedermann, schlug kurz vor ihm an und glaubte gesiegt zu haben. Aber während er sich ruhig an dem Balken hielt und den Abstieg suchte, sah er zu seinem grenzenlosen Erstaunen alle beide, erst den einen, dann auch den anderen, die neue Länge beginnen--und als es ihm plötzlich klar wurde, daß er sich um eine ganze Länge geirrt hatte, waren sie ihm bereits um ein paar Meter voraus und die übrigen teils schon neben ihm, teils ebenfalls am Ende dieser Länge. Da aber hatte Felder auch alles andere vergessen, und sich fest auf die Seite legend und tief Atem holend, sah und dachte er jetzt nur noch eines: sein Ziel!--Wäre die Länge 75 statt 100 Meter gewesen, es wäre ihm nie möglich geworden, die so leichtsinnig und nutzlos verlorene Zeit wieder einzubringen. So aber--und infolge seines ausgezeichneten, nie versagenden Trainings--dachte er keinen Augenblick daran, den Sieg schon verloren zu geben; und während die Richter bereits glaubten, daß er freiwillig ausgesetzt habe, sahen sie ihn jetzt wieder näher und näher kommen, dann an der Seite des zweiten, gleich darauf an der des ersten Gegners liegen und endlich in einer fast unglaublichen Anstrengung dicht vor diesem anschlagen... Von tosendem Beifall umhallt, von erregten Fragen über das Geschehene bestürmt, wurde Felder erst jetzt sein unbegreiflicher Irrtum recht klar. Der Schrecken lag ihm noch in den Gliedern und er hatte sich vollständig ausgegeben. Er winkte den Freunden ab, die sich um ihn bemühten, und mußte sich im Ankleideraum sofort setzen, so erschöpft war er. Als er wieder ruhiger atmete, schämte er sich. Das konnte ihm, ihm passieren, sich in den Längen zu irren!--Und das alles, dieses leichtsinnige Aufsspielsetzen eines wenn heute verlorenen, erst in Jahren wieder einbringbaren Sieges, dies alles nur darum, weil er nicht aufgepaßt hatte!--weil er an ein kleines Mädchen dachte, statt an seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit! Er hätte sich selbst ohrfeigen mögen, so wütend war er. Er wurde nicht ruhiger, als er Nagel vor sich sah, der ihn heftig anfuhr: --Du fängst ja schon an, es dir bequem zu machen. Du paßt wohl schon nicht mehr auf?--Na, weißt du, so leicht ist die Sache denn doch nicht, und solche Scherze solltest du einstweilen noch unterlassen!... Sonst könnten sie doch böse Folgen für uns haben! Geschwommen hast du natürlich zuletzt wie ein Schwein!-- Felder sagte kein Wort. Er saß da wie ein Schüler, der von seinem Lehrer bestraft wird. Er wurde erst ruhiger, als er sich nach dem Ankleiden--er trug heute einzig und allein die große goldene Medaille seiner Deutschland- Meisterschaft auf der Brust--unter seine Freunde mischte und die Erregung wahrnahm, die nach seinem unglaublichen Endspurt unter ihnen immer noch nachzitterte. Keiner habe auch nur einen Pfennig mehr um seinen Sieg gegeben, versicherte man ihm, als man ihn in der letzten Länge so weit hinter Biedermann liegen sah. Ob er mit Absicht zurückgeblieben sei, um zu zeigen, was er könne?--Ob ein Krampf ihn befallen habe!--Ob er sich in den Längen verzählt habe?--so bestürmten ihn die Frager von allen Seiten, bis Felder von neuem ärgerlich wurde und sie stehen ließ. Er nahm Koepke auf die Seite. Er möge doch einmal nachsehen, ob der alte Heinecke mit seiner Tochter nicht da sei, ja?--Und er möge ihm Bescheid in den Garten bringen. Koepke rannte fort wie ein getreuer Hund, aber die Antwort, die er nach einer halben Stunde brachte, war nicht geeignet, Felders Laune aufzubessern. Er habe alle Reihen durchgesehen, meldete Koepke, aber er habe von den Gesuchten nichts finden können. Jetzt war es klar, daß sie nicht gekommen war. Natürlich war der Alte schuld daran, der sie nicht gelassen hatte. Wie sollte er es jetzt anfangen, sie so bald wiederzusehen?-- Mißmutig saß er vor seinem Biere in einer Ecke des Gartens und ließ seine Freunde schwatzen, soviel sie wollten, ohne ihnen zuzuhören. Mißmutig und noch schweigsamer als sonst blieb er auch den Rest des Nachmittags. Er wartete nur noch die offizielle Bekanntgabe der Resultate ab, dann schloß er sich einem Klubfreund an, der früh nach Hause wollte, da er morgen früh an die Arbeit mußte. Das einzige, was ihn einigermaßen über seine eigene Dummheit tröstete, waren ein paar Worte, die Brüning ihm zugerufen, als er im Garten an ihm vorbeigegangen war: "Menschenskind, du kannst ja viel mehr, als wir alle wissen und du selber ahnst. Wer das fertig bringt, was du eben getan hast, der kann sich schon einen Scherz erlauben." Und er hatte ihm zugenickt und war mit seiner Mätresse fortgefahren. --Ja, Brüning hatte recht: er konnte weit mehr, als alle und er selbst es wußten. Zu Hause warf sich Felder aufs Bett und verschlief die Erinnerung dieses Unglückstages, wie er ihn nannte, in zehnstündigem Schlaf. Die ganze nächste Woche nagte es an ihm, daß sie nicht gekommen war. Im Grunde war es weniger die Sehnsucht, sie wiederzusehen, als eine gewisse Unruhe, diesem ihm so unbekannten Gefühl ein Ende zu machen, das ihn für einen Abend, statt zum Schwimmen, in der Nähe ihrer Wohnung auf und ab gehen ließ, in der Hoffnung, sie ausgehen oder heimkehren zu sehen und zu sprechen. Nachdem er fast eine Stunde vergeblich herumgelaufen war, sah er nicht sie, sondern eine ihrer Freundinnen, die er ebenfalls vom vorigen Sonntag her kannte, aus dem Hause treten, glücklicherweise allein. Er ließ sie bis zur nächsten Straßenecke vorausgehen und redete sie dann an. Die kleine Dicke stieß erst einen erstaunten Schrei aus, als sie Felder erblickte, war es dann aber gleich selbst, die seinen Fragen zuvorkam. O, Lieschen hatte sie ja in alles eingeweiht--wie gut es war, daß sie ihn sah, denn sie habe ja Nachrichten für ihn!--Er habe sie wohl zufällig gesehen?--Habe er auf Elise hier gewartet?--Nein?--Also: ob er denn noch gar nicht wisse, daß sie fort sei?--Nein?--Ach, es war ja eine ganze Geschichte. Der alte Heinecke sei wütend gewesen am Sonntag vor acht Tagen, darüber, daß sie den ganzen Nachmittag zusammengesessen hätten, und dann, daß sie im Dunklen im Wald zurückgeblieben seien. Schon auf der Rückfahrt habe er angefangen-- wenn sie schon daran dachte, würde ihr noch ganz schlecht, so geschimpft habe der Alte. An einem der nächsten Tage sei sie denn auch gleich hingegangen, um von Elise zu erfahren, was denn eigentlich vorgegangen sei. Aber die Freundin habe nur geweint--o so geweint!--und immer nur gesagt, sie möchte doch so gern am Sonntag kommen, um ihn noch einmal zu sehen. Als sie aber endlich Mut gefaßt und ihrem Vater das gesagt habe, da sei die Geschichte von neuem losgegangen, und um ihr ein Ende zu machen, sei sie noch in derselben Woche nach Posen geschickt, zu einer Tante, um dort ein Jahr zu bleiben und die Haushaltung zu erlernen. Sie habe Elise noch vor ihrer Abreise gesehen, und diese habe ihr ausdrücklich aufgetragen, doch Herrn Felder noch recht schön zu grüßen und ihm zu sagen, daß er doch nicht böse sein solle, wenn sie am Sonntag nicht kommen könne, denn es sei doch nicht möglich, daß daraus etwas würde, und so sei es denn schon das beste, wenn sie sich fügten und einander vergäßen... So schwatzte die Dicke darauf los, selig, ihre Wissenschaft loszuwerden und einen so guten Zuhörer zu haben. Denn Felder ging neben ihr her, durch die Menschenströme, und erwiderte keine Silbe. Heute abend sei sie nun oben gewesen--so ging es weiter--um zu sehen, ob noch kein Brief von Elise da sei. Ja, sie habe schon geschrieben: es gefalle ihr ganz gut in der Stadt, in der sie jetzt sei, und in vierzehn Tagen sei ein Ball im Kasino, wo auch Offiziere hinkämen, und sie habe die Tante gebeten, hingehen zu dürfen, und die Tante habe es ihr erlaubt... Der Alte sei auch schon ganz beruhigt, und er habe heute abend sogar gelacht, als er davon sprach daß seine kluge Elise schon nicht so töricht sei, zu denken, daß "daraus" etwas Ernsthaftes werden könne denn wenn er--Felder--auch ein vorzüglicher Schwimmer sei, so seien das doch nur brotlose Künste, und er könne doch sein einziges Kind nicht einem jungen Menschen versprechen, der eben erst aus der Lehre sei und keinerlei sichere Zukunft vor sich habe... Weiter kam sie nicht. Denn Felder blieb plötzlich stehen und fragte: --Hat sie Ihnen keinen Brief für mich gegeben? Nein, keinen Brief. Aber sie habe ihm doch gesagt, daß Elise ihn recht schön grüßen lasse und es so bedauere... Dann stand sie wieder allein auf der Straße unter den vorbeieilenden Menschen. Ihr Begleiter hatte ganz unverhofft seinen Hut gezogen, ganz kurz guten Abend gewünscht und war verschwunden. Nicht einmal bis nach Hause brachte er sie! Felder dachte nicht einmal daran. Was ging ihn die dumme Gans an!--Er dachte an das Mädchen, das mit ihm erst gespielt und ihn dann so leichten Herzens--mit einem flüchtigen Grüß--aufgegeben. Aber es war viel mehr das Gefühl einer erlittenen Beleidigung als das des Schmerzes, unter dem er in dieser Stunde litt. Daß man ihn, den Meisterschwimmer von Deutschland, so behandeln konnte, das war es, was ihn wurmte und einen bitteren Groll in ihm entfachte. Und mehr als alles hatte ihn das Wort des reichgewordenen Holzhändlers von der brotlosen Kunst getroffen. Er biß die Lippen aufeinander vor Wut, wenn er daran dachte, während er die Straße hinunterlief und sich rücksichtslos durch die Reihen der Fußgänger stieß. Als ob er je daran gedacht hätte, dieses Mädchen zu heiraten!--Er hatte überhaupt an nichts gedacht, dieser alte Geldprotz konnte ganz ruhig sein. Das Mädchen hatte ihm gefallen, am meisten die unverhohlene Bewunderung, die er in ihren Augen gelesen, und bei deren Blick ihm so warm geworden war. Aber ihm geschah ja ganz recht. Warum hatte er seine Leute verlassen und war an den Tisch gegangen. Was gingen ihn die Frauenzimmer an? Er hatte sich bis jetzt nicht um sie gekümmert und sie nicht entbehrt, so würde er wohl auch noch dieses dumme Ding vergessen, um dessentwillen er heute abend sein Schwimmen versäumte und fast einen Sieg verloren hätte... Er sah nach der Uhr. Aber es war schon zu spät. Und mit einer Bewegung des Ärgers schüttelte er diese ganze dumme Geschichte, die ihm schon viel zuviel Kopfzerbrechen gemacht hatte, von sich ab und schlug den Weg nach seinem Klublokal ein, wo er noch den einen oder anderen seiner Kameraden beim Biere zu finden hoffte... Von diesem Abend an dachte er nur noch zuweilen an das Mädchen, aber immer wallte von neuem das Gefühl verletzten Stolzes in ihm auf und blieb in ihm zurück--wie ein Rest von Bitterkeit allen Frauen gegenüber. Mit verstärkter Genugtuung genoß er die zahlreichen Triumphe dieses Herbstes, von denen fast jeder Sonntag ihm einen neuen einbrachte: dieser die Odermeisterschaft und mit ihr die große silberne Medaille; der nächste zum zweiten Male den großen Staatspreis in Hamburg; und bereits der übernächste den vielumstrittenen Preis im Brustschwimmen, den die vereinigten westdeutschen Schwimmklubs gaben--einen silbernen Pokal für seinen Klub, so groß und wertvoll, wie dieser wenige besaß. Bevor der Winter begann, nahm er sich dann in der Fabrik, in der er noch ein Jahr nach seiner Lehrzeit bleiben wollte, seinen ersten achttägigen Urlaub und machte das große Wettschwimmen des "I. österreichischen Amateur-Schwimmklub Wien" mit, auf dem er am ersten Tage Anton Riegler, den Meister Österreichs über die kurze Strecke, zum ersten Male schlagen durfte; und am zweiten den großen Derbypreis über die lange gegen die Teilnehmer dreier Staaten: Italien, Osterreich und Deutschland, unter ungeheurer Erwartung aller beteiligten Kreise, ersiegte. So griff der junge Meister von Deutschland mit diesen Siegen rasch und beherzt nach den Lorbeeren des Auslandes, nachdem er die seines eigenen, weiten Vaterlandes bereits sein eigen nannte. Die Fahrt nach Wien, seine erste Auslandreise, war zugleich eigentlich die erste, an der er wirklich Vergnügen empfand. Er machte sie mit Brüning und zwei anderen Mitgliedern seines Klubs, alten Freunden und lustigen Brüdern, war Gast in der herrlichen Villa eines reichen österreichischen Sportfreundes, der sich die Ehre nicht nehmen lassen wollte, den deutschen Meisterschaftsschwimmer bei sich zu beherbergen, ließ sich den ganzen Tag und die halbe Nacht durch alle Vergnügungen der schönen "Kaiserstadt an der Donau" schleppen und es sich wohl sein unter den leichtlebigen Menschen mit dem sorgenlosen Wesen und der gemütlichen Sprache. Noch nirgends hatte er sich so wohl gefühlt wie hier, und als endlich die acht Tage mit ihren Ausflügen, ihren fröhlichen Mahlzeiten, bei denen es an feschen Mädchen nie fehlte, ihren Fiakerfahrten, den Ronacherabenden und den durchjubelten Nächten zu Ende waren, da war er wie betäubt. Neben dem großen Preise für seinen Klub, dem Ehrenschilde, und den eigenen Ehren brachte er unvergeßliche Erinnerungen nach Hause, und unter ihnen war nicht die letzte die an die Liebe, die er ebenfalls in Wien erst kennen lernen sollte: die reue- und schmerzlose Liebe flüchtiger Stunden, lachend geboten und ohne Besinnen genossen, erfrischend wie ein Trank und süß wie eine vollsaftige Frucht. Berlin kam ihm nüchtern vor, und er brauchte einige Zeit, um sich wieder an seine eintönige Tagesarbeit zu gewöhnen, nach diesen Tagen, in denen er geehrt worden war wie ein König und gelebt hatte wie ein Millionär!... Der Winter verging stiller. Beim Hauptschwimmen Berlins mußte er aussetzen. Er war völlig übertrainiert.--Was schadete es? wenn er sich auch ärgerte. In seiner Brust regten sich neue Wünsche des Ehrgeizes, und heimliche Träume erzählten ihm von Siegen, die noch _nicht_ die seinen geworden waren. 11 Wieder ging ein Winter und wieder kam ein Sommer. Und wie alles in diesen letzten Jahren im Leben Franz Felders nur ein rastloses Eilen von Erfolg zu Erfolg gewesen war, so kamen mit dem nächsten Sommer jene Triumphe, die ihn auf eine Höhe führten, über die hinaus kein Weg mehr ging: neben einer Reihe anderer erster Siege fiel ihm die der Europameisterschaft zu und mehr als das--er behauptete diese Meisterschaft auf jener glorreichen Reise nach England, wo er sie in einem in der Geschichte des Schwimmens einzig dastehenden Rennen gegen die englischen und australischen Meister verfocht, die größten und berühmtesten Schwimmer der Welt. Die Europameisterschaft über die lange Strecke von eintausendfünfhundert Metern erschwamm er in Grünau auf einem Feste, das der große deutsche Verband, zu dem jetzt fast alle Schwimmvereine des Deutschen Reiches gehörten, in Verbindung mit den größten außerdeutschen Vereinen und Verbänden abhielt, zu dem Schwimmer fast aller Länder des Kontinents erschienen, und das sich zu einem Wettschwimmen gestaltete, wie es in diesem Umfang und dieser Bedeutung in Deutschland überhaupt noch nicht stattgefunden hatte. Es war nicht nur für Berlin, sondern auch für die gesamte Schwimmerwelt Deutschlands das große Ereignis des Sommers, hinter dem alle anderen Veranstaltungen weit zurücktraten. Noch nie hatte man einem Meeting mit solcher Erwartung entgegengesehen, noch nie hatte die Spannung eine solch fieberhafte Höhe erreicht... Einmütigkeit herrschte unter allen Berliner Vereinen, selbst unter denen, die sonst nie müde werden konnten, sich zu bekämpfen: galt es doch, Berlin würdig nach außenhin zu vertreten, dem alten Ruhme, seit Jahren die eigentliche Heimat der Schwimmerei zu sein, keine Schande zu machen. Daher wurden weder Mühe noch Kosten gescheut, und viele Wochen vorher begannen die Delegiertenversammlungen, um das lange Programm der Tage zu durchdenken, und bis in seine letzten Einzelheiten festzusetzen. Nie war aber auch die Beteiligung an den Meldungen eine so rege und so aufregende gewesen. Mit Ausnahme Englands waren solche aus fast allen Ländern des Kontinents, von Italien bis Schweden, von Holland bis Osterreich eingelaufen, und fast kein in den letzten Jahren genannter Name blieb unvertreten: neben den berühmtesten Schwimmern die ersten Springer, die gekröntesten Mehrkampfmeister Europas. Natürlich waren im Schwimmen alle größten Hoffnungen auf den Meister von Deutschland gesetzt. In seinen Händen lag vor allem der Ruhm Berlins, die Ehre Deutschlands. Wenn er unterlag, so unterlag Berlin; wenn er nicht siegte, so blieb die Meisterschaft von Deutschland in den Händen des Auslandes. Und Felder wußte es wohl!--Es gab keinen, der so überzeugt wie er selbst von der Wichtigkeit dieses Sieges gewesen wäre. Er fühlte, daß diesmal andere Dinge auf dem Spiele standen als sein eigener Ruhm und der seines Klubs, um die er bis jetzt gekämpft. Die Stadt, in der er geboren war, und sein ganzes Vaterland, das weite deutsche Reich, sahen auf ihn an diesem Tage. Er konnte ihnen keine Schande machen-- es _durfte_ nicht sein!-- Er trainierte mit beispielloser Ausdauer und Sorgfalt. Da nun auch das Jahr, das er nach seiner Lehrzeit noch in der Fabrik blieb, zu Ende war, wollte er mit dem Eintritt in eine neue Stelle warten, bis das große Ereignis vorüber war. Bei seiner Sparsamkeit hatte er vermocht, etwas zurückzulegen. Auch standen ihm genug Börsen wohlhabender Klubfreunde und Verehrer offen, aber Felder war viel zu stolz, um auch nur das geringste anzunehmen. Er hätte am liebsten seine Sportreisen selbst bezahlt, aber das konnte er natürlich nicht. Außerdem war sein Klub reich genug, um Opfer solcher Art nicht von seinen Mitgliedern erwarten zu brauchen. Da Felder somit völlig Herr seiner Zeit geworden war, hinderte ihn nichts in seinem Training. Die Erfahrung des letzten Winters hatte ihn klug gemacht, und er hütete sich wohl, des Guten zuviel zu tun. Er hielt sich selbst in strengster Selbstkontrolle und gönnte sich kein Vergnügen, das über die zehnte Abendstunde währte, wo er todsicher bereits im Bett lag. Einige fanden seinen Ernst oft lächerlich; er ließ sie lachen. Eine Art finsterer Entschlossenheit bemächtigte sich seiner in dieser letzten Zeit. Er wurde noch wortkarger und verschlossener, als er sonst schon war. Zugleich schien auch die schöne und sonnige Ruhe, die nach den Siegen der letzten Jahre über ihn gekommen war und mit jedem neuen Siege mehr und mehr das Schroffe und abweisend Insichgekehrte seines Wesens gemildert hatte, von ihm zu weichen. Er glich jetzt wieder mehr dem armen und unbekannten Knaben von damals, mit der unjugendlichen Stirn und dem trotzigen Munde, der nichts war und doch so viel werden wollte, als dem von aller Welt gefeierten Sieger, der seine kühnsten Träume zur Wirklichkeit geworden sah und sich in ihrer Erfüllung sonnte. Und es war ihm in der Tat so, als habe er noch nichts erreicht, als sei erst dieser Sieg über Europa allein alles Strebens wert, erst die eigentliche Krönung eines Gebäudes, zu dem alle anderen Erfolge nur als Stufen führten. Wenn er hier unterlag, er, auf dem die ungeheure Verantwortlichkeit der Repräsentation eines ganzen, großen Volkes lag, so war alles andere umsonst gewesen, so--in seinen bereits überhitzten Gedanken redete er es sich ein--so war nicht nur Berlin, sondern das ganze deutsche Reich dem Spott des mit dem Preise davonziehenden Auslandes preisgegeben. Denn daß es auch einem anderen deutschen Schwimmer glücken könne, den Preis über "die Fremden" davonzutragen, daran dachte er nicht einmal --so sehr betrachtete er schon sich selbst als den unbesiegbaren Meister seines Vaterlandes. Aber er hatte Furcht vor diesen Ausländern, vor diesen Gegnern, die er nicht kannte, von denen er sich mit den wenigsten gemessen, über deren Kräfte er nichts Bestimmtes wußte. Und ein Gefühl der Unruhe und der Angst, hier, auf seinem eigenen Boden, den er sich gewissermaßen Meter für Meter in diesen Jahren erkämpft hatte, geschlagen zu werden, ließ nicht von ihm und verscheuchte jede unbefangene Freude... Es war kein Genuß mehr, mit ihm zu verkehren und ihn üben zu sehen, und sein feierlicher Ernst, mit dem er kam und ging, steckte die andern an. Es war wie in den Tagen vor einer Schlacht... Er siegte. In den letzten Tagen wich alle Unruhe wieder von ihm. Eine große Entschlossenheit leuchtete aus seinen Augen, als müsse er siegen um jeden Preis. Er wies alles von sich ab, er wollte nichts mehr hören und sehen von dem, was alle um ihn herum beschäftigte. Was gingen ihn alle diese fremden Namen und Menschen an--ob er sie kannte oder nicht, er schwamm darum nicht besser. Er wußte nur eines: daß er siegen mußte! Und gleich als wenn die Kraft seiner Muskeln seinem Willen gehorchen müsse, so geschah, was er wollte. Er siegte. Er schlug den berühmten Holländer, den gefürchteten Österreicher, er schlug den riesigen Norweger, einen Hünen an Gestalt und Kraft, er schlug die Besten seines eigenen Vaterlandes zum zweiten und dritten Male, und er siegte über seine eigene Zeit vom Vorjahre mit mehr als drei Minuten. Ein unbeschreiblicher Tumult entstand, als er anschlug. Die Zuschauer rasten. Seine Freunde erdrückten ihn fast. Völlig Fremde umarmten ihn. Man trug ihn mehr, als er ging, durch die Reihen von Menschen, die ihre Plätze verlassen hatten. Deutschland hatte gesiegt. Und in Deutschland Berlin!--Und diese kühlen Berliner, so gern stets zu verkleinernder Kritik geneigt und so abhold jeder Gefühlsüberschwänglichkeit, waren kaum wieder zu erkennen in dem Jubel und der Freude über den Sieg ihrer Stadt. Unglaublich, dieser Felder!--hörte man allenthalben, was der will, das kann er auch. Und die Begeisterung wollte sich nicht legen... Am ruhigsten waren noch Felder selbst und--Nagel. Der sagte schon lange nichts mehr, und nur ein Händedruck zeigte, daß er mitfühlte in diesem Moment. Bei sich dachte er: Jetzt, jetzt wird es sich zeigen-- daran, wie er diesen Sieg erträgt.--Brüning rannte umher wie besessen und schrie nach Sekt, und Koepke war völlig unzurechnungsfähig. Er sprach nur noch in Hyperbeln. An Felders Ruhe, die zudem viel mehr eine äußerliche als eine innerliche war, hatte übrigens eine gewisse seelische wie körperliche Abspannung ihren Hauptgrund. Jetzt, als alles vorüber war, merkte er erst, wie er sich in den letzten Wochen innerlich verzehrt hatte--in dem einen Wunsche. In demselben Garten, in dem im vorigen Jahre seine Meisterschaftserklärung für Deutschland erfolgt war, wurde ihm nun die höchste aller Ehrungen zuteil, und unter dem achtungsvollen Schweigen vieler Hunderte nahm er den Weltmeisterpreis entgegen...! Die ganze warme Sommernacht hindurch dauerte wieder das Feiern um ihn herum. Er lebte ganz in diesen Stunden. Er dachte nicht zurück. Er dachte auch nicht in die Zukunft. Die Stimmen in ihm schwiegen. Zum erstenmal vielleicht in seinem Leben schwiegen sie ganz. Er hatte erreicht, nicht was er gewollt: nein, viel mehr als das. Sie mußten heute schweigen, diese Stimmen, denn sie wurden übertönt von dem einmütigen Jubel um ihn her. Die stillen Sterne leuchteten hernieder; der Atem der weichen Nacht spielte um die erhitzten Köpfe, und vom Wasser her kam die frische Kühle, die alle diese Menschen nicht müde werden ließ, zu sprechen, zu trinken, sich zu berauschen am Leben, an Freude und an der eigenen Kraft. Und Felder trank--trank--trank--alles, was man ihm bot: Sekt, Bier und Wein, aber am süßesten schmeckte ihm der berauschende Trank des Erfolges. Alles andere hatte er vergessen. Selbst als er inmitten seiner wildesten Bewunderer wie berauscht endlich zum Bahnhof ging, zog auch nicht ein Erinnern in seine müden und wirren Gedanken, das ihm ein weißes Kleid, einen jungen Leib oder einen warmen Mund wachgerufen hätte. Müde saß er in einer Coupéecke und während die anderen um ihn herum sich noch immer über den heutigen Tag ereiferten, schlief er ein; und den Sieger über seinen Siegen vergessend, dachten sie erst wieder an ihn und weckten ihn erst, als der Zug in die von der Morgendämmerung erhellte Halle des Görlizer Bahnhofs einfuhr... Die ersten Tageszeitungen waren bereits erschienen. Man griff nach den noch feuchten Blättern und las die kurzen Zeilen, die den Namen Franz Felders, den Triumph Berlins, den Sieg Deutschlands--in dieser Stunde der Welt verkündeten. Er selbst, der Sieger, war unfähig, sie zu lesen. Die Buchstaben flimmerten und ranzten vor seinen Augen. 12 Der Glanz dieses Tages konnte selbst durch die Reise, die Felder wenige Wochen später nach England unternahm, um dort in dem gelobten Lande des Sports seine Meisterschaft Europas gegen ihre ersten bisherigen Meister zu behaupten, kaum erhöht werden. Die Reise war nie geplant. Es war an sie nie gedacht. Sie war einfach eine natürliche Folge dieses letzten Sieges. Während die Sportzeitungen des Kontinents einig waren in der Anerkennung dieses Sieges, verhielten sich die englischen, an Zahl und Bedeutung gleich und im Ton immer überlegen, dem Siege gegenüber skeptisch und erhoben den Einwand, daß England sich nicht beteiligt habe, daß aber England in Sportsachen (wie auch in anderen Dingen) Europa sei, und daß Felder sich erst einmal mit englischen Schwimmern gemessen haben müßte, ehe ihm wirklich der nur künstlich gemachte Titel des Europameisters gebühre. Natürlich verwahrte man sich gegen diese Beschuldigung und erklärte sie für lächerlich. Man hatte die ersten Schwimmer Europas eingeladen, auch die Engländer. Sie waren nicht gekommen, weil sie eben nie kamen. Und weil sie hochmütige Narren waren, die sich einbildeten, man müsse zu ihnen kommen. Daher waren auch erst wieder manche Stimmen gegen die Reise Felders nach England. Ein Entgegenkommen dieser Art war ein Zugeständnis, eine Erniedrigung. Aber andere sagten: Man muß es ihnen zeigen!--Jetzt ist die Gelegenheit da, ihre angemaßte und nur eingebildete Überlegenheit zu brechen. Wenn wir ihnen jede Entschuldigung nehmen, so werden sie sich bequemen müssen, von ihrem Piedestal herabzusteigen, auf dem sie schon viel zu lange gestanden, dann ist Beteiligung an kontinentalen Festen oder aber endgültiger Verzicht die unausbleibliche Folge. Als dann auch der letzte Einwand: der der zu hohen Kosten dadurch kurz abgeschnitten wurde, daß sich Brüning, der sich jetzt sogar um seine Pferde nicht mehr kümmerte, erbot, sie sämtlich zu tragen und Felder nach England zu begleiten, wurde dessen Beteiligung beschlossen. Wenn Felder später an diese Reise nach England zurückdachte, so kam sie ihm vor wie ein Traum. Ein wirres Durcheinander von Bildern aller Art zog an seinem Auge vorüber. Zunächst weite Landschaften, die im Fluge an dem dahinrasenden Zuge vorbeizogen. Die dunkle Regennacht auf dem Schiffe: das Meer, das er zum ersten Male sah--ein Wasser, wie er es nie geahnt, Wogen von einer Kraft, gegen die das mächtige Schiff rang, wie sein Körper rang gegen die stille Flut seines heimatlichen Flusses, und an der menschliche Einzelkraft zerbrechen mußte wie ein Streichholz unter dem Schlage eines Hammers. Wasser, nur Wasser, dasselbe Wasser, das er kannte und liebte wie kein anderer--und doch ein ganz anderes Element. Nicht das, welches ihm vertraut war von Jugend auf, sondern eine fremde, unheimliche Kraft, mit der zu messen er sich nie getraut hätte, vor der ihm graute, da er der Schwächere, ein Nichts war vor ihr ... das war das Meer!... Elend, ganz zermalmt von der lächerlichen und doch so mächtigen Krankheit der See, atmete er erst auf, als er wieder Land unter den Füßen fühlte--er, der es sonst nur widerstrebend betrat, da er sein geliebtes Wasser verlassen mußte-- und nur mit Schaudern dachte er an das Gebrüll, die Feindseligkeit, die ganze Furchtbarkeit des fremden Wesens zurück, das ihn behandelt hatte wie den ersten besten, eine Katze, die ein Tiger geworden war, ein Freund, plötzlich verwandelt in einen Feind, der die Maske fallen gelassen und ihn niedergeworfen, um ihn zu ermorden!... Dann, noch die Angst um das--gerettete--Leben in den Gliedern, die Ode und Unermeßlichkeit der in ewigen Dunst gehüllten Stadt, vor deren Grenzenlosigkeit ihm sein Berlin wie ein Dorf erschien. Endlich, in schärfstem Kontrast dazu, die Tage der Races an dem stillen, umbuschten Ufer der Themse, wo der Himmel wieder lachte und der Frieden wieder in den versteckten weißen Häusern zuwohnen schien, wo er seinen Mut wiederfand, den Mut, sich daran zu erinnern, weshalb er hierher gekommen war, und die Kraft, zu siegen, sich wirklich den ersten Preis zu holen, weil er sich hier endlich wieder daheim fühlte, daheim im Wasser... Und die Bilder nach dem Siege. Der Jubel dieser ihm erst so ernst, so steif erschienenen Menschen, gegen den der Beifall von Grünau wie ein Murmeln war. In seinem ganzen Leben zusammen hatte er nicht so vielen Menschen die Hand geschüttelt wie an diesem Tage. Man renkte ihm fast den Arm aus. Und dann schleppte man ihn zwei Tage lang von einer Festlichkeit zur andern, durchzog in Reihen von zwanzig Cabs--in denen nur je einer sitzen durfte--wie in einer Prozession die endlosen Straßen Londons, behandelte ihn wie einen Fürsten und überschüttete ihn in beispielloser Generosität und Gastfreundschaft mit Gaben jeder Art. Am letzten Tage überreichte ihm irgend jemand, dessen Namen er nicht einmal wußte, ein Ehrengeschenk von 150 Pfund, da man gehört hatte, daß er völlig auf die Arbeit seiner Hände angewiesen war. Es wurde mit so viel Achtung und Selbstverständlichkeit angeboten, daß Felder es unmöglich ausschlagen konnte. Er war ganz gerührt. Er hatte gedacht, diese Engländer würden es gewaltig übelnehmen, wenn ein Ausländer daherkam und sie auf ihrem Grund und Boden schlug, und nun sah und fühlte er überall nichts, als die neidloseste Bewunderung und eine Verehrung, wie sie ihm in solchen Formen noch ganz unbekannt war. Und doch--war es die fremde Sprache oder was war es?--so gemütlich wie in Deutschland oder gar in Wien waren diese Tage nicht. Alles ging in ewiger Hast, von einem zum andern. Nie setzte man sich zu einem Glas Bier zusammen, um in Ruhe alles zu besprechen. Getrunken wurde zwar genug--und was nicht alles durcheinander!--aber alles im Fluge, im Stehen, und von einer Hand ging er in die andere, fast wie eine Sache, an der jeder ein Anrecht hatte. Jeder wollte ihm die Hand geschüttelt und mit ihm getrunken haben... Und immer wieder mußte er trinken und Hände schütteln, bis er am Abend so müde war, daß er die rechte nicht mehr von der linken zu unterscheiden wußte. Nein, so gemütlich wie zu Hause war es nicht, und Felder war fast froh, als es an die Heimreise ging. Eigentlich hätte er sich nicht fremd zu fühlen brauchen, denn Brüning und ein anderer Klubgenosse waren stets mit ihm, und der erstere war der beste Reisemarschall, den man sich denken konnte: überall zu Hause, in allen sprachen gerecht, praktisch und erfahren, dabei in unerschöpflich guter Laune und den schwerfälligen Felder über jede Verlegenheit spielend hinübertragend. Man kam aus dem Lachen mit ihm gar nicht heraus. Aber Felder wurde nie ganz froh. Denn ohne es sich selbst einzugestehen, fürchtete er sich vor dieser Heimreise. Wieder sollte er--und diesmal einen ganzen Tag--sich dem furchtbaren Element anvertrauen, wieder ihm machtlos und jämmerlich gegenüberstehen und sich in elender Ohnmacht vor diesem Wasser krümmen, das er sonst siegreich packte, wo immer er es traf... Er hätte sich nicht zu fürchten brauchen. Als sie nach einer letzten, halb durchjubelten und durchtrunkenen Nacht am Morgen von Queensborough abfuhren, war er so müde, daß die Freunde ihn fast aufs Schiff trugen, und kaum auf ihm angelangt, schlief er wie ein Toter bis zu dem Augenblicke, wo sie ihn in Vlissingen wieder aufweckten. Das war seine Reise nach England. Alles war herrlich, glorreich, einzig gewesen. Aber er war froh, als er wieder in Berlin war, wieder die heimatlichen Laute um sich herum vernahm und das Schreckgespenst vergaß, das ihn angegrinst hatte wie der leibhaftige Tod. Denn er hatte es sich jetzt klargemacht: das Meer war das Meer, und das Wasser war das Wasser. Aber dasselbe waren beide nicht!--Nie wollte er das Meer wiedersehen. Hätte er es gesehen, wie es in stahlblauer Pracht dalag, ruhig, verschwiegen, lockend, wie ein tiefer See, und nur leise erzitternd unter den Strahlen der Sonne, wie es liebreich und versöhnt den Sieger heimtrug auf seinem breiten Rücken, er hätte es wiedererkannt als sein Element und nicht geruht, bis er sich seiner salzigen Flut anvertraut und die Wonnen seiner Umarmung genossen. 13 Das war Franz Felders Reise nach England, von deren Triumph nun die Zeitungen berichteten: ein wirres Durcheinander von Bildern aller Art, und leuchtend nur die Erinnerung an seinen Sieg, der ihm erst durch diese Berichte recht deutlich zum Bewußtsein gebracht wurde-- den Sieg über die ersten Gegner der Welt, die von keiner Seite fürs erste mehr bestrittene Meisterschaft von Europa, die höchsten erreichbaren Auszeichnungen, und ein Ruhm, der seinen Namen von jenem Tage an für alle Zeiten unvergeßbar in die Annalen des Schwimmsportes eingrub. Er hatte erreicht, was er gewollt. Was er ersehnt, war Erfüllung geworden. Er konnte etwas, was kein anderer Mensch außer ihm konnte. Er war der Meister des Wassers. Er hatte seinem Klub zu seinem alten Ansehen verhelfen. Mehr: er hatte seinen Namen mit dem eigenen berühmt gemacht weit über die bisherigen Grenzen. Seine Schuld war beglichen. Aus dem armen Knaben war ein junger Mensch geworden, auf den alle mit Stolz und Bewunderung sahen, der keine Not mehr zu leiden brauchte, so viele waren der hilfreichen Hände, die sich ihm entgegenstreckten. Nein, es war nicht richtig, daß er erreicht, was er gewollt. Nie hatte er so hoch gewollt. Er war dahin getragen, wohin er sich nie zu sehnen gewagt. Und so hoch war er getragen, daß er sich fragen mußte: wohin nun?--So viel hatte er erreicht, daß ihm nichts mehr zu wünschen übrig blieb. Welcher Weg führte noch über die Höhe hinaus, auf der er stand?--Denn sich dort zu behaupten erschien ihm selbstverständlich. Die Welt nannte seinen Namen. Er vergaß nur zweierlei: daß die Welt, die er so nannte, nur ein unendlich kleiner Teil der wirklichen weiten Welt war--wenn es auch die Welt war, in der er lebte; und daß selbst dieser kleine Teil von Menschen, die ihn heute anstaunten und bejubelten, sich seiner vielleicht morgen noch erinnern, ihn aber ganz sicher übermorgen vergessen haben würden. Aber wie ihm seine Sache von jeher allein nur als die einzig wichtige erschienen war, so konnte er die Welt nie richtig messen, weil ihm von jeher jeder andere Maßstab gefehlt hatte. So war er allmählich dahin gekommen, sie nur unter einem einzigen Gesichtspunkt zu sehen, und jetzt folgerichtig dahin, sich als ihren Mittelpunkt zu betrachten. Das einzige, was er sich noch wirklich klar machte, war, daß er jetzt die Höhe seiner Kraft erreicht hatte. Über sie hinaus konnte er nun nicht mehr. Übertraf ihn, ja erreichte ihn nur irgendein anderer, so war es aus. Es galt daher, sich auf dieser Höhe zu erhalten. Das mußte nun sein nächstes Ziel sein. Aber es war kein Ziel mehr, das ihn reizte. Daher war er jetzt, auf der Höhe, nicht mehr so glücklich, wie er gewesen war, als er sie erklommen und jede seiner Bewegungen von tausend Augen verfolgt sah. Aber glücklich war er doch noch. Daß einmal ein Tag kommen mußte, mochte er sich auch noch so lange behaupten, an dem er herabsteigen mußte, um einem anderen Platz zu machen, das wußte er. Darüber gab es keine Täuschung. Das war so sicher wie der Tod. Aber er dachte nie an diesen Tag. Er wollte es nicht!-- Er stand oben und sah hinab auf den Weg, den er gemacht. Und aus der Tiefe zu ihm heraufklang berauschend Jubel und Neid gleich stark in seine Ohren.-- In dieser Zeit brachte jenes größte und angesehenste Sportblatt der Welt, das seinen Namen "Welt-Sport" daher nicht mit Unrecht führte, abermals sein Bild und erzählte seinen Lesern die einfache Geschichte seines Lebens und die beispiellose Geschichte seiner Erfolge. Die Biographie konnte nicht mehr sein als die einfache Wiedergabe schlichter Tatsachen. Das Bild war die Reproduktion nach einer vorzüglichen Photographie. Sie zeigte den Meister von Europa im Brustbild, bekleidet, und neben den allerhöchsten Ehrungen nur die eine kleine, schlichte--und doch vielleicht die höchste von allen--, kaum erkennbar neben den schweren Medaillen von Gold und Silber, die kleine Münze, die er sich als erste Ehre einst, vor langen Jahren, geholt, indem er das Leben eines Menschen gerettet. Das Bild selbst zeigte ein ernstes, schönes und stolzes Gesicht. Es war nicht mehr das Gesicht des Knaben. Derselbe war nur noch der seltsame Zug von Entschlossenheit um den Mund, und unverändert war noch die etwas niedrige, trotzige Stirn. Aber die Weichheit, die Rundung der Wangen und des Kinns, und vor allem der gutmütige, vertrauende Blick der blauen Augen waren verschwunden und einem frühernsten Ausdruck gewichen, so daß das Gesicht an Bedeutung gewann, was es an Liebenswürdigkeit verloren hatte. Es war das Gesicht eines Menschen geworden, der ruhig, selbstbewußt und entschlossen in steter Wachsamkeit um sich und in die Ferne blickt, damit ihm niemand zu nahe komme; der Ausdruck einer stets bereiten Abwehr, der in seiner furchtlosen Kühnheit ersetzte, was dem Gesicht an tieferer geistiger Intelligenz mangelte. In dem Augenblick der Aufnahme war er so lebendig geworden, daß er es eigentümlich belebte und interessant machte. Es war noch immer ein sympathisches Gesicht, aber das liebenswürdige, gute Gesicht des Knaben war es nicht mehr. Ein anderes Bild aber--aus derselben Zeit--, das den Meisterschwimmer in voller Figur und im Trikot zeigte und auf dem das Gesicht gegen den Körper zurücktrat, störte in keiner Linie. Es war das Bild einer wundervoll sicher und gleichmäßig entwickelten, vom Leben noch völlig unangetasteten, ganz einzigen Kraft in der Siegessicherheit ihrer Jugend. 14 Mit schweren Füßen gehen wir über die schwere Erde. Ewig ist in uns die Sehnsucht, uns über sie erheben zu können, und noch im Tode bitten wir, sie möge uns leicht sein. Denn schwer ist sie uns, wie das Leben. Aber wir können nicht fliegen. Neidvoll sehen wir den Vögeln nach, die sich in die Luft erheben, die für uns zu leicht ist. Zu schwer die Erde, zu leicht die Luft. Aber wir können schwimmen. Zwischen Himmel und Erde wiegt uns das Wasser. Halb zieht es uns hinab, halb trägt es uns hinauf. Wir sind noch nicht oben, aber wir sind nicht mehr unten. Es gibt uns das Vergessen: das Vergessen der Erde und die Ahnung, im Himmel zu sein, wenn es uns trägt. Wir haben keine Flügel, aber wir fühlen die Schwere der Erde nicht mehr. Wunderbares Element!--Warum haben wir uns aus dir, das unser aller Heimat und Wiege war, auf die Erde geflüchtet?--Warum sind wir nicht in deinen stillen, traumlosen, seligen Tiefen geblieben, statt in das Getöse, den Staub und den Kampf der Erde zu treten?--Warum keuchen wir aus schweren Lungen, statt mühelos aus leichten Kiemen zu atmen?-- Weil wir Wärme, Licht und Leben brauchten?--Ach, die Wärme der Erde ist sengende Glut, ihr Licht blendet unsere Augen, und unerträglich ist uns meisten das Leben. Dort unten war Kühle, Dämmerung und Traum. Aber wir wollten hinauf: aus den Tiefen hinauf auf die Erde. Und dann wollten wir höher und höher, von der Erde in den Himmel. Wir können es nicht. Und verzehren uns nun in der ewigen Sehnsucht, die nicht hinauf kann und nicht mehr hinab. Wunderbares Element!--Die meisten haben dich vergessen. So fremd bist du ihnen geworden, daß sie Furcht vor dir haben. Und statt sich dir anzuvertrauen, blicken sie mit angstvollen Augen auf dich und zittern vor der Berührung mit dir. Mit dir!--Mit dir, das du sie trägst und wiegst und ihnen neues Leben geben möchtest, das du ihnen den Staub aus den Augen und die Qualen vom Herzen wäschest und sie nur sinken läßt, wenn sie, dumm und ungebärdig, dich mißhandeln mit plumpen Gebärden und ungeschickten Fäusten, und, das Unmögliche heischend, in dir den Himmel suchen. Sie alle, die vergessen, daß du nicht wie ein Sklave behandelt sein willst, und es dir verdenken, wenn der Freie sich im Zorn empört und die ungebetene Last von sich abschüttelt und begräbt. Aber nicht alle haben dich vergessen. In einigen lebe noch die Sehnsucht nach dir fort, wie das Verlangen nach der Reinheit aus dem Schmutze, und wenn sie zu dir kommen, so nimmst du sie in die Arme, wiegst sie, küssest sie und vergiltst tausendfach jede ihrer noch so ungeschickten Liebkosungen. Und wer sich dir einmal so zu eigen gab, der begehrt den Himmel nicht mehr und kehrt nur auf die Erde zurück, weil ihr Staub ihn gebar und ihn nährt, der kehrt zu dir zurück, wann immer er kann, der ist dein eigen geworden für Lebenszeit... Einer von diesen wenigen war Franz Felder. Als sich kaum die kleinen, dicken Kinderfäuste von der Mutterbrustgelöst, hatte ihn das erste, selbständige Lebensverlangen nicht auf das weite Feld der Erde, sondern in die stummen Tiefen des Wassers gezogen. Und das Wasser hatte ihn empfangen wie sein eigenstes Kind, hatte ihn unterwiesen in der Kunst des Lebens, ihn verhätschelt, ihn auf alle Weise der gehaßten Erde zu entreißen versucht, die Sehnsucht nach sich auf alle Art genährt, bis er sein eigen geworden war mit Leib und Seele. So war es sein erster Spielkamerad gewesen und sein einziger geblieben. So war es sein erster Freund geworden, und in der Stunde, als er, noch fast ein Kind, bei einem allzu hastigen Sprunge sich eine tiefe Fleischwunde an einem Nagel, den er streifte, in den Arm riß, und sein Blut sich mit dem Wasser mischte, das es trank, war zwischen ihnen die Blutsbrüderschaft entstanden, die sich erst lösen konnte mit seinem Leben. Die Wunde war geheilt, das Wasser heilte sie wie von selbst, aber die Freundschaft zwischen ihnen hatte gewissermaßen ihre Weihe erhalten, und alle seine kleinen Schmerzen und Wunden trug Franz fortab zu seinem Freunde und ließ sie von ihm heilen, die offenen und die verschwiegenen. Nun war das Wasser sein Gegner geworden. Sie rangen miteinander, doch es war nicht das kindliche Spiel mehr des Augenblicks, vergessen im nächsten. Aus der knabenhaften Balgerei war ein ernsthaftes Messen der Kräfte geworden. Aber es war noch immer der achtungsvolle Kampf zweier Gegner, die sich vor und nach ihm die Hand schütteln und voneinander gehen ohne jeden Groll. Noch immer herrschte die volle Eintracht der Einigkeit zwischen ihnen. Dritter Teil 1 Franz Felder wohnte noch immer bei seinen Eltern. Zwar nicht mehr in dem dumpfen Keller, in dem er einen Teil seiner Jugend verbracht, aber doch immer noch in einer Hofwohnung, ohne viel Licht und Wärme. Er hatte sein eigenes Zimmer. Hier hingen alle seine Trophäen. Die Ehrenpreise, die in Gegenständen bestanden und nicht in den Klubbesitz übergegangen waren und dort das Vereinszimmer schmückten, hatte er zum Teil seiner Mutter überlassen, die mit ihnen die dürftige Armut der vorderen Wohnstube zu verdecken suchte. Dort stand das große Bierservice, die Fruchtschale aus Cuivre, der Rauchtisch und manches mehr--Dinge, die oft mehr dem guten Willen als dem Geschmack ihrer Stifter Ehre machten. Aber alles, was er sich sonst errungen in seinen vielen Kämpfen, hing hier in seinem eigenen kleinen Zimmer in Gestalt dorrender Lorbeerkränze und mehr oder minder künstlerisch ausgeführter Diplome an den Wänden, und von den bunten Schleifen leuchteten goldene Inschriften. Bis an die niedrige Decke hinauf hingen sie, und über dem Bette war fast schon kein Platz mehr für neue Ankömmlinge. Auch hatte Felder es längst aufgeben müssen, sich alle seine Urkunden einrahmen zu lassen. Auf der Kommode in einem großen Glaskasten--dem Geschenk eines Klubfreundes, eines Schreiners, zu Weihnachten--lagen auf roter Sammetunterlage alle seine Medaillen, goldene und silberne, große und kleine, alle an ihren Schleifen, eine ganze Sammlung von nicht geringem Wert. Sie war sein höchster Stolz!--Mit welcher Liebe nahm er nicht zu den Festen Stück für Stück heraus, um es, eins nach dem andern, auf seiner Brust zu befestigen; mit welcher Sorgfalt legte er nicht jedes einzelne an seinen rechten Platz zurück!--Bei jedem neuen Siege verrückte der neue Erwerb den Platz und die Stellung der anderen, und in immer neuer Gruppierung lagerte sich um die schweren, goldenen Rundstücke erster Siege die Schar der kleinen Trabanten, alle gleich gekannt, alle gleich geliebt. Denn an jeden knüpfte sich eine unvergeßliche Erinnerung. So viele waren ihrer geworden, daß sie längst nicht mehr auf der breiten Brust des Meisterschwimmers Platz fanden. Auf seiner letzten Photographie trug er daher nur die wichtigsten selbst--die breiten Bänder um den Hals und die großen goldenen und silbernen Münzen auf den Rockschlägen; die anderen waren auf einem Schilde reihenweise geordnet, das auf einer Art Staffelei neben ihm stand, auf die er die Hand legte. Das ganze Bild des beutebeladenen Siegers erschien ebenfalls alsbald in einer Sportzeitung und übte stellenweise auf unwissende Laien eine erheiternde Wirkung aus, die keineswegs beabsichtigt war. Auch dieses Bild prangte in der kleinen Stube, und was außer ihm an Bildern dort noch zu sehen war, es stellte immer nur ihn dar: Franz Felder. Da war er als kleiner Junge mit seiner Rettungsmedaille auf der Brust, dick und ernst; als junges Mitglied des S.-C. B. 1879 mit der hellen Mütze und dem Zeichen seines ersten Sieges auf der Brust; ein Jahr später als neugebackener Berliner Meister--noch ohne Band um den Hals, aber doch schon gekrönt mit einem ersten Preise und mit jenem seltsamen Zug um den Mund, der auf keinem der späteren Bilder mehr fehlte. Endlich all diese Bilder der späteren Jahre, aufgenommen in all den verschiedenen Städten, wo man ihn mit zum Photographen genommen oder ihn beim Fest selbst noch schnell vor den Kasten gestellt, ehe er ins Wasser ging, immer um ein paar Zoll größer, immer etwas selbstbewußter in der Haltung, je mehr die Zahl der Zeichen auf seiner Brust wuchs--da waren sie alle bis auf dies letzte, wo die Zahl der Ehren so groß geworden war, daß er ihre Last nicht mehr selbst tragen konnte... Und da waren die anderen Bilder, die Gruppenaufnahmen, auf deren keinem er fehlte: erst mehr an der Seite, fastversteckt unter den anderen, dann immer mehr in die Miete gerückt, bis seine Person die Mitte selbst bildete--diese Aufnahmen, ausgeführt zum größten Teile von irgendeinem Amateurphotographen, mehr oder minder gut gelungen, aber jede einzelne eine liebe Erinnerung an die fröhlichen Stunden eines Ausfluges, einer Veranstaltung des Klubs, erfüllt von Gelächter und immer überstrahlt von der unversiegbaren Fröhlichkeit der Jugend. Und endlich die Bilder, die ihn darstellten unter seinen Mitschwimmern bei den Konkurrenzen, Aufnahmen, wie sie in letzter Zeit bei den wichtigsten Hauptschwimmen gewöhnlich gemacht wurden, bevor man an den Start ging. Alle Namen, die überhaupt in der Schwimmerwelt in den letzten Jahren genannt wurden, waren da vertreten, alle die mehr oder minder gefährlichen Gegner, alle, mit denen er, Franz Felder, gerungen, alle, die er besiegt hatte... Er kannte sie alle und lächelte, wenn sein Blick auf ihren Gesichtern ruhte. Im Momente der Aufnahme noch ruhig, fast gleichgültig--wie verändert waren sie alle wenige Minuten später, wo es drauf und dran ging!--Wie verschieden waren diese nackten, nur mit dem Trikot bekleideten Gestalten: der eine lang und hoch aufgeschossen wie ein Turm und sehnig wie ein Pferd; der andere kurz und untersetzt mit mächtigen Schenkeln und einer phänomenalen Brustweite; der dritte ebenmäßig und schlank, in nichts fast seine Kraft verratend; und immer war es Felder, der diesem Dritten glich. Auf allen Bildern stand seine schöne, schlanke Gestalt hoch aufgerichtet und ruhig unter den anderen, und seine ernsten und mutigen Augen verliehen seinem Gesicht einen Zug von Leidenschaftlichkeit und Intelligenz, den man vergebens auf denen der anderen suchte... Schließlich füllte eine Ecke des Zimmers ein großer Stoß von Programmen und Zeitungen: die Programme der Wettschwimmen, an denen er teilgenommen, und die Zeitungen, die über sie berichtet hatten. Es war schon ein ganzer Haufen, und Felder hatte ihn sorgfältig gesammelt. Koepke hatte ihm dabei geholfen und sorgte dafür, daß nichts fehlte. So hatte er alles um sich herum in dem kleinen Raum, was seines Lebens ganzen Inhalt ausmachte, und darum fühlte er sich wohl in ihm. Seine Familie bedeutete ihm schon seit langem nur so viel, als sie ihm diese Heimat erhielt. Ihre Interessen waren nur noch in wenigen äußerlichen Dingen die seinen. Jeder ging seine eigenen Wege, und man war es beiderseits zufrieden. Wenn er seiner Mutter zur Ausschmückung des Vorderzimmers die Wertpreise überließ, so tat er es nicht nur, weil sie ihn in seinem kleinen Zimmer beengten, sondern hauptsächlich, weil er auf sie weit weniger Wert legte als auf seine Diplome und Medaillen. Er wußte nichts mit ihnen anzufangen. Ganz Herr seiner selbst, mit eigenem Schlüssel zu eigenem Eingang, kam und ging er, wie er wollte, und längst war jeder Anspruch seiner Familie an seine Zeit verstummt. Von den heranwachsenden Geschwistern zeigte keiner besondere Lust zu seinem Sport; daher interessierten sie ihn nicht. Sie gehörten für ihn zu dem "anderen Teile" der Menschheit. So war die einzige Veränderung in seinem äußeren Leben eigentlich nur die, daß er seine Stellung aufgegeben. Als seine Beteiligung an den ausländischen Konkurrenzen immer wieder die Bitte um Urlaub nötig machte, wurde der sonst ziemlich geduldige Chef unwirsch, und vor Felders englischer Reise sagte er ihm, er möge zwar ein großer Schwimmer sein, aber das könne ihm doch für seinen eigentlichen Beruf nichts nützen, und er möge lieber seinem Sport etwas weniger Zeit opfern... Wie der kleine Junge vor Jahren unter den Worten des Rektors, so bäumte sich jetzt der gefeierte Meisterschwimmer auf; aber er war zu stolz geworden, um überhaupt ein Wort der Entgegnung zu verlieren. Er ging. Wenn man nicht wußte, wer er war, so sollte man es bleiben lassen oder es lernen.--Daß er zeitweilig ohne Stellung war, kümmerte ihn wenig. Als er dann von England kam, war er durch die ihm gebotene Ehrensumme jeder augenblicklichen Not enthoben, und er arbeitete von da an nur, wenn es ihm gefiel... Größer war die innerliche Veränderung, die mit ihm vorgegangen war in diesem Jahre. Als er von England als der unangefochtene Meister Europas zurückkehrte, fiel sie zum ersten Male seinen Klubbrüdern auf. Ernst und schweigsam war er eigentlich immer gewesen, aber nie hatte sich seine große Gutmütigkeit und Freundlichkeit verleugnet. Jetzt war etwas Strenges und Hartes in sein Wesen gekommen, das ihm nicht eigen gewesen war. Wie er gegen sich war, so wurde er nun auch gegen andere. Auch seine Unbefangenheit war nicht mehr dieselbe. Er wußte, was er seiner Würde schuldig war, und war eifersüchtig auf sie. Er verlangte, daß sie respektiert werden sollte, und hatte angefangen, darauf zu achten. Leichtigkeit im Umgang hatte er nie besessen, aber die Schwerfälligkeit seines Wesens war nie so hervorgetreten wie jetzt, wo er nicht mehr im Hintergrunde stand. Bei den Sitzungen glaubte er an den Beratungen teilnehmen, in die Verhandlungen eingreifen zu müssen. Da ihm die Gabe der Rede jedoch völlig abging, so vermochte er sich nur unbeholfen auszudrücken, und man fand allgemein mit Recht, daß er besser täte, zu schweigen wie bisher. Dennoch hatte man so viel Achtung vor ihm und seinem leidenschaftlichen Ernst, seiner hingebenden Liebe zur Sache, daß man ihn geduldig anhörte. Eine bisher fremde Ungeduld hatte ihn ergriffen; er wollte immer weiter und weiter, ohne doch recht Zuwissen, wohin noch. Bei den meisten Mitgliedern des Klubs aber, besonders bei den älteren, machte sich eine gewisse Ermüdung nach so vielen großen und lauten äußeren Erfolgen geltend, und sie verlangten mit größerer Entschiedenheit nach einer einheitlichen Ausbildung des Ganzen, nach einer ruhigeren Entwickelung als bisher. Noch hatte Felder nichts an Freundschaft und Achtung verloren. Im Gegenteil: seine Siege hatten ihm begeisterte Bewunderer erworben, die mit ihm durch dick und dünn gingen und bei denen er alles galt. Aber man fand den Verkehr mit ihm nicht mehr so bequem wie früher. Man fühlte, hier mit Bedauern, dort mit Unmut, daß er nicht zufrieden war. Und so war es auch: in dieser Zeit, die nach beispiellosen Erfolgen die glücklichste und schönste seines Lebens hätte sein müssen, war er nicht glücklich. 2 Ein Winter der Ruhe sollte diesem aufgeregten Sommer voll höchster Triumphe folgen. Der Verein hatte nach langen Debatten beschlossen, Felder nur auf ein einziges Winterfest zu senden, auf dem er den Wanderpreis der Stadt Charlottenburg zum dritten Male erkämpfen mußte. Sonst sollte er ruhen, nicht trainieren und, wie Brüning lächelnd sagte, sich "in seinem eigenen Glänze sonnen". "Im nächsten Sommer würde es schon genug Arbeit geben, um das Gewonnene mit Ehren zu behaupten", fügte Nagel in seiner bedächtigen Weise hinzu. Er hatte sich übrigens verlobt und sein Amt als Schwimmwart nieder gelegt. Auch Brüning war in diesem Winter meist von Berlin fort, und so war Felder mehr als vorher auf die Gesellschaft seiner anderen Klubbrüder angewiesen. Obwohl er mit allen mehr öder minder vertraut war, verband ihn doch mit keinem eigentlich die enge Freundschaft wie mit jenen beiden, und sein Vertrauen genoß nur noch Koepke. Aber der war immer da und zählte nur mit, wenn Felder ihn gerade brauchte. Eine der stürmischen Klubsitzungen war vorüber. Es hatte irgendeine Streitigkeit mit einem anderen Vereine gegeben, bei der die Mitglieder verschieden Partei ergriffen. Obwohl Felder von der ganzen im Grunde gleichgültigen Geschichte wenig begriff und sie ihn obendrein nicht besonders interessierte, glaubte er es doch seiner Würde schuldig zu sein, ein paar Worte mitzureden, und die waren wieder schlecht genug ausgefallen. Daß man seine unklaren und unbeholfenen Auseinandersetzungen so ruhig und ohne zu lächeln hingenommen hatte, verdankte er nur seinem Ruhm... Nun ging es noch in ein Café mit zwei anderen, denn man war noch viel zu erhitzt und aufgeregt, um schlafen zu können. Es war das übrigens für Felder in letzter Zeit eine Gewohnheit geworden, an die er vor einem Jahre noch gar nicht gedacht hatte. Jetzt aber: Geld hatte er ja, und ausschlafen konnte er morgen auch... Man saß in einem Cafe in der Leipziger Straße. In Felder nagte noch der Ärger über sich selbst, und er sprach kein Wort mehr. Um so lauter waren die beiden anderen; in leidenschaftlicher Debatte suchten sie sich gegenseitig zu überzeugen. Felder hatte sich eine Zeitung geben lassen, las aber nicht, sondern sah sich bewundernd um. Er war zum ersten Male hier. Er war nicht mehr der unerfahrene Junge aus dem Osten Berlins, der nichts außer seinem Stadtteil kannte, sondern ein gereister Mann, der Vergleiche anstellen konnte. Aber dies schien ihm doch eines der schönsten Cafés zu sein, das er je gesehen hatte. Überall Gold und Marmor und Spiegel bis an die Decke hinauf; und dazu stimmte die Eleganz des Publikums, der ruhig-vornehme Ton, der hier herrschte und der selbst seine Kameraden zwang, ihre lauten Stimmen zu dämpfen; und die leise Art der Kellner, die in ihren blendendweißen Schürzen kamen und gingen, ohne daß man es merkte. Es waren nicht sehr viele Gäste außer ihnen in diesem Teil des Saales. An einem Tisch unweit von ihnen saß ein Herr mit einer Dame, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, da er ihm den Rücken zudrehte. Die Dame war sehr elegant gekleidet, saß zurückgelehnt in ihrem Stuhl, und während Felders Blick von der Betrachtung des Saales zu ihr zurückkehrte, bemerkte er, wie sie ihn ansah. Er blickte fort. Als er dann zufällig nach einer Weile wieder zu dem Tisch hinübersah, sah er noch immer ihre Augen auf sich gerichtet, so fest und unverwandt, daß jeder Irrtum ausgeschlossen war, und er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß sie ihn während dieser ganzen Weile so angesehen haben mußte. Diesmal wandte er sich noch schneller ab und betrachtete noch aufmerksamer die Decke, die Wände und die übrigen Gäste. Es war ihm unbehaglich, so angestiert zuwerden. Dann--als er nach einigen Minuten wieder hinschaute, überzeugt, dem eigentümlich festen und ruhigen Blicke nicht mehr zu begegnen, sah er die Dame unverändert wie vorher zurückgelehnt in ihrem Stuhle sitzen und ihre Augen unverwandt auf seinem Gesichte ruhen. Diesmal begegneten sich ihre Blicke: der Felders unruhig, herausfordernd- fragend, der der Fremden unverändert ruhig, überlegen, fast gleichgültig, als sei es selbstverständlich, daß sie ihn in dieser Weise mustere; und ohne die geringste Veränderung, wie ihr Blick, blieb auch der Ausdruck ihrer Züge. Er wurde unruhig. Jetzt wußte er, daß er sich nicht täuschen konnte. Er ergriff eine Zeitung, starrte verständnislos auf eine politische Karikatur der "Lustigen Blätter" und war entschlössen, nicht mehr aufzusehen. Was sollte denn das eigentlich heißen?-- Warum starrte die ihn denn so an?-- So viel hatte er gesehen, daß sie außergewöhnlich schön war und kostbar gekleidet. Sie trug ein über und über besticktes graues Seidenkleid und einen Hut mit großen Federn von gleicher Farbe. Auch glitzerte es überall von Steinen an ihr--an ihren Händen, in ihren Ohren, auf ihrer Brust. Er wollte nicht aufsehen, um nicht nochmals ihrem Blick zu begegnen. Als er aber dann, wie neugierig, sich nach den anderen Tischen umsah und seine Augen ebenfalls scheinbar gleichgültig über den ihren schweifen ließ, sah er, wie sie sich zur Seite gewandt hatte, da ihr Begleiter mit ihr sprach und sie sich ihm zuwenden mußte, um zu antworten. Nun konnte er der Versuchung nicht widerstehen, sie zu betrachten, und er sah, daß sie noch weit schöner war, als er dachte. Er hatte noch nie ein so schmales, feines Gesicht gesehen, solche zarte Haut, die weiß aussah wie gepudert, und solch eigentümlich rote, schön geschwungene Lippen, dabei so viel Selbstbewußtsein und zugleich Gleichgültigkeit in der aufrechten Haltung des Körpers... Er konnte nicht fortsehen, so seltsam schön erschien sie ihm, und er ließ sie nicht mehr aus den Augen, wie sie sich jetzt etwas vornüberbeugte, um irgendeine Stelle in der Zeitung besser zu sehen, auf die ihr Begleiter sie hinwies. Als wenn sie fühle, daß er sie anblickte, sah sie plötzlich wieder auf, und wieder begegnete dem seinen der Blick dieser großen, dunklen, von langen, schwarzen Wimpern beschatteten Augen, die wieder ruhig und prüfend, ohne Frage, aber mit durchaus unverhohlenem Interesse auf ihm ruhten. Diesmal stieg eine jähe Röte in sein Gesicht, und mit einer hastigen Bewegung, die nur zu deutlich zeigte, wie sehr er sich erraten sah, wandte er sich ab. Er war verlegen und ärgerte sich. Er wäre am liebsten fortgegangen, wenn es möglich gewesen wäre ohne die anderen, die unbekümmert weiter schwatzten. Von jetzt an schaute er nur von Zeit zu Zeit auf, und jedesmal begegnete er dem Blicke dieser Augen, der immer größer und immer willensfester zu werden schien, als wollte er sagen: ich erkenne dich... Eine schwüle Beklemmung stieg in dem jungen Manne empor, wie er sie noch nie empfunden. Er fühlte, daß diese Frau etwas von ihm wollte.-- Aber was?--Wer war sie?--War der Herr mit den ergrauten Haaren ihr Mann?--Ihr Freund?--War sie eine anständige Frau oder war sie--etwas anderes? Eine anständige Frau war sie sicherlich nicht. Eine anständige Frau sah einen fremden Mann nicht so an, aber eine öffentliche noch weniger. Die wäre übrigens gar nicht in dieses Café eingelassen worden. Einerlei wer sie war. Er war er, Franz Felder, und er wußte, wer er war, und er ließ sich nicht so ansehen. Mit einer fast verächtlich- ausdrucksvollen Gebärde kehrte er sich ab und dem Gespräch seiner Freunde zu. Man sprach jetzt laut und ohne Rücksicht auf die Ruhe des Cafés vom nächsten Schwimmfest. Felder hatte sich fest vorgenommen, überhaupt nicht mehr nach dem Nachbartische hinzusehen. Mochte die ihn doch anstarren, soviel sie wollte!--Er konnte es ihr nicht verbieten, aber er wollte ihr schon zeigen, was er von ihrem Benehmen dachte! Aber dann, nach einer Weile, während der er vergebens versuchte, sich am Gespräch zu beteiligen, vernahm er ein Geräusch (ein Kellner hatte einen Löffel fallen lassen), das ihn auf und nach der Seite sehen ließ, und unwillkürlich streifte sein Blick wieder den ihren wie vorher. Und jetzt sah er, daß sich der Ausdruck ihrer unbeweglichen Züge geändert hatte: es war ihm, als höbe sich die Brust unter der grauen Seide, als hätte sich der festgeschlossene rote Mund ein wenig geöffnet, nur so weit, daß er die weißen Zähne durchschimmern ließ, und als sei in diese dunklen, kalten Augen das Feuer eines heimlichen Begehrens getreten, das nach ihm verlangte... Und jetzt war ihm nicht mehr ungemütlich, sondern plötzlich unheimlich zumute. Wieder sah er fort und wieder auf: abermals hatte der Ausdruck dieses fremden, rätselvollen Gesichtes gewechselt und an die Stelle drohenden Begehrens war der triumphierender Freude getreten, der zu sagen schien: Aha, jetzt fürchtest du mich schon! Er konnte es nicht mehr ertragen. Schon wollte er das Gespräch seiner Genossen unterbrechen und sagen, er sei müde und wolle fort, als er sah, wie sich der alte Herr halb erhob und sich fragend an seine Begleiterin wandte, die bejahend den Kopf neigte. Er blieb sitzen. Jetzt würde es kommen. Beim Hinausgehen würde er irgendein Zeichen von ihr empfangen, und an ihm würde er erfahren, was sie von ihm wollte. Aber nichts von dem allen geschah. Ruhig stand sie auf, ließ sich den kostbaren Pelz um die Schultern legen, und ging hochaufgerichtet und mit leichten Schritten, und ohne ihn anzusehen, an ihm vorüber: Felder sah auf, aber ihr Blick ging gleichgültig über ihn weg, und nur leise streifte seinen Stuhl die Schleppe ihres Kleides, während der starke Duft eines seltsamen Parfüms von ihr ausging. Hinter ihr her der alte Herr, mager und straff, der Typus eines hochmütigen, aristokratischen Roués, mit seinen kalten und leeren Zügen, unnahbarer noch als sie... Felder blieb ganz verdutzt sitzen. Er hatte so bestimmt irgend etwas erwartet--was, wußte er selbst nicht, aber irgend etwas Ungewöhnliches. Aber so: erst starrte sie ihn eine halbe Stunde lang mit ihren schwarzen Augen an, wie ein Wundertier, sich förmlich an ihm festsaugend, und dann ging sie fort und sah über ihn hinweg, als sei er Luft--Luft--Luft!-- Unbewußt war seine Eitelkeit geschmeichelt, und nun fühlte er sich plötzlich in ihr verletzt. Sie saßen noch lange im Cafe, die drei, aber Felder war noch mißgestimmter als vorher und fast grob. In der Nacht, unter den heißen und schweren Kissen, träumte er von ihr: von ihrer schlanken Gestalt in dem grauen Seidenkleide, ihren drohenden Augen und dem seltsamen Rot ihrer gemalten Lippen... Und noch nach Tagen glaubte er zuweilen den Duft zu spüren, der von ihr ausgeströmt war, als sie an ihm vorbeischritt, diesen starken Duft eines ihm unbekannten Parfüms. Dann hatte er bald die "ganze blödsinnige Geschichte" vergessen, denn ein anderer Gedanke begann ihn zu beherrschen ganz--und gar... 3 In dieser Zeit, die die glücklichste seines Lebens hätte sein müssen, war Franz Felder nicht glücklich. Alles, was er je in seinen kühnsten Träumen kaum zu hoffen gewagt, hatte er erreicht; alle Siege, die überhaupt erlangbar waren, waren ihm zugefallen; was keinem je zuteil geworden: höchste Ehren in so frühen Jahren, er besaß sie... Dennoch war er nicht zufrieden. Alles konnte er ertragen, nur nicht diese Ruhe nach solchen Siegen. Ihn dürstete nach neuen und größeren Erfolgen, gleich dem Trinker, dessen Durst sich mit jedem neuen Glase vermehrt--er begehrte etwas Neues, noch nie Dagewesenes... Größere Siege gab es nicht, so konnten es nur außergewöhnlichere sein. Eine Idee tauchte wieder in ihm auf, die ihn schon oft beschäftigt, und ließ ihn nicht mehr los. Er war Schwimmer, ausschließlich Schwimmer. Als Schwimmer war er vom besten seines Klubs allmählich der Meister Europas geworden. Ein ausgezeichneter Taucher war er schon als kleiner Kerl gewesen, und er wühlte immer noch zuweilen unter dem Wasser herum, um die Kraft seiner Lungen zu erproben und aus reiner Lust. Aber an den Konkurrenzen der Teller und Hechttauchen hatte er nie teilgenommen. Sie waren ihm immer als etwas Minderwertiges vorgekommen. Im Springen dagegen hatte er es über den glatten und schönen Kopfsprung, mit dem er stets ins Wasser ging, nicht hinausgebracht. Andere Sprünge hatte er früher wohl gekonnt und noch manchmal versucht--aber immer nur ungern, und dann war er regelmäßig so aufgeschlagen wie alle anderen, die sie nicht ständig übten. Endlich waren sie gänzlich gegen sein Schwimmtraining zurückgetreten und über ihm in Vergessenheit geraten. Er konnte keinen einzigen mehr ordentlich. Daher hatte er sich an den Mehrkämpfen im Schwimmen, Springen und Tauchen, aus denen der als Sieger hervorgeht, der die größte Anzahl von Punkten in allen drei Arten aufweist, nie beteiligt und nie daran denken können, es zu tun. Aber nie hatte er in den letzten beiden Jahren seiner beispiellosen Triumphe ein Gefühl des Mißmuts ganz unterdrücken können, wenn er sehen mußte, wie bei den Preisverteilungen noch andere als er zu Meistern ernannt wurden, zu Meistern im Mehrkampf und Springen, und gleiche, wenn auch nie so beispiellose Ehren genossen wie er. Besonders stark war dieses Gefühl--mehr ein Gefühl der Unbefriedigung, kein Gefühl des Neides, denn kleinlich war er nicht--im letzten Jahre geworden, wo es dem Verwöhnten schwerer und schwerer wurde, mit anderen zu teilen. Sein Ehrgeiz ließ den Gedanken nicht ruhen und schürte ihn immer von neuem: sollte es denn nicht möglich sein, auch dieses Gebiet für sich zu erobern, auf ihm gleiche oder doch ähnliche Triumphe zu erlangen wie auf seinem eigensten, und wenigstens einzelne Mehrkampfpreise an sich zu reißen?--Im Tauchen würde es ihm leicht gelingen, sich durch einfache Übung ohne große Anstrengung so lange "unter Wasser zu halten" wie die anderen; Übung und eine normale Lunge genügten hier vollkommen. Und erst die seine!-- Aber im Springen?!--Er hatte bei seiner Einseitigkeit die anderen Sports so gänzlich vernachlässigt, z. B. nie geturnt; er war kein Knabe mehr, dessen Muskeln noch weich und nachgiebig waren gegenüber allen Anforderungen, sich auszubilden,--und hier kam nicht nur Ausdauer und Übung in Betracht, sondern jene spezifische Begabung, die ihn gerade auf seinem Gebiet zu dem einzigen Schwimmer gemacht hatte.-- Die Frage war: Konnte ein erster Schwimmer überhaupt ein erster Springer sein, und umgekehrt? Die Erfahrung sprach dagegen. Es gab erstklassige Schwimmer, die hervorragend gute Springer waren, und umgekehrt. Die einen oder anderen waren es gewöhnlich, die sich daher die ersten Mehrkampfpreise holten, indem sie durch die eine Fertigkeit ersetzten, was ihnen an der anderen fehlte, und nur selten verscherzte sich einer von ihnen durch schlechtes Tauchen den Preis. Aber daß sich ein und derselbe auf einem Feste an zwei ersten Einzelkonkurrenzen auf verschiedenen Gebieten beteiligt hatte, das war wohl noch fast nie dagewesen und hätte jedenfalls mit der sicheren Niederlage auf dem einen der beiden Gebiete geendet. Daher fielen die Preise hierhin und dorthin, und der Klub genoß die höchste Ehre, dem es gelungen war, nicht nur erste Schwimmer, sondern auch erste Springer heranzubilden. So besaß der S.-C. B. 1879 neben dem Meisterschwimmer Felder den unübertrefflichen Springer Grafenberger. Felder wußte dies alles ganz wohl. Aber er kam von seinem Gedanken nicht mehr los. Es nutzte alles nichts. Er ertrug es schon nicht länger, andere neben sich als ebenbürtige Meister gleich gefeiert zu sehen--einmal, einmal mußte er das Hochgefühl ganz auskosten, allein, ganz allein unter dem Jubel des Tages dahin zu schreiten--: keinen neben, alle hinter sich... Wenigstens mußte er versuchen, ob es ihm nicht gelang, durchzusetzen, was er plante. Mit der alten, zähen Entschlossenheit, der ganzen Verbissenheit in sein neues Ziel, ging er auch diesmal ans Werk. Er wollte vorab nichts verlauten lassen. Einmal, weil er nicht ausgelacht werden wollte, wenn die Sache mißlang; dann aber, weil er ganz gut wußte, daß mit seinen beispiellosen Erfolgen ihm überall Neider entstanden waren, die es sicher an gehässigen Bemerkungen nicht fehlen lassen würden, wenn sie sahen, wie er, immer noch nicht zufrieden, weiter und weiter die Hände nach den Lorbeeren anderer streckte... Überhaupt war es ganz ausgeschlossen, daß er sich unter aller Augen plötzlich im Springen versuchte. Er konnte ja nicht mehr im Bade erscheinen, ohne daß man ihm auf Schritt und Tritt nachging und jede seiner Bewegungen verfolgte. Beim Schwimmen störte es ihn nicht, und er hatte sich längst an die leise geflüsterten Worte und die neugierigen Blicke gewöhnt. Aber bei dem, was er jetzt vorhatte, hätte es jeden Versuch von vornherein vereitelt. Er mußte einen Ort ausfindig machen, an dem er ungestört seine neuen Übungen anstellen und sich so weit ausbilden konnte, um mit einiger Sicherheit vor seinen Klub an den Übungsabenden hintreten zu können. Das war nicht einmal schwer. Berlin, so arm an Winterschwimmhallen, besaß neben seinen am meisten besuchten Volksbadeanstalten und den ein, zwei großen privaten Hallen in dem einen oder anderen Stadtteil noch ein oder zwei Bassins, unbrauchbar für die Schwimmfeste ihrer Kleinheit wegen, gekannt nur von wenigen alten Stammgästen und gehalten von ihren Besitzern nur als unfruchtbarer Anhang zu ihren Etablissements, weil sie nun einmal da waren. Ein solches Bad lag ganz im Süden der Stadt, jenseits des Halleschen Tores--verlassen von aller Welt und als Schwimmbad seit langer Zeit vergessen und kaum mehr genannt. Ob es noch existierte, wußte selbst Felder nicht, der hier vor Jahren einmal gewesen war, um der kleinen Veranstaltung irgendeines längst eingegangenen Klubs beizuwohnen. Das war, was Felder jetzt brauchte, und eines Abends unternahm er eine heimliche Orientierungsreise nach dem Süden der Stadt. Er fand ein dunkles, tiefes Loch, gefüllt mit einer schwarzen, kalten Flüssigkeit, völlig ungeeignet zum Schwimmen, da Felder es mit einem einzigen seiner Stöße in die Länge und einem halben in die Breite durchmaß, aber von genügender Tiefe, selbst für die geraden Sprünge, und leidlich erhaltenen Sprungbrettern in zweifach verschiedener Höhe. Einmal in der Woche übte hier der Schwimmklub einer Schule, der mit sportlichen Kreisen in keiner Berührung stand; sonst badeten nur morgens ganz früh und abends nach der Arbeit ein paar Täglichschwimmer hier, die es "nicht lassen konnten", wie der verschlafene Bademeister meinte, der Felder nicht einmal dem Namen nach kannte. Dieser entschloß sich sogleich, nachdem er einige Versuchssprünge gemacht hatte. Hier würde ihn sicher niemand finden. Wenn er allwöchentlich einmal auf den Übungsabenden (wenn hier die Lehrer mit ihren Schülern hierherkamen) und ein anderes Mal auf den Sitzungen seines Klubs erschien, wenn er zudem nach wie vor die Sonntage mit seinen Leuten verbrachte, so konnte es nicht weiter auffallen, daß er regelmäßig die vier anderen Abende fortblieb. Außerdem erwartete jetzt auch kein Mensch mehr von ihm, daß er wie bisher weitertrainierte. Und schließlich war er doch eben auch der berühmte Franz Felder, der tun und lassen konnte, was er wollte, und den so leicht keiner mehr danach fragen durfte. Zustatten kam ihm, daß die Arbeitszeit in der großen mechanischen Werkstätte, in der er jetzt wieder eine Stelle angenommen hatte, nur bis sechs Uhr dauerte. Wenn er auf den Weg eine Stunde rechnete, so konnte er um sieben am Halleschen Tor sein. Die Kasse des Bades schloß um acht; das Bad selbst um neun Uhr. Es blieben ihm also zwei Stunden--viel zuviel für jeden anderen, noch zu wenig für ihn und für das, was er vorhatte. Vom Entschluß zur Ausführung war für Felder nur ein Schritt. Die ganze Hartnäckigkeit seines Willens zeigte sich jetzt von neuem. Viermal die Woche, jeden Montag und Dienstag, jeden Donnerstag und Freitag, machte er nach der Arbeit den weiten Weg nach dem Süden, übte frisch, als wenn er nicht von der Arbeit, sondern aus dem Bette käme, seine Sprünge, von den einfachsten allmählich zu den schwierigeren übergehend, und endlich die schwierigsten--treu, unermüdlich, täglich von neuem die Kraft seines Körpers in dem fremden und ungewohnten Kampfe erprobend, und nie beruhigt über seine Fortschritte, nie zufrieden... Wie er früher geschwommen und nur geschwommen hatte, so sprang und sprang er jetzt. Alles Gelernte durchging er jeden Abend von neuem, um sicher zu sein, nichts gegen gestern eingebüßt zu haben, und täglich ging er einen Schritt weiter. Zunächst wiederholte er die einfachen Sprünge, die er als kleiner Knabe dort draußen in dem Kasten an der Spree halb im Spiel gelernt, aber fast vergessen hatte, und sah mit Freude, daß er sie noch konnte: das einfache Abfallen und den "Abrenner" sowie die leichtesten Formen der Kopfsprünge, in ihren verschiedenen Arm- und Beinhaltungen, das Anlegen, Anziehen, Strecken, Spreizen derselben. Dann diese selben Kopfsprünge in ihren verschiedenen Drehungen, der viertel, halben und ganzen Drehung um die Längsachse, vorwärts und rückwärts, und wiederum dieselben mit Anlegen oder Hochheben der Arme, alle diese sogenannten "Schrauben". Alsdann die Hechtsprünge, die Bohrer, bei denen man ins Wasser schoß wie ein Pfeil, und auch diese in ihren mehrfachen Armhaltungen und Drehungen beim Niedergehen. Endlich die "Schlußsprünge", diese schwierigen Sprünge mit ihren wunderbaren Drehungen um die Breitenachse, die bis zur eineinhalb-, ja zweieinhalbfachen Drehung des ganzen Körpers gingen, die so berühmten "Saltos", bei denen der Springer sich in der Luft um sich selbst dreht wie ein Ball, Sprünge, die in ihrer Vollendung von ungeheurer Schwierigkeit sind und daher selten mit der höchsten Nummer sechs gewertet werden konnten, da sie nur dem Geübtesten gelangen. Ganz zuletzt noch die Spreizsprünge, jene sogenannten Auerbachsprünge, bei denen das regelrechte Spreizen der Beine die Hauptsache war... Daneben aber galt es einen großen Teil aller dieser unendlich verschiedenfachen Sprünge zu üben in ihren wiederum so verschiedenen Ansätzen: aus dem Stand oder mit Anlauf; und sodann die aus dem Stand in ihrer beim Abspringen angenommenen Haltung: vorwärts, rückwärts, seitwärts. Endlich aber sie noch zu beherrschen von verschiedener Sprungbretthöhe aus, der niedrigen von einem, der mittleren von drei, der hohen von sechs Metern aus. Selbstverständlich war es ein Unding, alle diese Sprünge in allen ihren verschiedenen Ausführungsarten sich zu eigen zu machen. Kein Mensch konnte das, und Felder dachte auch gar nicht daran: Worauf es ihm ankam, war nur, sich einige der schwierigen, und wenn möglich die schwierigsten, bis zur Sicherheit einzulernen, vor allem die, welche bei den Konkurrenzen gewöhnlich verlangt wurden; und sich sodann einige andere ebenfalls bis zur Vollendung zu eigen zu machen, um sie als selbstgewählte Sprünge, im "Kürspringen", ins Treffen zu führen. Vorerst durfte er an die Erreichung dieses Zieles noch gar nicht denken und mußte froh sein, wenn er die einfachen Sprünge, die, "welche jeder konnte", lernte. Denn eigentlich konnte er noch gar nichts und war sich auch ganz klar darüber. So übte er einstweilen und war froh, es so ungestört und unter den Augen seiner eigenen Kritik tun zu können. Denn seine Berechnung täuschte ihn nicht. Er konnte ruhig sein, daß ihn hier niemand suchte und fand. Die Schwimmklubs hatten sämtlich ihre bestimmten Abende in den anderen Bädern, an die sich ihre Mitglieder hielten, und sonst waren es immer dieselben paar Gäste, die den alten mürrisch-schweigsamen Bademeister abends aus seinem Winterschlaf für eine Weile aufstörten: ein fanatischer Naturmensch, der durch den tiefsten Schnee in bloßen Sandalen herkam, um sich unter der kältesten Dusche zu erwärmen; ein uralter Doktor, Medizinalrat usw., der auf den Schlag der Stunde kam, sich geräuschlos entkleidete und seinen dürren Körper für genau zwei Minuten am untersten Ende des Bassins ins Wasser tauchte, wobei er sich krampfhaft an der Leiter festklammerte; ein kleiner Judenjunge, der auf den Befehl seiner Eltern kam, die es offenbar für sehr gesund hielten, wenn er sich nach langem Zaudern endlich entschloß, ins Wasser zu springen, einmal herumzuschwimmen und dann eine halbe Stunde lang noch bebend vor Angst und zitternd vor Frost mit bloßen Füßen auf dem kalten Steinboden zu stehen und mit großen, staunenden Augen Felders Sprüngen zuzusehen; und dann noch einer oder zwei von denen, die es "nicht lassen konnten"--keine großen Schwimmer, aber passionierte Wasserratten, denen diese köstliche Erfrischung einer täglichen Hautreizung Bedürfnis geworden war. Keiner von ihnen allen wußte, wer Felder war und was ihn hierher brachte. Er trug ein einfaches Trikot und eine Badehose ohne jedes Abzeichen, die er sich zu diesem Zwecke gekauft hatte--das erstemal seit für ihn undenkbarer Zeit, daß er die blauweißen Farben seines Klubs nicht führte... Ein seltsames Bild, dieses jeden Abend: der nicht große, aber hohe Raum halb im Dunkeln, nur schlecht beleuchtet von ein paar flackernden Gasflammen, und unregelmäßig, oft kaum erwärmt. Das schwarze, stille Wasserbecken, eine hohle Tiefe ohne Grund. Hier und da hinter den verhängten Nischen ein vereinzelter Badegast, der sich langsam auszieht, langsam ins Wasser geht und langsam wieder heraus. Kein Rufen und Lärmen wie sonst in allen Bädern--kaum ein Gespräch; ein eisiges, unheimliches Schweigen, einzig unterbrochen zuweilen durch das plötzliche Schnauben des Dampfes, der an einer fehlerhaften Stelle der Wärmeröhren pfeifend herausschießt, um wie eine Sommerwolke schnell zu verfliegen. Dann kommt Felder, greift rasch mit einem kurzangebundenen "Guten Abend" nach seinen Sachen, steigt zur Galerie hinauf, wo er sich schnell entkleidet--und nach wenigen Minuten bereits hallt und rauscht das Wasser unter seinen ersten Sprüngen. Da gibt es nicht erst lange Abkühlung und Abreibung und bedächtiges Überlegen: ein einziges Emporstrecken der Arme, ein Dehnen des dampfenden Körpers, dann ein festes Aufsetzen, und er ist in seinem Element. Und nun bebt und dröhnt für die nächste Stunde das Sprungbrett wieder und wieder unter den unermüdlichen Füßen, und das schlafende Wasser gurgelt und grollt leise bei den Sprüngen, die gelingen, wenn der Körper es wie ein Pfeil durchschneidet; und es knallt und spritzt hoch auf zu den Wänden bei denen, die mißlingen und die ihn flach aufschlagen lassen, wie ein Brett... und es hat nicht Zeit mehr sich zu beruhigen, bis Felder endlich atemlos, rot wie ein Krebs und völlig erschöpft--eine Pause machen muß, in der er in irgendeiner Ecke auf einer Bank liegt und, die Hände unter dem Kopf gefaltet, zu dem schmutzigen Glasdach emporsieht... Kaum wieder zu Atem gekommen, beginnt er das Spiel von neuem und von neuem: immer schwieriger werden seine Sprünge, immer intensiver die Anspannung seiner Muskeln und immer peinlich-genauer ihre Ausführung, und wieder gellt und schreit das Wasser unter den Schlägen dieser Hände, und grollt und schäumt und murrt noch, wenn Felder schon wieder auf dem Brett steht, während der kleine Junge zitternd vor Kälte mit seinen immer erschrockenen Augen den rätselhaften Springer verfolgt und in der Ecke fauchend der Dampf für eine Minute aus der zerplatzten Röhre schießt... Fast ein Vierteljahr--von Weihnachten bis zum beginnenden Frühjahr-- dauerte dieses neue zähe und seltsame Training: in den ersten Wochen sprang Felder stets allein, denn es kam ihm zunächst darauf an, seine Glieder für die neuen Anforderungen gelenkig zu machen. Dann, als er von den einfacheren zu den schwierigeren Sprüngen übergehen mußte und sie nicht mehr selbst kontrollieren konnte, brauchte er jemand, der sie wenigstens einigermaßen zu bewerten vermochte, und er vertraute sich nach Abnahme eines heiligen Ehrenwortes seinem getreuen Koepke an. Der hatte sich so lange im Schwimmerleben umhergetrieben, daß er wenigstens etwas von der Sache verstand; und daß er Feuer und Flamme für die neue Idee war, verstand sich von selbst--erwartete er doch immer das Unmöglichste von seinem großen, genialen Freunde. Von da an mußte Koepke fast alle Abende dabeistehen, wenn Felder sprang, und er tat es mit Wonne. Vorher machte Felder indessen noch eine neue Bekanntschaft. 4 Er hatte wieder ein Ziel und war wieder glücklich. Was ihn eine Zeitlang in seinen Strudel gezogen, der Rausch seines Ruhmes und fremder, lauter Vergnügungen, war in dieser Zeit fast von ihm vergessen und lag unbegehrt hinter ihm. Zuweilen vergaß er ganz, wer er war, und im Klub fand man wieder, daß er den "Meisterschwimmer" nicht mehr so stark herauskehre wie nach seiner Rückkehr von England. So stellte sich bald das alte, trauliche Verhältnis mit seinen Genossen wieder her und die festlichen Veranstaltungen des Winters strahlten auch auf Felder ihre alte Fröhlichkeit aus. Daß er nicht mehr ganz so oft wie früher unter "den Seinen" erschien, fiel nicht weiter auf; selten, daß er gefragt wurde und eine ausweichende Antwort geben mußte. Noch hatte er sein Geheimnis auch an Koepke nicht verraten. Abend für Abend machte er nach der Arbeit den weiten Weg vom Norden der Stadt nach dem Süden, fuhr erst eine Zehnpfennigstrecke mit der Pferdebahn und ging dann den Rest des Weges mit seinen festen elastischen Schritten die breite Lindenstraße hinunter, an den glänzenden Läden und den Stätten der Erholung und Freude, wie an seinem eigenen Klublokal vorüber, seiner neuen Arbeit zu--mit dem Ausdrucke innerer Entschlossenheit in den Zügen, als ginge es schon zu neuen Siegen. Mit dem Streben nach seinem neuen Ziel war er wieder ganz zu der Einfachheit der Gewohnheiten seiner bedürfnislosen Jugend zurückgekehrt. Nie hatte er seine Tagesarbeit unverdrossener und stiller getan und nie waren seine Gedanken weniger bei äußerlichen Vergnügungen und Zerstreuungen gewesen als jetzt. Wie früher trug er sein Abendbrot, ein paar belegte Stullen, in der Tasche mit sich und verzehrte es beim Ankleiden oder auf dem Heimweg aus der Hand. Das war das einfachste und das billigste und es nahm ihm nichts von seiner Zeit.-- Obwohl er zu seinen heimlichen Übungen kam und ging, ohne sich umzusehen, machte sich eine Bekanntschaft schon in den ersten Wochen wie von selbst. Unter den paar abendlichen Stammgästen erschien auch ziemlich regelmäßig ein Arzt, Dr. König, wie ihn der Bademeister nannte. Ein guter Schwimmer, nahm er sein Bad der Gesundheit wegen, ließ sich Zeit beim An- und Auskleiden, und nachdem man sich erst guten Abend gewünscht und der Doktor des öfteren stillschweigend den rätselhaften Sprüngen Felders zugesehen hatte, wechselten sich die ersten Worte ohne viel beiderseitiges Zutun. Dann traf es sich das eine Mal, daß man zusammen hinausging, und ein anderes Mal, daß der Doktor Felder traf, wie er in dem dunklen Torweg des Hauses seine Stulle aus der Tasche zog und kräftig hineinbiß. Nach ein paar Tagen stellte es sich heraus, daß der Doktor wußte, wer Felder war, da er die Sportzeitschriften las und ihn nach den Bildern erkannt hatte, worauf Felder nichts weiter übrig blieb, als ihm den Grund seiner Besuche in diesem entlegenen Bade zu erklären und die Bitte auszusprechen, sie einstweilen geheimzuhalten. Gewiß hätte Felder nach seiner gewohnten, unverändert mißtrauischen und zurückhaltenden Art diese unfreiwillige Bekanntschaft von vornherein abgeschnitten, wenn ihm die einfache und freundliche Art des Doktors nicht sympathisch gewesen wäre. Dazu kam das große Interesse, das dieser an seinem Plane faßte. Kurz, nachdem ein Wort das andere gegeben und zu einer stetigen Unterhaltung geworden war, war es nur natürlich, daß man ein paarmal das Stück des gemeinschaftlichen Heimweges zusammen ging und gelegentlich noch irgendwo ein Glas Bier trank. So konnte es auch Felder nicht abschlagen, als ihn der Doktor in seiner liebenswürdigen Weise eines Abends bat, sein Abendessen in einem Restaurant zu teilen (von der Stulle war nie die Rede gewesen), und ebensowenig mehr nein sagen, als aus dieser Einladung ein nächstes Mal die zu einer Tasse Tee in des Doktors eigener Wohnung wurde. Diese Einladung wiederholte sich dann im Laufe des Frühjahres noch einige Male. Zum ersten Male tat Felder einen Blick in die ihm völlig fremde Welt einer höheren Lebensführung, erfüllt von geistigen Interessen und gelenkt von sicherem Geschmack. Denn der Dr. König war ein weitgereister Mann, ein tüchtiger Arzt von Ruf und ein guter Psychologe, der die freie Zeit seines Lebens auf jede Weise zu einer Art Kunstwerk zu gestalten bestrebt war. Er erkannte natürlich bald die ungeheure Einseitigkeit Felders, und daß man mit ihm eigentlich nur über _eine_ Sache ernstlich reden konnte. Für alles andere taub und blind, existierte es einfach nicht für ihn, setzte er jeder anderen Unterhaltung das Schweigen absoluter Interesselosigkeit und eines geradezu krassen Unverständnisses entgegen, und war erst wieder zugänglich, wenn die Rede wieder auf jenes eine zurückkam, oder er selbst sie naiv oder brüsk dahin zurückgezwungen hatte. Das hätte den so vielseitigen Älteren und Erfahreneren bald langweilen müssen, sollte man meinen. Aber im Gegenteil: der Doktor war, wie gesagt, Psychologe, und ihn hätte diese unglaubliche, auf so eisernen Willen gestützte Beschränktheit interessiert, auch wenn sie sich nicht auf dies spezielle Gebiet erstreckt hätte, für das er selbst eine besondere Vorliebe hegte und dem er als Arzt eine so große Bedeutung in der Gesundheitspflege zuschrieb. So gab er denn schon nach wenigen Gesprächen jeden Versuch auf, mit dem "Meisterschwimmer" über irgend etwas anderes zu sprechen, als was ihn und seine Kunst betraf, und beschränkte sich darauf, ihm gutmütig zuzuhören, wenn er in weitschweifiger Weise von seinen Erfolgen sprach; oder zu versuchen, den Horizont des jungen Mannes wenigstens auf seinem eigensten Gebiete zu erweitern, indem er ihm von der Entwicklung des Badewesens in früheren Epochen erzählte. Über diese Zeiten fehlte nun zwar Felder jeder Begriff; aber er hörte doch mit gesteigertem Interesse zu, wenn der Doktor in seiner ruhigen Weise und vertieft in die Erinnerung an seine Reisen nach den klassischen Stätten, erst von dem Leben jener alten Römer sprach, die den halben Tag in ihren wunderbaren Bädern verbrachten; wenn er diese in anschaulicher Schilderung aus ihren braunen Trümmern wiedererstehen ließ: die unerhörte Pracht jener Thermen des Caracalla und des Diokletian, die in jener Zeit zu öffentlichen Wohnstätten geworden waren, in denen die Römer den größten Teil ihres Lebens lebten und die sie zuletzt nur noch verließen, um sich zu ihren üppigen Mahlzeiten und den blutigen Schaustellungen der Arenen und des Kolosseums zu begeben. Das mußte eine Zeit nach Felders Herzen gewesen sein, und er wünschte, in ihr gelebt zu haben: den ganzen Tag im Bade und den halben im Wasser--was konnte es Schöneres geben!-- Und er hörte dem Erzähler weiter zu, wenn dieser von dem wasserscheuen Mittelalter mit seiner Verpönung des freien Badens und den langen Jahrhunderten des Daniederliegens des Schwimmens sprach und so gemach auf die Wiederbelebung der Schwimmkunst am Anfange des eigenen Jahrhunderts und hier in Berlin kam, um endlich bei der Jetztzeit und damit, wie von selbst, bei ihm, Franz Felder, gewissermaßen als der Krone des Ganzen, zu enden... Wenn es so weit gekommen war, wurde auch der Zuhörer warm, und ein Gespräch über alle möglichen die Schwimmkunst betreffenden Fragen entstand zwischen den beiden, das sich bei einer Tasse Tee oder einem Glase Bier in dem gemütlichen, warmen, von dem Duft des Karbols leicht durchzogenen Zimmer des Arztes oft bis zur Zeit von Felders letzter Pferdebahn nach dem Norden hinzog. Man war ganz zufrieden miteinander: Felder hatte jemand, der ihm freundlich zuhörte, und der Doktor machte eine psychologische Studie, von der der Betroffene allerdings nichts ahnte. 5 Es war die Bekanntschaft mit Dr. König, die für Felder eine zweite nach sich zog. Eines Abends erschien im Bade ein großer, starkknochiger Herr in guter, aber schlechtsitzender Kleidung, mit großen Händen und scharfem Blick, den der Doktor als seinen Freund vorstellte. Er badete nicht selbst, sah aber den Sprüngen Felders mit höchstem Interesse zu und ließ ihn nicht aus den Augen, so daß dieser schon wieder mißtrauisch geworden wäre, wenn der Fremde ihm nicht als Bildhauer vorgestellt worden wäre. Man trank noch zu dritt ein Glas Bier zusammen, plauderte über allerhand und ging auseinander. Das nächstemal, als sie wieder allein waren, erfuhr Felder den Zweck dieses Besuches. Der Fremde war ein alter Bekannter des Doktors und einer der bedeutendsten, wenn auch nicht berühmtesten Künstler Deutschlands. Eines Tages war die Rede in seinem Atelier auf seine neuen Werke und damit auf die Modellnot gekommen. Der Bildhauer trug sich seit Jahren mit der Idee der Darstellung eines jugendlichen Läufers, verzweifelte aber immer von neuem an der Ausführung, da es ihm völlig an einem Modell fehlte, das auch nur einigermaßen seinen Ansprüchen entsprach. Dr. König hatte von seinem jungen Freunde erzählt, und der andere war aus reiner Neugier mitgegangen, um ihn sich einmal anzuschauen. Er war Feuer und Flamme--ja, das wäre ein Modell!--Aber er wisse wohl, daß nichts daraus werden könne. Einmal werde Felder sich wohl nie zum Modellstehen hergeben, und dann habe er ja auch keine Zeit.-- Nun fragte der Doktor, mitleidig mit der fast komischen Verzweiflung des Künstlers, behutsam bei Felder an: er erzählte ihm von der Würde und der Größe echter Kunst, von dem unausgesetzten Ringen einer vornehmen Künstlerseele, ihren Kämpfen und ihren Streben, das nur zu oft an nichtigen, äußerlichen Umständen vor dem Ziele scheitert, von der harten und unbelohnten Arbeit seines Freundes, und es gelang ihm, besser und schneller als er gehofft, in Felder Interesse und Verständnis zu erwecken. So deutete er denn einmal an, wie sehr er selbst zum Gelingen eines solchen Werkes beitragen könne. Felder war durchaus nicht abgeneigt, doch machte auch er gleich den Mangel an der nötigen Zeit geltend. Einen Versuch könne man ja an den freien Sonntagen einmal machen, meinte er naiv... Als dann aber der Doktor mit seinem letzten Trumpf herausrückte und davon sprach, wie beim Gelingen des Werkes sein Ruhm sich mit dem des Künstlers verbinden und beider Name in einer unvergänglichen und vielleicht unsterblichen Schöpfung weiterleben würde, da war Felder bereits ganz gewonnen, und nun war er es, der den Vorschlag zur weiteren Besprechung der Sache machte... Was die Zeit anbelangte--nun, er hatte ja ausgelernt und war sein eigener Herr, und wenn er seine Arbeit wieder für einige Wochen (länger würde die Geschichte wohl nicht dauern) aufgäbe, so wäre das nicht so schlimm; er fände danach schon wieder andere. Er würde reichlich entschädigt werden, versicherte Dr. König. Da aber empörte sich der Stolz des Meisterschwimmers. Davon könne keine Rede sein. So sei es bei ihm nicht, "wie bei armen Leuten". Wenn er einwillige, so tue er es um der Kunst willen und des Ruhmes wegen. Der Doktor konnte nichts darauf erwidern, und man traf sich im Atelier des Künstlers. Als Schwimmer, der er war, müsse er dargestellt werden, meinte Felder, während der Bildhauer nicht von seiner ursprünglichen Idee des Läufers lassen wollte. Ein Schwimmer?--wie sich Felder denn das denke?--In welcher Lage denn?--liegend wohl?--Und das Wasser?--aus blauem Glase, nicht wahr?--Und dabei der Körper aus Marmor?--Felder nahm das für Ernst, und es gefiel ihm. Aber der Künstler wurde wütend.--Dann wiederholte Felder zum zwanzigsten Male: er sei der Meisterschwimmer von Europa und kein Läufer... Keiner wollte nachgeben, und die Sache war auf dem besten Wege, an der Hartnäckigkeit der beiden zu scheitern, als der lachende Doktor den Vorschlag des Springers machte. Er gefiel. So wurde der eine beruhigt durch die Idee, daß die Gestalt des Körpers im Moment des Abspringens sich nicht zu sehr von der des Läufers im Augenblick des Anlaufs unterscheide; und der andere, daß, wenn er auch noch nicht der Meisterspringer sei, er es doch unzweifelhaft werden würde, und daß die Zeit seines ersten Triumphes als solcher, wenn alles gut ging, mit der der Ausstellung seiner Statue vor den Augen der Welt zusammenfallen könne... Die Sitzungen in dem großen Atelier in Wilmersdorf begannen. Obwohl Felder nicht mehr arbeitete und mehr Ruhe und Schlaf hatte, als vorher, war er doch schon gegen Abend, wenn er zu seinem Training ging, von den ausgedehnten Stunden der Sitzungen und von den langen Fahrten nach dem Vorort müder, als je zuvor. Er hatte nie gedacht, daß er so müde werden könne. Erst hatten ihn die langwierigen Vorarbeiten interessiert, das neue der Umgebung und die ganze Art des Künstlers. Dann sah er sich selbst mehr und mehr aus dem rohen Ton hervortreten, immergleicher und ähnlicher werden. Als dann aber die stundenlangen, mühsamen Ausarbeitungen des einzelnen begannen, ohne daß er mit seinen ungeübten Augen irgendeinen Fortschritt wahrnehmen konnte, da hatte er oft die ganze Kraft seines Willens nötig, um auszuhalten. Er hatte sich vorgenommen, so lange zu stehen, bis der andere selbst das Holz aus der Hand legte; aber wenn der Künstler--nach einer, nach zwei Stunden--ganz in sein Werk vertieft und völlig entrückt, keine Miene machte, eine Pause eintreten zulassen, dann war Felder oft einfach so erschöpft, daß er plötzlich abbrach. Erstaunt über die Zeit, die verflossen war, brummte der Bildhauer etwas, das wie eine Entschuldigung klang, und beide warfen sich in irgendeinen Sessel, froh, nicht miteinander sprechen zu brauchen. Denn zu einer rechten Unterhaltung kam es nie zwischen ihnen. Diese beiden so verschlossenen, nur mit sich und ihren eigenen Zielen lebenden Menschen, von denen keiner die Leichtigkeit und Freundlichkeit des Dr. König besaß, hatten sich nichts zu sagen. Wohl entstand ab und zu ein Gespräch, da man, um keine Zeit zu verlieren, jetzt des öfteren auch draußen in einem mäßigen Restaurant zusammen aß. Aber wenn der eine oder der andere nach so viel Stunden schweigenden Beisammenseins in dem natürlichen Bedürfnis, sich zu äußern, dieser von seinem Werk und seinen Hoffnungen, und jener ebenfalls von seinen Plänen und seinen Hoffnungen anfing, dann konnten sie beide sicher sein, daß sie aneinander vorbeisprachen und keiner dem andern auch nur zuhörte... Denn was wußten, was verstanden sie voneinander?--beide so einseitig, beide so verloren in ihre Ziele: ungleich in ihrer Weite und Größe, gleich nur in ihrer Außergewöhnlichkeit und der Energie, mit der sie verfolgt wurden. In einem aber verstanden sie sich ganz, und dieses eine hielt sie diese lange Zeit--weit länger, als vorausgedacht--zusammen. Felder bewunderte den rastlosen Eifer, die unwillige und doch so gänzliche Hingabe des Künstlers an sein Werk; er verstand insgeheim dies schmerzliche, heiße Ringen um ein Letztes, nie sich Erfüllendes, und die Art, in der es sich äußerte: in fieberhafter Arbeit, ewigem Gemurr und wilden Flüchen... Und dieser, der Künstler, war sich völlig darüber klar, daß er nie ein Modell wie dieses je gefunden hatte und wiederfinden würde, das so mit ihm bis zur beiderseitigen Ermattung ging und instinktiv mit ihm arbeitete... Er hätte es nie gesagt, vielleicht nicht einmal zugegeben, aber in seiner Art und Weise sprach sich deutlich seine Dankbarkeit aus: ob er Felder eine Zigarette drehte oder ihm von den Tiefen seiner Künstlersehnsucht sprach, die er vor jedem anderen scheu verschloß. Gegen Ende der Sitzungen ging ihm sogar eine Ahnung davon auf, an was dieser junge Mensch _sein_ Leben gesetzt hatte und was die nächste Zeit für ihn bedeutete. Durch Abgründe in ihren Zielen voneinander getrennt, verstanden sie sich in dem, worin sie gleich waren: in dem ungestümen Drang, diese Ziele zu erreichen. Zwei Flammen schlugen ineinander, und so entstand ein wundervolles Werk, an das sie beide ihre Kräfte gaben. Es kam zu Ende. Es gelang.-- Auch Felder kam seinem Ziel näher und näher. Seine Sprünge wurden sicherer und sicherer. In seinem Klub sprach er weder von dem einen, noch von dem anderen. Ein Erzählen des einen wäre ein Preisgeben des anderen gewesen. Er schwieg, verschlossener und unzugänglicher, als je zuvor. 6 Eines Tages hielt er seine Stunde für gekommen. Er erschien--seit langer Zeit zum ersten Male wieder--auf dem Übungsabend des Klubs. Die enorme Halle der Wasserfreunde war noch hell erleuchtet, aber außer den Mitgliedern des S.-C. B. 1879 waren fast keine fremden Gäste mehr anwesend. Die letzten kleideten sich eben an; die Kasse war bereits geschlossen und niemand wurde mehr zugelassen. Überall sah man die weißblauen Farben. Das Bassin gehörte für den Rest des Abends ausschließlich dem Klub, der es zweimal wöchentlich für seine Mitglieder mietete. Felder zog sich aus und trat an das eine der kleinen Bretter, wo Grafenberger, der Meisterspringer Deutschlands, eben übte. Eine Weile sah er ihm stillschweigend zu. Grafenberger machte einen Salto rückwärts mit halber Drehung. --Das kann ich auch, sagte Felder. Der andere lachte: --So leichte nu nich!-- Aber Felder ließ langsam das Tuch von seinen Schultern gleiten und trat an die äußerste Kante des Brettes. Er stand mit dem Rücken dem Wasser zu. Leicht hob sich sein Körper auf den Zehen in die Höhe, fest legten sich die Arme an die Schenkel, und sich tief hintenüberneigend, tat er den Sprung. Als er aus dem Wasser stieg, sah er in lauter erstaunte und verblüffte Gesichter. Am erstauntesten war Grafenberger selbst. Und nun ging dieser eine Reihe mehr oder minder schwieriger Sprünge durch, und jedesmal, wenn er aus dem Wasser stieg, stand Felder bereits auf dem Brett und machte den Sprung nach, einen nach dem andern. Das Erstaunen wurde immer größer und die meisten wollten gar nicht glauben, was sie sahen. Von dem kleinen Sprungbrett ging man zu dem großen über, und alle stiegen die Treppe zu der Galerie empor. Dort stand bald der ganze Klub bis auf den letzten Mann um seine berühmten Mitglieder herum und verfolgte in atemloser Spannung Sprung auf Sprung. Und es gab nicht einen unter allen, den der Schwimmer dem Springer nicht nachgemacht hätte. Freilich dachte in dieser Stunde keiner an die Wertung der Leistungen, und nur wenige machten sich klar, wie sich die äußerlich gleichenden Sprünge der beiden doch in Sicherheit und Exaktheit himmelweit voneinander unterschieden. Man wollte jetzt nur sehen, ob Felder überhaupt imstande war, die Sprünge auszuführen, und man geriet bei jedem neuen in immer größere Aufregung, die sich bald in Lachen, Zurufen und lauten, wie leisen Bemerkungen jeder Art Luft zu machen suchte. Felder genoß das Vorgefühl kommender Triumphe und setzte allen Fragen sein geheimnisvolles Schweigen entgegen. Aber als der Springer meinte: --Na, dann kann ich ja nächstens an zu schwimmen fangen!--lächelte er bedeutsam. Nur Nagel äußerte wieder kein Wort. Als jedoch Felder an ihm vorbeiging und vor ihm stehen blieb, sagte er kurz: --Du kannst sie alle. Wo du sie gelernt hast, weiß ich nicht, und es geht mich ja auch nichts an. Aber glaube nur nicht, daß du auch nur einen ordentlich kannst, wie er sein soll...--worauf Felder blaß wurde und weiterging. Er vermochte nur noch zu erwidern: --Das werden wir sehen!-- Seine Freude war dahin für diesen Abend und er begann seinen alten Freund und Lehrer zu hassen. Schon auf der nächsten Sitzung trat er mit seiner Forderung hervor, bei der nächsten Gelegenheit im Springen um eine bedeutende Meisterschaft gemeldet zu werden. Man hielt sie erst für Scherz; dann erhoben sich von allen Seiten Proteste. So viel hatte man schon gesehen, um zu wissen, daß ein solches Vorhaben ganz aussichtslos war. War es auch erstaunlich, was er bei seinem geheimen Training--man wußte jetzt ganz genau, wo und wie er dazu gekommen war--in so kurzer Zeit zustande gebracht hatte, so reichte das alles doch noch lange nicht aus, um mit ersten Meistern in Konkurrenz zu treten. Dazu gehörte vor allem eine jahrelange, stetige, sorgsame Ausbildung unter den Augen von Kennern--das sollte er, der Sportsmann, doch wohl am besten wissen... Von allen Seiten redete man auf ihn ein, suchte ihn zu überzeugen, aber es war alles vergebens. Man sprach zu Ohren, die überhaupt nicht mehr zuhörten. Felder bestand hartnäckig auf seiner Forderung. Wenn er gefragt wurde, zu welcher Schwimmnummer er gemeldet werden wollte, antwortete er: zum Springen um die Meisterschaft... und je dringender die Frage wurde, um so mehr klang diese Antwort als Drohung: entweder--oder... Man lachte nicht mehr. Dazu war die Sache zu ernst. Zuviel stand in diesem Sommer im Schwimmen auf dem Spiel: die Meisterschaft Deutschlands sollte behauptet, die größte über Europa zum zweiten Male gewonnen werden; der große Staatspreis Sachsens und der Stadtpreis Breslaus, zum dritten Male durch Felder erobert, in den endgültigen Besitz des Klubs übergehen; unzählige Anforderungen von allen Seiten nach des jungen Meisters Teilnahme an den diesjährigen Schwimmkämpfen mußten beantwortet werden--und dieser Mensch, was tat er?-- Statt in diesem Sommer seine glorreichen Siege zu erneuern, mühelos und ehrenvoll, verbohrte er sich in eine Idee, auf die noch kein anderer vor ihm gekommen war und auf die auch nur er verfallen konnte. Je mehr man auf ihn eindrang, von seinem aussichtslosen Vorhaben abzustehen, desto erbitterter wurde er. Da er die Gründe gegen seine Meldung nicht verstand, da er sie nicht begreifen wollte, sah er in ihnen nur den Ausfluß einer feindseligen Stimmung gegen sich und ganz allmählich in den guten, alten Kameraden und treuen Freunden seines Klubs Gegner seiner Person und damit der Sache. Denn daß _er_ der Sache mit seinem Vorhaben schaden könne, daran dachte er nicht einmal. Er--und der Sache schaden!-- Man begriff, daß nicht mit ihm zu reden war, als er an einem anderen Abend nach langer, vergeblicher Debatte einfach das Zimmer verließ. Dann sprach Nagel, und was er sagte, wurde als das richtige empfunden. Er schloß seine Ausführungen, in denen er ein kurzes und klares Bild von Felders Entwickelung gab, mit den Worten: "Tun wir ihm seinen Willen; denn was er nötig hat, um ihn zur Besinnung zu bringen, sind nicht neue Siege, sondern es ist eine gründliche Niederlage."-- So wurde der Meisterschwimmer von Europa von seinem Klub auf dem ersten diesjährigen Eröffnungsschwimmen der vereinigten Berliner Klubs nicht nur zu seiner alten Meisterschaft Berlins über die kurze Strecke, sondern auch zu dem Haupt-Mehrkampf im Schwimmen, Springen und Tauchen, sowie zum Hauptspringen gemeldet, und diese Meldungen wurden mit grenzenlosem Erstaunen, aber unbeanstandet angenommen. 7 Eine gründliche Niederlage! Und die erlebte er.-- Das erste große Schwimmfest Berlins in diesem Sommer--veranstaltet von dem Bund der Berliner Vereine--fiel zusammen mit der feierlichen Eröffnung der diesjährigen Kunstausstellung im großen Glaspalast, beides auf einen Sonntag, einen klaren, aber noch frischen Frühlingstag.-- Es sollte der Tag höchsten und beispiellosen Triumphes für ihn werden, so dachte Felder, der Tag, der allen anderen der letzten Jahre die Krone aufsetzen, seinen Ruhm vor den Augen einer Welt verkünden sollte, wie keiner vor ihm: hier in einem unvergleichlichen Siege, dort dieser Sieg bereits verkörpert in einem hohen Werke, das seinen Namen trug; der Tag, um den er gekämpft hatte, wie um keinen anderen, monatelang, mit zäher Ausdauer--nicht nur in der eisernen Arbeit eigener Übung, sondern fast noch mehr in der mühsamen und aufreibenden Hilfe beim Gelingen einer fremden. Es kam alles anders, wie er es sich dachte.-- Der Morgen brachte die erste Enttäuschung. Sie waren hinausgefahren nach dem Glashaus am Lehrter Bahnhof, er und zwei seiner Sportsfreunde, hatten mit der Karte des Bildhauers unbeanstandet Eintritt erhalten und drängten mit der festlich gekleideten Menge--allem, was Berlin an geistigem Leben besaß--der großen Eingangshalle zu. Sie fanden dort leicht, was sie suchten. Denn um den "Springer" herum stand bereits ein dichter Haufen von Menschen, alle ergriffen von der Schönheit und Kraft des Werkes, und in der ersten Stunde bereits seinen Ruhm mit ihrer einstimmigen Bewunderung besiegelnd. Und es war ein herrliches Werk, das hier, fast in der Mitte der großen Halle, in dem leuchtenden Weiß seines Marmors vor dem sattgrünen Hintergrunde hoher Blattpflanzen stand: Erst zum Sprunge sich anschickend, noch nicht ganz zu ihm bereit, erhob sich die jugendliche Gestalt des "Springers" in vollendet ebenmäßiger Schönheit leicht auf den Zehen empor, streckte wie flehend die schlanken Arme in die Höhe, um dem Körper Schwung zu verleihen, und hielt die Augen fest und entschlossen in die Ferne gerichtet--gewiß des Gelingens, sicher des nahen Sieges... Über der ganzen Gestalt aber lag zugleich bei aller Kraft eine solche Anmut, eine solche Frische, daß man den kühlen Duft dieses vielleicht eben erst dem Wasser entstiegenen Körpers zu spüren glaubte, der sich nun zu neuem und schwierigerem Sprunge anschickte, und den das Trikot nur wie ein dünner Schleier umschloß, hinter dessen zartem Gewebe jeder Muskel, ja die Adern erkennbar hervorzutreten schienen; und obwohl zum Teil mit diesem Schleier bekleidet, erschien auf den ersten Blick der ganze Körper wie nackt, bis man die unsäglich feine Arbeit des Meisters gewährte, für den die leichte Hülle kein Hindernis gewesen war, das nackte Leben in seiner Wärme zu bilden. --"Klassisch schön und doch von modernem Geiste beseelt"--"raffiniert schlicht"--"einfach antik"--"wo kann er das Modell herhaben?"--"ein Meisterwerk, ganz ohne Zweifel"--das waren die Ausdrücke, die mit vielen anderen Namen und Vergleichen, von denen er nichts verstand, Felders Ohren umschwirrten, als er sich mit seinen Begleitern näher herangedrängt und nun fast vor der Statue stand. Er fühlte sich sehr unbehaglich. Alles war ihm hier fremd. Selbst dieses Werk, sein anderes Ich, das er doch so genau kannte, erschien ihm nicht mehr dasselbe. War er das?--So trat er doch nicht auf das Brett, wenn er sprang? Er allein unter all den Anwesenden vielleicht stand der Schönheit des eigenen Körpers verständnislos gegenüber, er und seine Freunde. Sie, so sehr an den täglichen Anblick nackter Gestalten gewöhnt, hatten nie über deren Schönheit und Häßlichkeit nachgedacht, und von der Kunst, die hier zu ihnen redete, verstanden sie nichts. Felder selbst war zum ersten Male in einer Kunstausstellung, und der Blick auf die vielen anderen Marmorwerke in dieser hohen Halle, in die lange Flucht der Säle, von deren Wänden herab die Farben unzähliger Gemälde leuchteten, machte ihn wirr und beraubte ihn. Zudem ärgerte er sich zu sehr, als daß er sich ruhig irgendeiner Betrachtung hätte hingeben können. Er hatte sich diesen Morgen ganz anders gedacht. Wie, das wußte er wohl selbst nicht, aber etwa so: daß er mit dem Künstler vor der Statue stehen würde, aller Augen auf sich gerichtet, als auf das Modell usw.... So aber geschah nichts dergleichen. Kein Mensch kümmerte sich um ihn, man drückte und stieß ihn von allen Seiten, und wenn ihn zufällig jemand ansah, so hatte er das Bewußtsein, mit diesem Blicke gefragt zu werden: Was wollen Sie denn hier? Wie hätte aber auch irgend jemand in dem modisch gekleideten jungen Mann mit dem hohen Hemdkragen und dem steifen Hut, der aussah wie ein Kommis von Hertzog oder Wertheim, das Urbild dieses Hellenenjünglings erkennen sollen, dessen Schönheit die Gedanken der Beschauer weit zurückführte in die seligen Zeiten göttergleicher Menschen? Unmutig forderte Felder seine Freunde zum Weitergehen auf; er wollte versuchen, den Bildhauer und Dr. König zu finden. Die beiden anderen waren gern bereit: der eine hatte Durst nach einem Frühschoppen, und der andere fand auch, daß er eine solche Stellung bei einem Springer noch nie gesehen habe. Da--während sie sich hinausstießen--fühlte Felder plötzlich, wie er angesehen wurde. Der starke Duft eines seltsamen Parfüms, den er irgendwo und irgendwann schon einmal gespürt hatte, umwehte ihn, und aufschauend, erblickte er dicht vor sich jene Dame aus dem Café, die ihn den ganzen Abend so auffallend angesehen hatte und nun ihren Blick mit demselben festen Ausdruck forschenden Interesses auf seinem Gesicht ruhen ließ; wie an jenem Abend. Wieder war der alte Herr mit ihr, und wieder trug sie ein Kleid von heller Seide und einen auffallend großen Rembrandthut mit schwarzer Feder. Felder hatte kaum Zeit, sich nach ihr umzusehen; im nächsten Augenblick schon war sie weiter gegangen, und viele Menschen hatten sich zwischen sie und ihn geschoben. Er hätte zurückkehren müssen, um sie wiederzufinden. Er dachte noch an sie im Weitergehen, als er am Ausgang auf den Bildhauer traf, der ebenfalls in einer dichten Menschenmenge stand. Er machte sich sofort los und kam auf Felder zu, als er ihn sah, und man ging durch den Garten in langem Zuge nach der Osteria. Dort wurde nun Felder genug und von allen Seiten angesehen, als die Künstler erfuhren, wer er war, aber er wurde nie das Gefühl los, daß alle diese fremden Menschen in ihm nur das Modell sahen, und keine Ahnung davon hatten, wer er eigentlich war... Nach Dr. König sah er sich vergebens um; er war wohl noch in den Sälen oder überhaupt noch nicht gekommen. Der Bildhauer, äußerlich borstig und wortkarg wie immer, war doch durch seinen großen Erfolg erregt und mußte sich immer von neuem frei machen, um ein paar Worte mit Felder zu sprechen. Dieser wollte gerne wissen, ob sein Name auch im Katalog stünde. Nein, dort stand nur "der Springer", meinte der Künstler lächelnd, anders ginge es nicht, aber er wolle schon dafür sorgen, daß es in möglichst vielen Zeitungen zu lesen sei, wer ihm Modell gestanden--darauf könne sich Felder verlassen... "Und am Nachmittage komme ich zu _Ihrem_ Siege!"--sagte er noch, als Felder sich mit seinem Freunde verabschiedete und, innerlich recht mißmutig, ging.--Dieser Nachmittag! Wieder einmal erglänzte die weite Halle der Wasserfreunde in dem festlichen Schmuck der Fahnen und Fähnchen; wieder füllten ihre Galerien bis auf den letzten Platz die dichten Reihen einer bunten Zuschauermenge; wieder bot sie das bis in die Einzelheiten immer sich gleichende, unveränderte Bild eines "Schwimmfestes"... Und in eintöniger Gleichförmigkeit verlief Nummer um Nummer des wiederum viel zu lang ausgesponnenen Programms. Das ganze Interesse der engeren Kreise konzentrierte sich heute nicht auf die Schwimmkonkurrenz--Felders Sieg war ganz sicher--sondern auf dessen Beteiligung am Springen. Längst hatte sich über die Grenzen des S.-C. B. 1879 hinaus herumgesprochen, wie gänzlich aussichtslos und vermessen sie war, und überall, in allen Ecken, lauerte das süßeste und reinste der menschlichen Gefühle, die Schadenfreude, auf seine Gelegenheit. Nur Felder sah und hörte nichts von allem. Still und ernst wie immer stand er unter seinen Leuten, und seine Augen blickten so ruhig und siegesgewiß wie immer. Heute, heute war sein großer Tag, und kein Zweifel durfte in ihm aufkommen; kein Zweifel der anderen das eigene, felsenfeste Vertrauen stören. Er fühlte nur instinktiv die Feindseligkeit um sich herum an der Art, wie man ihn allein ließ oder ihn dies oder jenes fragte. Was kümmerten sie ihn?--Nach einer Stunde würde er sie besiegt haben, und selbst die Widerstrebendsten lagen bezwungen zu seinen Füßen!... Als er daher seinen Namen hörte und auf das Sprungbrett trat, um den ersten der für den Mehrmeisterkampf vorgeschriebenen Sprünge zu tun, hob er seinen Kopfhöher als je, sah zu der hohen Wölbung der schönen Halle empor, und in seinen Augen lag (für niemand erkennbar) das alte Leuchten, tiefer und siegesgewisser, als je zuvor. Dann sprang er, und er sprang nicht schlecht. Ein Murmeln nur begleitete sein Aussteigen aus dem Wasser--Erstaunen bei jenen unter den Sportsgenossen, die ihn zum ersten Male springen sahen, halber Beifall bei denen, die den Sprung an seinen eigenen Leistungen, die sie seit einigen Wochen kannten, verglichen. Noch hatte die Schadenfreude keinen Grund, sich zu äußern und wagte sich noch nicht hervor. Weder besonders gut, aber ebenfalls nicht schlecht waren auch die nächsten Sprünge. Jeder Kenner sah indessen, daß sie einfach nur besser aussahen, als sie in Wirklichkeit waren, und daß Felder jede Hoffnung auf einen Sieg hätte begraben müssen, wäre es auf dieses Springen angekommen. So aber erledigte er nicht nur den zweiten Teil des Mehrkampfs, das Schwimmen mit einer Bahnlänge von 150 Metern, in seiner alten glänzenden Weise, so daß er hier die Höchstzahl der überhaupt erreichbaren Punkte erlangte, sondern er stellte sich auch im dritten Teile, dem Tauchen, ebenbürtig an die Seite seiner drei Gegner, indem er, wie sie, alle zwanzig Teller hervorholte, und zwar in einer Zeit, die sich nur unwesentlich von der ihren unterschied. Keiner der Konkurrenten war vor Ablauf von 32 Sekunden aus dem Wasser gestiegen, Felder 45 unter ihm geblieben. Die Teller hatten bei ihm weit auseinander gelegen. Der Mehrkampfpreis wurde daher trotz der im Springen erreichten geringen Punktzahl--nicht vergleichbar mit der der anderen--von ihm gewonnen. Seinem Verein fiel ein Ehrenpreis zu, ihm selbst ein Andenken, und das eine der gesetzten Ziele war somit von ihm erreicht: in seinen Lorbeerkranz ein neues Blatt geflochten. Der Meister im Schwimmen nannte die erste Mehrkampfmeisterschaft sein!-- Aber das stille und erwartungsvolle Lächeln, das von den Gesichtern so manches Kenners unter den Anwesenden nicht wich, zeigte, daß es noch nicht aller Tage Abend war. Vor allem das Lächeln Grafenbergers. Denn das Ereignis des Tages, das Hauptspringen, sollte erst noch kommen. Und wenn Grafenberger so lächelte, dann hatte er seinen Grund dazu. Heute mehr als je. Denn dieses Hauptspringen, das als dritte Konkurrenz nach der eben beendeten folgen sollte, hatte eine ganze, vielbesprochene Geschichte in den letzten Wochen gezeitigt. Als Felder brüsk und ungestüm seine plötzliche Meldung zu diesem Hauptspringen im Klub äußerte, und als nach endlosen privaten und internen Debatten die Furcht vor seiner Drohung die Schale zu seinen Gunsten neigen ließ, da erklärte Grafenberger ebenso brüsk und mit weit größerer Berechtigung natürlich: wenn sein Klub denn so unverhofft einen so großen Springer in seinem bisherigen Meisterschwimmer "entdeckt" habe und ihm denselben vorziehen wollte, so möge er das doch tun, und da selbstverständlich jeder Klub nur einen Konkurrenten zu den Kämpfen entsenden könne, so sei es doch das beste und einfachste, wenn er, Grafenberger, aus- und in einen anderen Verein eintrete. Dann könne er ja mit Leichtigkeit beweisen, wie lächerlich eine solche Bevorzugung sei. So sehr traf jedes seiner Worte den Nagel auf den Kopf, daß nur übrig blieb, dem Empörten klarzumachen, wie es sich ja nur darum handele, Felder ad absurdum zu führen, wie er, dem an dieser Beteiligung gar nichts gelegen sein könne, ja gerade durch Felders unvermeidliche Niederlage nur seinen, Grafenbergers, Ruhm als den des ersten Springers im S.-C. B. 1879 befestigen würde; und so sehr sah dieser selbst auch den Grund aller Einwendungen ein, daß die Sache in aller Ruhe verlaufen wäre, wenn nicht--wie immer bei solchen Gelegenheiten--so viel bisher Unausgesprochenes zutage getreten wäre, was dann endlich doch Grafenbergers Austritt zur unvermeidlichen Folge hatte. Er, eine weit weniger ernste und vornehme Natur als Felder, hatte einen Ton angeschlagen, den der Klub unter keinen Umständen dulden durfte, und so war er gegangen von dort, wo niemand gegen seinen Willen gehalten wurde. Mit Jubel sofort in einen anderen, ebenfalls altangesehenen Verein, in die "Privat-Schwimmgesellschaft von 1885", aufgenommen, noch in letzter Stunde von ihm zu heute gemeldet, erwartete der berühmte Springer nun im Kreise seiner neuen Klubgenossen das Hauptspringen mit innerlichster Freude; und schärfer und klarer als er hatte keiner Felders kümmerliche Sprünge beim Mehrkampf betrachtet und gewertet. Vergebens suchte er dem Blick seines früheren Genossen zu begegnen, mit dem er so manche Jahre Schulter an Schulter um die Ehre des Klubs gekämpft, und dem er--wie oft nicht in denselben Stunden desselben Tages--gemeinsam mit ihm zu den höchsten verholfen. Felder sah ihn nicht. Nicht sein Lächeln; nicht die boshafte Erwartung um sich her; nicht die ängstliche Sorge seiner wahren Freunde, Nagels und anderer. Er sah überhaupt nichts mehr von allem, was um ihn hervorging. Er fühlte nur die große Erwartung um sich herum, und als Koepke, der äußerlich Aufgeregteste wieder unter allen, ihm mit irgendeiner unnützen Frage zu nahe kam, wies er ihn mit einem barschen Wort zur Ruhe. Als das Hauptspringen endlich begann, trat die atemlose Spannung der Stille ein, die allen Entscheidungen von Bedeutung vorausgeht, und teilte sich unwillkürlich auch dem Gleichgültigen unter den Zuschauern mit. Fünf Springer aus den ersten Berliner Klubs, unter ihnen drei mit bekannten Namen, waren gemeldet. Wie sie ausgelost waren, kamen sie an die Reihe. Felder hatte die vierte Nummer und die weiße Kappe erhalten. Er sah seine Vorgänger auf das Brett treten, er hörte die Stimme des Starters, der Namen und Art des Sprunges verkündete, er sah die Sprünge, er hörte das Wasser klatschen und rauschen, das Murmeln und den Beifall der Zuschauer; er trat selbst hinter das Brett, sah vor sich hin, vernahm die gleichmäßige ruhige und klare Stimme des Starters neben sich, die rief: "Hechtsprung mit Anlegen der Arme und Anlauf, ein Meter. Herr Franz Felder...", lief, sprang, tauchte unter und wieder auf, ging hinaus und hinauf zu dem hohen Brett, stellte sich auf seine äußerste Kante, hob den ganzen Körper auf den Fußspitzen in die Höhe, sah gradeaus, hörte wieder die Stimme, diesmal unter sich: "Doppelsalto, rücklings, sechs Meter, derselbe...", sprang ab, drehte sich in der Luft um sich selbst, fühlte den Anprall des Wassers wie glühendes Feuer, kam in die Hohe und stieg hinaus--aber worauf er lauschte, die alten, ihm so vertrauten Laute des Beifalls vernahm er nicht. Stumm und ohne zu wissen, wie er gesprungen, mischte er sich unter seine Freunde. Nach den zwei vorgeschriebenen Pflichtsprüngen kamen die zwei Pfostensprünge an die Reihe, die, an demselben Tage aus den Schwierigkeitsgraden fünf und sechs ausgelost und jedem Bewerber vor einer Stunde mitgeteilt worden waren. Auf Felder waren gefallen: Als erster ein Seitlingssprung mit 1/4-Drehung um die Längsachse vorwärts, mit Hochheben beider Arme, bei einer Bretthöhe von drei Metern: nicht allzuschwer gut auszuführen, und als zweiter ein Schlußsprung mit ganzer Drehung um die Breitenachse, schwierig bei genauer Durchführung und der Sechsmeter-Höhe des Brettes. Den ersten machte er gut; daß ihm der zweite nicht so gelingen würde, wie er mußte, war ihm seit einer Stunde bereits ganz klar, und er sprang ihn infolgedessen völlig schlecht, so daß das Publikum zu lachen begann, während es dieselben beiden Sprünge der anderen des öfteren mit Beifall begleitete. Felder sah und hörte noch immer nichts um sich her. Auch dieses Lachen nicht. Nur ein Zwischenfall erregte die allgemeine und damit auch seine Aufmerksamkeit. Als der Nachspringer Felders seine Sprünge ausführte, erscholl von allen Seiten her, wahrscheinlich mit infolge des vorhergegangenen, so augenscheinlich verunglückten Sprunges, lauter Beifall. Die Pause zwischen den Sprüngen dauerte etwas länger als sonst, und bevor der nächste, letzte Springer an die Reihe kam, trat der Starter vorn auf das Sprungbrett und sprach mit erhobener Stimme zu den Zuschauern gewendet: "Die Herren Schiedsrichter lassen die verehrlichen Anwesenden, Damen und Herren, bitten, bei den Sprüngen jedes Zeichen des Beifalls und des Mißfallens im Interesse der Springer selbst zu unterlassen, und den Herren Richtern in keiner Weise in ihrem Urteil vorzugreifen..." Ein Zwischenfall solcher Art war eine Seltenheit und wurde daher gebührend bemerkt. Einstweilen aber schwieg der ganze Raum, und der dritte Teil des Hauptspringens, die beiden Kürspringe, begannen unter allgemeiner Stille. Die "Kürspringe", vom Springer nach freier Wahl "gekürt", bei denen er an keine Schwierigkeitsgrade und keine Art der Ausführung gebunden ist, und somit nur die Kraft und Fähigkeit, die er sich selbst zutraut, entscheidet, sind gewöhnlich lange vorher eingeübte und in vollendeter Sicherheit ausgeführte Sprünge, die das Können des Springers in hellstem Lichte zeigen. Da die Zuschauer ihrem Beifall keinen Ausdruck mehr geben konnten, verliefen die Sprünge der drei ersten Springer unter dem achtungsvollen Schweigen des Publikums, bis Felder an die Reihe kam. Statt daß dieser--wie es nach der ganzen Art und der Kürze der Zeit seines Trainings eigentlich selbstverständlich gewesen wäre--sich zwei der weniger komplizierten Sprünge ausgesucht, sie in guter Ausführung gezeigt und damit wenigstens in ihnen die höchste Wertungszahl erreicht hätte, erlaubte es ihm sein Ehrgeiz nicht, sein neuerworbenes, noch so unsicheres Können anders, als in Sprüngen ersten Ranges zu zeigen, und unter dem Kopfschütteln seiner Freunde, die indessen auf jede Einmischung verzichteten, hatte er zwei Sprünge gewählt, die ihm hier und da--wenigstens zur Zufriedenheit Koepkes--gelungen waren und die er in seiner grenzenlosen Verblendung auch heute vor den Augen aller ausführen zu dürfen glaubte. Kein anderer Klub hätte einem Mitgliede jemals etwas Ähnliches erlaubt. Aber der seine war eben übereingekommen, ihn gewähren zu lassen, und so kam, was unausbleiblich kommen mußte, und wozu es keines Propheten bedurfte, es vorherzusagen. Gereizt, erregt und wie im Fieber verlor Felder bei diesen letzten Sprüngen jede Ruhe und jede Besinnung. Er sprang, wie er geschwommen hatte in den Augenblicken höchster Anstrengung, und vergaß vollkommen, daß, was dort noch zum Siege führen kann, hier, wo es einzig im gegebenen Moment auf Selbstbeherrschung und Ruhe ankommt, unrettbar zur Niederlage werden muß. Er sprang, wie er schwamm: wie er zweimal, dreimal--es war schon lange her--geschwommen hatte, um den enteilenden Sieg noch zu ergreifen--: mit dem Mut der Verzweiflung. Aber was er bot, das waren schon keine regelrechten Sprünge mehr, das hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit den Aufgaben, die er selbst gewählt und sich vorgeschrieben, das waren krampfhafte Verzerrungen des Körpers, ein unschönes Sich-Überschlagen in der Luft ohne jede Haltung der Arme mehr, die um sich griffen, wie um sich zu halten, und endlich ein wüstes Aufklatschen auf die Oberfläche des Wassers... Und während die Richter auf jede Wertung mit dem Niederlegen ihrer Bleistifte überhaupt verzichteten, während sich auf den Gesichtern der Umstehenden erst starres Erstaunen ob solcher, nie gesehener Leistungen malte, das allmählich in offene Fröhlichkeit überging, während Felders Freunde überlegten, ob sie ihn nicht lieber an dem letzten der Sprünge hindern und der Blamage ein Ende machen sollten, begann das Publikum, gereizt durch das Verbot des Beifalls, zu lachen. Es lachte erst leise, dann ganz laut beim zweiten Sprunge, und als Felder aus dem Wasser kam, da lachten selbst die Sportsleute um ihn her, ja die eigenen Genossen, so komisch war der Kontrast zwischen seiner siegesbewußten Miene und seinen kläglichen Leistungen gewesen... Felder hörte das Lachen, jetzt hörte und sah er es, und er wurde totenblaß. Einen Augenblick schien es, als wolle er sich auf den ersten besten der Nächststehenden stürzen, dann überzog eine dunkle Röte sein Gesicht, und wortlos verließ er die Reihen, die sich noch nicht beruhigen wollten, bis das nächste Rennen die Aufmerksamkeit von dem beendeten abzog. Eine furchtbare Wut kochte in Felder, als er allein in einer Ecke des kleineren Damenschwimmbades, das heute als Auskleideraum für die Beteiligten galt, saß. Man hatte es gewagt und ihn ausgelacht--ihn, Franz Felder, den Meister Europas, ihn, ihn!-- Er ging auf und ab, auf und ab, aber er wurde nicht ruhiger. Er wurde das Lachen aus seinen Ohren nicht los. Er würde es nie vergessen können, das wußte er. Kein Beifall würde es jemals mehr ganz übertönen können. Alles, was er tun konnte, war, die erlittene Wunde so unter neuen Lorbeeren zu verbergen, daß niemand sie mehr gewahren konnte. Das aber wenigstens wollte er, und als er--nach einer halben Stunde-- geholt wurde und er zum letzten Male an diesem Tage an den Start ging, nicht zum Springen mehr, sondern zum Hauptschwimmen über die 250 Meter, da waren die Nebel von seinen Augen gefallen, und mit seinem alten, klaren Blick sah er alles um sich her, die Freunde und die Feinde, und jetzt war er es, der lächelte. Jetzt durfte er es allein, und wer es etwa noch wagen sollte außer ihm, dem würde er das Lachen von den Lippen vertreiben! Nicht wie sonst, ruhig, stet und überlegen seine Bahn durchschneidend, nichts als das Ziel im Auge, nicht fair und vornehm, wie man es an ihm gewöhnt war selbst in den schwierigsten Kämpfen, sondern auf seine Gegner achtend, sie herankommen und voraufgehen lassend, sie durch die eigene Ungleichmäßigkeit störend, um sie dann zuletzt rücksichtslos, fast brutal zu schlagen, so schwamm er dieses Rennen, und als er den Jubel über seine Waghalsigkeit und Überlegenheit in seinen Ohren erklingen hörte, war er wieder ganz er selbst. Nie vorher hatte er so geschwommen, und erwußte es. Er wußte auch, daß er mit diesem Siege keinen Beifall unter seinen Freunden finden würde. Aber das war es gerade, was er wollte. Sie hatten ihn ausgelacht, das verzieh er ihnen nicht. Jetzt war ihm auch an ihrem Beifall nichts mehr gelegen. Wie er zum letztenmal für heute sich so die Leiter emporschwang, bis zu der sich die erste Reihe der Zuschauer hinzog, da, wo die besten Plätze nahe dem Start waren, die man durch Auflegen von Leinentüchern gegen das Aufspritzen des Wassers zu schützen versucht hatte, war es ihm wieder, als stiege der Duft eines seltsamen Parfüms, den er schon einmal gespürt, zu ihm auf, und als er sich zur Seite wandte, sah er, daß der erste dieser Plätze, die er beim Hinaussteigen fast streifte, von der Dame besetzt war, die er an jenem Abend im Café und heute morgen erst wieder gesehen hatte. Für eine Sekunde begegneten sich ihre Blicke: sie hielt ihr Kleid mit der Hand zusammen, damit es nicht naß werden sollte, und lächelte leise, wie heimlich mit ihm triumphierend über seinen Sieg. Ein neuer Ausdruck schien in ihrem Blicke zu liegen, etwa wie: wir kennen uns doch, nicht wahr?--Felder war ganz verwirrt und wandte sich ab. Als er angekleidet wieder in die Halle trat, galt sein erster Blick dem Platze, wo sie gesessen. Aber er war leer, und die ihn innegehabt, war nirgends mehr zu finden.--Was bedeutete das nun wieder?--Wie kam sie hierher?--Und warum?--Warum nur?--Es war seltsam, sehr seltsam. Doch er hatte nicht lange Zeit, an den Vorfall zu denken. Zuviel wogte noch in ihm, und immer von neuem kehrten seine Gedanken zu dem unverhofften Verlauf des Tages zurück. Erst der Morgen. Dann der Nachmittag. Und der Bildhauer und Dr. König fielen ihm ein, die beide nicht gekommen oder schon wieder fortgegangen waren, da sie ihm doch nicht Glück wünschen konnten. Eines wie das andere--alles war umsonst gewesen! Umsonst die zähe, eiserne Mühe langer Monate; umsonst die inneren, bitteren Kämpfe und alles heiße Ringen; umsonst alle Kraft und Zeit, die er an diese Sache gesetzt! Deutlich hatte er heute die Grenze seiner Kraft erkannt, über die er sich in unbegreiflicher Verblendung so sehr täuschen konnte. Zum ersten und zum letzten Male in seinem Leben hatte er heute öffentlich gesprungen. Nie würde er von jetzt an wieder einen Fuß auf das Sprungbrett setzen. Sein Traum war zu Ende.--Er war ganz erwacht, und er war sich ganz klar. Aber nicht, daß er mit seinem Plan gescheitert war, sondern, daß er sich lächerlich gemacht hatte--das war es, was Felder mit immer tiefer sich einbohrender, innerlicher Wut gegen sich selbst und gegen die andern erfüllte. Er war ausgelacht worden. Er--Franz Felder!--Und er haßte sie alle, die es gewagt hatten!-- Aber er durfte jetzt nur noch den einzigen Gedanken haben, nicht zu zeigen, wie sehr er sich ärgerte. Das beste war jetzt zu tun, als habe er selbst das Ganze als einen im Grunde nur scherzhaft gemeinten Versuch betrachtet, um zu beweisen, daß es möglich sei, in ganz kurzer Zeit fast sämtliche möglichen Sprünge zu erlernen, auch ohne jahrelange Übung. Daher ging er nicht fort, wie er es am liebsten getan, sondern blieb den ganzen Abend und die halbe Nacht unter seinen Kameraden, war so lustig, wie es ihm überhaupt möglich war, nahm seinen ersten und auf immer einzigen Mehrkampfpreis ebenso überlegen lächelnd und gleichgültig entgegen, wie die Schwimmeisterschaft für Berlin für dieses vierte Jahr, und brachte es sogar fertig, die Witze, die über ihn als Springer gemacht wurden, anzuhören, ja, auf sie einzugehen. Aber in ihm war etwas gebrochen an diesem Tage des großen Enttäuschungen. Er hatte geglaubt, daß ihm, der so vieles erreicht, nun alles möglich sein müsse, woran er die Hand legte. Er hatte sich überzeugt, daß er sich schmählich getaucht--daß es nur ein Gebiet gab, auf dem er Meister war, und daß er nichts anderes zu tun hatte, als möglichst lange Meister auf ihm zu bleiben: ob es ihm nun gefiel oder nicht! Alles andere war ihm verschlossen. Und eine Ahnung dämmerte ihm auf, wie eng der Kreis seiner Welt war. Es gab andere, weitere Gebiete, von denen er nichts verstand, von denen er nicht einmal wußte. Ewig unerreichbar für ihn. Wohin nun aber sollte er mit dieser ungestillten Sehnsucht seiner Wünsche, dieser begehrlichen Kraft, die nicht zufrieden war, wie ein Zirkuspferd im Kreise herum zu trotten?--Wohin mit ihr?!-- Es war nur erst eine Ahnung, die ihm gekommen war mit dem heutigen Tage. Aber schon begann sie ihn zu beunruhigen. 8 Alles ging wieder seinen alten Gang. Äußerlich veränderte sich zunächst nichts im Leben des Vereins. Die Springerei Felders betrachtete man als eine Laune, einen verrückten Einfall, wert höchstens noch eines schlechten Witzes, hätte man nicht seine unbeschreibliche Aufregung und plötzlich hervorbrechende Wut gesehen, wenn jemand ihn gelegentlich zu machen versuchte. So rührte man nicht mehr daran. Innerlich aber war zwischen Franz Felder und seinem Klub ein Riß entstanden, den keine Aussprache heilte und der sich fast täglich mehr verschärfte. Entstanden war er durch Felders eigenmächtige Handlungsweise. Wann war es je dagewesen, daß das Mitglied eines Klubs auf eigene Faust zu trainieren begann und daraus sogar vor seinen eigenen Klubbrüdern ein Geheimnis machte?--Wenn man das wollte, brauchte man keinem Klub anzugehören. Wäre es nicht Felder und zudem die Idee nicht gar so absurd gewesen, so würde man ja der Sache noch auf andere Weise näher getreten sein. So aber... Außerdem würde er wohl jetzt eingesehen haben, was er davon gehabt hatte!... Man sprach mit ihm nicht mehr darüber, aber Felder fühlte wohl, wieviel an Unmut und Mißtrauen gegen ihn zurückgeblieben war. Schlimmer aber war, daß er in den Zeitungen, die in diesen Wochen so laut den Ruhm des Künstlers, der nach ihm seinen "Springer" gebildet, verkündeten, als der "Meisterspringer von Europa" bezeichnet wurde. Es war Felders ehrgeiziger Wunsch gewesen, daß sein Name genannt werden sollte; und der Bildhauer, von Dankbarkeit gegen seinen selbstlosen und treuen Helfer getrieben, hatte alles getan, was in seinen Kräften stand, um ihn zu erfüllen. Daß dabei der Irrtum unterlaufen war, war zwar nicht seine Schuld, da er wohl wußte, daß Felder nur Schwimmer war, und da er ja selbst seinem verunglückten Debüt als Springer beigewohnt hatte; aber immerhin entschuldbar bei den Kunstschreibern, die wenig von solchen Unterschieden wußten und sich beim Beschauen der Statue wohl gedacht haben mochten, daß der, der als Springer dargestellt worden war, auch als solcher sich seinen Meisternamen erworben haben müßte. Wer Felder kannte, wußte, daß ihm am wenigsten an diesem Irrtum irgendwelche Schuld beizumessen war. Er hätte sich lieber die Hand abhauen lassen, als einen Erfolg für sich in Anspruch zu nehmen, den er nicht voll verdient zu haben sich bewußt war. Er war außer sich über das Versehen. Er ließ sich von dem Künstler-- noch einmal führ er zu diesem Zweck den langen Weg nach Wilmersdorf hinaus und betrat das staubige, nüchterne Atelier wieder, in dem bereits an einem neuen, großen Werk gearbeitet wurde--eine schriftliche Erklärung geben, daß er sich ihm nie gegenüber als etwas anderes ausgegeben habe, als was er wirklich war, und nahm zudem das Versprechen mit sich, daß alles getan werden würde, um den bedauerlichen Irrtum wieder gutzumachen. Das Papier stellte er zur Verfügung des Klubs und dieser betrachtete natürlich die Angelegenheit als seine eigene. Aber was half das alles! Felder hätte keine Feinde haben müssen, so zahlreich wie seine Erfolge, als daß das Versehen nicht gegen ihn ausgenützt worden wäre; und wenn man ihn auch nicht öffentlich als den Urheber desselben bezeichnete, so gab es doch genug Stimmen in den feindlichen Lagern, die der Behauptung nicht widersprachen, daß er geduldet habe, was er so gerne als Wirklichkeit gesehen hätte... Für die immerwährenden Streitigkeiten und Eifersüchteleien zwischen den Klubs war die ganze Sache Öl ins Feuer, und sie entbrannten zu Beginn dieses Sommers öffentlich und heimlich heißer als je. Felder, der so stolz darauf gewesen war, daß seine Person nie den Anlaß zu irgend solchen gehässigen und die Sache schädigenden Fehden gegeben, erlebte, daß sie und sein Name in sie hineingerissen wurden und fürs erste überhaupt von ihnen nicht mehr zu trennen waren. Immer wieder kehrte der Gedanke zurück, der an jenem Abend, als er, äußerlich ruhig und lächelnd, aber innerlich aufs tiefste erbittert über seine Niederlage, unter seinen Genossen saß und sich zum ersten Male unter ihnen wieder fremd fühlte, zuerst in ihm aufgetaucht war: der Gedanke des Austritts. Ein Austritt aus dem einen und der Übergang in einen anderen Verein war nichts Außergewöhnliches. Es kam alle Tage vor, daß Träger bekannter Namen aus irgendwelchen, oft ganz geringfügigen Ursachen ihren angestammten Klub verließen und in einen anderen übergingen, gewöhnlich eine Anzahl anderer Mitglieder mit sich ziehend und nicht selten eine Spaltung herbeiführend, die die Gründung eines neuen Vereins zur Folge hatte. Eine ganze Reihe der wie Pilze aus der Erde schießenden Klubs war auf diese Weise entstanden und hatte das Eingehen anderer, älterer, verursacht. Ja, es geschah, daß manche die Gründung solcher neuen Vereins geradezu als Sport betrachteten, und es war vorgekommen, daß Träger von Namen, die zu den allerersten in der Schwimmerwelt zählten, im Laufe weniger Jahre drei, vier Vereinen angehörten und sie ganz nach ihrem Belieben wechselten. Aber Felder konnte sich doch noch nicht mit dem Gedanken eines Austritts vertraut machen. Es erschien ihm noch immer als etwas Undenkbares, daß er den S.-C. B. 1879 verlassen sollte, mit dem er verwachsen war mit jeder Faser, dem er die glücklichen Jahre seiner Entwicklung verdankte, und den er durch seine Siege wieder zum ersten und meistgenannten unter allen gemacht hatte. Noch liebte er ihn und alles, was mit ihm zusammenhing. Noch konnte er nicht von ihm lassen... Er wehrte sich gegen seine Gedanken. Aber dann kam ein Tag, der gewissermaßen die Entscheidung über ihn hinwegnahm. Felder reiste nach Hamburg, um zum zweiten Male die Elbmeisterschaft sich zu eigen zu machen. Ein älteres Mitglied, ein Kaufmann, der gerade in Hamburg Geschäfte hatte, schloß sich ihm an, und Felder konnte es nicht hindern, daß während der Fahrt die Rede auf die Vorgänge und allen Klatsch und Tratsch der letzten Zeit kam. So erführ er die Äußerung Nagels bei Beratung seiner Meldung zum Springen: "daß er ihm eine Niederlage wünsche, eine gründliche Niederlage"... Das Wort traf ihn wie ein Schlag. Er ließ es sich zweimal wiederholen, ehe er es glaubte. Dann wurde er ganz still. Er sprach kaum ein Wort mehr an diesem Tage: nicht während der Fahrt, nicht während der Begrüßung in Hamburg, nicht während des Festes... Man glaubte dort, er müsse krank sein; aber man sah ihn schwimmen, mit einer solchen verbissenen Wut und Kraft, daß die bloße Vermutung lächerlich schien. Sofort nach seinem Siege--und was für ein Sieg war es wieder!--ging er allein zum Bahnhof, ohne sich von einem Menschen zu verabschieden, und fuhr mit dem Schnellzug nach Berlin zurück. Er ging sofort in das Restaurant des Klublokals, wo er gewiß war, seine Leute zu treffen. Er fand einige von ihnen beim Billard. Auch Nagel. Er wartete, bis die Partie zu Ende war, ohne auf irgendwelche Fragen Antwort zu geben. Dann gingen er und sein alter Schwimmwart in das noch leere Klubzimmer, und hier, in dem Räume, der die Spuren jeder Etappe in Felders Laufbahn in irgendeinem Preisstück, von dem einfachsten bis zu dem kostbarsten, aufwies, hier erfolgte die Auseinandersetzung zwischen den alten Freunden. Felder war maßlos erregt; Nagel blieb ruhig wie immer. Und nichts reizte den anderen so sehr, wie diese kühle Ruhe. --Ist es wahr, daß du mir eine Niederlage, eine _Niederlage_ gewünscht hast?--begann Felder, und die Antwort, die er bekam, brachte ihn außer sich: --Ich habe sie dir nicht gewünscht; aber ich habe gesagt, eine gründliche Niederlage sei das einzige, was dich noch zur Besinnung bringen könne... --Er sei also nicht bei Besinnung? --Er sei seit einem halben Jahre so völlig von Ehrgeiz und Ruhmsucht verblendet, das er jede Direktive verloren habe und nach dem Unmöglichen strebe. Und nun sprach Nagel ruhig und lange, und wenn manches auch wahr war, was er sagte, so war anderes doch auch einseitig und unverständig, und alles war hart und scharf und unfreundlich. Felder hörte es bis zum letzten Worte an. Er möge sich doch nicht einbilden, setzte Nagel auseinander, daß man die Wandlung in seinem Wesen nicht schon seit langem und mit immer größerem Mißfallen beobachtet habe. Daß er der Entwicklung in dem Ausbau des Klubs nie das nötige Interesse entgegengebracht habe, darüber war man sich ja schon lange klar gewesen. Wann habe er sich wohl jemals um den inneren Fortschritt des Vereins gekümmert?--Habe er zum Beispiel jemals der Jugendabteilung in ihrer Ausbildung geholfen?--Sei er auch nur ein einziges Mal einem der Jüngeren mit Rat und Hilfe zu Seite gestanden?--Sei er nicht immer nur mit Widerstreben an die Beteiligung bei dem Wasserpolo gegangen, und nur dann, wenn es unumgänglich nötig gewesen war?--Habe er nicht noch letzthin seine Beteiligung am Staffettenschwimmen aus reinem Hochmut einfach abgelehnt?--Immer habe er nur an sich gedacht, schon als kleiner Junge, immer nur an sich, und alles andere sei ihm schnuppe gewesen. Auch mit den Kämpfen des Vereins um seine Existenz innerhalb der Bewegung (damit meinte Nagel die Streitigkeiten mit anderen Vereinen) habe er sich nie befaßt, sondern sei immer gleichgültig und mürrisch nebenher gegangen, und wenn er sich in letzter Zeit beteiligt habe, so sei es nur geschehen, um seine Person auch hier in den Vordergrund zu drängen. Denn im Vordergrunde müsse er jetzt natürlich überall stehen. Nicht zufrieden mit seinen unvergleichlichen Erfolgen in Deutschland und im Auslande als Schwimmer, habe er dann endlich sogar seine Hände nach den Lorbeeren anderer gestreckt und sie an sich zu reißen versucht. Das sei ihm zwar nun nicht gelungen, und darüber freue er sich, er, Nagel, der ihn immer gewarnt habe, seinem Ehrgeiz allzusehr nachzugeben... Denn wohin könne ihn dieser jetzt noch führen?--Höchstens noch zur Spezialität, zum Berufsschwimmer. Dann aber sei es mit seiner Entwickelung zu Ende, dann sei er kein Sportschwimmer mehr, sondern nur noch eine Abnormität. Ein Professional, der seine Kunst für Geld zeige. Aber es sei nie der Zweck des Klubs gewesen, dem anzugehören sie beide die Ehre hatten, solche hors-concours-Größen heranzuzüchten; sein Ziel und einziger Zweck sei die gedeihliche Pflege des Schwimmsportes, und nichts anderes... So redete Nagel, und er sprach noch in seiner weitschweifigen und langsamen Art, als die anderen von ihrem Billard aus dem Nebenzimmer und immer mehr Mitglieder, ältere und jüngere, hereinkamen, sich um den Tisch setzten und gespannt zuhörten. Leider war Brüning nicht unter ihnen, Brüning, der einzige, der mit seiner Gemütlichkeit, Erfahrung und seiner Lebenskenntnis, mit seiner Zuneigung für Felder und seiner allgemeinen Beliebtheit im Klub die Sache noch hätte ins rechte Geleise bringen können. Er war nicht in Berlin, sondern wieder einmal auf einer seiner plötzlichen Reisen. Felder saß stumm und blaß da. Jedes der Worte Nagels ließ den Groll und die Bitterkeit in seinem Herzen höher und höher steigen. Das war ja alles falsch und unrecht, was er da vorbrachte, und jeden der Vorwürfe wies er im Innern von sich, sowie er fiel. Er hätte sich nicht um das Gedeihen des Klubs gekümmert, er, der nur für ihn, nur in ihm all diese Jahre gelebt hatte?--Zwar mit der Jugendabteilung hatte er sich wenig befaßt, das war richtig; aber er verstand nun einmal nicht, Anordnungen zu geben und zu lehren. Er war doch nicht der Schwimmwart. Aber war es nicht weit wichtiger gewesen, daß er selbst in unermüdlichem Eifer sich ausgebildet hatte?--Wie hätte er es denn sonst zum ersten Schwimmer der Welt bringen können? Wie hätte er sich dankbarer erweisen können, als dadurch, daß er alle Erfolge mit seinem Verein teilte und dessen halbvergessenen Namen wieder zu Ehren brachte?--Er habe sich früher nicht an den Debatten beteiligt. --Auch das sei wahr, aber diese kleinlichen Streitigkeiten ekelten ihn nun einmal an. Dafür habe er geschwommen, geschwommen, siegreich geschwommen!... War das nicht mehr wert, als alle Worte?-- So wies er innerlich jeden der Vorwürfe, einen nach dem anderen, zurück, und nur auf den letzten: den des Ehrgeizes nach einem fremden Ziele, fand er nicht die richtige Antwort, so daß er, als Nagel endlich geendet und er blaß und verwirrt aufstand, um zu antworten, fast alles vergessen hatte, was er, der Schwerfällige, dem Redegewandten entgegnen wollte. Er brach los, aber was er vorbrachte, waren nur unzusammenhängende Worte und halbe Sätze. Er hatte nie verstanden, sich auszudrücken-- und auch in dieser Stunde, wo sein Herz so voll war, gingen seine Augen nur unruhig von einem der bekannten Gesichter zum anderen, als suchten sie bei ihnen Hilfe gegen diese unerhörten Beleidigungen und Anklagen, bis sie auf der Statuette des Springers hafteten, die dicht vor ihm auf dem Tische stand und die er in seiner Erregung erst jetzt sah. Sie war heute gekommen, während er nach Hamburg gefahren war. Der Bildhauer hatte seiner Dankbarkeit und Erkenntlichkeit für Felder einen Ausdruck geben wollen, und da dieser so oft und mit solcher Liebe von seinem Klub gesprochen, hatte er gedacht, ihm eine Freude zu machen, wenn er diesem eine kleine Nachbildung seines inzwischen so berühmt gewordenen Werkes für das Vereinszimmer stiftete... Nun stand das wertvolle Geschenk auf dem Tische vor Felder. Als dieser begriff, was es war, stockte er von neuem, und abermals wallte ein mächtiger Groll in ihm auf. Immer und immer wiederholte er ohne Zusammenhang das Wort von der Niederlage, und fast sinnlos vor Zorn schrie er endlich, als er in keinem der Gesichter um sich her auch nur eine Spur von Verständnis für seine Gefühle fand, über den ganzen Tisch hinweg: --Ja, Niederlagen wünscht ihr mir, aber meine Preise nehmt ihr gern! Das hätte er nicht sagen dürfen, und er merkte es sofort an der Stille, die diesen Worten folgte. Dann unterbrach sie eine scharfe, höhnische Stimme vom Tischende her, die eines alten Gegners: --Sogar von dem Meisterspringer... Vor Felders Augen wurde es dunkel. Er wußte nicht mehr, was er tat. Er griff nach der Statuette, zog sie so heftig zu sich heran, daß ein Arm abbrach, faßte sie und schleuderte sie zu Boden, wo sie in tausend Splitter zerbrach. Ohne sich umzusehen, ging er hinaus. Niemand hielt ihn, niemand ging ihm nach. Als er im Torwege des Hauses an der Straße stand, fühlte er plötzlich, daß seine Augen naß waren. Er sah nichts mehr und fuhr mit dem Handrücken über sie hin. Dann merkte er, daß es Tränen waren. Er wunderte sich. Es war das erste und einzige Mal in seinem Leben, daß er weinte. Dann lachte er laut auf, trotzig und verächtlich. 9 Koepke mußte den Brief aufsetzen, in dem Felder seinen Austritt anmeldete. Kein Entwurf genügte dem im Innersten Gekränkten. Sogar der übliche "Schwimmergruß" am Ende mußte fortbleiben und wurde durch das steife "Hochachtend" ersetzt. Endlich entschied er sich für die kürzeste Fassung. Trotzdem dauerten Vorbereitungen und Ausführung der Abschrift fast eine Stunde.--Daß Koepke zugleich mit ihm austrat, war ebenso selbstverständlich, wie nebensächlich. Es war kaum bekannt geworden, daß Felder den S.-C. B. 1879 verlassen wollte, als sich bereits mehrere der ersten Berliner Schwimmvereine um seine Mitgliedschaft bewarben. Alle wären stolz darauf gewesen, den Meisterschwimmer ihr eigen zu nennen. Aber Felder hatte bereits entschieden, und es war mehr ein Zufall, als Absicht, der ihn den Klub "Hecht" wählen ließ. Er traf eines Abends mit mehreren der ihm gut bekannten Mitglieder zusammen, ein Wort gab das andere, und Felder war sein Mitglied, ehe er sich dessen versah. Es war kein besonders hervorragender, aber geachteter und strebsamer Verein, der sich natürlich mit dem S.-C. B. 1879 in keiner Beziehung messen konnte, aber doch auch nicht zu jenen kleinen Klubs gehörte, die lediglich aus Vereinssimpelei entstanden waren und das Schwimmen nur so nebenbei betrieben. Er setzte sich in seiner Herrenabteilung meist aus kleinen Gewerbetreibenden und Beamten, in seinen jüngeren Leuten aus deren Angehörigen und Bekannten zusammen und bildete gewissermaßen eine große Familie. Für Felder war die Art und Weise entscheidend, mit der man ihm entgegenkam. Man betrachtete seinen Eintritt als hohe Ehre und nahm die Gelegenheit sofort wahr, den Tag als Fest zu feiern, wie man überhaupt in geselligen Zusammenkünften groß war. Felder gebot von der ersten Stunde an unumschränkt in allem, was er wollte und wünschte. Das war nun zwar niemals mehr, als Beteiligung an jeder irgendwie bedeutsamen Schwimmkonkurrenz. Denn jetzt, wo er sich endgültig auf dieses, sein Gebiet, beschränkte, war seine Eifersucht, unumschränkt auf ihm zu herrschen, größer als je. Keiner widersprach seinen Wünschen. Dafür erwartete man Wunderdinge von ihm, als Geringstes einen ganz neuen Aufschwung des Klubs. Der Anfang war vielverheißend. Man leerte die Kasse willig, um Felder auf möglichst viele auswärtige Feste senden zu können, und freute sich kindlich an den eroberten Preisen, mit denen man das noch recht kahle Klubzimmer schmückte. So siegte er im Laufe der Sommermonate nacheinander: im Schwimmen um die "Havelmeisterschaft", bei dem neben ihm nur noch einer startete; in Magdeburg im Schwimmen um die "Elbmeisterschaft", die er nun schon zweimal sein nannte; in dem großen "Müggelseeschwimmen", einem heißen Kampfe; in Hannover, wo er allein an den Start ging, und daneben in mehreren lokalen Veranstaltungen der Berliner Klubs. Er unterlag eigentlich nur ein einziges Mal, als er auf dem Gastschwimmen des "Triton" sich von dem Favorit dieses Klubs im Brustschwimmen zu dessen eigenem Erstaunen schlagen ließ. Aber die Kämpfe dieses Jahres standen unter keinem günstigen Zeichen und nicht auf der Höhe derer der Vorjahre. Die Europameisterschaft wurde nicht in England ausgefochten, sondern in Wien. Als Felder im August dort hinreiste, fand er weder von England, noch von Italien Konkurrenten vor. England hatte, wie gewöhnlich, keine entsandt, und der italienische Meister, mit dem er nun schon zweimal so erfolgreich gerungen und der Stein und Bein geschworen, ihn beim dritten Male unterzukriegen, war nicht erschienen. Er sei krank, hieß es... Deutschland hatte überhaupt keinen geschickt außer ihm. Es konnte nichts Besseres tun. Aber die Freude an der diesjährigen Europameisterschaft war Felder getrübt. Er wäre nur zufrieden gewesen, wenn er sie gegen die ersten Meister der Welt auch diesmal hätte verteidigen können, vor allem gegen jenen australischen Schwimmer, von dessen phänomenalen Leistungen die internationalen Sportblätter so viel sprachen, dessen Rekord über die 1000-Meter- Strecke den seinen um zwei Minuten übertraf und dessen Porträt deshalb in der letzten Nummer des "Sport im Bilde" neben das seine gestellt war. Aber der war nicht gekommen und auch nicht erwartet worden... Er messe sich nur in Australien und England, hieß es. Als Sieger kehrte er zurück, mit Jubel empfangen. Als Sieger ging er auch aus dem diesjährigen großen Verbandsschwimmen in Charlottenburg hervor, wo er einen doppelten Triumph davontrug. Denn hier führte er zum ersten Male die neuen schwarz-gelben Farben gegen die blauweißen ins Feld. Der S.-C. B. 1879 wagte es und hatte zum Schwimmen über dreihundert Meter--wie früher ihn--ein Mitglied gemeldet. Felder lachte, als er es hörte.--Gegen ihn!--Man wollte ihn ersetzen?--Man sollte sich täuschen. Er wollte ihnen zeigen, was sie an ihm verloren hatten. Und es machte ihm ein grausames Vergnügen, den früheren Klubgenossen, mit dem er so manches Mal zusammen im Spiel geübt hatte, noch neben sich liegen zu lassen, als die anderen drei Konkurrenten schon längst hinter ihnen geblieben waren, ihm zu erlauben, bis auf Körperlänge ans Ziel zu kommen, schon die Rufe zu hören, die früher ihm gegolten, und ihn dann unter dem tosenden Beifall der Schwarz-Gelben und aller Zuschauer um diese eine Körperlänge zu schlagen, indem er mit seinem gefürchteten und berühmten Anschlag ans Ziel ging... An diesem Abend, als er neben diesem 300-Meter-Siege auch noch den neu gestifteten "Kaiserpreis" für den "Hecht" erwarb und seine neuen Genossen nicht genug tun konnten, ihm ihre Freude und Dankbarkeit zu beweisen, während der S.-C. B. 1879 in corpore das Lokal der Preisverteilung verließ, genoß er ganz das Gefühl der Genugtuung gesättigter Rache. Aber in nächster Zeit, in den langen Tagen und Wochen zwischen den großen Festen, sonst stets so ausgefüllt durch ruhige Arbeit und frohen Verkehr mit lieben Freunden, fühlte er mehr als je, was er in diesem Sommer verloren. Keinen der beiden Schläge--die ersten, die er in seinem Leben empfangen,--vermochte er zu verwinden: weder die Niederlage im Springen, noch den Verlust seines Klubs. Der eine hatte ihn noch trotziger und eifersüchtiger gemacht, obwohl sie ihn tief verletzt; aber an dem anderen litt er. Es war eine Wunde, die sich nicht schließen wollte. Denn unter seinen neuen Genossen fühlte er sich fremd. Wie als Knabe schon, war er auch jetzt noch nicht imstande, sich schnell an neue Menschen anzuschließen und im Verkehr sich leicht zu geben. Das wurde natürlich auf der anderen Seite ebenfalls empfunden und manche Versuche vertraulicher Annäherung hörten von selbst auf. Felder war nicht mehr zufrieden und glücklich. Noch standen seine Siege ganz auf der Höhe derer vom Vorjahre. Er schwamm noch ebenso tadellos, sein Stil war unanfechtbar, wie seine Siege, aber sie machten nicht mehr dasselbe Aufsehen wie bisher. Man hatte sich an sie gewöhnt und erwartete nichts anderes von ihm. Er selbst legte ihnen nicht den Wert mehr bei, wie früher.--Manche sagten, eine gewisse Gier und Rücksichtslosigkeit habe sich seiner bemächtigt, die ihm früher nicht eigen gewesen sei. Vielleicht täuschten sie sich, weil er nicht mehr so ruhig war, wie sonst, nicht mehr mit derselben frohen Unbekümmertheit und Heiterkeit an den Start ging. Aber in einem hatten sie recht: Felder war wirklich ein anderer geworden. Er war nicht mehr zufrieden, nicht mehr glücklich. Außerdem beschlich ihn jetzt zuweilen ein ganz neues Gefühl, das er nie vorher gekannt hatte: er fühlte sich einsam. 10 Es war nichts Besonderes, daß sich im Briefkasten des Klubs Sendungen für Felder befanden. Glückwünsche, Einladungen zur Beteiligung an Schwimmfesten, Anliegen aller Art, um Photographien, Lebenslauf und Autograph kamen alle Woche, und es war nicht das erstemal, daß sich unter all diesen geschäftlichen Dingen, die sämtlich von Koepke mit rührender Sorgfalt und komischer Wichtigtuerei erledigt wurden, so daß Felder nur seinen Namen unter die Antworten zu setzen brauchte-- es war nicht das erstemal, daß sich unter den Eingängen Schreiben von zarter Hand befanden, auf die der Empfänger zwar nie reagierte und die er meistens dem Gelächter seiner Freunde preisgab, Briefe, die ihn aber doch dazu veranlaßt hatten, seine Korrespondenz erst selbst durchzusehen, ehe er sie seinem getreuen Sekretär auslieferte. Eines Abends wurde ihm nur ein Brief gegeben, und kaum hatte ihn Felder in der Hand, als er wußte, von wem er kam. Er spürte einen schwachen, unvergessenen Duft und schob ihn hastig in die Tasche. Sobald er allein war, öffnete er ihn. Erst schien er ihm in einer fremden Sprache geschrieben zu sein, so fremd und seltsam kamen ihm die schlanken, eckigen Buchstaben vor. Dann entzifferte er ihn nach und nach. Keine Anrede, keine Unterschrift. Was er las, waren nur diese Zeilen: "--Ich bitte Sie, mich zu besuchen. Ich weiß, Sie werden kommen. Jeden Freitag abend um 8 Uhr wird man sie an der Ecke der Charlotten- und Taubenstraße, der südwestlichen Ecke des Gendarmenmarkts, dort, wo die Litfaßsäule steht, erwarten, um Sie zu mir zu führen. Ich weiß, Sie werden kommen!..." Felder war ganz verblüfft. Er nahm das Kuvert in die Hand: der Brief war an ihn. Er trug die Adresse des S.-C. B. 1879 und war durch dessen Schriftführer, wie schon so mancher andere, einfach an den "Hecht" weitergesandt worden. Es war kein Zweifel möglich. Und plötzlich, während er noch das Papier in der Hand hielt und nicht wußte, was erdenken sollte, stieg von ihm wieder der starke, seltsame Duft eines bestimmten Parfüms auf und mit ihm die hohe, schlanke Gestalt in grauer Seide mit dem kühnen und festen Blick. Das war sie, die ihn damals im Café so unverwandt angeblickt, die er in der Kunstausstellung zum zweiten und an dem Nachmittag desselben Tages--er biß die Zähne zusammen, wenn er an diesen Tag dachte--zum dritten Male gesehen hatte, und dann nie wieder... Sie mußte es sein, die dies schrieb. Es konnte niemand anders sein. Der Brief war von ihr. Aber was fiel dieser Person denn ein?--Das war ja der reine Wahnsinn, einem so zu schreiben: ohne Anrede, ohne Namen und in diesem Ton! Aber sie irrte sich, diese "Dame". Er war keiner von denen... Sie konnte lange warten. Er zerknitterte das rauhe, englische Papier in einen unförmlichen Klumpen und warf ihn fort. Dann bückte er sich, las die Zeilen noch einmal und zerriß den Brief in lauter kleine Stücke, die er fallen ließ. Also _das_ wollte sie von ihm!-- Aber sie konnte lange warten. Einstweilen würde sie sich schon mit ihrem Alten begnügen müssen. 11 So ging auch dieser Sommer zu Ende, und Franz Felder war fast froh darüber. Viele neue Ehren hatte er ihm gebracht, keine neuen, keine reinen Freuden mehr. Alles war anders geworden gegen den vorigen. Ein kurzes Jahr, und welche Veränderungen!-- Getrennt von seinen alten Freunden, fremd und unheimisch unter den neuen; nicht mehr dumpf in den engen Bezirk eines abgeschlossenen Lebens gebannt, sondern beunruhigt durch Einblicke in die Lebensführung anderer Kreise, erworben auf weiten und abwechslungsreichen Reisen beim Streifen weiterer Fernen; neben unerhörten, nicht endenwollenden Siegen eine lächerliche, zwecklose, einzig selbstverschuldete Niederlage--hatte er Gefühle von Bitterkeit, Groll und wiederum gesättigter Rache kennen gelernt, die der schlichten, frohen Unbekümmertheit seiner Jugend bisher völlig fremd gewesen waren. Er hatte die höchste Höhe erreicht. Keine bewundernden Augen folgten seinem Aufstieg mehr. Er stand oben, ganz allein, wie er es gewollt. Nun ging es in schwindelnder Höhe von Grat zu Grat, und wer ihm nachsah bei seiner hastigen Wanderung von Sieg zu Sieg, ohne Ausruhen, ohne Freude mehr, der konnte sich eines bangen Gefühles für ihn nicht erwehren. Eines Tages würde er fallen in den Abgrund der Vergessenheit. Felder selbst wußte es. Aber wie der tollkühne Wagehals, der in atemloser Hast von Gipfel zu Gipfel eilt und keinen Blick rückwärts mehr in die Tiefe zu tun wagt, weil er fürchtet, der Schwindel könne ihn ergreifen und niederreißen, so wollte auch er nicht mehr daran denken, woher er gekommen war, und nicht wissen, wohin er ging. Statt in ruhiger Wahl sich die schönsten der Früchte von dem Baume zu pflücken und sie zu genießen, rüttelte er in unersättlicher Begierde an ihm und ließ sie zur Erde fallen, ohne sich kaum noch die Mühe zu geben, sie zu zählen. Die stille Wut des Gehetzten überfiel ihn zuweilen, von dem man das Unmögliche verlangt und der doch über seine eigene Kraft nicht hinaus kann. Und doch war er es ganz allein, der sich unaufhörlich antrieb mit den quälenden Zurufen seines Innern: "Weiter!--weiter!--Immer weiter!-- Nur kein Stillstehen! "... Er schwamm nicht mehr, wie bisher. Er hatte keine Achtung mehr vor seiner eigenen Kunst, weil sie ihm nicht mehr die höchste Freude war. Wie er angefangen, in seinen Gegnern seine Feinde zu sehen, so sah er einen Feind jetzt auch in seinem Wasser. Nie tummelte er sich mehr in ihm, wie als Knabe im kindlichen Spiel; nie rang er mehr mit ihm, um die Kraft des Jünglings in ehrenvollem Kampfe mit dem Gegner zu messen. Das Wasser war sein _Feind_ geworden. Er kämpfte mit ihm auf Tod und Leben--um sein Leben! Und er behandelte es, wie einen Feind. Er grüßte es nicht mehr mit frohem, leuchtendem Blick, wenn er seine glitzernde Fläche sah. Er koste es nicht mehr mit warmer Hand und hielt keine vertrauliche, heimliche Zwiesprache mehr mit ihm. Hastig kam er, griff beim Sprunge mit den Händen in die Flut, als wolle er sie würgend bei der Gurgel packen, schlug und mißhandelte sie, wenn sie ihn nicht schnell genug zum Ziele trug, und das Wasser schien es zu fühlen. Er bildete sich ein, es setze ihm seit einiger Zeit einen geheimen Widerstand entgegen, als trüge es ihn nicht mehr so leicht wie bisher zu seinen Zielen, und rasend vor Wut mißhandelte er es mit den Fäusten, um es seinem Willen gefügig zu machen. Und das Wasser murrte und grollte und schrie unter diesen ungewohnten grausamen und rohen Schlägen, und bäumte sich auf, und ließ ihn doch immer noch gewähren, weil es ihn vor allen so lange geliebt hatte und immer noch liebte. Aber Felder hörte die heimliche Warnung der vertrauten Stimme schon nicht mehr. Vierter Teil 1 Er war nicht mehr zufrieden und nicht mehr glücklich. Es schien ihm, als habe sein Leben keinen Inhalt mehr. Was seine Freude gewesen war, war es nicht mehr. Und stärker und stärker wurde das Gefühl der Einsamkeit in ihm. Er hatte zwar jetzt jeden Abend etwas vor, ging hierhin in ein Varietétheater, und dorthin zum Bier, aber wiewohl er in Gesellschaft war, fühlte er sich doch allein. Eines Tages erhielt er einen zweiten Brief, auf demselben starken, rauhen Papier mit dem unbeschnittenen Rande: "--Vergessen Sie nicht: _jeden_ Freitag Abend um 8 Uhr erwartet man Sie an der Ecke der Tauben- und Charlottenstraße, dort, wo die Litfaßsäule steht, denn ich weiß, Sie werden kommen. Einmal werden Sie kommen--ganz sicher!"... Wieder knitterte er ihn zusammen, und wieder faltete er ihn auseinander, um ihn abermals zu lesen. Die Geschichte wurde ihm unheimlich. Der bestimmte, überlegene Ton des Briefes ließ diesmal kein Lachen in ihm aufkommen. Wenn er noch seine alten Freunde gehabt hätte, würde er einem von ihnen, zum Beispiel Brüning, den Brief gezeigt haben. Unter seinen neuen war keiner, dem er sich anvertrauen mochte. Er dachte zuweilen an die erste Begegnung im Café und die beiden ihr folgenden. Manchmal, wenn er eine schöne Frau oder ein hübsches Mädchen sah, kam ihm die Fremde ins Gedächtnis, und immer fiel der Vergleich zu ihren Gunsten aus. Immer dachte er auch daran, daß sie an jenem Nachmittag seinem Unterliegen beigewohnt--weshalb war sie damals gekommen, wenn nicht seinetwegen?--Wußte sie, wer er war?--Und was mußte sie nun von ihm denken?-- Das Rätselhafte der ganzen Sache begann ihn zu beschäftigen. Diese geheimnisvollen Briefe--woher hatte sie seinen Namen erfahren und den des Klubs?--Sie mußte ihn an jenem ersten Abend im Café gehört haben, anders war es überhaupt nicht möglich. Und dieses Rendezvous?--Ecke Tauben- und Charlottenstraße. Das war am Schauspielhause. Auf dem Gendarmenmarkte. Wer erwartete ihn dort?-- Und was wollte sie von ihm?--Was konnte sie von ihm wollen?--Nur eines! Nie wäre er hingegangen, wenn er sich nicht so einsam gefühlt hätte, wenn sie ihn nicht an jenem Nachmittage gesehen und--wenn sie nicht so schön gewesen wäre! Denn sie war so schön, daß er sie nie vergessen hatte. Als er diesen zweiten Brief bekam, fühlte er es; und er zerriß ihn nicht, sondern steckte ihn zu sich. Dann wieder kamen ihm diese Aufforderungen dumm und schamlos vor. Er wußte ganz gut, was sie von ihm wollte. Er war kein kleiner Junge mehr, und zudem war er ein Berliner. Mit ihm "sich amüsieren"--das wollte sie!... Schließlich, nachdem er den ersten Freitag und den zweiten hatte verstreichen lassen, beschloß er, an einem nächsten einmal an der bezeichneten Ecke vorbei zu gehen. Er wollte doch einmal nachsehen, wer denn dort auf ihn wartete. Wahrscheinlich niemand... Sie hatte es jetzt wohl aufgegeben, nachdem sie einmal gesehen, daß "mit ihm nichts zu machen war".-- Um sieben Uhr kam er von der Arbeit. Um acht war er an der Ecke. Er hatte recht: es war niemand da, um ihn zu "erwarten". Er war doch ein rechter Esel. Da--schon wandte er sich zum Gehen--stand, wie aus der Erde gewachsen, dicht neben ihm eine alte, kleine Frau, in einen weiten Mantel gehüllt und den Kopf halb unter einer großen Kapuze verborgen, so daß Felder nur die scharfe Nase und die dunklen, funkelnden Augen sah, und sagte mit einem fremden Akzent hastig und bestimmt: "Bitte mir nur zu folgen!--Nicht weit..." Wo war sie so plötzlich hergekommen?--Hatte sie hinter der Säule gestanden?--Oder war sie aus einer der wartenden Droschken gestiegen?--Felder erfuhr es nie. Aber er folgte ihr fast willenlos, so überrascht war er. Die Alte ging schnell vor ihm her. Noch überlegte er, ob er nicht umkehren sollte, als sie bereits vor einem Hause halt machte und die Tür öffnete. Er hatte nur Zeit, zu fragen: "Wohin führen Sie mich denn eigentlich?"--Aber die Alte verstand seine Frage offenbar gar nicht. Sowie er die ersten Worte sprach, unterbrach sie ihn und sagte wieder nur (und es war wie eine eingelernte Redensart) schnell und in hartem Deutsch: "Bitte mir nur zu folgen!--Gar nicht weit!--Schon hier!"--Nochmals, als sie dann die Treppen hinaufstiegen und er immer weiter, wie gebannt, folgte, wollte er fragen und sich wehren, aber wieder wurde eine Tür geöffnet, aus dem Entree strömte es ihm hell und warm entgegen, und die Alte wiederholte, indem sie ihn durch Gebärden aufforderte, seinen Überzieher abzulegen und ihm dabei behilflich war: "Schon hier!--Schon hier!"-- Im nächsten Augenblick stand Franz Felder in einem hohen, dämmerigen Gemach: schwere Teppiche auf dem Boden, schwere Portieren über den Türen und Fenstern, schwere Fauteuils und Ruhestätten, aber sonst alles klein und leicht, die tausend verschiedenen Luxusdinge aus der Umgebung einer verwöhnten Frau. In der Mitte des Zimmers stand sie selbst, in einem dünnen fast durchsichtigen Gewande, ihn erwartend. Als sie ihn sah, ging sie langsam auf ihn zu, bis sie dicht vor ihm stand. Sie waren allein. Sie sah ihn an, aber ganz anders, wie sonst: mit einem unbeschreiblichen Lächeln. Sie legte ihre Arme um seinen Nacken und ihr Körper preßte sich dicht an den seinen. Dann küßte sie ihn, und es war wie ein Aufatmen, als sie dann das erste Wort sagte: "Endlich!..." Er stand ganz still. Er wußte nicht, was er tun sollte. Aber das Blut stieg ihm zu Kopf: wie schön sie war!--Und der Duft, der fremde, seltsame Duft, der von ihr ausging, dieser Duft, den er kannte, berauschte ihn und brachte ihn um seine letzten Sinne. Noch wollte er nicht. Aber er mußte. Wie schön sie war!... Er wußte schon nicht mehr, wo er war und was er tat. Sie sah es. Sie empfand es. Und da regte sich in ihr, die diesen Augenblick seit Monaten mit verhaltener Gier ersehnt, und in ihm, der sich vor diesem Augenblick, ohne es sich klar zu machen, gefürchtet hatte, die Lust ihn zu verlängern, und Auge in Auge, mit heißem Atem und glühenden Händen, maßen sie ihre Stärke aneinander--diese schönen Menschen, beide in der Fülle einer in stetiger Ausdauer geübten Kraft. Aber in ihm erwachte der Mann. Und da er der Stärkere war, nahm er sie, wie sie es wollte und gewollt hatte seit der Stunde, in der sie ihn zum ersten Male gesehen und für sich begehrt. 2 Sie wurde sein Leben von da an. Sie wurde es so sehr, daß er über ihr sogar sein Liebstes vergaß. Er hätte es bisher für eine Unmöglichkeit gehalten, mehr als zwei Tage vergehen zu lassen, ohne im Wasser gewesen zu sein. Ganz selten war einmal einer gegangen, an dem er sich nicht in sein Element gestürzt hätte, und zwei wohl nie, solange er denken konnte. Nun geschah es, daß drei oder vier vergingen, ohne daß es ihm in den Sinn kam, zu schwimmen. Er dachte nur noch an sie: an ihren Mund, an ihre Augen, an jede Einzelheit ihres Körpers, der sein geworden war und es jeden Tag von neuem wurde. Es war ein seltsames Verhältnis. Als er eine Woche fast jeden Abend bei ihr gewesen war, wußte er noch nicht einmal ihren Namen; als er sie vier Wochen kannte, wußte er nicht viel mehr, als daß sie Georgette hieß. Vielleicht nannte sie sich auch nur so. Erst wollte er alles wissen. Er wollte schon dahinter kommen. Aber er gelangte selten dahin, eine Frage zu tun; und dann hatte sie eine so eigentümliche Art, auf Frägen, die ihr nicht paßten, zu erwidern, ohne sie zu beantworten. Nie erfuhr er das, was er eigentlich wissen wollte. Und wenn sie nicht mehr ausweichen konnte, dann konnte sie so leise bei seiner Frage lachen, als sei diese Frage nur ein guter Witz von ihm.--Es kam nie zwischen ihnen zu einem Gespräch. Er so schwerfällig, so unerfahren und selbst so schweigsam, war unfähig, ein solches in Gang zu bringen; und sie--entweder hatte sie nur die kurzen, abgerissenen Worte der Leidenschaft, oder sie lag ihm gegenüber, rauchend und ihn unverwandt anblickend, bis sie aufsprang, die Zigarette fortwarf und sich von neuem an ihn schmiegte. Etwas Fremdes haftete allem an, was sie tat und sagte. Ihre Sprache war kein reines Deutsch, sondern ein Gemisch von Ausdrücken, die sie auf ihren Fahrten durch aller Herren Länder aufgelesen. Denn sie kannte alles, war überall gewesen, hatte alles gesehen--und wenn dem jungen Manne hier und da einer der vielen fremden Gegenstände, mit denen ihre Zimmer überladen waren, in die Augen fiel und er sie nach seinem Ursprung fragte, dann geschah es auch wohl, daß sie eine Art von Geschichte daran knüpfte: aber nie zusammenhängend, nie so, daß sie ein Stück ihres Lebens wurde. Und so war und blieb sie: immer schlagfertig, immer bereit und im Gründe nie direkt ausweichend, aber doch nie und nichts wirklich gebend... nichts, außer sich selbst!... Sie selbst fragte ihn nie nach irgend etwas. Aber sie unterbrach ihn auch nie und schien sogar interessevoll zuzuhören, wenn es einmal geschah, daß er sein Schweigen brach und von sich und seinen Erfolgen anfing zu erzählen. Lange hatte es schwer auf ihm gelegen, daß sie ihn gerade an jenem Unglückstage gesehen, an dem er seinen ersten un4 letzten Versuch in der fremden Kunst machte, und er suchte ihr weitschweifig zu erklären, wie alles gekommen war... Sie begriff indessen durchaus nicht die Wichtigkeit, die er der Sache beilegte. Genügte es nicht, daß er unbestrittener Sieger im Schwimmen war?--Kam ihm da einer gleich?--Was wollte er denn noch mehr?--Im Grunde sagte sie ihm dasselbe, was seine Freunde ihm auch gesagt hatten. Ihr war er recht so. Er war ja so schön, so jung und so stark--ah, so stark! Aber sie versprach ihm, dem nächsten großen Schwimmen beizuwohnen, "wenn es ihr möglich sein würde", wie sie hinzufügte. Allmählich gab er es auf, zu fragen, als er sah, daß er ihr durch keine Antwort näher kam. Er beruhigte sich bei dem Bilde, das er sich machte: eine reiche Ausländerin, die in Berlin lebte, nachdem sie früh Witwe und völlig unabhängig geworden war (etwas derartiges hatte sie einmal geäußert); die wohl Bekannte und Freunde hier hatte (natürlich nur Freunde in gutem Sinne, zum Beispiel den alten Herrn, mit dem Felder sie zusammen gesehen); die sich in ihn verliebt hatte und ihn liebte (das hatte sie ihm in der ersten Stunde in neun verschiedenen Sprachen gesagt, und sagte es ihm täglich hundertmal in einem Gemisch von dreien)... Es war nicht viel, was er von ihr wußte, und er fühlte, daß es nicht das richtige Bild war, das er vor sich sah. Aber was wollte er machen, da es sich ihm nun einmal nicht klarer, als in diesen schattenhaften Umrissen, zeigte?-- Und er liebte sie!-- Er liebte sie, wie er seinen Ruhm liebte: er konnte das Glücksgefühl, die beide ihm gaben, nicht mehr entbehren. Sie hatte ihn gewonnen, weil es seinem Ehrgeiz schmeichelte, von einer so schönen und eleganten Frau begehrt zu werden, und weil ihr Wille der stärkere gewesen war; und sie hielt ihn fest, indem sie seine erregte Sinnlichkeit mit allen Künsten ihrer Erfahrung immer und immer wieder aufs neue anstachelte. Er war in der ersten Zeit fast alle Abende bei ihr. Dann mindestens drei-, viermal in der Woche. Nie durfte er ihre Wohnung ungerufen betreten. Immer, wenn er von der Arbeit kam, hatte er zuerst auf dem Postamte in der Nähe nachzufragen: zuweilen war ein Brief da, der die Verabredung dieses Abends auf den nächsten oder übernächsten verschob; jedesmal aber mußte er an der Ecke der Straße erst nach der Alten sehen, bevor er zu ihr kam: war sie da, so huschte sie schweigend vor ihm her, und er folgte ihr die Straße hinunter und die in ewiger Dämmerung liegenden, teppichbelegten Stufen der Treppen hinauf bis in das hohe, schwüle Gemach. Öfter und öfter jedoch kam es vor, daß er noch in dieser letzten Minute durch ein hastig ihm in die Hand geschobenes Billett gebeten wurde, heute "nicht zu kommen", da das bekannte "unvorhergesehene Ereignis" eine Zusammenkunft für diesen Abend unmöglich machte. So wurde er in einer beständigen Aufregung erhalten, ob er sie sehen würde oder nicht. Nach einer so plötzlichen und ihn immer tief verstimmenden Absage lag der Abend zweck- und inhaltslos vor ihm; und traf diese Absage nicht ein, sah er sie wirklich wieder, so war ein Teil seiner Freude schon durch die Unruhe der Unbestimmtheit zerstört, in der er den Tag bis zum Abend verbrachte. So gewöhnte er sich mehr und mehr daran, die leeren Abende durch Vergnügungen auszufüllen, an die er bisher schon ihrer Kostspieligkeit wegen nur selten gedacht hatte. Er ging in den Wintergarten, an Orte, wo Laune und Leben herrschten, nur um nicht allein zu sein; trank in Cafés und Lokalen, die er bisher nie betreten, hier einen Kognak, dort ein Glas Bier; kam später nach Hause, als er wollte, und tat seine Arbeit am nächsten Tage widerwillig und in der ewig gespannten Erwartung, ob ihm der Abend eine neue Enttäuschung oder seinen Sinnen wieder die ersehnte Erfüllung und Beruhigung bringen würde. Er fühlte sich nicht mehr einsam, aber unruhig, und konnte den Abend nicht mehr erwarten während eines Tages, der ihm zu lang wurde... Der Rest der von England mitgebrachten Summe wurde öfter und öfter in Anspruch genommen und schmolz immer mehr zusammen, denn sein Verdienst reichte natürlich nicht entfernt aus, um die erhöhten Ansprüche des jetzigen Lebens zu befriedigen. Felder gab für seinen Schneider jetzt in einem Monat mehr aus, als sonst in einem Jahre, und doch wurde er nie das Gefühl los, nicht gut genug gekleidet zu sein, wenn er zu ihr ging, obwohl er dort niemals einen anderen Menschen außer ihr sah und sie nie ein Wort über sein Aussehen verlor. Er achtete auch schon nicht mehr darauf, wieviel er der Sparkasse entnahm. Er brauchte ja nur nochmals nach England zu gehen, um einen neuen Fond heimzubringen. Überhaupt war es ein Skandal, daß er noch auf seine Arbeit angewiesen sein mußte, während die Meister der anderen Sports--die Radler zum Beispiel--längst herrlich und in Freuden von den Einkünften ihrer Siege lebten. Nur in seiner Sache, bei den Schwimmern, gab es das nicht... Ganz langsam und allmählich begann er, seine Kunst auch von dieser Seite aus zu betrachten. Früher hätte er sich dessen geschämt. Und alles das, weil der Luxus, den er so plötzlich täglich einatmete, in so schreiendem Gegensatz stand zu seinem bisherigen Leben der Armut, Einfachheit und Genügsamkeit.-- Sie hatte ihn. Sie besaß ihn, weil er sie nicht mehr entbehren konnte. Sie änderte ihn, ohne es zu wollen. Denn sie hatte ihn so gewollt, wie er gewesen war: frisch und unberührt und jung. Er war es nicht mehr in dieser Leidenschaft zu ihr. Er, der früher so mäßig gewesen war, trank jetzt, nicht regelmäßig, aber unbekümmert, je nach Lust und Laune. Es tat ihm nichts. Er fühlte keine Wirkungen. Sein Körper überwand die leichten Folgen schnell. Vielleicht war sein Kopf etwas benommener. Aber er lebte jetzt überhaupt in einer dumpfen Schwere, in einem täglich neu erweckten Rausch aller Sinne, durch dessen Nebel er immer, wo er ging und stand, nur ihren bräunlich-hellen Körper sah, ihre seltsam roten Lippen und ihr dunkles Haar, eingehüllt in die Duftwolke ihres aufreizenden Parfüms, einen Nebel, süß und weich wie ihre Küsse, warm und weich und entnervend wie die weißen Dämpfe der Winterbäder im Schwimmbade. Er verlor seine ewige Sehnsucht nach frischem, klarem Wasser, nach kalter, reiner Luft in dieser Atmosphäre. Er verlor sie, ohne es zu fühlen, ohne es zu merken. Ganz allmählich glitt er in sie hinein--in diese abgründige Leidenschaft, in die immer geöffneten, immer begehrenden Arme dieser fremden Frau. Er, der nicht wußte, was Nerven waren, fühlte sie erwachen und zittern unter den Liebkosungen ihrer Hände, und ehe sie Zeit hatten, sich zu beruhigen, wieder erwachen, bis sie--von einem Tag zum anderen in steter Erregung gehalten-- diesen Reiz nicht mehr zu entbehren vermochten, wie der Trinker sein Gift. Gewiß, er schwamm noch. Ja, er war jetzt wieder, wo ihre Absagen sich mehrten und immer öfter die unvorhergesehene Abhaltung, nach deren Grund er nicht mehr zu fragen gewagt hätte, eintrat, die flüchtige Zeile, die ihn bat, "_nicht_ zu kommen", er war jetzt wieder mehr unter seinen neuen Klubbrüdern, als vorher, denn er konnte diese einsamen Abende nicht mehr ertragen, in denen er in unterdrückter Begierde nach ihr von Kneipe zu Kneipe lief, um den Schlaf zu finden, der nicht mehr, wie bisher, in der Minute ungerufen zu ihm kam, in der er sich auf sein Bett warf. Aber er wir kein guter Sportgenosse und kein angenehmer Gesellschafter unter den "Hechten". Sie wußten es vorher, hatten es oft genug gehört, als sie sich um seine Mitgliedschaft bewarben, daß sie im Grunde nur seinen Namen bekamen, und sie sahen ihm alles nach. Daß er ihnen so fremd bleiben würde hatten sie wohl nicht gedacht. Keiner hatte eine Ahnung davon, was ihn der Sportsache innerlich zu entziehen begann. Felder selbst sah und hörte nicht, was um ihn her vorging. Er sah nur noch _sie_. Eines Abends gab sie ihm ihr erstes Geschenk. Sie saßen sich müde und schweigsam gegenüber und wußten nicht wovon sie sprechen sollten. Sie zeigte ihm ihre Schmucksachen und erklärte ihm ihren Wert. Er sah Dinge, die er nie geahnt hatte. Wenn er nach ihrem Ursprung fragte, lachte sie mit ihrem überlegenen Lachen: "O, das war, als sie in Buenos-Aires gewesen war, der weiße Pflanzer"--und dies Halsband kam aus London "von einem Herrn, der mit dem Prinzen von Wales sehr befreundet war... ja, dieser 'Prince des Galles'!..."...Und so ging es weiter, und Felder verstand nichts und begriff noch immer nichts und wollte auch nichts mehr begreifen. Sie legte ihm die Ketten und Spangen um, wie einem Kinde, mit dem man spielt. Und dann kam, was Felder so lange heimlich gefürchtet, und was er so entschlossen war, schon beim ersten Versuch energisch abzuweisen: dies Armband, das für ihr Gelenk etwas zu weit war und sich so fest um das seine schmiegte, dies goldene Band mit dem daran baumelnden Schloß sollte er immer tragen als Andenken an sie--so taten es jetzt die Männer; und als sie sein Widerstreben sah, kam dieser maßlose Zorn über sie, den er nicht zum ersten Male an ihr sah--ihre Augen blitzten, und ihre Lippen, die bebten, sprachen fremde und unverständliche Worte der Entrüstung und der Beschimpfung, bis sie dann bei seinen vergeblichen Versuchen, das Geschenk abzustreifen, ihre Wut ebenso schnell wieder vergaß und in ein Lachen ausbrach: Oh, er mußte es ja behalten, er kam ja nicht los, sie hatte ja den Schlüssel, und den bekam er nicht, nein, den Schlüssel nicht... Und er, erschreckt durch ihren Zorn und gedemütigt durch ihr Lachen, wagte nicht mehr, ihre erste Gabe zurückzuweisen. Es sollte nur ihre letzte bleiben,--so beruhigte er sich selbst. Er trug es, das Armband von Gold. Nie hatte einer seiner Siege, selbst der des Vorjahres in England nicht, ein solches Aufsehen gemacht, wie dieses einfache Armband; nie sprach man so viel von Felder, wie in diesen Wochen, als er mit dem Goldreif am Arm an den Start ging und schwamm. Man lachte, man spottete, man schimpfte und forschte nach; man empörte sich, man zuckte die Achseln, man machte Vorstellungen und--man erriet... Allerseits aber war man sich einig, daß es einfach lächerlich sei für einen Mann wie Felder, die dümmste und weibischste aller Moden mitzumachen, die man den Gigerln und Narren überließ. Ein deutscher Schwimmer und--ein goldenes Armband!--Es war der unerhörteste Widerspruch!-- Felder sah und hörte nichts. Höchstens, daß er verächtlich lächelte, wenn die Blicke und Worte allzu zudringlich auf seinem Handgelenk ruhten. Höher als sonst streckte er seinen Arm empor, unter die Augen der Zuschauer: an ihm glänzte der schmale Reif und leise klirrte das winzige Schloß beim Ansprung gegen die goldene Kette. 3 Er stand noch nicht im Zeichen des Rückganges, wie die bösen und durch "das Armband" von neuem aufgereizten Stimmen behaupteten. Aber selbst ruhigere Beobachter, die sich durch äußere Dinge nicht oder doch nur wenig beeinflussen ließen, fanden seit einiger Zeit Felders Stil nicht mehr so sicher, sein Tempo nicht mehr so fließend wie bisher. Vor allem nicht mehr so rein. Er schien Rücksichten auf seine Gegner überhaupt nicht mehr zu kennen. Es genügte ihm nicht mehr, seine Siege, wie bisher, in leichtem Kanter nach Hause zu bringen, sondern er strebte danach, sie auch dem Publikum recht deutlich zum Bewußtsein zu bringen, indem er ihm seine Überlegenheit über die andern auf alle Weise zeigte. Darunter mußte sein Stil natürlich leiden. Er fühlte es selbst und sogar einzelne Bemerkungen darüber kamen ihm zu Ohren. Er war zum zweiten Winterfest des Schwimmerbundes zu einem Seitenschwimmen gemeldet. Es fiel in den Anfang des Februar. Felder hatte nicht die Absicht, zu starten; aber da er auf der Sitzung des "Hecht" wieder einmal nicht anwesend gewesen war, hatte sein Klub für ihn die Meldung erlassen, in der Überzeugung, damit seinen Wünschen-- die nach möglichster Beteiligung strebten--zu entsprechen. Er war ärgerlich. Man hätte ihn doch wenigstens fragen müssen. Wann denn?-- entgegnete man ihm. Man sah ihn ja so unregelmäßig. Und wenn man ihn nicht gemeldet hätte, wäre er ebenfalls böse gewesen und hätte von Zurücksetzung gesprochen. Er zog die Meldung nicht zurück; es war ihm einerlei. Ein Sieg mehr, darauf kam es nicht an! Aber das sagte er gleich: zu der langweiligen Preisverteilung und zu dem noch langweiligeren Tanzvergnügen nachher kam er nicht. Er hatte keine Zeit am Abend; er war eingeladen. Er war jetzt immer eingeladen, kein Mensch wußte, von wem. Aber man wagte nichts zu entgegnen und war froh, daß er keine weiteren Schwierigkeiten machte. Er erschien, wie jetzt immer, spät auf dem Fest. Er war die ganze Nacht bei ihr gewesen, und auch am Morgen wollte sie ihn nicht fortlassen. Er blieb nur zu gern. Sie frühstückten im Bett, spät, und die Stunden wurden verschleudert bis über den Mittag hinaus. Schnell kleidete er sich aus und trat in die überfüllte Halle mit seinem hochmütigen und finsteren Lächeln auf dem Gesicht. Diese Feste hatten keinen Reiz mehr für ihn. Er fühlte weder Erwartung, noch Aufregung. Er nahm seine Mitwirkung jetzt nur als eine Pflicht, die von ihm erledigt werden mußte, da er nun einmal der Franz Felder war. Je bälder sie getan war, desto besser. Um so eher konnte er wieder bei ihr sein... Ungeduldig wartend stand er unter seiner Mannschaft. Er hielt die Arme gekreuzt über der Brust und an seinem rechten Handgelenk glänzte herausfordernd das goldene Armband, als wolle er die Blicke aller darauf lenken. Kaum, daß er seinen Klubgenossen antwortete, wenn sie mit einer Frage zu ihm traten.... Gleichgültig glitt sein Blick über die Wasserfläche hin, wo eben ein Rennen zu Ende ging und schnaufende Gestalten die Länge des Bassins durchkreuzten. Sonst hatte Felder nie den Augenblick erwarten können, in dem er selbst ins Wasser durfte. Heute kümmerte er sich nicht einmal mehr um seine Konkurrenten; er hatte sich kaum die Zeit genommen, ihre Namen auf dem Programm zu lesen. Wie gewöhnlich jetzt, ließ er sich Zeit während der ersten Länge. Bei der zweiten arbeitete er sich vor; bei der dritten wollte er sich dann nach den anderen umschauen. Er war gut in der Form heute, aber nicht so frisch wie sonst, so-- schien es ihm. Er nahm daher schon die zweite Länge von Anfang an mit Ernst. Bei der dritten wollte ihm der Vorsprung nicht gelingen. Irgend jemand, er wußte nicht wer, lag immer dicht neben ihm und blieb es bis ans Ende. Er konnte ihn nicht los werden, nicht mit aller Anstrengung, und die ungewöhnliche Erregung am Start brachte ihn zu der Überzeugung, daß sein Sieg diesmal sehr gefährdet worden war. Aber es war noch mehr als das. Es war ein totes Rennen. Die Richter konnten sich nicht einigen und es blieb unentschieden. Ein totes Rennen--das war weiter nicht schlimm. Ein totes Rennen war keine Niederlage. Aber es wurmte ihn doch, und er nahm sich vor, in nächster Zeit wieder einmal zu trainieren. "Sie" erleichterte ihm seinen Vorsatz, da sie ihm jetzt noch öfter absagte, als bisher; so übte Felder denn wieder fast jeden Abend, teils für sich allein, teils auch unbekümmert an den Übungsabenden des "Hecht", und er fühlte sich Herr seiner Kraft, wie immer. Sich die Zeit, wie früher, nehmen zu lassen, verschmähte er. Er freute sich besonders auf das nächste Meeting: auf dem Feste des "Poseidon" wollte er seinem alten Gegner im Gastschwimmen über die 200 Meter einmal wieder gegenüber treten und ihm--was er bisher gern vermieden--auf dem Fest eines Brudervereins unter den Augen der Seinen den Lorbeer entreißen. Eine Bemerkung Wenzels gelegentlich seines Springdebuts war ihm zu Ohren gekommen. Felder hatte sie nicht vergessen, wie er nie etwas vergaß, was man ihm zugefügt. Dies sollte seine Rache sein. Die Konkurrenz war merkwürdig stark besetzt: sechs Schwimmer von sechs bedeutenden Klubs rangen um den ehrenvollen "Poseidonjahrespreis". Felder freute sich auf seinen Sieg; er freute sich noch, als er an den Start ging, obwohl er sich wiederum nicht ganz frisch fühlte. Aber er war so sicher wie immer. Dann, als er im Wasser und in der zweiten Länge lag, geschah etwas, was er nie für möglich gehalten hätte: er fühlte, wie ihn eine plötzliche Mattigkeit überkam, und als er--gegen sie mit aller Kraft ankämpfend--etwa in der Mitte der dritten nicht nur Wenzel leicht vorauseilen, sondern auch rechts und links je einen Gegner neben sich liegen sah, da hatte er zum ersten Male seit Jahren das deutliche Gefühl, daß er diesmal nie als Erster ans Ziel gelangen würde. Und mit gleicher Deutlichkeit empfand er, daß es in diesem Augenblicke nur einen Ausweg für ihn gab, um dieser unvermeidlichen Niederlage zu entfliehen: "Aussetzen!"-- Plötzlich im Schwimmen aufhörend und tief bis zum Grunde des Bassins niedertauchend, schwamm er dort bis zum Fußende der Leiter, während er über sich das Rauschen des Wassers unter dem hastigen Wenden der Konkurrenten hörte, und stieg an ihr hinter ihnen, die ihm seinen Sieg entführten, aus dem Wasser unter die verblüfften Zuschauer, seinem triefenden Körper rücksichtslos Platz schaffend... Er war an diesem Abend nicht einmal böse, um so mehr, als er hörte, daß nicht Wenzel, sondern ein junger Magdeburger vom dortigen "Neptun", dessen Namen bisher nie genannt war, Sieger geworden war.-- Er hatte "ausgesetzt". Nun, was war dabei weiter!--Das taten die größten Schwimmer aller Zeiten und Länder alle Augenblicke, und das Wunderbare bei ihm war nur das, daß es das erstemal war. Und weil es das erstemal war, so war er über jeden Verdacht erhaben, daß er den alten, bekannten Kniff angewandt habe, um einer Niederlage zu entgehen. Er--Franz Felder--fürchtete keinen Schwimmer der ganzen Welt und brauchte keinen zu fürchten. Das wußte jeder. Aber selbst er konnte einmal unpäßlich sein, und das war er heute. Denn hätte er sonst wohl das Rennen aufgegeben? Und _den_ Triumph genoß er wenigstens an diesem Tage, daß keiner, auch sein ärgster Gegner nicht, es wagte, den Verdacht dieses Kniffs auszusprechen. Die Mutmaßungen und Prophezeiungen indessen, in denen man sich erging, hörte Felder glücklicherweise nicht. Sonst wäre seine Stimmung an diesem Abend doch getrübt worden, die durch die ungeäußerte leise Enttäuschung seiner Genossen vom "Hecht" nicht beeinträchtigt, aber durch die Aussicht auf das nächste Schwimmen sogar noch bedeutend gehoben wurde. Denn als Felder sich die erreichten Zeiten des 200-Meter-Schwimmens geben ließ, sah er, daß die Leistung dieses jungen, unbekannten Magdeburgers nicht nur mit Hinsicht auf seine erstklassigen Konkurrenten, sondern auch in bezug auf die erreichte Zeit eine außerordentliche genannt werden mußte. Sie erreichte natürlich nicht den von Felder vor zwei Jahren aufgestellten und seitdem von ihm selbst nie wieder erreichten Rekord von 3:02, aber sie kam doch bedenklich nahe an ihn heran. Der junge Seubert hatte die 200 Meter in 3:25 1/5, Minuten gemacht. Das reizte Felder. Da war das nächste große Fest, zugleich das letzte dieses Winters, das erste Jahresschwimmen des neugegründeten "Norddeutschen Schwimmkartells", das besonders großartig und feierlich gestaltet werden sollte, um Zweck und Bedeutung dieser natürlich wieder aus vielen eifersüchtigen Fehden hervorgegangenen Neugründung recht zur Wirkung zu bringen, da war dies große Fest so recht die Gelegenheit, um sich auch diesmal einen glänzenden Abgang von der Saison zu sichern und einmal wieder "sich selbst zu übertreffen", das einzige, was er noch konnte. Er hatte ja nur nötig, etwas mäßiger zu leben und etwas mehr zu trainieren. Daß allerdings beides nötig war, leuchtete sogar ihm ein. Dieses plötzliche Versagen der Kraft heute konnte doch kein reiner Zufall sein. Es durfte jedenfalls nie wieder vorkommen; denn er konnte wohl einmal "aussetzen", aber nun auch nicht wieder.-- Er tat beides: er war jetzt nicht nur nicht enttäuscht, sondern begrüßte es sogar mit Befriedigung, wenn eine Absage von ihr eintraf. Gab sie ihm doch einen freien Abend der unausgesetzten Übung, so eifrig und ernst, wie er seit langem nicht mehr betrieben. Daran, daß es doch eigentlich nur ganz bei ihm stand, ob er zu ihr gehen wollte oder nicht, daß er ihr ebenso abschreiben konnte, wie sie ihm, daran dachte er nicht einmal. So groß war ihre Überlegenheit in jeder Beziehung und so sehr verstand sie es, wenn er bei ihr war, ihn durch immer neue Liebkosungen und Liebesbeweise an sich zu fesseln, daß ihm noch immer die Stunden die seligsten waren, in denen er in ihren Armen liegen konnte, und diesen wundervollen, bräunlichen Körper, dieses hohe, geheimnisvolle Gemach mit dem Glanz seiner Lichter und seinem verschwenderischen Luxus, diese stillen, faulen Stunden des späten Abends und der Nacht, ja, die leisen, unmerklichen Dienste der schattenhaft auf den schrillen Ruf der Gebieterin herein- und heraushuschenden Alten sein eigen nennen konnte; und alles, was er versuchte, war, sich in Augenblicken, wo seine trägen Gedanken, durch die Freude auf seinen nächsten Sieg und durch eine keinen Sportmeister je ganz verlassende Angst, seiner Kraft zu schaden, aufgestachelt, in beklemmender Ahnung sich von ihr wandten, alles, was er vermochte, war: sich dieser unersättlichen Leidenschaft, diesen erschlaffenden Umarmungen einmal, nur für heute, zu entziehen... Diese Frau, die ihm, ihm unter allen, ihre Liebe geschenkt hatte, wie er glaubte, und die er darum, darum vor allen wieder liebte--sie war noch immer sein Leben. 4 An diesem Tage kam, was kommen mußte: seine erste Niederlage--der Anfang vom Ende. Seit drei Tagen hatte er sie nicht gesehen, und als er das letztemal bei ihr gewesen war, hatte er sich ihren Umarmungen wortlos und entschieden entzogen, so daß ihr Zusammensein ein ganz kurzes war. Sie biß die Lippen aufeinander, aber sie sagte kein Wort. Felder kleidete sich heute mit besonderer Sorgfalt an und ließ seine Brust an Bändern und Münzen tragen, was sie nur fassen konnte. Das Armband, bei der täglichen Arbeit so hoch wie möglich hinaufgeschoben und von dem wollenen Hemde so bedeckt, daß es noch von niemand in der Fabrik entdeckt worden war, wurde auf das Handgelenk heruntergezogen und abgerieben, so daß es glänzte und funkelte. In diesem bei allen so verhaßten Zeichen wollte er heute siegen, und so wollte er siegen, daß nicht nur das letzte Lächeln über "das Armband" verstummen, sondern auch das andere Lachen, das, welches er noch immer in seinen Ohren fühlte, das Lachen jenes schrecklichen Tages, schweigen sollte auf immer, um nie mehr gehört zu werden. Das erste Fest des "Norddeutschen Schwimmkartells" wollte zugleich das erste sein, das die neuerbaute Schwimmhalle der Stadt Charlottenburg erlebte, und man hoffte, es besonders glänzend zu gestalten, obwohl die größten und angesehensten Berliner Vereine, unter ihnen der S.-C. B. 1879, wie überhaupt alle dem "Verbande" angehörenden Vereine naturgemäß fehlten. Aber es stand von Anfang an unter keinem guten Zeichen. Obwohl die Stadt Charlottenburg ihre Vertreter geschickt hatte, war doch das große Publikum, das sich offenbar an den Winterfesten satt gesehen und die Sommerschwimmen erwarten wollte, nur schwach vertreten und füllte kaum die erste Reihe der weiten Galerien. Zudem war das Wetter miserabel: ein naßkalter, grauer Märztag, und mancher, der gekommen wäre, war noch in letzter Stunde zu Hause geblieben. Felder war heute pünktlich und verlor sich mit der kleinen Mannschaft der Gelb-Schwarzen in einer Ecke der weiten, schönen Halle, in der bereits jetzt alle Bogenlampen brannten. Das Programm wickelte sich langsam und ohne besondere Teilnahme von irgendeiner Seite ab. Nur gegen seine Mitte brachte ein unvorhergesehener Zwischenfall etwas Leben unter die Anwesenden. Es war beim Tauchen nach Tellern. Dreißig flache Emailleteller waren bereits dreimal sämtlich aus einer Tiefe von vier Metern hervorgeholt worden--eine hervorragende Leistung--und es schien auch dem Vierten gelingen zu wollen, so lange blieb er unter Wasser. Felder stand bereits ausgekleidet dicht neben dem Starter und sah zu. Dann merkte er plötzlich mit seinem erfahrenen Blick, daß irgend etwas dort unten nicht in Ordnung war, und als er fragend den neben ihm Stehenden ansah, hörte er auch schon dessen halblaut hervorgepreßten bestimmten Befehl: "Hinunter!"-- Er ging sofort in die Tiefe und sah dort den Taucher bereits bewußtlos mit dem Gesicht nach unten über den zuzammengerafften Tellern liegen. Mit Felder war ein zweiter ins Wasser gegangen, und beide hoben den leblosen Körper bis zur Leiter und an ihr hinauf zum Wasserspiegel, wo er von vielen Händen sofort in die Höhe gezogen und nach hinten getragen wurde. Als Felder, der erst nach dem nächsten Lauf an die Reihe kam, dorthin folgte, war der Bewußtlose bereits unter den Händen des Arztes wieder zu Atem gekommen, und Felder hörte, wie seine erste Frage der Tellerzahl galt, die er ans Land geschafft zu haben glaubte. Als er vernahm, was geschehen war, wurde er auch noch böse darüber, daß man ihn nicht länger drunten gelassen, denn er würde auch die letzten sicher noch bekommen haben!... Die andern lachten und ärgerten sich, aber Felder war es nicht ums Lachen. Soweit war es also gekommen, daß diesen jungen Leuten ihr Leben schon nichts mehr galt, wenn es darauf ankam, ihren lächerlichen Ehrgeiz zu befriedigen--so hörte er neben sich einen alten Herrn zu einem anderen sagen; und er mußte sich unwillkürlich fragen: War es mit ihm anders?--Hätte er nicht auch sein Leben um einen Sieg gegeben?-- Draußen hatte sich die Stimmung der Anwesenden nach dem peinlichen Vorfall nicht gebessert, und man beeilte sich mit der Abwicklung der nächsten Nummern, um die Aufmerksamkeit abzulenken. Dann kam das große Rennen des Tages mit seinem unerwarteten, in seinen Resultaten geradezu verblüffenden Verlauf, das Hauptschwimmen über 175 Meter, in dem zwei der jüngsten Schwimmer aus dem Nachwuchs die Preise errangen, während nicht nur Wenzel vom "Poseidon", und Karl Becker, der Meister Süddeutschlands, sondern auch Felder, Franz Felder, der vierfache Meister Berlins, der Meister Deutschlands, der "Champion der Welt", nicht nur zurück-, sondern überhaupt unplaziert blieben!-- Wie es geschah, wie es geschehen konnte, das Unerhörte--keiner begriff es recht. Felders Vorsatz ging auf einen glatten Sieg in gutem Stil ohne völlige Kraftausgabe. Er hielt ihn inne während der beiden ersten Längen, gab ihn auf bei der dritten und vergaß ihn völlig bei der vierten. Aber es nützte ihm alles nichts. Er kam nicht vorwärts. Er sah immer die alten Gegner neben sich, die neuen sich voraus; diese beiden jungen Leute, von denen er den einen nur aus einem einzigen Schwimmen und den anderen überhaupt nicht kannte. Und als er zum letzten Male bei dem plötzlichen Aufhören der Musik wandte und mit seinem wahnsinnigen Seitenschlage den einen fast erreicht hatte, schlug der andere bereits an, und der Sieg war verloren. Er ging erst ans Ziel gleich hinter dem zweiten. Was geschehen war, begriff er erst recht, als er den jungen Seubert, keuchend, aber selig, die Glückwünsche in Empfang nehmen sah und in das junge, glückliche Gesicht blickte, das auch ihm zulächelte, als erwarte es auch von ihm ein freundliches Wort oder einen Händedruck. So, ganz so, etwas verlegen, aber doch mit einer gewissen naiven Selbstverständlichkeit, als gehöre es sich so, hatte er seine ersten Triumphe entgegengenommen und seinen besiegten Gegnern ins Gesicht gesehen. Er dachte natürlich nicht daran. Er fühlte einzig nur die Schmach, die er--seiner Ansicht nach--in diesem Augenblicke erlitt, wo er seinen Stern lautlos fallen und in den Tiefen verschwinden sah, und das harmlose Lächeln auf dem Gesicht dieses jungen Menschen schien ihm nur Spott und Hohn zu bedeuten, so daß er am liebsten hineingeschlagen hätte. Kein Mensch kümmerte sich um ihn, keiner trat, wie sonst immer, zu ihm und sprach mit ihm. Mit hastiger Wendung kehrte er sich zu den anderen Schwimmern um, seinen alten Gegnern, mit denen er sich in dieser Minute fast verwandt fühlte. Denn sie erlitten das gleiche. Aber klüger als er waren sie am andern Ende des Bassins ans Land gegangen und so allen Erörterungen entflohen. Da griff auch er nach seinem Tuch und eilte zu seinen Kleidern. Als er an der ganz bestürzten und heftig debattierenden Gruppe des "Hecht" vorbeikam, wehrte er mit ungeduldiger Gebärde jede Frage und Begleitung von sich. Er fühlte jetzt nur, daß er allein sein mußte. Er konnte niemanden um sich haben. Ohne aufzusehen und ohne sich von einem Menschen zu verabschieden verließ er das Fest.-- Es war noch früh, aber auf den Straßen brannten bereits die gelben und weißen Lichter. Ein dichter und kühler Regen ging nieder wie Staub. Felder ging die breite, gerade Straße bis zum Tiergarten, er durchschritt ihn auf kotigen, dunklen Wegen, bis er ans Brandenburger Tor kam, ging die Allee der Linden herunter, verlor sich in dem Straßengewühl des Zentrums, immer noch ohne zu wissen, wohin er wollte, und sah erst auf, als der Regen sein heißes Gesicht wie Schläge zu treffen begann. Er war zwei Stunden gegangen wie zwei Minuten. Er wußte es nicht einmal. Er befand sich in der Nähe des Moritzplatzes. Er mußte allein sein, ganz allein... Schon die wenigen Menschen um ihn herum auf den Straßen störten ihn. Der Name einer alten Weinstube in der Nähe fiel ihm ein. Er war dort ein- oder zweimal früher gewesen, mit seinen Freunden. Vielleicht war das Hinterzimmer frei. Er traf es so. Erst als er eintrat und den Überzieher zurückschlug, wurde er gewahr, daß er sich im Schmucke seiner Ehrenzeichen befand, der hastig beim Ankleiden übergestreiften Bänder und der Münzenmenge auf seiner Brust. Schnell verdeckte er sie wieder, und während er seinen Rock auszog, streifte er alles ab und verbarg es in den Taschen, wie geraubtes Gut. Er war ganz allein in seiner Ecke, nachdem ihm der Wirt den Wein gebracht. Sogar im Vorderzimmer spielten nur ein paar Stammgäste, die sein Eintreten überhaupt nicht bemerkt hatten, einen stillen Skat. Er trank, sah vor sich hin und grübelte nach. Er konnte es noch immer nicht begreifen, was geschehen war!-- Dann zog er zögernd ein kleines, abgenütztes, in braunes Leder gebundenes Buch aus der Brusttasche, das er stets bei sich trug. Dieses Buch war ihm nach einem seiner ersten Aufsehen erregenden Siege--wie lange war es schon her!--von einem älteren Mitglied seines alten Klubs geschenkt worden, und der Geber hatte ihm dabei gesagt: "Immer können Sie nicht siegen, aber so viele Seiten dieses kleine Buch hat, so viel Siege wünsche ich Ihnen und uns..." Und Felder hatte wie zum Scherz die Seiten gezählt: 103. Koepke nahm das Buch mit nach Hause, und als er es Felder wiedergab, fand dieser in tadelloser Rundschrift und mit kaufmännischer Genauigkeit von Anfang an bis heute seine sämtlichen Beteiligungen an den Festen des Schwimmsports eingetragen: ihren Tag und Ort, ihre Veranstalter, die Art der Konkurrenz und wer an ihr teilnahm, ja die Stunden--alles war registriert und seine Siege schön unterliniert und mit roter Tinte prächtig hervorgehoben: ihre Art, die gemachten Zeiten, die errungenen Preise aufs genaueste verzeichnet... Und jedesmal nach einer neuen Beteiligung oder nach einer Reise erhielt Koepke das kleine, braune Buch, um es am nächsten Tage wieder zurückzugeben, bereichert um ein neues Blatt, das in nüchternen Worten und Zahlen, aber doch so beredt von herrlichen Mühen und herrlichen Siegen sprach. Über kein Geschenk hatte Felder sich je so gefreut, wie über dieses. Oft hatte er in stiller Stunde in dem Buche geblättert, aber noch nie hatte er so sorgfältig Blatt um Blatt gewandt, vom ersten bis zum letzten, wie heute. Selten erst, dann immer öfter, endlich fast auf jeder Seite zeigte sich die rote Linie unter seinem Namen, und immer öfter kehrten die Worte wieder: "Erster: Franz Felder..." Da stand sein Name, immer und immer wieder als der Erste, der Erste..., der Erste!--und unter ihm standen die Namen seiner Gegner--alle diese berühmten, gefürchteten Namen, die großen Kanonen der Schwimmkunst, aus allen Gegenden Deutschlands und so vielen Ländern Europas... Und immer wieder _sein_ Name über allen als Sieger!... Er blätterte und blätterte--jedes neue Blatt ein neuer Sieg: ein Lorbeerblattmehr in einem dichten Kranze!-- Fast keine Niederlagen, hier und da ein zweiter Preis, sonst immer nur erste, erste, erste... Er fing von vorn an und zählte die beschriebenen Seiten: 82. Und er zählte die siegreichen: 73. Bis zur letzten!--Bis--heute!-- Und auf diesem leeren Blatt, dem dreiundachtzigsten, sollte zum dritten Male nacheinander nicht nur der rote Strich, sondern sein Name überhaupt fehlen--oder es sollte leer bleiben, leer... Nein, das durfte nicht sein!-- Der Schrecken griff plötzlich wieder nach seinem Herzen, derselbe Schrecken, den er vorhin empfunden, als er seine Gegner vor sich sah und fühlte, wie seine Kraft versagte, sie noch zu erreichen; aber nicht die Furcht über die Gefahr einer Niederlage war es gewesen, sondern etwas anderes, ein Neues, ein Unbekanntes: das Erschrecken über etwas Unglaubliches, Unerhörtes--über die Unwillfährigkeit seiner Kraft!-- Was war das?--Was war das auf einmal, das so plötzlich gekommen?-- War er wirklich schon dort angelangt, wo es kein über sich selbst Hinausgehen mehr gab?--Dann konnte jeder ihn schlagen, der ihm nur gleich kam!--Dann war er schon am Ende. Alle düsteren Prophezeiungen seiner Gegner fielen ihm ein: "Schneller Aufgang, schneller Abstieg..." Und ein Mahnwort Nagels: "Du hast früh angefangen, früh wirst du deshalb aufhören..." Bis heute hatte er darüber gelacht. Aber jetzt lachte er nicht mehr. Es war ihm nicht mehr ums Lachen. Denn er war sich bewußt, in diesen letzten Wochen nichts versäumt zu haben. Es hatte ein totes Rennen gegeben, dann ein Aussetzen--aber beides war erklärlich, sogar natürlich bei der Nachlässigkeit, mit der er in den vergangenen Monaten seine Sache behandelt. Aber zu heute hatte er trainiert-- trainiert wie immer sonst--was war das also?!-- Er saß und grübelte, und trank und grübelte, und grübelte... Und wieder griff die Angst nach seinem Herzen, die furchtbare, die unbekannte Angst!-- War es etwa schon mehr?--War es schon eine Abnahme seiner Kraft?--War er schon nicht mehr derselbe?--Blieb er schon hinter sich selbst zurück?--Unmöglich!--Mit zwanzig Jahren?--Da, wo die Kraft noch wuchs von Tag zu Tag.-- Lächerlich!--Mit fünfundzwanzig wollte er anfangen, daran zu denken. --Aber bis dahin wollte er sie, seine Kraft, wachsen, wachsen und siegen sehen über alles, was sich ihr in den Weg stellte! Es war eine Indisposition heute, was war das weiter!--Wer hatte die nicht zuweilen? Deshalb nützten auch die verdammten Sinnierereien nichts. Jetzt mußte geschwommen werden, darauf kam es an. Er trank und klappte das Buch zu. Die Seite blieb nicht leer, das war sicher: die dreiundachtzigste. Auf der sollte ein Sieg stehen. Und zwar bald!-- Denn es konnte einfach schon deshalb nicht sein, weil es nicht sein _durfte!_ Wie Felder das Buch in die Rocktasche schieben wollte, stopfte es sich dort gegen knisternde Papiere. Er zog sie hervor und sah, daß es ihre Briefe waren. Der süßliche, fahle Duft eines seltsamen Parfüms stieg zu ihm aus den zerknitterten Blättern auf, und er fühlte, wie es plötzlich wieder aus war mit seinem neuen Mut und seiner Frische. Dieser Duft machte ihn schwach, und es half ihm nichts, daß er die Blätter zusammenballte. Wie er sie losließ, legte sich das steife, englische Papier auseinander, und es entströmte ihm dieser Duft, den er so gut kannte, der allem anhaftete, was von ihr ausging: ihren Kleidern, ihren Handschuhen, ihrem Atem, diesem Papier--ihm selbst!-- Ja, ihn selbst hatte dieser Duft förmlich durchtränkt in diesen letzten Monaten, so daß er ihn plötzlich verspürte, wenn er eines seiner Kleidungsstücke zur Hand nahm... Er wurde ihn nicht mehr los, diesen Duft, der ihn überall umgab, wo er ging und stand--lockend, begehrlich, geheimnisvoll und aufreizend wie sie selbst, so daß er an sie denken mußte ohne Aufhören. Was nützte es, daß er diese Papiere von sich schob, diese Rufe nach ihm, die er nun schon Monate lang hörte: erst stürmisch und sehnsuchtsvoll, erst alle Tage, dann, je seltener sie wurden, immer herrischer und kürzer, bis sie nur noch der Befehl waren: "Heute abend um 9"--oder "Erst morgen!"-- Welche Macht sie über ihn gewonnen, diese Frau, von der er noch immer nicht einmal wußte, wer sie war!-- Und wie Felder saß und grübelte, und grübelte, wurde es ihm klar, warum er heute unterlegen war, warum er in der letzten Zeit nicht mehr die alte Kraft in sich fühlte, die unbesieglich gewesen war; und eine maßlose Wut kam über ihn gegen die, die ihm seine Kraft geraubt. Er ballte die Hand um den Rand des Tisches, daß er sich bog und das Glas klirrte. Und dann kam, blitzgleich, auch die wahre Erkenntnis dieses Verhältnisses über ihn. Was sie begehrt hatte, das war seine Jugend, seine Kraft und seine Frische gewesen. Und was sie begehrte, hatte sie ihm genommen: die Jugend, die Kraft und die Frische seines Körpers!--Stück für Stück, in unersättlicher Habgier war ihm, ohne daß er es fühlte und ahnte, eines nach dem anderen von ihr genommen, in unzähligen Umarmungen, mit Küssen und Schmeicheln, bis sie ihn zu dem gemacht, was er heute war! Alles, was er besaß, das einzige, das er sein eigen nannte, hatte sie ihm geraubt: seinen Ruhm!--Sein Ruhm aber war sein Leben. Sie hatte es zerstört. Er aber, er war so blind und so töricht gewesen, nicht zu merken, was sie eigentlich von ihm wollte. Wie ein dummes Tier war er in die Falle gegangen; wie ein Hund war er ihr nachgelaufen; wie ein ... nein, er vermochte nicht weiter zu denken. Denn jetzt wußte er auf einmal auch, wer sie war. Eine große Abenteuerin, irgendwo in einem Winkel von zusammengelaufenen Eltern erzeugt, früh verdorben, früh gelehrt, ihre Schönheit als erstes und einträglichstes Erwerbsmittel zu betrachten, sie gelehrig in unstetem Wanderleben durch alle Länder der Welt schleifend, und alles mitnehmend, was sich ihr bot: hier die Alten und dort die Jungen. Die Alten, die sie begehrten und bezahlten, und die Jungen, die von ihr ausgesucht und bezahlt Wurden!--Und einer von diesen Jungen war er gewesen--er, Franz Felder!-- Nicht mit solchen Worten sagte er sich dies alles, aber er empfand es alles so und fühlte, daß es wahr war. Und er hätte schreien mögen, schreien vor Wut und vor Scham... Ihn, ihn hatte sie nicht bezahlt, nein, das hatte sie nicht gewagt!--Aber wie lange noch, und es wäre auch dahin gekommen. Wieviel versteckte Anerbietungen hatte sie ihm nicht schon gemacht, wie oft nicht versucht, mit ihm scherzhaft oder gleichgültig von Geld zu sprechen, diesem Gelde, das sie verachtete, weil sie es durch Arbeit nicht verdiente: damit er es nehmen solle von ihr als--Lohn... War ihm selbst nicht eines Tages, wenn auch nur ganz flüchtig, der Gedanke gekommen, eines dieser Anerbietungen, nicht anzunehmen, o nein, aber als Darlehen zu benutzen, da es mit seinem Gelde zu Ende ging, als Darlehen für eine kurze Zeit, bis er sich in England durch neue Siege neues geholt?--Es war nicht dazu gekommen, es war bei dem flüchtigen Gedanken geblieben. Aber er hatte ihn doch gedacht... Auch gegen Geschenke hatte er sich bis heute gewehrt. Das einzige, was er je angenommen, war das Band an seinem Handgelenk, die Kette von Gold. Aber sie war nicht unzerbrechlich. Sie band ihn nicht an sie. Er griff mit den Fingern der lenken Hand zwischen sie und das Fleisch und versuchte sie abzustreifen, obwohl er wußte, daß es nicht ging. Und seine Wut stieg, als er sah, wie vergeblich es war. Aber das sollte ein Ende nehmen, jetzt gleich, noch heute abend! Er riß sich aus dem Hinbrüten auf und rief nach dem Wirt. Er hatte vier Stunden auf diesem Fleck gesessen. Als er nach der Uhr sah, war es gegen Elf. Der Regen draußen war stärker geworden. Felder fühlte ihn nicht. Er ging der Friedrichstadt zu. Das Haus war offen. Natürlich: dieses Haus war nachts immer offen, und die Treppen lagen in ihrem ewigen Zwielicht. Weshalb war ihm das nie so aufgefallen, wie heute?-- Er klingelte an ihrer Tür. Er klingelte nochmals. Endlich hörte er die schlürfenden Schritte der Alten und ihre Stimme. Er schlug gegen die Tür und rief um Einlaß. Als sie sich öffnete, schob er das Weib beiseite, das bei seinem Anblick wie erstarrt war. Es war das erstemal, daß er unerwartet kam. Er kümmerte sich nicht im geringsten um die Fragen und Beteuerungen, daß Madame nicht zu Hause sei. Er hörte nicht hin, er verstand das Kauderwelsch nicht. Er wollte Madame erwarten, sagte er kurz. Sie würde schon kommen. Er riß die Tür zu dem großen Zimmer auf. Es war beleuchtet und warm, wie immer. Aber sie war nicht da. Sie war auch nicht im Schlafzimmer. "Ich werde Madame erwarten," sagte er nochmals, und mit solchem Ausdruck in dem blassen Gesicht, daß sich die Alte endlich mit Jammern und Wimmern zurückzog. Felder merkte es nicht einmal. Er lief im Zimmer umher und warf überall rücksichtslos die Gegenstände durcheinander. Er suchte den kleinen Schlüssel zu dem Armband. Als er nicht fand, was er suchte, begann er die Arbeit an seinem Handgelenk von neuem: er zerbrach eine goldene Hutnadel und eine Schere, er zerrte, bis seine Finger bluteten. Endlich gab er es auf, warf sich in einen Sessel und wartete. Wie lange?--Er hatte keine Ahnung. Das Licht der Ampel trieb das Dunkel in die Ecken des Gemaches und ein schwaches Rot auf seine Wangen, wie die Röte der Scham. Ja, er schämte sich. O, wie er sich schämte!-- Er hätte weinen mögen und konnte es nicht. Die innere Wut erstickte seine Tränen. Er lag wie in einem Halbschlummer. Plötzlich führ er empor. Er hörte draußen Stimmen: das klagende Wimmern der Alten und ihren herrischen, empörten Aufschrei der Verwunderung. Die Tür wurde aufgestoßen, und sie stand vor ihm: hochaufgerichtet, in großer Toilette, die Arme und die herrlichen Schultern entblößt, Zorn in den Augen und auf den roten Lippen. "Wer ist hier?--Du?--Was willst du hier?--Wer hat dir erlaubt--" Er ging auf sie zu. Die ganze Raserei dieser Nacht brach in ihm los. Als sie seine Augen sah, wußte sie alles. Aber sie hatte keine Angst. Sie kannte keine Furcht und ihre Lippen verzogen sich leise und spöttisch. Wie er das sah, griff er sie bei den Armen. Er wußte nicht, was er mit ihr tun sollte, er wußte nur, daß er sich rächen wollte an diesem Geschöpf, das ihn beraubt. Sie bog sich wie eine Katze unter dem Druck seiner rauhen Hände. Und auf diesem selben Platze, auf dem sie an jenem ersten Abend miteinander gerungen in begehrender Liebe, rangen sie nun in widerstrebendem Haß. Von seinem mißhandelten Handgelenk floß Blut und befleckte die Seide ihres Kleides und ihre weiche, bräunliche Haut, während ihre Lippen unerhörte Beschimpfungen, die er nicht verstand, von sich schleuderten. Immer wieder versuchte er, sie niederzuzwingen, und immer wieder flog ihr schlanker Körper empor wie eine Gerte unter seinen Händen. Es war, als ob er seine Kraft an sie gegeben habe in diesen paar Monaten... War es das, oder war es der Duft, der von ihr ausging und ihn betäubte, daß er sie nicht niederkriegen konnte?-- Kurz: er fühlte, daß er auch hier der Schwächere geworden war... Da gab er sie frei und taumelte hinaus, verfolgt von ihrem höhnischen und triumphierenden Lachen. 5 Bis zum Morgen ging er durch die Straßen. Als es dämmerte, schlug er die Richtung nach dem Norden ein. Um sechs Uhr war er an den Toren der Fabrik und der erste, der eintrat. Er ging in die mechanische Werkstätte. An einem der Schraubstöcke stand er eine kurze Weile. Als er zurück kam, hielt er das gesprengte Armband in der Hand. Noch fast eine Stunde ging er durch die öden Gassen dieser Gegend. Irgendwo schleuderte er das Armband auf einen Kehrichthaufen. Dann erst wusch er sich an einem Brunnen die Hände, verband sich das blutende Gelenk und trank in einer Destillation eine Tasse Kaffee. Um sieben Uhr war er an seiner Arbeit. Den Morgen über sprach er kein Wort. Am Mittag führ er nach Hause, warf sich auf sein Bett und schlief wie ein Toter. Als er erwachte, war ein neuer Tag angebrochen. Mit ihm begann ein neues Leben für Franz Felder.-- Wenn das Leben, welches er vor einem Jahre vor seinem neuen, großen Ziele der Springmeisterschaft geführt hatte, ein einfaches und enthaltsames gewesen war, so war das, welches er jetzt lebte, noch spartanisch dagegen zu nennen. Es zerfloß zwischen Arbeit und Ruhe, und sein einziger Zweck war für Felder einstweilen: die Wiedererringung seiner Kraft. Nicht dessen, was andere Menschen Gesundheit und Kraft nennen. Die allermeisten hätten ihn um die seine beneidet. Nein, jener überlegenen, herkulischen Kraft, die er nötig hatte. Daher strich er von einem Tage zum anderen alles aus seinem Leben, wodurch er glaubte, sie auch nur um ein Minimum vermindert zu haben: das Glas und die Frau, denn beides war Gift und Krankheit; jeden Verkehr, denn der nahm ihm die Zeit zur nötigen Ruhe; jede Freude, denn er wollte von ihr nichts mehr wissen; und um ganz sicher zu sein, strich er gleich alles auf einmal! Das einzige, was er sich noch gönnte an Genüssen, war eine möglichst gute und nahrhafte Kost und zuweilen ein Glas starken Weines. Und Schlaf, viel Schlaf!-- Die Arbeit war ihm lieb. Sie hielt seine Kräfte im Gleichgewicht, ohne sie zu verbrauchen. Außerdem verlieh sie seinem Leben die nötige Regelmäßigkeit. Da er mit seinem Gelde zu Ende und ganz auf sie angewiesen war, hütete er sich vor jeder unnötigen Ausgabe. Er kleidete sich wieder wie früher und achtete selbst an den Feiertagen kaum auf sein Äußeres. Wozu auch? Es sah ihn ja niemand mehr. Er nahm sich nicht die Mühe, seinen Austritt aus dem Verein "Hecht" diesem anzuzeigen. Er sandte gelegentlich sein Trikot zurück. Sie hatten seinen Namen wohl bereits aus der Mitgliederliste gestrichen. Was lag ihm daran!--Er hatte nie Fühlung mit diesen Leuten gehabt, unter denen er fremd, denen er nur der Meisterschwimmer Europas gewesen war, die ihn für Siege, aber nicht für Niederlagen gebrauchen konnten. Er sah selbst Koepke kaum mehr, und damit zerriß auch, das letzte Band, das ihn noch an sein früheres Leben knüpfte. Wenn er ihn gelegentlich traf, tranken sie ein Glas Bier zusammen. Dann erzählte der alte Getreue Felder, wie er "ebenfalls der Schwimmsache Valet gesagt habe", da sie ihm keinen Spaß mehr mache, seitdem Felder nicht mehr dabei sei. Er war in einen kaufmännischen und in einen Kegelklub eingetreten und spielte in beiden bereits seine alte Rolle des Lasttieres mit unverhohlener Wonne weiter. Felder lächelte krampfhaft. Also er hatte dem Schwimmen Adieu gesagt!--Das sagte man also von ihm!--Nun, man würde ja sehen... Das neue Leben fiel ihm nicht schwer. Er dachte wenig und er fühlte sich ganz wohl. Nur die langen Sonntage waren schlimm. Es wäre ihm am liebsten gewesen, sie hätten nicht existiert. Wenn er sie hätte durcharbeiten können, alle diese Wochen, einen Tag wie den anderen, ihm wäre es Recht, dachte er oft. Nun mußte er sich mit den Sonntagen abfinden, diesen endloslangen Nachmittagen, mit denen er nichts mehr anzufangen wußte, und er ging jetzt sogar das eine oder andere Mal mit seinen stillen Eltern und den lauten Geschwistern, die darüber höchst erstaunt waren. Aber auch das gab er bald auf, denn er wußte mit ihnen nichts zu reden. Die häuslichen Dinge langweilten ihn, und über das eine konnte er doch nicht sprechen, weder mit ihnen, noch mit irgend jemand auf der Welt... Wer verstand das?--Er kannte keinen. So ging er denn schließlich auch an diesen Nachmittagen seine einsamen Wege: zu all den Orten, wo er früher so glücklich gewesen war und die jetzt öde und verlassen unter dem ewig grauen Himmel lagen. Denn es wollte dieses Jahr nicht Frühling werden. Eine dünne Eisschicht bedeckte noch den Kochsee, als er eines Tages dort durch die Spalten der festverschlossenen Umzäunung sah, und kahl und traurig starrten die Gerüste und Planken der anderen Badeplätze in die Höhe--am Plötzensee und in Grünau, wohin er auch kam,--kahl und frostig wie die Bäume, deren laublose Stämme sich regungslos von dem braunen Boden der Landschaft abhoben. Sie stimmten ihn nicht fröhlicher, diese einsamen Ausflüge, auf denen unvergessene Erinnerungen ihn immer von neuem in ihrem Bann zogen. Aber er wußte nichts anderes zu tun, und so fuhr er immer wieder hinaus und ging oder stand oft stundenlang, in Gedanken versunken, auf den verlassenen Stätten seiner Siege und seines Glückes... Besser wurde es erst, als es Frühling wurde.-- In der ersten Zeit schwamm er nur selten. Er wagte sich nicht in die Schwimmhallen, aus Besorgnis, dort Bekannte zutreffen. Er fürchtete geradezu jede Frage, jedes Wort, jede Anspielung auf seine Niederlage... Er hätte sie nicht ertragen. Dann, als er wieder allabendlich nach der Arbeit badete, vermied er mit derselben Sorgfalt, wie im Vorjahre, die Übungsabende der Klubs und ging an dem einen Tage hier-, an dem anderen dorthin, wo er sicher sein konnte, möglichst allein zu sein. So besuchte er alle Winterbäder, wie es gerade kam. Nur in jene kleine, dunkle Halle im Süden der Stadt, wo er vor einem Jahre täglicher Gast gewesen war, ging er nie mehr... Diese Erinnerungen sollten begraben bleiben und durften ihn jetzt nicht stören. Er schwamm einstweilen noch ohne jeden Gedanken an ein neues Training. Alles, was er wollte, war, seine ganze Kraft wiederzufühlen, ehe er daran dachte, sie von neuem zu üben. Er glaubte nämlich allen Ernstes, das Gefühl seiner Kraft verloren zu haben. Einmal schwankend geworden an ihr, war er wie der eingebildete Kranke, der stets die Krankheit zu haben glaubt, von der er hört. Er war irre an sich geworden, weil er angefangen hatte, über sich nachzudenken. Er fürchtete sich, die Zeit nehmen zu lassen. So schwamm er vorderhand noch in allen möglichen Stilarten und alle möglichen Längen, wie es ihm gerade in den Sinn kam, ohne auf sich und seine Umgebung zu achten. Und das ungeheure Wohlbehagen, das er immer empfand, wenn er im Wasser war, ergriff ihn wieder, und täglich mehr und mehr... Mit dem Wohlbehagen aber fühlte er zugleich seine Kraft wieder, und seine Übungen wurden ernster, wenn er sie auch noch nicht prüfen ließ. Dann hörte er eines Abends, als er seine hundert Meter zum dritten Male so ganz für sich geschwommen, wie ein Herr, den er nicht kannte, der ihn aber beobachtet und zu seinem eigenen Vergnügen nach der Uhr gesehen hatte, sagte: 1:21. 1:21?!--Aber das war ja seine eigene, frühere gute Zeit, das kam nahe an den von ihm selbst vor zwei Jahren in Wien aufgestellten Rekord heran, als er so glänzend disponiert war?--Dann, dann--besaß er sie ja wieder, seine verlorene Kraft!--Dann ging es ja wieder!-- Er bat den Fremden, ihm doch nochmals die Zeit zu nehmen. Er schwamm die hundert Meter zum vierten Male, und zwar bewußt ohne besonderen Kraftaufwand. Und seine Zeit blieb gut.-- Er freute sich noch nicht. Er wagte es nicht. Aber in seine wahllosen Übungen kam von jetzt ab wieder ein gewisser Sinn. Er schwamm von neuem alle Stilarten und alle Längen durch, ließ sich die Zeit nehmen, wenn er gerade den Bademeister oder sonst einen Bereitwilligen dazu fand, und ohne noch in ein bestimmtes Training zu treten, erprobte er doch schon--vorsichtig und unsicher wie ein Anfänger--seine Fertigkeit. Allmählich wurde er ruhiger, je sicherer er wurde. Er konnte sich nicht mehr verhehlen, daß sein furchtbares Erschrecken nach jenen ersten, im Grunde belanglosen Niederlagen töricht und übertrieben, und daß von einer ernstlichen Erschütterung seiner Kraft wohl nie die Rede gewesen war; daß ein paar Wochen ruhigen Lebens sie vielleicht ganz von selbst in das alte Geleise gebracht hätten und so eigentlich dieser ganze Bruch unnötig und im Gründe etwas lächerlich und darum eigentlich beschämend war... Aber eines blieb trotz allem. Wenn auch seine Kraft nicht erschüttert war, sein Selbstvertrauen war es auf jeden Fall!--Dieses stolze Selbstvertrauen, entstanden nicht im einer Stunde, sondern aus empfangsfähigem Boden schüchtern und langsam emporgewachsen, stetig erst bewässert durch kleine, dann genährt durch immer größere Erfolge, Wurzel schlagend in beispiellosen Siegen und endlich untrennbar, Wesen und Eins, mit der Persönlichkeit, mit ihm, ihm-- Franz Felder!-- Dieses Insichselbstvertrauen war erschüttert. Nicht seine Kraft, sein Selbstvertrauen mußte er daher wiedergewinnen!-- Dazu war nun das Leben, wie er es führte, am wenigsten geeignet. Unfähig, Vergleiche zu ziehen, Eindrücke zu empfangen und wiederzugeben, konnte er es nur nähren an den Maßen seiner Einbildung. Und mit jedem neuen _über sich_ erfochtenen Sieg seiner Kraft nahm es Dimensionen an, an die Felder früher nicht gedacht hatte. Schon aus dem einfachen Grunde nicht gedacht, weil er früher geschwommen, so gut er es konnte, ohne zu denken. Zahlen waren es, die er jetzt verglich: Zahlen gegen Zahlen. Nicht Leistungen--warme Leistungen des Lebens--gegen Leistungen. Wie er aber den Tag ersehnte, an dem ihm das zum ersten Male wieder möglich sein würde!-- Dann würde er wieder leben. Denn dies Leben der Einsamkeit, wie er es jetzt führte, war kein Leben mehr. Er litt unter seiner eigenen Einsamkeit. Wie sehr er litt, wußte er selbst nicht einmal mehr. Er war immer allein, und allmählich kam es ihm wie ein Traum vor: die alten, lieben Freunde, die lauten, fröhlichen Feste, seine sensationellen Siege--waren sie in der Tat jemals Wirklichkeit gewesen?--Der Taumel seiner Sicherheit, seine Wagnisse, seine Reisen?-- Er wollte nicht an die Vergangenheit denken. Er wollte sich vorbereiten auf die Zukunft. Denn alles lag erst noch vor ihm. Hinter ihm lag nur ein Anfang, ein in seinem Ende mißglückter Anfang. Aber was er nicht hindern konnte, war: daß zuweilen Bilder dieser Vergangenheit vor ihm aufstiegen, und vor allem Bilder des letzten Jahres, der Zeit, als er schon nicht mehr so ganz und gar in dem engen Kreise der Genossen gelebt, sondern neue, fremde Menschen und andere Lebensweiten sich ihm aufgetan. Und er sah noch zuweilen das hohe, nüchterne Atelier des Bildhauers vor sich, die kahlen Wände und die seltsamen Figuren, und den Künstler selbst, schweißbedeckt, schweratmend und in innerlichen Kämpfen qualvoll ringend; und das warme, gemütliche Zimmer des Doktors, den fröhlichen, freundlichen Mann mit den blitzenden Augen und der lebhaften Stimme, unermüdlich im Erzählen und voll Interesse für ihn; und zuweilen--sah er auch sie... Aber da wandten sich schnell seine Gedanken. Er wollte davon nichts mehr wissen und zwang sich zum Vergessen. Und nur in seinen Träumen erregte sie ihn zuweilen noch, wie sie es damals getan. Doch auch diese Träume wurden seltener und seltener und schwanden endlich ganz, wie ihr Duft allmählich aus seinen Kleidern gewichen war, dieses ekelhafte Parfüm, das seinen Körper vergiftet hatte. Und endlich wurden die Gestalten blasser und blasser und schwanden ganz, so wie Felder es wollte. Alles, was hinter ihm lag, wurde wesenlos und verlor seine letzte Macht selbst über seine Erinnerung. Hatte er es überhaupt erlebt?-- Oft vermochte er kaum mehr daran zu glauben. Aber er hieß doch Franz Felder!--Er war es doch noch, der diesen Namen trug?--Aber wer fragte noch nach ihm! Er wußte, er war vergessen. Er war nicht mehr Franz Felder, wenn er auch noch so hieß. Es war ein Name, den er erst erobern sollte. Und erobern würde er ihn, dessen wurde er mit jedem Tage sicherer. Denn wenn er auch vergessen war, noch lebte er. Noch war er nicht tot! 6 Wenn man ihn vergaß--_er_ hatte nichts vergessen. In der ganzen deutschen Schwimmerwelt gab es keinen, der mit schärferem Auge alle Vorgänge in ihr verfolgte, keinen, der mit größerer Hast nach den Berichten griff, als Franz Felder. Kein Ereignis von irgendwelcher Bedeutung entging ihm. Er las alle Zeitschriften, die irgendwie in Betracht kamen; er war unterrichtet über alle Veranstaltungen und über den Verlauf einer jeden. Kein neuer Name blieb ihm fremd, kein Sieg von irgendwelcher Bedeutung unbekannt. Es wurde seine Beschäftigung, an manchen langen, einsamen Abenden die Sportszeitschriften durchzusehen, alte und neue, und Vergleiche über Vergleiche anzustellen zwischen dem, was geleistet wurde und geleistet war--von ihm selbst. Er wurde innerlich immer sicherer. Als das erste große Sommerschwimmen des Berliner Schwimmbundes herannahte, drängte es ihn mit Macht zur Beteiligung. Aber er bezwang sich und dachte an den Schwur, den er sich selbst in jener Nacht der Verzweiflung getan. Nein, er wollte nicht!--Was er tun wollte--nicht Berlin, nicht Deutschland, Europa sollte es sehen. Dazu gab es nur eine Gelegenheit. Er mußte sie erwarten. Noch war seine Stunde nicht gekommen. Er blieb fern. Aber es wurde ihm schwer. Zum ersten Male sah er den Preis seiner Vaterstadt über die kurze Strecke, der vor vier Jahren sein erster großer Sieg gewesen und den er seitdem Jahr für Jahr behauptet, in fremden Besitz übergehen. Freiwillig gab er den Meistertitel Berlins aus den Händen und seinen Namen neuer Vergessenheit preis!--Freiwillig--denn an demselben Tage schwamm er, für sich allein, einmal am Morgen und einmal am Nachmittage in einer eben geöffneten, entlegenen Badeanstalt der Umgegend die hundert Meter in einer Zeit, die seinem eigenen Rekord vor zwei Jahren fast gleichkam und die Zeit des Siegers--auch eines alten Gegners--beide Male übertraf. Er biß die Zähne aufeinander. Er wollte noch nicht. Denn er _durfte_ noch nicht!-- Wieder vergingen Wochen, und der Sommer war da. Das Wasser wurde täglich wärmer. Langsam nahte sein Tag: der Tag des großen Festes des Allgemeinen Deutschen Schwimmverbandes, der größten internationalen schwimmsportlichen Veranstaltung des Jahres, nicht nur für Deutschland, sondern alle benachbarten Länder; der Tag der großen Entscheidungskämpfe über die allerersten Meisterschaften des Weltteiles. Und er erwartete ihn. Dann fiel sein Blick eines Tages im "Welt-Sport" auf seinen Namen, seit langer Zeit zum erstenmal wieder, und sein Herz schlug höher bei dem, was er las. Es war eine Kritik des letzten Berliner Bundesschwimmens und in der Hauptsache die Besprechung des Sieges des jungen Georg Bauer vom "Triton", wo es am Schluß hieß: --"Die Leistung dieses jungen Mannes erinnert uns in ihrer selbstbewußten Kraft und der idealen Schönheit ihres Stils an diejenigen des noch vor kurzem überall genannten Meisters von Europa vom Vorjahre. Unsere Leser wissen, daß wir von Franz Felder sprechen. Sie wissen auch, wie sehr wir stets gerade für diesen Schwimmer eingetreten sind, und erinnern sich, welche Hoffnungen und Wünsche wir noch auf Jahre hinaus für ihn gehegt und ausgesprochen haben. Um so schmerzlicher war--wie wohl überall--unser Bedauern und um so größer unsere Enttäuschung, diesen in Haltung und Kraft einzigen Schwimmer so jäh niedergehen und dann von einem Tage zum anderen, nach einigen äußerlich gar nichts bedeutenden Mißerfolgen, plötzlich von der Bildfläche verschwinden zu sehen: aus Gründen, die offenbar tiefer liegen, als daß wir ihnen hier öffentlich nachgehen dürften. Es wäre sicherlich ein einziger Genuß für jeden feineren Kenner gewesen, am vergangenen Sonntag zum Beispiel ihn und Bauer zugleich an den Start gehen und die reifende Kraft des Jüngeren mit der gereiften des Meisters in einer Form wetteifern zu sehen, die bei der rohen, immer mehr eingreifenden Preisjägerei gänzlich in Vergessenheit zu geraten scheint. Werden wir ein Schauspiel dieser Art nie mehr erleben?--Fast scheint es so. Aber wir können die Hoffnung noch nicht aufgeben, Felder eines Tages wieder an der Arbeit zu sehen, und möchten heute nur nochmals-- auch im Hinblick auf manchen ungerechten Angriff, der den Meister mit zu seinem sonst rätselhaften Entschluß, sich so ganz zurückzuziehen, getrieben haben mag--betonen: wenn auch die neuerlichen Leistungen des Nachwuchses jedes Lobes würdig sind und manchen zum Nachfolger Felders geradezu prädestinieren, so scheint allen doch völlig zu fehlen, was der Persönlichkeit dieses Meisters so sehr eigen war-- diese innerliche Leidenschaft und Liebe zur Sache, dieses Aufgehen in ihr mit Leib und Seele, diese unbedenkliche Hingabe der Begeisterung, die wir in seinen phänomenalen, oft über die eigene Kraft hinausgehenden Leistungen zu oft bewundert haben, als daß wir uns über sie täuschen könnten. Dadurch--nicht durch die Teilnahme an dem äußeren Ausbau des Schwimmwesens, wie er in den Klubs betrieben wird, und auch nicht durch seine Siege--hat Felder seiner geliebten Sache den größten Dienst geleistet und ihr in den Augen vieler eine höhere, gewissermaßen edlere Bedeutung gegeben, als sie bis dahin besaß. Das sollte ihm unvergessen bleiben und seine Gegner daran erinnern, daß Menschen dieser Art ihre eigenen Wege gehen und gehen müssen, weil sie nur auf ihnen ihre--oft nur von ihnen selbst geahnten oder erkannten--Ziele, erreichen können..." Wie das Herz des Lesenden schlug! Was er selbst sich nie klar gemacht, was er aber ahnte und dem er nachging--dieser Mann, der das geschrieben, hatte ihm Worte gegeben! --Er war der einzige, der ihn ganz verstand! --"Menschen dieser Art gehen ihre eigenen Wege..." Ging er nicht die seinen, war er sie nicht stets gegangen, getrieben von einer inneren Stimme, die das Rauschen und Brausen auch des lautesten Beifalls übertönt hatte?--Und wenn er sie eine Zeitlang nicht mehr vernommen, war sie es nicht gewesen, die ihn zurückgelockt hatte zu sich?--Hörte er sie nicht wieder?--Und rief sie ihn nicht, wie damals den armen, kleinen Jungen, jetzt wieder, ihn, den Meister, zu Zielen, von denen niemand wußte, auch er selbst nicht?!-- Ja, sie rief ihn wieder, und er hörte sie: rein und klar, wie nur je!-- Ein paar Tage später holte er eines Abends Koepke aus seinem Geschäft ab. Die Ausschreibungen zu dem großen internationalen Verbandsschwimmen waren soeben erlassen. Felders Tag war gekommen. In einem Restaurant setzten sie seine Meldung auf: in dem üblichen, geschäftsmäßigen Stil, aber doch noch Wort für Wort überlegend. Und als Koepke sie abgeschrieben, setzte Felder das übliche: "Mit Schwimmergruß..." und seinen Namen darunter in seiner klobigen, mühsamen Handschrift. Auch die Einzahlung des Einsatzes von zwanzig Mark, die Felder schon lange zurückgelegt, versprach Koepke zu besorgen, und Felder durfte sicher sein, daß es pünktlich geschehen würde. Befriedigt legte er die Feder aus der Hand und lächelte zum ersten Male seit langer Zeit wieder. Dann aber, als sie nach geschehener Arbeit noch zusammensaßen, da brach es plötzlich aus Felder hervor!--Er wußte selbst nicht, wie es so plötzlich kam, aber er mußte sprechen, um endlich einmal wieder die eigene Stimme zu hören. Und während der kleine Kaufmann erst erstaunt und dann betroffen, ganz betäubt wortlos zuhörte, Strömte vor ihm aus gequälter Brust alles hervor, was sie seit Monaten zum Ersticken bedrückte. Man hatte ihn vergessen!--Ja, er wußte es wohl. Er hatte sich von der Schwimmerei zurückgezogen. Er konnte nichts mehr. Er war fertig. Er war tot... Aber wie sie sich alle täuschten!--Sie alle miteinander!--Was wußten sie denn von ihm?--Verstanden sie ihn überhaupt?--Ahnten sie auch nur, was er gewollt hatte?-- Wie sollten sie begreifen, was er erst wollte?! Sie glaubten ihn fertig, und er war erst am Anfang. Sie glaubten ihn gestürzt, die aus dem Tale Zuschauenden. Aber er war nur für eine kurze Weile hinter einer Felsecke verschwunden, um auszuruhen zur neuen Wanderung von Gipfel zu Gipfel! In vierzehn Tagen würde er wieder vor ihren Augen erscheinen und eine Wanderung beginnen, auf der sie ihm überhaupt nicht mehr folgen konnten. Er war noch nicht einundzwanzig Jahre alt. Er war noch gar nicht im Vollbesitz seiner Kraft. Wenn er sich einen Augenblick je eingebildet, sie verloren zu haben, so war er ganz einfach ein Narr gewesen. Auf jeden Fall fühlte er sie jetzt wieder, so mächtig und ungebärdig, daß er den Tag nicht mehr erwarten konnte, sie zu erproben. Und da er jetzt wußte, wodurch er ihr schaden konnte, brauchte er nur alles zu vermeiden, um sie ungeschwächt sich die nächsten zehn Jahre zu ihrer Höhe entwickeln zu lassen und sie dann noch zehn Jahre auf ihrer Höhe zu erhalten. Das aber waren zwanzig Jahre!-- Und in diesen zwanzig Jahren wollte er es in seiner Sache zu Leistungen bringen, wie sie bisher überhaupt noch nicht dagewesen waren. Und zwar nicht in dem engen Rahmen des Sports, unter der Vormundschaft und beengt durch die Regeln der Klubs und Verbände, sondern als freier Schwimmer der Welt, seinetwegen auch als "Professional", wenn sie es denn so nennen wollten... Wenn er in Grünau noch einmal innerhalb des bisherigen Rahmens schwimmen sollte, so tat er es, weil er hier noch eine alte Rechnung einzulösen hatte. Aber es sollte nur ein Wiederbeginn sein. Unzweifelhaft würde ihm der S.-C. B. 1879 nach seinem Siege von selbst die Mitgliedschaft wieder anbieten, wahrscheinlich ihn gleich zu seinem Ehrenmitgliede ernennen. Er wollte sie annehmen. Dann aber sollte sein Weg in die Weite beginnen. Berlin--was war Berlin?--Das war ein abgegraster Boden, auf dem es nichts mehr zu holen gab. Und auch in Deutschland waren der Städte wenige, wo er noch Ehren erlangen konnte, die er noch nicht besaß. Aber das Ausland!--Dahin mußte er. Zunächst nach England. Und wenn er von dort mit neuen Ehren und neuen Mitteln zurückgekehrt war, dann sollten seine großen Reisen von einer Hauptstadt zu der anderen beginnen, und überall würde er seine Kunst--wenn es sein mußte: vor der ganzen Öffentlichkeit zeigen und den Ruhm seines Namens über die ganze Welt tragen... So sprach Felder. Seine ungelenken Worte überstürzten sich, und seine Augen glänzten wie im Fieber, während seine heißen Hände heute abend immer und immer wieder nach dem Glase griffen. Und der kleine Kaufmann sah mit seinen weit geöffneten Augen ganz stumm und erschrocken auf seinen großen Freund und hörte ihm zu, ohne ihn zu verstehen, und wußte nicht mehr: redete ein Genie da vor ihm oder ein Irrer. 7 In unsäglicher Spannung erwartete Felder seinen Tag. Er lebte nur noch in dem Gedanken an ihn. Nie vorher hatte er mit solcher Sorgfalt sich auf alles vorbereitet. Seine Meldung war angenommen worden. Natürlich. Sie hätten sie gar nicht abweisen können. Es lag nicht das geringste gegen ihn vor. Dann wurden die Teilnehmer bekannt gemacht. Felder verschlang die Namen, und er hätte aufschreien mögen vor Freude--das war, was er gewollt, und mehr, als er je zu hoffen gewagt: die allerersten Namen, nicht nur Deutschlands, sondern Europas!--Er kannte alle, vom ersten bis zum letzten! Da war zunächst Riesecker, der der Meister Deutschlands gewesen war bis zur Stunde, wo er ihn zurückgedrängt hatte--aha, jetzt wagte er sich wieder hervor, sein alter Gegner; dann Scarpetta, der Meister Italiens, dem wohl wieder einmal nach einer Niederlage gelüstete; Anton Riegler, der Meister Österreichs und Ungarns zu gleicher Zeit--der Europas würde er nie werden, so lange Felder lebte, Magelsdorffer, der im vorigen Jahre die große Rheinmeisterschaft über 7500 Meter erfochten--er sollte aber doch lieber in seinem heimatlichen Strom bleiben. Dann der junge Nachwuchs: vor allem der junge Magdeburger Seubert wieder--nun, nur nicht so eilig, junger Mann; und auch du nicht, Georg Bauer--ihr jungen Hähne kräht zu früh... Sie wurden alle kommen, mit Ausnahme der Engländer wieder. Nun, mit denen würde er ja bei der nächsten Gelegenheit noch ein Wort reden... Sie waren alle da, und Felders innere Freude kannte keine Grenzen. Jetzt erst war er wieder ganz ruhig. Was für ein Schwimmen sollte das werden!--Langsam, viel zu langsam kam endlich der Tag für den Einsamen heran. Felder lag im Bett bis gegen Mittag. Mit offenen Augen starrte er die Kränze und Bilder an den Wänden an. Endlich hielt er es nicht mehr aus. Früh am Nachmittag fuhr er hinaus nach Grünau. In dem kleinen Paket in der Hand trug er sein Trikot. Der Zug war überfüllt mit Ausflüglern. In Grünau ging er gleich zum Sportplatz und dort hinter den Reihen der Zuschauer entlang zu den ihm so wohlbekannten Auskleidestellen, wo bereits überall Kleider hingen. Er suchte sich die entlegenste freie Ecke und zog sich langsam aus. Es war vier Uhr. Vor fünf konnte das 600-Meter-Rennen kaum beginnen. Als er das Trikot über seine glühenden Glieder zog, war er noch immer ganz allein in dieser Ecke hier oben. Dieses Trikot hatte er sich für sein heutiges Schwimmen als Einzelschwimmer machen lassen, und wochenlang hatte er darüber nachgedacht, was er wählen sollte und durfte. Endlich hatte er sich entschieden: ganz weiß, nur am Rande mit einem goldenen Streifen; und ebenso die Badehose: ganz weiß, mit goldenen, schmalen Streifen und vorn mit einem einfachen goldenen Stern. Das waren die Farben keines Klubs, das war kein Abzeichen, das war noch von niemand jemals gewählt worden--es sollten die selbstgewählten Farben sein, unter denen er heute für sich ganz allein siegen wollte, heute, dies eine Mal, bevor--bevor er wieder für andere kämpfen wollte. Leicht und straff legte sich der dünne, fast durchsichtige Stoff um seinen Körper, nur Arme und Beine frei lassend, nirgends beengend, jeder Bewegung nachgebend, wie die Trikots der Akrobaten und Athleten. Felder hätte keine einfacheren und bescheideneren und doch herausfordernd-bedeutungsvolleren Farben wählen können als diese beiden: Weiß und Gold!-- Noch immer kam niemand, und er stand bereits fertig. Von diesem Fleck aus konnte er nicht nur den ganzen Sportplatz unter sich, sondern weithin die ganze Gegend überblicken. Vor ihm unter den Bäumen fielen die langen Bankreihen stufenförmig bis zum Wasserspiegel nieder, dicht besetzt mit den Zuschauern, um so dichter, je näher der Kampfplatz, alle es sich so bequem wie möglich machend, die Frauen in luftigen Sommerkleidern, die Männer oft in Hemdsärmeln, trinkend, lachend, sich den Schweiß abtrocknend und immer wieder die Aufmerksamkeit den Spielen zuwendend... Kinder, die sich langweilten und balgten, zwischen sich... Weiter unten die Farben der Klubs, die schwarzen Röcke und Fräcke der offiziell Beteiligten, der geladenen Gäste, der Richter, der Veranstalter... dann die nackten, hellen Gestalten der Kämpfer... endlich der abgesteckte Platz mit seinen fahnengeschmückten Gerüsten, die auf Tonnen schwammen... auf dem Sprungbrett die schnell sich ablösenden Gestalten, in seltsamen Formen die Luft durchschneidend und in dem aufspritzenden Wasser verschwindend... Leben, Bewegung überall, überall Kommen und Gehen: der erregte und doch verhaltene Ernst, die gespannte Aufmerksamkeit dieses Festes, nur unterbrochen durch den zeitweiligen, tosenden Jubel der Zuschauer, aber alles gebannt, etwas gelähmt durch die drohende Schwüle dieses Julitages... Und darüber hinaus die ganze, weite Landschaft, das leuchtende Wasserbecken, hier sich zum See verbreiternd, dort, gegen Westen, sich in trägem Flusse verengernd, an seinen Ufern die menschenüberfüllten Sommergärten, von denen Musik herüberschallte, besät mit Booten und Fahrzeugen, aufweichen die sonntagsfreudigen und arbeitsmüden Großstadtmenschen sich dahintreiben ließen; dann dort drüben das einfache und in seiner Einförmigkeit doch so tiefe Bild dunkler Kiefern und des weißen, märkischen Sandes: die sanften Linien der Müggelberge, gebrochen am Horizonte durch den scharfen Strich eines Aussichtsturmes, aber sonst leise und wellig dahingleitend, in ihrer milden Freundlichkeit mehr geschaffen für den stillen Ernst des Herbstes, als für diese grelle Sonne, der die geraden Stämme regungslos, ohne Erzittern, wie betäubt, standhielten... Felder wußte nichts von der Schönheit und von der Einförmigkeit dieser Gegend. Er hatte nie etwas anderes gekannt, als sie, und die Bilder seiner Reisen hatte er gesehen, wie andere sie für zehn Pfennig im Automaten sahen. Er sah nur das Wasser. Und es glitzerte und glänzte und lockte und rief; und ungeduldig griff er nach seinem Tuch. Dies Wasser war seine Heimat; dies Wasser war sein Land.-- Genau war mit Koepke der Zeitpunkt verabredet, an dem dieser ihn abholen sollte: bei Beendigung der sechsten Konkurrenz, des Hindernisschwimmens; spätestens aber vor Beginn der siebenten: des Springens um die Deutschland-Meisterschaft, der als achte dann das große Hauptschwimmen folgen sollte. Zeit genug also. Und Felder war schon fertig. Er wußte, daß Koepke kommen würde. Hierher. Die Ungeduld ergriff ihn. Wurde denn das Sprungbrett dort unten niemals leer?--Immer von neuem erschienen die Springer. Und mit der Ungeduld kam die Angst über ihn, jene Angst, die er nur ein einziges Mal in seinem Leben gespürt: damals, vor seinem ersten großen Siege, an jenem grauen Wintertage, in der trüben Ecke des Winterbades der Wasserfreunde, als er so wie heute darauf wartete, daß man ihn holen sollte. Aber wie durfte er _heute_ Angst haben!--Und doch fühlte er sie, wie eine Drohung, über sich, und er atmete erleichtert auf, als dort unten eine Bewegung durch die Reihen ging, die das Ende eines Rennens andeutete. Dann stürzten nasse Gestalten herauf, ohne sich um ihn zu kümmern, rissen sich, lachend und lärmend und noch schweratmend von der Arbeit, die Trikots vom Leibe, nach Hemd und Hose greifend, und sogleich er schien auch--pünktlich zur Sekunde--Koepke. Da fiel die Unruhe von Felders Brust, und hocherhobenen Hauptes, das Badetuch lässig um die Schultern geschlagen, stieg er langsam und ohne sich umzusehen, durch die Reihen der Zuschauer hernieder und schritt auf die Bahn zu. Auch dort vermied er, irgend jemand mit dem Blicke zu streifen, sondern lehnte sich ruhig an das Geländer, das nächste Rennen erwartend, und als es begann, ihm aufmerksam mit den Augen folgend. Aber er fühlte, wie man ihn ansah von allen Seiten; er wußte, daß in diesem Augenblicke aller Augen auf ihm ruhten. Nicht jetzt wollte er ihnen begegnen. Nach dem Siege--dann!--Nur einmal sah er auf und maß mit dem Blicke die lange Bahn, die man für das 6oo- Meter-Rennen besonders abgesteckt hatte. Welche der sieben Nummern war wohl die seine?--Würde er in der Mitte oder an der Seite liegen?-- Die Hitze wurde immer drückender; der Himmel war nicht mehr so rein, wie am Mittag, sondern färbte sich ins Graue, und leichte Wolken lagerten sich hier und da. Er war wie geladen mit Spannung, und ein Gewitter konnte jede Minute losbrechen. Luft und Wasser lagen starr, und die Blätter der Bäume hingen schlaff hernieder. Es war unerträglich, aber alle hielt die Erwartung auf das Kommende aufrecht. Dann war auch dieses Rennen zu Ende, und irgend jemand, den er nicht kannte, sagte etwas zu Felder, was dieser nicht recht verstand. Ach so, es sollte vor dem Beginne des Wettkampfes das übliche Bild aufgenommen werden. Und er stellte sich auf den bezeichneten Platz, aber erwußte nicht, wer neben ihm stand. War es Scarpetta oder der junge Seubert? Er sah nur immer gerade aus, seine Augen hatten einen ganz starren Ausdruck angenommen, und in diesem Moment sah jeder, der ihn früher gekannt und ihn nun zum ersten Male seit Monaten wiedersah, wie sehr er sich verändert hatte. Das war nicht mehr das weiche, runde, gutmütige Gesicht Franz Felders, wie man es kannte von früheren Zeiten her und so vielen Bildern, das unbekümmerte Gesicht des Knaben und des glückstrahlenden Jünglings; das war nicht mehr der vertrauende, freundliche Blick, der diesen Zügen auch dann noch geblieben war, als die letzten Jahre schon die Linie der Entschlossenheit bis zur Härte vertieft hatten: das war das frühalte, herbe Gesicht eines Mannes, in dem die Leidenschaften ihre Spuren hinterlassen haben; und in diesen Augen, die über alles hinweg in eine weite Ferne blickten, brannte nur noch das Feuer eines düsteren Willens, der entschlossen war, sich durchzusetzen, und sei es über Leichen... Und wie sein Gesicht, so hatte auch Felders Gestalt alle Weichheit verloren; jetzt sah man deutlich, welche Kraft in dieser hageren Sehnigkeit und in diesen straffen, eisernen Muskeln lag. Das Bild war aufgenommen. Irgendein anderer, dessen Stimme ihm bekannt in die Ohren schlug, gab Felder die schwarze Mütze und nannte ihm die Nummer seines Platzes--den zweiten links. Aber Felder sah und hörte überhaupt nichts mehr, als nur diese eine Zahl; und während er sich zu ihr durchdrängte, verschwammen alle diese Gesichter um ihn her völlig in ein großes Ganzes--die Starter, die Festteilnehmer, die Sportsleute, die Zuschauer--und erst, als er im Wasser mit der Hand an seiner Nummer lag, kam er wieder zur Besinnung. Jetzt schaute er sich um: links neben ihm als Nummer eins lag der junge Georg Bauer mit seinem lachenden Gesicht, als sei dies Schwimmen ein Spiel; rechts neben ihm, totenblaß und mit aufeinandergebissenen Zähnen Riesecker; dann, als er den Kopf nach hinten bog und empor sah, ob das Zeichen noch nicht gegeben wurde, erkannte er unter den Gesichtern dort oben über ihm, wie im Fluge, aber ganz deutlich vier, fünf Gesichter seiner alten Freunde aus dem S.-C. B. 1879, unter ihnen das ernste Gesicht Nagels. Aber er durfte jetzt nur noch eines denken; und als er, wie um nichts mehr zu sehen, sein heißes Gesicht für eine kurze Sekunde in das Wasser tauchte, wurde über ihm das Zeichen gegeben. Die anderen hatten bereits abgestoßen. Mit einem Schlage war er unter ihnen... Die ersten Längen schwamm er unter dem Bann des einzigen Gedankens, seinen Stil möglichst innezuhalten und sich nicht unnütz auszugeben. Er mußte sich zügeln, so groß war das Übermaß von Kraft in ihm. Über die kurze Strecke--eigentlich immer sein Favoritgebiet--hätte er bereits gewinnen können. Dann kamen ihm in der dritten Länge gegen den Strom zu beiden Seiten die Gegner wieder nach. Er hielt indessen seinen Stil inne, ohne sich zu überhasten, und erst in einer der nächsten--es mußte nach seiner Berechnung die fünfte sein--ergriff ihn die Unruhe, ihn aufgeben zu müssen, da er glaubte, sich sonst nicht behaupten zu können. Eine Länge, die mit dem Strom, wenigstens wollte er es indessen noch versuchen, bevor er dann mit seinem Endspurt etwa Verlorenes wieder einbringen mußte. Er sah sich jetzt nicht mehr um. Er schwamm, und er wußte, wie gut und sicher er schwamm... Jetzt noch eine Länge, und dann noch eine. Und während dieser einen, die er für die vorletzte hielt, wurde er die Gegner nicht los. Er fühlte, es war unmöglich auf diese Weise. Er mußte seinen Stil aufgeben und sich durchs Ziel arbeiten, so gut es ging. Er schlug an. Und nochmals stieß er ab. Und jetzt--er fühlte es, wie er am Ende seiner Kraft war. Er würde auch diese Länge noch zu Ende bringen, die wie endlos vor ihm lag, aber so wie die anderen nicht mehr. Wer war denn noch neben ihm?... Er sah zur Seite. Niemand?--Das gab ihm neuen Mut, und er holte zu neuen Stößen aus. Zugleich aber war es ihm, als ob man ihm zurief, und als er nochmals unwillkürlich den Blick erhob, sah er, wie auf dem Seitensteg ein Herr neben ihm herlief, mit den Händen fuchtelte und ihm fortwährend zuschrie:--Genug!--genug!--es ist ja zu Ende!-- Zu Ende?--Was?--Darum lag niemand mehr neben ihm. Er wandte sich um und stieg ans Land. Die Musik blies immer von neuem Tusch; die ganze Zuschauermenge hatte sich wie ein Mann erhoben und schrie und winkte mit Tüchern und Hüten, und Felder trat in ein wirres Gewühl von durcheinander redenden und durcheinander laufenden Menschen. Aber wer war es denn, dem man zujubelte?--Wem galt all diese Erregung?--Wer war der Sieger?--Einer konnte es doch nur sein. Niemand schien es zu wissen. Nur daß _er_ es nicht war, das sah er!--Niemand kam zu ihm, niemand kümmerte sich um ihn. Da ging er langsam an dem Ufer entlang und an der Seite der Umzäunung empor zu seinem Platze. Mechanisch kleidete er sich an, und seine Augen hatten wieder den starren, abwesenden Ausdruck. Er war wie zerschlagen. Er begriff noch nichts. Nichts, als das eine; daß er unterlegen war!--Mechanisch streifte er sich das breite Band der Ehrenmitgliedschaft der "Life Saving Society" um den Hals, die höchste Ehrung, die ihm je zuteil geworden war, und die einzige, die er neben den großen goldenen Medaillen seiner Europa-Meisterschaft an diesem bedeutungsvollen Tage angelegt hatte. Er strich es noch unter dem Rock glatt, als Koepke in höchster Aufregung heraufstürmte. --Mensch, rief er ihm schon von weitem zu, was wartest du denn nicht!--Na, da unten geht es schön zu!... Aber was wollen sie denn machen!--Du warst es doch nun einmal... Felder starrte ihn an. Der Kleine wiederholte nur immer in einem fort:--Großartig!--aber wirklich großartig!--Ah, was die sich ärgern dort unten, das ist ja ein Schauspiel für Götter! Felder begriff noch immer nichts. Er packte ihn am Arme. Er wollte wenigstens wissen, gegen wen er unterlegen war. --Wer hat gesiegt?--stieß er hervor. --Wer gesiegt hat.?--schrie da der andere.--Wer gesiegt hat, fragt er, und ist es selbst! Mit einem Ruck zog Felder die Jacke fest, fuhr mit der Hand durch die Haare und richtete sich auf. Mit einem Blicke übersah er, wie vorhin, das Bild zu seinen Füßen. Es hatte sich völlig geändert. Vom Himmel fielen, jede Minute dichter, die ersten Tropfen, und ein Teil der Zuschauer hatte bereits die Plätze verlassen. Die übrigen schickten sich an, zu flüchten; die Frauen rafften ihre Kleider zusammen, und die Männer schlüpften in ihre Röcke. Nur dort unten beim Kampfplatz standen dicht zusammen die erregten Gruppen. Selbst von hier oben aus konnte man erkennen, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte. Langsam von seinem Freunde gefolgt, den Strohhut in der Hand, stieg Felder den Abhang hinunter. Er war wie verwandelt. Er lächelte. Denn jetzt war seine Stunde gekommen!... Und er hatte nur noch einen Gedanken: möglichst ruhig zu erscheinen, die wilde, unbändige Freude, die ihn wie neugeschenktes Leben durchrann, nicht zu sehr merken zulassen. Aber ganz konnte er sie nicht verbergen: sie lag auf seinen Lippen, sie schien aus seinen Augen, und sein verhärmtes Gesicht bedeckte eine schwache Röte. Er kam zu der ersten Gruppe, wo heftig durcheinander geschrieen wurde--es war Felder, als ob einige ihn erkannten, schwiegen und ihm Platz machten, als er an ihnen vorbei ging. Die nächste war die der "Borussia". Er sah den ihm bekannten Schwimmwart des Vereins an: der wandte sich ab, und die anderen machten ihm Platz. Er zögerte einen Augenblick. Dann ging er an der Wasserseite entlang auf den Platz zu, wo der Tisch der Veranstalter stand und das Komitee der Richter saß. Sie waren alle beschäftigt, und niemand kümmerte sich um ihn. Er stand vor der großen Tafel, auf der soeben der letzte der drei Sieger angekreidet wurde. Er las zunächst seinen eigenen Namen: 1. Felder . . . . . 10:48 dann weiter: 2. Bauer . . . . . 11:12 2/5 3. Riegler . . . . . 11:20 Der Schreibende wandte sich um, als er seine Arbeit getan, lächelte, als er Felder erkannte, und ging fort, ohne ihn anzusprechen. Felder atmete schwer. Er fühlte die feuchten Tropfen nicht, die dichter und dichter fielen; er fühlte die drückende Hitze dieses Tages wie nie. Also Bauer und Riegler!--Welcher Sieg: er hatte den berühmten Meister Österreich-Ungarns gleichermaßen geschlagen, wie die hoffnungsvollste Kraft der Jugend. Er wußte, daß er vorzüglich geschwommen hatte. Wenn die erreichten Zeiten sich so nah lagen--eine Außergewöhnlichkeit bei einem Rennen über eine so lange Strecke--so lag das bei ihm nur daran, weil er durchaus seinen Stil beibehalten hatte. Ohne diese überflüssige Zugabe hätte er leicht heute noch den Weltrekord über 600 Meter--10:05 1/2--verbessern können. Es war ein Sieg wie keiner. Vielleicht sein größter. Weshalb schien man das nicht zu begreifen?--Was sollte das alles überhaupt heißen?-- Warum kam man denn nicht zu ihm?-- Auf der linken Seite, der Wasserseite, dem Ufer gegenüber, lagen die für die Klubs und die geladenen Gäste reservierten Plätze. Man saß dort nicht mehr, sondern alles stand dicht durcheinander, kam und ging. Nur die Klubmannschaften bildeten noch einzelne Gruppen. Dort sah Felder die blau-weißen Farben. Und mit plötzlichem Entschluß drängte er sich durch die Menschen und Stühle, ohne daß ihn jemand beachtete. In seinen Augen war alles Licht erloschen und er lächelte nicht mehr. Nach ein paar Schritten stand er still. Er konnte nicht weiter. Er wartete. Er stand jetzt der Gruppe so nah, daß man ihn von dort aus sehen mußte. Jetzt würden sie zu ihm kommen... Er stand da und wartete, und Koepke, der ihm gefolgt war, ohne zu wissen, wohin Felder wollte, stand neben ihm. Er hörte die Stimmen, bekannte Stimmen, und er wußte, wer sprach. Das war der Vorsitzende, und das, das--war Nagels ruhige, sichere Stimme. Niemand kam. Niemand schien nach ihm hinzusehen. Niemand sprach ihn an. Was sollte es bedeuten!--Was konnte das bedeuten?-- Er ertrug es nicht mehr. Und er ging weiter, und dicht an den Mitgliedern des S.-C. B. 1879 vorüber. Er sah sie an und sie sahen ihn an. Aber keiner grüßte ihn; keiner machte eine Bewegung zu ihm hin. Er ging weiter. Er begriff noch immer nichts. Aber er fühlte einen Schmerz, wie er ihn noch nie in seinem Leben gefühlt. Er ging weiter und blieb irgendwo am Geländer stehen, mitten unter den Mitgliedern des "Neptun", von denen er fast keinen kannte. Das große Hechttauchen war im Gange. Es regnete schon stark. Ein Kämpfer nach dem anderen erschien am Start: ging ins Wasser, erschien dort halb mit seinem Rücken, aber das Gesicht noch immer unter Wasser, verschwamm sich, fühlte es am Anstoßen, schwamm geradeaus, ging ans Land, wurde beklatscht--Felder sah immer auf das Wasser vor sich und begriff noch immer nichts. Er wartete und wartete und wußte selbst nicht, worauf eigentlich noch.... Dann war auch das Hechttauchen zu Ende, und in die Umstehenden, die-- ebenso wie er--ihre Blicke nur auf die unbewegte Wasserfläche geheftet hatten, _unter_ der der Sieg erfochten wurde, kam neue Bewegung. Da führ auch Felder auf. Irgend etwas mußte geschehen. Er mußte Gewißheit haben. Was ging hier vor um ihn?--Entweder war etwas gegen ihn im Gange, von dem er nichts wußte, oder ein unbegreifliches Mißverständnis-- vielleicht auf seiner eigenen Seite--täuschte und verwirrte ihn. Jedenfalls mußte ein Ende gemacht werden. Und wieder ging er an seinem alten Klub vorüber. Aber diesmal blickte er nicht vor sich hin, sondern fest und entschlossen sah er von Mann zu Mann--ohne zuerst zu grüßen, den Hut noch immer in der Hand--aber wartend--wartend ... worauf?--Und überall, wohin er auch sah, wich man seinem Blick aus, nicht brüsk und unfreundlich, aber hier in offenbarer Verlegenheit, dort in bewußter Absichtlichkeit, und meistens wie erstaunt. Seine Füße wurden schwer und schwerer. Aber er ging weiter. An der nächsten Gruppe, der des "Poseidon", wurden seine Blicke von einzelnen erwidert. Aber nicht freundlich, sondern herausfordernd, mit offenbarer Feindseligkeit, wie er es kaum anders erwartet. Er konnte sich nicht täuschen. Die Worte: "Größenwahn!"--"Verrückt!"-- "Der Meisterspringer"--und mehrfach das höhnisch betönte "Einzelschwimmer" klangen zu vernehmlich an sein Ohr. Er hörte es und ging weiter. Weiter und weiter, den Steg entlang. Und wohin er kam, erkannte und beachtete man ihn entweder gar nicht, oder man machte ihm Platz. Nur als er den "Hechten" näher kam, schien es, als ob der eine oder andere von dort Miene machte, ihm entgegen zu kommen. Aber da wendete er sich ab und schritt schnell zu den nun fast völlig geleerten Sitzreihen. Außer den Vereinen war nun fast niemand mehr anwesend. Er suchte die Vertreter der Zeitungen, aber sie mußten bereits gegangen sein. Nur Koepke war plötzlich wieder neben ihm. Da führ er ihn an: "Was willst du denn noch?--Was läufst du mir denn immer nach?--So laß mich doch endlich einmal in Ruhe!" Das war selbst für den kleinen Kaufmann zuviel. Mit gekränkter Miene und ohne Antwort ging er von dannen. Felder war jetzt ganz allein. Noch einmal übersah er das ganze Gelände. Es war fast ganz leer und der dichte Regen schlag durch die Blätter der Bäume. Jedes Interesse schien erlahmt und man trieb zum Biere und zu anderer Unterhaltung. Dort unten gingen die letzten Wettkämpfe zu Ende. Die Richter saßen unter Regenschirmen, und nur die Buntbemützten harrten bis zu Ende aus. Da wandte sich Felder zum Gehen. Er dachte nicht daran, seinen Preis in Empfang zu nehmen. Er kämpfte nicht mehr um Preise. Um seinen Namen, um seine Ehre kämpfte er. Nein, auch das nicht. Um sein _Leben_ hatte er heute gekämpft, um sein ganzes vergangenes und zukünftiges Leben. Nie hatte er so gesiegt wie heute. Und doch war er unterlegen! 8 Er sah ganz klar. Er begriff plötzlich alles. Er täuschte sich nicht mehr. Er erblickte alles in anderem Lichte, dem grellen, nüchternen Lichte der Wirklichkeit.-- Er war ein Narr gewesen. Ein Narr, als er geglaubt, daß er die Welt erobern könne mit seinen Siegen. Ein Narr, als er wähnte, sie drehte sich forthin nur noch um ihn, nachdem er diese Siege errungen. Ein Narr, als er sich einbildete, er sei der allmächtige und unbezwingliche Sieger. Und der größte aller Narren, als er von diesem Tage eine unerhörte Wendung der Dinge erwartet. Er kannte doch das Schwimmerleben und wußte, wie es in ihm zuging!-- Wie im Leben des Tages, so auch dort überall gegenseitiger Neid und Haß! Hatte er ihn nicht in aller Blicken gelesen?--Nie würde man ihm diesen Sieg vergessen. Daß er gewagt, seine eigenen Wege zu gehen, war schon ein Vergehen gegen die Gewohnheit des Herkommens; daß er aber als einzelner Schwimmer den großen Preis an sich gerissen, der doch von Rechts wegen einem Klub gehören sollte, das war ein Verbrechen, das man ihm nie verzeihen würde. Und wie hatte er auch nur eine Minute glauben können, daß sein alter Klub ihn wieder aufnehmen, ja zuerst zu ihm kommen und ihm gar noch die Ehrenmitgliedschaft antragen würden?--Gerade die 79er waren es doch, denen am wenigsten noch von allen Klubs an den Preisen lag--das wußte er doch am besten!--Er war von ihnen gegangen, und damit war alles zu Ende gewesen zwischen ihm und den Genossen seiner Jugend. Das war es gewesen, worunter er mehr gelitten, als er es sich jemals selbst zugestanden. An dem Schmerz, als er an ihnen vorbeiging und seine Blicke unerwidert geblieben waren, hatte er gefühlt, wieviel er in diesem letzten Jahre innerlich entbehrt. Er wußte es jetzt: nicht um die Ehre, nicht um die Preise, nicht um seinen Namen hatte er gekämpft, sondern um seinen alten Klub. Um seine alte Liebe, um die Wiederkehr jener glücklichen Stunden im Kreise der Freunde, um das trauliche und schöne Beisammensein mit ihnen in allen Stunden, um ihre Achtung und Freundschaft... Um alles, was seinem Leben jahrelang Wärme und Licht verliehen--um sein Leben hatte er gekämpft. Dafür hatte er zu siegen gehofft. Er hatte gesiegt. Und er hatte verloren. Sie würden ihn nicht wiedernehmen, auch wenn er selbst zu ihnen zurückkehren wollte; und wenn sie ihn aufnehmen würden, dann war alles anders geworden.-- Was nun aber?-- So ging es doch nicht weiter. Er täuschte sich nicht mehr, und er wußte jetzt, wie furchtbar er gelitten in dieser letzten Zeit. So konnte er nicht weiterleben. Er konnte die Einsamkeit einfach nicht mehr ertragen. Gewiß: es standen ihm andere, die besten Klubs offen. Nichts lag vor, was seinen Eintritt hinderte, und nach dem heutigen Siege würden sich gar bald die gehässigen in freundliche Mienen verwandeln und sich ihm überall die Hände entgegenstrecken, wo er sie nur ergreifen wollte. Aber es würde niemals wieder so werden, wie es gewesen war. Er würde so sein, wie im "Hecht": ein Fremder unter Fremden. Aber was sollte denn nun werden?--Ihm begann vor der Zukunft zu grauen, denn er sah jetzt in allem ganz klar. Er erkannte, wie sehr er sich zunächst in bezug auf sich selbst getäuscht. Allmählich in diesen letzten Jahren, und immer mehr und mehr, hatte er sich daran gewöhnt, nur sich zu sehen, nur seine Siege, nur seine Triumphe. So war er dahin gekommen, den Erfolgen anderer keine Bedeutung beizulegen, sie zu übersehen, soweit es anging. Gewiß, darüber war kein Zweifel: sein Name war der berühmteste unter allen, sein Erfolg beispiellos, sein Ruhm weiter gedrungen, als der Ruhm irgendeines deutschen Schwimmers bisher... Aber wieviel andere Namen wurden nicht auch neben, nicht mit dem seinen zusammen genannt, wenn man von den Meistern des Schwimmens sprach: alte Namen und neue, alle Tage neue... Er war nicht der einzige, der Meister hieß. Da gab es eine Menge von Meisterschaften, selbst in Deutschland, die in anderen Händen waren, an denen er sich nicht beteiligt hatte, gar nicht hatte beteiligen können, schon allein, weil Zeit und Raumentfernung und Satzungen es verboten. Da gab es ferner die Meisterschaften im Mehrkampf, unter denen er nur eine einzige, die bei seinem ersten und letzten Versuch errungene, sein eigen nannte. Dann endlich die Springmeisterschaften... Doch daran mochte er gar nicht mehr denken!--Also: nicht auf einer Brust wurden alle Ehren vereinigt. Genug, daß die seine die höchsten trug. Er hatte einen Namen, den besten und berühmtesten. Aber es war doch nur ein Name neben und mit anderen. Noch immer der erste. Heute mehr als je der erste, und nach diesem letzten Siege lauter genannt, als jemals zuvor.--Aber wie lange noch?-- Denn auch darin sah Felder jetzt zum ersten Male klar: daß es eine Grenze gab, über die keiner hinauskam. Nie hatte er sich das selbst gegenüber eingestanden, nie daran auch nur denken wollen... Aber jetzt täuschte er sich auch hierin nicht mehr, und manches Wort fiel ihm ein, das Nagel und auch andere schon vor Jahren warnend zu ihm gesprochen. Wie lange dauerte denn die Siegeslaufbahn einer Sportgroße?--So lange, wie seine beste Kraft. Eine Reihe von Jahren, ein paar weniger, ein paar mehr. Aber über ein gewisses Maß ging es nie hinaus. Und im Schwimmen?--Wenn einer dieselben Meisterschaften und einige Wanderpreise drei Jahre hintereinander errang, so war das schon eine große Ausnahme. Meist kam irgendeine andere Kraft dazwischen und entriß sie ihm vor der Entscheidung.--Wenn ein Schwimmer ein paar Jahre lang die Meisterschaft über die kurze oder lange Strecke, oder in irgendeiner besonderen Art des Schwimmens, in der er es zur besonderen Fertigkeit gebracht, behauptete, so war das gerade genug. Sicher war kein Sieg, und je zahlreicher sie sich auf eine Person häuften, um so näher lag die Gefahr, daß diese bald von ihrem Platze verdrängt werden würde. War einer aber gar, wie Felder, jahrelang der überall Siegreiche, überall Gefürchtete und Beneidete gewesen, dann waren sie alle hinter ihm her, sie, die "auch etwas konnten", und es galt, sich zu verteidigen nach links und rechts und keinen der Gegner aus den Augen zu lassen. Das war nicht leicht. Jetzt erst fühlte Felder, wie schwer es war, wieviel schwerer es wurde von Jahr zu Jahr!-- Eine Zeitlang hatte er sich auch hierüber täuschen können. In stolze Sicherheit gewiegt, hatte er sich für unüberwindlich gehalten, bis ihm die Augen geöffnet wurden. In erster Bestürzung wollte er die Schuld einer Abnahme seiner Kraft und sich selbst zuschreiben. Längst wußte er, daß er sich auch darin geirrt. Sein eigener lässiger Hochmut und Dünkel, das waren die hauptsächlichsten Gründe, die alles verschuldet, was geschehen war. Er besaß sie nicht mehr: nicht Hochmut, nicht Dünkel mehr. Er wußte seit langem wieder, was auf dem Spiele stand, und wie es zu ringen galt, um sich auf der neu gewonnenen Höhe zu behaupten. Er war bereit. Wie am ersten Tage der kleine Knabe bereit gewesen war, an seinen ersten kleinen Sieg seine ganze, kleine Kraft zu setzen--so war er willig, jetzt zu ringen um seine letzten Siege. Aber wozu?-- Und für wen?-- Die Freude an Siegen war dahin, die er mit niemandem mehr teilen konnte. Nicht nur mehr gefürchtet und beneidet, gehaßt würden seine Siege werden, wenn er sie in dieser Weise weiter erfocht. Man würde sie ihm erschweren auf alle Weise. Hatte er nicht heute erlebt, wie man wie auf geheime Abmachung hin ihn überall auch dort ostentativ geschnitten, wo er nicht das geringste verschuldet?--Hatte nicht Feindseligkeit, ja Haß gegen den "Einzelschwimmer" in den Blicken gelegen?--Ruhiger geworden, sagte er sich, daß auch der Zufall, der Ausbruch des Regens und andere Umstände mitgewirkt hatten, um ihm diese furchtbare Enttäuschung zu bereiten. Sonst würden doch der eine oder andere von seinen älteren Bekannten aus irgendeinem der befreundeten Klubs und sicherlich auch die passiven Sportfreunde und die Kenner, wie zum Beispiel sein alter Bewunderer, der Berichterstatter des "Welt-Sport", und andere zu ihm gekommen sein. Aber die allgemeine Animosität gegen den "Einzelschwimmer" würde immer bestehen bleiben, und allgemeine Freude würden seine Siege nie mehr hervorrufen. Sollte er immer so stehen bleiben, er, der Einzelne, gegen die geschlossenen Mächte der Klubs? Und die anderen Träume, in die er sich gewiegt in dieser letzten, einsamen Zeit--waren sie nicht ebenso haltlos und töricht?--Nach England wollte er gehen?--Ganz allein, ohne Kenntnis der Sprache in das fremde Land, um dort sich zu messen mit diesen unbekannten Kräften, von denen er nichts wußte, als daß sie die allerersten der Welt waren? Woher sollte er die Mittel zur Reise nehmen? Und selbst wenn er hinging, wenn er alle Schwierigkeiten überwand--was dann, wenn er unterlag und mit Hohn und Spott heimgeschickt wurde?--Dann war es endgültig aus... Oder sollte er wirklich die wahnwitzige Idee zur Ausführung bringen und seine Kunst zum Beruf machen? Dem ganzen Sportwesen den Rücken kehren und als Professional die Welt durchreisen? Jede andere Arbeit aufgeben, sich auf einige Dinge bis zur Abnormität einüben und dann von Stadt zu Stadt und von Land zu Land ziehen und sich als "Artist" anstaunen lassen?--Das war sicherlich die törichtste seiner Einbildungen gewesen, und er lachte sich selbst aus. Das konnte er einfach gar nicht!-- Alles, was also übrigblieb, war, sich noch ein paar Jahre, so lange, wie nur eben möglich, auf der wiedergewonnenen Höhe zu halten, den schmalen, schwindelnden Grat zu verteidigen, bis eines Tages der Abgrund des Vergessens auch ihn verschlang. Denn wie lange konnte die ganze Herrlichkeit noch dauern?--Im besten Falle ein paar Jahre. Dann war auch das vorbei. Dann waren die neuen, frischen, jungen Kräfte ins Feld gerückt, die jetzt bereits in der Stille heranreiften, mit flatternden Fahnen und klingendem Spiel; und wer ihnen nicht selbst klug genug zur rechten Zeit auswich, der wurde einfach überholt, zu Boden gerissen, niedergestampft. Dann würden die ersten wirklichen Niederlagen kommen, die, nach denen es kein Aufstehen mehr gab. Denn während er schon stillstand und über die eigene Kraft nicht mehr hinaus konnte, marschierten jene, und "Platz!--Platz endlich für uns!" war ihr Geschrei. Sie würden siegen, ganz einfach, weil sie jung waren. Ihre neuen Namen würden die alten verschlingen, und noch ein paar Jahre eines letzten, aussichtslosen, verzweifelnden Ringens, in denen der alte Glanz immer mehr und mehr erblaßte,--und alles war vorbei, sie alle miteinander vergessen; und während sie noch weiterlebten, waren sie in Wirklichkeit schon tot, und niemand kümmerte sich mehr um ihre verblaßten Bänder und Medaillen, diese letzten Zeugen einstiger Triumphe, von denen sie nur den geduldigsten ihrer Freunde noch erzählen durften, und auch das nicht, ohne bei ihnen das Gähnen der Langeweile oder das Lächeln des Mitleids hervorzurufen. So war es bei allen. So würde es auch bei ihm, bei Franz Felder, sein!-- Denn es gab keine Ausnahme, _keine_. Bei den meisten bildete die Militärzeit die Grenze. Diese Jahre einer für den Sport brachgelegten Kraft überstanden nur wenige. Das Abschiedsfest, das der Klub alljährlich seinen einberufenen Mitgliedern gab, bedeutete für die meisten von ihnen auch den Abschied von ihrer sportlichen Laufbahn. Nur wenige hatten nach ihrer Rückkehr noch die Kraft und die Lust, die Ziele ihrer Jugend wieder aufzunehmen und sich in neuen Verhältnissen an neue Kämpfe zu wagen. Viele bewahrten der Sache wohl noch ihr Interesse, aber das Leben forderte sie ein, und wie der Student ins Philisterium, so gingen sie in ihren Beruf, und bald in ihm und der neugegründeten Familie auf. Nicht alle. Durchaus nicht alle. Es gab manche, die selbst während dieser Militärzeit noch Energie und Lust gefunden hatten, die alte Fertigkeit nicht ganz einschlafen zu lassen und weiterzupflegen. Sie kehrten zurück und waren nach kurzer Zeit wieder auf der alten Höhe. Manche errangen erst jetzt ihre größten Erfolge; bei anderen wieder schien die Übung "in den Waffen" erst ihre ganze Leibeskraft herausgearbeitet zu haben. Bei Felder traf das alles nicht zu. In seiner ausgesprochenen Einseitigkeit, die nie eine andere Betätigung, als diese eine, erlaubt hatte, die ihn scheitern ließ an jenem Versuch des Springens, graute ihm vor der Zeit, die doch schon so dicht vor ihm lag. Er wußte nicht, wie er sie überstehen sollte: in einer schmutzigen Kaserne ohne Wasser!-- Und wenn er sie überstand--was dann?-- Noch die paar Jahre. Noch eine Zeitlang neue, unerhörte Anstrengungen. Nochmals neue Erfolge, wie dieser heutige, die den verschollenen Namen noch einmal vor die Augen aller stellten, nochmals beneidet, gefürchtet, gehaßt--und dann der unerbittliche Absturz von der Höhe, entweder: schnelles Stürzen oder ein stetes, qualvolles Weichen Schritt für Schritt. Er täuschte sich nicht mehr. Er sah ganz klar. Er wußte, er würde es können: die zwei Dienstjahre überstehen, in neues Training treten und sich noch Jahre--länger als irgendeiner vor ihm--auf ehrenvoller Höhe halten. Er brauchte nicht zu verzweifeln. So groß war seine Liebe zur Sache--er hatte sie erprobt; sie würde ihm auch diesmal helfen. Er wußte, er würde das fast Unmögliche können. _Aber so nicht_. Nicht unter diesen Umständen. Nicht allein, nicht so allein. Es war vergeblich, es zu versuchen. Denn die Freude fehlte, die Freude, die ihm Mut und Kraft verliehen, so hoch zu Steigen, die Freude der Hoffnung, die ihm geholfen, die letzte bittere Zeit zu überstehen: die mit anderen geteilte Freude.-- Aber was sollte denn nun werden?-- Er hatte sich rettungslos verstiegen und wußte nicht mehr, wohin. Wie sollte er nun leben?-- Er fand keine Antwort. 9 Eine unerträgliche Hitze brütete über Berlin. Die Menschen atmeten schwer in dieser Atmosphäre von Staub und Dunst. Felder tat noch seine Arbeit, aber er schwamm nicht mehr. Abends saß er irgendwo und sah vor sich hin, wie ein Mensch, der keinen Ausweg aus seinen Gedanken mehr findet; oder er ging mit demselben starren Blick durch die heißen Straßen, bis er müde wurde. Er lebte, wie er gelebt hatte, die schrecklichen Monate in dieser letzten Zeit, ganz für sich, und doch anders--denn wenn ihn damals noch eine große Hoffnung begleitet hatte, so ging er jetzt ganz allein: er sah und hörte nichts mehr, selbst von dem, was in seiner Welt, der engen, der kleinen und doch für ihn alles bedeutenden, vorging; auch durch die Zeitungen nicht mehr; und die Seite, die dreiundachtzigste in dem kleinen, braunen Buch, das er nicht mehr mit sich trug, blieb leer: die Seite, auf die der größte aller Siege eingezeichnet werden durfte und nicht wurde... Es war alles wie abgeschnitten. Es war alles vorbei.-- Er sprach überhaupt kaum ein Wort mehr. So lebte er noch vierzehn Tage. Dann fühlte er eines Tages, daß er das Leben nicht mehr ertragen konnte. Irgend etwas, er wußte selbst nicht was, war gebrochen in ihm, und damit seine Kraft zum Leben. Er fühlte es deutlich. Es nutzte nichts, dies Denken, um herauszukommen. Er kam nicht darüber hinweg. Es war, als wenn alles tot in ihm wäre: alle Sehnen plötzlich durchschnitten von einer ungeheueren Enttäuschung.-- Es war wieder ein Sonntag, einer dieser leeren, durch keine Arbeit und keine Freude mehr erträglich gemachten Tage, und erwälzte sich auf seinem harten Bett in seinem kleinen Zimmer in dumpfer Verzweiflung hin und her. Was sollte er tun?--Er wußte es nicht mehr. Er hatte keine Eltern, keine Geschwister, keine Freunde, keine Geliebte mehr. Sinnlos war sein Leben geworden, zwecklos und freudlos. Und wie er mit den Händen schlug, raschelte etwas auf ihn nieder: verdorrte Lorbeerblätter, die beim Niederfallen in Staub zerfielen. Er nahm die Spreu in die Hand. Es war sein erster Siegeskranz: erfochten als Knabe in dem ersten kleinen Schwimmen, seinem ersten schüchternen Versuch, seinem ersten Siege. Und wie er sah, was es war, was er in seiner Hand hielt, da sah er zugleich sich und sein ganzes Leben; und es schien ihm, als seien alle diese Kränze, die bedruckten und beschriebenen Urkunden, diese Bilder an den Wänden, zerstaubt, zerfallen und zu nichts geworden, wie dieser hier, und nichts von allem übriggeblieben, als ein kleiner Haufen dürren Staubes, zu dem am Ende alles Leben wird. Da wandte er sich ab von diesen zerfallenden und leblosen Dingen, diesen modernden Leichen des Gewesenen, und eine schreckliche Sehnsucht nach dem, was allein noch Leben für ihn war, ergriff ihn. Er kleidete sich hastig an und ließ alles hinter sich.-- Er ging den ganzen Nachmittag durch die Hitze und den Staub und das Menschengewühl des Sonntags: durch den Park von Treptow, grau und nüchtern unter dem Sommerstaube, an den Eierhäuschen an der Spree vorbei, teils am Ufer, dann auf der trostlosen Landstraße, die bedeckt war mit Fuhrwerken und Radlern, bis Köpenick, wo er in dem Vorgarten irgendeiner Wirtschaft ein Glas Bier trank. Und so ging er weiter, bis er nach Grünau kam--Stunde auf Stunde ging er so den langen, dunstigen Nachmittag, und überall, wo er hinkam, waren die Gärten voll von Menschen, und auf den dämmernden Uferwegen tauchten immer neue Gestalten auf, die sich noch nicht entschließen konnten, die köstliche Frische des Abends einzutauschen gegen die dumpfe Häusermasse der großen Stadt. Er aber mußte allein sein, ganz allein, und so ging er, ohne Hunger und Durst zu empfinden, durch Grünau und vorbei an dem Sportplatz, der dunkel und leer dalag; und sein Herz war so müde und mutlos, daß es selbst hier nicht einmal mehr höher schlug ... weiter und weiter, immer an den wegelosen Ufern der weiten Seen entlang... Endlich war er allein. Endlich begegnete ihm niemand mehr. Es war spät in der Nacht. Kein lebendes Wesen zeigte sich hier mehr in dem weiten Umkreise von Himmel, Wald und Wasser... Da stand er still und entledigte sich seiner Kleider. Nackt stand er da, und die Luft der Nacht umspielte seinen heißen, staub- und schweißbedeckten Körper. Langsam trat Franz Felder zum Wasser und sah es an, nachdem er den ganzen Nachmittag--und wie lange vorher schon!--seinen Anblick gemieden. Aber zum ersten Male schien es ihm, als würde sein Gruß nicht erwidert. Stumm und gleichgültig lag es da. Warum vernahm es denn nicht die stumme Bitte seiner Verzweiflung?-- Und zögernd, fast ängstlich, setzte er Fuß vor Fuß, bis es seine Knie erreichte, versank dann in den Schlamm und umarmte es leise. Nackt, wie damals als kleiner Knabe, schmiegte er sich an seine dunkle Brust. Und schwamm. Behutsam, wie um es nicht zu kränken, schwamm er bis in die Mitte des Sees, bis dahin, wo es am tiefsten war. Dort wartete er: ließ sich sinken und verschwand tief unter der Oberfläche. Aber das Wasser trieb ihn empor, und wieder lag der Himmel über ihm, tiefblau, und der Mond und die glitzernden Sterne. Begriff es denn nicht, was er heute von ihm wollte?-- Das Wasser war sein Freund gewesen, sein bester Freund, von jeher. Es hatte den kleinen Kerl, der noch fast nicht gehen konnte, liebreich getragen, wie es nur die trägt, die es liebt gleich seinen eigenen Wesen, und seine Liebe war ihm treu geblieben während seines Lebens bis heute. Der ehrgeizige Ungestüm des Knaben und der ungeduldige Groll des Jünglings hatten sie nicht zu vermindern vermocht. Alles hatte es seinem Liebling gegeben, was es überhaupt geben konnte: Frische, Gesundheit, Kraft und Ruhm und unendliche Freuden, die sich erneuten von Tag zu Tag: und alles hatte Felder genommen als etwas Selbstverständliches, wie andere Kinder die Liebe der Eltern nehmen. Nun kam er noch einmal zu ihm, um bei ihm die letzte Erlösung--vom Leben--zu suchen. Aber das Wasser nahm ihn nicht. Es schien nicht zu begreifen, was er so plötzlich von ihm wollte; und als könne er gar nichts anderes, als Lust und Freude bei ihm suchen, so trug und wiegte und umschmeichelte es ihn, gleich als sei es froh, ihn so versöhnt wieder zu haben nach der langen Zeit der Entfremdung... Und Felder empfand die kühle und linde Berührung mit erschauernder Wonne, und noch einmal vergaß er die schwere Erde, ihre Kämpfe und ihr unerträgliches Leid und gab sich ganz der starken und reinen Umarmung des Wassers hin. Das war nicht mehr der Meister, der große Schulschwimmer, der "Champion of the World", der in dieser nächtlichen Stunde weit da draußen und ganz allein seine Kunst übte; das war der Freund, der wieder zum Freunde kam, um ihm seinen Kummer und seine Sorgen anzuvertrauen und auszuruhen an seiner Brust von der Mühsal des Lebens. Und so schwamm Felder zum letzten Male: ohne an etwas anderes zu denken, als an die Lust dieser Stunde, ließ er sich treiben, breitete nur zuweilen die Arme, als wolle er die silbernen Wellen fassen und an sich ziehen; ließ das Wasser durch seine halbgeöffneten Lippen dringen und erwiderte Umarmung und Kuß. Und wie er sich wandte und drehte, sich bald auf den Rücken legte, bald hier untertauchte und dort wieder emporkam, empfand er noch einmal die ganze Seligkeit, die ihm das Wasser gegeben, die himmlische Leichtigkeit, mit der es ihn trug... Lange schwamm er so...-- Aber dann wurde sein Herz bei dem plötzlichen Gedanken an die Erde wieder schwer. Doch die Schwere seines Herzens zog ihn nicht hinunter. Und da begriff er, daß ihn dieses Element nie töten würde, dieses Element, das ihn liebte und das sein Leben wollte, nicht seinen Tod. So unermeßlich stark, daß es ihn mit einem Schlage hätte niederstrecken können, war es doch schwach ihm gegenüber, der der Stärkere war, weil er geliebt wurde... Endlich begriff er, weshalb es so war und immer so gewesen war, begriff seine ganze eigene Schwäche und die ungeheure Stärke dieser Liebe!-- Da schwamm er zurück zum Ufer, entnahm seinen Kleidern sein Taschenmesser, öffnete es und durchschnitt beim hellen Lichte des Mondes mit schnellem, scharfem Schnitt die Pulsadern seiner rechten Hand, ganz nahe der Stelle, wo die Narbe war, die das Armband zurückgelassen. Sein Blut spritzte empor und er empfand einen kurzen, heftigen Schmerz. Von neuem warf er sich ins Wasser und erreichte mit wenigen hastigen Schlägen fast noch die Mitte des Sees. Sein rotes, warmes Blut mischte sich mit der warmen, schwarzen Flut. Er fühlte, wie mit ihm seine Kraft schwand. Noch einmal breitete er die Arme weit auseinander, warf sich in der jähen Angst des Todes herum und griff um sich, als wollte er sich halten. Aber zum ersten Male ließ das Wasser ihn fallen, und er sank. Den Lebenden hatte es geliebt. Der Tote war ihm nichts als eine Last, die es achtlos in seinen Tiefen begrub. ***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SCHWIMMER*** ******* This file should be named 15068-8.txt or 15068-8.zip ******* This and all associated files of various formats will be found in: https://www.gutenberg.org/dirs/1/5/0/6/15068 Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. 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The Project Gutenberg eBook, Der Schwimmer, by John Henry Mackay This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Der Schwimmer Author: John Henry Mackay Release Date: February 15, 2005 [eBook #15068] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 ***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SCHWIMMER*** E-text prepared by Hubert Kennedy DER SCHWIMMER Die Geschichte einer Leidenschaft Roman von JOHN HENRY MACKAY Meiner geliebten Kunst--des Schwimmens--gewidmet... Erster Teil 1 Wann er schwimmen gelernt hatte?--Man hätte ihn ebensogut fragen können, wie und wann er gehen gelernt habe. Er wußte nicht mehr, wann er das erstemal ins Wasser gegangen war; aber seine ersten Kindheitserinnerungen waren mit dem Wasser verknüpft, das sein Element war und in dem er lag, wie er auf der Erde ging. Er war ein geborener Schwimmer. 2 Er hieß Franz Felder und war der Sohn sehr braver und sehr armer Eltern in Berlin O, der fünfte unter achten. Alle waren es stämmige Kerle mit dunklen Haaren und klaren Augen, und beide Eltern hatten vollauf zu tun, die hungrigen Mäuler vom Morgen bis zum Abend zu stopfen, von denen mindestens eines immer nach einer Stulle aufgesperrt war. Sie taten es redlich und gern, und zu hungern brauchte keines. Aber damit war auch der Kreis ihrer elterlichen Pflichten geschlossen, und sobald wie nur möglich blieben die Kinder einander und sich selbst überlassen und mußten sich mit durchs Leben helfen, so gut oder so schlecht, wie es eben ging. Der Älteste lernte eben aus, als der kleine Franz geboren wurde, und nach diesem kamen dann noch drei, die--wie er vordem den vorhergegangenen älteren--so nun seiner Obhut mit anvertraut wurden, sobald er selbst auf den Füßen stehen konnte. Ohne viel Worte und ohne jede Zärtlichkeit herrschte immer ein gutes Zusammenhalten zwischen den Brüdern. Es äußerte sich hauptsächlich ebensowohl in derben Prügeleien, wie in solidarischem Durchhelfen bei allen kleinen und großen Fährlichkeiten ihrer im ganzen und großen recht mühseligen, aber nicht unglücklichen Jugend. 3 Er hatte das Schwimmen nie "gelernt"; wenigstens konnte er schwimmen, solange er zurückzudenken vermochte, und das war etwa bis in sein viertes Jahr. Damals fiel er auf einer Landpartie, deren Höhepunkt eine Kahnfahrt bildete, ins Wasser--die Frauen kreischten und die Männer fluchten, während er herausgeholt wurde; aber ihm machte die Sache Spaß, und er lachte seelenvergnügt, so daß jemand sagte: "Der fällt uns gleich zu seinem eigenen Vergnügen nochmal hinein..."--was die entsetzte Mutter veranlaßte, ihren Franz für diesen Tag wenigstens nicht mehr von der Seite zu lassen. Aber das war eine jener Erinnerungen, die nur deshalb so stark in uns zu liegen scheinen, weil wiederholte Erzählungen anderer sie stürzen und halten. In Wirklichkeit sah sich Franz Felder in seinen Gedanken zuerst als kleinen Jungen von fünf Jahren lange, lange, warme Sommernachmittagsstunden am Ufer der Spree bei Treptow. Seine Eltern wohnten damals in zwei kleinen, heißen Zimmern in einem Hinterhause der Fruchtstraße, aber der Vater hatte es zum großen Jubel der ganzen Familie fertig gebracht, für den Sommer auf einem der Felder am Treptower Bahnhof eine der vielen "Lauben" zu mieten, und man hatte nun ein winziges Stückchen Erde, auf dem man einige Kohlköpfe ziehen und zu dem man hinauspilgern konnte in dem stolzen Gefühl eigenen Besitztums. Der Vater und der eine oder andere der älteren Brüder, die schon arbeiteten, kamen erst des Abends; aber die Mutter, welche kränkelte, verbrachte oft mit den Jüngsten ganze Tage auf dem reizlosen Fleck, wo sie wenigstens in freier Luft war. Sooft er nur konnte, rückte Franz aus. Erst klagte und schalt die Mutter, dann ließ sie ihn laufen, da es doch nichts half, ihn zurückhalten zu wollen. Eine besondere Anziehungskraft hatte für ihn ein großer Holzplatz an der Spree. Seit er einmal, dort umherschlendernd, für den Zimmermeister eine Weiße geholt hatte, stand ihm der Zutritt gegen Leistung gelegentlicher gleicher und ähnlicher kleiner Dienste offen, und nichts hinderte ihn, zwischen den Balken und Stämmen herumzuklettern, soviel er wollte. So wurde der Holzplatz seine Heimat für diesen Sommer. Aus Spänen kleine Kähne zu bauen, sie mit einem Knopf oder irgend etwas anderem zu "befrachten", sie dem großen Wasser anzuvertrauen und zu sehen, wie es sie hintrieb und verschlang, wurde er nie müde; oder Gräben und Buchten zu bilden und das Wasser hineinzuleiten und herumzupantschen und zu mantschen, bis der Feierabend allen seinen Spielen für diesen Tag ein Ende machte. Ein besonderes Fest war es jedesmal, wenn er in einem wirklichen großen Boote, das von der anderen Seite herübergekommen war und anlegte, ein Stück mitgenommen wurde oder etwa gar selbst eine Pätschel führen durfte. Aber am meisten von allem lockte ihn das Wasser selbst; und sechsmal an heißen Sommertagen mindestens warf er Hemde und Hose in den Sand und tauchte sich in die braune, träge, lauwarme Flut. Er schwamm schon wie ein Fisch. Er ging auf den Grund und holte Steine aus dem Schlamm herauf. Er glitt unter den Flößen durch und verschwand hier, um dort in die Höhe zu kommen.--Und er lernte seinen ersten Sprung, den einfachen Kopfsprung. Erst von dem Rand des Floßes, dann von dem des Nachens, endlich von dem des großen Spreekahnes plumpste er--den Kopf voran und mit ausgespreizten Beinen--wie ein Frosch ins Wasser. Ach, und wie war es schön, den nassen Körper in das heiße Sägemehl zu werfen, sich auf Bauch und Rücken darin herumzuwälzen und dann den weißen Pelz mit einem Sprunge wieder abzuwaschen!... Und stundenlang in der Sonne zu liegen und die Kähne und Dampfer mit festlich geputzten und fröhlichen Menschen auf der Spree vorüberziehen zu sehen, während die roten Wände der Fabriken und die weißen der Villen im Glanz des Sommertages aus dem Grün der Ufer hervorleuchteten und der blaue Himmel sich über alles spannte, die Ringbahnzüge über die nahe Eisenbahnbrücke donnerten und unter ihr die Dampfer pfiffen und läuteten... Es war ein großer Sommer für den kleinen Kerl, der von den Arbeitern auf dem Platz, die sich nur selten und nur bei übergroßer Hitze ins Wasser wagten, wie ein kleines Wundertier angestaunt und ihre "Otter" genannt wurde, wenn er plötzlich zu aller Ergötzen im Wasser lag und seine ersten, kleinen Kunststücke zeigte. Im Herbst dieses Sommers war er braun wie ein Neger, gesund und immer hungrig wie ein Haifisch, und er begann bereits, sich etwas einzubilden auf seine frühe Kunstfertigkeit... 4 Mit sechs Jahren kam er, wie jeder andere Berliner Junge, in die Volksschule um bis zu seinem vierzehnten Jahre, dem der Einsegnung, in ihr zu bleiben. In diesen Jahren lernte er schreiben, rechnen und lesen und einige allgemeine, elementare Kenntnisse, das heißt, Franz Felder lernte auch hiervon nur das allernotwendigste. Seine Schrift behielt immer die klobigen Formen der Ungewandtheit, und man sah ihr an, wie mühsam es ihm wurde, die Feder zu führen; sein Rechnen ging gerade so weit, um zur Zusammenzählung seiner kleinen Ausgaben und Einnahmen zu dienen; und sein Lesen--ach, der arme Franz Felder hat in seinem kurzen Leben wenig mehr gelesen, als hier und da den "Lokalanzeiger" und eine Annonce an der Litfaßsäule, denn es ist ihm ewig unverständlich geblieben, wozu Bücher überhaupt anders existierten als um den Überfluß an Zeit zu beseitigen. Er brachte sich mühsam durch die acht Klassen bis zur ersten hinauf. Zweimal blieb er sitzen, und dreimal half ihm sein "gutes Betragen" durch. Auch die guten Schüler konnten es nicht weiter bringen, denn bis zum vierzehnten Jahre mußten sie alle miteinander in der Schule bleiben. Dann begann für sie alle das Leben--die Arbeit. Franz war durchaus kein guter, aber auch grade kein schlechter Schüler. Es gab noch viel Dümmere als ihn. Er begriff das wenige, was er zu begreifen hatte, schwer und manches gar nicht; aber was er einmal in sich aufgenommen hatte, war auch sein geworden. Im allgemeinen war ihm die Schule höchst gleichgültig; er ging hin, weil es nun einmal sein mußte. 5 Aber nicht allein durch die Schule, sondern auch durch die Notwendigkeit frühen Verdienens wurde seine Zeit in Anspruch genommen, und desto mehr, je älter er wurde. Zwar folgten auf jenen ersten Sommer frohen Umhertummelns und sorglosen Genießens noch einige andere gleich und ähnlich schöne, aber immer öfter hieß es: "Du mußt dies und das tun und holen"--und ein jeder solcher Befehle vernichtete einen Wunsch. Es kam auf jeden Groschen an, der verdient werden mußte, und zudem verlangten die jüngeren Brüder Beaufsichtigung und Fürsorge von den älteren, wie er sie selbst von den Voraufgegangenen genossen. Dennoch gab es immer noch viele Stunden ungetrübter Seligkeit für den Knaben, wenn er hinaus konnte ins Freie zum Baden. Es waren die Stunden, für die er lebte, an die er stets und ständig am Tage dachte und von denen er des Nachts träumte--seine größte Freude und sein durch kein anderes übertroffenes Vergnügen. Im Sommer mußte einmal am Tage wenigstens gebadet werden; das war Selbstverständlich, und der Tag verloren, an dem es nicht sein konnte. Aber nicht etwa baden, was die anderen so nannten: aus den Kleidern ins Wasser und wieder hinein--sondern hinein und hinaus und in die Sonne, und wieder und wieder ins Wasser, und am liebsten so den ganzen Nachmittag. Und schwimmen und springen und tauchen und im Wasser wühlen wie ein Seehund--das nannte _er_ baden. Als er noch ein kleiner Kerl war, gab es überall an der Spree Gelegenheit, splitternackt ins Wasser zu springen, wenn man nur aufpaßte, daß kein Schutzmann in der Nahe war. Aber als er älter wurde, ging es doch nicht mehr so gut außerhalb der Badeanstalt und ohne Badehose. Vor dem Schlesischen Tor war ein großes Stück Spree am Ufer durch einen hohen Zaun abgetrennt. Auf seiner Innenseite zog sich ein Gang an allen Seiten hin, und es liefen Bänke an ihm entlang, über denen Nägel zum Aufhängen der Kleider eingeschlagen waren. Außerdem gab es noch ein wackeliges Sprungbett auf einer Art Turm, von dem man "bei Strafe" hinunterspringen mußte, wenn man ihn betreten hatte, und im Wasser lag ein Kreuz aus Balken zur Belustigung der Badenden. Das war die große Schwimm- und Badeanstalt "Osten", die größte Berlins. Die Balken und Bretter waren schwarz und morsch vor Alter und die Nägel verrostet, und nie wurde ein neuer eingeschlagen, denn das hätte ja Kosten und Mühe verursacht. Alles war verwahrlost, aber Raum gab es hier in Fülle, und an allen heißen Sommertagen waren die Gänge vom Morgen bis zum Abend dicht besetzt mit vielen Hunderten von nackten, schwitzenden Körpern, und der Lärm in und außer dem Wasser nahm kein Ende, ob am Nachmittag die barfüßige Jugend des Ostens oder am Abend die schwarze Arbeiterschaft nach ihrem Tagewerk anrückte. Das Bad kostete einen Groschen, und den ganzen Sommer konnte man hier für einen Taler baden. Was aber Franz Felder vor allem reizte, das war, daß man hier nie oder doch nur ganz selten hinausgeschmissen wurde, auch wenn man die formell vorgeschriebene Badezeit von einer Stunde längst überschritten hatte. Bei der ungeheuren Menge von Badenden war es den Bademeistern ganz unmöglich, irgendeine Kontrolle auszuüben, und es war ihnen auch ganz gleichgültig, mochten sich die Körper in und außer dem Wasser stoßen und drängen und die Kleider über- und die Stiefel durcheinander geworfen werden--solange man sich nur nicht prügelte oder einer am Ertrinken war und herausgeholt werden mußte, rührte sich keiner vom Flecke. Franz beschloß, hierher die Stätte seiner sommerlichen Tätigkeit zu verlegen und daher mußte er den Taler haben. Das war sehr viel Geld auf einmal, aber unmöglich schien es ihm nicht, ihn für sich zusammenzubringen, ohne daß die Mutter es merkte; denn die hätte natürlich gesagt, einmal in der Woche zu baden sei genug--(soviel verstand die davon!)--und hätte ihm das Geld abgenommen. Im März fing er an zu sparen: Sechser für Sechser und Groschen für Groschen, und er hatte ein wundervolles Versteck auf dem Dachboden des Hauses in einem alten Strumpf und in einer Ecke, wo nie jemand hinkam, da kein anderer im ganzen Hause so geschmeidig war, sich bis dahin durch Bretter, Balken und Gerumpel durchzuwinden. Aber im Mai wurde der Vater krank, und eines Abends kroch Franz voll Edelmut, aber nicht ohne Bitterkeit hin zu seinem Schatz und trug ihn in die Apotheke. Jetzt mußte er von neuem anfangen, und er tat es: er trug des Morgens Frühstück aus, bevor er zur Schule ging, und lauerte am Nachmittag auf die Reisenden am Schlesischen Bahnhof, denen er hier und da ein Stück Gepäck trug, und als im Juni nach einem kalten Frühling der herrliche, geliebte Sommer und seine Sonne kam, lag er im Wasser und schwamm, daß es eine Art hatte. Diese Sommernachmittage waren noch sein--in diesen und in den nächsten Jahren--solange er auf der Schule war. Er ließ sie sich nicht verkürzen. Nach dem Essen rückte er aus und kam am Abend wieder, mochten sie daheim sagen, was sie wollten. Zwischen diesen vier schwarzen, häßlichen Bretterwänden, die alles, nur nicht den Himmel versperrten, verbrachte er die langen Stunden ungezählter Nachmittage. Hier war die Welt, in der er lebte. Hier lernte er seine ersten, kunstgerechten Sprünge, und hier bildete er seinen kleinen Körper in unausgesetzter Übung zu der Kraft aus, die ihn später zu den Leistungen seiner Siege befähigen sollte. Solange er noch nicht eingesegnet war, brachte er es fertig, sich für jeden Sommer seinen Taler zusammenzusparen, und diese Sommer vergingen ihm fast wie ein einziger, langer, warmer Sonnentag, den er--durchschwamm.-- Aber auch die Winter dieser Jahre seiner frühen Kindheit waren nicht ohne alle Freuden. Die Stadt Berlin hatte nach langem Zögern im Osten ein großes, rotes Gebäude errichtet: eine Volksbadeanstalt mit musterhafter Einrichtung, die neben den mancherlei Arten von Wannen- und Brausebädern als Mittelpunkt auch eine große Schwimmhalle umfaßte, die Sommer wie Winter geöffnet war und das Schwimmen zu jeder Jahreszeit ermöglichte. Es war die zweite städtische Anstalt dieser Art. Bisher hatten sich in Berlin nur zwei oder drei andere Privat-Anstalten mit Schwimmbassins mühsam zu halten vermocht, da die wenigsten Menschen überhaupt von der Möglichkeit, "im Winter zu schwimmen", eine Vorstellung hatten und die Existenz solcher Schwimmhallen ihnen daher einfach unbekannt und unverständlich war. Für Franz Felder waren diese privaten Anstalten deshalb nicht in Betracht gekommen, einmal weil sie viel zu entfernt lagen, und dann, weil das Baden in ihnen viel zu teuer war. So war die neue Anstalt der Stadt wie für ihn gebaut, und wenn er auch im Sommer an dem schmucken Gebäude mit Verachtung vorbei und in den großen Kasten an der Spree lief, so wandte sich ihm doch seine ganze Aufmerksamkeit zu, als der "Osten" sich hinter ihm als dem letzten Badenden bis zum nächsten Sommer schloß und der alte Bademeister, als er ihn endlich endgültig hinausschmiß, halb brummend, halb lachend gemeint hatte: "Na, weeßte, du hast ooch mehr an uns als wir an dir verdient!"... Franz brachte es fertig, Eintritt auch in das neue Ziel seiner Wünsche zu erlangen. Es war allerdings nicht an ein Abonnement für den ganzen Winter zu denken--eine unerschwingliche Summe, die er weder zusammengebracht hätte, noch gewagt haben würde, selbst für diesen Zweck zu verwenden, auch wenn er im Winter die Zeit gehabt hätte zu täglichem Baden; schon die einzelnen Bäder waren für ihn teuer. Aber sie waren doch zuweilen erschwingbar, und außerdem wurden von der Gemeindeschule aus die jüngeren Schüler ein- oder zweimal wöchentlich vom Lehrer hierher geführt, und bei dieser Gelegenheit überkam Franz eine Ahnung von dem Zweck und Nutzen der Schule. Diese Freibäder versöhnten ihn mit mancher anderen langweiligen und lästigen Stunde. Das einzige, was ihm diese Freibäder im Winter zu verkümmern vermochte, war die Kürze der vorgeschriebenen Zeit, in der die Kinder im Wasser verweilen durften, und ob auch der Lehrer, selbst ein großer Schwimmer und gütiger Freund seiner Kleinen, bei Franz ein Auge zudrückte, wenn dieser selbst durch die Schnelligkeit, mit der er sich in seine Kleider warf, ein paar Augenblicke längeren Verweilens in dem geliebten Naß zu ergattern vermochte, so war es Franz doch immer, als sei er kaum einmal untergetaucht, und er hatte im Grunde seines Herzens für diese Art von Schwimmerei immer nur das eine Wort tiefer Verachtung: "Det is ja jarnischt!"--Und trotzdem hätte er selbst diese in seinen Augen so flüchtigen Augenblicke nicht missen können und wollen, denn immer seltener wurden die Male, in denen er allein diese wunderbare, warme Halle, die ihm der Inbegriff aller Weite und Schönheit war, besuchen und mit dem Aufgebot aller Schliche so lange als irgend möglich in ihr verweilen konnte; und immer seltener und begehrter zu Hause wurden die Groschen, die er sich durch kleine Beschäftigungen, wie das Brotaustragen am frühen, kalten Morgen vor der Schule und den Verkauf von kleinen Straßenwaren in den Weihnachtstagen, durch stetes Aufpassen auf jede andere mögliche Gelegenheit zuverdienen wußte. Früh wurde sein junges Leben mühsam und ernst. Aber unglücklich war er nicht, denn er konnte ja schwimmen, Sommer wie Winter schwimmen. Unglücklich wäre er nur geworden, wenn man ihm dies sein einziges Vergnügen ganz genommen hätte. Aber daran dachte keiner, denn keiner verstand, wie es ein so großes Vergnügen sein konnte. So erreichte Franz Felder sein vierzehntes Lebensjahr. 6 Bisher hatte er von seinem Schwimmen nichts gehabt als sein Vergnügen. "Brotlose Künste!" sagte sein Vater eines Tages, als Franz wieder einmal sein Fortbleiben an einem ganzen Nachmittag und einem halben Abend mit nichts anderem zu entschuldigen wußte, und dieser konnte sich nur mit dem Gedanken über diesen Ausspruch trösten, daß sein Vater eben auch nichts vom Schwimmen verstehe. Er bedauerte ihn deshalb tief, denn für ihn gab es nur zwei Arten von Menschen: solche, die schwimmen, und solche, die nicht schwimmen konnten. Die letzteren waren für ihn eine untergeordnete Klasse von Menschen, jedes Mitleids würdig. Nun aber--er stand in seinem dreizehnten Lebensjahre--brachte ihm seine Fähigkeit den ersten Erfolg in den Augen der Menschen, und einen schönen.-- Es war an einem Sonntagnachmittag, und Franz lag im Grase an der Spree nahe der Kirche in Stralau, die ihren grauen Turm aus alten Linden und Ulmen heraus neugierig in den wolkenlosen Himmel streckte. Franz war ganz allein. Seinen Freunden, die ihn zu einer Wasserpartie nach Sadowa überreden wollten, hatte er einen Korb gegeben--einmal, weil ein paar mitmachten, die ihm nicht paßten, da sie ihm zu rüdig waren; und sodann, weil er nur drei Sechser in der Tasche hatte, über die bereits anderweitig für morgen verfügt war. Zudem war er ganz gern allein, und die Pätschelei machte ihm nur dann Vergnügen, wenn sie mit einem regelrechten Bade verbunden war. Franz also lag in dichtem Grase, sog an ausgerupften Halmen und ließ in augenblicklicher Ermangelung eines Besseren einen um den anderen seiner nackten Füße ins Wasser hängen. Erst harte es ihm Spaß gemacht, nach den Sommergärten von Treptow, die alle schwarz von Menschen waren, und auf die Spree, wo sich Unmengen von kleinen Boten, Kähnen und Seglern herumtrieben, hinauszuschauen, und er hatte sich vorgenommen, einmal aufzupassen, wie lange es wohl dauern würde, bis eine dieser meist von den ungeübtesten Händen gelenkten Schalen in den Kurs eines der schwerfälligen Dampfer kam, die einer nach dem andern menschenüberladen und unter ohrbetäubenden Geklingel spreeauf- und abwärts an ihm vorbeiführen. Denn alle Sonntage kamen hier einer oder mehrere Unfälle vor, und das Gottvertrauen, mit dem der Handlungsgehilfe aus NO und der Friseur aus SW, denen doch sonst vor jeder Berührung mit dem Wasser inner- und äußerlich graute, die Boote mit ihren Schönen beluden und direkt auf die Dampfer losfuhren, hatte etwas Rührendes. Aber, wie es immer ist: wenn wir auf ein Ereignis warten, kommt es nicht, und so wurde auch Franz bald müde, auf die Wasserfläche hinauszublinzeln, und er sah zur Abwechselung hinauf in den Himmel, indem er sich auf den Rücken warf. Ob es wohl ein Wasser gab, das so tief und so blau war, wie dieser Himmel dort oben? Was mußte das für eine Lust sein, darin zu baden!-- Er dachte an einen seiner Lehrer, der einmal von einem Märchen erzählt hatte. In dem kam ein Bergsee vor, der sollte "so tief wie das Meer und so blau wie der Himmel" sein. Aber Franz konnte sich keine rechte Vorstellung von einem Bergsee machen, und außerdem war es ja ein Märchen, das der Lehrer erzählte. Die Spree war immer dunkelbraun und schmutzig, und auch in dem Volksbad konnte man nicht auf den Grund sehen, auch dann nicht, wenn das Bassin gereinigt und mit frischem Wasser gefüllt war. Aber es mußte doch wunderschön sein, einmal in einem so ganz klaren, durchsichtigen Wasser zu baden... Und da empfand Franz auch schon mit heftigem Unbehagen, daß er heute noch gar nicht im Wasser gewesen war. Wenn er es wagte? Aber das wäre doch wohl eine zu große Frechheit gewesen, am Sonntag, hier vor allen Leuten--wenn ihn da ein Schutzmann erwischte, würde es schöne Senge absetzen, und nicht die allein. Nein, er mußte schon warten, bis es dunkel geworden war, und dann auf dem Heimweg noch schnell einmal irgendwo hineinspringen. Weshalb waren doch nur alle Badeanstalten am Sonntagnachmittag geschlossen--das war doch zu dumm!--Wo alle anderen Vergnugungslokale geöffnet waren, blieben die, wo es das allergrößte gab, zu!-- Und wenn er nun doch jetzt sein Bad nähme!--Er getraute es sich, seine Kleider abzuwerfen, so lautlos ins Wasser zu schlupfen, unter ihm hin eine Strecke zu schwimmen, einmal aufzutauchen, um Atem zu schöpfen, und dann ebenso lautlos wieder zurückzuschwimmen, daß kein Mensch ihn bemerken sollte. Aber eine bodenlose Frechheit wäre es doch gewesen und wenn wirklich ein Schutzmann in der Nähe war--und immer war ein solcher Kerl irgendwo in der Nähe!--und die Kinder ein Geschrei erheben würden... War da schon einer?--Schrieen die Kinder oder wer schrie so?--Franz sprang in die Höhe. Hatte er es nicht gleich gesagt?--Na ja, gleich der ganze Kahn um und alles ins Wasser!--Und ein Geschrei und Gerufe und ein Laufen--jetzt aber raus aus dem Hemde und ins Wasser!--Er fuhr durch das Wasser wie nie in kurzen, kräftigen Stößen. Er wollte schon auf den Kahn zu, als er--noch ein Stück von ihm entfernt--etwas auf dem Wasser kämpfen und untersinken sah: einen Jungen, ein paar Jahre jünger nur, als er selbst. Er erreichte ihn noch gerade und packte ihn beim Arm. Aber der klammerte sich auch gleich an ihm fest, und Franz hatte Mühe wieder loszukommen. Denn so ging das ja nicht. Er schrie ihm zu, ganz ruhig zu sein, er bringe ihn schon ans Land. Aber der andere war schon wieder mit dem Kopfe unter Wasser und hörte nichts mehr. Da ließ ihn Franz einen Augenblick ganz los, griff ihn dann fest unter dem Arm und brachte nun den sich nicht mehr Sträubenden.--denn der hatte einstweilen genug Wasser geschluckt--langsam, aber in sicheren und kräftigen Stößen ans Land. Dort streckten sich schon hundert Hände aus--nicht nach dem Retter, um den kümmerte sich keiner--sondern nach dem andern, und Franz war froh, daß man ihn in Ruhe ließ. Er suchte nach seinen Kleidern. Alles lag noch da, aber seine Jacke fehlte. Er suchte und suchte, ohne sie finden zu können. Erst wollte er Skandal machen. Doch dann hätten sich alle die Menschen, die sich dort um den Geretteten bemühten oder ihn neugierig umstanden, nach ihm gewandt und ihn ausgefragt. Fragen aber war ihm ein Greuel. Und es nützte ja doch nischt!--der seine Jacke mitgenommen hatte, der Halunke, war jetzt doch schon über alle Berge! Er machte besser, daß er fort kam, denn er glaubte, einen Lehrer am Ufer erkannt zu haben. Nur keine Quatscherei! Er sah noch gerade, daß der Junge wieder aufrecht stand, den er herausgeholt; dann rannte er, was er konnte. Und als wirklich der Lehrer sich nach ihm umsah, war Franz längst verschwunden. Er trottete in Hemdsärmeln nach Hause. Sein Bad hatte er ja nun gehabt. Aber als er mit gesenktem Kopf an den Scharen der sonntäglichen Spaziergänger die lange Straße längs der Spree nach Hause trabte, mußte er einmal doch die aufsteigenden Tränen hinunterschlucken, als er daran dachte, daß er nun ohne Jacke nach Hause kam, und an den Skandal, den es absetzen würde. Denn sagen, wie es wirklich gewesen war, das konnte er doch nicht. 7 Er hatte die ganze Sache längst vergessen, und auch der Lärm um die Jacke zu Hause war verhallt, als ihm eines Tages in der Schule die Eröffnung wurde, daß ihm "für seine mutige Tat" die Rettungsmedaille verliehen werden und daß er sie am Tage der Entlassung aus der Schule in öffentlicher Feierlichkeit erhalten sollte. Er wußte zuerst nicht, was er dazu sagen sollte, und hoffte die Sache damit zu erledigen, daß er nicht daran glaubte. Das war auch nur wieder so eine Quatscherei--wegen so was! Aber er irrte sich. Die Medaille war ihm wirklich zuerkannt, und zwar auf Betreiben desselben Lehrers an seiner Schule, der zufällig an jenem Sonntag in der Nähe gewesen war und vergebens nach seinem Schüler gesucht hatte, nachdem er durch seine praktischen Anordnungen den Geretteten wieder soweit gebracht, daß er Luft schnappen konnte. Franz machte diese Feier kein Vergnügen. Es war ihm unangenehm, so vorgerufen und von allen Augen angestaunt zu werden, als habe er Gott weiß was getan, und er hätte sich am liebsten in die Erde, oder noch weit lieber: ins Wasser verkrochen. Aber das ging nun einmal nicht. Der Rektor hielt eine Rede, von der er wenig verstand, da er nicht zuhörte. Dann mußte Franz vortreten vor die andern Schüler und die Herren in schwarzen Röcken hin, und er fühlte, daß er rot wurde, als ihm die kleine, braune Bronze-Medaille an die Brust gesteckt wurde. Aber trotz aller Unbehaglichkeit durchdrang ihn doch in diesem Augenblicke ein Gefühl großer Gehobenheit, etwa ähnlich dem, das er empfand, wenn er ganz allein draußen in seinem Elemente schwamm und fühlte, wie er es beherrschte. Und dies Gefühl mußte sich in seinen Augen widerspiegeln, mit denen er jetzt aufschaute zu dem sonst so gefürchteten Rektor. Denn als dieser den Ausdruck stummer Begeisterung in den blauen, ehrlichen Augen des Knaben sah, ihm so ungewohnt bei seinen kühlen, früh lebensklugen Berliner Kindern, legte er noch einmal seine Hand auf den kurzgeschorenen Kopf vor ihm, und sich etwas niederbeugend, fügte er seinen Worten noch hinzu:--Du wirst gewiß einmal ein sehr tüchtiger Schwimmer werden... Da aber antwortete Franz mit einer seiner sonstigen Schwerfälligkeit ganz fremden Plötzlichkeit und Schlagfertigkeit--und wieder stand das seltsame Leuchten in seinen Augen--: --Der bin ich schon! Der Rektor lächelte. --Aber ja. Sonst hättest du dir das da nicht verdient. Ich meinte auch nur, daß du dich noch weiter ausbilden kannst; das willst du doch gewiß? Franz war wieder der alte, und er antwortete mit seiner eben zu der Einsegnung eingelernten Verbeugung, die das einzige war, was ihm von der ganzen Geschichte "dieser heiligen Handlung" geblieben war: --Jawohl, Herr Rektor! Die Feierlichkeit war zu Ende und keiner froher darüber, als Franz, der sofort nach der Volksbadeanstalt stürzte und sie gerade noch lange genug offen fand, um im Wasser für eine halbe Stunde zu vergessen, was auf der Erde um ihn vorging. Acht Tage vorher war er eingesegnet worden, und so waren die beiden größten äußeren Ereignisse seiner bisherigen kindlichen Jugend zusammengefallen. Die Einsegnung selbst hafte ihn ganz kalt gelassen und er hatte mit dem besten Willen nicht die üblichen Tränen hervorquetschen können, die bei dieser Gelegenheit erwartet wurden. Aber die Verleihung der Medaille hatte ihn doch etwas innerlich erregt, da die andern so viel Wesens davon machten und ihn anstaunten, wo er ging und stand. Den tiefsten Eindruck machte es ihm, daß sein Name in den Zeitungen stand, und als an einem Abend dieser Woche der Onkel Sattlermeister aus der kleinen Markusstraße in dem elterlichen Keller erschien und mit dröhnender Stimme bei verschiedenen Weißen die Notiz im "Lokal-Anzeiger" über seinen Neffen vorlas, da war dieser fast so glücklich, wie einige Tage später, als derselbe Onkel ihn "zur Einsegnung" mit einer silbernen Taschenuhr beschenkte. Jetzt war er von der Schule endgültig frei, die er im letzten Jahre geradezu gehaßt hatte. Er war nun darauf angewiesen, auf eigenen Füßen zu stehen, Geld zu verdienen, um seinen Eltern ein Kostgeld zu zahlen, mit einem Wort: sich durchs Leben zu schlagen, so gut es ging. Für einen bestimmten Beruf, konnte er sich noch nicht entscheiden. Die besseren Berufsarten, die der Mechaniker, Ingenieure usw., bei denen ein Lehrgeld in der Höhe von mehreren hundert Mark zu bezahlen war, waren überhaupt ausgeschlossen, da sein Vater nie in der Lage gewesen wäre, auch nur hundert Mark auf einmal für einen seiner Söhne aufzutreiben. Aber auch die Lehrstellen, bei denen ein Lehrgeld nicht gefordert wurde, die nur die drei- oder vierjährige Verpflichtung unentgeltlicher Kraft verlangten oder nach einiger Zeit und sogar von Anfang an ein kleines, von Jahr zu Jahr um etwas höher werdendes Gehalt bewilligten, waren ihm versagt, denn jetzt wo er vierzehn Jahre alt geworden war, erklärten die Eltern, ihn nur bei sich behalten zu können, wenn er wöchentlich seinen Beitrag für Wohnung und Essen beisteuerte. Alle seine Brüder hatten das getan, bevor sie sich selbständig gemacht, das heißt geheiratet hatten oder in die Fremde gegangen waren, und Franz wäre der letzte unter ihnen gewesen, der nicht eingesehen hätte, wie berechtigt die Forderung war. Die Familie Felder hatte immer zusammengehalten und gesucht, sich das Leben gegenseitig zu erleichtern; daß es so schwer war, nahmen alle als eine unabänderliche Notwendigkeit, und Franz machte keine Ausnahme, wenn er nicht darüber nachdachte, warum es eigentlich für sie alle so schwer war... Er ging ohne Zaudern daran, sich Arbeit zu suchen. Er schreckte vor keiner zurück. Im Winter war er Laufbursche und Austräger in verschiedenen Geschäften, hatte dann eine Stelle als Bote in einem großen Zigaretten-Importgeschäft, zu dem er in einer auffallenden Uniform und in einer Mütze mit Aufschrift gehen mußte; und im darauffolgenden Sommer zog er für eine Papeteriewarenhandlung mit einem Karren und einem Hunde, meist allein, zuweilen aber auch mit einem zweiten Jungen, vom Morgen bis zum Abend in der ganzen Umgegend von Berlin herum um Waren abzuliefern. So brachte er es fertig, während dieses ganzen Jahres nie weniger als zehn Mark die Woche zu verdienen, und meistens noch etwas mehr, bis zu dreizehn und selbst vierzehn, die Trinkgelder eingerechnet. 8 Alles, was er an Geld und Zeit erübrigen konnte, gehörte bis auf die letzte Minute und den letzten Pfennig seiner ersten Liebe: dem Wasser!-- Immer brachte er es fertig, auf seinen Geschäftsgängen--und mußte er sich noch so sehr vorher und nachher beeilen--so viel an Zeit zu erübrigen, daß er in das zunächst gelegene Schwimmbad eilen konnte auf ein kurzes, oder, wenn es irgend anging, auf ein langes Bad. Im Sommer fast täglich: da befand er sich meist in den Vororten von Berlin, und statt der wenigen Winter-Schwimmbäder der Stadt fand er überall ein Sommerbad. Und mochte er in Reinickendorf oder Steglitz, am Plötzensee oder in Rixdorf sein--im Sommer wenigstens durfte kein Tag vergehen, an dem er nicht in die Fluten tauchen konnte, die sein Element waren. Er verzichtete auf die Mittagsruhe unter einem Baum auf dem Felde; er überredete seinen Kameraden, mit dem Wagen eine halbe Stunde auf ihn zu warten, und versuchte es auf alle Weise-- selbst durch Bestechung mit einem Sechser oder mit einem Glas Bier; er stellte den Wagen bei Bekannten, die er überall machte, für eine Stunde unter, nur um auf sein Vergnügen nicht verzichten zu müssen. Sonst so schwerfällig, wurde er schlau in der Anwendung der Mittel, die ihn zu seinem Ziele führen konnten: seinem täglichen Bade. Übrigens fand er im Sommer meist Zeit. Bei diesen weiten, tagelangen Fahrten konnte sein Fortbleiben vom Geschäft aus nur selten so genau kontrolliert werden, wie im Winter; wenn er abends, und mochte es auch schon spät sein, mit dem leeren Wagen nach Hause kam und nur alle Bestellungen abgeliefert waren, war der Chef zufrieden, um so mehr, als Franz sehr zuverlässig und ehrlich war, so daß ihm oft große Summen zur Einkassierung anvertraut wurden. Auch die paar Groschen für das Bad fand er immer. Sie waren seine einzige Ausgabe. Er hatte sonst kein Bedürfnis und verzichtete lieber auf sein Glas Bier, als auf sein Bad. Er konnte hungern und dursten-- und oft genug tat er beides--: aber sein Vergnügen ließ er sich nicht nehmen. Auch war es ja ein so billiges Vergnügen. Da er sich immer noch in vielen Fällen auf ein Kinderbillet durchschmuggelte, so kostete ihm sein Hallenbad nicht mehr als zwanzig, sein Sommerbad meist aber nur zehn Pfennig. Das konnte er sich schon leisten. Nur sprach er nicht mehr so viel von seinem Vergnügen. Die Mutter hätte selbst über die kleine Ausgabe geklagt, und seine Freunde verstanden seine Leidenschaft doch nicht so, wie er sie fühlte. So umgab er sie mit der ganzen Heimlichkeit einer wirklich ersten Liebe und stahl sich zu seinem einzigen und größten Vergnügen wie zu einem Stelldichein. Seine kleine Badehose, die zusammengerollt nicht großer war als seine Faust, trug er mit sich, wo er ging und stand. Und mehr als sie, den Groschen und eine Stunde Zeit, brauchte er ja nicht!... Es war eine harte und freudlose Kindheit, die dem Knaben beschieden war. Aber eine große Freude, die schon jetzt etwas von der alles in ihm beherrschenden, verzehrenden Leidenschaft späterer Jahre an sich hatte, übergoldete ihre graue Nüchternheit, ließ ihn Müdigkeit und Entbehrungen vergessen, und diese Freude war es, in der er seine ganze Jugend auslebte und auskostete in ihrer ersten Kraft und in ihrem ersten unendlichen Genießen. 9 Ihm war das Schwimmen noch keine Kunst. Er ahnte noch nicht einmal, daß es als eine solche betrachtet werden konnte. Wohl wußte er von der sportlichen Ausbildung der Schwimmer, aber diese reizte ihn nicht. Sie war ihm fremd. Wie als kleiner Kerl von fünf Jahren, so tummelte er sich auch jetzt noch im Wasser, nur daß er mit seiner zunehmenden Kraft gelernt hatte, es jetzt völlig zu beherrschen. Als nochmals ein Sommer zu Ende ging, da gab es für den jungen Burschen kein Wasser in der ganzen näheren Umgebung von Berlin, wenn es nur eben so groß war, daß man in ihm baden konnte, in dem er nicht geschwommen hätte. Berlin war eine große Stadt mit vielen Straßen und unzähligen Häusern, aber ihre Bedeutung bestand doch nur darin, daß um sie herum die Teiche und Seen lagen und daß sie der dunkle Fluß durchzog... Er schwamm nur zu seinem Vergnügen und nur zu eigener Lust. Sein einziger Wunsch war, den ganzen Tag im Wasser zu liegen, und er war glücklich über die langen Sonntagnachmittage, an denen er es konnte. Mit seinen kurzen, stämmigen Beinen seinen festen Armen, an denen sich die Muskeln auszubilden begannen, beherrschte er das Wasser mit vollkommener Sicherheit. Es war sein Freund, zu dem er unbedingtes Vertrauen hatte--sein bester, sein einziger Freund. An seiner Brust vergaß er alle Mühseligkeiten seines jungen Lebens, und wenn er bei ihm sein durfte, war er glücklich. Und das Wasser vergalt ihm seine Liebe. Es war wie ein Aufschrei der Freude seiner Wellen, wenn es ihn umfing, und es trug ihn sicher und freundlich, wie er nur wollte. Sie spielten, sie rangen miteinander, wie Knaben es tun, um ihre Kraft zu messen, aber sie vertrugen sich immer. Ach, und wie der Knabe es liebte! Wie andere Kinder den weißen Sand, mit dem sie spielen, durch die Hände gleiten lassen, so nahm er oft, auf dem Rücken liegend, das flüssige, rätselhafte Element, um es zu fassen, in die Hände und es zwischen den Fingern zerrinnen zu sehen in flüchtigen Blasen. Wie andere Kinder zu ihrer Mutter gehen mit ihren Klagen und Wünschen, so kam er zu ihm, um sich trösten zu lassen. Sein ganzer, kleiner Körper zitterte vor Aufregung, wenn er das Wasser sah, und er suchte den köstlichen Augenblick zu verlängern, in dem er hinein durfte. Lag er dann im Wasser, so rollte er sich zunächst förmlich über die Fläche hin, überschlug sich vor Wonne und kugelte sich zusammen, ging unter und kam wieder hervor, streckte die Glieder in unendlichem Wohlbehagen und glitt auf der Oberfläche hin, wie eine Schlange, bis er zu schwimmen begann. Dann schwamm er, ruhig, langsam und lautlos, fast andächtig; oder in voller Kraft auf ein Ziel los, daß das Wasser rauschte. Er schwamm, und er wurde nie müde. Er tauchte, und seine kleine Brust weitete sich mühelos. Er schwamm und schwamm, wo und wann er konnte.--Es war ein heißer Sommer, ein langer Sommer, ein arbeitsvoller Sommer. Aber es war doch ein Sommer voll Freude. Viel noch sollte Franz Felder in seinem Leben schwimmen. So sorglos, so unbekümmert vielleicht nie mehr. Zweiter Teil 1 Auch dieser Sommer war vorbei, und wieder war es zu kalt geworden, um im Freien zu baden. Die offenen Sommeranstalten schlössen sich. Franz Felder hatte seine Stelle aufgeben müssen, da im Geschäft nicht mehr genug zu tun war, und suchte nun, nach einem gerührten Abschied von Cäsar, dem treuen Gefährten so vieler schöner, heller Sommertage, eine neue Stelle für den Winter. Einstweilen nahm er mit, was er kriegen konnte. So oft er konnte, ging er nun wieder in das große Volksbad, dessen hohe, warme Halle sich das ganze Jahr über nur an den zweiten Feiertagen schloß und immerweniger besucht wurde, je kälter es draußen wurde. Es war ja nicht dasselbe, sagte Franz zu sich, wie das Baden im Freien. Aber es war doch wenigstens ein Wasser, in dem man schwimmen konnte. Als er sich eines Abends so mit seinen Kameraden im Bassin tummelte und sie gerade in einer kleinen Race auf 50 Meter spielend geschlagen hatte, kam ein Herr auf ihn zu, den er schon oft gesehen, und fragte ihn, ob er denn nicht Lust habe, in einen Schwimmverein einzutreten. Es war nicht das erstemal in letzter Zeit, daß an den Jungen diese Frage gestellt wurde, und schon wollte er sagen, daß er einstweilen noch etwas warten wolle, als er hörte, was der Herr weiter sagte: --Sie müssen wissen, wir nehmen nicht jeden in unsere Jugendabteilung, sondern nur Kräfte, von denen wir uns etwas für unseren Verein versprechen. Und plötzlich schoß es Franz durch den Kopf: der Herr gehörte ja zum "Schwimmklub Berlin von 1879"--dem ältesten und angesehensten Schwimmverein Berlins, dem so viele Meisterschaftsschwimmer entstammten, der die großen Feste gab, und in den einzutreten überhaupt eine Unmöglichkeit schien ... und noch etwas außer Atem und ganz hochrot fragte er fast ungläubig: --Schwimmklub Berlin von 1879?-- Der Herr lächelte. --Jawohl. Sie wissen vielleicht, unsere Beiträge sind um etwas höher, als in den anderen Vereinen, aber wir sind nicht rigoros in dieser Beziehung, und der gute Wille zählt hier mit, wenn es einmal nicht so geht. Übrigens haben Sie so viele andere Vorteile bei uns, besonders wenn Sie viel baden, daß sich das schon machen lassen wird... Als er sah, daß Franz noch immer nicht antwortete, lächelte er wieder und machte eine Bewegung: --Ich will Sie übrigens nicht überreden... Sie können sich die Sache ja überlegen-- Aber da sagte Franz hastig, als könne ihm das unerwartete Glück wieder entgehen: --Nein, nein, ich will schon gern-- Der Herr zog sein Notizbuch hervor: --Also, der Name... --Franz Felder-- --Adresse? --Berlin O, Münchebergerstraße 102, und etwas zögernder: --Hof--im Keller-- Der andere schrieb alles auf. Dann reichte er ihm die Hand: --Unsere Übungsstunden für die Jugendabteilung kennen Sie wohl?-- Jeden Dienstag und Freitag abends acht Uhr. Franz nahm die dargebotene Hand, machte eine tiefe und respektvolle Verbeugung, wie er sie vor seinem Pfarrer und seinem Rektor gemacht hatte, sah, wie der Herr wegging, und fühlte zugleich einen freundschaftlichen Rippenstoß in der Seite: --Du, wat hat denn der von dir jewollt? Er sah seine Freunde um sich und sagte nur von oben herab: --Ich bin aufgefordert worden, dem "Schwimmklub Berlin 1879" beizutreten, und ließ sie stehen. Nun, da er es ausgesprochen hatte, glaubte er es selbst, und eine unbändige Freude ergriff ihn. O, er wollte Ehre einlegen!--Und die siebzig Pfennige Monatsbeitrag wollte er schon aufbringen und so pünktlich zahlen, daß man ihm deshalb nie einen Vorwurf machen sollte, wenn er auch einstweilen noch nicht wußte, wie sie aufzutreiben waren. Im Geiste sah er sich schon in dem blaugesäumten Trikot und der Badehose, die in Blau die gestickten Anfangsbuchstaben und die Zahl 1879 trug, und er machte vom Sprungbrett einen Freudensprung, aber so ungeschickt in seiner Aufregung, daß nur eine gewandte Wendung im letzten Moment ihn davor bewahrte, flach aufzuschlagen. Daran, daß es ihm nie als ein besonderes Vergnügen erschienen war, einem Verein anzugehören, daß er den Zwang der Stunde, das Schwimmen- Müssen um bestimmte Längen, dabei unter schärfster Aufsicht und steter Kritik, daran, daß ihn das ganze Klubleben, soweit er es kannte, mit einem Wort: das "offizielle Schwimmen" nie angezogen hatte, an all dies dachte er nun nicht mehr. Sein Ehrgeiz war angestachelt. Man hatte ihn bemerkt und so ausgezeichnet, ihn zur Mitgliedschaft an dem ersten und ältesten Schwimmverein Berlins aufzufordern. Er gehörte von heute ab dem "Schwimmklub Berlin 1879" an, und allen, die es hören wollten, und sehr vielen, die es nicht hören wollten, erzählte er die ihm selbstunglaublich erscheinende Tatsache, tief entrüstet über die Gleichgültigkeit, mit der sie allgemein aufgenommen wurde. 2 Es gab kein jugendliches Mitglied des Vereins, das pünktlicher zu den Übungsabenden gekommen wäre, keines, daß sich williger und begeisterter jeder Anordnung an diesen Abenden gefügt hätte, als Franz Felder. Man merkte es bald, und er erwarb sich manche Bekanntschaft im Klub dadurch auch von solchen, die der Einführung von Mitgliedern, und noch so verheißungsvollen, aus, wie sie es nannten, "anderen Verkehrskreisen", fremd, ja feindlich gegenüberstanden. Bei fast allen von ihnen erwarb sich der neue Ankömmling Achtung und Sympathie, einmal wegen des leidenschaftlichen, fast komisch-weihevollen Ernstes, mit der er die Sache betrieb, und dann wegen der Bescheidenheit und Ehrlichkeit seines Wesens, das sich nie vordrängte. Man setzte bald große Hoffnungen auf ihn und ließ ihn nicht aus den Augen. Das nächste große Ereignis, das sein Eintritt in den Klub zur Folge hafte, war eine Lehrstelle in einer großen mechanischen Werkstätte, die ihm durch einen seiner neuen Sportfreunde dort verschafft wurde. Er sollte gleich von Anfang an einen Wochenlohn erhalten und erhielt die Zusicherung sorgfältiger und vollständiger Ausbildung. Da unterdessen auch seine Brüder in besseren Stellungen waren und die Einsegnung eines jüngeren bevorstand, trat er die Stelle an. Er blieb bei seinen Eltern wohnen und der größte Teil seines wöchentlichen Verdienstes wanderte nach wie vor in ihre Hände. Was er für sich behielt, brauchte er dazu, um am Sonntag auf den Ausflügen mit seinen Klubgenossen ein Glas Bier zu trinken, und für die ersten paar Mark, die er erübrigte, schaffte er sich ein tadelloses Trikot an, eine Sportmütze und das Klubabzeichen, ein kleines Schild, das auf dem Rockaufschlag getragen wurde. Er ging nun völlig auf im dem Leben des Vereins. Die Vergnügungen des Klubs waren seine Erholungen, seine Arbeit die seine. Die Sportkameraden waren seine Freunde, mit denen er alles teilte. Die Arbeit des Tages in der Fabrik tat er, weil sie getan werden mußte, und er tat sie gut und fleißig. Seine Familie sah er nur, wenn es unbedingt nötig war, bei den unerläßlichen Geburtstags- und anderen Feiern; mit den paar Freunden seiner Kinderzeit verkehrte er fast gar nicht mehr. Seine Dankbarkeit gegen seinen Klub wuchs allmählich ins Ungemessene. Er konnte sie einstweilen nur durch völlige Hingabe beweisen. Aber immer wieder schwur er sich selbst zu: seinem Klub Ehre zu machen in jeder Beziehung, Ehre um jeden Preis. Er sollte keinen Unwürdigen in ihm aufgenommen haben. Er wußte, daß er über eine Kraft verfügte, die ihn vielleicht einmal zu Siegen führen konnte, wenn er sie stählte und übte. Nicht für sich wollte er diese Siege erringen, daran dachte er nicht. Doch er träumte bereits im stillen davon, um den alten Namen des Vereins neue Lorbeeren zu schlingen, die er selbst in heißem Kampfe erfechten würde. Er schwamm nicht mehr nur ausschließlich zu seinem Vergnügen, er schwamm um ein Ziel, und begeisterter schwenkte keiner die Sportmütze, lauter schrie keiner mit, wenn das "Gut Naß!--Hurra! Hurra! Hurra!" erscholl, als Franz. 3 Seine Fortschritte waren rapide und setzten selbst seine neuen Lehrer in Erstaunen. Bei all seinen Fähigkeiten und all seiner unvergleichlichen Liebe zur Sache war es doch ein rohes Material, das hier in Ausbildung genommen wurde. Dieses jüngste Mitglied der Jugend-Abteilung--zu der die jungen Leute meist aus der Knabenabteilung mit ihrem vierzehnten Jahr kamen und in der sie etwa bis zu ihrem siebzehnten blieben--war bei seinem Eintritt ein guter Schwimmer gewesen, aber sonst auch nichts. Stil und Form bekam sein Schwimmen erst jetzt unter der steten und strengen Bewachung an den Übungsabenden. Aber wie bald wurde die Form schön und sein Stil sicher!--Nach ein paar Wochen schon war Felder der anerkannt beste Schwimmer seiner Abteilung. Auf dem internen Wettschwimmen des Klubs, das alljährlich im Winter in der Schwimmhalle des Volksbades stattfand und auf dem mit Ausnahme eines Gastschwimmens befreundeter Klubs nur Klubmitglieder schwammen, holte sich Franz seinen ersten Preis: den im Junioren-Schwimmen über 50 Meter. Es war ein kleiner, einfacher Lorbeerkranz mit bedruckter Schleife, den er nach Hause trug. Es war nicht das erstemal, daß er ein Schwimmfest sah, denn er war in letzter Zeit oft zu solchen mitgenommen und hatte mit tiefer, innerer Erregung den Wettkämpfen zugesehen, an denen er sich noch nicht beteiligen durfte. Nun schwamm er zum ersten Male mit. Er wußte, daß er siegen würde, denn er kannte ja alle seine Gegner und hatte jeden einzelnen bei den Übungen wieder und wieder geschlagen. Dennoch war er aufgeregt und freute sich, als es vorbei war. Befangen, wie damals, als ihm der Rektor das Rettungszeichen an die Brust heftete, nahm er seinen ersten, kleinen Siegerpreis in Empfang. Aber im Grunde war er doch mächtig stolz, als er den Kranz zu Hause in dem gemeinschaftlichen Schlafzimmer über dem schmalen Bett aufhing, in dem er mit einem jüngeren Bruder den festen, traumlosen Schlaf der gesunden Jugend schlief, und bei Strafe unermeßlicher Schläge verbot er der ganzen Gesellschaft, auch nur ein Blatt zu berühren. Der Kranz wurde erst angestaunt, blieb hängen und wurde dann über höheren und reicheren Ehrungen vergessen, verdorrte und verstaubte, und war doch der erste Lorbeer der diese junge Stirn berührt hatte. 4 Wieder folgte für Franz Felder auf seinen ersten kleinen Sieg ein Jahr ernsten Strebens. Es galt jetzt nicht mehr, sich mit seinen Klubgenossen zumessen, sondern seine Kräfte an weitere, außenliegende Ziele zu wagen. Er war sehr in die Höhe geschossen, und die Schlankheit seines Körpers verriet nicht, wie groß die Kraft war, die in ihm lag. Aus dem stämmigen, dicken jungen mit den behaglichen, etwas schwerfälligen Gliedern wurde schnell ein sehniger, junger Mann. Nur das Gesicht blieb noch ganz dasselbe: die blauen, treuherzigen Augen, die vollen, roten Lippen und Wangen und die eigenwillige Stirn, über die das schwarze Haar jetzt immer in einem Büschen niederfiel, so daß es alle Augenblicke zurückgestrichen werden mußte, waren dieselben-- das unschuldige, vertrauensvolle Gesicht eines Kindes, das noch vom Leben nichts erlebt hatte. Und derselbe blieb auch der Blick dieser Augen. Es war der gedankenlose, etwas träumerische Blick eines Menschen, in dessen Gehirn mit hartnäckiger Zähigkeit immer und immer wieder nur eine Idee wiederkehrt--eine Idee, die in der Zukunft lebt, einer Zukunft voll großer Erfüllung verschwiegener, noch unausgesprochener, nicht einmal erkannter Wünsche.-- Fehlers Zeit war jetzt völlig eingeteilt. Kam er von der Arbeit des Tages, so war am Abend immer etwas los: entweder es fanden Übungsstunden statt, oder Sitzungen, oder es galt Vorbereitungen für irgendein Fest zu treffen--immer nahm ihn sein Klub in Beschlag. Auch die Sonntage gehörten nach wie vor ausschließlich dem Verkehr mit den Sportgenossen--der Besuch fremder Schwimmfeste, anderer sportlicher Veranstaltungen, geselliger Vereinigungen zu: Musik und Tanz, im Sommer Ausflüge in die Umgegend, Kahnpartien und vor allem die langen Bäder (überall da, wo Wasser war) füllten sie aus und waren seine Freude und seine Erholung. Franz Felder blieb still, wie er es schon als Kind gewesen war, und beteiligte sich höchstens an den Gesprächen über schwimmsportliche Fragen. Sie waren auch die einzigen, die ihn interessierten. Für keinen anderen Sport hatte er das geringste Interesse; in keinem anderen dachte er auch nur daran, sich zu versuchen. Er kannte nur einen einzigen, neben dem alle anderen verblaßten und gleichgültig erschienen. Es dauerte ziemlich lange, bis er sich heimisch in dem neuen Kreise fühlte. Wenn er auch nie Gefallen an den rüden und lauten Belustigungen seiner früheren Schulkameraden und Altersgenossen gehabt hatte, so waren ihm doch die Verkehrsart und der Ton seiner neuen Bekannten zu fremd, als daß er sich hätte so leicht in sie finden können. Aber diese neuen Freunde hatten ihn wirklich gern und taten ihr Bestes, indem sie ihn überallhin mitnahmen und jetzt ganz als den Ihrigen betrachteten. Langsam trat so eine Wandlung nach der anderen in ihm ein. Auch in seinem Äußeren. Er war nicht mehr der arme Junge in geflickten Kleidern und dem offenen Hemde, sondern ein sauber, oft mit ziemlich geschmackloser Eleganz gekleideter junger Mann, dessen regelmäßige, wenn auch einstweilen nur geringe Einnahmen ihm erlaubten, etwas auf sich zu halten. Vermochte er auch nie eine gewisse Schwerfälligkeit und Langsamkeit zu überwinden, so beeinflußte ihn doch in allem der gute Ton seines Klubs zum Guten. Er lernte sich in Lebensformen fugen, die ihm bisher unbekannt geblieben waren und die ihn zwanglos das eine tun und das andere lassen ließen--Dinge, an die er bisher überhaupt nicht gedacht hatte. Jene unausbleiblichen Streitigkeiten des Sportlebens mit Ernst und Freundlichkeit zu schlichten, auch laute Fröhlichkeit nie in Rohheit und Zank ausarten zu lassen, und vor allem das Prinzip der Schwimmkunst als eines edlen, den Menschen durch und durch erfrischenden und veredelnden Sports, hoch zu halten--das war von jeher die Aufgabe dieses Vereins mit dem einfachen Namen und der stolzen Vergangenheit gewesen, der mehr als irgendein anderer dazu beigetragen hatte, das Interesse für eine Sache zu wecken, die überhaupt bis vor kurzem noch als keine Kunst, sondern fast allgemein nur als Mittel zu der zeitweiligen, notwendigen Reinigung des Körpers betrachtet wurde. War--vielleicht nicht zum wenigsten infolge der strengen Befolgung dieses Prinzips, das mehr im allgemeinen für die Sache des Schwimmens zu wirken versuchte, als auf Züchtung großer Erfolge und mit ihnen verbundener Namen ausging--der "Schwimmklub Berlin 1879" in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund getreten und an Mitgliederzahl und äußerer Bedeutung von dem einen oder anderen neueren Verein übertroffen, so war er doch durchaus nicht gewillt, auf seinen alten Ruf, erstklassige Schwimmer und Springer hinauszusenden, zu verzichten und stets bereit, neue Lorbeeren zu den alten zu fügen. Die nächsten Jahre sollten auch nach außen hin wieder zeigen, daß der Klub in keiner Weise zurückgeblieben war--dahin gingen die Wünsche der Mitglieder einstimmig. Sie sollten beweisen, daß man nicht schlief, wenn man auch nicht immer mitschrie. Man setzte, wie gesagt, große, noch unausgesprochene Hoffnungen auf Franz Felder. Wenn irgendeiner, so war er es, der den Klub zu außergewöhnlichen Erfolgen zu führen versprach. Derselbe Herr, der zuerst stillschweigend auf den kräftigen Jungen aufmerksam gemacht hatte, der sich mit so erstaunlicher Sicherheit und so unbändiger Wonne im Wasser herumwälzte, war und blieb sein treuer Berater. Er wachte mit fast ängstlicher Sorgfalt über seinem Zögling. Bernhard Nagel, von Beruf Chemiker, war seit zwei Jahren wieder Schwimmwart des "S.-C. B. 1879". Selbst in früheren Jahren ein berühmter Schwimmer, lange Zeit der unangefochtene Inhaber so mancher Meisterschaft, ein ausgezeichneter Turner auch heute noch und von jeher ein allbeliebtes Klubmitglied, hatte sich--gerade zur rechten Zeit, auf seiner Höhe--von jeder aktiven Tätigkeit zurückgezogen und sein Name erschien schon lange nicht mehr öffentlich in den Programmen der Schwimmfeste. Damit aber war sein Interesse an seinem Klub um nichts vermindert. Seine Kraft gehörte jetzt mehr als je den Fortschritten der Sache, und seine Tätigkeit erstreckte sich vor allem auf die Ausbildung der Jugendabteilung. Wie sein scharfes Auge gleich in dem unbekümmerten, wasserfrohen Knaben den geborenen Schwimmer erkannt hatte, so nahm er sich nun seiner von der ersten Stunde hilfreich an. Er war ein strenger Lehrmeister, der scharf aufpaßte und so leicht nichts durchgehen ließ. Bei Felder hatte er indessen eigentlich mehr zu zügeln, als anzuspornen, denn dessen hauptsächlichster Fehler bestand darin, daß er immer gleich zu heftig ins Zeug ging, Um dann am Schluß eines Rennens den Anstrengungen, denen sein Körper noch nicht gewachsen war, und somit erfahreneren und geübteren Schwimmern gegenüber zu unterliegen. Aber das gab sich von Woche zu Woche, und Franz lernte allmählich mit seiner Kraft haushalten. Er vergalt das Interesse seines Schwimmwarts mit unbegrenzter Dankbarkeit. Nicht nur, daß er diesem Manne den Eintritt in den Klub und damit in ein für ihn ganz neues Leben, sowie die Stellung verdankte, die ihn der Not um sein tägliches Brot enthob--er fühlte ganz gut, daß jener Hoffnungen auf ihn setzte; und immer wieder schwur er sich im stillen zu, ihm seine Dankbarkeit eines Tages auch durch Taten zu zeigen. Daher hörte er auf jedes Wort des Tadels und der Ermutigung, wie auf ein Gebot, und das eine konnte ihn ebenso beseligen, wie ihn das andere niederzudrücken vermochte. Bei der Unzugänglichkeit seines Wesens und seiner Schweigsamkeit, die selten das erste Wort fand, um sich auszudrücken, schloß er sich nur schwer und langsam an seine anderen Kameraden an und ließ sie lieber zu sich kommen, als daß er sich ihnen von selbst genähert hätte. So kam es, daß er zwar mit den meisten in gutem und freundlichem Einvernehmen stand, aber doch keine näheren Freundschaften schloß. Unter den Jugendmitgliedern, seinen Altersgenossen, hatte er manchen Gegner--schon jetzt, wo es noch keine besonderen Erfolge zu beneiden gab. Davon merkte Franz nun zwar noch nichts. Seine glückliche Unbekümmertheit, seine reine Freude an der Sache überhörte oder verstand die unausbleiblichen Bemerkungen nicht, die schon gemacht wurden, als er noch gar nicht öffentlich geschwommen hatte. Er konnte sich nicht denken, daß sie ihm galten. Was war überhaupt die Person! --Wenn nur der Klub siegte!-- Dagegen fielen ihm zwei Freundschaften zu, um die er sich in keiner Weise bemühte. Als er in den Klub trat, fand er unter den vielen fremden Gesichtern ein bekanntes--das eines Altersgenossen, der eine Zeitlang in demselben Hause wie Franz gewohnt und mit ihm in dieser Zeit auch oft gesprochen hatte. Koepke war seitdem Kaufmann geworden, fast schon mit seiner Lehrzeit in einem großen Manufakturwarenmagazin zu Ende und sah bereits seiner Anstellung als wohlbestallter Kommis mit Selbstgefühl entgegen. Wie er in den Schwimmklub Berlin 1897 gekommen war, das war vielen der Jüngeren ein Rätsel, denn er schwamm wie ein Klotz und befand sich allem Anschein nach auf dem Lande weit wohler als im Wasser. Aber die älteren Mitglieder des Klubs wußten, daß sie ihn eines Verwandten wegen aufnehmen mußten, der vor Jahren dem Verein große Dienste geleistet und seinen Eintritt dringend gewünscht hatte. Man hatte ihn sogar nicht einmal ungern aufgenommen. Es gab in jedem Schwimmverein Mitglieder, die--wenn sie es auch ausübend zu nichts brachten--sich doch ganz gut gebrauchen ließen, um in der "Verwaltung" tätig zu sein, wo es immer genug zu rechnen und zu schreiben gab, und die sich sehr wohl fühlten, wenn sie von ihrem Schreibzeug aus die Interessen des Klubs mit Leidenschaft wahrnehmen durften und nicht ins Wasser brauchten. Koepke war dazu die rechte Person. Voll Diensteifer stürzte er sich auf jede ihm zugeschanzte Arbeit. Seine Leidenschaft für das Wasser aus der Ferne war zudem über jeden Zweifel erhaben, und atemloser verfolgte kein Zuschauer die Wettkämpfer, feierlicher notierte keiner die Zahlen in das Programm, als er. Als er Franz zum ersten Male im Klub sah, kam er ihm gleich entgegen und begrüßte ihn als alten Bekannten aus der Jugendzeit. Er war ein gutmütiger und in keiner Weise überheblicher Mensch. Daß sein Spielkamerad in seinen einfachen Arbeitskleidern vor ihm, dem geschniegelten Kommis, stand, merkte er ebensowenig, wie er es ihn früher irgendwie hatte fühlen lassen, daß seine Eltern im ersten Stock des Vorderhauses und die Franz Felders im Hof wohnten. Der letztere--immer in dieser Beziehung zum Mißtrauen geneigt--merkte es gleich wieder. Man schüttelte sich die Hand. Als Franz aber seinen ersten kleinen Sieg erfochten, besaß er einen ergebenen und ihn schon sehr bewundernden Freund an dem "zweiten Schriftführer" des Vereins. Bei einem anderen Klubgenossen bedurfte es für ihn nicht erst dieses Sieges, um in ihm einen ausgesprochenen Gönner zu haben. Der dicke Brüning war der letzte Inhaber der Hauptschwimmeisterschaften im Klub gewesen und sein fabelhafter Stoß hatte die Gewässer der halben Welt durchfurcht. Nach seinem Rücktritt war in dem Siegeslauf des Klubs die große Pause eingetreten, die heute noch währte. Übrigens waren in diesen Jahren auch sonst keine Siege im Schwimmsport zu verzeichnen, denen die Brünings aus früherer Zeit nicht mindestens ebenbürtig gewesen wären. Darüber freute er sich noch heute. Einer reichen Charlottenburger Familie entstammend und im Besitz eigenen Vermögens konnte er es sich leisten, seine Jugend dem Vergnügen eines Sports zu widmen, und nachdem er erst in Deutschland überall gesiegt, war er auch außerhalb jahrelang zu allen großen Festen auf seine eigenen Kosten gereist, um überall sich und den Farben seines Klubs Ehre auf Ehre zu erobern und dem Namen des "S.-C. B. 1879" eine internationale Berühmtheit zu verschaffen. Das konnte und wollte ihm sein Klub nie vergessen, und allein sein Name bedeutete heute in ihm noch eine Tat--einen Sieg, so frisch, als wäre er erst gestern erfochten. Jetzt war der Meister dick geworden und schwamm nur noch "zu seinem eigenen Vergnügen", wie er sagte. Wenn er ins Wasser ging, sah ihm noch jeder nach. Aber nur bei der älteren Generation lebte noch die Erinnerung an jenen furchtbaren Schwimmer, der mit der phänomenalen Kraft und Wucht seiner Leistungen einfach alles andere totgeschlagen hatte. Brüning selbst hatte ohne großes Bedauern seinen Erfolgen Lebewohl gesagt, sich dem Sportleben im allgemeinen zugewandt und ließ jetzt rennen. Übrigens verstand er nichts von Pferden. Zuweilen noch, aber doch nur selten, erschien er an einem Übungsabend oder auf einer Veranstaltung seines alten Klubs. Wenn er kam, erhob sich ein allgemeines Hurra, denn er war allgemein beliebt, weil er ein nobler Kerl war: immerlustig und aufgelegt, immer bereit zu helfen mit Geld und Rat und riesig freigebig, wenn es galt, die Zeche zu bezahlen. Bei den Jüngeren hieß er nur der "Sektonkel", aber die Älteren hielten große Stücke auf sein erprobtes und unbeeinflußbares Urteil. Als er eines Abends in der Schwimmhalle neben dem Schwimmwart Nagel stand, machte ihn dieser auf das neue Mitglied aufmerksam, das gerade stillvergnügt für sich hundert Meter schwamm. Brüning kniff die Augen etwas zusammen, wie es ihm eigen war, wenn er das tat, was er nachdenken nannte, sagte aber noch nichts. Als Franz aus dem Wasser kam, musterte er ihn, wie er seine Pferde prüfte. Das Resultat war sehr zufriedenstellend. Er gratulierte Nagel zu seiner Akquisition, schüttelte Franz kameradschaftlich die Hand, und dieser hatte sich von dem Tage an seiner ausgesprochenen Protektion zu erfreuen. Mit der Zeit erklärte ihn Brüning unter vier Augen als den einzigen im ganzen Klub, der vielleicht eines Tages sein ebenbürtiger Nachfolger werden könne, "wenn er hielt, was er versprach". Das Interesse Nagels vergalt Franz mit unauslöschlicher Dankbarkeit; die Freundschaft Koepkes ließ er sich gefallen; an das Wohlwollen Brünings aber glaubte er lange Zeit nicht. Als er dann sah, wie stetig und warm es war, freute er sich sehr; und er blieb immer einer der wenigen, die die Freigebigkeit des Sektonkels nie mißbrauchten. 5 Die Kunst des Schwimmens ist eine junge Kunst. Man kann von ihr als solcher erst im vorigen Jahrhundert sprechen, und recht eigentlich erst in seiner letzten Hälfte. Das Schwimmen als körperliche Übung ist von jeher geübt, wenn es auch nie wieder zu der allgemeinen Notwendigkeit wurde, die es in jenen Tagen des Altertums war, von deren Schönheitsfreude noch heute die gigantischen Thermentrümmer der Alten in beredsamem Schweigen zeugen. In Deutschland kam sie erst wieder in Aufnahme, als an der Spree durch die Initiative eines preußischen Generals die große Anstalt entstand, die noch heute seinen Namen trägt. Bedeutet der Name von Pfuel so ein Wiedererwachen langverlernter Übung, so kann von einer Kunst des Schwimmens doch noch kaum geredet werden, als sich in den sechziger Jahren die ersten Hallenschwimmbäder in Deutschland öffnen, sondern mit Recht erst dann, als sich die ersten Schwimmer zusammentun, um ihre Kräfte unter- und gegeneinander zu messen. Erst spärlich und fast unbeachtet--einer der ersten unter ihnen der "S.-C. B. 1879"--wachsen und vermehren die Schwimmvereine sich nur langsam, kämpfen wohl schon zu Beginn der achtziger Jahre ihre Meisterschaften aus, gelangen aber erst um die Hälfte dieses Jahrzehnts zu allgemeinen Wettschwimmbestimmungen, auf die hin sie sich einigen. Aber von da an geht es schneller. Mit den Winterschwimmbädern in vielen Städten entstehen überall auch Schwimmvereine, die sich erst unter sich und dann in dem großen Verbande zusammenschließen, dessen Ziel es ist, alle Vereine und Unterverbände zu einer gemeinsamen Bestrebung für die neue Sache zu vereinigen. Ein Jahrzehnt später, und auch die Kunst des Wasserspringens hat ihre Wertungsform gefunden. Man hat gesiegt. Das jüngste Stiefkind des Sports hat sich Beachtung und Achtung errungen. Weit mehr gebunden, als irgendein anderer Sport an bestimmte Bedingungen, hat er sich kühnlich neben jeden anderen gestellt; und eines hat er vor jedem voraus: er feierte seine Feste Sommer und Winter. Im Sommer unter blauem Himmel, in jedem Wasser, dessen Ausdehnung es erlaubt; im Winter unter den hohen Wölbungen von Eisen und Glas. Natürlich bleibt der Sommer die Hauptsaison und die größten und wichtigsten Feste fallen in seine Zeit. Doch kam es auch vor, daß die wichtigsten internen Veranstaltungen einzelner oder vereinigter Klubs in den Winter fielen, da der Sommer zu viel von auswärtigen Interessen in Anspruch genommen wird. Jetzt gibt es nicht mehr nur vereinzelte Vereine in einzelnen Städten. Wie die Pilze wachsen die Klubs aus der Erde--ihre Namen mit Vorliebe den alten Wassergöttern und allem möglichen Wassergetier entlehnend--, vereinigen und--bekämpfen sich untereinander, erbittert und leidenschaftlich; jetzt drängen sich die kleinen und großen Feste Sonntag auf Sonntag, und kaum einer im Jahre ist frei von einem solchen Feste in einer Stadt wie Berlin. Es ist die Zeit des reichsten Wachstums und damit der stürmischsten Gärung, der der alte "S.-C. B. 1879" fast allein ruhig zusehen kann, da beides bereits hinter ihm liegt; und es ist die Zeit, als Franz Felder in ihm in unablässigem Training um seine ersten Siege ringt.-- Der Verlauf der Schwimmfeste ist im allgemeinen ein ziemlich gleicher, und sie unterscheiden sich wesentlich nur durch ihre Ausdehnung. Von den kleinen, internen Veranstaltungen der Klubs unter sich an den Sonntagnachmittagsstunden angefangen erstrecken sie sich bei den großen nationalen und internationalen Meetings oft über zwei Tage. Auf dreierlei Art wird auf allen gekämpft: im Schwimmen, im Springen und im Tauchen. Geschwommen wird um kürzere oder längere Strecken, und zwar ist entweder der Stil freigestellt oder als Brust-, Seiten- und Rückenschwimmen vorgeschrieben. Geschwommen werden kann in stromfreiem Wasser, Seen und künstlichen Bassins, oder auch in Flüssen mit zu überwindendem Strömungswiderstand. Die Zahl der Sprünge ist naturgemäß eine begrenzte. Die Sprungtabelle des Deutschen Schwimmverbandes von 1891 weist deren fünfunddreißig auf, die nach den Punkten 0-5 und dem Schwierigkeitsgrade 1-6 gewertet werden. Von dem einfachen Abfallen und dem Abrenner, den einfachen und schwierigeren Kopfsprüngen steigen sie langsam auf zu den Hecht- und Schlußsprüngen in ihren verschiedenen Drehungen des Körpers. Aber es herrscht eine große Mannigfaltigkeit unter ihnen. Die Höhe des Sprungbrettes wechselt von einem zu drei und sechs Metern. Viele Sprünge können ebensowohl aus dem Stand, wie mit Anlauf gemacht werden; und bei vielen tritt hinzu, daß sie sowohl vor-, als auch seit- oder auch rückwärts ausgeführt werden können. Daher ist das Amt eines Preisrichters für das Springen kein leichtes und erfordert langgeübte und intime Kenntnis der einzelnen Sprünge und ihrer Werte. Auf den Festen gibt es ebensowohl Konkurrenzen für Pflicht-, wie für Kürsprünge. Das Tauchen ist einfach. Man taucht entweder in die Tiefe nach Tellern (Sieger ist, wer in der kürzesten Zeit die größte Anzahl hervorholt), oder in die Länge: das Hechttauchen--man schwimmt unter dem Wasser, und die dort in gerader Richtung erreichte Meterzahl gibt den Ausschlag. Auf jedem Feste findet auch ein Mehrkampf statt, der meist sehr interessant verläuft: gekämpft wird in allen drei Arten, und Sieger bleibt, wer durchschnittlich in allen die höchste Punktzahl erreicht. Die Preise werden entweder Eigentum des Siegers oder gehen in den Besitz seines Klubs über. Sie bestehen bei den großen Meisterschaften oft in wertvollen Gegenständen, die die Veranstalter oder auch die Stadt stiften; oder in Medaillen, Ehren-Urkunden und dem einfachen Lorbeer mit den farbigen Schleifen, die in goldenen Lettern von dem heißerrungenen Ruhme erzählen--unvergeßliche Andenken!--Es gibt Preise, die dem Sieger sofort zufallen; aber es gibt auch Wanderpreise, die erst nach mehrmaligem schwererstrittenen Sieg erringbar sind und mehrere Jahre hintereinander ausgefochten werden müssen, ehe sie in den Besitz des Siegers übergehen oder Klubeigentum werden. Was sonst die Feste noch zeigen, dient mehr zu ihrer äußerlichen Bereicherung und Ausschmückung. Das Schwimmen "älterer Herren", die die Zeit der höchsten Ausbildung ihrer Stärke bereits hinter sich, wie die einleitenden Schwimmen der Knaben und Junioren, die sie noch nicht erreicht haben, diese Trost- und Ermunterungs-Schwimmen können bei weitem nicht das Interesse erwecken, das die jungen Leute vor oder nach ihrem zwanzigsten Jahre in der höchsten Leistungsfähigkeit ihrer Kraft bieten, und deren Namen daher mit Recht in der Mitte aller Programme stehen. Groteske und lustige Wasserpantomimen sollen so manchen geduldigen Zuschauer, der wenig oder nichts von den für Nichtkenner oft eintönigen Kämpfen versteht, entschädigen, und einlautes, lebhaftes Wasser-Polo, in dem Klub gegen Klub sich mißt, fehlt heute auf keinem als Abschluß. Die Preisverteilung findet am Abend des Festes statt. Musik und Tanz "halten die Teilnehmer noch lange zusammen", wie es stets am Ende aller Berichte heißt. --Gut Naß!--Hurra! Hurra! Hurra! 6 Auf der Meldeliste des "Schwimmklub Berlin 1879" für das diesjährige große Wettschwimmen des Berliner Schwimmerbundes stand zum ersten Male der Name Franz Felder. Der Inhaber dieses Namens war gemeldet für das Schwimmen um die Meisterschaft der Stadt Berlin. Es war Brünings gewichtiges Wort gewesen, das, für das Junge Mitglied in die Wagschale gelegt, sie in der langen Beratung endlich zu Felders Gunsten sinken ließ. Franz vergaß es ihm nie. Er war erst fast bestürzt, als er von der Entscheidung hörte, trotzdem sie kaum anders hätte ausfallen können, wollte der Klub sich überhaupt beteiligen. Dann ergriff ihn einfach ein Freudentaumel. Sein Klub sandte _ihn_ hinaus auf das große Schwimmfest des Winters, auf ihm um eine Meisterschaft, um die Meisterschaft der Stadt Berlin über die kurze Strecke von 100 Metern zu ringen!--Er sollte sich auf dem jährlichen Wettschwimmen des großen Berliner Schwimmerbundes mit ersten Schwimmern--unter ihnen alten Siegern--im Kampf um die silberne Medaille messen!! Es war nur die Meisterschaft um eine Stadt, nicht die um ein Land oder gar um einen Erdteil, aber es war immerhin die Meisterschaft um die Hauptstadt, in der wie in keiner anderen der ganzen Welt der Sport des Schwimmens grünte und blühte, die überallhin die besten und gefürchtetsten Kräfte stellte, wo es galt, erste Erfolge zu erzielen. Eine Meisterschaft im Berliner Schwimmerbunde, der den größten Teil der Berliner Schwimmvereine umfaßte, der im Allgemeinen Deutschen Schwimmverbande die erste Stelle einnahm, war ein großer Sieg--ein Sieg ersten Ranges, vielumstritten und heißbegehrt... Und _sein_ Klub sandte ihn, den jungen, unbekannten Franz Felder, hinaus, diese Meisterschaft zu erkämpfen!--Sein Klub, der vor vielen Jahren zuerst die Initiative zur Gründung eben dieses Schwimmerbundes gegeben hatte, sein Klub, der älteste und angesehenste Berlins, mit dessen schlichtem und doch so berühmtem Namen die so vieler erster Schwimmer der Welt unauslöschlich verbunden waren, der nicht nur für sich und seine Mitglieder, sondern für die ganze Sache des Schwimmens von jeher ein unnachahmliches Beispiel gewesen war--der "S.-C. B. 1879" entsandte _ihn_ zum diesjährigen Wettbewerb! Wenn er sein junges Mitglied in dieser Weise allen anderen vorzog, so wußte er, was er tat. Dann war es ohne Zweifel sein bester Schwimmer. Aber was mehr war, als diese äußere Anerkennung seiner Kraft, war die innere: der Klub hätte nie ein Mitglied hinausgesandt, von dessen innerlicher Zusammengehörigkeit mit den Bestrebungen und Zielen des Klubs--und das waren in der Sache unbedingt die höchsten--er nicht überzeugt gewesen wäre. Er hatte sich jahrelang von den Festen zurückhalten können, stolz auf alte Erfolge und unbekümmert um neue, als die alten Kräfte, die sich zurückziehen mußten, nicht sogleich durch neue von gleicher Stärke ersetzt werden konnten; und er würde sich Zeit genommen haben, im nötigen Falle nochmals jahrelang zuwarten, denn nicht um künstliche Züchtung einzelner Größen und die Erlangung lauter Triumphe, sondern um die allgemeine Hebung der Sache war es ihm stets in erster Linie zu tun gewesen. Entschloß man sich daher heute zu neuer aktiver Beteiligung, so mußte man des Sieges ziemlich gewiß sein--und nicht nur dieses einen Sieges, sondern eines neuen Ruhmesblattes in dem alten Kranze... Felder war sich über all dies durchaus nicht klar. Er fühlte nur, wie sehr man ihn auszeichnete, nicht nur als Schwimmer, sondern auch als Menschen, indem man seinen Namen als Vertreter seines Klubs zum ersten Male öffentlich nannte; er wußte, man vertraute ihm die Ehre des Klubs an, nicht nur einen neuen Erfolg. Weiter sah er noch nicht. So ging sein ganzer Ehrgeiz einstweilen dahin, diesen Sieg, auf den es ankam, für seinen Klub zu erfechten. Er fühlte, er _mußte_ ihn erringen! Er war sehr stolz und sehr glücklich. Aber er hatte Angst, richtige Angst--zum erstenmal in seinem Leben. Er wußte bisher nicht, was Angst war. Nie hatte er sie empfunden. Aber nun ergriff sie ihn. Es war das Kanonenfieber des Soldaten, der zum ersten Male in die Schlacht geht. Denn wenn er unterlag?--Wenn er nur einen zweiten, dritten oder überhaupt keinen Preis erhielt?--Er kannte seine Gegner wohl. Fast alle hatte er wiederholt auf den Schwimmfesten gesehen und bewundert. Aber mit keinem hatte er sich bisher je gemessen.--Außer dem seinen stand nur noch ein neuer Name unter den Meldungen. Und er war der Jüngste von allen!-- Wohl schlug er schon die Ältesten seines Klubs über die kurze Strecke. Aber sein Klub hatte, so lange er in ihm war, keine Meisterschaften mehr aufzuweisen. Was wollte es also sagen, daß er, Franz Felder, sein bester Schwimmer war?--Nicht allzu viel. Nagel, der seine innere Aufregung sah, redete ihm wiederholt ernstlich zu. Er war besorgt um seinen Zögling--nicht, weil er fürchtete, daß er unterliegen könne, sondern weil er sah, in welcher verzehrenden Unruhe er umherging und übte. Er warnte ihn, allzu viel Wert auf dies Rennen zu legen. Was war es denn, wenn er auch unterlag?--Was heute Niederlage war, konnte morgen zum Siege werden, und umgekehrt. Er hatte das mitangesehen, viele Male, und es an sich selbst erlebt; und auch Franz würde das erleben. Das war nicht das erste und letzte Schwimmen, gewiß nicht--und immer wiederholte der gute und erfahrene Freund: --Schwimm so gut, wie du kannst. Kümmere dich um nichts, als um dein Ziel. Mehr kannst du nicht tun, als was deine Kraft dir erlaubt, zu tun. Damit sei zufrieden... Felder hörte zum ersten Male seinem Freund nur halb zu. Sein Klub hatte _ihn_ hinausgesandt. In seinen Händen lag seine Ehre. Er durfte ihm keine Schande machen; er mußte siegen--er _mußte!_-- 7 So kam der Sonntag des Festes heran. Franz hatte in der letzten Woche nach der Arbeit des Tages noch allabendlich trainiert. Gestern war er früh zu Bett gegangen, aber er hatte wenig schlafen können. Am liebsten hätte er am Morgen noch einmal die Strecke geschwommen-- nur einmal ... aber das wurde ihm natürlich nicht erlaubt. So verging der Vormittag in untätiger Ungeduld. Er aß mäßig und trank fast nichts. Man hatte in dem Restaurant des Klublokals in der Lindenstraße gegessen und spielte nun gemütlich im Sitzungszimmer einen Kaffeeskat an verschiedenen Tischen. Franz, der keine Karte anrührte, sah wie gewöhnlich zu, aber es wurde ihm diesmal nicht leicht, ruhig zu bleiben. Er ging von Tisch zu Tisch, bis ihn eine plötzliche Müdigkeit überfiel und er vor sich hindruselte. --Leg' dich doch hin, wir wollen dich schon wecken, wenn es Zeit ist! rief Brüning ihm zu und Franz rollte sich hinter dem großen Tisch auf dem alten, knarrenden Sofa zusammen, auf dem sonst bei den feierlichen Beratungen der Vorsitzende saß. Nach zwei Minuten schlief er wie ein Toter. Allmählich leerten sich die Tische; man ging zum Fest. Der, an dem Nagel und Brüning saßen, spielte ruhig weiter. Um halb vier warf Brüning die Karten zusammen und zog seine goldene Uhr: Massenhaft Zeit noch!--Aber wollen doch lieber gehen... Er und Nagel standen vor dem Sofa, auf dem Franz noch immer schlief. Er lag da wie ein Kind, und sein Atem ging still und friedlich durch die etwas geöffneten Lippen. Sicherlich träumte er jetzt von keiner Niederlage. Brüning betrachtete ihn mit fast zärtlichem Lächeln. --Wie ein junger Gott, was?--Und noch das reine Kind!--Aber wecken wir unseren jungen Sieger! --Er ist es noch nicht, sagte Nagel und rührte den Schlafenden bei der Schulter. Franz führ in die Höhe, und sein erster Griff war nach der Uhr. --Aber wir versäumen das Schwimmen, rief er außer sich, als er sah, daß sie bereits über halb vier zeigte. Die anderen lachten ihn aus, packten ihn in eine Droschke und fuhren mit ihm zum Fest.-- Die enorme Halle des großen Schwimmbassins der Wasserfreunde war festlich geschmückt. Der weite Raum mit den hohen, gotischen Wölbungen war bis in den letzten Winkel durch die großen, elektrischen Bogenlampen erleuchtet, denn durch die bunten Fensterdrang nur noch das trübe Licht eines frühdunklen Wintertages. Die sonst so kahle Halle war nicht wiederzuerkennen. An der Rückwand hingen von der Decke bis zur Galerie die langen Fahnen der veranstaltenden Vereine herab und verhüllten die weiße Fläche der Mauern mit ihren bunten Farben. An den Langseiten zogen sich von Pfeiler zu Pfeiler in langen Reihen hunderte von winzigen, auf Seile gezogenen Fähnchen in buntem Farbengemisch, und hoch von der Wölbung der Decke hernieder schwebte regungslos über der Mitte des Bassins die mächtige weiße Fahne des "S.-C. B. 1879" mit dem blauen Rande und dem blauen Namenszuge in der linken Ecke. An der Eingangsseite bei dem großen, sechs Meter hohen Sprungbrett spielte--hinter grünem Blattwerk verborgen--die Musik. Die Seiten des Bassins und die breiten Galerien waren dicht mit Zuschauern besetzt, die sich gespannt vornüber beugten, um besser die Wasserfläche unter sich überschauen zu können, in der die Wettkämpfe stattfanden. Die engen Reihen boten ein buntes Bild: jung und alt-- alles saß hier durcheinander, und unter die dunklen Röcke der Herren mischten sich die festlichen Toiletten der Damen und gruppenweise die weißen, buntgeränderten Mützen der zahllosen Sportgenossen. Alle Schwimmvereine Berlins waren vertreten und scharten sich ihrer Zusammengehörigkeit nach hier und dort zusammen. In den Pausen und zu Beginn jedes neuen Rennens waren alle Augen auf die Eingangswand gerichtet. Dort saß unter der Galerie an einem mit Papieren bedeckten Tische der Ausschuß des Festes: die Preis- und Zielrichter, die beiden Schiedsrichter und in ihrer Nähe einige hervorragende Gäste, Vertreter der Stadt Berlin und einiger Behörden. Hier befanden sich auch die reservierten Plätze für die Vorstände der Vereine, denn hier nahmen die Rennen ihren Anfang. Als Felder und seine Begleiter ankamen, mußten sie sich an der Aufgangstreppe, wo an der Kasse die üblichen fünfzig Pfennig als Entree erhoben und von Sportkameraden die Programme verkauft und die Besucher empfangen wurden, bereits durch dichte Menschenmassen arbeiten und hatten Mühe, sich durchzudrängen, um zu den Auskleideräumen zu gelangen. Es war gerade eine Pause, und die Wölbung hallte wider von dem erregten Sprechen und Lachen der vielen Menschen. Es war bereits erstickend heiß. Über der noch vom letzten Rennen her leise bewegten Wasserfläche zogen sich leichte, weiße Streifen, und die ganze Halle dampfte von dem Dunst des Wassers und der Menschen. Die Uhr wies über die vierte Stunde hinaus. Man näherte sich den großen Wettkämpfen. Längst war die stereotype Eröffnungsrede des Vorsitzenden des Berliner Schwimmerbundes, eines redegewandten und liebenswürdigen Herrn, in seiner bekannten eleganten Weise gehalten und der Eröffnungsreigen geschwommen. Bereits war das Schwimmen der Knaben und Junioren, der Kleinen bis zum vierzehnten und der Knaben bis zum siebzehnten Lebensjahre vorbei, und künftige Meister hatten den ersten Anhauch ihrer Erfolge auf der heißen Stirn gespürt.--Auch die älteren Herren, die über dreißig, hatten geschwommen und vielleicht zum letzten Male die Hand nach dem Siegeskranze gestreckt. Endlich war bereits ein interessanter Mehrkampf ausgefochten worden, über dessen unerwartetes Resultat noch hin und her geredet wurde. Nun kam ein Brustschwimmen und ein großes Tellertauchen mit unzähligen Konkurrenzen an die Reihe. Es konnte also noch lange dauern, bevor die Meisterschaft Berlins ausgefochten werden sollte-- für alle Kenner der Clou des Tages. Felder wollte sich ausziehen, aber Nagel riet ihm ab. Wozu?--Man hatte noch lange Zeit. Man gesellte sich also noch zu den Klubgenossen, die eine ausgezeichnete Ecke am Anfang der Galerie erobert hatten und besetzt hielten. Hier war man unter sich, unter lauter Bekannten und Freunden, denn auch die Damen, die heute mitgekommen waren, waren von so vielen geselligen Veranstaltungen des Vereins her alte Bekannte. Es war wie eine große Familie, diese Ecke. Koepke empfing Franz mit der gewohnten Lebhaftigkeit. Er war so erregt, als solle er selbst um den Preis schwimmen. Er war natürlich wieder voll von Neuigkeiten, von denen kein Mensch etwas wußte. Georgy vom S.-C. "Spree" sollte nicht mitschwimmen infolge eines Zerwürfnisses mit seinem Klub. Aber Wenzel war da; und Hoffmann, der gefürchtete vom "Triton", auch. Hatte Franz ihn schon gesehen?--Dort unten stand er, der lange mit der Hakennase und den mächtig vielen Bändern über der Brust.--Und Riesecker war da, der heute zum ersten Male seit zwei Jahren wieder mitschwamm. Aber es würde ihm wohl nichts helfen... Felder hörte kaum auf das Geschwätz. Er hatte seinem Freunde das Programm aus der Hand genommen, und instinktiv suchte er seinen eigenen Namen. Er brauchte in dem kleinen Heft nicht lange zu blättern. Da stand es: _IX. Schwimmen um die Meisterschaft der Stadt Berlin_ Offen für alle Mitglieder. Bahnlänge 100 Meter gleich 4 Längen. 1. B. Riesecker ...... (1. Berliner Amateur-S.-C.) schwarze Kappe 2. K. Wenzel ...... (S.-C. "Poseidon") gelbe Kappe 3. W. Georgy ...... (S.-C. "Spree") rot-weiße Kappe 4. F. Felder ...... (S.-C. Berlin 1879) blaue Kappe 5. P. Hoffmann ...... (S.-C. "Triton") weiße Kappe 6. W. Hofstetter ...... (Berl. S.-Sport-C.von 1888) rote Kappe Darunter war der Raum freigelassen zum Einzeichnen der Sieger: Erster: ........... Zeit: .... Min. .... Sek. Zweiter: .......... Zeit: .... Min. .... Sek. Da stand sein Name. Noch keine Stunde würde vergangen sein, und die Entscheidung war erfolgt. Welcher unter diesen sechs Namen würde eingetragen werden in die kleine leere Stelle?--Der seine?-- Er hielt es nicht mehr aus. Der Gleichmut seiner Freunde erregte ihn. Ahnten sie, wußten sie denn nicht, was auf dem Spiele stand?--Warum lachten sie noch?... Außer dem dummen Koepke schien keiner von der Größe des Augenblicks erfüllt zu sein. Das Tauchen hatte begonnen. Es würde bei der großen Beteiligung mindestens eine halbe Stunde dauern. Aber Franz ertrug es nicht länger, ihm untätig zuzusehen. Die Zeit, in der die ersten beiden unter Wasser blieben, erschien ihm endlos. Er stahl sich weg und suchte einen der hinten gelegenen Auskleideräume auf. In dem ersten, den er betrat, hatten sich bereits sechs oder sieben Teilnehmer ausgezogen. Ein wüstes Durcheinander herrschte in dem engen Gelaß. Der Boden triefte von Nässe und Schmutz, unter den Lattenbelägen standen Wasserlachen, Stiefel lagen herum, die nicht zueinander paßten, und Kleidungsstücke verschiedenster Art waren wahllos übereinander geworfen--friedlich vereinigten sich hier die toten Dinge, während sich draußen ihre Besitzer so bitter bekämpften. Felder bemerkte das alles kaum. Er war es nicht anders gewohnt. Er war zufrieden, noch einen freien Haken zu finden, und kleidete sich langsam aus. Er war ganz allein in dem abgelegenen Räume, in dem ein trübes Dunkel herrschte, da man vergessen hatte, hier Licht anzuzünden. Durch die engen Fenster sah mit ihrem letzten Schein die früh erlöschende Wintersonne, und nur von ferne drangen verlorene Rufe aus der Halle bis hierher. Als er das Trikot angelegt hatte und darüber die weiße Badehose mit dem blauen Rande streifte, überkam ihn wieder die zeitweilige Mutlosigkeit der letzten Tage. Er hüllte sich in sein Badetuch und setzte sich in eine Ecke. Er wußte, daß man ihn rufen würde, wenn es Zeit war, und es war ihm ganz lieb, daß man ihn bis dahin allein ließ. Er glaubte nicht mehr daran, daß er siegen konnte. Es war eine Vermessenheit von ihm, zu schwimmen; und es war mehr als eine solche von seinem Klub, ihn zu diesem Wagnis verleitet zu haben. Auf ihn fiel die Schmach, wenn er unterlag. Und er mußte ja unterliegen--wenn nicht gegen die anderen, so doch gegen Wenzel. War überhaupt jemals ein Mensch gegen den aufgekommen? Und gerade heute nach einjähriger Pause schwamm der wieder mit! Er sah trübe vor sich hin. Plötzlich wurde er aus seinem Sinnengerissen. Zwei nasse Gestalten stürzten herein und suchten lärmend nach ihren Kleidern, während sie laut miteinander über das eben beendete Tauchen sprachen. Hinter ihnen her Koepke. --Wo bleibst du denn, Mensch?--Jetzt wird es aber wirklich Zeit. So komm doch--alle warten schon auf dich! Felder ließ sein großes Badetuch von den Schultern gleiten und folgte dem wieder Forteilenden langsam. Als er sich mühsam durch die immer enger zusammengepreßte Menschenmenge zu seinen Leuten durchgerungen hatte, kam eben der letzte Taucher, mit seinen zwanzig Tellern beladen, blaß und schweratmend an die Oberfläche. Es herrschte an der Eingangsseite ein unglaubliches Gedränge. Alles stieß sich durcheinander: Herren vom Wettschwimm-Ausschuß in schwarzen Fräcken; Kellner mit gefüllten Biergläsern; Bademeister in hellen, frischgewaschenen Leinwandanzügen; Klubmitglieder in Mützen und Abzeichen, viele die Brust mit Medaillen und Schleifen übersät, freundlich oder feindlich gesinnt, und sich entweder herzlich begrüßend oder höflich ausweichend; und Gäste des Festes, jeden Alters und Standes und Geschlechtes--alles mußte hier durch, um hinaus oder zu seinem Platz zurückzugelangen, und kaum wurde den Schwimmern ausgewichen, die triefend von Wasser durch sie alle hindurch und zu ihren Kleidern zu gelangen suchten. Die Halle dröhnte wider von dem Durcheinanderlärmen zahlloser Stimmen. Man machte vor dem Hauptrennen des Festes die kurze Pause um einige Minuten länger, während welcher die Starter versuchten, einen kleinen Raum um die Sprungbretter herum zu schaffen. Felder stand eingekeilt in einer Ecke. Nagel hatte ihm selbst die blaue Kappe übergezogen, die ihm das Los bestimmt hatte, und erinnerte ihn noch einmal an seine Platznummer: "Du hast also Nr. 3 und schwimmst in der Mitte zwischen zwei Gegnern!" Er hörte Brünings spöttische Stimme, der über den "Blödsinn des übertriebenen Tauchens" sprach und fühlte dabei, wie sein Blick aufmerksam auf ihm ruhte. Als er ihm begegnete, versuchte er, sorglos zu lächeln, aber er konnte es nicht. Er hatte nur den einen Wunsch, daß alles vorbei sein möchte. Dann sah er, wie der Starter auf das eine der unteren Sprungbretter trat und seine Fahne schwang. Der Lärm in der Halle verminderte sich, Rufe um Rufe wurden laut, und eine klare Stimme tönte bis in den fernsten Winkel des Raumes: --Neunte Konkurrenz: Schwimmen über hundert Meter um die diesjährige Meisterschaft Berlins. Herr Wenzel vom Schwimmklub "Poseidon" schwimmt wegen plötzlich eingetretenen Unwohlseins nicht mit. Ein Murmeln der Überraschung erhob sich auf verschiedenen Seiten. Dann lösten sich aus den dunklen Massen schnell einige helle, nackte Gestalten und sprangen mit kurzem Ruck in das Wasser. Felder hatte kein Wort verstanden. Er fühlte sich plötzlich vorwärts gestoßen und sah, wie der Raum vor ihm frei wurde. Er trat vor. Einen Augenblick--eine kurze Sekunde--stand seine jugendlich-schlanke, ebenmäßige Gestalt allein über dem Bassinrand in der Mitte unzähliger Blicke und überstrahlt von dem grellen Lichte der Bogenlampen, als könne sie sich nicht entschließen, den Sprung zu tun--dann streckte Felder die Arme aus, neigte sich vor und ging mit glattem Sprunge in das Wasser unter sich. Und in demselben Augenblick, als sein heißes Gesicht in die kühle Flut tauchte und seine Hand nach der Stelle des Brettes griff, wo seine Nummer stand, war es ihm, als müsse er aufschreien vor Lust, und er fühlte nichts anderes in dieser Minute mehr, als die maßlose Seligkeit, schwimmen, jetzt losschwimmen zu dürfen!--Endlich im Wasser, war er jetzt wieder Herr seiner selbst und seiner ganzen Kraft, und den Blick geradeaus auf die glatte Fläche vor sich geheftet, hörte er die Stimme des Starters auf dem Sprungbrett über sich: --Sind die Herren bereit?-- Der Platz neben Felder lag leer. Aber dieser hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn schon erklang über ihm wieder die feste Stimme: --Achtung!--...--Fertig! Und sofort danach mit dem gleichzeitigen Schwung der Fahne durch die Luft: --Los!-- Fünf Hände ließen das Brett los, und fünf Gestalten durchschnitten mit rasender Geschwindigkeit das Wasser. Die Musik setzte ein, und es wurde so still unter der ungeheuren Wölbung, daß man außer ihr nur das Rauschen des Wassers unter den peitschenden Schlägen der Arme und Hände vernahm. Eine atemlose Spannung ergriff selbst die Fernsitzenden unter den Zuschauern, und allen teilte sich etwas von der inneren Erregung mit, die von diesem Kampfe ausging. Die erste Länge von fünfundzwanzig Metern wurde fast gleich genommen. Beim Wenden legte der Tritone in weißer Kappe sich vor und blieb so liegen bis rast an das Ende der zweiten Länge, wo er seinen Vorsprung gegen drei Gegner, unter ihnen Felder wieder verlor. Wieder stießen fast gleichzeitig vier der Schwimmer zur dritten Länge ab; der fünfte war zurückgeblieben und blieb es. Die vier Körper lagen nun fast nebeneinander. Bei jedem Stoß verschwanden die Köpfe mit den bunten Mützen unter der Wasserwoge, die über sie wegging; dann sah man, wie sich die Arme wieder hoben, um zu neuem Schlage auszuholen und die Körper, von neuem, mächtigen Stoße der Beine getrieben, vorwärts flogen, als würden sie gezogen... Gegen Ende der dritten Länge schien es, als schwämmen die vier auf einen bestimmten Punkt zu, so sehr näherten sie sich einander. Aber dann gingen sie wieder auseinander und jeder auf seine Nummer los. Wieder erfolgte der Anschlag fast gleichzeitig; doch hatten sowohl die rot-weiße wie die rote Kappe eingebüßt, da ihnen die Richtung ein wenig verloren gegangen war. So kam es, daß Felder zuerst, oder doch fast gleichzeitig mit dem Träger der schwarzen, wenden konnte. Die Musik schwieg plötzlich und die ersten vereinzelten Rufe der Teilnahme und der Ermutigung wurden laut. Auf der Galerie waren die Zuschauer aufgestanden und überall drängten sich die Köpfe so weit wie nur möglich vor. Die Spannung erreichte den höchsten Grad. Die ersten Längen hatte Franz geschwommen wie er immer schwamm: ohne Aufbietung seiner letzten Kraft. Er war so glücklich, schwimmen zu können, daß er fast vergessen hatte, um was es sich handelte. Nun erwachte er plötzlich wie aus einem Traum: er hörte die Rufe und sah dicht neben sich den langen Riesecker, der sich eben wandte und ihm mit dem nächsten Stoß schon voraus war. Da packte ihn eine fürchterliche Wut. Er wußte wieder, wo er war--und tief Atem holend, stieß er sich ab. Ganz einerlei jetzt--ob er siegte oder nicht; aber leicht wollte er jenem den Sieg nicht machen! Er griff in das Wasser und schoß in ihm hin; er kämpfte mit ihm wie mit einem persönlichen Feinde, außer sich vor Wut und Raserei. Die Zuschauer sahen wie sich die zu Anfang der Endlänge nicht mehr gerade Linie der vier Köpfe wieder schloß--wie der zweite dem ersten wieder näher und näher kam und wie sich ihm die beiden anderen zugesellten. In der Mitte des Bassins lagen die Schwimmer fast so wieder zusammen, wie zu Anfang des Rennens. Die Aufregung der Zuschauer stieg ins maßlose. Man rief nicht mehr, man schrie den Schwimmern von allen Seiten zu, und jeder ihrer vier Namen erklang aufmunternd, anfeuernd--drohend von überallher... Franz nahm seine letzte Kraft zusammen. Er hörte und sah nichts mehr. Er wußte nicht mehr, wohin er schwamm, ob er überhaupt noch in einer Richtung ging. Neben ihm peitschte irgend etwas mit beiden Armen wie ein Ertrinkender das Wasser--er sah und hörte nichts mehr. Er fühlte kaum, wie seine Finger das Holz des Brettes berührten... Er wußte nicht einmal mehr, war es nun zu Ende oder nicht... Dann vernahm er das frenetische Jubelgeschrei, das die Halle durchbrauste und das den Tusch der Musik völlig übertönte. Über sich sah er erregte Gesichter und neben sich für einen Augenblick seine Gegner--erschöpft wie er. Wie sie holte er noch einmal tief Atem. Dann tauchte er unter und schwamm mit einem Stoß auf die Leiter zu. Er hatte sich vollkommen ausgegeben, Er hörte nicht, was die Umstehenden sagten. Er hatte nur das eine Bedürfnis sich jetzt hinsetzen zu dürfen. Er drängte sich aufs Geratewohl durch die Menschen, die ihm keinen Platz machten. Man hatte ihm ein Tuch übergeworfen, wie einem Pferde nach dem Rennen die Decke. Er hüllte sich fest hinein, um das Zittern seiner Glieder zu verbergen, und machte sich rücksichtslos Platz. So gelangte er zu dem Raum, wo seine Kleider hingen, und setzte sich, noch immer keuchend, in eine Ecke. Sie drängten sich ihm alle nach, seine Freunde, lachend über seine eilige Flucht und sein böses Gesicht, und versuchten, ihm die Hand zu drücken. Als er sie alle vor sich sah, die bekannten Gesichter, wurde er noch böser: --Aber warum denn?--Ich war doch nicht erster!-- Er sah, wie sie wieder lachten. --Wer denn sonst, fragte Brüning. Franz sah von einem zum andern. Ohne Zweifel, sie lachten ihn aus. Dann erblickte er seinen Schwimmwart und sah ihn an. Und eine Ahnung stieg in ihm auf, daß es wahr sein könne. Wenn Nagel es sagte, dann glaubte er es. Und als auch dieser nickte und sagte: --Mit 2/5 Sekunden etwa... da war ihm, als löse sich von seiner Brust der ungeheure Druck und eilig sprang er auf, um nach seinen Kleidern zu greifen. Hastig riß er Badehose und Trikot herunter und warf sich in seinen Anzug. Um ihn herum ließen die Mitglieder des "S.-C. B. 1879" jetzt ihren Gefühlen freien Lauf. Lebhaft wurde das eben beendete Rennen besprochen. Allgemein stimmte man darin überein, daß es ein ganz außergewöhnliches Rennen gewesen war, "wieder einmal eines von jenen, bei denen alles anders gekommen war..." Am äußergewöhnlichsten sicherlich das Endresultat. Nur einer war ganz zurückgeblieben; einer hatte nicht mitgeschwommen. Die übrigen vier waren fast gleichzeitig durchs Ziel gegangen. Es konnte sich bei ihnen nur um ein paar Sekundenfünftel handeln. Aber Felder hatte unbedingt zuerst angeschlagen. Sie alle hatten es gesehen. Gleich nach ihm hatte Riesecker die Hand angelegt, und es hatte sich vielleicht nur um dies Anlegen der Hand gehandelt; dann Georgy vom "Spree "-Verein, und wieder fast gleichzeitig mit diesem der junge Erstlingsschwimmer Hofstetter, dem das kein Mensch zugetraut hätte. Hoffmann, der berühmte Hoffmann vom "Triton", der Meister des Vorjahres, war überhaupt ganz zurückgeblieben und hatte zu Ende der dritten Länge schon gänzlich ausgesetzt. Das an den Richtertisch gesandte Mitglied, wo unterdessen die Zeit festgestellt und bekannt geworden war, kam zurück und bestätigte fast jede Einzelheit. Die hundert Meter waren geschwommen in der Zeit von 1:23 4/5 bis 1:25 Minuten. Riesecker hatte den zweiten Preis mit 24 1/5; der dritte hatte mit 1:24 3/5 abgeschnitten und mit 1/5 Sekunde später der junge Hofstetter. Der Rekord für Deutschland betrug 1:18 Minuten. Er war also keineswegs erreicht, wie überhaupt in den letzten Jahren nicht mehr. Was aber die Leistung Felders zu einer so außergewöhnlichen machte, war die Jugend des Siegers. Wenn man sie in Betracht zog, war es ein Erfolg, fast einzig in seiner Art. Neueintretende erzählen von der allgemeinen Verblüffung. Der ganze Amateur-Schwimmklub sei in Aufruhr und wolle das Resultat anfechten, da zwischen seinem Mitglied und Felder ein totes Rennen stattgefunden habe: man habe ganz genau gesehen, daß Riesecker und Felder zu gleicher Zeit angeschlagen hätten, und man habe es von ihrem Platze aus besser sehen können, als von dem Tische der Richter. Die Freude der Mitglieder wurde durch die Nachricht von dem Arger der anderen natürlich nur erhöht, und man freute sich im voraus auf die nicht ausbleibenden Reibereien der nächsten Zeit. Nur Franz war merkwürdig still geworden. Jetzt, wo er wirklich diesen so heißersehnten und noch immer unbegreiflichen Sieg sein eigen nannte, erschien ihm so wenig, was er errungen. Die Unruhe und Angst der letzten Zeit waren vorbei. Aber geschwunden war auch zugleich mit ihnen und wie mit einem Schlage das Gefühl des Angespanntseins, das einer inneren Gehobenheit trotz aller Verzagtheit... Was hatte er getan?--Wofür wurde er gelobt?--Er hatte geschwommen, wie schon hundert Male, von Rand zu Rand der Wasserfläche--etwas besser, nicht viel schlechter heute, als sonst. Nur hatte er diesmal etwas getan, was andere nicht gekonnt: um den Bruchteil einer Sekunde, um einen Augenblick früher hatte er die Hand zum Anschlagen erhoben, und diese eine, diese einzige Bewegung der Arme und der Hand erhob ihn plötzlich so, daß ihn alle anstarrten wie ein Wundertier. Wäre er unterlegen, ja, wäre er nur zweiter geworden, kein Mensch würde sich um ihn kümmern, niemand seinen Namen nennen... Außerdem: Wenzel hatte nicht mit geschwommen. Wäre er nicht erkrankt, so hätten sie alle miteinander einpacken und zusehen können! Er wollte wissen, wie er geschwommen hatte. Nagel würde es ihm sagen. Er drängte sich zu ihm, als er fertig war, und ging mit ihm hinaus. Dann hörte er es: "Ein schöner Sieg, weil er so schwer errungen wurde. Wie du geschwommen hast?--Die ersten drei Längen ganz gut. Bei der letzten hast du natürlich den Stil verloren und bist über deine Kräfte hinausgegangen. Sonst hättest du auch nicht gesiegt.--Freu' dich nur ruhig. Wir freuen uns auch." Ja, Franz freute sich, als er dies hörte, und zog sich seine Sportmütze über die noch nassen Haare. Jetzt erst freute er sich _wirklich!_-- Mit den anderen ging er hinaus, und eine Weile noch standen alle in ihrer Ecke der Galerie, wo der Sieger mit neuen Glückwünschen empfangen wurde. Die schwüle Hitze in der Halle hatte noch zugenommen. Der Dunst des warmen Wassers und der vielen Menschen war erdrückend. Überall sah man rote Gesichter, auf denen der Schweiß stand, und alles versuchte die innere Glut mit großen Gläsern Bier zu löschen. Aber noch immer erschienen die Reihen der Zuschauer ungelichtet. Man blieb, weil man einmal da war, oder auch, weil man noch das Wasserpolo und die lustige Pantomime am Schluß nicht aufgeben wollte. Die letzten Rennen gingen unter allgemeiner Interesselosigkeit vorüber. Selbst ein langes, aber vortreffliches Kürspringen vermochte es kaum mehr aufrecht zu erhalten. Wie immer, rächte sich an diesen letzten Nummern die offenbar unvermeidliche Überladung des Programms. In der Ecke der 79er drängte Brüning seine näheren Freunde zum Aufbruch, endlich "dies verfluchte Schwitzbad" zu verlassen. Er könne es nicht mehr aushalten, und wenn sie noch zehn Minuten länger hierblieben, könnten sie es erleben, daß er sich auszog und ins Wasser ging. Er hatte aus Anlaß des Sieges sogleich ein kleines Festessen geplant und den immer bereiten Koepke (der als Belohnung dafür mit eingeladen wurde) in ein benachbartes Weinrestaurant geschickt, wo die Nennung seines Namens und kurze Angaben genügten, um eine gemütliche Nische und ein ausgesuchtes kleines Souper für sechs Personen nach einer Stunde bereit zu finden. Die Geladenen verabschiedeten sich für ein paar Stunden von ihren Leuten und verließen, von vielen Blicken gefolgt, die heiße Halle.-- Bei Tisch herrschte die lebhafteste Fröhlichkeit. Franz saß zunächst dem Gastgeber, neben ihm ein älterer Schwimmer mit großem Namen, und ihm gegenüber sein verehrter Schwimmwart. Er war äußerlich still, wie immer, aber innerlich war jetzt alle Sorge von ihm genommen, und er ließ sich alle die guten und ungewohnten Dinge, die auf den Tisch kamen, mit dem ganzen unverdorbenen Appetit seiner jungen Jahre schmecken. Aber als Brüning zum Schluß, als der Sekt kam, das Glas in die Hand nahm und--halb ernsthaft, halb launig, wie es so seine Art war--eine Rede auf ihn hielt und alle aufstanden, um auf den heurigen und alle künftigen Erfolge mit ihm anzustoßen, da übermannte ihn fast die Rührung über so viel unverdiente Freundschaft. Ein großer Entschluß keimte in ihm auf, und während die anderen schon weiteraßen und weiterlachten, stand er plötzlich auf und sagte geradeausschauend und ganz schnell: --Es lebe der Schwimmklub Berlin 1879. Ich danke ihm, daß er mich aufgenommen hat, und ich werde mich anstrengen, ihm immer so Ehre zu machen, wie heute... Das war ein kurzer Toast, aber ein guter, und alle wunderten sich, daß er ihn so zustande gebracht hatte; Brüning nannte ihn sogar einen Beweis für "die unvermutet glänzende Rednergabe unseres lieben Mitgliedes Franz Felder". Aber das störte diesen nicht weiter, und äußerlich still, aber innerlich glücklich blieb er den ganzen Abend: während der Droschkenfahrt nach dem Lokal, wo die Preisverteilung stattfand; während dieser selbst, als er--noch einmal der Zielpunkt aller Blicke--die silberne Medaille und die Urkunde, die ihn den Meister von Berlin für das kommende Jahr nannte, erhielt; und während der langen Stunden, die sich noch durch die halbe Nacht zogen, als man an den Tischen zu seiten des großen Saales saß, in dem unermüdlich getanzt wurde, und als immer wieder und wieder von allen Seiten alte und neue Bekannte kamen, um mit ihm anzustoßen, zutrinken und ein Wort zu wechseln... Und glücklich war er, als er endlich durch die helle und kalte Winternacht heimwärts ging. Denn wie der Himmel dort oben, so war auch seine Zukunft voll lichter Sterne, und ein jeder von ihnen war ein neuer, ein großer und ein immer größerer Erfolg! 8 Er durfte seinen Sternen vertrauen. Einer nach dem anderen neigte sich gegen ihn und fiel nieder in seine jungen, hoch emporgestreckten Hände--Sieg um Sieg!-- Die Meisterschaff der kurzen Strecke für Berlin hatte Franz Felders Namen mit einem Schlage bekanntgemacht. Jetzt konnte im Klub kaum mehr darüber gestritten werden, wer zu den nächsten Schwimmkonkurrenzen entsandt werden sollte; es handelte sich nur noch darum, an welchen Schwimmen er sich beteiligen konnte, und bei welchen es besser war, von einer Beteiligung noch abzusehen. Das galt natürlich in erster Linie bei den langen Strecken, für die es im Klub kein Mitglied gab, das sich mit den Meistern dieser Jahre über sie hätte messen können. Aber man konnte sich nach dem unverhofften Triumphe seines jungen Mitgliedes jetzt nicht mehr zurückziehen, um so weniger, als man neben Felder einen ausgezeichneten Springer, Grafenberger, herangebildet hatte, der sich auf dem Bundesschwimmen einen zweiten Preis geholt, und auf den man als Springer ebensolche Hoffnungen zu setzen begann, wie auf Felder als Schwimmer. So war der alte Schwimmklub Berlin von 1879 mit einem Schlage wieder in den Vordergrund des Interesses getreten, und seine alten Mitglieder sahen wohl ein, daß sie dem Drängen der jüngeren nicht länger widerstreben durften und konnten, sondern verpflichtet waren, das Eisen zu schmieden, das wieder zu glühen begann. Mit der Hoffnung auf neue, rege Beteiligung an der Öffentlichkeit und mit der begründeten Aussicht auf neue Siege begann sich ein neues, frisches Leben in den Sitzungen, wie auf den Übungsabenden zu entfalten, und nie war der Ton bei den Zusammenkünften so frei und fröhlich gewesen, wie zu Beginn dieses Sommers... Felder übte unablässig. Als der laute Tag vorbeigerauscht war, der ihm seinen so heißersehnten Sieg gebracht, erschien es ihm wieder so wenig, was er getan, daß ein tiefes Gefühl der Unbefriedigtheit ihn fast nicht mehr verließ. Ja, er hatte gesiegt--aber war das ein Sieg gewesen, wie er zu wünschen war?--Weder war seine Zeit eine besondere gewesen, noch sein Stil bis zu Ende rein geblieben; dabei hatte er seine Kraft völlig verausgabt; und endlich hatte Wenzel, der Meistgefürchtete, nicht teilgenommen. Alles das beeinträchtigte den Wert seines Sieges in seinen Augen bedeutend und er war ungeduldig nach neuen Kämpfen. Er übte unermüdlich. Er erreichte es zunächst, die hundert Meter in derselben Zeit, wie auf dem Bundesschwimmen, aber in glatt durchgeführtem Stil zu schwimmen; dann verbesserte er seine Zeit von Woche zu Woche um ein weniges. Als der Frühling kam und die ersten Ausschreibungen für die Sommerfeste erlassen wurden, begann er, das frühere Training für Strecken über drei- und fünfhundert Meter wieder aufzunehmen. Seine Fortschritte setzten selbst seine Klubgenossen in Erstaunen. Sogar Nagel, der ihn unausgesetzt beobachtete, sagte nichts mehr. Nach außenhin bewahrte der Klub absolutes Stillschweigen. Dann kamen die Siege dieses Sommers, einer nach dem andern: er siegte zweimal auf den internen Veranstaltungen seines Klubs gegen seine eigene Mannschaft, war dessen erklärter bester Schwimmer über alle Strecken und in jeder Stilart und verzichtete damit fürs erste auf die Beteiligung an Kämpfen mit seinen eigenen Leuten. Er schlug auf dem schönen Fest des "Delphin" dessen besten Schulschwimmer im Brustschwimmen über 150 Meter; er holte sich ein Diplom in Reinickendorf und einen Ehrenpreis in Halensee. Und er erlebte einen anderen, in seiner Art merkwürdigen Triumph. Er erreichte auf dem diesjährigen großen Verbandsschwimmen im Kochsee, auf dem er zu dem großen 500-Meter-Schwimmen um den Hauptpreis nicht gemeldet war, da diesmal die abmahnenden Stimmen seines Klubs, die vor allzu hastigem Vorgehen warnten, im Übergewicht gewesen waren, er erreichte auf diesem Fest im Juniorenschwimmen über dieselbe Strecke, bei dem er natürlich startete, eine Zeit, die so nahe an die des Siegers im Hauptschwimmen heranreichte, daß alle Gegner schweigen und denen recht geben mußten, die schon für dieses Jahr ungestüm eine Beteiligung Franz Felders an ersten Konkurrenzen gefordert hatten.-- Das war auch ein Sieg, und nicht der schlechteste! Dazu kamen noch in diesem Sommer seine ersten Reisen. Sie wurden über den Sonntag gemacht, da er zur festgesetzten Zeit wieder bei seiner Arbeit sein mußte. Im Fluge hin, im Fluge zurück; oft im Morgengrauen zur Bahn, eine lange Fahrt, ein hastiger Sieg, ein Telegramm an den Klub, und schon wieder zum Bahnhof zurück... Nur einmal konnte er ein paar Tage Urlaub benutzen, um nach Stuttgart zu gehen, wo er zwei Tage blieb. Auf diesen seinen ersten Reisen, die mehr Ausflüge waren, unternommen auf Kosten seines Klubs und stets in Begleitung irgendeines Kameraden, kam er nacheinander nach Magdeburg, Hamburg und Stuttgart und im Spätherbst nochmals nach Hamburg, wo er den schönsten aller seiner bisherigen Siege errang: in dem deutschen Schulschwimmen einen Ehrenkranz mit Gravierung für ein tadellos durchgeführtes Brustschwimmen von hundert Metern gegen und hundert Metern mit dem Strom, bei dem die Art des Schwimmens, nicht nur die Schnelligkeit gewertet wurde. In Stuttgart holte er sich den zweiten Preis im Wettschwimmen über einhundert Meter, in Magdeburg den ersten im Hindernisschwimmen: ein in seiner künstlerischen Ausführung wirklich wertvolles Diplom. Und dann hatte sich Felder im folgenden Winter in seiner Meisterschaft von Berlin im Schwimmerbund über die kurze Strecke zu behaupten: diesmal gegen Wenzel vom "Poseidon" und die besten Berliner Schwimmer, und er tat es in einer Weise, die deutlich zeigte, welche Sicherheit ihm bereits die sommerlichen Siege verliehen hatten--er schwamm die kurze Strecke nicht nur in reinstem spanischem Stil und verbesserte seine eigene Zeit gegen das Vorjahr nicht nur um fast drei Sekunden, sondern er schlug den gefürchtetsten Gegner, der alles daran setzte, die verlorene Meisterschaft wieder zu gewinnen, um eine ganze Sekunde. Zum zweiten Male war er Meister von Berlin geworden. Kaum war ein kurzes Jahr vergangen, und doch: welcher Unterschied zwischen heute und damals! Als er--umstanden von seinen jungen und alten Klubfreunden--sein Trikot überzog und der immer behäbiger werdende Brüning den anderen in seiner spöttisch-gutmütigen Art erzählte, wie sie ihn damals vom Sofa aufgeweckt und den Mutlosen in einer Droschke hierher gebracht, dachte Felder selbst einen Augenblick an die trübe, einsame Viertelstunde, in der er hier allein niedergedrückt bei dem grauen Zwielicht eines trüben Wintertages gesessen, fast verzweifelnd an sich und seiner Zukunft. Heute zweifelte er nicht mehr. Er dachte überhaupt wenig mehr an Siegen und Unterliegen. Die heitere Zuversicht der Ruhe, erworben in so manchen ernsten Kämpfen des letzten Jahres, war über ihn gekommen, und kaum ließ die Erwartung jetzt sein Herz höher schlagen, wenn ein neuer Sieg ihn reizte. Er wußte, er tat, was er konnte, und er tat es in erster Linie für seinen geliebten Klub. Er hatte ihm bereits Ehre gemacht. Er wußte es, und er war stolz darauf. Als das Diplom des Bundesschwimmens, das seinen Namen trug, in dem alten, gemütlichen Klubzimmer der Lindenstraße, wo der Klub nun schon seit fast einem Jahrzehnt tagte, dieser Stätte so zahlreicher, erregter Debatten, so zahlloser freudiger und gehobener Stunden, zwischen der Unmenge Ehrengeschenke und Urkunden vergangener Tage seinen Platz fand, wich zum ersten Male recht eigentlich das Gefühl einer gewissen Fremdheit, das ihn nie ganz verlassen hatte, von ihm: denn jetzt hatte der Arbeitersohn aus dem Osten angefangen, seine Schuldzurückzuzahlen, und man brauchte es nicht mehr zu bereuen, den armen Jungen unter sich aufgenommen zu haben. Und er schwur sich damals und viele Male später, immer und immer wieder zu: ganz und bis aufs letzte die in seinen Augen so unermeßliche Schuld zurückzuzahlen, und vielleicht nicht nur das, sondern dem "S.-C. B. 1879" mit Zinsen und Zinseszinsen zu vergelten, was er an ihm getan. Daher freute er sich an jedem seiner Erfolge, nicht nur für sich, sondern auch für seinen Klub mit. Und so glücklich er auch war, einen Preis nach Hause tragen zu dürfen und die Ehrenzeichen und Medaillen auf seiner Brust sich vermehren zu sehen--lieber war es ihm doch noch und größer seine Siegerfreude, wenn er seine Preise in den Besitz des Klubs übergehen und dort die Wand zieren sah, während ihm selbst nur eine einfache Urkunde--gewissermaßen als Bestätigung--zuteil wurde. So rein und ehrlich war seine Freude, daß er fast noch keine Neider hatte, wenigstens nicht unter seinen Leuten. Er war noch ganz der, als den sie ihn damals aufgenommen hatten, wenn er auch äußerlich ein junger, eleganter Mann geworden war, der es lernte, Wert auf sein Äußeres zu legen. Auf seinen Lippen zeigte sich der erste Flaum, aber sein Körper--obwohl Felder auch im letzten Jahre tüchtig in die Höhe geschossen war--zeigte noch immer die unentwickelte Formen des Knaben, und wenn er an den Start ging, verschwand seine Gestalt fast neben denen der anderen. Wer ihn nicht kannte, prophezeite ihm vor seinen meist voll entwickelten, muskulösen Gegner sicher nicht den Sieg, bis er ihn mit kurzen und sicheren Schlägen das Wasser teilen und den schmächtigen Schwimmer schnell allen vorauseilen sah. Diese Liebe zu seinem Klub, diese fast kindliche Freude an seinen ersten Triumphen, diese so bescheidene und doch selbstbewußte Zurückhaltung und Ruhe, die Felder eigen war, erhöhte seine Beliebtheit im Klub von Tag zu Tag; und wann immer er kam, woran er auch teilnahm, stets war er gern gesehen und fühlte sich mehr und mehr heimisch in diesem Leben, das mehr als je fast jede seiner nicht der Tagesarbeit gewidmeten Stunden in Anspruch nahm. Noch immer waren und blieben die besten seiner Freunde die alten: Nagel, der treue und ernste Berater; Brüning, dessen ausgesprochener Schützling er blieb und der, so oft er nur konnte, den Unerfahrenen auf seinen Reisen begleitete und natürlich stets alles zahlte; und Koepke, der Unzertrennliche, sein Schatten, der bei jedem neuen Siege von neuem aus dem Häuschen geriet und ihm Erfolge voraussagte, über die Felder selbst einstweilen nur lächelte. Aber auch an manchen anderen Klubgenossen hatte er wahre und aufrichtige Freunde, die verlernt hatten, sich an seiner Schwerfälligkeit und Wortkargheit zu stoßen und ihm näher standen, als Felder es selbst wußte. Und noch eines trug dazu bei, seine Beliebtheit zu erhöhen: trotz seiner erstaunlichen Fortschritte und der in Anbetracht seiner Jugend außergewöhnlichen Siege drängte er sich doch nie zu den Konkurrenzen, und immer war es der freie Entschluß seines Klubs, der ihn--vor der von Brüning und einigen anderen gelenkten Majorität sich beugend-- hinaussandte. So ließ er sich ruhig mitnehmen in die fremden Städte, überwand schnell das anfängliche Unbehagen der hastigen und überstürzten Fahrten, und tat sein Bestes, sich für die Kämpfe möglichst frisch zu erhalten, indem er geduldig die Ratschläge seiner Begleiter über sich ergehen ließ und aß und schlief, wenn diese es für nötig erachteten, und nicht, wenn er hungrig und müde war. Die Reisen selbst interessierten ihn wenig: er sah wohl hier und da eine Sehenswürdigkeit der fremden Stadt, wenn es zufällig eine freie Zwischenstunde erlaubte, auch machte das neue und bunte Hafenleben Hamburgs einigen Eindruck auf den Binnenländer, aber im allgemeinen drehten sich seine Erinnerungen an diese Reisen doch nur um deren Zweck und Ziel: um die Wettläufe am Nachmittag und die Preisverteilung am Abend, und die glichen sich alle mehr oder minder, mochte es nun in Hamburg sein oder in Stuttgart oder Berlin. Aus diesem Jahre, vielleicht dem glücklichsten seines kurzen Lebens, stammte eine Photographie, auf der er sich zum ersten Male bildlich im Schmucke seiner Siegeszeichen zeigte. Die kleine, braune Rettungsmedaille war fast nicht mehr sichtbar unter den sechs bis sieben großen Silbermünzen, die bereits eine ganze Reihe auf der linken Brustseite bildeten; und um den Hals trug der junge Meister bereits das breite Band mit der kleinen, vergoldeten Medaille, das in leuchtenden Buchstaben den frühen Ruhm seines Trägers verkündete. Als der "Welt-Sport", das berühmte und angesehenste Sportblatt der ganzen Welt, Felder um sein Bild bat und es zu Ende dieses Winters seinen Lesern zeigte, schrieb es dazu: "Wenn wir heute--entgegen unserer sonstigen Gewohnheit--unseren Lesern das Bild eines jungen Schwimmers zeigen, dessen Name, obwohl bereits rühmlich bekannt in seinen Kreisen, doch noch keine eigentlich nationale Geltung erlangt hat, so tun wir es in der sicheren Überzeugung, daß der Name Franz Felder eines, vielleicht nicht einmal fernen Tages über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus genannt werden wird. Was uns zu diesem Ausspruch treibt, sind nicht so sehr die in Anbetracht seiner Jugend allerdings außergewöhnlichen Leistungen und staunenswert schnellen Fortschritte dieses Schwimmers, sondern vor allem die Beobachtung der ganz nur auf ein Ziel gerichteten Energie dieses jungen Mannes, mit der er von früh auf sich selbst gesteckte Ziele rastlos und unbekümmert zu verfolgen scheint... Wir wüßten unter allen deutschen Schwimmern der jüngeren Generation keinen, der uns so zu den höchsten Hoffnungen berechtigt erscheint, wie Franz Felder, der Meister von Berlin über die kurze Strecke der letzten beiden Jahre..." Als an einem Sitzungsabend des Klubs die Nummer herumgereicht und von allen Seiten mit launigen und spöttischen Bemerkungen über den Schreiber begleitet wurde, war es wieder nur Nagel, der ernst blieb. Indem er verstohlen das Bild mit dem ihm seit Jahren bekannten Gesicht verglich und Zug für Zug hier wiederfand, was er dort so gut kannte: die niedrige, trotzige Stirn, den Mund mit den ausdrucksvollen, gewölbten Lippen, das energische Kinn und die oft so unnatürlich ernsthaft blickenden blauen Augen mit den scharf gezogenen Brauen darüber--da mußte er innerlich dem gewiegten und in allen Lebenssätteln gerechten Menschenkenner des großen Sportsblattes recht geben und seiner Beobachtungsgabe Bewunderung zollen. Aber was jenen, den gleichgültigen Kritiker, so zu überschwänglichen Prophezeiungen begeisterte, erfüllte ihn mit heimlich-banger Sorge um seinen Schützling. Er sprach nicht aus, was er dachte. Man würde ihn mitverlacht haben. Denn für die meisten anderen lag alles dies, was er in diesem Augenblick in voller Schärfe sah, noch verborgen unter der Weichheit der Jugend, die in diesen Zügen noch nichts Hartes hervortreten ließ, und gerade in dieser Stunde, in diesem lustigen Kreise, unter diesen ihm so vertrauten und lieben Menschen, kam alles, was in Felders Natur an unbekümmerter Fröhlichkeit, an sich und anderen vertrauender Güte und natürlicher Liebenswürdigkeit lag, hervor. Mit den anderen lachte er über die Überschwänglichkeiten des Reporters, denn wenn je in ihm die Stimme des Ehrgeizes geschwiegen hatte, so rat sie es jetzt. Seine ersten Siege hatten ihn beruhigt. Wenn es so leicht war, zu siegen--nun, dann wollte er noch oft siegen. Aber wozu darüber nachdenken?--Das würde alles schon kommen, wie es kommen sollte. Für ihn war die Hauptsache, daß er seinem Klub Ehre und Freude machte. Hier hatte er die Heimat seiner knabenhaften Wünsche gefunden, und hier wollte er bleiben. Sein Klub würde ihn leiten und ihm sagen, wie weit er zu gehen, wo er stehen zu bleiben hatte. Er vertraute sich ihm ganz. Er war ganz ruhig, ganz sicher, ganz glücklich. Er hatte ein großes Vertrauen in seine Kraft gewonnen. Denn er fühlte sie wachsen von Tag zu Tag, von Tag zu Tag! 9 Sie waren eine glückliche Zeit für den jungen Schwimmer--die Jahre dieses rapiden, sicheren und doch nicht überhasteten Aufstiegs. Aber nie schien ein Sommer in Franz Felders Leben so voll Sonne zu werden wie dieser nächste, der seines achtzehnten Lebensjahres, in dem er seine Lehrzeit beendete und in dem er in einer Fülle anderer erstklassiger Siege, die sich Schlag auf Schlag in fast beängstigender Schnelle folgten, auch seine erste, ganz große Meisterschaft und mit ihr die große goldene Medaille erfocht: die Jahresmeisterschaft von Deutschland über die große Strecke von tausend Metern--den schönsten und reinsten aller seiner bisherigen Siege. Der Wunsch, sich an diesem höchsten Wettkampf zu beteiligen, um den alle ersten Schwimmer Deutschlands Jahr für Jahr mit ihrem besten Können rangen, hatte lange in ihm gelegen, bevor er sich hervortraute. Die kurze Strecke, über die er sich Meister fühlte, reizte ihn schon nicht mehr. So kam es, daß er sich mehr und mehr auf die langen Strecken legte und im Frühjahr dieses Jahres wochenlang überhaupt nur noch über tausend Meter trainierte, bis er auch hier Zeiten erreichte, die sich kühnlich neben anderen sehen lassen konnten. Aus dem unübertrefflichen Flieger war ein ausgezeichneter Steher geworden. Als daher die Beratungen über die jährliche Beteiligung begannen, konnten die schwachen und vereinzelten Einwände meist älterer Mitglieder gegen ihn nur seiner Jugend gelten, und sie wurden von dem allgemeinen lebhaften Verlangen des Klubs nach neuen und größeren Siegen auf neuem Gebiet glatt überstimmt. Das große Schwimmen des "Allgemeinen Deutschen Schwimmverbandes" sollte in diesem Jahre besonders großartig ausgestaltet werden, jede Art von Konkurrenz im Schwimmen, Springen und Tauchen umfassen und sich über zwei ganze Tage erstrecken, einen Sonnabend und einen Sonntag im Juli. Als Ort war diesmal Grünau gewählt, der allbekannte Sportplatz an der Dahme, der "wendischen Spree", dem Heim der großen Regatten. Seit Jahren waren keine zahlreicheren und bedeutsameren Meldungen aus allen Orten Deutschlands eingetroffen, und die gesamte Schwimmwelt blickte den entscheidenden Tagen mit außergewöhnlicher Spannung entgegen. Der "Schwimmklub Berlin 1879" hatte neben Felder, der am ersten Tage in einem 200-Meter-Schwimmen, am zweiten sich an dem großen Schwimmen beteiligen sollte, seinen ausgezeichneten Springer, Grafenberger, und zu den kleineren Wettkämpfen mehrere verheißungsvolle Kräfte gemeldet, so daß er schon nach der Zahl seiner Meldungen im Vordergrund des Interesses stand!-- Der Eröffnungstag, der Sonnabend, war nicht vom Wetter begünstigt und verlief auch sonst unbefriedigend. Grafenberger hatte seinen schlechten Tag, und sogar Felder holte sich nur einen zweiten Preis, indem er gegen den Meisterschwimmer Westdeutschlands aus Frankfurt über die 200-Meter-Strecke unterlag. Man trennte sich unter strömendem Regen früh, um sich zu dem Haupttage durch ausgiebigen Schlaf zu rüsten. Um so zahlreicher und auserlesener war am Sonntag die Zuschauermenge, die in dichten Reihen die Holzbänke an dem sanft aufsteigenden Ufer zu vielen Hunderten schon vor der angesetzten dritten Stunde des Beginnes besetzt hielt, während von einem wolkenlosen, blauen Himmel die Sonne in vollster Pracht auf Wasser, Wälder und sie, die Menschen, herniederstrahlte. Fast alles, was in der Welt des Schwimmsports einen Namen hatte, war vertreten. Man sah mehr bunte Mützen und Farben als je zuvor, und aus der Zahl der Zuschauer und der Vertreter und Deputierten öffentlicher Behörden konnte man ersehen, welchen Aufschwung das Schwimmwesen in den letzten Jahren genommen und wie sehr es an Interesse in weiteren Kreisen gewonnen haben mußte. Von Anfang an wurden alle Rennen mit allgemeinster Aufmerksamkeit verfolgt, und selbst solche, die sonst nur Ermüdung und Langeweile bei den Zuschauern hervorzurufen pflegten, wurden mit Beifall begleitet. Als dann aber das Hauptschwimmen kam, als die schlanke, ebenmäßige Gestalt Felders die Flut mit der Regelmäßigkeit und Kraft eines Dampfers durchschnitt, als er erst den bestaunten Koloß der Hamburger, dann den Meister der langen Strecke von Süddeutschland, endlich in der letzten Länge auch den bisher als unbesieglich geltenden Karl Becker, den Sieger des Vorjahres, hinter sich ließ und vor allem ebenso ruhig aus dem Wasser stieg, wie er hineingegangen war, da löste sich die aufs höchste gestiegene Spannung in einem nicht endenwollenden Jubel. Es war ein Sieg, so rein und schön erfochten, daß jedes Mäkeln und Deuteln vor ihm verstummte; und so einfach und ungezwungen war die Haltung des Siegers (als habe er das Selbstverständlichste der Welt getan), daß man nicht anders konnte, als ihn bewundern und lieben zu gleicher Zeit. Felder konnte sich vor den Beglückwünschungen kaum retten. Da es ihm bei seiner Schwerfälligkeit noch immer lästig war, vor so vielen fremden Menschen Rede und Antwort zu stehen, suchte er sich ihnen möglichst bald zu entziehen. Heute hatte er einen guten Grund. Seine ganze Familie hatte heute ausnahmsweise "nach Grünau hinausgemacht", um "einmal zu sehen, auf welche Weise er denn zu all diesen schönen Geschenken und den Medaillen käme". Franz hatte zuerst protestiert. Was fiel ihnen plötzlich ein?--Er wollte sie nicht da haben. Sie sollten ihre eigenen Wege gehen, wie er die seinen ging. Aber er konnte ihnen schließlich nicht verbieten, unter den Zuschauern zu sein und zuzusehen. So hatte er ihnen denn möglichst gute Plätze verschaffe und im benachbarten Restaurant einen großen Tisch am Wasser belegt. "Einen recht großen, denn es würden noch mehrere dabei sein", meinte sein Vater. Jetzt kam ihm diese ganze Familiengeschichte gerade recht, um sich auf eine Stunde den anderen zu entziehen. Auch war er ganz zufrieden, daß die Seinen nun endlich einmal gesehen hatten, was aus ihm geworden war, wenn sie auch nicht viel davon verstanden. Denn mehr als je zerfielen für ihn die Menschen in die zwei Klassen: in die, die schwimmen konnten, und in die, die es nicht konnten... Als er--die Brust bedeckt mit seinen Siegeszeichen--an den Tisch trat, fand er auch bereits seine Familie fast vollzählig vor: die Geschwister, verheiratete und unverheiratete, waren da, die Kinder der ersteren und andere Verwandte. Außerdem befreundete Familien, von denen er nur einzelne Mitglieder kannte--alle bunt durcheinander. Man hatte ihm einen Ehrenplatz oben am Tische aufgehoben. Er sah sich flüchtig um. Zu seiner Linken saß ein junges Mädchen, das ihm fremd war, zur Rechten seine alte Mutter. Ein paar Plätze von ihm entfernt machte sich ein beleibter Herr mit einer mächtigen Bowle zu schaffen. Überall bekannte Gesichter. Franz nickte seiner Mutter zu. Mit einem schwachen und seltenen Versuch, zu scherzen (sein neuer Sieg hatte ihm Mut gemacht) meinte er: --Na, Mutter, heute ging es ja noch mal gut; aber das nächste Mal ertrinke ich dann sicher.--Die alte Frau glaubte nämlich noch immer, ihr Franz müsse eines schönen Tages seinen Tod im Wasser finden. Ins Wasser gehen bedeutete für sie, sich ganz unnötigerweise einer Gefahr aussetzen; und wenn sie in letzter Zeit auch begriff, weshalb ihr Sohn das tat--denn er brachte doch die schönen Preise nach Hause--so war sie doch immer noch nicht aller Sorge ledig. So antwortete sie denn nur: --Wenn du auch schwimmen kannst, ertrinken kannst du doch!... Man lachte sehr über ihre Antwort, und Franz lachte mit, obwohl er sich ein wenig über das Unverständnis der alten Frau ärgerte. Da hörte er sich plötzlich von links her angesprochen: --Kennen Sie mich denn wirklich nicht mehr, Herr Felder?-- Er sah seine Nachbarin überrascht an. Schon als er sich setzte, war sie ihm aufgefallen, und er hatte gedacht, wer sie wohl sei. Sie war noch ganz jung, etwa in seinem Alter, und sehr elegant gekleidet: ein weißes Sommerkleid mit rotem Besatz, ein großer Strohhut, blonde Haare und ein Stumpfnäschen, sehr hübsch und schon recht selbstbewußt--so kam sie ihm vor. Er sah ihr nun gerade ins Gesicht; dann sagte er aufs Geratewohl: --Aber gewiß, Fräulein, voriges Jahr auf dem Bundesfest... Er hatte sie nie gesehen. Es kam überhaupt selten vor, daß er mit Damen sprach. Höchstens auf den Vereinsvergnügungen oder auf den Schwimmfesten, wo er von den Damen, die den Sieger in der Nähe sehen wollten, zum Tanze geholt wurde, machte er eine flüchtige Bekanntschaft. Sie lachte laut. --Nein, sagte sie, es ist viel länger her... --Viel länger her?-- Er wußte nicht, was sie meinte. Er wußte es wirklich nicht, soviel er sie auch ansah. Sie lachte noch immer; dann kam sie ihm zu Hilfe. --Na, wir haben doch immer zusammen gespielt, als wir noch Kinder waren. Wissen Sie denn nicht mehr, in der Fruchtstraße, im Hof, da wohnten wir doch. Vatern gehörte doch dazumalen das Haus... Ja, jetzt erinnerte er sich dunkel, aber auch nur ganz dunkel. So oft, wie sie sagte, "immer", konnten sie übrigens nicht zusammen gespielt haben, denn er war doch meist fort gewesen, am Wasser. Aber daß sie sich als Kinder gekannt hatten, war schon richtig, denn er erinnerte sich jetzt sogar ihres Namens: Elise Heinecke. --Na, Sie hätte ich aber nicht wiedererkannt, Fräulein Heinecke! --Ja, glauben Sie, ich Sie?--Aber als wir neulich Ihren Namen im "Morgenblatt" lasen, meinte Vater, ob das wohl dieselben Felders sind, die dazumal in der Fruchtstraße bei uns gewohnt haben; und da er doch alles kennt, ist er denn gleich zu dem Herrn Faßbender, was doch der Vorsitzende von Ihrem Verein ist, gegangen, und der hat ihm gesagt, wenn wir uns überzeugen wollten, brauchten wir nur heute nach Grünau zu machen, da würden wir Sie schon in Ihrem Glänze sehen. "Machen wir!" sagte Vater, und auf dem Bahnhof haben wir denn auch gleich Ihre Eltern getroffen. Nein, können Sie aber schwimmen! Die letzte Bemerkung machte Franz warm. Überhaupt, er wußte nicht, was es war, aber sie gefiel ihm ausnehmend. Es war so leicht, sich mit ihr zu unterhalten. Sie fragte und verstand immer Dinge zu fragen, auf welche er Antwort zu geben wußte. Und wenn er keine gab, so sprach sie gleich weiter und nahm es nicht weiter übel. Das Schwimmen war vorüber, und der große Garten füllte sich bis auf den letzten Platz mit Sportsfreunden und Zuschauern. Überall an den Tischen gruppierten sich die durstigen Mitglieder der vielen Vereine und ihre zahlreichen Angehörigen. Ganz dicht am Wasser an der anderen Seite hatte sich der S.-C. B. 1879--heute der Mittelpunkt aller anderen--einen langen Tisch reserviert. Als Felder, bereits von allen Seiten vermißt, von seinen Leuten gefunden und fortgeholt wurde, war er erstaunt, zu hören, wie schnell die Zeit vergangen war. Er mußte versprechen, nach der Preisverteilung wiederzukommen, um teil an der Bowle zu nehmen, und der alte Heinecke, stolz auf sein gelungenes Werk, sagte ihm mindestens dreimal, sie sei nur ihm zu Ehren angesetzt. Wichtiger aber war für Franz, was auch die Tochter sagte, als er ging: "Ja, Herr Felder, kommen Sie bald wieder. Sie müssen mir noch viel über Ihre Siege erzählen." Er dachte an sie, als er unter seinen Freunden saß, und zum ersten Male, solange er denken konnte, hätte er eine andere Gesellschaft als die seines Klubs vorgezogen, und immer wieder blickte er nach dem Tische hinüber, von wo ein weißes Kleid wie grüßend zu ihm herüberschimmerte. Als jedoch die Preisverteilung in dem großen Saale des Restaurants stattfand, als er aus den Händen des ersten Verbandsvorsitzenden die schöne große Medaille von Gold erhielt und ihm das breite, dreifarbige Band, an dem sie hing, um den Hals gelegt wurde, als an sein Ohr die Worte schlugen, die ihm galten--: "Wohl noch nie ist ein Sieg, wie der heutige, von einer so jungen Kraft errungen worden. Was aber seinen Wert noch erhöht, ist die tadellose Art, in der er gewonnen wurde. Indem ich Ihnen, Herr Franz Felder, daher hiermit den großen Preis Ihres Sieges, den von allen deutschen Schwimmern am heißesten begehrten, überreiche, kann ich keinem anderen Wunsche Ausdruck geben als dem: Möchten alle Ihre künftigen Siege, mein junger Meister von Deutschland, so rein und schön sein wie dieser heutige..."--als diese Worte an Felders Ohr klangen und ihn dann wieder der ungezügelte Jubel des ganzen Saales umtoste, da hatte er alles, alles in der Welt vergessen, bis auf seinen geliebten Sport, und nur ein Wunsch, eine Sehnsucht hielt ihn wieder gefangen: sich immer würdig zu zeigen der hohen und großen Ehre dieses Tages. So sehr hatten ihn die einfachen, warmen Worte des alten Herrn ergriffen, daß er lange Zeit brauchte, um sich zu sammeln. Jeder wollte mit ihm sprechen, jeder ihn und sein Ehrenzeichen sehen. Man zog ihn an diesen Tisch und an jenen, überall wurden ihm offene Hände und gefüllte Gläser entgegengestreckt; er mußte antworten, anstoßen und mittrinken, und als er sich endlich seines Versprechens erinnerte und an den Tisch zurückkehrte, wo ihn die Bowle, seine Familie und ein junges Mädchen erwarteten, da begannen bereits die ersten Schatten des Abends zu fallen. Wie er sie wiedersah, war er gleich wieder in dem Bann dieser braunen, lustigen Augen. Er nahm die Glückwünsche seiner Familie und eine lange, schwülstige Rede des dicken Hausbesitzers hin, weil es so sein mußte, aber er sprach fast nur mit ihr. Sie schmollte erst ein wenig mit ihm, daß er nicht eher gekommen war, aber sie begriff doch, daß er an einem solchen Tage viele Verpflichtungen habe; denn wenn sie auch, wie sie lachend meinte, wohl seine älteste Bekannte hier im Garten sei, so kannten ihn doch alle anderen besser als sie. Sie erzählte ihm, wie sie im Saale gewesen sei und ganz dicht bei der Tribüne gestanden habe, so daß sie jedes Wort gehört habe. Sie bewunderte nach Gebühr seine neue Medaille und las Wort für Wort die Inschrift auf dem Bande, wobei sie es, wie liebkosend, durch die Hand gleiten ließ. Dann kam sie auf die vorhin unterbrochenen Erklärungen seiner anderen Preise zurück, und von neuem mußte Franz ihr Herkunft und Bedeutung eines jeden erklären. So erfuhr sie von allem, was seinem Leben bisher Inhalt und Wert gegeben, und es schien sie aufrichtig zu interessieren, so daß sich Felder sagte: das ist nicht nur ein schönes, sondern auch ein kluges Mädchen. Später gingen sie miteinander durch den Garten, und wieder stellte sie Fragen, die zu beantworten ihm Freude machte. Sie wollte wissen, wer die an diesem und die an jenem Tische waren, ob es befreundete oder fernstehende Vereine waren. Sie fragte nach den Namen von solchen, deren Brust sie, wie die seine, mit Preisen bedeckt sah.-- Waren es Springer oder Schwimmer, wie er?--Hatte er schon mit ihnen gekämpft und hatte er sie geschlagen? Es machte ihr offenbar Freude, so an seiner Seite durch die Reihen der Tische zu gehen, zu sehen, wie Felder überall von Grüßen und Zurufen begleitet wurde, und dabei mit angesehen zu werden. In demselben Saale, in dem die Preisverteilung stattgefunden, wurde jetzt getanzt. Als sie hörte, daß er zwar etwas tanze, sich aber nichts daraus mache, meinte sie auch, es könne kein besonderes Vergnügen sein, in dem heißen und überfüllten Räume sich herumzudrehen, wo es doch draußen jetzt so schön kühl geworden sei. Die Bowle war fast geleert, und überall im Garten brannten die Lichter, als sie von ihrem Rundgang an ihren Tisch zurückkehrten. Man war natürlich wieder dagewesen und hatte nach Franz gefragt. Die alten Leute waren müde geworden und wollten nach Hause. Die Kinder schliefen schon zum Teil, und man brach auf, da man dem kolossalen Gedränge der letzten Züge und der Gefahr, überhaupt nicht mehr mitzukommen, entgehen wollte. So brach die ganze Gesellschaft zusammen auf. Franz wollte sie noch bis zum Bahnhof begleiten, bevor er sich endlich wieder zu seinen Kameraden gesellte. Man ging in einer langen Reihe durch den Kiefernforst zu der etwa zehn Minuten entfernten Station. Es kam wie von selbst, daß der junge Mann und das junge Mädchen die letzten wurden. Als die Lichter der Häuser in Grünau hinter ihnen lagen, umgab sie die Dunkelheit des Waldes, und sie konnten nur noch die Zurufe der vor ihnen Gehenden hören, ohne die Gestalten mehr recht zu unterscheiden. Die beiden gingen dicht nebeneinander, so schmal war der Weg. Unsicher über seine Richtung in dem tiefen Dunkel unter dem dichten Nadelholz, kam es, daß sie sich berührten, wenn sie ihn mit ihren Schritten suchten. Sie war Stumm geworden, und er, nicht mehr von ihr gefragt, wußte nicht, was er sagen sollte. Sie mußten ziemlich weit zurückgeblieben sein, denn das Sprechen und das Gelächter der Ihren tönte zu ihnen zurück wie aus weiter Ferne. Wieder stießen sie in der Dunkelheit aneinander, und er hörte, wie sie lachte. Ihr Lachen machte ihm Mut, und er fragte: --Soll ich Ihnen nicht meinen Arm geben, Fräulein? Sie werden sonst noch fallen. --Nehmen Sie mich bei der Hand, gab sie zur Antwort, und er fühlte ihre weichen, warmen Finger in den seinen. Und dann--wie es kam, wußte er nicht--blieben sie beide stehen. Er legte seinen Arm um ihre Taille und beugte sich nieder, um sie zu küssen. Er stieß erst gegen ihren breiten Sommerhut, berührte ihre Wange und küßte sie dann mitten auf den Mund. Sie hielt ganz still. Dann sagte sie nur: --Aber nicht doch, Herr Felder...-- Aber sie ließ seine Hand nicht los, und nach einigen Schritten blieben sie wieder stehen. Diesmal brauchte er nicht zu suchen, denn sie hob das Gesicht zu ihm empor, und er küßte sie wieder und wieder und wieder, und er täuschte sich nicht, wenn er fühlte, wie ihr Mund seinen Mund immer von neuem suchte. Endlich aber wich sie von ihm zurück. --Wir müssen uns eilen, sagte sie hastig und eindringlich, die anderen müssen schon am Bahnhof sein. Sie gingen Hand in Hand so schnell wie möglich, aber keines von ihnen sprach ein Wort. Sie war es, die vorwärts trieb. Bevor sie in die vor ihnen heller und heller aufleuchtenden Lichter hinaustraten, suchte er sie noch einmal an der Hand zurückzuhalten. Aber sie sagte: --Nein, nein. Wir müssen uns eilen.--Und sie gingen weiter. Sie wurden von der ganzen Gesellschaft gesehen, wie sie aus dem Walde traten. Sie warteten alle vor dem Bahnhof auf den Abgang des Zuges. Der alte Heinecke machte ein böses Gesicht und ging auf seine Tochter zu. Man suchte den Wartesaal auf. Der Zug hatte natürlich Verspätung. Dort, in der gräßlichen Enge und Hitze des vollgedrängten Raumes, suchte sich Felder dem Mädchen vergebens noch einmal zu nähern. Nur, als endlich alle auf den Bahnsteig strömten, gelang es ihm, ihr noch einige Worte zu sagen: --Sie werde doch ganz sicher in acht Tagen auf das Kochseefest kommen?--Vater sei sehr böse, flüsterte sie zurück,--aber sie wolle sehen... Der Ausdruck ihres Gesichtes erschien ihm ganz verändert, wie sie an ihm vorbeiging. Alle Freundlichkeit schien aus ihm geschwunden; es war eine ganz andere als die, welche er noch eben in seinen Armen gehalten. Als sie alle in dem bereits überfüllten Zuge untergebracht waren--die einen hier, die anderen dort, aber alle auseinander gerissen--und er Eltern und Verwandten Adieu gesagt, suchte er sie noch einmal mit den Augen. Aber er fand die Abteilung nicht mehr, wo sie eingestiegen war. Eilig ging er den Weg zum Garten zurück. Er fühlte sich so leicht und glücklich wie nie zuvor in seinem Leben. Als er unter seine Freunde trat, wurde er mit Jubel, aber auch mit unmutigen Bemerkungen über sein Fernbleiben empfangen. Ob er wohl lange genug Familie gesimpelt habe?--Und ein anderer rief über den Tisch hin: --Laßt ihn, Franz hat eine Braut...-- Felder kümmerte sich um nichts, sondern griff nach einem Glase. Er war durstig, durstig und glücklich, und er wurde selbst nicht böse, als ihm ein Dritter in täppischer Vertraulichkeit zuflüsterte: --Du, die kleine Heinecke mußt du dir festhalten. Der Alte hat Moneten wie Heu. Zwei Holzplätze im Norden... Ob er sich wohl _darum_ gekümmert hatte!--Er wußte nicht einmal, was der Alte war. Aber das hatte er sich schon gedacht, daß die Bemerkungen nun nicht ausbleiben konnten. Ein Übermut ergriff ihn, der ihm sonst ganz fremd war. Er hörte nicht, was die anderen sagten. Er lachte und trank und ließ sie reden. Ein schönes Mädchen, ein kluges Mädchen, und wie sie küssen konnte!... Es war ein wunderbarer Sommerabend, weich und warm. Die breite Wasserfläche lag still und schwarz und nur vom anderen Ufer her blinkten noch einige Lichter. Die Bänke und Tische wurden leerer und leerer. Aber noch gegen Mitternacht, als sich der Schwarm verlaufen hatte, kamen an dem Tische der 79er einige der angesehensten Sportkameraden zusammen, um unter sich bei einem letzten Glase nochmals den Sieg des heutigen Tages zu feiern, und unter allen Ehrungen dieses und aller vorhergehenden Feste war keine schöner und wertvoller für den jungen Sieger als die einfache und neidlose Bewunderung, die ihm die Besten ihrer Kunst in dieser späten Stunde darbrachten, indem sie sich zu ihm gesellten. Wieder wurde er ganz der Schwimmer, der er mit Leib und Seele war, und wieder fühlte er sich hier, nur hier unter den Seinen, zu Hause wie sonst nirgends auf der Welt. Erst als sie lange nach Mitternacht Brünings Motorboot bestiegen und das sicher gelenkte, elegante Fahrzeug lautlos an den flachen Ufern vorüberglitt, während sich die Müdigkeit über die in den Ecken Hockenden und Liegenden breitete, kehrten seine Gedanken noch einmal zu dem jungen Mädchen zurück, das er heute in seinen Armen gehalten und das seine Küsse so willfährig und so innig erwidert hatte, und er konnte in dieser stillen Stunde dem sehnsüchtigen Wunsche nicht wehren, nur noch einmal wieder diese Lippen mit den seinen zu berühren, diese weichen Lippen, die so verständnisvoll zu fragen, so freundlich zu lächeln und so heiß zu küssen verstanden. 10 Acht Tage später schwamm er auf dem Feste des "Deutschen Wettschwimmkartells". Zum ersten Male, solange Felder sich an den Kämpfen beteiligte, waren seine Gedanken nicht ganz und ungeteilt bei seiner Aufgabe, obwohl es durchaus kein sicheres Schwimmen für ihn war. Es galt einen vielbegehrten Wanderpreis, der erst nach dreijährigem, Jahr auf Jahr errungenem Siege in den Besitz des Klubs überging, den Preis der Stadt Charlottenburg, zum zweiten Male zu gewinnen, und Felder wußte ganz gut, daß sein großer Sieg des letzten Sonntags die Gegner nur noch hitziger gemacht hatte. War doch der Sieger des vorletzten Jahres, Biedermann vom "Ersten Charlottenburger Schwimmklub", unter seinen Gegnern und brannte darauf, ihm heute den bereits einmal erstrittenen, dann wieder verlorenen Preis seiner eigenen Stadt streitig zu machen. Er wußte also gut, daß er sich zusammenzunehmen hatte. Aber er konnte nicht so ruhig sein wie sonst. Immer wieder überflog sein Auge die Menschenmengen, die an dem abgegrenzten Ufer des Wassers langsam die Zuschauerreihen der Bänke zu füllen begannen, ohne unter ihnen das weiße Kleid mit dem roten Besatz und den großen Hut erkennen zu können. Selbst als sein Schwimmen begann, und er an den Start ging, suchte noch sein Blick in dem dichten Gewühl eine Gestalt zu unterscheiden, ohne daß es ihm gelang. War sie gekommen, wie sie versprochen? Oder nicht? Er dachte immer wieder daran, als er im Wasser lag und die ersten Längen schwamm. Und so kam es, daß er in der Mitte der vierten plötzlich dicht vor sich den Charlottenburger und neben sich einen zweiten Gegner sah, von dem er nicht einmal wußte, wer es war, so wenig hatte er die Konkurrenzen im Gedächtnis. Ein gewaltiger Schrecken durchfuhr ihn. Mit mächtigem Schlage ausholend, ließ er den neben ihm Liegenden hinter sich, erreichte Biedermann, schlug kurz vor ihm an und glaubte gesiegt zu haben. Aber während er sich ruhig an dem Balken hielt und den Abstieg suchte, sah er zu seinem grenzenlosen Erstaunen alle beide, erst den einen, dann auch den anderen, die neue Länge beginnen--und als es ihm plötzlich klar wurde, daß er sich um eine ganze Länge geirrt hatte, waren sie ihm bereits um ein paar Meter voraus und die übrigen teils schon neben ihm, teils ebenfalls am Ende dieser Länge. Da aber hatte Felder auch alles andere vergessen, und sich fest auf die Seite legend und tief Atem holend, sah und dachte er jetzt nur noch eines: sein Ziel!--Wäre die Länge 75 statt 100 Meter gewesen, es wäre ihm nie möglich geworden, die so leichtsinnig und nutzlos verlorene Zeit wieder einzubringen. So aber--und infolge seines ausgezeichneten, nie versagenden Trainings--dachte er keinen Augenblick daran, den Sieg schon verloren zu geben; und während die Richter bereits glaubten, daß er freiwillig ausgesetzt habe, sahen sie ihn jetzt wieder näher und näher kommen, dann an der Seite des zweiten, gleich darauf an der des ersten Gegners liegen und endlich in einer fast unglaublichen Anstrengung dicht vor diesem anschlagen... Von tosendem Beifall umhallt, von erregten Fragen über das Geschehene bestürmt, wurde Felder erst jetzt sein unbegreiflicher Irrtum recht klar. Der Schrecken lag ihm noch in den Gliedern und er hatte sich vollständig ausgegeben. Er winkte den Freunden ab, die sich um ihn bemühten, und mußte sich im Ankleideraum sofort setzen, so erschöpft war er. Als er wieder ruhiger atmete, schämte er sich. Das konnte ihm, ihm passieren, sich in den Längen zu irren!--Und das alles, dieses leichtsinnige Aufsspielsetzen eines wenn heute verlorenen, erst in Jahren wieder einbringbaren Sieges, dies alles nur darum, weil er nicht aufgepaßt hatte!--weil er an ein kleines Mädchen dachte, statt an seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit! Er hätte sich selbst ohrfeigen mögen, so wütend war er. Er wurde nicht ruhiger, als er Nagel vor sich sah, der ihn heftig anfuhr: --Du fängst ja schon an, es dir bequem zu machen. Du paßt wohl schon nicht mehr auf?--Na, weißt du, so leicht ist die Sache denn doch nicht, und solche Scherze solltest du einstweilen noch unterlassen!... Sonst könnten sie doch böse Folgen für uns haben! Geschwommen hast du natürlich zuletzt wie ein Schwein!-- Felder sagte kein Wort. Er saß da wie ein Schüler, der von seinem Lehrer bestraft wird. Er wurde erst ruhiger, als er sich nach dem Ankleiden--er trug heute einzig und allein die große goldene Medaille seiner Deutschland- Meisterschaft auf der Brust--unter seine Freunde mischte und die Erregung wahrnahm, die nach seinem unglaublichen Endspurt unter ihnen immer noch nachzitterte. Keiner habe auch nur einen Pfennig mehr um seinen Sieg gegeben, versicherte man ihm, als man ihn in der letzten Länge so weit hinter Biedermann liegen sah. Ob er mit Absicht zurückgeblieben sei, um zu zeigen, was er könne?--Ob ein Krampf ihn befallen habe!--Ob er sich in den Längen verzählt habe?--so bestürmten ihn die Frager von allen Seiten, bis Felder von neuem ärgerlich wurde und sie stehen ließ. Er nahm Koepke auf die Seite. Er möge doch einmal nachsehen, ob der alte Heinecke mit seiner Tochter nicht da sei, ja?--Und er möge ihm Bescheid in den Garten bringen. Koepke rannte fort wie ein getreuer Hund, aber die Antwort, die er nach einer halben Stunde brachte, war nicht geeignet, Felders Laune aufzubessern. Er habe alle Reihen durchgesehen, meldete Koepke, aber er habe von den Gesuchten nichts finden können. Jetzt war es klar, daß sie nicht gekommen war. Natürlich war der Alte schuld daran, der sie nicht gelassen hatte. Wie sollte er es jetzt anfangen, sie so bald wiederzusehen?-- Mißmutig saß er vor seinem Biere in einer Ecke des Gartens und ließ seine Freunde schwatzen, soviel sie wollten, ohne ihnen zuzuhören. Mißmutig und noch schweigsamer als sonst blieb er auch den Rest des Nachmittags. Er wartete nur noch die offizielle Bekanntgabe der Resultate ab, dann schloß er sich einem Klubfreund an, der früh nach Hause wollte, da er morgen früh an die Arbeit mußte. Das einzige, was ihn einigermaßen über seine eigene Dummheit tröstete, waren ein paar Worte, die Brüning ihm zugerufen, als er im Garten an ihm vorbeigegangen war: "Menschenskind, du kannst ja viel mehr, als wir alle wissen und du selber ahnst. Wer das fertig bringt, was du eben getan hast, der kann sich schon einen Scherz erlauben." Und er hatte ihm zugenickt und war mit seiner Mätresse fortgefahren. --Ja, Brüning hatte recht: er konnte weit mehr, als alle und er selbst es wußten. Zu Hause warf sich Felder aufs Bett und verschlief die Erinnerung dieses Unglückstages, wie er ihn nannte, in zehnstündigem Schlaf. Die ganze nächste Woche nagte es an ihm, daß sie nicht gekommen war. Im Grunde war es weniger die Sehnsucht, sie wiederzusehen, als eine gewisse Unruhe, diesem ihm so unbekannten Gefühl ein Ende zu machen, das ihn für einen Abend, statt zum Schwimmen, in der Nähe ihrer Wohnung auf und ab gehen ließ, in der Hoffnung, sie ausgehen oder heimkehren zu sehen und zu sprechen. Nachdem er fast eine Stunde vergeblich herumgelaufen war, sah er nicht sie, sondern eine ihrer Freundinnen, die er ebenfalls vom vorigen Sonntag her kannte, aus dem Hause treten, glücklicherweise allein. Er ließ sie bis zur nächsten Straßenecke vorausgehen und redete sie dann an. Die kleine Dicke stieß erst einen erstaunten Schrei aus, als sie Felder erblickte, war es dann aber gleich selbst, die seinen Fragen zuvorkam. O, Lieschen hatte sie ja in alles eingeweiht--wie gut es war, daß sie ihn sah, denn sie habe ja Nachrichten für ihn!--Er habe sie wohl zufällig gesehen?--Habe er auf Elise hier gewartet?--Nein?--Also: ob er denn noch gar nicht wisse, daß sie fort sei?--Nein?--Ach, es war ja eine ganze Geschichte. Der alte Heinecke sei wütend gewesen am Sonntag vor acht Tagen, darüber, daß sie den ganzen Nachmittag zusammengesessen hätten, und dann, daß sie im Dunklen im Wald zurückgeblieben seien. Schon auf der Rückfahrt habe er angefangen-- wenn sie schon daran dachte, würde ihr noch ganz schlecht, so geschimpft habe der Alte. An einem der nächsten Tage sei sie denn auch gleich hingegangen, um von Elise zu erfahren, was denn eigentlich vorgegangen sei. Aber die Freundin habe nur geweint--o so geweint!--und immer nur gesagt, sie möchte doch so gern am Sonntag kommen, um ihn noch einmal zu sehen. Als sie aber endlich Mut gefaßt und ihrem Vater das gesagt habe, da sei die Geschichte von neuem losgegangen, und um ihr ein Ende zu machen, sei sie noch in derselben Woche nach Posen geschickt, zu einer Tante, um dort ein Jahr zu bleiben und die Haushaltung zu erlernen. Sie habe Elise noch vor ihrer Abreise gesehen, und diese habe ihr ausdrücklich aufgetragen, doch Herrn Felder noch recht schön zu grüßen und ihm zu sagen, daß er doch nicht böse sein solle, wenn sie am Sonntag nicht kommen könne, denn es sei doch nicht möglich, daß daraus etwas würde, und so sei es denn schon das beste, wenn sie sich fügten und einander vergäßen... So schwatzte die Dicke darauf los, selig, ihre Wissenschaft loszuwerden und einen so guten Zuhörer zu haben. Denn Felder ging neben ihr her, durch die Menschenströme, und erwiderte keine Silbe. Heute abend sei sie nun oben gewesen--so ging es weiter--um zu sehen, ob noch kein Brief von Elise da sei. Ja, sie habe schon geschrieben: es gefalle ihr ganz gut in der Stadt, in der sie jetzt sei, und in vierzehn Tagen sei ein Ball im Kasino, wo auch Offiziere hinkämen, und sie habe die Tante gebeten, hingehen zu dürfen, und die Tante habe es ihr erlaubt... Der Alte sei auch schon ganz beruhigt, und er habe heute abend sogar gelacht, als er davon sprach daß seine kluge Elise schon nicht so töricht sei, zu denken, daß "daraus" etwas Ernsthaftes werden könne denn wenn er--Felder--auch ein vorzüglicher Schwimmer sei, so seien das doch nur brotlose Künste, und er könne doch sein einziges Kind nicht einem jungen Menschen versprechen, der eben erst aus der Lehre sei und keinerlei sichere Zukunft vor sich habe... Weiter kam sie nicht. Denn Felder blieb plötzlich stehen und fragte: --Hat sie Ihnen keinen Brief für mich gegeben? Nein, keinen Brief. Aber sie habe ihm doch gesagt, daß Elise ihn recht schön grüßen lasse und es so bedauere... Dann stand sie wieder allein auf der Straße unter den vorbeieilenden Menschen. Ihr Begleiter hatte ganz unverhofft seinen Hut gezogen, ganz kurz guten Abend gewünscht und war verschwunden. Nicht einmal bis nach Hause brachte er sie! Felder dachte nicht einmal daran. Was ging ihn die dumme Gans an!--Er dachte an das Mädchen, das mit ihm erst gespielt und ihn dann so leichten Herzens--mit einem flüchtigen Grüß--aufgegeben. Aber es war viel mehr das Gefühl einer erlittenen Beleidigung als das des Schmerzes, unter dem er in dieser Stunde litt. Daß man ihn, den Meisterschwimmer von Deutschland, so behandeln konnte, das war es, was ihn wurmte und einen bitteren Groll in ihm entfachte. Und mehr als alles hatte ihn das Wort des reichgewordenen Holzhändlers von der brotlosen Kunst getroffen. Er biß die Lippen aufeinander vor Wut, wenn er daran dachte, während er die Straße hinunterlief und sich rücksichtslos durch die Reihen der Fußgänger stieß. Als ob er je daran gedacht hätte, dieses Mädchen zu heiraten!--Er hatte überhaupt an nichts gedacht, dieser alte Geldprotz konnte ganz ruhig sein. Das Mädchen hatte ihm gefallen, am meisten die unverhohlene Bewunderung, die er in ihren Augen gelesen, und bei deren Blick ihm so warm geworden war. Aber ihm geschah ja ganz recht. Warum hatte er seine Leute verlassen und war an den Tisch gegangen. Was gingen ihn die Frauenzimmer an? Er hatte sich bis jetzt nicht um sie gekümmert und sie nicht entbehrt, so würde er wohl auch noch dieses dumme Ding vergessen, um dessentwillen er heute abend sein Schwimmen versäumte und fast einen Sieg verloren hätte... Er sah nach der Uhr. Aber es war schon zu spät. Und mit einer Bewegung des Ärgers schüttelte er diese ganze dumme Geschichte, die ihm schon viel zuviel Kopfzerbrechen gemacht hatte, von sich ab und schlug den Weg nach seinem Klublokal ein, wo er noch den einen oder anderen seiner Kameraden beim Biere zu finden hoffte... Von diesem Abend an dachte er nur noch zuweilen an das Mädchen, aber immer wallte von neuem das Gefühl verletzten Stolzes in ihm auf und blieb in ihm zurück--wie ein Rest von Bitterkeit allen Frauen gegenüber. Mit verstärkter Genugtuung genoß er die zahlreichen Triumphe dieses Herbstes, von denen fast jeder Sonntag ihm einen neuen einbrachte: dieser die Odermeisterschaft und mit ihr die große silberne Medaille; der nächste zum zweiten Male den großen Staatspreis in Hamburg; und bereits der übernächste den vielumstrittenen Preis im Brustschwimmen, den die vereinigten westdeutschen Schwimmklubs gaben--einen silbernen Pokal für seinen Klub, so groß und wertvoll, wie dieser wenige besaß. Bevor der Winter begann, nahm er sich dann in der Fabrik, in der er noch ein Jahr nach seiner Lehrzeit bleiben wollte, seinen ersten achttägigen Urlaub und machte das große Wettschwimmen des "I. österreichischen Amateur-Schwimmklub Wien" mit, auf dem er am ersten Tage Anton Riegler, den Meister Österreichs über die kurze Strecke, zum ersten Male schlagen durfte; und am zweiten den großen Derbypreis über die lange gegen die Teilnehmer dreier Staaten: Italien, Osterreich und Deutschland, unter ungeheurer Erwartung aller beteiligten Kreise, ersiegte. So griff der junge Meister von Deutschland mit diesen Siegen rasch und beherzt nach den Lorbeeren des Auslandes, nachdem er die seines eigenen, weiten Vaterlandes bereits sein eigen nannte. Die Fahrt nach Wien, seine erste Auslandreise, war zugleich eigentlich die erste, an der er wirklich Vergnügen empfand. Er machte sie mit Brüning und zwei anderen Mitgliedern seines Klubs, alten Freunden und lustigen Brüdern, war Gast in der herrlichen Villa eines reichen österreichischen Sportfreundes, der sich die Ehre nicht nehmen lassen wollte, den deutschen Meisterschaftsschwimmer bei sich zu beherbergen, ließ sich den ganzen Tag und die halbe Nacht durch alle Vergnügungen der schönen "Kaiserstadt an der Donau" schleppen und es sich wohl sein unter den leichtlebigen Menschen mit dem sorgenlosen Wesen und der gemütlichen Sprache. Noch nirgends hatte er sich so wohl gefühlt wie hier, und als endlich die acht Tage mit ihren Ausflügen, ihren fröhlichen Mahlzeiten, bei denen es an feschen Mädchen nie fehlte, ihren Fiakerfahrten, den Ronacherabenden und den durchjubelten Nächten zu Ende waren, da war er wie betäubt. Neben dem großen Preise für seinen Klub, dem Ehrenschilde, und den eigenen Ehren brachte er unvergeßliche Erinnerungen nach Hause, und unter ihnen war nicht die letzte die an die Liebe, die er ebenfalls in Wien erst kennen lernen sollte: die reue- und schmerzlose Liebe flüchtiger Stunden, lachend geboten und ohne Besinnen genossen, erfrischend wie ein Trank und süß wie eine vollsaftige Frucht. Berlin kam ihm nüchtern vor, und er brauchte einige Zeit, um sich wieder an seine eintönige Tagesarbeit zu gewöhnen, nach diesen Tagen, in denen er geehrt worden war wie ein König und gelebt hatte wie ein Millionär!... Der Winter verging stiller. Beim Hauptschwimmen Berlins mußte er aussetzen. Er war völlig übertrainiert.--Was schadete es? wenn er sich auch ärgerte. In seiner Brust regten sich neue Wünsche des Ehrgeizes, und heimliche Träume erzählten ihm von Siegen, die noch _nicht_ die seinen geworden waren. 11 Wieder ging ein Winter und wieder kam ein Sommer. Und wie alles in diesen letzten Jahren im Leben Franz Felders nur ein rastloses Eilen von Erfolg zu Erfolg gewesen war, so kamen mit dem nächsten Sommer jene Triumphe, die ihn auf eine Höhe führten, über die hinaus kein Weg mehr ging: neben einer Reihe anderer erster Siege fiel ihm die der Europameisterschaft zu und mehr als das--er behauptete diese Meisterschaft auf jener glorreichen Reise nach England, wo er sie in einem in der Geschichte des Schwimmens einzig dastehenden Rennen gegen die englischen und australischen Meister verfocht, die größten und berühmtesten Schwimmer der Welt. Die Europameisterschaft über die lange Strecke von eintausendfünfhundert Metern erschwamm er in Grünau auf einem Feste, das der große deutsche Verband, zu dem jetzt fast alle Schwimmvereine des Deutschen Reiches gehörten, in Verbindung mit den größten außerdeutschen Vereinen und Verbänden abhielt, zu dem Schwimmer fast aller Länder des Kontinents erschienen, und das sich zu einem Wettschwimmen gestaltete, wie es in diesem Umfang und dieser Bedeutung in Deutschland überhaupt noch nicht stattgefunden hatte. Es war nicht nur für Berlin, sondern auch für die gesamte Schwimmerwelt Deutschlands das große Ereignis des Sommers, hinter dem alle anderen Veranstaltungen weit zurücktraten. Noch nie hatte man einem Meeting mit solcher Erwartung entgegengesehen, noch nie hatte die Spannung eine solch fieberhafte Höhe erreicht... Einmütigkeit herrschte unter allen Berliner Vereinen, selbst unter denen, die sonst nie müde werden konnten, sich zu bekämpfen: galt es doch, Berlin würdig nach außenhin zu vertreten, dem alten Ruhme, seit Jahren die eigentliche Heimat der Schwimmerei zu sein, keine Schande zu machen. Daher wurden weder Mühe noch Kosten gescheut, und viele Wochen vorher begannen die Delegiertenversammlungen, um das lange Programm der Tage zu durchdenken, und bis in seine letzten Einzelheiten festzusetzen. Nie war aber auch die Beteiligung an den Meldungen eine so rege und so aufregende gewesen. Mit Ausnahme Englands waren solche aus fast allen Ländern des Kontinents, von Italien bis Schweden, von Holland bis Osterreich eingelaufen, und fast kein in den letzten Jahren genannter Name blieb unvertreten: neben den berühmtesten Schwimmern die ersten Springer, die gekröntesten Mehrkampfmeister Europas. Natürlich waren im Schwimmen alle größten Hoffnungen auf den Meister von Deutschland gesetzt. In seinen Händen lag vor allem der Ruhm Berlins, die Ehre Deutschlands. Wenn er unterlag, so unterlag Berlin; wenn er nicht siegte, so blieb die Meisterschaft von Deutschland in den Händen des Auslandes. Und Felder wußte es wohl!--Es gab keinen, der so überzeugt wie er selbst von der Wichtigkeit dieses Sieges gewesen wäre. Er fühlte, daß diesmal andere Dinge auf dem Spiele standen als sein eigener Ruhm und der seines Klubs, um die er bis jetzt gekämpft. Die Stadt, in der er geboren war, und sein ganzes Vaterland, das weite deutsche Reich, sahen auf ihn an diesem Tage. Er konnte ihnen keine Schande machen-- es _durfte_ nicht sein!-- Er trainierte mit beispielloser Ausdauer und Sorgfalt. Da nun auch das Jahr, das er nach seiner Lehrzeit noch in der Fabrik blieb, zu Ende war, wollte er mit dem Eintritt in eine neue Stelle warten, bis das große Ereignis vorüber war. Bei seiner Sparsamkeit hatte er vermocht, etwas zurückzulegen. Auch standen ihm genug Börsen wohlhabender Klubfreunde und Verehrer offen, aber Felder war viel zu stolz, um auch nur das geringste anzunehmen. Er hätte am liebsten seine Sportreisen selbst bezahlt, aber das konnte er natürlich nicht. Außerdem war sein Klub reich genug, um Opfer solcher Art nicht von seinen Mitgliedern erwarten zu brauchen. Da Felder somit völlig Herr seiner Zeit geworden war, hinderte ihn nichts in seinem Training. Die Erfahrung des letzten Winters hatte ihn klug gemacht, und er hütete sich wohl, des Guten zuviel zu tun. Er hielt sich selbst in strengster Selbstkontrolle und gönnte sich kein Vergnügen, das über die zehnte Abendstunde währte, wo er todsicher bereits im Bett lag. Einige fanden seinen Ernst oft lächerlich; er ließ sie lachen. Eine Art finsterer Entschlossenheit bemächtigte sich seiner in dieser letzten Zeit. Er wurde noch wortkarger und verschlossener, als er sonst schon war. Zugleich schien auch die schöne und sonnige Ruhe, die nach den Siegen der letzten Jahre über ihn gekommen war und mit jedem neuen Siege mehr und mehr das Schroffe und abweisend Insichgekehrte seines Wesens gemildert hatte, von ihm zu weichen. Er glich jetzt wieder mehr dem armen und unbekannten Knaben von damals, mit der unjugendlichen Stirn und dem trotzigen Munde, der nichts war und doch so viel werden wollte, als dem von aller Welt gefeierten Sieger, der seine kühnsten Träume zur Wirklichkeit geworden sah und sich in ihrer Erfüllung sonnte. Und es war ihm in der Tat so, als habe er noch nichts erreicht, als sei erst dieser Sieg über Europa allein alles Strebens wert, erst die eigentliche Krönung eines Gebäudes, zu dem alle anderen Erfolge nur als Stufen führten. Wenn er hier unterlag, er, auf dem die ungeheure Verantwortlichkeit der Repräsentation eines ganzen, großen Volkes lag, so war alles andere umsonst gewesen, so--in seinen bereits überhitzten Gedanken redete er es sich ein--so war nicht nur Berlin, sondern das ganze deutsche Reich dem Spott des mit dem Preise davonziehenden Auslandes preisgegeben. Denn daß es auch einem anderen deutschen Schwimmer glücken könne, den Preis über "die Fremden" davonzutragen, daran dachte er nicht einmal --so sehr betrachtete er schon sich selbst als den unbesiegbaren Meister seines Vaterlandes. Aber er hatte Furcht vor diesen Ausländern, vor diesen Gegnern, die er nicht kannte, von denen er sich mit den wenigsten gemessen, über deren Kräfte er nichts Bestimmtes wußte. Und ein Gefühl der Unruhe und der Angst, hier, auf seinem eigenen Boden, den er sich gewissermaßen Meter für Meter in diesen Jahren erkämpft hatte, geschlagen zu werden, ließ nicht von ihm und verscheuchte jede unbefangene Freude... Es war kein Genuß mehr, mit ihm zu verkehren und ihn üben zu sehen, und sein feierlicher Ernst, mit dem er kam und ging, steckte die andern an. Es war wie in den Tagen vor einer Schlacht... Er siegte. In den letzten Tagen wich alle Unruhe wieder von ihm. Eine große Entschlossenheit leuchtete aus seinen Augen, als müsse er siegen um jeden Preis. Er wies alles von sich ab, er wollte nichts mehr hören und sehen von dem, was alle um ihn herum beschäftigte. Was gingen ihn alle diese fremden Namen und Menschen an--ob er sie kannte oder nicht, er schwamm darum nicht besser. Er wußte nur eines: daß er siegen mußte! Und gleich als wenn die Kraft seiner Muskeln seinem Willen gehorchen müsse, so geschah, was er wollte. Er siegte. Er schlug den berühmten Holländer, den gefürchteten Österreicher, er schlug den riesigen Norweger, einen Hünen an Gestalt und Kraft, er schlug die Besten seines eigenen Vaterlandes zum zweiten und dritten Male, und er siegte über seine eigene Zeit vom Vorjahre mit mehr als drei Minuten. Ein unbeschreiblicher Tumult entstand, als er anschlug. Die Zuschauer rasten. Seine Freunde erdrückten ihn fast. Völlig Fremde umarmten ihn. Man trug ihn mehr, als er ging, durch die Reihen von Menschen, die ihre Plätze verlassen hatten. Deutschland hatte gesiegt. Und in Deutschland Berlin!--Und diese kühlen Berliner, so gern stets zu verkleinernder Kritik geneigt und so abhold jeder Gefühlsüberschwänglichkeit, waren kaum wieder zu erkennen in dem Jubel und der Freude über den Sieg ihrer Stadt. Unglaublich, dieser Felder!--hörte man allenthalben, was der will, das kann er auch. Und die Begeisterung wollte sich nicht legen... Am ruhigsten waren noch Felder selbst und--Nagel. Der sagte schon lange nichts mehr, und nur ein Händedruck zeigte, daß er mitfühlte in diesem Moment. Bei sich dachte er: Jetzt, jetzt wird es sich zeigen-- daran, wie er diesen Sieg erträgt.--Brüning rannte umher wie besessen und schrie nach Sekt, und Koepke war völlig unzurechnungsfähig. Er sprach nur noch in Hyperbeln. An Felders Ruhe, die zudem viel mehr eine äußerliche als eine innerliche war, hatte übrigens eine gewisse seelische wie körperliche Abspannung ihren Hauptgrund. Jetzt, als alles vorüber war, merkte er erst, wie er sich in den letzten Wochen innerlich verzehrt hatte--in dem einen Wunsche. In demselben Garten, in dem im vorigen Jahre seine Meisterschaftserklärung für Deutschland erfolgt war, wurde ihm nun die höchste aller Ehrungen zuteil, und unter dem achtungsvollen Schweigen vieler Hunderte nahm er den Weltmeisterpreis entgegen...! Die ganze warme Sommernacht hindurch dauerte wieder das Feiern um ihn herum. Er lebte ganz in diesen Stunden. Er dachte nicht zurück. Er dachte auch nicht in die Zukunft. Die Stimmen in ihm schwiegen. Zum erstenmal vielleicht in seinem Leben schwiegen sie ganz. Er hatte erreicht, nicht was er gewollt: nein, viel mehr als das. Sie mußten heute schweigen, diese Stimmen, denn sie wurden übertönt von dem einmütigen Jubel um ihn her. Die stillen Sterne leuchteten hernieder; der Atem der weichen Nacht spielte um die erhitzten Köpfe, und vom Wasser her kam die frische Kühle, die alle diese Menschen nicht müde werden ließ, zu sprechen, zu trinken, sich zu berauschen am Leben, an Freude und an der eigenen Kraft. Und Felder trank--trank--trank--alles, was man ihm bot: Sekt, Bier und Wein, aber am süßesten schmeckte ihm der berauschende Trank des Erfolges. Alles andere hatte er vergessen. Selbst als er inmitten seiner wildesten Bewunderer wie berauscht endlich zum Bahnhof ging, zog auch nicht ein Erinnern in seine müden und wirren Gedanken, das ihm ein weißes Kleid, einen jungen Leib oder einen warmen Mund wachgerufen hätte. Müde saß er in einer Coupéecke und während die anderen um ihn herum sich noch immer über den heutigen Tag ereiferten, schlief er ein; und den Sieger über seinen Siegen vergessend, dachten sie erst wieder an ihn und weckten ihn erst, als der Zug in die von der Morgendämmerung erhellte Halle des Görlizer Bahnhofs einfuhr... Die ersten Tageszeitungen waren bereits erschienen. Man griff nach den noch feuchten Blättern und las die kurzen Zeilen, die den Namen Franz Felders, den Triumph Berlins, den Sieg Deutschlands--in dieser Stunde der Welt verkündeten. Er selbst, der Sieger, war unfähig, sie zu lesen. Die Buchstaben flimmerten und ranzten vor seinen Augen. 12 Der Glanz dieses Tages konnte selbst durch die Reise, die Felder wenige Wochen später nach England unternahm, um dort in dem gelobten Lande des Sports seine Meisterschaft Europas gegen ihre ersten bisherigen Meister zu behaupten, kaum erhöht werden. Die Reise war nie geplant. Es war an sie nie gedacht. Sie war einfach eine natürliche Folge dieses letzten Sieges. Während die Sportzeitungen des Kontinents einig waren in der Anerkennung dieses Sieges, verhielten sich die englischen, an Zahl und Bedeutung gleich und im Ton immer überlegen, dem Siege gegenüber skeptisch und erhoben den Einwand, daß England sich nicht beteiligt habe, daß aber England in Sportsachen (wie auch in anderen Dingen) Europa sei, und daß Felder sich erst einmal mit englischen Schwimmern gemessen haben müßte, ehe ihm wirklich der nur künstlich gemachte Titel des Europameisters gebühre. Natürlich verwahrte man sich gegen diese Beschuldigung und erklärte sie für lächerlich. Man hatte die ersten Schwimmer Europas eingeladen, auch die Engländer. Sie waren nicht gekommen, weil sie eben nie kamen. Und weil sie hochmütige Narren waren, die sich einbildeten, man müsse zu ihnen kommen. Daher waren auch erst wieder manche Stimmen gegen die Reise Felders nach England. Ein Entgegenkommen dieser Art war ein Zugeständnis, eine Erniedrigung. Aber andere sagten: Man muß es ihnen zeigen!--Jetzt ist die Gelegenheit da, ihre angemaßte und nur eingebildete Überlegenheit zu brechen. Wenn wir ihnen jede Entschuldigung nehmen, so werden sie sich bequemen müssen, von ihrem Piedestal herabzusteigen, auf dem sie schon viel zu lange gestanden, dann ist Beteiligung an kontinentalen Festen oder aber endgültiger Verzicht die unausbleibliche Folge. Als dann auch der letzte Einwand: der der zu hohen Kosten dadurch kurz abgeschnitten wurde, daß sich Brüning, der sich jetzt sogar um seine Pferde nicht mehr kümmerte, erbot, sie sämtlich zu tragen und Felder nach England zu begleiten, wurde dessen Beteiligung beschlossen. Wenn Felder später an diese Reise nach England zurückdachte, so kam sie ihm vor wie ein Traum. Ein wirres Durcheinander von Bildern aller Art zog an seinem Auge vorüber. Zunächst weite Landschaften, die im Fluge an dem dahinrasenden Zuge vorbeizogen. Die dunkle Regennacht auf dem Schiffe: das Meer, das er zum ersten Male sah--ein Wasser, wie er es nie geahnt, Wogen von einer Kraft, gegen die das mächtige Schiff rang, wie sein Körper rang gegen die stille Flut seines heimatlichen Flusses, und an der menschliche Einzelkraft zerbrechen mußte wie ein Streichholz unter dem Schlage eines Hammers. Wasser, nur Wasser, dasselbe Wasser, das er kannte und liebte wie kein anderer--und doch ein ganz anderes Element. Nicht das, welches ihm vertraut war von Jugend auf, sondern eine fremde, unheimliche Kraft, mit der zu messen er sich nie getraut hätte, vor der ihm graute, da er der Schwächere, ein Nichts war vor ihr ... das war das Meer!... Elend, ganz zermalmt von der lächerlichen und doch so mächtigen Krankheit der See, atmete er erst auf, als er wieder Land unter den Füßen fühlte--er, der es sonst nur widerstrebend betrat, da er sein geliebtes Wasser verlassen mußte-- und nur mit Schaudern dachte er an das Gebrüll, die Feindseligkeit, die ganze Furchtbarkeit des fremden Wesens zurück, das ihn behandelt hatte wie den ersten besten, eine Katze, die ein Tiger geworden war, ein Freund, plötzlich verwandelt in einen Feind, der die Maske fallen gelassen und ihn niedergeworfen, um ihn zu ermorden!... Dann, noch die Angst um das--gerettete--Leben in den Gliedern, die Ode und Unermeßlichkeit der in ewigen Dunst gehüllten Stadt, vor deren Grenzenlosigkeit ihm sein Berlin wie ein Dorf erschien. Endlich, in schärfstem Kontrast dazu, die Tage der Races an dem stillen, umbuschten Ufer der Themse, wo der Himmel wieder lachte und der Frieden wieder in den versteckten weißen Häusern zuwohnen schien, wo er seinen Mut wiederfand, den Mut, sich daran zu erinnern, weshalb er hierher gekommen war, und die Kraft, zu siegen, sich wirklich den ersten Preis zu holen, weil er sich hier endlich wieder daheim fühlte, daheim im Wasser... Und die Bilder nach dem Siege. Der Jubel dieser ihm erst so ernst, so steif erschienenen Menschen, gegen den der Beifall von Grünau wie ein Murmeln war. In seinem ganzen Leben zusammen hatte er nicht so vielen Menschen die Hand geschüttelt wie an diesem Tage. Man renkte ihm fast den Arm aus. Und dann schleppte man ihn zwei Tage lang von einer Festlichkeit zur andern, durchzog in Reihen von zwanzig Cabs--in denen nur je einer sitzen durfte--wie in einer Prozession die endlosen Straßen Londons, behandelte ihn wie einen Fürsten und überschüttete ihn in beispielloser Generosität und Gastfreundschaft mit Gaben jeder Art. Am letzten Tage überreichte ihm irgend jemand, dessen Namen er nicht einmal wußte, ein Ehrengeschenk von 150 Pfund, da man gehört hatte, daß er völlig auf die Arbeit seiner Hände angewiesen war. Es wurde mit so viel Achtung und Selbstverständlichkeit angeboten, daß Felder es unmöglich ausschlagen konnte. Er war ganz gerührt. Er hatte gedacht, diese Engländer würden es gewaltig übelnehmen, wenn ein Ausländer daherkam und sie auf ihrem Grund und Boden schlug, und nun sah und fühlte er überall nichts, als die neidloseste Bewunderung und eine Verehrung, wie sie ihm in solchen Formen noch ganz unbekannt war. Und doch--war es die fremde Sprache oder was war es?--so gemütlich wie in Deutschland oder gar in Wien waren diese Tage nicht. Alles ging in ewiger Hast, von einem zum andern. Nie setzte man sich zu einem Glas Bier zusammen, um in Ruhe alles zu besprechen. Getrunken wurde zwar genug--und was nicht alles durcheinander!--aber alles im Fluge, im Stehen, und von einer Hand ging er in die andere, fast wie eine Sache, an der jeder ein Anrecht hatte. Jeder wollte ihm die Hand geschüttelt und mit ihm getrunken haben... Und immer wieder mußte er trinken und Hände schütteln, bis er am Abend so müde war, daß er die rechte nicht mehr von der linken zu unterscheiden wußte. Nein, so gemütlich wie zu Hause war es nicht, und Felder war fast froh, als es an die Heimreise ging. Eigentlich hätte er sich nicht fremd zu fühlen brauchen, denn Brüning und ein anderer Klubgenosse waren stets mit ihm, und der erstere war der beste Reisemarschall, den man sich denken konnte: überall zu Hause, in allen sprachen gerecht, praktisch und erfahren, dabei in unerschöpflich guter Laune und den schwerfälligen Felder über jede Verlegenheit spielend hinübertragend. Man kam aus dem Lachen mit ihm gar nicht heraus. Aber Felder wurde nie ganz froh. Denn ohne es sich selbst einzugestehen, fürchtete er sich vor dieser Heimreise. Wieder sollte er--und diesmal einen ganzen Tag--sich dem furchtbaren Element anvertrauen, wieder ihm machtlos und jämmerlich gegenüberstehen und sich in elender Ohnmacht vor diesem Wasser krümmen, das er sonst siegreich packte, wo immer er es traf... Er hätte sich nicht zu fürchten brauchen. Als sie nach einer letzten, halb durchjubelten und durchtrunkenen Nacht am Morgen von Queensborough abfuhren, war er so müde, daß die Freunde ihn fast aufs Schiff trugen, und kaum auf ihm angelangt, schlief er wie ein Toter bis zu dem Augenblicke, wo sie ihn in Vlissingen wieder aufweckten. Das war seine Reise nach England. Alles war herrlich, glorreich, einzig gewesen. Aber er war froh, als er wieder in Berlin war, wieder die heimatlichen Laute um sich herum vernahm und das Schreckgespenst vergaß, das ihn angegrinst hatte wie der leibhaftige Tod. Denn er hatte es sich jetzt klargemacht: das Meer war das Meer, und das Wasser war das Wasser. Aber dasselbe waren beide nicht!--Nie wollte er das Meer wiedersehen. Hätte er es gesehen, wie es in stahlblauer Pracht dalag, ruhig, verschwiegen, lockend, wie ein tiefer See, und nur leise erzitternd unter den Strahlen der Sonne, wie es liebreich und versöhnt den Sieger heimtrug auf seinem breiten Rücken, er hätte es wiedererkannt als sein Element und nicht geruht, bis er sich seiner salzigen Flut anvertraut und die Wonnen seiner Umarmung genossen. 13 Das war Franz Felders Reise nach England, von deren Triumph nun die Zeitungen berichteten: ein wirres Durcheinander von Bildern aller Art, und leuchtend nur die Erinnerung an seinen Sieg, der ihm erst durch diese Berichte recht deutlich zum Bewußtsein gebracht wurde-- den Sieg über die ersten Gegner der Welt, die von keiner Seite fürs erste mehr bestrittene Meisterschaft von Europa, die höchsten erreichbaren Auszeichnungen, und ein Ruhm, der seinen Namen von jenem Tage an für alle Zeiten unvergeßbar in die Annalen des Schwimmsportes eingrub. Er hatte erreicht, was er gewollt. Was er ersehnt, war Erfüllung geworden. Er konnte etwas, was kein anderer Mensch außer ihm konnte. Er war der Meister des Wassers. Er hatte seinem Klub zu seinem alten Ansehen verhelfen. Mehr: er hatte seinen Namen mit dem eigenen berühmt gemacht weit über die bisherigen Grenzen. Seine Schuld war beglichen. Aus dem armen Knaben war ein junger Mensch geworden, auf den alle mit Stolz und Bewunderung sahen, der keine Not mehr zu leiden brauchte, so viele waren der hilfreichen Hände, die sich ihm entgegenstreckten. Nein, es war nicht richtig, daß er erreicht, was er gewollt. Nie hatte er so hoch gewollt. Er war dahin getragen, wohin er sich nie zu sehnen gewagt. Und so hoch war er getragen, daß er sich fragen mußte: wohin nun?--So viel hatte er erreicht, daß ihm nichts mehr zu wünschen übrig blieb. Welcher Weg führte noch über die Höhe hinaus, auf der er stand?--Denn sich dort zu behaupten erschien ihm selbstverständlich. Die Welt nannte seinen Namen. Er vergaß nur zweierlei: daß die Welt, die er so nannte, nur ein unendlich kleiner Teil der wirklichen weiten Welt war--wenn es auch die Welt war, in der er lebte; und daß selbst dieser kleine Teil von Menschen, die ihn heute anstaunten und bejubelten, sich seiner vielleicht morgen noch erinnern, ihn aber ganz sicher übermorgen vergessen haben würden. Aber wie ihm seine Sache von jeher allein nur als die einzig wichtige erschienen war, so konnte er die Welt nie richtig messen, weil ihm von jeher jeder andere Maßstab gefehlt hatte. So war er allmählich dahin gekommen, sie nur unter einem einzigen Gesichtspunkt zu sehen, und jetzt folgerichtig dahin, sich als ihren Mittelpunkt zu betrachten. Das einzige, was er sich noch wirklich klar machte, war, daß er jetzt die Höhe seiner Kraft erreicht hatte. Über sie hinaus konnte er nun nicht mehr. Übertraf ihn, ja erreichte ihn nur irgendein anderer, so war es aus. Es galt daher, sich auf dieser Höhe zu erhalten. Das mußte nun sein nächstes Ziel sein. Aber es war kein Ziel mehr, das ihn reizte. Daher war er jetzt, auf der Höhe, nicht mehr so glücklich, wie er gewesen war, als er sie erklommen und jede seiner Bewegungen von tausend Augen verfolgt sah. Aber glücklich war er doch noch. Daß einmal ein Tag kommen mußte, mochte er sich auch noch so lange behaupten, an dem er herabsteigen mußte, um einem anderen Platz zu machen, das wußte er. Darüber gab es keine Täuschung. Das war so sicher wie der Tod. Aber er dachte nie an diesen Tag. Er wollte es nicht!-- Er stand oben und sah hinab auf den Weg, den er gemacht. Und aus der Tiefe zu ihm heraufklang berauschend Jubel und Neid gleich stark in seine Ohren.-- In dieser Zeit brachte jenes größte und angesehenste Sportblatt der Welt, das seinen Namen "Welt-Sport" daher nicht mit Unrecht führte, abermals sein Bild und erzählte seinen Lesern die einfache Geschichte seines Lebens und die beispiellose Geschichte seiner Erfolge. Die Biographie konnte nicht mehr sein als die einfache Wiedergabe schlichter Tatsachen. Das Bild war die Reproduktion nach einer vorzüglichen Photographie. Sie zeigte den Meister von Europa im Brustbild, bekleidet, und neben den allerhöchsten Ehrungen nur die eine kleine, schlichte--und doch vielleicht die höchste von allen--, kaum erkennbar neben den schweren Medaillen von Gold und Silber, die kleine Münze, die er sich als erste Ehre einst, vor langen Jahren, geholt, indem er das Leben eines Menschen gerettet. Das Bild selbst zeigte ein ernstes, schönes und stolzes Gesicht. Es war nicht mehr das Gesicht des Knaben. Derselbe war nur noch der seltsame Zug von Entschlossenheit um den Mund, und unverändert war noch die etwas niedrige, trotzige Stirn. Aber die Weichheit, die Rundung der Wangen und des Kinns, und vor allem der gutmütige, vertrauende Blick der blauen Augen waren verschwunden und einem frühernsten Ausdruck gewichen, so daß das Gesicht an Bedeutung gewann, was es an Liebenswürdigkeit verloren hatte. Es war das Gesicht eines Menschen geworden, der ruhig, selbstbewußt und entschlossen in steter Wachsamkeit um sich und in die Ferne blickt, damit ihm niemand zu nahe komme; der Ausdruck einer stets bereiten Abwehr, der in seiner furchtlosen Kühnheit ersetzte, was dem Gesicht an tieferer geistiger Intelligenz mangelte. In dem Augenblick der Aufnahme war er so lebendig geworden, daß er es eigentümlich belebte und interessant machte. Es war noch immer ein sympathisches Gesicht, aber das liebenswürdige, gute Gesicht des Knaben war es nicht mehr. Ein anderes Bild aber--aus derselben Zeit--, das den Meisterschwimmer in voller Figur und im Trikot zeigte und auf dem das Gesicht gegen den Körper zurücktrat, störte in keiner Linie. Es war das Bild einer wundervoll sicher und gleichmäßig entwickelten, vom Leben noch völlig unangetasteten, ganz einzigen Kraft in der Siegessicherheit ihrer Jugend. 14 Mit schweren Füßen gehen wir über die schwere Erde. Ewig ist in uns die Sehnsucht, uns über sie erheben zu können, und noch im Tode bitten wir, sie möge uns leicht sein. Denn schwer ist sie uns, wie das Leben. Aber wir können nicht fliegen. Neidvoll sehen wir den Vögeln nach, die sich in die Luft erheben, die für uns zu leicht ist. Zu schwer die Erde, zu leicht die Luft. Aber wir können schwimmen. Zwischen Himmel und Erde wiegt uns das Wasser. Halb zieht es uns hinab, halb trägt es uns hinauf. Wir sind noch nicht oben, aber wir sind nicht mehr unten. Es gibt uns das Vergessen: das Vergessen der Erde und die Ahnung, im Himmel zu sein, wenn es uns trägt. Wir haben keine Flügel, aber wir fühlen die Schwere der Erde nicht mehr. Wunderbares Element!--Warum haben wir uns aus dir, das unser aller Heimat und Wiege war, auf die Erde geflüchtet?--Warum sind wir nicht in deinen stillen, traumlosen, seligen Tiefen geblieben, statt in das Getöse, den Staub und den Kampf der Erde zu treten?--Warum keuchen wir aus schweren Lungen, statt mühelos aus leichten Kiemen zu atmen?-- Weil wir Wärme, Licht und Leben brauchten?--Ach, die Wärme der Erde ist sengende Glut, ihr Licht blendet unsere Augen, und unerträglich ist uns meisten das Leben. Dort unten war Kühle, Dämmerung und Traum. Aber wir wollten hinauf: aus den Tiefen hinauf auf die Erde. Und dann wollten wir höher und höher, von der Erde in den Himmel. Wir können es nicht. Und verzehren uns nun in der ewigen Sehnsucht, die nicht hinauf kann und nicht mehr hinab. Wunderbares Element!--Die meisten haben dich vergessen. So fremd bist du ihnen geworden, daß sie Furcht vor dir haben. Und statt sich dir anzuvertrauen, blicken sie mit angstvollen Augen auf dich und zittern vor der Berührung mit dir. Mit dir!--Mit dir, das du sie trägst und wiegst und ihnen neues Leben geben möchtest, das du ihnen den Staub aus den Augen und die Qualen vom Herzen wäschest und sie nur sinken läßt, wenn sie, dumm und ungebärdig, dich mißhandeln mit plumpen Gebärden und ungeschickten Fäusten, und, das Unmögliche heischend, in dir den Himmel suchen. Sie alle, die vergessen, daß du nicht wie ein Sklave behandelt sein willst, und es dir verdenken, wenn der Freie sich im Zorn empört und die ungebetene Last von sich abschüttelt und begräbt. Aber nicht alle haben dich vergessen. In einigen lebe noch die Sehnsucht nach dir fort, wie das Verlangen nach der Reinheit aus dem Schmutze, und wenn sie zu dir kommen, so nimmst du sie in die Arme, wiegst sie, küssest sie und vergiltst tausendfach jede ihrer noch so ungeschickten Liebkosungen. Und wer sich dir einmal so zu eigen gab, der begehrt den Himmel nicht mehr und kehrt nur auf die Erde zurück, weil ihr Staub ihn gebar und ihn nährt, der kehrt zu dir zurück, wann immer er kann, der ist dein eigen geworden für Lebenszeit... Einer von diesen wenigen war Franz Felder. Als sich kaum die kleinen, dicken Kinderfäuste von der Mutterbrustgelöst, hatte ihn das erste, selbständige Lebensverlangen nicht auf das weite Feld der Erde, sondern in die stummen Tiefen des Wassers gezogen. Und das Wasser hatte ihn empfangen wie sein eigenstes Kind, hatte ihn unterwiesen in der Kunst des Lebens, ihn verhätschelt, ihn auf alle Weise der gehaßten Erde zu entreißen versucht, die Sehnsucht nach sich auf alle Art genährt, bis er sein eigen geworden war mit Leib und Seele. So war es sein erster Spielkamerad gewesen und sein einziger geblieben. So war es sein erster Freund geworden, und in der Stunde, als er, noch fast ein Kind, bei einem allzu hastigen Sprunge sich eine tiefe Fleischwunde an einem Nagel, den er streifte, in den Arm riß, und sein Blut sich mit dem Wasser mischte, das es trank, war zwischen ihnen die Blutsbrüderschaft entstanden, die sich erst lösen konnte mit seinem Leben. Die Wunde war geheilt, das Wasser heilte sie wie von selbst, aber die Freundschaft zwischen ihnen hatte gewissermaßen ihre Weihe erhalten, und alle seine kleinen Schmerzen und Wunden trug Franz fortab zu seinem Freunde und ließ sie von ihm heilen, die offenen und die verschwiegenen. Nun war das Wasser sein Gegner geworden. Sie rangen miteinander, doch es war nicht das kindliche Spiel mehr des Augenblicks, vergessen im nächsten. Aus der knabenhaften Balgerei war ein ernsthaftes Messen der Kräfte geworden. Aber es war noch immer der achtungsvolle Kampf zweier Gegner, die sich vor und nach ihm die Hand schütteln und voneinander gehen ohne jeden Groll. Noch immer herrschte die volle Eintracht der Einigkeit zwischen ihnen. Dritter Teil 1 Franz Felder wohnte noch immer bei seinen Eltern. Zwar nicht mehr in dem dumpfen Keller, in dem er einen Teil seiner Jugend verbracht, aber doch immer noch in einer Hofwohnung, ohne viel Licht und Wärme. Er hatte sein eigenes Zimmer. Hier hingen alle seine Trophäen. Die Ehrenpreise, die in Gegenständen bestanden und nicht in den Klubbesitz übergegangen waren und dort das Vereinszimmer schmückten, hatte er zum Teil seiner Mutter überlassen, die mit ihnen die dürftige Armut der vorderen Wohnstube zu verdecken suchte. Dort stand das große Bierservice, die Fruchtschale aus Cuivre, der Rauchtisch und manches mehr--Dinge, die oft mehr dem guten Willen als dem Geschmack ihrer Stifter Ehre machten. Aber alles, was er sich sonst errungen in seinen vielen Kämpfen, hing hier in seinem eigenen kleinen Zimmer in Gestalt dorrender Lorbeerkränze und mehr oder minder künstlerisch ausgeführter Diplome an den Wänden, und von den bunten Schleifen leuchteten goldene Inschriften. Bis an die niedrige Decke hinauf hingen sie, und über dem Bette war fast schon kein Platz mehr für neue Ankömmlinge. Auch hatte Felder es längst aufgeben müssen, sich alle seine Urkunden einrahmen zu lassen. Auf der Kommode in einem großen Glaskasten--dem Geschenk eines Klubfreundes, eines Schreiners, zu Weihnachten--lagen auf roter Sammetunterlage alle seine Medaillen, goldene und silberne, große und kleine, alle an ihren Schleifen, eine ganze Sammlung von nicht geringem Wert. Sie war sein höchster Stolz!--Mit welcher Liebe nahm er nicht zu den Festen Stück für Stück heraus, um es, eins nach dem andern, auf seiner Brust zu befestigen; mit welcher Sorgfalt legte er nicht jedes einzelne an seinen rechten Platz zurück!--Bei jedem neuen Siege verrückte der neue Erwerb den Platz und die Stellung der anderen, und in immer neuer Gruppierung lagerte sich um die schweren, goldenen Rundstücke erster Siege die Schar der kleinen Trabanten, alle gleich gekannt, alle gleich geliebt. Denn an jeden knüpfte sich eine unvergeßliche Erinnerung. So viele waren ihrer geworden, daß sie längst nicht mehr auf der breiten Brust des Meisterschwimmers Platz fanden. Auf seiner letzten Photographie trug er daher nur die wichtigsten selbst--die breiten Bänder um den Hals und die großen goldenen und silbernen Münzen auf den Rockschlägen; die anderen waren auf einem Schilde reihenweise geordnet, das auf einer Art Staffelei neben ihm stand, auf die er die Hand legte. Das ganze Bild des beutebeladenen Siegers erschien ebenfalls alsbald in einer Sportzeitung und übte stellenweise auf unwissende Laien eine erheiternde Wirkung aus, die keineswegs beabsichtigt war. Auch dieses Bild prangte in der kleinen Stube, und was außer ihm an Bildern dort noch zu sehen war, es stellte immer nur ihn dar: Franz Felder. Da war er als kleiner Junge mit seiner Rettungsmedaille auf der Brust, dick und ernst; als junges Mitglied des S.-C. B. 1879 mit der hellen Mütze und dem Zeichen seines ersten Sieges auf der Brust; ein Jahr später als neugebackener Berliner Meister--noch ohne Band um den Hals, aber doch schon gekrönt mit einem ersten Preise und mit jenem seltsamen Zug um den Mund, der auf keinem der späteren Bilder mehr fehlte. Endlich all diese Bilder der späteren Jahre, aufgenommen in all den verschiedenen Städten, wo man ihn mit zum Photographen genommen oder ihn beim Fest selbst noch schnell vor den Kasten gestellt, ehe er ins Wasser ging, immer um ein paar Zoll größer, immer etwas selbstbewußter in der Haltung, je mehr die Zahl der Zeichen auf seiner Brust wuchs--da waren sie alle bis auf dies letzte, wo die Zahl der Ehren so groß geworden war, daß er ihre Last nicht mehr selbst tragen konnte... Und da waren die anderen Bilder, die Gruppenaufnahmen, auf deren keinem er fehlte: erst mehr an der Seite, fastversteckt unter den anderen, dann immer mehr in die Miete gerückt, bis seine Person die Mitte selbst bildete--diese Aufnahmen, ausgeführt zum größten Teile von irgendeinem Amateurphotographen, mehr oder minder gut gelungen, aber jede einzelne eine liebe Erinnerung an die fröhlichen Stunden eines Ausfluges, einer Veranstaltung des Klubs, erfüllt von Gelächter und immer überstrahlt von der unversiegbaren Fröhlichkeit der Jugend. Und endlich die Bilder, die ihn darstellten unter seinen Mitschwimmern bei den Konkurrenzen, Aufnahmen, wie sie in letzter Zeit bei den wichtigsten Hauptschwimmen gewöhnlich gemacht wurden, bevor man an den Start ging. Alle Namen, die überhaupt in der Schwimmerwelt in den letzten Jahren genannt wurden, waren da vertreten, alle die mehr oder minder gefährlichen Gegner, alle, mit denen er, Franz Felder, gerungen, alle, die er besiegt hatte... Er kannte sie alle und lächelte, wenn sein Blick auf ihren Gesichtern ruhte. Im Momente der Aufnahme noch ruhig, fast gleichgültig--wie verändert waren sie alle wenige Minuten später, wo es drauf und dran ging!--Wie verschieden waren diese nackten, nur mit dem Trikot bekleideten Gestalten: der eine lang und hoch aufgeschossen wie ein Turm und sehnig wie ein Pferd; der andere kurz und untersetzt mit mächtigen Schenkeln und einer phänomenalen Brustweite; der dritte ebenmäßig und schlank, in nichts fast seine Kraft verratend; und immer war es Felder, der diesem Dritten glich. Auf allen Bildern stand seine schöne, schlanke Gestalt hoch aufgerichtet und ruhig unter den anderen, und seine ernsten und mutigen Augen verliehen seinem Gesicht einen Zug von Leidenschaftlichkeit und Intelligenz, den man vergebens auf denen der anderen suchte... Schließlich füllte eine Ecke des Zimmers ein großer Stoß von Programmen und Zeitungen: die Programme der Wettschwimmen, an denen er teilgenommen, und die Zeitungen, die über sie berichtet hatten. Es war schon ein ganzer Haufen, und Felder hatte ihn sorgfältig gesammelt. Koepke hatte ihm dabei geholfen und sorgte dafür, daß nichts fehlte. So hatte er alles um sich herum in dem kleinen Raum, was seines Lebens ganzen Inhalt ausmachte, und darum fühlte er sich wohl in ihm. Seine Familie bedeutete ihm schon seit langem nur so viel, als sie ihm diese Heimat erhielt. Ihre Interessen waren nur noch in wenigen äußerlichen Dingen die seinen. Jeder ging seine eigenen Wege, und man war es beiderseits zufrieden. Wenn er seiner Mutter zur Ausschmückung des Vorderzimmers die Wertpreise überließ, so tat er es nicht nur, weil sie ihn in seinem kleinen Zimmer beengten, sondern hauptsächlich, weil er auf sie weit weniger Wert legte als auf seine Diplome und Medaillen. Er wußte nichts mit ihnen anzufangen. Ganz Herr seiner selbst, mit eigenem Schlüssel zu eigenem Eingang, kam und ging er, wie er wollte, und längst war jeder Anspruch seiner Familie an seine Zeit verstummt. Von den heranwachsenden Geschwistern zeigte keiner besondere Lust zu seinem Sport; daher interessierten sie ihn nicht. Sie gehörten für ihn zu dem "anderen Teile" der Menschheit. So war die einzige Veränderung in seinem äußeren Leben eigentlich nur die, daß er seine Stellung aufgegeben. Als seine Beteiligung an den ausländischen Konkurrenzen immer wieder die Bitte um Urlaub nötig machte, wurde der sonst ziemlich geduldige Chef unwirsch, und vor Felders englischer Reise sagte er ihm, er möge zwar ein großer Schwimmer sein, aber das könne ihm doch für seinen eigentlichen Beruf nichts nützen, und er möge lieber seinem Sport etwas weniger Zeit opfern... Wie der kleine Junge vor Jahren unter den Worten des Rektors, so bäumte sich jetzt der gefeierte Meisterschwimmer auf; aber er war zu stolz geworden, um überhaupt ein Wort der Entgegnung zu verlieren. Er ging. Wenn man nicht wußte, wer er war, so sollte man es bleiben lassen oder es lernen.--Daß er zeitweilig ohne Stellung war, kümmerte ihn wenig. Als er dann von England kam, war er durch die ihm gebotene Ehrensumme jeder augenblicklichen Not enthoben, und er arbeitete von da an nur, wenn es ihm gefiel... Größer war die innerliche Veränderung, die mit ihm vorgegangen war in diesem Jahre. Als er von England als der unangefochtene Meister Europas zurückkehrte, fiel sie zum ersten Male seinen Klubbrüdern auf. Ernst und schweigsam war er eigentlich immer gewesen, aber nie hatte sich seine große Gutmütigkeit und Freundlichkeit verleugnet. Jetzt war etwas Strenges und Hartes in sein Wesen gekommen, das ihm nicht eigen gewesen war. Wie er gegen sich war, so wurde er nun auch gegen andere. Auch seine Unbefangenheit war nicht mehr dieselbe. Er wußte, was er seiner Würde schuldig war, und war eifersüchtig auf sie. Er verlangte, daß sie respektiert werden sollte, und hatte angefangen, darauf zu achten. Leichtigkeit im Umgang hatte er nie besessen, aber die Schwerfälligkeit seines Wesens war nie so hervorgetreten wie jetzt, wo er nicht mehr im Hintergrunde stand. Bei den Sitzungen glaubte er an den Beratungen teilnehmen, in die Verhandlungen eingreifen zu müssen. Da ihm die Gabe der Rede jedoch völlig abging, so vermochte er sich nur unbeholfen auszudrücken, und man fand allgemein mit Recht, daß er besser täte, zu schweigen wie bisher. Dennoch hatte man so viel Achtung vor ihm und seinem leidenschaftlichen Ernst, seiner hingebenden Liebe zur Sache, daß man ihn geduldig anhörte. Eine bisher fremde Ungeduld hatte ihn ergriffen; er wollte immer weiter und weiter, ohne doch recht Zuwissen, wohin noch. Bei den meisten Mitgliedern des Klubs aber, besonders bei den älteren, machte sich eine gewisse Ermüdung nach so vielen großen und lauten äußeren Erfolgen geltend, und sie verlangten mit größerer Entschiedenheit nach einer einheitlichen Ausbildung des Ganzen, nach einer ruhigeren Entwickelung als bisher. Noch hatte Felder nichts an Freundschaft und Achtung verloren. Im Gegenteil: seine Siege hatten ihm begeisterte Bewunderer erworben, die mit ihm durch dick und dünn gingen und bei denen er alles galt. Aber man fand den Verkehr mit ihm nicht mehr so bequem wie früher. Man fühlte, hier mit Bedauern, dort mit Unmut, daß er nicht zufrieden war. Und so war es auch: in dieser Zeit, die nach beispiellosen Erfolgen die glücklichste und schönste seines Lebens hätte sein müssen, war er nicht glücklich. 2 Ein Winter der Ruhe sollte diesem aufgeregten Sommer voll höchster Triumphe folgen. Der Verein hatte nach langen Debatten beschlossen, Felder nur auf ein einziges Winterfest zu senden, auf dem er den Wanderpreis der Stadt Charlottenburg zum dritten Male erkämpfen mußte. Sonst sollte er ruhen, nicht trainieren und, wie Brüning lächelnd sagte, sich "in seinem eigenen Glänze sonnen". "Im nächsten Sommer würde es schon genug Arbeit geben, um das Gewonnene mit Ehren zu behaupten", fügte Nagel in seiner bedächtigen Weise hinzu. Er hatte sich übrigens verlobt und sein Amt als Schwimmwart nieder gelegt. Auch Brüning war in diesem Winter meist von Berlin fort, und so war Felder mehr als vorher auf die Gesellschaft seiner anderen Klubbrüder angewiesen. Obwohl er mit allen mehr öder minder vertraut war, verband ihn doch mit keinem eigentlich die enge Freundschaft wie mit jenen beiden, und sein Vertrauen genoß nur noch Koepke. Aber der war immer da und zählte nur mit, wenn Felder ihn gerade brauchte. Eine der stürmischen Klubsitzungen war vorüber. Es hatte irgendeine Streitigkeit mit einem anderen Vereine gegeben, bei der die Mitglieder verschieden Partei ergriffen. Obwohl Felder von der ganzen im Grunde gleichgültigen Geschichte wenig begriff und sie ihn obendrein nicht besonders interessierte, glaubte er es doch seiner Würde schuldig zu sein, ein paar Worte mitzureden, und die waren wieder schlecht genug ausgefallen. Daß man seine unklaren und unbeholfenen Auseinandersetzungen so ruhig und ohne zu lächeln hingenommen hatte, verdankte er nur seinem Ruhm... Nun ging es noch in ein Café mit zwei anderen, denn man war noch viel zu erhitzt und aufgeregt, um schlafen zu können. Es war das übrigens für Felder in letzter Zeit eine Gewohnheit geworden, an die er vor einem Jahre noch gar nicht gedacht hatte. Jetzt aber: Geld hatte er ja, und ausschlafen konnte er morgen auch... Man saß in einem Cafe in der Leipziger Straße. In Felder nagte noch der Ärger über sich selbst, und er sprach kein Wort mehr. Um so lauter waren die beiden anderen; in leidenschaftlicher Debatte suchten sie sich gegenseitig zu überzeugen. Felder hatte sich eine Zeitung geben lassen, las aber nicht, sondern sah sich bewundernd um. Er war zum ersten Male hier. Er war nicht mehr der unerfahrene Junge aus dem Osten Berlins, der nichts außer seinem Stadtteil kannte, sondern ein gereister Mann, der Vergleiche anstellen konnte. Aber dies schien ihm doch eines der schönsten Cafés zu sein, das er je gesehen hatte. Überall Gold und Marmor und Spiegel bis an die Decke hinauf; und dazu stimmte die Eleganz des Publikums, der ruhig-vornehme Ton, der hier herrschte und der selbst seine Kameraden zwang, ihre lauten Stimmen zu dämpfen; und die leise Art der Kellner, die in ihren blendendweißen Schürzen kamen und gingen, ohne daß man es merkte. Es waren nicht sehr viele Gäste außer ihnen in diesem Teil des Saales. An einem Tisch unweit von ihnen saß ein Herr mit einer Dame, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, da er ihm den Rücken zudrehte. Die Dame war sehr elegant gekleidet, saß zurückgelehnt in ihrem Stuhl, und während Felders Blick von der Betrachtung des Saales zu ihr zurückkehrte, bemerkte er, wie sie ihn ansah. Er blickte fort. Als er dann zufällig nach einer Weile wieder zu dem Tisch hinübersah, sah er noch immer ihre Augen auf sich gerichtet, so fest und unverwandt, daß jeder Irrtum ausgeschlossen war, und er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß sie ihn während dieser ganzen Weile so angesehen haben mußte. Diesmal wandte er sich noch schneller ab und betrachtete noch aufmerksamer die Decke, die Wände und die übrigen Gäste. Es war ihm unbehaglich, so angestiert zuwerden. Dann--als er nach einigen Minuten wieder hinschaute, überzeugt, dem eigentümlich festen und ruhigen Blicke nicht mehr zu begegnen, sah er die Dame unverändert wie vorher zurückgelehnt in ihrem Stuhle sitzen und ihre Augen unverwandt auf seinem Gesichte ruhen. Diesmal begegneten sich ihre Blicke: der Felders unruhig, herausfordernd- fragend, der der Fremden unverändert ruhig, überlegen, fast gleichgültig, als sei es selbstverständlich, daß sie ihn in dieser Weise mustere; und ohne die geringste Veränderung, wie ihr Blick, blieb auch der Ausdruck ihrer Züge. Er wurde unruhig. Jetzt wußte er, daß er sich nicht täuschen konnte. Er ergriff eine Zeitung, starrte verständnislos auf eine politische Karikatur der "Lustigen Blätter" und war entschlössen, nicht mehr aufzusehen. Was sollte denn das eigentlich heißen?-- Warum starrte die ihn denn so an?-- So viel hatte er gesehen, daß sie außergewöhnlich schön war und kostbar gekleidet. Sie trug ein über und über besticktes graues Seidenkleid und einen Hut mit großen Federn von gleicher Farbe. Auch glitzerte es überall von Steinen an ihr--an ihren Händen, in ihren Ohren, auf ihrer Brust. Er wollte nicht aufsehen, um nicht nochmals ihrem Blick zu begegnen. Als er aber dann, wie neugierig, sich nach den anderen Tischen umsah und seine Augen ebenfalls scheinbar gleichgültig über den ihren schweifen ließ, sah er, wie sie sich zur Seite gewandt hatte, da ihr Begleiter mit ihr sprach und sie sich ihm zuwenden mußte, um zu antworten. Nun konnte er der Versuchung nicht widerstehen, sie zu betrachten, und er sah, daß sie noch weit schöner war, als er dachte. Er hatte noch nie ein so schmales, feines Gesicht gesehen, solche zarte Haut, die weiß aussah wie gepudert, und solch eigentümlich rote, schön geschwungene Lippen, dabei so viel Selbstbewußtsein und zugleich Gleichgültigkeit in der aufrechten Haltung des Körpers... Er konnte nicht fortsehen, so seltsam schön erschien sie ihm, und er ließ sie nicht mehr aus den Augen, wie sie sich jetzt etwas vornüberbeugte, um irgendeine Stelle in der Zeitung besser zu sehen, auf die ihr Begleiter sie hinwies. Als wenn sie fühle, daß er sie anblickte, sah sie plötzlich wieder auf, und wieder begegnete dem seinen der Blick dieser großen, dunklen, von langen, schwarzen Wimpern beschatteten Augen, die wieder ruhig und prüfend, ohne Frage, aber mit durchaus unverhohlenem Interesse auf ihm ruhten. Diesmal stieg eine jähe Röte in sein Gesicht, und mit einer hastigen Bewegung, die nur zu deutlich zeigte, wie sehr er sich erraten sah, wandte er sich ab. Er war verlegen und ärgerte sich. Er wäre am liebsten fortgegangen, wenn es möglich gewesen wäre ohne die anderen, die unbekümmert weiter schwatzten. Von jetzt an schaute er nur von Zeit zu Zeit auf, und jedesmal begegnete er dem Blicke dieser Augen, der immer größer und immer willensfester zu werden schien, als wollte er sagen: ich erkenne dich... Eine schwüle Beklemmung stieg in dem jungen Manne empor, wie er sie noch nie empfunden. Er fühlte, daß diese Frau etwas von ihm wollte.-- Aber was?--Wer war sie?--War der Herr mit den ergrauten Haaren ihr Mann?--Ihr Freund?--War sie eine anständige Frau oder war sie--etwas anderes? Eine anständige Frau war sie sicherlich nicht. Eine anständige Frau sah einen fremden Mann nicht so an, aber eine öffentliche noch weniger. Die wäre übrigens gar nicht in dieses Café eingelassen worden. Einerlei wer sie war. Er war er, Franz Felder, und er wußte, wer er war, und er ließ sich nicht so ansehen. Mit einer fast verächtlich- ausdrucksvollen Gebärde kehrte er sich ab und dem Gespräch seiner Freunde zu. Man sprach jetzt laut und ohne Rücksicht auf die Ruhe des Cafés vom nächsten Schwimmfest. Felder hatte sich fest vorgenommen, überhaupt nicht mehr nach dem Nachbartische hinzusehen. Mochte die ihn doch anstarren, soviel sie wollte!--Er konnte es ihr nicht verbieten, aber er wollte ihr schon zeigen, was er von ihrem Benehmen dachte! Aber dann, nach einer Weile, während der er vergebens versuchte, sich am Gespräch zu beteiligen, vernahm er ein Geräusch (ein Kellner hatte einen Löffel fallen lassen), das ihn auf und nach der Seite sehen ließ, und unwillkürlich streifte sein Blick wieder den ihren wie vorher. Und jetzt sah er, daß sich der Ausdruck ihrer unbeweglichen Züge geändert hatte: es war ihm, als höbe sich die Brust unter der grauen Seide, als hätte sich der festgeschlossene rote Mund ein wenig geöffnet, nur so weit, daß er die weißen Zähne durchschimmern ließ, und als sei in diese dunklen, kalten Augen das Feuer eines heimlichen Begehrens getreten, das nach ihm verlangte... Und jetzt war ihm nicht mehr ungemütlich, sondern plötzlich unheimlich zumute. Wieder sah er fort und wieder auf: abermals hatte der Ausdruck dieses fremden, rätselvollen Gesichtes gewechselt und an die Stelle drohenden Begehrens war der triumphierender Freude getreten, der zu sagen schien: Aha, jetzt fürchtest du mich schon! Er konnte es nicht mehr ertragen. Schon wollte er das Gespräch seiner Genossen unterbrechen und sagen, er sei müde und wolle fort, als er sah, wie sich der alte Herr halb erhob und sich fragend an seine Begleiterin wandte, die bejahend den Kopf neigte. Er blieb sitzen. Jetzt würde es kommen. Beim Hinausgehen würde er irgendein Zeichen von ihr empfangen, und an ihm würde er erfahren, was sie von ihm wollte. Aber nichts von dem allen geschah. Ruhig stand sie auf, ließ sich den kostbaren Pelz um die Schultern legen, und ging hochaufgerichtet und mit leichten Schritten, und ohne ihn anzusehen, an ihm vorüber: Felder sah auf, aber ihr Blick ging gleichgültig über ihn weg, und nur leise streifte seinen Stuhl die Schleppe ihres Kleides, während der starke Duft eines seltsamen Parfüms von ihr ausging. Hinter ihr her der alte Herr, mager und straff, der Typus eines hochmütigen, aristokratischen Roués, mit seinen kalten und leeren Zügen, unnahbarer noch als sie... Felder blieb ganz verdutzt sitzen. Er hatte so bestimmt irgend etwas erwartet--was, wußte er selbst nicht, aber irgend etwas Ungewöhnliches. Aber so: erst starrte sie ihn eine halbe Stunde lang mit ihren schwarzen Augen an, wie ein Wundertier, sich förmlich an ihm festsaugend, und dann ging sie fort und sah über ihn hinweg, als sei er Luft--Luft--Luft!-- Unbewußt war seine Eitelkeit geschmeichelt, und nun fühlte er sich plötzlich in ihr verletzt. Sie saßen noch lange im Cafe, die drei, aber Felder war noch mißgestimmter als vorher und fast grob. In der Nacht, unter den heißen und schweren Kissen, träumte er von ihr: von ihrer schlanken Gestalt in dem grauen Seidenkleide, ihren drohenden Augen und dem seltsamen Rot ihrer gemalten Lippen... Und noch nach Tagen glaubte er zuweilen den Duft zu spüren, der von ihr ausgeströmt war, als sie an ihm vorbeischritt, diesen starken Duft eines ihm unbekannten Parfüms. Dann hatte er bald die "ganze blödsinnige Geschichte" vergessen, denn ein anderer Gedanke begann ihn zu beherrschen ganz--und gar... 3 In dieser Zeit, die die glücklichste seines Lebens hätte sein müssen, war Franz Felder nicht glücklich. Alles, was er je in seinen kühnsten Träumen kaum zu hoffen gewagt, hatte er erreicht; alle Siege, die überhaupt erlangbar waren, waren ihm zugefallen; was keinem je zuteil geworden: höchste Ehren in so frühen Jahren, er besaß sie... Dennoch war er nicht zufrieden. Alles konnte er ertragen, nur nicht diese Ruhe nach solchen Siegen. Ihn dürstete nach neuen und größeren Erfolgen, gleich dem Trinker, dessen Durst sich mit jedem neuen Glase vermehrt--er begehrte etwas Neues, noch nie Dagewesenes... Größere Siege gab es nicht, so konnten es nur außergewöhnlichere sein. Eine Idee tauchte wieder in ihm auf, die ihn schon oft beschäftigt, und ließ ihn nicht mehr los. Er war Schwimmer, ausschließlich Schwimmer. Als Schwimmer war er vom besten seines Klubs allmählich der Meister Europas geworden. Ein ausgezeichneter Taucher war er schon als kleiner Kerl gewesen, und er wühlte immer noch zuweilen unter dem Wasser herum, um die Kraft seiner Lungen zu erproben und aus reiner Lust. Aber an den Konkurrenzen der Teller und Hechttauchen hatte er nie teilgenommen. Sie waren ihm immer als etwas Minderwertiges vorgekommen. Im Springen dagegen hatte er es über den glatten und schönen Kopfsprung, mit dem er stets ins Wasser ging, nicht hinausgebracht. Andere Sprünge hatte er früher wohl gekonnt und noch manchmal versucht--aber immer nur ungern, und dann war er regelmäßig so aufgeschlagen wie alle anderen, die sie nicht ständig übten. Endlich waren sie gänzlich gegen sein Schwimmtraining zurückgetreten und über ihm in Vergessenheit geraten. Er konnte keinen einzigen mehr ordentlich. Daher hatte er sich an den Mehrkämpfen im Schwimmen, Springen und Tauchen, aus denen der als Sieger hervorgeht, der die größte Anzahl von Punkten in allen drei Arten aufweist, nie beteiligt und nie daran denken können, es zu tun. Aber nie hatte er in den letzten beiden Jahren seiner beispiellosen Triumphe ein Gefühl des Mißmuts ganz unterdrücken können, wenn er sehen mußte, wie bei den Preisverteilungen noch andere als er zu Meistern ernannt wurden, zu Meistern im Mehrkampf und Springen, und gleiche, wenn auch nie so beispiellose Ehren genossen wie er. Besonders stark war dieses Gefühl--mehr ein Gefühl der Unbefriedigung, kein Gefühl des Neides, denn kleinlich war er nicht--im letzten Jahre geworden, wo es dem Verwöhnten schwerer und schwerer wurde, mit anderen zu teilen. Sein Ehrgeiz ließ den Gedanken nicht ruhen und schürte ihn immer von neuem: sollte es denn nicht möglich sein, auch dieses Gebiet für sich zu erobern, auf ihm gleiche oder doch ähnliche Triumphe zu erlangen wie auf seinem eigensten, und wenigstens einzelne Mehrkampfpreise an sich zu reißen?--Im Tauchen würde es ihm leicht gelingen, sich durch einfache Übung ohne große Anstrengung so lange "unter Wasser zu halten" wie die anderen; Übung und eine normale Lunge genügten hier vollkommen. Und erst die seine!-- Aber im Springen?!--Er hatte bei seiner Einseitigkeit die anderen Sports so gänzlich vernachlässigt, z. B. nie geturnt; er war kein Knabe mehr, dessen Muskeln noch weich und nachgiebig waren gegenüber allen Anforderungen, sich auszubilden,--und hier kam nicht nur Ausdauer und Übung in Betracht, sondern jene spezifische Begabung, die ihn gerade auf seinem Gebiet zu dem einzigen Schwimmer gemacht hatte.-- Die Frage war: Konnte ein erster Schwimmer überhaupt ein erster Springer sein, und umgekehrt? Die Erfahrung sprach dagegen. Es gab erstklassige Schwimmer, die hervorragend gute Springer waren, und umgekehrt. Die einen oder anderen waren es gewöhnlich, die sich daher die ersten Mehrkampfpreise holten, indem sie durch die eine Fertigkeit ersetzten, was ihnen an der anderen fehlte, und nur selten verscherzte sich einer von ihnen durch schlechtes Tauchen den Preis. Aber daß sich ein und derselbe auf einem Feste an zwei ersten Einzelkonkurrenzen auf verschiedenen Gebieten beteiligt hatte, das war wohl noch fast nie dagewesen und hätte jedenfalls mit der sicheren Niederlage auf dem einen der beiden Gebiete geendet. Daher fielen die Preise hierhin und dorthin, und der Klub genoß die höchste Ehre, dem es gelungen war, nicht nur erste Schwimmer, sondern auch erste Springer heranzubilden. So besaß der S.-C. B. 1879 neben dem Meisterschwimmer Felder den unübertrefflichen Springer Grafenberger. Felder wußte dies alles ganz wohl. Aber er kam von seinem Gedanken nicht mehr los. Es nutzte alles nichts. Er ertrug es schon nicht länger, andere neben sich als ebenbürtige Meister gleich gefeiert zu sehen--einmal, einmal mußte er das Hochgefühl ganz auskosten, allein, ganz allein unter dem Jubel des Tages dahin zu schreiten--: keinen neben, alle hinter sich... Wenigstens mußte er versuchen, ob es ihm nicht gelang, durchzusetzen, was er plante. Mit der alten, zähen Entschlossenheit, der ganzen Verbissenheit in sein neues Ziel, ging er auch diesmal ans Werk. Er wollte vorab nichts verlauten lassen. Einmal, weil er nicht ausgelacht werden wollte, wenn die Sache mißlang; dann aber, weil er ganz gut wußte, daß mit seinen beispiellosen Erfolgen ihm überall Neider entstanden waren, die es sicher an gehässigen Bemerkungen nicht fehlen lassen würden, wenn sie sahen, wie er, immer noch nicht zufrieden, weiter und weiter die Hände nach den Lorbeeren anderer streckte... Überhaupt war es ganz ausgeschlossen, daß er sich unter aller Augen plötzlich im Springen versuchte. Er konnte ja nicht mehr im Bade erscheinen, ohne daß man ihm auf Schritt und Tritt nachging und jede seiner Bewegungen verfolgte. Beim Schwimmen störte es ihn nicht, und er hatte sich längst an die leise geflüsterten Worte und die neugierigen Blicke gewöhnt. Aber bei dem, was er jetzt vorhatte, hätte es jeden Versuch von vornherein vereitelt. Er mußte einen Ort ausfindig machen, an dem er ungestört seine neuen Übungen anstellen und sich so weit ausbilden konnte, um mit einiger Sicherheit vor seinen Klub an den Übungsabenden hintreten zu können. Das war nicht einmal schwer. Berlin, so arm an Winterschwimmhallen, besaß neben seinen am meisten besuchten Volksbadeanstalten und den ein, zwei großen privaten Hallen in dem einen oder anderen Stadtteil noch ein oder zwei Bassins, unbrauchbar für die Schwimmfeste ihrer Kleinheit wegen, gekannt nur von wenigen alten Stammgästen und gehalten von ihren Besitzern nur als unfruchtbarer Anhang zu ihren Etablissements, weil sie nun einmal da waren. Ein solches Bad lag ganz im Süden der Stadt, jenseits des Halleschen Tores--verlassen von aller Welt und als Schwimmbad seit langer Zeit vergessen und kaum mehr genannt. Ob es noch existierte, wußte selbst Felder nicht, der hier vor Jahren einmal gewesen war, um der kleinen Veranstaltung irgendeines längst eingegangenen Klubs beizuwohnen. Das war, was Felder jetzt brauchte, und eines Abends unternahm er eine heimliche Orientierungsreise nach dem Süden der Stadt. Er fand ein dunkles, tiefes Loch, gefüllt mit einer schwarzen, kalten Flüssigkeit, völlig ungeeignet zum Schwimmen, da Felder es mit einem einzigen seiner Stöße in die Länge und einem halben in die Breite durchmaß, aber von genügender Tiefe, selbst für die geraden Sprünge, und leidlich erhaltenen Sprungbrettern in zweifach verschiedener Höhe. Einmal in der Woche übte hier der Schwimmklub einer Schule, der mit sportlichen Kreisen in keiner Berührung stand; sonst badeten nur morgens ganz früh und abends nach der Arbeit ein paar Täglichschwimmer hier, die es "nicht lassen konnten", wie der verschlafene Bademeister meinte, der Felder nicht einmal dem Namen nach kannte. Dieser entschloß sich sogleich, nachdem er einige Versuchssprünge gemacht hatte. Hier würde ihn sicher niemand finden. Wenn er allwöchentlich einmal auf den Übungsabenden (wenn hier die Lehrer mit ihren Schülern hierherkamen) und ein anderes Mal auf den Sitzungen seines Klubs erschien, wenn er zudem nach wie vor die Sonntage mit seinen Leuten verbrachte, so konnte es nicht weiter auffallen, daß er regelmäßig die vier anderen Abende fortblieb. Außerdem erwartete jetzt auch kein Mensch mehr von ihm, daß er wie bisher weitertrainierte. Und schließlich war er doch eben auch der berühmte Franz Felder, der tun und lassen konnte, was er wollte, und den so leicht keiner mehr danach fragen durfte. Zustatten kam ihm, daß die Arbeitszeit in der großen mechanischen Werkstätte, in der er jetzt wieder eine Stelle angenommen hatte, nur bis sechs Uhr dauerte. Wenn er auf den Weg eine Stunde rechnete, so konnte er um sieben am Halleschen Tor sein. Die Kasse des Bades schloß um acht; das Bad selbst um neun Uhr. Es blieben ihm also zwei Stunden--viel zuviel für jeden anderen, noch zu wenig für ihn und für das, was er vorhatte. Vom Entschluß zur Ausführung war für Felder nur ein Schritt. Die ganze Hartnäckigkeit seines Willens zeigte sich jetzt von neuem. Viermal die Woche, jeden Montag und Dienstag, jeden Donnerstag und Freitag, machte er nach der Arbeit den weiten Weg nach dem Süden, übte frisch, als wenn er nicht von der Arbeit, sondern aus dem Bette käme, seine Sprünge, von den einfachsten allmählich zu den schwierigeren übergehend, und endlich die schwierigsten--treu, unermüdlich, täglich von neuem die Kraft seines Körpers in dem fremden und ungewohnten Kampfe erprobend, und nie beruhigt über seine Fortschritte, nie zufrieden... Wie er früher geschwommen und nur geschwommen hatte, so sprang und sprang er jetzt. Alles Gelernte durchging er jeden Abend von neuem, um sicher zu sein, nichts gegen gestern eingebüßt zu haben, und täglich ging er einen Schritt weiter. Zunächst wiederholte er die einfachen Sprünge, die er als kleiner Knabe dort draußen in dem Kasten an der Spree halb im Spiel gelernt, aber fast vergessen hatte, und sah mit Freude, daß er sie noch konnte: das einfache Abfallen und den "Abrenner" sowie die leichtesten Formen der Kopfsprünge, in ihren verschiedenen Arm- und Beinhaltungen, das Anlegen, Anziehen, Strecken, Spreizen derselben. Dann diese selben Kopfsprünge in ihren verschiedenen Drehungen, der viertel, halben und ganzen Drehung um die Längsachse, vorwärts und rückwärts, und wiederum dieselben mit Anlegen oder Hochheben der Arme, alle diese sogenannten "Schrauben". Alsdann die Hechtsprünge, die Bohrer, bei denen man ins Wasser schoß wie ein Pfeil, und auch diese in ihren mehrfachen Armhaltungen und Drehungen beim Niedergehen. Endlich die "Schlußsprünge", diese schwierigen Sprünge mit ihren wunderbaren Drehungen um die Breitenachse, die bis zur eineinhalb-, ja zweieinhalbfachen Drehung des ganzen Körpers gingen, die so berühmten "Saltos", bei denen der Springer sich in der Luft um sich selbst dreht wie ein Ball, Sprünge, die in ihrer Vollendung von ungeheurer Schwierigkeit sind und daher selten mit der höchsten Nummer sechs gewertet werden konnten, da sie nur dem Geübtesten gelangen. Ganz zuletzt noch die Spreizsprünge, jene sogenannten Auerbachsprünge, bei denen das regelrechte Spreizen der Beine die Hauptsache war... Daneben aber galt es einen großen Teil aller dieser unendlich verschiedenfachen Sprünge zu üben in ihren wiederum so verschiedenen Ansätzen: aus dem Stand oder mit Anlauf; und sodann die aus dem Stand in ihrer beim Abspringen angenommenen Haltung: vorwärts, rückwärts, seitwärts. Endlich aber sie noch zu beherrschen von verschiedener Sprungbretthöhe aus, der niedrigen von einem, der mittleren von drei, der hohen von sechs Metern aus. Selbstverständlich war es ein Unding, alle diese Sprünge in allen ihren verschiedenen Ausführungsarten sich zu eigen zu machen. Kein Mensch konnte das, und Felder dachte auch gar nicht daran: Worauf es ihm ankam, war nur, sich einige der schwierigen, und wenn möglich die schwierigsten, bis zur Sicherheit einzulernen, vor allem die, welche bei den Konkurrenzen gewöhnlich verlangt wurden; und sich sodann einige andere ebenfalls bis zur Vollendung zu eigen zu machen, um sie als selbstgewählte Sprünge, im "Kürspringen", ins Treffen zu führen. Vorerst durfte er an die Erreichung dieses Zieles noch gar nicht denken und mußte froh sein, wenn er die einfachen Sprünge, die, "welche jeder konnte", lernte. Denn eigentlich konnte er noch gar nichts und war sich auch ganz klar darüber. So übte er einstweilen und war froh, es so ungestört und unter den Augen seiner eigenen Kritik tun zu können. Denn seine Berechnung täuschte ihn nicht. Er konnte ruhig sein, daß ihn hier niemand suchte und fand. Die Schwimmklubs hatten sämtlich ihre bestimmten Abende in den anderen Bädern, an die sich ihre Mitglieder hielten, und sonst waren es immer dieselben paar Gäste, die den alten mürrisch-schweigsamen Bademeister abends aus seinem Winterschlaf für eine Weile aufstörten: ein fanatischer Naturmensch, der durch den tiefsten Schnee in bloßen Sandalen herkam, um sich unter der kältesten Dusche zu erwärmen; ein uralter Doktor, Medizinalrat usw., der auf den Schlag der Stunde kam, sich geräuschlos entkleidete und seinen dürren Körper für genau zwei Minuten am untersten Ende des Bassins ins Wasser tauchte, wobei er sich krampfhaft an der Leiter festklammerte; ein kleiner Judenjunge, der auf den Befehl seiner Eltern kam, die es offenbar für sehr gesund hielten, wenn er sich nach langem Zaudern endlich entschloß, ins Wasser zu springen, einmal herumzuschwimmen und dann eine halbe Stunde lang noch bebend vor Angst und zitternd vor Frost mit bloßen Füßen auf dem kalten Steinboden zu stehen und mit großen, staunenden Augen Felders Sprüngen zuzusehen; und dann noch einer oder zwei von denen, die es "nicht lassen konnten"--keine großen Schwimmer, aber passionierte Wasserratten, denen diese köstliche Erfrischung einer täglichen Hautreizung Bedürfnis geworden war. Keiner von ihnen allen wußte, wer Felder war und was ihn hierher brachte. Er trug ein einfaches Trikot und eine Badehose ohne jedes Abzeichen, die er sich zu diesem Zwecke gekauft hatte--das erstemal seit für ihn undenkbarer Zeit, daß er die blauweißen Farben seines Klubs nicht führte... Ein seltsames Bild, dieses jeden Abend: der nicht große, aber hohe Raum halb im Dunkeln, nur schlecht beleuchtet von ein paar flackernden Gasflammen, und unregelmäßig, oft kaum erwärmt. Das schwarze, stille Wasserbecken, eine hohle Tiefe ohne Grund. Hier und da hinter den verhängten Nischen ein vereinzelter Badegast, der sich langsam auszieht, langsam ins Wasser geht und langsam wieder heraus. Kein Rufen und Lärmen wie sonst in allen Bädern--kaum ein Gespräch; ein eisiges, unheimliches Schweigen, einzig unterbrochen zuweilen durch das plötzliche Schnauben des Dampfes, der an einer fehlerhaften Stelle der Wärmeröhren pfeifend herausschießt, um wie eine Sommerwolke schnell zu verfliegen. Dann kommt Felder, greift rasch mit einem kurzangebundenen "Guten Abend" nach seinen Sachen, steigt zur Galerie hinauf, wo er sich schnell entkleidet--und nach wenigen Minuten bereits hallt und rauscht das Wasser unter seinen ersten Sprüngen. Da gibt es nicht erst lange Abkühlung und Abreibung und bedächtiges Überlegen: ein einziges Emporstrecken der Arme, ein Dehnen des dampfenden Körpers, dann ein festes Aufsetzen, und er ist in seinem Element. Und nun bebt und dröhnt für die nächste Stunde das Sprungbrett wieder und wieder unter den unermüdlichen Füßen, und das schlafende Wasser gurgelt und grollt leise bei den Sprüngen, die gelingen, wenn der Körper es wie ein Pfeil durchschneidet; und es knallt und spritzt hoch auf zu den Wänden bei denen, die mißlingen und die ihn flach aufschlagen lassen, wie ein Brett... und es hat nicht Zeit mehr sich zu beruhigen, bis Felder endlich atemlos, rot wie ein Krebs und völlig erschöpft--eine Pause machen muß, in der er in irgendeiner Ecke auf einer Bank liegt und, die Hände unter dem Kopf gefaltet, zu dem schmutzigen Glasdach emporsieht... Kaum wieder zu Atem gekommen, beginnt er das Spiel von neuem und von neuem: immer schwieriger werden seine Sprünge, immer intensiver die Anspannung seiner Muskeln und immer peinlich-genauer ihre Ausführung, und wieder gellt und schreit das Wasser unter den Schlägen dieser Hände, und grollt und schäumt und murrt noch, wenn Felder schon wieder auf dem Brett steht, während der kleine Junge zitternd vor Kälte mit seinen immer erschrockenen Augen den rätselhaften Springer verfolgt und in der Ecke fauchend der Dampf für eine Minute aus der zerplatzten Röhre schießt... Fast ein Vierteljahr--von Weihnachten bis zum beginnenden Frühjahr-- dauerte dieses neue zähe und seltsame Training: in den ersten Wochen sprang Felder stets allein, denn es kam ihm zunächst darauf an, seine Glieder für die neuen Anforderungen gelenkig zu machen. Dann, als er von den einfacheren zu den schwierigeren Sprüngen übergehen mußte und sie nicht mehr selbst kontrollieren konnte, brauchte er jemand, der sie wenigstens einigermaßen zu bewerten vermochte, und er vertraute sich nach Abnahme eines heiligen Ehrenwortes seinem getreuen Koepke an. Der hatte sich so lange im Schwimmerleben umhergetrieben, daß er wenigstens etwas von der Sache verstand; und daß er Feuer und Flamme für die neue Idee war, verstand sich von selbst--erwartete er doch immer das Unmöglichste von seinem großen, genialen Freunde. Von da an mußte Koepke fast alle Abende dabeistehen, wenn Felder sprang, und er tat es mit Wonne. Vorher machte Felder indessen noch eine neue Bekanntschaft. 4 Er hatte wieder ein Ziel und war wieder glücklich. Was ihn eine Zeitlang in seinen Strudel gezogen, der Rausch seines Ruhmes und fremder, lauter Vergnügungen, war in dieser Zeit fast von ihm vergessen und lag unbegehrt hinter ihm. Zuweilen vergaß er ganz, wer er war, und im Klub fand man wieder, daß er den "Meisterschwimmer" nicht mehr so stark herauskehre wie nach seiner Rückkehr von England. So stellte sich bald das alte, trauliche Verhältnis mit seinen Genossen wieder her und die festlichen Veranstaltungen des Winters strahlten auch auf Felder ihre alte Fröhlichkeit aus. Daß er nicht mehr ganz so oft wie früher unter "den Seinen" erschien, fiel nicht weiter auf; selten, daß er gefragt wurde und eine ausweichende Antwort geben mußte. Noch hatte er sein Geheimnis auch an Koepke nicht verraten. Abend für Abend machte er nach der Arbeit den weiten Weg vom Norden der Stadt nach dem Süden, fuhr erst eine Zehnpfennigstrecke mit der Pferdebahn und ging dann den Rest des Weges mit seinen festen elastischen Schritten die breite Lindenstraße hinunter, an den glänzenden Läden und den Stätten der Erholung und Freude, wie an seinem eigenen Klublokal vorüber, seiner neuen Arbeit zu--mit dem Ausdrucke innerer Entschlossenheit in den Zügen, als ginge es schon zu neuen Siegen. Mit dem Streben nach seinem neuen Ziel war er wieder ganz zu der Einfachheit der Gewohnheiten seiner bedürfnislosen Jugend zurückgekehrt. Nie hatte er seine Tagesarbeit unverdrossener und stiller getan und nie waren seine Gedanken weniger bei äußerlichen Vergnügungen und Zerstreuungen gewesen als jetzt. Wie früher trug er sein Abendbrot, ein paar belegte Stullen, in der Tasche mit sich und verzehrte es beim Ankleiden oder auf dem Heimweg aus der Hand. Das war das einfachste und das billigste und es nahm ihm nichts von seiner Zeit.-- Obwohl er zu seinen heimlichen Übungen kam und ging, ohne sich umzusehen, machte sich eine Bekanntschaft schon in den ersten Wochen wie von selbst. Unter den paar abendlichen Stammgästen erschien auch ziemlich regelmäßig ein Arzt, Dr. König, wie ihn der Bademeister nannte. Ein guter Schwimmer, nahm er sein Bad der Gesundheit wegen, ließ sich Zeit beim An- und Auskleiden, und nachdem man sich erst guten Abend gewünscht und der Doktor des öfteren stillschweigend den rätselhaften Sprüngen Felders zugesehen hatte, wechselten sich die ersten Worte ohne viel beiderseitiges Zutun. Dann traf es sich das eine Mal, daß man zusammen hinausging, und ein anderes Mal, daß der Doktor Felder traf, wie er in dem dunklen Torweg des Hauses seine Stulle aus der Tasche zog und kräftig hineinbiß. Nach ein paar Tagen stellte es sich heraus, daß der Doktor wußte, wer Felder war, da er die Sportzeitschriften las und ihn nach den Bildern erkannt hatte, worauf Felder nichts weiter übrig blieb, als ihm den Grund seiner Besuche in diesem entlegenen Bade zu erklären und die Bitte auszusprechen, sie einstweilen geheimzuhalten. Gewiß hätte Felder nach seiner gewohnten, unverändert mißtrauischen und zurückhaltenden Art diese unfreiwillige Bekanntschaft von vornherein abgeschnitten, wenn ihm die einfache und freundliche Art des Doktors nicht sympathisch gewesen wäre. Dazu kam das große Interesse, das dieser an seinem Plane faßte. Kurz, nachdem ein Wort das andere gegeben und zu einer stetigen Unterhaltung geworden war, war es nur natürlich, daß man ein paarmal das Stück des gemeinschaftlichen Heimweges zusammen ging und gelegentlich noch irgendwo ein Glas Bier trank. So konnte es auch Felder nicht abschlagen, als ihn der Doktor in seiner liebenswürdigen Weise eines Abends bat, sein Abendessen in einem Restaurant zu teilen (von der Stulle war nie die Rede gewesen), und ebensowenig mehr nein sagen, als aus dieser Einladung ein nächstes Mal die zu einer Tasse Tee in des Doktors eigener Wohnung wurde. Diese Einladung wiederholte sich dann im Laufe des Frühjahres noch einige Male. Zum ersten Male tat Felder einen Blick in die ihm völlig fremde Welt einer höheren Lebensführung, erfüllt von geistigen Interessen und gelenkt von sicherem Geschmack. Denn der Dr. König war ein weitgereister Mann, ein tüchtiger Arzt von Ruf und ein guter Psychologe, der die freie Zeit seines Lebens auf jede Weise zu einer Art Kunstwerk zu gestalten bestrebt war. Er erkannte natürlich bald die ungeheure Einseitigkeit Felders, und daß man mit ihm eigentlich nur über _eine_ Sache ernstlich reden konnte. Für alles andere taub und blind, existierte es einfach nicht für ihn, setzte er jeder anderen Unterhaltung das Schweigen absoluter Interesselosigkeit und eines geradezu krassen Unverständnisses entgegen, und war erst wieder zugänglich, wenn die Rede wieder auf jenes eine zurückkam, oder er selbst sie naiv oder brüsk dahin zurückgezwungen hatte. Das hätte den so vielseitigen Älteren und Erfahreneren bald langweilen müssen, sollte man meinen. Aber im Gegenteil: der Doktor war, wie gesagt, Psychologe, und ihn hätte diese unglaubliche, auf so eisernen Willen gestützte Beschränktheit interessiert, auch wenn sie sich nicht auf dies spezielle Gebiet erstreckt hätte, für das er selbst eine besondere Vorliebe hegte und dem er als Arzt eine so große Bedeutung in der Gesundheitspflege zuschrieb. So gab er denn schon nach wenigen Gesprächen jeden Versuch auf, mit dem "Meisterschwimmer" über irgend etwas anderes zu sprechen, als was ihn und seine Kunst betraf, und beschränkte sich darauf, ihm gutmütig zuzuhören, wenn er in weitschweifiger Weise von seinen Erfolgen sprach; oder zu versuchen, den Horizont des jungen Mannes wenigstens auf seinem eigensten Gebiete zu erweitern, indem er ihm von der Entwicklung des Badewesens in früheren Epochen erzählte. Über diese Zeiten fehlte nun zwar Felder jeder Begriff; aber er hörte doch mit gesteigertem Interesse zu, wenn der Doktor in seiner ruhigen Weise und vertieft in die Erinnerung an seine Reisen nach den klassischen Stätten, erst von dem Leben jener alten Römer sprach, die den halben Tag in ihren wunderbaren Bädern verbrachten; wenn er diese in anschaulicher Schilderung aus ihren braunen Trümmern wiedererstehen ließ: die unerhörte Pracht jener Thermen des Caracalla und des Diokletian, die in jener Zeit zu öffentlichen Wohnstätten geworden waren, in denen die Römer den größten Teil ihres Lebens lebten und die sie zuletzt nur noch verließen, um sich zu ihren üppigen Mahlzeiten und den blutigen Schaustellungen der Arenen und des Kolosseums zu begeben. Das mußte eine Zeit nach Felders Herzen gewesen sein, und er wünschte, in ihr gelebt zu haben: den ganzen Tag im Bade und den halben im Wasser--was konnte es Schöneres geben!-- Und er hörte dem Erzähler weiter zu, wenn dieser von dem wasserscheuen Mittelalter mit seiner Verpönung des freien Badens und den langen Jahrhunderten des Daniederliegens des Schwimmens sprach und so gemach auf die Wiederbelebung der Schwimmkunst am Anfange des eigenen Jahrhunderts und hier in Berlin kam, um endlich bei der Jetztzeit und damit, wie von selbst, bei ihm, Franz Felder, gewissermaßen als der Krone des Ganzen, zu enden... Wenn es so weit gekommen war, wurde auch der Zuhörer warm, und ein Gespräch über alle möglichen die Schwimmkunst betreffenden Fragen entstand zwischen den beiden, das sich bei einer Tasse Tee oder einem Glase Bier in dem gemütlichen, warmen, von dem Duft des Karbols leicht durchzogenen Zimmer des Arztes oft bis zur Zeit von Felders letzter Pferdebahn nach dem Norden hinzog. Man war ganz zufrieden miteinander: Felder hatte jemand, der ihm freundlich zuhörte, und der Doktor machte eine psychologische Studie, von der der Betroffene allerdings nichts ahnte. 5 Es war die Bekanntschaft mit Dr. König, die für Felder eine zweite nach sich zog. Eines Abends erschien im Bade ein großer, starkknochiger Herr in guter, aber schlechtsitzender Kleidung, mit großen Händen und scharfem Blick, den der Doktor als seinen Freund vorstellte. Er badete nicht selbst, sah aber den Sprüngen Felders mit höchstem Interesse zu und ließ ihn nicht aus den Augen, so daß dieser schon wieder mißtrauisch geworden wäre, wenn der Fremde ihm nicht als Bildhauer vorgestellt worden wäre. Man trank noch zu dritt ein Glas Bier zusammen, plauderte über allerhand und ging auseinander. Das nächstemal, als sie wieder allein waren, erfuhr Felder den Zweck dieses Besuches. Der Fremde war ein alter Bekannter des Doktors und einer der bedeutendsten, wenn auch nicht berühmtesten Künstler Deutschlands. Eines Tages war die Rede in seinem Atelier auf seine neuen Werke und damit auf die Modellnot gekommen. Der Bildhauer trug sich seit Jahren mit der Idee der Darstellung eines jugendlichen Läufers, verzweifelte aber immer von neuem an der Ausführung, da es ihm völlig an einem Modell fehlte, das auch nur einigermaßen seinen Ansprüchen entsprach. Dr. König hatte von seinem jungen Freunde erzählt, und der andere war aus reiner Neugier mitgegangen, um ihn sich einmal anzuschauen. Er war Feuer und Flamme--ja, das wäre ein Modell!--Aber er wisse wohl, daß nichts daraus werden könne. Einmal werde Felder sich wohl nie zum Modellstehen hergeben, und dann habe er ja auch keine Zeit.-- Nun fragte der Doktor, mitleidig mit der fast komischen Verzweiflung des Künstlers, behutsam bei Felder an: er erzählte ihm von der Würde und der Größe echter Kunst, von dem unausgesetzten Ringen einer vornehmen Künstlerseele, ihren Kämpfen und ihren Streben, das nur zu oft an nichtigen, äußerlichen Umständen vor dem Ziele scheitert, von der harten und unbelohnten Arbeit seines Freundes, und es gelang ihm, besser und schneller als er gehofft, in Felder Interesse und Verständnis zu erwecken. So deutete er denn einmal an, wie sehr er selbst zum Gelingen eines solchen Werkes beitragen könne. Felder war durchaus nicht abgeneigt, doch machte auch er gleich den Mangel an der nötigen Zeit geltend. Einen Versuch könne man ja an den freien Sonntagen einmal machen, meinte er naiv... Als dann aber der Doktor mit seinem letzten Trumpf herausrückte und davon sprach, wie beim Gelingen des Werkes sein Ruhm sich mit dem des Künstlers verbinden und beider Name in einer unvergänglichen und vielleicht unsterblichen Schöpfung weiterleben würde, da war Felder bereits ganz gewonnen, und nun war er es, der den Vorschlag zur weiteren Besprechung der Sache machte... Was die Zeit anbelangte--nun, er hatte ja ausgelernt und war sein eigener Herr, und wenn er seine Arbeit wieder für einige Wochen (länger würde die Geschichte wohl nicht dauern) aufgäbe, so wäre das nicht so schlimm; er fände danach schon wieder andere. Er würde reichlich entschädigt werden, versicherte Dr. König. Da aber empörte sich der Stolz des Meisterschwimmers. Davon könne keine Rede sein. So sei es bei ihm nicht, "wie bei armen Leuten". Wenn er einwillige, so tue er es um der Kunst willen und des Ruhmes wegen. Der Doktor konnte nichts darauf erwidern, und man traf sich im Atelier des Künstlers. Als Schwimmer, der er war, müsse er dargestellt werden, meinte Felder, während der Bildhauer nicht von seiner ursprünglichen Idee des Läufers lassen wollte. Ein Schwimmer?--wie sich Felder denn das denke?--In welcher Lage denn?--liegend wohl?--Und das Wasser?--aus blauem Glase, nicht wahr?--Und dabei der Körper aus Marmor?--Felder nahm das für Ernst, und es gefiel ihm. Aber der Künstler wurde wütend.--Dann wiederholte Felder zum zwanzigsten Male: er sei der Meisterschwimmer von Europa und kein Läufer... Keiner wollte nachgeben, und die Sache war auf dem besten Wege, an der Hartnäckigkeit der beiden zu scheitern, als der lachende Doktor den Vorschlag des Springers machte. Er gefiel. So wurde der eine beruhigt durch die Idee, daß die Gestalt des Körpers im Moment des Abspringens sich nicht zu sehr von der des Läufers im Augenblick des Anlaufs unterscheide; und der andere, daß, wenn er auch noch nicht der Meisterspringer sei, er es doch unzweifelhaft werden würde, und daß die Zeit seines ersten Triumphes als solcher, wenn alles gut ging, mit der der Ausstellung seiner Statue vor den Augen der Welt zusammenfallen könne... Die Sitzungen in dem großen Atelier in Wilmersdorf begannen. Obwohl Felder nicht mehr arbeitete und mehr Ruhe und Schlaf hatte, als vorher, war er doch schon gegen Abend, wenn er zu seinem Training ging, von den ausgedehnten Stunden der Sitzungen und von den langen Fahrten nach dem Vorort müder, als je zuvor. Er hatte nie gedacht, daß er so müde werden könne. Erst hatten ihn die langwierigen Vorarbeiten interessiert, das neue der Umgebung und die ganze Art des Künstlers. Dann sah er sich selbst mehr und mehr aus dem rohen Ton hervortreten, immergleicher und ähnlicher werden. Als dann aber die stundenlangen, mühsamen Ausarbeitungen des einzelnen begannen, ohne daß er mit seinen ungeübten Augen irgendeinen Fortschritt wahrnehmen konnte, da hatte er oft die ganze Kraft seines Willens nötig, um auszuhalten. Er hatte sich vorgenommen, so lange zu stehen, bis der andere selbst das Holz aus der Hand legte; aber wenn der Künstler--nach einer, nach zwei Stunden--ganz in sein Werk vertieft und völlig entrückt, keine Miene machte, eine Pause eintreten zulassen, dann war Felder oft einfach so erschöpft, daß er plötzlich abbrach. Erstaunt über die Zeit, die verflossen war, brummte der Bildhauer etwas, das wie eine Entschuldigung klang, und beide warfen sich in irgendeinen Sessel, froh, nicht miteinander sprechen zu brauchen. Denn zu einer rechten Unterhaltung kam es nie zwischen ihnen. Diese beiden so verschlossenen, nur mit sich und ihren eigenen Zielen lebenden Menschen, von denen keiner die Leichtigkeit und Freundlichkeit des Dr. König besaß, hatten sich nichts zu sagen. Wohl entstand ab und zu ein Gespräch, da man, um keine Zeit zu verlieren, jetzt des öfteren auch draußen in einem mäßigen Restaurant zusammen aß. Aber wenn der eine oder der andere nach so viel Stunden schweigenden Beisammenseins in dem natürlichen Bedürfnis, sich zu äußern, dieser von seinem Werk und seinen Hoffnungen, und jener ebenfalls von seinen Plänen und seinen Hoffnungen anfing, dann konnten sie beide sicher sein, daß sie aneinander vorbeisprachen und keiner dem andern auch nur zuhörte... Denn was wußten, was verstanden sie voneinander?--beide so einseitig, beide so verloren in ihre Ziele: ungleich in ihrer Weite und Größe, gleich nur in ihrer Außergewöhnlichkeit und der Energie, mit der sie verfolgt wurden. In einem aber verstanden sie sich ganz, und dieses eine hielt sie diese lange Zeit--weit länger, als vorausgedacht--zusammen. Felder bewunderte den rastlosen Eifer, die unwillige und doch so gänzliche Hingabe des Künstlers an sein Werk; er verstand insgeheim dies schmerzliche, heiße Ringen um ein Letztes, nie sich Erfüllendes, und die Art, in der es sich äußerte: in fieberhafter Arbeit, ewigem Gemurr und wilden Flüchen... Und dieser, der Künstler, war sich völlig darüber klar, daß er nie ein Modell wie dieses je gefunden hatte und wiederfinden würde, das so mit ihm bis zur beiderseitigen Ermattung ging und instinktiv mit ihm arbeitete... Er hätte es nie gesagt, vielleicht nicht einmal zugegeben, aber in seiner Art und Weise sprach sich deutlich seine Dankbarkeit aus: ob er Felder eine Zigarette drehte oder ihm von den Tiefen seiner Künstlersehnsucht sprach, die er vor jedem anderen scheu verschloß. Gegen Ende der Sitzungen ging ihm sogar eine Ahnung davon auf, an was dieser junge Mensch _sein_ Leben gesetzt hatte und was die nächste Zeit für ihn bedeutete. Durch Abgründe in ihren Zielen voneinander getrennt, verstanden sie sich in dem, worin sie gleich waren: in dem ungestümen Drang, diese Ziele zu erreichen. Zwei Flammen schlugen ineinander, und so entstand ein wundervolles Werk, an das sie beide ihre Kräfte gaben. Es kam zu Ende. Es gelang.-- Auch Felder kam seinem Ziel näher und näher. Seine Sprünge wurden sicherer und sicherer. In seinem Klub sprach er weder von dem einen, noch von dem anderen. Ein Erzählen des einen wäre ein Preisgeben des anderen gewesen. Er schwieg, verschlossener und unzugänglicher, als je zuvor. 6 Eines Tages hielt er seine Stunde für gekommen. Er erschien--seit langer Zeit zum ersten Male wieder--auf dem Übungsabend des Klubs. Die enorme Halle der Wasserfreunde war noch hell erleuchtet, aber außer den Mitgliedern des S.-C. B. 1879 waren fast keine fremden Gäste mehr anwesend. Die letzten kleideten sich eben an; die Kasse war bereits geschlossen und niemand wurde mehr zugelassen. Überall sah man die weißblauen Farben. Das Bassin gehörte für den Rest des Abends ausschließlich dem Klub, der es zweimal wöchentlich für seine Mitglieder mietete. Felder zog sich aus und trat an das eine der kleinen Bretter, wo Grafenberger, der Meisterspringer Deutschlands, eben übte. Eine Weile sah er ihm stillschweigend zu. Grafenberger machte einen Salto rückwärts mit halber Drehung. --Das kann ich auch, sagte Felder. Der andere lachte: --So leichte nu nich!-- Aber Felder ließ langsam das Tuch von seinen Schultern gleiten und trat an die äußerste Kante des Brettes. Er stand mit dem Rücken dem Wasser zu. Leicht hob sich sein Körper auf den Zehen in die Höhe, fest legten sich die Arme an die Schenkel, und sich tief hintenüberneigend, tat er den Sprung. Als er aus dem Wasser stieg, sah er in lauter erstaunte und verblüffte Gesichter. Am erstauntesten war Grafenberger selbst. Und nun ging dieser eine Reihe mehr oder minder schwieriger Sprünge durch, und jedesmal, wenn er aus dem Wasser stieg, stand Felder bereits auf dem Brett und machte den Sprung nach, einen nach dem andern. Das Erstaunen wurde immer größer und die meisten wollten gar nicht glauben, was sie sahen. Von dem kleinen Sprungbrett ging man zu dem großen über, und alle stiegen die Treppe zu der Galerie empor. Dort stand bald der ganze Klub bis auf den letzten Mann um seine berühmten Mitglieder herum und verfolgte in atemloser Spannung Sprung auf Sprung. Und es gab nicht einen unter allen, den der Schwimmer dem Springer nicht nachgemacht hätte. Freilich dachte in dieser Stunde keiner an die Wertung der Leistungen, und nur wenige machten sich klar, wie sich die äußerlich gleichenden Sprünge der beiden doch in Sicherheit und Exaktheit himmelweit voneinander unterschieden. Man wollte jetzt nur sehen, ob Felder überhaupt imstande war, die Sprünge auszuführen, und man geriet bei jedem neuen in immer größere Aufregung, die sich bald in Lachen, Zurufen und lauten, wie leisen Bemerkungen jeder Art Luft zu machen suchte. Felder genoß das Vorgefühl kommender Triumphe und setzte allen Fragen sein geheimnisvolles Schweigen entgegen. Aber als der Springer meinte: --Na, dann kann ich ja nächstens an zu schwimmen fangen!--lächelte er bedeutsam. Nur Nagel äußerte wieder kein Wort. Als jedoch Felder an ihm vorbeiging und vor ihm stehen blieb, sagte er kurz: --Du kannst sie alle. Wo du sie gelernt hast, weiß ich nicht, und es geht mich ja auch nichts an. Aber glaube nur nicht, daß du auch nur einen ordentlich kannst, wie er sein soll...--worauf Felder blaß wurde und weiterging. Er vermochte nur noch zu erwidern: --Das werden wir sehen!-- Seine Freude war dahin für diesen Abend und er begann seinen alten Freund und Lehrer zu hassen. Schon auf der nächsten Sitzung trat er mit seiner Forderung hervor, bei der nächsten Gelegenheit im Springen um eine bedeutende Meisterschaft gemeldet zu werden. Man hielt sie erst für Scherz; dann erhoben sich von allen Seiten Proteste. So viel hatte man schon gesehen, um zu wissen, daß ein solches Vorhaben ganz aussichtslos war. War es auch erstaunlich, was er bei seinem geheimen Training--man wußte jetzt ganz genau, wo und wie er dazu gekommen war--in so kurzer Zeit zustande gebracht hatte, so reichte das alles doch noch lange nicht aus, um mit ersten Meistern in Konkurrenz zu treten. Dazu gehörte vor allem eine jahrelange, stetige, sorgsame Ausbildung unter den Augen von Kennern--das sollte er, der Sportsmann, doch wohl am besten wissen... Von allen Seiten redete man auf ihn ein, suchte ihn zu überzeugen, aber es war alles vergebens. Man sprach zu Ohren, die überhaupt nicht mehr zuhörten. Felder bestand hartnäckig auf seiner Forderung. Wenn er gefragt wurde, zu welcher Schwimmnummer er gemeldet werden wollte, antwortete er: zum Springen um die Meisterschaft... und je dringender die Frage wurde, um so mehr klang diese Antwort als Drohung: entweder--oder... Man lachte nicht mehr. Dazu war die Sache zu ernst. Zuviel stand in diesem Sommer im Schwimmen auf dem Spiel: die Meisterschaft Deutschlands sollte behauptet, die größte über Europa zum zweiten Male gewonnen werden; der große Staatspreis Sachsens und der Stadtpreis Breslaus, zum dritten Male durch Felder erobert, in den endgültigen Besitz des Klubs übergehen; unzählige Anforderungen von allen Seiten nach des jungen Meisters Teilnahme an den diesjährigen Schwimmkämpfen mußten beantwortet werden--und dieser Mensch, was tat er?-- Statt in diesem Sommer seine glorreichen Siege zu erneuern, mühelos und ehrenvoll, verbohrte er sich in eine Idee, auf die noch kein anderer vor ihm gekommen war und auf die auch nur er verfallen konnte. Je mehr man auf ihn eindrang, von seinem aussichtslosen Vorhaben abzustehen, desto erbitterter wurde er. Da er die Gründe gegen seine Meldung nicht verstand, da er sie nicht begreifen wollte, sah er in ihnen nur den Ausfluß einer feindseligen Stimmung gegen sich und ganz allmählich in den guten, alten Kameraden und treuen Freunden seines Klubs Gegner seiner Person und damit der Sache. Denn daß _er_ der Sache mit seinem Vorhaben schaden könne, daran dachte er nicht einmal. Er--und der Sache schaden!-- Man begriff, daß nicht mit ihm zu reden war, als er an einem anderen Abend nach langer, vergeblicher Debatte einfach das Zimmer verließ. Dann sprach Nagel, und was er sagte, wurde als das richtige empfunden. Er schloß seine Ausführungen, in denen er ein kurzes und klares Bild von Felders Entwickelung gab, mit den Worten: "Tun wir ihm seinen Willen; denn was er nötig hat, um ihn zur Besinnung zu bringen, sind nicht neue Siege, sondern es ist eine gründliche Niederlage."-- So wurde der Meisterschwimmer von Europa von seinem Klub auf dem ersten diesjährigen Eröffnungsschwimmen der vereinigten Berliner Klubs nicht nur zu seiner alten Meisterschaft Berlins über die kurze Strecke, sondern auch zu dem Haupt-Mehrkampf im Schwimmen, Springen und Tauchen, sowie zum Hauptspringen gemeldet, und diese Meldungen wurden mit grenzenlosem Erstaunen, aber unbeanstandet angenommen. 7 Eine gründliche Niederlage! Und die erlebte er.-- Das erste große Schwimmfest Berlins in diesem Sommer--veranstaltet von dem Bund der Berliner Vereine--fiel zusammen mit der feierlichen Eröffnung der diesjährigen Kunstausstellung im großen Glaspalast, beides auf einen Sonntag, einen klaren, aber noch frischen Frühlingstag.-- Es sollte der Tag höchsten und beispiellosen Triumphes für ihn werden, so dachte Felder, der Tag, der allen anderen der letzten Jahre die Krone aufsetzen, seinen Ruhm vor den Augen einer Welt verkünden sollte, wie keiner vor ihm: hier in einem unvergleichlichen Siege, dort dieser Sieg bereits verkörpert in einem hohen Werke, das seinen Namen trug; der Tag, um den er gekämpft hatte, wie um keinen anderen, monatelang, mit zäher Ausdauer--nicht nur in der eisernen Arbeit eigener Übung, sondern fast noch mehr in der mühsamen und aufreibenden Hilfe beim Gelingen einer fremden. Es kam alles anders, wie er es sich dachte.-- Der Morgen brachte die erste Enttäuschung. Sie waren hinausgefahren nach dem Glashaus am Lehrter Bahnhof, er und zwei seiner Sportsfreunde, hatten mit der Karte des Bildhauers unbeanstandet Eintritt erhalten und drängten mit der festlich gekleideten Menge--allem, was Berlin an geistigem Leben besaß--der großen Eingangshalle zu. Sie fanden dort leicht, was sie suchten. Denn um den "Springer" herum stand bereits ein dichter Haufen von Menschen, alle ergriffen von der Schönheit und Kraft des Werkes, und in der ersten Stunde bereits seinen Ruhm mit ihrer einstimmigen Bewunderung besiegelnd. Und es war ein herrliches Werk, das hier, fast in der Mitte der großen Halle, in dem leuchtenden Weiß seines Marmors vor dem sattgrünen Hintergrunde hoher Blattpflanzen stand: Erst zum Sprunge sich anschickend, noch nicht ganz zu ihm bereit, erhob sich die jugendliche Gestalt des "Springers" in vollendet ebenmäßiger Schönheit leicht auf den Zehen empor, streckte wie flehend die schlanken Arme in die Höhe, um dem Körper Schwung zu verleihen, und hielt die Augen fest und entschlossen in die Ferne gerichtet--gewiß des Gelingens, sicher des nahen Sieges... Über der ganzen Gestalt aber lag zugleich bei aller Kraft eine solche Anmut, eine solche Frische, daß man den kühlen Duft dieses vielleicht eben erst dem Wasser entstiegenen Körpers zu spüren glaubte, der sich nun zu neuem und schwierigerem Sprunge anschickte, und den das Trikot nur wie ein dünner Schleier umschloß, hinter dessen zartem Gewebe jeder Muskel, ja die Adern erkennbar hervorzutreten schienen; und obwohl zum Teil mit diesem Schleier bekleidet, erschien auf den ersten Blick der ganze Körper wie nackt, bis man die unsäglich feine Arbeit des Meisters gewährte, für den die leichte Hülle kein Hindernis gewesen war, das nackte Leben in seiner Wärme zu bilden. --"Klassisch schön und doch von modernem Geiste beseelt"--"raffiniert schlicht"--"einfach antik"--"wo kann er das Modell herhaben?"--"ein Meisterwerk, ganz ohne Zweifel"--das waren die Ausdrücke, die mit vielen anderen Namen und Vergleichen, von denen er nichts verstand, Felders Ohren umschwirrten, als er sich mit seinen Begleitern näher herangedrängt und nun fast vor der Statue stand. Er fühlte sich sehr unbehaglich. Alles war ihm hier fremd. Selbst dieses Werk, sein anderes Ich, das er doch so genau kannte, erschien ihm nicht mehr dasselbe. War er das?--So trat er doch nicht auf das Brett, wenn er sprang? Er allein unter all den Anwesenden vielleicht stand der Schönheit des eigenen Körpers verständnislos gegenüber, er und seine Freunde. Sie, so sehr an den täglichen Anblick nackter Gestalten gewöhnt, hatten nie über deren Schönheit und Häßlichkeit nachgedacht, und von der Kunst, die hier zu ihnen redete, verstanden sie nichts. Felder selbst war zum ersten Male in einer Kunstausstellung, und der Blick auf die vielen anderen Marmorwerke in dieser hohen Halle, in die lange Flucht der Säle, von deren Wänden herab die Farben unzähliger Gemälde leuchteten, machte ihn wirr und beraubte ihn. Zudem ärgerte er sich zu sehr, als daß er sich ruhig irgendeiner Betrachtung hätte hingeben können. Er hatte sich diesen Morgen ganz anders gedacht. Wie, das wußte er wohl selbst nicht, aber etwa so: daß er mit dem Künstler vor der Statue stehen würde, aller Augen auf sich gerichtet, als auf das Modell usw.... So aber geschah nichts dergleichen. Kein Mensch kümmerte sich um ihn, man drückte und stieß ihn von allen Seiten, und wenn ihn zufällig jemand ansah, so hatte er das Bewußtsein, mit diesem Blicke gefragt zu werden: Was wollen Sie denn hier? Wie hätte aber auch irgend jemand in dem modisch gekleideten jungen Mann mit dem hohen Hemdkragen und dem steifen Hut, der aussah wie ein Kommis von Hertzog oder Wertheim, das Urbild dieses Hellenenjünglings erkennen sollen, dessen Schönheit die Gedanken der Beschauer weit zurückführte in die seligen Zeiten göttergleicher Menschen? Unmutig forderte Felder seine Freunde zum Weitergehen auf; er wollte versuchen, den Bildhauer und Dr. König zu finden. Die beiden anderen waren gern bereit: der eine hatte Durst nach einem Frühschoppen, und der andere fand auch, daß er eine solche Stellung bei einem Springer noch nie gesehen habe. Da--während sie sich hinausstießen--fühlte Felder plötzlich, wie er angesehen wurde. Der starke Duft eines seltsamen Parfüms, den er irgendwo und irgendwann schon einmal gespürt hatte, umwehte ihn, und aufschauend, erblickte er dicht vor sich jene Dame aus dem Café, die ihn den ganzen Abend so auffallend angesehen hatte und nun ihren Blick mit demselben festen Ausdruck forschenden Interesses auf seinem Gesicht ruhen ließ; wie an jenem Abend. Wieder war der alte Herr mit ihr, und wieder trug sie ein Kleid von heller Seide und einen auffallend großen Rembrandthut mit schwarzer Feder. Felder hatte kaum Zeit, sich nach ihr umzusehen; im nächsten Augenblick schon war sie weiter gegangen, und viele Menschen hatten sich zwischen sie und ihn geschoben. Er hätte zurückkehren müssen, um sie wiederzufinden. Er dachte noch an sie im Weitergehen, als er am Ausgang auf den Bildhauer traf, der ebenfalls in einer dichten Menschenmenge stand. Er machte sich sofort los und kam auf Felder zu, als er ihn sah, und man ging durch den Garten in langem Zuge nach der Osteria. Dort wurde nun Felder genug und von allen Seiten angesehen, als die Künstler erfuhren, wer er war, aber er wurde nie das Gefühl los, daß alle diese fremden Menschen in ihm nur das Modell sahen, und keine Ahnung davon hatten, wer er eigentlich war... Nach Dr. König sah er sich vergebens um; er war wohl noch in den Sälen oder überhaupt noch nicht gekommen. Der Bildhauer, äußerlich borstig und wortkarg wie immer, war doch durch seinen großen Erfolg erregt und mußte sich immer von neuem frei machen, um ein paar Worte mit Felder zu sprechen. Dieser wollte gerne wissen, ob sein Name auch im Katalog stünde. Nein, dort stand nur "der Springer", meinte der Künstler lächelnd, anders ginge es nicht, aber er wolle schon dafür sorgen, daß es in möglichst vielen Zeitungen zu lesen sei, wer ihm Modell gestanden--darauf könne sich Felder verlassen... "Und am Nachmittage komme ich zu _Ihrem_ Siege!"--sagte er noch, als Felder sich mit seinem Freunde verabschiedete und, innerlich recht mißmutig, ging.--Dieser Nachmittag! Wieder einmal erglänzte die weite Halle der Wasserfreunde in dem festlichen Schmuck der Fahnen und Fähnchen; wieder füllten ihre Galerien bis auf den letzten Platz die dichten Reihen einer bunten Zuschauermenge; wieder bot sie das bis in die Einzelheiten immer sich gleichende, unveränderte Bild eines "Schwimmfestes"... Und in eintöniger Gleichförmigkeit verlief Nummer um Nummer des wiederum viel zu lang ausgesponnenen Programms. Das ganze Interesse der engeren Kreise konzentrierte sich heute nicht auf die Schwimmkonkurrenz--Felders Sieg war ganz sicher--sondern auf dessen Beteiligung am Springen. Längst hatte sich über die Grenzen des S.-C. B. 1879 hinaus herumgesprochen, wie gänzlich aussichtslos und vermessen sie war, und überall, in allen Ecken, lauerte das süßeste und reinste der menschlichen Gefühle, die Schadenfreude, auf seine Gelegenheit. Nur Felder sah und hörte nichts von allem. Still und ernst wie immer stand er unter seinen Leuten, und seine Augen blickten so ruhig und siegesgewiß wie immer. Heute, heute war sein großer Tag, und kein Zweifel durfte in ihm aufkommen; kein Zweifel der anderen das eigene, felsenfeste Vertrauen stören. Er fühlte nur instinktiv die Feindseligkeit um sich herum an der Art, wie man ihn allein ließ oder ihn dies oder jenes fragte. Was kümmerten sie ihn?--Nach einer Stunde würde er sie besiegt haben, und selbst die Widerstrebendsten lagen bezwungen zu seinen Füßen!... Als er daher seinen Namen hörte und auf das Sprungbrett trat, um den ersten der für den Mehrmeisterkampf vorgeschriebenen Sprünge zu tun, hob er seinen Kopfhöher als je, sah zu der hohen Wölbung der schönen Halle empor, und in seinen Augen lag (für niemand erkennbar) das alte Leuchten, tiefer und siegesgewisser, als je zuvor. Dann sprang er, und er sprang nicht schlecht. Ein Murmeln nur begleitete sein Aussteigen aus dem Wasser--Erstaunen bei jenen unter den Sportsgenossen, die ihn zum ersten Male springen sahen, halber Beifall bei denen, die den Sprung an seinen eigenen Leistungen, die sie seit einigen Wochen kannten, verglichen. Noch hatte die Schadenfreude keinen Grund, sich zu äußern und wagte sich noch nicht hervor. Weder besonders gut, aber ebenfalls nicht schlecht waren auch die nächsten Sprünge. Jeder Kenner sah indessen, daß sie einfach nur besser aussahen, als sie in Wirklichkeit waren, und daß Felder jede Hoffnung auf einen Sieg hätte begraben müssen, wäre es auf dieses Springen angekommen. So aber erledigte er nicht nur den zweiten Teil des Mehrkampfs, das Schwimmen mit einer Bahnlänge von 150 Metern, in seiner alten glänzenden Weise, so daß er hier die Höchstzahl der überhaupt erreichbaren Punkte erlangte, sondern er stellte sich auch im dritten Teile, dem Tauchen, ebenbürtig an die Seite seiner drei Gegner, indem er, wie sie, alle zwanzig Teller hervorholte, und zwar in einer Zeit, die sich nur unwesentlich von der ihren unterschied. Keiner der Konkurrenten war vor Ablauf von 32 Sekunden aus dem Wasser gestiegen, Felder 45 unter ihm geblieben. Die Teller hatten bei ihm weit auseinander gelegen. Der Mehrkampfpreis wurde daher trotz der im Springen erreichten geringen Punktzahl--nicht vergleichbar mit der der anderen--von ihm gewonnen. Seinem Verein fiel ein Ehrenpreis zu, ihm selbst ein Andenken, und das eine der gesetzten Ziele war somit von ihm erreicht: in seinen Lorbeerkranz ein neues Blatt geflochten. Der Meister im Schwimmen nannte die erste Mehrkampfmeisterschaft sein!-- Aber das stille und erwartungsvolle Lächeln, das von den Gesichtern so manches Kenners unter den Anwesenden nicht wich, zeigte, daß es noch nicht aller Tage Abend war. Vor allem das Lächeln Grafenbergers. Denn das Ereignis des Tages, das Hauptspringen, sollte erst noch kommen. Und wenn Grafenberger so lächelte, dann hatte er seinen Grund dazu. Heute mehr als je. Denn dieses Hauptspringen, das als dritte Konkurrenz nach der eben beendeten folgen sollte, hatte eine ganze, vielbesprochene Geschichte in den letzten Wochen gezeitigt. Als Felder brüsk und ungestüm seine plötzliche Meldung zu diesem Hauptspringen im Klub äußerte, und als nach endlosen privaten und internen Debatten die Furcht vor seiner Drohung die Schale zu seinen Gunsten neigen ließ, da erklärte Grafenberger ebenso brüsk und mit weit größerer Berechtigung natürlich: wenn sein Klub denn so unverhofft einen so großen Springer in seinem bisherigen Meisterschwimmer "entdeckt" habe und ihm denselben vorziehen wollte, so möge er das doch tun, und da selbstverständlich jeder Klub nur einen Konkurrenten zu den Kämpfen entsenden könne, so sei es doch das beste und einfachste, wenn er, Grafenberger, aus- und in einen anderen Verein eintrete. Dann könne er ja mit Leichtigkeit beweisen, wie lächerlich eine solche Bevorzugung sei. So sehr traf jedes seiner Worte den Nagel auf den Kopf, daß nur übrig blieb, dem Empörten klarzumachen, wie es sich ja nur darum handele, Felder ad absurdum zu führen, wie er, dem an dieser Beteiligung gar nichts gelegen sein könne, ja gerade durch Felders unvermeidliche Niederlage nur seinen, Grafenbergers, Ruhm als den des ersten Springers im S.-C. B. 1879 befestigen würde; und so sehr sah dieser selbst auch den Grund aller Einwendungen ein, daß die Sache in aller Ruhe verlaufen wäre, wenn nicht--wie immer bei solchen Gelegenheiten--so viel bisher Unausgesprochenes zutage getreten wäre, was dann endlich doch Grafenbergers Austritt zur unvermeidlichen Folge hatte. Er, eine weit weniger ernste und vornehme Natur als Felder, hatte einen Ton angeschlagen, den der Klub unter keinen Umständen dulden durfte, und so war er gegangen von dort, wo niemand gegen seinen Willen gehalten wurde. Mit Jubel sofort in einen anderen, ebenfalls altangesehenen Verein, in die "Privat-Schwimmgesellschaft von 1885", aufgenommen, noch in letzter Stunde von ihm zu heute gemeldet, erwartete der berühmte Springer nun im Kreise seiner neuen Klubgenossen das Hauptspringen mit innerlichster Freude; und schärfer und klarer als er hatte keiner Felders kümmerliche Sprünge beim Mehrkampf betrachtet und gewertet. Vergebens suchte er dem Blick seines früheren Genossen zu begegnen, mit dem er so manche Jahre Schulter an Schulter um die Ehre des Klubs gekämpft, und dem er--wie oft nicht in denselben Stunden desselben Tages--gemeinsam mit ihm zu den höchsten verholfen. Felder sah ihn nicht. Nicht sein Lächeln; nicht die boshafte Erwartung um sich her; nicht die ängstliche Sorge seiner wahren Freunde, Nagels und anderer. Er sah überhaupt nichts mehr von allem, was um ihn hervorging. Er fühlte nur die große Erwartung um sich herum, und als Koepke, der äußerlich Aufgeregteste wieder unter allen, ihm mit irgendeiner unnützen Frage zu nahe kam, wies er ihn mit einem barschen Wort zur Ruhe. Als das Hauptspringen endlich begann, trat die atemlose Spannung der Stille ein, die allen Entscheidungen von Bedeutung vorausgeht, und teilte sich unwillkürlich auch dem Gleichgültigen unter den Zuschauern mit. Fünf Springer aus den ersten Berliner Klubs, unter ihnen drei mit bekannten Namen, waren gemeldet. Wie sie ausgelost waren, kamen sie an die Reihe. Felder hatte die vierte Nummer und die weiße Kappe erhalten. Er sah seine Vorgänger auf das Brett treten, er hörte die Stimme des Starters, der Namen und Art des Sprunges verkündete, er sah die Sprünge, er hörte das Wasser klatschen und rauschen, das Murmeln und den Beifall der Zuschauer; er trat selbst hinter das Brett, sah vor sich hin, vernahm die gleichmäßige ruhige und klare Stimme des Starters neben sich, die rief: "Hechtsprung mit Anlegen der Arme und Anlauf, ein Meter. Herr Franz Felder...", lief, sprang, tauchte unter und wieder auf, ging hinaus und hinauf zu dem hohen Brett, stellte sich auf seine äußerste Kante, hob den ganzen Körper auf den Fußspitzen in die Höhe, sah gradeaus, hörte wieder die Stimme, diesmal unter sich: "Doppelsalto, rücklings, sechs Meter, derselbe...", sprang ab, drehte sich in der Luft um sich selbst, fühlte den Anprall des Wassers wie glühendes Feuer, kam in die Hohe und stieg hinaus--aber worauf er lauschte, die alten, ihm so vertrauten Laute des Beifalls vernahm er nicht. Stumm und ohne zu wissen, wie er gesprungen, mischte er sich unter seine Freunde. Nach den zwei vorgeschriebenen Pflichtsprüngen kamen die zwei Pfostensprünge an die Reihe, die, an demselben Tage aus den Schwierigkeitsgraden fünf und sechs ausgelost und jedem Bewerber vor einer Stunde mitgeteilt worden waren. Auf Felder waren gefallen: Als erster ein Seitlingssprung mit 1/4-Drehung um die Längsachse vorwärts, mit Hochheben beider Arme, bei einer Bretthöhe von drei Metern: nicht allzuschwer gut auszuführen, und als zweiter ein Schlußsprung mit ganzer Drehung um die Breitenachse, schwierig bei genauer Durchführung und der Sechsmeter-Höhe des Brettes. Den ersten machte er gut; daß ihm der zweite nicht so gelingen würde, wie er mußte, war ihm seit einer Stunde bereits ganz klar, und er sprang ihn infolgedessen völlig schlecht, so daß das Publikum zu lachen begann, während es dieselben beiden Sprünge der anderen des öfteren mit Beifall begleitete. Felder sah und hörte noch immer nichts um sich her. Auch dieses Lachen nicht. Nur ein Zwischenfall erregte die allgemeine und damit auch seine Aufmerksamkeit. Als der Nachspringer Felders seine Sprünge ausführte, erscholl von allen Seiten her, wahrscheinlich mit infolge des vorhergegangenen, so augenscheinlich verunglückten Sprunges, lauter Beifall. Die Pause zwischen den Sprüngen dauerte etwas länger als sonst, und bevor der nächste, letzte Springer an die Reihe kam, trat der Starter vorn auf das Sprungbrett und sprach mit erhobener Stimme zu den Zuschauern gewendet: "Die Herren Schiedsrichter lassen die verehrlichen Anwesenden, Damen und Herren, bitten, bei den Sprüngen jedes Zeichen des Beifalls und des Mißfallens im Interesse der Springer selbst zu unterlassen, und den Herren Richtern in keiner Weise in ihrem Urteil vorzugreifen..." Ein Zwischenfall solcher Art war eine Seltenheit und wurde daher gebührend bemerkt. Einstweilen aber schwieg der ganze Raum, und der dritte Teil des Hauptspringens, die beiden Kürspringe, begannen unter allgemeiner Stille. Die "Kürspringe", vom Springer nach freier Wahl "gekürt", bei denen er an keine Schwierigkeitsgrade und keine Art der Ausführung gebunden ist, und somit nur die Kraft und Fähigkeit, die er sich selbst zutraut, entscheidet, sind gewöhnlich lange vorher eingeübte und in vollendeter Sicherheit ausgeführte Sprünge, die das Können des Springers in hellstem Lichte zeigen. Da die Zuschauer ihrem Beifall keinen Ausdruck mehr geben konnten, verliefen die Sprünge der drei ersten Springer unter dem achtungsvollen Schweigen des Publikums, bis Felder an die Reihe kam. Statt daß dieser--wie es nach der ganzen Art und der Kürze der Zeit seines Trainings eigentlich selbstverständlich gewesen wäre--sich zwei der weniger komplizierten Sprünge ausgesucht, sie in guter Ausführung gezeigt und damit wenigstens in ihnen die höchste Wertungszahl erreicht hätte, erlaubte es ihm sein Ehrgeiz nicht, sein neuerworbenes, noch so unsicheres Können anders, als in Sprüngen ersten Ranges zu zeigen, und unter dem Kopfschütteln seiner Freunde, die indessen auf jede Einmischung verzichteten, hatte er zwei Sprünge gewählt, die ihm hier und da--wenigstens zur Zufriedenheit Koepkes--gelungen waren und die er in seiner grenzenlosen Verblendung auch heute vor den Augen aller ausführen zu dürfen glaubte. Kein anderer Klub hätte einem Mitgliede jemals etwas Ähnliches erlaubt. Aber der seine war eben übereingekommen, ihn gewähren zu lassen, und so kam, was unausbleiblich kommen mußte, und wozu es keines Propheten bedurfte, es vorherzusagen. Gereizt, erregt und wie im Fieber verlor Felder bei diesen letzten Sprüngen jede Ruhe und jede Besinnung. Er sprang, wie er geschwommen hatte in den Augenblicken höchster Anstrengung, und vergaß vollkommen, daß, was dort noch zum Siege führen kann, hier, wo es einzig im gegebenen Moment auf Selbstbeherrschung und Ruhe ankommt, unrettbar zur Niederlage werden muß. Er sprang, wie er schwamm: wie er zweimal, dreimal--es war schon lange her--geschwommen hatte, um den enteilenden Sieg noch zu ergreifen--: mit dem Mut der Verzweiflung. Aber was er bot, das waren schon keine regelrechten Sprünge mehr, das hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit den Aufgaben, die er selbst gewählt und sich vorgeschrieben, das waren krampfhafte Verzerrungen des Körpers, ein unschönes Sich-Überschlagen in der Luft ohne jede Haltung der Arme mehr, die um sich griffen, wie um sich zu halten, und endlich ein wüstes Aufklatschen auf die Oberfläche des Wassers... Und während die Richter auf jede Wertung mit dem Niederlegen ihrer Bleistifte überhaupt verzichteten, während sich auf den Gesichtern der Umstehenden erst starres Erstaunen ob solcher, nie gesehener Leistungen malte, das allmählich in offene Fröhlichkeit überging, während Felders Freunde überlegten, ob sie ihn nicht lieber an dem letzten der Sprünge hindern und der Blamage ein Ende machen sollten, begann das Publikum, gereizt durch das Verbot des Beifalls, zu lachen. Es lachte erst leise, dann ganz laut beim zweiten Sprunge, und als Felder aus dem Wasser kam, da lachten selbst die Sportsleute um ihn her, ja die eigenen Genossen, so komisch war der Kontrast zwischen seiner siegesbewußten Miene und seinen kläglichen Leistungen gewesen... Felder hörte das Lachen, jetzt hörte und sah er es, und er wurde totenblaß. Einen Augenblick schien es, als wolle er sich auf den ersten besten der Nächststehenden stürzen, dann überzog eine dunkle Röte sein Gesicht, und wortlos verließ er die Reihen, die sich noch nicht beruhigen wollten, bis das nächste Rennen die Aufmerksamkeit von dem beendeten abzog. Eine furchtbare Wut kochte in Felder, als er allein in einer Ecke des kleineren Damenschwimmbades, das heute als Auskleideraum für die Beteiligten galt, saß. Man hatte es gewagt und ihn ausgelacht--ihn, Franz Felder, den Meister Europas, ihn, ihn!-- Er ging auf und ab, auf und ab, aber er wurde nicht ruhiger. Er wurde das Lachen aus seinen Ohren nicht los. Er würde es nie vergessen können, das wußte er. Kein Beifall würde es jemals mehr ganz übertönen können. Alles, was er tun konnte, war, die erlittene Wunde so unter neuen Lorbeeren zu verbergen, daß niemand sie mehr gewahren konnte. Das aber wenigstens wollte er, und als er--nach einer halben Stunde-- geholt wurde und er zum letzten Male an diesem Tage an den Start ging, nicht zum Springen mehr, sondern zum Hauptschwimmen über die 250 Meter, da waren die Nebel von seinen Augen gefallen, und mit seinem alten, klaren Blick sah er alles um sich her, die Freunde und die Feinde, und jetzt war er es, der lächelte. Jetzt durfte er es allein, und wer es etwa noch wagen sollte außer ihm, dem würde er das Lachen von den Lippen vertreiben! Nicht wie sonst, ruhig, stet und überlegen seine Bahn durchschneidend, nichts als das Ziel im Auge, nicht fair und vornehm, wie man es an ihm gewöhnt war selbst in den schwierigsten Kämpfen, sondern auf seine Gegner achtend, sie herankommen und voraufgehen lassend, sie durch die eigene Ungleichmäßigkeit störend, um sie dann zuletzt rücksichtslos, fast brutal zu schlagen, so schwamm er dieses Rennen, und als er den Jubel über seine Waghalsigkeit und Überlegenheit in seinen Ohren erklingen hörte, war er wieder ganz er selbst. Nie vorher hatte er so geschwommen, und erwußte es. Er wußte auch, daß er mit diesem Siege keinen Beifall unter seinen Freunden finden würde. Aber das war es gerade, was er wollte. Sie hatten ihn ausgelacht, das verzieh er ihnen nicht. Jetzt war ihm auch an ihrem Beifall nichts mehr gelegen. Wie er zum letztenmal für heute sich so die Leiter emporschwang, bis zu der sich die erste Reihe der Zuschauer hinzog, da, wo die besten Plätze nahe dem Start waren, die man durch Auflegen von Leinentüchern gegen das Aufspritzen des Wassers zu schützen versucht hatte, war es ihm wieder, als stiege der Duft eines seltsamen Parfüms, den er schon einmal gespürt, zu ihm auf, und als er sich zur Seite wandte, sah er, daß der erste dieser Plätze, die er beim Hinaussteigen fast streifte, von der Dame besetzt war, die er an jenem Abend im Café und heute morgen erst wieder gesehen hatte. Für eine Sekunde begegneten sich ihre Blicke: sie hielt ihr Kleid mit der Hand zusammen, damit es nicht naß werden sollte, und lächelte leise, wie heimlich mit ihm triumphierend über seinen Sieg. Ein neuer Ausdruck schien in ihrem Blicke zu liegen, etwa wie: wir kennen uns doch, nicht wahr?--Felder war ganz verwirrt und wandte sich ab. Als er angekleidet wieder in die Halle trat, galt sein erster Blick dem Platze, wo sie gesessen. Aber er war leer, und die ihn innegehabt, war nirgends mehr zu finden.--Was bedeutete das nun wieder?--Wie kam sie hierher?--Und warum?--Warum nur?--Es war seltsam, sehr seltsam. Doch er hatte nicht lange Zeit, an den Vorfall zu denken. Zuviel wogte noch in ihm, und immer von neuem kehrten seine Gedanken zu dem unverhofften Verlauf des Tages zurück. Erst der Morgen. Dann der Nachmittag. Und der Bildhauer und Dr. König fielen ihm ein, die beide nicht gekommen oder schon wieder fortgegangen waren, da sie ihm doch nicht Glück wünschen konnten. Eines wie das andere--alles war umsonst gewesen! Umsonst die zähe, eiserne Mühe langer Monate; umsonst die inneren, bitteren Kämpfe und alles heiße Ringen; umsonst alle Kraft und Zeit, die er an diese Sache gesetzt! Deutlich hatte er heute die Grenze seiner Kraft erkannt, über die er sich in unbegreiflicher Verblendung so sehr täuschen konnte. Zum ersten und zum letzten Male in seinem Leben hatte er heute öffentlich gesprungen. Nie würde er von jetzt an wieder einen Fuß auf das Sprungbrett setzen. Sein Traum war zu Ende.--Er war ganz erwacht, und er war sich ganz klar. Aber nicht, daß er mit seinem Plan gescheitert war, sondern, daß er sich lächerlich gemacht hatte--das war es, was Felder mit immer tiefer sich einbohrender, innerlicher Wut gegen sich selbst und gegen die andern erfüllte. Er war ausgelacht worden. Er--Franz Felder!--Und er haßte sie alle, die es gewagt hatten!-- Aber er durfte jetzt nur noch den einzigen Gedanken haben, nicht zu zeigen, wie sehr er sich ärgerte. Das beste war jetzt zu tun, als habe er selbst das Ganze als einen im Grunde nur scherzhaft gemeinten Versuch betrachtet, um zu beweisen, daß es möglich sei, in ganz kurzer Zeit fast sämtliche möglichen Sprünge zu erlernen, auch ohne jahrelange Übung. Daher ging er nicht fort, wie er es am liebsten getan, sondern blieb den ganzen Abend und die halbe Nacht unter seinen Kameraden, war so lustig, wie es ihm überhaupt möglich war, nahm seinen ersten und auf immer einzigen Mehrkampfpreis ebenso überlegen lächelnd und gleichgültig entgegen, wie die Schwimmeisterschaft für Berlin für dieses vierte Jahr, und brachte es sogar fertig, die Witze, die über ihn als Springer gemacht wurden, anzuhören, ja, auf sie einzugehen. Aber in ihm war etwas gebrochen an diesem Tage des großen Enttäuschungen. Er hatte geglaubt, daß ihm, der so vieles erreicht, nun alles möglich sein müsse, woran er die Hand legte. Er hatte sich überzeugt, daß er sich schmählich getaucht--daß es nur ein Gebiet gab, auf dem er Meister war, und daß er nichts anderes zu tun hatte, als möglichst lange Meister auf ihm zu bleiben: ob es ihm nun gefiel oder nicht! Alles andere war ihm verschlossen. Und eine Ahnung dämmerte ihm auf, wie eng der Kreis seiner Welt war. Es gab andere, weitere Gebiete, von denen er nichts verstand, von denen er nicht einmal wußte. Ewig unerreichbar für ihn. Wohin nun aber sollte er mit dieser ungestillten Sehnsucht seiner Wünsche, dieser begehrlichen Kraft, die nicht zufrieden war, wie ein Zirkuspferd im Kreise herum zu trotten?--Wohin mit ihr?!-- Es war nur erst eine Ahnung, die ihm gekommen war mit dem heutigen Tage. Aber schon begann sie ihn zu beunruhigen. 8 Alles ging wieder seinen alten Gang. Äußerlich veränderte sich zunächst nichts im Leben des Vereins. Die Springerei Felders betrachtete man als eine Laune, einen verrückten Einfall, wert höchstens noch eines schlechten Witzes, hätte man nicht seine unbeschreibliche Aufregung und plötzlich hervorbrechende Wut gesehen, wenn jemand ihn gelegentlich zu machen versuchte. So rührte man nicht mehr daran. Innerlich aber war zwischen Franz Felder und seinem Klub ein Riß entstanden, den keine Aussprache heilte und der sich fast täglich mehr verschärfte. Entstanden war er durch Felders eigenmächtige Handlungsweise. Wann war es je dagewesen, daß das Mitglied eines Klubs auf eigene Faust zu trainieren begann und daraus sogar vor seinen eigenen Klubbrüdern ein Geheimnis machte?--Wenn man das wollte, brauchte man keinem Klub anzugehören. Wäre es nicht Felder und zudem die Idee nicht gar so absurd gewesen, so würde man ja der Sache noch auf andere Weise näher getreten sein. So aber... Außerdem würde er wohl jetzt eingesehen haben, was er davon gehabt hatte!... Man sprach mit ihm nicht mehr darüber, aber Felder fühlte wohl, wieviel an Unmut und Mißtrauen gegen ihn zurückgeblieben war. Schlimmer aber war, daß er in den Zeitungen, die in diesen Wochen so laut den Ruhm des Künstlers, der nach ihm seinen "Springer" gebildet, verkündeten, als der "Meisterspringer von Europa" bezeichnet wurde. Es war Felders ehrgeiziger Wunsch gewesen, daß sein Name genannt werden sollte; und der Bildhauer, von Dankbarkeit gegen seinen selbstlosen und treuen Helfer getrieben, hatte alles getan, was in seinen Kräften stand, um ihn zu erfüllen. Daß dabei der Irrtum unterlaufen war, war zwar nicht seine Schuld, da er wohl wußte, daß Felder nur Schwimmer war, und da er ja selbst seinem verunglückten Debüt als Springer beigewohnt hatte; aber immerhin entschuldbar bei den Kunstschreibern, die wenig von solchen Unterschieden wußten und sich beim Beschauen der Statue wohl gedacht haben mochten, daß der, der als Springer dargestellt worden war, auch als solcher sich seinen Meisternamen erworben haben müßte. Wer Felder kannte, wußte, daß ihm am wenigsten an diesem Irrtum irgendwelche Schuld beizumessen war. Er hätte sich lieber die Hand abhauen lassen, als einen Erfolg für sich in Anspruch zu nehmen, den er nicht voll verdient zu haben sich bewußt war. Er war außer sich über das Versehen. Er ließ sich von dem Künstler-- noch einmal führ er zu diesem Zweck den langen Weg nach Wilmersdorf hinaus und betrat das staubige, nüchterne Atelier wieder, in dem bereits an einem neuen, großen Werk gearbeitet wurde--eine schriftliche Erklärung geben, daß er sich ihm nie gegenüber als etwas anderes ausgegeben habe, als was er wirklich war, und nahm zudem das Versprechen mit sich, daß alles getan werden würde, um den bedauerlichen Irrtum wieder gutzumachen. Das Papier stellte er zur Verfügung des Klubs und dieser betrachtete natürlich die Angelegenheit als seine eigene. Aber was half das alles! Felder hätte keine Feinde haben müssen, so zahlreich wie seine Erfolge, als daß das Versehen nicht gegen ihn ausgenützt worden wäre; und wenn man ihn auch nicht öffentlich als den Urheber desselben bezeichnete, so gab es doch genug Stimmen in den feindlichen Lagern, die der Behauptung nicht widersprachen, daß er geduldet habe, was er so gerne als Wirklichkeit gesehen hätte... Für die immerwährenden Streitigkeiten und Eifersüchteleien zwischen den Klubs war die ganze Sache Öl ins Feuer, und sie entbrannten zu Beginn dieses Sommers öffentlich und heimlich heißer als je. Felder, der so stolz darauf gewesen war, daß seine Person nie den Anlaß zu irgend solchen gehässigen und die Sache schädigenden Fehden gegeben, erlebte, daß sie und sein Name in sie hineingerissen wurden und fürs erste überhaupt von ihnen nicht mehr zu trennen waren. Immer wieder kehrte der Gedanke zurück, der an jenem Abend, als er, äußerlich ruhig und lächelnd, aber innerlich aufs tiefste erbittert über seine Niederlage, unter seinen Genossen saß und sich zum ersten Male unter ihnen wieder fremd fühlte, zuerst in ihm aufgetaucht war: der Gedanke des Austritts. Ein Austritt aus dem einen und der Übergang in einen anderen Verein war nichts Außergewöhnliches. Es kam alle Tage vor, daß Träger bekannter Namen aus irgendwelchen, oft ganz geringfügigen Ursachen ihren angestammten Klub verließen und in einen anderen übergingen, gewöhnlich eine Anzahl anderer Mitglieder mit sich ziehend und nicht selten eine Spaltung herbeiführend, die die Gründung eines neuen Vereins zur Folge hatte. Eine ganze Reihe der wie Pilze aus der Erde schießenden Klubs war auf diese Weise entstanden und hatte das Eingehen anderer, älterer, verursacht. Ja, es geschah, daß manche die Gründung solcher neuen Vereins geradezu als Sport betrachteten, und es war vorgekommen, daß Träger von Namen, die zu den allerersten in der Schwimmerwelt zählten, im Laufe weniger Jahre drei, vier Vereinen angehörten und sie ganz nach ihrem Belieben wechselten. Aber Felder konnte sich doch noch nicht mit dem Gedanken eines Austritts vertraut machen. Es erschien ihm noch immer als etwas Undenkbares, daß er den S.-C. B. 1879 verlassen sollte, mit dem er verwachsen war mit jeder Faser, dem er die glücklichen Jahre seiner Entwicklung verdankte, und den er durch seine Siege wieder zum ersten und meistgenannten unter allen gemacht hatte. Noch liebte er ihn und alles, was mit ihm zusammenhing. Noch konnte er nicht von ihm lassen... Er wehrte sich gegen seine Gedanken. Aber dann kam ein Tag, der gewissermaßen die Entscheidung über ihn hinwegnahm. Felder reiste nach Hamburg, um zum zweiten Male die Elbmeisterschaft sich zu eigen zu machen. Ein älteres Mitglied, ein Kaufmann, der gerade in Hamburg Geschäfte hatte, schloß sich ihm an, und Felder konnte es nicht hindern, daß während der Fahrt die Rede auf die Vorgänge und allen Klatsch und Tratsch der letzten Zeit kam. So erführ er die Äußerung Nagels bei Beratung seiner Meldung zum Springen: "daß er ihm eine Niederlage wünsche, eine gründliche Niederlage"... Das Wort traf ihn wie ein Schlag. Er ließ es sich zweimal wiederholen, ehe er es glaubte. Dann wurde er ganz still. Er sprach kaum ein Wort mehr an diesem Tage: nicht während der Fahrt, nicht während der Begrüßung in Hamburg, nicht während des Festes... Man glaubte dort, er müsse krank sein; aber man sah ihn schwimmen, mit einer solchen verbissenen Wut und Kraft, daß die bloße Vermutung lächerlich schien. Sofort nach seinem Siege--und was für ein Sieg war es wieder!--ging er allein zum Bahnhof, ohne sich von einem Menschen zu verabschieden, und fuhr mit dem Schnellzug nach Berlin zurück. Er ging sofort in das Restaurant des Klublokals, wo er gewiß war, seine Leute zu treffen. Er fand einige von ihnen beim Billard. Auch Nagel. Er wartete, bis die Partie zu Ende war, ohne auf irgendwelche Fragen Antwort zu geben. Dann gingen er und sein alter Schwimmwart in das noch leere Klubzimmer, und hier, in dem Räume, der die Spuren jeder Etappe in Felders Laufbahn in irgendeinem Preisstück, von dem einfachsten bis zu dem kostbarsten, aufwies, hier erfolgte die Auseinandersetzung zwischen den alten Freunden. Felder war maßlos erregt; Nagel blieb ruhig wie immer. Und nichts reizte den anderen so sehr, wie diese kühle Ruhe. --Ist es wahr, daß du mir eine Niederlage, eine _Niederlage_ gewünscht hast?--begann Felder, und die Antwort, die er bekam, brachte ihn außer sich: --Ich habe sie dir nicht gewünscht; aber ich habe gesagt, eine gründliche Niederlage sei das einzige, was dich noch zur Besinnung bringen könne... --Er sei also nicht bei Besinnung? --Er sei seit einem halben Jahre so völlig von Ehrgeiz und Ruhmsucht verblendet, das er jede Direktive verloren habe und nach dem Unmöglichen strebe. Und nun sprach Nagel ruhig und lange, und wenn manches auch wahr war, was er sagte, so war anderes doch auch einseitig und unverständig, und alles war hart und scharf und unfreundlich. Felder hörte es bis zum letzten Worte an. Er möge sich doch nicht einbilden, setzte Nagel auseinander, daß man die Wandlung in seinem Wesen nicht schon seit langem und mit immer größerem Mißfallen beobachtet habe. Daß er der Entwicklung in dem Ausbau des Klubs nie das nötige Interesse entgegengebracht habe, darüber war man sich ja schon lange klar gewesen. Wann habe er sich wohl jemals um den inneren Fortschritt des Vereins gekümmert?--Habe er zum Beispiel jemals der Jugendabteilung in ihrer Ausbildung geholfen?--Sei er auch nur ein einziges Mal einem der Jüngeren mit Rat und Hilfe zu Seite gestanden?--Sei er nicht immer nur mit Widerstreben an die Beteiligung bei dem Wasserpolo gegangen, und nur dann, wenn es unumgänglich nötig gewesen war?--Habe er nicht noch letzthin seine Beteiligung am Staffettenschwimmen aus reinem Hochmut einfach abgelehnt?--Immer habe er nur an sich gedacht, schon als kleiner Junge, immer nur an sich, und alles andere sei ihm schnuppe gewesen. Auch mit den Kämpfen des Vereins um seine Existenz innerhalb der Bewegung (damit meinte Nagel die Streitigkeiten mit anderen Vereinen) habe er sich nie befaßt, sondern sei immer gleichgültig und mürrisch nebenher gegangen, und wenn er sich in letzter Zeit beteiligt habe, so sei es nur geschehen, um seine Person auch hier in den Vordergrund zu drängen. Denn im Vordergrunde müsse er jetzt natürlich überall stehen. Nicht zufrieden mit seinen unvergleichlichen Erfolgen in Deutschland und im Auslande als Schwimmer, habe er dann endlich sogar seine Hände nach den Lorbeeren anderer gestreckt und sie an sich zu reißen versucht. Das sei ihm zwar nun nicht gelungen, und darüber freue er sich, er, Nagel, der ihn immer gewarnt habe, seinem Ehrgeiz allzusehr nachzugeben... Denn wohin könne ihn dieser jetzt noch führen?--Höchstens noch zur Spezialität, zum Berufsschwimmer. Dann aber sei es mit seiner Entwickelung zu Ende, dann sei er kein Sportschwimmer mehr, sondern nur noch eine Abnormität. Ein Professional, der seine Kunst für Geld zeige. Aber es sei nie der Zweck des Klubs gewesen, dem anzugehören sie beide die Ehre hatten, solche hors-concours-Größen heranzuzüchten; sein Ziel und einziger Zweck sei die gedeihliche Pflege des Schwimmsportes, und nichts anderes... So redete Nagel, und er sprach noch in seiner weitschweifigen und langsamen Art, als die anderen von ihrem Billard aus dem Nebenzimmer und immer mehr Mitglieder, ältere und jüngere, hereinkamen, sich um den Tisch setzten und gespannt zuhörten. Leider war Brüning nicht unter ihnen, Brüning, der einzige, der mit seiner Gemütlichkeit, Erfahrung und seiner Lebenskenntnis, mit seiner Zuneigung für Felder und seiner allgemeinen Beliebtheit im Klub die Sache noch hätte ins rechte Geleise bringen können. Er war nicht in Berlin, sondern wieder einmal auf einer seiner plötzlichen Reisen. Felder saß stumm und blaß da. Jedes der Worte Nagels ließ den Groll und die Bitterkeit in seinem Herzen höher und höher steigen. Das war ja alles falsch und unrecht, was er da vorbrachte, und jeden der Vorwürfe wies er im Innern von sich, sowie er fiel. Er hätte sich nicht um das Gedeihen des Klubs gekümmert, er, der nur für ihn, nur in ihm all diese Jahre gelebt hatte?--Zwar mit der Jugendabteilung hatte er sich wenig befaßt, das war richtig; aber er verstand nun einmal nicht, Anordnungen zu geben und zu lehren. Er war doch nicht der Schwimmwart. Aber war es nicht weit wichtiger gewesen, daß er selbst in unermüdlichem Eifer sich ausgebildet hatte?--Wie hätte er es denn sonst zum ersten Schwimmer der Welt bringen können? Wie hätte er sich dankbarer erweisen können, als dadurch, daß er alle Erfolge mit seinem Verein teilte und dessen halbvergessenen Namen wieder zu Ehren brachte?--Er habe sich früher nicht an den Debatten beteiligt. --Auch das sei wahr, aber diese kleinlichen Streitigkeiten ekelten ihn nun einmal an. Dafür habe er geschwommen, geschwommen, siegreich geschwommen!... War das nicht mehr wert, als alle Worte?-- So wies er innerlich jeden der Vorwürfe, einen nach dem anderen, zurück, und nur auf den letzten: den des Ehrgeizes nach einem fremden Ziele, fand er nicht die richtige Antwort, so daß er, als Nagel endlich geendet und er blaß und verwirrt aufstand, um zu antworten, fast alles vergessen hatte, was er, der Schwerfällige, dem Redegewandten entgegnen wollte. Er brach los, aber was er vorbrachte, waren nur unzusammenhängende Worte und halbe Sätze. Er hatte nie verstanden, sich auszudrücken-- und auch in dieser Stunde, wo sein Herz so voll war, gingen seine Augen nur unruhig von einem der bekannten Gesichter zum anderen, als suchten sie bei ihnen Hilfe gegen diese unerhörten Beleidigungen und Anklagen, bis sie auf der Statuette des Springers hafteten, die dicht vor ihm auf dem Tische stand und die er in seiner Erregung erst jetzt sah. Sie war heute gekommen, während er nach Hamburg gefahren war. Der Bildhauer hatte seiner Dankbarkeit und Erkenntlichkeit für Felder einen Ausdruck geben wollen, und da dieser so oft und mit solcher Liebe von seinem Klub gesprochen, hatte er gedacht, ihm eine Freude zu machen, wenn er diesem eine kleine Nachbildung seines inzwischen so berühmt gewordenen Werkes für das Vereinszimmer stiftete... Nun stand das wertvolle Geschenk auf dem Tische vor Felder. Als dieser begriff, was es war, stockte er von neuem, und abermals wallte ein mächtiger Groll in ihm auf. Immer und immer wiederholte er ohne Zusammenhang das Wort von der Niederlage, und fast sinnlos vor Zorn schrie er endlich, als er in keinem der Gesichter um sich her auch nur eine Spur von Verständnis für seine Gefühle fand, über den ganzen Tisch hinweg: --Ja, Niederlagen wünscht ihr mir, aber meine Preise nehmt ihr gern! Das hätte er nicht sagen dürfen, und er merkte es sofort an der Stille, die diesen Worten folgte. Dann unterbrach sie eine scharfe, höhnische Stimme vom Tischende her, die eines alten Gegners: --Sogar von dem Meisterspringer... Vor Felders Augen wurde es dunkel. Er wußte nicht mehr, was er tat. Er griff nach der Statuette, zog sie so heftig zu sich heran, daß ein Arm abbrach, faßte sie und schleuderte sie zu Boden, wo sie in tausend Splitter zerbrach. Ohne sich umzusehen, ging er hinaus. Niemand hielt ihn, niemand ging ihm nach. Als er im Torwege des Hauses an der Straße stand, fühlte er plötzlich, daß seine Augen naß waren. Er sah nichts mehr und fuhr mit dem Handrücken über sie hin. Dann merkte er, daß es Tränen waren. Er wunderte sich. Es war das erste und einzige Mal in seinem Leben, daß er weinte. Dann lachte er laut auf, trotzig und verächtlich. 9 Koepke mußte den Brief aufsetzen, in dem Felder seinen Austritt anmeldete. Kein Entwurf genügte dem im Innersten Gekränkten. Sogar der übliche "Schwimmergruß" am Ende mußte fortbleiben und wurde durch das steife "Hochachtend" ersetzt. Endlich entschied er sich für die kürzeste Fassung. Trotzdem dauerten Vorbereitungen und Ausführung der Abschrift fast eine Stunde.--Daß Koepke zugleich mit ihm austrat, war ebenso selbstverständlich, wie nebensächlich. Es war kaum bekannt geworden, daß Felder den S.-C. B. 1879 verlassen wollte, als sich bereits mehrere der ersten Berliner Schwimmvereine um seine Mitgliedschaft bewarben. Alle wären stolz darauf gewesen, den Meisterschwimmer ihr eigen zu nennen. Aber Felder hatte bereits entschieden, und es war mehr ein Zufall, als Absicht, der ihn den Klub "Hecht" wählen ließ. Er traf eines Abends mit mehreren der ihm gut bekannten Mitglieder zusammen, ein Wort gab das andere, und Felder war sein Mitglied, ehe er sich dessen versah. Es war kein besonders hervorragender, aber geachteter und strebsamer Verein, der sich natürlich mit dem S.-C. B. 1879 in keiner Beziehung messen konnte, aber doch auch nicht zu jenen kleinen Klubs gehörte, die lediglich aus Vereinssimpelei entstanden waren und das Schwimmen nur so nebenbei betrieben. Er setzte sich in seiner Herrenabteilung meist aus kleinen Gewerbetreibenden und Beamten, in seinen jüngeren Leuten aus deren Angehörigen und Bekannten zusammen und bildete gewissermaßen eine große Familie. Für Felder war die Art und Weise entscheidend, mit der man ihm entgegenkam. Man betrachtete seinen Eintritt als hohe Ehre und nahm die Gelegenheit sofort wahr, den Tag als Fest zu feiern, wie man überhaupt in geselligen Zusammenkünften groß war. Felder gebot von der ersten Stunde an unumschränkt in allem, was er wollte und wünschte. Das war nun zwar niemals mehr, als Beteiligung an jeder irgendwie bedeutsamen Schwimmkonkurrenz. Denn jetzt, wo er sich endgültig auf dieses, sein Gebiet, beschränkte, war seine Eifersucht, unumschränkt auf ihm zu herrschen, größer als je. Keiner widersprach seinen Wünschen. Dafür erwartete man Wunderdinge von ihm, als Geringstes einen ganz neuen Aufschwung des Klubs. Der Anfang war vielverheißend. Man leerte die Kasse willig, um Felder auf möglichst viele auswärtige Feste senden zu können, und freute sich kindlich an den eroberten Preisen, mit denen man das noch recht kahle Klubzimmer schmückte. So siegte er im Laufe der Sommermonate nacheinander: im Schwimmen um die "Havelmeisterschaft", bei dem neben ihm nur noch einer startete; in Magdeburg im Schwimmen um die "Elbmeisterschaft", die er nun schon zweimal sein nannte; in dem großen "Müggelseeschwimmen", einem heißen Kampfe; in Hannover, wo er allein an den Start ging, und daneben in mehreren lokalen Veranstaltungen der Berliner Klubs. Er unterlag eigentlich nur ein einziges Mal, als er auf dem Gastschwimmen des "Triton" sich von dem Favorit dieses Klubs im Brustschwimmen zu dessen eigenem Erstaunen schlagen ließ. Aber die Kämpfe dieses Jahres standen unter keinem günstigen Zeichen und nicht auf der Höhe derer der Vorjahre. Die Europameisterschaft wurde nicht in England ausgefochten, sondern in Wien. Als Felder im August dort hinreiste, fand er weder von England, noch von Italien Konkurrenten vor. England hatte, wie gewöhnlich, keine entsandt, und der italienische Meister, mit dem er nun schon zweimal so erfolgreich gerungen und der Stein und Bein geschworen, ihn beim dritten Male unterzukriegen, war nicht erschienen. Er sei krank, hieß es... Deutschland hatte überhaupt keinen geschickt außer ihm. Es konnte nichts Besseres tun. Aber die Freude an der diesjährigen Europameisterschaft war Felder getrübt. Er wäre nur zufrieden gewesen, wenn er sie gegen die ersten Meister der Welt auch diesmal hätte verteidigen können, vor allem gegen jenen australischen Schwimmer, von dessen phänomenalen Leistungen die internationalen Sportblätter so viel sprachen, dessen Rekord über die 1000-Meter- Strecke den seinen um zwei Minuten übertraf und dessen Porträt deshalb in der letzten Nummer des "Sport im Bilde" neben das seine gestellt war. Aber der war nicht gekommen und auch nicht erwartet worden... Er messe sich nur in Australien und England, hieß es. Als Sieger kehrte er zurück, mit Jubel empfangen. Als Sieger ging er auch aus dem diesjährigen großen Verbandsschwimmen in Charlottenburg hervor, wo er einen doppelten Triumph davontrug. Denn hier führte er zum ersten Male die neuen schwarz-gelben Farben gegen die blauweißen ins Feld. Der S.-C. B. 1879 wagte es und hatte zum Schwimmen über dreihundert Meter--wie früher ihn--ein Mitglied gemeldet. Felder lachte, als er es hörte.--Gegen ihn!--Man wollte ihn ersetzen?--Man sollte sich täuschen. Er wollte ihnen zeigen, was sie an ihm verloren hatten. Und es machte ihm ein grausames Vergnügen, den früheren Klubgenossen, mit dem er so manches Mal zusammen im Spiel geübt hatte, noch neben sich liegen zu lassen, als die anderen drei Konkurrenten schon längst hinter ihnen geblieben waren, ihm zu erlauben, bis auf Körperlänge ans Ziel zu kommen, schon die Rufe zu hören, die früher ihm gegolten, und ihn dann unter dem tosenden Beifall der Schwarz-Gelben und aller Zuschauer um diese eine Körperlänge zu schlagen, indem er mit seinem gefürchteten und berühmten Anschlag ans Ziel ging... An diesem Abend, als er neben diesem 300-Meter-Siege auch noch den neu gestifteten "Kaiserpreis" für den "Hecht" erwarb und seine neuen Genossen nicht genug tun konnten, ihm ihre Freude und Dankbarkeit zu beweisen, während der S.-C. B. 1879 in corpore das Lokal der Preisverteilung verließ, genoß er ganz das Gefühl der Genugtuung gesättigter Rache. Aber in nächster Zeit, in den langen Tagen und Wochen zwischen den großen Festen, sonst stets so ausgefüllt durch ruhige Arbeit und frohen Verkehr mit lieben Freunden, fühlte er mehr als je, was er in diesem Sommer verloren. Keinen der beiden Schläge--die ersten, die er in seinem Leben empfangen,--vermochte er zu verwinden: weder die Niederlage im Springen, noch den Verlust seines Klubs. Der eine hatte ihn noch trotziger und eifersüchtiger gemacht, obwohl sie ihn tief verletzt; aber an dem anderen litt er. Es war eine Wunde, die sich nicht schließen wollte. Denn unter seinen neuen Genossen fühlte er sich fremd. Wie als Knabe schon, war er auch jetzt noch nicht imstande, sich schnell an neue Menschen anzuschließen und im Verkehr sich leicht zu geben. Das wurde natürlich auf der anderen Seite ebenfalls empfunden und manche Versuche vertraulicher Annäherung hörten von selbst auf. Felder war nicht mehr zufrieden und glücklich. Noch standen seine Siege ganz auf der Höhe derer vom Vorjahre. Er schwamm noch ebenso tadellos, sein Stil war unanfechtbar, wie seine Siege, aber sie machten nicht mehr dasselbe Aufsehen wie bisher. Man hatte sich an sie gewöhnt und erwartete nichts anderes von ihm. Er selbst legte ihnen nicht den Wert mehr bei, wie früher.--Manche sagten, eine gewisse Gier und Rücksichtslosigkeit habe sich seiner bemächtigt, die ihm früher nicht eigen gewesen sei. Vielleicht täuschten sie sich, weil er nicht mehr so ruhig war, wie sonst, nicht mehr mit derselben frohen Unbekümmertheit und Heiterkeit an den Start ging. Aber in einem hatten sie recht: Felder war wirklich ein anderer geworden. Er war nicht mehr zufrieden, nicht mehr glücklich. Außerdem beschlich ihn jetzt zuweilen ein ganz neues Gefühl, das er nie vorher gekannt hatte: er fühlte sich einsam. 10 Es war nichts Besonderes, daß sich im Briefkasten des Klubs Sendungen für Felder befanden. Glückwünsche, Einladungen zur Beteiligung an Schwimmfesten, Anliegen aller Art, um Photographien, Lebenslauf und Autograph kamen alle Woche, und es war nicht das erstemal, daß sich unter all diesen geschäftlichen Dingen, die sämtlich von Koepke mit rührender Sorgfalt und komischer Wichtigtuerei erledigt wurden, so daß Felder nur seinen Namen unter die Antworten zu setzen brauchte-- es war nicht das erstemal, daß sich unter den Eingängen Schreiben von zarter Hand befanden, auf die der Empfänger zwar nie reagierte und die er meistens dem Gelächter seiner Freunde preisgab, Briefe, die ihn aber doch dazu veranlaßt hatten, seine Korrespondenz erst selbst durchzusehen, ehe er sie seinem getreuen Sekretär auslieferte. Eines Abends wurde ihm nur ein Brief gegeben, und kaum hatte ihn Felder in der Hand, als er wußte, von wem er kam. Er spürte einen schwachen, unvergessenen Duft und schob ihn hastig in die Tasche. Sobald er allein war, öffnete er ihn. Erst schien er ihm in einer fremden Sprache geschrieben zu sein, so fremd und seltsam kamen ihm die schlanken, eckigen Buchstaben vor. Dann entzifferte er ihn nach und nach. Keine Anrede, keine Unterschrift. Was er las, waren nur diese Zeilen: "--Ich bitte Sie, mich zu besuchen. Ich weiß, Sie werden kommen. Jeden Freitag abend um 8 Uhr wird man sie an der Ecke der Charlotten- und Taubenstraße, der südwestlichen Ecke des Gendarmenmarkts, dort, wo die Litfaßsäule steht, erwarten, um Sie zu mir zu führen. Ich weiß, Sie werden kommen!..." Felder war ganz verblüfft. Er nahm das Kuvert in die Hand: der Brief war an ihn. Er trug die Adresse des S.-C. B. 1879 und war durch dessen Schriftführer, wie schon so mancher andere, einfach an den "Hecht" weitergesandt worden. Es war kein Zweifel möglich. Und plötzlich, während er noch das Papier in der Hand hielt und nicht wußte, was erdenken sollte, stieg von ihm wieder der starke, seltsame Duft eines bestimmten Parfüms auf und mit ihm die hohe, schlanke Gestalt in grauer Seide mit dem kühnen und festen Blick. Das war sie, die ihn damals im Café so unverwandt angeblickt, die er in der Kunstausstellung zum zweiten und an dem Nachmittag desselben Tages--er biß die Zähne zusammen, wenn er an diesen Tag dachte--zum dritten Male gesehen hatte, und dann nie wieder... Sie mußte es sein, die dies schrieb. Es konnte niemand anders sein. Der Brief war von ihr. Aber was fiel dieser Person denn ein?--Das war ja der reine Wahnsinn, einem so zu schreiben: ohne Anrede, ohne Namen und in diesem Ton! Aber sie irrte sich, diese "Dame". Er war keiner von denen... Sie konnte lange warten. Er zerknitterte das rauhe, englische Papier in einen unförmlichen Klumpen und warf ihn fort. Dann bückte er sich, las die Zeilen noch einmal und zerriß den Brief in lauter kleine Stücke, die er fallen ließ. Also _das_ wollte sie von ihm!-- Aber sie konnte lange warten. Einstweilen würde sie sich schon mit ihrem Alten begnügen müssen. 11 So ging auch dieser Sommer zu Ende, und Franz Felder war fast froh darüber. Viele neue Ehren hatte er ihm gebracht, keine neuen, keine reinen Freuden mehr. Alles war anders geworden gegen den vorigen. Ein kurzes Jahr, und welche Veränderungen!-- Getrennt von seinen alten Freunden, fremd und unheimisch unter den neuen; nicht mehr dumpf in den engen Bezirk eines abgeschlossenen Lebens gebannt, sondern beunruhigt durch Einblicke in die Lebensführung anderer Kreise, erworben auf weiten und abwechslungsreichen Reisen beim Streifen weiterer Fernen; neben unerhörten, nicht endenwollenden Siegen eine lächerliche, zwecklose, einzig selbstverschuldete Niederlage--hatte er Gefühle von Bitterkeit, Groll und wiederum gesättigter Rache kennen gelernt, die der schlichten, frohen Unbekümmertheit seiner Jugend bisher völlig fremd gewesen waren. Er hatte die höchste Höhe erreicht. Keine bewundernden Augen folgten seinem Aufstieg mehr. Er stand oben, ganz allein, wie er es gewollt. Nun ging es in schwindelnder Höhe von Grat zu Grat, und wer ihm nachsah bei seiner hastigen Wanderung von Sieg zu Sieg, ohne Ausruhen, ohne Freude mehr, der konnte sich eines bangen Gefühles für ihn nicht erwehren. Eines Tages würde er fallen in den Abgrund der Vergessenheit. Felder selbst wußte es. Aber wie der tollkühne Wagehals, der in atemloser Hast von Gipfel zu Gipfel eilt und keinen Blick rückwärts mehr in die Tiefe zu tun wagt, weil er fürchtet, der Schwindel könne ihn ergreifen und niederreißen, so wollte auch er nicht mehr daran denken, woher er gekommen war, und nicht wissen, wohin er ging. Statt in ruhiger Wahl sich die schönsten der Früchte von dem Baume zu pflücken und sie zu genießen, rüttelte er in unersättlicher Begierde an ihm und ließ sie zur Erde fallen, ohne sich kaum noch die Mühe zu geben, sie zu zählen. Die stille Wut des Gehetzten überfiel ihn zuweilen, von dem man das Unmögliche verlangt und der doch über seine eigene Kraft nicht hinaus kann. Und doch war er es ganz allein, der sich unaufhörlich antrieb mit den quälenden Zurufen seines Innern: "Weiter!--weiter!--Immer weiter!-- Nur kein Stillstehen! "... Er schwamm nicht mehr, wie bisher. Er hatte keine Achtung mehr vor seiner eigenen Kunst, weil sie ihm nicht mehr die höchste Freude war. Wie er angefangen, in seinen Gegnern seine Feinde zu sehen, so sah er einen Feind jetzt auch in seinem Wasser. Nie tummelte er sich mehr in ihm, wie als Knabe im kindlichen Spiel; nie rang er mehr mit ihm, um die Kraft des Jünglings in ehrenvollem Kampfe mit dem Gegner zu messen. Das Wasser war sein _Feind_ geworden. Er kämpfte mit ihm auf Tod und Leben--um sein Leben! Und er behandelte es, wie einen Feind. Er grüßte es nicht mehr mit frohem, leuchtendem Blick, wenn er seine glitzernde Fläche sah. Er koste es nicht mehr mit warmer Hand und hielt keine vertrauliche, heimliche Zwiesprache mehr mit ihm. Hastig kam er, griff beim Sprunge mit den Händen in die Flut, als wolle er sie würgend bei der Gurgel packen, schlug und mißhandelte sie, wenn sie ihn nicht schnell genug zum Ziele trug, und das Wasser schien es zu fühlen. Er bildete sich ein, es setze ihm seit einiger Zeit einen geheimen Widerstand entgegen, als trüge es ihn nicht mehr so leicht wie bisher zu seinen Zielen, und rasend vor Wut mißhandelte er es mit den Fäusten, um es seinem Willen gefügig zu machen. Und das Wasser murrte und grollte und schrie unter diesen ungewohnten grausamen und rohen Schlägen, und bäumte sich auf, und ließ ihn doch immer noch gewähren, weil es ihn vor allen so lange geliebt hatte und immer noch liebte. Aber Felder hörte die heimliche Warnung der vertrauten Stimme schon nicht mehr. Vierter Teil 1 Er war nicht mehr zufrieden und nicht mehr glücklich. Es schien ihm, als habe sein Leben keinen Inhalt mehr. Was seine Freude gewesen war, war es nicht mehr. Und stärker und stärker wurde das Gefühl der Einsamkeit in ihm. Er hatte zwar jetzt jeden Abend etwas vor, ging hierhin in ein Varietétheater, und dorthin zum Bier, aber wiewohl er in Gesellschaft war, fühlte er sich doch allein. Eines Tages erhielt er einen zweiten Brief, auf demselben starken, rauhen Papier mit dem unbeschnittenen Rande: "--Vergessen Sie nicht: _jeden_ Freitag Abend um 8 Uhr erwartet man Sie an der Ecke der Tauben- und Charlottenstraße, dort, wo die Litfaßsäule steht, denn ich weiß, Sie werden kommen. Einmal werden Sie kommen--ganz sicher!"... Wieder knitterte er ihn zusammen, und wieder faltete er ihn auseinander, um ihn abermals zu lesen. Die Geschichte wurde ihm unheimlich. Der bestimmte, überlegene Ton des Briefes ließ diesmal kein Lachen in ihm aufkommen. Wenn er noch seine alten Freunde gehabt hätte, würde er einem von ihnen, zum Beispiel Brüning, den Brief gezeigt haben. Unter seinen neuen war keiner, dem er sich anvertrauen mochte. Er dachte zuweilen an die erste Begegnung im Café und die beiden ihr folgenden. Manchmal, wenn er eine schöne Frau oder ein hübsches Mädchen sah, kam ihm die Fremde ins Gedächtnis, und immer fiel der Vergleich zu ihren Gunsten aus. Immer dachte er auch daran, daß sie an jenem Nachmittag seinem Unterliegen beigewohnt--weshalb war sie damals gekommen, wenn nicht seinetwegen?--Wußte sie, wer er war?--Und was mußte sie nun von ihm denken?-- Das Rätselhafte der ganzen Sache begann ihn zu beschäftigen. Diese geheimnisvollen Briefe--woher hatte sie seinen Namen erfahren und den des Klubs?--Sie mußte ihn an jenem ersten Abend im Café gehört haben, anders war es überhaupt nicht möglich. Und dieses Rendezvous?--Ecke Tauben- und Charlottenstraße. Das war am Schauspielhause. Auf dem Gendarmenmarkte. Wer erwartete ihn dort?-- Und was wollte sie von ihm?--Was konnte sie von ihm wollen?--Nur eines! Nie wäre er hingegangen, wenn er sich nicht so einsam gefühlt hätte, wenn sie ihn nicht an jenem Nachmittage gesehen und--wenn sie nicht so schön gewesen wäre! Denn sie war so schön, daß er sie nie vergessen hatte. Als er diesen zweiten Brief bekam, fühlte er es; und er zerriß ihn nicht, sondern steckte ihn zu sich. Dann wieder kamen ihm diese Aufforderungen dumm und schamlos vor. Er wußte ganz gut, was sie von ihm wollte. Er war kein kleiner Junge mehr, und zudem war er ein Berliner. Mit ihm "sich amüsieren"--das wollte sie!... Schließlich, nachdem er den ersten Freitag und den zweiten hatte verstreichen lassen, beschloß er, an einem nächsten einmal an der bezeichneten Ecke vorbei zu gehen. Er wollte doch einmal nachsehen, wer denn dort auf ihn wartete. Wahrscheinlich niemand... Sie hatte es jetzt wohl aufgegeben, nachdem sie einmal gesehen, daß "mit ihm nichts zu machen war".-- Um sieben Uhr kam er von der Arbeit. Um acht war er an der Ecke. Er hatte recht: es war niemand da, um ihn zu "erwarten". Er war doch ein rechter Esel. Da--schon wandte er sich zum Gehen--stand, wie aus der Erde gewachsen, dicht neben ihm eine alte, kleine Frau, in einen weiten Mantel gehüllt und den Kopf halb unter einer großen Kapuze verborgen, so daß Felder nur die scharfe Nase und die dunklen, funkelnden Augen sah, und sagte mit einem fremden Akzent hastig und bestimmt: "Bitte mir nur zu folgen!--Nicht weit..." Wo war sie so plötzlich hergekommen?--Hatte sie hinter der Säule gestanden?--Oder war sie aus einer der wartenden Droschken gestiegen?--Felder erfuhr es nie. Aber er folgte ihr fast willenlos, so überrascht war er. Die Alte ging schnell vor ihm her. Noch überlegte er, ob er nicht umkehren sollte, als sie bereits vor einem Hause halt machte und die Tür öffnete. Er hatte nur Zeit, zu fragen: "Wohin führen Sie mich denn eigentlich?"--Aber die Alte verstand seine Frage offenbar gar nicht. Sowie er die ersten Worte sprach, unterbrach sie ihn und sagte wieder nur (und es war wie eine eingelernte Redensart) schnell und in hartem Deutsch: "Bitte mir nur zu folgen!--Gar nicht weit!--Schon hier!"--Nochmals, als sie dann die Treppen hinaufstiegen und er immer weiter, wie gebannt, folgte, wollte er fragen und sich wehren, aber wieder wurde eine Tür geöffnet, aus dem Entree strömte es ihm hell und warm entgegen, und die Alte wiederholte, indem sie ihn durch Gebärden aufforderte, seinen Überzieher abzulegen und ihm dabei behilflich war: "Schon hier!--Schon hier!"-- Im nächsten Augenblick stand Franz Felder in einem hohen, dämmerigen Gemach: schwere Teppiche auf dem Boden, schwere Portieren über den Türen und Fenstern, schwere Fauteuils und Ruhestätten, aber sonst alles klein und leicht, die tausend verschiedenen Luxusdinge aus der Umgebung einer verwöhnten Frau. In der Mitte des Zimmers stand sie selbst, in einem dünnen fast durchsichtigen Gewande, ihn erwartend. Als sie ihn sah, ging sie langsam auf ihn zu, bis sie dicht vor ihm stand. Sie waren allein. Sie sah ihn an, aber ganz anders, wie sonst: mit einem unbeschreiblichen Lächeln. Sie legte ihre Arme um seinen Nacken und ihr Körper preßte sich dicht an den seinen. Dann küßte sie ihn, und es war wie ein Aufatmen, als sie dann das erste Wort sagte: "Endlich!..." Er stand ganz still. Er wußte nicht, was er tun sollte. Aber das Blut stieg ihm zu Kopf: wie schön sie war!--Und der Duft, der fremde, seltsame Duft, der von ihr ausging, dieser Duft, den er kannte, berauschte ihn und brachte ihn um seine letzten Sinne. Noch wollte er nicht. Aber er mußte. Wie schön sie war!... Er wußte schon nicht mehr, wo er war und was er tat. Sie sah es. Sie empfand es. Und da regte sich in ihr, die diesen Augenblick seit Monaten mit verhaltener Gier ersehnt, und in ihm, der sich vor diesem Augenblick, ohne es sich klar zu machen, gefürchtet hatte, die Lust ihn zu verlängern, und Auge in Auge, mit heißem Atem und glühenden Händen, maßen sie ihre Stärke aneinander--diese schönen Menschen, beide in der Fülle einer in stetiger Ausdauer geübten Kraft. Aber in ihm erwachte der Mann. Und da er der Stärkere war, nahm er sie, wie sie es wollte und gewollt hatte seit der Stunde, in der sie ihn zum ersten Male gesehen und für sich begehrt. 2 Sie wurde sein Leben von da an. Sie wurde es so sehr, daß er über ihr sogar sein Liebstes vergaß. Er hätte es bisher für eine Unmöglichkeit gehalten, mehr als zwei Tage vergehen zu lassen, ohne im Wasser gewesen zu sein. Ganz selten war einmal einer gegangen, an dem er sich nicht in sein Element gestürzt hätte, und zwei wohl nie, solange er denken konnte. Nun geschah es, daß drei oder vier vergingen, ohne daß es ihm in den Sinn kam, zu schwimmen. Er dachte nur noch an sie: an ihren Mund, an ihre Augen, an jede Einzelheit ihres Körpers, der sein geworden war und es jeden Tag von neuem wurde. Es war ein seltsames Verhältnis. Als er eine Woche fast jeden Abend bei ihr gewesen war, wußte er noch nicht einmal ihren Namen; als er sie vier Wochen kannte, wußte er nicht viel mehr, als daß sie Georgette hieß. Vielleicht nannte sie sich auch nur so. Erst wollte er alles wissen. Er wollte schon dahinter kommen. Aber er gelangte selten dahin, eine Frage zu tun; und dann hatte sie eine so eigentümliche Art, auf Frägen, die ihr nicht paßten, zu erwidern, ohne sie zu beantworten. Nie erfuhr er das, was er eigentlich wissen wollte. Und wenn sie nicht mehr ausweichen konnte, dann konnte sie so leise bei seiner Frage lachen, als sei diese Frage nur ein guter Witz von ihm.--Es kam nie zwischen ihnen zu einem Gespräch. Er so schwerfällig, so unerfahren und selbst so schweigsam, war unfähig, ein solches in Gang zu bringen; und sie--entweder hatte sie nur die kurzen, abgerissenen Worte der Leidenschaft, oder sie lag ihm gegenüber, rauchend und ihn unverwandt anblickend, bis sie aufsprang, die Zigarette fortwarf und sich von neuem an ihn schmiegte. Etwas Fremdes haftete allem an, was sie tat und sagte. Ihre Sprache war kein reines Deutsch, sondern ein Gemisch von Ausdrücken, die sie auf ihren Fahrten durch aller Herren Länder aufgelesen. Denn sie kannte alles, war überall gewesen, hatte alles gesehen--und wenn dem jungen Manne hier und da einer der vielen fremden Gegenstände, mit denen ihre Zimmer überladen waren, in die Augen fiel und er sie nach seinem Ursprung fragte, dann geschah es auch wohl, daß sie eine Art von Geschichte daran knüpfte: aber nie zusammenhängend, nie so, daß sie ein Stück ihres Lebens wurde. Und so war und blieb sie: immer schlagfertig, immer bereit und im Gründe nie direkt ausweichend, aber doch nie und nichts wirklich gebend... nichts, außer sich selbst!... Sie selbst fragte ihn nie nach irgend etwas. Aber sie unterbrach ihn auch nie und schien sogar interessevoll zuzuhören, wenn es einmal geschah, daß er sein Schweigen brach und von sich und seinen Erfolgen anfing zu erzählen. Lange hatte es schwer auf ihm gelegen, daß sie ihn gerade an jenem Unglückstage gesehen, an dem er seinen ersten un4 letzten Versuch in der fremden Kunst machte, und er suchte ihr weitschweifig zu erklären, wie alles gekommen war... Sie begriff indessen durchaus nicht die Wichtigkeit, die er der Sache beilegte. Genügte es nicht, daß er unbestrittener Sieger im Schwimmen war?--Kam ihm da einer gleich?--Was wollte er denn noch mehr?--Im Grunde sagte sie ihm dasselbe, was seine Freunde ihm auch gesagt hatten. Ihr war er recht so. Er war ja so schön, so jung und so stark--ah, so stark! Aber sie versprach ihm, dem nächsten großen Schwimmen beizuwohnen, "wenn es ihr möglich sein würde", wie sie hinzufügte. Allmählich gab er es auf, zu fragen, als er sah, daß er ihr durch keine Antwort näher kam. Er beruhigte sich bei dem Bilde, das er sich machte: eine reiche Ausländerin, die in Berlin lebte, nachdem sie früh Witwe und völlig unabhängig geworden war (etwas derartiges hatte sie einmal geäußert); die wohl Bekannte und Freunde hier hatte (natürlich nur Freunde in gutem Sinne, zum Beispiel den alten Herrn, mit dem Felder sie zusammen gesehen); die sich in ihn verliebt hatte und ihn liebte (das hatte sie ihm in der ersten Stunde in neun verschiedenen Sprachen gesagt, und sagte es ihm täglich hundertmal in einem Gemisch von dreien)... Es war nicht viel, was er von ihr wußte, und er fühlte, daß es nicht das richtige Bild war, das er vor sich sah. Aber was wollte er machen, da es sich ihm nun einmal nicht klarer, als in diesen schattenhaften Umrissen, zeigte?-- Und er liebte sie!-- Er liebte sie, wie er seinen Ruhm liebte: er konnte das Glücksgefühl, die beide ihm gaben, nicht mehr entbehren. Sie hatte ihn gewonnen, weil es seinem Ehrgeiz schmeichelte, von einer so schönen und eleganten Frau begehrt zu werden, und weil ihr Wille der stärkere gewesen war; und sie hielt ihn fest, indem sie seine erregte Sinnlichkeit mit allen Künsten ihrer Erfahrung immer und immer wieder aufs neue anstachelte. Er war in der ersten Zeit fast alle Abende bei ihr. Dann mindestens drei-, viermal in der Woche. Nie durfte er ihre Wohnung ungerufen betreten. Immer, wenn er von der Arbeit kam, hatte er zuerst auf dem Postamte in der Nähe nachzufragen: zuweilen war ein Brief da, der die Verabredung dieses Abends auf den nächsten oder übernächsten verschob; jedesmal aber mußte er an der Ecke der Straße erst nach der Alten sehen, bevor er zu ihr kam: war sie da, so huschte sie schweigend vor ihm her, und er folgte ihr die Straße hinunter und die in ewiger Dämmerung liegenden, teppichbelegten Stufen der Treppen hinauf bis in das hohe, schwüle Gemach. Öfter und öfter jedoch kam es vor, daß er noch in dieser letzten Minute durch ein hastig ihm in die Hand geschobenes Billett gebeten wurde, heute "nicht zu kommen", da das bekannte "unvorhergesehene Ereignis" eine Zusammenkunft für diesen Abend unmöglich machte. So wurde er in einer beständigen Aufregung erhalten, ob er sie sehen würde oder nicht. Nach einer so plötzlichen und ihn immer tief verstimmenden Absage lag der Abend zweck- und inhaltslos vor ihm; und traf diese Absage nicht ein, sah er sie wirklich wieder, so war ein Teil seiner Freude schon durch die Unruhe der Unbestimmtheit zerstört, in der er den Tag bis zum Abend verbrachte. So gewöhnte er sich mehr und mehr daran, die leeren Abende durch Vergnügungen auszufüllen, an die er bisher schon ihrer Kostspieligkeit wegen nur selten gedacht hatte. Er ging in den Wintergarten, an Orte, wo Laune und Leben herrschten, nur um nicht allein zu sein; trank in Cafés und Lokalen, die er bisher nie betreten, hier einen Kognak, dort ein Glas Bier; kam später nach Hause, als er wollte, und tat seine Arbeit am nächsten Tage widerwillig und in der ewig gespannten Erwartung, ob ihm der Abend eine neue Enttäuschung oder seinen Sinnen wieder die ersehnte Erfüllung und Beruhigung bringen würde. Er fühlte sich nicht mehr einsam, aber unruhig, und konnte den Abend nicht mehr erwarten während eines Tages, der ihm zu lang wurde... Der Rest der von England mitgebrachten Summe wurde öfter und öfter in Anspruch genommen und schmolz immer mehr zusammen, denn sein Verdienst reichte natürlich nicht entfernt aus, um die erhöhten Ansprüche des jetzigen Lebens zu befriedigen. Felder gab für seinen Schneider jetzt in einem Monat mehr aus, als sonst in einem Jahre, und doch wurde er nie das Gefühl los, nicht gut genug gekleidet zu sein, wenn er zu ihr ging, obwohl er dort niemals einen anderen Menschen außer ihr sah und sie nie ein Wort über sein Aussehen verlor. Er achtete auch schon nicht mehr darauf, wieviel er der Sparkasse entnahm. Er brauchte ja nur nochmals nach England zu gehen, um einen neuen Fond heimzubringen. Überhaupt war es ein Skandal, daß er noch auf seine Arbeit angewiesen sein mußte, während die Meister der anderen Sports--die Radler zum Beispiel--längst herrlich und in Freuden von den Einkünften ihrer Siege lebten. Nur in seiner Sache, bei den Schwimmern, gab es das nicht... Ganz langsam und allmählich begann er, seine Kunst auch von dieser Seite aus zu betrachten. Früher hätte er sich dessen geschämt. Und alles das, weil der Luxus, den er so plötzlich täglich einatmete, in so schreiendem Gegensatz stand zu seinem bisherigen Leben der Armut, Einfachheit und Genügsamkeit.-- Sie hatte ihn. Sie besaß ihn, weil er sie nicht mehr entbehren konnte. Sie änderte ihn, ohne es zu wollen. Denn sie hatte ihn so gewollt, wie er gewesen war: frisch und unberührt und jung. Er war es nicht mehr in dieser Leidenschaft zu ihr. Er, der früher so mäßig gewesen war, trank jetzt, nicht regelmäßig, aber unbekümmert, je nach Lust und Laune. Es tat ihm nichts. Er fühlte keine Wirkungen. Sein Körper überwand die leichten Folgen schnell. Vielleicht war sein Kopf etwas benommener. Aber er lebte jetzt überhaupt in einer dumpfen Schwere, in einem täglich neu erweckten Rausch aller Sinne, durch dessen Nebel er immer, wo er ging und stand, nur ihren bräunlich-hellen Körper sah, ihre seltsam roten Lippen und ihr dunkles Haar, eingehüllt in die Duftwolke ihres aufreizenden Parfüms, einen Nebel, süß und weich wie ihre Küsse, warm und weich und entnervend wie die weißen Dämpfe der Winterbäder im Schwimmbade. Er verlor seine ewige Sehnsucht nach frischem, klarem Wasser, nach kalter, reiner Luft in dieser Atmosphäre. Er verlor sie, ohne es zu fühlen, ohne es zu merken. Ganz allmählich glitt er in sie hinein--in diese abgründige Leidenschaft, in die immer geöffneten, immer begehrenden Arme dieser fremden Frau. Er, der nicht wußte, was Nerven waren, fühlte sie erwachen und zittern unter den Liebkosungen ihrer Hände, und ehe sie Zeit hatten, sich zu beruhigen, wieder erwachen, bis sie--von einem Tag zum anderen in steter Erregung gehalten-- diesen Reiz nicht mehr zu entbehren vermochten, wie der Trinker sein Gift. Gewiß, er schwamm noch. Ja, er war jetzt wieder, wo ihre Absagen sich mehrten und immer öfter die unvorhergesehene Abhaltung, nach deren Grund er nicht mehr zu fragen gewagt hätte, eintrat, die flüchtige Zeile, die ihn bat, "_nicht_ zu kommen", er war jetzt wieder mehr unter seinen neuen Klubbrüdern, als vorher, denn er konnte diese einsamen Abende nicht mehr ertragen, in denen er in unterdrückter Begierde nach ihr von Kneipe zu Kneipe lief, um den Schlaf zu finden, der nicht mehr, wie bisher, in der Minute ungerufen zu ihm kam, in der er sich auf sein Bett warf. Aber er wir kein guter Sportgenosse und kein angenehmer Gesellschafter unter den "Hechten". Sie wußten es vorher, hatten es oft genug gehört, als sie sich um seine Mitgliedschaft bewarben, daß sie im Grunde nur seinen Namen bekamen, und sie sahen ihm alles nach. Daß er ihnen so fremd bleiben würde hatten sie wohl nicht gedacht. Keiner hatte eine Ahnung davon, was ihn der Sportsache innerlich zu entziehen begann. Felder selbst sah und hörte nicht, was um ihn her vorging. Er sah nur noch _sie_. Eines Abends gab sie ihm ihr erstes Geschenk. Sie saßen sich müde und schweigsam gegenüber und wußten nicht wovon sie sprechen sollten. Sie zeigte ihm ihre Schmucksachen und erklärte ihm ihren Wert. Er sah Dinge, die er nie geahnt hatte. Wenn er nach ihrem Ursprung fragte, lachte sie mit ihrem überlegenen Lachen: "O, das war, als sie in Buenos-Aires gewesen war, der weiße Pflanzer"--und dies Halsband kam aus London "von einem Herrn, der mit dem Prinzen von Wales sehr befreundet war... ja, dieser 'Prince des Galles'!..."...Und so ging es weiter, und Felder verstand nichts und begriff noch immer nichts und wollte auch nichts mehr begreifen. Sie legte ihm die Ketten und Spangen um, wie einem Kinde, mit dem man spielt. Und dann kam, was Felder so lange heimlich gefürchtet, und was er so entschlossen war, schon beim ersten Versuch energisch abzuweisen: dies Armband, das für ihr Gelenk etwas zu weit war und sich so fest um das seine schmiegte, dies goldene Band mit dem daran baumelnden Schloß sollte er immer tragen als Andenken an sie--so taten es jetzt die Männer; und als sie sein Widerstreben sah, kam dieser maßlose Zorn über sie, den er nicht zum ersten Male an ihr sah--ihre Augen blitzten, und ihre Lippen, die bebten, sprachen fremde und unverständliche Worte der Entrüstung und der Beschimpfung, bis sie dann bei seinen vergeblichen Versuchen, das Geschenk abzustreifen, ihre Wut ebenso schnell wieder vergaß und in ein Lachen ausbrach: Oh, er mußte es ja behalten, er kam ja nicht los, sie hatte ja den Schlüssel, und den bekam er nicht, nein, den Schlüssel nicht... Und er, erschreckt durch ihren Zorn und gedemütigt durch ihr Lachen, wagte nicht mehr, ihre erste Gabe zurückzuweisen. Es sollte nur ihre letzte bleiben,--so beruhigte er sich selbst. Er trug es, das Armband von Gold. Nie hatte einer seiner Siege, selbst der des Vorjahres in England nicht, ein solches Aufsehen gemacht, wie dieses einfache Armband; nie sprach man so viel von Felder, wie in diesen Wochen, als er mit dem Goldreif am Arm an den Start ging und schwamm. Man lachte, man spottete, man schimpfte und forschte nach; man empörte sich, man zuckte die Achseln, man machte Vorstellungen und--man erriet... Allerseits aber war man sich einig, daß es einfach lächerlich sei für einen Mann wie Felder, die dümmste und weibischste aller Moden mitzumachen, die man den Gigerln und Narren überließ. Ein deutscher Schwimmer und--ein goldenes Armband!--Es war der unerhörteste Widerspruch!-- Felder sah und hörte nichts. Höchstens, daß er verächtlich lächelte, wenn die Blicke und Worte allzu zudringlich auf seinem Handgelenk ruhten. Höher als sonst streckte er seinen Arm empor, unter die Augen der Zuschauer: an ihm glänzte der schmale Reif und leise klirrte das winzige Schloß beim Ansprung gegen die goldene Kette. 3 Er stand noch nicht im Zeichen des Rückganges, wie die bösen und durch "das Armband" von neuem aufgereizten Stimmen behaupteten. Aber selbst ruhigere Beobachter, die sich durch äußere Dinge nicht oder doch nur wenig beeinflussen ließen, fanden seit einiger Zeit Felders Stil nicht mehr so sicher, sein Tempo nicht mehr so fließend wie bisher. Vor allem nicht mehr so rein. Er schien Rücksichten auf seine Gegner überhaupt nicht mehr zu kennen. Es genügte ihm nicht mehr, seine Siege, wie bisher, in leichtem Kanter nach Hause zu bringen, sondern er strebte danach, sie auch dem Publikum recht deutlich zum Bewußtsein zu bringen, indem er ihm seine Überlegenheit über die andern auf alle Weise zeigte. Darunter mußte sein Stil natürlich leiden. Er fühlte es selbst und sogar einzelne Bemerkungen darüber kamen ihm zu Ohren. Er war zum zweiten Winterfest des Schwimmerbundes zu einem Seitenschwimmen gemeldet. Es fiel in den Anfang des Februar. Felder hatte nicht die Absicht, zu starten; aber da er auf der Sitzung des "Hecht" wieder einmal nicht anwesend gewesen war, hatte sein Klub für ihn die Meldung erlassen, in der Überzeugung, damit seinen Wünschen-- die nach möglichster Beteiligung strebten--zu entsprechen. Er war ärgerlich. Man hätte ihn doch wenigstens fragen müssen. Wann denn?-- entgegnete man ihm. Man sah ihn ja so unregelmäßig. Und wenn man ihn nicht gemeldet hätte, wäre er ebenfalls böse gewesen und hätte von Zurücksetzung gesprochen. Er zog die Meldung nicht zurück; es war ihm einerlei. Ein Sieg mehr, darauf kam es nicht an! Aber das sagte er gleich: zu der langweiligen Preisverteilung und zu dem noch langweiligeren Tanzvergnügen nachher kam er nicht. Er hatte keine Zeit am Abend; er war eingeladen. Er war jetzt immer eingeladen, kein Mensch wußte, von wem. Aber man wagte nichts zu entgegnen und war froh, daß er keine weiteren Schwierigkeiten machte. Er erschien, wie jetzt immer, spät auf dem Fest. Er war die ganze Nacht bei ihr gewesen, und auch am Morgen wollte sie ihn nicht fortlassen. Er blieb nur zu gern. Sie frühstückten im Bett, spät, und die Stunden wurden verschleudert bis über den Mittag hinaus. Schnell kleidete er sich aus und trat in die überfüllte Halle mit seinem hochmütigen und finsteren Lächeln auf dem Gesicht. Diese Feste hatten keinen Reiz mehr für ihn. Er fühlte weder Erwartung, noch Aufregung. Er nahm seine Mitwirkung jetzt nur als eine Pflicht, die von ihm erledigt werden mußte, da er nun einmal der Franz Felder war. Je bälder sie getan war, desto besser. Um so eher konnte er wieder bei ihr sein... Ungeduldig wartend stand er unter seiner Mannschaft. Er hielt die Arme gekreuzt über der Brust und an seinem rechten Handgelenk glänzte herausfordernd das goldene Armband, als wolle er die Blicke aller darauf lenken. Kaum, daß er seinen Klubgenossen antwortete, wenn sie mit einer Frage zu ihm traten.... Gleichgültig glitt sein Blick über die Wasserfläche hin, wo eben ein Rennen zu Ende ging und schnaufende Gestalten die Länge des Bassins durchkreuzten. Sonst hatte Felder nie den Augenblick erwarten können, in dem er selbst ins Wasser durfte. Heute kümmerte er sich nicht einmal mehr um seine Konkurrenten; er hatte sich kaum die Zeit genommen, ihre Namen auf dem Programm zu lesen. Wie gewöhnlich jetzt, ließ er sich Zeit während der ersten Länge. Bei der zweiten arbeitete er sich vor; bei der dritten wollte er sich dann nach den anderen umschauen. Er war gut in der Form heute, aber nicht so frisch wie sonst, so-- schien es ihm. Er nahm daher schon die zweite Länge von Anfang an mit Ernst. Bei der dritten wollte ihm der Vorsprung nicht gelingen. Irgend jemand, er wußte nicht wer, lag immer dicht neben ihm und blieb es bis ans Ende. Er konnte ihn nicht los werden, nicht mit aller Anstrengung, und die ungewöhnliche Erregung am Start brachte ihn zu der Überzeugung, daß sein Sieg diesmal sehr gefährdet worden war. Aber es war noch mehr als das. Es war ein totes Rennen. Die Richter konnten sich nicht einigen und es blieb unentschieden. Ein totes Rennen--das war weiter nicht schlimm. Ein totes Rennen war keine Niederlage. Aber es wurmte ihn doch, und er nahm sich vor, in nächster Zeit wieder einmal zu trainieren. "Sie" erleichterte ihm seinen Vorsatz, da sie ihm jetzt noch öfter absagte, als bisher; so übte Felder denn wieder fast jeden Abend, teils für sich allein, teils auch unbekümmert an den Übungsabenden des "Hecht", und er fühlte sich Herr seiner Kraft, wie immer. Sich die Zeit, wie früher, nehmen zu lassen, verschmähte er. Er freute sich besonders auf das nächste Meeting: auf dem Feste des "Poseidon" wollte er seinem alten Gegner im Gastschwimmen über die 200 Meter einmal wieder gegenüber treten und ihm--was er bisher gern vermieden--auf dem Fest eines Brudervereins unter den Augen der Seinen den Lorbeer entreißen. Eine Bemerkung Wenzels gelegentlich seines Springdebuts war ihm zu Ohren gekommen. Felder hatte sie nicht vergessen, wie er nie etwas vergaß, was man ihm zugefügt. Dies sollte seine Rache sein. Die Konkurrenz war merkwürdig stark besetzt: sechs Schwimmer von sechs bedeutenden Klubs rangen um den ehrenvollen "Poseidonjahrespreis". Felder freute sich auf seinen Sieg; er freute sich noch, als er an den Start ging, obwohl er sich wiederum nicht ganz frisch fühlte. Aber er war so sicher wie immer. Dann, als er im Wasser und in der zweiten Länge lag, geschah etwas, was er nie für möglich gehalten hätte: er fühlte, wie ihn eine plötzliche Mattigkeit überkam, und als er--gegen sie mit aller Kraft ankämpfend--etwa in der Mitte der dritten nicht nur Wenzel leicht vorauseilen, sondern auch rechts und links je einen Gegner neben sich liegen sah, da hatte er zum ersten Male seit Jahren das deutliche Gefühl, daß er diesmal nie als Erster ans Ziel gelangen würde. Und mit gleicher Deutlichkeit empfand er, daß es in diesem Augenblicke nur einen Ausweg für ihn gab, um dieser unvermeidlichen Niederlage zu entfliehen: "Aussetzen!"-- Plötzlich im Schwimmen aufhörend und tief bis zum Grunde des Bassins niedertauchend, schwamm er dort bis zum Fußende der Leiter, während er über sich das Rauschen des Wassers unter dem hastigen Wenden der Konkurrenten hörte, und stieg an ihr hinter ihnen, die ihm seinen Sieg entführten, aus dem Wasser unter die verblüfften Zuschauer, seinem triefenden Körper rücksichtslos Platz schaffend... Er war an diesem Abend nicht einmal böse, um so mehr, als er hörte, daß nicht Wenzel, sondern ein junger Magdeburger vom dortigen "Neptun", dessen Namen bisher nie genannt war, Sieger geworden war.-- Er hatte "ausgesetzt". Nun, was war dabei weiter!--Das taten die größten Schwimmer aller Zeiten und Länder alle Augenblicke, und das Wunderbare bei ihm war nur das, daß es das erstemal war. Und weil es das erstemal war, so war er über jeden Verdacht erhaben, daß er den alten, bekannten Kniff angewandt habe, um einer Niederlage zu entgehen. Er--Franz Felder--fürchtete keinen Schwimmer der ganzen Welt und brauchte keinen zu fürchten. Das wußte jeder. Aber selbst er konnte einmal unpäßlich sein, und das war er heute. Denn hätte er sonst wohl das Rennen aufgegeben? Und _den_ Triumph genoß er wenigstens an diesem Tage, daß keiner, auch sein ärgster Gegner nicht, es wagte, den Verdacht dieses Kniffs auszusprechen. Die Mutmaßungen und Prophezeiungen indessen, in denen man sich erging, hörte Felder glücklicherweise nicht. Sonst wäre seine Stimmung an diesem Abend doch getrübt worden, die durch die ungeäußerte leise Enttäuschung seiner Genossen vom "Hecht" nicht beeinträchtigt, aber durch die Aussicht auf das nächste Schwimmen sogar noch bedeutend gehoben wurde. Denn als Felder sich die erreichten Zeiten des 200-Meter-Schwimmens geben ließ, sah er, daß die Leistung dieses jungen, unbekannten Magdeburgers nicht nur mit Hinsicht auf seine erstklassigen Konkurrenten, sondern auch in bezug auf die erreichte Zeit eine außerordentliche genannt werden mußte. Sie erreichte natürlich nicht den von Felder vor zwei Jahren aufgestellten und seitdem von ihm selbst nie wieder erreichten Rekord von 3:02, aber sie kam doch bedenklich nahe an ihn heran. Der junge Seubert hatte die 200 Meter in 3:25 1/5, Minuten gemacht. Das reizte Felder. Da war das nächste große Fest, zugleich das letzte dieses Winters, das erste Jahresschwimmen des neugegründeten "Norddeutschen Schwimmkartells", das besonders großartig und feierlich gestaltet werden sollte, um Zweck und Bedeutung dieser natürlich wieder aus vielen eifersüchtigen Fehden hervorgegangenen Neugründung recht zur Wirkung zu bringen, da war dies große Fest so recht die Gelegenheit, um sich auch diesmal einen glänzenden Abgang von der Saison zu sichern und einmal wieder "sich selbst zu übertreffen", das einzige, was er noch konnte. Er hatte ja nur nötig, etwas mäßiger zu leben und etwas mehr zu trainieren. Daß allerdings beides nötig war, leuchtete sogar ihm ein. Dieses plötzliche Versagen der Kraft heute konnte doch kein reiner Zufall sein. Es durfte jedenfalls nie wieder vorkommen; denn er konnte wohl einmal "aussetzen", aber nun auch nicht wieder.-- Er tat beides: er war jetzt nicht nur nicht enttäuscht, sondern begrüßte es sogar mit Befriedigung, wenn eine Absage von ihr eintraf. Gab sie ihm doch einen freien Abend der unausgesetzten Übung, so eifrig und ernst, wie er seit langem nicht mehr betrieben. Daran, daß es doch eigentlich nur ganz bei ihm stand, ob er zu ihr gehen wollte oder nicht, daß er ihr ebenso abschreiben konnte, wie sie ihm, daran dachte er nicht einmal. So groß war ihre Überlegenheit in jeder Beziehung und so sehr verstand sie es, wenn er bei ihr war, ihn durch immer neue Liebkosungen und Liebesbeweise an sich zu fesseln, daß ihm noch immer die Stunden die seligsten waren, in denen er in ihren Armen liegen konnte, und diesen wundervollen, bräunlichen Körper, dieses hohe, geheimnisvolle Gemach mit dem Glanz seiner Lichter und seinem verschwenderischen Luxus, diese stillen, faulen Stunden des späten Abends und der Nacht, ja, die leisen, unmerklichen Dienste der schattenhaft auf den schrillen Ruf der Gebieterin herein- und heraushuschenden Alten sein eigen nennen konnte; und alles, was er versuchte, war, sich in Augenblicken, wo seine trägen Gedanken, durch die Freude auf seinen nächsten Sieg und durch eine keinen Sportmeister je ganz verlassende Angst, seiner Kraft zu schaden, aufgestachelt, in beklemmender Ahnung sich von ihr wandten, alles, was er vermochte, war: sich dieser unersättlichen Leidenschaft, diesen erschlaffenden Umarmungen einmal, nur für heute, zu entziehen... Diese Frau, die ihm, ihm unter allen, ihre Liebe geschenkt hatte, wie er glaubte, und die er darum, darum vor allen wieder liebte--sie war noch immer sein Leben. 4 An diesem Tage kam, was kommen mußte: seine erste Niederlage--der Anfang vom Ende. Seit drei Tagen hatte er sie nicht gesehen, und als er das letztemal bei ihr gewesen war, hatte er sich ihren Umarmungen wortlos und entschieden entzogen, so daß ihr Zusammensein ein ganz kurzes war. Sie biß die Lippen aufeinander, aber sie sagte kein Wort. Felder kleidete sich heute mit besonderer Sorgfalt an und ließ seine Brust an Bändern und Münzen tragen, was sie nur fassen konnte. Das Armband, bei der täglichen Arbeit so hoch wie möglich hinaufgeschoben und von dem wollenen Hemde so bedeckt, daß es noch von niemand in der Fabrik entdeckt worden war, wurde auf das Handgelenk heruntergezogen und abgerieben, so daß es glänzte und funkelte. In diesem bei allen so verhaßten Zeichen wollte er heute siegen, und so wollte er siegen, daß nicht nur das letzte Lächeln über "das Armband" verstummen, sondern auch das andere Lachen, das, welches er noch immer in seinen Ohren fühlte, das Lachen jenes schrecklichen Tages, schweigen sollte auf immer, um nie mehr gehört zu werden. Das erste Fest des "Norddeutschen Schwimmkartells" wollte zugleich das erste sein, das die neuerbaute Schwimmhalle der Stadt Charlottenburg erlebte, und man hoffte, es besonders glänzend zu gestalten, obwohl die größten und angesehensten Berliner Vereine, unter ihnen der S.-C. B. 1879, wie überhaupt alle dem "Verbande" angehörenden Vereine naturgemäß fehlten. Aber es stand von Anfang an unter keinem guten Zeichen. Obwohl die Stadt Charlottenburg ihre Vertreter geschickt hatte, war doch das große Publikum, das sich offenbar an den Winterfesten satt gesehen und die Sommerschwimmen erwarten wollte, nur schwach vertreten und füllte kaum die erste Reihe der weiten Galerien. Zudem war das Wetter miserabel: ein naßkalter, grauer Märztag, und mancher, der gekommen wäre, war noch in letzter Stunde zu Hause geblieben. Felder war heute pünktlich und verlor sich mit der kleinen Mannschaft der Gelb-Schwarzen in einer Ecke der weiten, schönen Halle, in der bereits jetzt alle Bogenlampen brannten. Das Programm wickelte sich langsam und ohne besondere Teilnahme von irgendeiner Seite ab. Nur gegen seine Mitte brachte ein unvorhergesehener Zwischenfall etwas Leben unter die Anwesenden. Es war beim Tauchen nach Tellern. Dreißig flache Emailleteller waren bereits dreimal sämtlich aus einer Tiefe von vier Metern hervorgeholt worden--eine hervorragende Leistung--und es schien auch dem Vierten gelingen zu wollen, so lange blieb er unter Wasser. Felder stand bereits ausgekleidet dicht neben dem Starter und sah zu. Dann merkte er plötzlich mit seinem erfahrenen Blick, daß irgend etwas dort unten nicht in Ordnung war, und als er fragend den neben ihm Stehenden ansah, hörte er auch schon dessen halblaut hervorgepreßten bestimmten Befehl: "Hinunter!"-- Er ging sofort in die Tiefe und sah dort den Taucher bereits bewußtlos mit dem Gesicht nach unten über den zuzammengerafften Tellern liegen. Mit Felder war ein zweiter ins Wasser gegangen, und beide hoben den leblosen Körper bis zur Leiter und an ihr hinauf zum Wasserspiegel, wo er von vielen Händen sofort in die Höhe gezogen und nach hinten getragen wurde. Als Felder, der erst nach dem nächsten Lauf an die Reihe kam, dorthin folgte, war der Bewußtlose bereits unter den Händen des Arztes wieder zu Atem gekommen, und Felder hörte, wie seine erste Frage der Tellerzahl galt, die er ans Land geschafft zu haben glaubte. Als er vernahm, was geschehen war, wurde er auch noch böse darüber, daß man ihn nicht länger drunten gelassen, denn er würde auch die letzten sicher noch bekommen haben!... Die andern lachten und ärgerten sich, aber Felder war es nicht ums Lachen. Soweit war es also gekommen, daß diesen jungen Leuten ihr Leben schon nichts mehr galt, wenn es darauf ankam, ihren lächerlichen Ehrgeiz zu befriedigen--so hörte er neben sich einen alten Herrn zu einem anderen sagen; und er mußte sich unwillkürlich fragen: War es mit ihm anders?--Hätte er nicht auch sein Leben um einen Sieg gegeben?-- Draußen hatte sich die Stimmung der Anwesenden nach dem peinlichen Vorfall nicht gebessert, und man beeilte sich mit der Abwicklung der nächsten Nummern, um die Aufmerksamkeit abzulenken. Dann kam das große Rennen des Tages mit seinem unerwarteten, in seinen Resultaten geradezu verblüffenden Verlauf, das Hauptschwimmen über 175 Meter, in dem zwei der jüngsten Schwimmer aus dem Nachwuchs die Preise errangen, während nicht nur Wenzel vom "Poseidon", und Karl Becker, der Meister Süddeutschlands, sondern auch Felder, Franz Felder, der vierfache Meister Berlins, der Meister Deutschlands, der "Champion der Welt", nicht nur zurück-, sondern überhaupt unplaziert blieben!-- Wie es geschah, wie es geschehen konnte, das Unerhörte--keiner begriff es recht. Felders Vorsatz ging auf einen glatten Sieg in gutem Stil ohne völlige Kraftausgabe. Er hielt ihn inne während der beiden ersten Längen, gab ihn auf bei der dritten und vergaß ihn völlig bei der vierten. Aber es nützte ihm alles nichts. Er kam nicht vorwärts. Er sah immer die alten Gegner neben sich, die neuen sich voraus; diese beiden jungen Leute, von denen er den einen nur aus einem einzigen Schwimmen und den anderen überhaupt nicht kannte. Und als er zum letzten Male bei dem plötzlichen Aufhören der Musik wandte und mit seinem wahnsinnigen Seitenschlage den einen fast erreicht hatte, schlug der andere bereits an, und der Sieg war verloren. Er ging erst ans Ziel gleich hinter dem zweiten. Was geschehen war, begriff er erst recht, als er den jungen Seubert, keuchend, aber selig, die Glückwünsche in Empfang nehmen sah und in das junge, glückliche Gesicht blickte, das auch ihm zulächelte, als erwarte es auch von ihm ein freundliches Wort oder einen Händedruck. So, ganz so, etwas verlegen, aber doch mit einer gewissen naiven Selbstverständlichkeit, als gehöre es sich so, hatte er seine ersten Triumphe entgegengenommen und seinen besiegten Gegnern ins Gesicht gesehen. Er dachte natürlich nicht daran. Er fühlte einzig nur die Schmach, die er--seiner Ansicht nach--in diesem Augenblicke erlitt, wo er seinen Stern lautlos fallen und in den Tiefen verschwinden sah, und das harmlose Lächeln auf dem Gesicht dieses jungen Menschen schien ihm nur Spott und Hohn zu bedeuten, so daß er am liebsten hineingeschlagen hätte. Kein Mensch kümmerte sich um ihn, keiner trat, wie sonst immer, zu ihm und sprach mit ihm. Mit hastiger Wendung kehrte er sich zu den anderen Schwimmern um, seinen alten Gegnern, mit denen er sich in dieser Minute fast verwandt fühlte. Denn sie erlitten das gleiche. Aber klüger als er waren sie am andern Ende des Bassins ans Land gegangen und so allen Erörterungen entflohen. Da griff auch er nach seinem Tuch und eilte zu seinen Kleidern. Als er an der ganz bestürzten und heftig debattierenden Gruppe des "Hecht" vorbeikam, wehrte er mit ungeduldiger Gebärde jede Frage und Begleitung von sich. Er fühlte jetzt nur, daß er allein sein mußte. Er konnte niemanden um sich haben. Ohne aufzusehen und ohne sich von einem Menschen zu verabschieden verließ er das Fest.-- Es war noch früh, aber auf den Straßen brannten bereits die gelben und weißen Lichter. Ein dichter und kühler Regen ging nieder wie Staub. Felder ging die breite, gerade Straße bis zum Tiergarten, er durchschritt ihn auf kotigen, dunklen Wegen, bis er ans Brandenburger Tor kam, ging die Allee der Linden herunter, verlor sich in dem Straßengewühl des Zentrums, immer noch ohne zu wissen, wohin er wollte, und sah erst auf, als der Regen sein heißes Gesicht wie Schläge zu treffen begann. Er war zwei Stunden gegangen wie zwei Minuten. Er wußte es nicht einmal. Er befand sich in der Nähe des Moritzplatzes. Er mußte allein sein, ganz allein... Schon die wenigen Menschen um ihn herum auf den Straßen störten ihn. Der Name einer alten Weinstube in der Nähe fiel ihm ein. Er war dort ein- oder zweimal früher gewesen, mit seinen Freunden. Vielleicht war das Hinterzimmer frei. Er traf es so. Erst als er eintrat und den Überzieher zurückschlug, wurde er gewahr, daß er sich im Schmucke seiner Ehrenzeichen befand, der hastig beim Ankleiden übergestreiften Bänder und der Münzenmenge auf seiner Brust. Schnell verdeckte er sie wieder, und während er seinen Rock auszog, streifte er alles ab und verbarg es in den Taschen, wie geraubtes Gut. Er war ganz allein in seiner Ecke, nachdem ihm der Wirt den Wein gebracht. Sogar im Vorderzimmer spielten nur ein paar Stammgäste, die sein Eintreten überhaupt nicht bemerkt hatten, einen stillen Skat. Er trank, sah vor sich hin und grübelte nach. Er konnte es noch immer nicht begreifen, was geschehen war!-- Dann zog er zögernd ein kleines, abgenütztes, in braunes Leder gebundenes Buch aus der Brusttasche, das er stets bei sich trug. Dieses Buch war ihm nach einem seiner ersten Aufsehen erregenden Siege--wie lange war es schon her!--von einem älteren Mitglied seines alten Klubs geschenkt worden, und der Geber hatte ihm dabei gesagt: "Immer können Sie nicht siegen, aber so viele Seiten dieses kleine Buch hat, so viel Siege wünsche ich Ihnen und uns..." Und Felder hatte wie zum Scherz die Seiten gezählt: 103. Koepke nahm das Buch mit nach Hause, und als er es Felder wiedergab, fand dieser in tadelloser Rundschrift und mit kaufmännischer Genauigkeit von Anfang an bis heute seine sämtlichen Beteiligungen an den Festen des Schwimmsports eingetragen: ihren Tag und Ort, ihre Veranstalter, die Art der Konkurrenz und wer an ihr teilnahm, ja die Stunden--alles war registriert und seine Siege schön unterliniert und mit roter Tinte prächtig hervorgehoben: ihre Art, die gemachten Zeiten, die errungenen Preise aufs genaueste verzeichnet... Und jedesmal nach einer neuen Beteiligung oder nach einer Reise erhielt Koepke das kleine, braune Buch, um es am nächsten Tage wieder zurückzugeben, bereichert um ein neues Blatt, das in nüchternen Worten und Zahlen, aber doch so beredt von herrlichen Mühen und herrlichen Siegen sprach. Über kein Geschenk hatte Felder sich je so gefreut, wie über dieses. Oft hatte er in stiller Stunde in dem Buche geblättert, aber noch nie hatte er so sorgfältig Blatt um Blatt gewandt, vom ersten bis zum letzten, wie heute. Selten erst, dann immer öfter, endlich fast auf jeder Seite zeigte sich die rote Linie unter seinem Namen, und immer öfter kehrten die Worte wieder: "Erster: Franz Felder..." Da stand sein Name, immer und immer wieder als der Erste, der Erste..., der Erste!--und unter ihm standen die Namen seiner Gegner--alle diese berühmten, gefürchteten Namen, die großen Kanonen der Schwimmkunst, aus allen Gegenden Deutschlands und so vielen Ländern Europas... Und immer wieder _sein_ Name über allen als Sieger!... Er blätterte und blätterte--jedes neue Blatt ein neuer Sieg: ein Lorbeerblattmehr in einem dichten Kranze!-- Fast keine Niederlagen, hier und da ein zweiter Preis, sonst immer nur erste, erste, erste... Er fing von vorn an und zählte die beschriebenen Seiten: 82. Und er zählte die siegreichen: 73. Bis zur letzten!--Bis--heute!-- Und auf diesem leeren Blatt, dem dreiundachtzigsten, sollte zum dritten Male nacheinander nicht nur der rote Strich, sondern sein Name überhaupt fehlen--oder es sollte leer bleiben, leer... Nein, das durfte nicht sein!-- Der Schrecken griff plötzlich wieder nach seinem Herzen, derselbe Schrecken, den er vorhin empfunden, als er seine Gegner vor sich sah und fühlte, wie seine Kraft versagte, sie noch zu erreichen; aber nicht die Furcht über die Gefahr einer Niederlage war es gewesen, sondern etwas anderes, ein Neues, ein Unbekanntes: das Erschrecken über etwas Unglaubliches, Unerhörtes--über die Unwillfährigkeit seiner Kraft!-- Was war das?--Was war das auf einmal, das so plötzlich gekommen?-- War er wirklich schon dort angelangt, wo es kein über sich selbst Hinausgehen mehr gab?--Dann konnte jeder ihn schlagen, der ihm nur gleich kam!--Dann war er schon am Ende. Alle düsteren Prophezeiungen seiner Gegner fielen ihm ein: "Schneller Aufgang, schneller Abstieg..." Und ein Mahnwort Nagels: "Du hast früh angefangen, früh wirst du deshalb aufhören..." Bis heute hatte er darüber gelacht. Aber jetzt lachte er nicht mehr. Es war ihm nicht mehr ums Lachen. Denn er war sich bewußt, in diesen letzten Wochen nichts versäumt zu haben. Es hatte ein totes Rennen gegeben, dann ein Aussetzen--aber beides war erklärlich, sogar natürlich bei der Nachlässigkeit, mit der er in den vergangenen Monaten seine Sache behandelt. Aber zu heute hatte er trainiert-- trainiert wie immer sonst--was war das also?!-- Er saß und grübelte, und trank und grübelte, und grübelte... Und wieder griff die Angst nach seinem Herzen, die furchtbare, die unbekannte Angst!-- War es etwa schon mehr?--War es schon eine Abnahme seiner Kraft?--War er schon nicht mehr derselbe?--Blieb er schon hinter sich selbst zurück?--Unmöglich!--Mit zwanzig Jahren?--Da, wo die Kraft noch wuchs von Tag zu Tag.-- Lächerlich!--Mit fünfundzwanzig wollte er anfangen, daran zu denken. --Aber bis dahin wollte er sie, seine Kraft, wachsen, wachsen und siegen sehen über alles, was sich ihr in den Weg stellte! Es war eine Indisposition heute, was war das weiter!--Wer hatte die nicht zuweilen? Deshalb nützten auch die verdammten Sinnierereien nichts. Jetzt mußte geschwommen werden, darauf kam es an. Er trank und klappte das Buch zu. Die Seite blieb nicht leer, das war sicher: die dreiundachtzigste. Auf der sollte ein Sieg stehen. Und zwar bald!-- Denn es konnte einfach schon deshalb nicht sein, weil es nicht sein _durfte!_ Wie Felder das Buch in die Rocktasche schieben wollte, stopfte es sich dort gegen knisternde Papiere. Er zog sie hervor und sah, daß es ihre Briefe waren. Der süßliche, fahle Duft eines seltsamen Parfüms stieg zu ihm aus den zerknitterten Blättern auf, und er fühlte, wie es plötzlich wieder aus war mit seinem neuen Mut und seiner Frische. Dieser Duft machte ihn schwach, und es half ihm nichts, daß er die Blätter zusammenballte. Wie er sie losließ, legte sich das steife, englische Papier auseinander, und es entströmte ihm dieser Duft, den er so gut kannte, der allem anhaftete, was von ihr ausging: ihren Kleidern, ihren Handschuhen, ihrem Atem, diesem Papier--ihm selbst!-- Ja, ihn selbst hatte dieser Duft förmlich durchtränkt in diesen letzten Monaten, so daß er ihn plötzlich verspürte, wenn er eines seiner Kleidungsstücke zur Hand nahm... Er wurde ihn nicht mehr los, diesen Duft, der ihn überall umgab, wo er ging und stand--lockend, begehrlich, geheimnisvoll und aufreizend wie sie selbst, so daß er an sie denken mußte ohne Aufhören. Was nützte es, daß er diese Papiere von sich schob, diese Rufe nach ihm, die er nun schon Monate lang hörte: erst stürmisch und sehnsuchtsvoll, erst alle Tage, dann, je seltener sie wurden, immer herrischer und kürzer, bis sie nur noch der Befehl waren: "Heute abend um 9"--oder "Erst morgen!"-- Welche Macht sie über ihn gewonnen, diese Frau, von der er noch immer nicht einmal wußte, wer sie war!-- Und wie Felder saß und grübelte, und grübelte, wurde es ihm klar, warum er heute unterlegen war, warum er in der letzten Zeit nicht mehr die alte Kraft in sich fühlte, die unbesieglich gewesen war; und eine maßlose Wut kam über ihn gegen die, die ihm seine Kraft geraubt. Er ballte die Hand um den Rand des Tisches, daß er sich bog und das Glas klirrte. Und dann kam, blitzgleich, auch die wahre Erkenntnis dieses Verhältnisses über ihn. Was sie begehrt hatte, das war seine Jugend, seine Kraft und seine Frische gewesen. Und was sie begehrte, hatte sie ihm genommen: die Jugend, die Kraft und die Frische seines Körpers!--Stück für Stück, in unersättlicher Habgier war ihm, ohne daß er es fühlte und ahnte, eines nach dem anderen von ihr genommen, in unzähligen Umarmungen, mit Küssen und Schmeicheln, bis sie ihn zu dem gemacht, was er heute war! Alles, was er besaß, das einzige, das er sein eigen nannte, hatte sie ihm geraubt: seinen Ruhm!--Sein Ruhm aber war sein Leben. Sie hatte es zerstört. Er aber, er war so blind und so töricht gewesen, nicht zu merken, was sie eigentlich von ihm wollte. Wie ein dummes Tier war er in die Falle gegangen; wie ein Hund war er ihr nachgelaufen; wie ein ... nein, er vermochte nicht weiter zu denken. Denn jetzt wußte er auf einmal auch, wer sie war. Eine große Abenteuerin, irgendwo in einem Winkel von zusammengelaufenen Eltern erzeugt, früh verdorben, früh gelehrt, ihre Schönheit als erstes und einträglichstes Erwerbsmittel zu betrachten, sie gelehrig in unstetem Wanderleben durch alle Länder der Welt schleifend, und alles mitnehmend, was sich ihr bot: hier die Alten und dort die Jungen. Die Alten, die sie begehrten und bezahlten, und die Jungen, die von ihr ausgesucht und bezahlt Wurden!--Und einer von diesen Jungen war er gewesen--er, Franz Felder!-- Nicht mit solchen Worten sagte er sich dies alles, aber er empfand es alles so und fühlte, daß es wahr war. Und er hätte schreien mögen, schreien vor Wut und vor Scham... Ihn, ihn hatte sie nicht bezahlt, nein, das hatte sie nicht gewagt!--Aber wie lange noch, und es wäre auch dahin gekommen. Wieviel versteckte Anerbietungen hatte sie ihm nicht schon gemacht, wie oft nicht versucht, mit ihm scherzhaft oder gleichgültig von Geld zu sprechen, diesem Gelde, das sie verachtete, weil sie es durch Arbeit nicht verdiente: damit er es nehmen solle von ihr als--Lohn... War ihm selbst nicht eines Tages, wenn auch nur ganz flüchtig, der Gedanke gekommen, eines dieser Anerbietungen, nicht anzunehmen, o nein, aber als Darlehen zu benutzen, da es mit seinem Gelde zu Ende ging, als Darlehen für eine kurze Zeit, bis er sich in England durch neue Siege neues geholt?--Es war nicht dazu gekommen, es war bei dem flüchtigen Gedanken geblieben. Aber er hatte ihn doch gedacht... Auch gegen Geschenke hatte er sich bis heute gewehrt. Das einzige, was er je angenommen, war das Band an seinem Handgelenk, die Kette von Gold. Aber sie war nicht unzerbrechlich. Sie band ihn nicht an sie. Er griff mit den Fingern der lenken Hand zwischen sie und das Fleisch und versuchte sie abzustreifen, obwohl er wußte, daß es nicht ging. Und seine Wut stieg, als er sah, wie vergeblich es war. Aber das sollte ein Ende nehmen, jetzt gleich, noch heute abend! Er riß sich aus dem Hinbrüten auf und rief nach dem Wirt. Er hatte vier Stunden auf diesem Fleck gesessen. Als er nach der Uhr sah, war es gegen Elf. Der Regen draußen war stärker geworden. Felder fühlte ihn nicht. Er ging der Friedrichstadt zu. Das Haus war offen. Natürlich: dieses Haus war nachts immer offen, und die Treppen lagen in ihrem ewigen Zwielicht. Weshalb war ihm das nie so aufgefallen, wie heute?-- Er klingelte an ihrer Tür. Er klingelte nochmals. Endlich hörte er die schlürfenden Schritte der Alten und ihre Stimme. Er schlug gegen die Tür und rief um Einlaß. Als sie sich öffnete, schob er das Weib beiseite, das bei seinem Anblick wie erstarrt war. Es war das erstemal, daß er unerwartet kam. Er kümmerte sich nicht im geringsten um die Fragen und Beteuerungen, daß Madame nicht zu Hause sei. Er hörte nicht hin, er verstand das Kauderwelsch nicht. Er wollte Madame erwarten, sagte er kurz. Sie würde schon kommen. Er riß die Tür zu dem großen Zimmer auf. Es war beleuchtet und warm, wie immer. Aber sie war nicht da. Sie war auch nicht im Schlafzimmer. "Ich werde Madame erwarten," sagte er nochmals, und mit solchem Ausdruck in dem blassen Gesicht, daß sich die Alte endlich mit Jammern und Wimmern zurückzog. Felder merkte es nicht einmal. Er lief im Zimmer umher und warf überall rücksichtslos die Gegenstände durcheinander. Er suchte den kleinen Schlüssel zu dem Armband. Als er nicht fand, was er suchte, begann er die Arbeit an seinem Handgelenk von neuem: er zerbrach eine goldene Hutnadel und eine Schere, er zerrte, bis seine Finger bluteten. Endlich gab er es auf, warf sich in einen Sessel und wartete. Wie lange?--Er hatte keine Ahnung. Das Licht der Ampel trieb das Dunkel in die Ecken des Gemaches und ein schwaches Rot auf seine Wangen, wie die Röte der Scham. Ja, er schämte sich. O, wie er sich schämte!-- Er hätte weinen mögen und konnte es nicht. Die innere Wut erstickte seine Tränen. Er lag wie in einem Halbschlummer. Plötzlich führ er empor. Er hörte draußen Stimmen: das klagende Wimmern der Alten und ihren herrischen, empörten Aufschrei der Verwunderung. Die Tür wurde aufgestoßen, und sie stand vor ihm: hochaufgerichtet, in großer Toilette, die Arme und die herrlichen Schultern entblößt, Zorn in den Augen und auf den roten Lippen. "Wer ist hier?--Du?--Was willst du hier?--Wer hat dir erlaubt--" Er ging auf sie zu. Die ganze Raserei dieser Nacht brach in ihm los. Als sie seine Augen sah, wußte sie alles. Aber sie hatte keine Angst. Sie kannte keine Furcht und ihre Lippen verzogen sich leise und spöttisch. Wie er das sah, griff er sie bei den Armen. Er wußte nicht, was er mit ihr tun sollte, er wußte nur, daß er sich rächen wollte an diesem Geschöpf, das ihn beraubt. Sie bog sich wie eine Katze unter dem Druck seiner rauhen Hände. Und auf diesem selben Platze, auf dem sie an jenem ersten Abend miteinander gerungen in begehrender Liebe, rangen sie nun in widerstrebendem Haß. Von seinem mißhandelten Handgelenk floß Blut und befleckte die Seide ihres Kleides und ihre weiche, bräunliche Haut, während ihre Lippen unerhörte Beschimpfungen, die er nicht verstand, von sich schleuderten. Immer wieder versuchte er, sie niederzuzwingen, und immer wieder flog ihr schlanker Körper empor wie eine Gerte unter seinen Händen. Es war, als ob er seine Kraft an sie gegeben habe in diesen paar Monaten... War es das, oder war es der Duft, der von ihr ausging und ihn betäubte, daß er sie nicht niederkriegen konnte?-- Kurz: er fühlte, daß er auch hier der Schwächere geworden war... Da gab er sie frei und taumelte hinaus, verfolgt von ihrem höhnischen und triumphierenden Lachen. 5 Bis zum Morgen ging er durch die Straßen. Als es dämmerte, schlug er die Richtung nach dem Norden ein. Um sechs Uhr war er an den Toren der Fabrik und der erste, der eintrat. Er ging in die mechanische Werkstätte. An einem der Schraubstöcke stand er eine kurze Weile. Als er zurück kam, hielt er das gesprengte Armband in der Hand. Noch fast eine Stunde ging er durch die öden Gassen dieser Gegend. Irgendwo schleuderte er das Armband auf einen Kehrichthaufen. Dann erst wusch er sich an einem Brunnen die Hände, verband sich das blutende Gelenk und trank in einer Destillation eine Tasse Kaffee. Um sieben Uhr war er an seiner Arbeit. Den Morgen über sprach er kein Wort. Am Mittag führ er nach Hause, warf sich auf sein Bett und schlief wie ein Toter. Als er erwachte, war ein neuer Tag angebrochen. Mit ihm begann ein neues Leben für Franz Felder.-- Wenn das Leben, welches er vor einem Jahre vor seinem neuen, großen Ziele der Springmeisterschaft geführt hatte, ein einfaches und enthaltsames gewesen war, so war das, welches er jetzt lebte, noch spartanisch dagegen zu nennen. Es zerfloß zwischen Arbeit und Ruhe, und sein einziger Zweck war für Felder einstweilen: die Wiedererringung seiner Kraft. Nicht dessen, was andere Menschen Gesundheit und Kraft nennen. Die allermeisten hätten ihn um die seine beneidet. Nein, jener überlegenen, herkulischen Kraft, die er nötig hatte. Daher strich er von einem Tage zum anderen alles aus seinem Leben, wodurch er glaubte, sie auch nur um ein Minimum vermindert zu haben: das Glas und die Frau, denn beides war Gift und Krankheit; jeden Verkehr, denn der nahm ihm die Zeit zur nötigen Ruhe; jede Freude, denn er wollte von ihr nichts mehr wissen; und um ganz sicher zu sein, strich er gleich alles auf einmal! Das einzige, was er sich noch gönnte an Genüssen, war eine möglichst gute und nahrhafte Kost und zuweilen ein Glas starken Weines. Und Schlaf, viel Schlaf!-- Die Arbeit war ihm lieb. Sie hielt seine Kräfte im Gleichgewicht, ohne sie zu verbrauchen. Außerdem verlieh sie seinem Leben die nötige Regelmäßigkeit. Da er mit seinem Gelde zu Ende und ganz auf sie angewiesen war, hütete er sich vor jeder unnötigen Ausgabe. Er kleidete sich wieder wie früher und achtete selbst an den Feiertagen kaum auf sein Äußeres. Wozu auch? Es sah ihn ja niemand mehr. Er nahm sich nicht die Mühe, seinen Austritt aus dem Verein "Hecht" diesem anzuzeigen. Er sandte gelegentlich sein Trikot zurück. Sie hatten seinen Namen wohl bereits aus der Mitgliederliste gestrichen. Was lag ihm daran!--Er hatte nie Fühlung mit diesen Leuten gehabt, unter denen er fremd, denen er nur der Meisterschwimmer Europas gewesen war, die ihn für Siege, aber nicht für Niederlagen gebrauchen konnten. Er sah selbst Koepke kaum mehr, und damit zerriß auch, das letzte Band, das ihn noch an sein früheres Leben knüpfte. Wenn er ihn gelegentlich traf, tranken sie ein Glas Bier zusammen. Dann erzählte der alte Getreue Felder, wie er "ebenfalls der Schwimmsache Valet gesagt habe", da sie ihm keinen Spaß mehr mache, seitdem Felder nicht mehr dabei sei. Er war in einen kaufmännischen und in einen Kegelklub eingetreten und spielte in beiden bereits seine alte Rolle des Lasttieres mit unverhohlener Wonne weiter. Felder lächelte krampfhaft. Also er hatte dem Schwimmen Adieu gesagt!--Das sagte man also von ihm!--Nun, man würde ja sehen... Das neue Leben fiel ihm nicht schwer. Er dachte wenig und er fühlte sich ganz wohl. Nur die langen Sonntage waren schlimm. Es wäre ihm am liebsten gewesen, sie hätten nicht existiert. Wenn er sie hätte durcharbeiten können, alle diese Wochen, einen Tag wie den anderen, ihm wäre es Recht, dachte er oft. Nun mußte er sich mit den Sonntagen abfinden, diesen endloslangen Nachmittagen, mit denen er nichts mehr anzufangen wußte, und er ging jetzt sogar das eine oder andere Mal mit seinen stillen Eltern und den lauten Geschwistern, die darüber höchst erstaunt waren. Aber auch das gab er bald auf, denn er wußte mit ihnen nichts zu reden. Die häuslichen Dinge langweilten ihn, und über das eine konnte er doch nicht sprechen, weder mit ihnen, noch mit irgend jemand auf der Welt... Wer verstand das?--Er kannte keinen. So ging er denn schließlich auch an diesen Nachmittagen seine einsamen Wege: zu all den Orten, wo er früher so glücklich gewesen war und die jetzt öde und verlassen unter dem ewig grauen Himmel lagen. Denn es wollte dieses Jahr nicht Frühling werden. Eine dünne Eisschicht bedeckte noch den Kochsee, als er eines Tages dort durch die Spalten der festverschlossenen Umzäunung sah, und kahl und traurig starrten die Gerüste und Planken der anderen Badeplätze in die Höhe--am Plötzensee und in Grünau, wohin er auch kam,--kahl und frostig wie die Bäume, deren laublose Stämme sich regungslos von dem braunen Boden der Landschaft abhoben. Sie stimmten ihn nicht fröhlicher, diese einsamen Ausflüge, auf denen unvergessene Erinnerungen ihn immer von neuem in ihrem Bann zogen. Aber er wußte nichts anderes zu tun, und so fuhr er immer wieder hinaus und ging oder stand oft stundenlang, in Gedanken versunken, auf den verlassenen Stätten seiner Siege und seines Glückes... Besser wurde es erst, als es Frühling wurde.-- In der ersten Zeit schwamm er nur selten. Er wagte sich nicht in die Schwimmhallen, aus Besorgnis, dort Bekannte zutreffen. Er fürchtete geradezu jede Frage, jedes Wort, jede Anspielung auf seine Niederlage... Er hätte sie nicht ertragen. Dann, als er wieder allabendlich nach der Arbeit badete, vermied er mit derselben Sorgfalt, wie im Vorjahre, die Übungsabende der Klubs und ging an dem einen Tage hier-, an dem anderen dorthin, wo er sicher sein konnte, möglichst allein zu sein. So besuchte er alle Winterbäder, wie es gerade kam. Nur in jene kleine, dunkle Halle im Süden der Stadt, wo er vor einem Jahre täglicher Gast gewesen war, ging er nie mehr... Diese Erinnerungen sollten begraben bleiben und durften ihn jetzt nicht stören. Er schwamm einstweilen noch ohne jeden Gedanken an ein neues Training. Alles, was er wollte, war, seine ganze Kraft wiederzufühlen, ehe er daran dachte, sie von neuem zu üben. Er glaubte nämlich allen Ernstes, das Gefühl seiner Kraft verloren zu haben. Einmal schwankend geworden an ihr, war er wie der eingebildete Kranke, der stets die Krankheit zu haben glaubt, von der er hört. Er war irre an sich geworden, weil er angefangen hatte, über sich nachzudenken. Er fürchtete sich, die Zeit nehmen zu lassen. So schwamm er vorderhand noch in allen möglichen Stilarten und alle möglichen Längen, wie es ihm gerade in den Sinn kam, ohne auf sich und seine Umgebung zu achten. Und das ungeheure Wohlbehagen, das er immer empfand, wenn er im Wasser war, ergriff ihn wieder, und täglich mehr und mehr... Mit dem Wohlbehagen aber fühlte er zugleich seine Kraft wieder, und seine Übungen wurden ernster, wenn er sie auch noch nicht prüfen ließ. Dann hörte er eines Abends, als er seine hundert Meter zum dritten Male so ganz für sich geschwommen, wie ein Herr, den er nicht kannte, der ihn aber beobachtet und zu seinem eigenen Vergnügen nach der Uhr gesehen hatte, sagte: 1:21. 1:21?!--Aber das war ja seine eigene, frühere gute Zeit, das kam nahe an den von ihm selbst vor zwei Jahren in Wien aufgestellten Rekord heran, als er so glänzend disponiert war?--Dann, dann--besaß er sie ja wieder, seine verlorene Kraft!--Dann ging es ja wieder!-- Er bat den Fremden, ihm doch nochmals die Zeit zu nehmen. Er schwamm die hundert Meter zum vierten Male, und zwar bewußt ohne besonderen Kraftaufwand. Und seine Zeit blieb gut.-- Er freute sich noch nicht. Er wagte es nicht. Aber in seine wahllosen Übungen kam von jetzt ab wieder ein gewisser Sinn. Er schwamm von neuem alle Stilarten und alle Längen durch, ließ sich die Zeit nehmen, wenn er gerade den Bademeister oder sonst einen Bereitwilligen dazu fand, und ohne noch in ein bestimmtes Training zu treten, erprobte er doch schon--vorsichtig und unsicher wie ein Anfänger--seine Fertigkeit. Allmählich wurde er ruhiger, je sicherer er wurde. Er konnte sich nicht mehr verhehlen, daß sein furchtbares Erschrecken nach jenen ersten, im Grunde belanglosen Niederlagen töricht und übertrieben, und daß von einer ernstlichen Erschütterung seiner Kraft wohl nie die Rede gewesen war; daß ein paar Wochen ruhigen Lebens sie vielleicht ganz von selbst in das alte Geleise gebracht hätten und so eigentlich dieser ganze Bruch unnötig und im Gründe etwas lächerlich und darum eigentlich beschämend war... Aber eines blieb trotz allem. Wenn auch seine Kraft nicht erschüttert war, sein Selbstvertrauen war es auf jeden Fall!--Dieses stolze Selbstvertrauen, entstanden nicht im einer Stunde, sondern aus empfangsfähigem Boden schüchtern und langsam emporgewachsen, stetig erst bewässert durch kleine, dann genährt durch immer größere Erfolge, Wurzel schlagend in beispiellosen Siegen und endlich untrennbar, Wesen und Eins, mit der Persönlichkeit, mit ihm, ihm-- Franz Felder!-- Dieses Insichselbstvertrauen war erschüttert. Nicht seine Kraft, sein Selbstvertrauen mußte er daher wiedergewinnen!-- Dazu war nun das Leben, wie er es führte, am wenigsten geeignet. Unfähig, Vergleiche zu ziehen, Eindrücke zu empfangen und wiederzugeben, konnte er es nur nähren an den Maßen seiner Einbildung. Und mit jedem neuen _über sich_ erfochtenen Sieg seiner Kraft nahm es Dimensionen an, an die Felder früher nicht gedacht hatte. Schon aus dem einfachen Grunde nicht gedacht, weil er früher geschwommen, so gut er es konnte, ohne zu denken. Zahlen waren es, die er jetzt verglich: Zahlen gegen Zahlen. Nicht Leistungen--warme Leistungen des Lebens--gegen Leistungen. Wie er aber den Tag ersehnte, an dem ihm das zum ersten Male wieder möglich sein würde!-- Dann würde er wieder leben. Denn dies Leben der Einsamkeit, wie er es jetzt führte, war kein Leben mehr. Er litt unter seiner eigenen Einsamkeit. Wie sehr er litt, wußte er selbst nicht einmal mehr. Er war immer allein, und allmählich kam es ihm wie ein Traum vor: die alten, lieben Freunde, die lauten, fröhlichen Feste, seine sensationellen Siege--waren sie in der Tat jemals Wirklichkeit gewesen?--Der Taumel seiner Sicherheit, seine Wagnisse, seine Reisen?-- Er wollte nicht an die Vergangenheit denken. Er wollte sich vorbereiten auf die Zukunft. Denn alles lag erst noch vor ihm. Hinter ihm lag nur ein Anfang, ein in seinem Ende mißglückter Anfang. Aber was er nicht hindern konnte, war: daß zuweilen Bilder dieser Vergangenheit vor ihm aufstiegen, und vor allem Bilder des letzten Jahres, der Zeit, als er schon nicht mehr so ganz und gar in dem engen Kreise der Genossen gelebt, sondern neue, fremde Menschen und andere Lebensweiten sich ihm aufgetan. Und er sah noch zuweilen das hohe, nüchterne Atelier des Bildhauers vor sich, die kahlen Wände und die seltsamen Figuren, und den Künstler selbst, schweißbedeckt, schweratmend und in innerlichen Kämpfen qualvoll ringend; und das warme, gemütliche Zimmer des Doktors, den fröhlichen, freundlichen Mann mit den blitzenden Augen und der lebhaften Stimme, unermüdlich im Erzählen und voll Interesse für ihn; und zuweilen--sah er auch sie... Aber da wandten sich schnell seine Gedanken. Er wollte davon nichts mehr wissen und zwang sich zum Vergessen. Und nur in seinen Träumen erregte sie ihn zuweilen noch, wie sie es damals getan. Doch auch diese Träume wurden seltener und seltener und schwanden endlich ganz, wie ihr Duft allmählich aus seinen Kleidern gewichen war, dieses ekelhafte Parfüm, das seinen Körper vergiftet hatte. Und endlich wurden die Gestalten blasser und blasser und schwanden ganz, so wie Felder es wollte. Alles, was hinter ihm lag, wurde wesenlos und verlor seine letzte Macht selbst über seine Erinnerung. Hatte er es überhaupt erlebt?-- Oft vermochte er kaum mehr daran zu glauben. Aber er hieß doch Franz Felder!--Er war es doch noch, der diesen Namen trug?--Aber wer fragte noch nach ihm! Er wußte, er war vergessen. Er war nicht mehr Franz Felder, wenn er auch noch so hieß. Es war ein Name, den er erst erobern sollte. Und erobern würde er ihn, dessen wurde er mit jedem Tage sicherer. Denn wenn er auch vergessen war, noch lebte er. Noch war er nicht tot! 6 Wenn man ihn vergaß--_er_ hatte nichts vergessen. In der ganzen deutschen Schwimmerwelt gab es keinen, der mit schärferem Auge alle Vorgänge in ihr verfolgte, keinen, der mit größerer Hast nach den Berichten griff, als Franz Felder. Kein Ereignis von irgendwelcher Bedeutung entging ihm. Er las alle Zeitschriften, die irgendwie in Betracht kamen; er war unterrichtet über alle Veranstaltungen und über den Verlauf einer jeden. Kein neuer Name blieb ihm fremd, kein Sieg von irgendwelcher Bedeutung unbekannt. Es wurde seine Beschäftigung, an manchen langen, einsamen Abenden die Sportszeitschriften durchzusehen, alte und neue, und Vergleiche über Vergleiche anzustellen zwischen dem, was geleistet wurde und geleistet war--von ihm selbst. Er wurde innerlich immer sicherer. Als das erste große Sommerschwimmen des Berliner Schwimmbundes herannahte, drängte es ihn mit Macht zur Beteiligung. Aber er bezwang sich und dachte an den Schwur, den er sich selbst in jener Nacht der Verzweiflung getan. Nein, er wollte nicht!--Was er tun wollte--nicht Berlin, nicht Deutschland, Europa sollte es sehen. Dazu gab es nur eine Gelegenheit. Er mußte sie erwarten. Noch war seine Stunde nicht gekommen. Er blieb fern. Aber es wurde ihm schwer. Zum ersten Male sah er den Preis seiner Vaterstadt über die kurze Strecke, der vor vier Jahren sein erster großer Sieg gewesen und den er seitdem Jahr für Jahr behauptet, in fremden Besitz übergehen. Freiwillig gab er den Meistertitel Berlins aus den Händen und seinen Namen neuer Vergessenheit preis!--Freiwillig--denn an demselben Tage schwamm er, für sich allein, einmal am Morgen und einmal am Nachmittage in einer eben geöffneten, entlegenen Badeanstalt der Umgegend die hundert Meter in einer Zeit, die seinem eigenen Rekord vor zwei Jahren fast gleichkam und die Zeit des Siegers--auch eines alten Gegners--beide Male übertraf. Er biß die Zähne aufeinander. Er wollte noch nicht. Denn er _durfte_ noch nicht!-- Wieder vergingen Wochen, und der Sommer war da. Das Wasser wurde täglich wärmer. Langsam nahte sein Tag: der Tag des großen Festes des Allgemeinen Deutschen Schwimmverbandes, der größten internationalen schwimmsportlichen Veranstaltung des Jahres, nicht nur für Deutschland, sondern alle benachbarten Länder; der Tag der großen Entscheidungskämpfe über die allerersten Meisterschaften des Weltteiles. Und er erwartete ihn. Dann fiel sein Blick eines Tages im "Welt-Sport" auf seinen Namen, seit langer Zeit zum erstenmal wieder, und sein Herz schlug höher bei dem, was er las. Es war eine Kritik des letzten Berliner Bundesschwimmens und in der Hauptsache die Besprechung des Sieges des jungen Georg Bauer vom "Triton", wo es am Schluß hieß: --"Die Leistung dieses jungen Mannes erinnert uns in ihrer selbstbewußten Kraft und der idealen Schönheit ihres Stils an diejenigen des noch vor kurzem überall genannten Meisters von Europa vom Vorjahre. Unsere Leser wissen, daß wir von Franz Felder sprechen. Sie wissen auch, wie sehr wir stets gerade für diesen Schwimmer eingetreten sind, und erinnern sich, welche Hoffnungen und Wünsche wir noch auf Jahre hinaus für ihn gehegt und ausgesprochen haben. Um so schmerzlicher war--wie wohl überall--unser Bedauern und um so größer unsere Enttäuschung, diesen in Haltung und Kraft einzigen Schwimmer so jäh niedergehen und dann von einem Tage zum anderen, nach einigen äußerlich gar nichts bedeutenden Mißerfolgen, plötzlich von der Bildfläche verschwinden zu sehen: aus Gründen, die offenbar tiefer liegen, als daß wir ihnen hier öffentlich nachgehen dürften. Es wäre sicherlich ein einziger Genuß für jeden feineren Kenner gewesen, am vergangenen Sonntag zum Beispiel ihn und Bauer zugleich an den Start gehen und die reifende Kraft des Jüngeren mit der gereiften des Meisters in einer Form wetteifern zu sehen, die bei der rohen, immer mehr eingreifenden Preisjägerei gänzlich in Vergessenheit zu geraten scheint. Werden wir ein Schauspiel dieser Art nie mehr erleben?--Fast scheint es so. Aber wir können die Hoffnung noch nicht aufgeben, Felder eines Tages wieder an der Arbeit zu sehen, und möchten heute nur nochmals-- auch im Hinblick auf manchen ungerechten Angriff, der den Meister mit zu seinem sonst rätselhaften Entschluß, sich so ganz zurückzuziehen, getrieben haben mag--betonen: wenn auch die neuerlichen Leistungen des Nachwuchses jedes Lobes würdig sind und manchen zum Nachfolger Felders geradezu prädestinieren, so scheint allen doch völlig zu fehlen, was der Persönlichkeit dieses Meisters so sehr eigen war-- diese innerliche Leidenschaft und Liebe zur Sache, dieses Aufgehen in ihr mit Leib und Seele, diese unbedenkliche Hingabe der Begeisterung, die wir in seinen phänomenalen, oft über die eigene Kraft hinausgehenden Leistungen zu oft bewundert haben, als daß wir uns über sie täuschen könnten. Dadurch--nicht durch die Teilnahme an dem äußeren Ausbau des Schwimmwesens, wie er in den Klubs betrieben wird, und auch nicht durch seine Siege--hat Felder seiner geliebten Sache den größten Dienst geleistet und ihr in den Augen vieler eine höhere, gewissermaßen edlere Bedeutung gegeben, als sie bis dahin besaß. Das sollte ihm unvergessen bleiben und seine Gegner daran erinnern, daß Menschen dieser Art ihre eigenen Wege gehen und gehen müssen, weil sie nur auf ihnen ihre--oft nur von ihnen selbst geahnten oder erkannten--Ziele, erreichen können..." Wie das Herz des Lesenden schlug! Was er selbst sich nie klar gemacht, was er aber ahnte und dem er nachging--dieser Mann, der das geschrieben, hatte ihm Worte gegeben! --Er war der einzige, der ihn ganz verstand! --"Menschen dieser Art gehen ihre eigenen Wege..." Ging er nicht die seinen, war er sie nicht stets gegangen, getrieben von einer inneren Stimme, die das Rauschen und Brausen auch des lautesten Beifalls übertönt hatte?--Und wenn er sie eine Zeitlang nicht mehr vernommen, war sie es nicht gewesen, die ihn zurückgelockt hatte zu sich?--Hörte er sie nicht wieder?--Und rief sie ihn nicht, wie damals den armen, kleinen Jungen, jetzt wieder, ihn, den Meister, zu Zielen, von denen niemand wußte, auch er selbst nicht?!-- Ja, sie rief ihn wieder, und er hörte sie: rein und klar, wie nur je!-- Ein paar Tage später holte er eines Abends Koepke aus seinem Geschäft ab. Die Ausschreibungen zu dem großen internationalen Verbandsschwimmen waren soeben erlassen. Felders Tag war gekommen. In einem Restaurant setzten sie seine Meldung auf: in dem üblichen, geschäftsmäßigen Stil, aber doch noch Wort für Wort überlegend. Und als Koepke sie abgeschrieben, setzte Felder das übliche: "Mit Schwimmergruß..." und seinen Namen darunter in seiner klobigen, mühsamen Handschrift. Auch die Einzahlung des Einsatzes von zwanzig Mark, die Felder schon lange zurückgelegt, versprach Koepke zu besorgen, und Felder durfte sicher sein, daß es pünktlich geschehen würde. Befriedigt legte er die Feder aus der Hand und lächelte zum ersten Male seit langer Zeit wieder. Dann aber, als sie nach geschehener Arbeit noch zusammensaßen, da brach es plötzlich aus Felder hervor!--Er wußte selbst nicht, wie es so plötzlich kam, aber er mußte sprechen, um endlich einmal wieder die eigene Stimme zu hören. Und während der kleine Kaufmann erst erstaunt und dann betroffen, ganz betäubt wortlos zuhörte, Strömte vor ihm aus gequälter Brust alles hervor, was sie seit Monaten zum Ersticken bedrückte. Man hatte ihn vergessen!--Ja, er wußte es wohl. Er hatte sich von der Schwimmerei zurückgezogen. Er konnte nichts mehr. Er war fertig. Er war tot... Aber wie sie sich alle täuschten!--Sie alle miteinander!--Was wußten sie denn von ihm?--Verstanden sie ihn überhaupt?--Ahnten sie auch nur, was er gewollt hatte?-- Wie sollten sie begreifen, was er erst wollte?! Sie glaubten ihn fertig, und er war erst am Anfang. Sie glaubten ihn gestürzt, die aus dem Tale Zuschauenden. Aber er war nur für eine kurze Weile hinter einer Felsecke verschwunden, um auszuruhen zur neuen Wanderung von Gipfel zu Gipfel! In vierzehn Tagen würde er wieder vor ihren Augen erscheinen und eine Wanderung beginnen, auf der sie ihm überhaupt nicht mehr folgen konnten. Er war noch nicht einundzwanzig Jahre alt. Er war noch gar nicht im Vollbesitz seiner Kraft. Wenn er sich einen Augenblick je eingebildet, sie verloren zu haben, so war er ganz einfach ein Narr gewesen. Auf jeden Fall fühlte er sie jetzt wieder, so mächtig und ungebärdig, daß er den Tag nicht mehr erwarten konnte, sie zu erproben. Und da er jetzt wußte, wodurch er ihr schaden konnte, brauchte er nur alles zu vermeiden, um sie ungeschwächt sich die nächsten zehn Jahre zu ihrer Höhe entwickeln zu lassen und sie dann noch zehn Jahre auf ihrer Höhe zu erhalten. Das aber waren zwanzig Jahre!-- Und in diesen zwanzig Jahren wollte er es in seiner Sache zu Leistungen bringen, wie sie bisher überhaupt noch nicht dagewesen waren. Und zwar nicht in dem engen Rahmen des Sports, unter der Vormundschaft und beengt durch die Regeln der Klubs und Verbände, sondern als freier Schwimmer der Welt, seinetwegen auch als "Professional", wenn sie es denn so nennen wollten... Wenn er in Grünau noch einmal innerhalb des bisherigen Rahmens schwimmen sollte, so tat er es, weil er hier noch eine alte Rechnung einzulösen hatte. Aber es sollte nur ein Wiederbeginn sein. Unzweifelhaft würde ihm der S.-C. B. 1879 nach seinem Siege von selbst die Mitgliedschaft wieder anbieten, wahrscheinlich ihn gleich zu seinem Ehrenmitgliede ernennen. Er wollte sie annehmen. Dann aber sollte sein Weg in die Weite beginnen. Berlin--was war Berlin?--Das war ein abgegraster Boden, auf dem es nichts mehr zu holen gab. Und auch in Deutschland waren der Städte wenige, wo er noch Ehren erlangen konnte, die er noch nicht besaß. Aber das Ausland!--Dahin mußte er. Zunächst nach England. Und wenn er von dort mit neuen Ehren und neuen Mitteln zurückgekehrt war, dann sollten seine großen Reisen von einer Hauptstadt zu der anderen beginnen, und überall würde er seine Kunst--wenn es sein mußte: vor der ganzen Öffentlichkeit zeigen und den Ruhm seines Namens über die ganze Welt tragen... So sprach Felder. Seine ungelenken Worte überstürzten sich, und seine Augen glänzten wie im Fieber, während seine heißen Hände heute abend immer und immer wieder nach dem Glase griffen. Und der kleine Kaufmann sah mit seinen weit geöffneten Augen ganz stumm und erschrocken auf seinen großen Freund und hörte ihm zu, ohne ihn zu verstehen, und wußte nicht mehr: redete ein Genie da vor ihm oder ein Irrer. 7 In unsäglicher Spannung erwartete Felder seinen Tag. Er lebte nur noch in dem Gedanken an ihn. Nie vorher hatte er mit solcher Sorgfalt sich auf alles vorbereitet. Seine Meldung war angenommen worden. Natürlich. Sie hätten sie gar nicht abweisen können. Es lag nicht das geringste gegen ihn vor. Dann wurden die Teilnehmer bekannt gemacht. Felder verschlang die Namen, und er hätte aufschreien mögen vor Freude--das war, was er gewollt, und mehr, als er je zu hoffen gewagt: die allerersten Namen, nicht nur Deutschlands, sondern Europas!--Er kannte alle, vom ersten bis zum letzten! Da war zunächst Riesecker, der der Meister Deutschlands gewesen war bis zur Stunde, wo er ihn zurückgedrängt hatte--aha, jetzt wagte er sich wieder hervor, sein alter Gegner; dann Scarpetta, der Meister Italiens, dem wohl wieder einmal nach einer Niederlage gelüstete; Anton Riegler, der Meister Österreichs und Ungarns zu gleicher Zeit--der Europas würde er nie werden, so lange Felder lebte, Magelsdorffer, der im vorigen Jahre die große Rheinmeisterschaft über 7500 Meter erfochten--er sollte aber doch lieber in seinem heimatlichen Strom bleiben. Dann der junge Nachwuchs: vor allem der junge Magdeburger Seubert wieder--nun, nur nicht so eilig, junger Mann; und auch du nicht, Georg Bauer--ihr jungen Hähne kräht zu früh... Sie wurden alle kommen, mit Ausnahme der Engländer wieder. Nun, mit denen würde er ja bei der nächsten Gelegenheit noch ein Wort reden... Sie waren alle da, und Felders innere Freude kannte keine Grenzen. Jetzt erst war er wieder ganz ruhig. Was für ein Schwimmen sollte das werden!--Langsam, viel zu langsam kam endlich der Tag für den Einsamen heran. Felder lag im Bett bis gegen Mittag. Mit offenen Augen starrte er die Kränze und Bilder an den Wänden an. Endlich hielt er es nicht mehr aus. Früh am Nachmittag fuhr er hinaus nach Grünau. In dem kleinen Paket in der Hand trug er sein Trikot. Der Zug war überfüllt mit Ausflüglern. In Grünau ging er gleich zum Sportplatz und dort hinter den Reihen der Zuschauer entlang zu den ihm so wohlbekannten Auskleidestellen, wo bereits überall Kleider hingen. Er suchte sich die entlegenste freie Ecke und zog sich langsam aus. Es war vier Uhr. Vor fünf konnte das 600-Meter-Rennen kaum beginnen. Als er das Trikot über seine glühenden Glieder zog, war er noch immer ganz allein in dieser Ecke hier oben. Dieses Trikot hatte er sich für sein heutiges Schwimmen als Einzelschwimmer machen lassen, und wochenlang hatte er darüber nachgedacht, was er wählen sollte und durfte. Endlich hatte er sich entschieden: ganz weiß, nur am Rande mit einem goldenen Streifen; und ebenso die Badehose: ganz weiß, mit goldenen, schmalen Streifen und vorn mit einem einfachen goldenen Stern. Das waren die Farben keines Klubs, das war kein Abzeichen, das war noch von niemand jemals gewählt worden--es sollten die selbstgewählten Farben sein, unter denen er heute für sich ganz allein siegen wollte, heute, dies eine Mal, bevor--bevor er wieder für andere kämpfen wollte. Leicht und straff legte sich der dünne, fast durchsichtige Stoff um seinen Körper, nur Arme und Beine frei lassend, nirgends beengend, jeder Bewegung nachgebend, wie die Trikots der Akrobaten und Athleten. Felder hätte keine einfacheren und bescheideneren und doch herausfordernd-bedeutungsvolleren Farben wählen können als diese beiden: Weiß und Gold!-- Noch immer kam niemand, und er stand bereits fertig. Von diesem Fleck aus konnte er nicht nur den ganzen Sportplatz unter sich, sondern weithin die ganze Gegend überblicken. Vor ihm unter den Bäumen fielen die langen Bankreihen stufenförmig bis zum Wasserspiegel nieder, dicht besetzt mit den Zuschauern, um so dichter, je näher der Kampfplatz, alle es sich so bequem wie möglich machend, die Frauen in luftigen Sommerkleidern, die Männer oft in Hemdsärmeln, trinkend, lachend, sich den Schweiß abtrocknend und immer wieder die Aufmerksamkeit den Spielen zuwendend... Kinder, die sich langweilten und balgten, zwischen sich... Weiter unten die Farben der Klubs, die schwarzen Röcke und Fräcke der offiziell Beteiligten, der geladenen Gäste, der Richter, der Veranstalter... dann die nackten, hellen Gestalten der Kämpfer... endlich der abgesteckte Platz mit seinen fahnengeschmückten Gerüsten, die auf Tonnen schwammen... auf dem Sprungbrett die schnell sich ablösenden Gestalten, in seltsamen Formen die Luft durchschneidend und in dem aufspritzenden Wasser verschwindend... Leben, Bewegung überall, überall Kommen und Gehen: der erregte und doch verhaltene Ernst, die gespannte Aufmerksamkeit dieses Festes, nur unterbrochen durch den zeitweiligen, tosenden Jubel der Zuschauer, aber alles gebannt, etwas gelähmt durch die drohende Schwüle dieses Julitages... Und darüber hinaus die ganze, weite Landschaft, das leuchtende Wasserbecken, hier sich zum See verbreiternd, dort, gegen Westen, sich in trägem Flusse verengernd, an seinen Ufern die menschenüberfüllten Sommergärten, von denen Musik herüberschallte, besät mit Booten und Fahrzeugen, aufweichen die sonntagsfreudigen und arbeitsmüden Großstadtmenschen sich dahintreiben ließen; dann dort drüben das einfache und in seiner Einförmigkeit doch so tiefe Bild dunkler Kiefern und des weißen, märkischen Sandes: die sanften Linien der Müggelberge, gebrochen am Horizonte durch den scharfen Strich eines Aussichtsturmes, aber sonst leise und wellig dahingleitend, in ihrer milden Freundlichkeit mehr geschaffen für den stillen Ernst des Herbstes, als für diese grelle Sonne, der die geraden Stämme regungslos, ohne Erzittern, wie betäubt, standhielten... Felder wußte nichts von der Schönheit und von der Einförmigkeit dieser Gegend. Er hatte nie etwas anderes gekannt, als sie, und die Bilder seiner Reisen hatte er gesehen, wie andere sie für zehn Pfennig im Automaten sahen. Er sah nur das Wasser. Und es glitzerte und glänzte und lockte und rief; und ungeduldig griff er nach seinem Tuch. Dies Wasser war seine Heimat; dies Wasser war sein Land.-- Genau war mit Koepke der Zeitpunkt verabredet, an dem dieser ihn abholen sollte: bei Beendigung der sechsten Konkurrenz, des Hindernisschwimmens; spätestens aber vor Beginn der siebenten: des Springens um die Deutschland-Meisterschaft, der als achte dann das große Hauptschwimmen folgen sollte. Zeit genug also. Und Felder war schon fertig. Er wußte, daß Koepke kommen würde. Hierher. Die Ungeduld ergriff ihn. Wurde denn das Sprungbrett dort unten niemals leer?--Immer von neuem erschienen die Springer. Und mit der Ungeduld kam die Angst über ihn, jene Angst, die er nur ein einziges Mal in seinem Leben gespürt: damals, vor seinem ersten großen Siege, an jenem grauen Wintertage, in der trüben Ecke des Winterbades der Wasserfreunde, als er so wie heute darauf wartete, daß man ihn holen sollte. Aber wie durfte er _heute_ Angst haben!--Und doch fühlte er sie, wie eine Drohung, über sich, und er atmete erleichtert auf, als dort unten eine Bewegung durch die Reihen ging, die das Ende eines Rennens andeutete. Dann stürzten nasse Gestalten herauf, ohne sich um ihn zu kümmern, rissen sich, lachend und lärmend und noch schweratmend von der Arbeit, die Trikots vom Leibe, nach Hemd und Hose greifend, und sogleich er schien auch--pünktlich zur Sekunde--Koepke. Da fiel die Unruhe von Felders Brust, und hocherhobenen Hauptes, das Badetuch lässig um die Schultern geschlagen, stieg er langsam und ohne sich umzusehen, durch die Reihen der Zuschauer hernieder und schritt auf die Bahn zu. Auch dort vermied er, irgend jemand mit dem Blicke zu streifen, sondern lehnte sich ruhig an das Geländer, das nächste Rennen erwartend, und als es begann, ihm aufmerksam mit den Augen folgend. Aber er fühlte, wie man ihn ansah von allen Seiten; er wußte, daß in diesem Augenblicke aller Augen auf ihm ruhten. Nicht jetzt wollte er ihnen begegnen. Nach dem Siege--dann!--Nur einmal sah er auf und maß mit dem Blicke die lange Bahn, die man für das 6oo- Meter-Rennen besonders abgesteckt hatte. Welche der sieben Nummern war wohl die seine?--Würde er in der Mitte oder an der Seite liegen?-- Die Hitze wurde immer drückender; der Himmel war nicht mehr so rein, wie am Mittag, sondern färbte sich ins Graue, und leichte Wolken lagerten sich hier und da. Er war wie geladen mit Spannung, und ein Gewitter konnte jede Minute losbrechen. Luft und Wasser lagen starr, und die Blätter der Bäume hingen schlaff hernieder. Es war unerträglich, aber alle hielt die Erwartung auf das Kommende aufrecht. Dann war auch dieses Rennen zu Ende, und irgend jemand, den er nicht kannte, sagte etwas zu Felder, was dieser nicht recht verstand. Ach so, es sollte vor dem Beginne des Wettkampfes das übliche Bild aufgenommen werden. Und er stellte sich auf den bezeichneten Platz, aber erwußte nicht, wer neben ihm stand. War es Scarpetta oder der junge Seubert? Er sah nur immer gerade aus, seine Augen hatten einen ganz starren Ausdruck angenommen, und in diesem Moment sah jeder, der ihn früher gekannt und ihn nun zum ersten Male seit Monaten wiedersah, wie sehr er sich verändert hatte. Das war nicht mehr das weiche, runde, gutmütige Gesicht Franz Felders, wie man es kannte von früheren Zeiten her und so vielen Bildern, das unbekümmerte Gesicht des Knaben und des glückstrahlenden Jünglings; das war nicht mehr der vertrauende, freundliche Blick, der diesen Zügen auch dann noch geblieben war, als die letzten Jahre schon die Linie der Entschlossenheit bis zur Härte vertieft hatten: das war das frühalte, herbe Gesicht eines Mannes, in dem die Leidenschaften ihre Spuren hinterlassen haben; und in diesen Augen, die über alles hinweg in eine weite Ferne blickten, brannte nur noch das Feuer eines düsteren Willens, der entschlossen war, sich durchzusetzen, und sei es über Leichen... Und wie sein Gesicht, so hatte auch Felders Gestalt alle Weichheit verloren; jetzt sah man deutlich, welche Kraft in dieser hageren Sehnigkeit und in diesen straffen, eisernen Muskeln lag. Das Bild war aufgenommen. Irgendein anderer, dessen Stimme ihm bekannt in die Ohren schlug, gab Felder die schwarze Mütze und nannte ihm die Nummer seines Platzes--den zweiten links. Aber Felder sah und hörte überhaupt nichts mehr, als nur diese eine Zahl; und während er sich zu ihr durchdrängte, verschwammen alle diese Gesichter um ihn her völlig in ein großes Ganzes--die Starter, die Festteilnehmer, die Sportsleute, die Zuschauer--und erst, als er im Wasser mit der Hand an seiner Nummer lag, kam er wieder zur Besinnung. Jetzt schaute er sich um: links neben ihm als Nummer eins lag der junge Georg Bauer mit seinem lachenden Gesicht, als sei dies Schwimmen ein Spiel; rechts neben ihm, totenblaß und mit aufeinandergebissenen Zähnen Riesecker; dann, als er den Kopf nach hinten bog und empor sah, ob das Zeichen noch nicht gegeben wurde, erkannte er unter den Gesichtern dort oben über ihm, wie im Fluge, aber ganz deutlich vier, fünf Gesichter seiner alten Freunde aus dem S.-C. B. 1879, unter ihnen das ernste Gesicht Nagels. Aber er durfte jetzt nur noch eines denken; und als er, wie um nichts mehr zu sehen, sein heißes Gesicht für eine kurze Sekunde in das Wasser tauchte, wurde über ihm das Zeichen gegeben. Die anderen hatten bereits abgestoßen. Mit einem Schlage war er unter ihnen... Die ersten Längen schwamm er unter dem Bann des einzigen Gedankens, seinen Stil möglichst innezuhalten und sich nicht unnütz auszugeben. Er mußte sich zügeln, so groß war das Übermaß von Kraft in ihm. Über die kurze Strecke--eigentlich immer sein Favoritgebiet--hätte er bereits gewinnen können. Dann kamen ihm in der dritten Länge gegen den Strom zu beiden Seiten die Gegner wieder nach. Er hielt indessen seinen Stil inne, ohne sich zu überhasten, und erst in einer der nächsten--es mußte nach seiner Berechnung die fünfte sein--ergriff ihn die Unruhe, ihn aufgeben zu müssen, da er glaubte, sich sonst nicht behaupten zu können. Eine Länge, die mit dem Strom, wenigstens wollte er es indessen noch versuchen, bevor er dann mit seinem Endspurt etwa Verlorenes wieder einbringen mußte. Er sah sich jetzt nicht mehr um. Er schwamm, und er wußte, wie gut und sicher er schwamm... Jetzt noch eine Länge, und dann noch eine. Und während dieser einen, die er für die vorletzte hielt, wurde er die Gegner nicht los. Er fühlte, es war unmöglich auf diese Weise. Er mußte seinen Stil aufgeben und sich durchs Ziel arbeiten, so gut es ging. Er schlug an. Und nochmals stieß er ab. Und jetzt--er fühlte es, wie er am Ende seiner Kraft war. Er würde auch diese Länge noch zu Ende bringen, die wie endlos vor ihm lag, aber so wie die anderen nicht mehr. Wer war denn noch neben ihm?... Er sah zur Seite. Niemand?--Das gab ihm neuen Mut, und er holte zu neuen Stößen aus. Zugleich aber war es ihm, als ob man ihm zurief, und als er nochmals unwillkürlich den Blick erhob, sah er, wie auf dem Seitensteg ein Herr neben ihm herlief, mit den Händen fuchtelte und ihm fortwährend zuschrie:--Genug!--genug!--es ist ja zu Ende!-- Zu Ende?--Was?--Darum lag niemand mehr neben ihm. Er wandte sich um und stieg ans Land. Die Musik blies immer von neuem Tusch; die ganze Zuschauermenge hatte sich wie ein Mann erhoben und schrie und winkte mit Tüchern und Hüten, und Felder trat in ein wirres Gewühl von durcheinander redenden und durcheinander laufenden Menschen. Aber wer war es denn, dem man zujubelte?--Wem galt all diese Erregung?--Wer war der Sieger?--Einer konnte es doch nur sein. Niemand schien es zu wissen. Nur daß _er_ es nicht war, das sah er!--Niemand kam zu ihm, niemand kümmerte sich um ihn. Da ging er langsam an dem Ufer entlang und an der Seite der Umzäunung empor zu seinem Platze. Mechanisch kleidete er sich an, und seine Augen hatten wieder den starren, abwesenden Ausdruck. Er war wie zerschlagen. Er begriff noch nichts. Nichts, als das eine; daß er unterlegen war!--Mechanisch streifte er sich das breite Band der Ehrenmitgliedschaft der "Life Saving Society" um den Hals, die höchste Ehrung, die ihm je zuteil geworden war, und die einzige, die er neben den großen goldenen Medaillen seiner Europa-Meisterschaft an diesem bedeutungsvollen Tage angelegt hatte. Er strich es noch unter dem Rock glatt, als Koepke in höchster Aufregung heraufstürmte. --Mensch, rief er ihm schon von weitem zu, was wartest du denn nicht!--Na, da unten geht es schön zu!... Aber was wollen sie denn machen!--Du warst es doch nun einmal... Felder starrte ihn an. Der Kleine wiederholte nur immer in einem fort:--Großartig!--aber wirklich großartig!--Ah, was die sich ärgern dort unten, das ist ja ein Schauspiel für Götter! Felder begriff noch immer nichts. Er packte ihn am Arme. Er wollte wenigstens wissen, gegen wen er unterlegen war. --Wer hat gesiegt?--stieß er hervor. --Wer gesiegt hat.?--schrie da der andere.--Wer gesiegt hat, fragt er, und ist es selbst! Mit einem Ruck zog Felder die Jacke fest, fuhr mit der Hand durch die Haare und richtete sich auf. Mit einem Blicke übersah er, wie vorhin, das Bild zu seinen Füßen. Es hatte sich völlig geändert. Vom Himmel fielen, jede Minute dichter, die ersten Tropfen, und ein Teil der Zuschauer hatte bereits die Plätze verlassen. Die übrigen schickten sich an, zu flüchten; die Frauen rafften ihre Kleider zusammen, und die Männer schlüpften in ihre Röcke. Nur dort unten beim Kampfplatz standen dicht zusammen die erregten Gruppen. Selbst von hier oben aus konnte man erkennen, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte. Langsam von seinem Freunde gefolgt, den Strohhut in der Hand, stieg Felder den Abhang hinunter. Er war wie verwandelt. Er lächelte. Denn jetzt war seine Stunde gekommen!... Und er hatte nur noch einen Gedanken: möglichst ruhig zu erscheinen, die wilde, unbändige Freude, die ihn wie neugeschenktes Leben durchrann, nicht zu sehr merken zulassen. Aber ganz konnte er sie nicht verbergen: sie lag auf seinen Lippen, sie schien aus seinen Augen, und sein verhärmtes Gesicht bedeckte eine schwache Röte. Er kam zu der ersten Gruppe, wo heftig durcheinander geschrieen wurde--es war Felder, als ob einige ihn erkannten, schwiegen und ihm Platz machten, als er an ihnen vorbei ging. Die nächste war die der "Borussia". Er sah den ihm bekannten Schwimmwart des Vereins an: der wandte sich ab, und die anderen machten ihm Platz. Er zögerte einen Augenblick. Dann ging er an der Wasserseite entlang auf den Platz zu, wo der Tisch der Veranstalter stand und das Komitee der Richter saß. Sie waren alle beschäftigt, und niemand kümmerte sich um ihn. Er stand vor der großen Tafel, auf der soeben der letzte der drei Sieger angekreidet wurde. Er las zunächst seinen eigenen Namen: 1. Felder . . . . . 10:48 dann weiter: 2. Bauer . . . . . 11:12 2/5 3. Riegler . . . . . 11:20 Der Schreibende wandte sich um, als er seine Arbeit getan, lächelte, als er Felder erkannte, und ging fort, ohne ihn anzusprechen. Felder atmete schwer. Er fühlte die feuchten Tropfen nicht, die dichter und dichter fielen; er fühlte die drückende Hitze dieses Tages wie nie. Also Bauer und Riegler!--Welcher Sieg: er hatte den berühmten Meister Österreich-Ungarns gleichermaßen geschlagen, wie die hoffnungsvollste Kraft der Jugend. Er wußte, daß er vorzüglich geschwommen hatte. Wenn die erreichten Zeiten sich so nah lagen--eine Außergewöhnlichkeit bei einem Rennen über eine so lange Strecke--so lag das bei ihm nur daran, weil er durchaus seinen Stil beibehalten hatte. Ohne diese überflüssige Zugabe hätte er leicht heute noch den Weltrekord über 600 Meter--10:05 1/2--verbessern können. Es war ein Sieg wie keiner. Vielleicht sein größter. Weshalb schien man das nicht zu begreifen?--Was sollte das alles überhaupt heißen?-- Warum kam man denn nicht zu ihm?-- Auf der linken Seite, der Wasserseite, dem Ufer gegenüber, lagen die für die Klubs und die geladenen Gäste reservierten Plätze. Man saß dort nicht mehr, sondern alles stand dicht durcheinander, kam und ging. Nur die Klubmannschaften bildeten noch einzelne Gruppen. Dort sah Felder die blau-weißen Farben. Und mit plötzlichem Entschluß drängte er sich durch die Menschen und Stühle, ohne daß ihn jemand beachtete. In seinen Augen war alles Licht erloschen und er lächelte nicht mehr. Nach ein paar Schritten stand er still. Er konnte nicht weiter. Er wartete. Er stand jetzt der Gruppe so nah, daß man ihn von dort aus sehen mußte. Jetzt würden sie zu ihm kommen... Er stand da und wartete, und Koepke, der ihm gefolgt war, ohne zu wissen, wohin Felder wollte, stand neben ihm. Er hörte die Stimmen, bekannte Stimmen, und er wußte, wer sprach. Das war der Vorsitzende, und das, das--war Nagels ruhige, sichere Stimme. Niemand kam. Niemand schien nach ihm hinzusehen. Niemand sprach ihn an. Was sollte es bedeuten!--Was konnte das bedeuten?-- Er ertrug es nicht mehr. Und er ging weiter, und dicht an den Mitgliedern des S.-C. B. 1879 vorüber. Er sah sie an und sie sahen ihn an. Aber keiner grüßte ihn; keiner machte eine Bewegung zu ihm hin. Er ging weiter. Er begriff noch immer nichts. Aber er fühlte einen Schmerz, wie er ihn noch nie in seinem Leben gefühlt. Er ging weiter und blieb irgendwo am Geländer stehen, mitten unter den Mitgliedern des "Neptun", von denen er fast keinen kannte. Das große Hechttauchen war im Gange. Es regnete schon stark. Ein Kämpfer nach dem anderen erschien am Start: ging ins Wasser, erschien dort halb mit seinem Rücken, aber das Gesicht noch immer unter Wasser, verschwamm sich, fühlte es am Anstoßen, schwamm geradeaus, ging ans Land, wurde beklatscht--Felder sah immer auf das Wasser vor sich und begriff noch immer nichts. Er wartete und wartete und wußte selbst nicht, worauf eigentlich noch.... Dann war auch das Hechttauchen zu Ende, und in die Umstehenden, die-- ebenso wie er--ihre Blicke nur auf die unbewegte Wasserfläche geheftet hatten, _unter_ der der Sieg erfochten wurde, kam neue Bewegung. Da führ auch Felder auf. Irgend etwas mußte geschehen. Er mußte Gewißheit haben. Was ging hier vor um ihn?--Entweder war etwas gegen ihn im Gange, von dem er nichts wußte, oder ein unbegreifliches Mißverständnis-- vielleicht auf seiner eigenen Seite--täuschte und verwirrte ihn. Jedenfalls mußte ein Ende gemacht werden. Und wieder ging er an seinem alten Klub vorüber. Aber diesmal blickte er nicht vor sich hin, sondern fest und entschlossen sah er von Mann zu Mann--ohne zuerst zu grüßen, den Hut noch immer in der Hand--aber wartend--wartend ... worauf?--Und überall, wohin er auch sah, wich man seinem Blick aus, nicht brüsk und unfreundlich, aber hier in offenbarer Verlegenheit, dort in bewußter Absichtlichkeit, und meistens wie erstaunt. Seine Füße wurden schwer und schwerer. Aber er ging weiter. An der nächsten Gruppe, der des "Poseidon", wurden seine Blicke von einzelnen erwidert. Aber nicht freundlich, sondern herausfordernd, mit offenbarer Feindseligkeit, wie er es kaum anders erwartet. Er konnte sich nicht täuschen. Die Worte: "Größenwahn!"--"Verrückt!"-- "Der Meisterspringer"--und mehrfach das höhnisch betönte "Einzelschwimmer" klangen zu vernehmlich an sein Ohr. Er hörte es und ging weiter. Weiter und weiter, den Steg entlang. Und wohin er kam, erkannte und beachtete man ihn entweder gar nicht, oder man machte ihm Platz. Nur als er den "Hechten" näher kam, schien es, als ob der eine oder andere von dort Miene machte, ihm entgegen zu kommen. Aber da wendete er sich ab und schritt schnell zu den nun fast völlig geleerten Sitzreihen. Außer den Vereinen war nun fast niemand mehr anwesend. Er suchte die Vertreter der Zeitungen, aber sie mußten bereits gegangen sein. Nur Koepke war plötzlich wieder neben ihm. Da führ er ihn an: "Was willst du denn noch?--Was läufst du mir denn immer nach?--So laß mich doch endlich einmal in Ruhe!" Das war selbst für den kleinen Kaufmann zuviel. Mit gekränkter Miene und ohne Antwort ging er von dannen. Felder war jetzt ganz allein. Noch einmal übersah er das ganze Gelände. Es war fast ganz leer und der dichte Regen schlag durch die Blätter der Bäume. Jedes Interesse schien erlahmt und man trieb zum Biere und zu anderer Unterhaltung. Dort unten gingen die letzten Wettkämpfe zu Ende. Die Richter saßen unter Regenschirmen, und nur die Buntbemützten harrten bis zu Ende aus. Da wandte sich Felder zum Gehen. Er dachte nicht daran, seinen Preis in Empfang zu nehmen. Er kämpfte nicht mehr um Preise. Um seinen Namen, um seine Ehre kämpfte er. Nein, auch das nicht. Um sein _Leben_ hatte er heute gekämpft, um sein ganzes vergangenes und zukünftiges Leben. Nie hatte er so gesiegt wie heute. Und doch war er unterlegen! 8 Er sah ganz klar. Er begriff plötzlich alles. Er täuschte sich nicht mehr. Er erblickte alles in anderem Lichte, dem grellen, nüchternen Lichte der Wirklichkeit.-- Er war ein Narr gewesen. Ein Narr, als er geglaubt, daß er die Welt erobern könne mit seinen Siegen. Ein Narr, als er wähnte, sie drehte sich forthin nur noch um ihn, nachdem er diese Siege errungen. Ein Narr, als er sich einbildete, er sei der allmächtige und unbezwingliche Sieger. Und der größte aller Narren, als er von diesem Tage eine unerhörte Wendung der Dinge erwartet. Er kannte doch das Schwimmerleben und wußte, wie es in ihm zuging!-- Wie im Leben des Tages, so auch dort überall gegenseitiger Neid und Haß! Hatte er ihn nicht in aller Blicken gelesen?--Nie würde man ihm diesen Sieg vergessen. Daß er gewagt, seine eigenen Wege zu gehen, war schon ein Vergehen gegen die Gewohnheit des Herkommens; daß er aber als einzelner Schwimmer den großen Preis an sich gerissen, der doch von Rechts wegen einem Klub gehören sollte, das war ein Verbrechen, das man ihm nie verzeihen würde. Und wie hatte er auch nur eine Minute glauben können, daß sein alter Klub ihn wieder aufnehmen, ja zuerst zu ihm kommen und ihm gar noch die Ehrenmitgliedschaft antragen würden?--Gerade die 79er waren es doch, denen am wenigsten noch von allen Klubs an den Preisen lag--das wußte er doch am besten!--Er war von ihnen gegangen, und damit war alles zu Ende gewesen zwischen ihm und den Genossen seiner Jugend. Das war es gewesen, worunter er mehr gelitten, als er es sich jemals selbst zugestanden. An dem Schmerz, als er an ihnen vorbeiging und seine Blicke unerwidert geblieben waren, hatte er gefühlt, wieviel er in diesem letzten Jahre innerlich entbehrt. Er wußte es jetzt: nicht um die Ehre, nicht um die Preise, nicht um seinen Namen hatte er gekämpft, sondern um seinen alten Klub. Um seine alte Liebe, um die Wiederkehr jener glücklichen Stunden im Kreise der Freunde, um das trauliche und schöne Beisammensein mit ihnen in allen Stunden, um ihre Achtung und Freundschaft... Um alles, was seinem Leben jahrelang Wärme und Licht verliehen--um sein Leben hatte er gekämpft. Dafür hatte er zu siegen gehofft. Er hatte gesiegt. Und er hatte verloren. Sie würden ihn nicht wiedernehmen, auch wenn er selbst zu ihnen zurückkehren wollte; und wenn sie ihn aufnehmen würden, dann war alles anders geworden.-- Was nun aber?-- So ging es doch nicht weiter. Er täuschte sich nicht mehr, und er wußte jetzt, wie furchtbar er gelitten in dieser letzten Zeit. So konnte er nicht weiterleben. Er konnte die Einsamkeit einfach nicht mehr ertragen. Gewiß: es standen ihm andere, die besten Klubs offen. Nichts lag vor, was seinen Eintritt hinderte, und nach dem heutigen Siege würden sich gar bald die gehässigen in freundliche Mienen verwandeln und sich ihm überall die Hände entgegenstrecken, wo er sie nur ergreifen wollte. Aber es würde niemals wieder so werden, wie es gewesen war. Er würde so sein, wie im "Hecht": ein Fremder unter Fremden. Aber was sollte denn nun werden?--Ihm begann vor der Zukunft zu grauen, denn er sah jetzt in allem ganz klar. Er erkannte, wie sehr er sich zunächst in bezug auf sich selbst getäuscht. Allmählich in diesen letzten Jahren, und immer mehr und mehr, hatte er sich daran gewöhnt, nur sich zu sehen, nur seine Siege, nur seine Triumphe. So war er dahin gekommen, den Erfolgen anderer keine Bedeutung beizulegen, sie zu übersehen, soweit es anging. Gewiß, darüber war kein Zweifel: sein Name war der berühmteste unter allen, sein Erfolg beispiellos, sein Ruhm weiter gedrungen, als der Ruhm irgendeines deutschen Schwimmers bisher... Aber wieviel andere Namen wurden nicht auch neben, nicht mit dem seinen zusammen genannt, wenn man von den Meistern des Schwimmens sprach: alte Namen und neue, alle Tage neue... Er war nicht der einzige, der Meister hieß. Da gab es eine Menge von Meisterschaften, selbst in Deutschland, die in anderen Händen waren, an denen er sich nicht beteiligt hatte, gar nicht hatte beteiligen können, schon allein, weil Zeit und Raumentfernung und Satzungen es verboten. Da gab es ferner die Meisterschaften im Mehrkampf, unter denen er nur eine einzige, die bei seinem ersten und letzten Versuch errungene, sein eigen nannte. Dann endlich die Springmeisterschaften... Doch daran mochte er gar nicht mehr denken!--Also: nicht auf einer Brust wurden alle Ehren vereinigt. Genug, daß die seine die höchsten trug. Er hatte einen Namen, den besten und berühmtesten. Aber es war doch nur ein Name neben und mit anderen. Noch immer der erste. Heute mehr als je der erste, und nach diesem letzten Siege lauter genannt, als jemals zuvor.--Aber wie lange noch?-- Denn auch darin sah Felder jetzt zum ersten Male klar: daß es eine Grenze gab, über die keiner hinauskam. Nie hatte er sich das selbst gegenüber eingestanden, nie daran auch nur denken wollen... Aber jetzt täuschte er sich auch hierin nicht mehr, und manches Wort fiel ihm ein, das Nagel und auch andere schon vor Jahren warnend zu ihm gesprochen. Wie lange dauerte denn die Siegeslaufbahn einer Sportgroße?--So lange, wie seine beste Kraft. Eine Reihe von Jahren, ein paar weniger, ein paar mehr. Aber über ein gewisses Maß ging es nie hinaus. Und im Schwimmen?--Wenn einer dieselben Meisterschaften und einige Wanderpreise drei Jahre hintereinander errang, so war das schon eine große Ausnahme. Meist kam irgendeine andere Kraft dazwischen und entriß sie ihm vor der Entscheidung.--Wenn ein Schwimmer ein paar Jahre lang die Meisterschaft über die kurze oder lange Strecke, oder in irgendeiner besonderen Art des Schwimmens, in der er es zur besonderen Fertigkeit gebracht, behauptete, so war das gerade genug. Sicher war kein Sieg, und je zahlreicher sie sich auf eine Person häuften, um so näher lag die Gefahr, daß diese bald von ihrem Platze verdrängt werden würde. War einer aber gar, wie Felder, jahrelang der überall Siegreiche, überall Gefürchtete und Beneidete gewesen, dann waren sie alle hinter ihm her, sie, die "auch etwas konnten", und es galt, sich zu verteidigen nach links und rechts und keinen der Gegner aus den Augen zu lassen. Das war nicht leicht. Jetzt erst fühlte Felder, wie schwer es war, wieviel schwerer es wurde von Jahr zu Jahr!-- Eine Zeitlang hatte er sich auch hierüber täuschen können. In stolze Sicherheit gewiegt, hatte er sich für unüberwindlich gehalten, bis ihm die Augen geöffnet wurden. In erster Bestürzung wollte er die Schuld einer Abnahme seiner Kraft und sich selbst zuschreiben. Längst wußte er, daß er sich auch darin geirrt. Sein eigener lässiger Hochmut und Dünkel, das waren die hauptsächlichsten Gründe, die alles verschuldet, was geschehen war. Er besaß sie nicht mehr: nicht Hochmut, nicht Dünkel mehr. Er wußte seit langem wieder, was auf dem Spiele stand, und wie es zu ringen galt, um sich auf der neu gewonnenen Höhe zu behaupten. Er war bereit. Wie am ersten Tage der kleine Knabe bereit gewesen war, an seinen ersten kleinen Sieg seine ganze, kleine Kraft zu setzen--so war er willig, jetzt zu ringen um seine letzten Siege. Aber wozu?-- Und für wen?-- Die Freude an Siegen war dahin, die er mit niemandem mehr teilen konnte. Nicht nur mehr gefürchtet und beneidet, gehaßt würden seine Siege werden, wenn er sie in dieser Weise weiter erfocht. Man würde sie ihm erschweren auf alle Weise. Hatte er nicht heute erlebt, wie man wie auf geheime Abmachung hin ihn überall auch dort ostentativ geschnitten, wo er nicht das geringste verschuldet?--Hatte nicht Feindseligkeit, ja Haß gegen den "Einzelschwimmer" in den Blicken gelegen?--Ruhiger geworden, sagte er sich, daß auch der Zufall, der Ausbruch des Regens und andere Umstände mitgewirkt hatten, um ihm diese furchtbare Enttäuschung zu bereiten. Sonst würden doch der eine oder andere von seinen älteren Bekannten aus irgendeinem der befreundeten Klubs und sicherlich auch die passiven Sportfreunde und die Kenner, wie zum Beispiel sein alter Bewunderer, der Berichterstatter des "Welt-Sport", und andere zu ihm gekommen sein. Aber die allgemeine Animosität gegen den "Einzelschwimmer" würde immer bestehen bleiben, und allgemeine Freude würden seine Siege nie mehr hervorrufen. Sollte er immer so stehen bleiben, er, der Einzelne, gegen die geschlossenen Mächte der Klubs? Und die anderen Träume, in die er sich gewiegt in dieser letzten, einsamen Zeit--waren sie nicht ebenso haltlos und töricht?--Nach England wollte er gehen?--Ganz allein, ohne Kenntnis der Sprache in das fremde Land, um dort sich zu messen mit diesen unbekannten Kräften, von denen er nichts wußte, als daß sie die allerersten der Welt waren? Woher sollte er die Mittel zur Reise nehmen? Und selbst wenn er hinging, wenn er alle Schwierigkeiten überwand--was dann, wenn er unterlag und mit Hohn und Spott heimgeschickt wurde?--Dann war es endgültig aus... Oder sollte er wirklich die wahnwitzige Idee zur Ausführung bringen und seine Kunst zum Beruf machen? Dem ganzen Sportwesen den Rücken kehren und als Professional die Welt durchreisen? Jede andere Arbeit aufgeben, sich auf einige Dinge bis zur Abnormität einüben und dann von Stadt zu Stadt und von Land zu Land ziehen und sich als "Artist" anstaunen lassen?--Das war sicherlich die törichtste seiner Einbildungen gewesen, und er lachte sich selbst aus. Das konnte er einfach gar nicht!-- Alles, was also übrigblieb, war, sich noch ein paar Jahre, so lange, wie nur eben möglich, auf der wiedergewonnenen Höhe zu halten, den schmalen, schwindelnden Grat zu verteidigen, bis eines Tages der Abgrund des Vergessens auch ihn verschlang. Denn wie lange konnte die ganze Herrlichkeit noch dauern?--Im besten Falle ein paar Jahre. Dann war auch das vorbei. Dann waren die neuen, frischen, jungen Kräfte ins Feld gerückt, die jetzt bereits in der Stille heranreiften, mit flatternden Fahnen und klingendem Spiel; und wer ihnen nicht selbst klug genug zur rechten Zeit auswich, der wurde einfach überholt, zu Boden gerissen, niedergestampft. Dann würden die ersten wirklichen Niederlagen kommen, die, nach denen es kein Aufstehen mehr gab. Denn während er schon stillstand und über die eigene Kraft nicht mehr hinaus konnte, marschierten jene, und "Platz!--Platz endlich für uns!" war ihr Geschrei. Sie würden siegen, ganz einfach, weil sie jung waren. Ihre neuen Namen würden die alten verschlingen, und noch ein paar Jahre eines letzten, aussichtslosen, verzweifelnden Ringens, in denen der alte Glanz immer mehr und mehr erblaßte,--und alles war vorbei, sie alle miteinander vergessen; und während sie noch weiterlebten, waren sie in Wirklichkeit schon tot, und niemand kümmerte sich mehr um ihre verblaßten Bänder und Medaillen, diese letzten Zeugen einstiger Triumphe, von denen sie nur den geduldigsten ihrer Freunde noch erzählen durften, und auch das nicht, ohne bei ihnen das Gähnen der Langeweile oder das Lächeln des Mitleids hervorzurufen. So war es bei allen. So würde es auch bei ihm, bei Franz Felder, sein!-- Denn es gab keine Ausnahme, _keine_. Bei den meisten bildete die Militärzeit die Grenze. Diese Jahre einer für den Sport brachgelegten Kraft überstanden nur wenige. Das Abschiedsfest, das der Klub alljährlich seinen einberufenen Mitgliedern gab, bedeutete für die meisten von ihnen auch den Abschied von ihrer sportlichen Laufbahn. Nur wenige hatten nach ihrer Rückkehr noch die Kraft und die Lust, die Ziele ihrer Jugend wieder aufzunehmen und sich in neuen Verhältnissen an neue Kämpfe zu wagen. Viele bewahrten der Sache wohl noch ihr Interesse, aber das Leben forderte sie ein, und wie der Student ins Philisterium, so gingen sie in ihren Beruf, und bald in ihm und der neugegründeten Familie auf. Nicht alle. Durchaus nicht alle. Es gab manche, die selbst während dieser Militärzeit noch Energie und Lust gefunden hatten, die alte Fertigkeit nicht ganz einschlafen zu lassen und weiterzupflegen. Sie kehrten zurück und waren nach kurzer Zeit wieder auf der alten Höhe. Manche errangen erst jetzt ihre größten Erfolge; bei anderen wieder schien die Übung "in den Waffen" erst ihre ganze Leibeskraft herausgearbeitet zu haben. Bei Felder traf das alles nicht zu. In seiner ausgesprochenen Einseitigkeit, die nie eine andere Betätigung, als diese eine, erlaubt hatte, die ihn scheitern ließ an jenem Versuch des Springens, graute ihm vor der Zeit, die doch schon so dicht vor ihm lag. Er wußte nicht, wie er sie überstehen sollte: in einer schmutzigen Kaserne ohne Wasser!-- Und wenn er sie überstand--was dann?-- Noch die paar Jahre. Noch eine Zeitlang neue, unerhörte Anstrengungen. Nochmals neue Erfolge, wie dieser heutige, die den verschollenen Namen noch einmal vor die Augen aller stellten, nochmals beneidet, gefürchtet, gehaßt--und dann der unerbittliche Absturz von der Höhe, entweder: schnelles Stürzen oder ein stetes, qualvolles Weichen Schritt für Schritt. Er täuschte sich nicht mehr. Er sah ganz klar. Er wußte, er würde es können: die zwei Dienstjahre überstehen, in neues Training treten und sich noch Jahre--länger als irgendeiner vor ihm--auf ehrenvoller Höhe halten. Er brauchte nicht zu verzweifeln. So groß war seine Liebe zur Sache--er hatte sie erprobt; sie würde ihm auch diesmal helfen. Er wußte, er würde das fast Unmögliche können. _Aber so nicht_. Nicht unter diesen Umständen. Nicht allein, nicht so allein. Es war vergeblich, es zu versuchen. Denn die Freude fehlte, die Freude, die ihm Mut und Kraft verliehen, so hoch zu Steigen, die Freude der Hoffnung, die ihm geholfen, die letzte bittere Zeit zu überstehen: die mit anderen geteilte Freude.-- Aber was sollte denn nun werden?-- Er hatte sich rettungslos verstiegen und wußte nicht mehr, wohin. Wie sollte er nun leben?-- Er fand keine Antwort. 9 Eine unerträgliche Hitze brütete über Berlin. Die Menschen atmeten schwer in dieser Atmosphäre von Staub und Dunst. Felder tat noch seine Arbeit, aber er schwamm nicht mehr. Abends saß er irgendwo und sah vor sich hin, wie ein Mensch, der keinen Ausweg aus seinen Gedanken mehr findet; oder er ging mit demselben starren Blick durch die heißen Straßen, bis er müde wurde. Er lebte, wie er gelebt hatte, die schrecklichen Monate in dieser letzten Zeit, ganz für sich, und doch anders--denn wenn ihn damals noch eine große Hoffnung begleitet hatte, so ging er jetzt ganz allein: er sah und hörte nichts mehr, selbst von dem, was in seiner Welt, der engen, der kleinen und doch für ihn alles bedeutenden, vorging; auch durch die Zeitungen nicht mehr; und die Seite, die dreiundachtzigste in dem kleinen, braunen Buch, das er nicht mehr mit sich trug, blieb leer: die Seite, auf die der größte aller Siege eingezeichnet werden durfte und nicht wurde... Es war alles wie abgeschnitten. Es war alles vorbei.-- Er sprach überhaupt kaum ein Wort mehr. So lebte er noch vierzehn Tage. Dann fühlte er eines Tages, daß er das Leben nicht mehr ertragen konnte. Irgend etwas, er wußte selbst nicht was, war gebrochen in ihm, und damit seine Kraft zum Leben. Er fühlte es deutlich. Es nutzte nichts, dies Denken, um herauszukommen. Er kam nicht darüber hinweg. Es war, als wenn alles tot in ihm wäre: alle Sehnen plötzlich durchschnitten von einer ungeheueren Enttäuschung.-- Es war wieder ein Sonntag, einer dieser leeren, durch keine Arbeit und keine Freude mehr erträglich gemachten Tage, und erwälzte sich auf seinem harten Bett in seinem kleinen Zimmer in dumpfer Verzweiflung hin und her. Was sollte er tun?--Er wußte es nicht mehr. Er hatte keine Eltern, keine Geschwister, keine Freunde, keine Geliebte mehr. Sinnlos war sein Leben geworden, zwecklos und freudlos. Und wie er mit den Händen schlug, raschelte etwas auf ihn nieder: verdorrte Lorbeerblätter, die beim Niederfallen in Staub zerfielen. Er nahm die Spreu in die Hand. Es war sein erster Siegeskranz: erfochten als Knabe in dem ersten kleinen Schwimmen, seinem ersten schüchternen Versuch, seinem ersten Siege. Und wie er sah, was es war, was er in seiner Hand hielt, da sah er zugleich sich und sein ganzes Leben; und es schien ihm, als seien alle diese Kränze, die bedruckten und beschriebenen Urkunden, diese Bilder an den Wänden, zerstaubt, zerfallen und zu nichts geworden, wie dieser hier, und nichts von allem übriggeblieben, als ein kleiner Haufen dürren Staubes, zu dem am Ende alles Leben wird. Da wandte er sich ab von diesen zerfallenden und leblosen Dingen, diesen modernden Leichen des Gewesenen, und eine schreckliche Sehnsucht nach dem, was allein noch Leben für ihn war, ergriff ihn. Er kleidete sich hastig an und ließ alles hinter sich.-- Er ging den ganzen Nachmittag durch die Hitze und den Staub und das Menschengewühl des Sonntags: durch den Park von Treptow, grau und nüchtern unter dem Sommerstaube, an den Eierhäuschen an der Spree vorbei, teils am Ufer, dann auf der trostlosen Landstraße, die bedeckt war mit Fuhrwerken und Radlern, bis Köpenick, wo er in dem Vorgarten irgendeiner Wirtschaft ein Glas Bier trank. Und so ging er weiter, bis er nach Grünau kam--Stunde auf Stunde ging er so den langen, dunstigen Nachmittag, und überall, wo er hinkam, waren die Gärten voll von Menschen, und auf den dämmernden Uferwegen tauchten immer neue Gestalten auf, die sich noch nicht entschließen konnten, die köstliche Frische des Abends einzutauschen gegen die dumpfe Häusermasse der großen Stadt. Er aber mußte allein sein, ganz allein, und so ging er, ohne Hunger und Durst zu empfinden, durch Grünau und vorbei an dem Sportplatz, der dunkel und leer dalag; und sein Herz war so müde und mutlos, daß es selbst hier nicht einmal mehr höher schlug ... weiter und weiter, immer an den wegelosen Ufern der weiten Seen entlang... Endlich war er allein. Endlich begegnete ihm niemand mehr. Es war spät in der Nacht. Kein lebendes Wesen zeigte sich hier mehr in dem weiten Umkreise von Himmel, Wald und Wasser... Da stand er still und entledigte sich seiner Kleider. Nackt stand er da, und die Luft der Nacht umspielte seinen heißen, staub- und schweißbedeckten Körper. Langsam trat Franz Felder zum Wasser und sah es an, nachdem er den ganzen Nachmittag--und wie lange vorher schon!--seinen Anblick gemieden. Aber zum ersten Male schien es ihm, als würde sein Gruß nicht erwidert. Stumm und gleichgültig lag es da. Warum vernahm es denn nicht die stumme Bitte seiner Verzweiflung?-- Und zögernd, fast ängstlich, setzte er Fuß vor Fuß, bis es seine Knie erreichte, versank dann in den Schlamm und umarmte es leise. Nackt, wie damals als kleiner Knabe, schmiegte er sich an seine dunkle Brust. Und schwamm. Behutsam, wie um es nicht zu kränken, schwamm er bis in die Mitte des Sees, bis dahin, wo es am tiefsten war. Dort wartete er: ließ sich sinken und verschwand tief unter der Oberfläche. Aber das Wasser trieb ihn empor, und wieder lag der Himmel über ihm, tiefblau, und der Mond und die glitzernden Sterne. Begriff es denn nicht, was er heute von ihm wollte?-- Das Wasser war sein Freund gewesen, sein bester Freund, von jeher. Es hatte den kleinen Kerl, der noch fast nicht gehen konnte, liebreich getragen, wie es nur die trägt, die es liebt gleich seinen eigenen Wesen, und seine Liebe war ihm treu geblieben während seines Lebens bis heute. Der ehrgeizige Ungestüm des Knaben und der ungeduldige Groll des Jünglings hatten sie nicht zu vermindern vermocht. Alles hatte es seinem Liebling gegeben, was es überhaupt geben konnte: Frische, Gesundheit, Kraft und Ruhm und unendliche Freuden, die sich erneuten von Tag zu Tag: und alles hatte Felder genommen als etwas Selbstverständliches, wie andere Kinder die Liebe der Eltern nehmen. Nun kam er noch einmal zu ihm, um bei ihm die letzte Erlösung--vom Leben--zu suchen. Aber das Wasser nahm ihn nicht. Es schien nicht zu begreifen, was er so plötzlich von ihm wollte; und als könne er gar nichts anderes, als Lust und Freude bei ihm suchen, so trug und wiegte und umschmeichelte es ihn, gleich als sei es froh, ihn so versöhnt wieder zu haben nach der langen Zeit der Entfremdung... Und Felder empfand die kühle und linde Berührung mit erschauernder Wonne, und noch einmal vergaß er die schwere Erde, ihre Kämpfe und ihr unerträgliches Leid und gab sich ganz der starken und reinen Umarmung des Wassers hin. Das war nicht mehr der Meister, der große Schulschwimmer, der "Champion of the World", der in dieser nächtlichen Stunde weit da draußen und ganz allein seine Kunst übte; das war der Freund, der wieder zum Freunde kam, um ihm seinen Kummer und seine Sorgen anzuvertrauen und auszuruhen an seiner Brust von der Mühsal des Lebens. Und so schwamm Felder zum letzten Male: ohne an etwas anderes zu denken, als an die Lust dieser Stunde, ließ er sich treiben, breitete nur zuweilen die Arme, als wolle er die silbernen Wellen fassen und an sich ziehen; ließ das Wasser durch seine halbgeöffneten Lippen dringen und erwiderte Umarmung und Kuß. Und wie er sich wandte und drehte, sich bald auf den Rücken legte, bald hier untertauchte und dort wieder emporkam, empfand er noch einmal die ganze Seligkeit, die ihm das Wasser gegeben, die himmlische Leichtigkeit, mit der es ihn trug... Lange schwamm er so...-- Aber dann wurde sein Herz bei dem plötzlichen Gedanken an die Erde wieder schwer. Doch die Schwere seines Herzens zog ihn nicht hinunter. Und da begriff er, daß ihn dieses Element nie töten würde, dieses Element, das ihn liebte und das sein Leben wollte, nicht seinen Tod. So unermeßlich stark, daß es ihn mit einem Schlage hätte niederstrecken können, war es doch schwach ihm gegenüber, der der Stärkere war, weil er geliebt wurde... Endlich begriff er, weshalb es so war und immer so gewesen war, begriff seine ganze eigene Schwäche und die ungeheure Stärke dieser Liebe!-- Da schwamm er zurück zum Ufer, entnahm seinen Kleidern sein Taschenmesser, öffnete es und durchschnitt beim hellen Lichte des Mondes mit schnellem, scharfem Schnitt die Pulsadern seiner rechten Hand, ganz nahe der Stelle, wo die Narbe war, die das Armband zurückgelassen. Sein Blut spritzte empor und er empfand einen kurzen, heftigen Schmerz. Von neuem warf er sich ins Wasser und erreichte mit wenigen hastigen Schlägen fast noch die Mitte des Sees. Sein rotes, warmes Blut mischte sich mit der warmen, schwarzen Flut. Er fühlte, wie mit ihm seine Kraft schwand. Noch einmal breitete er die Arme weit auseinander, warf sich in der jähen Angst des Todes herum und griff um sich, als wollte er sich halten. Aber zum ersten Male ließ das Wasser ihn fallen, und er sank. Den Lebenden hatte es geliebt. Der Tote war ihm nichts als eine Last, die es achtlos in seinen Tiefen begrub. ***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SCHWIMMER*** ******* This file should be named 15068-8.txt or 15068-8.zip ******* This and all associated files of various formats will be found in: https://www.gutenberg.org/dirs/1/5/0/6/15068 Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. 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8926-8
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IN ST. JÜRGEN von THEODOR STORM Novelle (1867) Es ist nur ein schmuckloses Städtchen, meine Vaterstadt; sie liegt in einer baumlosen Küstenebene, und ihre Häuser sind alt und finster. Dennoch habe ich sie immer für einen angenehmen Ort gehalten, und zwei den Menschen heilige Vögel scheinen diese Meinung zu teilen. Bei hoher Sommerluft schweben fortwährend Störche über der Stadt, die ihre Nester unten auf den Dächern haben; und wenn im April die ersten Lüfte aus dem Süden wehen, so bringen sie gewiß die Schwalben mit, und ein Nachbar sagt's dem andern, daß sie gekommen sind.--So ist es eben jetzt. Unter meinem Fenster im Garten blühen die ersten Veilchen, und drüben auf der Planke sitzt auch schon die Schwalbe und zwitschert ihr altes Lied: Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm; und je länger sie singt, je mehr gedenke ich einer längst Verstorbenen, der ich für manche gute Stunde meiner Jugend zu danken habe. Meine Gedanken gehen die lange Straße hinauf bis zum äußersten Ende, wo das St.-Jürgens-Stift liegt; denn auch unsere Stadt hat ein solches, wie im Norden die meisten Städte von einiger Bedeutung. Das jetzige Haus ist im sechzehnten Jahrhundert von einem unserer Herzöge erbaut und durch den Wohltätigkeitssinn der Bürger allmählich zu einem gewissen Reichtum gediehen, so daß es nun für alte Menschen, die nach der Not des Lebens noch vor der ewigen Ruhe den Frieden suchen, einen gar behaglichen Aufenthaltsort bildet.--Mit der einen Seite streckt es sich an dem St.-Jürgens-Kirchhof entlang, unter dessen mächtigen Linden schon die ersten Reformatoren gepredigt haben; die andere liegt nach dem innern Hofe und einem angrenzenden schmalen Gärtchen, aus dem in meiner Jugendzeit die Pfründnerinnen sich ihr Sträußchen zum sonntäglichen Gottesdienste pflückten. Unter zwei schweren gotischen Giebeln führt ein dunkler Torweg von der Straße her in diesen Hof, von welchem aus man durch eine Reihe von Türen in das Innere des Hauses, zu der geräumigen Kapelle und zu den Zellen der Stiftsleute gelangt. Durch jenes Tor bin ich als Knabe oft gegangen; denn seitdem, lange vor meiner Erinnerung, die große St.-Marien-Kirche wegen Baufälligkeit abgebrochen war, wurde der allgemeine Gottesdienst viele Jahre hindurch in der Kapelle des St.-Jürgens-Stiftes gehalten. Wie oft zur Sommerzeit, ehe ich in die Kapellentür trat, bin ich in der Stille des Sonntagsmorgens zögernd auf dem sonnigen Hofe stehengeblieben, den von dem nebenliegenden Gärtchen her, je nach der Jahreszeit, Goldlack-, Nelken- oder Resedaduft erfüllte.--Aber dies war nicht das einzige, weshalb mir derzeit der Kirchgang so lieblich schien; denn oftmals, besonders wenn ich ein Stündchen früher auf den Beinen war, ging ich weiter in den Hof hinab und lugte nach einem von der Morgensonne beleuchteten Fensterchen im obern Stock, an dessen einer Seite zwei Schwalben sich ihr Nest gebaut hatten. Der eine Fensterflügel stand meistens offen; und wenn meine Schritte auf dem Steinpflaster laut wurden, so bog sich wohl ein Frauenkopf mit grauem glattgescheiteltem Haar unter einem schneeweißen Häubchen daraus hervor und nickte freundlich zu mir herab. "Guten Morgen, Hansen", rief ich dann; denn nur bei diesem, ihrem Familiennamen, nannten wir Kinder unsere alte Freundin; wir wußten kaum, daß sie auch noch den wohlklingenden Namen "Agnes" führte, der einst, da ihre blauen Augen noch jung und das jetzt graue Haar noch blond gewesen, gar wohl zu ihr gepaßt haben mochte. Sie hatte viele Jahre bei der Großmutter gedient und dann, ich mochte damals in meinem zwölften Jahre sein, als die Tochter eines Bürgers, der der Stadt Lasten getragen, im Stifte Aufnahme gefunden. Seitdem war eigentlich für uns aus dem großmütterlichen Hause die Hauptperson verschwunden; denn Hansen wußte uns allezeit, und ohne daß wir es merkten, in behagliche Tätigkeit zu setzen; meiner Schwester schnitt sie die Muster zu neuen Puppenkleidern, während ich mit dem Bleistift in der Hand nach ihrer Angabe allerlei künstliche Prendelschrift anfertigen oder auch wohl ein jetzt selten gewordenes Bild der alten Kirche nachzeichnen mußte, das in ihrem Besitze war. Nur eines ist mir später in diesem Verkehr aufgefallen; niemals hat sie uns ein Märchen oder eine Sage erzählt, an welchen beiden doch unsere Gegend so reich ist; sie schien es vielmehr als etwas Unnützes oder gar Schädliches zu unterdrücken, wenn ein anderer von solchen Dingen anheben wollte. Und doch war sie nichts weniger als eine kalte oder phantasielose Natur. --Dagegen hatte sie an allem Tierleben ihre Freude; besonders liebte sie die Schwalben und wußte ihren Nesterbau erfolgreich gegen den Kehrbesen der Großmutter zu verteidigen, deren fast holländische Sauberkeit sich nicht wohl mit den kleinen Eindringlingen vertragen konnte. Auch schien sie das Wesen dieser Vögel genauer beobachtet zu haben. So entsinne ich mich, daß ich ihr einst eine Turmschwalbe brachte, die ich wie leblos auf dem Steinpflaster des Hofes gefunden hatte. "Das schöne Tier wird sterben", sagte ich, indem ich traurig das glänzende braunschwarze Gefieder streichelte; aber Hansen schüttelte den Kopf. "Die?" sagte sie, "das ist die Königin der Luft; ihr fehlt nichts als der freie Himmel! Die Angst vor einem Habicht wird sie zu Boden geworfen haben; da hat sie mit den langen Schwingen sich nicht helfen können." Dann gingen wir in den Garten; ich mit der Schwalbe, die ruhig in meiner Hand lag, mich mit den großen braunen Augen ansehend. "Nun wirf sie in die Luft!" rief Hansen. Und staunend sah ich, wie, von meiner Hand geworfen, der scheinbar leblose Vogel gedankenschnell seine Schwingen ausbreitete und mit hellem Zwitscherlaut wie ein befiederter Pfeil in dem sonnigen Himmelsraum dahinschoß. "Vom Turm aus", sagte Hansen, "solltest du sie fliegen sehen; das heißt von dem Turm der alten Kirche, der noch ein Turm zu nennen war." Dann, mit einem Seufzer meine Wangen streichelnd, ging sie ins Haus zurück an die gewohnte Arbeit. "Weshalb seufzt denn Hansen so?" dachte ich.--Die Antwort auf diese Frage erhielt ich erst viele Jahre später, aus einem mir damals gänzlich fremden Munde. Nun war sie in den Ruhestand versetzt, aber ihre Schwalben hatten sie zu finden gewußt, und auch wir Kinder wußten sie zu finden. Wenn ich am Sonntagmorgen vor der Kirchzeit in das saubere Stübchen der alten Jungfrau trat, pflegte sie schon im feiertäglichen Anzuge vor ihrem Gesangbuche zu sitzen. Wollte ich dann neben ihr auf dem kleinen Kanapee Platz nehmen, so sagte sie wohl: "Ei was, da siehst du ja die Schwalben nicht!" Dann räumte sie einen Geranien- oder einen Nelkenstock von der Fensterbank und ließ mich in der tiefen Fensternische auf ihrem Lehnstuhl niedersetzen. "Aber so fechten mit den Armen darfst du nicht", fügte sie dann lächelnd hinzu; "so junge muntere Gesellen sehen sie nicht alle Tage!" Und dann saß ich ruhig und sah, wie die schlanken Vögel im Sonnenscheine ab und zu flogen, ihr Nest bauten oder ihre Jungen fütterten, während Hansen mir gegenüber von der Herrlichkeit der alten Zeit erzählte; von den Festen im Hause meines Urgroßvaters, von den Aufzügen der alten Schützengilde oder--und das war ihr Lieblingsthema--von der Bilder- und Altarpracht der alten Kirche, in der sie selbst noch zur Enkelin des letzten Türmers Gevatter gestanden hatte; bis dann endlich von der Kapelle her der erste Orgelton zu uns herüberbrauste. Dann stand sie auf, und wir gingen miteinander durch einen schmalen endlosen Korridor, welcher nur durch die verhangenen Türfensterchen der zu beiden Seiten liegenden Zellen ein karges Dämmerlicht empfing. Hier und dort öffnete sich eine dieser Türen, und in dem Schein, der einige Augenblicke die Dunkelheit unterbrach, sah ich alte, seltsam gekleidete Männer und Frauen auf den Gang hinausschlurfen, von denen die meisten wohl schon vor meiner Geburt aus dem Leben der Stadt entschwunden waren. Gern hätte ich dann dies oder jenes gefragt; aber auf dem Wege zur Kirche hatte ich von Hansen keine Antwort zu erwarten; und so gingen wir denn schweigend weiter, am Ende des Ganges Hansen mit der alten Gesellschaft auf einer Hintertreppe nach unten zu den Plätzen der Stiftsleute, ich oben auf das Chor, wo ich träumend dem sich drehenden Glockenspiel der Orgel zusah und, wenn unser Propst die Kanzel bestiegen hatte--ich will es gestehen--, seine gewiß wohlgesetzte Predigt meist nur wie ein eintöniges Wellengeräusch und wie aus weiter Ferne an mein Ohr dringen fühlte; denn unter mir, gegenüber, hing das lebensgroße Porträt eines alten Predigers mit langen schwarzkrausen Haaren und seltsam geschorenem Schnurrbart, das bald meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen pflegte. Mit den melancholischen schwarzen Augen blickte es so recht wie aus der dumpfen Welt des Wunder- und Hexenglaubens in die neue Zeit hinauf und erzählte mir weiter von der Stadt Vergangenheit, wie es in den Chroniken zu lesen stand, bis hinab zu dem bösen Stegreifjunker, dessen letzte Untat einst das Epitaphium des Ermordeten in der alten Kirche berichtet hatte.--Freilich, wenn dann plötzlich die Orgel das "Unsern Ausgang segne Gott" einsetzte, so schlich ich mich meist verstohlen wieder ins Freie; denn es war kein Spaß, dem Examen meiner alten Freundin über die gehörte Predigt standhalten zu müssen. Von ihrer eigenen Vergangenheit pflegte Hansen nicht zu erzählen; ich war schon ein paar Jahre lang Student gewesen, als ich bei einem Ferienbesuch in der Heimat darüber zum ersten Mal etwas von ihr erfuhr. Es war im April, an ihrem fünfundsechzigsten Geburtstage. Wie in früheren Jahren, so hatte ich ihr auch heute die beiden hergebrachten Dukaten von der Großmutter und einige kleine Geschenke von uns Geschwistern überbracht und war von ihr mit einem Gläschen Malaga bewirtet worden, den sie für solche Tage in ihrem Wandschränkchen aufbewahrte. Nachdem wir ein Weilchen geplaudert hatten, bat ich sie, mir heute, wie ich schon lange gewünscht, den Festsaal zu zeigen, in dem seit Jahrhunderten die Vorsteher der Stiftung nach der jährlichen Rechnungsablage ihre Schmäuse zu feiern pflegten. Hansen willigte ein, und wir gingen miteinander den dunkeln Korridor entlang; denn der Saal lag jenseits der Kapelle am andern Ende des Hauses. Als ich beim Hinabsteigen der Hintertreppe ausglitt und die letzten Stufen hinabstolperte, wurde unten auf dem Flur eine Tür aufgerissen, und der unheimliche nackte Kopf eines neunzigjährigen Mannes reckte sich daraus hervor. Er murmelte ein paar halbverständliche Scheltworte und stierte uns dann, bis wir durch die Tür der Kapelle traten, mit den verglasten Augen nach. Ich kannte ihn wohl; die Stiftsleute hießen ihn den "Spökenkieker"; denn sie behaupteten, er könne "was sehen". "Die Augen könnten einen fürchten machen", sagte ich zu Hansen, als wir durch die Kapelle gingen. Sie meinte: "Er sieht dich gar nicht; er sieht nur noch rückwärts in sein eignes törichtes und sündhaftes Leben." "Aber", erwiderte ich scherzend, "er sieht doch dort in der Ecke die offenen Särge stehen, während die darin liegen, noch lebend unter euch umherwandern." "Das sind auch nur Schatten, mein Kind; er tut nichts Arges mehr. Freilich", setzte sie hinzu, "ins Stift gehörte er nicht und hat auch nur auf eine der Freistellen des Amtmanns hineinschlüpfen können; denn wir andern müssen unsere bürgerliche Reputation nachweisen, ehe wir hier angenommen werden." Wir hatten inzwischen den Schlüssel bei der Wirtschafterin abgelangt und stiegen nun die Treppe zu dem Festsaal hinauf.--Es war nur ein mäßig großes, niedriges Gemach, das wir betraten. An der einen Wand sah man eine altertümliche Stutzuhr aus dem Nachlaß einer hier Verstorbenen, an der gegenüberstehenden hing das lebensgroße Bild eines Mannes in einfachem rotem Wams; sonst war das Zimmer ohne Schmuck. "Das ist der gute Herzog, der das Stift gebaut hat", sagte Hansen; "aber die Menschen genießen seine Gaben und denken nicht mehr an ihn, wie er es doch bei seiner Lebzeit wohl gewünscht hat." "Aber du gedenkst ja seiner, Hansen." Sie sah mich mit ihren sanften Augen an. "Ja, mein Kind", sagte sie, "das liegt so in meiner Natur; ich kann nur schwer vergessen." Die Wände nach der Straße und nach dem Kirchhofe hatten eine Reihe Fenster mit kleinen in Blei gefaßten Scheiben; und in jeder fast war ein Name, meist aus mir bekannten angesehenen Bürgerfamilien, mit schwarzer Farbe eingebrannt; darunter: "Speisemeister dahier Anno--", und dann folgte die betreffende Jahreszahl. "Siehst du, das ist dein Urgroßvater", sagte Hansen, indem sie auf eine dieser Scheiben wies; "den vergesse ich auch nicht; mein Vater hat bei ihm die Handlung gelernt und später oft Rat und Tat bei ihm geholt; leider, in der schwersten Zeit, da hatte er schon seine Augen zugetan." Ich las einen andern Namen: "Liborius Michael Hansen, Speisemeister Anno 1799." "Das war mein Vater!" sagte Hansen. "Dein Vater? Wie kam es denn eigentlich--?" "Daß ich mein halbes Leben gedient habe, meinst du, während ich doch zu den Honoratiorentöchtern gehörte?" "Ich meine, was war es eigentlich wodurch das Unglück über deine Familie kam?" Hansen hatte sich auf einen der alten Lederstühle gesetzt. "Das war nichts Besonderes, mein Kind", sagte sie; "es war Anno sieben, zur Zeit der Kontinentalsperre; damals florierten die Spitzbuben, und die ehrlichen Leute gingen zugrunde. Und ein ehrlicher Mann war mein Vater!--Er hat den Namen auch mit ins Grab genommen", fuhr sie nach einem kurzen Schweigen fort. "Ich sehe es noch, wie er mir einst, da wir miteinander durch die Krämerstraße gingen, ein altes, nun längst verschwundenes Haus zeigte. "Merke dir das", sagte er zu mir, "hier wohnte Anno 1549, da am Sonntage Jubilate die große Feuersbrunst ausbrach, der fromme Kaufmann Meinke Graveley. Da die Flammen heranbrausten, sprang er mit Elle und Waage auf die Gasse und flehte zu Gott, wenn er je mit Wissen und Willen seinen Nächsten um eines Körnleins Wert geschädiget, so möge sein Haus nicht verschont bleiben. Aber die Flamme sprang darüber hin, während alles rings in Asche fiel. "Siehst du, mein Kind", setzte mein Vater hinzu, indem er seine Hände in die Höhe hob, "das könnte auch ich tun; und auch über unser Haus würde die Strafe des Herrn hinweggehen."--Hansen sah mich an. "Der Mensch soll sich nicht rühmen", sagte sie dann. "Du bist nun alt genug, daß ich dir es wohl erzählen mag; du mußt doch von mir wissen, wenn ich nicht mehr bin. --Mein guter Vater hatte eine Schwäche; er war abergläubig. Diese Schwäche brachte ihn dahin, daß er in den Tagen der äußersten Not etwas beging, das ihm bald das Herz brach; denn er konnte seitdem die Geschichte von dem frommen Kaufmann nicht mehr erzählen. In dem Hause neben uns wohnte ein Tischlermeister. Als er mit seiner Frau frühzeitig verstarb, wurde mein Vater der Vormund seines nachgelassenen Sohnes. Harre--diesen friesischen Namen führte der Knabe--las gern in den Büchern und war auch schon in der Tertia unserer Lateinischen Schule; aber die Mittel reichten doch nicht zum Studieren; und so blieb er denn bei dem Handwerk seines Vaters. Als er später Geselle wurde und nach zweijähriger Wanderung wieder eine Zeitlang bei einem Meister gearbeitet hatte, wurde es auch bald bekannt, daß er zu den feineren Arbeiten in seinem Fach ein besonderes Geschick habe. Wir beide waren miteinander aufgewachsen; als er noch in der Lehre war, las er mir oft aus den Büchern vor, die er sich von seinen früheren Schulkameraden geliehen hatte. Du weißt, wir wohnten am Markt in dem Erkerhause dem Rathause gegenüber; da steht noch jetzt ein mächtiger Buchsbaum im Garten. Wie oft haben wir mit unserem Buche unter diesem Baum gesessen, während über uns die Bienen in den kleinen grünen Blüten summten!--Nach seiner Rückkehr war das nicht anders geworden, er kam oft in unser Haus; mit einem Wort, mein lieber Junge, wir beiden hatten uns gern und suchten das auch nicht zu verbergen. Meine Mutter lebte nicht mehr; was mein Vater dazu dachte und ob er überhaupt etwas darüber gedacht, das hab ich nie erfahren. Auch kam es nicht so weit, daß es ein rechtes Verlöbnis wurde. Eines Morgens in den ersten Frühlingstagen war ich in unsern Garten gegangen; die Krokus und die roten Leberblumen schickten sich schon an zu blühen, es war alles ringsumher so jung und frisch; aber mir selbst war schwer zu Sinne; die Sorgen meines Vaters drückten auch mich. Obwohl er niemals über seine Angelegenheiten zu mir geredet, so fühlte ich doch, daß es immer schneller abwärts ging. In den letzten Monaten hatte ich den Stadtdiener oft und öfter in die Schreibstube gehen sehen; war er fort, so verschloß mein Vater sich stundenlang; und von manchem Mittagessen stand er auf, ohne die Speisen berührt zu haben. In der letzten Woche hatte er einen ganzen Abend damit zugebracht, sich die Karten zu legen; auf meine wie im Scherz hingeworfene Frage, worüber er denn Auskunft von seinem Orakel erwarte, hatte er mich stumm mit der Hand zurückgewiesen und war dann später mit einem kurzen "Gute Nacht" in seine Kammer gegangen. Das alles lag mir auf dem Herzen; und meine Augen, die nach innen sahen, wußten nichts von dem klaren Sonnenschein, der draußen die ganze Welt verklärte. Da hörte ich unten von der Marsch herauf die Lerchen singen; und du weißt es ja wohl, mein Kind, in der Jugend ist das Herz noch so leicht, der kleinste Vogel trägt es mit empor. Mir war plötzlich, als sähe ich über allen Dunst der Sorge hinweg in eine sonnige Zukunft; als brauchte ich nur den Fuß hineinzusetzen. Ich weiß noch, wie ich an den Beeten hinkniete und mit welcher Freude ich nun die Knospen und das junge Grün betrachtete, das überall aus dem Schoß der Erde hervortrieb. Ich dachte auch an Harre und zuletzt, glaub ich, nur an ihn. Indem hörte ich die Gartentür aufklinken, und wie ich aufsah, kam er selber mir entgegen. Ob auch ihn die Lerche froh gemacht hatte--er sah aus wie die Hoffnung selbst. "Guten Morgen, Agnes", rief er, "weiß du was Neues--?" "Ist's denn was Gutes, Harre?" "Versteht sich, was sollt es sonst wohl sein! Ich will Meister werden und das in allernächster Zeit." Kannst du wohl denken, daß ich ordentlich erschrak! Denn ich dachte doch gleich: Mein Gott, nun braucht er auch die Frau Meisterin! Ich mag wohl ganz verdutzt ausgesehen haben; denn Harre fragte mich: "Fehlt dir etwas, Agnes?" "Mir, Harre? Ich glaube nicht", sagte ich. "Der Wind wehte so kühl über mich hin."--Das war nun wohl gelogen; allein der liebe Gott hat es nun einmal so eingerichtet, daß wir in solchem Fall nicht sagen können, was der andere eben hören will. "Aber mir fehlt nun etwas", sagte Harre, "das Allerbeste fehlt mir!" Ich antwortete nichts hierauf, kein Wörtlein. Auch Harren ging eine Weile schweigend neben mir; dann fragte er auf einmal: "Was meinst du, Agnes, ob es wohl schon geschehen ist, daß eine Krämerstochter einen Tischlermeister geheiratet hat?" Als ich aufsah und er mich mit seinen guten braunen Augen so bittend anblickte, da gab ich ihm die Hand und sagte ebenso: "Das wird wohl nun zum erstenmal geschehen." "Agnes", rief Harre, "was werden die Leute sagen!" "Ich weiß nicht, Harre.--Aber wenn nun die Krämerstochter arm wäre?" "Arm, Agnes?" und er faßte mich so recht lustig bei beiden Händen, "ist denn jung und hübsch noch nicht genug?" Es war ein glücklicher Tag damals; die Frühlingssonne schien, wir gingen Hand in Hand; und während wir schwiegen, sangen über uns die Lerchen aus tausend hellen Kehlen. So waren wir unmerklich an den Brunnen gekommen, der an der Holunderwand des Gartens dem Hause gegenüber lag. Ich blickte über die Brettereinfassung in die Tiefe hinab. "Wie drunten das Wasser glitzert!" sagte ich. Das Glück macht mutwillig; Harre wollte mich necken. "Das Wasser?" sagte er. "Das ist das Gold, das aus der Tiefe funkelt." Ich wußte nicht, was er damit meinte. "Weißt du denn nicht, daß ein Schatz in eurem Brunnen liegt?" fuhr er fort. "Guck nur genau zu; es sitzt ein graues Männlein mit dreieckigem Hut auf dem Grunde. Vielleicht ist's auch nur das brennende Licht in seiner Hand, das drunten so seltsam glitzert; denn er ist der Hüter des Schatzes." Mir flog die Not meines Vaters durch den Sinn. Harre hob einen Stein auf und warf ihn hinab, und es dauerte eine Weile, ehe ein dumpfer Schall zu uns zurückkam. "Hörst du, Agnes?" sagte er, "das traf auf die Kiste." "Harre, red vernünftig!" rief ich, "was treibst du für Narrenspossen!" "Ich spreche nur nach, was die Leute vorsprechen!" erwiderte er. Aber meine Neugierde war geweckt, vielleicht auch die Begierde nach den unterirdischen Reichtümern, die aller Not ein Ende machen konnten. "Woher hast du das Gerede?" fragte ich nochmals, "ich habe doch nie davon gehört." Harre sah mich lachend an: "Was weiß ich! von Hans oder Kunz, ich glaub, am letzten Ende kommt es von dem Halunken, dem Goldmacher." "Von dem Goldmacher?"--Mir kamen allerlei Gedanken. Der Goldmacher war ein herabgekommener Trödler; er konnte segnen und raten, Menschen und Vieh besprechen und alle die andern Geheimnisse, womit derzeit noch bei den Leichtgläubigen ein einträgliches Geschäft zu machen war. Es ist derselbe, den sie jetzt den Spökenkieker nennen, welchen Namen er grade so gut wie seinen damaligen verdient hat. Er war in den letzten Tagen, da ich eben auf der Außendiele zu tun hatte, ein paarmal in meines Vaters Schreibstube gegangen und hatte sich dann, ohne auf sein demütig gesprochenes "Herr Hansen bei der Hand?" meine Antwort abzuwarten, mit scheuem Blick an mir vorbeigeschoben. Einmal war er fast eine Stunde drinnen gewesen; kurz vor seinem Fortgehen hatte ich das mir wohlbekannte Pult meines Vaters aufschließen hören; dann war mir gewesen, als vernehme ich das Klirren von Geldstücken. Das alles kam mir jetzt in den Sinn. Aber Harre rüttelte mich auf. "Agnes, träumst du?" rief er, "Oder willst du Schätze graben?" Ach, er kannte nicht die Not meines Vaters; ihm lag nur die eigene Zukunft in Gedanken, in die auch ich hineingehörte. Er ergriff meine beiden Hände und rief fröhlich: "Wir brauchen keine Schätze, Agnes; mein kleines Erbteil hat dein Vater schon für mich erhoben; das reicht hin, um Haus und Werkstatt einzurichten. Und für das Weitere", fügte er lächelnd hinzu, "laß diese nicht ganz ungeschickten Hände sorgen!" Ich vermochte seine hoffnungsreichen Worte nicht zu erwidern; der Schatz und der Goldmacher lagen mir im Sinn; ich weiß nicht, war es eine tollkühne Hoffnung oder der Schatten eines drohenden Unheils, was mir die Brust beklemmte. Vielleicht ahnte es mir, daß kurz darauf der Schatz meines ganzen Lebens in diesen Brunnen fallen würde. Am andern Tage war ich nach einem benachbarten Dorfe hinausgefahren, wo die uns verwandte Predigerfrau sich wegen Erkrankung eines Kindes meine Hülfe erbeten hatte. Aber ich hatte keine Ruhe dort; mein Vater war in den letzten Tagen so still und doch wieder so unruhig gewesen; ich hatte ihn im Garten auf und ab rennen, dann wieder am Brunnen stehen und in die Tiefe hinabstarren sehen; mir wurde angst, er könne sich ein Leides antun. Am dritten Tage glaubte ich mich zu entsinnen, daß er mich auf eine seltsam hastige Weise zu der Reise hingedrängt hatte; je mehr es gegen die Nacht ging, je beklommener wurde mir. Da gegen zehn Uhr der Mond aufging, so bat ich meinen Vetter, mich noch heute zur Stadt fahren zu lassen. Und so geschah es; nachdem er mir vergebens meine Unruhe auszureden gesucht hatte, wurde angespannt; und als es Mitternacht vom Turme schlug, hielt der Wagen vor unserm Hause. Es schien alles zu schlafen; erst als ich eine Zeitlang geklopft hatte, wurde drinnen die Kette abgehakt, und der Lehrling, der seine Kammer unten auf dem Flur hatte, öffnete die Haustür. Es war alles, wie es immer gewesen. "Ist der Herr zu Haus?" fragte ich. "Der Herr ist schon um zehn Uhr schlafen gegangen", war die Antwort. Ich stieg leichteren Herzens nach meiner Kammer hinauf, deren Fenster nach dem Garten lagen.--Die Nacht draußen war so hell, daß ich, ohne Licht zu machen, noch einmal ans Fenster trat. Der Mond stand über der Holunderwand, deren noch unbelaubte Zweige sich scharf gegen den Nachthimmel abzeichneten; und meine Gedanken gingen mit meinen Augen über diese Erde hinaus zu dem großen liebreichen Gott, dem ich all meine Sorgen anvertraute.--Da, wie ich eben in das Zimmer zurücktreten wollte, sah ich plötzlich aus der Röhre des Brunnens, welcher dort im Schatten lag, eine rote Glut emporlodern; ich sah die am Rande wuchernden Grasbüschel und dann darüberher die Zweige des Gebüsches wie in goldenem Feuer schimmern. Mich überfiel eine abergläubische Furcht; denn ich dachte an die Kerze des grauen Männleins, das drunten auf dem Grunde hocken sollte. Als ich aber schärfer hinblickte, bemerkte ich eine Leiter an der Brunnenwand, von der jedoch nur das oberste Ende von hier aus sichtbar war. Im selben Augenblicke hörte ich einen Schrei aus der Tiefe; dann ein Gepolter; und ein dumpfes Getöse von Menschenstimmen scholl herauf. Mit einem Male erlosch die Helligkeit; und ich hörte deutlich, wie es sprossenweise an der Leiter emporklomm. Die Gespensterfurcht verließ mich; aber statt dessen beschlich mich eine unklare Angst um meinen Vater. Mit zitternden Knien ging ich nach seiner Schlafkammer, die neben der meinen lag. Als ich behutsam die Gardine von seinem Bette zurückzog, da beschien der Mond die leeren Kissen; sein armer Kopf hatte wohl schon längst nicht mehr die Ruhe darauf gefunden; jetzt waren sie gänzlich unberührt. In Todesangst lief ich die Treppe hinab nach der Hoftür; aber sie war verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Ich ging in die Küche und zündete Licht an; dann nach der Schreibstube, die ebenfalls ihre Fenster nach dem Garten hatte. Eine Zeitlang stand ich ratlos am Fenster und starrte hinaus; ich hörte Tritte zwischen den Holunderbüschen, aber ich konnte nichts unterscheiden; denn die dahinterstehende Planke verbreitete trotz des Mondscheins tiefen Schatten. Da hörte ich draußen die Hoftür aufschließen, und bald darauf wurde auch die Stubentür geöffnet. Mein Vater trat herein.--Ich bin so alt geworden, aber ich habe es nicht vergessen; sein langes graues Haar triefte von Wasser oder Schweiß; seine Kleider, die er sonst so peinlich sauber hielt, waren überall mit grünem Schlamm besudelt. Er fuhr sichtbar zusammen, als er mich erblickte. "Was ist das! Wie kommst du hieher?" sagte er hart. "Der Vetter ließ mich herfahren, Vater!" "Um Mitternacht?--Das hätte er können bleibenlassen." Ich sah meinen Vater an; er hatte die Augen niedergeschlagen und stand unbeweglich. "Es ließ mir keine Ruhe", sagte ich, "Mir war, ich sei hier nötig, als müsse ich zu dir." Der alte Mann ließ sich auf einen Stuhl sinken und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. "Geh in deine Kammer", murmelte er; "ich will allein sein." Aber ich ging nicht. "Laß mich bei dir bleiben", sagte ich leise. Mein Vater hörte nicht auf mich; er erhob den Kopf und schien nach draußen hinzuhorchen. Plötzlich sprang er auf. "Still!" rief er, "hörst du's?" und sah mich mit weit offenen Augen an. Ich war ans Fenster getreten und sah hinaus. Es war alles tot und stille; nur die Holunderzweige schlugen, vom Nachtwinde bewegt, gegeneinander. "Ich höre nichts!" sagte ich. Mein Vater stand noch immer, als höre er auf etwas, das ihn mit Entsetzen erfüllte. "Ich meinte, es sei keine Sünde", sprach er vor sich hin; "es ist kein gottloses Wesen dabei, und der Brunnen steht, bis jetzt wenigstens, auf meinem Grund." Dann wandte er sich zu mir. "Ich weiß, du glaubst nicht daran, mein Kind", sagte er, "aber es ist dennoch gewiß; die Rute hat dreimal geschlagen, und die Nachrichten, die ich nur zu teuer habe bezahlen müssen, stimmen alle überein; es liegt ein Schatz in unserm Brunnen, der zur Schwedenzeit darin vergraben ist. Warum sollte ich ihn nicht heben!--Wir haben die Quelle abgedämmt und das Wasser ausgeschöpft, und heute nacht haben wir gegraben." "Wir?" fragte ich. "Von welchem andern sprichst du?" "Es ist nur einer in der Stadt, der das versteht." "Du meinst doch nicht den Goldmacher? Das ist kein guter Helfer!" "Es ist nichts Gottloses mit dem Rutenschlagen, mein Kind." "Aber die es treiben, sind Betrüger."--Mein Vater hatte sich wieder auf den Stuhl gesetzt und sah wie zweifelnd vor sich hin. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: "Der Spaten klang schon darauf; aber da geschah etwas"; --und sich unterbrechend, fuhr er fort: "Vor achtzehn Jahren starb deine Mutter; als sie es inne wurde, daß sie uns verlassen müsse, brach sie in ein bitteres Weinen aus, das kein Ende nehmen wollte, bis sie in ihren Todesschlaf verfiel. Das waren die letzten Laute, die ich aus deiner Mutter Mund vernahm." Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er zögernd, als scheue er sich vor dem Laut seiner eignen Stimme: "Heute nacht, nach achtzehn Jahren, da der Spaten auf die Kiste stieß, habe ich es wieder gehört. Es war nicht bloß in meinem Ohr, wie es all die Jahre hindurch so oft gewesen ist; unter mir, aus dem Grund der Erde kam es herauf.--Man darf nicht sprechen bei solchem Werk; aber mir war, als schnitte das Eisen in deiner toten Mutter Herz.--Ich schrie laut auf, da erlosch die Lampe, und--siehst du", setzte er dumpf hinzu, "deshalb ist alles wieder verschwunden." Ich warf mich vor meinem Vater auf die Knie und legte meine Hände um seinen Nacken. "Ich bin kein Kind mehr", sagte ich, "laß uns zusammenhalten, Vater; ich weiß, das Unglück ist in unser Haus gekommen." Er sagte nichts; aber er lehnte seine feuchte Stirn an meine Schulter; es war das erste Mal, daß er an seinem Kinde eine Stütze suchte. Wie lange wir so gesessen haben, weiß ich nicht. Da fühlte ich, daß meine Wangen von heißen Tränen naß wurden, die aus seinen alten Augen flossen. Ich klammerte mich an ihn. "Weine nicht, Vater", bat ich, "wir werden auch die Armut ertragen können." Er strich mit seiner zitternden Hand über mein Haar und sagte leise, so leise, daß ich es kaum verstehen konnte: "Die Armut wohl, mein Kind, aber nicht die Schuld." Und nun, mein Junge, kam eine bittere Stunde; aber eine, die noch jetzt in meinem Alter mir als die trostvollste meines Lebens erscheint. Denn zum ersten Male konnte ich meinem Vater die Liebe seines Kindes geben; und von jenem Augenblicke an blieb sie ihm das Teuerste und bald auch das letzte, was er auf Erden noch sein nannte. Während ich neben ihm saß und heimlich meine Tränen niederschluckte, schüttete mein Vater mir sein Herz aus. Ich wußte nun, daß er vor dem Bankerott stand; aber das war das Schlimmste nicht. In einer schlaflosen Nacht, da er vergebens auf seinem heißen Kissen nach einem Ausweg aus dem Elend gesucht, war ihm die halbvergessene Sage von dem Schatz in unserem Brunnen wieder in den Sinn gekommen. Der Gedanke hatte ihn seitdem verfolgt; tags, wenn er über seinen Büchern saß, des Nachts, wenn endlich ein schwerer Schlummer auf seiner Brust lag. In seinen Träumen hatte er das Gold im dunkeln Wasser brennen sehen; und wenn er morgens aufgestanden, immer wieder hatte es ihn hinaus an den Brunnen getrieben, um wie gebannt in die geheimnisvolle Tiefe hinabzustarren. Da hatte er sich dem argen Gehülfen anvertraut. Aber der war keineswegs sogleich bereit gewesen, sondern hatte vor allem eine bedeutende Summe zu den notwendigen Vorbereitungen des Werkes verlangt. Mein Armer Vater hatte schon keinen Willen mehr; er gab sie hin, und bald eine zweite und dritte. Das Traumgold verschlang das wirkliche, das noch in seinen Händen war; aber dieses Gold war nicht sein eigen; es war das anvertraute Erbe seines Mündels. An Ersatz war nicht zu denken; wir rieten hin und wider; Verwandte, die uns zu helfen vermocht, hatten wir nicht; dein Großvater war nicht mehr; endlich gestanden wir uns, daß von außen keine Hülfe zu hoffen sei.--Das Licht war ausgebrannt, ich hatte meinen Kopf an meines Vaters Brust gelegt, meine Hand ruhte in der seinen; so blieben wir im Dunkeln sitzen. Was dann weiter im geheimen Zwiesprach dieser Nacht zwischen uns gesprochen wurde, ich weiß es nicht mehr. Aber niemals zuvor, da noch mein Vater unfehlbar vor mir stand, wie fast nur unser Herrgott selber, habe ich solch heilige Zärtlichkeit für ihn gefühlt wie in jener Stunde, da er mir eine Tat vertraut hatte, die wohl nicht bloß vor den Augen der Menschen ein Verbrechen war.--Allgemach erblichen am Himmel draußen die Sterne, ein kleiner Vogel sang aus den Holunderbüschen, und der erste Schein des Morgenrots fiel in das dämmerige Zimmer. Mein Vater stand auf und trat an das Pult, auf dem seine großen Kontobücher lagen. Das lebensgroße Ölbild des Großvaters, mit dem Haarbeutel und dem lederfarbenen Kamisol, schien strenge auf den Sohn herabzusehen. "Ich werde noch einmal rechnen", sagte mein Vater, "bleibt das Fazit dasselbe", setzte er zögernd hinzu, indem er wie um Vergebung flehend zu dem Bilde seines Vaters aufblickte, "dann werde ich einen schweren Gang tun; denn ich bedarf der Barmherzigkeit Gottes und der Menschen." Auf seinen Wunsch verließ ich jetzt das Zimmer, und bald wurde es laut im Hause; der Tag war angebrochen. Als ich die nötigen Geschäfte besorgt hatte, ging ich in den Garten und durch das Hinterpförtchen auf den Weg hinaus; Harre pflegte hier vorbeizukommen, wenn er morgens nach der Werkstatt ging, in der er bis jetzt noch arbeitete. Ich brauchte nicht lange zu warten; als die Uhr sechs geschlagen, sah ich ihn kommen. "Harre, einen Augenblick!" sagte ich und winkte ihm, mit mir in den Garten zu treten. Er sah mich befremdet an; denn meine böse Botschaft war wohl auf meinem Gesicht geschrieben; auch stand ich, als ich ihn in eine Ecke des Gartens gezogen hatte, eine ganze Zeit und hatte seine Hand gefaßt, ohne daß ich ein Wort hervorbringen konnte. Endlich aber sagte ich ihm alles, und dann bat ich ihn: "Mein Vater will zu dir gehen; sei nicht zu hart mit ihm." Er war totenblaß geworden, und in seine Augen trat ein Ausdruck, vielleicht nur der Verzweiflung, der mich erschreckte. "Harre, Harre, was willst du mit dem alten Mann beginnen?" rief ich. Er drückte die Hand gegen seine Brust. "Nichts, Agnes", sagte er, indem er mich traurig lächelnd ansah; "aber ich muß nun fort von hier." Ich erschrak.--"Weshalb?" fragte ich stammelnd. "Ich darf deinen Vater nicht wiedersehen." "Du wirst ihm ja doch vergeben, Harre!" "Das wohl, Agnes; ich schulde ihm mehr als das; aber--er soll sein graues Haupt vor mir nicht demütigen. Und dann"--das setzte er wie beiläufig noch hinzu--, "ich glaube auch, es geht jetzt mit dem Meisterwerden nicht." Ich sagte nichts hierauf; ich sah nur, wie das Glück, nach dem ich gestern schon die Hand gestreckt, in unsichtbare Ferne schwand; aber es war nichts mehr zu ändern; es war jetzt am besten so, wie es Harre wollte. Nur das sagte ich noch: "Wann wirst du gehen, Harre?" Ich wußte selbst kaum, was ich sprach. "Sorge nur, daß dein Vater mich heute nicht aufsucht", erwiderte er; "bis morgen früh bin ich mit allem fertig, was ich noch hier zu tun habe. Kränke dich auch nicht um mich, ich finde leicht ein Unterkommen." Nach diesen Worten trennten wir uns; das Herz war wohl zu voll, als daß wir Weiteres hätten sprechen können."--Die Erzählerin schwieg eine Weile. Dann sagte sie: "Am andern Morgen sah ich ihn noch einmal, und dann nicht mehr; das ganze lange Leben niemals mehr." Sie ließ den Kopf auf ihre Brust sinken; die Hände, die auf ihrem Schoß geruht hatten, wand sie leise umeinander, als müsse sie damit das Weh beschwichtigen, das, wie einst das Herz des jungen blonden Mädchens, so noch jetzt den gebrechlichen Leib der Greisin zittern machte. Doch sie blieb nicht lange in dieser gebrochenen Stellung; sich gewaltsam aufraffend, erhob sie sich vom Stuhl und trat ans Fenster. "Was will ich klagen!" sagte sie und zeigte mit dem Finger auf die Scheibe, die ihres Vaters Namen trug. "Der Mann hat mehr gelitten als ich. Laß mich auch das dir noch erzählen."--Harre war fort; er hatte von meinem Vater in einem herzlichen guten Briefe Abschied genommen; gesehen haben sie sich nicht mehr. Bald darauf waren die letzten gerichtlichen Schritte gegen uns getan, und die Eröffnung des Konkurses sollte in nächster Zeit erfolgen. Es war damals Sitte in unserer Stadt, daß alle öffentlichen Bekanntmachungen nicht wie jetzt durch den Prediger in der Kirche, sondern aus dem offenen Fenster des Ratssitzungssaales durch den Stadtsekretär verlesen wurden; bevor aber dies geschah, wurde eine halbe Stunde lang mit der kleinen Glocke vom Turm geläutet. Da unser Haus dem Rathause gegenüber lag, so hatte ich dies oft beobachtet, und auch, wie sich unter dem Glockenschall Kinder und müßige Leute vor den Rathausfenstern und auf der Treppe über dem Ratskeller versammelten. Das nämliche geschah bei der Publizierung eines Konkursurtels; aber die Leute legten dann der Sache eine üble Bedeutung unter, und das Wort "Die Glocke hat über ihn geläutet", galt für einen Schimpf.--Ich hatte auch in solchen Fällen ohne viel Gedanken hingehört; jetzt zitterte ich vor dem Eindruck, den dieser Vorgang auf das Gemüt meines ohnehin tiefgebeugten Vaters machen würde. Er hatte mir vertraut, daß er sich deshalb durch einen befreundeten Ratsherrn an den Bürgermeister gewandt habe; und der Ratsherr, ein gutmütiger Schwätzer, hatte ihm die Zusicherung gegeben, daß die Publikation diesmal ohne die Glocke geschehen würde. Ich selbst aber wußte aus sicherer Quelle, daß diese Zusicherung eine grundlose war. Dennoch ließ ich meinen Vater in seinem arglosen Glauben und bemühte mich nur, ihn für diesen Tag zu einer kleinen Reise aufs Land zu unsern Verwandten zu bereden. Aber er wollte, wie er mit schmerzlichem Lächeln sagte, sein sinkendes Schiff nicht vor dem völligen Untergang verlassen. Da, in meiner Angst, fiel mir ein, daß ich in dem hintersten Verschlage unseres sehr tiefen und gewölbten Kellers die Glocke niemals hatte schlagen hören. Darauf baute ich meinen Plan. Es gelang mir auch, meinen Vater zu bereden, mit mir gemeinschaftlich ein Verzeichnis über die dort lagernden Waren aufzunehmen, wodurch, wenn später die Gerichtspersonen zur Aufnahme des Inventars kämen, eine Abkürzung dieses traurigen Geschäfts herbeigeführt würde. Als die verhängnisvolle Stunde kam, waren wir schon längst unter der Erde bei unserer Arbeit. Mein Vater sortierte die Waren, ich beim Schein einer Laterne schrieb auf ein Blatt Papier, was er mir diktierte. Ein paarmal war mir wohl gewesen, als hörte ich von fern das Summen einer Glocke; dann sprach ich ein paar laute Worte, bis das Schieben und Rücken mit den Fässern und Kisten allen von außen eindringenden Schall wieder verschlang. Alles schien gut zu gehen, mein Vater war ganz in seine Arbeit vertieft. Da hörte ich plötzlich droben die Kellertür aufreißen; die alte Magd rief, ich weiß nicht mehr weshalb, nach mir, und zugleich drangen auch die klaren Schallwellen der Glocke zu uns herab. Mein Vater horchte auf und setzte die Kiste, die er in den Händen hatte, auf den Boden. "Die Schandglocke!" stöhnte er und fiel wie kraftlos gegen die Wand. "Es wird mir nichts erspart."--Aber nur einen Augenblick; dann richtete er sich auf, und ehe ich noch Zeit bekam, ein Wort zu reden, hatte er schon den Raum verlassen, und gleich darauf hörte ich ihn die Kellertreppe hinaufsteigen. Auch ich ging jetzt in das Haus hinauf und fand meinen Vater, nachdem ich ihn vergebens in der Schreibstube gesucht, im Wohnzimmer mit gefalteten Händen am offnen Fenster stehen. In diesem Augenblick hörte das Glockenläuten auf; im Rathaus drüben, das von der hellen Morgensonne beleuchtet war, wurden die drei Fensterflügel aufgestoßen, und ich sah den Stadtdiener die roten Polster auf die Fensterbänke legen; an dem Eisengeländer der Ratstreppe hing schon ein ganzer Schwarm von halberwachsenen Buben. Mein Vater stand unbeweglich und sah mit gespannten Augen zu. Ich wollte ihn mit sanften Worten fortziehen. Aber er wehrte mir. "Laß nur, mein Kind", sagte er, "das geht mich an, ich muß das hören." So blieb er denn. Der alte Stadtsekretär mit seinem weißgepuderten Kopf erschien drüben in dem Mittelfenster, und während ihm zur Seite zwei Ratsherren auf den roten Kissen lehnten, verlas er mit seiner scharfen Stimme aus einem Blatt Papier, das er in beiden Händen vor sich hielt, das Konkursurtel. Bei der klaren Frühlingsluft drang jedes Wort verständlich zu uns herüber. Als mein Vater seinen vollen Namen über den Markt hinaussprechen hörte, sah ich ihn zusammenzucken; aber er hielt dennoch stand, bis alles vorüber war. Dann zog er seine goldene Uhr, die er von seinem Vater ererbt hatte, aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. "Sie gehört zur Konkursmasse", sagte er, "Schließe sie in die Schatulle, damit sie morgen mit versiegelt werde." Am andern Tage kamen die Herren zur Versiegelung; aber mein Vater konnte das Bett nicht verlassen; er war in der Nacht vom Schlage getroffen worden. --Als einige Monate später unser Haus verkauft war, wurde er in einem Tragkorb, den wir aus dem Krankenhause geliehen, nach der kleinen Wohnung gebracht, die wir am Ende der Stadt für uns gemietet hatten. Dort hat er noch neun Jahre gelebt; ein gelähmter und gebrochener Mann. In seinen guten Stunden besorgte er kleine Rechnungen und Schreibereien für andere; das meiste habe ich mit meiner Hände Arbeit verdienen müssen. Dann aber ist er in fester Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes in meinen Armen sanft verschieden.--Nach seinem Tode kam ich zu guten Leuten; es war das Haus deiner Großeltern." Meine alte Freundin schwieg. Ich aber dachte an Harre.--"Und hast du denn", fragte ich, "während der ganzen Zeit auch niemals eine Nachricht von deinem Jugendfreunde erhalten?" "Niemals, mein Kind", erwiderte sie. "Weißt du, Hansen", sagte ich, "dein Harre gefällt mir nicht, er war kein Mann von Wort!" Sie legte die Hand auf meinen Arm. "So darfst du nicht sprechen, Kind. Ich habe ihn gekannt; es gibt noch andere Dinge als den Tod, die des Menschen Willen zwingen.--Aber wir wollen nach meinem Zimmer gehen; du hast deinen Hut noch dort, und es mag bald Mittag werden." So schlossen wir denn den einsamen Festsaal wieder ab und gingen denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Diesmal öffnete sich die Tür des Spökenkiekers nicht; nur hinter derselben, auf den sandigen Dielen, hörten wir seinen schlurfenden Schritt. Als wir in Hansens Zimmer waren, wo noch der letzte Strahl der Vormittagssonne in die Fenster schien, zog sie eine Schublade ihrer Schatulle auf und nahm daraus ein Mahagonikästchen, sauber poliert, aber im Geschmack einer vergangenen Zeit. Es mochte einst ein Geschenk des jungen Tischlers an einem Geburtstage ihrer Jugend gewesen sein. "Das mußt du auch noch sehen", sagte Hansen, indem sie das Kästchen aufschloß. Es lagen Wertpapiere darin, welche sämtlich auf Harre Jensen, "Sohn des verstorbenen Tischlermeisters Harre Christian Jensen dahier", lauteten, deren Datum aber nicht über die letzten zehn Jahre hinabreichte. "Wie kommst du zu diesen Papieren?" fragte ich. Sie lächelte. "Ich habe nicht umsonst gedient." "Aber die Papiere lauten nicht auf deinen Namen!" "Es ist die Schuld meines Vaters, die ich zurückerstatte. Deshalb, und weil mein Nachlaß, wie aller, die hier versterben, an das Stift fällt, habe ich das Geld sofort auf Harre Jensens Namen schreiben lassen."--Einen Augenblick noch, ehe sie es wieder einschloß, wog sie das Kästchen auf der Hand. "Der Schatz ist wieder beisammen", sagte sie, "aber das Glück, mein Kind, das Glück, das einst darin gewesen ist. Das ist nicht mehr darin." Als sie diese Worte sprach, schoß draußen ein Schwalbenzug mit lautem Geschrei vorüber, und gleich darauf flatterten zwei dieser Vögel bis nahe an die Scheiben und setzten sich dann zwitschernd auf den offnen Fensterflügel. Es waren die ersten Schwalben, die ich in diesem Frühjahr sah. "Hörst du die kleinen Gratulanten, Hansen?" rief ich, "just zu deinem Geburtstag sind sie heimgekommen!" Hansen nickte nur. Ihre noch immer schönen blauen Augen blickten traurig auf die kleinen singenden Freunde. Dann legte sie die Hände auf meinen Arm und sagte freundlich: "Geh nun, mein Kind; ich danke allen, daß sie an mich gedacht. Ich möchte nun allein sein." Es war mehrere Jahre später, als ich mich von einer Reise nach dem mittleren Deutschland auf dem Heimwege nach meiner Vaterstadt befand. Auf einer Hauptstation der Eisenbahn--denn die Zeit des Dampfes war damals schon hereingebrochen--stieg ein alter Mann mit weißem Haar zu mir in das Coupé, worin ich mich bisher allein befunden hatte. Er ließ sich einen kleinen Reisekoffer nachreichen, den ich ihm unter den Sitz schieben half, und setzte sich dann mit den freundlichen Worten: "Wir haben auch noch nie beisammengesessen", mir gegenüber. Als er dies sagte, erschien um den Mund und um die braunen Augen ein Ausdruck der Güte, ich möchte sagen der Teilnahme, der unwillkürlich zu traulichem Gespräche einlud. Die Sauberkeit seiner äußern Erscheinung, die sich nicht bloß in dem braunen Tuchrock und dem weißen Halstuch ausprägte, das feinbürgerliche Wesen des Mannes, alles heimelte mich an, und es dauerte nicht lange, so hatten wir uns in gegenseitige Mitteilungen über unsere Familienverhältnisse vertieft. Ich erfuhr, daß er ein Klaviermacher und in einer mittelgroßen Stadt Schwabens ansässig sei. Dabei fiel mir eines auf; mein Reisegefährte sprach den süddeutschen Dialekt, und doch hatte ich auf seinem Koffer den Namen "Jensen" gelesen, der meines Wissens nur dem nördlichsten Deutschland angehörte. Als ich ihm das bemerkte, lächelte er. "Ich mag schon ziemlich eingeschwäbelt sein", sagte er, "denn ich wohne nun seit über vierzig Jahren in diesem guten Lande und habe es in dieser Zeit niemals verlassen; meine Heimat aber liegt im Norden, und daher stammt denn auch mein Name." Und nun nannte er meine eigene Vaterstadt als seinen Geburtsort. "So sind wir Landsleute so sehr als möglich", rief ich, "dort bin auch ich geboren und eben im Begriff, dahin zurückzukehren." Der alte Herr ergriff meine beiden Hände und sah mich liebevoll an. "Das hat der liebe Gott gut gemacht", sagte er, "so reisen wir, wenn es Ihnen recht ist, zusammen. Auch mein Ziel ist unsere Vaterstadt; ich hoffe auf ein Wiedersehen dort--wenn Gott es zuläßt." Ich nahm mit Freuden diesen Vorschlag an. Nachdem wir den derzeitigen Endpunkt der Eisenbahn erreicht hatten, lagen noch fünf Meilen Weges vor uns, und bald saßen wir zusammen in den bequemen Kissen eines Federwagens, dessen Bedachung wir bei dem schönen Herbstwetter zurückgeschlagen hatten. Die Gegend wurde allmählich heimatlicher; die Wälder verschwanden, bald auch die lebendigen Zäune zur Seite des Weges, ja sogar die Wälle, auf denen sie standen, und die weite baumlose Ebene tat sich vor uns auf. Mein Gefährte blickte still vor sich hinaus. "Ich bin dieser Unendlichkeit des Raumes so entwöhnt", sagte er einmal; "mir ist jetzt hier, als sähe ich nach allen Seiten in die Ewigkeit." Dann schwieg er wieder, und ich störte ihn nicht. Als wir etwa auf der Mitte des Weges aus einem Dorfe, durch das die Landstraße führte, wieder ins Freie kamen, bemerkte ich, daß er den Kopf vorbeugte und eifrig auszulugen schien. Dann beschattete er die Augen mit seiner Hand und wurde sichtbar unruhig. "Ich sehe doch sonst noch so gut in die Ferne", sagte er endlich, "aber ich bemühe mich umsonst, unsern Turm von hier in Sicht zu bekommen, und doch hab ich ihn in meiner Jugend von hier aus immer zuerst begrüßt, wenn ich von einer Wanderung heimkehrte." "Sie müssen sich irren", erwiderte ich, "der niedrige Turm kann in solcher Entfernung noch nicht sichtbar sein." "Niedrig!" rief der Alte fast unwillig, "der Turm hat seit Jahrhunderten auf viele Meilen in die See hinaus den Schiffern zum Wahrzeichen gedient!" Da fiel es mir bei. "Sie denken am Ende", sagte ich zögernd, "noch an den Turm der alten Kirche, die vor reichlich vierzig Jahren abgebrochen wurde." Der Alte sah mich mit seinen großen Augen an, als ob ich faselte. "Die Kirche abgebrochen--und vor über vierzig Jahren! Mein Gott, wie lange bin ich fort gewesen; ich habe niemals etwas davon erfahren!" Er faltete seine Hände und saß eine ganze Weile wie mutlos in sich zusammengesunken. Dann sagte er: "Auf jenem schönen Turm, der also nur in meinen Gedanken noch vorhanden war, habe ich vor nun bald fünfzig Jahren der das Wiederkommen versprochen, um deren willen ich jetzt diese weite Reise mache. Ich will Ihnen, wenn Sie hören mögen, dies Stück meines Lebens mitteilen; vielleicht, daß Sie mir dann über die Hoffnung, die ich hege, eine Auskunft zu geben vermögen." Ich versicherte den alten Herrn meiner Teilnahme; und während unser Postillion in der warmen Mittagssonne auf seinem Sitze einnickte und die Räder langsam durch den Sand mahlten, begann er seine Erzählung: "In meiner Jugend hätte ich gern den Weg einer gelehrten Bildung eingeschlagen; da aber nach dem frühzeitigen Tode meiner Eltern die Mittel dazu nicht vorhanden waren, so blieb ich bei dem Handwerk meines Vaters, das heißt, ich wurde Tischler. Schon während ich als Geselle auf der Wanderschaft war, hatte ich nicht übel Lust, mich draußen anzusiedeln; denn es fehlte mir nicht ganz an Mitteln; aus dem Verkauf des väterlichen Hauses war mir ein rundes Sümmchen übriggeblieben, das für den Anfang schon genügte. Aber ich kehrte doch wieder heim, und das geschah um eines jungen blonden Mädchens willen.--Ich glaube nicht, daß ich jemals wieder so blaue Augen gesehen habe. Eine Freundin sagte einmal im Scherz zu ihr: "Agnes, ich pflück dir die Veilchen aus den Augen!" Die Worte hab ich nimmer vergessen können."--Der Alte schwieg eine Weile und blickte verklärt vor sich hin, als sähe er noch einmal in diese Veilchenaugen seiner Jugend. Darauf, während ich fast unwillkürlich den Namen meiner alten Freundin in St. Jürgen bei mir selber sprach, begann er wieder: "Sie war die Tochter eines Krämers, meines Vormundes. Wir wuchsen als Nachbarkinder miteinander auf, während das Mädchen von dem früh verwitweten Vater ziemlich streng und einsam erzogen wurde. Daher mag es gekommen sein, daß sie sich immer mehr dem einzigen Jugendgespielen anschloß. Bald nach meiner Rückkehr waren wir unter uns beiden so gut als verlobt, und es war schon ausgemacht, daß ich in unserer Vaterstadt ein Geschäft begründen sollte, als ich durch einen unerwarteten Zufall mein ganzes kleines Vermögen verlor.--Es kam so, daß ich wieder fort mußte. Am letzten Tage hatte Agnes mir versprochen, abends noch einmal auf den Weg hinter ihrem Garten hinauszukommen und dort ein letztes Wort mit mir zu reden. Als ich mich aber mit dem bestimmten Glockenschlage einfand, war sie nicht dort. Ich stand lauschend an der Planke unter dem überhängenden Lindengezweig, aber ich wartete vergebens. Das Haus ihres Vaters konnte ich damals nicht betreten; nicht daß ein Zwiespalt zwischen uns gewesen wäre, ich glaube im Gegenteil, daß er mir die Hand seiner Tochter ohne großes Bedenken würde gegeben haben; denn er hielt etwas auf mich und war kein hochmütiger Mann. Es hatte einen andern Grund, den ich nicht gern der Vergessenheit entreißen möchte.--Ich weiß es noch gar wohl. Es war ein dunkler, stürmischer Aprilabend; mehrmals täuschte mich die Wetterfahne auf dem Dache, daß ich glaubte, die mir wohlbekannte Hoftür öffnen zu hören, aber es kam kein Schritt den Gartensteig herab. Noch lehnte ich an der Planke und sah die schwarzen Wolken am Himmel vorüberfliegen; endlich ging ich schweren Herzens fort.--Am andern Morgen hatte es eben fünf vom Turme geschlagen, als ich nach einer schlaflosen Nacht die Treppe von meiner Kammer hinabstieg und von meinen Hauswirten Abschied nahm. In den engen, schlecht gepflasterten Straßen war noch die Dunkelheit und der Schmutz des Winters. Die Stadt schien noch im Schlaf zu liegen; von allen bekannten Gesichtern wollte mir keins begegnen, und so ging ich einsam und trübselig meinen Weg. Da, als ich eben nach dem Kirchhof einbiegen wollte, brach ein scharfer Sonnenstrahl hervor, und das alte Haus der Ratsapotheke, das unten mit seinem Löwenschnitzbild noch in dem Dunst der Gasse stand, war oben mit der Spitze des Treppengiebels auf einmal wie in Frühlingsschein gebadet. Zugleich, als ich eben aufschaue, schallt über mir hoch in der Luft ein langgezogener Ton; dann noch einmal und noch einmal, als riefe es weit in die Welt hinaus. Ich war auf den Kirchhof hinausgetreten und blickte an dem Turm hinauf; da sah ich oben auf der Galerie den Türmer stehen und sah, wie er sein langes Horn noch in der Hand hielt. Ich wußte es nun wohl; die ersten Schwalben waren gekommen, und der alte Jakob hatte ihnen den Willkommen geblasen und es laut über die Stadt gerufen, daß der Frühling ins Land gekommen sei. Dafür bekam er seinen Ehrentrunk im Ratsweinkeller und einen blanken Reichstaler vom Herrn Bürgermeister.--Ich kannte den Mann und war oft droben bei ihm gewesen; als Knabe, um von dort aus meine Tauben fliegen zu sehen, später auch wohl mit Agnes; denn der Alte hatte ein Enkeltöchterchen bei sich, zu dem sie Pate gestanden und deren sie sich auf allerlei Art anzunehmen pflegte. Einmal, am Christabend, hatte ich ihr sogar ein vollständiges Weihnachtsbäumchen den hohen Turm hinaufschleppen helfen.--Nun stand die wohlbekannte Eichentür offen; unwillkürlich trat ich hinein, und in der Finsternis, die mich plötzlich umgab, stieg ich langsam die Treppen und, wo diese aufhörten, die schmalen leiterartigen Stiegen hinan. Nichts hörte ich als das Rasseln der großen Turmuhr, die hier in der Einsamkeit ihr Wesen trieb. Ich weiß es noch gar wohl, mir grauete dermalen vor diesem toten Dinge, und ich hätte, als ich daran vorbeikam, in die eisernen Räder greifen mögen, nur um es stillzumachen. Da hörte ich den alten Jakob von oben herabklettern. Er schien mit einem Kinde zu sprechen, das er zur Vorsicht ermahnte. Ich rief ihm einen "Guten Morgen" in die Dunkelheit hinauf und fragte, ob er die kleine Meta bei sich habe. "Bist du's, Harre?" rief der Alte zurück, "freilich, die muß mit zum Herrn Bürgermeister." Endlich kamen die beiden zu mir herab, während ich seitwärts in eine Schalluke getreten war. Als Jakob mich so reisefertig neben sich sah, rief er verwundert: "Was soll das bedeuten, Harre? Was steigst denn da mit Knüttel und Wachstuchhut in meinen Turm hinauf? Bist doch nicht wieder fremd geworden bei uns daheim?" "Es ist nicht anders, Jakob", erwiderte ich, "'s wird hoffentlich nicht auf lange sein." "Hatt's mir ganz anders mit dir ausgedacht!" brummte der Alte. "Nun, wenn's denn einmal sein muß, die Schwalben sind wieder da; es ist jetzt schon die beste Zeit zum Wandern. Und hab auch Dank, daß du noch mal gekommen bist!" "So lebt wohl, Jakob!" sagte ich. "Und wenn Ihr mich von Eurem Turm herab einmal im hellen Sonnenschein wieder ins Tor hineinwandern seht, so blast auch mir einen Willkommen wie heute Euren Schwalben!" Der Alte schüttelte mir die Hand, indem er sein Enkelchen auf den Arm nahm. "Soll gelten, Meister Harre!" rief er lächelnd; er pflegte mich im Scherze so zu nennen. Als ich mich aber anschickte, wieder mit ihm hinabzusteigen, fügte er noch hinzu: "Wenn du einen guten Weg von der Agnes haben willst, sie ist oben, schon seit früh; sie hat noch ihr Gefallen an den Vögelchen." Wohl niemals bin ich so schnell die letzten halsbrechenden Stiegen hinaufgekommen, obgleich mir der Herzschlag fast den Atem versetzte. Als ich aber oben auf die Plattform und in den blendenden Himmelsschein hinaustrat, blieb ich unwillkürlich stehen und tat einen Blick über das Eisengeländer. Da sah ich unter mir in der Tiefe meine Vaterstadt im ersten Schmuck des Frühlings liegen; überall zwischen den Dächern standen die Kirschbäume in Blüte, welche das warme Frühjahr so zeitig hervorgetrieben hatte. Dort der Giebel, dem kleinen Turme des Rathauses gegenüber, gehörte dem Hause meines Vormundes. Ich sah den Garten, den Weg dahinter; mir quoll das Herz, und von Heimweh überwältigt, mag ich unwillkürlich einen Laut ausgestoßen haben; denn ich fühlte plötzlich meine Hand ergriffen, und als ich aufblickte, stand Agnes neben mir. "Harre", sagte sie, "kommst du noch einmal!" Und dabei flog ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht. "Ich dachte nicht, dich hier zu finden", erwiderte ich, "nun muß ich fort; weshalb hast mich gestern so vergebens warten lassen?" Da war alles Glück aus ihrem Antlitz verschwunden. "Ich konnte nicht, Harre; mein Vater wollte mich nicht von sich lassen. Später bin ich in den Garten hinabgelaufen; aber du warst schon fort, du kamst nicht; da bin ich heute früh auf den Turm gestiegen--ich dachte, ich könnte dich doch zum Tor hinauswandern sehen." Die Zukunft lag verworren vor mir, aber doch hatte ich einen Plan gefaßt. Schon früher war ich in einer Klavierfabrik beschäftigt gewesen; nun wollte ich wieder diese Arbeit suchen, um dann mit Hülfe des zu erwartenden Verdienstes vielleicht später selbst ein solches Geschäft zu begründen; denn diese Instrumente begannen schon damals eine große Verbreitung zu finden.--Das alles sagte ich jetzt dem Mädchen, und auch, wohin ich mich zunächst zu wenden beabsichtigte. Sie hatte sich auf das Geländer gelehnt und wie abwesend in den leeren Himmelsraum hinausgeblickt. Jetzt wandte sie langsam den Kopf zurück. "Harre", sagte sie leise, "geh nicht fort, Harre!" Als ich sie aber ohne Antwort anblickte, rief sie wieder: "Nein, hör nicht auf mich; ich bin ein Kind, ich weiß nicht, was ich rede." Der Morgenwind hatte ein paar der blonden Haare gelöst und wehte sie über ihr blasses Gesicht, das jetzt geduldig zu mir aufblickte. "Wir müssen warten, Agnes", sagte ich, "das Glück liegt nun in weiter Ferne; ich will versuchen, ob ich es wieder heimbringen kann. Schreiben werd ich nicht; ich komme selber, wenn es Zeit ist." Sie sah mich eine Weile mit großen Augen an; dann drückte sie mir die Hand. "Ich warte", sagte sie mit fester Stimme; "geh denn mit Gott, Harre!" Ich ging noch nicht. Der Turm, der uns beide trug, ragte so einsam in den blauen Ätherraum; nur die Schwalben, auf deren stahlblauen Schwingen der Sonnenschein wie Funken blitzte, schwebten um uns her und badeten in dem Meer von Luft und Licht.--Ich hielt noch immer ihre Hand; mir war, als könne ich nicht fort von hier, als wären wir beide, sie und ich, schon jetzt hinausgehoben über alle Not der Welt.--Aber die Zeit drängte; unter uns schlug dröhnend die Viertelglocke. Da, als noch die Schallwellen den Turm umfluteten, kam eine Schwalbe geflogen, daß sie uns fast mit ihren Flügeln streifte; furchtlos, nur auf Armeslänge von uns, setzte sie sich auf den Rand des Geländers, und während wir wie gebannt in das kleine glänzende Auge blickten, schmetterte sie plötzlich mit geschwellter Kehle ihre Frühlingslaute in die Luft. Agnes warf sich an meine Brust. "Vergiß das Wiederkommen nicht!" rief sie. Da breitete der Vogel seine Schwingen aus und flog davon.--Wie ich durch den dunkeln Turm zur Erde gekommen bin, das weiß ich nicht. Als ich draußen vor dem Stadttor auf der Landstraße war, blieb ich stehen und blickte zurück. Da erkannte ich noch deutlich auf dem von Sonnenglanze umflossenen Turm ihre liebe Gestalt; mir schien, als lehne sie sich weit über den Rand des Geländers hinaus, so daß ich unwillkürlich einen Schreckensruf ausstieß. Aber die Gestalt blieb unbeweglich. Und endlich wandte ich mich und ging, ohne noch einmal wieder umzusehen, mit raschen Schritten auf der Landstraße fort." Der Alte schwieg eine Weile. Dann sagte er: "Sie hat vergebens auf mich gewartet; ich bin niemals wieder heimgekommen.--Ich will Ihnen nun erzählen, wie das geschehen konnte. Meine erste Arbeit fand ich in Wien, wo damals die besten Klavierfabriken waren; von da kam ich nach anderthalb Jahren ins Württembergische, nach meinem jetzigen Wohnort. Ein Nebengeselle von mir hatte dort einen Bruder, von dem er um die Besorgung eines zuverlässigen Gehülfen gebeten war.--Es war ein noch junges Ehepaar, zu dem ich ins Haus kam. Das Geschäft war klein, aber der Inhaber ein freundlicher und geschickter Mann, bei dem ich bald mehr in diesen Dingen lernte als in der großen Fabrik, wo ich immer nur zu einzelnen Arbeiten gelassen wurde. Da ich mich der Sache nach Kräften annahm und doch auch aus meinen Wiener Erfahrungen manches hinzubrachte, so gewann ich bald das Vertrauen dieser guten Leute. Besondere Freude machte es ihnen, daß ich in meinen Freistunden den ältesten ihrer beiden Knaben in der deutschen Sprache unterrichtete; denn ihnen gefiel meine damals noch norddeutsche Aussprache, und sie wünschten, daß die Kinder auch einmal, wie sie meinten, so reines Deutsch sprechen möchten. Bald wurde auch der jüngere Bruder in den Unterricht hineingezogen, und nun blieb es nicht bei der trockenen Grammatik; ich wußte mir Bücher zu verschaffen, aus denen ich ihnen allerlei Unterhaltendes und Wissenswertes vorzulegen pflegte. So kam es, daß auch die Kinder mit großer Liebe an mir hingen. Als ich nach Jahresfrist zum ersten Mal ohne Beihülfe ein Klavier von besonders schönem Klang zustande gebracht hatte, gab es eine Freude im ganzen Hause, als habe der liebste Angehörige sein Meisterstück gemacht.--Ich aber dachte nun an die Heimkehr. Da erkrankte mein junger Meister. Aus einer Erkältung entwickelte sich endlich ein ernstliches Brustübel, dessen Keim schon lange in ihm gelegen haben mochte. Die Leitung der Geschäfte kam wie selbstverständlich fast ganz in meine Hände. Ich konnte jetzt nicht fort. Dabei sah ich tiefer in die Verhältnisse der Familie, mit der mich eine immer innigere Freundschaft verband. Eintracht und Fleiß wohnten unter ihrem Dache. Aber es war dennoch ein böses Ding, der dritte Hausgenosse, das diese guten Geister nicht zu vertreiben vermocht hatten. In jedem Winkel, wohin nicht gerade die Sonne schien, sah der kranke Mann es sitzen.--Dieses Ding war die Sorge.--"Nimm den Kehrbesen und feg es weg", sagte ich oft zu meinem Freunde, "ich will dir helfen, Martin!" Dann drückte er mir wohl die Hand, und eine wehmütige Heiterkeit flog für einen Augenblick über sein blasses Gesicht, bald aber sah er wieder die schwarzen Spinngewebe auf allen Dingen. Leider waren es keine bloßen Hirngespinste. Das Kapital, womit er sein Geschäft begonnen, war von vornherein zu gering gewesen. In den ersten Jahren hatte er durch schlechte Arbeiter Verluste erlitten, die nicht in Rechnung genommen waren, und auch der Absatz der fertigen Ware wollte nicht so rasch erfolgen, wie es solche Umstände erforderten; nun kam ein aussichtsloser Krankheitszustand noch dazu. Auf mir lag endlich nicht nur die ganze Sorge für den Unterhalt der Familie, ich mußte auch noch der Tröster der Gesunden sein. Die Knaben ließen meine Hand nicht los, wenn wir am Bette des Vaters saßen, das er bald nicht mehr verlassen konnte. Bei diesem aber schien das Erlöschen der Körperkraft die Unruhe des Geistes nur zu steigern; grübelnd lag er auf seinem Kissen und baute Pläne für die Zukunft. Mitunter, wenn die Schauer des nahenden Todes ihn anwehten, richtete er sich plötzlich auf und rief: "Ich kann nicht sterben, ich will nicht sterben!" und dann wieder leise mit gefalteten Händen: "Mein Gott, mein Gott, ich will auch, wenn du willst!" Und endlich kam die Stunde der Erlösung. Wir waren alle an seinem Bette; er dankte mir, er nahm von uns allen Abschied. Dann aber, als sähe er vor sich etwas, vor dem er sie beschützen müsse, riß er seine Frau und die beiden Knaben hastig an sich, blickte sie mit trostlosen Augen an und stöhnte laut. Und als ich ihm zuredete: "Wirf deine Sorgen auf den Herrn, Martin!", da rief er verzweifelnd: "Harre, Harre, das sind nicht mehr die Sorgen, das ist die Armut selbst! Bald wird sie über meine Leiche wegkriechen; mein Weib, o meine lieben Kinder, sie werden ihr nicht entrinnen!" Es ist ein eigen Ding um ein Sterbebett; ich weiß nicht, ob Sie es kennen, mein junger Freund. Aber in diesem Augenblick versprach ich meinem sterbenden Meister, bei den Seinen auszuhalten, bis das Gespenst, das seine letzte Stunde störte, sie nicht mehr würde erreichen können. Und als ich das versprochen, ließ auch der Tod nicht mehr auf sich warten. Leise schritt er zur Tür herein. Martin streckte die Hand aus; ich meinte, er wolle sie mir noch reichen, aber es war der unsichtbare Bote des Herrn, der sie ergriff; denn ehe ich sie berührte, hatte das Leben meines jungen Meisters aufgehört." Mein Reisegefährte nahm seinen Hut ab und legte ihn vor sich auf den Schoß; sein weißes Haar wehte in der lauen Mittagsluft. So saß er schweigend, als weihe er diese Augenblicke dem Andenken des längst verstorbenen Freundes.--Ich aber mußte der Worte gedenken, die meine alte Hansen einst zu mir gesprochen: "Es gibt noch andere Dinge als den Tod, die des Menschen Willen zwingen." Es war dennoch der Tod gewesen, der die Lebenden getrennt hatte. Denn es versteht sich, daß ich über die Person dessen, der an meiner Seite saß, nicht mehr in Zweifel sein konnte. Nach einiger Zeit begann der Alte seine Erzählung wieder, indem er langsam sein Haupt bedeckte. "Ich habe mein gegebenes Wort gehalten", sagte er, "aber da ich es gab, brach ich ein anderes; denn ich habe nun nicht wieder fort gekonnt. Es zeigte sich bald, daß die Verhältnisse noch zerrütteter waren, als ich bisher gewußt. Einige Monate nach dem Tode des Mannes wurde noch ein drittes Kind, ein Mädchen, geboren; unter diesen Umständen eine neue Sorge zu den alten. Ich tat das Meinige; aber Jahr auf Jahr verging, und das Glück wollte immer noch nicht einkehren. Unerachtet ich nicht nur meine ganze Kraft, sondern auch die Ersparnisse der letzten Jahre hingab, gelang es mir noch immer nicht, den Kampf mit jenem Gespenste der Armut siegreich zu beendigen; ich sah es klar, wenn eine auch nur etwas weniger treue und sorgsame Hand an meine Stelle trat, so waren meine Schutzbefohlenen ihm verfallen. Oft freilich mitten in der Arbeit überfiel mich das Heimweh und nagte und zehrte an mir; mehr als einmal, wenn der Meißel, ohne daß ich darum gewahr wurde, müßig in meiner Hand lag, bin ich erschreckt vor der Stimme der guten Frau zusammengefahren; denn meine Gedanken waren fort in die Heimat, und eine ganze andere Stimme war in meinen Ohren. In meinen Träumen sah ich den Turm unserer Vaterstadt; anfänglich im hellen Sonnenschein, umkreist von einem Heer von Schwalben; später, wenn der Traum mir wiederkam, sah ich ihn schwarz und drohend in den leeren Himmel ragen, der Herbststurm tobte, und ich hörte die großen Glocken anschlagen; aber immer, auch dann, lehnte Agnes oben auf dem Geländer der Plattform; sie trug noch das blaue Kleid, worin sie dort von mir Abschied genommen hatte; nur war es ganz zerrissen, die leichten Fetzen flatterten in der Luft. "Wann kommen die Schwalben wieder?" hörte ich es rufen. Ich erkannte ihre Stimme, aber sie klang trostlos in dem Wehen des Sturmes.--Wenn ich nach solchen Träumen erwachte, so hörte ich wohl im Zwielicht die Schwalben auf der Dachrinne über meinem Fenster zwitschern. In den ersten Jahren hatte ich den Kopf aufgestützt und mir das Herz vollsingen lassen von Sehnsucht und Heimweh; später konnt ich's nimmer ertragen. Mehr als einmal, wenn das Gezwitscher kein Ende nehmen wollte, habe ich das Fenster aufgerissen und die lieben Vögel fortgejagt. An einem solchen Morgen erklärte ich einmal, daß ich nun fort müsse, daß es jetzt endlich Zeit sei, auch an mein eignes Leben zu denken. Aber die beiden Knaben brachen in laute Wehklagen aus, und die Mutter setzte, ohne ein Wort zu sagen, ihr Töchterchen auf meinen Schoß, das sogleich die kleinen Arme fest um meinen Hals schlang.--Mein Herz hing an den Kindern, lieber Herr; ich konnte die Kinder nicht verlassen. Ich dachte. "Bleib denn noch ein Jahr." Der Abgrund zwischen mir und meiner Jugend wurde immer tiefer; zuletzt lag alles wie unerreichbar hinter mir, wie Träume, an die ich nicht mehr denken dürfe.--Ich war schon über die Vierzig hinaus, da schloß ich auf den Wunsch der schon herangewachsenen Kinder das Ehebündnis mit der Frau, deren einzige Stütze ich so lange gewesen war. Und nun geschah mir etwas Seltsames. Ich war der Frau, wie sie es auch gar wohl verdiente, stets von Herzen gut gewesen; nun aber, seit sie mir unauflöslich angehörte, begann in mir ein Widerwille, ja fast ein Haß gegen sie zu wachsen, den ich oft nur mit Mühe zu verbergen wußte. So sind wir Menschen; ich warf in meinem Herzen auf sie die Schuld von allem, was doch nur die Folge meiner eignen Schwäche war. Da führte Gott zu meinem Heil mich in Versuchung. Es war eines Sonntags in der Hochsommerzeit. Wir machten eine Landpartie nach dem benachbarten Gebirgsdorfe, wo ein Verwandter der Familie wohnte. Die beiden Söhne mit ihrem Schwesterchen waren uns beiden Alten weit voraus; ihr Plaudern und Lachen war in dem Walde, durch den der Weg führte, schon ganz verschollen. Da machte meine Frau mir den Vorschlag, einen ihr bekannten Richtsteig entlang eines Steinbruches einzuschlagen, um so wo möglich den Jungen auf dem Hauptwege noch zuvorzukommen. "Ich bin als Braut mit Martin hier gegangen", sagte sie, als wir seitwärts in die Tannen bogen; "etwas weiterhin pflückten wir damals eine dunkelblaue Blume; ich möchte wissen, ob sie noch dort zu finden ist." Nach kurzer Zeit hörte an unserer einen Seite der Wald auf, und der Fußweg lief nun dicht an dem Rande des abschüssigen Gesteins hin, während von der andern Seite sich Brombeerranken und anderes Gebüsch dicht herandrängte. --Meine Frau schritt rüstig vor mir auf. Ich folgte langsam und war bald in meine alten Träumereien versunken. Wie die verlorne Seligkeit lag die Heimat vor meinen Sinnen, und grübelnd, aber vergebens suchte ich nach einem Weg dahin. Nur wie durch einen Schleier sah ich, daß es nach dem Bruche zu ganz blau von Genzianen wurde und daß meine Frau sich ein Mal um das andere nach diesen Blumen bückte. Was kümmerte mich das alles!--Da hör ich plötzlich einen Schrei und sehe, wie sie mit den Händen in die Luft greift; ich sehe auch schon, wie unter ihren Füßen das Geröll sich löst und zwischen den Klippen fortpoltert, und zehn Schritt weiter abwärts steht der Fels lotrecht über dem Abgrund. Ich stand wie gelähmt. Es brauste mir in den Ohren: "Bleib; laß sie stürzen; du bist frei!" Aber Gott half mir. Nur einen Sekundenschlag, da war ich bei ihr; und mich über den Rand des Felsens werfend, ergriff ich ihre Hand und hatte sie glücklich zu mir heraufgezogen. "Harre, mein guter Harre", rief sie weinend, "schon wieder hat deine Hand mich vom Abgrund gerettet!" Wie glühende Tropfen fielen diese Worte in meine Seele. In all den Jahren war kein Wort der Vergangenheit über meine Lippen gekommen; zuerst aus jugendlicher Scheu, das Heiligste hinauszugeben, später wohl in dem unbewußten Bedürfnis, den innern Zwiespalt zu verhehlen. Jetzt plötzlich drängte es mich, alles ohne Rücksicht zu offenbaren. Und am Rande des Abgrundes sitzend, schüttete ich mein Herz aus vor der Frau, die ich kurz zuvor darin begraben gewünscht hatte. Auch das verschwieg ich ihr nicht. Sie brach in heftige Tränen aus; sie weinte über mich, über sich selbst, am lautesten klagte sie über Agnes. "Harre, Harre", rief sie, aber sie legte ihren Kopf an meine Brust; "das habe ich nicht gewußt, aber es ist nun zu spät, und niemand kann diese Sünde von uns nehmen!" Es war nun an mir, sie zu beruhigen; und erst mehrere Stunden später trafen wir in dem Dorfe ein, wo unsere Kinder uns schon längst erwartet hatten. Aber seit jener Zeit war meine Frau mit ihrem milden und gerechten Herzen meine beste Freundin und kein Geheimnis mehr zwischen uns. --So gingen die Jahre hin. Allmählich schien sie es vergessen zu haben, daß ich ihre und der Kinder Wohlfahrt mit einem fremden Glück bezahlt hatte, und auch in mir wurde es stiller. Nur wenn im Frühling die Schwalben wiederkamen, oder auch später im Jahr, wenn sie in der Dämmerung noch so allein von allen Vögeln ins Abendrot hineinsangen, dann überfiel's mich mit der alten Pein, und ich hörte noch immer die liebe junge Stimme, noch immer klang es mir in den Ohren: "Vergiß das Wiederkommen nicht!" So war's auch heuer eines Abends. Ich saß vor unserer Haustür auf der Bank und blickte in den vergehenden Tagesschein, der durch eine Lücke der Straße über den jenseitigen Rebhügeln sichtbar war. Ein Töchterchen unseres jüngsten Sohnes war mir auf den Schoß geklettert und hatte es sich spielmüde in Großvaters Arm bequem gemacht. Bald fielen die kleinen Augen zu, und auch das Abendrot verschwand, aber drüben auf des Nachbars Dach saß noch im Dunkeln eine Schwalbe und zwitscherte leise wie von vergangener Zeit. Da trat meine Frau aus dem Hause. Sie stand eine Weile schweigend neben mir, und als ich nicht aufblickte, fragte sie mich sanft: "Alter, was ist dir?", und da ich nicht antwortete und nur der Vogelgesang aus der Dämmerung herübertönte: "Ist's denn wieder einmal die Schwalbe?" "Du weißt's ja, Mutter", sagte ich, "du hast ja allezeit mit mir Geduld gehabt." Aber ich kannte sie noch nicht ganz; sie hatte mehr als das für mich getan. Sie legte beide Hände auf meine Schultern. "Was meinst?" rief sie, indem sie mich mit ihren alten guten Augen anblickte. "Wir können's jetzt ja leisten, du mußt die Agnes wiedersehen, du hättest ja sonst keine Ruh im Grab bei mir!" Ich war fast erschreckt durch diesen Vorschlag und wollte Einwendungen machen, sie aber sagte: "Stell's Gott anheim!"--Das hab ich denn getan; und so ist es gekommen, daß ich noch einmal heimkehre; aber wenn wir durchs Tor fahren, der alte Jakob wird wohl nicht mehr blasen." Mein Reisegefährte schwieg. Ich aber hielt nun nicht länger zurück, denn ich war im Innersten bewegt. "Ich kenne Sie", sagte ich, "ich kenne Sie sehr wohl, Harre Jensen; auch Agnes kenne ich; sie hat viele Jahre im Hause meiner Großmutter gelebt, sie ist mir selbst wie meiner Mutter Mutter. Aus ihrem eignen Munde habe ich alles erfahren, auch das, was Sie verschwiegen haben." Der Alte faltete die Hände. "Großer, gnädiger Gott!" sagte er, "so lebt sie noch und kann mir noch vergeben!" Mir ahnte wenig, daß ich eine Hoffnung angeregt hatte, deren Erfüllung schon im Reiche der Schatten lag. Ich erwiderte nur: "Sie kannte ihren Jugendfreund; sie hat ihn niemals angeklagt."--Und nun erzählte ich. Er hörte in atemlosem Schweigen und nahm begierig jedes Wort von meinen Lippen. Da klatschte der Postillion mit seiner Peitsche. Der stumpfe Turm unserer Vaterstadt war am Horizonte aufgetaucht. Als ich mit dem Finger dahin wies, faßte der Alte meine Hand. "Mein junger Freund", sagte er, "ich zittre vor der nächsten Stunde." Nicht lange, so rasselte unser Wagen über das Steinpflaster der Stadt. Bei dem schönen Herbstwetter waren viele Leute auf den Straßen, und da ich lange fort gewesen, so erhielt ich als allbekanntes Stadtkind fortwährend lebhafte Grüße von den Vorübergehenden. Den fremden Greis an meiner Seite streifte höchstens ein Blick der Verwunderung oder wohl auch der Neugierde. Endlich hielten wir am Gasthofe, und hier dachte ich für heute von meinem Freunde Abschied zu nehmen, denn er wünschte, seinen ersten Gang nach St. Jürgen allein zu machen. Ein paar Minuten später war ich zu Hause, umringt von Eltern und Geschwistern. "Alles wohl?" war meine erste Frage. "Du siehst es, hier ist alles gesund", erwiderte meine Mutter, "sonst aber--eine findest du nicht mehr." "Hansen!" rief ich; denn an wen anders hätte ich denken sollen. Meine Mutter nickte. "Aber was erschreckt dich so, mein Kind? Ihre Jahre waren daher; heut in der Frühe ist sie in meinen Armen sanft entschlafen." Ich erzählte, wen ich mitgebracht, in fliegenden Worten, und während alle noch tief erschüttert standen, verließ ich ohne meine Kleider zu wechseln, das Haus; jetzt durfte ich den alten Mann nicht allein lassen. Ich ging zuerst nach dem Gasthofe und, nachdem ich dort erfahren, daß er fort sei, gradeswegs die Straße hinauf nach St. Jürgen. Als ich dort anlangte, sah ich den Spökenkieker, den der Tod zu verschmähen schien, mitten auf der Straße vor dem Stiftshause stehen. Die Hände auf dem Rücken, wiegte er sich behaglich in den Knien, während er unter dem breiten Schirme seiner Mütze nach dem einen Giebel hinaufstierte. Als ich mit den Augen der Richtung folgte, sah ich dort auf den obersten Treppen, ja sogar auf der Glocke, die oben in der durchbrochenen Mauer hing, eine große Menge Schwalben eine neben der andern sitzen, während einzelne um sie her schwärmten, sich hoch in die Luft erhoben und dann wieder schreiend und zwitschernd zu ihnen zurückkehrten. Einige von diesen schienen neue Gefährten mitzubringen, die dann neben den andern auf den Mauerzinnen Platz zu finden suchten. Es hielt mich unwillkürlich fest. Ich sah es wohl, sie rüsteten sich zur Reise; die Sonne der Heimat war ihnen nicht mehr warm genug.--Der alte Mensch neben mir riß die Mütze vom Kopf und schwenkte sie hin und her. "Husch!" lallte er, "fort mit euch, ihr Sakermenters!"--Aber noch eine Weile dauerte das Schauspiel dort oben auf dem Giebel. Da plötzlich, wie emporgeweht, erhoben sich sämtliche Schwalben fast senkrecht in die Luft, und in demselben Augenblick waren sie auch schon spurlos in dem blauen Himmelsraum verschwunden. Der Spökenkieker stand noch und murmelte unverständliche Worte, während ich durch den dunkeln Torweg in den Hof des Stiftes ging.--Der eine Fensterflügel von Hansens Stube stand wie einstens offen; auch das Schwalbennest war noch da. Zögernd stieg ich die Treppe hinan und öffnete die Stubentür. Da lag meine alte Hansen friedlich und still; das Leintuch, womit man sie bedeckt hatte, war zur Hälfte zurückgeschlagen. Auf der Kante des Bettes saß mein Reisegefährte, aber seine Augen waren über den Leichnam weg auf die nackte Wand gerichtet. Ich sah es wohl, dieser starre Blick ging über eine leere ungeheure Kluft; denn am jenseitigen Ufer stand das unerreichbare Luftbild seiner Jugend, das jetzt mit reißender Schnelle in Dunst zerfloß. Ich hatte mich, anscheinend ohne von ihm bemerkt zu werden, in den Lehnstuhl an das offene Fenster gesetzt und betrachtete das leere Schwalbennest, aus dem noch die Halme und Federn hervorsahen, die einst der nun flügge gewordenen Brut zum Schutze gedient hatten. Als ich wieder ins Zimmer blickte, war der Kopf des alten Mannes dicht über dem der Leiche. Er schien wie sinnverwirrt dies eingefallene Greisenantlitz zu betrachten, das mit dem drohenden Ernst des Todes vor ihm lag. "Könnte ich nur einmal noch die Augen sehen!" murmelte er. "Aber Gott hat sie zugedeckt." Dann, als müsse er es sich beweisen, daß sie es dennoch selber sei, nahm er eine Strähne des grauen glänzenden Haares, das zu beiden Seiten vom Haupte auf das Leintuch herabfloß, und ließ es liebkosend durch seine Hände gleiten. "Wir sind zu spät gekommen, Harre Jensen", rief ich schmerzlich. Er blickte auf und nickte. "Um fünfzig Jahre", sagte er, "das Leben ist auch so vergangen." Dann, während er langsam aufstand, schlug er das Laken zurück und deckte es über das stille Antlitz der Toten. Ein Windstoß fuhr gegen das Fenster. Mir war, als höre ich von draußen, fern aus der höchsten Luftströmung, darin die Schwalben ziehen, die letzten Worte ihres alten Liedes: Als ich wiederkam, als ich wiederkam, War alles leer. Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes In St. Jürgen, von Theodor Storm. End of the Project Gutenberg EBook of In St. Juergen, by Theodor Storm *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK IN ST. JUERGEN *** This file should be named 8926-8.txt or 8926-8.zip Produced by Mike Pullen and Delphine Lettau; Project Gutenberg eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not keep eBooks in compliance with any particular paper edition. We are now trying to release all our eBooks one year in advance of the official release dates, leaving time for better editing. Please be encouraged to tell us about any error or corrections, even years after the official publication date. Please note neither this listing nor its contents are final til midnight of the last day of the month of any such announcement. The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A preliminary version may often be posted for suggestion, comment and editing by those who wish to do so. 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IN ST. JÜRGEN von THEODOR STORM Novelle (1867) Es ist nur ein schmuckloses Städtchen, meine Vaterstadt; sie liegt in einer baumlosen Küstenebene, und ihre Häuser sind alt und finster. Dennoch habe ich sie immer für einen angenehmen Ort gehalten, und zwei den Menschen heilige Vögel scheinen diese Meinung zu teilen. Bei hoher Sommerluft schweben fortwährend Störche über der Stadt, die ihre Nester unten auf den Dächern haben; und wenn im April die ersten Lüfte aus dem Süden wehen, so bringen sie gewiß die Schwalben mit, und ein Nachbar sagt's dem andern, daß sie gekommen sind.--So ist es eben jetzt. Unter meinem Fenster im Garten blühen die ersten Veilchen, und drüben auf der Planke sitzt auch schon die Schwalbe und zwitschert ihr altes Lied: Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm; und je länger sie singt, je mehr gedenke ich einer längst Verstorbenen, der ich für manche gute Stunde meiner Jugend zu danken habe. Meine Gedanken gehen die lange Straße hinauf bis zum äußersten Ende, wo das St.-Jürgens-Stift liegt; denn auch unsere Stadt hat ein solches, wie im Norden die meisten Städte von einiger Bedeutung. Das jetzige Haus ist im sechzehnten Jahrhundert von einem unserer Herzöge erbaut und durch den Wohltätigkeitssinn der Bürger allmählich zu einem gewissen Reichtum gediehen, so daß es nun für alte Menschen, die nach der Not des Lebens noch vor der ewigen Ruhe den Frieden suchen, einen gar behaglichen Aufenthaltsort bildet.--Mit der einen Seite streckt es sich an dem St.-Jürgens-Kirchhof entlang, unter dessen mächtigen Linden schon die ersten Reformatoren gepredigt haben; die andere liegt nach dem innern Hofe und einem angrenzenden schmalen Gärtchen, aus dem in meiner Jugendzeit die Pfründnerinnen sich ihr Sträußchen zum sonntäglichen Gottesdienste pflückten. Unter zwei schweren gotischen Giebeln führt ein dunkler Torweg von der Straße her in diesen Hof, von welchem aus man durch eine Reihe von Türen in das Innere des Hauses, zu der geräumigen Kapelle und zu den Zellen der Stiftsleute gelangt. Durch jenes Tor bin ich als Knabe oft gegangen; denn seitdem, lange vor meiner Erinnerung, die große St.-Marien-Kirche wegen Baufälligkeit abgebrochen war, wurde der allgemeine Gottesdienst viele Jahre hindurch in der Kapelle des St.-Jürgens-Stiftes gehalten. Wie oft zur Sommerzeit, ehe ich in die Kapellentür trat, bin ich in der Stille des Sonntagsmorgens zögernd auf dem sonnigen Hofe stehengeblieben, den von dem nebenliegenden Gärtchen her, je nach der Jahreszeit, Goldlack-, Nelken- oder Resedaduft erfüllte.--Aber dies war nicht das einzige, weshalb mir derzeit der Kirchgang so lieblich schien; denn oftmals, besonders wenn ich ein Stündchen früher auf den Beinen war, ging ich weiter in den Hof hinab und lugte nach einem von der Morgensonne beleuchteten Fensterchen im obern Stock, an dessen einer Seite zwei Schwalben sich ihr Nest gebaut hatten. Der eine Fensterflügel stand meistens offen; und wenn meine Schritte auf dem Steinpflaster laut wurden, so bog sich wohl ein Frauenkopf mit grauem glattgescheiteltem Haar unter einem schneeweißen Häubchen daraus hervor und nickte freundlich zu mir herab. "Guten Morgen, Hansen", rief ich dann; denn nur bei diesem, ihrem Familiennamen, nannten wir Kinder unsere alte Freundin; wir wußten kaum, daß sie auch noch den wohlklingenden Namen "Agnes" führte, der einst, da ihre blauen Augen noch jung und das jetzt graue Haar noch blond gewesen, gar wohl zu ihr gepaßt haben mochte. Sie hatte viele Jahre bei der Großmutter gedient und dann, ich mochte damals in meinem zwölften Jahre sein, als die Tochter eines Bürgers, der der Stadt Lasten getragen, im Stifte Aufnahme gefunden. Seitdem war eigentlich für uns aus dem großmütterlichen Hause die Hauptperson verschwunden; denn Hansen wußte uns allezeit, und ohne daß wir es merkten, in behagliche Tätigkeit zu setzen; meiner Schwester schnitt sie die Muster zu neuen Puppenkleidern, während ich mit dem Bleistift in der Hand nach ihrer Angabe allerlei künstliche Prendelschrift anfertigen oder auch wohl ein jetzt selten gewordenes Bild der alten Kirche nachzeichnen mußte, das in ihrem Besitze war. Nur eines ist mir später in diesem Verkehr aufgefallen; niemals hat sie uns ein Märchen oder eine Sage erzählt, an welchen beiden doch unsere Gegend so reich ist; sie schien es vielmehr als etwas Unnützes oder gar Schädliches zu unterdrücken, wenn ein anderer von solchen Dingen anheben wollte. Und doch war sie nichts weniger als eine kalte oder phantasielose Natur. --Dagegen hatte sie an allem Tierleben ihre Freude; besonders liebte sie die Schwalben und wußte ihren Nesterbau erfolgreich gegen den Kehrbesen der Großmutter zu verteidigen, deren fast holländische Sauberkeit sich nicht wohl mit den kleinen Eindringlingen vertragen konnte. Auch schien sie das Wesen dieser Vögel genauer beobachtet zu haben. So entsinne ich mich, daß ich ihr einst eine Turmschwalbe brachte, die ich wie leblos auf dem Steinpflaster des Hofes gefunden hatte. "Das schöne Tier wird sterben", sagte ich, indem ich traurig das glänzende braunschwarze Gefieder streichelte; aber Hansen schüttelte den Kopf. "Die?" sagte sie, "das ist die Königin der Luft; ihr fehlt nichts als der freie Himmel! Die Angst vor einem Habicht wird sie zu Boden geworfen haben; da hat sie mit den langen Schwingen sich nicht helfen können." Dann gingen wir in den Garten; ich mit der Schwalbe, die ruhig in meiner Hand lag, mich mit den großen braunen Augen ansehend. "Nun wirf sie in die Luft!" rief Hansen. Und staunend sah ich, wie, von meiner Hand geworfen, der scheinbar leblose Vogel gedankenschnell seine Schwingen ausbreitete und mit hellem Zwitscherlaut wie ein befiederter Pfeil in dem sonnigen Himmelsraum dahinschoß. "Vom Turm aus", sagte Hansen, "solltest du sie fliegen sehen; das heißt von dem Turm der alten Kirche, der noch ein Turm zu nennen war." Dann, mit einem Seufzer meine Wangen streichelnd, ging sie ins Haus zurück an die gewohnte Arbeit. "Weshalb seufzt denn Hansen so?" dachte ich.--Die Antwort auf diese Frage erhielt ich erst viele Jahre später, aus einem mir damals gänzlich fremden Munde. Nun war sie in den Ruhestand versetzt, aber ihre Schwalben hatten sie zu finden gewußt, und auch wir Kinder wußten sie zu finden. Wenn ich am Sonntagmorgen vor der Kirchzeit in das saubere Stübchen der alten Jungfrau trat, pflegte sie schon im feiertäglichen Anzuge vor ihrem Gesangbuche zu sitzen. Wollte ich dann neben ihr auf dem kleinen Kanapee Platz nehmen, so sagte sie wohl: "Ei was, da siehst du ja die Schwalben nicht!" Dann räumte sie einen Geranien- oder einen Nelkenstock von der Fensterbank und ließ mich in der tiefen Fensternische auf ihrem Lehnstuhl niedersetzen. "Aber so fechten mit den Armen darfst du nicht", fügte sie dann lächelnd hinzu; "so junge muntere Gesellen sehen sie nicht alle Tage!" Und dann saß ich ruhig und sah, wie die schlanken Vögel im Sonnenscheine ab und zu flogen, ihr Nest bauten oder ihre Jungen fütterten, während Hansen mir gegenüber von der Herrlichkeit der alten Zeit erzählte; von den Festen im Hause meines Urgroßvaters, von den Aufzügen der alten Schützengilde oder--und das war ihr Lieblingsthema--von der Bilder- und Altarpracht der alten Kirche, in der sie selbst noch zur Enkelin des letzten Türmers Gevatter gestanden hatte; bis dann endlich von der Kapelle her der erste Orgelton zu uns herüberbrauste. Dann stand sie auf, und wir gingen miteinander durch einen schmalen endlosen Korridor, welcher nur durch die verhangenen Türfensterchen der zu beiden Seiten liegenden Zellen ein karges Dämmerlicht empfing. Hier und dort öffnete sich eine dieser Türen, und in dem Schein, der einige Augenblicke die Dunkelheit unterbrach, sah ich alte, seltsam gekleidete Männer und Frauen auf den Gang hinausschlurfen, von denen die meisten wohl schon vor meiner Geburt aus dem Leben der Stadt entschwunden waren. Gern hätte ich dann dies oder jenes gefragt; aber auf dem Wege zur Kirche hatte ich von Hansen keine Antwort zu erwarten; und so gingen wir denn schweigend weiter, am Ende des Ganges Hansen mit der alten Gesellschaft auf einer Hintertreppe nach unten zu den Plätzen der Stiftsleute, ich oben auf das Chor, wo ich träumend dem sich drehenden Glockenspiel der Orgel zusah und, wenn unser Propst die Kanzel bestiegen hatte--ich will es gestehen--, seine gewiß wohlgesetzte Predigt meist nur wie ein eintöniges Wellengeräusch und wie aus weiter Ferne an mein Ohr dringen fühlte; denn unter mir, gegenüber, hing das lebensgroße Porträt eines alten Predigers mit langen schwarzkrausen Haaren und seltsam geschorenem Schnurrbart, das bald meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen pflegte. Mit den melancholischen schwarzen Augen blickte es so recht wie aus der dumpfen Welt des Wunder- und Hexenglaubens in die neue Zeit hinauf und erzählte mir weiter von der Stadt Vergangenheit, wie es in den Chroniken zu lesen stand, bis hinab zu dem bösen Stegreifjunker, dessen letzte Untat einst das Epitaphium des Ermordeten in der alten Kirche berichtet hatte.--Freilich, wenn dann plötzlich die Orgel das "Unsern Ausgang segne Gott" einsetzte, so schlich ich mich meist verstohlen wieder ins Freie; denn es war kein Spaß, dem Examen meiner alten Freundin über die gehörte Predigt standhalten zu müssen. Von ihrer eigenen Vergangenheit pflegte Hansen nicht zu erzählen; ich war schon ein paar Jahre lang Student gewesen, als ich bei einem Ferienbesuch in der Heimat darüber zum ersten Mal etwas von ihr erfuhr. Es war im April, an ihrem fünfundsechzigsten Geburtstage. Wie in früheren Jahren, so hatte ich ihr auch heute die beiden hergebrachten Dukaten von der Großmutter und einige kleine Geschenke von uns Geschwistern überbracht und war von ihr mit einem Gläschen Malaga bewirtet worden, den sie für solche Tage in ihrem Wandschränkchen aufbewahrte. Nachdem wir ein Weilchen geplaudert hatten, bat ich sie, mir heute, wie ich schon lange gewünscht, den Festsaal zu zeigen, in dem seit Jahrhunderten die Vorsteher der Stiftung nach der jährlichen Rechnungsablage ihre Schmäuse zu feiern pflegten. Hansen willigte ein, und wir gingen miteinander den dunkeln Korridor entlang; denn der Saal lag jenseits der Kapelle am andern Ende des Hauses. Als ich beim Hinabsteigen der Hintertreppe ausglitt und die letzten Stufen hinabstolperte, wurde unten auf dem Flur eine Tür aufgerissen, und der unheimliche nackte Kopf eines neunzigjährigen Mannes reckte sich daraus hervor. Er murmelte ein paar halbverständliche Scheltworte und stierte uns dann, bis wir durch die Tür der Kapelle traten, mit den verglasten Augen nach. Ich kannte ihn wohl; die Stiftsleute hießen ihn den "Spökenkieker"; denn sie behaupteten, er könne "was sehen". "Die Augen könnten einen fürchten machen", sagte ich zu Hansen, als wir durch die Kapelle gingen. Sie meinte: "Er sieht dich gar nicht; er sieht nur noch rückwärts in sein eignes törichtes und sündhaftes Leben." "Aber", erwiderte ich scherzend, "er sieht doch dort in der Ecke die offenen Särge stehen, während die darin liegen, noch lebend unter euch umherwandern." "Das sind auch nur Schatten, mein Kind; er tut nichts Arges mehr. Freilich", setzte sie hinzu, "ins Stift gehörte er nicht und hat auch nur auf eine der Freistellen des Amtmanns hineinschlüpfen können; denn wir andern müssen unsere bürgerliche Reputation nachweisen, ehe wir hier angenommen werden." Wir hatten inzwischen den Schlüssel bei der Wirtschafterin abgelangt und stiegen nun die Treppe zu dem Festsaal hinauf.--Es war nur ein mäßig großes, niedriges Gemach, das wir betraten. An der einen Wand sah man eine altertümliche Stutzuhr aus dem Nachlaß einer hier Verstorbenen, an der gegenüberstehenden hing das lebensgroße Bild eines Mannes in einfachem rotem Wams; sonst war das Zimmer ohne Schmuck. "Das ist der gute Herzog, der das Stift gebaut hat", sagte Hansen; "aber die Menschen genießen seine Gaben und denken nicht mehr an ihn, wie er es doch bei seiner Lebzeit wohl gewünscht hat." "Aber du gedenkst ja seiner, Hansen." Sie sah mich mit ihren sanften Augen an. "Ja, mein Kind", sagte sie, "das liegt so in meiner Natur; ich kann nur schwer vergessen." Die Wände nach der Straße und nach dem Kirchhofe hatten eine Reihe Fenster mit kleinen in Blei gefaßten Scheiben; und in jeder fast war ein Name, meist aus mir bekannten angesehenen Bürgerfamilien, mit schwarzer Farbe eingebrannt; darunter: "Speisemeister dahier Anno--", und dann folgte die betreffende Jahreszahl. "Siehst du, das ist dein Urgroßvater", sagte Hansen, indem sie auf eine dieser Scheiben wies; "den vergesse ich auch nicht; mein Vater hat bei ihm die Handlung gelernt und später oft Rat und Tat bei ihm geholt; leider, in der schwersten Zeit, da hatte er schon seine Augen zugetan." Ich las einen andern Namen: "Liborius Michael Hansen, Speisemeister Anno 1799." "Das war mein Vater!" sagte Hansen. "Dein Vater? Wie kam es denn eigentlich--?" "Daß ich mein halbes Leben gedient habe, meinst du, während ich doch zu den Honoratiorentöchtern gehörte?" "Ich meine, was war es eigentlich wodurch das Unglück über deine Familie kam?" Hansen hatte sich auf einen der alten Lederstühle gesetzt. "Das war nichts Besonderes, mein Kind", sagte sie; "es war Anno sieben, zur Zeit der Kontinentalsperre; damals florierten die Spitzbuben, und die ehrlichen Leute gingen zugrunde. Und ein ehrlicher Mann war mein Vater!--Er hat den Namen auch mit ins Grab genommen", fuhr sie nach einem kurzen Schweigen fort. "Ich sehe es noch, wie er mir einst, da wir miteinander durch die Krämerstraße gingen, ein altes, nun längst verschwundenes Haus zeigte. "Merke dir das", sagte er zu mir, "hier wohnte Anno 1549, da am Sonntage Jubilate die große Feuersbrunst ausbrach, der fromme Kaufmann Meinke Graveley. Da die Flammen heranbrausten, sprang er mit Elle und Waage auf die Gasse und flehte zu Gott, wenn er je mit Wissen und Willen seinen Nächsten um eines Körnleins Wert geschädiget, so möge sein Haus nicht verschont bleiben. Aber die Flamme sprang darüber hin, während alles rings in Asche fiel. "Siehst du, mein Kind", setzte mein Vater hinzu, indem er seine Hände in die Höhe hob, "das könnte auch ich tun; und auch über unser Haus würde die Strafe des Herrn hinweggehen."--Hansen sah mich an. "Der Mensch soll sich nicht rühmen", sagte sie dann. "Du bist nun alt genug, daß ich dir es wohl erzählen mag; du mußt doch von mir wissen, wenn ich nicht mehr bin. --Mein guter Vater hatte eine Schwäche; er war abergläubig. Diese Schwäche brachte ihn dahin, daß er in den Tagen der äußersten Not etwas beging, das ihm bald das Herz brach; denn er konnte seitdem die Geschichte von dem frommen Kaufmann nicht mehr erzählen. In dem Hause neben uns wohnte ein Tischlermeister. Als er mit seiner Frau frühzeitig verstarb, wurde mein Vater der Vormund seines nachgelassenen Sohnes. Harre--diesen friesischen Namen führte der Knabe--las gern in den Büchern und war auch schon in der Tertia unserer Lateinischen Schule; aber die Mittel reichten doch nicht zum Studieren; und so blieb er denn bei dem Handwerk seines Vaters. Als er später Geselle wurde und nach zweijähriger Wanderung wieder eine Zeitlang bei einem Meister gearbeitet hatte, wurde es auch bald bekannt, daß er zu den feineren Arbeiten in seinem Fach ein besonderes Geschick habe. Wir beide waren miteinander aufgewachsen; als er noch in der Lehre war, las er mir oft aus den Büchern vor, die er sich von seinen früheren Schulkameraden geliehen hatte. Du weißt, wir wohnten am Markt in dem Erkerhause dem Rathause gegenüber; da steht noch jetzt ein mächtiger Buchsbaum im Garten. Wie oft haben wir mit unserem Buche unter diesem Baum gesessen, während über uns die Bienen in den kleinen grünen Blüten summten!--Nach seiner Rückkehr war das nicht anders geworden, er kam oft in unser Haus; mit einem Wort, mein lieber Junge, wir beiden hatten uns gern und suchten das auch nicht zu verbergen. Meine Mutter lebte nicht mehr; was mein Vater dazu dachte und ob er überhaupt etwas darüber gedacht, das hab ich nie erfahren. Auch kam es nicht so weit, daß es ein rechtes Verlöbnis wurde. Eines Morgens in den ersten Frühlingstagen war ich in unsern Garten gegangen; die Krokus und die roten Leberblumen schickten sich schon an zu blühen, es war alles ringsumher so jung und frisch; aber mir selbst war schwer zu Sinne; die Sorgen meines Vaters drückten auch mich. Obwohl er niemals über seine Angelegenheiten zu mir geredet, so fühlte ich doch, daß es immer schneller abwärts ging. In den letzten Monaten hatte ich den Stadtdiener oft und öfter in die Schreibstube gehen sehen; war er fort, so verschloß mein Vater sich stundenlang; und von manchem Mittagessen stand er auf, ohne die Speisen berührt zu haben. In der letzten Woche hatte er einen ganzen Abend damit zugebracht, sich die Karten zu legen; auf meine wie im Scherz hingeworfene Frage, worüber er denn Auskunft von seinem Orakel erwarte, hatte er mich stumm mit der Hand zurückgewiesen und war dann später mit einem kurzen "Gute Nacht" in seine Kammer gegangen. Das alles lag mir auf dem Herzen; und meine Augen, die nach innen sahen, wußten nichts von dem klaren Sonnenschein, der draußen die ganze Welt verklärte. Da hörte ich unten von der Marsch herauf die Lerchen singen; und du weißt es ja wohl, mein Kind, in der Jugend ist das Herz noch so leicht, der kleinste Vogel trägt es mit empor. Mir war plötzlich, als sähe ich über allen Dunst der Sorge hinweg in eine sonnige Zukunft; als brauchte ich nur den Fuß hineinzusetzen. Ich weiß noch, wie ich an den Beeten hinkniete und mit welcher Freude ich nun die Knospen und das junge Grün betrachtete, das überall aus dem Schoß der Erde hervortrieb. Ich dachte auch an Harre und zuletzt, glaub ich, nur an ihn. Indem hörte ich die Gartentür aufklinken, und wie ich aufsah, kam er selber mir entgegen. Ob auch ihn die Lerche froh gemacht hatte--er sah aus wie die Hoffnung selbst. "Guten Morgen, Agnes", rief er, "weiß du was Neues--?" "Ist's denn was Gutes, Harre?" "Versteht sich, was sollt es sonst wohl sein! Ich will Meister werden und das in allernächster Zeit." Kannst du wohl denken, daß ich ordentlich erschrak! Denn ich dachte doch gleich: Mein Gott, nun braucht er auch die Frau Meisterin! Ich mag wohl ganz verdutzt ausgesehen haben; denn Harre fragte mich: "Fehlt dir etwas, Agnes?" "Mir, Harre? Ich glaube nicht", sagte ich. "Der Wind wehte so kühl über mich hin."--Das war nun wohl gelogen; allein der liebe Gott hat es nun einmal so eingerichtet, daß wir in solchem Fall nicht sagen können, was der andere eben hören will. "Aber mir fehlt nun etwas", sagte Harre, "das Allerbeste fehlt mir!" Ich antwortete nichts hierauf, kein Wörtlein. Auch Harren ging eine Weile schweigend neben mir; dann fragte er auf einmal: "Was meinst du, Agnes, ob es wohl schon geschehen ist, daß eine Krämerstochter einen Tischlermeister geheiratet hat?" Als ich aufsah und er mich mit seinen guten braunen Augen so bittend anblickte, da gab ich ihm die Hand und sagte ebenso: "Das wird wohl nun zum erstenmal geschehen." "Agnes", rief Harre, "was werden die Leute sagen!" "Ich weiß nicht, Harre.--Aber wenn nun die Krämerstochter arm wäre?" "Arm, Agnes?" und er faßte mich so recht lustig bei beiden Händen, "ist denn jung und hübsch noch nicht genug?" Es war ein glücklicher Tag damals; die Frühlingssonne schien, wir gingen Hand in Hand; und während wir schwiegen, sangen über uns die Lerchen aus tausend hellen Kehlen. So waren wir unmerklich an den Brunnen gekommen, der an der Holunderwand des Gartens dem Hause gegenüber lag. Ich blickte über die Brettereinfassung in die Tiefe hinab. "Wie drunten das Wasser glitzert!" sagte ich. Das Glück macht mutwillig; Harre wollte mich necken. "Das Wasser?" sagte er. "Das ist das Gold, das aus der Tiefe funkelt." Ich wußte nicht, was er damit meinte. "Weißt du denn nicht, daß ein Schatz in eurem Brunnen liegt?" fuhr er fort. "Guck nur genau zu; es sitzt ein graues Männlein mit dreieckigem Hut auf dem Grunde. Vielleicht ist's auch nur das brennende Licht in seiner Hand, das drunten so seltsam glitzert; denn er ist der Hüter des Schatzes." Mir flog die Not meines Vaters durch den Sinn. Harre hob einen Stein auf und warf ihn hinab, und es dauerte eine Weile, ehe ein dumpfer Schall zu uns zurückkam. "Hörst du, Agnes?" sagte er, "das traf auf die Kiste." "Harre, red vernünftig!" rief ich, "was treibst du für Narrenspossen!" "Ich spreche nur nach, was die Leute vorsprechen!" erwiderte er. Aber meine Neugierde war geweckt, vielleicht auch die Begierde nach den unterirdischen Reichtümern, die aller Not ein Ende machen konnten. "Woher hast du das Gerede?" fragte ich nochmals, "ich habe doch nie davon gehört." Harre sah mich lachend an: "Was weiß ich! von Hans oder Kunz, ich glaub, am letzten Ende kommt es von dem Halunken, dem Goldmacher." "Von dem Goldmacher?"--Mir kamen allerlei Gedanken. Der Goldmacher war ein herabgekommener Trödler; er konnte segnen und raten, Menschen und Vieh besprechen und alle die andern Geheimnisse, womit derzeit noch bei den Leichtgläubigen ein einträgliches Geschäft zu machen war. Es ist derselbe, den sie jetzt den Spökenkieker nennen, welchen Namen er grade so gut wie seinen damaligen verdient hat. Er war in den letzten Tagen, da ich eben auf der Außendiele zu tun hatte, ein paarmal in meines Vaters Schreibstube gegangen und hatte sich dann, ohne auf sein demütig gesprochenes "Herr Hansen bei der Hand?" meine Antwort abzuwarten, mit scheuem Blick an mir vorbeigeschoben. Einmal war er fast eine Stunde drinnen gewesen; kurz vor seinem Fortgehen hatte ich das mir wohlbekannte Pult meines Vaters aufschließen hören; dann war mir gewesen, als vernehme ich das Klirren von Geldstücken. Das alles kam mir jetzt in den Sinn. Aber Harre rüttelte mich auf. "Agnes, träumst du?" rief er, "Oder willst du Schätze graben?" Ach, er kannte nicht die Not meines Vaters; ihm lag nur die eigene Zukunft in Gedanken, in die auch ich hineingehörte. Er ergriff meine beiden Hände und rief fröhlich: "Wir brauchen keine Schätze, Agnes; mein kleines Erbteil hat dein Vater schon für mich erhoben; das reicht hin, um Haus und Werkstatt einzurichten. Und für das Weitere", fügte er lächelnd hinzu, "laß diese nicht ganz ungeschickten Hände sorgen!" Ich vermochte seine hoffnungsreichen Worte nicht zu erwidern; der Schatz und der Goldmacher lagen mir im Sinn; ich weiß nicht, war es eine tollkühne Hoffnung oder der Schatten eines drohenden Unheils, was mir die Brust beklemmte. Vielleicht ahnte es mir, daß kurz darauf der Schatz meines ganzen Lebens in diesen Brunnen fallen würde. Am andern Tage war ich nach einem benachbarten Dorfe hinausgefahren, wo die uns verwandte Predigerfrau sich wegen Erkrankung eines Kindes meine Hülfe erbeten hatte. Aber ich hatte keine Ruhe dort; mein Vater war in den letzten Tagen so still und doch wieder so unruhig gewesen; ich hatte ihn im Garten auf und ab rennen, dann wieder am Brunnen stehen und in die Tiefe hinabstarren sehen; mir wurde angst, er könne sich ein Leides antun. Am dritten Tage glaubte ich mich zu entsinnen, daß er mich auf eine seltsam hastige Weise zu der Reise hingedrängt hatte; je mehr es gegen die Nacht ging, je beklommener wurde mir. Da gegen zehn Uhr der Mond aufging, so bat ich meinen Vetter, mich noch heute zur Stadt fahren zu lassen. Und so geschah es; nachdem er mir vergebens meine Unruhe auszureden gesucht hatte, wurde angespannt; und als es Mitternacht vom Turme schlug, hielt der Wagen vor unserm Hause. Es schien alles zu schlafen; erst als ich eine Zeitlang geklopft hatte, wurde drinnen die Kette abgehakt, und der Lehrling, der seine Kammer unten auf dem Flur hatte, öffnete die Haustür. Es war alles, wie es immer gewesen. "Ist der Herr zu Haus?" fragte ich. "Der Herr ist schon um zehn Uhr schlafen gegangen", war die Antwort. Ich stieg leichteren Herzens nach meiner Kammer hinauf, deren Fenster nach dem Garten lagen.--Die Nacht draußen war so hell, daß ich, ohne Licht zu machen, noch einmal ans Fenster trat. Der Mond stand über der Holunderwand, deren noch unbelaubte Zweige sich scharf gegen den Nachthimmel abzeichneten; und meine Gedanken gingen mit meinen Augen über diese Erde hinaus zu dem großen liebreichen Gott, dem ich all meine Sorgen anvertraute.--Da, wie ich eben in das Zimmer zurücktreten wollte, sah ich plötzlich aus der Röhre des Brunnens, welcher dort im Schatten lag, eine rote Glut emporlodern; ich sah die am Rande wuchernden Grasbüschel und dann darüberher die Zweige des Gebüsches wie in goldenem Feuer schimmern. Mich überfiel eine abergläubische Furcht; denn ich dachte an die Kerze des grauen Männleins, das drunten auf dem Grunde hocken sollte. Als ich aber schärfer hinblickte, bemerkte ich eine Leiter an der Brunnenwand, von der jedoch nur das oberste Ende von hier aus sichtbar war. Im selben Augenblicke hörte ich einen Schrei aus der Tiefe; dann ein Gepolter; und ein dumpfes Getöse von Menschenstimmen scholl herauf. Mit einem Male erlosch die Helligkeit; und ich hörte deutlich, wie es sprossenweise an der Leiter emporklomm. Die Gespensterfurcht verließ mich; aber statt dessen beschlich mich eine unklare Angst um meinen Vater. Mit zitternden Knien ging ich nach seiner Schlafkammer, die neben der meinen lag. Als ich behutsam die Gardine von seinem Bette zurückzog, da beschien der Mond die leeren Kissen; sein armer Kopf hatte wohl schon längst nicht mehr die Ruhe darauf gefunden; jetzt waren sie gänzlich unberührt. In Todesangst lief ich die Treppe hinab nach der Hoftür; aber sie war verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Ich ging in die Küche und zündete Licht an; dann nach der Schreibstube, die ebenfalls ihre Fenster nach dem Garten hatte. Eine Zeitlang stand ich ratlos am Fenster und starrte hinaus; ich hörte Tritte zwischen den Holunderbüschen, aber ich konnte nichts unterscheiden; denn die dahinterstehende Planke verbreitete trotz des Mondscheins tiefen Schatten. Da hörte ich draußen die Hoftür aufschließen, und bald darauf wurde auch die Stubentür geöffnet. Mein Vater trat herein.--Ich bin so alt geworden, aber ich habe es nicht vergessen; sein langes graues Haar triefte von Wasser oder Schweiß; seine Kleider, die er sonst so peinlich sauber hielt, waren überall mit grünem Schlamm besudelt. Er fuhr sichtbar zusammen, als er mich erblickte. "Was ist das! Wie kommst du hieher?" sagte er hart. "Der Vetter ließ mich herfahren, Vater!" "Um Mitternacht?--Das hätte er können bleibenlassen." Ich sah meinen Vater an; er hatte die Augen niedergeschlagen und stand unbeweglich. "Es ließ mir keine Ruhe", sagte ich, "Mir war, ich sei hier nötig, als müsse ich zu dir." Der alte Mann ließ sich auf einen Stuhl sinken und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. "Geh in deine Kammer", murmelte er; "ich will allein sein." Aber ich ging nicht. "Laß mich bei dir bleiben", sagte ich leise. Mein Vater hörte nicht auf mich; er erhob den Kopf und schien nach draußen hinzuhorchen. Plötzlich sprang er auf. "Still!" rief er, "hörst du's?" und sah mich mit weit offenen Augen an. Ich war ans Fenster getreten und sah hinaus. Es war alles tot und stille; nur die Holunderzweige schlugen, vom Nachtwinde bewegt, gegeneinander. "Ich höre nichts!" sagte ich. Mein Vater stand noch immer, als höre er auf etwas, das ihn mit Entsetzen erfüllte. "Ich meinte, es sei keine Sünde", sprach er vor sich hin; "es ist kein gottloses Wesen dabei, und der Brunnen steht, bis jetzt wenigstens, auf meinem Grund." Dann wandte er sich zu mir. "Ich weiß, du glaubst nicht daran, mein Kind", sagte er, "aber es ist dennoch gewiß; die Rute hat dreimal geschlagen, und die Nachrichten, die ich nur zu teuer habe bezahlen müssen, stimmen alle überein; es liegt ein Schatz in unserm Brunnen, der zur Schwedenzeit darin vergraben ist. Warum sollte ich ihn nicht heben!--Wir haben die Quelle abgedämmt und das Wasser ausgeschöpft, und heute nacht haben wir gegraben." "Wir?" fragte ich. "Von welchem andern sprichst du?" "Es ist nur einer in der Stadt, der das versteht." "Du meinst doch nicht den Goldmacher? Das ist kein guter Helfer!" "Es ist nichts Gottloses mit dem Rutenschlagen, mein Kind." "Aber die es treiben, sind Betrüger."--Mein Vater hatte sich wieder auf den Stuhl gesetzt und sah wie zweifelnd vor sich hin. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: "Der Spaten klang schon darauf; aber da geschah etwas"; --und sich unterbrechend, fuhr er fort: "Vor achtzehn Jahren starb deine Mutter; als sie es inne wurde, daß sie uns verlassen müsse, brach sie in ein bitteres Weinen aus, das kein Ende nehmen wollte, bis sie in ihren Todesschlaf verfiel. Das waren die letzten Laute, die ich aus deiner Mutter Mund vernahm." Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er zögernd, als scheue er sich vor dem Laut seiner eignen Stimme: "Heute nacht, nach achtzehn Jahren, da der Spaten auf die Kiste stieß, habe ich es wieder gehört. Es war nicht bloß in meinem Ohr, wie es all die Jahre hindurch so oft gewesen ist; unter mir, aus dem Grund der Erde kam es herauf.--Man darf nicht sprechen bei solchem Werk; aber mir war, als schnitte das Eisen in deiner toten Mutter Herz.--Ich schrie laut auf, da erlosch die Lampe, und--siehst du", setzte er dumpf hinzu, "deshalb ist alles wieder verschwunden." Ich warf mich vor meinem Vater auf die Knie und legte meine Hände um seinen Nacken. "Ich bin kein Kind mehr", sagte ich, "laß uns zusammenhalten, Vater; ich weiß, das Unglück ist in unser Haus gekommen." Er sagte nichts; aber er lehnte seine feuchte Stirn an meine Schulter; es war das erste Mal, daß er an seinem Kinde eine Stütze suchte. Wie lange wir so gesessen haben, weiß ich nicht. Da fühlte ich, daß meine Wangen von heißen Tränen naß wurden, die aus seinen alten Augen flossen. Ich klammerte mich an ihn. "Weine nicht, Vater", bat ich, "wir werden auch die Armut ertragen können." Er strich mit seiner zitternden Hand über mein Haar und sagte leise, so leise, daß ich es kaum verstehen konnte: "Die Armut wohl, mein Kind, aber nicht die Schuld." Und nun, mein Junge, kam eine bittere Stunde; aber eine, die noch jetzt in meinem Alter mir als die trostvollste meines Lebens erscheint. Denn zum ersten Male konnte ich meinem Vater die Liebe seines Kindes geben; und von jenem Augenblicke an blieb sie ihm das Teuerste und bald auch das letzte, was er auf Erden noch sein nannte. Während ich neben ihm saß und heimlich meine Tränen niederschluckte, schüttete mein Vater mir sein Herz aus. Ich wußte nun, daß er vor dem Bankerott stand; aber das war das Schlimmste nicht. In einer schlaflosen Nacht, da er vergebens auf seinem heißen Kissen nach einem Ausweg aus dem Elend gesucht, war ihm die halbvergessene Sage von dem Schatz in unserem Brunnen wieder in den Sinn gekommen. Der Gedanke hatte ihn seitdem verfolgt; tags, wenn er über seinen Büchern saß, des Nachts, wenn endlich ein schwerer Schlummer auf seiner Brust lag. In seinen Träumen hatte er das Gold im dunkeln Wasser brennen sehen; und wenn er morgens aufgestanden, immer wieder hatte es ihn hinaus an den Brunnen getrieben, um wie gebannt in die geheimnisvolle Tiefe hinabzustarren. Da hatte er sich dem argen Gehülfen anvertraut. Aber der war keineswegs sogleich bereit gewesen, sondern hatte vor allem eine bedeutende Summe zu den notwendigen Vorbereitungen des Werkes verlangt. Mein Armer Vater hatte schon keinen Willen mehr; er gab sie hin, und bald eine zweite und dritte. Das Traumgold verschlang das wirkliche, das noch in seinen Händen war; aber dieses Gold war nicht sein eigen; es war das anvertraute Erbe seines Mündels. An Ersatz war nicht zu denken; wir rieten hin und wider; Verwandte, die uns zu helfen vermocht, hatten wir nicht; dein Großvater war nicht mehr; endlich gestanden wir uns, daß von außen keine Hülfe zu hoffen sei.--Das Licht war ausgebrannt, ich hatte meinen Kopf an meines Vaters Brust gelegt, meine Hand ruhte in der seinen; so blieben wir im Dunkeln sitzen. Was dann weiter im geheimen Zwiesprach dieser Nacht zwischen uns gesprochen wurde, ich weiß es nicht mehr. Aber niemals zuvor, da noch mein Vater unfehlbar vor mir stand, wie fast nur unser Herrgott selber, habe ich solch heilige Zärtlichkeit für ihn gefühlt wie in jener Stunde, da er mir eine Tat vertraut hatte, die wohl nicht bloß vor den Augen der Menschen ein Verbrechen war.--Allgemach erblichen am Himmel draußen die Sterne, ein kleiner Vogel sang aus den Holunderbüschen, und der erste Schein des Morgenrots fiel in das dämmerige Zimmer. Mein Vater stand auf und trat an das Pult, auf dem seine großen Kontobücher lagen. Das lebensgroße Ölbild des Großvaters, mit dem Haarbeutel und dem lederfarbenen Kamisol, schien strenge auf den Sohn herabzusehen. "Ich werde noch einmal rechnen", sagte mein Vater, "bleibt das Fazit dasselbe", setzte er zögernd hinzu, indem er wie um Vergebung flehend zu dem Bilde seines Vaters aufblickte, "dann werde ich einen schweren Gang tun; denn ich bedarf der Barmherzigkeit Gottes und der Menschen." Auf seinen Wunsch verließ ich jetzt das Zimmer, und bald wurde es laut im Hause; der Tag war angebrochen. Als ich die nötigen Geschäfte besorgt hatte, ging ich in den Garten und durch das Hinterpförtchen auf den Weg hinaus; Harre pflegte hier vorbeizukommen, wenn er morgens nach der Werkstatt ging, in der er bis jetzt noch arbeitete. Ich brauchte nicht lange zu warten; als die Uhr sechs geschlagen, sah ich ihn kommen. "Harre, einen Augenblick!" sagte ich und winkte ihm, mit mir in den Garten zu treten. Er sah mich befremdet an; denn meine böse Botschaft war wohl auf meinem Gesicht geschrieben; auch stand ich, als ich ihn in eine Ecke des Gartens gezogen hatte, eine ganze Zeit und hatte seine Hand gefaßt, ohne daß ich ein Wort hervorbringen konnte. Endlich aber sagte ich ihm alles, und dann bat ich ihn: "Mein Vater will zu dir gehen; sei nicht zu hart mit ihm." Er war totenblaß geworden, und in seine Augen trat ein Ausdruck, vielleicht nur der Verzweiflung, der mich erschreckte. "Harre, Harre, was willst du mit dem alten Mann beginnen?" rief ich. Er drückte die Hand gegen seine Brust. "Nichts, Agnes", sagte er, indem er mich traurig lächelnd ansah; "aber ich muß nun fort von hier." Ich erschrak.--"Weshalb?" fragte ich stammelnd. "Ich darf deinen Vater nicht wiedersehen." "Du wirst ihm ja doch vergeben, Harre!" "Das wohl, Agnes; ich schulde ihm mehr als das; aber--er soll sein graues Haupt vor mir nicht demütigen. Und dann"--das setzte er wie beiläufig noch hinzu--, "ich glaube auch, es geht jetzt mit dem Meisterwerden nicht." Ich sagte nichts hierauf; ich sah nur, wie das Glück, nach dem ich gestern schon die Hand gestreckt, in unsichtbare Ferne schwand; aber es war nichts mehr zu ändern; es war jetzt am besten so, wie es Harre wollte. Nur das sagte ich noch: "Wann wirst du gehen, Harre?" Ich wußte selbst kaum, was ich sprach. "Sorge nur, daß dein Vater mich heute nicht aufsucht", erwiderte er; "bis morgen früh bin ich mit allem fertig, was ich noch hier zu tun habe. Kränke dich auch nicht um mich, ich finde leicht ein Unterkommen." Nach diesen Worten trennten wir uns; das Herz war wohl zu voll, als daß wir Weiteres hätten sprechen können."--Die Erzählerin schwieg eine Weile. Dann sagte sie: "Am andern Morgen sah ich ihn noch einmal, und dann nicht mehr; das ganze lange Leben niemals mehr." Sie ließ den Kopf auf ihre Brust sinken; die Hände, die auf ihrem Schoß geruht hatten, wand sie leise umeinander, als müsse sie damit das Weh beschwichtigen, das, wie einst das Herz des jungen blonden Mädchens, so noch jetzt den gebrechlichen Leib der Greisin zittern machte. Doch sie blieb nicht lange in dieser gebrochenen Stellung; sich gewaltsam aufraffend, erhob sie sich vom Stuhl und trat ans Fenster. "Was will ich klagen!" sagte sie und zeigte mit dem Finger auf die Scheibe, die ihres Vaters Namen trug. "Der Mann hat mehr gelitten als ich. Laß mich auch das dir noch erzählen."--Harre war fort; er hatte von meinem Vater in einem herzlichen guten Briefe Abschied genommen; gesehen haben sie sich nicht mehr. Bald darauf waren die letzten gerichtlichen Schritte gegen uns getan, und die Eröffnung des Konkurses sollte in nächster Zeit erfolgen. Es war damals Sitte in unserer Stadt, daß alle öffentlichen Bekanntmachungen nicht wie jetzt durch den Prediger in der Kirche, sondern aus dem offenen Fenster des Ratssitzungssaales durch den Stadtsekretär verlesen wurden; bevor aber dies geschah, wurde eine halbe Stunde lang mit der kleinen Glocke vom Turm geläutet. Da unser Haus dem Rathause gegenüber lag, so hatte ich dies oft beobachtet, und auch, wie sich unter dem Glockenschall Kinder und müßige Leute vor den Rathausfenstern und auf der Treppe über dem Ratskeller versammelten. Das nämliche geschah bei der Publizierung eines Konkursurtels; aber die Leute legten dann der Sache eine üble Bedeutung unter, und das Wort "Die Glocke hat über ihn geläutet", galt für einen Schimpf.--Ich hatte auch in solchen Fällen ohne viel Gedanken hingehört; jetzt zitterte ich vor dem Eindruck, den dieser Vorgang auf das Gemüt meines ohnehin tiefgebeugten Vaters machen würde. Er hatte mir vertraut, daß er sich deshalb durch einen befreundeten Ratsherrn an den Bürgermeister gewandt habe; und der Ratsherr, ein gutmütiger Schwätzer, hatte ihm die Zusicherung gegeben, daß die Publikation diesmal ohne die Glocke geschehen würde. Ich selbst aber wußte aus sicherer Quelle, daß diese Zusicherung eine grundlose war. Dennoch ließ ich meinen Vater in seinem arglosen Glauben und bemühte mich nur, ihn für diesen Tag zu einer kleinen Reise aufs Land zu unsern Verwandten zu bereden. Aber er wollte, wie er mit schmerzlichem Lächeln sagte, sein sinkendes Schiff nicht vor dem völligen Untergang verlassen. Da, in meiner Angst, fiel mir ein, daß ich in dem hintersten Verschlage unseres sehr tiefen und gewölbten Kellers die Glocke niemals hatte schlagen hören. Darauf baute ich meinen Plan. Es gelang mir auch, meinen Vater zu bereden, mit mir gemeinschaftlich ein Verzeichnis über die dort lagernden Waren aufzunehmen, wodurch, wenn später die Gerichtspersonen zur Aufnahme des Inventars kämen, eine Abkürzung dieses traurigen Geschäfts herbeigeführt würde. Als die verhängnisvolle Stunde kam, waren wir schon längst unter der Erde bei unserer Arbeit. Mein Vater sortierte die Waren, ich beim Schein einer Laterne schrieb auf ein Blatt Papier, was er mir diktierte. Ein paarmal war mir wohl gewesen, als hörte ich von fern das Summen einer Glocke; dann sprach ich ein paar laute Worte, bis das Schieben und Rücken mit den Fässern und Kisten allen von außen eindringenden Schall wieder verschlang. Alles schien gut zu gehen, mein Vater war ganz in seine Arbeit vertieft. Da hörte ich plötzlich droben die Kellertür aufreißen; die alte Magd rief, ich weiß nicht mehr weshalb, nach mir, und zugleich drangen auch die klaren Schallwellen der Glocke zu uns herab. Mein Vater horchte auf und setzte die Kiste, die er in den Händen hatte, auf den Boden. "Die Schandglocke!" stöhnte er und fiel wie kraftlos gegen die Wand. "Es wird mir nichts erspart."--Aber nur einen Augenblick; dann richtete er sich auf, und ehe ich noch Zeit bekam, ein Wort zu reden, hatte er schon den Raum verlassen, und gleich darauf hörte ich ihn die Kellertreppe hinaufsteigen. Auch ich ging jetzt in das Haus hinauf und fand meinen Vater, nachdem ich ihn vergebens in der Schreibstube gesucht, im Wohnzimmer mit gefalteten Händen am offnen Fenster stehen. In diesem Augenblick hörte das Glockenläuten auf; im Rathaus drüben, das von der hellen Morgensonne beleuchtet war, wurden die drei Fensterflügel aufgestoßen, und ich sah den Stadtdiener die roten Polster auf die Fensterbänke legen; an dem Eisengeländer der Ratstreppe hing schon ein ganzer Schwarm von halberwachsenen Buben. Mein Vater stand unbeweglich und sah mit gespannten Augen zu. Ich wollte ihn mit sanften Worten fortziehen. Aber er wehrte mir. "Laß nur, mein Kind", sagte er, "das geht mich an, ich muß das hören." So blieb er denn. Der alte Stadtsekretär mit seinem weißgepuderten Kopf erschien drüben in dem Mittelfenster, und während ihm zur Seite zwei Ratsherren auf den roten Kissen lehnten, verlas er mit seiner scharfen Stimme aus einem Blatt Papier, das er in beiden Händen vor sich hielt, das Konkursurtel. Bei der klaren Frühlingsluft drang jedes Wort verständlich zu uns herüber. Als mein Vater seinen vollen Namen über den Markt hinaussprechen hörte, sah ich ihn zusammenzucken; aber er hielt dennoch stand, bis alles vorüber war. Dann zog er seine goldene Uhr, die er von seinem Vater ererbt hatte, aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. "Sie gehört zur Konkursmasse", sagte er, "Schließe sie in die Schatulle, damit sie morgen mit versiegelt werde." Am andern Tage kamen die Herren zur Versiegelung; aber mein Vater konnte das Bett nicht verlassen; er war in der Nacht vom Schlage getroffen worden. --Als einige Monate später unser Haus verkauft war, wurde er in einem Tragkorb, den wir aus dem Krankenhause geliehen, nach der kleinen Wohnung gebracht, die wir am Ende der Stadt für uns gemietet hatten. Dort hat er noch neun Jahre gelebt; ein gelähmter und gebrochener Mann. In seinen guten Stunden besorgte er kleine Rechnungen und Schreibereien für andere; das meiste habe ich mit meiner Hände Arbeit verdienen müssen. Dann aber ist er in fester Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes in meinen Armen sanft verschieden.--Nach seinem Tode kam ich zu guten Leuten; es war das Haus deiner Großeltern." Meine alte Freundin schwieg. Ich aber dachte an Harre.--"Und hast du denn", fragte ich, "während der ganzen Zeit auch niemals eine Nachricht von deinem Jugendfreunde erhalten?" "Niemals, mein Kind", erwiderte sie. "Weißt du, Hansen", sagte ich, "dein Harre gefällt mir nicht, er war kein Mann von Wort!" Sie legte die Hand auf meinen Arm. "So darfst du nicht sprechen, Kind. Ich habe ihn gekannt; es gibt noch andere Dinge als den Tod, die des Menschen Willen zwingen.--Aber wir wollen nach meinem Zimmer gehen; du hast deinen Hut noch dort, und es mag bald Mittag werden." So schlossen wir denn den einsamen Festsaal wieder ab und gingen denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Diesmal öffnete sich die Tür des Spökenkiekers nicht; nur hinter derselben, auf den sandigen Dielen, hörten wir seinen schlurfenden Schritt. Als wir in Hansens Zimmer waren, wo noch der letzte Strahl der Vormittagssonne in die Fenster schien, zog sie eine Schublade ihrer Schatulle auf und nahm daraus ein Mahagonikästchen, sauber poliert, aber im Geschmack einer vergangenen Zeit. Es mochte einst ein Geschenk des jungen Tischlers an einem Geburtstage ihrer Jugend gewesen sein. "Das mußt du auch noch sehen", sagte Hansen, indem sie das Kästchen aufschloß. Es lagen Wertpapiere darin, welche sämtlich auf Harre Jensen, "Sohn des verstorbenen Tischlermeisters Harre Christian Jensen dahier", lauteten, deren Datum aber nicht über die letzten zehn Jahre hinabreichte. "Wie kommst du zu diesen Papieren?" fragte ich. Sie lächelte. "Ich habe nicht umsonst gedient." "Aber die Papiere lauten nicht auf deinen Namen!" "Es ist die Schuld meines Vaters, die ich zurückerstatte. Deshalb, und weil mein Nachlaß, wie aller, die hier versterben, an das Stift fällt, habe ich das Geld sofort auf Harre Jensens Namen schreiben lassen."--Einen Augenblick noch, ehe sie es wieder einschloß, wog sie das Kästchen auf der Hand. "Der Schatz ist wieder beisammen", sagte sie, "aber das Glück, mein Kind, das Glück, das einst darin gewesen ist. Das ist nicht mehr darin." Als sie diese Worte sprach, schoß draußen ein Schwalbenzug mit lautem Geschrei vorüber, und gleich darauf flatterten zwei dieser Vögel bis nahe an die Scheiben und setzten sich dann zwitschernd auf den offnen Fensterflügel. Es waren die ersten Schwalben, die ich in diesem Frühjahr sah. "Hörst du die kleinen Gratulanten, Hansen?" rief ich, "just zu deinem Geburtstag sind sie heimgekommen!" Hansen nickte nur. Ihre noch immer schönen blauen Augen blickten traurig auf die kleinen singenden Freunde. Dann legte sie die Hände auf meinen Arm und sagte freundlich: "Geh nun, mein Kind; ich danke allen, daß sie an mich gedacht. Ich möchte nun allein sein." Es war mehrere Jahre später, als ich mich von einer Reise nach dem mittleren Deutschland auf dem Heimwege nach meiner Vaterstadt befand. Auf einer Hauptstation der Eisenbahn--denn die Zeit des Dampfes war damals schon hereingebrochen--stieg ein alter Mann mit weißem Haar zu mir in das Coupé, worin ich mich bisher allein befunden hatte. Er ließ sich einen kleinen Reisekoffer nachreichen, den ich ihm unter den Sitz schieben half, und setzte sich dann mit den freundlichen Worten: "Wir haben auch noch nie beisammengesessen", mir gegenüber. Als er dies sagte, erschien um den Mund und um die braunen Augen ein Ausdruck der Güte, ich möchte sagen der Teilnahme, der unwillkürlich zu traulichem Gespräche einlud. Die Sauberkeit seiner äußern Erscheinung, die sich nicht bloß in dem braunen Tuchrock und dem weißen Halstuch ausprägte, das feinbürgerliche Wesen des Mannes, alles heimelte mich an, und es dauerte nicht lange, so hatten wir uns in gegenseitige Mitteilungen über unsere Familienverhältnisse vertieft. Ich erfuhr, daß er ein Klaviermacher und in einer mittelgroßen Stadt Schwabens ansässig sei. Dabei fiel mir eines auf; mein Reisegefährte sprach den süddeutschen Dialekt, und doch hatte ich auf seinem Koffer den Namen "Jensen" gelesen, der meines Wissens nur dem nördlichsten Deutschland angehörte. Als ich ihm das bemerkte, lächelte er. "Ich mag schon ziemlich eingeschwäbelt sein", sagte er, "denn ich wohne nun seit über vierzig Jahren in diesem guten Lande und habe es in dieser Zeit niemals verlassen; meine Heimat aber liegt im Norden, und daher stammt denn auch mein Name." Und nun nannte er meine eigene Vaterstadt als seinen Geburtsort. "So sind wir Landsleute so sehr als möglich", rief ich, "dort bin auch ich geboren und eben im Begriff, dahin zurückzukehren." Der alte Herr ergriff meine beiden Hände und sah mich liebevoll an. "Das hat der liebe Gott gut gemacht", sagte er, "so reisen wir, wenn es Ihnen recht ist, zusammen. Auch mein Ziel ist unsere Vaterstadt; ich hoffe auf ein Wiedersehen dort--wenn Gott es zuläßt." Ich nahm mit Freuden diesen Vorschlag an. Nachdem wir den derzeitigen Endpunkt der Eisenbahn erreicht hatten, lagen noch fünf Meilen Weges vor uns, und bald saßen wir zusammen in den bequemen Kissen eines Federwagens, dessen Bedachung wir bei dem schönen Herbstwetter zurückgeschlagen hatten. Die Gegend wurde allmählich heimatlicher; die Wälder verschwanden, bald auch die lebendigen Zäune zur Seite des Weges, ja sogar die Wälle, auf denen sie standen, und die weite baumlose Ebene tat sich vor uns auf. Mein Gefährte blickte still vor sich hinaus. "Ich bin dieser Unendlichkeit des Raumes so entwöhnt", sagte er einmal; "mir ist jetzt hier, als sähe ich nach allen Seiten in die Ewigkeit." Dann schwieg er wieder, und ich störte ihn nicht. Als wir etwa auf der Mitte des Weges aus einem Dorfe, durch das die Landstraße führte, wieder ins Freie kamen, bemerkte ich, daß er den Kopf vorbeugte und eifrig auszulugen schien. Dann beschattete er die Augen mit seiner Hand und wurde sichtbar unruhig. "Ich sehe doch sonst noch so gut in die Ferne", sagte er endlich, "aber ich bemühe mich umsonst, unsern Turm von hier in Sicht zu bekommen, und doch hab ich ihn in meiner Jugend von hier aus immer zuerst begrüßt, wenn ich von einer Wanderung heimkehrte." "Sie müssen sich irren", erwiderte ich, "der niedrige Turm kann in solcher Entfernung noch nicht sichtbar sein." "Niedrig!" rief der Alte fast unwillig, "der Turm hat seit Jahrhunderten auf viele Meilen in die See hinaus den Schiffern zum Wahrzeichen gedient!" Da fiel es mir bei. "Sie denken am Ende", sagte ich zögernd, "noch an den Turm der alten Kirche, die vor reichlich vierzig Jahren abgebrochen wurde." Der Alte sah mich mit seinen großen Augen an, als ob ich faselte. "Die Kirche abgebrochen--und vor über vierzig Jahren! Mein Gott, wie lange bin ich fort gewesen; ich habe niemals etwas davon erfahren!" Er faltete seine Hände und saß eine ganze Weile wie mutlos in sich zusammengesunken. Dann sagte er: "Auf jenem schönen Turm, der also nur in meinen Gedanken noch vorhanden war, habe ich vor nun bald fünfzig Jahren der das Wiederkommen versprochen, um deren willen ich jetzt diese weite Reise mache. Ich will Ihnen, wenn Sie hören mögen, dies Stück meines Lebens mitteilen; vielleicht, daß Sie mir dann über die Hoffnung, die ich hege, eine Auskunft zu geben vermögen." Ich versicherte den alten Herrn meiner Teilnahme; und während unser Postillion in der warmen Mittagssonne auf seinem Sitze einnickte und die Räder langsam durch den Sand mahlten, begann er seine Erzählung: "In meiner Jugend hätte ich gern den Weg einer gelehrten Bildung eingeschlagen; da aber nach dem frühzeitigen Tode meiner Eltern die Mittel dazu nicht vorhanden waren, so blieb ich bei dem Handwerk meines Vaters, das heißt, ich wurde Tischler. Schon während ich als Geselle auf der Wanderschaft war, hatte ich nicht übel Lust, mich draußen anzusiedeln; denn es fehlte mir nicht ganz an Mitteln; aus dem Verkauf des väterlichen Hauses war mir ein rundes Sümmchen übriggeblieben, das für den Anfang schon genügte. Aber ich kehrte doch wieder heim, und das geschah um eines jungen blonden Mädchens willen.--Ich glaube nicht, daß ich jemals wieder so blaue Augen gesehen habe. Eine Freundin sagte einmal im Scherz zu ihr: "Agnes, ich pflück dir die Veilchen aus den Augen!" Die Worte hab ich nimmer vergessen können."--Der Alte schwieg eine Weile und blickte verklärt vor sich hin, als sähe er noch einmal in diese Veilchenaugen seiner Jugend. Darauf, während ich fast unwillkürlich den Namen meiner alten Freundin in St. Jürgen bei mir selber sprach, begann er wieder: "Sie war die Tochter eines Krämers, meines Vormundes. Wir wuchsen als Nachbarkinder miteinander auf, während das Mädchen von dem früh verwitweten Vater ziemlich streng und einsam erzogen wurde. Daher mag es gekommen sein, daß sie sich immer mehr dem einzigen Jugendgespielen anschloß. Bald nach meiner Rückkehr waren wir unter uns beiden so gut als verlobt, und es war schon ausgemacht, daß ich in unserer Vaterstadt ein Geschäft begründen sollte, als ich durch einen unerwarteten Zufall mein ganzes kleines Vermögen verlor.--Es kam so, daß ich wieder fort mußte. Am letzten Tage hatte Agnes mir versprochen, abends noch einmal auf den Weg hinter ihrem Garten hinauszukommen und dort ein letztes Wort mit mir zu reden. Als ich mich aber mit dem bestimmten Glockenschlage einfand, war sie nicht dort. Ich stand lauschend an der Planke unter dem überhängenden Lindengezweig, aber ich wartete vergebens. Das Haus ihres Vaters konnte ich damals nicht betreten; nicht daß ein Zwiespalt zwischen uns gewesen wäre, ich glaube im Gegenteil, daß er mir die Hand seiner Tochter ohne großes Bedenken würde gegeben haben; denn er hielt etwas auf mich und war kein hochmütiger Mann. Es hatte einen andern Grund, den ich nicht gern der Vergessenheit entreißen möchte.--Ich weiß es noch gar wohl. Es war ein dunkler, stürmischer Aprilabend; mehrmals täuschte mich die Wetterfahne auf dem Dache, daß ich glaubte, die mir wohlbekannte Hoftür öffnen zu hören, aber es kam kein Schritt den Gartensteig herab. Noch lehnte ich an der Planke und sah die schwarzen Wolken am Himmel vorüberfliegen; endlich ging ich schweren Herzens fort.--Am andern Morgen hatte es eben fünf vom Turme geschlagen, als ich nach einer schlaflosen Nacht die Treppe von meiner Kammer hinabstieg und von meinen Hauswirten Abschied nahm. In den engen, schlecht gepflasterten Straßen war noch die Dunkelheit und der Schmutz des Winters. Die Stadt schien noch im Schlaf zu liegen; von allen bekannten Gesichtern wollte mir keins begegnen, und so ging ich einsam und trübselig meinen Weg. Da, als ich eben nach dem Kirchhof einbiegen wollte, brach ein scharfer Sonnenstrahl hervor, und das alte Haus der Ratsapotheke, das unten mit seinem Löwenschnitzbild noch in dem Dunst der Gasse stand, war oben mit der Spitze des Treppengiebels auf einmal wie in Frühlingsschein gebadet. Zugleich, als ich eben aufschaue, schallt über mir hoch in der Luft ein langgezogener Ton; dann noch einmal und noch einmal, als riefe es weit in die Welt hinaus. Ich war auf den Kirchhof hinausgetreten und blickte an dem Turm hinauf; da sah ich oben auf der Galerie den Türmer stehen und sah, wie er sein langes Horn noch in der Hand hielt. Ich wußte es nun wohl; die ersten Schwalben waren gekommen, und der alte Jakob hatte ihnen den Willkommen geblasen und es laut über die Stadt gerufen, daß der Frühling ins Land gekommen sei. Dafür bekam er seinen Ehrentrunk im Ratsweinkeller und einen blanken Reichstaler vom Herrn Bürgermeister.--Ich kannte den Mann und war oft droben bei ihm gewesen; als Knabe, um von dort aus meine Tauben fliegen zu sehen, später auch wohl mit Agnes; denn der Alte hatte ein Enkeltöchterchen bei sich, zu dem sie Pate gestanden und deren sie sich auf allerlei Art anzunehmen pflegte. Einmal, am Christabend, hatte ich ihr sogar ein vollständiges Weihnachtsbäumchen den hohen Turm hinaufschleppen helfen.--Nun stand die wohlbekannte Eichentür offen; unwillkürlich trat ich hinein, und in der Finsternis, die mich plötzlich umgab, stieg ich langsam die Treppen und, wo diese aufhörten, die schmalen leiterartigen Stiegen hinan. Nichts hörte ich als das Rasseln der großen Turmuhr, die hier in der Einsamkeit ihr Wesen trieb. Ich weiß es noch gar wohl, mir grauete dermalen vor diesem toten Dinge, und ich hätte, als ich daran vorbeikam, in die eisernen Räder greifen mögen, nur um es stillzumachen. Da hörte ich den alten Jakob von oben herabklettern. Er schien mit einem Kinde zu sprechen, das er zur Vorsicht ermahnte. Ich rief ihm einen "Guten Morgen" in die Dunkelheit hinauf und fragte, ob er die kleine Meta bei sich habe. "Bist du's, Harre?" rief der Alte zurück, "freilich, die muß mit zum Herrn Bürgermeister." Endlich kamen die beiden zu mir herab, während ich seitwärts in eine Schalluke getreten war. Als Jakob mich so reisefertig neben sich sah, rief er verwundert: "Was soll das bedeuten, Harre? Was steigst denn da mit Knüttel und Wachstuchhut in meinen Turm hinauf? Bist doch nicht wieder fremd geworden bei uns daheim?" "Es ist nicht anders, Jakob", erwiderte ich, "'s wird hoffentlich nicht auf lange sein." "Hatt's mir ganz anders mit dir ausgedacht!" brummte der Alte. "Nun, wenn's denn einmal sein muß, die Schwalben sind wieder da; es ist jetzt schon die beste Zeit zum Wandern. Und hab auch Dank, daß du noch mal gekommen bist!" "So lebt wohl, Jakob!" sagte ich. "Und wenn Ihr mich von Eurem Turm herab einmal im hellen Sonnenschein wieder ins Tor hineinwandern seht, so blast auch mir einen Willkommen wie heute Euren Schwalben!" Der Alte schüttelte mir die Hand, indem er sein Enkelchen auf den Arm nahm. "Soll gelten, Meister Harre!" rief er lächelnd; er pflegte mich im Scherze so zu nennen. Als ich mich aber anschickte, wieder mit ihm hinabzusteigen, fügte er noch hinzu: "Wenn du einen guten Weg von der Agnes haben willst, sie ist oben, schon seit früh; sie hat noch ihr Gefallen an den Vögelchen." Wohl niemals bin ich so schnell die letzten halsbrechenden Stiegen hinaufgekommen, obgleich mir der Herzschlag fast den Atem versetzte. Als ich aber oben auf die Plattform und in den blendenden Himmelsschein hinaustrat, blieb ich unwillkürlich stehen und tat einen Blick über das Eisengeländer. Da sah ich unter mir in der Tiefe meine Vaterstadt im ersten Schmuck des Frühlings liegen; überall zwischen den Dächern standen die Kirschbäume in Blüte, welche das warme Frühjahr so zeitig hervorgetrieben hatte. Dort der Giebel, dem kleinen Turme des Rathauses gegenüber, gehörte dem Hause meines Vormundes. Ich sah den Garten, den Weg dahinter; mir quoll das Herz, und von Heimweh überwältigt, mag ich unwillkürlich einen Laut ausgestoßen haben; denn ich fühlte plötzlich meine Hand ergriffen, und als ich aufblickte, stand Agnes neben mir. "Harre", sagte sie, "kommst du noch einmal!" Und dabei flog ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht. "Ich dachte nicht, dich hier zu finden", erwiderte ich, "nun muß ich fort; weshalb hast mich gestern so vergebens warten lassen?" Da war alles Glück aus ihrem Antlitz verschwunden. "Ich konnte nicht, Harre; mein Vater wollte mich nicht von sich lassen. Später bin ich in den Garten hinabgelaufen; aber du warst schon fort, du kamst nicht; da bin ich heute früh auf den Turm gestiegen--ich dachte, ich könnte dich doch zum Tor hinauswandern sehen." Die Zukunft lag verworren vor mir, aber doch hatte ich einen Plan gefaßt. Schon früher war ich in einer Klavierfabrik beschäftigt gewesen; nun wollte ich wieder diese Arbeit suchen, um dann mit Hülfe des zu erwartenden Verdienstes vielleicht später selbst ein solches Geschäft zu begründen; denn diese Instrumente begannen schon damals eine große Verbreitung zu finden.--Das alles sagte ich jetzt dem Mädchen, und auch, wohin ich mich zunächst zu wenden beabsichtigte. Sie hatte sich auf das Geländer gelehnt und wie abwesend in den leeren Himmelsraum hinausgeblickt. Jetzt wandte sie langsam den Kopf zurück. "Harre", sagte sie leise, "geh nicht fort, Harre!" Als ich sie aber ohne Antwort anblickte, rief sie wieder: "Nein, hör nicht auf mich; ich bin ein Kind, ich weiß nicht, was ich rede." Der Morgenwind hatte ein paar der blonden Haare gelöst und wehte sie über ihr blasses Gesicht, das jetzt geduldig zu mir aufblickte. "Wir müssen warten, Agnes", sagte ich, "das Glück liegt nun in weiter Ferne; ich will versuchen, ob ich es wieder heimbringen kann. Schreiben werd ich nicht; ich komme selber, wenn es Zeit ist." Sie sah mich eine Weile mit großen Augen an; dann drückte sie mir die Hand. "Ich warte", sagte sie mit fester Stimme; "geh denn mit Gott, Harre!" Ich ging noch nicht. Der Turm, der uns beide trug, ragte so einsam in den blauen Ätherraum; nur die Schwalben, auf deren stahlblauen Schwingen der Sonnenschein wie Funken blitzte, schwebten um uns her und badeten in dem Meer von Luft und Licht.--Ich hielt noch immer ihre Hand; mir war, als könne ich nicht fort von hier, als wären wir beide, sie und ich, schon jetzt hinausgehoben über alle Not der Welt.--Aber die Zeit drängte; unter uns schlug dröhnend die Viertelglocke. Da, als noch die Schallwellen den Turm umfluteten, kam eine Schwalbe geflogen, daß sie uns fast mit ihren Flügeln streifte; furchtlos, nur auf Armeslänge von uns, setzte sie sich auf den Rand des Geländers, und während wir wie gebannt in das kleine glänzende Auge blickten, schmetterte sie plötzlich mit geschwellter Kehle ihre Frühlingslaute in die Luft. Agnes warf sich an meine Brust. "Vergiß das Wiederkommen nicht!" rief sie. Da breitete der Vogel seine Schwingen aus und flog davon.--Wie ich durch den dunkeln Turm zur Erde gekommen bin, das weiß ich nicht. Als ich draußen vor dem Stadttor auf der Landstraße war, blieb ich stehen und blickte zurück. Da erkannte ich noch deutlich auf dem von Sonnenglanze umflossenen Turm ihre liebe Gestalt; mir schien, als lehne sie sich weit über den Rand des Geländers hinaus, so daß ich unwillkürlich einen Schreckensruf ausstieß. Aber die Gestalt blieb unbeweglich. Und endlich wandte ich mich und ging, ohne noch einmal wieder umzusehen, mit raschen Schritten auf der Landstraße fort." Der Alte schwieg eine Weile. Dann sagte er: "Sie hat vergebens auf mich gewartet; ich bin niemals wieder heimgekommen.--Ich will Ihnen nun erzählen, wie das geschehen konnte. Meine erste Arbeit fand ich in Wien, wo damals die besten Klavierfabriken waren; von da kam ich nach anderthalb Jahren ins Württembergische, nach meinem jetzigen Wohnort. Ein Nebengeselle von mir hatte dort einen Bruder, von dem er um die Besorgung eines zuverlässigen Gehülfen gebeten war.--Es war ein noch junges Ehepaar, zu dem ich ins Haus kam. Das Geschäft war klein, aber der Inhaber ein freundlicher und geschickter Mann, bei dem ich bald mehr in diesen Dingen lernte als in der großen Fabrik, wo ich immer nur zu einzelnen Arbeiten gelassen wurde. Da ich mich der Sache nach Kräften annahm und doch auch aus meinen Wiener Erfahrungen manches hinzubrachte, so gewann ich bald das Vertrauen dieser guten Leute. Besondere Freude machte es ihnen, daß ich in meinen Freistunden den ältesten ihrer beiden Knaben in der deutschen Sprache unterrichtete; denn ihnen gefiel meine damals noch norddeutsche Aussprache, und sie wünschten, daß die Kinder auch einmal, wie sie meinten, so reines Deutsch sprechen möchten. Bald wurde auch der jüngere Bruder in den Unterricht hineingezogen, und nun blieb es nicht bei der trockenen Grammatik; ich wußte mir Bücher zu verschaffen, aus denen ich ihnen allerlei Unterhaltendes und Wissenswertes vorzulegen pflegte. So kam es, daß auch die Kinder mit großer Liebe an mir hingen. Als ich nach Jahresfrist zum ersten Mal ohne Beihülfe ein Klavier von besonders schönem Klang zustande gebracht hatte, gab es eine Freude im ganzen Hause, als habe der liebste Angehörige sein Meisterstück gemacht.--Ich aber dachte nun an die Heimkehr. Da erkrankte mein junger Meister. Aus einer Erkältung entwickelte sich endlich ein ernstliches Brustübel, dessen Keim schon lange in ihm gelegen haben mochte. Die Leitung der Geschäfte kam wie selbstverständlich fast ganz in meine Hände. Ich konnte jetzt nicht fort. Dabei sah ich tiefer in die Verhältnisse der Familie, mit der mich eine immer innigere Freundschaft verband. Eintracht und Fleiß wohnten unter ihrem Dache. Aber es war dennoch ein böses Ding, der dritte Hausgenosse, das diese guten Geister nicht zu vertreiben vermocht hatten. In jedem Winkel, wohin nicht gerade die Sonne schien, sah der kranke Mann es sitzen.--Dieses Ding war die Sorge.--"Nimm den Kehrbesen und feg es weg", sagte ich oft zu meinem Freunde, "ich will dir helfen, Martin!" Dann drückte er mir wohl die Hand, und eine wehmütige Heiterkeit flog für einen Augenblick über sein blasses Gesicht, bald aber sah er wieder die schwarzen Spinngewebe auf allen Dingen. Leider waren es keine bloßen Hirngespinste. Das Kapital, womit er sein Geschäft begonnen, war von vornherein zu gering gewesen. In den ersten Jahren hatte er durch schlechte Arbeiter Verluste erlitten, die nicht in Rechnung genommen waren, und auch der Absatz der fertigen Ware wollte nicht so rasch erfolgen, wie es solche Umstände erforderten; nun kam ein aussichtsloser Krankheitszustand noch dazu. Auf mir lag endlich nicht nur die ganze Sorge für den Unterhalt der Familie, ich mußte auch noch der Tröster der Gesunden sein. Die Knaben ließen meine Hand nicht los, wenn wir am Bette des Vaters saßen, das er bald nicht mehr verlassen konnte. Bei diesem aber schien das Erlöschen der Körperkraft die Unruhe des Geistes nur zu steigern; grübelnd lag er auf seinem Kissen und baute Pläne für die Zukunft. Mitunter, wenn die Schauer des nahenden Todes ihn anwehten, richtete er sich plötzlich auf und rief: "Ich kann nicht sterben, ich will nicht sterben!" und dann wieder leise mit gefalteten Händen: "Mein Gott, mein Gott, ich will auch, wenn du willst!" Und endlich kam die Stunde der Erlösung. Wir waren alle an seinem Bette; er dankte mir, er nahm von uns allen Abschied. Dann aber, als sähe er vor sich etwas, vor dem er sie beschützen müsse, riß er seine Frau und die beiden Knaben hastig an sich, blickte sie mit trostlosen Augen an und stöhnte laut. Und als ich ihm zuredete: "Wirf deine Sorgen auf den Herrn, Martin!", da rief er verzweifelnd: "Harre, Harre, das sind nicht mehr die Sorgen, das ist die Armut selbst! Bald wird sie über meine Leiche wegkriechen; mein Weib, o meine lieben Kinder, sie werden ihr nicht entrinnen!" Es ist ein eigen Ding um ein Sterbebett; ich weiß nicht, ob Sie es kennen, mein junger Freund. Aber in diesem Augenblick versprach ich meinem sterbenden Meister, bei den Seinen auszuhalten, bis das Gespenst, das seine letzte Stunde störte, sie nicht mehr würde erreichen können. Und als ich das versprochen, ließ auch der Tod nicht mehr auf sich warten. Leise schritt er zur Tür herein. Martin streckte die Hand aus; ich meinte, er wolle sie mir noch reichen, aber es war der unsichtbare Bote des Herrn, der sie ergriff; denn ehe ich sie berührte, hatte das Leben meines jungen Meisters aufgehört." Mein Reisegefährte nahm seinen Hut ab und legte ihn vor sich auf den Schoß; sein weißes Haar wehte in der lauen Mittagsluft. So saß er schweigend, als weihe er diese Augenblicke dem Andenken des längst verstorbenen Freundes.--Ich aber mußte der Worte gedenken, die meine alte Hansen einst zu mir gesprochen: "Es gibt noch andere Dinge als den Tod, die des Menschen Willen zwingen." Es war dennoch der Tod gewesen, der die Lebenden getrennt hatte. Denn es versteht sich, daß ich über die Person dessen, der an meiner Seite saß, nicht mehr in Zweifel sein konnte. Nach einiger Zeit begann der Alte seine Erzählung wieder, indem er langsam sein Haupt bedeckte. "Ich habe mein gegebenes Wort gehalten", sagte er, "aber da ich es gab, brach ich ein anderes; denn ich habe nun nicht wieder fort gekonnt. Es zeigte sich bald, daß die Verhältnisse noch zerrütteter waren, als ich bisher gewußt. Einige Monate nach dem Tode des Mannes wurde noch ein drittes Kind, ein Mädchen, geboren; unter diesen Umständen eine neue Sorge zu den alten. Ich tat das Meinige; aber Jahr auf Jahr verging, und das Glück wollte immer noch nicht einkehren. Unerachtet ich nicht nur meine ganze Kraft, sondern auch die Ersparnisse der letzten Jahre hingab, gelang es mir noch immer nicht, den Kampf mit jenem Gespenste der Armut siegreich zu beendigen; ich sah es klar, wenn eine auch nur etwas weniger treue und sorgsame Hand an meine Stelle trat, so waren meine Schutzbefohlenen ihm verfallen. Oft freilich mitten in der Arbeit überfiel mich das Heimweh und nagte und zehrte an mir; mehr als einmal, wenn der Meißel, ohne daß ich darum gewahr wurde, müßig in meiner Hand lag, bin ich erschreckt vor der Stimme der guten Frau zusammengefahren; denn meine Gedanken waren fort in die Heimat, und eine ganze andere Stimme war in meinen Ohren. In meinen Träumen sah ich den Turm unserer Vaterstadt; anfänglich im hellen Sonnenschein, umkreist von einem Heer von Schwalben; später, wenn der Traum mir wiederkam, sah ich ihn schwarz und drohend in den leeren Himmel ragen, der Herbststurm tobte, und ich hörte die großen Glocken anschlagen; aber immer, auch dann, lehnte Agnes oben auf dem Geländer der Plattform; sie trug noch das blaue Kleid, worin sie dort von mir Abschied genommen hatte; nur war es ganz zerrissen, die leichten Fetzen flatterten in der Luft. "Wann kommen die Schwalben wieder?" hörte ich es rufen. Ich erkannte ihre Stimme, aber sie klang trostlos in dem Wehen des Sturmes.--Wenn ich nach solchen Träumen erwachte, so hörte ich wohl im Zwielicht die Schwalben auf der Dachrinne über meinem Fenster zwitschern. In den ersten Jahren hatte ich den Kopf aufgestützt und mir das Herz vollsingen lassen von Sehnsucht und Heimweh; später konnt ich's nimmer ertragen. Mehr als einmal, wenn das Gezwitscher kein Ende nehmen wollte, habe ich das Fenster aufgerissen und die lieben Vögel fortgejagt. An einem solchen Morgen erklärte ich einmal, daß ich nun fort müsse, daß es jetzt endlich Zeit sei, auch an mein eignes Leben zu denken. Aber die beiden Knaben brachen in laute Wehklagen aus, und die Mutter setzte, ohne ein Wort zu sagen, ihr Töchterchen auf meinen Schoß, das sogleich die kleinen Arme fest um meinen Hals schlang.--Mein Herz hing an den Kindern, lieber Herr; ich konnte die Kinder nicht verlassen. Ich dachte. "Bleib denn noch ein Jahr." Der Abgrund zwischen mir und meiner Jugend wurde immer tiefer; zuletzt lag alles wie unerreichbar hinter mir, wie Träume, an die ich nicht mehr denken dürfe.--Ich war schon über die Vierzig hinaus, da schloß ich auf den Wunsch der schon herangewachsenen Kinder das Ehebündnis mit der Frau, deren einzige Stütze ich so lange gewesen war. Und nun geschah mir etwas Seltsames. Ich war der Frau, wie sie es auch gar wohl verdiente, stets von Herzen gut gewesen; nun aber, seit sie mir unauflöslich angehörte, begann in mir ein Widerwille, ja fast ein Haß gegen sie zu wachsen, den ich oft nur mit Mühe zu verbergen wußte. So sind wir Menschen; ich warf in meinem Herzen auf sie die Schuld von allem, was doch nur die Folge meiner eignen Schwäche war. Da führte Gott zu meinem Heil mich in Versuchung. Es war eines Sonntags in der Hochsommerzeit. Wir machten eine Landpartie nach dem benachbarten Gebirgsdorfe, wo ein Verwandter der Familie wohnte. Die beiden Söhne mit ihrem Schwesterchen waren uns beiden Alten weit voraus; ihr Plaudern und Lachen war in dem Walde, durch den der Weg führte, schon ganz verschollen. Da machte meine Frau mir den Vorschlag, einen ihr bekannten Richtsteig entlang eines Steinbruches einzuschlagen, um so wo möglich den Jungen auf dem Hauptwege noch zuvorzukommen. "Ich bin als Braut mit Martin hier gegangen", sagte sie, als wir seitwärts in die Tannen bogen; "etwas weiterhin pflückten wir damals eine dunkelblaue Blume; ich möchte wissen, ob sie noch dort zu finden ist." Nach kurzer Zeit hörte an unserer einen Seite der Wald auf, und der Fußweg lief nun dicht an dem Rande des abschüssigen Gesteins hin, während von der andern Seite sich Brombeerranken und anderes Gebüsch dicht herandrängte. --Meine Frau schritt rüstig vor mir auf. Ich folgte langsam und war bald in meine alten Träumereien versunken. Wie die verlorne Seligkeit lag die Heimat vor meinen Sinnen, und grübelnd, aber vergebens suchte ich nach einem Weg dahin. Nur wie durch einen Schleier sah ich, daß es nach dem Bruche zu ganz blau von Genzianen wurde und daß meine Frau sich ein Mal um das andere nach diesen Blumen bückte. Was kümmerte mich das alles!--Da hör ich plötzlich einen Schrei und sehe, wie sie mit den Händen in die Luft greift; ich sehe auch schon, wie unter ihren Füßen das Geröll sich löst und zwischen den Klippen fortpoltert, und zehn Schritt weiter abwärts steht der Fels lotrecht über dem Abgrund. Ich stand wie gelähmt. Es brauste mir in den Ohren: "Bleib; laß sie stürzen; du bist frei!" Aber Gott half mir. Nur einen Sekundenschlag, da war ich bei ihr; und mich über den Rand des Felsens werfend, ergriff ich ihre Hand und hatte sie glücklich zu mir heraufgezogen. "Harre, mein guter Harre", rief sie weinend, "schon wieder hat deine Hand mich vom Abgrund gerettet!" Wie glühende Tropfen fielen diese Worte in meine Seele. In all den Jahren war kein Wort der Vergangenheit über meine Lippen gekommen; zuerst aus jugendlicher Scheu, das Heiligste hinauszugeben, später wohl in dem unbewußten Bedürfnis, den innern Zwiespalt zu verhehlen. Jetzt plötzlich drängte es mich, alles ohne Rücksicht zu offenbaren. Und am Rande des Abgrundes sitzend, schüttete ich mein Herz aus vor der Frau, die ich kurz zuvor darin begraben gewünscht hatte. Auch das verschwieg ich ihr nicht. Sie brach in heftige Tränen aus; sie weinte über mich, über sich selbst, am lautesten klagte sie über Agnes. "Harre, Harre", rief sie, aber sie legte ihren Kopf an meine Brust; "das habe ich nicht gewußt, aber es ist nun zu spät, und niemand kann diese Sünde von uns nehmen!" Es war nun an mir, sie zu beruhigen; und erst mehrere Stunden später trafen wir in dem Dorfe ein, wo unsere Kinder uns schon längst erwartet hatten. Aber seit jener Zeit war meine Frau mit ihrem milden und gerechten Herzen meine beste Freundin und kein Geheimnis mehr zwischen uns. --So gingen die Jahre hin. Allmählich schien sie es vergessen zu haben, daß ich ihre und der Kinder Wohlfahrt mit einem fremden Glück bezahlt hatte, und auch in mir wurde es stiller. Nur wenn im Frühling die Schwalben wiederkamen, oder auch später im Jahr, wenn sie in der Dämmerung noch so allein von allen Vögeln ins Abendrot hineinsangen, dann überfiel's mich mit der alten Pein, und ich hörte noch immer die liebe junge Stimme, noch immer klang es mir in den Ohren: "Vergiß das Wiederkommen nicht!" So war's auch heuer eines Abends. Ich saß vor unserer Haustür auf der Bank und blickte in den vergehenden Tagesschein, der durch eine Lücke der Straße über den jenseitigen Rebhügeln sichtbar war. Ein Töchterchen unseres jüngsten Sohnes war mir auf den Schoß geklettert und hatte es sich spielmüde in Großvaters Arm bequem gemacht. Bald fielen die kleinen Augen zu, und auch das Abendrot verschwand, aber drüben auf des Nachbars Dach saß noch im Dunkeln eine Schwalbe und zwitscherte leise wie von vergangener Zeit. Da trat meine Frau aus dem Hause. Sie stand eine Weile schweigend neben mir, und als ich nicht aufblickte, fragte sie mich sanft: "Alter, was ist dir?", und da ich nicht antwortete und nur der Vogelgesang aus der Dämmerung herübertönte: "Ist's denn wieder einmal die Schwalbe?" "Du weißt's ja, Mutter", sagte ich, "du hast ja allezeit mit mir Geduld gehabt." Aber ich kannte sie noch nicht ganz; sie hatte mehr als das für mich getan. Sie legte beide Hände auf meine Schultern. "Was meinst?" rief sie, indem sie mich mit ihren alten guten Augen anblickte. "Wir können's jetzt ja leisten, du mußt die Agnes wiedersehen, du hättest ja sonst keine Ruh im Grab bei mir!" Ich war fast erschreckt durch diesen Vorschlag und wollte Einwendungen machen, sie aber sagte: "Stell's Gott anheim!"--Das hab ich denn getan; und so ist es gekommen, daß ich noch einmal heimkehre; aber wenn wir durchs Tor fahren, der alte Jakob wird wohl nicht mehr blasen." Mein Reisegefährte schwieg. Ich aber hielt nun nicht länger zurück, denn ich war im Innersten bewegt. "Ich kenne Sie", sagte ich, "ich kenne Sie sehr wohl, Harre Jensen; auch Agnes kenne ich; sie hat viele Jahre im Hause meiner Großmutter gelebt, sie ist mir selbst wie meiner Mutter Mutter. Aus ihrem eignen Munde habe ich alles erfahren, auch das, was Sie verschwiegen haben." Der Alte faltete die Hände. "Großer, gnädiger Gott!" sagte er, "so lebt sie noch und kann mir noch vergeben!" Mir ahnte wenig, daß ich eine Hoffnung angeregt hatte, deren Erfüllung schon im Reiche der Schatten lag. Ich erwiderte nur: "Sie kannte ihren Jugendfreund; sie hat ihn niemals angeklagt."--Und nun erzählte ich. Er hörte in atemlosem Schweigen und nahm begierig jedes Wort von meinen Lippen. Da klatschte der Postillion mit seiner Peitsche. Der stumpfe Turm unserer Vaterstadt war am Horizonte aufgetaucht. Als ich mit dem Finger dahin wies, faßte der Alte meine Hand. "Mein junger Freund", sagte er, "ich zittre vor der nächsten Stunde." Nicht lange, so rasselte unser Wagen über das Steinpflaster der Stadt. Bei dem schönen Herbstwetter waren viele Leute auf den Straßen, und da ich lange fort gewesen, so erhielt ich als allbekanntes Stadtkind fortwährend lebhafte Grüße von den Vorübergehenden. Den fremden Greis an meiner Seite streifte höchstens ein Blick der Verwunderung oder wohl auch der Neugierde. Endlich hielten wir am Gasthofe, und hier dachte ich für heute von meinem Freunde Abschied zu nehmen, denn er wünschte, seinen ersten Gang nach St. Jürgen allein zu machen. Ein paar Minuten später war ich zu Hause, umringt von Eltern und Geschwistern. "Alles wohl?" war meine erste Frage. "Du siehst es, hier ist alles gesund", erwiderte meine Mutter, "sonst aber--eine findest du nicht mehr." "Hansen!" rief ich; denn an wen anders hätte ich denken sollen. Meine Mutter nickte. "Aber was erschreckt dich so, mein Kind? Ihre Jahre waren daher; heut in der Frühe ist sie in meinen Armen sanft entschlafen." Ich erzählte, wen ich mitgebracht, in fliegenden Worten, und während alle noch tief erschüttert standen, verließ ich ohne meine Kleider zu wechseln, das Haus; jetzt durfte ich den alten Mann nicht allein lassen. Ich ging zuerst nach dem Gasthofe und, nachdem ich dort erfahren, daß er fort sei, gradeswegs die Straße hinauf nach St. Jürgen. Als ich dort anlangte, sah ich den Spökenkieker, den der Tod zu verschmähen schien, mitten auf der Straße vor dem Stiftshause stehen. Die Hände auf dem Rücken, wiegte er sich behaglich in den Knien, während er unter dem breiten Schirme seiner Mütze nach dem einen Giebel hinaufstierte. Als ich mit den Augen der Richtung folgte, sah ich dort auf den obersten Treppen, ja sogar auf der Glocke, die oben in der durchbrochenen Mauer hing, eine große Menge Schwalben eine neben der andern sitzen, während einzelne um sie her schwärmten, sich hoch in die Luft erhoben und dann wieder schreiend und zwitschernd zu ihnen zurückkehrten. Einige von diesen schienen neue Gefährten mitzubringen, die dann neben den andern auf den Mauerzinnen Platz zu finden suchten. Es hielt mich unwillkürlich fest. Ich sah es wohl, sie rüsteten sich zur Reise; die Sonne der Heimat war ihnen nicht mehr warm genug.--Der alte Mensch neben mir riß die Mütze vom Kopf und schwenkte sie hin und her. "Husch!" lallte er, "fort mit euch, ihr Sakermenters!"--Aber noch eine Weile dauerte das Schauspiel dort oben auf dem Giebel. Da plötzlich, wie emporgeweht, erhoben sich sämtliche Schwalben fast senkrecht in die Luft, und in demselben Augenblick waren sie auch schon spurlos in dem blauen Himmelsraum verschwunden. Der Spökenkieker stand noch und murmelte unverständliche Worte, während ich durch den dunkeln Torweg in den Hof des Stiftes ging.--Der eine Fensterflügel von Hansens Stube stand wie einstens offen; auch das Schwalbennest war noch da. Zögernd stieg ich die Treppe hinan und öffnete die Stubentür. Da lag meine alte Hansen friedlich und still; das Leintuch, womit man sie bedeckt hatte, war zur Hälfte zurückgeschlagen. Auf der Kante des Bettes saß mein Reisegefährte, aber seine Augen waren über den Leichnam weg auf die nackte Wand gerichtet. Ich sah es wohl, dieser starre Blick ging über eine leere ungeheure Kluft; denn am jenseitigen Ufer stand das unerreichbare Luftbild seiner Jugend, das jetzt mit reißender Schnelle in Dunst zerfloß. Ich hatte mich, anscheinend ohne von ihm bemerkt zu werden, in den Lehnstuhl an das offene Fenster gesetzt und betrachtete das leere Schwalbennest, aus dem noch die Halme und Federn hervorsahen, die einst der nun flügge gewordenen Brut zum Schutze gedient hatten. Als ich wieder ins Zimmer blickte, war der Kopf des alten Mannes dicht über dem der Leiche. Er schien wie sinnverwirrt dies eingefallene Greisenantlitz zu betrachten, das mit dem drohenden Ernst des Todes vor ihm lag. "Könnte ich nur einmal noch die Augen sehen!" murmelte er. "Aber Gott hat sie zugedeckt." Dann, als müsse er es sich beweisen, daß sie es dennoch selber sei, nahm er eine Strähne des grauen glänzenden Haares, das zu beiden Seiten vom Haupte auf das Leintuch herabfloß, und ließ es liebkosend durch seine Hände gleiten. "Wir sind zu spät gekommen, Harre Jensen", rief ich schmerzlich. Er blickte auf und nickte. "Um fünfzig Jahre", sagte er, "das Leben ist auch so vergangen." Dann, während er langsam aufstand, schlug er das Laken zurück und deckte es über das stille Antlitz der Toten. Ein Windstoß fuhr gegen das Fenster. Mir war, als höre ich von draußen, fern aus der höchsten Luftströmung, darin die Schwalben ziehen, die letzten Worte ihres alten Liedes: Als ich wiederkam, als ich wiederkam, War alles leer. Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes In St. Jürgen, von Theodor Storm. End of the Project Gutenberg EBook of In St. Juergen, by Theodor Storm *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK IN ST. JUERGEN *** This file should be named 8926-8.txt or 8926-8.zip Produced by Mike Pullen and Delphine Lettau; Project Gutenberg eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not keep eBooks in compliance with any particular paper edition. We are now trying to release all our eBooks one year in advance of the official release dates, leaving time for better editing. Please be encouraged to tell us about any error or corrections, even years after the official publication date. Please note neither this listing nor its contents are final til midnight of the last day of the month of any such announcement. The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A preliminary version may often be posted for suggestion, comment and editing by those who wish to do so. 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The Project Gutenberg eBook of Der Uebel größtes .., by Käte Lubowski This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Der Uebel größtes .. Author: Käte Lubowski Release Date: January 29, 2021 [eBook #64416] Language: German Character set encoding: UTF-8 Produced by: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER UEBEL GRÖSSTES .. *** #################################################################### Anmerkungen zur Transkription Der vorliegende Text wurde anhand der 1919 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen sowie Schreibvarianten bleiben gegenüber dem Original unverändert, sofern der Sinn des Texts dadurch nicht beeinträchtigt wird. Umlaute in Großbuchstaben (Ä, Ö, Ü) werden im vorliegenden Text in deren Umschreibungen (Ae, Oe, Ue) dargestellt. Besondere Schriftschnitte wurden mit Hilfe der folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet: gesperrt: +Pluszeichen+ Antiqua: ~Tilden~ #################################################################### Der Uebel größtes... Meisters Buch-Roman Eine Sammlung hervorragend schöner Romane aus der Feder angesehener, bekannter Autoren Einundvierzigster Band: Der Uebel größtes .. [Illustration] Verlag von Oskar Meister, Werdau i. Sa. Der Uebel größtes .. Roman von Käte Lubowski. Einundvierzigster Band des Buch-Romans [Illustration] Verlag von Oskar Meister, Werdau i. Sa. ~Copyright 1919 by Oskar Meister, Werdau.~ Alle Rechte vorbehalten. [Illustration] 1. Um die elfte Vormittagsstunde war derjenige Teil des Oeynhausener Kurparkes, dem die Gäste den Namen „Schweiz“ gegeben hatten, von Rollstühlen und Spaziergängern nahezu frei. Die Meisten ruhten nach den Bädern vorschriftsmäßig aus. Jene aber, die es mit der Kur nicht so streng nahmen, lustwandelten in möglichster Nähe der Musik. Nur eines der bequemen Wägelchen glitt, fast zu eilig für den wundervollen Frieden dieser Einsamkeit an der romantischen Schlucht vorüber, welche der silberhelle Hambkebach in jahrzehntelanger Kleinarbeit mit Frische segnete. Es war keine der gewöhnlichen Lenkerinnen, die ihn vorwärts stieß. Die Hände erschienen gepflegt und schmal. Die feingliedrige Gestalt zeigte eine stolze Haltung. Der schlanke, sehr weiße Hals trug einen Kopf mit auffallend schönen Gesichtszügen. Zuweilen schob sich die Fülle des braunschwarzen lockigen Haares, von einem Sommerlüftchen gehoben, zu den langbewimperten Lidern hinunter, die zwei ausdrucksvolle, sammetdunkle Augen bargen. Als die Fahrt noch an Schnelligkeit zunahm, wandte sich der Kopf der grauhaarigen Frau im Rollstuhl zu der Führerin herum. „Fräulein Eva von Ostried, der Gaul, den Ihre Phantasie seit geraumer Zeit zu reiten belieben, gefällt mir nicht,“ klang es dazu in frischem, scherzhaften Ton. „Er ist zu hitzig. Steigen Sie sofort ab.“ Die junge Lenkerin ging bereitwillig auf die gütige Zurechtweisung ein: „Hochverehrte Frau Landgerichtspräsident Hanna Melchers aus Berlin-Grunewald, Wangenheimstraße 10, ich kann Ihrem Wunsch nicht nachkommen, denn... er geht, leider, mit mir durch!“ Ein leichtes Seufzen ertönte. „Schon wieder? -- Was haben Sie, Kind? Ich merke seit einigen Tagen, daß Sie verändert sind. Zum Verlieben bietet sich hier kein Anlaß. Der männlichen Jugend ist ja kaum in unversehrtem Zustande zu begegnen und ich weiß doch zur Genüge von Ihrer durchaus verständlichen Freude an der Gesundheit..“ „Nein.. verliebt.. bin ich nicht!“ „Was aber ist’s dann? Wir leben nun drei Jahre mit einander und ich kenne Sie allmählich genau. Spukt in dem Köpfchen wieder der alte Traum?“ „Ja,“ sagte Eva von Ostried und ihre Lippen preßten sich zusammen, als müsse sie den Schrei der Sehnsucht ersticken, „ich möchte singen.. singen..“ „Als ob Ihnen das verwehrt würde, Eva. In dem kleinen Unterhaltungszimmer unserer Pension Messing steht ein ausgezeichneter Flügel und eine andächtige und dankbare Zuhörerschaft ist Ihnen ebenfalls sicher. Trotzdem haben Sie mir das feierliche Versprechen abgenommen, daß ich töricht genug war, Ihnen zu geben. Warum verheimlichen Sie hier ängstlich Ihr Talent?“ „Soll ich wirklich vor der herzensguten, aber doch bereits unstreitig etwas kindisch gewordenen Frau la chaise, die mit ihrem seligen Fritzchen zwölfmal in Brasilien war und daneben lediglich Tabak und höchstens noch ihre „beste“ Olga von daheim gelten läßt -- oder vor diesem fürchterlichen, alten Baron, der beständig die Hände bewegt, als beabsichtige er seine Zuhörerschaft zu kitzeln, damit sie über seine Witzchen auch lachen kann, singen? -- Verlangen Sie +das+ von mir?“ „Verlangen würde ich es wohl nur von meiner leiblichen Tochter.“ Der Rollstuhl stand plötzlich still. Zwei weiche, heiße Lippen preßten sich auf die Hände der Präsidentin. „Ich bin egoistisch und schlecht. Verdanke ich Ihnen doch alles. Was wäre damals aus mir geworden, wenn Sie mich, die ohne langjährige Zeugnisse auf Ihr Gesuch kam, nicht den vielen Andern, vorzüglich Empfohlenen vorgezogen hätten?“ „Lassen wir diese Fragen, mein Kind. Ich bilde mir ein, eine gute Menschenkennerin zu sein..“ „Und nun habe ich Sie im Laufe der Zeit oft genug enttäuschen müssen.“ „Auch diese Wahrscheinlichkeit blieb damals nicht unberücksichtigt. Sie hatten mich deutlich in Ihrer Seele lesen lassen.“ „Obwohl ich zuerst von meinen Kämpfen und Enttäuschungen schwieg?“ „Die kargen Tatsachen verrieten mir genug. -- Sie waren auf den Wunsch eines Jugendfreundes Ihres verstorbenen Vaters von dem nach seinem Tode in andere Hände übergegangenen Majorat nach Berlin gekommen und ließen Ihre wundervolle Stimme unentgeltlich von ihm ausbilden. Daß er, ein Jahr später, bei dem grausamen Eisenbahnunglück ums Leben kam und Sie, die völlig Mittellose, danach vergeblich den Vormund und früheren Gutsnachbar um ein Darlehn zum Weiterstudium anflehten, verhehlten Sie mir nicht. Das Andere -- die harten Enttäuschungen, die Sie in dem ungewohnten Kampf ums tägliche Brot in den verschiedenen aus Not angenommenen Stellungen zu bestehen hatten, las ich deutlich aus ihrem schmalen Gesicht und dem ängstlichen Ausdruck der Augen. Ihre spätere Beichte vervollständigte nur diese Geschichte..“ „Aber Sie haben nicht angenommen, daß ich rückfällig werden könnte.“ „Ich habe es gewußt! -- Sehnsucht stirbt schwer. Und Sie sollen Ihr Sehnen ja auch behalten und pflegen. Nur Geduld müssen Sie üben. Erst fester werden, mein Kind. Erst noch diese heiße Eitelkeit abstreifen, die fiebernd nach Ruhm und Huldigung verlangt.“ Der dunkle Kopf senkte sich schuldbewußt. „Sie sind unaussprechlich gut zu mir.“ „Keine Uebertreibungen! Hundertmal haben Sie, in zorniger Aufwallung, anders gedacht, wenn ich Ihrem Verlangen entgegenstand. Ich begreife auch das voll.“ „Wenn ich doch wüßte, womit ich Ihnen dies Alles jemals vergelten könnte.“ Frau Melchers lächelte leise. „Das Wort „Vergeltung“ ist niemals von einem häßlichen Beigeschmack frei, Eva. Sie sollen nur stets ganz offen zu mir sein.. und mich weiter lieb haben. Anderes verlange und erwarte ich nicht.“ „Das glaube ich. Es ist ja so leicht.“ Ein prüfender Blick streifte das schöne Gesicht. Die kluge Frau kannte die größeste Schwäche ihrer Hausgenossin, die sie wie eine Tochter lieben gelernt, sehr genau. Wenn die reiche Phantasie spielte und die ungestüme Eitelkeit den Kritiker abgab, konnte es leicht geschehen, daß Eva von Ostried sich über die von der Präsidentin geforderte Wahrhaftigkeit hinwegsetzte, ohne sich eines Unrechts bewußt zu werden. „Und nun hören Sie mir einmal aufmerksam zu, Eva,“ forderte die gütige Stimme. „Es kommen nicht sehr viel Stunden, die sich dafür eignen. Sie sollen etwas wissen, was Sie -- vielleicht längst geahnt haben. -- Sie werden demnächst das einundzwanzigste Jahr vollendet haben. Der Vormund, der nach dem jähen Tode Ihres Gönners seine Erlaubnis zur Wiederaufnahme Ihrer Studien, auch mir gegenüber, brieflich versagte, verliert dann seine Gewalt über Ihr Handeln. Im Herbst dürfen Sie also über sich verfügen. Aber.. wir wollen erst noch Weihnachten und Ostern in aller Stille zusammen feiern. So traut und gänzlich der Häuslichkeit gehörend, wie die andern Jahre. Nichtwahr, mein Kind?“ „Ich begreife nicht, wie Sie das meinen. Soll ich dann fort von Ihnen?“ „Ja, Eva, dann verliere ich Sie. In meinem Heim werden Sie allerdings weiter leben, aber für mich selbst kaum noch Zeit finden. Denn Sie werden wieder als einzige Beschäftigung Musik studieren. Ihre Sehnsucht darf neue Befriedigung suchen. Ihr Fleiß muß eisern werden. -- Die nötigen Mittel gewähre ich Ihnen. Gegenleistungen verlange ich freilich auch. Ich muß, so lange ich lebe, über Ihnen wachen dürfen, Eva. Fühlen Sie, wie ich das meine?“ Eva von Ostried warf sich mit ausgebreiteten Armen über die kluge Frau. Sie konnte nicht sprechen. Ihr Körper bebte von einem Schluchzen des Glückes. Endlich aber schob sie die Präsidentin sanft zurück. „So und jetzt zum Theater! Denn, nicht wahr, darum nahmen wir doch jenes Eiltempo? -- Heute Abend wird also Mignon gegeben? Obschon ich es mir von dieser Stelle aus nicht als reinen Genuß denken kann.. sollen Sie Ihren Willen haben. Ob daraus nicht für Sie, die jeden Ton dieser Oper genau kennen und die Partie des Mädchens aus der Fremde ausgezeichnet wiederzugeben wissen, eine arge Enttäuschung wird?“ Das schöne Mädchengesicht strahlte wieder. „Wie herrlich ist es, daß Sie, die schwer zu Befriedigende, mir dieses Lob schenken. Ja... ich freue mich unsagbar auf den heutigen Abend. Zu denken, daß.. ich selbst.. es besser machen könnte.. Ist das nicht vielleicht der höchste Genuß?“ Ein leichter Schatten glitt über das feine, alte Gesicht. „Darin werden wir uns niemals verstehen! Mir ist immer weh zumute, wenn Jemand eine übernommene Aufgabe mangelhaft erfüllt. -- Aber jetzt muß ich zur Eile mahnen. Der letzte Ton der Kurmusik ist verhallt.“ Und der Rollstuhl glitt wieder durch den Dom satten, frischen Grüns dem kleinen neuerbauten Theater entgegen. „Kommen Sie doch auch mit,“ bat Eva, ehe sie zur Kasse ging. Die Präsidentin schüttelte den Kopf. „Haben Sie ganz vergessen, daß der Geheimrat meinem rebellischen Herzen die allergrößeste Schonung und vor allen Dingen frühzeitige Bettruhe anbefohlen hat? Nein.. das ist ausgeschlossen.“ Eva von Ostried wurde rot. Dann aber fand sie eine Entschuldigung für ihre Vergeßlichkeit. Wie konnte ein junges, gesundes Wesen beständig daran denken, daß eine Leidende unausgesetzt der Rücksicht bedürfe? „Nur etwas aus der Sonne können Sie mich zuvor noch schieben,“ forderte die Präsidentin ohne Empfindlichkeit, „denn aus den für Sie heiligen Räumen finden Sie nicht so schnell zurück.“ * * * * * Es währte aber diesmal sogar für die Langmut der Präsidentin zu lange. Die dünnen Glöckchen der Kirche und des Salzwerkes verkündeten die zwölfte Stunde. Vom Königshof herüber erscholl das melodisch abgestimmte Tamtam, das eine Viertelstunde vor Beginn der Hauptmahlzeit, die überall zur gleichen Zeit festgesetzt war, die Gäste zusammenrief und immer noch ließ sich Eva von Ostrieds helles Gewand nicht erblicken. Schon wollte die an Pünktlichkeit streng Gewöhnte eine ihr vom Ansehen bekannte, gerade des Weges daherkommende Rollstuhllenkerin bitten, ihren Wagen in die Pension zu bringen, als endlich, atemlos vor Erregung, die Säumige kam. Die Präsidentin vergaß die beabsichtigte scharfe Zurechtweisung. Der Anblick des jungen, schönen Geschöpfes, dessen ausdrucksvolle Augen begeistert strahlten, entzückte sie, wie er es stets tat. Das reuige Betteln um Vergebung dieser neuen, kleinen Nachlässigkeit würde genügt haben, um ihre Empörung in mildes Begreifen umzuwandeln. -- Sie wartete umsonst darauf. Eva von Ostried saß im tiefsten, goldensten Land ihrer Zukunftsträume und klagte Mignons Steyrisches Lied heraus: Kam ein armes Kind von fern Zigeuner brachten es eben Traurig bleich... seine Glieder beben.... Das riß die Geduld der Gütigen. „Beeilen Sie sich, Eva,“ sagte sie streng und kurz, „oder ich werde, so matt ich mich gerade heute auch fühle, der ärztlichen Vorschrift entgegen, aussteigen und versuchen, im Laufschritt noch pünktlich zu Tisch zu erscheinen.“ In dem nämlichen Augenblick erwachte Eva von Ostried zur Wirklichkeit. Sie erblaßte und in ihre Augen kam der Ausdruck einer großen Hilflosigkeit. „Das werden Sie mir nicht antun,“ schmeichelte sie. „Schelten Sie tüchtig.. aber sprechen Sie nicht in diesem unerträglich kühlen Ton zu mir, wenn ich ihn auch verdient habe.. Gewiß -- ich vergaß meine Pflicht. Sobald Sie die Ursache erfahren, werden Sie mich begreifen..“ „Sie können mir später berichten. Jetzt.. vorwärts, Eva.“ * * * * * Der geräumige Speisesaal, in welchen die Beiden, heute als letzte Mittagsgäste, eintraten, war fast zu sehr besetzt. Alle Plätze ohne Rücksicht auf die Wohlbeleibten, erschienen gleich schmal, sodaß der Hüne unter den Anwesenden, ein alter früherer Oberst der Garde, vor seinem gefüllten Teller in zorniger Ungeduld des Augenblickes wartete, in dem sich seine rechte Nachbarin, einstweilen befriedigt, zurücklehnte. Zu seiner Linken nahm Eva von Ostried Platz. Das milderte seinen Zorn. Obwohl er unvermählt geblieben, schätzte er Frauenschönheit über allem Andern. Als Eva nicht wie sonst auf seine neckenden Fragen in dem gleichen Ton antwortete, neigte er den mächtigen Kopf ein wenig zur Seite und sah sie mit schlauem, verständnisvollen Blinzeln an: „Strafpauke intus, mein gnädiges Fräulein?“ „Ja,“ nickte sie und setzte leise hinzu „aber verdient.“ „Zu toll geflirtet?“ „Ist das hier überhaupt möglich?“ „Na.. erlauben Sie mal. Wenn Sie von uns elenden Bürgern schon absehen, der Paul Karlsen, der erste Liebhaber und Opernsänger ist doch noch da.. Und Sie gehören zu den eifrigsten Besuchern des Theaters..“ Den Namen des jungen Menschen, der ein großer Künstler zu werden verhieß, hatte er im Gegensatz zu dem andern nur Geflüsterten stark betont. Das scharfe Ohr seiner schon wieder auf den nächsten Gang lüsternen rechten Nachbarin fing ihn auf, sie nickte lebhaft und begann, froh, endlich einen Gesprächsstoff gefunden zu haben: „Ja, dieser Karlsen. Denken Sie doch, er soll auch heute im Mignon den Wilhelm singen!“ Ein Backfisch, der seiner hochgradigen Bleichsucht und des daraus entstandenen nervösen Herzens wegen hier war, mischte sich mit allerliebster Wichtigkeit ein: „Leider wird er ihn nicht singen können. Die schöne Mignon, auf die wir uns einen halben Monat lang gefreut haben -- der Gast -- hat vor einer Stunde einen bösen Unfall gehabt.“ Die Neuigkeit pflanzte sich fort, denn sie hatten fast alle hingehen wollen. „Wie jammerschade,“ wehklagten die jungen Mädchen. „Wir werden das Geld natürlich zurückerhalten,“ freuten sich die praktischen Mütter. „Keine trügerischen Hoffnungen, meine Damen,“ spöttelte ein alter Gichtiker, „soviel ich vor kaum zehn Minuten gehört habe, soll bereits ein vollwertiger Ersatz gefunden sein.“ Lebhafte Fragen bestürmten ihn von allen Seiten. „Woher wissen Sie es? Das wird nicht ohne weiteres geglaubt.“ „Mir hat es der Theaterdirektor in eigenster Person anvertraut. Eine berühmte, große Sängerin, die zufällig hier zur Kur weilt, wird einspringen. Er tat sehr geheimnisvoll und verriet nichts weiter, so sehr ich auch in ihm drang.“ Frau Melchers wandte sich leise an Eva von Ostried. „War es das, was Sie mir erzählen wollten, Eva?“ Die langen dunklen Wimpern lagen fast auf der rosigen, weichen Haut der Wangen. „Ja,“ sagte sie, „das und.. noch etwas. Die Aufregung über das plötzliche Mißgeschick war so groß -- daß... ich oben... nicht.. früher fortkonnte..“ Frau Melchers nickte ihr freundlich zu. „Schon gut, Eva. -- Nun freuen Sie sich natürlich doppelt auf den heutigen Abend, nicht wahr?“ „Ich.. fürchte.. mich.. aber daneben auch..“ „So hat sich der kleine Teufel des Neides schon wieder von seiner Kette befreit?“ „Noch nicht...“ „Ich werde das Weitere von Ihnen hören. -- Später. -- Erst muß ich ruhen. Ich weiß nicht, in meinen Gliedern ist eine sonderbare Mattigkeit. Sie schmerzt fast. Am liebsten verschliefe ich die ganze zweite Hälfte des Tages..“ „Soll ich nachher den Geheimrat rufen,“ fragte Eva angstvoll. „Was soll er mir, Kind? -- Ich habe es mir allein ausgeprobt. Wenn das Herz matt und doch unruhig hüpft, brauche ich viel Ruhe. Niemand soll sprechen. Am besten auch jedes Geräusch vermieden werden. -- Sie dürfen darum heute einen ganz freien Nachmittag haben. Genießen Sie ihn nach Herzenslust. -- Soll ich die jungen Mädchen am Tisch fragen, ob vielleicht ein gemeinsamer Ausflug nach der Porta zustande käme. Zum Beginn des Theaters können Sie, trotzdem, pünktlich zurück sein.“ Eva von Ostrieds Hände legten sich bittend auf die Rechte der Präsidentin. Aus ihrer Stimme klang ängstliche Abwehr. „Bitte, bitte, tun Sie das nicht. Ich bin viel lieber allein. Diese jungen Mädchen bleiben mir fremd und unverständlich in all ihren Reden und Empfindungen. Und schließlich würde ich doch nur die Geduldete unter ihnen sein.“ „Weil Sie mir.. dienen, Eva?“ „Nicht.. weil ich Ihnen diene.. Was gäbe es wohl Schöneres für eine Waise. Nur, daß ich es überhaupt tun muß, begreifen diese vom Glück verwöhnten nicht. Das richtet eine Scheidewand zwischen ihnen und mir auf. -- Wirklich..“ „Sie sind ein großes Kind..“ „Ich wollte, ich wäre es! Als Kind habe ich niemals einschlafen können, wenn irgend etwas Geheimnisvolles auf mir lastete.“ „Soll das heißen, daß es damit anders geworden ist?“ „Ich verstehe mich selbst manchmal nicht mehr. -- Was mir einen Augenblick als ein unfaßbares Glück erscheinen will, jagt mir im nächsten bereits Furcht und Schrecken ein..“ „Eva, Kind, das sind Nerven! Jawohl, so melden sie sich an.“ „Nein -- nein, es ist etwas anderes..“ „Dann könnte es nur ein böses Gewissen sein. Und davon halte ich Sie frei.“ Der dunkle Kopf senkte sich tief. Eva von Ostried wurde der Antwort überhoben -- das Gespräch noch allgemeiner und lebhafter, sodaß an eine weiter unbeachtet geführte Zwiesprache nicht zu denken war. -- -- „Womit also werden Sie diesen sonnigen Nachmittag ausfüllen, Eva,“ fragte die Präsidentin, als sie, sorglich gebettet, sich mit einem Seufzer des Behagens in dem kühlen Zimmer ausstreckte. „Wenn Sie mich wirklich nicht brauchen können, lege ich mich in einen einsamen dunklen Winkel und träume..“ „Und kommen vor dem Theater noch einmal kurz zu mir, damit ich Sie in dem neuen, weißen Kleide sehe, ja? -- Das Abendessen werde ich heute auf dem Zimmer nehmen, bitte, sagen Sie es an. Und morgen bin ich wieder ganz frisch.“ Fühlte sie das Zögern des jungen Wesens? Eva von Ostried blieb noch einige Minuten neben ihrem Lager stehen, als laste etwas schweres auf ihrer Seele. Las sie das Geheimnis in den sprechenden Augen, das sich zuerst offenbaren wollte und nun doch plötzlich dies Vorhaben als so ungeheuerlich empfand, daß die Ausführung nicht gewagt wurde? Sie deutete die offenbare Unsicherheit anders. „Machen Sie nicht länger ein so reueerfülltes Gesicht, Evalein. Ich hab’s längst vergessen, daß Sie mich ungebührlich lange warten ließen. Im übrigen, Kind, nicht wahr, Sie wissen doch, daß ich Sie mit dem Gefühl einer Mutter lieb habe?“ Eva von Ostried schluchzte an der Brust der Gütigen. „Ja.. das weiß ich und darum..“ Frau Melchers unterbrach sie schnell. „Darum jetzt heraus in die Sonne. Vergolden und durchwärmen lassen, was dunkel und geheimnisvoll erscheinen will. Gehen Sie, Eva, ich bin sehr müde..“ * * * * * Eva von Ostrieds Pulse klopften in fieberhafter Erregung, als sie, zu der Stunde der allgemeinen Mittagsrast, den Weg zum Kurtheater einschlug. Ihr Vorwärtshasten wirkte wie ein beständiger Kampf. Nach wenigen Laufschritten blieb sie stehen, sah rückwärts, zögerte, als riefe sie eine mahnende Stimme zur Umkehr und jagte dann doch weiter, als müsse sie um jeden Preis die versäumte Zeit einholen. Einmal sprach sie ganz laut zu sich, weil ihre zitternde Seele dies dumpfe Schweigen nicht länger zu ertragen vermochte. „Und.. ich werde es ihr doch sagen! Sie ist so gut..“ Gleich darauf huschte ein ängstlicher Schein über ihr Gesicht. -- „Wenn sie es mir aber nicht gestattet? O, sie kann auch hart und fest bleiben, sofern sie etwas nicht billigt.“ Die Mittagssonne goß auf jedes Blatt einen großen, goldenen Tropfen. Unzählige, bis zum Rande gefüllte Becher schwebten auf allen Zweigen. Einer strömte seinen kostbaren Inhalt über Eva von Ostrieds schlanke, schöne Gestalt aus und überfunkelte sie mit verschwenderischen Glänzen. Ihre Augen waren geblendet. Unsanft stieß sie mit dem Eiligen zusammen, der ihr entgegenlief. „Hoppla.. Fräulein von Ostried.. wohin des Weges? Sie wollen mir doch nicht etwas ins Handwerk pfuschen.“ Der Geheime Sanitätsrat Schwemann war es, der die Präsidentin behandelte. „Nein, das wage ich nur in äußerster Not.. etwa, wenn Frau Präsident absolut nichts von Ihnen oder Ihresgleichen wissen will, Herr Geheimrat,“ sagte sie frisch. „S’ wär schon besser gewesen, sie hätte sich früher an einen von unserer Zunft gewandt,“ brummte er halblaut. „Steht es schlecht mit ihr, Herr Geheimrat?“ „Habe ich das etwa behauptet? -- Fällt mir gar nicht ein. Ist übrigens irgend etwas nahes Verwandtes vorhanden?“ „Sie ist ganz einsam in der Welt.“ „Na, dann hören Sie mal einen Augenblick zu. Sie gefällt mir nämlich immer weniger. Ist körperlich viel zu sehr für dies ernsthafte Herzleiden herunter. Und schont sich dabei nicht gehörig, was die Geschichte natürlich verschlimmert.“ „O Gott, was soll ich tun. Sagen Sie mir alles, Herr Geheimrat?“ „Sie? -- Sehr viel ist dagegen nicht zu machen. Sie können ihr höchstens jede Aufregung fernhalten und sie gehörig päppeln. -- Also... es ist nicht so einfach, meine Liebe. Kann sehr wohl mal kommen, daß eines Tages, scheinbar ohne neue Ursache, etwas Menschliches eintritt. -- Das wollte ich Ihnen doch unter vier Augen sagen, ehe Sie abreisen. In zwei Tagen soll die Reise ja wohl heimwärts gehen.“ Eva von Ostrieds Lippen bebten. „Ich habe Niemand mehr als sie“ klagte sie erschüttert. „Weil ich mir etwas Aehnliches gedacht habe, sage ich Ihnen das auch hauptsächlich. Nun aber keine vorzeitige Leichenbittermiene. Das würde sie selbst am meisten betrüben. -- Sie kann sich natürlich auch noch längere Zeit halten. Wie gesagt.... auch dem Gesundesten geschieht zuweilen ein rasches Unglück. Sehen Sie die Sängerin an. Fällt vor ein paar Stunden einfach auf dem ebenen Fußboden hin und bricht sich ein Bein. Dabei nicht etwa glatt und anständig. Es wird eine langweilige Geschichte werden. Grade komme ich von ihr. Na ja... sollten sich übrigens auch besser nach dem Essen aufs Ohr legen. Die Sonne sticht gewaltig....“ -- Gegenüber der Seitenpforte des Theaters, durch welche die Schauspieler mehr oder minder pünktlich, zu schlüpfen pflegten, stand eine kühngeschweifte Bank. Darauf ruhten sie nach den Proben aus und belustigten sich damit, über die vorüberkommenden Kurgäste, sofern sie nicht zu den eifrigen Verehrern ihrer Kunst zählten, zu spötteln. Denn sie kannten fast jeden Einzelnen ihrer treuen Gemeinde, die höchstens alle Monat einmal ihr Aussehen änderten. Zur Zeit war diese Bank leer. Eva von Ostried nahm darauf Platz. In ihrem Gesicht lag der Ausdruck tiefen Kummers. Die Unterredung mit dem Geheimrat hatte vorübergehend die eigenen Interessen erstickt. Bittere Selbstvorwürfe stürmten auf sie ein. Während ihre Wohltäterin nach den vorangegangenen Anzeichen einer großen Mattigkeit, sicherlich wieder von einem jener tapfer ertragenen Anfälle gequält wurde, stand sie im Begriff sie zu hintergehen. Die mütterliche Güte und Nachsicht der Präsidentin, die ihr der Unbekannten, als sie zerbrochen und matt in ihr Haus kam, wieder die Kraft zur Lebensfreude schenkte, rührte sie von neuem. Durfte sie diesen Schritt tun, obgleich sie genau wußte, daß die Präsidentin ihn mißbilligen, wenn nicht gar auf das Strengste untersagen würde? In ihrem Gesicht zuckte ein harter Kampf. Eitelkeit und Dankbarkeit rangen mit einander. Das berauschende Vorempfinden uneingeschränkter Bewunderung maß sich mit der überwältigenden Freude, daß sie sich in absehbarer Zeit ihren geliebten Studien wieder gern voll widmen und sie ohne drückende Sorgen zu Ende bringen sollte. In diesem Augenblick lief ein barfüßiger Junge an der Bank vorüber. Sie empfand sein Erscheinen als die Bekräftigung der guten Vorsätze und winkte ihm stehen zu bleiben. „Ich will schnell einen Zettel schreiben,“ sagte sie freundlich „und Du trägst ihn mir hinein, ja?“ Er nickte bereitwillig und setzte sich zu ihr. Ein aus dem Taschenbuch herausgerissenes Blatt bedeckte sich mit ihren feinen, klaren Schriftzeichen. „Mein Versprechen war übereilt“ schrieb sie, „ich kann es leider nicht halten. Teilen sie dies bitte, Herrn Direktor mit.“ Schon hatte sie ihn zusammengefaltet und den Wartenden beauftragt, ihn an Herrn Paul Karlsen abzugeben, als drinnen eine umfangreiche, wenn auch etwas scharfe Stimme, Philines halb spöttisches halb mitleidsvolles Lied zum Gehör brachte: Hollah, mein werter Herr Mögt Ihr uns nicht erst sagen Wer ist das arme Kind Des Antlitz scheint zu klagen. Wie mit einem Zauberschlage änderte sich der Ausdruck in Eva von Ostrieds Zügen. Alle weiche, kindliche Dankbarkeit schwand daraus. Ihre Lippen öffneten sich, als tränken sie jeden einzelnen Ton durstig auf. Ihre Augen flammten. Mechanisch zerpflückte sie das Geschriebene und reichte dem erstaunt und neugierig blickenden Jungen ein Geldstück hin. „Ich werde selbst gehen. Es ist gut!“ Und doch fühlte sie dumpf und schwer, daß der Schritt, den sie im Begriff stand zu tun, besser unterbleibe. Aber es war für alle Erwägungen zu spät geworden. Aus der kleinen Seitentür trat in diesem Augenblick, eine schlanke Männergestalt und lief in freudiger Erregtheit auf sie zu. „Wo in aller Welt bleiben Sie? Schnell hinein. Niemand im Städtchen ahnt, daß Sie der vom Himmel gefallene, göttliche Ersatz sein wollen. Es wird erhaben werden.“ Und sie folgte in willenloser Mattigkeit dem voranschreitenden Karlsen, von dem das Publikum auch hier behauptete, daß er ein großer Künstler zu werden verspreche. * * * * * Die dünngewordenen Stimmchen der Glocken hatten schon die vierte Morgenstunde verkündet, als Eva von Ostried endlich einschlafen konnte. Ihr Zimmer lag neben demjenigen der Präsidentin. Nachdem sie gegen elf Uhr heimgekehrt war, hatte sie durch die Verbindungstür schlüpfen wollen, um alles, was ihr widerfahren war, getreulich zu beichten. Ihr scharfes Ohr erlauschte aber zuvor die tiefen, regelmäßigen Atemzüge, die einen friedvollen Schlummer verrieten. Wie wertvoll dieser für die Präsidentin war, wußte sie genau. Darum verschob sie alles bis zum nächsten Morgen. Der zog strahlend und schöner, wie die der gesamten letzten Wochen herauf. Eva von Ostried wurde nicht wie sonst, durch den ersten Strahl des großen Lichts zu ihren Pflichten geweckt. Die ungeheure Erregung des verflossenen Tages hatte eine bleischwere Müdigkeit auf sie gesenkt. Nun schläft sie, die sonst, pünktlich um sieben Uhr, das erste Frühstück der Präsidentin ans Bett brachte, mit dem unbewußten Behagen gesunder, kraftvoller Jugend. Fräulein Messing, die Inhaberin der Pension, freute sich darüber. Die große Neuigkeit machte sie doppelt unruhig und geschäftig. Darum trug sie auch eigenhändig das Brettchen mit der ersten Tagesmahlzeit zu der Präsidentin herein. Mit einem verständnisvollen Lächeln wies sie dabei zu der fest geschlossenen Verbindungstür hinüber. „Wir wollen ihr heute ausnahmsweise den langen Schlaf gönnen, nicht wahr Frau Präsident?“ Frau Melchers hatte mit Rücksicht auf den gestrigen Theaterbesuch, bisher die Klingel nicht gerührt. Trotzdem billigte sie diese Versäumnis durchaus nicht. Mit leicht gerunzelten Brauen gab sie zur Antwort: „Sie wollen doch nicht behaupten, daß ein Aufbleiben bis zur zehnten oder elften Abendstunde für ein junges, kräftiges Mädchen eine Anstrengung bedeutet?“ Fräulein Messing wiegte den Kopf hin und her und lächelte, als wollte sie sagen „Halte mich doch nicht für ganz ahnungslos“... Weil ihr die laute Aeußerung aber zu wenig respektvoll vorgekommen wäre, milderte sie dieselbe und sagte triumphierend: „Wir wissen es natürlich jetzt Alle und beglückwünschen auch Sie in herzlicher Mitfreude.“ Frau Melchers begriff vorläufig nichts, als daß sich am verflossenen Abend ein Vorgang abgespielt haben mußte, der ihr ein Geheimnis war und der doch auf das Innigste mit ihrer Begleiterin verknüpft blieb. „Sie sprechen für mich in Rätseln, Fräulein Messing. Darf ich um eine klarere Fassung ihrer sicherlich gut gemeinten Wünsche bitten?“ Wäre Fräulein Messing weniger erfüllt von dem überraschenden Ereignis gewesen, hätte sie den Ausdruck großen Erschreckens auf dem Gesicht der alten Dame wahrgenommen. So aber merkte sie lediglich, daß hier ein Geheimnis vorliege und freute sich, die Erste zu sein, die es der Nichtsahnenden enthüllte. In ehrlicher Verwunderung schlug sie die Hände zusammen. „Frau Präsident sind also wirklich ahnungslos? Nein, so etwas! Da will ich gern berichten. -- Als wir uns gestern Abend an Mignon erfreuen wollten, wurde uns die große Ueberraschung zuteil, Fräulein von Ostried als solche zu erleben. Gnädige Frau, es war einfach himmlisch. Solche Stimme habe ich noch niemals gehört. Das Publikum raste vor Begeisterung. Und unsere gesamte Pension hat in aller Eile -- das „wie“ ist mir freilich bis jetzt verborgen geblieben -- einen herrlichen Aufbau aus lauter roten Rosen gestiftet, den Herr Oberst selbst im Namen Aller überreicht hat.“ Die Präsidentin hatte sich aufgerichtet und rang mühsam nach Atem. Sie war lange unfähig zu einer Entgegnung. Endlich stieß sie hervor: „Gehen Sie, bitte.. und senden Sie.. mir sofort.. Fräulein von Ostried.“ Das soeben Gehörte war ein harter Schlag für sie. Zwar hatte sie gewußt, daß Eva ehrgeizig und eitel zugleich sein konnte -- war auch wiederholt gegen deren Anwandlungen von kräftiger Selbstsucht zu Felde gezogen.. daß sie aber jemals imstande sein könnte, hinter ihrem Rücken, den ersten Schritt in die Oeffentlichkeit zu wagen, empfand sie, besonders nach den heute gemachten Zusicherungen, nicht nur als Undankbarkeit, sondern als eine Unaufrichtigkeit, die sie schmerzhaft quälte. Gewiß -- sie verhehlte sich nicht, daß ihre wiederholt geäußerte Mattigkeit Eva von Ostried das Befragen und Beichten erschwert hatte. Immerhin -- würde sie bei ernstlichem Willen die Möglichkeit dazu gefunden haben. Sie suchte sie aber nicht, weil sie im Voraus wußte, daß ihr unter gar keinen Umständen die Erlaubnis zu diesem verfrühten Auftreten erteilt worden wäre. Denn die Präsidentin war Eine von Denen, die es viel zu ernst und heilig mit der Ausübung der Kunst nehmen, um sie zu einer Entweihung durch fiebernde Eitelkeit mißbrauchen zu lassen. Mochte für all diese Ohren Eva von Ostrieds Stimme noch so wunderschön geklungen haben, ihr fehlte doch noch unendlich viel, um sich öffentlich hören zu lassen. Um sie auch vorher innerlich reifen zu machen, hatte sie die Beschränkung der Musikstudien bisher durchgesetzt. Was sie ihr gestattete, war lediglich ein wöchentlich einmaliger Unterricht durch einen der ersten Stimmbildner. Solange Eva ihrem Einfluß zugänglich blieb, hatte sie die berechtigte Hoffnung, sie für alle Gefahren, die ihr um der Schönheit halber viel mehr als den späteren Genossinnen drohen würden, zu festigen. Sobald sie sich erst völlig in jenen Kreis der anders Denkenden einfügte, wurde ihr erziehlicher Einfluß geringer, um fraglos sehr bald aufzuhören. Daß Eva sich bei der ersten Versuchung als schwach erzeigt hatte, erfüllte sie mit einer dumpfen Zukunftsangst. Denn sie liebte das junge Geschöpf! Eva von Ostried kam bleich und verweint herein. Sie zeigte nichts von dem Glanz einer überwältigenden Freude. Fräulein Messings überstürzte Mitteilung, aus der sie entnehmen mußte, daß Frau Melchers alles wisse, hatte sie tief gedemütigt. Zudem blieb die andere Erfahrung, von welcher außer ihr bisher -- Gottlob -- nur der Andere etwas wußte, mit grausamer Härte auf sie ein. Sie warf sich vor dem Lager auf die Knie und barg schluchzend den Kopf in die Kissen. Die Stimme der Präsidentin klang ungewohnt hart an ihr Ohr: „Stehen Sie auf! Nur jetzt kein Theater!“ Diese Worte schmerzten mehr, wie ein Schlag. Sie zuckte zusammen und stammelte etwas. „Es ist mir schwer genug geworden -- aber ich konnte.. nicht anders,“ sollte es heißen. „Warum nicht? Was hielt Sie zurück, der Stimme Ihres Gewissens zu folgen. Denn ich hoffe, daß es sich geregt hat.“ „Ja -- das tat es. Ich hatte mich bereits zur schriftlichen Absage durchgerungen. Da hörte ich den Gesang der Philine. Das reizte mich, der zu Unrecht auf ihr Können Eingebildeten ihre Mängel zu beweisen. -- Sie hatte mich am Vormittag wie ein Kind behandelt, das nicht ernst zu nehmen ist.“ Die Präsidentin zwang sich zur Ruhe. „Es bleibt mir unerklärlich, wie man dort überhaupt von Ihrem Talent erfahren hat oder sollten Sie anläßlich der häufigen Theaterbesuche, längst innige Freundschaft mit den Verschiedenen gepflegt haben, von welcher ich natürlich ebenfalls nichts wissen durfte?“ Eva von Ostried richtete sich empor. An dem offenen Blick merkte die Präsidentin, daß diese Annahme falsch sei. „Ich kannte bis gestern persönlich nur Herrn Karlsen, der mir auch jedesmal die Karte für die Vorstellungen ausgehändigt hat.“ „Dann berichten Sie, wie man auf Sie als Ersatz der eigentlichen Mignon kommen konnte.“ „Herr Karlsen teilte mir heute Mittag in höchster Aufregung den Unfall des Gastes mit, als ich mir die Karte zur Abendvorstellung besorgen wollte. Gleichzeitig schilderte er mir den großen Ausfall für die Schauspieler, weil die gezahlten Preise zurückerstattet werden mußten. Erfahrungsgemäß werde an einem der alten und ältesten Lustspiele wenig verdient, sondern lediglich mit einer guteingeübten Oper. Der Direktor aber müsse nun noch außerdem der anspruchsvollen Philine das vereinbarte Spielhonorar zahlen. Dies traurige Ereignis vernichte wiederum die stille Hoffnung aller auf eine endliche Aufbesserung ihrer Verhältnisse.“ „Nun wurde Ihr Mitleid wach und Sie boten sich an.“ „Nein, das tat ich wirklich nicht. -- Ich sagte nur, daß ich bei ernstlichen Bemühungen sehr wohl an einen guten Ersatz der Mignon glaube.“ „Damit reizten Sie natürlich Karlsens Widerspruch?“ „Er wußte mich schnell von der Unrichtigkeit zu überzeugen, indem er behauptete, die kleinen erreichbaren Vertretungen benachbarter Städte seien ohne wiederholte Proben überhaupt nicht imstande, die Partie zu übernehmen.“ „Da konnte Ihre Eitelkeit nicht länger stumm bleiben?“ „War ich eitel? Ich fühlte nur ein eigentümlich wundervolles Behagen, daß ich ihn widerlegen konnte, stellte mich einfach hin und sang ihm die wenigen Strophen aus dem ersten Akt vor.“ „Und da war er sogleich starr vor Bewunderung!“ „Ich weiß es nicht! -- Plötzlich umringten sie mich alle. Der Direktor -- der alte Jarne -- die neidische Philine... Mein Widerspruch verhallte.. Sie zwangen mich einfach zu einem festen Versprechen.“ „Haben Sie wenigstens gewußt, was Sie mir damit antaten, Eva, indem Sie mich hintergingen?“ „Ich habe es schwer gefühlt. Die ganze stolze Freude meines ersten Erfolges hat es mir verbittert..“ „Sie übertreiben. Daran zu glauben vermag ich beim besten Willen nicht.“ „Und doch ist es so. Bei jedem Hervorruf lastete die Reue auf mir. Ich mußte an irgend eine Strafe denken.“ „Die ich über Sie verhängen würde?“ „Nein -- an eine andere. Und sie ist gekommen. Ich möchte Ihnen so gern davon sprechen.“ „Um mich zu versöhnen, Eva?“ „Um mich zu erleichtern. Mein Herz ist sehr schwer.“ Da wallte das Muttergefühl an diesem fremden Kinde von neuem warm in der Präsidentin auf. Ihre Hand legte sich auf den geneigten Scheitel. „Glücklich sehen Sie freilich nicht. Also, was ist geschehen?“ Eva von Ostried schlug beide Hände vor das erglühende Gesicht, weil sie sich vor dem klaren, tiefen Blick schämte. „Der Karlsen hat mich nach der Vorstellung geküßt,“ stammelte sie. Die Präsidentin erschrak. „Und Sie lieben ihn?“ Eva schüttelte den Kopf. „Bisher war er mir gleichgültig. Seitdem er das gewagt hat, verachte ich ihn. Daß er es tun durfte -- hat mir das Glücksgefühl nach dem gestrigen Abend vollends ausgelöscht. Sagen Sie mir, daß so etwas nie -- nie wieder möglich sein wird. -- Ich ertrüge es kein zweites Mal.“ „Damit würde ich etwas behaupten, an das ich selbst nicht einen Augenblick glaube.“ „Sie sind also überzeugt, daß die Kunst, wenn sie auch als etwas Reines und Hohes empfunden und ausgeübt wird, vor solchen Uebergriffen nicht schützt?“ „Ich hätte Sie für reifer gehalten, Eva! -- Das sind die Fragen eines Kindes.“ „Wissen Sie, was ich bei diesem entsetzlichen Kuß gefühlt habe? Daß ich imstande wäre, meine geliebte Kunst zu opfern -- wenn mir später das gleiche geschehen würde.“ Und sie legte, wie ein furchtsames Kind erschauernd ihr heißes Gesicht in die weichen Hände der Präsidentin. [Illustration] [Illustration] 2. „Niemals erschien mir die Welt ähnlich reich gesegnet wie in diesem Jahr,“ sagte Frau Präsident Melchers und wies zu den Obstbäumen ihres Gärtchens hinüber, die unter den silbernen Tauschleiern eines frühen Septembermorgens tiefgeneigt ihre Lasten trugen. Eva von Ostried stand, für einen Ausgang bereit, ebenfalls auf der offenen Veranda. Sie empfand keine staunende Dankbarkeit beim Anblick dieser Wunder. Aus ihren Blicken sprach etwas Unruhvolles. Nur für kurze Zeit hatte ihr der Segen dieser Stille, die -- obschon nahe dem großen Getriebe Berlins -- dennoch aller Unrast fern und fremd zu bleiben schien, wohlgetan. Jetzt fühlte sie sich wieder von dieser Abgeschlossenheit gepeinigt. Jede Stunde bedeutete ihr etwas Verlorenes. Jeder Tag einen unersetzlichen Verlust. Heimlich durchkostete sie die rieselnden Wonnen ihres ersten Erfolges und wußte nichts mehr von Reue oder Empörung. Sagten es ihr nicht immer aufs Neue die bewundernden Blicke fremder Menschen, daß sie ungewöhnlich schön ist? War es darum nicht auch verzeihlich, wenn die Leidenschaft eines Mannes und Künstlers sich an ihrem Anblick entflammte und vergaß? Die Präsidentin beobachtete heimlich den wechselnden Ausdruck auf Eva von Ostrieds Zügen. Sie wußte richtig in diesem jungen Gesicht zu lesen. Die Sorge um Evas Zukunft verringerte sich nicht. Der Wunsch, neben ihr bleiben zu dürfen, bis die Selbstzucht oder eine harte Enttäuschung alle Schlacken fortgefegt haben würde, war auch heute in ihr. Sie fühlte, wie sich die junge Seele ihr seit der Rückkunft aus Oeynhausen mehr und mehr verschloß. Aber sie unterdrückte tapfer alle Bitterkeit. War es nicht auch das Los der leiblichen Mutter allmählich das Kind der Schmerzen an irgend eine fremde Freude zu verlieren? Und hatte der kommende Tag wirklich die große Bedeutung, die sie ihm zumaß? „Nun gehen Sie, Eva und besorgen die Kleinigkeiten zu unserm Mahle,“ sagte sie und zwang damit ihre Gedanken zu fröhlicheren Dingen. „Mein alter Freund, Justizrat Doktor Weißgerber, hat mir versprochen, das Fest Ihrer Volljährigkeit mit uns zu feiern.“ „Ach,“ meinte Eva lachend, „was soll er mir? Er ist alt, bedenklich und weise.“ Ein rascher Blick streifte sie. War sie wirklich so harmlos, nicht die tiefe Bedeutung seines Besuches gerade an ihrem Ehrentage zu ahnen? -- Der junge Mund plauderte sorglos weiter. „Am liebsten würde ich morgen Abend in das große Wohltätigkeitskonzert gehen, zu dem mir ein liebenswürdiger, leider unbekannter Spender eine Karte zugesandt hat..“ „Und ich?“ Nun klang doch eine leichte Bitterkeit aus der gütigen Stimme. Eva wurde rot. „Sie erfreuen sich doch auch gern an guter Musik..“ „Freilich tue ich das! Aber ich ermüde jetzt zu sehr dabei.“ „Wenn Herr Justizrat bei Ihnen bleiben würde?“ Der Eigenwunsch besiegte alle anderen Bedenken. „Seine Zeit ist kostbar, das wissen Sie. Opfert er mir schon die Mittagszeit, wage ich nicht noch weiteres von ihm zu fordern.“ Eva schwieg. Aber ihr war es, als laste eine Kette auf ihr, welche die Schönheit des Lebens für sie fesselte. -- Unfreudig wandte sie sich nach kurzem Zaudern, um die aufgetragenen Besorgungen zu erledigen. Die Präsidentin blickte ihr nach, solange etwas von ihr sichtbar blieb. Dann sah sie die durch die alte Pauline hereingebrachte Frühpost durch, vermißte dabei die Zusage des aufmerksamen Freundes und ging zum Telephon, um ihn zu befragen, wann er morgen frühestens kommen könnte. Der Vorsteher seines Büros antwortete an seiner Statt, daß der Justizrat seit gestern leider mit einer heftigen Erkältung zu Bette liege und hohes Fieber habe. -- Das beunruhigte sie auch wegen des Andern. Gar zu gern hätte sie nun endlich ihrem längst ordnungsmäßig aufgesetzten Testament jene Nachschrift angefügt, die Eva von Ostrieds Zukunft sicher stellte. Einem ausdrücklichen Wunsch ihres verstorbenen Gatten entsprach es, daß sie vor Ausführung jeden größeren Entschlusses den Rat seines als treu und klug erprobten Jugendfreundes hörte. Bisher war sie seinem Wunsch stets gefolgt. Für die beabsichtigten Stiftungen, denen, mangels Erbberechtigter, ihr großes Vermögen neben reichen Legaten bestimmt war, hatte sie auch eines klugen, juristischen Beistandes bedurft. Nun hieß es ein Teilchen von dem bereits Verfügten abzustreichen und diesem neuen Zweck zuzuführen. Der Gedanke an ein Hinausschieben wollte sie unruhig machen. Die Gewöhnung an klares, ruhiges Ueberlegen siegte jedoch. Schließlich kam es auf ein paar Tage des Wartens dabei nicht an. Sie war damit beschäftigt, den Gaben, die Eva von Ostried morgen erfreuen sollten, ein möglichst festliches Aussehen zu verleihen, als die alte Pauline, die bereits der jungen Frau Assessor Melchers treu gedient hatte, hereinkam und den Besuch eines fremden Herrn meldete. Es war kaum zehn Uhr vormittags. Die Stunde dafür also ungewöhnlich. Deshalb ließ ihn die Präsidentin nicht eher hereinbitten, bis er sein Anliegen genannt hatte. Das war in kurzen Worten geschehen. „Er käme wegen unserm Fräulein,“ berichtete Pauline und die anfängliche Mißbilligung war aus ihrem Gesicht verschwunden. Der bald darauf Eintretende war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Seine breitschultrige Gestalt zeigte die Kraft und Frische eines Menschen, der einem gesunden Beruf nachgeht. Sein Gesicht war tief gebräunt. Unter den buschigen Brauen blickten die Augen treu und klar. Er gefiel der Präsidentin, noch ehe sie ihn angehört hatte. Das anfängliche Unbehagen, es könne sich um einen der vielen heimlichen Verehrer ihres schönen Schützlings handeln, wandelte sich in eine Art behaglicher Neugier. Von diesem ehrenhaft Wirkenden konnte ihrem Liebling unmöglich eine Gefahr drohen. Als er seinen Namen nannte, streckte sie ihm herzlich die Rechte entgegen. „Amtsrat Wullenweber aus Hohen-Klitzig, Regierungsbezirk Köslin, Hinterpommern,“ wiederholte sie mit einem warmen Lächeln. „Also -- Eva von Ostrieds Vormund! Wie es mich freut, Sie persönlich kennen zu lernen. Unser Briefwechsel war damals kurz und gestaltete sich unerfreulich, nicht wahr?“ „Ja,“ sagte er, „ich bildete mir fest ein, daß Sie, Frau Präsident, den unglücklichen Gedanken meines Mündels kräftig unterstützten.“ „Warum bezeichnen Sie ihn als unglücklich, Herr Amtsrat?“ „Das läßt sich nicht in ein paar Worten sagen.“ „Soll dies heißen, daß die Zeit zu einer richtiggehenden, sogar für eine Frau begreiflichen Erklärung, Ihnen auch heute fehlt?“ „Zeit hätte ich schon, Frau Präsident. Mein Zug geht erst in vier Stunden. Mein Hauptgeschäft, der Ankauf einer landwirtschaftlichen Maschine, ist bestens besorgt.“ „Ach,“ machte sie enttäuscht, „und ich dachte, daß Sie zu mir kämen, weil doch morgen Eva von Ostried selbständig wird.“ Er lächelte. Das gab seinem ernsten, stillen Gesicht etwas unendlich Gutes und Liebenswertes. „Ich glaube, Sie unterschätzen die Sorgen und Lasten des Landmannes in dieser jetzigen, bösen Zeit, Frau Präsident. Sobald er den Rücken wendet, geschieht bestimmt eine Dummheit. Ich will mich also nicht als Einer hinstellen, der allein von der Verantwortung seiner Vormundschaft getrieben wird. Wenn schon ich nicht verhehlen kann, daß mir Eva von Ostried viel Sorge gemacht hat.“ „Lieber Herr Amtsrat, das Schicksal teile ich mit Ihnen! Wer sie lieb hat, wird ewig mit einer gewissen Unruhe im Herzen ihrer Entwicklung zusehen.“ „Eigentlich lieb ist sie mir nie gewesen,“ gestand der Amtsrat freimütig ein, „dazu hatte sie zu viel von ihrem Vater.“ Ein verstehendes Lächeln erschien auf dem Frauenantlitz. „Dann haben Sie ihrer Mutter sicher sehr nahe gestanden.“ „Woher wissen Sie das, Frau Präsident?“ Er sah sie erstaunt und unsicher an. „Ich ahne es mit dem Gefühl der reifen Frau. -- Der Vater war augenscheinlich niemals Ihr wahrer Freund. Die Tochter steht Ihrem Herzen nicht sonderlich nahe und dennoch wehrten Sie sich mit einem fast leidenschaftlichen Grimm gegen die Fortsetzung ihrer einst vom Vater gebilligten musikalischen Ausbildung, nachdem der berühmte Gönner tot war. Da muß also entweder das höchste Gefühl von Verantwortung und dieses haben Sie mir ja soeben abgestritten -- oder das, einer geliebten Verstorbenen gegebene Versprechen zugrunde liegen.“ „So ist es wirklich. Evas Mutter war die beste und edelste Frau!“ „Sie sind unvermählt geblieben, Herr Amtsrat?“ Er nickte wehmütig. „Ein paar mal habe ich später aus dieser Einsamkeit herauswollen und es doch nie über kläglich gescheiterte Versuche gebracht. Das heißt: verstehen Sie mich nicht falsch. Der andere Teil merkte nichts davon. Nur mit mir allein brachte ich die Geschichte in Ordnung. Das genügte. -- Ich konnte Evas Mutter nicht vergessen.“ „Verzeihen Sie, wenn ich forsche. Unzartheit ist es nicht. Wie konnte es kommen, daß Sie sich nicht -- war selbst anfangs keine Gegenliebe vorhanden -- von so viel Tiefe und Treue rühren ließen?“ Sein grauer Kopf neigte sich auf die Brust. „Als ich sie kennen lernte, gehörte sie schon dem Andern. Und ich war sein Freund und nächster Nachbar. Wissen Sie.. kein Freund, wie Sie und auch ich jetzt, ihn verlangen. Dazu waren wir Beide viel zu verschieden. Ich eines schlichten Vaters vierter und jüngster Junge, zur strengsten Arbeit und Pflichterfüllung seit den ersten Hosen an, erzogen -- er, der Einzige des schönen, flotten und leichtsinnigen Majoratsherrn auf Waldesruh. Springt man aber jahrelang zusammen barfuß über die Stoppeln, lauert im Erlenbusch auf die nistende Rohrdommel oder Nachtigall, weil irgend ein Landbezopftes dem dummen Jungen den Kopf verdreht hat -- na, dann macht sich so was von selbst. Mein Vater hat zudem dem flotten alten Herrn auf Waldesruh des öfteren ausgeholfen, ohne sonderlich streng auf die Zinsen zu sehen. So kams, daß er, der sonst reichlich hochmütig sein konnte, auch mich als Spielgefährten seines Sohnes gnädig duldete. Meine Brüder sind in andern Provinzen untergekrochen. Bis auf einen, der sich glücklich bis zum Major durchgehungert hat und, nachdem ihm ein Jagdunglück, das kriegerische Handwerk gelegt, hier in Berlin mit seinen beiden Kindern kein beneidenswertes Dasein hatte. Die Landwirte saßen auf guten, kleinen Höfen, die Mann, Weib und Kind ernähren. Sie sind schon verstorben. -- Ich kam durch das Erbteil einer Muhme in die Lage, die väterliche Domäne zu übernehmen, nachdem mein alter Herr sich zum Sterben hingelegt hatte. -- Ein Jahr später schoß sich der schöne, tolle, leichtsinnige Vater Ostried eine Kugel durch den Kopf. Sein Sohn, der bei den Pasewalker Kürassieren stand, mußte die Uniform ausziehen. Das verlangte eine Familienbestimmung. Er tat es ungern, wenngleich er sich trotzdem so viel Vergnügen, wie nur irgend möglich, bereitete. Kaum war das Trauerjahr zu Ende, jagte ein Fest das andere. Der Acker kam dabei natürlich nicht zu seinem Recht. Aber, ich merke schon, ich erzähle zu langatmig, Frau Präsident.“ Sie wehrte ab. „Mich interessiert auch das Kleinste in Ihrer Geschichte, Herr Amtsrat. Und Zeit haben wir reichlich. Der Blick, den Sie soeben nach der Tür warfen, soll wohl die Frage nach Eva von Ostried ausdrücken, nicht wahr?“ „Stimmt wieder. Sie ist doch noch bei Ihnen?“ „Sonst wüßten Sie es längst anders. Sie besorgt jetzt nur allerhand für ihren Geburtstag. Ich bin leider für körperliche Anstrengungen nicht mehr tauglich. -- Nachher hoffe ich, werden Sie sie noch bestimmt sehen können.“ Er wiegte bedächtig den Kopf hin und her. „Darauf lege ich keinen Wert, Frau Präsident. Ich würde ihr gegenüber entweder gerührt -- oder hilflos sein. Beides könnte den mangelnden Respekt nicht bringen. -- Nein, lassen Sie nur! Will es der Zufall, daß sie kommt, so lange ich da bin, drücke ich mich natürlich nicht.“ Sie verstand ihn wieder. „Und nun weiter,“ drängte sie. „Ja und zu einem dieser stolzen Feste kam denn auch eine vergrämt aussehende Baronin mit ihrer Tochter. Mich hatte er auch geladen, und -- weiß Gott -- wie es kam, ich erschien, obwohl ich zuvor dutzende von Malen abgesagt hatte. -- Bis dahin wußte ich nicht viel davon, wie lieblich eine Frau sein kann. Denn die Langbezopften in unserm Dorf hatten fast durchgängig Regennasen und derbe, rote Gesichter. Ich war auch sonst keiner von den Redseligen. Aber an dem Tage konnte ich überhaupt keinen Ton rausbringen. Nicht mal einen Glückwunsch fand ich zusammen, als mir mein Freund -- Hasso von Ostried -- die mir unirdisch schön erscheinende Tochter der alten Baronin als seine Braut vorstellte. -- Ich habe sie dann auch noch singen hören. Mein Gott -- zu Musik hat bei uns nie die Zeit gereicht. Darum wußte ich vorher nichts von ihrem Zauber. Er hat alles in mir wach und groß gerüttelt. Aber es durfte doch nicht leben. Als ich lange nach Mitternacht heimgestolpert bin, wußte ich, daß ich Hasso von Ostrieds Braut liebte -- und wollte nie, nie wieder in sein Haus. Ihr nie -- nie wieder begegnen. Und bin nachher doch, ganz freiwillig, hingegangen, weil ich wußte, daß sie bald Einen nötig hatte, der es treu und gut mit ihr meinte. Auf den sie unbedingt zählen konnte, wenn das unbarmherzige Kreuz für ihre schwachen Schultern zu schwer würde. -- Denn er, der von Gottes- und Rechtswegen dazu bestimmt gewesen, kümmerte sich bloß die ersten Jahre um sie. Nachher war anderes genug da. -- Die Jagd -- schöne Gäule -- auch ein paar Frauen, die seiner nicht das Wasser reichen konnten. Auch wollte er es nicht verwinden, daß das endlich geborene Kind ein Mädchen war und keinen Bruder bekam. -- Sie -- Evas Mutter -- wurde blasser und elender von Jahr zu Jahr. Er hat gelacht, wenn ihn einer warnend darauf hinwies. Ihre Tröster waren die Musik und -- ich! Das hat sie mir gestanden -- drei Tage vor ihrem Tode, der ganz leise und sanft gewesen sein muß, denn Niemand im Schloß hat etwas früher davon gemerkt, als bis alles vorüber gewesen ist.“ „Und sie hat nicht gewollt, daß Eva, wenn sich die schöne Begabung auf sie übertrüge, sie jemals öffentlich ausübe,“ fragte die Präsidentin, als er einen Augenblick schwieg. „Sie hat mein Versprechen mit ins Grab genommen, Frau Präsident.“ „Darf ich wissen, worin dies bestand, Herr Amtsrat?“ „Das ist ja die Hauptsache, damit Sie mich und meine damalige Schroffheit endlich verstehen. Sie müssen wissen, daß sie sich niemals zu mir über ihren Mann beklagt hat. Darum hat mich dies Letzte auch so erschüttert. Für sich und ihre Schönheit wollte sie nichts. Jahraus -- jahrein ging sie in einem weißen Kleide und ich glaube nicht, daß sie etwas anderes anzuziehen hatte. Manch einer riß seine Witze drüber und hat gemeint, sie spare heimlich, um dem teuren Gatten alle Jahr ein paar Flaschen echten Sekt zu schenken, von dem die Buddel damals schon 30 Mark gekostet hat. Ich als Einziger habe die Wahrheit erfahren dürfen. Ganz zuletzt -- wie schon gesagt. Ich will Ihnen ihre Worte wiederholen. „Sie sollen über meiner Tochter wachen,“ hat sie gebeten und als ich leise auf Evas Vater hinweisen mußte, nur geflüstert: „Sie wird ihm bald genug eine Last sein, denn er ist noch jung und will viel vom Leben. Die Ostriedschen Familiengesetze verlangen aber, daß den unmündigen Töchtern bei einer zweiten Eheschließung ein Vormund gesetzt werde. In gewisser Weise hängt er an ihr,“ hat sie dann weiter gesagt, „denn sie wird einst sehr, sehr schön sein. Das macht ihn stolz. Sonst aber -- innerlich -- empfindet er dauernd ein Unbehagen, Eva und er gleichen einander zu sehr. Sie ist eitel und egoistisch wie er -- schon jetzt -- und..“ Hier hat sie ihr Gesicht in den Händen verborgen, als schäme sie sich ihrer Geständnisse, „ich glaube beinahe, käme sie nicht in sehr feste, treue Hände, daß auch sie es mit den Begriffen der Ehre nicht so ganz genau nähme. Darum -- solange Sie Gewalt über sie haben, erlauben Sie nicht, daß sie das Talent, das ich ihr vererben mußte, -- die Stimme, deren Schönheit sich meinem Ohr längst angekündet hat, zum Beruf ausbildet. Er würde ihr zum Unsegen werden. -- Ich selbst dachte niemals an etwas derartiges. Schon der Gedanke, mich öffentlich zeigen zu sollen, mich von jedem bewundern und anstarren zu lassen -- machte mir Schmerzen. -- Entwickelt sie sich aber weiter zur Tochter ihres Vaters, wird sie gerade dies glühend ersehnen..“ Ja, so hat sie gesprochen, Frau Präsident. Zuletzt händigte sie mir noch ein Päckchen ein, das ich ihrer Tochter bei deren Volljährigkeit übergeben müsse. Es waren fünfhundert Mark. Wieviel Entbehrungen mochten daran hängen? Bedenken Sie, aus der Hauswirtschaft nahm sie keinen Pfennig ein. Was der Garten abwarf, bekam der Schloßherr gleich auf den Schreibtisch -- wenn die Kaufleute die Erzeugnisse nicht schon zuvor für längst gelieferte Waren mit Beschlag belegt hatten. Einzig hundert Mark im Jahr erhielt sie aus einer Stiftung vonseiten der verstorbenen Mutter her. Davon also hat sie dies zusammengerafft. -- Ich hab’s gut angelegt und hier ist es. Es sind tausend Mark draus geworden. Nicht viel.. Ich habe mir erzählen lassen, daß nach ihrem Tode der Witwer einer schönen Schauspielerin einen einzigen Mantel für das Dreifache gekauft habe. -- Aber, es ist doch viel mehr wert wie Millionen. Das Herz dieser seltenen, tapferen Frau hängt daran. Wollen Sie das alles ihrer Tochter erzählen? -- Ich kann’s nicht so. Ich würde wieder und wieder denken müssen.. das ist Hasso Ostrieds Tochter.. und würde das Bild vor mir sehen, das ich oft in Wirklichkeit hatte. Obschon der zwei Jahre nach ihrem Tod von dem Ostriedschen Kuratorium zwangsweise eingesetzte Verwalter des Majorats ihnen später jeden Kohlkopf und Groschen zugezählt hat und die Eva mit ihren siebzehn Jahren auch nicht mehr gänzlich blind und taub durch die Tage ging -- hat sie die Feste, die er -- wer weiß -- aus welchen Mitteln, schließlich wieder veranstaltete, mitgemacht -- sich allerlei bunte Fähnchen gekauft und mitgelacht..“ „Vergessen Sie ihre Jugend nicht, Herr Amtsrat.“ „Ihre Mutter ist auch jung gewesen und schön wie ein Engel und rein und hochbegabt,“ murrte er. „Vielleicht auch glücklich. -- Wissen Sie denn, Herr Amtsrat, ob es ihr nicht ein tiefes großes Glücksempfinden brachte, daß Sie ihr ergeben waren?“ „Daran habe ich niemals gedacht.“ „Und es liegt doch so nahe! Ich denke mir, daß sie Ihre feine, starke Liebe immer fühlte und das unbegrenzte Vertrauen zu Ihnen faßte, weil Sie sich im Zaum hielten. Eine Frau geht nicht dauernd an tiefstem Mannesempfinden vorbei. Vielleicht wäre sie sonst unter ihrer Last zusammengebrochen.“ Er saß ganz still. Seine breiten, sonnverbrannten Hände lagen schwer auf den Knien. „Wenn es wahr wäre,“ sagte er ein paarmal vor sich hin, „das wäre schön.“ „Es ist wahr,“ bekräftigte die Präsidentin. „Wie stellte sich übrigens Evas Vater später zu Ihnen?“ „Er war auffallend kurz und unfreundlich, wenn wir uns zufällig an den Grenzen trafen. Sein Haus betrat ich nicht wieder.“ „Merken Sie jetzt, daß ich im Recht bin? Obgleich er die Tote nicht mit wirklicher Treue liebte, war seiner Eitelkeit der Gedanke, daß Sie ihr mehr, als er, bedeutet hatten, unerträglich.“ „Er bestimmte sogar in einem hinterlassenen Brief ausdrücklich einen andern Vormund, wie mich, im Falle ich ihn überleben sollte, und seine Tochter zu diesem Zeitpunkt noch unmündig wäre. Dabei war er von dem Wunsch der Toten genau unterrichtet.“ „Wie kam es also, daß Sie es dennoch geworden sind?“ „Nun, er war im Laufe der Jahre den Herren vom Gericht bekannt geworden. Seine zahlreichen Gläubiger wurden durch seine Gleichgültigkeit stets gezwungen, sich letzten Endes an die große Stelle für das öffentliche Recht zu wenden. Auch war sein Leumund schlechter geworden, seitdem er allein mit der Tochter lebte. Derjenige aber, den er als Vormund für seine Eva vorgeschlagen hatte, war genau so ein leichtsinniger, loser Vogel wie er selbst.“ „An seinen verhältnismäßig frühen Tod muß er doch gedacht haben. Wie wäre sonst jener Brief zustande gekommen?“ „Ein toller Ritt nach durchzechter Nacht brachte ihm die schwere Lungenentzündung, an deren Folgen er nach ein paar Wochen auch gestorben ist. Seine Natur hat sich erstaunlich lange gegen den Sensenmann gewehrt. In dieser Zeit der Langenweile und vielleicht auch der Nachdenklichkeit ist das erwähnte Schriftstück, das sonst keinerlei Wichtiges enthält, entstanden.“ „War er eigentlich mit dem Entschluß seiner Tochter und dem hochherzigen Anerbieten seines Freundes, des bekannten Königlichen Kammersängers, sofort einverstanden? Evas Ansicht, die dies lebhaft bejaht, ist mir in dieser Beziehung nicht maßgebend?“ „Doch, ich glaube es auch! Das Messer saß ihm an der Kehle. Allmählich sahen auch die Gläubigsten unter seinen Kreditgebern, daß das Kuratorium ihn unerbittlich beschränkte. Sie zogen sich mehr und mehr von ihm zurück, um zu den alten Dummheiten keine neuen anzufügen. Denn er hatte etwas bestrickend Liebenswürdiges, das auch die Vernünftigsten oft genug blendete. -- An mich hat er sich niemals gewandt. Und das ist das Einzige, was ich ihm hoch anrechne. -- Er kannte die ungeheuren Einnahmen des Kammersängers, der, gleich ihm aus einer altadligen Familie stammte, und mag wohl -- bestimmt durch die glanzvolle Aussicht für die Tochter, durch welche sich auch seine Lage endlich wieder heben mußte, die erbetene Erlaubnis zu ihrer Uebersiedlung nach Berlin bereitwilligst gegeben haben. Eva soll dort übrigens ganz zur Familie gehört haben. Die Gattin des Künstlers wurde mir seiner Zeit als gute Hausfrau gerühmt. -- Davon werden Sie natürlich mehr wissen, wie ich?“ „Eva ist damals ganz in ihrer Kunst aufgegangen und hat sich scheinbar um die ihr reichlich prosaisch dünkende Frau des Gönners wenig gekümmert. Jedenfalls hat der Umstand, daß die nach dem Tode ihres Mannes sofort den Haushalt auflöste und -- ohne Rücksicht auf Eva -- nach München übersiedelte und sich niemals seitdem durch eine Zeile nach ihr erkundigt hat, zur Genüge bewiesen, wie lose das Band eines Zusammenhaltes zwischen ihnen gewesen ist..“ „Alles in allem wird Eva von Ostried aber inzwischen eingesehen haben, daß ich es gut mit ihr gemeint habe?“ „Leider kann ich das nicht bejahen!“ „Ich nahm die Tatsache, daß sie keinen weiteren Versuch zu meiner Umstimmung machte, für weise Einsicht an.“ „Wie wenig kennen Sie die Tochter Ihrer geliebten Toten! Ihr Schweigen hatte einen andern Grund. Ich machte ihr klar, daß ich Ihnen keine schnelle Aenderung einmal gefaßter Ansichten zutraue und vertröstete sie auf die Zukunft. Da war sie klug genug, sich einstweilen zu bescheiden.“ „Danach scheinen Sie also ihre Wünsche zu unterstützen, Frau Präsident? Das ist mir nach dem starken Eindruck, den ich von Ihnen empfing, unbegreiflich.“ „Auch Sie wären andern Sinnes geworden, hätten Sie sich, gleich mir, von dem Ernst ihrer Bestrebungen, überzeugen müssen. Und nun gar die eigene Mutter. Ich habe kein Kind besessen. Und doch fühle ich, daß eine Jede von uns zurücktreten kann und auch will, wird sie inne, daß sie der wahren Befriedigung des Kindes hinderlich ist.“ „Darin sollen Sie Recht behalten. Frau von Ostried war wohl eine scheue, stille Frau für sich selbst. Hätte sie aber einsehen müssen, daß die Tochter schwer unter der Versagung ihrer Erlaubnis litt, wäre sie fraglos nachgiebig geworden.“ „Nun begreife ich Sie immer weniger.“ „Das ist auch schwer für Sie. Wir leben in zu verschiedenen Verhältnissen. Für Sie ist die Grenze, die ich als Horizont achte, nur ein Scheinbegriff geblieben, hinter dem sich die Unendlichkeit ausdehnt. Und Wachstum gibt es in Ihrem Leben auch wohl ohne Segen und Regen. Ich sah nur mein ganzes Leben hindurch klare Luft, den Horizont und die Entwicklung jeglichen Dinges durch Sonne und Regen... Einmal bin ich im Theater gewesen und danach nie wieder. Es hat mich abgestoßen. Lachen Sie ruhig darüber. Eine Frau stand auf der Bühne und hat alles das vor fremden Ohren preisgegeben, was sie sonst schamhaft mit sich allein abmacht. -- Mir kam sie dadurch wie entkleidet vor. -- Dies Gefühl hat mir die Richtschnur gegeben. Schön und gut! Es mag viel Kunst dabei sein können. Das verstehe ich nicht. Viel Unwahrhaftigkeit und Uebertreibung aber auch. Dazu kommt, daß in der Familie meines einzig noch lebenden Bruders eine Tochter, die viel Hang zur Musik und zur Künstlerschaft hatte, verloren gegangen ist. Es ist mir sehr nahe gegangen. Die Kinder meiner andern Brüder, von denen ich Ihnen auch sagte, sind frühzeitig gestorben. Nun habe ich nur noch einen Neffen, mit dem ich nie recht warm werden konnte.“ Daß ein Mann, der das Leben mit all seinen Härten, Entsagungen und Verlockungen kannte, ein öffentliches Auftreten von dieser Warte beurteilte, rührte die Präsidentin. Freilich mochte es reichlich unmodern sein -- ja, in den Augen der Meisten wohl gar lächerlich wirken. Ihr zeigte es den hohen, sittlichen Wert dieses Mannes, dessen unbewußte, kinderreine Keuschheit sich gegen Schaustellungen der Gefühle heftig sträubten. „Was hätte ich dagegen tun wollen,“ sagte sie nach einer Weile des Schweigens. „Es wurzelt zu tief bei ihr. Ich hätte sie ganz verloren. Nun darf ich sie wenigstens noch eine Zeitlang behalten.“ „Sie besitzt aber nichts, als das Geld, das ich vorher in Ihre Hand gelegt habe, Frau Präsident, und ich habe mir erzählen lassen, wie hoch die Kosten einer gründlichen Ausbildung sind. Damit sollen aber die Ausgaben noch nicht aufhören. Eine erhebliche Summe, sozusagen als Daseinssicherheit, muß außerdem vorhanden sein. Mal gibt’s keine Einnahmen. Mal kosten die Kleider mehr, wie das gesamte Spielhonorar beträgt..“ Sie mußte unwillkürlich über seinen Eifer, hinter dem sich ein Stückchen Triumph barg, lächeln. „Ich bin reich,“ gestand sie endlich. „Sehr reich sogar und habe für niemand leiblich Verwandtes zu sorgen. Das hat mir oft bitter weh getan. Ich meinte, die gnädige Vorsehung schickte mir Eva von Ostried als Ausgleich für mancherlei Entbehrtes. Nun, Enttäuschungen kamen auch hinterher. In gewissem Sinne ähnelt sie bestimmt dem Vater, wie Sie ihn mir schilderten. Wenn auch alles liebenswerter und weicher in ihr gestaltet ist. Ich konnte gar nicht anders handeln, als ich es schließlich getan habe. Mit dem Augenblick, in dem ich sie in mein Haus aufnahm, gab ich mir das Versprechen, für sie zu sorgen. -- Im April nächsten Jahres etwa wird sie wieder ernsthaft ihre Studien aufnehmen. Die Mittel bis zum Schluß und ein rundes Kapital für die von Ihnen erwähnten Dinge, soll sie von mir erhalten. Ich bringe das in den nächsten Tagen in Ordnung.“ „Dann habe ich das Meiste umsonst geredet, Frau Präsident.“ „Glauben Sie das nicht, Herr Amtsrat. Ich gebe alles in passender Stunde an Eva weiter. Es wird Wurzel schlagen. Mit Strenge ist nicht viel bei ihr zu wirken. Regt sich aber der gute Kern -- spricht die Dankbarkeit und besonders das Erbe ihrer Mutter -- eine große Reinheit in Empfindung und Anschauung -- dann kann sie erstaunlich fügsam und weich sein. Die durch die Wiedergabe Ihrer Worte von neuem geweckte Erinnerung an ihre tote Mutter wird ihr zum Schutz werden.“ „Sie wird das bißchen Erlernte von der Musik gründlich vergessen haben,“ wandte der Amtsrat ein. „Drei Jahre ist sie nun bei Ihnen.“ „Und Sie meinen wirklich, daß ich in dieser Zeit das Erreichte nicht wenigstens erhalten hätte? So kurzsichtig und engherzig war ich nicht. Ich habe ihr einen bedeutenden Lehrer gehalten und wenn ich auch keine zeitraubenden Uebungsstunden gestattete -- eben weil sie sich an die Erfüllung bestimmter Pflichten gewöhnen sollte -- dies Ende zur Rückkehr sah ich stets voraus. Es waren also auch in dieser Beziehung keine verlorenen Jahre.“ „Die kommenden Zeiten werden unruhig für Sie werden, Frau Präsident. Und eine Stütze dürften Sie im Alter kaum an ihr haben.“ „Ich glaube auch nicht, daß ich ihrer bedarf, lieber Herr Amtsrat. Ich entstamme einer kurzlebigen Familie. Eigentlich halte ich mich schon länger, als es mir vor ungefähr zehn Jahren ein besonders barscher Arzt bemessen hat. Ich bin auch jederzeit bereit. Nur vorher will ich noch, etwa im ersten Frühlingsgrün des nächsten Jahres, eine liebe Jugendbekannte in ihrem Heimatsstädtchen aufsuchen. Immer wieder habe ich das hinausgeschoben. Jetzt bin ich fest dazu entschlossen. Und wissen Sie, wen ich bei dieser Gelegenheit noch besuchen möchte? Dieser Gedanke ist ganz neu.. Einen guten, treuen Menschen, welcher der beste und zuverlässigste Freund gewesen ist. Seine Scholle liegt meinem Wege überaus günstig. Wenn ich richtig schätze, kaum eine Bahnstunde von der pommerschen Seestadt entfernt, in welcher meine Bekannte lebt. Wollen Sie seinen Namen wissen? Er heißt Amtsrat Wullenweber und wird hiermit feierlich angefragt, ob er mich wohl auf einen Tag haben mag?“ Er strahlte, sie aus seinen treuen, blauen Augen ehrlich erfreut an. „Ob ich mag, Frau Präsident! Ich will alles vom Boden bis zum Keller putzen lassen und meine alte Klidderten soll mal zeigen, was eine richtige, gute hinterpommersche Wirtschafterin leisten kann.“ „Um Gotteswillen,“ lachte sie fröhlich, „das wird bestimmt unmöglich gemacht. Eines Tages trete ich, ohne vorherige Anmeldung, mit einem kleinen Reisetäschlein, bei Ihnen an und werde dankbar sein, wenn Sie mir einen Platz an Ihrem Tisch und höchstens noch ein Gericht Dabersche Kartoffeln mit fetter Buttermilch gönnen. Denn Sie müssen wissen, daß meines lieben Mannes erste Richterstelle in Köslin war, das ebenfalls im Regierungsbezirk Köslin liegt. Darüber sind freilich schon einige dreißig Jahre vergangen. Auch haben wir damals weder Zeit noch Lust gehabt auf den benachbarten Gütern Bekanntschaften anzuknüpfen. Meines Mannes Dezernat war sehr umfangreich. Ein Anwalt, der ihm die zahlreichen Verträge und Testamente abgenommen hätte, wollte sich aus Furcht, kein genügendes Auskommen zu finden, nicht niederlassen.“ „Und jetzt sitzen dort längst ihrer zwei, die in guter Freundschaft miteinander leben.“ -- „Sie kennen das kleine, saubere Städtchen natürlich ganz genau?“ „Versteht sich, Frau Präsident. So dick gesät sind ja die Nester bei uns da hinten bekanntlich nicht. Mit meinen jungen Schimmeln schaffe ich die Geschichte in knappen drei Stunden.“ „Wie seltsam spielt die Vorsehung. Ich bin geneigt, dies alles als etwas anzusehen, das Eva von Ostried zum Nutzen und Frommen werden muß. Vielleicht lernen Sie sie bald näher kennen und gewinnen sie im Laufe der Zeit ebenso lieb, wie ich es tue.“ „Daran würde ihr kaum etwas gelegen sein. Ich habe herausgefühlt, daß ihr Vater über mich in einem Ton gesprochen haben muß, der weder Vertrauen noch Hochachtung säen konnte.“ „Und dennoch bitte ich Sie in dieser Stunde von ganzem Herzen, unser Sorgenkind nicht aus den Augen zu lassen, wenn sich die Prophezeiung jenes Arztes einmal überraschend schnell an mir vollziehen sollte.“ „Sie werden gemerkt haben, daß ich ein schwerfälliger Mensch bin, Frau Präsident.“ „Einer, hinter dessen schlichtem Wort jedenfalls die Tat steht, Herr Amtsrat.“ „Aber auch ein Weltfremder und Ungeschickter.“ „Sie zögern also?“ „Wenn Weg und Ziel im Dunst liegen, geht die Fahrt gewöhnlich schief. Ich wüßte nicht, womit ich ihr helfen könnte.“ „Das ist mir vorläufig gleichfalls verborgen. Es kann aber sehr wohl kommen, daß sie durch irgend welche Ereignisse hilflos wird. Ich will morgen auch diesen Fall mit ihr besprechen. Sie soll sich an Sie wenden, wenn sie allein nicht mehr weiter kann.“ „Tut sie das, Frau Präsident, will ich ihr nach bestem Wissen raten und helfen. Darauf mein Wort.“ „Das genügt mir. Ich danke Ihnen innig, Herr Amtsrat, und jetzt lassen Sie uns ein Glas jenes alten schweren Weines zusammen trinken, dessen letzte Flasche seit einem viertel Jahrhundert auf einen würdigen Augenblick im Keller wartet.“ * * * * * Hell war auch der neue Tag und voll goldenen Lichtes. Eva von Ostried stand unter einem besonders gesegneten Apfelbaum. Ein Stückchen blauen Himmels und die begrenzte Ferne drängte sich durch das Gewirr der Zweige und Früchte. Stolze Träume schoben ihr jedes Hindernis fort. Sie fühlte sich frei wie nie zuvor, trotzdem ihr nichts geschehen war, als daß sich heute ihr einundzwanzigstes Lebensjahr vollendete. Der kommenden, ernsten Arbeit gedachte sie freilich auch. Mehr aber des andern, nach dem sie sich unaussprechlich sehnte. Reich -- angebetet -- beneidet zu werden, war ihr Streben. Von jeher haßte sie dies Einschränken und Sorgenmüssen. Der Traum ungezählter Tage, das bewußte und unbewußte Sehnen nächtlicher Träume, gilt dem Glanz einer sorglos heiteren Zukunft. Erst, nach dem großherzigen Versprechen der Präsidentin erkannte sie schaudernd, daß ihr Leben verfehlt und zerbrochen gewesen wäre, hätte die gütige Frau ihre Zukunftswege nicht zu ebnen versprochen. Bei dem bloßen Gedanken an diese Möglichkeit schüttelte sie wiederum ein Grauen. Vielleicht hätte sie dann, gezwungen von ihrer Sehnsucht, den Versuch gemacht, um jeden Preis die fehlenden Mittel selbst zu beschaffen. So aber war es schöner und bequemer! Sie nickte der Sonne zu und jauchzte hell auf -- streckte die Arme und griff spielerisch nach den blendenden Kreisen. „Der Ruhm soll mir beide Hände mit Gold füllen.“ Von der Veranda her ertönte ihr Name. Ungeduldig winkte ihr die Präsidentin. „Wo bleiben Sie, Eva?“ Da flogen die Träume von dannen. Was aber blieb, war noch köstlich genug. Gaben -- Freundlichkeit -- und Ermahnungen. Auch diese! Eva von Ostried hörte scheinbar aufmerksam zu, als ihr Frau Melchers vom alten Amtsrat Wullenweber und allem, was zwischen ihnen gesprochen war, sagte. Im Stillen dachte sie: „Ehe ich mich jemals an den engherzigen, mürrischen Nachbar wende, würde ich lieber hungern.“ Daß dies Schreckliche in Wahrheit eintreten könnte, erschien ihr freilich undenkbar. Als sie das Erbe der Mutter empfing, mußte sie weinen. Es war ja so unendlich wenig. Ihr Vater hatte oft mehr als das Dreifache in einer Nacht im Spiele verloren. Aber es rührte sie! Die verblaßten Erinnerungen füllten sich mit lebendigen Farben. -- Ihre feine, kleine, stille, zarte Mutter! -- Wie sie Paul Karlsen in der Dunkelheit des gemeinsamen Warteraums an sich gerissen, hatte sie ihrer plötzlich gedenken müssen -- sie um Hilfe anflehend. -- Den Vater hatte sie damals vergessen. Der war ja auch nur für die lustigen Stunden dagewesen. -- Sie hielt das Geld traumverloren fest und sah unverwandt darauf nieder. „Was gedenken Sie damit zu beginnen, Eva,“ forschte die Präsidentin neugierig. „Am besten tragen Sie es noch heute auf die Bank.“ „Ich gebe es nicht fort,“ sagte Eva hastig. „In meinem Schmuckkasten, der leider nichts birgt, als die kleine goldene Brosche von Ihnen, wird es liegen und geduldig warten.“ „Worauf denn, Kind?“ „Daß ich es in etwas Wunderschönes umsetze. Ich weiß auch schon, worin. Zum Beispiel einen Teil in den entzückenden Hut mit dem Reiher, von dem uns neulich die Verkäuferin sagte, daß ihn getrost eine regierende Fürstin tragen könne.“ „Dies mühsam abgedarbte Scherflein Ihrer guten Mutter wollten Sie so hinwerfen, Eva?“ „Schelten Sie nur! -- Schön und verführerisch bleibt der Gedanke doch. Da geht eine Prinzessin oder zum mindesten eine Millionärin, würden sie sagen und sich nach mir umdrehen. Und würden vor Neid fast platzen. Und ich lache mich halb tot und freue mich.“ Da brach jene oft bekämpfte Verständnislosigkeit, die den eigentlichen Wert des Geldes garnicht begriff, wieder durch. Scheinbar war sie unbesiegbar. Die Präsidentin beschattete die Augen mit der Rechten. Es war doch nicht möglich, daß sie ohne ihren alten Freund und Rechtsbeistand die Bestimmung über Eva von Ostrieds zukünftiges Erbe traf. Eva von Ostried hatte keinen Augenblick die Empfindung, etwas Unrechtes ausgesprochen zu haben. Sie lief fröhlich der Post entgegen, die soeben, nach dem langhallenden Klingelton, in den am Gitter angebrachten Kasten hineingeschoben wurde. Bald darauf hielt die Präsidentin einen an sie gerichteten Brief in der Hand. Die Schrift auf dem Umschlag war ihr fremd. Ohne sonderliche Eile öffnete sie ihn. Ihre häufig auch nach außen hin betätigte Herzenswärme brachte ihr fast täglich die bittenden Jammerrufe Notleidender ins Haus. Als sie die wenigen Zeilen überflogen hatte, erblaßte sie und sagte weich und zärtlich: „Du sollst mich nicht vergeblich gerufen haben.“ [Illustration] [Illustration] 3. Solange Eva von Ostried im Hause der Präsidentin weilte, hatte sich jene noch niemals von einer Aufregung sichtbar beherrschen lassen. Zu allen Zeiten wußte sie das wohltuende Gleichmaß einer abgeklärten Ruhe zu bewahren. Jetzt aber sprang sie mit den Zeichen einer großen Erregung auf und ging hastig in dem blumengeschmückten Zimmer auf und nieder. Dabei ließ sie den soeben empfangenen Brief keinen Augenblick aus der Hand. Immer wieder überlas sie ihn und fuhr zuweilen sanft darüber hin, als ob sie etwas Liebes streicheln wolle. Endlich blieb sie vor Eva stehen. „Meine alte, liebe Jugendfreundin mußte mich erst rufen, ehe ich mich zu ihr finde. Was hilft es, daß ich fest entschlossen war, diese Reise anzutreten? Da steht, daß sie sich längst nach mir gesehnt hat und mich nur nicht früher zu rufen wagte, weil sie Rücksicht auf mein Herzleiden nehmen wollte. Wenn ich nun zu spät käme.“ Ehe Eva etwas darauf erwidern konnte, las sie das Schreiben vor: „Wundere Dich nicht, meine liebe Hanna, daß ich mit Blei schreibe und daß der Umschlag fremde Handzeichen -- nämlich diejenigen einer liebevollen Pflegerin -- trägt. Es geht mir nicht gut. Ich hatte vor einigen Wochen den Fuß gebrochen und war seitdem zu strenger Ruhe verurteilt. Alles schien einen günstigen Verlauf zu nehmen, bis eine Lungenentzündung hinzutrat, die mir viel Schmerzen macht. Zwar bin ich stets, wie Du weißt, ein harter Mensch gewesen, aber man kann doch nichts voraussagen. Ich habe Sehnsucht nach Dir, Hanna, und würde mich innig freuen, wenn Dir Deine Gesundheit endlich gestattete, zu mir zu kommen. In diesem Fall telegraphiere ausführlich. Du wirst dann von meiner Pflegerin, die nachmittags stets ein Stündchen spazieren gehen muß, auf dem Bahnhof erwartet und in mein Haus geleitet werden. Deine alte treue Maria Wunsch.“ Dann sagte sie eilig und fest: „Bringen Sie mir sogleich das Kursbuch, Eva, und beauftragen Sie Pauline, daß sie den kleinen Handkoffer herunterschafft. Das weitere besprechen wir, sobald ich das Telegramm mit der genauen Ankunftsbestimmung fertig habe.“ Eva von Ostried legte die Hand bittend auf den Arm der Präsidentin. „Sie dürfen unmöglich reisen! Denken Sie daran, wie eindringlich Geheimrat Schwemann vor jeder Anstrengung und Aufregung gewarnt hat. -- Wenn ich auch gelobe, daß Sie sich über keine meiner Vergeßlichkeiten ärgern sollen -- wenn ich selbst auf der Reise und während unseres Aufenthalts sehr tüchtig und umsichtig sein will -- so würde es doch zu viel für Sie werden.“ „Ich glaube, Sie haben mich mißverstanden, Eva. Ich denke diesmal allein zu reisen. Sie werden daheim bleiben.“ Das schöne, junge Gesicht wurde blaß vor Schreck. „Sind Sie unzufrieden mit mir? War ich auf der letzten Reise nicht liebevoll und aufmerksam genug? O, ich fühle es. Die unglückliche Theatergeschichte trägt die Schuld daran.“ „Nein, mein Kind, die hat gar nichts mit meinem heutigen Entschluß zu schaffen. Ich war voll zufrieden mit Ihnen. Die kleine Episode, mit der mich allerdings betrübenden Heimlichkeit, kann nichts daran ändern. Der Grund ist ein anderer. Das Heim meiner alten Freundin ist eng und mehr als bescheiden. Nun bereits eine Pflegerin darin nächtigt und ich mich demnächst auch noch dazu finde, würde für Sie kaum ein Plätzchen bleiben. Und im Hotel? -- Ja, dann hätte ich wiederum nicht viel von Ihnen und meine gute, sorgsame Maria würde sich dauernd aufregen, weil sie so beschränkt in der Ausübung ihrer Gastfreundschaft sein muß. Nein -- nein. Diese Unruhe müssen wir ihr ersparen. Erinnere ich mich recht, habe ich unterwegs irgendwo einen längeren Aufenthalt. Das stelle ich sogleich fest. -- Jedenfalls Zeit genügend, Ihnen ein Kärtchen zu schreiben, Aufzeichnungen, wie ich das auf jeder Reise zu tun liebe, zu machen und beschaulich die verschiedenen Tageszeitungen zu lesen.“ „Tun Sie es nicht! Ich flehe Sie an,“ bettelte Eva von Ostried. „Diesmal bleibe ich fest. Sparen Sie jedes Wort. Eine freudige Sicherheit wie ich sie lange nicht mehr empfand, sagt mir, daß ich recht handle. Geht es mir trotzdem schlecht -- fühle ich mich ohne Ihre kleinen Hilfeleistungen, an welche ich mich allerdings gewöhnt habe, zu matt, werde ich Sie umgehend telegraphisch rufen. Das verspreche ich Ihnen.“ Noch einmal machte Eva den Versuch zur Umstimmung. „Wenn Sie mir nur erlauben, daß ich Sie bis zu Ihrem Ziel begleite. Ich könnte sofort mit dem nächstmöglichen Zuge zurückreisen.“ „Wie hilflos und hinfällig muß ich Ihnen erscheinen. Nein und zum letzten Mal, nein, Eva. Sie bleiben hier, helfen der guten Pauline beim Einlegen der Früchte -- schreiben mir fleißig und singen und studieren in der übrigen Zeit nach Herzenslust.“ Da mußte Eva von Ostried sich fügen. Sie tat es langsam und widerwillig. Als die Präsidentin sie noch einmal zurückrief, hoffte sie auf eine Sinnesänderung. Es handelte sich aber um etwas Nebensächliches, das nichts an dem Beschlossenen änderte. „Noch schnell etwas über mein Reisekleid,“ sagte die Präsidentin frisch, „meine gute Maria liebte einst besonders ein schwarzes, schlichtes Seidenkleid an mir, das ich seit Monaten nicht mehr trug, weil es mir zu feierlich war. Sie finden es sorglich verpackt in der zweiten Bodenkammer in dem alten Schrank. Streng modern ist es natürlich längst nicht mehr. Gleichviel -- ich will ihr die Freude machen nach der langen Zeit darin unser Wiedersehen zu feiern. Sie wird daran auch merken, wie treu ich selbst das Kleinste und Unwichtigste aus unserm Verkehr im Gedächtnis bewahre.“ Eva von Ostried wagte keine weiteren Einwendungen. Der ruhige, durchaus bestimmte Ton, in dem die Präsidentin gesprochen, ließ sie erkennen, daß auf dem bisherigen Wege keine Sinnesänderung zu erwarten stand. Ihr Herz klopfte in einer jäherwachten, ihr selbst unbegreiflichen Angst. Vielleicht würde die alte Pauline mehr ausrichten. -- Die treue Dienerin schüttelte den Kopf, als Eva ihr in hastigen Worten das Nötige mitteilte. „Sie hat es sich vorgenommen. Dagegen können wir nichts machen,“ meinte sie bedrückt. „Versuchen Sie doch wenigstens ihr abzureden, Pauline,“ bat Eva von Ostried eindringlich. „Wer so lange wie Sie mit ihr zusammen gewesen -- ihr gedient -- sie umsorgt, und schließlich auch das Schwerste, den Tod ihres Gatten mit durchgemacht hat, der muß verstehen, wirkungsvoller als ich zu bitten.“ Das faltige Gesicht senkte sich kummervoll. „Wie wenig kennen Sie unsere Frau Präsidentin noch, wenn Sie daran glauben. Ja -- käme es hierbei allein auf sie an. Wäre das eine Reise zur bloßen Erholung. -- Eigensinnig war sie nie und für ordentliche Ratschläge hatte sie immer ein offenes Ohr, auch wenn sie so ein einfacher Mensch gab, wie unsereins. Es geht aber um Jemand, dem sie gut ist und gegen den sie etwas wie ein böses Gewissen hat. Da ist sie nicht zu halten. Nein, Fräuleinchen, wir beide können bloß den lieben Gott innig bitten, daß er sie uns gesund zurückschickt.“ Das sonderbar beklemmende Gefühl wollte Eva von Ostried nicht freigeben. Stärker wurde ihre Unruhe. Sie war fieberhaft fleißig, weil sie hoffte, ihre Gedanken dadurch abzulenken. Allein auch dies Mittel versagte. Schließlich, als sie mit den hauptsächlichsten Vorbereitungen zur Reise fertig geworden, setzte sie sich auf Frau Melchers besonderen Wunsch an den Flügel und begann deren Lieblingslied zu singen: Am Abend, wenn die Sternlein all Zum güldnen Tanz antreten, Dann falt’ ich fromm die Hände mein Um für Dein Glück zu beten.. Mitten in den weichen, wundervoll reinen Tönen versagte ihre Stimme. Mit einem erstickten Schluchzen legte sie den Kopf auf die Tasten. „Was haben Sie, Kind,“ fragte die Präsidentin erschrocken. „Ich weiß es selbst nicht. Einmal vor langen Jahren war mir ähnlich zumute. Damals brannte in Waldesruh die gefüllte Scheune herunter und der Wind stand so ungünstig, daß alle ein Herüberspringen der Flammen auf unser Schloß fürchteten.“ „Es ist aber letzten Endes glücklich bewahrt geblieben, nicht wahr?“ „Ja -- wie durch ein Wunder!“ „Sehen Sie wohl! Auf dies Wunder wollen auch wir hoffen. Das heißt, ich wüßte kaum, aus welcher Not es uns zur Zeit helfen sollte. Der heutige Tag hat Sie ungewöhnlich erregt, Evalein. Das ist verständlich. Es tut mir herzlich leid, daß wir ihn so wenig festlich und würdig zu Ende führen konnten.“ Eva hob die tränennassen Augen zu der Gütigen empor. „Haben Sie mir wirklich jene Eigenmächtigkeit in Oeynhausen voll vergeben,“ fragte sie leise. „Ich will zugestehen, daß ich anfangs schwer darunter gelitten habe. Nun ist längst alles wieder gut. Lassen Sie sich sagen, daß ich Sie wie mein eigenes Fleisch und Blut liebe. Ja -- Eva, daran denken Sie stets. Nicht nur heute und morgen, sondern auch und besonders, wenn Sie einst ohne mich wandern müssen. -- Jetzt aber genug von diesen Dingen. Wir wollen uns nicht unnötig weich machen.“ Da fühlte sich Eva endlich von dem unerklärlichen Alp befreit und jauchzte ein zartes Frühlingslied heraus. Die Präsidentin nickte lächelnd und dachte: „Wie weich und gut sie ist, trotz ihrer Fehler und wie liebenswert. -- Warum habe ich mir so viel Sorgen um sie gemacht? Ein Blumengarten ohne Unkraut ist doch eine Unmöglichkeit. Ich werde mit Gottes Hilfe schon das Wuchernde mit Stumpf und Stiel ausrotten. -- Schwere Aufgaben sind allemal die lohnendsten.“ Und sie strich in mütterlicher Zärtlichkeit heimlich über Eva von Ostrieds Aermel, ohne daß diese in ihrer begeisterten Versunkenheit etwas von der stillen Liebkosung merkte. Seit langen Jahren war der Präsidentin nicht so leicht und glücklich zu Sinn gewesen, wie in dieser Stunde. * Um elf Uhr am nächsten Vormittag war die Abreise endgültig festgesetzt. Die alte Pauline hatte es sich nicht nehmen lassen, trotz der Abwehr der Präsidentin einen riesigen Strauß bunter Astern und letzter Rosen zu binden. Sie war gerade damit beschäftigt, ihn an die Schirmhülle zu befestigen, als die Glocke der Gartenpforte anschlug. „Wir dürfen jetzt keinen Besuch annehmen,“ flüsterte Eva von Ostried der Getreuen zu. „Die letzte Stunde muß Frau Präsidentin möglichst ruhig verbringen. Hören Sie nur, wie stürmisch geklingelt wird.“ „Ich lasse keinen rein, Fräuleinchen; es sei denn der Geldbriefträger.“ Es war aber nur ein einfach aussehender älterer Mann in der Tracht eines schlichten Bauern. Anfangs begriff er nicht, daß es Leute geben sollte, die einem Unbescholtenen den Eintritt verwehrten. Als sich aber die Pforte durchaus nicht vor ihm öffnen wollte, wurde er zornig. „Denken Sie vielleicht, ich wäre eigens aus dem Oderbruch hergekommen, um mich von Ihnen wieder wegschicken zu lassen, als wollte ich betteln.“ Die alte Pauline suchte ihn zu besänftigen. „Nehmen Sie doch endlich Vernunft an. Ich sage Ihnen zum letzten Mal, es geht eben heute nicht. Unsere Frau Präsidentin will gleich verreisen. Eigentlich darf sie gar nicht, weil ihr Herz nicht in Ordnung ist. Darum muß sie wenigstens, bis der Wagen kommt, ganz still liegen.“ „Das kann sie meinetwegen ja auch,“ murrte der Bauer. „Wenn Sie denken, daß ich sie aufregen tue, irren Sie. Was ich von ihr will, macht bloß Freude.“ „Warten Sie einen Augenblick,“ meinte Pauline, durch sein zähes Ausharren unschlüssig geworden, „ich rufe mal schnell das Fräulein heraus. Die wird Ihnen das alles besser klar machen.“ Eva bemühte sich trotz ihrer ärgerlichen Ungeduld, die sich beim Anblick des Hartnäckigen steigerte, möglichst sanft zu sein. „Wirklich, lieber Mann, es geht nicht. Kommen Sie nach ein paar Wochen wieder oder -- schreiben Sie an Frau Präsident, wenn Sie mich durchaus nicht in Ihre Angelegenheit einweihen wollen.“ „Schreiben -- schreiben,“ echoete der Bauer. „Wenn ich hätt’ schreiben wollen, wäre ich erst gar nicht hergekommen. Ich befaß mich aber mit solchen neuen Moden nicht gern. Von Mund zu Mund -- von Hand zu Hand -- ist alles sicherer. Als ich vor zehn Jahren Frau Präsidentin unter meinem Dach hatte, haben wir auch nichts Schriftliches zusammen aufgesetzt. Sie hat zu mir gesagt: Sie sind ein rechtschaffener Mann. Ich hab’ Vertrauen zu Ihnen. Und hier ist das Geld --“ „Geld wollen Sie also auch heute wieder von ihr, wenn ich Sie recht verstehe?“ forschte Eva von Ostried. Da riß die Geduld des Bauern vollends. „Ich bin der Tabakbauer Kleinschmidt aus dem Oderbruch, eine Meile von Schwedt, und brauch’ kein Geld mehr. Gott sei Dank. Und wenn Sie’s immer noch nicht wissen, merken Sie sich’s jetzt wenigstens. Ich bring’ ihr Geld. Das, was ich ohne Schuldschein oder Hypothek als bloßes Darlehn auf mein Gesicht und meine beiden Hände hin mal gekriegt hab’. Ich hab’ noch nie bis heut erlebt, daß man einen, der Geld bringt, nicht rein läßt. Und nun bestellen Sie ihr das, wenn Sie nachher keinen Aerger haben wollen.“ Das tat Eva nach kurzem Ueberlegen wirklich. Die Präsidentin erhob sich sofort. „Natürlich lassen Sie ihn nunmehr ungesäumt zu mir, Eva. Ich kann mir den Zorn dieses braven, tüchtigen Mannes sehr wohl vorstellen. Allerdings begreife ich vorläufig nicht, wie er mir jenes Darlehn ohne vorherige Aufkündigung einfach ins Haus bringen kann. Indes war die bisherige Art unseres Geschäftsabschlusses ja auch eigenartig und ungewöhnlich. Jedenfalls rufen Sie ihn mir!“ Sie streckte dem Eintretenden freundlich die Hand entgegen. „Nichts für ungut, lieber Kleinschmidt. Sie haben wohl gemerkt, daß die, welche ich als die Meinen bezeichnen muß, weil sie treu für mich sorgen, überängstlich sind. Sehen Sie’s ihnen nach. Ich muß das täglich ertragen und noch dazu mein allerfreundlichstes Gesicht machen. Sie werden doch nur sehr kurz davon betroffen.“ „Ich an Ihrer Stelle würde sie schön auf den Trab bringen, Frau Präsident.“ „Möchte ich auch mehr als einmal besorgen, lieber Kleinschmidt. Aber -- ich fühle, daß ich sie notwendig habe und nehme deshalb die gelegentlichen kleinen Uebertreibungen geduldig in den Kauf. -- Ich will verreisen, wie Sie natürlich schon gehört haben. Sie sind mir also nicht böse, wenn ich Sie nicht zu längerem Verweilen nötigen kann.“ Er zog umständlich eine dicke Brieftasche hervor. „Als es mir damals so schlecht ging, weil uns die beiden Staatskühe fielen und der Nachbar mich mit dem Wechsel betrogen hatte, wollte ich mich aus der Welt machen.“ Die Präsidentin legte die Finger an die Lippen. „Nicht mehr dran rühren, Kleinschmidt. Es ist ja alles wieder gut geworden.“ „Ist es auch! Ich hab’ mich langsam rausgebuddelt, weil es eben doch noch einen guten Menschen gegeben hat, woran ich nicht mehr glauben wollte.“ „Es gibt deren Viele,“ versuchte sie ihn abzulenken, aber er beharrte eigensinnig bei seinem Thema. „Nee -- bloß einen. Dabei bleib’ ich. Jede andere feine Dame hätt’ sich wohl halb zu Tode geschrien, als sie sah, daß sich ein alter Nichtsnutz, bei dem der blaue Vogel überall hinflog, das Leben nehmen wollt’. Zum mindesten wäre sie bestimmt auf die Dorfstraße gelaufen und hätt’s bekannt getan. -- Sie haben bloß still meine Hände gestreichelt und geweint. Und sind die ganze Nacht bei mir geblieben und haben immer getröstet. -- Und am nächsten Morgen nahmen Sie ein Buch aus der Tasche und fragten, wieviel ich nötig hätt’.“ „Hören Sie auf, Kleinschmidt. Es peinigt mich wirklich.“ „Sie sagten ja, Sie wären Geduld gewöhnt, Frau Präsident. Ich muß Ihnen das mal so richtig klar machen, -- Sie haben mir viel Geld gegeben und kannten mich doch bloß als einen, der ein luftiges Zimmer für -- weiß Gott, genug Geld an Sie abvermietet hatt’. -- Das hat mir erst richtig das Leben gerettet. Nun konnt’ ich mich nicht mehr wegstehlen. -- Sie mußten Ihr Geld zurückhaben. Und hier ist es! -- Auf Heller und Pfennig. Die letzten Zinsen sind auch beigepackt.“ Umständlich begann er die zerknitterten Scheine auf den Tisch zu zählen. Sie machte eine entsetzte Bewegung. „Wo soll ich jetzt mit dieser Summe bleiben? Sie sehen, ich stehe im Begriff, eine Reise anzutreten. Mitnehmen mag ich sie nicht. Sie daheim im Schreibtisch zu belassen, ist mir zu ängstlich, wennschon ich bisher vor Dieben bewahrt geblieben bin.“ Er wußte ihr keinen Rat. Es blieb ihm unverständlich, daß bares, gutes Geld unwillkommen sein konnte. „Nehmen Sie es wieder mit, Kleinschmidt, und bringen oder schicken Sie es mir per Post ein paar Monate später. Selbstverständlich berechne ich Ihnen für diese Zeit keine Zinsen.“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Nee, Frau Präsident, das mach ich nicht! Behalten Sie es man. Wer so ein schönes großes Haus besitzt, hat auch Keller und Schlupfwinkel, wo es vor dem lichtscheuen Gesindel sicher liegt.“ Er lächelte schlau. Sie erkannte, daß es zu viel Zeit nehmen würde, um ihn zu überzeugen und begann mechanisch die Scheine nachzuzählen. „Es stimmt natürlich,“ sagte sie. „Zwölftausend Mark und zweihundertvierzig als halbjährige Zinsen. Wissen Sie, dies Geld schwebt eigentlich gänzlich in der Luft. Ich habe es nicht mal ordnungsmäßig gebucht. Wären Sie, trotz Ihres mir bekannt gewordenen Fleißes nicht in die Lage gekommen, es zurückzuzahlen, hätte ich es Ihnen einfach geschenkt.“ In sein verwittertes Gesicht stieg die Röte der Scham. „Schenken mag wohl leicht sein, Frau Präsident. Das Nehmen ist ein sauer Ding. Ich wär’ mein Leben nicht mehr froh geworden. -- Die Tochter hat auch gesagt: „Vater, wir wollen uns ran halten, daß der Tisch klar wird.“ Sie wissen wohl, ihr geht es gut. Der Mann ist nüchtern und flink und die vier Kinder tun schon manchen Handschlag in der Wirtschaft. -- Nun will ich aber nicht länger aufhalten.“ Sobald er gegangen war, rief die Präsidentin Eva von Ostried herein, deutete auf das noch ausgebreitete Geld und sagte eilig: „Das hat er mir soeben zurückgezahlt. Es kann natürlich nicht im Haus bleiben. -- Die Einbrüche in der Nachbarschaft mehren sich. Bringen Sie es sofort auf die Bank, liebe Eva. Wie günstig, daß wir sie gleich an der nächsten Ecke haben. Sie wissen, ich bin durchaus keine ängstliche Natur. Nach den jüngsten Erfahrungen unserer Bekannten, denen die leichtsinnig im Schreibtisch aufbewahrte Summe gestohlen wurde, ohne daß der Dieb bisher zu ermitteln gewesen, würde mir aber der Zwang hierzu die ganze Reise verderben. Geschenke mache ich über alles gern. Nur eine Unachtsamkeit, aus welcher ein verdienter Verlust käme, würde ich mir schwer vergeben.“ Eva hatte bereits den Hut aufgesetzt. „Und ich würde vor lauter Angst und Verantwortlichkeitsgefühl keine Minute ruhig schlafen können,“ gestand sie. -- Im Laufschritt eilte sie durch den Vorgarten und stand nach wenigen Minuten vor dem stattlichen Gebäude der Großbank. Ihre Hand lag schon auf der eisernen Klinke neben der schweren zurückgeschobenen Schutzrollwand, als ihr Blick auf eine Mitteilung fiel, die in der Mitte der Tür angebracht war: Heute wegen Revision der Kassen geschlossen. Einen Augenblick stand sie wie erstarrt. Dann, als die Uhr irgend einer öffentlichen Anstalt schlug, ward sie mit Schrecken inne, daß in einer halben Stunde die Fahrt zum Bahnhof beginnen müsse. Krampfhaft die kleine Ledertasche umklammert haltend, eilte sie zurück. Was sollte nun mit dem Geld geschehen? -- Durfte sie zugeben, daß sich die Präsidentin beunruhigte? Ja mehr als das -- daß sie bei ihrem stark entwickelten Gefühl zur Ordnung und Vorsicht keinen Augenblick von dem quälenden Gedanken an den aufgezwungenen Leichtsinn befreit sein würde. Immerhin -- es half nichts! Gemeinsam wollten sie ein möglichst sicheres Versteck heraussuchen. Vielleicht wußte die alte Pauline gar einen eisernen Kasten, den sie nach dem Muster mißtrauischer Altvordern etwa im Keller vergraben könnten. Als sie sich dies ausmalte, mußte sie lachen. Das befreite sie von allem Bangen. Ein neuer Gedanke kam ihr, wurde kaum geprüft, sondern sogleich als der einzig mögliche Rettungsweg empfunden. War es nicht geradezu ihre heilige Pflicht, der herzensguten Präsidentin und zweiten Mutter diese ihr plötzlich durchaus nicht übertrieben erscheinende Sorge abzunehmen? Als sie die Villa erreicht hatte, wartete dort schon die zuvor bestellte Droschke. „Es ist ja noch viel zu früh,“ rief sie dem Lenker zu. Der schwippte als Antwort nur mit der Peitsche. Erst als sie, lauter und ungeduldiger, ihre Worte wiederholte, ließ er sich zu einer knappen Erwiderung herbei. „Meinem Fuchs is et all zu spät und auf den Fuchs kommt et ganz alleen an, Fräulein.“ Das allerdings mußte sie zugeben. Die Präsidentin erwartete sie -- fertig zum Einsteigen -- bereits voller Ungeduld. „Nun, ist alles erledigt, Eva?“ Ein leises Rot stieg bis unter die lockigen, braunen Haare in die weiße Stirn. Eine Sekunde blieb die Antwort aus. Ihre Augen hielten dem forschenden Blick nicht stand. Ein jäher Widerwille gegen die beabsichtigte Lüge stieg in ihr auf. Aber die sichtliche Unruhe der Präsidentin beendete ihr kurzes Schwanken. Sobald die Bank wieder geöffnet würde, kam ja doch alles in Ordnung... „Ja, es ist ordnungsmäßig eingezahlt.“ Dann zeigte sie, scheinbar empört, nach draußen: „Hören Sie nur den alten, unfreundlichen Kutscher. Jetzt beginnt er, so laut er nur kann, auf uns zu schelten, weil wir seinen Fuchs warten lassen und jetzt -- halt -- halt -- Mann -- wir kommen ja schon.“ War er wirklich im Begriff gewesen, ohne sie davon zu fahren, wie sie es der erschrockenen Präsidentin zurief? Leichtfüßig sprang sie als Erste in den Wagen, half der Präsidentin fürsorglich hinein, während die alte Pauline, bedächtig und kräftig mit beiden Armen nachschob, nickte noch einmal freundlich den Rückbleibenden zu und sprach alsdann mit drolligem Eifer, allerhand unwichtige Kleinigkeiten fragend, auf die Präsidentin ein. -- -- Schön war’s doch, dies Alleinsein! An dem Gefühl, das wider Willen über Eva von Ostried kam, als sie vom Bahnhof zurückgekehrt, in die hohen Zimmer eintrat, merkte sie, wie streng eingeteilt sonst ihr Tag sein mußte. Mit unbeschreiblicher Wonne warf sie sich in den bequemsten Lehnstuhl und summte ein Lied vor sich hin. War die Präsidentin auch engelgut -- empfand sie selbst eine nie verlöschende Dankbarkeit für sie daran, daß diese beliebig über ihre Zeit verfügen konnte und natürlich auch verfügte, änderten diese Gefühle nichts das Geringste. Eva von Ostried wußte plötzlich, wie heiß ihr Sehnen -- nicht zuletzt nach dem verlorenen Recht der Selbstbestimmung -- die ganze Zeit gewesen war. Mit einem Schauer des Entsetzens gedachte sie ihrer beiden erste Stellen, die sie, nach dem Tod des Gönners, sofort anzunehmen gezwungen war. Zwar hatte ihr der Amtsrat Wullenweber, dem sie von dieser Veränderung Kenntnis geben mußte, vorübergehend seine Gastfreundschaft geboten, „wenn sich durchaus nicht schnell ein anderer Ausweg finden lasse,“ aber der Gedanke, aus dem warmen, mit feinstem künstlerischen Geschmack eingerichteten Heim des verstorbenen Meisters in sein ihr kahl und ungemütlich in Erinnerung lebendes Haus, als eine nur ungern Geduldete, unterzuschlüpfen, dabei jeden Augenblick die tiefroten Türme des alten Waldesruher Schlosses in der Nähe zu sehen -- hatte etwas Unerträgliches für sie gehabt. Lieber ließ sie sich von einer anspruchsvollen, ungerechten Herrin bis an die Grenze ihrer Kraft quälen -- bis sie es eines Tages dann doch nicht länger ertragen konnte und weiterzog, zur nächsten, bei der es ihr auch nicht viel besser erging. Nun waren die zahlreichen Wunden der kleinen, täglichen Nadelstiche längst verheilt. Sie lebte, umgeben von Nachsicht und Güte, bei der edelsten aller Herrinnen und dennoch -- -- War sie ehrlich mit sich, mußte sie zugeben, daß einzig der Gedanke an die Zukunft sie tapfer auf dem Wege kleinlicher Pflicht weiterlaufen ließ. Hätte sie keine Aussicht gehabt, sehr bald ihre geliebten Studien wieder aufzunehmen, wäre ihr vielleicht auch diese warme Stätte allmählich zur Hölle geworden. -- Mit geschlossenen Augen träumte sie sich in die Zeiten hinein, die nach dem Frühjahr ihrer warteten. Gewiß -- es würde viel Arbeit -- Kampf und Fleiß kosten. Unstreitig auch wiederum Tage geben, an denen sie am eigenen Können verzweifelte. Danach aber mußte die köstliche Erfüllung aller Sehnsucht kommen! -- Sie hatte den Schatz in ihrer kleinen Handtasche völlig vergessen. Achtlos lag er auf dem Tisch, während sie mit leichtgeöffneten Lippen den köstlichen Duft der blühenden Huldigungen zu trinken schien, die ihrer in der goldenen Ferne harrten! -- Um die dritte Nachmittagsstunde dieses Tages kam Ralf Kurtzig, der alte Meister und frühere langjährige Parsifal des Bayreuther Festtempels. Er beschäftigte sich am Feierabend seines Lebens damit, fleißig nach gottbegnadeten Talenten Umschau zu halten. So fand er auch im Hause des jüngeren Kollegen Eva von Ostried, die Vielversprechende. Zu spät hatte er, von einer langen Reise heimkehrend, den Tod des Kammersängers erfahren und die Pforten seines reichen, gastlichen Heims verschlossen gefunden. Sofort dachte er an Eva von Ostrieds Zukunft, denn ihre Mittellosigkeit war ihm bekannt geworden. Fieberhaft hatte er nach ihr gesucht. Aus rein künstlerischem Interesse, wie er es vor sich erklärte. In Wahrheit trieb ihn -- tief versteckt und von ihm selbst noch nicht erkannt -- ein spätes, leidenschaftliches Feuer. -- Ihre Spur schien verweht. Er hockte im vierten Rang der Oper, um ihr zu begegnen. Weil sie Schuberts reine Kunst über alles geliebt hatte, versäumte er keinen dieser Liederabende. Es blieb vergeblich -- bis er sie an der Seite der ihm durch eine reiche Schenkung an die Bühnengenossenschaft bekannten Präsidentin in einem philharmonischen Konzert wieder sah. So kams, daß er -- eingeweiht in Frau Melchers ihm zuerst grausam erscheinende Pläne -- ihr Lehrer wurde. Es gab kaum Jemand, der sparsamer mit seinem Lob umging, wie er. Darum blieb es auch das höchste Streben seiner wenigen Schüler ihn wenigstens nicht zum Tadel zu reizen. -- Heute lief ihm Eva wie ein ausgelassenes Kind entgegen. Die verhaltene Ehrfurcht vor seiner weisen Künstlerschaft war sprühender Daseinsfreude gewichen. Er empfand das sofort und freute sich heimlich daran. Der Mensch sprach in ihm vor dem Künstler. Das geschah selten. „Wie schön sie ist,“ mußte er denken und weiter, „die wundervolle Herbheit, von der sie selber nichts ahnt, wird ihr den Weg, den sie gehen muß, nicht leicht machen.“ Er fühlte, verwundert, daß ihn diese Gewißheit verjüngte, verlor eine Sekunde die kühle, sichere Ueberlegenheit und beschattete die Augen, als blende ihn das rote Licht, das ungehindert durch die Bogenfenster der Diele in das Musikzimmer quoll. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt und sagte in dem spöttelnden Ton, mit dem er jede warme Regung bestrafte: „Ihr alter Gralhüter meldete bereits, daß die hohe Herrin dieses Zauberschlosses verreist sei. Sie murmelte daneben noch allerlei von Früchten und Beeren, die Ihre tätige Mitwirkung verlangten.“ Sie sah mit bittenden Augen zu ihm auf. „Sie sind mir noch ein Geburtstagsgeschenk schuldig,“ bettelte sie. „So --“ machte er gedehnt, „seit wann denn?“ „Seit gestern.“ „Schade -- sonst hätte man es als verjährt bezeichnen können.“ Und mit einem Augenzwinkern, als blende ihn immer noch der rote Schein, setzte er hinzu: „Wonach geht also Ihres Herzens Wunsch?“ „Ich bin volljährig geworden, Meister. Da darf ich heute unbescheiden sein.“ „Verlangen Sie immerhin. Die Erfüllung steht ja bei mir.“ „Sie müssen mir etwas vorsingen.“ „So -- das muß ich?“ -- In kindlicher Zutraulichkeit griff sie nach seiner schlanken, weißen Rechte. „Ich habe mich den ganzen Vormittag darauf gefreut.“ „War es nicht anmaßend, die Bitte schon als erfüllt zu betrachten?“ „Vielleicht! Sie haben ja aber oft genug betont, daß der Bescheidene zwar sehr angenehm, aber doch durchaus unbrauchbar für das praktische Leben wäre.“ „Ja -- was soll es denn sein?“ „Parsifals Lied aus dem zweiten Aufzug,“ bat sie mit dem Ausdruck der Sehnsucht in Augen und Stimme: Auf Ewigkeit Wärst Du verdammt mit mir Für eine Stunde Vergessen meiner Sendung In Deines Arms Umfangen. Sein Gesicht hatte wieder den steinernen Ausdruck, um dessentwillen ihm viele der früheren Kollegen die Seele abgesprochen hatten. „Wir reden später noch darüber,“ meinte er kurz. „Vorerst heißt es fleißig sein. Beginnen Sie also --“ Wie ein gehorsames Kind fügte sie sich. Die wundervolle Stimme klang weich und voll, aus jedem Ton der Uebung. Trotzdem war er nicht zufrieden. Kurz und scharf rügte er und verlangte Wiederholungen. Für jemand, der seine Art nicht kannte, hätte es leicht den Anschein erwecken können, als sitze er um des täglichen Brotes willen neben einer Schülerin, die zu unterrichten ihm nicht den geringsten Spaß bereitete. Und doch sonnte sich auch heute sein künstlerisches Empfinden an dem strahlenden Glanz dieses gesegneten Talents. Er quälte sie mit Vorsatz, um zu prüfen, ob auch danach noch ihr leidenschaftlich geäußerter Wunsch um Erfüllung bäte oder ob sie in leisem Gekränktsein sich von ihm abwende. -- Sie tat es nicht. Kaum hatte er durch ein Nicken zu verstehen gegeben, daß die eigentliche Stunde zu Ende sei, als sie ihn auch schon -- mit gänzlich verändertem Ausdruck -- an die Erfüllung seines Versprechens mahnte. „Das verheißene Reden über meine Bitte schenke ich Ihnen, Meister,“ sagte sie und lächelte schalkhaft. Er sang ihr wirklich die nachträgliche Festgabe! Sie hockte in einem Winkel und hatte den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, damit er nicht die Tränen sehen sollte, welche ihr das höchste Gefühl der Andacht erpreßte. Er sah sie aber dennoch und freute sich auch dessen. -- Sie wußte nicht, wie lange dies Weihespiel gewährt hatte. Die strahlende Sonne war blaß geworden. Ein leichter Dunst von Müdigkeit ließ die leuchtenden Farben des Herbstes matter erscheinen. Wie ein reichgewesenes, nunmehr erfülltes Leben wartete dieser Tag seinem Sterben entgegen. Es war still zwischen ihnen geworden. Sie kam aus ihrem Winkel heraus, setzte sich stumm an den Platz, den er soeben verlassen und sang ihm den Dank. Ich will wiegen Dich, ich will wachen.... Knabe saß auf der Mutter Schoß Spielten zusammen, bis er groß.... Lebenserfüllung auch hier! Das Lied der Solveig, das einen wandermüden Sturmgesellen endlich erlöst! Der Meister regte sich nicht. Sterbensfrieden segnete Raum und Zeit. Das wundersame Erzittern, das die Kunst dem Reinen schenkt, feierte sein Auferstehen. Ich will wiegen Dich und wachen Schlaf und träume, Du Knabe mein -- -- Die Wirklichkeit regierte wieder! -- „Wenn der Drache und der gesegnete Obstgarten nicht wären, würde ich Sie jetzt in das Deutsche Opernhaus mitnehmen,“ sagte Ralf Kurtzig, als sie verstummt war. -- Und das war sein Dank. -- „Es wird heute Carmen gegeben -- mit der Olitava als Gast.“ Eva von Ostried jubelte hell auf. „Die alte Pauline erlaubts von Herzen gern, denn -- im Vertrauen -- eine große Hilfe bin ich ihr doch nicht und -- gestern -- war -- ja -- mein Geburtstag.“ -- -- Sie saßen im Hintergrund einer Loge und lauschten mit verhaltenem Atem. Das Lied blutroter Leidenschaft flammte und brannte sich in das Herz des Einen -- Und das war nicht das junge -- Die heiße Teufelin triumphierte über den sanften, blonden Engel. Das edle, scharfgeschnittene Gesicht des Fünfzigers erschien um Jahrzehnte verjüngt. Seine tiefen, machtvollen Augen bohrten sich in Evas Gesicht -- machten sie einen Herzschlag lang verwirrt -- erinnerten aber im nächsten Augenblick an zwei andere -- -- damals in Oeynhausen. Sie mußte wieder an Paul Karlsens gestohlene Zärtlichkeit denken, für die sie eine Zeitlang nicht mehr den früheren Zorn aufzubringen vermocht hatte. -- Jetzt begriff sie ihr zur Milde gewandeltes Urteil nicht. Ein eigentümliches, fremdes Gefühl hatte sie gepackt. Sie wehrte sich in schauderndem Auflehnen gegen das Empfangen und Erwidern aller gespielten Leidenschaft -- und verurteilte diese Regung doch, ohne sich davon zu befreien, als die Wahnvorstellung einer engen Seele. Ob sie auf der Bühne überhaupt jemals davon loskam? Die scheue Reinheit ihrer Mutter lebte in ihr auf. -- Angst und Zorn verflogen indes wieder. Sie schloß die Augen, lauschte den Klängen und fühlte sich bald wunschlos glücklich -- -- Gegen elf Uhr war sie daheim. Die alte Pauline saß noch vor dem aufgeschlagenen Bibelbuch auf der Diele. Eva begann zu schelten: „Sie sollten längst zur Ruhe sein, Pauline! Die letzten beiden Tage waren ohnehin viel zu anstrengend für Sie!“ „Ich hätte heute doch nicht schlafen können, Fräuleinchen. Meine Gedanken springen zu wild.“ „Sie ängstigen sich natürlich um unsere liebe Herrin, nicht wahr?“ Die Alte nickte kummervoll. „Seit ein paar Stunden sehe ich überall ihr Gesicht und das sieht aus, als wenn sie unzufrieden mit uns wäre. -- Wir hätten sie doch nicht weglassen dürfen.“ „Was wollten wir dagegen machen, Pauline? Sie hielten ja selbst jede Gegenmaßregel für umsonst.“ „Man hätte hinter ihrem Rücken zu Herrn Justizrat schicken müssen.“ „Haben Sie vergessen, daß der mit hohem Fieber zu Bett liegt?“ „Schreiben hätte er ihr wohl können.“ „Quälen Sie sich nicht länger. Morgen früh werden wir eine Karte haben, die uns erzählt, daß sie uns gar nicht nötig hat. Oder -- vielleicht telegraphiert sie uns sogar ihre glückliche Ankunft.“ „Wenn ihr unterwegs was passiert wäre, Fräuleinchen.“ „Sie sind schrecklich, Pauline. Ich werde nun auch keine Ruhe finden können.“ Die Treue malte sich mit selbstquälerischer Gründlichkeit allerhand furchtbare Möglichkeiten aus. „Denken Sie doch, wenn sie ihren Herzkrampf bekäme und Niemand wüßte, wer sie wäre und wohin sie gehörte.“ „Darüber beruhigen Sie sich. Ihr Handtäschchen enthält ihre genaue Adresse. Darunter steht mein Name mit der Bemerkung, daß jede Mitteilung an mich zu richten wäre.“ „Verlangte sie das ausdrücklich, Fräuleinchen?“ „Natürlich. -- Sie wissen ja, wie gut sie alles bedenkt.“ „Wenn das nur kein trauriges Vorzeichen ist. -- Sie hat gewiß schon irgend eine schwere Ahnung gehabt.“ „Nein, Pauline. Auch die gesundesten Vorsichtigen unterlassen so etwas nicht. Ich selbst reise niemals, ohne meine ausführliche Adresse vorher aufzuschreiben.“ „Mir wär sowas graulig. Gerade, als hätte man nur so auf das größeste Unglück gewartet. -- Hören Sie die Eule schreien, Fräuleinchen?“ „Das tut sie bereits seit einigen Wochen um diese Zeit, Pauline.“ „Ich höre sie heute wirklich zum ersten Mal. Wir nannten sie zu Hause den Totenvogel und zogen uns die schweren Federbetten über die Nase, weil wir uns fürchteten. -- Wenns doch bloß erst morgen wär.“ Eva von Ostried wurde ungeduldig. In ihren Nerven schwang sich noch das Gold der Töne. Alles andere versank in einen Abgrund, um vielleicht am nächsten Tage, wenn die Sonne hell darüber schien, wieder bestimmte Form zu gewinnen. „Gute Nacht, Pauline,“ sagte sie. „Ich bin rechtschaffen müde. Gehen Sie endlich auch zur Ruhe. Dann wird sich Ihr Wunsch auf dem schnellsten und natürlichsten Wege erfüllen.“ Das alte Mädchen konnte sich nicht dazu entschließen. Sie saß und betete immer die gleichen Worte aus dem frommen Lied ihrer Kindheit: Alle Menschen groß und klein Sollen Dir befohlen sein! Endlich bewegten sich die welken Lippen nur noch mechanisch. Der Kopf sank schwer auf die Brust herab. Sie träumte, daß ihre gute Frau Präsident ungeduldig nach ihr klingele und fuhr mit einem lauten Schrei aus dem unruhigen Schlaf empor. -- -- Eva von Ostrieds tiefe, gleichmäßige Atemzüge bewiesen sehr schnell, daß Sorge, Gedanken und Freude in dem Schlummer beneidenswerter Jugend ausruhten. Sie vernahm nichts von dem anhaltenden Schrillen der kleinen Glocke an der Gartenpforte. Erst das Klopfen an die eigene Tür ließ sie auffahren. Die alte Pauline stand, mit einem Telegramm in der Hand, vor ihr. Und sie riß -- nun auch von einem sonderbar kalten Gefühl gepackt -- die blaue Verschlußmarke in der Mitte durch -- -- [Illustration] [Illustration] 4. Es war -- doch -- nicht möglich! -- Jeder Blutstropfen wich aus Eva von Ostrieds Gesicht. Ein eiserner Reif schien sich um Brust und Schläfe zu pressen. Sie stand plötzlich in der Mitte des Zimmers, suchte nach ihren Kleidern und fand nichts, als das Flimmern des Mondes, der überall seine Silbermünzen aufzählte. Ihre Glieder begannen so stark zu zittern, daß sie kraftlos auf einen Stuhle sank und den einzigen Wunsch hatte, die Hände der alten Pauline zu fassen, damit dies entsetzliche Grauen vor ihr wiche. Das alte Mädchen starrte auf das Telegramm, das zu Boden geglitten war. Die helle Nacht durchleuchtete jeden Winkel mit jenen silbernen Schlafenstunden, von denen die Präsidentin behauptete, daß sie auch den unruhvollsten Seelen den Frieden schenkten. Eine Ahnung, zu grauenvoll, um zu Ende gedacht zu werden, erschütterte die beiden Menschen. Da löste sich der Krampf eisiger Kälte in Eva von Ostrieds Seele in einem Schrei auf. Die Hände der alten Pauline tasteten das Blatt vom Boden empor. Mühsam buchstabierte sie Wort um Wort: Dame mit Ausweis Präsident Hanna Melchers, Grunewald und Ihrer Adresse soeben in Wartesaal 2. Klasse Herzschlag erlegen. Leiche zur hiesigen Halle überführt. Belgard a. Persante. Bahnhofsdirektion. -- -- Es war immer noch Nacht. Das Warten auf das erste Morgengrauen wurde unerträglich. Auf dem Tisch aus heller Birke lag das Kursbuch, das Eva vergessen hatte, in die Handtasche der Präsidentin zu legen. Es war noch aufgeschlagen. Trotzdem fand sie nicht, was sie suchte. Und man mußte doch zu ihr! Sie saßen dicht beieinander und schwiegen. Nur einmal flüsterte die alte Pauline: „Sie wird auch wohl dies längst bedacht haben. Der Justizrat weiß sicher mit allem Bescheid.“ Nun warteten sie darauf, daß man endlich einen Kranken, dessen Nachtruhe nicht gestört werden durfte, um Rat fragen konnte. -- Sobald im Osten der erste rosige Streifen den Morgen ankündigte, telephonierte Eva von Ostried in seine Privatwohnung. Er antwortete ihr selbst. In seiner Stimme war weder Entsetzen noch Staunen, als er es gehört hatte. „Sie haben alles zur Reise nach Belgard vorbereitet, Fräulein von Ostried? Das war überflüssig! Ich fahre selbst. Und zwar -- warten Sie mal -- so -- ich hab’s schon -- mit dem Vormittagszuge um 9 Uhr. Alles weitere später. Ich werde Ihnen von dort Nachricht geben.“ Eva wagte eine Einrede. „Sie sind sicher noch krank, Herr Justizrat. Wird es Ihr Arzt erlauben?“ Kurz und klar tönte seine Erwiderung: „Ich habe ihr dies versprochen, denn sie hat mit ihrem unerwarteten Tode stets gerechnet. Sie beide halten sich natürlich zu Hause, damit Sie jederzeit meine Nachricht sofort trifft.“ -- Nun galt es wiederum zu warten! Eva saß zusammengekauert an dem Platz, von dem aus sie der Präsidentin deren Lieblingslieder gesungen hatte. Auf dem Flügel stand noch das Solveiglied von gestern.. Und durch das Entsetzen schlich sich die Ahnung, daß sie jetzt ganz frei war. Sie schämte sich, weil sie daran zu denken vermochte. Der Weg zur Kunst lag lockend vor ihr. Ihre Seele war sehnsüchtig und weich wie nie zuvor. Die scheue Ahnung wuchs schnell zur freudigen Gewißheit -- und bepflanzte ihren Weg mit köstlichen Blumen. -- Sie dachte innig an die Tote und konnte doch bereits wieder das fordernde -- schöne Leben fühlen. Dagegen half keine heiß aufwallende Scham. -- Die Zukunft war rosenrot. -- Das stille Gesicht der Toten mußte kalt und wachsbleich sein. -- Eine neue Empfindung überkam sie. Wie sie wähnte, ganz rein und frei von allem Irdischen. -- Sie wurde davon vor dem Bild, das die Präsidentin als junge Frau darstellte, auf die Knie gezwungen. -- Das kluge, gütige Antlitz erschien ihr wie das eines Vergebung und Verstehen auf sie herablächelnden Engels. Niemals glaubte sie die mütterliche Frau mehr geliebt und verehrt zu haben, wie in diesen Augenblicken! Die Empfindung stärkster Dankbarkeit löste ihr auch die ersten Tränen aus. Daß sie fortan frei und unabhängig sein durfte -- fern ab von der grausamen Not, die der Alltag bringen kann -- das war das Werk der Toten, von dem sie erst, als bestimmt beabsichtigt, in Oeynhausen Kenntnis erhielt. -- Während ihre Tränen unaufhaltsam rieselten, hörte sie Melodien, von denen kein anderes Ohr einen Laut vernehmen konnte. Und ahnte nicht, wie sehr sie -- mit diesem Ausdruck der Reinheit und Entrücktheit -- ihrer verstorbenen Mutter glich. Nur, daß jene allzeit ihre reiche Begabung vor fremden Augen wie ein köstliches Geheimnis verborgen gehalten, während ihre Tochter nach Anerkennung und Ruhm fieberte. -- -- Die Schrecken des Todes waren überwunden. -- Der goldene Traum vom Leben war zu schön. -- Der ausdrückliche Wunsch der Präsidentin, neben dem Gatten, der in der Waldesruhe des Stahnsdorfer Friedhofes schlief, beigesetzt zu werden, hatte sich erfüllt. Die kleine, würdige Feier, von welcher -- ebenfalls nach der Bestimmung der Verblichenen ihren Bekannten erst am folgenden Tage Kenntnis gegeben werden durfte, war vorüber. Justizrat Weißgerber, noch blaß und matt von der kaum überstandenen Erkrankung, saß vor dem Schreibtisch der Präsidentin und hatte beide Hände auf die Schriftstücke gelegt, die er -- nach ihrer Bitte -- zur gründlichen Durchsicht mit in sein Heim nehmen wollte. „Nun sollen Sie auch endlich näheres über ihre letzte Stunde hören, Fräulein von Ostried,“ sagte er dabei zu Eva. „Ich mußte mich gestern kurz fassen. Die Zeit war karg bemessen. -- Sie wissen, daß sie einen ungefähr einstündigen Aufenthalt in diesem kleinen pommerschen Städtchen nehmen mußte. Kellner und Wirt berichteten mir übereinstimmend davon. Zuerst hat sie eifrig geschrieben, wie sie das auf Reisen gern tat. Wir sprachen einmal über diese ihre Angewohnheit. Sie meinte, mancherlei Vergessenes und Versäumtes käme auf diese Weise bei ihr zu seinem Recht. Briefe und Karten behaupteten freilich die Beiden hinterher nicht aufgefunden zu haben. Aber, sie kann ja auch das Geschriebene noch selbst in den Kasten gesteckt haben. Entfernt soll sie sich jedenfalls auf wenige Minuten haben. Kurz darauf hat sie einen leichten Herzkrampf gehabt. Die Frau des Bahnhofswirts hat ihr beigestanden und ihr auch eins ihrer Eigenzimmer zum Ausruhn angeboten. Das lehnte sie indessen ab. Nur ein Glas starken Weines soll sie sehr hastig getrunken haben. Offensichtlich tat ihr das wohl, denn sie hat bald darauf den Hilfreichen in ihrer uns zur Genüge bekannten gütigen Art gedankt und dem Kellner ein sehr reiches Trinkgeld gegeben, obschon sie noch eine kleine halbe Stunde bleiben mußte. Wenig später hat sich der Anfall wiederholt. -- Der Arzt wurde gerufen und hat nur noch ihren Tod feststellen können. Das andere wissen Sie ja.“ Eva von Ostried tat mit zuckenden Lippen eine Frage: „Ob sie wohl noch -- sehr -- gelitten hat.“ -- Das Staunen über das, was der Jugend unfaßbar grausam erscheint, durchfror sie von neuem. Der Justizrat schüttelte den Kopf. „Sie hätten den Ausdruck des Friedens sehen müssen, der auf ihrem Gesicht lag.“ -- Dann fragte er und in seiner Stimme war ein Klang von Neugier: „Warum mochten Sie übrigens nicht neben Pauline sein, als der Sarg hier noch einmal geöffnet wurde, wie sie auch dies erlaubt hatte, wenn einer von Ihnen den Wunsch danach äußerte?“ Eva von Ostried zögerte mit der Antwort. „Ich habe meinen toten Vater gesehen --“ Es klang wie das Geständnis von schwer überwundenem Grausen. „Ich glaube wohl, daß es kaum noch Jemand mit einem so geringen Schuldkonto, wie sie es hatte, geben kann,“ meinte er sinnend. „Sie sind überzeugt, daß der Friede in ihren Zügen daher gekommen sei?“ „Ja -- das bin ich voll und ganz!“ „Wie grausam ist auch dies. Das Leben lassen und alle Schuld -- zusammengedrängt -- in letzter Stunde empfinden und bereuen zu müssen,“ sagte sie schaudernd und dachte dabei wiederum an ihren Vater, dessen Qual nicht zu Ende hatte kommen können. Er zuckte mitleidslos die Schultern. „Einmal rächt sich eben alles! -- Das ist der Trost von uns Juristen, wenn wir lediglich mit dem Beweis unserer starken Ueberzeugung belasten können. -- Nun muß ich aber zu meiner Arbeit. Mein Bürovorsteher ist verzweifelt. Stöße von Akten warten auf mich.“ Sie hielt ihn nicht zurück, obgleich ihr schwere Fragen auf den Lippen brannten. An der Schwelle wandte er noch einmal den Kopf nach ihr. „Sie hatte mich schon vor Jahresfrist gebeten, nach ihrem Tode möglichst unverzüglich den Antrag auf Eröffnung ihres Testaments zu stellen. Ich habe es also bereits veranlaßt. In ein paar Tagen hoffe ich, wird auch Ihnen Nachricht zugehen.“ „Fräulein von Ostried, ich weiß nichts näheres, als daß sie sich mit der Absicht getragen hat, Ihnen in jeder Beziehung die Wege zu ebnen. Vielleicht wollte sie es mit mir an Ihrem letzten Geburtstag durchsprechen. Vielleicht erschien es so einfach, daß sie hierfür meinen Rat nicht brauchte. -- Jedenfalls -- machen Sie sich keinerlei Zukunftssorgen. Nicht wahr, Sie werden dann doch sofort mit aller Kraft Ihre Studien fortsetzen?“ „Ja, Herr Justizrat, das beabsichtige ich zu tun -- denn auch mir hat sie in Oeynhausen von dieser Absicht gesagt.“ „Wohin Sie sich zunächst wenden -- ob Sie, einer Bestimmung gemäß, noch in diesem Haus bleiben oder ob sie andere Wünsche gehabt hat -- nun, wir werden ja bald alles hören. -- Jedenfalls schon heute das eine, jederzeit bin ich für Sie da. Ich weiß, wie nahe Sie ihr standen.“ Und Eva von Ostried empfand es als ein unsagbares Glück, daß sie diese edle, gütige Frau wie eine Tochter geliebt hatte. -- -- Vier Tage später kam die alte Pauline mit einem geöffneten Schreiben zu Eva von Ostried. Ihr Gesicht zeigte einen hilflosen und verlegenen Ausdruck, als sie ihr den großen Bogen hinreichte. „Bitte, lesen Sie sich das auch mal durch. Ich versteh’s nicht ordentlich. Damit muß doch eine andere als ich gemeint sein.“ Eva tat ihr den Gefallen und nickte ihr am Schluß freundlich zu. „Es stimmt alles, Pauline. Sie sind nun reich!“ Da begann das alte Mädchen bitterlich zu weinen. Und unter Tränen stieß sie heraus: „Mir ist so angst. -- Nein, nein, Fräuleinchen -- ich glaube nicht --“ „Ich will es Ihnen langsam vorlesen, Pauline. Hören Sie zu. Dann klingt es wahrscheinlicher.“ Sie stand mit andächtig gefaltenen Händen neben Eva von Ostried. In dem vorschriftsmäßig eröffneten Testament der verstorbenen Frau Hanna Melchers, verwitwete Landgerichtspräsident, fand sich die folgende Bestimmung, von der wir Ihnen hiermit Kenntnis geben: „Ich bestimme ferner, daß meine gute Pauline Müller, in dankbarer Anerkennung ihrer nahezu dreißigjährigen mir treu geleisteten Dienste bis zu ihrem Tode aus meinem Nachlaß monatlich die Summe von einhundert und fünfzig Mark erhält. Außerdem soll sie sich nach Ihrer Wahl die Möbelstücke für zwei Stuben aussuchen und alles dasjenige an Wäsche und Kleidern, was ihr zu besitzen wünschenswert erscheint. Mein Testamentsvollstrecker und Freund, Justizrat Dr. Weißgerber, möge freundlichst bei dieser Wahl an einem von ihm zu bestimmenden Tage zugegen sein --“ Das alte Mädchen regte sich noch immer nicht. Sie war sehr rot und ihre Hände zitterten, trotzdem sie sie fest zusammengelegt hatte. Sie nahm langsam das Schreiben wieder an sich. Ihre Blicke suchten eine bestimmte Zeile, die ihr die wichtigste erschien. -- Schwerfällig buchstabierte sie, während ihr die Tränen über die Wangen liefen: -- Meine gute Pauline Müller -- -- Eva von Ostried harrte seither einer ähnlichen Mitteilung. Sie war erstaunt, daß sie nicht mit der gleichen Post ebenfalls die amtliche Benachrichtigung empfangen hatte. Als der zweite Tag ereignislos zu Ende ging, wollte sie sich an den Justizrat wenden. Aber -- schon zum Ausgehen bereit -- empfand sie etwas wie Scham über ihre Ungeduld. Die Präsidentin hatte das Nichterfüllen von Versprechungen allzeit hart verurteilt. -- Wie durfte sie auch nur einen Augenblick Zweifel hegen? Der nächste Tag -- ja, vielleicht bereits die kommende Stunde -- würden auch sie beglücken. Mit fieberhafter Ungeduld widmete sie sich dem Aufräumen der Zimmer. Obgleich es ihr selbst sinnlos erschien, säuberte sie mit einer ihr sonst fremden, peinlichen Gründlichkeit jeden Winkel und vermied dabei dem Gedanken, der ihr wie ein Wahnsinn erschien, Raum zu geben. In der Nacht fand sie keinen Schlaf. Die Eule schrie wieder. -- Der Totenvogel, wie ihn die alte Pauline genannt hatte. Was aber konnte ihr noch Lebendiges geraubt werden? Das eine, große, letzte Hoffen, auf welches sich ihr Leben aufbauen sollte. Es duldete sie nicht länger im Bett. Sie erhob sich und riß die Fenster auf. Noch immer war Vollmond und silbernes Leuchten. Wenn ihr die Präsidentin jenes Hintergehen in Oeynhausen doch nicht vergeben hätte -- wenn sie erst noch abwarten wollte -- und wartete -- bis -- es -- nun -- zu spät geworden? Sie sank am Fenster nieder und kühlte die heißen, zuckenden Finger am Glas der Scheiben. Das brachte sie zur Besinnung. -- Es waren Hirngespinste schlafloser Stunden -- ohne Berechtigung. Ja mehr. -- Eine Beleidigung für die Beste und Fürsorglichste, die niemals etwas Beschlossenes versäumt hatte. -- Sie begab sich wieder zur Ruhe und schlief nun traumlos und sanft, bis Pauline sie weckte. „Stehen Sie schnell auf, Fräuleinchen. Herr Justizrat ist da und will mit Ihnen reden.“ Das kluge Gesicht des alten Juristen zeigte eine fremde Unsicherheit, als Eva von Ostried ihm gegenüberstand. „Wundern Sie sich nicht über mein frühes Erscheinen,“ versuchte er sich zu entschuldigen. „Ich hätte ebenso gut bereits gestern um diese Zeit bei Ihnen sein können. Aber, es war mir zu unfaßbar. Ich konnte und wollte es nicht glauben.“ In ihr regte sich das Angstgefühl der verflossenen Nacht von neuem. „Was ist geschehen, Herr Justizrat?“ Er zögerte mit der Antwort. „Das Testament, wissen Sie --“ Er sah, wie sie erblaßte. Das gab ihm die Sicherheit zurück. „Ich habe vorgestern noch einmal darin Einsicht genommen. Es war mir freilich längst bekannt. Nach Besprechung mit Frau Präsident hatte ich es aufgesetzt. Ich erwartete aber einen noch nicht dem Wortlaut nach gesehenen Nachtrag -- in Form eines Zettels oder meinetwegen eines Briefes. -- Denn, es ruht noch nicht sehr lange beim zuständigen Amtsgericht. -- Ich fand nichts. -- Kurz -- Sie sind darin nicht bedacht, Fräulein von Ostried.“ Eine Weile wartete er geduldig auf eine Entgegnung. Sie schwieg. Er hatte die starke Empfindung, daß er ihr darüber forthelfen müsse, ohne indes das rechte Mittel zu kennen. „Ich habe Ihnen bereits gestern angedeutet, was ich aus ihrem Munde weiß. Eine harmlose Bemerkung allein ist das nicht gewesen. Sie bat mich damals auch, daß ich Ihnen zur Seite stehen möchte, wenn sie nicht mehr dazu imstande wäre. -- Was anders kann sie gemeint haben, als daß ich Sie auch bei Anlegung des von ihr Ererbten beraten möge? -- Meine Erkrankung -- die Unmöglichkeit an dem Fest Ihrer Volljährigkeit zugegen zu sein. -- Vielleicht ihre Reise. -- Ja, das alles kann dazwischen gekommen sein. Und dennoch glaube ich auch jetzt an kein Aufschieben. -- Ich sage da vielleicht etwas Sinnloses. -- Ich müßte es eingesehen haben, daß irgend ein Zufall -- sie an der Ausführung gehindert hat. -- Gestern zog ich das noch überhaupt nicht in Betracht. Ich war sicher, daß sich unter den von mir aus ihrem Schreibtisch entnommenen Schriften eine Bestimmung zu Ihren Gunsten vorfinden mußte --“ Eva von Ostried hob den Blick. Ein entsetztes Fragen, das ihm ans Herz griff, lag darin. „Und Sie -- fanden -- es endlich?“ Die Kehle war ihm wie eingerostet. All diese Tausende und Abertausende -- Heime und Stiftungen bekamen sie -- gänzlich fremde, wenn auch bedürftige Menschen. Und diese hier -- die sie geliebt, an der sie sich erfreut hatte -- die sollte leer ausgehen? Er riß sich zusammen. Es mußte doch geschehen. „Nein, ich fand nichts, Fräulein von Ostried.“ Sie stand mit schlaff herabhängenden Armen vor ihm. Allmählich veränderte sich der Ausdruck ihres Gesichts und wurde schreckhaft starr, als sähe sie ein Gespenst. -- Es war die Zeit, der sie entgegenging. -- Schwer hing sich die Freudlosigkeit an ihre Glieder und machte ihre blühende Jugend frühzeitig welk und alt. Alles Hoffen versank mit diesem Schlag. -- Da war ein schnurgerader, sandiger Weg mit ungezählten spitzen Steinen. Den mußte sie gehen, weil es nach diesem keinen andern für sie gab. -- Er tat sehr weh. -- Aber nur ihr Blut floß. Das Leben blieb. Sie wimmerte auf und wußte doch nichts davon. Dem alten Mann griff es ans Herz. Das lichte Bild seiner Freundin wollte sich verdunkeln. „Wenn ich ihr doch helfen könnte,“ dachte er grimmig. „Ich habe trotz meiner großen Einnahmen auch nur gerade so viel, als ich für mich und meine fünf Töchter brauche,“ sagte er in einem Ton, als schäme er sich dieser Wahrheit. „Sie wissen es durch unsere Tote. -- Meinen beiden verwitweten Töchtern gebe ich die gesamten Mittel zur Fortführung ihres kinderreichen Haushalts -- sonst --“ Sie hörte nur dies letzte Wort, das bedauerte, keine Almosen spenden zu können. Sie mußte also wie eine Bettlerin vor ihm stehen. Sonst hätte er das nicht zu sagen gewagt. -- Ihre Muskeln spannten sich langsam an. Ihre Augen wurden stahlhart. Sie fühlte alle Peitschenhiebe, mit denen der Alltag ihrer wartete, voraus und bäumte sich dagegen auf. „Ich besitze eigenes Vermögen, das mir der frühere Vormund durch Frau Präsident aushändigen ließ,“ sagte sie hochmütig. Eine Last glitt von seiner Brust. Sie hörte ihn aufatmen und mußte lächeln, weil er ihren Stolz so willig glaubte. -- „Gottlob -- dann ist es ja doch nicht so hart, wie ich gefürchtet habe.“ „Durchaus nicht. Keine Sorge um meine Zukunft, Herr Justizrat!“ „Sie werden sich aber stets an mich wenden, wenn Sie irgend einen Rat gebrauchen sollten.“ „Sehr gütig von Ihnen. Hoffen wir, daß ich in keinerlei böse Lagen gerate --“ Ihre sonst melodische Stimme klang fast schrill. Ihr Lächeln wirkte maskenhaft. Er fuhr mit dem Taschentuch über die hohe, kahle Stirn. „Ich möchte noch gleich mit der alten Pauline wegen der von ihr zu wählenden Sachen verhandeln --“ Pauline war eigensinnig. Sie mochte von all den schönen, vielfarbenen Seidenkleidern der Präsidentin nur eins. -- Und gerade das unmodernste und älteste, worin sie gestorben war. „Anziehen werd’ ich’s natürlich nie,“ meinte sie, von neuem aufweinend, „denn sie hat’s noch mehr in Ehren gehalten, wie ihre andern --“ -- -- Eva von Ostried kniete vor der altertümlichen Kommode und raffte ihre Habseligkeiten zusammen. Ohne Ueberlegung warf sie alles in einen großen, sehr neu aussehenden Koffer. Die fieberhafte Ungeduld, möglichst schnell aus diesem Hause fortzukommen, trieb sie zur Eile. Sie wollte keinen Bissen Gnadenbrot weiter annehmen, keine Bettelgabe begehren. Während sie sich das stolz und trotzig vornahm, fiel ihr Blick auf das, was ihr gehörte. Eine glühende Röte überzog ihr Gesicht. Wozu spielte sie Versteck mit sich? War nicht alles, was sie besaß durch die Güte der Verstorbenen geschaffen? Hatten ihr nicht deren zarte Geschenke und das liebevolle Erspähen ihrer geheimsten Wünsche alles beschert? Was blieb ihr, wenn sie darauf freiwillig Verzicht leistete? -- Das Gefühl ihrer Ohnmacht gegenüber dieser Tatsache war so stark, daß sie nicht weiter schaffen konnte. Entsagung -- Kampf und Armut lauerten überall auf sie als willkommene Beute. Denn was bedeuteten die armseligen tausend Mark Muttererbe? Sie mußte auflachen. Es klang grell und schaurig in diesem hellen, freundlichen Mädchenstübchen. -- Die Tränen schossen ihr in die Augen. Das weitere Leben war wertlos geworden. -- Und dennoch -- es fortwerfen, weil der goldene Traum der Künstlerhoffnung verwehrt war? Unmöglich! In den Adern pochte die Jugend. Allein die Vorstellung, sterben zu müssen, schuf schon ein wildes Wehren dagegen. Der sandige Weg mit den spitzen Steinen würde beschritten und -- zu Ende gelaufen werden! -- Ohne die geliebte Kunst! War das überhaupt auszudenken? -- Täglich fremden Launen zu dienen, stündlich Nadelstiche zu erdulden, bis alles Empfinden tot war? Amtsrat Wullenweber fiel ihr ein. Wenn sie ihn bitten würde? -- Es war Wahnsinn mit diesem Gedanken auch nur zu spielen. -- Auch Ralf Kurtzig, der alternde Meister, konnte ihr nicht helfen. Sie wußte durch die Präsidentin, daß er wohl Reichtümer eingeheimst, aber niemals aufzuspeichern verstanden hatte. Und ihr Studium war teuer. -- Die ersten Lehrkräfte waren notwendig. Die Weiterbildung auch des Gehörs durch den Besuch der besten Konzerte blieb Erfordernis. -- Gute und nahrhafte Kost, anständige Kleidung mußten auch sein -- -- Sie hatte erlebt, wie das Geld unter den Fingern zerrann. -- -- Sie wollte alles begraben! -- Als sie meinte, daß mit diesem Vorsatz das Hauptsächlichste geschehen war, packten sie Verzweiflung und Jammer so heftig, daß sie aufschrie und sich über ihre Noten warf... Und doch -- wenn nur der erste Schritt getan war! Sie wurde nachdenklich -- vergaß die begonnene Arbeit, riß den Hut vom Haken und drückte ihn auf das Haar. -- Wenn sie hier fort wollte, mußte ein neuer Unterschlupf gefunden werden. -- Und fort wollte sie. Je früher, desto besser. -- Im Laufschritt eilte sie die breite, stille Straße hinunter. -- Wollte zu der Zweigniederlassung der von der Präsidentin bisher gelesenen Zeitung, um ein Gesuch nach einer Stellung aufzugeben -- vergaß dann aber sofort wieder diesen Vorsatz und eilte gedankenlos weiter, den wundervollen, schattigen Plätzen entgegen, an denen die prunkvollen Häuser der glücklichen Besitzer lagen. Die Welt war klar, satt und durstlos. An stillen Seitenstraßen schienen die jungen Buchen zu bluten, als verschenkten sie freudig ihren Lebenssaft. Unbeschreibliche Sehnsucht nach einem Menschen, der sie in dieser Stunde haltloser Verzweiflung voll verstehen könnte, überkam Eva von Ostried. Sie wußte sich Niemand! Ihre Schönheit hatte zu allen Zeiten glühende Bewunderer gefunden. Aber sie kannte sich selbst noch zu wenig, um schon zu wissen, daß sich lediglich ihre stark entwickelte Eitelkeit durch die unverhüllten Blicke der Leidenschaft befriedigt gefühlt. Wäre es anders gewesen, hätte sie damals unmöglich Paul Karlsens gestohlene Zärtlichkeit als eine unerhörte Beleidigung empfinden können. Ihr Herz war bisher völlig unberührt geblieben. Ihre Frauensehnsucht suchte indessen unbewußt -- an den lauten Huldigungen vorbei -- nach den stillen Gassen, die zu dem Tempel reiner Liebe führen. Und dennoch sträubte sie sich heftig gegen die Zumutung, die Krone des Frauendaseins einzig in der Ehe mit einem Manne zu suchen. Plötzlich verlangsamten sich ihre Schritte. Lauschend neigte sich der Kopf. Rächten sich die Stunden der Aufregung und gaukelten ihr Töne vor aus jener Welt, die ihr von heute an verschlossen war. Oder gehörte die jauchzende Stimme hinter ihrem Rücken der Wirklichkeit an? Ach, daß die Seele Dein meiner Seele sich eine, Du teures Kind, laß mich Deine Augen sehn. In diesem weißen Kleid, mit diesem Heiligenscheine Bist Du ein Engel aus Himmelshöhen. Sie wollte dem wohlbekannten Liebeswerben Wilhelms entfliehen, stürzte weiter und stand doch im nächsten Augenblick durch den lockenden Ruf bezwungen, wie gebannt still. Zwei Hände rissen die ihren, die kalt und matt gewesen, an sich. „Kleine, süße Mignon, endlich sehen wir uns wieder.“ Paul Karlsen war an ihrer Seite und sie ließ ihn nicht ihre Verachtung spüren. -- Alles lag weit hinter ihr! Wie eines wirren Traumes, den ein Kind gehabt und sich ganz falsch gedeutet hatte, gedachte sie flüchtig seines Kusses. Er hatte ihre Hände freigegeben und schritt ruhig neben ihr dahin. „Wohin wollen Sie, Fräulein von Ostried?“ Das klang durchaus korrekt und brachte ihr einen Strom zuversichtlicher Hoffnung. „Wenn ich das selbst wüßte,“ entgegnete sie leise. Er betrachtete sie aufmerksam und schob sich ein wenig an sie heran. „Fronen Sie nicht mehr bei Ihrer alten Dame, hinter deren Stuhl ich Sie oft genug -- zähneknirschend -- sehen mußte?“ Da sagte sie ihm von dem Tode der Präsidentin. Er hörte ihr aufmerksam zu. „Gottlob -- also der Kunst endlich zurückgegeben! -- Wird das schön werden. Wir halten natürlich fortan fest zusammen.“ Sie mied seinen bittenden Blick. „Ich gehe fort von Berlin.“ „Ah!“ machte er enttäuscht, „wohin denn? Berlin bietet doch die besten Ausbildungsmöglichkeiten. Auch kann man hier gar nicht anders, als sehr brav sein. Ich habe mirs vor allen andern Städten ausgesucht. -- Ob gerade darum? Nein, das zu behaupten wage ich doch nicht. -- Wissen Sie, nun ist’s entschieden. Don Karlos -- Meister Heinrich und die verehrten blutigen Könige des nämlichen Namens mit aufsteigender Numerierung sind tot und feierlich begraben. -- Vor Ihnen steht der künftige erste Heldentenor der Welt.“ Sie empfand brennenden Neid, schämte sich der Aufwallung und fragte hastig: „Wie ist das möglich geworden?“ „Tja --“ machte er und schwippte leichtsinnig mit den Fingern durch die Luft, „es hat sich halt endlich eine unversiegbare Goldader auffinden lassen.“ Sie ahnte nicht, daß immer noch der Neid aus ihren wundervollen, leidenschaftlichen Augen sprang. Ihm entging es nicht. Er spielte seine Rolle ausgezeichnet -- hielt sich fest im Zügel, wenn er sie auch noch bezaubernder als damals in Oeynhausen fand. „Und Sie -- wie weit sind Sie gekommen? -- Ihnen fehlte nicht mehr viel zur künstlerischen Reife!“ Ihre Hand ballte sich in ohnmächtigem Zorn. Er am wenigsten durfte etwas von ihren jähzerstörten Hoffnungen ahnen. Sie schämte sich ihrer Armut. „Ich? -- Nun, es wird sich bald genug etwas für mich finden lassen. Ich kann nur noch vorläufig zu keinem festen Entschluß kommen.“ Er betrachtete sie heimlich und bemerkte einen bittern fremden Zug, der vor wenigen Monaten bestimmt noch nicht dagewesen war. Sie erschien ihm plötzlich wie ein Becher aus edlem Kristall, der alles offenbart. Auch sie spielte ihm eine Komödie vor. Aber, sie spielte sie nicht glaubhaft genug. Ihr mußte entschieden etwas geschehen sein, das sie gedemütigt hatte. Ihr Stolz, der ihn anfangs entflammte, ehe er ihn unbequem und zuletzt lächerlich gefunden, war in diesem Augenblick unecht. Aber er wollte sie ein wenig quälen. „Sie müssen mir versprechen, daß Sie an der ersten Stelle Ihrer Tätigkeit meiner in warmer Fürsprache gedenken,“ bat er mit knabenhafter Frische und hielt ihr die Rechte hin. „Schlagen Sie ein, Fräulein von Ostried.“ Es klang respektvoll und freundschaftlich. Der Ton tat ihr wohl. Ihre Ehrlichkeit litt indes kein weiteres Versteckspiel. Ihr Herz, das sich gerade hatte beruhigen wollen, begann wieder wie rasend zu pochen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, so sehr sie auch dagegen kämpfen mochte. Das stellte er mit stürmischer Freude fest. Ganz zart bemächtigte er sich von neuem ihrer Hände: „Sie können mir vertrauen. Wirklich -- Herrgott -- wer machte mal keine Dummheit -- Ihre Schönheit hatte mich einfach kopflos gemacht -- nein -- es war doch wohl mehr die grenzenlose Bewunderung Ihres herrlichen Talents. Vergeben Sie mir, Eva. Sehen Sie in mir einen Freund und Bruder --“ Da sagte sie ihm alles! Er bedauerte sie nicht, als sie zu Ende gekommen war, trotzdem er sie „armes Hascherl“ nannte. Es klang vielmehr aus den Worten ein schelmisches Lachen, weil er dem traurigen Zufall die Rechnung verderben wollte. „Das ist wahrhaftig keine Kopfhängerei wert! Wozu wäre ich Ihnen denn sonst heute in den Weg gelaufen? -- Sie dachten auch nur einen Augenblick ernstlich daran, der Musik zu entsagen? Ja, wissen Sie denn nicht, daß Sie damit die größeste Sünde begingen. -- Und -- sündigen dürfen Sie nicht! -- Herrgott, Mädel, was haben Sie für Gold in der Kehle. Darauf pumpt Ihnen jeder gerissene Geschäftsmann, so viel Sie wollen.“ Sie mußte, angesteckt durch seine hinreißende Zuversicht, lächeln. „Meine alten Gönner und Lehrer leiden an dem nämlichen Uebel, wie ich selbst,“ sagte sie bitter und dachte in erster Linie an Ralf Kurtzig. „Und die jungen,“ fragte er und suchte ihren Blick. Sie wollte sich nicht empfindlich zeigen und konnte doch nicht hindern, daß eine glühende Röte ihr Gesicht überzog. Er betrachtete sie mit den Augen des Künstlers, der sich an jeder gelungenen Schöpfung freut. -- Als sie jetzt mit der ihm nur zu wohlbekannten Bewegung der Unnahbarkeit den Kopf zurückwarf, reizte sie -- wie einst -- sein Mannesempfinden. Der Wunsch, ihre stolze, schlanke Gestalt an sich zu pressen -- den roten, lockenden Mund mit glühenden Küssen zu bedecken, verlangte genau so ungestüm wie nach dem Zusammenspiel seine Erfüllung. Nur, daß er sich heute überwand und nicht das Geringste tat, um den zarten Keim ihres jungen Vertrauens zu zerstören. Er sprach weiter, als habe er keine Antwort von ihr erwartet: „Ich wollte Sie nur ein wenig quälen -- Ihnen zeigen, daß Sie im Augenblick aus eigener Kraft nichts vermögen.“ Sie wurde unsicher. „Sie widersprechen sich ja.“ „Weil ich soeben noch von den klugen Geschäftsleuten redete? Das halte ich aufrecht! -- Sie warten sozusagen an allen Ecken auf Sie, mein Fräulein. Es kommt lediglich darauf an, daß Sie den richtigen festmachen. Die Wahl muß vorsichtig gehandhabt werden. Zugleich mit diesem Ehrenwerten lauern hundert Fallen, in welche Ihre Unerfahrenheit glatt hineintappt, wenn Ihnen der kühle Berater fehlt.“ Sie seufzte auf, weil sie ihm glauben mußte. „Ich könnte mich an den juristischen Berater der verstorbenen Präsidentin wenden. Er hat mir seine Hilfe angeboten.“ „Ein Jurist und sei er noch so tüchtig, versteht nichts von all diesen Dingen. -- Da gibt es Vorschläge und schließlich Abschlüsse, gegen die kein Paragraph gewachsen ist.“ „Das bestärkt mich in der Notwendigkeit, zu entsagen.“ „Sehen Sie an! So sehr verachten Sie also mich und meine Freundschaft?“ „Sie wollten mir wirklich helfen?“ „Merken Sie das endlich? Ich habe bereits einen Plan. Wir besteigen die nächste elektrische Bahn und fahren gemeinsam zu -- nun -- nennen wir ihn meinetwegen Herrn Freundlich! Der Mann ist bis zu einem gewissen Grade gefällig und auch beinahe ehrlich, wenn man seine Schliche so lange und genau kennt, wie ich. -- Mir hat er jedenfalls vor Jahren rührend geholfen. Freilich,“ und sein Gesicht nahm einen zerknirschten Ausdruck an, „ein bißchen hänge ich -- aus purer Vergeßlichkeit -- immer noch bei ihm. Wirklich nur deshalb. Meine Goldader hätte ihn längst befriedigen können. -- Also -- wollen Sie?“ Sie zögerte noch. Die Hoffnung durchleuchtete aber schon das kurze Zaudern. „Er kennt mich doch nicht?“ „Darum verbürge ich mich eben für Sie! Mich kennt er und weiß genau, was ich kann und noch leisten werde. -- Passen Sie auf, wir schaffen es mit Leichtigkeit. Ein paar tausend Mark gewährt er unter durchaus annehmbaren Bedingungen zweifellos.“ Sie folgte ihm willenlos, als er in eine Seitenstraße einbog und zu einer Haltestelle herüberquerte. Sie saßen Seite an Seite auf dem schadhaften Tuch der schmalen Sitzbank und schwiegen. Das Hoffen, das Eva von Ostried für alle Zeit eingesargt zu haben meinte, trieb grüne Keime. -- -- Herr Freundlich bewohnte ein düsteres, etwas feuchtes Kellergelaß und war sehr unfreundlich. Ueber seiner scharfgebogenen Nase spähten zwei kleine stechende Augen in Karlsens schönes, leichtsinniges Gesicht. „Wie werde ich Sie nicht wiederkennen, Herr Karlsen,“ unterbrach er ihn mürrisch, „Sie stehen ja noch mit achtzig Mark und fünfzig Pfennig zu Buch.“ „Sie irren, Bester, es können unmöglich mehr als dreißig Mark sein.“ „Fangen Sie nicht schon wieder an zu handeln. Ich sage Ihnen, daß es sogar neunzig sind, wie mir eben einfällt.“ „Schön. Sie sollen Recht behalten. Sonst ist es demnächst zu hundert angewachsen. Das weitere in dieser Sache später. -- Heute will ich nichts für mich. Ich bringe Ihnen hier Fräulein von Ostried, die schon einmal mit noch nie dagewesenem Erfolg in Oeynhausen die Mignon gesungen hat. -- Ihre Stimme birgt ganze Goldfelder.“ Die schlauen Augen glitten, den Wert ihrer Schönheit abschätzend, jetzt über Eva von Ostrieds Gestalt und Antlitz. Sie empfand diese Blicke mit körperlichem Schmerz. „Um wieviel handelt es sich denn?“ fragte er langsam und vorsichtig. „Fünftausend Mark würden vorläufig genügen.“ „Und die Sicherheit?“ „Gebe ich Ihnen! Zudem verpflichtet sich die Dame schriftlich zu regelmäßiger Abzahlung in Raten nach Abschluß ihres ersten Vertrages.“ Herr Freundlich lachte kurz und trocken auf. „Eine schöne Sicherheit! Wollen Sie mich vielleicht zum Narren halten?“ Eva begann zu zittern. Die Scham, daß sie Paul Karlsens Vorschlag angenommen, wurde so stark, daß sie zur Tür strebte, um ohne Gruß zu scheiden. -- Da streckte sich die dürre Hand des Geldverleihers nach ihr aus. „Nicht so hitzig, Fräulein. Sie gefallen mir sonst. -- Und ich könnte Ihnen schon helfen!“ Eva von Ostried sah in diesem Augenblick hilfesuchend nach Paul Karlsen hinüber. Sie wurde unsicher. „Wir müssen uns aber vorher erst auf gut Deutsch mit einander verständigen,“ fuhr er fort. „Es soll natürlich die Oper sein. Kennen wir doch. -- Was anderes wird’s auch tun. Kurz gesagt: Ich wüßte was Passendes für Sie. Auf die Stimme kommt’s dabei nicht besonders an. Aber Kleider und Firlefanz müssen sein. Was sonst verlangt wird, ist bei Ihnen vorhanden. -- Sie gehen zum Varieté, Fräulein!“ Eva von Ostried riß nun doch die niedere Tür auf und flüchtete die ausgetretenen unsauberen Stufen empor auf die Straße. Ohne sich nach Paul Karlsen umzusehen, lief sie weiter. „Sie dürfen mir nicht zürnen, ich habe es gut gemeint,“ bettelte seine Stimme demütig. Sie sah starr geradeaus, damit er die Tränen ihrer Scham und Verzweiflung nicht merken sollte. „Jetzt werden Sie kein Vertrauen mehr zu mir fassen können,“ klagte er. „Und ich wollte dies doch lediglich versuchen, damit Ihnen -- das andere -- nicht etwa schwer fallen sollte.“ Nun wandte sie ihm doch ihr Gesicht zu. „Welches andere? Glauben Sie hiernach wirklich noch, daß ich einem zweiten Versuch zustimmte?“ „Ich glaube nichts. Aber ich weiß. Es ist kein Versuch mehr. -- Sie brauchen lediglich „Ja“ zu sagen. Dann ist alles in Ordnung.“ „Ich wollte, ich wäre Ihnen nicht begegnet,“ sagte sie hart. „Morgen werden Sie anders denken.“ „Morgen werde ich vielleicht schon Berlin verlassen haben.“ „Nein,“ sagte er und seine Lippen wurden schmal vor Erregung, „morgen werden wir beide -- gleich ausgelassenen Kindern -- der Zukunft entgegenlachen. Wetten?“ Sie tat, als habe sie dies Letzte nicht gehört. „Ich muß meine Sachen fertig packen. Leben Sie wohl.“ Er hielt Ihre Hand fest. „Fräulein von Ostried -- ich bin Ihre Zukunft! Fühlen Sie das nicht? -- Es ist nicht Großsprecherei. Es ist einfache, ungeschminkte Wahrheit. -- Sie werden pünktlich heute Abend um neun Uhr vor dem Gartentor der Villa sein, die sich Karlsbaderstraße 14 befindet.“ „Ich werde nicht kommen. Verlassen Sie sich darauf.“ „Streiten wir nicht. Ich erwarte Sie. Also keine Angst. Dort wird sich jemand finden, der Ihnen ohne Schuldschein und sonstige Versprechungen alle Mittel gewährt, die Sie nötig haben. -- Es ist kein Scherz dabei. Sehen Sie mich an.“ Sie schüttelte den Kopf ohne den Blick zu heben. „Lassen Sie mich. Ich will nicht mehr.“ „Ich mag leichtsinnig und verschwenderisch -- faul und meinetwegen sogar nicht immer zuverlässig sein. Ein der Kollegenschaft gegebenes Versprechen habe ich noch nie gebrochen. -- Hören Sie. Mein Ehrenwort, daß Sie nicht umsonst kommen werden. Daß Sie das bezeichnete Haus als Eine verlassen, die für alle Zeit zu ihrer Kunst zurückgekehrt ist.“ Sie antwortete ihm nicht. Sie riß nur ihre Hand gewaltsam aus der seinen und setzte ihren Weg allein fort. Er machte keinen Versuch ihr zu folgen. Aber solange die klare Ferne ein Schatten ihres schwarzen Kleides zeigte, sah er ihr mit einem Lächeln des Triumphes nach. [Illustration] [Illustration] 5. Paul Karlsen ging mit gemächlichen Schritten über den rostfarbenen Kies. Zu beiden Seiten des schmalen Weges blühte der Vorgarten. Ueber dem weinumzogenen Haus lag die Mittagssonne. Augenscheinlich hatte er es nicht eilig. Auch die wenigen bequemen Marmorstufen der Treppe nahm er fast zögernd. In dem Vorraum, der zur eigentlichen Diele führte, erwartete ihn die steife Gestalt eines alten Dieners, der etwas eigentümlich Lebloses hatte. Paul Karlsens Augen waren noch von der Fülle der Sonne geblendet. Er erschrack, als sich eine Hand nach seinem Hut ausstreckte, trotzdem er dies Bild nun doch nachgerade kennen mußte. „Na -- bin ich heute pünktlich, alter Hagen,“ fragte er lässig. Das Gesicht veränderte sich nicht. Nur die leise Stimme klang vorwurfsvoll. „Die gnädige Frau wartet seit einer Stunde mit dem Essen!“ Er lachte kurz auf, warf den Kopf in den Nacken und murmelte etwas. „Verdammter Zwang,“ hieß es. -- In dem großen, sehr kühlen Eßzimmer harrten auf köstlichem Leinen zwei Gedecke. -- Dieser Raum wirkte pomphaft und erdrückend. Die Bespannung der Wände mit schwarzem Rupfen allzu feierlich. Die wuchtigen Möbel spreizten sich in ihrer Kostbarkeit. Die Sonne, welche durch stilvoll bemalte Scheiben ohnehin ihren Weg niemals finden konnte, war vollends von schweren Vorhängen abgesperrt. Nur die Tafel mit dem blendend weißen Leinen trug eine Fülle blutroter Rosen und dunkelblauem Kristall. Plötzlich löste sich aus der halbdunklen Schwermut die überschlanke Gestalt einer weißgekleideten Frau und schritt auf Paul Karlsen zu. Das längliche Gesicht war auffallend bleich. Die Nase trat scharf hervor, als habe ein kürzlich überstandenes Krankenlager den Wangen die natürliche Rundung genommen. Karlsen führte ihre Hand an die Lippen und ließ den Wortlaut seiner Stimme in gut gespielter Ueberraschung klingen: „Du hast ja diese Leichenkammer heute so herrlich geschmückt, kleine Frau. Wer soll denn beigesetzt werden? Und ein neues Gewand hast du ebenfalls angelegt.“ Ihr stiegen die Tränen auf. Nicht weil er sie warten ließ. O nein -- daran hatte sie sich längst gewöhnt. Aber -- daß er nicht -- daran dachte. „Das Kleid,“ sagte sie hastig, um nicht laut aufweinen zu müssen, „kennst du es wirklich nicht, Paul?“ Er zog sie nach einem der hohen Fenster herüber und zerrte den Vorhang zurück. In dieser Bewegung lag ein Aufbäumen auch gegen vieles andere. „Nee, mein Kind. Keine Ahnung habe ich.“ „Ich trug es an dem Tage unserer heimlichen Verlobung in Oeynhausen.“ Er lachte verlegen auf. „Richtig! -- Natürlich! -- Jetzt sehe ich es. Das sind aber doch höchstens vier Monate her und noch längst kein Jahr. Wo ist also der geschätzte Anlaß zu einer besonderen Feier?“ „Heute sind wir einen Monat Mann und Frau,“ sagte sie leise und konnte nun doch nicht hindern, daß ein runder Tropfen auf das kostbare Gewand fiel. -- Er zog ungeduldig die Stirn empor. „Schön -- also einen Monat! Was ist das im Vergleich zu all den Jahren, die hoffentlich noch vor uns liegen. -- Also, ich habe dieses hohe Fest verschwitzt. Nimm’s nicht übel. Mir brummt der Kopf. Es gibt doch mehr Arbeit und Schwierigkeiten zu überwinden, als ich anfänglich annahm.“ „Ich störe dich doch nicht etwa bei deinen Studien, Paulchen?“ Er hatte seinen Rufnamen überhaupt niemals gemocht. Dies „Paulchen“, das er ihr nicht abgewöhnen konnte, reizte ihn zuweilen bis zur Tollheit. Jetzt überhörte er es, weil er etwas erreichen wollte. „Du im Besonderen bist das bescheidenste und leiseste Wesen, das es geben kann. Im allgemeinen freilich wäre ich gerade jetzt für eine kurze Zeit nicht eben ungern solo.“ Sie sah entsetzt zu ihm auf. „Soll das heißen!“ Sie konnte nicht vollenden. Ihre Stimme erstickte in Tränen. Er schüttelte sich, als fröre er. „Tu mir den einzigen Gefallen und höre mit dem Weinen auf, Elfriede. Ich komme mir ja andauernd wie ein Barbar vor. Nein, nicht du sollst für wenige Tage deine zur Zeit kränkelnde Mutter, eine Straße weiter, besuchen und sie dadurch halb unsinnig vor Freude machen -- welchen Wunsch sie mir schon vor einer Woche, allerdings mit der Bitte, ihn dir vorläufig zu verheimlichen, verraten hat -- sondern ich werde zu meinem Lehrer unter den blendenden Dachgarten ziehen. Denn, weißt du, kleine Frau, ich muß üben und immer nur üben -- kann mich nicht mehr an eine feste Tischzeit binden -- vertrage überhaupt zu solchen Zeiten vorübergehend keine andere Gesellschaft als eine männliche.“ Sie legte die Hand auf seinen Arm. „Paulchen, schenk mirs zum heutigen Tag, daß ich in mein altes Mädchenstübchen zur Mutter darf. Du mußt deine Bequemlichkeit gerade jetzt haben.“ „Das würde eine schöne Geschichte geben, mein liebes Kind! Deine Mutter würde plötzlich vergessen, wie sehr sie sich nach dir gesehnt und felsenfest glauben, ich behandele dich schlecht und lieblos. Denn sieh mal, immerhin bleibt es etwas wunderbar, wenn eine junge, liebliche Frau nach einmonatlicher Ehe ihren Ehemann -- wenn auch nur vorübergehend -- verläßt.“ Der letzte Satz gab ihr eine ungeheure Kraft. „Glaubst du wirklich, Paulchen, daß ich der Mutter meinen Besuch in diesem Lichte hinstellen würde?“ „Na, na, Kleines -- wer kennt sich mit euch Frauen aus? In gewissem Sinne ähnelt ihr euch alle verteufelt.“ Sie widersprach mit jähaufflackerndem Rot. „Hast du schon vergessen, was ich dir in der grünen Einsamkeit des Siels am Karpfenteich gelobt habe?“ Natürlich hatte er nicht die geringste Ahnung. Aber er hütete sich es einzugestehen. „Frauengelöbnisse sind unberechenbar, wie eure Eifersucht, Schatz.“ „Hältst du mich für eifersüchtig?“ „Es käme auf die Probe an. Glatt verneinen möchte ich das nicht!“ „Ich würde sie bestehen. Verlaß dich drauf.“ „Lieber nicht. Deine Mutter wohnt ein bißchen zu nahe, Kleines.“ „Wie tief mußt du mich einschätzen, Paul!“ „Bewahre. Riesig hoch sogar. Hätte ich dich denn sonst geehelicht?“ Sie legte mit einer rührenden Gebärde der Demut ihr Gesicht auf seine schlanke Hand. „Sage so etwas niemals wieder, Paulchen. Wir wollen uns doch fest, ganz fest vertrauen.“ Ihm wollte ein Lachen aufsteigen. Es wurde aber zuletzt ein Hüsteln daraus. „Wollen wir auch. Natürlich. Aber jetzt komm gefälligst. Ich verspüre einen Bärenhunger.“ Erschrocken drängte sie ihn zur Tafel hinüber. „Verzeih -- ich vergesse das so oft neben dir!“ Er musterte ihre magere, noch kindlich unentwickelte Gestalt und seufzte leicht auf. „Leider, mein guter Schatz! Eß und trink, lieb und sing. Ja -- so stand es an einem alten Bauernhaus in Sachsen. Und recht hat der Spruch! -- Wie ich sehe, hast du zur Feier des hohen Tages auch herrlich für Stoff gesorgt. Hoffentlich ist er gut.“ Sie ließ es sich nicht nehmen, ihm aus der schweren Kristallkaraffe die funkelnde Schale zu füllen. „Probiere ihn, Paulchen.“ Er hob das kostbare Glas und ließ es hell an das ihre klingen. „Herrlich! -- Ueberhaupt -- das muß ich immer wieder anerkennen, du bist eine ganz prachtvolle, kleine Hausfrau.“ Strahlend sah sie zu ihm auf. „Darum habe ich auch einen Wunsch frei, ja?“ Der Diener trug die Suppe auf. Die Unterhaltung verstummte. Sobald er unhörbar entschwunden war, sagte Paul Karlsen spöttisch: „Er liebt mich nicht, Elfchen. Weißt du das eigentlich?“ „Er liebt jeden, der mir gut ist,“ sagte sie ruhig, fast streng. „So? Na, weißt du, das bezweifle ich stark. Oder willst du etwa andeuten, daß ich --“ Sie ließ ihn nicht zu Ende kommen. Sanft legte sie ihre Hand auf seinen Mund. „Ich bin dir unaussprechlich dankbar dafür. Trotzdem wünsche ich mir noch eine Kleinigkeit.“ „Was denn, Kleines?“ „Den Besuch bei meiner Mutter.“ „Ausgeschlossen! Die Gründe für meine Härte habe ich dir genannt.“ „Sie sind sämtlich hinfällig. Ich fange es eben so geschickt an, daß Mama zum Schluß sich heimlich bei dir bedanken wird.“ „Wie wolltest du das anstellen?“ „Sehr einfach. Heute nachmittag zur üblichen Whistpartie, wäre ich doch herübergegangen. Da werde ich also ausnehmend blaß aussehen müssen. -- Lache nicht -- ein wenig Weiß genügt schon. Sie wird mich wieder zur Schonung quälen, in ihrer Ueberängstlichkeit meinen längeren Besuch verlangen, damit sie sich selbst von meinem Gesundheitszustand überzeugen kann und zwar dies alles in deiner Gegenwart.“ „Um Gottes willen, ich soll dich doch nicht etwa begleiten. Das hast du bisher doch klug zu vermeiden gewußt.“ „Bringe mir dies Opfer, Liebster.“ „Also gut! Ich will sogar gern mitkommen. Das heißt höchstens für ein bis zwei Stunden.“ „Solange wird es gar nicht nötig sein,“ meinte sie froh. „Aber nun höre weiter. Du sperrst dich gegen das von ihr Geforderte und verweigerst schließlich in aller Form deine Erlaubnis. -- Dann wird sie hitzig werden und unter allen Umständen darauf bestehen. -- Ich kenne sie doch.“ „Du bist ja eine ganz gefährliche, kleine Heuchlerin, Schatz.“ Er zog sie leicht in die Arme. In tiefem Glücksgefühl schloß sie die Augen, die das einzig Schöne in ihrem Gesicht waren. „Ist das nicht ein feiner Plan, Paulchen?“ „Ausgezeichnet sogar, wenn mir inzwischen die Sache nicht wieder leid geworden wäre. Du hast als Ernst aufgefaßt, was bei mir nur eine Art Gefühlsausbruch war.“ „Daß du es, wenn auch nur einen Augenblick gewünscht hast, zeigt mir die Notwendigkeit und nachher -- wird es um so schöner sein.“ „Gelt, das hätten wir vor einem Vierteljahr auch noch nicht gedacht?“ „Was denn,“ schnurrte er mit erwachender Behaglichkeit. „Daß wir so schnell unser Glück erzwingen würden.“ Er nickte mit vollem Mund, denn inzwischen war der Braten gekommen, der, zart und saftig, selbst den größten Feinschmecker befriedigt hätte. „Wärst du nicht plötzlich nach der schroffen Ablehnung meines Werbens durch die Frau Kommerzienrat, wollte natürlich sagen, deiner lieben Mama, kränker geworden und dadurch jegliche Wirkung der Kur auf dein rebellisches Herzlein in Frage gestellt -- wer weiß, wer dann heute an meiner Stelle neben dir säße --“ „Wie wenig du mich im Grunde doch kennst, Paulchen. Fühlst du nicht, daß ich niemals einem andern als dir gehört hätte?“ Er nickte ihr zu. „Kleines Treues -- du!“ Dann begann er zu scherzen und von jener Zeit zu plaudern, weil er genau wußte, daß ihr dies die liebste Unterhaltung war. Seine feurigen Augen strahlten tief in die ihren. Das schmeichlerische weiche Organ machte auch das unbedeutendste Wort zu einer Zärtlichkeit. Seine Laune war plötzlich glänzend. Ueber den blutroten Rosen und dem blauen Kristall schien die Krone des Glückes, die allein die Liebe gibt, in warmen Glanz zu schweben! -- -- „Ja,“ sagte einige Stunden später Frau Kommerzienrat Eßling zu ihrer alten Freundin und Vertrauten, die -- wie seit Jahren -- als Erste zur Whistpartie gekommen war, „in der Nähe hätte ich sie nun ja. Aber, was will das sagen. So viel man auch aufpaßt -- allwissend ist doch Niemand. Wer sagt mir, ob Elfriede unter seiner Anleitung nicht ebenfalls Komödie zu spielen gelernt hat?“ Frau Generalkonsul Enck war keine mißtrauische Natur. Aber dieser überstürzt geschlossenen Verbindung zwischen dem überzarten, beständig kränkelnden Mädchen und diesem bildhübschen Leichtfuß, dem Karlsen, brachte sie doch ihre schärfste Mißbilligung entgegen. Hätte man sie, wie das sonst bei jeder wichtigen Entscheidung der Fall gewesen, nur um Rat gefragt. Man hatte jedoch, einfach über ihren Kopf fort, in aller Stille dem durchaus nicht von ihr ernstgenommenen Verlöbnis, die eheliche Verbindung auf dem Fuße folgen lassen. Nun kamen natürlich Reue und Gewissensbisse über die besorgte, selbst leidende Mutter. Anderseits kannte sie die bewundernswerte Energie der Kommerzienrätin zu genau, um dieses Bündnis von vornherein als dauerndes anzusehen. „Sie hätten es sich gründlicher überlegen sollen,“ konnte sie sich nicht versagen, zu erwidern. Die andere sah starr auf das feine Porzellan der kostbaren Teeschalen herab. „Sie haben niemals Kinder besessen. Da können Sie so etwas wohl sagen. Stehen Sie nur an zwei Krankenbetten, in denen scheinbar bisher kerngesunde, bildhübsche, lebenslustige Mädchen -- -- Auch die andern Aerzte haben zuerst keine Ahnung davon gehabt. Denn daß mein Mann an den Folgen einer hartnäckigen Lungenentzündung in jungen Jahren starb, gab noch allein keinen Grund zur Beängstigung für seine Kinder ab. Erleben Sie mal erst, was ich ertragen habe. -- Wie habe ich damals gegen das furchtbare Gespenst gerungen. Hart bin ich gewesen -- so hart.“ In ihrem energischen Gesicht, aus dem die scharfe Nase, wie sie auch ihre jetzt noch einzige Tochter hatte, auffallend hervorsprang, zuckte es. „Regen Sie sich nicht mit den alten Geschichten auf, Frau Eßling.“ „Die Aussprache mit Ihnen tut mir wohl. Zu wem sollte ich wohl davon reden, wenn nicht zu Ihnen, vor der ich kein Geheimnis habe. -- Seitdem ich meinen alten Franz, den Diener, meiner Elfriede gegeben habe, weiß niemand im Haus um diese Sachen.“ „Malen Sie sich nicht zu schwarz, Beste,“ verteidigte die Konsulin. „Sie mögen damals streng gewesen sein. Wer wäre es in der gleichen Lage nicht gewesen. An eine Härte glaube ich nicht.“ „Sie sollen selbst urteilen. In St. Blasien war’s, wohin ich nach den erfolglosen Kuren in Hohenhonnef und Davos aus eigenem Entschluß noch mal mit den beiden ältesten Töchtern ging. Denn Sie wissen, ich konnte und wollte nicht daran glauben, daß alles vergeblich sein sollte. In der Liegehalle war ein vergnügliches Leben unter dem jungen Volke, und keines war da, das an ein frühzeitiges Sterben gedacht hätte. Als Gesunder läßt man die sonst im Verkehr der verschiedenen Geschlechter streng beobachteten Richtlinien außer Acht, weil die armen totgeweihten Geschöpfe doch keine Vollmenschen mehr sind. Nicht wahr, wenn unsereins so ein schmalschultriges Kerlchen mit fieberroten Flecken auf den herausstehenden Backenknochen sieht, dann fragt man nicht erst lange danach, was er sonst ist, hat und will, selbst wenn er augenscheinliches Wohlgefallen an dem eigenen Fleisch und Blut zeigt. Im Gegenteil, man freut sich noch gar darüber, und kommt sich wer weiß wie großmütig und gar edel vor, weil man die leibliche Mutter von seinem Glückserreger ist. Darum bin ich auch nicht einen Augenblick besorgt gewesen, als der junge Bildhauer meiner kranken Aeltesten über alle Gebühr hinaus den Hof machte. Erst, als der ihn behandelnde Arzt, dem ich mein Bedauern über diesen hoffnungslosen Fall aussprach, mir rund heraus und lachend erklärte, er wäre froh, wenn jeder seiner Kranken so gesund wäre, wie dieser Künstler, der sicher im nächsten Jahr wieder völlig obenauf sein würde, wurde ich nachdenklich, vorsichtig und streng. -- Mein Mädel nahm ich ins Gebet. Den Bildhauer behandelte ich so schlecht, wie es nur irgend ging. -- Es war für alles zu spät. -- Eines Tages erklärte mir meine Tochter, daß sie sich mit dem Jüngling von Habenichts verlobt habe. Sie hat vor mir auf den Knien gelegen und mich um meine Einwilligung angefleht. Ich blieb hart. Daß der offensichtlich seinem Aussehen nach Totgeweihte lediglich an den Folgen einer schweren Rippenfellentzündung schonungsbedürftig sei, hatte meine Hoffnung bezüglich der eigenen Kinder wunderbar gekräftigt. -- Einen Tag nach dem vergeblichen Flehen meiner Aeltesten reisten wir, die noch nicht zur Hälfte vollendete Kur abbrechend, nach Hause. Briefe kamen, wurden von mir abgefangen und prompt vernichtet. Jede Nacht hörte ich das bitterliche Schluchzen meiner Aeltesten -- merkte, wie sie bleicher und hinfälliger wurde und glaubte plötzlich doch nicht mehr an den Ernst des Verhängnisses. Es war so nahe. Meine kleine Elfriede, die wenigst anmutigste der Drei, hatte ich indessen aufs Land in Pension gegeben, weil der Arzt von der Möglichkeit einer Ansteckung, selbst bei größester Vorsicht, gesprochen. Nun konnte ich ganz der Pflege und Sorge für die beiden andern leben. -- Einmal hat der Bildhauer gewagt, bis in mein Haus vorzudringen. Ich habe ihn auch empfangen. -- Seitdem hat er keine Zeile mehr geschrieben. Denn ich war deutlich gewesen. -- Vier Wochen nachher hat meine Tochter, unterstützt von ihrer Schwester, noch einen letzten Sturm auf mein Mutterherz gemacht. Weiß Gott, es hat sich in dieser Stunde nicht geregt. Ich habe es als Laune und Eigensinn empfunden, was doch mehr gewesen ist.“ Die Andere legte begütigend die Hand auf die zuckende Schulter der Kommerzienrätin. „Wir wissen alle, was Sie die langen Jahre für eine aufopfernde, prachtvolle Mutter gewesen sind.“ „So prachtvoll, daß ich mich hinterher noch meines gefestigten Charakters gefreut und ein paar Tage ernsthaft mit dem armen Kind geschmollt habe. Auch meine Zweite hat begonnen für sie und den Bildhauer unentwegt zu betteln. -- Als sie einsah, daß ich nicht nachgab, verstummte sie zwar, aber es war seltsam, auch mit ihr wurde es seitdem schlechter. Sie schienen sich beide in das Unabänderliche meines Willens gefügt zu haben, bis zu jenem schrecklichen Augenblick, an dem mich die Pflegerin in der Nacht rief. Da hat meine Aelteste, die stets ein sanftes, scheues Ding war, mir gesagt, wie unerträglich ihr Dasein ohne den Geliebten gewesen und wie wenig sie sich freue, daß es nun endlich aufhören dürfe. -- Als die Sonne aufging, war sie tot. Und ich habe Tag und Nacht, von Reue zerrissen, um Vergebung gefleht und mir gelobt, wenigstens an den andern beiden gutzumachen, wenn es mir vergönnt wäre. -- Meine Zweite hat keine Kraft mehr zu einer Liebe gehabt. Sie ist ein Jahr später, wie Sie wissen, auch eingeschlafen. Da hatte ich nur das Elfchen, die Jüngste. Das Landleben hat ihr auch nicht die richtige Lebenskraft vermitteln können. Sie blieb weiter zart und schonungsbedürftig. Was es ist? Ich weiß es nicht! Ein bißchen Müdigkeit, das die Aerzte als Bleichsucht ansprechen. Ein bißchen Blässe. So fängt es ja gewöhnlich an. -- Und ich wollte und will sie behalten. -- Ich war nicht mehr blind und taub. Als ich die Blicke sah, mit denen der Schauspieler Karlsen, den ich übrigens schon vor einigen Jahren im Hause einer Bekannten, die ihn sich zu Gesangsvorträgen herüberkommen ließ, kennen gelernt, meine Elfriede anstarrte, wußte ich sofort, daß ein Kampf von neuem beginnen müsse. Und wußte -- auch sein Ende! Denn ich war nicht mehr stark und gesund genug, um noch einmal jene Zeiten von damals durchzumachen. Sein spielerisches Werben ging mir wider alles Empfinden. Er war ein viel minderwertiger Mensch als einst der Bildhauer. Sowas fühlt man als reife Frau sehr schnell. Eins kam noch hinzu. Wer, wie ich, aus einem reichen Kaufmannshause stammt, in dem alles ordentlich gebucht und verrechnet wird, kann sich niemals mit den Gepflogenheiten der Künstlerschaft befreunden. Denn ein Künstler ist der Karlsen. Das steht auch bei mir fest. Daneben ist er aber noch etwas anderes --“ „Wie im Grunde genommen die meisten Männer, liebe Eßling.“ „Das weiß ich doch nicht. Sind sie es aber wirklich, so setzt man es wenigstens nicht als selbstverständlich bei ihnen voraus. In ähnlichen Fällen pflegen sie sich mit dem Mantel einer weisen Vorsicht zu panzern, der den Schein wahrt. Das fällt bei meinem Schwiegersohn gänzlich fort. Er steht einfach da und erwartet die Huldigungen der Frauen als den natürlichsten Tribut. Bleiben sie aus -- je nun -- so ist das eben bei ihm wie bei jedem andern Künstler, noch dazu bedauernswert. Dann hat er eben nicht eingeschlagen. Findet -- hat er überhaupt schon vorher eins ergattert -- kein neues oder doch nur ein sehr zweifelhaftes Unterkommen, steigt weiter herunter, sinkt schließlich bis zur Schmiere herab.“ „Nun, das ist bei Karlsen wohl niemals zu befürchten.“ „Nein. Er weiß sich in Szene zu setzen und auch zu halten, was noch wichtiger ist. Schlau, durchtrieben, bildhübsch, liebenswürdig, flott. -- Sehen Sie, ich habe mir die Klarheit meines Urteils durchaus nicht trüben lassen. Jawohl, das ist er! Daneben aber auch unzuverlässig und treulos.“ „Haben Sie dafür schon Beweise?“ „Brauche ich nicht! Es ginge wider die Weltgeschichte, wäre es anders. Meine Elfriede ist keine Frau, die solchen Mann dauernd fesseln kann. Glauben Sie mir, der braucht einen Satan von Weib, das ihn in Atem hält -- ihn quält und peinigt und ihm höchstens Sonntags die Fingerspitzen zum Kuß überläßt. Er hat sie auch nicht einen Augenblick wirklich geliebt, während jener Bildhauer meiner Aeltesten rechtschaffen gut gewesen ist. Das alles sehe ich erst jetzt ein. Das bewußte Messer saß ihm hart an der Kehle und sein Ehrgeiz -- denn den hat er in hervorragendem Maße -- sann auf Mittel und Wege, wie er seine Stimme weiter ausbilden und sich die Welt erorbern konnte.“ „Sie werden doch aber Ihrer Elfriede nichts von all diesen Sachen andeuten, Frau Eßling.“ „Wozu? Die Mühe kann ich mir sparen. Sie ist dermaßen in ihn verliebt und vertraut ihm so blindlings, daß sie zur Zeit ohne Ueberlegung die eigene Mutter aufgäbe, um ihn zu behalten und ihm weiter zu dienen.“ „Jedenfalls fühlt sie sich wohl dabei. Sie war stets durchsichtig wie Glas -- unfähig der Lüge. Das wissen Sie am besten. Die Ehe bekommt ihr auch gut. Wie ich sie das letzte Mal sah, hatte sie einen Schein von Jugend und Frische, den ich bisher an ihr vermißte. Ja, sie lachte sogar herzhaft.“ „Wenn ich das nur genau wüßte,“ machte die Kommerzienrätin gequält. „Ich deutete es Ihnen bereits an. Auch das Komödienspiel läßt sich bei so einem harmlosen, aufrichtigen Charakter wie dem ihren gar wohl erlernen. Und sehen Sie -- da bin ich endlich bei meinem Plan angekommen. So nahe sie mir wohnt -- so mühelos ich jederzeit herüber kann, so treu und gewissenhaft der alte Franz auch aufpaßt und mir unweigerlich sofort Verdächtiges zutragen würde, ebenso fremd ist sie mir doch in dieser kurzen Zeit geworden. Der Mann mit seiner absoluten Gewalt über sie steht zwischen uns. Jede ihrer Handlungen wird von ihm beeinflußt. Ich weiß niemals, was aus ihrer eigenen Seele kommt. Darum muß ich sie eine kurze Zeit bei mir -- hier in diesem Hause -- in ihrem kleinen Mädchenstübchen, das immer ihr Entzücken gewesen ist, haben, muß sie scharf beobachten und sie seinem Einfluß, wenn auch nur vorübergehend, entreißen, damit ich völlig klarsehe.“ „Wie wollen Sie das anfangen? Er wird sich bald dagegen auflehnen.“ „Meinen Sie? Die Klugheit würde es ihm freilich anraten. Aber -- ja, wenn er sie wirklich liebte. So aber wird er es als angenehm empfinden, wieder mal allein und noch dazu in der ungewohnten Pracht zu leben. Ich weiß, Sie waren nicht mit der prunkvollen Ausstattung des Heims für die jungen Leute einverstanden. Sollte ich aber mein Kind entbehren lassen? Da entschloß ich mich eher dazu, ihn unnötig zu verwöhnen.“ „Sie haben entschieden zu viel Zeit zum Grübeln, liebe Eßling. Ziehen Sie sich nicht länger von allen Menschen zurück. Kommen Sie auch wieder öfter zu mir. Sie wissen, in meinem Hause verkehrt viel Jugend. Da geht es fröhlich zu. Und bringen Sie auch Elfriede öfter mit. Es wird ihr gut tun.“ „Sie können es ihr ja heute gleich vorschlagen. Ich fürchte nur, es bleibt wirkungslos, wie alles, was ich bereits zu ihrer Zerstreuung versucht habe. Dabei ist sie, wie mir Franz zuverlässig berichtet, sehr oft den ganzen Tag allein. Der Hausherr kommt lediglich zu den Hauptmahlzeiten und dann nicht etwa pünktlich. Nun, der Zustand anhaltender Einsamkeit wird bestimmt abgestellt werden. Um keinen Preis darf sie mir versauern. Ich werde eine möglichst gleichaltrige Gesellschafterin aus vornehmer Familie für sie nehmen. Die Aerzte haben mir wiederholt von der Notwendigkeit, sie froh zu erhalten, gesprochen.“ „Sie sind zwar eine ebenso kluge wie tatkräftige Frau, meine Liebe. Indes keine Zauberin. Ich muß Ihnen sagen, daß ich weder an Elfriedes längeren Besuch noch an das Dulden der neuen Hausgenossin glaube.“ „Vorläufig bin ich in beiden Fällen zuversichtlich. Das Gesuch nach einer Gesellschafterin ist heute bereits in den gelesensten Tageszeitungen erschienen. Da der künftige Herr Kammersänger keine Zeit hat, auch noch den Inseraten seiner Zeit einen Blick zu gönnen und meine Tochter daheim niemals auf diesen Gedanken kam, bin ich sicher, daß sie bisher nicht das Geringste von meinem Plan ahnen. Verkehr in Elfriedes altem Kreis haben sie nicht. Diese Menschen gehen nämlich meinem Herrn Schwiegersohn, wie ich aus Elfchens gelegentlichen schüchternen Bemerkungen entnehme, auf die Nerven. Also, wer sollte ihnen meine Fürsorglichkeit verraten haben?“ „Ist es nicht gefährlich bei der mir geschilderten Veranlagung Ihres Schwiegersohnes ihm so ganz mühelos ein weibliches Wesen ins Haus und an den Familientisch zu bringen?“ „Was wollen Sie? Sucht er, wird er stets finden. Was allzu bequem gemacht wird, reizt gewöhnlich am wenigstens. Zudem -- müssen sich alle Bewerberinnen bei mir melden. Ich werde sie mir sehr genau betrachten -- ihre Verhältnisse und, wenn irgend möglich, auch ihre Veranlagung untersuchen und dann hoffentlich eine gute Wahl treffen.“ „Wenn sie Ihnen nun aber, mit vereinten Kräften, nicht gestatten, die gütige Vorsehung zu spielen?“ „Daß meine Elfriede sich zuerst dagegen auflehnt, weiß ich sogar bestimmt. Sie ist rührend bescheiden und macht für ihre Person keinerlei Ansprüche. Es wird ihr gräßlich sein, zu der ihr bereits aufgedrungenen Jungfer noch eine zweite Umsorgerin zu benötigen. Was will das aber sagen? Ihr schwacher Einspruch wird unstreitig an der feurigen Zustimmung ihres Mannes sterben, wenn er es nicht bereits unter der klugen Anwendung meiner Mittelchen getan hat. -- Ihm wird diese Lösung außerordentlich genehm sein. Dann braucht er nicht mal mehr den guten Willen zum halbwegs pünktlichen Erscheinen bei Tisch aufzubringen, denn daß er ihn auch nur einmal in die Tat umgesetzt hat, glaube ich bei seinem Egoismus keinesfalls.“ „Ich bewundere Ihre Klugheit aufrichtig, Frau Eßling.“ „Es ist nur die folgerichtige Einsicht von notwendig gewordenen Uebeln, deren schädliche Wirkungen ich mich bemühe, so gut es gehen will, von meinem Kinde abzuwenden. -- Hören Sie! Ist das nicht ihr Schritt? Nein -- ich irre mich nicht. Das Ohr der Mutter ist scharf. Aber -- was ist das? Sie kommt nicht allein? Da ist doch das unverschämte Lachen ihres Mannes. Sollte er ausnahmsweise die Gnade haben?“ -- Es war, als lege sich plötzlich über die strengen, steifen Formen der schweren Möbel ein warmer Glanz. Die alten Nippes in der Servante begannen leise und vergnügt zu klirren. Im Nebenzimmer streckte sich der rotbemützte Kopf des grüngefiederten Papageis blitzschnell empor. Das ehrwürdige Zimmer war erfüllt von dem Schmelz der weichen Männerstimme. „Darf ich ebenfalls um eine Tasse Ihres unvergleichlich guten Tees bitten, verehrte Schwiegermama?“ Gedankenlos duldete Frau Eßling seinen Handkuß. Ihre Augen blieben dabei gespannt auf die Tochter gerichtet. „Du siehst erschreckend blaß aus, Kind. Wie hast du geschlafen?“ „Ausgezeichnet, Mama.“ „Das glaube ich dir nicht! Zeige deine Hände. Natürlich -- sie sind ganz kalt. Hast du gefroren? Warte einen Augenblick, ich werde sofort an Franz telephonieren. Es ist bestimmt zu kühl bei Euch. Darum habe ich ja am Vorraum der Diele die kleinen Oefen aufstellen lassen, damit sie angemacht werden, wenn die Zentralheizung noch nicht geht.“ „Laß doch, Mama,“ wehrte Elfriede gequält und suchte ängstlich den Blick ihres Mannes. „Die Sonne wärmt noch ganz wundervoll.“ Aber die Kommerzienrätin ließ sich nicht zurückhalten. Sie hatte schon den Hörer in der Hand, um dem alten Diener die nötigen Befehle zu erteilen. Paul Karlsen saß mit einem rätselhaften Lächeln dabei. Er begehrte nicht auf, schlug nicht etwa mit der Hand zwischen die zerbrechlichen Kostbarkeiten, in denen der goldgelbe Tee deutlich schimmerte. Sondern er nickte seiner Frau beruhigend zu. „Mama hat ganz recht. Ich habe es mir heute auch schon gedacht.“ Trotz dieser ungewohnten Fügsamkeit fand seine Gegenwart durch die Kommerzienrätin nicht viel Beachtung. Ueber ihn fort sprach sie unaufhörlich zu ihrer Tochter herüber, als befinde sich zu ihrer Linken ein leerer Platz. „Du wirst übrigens ein oder mehrere Tage bei mir bleiben, Elfriedchen. Ich muß endlich wissen, ob du abends erhöhte Temperatur hast. Widersprich nicht. Ich erlaube auf keinen Fall, daß du heute Abend in dein leider etwas feuchtes Heim zurückkehrst.“ Da ließ sich Karlsens unwiderstehlich frohes Lachen hören. Aber es riß die andern durchaus nicht zu der gleichen Fröhlichkeit hin. Seine Frau sah scheu zu ihrer Mutter herüber. „Verehrte Schwiegermama, Sie scheinen vergessen zu haben, daß nur ein einziger über das Gehen und Verweilen von Elfriede zu bestimmen hat. Dieser Eine bin ich, mit Respekt zu melden.“ Diesmal ahnte sie nicht, daß er Komödie spielte. Sein Ton war sehr ernst geworden. Sein junges, bartloses Gesicht wirkte fast streng. Den lächelnden Blick des Einverständnisses, den er mit Elfriede tauschte, bemerkte sie nicht. Ihre angeborene Heftigkeit -- niemals ernsthaft von ihr bekämpft -- brach sich Bahn. „Das bliebe abzuwarten, Herr Schwiegersohn,“ sagte sie in scharf zurechtweisendem Ton. „Sind Sie etwa hierher gekommen, um mich aufzuregen?“ „Ich wüßte nicht, daß ich diesem vielleicht erstrebenswerten und daher löblichen Vorsatz schon jemals freie Entwicklung gegönnt hätte.“ „Lassen Sie doch die Phrasen, Karlsen. Bei mir wirken sie nicht.“ „Diese Bitte gebe ich gehorsamst zurück, Schwiegermama. Kurz: Elfchen wird mich nach Hause begleiten. Nicht wahr, Schatz?“ Ein schelmischer Ausdruck huschte über das Gesicht der jungen Frau, und ließ es sehr anziehend erscheinen. Sie war glücklich wie ein Kind, daß sie im Einverständnis mit ihrem Mann dies unschuldige kleine Geheimnis haben durfte. Ohne zu zögern, antwortete sie: „Ja -- das werde ich bestimmt tun, Mama. Du hast doch gehört, daß Paul es ausdrücklich wünscht.“ Da richtete sich die Kommerzienrätin steif empor und fragte kurz und empört zu der Konsulin gewandt: „Was sagen Sie dazu? -- Vor Ihnen, die Sie Elfriede über die Taufe gehalten und allzeit wie ein eigenes Kind geliebt haben, brauche ich mich nicht zu genieren.“ Frau Enck war wegen der richtigen Antwort in tödlicher Verlegenheit. Einerseits schätzte sie gleichfalls diesen jungen Menschen nicht allzu sehr, weil sie in seiner Gegenwart beständig das Gefühl hatte, als langweile er sich sträflich. Daneben aber stand ihm in dieser Sache ihr Hang zur Gerechtigkeit bei. „Beschlafen Sie sich alles noch mal gründlich,“ versuchte sie zu besänftigen. Aber es mißlang ihr gründlich. Frau Eßling wurde erregter und daher auch in ihren Worten heftig. Sie erhob sich, trat nahe an den Schwiegersohn heran und sagte drohend: „Sie hören, ich wünsche und befehle es. Und nichts wird mich andern Sinnes machen können.“ Nun war auch Paul Karlsen aufgestanden. Seine schlanke, elegante Gestalt überragte die rundliche der Kommerzienrätin um Haupteslänge. „Verehrte Schwiegermama, vorerst eine kleine bescheidene Berichtigung. Ihre kühn aufgestellten Behauptungen sind wirklich falsch. Der männliche Teil in der Ehe hat auch heute noch das Recht -- genau wie zu jener Zeit Ihrer Jugend -- den Aufenthalt seiner Gattin zu bestimmen, sofern er sich dies Recht nicht durch grobe Pflichtverletzungen verwirkt hat. Davon weiß ich mich frei. -- Ich würde Ihnen ja herzlich gern einen Gefallen tun. Mir selbst aber Opfer auferlegen -- nee -- wissen Sie, dazu fühle ich mich nicht stark genug.“ Es klang so überaus ehrlich, daß sogar seine Frau einen Augenblick stutzte. An dem hilflosen Blick, den sie ihm zuwarf, merkte er, daß er nicht weitergehen, nicht in dieser Rolle übertreiben dürfe. Er schwieg also vorsichtig und wartete die nächste Erwiderung ab. Sie blieb lange aus. Dann aber klang die vordem herrische Frauenstimme plötzlich um vieles leiser. Fast bittend. „Es soll sich nur um eine kurze Zeit handeln, Karlsen. Sagen wir -- um drei bis vier Tage! Wirklich nicht länger.“ Er machte den Eindruck eines Menschen, der aufmerksam eine unliebsame Angelegenheit in Erwägung zieht. Daß er nicht sogleich antwortete, sondern -- wie um Beherrschung ringend -- mit gesenktem Blick auf seine wohlgepflegten, schöngeformten Hände herabsah, gefiel der Konsulin ausnehmend gut. Dann meinte er bitter: „Ich habe Ihre Neigung nicht, Schwiegermama. Das weiß ich natürlich und hätte mich gehütet auch nur ein Wort darüber zu verlieren, wenn diese Sache nicht gekommen wäre. Jetzt lassen Sie mich darüber sprechen. Glauben Sie, es wirkt erziehlich und macht edler, was Sie doch beabsichtigen, wenn Sie mich dauernd Ihre Abneigung fühlen lassen? O nein -- aber Verbitterung und Trotz können sehr wohl daraus entstehen. Bedenken Sie die Folgen, die wiederum das haben kann. -- Nicht so schnell. Nein, meine Liebe zu Elfriede läßt mich eine ganze Menge geduldig ertragen. Aber -- letzten Endes ist man doch nur ein schwacher Mensch. Und ich bin und bleibe noch dazu ein Komödiant. Einer, der gern Theater spielt, blendet, täuscht, nicht wahr -- so schätzen Sie mich doch ein?“ Die Kommerzienrätin sah ihn unsicher an. „Sie sind zu ehrlich, um mir zu widersprechen, Frau Schwiegermama und ich, nun ja, ich war bis heute zu unehrlich, um gerade heraus zu sagen, daß ich mich tausendmal wohler in einer kleinen, bescheidenen Mietswohnung mit einem Mädchen für Alles fühlen würde. Der von Ihnen errichtete Tempel, in dem nicht mal die Sonne gern weilt, ist mir viel zu unbehaglich. Der alte Leisetreter von Diener stört mich. Nicht, wie Sie triumphierend meinen mögen, weil ich seine Späheraugen fürchte, sondern nur, weil mir dies Gesicht in seiner Maskenhaftigkeit zuwider ist. Und wenn es nach mir ginge, machte ich Ihnen eine tiefe Verbeugung und schlüpfte mit meinem lieben Schatz irgendwo -- meinetwegen im hohen Norden Berlins -- unter. Aber sehen Sie, das durchzubiegen bringe ich nicht übers Herz. Nicht Elfchens wegen. Denn schließlich bin ich ihrer Gegenliebe sicher. Ich habe aber ebenfalls eine Mutter gehabt, Frau Kommerzienrat, und wenn die auch nur eine schlichte, bescheidene Frau gewesen ist -- sie war ebenso stolz auf mich und hing mit genau derselben Liebe an mir, wie Sie jetzt an Ihrer Tochter. Und nur darum, das betone ich ausdrücklich -- gebe ich meine Erlaubnis zu dem vorübergehenden Verweilen meiner Frau unter Ihrem Dach. Erinnern Sie sich gefälligst. Als wir beide uns neulich zufällig trafen, nahmen Sie nicht Elfriedes bleiches Aussehen, an dem ich vielleicht schuldig sein könnte, zum Vorwand für diesen Besuch, sondern Sie versuchten mich durch ihre eigene Kränklichkeit zu rühren. -- Der Komödiant -- in mir sagt leise: „Sieh an, sie kanns fast noch besser wie du.“ Der Mann, je nun, dem war der krumme Weg just nicht angenehm. -- Aber diesen Mann haben Sie sich ja bisher niemals die Mühe genommen, kennen zu lernen. Einen Augenblick -- ich komme gleich zu Ende. -- Elfriede mag getrost bei Ihnen bleiben, solange sie will. Mich aber müssen Sie jetzt entschuldigen. Wie Sie mich einschätzen, werde ich unverzüglich meine vorübergehende Freiheit gehörig ausnutzen wollen. Also -- nicht wahr, Sie haben nichts gegen mein Verschwinden. Im übrigen hoffe ich, daß der edle Stratege Franz während Elfriedes Abwesenheit brav und zuverlässig seine Pflicht als Geheimpolizist erfüllt --“ Die Kommerzienrätin rang um ein gutes oder wenigstens versöhnliches Wort, denn die Schlichtheit des Gesagten hatte mehr Eindruck auf sie gemacht, als sie sich eingestehen mochte. Ihre starre Natur suchte vergeblich danach. Und die Hand, die sie ihm entgegenhielt, übersah er. Nur seine Frau nahm er in die Arme und küßte sie herzhaft auf den Mund. „Wiedersehen, Kleines! Ich schicke dir am besten sogleich deine Zofe rüber. Erbarme dich und nimm sie, ja? Was soll ich mit all den Wachsfiguren.“ Sie schmiegte sich zärtlich an ihn und flüsterte: „Paulchen -- mir ist ganz wirr. -- Lange halte ich die Trennung von dir doch wohl nicht aus.“ Und er gab ebenso zurück: „Mein kleiner, tapferer Kamerad, das ist auch gar nicht beabsichtigt.“ Als er wenig später heimging, lachte er leichtsinnig auf. Er hatte sich wieder mal auf der ganzen Linie nach ungeteiltem Beifall einen glanzvollen Abgang verschafft. Wann wäre ihm auch jemals ein Kampf, den er ernsthaft zu gewinnen trachtete, nicht zum Siege ausgeschlagen? -- Mit wachsender Ungeduld sehnte er die Stunde herbei, die ihm ein ungestörtes Beisammensein mit der zur Zeit von ihm am meisten bewunderten Frau schenken sollte. [Illustration] [Illustration] 6. Eva von Ostried lief wie einst als Kind, wenn der große Hofhund ihr hart auf den Fersen war, und trotz der wärmenden Sonne fror sie. An der großen Brücke, über welche die Wagen mit dem dumpfen Geräusch einer riesenhaften Trommel dahinrollten, saß ein Bettler mit einer Drehorgel. Die Töne ließen sie auflauschen. Auf ihrem Wege stand eine alte Frau und rief ihre Zeitungen aus. Mechanisch kaufte sie. Vielleicht fand sich schnell eine Unterkunft. Irgendwo. Sie schüttelte sich. Aus der Tiefe ihrer Seele stieg ein Vorwurf empor. „Ich hätte diesen Karlsen gar nicht anhören dürfen, nach dem, was er mir angetan hatte.“ Dann lächelte sie. Die Freude, ihm den sicher erwarteten Triumph zu zerstören, tat ihr wohl. Auf dem Flur daheim stand die alte Pauline und hielt eifrig Ausschau nach ihr. „Wo bleiben Sie bloß, Fräuleinchen? Waren Sie draußen bei unserer Frau Präsident?“ Die Alte hatte rotgeweinte Augen. „Bei unserer Frau Präsident? Nein, da war ich nicht.“ Es klang bitter. „Kommen Sie schnell. Sie müssen ja halb verhungert sein.“ „Daran muß ich mich jetzt gewöhnen, Pauline.“ „Daß Sie damit spaßen können. Wenn Sie mich so reich bedacht hat, wie wird sie da erst für Sie gesorgt haben.“ „Glauben Sie das wirklich immer noch? Ich habe kaum zur Hälfte verdient, was ich von ihr bezog. Müßte eigentlich noch brav herauszahlen.“ Das treue Mädchen begriff nichts. Sie merkte nur, daß die junge Gestalt vor Erschöpfung schwankte und führte sie sanft in das helle Stübchen, das unordentlich und zerwühlt aussah. „Jetzt legen Sie sich still nieder. Ich hole Ihnen einen Teller voll kräftiger Suppe. Und nachher bereden wir alles. Ich habe mir was Feines ausgedacht. Sie werden nun doch wohl ganz und gar Musikant werden wollen. Denn unsere Frau Präsident hat immer gesagt, daß es jetzt bald damit losginge. -- Ich könnte mich ja aufs Altenteil setzen. Aber das verstehe ich nicht recht. Ich zieh’ lieber zu Ihnen, Fräuleinchen. Das Haus hier, hat Herr Justizrat gesagt, wird verkauft. Solange dürfen wir beide noch darin bleiben.“ „Ich nicht,“ sagte Eva mit zuckenden Lippen, „ich habe hier nichts mehr zu suchen.“ „Sie sind doch wie ihr eigenes Kind gewesen. Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. -- Darum kann ich Sie auch nicht allein lassen. Sie sind mir eine Art Vermächtnis. Ich putze Ihnen die kleine Wohnung und koche und mache alles, wie Sie es nun längst gewöhnt sind. Genug Möbel -- darunter den schönen feinen Flügel für Sie habe ich mir schon ausgesucht. Sie sollens genau wie bis jetzt kriegen. Dann ist es, als wäre sie noch bei uns. Und ich schlafe weiter in meinem Eisernen.“ „Gute Pauline -- ich werde kaum eine eigene Wohnung brauchen. Ich nehme ebenfalls in Zukunft willig mit einem eisernen Bette fürlieb.“ „Ich bin ein einfältiger, alter Mensch und will nicht aufdringlich sein. Aber wenn Sie mir das erklären möchten, Fräuleinchen.“ „Erklären? Was denn? Es ist ja alles in bester Ordnung! Sie ist tot und ich muß sehen, wie ich möglichst schnell zu einer neuen Stelle komme. Sie meinen, daß ich plötzlich reich geworden wäre durch sie? Wie käme ich wohl dazu? Das wäre ja mehr als seltsam.“ Sie schluchzte auf und war doch der Ueberzeugung, daß sie lache. „Versteh’ ich endlich recht? Sie wären nicht von unserer guten Frau Präsident bedacht, Fräuleinchen?“ „Dazu war sie nicht verpflichtet, Pauline. Ich habe mehr von ihr erhalten, als ich jemals verdient habe.“ „Fräuleinchen, sie hätte nicht sterben können, wenn Sie unversorgt zurückgeblieben wären. Mag einer reden, was er will. Sagen, daß der Tod sie überrumpelt hätte. Ich weiß es besser. Da muß sich noch was vorfinden, sage ich.“ „Es ist nichts da, Pauline. Verlassen Sie sich drauf.“ „Lieber guter Gott! Nun sollen Sie hier raus? Ganz nackt und blos? und ich und die andern haben so viel!“ „Das ist nur gerecht. Sie haben sich’s verdient! --“ „Das ist Unsinn! Wir beide ziehen zusammen, wie ich schon gesagt habe. Denken Sie doch, ich soll einhundertfünfzig Mark im Monat verleben. Wie mache ich das? Ich spars doch bloß wieder zusammen und das hätte keinen Sinn und Verstand. Denn ich habe keinen auf der Welt und es würde wieder eine neue Stiftung draus. Nein, ich sorge für Sie. Und nachher, wenn Sie erst richtig ausgelernt haben und es drückt sie, geben Sie mir alles wieder. Ja? Wollen wir es so machen?“ Wer hohnlachte da? Eva von Ostried fuhr erschrocken empor. Sie hatte deutlich ein heiseres Lachen gehört. „Ach -- Pauline, ich habe nur gescherzt. Ich bin ja selbst reich. Mein früherer Vormund hat am Tage meiner Volljährigkeit der Frau Präsident in meiner Abwesenheit das Muttererbe gebracht. Gleich nachher will ich’s auf die Bank tragen. Denn es ist immer noch hier im Haus.“ Das alte Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist wahrhaftig ein verkehrter Stolz, Fräuleinchen. Damit tun Sie mir sehr weh. Sie haben nichts! Sie konnten ja früher mit mir drüber spaßen. Ehe ich’s also nicht mit meinen eigenen Augen gesehen habe, glaube ich Ihnen das nicht!“ Eva von Ostried stand plötzlich vor der alten Pauline. Sie war verändert. Ihr noch soeben farbloses Gesicht glühte, als habe sie Fieber. Krampfhaft suchte sie nach ihrer kleinen, schwarzen Handtasche. „Um Gottes willen, wo ist sie geblieben? Ich habe sie doch noch soeben gehabt?“ „Da liegt sie ja, Fräuleinchen. Ganz sicher!“ Die schlanken Hände rissen den festen Bügel ungestüm auf, tasteten unter den Papieren herum und brachten einen dicken Umschlag ans Licht. „Schauen Sie nur -- wie viel Geld.“ Das alte Mädchen staunte. „Wirklich!“ machte sie unsicher. „Und nun seien Sie mir nicht böse, wenn ich nichts essen mag, Pauline. Nur schlafen muß ich. Nachher will ich gleich wieder fort. -- Meine Sachen sollen doch bald abgeholt werden. Und fertig packen muß ich auch noch.“ -- Dann war sie allein! -- Und das Geld, das der alte Tabaksbauer kurz vor der Abreise der Präsidentin zurückgezahlt hatte, war immer noch in ihrem Besitz. Die Wucht der schweren Ereignisse, die seither über sie hereingebrochen, löschten die Erinnerung daran bis zu dieser Stunde aus. Jetzt aber wollte sie sogleich den Justizrat Weißgerber anklingeln und ihm davon Mitteilung machen. -- Sein Büro war bereits geschlossen. Er selbst befand sich zur Zeit, wie ihr am Apparat mitgeteilt wurde, auf einer kleinen beruflichen Reise, von welcher er erst spät Abends zurückerwartet wurde. Nun mußte sie es bis zum nächsten Tage aufschieben. Mit keinem Gedanken hatte sie in der Zeit der jagenden Aufregungen des ihr anvertrauten Schatzes gedacht. Die Vorstellung, daß er in dem Wirrwarr sehr leicht abhanden hätte kommen können, erfüllte sie nachträglich mit eisigem Schrecken. Vielleicht hatte die Vorsehung es beabsichtigt. Es war jedenfalls gut gewesen, daß sie das Geld der alten Pauline vorzeigen konnte. Nun brauchte sie kein Bettelbrot zu essen. Denn sie hatte dumpf gefühlt, daß sie sonst dem heftigen Drängen nachgegeben haben würde. Das Gefühl der Mattigkeit war geschwunden. Sie suchte wieder ihre Habseligkeiten zusammen. Ihre Hände zitterten nicht mehr. Sie war ganz ruhig geworden. Einmal ging sie zum Nachttisch, auf dem die frischgefüllte Wasserflasche stand. Wie durstig sie war und wie gut der billige Trunk mundete. Dann schaffte sie weiter. Die Sonne warf eine Hand voll Strahlen durch das Fenster auf die kleine Handtasche und hob sie empor wie auf einem goldenen Brett. Eva von Ostried nickte herüber, als grüße sie etwas. Das viele -- viele Geld! Wenn es ihr Eigen wäre, käme alle Not zu Ende. Was könnte es alles schenken? Ein Bett, in dem sie ausruhen konnte, solange es ihr gefiel. Einen Tisch mit einer Lampe darauf, die leuchten durfte -- auch zu dem Flügel hin, den sie sich davon erstehen würde. Der Flügel, an dem sie sitzen und sich ihres Lebens Glück ersingen konnte. Sie schauerte zusammen. Wie war es möglich, daß sie überhaupt dieser Vorstellung Raum gab. Fremdes Geld? Anvertrautes Gut! Was ging es sie an? Mochten sich die verschiedenen überreich bedachten Stiftungen darin teilen. Mechanisch häufte sie, was ihr gehörte, weiter zusammen. Wohin nun aber mit all diesem Tand? Ihr Blick fiel auf die an der Brücke gekauften Tageszeitungen. Sie vertiefte sich in die Menge feingedruckter Anzeigen. An der einen blieben ihre Blicke haften und kehrten dorthin zurück: Suche sofort aus bester Familie für meine Tochter gebildete Gesellschafterin. Ernste Lebensauffassung, fester Charakter neben guten Zeugnissen Bedingung. Vorstellung jederzeit. Auch abends bis 10 Uhr bei Frau Eßling, Eisenacherstr. 10, Grunewald-Berlin. Also ganz nahe. Mit einer spitzen Schere schnitt sie sorgfältig die Reihen aus. Sobald sie hier fertig war, wollte sie sich vorstellen. Sie legte das schmucklos schwarze Kleid an, in dem sie ihren Vater betrauert hatte. Den wertvollen Spitzenkragen, ein Geschenk der Präsidentin, zerrte sie so heftig herunter, das die spinnwebenfeinen Sternchen zerrissen. Zu diesem Gange durfte sie sich nicht schmücken. Als Gesellschafterin einer sicherlich jungen Tochter mußte sie häßlich, unscheinbar und wesenlos sein. Der Spiegel gab ihr Bild in seiner vollen Schönheit wieder. Die Kämpfe, die rückwärts lagen, quälten sie von neuem. Die unverdiente Eifersucht ihrer früheren Herrinnen -- der Neid der Dienstboten wegen ihrer Sonderstellung im Hause, der eigene, lodernde Zorn, stumm die tiefe Einschätzung zu ertragen und nicht zuletzt die Angst, daß sie eines Tages aus Groll, Einsamkeit und Lebensdurst -- verdient wäre. Und nie -- nie mehr die geliebte Kunst? Daran hatte sie überhaupt nicht denken wollen. Das zerbrach ihre Kraft. Nun lag sie wieder matt und frierend da und konnte nichts denken. Dumpf fühlte sie, daß dies mehr als ein Grauen vor dem nahen Wege nach dem Golgatha zur Pflicht war. Ein Lebensabschied; der Tod aller Wünsche und Freuden! Diese zu erwartende Not jagte ihr eine fiebernde Gier durch das Blut. Ein paar tausend Mark nur. Denn jene kleine eroberte Summe würde kaum für die notdürftigsten Anschaffungen genügen. Freilich verwahrte Amtsrat Wullenweber noch einige Möbelstücke aus mütterlichem Besitz für sie. Wo aber war der Raum, der sie bergen konnte? Das Leben war unerhört teuer. Wiederum nach wenigen Schritten stehen zu bleiben und rückwärts zu müssen. Nur das nicht abermals! Jenes vorübergehend von ihr vergessene Geld, dessen Vorhandensein niemand ahnte -- denn die Präsidentin hatte ihr das Nähere erzählt -- wäre übergenug, um sie glücklich zu machen. Aber ein Gefühl des Ekels über sich selbst stieg ihr in die Kehle. Wie tief sie gesunken war, daß solche Gedanken kommen konnten. Sie schloß die Tasche in den Schreibtisch ein und suchte eine andere hervor. Dabei sah sie einen Zettel, den die Präsidentin an eine der zahlreichen Geburtstagsgaben geheftet hatte. „Meinem Sorgen- und Glückskinde!“ Sie sah auch das gütige, feine Gesicht deutlich vor sich und hörte die Worte, mit denen sie in Oeynhausen ihre Zukunft erleuchtet und festgelegt hatte. Kam nicht das Versprechen solcher Frau bereits der vollzogenen Handlung gleich. Hatte sich die unabänderliche Tat der Schenkung nicht schon damals vollzogen? -- Wen träfe das Verschwinden dieses Geldes? -- Es wäre ja gar kein Raub. Aber was wäre es denn? -- Aber eine Mahnung ward ihr im Innern: Eine zerlumpte Zigeunerin hatte einst auf dem väterlichen Majorat der Mamsell aus deren Schlafkammer den unechten Sonntagsring entwendet. Die Knechte liefen ihr mit Wagenrungen und Heugabeln nach, weil es gleich zu Tage kam, griffen sie und spien nach ihr, denn zum Schlagen war sie ihnen zu schlecht gewesen. Die kleine Eva hatte das alles mitangesehen und ebenfalls versucht das flinke, rote Zünglein zu recken, um nicht hinter den Erwachsenen zurückzustehen. Jener Ring! Ach -- das war etwas ganz anderes. Er hatte eine Besitzerin gehabt, die ein armes Mädchen gewesen und sich nur mühsam so etwas leisten konnte. Dies Geld aber -- -- Sie lag plötzlich auf den Knien und rang die Hände. Ihr Hirn war leer. Im Herzen -- am Halse -- in den Fingerspitzen jagte eine entsetzliche Angst. Ein Name klang gellend -- in Todesfurcht herausgeschrien -- durch das Zimmer. „Mutter -- Mutter -- hilf mir doch!“ Auf dem stillen, süßen, scheuen Frauenantlitz, das aus vergoldetem Rahmen auf die verlassene Tochter herabsah, lag der Schatten des scheidenden Tages und ließ es noch leidvoller erscheinen! Kein Rettungsanker hielt stand. Nirgends war eine Stätte der Zuflucht für sie bereitet. Die roten Türme des Waldesruher Heimatschlosses würden zwar noch erhaben über alles andere hinwegsehen und die Gräber der Eltern gehörten ihr nach wie vor. Ein verwitweter Vetter gleichen Namens saß jetzt als Erbberechtigter auf dem alten Majorat und mochte den Zufall segnen, der dem tollen Ostried einen Sohn versagte. Vielleicht bei ihm untertauchen -- wenn auch nur für kurze Zeit? -- Aufnahme würde sie finden. In der Familienchronik war der jeweilige Besitzer ausdrücklich angewiesen, jeden bedürftigen und würdigen weiblichen Nachkommen eines Vorgängers für mindestens sechs Monate unentgeltlich im Schlosse zu beherbergen. Der bloße Gedanke daran peinigte sie aber schon! Stellte sie nicht in Wahrheit die Bettelprinzeß dar, wie ihr das einst ein Trunkener höhnend nachgerufen hatte? Keine andere Macht, meinte sie, käme der des Geldes gleich. Das Blut des Vaters kreiste in diesen Augenblicken wild durch ihre Adern, sie wollte gefeiert und verwöhnt werden. Es war undenkbar, daß sie untertauchte, um im Dunkel ewiger Entbehrungen zu verkommen. Ein harter Trotz kam über sie. Sie war sich der Macht, die sie auf Paul Karlsen ausübte, voll bewußt. Und er war doch reich geworden, wie aus jedem seiner Worte hervorging. Sie riß das schlichte Kleid herunter und suchte eins aus weicher, fließender Seide hervor. Wie eine Braut geschmückt wollte sie zu ihm gehen und wie eine Königin Gnaden spenden. Und dann lag sie doch wieder mit dem Gesicht auf der blanken Platte des Mahagonitisches und grub in Scham und Not die Zähne tief in das Gewebe der seidenen Zierdecke. „Nie -- nie -- nie kann ich das tun!“ Wenn er sie aber zu seinem Weibe begehrte? Und was konnte er anders mit dem heimlichen Werben in jedem Blicke gemeint haben? Paul Karlsens Frau, die Genossin des Künstlers, die treue Kameradin eines gleich ihr Emporstrebenden? Warum schüttelte sie sich plötzlich? Das Blut der Mutter kam nun auch zu seinem Recht. -- Ohne Liebe sich verkaufen -- das war noch härter wie die Fron des Alltags. Auch nicht um der Kunst willen? Sie fühlte, daß es ihr ans Leben gehen wollte. Wenn sie vor jedem entscheidenden Schritt erst zu Ralf Kurtzig, dem alten Meister, gehen würde? Vielleicht wußte er ihr einen Gönner, der aus Freude an ihrem Talent freigebig war. Vielleicht riet er ihr aber auch, daß sie lieber hungern und verzichten solle, als ihre Kunst aufzugeben. Ja -- es war sogar sicher, daß er diesen Rat erteilte. -- Befolgen hätte sie ihn nicht können. Nach dem Tode ihres ersten Gönners hatte sie damit einen kurzen Versuch gemacht. -- Die alte Pauline klopfte leise und trug ein vollbesetztes Tablett herein. „Jetzt müssen Sie etwas genießen, Fräuleinchen.“ Eva von Ostried wollte fest bleiben. Es gehörte ja alles der Frau, die wohl doch im letzten Augenblick ihr feierliches Versprechen bereut hatte. Aber das Hungergefühl schmerzte beim Anblick der guten Sachen. Sie überlegte nicht länger. Erst, als sie völlig gesättigt war, verachtete sie sich deswegen. Jäh packte sie die Angst, daß sie sich letzten Endes auch zu dem andern zwingen lassen könnte. Stumpf legte sie das kostbare Kleid wieder ab und schlüpfte in das schmucklose Trauerfähnchen. Dann ging sie langsam den Weg, der zur Eisenacherstraße führte. Irgendwo auf dem Wege dorthin zu ihrer Linken lag ein weinumwachsenes Haus. Der goldgelbe Kies war stumpf und bleich geworden, weil ihn die Sonne nicht mehr beschien. Es war eben acht Uhr. Sie wußte die Zeit nicht. Mit schleppenden Schritten ging sie an dem Hause im Schatten vorüber. Ein paar volle Akkorde schlugen von dem tönenden Reichtum drinnen, an ihr Ohr. Sie wollte nichts hören. Eine Stimme erhob sich: Geschmolzen ist der Winter Schnee Ganz stumm und still verfalln dem Grabe.. Ein Krampf schüttelte sie. Nur nicht stehen bleiben. Weiter. -- Aber sie ging doch nicht. An das kunstvoll gehämmerte Gitter gelehnt, lauschte sie gierig. Herr Tristan hob vom heißen Pfühle Sein mattes Haupt und sprach -- -- -- Nicht länger trage ich die Scham, So bloß zu stehn mit meinem Gram.... Der Gesang schwieg. Ein Fenster schlug auf. Sie stand wie verzaubert. Ueber den blassen Kies knirschten die Schritte eines Mannes. „Kleine Mignon!“ Sie fühlte sich an die Hand genommen und in das Haus gezogen. „Ich will nicht! Ich will nicht!“ stammelte sie. Leise lachte er auf. „Sie hat’s nicht erwarten können,“ dachte er und fand sie schöner und begehrenswerter als je in dem klösterlich strengen Gewande. -- Paul Karlsens schneller Entschluß, sie in das Musikzimmer und nicht, wie er das ursprünglich beabsichtigt, in sein Herrenzimmer zu führen, erwies sich als sehr klug. Die Bildnisse der Meister edler Tonkunst, die von den Wänden herab grüßten, wirkten beruhigend und anheimelnd auf Eva von Ostrieds Fassungslosigkeit. Sie empfand plötzlich ihre Anwesenheit hier nicht mit quälendem Vorwurf. Es blieb ungewöhnlich. Jedoch auch nichts weiter. Paul Karlsen neigte sich mit ritterlicher Besorgnis zu ihr herab. „Ist es Ihnen auch zu feierlich bei mir, Fräulein von Ostried?“ Sie hob den Blick frei zu dem seinen. „Hier weht Heimatsluft, Herr Karlsen. Uebrigens -- war ich nicht auf dem Wege zu Ihnen.“ „Ah,“ machte er. Sie errötete, weil sie fühlte, daß er ihr nicht glaubte. Sollte sie ihm von ihrem eigentlichen Vorhaben, dessen Ausführung sein Gesang nur verzögert haben würde, erzählen? Sie brachte es nicht über die Lippen. Einen Augenblick saßen sie sich schweigend gegenüber. Dann sagte sie, in ehrlicher Bewunderung umherschauend: „Wie wunderschön Sie es haben, Herr Karlsen! Die Goldader, von der Sie sagten, muß wirklich ergiebig sein.“ Er nickte zufrieden. „Unerschöpflich fließt sie sogar. Wir haben einen Diener, eine Köchin und noch mehrere beigeordnete Untertanen im Hades der Küche, die ich freilich noch nicht zu Gesicht bekommen habe.“ Er zählte es mit der Wichtigkeit und dem Stolz eines fröhlichen Jungen her, der sich sehr wohl in den neuen, glanzvollen Verhältnissen fühlt. Eva von Ostried war nicht neugierig. Sie hätte aber dennoch gar zu gern gewußt, wie ein Schicksalsgenosse, von dessen Schulden man sich in Oeynhausen Wunderdinge erzählte, plötzlich zu diesen Märchendingen gekommen war. Er hatte das vorausgesehen und sich bereits auf dem Heimgang von seiner Schwiegermutter eine durchaus glaubhafte Erklärung zurechtgelegt. „Es war ein Onkel von Thule,“ summte er Desdemonas zitterndes Lied vom König. „Und dieser alte Herr mit Druckknöpfen von Eisen und Feuer an der gewichtigen Geldkatze besaß einen Neffen. Einen Nichtnutz natürlich, der totsicher vor die Hunde gehen würde. Dieser Schlingel bildete sich felsenfest ein, eine Stimme zu haben, die anders wäre, wie die des Onkels von Thule. Frechheit, nicht wahr? -- Er glaubte weiter, daß die Dummen in absehbarer Zeit mal ihr Geld ausgeben würden, um sie hören zu dürfen. Man bedenke -- der Onkel aus Thule war in seinem Leben niemals in eine Oper gegangen. Und besagter Neffe hätte in seinem Tabak- und Kaffeeexportgeschäft wundervoll unterkommen können. -- In Hamburg. Er bot es ihm sogar schriftlich an. Der Bengel antwortete überhaupt nicht darauf, trotzdem eine Freimarke beilag. Er pumpte ihn aber auch nicht an. Lieber ganz Fremde, die sich wirklich überraschend leicht finden ließen. -- Und der Onkel von Thule kam -- zwar nicht zum Sterben, wohl aber nach Oeynhausen, denn er war immer ein kleiner Schlemmer gewesen und nun lag sein Herz im Fett. Und er gab auch nicht seiner geehrten Buhle den bekannten güldenen Becher, sondern seinem Nichtsnutz von Neffen einen Wink, damit er sich mal zu ihm ins Hotel begeben möchte. -- Daß er ihn zuvor ein paar mal aus sträflicher Langeweile, von einem leidenden, zufällig hochmusikalischen Geschäftsfreund verführt, in allen damals gegebenen Opern gehört hatte, nur nebenbei. Jeder, der einen stumpfsinnigen Badeaufenthalt von mehreren Wochen durchgemacht hat, wird ihm diese Entgleisung vergeben. -- Also -- der Bengel erschien und nun machte sich das weitere ganz von selbst. -- Wir sind nach Berlin übergesiedelt, denn die Exportgeschichte in Hamburg hatte genug für uns abgeworfen und -- na ja -- da wären wir nun.“ Keinen Augenblick zweifelte sie an der Richtigkeit seiner Erzählung. „Wie schön ist es, daß sich Ihr Talent voll entfalten kann,“ sagte sie und kämpfte gegen allen Neid. „Das hätte es auch ohne den Onkel fertig gebracht. Wie können Sie das von einem -- nun nennen wir es getrost Zufall, abhängig machen! Schwerer wäre es freilich gewesen und länger würde es mit dem Aufstieg vielleicht gedauert haben. Auf die Spitze wäre ich doch gekommen.“ „Das ist Manneskraft.“ Es klang wie eine Klage. „Nein, das ist die gesunde Erkenntnis des eigenen Könnens,“ widersprach er, „die sollte Jedes haben, das sich seine Begabung nicht lediglich einbildet. Sie also auch, Fräulein von Ostried.“ „Ich habe es mir anders überlegt. Ich will nicht weiter.“ „Was wollen Sie nicht, bitte? -- Nicht mehr singen? Einfach abschwenken? Gehen Sie doch! Jetzt wären wir endlich bei unserm eigentlichen Thema angelangt. -- Nachdem Sie sich umgesehen und meine Geschichte vernommen haben, werden Sie auch glauben, daß mir die Gelder nicht mehr knapp sind.“ „Was geht das mich an?“ fragte sie brüsk und machte Miene, sich zu erheben. „Ich will jetzt gehen. Ihr Herr Onkel wird Sie nicht länger entbehren mögen.“ „Mein Herr Onkel ist bei seinen Whistbrüdern,“ lachte er leise. „Von denen macht er sich bestimmt nicht vor Mitternacht los. Denn -- eine Frau haben wir nicht mehr. Die ist lange, lange tot. -- Nur der alte Franz paßt derweilen auf, damit ich keine Dummheiten mache. Denn der Onkel von Thule macht sie lieber noch selber. Wundern Sie sich also nachher etwa in ein paar Stunden nicht, wenn er plötzlich stocksteif -- stockdämlich irgendwo herumsteht. Sonst habe ich es aber wirklich in jeder Beziehung ausgezeichnet. Kann sozusagen tun und lassen, was ich will. Die Geldkatze steht unverschlossen zu meiner Verfügung. Dazu ist mein fester Monatswechsel blendend.“ „Wozu sagt er mir das alles?“ dachte Eva von Ostried und ihr Herzschlag drohte in einer erstickenden Angst auszusetzen. „Er will doch nicht etwa selbst --?“ Das Gefühl des Widerwillens, stärker noch als dasjenige der Empörung und des Zornes über die unerhörte Kühnheit, mit der er sie damals beleidigt hatte, regte sich wieder. Sie begriff nicht mehr, daß sie ihm willenlos hierher folgen konnte, nach diesem Erlebnis. Ihr Gesicht war sehr bleich geworden. Ihre Augen irrten mit einem flackernden Blick umher, als sie sich jetzt erhob. „Wie mich das für Sie freut! Lassen Sie sich’s weiter wohl sein, Herr Karlsen.“ Jedes Wort mußte sie erkämpfen. „Und schnellen, sicheren Aufstieg.“ Es klang tonlos. Er war gleichfalls aufgestanden und sah auf sie herab -- immer noch, als sie längst zu Ende gesprochen hatte. Das brachte ihr eine größere Unsicherheit. Sollte sie ihm jetzt die Hand reichen oder -- grußlos entfliehen. „Nur noch einen Augenblick,“ forderte er und seine Brauen schoben sich eng zusammen. „Zwar weiß ich wirklich nicht, womit ich diesmal Ihre Unzufriedenheit erregt haben könnte -- irgendwie werde ich mich ja aber doch wohl vergangen haben. Denn für solche Wirkungen besitze ich auch ein musikalisches Feingefühl. Sicherlich habe ich zu viel um den Brennpunkt herumgeredet. Verzeihen Sie mir. -- Als ich Ihnen von dem mir gutbekannten Gönner sprach, der Ihnen auf mein Wort helfen würde -- stand mein Plan bereits fest. Und das ist er geblieben. -- Entschuldigen Sie mich für einen Augenblick. Ich hole nur eine wichtige Kleinigkeit nebenan aus meinem Studierzimmer.“ Ehe sie eine Entgegnung fand, war er bereits verschwunden. Durch die zurückgeschobenen Vorhänge konnte sie den Raum übersehen. Ihre Blicke lösten sich von seinen Händen, die hastig in den aufgezogenen Schiebladen des Schreibtisches herumkramten und wanderten -- gedankenlos -- umher. Es trieb sie zur Flucht und sie blieb dennoch. Sie nahm nichts von alledem, was sie anstarrte, in sich auf. Die Bilder verschwammen zu farblosen Massen. Die wuchtigen Vasen auf hohen Sockeln, die sicher ein kleines Vermögen kosteten, wuchsen wie Steine auf, die in unsichtbarer Faust nach ihrem Herzen zielten. Mit fast übermenschlicher Gewalt zwang sie sich dazu, etwas zu denken -- zu sehen -- zu empfinden. Da lag, gerade über seinem Kopf, ein großer grüner Fleck mit leuchtenden Blutstropfen. -- Nein, ein Bild war’s; als sie schärfer, sich dazu zwingend, hinsah, erkannte sie die überschlanke Gestalt eines weiblichen Wesens darin, die unter rotem Mohn auf grüner Wiese stand. Auf dem Gesicht lag der volle Schein einer glutrot gemalten Sonne und hob es scharf heraus. In seiner rührenden Anspruchslosigkeit wirkte es fast mit diesem Leuchten, das von innen heraus zu strahlen schien, lieblich. Obwohl Nase und Mund viel zu groß darin standen. Sie prägte es sich ein, um nur nicht denken zu müssen, daß sie mit jeder Minute ihres längeren Verweilens von ihrem Mädchenstolz verschwende. Endlich kam er zurück. -- Hochrot! Zornig! „Niemals kann ich das finden, was ich gerade suche. Das ist gräßlich! Jetzt endlich ist es gelungen. Sehen Sie, bitte! Nun -- was ist das?“ „Ein Scheckbuch,“ sagte sie tonlos, „aber ich begreife nicht.“ „Ganz recht. Sie haben also viel mehr Geschäftssinn wie ich -- etwa vor sechs Monaten. Genauere Anweisungen brauche ich Ihnen also wohl nicht mehr zu erteilen. -- Sie nehmen dies an sich und füllen einfach mit einer bestimmten, von Ihnen beliebig festzusetzenden Summe jeden Monat die Geschichte aus. Das weitere macht dann schon die Bank!“ Sie streckte beide Hände von sich, als wehre sie eine furchtbare Versuchung ab. „Um Gottes willen, nur das nicht!“ „So verhaßt bin ich Ihnen, Eva? Was Sie ohne Bedenken von dem alten Blutsauger, der Sie zur Bretteldiva machen wollte, angenommen hätten, ohne diese Bedingung, das wollen Sie mir nicht gestatten?“ „Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen jemals zurückerstatten kann.“ „Darüber sorgen Sie sich nicht. Zinsen allerdings -- verlange ich.“ Daß er sachlich zu sprechen begann, machte sie ruhiger. „Wovon sollte ich die zahlen.“ Er sah sie fest an. „Wovon? Fühlen Sie das nicht, Eva?“ Ihre Hände hingen matt hernieder. Er betrachtete sie lange. Aber er nahm sie nicht in die seinen. Nur nichts übereilen. Langsam begann er ihr in Worten ein lebendiges Bild zu malen. „Sie beziehen, am liebsten in meiner Gegend, eine kleine feine Wohnung. Nur kein Kellerloch oder Dachstübchen. Das drückt von vornherein das Können nieder. Auch die öffentliche Meinung. Dann schaffen Sie sich jemand, der Ihnen den Kleinkram des täglichen Lebens fernhält und nebenbei diskret ist. Dann erst sehen Sie sich nach geeigneten Lehrern um. Natürlich müssen sie erstklassig sein. Auf die Honorare darf es nicht ankommen. Und dann -- ergibt sich das Schönste wie von selbst. Das Lernen. Das Vertiefen. Die Seligkeit, daß es bestimmt geschafft wird. Die Vorausempfindung all des brennenden Neides der liebwerten Kollegenschaft -- aber auch der Macht, die täglich wachsen und genau wie die meine, zur Andacht niederreißen wird -- mag die Menge willig sein oder nicht.“ Mit weitvorgestrecktem Haupt hatte sie ihm gelauscht. Das war ein Klang aus jener Welt, in der allein sie glücklich zu werden wähnte. Ein echter Klang. Das fühlte sie. In diesem Augenblick empfand sie auch keinen Widerwillen gegen Paul Karlsen. Seine Güte zurückzuweisen, erschien ihr unnatürlich. Ja -- unmöglich, je länger sie über seinen Vorschlag nachdachte. „Die Zinsen -- wie hoch?“ fragte sie nur noch. Da lag er ihr zu Füßen und zwang sie in einen tiefen, niederen Sessel hinein. „Deine Liebe und sonst nichts! Fühlst du immer noch nicht, wie ich mich nach dir verzehre. Siehst du nicht, daß ich dir alles zu Füßen legen möchte und nur verlange, daß du dich von mir anbeten und lieben läßt?“ Sie stieß ihn nicht zurück, trotzdem sie unter seiner Berührung zusammenschauerte. Nur ein Gedanke hämmerte in ihrer Stirn: „Bin ich jetzt seine Braut? -- Und muß ich nun auch sein Weib werden?“ Ein Finger pochte leise an die hohe Tür. Paul Karlsen fuhr auf und setzte sich ihr gegenüber. „Haben Herr Karlsen gerufen?“ Der alte Diener streckte sein unbewegliches Gesicht bescheiden in das Zimmer hinein. -- Der Zauber dieses Augenblickes war ihm unwiderbringlich verloren. Ihre Not für ein Weilchen überwunden. Sie schickte sich an zu gehen, und er hielt sie nicht zurück. „Ich werde Nachricht geben. Vielleicht morgen schon,“ flüsterte sie und glaubte zu wissen, daß sie sich ihm aus Liebe zur Kunst verkaufen könne. [Illustration] [Illustration] 7. Kaum tausend Schritt von Karlsens Villa entfernt stand abseits von der Verkehrsstraße eine Bank. Auf diese strebte Eva von Ostried zu. Im Augenblicke war es ihr unmöglich, ihren Weg fortzusetzen. Alles Denken, bis zur äußersten Grenze erschöpft, setzte aus und sie gab sich willig dieser Müdigkeit hin. Sie fühlte, daß sie sich dem Manne, der ihr seine Liebe geboten, anverlobt habe. Daß sie überhaupt nach seinem Kuß zu ihm ging, ließ nur diese Deutung zu. Er mußte annehmen, daß sie sein Gefühl erwiderte! Und es war doch eine Lüge! Sie fühlte nichts für ihn. Die Blicke, die er auf ihr hatte ruhen lassen, peinigten sie noch nachträglich! Das Erinnern an seine heißen, zuckenden Hände, die sie umklammert hatten, als er vor ihr kniete, brachte ihr erneut die starke Empfindung des Widerwillens gegen seine Zärtlichkeiten. Das Verhältnis zwischen ihren Eltern fiel ihr ein. Der Vater hatte zuweilen, nach einer besonders guten Flasche Wein von der hingebenden Zärtlichkeit ihrer Mutter in der Verlobungszeit gesprochen. Und doch war später aus der Ehe das geworden, was Evas erste Jugend unaussprechlich ängstigte und sie noch jetzt mit Grauen erfüllte! An dem unverbesserlichen Leichtsinn des schönen Ostried zerbrach die Kraft und das Leben ihrer Mutter, nachdem wohl schon längst ihre Liebe dem starren Pflichtbewußtsein weichen mußte. Und sie selbst wollte sich jetzt ohne einen Funken schlummernder Zärtlichkeit binden? Um den roten Mund grub sich eine Falte, die ihr Gesicht hart machte. Der Preis, den sie sich dadurch erringen würde, war hoch genug, um einem törichten, streng verschwiegenen Mädchentraume dies Opfer zu bringen. Sie war bereit! Aber nicht mehr völlig bedingungslos. Das Gesuch der Frau Eßling wegen der Gesellschafterin für die Tochter fiel ihr ein. Sie wollte versuchen, dort ein paar Wochen unterzuschlüpfen, um sich eine Bedenkzeit zu sichern. Frau Kommerzienrat Eßling befand sich in einer selten weichen Stimmung, als ihr gemeldet wurde, daß eine Bewerberin draußen warte. Der Sieg über den Willen des Schwiegersohns hatte sie vorübergehend versöhnlicher gestimmt. Ihr Gerechtigkeitsgefühl konnte sich zudem gegen die Wahrheit seiner Bitterkeiten nicht verschließen. In der Hauptsache füllte sie die Freude, die Tochter wieder -- wenn auch nur für kurze Zeit -- bei sich zu haben, gänzlich aus. Daneben verschwand jede Trauer und Auflehnung. Elfriede Karlsen lag, wie einst während langer Jahre, auf dem Ruhebette und ließ sich mit dem Lächeln eines dankbaren Kindes von ihrer Mutter verwöhnen. Noch ahnte sie die neueste Fürsorge der Kommerzienrätin nicht. Mit wenigen hastigen Worten wurde sie ihr jetzt als eine Notwendigkeit hingestellt. „Aber, Mama,“ sagte sie flehend, „das ist grausam von dir --“ „Du solltest froh sein, daß ich auf diesen erlösenden Gedanken gekommen bin, Elfriedchen. Die vielen einsamen Stunden taugen nicht für dich. Du grübelst zu viel.“ „Ich warte auf meinen Mann und das ist wunderschön,“ sagte sie. Es lag alle Treue und Zärtlichkeit darin. „Diese Stunde ist nicht geeignet, um darüber zu streiten, Kind. Schnell nur eins: Ihr betont beide bei jeder Gelegenheit, daß ein Künstler frei sein muß und du willst ihn doch nicht von der Kette lassen?“ Das blasse Gesicht rötete sich trotz der weißen Puderschicht, die Frau Eßling ihrer Tochter niemals zugetraut. „Soll das heißen, daß ich ihn ungebührlich in Anspruch nehme, ihn in seiner Entwicklung hemme? -- Das aber kann unmöglich deine wahre Ansicht sein, Mama. Noch vor wenigen Tagen hast du mir den ernsthaften Vorwurf einer viel zu großen Anspruchslosigkeit gegen Paul gemacht!“ „Darin liegt kein Widerspruch, mein Kind! Natürlich und verständlich, wenn eine junge, verliebte Frau die Minuten zählt, bis ihr der Gatte endlich wiedergeschenkt ist. Aber auch ebenso begreiflich, wenn bei einer Veranlagung wie dein Mann sie nun doch einmal hat, ihn jeder leiseste Zwang behindert und vielleicht sogar verstimmt und hemmt.“ „Hat er sich etwa dir gegenüber beklagt, Mama?“ Die Kommerzienrätin lachte bitter auf. „Wo denkst du hin, Elfriedchen. Ein so großer Künstler nimmt sich nicht die Mühe, eine gewöhnliche Sterbliche, wie mich, in seine Empfindungen einzuweihen. Aber erinnere dich nur. Ist er nicht häufig genug ungehalten gewesen, wenn du etwa eine Stunde oder noch länger wie ein geduldiges Lämmchen mit dem Essen auf ihn gewartet hast?“ „Mama, nimm den alten Franz wieder zu dir,“ bat die junge Frau gequält. Sie wußte sofort, aus welcher Quelle ihre Mutter die Kenntnis jedes auch des kleinsten und unwichtigsten Geschehnisses aus ihrem Leben schöpfte. „Du hast mich schon mehrmals darum gebeten, Elfriede. Und heute, wie früher sage ich dir, daß er bleiben wird und muß.“ Elfriede Karlsen seufzte tief auf. „Was also soll diese Gesellschafterin mir helfen?“ Frau Eßling fühlte, daß der anfängliche Widerstand zu wanken begann. Etwas wie Neugier klang aus der Frage. „Unendlich viel, Elfchen! Natürlich muß sie klug und gebildet, frisch und einwandfrei sein. Ihr werdet Euch schnell anfreunden. Du hast niemals eine Freundin besessen. Dann sind die Stunden des Wartens plötzlich ausgefüllt. Vielleicht erscheinen sie dir im Laufe der Zeit sogar, wenn Ihr zusammen ein nettes Buch lest -- Spaziergänge macht, Einkäufe erledigt und Bilder anseht, zu kurz. Jedenfalls, ein vorwurfsvolles Gesicht oder gar, was mir bei weitem gefährlicher erscheint, ein abgespanntes, enttäuschtes und nicht gerade glänzend aussehendes Frauchen wird Karlsen nicht vorfinden, auch wenn er sich selbst erheblich verspäten sollte. Was meinst du, muß die Folge hiervon sein? So viel habe ich gelernt, um zu wissen, daß Karlsen launenhaft ist. Das Geringste kann ihn verstimmen; eine Kleinigkeit kann ihn aber zu einem hinreißenden Gesellschafter machen.“ „Ich habe keine Ahnung gehabt, daß du ihn so genau kennst,“ sagte Elfriede. „Höre nur weiter, Friedchen! -- Indem du nicht länger mit dieser deutlich zur Schau getragenen Sehnsucht nach ihm schmachtest -- nicht mehr die Hände ringst, wenn eine seiner Leibspeisen ungenießbar geworden ist, dir die Augen auch nicht mehr rot und trübe weinst, wirst du dir deinen Mann zu einer Dankbarkeit verpflichten, die dich ihm wichtiger und damit unentbehrlicher machen muß, als dies leider bisher der Fall gewesen ist.“ Die junge Frau hatte sich aufgerichtet und sah unsicher zu ihrer Mutter hinüber. „Wenn du wirklich Recht hättest, Mama! Aber ich kann nicht daran glauben. Beständig eine Dritte am Tische zu haben denke ich mir qualvoll. Vergißt du, daß sie mir von der kurzen Zeit des Beisammenseins das Beste wegnimmt?“ „Kind, du bist die +Frau+ eines Künstlers. Du mußt sorgen, daß du sie auch +bleibst+!“ Elfriede Karlsen war sehr bleich geworden. „Du glaubst doch nicht, daß mich Paul nicht mehr liebt?“ „Wenn ich das auch nur fürchtete, würde ich anders mit meinem Herrn Schwiegersohne umspringen. Nein, davon ist bis jetzt keine Rede. Aber ich will verhüten, daß es jemals zu einer merklichen Abkühlung käme. Glaube mir, Friedchen, mein Rat ist klug und wohlerwogen. Dies Mittel, das ich ihm ebenso wie dir verordne, wird dich voll glücklich machen. Nicht wahr, das wäre doch schön, mein Kind? Jetzt geh einen Augenblick ins Nebenzimmer. Zuerst will ich alles Unwesentliche mit der Bewerberin besprechen. Scheint sie mir die Rechte für dich zu sein, so rufe ich dich.“ Eva von Ostried ließ die prüfenden Blicke und die gründlichen Fragen der Kommerzienrätin in vollendet guter Haltung über sich ergehen. Sie zeigte keine Empfindlichkeit, weil sie draußen ungewöhnlich lange zu warten gehabt hatte. Mit ruhiger Selbstverständlichkeit nahm sie in einem ihr von Frau Eßling gebotenen Sessel Platz und beantwortete kurz und klar deren Fragen. „Die Zeugnisse, die Sie vorweisen können, sind nicht eben glänzend, Fräulein von Ostried.“ „Eher das Gegenteil, gnädige Frau! Kaum siebzehnjährig nahm ich die erste Stelle an und besaß doch keinerlei Vorkenntnisse, nur den guten Willen, meine Pflicht zu erfüllen.“ „Wollen Sie mir nun etwas über Ihre Jugend -- die Jahre vorher, meine ich und vor allem von der Notwendigkeit, die Sie auf den Erwerbsweg zwang, erzählen?“ fragte die Kommerzienrätin. „Gern! -- Mein Vater war Besitzer des Majorats Waldesruh im Kreise Köslin, Provinz Hinterpommern. Meine Mutter, eine geborene Baroneß Strachwitz, starb, als ich vierzehn Jahre zählte. Unsere Verhältnisse waren stets die denkbar schlechtesten. Waldesruh war bereits unter meinem Großvater arg heruntergewirtschaftet. Bei dem Tode meines Vaters blieb mir nichts Nennenswertes. Mein Vormund, Amtsrat Wullenweber, wünschte zudem, daß ich mir sogleich einen Erwerb schaffe. Besondere Sachen hatte ich nicht erlernt. So stand mir lediglich der Weg des Kinderfräuleins oder der Hausstütze offen.“ „In der zweiten Stelle, in der Sie kaum vier Monate weilten, müssen doch ganz besonders wichtige Gründe die Veranlassung zu so schnellem Wechsel gegeben haben? Ich sehe, daß dies Zeugnis die Bemerkung „auf ausdrücklichen Wunsch entlassen“ enthält.“ „Diese Gründe waren allerdings vorhanden, gnädige Frau,“ gab Eva ruhig zu. „Des Hausherrn Verhalten. Jedenfalls konnte ich nicht länger in seinem Hause bleiben.“ „Ich verstehe! Es gefällt mir ausnehmend, daß Sie so empfinden. Sie sind ein sehr schönes Mädchen. Das werden Sie nicht nur von andern gehört haben, sondern selbst genau wissen.“ Eva von Ostried nahm diese Worte als das einfache Feststellen einer Tatsache hin. Es wäre ihr kindisch erschienen, abzuwehren oder gar zu widersprechen. „Darum fühlte ich mich auch im Hause der verwitweten Frau Landgerichtspräsident Hanna Melchers überaus glücklich. Drei Jahre war ich bei ihr und kann wohl sagen, daß eine Mutter nicht gütiger und liebevoller zu mir hätte sein können.“ „Und dieses letzte und wichtigste Zeugnis, Fräulein von Ostried? Sollten Sie vergessen haben, es mir auszuhändigen?“ „Leider besteht es nicht, gnädige Frau. Frau Präsidentin ist während einer allein unternommenen Reise unerwartet einem Herzschlage erlegen. Sie könnten sich aber über mich bei Justizrat Dr. Weißgerber, dem langjährigen Freund und Testamentsvollstrecker der Frau Präsidentin, erkundigen.“ „Wann ist er daheim? -- Wissen Sie das? In sein Büro möchte ich diese Sache nicht gern tragen.“ „Er hatte heute außerhalb zu tun. Immerhin wäre es möglich, daß er schon zurückgekehrt ist.“ Sie sagte das leise und zögernd, weil ihr plötzlich einfiel, daß auch sie ja eigentlich noch wegen des Geldes den Versuch der späten Rücksprache hätte machen sollen. -- Der Kommerzienrätin war das Schwanken in der jungen Stimme nicht entgangen. Auch wunderte sie sich über den plötzlich veränderten Ausdruck des schönen Gesichtes. -- Erst in diesem Augenblick dachte Eva von Ostried daran, daß es leicht möglich sei, der Justizrat sage am Apparat etwas von ihren vernichteten musikalischen Aussichten. Darüber hatte sie aus guten Gründen geschwiegen. Frau Eßling aber glaubte bestimmt, daß Eva von Ostried jene Auskunft, trotzdem sie auf dieselbe ausdrücklich hingewiesen, zu fürchten hatte und war umso mehr entschlossen, den Justizrat zu befragen. -- Der Justizrat war soeben angekommen und bestätigte am Fernsprecher kurz und klar, daß Eva von Ostried zur vollsten Zufriedenheit der Verstorbenen drei volle Jahre in deren Hause gewesen sei, und daß sie auch von ihm persönlich in jeder Beziehung als ausgezeichneter Charakter geschätzt werde. Er ließ sogar mit einfließen, daß die Präsidentin fest entschlossen gewesen, die junge geliebte Hausgenossin sicher zu stellen. Zweifellos habe sie an der Ausführung dieses Entschlusses der schnelle Tod gehindert. Frau Eßling kam befriedigt vom Fernsprecher zurück. „Ich möchte es gern mit Ihnen versuchen, wenn Sie denselben Wunsch haben,“ sagte sie freundlich. „Ich hoffe, wir werden sehr schnell mit einander einig werden. Nur wenige Anweisungen und Bedingungen müßte ich Ihnen zuvor nennen: Sie würden nicht in meinem Hause zu leben haben, sondern bei meiner jungverheirateten Tochter, die Sie gleich noch kennen lernen sollen. Denn sie weilt vorübergehend bei mir. Ihre Pflichten werden sich leicht gestalten. -- Sind Sie musikalisch?“ „Ja,“ sagte Eva. „Es dürfte sicher genügen. Ich singe.“ „Das ist mir sehr angenehm. Meine Tochter hat entschieden ein feines Gehör, war aber stets zu leidend, um sich den Anstrengungen langen Uebens auszusetzen. Würden Sie ihr etwa auch Unterricht erteilen können?“ Evas Hände wurden eiskalt. Wie ein Hohn des Schicksals erschien ihr das alles. Aber sie nickte bereitwillig. „Gut. Für häusliche Arbeiten ist im übrigen eine Kraft vorhanden. Es kommt mir, wie Sie gemerkt haben werden, lediglich darauf an, daß meine Tochter zerstreut und froh erhalten wird. Sie muß zu viel allein sein. Das taugt nicht für ein stilles, ja scheues Wesen, wie das ihre. Können Sie lustig sein, Fräulein von Ostried?“ „Ich werde es vielleicht lernen, gnädige Frau.“ „Und treu, Fräulein von Ostried? Absolut? In jeder Lage? Bei jeder Versuchung?“ „Wie habe ich das zu verstehen, gnädige Frau?“ „Wie ein Mädchen Ihrer Herkunft und Bildung dies verstehen muß. -- Treu der Herrin. Was das heißt -- hm -- eine Erklärung ist nach Ihren Erfahrungen in Ihrer zweiten Stelle wohl kaum notwendig. -- Mein Schwiegersohn ist Künstler. Ich weiß nicht mal, ob ich das schon erwähnte. Künstler entzünden sich zumeist sehr schnell und heftig. Und Sie sind, wie ich das bereits feststellte, von der Natur besonders reich bedacht.“ „Ich würde lieber sterben, als eine Ehe zu zerbrechen helfen.“ „Den Eindruck habe ich auch von Ihnen. -- Meine Erfahrung mag Ihnen wiederholen, was Sie längst selbst erfahren haben werden. Das Köstlichste und Wertvollste bleibt das gute Gewissen. „Der Uebel größestes aber ist die Schuld!“ schrieb mir mein seliger Vater unter den Einsegnungsspruch. Seither habe ich es als Wahrheit immer wieder bestätigt gefunden. -- Treu der Herrin, sagte ich, die Sie sehr gütig -- sehr schwesterlich behandeln wird. -- Treu aber auch mir. -- So selbstverständlich das Erfüllen der ersten Bedingung ist, so sonderbar wird Sie die zweite anmuten. Ich,“ ihre Stimme klang plötzlich gedämpft, „habe nicht dasjenige Vertrauen zu meinem Schwiegersohn, das nötig sein sollte, um ruhig und sorglos das Glück des einzigen Kindes in seinen Händen zu lassen. Diese Heirat ist nur ungern von mir zugegeben. Ich mißtraue ihrer Beständigkeit. -- Wollen Sie, im Fall Sie die untrüglichen Beweise für die Berechtigung meines sehr regen Mißtrauens haben, mir dies unverzüglich mitteilen?“ „Das muß ich entschieden ablehnen,“ erwiderte Eva von Ostried bestimmt. „Ich erwähnte bereits, daß ich mich verachten würde, wenn ich Unfrieden zwischen Eheleute streute.“ „Wenn ich auf diese Erklärung hin auf ihre Dienste bei meiner Tochter verzichten müßte, Fräulein von Ostried?“ Eva zögerte mit der Antwort. Das Verlangen nach einem Platze, der sie vorläufig -- vor der Not des Lebens schützte -- an dem sie sich, fern von der leiblichen Not, ungehindert prüfen konnte, ehe sie sich fest an Paul Karlsen band, drängte sie zum Einlenken. -- Die innere Wahrhaftigkeit aber verbot ihr ein Nachgeben. „Trotzdem könnte ich es nicht versprechen, gnädige Frau.“ Die Kommerzienrätin betrachtete das junge Gesicht lange. Dann reichte sie Eva von Ostried die Rechte hin. „Also gut. -- Die Treue für meine Tochter soll mir genügen. -- Vergessen Sie das andere. -- Noch ein Wort über Ihr Gehalt. Ich beabsichtigte Ihnen hundert Mark monatlich anweisen zu lassen. Sind Sie damit zufrieden?“ „Fünfzig Mark weniger, wie das Gnadengeld der alten Pauline beträgt,“ dachte Eva bitter, obschon ihr diese Summe genügte. „Es wird reichen, gnädige Frau,“ sagte sie eintönig. „So, damit wäre alles besprochen. Jetzt werde ich meine Tochter benachrichtigen. Einen Augenblick, bitte.“ -- -- „Ich fürchte nur, das Sie sich neben mir langweilen werden,“ sagte die junge Frau. Eva lächelte. „Wir wollen versuchen, uns jeden Tag mit einer besonderen Freude zu erheitern, gnädige Frau.“ Die Kommerzienrätin fand den Ton, in dem ihre Tochter zu der neuen Gesellschafterin sprach, für den Anfang viel zu warm. Gewiß hatte auch sie vorhin ein schwesterliches Verhältnis als sehr wahrscheinlich erwähnt. Immerhin mußte dies doch erst verdient werden. Sie riß deshalb das Gespräch wieder an sich. „Ist Ihnen der Montag nächster Woche als Tag des Eintritts recht, Fräulein von Ostried? Sie sind doch durch nichts gebunden, nicht wahr? -- Oder wollten Sie noch etwas im Hause der Verstorbenen ordnen?“ „Ich könnte bereits morgen kommen, gnädige Frau! Das alte treue Mädchen, das der Präsidentin lange Jahre diente, besorgt alles Nötige allein. Aber Sie haben mir noch gar nicht Namen und Wohnung Ihrer Frau Tochter genannt.“ Die junge Frau antwortete an Stelle ihrer Mutter. Es gewährte ihr immer aufs Neue eine stolze Freude, sich als Frau des jungen Künstlers zu bekennen. „Unser Häuschen liegt sehr nahe hier; Karlsbaderstraße 10. Wir haben es wundervoll. Nur ein wenig dunkel und kühl. Auf dem Schilde am Gittertore steht Paul Karlsen. -- Das ist mein Mann.“ Eva von Ostried blinzelte, als werde sie aus dem Dunkel in einen grellerleuchteten Raum gestoßen. Sie sollte also zu Paul Karlsens Frau? In sein Haus? Und achtgeben, daß er die -- eheliche Treue halte? Das Frauenbild auf grüner Wiese im roten Mohn hatte bereits den Mann zu ihren Füßen gesehen. Den Mann, als dessen Braut sie sich betrachtet hatte. „Was ist Ihnen,“ fragte die junge Frau ängstlich und sah hilflos zu ihrer Mutter hin. Hatte Eva von Ostried wirklich aufgestöhnt, als werde sie von heftigen Schmerzen gepeinigt? Es mußte ein Irrtum gewesen sein! Jetzt stand sie mit dem Ausdruck eines Lächelns da. Nur auffallend gerade und steif hielt sie sich. „Verzeihen Sie -- ich bekam soeben wieder einen jener kleinen Anfälle, mit denen ich, leider, häufiger zu kämpfen habe.“ Frau Eßlings Stimme klang erregt. „Warum haben Sie bisher nicht davon gesprochen?“ „Gott -- man will doch „unter“, gnädige Frau. Nicht wahr?“ „Du wirst sie darum nicht fortschicken,“ flüsterte die junge Frau bittend. Die Kommerzienrätin überhörte den Einwand ihrer Tochter völlig. „Durchaus begreiflich, liebes Fräulein. Sie finden auch ganz sicher ein Haus, in dem diese Kleinigkeit nicht stört. Nur für meine Tochter passen Sie, leider, nicht als ebenfalls Schonungsbedürftige. Das sehen Sie auch ein?“ Eva von Ostried nickte mechanisch. „Vollkommen, gnädige Frau.“ Warum ging sie jetzt nicht. Ihr Lächeln wurde der Kommerzienrätin unerträglich, bis ihr ein Gedanke kam. „Kann ich Ihnen vielleicht in anderer Weise etwas helfen, Fräulein,“ fragte sie, im Grunde herzlich froh darüber, daß sich ihre Handlung auf gütlichem Wege ungeschehen machen ließ. „Ich halte Sie doch für ein vernünftiges Mädchen.“ Eva von Ostried neigte ein wenig den Kopf, als danke sie für eine Huldigung. -- Sie blieb aber weiter unbeweglich stehen und lächelte maskenhaft. Der jungen Frau kamen die Tränen. „Ich würde Sie trotzdem bitten, Fräulein von Ostried,“ sagte sie rasch und herzlich, „aber wenn Mama nicht will, muß ich mich stets fügen. Seien Sie, bitte, nicht so sehr traurig. Ich werde Sie all meinen Bekannten warm empfehlen und bis Sie etwas gefunden haben, besuchen Sie mich fleißig alle Tage. Auch zu den Mahlzeiten. Wir speisen gegen 2 und 7 Uhr. Ja, wollen Sie das tun?“ Frau Eßling war ins Nebenzimmer gegangen und kam jetzt eilig zurück. Sie drückte einen verschlossenen Umschlag in Eva von Ostrieds Hand. „Alles Gute für Ihren Weg und fallen Sie beim Hinausgehen nicht über die dumme Stufe, die zur Diele hinabführt.“ „Sie sind sehr gütig, gnädige Frau! Verlassen Sie sich darauf. Ich werde nicht fallen!“ Hatte sie sich verneigt oder -- war sie grußlos geschieden? Die ausgestreckte Rechte und den bittenden Blick der jungen Frau mußte sie wohl übersehen haben. „Sie hat etwas verloren,“ sagte Frau Elfriede verwirrt und zeigte auf das Weiße, das dort lag, wo noch soeben die schöne stolze Gestalt gestanden hatte. Es war der Umschlag, in den Frau Eßling großmütig einen Fünfzigmarkschein getan hatte. * * * * * Am nächsten Morgen gegen neun Uhr war Justizrat Weißgerber schon wieder in der Wohnung seiner alten, toten Freundin. Er ging durch die nur angelehnte Gartenpforte über die Diele sofort zur Küche. Denn er wollte ungestört mit der alten Pauline sprechen. Diese hatte eine mächtige Hornbrille auf der Nase und fertigte umständlich und sorgsam das Verzeichnis der mit Obst und Gemüse gefüllten Gläser an. Offensichtlich war ihr eine Störung bei dieser Arbeit sehr unangenehm. „Es gibt soeben noch etwas Wichtigeres für Sie zu tun, Pauline,“ sagte der Justizrat eilig. „Sehen Sie mal her. Auf diesem Zettelchen, den ich in einem Notizbuch aus dem Jahre 1917 fand, spricht unsere Frau Präsident von allerhand wichtigen Aufzeichnungen, die sich in einer kleinen, schwarzen Kiste, um deren Verbleib die gute Pauline wisse, finden lassen sollen. Haben Sie eine Ahnung, wo sich besagte Kiste zur Zeit befindet?“ „Eine kleine schwarze Kiste? -- Jawohl! Die habe ich selbst auf der Bodenkammer in eine größere gestellt.“ „Wir müssen sie eiligst herunterschaffen.“ „Wozu denn, Herr Justizrat?“ „Denken Sie ein wenig nach. Sie wissen nun ja auch darin Bescheid. Uns fehlt doch etwas, nicht wahr?“ In das alte Gesicht kam ein Zug von Spannung. „Sie hoffen gerade so wie ich, daß sich was für das Fräulein finden lassen muß. Ach -- Herr Justizrat, sie ist wie außer sich. Zum Erbarmen sieht sie aus. Die halbe Nacht habe ich gesucht. Da ist kein Eckchen, das verschont wär’. Ich hatte bestimmt im Gefühl, daß ich es finden müsse, glauben Sie mir. Sogar das Bett unserer Frau Präsident hab’ ich aufgetrennt. Meine selige Großmutter hatte auch was Schriftliches in ihrem Kopfkissen versteckt. -- Aber alles umsonst. Wie vor einem Rätsel steh’ ich. Alles, was unsere Frau Präsident anfaßte und sagte, war so klar wie Glas. Aus diesem Dunkel kann ich mich mein Lebtag nicht rausfinden.“ „Wenn ich Sie recht verstehe, ist Fräulein von Ostried nun doch zusammengebrochen, so tapfer sie sich angestellt hat. Mir gegenüber würde sie sich zweifellos weiter zusammennehmen. Sie werden darüber mehr wissen. Oder doch nicht? -- Ich glaube, daß sie wieder in Stellung zu gehen beabsichtigt? Eine Dame verlangte telephonisch ausführliche Auskunft über sie.“ „Sie ist sehr stolz, Herr Justizrat. Das habe ich früher nie gefühlt. Ist’s ihre adlige Herkunft, oder was anderes. Sie will jedenfalls nichts von unsereinem annehmen. Und wie gern tät ich’s doch!“ „Das kann ich ihr nicht verdenken, Pauline. Es tut ihr weh, daß sie leer ausgegangen sein soll. Am meisten quält sich darüber ihr Stolz, auf den Sie schlecht zu sprechen sind. Glauben Sie mir, es ist gut, daß sie den besitzt. Hat Sie sich heute zu Ihnen ausgesprochen?“ „Sie hat nur gesagt, daß gegen Mittag jemand ihre Sachen abholen würde.“ „Und über das „Wohin“ kein Wort?“ „Nichts. Fragen habe ich nicht mögen. Es kam mir zu aufdringlich vor. Sie hat ja eigenes Geld, Herr Justizrat. Ich hab’s mit meinen Augen gesehen. Das wird sie nun wohl erst aufbrauchen.“ Selbst seinem juristischen Scharfsinn fehlte im Augenblick die Verbindung zwischen Eva von Ostrieds ihm gegenüber getaner Aeußerung und ihrem scheinbar ganz neuen Entschluß, nun doch wieder in Stellung zu gehen. „Gleichviel, Pauline, tun wir unsere Pflicht, indem wir die Kiste durchstöbern. Wenn sie auch nichts von Wichtigkeit bringt, müssen wir uns bescheiden!“ Trotzdem er sich wiederholt sagte, daß eine erfahrene, klardenkende Frau wie es die Präsidentin gewesen, Beschlüsse von größester Wichtigkeit unmöglich zusammen mit wertlosen Zeilen, die lediglich einen Erinnerungswert für sie selbst haben mochten, zusammenschichten würde, durchsuchte er -- eine Viertelstunde später -- umständlich jedes noch so kleine Blättchen. Auch dies war vergeblich, genau, wie er es gefürchtet hatte, und seufzend klappte er endlich den Deckel herunter und legte das viel zu wuchtige Schloß eigenhändig in die Krampe. „Am liebsten ginge ich zu ihr und bäte sie vorläufig in mein Haus,“ sagte er vor sich hin. „Ich fürchte, Herr Justizrat, das wird nichts helfen. Sie ist wie von Stein geworden. -- Als ich ihr heute Morgen den Kaffee gebracht habe, war sie kalkweiß. „Haben Sie schlecht geschlafen, Fräuleinchen,“ hab’ ich gefragt und wollte ihre Hand ein bißchen streicheln. Denn so ein Elternloses mag sich jetzt doppelt und dreifach einsam fühlen. Aber, was meinen Sie, Herr Justizrat; weggezogen hat sie ihre Hand und ganz vergnügt getan. Daß sie prachtvoll geschlafen hätt’ und sich wer weiß wie sehr auf die Arbeit freue. Ja, das hat sie gesagt. Angesehen hat sie mich dabei aber nicht. -- Seitdem war ich nicht wieder bei ihr drin. Nur ein bißchen gehorcht hab’ ich mal, ob sie vielleicht geweint hat. Ich glaub’ aber wohl nicht. Laut geredet hat sie. Ich hab’ sogar verstanden, was es war. „Der Uebel größtes...“ Jawohl, immer nur diese drei Worte sind’s gewesen.“ „Wäre sie nicht bereits volljährig, hätte ich mich ihretwegen längst mit dem Vormund in Verbindung gesetzt.“ „Ich glaube, damit wär’ sie auch nicht zufrieden gewesen. Sie hat kein Vertrauen zu ihm fassen können und wird froh sein, daß er ihr nichts mehr zu sagen hat.“ „Besitzt sie denn keine Freundin. -- Niemand, der einigen Einfluß auf sie ausüben könnte, Pauline?“ „Davon hab ich nie etwas gemerkt. Unsere Frau Präsident hat ihr in meiner Gegenwart mehr als einmal zugeredet, sie sollte doch mit diesem oder jenem jungen Mädchen, das in unser Haus kam, spazieren gehen. Das hat sie immer abgelehnt. Den Grund kann ich mir auch denken.“ „Ich wüßte keinen. Ich habe vielmehr die Ueberzeugung von ihr, daß sie ein guter und zuverlässiger Kamerad sein müßte.“ „Sie ist aber zehnmal hübscher wie die andern. Sie sollten nur mal die Blicke sehen, wenn sie auf der Straße geht. Mit ihr zusammen Einkäufe zu machen, war ein richtiger Spaß. War das ein Herumgedrehe und Nachgegucke. -- Hinterhergelaufen sind sie auch wohl. -- Fremdes junges Blut freut sich darüber aber nicht. Das wird leicht neidisch.“ „Möchte ihr die Schönheit nur nicht zum Unsegen werden.“ „Die Angst ist unnötig, Herr Justizrat. Sie konnte zu kalt und stolz aussehen, wenn’s einer von den jungen Herren gar zu auffällig mit seiner Bewunderung trieb.“ Der Justizrat mußte lächeln. „Sie haben auch diesmal Recht, Pauline. Es will mir nur nicht in den Kopf, daß man sich jetzt einfach nicht mehr um sie bekümmern soll.“ „Das wär allerdings traurig. Aber ich werde, ob sie will oder nicht, aufpassen auf sie. -- Geht es ihr schlecht, komm ich zu Ihnen, Herr Justizrat. Das andere besorgen Sie denn.“ Eben ging Eva von Ostried, wie in tiefen Gedanken versunken, unten vorüber, ohne die beiden sorgenvollen Gesichter zu bemerken. Sie hatte einen eiligen Gang vor. Noch einmal wollte sie versuchen, unterzukommen. Die neueste Tageszeitung hatte ihr wiederum einen Fingerzeig gegeben. Die hastige Unruhe des Verkehrs war ihr etwas Ungewohntes. Ihr Kopf begann von neuem zu schmerzen. Trotzdem dachte sie nicht daran, umzukehren. Ein verbissener Trotz lag auf ihrem bleichen Gesicht, als sie endlich in die Friedensstraße einbog und die bezeichnete Nummer zu suchen begann. Das neue Gesuch verlangte eine gebildete Stütze im Osten Berlins. Das Haus, in das sie eintrat, war so dunkel, als sei es ohne Fenster erbaut worden. Im Flur roch es nach Mittagskohl, Kaninchen und Leim. Jeder einzelne Geruch für sich wäre erträglich gewesen. Die Vereinigung erregte ihr Uebelkeit. -- Das im dritten Stock auf ihr Klingeln öffnende Mädchen, lächelte ihr vertraulich zu: „Na, denn man rin in die gute Stube. Drei sind all vor Ihnen.“ Sie wurde in die Küche gewiesen. Eine der Wartenden rückte gefällig auf ihrem Schemel zur Seite. „Wir werden uns schon vertragen.“ Eva kam der freundlichen Aufforderung nicht nach. Sie kämpfte mit dem Gefühl des Schwindels. „Ein Glas Wasser,“ bat sie matt. Eins der Mädchen hielt einen Tassentopf ohne Henkel unter die aufgedrehte Leitung. An den schneeweißen Lippen der Neusten merkten sie, daß deren Einsilbigkeit nicht dem Hochmut entsprang. Eva von Ostried wollte trinken, aber sie vermochte das unsaubere, abgestoßene Gefäß nicht an den Mund zu führen. Stumm setzte sie es nieder und wandte sich zum Gehen. -- -- Am Spätnachmittag dieses Tages hielt eine Droschke vor dem Haus der verstorbenen Präsidentin. Eva von Ostried hatte bereits auf sie gewartet. Nun trat sie vom Fenster zurück. Koffer und Handtasche waren fertig zum Fortschaffen. Sie selbst zum Einsteigen bereit. Auf dem Mahagonitisch lag wieder die kleine schwarze Tasche mit den zwölftausend Mark anvertrauten Geldes. Ihre Hand streckte sich danach aus und zuckte doch wieder leer zurück. Dann aber preßte sie die Lippen zusammen und riß sie an sich. -- Nun war es entschieden! -- Die alte Pauline kam angelaufen: „Sie wollen doch nicht etwa schon weg, Fräuleinchen?“ „Ist es nicht höchste Zeit damit,“ fragte sie ruhig. „Leben Sie wohl, Pauline.“ „Wohin soll es denn nun gehen? Das ist doch gar nicht möglich.“ „Wohin?“ Die schönen Augen schlossen sich leicht. Der Raub in ihrer Hand hatte ihr Herz erkältet. „Vielleicht schreibe ich Ihnen einmal, beste Pauline.“ [Illustration] [Illustration] 8. Amtsrat Wullenweber auf Hohenklitzig erwartete Gäste. Sein einziger Bruder, der als Major a. D. in Berlin lebte, sollte, geleitet von dem Sohne, eintreffen. Dieser Bruder war ein schwererträglicher Egoist geworden, nachdem ihn ein hartes Geschick zweimal grausam strafte. Der erste Schlag raubte dem verschwenderischen und von jeher leichtsinnigen, daneben aber im Dienst tüchtigen und ehrgeizigen Offizier die bis dahin ausgezeichnete Gesundheit. Ein ungeschickter Schütze schoß ihn auf einer Treibjagd so unglücklich an, daß er sich seither nur an zwei Krücken fortbewegen konnte. Der zweite Hieb traf ihn schwer an seiner Ehre und machte ihn zum schroffen Verächter jeglichen Menschenwertes, weil er die helfenden Krücken verzeihender Einsicht nicht zu finden vermochte. Amtsrat Wullenweber hatte von einem persönlichen Empfange am Bahnhof abgesehen. Er stand auf der Steintreppe vor seinem unscheinbaren Gutshause und spähte nach der Staubwolke aus, die ihm das Nahen des Wagens verraten sollte. Und nun saßen sie zu Dreien an einem runden Tische und sprachen über völlig gleichgültige Dinge. Das Zimmer blitzte in Frische und Sauberkeit. Auf den kalt- und steifwirkenden Möbeln aus hellster Birke zeigte sich kein Stäubchen. Es fehlte aber dennoch jede Spur einer liebreich schmückenden Frauenhand. Das Mahl war einfach, aber schmackhaft zubereitet, doch schien keiner den rechten Genuß daran zu finden. Amtsrat Wullenweber, der ein ebenso ausgezeichneter Ackerwirt wie schlechter Diplomat war, setzte das Grübeln über die ungefährlichste der persönlichen Fragen mit stummer Energie fort. Endlich meinte er sie gefunden zu haben und wandte sich an den Neffen, der schlankgewachsen, blond und merkwürdig ernsthaft für seine zweiunddreißig Jahre, zwischen ihnen saß. „Na, Walter, nächstens mußt du nun auch wohl schon drei Jahre Assessor sein, nicht wahr?“ Doktor jur. Walter Wullenweber besaß die strahlend blauen Augen eines reich Begnadeten, der sich trotz aller Lebenshärten, seine kleine Welt voller innerer Schönheit unversehrt erhalten hat. „Etwas länger bereits, Onkel,“ erwiderte er und seine Stimme klang weniger klar, wie bisher. „Nun -- und --“ „Immer noch nicht Präsident,“ scherzte er. „Trotzdem fühle ich mich den Umständen nach recht wohl. Die Arbeit befriedigt mich, nachdem ich meinen auch dir ja zur Genüge bekanntgewordenen Jugendwunsch überwand. Ja, ich freue mich sogar darauf, als Richter zu wirken. Am liebsten in einer möglichst kleinen Stadt mit viel ländlicher Umgebung.“ „Dann melde dich hierher an das Amtsgericht Köslin,“ riet der Amtsrat. „Da hast du alles. Alltäglich machst du in Straf-, Zivil- und Grundbuchsachen. Sonntags flitzt du zu mir raus und speist von der Glanzdecke.“ Der Major a. D., der mißmutig und schweigsam zugehört, mischte sich jetzt ins Gespräch. „Und ich schimmele indessen in unserer hochherrschaftlichen Hofwohnung am grünen Strand der Spree und warte auf irgend einen geduldigen Jemand, der mich die Hühnerstiege herunterschleift, damit ich nicht gänzlich verkomme.“ In dem ernsten Gesicht des jungen Juristen zuckte es unwillig. Aber er blieb ruhig. „Wenn du dich nicht zum Mitkommen in besagtes Städtchen entschließen könntest, müßten wir uns allerdings zuerst nach einer kräftigen Stütze für dich umsehen,“ sagte er ohne Empfindlichkeit. „Soll ich jetzt vielleicht auch noch in eines jener mir schon als Fähnrich unausstehlichen Nester unterkriechen?“ „Von einem Zwang kann natürlich keine Rede sein, Vater. Auch ich ließe mich nie mehr zu etwas zwingen.“ Der alte Herr sah scharf zu dem Sohn hin. „Was soll das heißen, bitte?“ „Daß ich den Weg gehen werde, den ich mir, nach manchem inneren Kampf, ausersehen habe.“ „Darf ich wenigstens erfahren, wohin er dich führen soll.“ „Ganz gewiß. Zur Anstellung als Richter, dem gewöhnlich Gegebenen, wenn man die nötigen juristischen Vorstufen überwunden hat.“ „Mach dich gefälligst nicht lächerlich, Walter! Wenn man in unserer Lage sitzt, kommt es lediglich aufs Geldverdienen an.“ Assessor Wullenweber schüttelte den Kopf. „Ueber dieselbe Ansicht wäre es -- vor ungefähr zwölf Jahren -- beinahe zwischen uns zum Bruch gekommen. Damals ließ ich mich von dir zwingen. Mein bescheidenes Muttererbe hätte vielleicht wirklich nicht zu dem als sinnlos von dir bezeichneten von mir ersehnten Lebensberuf ausgereicht und du hattest recht, mir ein persönliches opfern deiner Mittel als ausgeschlossen hinzustellen. Heute jedoch,“ und seine Stimme wurde hell und scharf, „wäre jeder Versuch zu meiner Umstimmung für dich aussichtslos. Oder doch nur von Erfolg, wenn ein sehr trauriger Grund dazu käme.“ Der Major hatte sich zurückgelehnt und spielte an den schwarzen Heften der Bestecks. „Was verstehst du darunter?“ Für eine harmlose Frage war der Ton zu scharf. „Ehrenschulden, die unbedingt abgetragen werden müssen. Und ich habe keine, Vater.“ Das Mahl war beendet. „Wir setzen uns noch eine Pfeife lang auf die Veranda,“ schlug der Amtsrat, der seinen heftigen, verbitterten Bruder nicht sogleich am ersten Tage durch eine schroffe Einmischung reizen wollte, vor. Sie saßen alle Drei auf den sauber gescheuerten Steinfließen und stießen dicke Tabakswolken aus den kurzen Rohren. Zu einer gemütlichen Unterhaltung wollte es auch jetzt nicht kommen. Die Luft schien wie mit Zündstoff angefüllt. „Sage mal selbst,“ wandte sich der Major plötzlich an seinen Bruder, „hältst du es für möglich, daß einer mit seiner kleinen Pension auskommen kann?“ Der Assessor wechselte die Farbe. „Was soll das heißen, Vater?“ „Bleib’ ruhig sitzen! Schlimm genug, daß dir das nicht längst allein klar geworden ist.“ „Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst.“ „Scheinst ja merkwürdig schwer von Begriffen in diesem Punkt zu sein. Kurz -- ich mag nicht länger rumhocken und entbehren -- stillhalten und abstreichen.“ Der Amtsrat sah das bleichgewordene Gesicht seines Neffen und nickte ihm fast väterlich zu, obwohl sie sich bisher merkwürdig fremd gegenüber gestanden hatten. „Nimm’s nicht tragisch, Junge. Wir ändern ihn doch nicht mehr,“ sollte es heißen. Dann zog er die Stirnhaut empor, wodurch er sich schon als Sechsjähriger unter seinen Brüdern eine besondere Achtung verschaffte und kniff ein wenig die Lippen ein, als schlucke er eine bittere Arznei. Aber er wurde damit fertig! „Du hast’s wirklich verteufelt eng und dunkel in Berlin, Bruder. Davon habe ich mich ja vor ein paar Wochen selbst überzeugen müssen. Aber dein Junge solls und kanns diesmal nicht ändern. Das siehst du bei ruhiger Ueberlegung auch ein. Ich mache dir einen vernünftigen Vorschlag. Packe deinen Kram und zieh’ zu mir. Zwei Stuben kannst du ganz für dich haben und diese Veranda und den ganzen Garten, denn ich sehe auf dem Felde genug Grünes. Jawohl -- meinetwegen auch noch das kleine Seezimmer dazu, obgleich ich mich daran gewöhnt habe. Nur den Jungen laß endlich von der Leine!“ „Ich geh’ nicht raus aus Berlin,“ knurrte der Major eigensinnig. „In deiner Lage ist das ein Wahnsinn, Richard.“ „In meiner jetzigen -- vielleicht! Darum soll sie eben auch geändert werden. Walter kann leicht und angenehm das dreifache verdienen, wenn er nur mal ruhig nachdenkt. Wir mieten uns nachher irgend eine kleine Villa. Ich kann mir einen Diener halten. Und das Leben wird wieder einigermaßen anständig.“ „Du hast mir bereits neulich etwas derartiges angedeutet, Vater. Ich faßte es keinen Augenblick als Ernst auf.“ „Darum habe ich mir die Wiederholung bis heute aufgespart. Onkel soll zuhören. Nicht wahr, Wilhelm,“ wandte er sich an den Amtsrat, „ein guter Rechenmeister warst du immer.“ „Ich rechnete aber für mich und mit mir als Verdiener, mein Lieber.“ „Soll das ein versteckter Vorwurf sein?“ „Deute es dir, wie du willst! Daß Walter nicht Musik studieren durfte, darin mischte ich mich nicht ein. Das verstehe ich schließlich nicht. Wie er sich damals als grüner Bengel damit abgefunden hat, das gefiel mir, wenn schon er sich auffallend ablehnend zu mir benommen hat. Darum nehme ich heute und später seine Partei.“ „Ihr tut gerade, als wollte ich ihn zu etwas Unerhörtem verleiten und ich will ihn doch lediglich in eine gute, ja famose Lage bringen.“ „Ueber dies Kunststück würde ich gern näheres erfahren,“ lachte der Amtsrat gemütlich. „Er soll als Teilhaber bei einem äußerst geschätzten, erstklassigen Anwalt eintreten. Der Mann hat ohne Vermögen angefangen und eine aus sieben Köpfen bestehende Familie durchgebracht. Neben der seinen, erhält er noch die Familien seiner beiden ältesten verwitweten Töchter. Das Geschäft muß also einträglich sein. Als anfänglichen Monatsgehalt ist er willens, einem tüchtigen Assessor, der dauernd eintritt, vorläufig neunhundert Mark zu gewähren. Nachher soll es steigen oder gar zur Hälfte gehen, denn er hat einen Knax weggekriegt und kanns allein nicht mehr schaffen. Später besteht natürlich die sichere Aussicht zur gänzlichen Uebernahme seiner juristischen Praxis. Ich habe die Empfindung, daß dieser Zeitpunkt nahe ist. Der Mann macht’s wohl kaum noch sehr lange.“ Walter Wullenweber war anfangs mit einem ungläubigen Lächeln der Schilderung seines Vaters gefolgt. Jetzt begann er damit zu rechnen, daß tatsächlich etwas Wahres daran sein mußte. „Woher weißt du das alles,“ fragte er sachlich und noch vollkommen beherrscht. „Gott -- ich habe mal was bei dem Mann zu tun gehabt. Wir sind ins Gespräch gekommen. Er hat mich sogar mal in deiner Abwesenheit freundschaftlichst besucht. Verzeih’ nur gütigst, wenn ich mich ein paar Straßen weiter ohne deine gnädige Mithilfe oder Erlaubnis davonmache.“ Walter Wullenweber kannte seinen Vater genau. Darum wußte er auch jetzt, daß der nicht etwa unter seiner Bevormundung litt, sondern, daß sein Gewissen in irgend einer Beziehung nicht das reinste war. Diese bestimmte Annahme schärfte ihm in plötzlich erwachsender Angst den Blick. Zeigte der Sechzigjährige nicht die deutlichen Spuren einer nervösen Unsicherheit wie nach jeder begangenen Torheit? Und war sein ohnehin sprunghaft wechselndes Benehmen in letzter Zeit nicht noch unbeständiger geworden? Jetzt mußte sich Wullenweber mit aller Kraft zur Bewahrung seiner Ruhe zwingen. „Konnte ich dir nicht ebenso gut raten und helfen, wie es der Justizrat Weißgerber imstande war, Vater? Du siehst, so ganz blind und taub bin ich doch nicht neben dir dahingegangen. Ich sah Euch vor einiger Zeit aus einem Weinlokal herauskommen. Das nahm mich bei dem Vielbeschäftigten eigentlich Wunder -- ich wollte dich auch fragen -- vergaß es aber nachher über etwas wichtigerem. Nicht wahr, bei ihm gedachtest du mich auch unterzubringen? Aber, lassen wir das jetzt. Etwas anderes erscheint mir wichtiger. Wozu brauchtest du einen fremden Juristen? Wozu trugst du das Geld aus dem Hause?“ Der schwache Versuch, die Angelegenheit ins Scherzhafte zu ziehen, mißlang. „So weit bin ich noch nicht heruntergekommen, mein Sohn, um mir dauernd und in jeder Kleinigkeit von dir Vorschriften machen zu lassen. Noch bestimme ich. Und wenn einer von uns beiden zu gehorchen hat, bist du es. Das merke dir.“ Der Amtsrat versuchte zu beschwichtigen. „Kinder, nur keinen Streit!“ „Verzeih, Onkel, daß dies gleich die erste Stunde ausfüllen muß. Du hast ja aber selbst gehört, daß sich Vater die Auseinandersetzung ausdrücklich für diesen Tag aufgespart hat.“ „Zänkereien vertrage ich nicht,“ begehrte der Major auf. „Meine Ruhe wollte ich endlich mal haben, frei sein. Du sollst nicht wieder aus einer Lappalie ein Erdbeben machen, Walter.“ Ein langer strenger Blick streifte ihn. „Du weißt, daß ich schon übermorgen abreisen muß, Vater. Dann ist also dein Wunsch erfüllt. Ich möchte aber nicht mit dieser seltsamen Unruhe an die Arbeit zurück. Wir wollen uns aussprechen. Ich erkläre dir nochmals, daß alles, was du über mich bestimmen solltest oder bereits, ohne mein Wissen, bestimmt hast, hinfällig ist. Niemals werde ich nur um des Geldes willen einen Weg, den mir mein Innerstes vorzeichnet, aufgeben.“ „Ich hätte wissen müssen, daß du keiner Kindesliebe fähig bist.“ „Sprich nicht weiter, Vater. Denke rückwärts.“ „Habe ich nicht nötig! Was ich getan habe, auch das, woran du jetzt vielleicht auch noch rühren möchtest, ich täte es gleich wieder.“ „Richard,“ mahnte der Amtsrat still. „Laß die Schatten ruhen.“ „Ihr meint wohl, ich fürchte mich vor ihnen? Weit gefehlt, was sich an meinem eigenen Stamm nicht biegen lassen will, muß weggebrochen werden.“ „Versündige dich nicht, Bruder.“ „Sprecht doch endlich ihren Namen aus. Macht mir Vorwürfe. Schiebt mir alle Schuld in die Schuhe. Ich kann’s ertragen. Ich werde Euch Rede und Antwort stehen.“ Er war der Ueberzeugung, daß seine Stimme im Zorn gellte, und sie war doch nur ein zitterndes, angstvolles Flüstern. Der Schatten, dem er anscheinend mutig begegnete, mußte ihn atemlos gehetzt haben. Das Gespräch verstummte. Der Atem des alten Offiziers bekam keine Kraft mehr. Sein Gesicht erschien in der ungewissen Beleuchtung des schwefelgelben Abendsrots grau und verfallen. Ein junges, leidenschaftliches Geschöpf, dem die Mutter zu früh sterben mußte, saß plötzlich auf dem vierten Stuhl. Und doch lag in Wahrheit nichts als der unruhige Schein wilden Weinlaubs darauf. Die einzige Tochter des Majors und Walters Schwester! Der Amtsrat wischte sich über die Augen. Seitdem das mit ihr geschehen war, hatte der Bruder sein Haus gemieden. Erst jetzt war er, ohne besondere Einladung, wieder gekommen. „Die Reise hat mich etwas angestrengt,“ sagte der Major plötzlich. „Ich will schlafen gehen.“ -- -- Eine Weile verharrte der Amtsrat noch in nachdenklichem Schweigen. Dann tippte er dem Neffen auf die Schulter. „Du mußt mir alles von damals erzählen, Walter. Aus den Briefen, die mir der Vater geschrieben hat, bin ich nicht klug geworden. Hast du irgend etwas über sie erfahren können?“ „Nein, Onkel. Es ist alles vergeblich geblieben. -- Du weißt, Vater war stets ein leidenschaftlicher Schachspieler. Auch unser Leben hat er berechnen wollen, weil es für sein eigenes nicht mehr anging. Mancher Zug mag richtig gewesen sein! Nur der Grundgedanke blieb falsch. Nach ihm waren wir, seine beiden Kinder, willenlose Figuren. Dir ist die Lieselotte auch lieb gewesen. Ihre Tollheiten erfrischten, ihr Liebreiz entzückte jeden. Der Vater war sehr stolz auf sie, solange sie sich ihm bedingungslos fügte. Sie hatten stets miteinander Geheimnisse vor mir. Ich durfte ihr daher meine brüderliche Liebe nicht so voll zeigen, wie ich sie empfand. Mußte streng mit ihr sein, denn ich wollte doch nicht, daß sie verloren gehen sollte. -- Sie fügte sich dem Vater also willig, bis die Liebe über sie kam. Den Anfang habe ich mit erlebt. Er sang auf der Abendgesellschaft einer reichen Frau, die sich einbildete, seine Stimme entdeckt zu haben. -- In Berlin selbst lebte er nicht dauernd, und das machte mich ruhig. Er nannte sich Schauspieler und zog überall umher, wo man ihn bezahlte. Einen ersten Brief fing ich ab -- las ihn und nahm sie mir vor. Sie versprach, ihn zu vergessen. Das Versprechen hat sie aber nicht gehalten. Die kleine Lieselotte war mit einem Schlage Komödiantin geworden.“ „Und hat Euer Vater nichts davon gemerkt.“ „Du weißt, er besitzt die Fähigkeit, Unbequemes solange zu übersehen, wie es nur irgend angeht. Eines Tages hatte er aber seinen größten Schachzug fertig überlegt. -- Ein Millionär hatte die Lieselotte auf einem Winterball kennen gelernt und begehrte sie. Die Anbetung des älteren reichen Mannes hat ihr bis zu einem gewissen Grade sogar Spaß gemacht. Als sie merkte, daß er ernste Absichten hatte, wurde sie zuerst ängstlich, dann scheu, und schließlich energisch. Sie wollte ihn nicht. -- Es war aber bereits alles zwischen dem Vater und jenem abgehandelt. Er hatte ihm auch eine Menge Schulden bezahlt, von denen wir Kinder nichts wußten. Es war also seiner Ansicht nach eine Unmöglichkeit, die Sache rückgängig zu machen. -- Lieselotte hat nicht an den Ernst seiner Drohung, daß sie sich diesmal unweigerlich fügen müsse, geglaubt. So hinreißend lieblich sie war, ebenso unbändig, leidenschaftlich und lebenshungrig ist sie gewesen. Von dieser Seite kennst du sie nicht. Hier war sie lediglich das spielerische Kind. Allmählich wuchs sich ihr Durst nach Freiheit zu einer fast krankhaften Gier heraus. Vielleicht hätte sie doch schließlich eingewilligt, wäre der andere, an dessen ehrliche Absichten ich niemals glaubte -- nicht immer wieder dazwischen getreten. -- Ein Lump, Onkel, in der Maske eines bildhübschen Schlingels. -- Sie blieb taub und blind. Ich habe in jenen Zeiten täglich versucht, auf sie einzuwirken, schließlich in jener Nacht nach den letzten, wilden Auseinandersetzungen mit dem Vater, auch fest geglaubt, daß sie zur Einsicht gekommen wäre. -- Nach ein paar Monaten, hoffte ich, würde sich der Grimm des Vaters und ihre eigene blinde Leidenschaft verebbt haben. Ich hatte mich gründlich verrechnet. Am nächsten Morgen war sie verschwunden. -- Du kannst überzeugt sein, Onkel, das Menschenmögliche, um ihren Aufenthalt herauszubringen, habe ich versucht.“ „Und der Millionär, Walter?“ „Hat umgehend seine Forderungen eingeklagt.“ „Pfui Teufel.“ „Ich glaube, als ordentlicher Geschäftsmann mußte er das tun.“ „Wie habt Ihr’s möglich machen können, Junge?“ „Es ging schon!“ „Viel Vertrauen hast du nicht zu mir gezeigt.“ „Doch, Onkel! Ich wußte zum Beispiel ganz genau, daß du helfen würdest, wenn ich dich darum gebeten hätte.“ „Ich versichere dir, daß mir niemals eine Bitte oder Anfrage von Euch zugegangen ist.“ „Das weiß ich! Weil ich unbedingtes Vertrauen in deine Bereitschaft setzte, durfte der Brief des Vaters, der deine Hilfe forderte, nicht abgehen.“ „Das verstehe ich nicht, Junge.“ „Du hättest dein Geld niemals von ihm zurückerhalten und wenn er es dir hundertmal zugesichert hätte.“ „Darum also hast +du+ es nicht erlaubt? Ich habe dich bisher nicht richtig gekannt.“ „Das hat mir oft genug leid getan, Onkel. Sehr gern hätte ich vieles mit dir besprochen, was ich nun allein mit mir ausfechten mußte. Wie sollte ich es aber ändern? Ehe ich nicht die alte Rechnung des Vaters beglichen hatte, mochte ich das nicht anstreben!“ „Das wäre dir wirklich gelungen?“ „Ja, seit einem Monat bin ich diese Last los.“ „Aus eigener Kraft?“ „Ich glaube, ein glattes Bejahen gäbe ein falsches Bild. Mein Studium wurde billiger, als ich es mir ausgerechnet hatte. Ein paar tausend Mark erübrigten sich davon. Und der Rest? Weißt du, es mag einer so viel auf Berlin schelten, wie er Lust hat. Ein Gutes bringt es zweifellos. Erwerbsmöglichkeiten, an welche man selbst in einer größeren Mittelstadt gar nicht denken würde. Einige, die ich benützte, mögen nicht gerade standesgemäß gewesen sein. Daß sie durchaus anständig waren, bedarf nicht der Zusicherung. In der Hauptsache verdiente ich durch Repetitorien. Mir saß alles noch frisch im Gedächtnis. Da habe ich ein halbes Dutzend Referendare zum Examen eingepaukt. Sie schafften es und das brachte mir weitere. So ist eigentlich nicht mal ein Wunder dabei gewesen.“ „Und du meinst, daß dein Vater jetzt endlich gelernt hat, mit dem Seinen auszukommen?“ „Bisher habe ich den Gedanken an neue Schulden nicht haben können. Er hat ja doch gesehen, wie ich schuften mußte. Vorhin wurde ich allerdings stutzig. Hattest du nicht auch das Gefühl, als schleppe er an einer Last, die er überängstlich zu verbergen versucht?“ „Ich schob das auf die Erinnerung an Lieselotte.“ „Die wirkt ganz anders! Danach kommen Stunden, in denen er sich einschließt und nachher trinkt.“ „Und das ist nun deine Jugend!“ „Meine eigentliche Jugend ist der unerschütterliche Glaube an eine gute Zukunft.“ „Du hast eine von Herzen lieb, nicht wahr, mein Junge?“ „Nein, Onkel, noch nicht! Mir blieb zu wenig Zeit dazu, glaube ich. Aber ich fühle, daß es eines Tages kommen wird. Und darum lebe ich trotz allem auch gern. Ein Ziel ist da und ein fester Wille zur Erfüllung aller Pflichten.“ „Sonderbarer Heiliger.“ „Bis heute habe ich zu keinem davon gesprochen, Onkel.“ „Das glaube ich dir aufs Wort! Siehst du, da haben wir uns nun jahrzehntelang gekannt und ich habe doch nichts weiter von dir gewußt, als daß du einen Jugendwunsch, von dessen Ernsthaftigkeit ich mich allerdings überzeugt hatte, überwunden hast. Ich fand das riesig vernünftig und die Art, in der du es tatest, hat mir gefallen, wie ich ja schon erwähnte. -- Diese eine Stunde hat gründlichere Arbeit als die ganzen Jahre getan. Nun kenne ich dich wirklich. Weiß Gott, viel Freude ist nie in meinem Leben gewesen. Nicht mal das Ziel, das du dir gesetzt hast, war darin vorgesehen. Nur immer der graue Alltag. Ich habe viel Staub schlucken müssen, denn zu den Sonn- und Feiertagen ließ ich mir nie recht Zeit. Jetzt freue ich mich und bitte meinem Leben manches ab. Sieh hinaus. Der Mond scheint gerade hell. Die Felder mit Stoppeln haben ihre Ernte hinter sich. Das Brachland muß ausruhen, damit es im nächsten Jahre wieder seine Schuldigkeit tut. Sogar die Fichtenkusseln wachsen langsam aber sicher ins Geld. -- Ich hab’ bloß immer in meinem Dasein säend geschuftet. Ohne Sinn und Verstand. Denn für wen? Ein ekliges Geschäft, wenn man darauf keine Antwort weiß. Jetzt wird’s anders werden. Du mußt öfter zu mir kommen, Junge!“ Einen Augenblick ruhten ihre Hände fest in einander! Das war wie ein Schwur, obgleich kein Wort dabei gesprochen wurde. „Und jetzt wollen wir in die Klappe gehen,“ sagte der Amtsrat wieder in seinem alten, fast befehlshaberischen Tone, den sich ein Herr leicht angewöhnt, der auf seinem Stück Eigenland streng nach Ordnung sieht. -- -- Walter Wullenweber konnte nicht schlafen. Hinter der weißgetünchten Wand ruhte sein Vater und war ihm, nur durch eine dünne Verschalung getrennt, so nahe, daß er das unruhige Umherwerfen des schwerfälligen Körpers vernehmen mußte. Im Karpfenteich und in den sich daranschließenden Sumpfgräben quakten die Frösche. Aus den Viehställen sang zuweilen eine klirrende Kette. Hinter der weißen Wand ward ein Stöhnen hörbar. Er erhärtete sich dagegen. Mußte er nicht auch, schweigsam, oft genug leiden? Tief wühlte sich sein Kopf in den verschwenderischen Reichtum der weichen Federkissen ein. Und doch lauschten die Sinne -- wider Willen -- und erlauschten, daß sich der Mann, der um keinen Preis alt und schwach sein wollte, in Schmerzen wand. Da sprang er auf und ging zu ihm. „Was hast du, Vater? Soll ich dir von deinen Tropfen geben?“ Der Major winkte ab. „Laß nur. Dagegen helfen sie doch nicht! Ich halte das nicht länger aus.“ „Luft und Stille hier werden dir gut tun. Nur Geduld.“ „Dazu habe ich keine Zeit mehr.“ „Was hast du, Vater?“ „Du mußt mir helfen, Walter!“ „Sobald es Tag geworden, wollen wir nach einem Arzt senden,“ sagte Walter Wullenweber und glaubte doch nicht, daß der hiergegen etwas vermöge. „Was soll mir der? Ich brauche nur dich!“ „Ich bin ja bei dir!“ „Du willst mich nicht verstehen. Da in der Tasche steckt der Wisch.“ Und Walter Wullenweber las: „Wenn Sie innerhalb von zwei Wochen nicht Ihr mir gegebenes Ehrenwort einlösen und das Geliehene zurückzahlen mit 7 Prozent Zinsen, mache ich die Sache anhängig. Halten Sie mich nicht für ganz dumm. Ich kenne Mittel und Wege, die Sie klein bekommen. Erst im vergangenen Jahre ist einem alten Offizier ein gebührender Denkzettel vom Ehrenrat aus ähnlichem Anlaß erteilt. Denn wenn einer sein Ehrenwort bricht, so ist er nichts weiter als ein Schuft. -- -- --“ „Ist das wahr, was hier steht?“ Hart und fast mitleidslos klang die Frage. „Ja, es ist wahr! Aber --“ Walter Wullenweber ließ sich schwer auf den Schemel sinken, der irgendwo stand. Er empfand in diesem Augenblick nichts als Verachtung für den Mann, der ihm alles zerschlug, was er sich mühsam errang. „Es geht mich nichts an,“ sagte er sehr langsam. „Du willst mich nicht -- retten?“ „Nein.“ „Ich soll also --?“ „Ganz recht; du sollst endlich einmal selbst tragen, was du verschuldet hast. Ich bin nicht länger willig, mich zu opfern!“ „Es ist auch dein Name.“ „Leider! Ich werde meiner vorgesetzten Behörde unverzüglich von dem Beschluß der deinen, sowie ich davon Kenntnis erhalte, Bericht erstatten und tragen, was daraus für mich kommt!“ „Und wenn ich dir schwöre, daß dies das letzte Mal sein soll.“ „Ich würde keinen Glauben mehr an dich aufbringen können. Damals, ja, da bildete ich mir ein, daß ein Mensch so etwas nicht zum andern Mal fertig brächte. Kein Fremder einem Fremden gegenüber. Und dich betrachtete ich damals noch als meinen Vater.“ „Soll das heißen, daß du heute -- nicht mehr?“ „Ja! Das wollte ich damit sagen!“ „Walter sei barmherzig.“ „Bist du es jemals gewesen? Hast du uns nicht alles zerschlagen, Wunsch, Jugend, Zukunft?“ „Aber die Ehre, die habe ich doch hochgehalten!“ „Das bildest du dir nur ein.“ „Du bist nicht Offizier!“ „Auf meine Auffassung kommt es aber zur Zeit mehr an.“ „Wenn ich dir mein Ehrenwort verpfände, daß ich nie wieder.“ „Spare es dir! Ich lege keinen Wert darauf!“ Ein Schrei gurgelte aus dem weitgeöffneten Munde. Das Gesicht nahm eine bläuliche Färbung an. Die Züge spannten sich. Das Kinn schob sich weit vor. Und dann kam jäh ein sichtbarer Verfall. „Ob das der Tod ist,“ fragte sich Walter Wullenweber und zog, wie bei dem juristischen Aufbau eines wohlgelungenen Gutachtens die einzig mögliche Folge aus der Bejahung: „Dann trage ich die Schuld!“ Es war aber nur ein leichter Schlaganfall, wie der aus der nächsten Stadt zugezogene Arzt am Spätvormittag des neuen Tages feststellte. Lebensgefahr lag nicht vor. Alle merklichen Folgen würden sich voraussichtlich nach einiger Zeit verlieren. Walter Wullenweber wich dem fragenden Blicke seines Onkel aus. Am nächsten Tage rüstete er sich zur Abreise, ohne Nachurlaub erbeten zu haben. Er fühlte, daß seine Anwesenheit den Kranken nicht förderte. „Du machst dem Futternapf meiner alten Klidderten wenig Ehre,“ sagte der Amtsrat in der letzten Stunde zu dem Neffen. „Was ist’s denn? Hast du mir nichts zu sagen, Junge?“ „Herzlichst zu danken. Sonst wüßte ich nichts.“ „So, ich dachte! Na schön. Warst du schon bei deinem Vater?“ „Ich stehe eben im Begriff.“ „Warte einen Augenblick. Ich begleite dich.“ Walter Wullenweber wollte eigentlich die paar letzten Minuten mit dem Kranken allein sein. Er schwieg aber. „Vielleicht ist es besser so,“ dachte er stumpf und trat scheinbar ruhig an das Bett des Majors. „Ich muß nun fort.“ Der Kranke wollte sich auf die Ellbogen stützen, um sich ein wenig emporzuringen. Es gelang aber nicht. „Ich gebe dir mein Wort, daß alles anders werden soll. Willst du mir nicht die Hand reichen, Walter.“ Ein kurzes Zaudern. Dann reichte sie ihm der Assessor hin. „Werde gesund, Vater!“ Da weinte Major a. D. von Wullenweber die ersten Tränen, seitdem ihm das von dem ungeschickten Schützen geschehen war. Eine Woche später erhielt er Nachricht von seinem Sohne. Lieber Vater! Heute nur kurz die Mitteilung, daß ich von meiner Behörde den Abschied aus dem Staatsdienst erbeten habe, um, sobald er mir erteilt sein wird, bei Justizrat Weißgerber, mit dem ich bereits einig bin, einzutreten. Teile es auch Onkel mit. In Eile Dein Walter. Als auch der Amtsrat den Inhalt kannte, schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Und das erfahre ich erst heute? Was hast du denn wieder angestellt? Konntest du wenigstens deinen Mund nicht rechtzeitig aufmachen, damit dies verhindert wurde?“ Da erzählte der Major das Hauptsächlichste. Das Fehlende dachte sich der andere schon hinzu. „Wieviel wars denn zum Kuckuck?“ „Viertausend Mark!“ gestand der Major zerknirscht. „Und wofür? Für Lumpereien natürlich!“ [Illustration] [Illustration] 9. Das Nationaltheater hatte seinen großen Tag. Die Aufführung des ersten Aktes des „Parsifal“ war vorüber. Die Reihen lichteten sich. Es strömte die Stufen hinab, die in den Garten des Theaters führten. Auf den meisten Gesichtern lag noch die Andacht des Weihespiels. Einzig eine Frauengestalt hatte ihren Stuhlplatz inne behalten und saß mit zusammengelegten Händen. In ihr zitterten die heiligen Klänge nach: „Selig im Glauben.“ Zwei Herren waren, abseits des flutenden Menschenstromes, stehen geblieben und sahen zu ihr hinüber. „Sie haben vor Beginn im Erfrischungsraum mit ihr gesprochen, Kurtzig,“ sagte der Jüngere, „kommen Sie, wir gehen jetzt zu ihr.“ „Das wage ich nicht, Baron Alvensleben. Sie wissen, wer einen Gottesdienst stört, muß eines Strafbefehls gewärtig sein.“ Der alternde Meister schüttelte den Kopf. „Sie steht doch aber in der Oeffentlichkeit, mein Lieber!“ „So -- tut sie das? Ich dachte, wir wären uns gestern Nacht nach ihrem Konzert gerade darüber einig geworden, weshalb sie an der Laufbahn einer Bühnensängerin vorbei, in der musikalischen Welt Berlins in der Hauptsache als erste Bildnerin verheißungsvoller Stimmen gilt und sich nur selten zu einer Konzertreise versteht.“ „Gott ja, gestern Nacht! Inzwischen habe ich darüber nachgesonnen und muß gestehen, daß mir die Aufgabe, sie umzustimmen, sehr verlockend erscheint.“ „Sie sind nicht der Erste, der das erkannt und auch versucht hat, Baron.“ „Vielleicht aber der erste Leiter einer hocheingeschätzten Oper, der willig ist, sie sogleich in seinen Verband zu übernehmen.“ „Auch diese Freude muß ich Ihnen leider zerstören. Vor einem halben Jahre, als sie noch lange nicht so weit wie heute gekommen war, machte bereits Ihr Kollege Spartenberg denselben recht energischen Versuch.“ „Sie kennen sie länger, Kurtzig?“ „Ungefähr fünf Jahre.“ „Da werden Sie auch um die Gründe wissen? Sie kennen auch mich. Ich bin verschwiegen. Was käme da in Betracht?“ „Da fragen Sie mich zu viel, Baron.“ „Vielleicht erblich belastet?“ „Möglich! Die Mutter, nach dem Bilde zu urteilen, war eine Schönheit! Der Vater soll ein flotter Herr gewesen sein, der ihr nichts als Schulden und den alten Namen hinterließ.“ „Verdreht,“ sagte Baron Alvensleben, „aber hören Sie, versucht wird es dennoch. Wenn nicht jetzt, ganz bestimmt am Schlusse. Wenigstens ein Plauderstündchen im Parkhotel mit ihr.“ „Schön! Machen Sie sich das Vergnügen! Sie können sich meinetwegen als Zeuge ihrer gestrigen Triumphe einführen. Nur, sagen Sie ihr nichts von unserer Bekanntschaft.“ „Na nu!“ „Ja, Baron. Sie vertraut mir voll und ich möchte nicht, daß dies jemals anders würde. Kein Mißverstehen, Ihr Lächeln ist unangebracht. Die Kunst kann, wie wir soeben festgestellt haben, sehr rein sein. Der Künstler in mir freut sich an ihr, ringt um die Erhaltung ihrer Gunst, zollt ihr neidlos die verdiente Anerkennung.“ „Das haben Sie mir gut gegeben, Kurtzig. Ich nehme es Ihnen nicht übel. Kommen Sie. Nein, nicht in den Prunksaal. Sehen Sie, da schreit der Unterschied zwischen Bayreuth und München. Die Aufführung verspricht auch diesmal ganz hervorragend zu bleiben. Nur das Drum und Dran ist’s, was hier nie erreicht wird. Die Weihe fehlt. An Kosimas Brandaugen vorbei schlich man sich dort während der Pausen, trunken vor Begeisterung in das sanfte Grün eines wirklichen Götterhains und entheiligte sich nicht, bis die feierlich rufenden Tubenklänge wiederum erbrausten.“ Ganz einsam saß Eva von Ostried in dem weiten Raume. Sie war auf vier Tage nach München gekommen, um im Anschluß an die beiden Konzerte, in denen sie sang, den „Parsifal“ vor allem zu hören. Nun hatte die Musik alles Schlafende in ihr wachgerüttelt. In Berlin konnte sie es zurückschieben in das Dämmern eines dauernden Halbschlummers. Während sie bereits seit Jahresfrist lehrte, vernachlässigte sie das Selbstlernen nicht. Ihre Zeit war dadurch mit jeder Stunde, ja, mit jeder Minute, im voraus berechnet. Hier ruhte sie aus. Aber überwand sie jetzt auch die Schatten, bezwang sie alle Gedanken, indem sie sich zu der Menge begab, zum Einschlafen brachte sie sie nicht wieder. Sie würden sich zwischen ihre Empfindung und die Gestaltung der nächsten Aufzüge drängen und ihr nichts hinterlassen als das bittere Gefühl, plötzlich vor der verschlossenen Pforte zum Allerheiligsten zu stehen. Darum ließ sie sich willig von ihren Gedanken zwingen. Wie war es doch damals gewesen, als sie die Villa der toten Präsidentin verließ? -- Sie hatte sich eine kleine Wohnung genommen. Wirklich in guter Gegend. Und eine Bedienung, die in jeder Beziehung ausgezeichnet für sie sorgte, war auch schnell gefunden, weil sie mit dem Entgelt nicht kargte. Dann kamen die Lehrer an die Reihe. -- Die allerersten. Ralf Kurtzig blieb ihr treu, wie sie ihm. Seine Gegenwart war ihr ständig mit einer Feier verbunden, die sie wunderbar für die nüchternen Arbeitsstunden des Unterrichts stärkte. Ohne das gesteckte Ziel jemals zu verlieren, schritt sie weiter. Das Ziel, auf Heller und Pfennig einst zurückzuerstatten, was -- -- Jede neubeginnende Woche bestimmte sie zum Beginn des Zurücklegens. Es wollte aber immer noch nichts damit werden. Sie wurde erschreckend mager, nervös und hilflos. Denn ihre Nächte hielten tausend Rächer für die durchhetzten, gedankenlosen Tage in Bereitschaft. Der Inhalt der kleinen schwarzen Handtasche nahm merkwürdig schnell ab. Es kostete alles noch viel mehr, als sie berechnet hatte. Von den zwölftausend Mark hatte das erste Jahr mit seinen zahlreichen Anschaffungen die Hälfte verbraucht. Nach dieser Feststellung änderte sie auch ihren Lebensplan. Bis dahin sah sie Unterrichtsstunden lediglich als eine Hilfsquelle an. Jetzt stellte sie nach Rücksprache mit ihren Lehrern fest, daß bis zum ersten Geldverdienen als Opernsängerin noch eine geraume Zeit vergehen mußte. Denn als abgeschlossen konnten sie die Ausbildung ihrer Stimme vorläufig noch nicht bezeichnen. Und danach? Sie zweifelte nicht daran, daß ihr die breite Oeffentlichkeit mit Huldigungen und Beifall danken würde. -- Ob sich aber auch in gleichem Maße die Gagen einstellen würden? -- Toiletten würden nötig werden, die erschreckend viel kosteten, wenn nicht ein anderer sie bezahlte. Auch jener andere hatte sich zur Verfügung gestellt. Paul Karlsen, der sich aus den Berichten seiner ahnungslosen Frau die Zusammenhänge leicht aufbaute, fand sie schnell und flehte um ihre Vergebung. Als Eva von Ostried ihm für immer die Tür gewiesen, wußte sie, daß das Blut ihrer Mutter in ihr stärker geworden, als dasjenige ihres Vaters. Auf der einen Seite lockte ein Erfolg, wie sie ihn niemals auf der andern erwarten durfte. Knie beugten sich vor ihr! Hände haschten nach dem Saum ihres Gewandes. Geld und Schmuck leuchteten. Lorbeer duftete. Und sie hielt es für unmöglich, zu entsagen! Aber aus dem wirren Hetzen der Gespenster rang sich eine Aussicht zum Frieden durch: Gutmachen! Es war schwer, wenn nicht unmöglich! Und der heimliche Fluch würde weiter lasten. Vielleicht, daß ihn der Beifall einer dankbaren Menge -- die Leidenschaft eines Einzelnen für Stunden abnahm? Und wiederum danach? -- Was sind Stunden im Vergleich zu Jahren -- Jahrzehnten? In jener Zeit der härtesten Kämpfe klopfte eine blutjunge, blasse Verkäuferin an ihre Tür. Sie hatte Eva von Ostried singen hören und wußte seit diesem Augenblick mit dem feinen Gefühl der Ringenden, daß jene eine Gottbegnadete war. -- Fast weinend vor Verlegenheit und Erschrecken über ihre Kühnheit hatte sie ihre Bitte vorgetragen. „Helfen zum Aufstieg!“ -- Retten aus dem Schlamm, der schon ihre Füße netzte. Eva von Ostried war voller Mitleid gewesen, obwohl sie nicht an die Berufung dieses blassen Kindes zur Kunst glaubte. Warum sollte sie sich aber kein kleines Liedchen von ihr anhören? Summte ihre Köchin nicht auch beständig. Das kleine Lied aber war zur Offenbarung eines großen Talents geworden! Die schmale Verkäuferin schied mit dem Strahlen eines sie überwältigenden Glücksgefühls. So kam Eva von Ostried zu ihrer ersten allerdings nicht zahlungsfähigen Schülerin, und erlebte, wie diese wuchs und strebte, wie Schlacke um Schlacke abfiel und das Edelmetall alle Tage herrlicher hervorleuchtete. Sie würde es wohl auch noch erleben müssen, wie jene einst von sich reden machen, Bewunderer haben, die Menge hinreißen würde, während sie selbst nichts weiter war als deren Förderin und Schleiferin. „Der Uebel größtes aber ist die Schuld!“ Davor gab es keine Rettung! Einzig, wenn sie der Schar ihrer beständig wachsenden Schüler dienend, sich selbst und die zuckenden Wünsche immer aufs neue überwand, fühlte sie Ruhe, die fast dem Frieden gleichkam. Und doch blieb es nur ein Scheinfrieden! An der Empörung ihrer Lehrer, als sie ihnen den Entschluß bekannt gab -- an jedem Blicke offenkundiger Huldigung, der ihr gezollt wurde, empfand sie die unerhörte Härte ihres Opfers. Unzählige Mal war eine Umkehr von ihr beschlossen. Und dann mußte der leidenschaftlich gefaßte Vorsatz doch unter dem Vernichtungsfeuer der Gewissensangst verbrennen! Sie hatte nicht gewagt, jenes Geld aus dem Hause zu geben. Konnte die Bank nicht nach seiner Herkunft forschen und sie entlarven? Noch bevor die Tubenklänge die andächtige Gemeinde zurückgerufen hatten, begann sich der Zuschauerraum zu füllen. Eva von Ostrieds Blicke wurden plötzlich von etwas Flammenden gefesselt. In dem brandroten Haar einer üppigen Erscheinung glühte ein Halbmond köstlicher Edelsteine auf. Sie empfand den Anblick des auffallenden Schmuckes an dieser Stätte als etwas Ungewöhnliches. Ernst und feierlich, wie zum Tisch des Herrn waren die meisten erschienen. Es reizte sie, nun auch das Gesicht unter dem lohenden Haar zu sehen. Die leuchtend weiße Haut, der stark sinnliche Mund, die unnatürlich schwarzen dichten Brauen kamen ihr bekannt vor. Das war doch eine im Palasttheater beschäftigte Soubrette, die für kurze Zeit ihre Flurnachbarin gewesen! -- Und ihr Begleiter? Denn immer wieder neigte sie sich in eifrigem Tuscheln zu dem schlanken Nachbar hinüber. -- Paul Karlsen! Ein Wort von ihm -- nahe an ihrem Ohr geflüstert -- ließ sie zusammenfahren. „Dummerchen!“ War das zu der andern gesagt oder belustigte er sich über ihre Zurückweisung, sie als etwas unbeschreiblich Albernes und Törichtes verhöhnend? Dann lachten beide. Lachten sie etwa gemeinsam über sie? Hatte er ihr von jener Stunde erzählt, die sie neben ihm in seinem Musikzimmer verbrachte oder die Komik jener andern geschildert, die sie zum Hüter seiner ehelichen Treue machen wollte? -- Ihr schossen die Tränen der Empörung in die Augen. Zum ersten Male spürte sie ein starkes Verlangen nach einer Hand, die sie an diesem allen vorüber, in die Stille und Klarheit führen und dort festhalten würde. -- -- Karfreitagsehnen! Unbeschreibliches Verlangen nach Glück und Frieden! Heiligste Verzückung! Lossprechung von aller Schuld! Sei heilig! Der Lichtschein aus der Höhe erfüllte den Gral mit hellstem Erglühen. Die Andacht war vollendet! Eva von Ostried ahnte nicht, daß sie tränenüberströmt, in zitternder Ergriffenheit fassungslos auf den sich langsam senkenden Vorhang starrte. Sie merkte erst, daß sie gehen müsse, als sich leise eine Hand nach der ihren tastete. „Kommen Sie, Kind. Sonst sperrt man die heiligen Tore zu.“ „Sie sind’s, Meister?“ Zutraulich schob sie ihren Arm unter den seinen. „Jetzt gehen wir ein wenig an den Hildebrand-Brunnen, ja?“ Er wäre gern dorthin und überall weiter in dem weichen, fließenden Grau dieser Dämmerstunde mit ihr gewandert, aber ein Dritter war plötzlich neben ihnen und ließ sich nicht wegschieben. „Baron Alvensleben!“ bequemte sich Ralf Kurtzig endlich seinen Namen zu nennen. -- Nun waren sie zu Dreien! Es war kein Zauber mehr dabei. Alles sah nüchtern und verwaschen aus, denn der Regen rieselte leise aus der Luft herab. Das gewahrte Eva von Ostried erst jetzt. „Wir wollen uns möglichst schnell ins Parkhotel begeben,“ schlug der Baron vor, als sei es ganz selbstverständlich, daß sie für den Rest dieses Tages zusammenblieben. „Ihnen ist es doch recht, gnädiges Fräulein? Ich habe einen kleinen Tisch am offenen Fenster bestellt. Die Anlagen des Maximilianplatzes sind in diesem Jahre besonders schön.“ Sie sah bittend zu Ralf Kurtzig hinüber. „Nicht wahr, ich vertrage nach solcher Musik keine fremden Menschen?“ Baron Alvensleben lachte leise. „Empfinden Sie mich etwa als fremd? Mir sind Sie eine liebe Bekannte -- seit vorgestern und gestern her. Ich hörte Sie zweimal. Ihre Schubertlieder am ersten Abend waren eine wundervolle Leistung, hinter welcher die sonst recht saubere Kunstfertigkeit des Violinisten leider abgrundtief versank. Am künstlerisch wertvollsten freilich faßten Sie am zweiten Abend das Lied der Carmen auf, wie Sie ja auch mit dem hinreißenden Glanz und der einzigen Wärme Ihrer Stimme der Bühne und nicht dem Konzertsaal gehören.“ Er tat, als merke er ihr Zusammenzucken nicht. Heimlich aber freute er sich daran und pries die gründliche Kenntnis von der Beeinflussung auf die Künstlerseele. „Aha, der Köder lockt schon. Alter, guter Kurtzig, wir kennen doch den Rummel,“ dachte er dabei. Er glitt klug und geschickt, als sei dies nichts anderes, als eine bedeutungslos gemeinte Feststellung gewesen, zu ihren Liedern zurück. Sie war ein seltener Vogel. Scheu -- trotzig und unsäglich empfindlich. Das fühlte er deutlich. Bestimmt eine, die einen Regisseur zur Verzweiflung bringen konnte, daneben aber auch das liebe Publikum vor Wonne rasen machend. „Von wem stammte übrigens das kleine Lied, das Sie als Zugabe sangen,“ fragte er weiter. „Die Liederfolge verriet den Komponisten nicht. Die drei Sternchen an Stelle des Namens pflegen sonst zu einem gewissen Mißtrauen zu berechtigen. Diesmal nahm bei aller Schlichtheit die Originalität der führenden Melodie stark gefangen.“ „Den Komponisten vermag ich nicht zu nennen,“ gestand Eva von Ostried, „das kleine Lied hat eine eigene Geschichte.“ „Die Sie am offenen Fenster erzählen werden, ja,“ bat er mit einem knabenhaft fröhlichen Blick. „So lang, daß sie nicht zuvor beendet sein dürfte, ist sie nicht, Herr Baron. -- Ich saß eines Tages in einem Berliner Café und fand auf dem Platze neben mir ein mit Noten bedecktes Blatt, augenscheinlich erst ein Entwurf, denn es war viel ausgestrichen und verbessert. Ich nahm’s mit nach Hause. Und seither singe ich es jedesmal als Zugabe. Die Wirkung, die es zuerst auf mich ausübte, ist die gleiche geblieben.“ Sie waren sehr schnell vorwärts gegangen. Ohne, daß Eva von Ostried früher etwas davon gemerkt, standen sie vor dem Parkhotel. Mit einer abwehrenden Bewegung wandte sie sich zur Umkehr. „Jetzt wäre es geradezu eine Beleidigung, wollten Sie uns verlassen,“ sagte Alvensleben entrüstet. „Ich begreife nicht, was Ihnen an meiner Gesellschaft liegen kann, Herr Baron? Mir wäre es jetzt eine Qual in einem besetzten Raume zu sitzen,“ sagte Eva. „Das können Sie sicher am besten begreifen, Herr Baron. Der Regen hat aufgehört. Ich gehe zum Hildebrand-Brunnen. Wenn Sie beide mich dort später noch aufsuchen wollen, sollen Sie mich schon finden. Ein Stündlein bleibe ich bestimmt.“ * „Warum sind Sie so schweigsam, Kurtzig,“ fragte der Baron, als sie sich endlich unter dem geöffneten Fenster gegenüber saßen. „Sie sehen doch, ich ärgere mich auch nicht, obgleich mir eine ähnliche Abfuhr noch nicht vorgekommen ist. Wer mag wohl der Glückliche sein, der sie irgendwohin an ein Tischlein-deck-dich führen darf?“ „Es fällt ihr nicht ein, sich an den ersten besten zu hängen.“ Ralf Kurtzig erwiderte das in einer ihm sonst fremden Gereiztheit. „Aber bester Meister, wer traut ihr denn eine Geschmacklosigkeit zu? Sicher ist er ein Auserwählter. Ob Adonis oder Künstler -- oder gar beides vereint -- das wage ich nicht zu entscheiden. Sie werden ihren Geschmack besser kennen.“ „Ihr Herz hat bestimmt noch nicht gesprochen.“ Das klang nicht mehr so sicher, wie das erste Mal. In der Stimme lag ein gequälter Ton, der den Baron aufhorchen ließ. Er kniff das linke Auge zu und hob spähend das gefüllte Glas empor. „Wenn Sie das genau wissen -- und Sie waren ja stets ein sehr sicherer Beobachter -- ja, warum zögern Sie dann noch, alter Freund?“ Ralf Kurtzig fuhr jäh zurück. „Ich verstehe Sie nicht, Baron. In dieser Sache vertrage ich keinen Scherz.“ „So tief sitzt es schon! Dann beeilen Sie sich gefälligst, ehe Sie zu spät kommen. Eine Stunde Bedenkzeit hat sie Ihnen gegeben und zu einer Verlängerung dürfte sie sich kaum verstehen.“ „Ich verbitte mir alles weitere in dieser Sache.“ Der alternde Meister war so hastig aufgestanden, daß er dabei sein Glas vom Tische stieß. „Kurtzig, machen Sie keine Geschichten. Sie werden doch wohl von einem guten Freund eine harmlose Neckerei vertragen? Wozu hätte ich meine gesunden Augen? Sie hängt augenscheinlich sehr an Ihnen, kennt Sie durch verschiedene Jahre, lächelt Ihnen zu, strahlt Sie an. Herrgott, was ist denn dabei? Haben wir nicht schon ganz andere Sachen erlebt? Denken Sie an den alten Dresdner Amfortas aus den achtziger Jahren und seine jugendschöne kaum zwanzigjährige Gattin, die Heroine des W.’r Stadttheaters.“ „Ich bin ihr Lehrer, vor dem sie -- genau wie meine andern Leute -- zittert und bebt.“ Es klang schon milder. „Wenn Sie das sagen, wird es ja wohl stimmen. Mir scheint, das Zittern und Beben liegt reichlich lange hinter Euch beiden, was?“ „Ich habe Anteil an ihrer Entwicklung -- Freude an ihrer Kunst und Schönheit. Es fällt mir nicht ein, das zu bestreiten.“ „Na, sehen Sie wohl.“ „Mehr aber nicht!“ „Wozu das betonen. Lassen Sie. Wenn es uns noch hascht, will die Scham kommen und einen großen Zorn daraus brauen. Dabei, großer Gott! Was hat das Altwerden mit der Abkühlung der Gefühle zu schaffen? Die bleiben nicht nur. Nein, sie werden stärker und klarer, wie alter Wein, der doch auch den begehrtesten Rausch bringt. Danach gibt’s keinen Jammer. Fahren Sie nicht auf. Wer ihn kennt, wirklich kennt, der zieht ihn dem Most und dem feurigsten Heurigen allemal vor. -- Und nun die Hand her, alter Sturmgeselle. Dafür darf keine Scham auf Lager sein. Das Einzige, was Sie bewegen kann, wäre ein großer und gerechter Stolz. Ich streite nicht mal ab, daß mir ein Neidgefühl hochsteigen wollte. Sehen Sie, so ehrlich bin ich Ihnen gegenüber. Und nun Schluß damit. Wenn wir mit dem Essen fertig sind, mache ich noch einen Spaziergang an der Isar entlang. Vielleicht allein. Vielleicht auch nicht. Aber auf Ihre Begleitung rechne ich nicht. Sie gehen ja wohl nachher noch ein bißchen an den Hildebrand-Brunnen?“ -- -- -- Ralf Kurtzig spürte eine wohlige Wärme durch seine Adern glühen. Der Wein war gut. Und schließlich -- der Alvensleben ein anständiger Kerl, von dem man sich auch mal eine kleine Entgleisung gefallen lassen konnte. War’s denn überhaupt eine? Sie sprachen jetzt eifrig von dem Winterspielplan, den der Baron schon bestimmt hatte. Ralf Kurtzig hörte ihm nur scheinbar aufmerksam zu. Seine Blicke irrten durch das geöffnete Fenster und suchten den Brunnen. Er saß träumerisch da und nahm kaum etwas von den Speisen. „Dann trinken Sie wenigstens, Kurtzig.“ Und der Baron schänkte ihm fleißig ein. Dabei lag das wissende Lächeln eines, dem die Frauen keinerlei Ueberraschungen mehr bestreiten können, um seinen glattrasierten Mund. Mit dem verwöhnten Auge des Feinschmeckers kostete er die zunehmende Spannung in den geistvollen Zügen des ihm gegenüber Sitzenden behaglich aus. Er hatte doch stets das richtige Gefühl. Schon gestern kam ihm die Gewißheit, daß es nur eines Fünkchens bedürfe, um den Brand dieser späten Leidenschaft zu entzünden. Und dieser Funke war gefallen. Weiterer bedurfte es nach seiner Erfahrung nicht mehr. Ralf Kurtzig fühlte sich heiß, jung und sehnsüchtig. Und daran trug der schwere Oberungar den Löwenanteil. „Ich denke, wir sind jetzt voll befriedigt,“ sagte er und ließ die Augen schärfer in die Ferne spähen. Bereitwillig erhob sich der Baron. „Das ist auch meine Ansicht. Man soll dem kühlen, grauen Tone dieses Abends etwas Rot auflegen. Besorgen wir das also.“ Vor dem Eingang des Hotels trennten sie sich. Ohne zu zaudern setzte Ralf Kurtzig seinen Weg in der Richtung auf den Hildebrand-Brunnen fort. Erst nach einigen Minuten blieb er stehen, riß den Hut herunter und ließ sich die müde, schwere Spätsommerluft um die Stirn gehen. Was hatte er vor? Es zuckte in seinen Armen, als wolle er Lasten heben und in die Lüfte emporwerfen. Seine hohe, edel geformte Stirn wurde flammend rot. Er war ein Narr! Hundertmal war er zu diesem Mädchen gegangen -- hatte auch wohl seine Hand gehalten -- Rat erteilt -- gescholten -- und jetzt plötzlich? Der Wein war schuld! Er hatte es im Untergefühl, daß sie schließlich nur ihn auf der Welt besaß, wenn sie auch noch niemals mit einander darüber gesprochen hatten. Zuerst war es das Verhältnis zwischen Lehrer und Schülerin, später dasjenige eines Vaters zur Tochter, eines Freundes zur Freundin. Noch einmal, Ralf Kurtzig, du bist ein Narr! Aber wahr blieb’s trotzdem, daß der sechzigjährige Amfortas mit der Zwanzigjährigen über alle Maßen glücklich geworden war. Noch ein rosenrotes, dufterfülltes Spätglück. Warum sollte es also ihm unmöglich sein? -- Was denn? Keinen Schritt weiter. Nicht zum Hildebrand-Brunnen. Nicht den Wahnsinn einer Stunde in das Leben einer tragen, deren einziger Freund und Schutz er werden durfte. Sich selbst nicht zum Bettler machen. Und doch ging er weiter. Da saß sie. Zusammengekauert. Verträumt. Er sah ihre Hände. Weiß und zart hoben sie sich von den Spitzen ihres Kleides ab. Und jetzt winkten sie ihn heran. Da war er neben ihr und nahm an ihrer Seite Platz. Ihre Augen leuchteten voller Glanz. Der leichte Schleier war verschwunden. An ihren dichten langen Wimpern hing eine Träne. „Warum haben Sie geweint,“ fragte er und wußte nicht, daß in seiner Stimme die Leidenschaft zitterte. Sie hörte den Klang und wunderte sich. Er war ihr fremd. „Ich fühlte mich sehr einsam, aber dann habe ich mich auf Sie freuen müssen,“ sagte sie dankbar. „Auf mich?“ Wie ein Rausch stieg es von seinem wildpochenden Herzen zum Hirn empor. Der Wein trug die Schuld. Nein, die weiche, graue Luft. „Auf mich?“ fragte er noch einmal. Sie nickte ihm zu und legte ihre Hand auf die seine. -- Da lag sie. Nicht zu berühren wagte er sie, obgleich alles in ihm danach schrie, sie mit glühenden Küssen zu bedecken. „Was wäre ich ohne Sie,“ fragte sie leise und weich. Ist er ein Narr? Starr und steif saß er neben ihr. Ihre Hand war bei einer hastigen Bewegung von der seinen herabgeglitten und hing nun -- matt und verlassen -- zwischen ihm und ihr. Der Brunnen plätscherte. Irgendwo durchschnitt das sanfte Dämmergrau ein kleines funkelndes Licht. War das schon das Rot, von dem Alvensleben gesagt hat? Seine Stirn wurde feucht. Mühsam erhob er sich. „Ich muß fort.“ „Meister, was ist Ihnen? Habe ich Sie verletzt?“ In ihrem Ton lag tiefe Traurigkeit. Da blieb er neben ihr. Und plötzlich. -- Er war nicht länger Herr über sich. Er hatte ihre beiden, weichen, weißen Hände an sich gerissen und an sein Herz gepreßt. „Hörst du das schlagen? Für dich! -- Für dich!“ Sie wurde unruhig, obwohl sie den Wechsel in seinen Stimmungen kannte. „Was haben Sie, Meister? Sind Sie krank?“ „Was mir ist? Fühlst du das nicht?“ Er hat sie „Du“ genannt. Wie seltsam. Früher hatte sie sich das brennend gewünscht. Heute ängstigte es sie. „Fühlst du meine Liebe nicht? Ich kann sie nicht länger verbergen. Ein Jahr ist lang. Seitdem weiß ich es schon und habe dagegen gerungen. -- Nun geht’s nicht mehr. -- Werde mein Weib!“ Sie starrte ihn fassungslos an. War er irre geworden? Er sprach weiter, ohne ihre Antwort abzuwarten. „Du gehörst mir ja schon längst mit jedem deiner Gedanken. Weißt du das nicht?“ Sie fühlte seinen heißen Atem -- das Nähern seiner Lippen und wurde von einer wilden Angst, von einem Entsetzen emporgerissen. -- -- „Ich kann nicht! Ich kann nicht!“ Er wollte sie küssen. Wild wehrte sie sich und stieß nach ihm, nach ihrem geliebten, verehrten Meister, dem einzigen Menschen, dem sie voll vertraut hatte. Er fühlte den Stoß und sah das aufsteigende Grauen in ihren Augen -- taumelte zurück, sah sie irre an und stammelte etwas. Was? Sie verstand es nicht. Sie sah nur, daß er von ihr ging. Nun hatte sie Keinen mehr auf der Welt! [Illustration] [Illustration] 10. Ein ganzes langes, reiches Leben umsonst gelebt! Den angestrebten Daseinszweck verfehlend -- nichts anderes in ihren Augen als eine Beute wahnwitziger Lächerlichkeit! Er konnte ihr nach diesem nie wieder begegnen. Das stand in ihm fest. Eva von Ostried war in ihr Hotel zurückgekehrt. Hastig wollte sie die Treppe emporeilen, da winkte das Fräulein aus der Buchhalterei ihr durch das herabgelassene Schalterfenster zu. „Ein Herr hat schon zweimal nach Ihnen gefragt. Jetzt wollte er sich nicht wieder fortschicken lassen. Er wartet auf dem Gang vor Ihrem Zimmer. Es war nichts dagegen zu machen.“ Eva von Ostried war sehr müde. Jeder Schritt wurde ihr schwer. „Wer kann das sein,“ dachte sie ohne sonderliches Interesse. Es war ein ihr gänzlich Fremder, klein und beleibt, im Aeußeren elegant, der Anzug von modernstem Schnitt, Wäsche und Schlipsnadel leuchteten um die Wette. Nur seine Hände paßten nicht dazu, die sich, dicht behaart und mit kurzen, dicken Fingern und ungepflegten Nägeln ihr wie freundschaftlich entgegen streckten. „Sakra, das hat lang gedauert, meine Gnädigste.“ Sie wich einen Schritt zurück. Ihr fiel es nicht ein, ihre Hand zu heben. „Ich wüßte nicht, daß ich eine Verabredung mit Ihnen getroffen hätte,“ entgegnete sie kühl. Der Wohlbeleibte schien indes ihre Zurechtweisung nicht zu empfinden. Er sah sie in strahlender Zufriedenheit an. „So unschlau würden’s doch auch net sein,“ sagte er mit gutgespielter Treuherzigkeit. „Wer zuerst kommt, tut halt auch zuerst mahlen, net wahr?“ „Der heutige Tag war sehr anstrengend für mich. Bitte fassen Sie sich kurz.“ „Sie werden schnellstens wieder aufg’lebt sein, Gnädigste. Ich hab nämlich grad kei Kartl zur Hand. Mei Name ist Alois Sendelhuber. Gnädigste wird schon meinen Namen g’hört haben.“ „Nein,“ sagte Eva von Ostried und betrachtete die klauenartig gebogene Hornkrücke seines kräftigen Stockes, die wenig zu dem eleganten andern passen wollte. „Sollt’ man’s glauben? Mei kloans G’schäfterl hat sonst a guten Ruf.“ Eva von Ostried meinte endlich zu begreifen. Vielleicht war er gestern oder vorgestern in ihren Konzerten gewesen und sprach nun das, was der Kollege von der Geige ihr zart anzudeuten wagte, in schöner Offenheit aus. „Ich brauche gar nichts, Herr Sendelhuber. Danke vielmals für Ihre Bemühung. Berlin, wohin ich mich morgen zurückbegebe, versorgt mich schon ausreichend.“ Sein Gesicht wurde plötzlich unendlich schlau und vergnügt. „Auch kein neues Konzört-Angaschemang, meine Gnädigste?“ „Wie sagten Sie,“ fragte Eva von Ostried auflauschend und blitzschnell überlegend, daß sie jetzt Geld verdienen müsse und dies am ehesten durch Konzerte vermöchte. Ja, das wäre schön. Da kämen neue Einnahmen zusammen und der Zeitpunkt der ersten ruhevollen Nacht würde näher gerückt. Die weiche Wölbung seines mächtigen Bauches begann sich mit zu freuen. „Gelt’s, da spitzens? Also, wollen wir nun ’n eingehen. Wenn’s g’fällig ist.“ Sie saßen sich in dem geräumigen Zimmer mit der geschmacklosen Ausstattung der Dutzendräume gegenüber. „I hätt für den November Neigung,“ meinte er und blätterte in seinem nicht ganz saubern Notizbuch. „Den Ersten, Fünften und Neunten --“ „Den Neunten bin ich bereits versagt, Herr Sendelhuber.“ „Schad’t nix. Sagen Sie wo und bei wem, das andere mach i halt scho. Kleinigkeit.“ Sie sah kühl und sehr hochmütig aus. „Das gibt es bei mir nicht. Was ich versprochen habe, wird auch erfüllt.“ „S’ sind halt noch a Anfangerin. Ach i über dö damische Konkurrenz weg, mach i scho das G’schäft für uns zwei beid’. Also den Ersten, Fünften und Neunten hab i g’sagt. Am Erst und Fünften hier, wo man Sie bereits kennen tut. Am Neunten in Nürnberg. Und die Einnahm’? Wir teilen’s halt!“ „Nein, das genügt mir nicht.“ „Schauens -- schauens!“ sagte er nachdenklich und begann zu rechnen. Sie saß ganz still und mußte denken, was ihr Ralf Kurtzig jetzt wohl raten würde. „Unter zwei Drittel für mich tu ich’s auf keinen Fall, Herr Sendelhuber.“ Dann zogen sich ihre Brauen zornig zusammen. Warum griff sie nicht sofort zu? -- Ralf Kurtzig hätte seinen Vorschlag für den Anfang durchaus annehmbar gefunden? Ihm beugte sie sich schließlich und sagte unsicher, noch ehe Herr Sendelhuber mit dem Rechnen zu Ende gekommen war. „Schön, meinetwegen, für diesmal die Hälfte.“ Sofort stellte sein Stift die emsige Arbeit des Zahlenmalens ein. „’s is auch klüger. Sie stehen sich, im Vertrauen, bei der Hälft’ besser!“ „Also ein kleiner Gauner,“ dachte sie und äußerte doch nichts dergleichen. Sie wollte plötzlich vor allen Dingen möglichst schnell einen guten Ruf als Konzertsängerin haben und dazu brauchte sie solche Leute. Denn unter den verschiedenen Abschriften alter Verträge, die er ihr als Beweis seiner Tüchtigkeit und Beliebtheit vorlegte, befanden sich lauter gute, bekannte Künstlernamen. Er schrieb bereits auf einem umfangreichen Bogen. „Also am Ersten, Fünften und Neunten. So war’s doch? Die damische Feder tut’s scho wieder net, is halt a Kreiz.“ Er stieß sie kräftig auf die Decke des Tisches, wischte mit dem breiten Zeigefinger den entstandenen Tintenfleck fort und schrieb weiter. „Den Neunten werde ich unter keinen Umständen singen, Herr Sendelhuber. Sie haben das wohl schon wieder vergessen.“ „Wo werd i? Da is nix weiter drüber zu reden. Also den N--eu--n--ten --“ Sie setzte ihren Namen darunter, ohne den Entwurf durchzulesen. Er faltete ihn umständlich zusammen und barg ihn bei den andern. „An Umsatz werden wir schon hab’n! Mähnetscht Sie wer?“ „Wie meinen Sie das, Herr Sendelhuber?“ Er machte eine kleine, vertrauliche Bewegung, führte sie aber nicht voll aus, sondern lachte tonlos. „I sah Sie halt mit dem Herrn Baron Alvensleben z’sammen. Und der Kurtzig war auch dabei. Schaun’s -- München ist net Berlin. Koane G’schäftsstadt. Sei Ruh und sei Maß. Das wär den meisten Leut g’nug. Bequem sind s’ halt. Wollen gern wissen, ob eins scho G’schmack g’fund hat.“ Sie begriff endlich. „Bei so einem Wuchs und G’schau und denn die Stimm.“ „Nett, daß er auch die Stimme erwähnt,“ mußte sie denken und wollte auffahren. Damit hätte sie sich indes nur lächerlich gemacht. Und, was die Hauptsache blieb und wohl ewig bleiben würde, solange es Kunst und Künstlerinnen auf der Welt gab, sie mußte jetzt Geld verdienen. „I lass’ Ihnen den Vertrag fein ausfertigen und schick’n nach Berlin.“ Das letzte Wort sprach er mit einer leichten Senkung in der fetten Stimme, die seine Verachtung für die von ihm gemiedene Stadt beweisen sollte. „Ich danke Ihnen, Herr Sendelhuber.“ Sie wollte allein sein. Eine schwere Müdigkeit drückte ihr die Lider zu. Weil er nicht Miene machte, aufzustehen, überwand sie sich und reichte ihm, über den Tisch, die Hand hin. Er war zu sehr mit dem Einschrauben seines Füllfederhalters beschäftigt, als daß er sie etwa aus Nichtachtung übersehen haben könnte. Lächelnd ließ sie sie sinken. „Nun er mich sicher hat, ist das ja auch überflüssig.“ Endlich war er fertig. „S--o, jetzt will i noch meine geröhste Kartoffeln eß’n und dann für heut genug. A Wort noch, Freilein! Pfi--it! I muß ja noch a Depesch’n geb’n! An die Gret Melchenhuber oder Margarete Kolwinirgers, wie sie sich zu nenne beliebt. A schlaues Luderchen. I bin aber scho allemal a Minut vor ihr aufg’wacht. -- Also, Freilein, nix übelnehmen. Aber Sie sollten a bessere Zeugmach’rin nehmen. A Adress’n kann i gern geben.“ Und er suchte wieder in seinem Notizbuch. „Bestell’n Sie a schönen Gruß von mir. Dann pumpt’s halt gern.“ Sie lachte nun auch. Es machte sie noch reizvoller. Blitzschnell fuhr er mit der roten Zunge über die wulstigen Lippen. „Na also! Wir verstehe uns scheint’s doch ganz gut mitsamm’n. I hab’ die Aehre, Freilein und mit dem Zuschicken bin i pünktlichst.“ -- -- Eva von Ostried hatte sich noch ein kleines Abendessen nach oben bestellt. Es war inzwischen zehn Uhr geworden; viel Gutes stand also kaum mehr zu erwarten. Früher hätte sie nach einer ähnlichen Erschütterung gar nicht daran denken können. Jetzt wies sie das Pflichtgefühl, sich leistungsfähig zu erhalten, darauf hin und verlangte gebieterisch Gehorsam. Was sollte werden, wenn sie zusammenbrach, ohne zuvor ihre Schuld getilgt zu haben? -- Das Essen widerte sie an. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Aber die Mattigkeit, die ihre Hände beim Zufassen erzittern ließ, zwang sie zur Vernunft. Außer der ersten Frühmahlzeit hatte sie heute noch nichts weiter genossen, als das hastig gelöffelte Fruchteis im Speiseraume des Prinzregenttheaters. Und morgen mußte sie doch frisch sein für die Reise und die anstrengende Tätigkeit in Berlin. Mechanisch stocherte sie in dem „Karfiol“ herum und bemühte sich von den goldbraunen „Pflanzerln“ etwas in den Mund zu schieben. Es deuchte sie eine schwere Arbeit. Sie zwang alle Gedanken zu dem geschäftskundigen Herrn Alois Sendelhuber und konnte doch damit das Bild nicht verscheuchen, das überall auftauchte und ihr Empfinden peinigte. Die Erinnerung an den alternden Meister, der ihr einziger Freund gewesen war. Warum schob sie ihn in die Vergangenheit? Er stand trotzig und stark im Leben und würde es überwinden! War sie mit ihrer entsetzten Verneinung, von welcher der Verstand nichts wußte, voreilig gewesen? Mußte es nicht ein wundervolles Ausruhen neben seiner reifen Persönlichkeit sein? Ein einziges dankerfülltes Streben, um ihm zu vergelten, daß er so eine wie sie... Da war es wieder, was nun Stunden fest geschlafen hatte. Die heiße Gewissensnot, weil sie einmal gestrauchelt war. Davon ahnte er nichts. Sie hatte auch niemals in Betracht gezogen, es ihm zu beichten. Und doch mit dieser Lüge einen, der ihr seinen Namen geben wollte, zu belasten, war das nicht die zweite Sünde? Darüber hätte sie in diesem Fall hinwegkommen können, weil sie ihn nicht als den Erwählten ihres Herzens empfand. Nur, wo strömende, tiefe, gewaltige Liebe sich hingab, durfte kein Geheimnis walten. Wie friedlich es wohl dauernd mit ihm sein mußte. Geborgen von seiner Stärke, getragen von der Abgeklärtheit seiner Lebensauffassung, gestützt von den Erfahrungen seiner ruhmreichen Vergangenheit. Konnte es eine bessere Erfüllung aller Jugendträume geben? Sie empfand plötzlich heftige Sehnsucht nach der Festigkeit seiner Stimme. Daneben stieß die Furcht vor dem ersten Wiedersehen nach dieser Stunde ihr Herz. Drei Türen weiter wohnte er. Ob er endlich daheim sein mochte? Was würde sie tun, wenn er jetzt zu ihr treten und sagen würde, daß sie ihn nach diesem Scheiden nicht mehr wiedersehen werde, es sei denn, daß sie die drei Worte am Hildebrand-Brunnen zurücknähme. Ohne ihn würde es kalt und leer sein. Der Tag keine Freuden mehr. Sie selbst müßten ratlos und unsicher in allen Dingen stehen. Sie malte sich aus, wie er bei ihr gesessen hatte in Zeiten strengster Arbeit. Ein unerbittlicher Lehrer, der quälen konnte, bis die Tränen der Erschöpfung und des Zornes flossen. Ein Finger pochte an die Tür. Eine Bedienerin trat über die Schwelle. „Verzeihung, gnädiges Fräulein, ich soll nachschauen, ob der Herr von Nummer 41, Herr Kurtzig ist sein Name, bei Ihnen wäre?“ „Wer fragt das?“ forschte Eva von Ostried erstaunt. „Die Herrn Künstler, die von der Klause herübergekommen sind und ihn schon überall gesucht haben.“ „Ich bin allein, wie Sie sehen. Er wird in seinem Zimmer sein.“ „Nein, der Schlüssel hängt unten in der Buchhalterei. Er hat befohlen, daß ihm zu elf Uhr eine Flasche Sekt aufs Eis gelegt werden möchte. Und zwei Gläser dazu bestellt. Und einen kleinen Tisch mit lauter roten Rosen. Die Blumen sind gerade vorhin gebracht worden vom Michelsberger Franzel, der beim englischen Garten die schönste Binderei hält.“ „Wann hat er den Sekt bestellt? Erinnern Sie sich der Stunde?“ „Gleich nach acht Uhr kann’s gewesen sein, per Telephon aus dem Parkhotel.“ „Bei wem machte er die Bestellung?“ „Bei mir, gnädiges Fräulein. Ich bediene ihn seit Jahren, wenn er herkommt. Er weiß, daß Verlaß auf mich ist.“ „War er fröhlich, ich meine, klang seine Stimme so, als er mit Ihnen sprach.“ Die frische kräftige Kellnerin nickte zutraulich. „So froh hat er’s geschmettert, wie nur einer sein kann, der nachher Sekt trinken will mit zwei Gläsern, gnädiges Fräulein! Und dazu die roten Rosen. Wir sind halt alle sündige Menschen. Und der Herr Ralf Kurtzig ist einer von denen, die mit achtzig Jahren noch nicht alt sind.“ „Die roten Rosen werden welken,“ sagte Eva von Ostried träumerisch. „Schon möglich. Die Hitze war heute groß. Man konnte ja kaum atmen.“ „Und der Sekt und die beiden Gläser? Das Eis wird schließlich auch schmelzen --“ „Wär alles recht schade, gnädiges Fräulein. Der Tropfen, der ungetrunken bleibt, kann nicht einheizen und die meisten Leut’ können doch nicht leben beim toten Ofen.“ „Der tote Ofen -- was meinen Sie damit?“ „Was man meinen muß, wenn man ein Herz im Leibe hat. Wein und Lieb sind halt Zwillinge. Wenn einem das erste bitter schmeckt oder vor der Nase weggetrunken wird, ist gewöhnlich das andere versalzen.“ „Und was, glauben Sie, wird dann aus ihm?“ Eva von Ostried hatte vergessen, mit wem sie sprach. Der Klang einer menschlichen Stimme tat ihr wohl. „Danach? Es kommt drauf an. Einer wirft sich in die Brust und versuchts mit einem feinen Pelz aus andern Sachen, Gott weiß, da gibt’s ja genug. Die einen spielen oder arbeiten gar wie wild und manch’ einer soll dabei auch schon den Verstand verloren haben. Die andern mögen nicht weiter. Die machen Schluß.“ Schluß -- Schluß schrie es in plötzlich erwachender Angst in Eva von Ostried. Die Kellnerin lauschte aufmerksam auf und deutete dann mit schalkhafter Miene und weit von sich gestreckten Armen geradeaus. „Hören Sie das Poltern, gnädiges Fräulein? Ich wette, daß das die ungeduldigen Herren Künstler aus der Klause sind. Sie werden sich einfach vor seine Tür hinhocken. Ja, das machen die! Passen Sie mal auf.“ Und mit einem Lachen in den Augen lief sie aus dem Zimmer, nachdem sie noch vielmals um Vergebung wegen der dummen Rederei gebeten hatte. -- Eva von Ostried wollte sich endlich zur Ruhe begeben. Denn morgen. Da war sie schon wieder bei Ralf Kurtzig. Vor der Abreise nach Berlin hatten sie mit einander noch in die Pinakothek gehen wollen. Während sie das dachte, lauschte sie nach den Geräuschen vor ihrer Tür. Da trappten wohl wirklich Ralf Kurtzigs frühere Schüler, um noch ein Stündlein bei ihrem Meister zu sitzen. Sie fühlte, daß er sich darüber freuen würde, wenngleich sie seine polternden Worte bei der Erkenntnis ihrer Huldigung zu hören meinte. „Geht lieber schlafen -- Ihr. Das ist Euern Stimmen zuträglicher.“ Sie öffnete die Tür. Ihre Blicke irrten den matterleuchteten Flur entlang. Vier erwartungsvolle Gesichter wandten sich ihr entgegen. „Grüß Gott, werte Kollegin! Halt -- dageblieben? Rede und Antwort gestanden: Wo haben Sie ihn gelassen?“ „Ich warte auch auf ihn,“ sagte sie und erschrak nun selber, denn sie hatte sich das bisher nicht zugestanden. „Da ist es das Einfachste und Erfreulichste, wenn wir das fortan gemeinsam besorgen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das geht leider nicht.“ „Und warum nicht,“ staunte der Sprecher. „Ich denke, Sie sind sein Liebling?“ „Wer sagt Ihnen das?“ „Einer, der es bestimmt wissen muß. Können Sie gut raten?“ „Sie scherzen.“ „Fällt mir nicht ein. Er hat, als ich ihm vorgestern durch ein Dutzend Straßen nachgejagt bin und zuletzt auch glücklich eingefangen habe, immer nur von Ihnen gesprochen. Denn ich war sein Lieblingsschüler! Sind wir also nicht zwei ganz alte, sehr gute Bekannte?“ Sie wollte wissen, was er gesprochen hatte von ihr. „Gott, was einer, wie er, halt so sagt. Nicht besonders viel! Zusammengefaßt wohl kaum zehn Druckzeilen. Es kommt ja auch lediglich auf den Inhalt an. Ist’s Ihnen wirklich um den zu tun?“ „Ja,“ nickte sie. „Auch wenn Sie rot werden müssen, vor Stolz?“ „Auch dann!“ „Vielleicht bringe ich alles zusammen. Also, daß er Sie gefunden hätte, daß er Ihnen zum Aufstieg helfen dürfte, das wäre doch das Allerschönste aus seinem Leben.“ Sie blickte versonnen vor sich hin. Das Allerschönste. „Nun verlange ich auch die Belohnung. Kommen Sie, einen fünften Schemel besorgen wir. Uns hat gerade noch die Frauenstimme gefehlt. Sowie wir das erste Geräusch hören, soll’s losgehen.“ „Was haben Sie vor?“ „Einen Willkommensgruß natürlich zur Begrüßung. Alle vernünftigen Leute wären längst zur Ruhe, sagt die Kellnerin aus Berlin. Einen falschen werden wir also nicht ansingen.“ „Nein, ich kann nicht bleiben, aber ich werde innen warten,“ sagte sie, nickte ihnen freundlich zu und ging. Aber sie blieb wirklich in den Kleidern. Lange, lange! Da hub draußen ein Singen und Klingen an: Geschmolzen ist der Winterschnee, Der Hornung wandelt sich zum See. Nun kam er also! Aber mit einem schrillen Mißton brach der Gesang ab und ein Raunen und Reden und Laufen hörte sie herein. Da eilte sie mit bangem Herzen hinaus zur Treppe -- -- Auf einer Bahre hatten sie ihn gebracht. Einer der Träger erzählte mit umständlicher Wichtigkeit, ohne daß ihn jemand darum befragt hätte: „Wir gingen gerade vorüber, als sein Körper unten aufgeklatscht ist. Es war nicht leicht, ihn rauszufischen. Hier ist seine Brieftasche, in der wir eine Karte von diesem Hotel mit seinem Namen darauf gefunden haben.“ -- Sein langes, eisgraues Haar hing tief in die Stirn hinein. Mit großem hellen Blicke starrten die offenen Augen. Seine Lippen waren nicht ganz so fest wie sonst geschlossen. -- Da warf sich Eva von Ostried neben der Bahre auf die Knie und preßte seine schlaffen Hände an ihr Herz, wie er es am Brunnen mit den ihren getan hatte. Und +er+ wehrte ihr nicht. Sie legte ihren Kopf dorthin, wo seine Liebe für sie gepocht. Es war still -- für immer. [Illustration] [Illustration] 11. Nach vier Tagen sandte Herr Alois Sendelhuber die Abschrift des Vertrages an Eva von Ostried. Sie war gerade im Begriff, zu einer Unterrichtsstunde nach dem Grunewalde hinaus zu fahren. Ihre neueste Lernbegierige war die Tochter eines mehrfachen Millionärs und hatte bei gutem musikalischen Gehör ein recht bildungsfähiges Zwitscherstimmchen. Vor ihr lag, soeben abgeschlossen, ein Heft, in dem sie alle Ausgaben und Einnahmen zu buchen pflegte. Sie hatte festgestellt, daß sie die letzten fünf Wochen mit ihrem Verdienst allein ausgekommen war, ohne den Rest des andern Geldes anzugreifen. Freilich, was war das für ein Leben gewesen. Der Spiegel warf ihre Gestalt in dem reichlich abgetragenen Kleid getreulich zurück. Herrn Sendelhubers Kleidermacherin wäre mindestens vier Wochen zu beschäftigen gewesen. Demnach fehlte ihr alles, was sie einst als begehrenswert erstrebte. Sie litt unter diesem gewaltsam durchgeführten Mangel wie an einer schleichenden Krankheit. Und +schön+! Das alte jäh aufwallende Verlangen nach äußerem Tand packte sie ungestüm. Nach der Stunde im Grunewald würde sie endlich alles notwendig Gewordene in einem der ersten Geschäfte bestellen. War denn aber wirklich dazu das Geld vorhanden? Sie hatte sich gelobt, fortan -- selbst wenn sich die Einnahmen vorläufig nicht steigern sollten -- den kleinen Blechkasten mit des ehrbaren Tabaksbauern Zurückgezahlten nicht zu öffnen. Aber jetzt riß sie ihn aus dem Dunkel des Schreibtisches hervor, ließ die Feder aufspringen und entnahm dem dünngewordenen Päckchen +einen+ Schein! Er würde genügen. Nach kaum einer Minute legte sie ihn wieder zu den andern zurück. Ihr Gesicht war sehr blaß geworden. Was hatte sie vorgehabt? Einen Teil des Raubes dazu verwenden wollen, um der alten Eitelkeit zu dienen. Die mühselige Arbeit restloser Selbstbezwingung also einfach vernichtend, indem sie von neuem sündigte. Das konnte allein kommen, weil ihr Ralf Kurtzigs Beistand fehlte. Sie nahm die Kreidezeichnung, auf der ihn ein junger, talentvoller Maler mit klarem Blick für seine innere Größe darstellte, zur Hand und vertiefte sich darin. Ob sie ihn nicht doch geliebt hatte? Unbewußt? Der Alltag entriß sie endlich allem Grübeln. Herrn Alois Sendelhubers Vertrag sah sie vorwurfsvoll ob der Vernachlässigung an und verwandte sich in dessen kleine, schlau zwinkernde Augen. Sie nahm ihn an sich, um ihn später auf der Fahrt zu lesen. Jetzt galt es keine weitere Zeit zu verlieren. In diesem Augenblick steckte aber die unzufriedene Bedienerin den Kopf zur Tür hinein. „Sie brauchen nicht zu glauben, daß ich Ihr Frühstück vergessen hätte, Fräulein. Es war nur nichts mehr im Hause. Und wieder um Geld bitten und das Gefrage und Vorwürfemachen mit anhören, gerad’ als ob man ein kleiner Betrüger wär’, nee, lieber nich! Unterwegs wird ja auch wohl was zum präpeln zu kriegen sein, denke ich.“ Eva von Ostried war das Blut in die Wangen gestiegen. „Ich habe mich genau erkundigt,“ sagte sie kurz, „die Summe, die ich hingebe, genügt für uns beide völlig.“ „Könnte ich mich denn nich auch mal bei derselben Quelle ein bißchen belehren,“ fragte das Mädchen höhnisch und stemmte lachend beide Hände in die Seite. „Oder hat’s vielleicht der Spatz gesagt, der hier alle Morgen rumpiept, weil ihm keine Krume mehr gegönnt wird?“ „Sie werden unverschämt,“ sagte Eva von Ostried und bezwang ihre Empörung. „Nicht im geringsten, Fräulein. Bloß tückisch, weil ich immer an einem leeren Futternapf stehen muß. Und darum, sehen Sie, ich bin viel zu abgewachsen für Ihr Portemonnaie. Eine, die ’nen Kopf kleiner ist wie ich und noch ein bißchen was von der vorigen Stelle auf den Rippen hat, die müssen Sie sich nehmen. Ich geh’ nämlich in vierzehn Tagen.“ „Es ist gut,“ sagte Eva von Ostried und mußte doch schaudernd an die neuen Unbequemlichkeiten denken, die daraus entstehen würden. „Ich hätt’ noch was zu sagen.“ „Dann beeilen Sie sich. Ich muß fort.“ „Es nimmt bloß ein paar Minuten weg. Bis vor kurzem, na, sagen wir mal, bis Sie nach München gondelten, habe ich doch im Ganzen recht ordentlich gewirtschaftet, nich?“ Eva von Ostried dachte nach und mußte zugeben, daß die Mahlzeiten zumeist reichlich und schmackhaft gewesen. „Daraus erkennen Sie selbst, wie gut Sie mit dem Wochengeld auskommen können,“ stellte sie fest. „Nee,“ triumphierte das Mädchen, „die Rechnung stimmt nich. Der Zuschuß hat aufgehört. So klappt’s.“ „Welcher Zuschuß? Was meinen Sie damit?“ „Meine Mutter hat uns Kindern gesagt, wenn einer tot ist, dem man was geschworen hat, könnt’ man getrost seinen Mund auftun. Darum will ich auch nicht länger schweigen. Herr Kurtzig hat mir doch regelmäßig Geld gegeben, damit das Fräulein seine kleine Freuden hätt’.“ „Geld! Und das erfahre ich erst heute?“ „Ich hab’s schon gesagt. Schwören mußte ich ihm, daß ich meinen Mund hielt.“ „Wieviel?“ fragte Eva von Ostried und fühlte eine schwere Mattigkeit in allen Gliedern. „Wie kann ich das noch wissen. Viel hat er ja auch wohl nicht gerade gehabt. Das merkt unsereins schnell. Mal zwanzig Mark, mal auch ein bißchen weniger. Unter zehn Emmchen gab er aber nie. Dazu hat er das Fräulein viel zu sehr verehrt.“ Eva von Ostried hatte die Empfindung, als wolle ihr Herz verbrennen. Und in den Blicken des Mädchens stand die helle Schadenfreude über die Bestürzung der jungen Herrin. „Es gibt noch viele, die mehr spendieren würden, wenn sie Sonntag abends hier ab und zu ein bißchen singen und spielen könnten, Fräulein.“ „Gehen Sie auf der Stelle,“ befahl Eva von Ostried und wies mit der Hand nach der Tür. „Mach ich gern! Wollen Sie meine Sachen nachsehen, ob ich aus Versehen was Fremdes eingepackt hab’? Es ist nämlich schon alles parat.“ „Nein! Nur beeilen Sie sich möglichst, damit Sie aus meiner Wohnung kommen.“ -- -- In der Küche polterten dann die Schritte eines Mannes, der das bereit gehaltene Gepäck abholte. Kräftig wurde eine Tür zugeschlagen. Sie machte keine Miene nachzusehen, ob das Mädchen nun endlich fort sei. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Aus einem matten Pflichtbewußtsein, das sich widerwillig regte, ging sie zum Fernsprecher und teilte der Schülerin im Grunewald mit, daß sie sich zu elend fühle, um heute herauszukommen. Dann saß sie stumpf und regungslos auf ihrem Platze. Ralf Kurtzig, du hast es gut gemeint! Auch darin! Und doch, wenn du das jetzt wüßtest, du warst ein so kluger, reifer Mensch, hast du nicht geahnt, daß du dem Klatsch mit dieser Herzensgüte reichlich Nahrung gabst? Nein, das hatte er nicht erwogen. Dazu stand sie ihm zu hoch. Konnte es wohl einen untrüglicheren Beweis als diesen für seinen unerschütterlichen Glauben an ihre unantastbare Reinheit geben? Ein edler Mensch kann ja gar nicht mit der Niedrigkeit eines andern rechnen. Seine Liebe erschien ihr in einem völlig neuen Lichte. Ein ungeheurer Stolz, daß er sie erwählen wollte, erfüllte sie. Eine dankbare Freude, daß sie ihn erlaben durfte, bis zu jener Stunde am Brunnen. Aber solche Liebe, mag sie auch unerwidert bleiben, verpflichtet zu einem vollgültigen Beweis von Würdigkeit. Sie nahm Herrn Alois Sendelhubers Vertrag aus der Tasche und überlas den kurzen Inhalt zweimal. Er hatte sie für den neunten November verpflichtet. Der neunte November war aber, wie sie Herrn Sendelhuber wiederholt mitgeteilt hatte, längst vergeben. Es paßte Herrn Alois Sendelhuber natürlich besser, wenn er ihren Einwand einfach vergaß. Sofort schrieb sie ihm und bat um Abänderung. Als eine Woche später immer noch keine Antwort eingetroffen war, drahtete sie. Und wartete nun erregt und ungeduldig auf seine Erklärung. Herrn Sendelhubers Geschäftstüchtigkeit hatte nicht unterlassen, im Falle sie sich ohne ärztliche Beglaubigung auch nur einer der drei eingegangenen Verpflichtungen entzöge, eine erhebliche Strafe festzusetzen. Die Summe würde voraussichtlich diejenige der gesamten Winterkonzerte übersteigen. Kurz entschlossen ging sie zu einem Anwalt. Er fragte nicht, wie sie erwartet, nach ihren Wünschen. Aber er hörte sie wenigstens an. „Kontrakte werden gemacht, daß sie vor der Unterschrift durchgelesen werden,“ sagte er großartig. Das gleiche hatte sich Eva von Ostried auch bereits gesagt. Trotzdem mußte dieser eine Punkt mit Leichtigkeit unwirksam zu erklären sein. Das lag ihr im Gefühl. „Ich habe Herrn Sendelhuber ausdrücklich und wiederholt erklärt, daß ich an diesem neunten November nicht mehr frei wäre,“ warf sie ein. Darauf schien er kein Gewicht zu legen. „Sind Sie überhaupt geschäftsfähig?“ „Ich bin volljährig.“ Er zuckte die Achseln. „Meiner Ansicht nach nichts zu machen. Aber Sie können meinetwegen wiederkommen. Bei einer Stunde ist der Bürovorsteher vom Essen zurück. Und dann findet sich auch der Herr Justizrat ein.“ Als Eva von Ostried endlich wieder in der frischen Luft stand, mußte sie herzlich lachen. Sie erschrak vor diesen fröhlichen Lauten. Wie lange hatte sie doch nicht mehr dies heimliche Behagen gespürt! Die Erscheinung des würdigen Vertreters von Bürovorsteher und Justizrat hatte etwas zu köstlich Erheiterndes gehabt. Ob auch wohl der Herr Justizrat -- -- Der Titel füllte sich plötzlich mit lebensvoller Erinnerung. Hatte ihr der treue Freund und Berater der Präsidentin nicht beim Abschied auf das Bereitwilligste seine Dienste angeboten? Ihre Gedanken waren seither nicht wieder zu ihm gelaufen. Sie hatte die Zeit, in welcher sie ihm beinahe täglich begegnen mußte, künstlich versenkt. Nun aber beschloß sie, nachdem sie die Wartefrist auf Herrn Sendelhubers Antwort noch einmal auf vierundzwanzig Stunden verlängert hatte, ihn aufzusuchen. [Illustration] [Illustration] 12. Als Eva von Ostried in die Mohrenstraße einbog, um Justizrat Weißgerber an seiner Arbeitsstätte aufzusuchen, klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Alles Vergangene wurde wieder lebendig! Der Vorraum wirkte immer noch wie ein mächtiges Abteil erster Klasse auf sie. Ueberall waren gradlinige, mit rotem Plüsch überzogene Sitzbänke aufgestellt. Nur der alte, würdige Bürovorsteher, der ihr einst die neuesten Tageszeitungen als Zeitvertreib freundlich gebracht, war einem jungen Kavalier mit aufstrebendem Haarwuchs gewichen, der zuweilen einem ältlichen, demütigen Fräulein eine Weisung zurief und jeder Kommende erhielt neuerdings eine Blechmarke zugeteilt, welche das Recht auf Gehör ausdrücklich verlieh. Geduldig wartend saß sie, bis ihre Nummer aufgerufen ward. Mit einer sorgsam zurechtgelegten Entschuldigung, daß ihre Zeit bisher keinen Besuch in seiner Privatwohnung gestattet habe, trat sie über die Schwelle, aber die Entschuldigung blieb ungesprochen. Der, welcher an alter Stelle vor dem wuchtigen Schreibtische saß, war nicht Justizrat Weißgerber. Die Tatsache wirkte eigentlich erleichternd auf sie. Das fremde kluge, ernsthaft männliche Gesicht flößte ihr sofort Vertrauen ein. Während sie auf eine einladende Handbewegung ihm gegenüber Platz nahm, fiel ihr die Farbe seiner Augen auf. Sie war tiefblau und so klar, wie der Himmel, wenn er vom Glanz der Sonne durchleuchtet ist. Seine Stimme freilich klang, im Gegensatz zu der des alten erfahrenen Juristen, unsicher. Als sie mit der Darlegung ihres Falles zu Ende gekommen war, suchte er wiederholt nach passenden Worten und machte kleine Pausen, als er sie endlich gefunden, in denen er sie fast erstaunt ansah. Sie fühlte, daß er -- wider Willen -- ihrer Schönheit huldigen mußte. Das geschah ihr oft. Aber noch nie zuvor empfand sie eine ähnliche warme Freude darüber. Nun hatte er sich wieder voll in der Gewalt. Sein Blick ruhte nicht mehr auf ihrem Gesicht. Er schien alles von der Spitze des Stiftes, den er unruhig zwischen Daumen und Zeigefinger wirbelte, herunterzulesen. „Sie können beweisen, gnädiges Fräulein, daß Sie tatsächlich über den strittigen neunten November verfügt hatten, während Sie in München mit diesem -- so danke sehr, Herrn Alois Sendelhuber verhandelten?“ „Einen vollgültigen Beweis nennen Sie dies wohl nicht,“ fragte sie und hielt ihm das Notizbuch mit ihren Aufzeichnungen entgegen. Er ließ die Blicke länger auf den aufgeschlagenen Seiten ruhen, als es die eine ihm bezeichnete Zeile erforderte. „Doch -- doch,“ meinte er zerstreut und gab es ihr noch nicht zurück. „Wollen Sie mir aber besser noch eine Bestätigung der Schwestern Moldenhauer mit der Namhaftmachung des Datums, an welchem die Abmachung geschah, besorgen.“ „Das würde sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. So viel ich weiß, befinden sie sich auf einer großen Konzertreise und sind erst eine Woche vor dem neunten in Berlin zu erwarten.“ „Sie könnten es aber eidlich erhärten, nicht wahr?“ „Ja, das kann ich. Außerdem habe ich Herrn Sendelhuber mehrmals darauf aufmerksam gemacht, daß ich ihm diesen Tag nicht geben kann.“ In das ernste Gesicht kam ein Lächeln, das es sehr jung machte. „Mit Herrn Sendelhubers weitem Gewissen müssen wir uns als leidige Tatsache abfinden. Ein Zeuge war bei Ihrer Unterredung nicht zugegen?“ „Nein, wir waren allein. Ich kannte ihn bis dahin gar nicht. Er erwartete mich, als ich spät Abends heimkam.“ Sie hatte die Farbe gewechselt. Das entging ihm nicht. „Es liegt kein Grund zur Beunruhigung vor,“ tröstete er. „Wir würden im gerichtlichen Verfahren zweifellos obsiegen. Aber, nicht wahr, es wäre friedlicher und erledigte sich vor allen Dingen ungleich schneller, wenn man den genannten Herrn durch einen einfachen Briefwechsel zur Einsicht brächte.“ „Mir hat er auf solche Bestrebungen nicht geantwortet.“ „Das glaube ich gern. Der Briefbogen mit der Firma zweier Anwälte ist bekanntlich wirksamer wie das schönste Schriftstück mit Röslein und Jasmin.“ Sie sahen sich beide an und mußten lachen. Das kleine Buch lag noch immer in seiner Hand. „So ein Kunstwerk soll heute noch an ihn abgehen, gnädiges Fräulein.“ „Und dann,“ fragte sie schnell. „Dann schreibe ich Ihnen, sobald ich etwas von ihm höre.“ Sie nickte und schielte nach dem Notizbüchlein. Er wurde rot wie ein Schuljunge. „Bitte, hier ist es wieder.“ Und dann nach einer kleinen Pause: „All diese Stunden, die darin verzeichnet sind, müssen Sie die etwa erteilen?“ Da erzählte sie ihm ein wenig von ihrem Tag. „Wie halten Sie das aus, gnädiges Fräulein?“ „Sie sehen ja, mir geht es recht gut dabei.“ „Das wird das Verdienst Ihrer Angehörigen sein. Man wird Sie sehr verwöhnen?“ Das Gegenteil erschien ihm unmöglich. Sie blickte auf das spiegelblanke Holz der Tischplatte. „Ich stehe ganz allein.“ Sie glaubte eine heimliche Angst aus seinen Blicken herauszulesen. Eine feine Spannung hing in der Luft. In seinem Gesicht zuckte es nervös. Warum saß sie noch hier? Aber sie blieb und fragte plötzlich nach Justizrat Weißgerber. „Seit ein paar Monaten geht es ihm gesundheitlich durchaus nicht nach Wunsch. Darum suchte er sich einen Helfer. Und der bin nun eben ich.“ „Bleiben Sie dauernd hier?“ mußte sie fragen, denn die Vorstellung, daß sie ihn, wenn sie in derselben Sache etwa noch einmal kommen müßte, nicht mehr treffen könnte, begann ihr ein unbehagliches Gefühl auszulösen. Daß er mit seiner Antwort zögerte, fiel ihr nicht auf. „Ja, ich werde bleiben,“ sagte er endlich. Klang das nicht, als sei er erst jetzt zu einem festen Entschluß gelangt? „Sie haben mir noch nicht Ihre volle Adresse gegeben, gnädiges Fräulein. Herrn Sendelhubers schwer zu entziffernde Handschrift ließ mich Ihren Namen zuverlässig nicht erkennen.“ „Richtig, das hätte ich beinahe vergessen.“ Er sah von der dargereichten Karte schnell wieder zu ihr. „Ihren Namen habe ich schon oft gehört. -- Bestimmt! Es ist kein Irrtum möglich.“ „Wer könnte ihn genannt haben?“ „Sie müssen es erraten,“ forderte er fröhlich. „Wer weiß, ob ich ihn nach diesem jemals wiedersehe,“ sagte sie sich heimlich. „Warum soll ich mich also mit dem Gehen übereilen?“ „Justizrat Weißgerber hat von mir gesprochen, nicht wahr? Oder mein Namen ist Ihnen in alten Schriftstücken, in denen ich als Bevollmächtigte der Frau Präsidentin Melchers, in deren Haus ich bis zu ihrem Tod gewesen, verzeichnet stehe, zu Gesicht gekommen.“ „Fehlgeschossen. Bitte -- weiter raten!“ „Dann gebe ich den Kampf auf.“ „Erinnern Sie sich noch der alten Pauline?“ Alles Blut drängte ihr zum Herzen. Wie war das möglich? Wußte er? Nein, sie allein kannte das Geheimnis ihrer Schuld. -- Er merkte auch nichts von ihrer Erregung. Er freute sich nur dieser Minuten. „Ja, die alte Pauline! Ist sie nicht etwas ganz besonderes? Justizrat Weißgerber empfahl sie mir, als ich ihm hilflos und, wie ich ehrlich gestehen muß, eines Tages halb verhungert den üblichen kurzen Wochenbericht über den Stand unserer Arbeit gab. Sie fühlte sich in ihrem Feriendasein totunglücklich und hatte den Justizrat als alten Gönner gebeten, ihr wieder angemessene Beschäftigung zu besorgen. Als er meine Not sah, schickte er sie zu mir und siehe, wir schieden nicht mehr von einander. Seitdem verwöhnt sie mich auf eigentlich unerlaubte Art.“ Eva von Ostried wollte etwas erwidern -- ebenfalls eine Freundlichkeit über sie anfügen -- eine Frage nach ihrem Ergehen tun -- Ihre Kehle blieb wie zugeschnürt. Vor ihr stand das Gespenst des Abschiedtages aus der Villa der Präsidentin und lähmte ihre Zunge. Sie hatte es schlafend gewähnt. Nun erhob es sich und zerstörte ihr Leben. „So mußte es wohl kommen, daß sie mir auch von Ihnen berichtete.“ „Was hat sie gesagt,“ stieß Eva von Ostried hervor. „Ja, was wohl, gnädiges Fräulein? Wollen Sie das wirklich hören?“ Nun wußte sie, daß die Treue, gleich den andern, ahnungslos geblieben war. „Sie sah immer nur das Allerbeste,“ lenkte sie ab und stand auf. „Soll ich sie nicht wenigstens grüßen?“ fragte er. „Natürlich!“ nickte sie, „sie hat mir ja nur Liebes und Gutes erwiesen.“ Und dann nach einer Pause: „Sie geben mir wohl Nachricht, wenn Herr Sendelhuber geantwortet hat?“ Irrte er, oder war sie plötzlich verändert? Klang ihre Stimme kühl und fremd? Hatten ihre schönen sprechenden Augen den Ausdruck der Abwehr angenommen? Erregte es vielleicht ihr Mißfallen, daß er ihr seinen Namen noch nicht genannt hatte? „Sie müssen doch wissen, wem unsere alte, gemeinsame Freundin jetzt dient, gnädiges Fräulein. Es ist ein gewisser Walter Wullenweber, bis vor zwei Jahren Königlich Preußischer Gerichtsassessor beim Landgericht 3.“ Sein Name erweckte ihr sofort die Erinnerung an den einstigen Vormund. Aber sie unterließ es nach einem Zusammenhang zu forschen. Daraus hätten sich Fragen ergeben können, deren Beantwortung einen scharfsichtigen Juristen zu allerhand für sie gefährlichen Schlüssen zwangen. Er würde es durch die alte Pauline ohnehin früh genug erfahren, wenn sie es ihm nicht bereits erzählt haben sollte. Wenn er sich dann an den ehemaligen Vormund wandte, Fragen stellte, erfuhr, daß ihr gesamtes mütterliches Vermögen ein Nichts gewesen und die alte Pauline zu ihr schickte, damit die herausbringe, wie ihr das jetzige Dasein möglich geworden war? Ihr schwindelte. Da war die Schuld wieder, die sich quälend an ihr rächte! Sie konnte es nicht länger unter seinem klaren, warmen Blick ertragen. Hatte sie ihm die Hand hingereicht oder nahm er sie einfach? -- Sie wußte es hinterher nicht. Sie spürte nur den kraftvollen Druck, der ihre Finger umschlossen gehalten, als wären sie ein frierendes Vöglein! An einem Spätnachmittag, als sie aus dem theoretischen Unterricht, den ihr der bekannteste Musikpädagoge Berlins erteilte, zurückkehrte, lag ein Schreiben mit der Firma des Justizrats Weißgerbers und Rechtsanwalt Wullenwebers auf ihrem Arbeitstisch. Eva von Ostried riß ihn auf. Mit einem Schlage zog wieder die köstliche Ruhe, die sie zuletzt in dem Sprechzimmer empfunden, in ihr Herz. „Wir teilen hierdurch umgehend mit, daß wir soeben in den Besitz der Antwort auf unser Schreiben vom 6. d. M. gelangt sind. Herr Sendelhuber erklärt sich darin bereit, ohne sich unserer Ansicht von der Rechtsunwirksamkeit des mit Ihnen bezüglich des neunten Novembers geschlossenen Vertrages anzuschließen, gegen eine von Ihnen zu zahlende Entschädigung von 300 (dreihundert) Mark, seine Ansprüche bezüglich des genannten Tages, fallen zu lassen. Wir halten, wie wir Ihnen seiner Zeit bereits mündlich ausführten, die eventuelle richterliche Entscheidung für Sie günstig. Setzen daneben aber unser Bestreben fort, diese Angelegenheit auf gütlichem Wege zu regeln. Zur Vereinbarung dieses Zweckes wäre uns Ihr Besuch in unserm Büro sehr erwünscht. Die Sprechstunden ersehen Sie oben...“ Sie ließ das Schreiben sinken und sah starr zu der herbstlich bunten Pracht des Parkes hinüber. Eine schwere Enttäuschung lähmte ihre Denkkraft für Augenblicke. Es war nur gut, daß diese Zuschrift nicht den Schlußvermerk trug: „Privatgespräche werden in Zukunft höflichst verbeten oder entsprechend berechnet!“ Sie riß einen Bogen aus ihrer Mappe und schrieb hastig, daß sie keine Zeit zu diesem Besuch finden könne und es daher den Unterzeichneten überlasse, einen für sie möglichst günstigen Abschluß mit Herrn Alois Sendelhuber zu erzielen. Schlimmstenfalls sei sie zu der von ihm geforderten Buße bereit, denn zu einem Prozesse fehle ihr die Zeit, sowie das nötige Vertrauen zu ihrer Geduld. Als sie ihren Namen darunter gesetzt und das Geschriebene überlesen hatte, schämte sie sich ihrer damit offenbarten Bitterkeit. Und plötzlich wußte sie den wahren Grund ihres unruhevollen Wartens. Wie ein Schlag war dies, der sie betäubte. Wenn er mit lächelnder Duldsamkeit schon, als sie das erste Mal bei ihm gewesen, die richtige Deutung für ihr langes Verweilen gefunden und ihr nun keine Hoffnungen erwecken wollte? Ja, das würde es sein! Hätte er ihr sonst diesen Brief senden können? Darum mußte sie nun doch zu der vorgeschlagenen mündlichen Besprechung gehen. Sie zerpflückte ihre Antwort. Ihr Gesicht wurde hochmütig. Ihre schlanke Gestalt reckte sich auf. Er sollte seinen Irrtum sehr schnell einsehen! Als sie ihm gegenüberstand, fühlte sie ganz klar, daß alle Unruhe durch ihn gekommen war. Sie hätte vor Scham aufschreien können und lächelte doch wie eine leblose Puppe, die Hand, die er ihr zum Gruß entgegenstreckte, übersehend. „Darf ich bitten, daß wir uns möglichst kurz fassen. Ich bin heute sehr eilig, Herr Rechtsanwalt!“ Er sah sie erschrocken an. „Gnädiges Fräulein, habe ich Sie neulich irgendwie verletzt?“ Jetzt lachte sie hell auf. „Im Gegenteil, Herr Rechtsanwalt, Sie haben einer Klientin durch Ihre private Freundlichkeit mehr Zeit geopfert, als es klug war.“ „Soll das ein nachträglicher Vorwurf sein, weil ich Sie zu lange in Anspruch genommen habe.“ „Deuten Sie es ganz nach Belieben. Nur, bitte, jetzt zur Sache, wie Herr Justizrat Weißgerber früher zu sagen pflegte.“ Er saß ihr mit zornig zusammengezogenen Brauen gegenüber. Was fiel ihr ein? Neckte sie ihn einfach oder waren das Künstlerlaunen. „Ich habe kurz entworfen, was am besten Herrn Sendelhuber zu antworten wäre. Darf ich es vorlesen oder belieben Sie selbst.“ Sie nahm ihm das Blatt mit leichtem Neigen des Kopfes aus der Hand und vertiefte sich scheinbar in seinen Inhalt. Er beobachtete sie dabei scharf. Es währte sehr lange. Ein kleines Lächeln durchsonnte die Finsternis seiner Mienen. „Wenn ich es Ihnen näher erklären darf,“ erbot er sich. „Ich habe es begriffen,“ antwortete sie kurz. „Also?“ fragte er leise und sah sie mit dem Blicke an, der ihr das erste Mal die köstliche Ruhe in das Herz getragen. „Es ist gut, wie Sie es vorgeschlagen haben.“ „Ja, aber Verzeihung, daß ich darauf aufmerksam machen muß, wir verzeichneten zwei Vorschläge. Und einer darf es doch entschieden nur sein.“ Sie wurde flammend rot, weil sie sich auf einer Unwahrheit ertappt sah. Sie hatte kein Wort begriffen. „Ich möchte keinen Prozeß,“ sagte sie wie ein törichtes Kind. „Das andere soll mir gleich sein.“ Sie stand hastig auf. „Gnädiges Fräulein,“ sagte er weich und bittend, „was haben Sie? Gehen Sie nicht so fort. Ich bitte Sie herzlich.“ Sie lächelte krampfhaft. „Was ich habe? -- Nichts. Wie kommen Sie darauf, Herr Rechtsanwalt?“ Mit einer Verneigung gab er ihr den Weg frei. „Wünschen Sie vielleicht, daß ich zuvor diese Angelegenheit noch einmal mit Herrn Justizrat, als Ihrem früheren Bekannten, durchspreche?“ „Nein, ich danke. Ich möchte alles so schnell wie nur irgend möglich vergessen und bin darum auch zu der von ihm geforderten Buße bereit.“ Er sah sie fest und lange an. „Sie haben es ja schon vergessen, wenn Sie es überhaupt gefühlt haben.“ „Ich verstehe Sie nicht.“ „Als Sie mich neulich verließen, hatte ich die dankbare Empfindung, daß wir beide uns voll verstanden hätten.“ „Dann haben Sie sich eben geirrt. Das soll den besten Juristen bisweilen geschehen können.“ Wieder war er an ihrer Seite. „Fräulein von Ostried, ich kann es nicht glauben. Es würde mich sehr unglücklich machen.“ Sie zerrte an den feinen Handschuhen und zerriß sie, weil sie etwas Entsetzliches fühlte. Tränen, die aufsteigen wollten und die er doch um keinen Preis sehen durfte. Er sah sie aber doch. Und nahm ihre beiden Hände in die seinen. „Ich flehe um ein ehrliches Wort.“ „Der Brief,“ sagte sie wider Willen, „ich dachte, Sie bereuten das Private.“ Er begriff nicht sogleich. „Warum denn um Gottes willen.“ Und dann mit plötzlichem Verstehen: „Den Zeilen, auf denen ein Dutzend fremder Augen ruhten, durfte ich nicht anvertrauen, wie es in mir aussah, während ich sie aufgab.“ Seine Stimme war plötzlich voller Jubel! „Ein Dutzend fremder Augen,“ machte sie ungläubig, noch rosenrot vor Scham. „Ja,“ nickte er eifrig. „Hören Sie einen Augenblick aufmerksam zu. -- Durchschnittlich an jedem Tage gehen zwanzig bis fünfundzwanzig ähnlicher Mitteilungen heraus. Ich bediene mich dazu eines Apparats, nehme den Schalltrichter zur Hand und spreche hinein, was ich nach gründlichem Ueberlegen für richtig halte. Ein Referendar, der mir zur Ausbildung überwiesen ist, steht in vielen Fällen daneben und hört zu, nachdem ich die Sache zuvor mündlich mit ihm durchgesprochen habe. Oder, wie es bei dem Brief an Sie der Fall sein mußte, er selbst gab ihn auf, während ich als Obergutachter zuhörte. Danach kommt der Laufjunge und holt die Walzen ab. Das Fräulein in der Nische schreibt sie getreulich herunter. Mit Durchschlag natürlich, wie das in einem richtiggehenden Betrieb selbstverständlich ist. Die Kopie wird wiederum dem Laufjungen anvertraut, der in aller Heimlichkeit danach trachtet, sie zu lesen, weil er ebenso neu- wie lernbegierig ist. Der Schreiber, der sie in das betreffende Aktenstück einheftet -- denn auch Sie haben bereits ein solches erhalten --“ „Hören Sie auf,“ bat sie kläglich. „O nein, immer gründliches Verfahren. Ich erspare Ihnen nichts. Den Schreiber interessiert schon erstmal Ihr Name. Nicht wahr, er ist ungewöhnlich und klingt wie Musik. Und dann, daß Sie Künstlerin sind. Wir haben hier natürlich die verschiedensten Größen als getreue Klienten. Dies aber ist ein seltener Fall. Wie wird er ihn nicht lesen. Der Invalide, der das Amt hat, die abgehenden Schriftstücke in den Umschlag zu befördern -- nun -- warum soll er nicht das gleiche durchaus menschliche Verlangen haben? Durfte ich da auch nur ein Wort hineintragen, das mein Herz verraten hätte?“ Sie stand, übergossen von neuer tiefer Röte vor ihm. Noch einmal wehrte sie sich verzweifelt. „Was hat Ihr Herz damit zu schaffen?“ „Mein Herz?“ sagte er. „Das hat keine Ruhe finden können -- seitdem!“ [Illustration] [Illustration] 13. Eva von Ostried hatte seit kurzem ein jüngeres Mädchen in ihrer Behausung, das sie in einem Zustande der Erschöpfung und Krankheit aufgefunden und zu sich genommen hatte, ein Mädchen, über dessen Vergangenheit ein undurchsichtiger Schleier gebreitet schien. Gretchen Müller nannte es sich und niemand hier wußte um seine Vergangenheit. Die Einzige, die das Recht gehabt, sie zu befragen, rührte nicht daran. So blieb die Spur verwehrt. Gretchen hatte Stunden, in denen ihr Herz ganz leicht war. Dann pflegte sie die Blumen, besorgte wie die guterzogene Haustochter einer sparsamen Bürgerfamilie, Zimmer und Küche und setzte sich darnach mit einer Handarbeit zu der wuchernden Kresse und den rotblühenden Feuerbohnen auf den kleinen Balkon. Eva von Ostried war zu solchen Stunden nicht daheim. Ueber den Flügel lag eine Decke gebreitet. Es war alles verschwiegen und leise! Und doch brauchte nur ein Klingelton zu rufen, dann war es anders! Zumeist öffnete Gretchen Müller nicht. Eva von Ostried schloß sich die Tür nach ihrer Heimkunft selbst auf. Und jetzt klingelte es dennoch, stark und fordernd. Da entschloß sie sich nachzusehen. Eva von Ostried hatte von einer wichtigen Nachricht gesprochen, die ihr möglicherweise zugehen würde. Als die Tür aufsprang, fuhr das Mädchen mit einem Schrei zurück. Ihre Arme streckten sich weit vor. Ihre Augen wurden starr vor Entsetzen. Ihr Peiniger, der Zerstörer ihres jungen Lebens stand vor ihr und trat fast lautlos herein. „Diesmal hast du mir das Finden nicht eben leicht gemacht,“ sagte er in einem freundlichen Unterhaltungston. „Geh’!“ stieß sie hervor, „oder --“ „Du stockst sehr richtig, mein Herz. Jedes weiteres Wort wäre zum mindesten eine Unvorsichtigkeit von dir.“ „Im nächsten Zimmer befindet sich meine Herrin. Sie muß sogleich herauskommen.“ „Warum nennst du sie nicht mit ihrem Namen? Eva von Ostried klingt doch sehr schön. Auch ist es eine Ehre für dich bei dieser hochbegabten Zukunftsleuchte Unterschlupf gefunden zu haben.“ „Woher weißt du auch dies?“ „Ich erfahre alles, was ich wissen will. Das sollte dir eigentlich zur Genüge bekannt sein. Ich weiß selbstverständlich auch, daß du zur Zeit allein in der Wohnung bist. Fräulein von Ostried erteilt außerhalb Stunden und kommt bestimmt nicht vor Mittag zurück.“ „Trotzdem wirst du dich sofort entfernen, oder ich rufe die Polizei.“ „Du hast gute Gründe, sie nicht zu rufen, mein Kind.“ „Du bringst mich dahin, daß ich auch diese Enthüllung nicht mehr fürchte.“ „Denke darüber, wie es dir beliebt. Ich meine doch, du solltest Rücksicht nehmen. Es ist außerordentlich gefällig, daß dich diese Dame aufgenommen hat. Der Lohn, den du zahlst, wenn sich die Polizei mit dir und also auch mit ihr beschäftigen müßte, wäre, meiner Ansicht nach, ein schlechter.“ „Du bist ein Teufel!“ „Ich besitze Briefe von dir, die mir andere Kosenamen geben. Freilich, hießest du damals noch nicht Gretchen Müller.“ Sie hob die Hand, wie um sie auf seinen leichtsinnigen Mund zu pressen. Er wich geschickt aus und zischte leise: „Und darum solltest du die hohe Polizei mir gegenüber aus dem Spiel lassen. Ich habe in meinem bisherigen Leben noch nichts getan, was ihr Anlaß gäbe, mich scharf zu beobachten. Du aber --“ „Was ich geworden bin, hast du aus mir gemacht.“ „Das ist eine sehr bequeme Darstellung, mein Kind. Vergiß nicht, daß jedes einzig die Folgen seiner Veranlagung trägt. Gut! Zufällig bin ich derjenige, der die deine zum Ausbruch brachte. Das ist mein Pech. Denn, ob du es auch als das deine fühlst -- je nun? Sei doch ehrlich. Denke daran, wie du mir freudig, um mit dem Jäger zu reden, „auf den ersten Pfiff“ gefolgt bist.“ „Du hast deine Rolle zu gut gespielt, weil sie dir allzu geläufig war. Wie konnte ich das ahnen?“ „Mag sein! Du wirst dir damals nicht eingebildet haben, daß ein Mann wie ich vor dir noch kein Mädel geküßt hätte.“ „Ja, das habe ich mir eingebildet! Bei Gott! Aber was willst du jetzt von mir?“ „Nicht viel. Dir klarmachen, daß du in meiner Gewalt bist und bleibst! Es ist nur klug und weise, wenn du nicht weiter in diesem hochfahrenden Ton mit mir verhandelst.“ „Es muß doch ein Zweck dabei sein,“ wimmerte sie, „ich kann ihn nur nicht erkennen.“ „Nimm an, daß ich dich wirklich geliebt hätte.“ „Du lügst jetzt wie stets,“ sagte sie. „Dann weißt du mehr wie ich. Wozu hätte ich nötig, mich überhaupt noch um dich zu kümmern, nachdem du mir diese unglaublichen Ungelegenheiten bereitet hast.“ „Was hast du mit mir vor?“ Er ließ sich auf die Truhe nieder. Nun war er ihr so nahe, daß er ihr mit der weißen, gepflegten Hand über das lose silberne Haar hätte streichen können. Ein Sonnenstrahl schwebte auf sie herab und verfing sich darin. Die fieberhafte Röte wachsender Angst gab dem schmalen Gesicht den trügerischen Schein der Gesundheit. „Du siehst immer noch sehr reizend aus,“ flüsterte er ihr ins Ohr. „Indessen, du hast das richtige Gefühl. Ja, ich habe etwas mit dir vor. Eine Kleinigkeit nur. Einen Gegendienst.“ „Ich bin zu schwach geworden, um dich gleichfalls zu verderben. Das wäre der einzige Dienst, auf den du Anspruch hättest.“ „Laß das jetzt. Erinnere dich gefälligst an die Zeiten, in denen du mir täglich deine Not geklagt hast. Angeblich littest du doch unerträglich unter der Tyrannei der lieben Deinen. Dein Vater wollte Kapital aus dir schlagen. Dein tugendsamer Bruder hätte dich am liebsten an die Kette gelegt. Und das Schätzchen, das sie dir ausgesucht hatten. Sei doch endlich mal ein bißchen fidel, mein Kind und lache mit -- war er nicht fürchterlich mit seinem vogelähnlichem Kopf und den drohenden Wulsten unter den kleinen Augen? Na, ich will dir das schöne Bild nicht weiter ausmalen. Du besorgst das in deinen jetzigen sicher recht stillen Stunden besser allein. Also -- Vorwürfe muß ich energisch zurückweisen. Du hast es mir nicht schwer gemacht damals.“ „Ich habe dir vertraut.“ „Habe ich dies Vertrauen vielleicht nicht gerechtfertigt? Hättest du nicht den Himmel auf Erden behalten können, wärest du nicht so wahnsinnig kleinlich und eigensinnig gewesen? Hatte ich nicht ein behagliches Nest für dich bereit? Fehlte auch nur das Geringste für deine Bequemlichkeit darin?“ „In dem Augenblick, der mich lehrte, daß du längst anderweitig gebunden warst, habe ich nichts mehr von dir angenommen. Das wenigstens sollst du mir jetzt bestätigen.“ „Wenn du so großes Gewicht darauf legst. Schön, mein Kind. Ich bestätige es hiermit feierlich. Warum aber? Ein Künstler braucht viel Geld, wenn er selbst keins besitzt. Mit dem Pumpen ist das stets eine mißliche Geschichte. Das Sicherste und Bequemste bleibt eine reiche Partie. Ja, mag er selbst Unsummen einnehmen, er wird als freier Mann stets doch eine Kleinigkeit über seinen Etat hinaus verbrauchen. Das verstehst du nicht. -- Ich verdiente dazumal noch wenig. Die Kommerzienrätin, auf deren einer Abendgesellschaft ich dich nach der bestellten Singerei, kennen lernte, bezahlte anständig. Aber sonst -- Lieber Gott. Da mußte ich mich eben auf diese Weise sichern.“ „Daß du dich vor deiner Frau nicht schämst?“ „Frage sie, ob sie nicht überaus glücklich mit mir geworden ist.“ „Ich möchte ihr die Hände küssen, damit sie mir vergibt, was ich ihr unwissend geraubt habe.“ „Wünsche dir das meinetwegen. Daß es sich dir niemals erfüllt, laß meine Sorge sein. Im übrigen -- ich muß endlich deine Frage beantworten: Du wolltest wissen, was ich mit dir vorhabe? Ich will vor allen Dingen deine Lage aufbessern. Dich auf eigene Füße stellen. Du magst dir hinfort ein Leben nach deinem Geschmack einrichten. Nimmst du Vernunft an, werden wir uns sehr schnell verstehen. Höre zu. Ich verlange von dir, daß du niemals zu Eva von Ostried meinen Namen nennst. Spitzte sich auch selbst, im für mich ungünstigsten Falle, ihr Interesse für dich derartig zu, daß sie völlige Offenheit von dir verlangte. Denn sie ist schrecklich moralisch und würde dich nicht bei sich behalten, wüßte sie -- -- Sage ihr in diesem Fall, was du willst. Nur nicht die Wahrheit. Du hast ja damals, als du das Doppelspiel triebst, sehr nett lügen können. Also schweigen, ja?“ Sie stieß seine Hand fort. „Eines solchen Versprechens bedarf es nicht! Ich würde mich eher unter hundert Qualen zu Tode martern lassen, ehe ich mein ganzes Geheimnis preisgäbe.“ „Schön. Dann sind wir in der Hauptsache einig. Ich danke dir, Lieselotte.“ „Nicht diesen Namen nennen, nicht den Namen!“ „Du hast ganz Recht. Je gründlicher wir sind, desto wirksamer wird alles. Also, Gretchen Müller, höre mich noch ein paar Minuten an. Ich will mich nicht entschuldigen. Das lag mir niemals. Selbst, wenn ich in deinem Fall ausnahmsweise Gewissensbisse gehabt haben sollte.“ „Du hast sie nie gekannt. Diese Rolle liegt dir schlecht.“ „Dann nenne es meinetwegen anders. Immerhin -- besteht der Wunsch bei deiner Empfindlichkeit, etwas übrigens zu tun. Als ich dich kennen lernte, war ich noch nicht mal ganz fest verlobt. In aller Heimlichkeit nur. Und ich wußte noch nicht mit Bestimmtheit, ob überhaupt eine Ehe daraus würde.“ „Gibt es denn wirklich so viel reiche Mädchen, daß dir damals schon die zweite noch reichere in Aussicht stand? Lüge wenigstens jetzt nicht. Du warbst in aller Form um mich und gabst mir dein Wort. Oder habe ich mir dies alles nur eingebildet? Waren zuvor deine heißen Blicke und Huldigungen, dein Ehrenwort nur Lüge? Empfandest du nichts von jenen leidenschaftlichen Gefühlen, die du mir so oft geschildert hast?“ „Das sind viel Fragen auf einmal. Deine Frische hatte mich bezaubert. Diese entzückende Lebendigkeit -- nicht nur in der Auffassung, sondern auch und besonders in der Wiedergabe alles Erlebten, Gehörten und Erschauten, war mir neu. Dazu kam, daß du aus sogenanntem guten Hause kamst. Ein Reiz mehr. Auch hattest du, obschon du keine Note kanntest, das feinste musikalische Gehör, was mir bisher begegnet ist. Meine Macht über Dich wurde unbegrenzt. Ich hätte dich zur Verbrecherin machen können, wenn ich gewollt.“ „+Das+ hast du gefühlt?“ „Vom ersten Augenblick unseres Kennenlernens an. Weißt du noch? Wir standen eng zusammengekeilt vor der Kasse des Opernhauses. Da sprach ich dich an, weil du mir ausnehmend gefielst. Merkst du jetzt, wie diskret ich bin? Das Märchen von der ersten Begegnung im Hause der Kommerzienrätin hatte ich mir um deinetwegen so fest eingeprägt, das ich dies reizende Stündlein dir gegenüber vorhin zu erwähnen unterließ.“ „Mache meine Scham nicht noch größer,“ sagte sie mit zuckenden Lippen. „Es ist ja auch belanglos. Das weitere will ich trotzdem kurz zusammenfassen. Auch um meinetwillen. -- Sieh mal, als ich dich dann einen Monat später bei der musikalischen Rätin wiedersah und dir bei der Vorstellung zuflüsterte, daß wir niemand von unserer süßen Bekanntschaft erzählen wollten, warst du dazu bereit. Deiner lieben Familie war ich sogleich angenehm. Dein Bruder mochte mich absolut nicht. Dein Vater war ein ganz scharmanter Herr. Wir hätten uns sogar ausgezeichnet verstanden, wäre er nicht zufällig dein Vater gewesen. So witterte er in mir den Feind. Daß wir beide uns fortan in dem Hause der alten Musiknärrin auch gesellschaftlich begegneten, erleichterte die Sache natürlich. Glaube mir, ich hatte nicht daran gedacht, dich ins Unglück zu bringen. Erst, wie du mich um Hilfe gegen den fürchterlichen Geldsack anflehtest, da erwachte, ich könnte kurz sagen: die Ritterlichkeit! Es klänge großartig, stimmte aber nicht. Ich wollte den schweren Kerl ausstechen. Daneben dich natürlich auch von einem Los, das dir Grauen einflößte, bewahren.“ „Daneben -- wirklich.“ „Ja, so war’s! Dann kam alles ein bißchen anders. Du machtest Dummheiten. Liefst kopflos von Hause weg, kamst zu mir als zu deinem einzigen Freund und so weiter. Und zurück -- verzeihe mir, daß ich dies ausdrücklich feststelle -- wolltest du unter keinen Umständen.“ „Ich dachte an eine Beschleunigung unserer Heirat. Denn für deine Braut hielt ich mich. Hatte ich etwa kein Recht dazu?“ „Nach gut bürgerlichen Begriffen zweifellos! Künstleransichten sind aber gemeinhin andere. Sage selbst, was sollte ich tun, wo du nun mal da warst und mir erklärtest, lieber gingest du in den Tod, als zu deiner lieben Familie zurück.“ „Höre auf, wenn du noch einen Funken Barmherzigkeit in der Seele hast.“ „Ich bin sogleich zu Ende. Ich war also nicht brutal genug, um dich fortzuweisen. Schön, das war vielleicht mein Unrecht. Mehr Schlechtes kann ich im Augenblick nicht zusammen finden.“ „Daß du weiter die verächtliche Komödie spieltest -- mir den festen Glauben, ich sei deine verlobte Braut und sehr bald dein Weib, auch vor dem Gesetz, nicht nahmst, indem du mir endlich von deinen älteren Verpflichtungen sagtest.“ „Wäre das nicht mehr als grausam gewesen? Was hättest du darauf getan? Bedenke, damals hießest du noch nicht Gretchen Müller. Du wärst ins Wasser gegangen oder hättest sonst einen Gewaltstreich mit denselben Folgen verübt.“ „Das wäre Barmherzigkeit für mich gewesen.“ „Ich empfinde es anders. Vielleicht wir Männer überhaupt.“ „Du hast tausend neuer Ausflüchte erfunden, um mir zu beweisen, daß sich unserer ehelichen Verbindung immer neue Hindernisse in den Weg stellten.“ „Die Gründe habe ich dir soeben klargelegt, mein Kind.“ „Höre damit auf. Warum hast du nicht wenigstens später die Wahrheit gesagt?“ „Wann? Jedes weitere Zusammensein wäre damit zerschlagen gewesen. Du wärst auch später wohl noch fortgelaufen und damals warst du körperlich fast noch mehr erschüttert wie jetzt. Du mußtest erst wieder in die Höhe kommen.“ „Nein, das ist nicht der Grund. Rücksichtnahme kennst du nicht. Du hättest unumwunden ausgesprochen, wenn ich dich allmählich beschwert hätte.“ „Man hat auch seine -- Anständigkeit.“ „Lasse sie mich endlich kennen lernen, damit meine Scham nicht so heiß brennt.“ „Woher kennst du Eva von Ostried?“ „Vielleicht aus der Oeffentlichkeit -- vielleicht auch nicht. Laß dir genügen, daß ich sie kenne.“ „Das Recht, sie beim Vornamen zu nennen, steht dir nicht zu. Sie ist zu rein, als daß du --“ „Du bist ein Närrchen! Aber, rein ist sie wirklich. Darin hast du dich diesmal nicht getäuscht.“ „Ich habe nur den Wunsch noch, daß du gehst.“ „Gleich -- gleich! Du hast mir also versprochen, daß du Eva von Ostried niemals verrätst, was zwischen uns gewesen ist. Ich habe die bestimmte Ahnung, als hätte andernfalls dein scheinbar recht angenehmer Aufenthalt hier sein Ende erreicht. Und dann wieder bei Fretzburg u. Sohn in die Putzabteilung zurück? Nee, weißt du -- übrigens würden sie dich da gar nicht wieder einstellen.“ „Bleibst du jetzt noch eine Minute, so rufe ich um Hilfe!“ „Wer würde dich hören? Du siehst nach dem Fenster? Es ist unmöglich. Aber ehe jemand erscheinen würde, wäre ich bestimmt verschwunden. Und dann? Man würde dich einfach für geisteskrank halten. Zudem habe ich nicht mehr vor, sehr lange zu bleiben. Nur eine Kleinigkeit will ich noch schnell ordnen. In deinem Interesse, wie du mir hinterher zugestehen wirst. Ich bitte dich, daß du jetzt zur Vernunft kommst. Nimm an, ich käme erst in diesem Augenblick zur Tür herein und wäre dir dankbar, weil du Eva von Ostried gegenüber den Mund zu halten versprochen hast. Dir geht es schlecht. In diesem Gewand machst du den Eindruck einer Nonne, die ihre Haube noch nicht aufgesetzt hat. Auch sonst siehst du -- verzeih’ diesen Ausdruck -- etwas abgewirtschaftet aus. Gefallen gegen Gefallen. Nimm diese Kleinigkeit. Mir macht es nichts aus.“ Und er drückte ihr ein bißchen unter dem feinen Taschentuch geschickt verborgen gehaltenes Päckchen mit Scheinen in die Rechte. Als sie das Knistern hörte, wurde sie leichenblaß. Lässig setzte er den Hut auf und nickte ihr zu. „Denk noch mal über alles nach und sei verständig, Lieselotte.“ Der Name brachte sie zur Besinnung. Matt hob sie die Hand mit dem Geld. Er legte die seine darüber und zwang ihren Arm in den Schoß. Unter seiner Berührung flammte eine purpurne Glut über ihr Gesicht bis zu dem altsilbernen Haare hinauf. Dann hob sich die Hand noch einmal. Mit einer Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hatte, schlug sie in das leichtsinnige, schöne Männergesicht. Die Scheine umflatterten ihn, lagen auf seinen Schultern, zu seinen Füßen. Mechanisch bückte er sich und sammelte sie auf. Neben dem Spiegel, der zu beiden Seiten auf rotgetönter Esche blanke, starke Kleiderhaken trug, hing die vergessene Reitpeitsche eines Schülers, der einen eigenen Gaul besaß. Die riß die bebende Mädchenhand herunter. -- -- -- Dann war sie allein. Sie setzte sich wieder auf den Hocker neben die Truhe und rieb an ihrer Hand herum, als müsse sie einen Schmutzfleck entfernen. Sie weinte nicht. Sie nickte nur vor sich hin. Dann überkam sie jäh das Heimweh! Nach der engen dunklen väterlichen Wohnung, die sie oft genug hatte erdrücken wollen -- nach dem Vater selbst -- vor allem aber nach dem Bruder. Daneben fühlte sie, daß dies unmöglich geworden war und von allen Schmerzen, die auf ihr lasteten, erschien ihr diese Gewißheit als die unerträglichste. Sie vergegenwärtigte sich das letzte, zukünftige Leiden mit seiner verstärkten dem Wahnsinn nahebringenden Sehnsucht. Und wußte doch, daß über ihre Lippen kein Ruf zu denen, die ihr einst zugehört hatten, dringen würde. Sie mußte für immer einschlafen, ohne an dieser Scham zu ersticken. Eva von Ostried, die Gütige, würde liebreich ihre Hände halten -- wohl gar ihren Kopf auf das im letzten Kampf wildschlagende Herz betten -- sie vielleicht sogar in die Arme nehmen. Dann war alles aus und überwunden. Wenn sie Eva von Ostried alles vergelten könne, vorher! Ihr kam ein Lächeln, als sie diesen Wunsch empfand. Wie wäre das jemals möglich? -- -- „Heute nachmittag werden wir beide ein richtiggehendes Fest feiern,“ sagte Eva von Ostried, als sie, die sich sonst einer großen Pünktlichkeit befleißigte, viel später wie gewöhnlich heimkam. „Darauf freue ich mich,“ erwiderte Gretchen Müller und ließ nichts von den stechenden Schmerzen merken, mit denen sie zu kämpfen hatte. „Wir lassen die Vorhänge herunter und dann singen Sie, ja?“ „Nein, meine Liebe, das werden wir nicht tun. Diesmal geht’s ins Grüne hinaus. Jawohl! Wehren Sie nur ab, zucken Sie zusammen, als erwarteten uns draußen eine Schar hungriger Wölfe. Ich bleibe steinhart. Wissen Sie, was der Arzt sagte, als ich ihn Ihretwegen befragte: „In erster Linie frische, gute Luft.““ „Ich habe heute lange Zeit auf dem Balkon zugebracht.“ „Ich will seine Vorzüge nicht verkleinern. Es ist angenehm, daß wir ihn haben. Einen vollwertigen Ersatz bietet er nicht. Das habe ich Ihnen übrigens schon mehrmals erklären wollen. Sie fanden aber stets neue Schönheiten und Annehmlichkeiten heraus und ich war nach der Tage Last zu müde, um Sie zu widerlegen. Aber heute! Wissen Sie, was wir anstellen werden? Die elektrischen Bahnen sind überfüllt. Zum Wandern ist es zu weit. Also nehmen wir stolz einen Wagen.“ Um keinen Preis wollte sie die feinfühlige Kranke merken lassen, daß sie vor jeder Anstrengung ängstlich behütet werden mußte. Gretchen Müller empfand es aber doch. Es war diesmal nicht Bescheidenheit, die sich ängstlich weigerte, mitzutun, sondern die durch das heutige Erlebnis noch verstärkte Furcht von früheren Bekannten oder gar von ihren nächsten Angehörigen gesehen und erkannt zu werden. „Wenden Sie nicht ein, daß es eine arge Verschwendung wäre,“ begann Eva von Ostried von neuem, „ich für meinen Teil bedarf dieser Abwechslung wahrhaftig ebenso dringend. Natürlich wird die Fahrt zum Grunewald hinausgehen. Irgend ein Tischlein am Wasser muß sich finden lassen. Wir werden uns einbilden, daß wir im eigenen Park säßen und die Dienerschaft ein wenig beurlaubt hätten, um recht ungestört zu sein.“ „Ich kann nicht mitkommen,“ sagte Gretchen Müller mit eintöniger, müder Stimme. Da begriff Eva von Ostried, daß sie die Angst, die sich aus dem Zucken der feinen Lippen offenbarte, beschwichtigen müsse. Jedes Wort hätte geschmerzt. Jede Aufmunterung zur Beherrschung nur noch eine vergrößerte Scheuheit hervorgerufen. Und sie wollte doch heilen. So begann sie leise ein uraltes Reiselied zu summen: Wir ziehen vermummt durch Stadt und Land Von Freund und Feinden unerkannt.. Juvivallera -- Juvivallera -- -- „Ich kann nicht,“ wiederholte der blasse Mund. Das waren die Worte, die bisher Eva von Ostried als genügende Erklärung angesehen hatte. Heute kämpfte sie dagegen an. „Ich meinte auch oft genug, daß sich etwas nicht zwingen ließe und es geht dann doch.“ „Weil Sie nicht wissen, wie schwer eine Schuld lasten kann.“ Einen Augenblick sah Eva von Ostried zögernd zu Boden. Dann sagte sie leise und schwermütig: „Doch, das weiß ich wohl.“ „Aber die brennende Scham kennen Sie nicht.“ „Für so wertlos halten Sie mich, Kind?“ „Nein,“ wehrte die andere erschrocken ab, „nur für nicht so tief gesunken, als ich es bin.“ Einen Augenblick fühlte Eva von Ostried das Verlangen, sich dieser Leidensgefährtin gegenüber auszusprechen. Es mußte unsäglich schön sein, mit einander zu weinen. Dann empfand sie es als Schwäche, überwand sie und sagte frisch und froh: „Die aufgezwungenen Liebesgaben, mit denen man, in bester Absicht zwar, seinen lieben Nächsten quält, sind die gefährlichsten, glaube ich. Also begrabe ich hiermit meinen Wunsch feierlich.“ „Ich bringe Ihnen nichts wie Enttäuschungen, Fräulein von Ostried.“ „Dies heute war wirklich eine. Aber jetzt ist sie überwunden. Sprechen wir schnell von etwas anderem. Sehen Sie nur, Sie haben da Ihr Taschentuch verloren, Kindchen.“ Und sie hob das feine Batistgewebe auf und betrachtete es aufmerksam. „Es gehört Ihnen doch oder sollte es einer aus der Schülerschar vergessen haben. Lassen Sie mich nach dem Namen sehen.“ Gretchen Müller machte eine Bewegung, als wolle sie sich darauf stürzen, um es Eva von Ostried zu entreißen, aber als trügen sie die müden Füße nicht länger, ließ sie sich wieder auf den kleinen Hocker sinken. „„P. K.“ ist es gezeichnet, Fräulein Gretchen? Ich kenne jemand, der es verloren haben könnte, Fräulein Gretchen,“ sagte Eva von Ostried ahnungsvoll. „Soll ich seinen Namen nennen oder -- wollen Sie es tun?“ Scham und Angst schüttelten den elenden Körper. „Ich will sterben,“ flehte das Mädchen. „Wird es Ihnen so schwer,“ fragte Eva jetzt. „Dann muß ich es wohl tun. Nicht wahr, Paul Karlsen war hier -- bei Ihnen?“ Mit einem Aufschrei warf sich Gretchen Müller ihr zu Füßen und umklammerte ihre Knie. „Muß ich jetzt fort?“ Hinter Evas Stirn fieberten die Gedanken, wie einst -- „Wer hat das Recht zu verdammen? Niemand auf der ganzen Welt! Auch die, welche sich schuldlos wähnen, nicht.“ Sie neigte sich und zog die Kniende sanft zu sich empor. „Du armes, armes Kind.“ In ihren Augen glühte keine Verachtung. Ihr Gesicht verzog sich nicht zu unnahbarem Stolz. Es war eine alles begreifende und verzeihende Liebe darin! Das müde, gepeinigte Mädchen erkannte, daß Eva von Ostried jenen Mann niemals geliebt hatte und dennoch voll die Macht begriff, die er besaß! [Illustration] 14. Vor das Hohen-Klitziger Herrenhaus rollte ein Landauer! Die rassigen Köpfe zweier Blauschimmel verdunkelten plötzlich das Küchenfenster, hinter dem die Mamsell das Futter für die jungen Puten zurechtknetete. Sie wandte sich nach der einzigen ihr zur Verfügung stehenden Hilfe um, die damit beschäftigt war, von einem Paar langschäftiger Stiefel die Kotspritzer mit einem Holzspahn herunter zu kratzen. „Nee,“ dachte sie dabei, „die sieht kein bißchen proper aus,“ und machte sich selbst zum Gehen bereit. Sie pochte an die zweite Tür neben der Küche, hinter welcher der Klitziger Herr zur Sicherheit noch einmal die Seiten zusammenrechnete, deren Ergebnis sein Bruder bereits festgestellt hatte. „Herr Amtsrat, die Waldesruher Schimmel halten vor der Treppe.“ Er sah flüchtig auf, ohne die Feder von den Zahlenreihen zu nehmen. „Ist wohl ein neuer Kutscher, der noch nicht weiß, wo der Dorfschmied wohnt.“ „Ich glaube nicht, daß es neuer Hufbeschlag sein soll, Herr Amtsrat. Der Schloßherr sitzt im Wagen.“ „So,“ sagte der alte Wullenweber nicht sonderlich interessiert, „dann fragen Sie ihn nur nach seinen Wünschen. Ich wäre hier und für dringende Sachen auch zu sprechen.“ Er blieb ruhig sitzen; aber er verrechnete sich. Sein verwittertes Gesicht nahm einen unwilligen Ausdruck an. Bisher hatte es der Nachbar nicht der Mühe wert gehalten, sich ihm in seinem Hause vorzustellen. An der Grenze freilich wollte er es verschiedentlich tun. Dazu zeigte der Amtsrat keine Neigung. Der Waldesruher Herr stand in dem Rufe, ein adelsstolzer, hochfahrender Mann zu sein, der sich einsam hielt. Daneben war er aber auch zweifelsfrei ein tüchtiger Landwirt und das nötigte dem Amtsrat einigen Respekt ab. Es war keine Kleinigkeit gewesen, den zurückgekommenen Acker und die verfallenen Katenhäuser in Ordnung zu bringen. Horst Waldemar von Ostried maß sieben Fuß. Also nicht in allen Fällen konnte er dafür, wenn er über die meisten Menschen und Dinge fortsah. In erster Ehe war er mit einer Gräfin Aschaffenburg vermählt gewesen, die ihm keinen Erben geschenkt hatte. Seit ihrem Tode, der ein Jahr vor der Uebernahme des Majorats Waldesruh erfolgte, befürchteten die Eltern des nächsten Anwärters die Mitteilung seiner zweiten Heirat. Wie er sich jetzt vor dem Aelteren verneigte, bemühte er sich augenscheinlich freundlich und herablassend zu sein. „Ich hatte es mir schon lange vorgenommen, Herr Nachbar.“ „Ja, so’n Weg von einem Kilometer will überwunden und vorher überlegt sein, Herr Nachbar,“ nickte der Amtsrat mit belustigtem Lächeln. Der andere räusperte sich. „Ich komme mit einer Bitte, Herr Amtsrat.“ „Das habe ich mir denken können, Herr von Ostried.“ „Es handelt sich nämlich um die Adresse von der Tochter meines Vorgängers.“ „So, Sie möchten wissen, wo sich Ihre Base Eva zur Zeit aufhält?“ „Ganz recht; daran wäre mir viel gelegen.“ Ein prüfender Blick strich über die mächtige Gestalt des Schloßherrn hin. Sollte diese Frage etwa die Vorbereitung zu einer zweiten Ehe sein? Es war, als ahne der Riese ähnliche Gedanken. Fast hastig gab er eine Erklärung ab. „Wir müssen einen Familientag einberufen, zu dem -- unserm Hausgesetze gemäß -- sämtliche Ostrieds gerader Linie eingeladen werden müssen.“ „Ich glaube, auf diesen Anspruch wird Eva von Ostried keinen besonderen Wert legen.“ „Darauf kommt es nicht an. Es ist eine reine Formsache. Ich kann Ihnen übrigens gern den Grund nennen, wenn es Sie interessieren sollte.“ „Bemühen Sie sich nicht. Ich mache mir nicht viel aus solchen Geschichten.“ „Erlauben Sie mir, daß ich es trotzdem tue, um nicht für meine Person in irgend einen unbegründeten Verdacht zu kommen.“ Der Amtsrat mußte wieder lächeln. Schlau war der Kerl entschieden. „Daß Sie sich daraus etwas machen, Herr von Ostried.“ „Die Tochter meines Vorgängers steht bei unserer ganzen Familie in nicht sonderlicher Hochachtung.“ „Solange ich ihr Vormund gewesen bin, war nichts, auch nicht das Geringste an ihrer Aufführung zu mäkeln.“ „Sie wollte doch -- äh -- zur Bühne.“ „Das meinen Sie damit? Ach so! Na ja, das beabsichtigte sie freilich stark. Im Prinzip war ich auch dagegen, wie das ja die Verweigerung meiner Erlaubnis bis zu ihrer Volljährigkeit bewiesen hat.“ „Darf ich also kurz referieren, Herr Amtsrat.“ „Wenn Sie es durchaus nicht anders tun. Bitte schön.“ „Ein Ostried-Javelingen hat kürzlich eine Eingabe um Verleihung des seit fünfzehn Jahren nicht mehr zur Verteilung gelangten Stiftungsgeldes für bedürftige Familienmitglieder gestellt. Zum rechtswirksamen Gewähren ist nicht nur die schriftliche Zustimmung sämtlicher stimmfähiger Ostrieds -- auch der weiblichen -- erforderlich, sondern ihr Zusammenkommen an gemeinsamer Stelle zwecks vertraulicher mündlicher Aussprache.“ „Jetzt fange ich an, die Notwendigkeit zu begreifen, Herr von Ostried. Das muß sein, weil zu erwarten ist, daß dieser oder jener ein bißchen Dampf vor einer Beleidigung oder Ablehnung mit Tinte hat.“ „Es gibt doch Sachen, die zu empfindlich sind, um sie niederzuschreiben.“ „Gerade das habe ich gemeint. Da fliegt ein Wort in der Luft rum, die Frauen flüstern es vielleicht bloß. Aber gehört und bewertet wird’s jedenfalls. Und das mag schon genügen.“ „War Ihre Frau Mutter vielleicht --“ Der Amtsrat unterbrach ihn kurz. „Nein, durchaus nicht! Sie war eine geborene Hafermatz aus Kölpin, Tochter des derzeitigen Wirtschaftsbeamten. Meine Weisheit hat einen andern Ursprung. Ich weiß das von einer, die auch mal um dieses Geld eingekommen ist, weil damit ihr schwacher Körper wohl noch auszuheilen gewesen wäre. Eva von Ostrieds Mutter hatte sich nämlich nach vielen und harten Gewissensnöten zu diesem Ersuchen entschlossen. Sie tat’s ihrem Kinde zu Liebe. Die Antwort war eine Woche später eine bestimmt verneinende.“ „Dann haben also bereits bei der Vorberatung, die schriftlich erledigt werden kann, die Mehrzahl der Familienmitglieder den Antrag abgelehnt.“ „Jedenfalls wird es so gewesen sein.“ „Wir brauchen nicht Verstecken mit einander zu spielen, Herr Amtsrat. Mein Vorgänger war kein Mann, dem man solche Zuwendungen machen durfte. Unser Hausgesetz verlangt ausdrücklich einen tadellosen Charakter oder um mit seinen Worten aus dem Jahre 1800 zu sprechen: Es muß eine feine und ritterliche Familie sein, der früher und auch jetzo nichts anzuhängen gewesen ist.“ „Sie sprechen da plötzlich von dem Manne. Ich habe nie gehört, daß dem damaligen schönen Ostried irgend ein Organ schwach geworden wäre. Hier handelte es sich um die Frau, die über jedem Zweifel erhaben stand.“ „Was der Mann tut, darstellt oder unterläßt, fällt in der Ehe allemal auf die Frau zurück. Auch darüber gibt es natürlich Bestimmungen.“ „Ein schönes Familiengesetz, das so was vorschreibt.“ „Darüber wollen wir nicht streiten, Herr Amtsrat.“ „Sie haben Recht. Einem Gaul, der ein Kleber ist, bringt ja auch kein Schenkeldruck von der Stelle, wenn er nicht schließlich selbst will.“ Das hochmütige Gesicht verlor nichts von seiner kühlen Freundlichkeit. „Für so eigensinnig hätte ich Sie nicht gehalten, Herr Amtsrat.“ „Das soll wohl eine Beleidigung sein,“ dachte der alte Wullenweber und lachte vergnügt in sich hinein. „Mein Jungeken, damit hast du bei mir kein Glück.“ Laut sagte er: „Ich bin sogar so eigensinnig, daß ich Eva von Ostrieds Vater nicht mehr in mein Haus reingelassen habe, seitdem es mir keine Ehre mehr sein konnte, mit ihm umzugehen.“ Der Hieb saß. „Aber seiner Tochter scheinen Sie erfreulicherweise die alte Zuneigung erhalten zu haben,“ meinte der Schloßherr mit glatter Höflichkeit. „Zu der Tochter stand und stehe ich weiter in gar keinem Verhältnis. Sie ist mir fremd geblieben. Was ich übernahm, tat ich lediglich für ihre Mutter. Uebrigens weiß ich seit ihrer Volljährigkeit nur das eine, daß sie seit dem Tode ihrer mütterlichen Freundin, irgendwo in Berlin untergetaucht ist.“ „Auch die Adresse ist Ihnen unbekannt geblieben, Herr Amtsrat?“ „Noch gestern hätte ich das glatt verneinen müssen. Heute allerdings.“ Es klang zögernd. Aber der Schloßherr hat bereits das Notizbuch hervorgesucht und netzte den Stift behutsam an den Lippen. „Ich war vorher noch nicht zu Ende gekommen, Herr Amtsrat. Ich lege aus zweierlei Gründen großes Gewicht gerade auf diese Adresse. Erstens ist anzunehmen, daß Fräulein von Ostried, wenn auch nur, um sich für die Teilnahmslosigkeit unserer Familie zu rächen, widersprechen würde, sobald sie etwas von dem ohne sie gefaßten Beschluß erführe.“ „Mein Gott, wie sollte sie davon hören.“ „Es könnte immerhin möglich sein. -- Der zweite Grund betrifft sie selbst. Ich halte mich noch nicht befugt darüber zu sprechen. Jedenfalls -- -- Also, wenn ich Sie jetzt bemühen darf, Herr Amtsrat.“ „So schnell geht das nicht. Sie denken wohl, ich brauchte sie ihnen so ganz einfach bloß zudiktieren.“ „Etwas anderes zog ich allerdings nicht in Betracht.“ „Bedaure! Sie müssen sich noch selbst darum bemühen. Ich besitze seit gestern nämlich lediglich die Möglichkeit, näheres über sie zu erfahren. Mein Neffe, Rechtsanwalt Wullenweber, berichtet mir, daß sie in einer geschäftlichen Angelegenheit seinen juristischen Beistand in Anspruch genommen hätte. Seine Adresse ist zu Ihrer Verfügung.“ -- Der Amtsrat nannte sie. „Haben Sie eine Ahnung, verehrter Herr Amtsrat, ob Ihr Herr Neffe ein tüchtiger Anwalt ist?“ „Ich bin ebenso wenig Jurist, wie Sie, Herr von Ostried und unser zuständiges Amtsgericht kenne ich, Gottlob, bisher nur von außen. So viel weiß ich aber, daß der Justizrat, dessen Teilhaber er ist, einen guten Namen und ungeheuren Zuspruch hat.“ „Das genügt mir völlig. Anläßlich des Familientages muß ich nämlich einen Anwalt für bestimmte Zusätze und kleine Abänderungen in unseren Statuten gewinnen.“ Er empfand es als angenehm, dies bei seiner Bitte um Eva von Ostrieds Adresse nunmehr in den Vordergrund stellen zu können. „Wenn ich recht unterrichtet bin, haben Sie, Herr Amtsrat, als einstiger Vormund und Bevollmächtigter von Eva von Ostrieds Vermögen auch sehr wertvolle alte Möbelstücke aus dem Waldesruher Schloß zur Aufbewahrung übernommen?“ Der Amtsrat lächelte grimmig. „Vermögen! Das klingt außerordentlich stolz. Wissen Sie zufällig, wie hoch sich die Summe bezifferte?“ „Wie käme ich zu einer genauen Kenntnis. Wir mit dem gleichen Namen hofften damals, daß sie jedenfalls zu einem standesgemäßen Unterhalt ausreichen würde.“ „Nett von Ihnen! Sie hofften, leider, vorbei. Eintausend Mark waren’s!“ „Wie könnte sie sich damit durchgefunden haben?“ „Die Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich hatte die Ehre, eine vortreffliche Frau, die ihr eine zweite Mutter geworden war, kurz vor ihrem unerwartet eingetretenen Tode kennen zu lernen, und ging mit dem berechtigten Gefühl von ihr, daß sie fraglos einen Teil ihres soliden Reichtums meinem verflossenen Mündel überschriebe. Erst gestern teilte mir mein Neffe mit, der übrigens diese Wissenschaft wiederum von dem Notar und Freund der Toten, dem schon erwähnten tüchtigen Justizrat, schöpfte, daß der plötzliche Tod sie daran gehindert haben müsse. Jedenfalls ging Eva von Ostried leer aus. Aber Sie fragten auch nach den alten Möbeln. Einen Augenblick! Bitte, hier ist das Verzeichnis. Es sind Stücke von großer Schönheit darunter. Das Sterbezimmer ihrer Mutter besitzt Eva bereits. Deren kleines Wohnzimmer -- übrigens eingebrachtes und daher nicht zur Masse gehöriges Gut, wie auch jene Sachen, die sich schon in Eva von Ostrieds Besitz befinden -- stellt dies dar.“ „Ein offenes Wort, Herr Amtsrat! Sind diese kostbaren alten Stücke verkäuflich? Ich weiß nicht, ob Sie ahnen, daß ich leidenschaftlicher Sammler von altertümlichen Möbeln bin. Einen ebenso hohen Preis wie jeder andere fremde Liebhaber würde ich natürlich auch anlegen.“ „Ich bin so ungebildet in diesen Sachen, daß ich nicht mal sagen kann, ob das wirklich Altertümer in Ihrem Sinne sind. Nur das eine weiß ich aus dem Mund von Evas Mutter, daß sie schon im Heim von deren Großeltern gewesen sind.“ „Darf ich wissen, wie Sie über einen Verkauf denken, Herr Amtsrat?“ „Darüber habe ich nichts mehr zu bestimmen, Herr von Ostried. Als ihr Vormund hätte ich einen besonders günstigen Verkauf, mit Rücksicht auf die bestehende Vermögenslosigkeit, zweifelsfrei verantworten können. Jetzt stehe ich kaum anders wie jeder Fremde zu der Besitzerin.“ „Könnten Sie mir wenigstens die Möbel zeigen, Herr Amtsrat?“ „Dazu wäre meine alte Klidderten nötiger als ich. Ich habe mich nur bis zu dem Augenblick ihrer sicheren Unterstellung darum gekümmert. Das Zudecken und Abstauben ist der Klidderten ihre Sache. Die wird aber gerade mit dem Kochen zu tun haben. Eine Sache könnten Sie indes ansehen. Evas Mutter machte sie mir zum Geschenk. Stil und Holzart sind hier wie dort gleich. Sehen Sie dort, der Schreibtisch aus italienischem Nußbaum.“ Es war ein wundervolles Stück mit reicher künstlerischer Tiefschnitzerei. In Form und Art an die alten Zylinderbüros erinnernd, die in keiner Großvaterstube zu fehlen pflegten. Nur, daß die Einlagen über den reich geschnitzten Holzrändern aus Mosaikstückchen bestanden, die sich zu kleinen, wirkungsvollen Bildern einten. Das runde große Medaillon des Aufsatzes, das ein halbes Jahrhundert später, als Ersatz des zerschlagenen Mosaikbildes eingefügt war, zeigte ein Pastellbild. Ein namhafter Maler aus jener verzweifelten Zeit, in der Eva von Ostrieds Mutter auf den Gedanken gekommen war, einen Teil des Schlosses und des wundervollen Parkes erholungsbedürftigen Künstlern gegen Entgelt zur Verfügung zu stellen, hatte es geschaffen. Der Schloßherr warf mit einer geschickten Bewegung das Monokle in das kurzsichtige rechte Auge. Sein müder Blick belebte sich auffallend. Der tiefe Durchzieher, mit der einst auf dem Heidelburger Fechtboden erhaltenen blutroten Belehrung, daß auch nicht sonderlich hochgewachsene Leute eine gute Klinge führen können, begann zu glühen. Das Hochmütige in seinen Zügen verschwand. Als er nach langem aufmerksamen Betrachten den Kopf hob und die Hände von der Schnitzerei nahm, war er ein ganz anderer wie zuvor. Es bedurfte also nur des Aufflammens einer leidenschaftlichen Neigung, um die oft genug abstoßend wirkende Tünche herunter zu bröckeln. „Ich würde Ihnen zehntausend Mark geben, wenn Sie mir dies Stück überlassen könnten, Herr Amtsrat.“ „Es wäre mir auch nicht um das Doppelte feil, Herr von Ostried.“ „Soviel allerdings. -- Immerhin fordern Sie getrost. Wir werden uns bestimmt verständigen.“ „Es ist unverkäuflich,“ entschied der alte Wullenweber kurz und zornig. „Sie sind doch aber gar nicht Sammler solcher Dinge! Was kann dies für Sie für einen Wert haben?“ „Den da,“ sagte der Amtsrat einsilbig und legte den Zeigefinger behutsam auf das Pastellbild. „Sehen Sie,“ frohlockte der andere, „damit wären wir uns schon bedeutend näher gekommen. Dieses Bildnis würde ich sofort für Sie entfernen lassen. Für meine Zwecke entstellt es das Ganze und verringert seinen Wert erheblich.“ „S--o, das wäre also Ihre Ansicht?“ Der Schloßherr neigte sich zu dem Bild herab und schenkte ihm zum ersten mal einige Aufmerksamkeit. „Wen stellt es dar, wenn ich fragen darf?“ „Frau von Ostried und ihre Tochter Eva.“ Noch einmal glitt sein Blick prüfend darüber hin. „Ich kannte die Frau meines Vorgängers nicht persönlich,“ meinte er endlich und es klang wie eine Entschuldigung. „Sie muß sehr schön gewesen sein.“ „Vielleicht befragen Sie deswegen die paar alten Leute, die sich ihrer gewiß noch erinnern.“ Das klang eiskalt und schnitt eigentlich jede weitere Frage ab. Der Schloßherr wollte es nicht empfinden. Er blickte immer noch, von dem unvergleichlichen Reiz der beiden aneinandergeschmiegten Köpfe gefesselt, auf das Bild von Mutter und Tochter. „Sie sind scheinbar ein Frauenverächter, Herr Amtsrat.“ „Wieso? Weil ich mich im ersten Augenblick von Ihrer Frage abgestoßen fühlte? Sie sollen sich nichts falsches vorstellen. Für mich ist Frau von Ostried die Schönste auf der ganzen Welt gewesen und geblieben.“ Er mußte dies sagen, weil er kein anderes Mittel kannte, um die ihm zudringlich und lästig werdenden Fragen abzuwehren. Der Schloßherr begriff. Es war alles durchaus verständlich. Der leichtsinnige Schloßherr, der sich nicht um die Seinen bekümmert hatte, auf der einen Seite. Dieser biedere, brave Mann, der gewiß nur seine Augen und Ohren für die kränkelnde, vom eigenen Gatten vernachlässigte Frau bereit gehalten, auf der andern! Dazu diese strenge Abgeschlossenheit von Welt und Leben. Unangenehm blieb einzig, daß die Schönheit auf dem Pastellbild den alten Namen trug wie er und der Kummersbacher, das Mitglied des Herrenhauses auf Lebenszeit, und die Vettern Exzellenz, der Generalleutnant und der Wirkliche Geheime Rat, sowie die andern der Familie. Schließlich hätte man sich auch damit im Lauf der Jahre abgefunden, wenn dies verblüffend reizende Gesicht neben der großäugigen Frau, das irgendwo in Berlin herumlief, nicht immer noch weiter zur Familie gehörte. Die Tatsache, daß Eva bei dem Einladen zum Familientag unmöglich übergangen werden durfte, bewies es deutlich. Ein Gesicht wie dieses, selbst wenn es den kindlichen Zauber eingebüßt, machte es der Trägerin doppelt und dreifach schwer, ohne Aufsehen durch die Welt zu kommen. „Wann haben Sie Eva von Ostried zum letzten mal gesehen, Herr Amtsrat,“ forschte er aus diesen Gedanken heraus. Der alte Wullenweber fuhr erschrocken zusammen. So tief hatte er sich mit der heraufbeschworenen Vergangenheit beschäftigt. „Bei ihres Vaters Begräbnis ist es gewesen. Hätte ich gefehlt, wäre sie ganz allein neben dem Seelsorger hinter dem Sarg, hergeschritten. Denn die Tagelöhner blieben aus Bescheidenheit eine halbe Meile zurück. Und von den Nachbarn oder seiner Familie war niemand dabei.“ „Die Anzeigen von seinem Tod müssen sich verspätet haben. Vielleicht sind überhaupt keine verschickt. Ich jedenfalls erhielt die Nachricht erst durch meine Berufung zu seinem Nachfolger.“ „Also doch rechtzeitig,“ meinte der Amtsrat bitter und sah nach der Uhr, die mit behaglichem Pendelschlag die kleine Pause belebte. „Ich habe nur einer Leidenschaft im Leben bisher nachgegeben,“ begann er von neuem und diesmal leiser und weicher wie zuvor. „Ich verriet sie Ihnen bereits. Schon in frühster Jugend war die Vorliebe für alte, wirklich schöne Sachen so groß, daß ich mir jedes Vergnügen versagte, um mich endlich in den Besitz eines ersehnten Gegenstandes zu bringen.“ „Verrückt,“ mußte der alte Wullenweber denken, aber es söhnte ihn etwas mit diesem scheinbar kalten, wesenlosen Menschen aus. „Vielleicht sprechen Sie persönlich mit Ihrer Base, wenn Sie zu dem hochwichtigen Familientage in Berlin sind,“ schlug er vor. „Vorläufig geht es mir um dies Stück.“ Und er fuhr, wie liebkosend, über das edle, alte Holz. Ehe noch der Amtsrat die scharfe Erwiderung, die ihm dies taktlose Festhalten auf die Lippen zwang, aussprechen konnte, fuhr er fort: „Ich würde Ihnen sehr gern durch einen Berliner Sachverständigen das Pastellbild entfernen und in einen durchaus würdigen Rahmen bringen lassen. Derselbe könnte mir auch den Ersatz für das Mosaikrund besorgen. Ihnen ginge nach Ihren eigenen Worten durch die Hingabe des alten Stückes selbst nicht allzu viel verloren. Mir aber täten Sie einen großen Gefallen. Wollen Sie nicht wenigstens die Güte haben, sich meinen Vorschlag zu überlegen?“ „Eine Gegenfrage,“ sagte der Amtsrat und seine Stimme klang stahlhart. „Was würden Sie sagen, läge die Geschichte umgekehrt? Sie wollten aus einem für Sie wichtigen Grunde nicht und der andere -- nun -- der hörte eben nicht auf zu drängen. Sie würden mich aufrichtig verbinden, wenn ich das wissen dürfte, Herr von Ostried!“ Mit einem Schlage verwandelte sich das Gesicht des Majoratsherrn wiederum in das unbeweglich hochmütige. Das Monokle hüpfte mit feinem Klingen gegen einen Kopf des tadellos sitzenden Besuchsrockes. Die blassen, kühlen Augen schauten von neuem wie aus einer Maske. Er nahm die Hacken zusammen und verneigte sich leicht. „Verzeihung, wenn ich aufdringlich erschienen bin. Sie haben natürlich recht. Ich würde mir das ebenfalls verbeten haben. Nun, mein Agent in Berlin wird ja wohl ein ähnliches Stück auftreiben können.“ Er reichte dem Amtsrat die Hand hin. „Ich habe Sie ungebührlich lange aufgehalten, Herr Amtsrat!“ Seine Bewegungen waren wieder gemessen und herablassend. Eine jede schien das aufrichtige Bedauern auszudrücken, daß er sich mit dem ungefälligen Nachbar überhaupt eingelassen hatte. -- Der Abschied war schließlich fast hastig. Wenn es einmal und zwar schüchtern gegen die Küchentür stieß, dann war es Filax, der alte Stubenhund, den ein beständiger Hunger plagte. Wenn es zweimal und zwar mit einem donnerähnlichen Geräusch dagegen krachte, war es der Major a. D. Wullenweber, der die alte Klidderten anschnauzen wollte. Auguste, die fahrige blutjunge Deern, duckte sich jedesmal bei Beginn des Polterns ängstlich zusammen. Die Mamsell jedoch öffnete unerschrocken, wenn auch voller Behutsamkeit, damit der Draußenstehende nicht etwa von einem heftigen Anprall umgeworfen würde und sagte freundlich: „Ja, Herr Major, heute wird’s zehn Minuten später mit den frischen Kartoffeln. Der Waldesruher Herr war bei uns.“ „Wenn Sie „frische Kartoffeln“ sagen, klingt das noch großartiger als wenn seiner Zeit der Oberkellner in Esplanade meinetwegen „frische Austern“ lispelte,“ höhnte er poltrig und unzufrieden. „Ich kenne bloß Dabersche und denn magnum bonum und die kleine blaue frühe, denn von der weißen halt’ ich nichts. Austern bauen wir hier gar nich.“ „Sie sind ein Kamel, Klidderten.“ „Denn müßt ich ja wohl in die Wüste, Herr Major. So ist mir das von meiner Jugend her erinnerlich. Und denn kriegten Sie alle überhaupt nichts warmes auf den Tisch.“ „Nun schweigen Sie endlich still. Wenn man schon nichts zu essen bekommt, muß man wenigstens einen ordentlichen Tropfen trinken. Nehmen Sie mal Vernunft an, Fräulein Kliddert. Eine einzige Flasche, Mamsellchen. Na los.“ Sie kam ein wenig näher. Aber doch nicht mehr, wie auf fünf Schritt Distanz. Dann ließ sie die angeborene Bescheidenheit halt machen. „Begucken Sie sich bloß mal im Spiegel, Herr Major. Ist das nicht eine wahre Freude mit Ihnen? Sehen Sie vielleicht aus wie einer, der in die Sechzig will? Wirklich nicht. Von der dummen Krankheit, als Sie gerade angekommen waren, ist keine Spur mehr zu merken. „Klidderten,“ hat neulich der Waldesruher Gärtner zu mir gesagt, denn er kommt jeden Donnerstag aus alter Gewohnheit auf einen Schwatz in die Küche. „Was ist das für ein Kavalier mit dem feinen Spitzbart --“ „Hören Sie schon damit auf,“ murrte der Major, aber in seiner Eitelkeit freute er sich kindisch darüber. Die alte Klidderten schielte nach der andern Seite des Hauses hin, von welcher ihr der Amtsrat zu Hilfe kommen sollte, denn die Blauschimmel waren schon angetrabt. Dann war für diesmal wieder alles ausgestanden. Vor dem Bruder schwieg der Herr Major davon! Aber der Hohenklitziger Herr stand versonnen und sah dem davonrollenden Gefährt mit gefurchter Stirn nach. Die Gedanken schossen ihm wild durch den Kopf. „Wenn der das Mädel in Berlin kennen lernen sollte und sie gefällt ihm und er kriegt doch vielleicht nicht von seinem Agenten den ähnlichen alten Schreibtisch und er denkt dann so nebenbei dran, daß es vielleicht hübscher und angenehmer wäre, der jetzige Anwärter erbte das Majorat nicht, sondern sein eigenes Fleisch und Blut und sie sagt „ja“, denn wie sollte ein armes Ding wohl den Mut zu einem „nein“ finden.“ Aergerlich wandte er sich herum. Was ging ihn dies alles an? Hatte er sich die letzten Jahre überhaupt um das Mädel -- die Eva -- gekümmert? Trotzdem sie die Tochter der geliebten Frau war. Dumme Ausrede, daß er an die Erbschaft durch die Präsidentin und ihr gutes Auskommen felsenfest geglaubt hatte. Ein Mann in seinen Jahren glaubt nur das, wovon er sich auch überzeugt halten darf. Erst der Junge, der Walter, mußte sie ausfindig machen, ehe er an sie dachte. Gedankenlos war er weiter gegangen und stand nun vor der alten Klidderten, die ihm heftig zublinkte. Diese Sprache begriff er ausgezeichnet. Seitdem sich sein Bruder damals nach dem glücklich überstandenen Schlaganfall zum Hierbleiben entschlossen hatte, stand sie ihm auch hierin getreulich zur Seite. Es kamen immer wieder Tage, in denen der Major ein unbändiges Verlangen nach den Dingen trug, durch die er sich bis jetzt seine Vergnügungen verschaffte. In dieser Abgeschlossenheit wäre ihm höchstens ein guter, alter Tropfen aus dem Keller mit der lebensgefährlichen Treppe erreichbar gewesen. Er selbst war aber nicht imstande, die schwindelnde Stiege hinabzuklimmen und die alte blödsinnige Gans, wie er sie soeben bei sich nannte, tat ihm nicht den heimlichen Gefallen. Da sprach ihn der Amtsrat an: „Du hattest heute früh einen Brief von Walter, nicht wahr?“ Der Major brummte eine Erwiderung die unverständlich blieb. „Sonderbar,“ wunderte sich der Amtsrat, „weil er doch gerade erst gestern an mich geschrieben hatte.“ „Wieso sonderbar? Kann er nicht auch mal ausnahmsweise was mit seinem Vater zu bereden haben?“ „Natürlich. Er betonte aber gerade zu mir, wie knapp seine Zeit geworden sei.“ „Wenn dich die Neugier sticht, kannst du den Brief nachher lesen.“ „Du weißt genau, daß es etwas anderes ist!“ „Meinetwegen. Du hör’ mal,“ und er zog den Amtsrat bei Seite wie ein Kind, das etwas Heimliches zu sagen hat, vor dem es sich im Grunde genommen, ein wenig schämt, „befiehl doch mal deiner verehrten Scharteke da, daß sie uns eine von dem herben Ungar raufholt. Frage nichts. Gib auch keine Lehren. Tu mir mal ausnahmsweise den kleinen Gefallen.“ Der Amtsrat hatte eine heftige Ablehnung bereit. Als er aber das alte, bittende Gesicht sah, überkam ihn eine eigentümliche Weichheit. Schließlich war es keine Kleinigkeit, daß der Bruder Leichtfuß seinen tiefgewurzelten Widerwillen gegen die ländliche Stille überwunden und -- seinem Ehrenwort getreu -- ohne neue Schulden zu machen, bei ihm ausharrte. Er tuschelte mit der Klidderten. „Schön, holen Sie eine rauf. Wir haben ja ohnehin noch fünfzig von der Sorte.“ „Aber, ihn bloß nichts davon merken lassen, Herr Amtsrat.“ „Wenn Sie sich nicht verplappern, Klidderten.“ „Wo werd’ ich denn. Ich bleibe dabei, daß es im Ganzen überhaupt bloß noch zwei waren. Eine wurde ausgetrunken, als Herr Walter das letzte mal bei uns war. Nu is denn keine einzige mehr da. Bloß noch der Säuerling, den ich für’s Wildragut gebrauche.“ Mit verständnisvollem Lächeln verschwand sie hinter der schweren Küchentür. -- Der Amtsrat trank kaum ein halbes Glas von dem goldklaren, alten, schweren Sorgenbrecher. Daß er ihm Bescheid tun sollte, verlangte der Major auch gar nicht. Er selbst sog mit geschlossenen Augen in kleinen, schmatzenden Zügen. In der Mitte des Tisches dampften die frischen Kartoffeln mit einer reichlichen Beigabe grüner Petersilie. Neben jedem der beiden Gedecke duftete eine kräftige Scheibe Bratspeck. Dazu stand -- wie gewöhnlich -- ein Topf mit köstlicher Buttermilch bereit. Der alte Offizier wurde wieder jung, leichtsinnig und prahlerisch. „Als ich bei den Kürassieren in Dernburg stand, kriegte ich von zarter Hand ganze Körbe voll Champus. Bedankt habe ich mich nie. Bei wem denn? Man ahnte natürlich. Das Nest war ja klein. Aber die Eifersucht unter der edlen Weiblichkeit war zu groß geworden. So war’s schlauer, ich stellte mich unwissend.“ Der junge Kürassierleutnant hatte sich dann in die Infanterie stecken lassen müssen. Wegen Schulden natürlich. „Zuerst dachte ich mir das gräßlich. Hatte Selbstmordgedanken. Schließlich machte sich’s ganz nett. Mädelchen waren da noch viel aufmerksamer und verliebter.“ Als Hauptmann der Infanterie kam er auf der Treibjagd zu dem, was er sein Unglück nannte. „Alles vorbei. Es war zum Rasendwerden. Man war niemand mehr.“ Seine Ehe hatte er vergessen. Sie war ja auch nur kurz gewesen. -- In der Flasche schimmerte der Boden mit dem Rest des Goldenen. -- „Doch -- die Kinder! Vater spielen will gelernt sein. Mir lag’s nicht. Der Junge war mir zuweilen direkt peinlich mit seiner unbequemen Art zu gucken und Fragen zu stellen. Aber -- das Mädchen.“ Der letzte Tropfen hing schwer an seinem grauen Bart, den der Haarkünstler nun nicht mehr ausbesserte. Ihn stieß das Elend. „Daß du’s weißt, ich bleibe nicht länger hier. Morgen früh geht’s weg. Kannst du mir das verdenken? Zwei reichliche Jahre immer bloß Buttermilch und die Faltenschnute von deiner Klidderten. Daß man das überhaupt geschafft hat. Nie raus aus der Bude. Immer hinter den Rechenbüchern und dabei noch das Gefühl, als mache der erste beste Quartaner die Geschichte besser. -- Jetzt geht in Berlin nach dem toten Sommer das Leben wieder los. Auf der Tauentzienstraße, weißt du! Mädelchen gibt’s da. Einfach süß. Wenn ich im Wagen oder wo am Fenster sitze, mache ich immer noch eine gute Figur. Und die kleine Weinstube beim Anstermeier. Piekfein. Und anständig. Niemals mahnen die. Bloß einmal im Jahre, wenn’s einem natürlich am wenigsten paßt, erinnern sie bescheiden. -- Uebermorgen kann ich schon drin sitzen. Gleich nachher will ich dem Jungen telegraphieren. Du läßt’s zur Post besorgen. Das werd’ ich ja wohl noch verlangen können.“ Der Amtsrat hatte zugehört, ohne einmal den Schwall der Worte zu hemmen. „Du wolltest mir Walter’s Brief geben,“ sagte er nur, als der Major endlich verstummt war. „Den Brief? Richtig. Hier ist er!“ „Ich werde ihn dir noch einmal vorlesen.“ „Nicht nötig. Habe mich bereits selbst genügend von seinem Inhalt unterrichtet.“ Der Amtsrat bedachte den Einwand nicht. Er wußte, daß die Erinnerung an das gegebene Wort auftauchen und zurückreißen würde. Halblaut begann er: „Lieber Vater! Soeben habe ich die letzte Rate deiner Schulden getilgt. Es ließ sich also, wider Erwarten, schnell erledigen. Justizrat Weißgerber zahlte mir, als auch in letzter Instanz der Millionenprozeß, von dem ich das letzte mal erzählte, zu unsern Gunsten entschieden wurde, zwei Drittel des in diesem Falle von unserem Klienten versprochenen Extrahonorars aus, weil ich die ganze Mühe damit gehabt. Freilich bin ich zur Zeit selbst völlig blank. Ich habe mein halbes Vierteljahrsgehalt noch dazu gelegt, um endlich frei zu sein. Nun mache ich dir einen Vorschlag. Willst Du durchaus wieder nach Berlin, sollst Du wissen, das Du mir willkommen bist. Es kann jetzt in jeder Beziehung besser, wie früher, für Dich gesorgt werden. Nur mußt Du mit Deiner Reise bis zum nächsten Quartal warten, damit ich Dir genügend Geld schicken kann. Hast Du noch selbst von Deiner Pension zur Verfügung, teile mir das mit. In diesem Falle stände Deiner früheren Rückkehr, wenn sie Dir wünschenswert erscheinen sollte, nichts mehr im Wege. Dein Sohn Walter.“ Ohne eine Bemerkung reichte der alte Wullenweber das Schreiben zurück. Seine Augen brannten wie nach einem Erntetag mit heftigem Ostwind bei reichlicher Sonne. Schweigend steckte auch der Major den Brief in die Tasche. Geflissentlich sahen sie aneinander vorbei. „Ich will mich noch eine Viertelstunde auf’s Ohr legen,“ meinte endlich der Amtsrat und erhob sich. Da langte auch der Major nach seinen Stöcken. -- -- Der alte, schwere Goldene hatte ausgewirkt. Aber der feste Wille zur schleunigen Rückkehr nach Berlin lebte weiter. Das Kursbuch mußte herhalten. „Hier war man ja doch schon mit den gefräßigen Spatzen munter. Also -- los. Morgen früh um sieben Uhr! Und keine Stunde zugegeben!“ So stand’s auch in dem Telegramm an Walter Wullenweber zu lesen. Der Major kniffte es sorgfältig zusammen. Jetzt würde man endlich bald wieder ein Mensch werden! Er stelzte in die weißgetünchte Schlafkammer von damals, die er immer noch inne hatte. An der dünnen Bretterwand hing jetzt das Bild seines Kaisers zwischen den beiden toten Majestäten, denen er ebenfalls seinen Treueid geschworen hatte. Als sein Sohn mit ihm redete -- jawohl, so stimmte es. Der mit ihm, denn er spielte nur den stummen, gequälten Zuhörer -- war die Wand noch leer gewesen. Damals wurde auch ein Treueid geschworen. Dachte er denn daran, ihn zu brechen? War es diese Einsamkeit, die ihn nach innen sehen ließ. Das Alter oder das andere? Die verlorene Tochter -- seines Lebens Lust und Stolz. Er las plötzlich aus einem Buch mit erhabenen Lettern. „Eines Tages werde ich meinen letzten Treueid brechen, wenn ich nach Berlin zurückkehren sollte!“ Die Erkenntnis erfüllte ihn mit Abscheu gegen sich selbst. -- An diesem Nachmittag saß er nicht hinter den Rechenbüchern. Er stolperte im Garten herum, entdeckte noch etliche Aepfel in verwegener Höhe und schimpfte mit Karl Pergande, dem Fünfzigjährigen, der das Jungvieh unter sich hatte. -- -- Bei der Abendpfeife auf der Veranda tippte er dem Bruder auf die Schulter. „Berlin paßt mir doch nicht mehr. Es ist zu laut, zu eng und zu teuer für unsereins. Wenn du nichts dagegen hast, bleibe ich hier.“ Der alte Amtsrat paffte sich in eine undurchsichtige Wolke hinein. „Ist mir auch viel angenehmer,“ sagte er kurz. „Am Sonntag kommt ohnehin der Pferdehändler aus der Stadt mit zwei angeblich fünfjährigen Braunen. Die mußt du dir eingehend ansehen. Ich allein trau mir das Geschäft nicht zu, denn der Hallunke tattert sehr geschickt.“ -- Sie waren an diesem Abend durchaus nicht herzlicher wie sonst zusammen. Und dennoch fühlten sie sich beide zufrieden und ruhig, daß es nun entschieden war. [Illustration] [Illustration] 15. „Du bittest mich um eine vertrauliche Auskunft über das Vermögen meines einstigen Mündels Eva von Ostried?“ schrieb Amtsrat Wullenweber an seinen Neffen. „Das verstehe ich nicht. Neugier sähe Dir unähnlich. Beabsichtigt ihr etwa Dein Justizrat Zuwendungen zu machen? Notwendig hätte sie das sicher. Denn ihr gesamtes mütterliches Erbe, das ich am Tage ihrer Volljährigkeit Frau Präsident Melchers für sie übergab, betrug nur eintausend Mark. Hätte ich geahnt, daß die wackere Frau unerwartet schnell, und zwar mit dem von Dir erwähnten, für Eva von Ostried sehr traurigen Ergebnis sterben mußte, hätte ich doch die Tochter ihrer Mutter in ihr gesehen und mich auch nach der erfüllten Pflicht um sie gekümmert. Ihr jetzt noch, nachdem sie sicher das Schwerste hinter sich hat, zu schreiben, widerstrebt mir. Wohl aber möchte ich sehr gern wissen, ob ihr Hilfe erwünscht wäre. Ich weiß nichts über ihr Leben und Wirken. Wäre es nicht das Einfachste, Du zögest Erkundigungen über ihre Lage ein? Geben sie irgendwie zu meiner Unterstützung Anlaß, werde ich mich mit ihr stets in Verbindung setzen. Laß es Dir durch den Kopf gehen und gib mir Bescheid, sobald Du etwa erfährst, daß es ihr kümmerlich ergeht. Im anderen Falle ist die Sache ja ohnehin auf das Beste erledigt. Dein Vater wird Dir inzwischen selbst seine Absicht, Hohen-Klitzig nicht mehr zu verlassen, mitgeteilt haben. Daher mußte sich mein Verhältnis zu ihm, von innen heraus, bessern. Erlauben Dir die Geschäfte und die Gesundheit Deines Justizrats eine kurze Ausspannung, so weißt Du, daß Du mit Deinem Besuch stets erfreust Deinen getreuen alten Wilhelm Wullenweber.“ Der junge Anwalt las diesen Brief mit einer Empfindung, die ihm im Augenblick noch unklar war. Er spürte nur, daß ihn der Inhalt unruhig machte. Seitdem Justizrat Weißgerber ihm von Eva von Ostrieds schwerer Enttäuschung bei dem Tode der Präsidentin gesagt, ihre Verzweiflung und Kämpfe geschildert, brachte er die Frage nicht mehr zum Schweigen, woher sie nun doch gleich darauf das Geld zu weiteren Studien genommen haben könnte... Ihre Schönheit wirkte, auch in der Erinnerung, in alter Stärke auf ihn. Er empfand sie als das Vollendetste, das er jemals gesehen hatte. Wie er, würden auch andere fühlen. Und ihr Bild trat ganz scharf vor ihn hin. Er sah wieder ihr Erröten -- den Glanz ihrer großen, sprechenden Augen und fühlte das leise Beben ihrer Hand in der seinen, und seine Unruhe wurde zur heißen Sehnsucht nach ihr! Aber nach üblichen Begriffen kannten sie einander ja kaum! Gestern war ihr Herr Alois Sendelhubers erneuter Bescheid zugestellt. Walter Wullenweber hatte schließlich doch kurzweg einen Entschädigungsanspruch in jeder Höhe abgelehnt und ihr, bei einem Beharren seiner Forderung, auf den Weg der Klage verwiesen. Darauf hatte sich der schlaue Agent, der sich Eva von Ostrieds ihm besonders wertvoll dünkende Kundschaft auf keinen Fall verscherzen wollte, zur postwendenden „ausnahmsweisen“ Lösung des Vertrages -- bezüglich des strittigen neunten Novembers -- verstanden. Somit war diese Angelegenheit erledigt und nichts stand mehr aus, als die Entrichtung der entstandenen Unkosten von Seiten der Anwälte, die der Justizrat Weißgerber, nach Kenntnis der Angelegenheit, jedoch unberechnet zu lassen wünschte. Das schwache Fädchen, an dem er sie gehalten, war damit zerrissen. Sie aber nie wiederzusehen, erschien Walter unmöglich. Er setzte sich an den Flügel und versuchte die kleinen Lieder zu spielen, die ihm sehr einsame und verzagte Stunden einst als Tröster geschenkt hatten. Seine Sinne blieben nicht bei den Tönen. Sie irrten ab und verlangten nach dem Leben. Die alte Pauline brachte einen Brief herein. Sie verweilte noch wenig im Zimmer, wie sie das auch bei der Präsidentin getan hatte. „Herr Rechtsanwalt, ich hab’ neulich nun doch unserm Fräulein geschrieben.“ Für sie stand Eva von Ostried längst wieder in der Gegenwart genau wie einst. Er hielt die Blicke beharrlich gesenkt, als könne sie sonst seine Gedanken lesen. „Was hatten Sie ihr denn Wichtiges mitzuteilen, Pauline?“ „Nun, wie es mir indessen gegangen is und wie gut ich es auch wieder bei Ihnen habe.“ „Das wird nicht alles gewesen sein, obschon es, was meine Person anlangt, bereits zu viel ist,“ sagte er mechanisch und sah interesselos auf den Brief. „Sie haben Recht. Die Hauptsache hab’ ich verschwiegen. Ich möchte doch so gern wissen, wie sie wohnt und wie sie alles angefangen hat. Ach, Herr Rechtsanwalt, warum kommt’s meist ganz anders, wie man denkt? Ich hänge ja so sehr an ihr und hab’ mir damals beim Abschied fest eingebildet, wüßt’ ich mal erst, wo sie wohnte, liefe ich auch gleich hin. Denken Sie an, ich war auch wirklich schon mal da. Gleich, nachdem ich von Ihnen die Adresse gehört hab’.“ Sie stockte und sah von ihm weg. „Wann war das ungefähr, Pauline?“ „Heute vor zwei Wochen, Herr Rechtsanwalt!“ „Warum verschwiegen Sie mir das?“ „Ich war so von Herzen betrübt, Herr Rechtsanwalt.“ „War sie unfreundlich zu Ihnen?“ „Ach, ich hab’ sie gar nicht gesehen!“ „Das verstehe ich nicht!“ „Mir war’s selbst, als könnte das nicht mit rechten Dingen zugehen. Bloß bis an ihre Tür bin ich gekommen.“ „Sie können mir alles sagen, Pauline. Ja, ich bitte Sie sogar herzlich darum.“ „Ich hab’s gleich gefühlt, daß Sie einen guten Begriff von ihr haben, Herr Rechtsanwalt. Und so sehr hab’ ich mich darüber gefreut.“ „Nun, dann erzählen Sie einmal!“ „Es ist schnell erzählt. Ich wußte doch nicht Bescheid und befragte mich erst unten beim Hauswart. Da war eine drin, die mir gleich erzählte, daß sie mal bei unserm Fräulein in Stellung gewesen. Sie gefiel mir auf den ersten Blick nicht. Ach, Herr Rechtsanwalt, wenn Sie wüßten, was ich von der zu hören gekriegt hab’.“ „Es wird nicht schlimm sein,“ meinte er. Aber in seiner Stimme zitterte die Angst vor den nächsten Minuten. „Doch! Ein Freund von unserm Fräulein soll der Person regelmäßig Geld gegeben haben, damit sie nicht zu hungern brauchte. Aber nun ist er plötzlich gestorben, in München, wo sie gerade ein Konzert gegeben hat. Und nun sollte überall geknapst werden und das Fräulein sei ihr noch obendrein dumm gekommen, als ob sie was dafür könnte, daß sich noch kein neuer Freund gefunden hätt’. Solche Gemeinheiten bloß auszusprechen, nicht wahr? Ich kenn’ doch unser Fräulein! Freude hat sie wohl dran gehabt, wenn ihr einer nachgesehen hat. Wozu hätt’ ihr der liebe Gott denn auch sonst all die Schönheit gegeben? Aber stolz und rein ist sie immer gewesen. Das kann sich bei ihr einfach nicht ändern. Und man hört ja schön die Lügerei heraus. In München soll sie gesungen haben, gerade als der Freund sterben mußte. Und unser Fräulein hätt’ schrecklich nachher geweint. Erzählt hätte sie nichts näheres davon; bloß, daß er nicht mehr Sonntags und auch so kommen könnt’, weil er eben tot wäre. -- Aber irgend eine andere Person aus ihrem Hause hat eine Zeitung angebracht. Da hat alles drin gestanden. Sogar sein Namen. Und unser Fräulein soll ausdrücklich auch erwähnt sein als eine, die ganz untröstlich gewesen ist, als sie seine Leiche gebracht hätten. Und jetzt wäre ein Mädchen bei ihr. -- Bestimmtes wisse man ja wohl nicht. Aber, wenn sich eine niemals an die Sonne traute, keinen Menschen ohne Verabredung zur Tür reinließ und immer so scheu wie ein Hund rumkröche -- denn könnte man sich schon allerlei denken. Der Doktor, der die Hausmeisterkinder bei der Grippe behandelt hat, soll zu irgendwem geäußert haben, daß sie den nächsten Kuckuck wohl nicht mehr hören würde. Und wenn so eine dennoch gehalten würde und verwöhnt und verhätschelt dazu, wie die Hausmeistertochter, die oben aufwartet, erzählt, denn wüßte man schon genug.“ „Und Sie haben das alles doch geglaubt, Pauline! Sonst hätten Sie nun gerade zu ihr hinauf müssen und sie befragen. Ja, das durften Sie nach der langen zusammenverlebten Zeit ganz gewiß.“ „Ich mußte weinen,“ sagte sie still. „Ich war zu unglücklich von dem Getratsch, Herr Rechtsanwalt, wie ich schon gesagt hab’.“ „Sie werden noch einen anderen Grund gehabt haben,“ meinte er. „Auch Ihre Ehrbarkeit hat sich gegen diesen Besuch gesträubt?“ Ihr Gesicht war ganz blaß geworden. „Das versteh’ ich wohl nicht richtig!“ „Nun, Sie hielten sich, nach dem Gehörten, wohl für zu gut, um Fräulein von Ostried noch zu besuchen.“ Sie stieß einen leisen Schrei aus. „Bei Gott, das war’s nicht!“ „Was könnte es anders gewesen sein?“ Sie suchte nach den rechten Worten. „In meiner Jugend war ich sehr hitzig und auch jetzt noch geht nicht alles so still zu, wie sich das wohl eigentlich für mein Alter ziemen tät’. Dafür kann einer nichts, glaube ich. Ich war so voller Gift und Galle, daß ich meine Hände kaum stillhalten konnt’. Die wollten der lügnerischen Person an den Hals. -- Und so hätt’ ich zu ihr reinkommen sollen? Das wurde mir klar, als ich vor ihrer Tür stand. Verstellen kann ich mich nicht; sie überhaupt würde gleich gewußt haben, daß etwas vorgekommen wär’. Und wenn sie mich angesehen und auf’s Gewissen gefragt hätt’, ja, Herr Rechtsanwalt, dann wär’ bestimmt alles -- aber auch alles -- rausgesprudelt. Hinterher hätt’ ich mich prügeln können, soviel es mir paßte. Was gesagt war, blieb! Und wenn ich’s hundertmal widerrufen und bedauert hätt’. Den Schmerz wollte ich unserm Fräulein nicht antun. Darum bin ich eins -- zwei -- drei wieder die Treppe hinunter und habe mich unten auf der Straße erst mal richtig ausgeweint. Am nächsten Tage wußte ich, daß alles Lüge war von Anfang bis zu Ende. Aber wie das alles zusammenhängt, kann ich nicht wissen.“ Er sah starr geradeaus. Den Zusammenhang, den Pauline nicht zu finden vermochte, den fand er leicht. Er sah ein armes, schönes, schwer enttäuschtes Mädchen ohne Schutz und Rat. Die Folgen waren unschwer zu erraten und wer dürfte darum verurteilen? „Hatten Sie sich denn in aller Form bei ihr angesagt, Pauline?“ „Ich habe sie gefragt, wann ich ihr passend käm’.“ „Und die Antwort?“ Das alte Mädchen zögerte einen Augenblick verlegen! „Geschrieben hat sie mir noch nicht, Herr Rechtsanwalt.“ „Hm?!“ „Der Brief kann ja verloren gegangen sein, Herr Rechtsanwalt.“ „Sie werden wohl gar noch einmal bei ihr anfragen?“ sagte er nach einer langen Pause. „Nein, Herr Rechtsanwalt. Ich werd’ heute nachmittag direkt zu ihr gehen. Herr Rechtsanwalt erlaubt’s mir doch?“ „Daß Sie ausgehen? Aber gewiß, liebe Pauline. Sie sollen mich überhaupt nicht wegen dieser selbstverständlichen Dinge befragen.“ Jetzt lachte sie ein wenig. Dann hörte er die Tür gehen und war mit dem immer noch uneröffneten Briefe allein. Das lenkte ihn zunächst ab. Die fremde steife Schrift auf dem Umschlag war ihm unbekannt. Der geöffnete Brief zeigte eine siebenzackige Krone über einem Adler, der ein Lamm in seinen Horst schleppte. Der Waldsruher Majoratsherr brachte darunter seine Wünsche zum Ausdruck. Die Zeilen waren liebenswürdig abgefaßt. Hinter dem Auftrage, der die Abänderung und teilweise Erweiterung der Familienstatuten erbat, zeigte sich die Verheißung zur Rechtvertretung bei einem Zivilprozeß über ein erhebliches Objekt. Daß der darin Beklagte dem jungen Anwalt als ein minderwertiger Aufkäufer alter Waldbestände bekannt war, hätte ihm das in Aussicht Gestellte nur angenehm machen müssen. Trotzdem regte sich ein Gefühl des Widerwillens gegen den ihm bis heute unbekannt gebliebenen Auftraggeber. In diesem Augenblick war er unfähig zu jeder klaren, nüchternen Erwägung. Erst ein wenig später glaubte er zu wissen, daß ein Mädchen mit der Vergangenheit Eva von Ostrieds unmöglich dem in jeder Beziehung verwöhnten Geschmack dieses adelsstolzen, schwerreichen Witwers genügen könne. Vergangenheit! -- Wie kam er dazu, dies zweideutige Wort mit ihr in Verbindung zu bringen? Dem elenden Klatsch eines natürlich sehr gegen seinen Willen entlassenen Mädchens auch nur den geringsten Glauben zu schenken? Ihn verlangte nach einer Aussprache mit ihr. Es konnte sie unmöglich vorbereitungslos treffen! Seine Blicke würden ihr längst alles verraten haben. Er legte Feder und Papier zurecht und schrieb. Zuerst malte er ihr das Bild seiner Eltern. Dann ging er zu dem über, was ihm leicht von der Feder ging. „Als ich Sie sah, wußte ich sofort, daß die Stunde meines Glückes da war. Ich zweifelte nicht. Das kam erst später. Sie fühlten alles. Ich merkte es und war sehr froh darüber. Schon als Sie mich das erste Mal verließen, lag mir jeder Zweifel fern. Ich war ruhig und dankbar, daß das Glück nicht an mir vorüberging. Unsere zweite Zwiesprache sprengte fast mein Herz vor Seligkeit. Sie hatten unter der Schar der harmlosen Worte jenes Briefes nach einem Laut gesucht, der Ihnen mehr verriet. Darum durfte ich Ihnen auch schon jetzt meine Liebe zeigen. Sie widerstrebten nicht. Mein Herz lag in ihrer Hand. Nun folgten wunderliche Tage. Zuerst Stunden, die ich um jeden Preis auskosten wollte, so schön und unvergleichlich waren sie. Bis eines Tages mein wildes Verlangen sie unerträglich schalt. Damals habe ich Sie aus der Ferne mit einem Andern gesehen. Ich bin auf ihn -- sicherlich einen völlig harmlosen Bekannten -- sinnlos eifersüchtig gewesen. Nicht wahr, er ist doch nichts anderes für Sie? Zuweilen sprach ich mit der alten Pauline über Sie. Oft nur Ihren Namen, das war mir genug. Ich vertraute mir nicht mehr. Und das ist sehr hart. Sie sollen alles wissen. Das habe ich mir gelobt. Wir dürfen hinfort kein Geheimnis zwischen uns dulden. Fühlen Sie das auch? Ich habe Sie vor mir verdächtigt und niedrig gestellt. Es war alles nur die sinnlos tobende Eifersucht. Ich habe Sie über alles lieb! Das Ganze bringe ich Ihnen! Nicht nur den Rest. Vor Ihnen habe ich keine geliebt. Ich bin überzeugt, daß ich auf Sie warten mußte. Darum fordere ich auch Ihre ganze Seele! Sie sollen mich als Bruder, Freund und Vater empfinden, dem Sie alles sagen dürfen und auch sagen müssen, ehe ich Ihr Lebenskamerad und Geliebter werden darf. Sie sind rein. Ich weiß es! Kein Fleck ist vorhanden. Keine Stelle, die sich verbergen müsse vor meiner Liebe. Wäre es anders, könnte ich nicht über alle Begriffe selig sein, wie ich es jetzt bin! Ihr Walter Wullenweber.“ Ohne abzusetzen hatte er zu Ende geschrieben! Unter einem wundervollen Zwange, und wie das Gefühl eines starken, lebensspendenden Rausches blieb es ihm in der Seele zurück. -- Er lief in den Abend hinaus und sah nichts als unruhig segelnde Wolken. Als er heimkam, war es schon dunkel. In der engen Wohnung erwarteten ihn Helle und Wärme. Die alte Pauline war zurück und hatte die Abendmahlzeit gerichtet. Er nahm an, daß sie ihm, ohne seine Frage, berichten werde. Aber gegen ihre Gewohnheit verließ sie sogleich das Zimmer, in dem er zu speisen pflegte. Langsam schob er Bissen um Bissen in den Mund, und lauschte dabei nach der Küche hinüber. Von der behaglichen Hängelampe herab schwang sich die dicke Schnur mit der elektrischen Klingel für die Bedienung. Bisher hatte Walter Wullenweber sie noch nicht benutzt. Er betrachtete die alte Pauline nicht als seine Untergebene, sondern als einen freundlichen Hausgeist, der aus eitel Lust an der Arbeit das Händestillhalten nicht erlernen konnte. Jetzt preßte er den kleinen weißen Knopf in die Birne aus rotgetöntem Holz. Sie erschien sofort ohne sich verwundert zu zeigen. „Wollen Sie mir gar nichts von Ihrem Ausflug erzählen?“ fragte er obenhin. Sie versuchte ihre Verlegenheit unter einem Kichern zu verstecken, das ihm weitab von aller echten Fröhlichkeit erschien. Denn ihr Gesicht, in dem bei einer wirklichen Freude alle Falten mitlachen mußten, blieb sorgenvoll. „Ach,“ machte sie, „das ist doch kein Ausflug gewesen, Herr Rechtsanwalt!“ „Wie haben Sie Fräulein von Ostried gefunden, Pauline?“ „Ich hab’ halt wieder Pech gehabt.“ „S--o, nahm Ihnen die Person von neulich zum zweiten Mal den Mut?“ Sie wurde ärgerlich. „Sie sollen das doch nicht sagen, Herr Rechtsanwalt! Natürlich war ich oben. Und geklingelt hab’ ich auch. Mir hat aber Keiner aufgemacht.“ „Die Herrschaft wird ausgeflogen gewesen sein. Der Tag war ganz dazu gemacht.“ „Nein, zu Haus waren sie ganz gewiß.“ „Ihr Fräulein würde doch die alte Pauline, deren Liebling sie immer noch ist, nicht so schlecht behandeln! Sie werden sich geirrt haben,“ widersprach er. „Ich konnte es auch lange nicht fassen. Aber es war doch wohl so. Ehe ich ihr ins Haus ging, habe ich mir nebenan die kleinen, netten Gärten auf dem Bauland besehen. Vor dem Fenster an der Ecke stand Eine und guckte gerade auf mich runter. Ich kann beschwören, daß das unser Fräulein gewesen ist.“ „Sie haben sich eben versehen, beste Pauline. Ihre Augen haben sechzig Jahre gedient. Da müssen Sie nicht mehr zu viel von ihnen verlangen.“ „Sie war’s bestimmt, Herr Rechtsanwalt. Ich hab’ raufgewinkt und sie hat in der ersten Ueberraschung auch die Hand gehoben. Aber bloß ganz matt. Nachher war sie gleich weg. Dann bin ich nach oben. Wohl zehnmal hab’ ich geklingelt. Gerade wollte ich wieder gehen, da schob eins so recht heimlich von innen die Platte vom Guckloch weg. Das Fräulein war’s aber nicht. Vielleicht die Andere.“ „Deren Aufenthalt bei Fräulein von Ostried die Person damals mißbilligte?“ „So denke ich’s mir!“ „Konnten Sie das Gesicht wahrnehmen?“ „Freilich! Ich hab’ doch scharf aufgepaßt. Ganz elend und durchsichtig war’s. Aber schlecht und verworfen -- -- Nee, Herr Rechtsanwalt. Solche sehen anders aus.“ „Und dann haben Sie sich also davon gemacht?“ „Was sollte ich sonst tun? Zufällig fand ich einen Bleistift in meiner Tasche und den Fahrschein verwahre ich mir auch allemal, weil die Kinder darauf wild sind. Auf den hab’ ich geschrieben „die alte Pauline war hier!“ und das in den Briefkasten geschoben.“ „Warum setzen Sie sich nicht,“ fragte er plötzlich. „Ich muß noch mancherlei mit Ihnen besprechen. Wenn ich mich recht erinnere, erzählten Sie mir von Fräulein von Ostrieds reichem Muttererbe. Oder, sollte ich mich verhört haben?“ Sie erzählte es noch einmal kurz. „Sie zeigte Ihnen also, um Sie über ihre Zukunft zu beruhigen, ihren ganzen Reichtum?“ „Ja, so war’s!“ „Und die alte sparsame Pauline ist seitdem der Ueberzeugung, daß es sich um Fünfzigtausend oder gar noch mehr handelte?“ „Ganz so dumm bin ich doch nicht. Mit Geld weiß ich gut Bescheid. Ehe das Fräulein zu uns gekommen ist, hab’ ich alles auf die Bank tragen und wieder runterholen müssen, so oft unsere Frau Präsident nicht mit ihrem Herzen in Ordnung war.“ „Ich will Ihnen genau sagen, wie viel es gewesen ist. Eintausend Mark und kein Pfennig mehr!“ „Nein, nein. Es ist ein ganzes Pack Tausender gewesen.“ „Wenn Sie das eidlich erhärten sollten, gute Pauline.“ „Schwören, meinen Sie doch damit, Herr Rechtsanwalt? Da würd’ ich mich keinen Augenblick besinnen. Wieviel Stück es gewesen sind, das kann ich auf’s Haar nicht wissen. Zehn oder noch ein paar mehr waren es aber auf Ehre und Gewissen. Zehn zum mindesten!“ „Ich will noch etwas arbeiten, Pauline,“ sagte er da ohne weiteren Widerspruch. Mit ein paar eiligen Schritten war sie neben ihm: „Was Schlechtes dürfen Sie aber nicht von ihr denken, Herr Rechtsanwalt. Sie ist rein wie ein Engel.“ Schwerfällig nahm er in einem entlegenen Winkel seines Arbeitszimmers Platz. Möglichst von der Lampe entfernt, deren greller Schein ihm weh tat. Zum zweiten Male an diesem Tage bereitete er sich zum Schreiben an sie vor. Ach ja, wo war denn der erste Brief geblieben? Genau an dieser Stelle hatte er sich befunden, als er fortgegangen war. Er sprang zu der alten Pauline hinaus. „Wo haben Sie den Brief von meinem Schreibtische, Pauline?“ „Sie meinen doch den an unser Fräulein?“ „Ja, wo ist er?“ „Im Briefkasten, Herr Rechtsanwalt. Das war meine erste Arbeit, als ich wieder zu Haus war!“ [Illustration] [Illustration] 16. Hinter Eva von Ostried lag ein Tag und eine Nacht voller Kampf und Entsagen! Die scharfen Augen der alten Pauline hatten sich nicht getäuscht. Es war wirklich ihre Hand gewesen, die sich, wiederwinkend, hinter dem Fenster erhob. In jenem Augenblick war ihr das Leben wie ein mächtiger Strom, der sie reißend schnell zum Glück führen wollte, erschienen. Sie empfand nicht länger in der Nahenden die unerträgliche Mahnerin an einen begangenen Treubruch... Ihre Hand, die nur matt den Gruß erwiderte, war auch nicht schwach geworden, weil sie sich fürchtete. Das kam erst später. Sie war selbst zur Tür geflogen, um der Kommenden zu öffnen. Sehnsüchtig wartete sie ihres ersten, auf der Treppe hörbaren Schrittes. Als er dann endlich vernehmbar wurde, vollzog sich mit einem Schlag der Wechsel von höchster Seligkeit zum tiefsten Entsetzen. Erst jetzt kam die eigentliche Strafe für ihre Schuld. Alles bisher Durchlittene war nichts gegen dieses. Erinnern und Reue und Bußbereitschaft. Ihr Kampf währte so lange, bis die Schritte Rast machten. Da war er wider sie entschieden. Sie schleppte sich ins Zimmer zurück. Nur so viel Kraft hatte sie noch gefunden, um der Hausgenossin, die sich schon beim ersten Klingelzeichen zur Tür begeben hatte, das Oeffnen zu verwehren. Stundenlang lag sie danach blaß und starr auf dem Ruhebett. Dann kam Walter Wullenwebers Brief. Sie preßte den Brief an die schmerzende Brust, als sei sie gewiß, damit lasse sich das Stechen und Bohren lindern. Und plötzlich preßten sich ihre Lippen auf die Buchstaben. Das Heimweh war wieder da. Das brennende, wilde Heimweh! Was sollte nun werden? Eva von Ostried wußte, als sie den Brief gelesen, daß sie täglich und stündlich auf ihn gewartet hatte! Ungezählte Mal wiederholte sie sich die Worte seiner Liebe. Und dennoch haftete keines in ihr, außer den wenigen: „.. Sie sind rein. Ich weiß es!“ Was sie in München nach Ralf Kurtzigs unerwarteter Werbung zum ersten Mal empfunden hatte, daß sie dem Mann ihrer Liebe jenes furchtbare Geheimnis enthüllen müsse, ehe sie die Seine werden könne, wurzelte bereits fest in ihr. Walter Wullenweber sollte wissen und richten! In seine Hände wollte sie die Entscheidung über ihr Schicksal legen. Und dann erschien es ihr doch unerhört grausam. Sie suchte unentwegt nach einem barmherzigen Ausweg. Er würde sie verachten! -- Vielleicht war seine Liebe aber so heiß, daß er sie dennoch zu seinem Weibe machte? Ja, und deshalb sollte er dies wissen! Aber als sie die Feder eintauchte, beschloß sie, es ihm zu verschweigen. Denn nun war ihr unbändig heißer Stolz erwacht. Eine glaubhafte Erklärung, woher die Mittel zu ihrem Studium stammten, würde sich finden lassen. Was wußte ein lediger Mann von den Kosten einer Haushaltungsführung aus dem Nichts -- von der Notwendigkeit aller sonstigen Anschaffungen. Schlimmstenfalls konnte sie ihm von jetzigen großen Einnahmen durch Schüler und Konzerte sprechen und das Ueberwinden des ersten Jahres nach dem Tode der Präsidentin durch die vorhandene kleine Erbschaft und reiche Selbstersparnisse erklären. Sein Vertrauen war groß genug, um ihr alles zu glauben. Es erschien ihr unerschöpflich wie ein Brunnen über der springenden Erdquelle. Das ging aus seinem Briefe hervor. Es handelte es sich ja auch um sein Glück! Nicht lediglich um das ihre! Wem schadete sie, wenn das Geheimnis ihrer Schuld gewahrt bliebe? Wieder las sie seine Zeilen. Dann verriegelte sie ihre Tür. Gegen Abend tastete sie sich endlich empor und antwortete ihm. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, woher ihr die Kraft dazu gekommen war: „Vom ersten Augenblick unseres Kennenlernens an habe ich Sie als einen grundguten Menschen empfunden. Viele solcher waren mir bis dahin nicht begegnet. Darum zeigte ich mich auch anders, wie sonst. Ich danke Ihnen für alles, was Sie mir in Ihrem Brief gesagt haben. Es soll mir ein Ansporn zum Reifer- und Besserwerden sein. Erwidern kann ich Ihre Liebe nicht. Ich habe mir die Kunst erwählt. Ihr muß ich treu bleiben. Das begreifen Sie wohl. In dieser Stunde nehme ich Abschied für immer von Ihnen und fühle für Sie wie für einen lieben, großen, treuen Bruder, den ich innig bitte, uns Beiden jedes Wiedersehen zu ersparen. Es brächte mir nur Qualen und keine Sinnesänderung. Aber wissen sollen Sie, daß mein Herz keinem andern gehört noch jemals gehören wird....“ * * * * * In der Karlsenschen Villa waren die Rolläden herabgelassen. Die junge Herrin des Hauses verließ seit Wochen das Zimmer nicht mehr. Zuerst war es eine harmlose Erkältung gewesen, hervorgerufen durch eine Fahrt im offenen Wagen bei empfindlichem Ostwind. Paul Karlsen hatte damals im „Deutschen Opernhaus“ als Stolzing auf Engagement gesungen und, fiebernd vor Stolz und Rausch, erklärt, daß er im geschlossenen Gefährt ersticken müsse. Da waren sie selbstverständlich ohne das schützende Verdeck mit dem feurigen Braunen der Kommerzienrätin durch die Nacht gejagt, um irgendwo mit ein paar auserwählten Kollegen den ungeheuren Erfolg des Abends bei eiskaltem Sekt zu feiern. Frau Elfriede war selig gewesen, weil er sie dazu mitnahm. Unter dem Vorwande, dadurch schneller nach der Vorstellung heimzukommen, hatte sie das Gefährt von ihrer Mutter, die es sonst dem Schwiegersohn nicht gewährte, erbeten, nachdem diese umsonst die zarte Tochter von einem Theaterbesuche bei dem rauhen Wetter abzuhalten versucht hatte. In ihrem lichtblauen Seidenkleide mit den wundervollen echten Spitzen -- das Rot des Fiebers und der Erregung auf dem schmalen Gesicht -- hatte die junge Frau fast hübsch ausgesehen. Dankbar umfaßte sie ihres Mannes Rechte, weil er sie nicht zuvor heimgeschickt, um dann allein zur Nachfeier fortzustürmen. Freilich glaubte sie genau zu wissen, daß er das bisher einzig aus Sorge für ihre Gesundheit so getan. Aber eben deswegen jauchzte sie inwendig, daß sie +einmal+ von ihm als Gesunde betrachtet wurde. Wie hätte sie darum auch nur das leiseste Wort einwenden dürfen, als er den Kutscher zu immer größerer Eile anfeuerte? Der Wind schnitt wie mit scharfen Messern in ihre empfindliche Haut. Ihre Brust begann zu schmerzen, weil sie krampfhaft den Atem einhielt. Sie brauchte aber nur ihres jungen, sieghaften Stolzings zu gedenken, dessen Stimme besonders im Preislied von berückendem Glanz gewesen. So war sie zugleich Weib und Kind! Wunschlos glücklich und daneben neugierig auf den Blick in das bunte Leben. Nun war es ihr nicht viel anders wie den kleinen Spätmalven ergangen! Sie büßte schwer. Aus der Erkältung war ein Husten geworden, der sich sehr böse und hartnäckig gestaltete, weil ihn die Leidende zu lange verheimlichte. Die schmerzhafte Brust- und Rippenfellentzündung, die sich hinzugesellte, war zwar auch wieder überwunden. Eine kleine Schwäche blieb indes zurück. Das Herz war angegriffen! Nur das Herz. -- Frau Eßling besuchte die Tochter täglich. Aber sie vermied es, mit dem Schwiegersohn zusammenzutreffen. Das ließ sich, ohne damit zu verletzen, sehr gut einrichten. Seitdem Paul Karlsen den fünfjährigen Vertrag, der ihn an das „Deutsche Opernhaus“ band, unterzeichnet hatte, war er noch weniger wie früher in seinem Heim anzutreffen. Heimlich vor der Tochter hatte sich die Kommerzienrätin erkundigt, ob ihn die Proben zur Zeit so voll, wie er behauptete, in Anspruch nahmen. Und die gewonnene Auskunft mußte es bestätigt haben, denn sie widersprach Frau Elfriede nicht mehr, wenn die über die Grausamkeit der Spielleitung zu klagen begann. -- Im übrigen betrachtete sie diese Erkrankung, die ja, Gottlob, bald zur Genesung werden sollte, als ihr Geschenk, das sie dankbar genoß. Ihre Befürchtungen waren auch geringer geworden, seitdem sich die Tochter endlich bereit gefunden, während einiger Wintermonate mit ihr nach St. Blasien zu gehen. Der wöchentlich einmal zu dem Hausarzt hinzugezogene Professor erklärte sich mit dem Verlauf durchaus zufrieden und die junge Frau selbst fühlte, außer der Mattigkeit, keinerlei Beschwerden. Heute hatte sie sogar heimlich das Bett verlassen, um mit dem Gatten das Mittagsmahl in dem feierlichen Speisezimmer einzunehmen. Sie brach aber unter den geschickten Händen der Jungfer, die sie für die Ausführung ihres Planes gewonnen, zusammen. Nun ruhte sie längst wieder in den kostbaren Kissen und lauschte auf den Tritt ihres Mannes, der sogleich hörbar werden mußte. Denn Paul Karlsen wollte ihr den Rest dieses Tages zum Geschenk darbringen. Die Proben fielen aus, ein paar von der Kollegenschaft sehnlichst begehrte Aussprachen hatte er, nach seinem Bericht, abgesagt. Deshalb blieb auch die Kommerzienrätin heute fern. Nur der übliche Morgengruß, ein Strauß frischgeschnittener Herbstblumen aus dem Heimatsgarten standen auf der Glaseinlage des Nachttisches. Vor dem Ruhelager stand ein zierlicher, mit bunten Weinranken und flammendem Mohn geschmückter Tisch mit zwei Gedecken. Die drei von schweren weißen Perlen gehaltenen rosa Schalen brannten und erfüllten alle Gegenstände mit warmem, erwartungsvollem Leuchten. Sie wußte, wie sehr ihres Mannes Stimmung von äußeren Dingen abhängig war. Hatte unzählige Mal erlebt, daß ihn ein trüber Tag -- ein klagendes Wort, -- ja, selbst eine unfrisch gewordene Blume in den Vasen reizen und niederdrücken konnte. Darum sollte ihm alles entgegenstrahlen wie zu einem Feste. Selbst der graue Tag hatte sich gegen Mittag aufgehellt. Ein frischer Wind fegte die letzten Wolken zusammen und warf sie in das Nichts. Die Rolläden wurden jetzt emporgezogen. Der buntfarbige Schein des wilden Weins vermählte sich mit den rosa Schleiern zu einer verschwimmenden Farbe von unbeschreiblichem Reiz. Die junge Frau dachte daran, daß sie in diesem Herbst eigentlich mit dem Gatten in das kleine Landhaus am Scharmützelsee hatte flüchten wollen, um wie eine richtige Hausfrau selbst die Mahlzeiten zu bereiten, während er auf der dazu gekauften ergiebigen Jagd das Wildpret für den nächsten Tag erlegte! Dies kleine Märchen, mit dem sie ihm, sehr gegen den Willen der Mutter, einen langgehegten Wunsch erfüllte, war für sie zu einer Quelle beständiger Sehnsucht geworden. Denn Paul Karlsen verbrachte seither die wenigen Mondscheinnächte, die ihm keine Berufspflichten auferlegten, im Anstand auf der Wildkanzel, und sie durfte ihm lediglich mit jedem ihrer Gedanken auf diesen Streifzügen begleiten. Gerade wollte sich ein tiefer, schmerzlicher Seufzer gegen die Härte des Geschicks auflehnen, als ein leichter, federnder Schritt vor ihrer Tür erklang. Im Augenblick veränderte sich ihr Gesicht. Von innen heraus kam das Strahlen, übergoß nun auch sie mit dem Schimmer rosigen Lebens -- tuschte ein liebliches Rot auf ihre Wangen und setzte glänzende Lichter in ihre Augen, die ihm entgegen lachten. „Wie schön, daß du endlich da bist, Paulchen.“ Er küßte ritterlich ihre Hand und warf sich, ehe er ihr gegenüber Platz nahm, mit einem kleinen fröhlichen Jauchzer, der sie unbeschreiblich glücklich machte, auf das kostbare Fell des Eisbären, welches ein zweites breites Ruhebett deckte. „Du bist eine ganz raffinierte Person, Elfchen! Direkt gefährlich hast du’s gemacht!“ „Gefällt es dir wirklich, Paulchen?“ „Es ist -- nee -- stimmungsvoll wäre nicht das richtige Wort! Warte mal --“ und er dachte scheinbar darüber nach, während er in Wahrheit überlegte, wie er ihr nachher glaubhaft machen könne, daß er nun doch nicht den ganzen Nachmittag und Abend an ihrem Lager verbringen werde. Die feine, gepflegte Hand sank herab. „So -- jetzt hab ich’s! Raffiniert drückt es auch nicht voll aus. Sagen wir mal -- verliebt --“ „Das bin ich aber gar nicht in dich.“ „Erlaube mal! Mein gutes Recht habe ich mir noch nie kürzen lassen.“ „Ich habe dich lieb,“ sagte sie mit rührender Schlichtheit. Er hatte genau gewußt, daß sie dies erwidern würde, wie sie ihm überhaupt keinerlei Ueberraschungen zu bereiten vermochte. Auch diesen wirklich netten Ausputz hatte er ganz bestimmt erwartet. Es rührte ihn gewiß, aber langweilig blieb die ewig gleiche, dienende Unterwürfigkeit und Anbetung dabei doch. „Du bist ein gutes, liebes Tierchen,“ lobte er freundlich, „erwähle dir eine Extrabelohnung.“ „Darf ich sehr unbescheiden sein, Paulchen?“ „Wollen mal sehen,“ machte er lässig. „Dann lies mir, nachdem wir gegessen und du dich gründlich geruht hast, etwas vor. Besondere Wünsche wage ich nicht. Deine Stimme erfüllt ja alles, auch das, was mich früher nicht fesseln konnte, mit unvergleichlichem Glanz.“ Es schmeichelte seiner Eitelkeit. Aber -- ihr vorlesen -- gräßlich langweilig! Neue Hinweise fand die gute, kleine Frau doch nicht heraus. Lernen konnte er also dabei nichts. Im voraus fühlte er ihre grenzenlose Bewunderung -- sah förmlich, wie sie, überwältigt von seiner Begabung, in Tränen ausbrach und schließlich ihre Arme um seinen Hals schmiegen wollte. Da war die kleine Teufelin, das Evachen, eine andere Zuhörerin. Die junge Dresdener Künstlerin hatte neben ihm in den Meistersingern gewirkt. Nun weilte sie zwar längst wieder an ihrem Hoftheaterchen und zeigte vorläufig nicht die geringste Lust, dies gegen ein anderes, und sei es selbst dasjenige, an dem er glänzte, einzutauschen. Heute war sie auf der Durchreise in Berlin und, wie ihm ihr Telegramm mitteilte, gern bereit, ihm im Esplanade ein langbemessenes Plauderweilchen zu gewähren. „Schön,“ sagte er endlich gönnerhaft, als sei er nun mit dem Nachdenken fertig, „was nehmen wir also? Goethe, ja? Ein bißchen sollst du noch vor Tisch naschen!“ Sie nickte mit leuchtenden Augen -- und wartete. Er dachte einen Augenblick daran, ihr einfach von einer dringenden beruflichen Zusammenkunft zu erzählen, die ihm morgen sehr viel Zeit fortnehmen würde. Dann aber schob er diesen Gedanken vorläufig zurück. Vorsichtig begann er das herbeigeholte Buch aufzuschlagen und fuhr mit den Fingern über die einzelnen Gedichte, als liebkose er sie. „Hören wir mal die Epigramme, die der Meister in Venedig schuf.“ Und er begann träumerisch und weich das Dritte: Immer hat mich die Liebste begierig im Arme geschlossen, Immer drängt sich mein Herz fest an den Busen ihr an. Immer lehnt ihr Haupt an meinen Knien. Ich blicke nach dem lieblichen Mund, ihr nach den Augen hinauf. Sie war wie berauscht. Die Freude, weil dieser Begnadete ihr gehörte, beschleunigten ihren flatternden Herzschlag noch mehr. Dies zarte Geständnis -- auch seiner Liebe -- entschädigte sie für vieles, um das sie zuweilen andere junge Frauen glühend beneidete. War ihr Glück dafür nicht auch tausendmal vielfältiger und reicher? Als er jetzt verstummte, wollte sie so fröhlich lachen, wie er es gern hatte, einen Scherz versuchen, damit die von ihm bespöttelte Weichheit fernblieb. Und sie konnte doch nur haltlos und überglücklich weinen! Es half nichts, daß sie sich sofort seine lebhafte Abneigung gegen alle Tränen, die nicht auf der Bühne vergossen wurden, klarmachte. Unaufhaltsam strömten die Tropfen über ihr Gesicht und löschten alle trügerische Frische fort. Wie durch einen Schleier gewahrte sie, daß er seinen Mund mißbilligend verzog. Todesangst ergriff sie, der schöne sehnsüchtig erwartete Tag möchte ihm zu einer großen Enttäuschung werden! „Ich bin zu glücklich,“ entschuldigte sie sich leise. Er war aufgestanden und zu ihr getreten. „Matt bist du, mein Kleines und ich, alter Tölpel, gebe mich zu dieser unprogrammäßigen Aufregung auch noch her.“ „Du willst doch nicht sagen --“ Ihre Stimme zitterte ängstlich. „Daß ich unmöglich den langen geschlagenen Nachmittag oder gar noch den Abend deine angegriffenen Nerven quälen darf, so schwer mir ein freiwilliger Verzicht auf diese famosen Stunden auch wird.“ „Paulchen, ich flehe dich an! Glaube mir doch, es ist nichts, als die große, große Freude, dich heute bei mir haben zu dürfen.“ „Der Meergreis von Hausarzt, der dich kennt, solange du überhaupt da bist, hat mir strengste Ruhe und Schonung für dich zur heiligsten Pflicht gemacht.“ „Aber ich ruhe mich ja gerade bei der Musik deiner Stimme aus! Höre nur, wie wundervoll artig mein Herz geht.“ Lachend schüttelte er den Kopf. „Davon verstehe ich nichts, Elfchen! Ich weiß jetzt lediglich, daß es dein Wohl gilt. Höchstens zwei Stunden insgesamt bleibe ich bei dir. Dann entschwinde ich. Du schläfst fein ein und träumst von mir, wenn nicht besser von unserm Altmeister Goethe.“ „Das besorge ich an sämtlichen andern Tagen schon, Paulchen,“ beharrte sie in fieberhafter Unruhe. „Dies heute ist mein Festtag, den ich nicht hergebe.“ „Sei nicht kindisch, dumme, kleine Frau.“ Sie richtete sich auf und blickte ihn fast streng an. „Ich werde sofort aufstehen und mich ankleiden lassen. Jawohl, das mache ich! Ganz bestimmt, wenn du grausam bleibst.“ Er lenkte ein. „Gut, dann will ich auch noch den Nachmittagstee bei dir nehmen. Aber -- Hand her. Kein Wort hinterher zu deiner Mama oder zu dem Meergreise! Auch der häusliche Detektiv muß ahnungslos bleiben. Für ihn verschwinde ich gleich nach dem Mittag, das hoffentlich nicht mehr allzu lange auf sich warten läßt. Denn, verzeih, Kleines, aber ich habe einen Bärenhunger.“ Er sprach den Speisen mit dem Appetit eines beneidenswerten Gesunden zu, der eine beträchtliche Menge braucht, um sich den Ueberschuß seiner Kraft zu erhalten. Seiner Stimme zu liebe war er ein sehr mäßiger Trinker. Und dies blieb das einzige Opfer, das er brachte. Denn er liebte einen guten Tropfen bei lustiger Gesellschaft und brauchte ihn eigentlich zur Anreizung noch mehr, wenn sie fehlte. Darum hatte er bei jeder der Hauptmahlzeiten einen Kampf mit sich zu bestehen, der schließlich eine erhöhte Reizbarkeit auslöste. Heute beschloß er eine Ausnahme zu machen. Er hob den Sekt aus dem Kühler und war im Begriff den Kelch seiner Frau zu füllen, als er, noch ehe er begonnen, die Flasche wieder steil emporhielt. „Die Zufuhr von jeglicher Flüssigkeit muß bei dir -- nach den Herrn Aerzten -- möglichst beschränkt werden. Das Herzchen darf sich nicht überarbeiten.“ Sie zog ein Schmollmäulchen. „Nur ein einziges Glas, Paulchen. Wir haben uns ja ohnehin schon gegen Mama, den Arzt und den Alten verschworen.“ „Nun, dann will ich ausnahmsweise großmütig sein. Schaden kann es eigentlich kaum. Trinke einen tüchtigen Schluck und dann berichte wahrheitsgemäß von seiner Wirkung.“ Weil sie fühlte, wie sehr sie einer Stärkung bedurfte, leerte sie den Kelch hastig. Er drohte ihr scherzhaft. „Leichtsinn du! So war’s nicht gemeint.“ Bittend schob sie ihm das schlanke Glas herüber. „Noch einmal, ja?“ „Auf gar keinen Fall, Frau Elfriede.“ „Ich sollte doch Bericht geben. Wie aber vermag ich das. Kaum ein Fingerhut voll war es.“ Er tat ihr mit einem nachsichtigen Lächeln den Willen. Sie stießen miteinander an. Ihre Lippen röteten sich. „Jetzt mußt du auch tüchtig essen,“ forderte er und häufte ihr den Teller. Das hatte er noch nie getan. Es erfüllte sie mit heißer Dankbarkeit. Gehorsam begann sie. Aber es ging nicht. „Ich bin immer noch zu durstig,“ gestand sie mit einem verlegnen Seufzen. „Gib mir noch etwas. Merkst du nicht, wie es mich erfrischt?“ „Habe ich mich denn verhört, daß dir die vereinigte Macht der Aerzte alle Flüssigkeitsaufnahme streng beschränkte,“ fragte er gedankenlos und vergaß, daß er es bereits vorher, als feststehend, erwähnt hatte. „Gewiß, ich irre mich. Denn du bist doch sonst verständig und folgsam wie eine kleine Musterschülerin.“ „Das hast du entschieden geträumt, Paulchen. Vor ein paar Wochen, ja, da hat die ärztliche Obrigkeit etwas Aehnliches gesagt. Das Verbot hat längst ausgewirkt. Heute ist es also mein gutes Recht.“ Warm und wohlig durchrieselte sie das edle, berauschende Getränk. Auch er begann sich behaglich zu fühlen. Im Allgemeinen war’s doch recht hübsch, daß er es so weit gebracht hatte. Einige Unbequemlichkeiten gab es freilich zu überwinden. Die scharf äugende Schwiegermama -- der Detektiv von Diener und zuweilen sogar die kleine, verliebte Frau. Denn sie war rechtschaffen wie ein Backfisch in ihn verliebt, trotz ihres großartigen Protestes. Zu einem richtig flammenden machtvollen Gefühl reichte ihr bißchen Kraft nicht aus. Sie merkte, daß er fröhlich wurde. Das spannte ihre Kräfte an und ließ sie nichts denken, als daß er voll glücklich sein möge. Die leise, geschickte Jungfer bediente heute bei Tisch. Daß der Alte bei den sterbenden Malven stand und scharf ins Zimmer hereinspähte, konnten sie nicht ahnen, denn sie waren beide mit sich und den prickelnden Tropfen zu sehr beschäftigt. Paul Karlsen blieb auch bei ihr, als das kleine Mahl beendet war. „Jetzt mußt du deine Havanna rauchen,“ drängte sie liebevoll. „In deinem Krankenzimmer? Nee, mein Schatz so ungeniert betrage ich mich denn doch nicht --“ Sie hatte aber schon ein verborgen gehaltenes Schächtelchen mit Zigarren hervorgeholt. „Heute kommandiere ich, mein Lieb.“ Lachend ließ er sich die schwere Havanna von ihr entzünden. „Wenn uns jetzt deine Vorgesetzten sehen, Kleines.“ „Ich erkenne nur dich an und sonst niemand.“ „Na, na,“ machte er mit erhobenem Finger. „Soll ich dir eine Probe von meiner Unfolgsamkeit gegen sie alle ablegen?“ „Das wirst du gefälligst unterlassen. Es wäre wahnsinnig, wenn du in deiner Lage eine Unvorsichtigkeit begingest.“ Ein schmerzhafter Stich durchzuckte ihr Herz. In deiner Lage? O, wie sie die beständigen Hinweise auf ihre Schonungsbedürftigkeit haßte. Freilich hatten sie nicht immer den gleichen Klang! Die Mutter wählte zarte Umschreibungen dafür. Der alte Hausarzt bezeichnete es einfach mit den verschiedenen sanften, warnenden oder empörten O--o! Der alte treue Diener wagte zuweilen ein leises, flehendes aber. Sie meinten in allen Fällen das Gleiche. „Nämlich, nimm dich in Acht. Sonst --“ Sie dachte plötzlich mit der Empfindung aufrichtigen Mitleids an alle, die einen frühen Tod erleiden mußten. Auch an die Schwestern, die sie noch lebhaft in der Erinnerung als stille, bleiche, ungeliebte Wesen hatte. Sie aber wurde geliebt wie kaum eine zweite Frau, war glücklich und dachte noch lange nicht an das Sterben! Dies bißchen Unpäßlichkeit. Nun, was hatte dies zu sagen? War nicht diese oder jene aus ihrer Bekanntschaft ebenfalls eine Zeitlang bleichsüchtig und matt gewesen? Sie wollte gesund und stark werden. Für sich und den Liebsten und all das, was vielleicht die Zukunft noch für sie bereit halten würde. Und beweisen wollte sie ihm ebenfalls, wie unnötig und übertrieben die ewige Bevormundung sei! Sie rang sich auf und lief zu ihm! Er lag auf dem kostbaren Eisbärenfell und paffte runde, kunstgerechte Ringel in das Rosa der Luft. Es stieg ihr wie Lachen auf, aber sie mußte husten, als solle sie ersticken. „Leichtsinn,“ schalt er. Aber auch er lachte dabei. Sie begann, durch den ungewohnten Genuß des Sektes angeregt, durch den eigenen Willen hochgehalten, zu tollen und wieder zu lachen, zerrte eins der seidenen Kissen unter seinem Kopf hervor, warf es gegen sein Gesicht und stand einen Augenblick mit wogender Brust -- atemlos von der ungewohnten Anstrengung mit einem Gefühl heftigen Schwindels. Als es überwunden war, ohne daß er etwas davon gemerkt hatte, erhöhte sich ihre Ausgelassenheit noch. Ein Rausch glühte in ihr. Dann wurde sie mit einem Schlage ganz matt. Er fühlte ihren leichten Körper schwer und immer schwerer in seinen Armen und trug sie auf ihr Lager zurück. Dort lag sie regungslos unter dem Geriesel der feinen Spitzen. „Jetzt sagst du lange Zeit kein einziges Wort,“ befahl er. „Ich werde nicht weiter ruhen, sondern wieder lesen. Also, weiter im Text mit unserm Goethe.“ Sie strengte sich umsonst an, ihm zu folgen. In bleischwerer Müdigkeit sanken ihre Lider zu. Es war sehr still. Denn auch Karlsens weiche, schmeichelnde Stimme klang wie ein Streicheln, das alles noch sanfter machte. Er sah nach einer Weile zu ihr hin und entdeckte, daß sie eingeschlafen war. Sobald er verstummte, öffnete sie die Augen und starrte ihn mit seltsam leeren Blicken an. Es war ihm auch, als röchele sie leise. Er ging nicht zu ihr, um sie zu befragen, ob sie Schmerzen habe, aber er begann wieder zu lesen, bis er endlich, heftig und mißmutig, das Buch zuklappte und sich erhob. Da öffneten sich ihre Lider von neuem. Diesmal streckten sich in zitternder Bewegung die Arme nach ihm aus. „Paulchen.“ In traumverlorener Bitte klang sein Name. Da ging er großmütig an ihr Lager und küßte sie. „Schlaf weiter, kleine, müde Frau!“ Ihre Lippen waren so kühl, daß er zusammenfuhr. Ihr Gesicht ähnelte, nun die Röte der Erregung daraus geschwunden, einer geblichenen Maske. Wie sein Mund den ihren berührte, lächelte sie dankbar. Unter dem feinen Batist der losen Jacke sah er das stoßweiße Zucken des matten Herzens -- merkte, wie ihre blassen Lippen nach einem tiefen, erlösenden Atemzug dursteten. Mit kaltem Schrecken durchrieselte ihn der Gedanke, daß plötzlich eine Verschlechterung eingetreten sein könne, die ihn ans Haus fesseln mußte. Ihn zog es unwiderstehlich fort -- ins Esplanade. Er wollte der Jungfer von seiner Befürchtung Mitteilung machen, ehe er verschwand. Sah dann aber ein, daß er ihr lediglich von seinem Ausgange sagen könne, damit sie sich zu der Kranken begebe. Sein mehrmaliges Läuten nach ihr blieb indessen wirkungslos. Nur der alte Diener erschien. Ohne stehen zu bleiben, rief er ihm, nur den Kopf zurückwendend, zu: „Die gnädige Frau hat mit bestem Appetit gegessen und jetzt schläft sie herrlich. Ich fahre nach dem Scharmützelsee hinaus, um auf den Rehbock zu gehen. Melden Sie das der Frau Kommerzienrat.“ Eine Antwort erhielt er nicht. Ungeduldig stürmte er durch den Vorgarten, ohne zu sehen, daß sich über das alte Gesicht im Vestibül eine heimliche Träne stahl! [Illustration] [Illustration] 17. Auf dem gärtnerischen Hätschelkinde des neueren Charlottenburgs, dem Savigniplatze, rief ein alter Invalide eine Neuigkeit aus dem Morgenblatte aus. Eva von Ostried wartete hier seit geraumer Weile auf ihre Bahn; als die heisere Stimme an ihr Ohr schlug, streckte sie mechanisch die Hand aus und kaufte ein Blatt. Zuerst überflog sie die fettgedruckte Ueberschrift ohne sonderliches Interesse. Dann aber las sie mit scharfer Spannung und konnte nicht gleich voll begreifen: „Kurz vor Redaktionsschluß ging uns die folgende Nachricht zu, die eine angesehene und sehr wohltätige Dame der Berliner Gesellschaft in tiefe Trauer versetzt. Als sich gegen acht Uhr abends in einem zuvor für diesen Zweck bestellten Zimmer im Hotel Esplanade die uns von der letzten Aufführung der „Meistersinger“ her als vollendetes „Evachen“ bekannte Dresdener Kammersängerin J. P. mit dem neuen Heldentenor des Charlottenburger Deutschen Opernhauses, Herrn P. K., zu einem Imbiß niedergelassen hatten, erzwang sich eine auffallend gekleidete Person den Eingang in diesen Raum und schoß den vielversprechenden Künstler nieder. An einem zweiten Schusse, den sie im Begriff stand, auf seine Begleiterin abzugeben, konnte sie glücklicherweise gehindert werden. Der sofort herbeigerufene Arzt vermochte leider nur noch den Tod des hochbegabten Sängers festzustellen. Aus eigner Ueberzeugung wissen wir, daß dem heimgegangenen Künstler eine glänzende Laufbahn sicher war, die das grauenhafte Verbrechen jäh zerstörte. Die Personalien der Mörderin waren bis zu dieser Stunde noch nicht festzustellen, weil sie hartnäckig jede Auskunft über ihre Person verweigerte. Der Direktor des Hotels glaubt in ihr eine frühere Chansonette zu erkennen. Ob dies richtig ist, bleibt abzuwarten. Dagegen erfahren wir zuverlässig, daß am Nachmittag desselben Tages, also noch bevor das Schreckliche geschah, die junge, seit langer Zeit schwer leidende Gattin des Künstlers in ihrem schönem Heim im Grunewald einem Herzschlag erlag. Ihr plötzlicher Tod steht in keinerlei Zusammenhang mit dem Vorfall. Sie war die einzige noch lebende Tochter der eingangs erwähnten Frau Kommerzienrätin E., die mit ihr nun auch das letzte Kind verliert, nachdem vor Jahren ihre beiden älteren Töchter von einer heimtückischen Krankheit dahingerafft wurden....“ Eva von Ostried setzte sich auf eine der Bänke, vor denen eine Schar Kinder spielten. Sie war bestürzt, denn Karlchen war das Opfer seiner Schuld, und wieder flammte es in riesenhafter Schrift vor ihr auf: „Der Uebel größtes...“ Und diesmal vervollständigte sie ruhig und fest „aber ist die Schuld“. Seitdem sie ihr Lebensglück opfern mußte, fand sie keine Strafe dafür zu groß. Es verging kein Tag, an dem nicht der heiße, zwingende Wunsch zur Sühne in ihrer Seele flammte. Als Eva von Ostried nach Hause kam, fand sie die Hausgenossin scheinbar unverändert am Herde walten. Das gewährte ihr eine vorübergehende Erleichterung. So legte sie die Arme um die schmalen Schultern und führte Gretchen Müller sanft in das kleine Zimmer, in das die liebe Sonne und das bunte Herbstlaub der alten Parkbäume hineinschienen. „Ich habe Ihnen das Versprechen gegeben, Sie niemals, wie die Andern, durch eine Frage zu quälen, Fräulein Gretchen“, begann sie unsicher. „Denn es muß alles seine Zeit haben, um heilen zu können, Gretchen. Und wir haben es deshalb noch nie in Worte gefaßt -- -- ich weiß aber, wie nahe Ihnen Paul Karlsen einst gestanden hat...“ „Ich habe ihn sehr lieb gehabt. -- -- Das ist lange, lange her...“ „Und jetzt...“ „Sie wollen mir sagen, daß er tot ist, nicht wahr?“ „Sie wissen bereits?“ „Ich habe alles gelesen,“ antwortete das Mädchen. Sie schauerte zusammen. „Ich habe ihn verachtet -- ihm geflucht -- und doch -- im innersten Herzen liebte ich ihn weiter. Warum das sein muß, weiß ich nicht. Ich schämte mich, daß ich mich heimlich von ihm küssen ließ, daß ich den Meinen Kummer und Schande machen mußte. Ich löste mich eines Tages von ihm, schlug und spie nach ihm, und habe doch immer nach seinem Anblick Sehnsucht gehabt. Keinem könnte ich das sonst sagen, wie Ihnen. Als ich ihm folgte, wollte ich nichts anderes, als daß er mich bald zu seiner Frau machen würde. Daß er nicht mehr frei war, erfuhr ich viel später. Seitdem hat er mich nicht mehr berühren dürfen. Tagelang habe ich gehungert, weil ich sein Geld verachtete; denken Sie doch, das Geld seiner Frau! Kannten Sie sie? Ja? Wie sah sie aus? Ich denke sie mir wie ein Kind, das weder einen eigenen Willen noch ein eigenes Leben hatte.“ „So ist sie wohl gewesen?“ „Ihr Vertrauen zu ihm muß grenzenlos gewesen sein. Darüber wurde eines Tages in dem Kreis, in den er mich einführte, hinter seinem Rücken viel gespöttelt. Dadurch habe ich davon erfahren....“ „Nur darum ist sie schrankenlos glücklich gewesen und auch geblieben, Gretchen.“ „Glauben Sie an ihr Glück?“ „Ich habe es gefühlt,“ sagte Eva von Ostried und erzählte ihr, wie sie die junge zarte Frau kennen gelernt. „So glauben Sie nicht, daß sie etwas von mir geahnt hat?“ „Auf keinen Fall. Er war zu gewandt und zu klug, um ihr nicht die vollendete Komödie des treuen Ehemannes vorzuspielen.“ „Dann wird sie mir auch niemals geflucht haben.“ „Nein, mein Kleines, das konnte sie bestimmt nicht tun, weil sie ahnungslos war. Wäre sie es aber selbst nicht geblieben -- hätte sie im Laufe der Zeit einsehen müssen, daß seine Treue weniger wie ein fadenscheiniges Tuch darstellte, dazu hätte weder ihre Kraft noch ihre Veranlagung ausgereicht. Was sie an Gefühlsstärken besaß, gehörte ihm.“ „Können Sie sich vorstellen, daß ich am meisten um diese arme, stille, vertrauensselige Frau gelitten habe?“ „Ja, das kann ich! Es war aber unnötig.“ „Nun ist sie gestorben, ohne dies erleben zu müssen...“ „Das erscheint mir als ihr größtes Glück. -- Ich muß heute noch meine Rechnungsbücher abschließen, Kind,“ meinte Eva dann in verändertem, ruhigen Tone. „Es ist sehr viel nachzutragen. Und Briefe muß ich ebenfalls schreiben. Denn bald geht es zu den beiden Konzerten nach München. Ich möchte Sie gern mitnehmen. Könnten Sie sich jetzt nicht leichter entschließen?“ „Meine Angst vor der lauten Welt ist trotzdem größer geworden,“ gestand Gretchen Müller beschämt. „Aber auch, wenn ich meine Bangigkeit bekämpfen könnte, wäre die Qual zu groß für mich.“ „So elend fühlen Sie sich wieder?“ „Das wäre übertrieben. Ich bin nur dauernd sehr müde. Sehen Sie, jetzt könnte ich zum Beispiel auf der Stelle einschlafen. Und nachts in der gegebenen Zeit vermag ich kein Auge zu schließen.“ „Ich mache mir bittere Vorwürfe, daß ich Ihnen nachgab und den Arzt lange Zeit nicht befragte.“ „Glauben Sie wirklich, daß er mir noch helfen kann?!“ Sie lächelte. Das gab ihrem durchsichtigen Gesicht den gleichen, unendlich rührenden Ausdruck, wie ihn die Heiligen auf den alten, steifen Bildern in Kirchen besitzen. „Sie sind zu viel allein, Gretchen.“ Eva von Ostried rechnete wirklich. Es war dasjenige, was ihr zu erlernen am schwersten geworden war. Wenn sie rückwärts dachte, hatte sie von jener Summe keinen Pfennig zu irgend einem unnützlichen Vergnügen verbraucht. Und doch schmolz das Geld erschreckend zusammen. Der Sommer hatte ihr im Verhältnis wenig Einnahmen gebracht. Die schwerreiche Schülerin im Grunewald verlobte sich und verlor die Lust zu weiterem Lernen. Ihre Lehrer forderten mit dem Steigen aller Werte bedeutend höhere Honorare.... Es wäre aber dennoch nur ein Teilchen über die Hälfte entnommen gewesen, hätte sie Gretchen Müller nicht Obdach und Pflege gewährt. Zuerst entnahm sie für diesen Zweck der kleinen Tasche skrupellos Schein um Schein. Bis sie plötzlich mit jähem Entsetzen merkte, daß sie nur noch zwei enthielt. Die Leidende mußte nach der strengen Forderung des Arztes, ohne daß sie einen klaren Begriff davon bekam, auf das Sorgfältigste gepflegt werden. Der Leidenden einfach zu eröffnen, daß es ihr -- leider -- nicht länger möglich sei, sie zu behalten, erschien ihr mehr als grausam. Ja, ihr Herz wollte es auch nicht zugeben! Sie hing an dem stillen scheuen Wesen. München mit der Einnahme der beiden Konzerte stand zwar in naher Aussicht. Wer aber vermochte den Ertrag im Voraus zu berechnen?! Es brauchten nur ungewöhnlich zahlreiche Darbietungen der ähnlichen Art zusammenzutreffen, dann war das Ergebnis bei weitem nicht das erhoffte. Das Honorar für den neunten November, in dem sie im Blüthnersaal singen würde, war zwar festgelegt, aber nicht sonderlich hoch bemessen. Ihr war es mehr auf das Zusammenwirken mit dem bekannten Künstlertrio wie auf die Einnahmen angekommen. Wie sollte sie also jemals imstande sein, mit Zins und Zinseszins, wie sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht, alles zurückzugeben? Die heimliche Not wuchs zuweilen so mächtig, daß sie sie in alle Welt hätte hinausschreien mögen. Und doch wachte sie mit ängstlicher Sorgsamkeit über jedem ihrer Worte, meinte oft genug aus einer unschuldigen Frage oder einem bedeutsamen Blick ein Ahnen ihres Frevels herauszulesen.. Sie arbeitete und lernte nur noch wie ein Automat! Einmal mußte ja doch alles anders werden! Sollte sie sich jetzt noch der Bühne zuwenden? Das sonderbare Erschauern durchkältete sie von neuem. Ihre Keuschheit kämpfte dagegen an. Aber war sie nicht schön? Liefen ihr die Männer nicht in voller Bewunderung nach? Nur ihres ermunternden Lächelns hätte es bedurft, um die Fäden zu knüpfen. Sie mußte ihr Leben von Grund auf ändern. Die Gleichgültigkeit gegen die kleinen Geschehnisse des Daseins fortan bekämpfen. Da lag zum Beispiel noch uneröffnet die schon vor Stunden angekommene Post. Weltbewegendes war nicht darunter. Ein Schüler sagte für diesen Nachmittag seine Stunde ab und erbat sich eine andere Stunde dafür. Das brachte wieder Mühen und Aenderungen in Menge. Ihr theoretischer Lehrer fragte an, ob sie eine in der Berliner Gesellschaft durch Schönheit und Geld wohlbekannte Gräfin regelmäßig zum Gesang begleiten wolle. Sie zahle ausgezeichnet. Dazu verspürte Eva von Ostried nicht die geringste Lust, so gern sie auch ihre Einnahmen vergrößert hätte. Ihr Stolz bäumte sich auf. In dem Bewußtsein ihrer Künstlerschaft empfand sie das Anerbieten als eine Beleidigung. Freilich war es gut gemeint, denn sie hatte neulich in seiner Gegenwart einen vernehmlichen Seufzer über die wachsenden Ausgaben getan. Eine Handschrift auf dem graugetönten steifen Leinenumschlag war ihr fremd und nicht angenehm. Sie zeigte so viel Schnörkel und Haken, als wisse der Schreiber nicht voll mit sich Bescheid. Es war der Brief des Waldesruher Majoratsherrn, der sie für Mittwoch nächster Woche zur Teilnahme an der Familiensitzung der Ostrieds in das Haus Adlon einlud. Früher hätte sie ihn achtlos bei Seite geschoben. Ihre einzige Empfindung wäre möglicherweise eine berechtigte Bitterkeit gewesen, daß sich das gesamte edle Geschlecht niemals um ihr Wohl bekümmert habe. Eine Erinnerung aus ihrer Kinderzeit an zwei Erscheinungen, die ihr damals wie aus Holz geschnitzt erschienen, tauchte auf. Die beiden steifen, stummen Gestalten thronten eines Tages an der Spitze der elterlichen Mittagstafel. Zwischen ihm hatte ein rothaariges, kleines Mädchen von ihrem Alter Platz genommen, das sie lebhaft an ihren toten Goldfisch erinnerte. Dessen Augen hatten aus dem gläsernen See ebenso blaß, rund und erstaunt geblickt, wie diejenigen der schweigsamen Puppe. Sie hatte die beiden Steifen mit Großtanten anreden und ihnen die Hand küssen sollen. Das war ihr aber nicht möglich gewesen, weil sie ein heftiger Widerwille geschüttelt hatte. Ihr zarte, scheue Mutter hörte mit ängstlichen Augen den späteren Erklärungen der ungebetenen Gäste zu, die wiederholt betonten, daß sie lediglich des gebrochenen Wagenrades halber hier Einkehr gehalten hätten. Der Vater hatte zuvor in den Ställen seine Wut über den unerwünschten Besuch ausgetobt. Aber nachher küßte er selbst die häßlichen Hände aus Holz. Und dann waren sie plötzlich wieder fort gewesen! Näheres erfuhr die kleine Eva über den kurzbemessenen Besuch von keiner Seite. Nur wenn sie ungehorsam war, schreckte sie die Kinderfrau mit der Drohung. „Warte, die gnädigen Großtanten sollen schon wiederkommen....“ Es traf aber nicht ein. Es kam seitdem überhaupt Niemand mehr von der Verwandtschaft! Noch einmal überlas sie das Schreiben. Ihm fehlte jede persönliche Bemerkung. Auch wurde eine Antwort auf diese Einladung nicht erwartet. Wer nicht erschien und auch keinen Einspruch gegen den bekannt gegebenen Tag erhob, unterwarf sich dem von der Mehrheit der Anwesenden gefaßten Beschluß. Heute überlegte Eva von Ostried mit einem Gefühl der Genugtuung, daß es ihr gutes Recht sei, unter diesen Andern zu sitzen und mitzustimmen. Ihr Einspruch würde genügen, um einen neuen Tag in Vorschlag zu bringen. Diese Feststellung befriedigte sie. Seitdem sie jene Schuld auf sich geladen, verlangte sie heißhungrig nach äußerer Anerkennung ihrer Standesrechte. Wenn es sich also mit ihren Pflichten vereinen ließe, würde sie vielleicht dieser Einladung nachkommen. [Illustration] [Illustration] 18. Der Generalleutnant a. D. Jeschko von Ostried, Exzellenz, zog zum dritten Male die Uhr aus der Tasche, warf einen scharfen Blick über die mit ihm an der gleichen Tafel Sitzenden und stellte fest: „Vier Uhr genau!“ Dann wartete er noch eine Minute und erhob sich. „Als Aeltester der hier anwesenden männlichen Ostrieds eröffne ich hiermit den Familientag unseres Geschlechts und begrüße Alle an dieser Stelle.“.... Hier unterbrach er sich und sah aus strengen, eng zusammengeschobenen Augen auf den plötzlich erscheinenden alten Diener des Kummersbacher Vetters, der die verschiedenen Ostrieds im Vestibül zu empfangen und hierher zu weisen hatte. „Der Kummersbacher kann seine Untergebenen keine Subordination lehren“, dachte er grimmig, während er nervös mit der Rechten auf der Tafel herumtrommelte. „Es ist noch eine Dame angekommen, die sich Fräulein Eva von Ostried nennt“, meldete der Alte gemütlich. „Soll ich sie hereinführen, Euer Exzellenz?“ „Nein,“ schrie der Generalleutnant, „denn nach der vollzogenen Eröffnung brauche ich das nicht mehr zu gestatten.“ „Mach’ dich nicht lächerlich, Vetter,“ warf der Besitzer der Herrschaft Kummersbach, Mitglied des Herrenhauses, launig dazwischen und blinkte seinem getreuen Hermann verständnisinnig zu. „Los... hopp!“ Die Falkenaugen des alten Soldaten blitzten und die Adlernase stach gefährlich in die Luft. Das zurechtweisende Wort erstarb ihm aber auf den Lippen. In diesem Augenblick öffnete sich nämlich zum zweiten Mal die Tür und ließ eine junge, auffallend schöne Erscheinung sehen. „Um vier Uhr genau ist der Beginn der Verhandlung in jeder Einladung festgesetzt. Wer sind Sie überhaupt, wenn ich fragen darf,“ rief ihr die Exzellenz entgegen. „Es schlägt soeben vier Uhr,“ sagte die Nahende ruhig und trat dicht an den Ehrenplatz und damit zur Seite des Generalleutnants. Ihr Kopf wandte sich dabei ein wenig nach rückwärts, als lausche sie. „Hören Sie, bitte.“ Sie hörten es natürlich Alle, aber die meisten glaubten es trotzdem nicht. „Ich kenne Sie nicht,“ sagte der Generalleutnant wieder, weil er mit einer zwischen Aerger und Bewunderung geteilten Empfindung zu kämpfen hatte. „Ich bin Eva von Ostried, die Tochter des im Jahre 1913 auf Waldesruh verstorbenen Majoratsherrn Weddo. Hier ist meine Einladung!“ Er warf einen flüchtigen Blick darauf. „Danach steht Ihnen natürlich die Teilnahme an dieser Sitzung frei. Ich darf Sie vorstellen.“ Und er nannte ihren Namen, ohne ihr die der Anwesenden bekannt zu geben. Eva von Ostried fühlte, wie ihr das Blut heiß ins Gesicht schoß. Sie hatte keinen freundlichen Empfang erwartet. Diese Strenge und Formlosigkeit empfand sie aber als Beleidigung. Vielleicht hätte sie stolz genug sein müssen, um jetzt zu gehen, aber sie lächelte nur -- und blieb! „Wohin darf ich mich setzen?“ fragte sie ruhig und hell. Da stand Jemand auf und näherte sich ihr. Er war breitschultrig und sonnverbrannt und seine Augen blickten unter den eisgrauen Brauen noch jünglingsklar. „Zu mir,“ sagte er kurz und herzlich. „Ich bin der Kummersbacher. Ob dir das irgend etwas besagt, ahne ich nicht. Ich nenne dich du. Du erlaubst doch?“ Und er bot ihr ritterlich den Arm und führte sie an seinen Platz. „So, hier setz’ dich einstweilen. Bitte, Vetter Horst Waldemar, etwas nach links, damit mein Hermann noch einen Schemel reinklemmen kann“. So saß Eva von Ostried denn neben dem, der auf Lebenszeit im Herrenhaus Nachfolger ihres Vaters war. Eine peinliche Pause entstand. Wieder durchbrach die Stimme des Kummersbachers die Schwüle. „Ich will dir besser alle Anwesenden nennen, liebe Base.“ Und ohne sich durch den abweisenden Ausdruck der meisten Gesichter beirren zu lassen, stellte er sie einzeln vor. Schlank und stolz stand Eva von Ostried neben der breitschultrigen Gestalt und neigte ihr Haupt nicht tiefer, wie sie das in allen andern Fällen getan hätte, denn es streckte sich ihr keine Hand entgegen. Die weiblichen Mitglieder beachteten sie anscheinend überhaupt nicht. Nur die Männer spähten verstohlen nach ihr hinüber. Ihre Schönheit wirkte verblüffend auf sie. Die gesuchte Einfachheit ihrer Kleidung hob die knospenden Formen auf das Vorteilhafteste. Die ausdrucksvollen Augen leuchteten aus dem sanften Elfenbeinton der weichen Haut und in dem Nußbraun ihrer Flechten spielten goldene Lichter. Horst Waldemar, der Majoratsherr, sah von seiner Höhe herab prüfend auf die neue Nachbarin. Er mußte zugeben, daß er sie sich anders vorgestellt hatte. Zwar mußte er nach dem Bilde, das sie im Kindesalter neben ihrer Mutter zeigte, auf ein hübsches Gesicht gefaßt sein.... diesen außerordentlichen Reiz mit einer sichern und nicht nur gespielten feinen Vornehmheit gepaart, hatte er nicht erwartet. Seine Ansicht über die Tochter seines Vorgängers wurde dadurch natürlich keineswegs geändert. Nach wie vor empfand er ihre Zugehörigkeit zur Familie, die, mochte sie auch jahrelang nicht hervorgetreten sein, eine Stunde wie die jetzige, zweifelsfrei feststellte, als peinlich. Bisher hatte er noch nicht mit dem Mitglied einer Bühne unter den Augen seiner weiblichen Verwandten an dem nämlichen Tisch gesessen. Trotzdem sprach er sie jetzt an. „Ich werde mir nächstens gestatten, in einer geschäftlichen Sache an Sie heranzutreten, gnädiges Fräulein.“ Sie betrachtete ihn erstaunt. Er hatte das kühle wesenlose Gesicht eines Menschen, der sich im Widerspruch mit den Schnörkeln und Haken seiner Handschrift befand. Sie war überzeugt, daß er sehr genau mit sich und seinen Wünschen Bescheid wußte. Kühl und knapp antwortete sie ihm, während doch ein eisiges Erschrecken sie anpackte. Es war sehr möglich, er kam ihr noch mit unbeglichenen Forderungen aus ihres Vaters Schuldkonto. „Sie können es einfacher haben. Ich bin schon heute bereit, Sie anzuhören.“ Er verneigte sich verbindlich. „Hoffentlich finde ich nachher Gelegenheit dazu. Jetzt ergreift aber Vetter Exzellenz endlich das Wort!“ Der Generalleutnant holte tief Atem, sah jeden Anwesenden, außer Eva von Ostried, fest an, um sich das Nennen der einzelnen Namen zu ersparen und begann: „Uns Andern ist die Vorgeschichte unseres Verwandten Edgar von Ostried-Javelingen zur Genüge bekannt. Denn wir gewährten ihm die Mittel zum Studium. Ich spreche dies also für das fremde Mitglied. Die Studien hat er mit Abschluß des nötigen Examens ordnungsgemäß und rechtzeitig erledigt. Leider mußten wir danach noch einmal eingreifen, und diesmal ungebeten. Er wollte nämlich eine Stellung als Regisseur annehmen. Bei einem Theater.“ Hier räusperten sich die gnädigen Großtanten vernehmlich und die Zwillinge kicherten verschämt auf. „Das war natürlich, so lange er sich offiziell zu uns bekannte, nicht tunlich. Wir wiesen ihn auf die Tätigkeit des privaten Schriftstellers hin, die auch seiner angegriffenen Gesundheit zuträglicher war.“ „Darum pfeift er nun wohl auch auf dem sogenannten letzten Loch,“ warf der Kummersbacher trocken ein. Der Einwand blieb aber unbeachtet und die Exzellenz fuhr fort: „Er hat in unserm Auftrage die Familiengeschichte unseres Geschlechts neu bearbeitet. Selbstverständlich unter Zugrundelegung alter, zuverlässiger Quellen. Sie ist gedruckt und bei dem Verlage Müller und Schulze in Berlin für 22 Mark jederzeit zu beziehen. Was er sonst noch geschrieben hat, weiß ich nicht. Mir hat er einmal ein Drama zugeschickt, das mir Anlaß zu einem sehr ernsten Brief gab. Jedenfalls befindet er sich zur Zeit in schlechter Vermögenslage. Darum hat er den Antrag gestellt, die für bedürftige und würdige Mitglieder auf 5234 Mark angewachsene Summe verliehen zu erhalten. Ich für meine Person hege keine Bedenken, sie ihm zuzuwenden. Der Tatbestand wäre hiermit erschöpft. Ich bitte zur Abstimmung zu schreiten. Etwaige Gegengründe sind möglichst kurz vorzutragen.“ Hermine von Ostried, die älteste der Großtanten stand wuchtig und herausfordernd auf. „Er selbst bezeichnete sich mir gegenüber als einen freien Künstler. Das schickt sich meiner Ansicht nach nicht für ein Mitglied unseres Hauses. Was ist das überhaupt? Die Zigeuner, die einst von meinem seligen Herrn Vater die Erlaubnis zum Aufschlagen ihrer Buden, in denen sie dressierte Affen und Seiltänzer zeigten, nachsuchten, nannten sich ebenso. Ich muß darauf bestehen, daß er zuvor ausdrücklich verspricht, einem heute ebenfalls noch festzusetzenden Konsortium jede seiner Arbeiten vor Drucklegung zu unterbreiten. Denn vor der Welt decken wir ihn doch sozusagen.“ Eva von Ostried, für welche die Rede mehr wie für den siechen Dichter bestimmt war, der irgendwo im Nebenzimmer auf die Entscheidung wartete, um nachher sein gerührtes „Danke schön“ zu stammeln, lächelte freundlich. „Darf ich um das Wort bitten, Exzellenz,“ fragte sie plötzlich sehr höflich, als eine kurze Pause entstand. „Ich war noch nicht fertig,“ sagte die Stiftsdame hochmütig und empört über die offensichtliche Belustigung auf dem schönen Gesicht. „Du bist also nicht für eine bedingungslose Hingabe, beste Hermine,“ warf der Generalleutnant ungeduldig hin. „Das habe ich nicht ausdrücken wollen, Jeschko. Ich wollte lediglich meinen Standpunkt darlegen.“ Und dann fuhr sie lang und breit in ihrer Rede fort, ohne daß ihr jemand aufmerksam zuhörte. „Diese Summe hätte zwar ebenso gut dem Familiengesetz nach einer der ledigen Töchter unserer Familie zugeführt werden können, aber meinetwegen mag er sie nehmen,“ äußerte sich ein „Vortragender Rat“ etwas mißgünstig. Seine Gattin stieß ihn kräftig unter dem Tisch an dasjenige Knie, in dem sich zur Zeit grade der Ischiasnerv unerträglich regte. „Ich bitte dich, diese Taktlosigkeit in Gegenwart des Waldesruher. Es ist furchtbar mit dir...“ Die hochblonde Ingeborg saß hilflos und errötend da, denn sie hatte begriffen, daß diese Bemerkung auch sie anging. Ihr Gesicht wirkte sehr weiß und rot. Die Augen hatten den starren ausdruckslosen Blick hübscher Wachspuppen. Die kräftige, ebenfalls sehr weiße Zahnreihe leuchtete hinter den rosa Lippen auf, auch wenn sie, wie jetzt, schwieg. Ein „Regierungsassessor“ murmelte etwas von „unsereinem hätte es auch schon hundertmal bitter not getan,“ aber es wurde dann ohne weiteres Einreden zur Abstimmung geschritten und der Diener des Kummersbachers erhielt den Auftrag, Herrn Doktor von Ostried Javelingen herein zu bitten. Eva von Ostrieds Blicke richteten sich voll warmen Mitleids auf den Eintretenden. Er sah hager und verfallen aus. Seine Kleider saßen schlotternd. Seine Hände waren wie vertrocknet. Aber in seinen dunkelblauen Augen brannte ein helles Feuer. Er stand neben dem Generalleutnant, Exzellenz, doch sah er eigentlich nur die Fremde in diesem ihm sonst wohlbekannten Kreise. Sein Dank war verworren und längst nicht so überströmend, wie das zu erwarten gestanden hätte. Er schämte sich vor dem fremden, ihm über alle Begriffe schön dünkenden Mädchen. Nun war die Hauptsache erledigt! „Du wolltest vorher etwas sagen, Base Eva, wenn ich nicht irre“..... Die jünglingsklaren Augen des Kummersbacher winkten ihr aufmunternd zu, als verhießen sie: „Nimm kein Blatt vor den Mund. Ich halte deine Kante!“ In Eva von Ostried war allerdings bei den Worten des Stiftsfräuleins Hermine heller Zorn emporgelodert. Die versteckte Art, mit der hier mehr über sie wie über den armen, krankaussehenden Dichter der Stab gebrochen wurde, erschien ihr verächtlich. Nun aber das erste Feuer niederglimmen mußte, ohne zu strafen, fühlte sie die alte matte Gleichgültigkeit. Der Regierungsassessor erwachte aus seiner Schläfrigkeit und späte erwartungsvoll nach ihr hin. Irrte sie oder zuckte in seinen Mundwinkeln ein feiner, überlegenener Spott, der ihrem Schweigen galt? Raffte sie sich jetzt nicht zum Sprechen auf, durfte sie keinen Augenblick länger verweilen. Denn sie konnte sonst eine nicht mißzuverstehende Aufforderung zum Verlassen dieses Zimmers durch die Stiftstanten oder durch die soldatische Exzellenz erwarten. Deshalb erhob sie sich jetzt doch. „Ich wollte mich, als einzig dazu Berechtigte, in Abwesenheit des Angegriffenen gegen die Mißachtung des freien Künstlers wehren,“ sagte sie ohne Erregung. „Nun aber ist ja der davon Betroffene selbst dazu imstande. Wenn mir erlaubt wird, ihm kurz zu sagen, was von der Stiftsdame Hermine behauptet wurde...“ „Dagegen protestiere ich,“ schrie die Angegriffene in maßloser Erregung. „Es ist nicht Sitte, daß aus der geheimen Familiensitzung nachträglich dem dabei nicht zugezogenen Hauptbeteiligten Eröffnungen gemacht werden,“ entschied der Generalleutnant. „Ich weise darauf hin, daß ich dies während der Beratung abmachen wollte.“ Eva von Ostrieds Zurückweisung des ihr gemachten Vorwurfs klang durchaus sachlich. „Nachdem ich von dem Tadel des Herrn Generalleutnants Kenntnis habe, verzichte ich auf jedes weitere Wort.“ „Ich verlange, daß du sprichst,“ sagte der Kummersbacher streng und scharf. Die andern kannten diesen Ton. Wenn er sich dazu verstieg, pflegte er nicht früher Ruhe zu geben, als bis er seinen Willen bekam. Eine kleine Pause entstand. „Vetter Javelingen könnte ja noch mal abtreten,“ schlug der Regierungsassessor lässig vor. „So sprechen Sie denn, wenn es durchaus sein muß,“ erlaubte der Generalleutnant kurz. Und Eva von Ostried fuhr fort: „Es wurde vorher also der umherziehende Zigeuner dem freien Künstler gleich erachtet. Das empfand ich an sich als keinen Schimpf. Auch der heimatlose Ungar kann sehr wohl etwas von dem Gottesgeschenk in sich haben. Ich richte mich gegen den Ton, in welchem der Vergleich vorgebracht wurde. Er strebte die Herabsetzung und Verächtlichmachung des Künstlerstandes an. Empfindlichkeit liegt mir ebenso fern wie der Wunsch, nach diesem Tage vielleicht einen engeren Zusammenschluß an die Familie, welcher ich entstamme, zu erstreben. Wenn aber die Rednerin auch den abwesenden Dichter vorschob, so richtete sie in Wahrheit ihre Angriffe gegen mich. Dabei war sie klug genug, meinen Namen nicht klar zu nennen. Besäße ich einen brüderlichen oder väterlichen Freund, würde ich diesen zur Erwiderung auf schriftlichem Wege veranlassen. Aber ich stehe ganz allein. Nun ist es mir darum zu tun, an derselben Stelle, die mich beleidigen wollte, zu antworten. Kurz meinen Lebenslauf, seitdem ich Waldesruh verließ: Der Freund meines Vaters übernahm meine Ausbildung zur Bühnenkünstlerin. Sein bedeutender Ruf verbürgte die Richtigkeit seines Urteils. Nachdem er unerwartet starb und mein Vormund, Amtsrat Wullenweber auf Hohen-Klitzig, seine Erlaubnis zum Weiterstudium versagte, nahm ich verschiedene Stellungen als Kinderfräulein und Gesellschafterin an. Zeugnisse darüber sind vorhanden. Zuletzt weilte ich drei Jahre bei Frau Präsident Melchers. Ueber diese Zeit erteilt Justizrat Weißgerber Auskunft.“ Der Waldesruher Majoratsherr, der bis jetzt mit leicht gesenktem Kopf vor sich niedergesehen hatte, streifte sie mit einem raschen Seitenblick. Famos sah sie aus und ganz famos sprach sie auch. Trotzdem würde sie von der Familie nach diesem wohl ebenso wenig beachtet werden wie bis dahin. Und er schien das Interesse für ihre Ausführungen zu verlieren. „Frau Melchers starb auf einer Reise nach Pommern am Herzschlag und ich, die inzwischen mündig Gewordene, beschloß, endlich meinen sehnlichsten Wunsch, die Ausbildung zur Bühne, fortzusetzen.“ „Woher hat sie das Geld dazu genommen,“ tuschelte das jüngere Stiftsfräulein ihrer Schwester neugierig zu. Eva von Ostried fühlte, daß sie schwach werden wollte. Nun kam der dunkle Punkt! Und es hieb alles wieder auf sie ein... Die Not des Gewissens glühte -- die Angst bis an’s Lebensende unter dieser heimlichen Schmach zu leiden ... Einen Augenblick gab sie ihre Sache verloren. Dann erwachte ihr Stolz. „Meinem Gott und mir... und ihm, den ich liebe, bin ich Rechenschaft schuldig. Diesen nicht...“ Und sie sprach weiter: „Das Geld -- ganz recht. -- Das war eine böse Geschichte. Denn mein mütterliches Erbteil betrug nur tausend Mark. Ich hätte aber sehr bald vielleicht das Zwanzigfache verdienen können, wenn nicht das Blut meiner Mutter in mir wach geworden wäre. Ich konnte mich nun doch nicht für die Bühne zur Laufbahn entschließen. Die Gründe dafür nenne ich hier nicht. Sie würden doch kein Verständnis oder keinen Glauben finden. Der Tropfen Ostriedsches Blut -- das Erbe meines Vaters also -- war nicht dagegen. Zur Zeit verdiene ich meinen Lebensunterhalt durch Unterricht und Konzerte. So werde ich im nächsten Monat zweimal in München, am neunten November einmal im Blüthnersaal, hier, singen. In der Hauptsache ernähren mich die Stunden, die ich begabten Schülern erteile. Meine Wohnung befindet sich in Charlottenburg, Königsweg 24. Ich hatte nicht nötig, dies alles zu sagen. Wie schon erwähnt, stehe ich aber ganz allein für mich ein und bin daher dem niederen Klatsch schutzlos ausgesetzt. Das Andenken an meine Mutter verbietet mir, mich verdächtigen zu lassen.“ Sie neigte sich leicht und machte Miene zu gehen. Da stand der Generalleutnant, Exzellenz, langsam auf, kam um den Tisch herum auf sie zu und hielt die Hand hin. „Wir Männer haben zu wenig Zeit und auch zu wenig Begabung, um die Richtigkeit gehässiger Berichte nachzuprüfen,“ sagte er nicht unfreundlich. „Darum tut es mir persönlich leid, wenn Sie sich durch unsere bisherige Zurückhaltung verletzt gefühlt haben sollten.“ Einen Augenblick legte sie ihre Rechte in die seine. „Glauben Sie jetzt aber ja nicht, Exzellenz, daß ich mich in Ihren Kreis drängen möchte.“ Er sah erstaunt auf. Gradwegs in ihre wundervollen, klaren Augen. Einen Augenblick drohte ihn die weltmännische Sicherheit zu verlassen. „Und warum nicht,“ fragte er erstaunt. „Weil ich keine Zeit dazu fände und auch nicht ehrgeizig bin, Exzellenz. Sonst stände ich ja wohl heute als Mitglied einer Bühne vor Ihnen.“ Die andern Herren hatten sich gleichfalls erhoben und sahen etwas verlegen auf den Generalleutnant. Sie tat, als merke sie nichts von dem Erwägen, das aus allen Gesichtern sprach. „Ich muß nun fort, Exzellenz.“ Neben ihr lachte der Kummersbacher behaglich auf. „Nee, meine Tochter, du bleibst noch gefälligst eine Weile! Wir machen nachher unten eine gemütliche Ecke. Du, meine Wenigkeit, unser Dichter und wer sonst noch Lust hat, kann sich anschließen. Sage nicht „nein“... Bitte...“ „Ich wollte mit der gnädigen Base noch wegen geschäftlicher Dinge verhandeln. Darf ich also mitkommen?“ fragte der Waldesruher höflich. „Schön. Kannst du machen! Wann kommt denn übrigens der Anwalt? Warum Ihr durchaus die Familienbestimmungen abändern wollt, ist mir zwar nicht klar. Es sind ohnehin zu viel. Aber wenn es sonst ein vernünftiger Mann ist, kann auch das ganz nett werden. So’n Jurist steckt einem manchmal gehörige Lichter über das, was man Logik des Denkens nennt, auf.“ Der Waldesruher klemmte das Monokel ins Auge und prüfte die Uhr. „In zwei Stunden wird er da sein. Solange hätte ich also Zeit.“ Eva von Ostried stand unschlüssig zwischen den Beiden. „Es hat doch keinen rechten Zweck,“ meinte sie leise zu dem Kummersbacher. „Zweck,“ lachte der vergnügt. „Na wer weiß! Sieh mal rüber. Die gnädigen Stiftstanten giften recht erheblich, weil ihr Liebling, die brave Ingeborg, fortwährend sehnsüchtige Blicke zu uns rüber wirft. Allein darum lohnt es sich schon.“ „Willst du mit von der Partie sein, Inge,“ fragte er laut. „Ich stehe dafür ein, daß du ungestohlen wieder abgeliefert wirst.“ „Wir wollten den Waldesruher Vetter grade herzlich bitten, daß er mit uns den Tee nimmt,“ lehnte das ältere Stiftsfräulein in süßlichem Ton für sie ab. Horst Waldemar von Ostried ging hinüber und küßte der Sprecherin flüchtig die Hand, die immer noch wie dürres Holz erschien. „Leider kann ich heute der gütigen Einladung nicht folgen, verehrte Großtante. Ich bemerkte schon soeben, etwas Geschäftliches hindert mich an diesem Vergnügen.“ Dem Dichter war es endlich gelungen, sich an Eva von Ostrieds Seite zu drängen. „Wie innig habe ich Ihnen zu danken,“ flüsterte er. „In der Hauptsache sprach ich für mich,“ meinte sie lächelnd. „Daß Sie es überhaupt sagten, war schön.“ „Traurig genug, dass es gesagt werden mußte, nicht wahr?“ Er nickte. „Sie ahnen ja gar nicht, wie unbeschreiblich glücklich Sie sind.“ „Ich!“ machte sie erschrocken. „Warum denn nur? Sie haben gehört -- ich bin von meinem gesteckten Ziele abgeirrt ...“ „Aus freien Stücken, ja! Diesen Zwang kann man sich wohl gefallen lassen.“ „Er zerbricht auch mancherlei. Glauben Sie nur!“ „Was wissen Sie davon? Ihre Augen sind licht und rein.“ In diesem Augenblick trat der Kummersbacher wieder heran und verdrängte ihn durch das Vorhandensein seiner mächtigen Gestalt. -- Zu Vieren saßen sie um einen Rundtisch. „Ich bringe dich nachher nach Hause,“ sagte der Kummersbacher. „Das erlaubst du mir wohl? Auf der Fahrt können wir uns beide noch ein bißchen aussprechen.“ Sie richtete sich auf und lächelte krampfhaft. „Ich glaube, du bist sehr gut, Onkel Friedrich Wilhelm. Aber, nun ist es für alles zu spät.“ Sie sprach es nur für ihn. Ihre Stimme war ein Flüstern. Der Waldesruher unterhielt sich weiter mit dem Dichter, obgleich er ihn im übrigen nicht als vollwertigen Menschen ansah. „Mir kannst du vertrauen, Kind. Ich begreife dich schon!“ „So war’s nicht gemeint. Ich dachte lediglich an das mancherlei Schwere, das ich als junges, unreifes Ding, damals ganz allein mit mir, abmachen mußte. Das machte mich vorübergehend bitter. Jetzt bin ich damit fertig. Wirklich. Eine gemeinsame Fahrt denke ich mir für dich sehr unangenehm nach diesem Sekt. Ich benutze nämlich die elektrische Bahn.“ „Und dir von mir einen Wagenplatz bezahlen zu lassen, das widerstrebt dir, mit andern Worten.“ „Ja, das tut es!“ „Du bist eine seltsame Heilige, scheint mir.“ „Aber nicht darum.“ „Also außerdem auch noch. Das kann ich leider nicht beurteilen.“ Der leichtergraute Kopf des Waldesruher wandte sich in diesem Augenblick zu ihr hin. „Darf ich jetzt endlich meine Frage an Sie richten, gnädige Base?“ „Ich bitte darum, Herr von Ostried.“ Er zuckte unter ihrer förmlichen Anrede ein wenig zusammen und saß danach noch steifer und hochmütiger auf seinem Platz. Sonst war er derjenige, der unerwünschte Vertraulichkeiten zurückwies. „Sie besitzen von Ihrer Frau Mutter einen Schatz wertvoller, alter Möbel.“ „Das ist Ihnen bekannt?“ wunderte sie sich. „Wie seltsam.“ „Nicht so sehr, wie es den Anschein hat. Waldesruh und Hohen-Klitzig grenzen noch immer.“ „Das hatte ich beinahe vergessen.“ „Und einen Teil der alten Leute behielt ich in meinen Diensten.“ „Wirklich?“ fragte sie mit leisem Spott. Er überlegte, ob er ihr eine scharfe Zurechtweisung erteilen solle, unterließ es aber, um sie nicht, ohne jedes Nachdenken, zu einer abweisenden Antwort zu veranlassen. „Die haben mir also davon berichtet,“ fuhr er fort, „als gerade eine Sendung aus Berlin ankam, die von Kluserichter, dem Gutstischler, ausgepackt wurde. Ich bin dann bald zu dem Amtsrat herübergefahren, um sie zu besichtigen. Er verwies mich indes an Sie.“ Sie hatte wiederholt daran gedacht, sich auch diese Sachen in ihr Heim kommen zu lassen, unterließ es aber, weil die jetzige Wohnung keinen genügenden Raum dafür bot. Ihr Herz hing zudem nicht an den Stücken. Für einen guten Preis würde sie sich jetzt ohne weiteres davon getrennt haben, weil sie diejenigen Möbel, die einen wirklichen Erinnerungswert für sie besaßen, bereits umgaben. Sie diesem zu überlassen, verbot ihr Stolz. Wieder spürte sie die unsägliche Nichtachtung, die darin lag, daß er ihrem toten Vater nicht die letzte Ehre erwies, die Kaltherzigkeit, mit welcher er ihr, der Heimatlosen damals schriftlich begegnete. „Diese Sachen sind unverkäuflich,“ gab sie kurz zur Antwort. „Sie wollen also gar nicht mein Gebot hören?“ „Es würde mich nicht umstimmen.“ Sein Hochmut fand die schroffe Ablehnung einfach lächerlich. Eine kindische Ueberhebung von dieser gänzlich Mittellosen, die mit eisigem Schweigen abgetan zu werden verdiente. Die Leidenschaft des Sammlers versuchte dennoch ein Letztes: „Vielleicht darf ich später noch einmal nachfragen, ob Sie Ihre Ansicht geändert haben?“ Sie zuckte die Achseln. -- In demselben Augenblick hatte er blitzschnell die ihn eiskalt überrieselnde Empfindung, daß neben dieser unpersönlichen Stimme, die nach einem Wiedersehen verlangt hatte, auch noch der Mann in ihm danach strebte. Brüsk erhob er sich. „Verzeihung, ich will Befehl geben, daß mir sofort die Ankunft des Rechtsanwalts gemeldet wird.“ „Das brauchst du doch nur an meinen Hermann nach oben zu telephonieren,“ riet der Kummersbacher und unter seinem eisgrauen Bart zuckte die Schadenfreude über die schneidige Abfuhr auf. Trotz des Rates nahm der andere nicht wieder Platz. Es trieb ihn fort. Das Gefühl lebhaften Aergers über die schroffe Ablehnung, nach welcher er beschlossen hatte, den schlauen Agenten auf Eva von Ostrieds Schätze zu hetzen, war verflogen. Jetzt wehrte er sich lediglich gegen das wachsende Wohlbehagen, das ihm ihr Anblick bringen wollte. „Weshalb hast du eigentlich den Anwalt so heimlich bestellt,“ fragte der Kummersbacher vergnügt. „Heimlich? Das dürfte nicht zutreffen. Es war vorher mit Jeschko ausgemacht, daß wir abändern wollten. Ihr habt Euch ja in Pausch und Bogen schon längst vorher damit einverstanden erklärt. Mir fiel neben dem Abfassen von der Bekanntgabe des Familientages natürlich auch die Wahl des Anwalts zu.“ Er merkte nicht, daß ihn der Frager nur noch ein wenig fesseln wollte, um mit inniger Schadenfreude zu prüfen, ob seine längst gemachte Feststellung von dem starken Eindruck der schönen Base auf den Egoisten wirklich zutreffe. „Ich kenne hier nämlich verschiedene sehr tüchtige Anwälte,“ beharrte er eigensinnig, „und denen würde ich gern eine Kleinigkeit zu verdienen gegeben haben.“ „Dieser ist mir ebenfalls warm empfohlen. Ein gewisser Doktor Wullenweber, vereinigt mit dem als sehr tüchtig anerkannten Justizrat Weißgerber. Zudem Neffe meines Klitziger Nachbarn.“ Dann verneigte er sich stumm gegen Eva, ohne ihr die Hand zu reichen und nickte den beiden andern zu. Sie sah plötzlich starr und bleich aus. Oder veränderte nur der erste fahle Schein der Dämmerung, der gespenstisch durch die steingrünen Vorhänge kroch, ihr Aussehen? „Die Luft ist hier nicht besonders gut, nicht wahr?“ erkundigte sich der Kummersbacher teilnehmend, als sie jetzt zu Dreien waren. „Ich muß nach Hause,“ sagte sie tonlos, ohne auf seine Frage zu antworten. Es erschien ihr alles nebensächlich und phrasenhaft neben dem einen, was sie soeben gehört. „Dieser Entschluß kommt ein bißchen plötzlich, Kind..“ Schweigend knöpfte sie an ihren Handschuhen. „Ich blieb schon viel zu lange.“ „Warum ärgerst du dich eigentlich,“ forschte er beinahe sanft. „Ich sehe keinen Anlaß.“ Sie lachte. Aber es klang wie ein Schrei. „Aergern, nein, wirklich nicht!“ „Schön, dann also nicht! Meine Begleitung war dir nicht angenehm und anders hast du es dir inzwischen wohl nicht überlegt?“ „Es war unrecht, daß ich gekommen bin,“ klagte sie leise. „Ich freue mich aufrichtig darüber. Das kannst du mir glauben.“ Sie reichte ihm beide Hände zum Abschied. „Vielen, vielen Dank, Onkel Friedrich Wilhelm.“ „Möchte wohl wissen, wofür?“ brummte er. „Ich sage trotz deines deutlichen Abwinkens, „auf baldiges Wiedersehen.“ Höre mal zu. Im Oktober bin ich wieder auf vier bis fünf Wochen daheim. Dann kommst du zu mir. Ich bitte dich herzlich darum.“ Sie stand mit schlaff herabhängenden Armen vor ihm. „Versprich mir das,“ drängte er, „Unser Dichter wird auch kommen.“ Der blasse Mensch freute sich wie ein glückliches Kind. „Ja -- ich komme bestimmt. Das wird sehr schön werden.“ „So schnell kann ich nicht Vertrauen fassen,“ entschuldigte sie sich. „Siehst du, das begreife ich. Daß du wenigstens versuchen willst, es zu bekommen, das kannst du mir auch versprechen?“ „Ich glaube nicht, daß ich diesen Versuch machen werde.“ Er hatte ihr die breiten wuchtigen Hände auf die Schultern gelegt und zog sie sanft zu sich heran. „Man hat es nicht anders verdient. Stimmt! -- Trotzdem --“ Und er neigte sich zu ihr und küßte sie auf den Mund. „Denn ich könnte bequem dein Großvater sein, Mädel,“ sagte er nachher wie erklärend, „aber auch schon mit der Vaterwürde wäre ich sehr zufrieden!“ -- -- Wie eine Träumende ging sie die breiten, schönen Straßen herunter. Sein Name hatte alles wieder aufgewühlt. Sie kam nicht los von ihm. Und es mußte doch geschehen. „Verehrte Base, gestatten Sie, daß ich Sie begleite --“ Ihr Kopf fuhr herum. Das gelangweilte Gesicht des Regierungsassessors sah in diesem Augenblick äußerst angeregt und verschmitzt aus. Eine Blutwelle der Empörung stieg ihr bis in die Stirn hinauf. „Ich gestatte lediglich, daß Sie sofort von meiner Seite verschwinden,“ sagte sie kalt und würdigte den Verblüfften keines Blickes weiter. [Illustration] [Illustration] 19. „Sie, Herr Rechtsanwalt Wullenweber, haben sich, wie mir mein Waldesruher Vetter mitteilt, bereits über den Inhalt der vorhandenen Familiengesetze unterrichten können,“ sagte Generalleutnant von Ostried, der zur Vorbesprechung über die neu aufzunehmenden Paragraphen mit dem soeben Angekommenen und dem Majoratsherrn, fernab von der langen, feierlichen Tafel, in seinem nicht übermäßig geräumigen Logierzimmer Platz genommen hatte. Walter Wullenweber verneigte sich bejahend. „Diejenigen Bestimmungen, welche seit Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches -- selbst in dieser Form als Familiengesetz -- anfechtbar geworden sind, habe ich mir erlaubt durchzuarbeiten und anders zu formulieren.“ „Sehr schön,“ lobte die Exzellenz zerstreut, „aber das hat Zeit bis nachher. Das Neue ist entschieden wichtiger. -- Willst du mir mal gütigst das kleine Heft herüber geben, Vetter?“ Der Waldesruher reckte nur den Arm weit aus und reichte es ihm hin. „Famos. Immer wieder unterschätze ich deine Körperlänge. -- So bitte, Herr Rechtsanwalt, wollen Sie gefälligst Einsicht nehmen, was gewünscht und erstrebt wird. Vor allen Dingen muß das lächerliche Befragen des gesamten Familienrats, wenn zum Beispiel in der Familiengruft eine neue Trauerweide vom Obergärtner gesetzt oder ein Grabmal aufgefärbt wird, eingestellt werden. Künftig soll ein aus zwei oder drei Leuten bestehender Ausschuß darin maßgebend sein. Andere Punkte freilich sind bedeutender. Unsere, das heißt, meines Vetters und meine Ansicht erfahren Sie nebenstehend.“ Walter Wullenweber las aufmerksam. „Die vorgeschlagenen Abänderungen sind bei weitem einfacher und zweckdienlicher,“ unterbrach er einmal das Schweigen; „nur fehlt die rechtswirksame Form, wie z. B. hier bei einer hypothekarischen Sicherheit für einen der Ostrieds gerader Linie. Das ist aber eine Kleinigkeit.“ Dann vertiefte er sich wiederum, bis ihm das Rot einer heimlichen Erregung über das stubenblasse Gesicht lief. Er sah den Waldesruher Majoratsherrn prüfend an und in diesem Blick lag entschieden etwas Feindliches. „Sind Sie damit einverstanden, Herr von Ostried, daß der eventuelle älteste Enkel Ihres verstorbenen Herrn Vorgängers nach Ihnen -- also vor dem bisherigen Anwärter -- als Waldesruher Majoratsherr in Frage käme? Absatz 3 der mir zugänglich gemachten Bestimmungen verlangt ausdrücklich bei einer Abänderung in erster Linie die Bereitwilligkeitserklärung des derzeitigen Majoratsinhabers. Darum meine Frage. Auch darf ich nicht verhehlen, daß die Vorlage dieser neuen Erbfolge bei auch nur einer widerstrebenden Stimme glatt erledigt ist.“ Horst Waldemar von Ostried blickte eine Kleinigkeit gelangweilt drein. „Ihre erste Frage ist schnell beantwortet, Herr Rechtsanwalt. Warum sollte ich dagegen sein? Bis jetzt lebe ich als kinderloser Witwer. Sollte ich eine neue Heirat schließen.“ Die Exzellenz sah überrascht auf und knurrte etwas. „Na nu -- das ist mir ganz neu.“ „Wie meinst du,“ fragte der andere ruhig. „Bitte weiter. Es war nichts von Wichtigkeit.“ „Ich wollte sagen, daß in jedem Fall mein Sohn, würde mir noch ein solcher beschert sein, als mein Nachfolger auf Waldesruh in Betracht käme. Diese ganze Neuregelung liegt reichlich weit im Felde. Immerhin besteht ein Zwang für sie.“ „Den zu erkennen ist mir bisher nicht möglich gewesen. Darf ich alles Notwendige wissen, um nachher sämtliche Einwendungen widerlegen zu können.“ „An denen wird es selbstverständlich nicht fehlen,“ meinte die Exzellenz ahnungsvoll. „Wappnen Sie sich also mit sehr viel Geduld, sonst werden Sie bestimmt nervös!“ „Ehe ich zu dem Hauptsächlichsten komme, will ich Ihnen kurz wiederholen, was Sie ja, von der Vertretung ihrer Interessen her, bereits vor mir wußten,“ begann Horst Waldemar wieder. „Vorläufig ist die Tochter meines Vorgängers noch ledig. Ich ahne auch nicht, ob eine Aussicht zur Abänderung dieses Zustandes bereits vorhanden ist. Und wenn selbst die junge Dame, die übrigens vorher bei dem ersten Teil der Familiensitzung zugegen war -- ist Künstlerin und es wird ein unserer Familie voll ebenbürtiger Gatte als Vater eines neuen Majoratsherrn zur Bedingung gemacht --“ „Schön genug wäre sie allerdings für einen Prinzen, wenn sonst das andere stimmte,“ warf die Exzellenz nachdenklich ein. Der Waldesruher sah ihn bedeutsam an und zog rasch, wie, um dies zu verdecken, seine Uhr. „Die Zeit eilt. Wir dürfen uns nicht bei Nebensachen aufhalten.“ „Ich war noch nicht zu Ende,“ sagte Horst Waldemar kurz und fuhr fort: „Ein Widerstreben würde, auch menschlich beleuchtet, völlig unerklärlich sein. Trotzdem werden Sie nachher einen heißen Kampf entbrennen sehen. Die übrige Familie weiß nämlich bis zu dieser Stunde lediglich, daß die alten Gesetze durchgesehen und verbessert werden sollen. Damit haben sie sich ohne weiteres einverstanden erklärt. Ihnen mehr zu sagen, schien meinen Vetter und mir verfrüht. Es hätte Anlaß zu unerfreulichen schriftlichen Erklärungen gegeben. Denn wir wissen, daß jeder Einwand gegen die neue Erbvorlage vergeblich bleiben muß. Das durch einen Zufall aufgefundene Zusatzschriftstück verlangt die erwähnte Erbfolge ausdrücklich.“ „Dies Schriftstück war mir bisher nicht zugänglich. Sehr gern würde ich mich jetzt mit seinem Inhalt bekannt machen.“ „Darum bitten wir Sie natürlich. Hier ist es. Sie sehen, eine Abschrift hätte unüberwindliche Schwierigkeiten gebracht. Das Pergament ist brüchig geworden und muß sehr vorsichtig behandelt werden. Zudem hätte ein halbgebildeter Abschreiber kaum die Menge lateinischer Redewendungen richtig wiedergegeben. Ich zog daher die Aushändigung an Ort und Stelle vor und bin gern bereit, Ihnen bei scheinbar unleserlichen Stellen zu helfen.“ Walter Wullenweber prüfte eingehend den Inhalt des Dargereichten. Er hatte sich jetzt wieder voll in der Gewalt. Seine scharfen Augen bemühten sich unter den zahlreichen dunklen Stockflecken die kleine spitze Schrift zu enträtseln. Die Exzellenz reichte ihm eine Lupe über den Tisch hin. „Wenn Sie an gewisse Stellen kommen, wird sie Ihnen gute Dienste tun.“ Nach einiger Zeit legte Walter Wullenweber die Rechte auf das Pergament und sah auf: „Nun dies aufgefunden ist, könnte selbst die heftigste Ablehnung nicht mehr an der veränderten Erbfolge rütteln. Ich unterstelle natürlich die Echtheit. Wenn sie von einem Mitglied in Zweifel gezogen würde, kämen langwierige und kaum erfolgreiche Erhebungen heraus. Vollgültige Beweise von der einen oder andern Seite erscheinen mir unmöglich.“ „Ausgeschlossen,“ sagte der Waldesruher mit großer Bestimmtheit. „Daran wagt Keiner zu tippen. Zudem habe ich bereits die Uebereinstimmung dieser Handschrift mit den Aufzeichnungen eines Ahnen einwandfrei feststellen und von einem gerichtlichen Sachverständigen beglaubigen lassen. Hier ist das Dokument darüber. Vielleicht vermag es Ihnen in dem Kampfe zu dienen.“ „Dann dürfte jeder Einspruch wirkungslos bleiben.“ Der Generalleutnant schlug sich in bester Laune, auf die Knie. „Wie ich mich freue,“ sagte er aus tiefstem Herzen, „wenn es auch nur ein Schreckschuß ist und voraussichtlich bleiben wird. Diesen ewig müden, gelangweilten Bengel, deinen bisherigen Nachfolger, muß das mal endlich wach machen.“ „Hier ist auch noch der Umschlag, in dem das Gefundene steckte, Herr Rechtsanwalt.“ „Wie, Sie selbst haben es gefunden, Herr von Ostried?“ „Ohne meinen Vorsatz allerdings! Ich ließ das Kellergewölbe im Waldesruher Schloß aufreißen, damit das schadhafte Mauerwerk ausgebessert werde. Die merkwürdig geformten Nischen und die zahlreichen Verstecke mit den unsichtbar eingelegten Steintüren interessierten mich umso mehr, als bereits mein Großvater, der wie ich Sammler von Altertümern war, uns Kindern von kostbaren seit den Kreuzzügen dort lagernden Schätzen erzählt hatte. In Wahrheit fand sich nur ein verrosteter Eisenkasten vor, der dies Schriftstück barg. Ob mir oder den andern der Fund angenehm sein konnte oder das Gegenteil, habe ich wirklich nicht erwogen. Es war einfach meine Pflicht, daß ich ihn nach Kenntnis des Inhalts ungesäumt dem Senior unserer Familie, meinem Vetter, Generalleutnant von Ostried, unterbreitete. Dies ist geschehen.“ Das klang ohne jede Beimischung von Gefühlswärme, wie Walter Wullenweber feststellte. Es beruhigte ihn. Mit einigem Eifer begann er den Entwurf der neuen Bestimmung zu formen. Jetzt war er fertig, überlas alles und übergab es dann der Exzellenz, die es laut zum Gehör brachte. „Ausgezeichnet,“ stellten sie beide fest. „Wir können die Herrschaften wieder zusammentrommeln lassen.“ „Einen Augenblick,“ sagte Horst Waldemar plötzlich, als sich die Exzellenz erhob, um seinen Hermann zu beauftragen. „Den letzten Punkt haben Sie zu erwähnen vergessen. Sie erinnern sich doch, Herr Rechtsanwalt?“ -- Eine halbe Stunde später einten sie sich wieder um die lange feierliche Tafel. Nur die Reihenfolge war ein wenig verändert. Eva von Ostrieds Platz hatte jetzt der Regierungsassessor eingenommen, während Walter Wullenweber zwischen dem Generalleutnant und dem Waldesruher saß. Das Stiftsfräulein Hermine fuhr, nachdem der Generalleutnant nach den unwichtigen Abänderungen den Punkt der neuen Erbfolge zur Kenntnis gebracht, von ihrem Stuhl empor. Auch die andern starrten mehr oder minder überrascht, nach dem Sprecher hin, der das Auffinden des alten Schriftstückes noch mit keinem Worte erwähnt hatte. Er hatte absichtlich davon geschwiegen. Der Kummersbacher freute sich aufrichtig für Eva von Ostried. Nicht, daß er schon ihren ältesten Sohn unter den Waldesruher Buchen hätte herumgaloppieren sehen, nein, daran glaubte er nicht! Er gönnte ihr nur von Herzen jene Ehrenerklärung, die in der Annahme der neuen Bestimmung lag. Scharf spähte sein Blick zu Horst Waldemar hin. Sollte es bei diesem angegrauten Eiszapfen etwa denkbar sein, daß er sich in die jene, lockende Schönheit vergafft habe? Der Vortragende Rat, Exzellenz, und seine Zwillingstöchter waren mehr verwundert wie empört. Was ging es sie schließlich an, wer die Waldesruher Herrlichkeiten genoß? Ihnen blieben sie jedenfalls fern. Fassungslos machte die Mitteilung lediglich die Eltern des Regierungsassessors, die bleich und stumm nach Atem rangen. Der Anwärter selbst hatte nur eine Sekunde die Farbe verloren. Dann war sein Plan gefaßt. Noch ehe Eva von Ostried das Geringste von all diesem erfuhr, also sogleich nach Schluß der Komödie, würde er ihr schreiben. Das verstand er ausgezeichnet. Sie sollte seine Rechtfertigung schon annehmen und ihm, wenn er sich mündlich ihre Verzeihung holte, eine andere Behandlung gewähren, als vorher zwischen den sommermüden alten Linden! Lodernden Zorn, der ihr häßliches Gesicht noch abstoßender erscheinen ließ, empfand einzig das ältere Stiftsfräulein, während ihre um zehn Jahr jüngere, als unbegabt geltende Schwester Klausine leise zu weinen begann. Sie hatte sich schon zu lange auf die Sommerfrische in Waldesruh unter Ingeborgs Fürsorge gefreut. Dieser Traum von Stille, endlichem Frieden und unbeschnitten reichlichen Gerichten würde durch den Sohn jener Unausstehlichen natürlich zu Schanden werden! Hermine von Ostried wartete auf das letzte Wort des Generalleutnants. Kaum war es gesprochen, schrillte ihre hohe, jetzt von Verachtung und Zorn gellende Stimme. „Es ist ein Scherz und nichts weiter, den du dir soeben mit uns erlaubt hast, lieber Jeschko. Ich für meine Person lasse mir solche Sachen nicht gefallen, mögen auch die andern töricht genug sein, sich dadurch verblüffen zu lassen. Ich frage dich, was du damit bezweckst?“ Aber sie ließ ihm nicht etwa Zeit die Frage zu beantworten. Sein lächelndes Gesicht, das sich nunmehr zu verklären begann, reizte sie unaussprechlich. „Schamlos genug, daß Euch Männern diese Bettelprinzeß die Köpfe verdreht hat.“ Da fuhr mit gewaltigem Schlag eine Faust auf die Tafel nieder. Das war die Sprache des Kummersbacher. Der schmale Dichter, der auf seiner andern Seite saß, während zu seiner Linken die schweigsame Gemahlin des Vortragenden Rates thronte, fuhr zwar zusammen, denn er hatte mit seligen Augen von einer lichten, schönen Frau geträumt, die bei ihrem Sohn in Waldesruh dereinst die alte Heimat wiedergefunden. Als ihn aber die wortlose, donnernde Rede vollends aus allen Träumen gerissen, als er begriff, wem dies galt, leuchteten seine Augen strahlender und seine Seele band sich fest an den alten, aufrechten, knorrigen Mann, der seinem Zorn jetzt auch Worte verlieh. „Keinen Mucks weiter! Hörst du?! Ich verbiete es dir! Du hast es dein Leben lang gut verstanden, aus dem Hinterhalt zu geifern. Die dir gehörig Bescheid tun könnte, ist nicht mehr da. Warum sie sehr bald schon gegangen ist? Klar genug für einen, der ein bißchen nachdenken kann. Ihr Frauen habt sie gemieden, als ob sie eine Pestkranke wäre. Was hat sie Euch getan? -- Antwort! Sie hat nichts von Euch erbettelt und Euch damit das Recht vor der Nase weggeschnappt, sich um sie zu bekümmern... ihr das Leben zu vergällen, wie Ihr das über alles gern besorgt hättet. Warum sage ich eigentlich „Ihr“? Ich meine ja nur dich, Hermine. Denn deiner armen Schwester Seele hast du, falls eine in ihr gesteckt haben sollte, allmählich schon bei Lebzeiten aus ihrem mageren Körper vertrieben. Es ist auch entschieden bequemer für dich.“ „Es ist ein Fremder mit uns am Tisch,“ flüsterte der Vortragende Rat ihm beschwörend zu, „nimm Rücksicht darauf, Kummersbacher.“ „Das hätten die gefälligst bedenken sollen, die ihn angeschleppt brachten. Im übrigen ist er Jurist und hält Verschwiegenheit. Herunter muß auch noch das andere. Sie hat sich allein durchgerungen, sage ich dir. Schwer genug mag das manchmal gewesen sein. Und wenn selbst nicht... wenn das Geld aus einer uns unbekannten Quelle geflossen wäre...“ „Das ist unstreitig,“ rief die Angegriffene... „und zwar aus einer unsauberen.“ „Wage das nicht ein zweites Mal auszusprechen! Ich bringe dich sonst wegen Verleumdung vor das Gericht. So wahr ich hier stehe...“ „Du hast es ja soeben selbst angedeutet...“ „Weil es dir besser paßte, hast du mich nicht zu Ende kommen lassen. Ich verbürge mich dafür, daß die Quelle rein gewesen ist. Jawohl! Und wenn du sie noch durch ein einziges Wort -- gleichviel ob offen oder versteckt -- herunterreißt ... bei Gott... ich räche sie! Zudem braucht sie wenigstens in Zukunft kein Geld mehr aus irgendwelchen Quellchen. Meines ist da und jederzeit für sie bereit. Es hat mich schon längst bedrückt. Wenn sie auch vorläufig noch nicht will, sie muß und sie wird schon, sage ich dir. Und Euch Allen hiermit!“ Der Vortragende Rat, Exzellenz, der den Kummersbacher seiner Zeit aus guten Gründen um die Uebernahme der Patenschaft bei seinen Töchtern erfolgreich gebeten, lenkte ein: „Du bist immer noch wie ein ganz Junger, Kummersbacher. Wer greift sie denn schon an? Meine Frau und ich durchaus nicht. Ist nichts an diesem Gerede, werden wir die ersten sein, die ihr unser Haus öffnen.“ Noch einmal lohte der Zorn hell auf. „Was ist geredet worden? Was habt Ihr über sie gehört?“ Der Vorsichtige schwieg betreten und schickte einen kurzen Blick zu seiner Gattin, der heißen sollte: „Jetzt zeige, daß du wenigstens ein echt weibliches Geschick im Glätten dieser Wogen hast.“ Aber die Frau Vortragende Rätin blieb sich nur bewußt, daß ihr das Stiftsfräulein Hermine dreihundert Mark für die neuen Wintermäntel der Zwillinge (mit 5 Prozent Zinsen) zugesagt hatte. Sie stammelte daher Unverständliches. „Es ist zu widerlich,“ sagte der Kummersbacher kurz und verstummte. Sie sahen alle nach dem älteren Stiftsfräulein hinüber. Die lächelte jetzt. Das war noch viel abstoßender wie zuvor die Wut, die ihre Züge verzerrt hatte. „Ein einziger Einspruch genügt, um den neuen Beschluß abzulehnen,“ sagte sie lauernd. „Nun wohl, ich verweigere meine Zustimmung. Alles andere ist mir gleichgültig. Und ich sage noch einmal.... die Bettelprinzeß ist nicht schlau genug.“ Diesmal blieb der Kummersbacher ruhig. „Dies Wort hast du vor rund dreißig Jahren schon auf ihre Mutter angewandt. Damit verdarbst du der armen, scheuen Frau, als die sie mir von zuverlässiger Seite später geschildert wurde, die als vertrauendes, unschuldiges Kind nach Waldesruh kam, von vornherein ihre Stellung in der Familie. Damals hattest du, leider, noch einen gewissen Einfluß. Auch ich habe mich dadurch zurückschrecken lassen. Nein, das stimmt doch nicht. Dich kannte ich von jeher. Daß sie den tollen Weddo heiraten konnte, nahm mich gegen sie ein. Ein zweites Mal gelingt dir Aehnliches nicht, selbst wenn dein teuflischer Einspruch die neue Satzung untergraben würde.“ Sie hörte nur dies und lachte voller Hohn. „Ein Wahnsinn, daß man uns überhaupt damit kommt.“ „Bitte, Herr Rechtsanwalt, lesen Sie gefälligst das aufgefundene Schriftstück vor,“ rief der Generalleutnant plötzlich dazwischen. Sein Ton war wie eine Fanfare. Sie stutzten und lauschten aufmerksam, was Walter Wullenwebers tiefe, ruhige Stimme ihnen enthüllte. Der Major a. D. und seine Gattin sanken mehr und mehr in sich zusammen. Das ältere Stiftsfräulein wurde aschgrau. „Fälschung,“ keuchte sie..., „elendes Machwerk. Aber wartet! Ich entlarve Euch schon...“ Dem Vortragenden Rat, Exzellenz und dem Kummersbacher wurde das die Echtheit feststellende Gutachten eines namhaften, auch vom Gericht in den verworrensten Fällen als letzte Instanz angerufenen Gelehrten auf diesem Gebiete zur Prüfung vorgelegt. Sie gaben es an die andern Herren weiter. Als sich die Hand des Stiftsfräuleins Hermine danach ausstreckte, wehrte der Generalleutnant kurz ab. „Nach dem Vorangegangenen kann ich meine Erlaubnis dazu nicht geben. Du, Hermine, kannst es jederzeit nach Ausweis über deine Person, im Bureau unseres Anwalts, des Herrn Wullenweber, einsehen. Seine Adresse wird dir zugehen. Und nun genug davon! Weiteres wird in dieser Sache von dir nicht angehört werden. Damit wärst du auf den gerichtlichen Weg zu verweisen.“ Eine drückende Stille entstand. Sie lehnte mit leicht geschlossenen Augen auf ihrem Stuhl. Niemand bemühte sich um sie. Jeder am Tisch tat, als beschäftige ihn zur Zeit grade etwas anderes. Als sie sich wieder aufgerafft hatte, sagte sie merkwürdig ruhig: „Ich danke für diesen Hinweis. Er wird aber, denke ich, überflüssig werden. Oder sollte der Vetter Generalleutnant sowie die andern wirklich nichts von jener hauptsächlichsten Bedingung ahnen, die auch dies alte seltsamerweise zur rechten Zeit aufgefundene Schriftstück nicht außer Kraft setzen kann? Mit der schaffe ich es leicht.“ Der Generalleutnant wechselte mit dem Anwalt einen raschen Blick. „Es ist klüger, wir zeigen uns ebenfalls davon unterrichtet,“ flüsterte Walter Wullenweber. „Ich bitte, daß Sie uns gefälligst jene Bestimmung zu Gehör bringen, Herr Rechtsanwalt.“ Walter Wullenweber sprach fast ein wenig zu kalt und sachlich für den Geschmack des Kummersbacher. Sein Inneres forderte jetzt eine hinreißende Rede für Eva von Ostried. Es war aber vielleicht richtiger, wie der junge Jurist es anfaßte. „Die Bedingung, welche die,“ hier stockte er und fuhr erst fort, als der Generalleutnant keinen Namen einschob, „jene Dame soeben erwähnte, ist natürlich Seiner Exzellenz und dem Majoratsherrn ebensogut, wie auch mir, dem Wortlaut nach bekannt und im Gedächtnis. Ich werde sie zur Vermeidung jeden Mißverständnisses wörtlich verlesen. Sie findet sich am Schluß der in Kraft stehenden Familiensatzungen und erstreckt sich -- ihrem Wortlaut und Sinn nach -- auf sämtliche im Vorangegangenen ausgeführte Bestimmungen. Dieser ausdrückliche Hinweis geschieht für diejenigen unter den Anwesenden, welche sie bisher nicht genau kannten und sich vielleicht nach Beendigung der Besprechung noch einmal selbst davon zu überzeugen wünschen. Ich lese also vor: „Alles, was an Rechten, Wünschen und Anträgen erfüllt werden sollte, geschieht in der schweigenden Voraussetzung, daß sich Anwärter oder Antragsteller des zu Verlangenden oder des Erbetenen bis zu dem Tage der Gewährung als durchaus wert und würdig erzeigt haben. Sollten sich nach stattgefundener Verleihung untrügliche Beweise von dem Unwert des Empfängers beibringen lassen, so ist nicht nur das in Besitz genommene unverzüglich herauszugeben, sondern auch die bereits empfangene Bereicherung mit Heller und Pfennig durch den Seniorenkonvent -- das sind die drei ältesten männlichen Ostrieds grader Linie -- abzuschätzen und zu ihren Händen zurück zu erstatten. Unter Wert und Würdigkeit eines männlichen Empfängers ist Ehrenhaftigkeit, solider Lebenswandel, der sich von Aergernis erregender Völlerei, Glücksspiel und ehelicher Untreue freihält, in der Hauptsache zu verstehen. Wert und Würdigkeit eines weiblichen Empfängers muß noch strenger beurteilt werden. Sittliche Reinheit hat hier für Ehrenhaftigkeit zu stehen. Die Erzählungen von Schandmäulern, die dies anzweifeln, soll zwar gehört, indes niemals ohne ernsthafte Prüfung vonseiten des Seniorenkonvents geglaubt werden. Als Beweis des Unwerts ist anzusehen: Wer einen Ehegatten, einen verlobten Bräutigam, auch schon einen heimlichen Versprochenen, einer andern abwendig macht. Wer durch unentwegtes Scharmutzieren, Kokettieren, ja selbst durch herausfordernde Kleidung, den Ehrbaren Anlaß zu öffentlichem Aergernis gibt. Ausgeschlossen von Gunsterweisungen aller Art sollen ferner sein, die durch öffentliche Schaustellungen in Buden und Zirkussen, sowie andern nicht einwandfreien Schauplätzen laufend Gelder verdienen.“ Dieser letzte Passus ist wegen einer Gewissen angefügt, die sich im Jahre 1570 des alten ehrenwerten Namen von Ostried durch solche Künste unwert zeigte, ihn abgesprochen bekam und später in Elend und Not endete. Dies als abschreckendes Beispiel unseren lieben Frauen. Ihr Rufname ist ebenfalls ausgelöscht. Ihr Bildnis findet sich in keiner Ahnengalerie vor.“ Walter Wullenweber hatte in den Blicken des älteren Stiftsfräuleins das Aufleuchten des Triumphs deutlich wahrgenommen. Obwohl es ihm lächerlich erschien, empfand er plötzlich eine unerklärliche Angst um eine, die seine Liebe zurückgewiesen hatte; er befürchtete, daß jetzt jemand der hier Versammelten die Erbringung solchen Beweises laut verlangen könne. Und wiederum wünschte er einen Herzschlag lang, daß der Seniorenkonvent die ihm später zweifelsfrei von diesem gehässigen Stiftsfräulein unterbreiteten Ermittlungen bösester Art als zutreffend bestätigen möge. Dann war sie frei und schutzloser, wie je -- -- und er hätte sie schützen dürfen.... Als diese zweite stürmische Beratung zu Ende war, trat der Kummersbacher auf ihn zu: „Haben Sie zehn Minuten Zeit für mich, Herr Rechtsanwalt? Nichts Geschäftliches. Und doch etwas, das von dem soeben Erlebten nicht zu trennen ist.“ So saßen sie denn ein wenig später beisammen, und der Kummersbacher begann: „Was ich eigentlich will, ist so ’ne Sache. Kann verschieden aufgefaßt werden. Ich will nämlich auch eine Kleinigkeit von Fräulein Eva von Ostried. Da sind welche, die stehen ihr nicht grade feindlich gegenüber. Der Generalleutnant zum Beispiel; auch den Waldesruher rechne ich dazu. Die andern, mit Ausnahme des kränklichen Herrn, der sich schweigsam verhielt und, wie Dichter das leicht tun, für sie flammt, hassen sie. Einer mehr, einer weniger. Fast hinter jedem Mann steht ein Weib und hetzt ein bißchen. Hinter dem Stiftsfräulein der auf Lebensdauer eingemietete Teufel, der sie völlig regiert. Hinter dem Major außerdem die glühende Angst um das Wohl seines einzigen Sprößlings. Da hat also schon seine Richtigkeit! -- Ich habe Eva von Ostried ebenfalls bis zum heutigen Tage nicht persönlich gekannt. Habe mich leider, wie schon zugestanden, auch nicht um sie gekümmert. Ein anständiger Kerl soll die gemachten Fehler, sobald er sie merkt, abzuändern wenigstens versuchen. Und darum habe ich Sie hergebeten. Sie hat es nicht leicht, sich durchzuschlagen. Das fühle ich. Wenn man offene Augen haben will, bringt man das schnell heraus. Direkt von mir nimmt sie aber vorläufig nichts an. Bestimmt hat sie mit Entbehrungen zu kämpfen. Das soll aufhören. Zuerst habe ich daran gedacht, ihr eine regelmäßige Monatsrente durch Ihre freundliche Vermittlung, ohne Nennung meines Namens natürlich, auszusetzen. Sie würde das schnell herausbringen und mit einem dankenden Wort an Sie zurückschicken. Nun ist mir endlich was Besseres eingefallen. Sie leben in Berlin und irgend welche musikalisch befähigte Jugend mag Ihnen auch bekannt sein?!“ „Zufällig bin ich täglich mit einem jungen Menschen zusammen, dessen ganzes Sehnen danach geht, sein musikalisches Talent in den Freistunden vervollkommnen zu lassen.“ „Das paßt großartig. Wer ist’s denn?“ „Einer unserer Schreiber.“ „Das dämpft meine Freude allerdings. Dem Kerlchen wird sie kein fürstliches Honorar zutrauen, nicht wahr?“ Endlich begriff Walter Wullenweber. „So war das gemeint?“ „Natürlich! Ich beabsichtige für jede Stunde -- na, sagen wir mal -- zehn Mark zu zahlen und ihn ungefähr vier bis fünf pro Woche nehmen zu lassen.“ Der junge Anwalt mußte lachen. „Da er zu jeder Unterrichtsstunde tüchtig üben muß, dürfte ihm daneben für seine bisherige Tätigkeit kaum noch Zeit übrig bleiben.“ „Vielleicht hat er eine Schwester, die auch ideale Bestrebungen in sich fühlt.“ „Sogar ihrer mehrere. Bescheidene, wohlerzogene Mädchen. Näheres weiß ich allerdings nicht. Ich werde mich jetzt für die Familie interessieren.“ „Ja, tun Sie das! Und wenn es möglich ist, könnten ja besser gleich alle bei ihr antreten. Ihre Adresse kann ich Ihnen sofort geben...“ Eine Sekunde überlegte Walter Wullenweber. „Lassen Sie, Herr von Ostried,“ sagte er dann und sein Ton klang anders wie bisher, „es ist unnötig. Ich kenne sie.“ „So darf ich wissen, woher?“ „Fräulein von Ostried hat mich als ihren Beistand gegen einen ihrer Agenten benötigt. Es galt, einen kleinen Irrtum richtig zu stellen...“ „Da war sie wohl persönlich bei Ihnen?“ „Ganz recht! Zweimal. Dann hatte sich die Sache zu ihren Gunsten erledigt.“ Dem Kummersbacher war diese Neuigkeit offensichtlich angenehm. Er rückte näher heran und fragte den jungen Anwalt in vertraulichem Ton: „Und glauben Sie auch nur ein Wort von dem, was das enge Hirn einer, die nicht anders als böse denken und sein kann, über sie ausstreut?“ Bisher hatte sich Walter Wullenweber fest im Zügel gehabt. Jetzt ließ seine Kraft nach. Der Kummersbacher bemerkte die Veränderung seines Mienenspiels. „Was haben Sie, Herr Rechtsanwalt? Die verdammte Stickluft hier.“ „Das ist es nicht,“ sagte Walter Wullenweber tonlos. Der Kummersbacher sah ihn fest an, begriff langsam und nickte ein paar mal. „So stehts also. Und sie? Verzeihen Sie die Frage. Neugier liegt nicht drin. Ich habe das Mädel so lieb wie eine Tochter gewonnen.“ Das Bekenntnis des alten Herrn, daß er sich um sie sorge, ließ keine Ausrede zu. „Ich -- wollte sie zum Weibe. Aber -- sie kam nicht...!“ Es wirkte wie das erschütternde Geständnis eines, der für einen Augenblick die Maske abwirft, und der Kummersbacher fragte kein Wort mehr. Er hatte auch keinen Trost bei der Hand. Kurz und herzlich sagte er: „Wir beide haben heute nicht das letztemal zusammen geredet! Nicht wahr, das Gefühl haben Sie auch?“ [Illustration] [Illustration] 20. Zeit und Arbeit trabten weiter, obwohl Walter Wullenweber in den kommenden Tagen unter der starken Empfindung litt, daß sein Leben still stehe! Niemals war in dem Weißgerberschen Bureau so heftig zu tun gewesen, wie in diesen vergangenen Oktoberwochen. Dazu kam, daß der Justizrat weiter an einer zunehmenden Körperschwäche litt, bei welcher der Arzt strengste Schonung forderte, und Walter Wullenweber nahm sich, um die Arbeit zu schaffen, jetzt dicke Stöße von Akten mit nach Hause. Wenn er endlich gegen Mitternacht zur Ruhe ging, den Kopf noch voll schwirrender Berufsgedanken, war er todmüde, verfiel auch schnell in einen tiefen Schlaf, um plötzlich mit dem Gedanken emporzuschrecken: „... nun habe ich gründlich verschlafen.“ Und doch war es kaum später als zwei Uhr morgens. Aber sein Bedürfnis nach Ruhe war gänzlich geschwunden. Er brauchte alle Kraft, um nicht aufzuspringen und von neuem zu arbeiten. Der dauernde Kampf, sich von den schweren, persönlichen Gedanken freizuhalten, drohte ihn aufzureiben... Ihre klaren, sprechenden Augen -- die ganze Schönheit der jungen stolzen Gestalt -- vor allem ihre weiche Stimme, deren Klang ihm verheißungsvoll zärtlich erschienen war. Kurz! Er kam nicht von ihr frei. Lange begriff er nicht, wie das möglich sein konnte. Er wollte der immer stärker werdenden Ahnung nicht Gehör schenken. Aber sie wurde ihm zur Gewißheit. „Der Grund ihrer Ablehnung ist ein anderer! Sie liebt dich, wie du sie liebst...“ Schließlich war er sicher, daß sie sich ihm +um eines Geheimnisses halber+ versagte! Die Saat des eigenen Mißtrauens, gestreut durch den Bericht der alten, ahnungslosen Pauline von dem stattlichen Päckchen brauner Scheine in der Handtasche -- die einwandfreie Feststellung ihrer eigenen Vermögenslosigkeit -- dazu das Lockmittel ihrer bezaubernden Schönheit, das augenscheinlich sogar die alten harten Vertreter ihrer Familie auf ihre Seite gebracht, wuchs, seit dem das Stiftsfräulein Hermine den Stab über sie brach. Er wollte nicht daran glauben. Seine Liebe zu ihr war stärker als alles. Und doch, täglich zertrümmerte er seinen Glauben an ihre Reinheit. Die alte Pauline hatte ihren Namen nicht mehr erwähnt, seitdem er es ihr verboten. Das war damals nach Eva’s Brief gewesen, als er noch geglaubt hatte, daß sie nun für ihn abgetan sei. Jetzt war er oft auf dem Wege zur Küche, um ihr zu gestehen, daß er ihr Schweigen nicht länger ertragen könne. Hinein ging er niemals. Er blieb vor der geschlossenen Tür und schüttelte den Kopf über seine Schwachheit. Als er eines Morgens gegen neun Uhr an dem Schreibtisch seiner Arbeitsstätte schaffte, brannte noch die elektrische Lampe. Um diese Stunde durfte, ohne Vereinbarung, kein Klient vorsprechen. Heute meldete der kleine musikalische Schreiber, dem dies Amt bis zur Tischzeit oblag, eine Dame, die ihn ungesäumt in dringendster Angelegenheit zu sprechen wünsche. Mit einem Schlage durchfuhr ihn die Hoffnung, daß es Eva von Ostried sein könne. Er überlegte nichts, sondern starrte der sich öffnenden Tür entgegen. -- Es war aber das Stiftsfräulein Hermine, die grau wie der herbe Tag, vor ihm stand. Er wollte ihr kurz und unfreundlich eröffnen, daß sie sich bis zur angezeigten Sprechstunde zu gedulden habe... aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Ungehindert ließ er sie sprechen. „Ich möchte Sie um meine Unterschriftsbeglaubigung bitten, Herr Rechtsanwalt.“ Dabei hatte sie schon mehrere Schriftstücke vor ihn ausgebreitet und wies mit der harten, knöchernen Hand darauf hin. „Es ist nämlich eine außerordentlich dringende Sache. Ich habe mein Geld mit sechs Prozent anlegen können, während ich bisher dumm genug war, es für nur vier einem kleinen Gutsbesitzer zu überlassen.“ Aus ihren Augen leuchtete die Habgier. Er merkte es deutlich, aber es stieß ihn, den sonst Feinfühligen, nicht ab. Sein persönliches Empfinden regte sich nicht. Die Beglaubigung war schnell getan. Trotzdem blieb das Stiftsfräulein noch. Sie hatte denselben Stuhl inne, wie damals Eva von Ostried. Daran mußte Walter Wullenweber plötzlich denken. Die zusammengefalteten Schriftstücke lagen immer noch in seiner Hand, ohne daß die Eigentümerin Miene machte, sie an sich zu nehmen. „Ich bitte sehr, das gehört Ihnen.“ Sie nickte. Aber sie nahm sie ihm trotzdem nicht ab. Um seinem Blicke einen Ruhepunkt zu geben, senkte er ihn darauf nieder und las mechanisch den Namen eines waghalsigen Unternehmers, der seit Jahren ungeheure Werte an Grund und Boden an sich brachte. Sein Name war ihm vielfach begegnet. Ohne, daß ihm bisher die Gerichte sein Handwerk zu legen vermochten, hatte doch jeder, der sich mit seinen Angelegenheiten beschäftigen mußte, das deutlichste Gefühl, daß dies Werk vieler Millionen eines Tages zusammenbrechen und unzählige Vertrauensselige unter sich begraben und zermalmen werde. Die Verantwortung des Beraters von Rechtswegen regte sich in ihm. Auch dieser Unangenehmen gegenüber! „Sie haben das Geld doch noch nicht hingegeben?“ „Doch,“ nickte sie stolz. „Die Leute drängen ihm ja ihre Mittel förmlich auf und er suchte nur eine bestimmte Summe.“ Walter Wullenweber war auch diese Gepflogenheit bekannt. Um bei kleinen Sparern kein Mißtrauen zu erwecken, bezifferte er in seinen Gutachten das Geforderte in der letzten Zeit kaum jemals höher als mit hunderttausend Mark. „Es machte grade unser gesamtes Vermögen aus,“ fügte sie noch hinzu. „Und Sie haben sich zuvor bei niemand einen Rat geholt? Keinerlei Auskunft über ihn eingezogen?“ „Das war unnötig. Jede der zweiundzwanzig Damen unseres Stiftes war bereit, ihm das ihre, bis auf den letzten Pfennig, ebenfalls anzuvertrauen. Ich war nur schneller wie sie und darum glücklicher.“ So widerwärtig sie ihm auch heute war, eine letzte Frage mußte er dennoch an sie richten. „Wäre es möglich, daß Sie Ihr Geld, vielleicht mit einem kleinen Verlust -- noch zurückziehen könnten? Mir ist bekannt, daß solche Leute, wenn sie dabei etwas verdienen können, sich ausnahmsweise dazu bereit erklären.“ „Glücklicherweise ist das ausgeschlossen,“ kicherte sie. „Das Terrain ist bereits damit erworben. Ich werde außer den sechs Prozent Zinsen noch zwei weitere Prozent nach der Bebauung vom Reingewinn abbekommen. Denken Sie -- also das Doppelte der bisherigen Einkünfte...“ Er sagte nichts weiter dagegen. Wozu auch? Zu ändern gab es nichts mehr und sie würde es noch früh genug erfahren. Sie deutete sein Verstummen nach ihrer eigenen Veranlagung. „Die andern Stiftsdamen würden mich steinigen, wenn sie wüßten, daß mir dies rechtzeitig gelungen ist.“ Sie sah ihn lauernd an. Der abweisende Ausdruck in seinen Zügen bestärkte sie in der Annahme, daß auch er ihr dies glänzende Geschäft mißgönne. Darüber freute sie sich, wollte grade eine hämische Bemerkung machen, unterdrückte sie aber rechtzeitig, weil sie an das andere dachte, um dessentwillen sie in der Hauptsache zu ihm gekommen war. „Ich habe noch eine Bitte an Sie, Herr Rechtsanwalt.“ „Dafür bin ich zur Sprechstunde von 12 bis 2 Uhr nachmittags zur Verfügung,“ meinte er abweisend. „Dies hier geschah nur ganz ausnahmsweise! Der ungeschulte Schreiber soll keine unangemeldeten Besucher vorlassen.“ „Wenn Sie mich jetzt noch einen Augenblick anhören, wird es nicht Ihr Schade sein,“ tuschelte sie vertraulich. „Ich bitte höflichst, einstweilen zu gehen,“ entschied er kurz, von ihrer Vertraulichkeit abgestoßen. „Es handelt sich nämlich um Eva von Ostried,“ fuhr sie fort, als habe sie seine Worte nicht vernommen. Das entwaffnete ihn! „Sie waren ja Zeuge meiner Ansichten über sie, Herr Rechtsanwalt. Natürlich habe ich sofort versucht, die nötigen Beweise, von deren Vorhandensein ich mich nach wie vor überzeugt halte, zu erbringen. Es ist mir nicht gelungen. Ich habe keine Berührungspunkte zu den Kreisen, in denen sie lebt. Wie soll ich also das bestimmt vorhandene Material zusammentragen? Sie sind ein Mann und haben als solcher überall Zutritt. Sie sind außerdem noch Jurist und wissen genau, worauf es hier ankommt. Tun Sie mir den Gefallen und bemühen Sie sich in dieser Sache an meiner Statt. An dem Tage, an dem Sie mir Vollgültiges bringen, erhalten Sie von mir dreihundert Mark. Das gesetzliche Honorar, das Sie als Anwalt für Ihre Bemühungen fordern können, bleibt davon unberührt.“ „Wenn Sie nicht wollen, daß ich ungesäumt dem Generalleutnant von Ihrem Verlangen Bericht erstatte, entfernen Sie sich auf der Stelle.“ Sie ging mit wutverzerrtem Gesicht. „Gestehen Sie es nur, Sie sind auch einer von denen, der in ihren Netzen zappelt,“ zischelte sie, schon auf der Schwelle stehend. -- Er war wieder allein und riß die Fenster weit auf, als schwebe in diesem Raum ein Pestgeruch wahnwitziger Verdächtigung, der ihm Uebelkeit erregte. Dann hieb es wie mit Hammerschlägen auf ihn ein. „Er war auch einer...“ Stimmte das nicht? Kam er von ihr los? Er fühlte, daß er an dieser Sehnsucht und Ungewißheit langsam zu Grunde gehen müsse! An diesem Abend kam er erst gegen neun Uhr nach Hause. Die alte Pauline war seinetwegen in Sorge. Sie wußte sich sein schon seit Wochen verändertes Wesen nicht anders zu deuten, als daß er sich krank fühle. Während er sonst beim Auftragen der Speisen gern einen Scherz machte, saß er jetzt gedankenlos am Tisch und genoß hastig und unfreudig, was sie ihm vorsetzte. Heute wartete der sorgfältig zubereitete Imbiß längst auf ihn. „Es gibt ein Gläschen Glühwein, Herr Rechtsanwalt,“ sagte sie verheißungsvoll, „haben Sie das nicht gerochen? Die Luft geht scharf und Sie sehen immer aus, als ob Sie nie richtig warm werden könnten.“ Er nickte ihr zu, während er die Aktentasche abwarf. „Sie hätten Mediziner werden sollen, gute Pauline. Ihre Diagnose stimmt aufs Haar.“ „Sie haben also wirklich gefroren und sagen mir keine Silbe davon,“ meinte sie vorwurfsvoll. „Wie gern hätte ich ein paar Kohlen in den Ofen gelegt.“ „Der Glühwein wird auch helfen. Bringen Sie ihn nur möglichst schnell.“ Sie blieb nachher noch wie in früheren guten Tagen ein wenig am Tisch stehen und sah ihm zu, in der Hoffnung, daß er sich aussprechen werde. Hastig goß er den dampfenden Trank herunter. „Kann ich noch eins bekommen, Pauline?“ „Aber gewiß! Nur wär’s vielleicht besser, ich brächt’ es Ihnen kurz vor dem Schlafengehen. Das nimmt man, soll’s helfen, in ganz kleinen Schlückchen -- macht die Augen zu und schläft geschwind ein, wenn’s sonst auch noch so lange dauern muß.“ „Ich werde ausnahmsweise gehorsam sein. Also -- nachher noch eins! Vorher aber und zwar jetzt gleich, bitte, das andere...“ Sie hantierte kopfschüttelnd in der Küche, um seinen Wunsch zu erfüllen. Er würde sich doch nichts angewöhnen? Neulich war er einmal seltsam wankend nach Hause gekommen. Auch dies zweite leerte er sehr schnell. „Ich muß übrigens nachher noch einmal fort, Pauline.“ „Bei diesem Wetter? Hören Sie doch, wie der Regen an die Scheiben klatscht.“ „Es hilft nichts. Ich muß eben. Suchen Sie, bitte, den alten Lodenmantel heraus. Die elektrischen Bahnen werden noch überfüllter wie sonst schon sein.“ Sie schlug jammernd die Hände zusammen. „Jetzt womöglich auch noch eine Stunde oder länger zu Fuß laufen. Lieber Gott, und ich hab’s so gut und trocken und warm. Kann ich das nicht für Sie abmachen, Herr Rechtsanwalt? Lachen Sie mich nicht aus. Ich weiß wohl, daß ich viel zu dumm für Ihre Sachen bin. Aber vielleicht ist’s nur ein Auftrag oder so was. Es war doch schon mal so. Da durfte ich auch an Ihrer Stelle gehen.“ Er legte gerührt seine Hand auf die ihre. „Vielleicht machten Sie es diesmal sogar besser, als ich, Pauline. Aber -- nein -- es darf nicht sein. Ich werde nicht früher ruhig.“ Das war wieder geheimnisvoll und unverständlich, wie jetzt so vieles. Seufzend brachte sie den Mantel, der von den Kletterpartien aus der Studentenzeit herstammte und hing ihn sorglich um seine Schultern. „Wann werden Sie wohl ungefähr zurück sein, Herr Rechtsanwalt?“ „Sie beabsichtigen doch nicht etwa aufzubleiben...“ -- -- -- -- Das Vorwärtskämpfen durch den dunklen, nassen Abend tat ihm wohl. Der Regen, der jetzt fein und emsig herunterrieselte, netzte seine pochenden Schläfen und beruhigte die wirren Gedanken. Trotzdem fiel es ihm nicht ein, umzukehren -- oder das, was er vor hatte, als etwas Sinnloses zu empfinden. Es gestaltete sich im Gegenteil immer klarer in ihm, daß er diesen Weg machen müsse! Einmal versuchte er einen Platz auf der Plattform des elektrischen Wagens zu bekommen. Es gelang ihm wirklich. Aber nun stand er -- eingekeilt von der Masse mürrischer, hastiger Menschen und atmete den Dunst durchnäßter Mäntel und Kleider ein. Das dünkte ihn unerträglich. In den kleinen verlaufenen Pfützen der Straße spiegelten sich die trüben brennenden Laternen, sodaß es wirkte, als winke eine Schar abgestürzter Lichtlein, die sich vor dem Ertrinken wehrten, zu ihm herauf. Eine halbe Stunde ertrug er es. Dann sprang er ab und ging das letzte Stück durch Wind, Regen und Kühle. Ohne zu zögern setzte er seinen Weg fort. Als er die neue Kantstraße hinunterschritt und zu beiden Seiten des kunstvollen Brückengeländers den Spiegel des Lietzensees mit der neuen Fülle ertrinkender Lichter sah, beschleunigte er seine Schritte. Ungezählte mal war er denselben Weg in Gedanken gewandert, hatte ihn sich nach der Karte so genau eingeprägt, daß ihm die Gegend vertraut erschien. Nun bog er rechts ab und hielt sich an dem Drahtzaun entlang, der die alten schönen Bäume des Parkes am Königsweg begrenzte. Das Haus, in dem Eva von Ostried wohnte, war schnell gefunden. Die alte Pauline hatte es ihm, als sie noch darüber berichten durfte, ausführlich und häufig genug beschrieben. Gänzlich in das Dunkel gedrückt, stand er und starrte nach den Fenstern hinüber, die er als die ihren zu erkennen glaubte. Hinter der Glastür, die auf einen kleinen Balkon hinausführte, sah er den Schein einer rotumhangenen Lampe --, er unterschied die Köpfe zweier Menschen dicht nebeneinander. Der mit dem langgehaltenen fast bis zu den Schultern herunterfallenden Haar war derjenige eines Mannes. Diese Entdeckung durchzuckte ihn wie ein Stich. Er wollte auch sein Gesicht sehen. Dies gelang ihm nicht. Es mußte, in tiefer Versunkenheit, über etwas geneigt sein, das es völlig verbarg. Auch von der weiblichen Gestalt vermochte er lediglich ein Stückchen des freigetragenen Halses und eine Hand, die sich zuweilen nach einem Gegenstand ausstreckte, mit Sicherheit festzustellen. Es genügte ihm. Das Blut brauste vor seinen Ohren. Sein ohnmächtiger Zorn löste sich langsam in eifersüchtige Qualen auf. Nun stand er hier und sah zu, wie sich dort oben unter dem Schein des verführerischen Purpurs, der das junge Blut doppelt erhitzen mochte, eines der vielen Schäferstündchen abspielte. Er versuchte sich einzureden, daß diese Gewißheit das beste Heilmittel für seine Liebe sei, sah nach dem Schienenstrange der Elektrischen hin, der durch Nebel und Nässe in der Ferne aufblitzte, und beschloß, heimwärts zu eilen und traumlos auszuschlafen. Denn er war sehr, sehr müde. Aber er machte keinen Versuch, sich zu entfernen. Er starrte weiter auf das verschwimmende Bild der beiden dicht zusammengeneigten Köpfe. Die breite Promenade war menschenleer. Nur einmal klappte die niedere Tür der gegenüberliegenden Polizeiwache und ließ zwei stämmige Schutzleute heraus. Ein paarmal drehten sie sich nach ihm herum, dann gingen sie beruhigt weiter. Er fühlte nichts mehr wie das Bild, dessen Gestalten er klar erkennen mußte, ehe er von hier schied. Seine Augen brannten. Seine Zunge lag hart und trocken im Munde. Vielleicht war es wirklich schon Mitternacht, denn irgendwo schlug eine Uhr zwölfmal. Seine Taschenuhr war plötzlich stehen geblieben. Er entsann sich dumpf eines Märchens, nach dem dies stets geschah, wenn eines Menschen Liebstes die Augen für immer schloß. Erst später fiel ihm ein, daß es ganz natürlich zuging, weil er vergessen hatte, sie aufzuziehen. Er mußte nun heim! Da schob sich ächzend die schwere Haustür, von innen geöffnet, auf, und eine Männergestalt trat auf den Bürgersteig hinaus. In dem gleichen Augenblick erlosch oben der rote Lampenschein. Mit ein paar Sätzen war Walter Wullenweber bei dem Andern -- -- ging neben ihm dahin, starrte ihn an wie ein Irrer.... Das war doch -- --. Das Gefühl der Atemlosigkeit wich der Befreiung, die zu schön erschien, um bedingungslos an sie zu glauben. „Herr Rechtsanwalt Wullenweber, nicht wahr?“ fragte eine Stimme, die selbst in dem Augenblick gerechtfertigten Erstaunens noch sanft blieb. Der schweigsame Dichter von der Familientafel der Ostrieds sah erstaunt zu dem Anwalt auf. Walter Wullenweber suchte nach einer glaubhaft klingenden Erklärung. „Ich hatte in der Gegend zu tun und hoffte nun auf eine zufällig des Weges daherkommende Droschke.“ Die Notlüge war zögernd und ungeschickt hervorgebracht. Aber Edgar von Ostried-Javelingen kannte kein Mißtrauen. Langsam tastete er sich, nach den traumhaften Stunden, in die Wirklichkeit zurück und lachte leise auf: „Dann ist es gut, daß mich der Zufall Ihnen in den Weg geführt hat. Das gibt es hier kaum. Wir erhaschen aber bestimmt noch die letzte Elektrische, wenn wir eilen. Nicht wahr, wir bleiben jetzt zusammen, um später, wenn die Bahn uns heraussetzt, ein Stückchen durch die Nacht zu gehen. Ist Ihnen das recht?“ Walter Wullenweber bejahte fast ungestüm. Ein wenig später saßen sie nebeneinander wie zwei alte Freunde. Walter Wullenweber wartete, daß ihr Name fallen würde. „Ich war in Fräulein von Ostrieds kleinem, entzückenden Heim,“ begann der Dichter endlich. „Ich weiß nicht, ob Sie ihre Adresse kennen.“ „Doch,“ meinte Walter Wullenweber mit mühsamer Beherrschung, „als der Anwalt der Ostrieds...“ „Richtig. Wir hatten es an jenem großen Familientage ausgemacht, daß ich sie zuweilen an Sonn- oder Feiertagen besuchen dürfe.“ „Aber heute ist doch kein Feiertag,“ warf Walter Wullenweber mechanisch ein. „Nicht im gewöhnlichen Sinne! Für mich bestand er, obwohl sie selbst leider nicht zu Hause war.“ „Fräulein von Ostried ist... abwesend?“ „Seit vier Tagen weilt sie in München, um dort in zwei Konzerten zu singen.“ Walter Wullenweber seufzte tief auf. Wie hatte er das nur vergessen können?! Durch seine Verhandlungen mit Herrn Alois Sendelhuber kannte er die Daten genau. „Hier habe ich übrigens eine glänzende Rezension aus den Münchener Neuesten Nachrichten über das erste Konzert,“ plauderte der Dichter und suchte einen Ausschnitt aus der Brieftasche. „Leider ist es zum Lesen zu dunkel. Der Inhalt bringt eine schrankenlose Anerkennung ihres herrlichen Stimmaterials bei vornehmster und edelster Vortragsweise. Sie wird sicher dies alles ebenso interessieren wie mich, denn, nicht wahr, auch Sie glauben bedingungslos an ihre Reinheit?“ Ueber Walter Wullenwebers Gesicht lief ein heftiges Zucken. Anfangs wollte er die Frage überhören. Dann vermochte er es doch nicht. Vielleicht blieb dies die einzige Gelegenheit, um sich aus dem offenherzigen Bericht eines großen, guten Kindes, ein klares Bild zu formen. „Tun Sie es denn?“ fragte er dagegen. Ein erstaunter Blick traf ihn. „Ich? Allerdings! Ich verehre sie auch um ihrer selbstlosen Güte und Entsagungsfreudigkeit willen, von allen Menschen am meisten. Und ihre Künstlerschaft ist begnadet. Dazu bedurfte ich keine Kritik. Das habe ich sofort in der ersten Viertelstunde gefühlt, die ich ihrem Gesang lauschen durfte. Sie machen ja plötzlich so ein merkwürdiges Gesicht, Herr Rechtsanwalt? Trauen Sie mir keine Urteilskraft zu?“ „Sicher halten Sie sich von Fräulein von Ostrieds Vortrefflichkeiten voll überzeugt!“ „Soll das vielleicht heißen, daß Sie an ihnen zweifeln?“ „Zweifeln? Ich glaube nicht, daß der Ausdruck paßt.“ „Auch jetzt bleiben Sie noch Jurist. Wie leid mir das tut. Als ich Sie neulich längere Zeit beobachtet hatte, war ich sicher, daß Sie ein starkes Gefühl für die Angegriffene hatten, obwohl Sie dies nicht zum Ausdruck bringen konnten.“ „Nehmen wir an, daß Sie sich nicht darin getäuscht haben.“ „Dann dürfen Sie nicht an ihr zweifeln!“ „Alles Zweifeln entspringt dem Verstand! Dagegen kann das Gefühl nicht an.“ „Wie sonderbar und hart! -- Sie waren wohl nie in ihrem Heim? Hatten keine Gelegenheit sie zu studieren, wie es mir vergönnt war.“ „Nein. Wie wäre das auch möglich gewesen. Sie suchte mich als Anwalt auf, wir lernten uns dabei kennen -- verhandelten --“ „Dann sind Sie entschuldbar, obgleich ich sofort einen nachhaltigen Eindruck von ihr empfing. Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie ist sehr schön. Vielleicht überhaupt die Allerschönste. Es liegt nahe, daß ich mich blind in sie verliebt haben könnte. Mein schwacher Körper -- meine armselige Stellung als Mensch und leider vor der großen Volksmenge auch noch als Dichter wären kein Hindernis. Ich bin aber gar nicht verliebt in sie. Ich liebe sie! Auch das nicht im üblichen Sinne. Wie man das Gute und Schöne lieben und anbeten muß, so fühle ich für sie. Es kommt mir gar nicht in den Sinn, daß dies etwa in den Augen solcher, denen nichts heilig ist, lächerlich erscheinen könnte.“ „Schwärmer,“ sagte Walter Wullenweber leise. „Was erscheint Ihnen denn so göttlich an ihr?“ „Vor einer Stunde war ich noch fest überzeugt, daß niemals ein Wort davon über meine Lippen gehen würde. Jetzt fühle ich, daß ich, um ihr einen Dienst zu erweisen, daran rühren muß. Sie sollen ein klares, unverzeichnetes Bild von ihr erhalten. -- Sie hat ein junges, sicher dem Tode verfallenes Mädchen bei sich. Bei der habe ich heute gesessen und ihr aus meinen neusten Schöpfungen vorgelesen. Sie ist sehr einsam und muß sehr unglücklich sein und Eva von Ostried hat mich gebeten, während ihres Fernseins nach ihr zu sehen. Völlig hat sie sich nicht zu mir ausgesprochen. Es gibt aber Minuten, in denen eine schreckliche Vergangenheit aus ihren entsetzten Augen redet. -- Was ich über Eva von Ostried an Tatsächlichen weiß, hörte ich von ihr. Eines Tages hat sie das ihr bis dahin fremde Mädchen aufgenommen, die Schwerkranke mit allen Opfern gepflegt und wie eine Schwester gehalten. Der Grund ist mir klar. Sie weiß bestimmt, daß deren Wochen oder Monate gezählt sind -- daß niemand das sieche, heimatlose Geschöpfchen aufnehmen würde. Darum machte sie ihr mit dem Sonnenschein ihrer Güte die letzte Stunde leicht...“ „Dies todkranke, verlassene Mädchen ist eine Gefallene, nicht wahr?“ Der Dichter zuckte zusammen. Ueber sein Gesicht flammte das helle Rot der Scham oder Empörung. „Ich weiß nicht, ob sie jemals gestrauchelt oder gar gefallen ist. Und will es auch nicht wissen. Haben Sie allzeit aufrecht dagestanden? Ja? Ich nicht! Ich habe Zeiten hinter mir, in denen ich zu dem Schlechtesten fähig gewesen wäre. Warum ich es nicht ausführte? Ich hatte eine Mutter, die ein Engel war und einen Vater, der ein Held im Ertragen und Entsagen, auch in den opfervollsten Zeiten, blieb. Beide Eltern starben, als ich zwanzig Jahre zählte. Viel zu früh natürlich. Und dennoch spät genug, um mich stark und reif gemacht zu haben. Bei jeder Anfechtung waren sie mein Schutz und Schirm. Wissen Sie denn, ob das kleine, arme Gretchen Müller jemals einen Schutzgeist besitzen durfte? Nun ist auch sie rein und still und sehnsüchtig nach allem Guten. Was ist denn die Hauptsache? Was jemand getan oder versehen hat oder wie er es zuletzt gutmacht? Ich glaube, dies letztere. Ich sage Ihnen, das kranke Mädchen hat sich entsühnt. Und weil Eva von Ostried das genau fühlt, wird ihre Güte und Liebe immer größer!“ „So ist Fräulein von Ostried von ihrem jetzigen Leben also voll befriedigt?“ „Das glaube ich nicht. Sie ist ein verschlossener, starker Mensch, der alles allein trägt. Meinen Sie vielleicht, daß sie sich etwa zu Fräulein Gretchen ausspräche, denn ich darf das für mich noch nicht in Anspruch nehmen. Unsere Bekanntschaft ist zu neu. Sie hat mir gegenüber den Ton einer besorgten älteren Schwester, der neben all meiner Anbetung den unbedingten Respekt keinen Augenblick vergessen macht. Aber die Hausgenossin ahnt ein schweres Geheimnis in diesem Leben und leidet schwer darunter, weil sie nicht zu helfen vermag.“ „Sie ahnt auch nicht, was es sein könnte?“ „Nein! Eva von Ostried vermeidet über sich zu sprechen.“ Noch einmal äußerte sich der alte Argwohn in Walter Wullenweber: „Sie wird ihre guten Gründe dafür haben.“ „Wahrscheinlich. Gut sind sie sicher. Ob richtig? Das wäre die Frage. Ich jedenfalls verstehe, daß sie die Todkranke, die von viel Schmerzen gepeinigt wird, nicht noch mehr belasten will.“ „Wie Sie für alles, was sie angeht, irgend eine Entschuldigung oder Erklärung bereit halten.“ „Könnte ich sie sonst wirklich anbeten? Sie lächeln und denken, ein Dichter kann das sehr wohl. O nein, Herr Rechtsanwalt. Wenn ich auch arm und abhängig bleiben muß, meine Begriffe von Frauenehre und Menschenwürde stehen fest. Die lasse ich mir von niemand antasten, geschweige denn rauben. Wenn sich heute ein Dutzend weiser und berühmter Denker die Mühe machen wollten, mich mit anscheinend logisch aufgebauten Beweisen andern Sinnes zu machen, es hilfe ihnen nichts. Wenn meine Seele klingt, wie sie das in Eva von Ostrieds Gegenwart tut, dann irrt mein Gefühl nicht.“ „Sie sind ein beneidenswert glücklicher Mensch.“ Der elektrische Wagen lief nicht mehr. Die wenigen Fahrgäste waren ausgestiegen. Nun kletterten auch die beiden letzten in ihre Gedanken Versunkenen heraus. „Bleiben wir noch ein wenig zusammen?“ fragte der Dichter wieder sehr schüchtern. „Es kommt darauf an, wo Sie wohnen.“ Er nannte eine Straße im hohen Osten. „Dann haben wir noch eine Viertelstunde den gleichen Weg.“ Schweigsam gingen sie durch die Nacht. Der Regen hatte aufgehört. Sterne waren da und ein schmaler, blasser Mond. „Herr Rechtsanwalt,“ sagte der Dichter plötzlich leise. Walter Wullenweber fuhr zusammen. Er hatte die Gegenwart des andern vergessen. „Verzeihen Sie mir meine Schweigsamkeit. Mir ging so manches durch den Kopf.“ „Das fühlte ich und würde Sie auch nicht gestört haben, wenn die Viertelstunde nicht bald herum wäre. Eine Bitte hätte ich: Werden Sie Eva von Ostried ein wahrer Freund und Berater, wenn Sie es können. Ja? Sie ist sehr einsam und ich bin doch nicht die Persönlichkeit zum schützen. Wollen Sie?“ Walter Wullenweber hielt die feingliedrige Hand des Dichters und preßte sie voller Kraft. „Ich will es versuchen!“ Nun ging er allein weiter. Die Sterne waren schon wieder verschwunden und der schmale Mond blinkte nur noch wie ein gelber Faden, der zwei dicke, graue, unruhige Wolken zusammen zu nähen versuchte. Ihm war heiß, jung und sehnsüchtig zu Mute! [Illustration] [Illustration] 21. Der geräumige, vornehm ausgestattete Blüthnersaal schien bereits eine halbe Stunde vor Beginn des heutigen Konzerts gefüllt. Aber mit dem Glockenschlage strömte nochmals ein neuer Menschenstrom herein, staute sich einen Augenblick und verteilte sich dann nach allen Seiten hin. Wie das Rauschen einer Unruhe lief’s durch den Saal, dann schlossen sich die Türen und es wurde ganz still. Das Künstlertrio begann mit dem tatrischen Tondrama von Tschaikowski. Vielleicht beherrschte der wundervoll reine Klang des Cello ein wenig zu sehr die Melodie, die von der Geige hätte geführt werden müssen. Aber das war nur für die ersten Minuten der Fall. Dann bot das Zusammenspiel einen künstlerischen Genuß von höchster Vollendung und die gewaltige Dramatik des ersten Satzes löste eine beifallslose Ergriffenheit aus. Nach der ersten Pause kam von einer der Türen Horst Waldemar von Ostried und ging suchend -- die Platzkarte in der Hand -- die vollbesetzten Reihen auf und ab. Er wußte genau, daß er irgendwo unter einem Pfeiler einen Eckplatz hatte. Als er endlich die kleine Dame im Schwabinger Künstlerkleidchen und die dazu gehörenden braunen Haarschnecken vertrieben hatte, war es gerade der Augenblick, daß Evas stolze, schlanke Erscheinung in dem sehr schlicht gehaltenen Gewand aus weißer, fließender Seide auf dem Podium erschien. „Hast du jemals etwas so Märchenhaftes gesehen?“ flüsterte hinter seinem Rücken ein begeistertes junges Wesen ihrem älteren, würdigen Nachbar, der offenbar ihr Vater war, zu. Horst Waldemar lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit ihrer Antwort. „Ausnahmsweise spielst du dich als echter Kindskopf auf,“ tadelte die tiefe Stimme. „Befreie dich gefälligst von ihren äußeren Reizen, sonst kannst du unmöglich das genügende Verständnis für sie als Sängerin aufbringen. Und du weißt, daß sie das verdient.“ „Ich empfinde dich als einen merkwürdig gnädigen Kritiker, so bald es sich um sie handelt, Papa.“ „Merkst du nicht, daß sie uns alle durch ihr Talent dazu zwingt, Kind? Dies alles ist nur der Anfang. Eines Tages wird man in der musikalischen Welt nur von ihr sprechen. Dann wird sie ungeheure Honorare bestimmen und erhalten. Man wird sich einfach zerreißen, um sie festzumachen. Das habe ich bereits vor einem Jahre gewußt. Und niemals begriffen, daß sie sich mit dem bescheidenen Lose einer Konzertsängerin begnügt.“ „Sie wird sehr bald einen Prinzen oder einen Doppelmillionär heiraten, Papa, und dann darf sie nur für den Einen singen.“ Er lachte leise. „Beide mögen sich finden lassen! Ob sie aber mag?“ „Ich glaube, ich könnte nicht widerstehen.“ „Diesen Glauben teile ich. Du bist leider im Alltag das nüchternste Geschöpf unter der Sonne, wenn es irgendwie Stellung, Vorteil oder Glanz zu erkaufen gibt.“ Es klang bitter. „Ich muß doch, seitdem Mama tot ist, sparen. Für uns Beide,“ sagte sie, als schäme sie sich ein wenig für ihren alten Vater, der das wirtschaftliche Einmaleins so schlecht beherrschte. Er seufzte verzweifelt auf. „Ach, diese ewigen Geldnöte, Trude.“ Da jauchzte der erste Ton durch die andächtige Stille und löschte die Nöte des Lebens aus. Schuberts tiefergreifende ewig schöne Weihelieder erbrausten. Das Lied vom „Abendrot“ umspann die Hörer mit seinem weichen, sehnsüchtigen Ewigkeitszauber. Den fünf Handschriftliedern war ihre Stimme und die Begleitung voll angepaßt und jubelnde Stürme echter Begeisterung lösten sie aus. Eva von Ostried stand, als ginge sie die Raserei der Menge nichts an, und trat schließlich, mit einer Handbewegung auf den Komponisten deutend, bescheiden zurück. Er mußte an ihre Seite kommen. Die beiden hochgewachsenen Menschen reichten sich einen Augenblick fest die Hände. In diesem Augenblick erhob sich Horst Waldemar von Ostried so leise, wie es seine mächtige Figur zuließ und tastete sich nach der Tür. Ihre Mitwirkung war nach der gedruckten musikalischen Beitragsfolge hiermit zu Ende. Noch einmal sah er zu ihr hinüber. Sie hatte die Hände wieder frei und leicht zusammengelegt. Sein Blick war gefesselt. Gewaltsam riß er ihn los. Noch ehe ihm das voll gelungen, hatte sie ihn bemerkt. Eine Sekunde begegneten sich ihre Blicke. In der nächsten wandte sie den Kopf zur Seite. Ihm flog etwas durch den Sinn. Zusammenhanglos, wie er meinte und töricht genug. Die Worte, die vorher der alte Kritiker über den Prinzen gesagt hatte -- „Ob sie aber mag?“ Dann reckte er sich noch höher auf und verließ in dem Augenblick den Saal, als die unaufhörlich Klatschenden sich glücklich eine Zugabe erbettelt hatten. Es war das kleine Lied des unbekannten Komponisten, daß sie damals in München gesungen: Ich hatt’ eine weiße Rose Auf meinem Blumenbrett... Eva hatte sich dem nicht endenden Beifall entzogen und war auf der Hintertreppe ins Freie gelangt, denn der Anblick des Einen, der sich plötzlich weit vorgebeugt und unverwandt zu ihr herab gestarrt, hatte ihr die Fassung und alle Freude an dem schönen, großen Erfolg geraubt. Nun sah sie nur ihn, fürchtete ihm irgendwo zu begegnen und stellte doch in dem nächsten Augenblick mit bitterer Angst fest, daß er zu stark und zu stolz sei, um nach dem Geschehenen auch nur einen solchen Versuch zu machen. Die herzliche Einladung des Trios zu einem gemütlichen Beisammensein nach dem Konzert hatte sie, unter irgend einem törichten Vorwand, abgelehnt. Wie eine Diebin schlich sie sich fort. Der Schwarm der Hörer hatte sich verlaufen. In der Beförderung der elektrischen Bahnen mußte vorübergehend eine Stockung eingetreten sein. Es war alles still und tot um sie her. Plötzlich stand er neben ihr und ging an ihrer Seite weiter. Walter Wullenweber hätte dies noch vor Stunden für unmöglich gehalten. Er wollte nichts, als sie wiedersehen, und danach alles überlegen! Nun zwang ihn etwas zu ihr. „Woher kennen Sie das kleine Lied?“ „Das Lied? Welches Lied?“ fragte sie. „Mein Lied.“ „Das von der weißen Rose? -- Es ist das Ihre?“ „Ja, ich habe es vertont. Der Text ist von meiner armen, kleinen Schwester.“ „Ich fand es vergessen in einer kleinen Konditorei und nahm es mit mir. Seitdem habe ich es oft gesungen.“ „Eva,“ sagte er dicht an ihrem Ohr und alles, was er an Liebe, Leid, Sehnsucht und Angst um sie getragen hatte, lag in diesem einen Worte. Es riß sie von ihm fort, denn die alte Schuld schlug mit harten Fäusten auf sie ein, aber sie hörte nichts als das eine leise, zärtliche Wort. Und seine Hand riß die ihre an sich: „Ich liebe dich -- weiter über alles.“ Da gab sie den Kampf auf. „Wo warst du so lange?“ fragte sie voll seliger Scheu. Nun nahm er auch ihre schlanke stolze Gestalt. Einen Augenblick ruhte sie an seinem Herzen. „Ich war immer bei dir, Eva.“ „Und ließest mich doch ganz allein.“ „Durfte ich denn kommen? Hast du deinen Brief vergessen, den schrecklichen kalten Brief?“ „Es war alles nicht wahr,“ stammelte sie. „Warum dann aber? Wozu diese unsägliche Qual für uns Beide?“ „Frage nichts! Ich weiß es nicht. Ich weiß nur das Eine.“ „Was ist das? Sprich es aus!“ „Daß ich dich ebenso liebe, wie du mich!“ Seine Arme umfaßten sie -- trugen sie beinahe, und mit geschlossenen Augen ließ sie es geschehen. „Du, du,“ sagte er nur, „nun hat alle Not eine Ende!“ Da schlug es wieder in ihr wundes Gewissen. „Ich muß noch mit dir sprechen. Morgen, ja?“ Das unheimliche Gespenst des dunklen Geheimnisses, unter dem er bis zur Grenze des Ertragenkönnens gelitten -- da war es wieder. Und dennoch nichts mehr von alledem. „Es ist doch Keiner da, der jemals ein Recht an dir gehabt hätte, Eva?“ Stolz und frei blickten ihre Augen in die seinen. „Niemand! Das schwöre ich dir!“ Nun war alles -- alles gut! Keine Frage sollte jemals an seinen Qualen rühren. Er würde ihr bedingungslos vertrauen. Er hob ihre Hände und preßte seine Lippen darauf. Der nächste Tag war ein Sonntag. Mit holdseliger Befangenheit, die ihn rührte und beglückte zugleich, hatte sie seinen Besuch in ihrem Heim abgewehrt. So war es festgelegt, daß sie sich um die Mittagszeit draußen in Wannsee treffen und alles nötige miteinander vereinbaren würden. Denn sie waren im Innern gleich entschlossen, daß sie schon diesen Winter als Mann und Frau durchleben mußten! Auf dem schmalen Sitzbrett eines Bootes saßen sie und sprachen von sich und ihrer Zukunft. „Ein glänzendes Los erwartet dich nicht, Liebste,“ meinte er. „Siehst du, mein festes Einkommen genügt eigentlich. Aber da ist noch mein Vater. Ich schrieb dir damals alles von ihm. Und dann meine kleine Schwester. Wenn ich sie doch eines Tages wiederfände.“ Fest schmiegte sie sich an ihn. „Mit mir, die ich leider mit ganz leeren Händen zu dir kommen muß, rechnest du also lediglich als Verbraucherin?“ Er sah sie erschrocken an. „Anders darf es nicht sein, Eva!“ „O doch! Verstehe mich nicht falsch. Ich werde an dir und deiner Liebe volles Genüge finden. Das weiß ich. Frei von allem Ehrgeiz will ich dir schaffen helfen, indem ich weitere Stunden gebe.“ „Nicht früher, bis es dringend notwendig geworden ist. Versprich mir das schon jetzt.“ „Gut,“ sagte sie nach einer Weile. -- An ihrem Zaudern merkte er, wie schwer ihr die Zusage wurde. „Ich glaube, das war von mir allzu egoistisch, Liebling. Aendern wir es darum ungesäumt ab. Wenn deine Sehnsucht dich früher dazu treiben sollte, dann sagst du es mir!“ Sie nickte. „Wie du mir überhaupt alles -- alles anvertrauen mußt. Nicht wahr? Aber das ist ja selbstverständlich!“ „Wenn ich dir nun doch eine Kleinigkeit verschweigen würde,“ fragte sie mit schmerzhaft zusammengezogenen Brauen. „Es käme darauf an, was es wäre. Halte mich nicht für kleinlich. Ich will dir immer grenzenlos vertrauen. Aber ein Geheimnis, daß schon bestanden hat, ehe du mein Weib wärst. Siehst du, das müßte ich kennen. Oder?“ Er stockte. „Warum sprichst du nicht zu Ende, Walter?“ „Es war nichts, Liebste,“ lenkte er ab. „Du willst kein Geheimnis dulden und schaffst in demselben Atemzug eins,“ klagte sie. Ihre Augen standen voller Tränen. Der Jammer über ihr Schicksal erpreßte sie. Er aber glaubte, sie verletzt zu haben, befreite sich von dem sich selbst gegebenen Versprechen und sagte rasch und klar: „Du hast einen Anspruch, den Satz zu Ende zu hören. Ich wollte sagen, wenn es das Geheimnis eines Geschehnisses wäre, von dem du wüßtest, daß es nichts in mir änderte -- das ich voll begreifen, ja vielleicht sogar nachmachen könnte, dann gestände ich dir ohne weiteres das Recht zum Verschweigen ein.“ „Also in keinem andern Fall?“ „Nein! Vielleicht könnte ich etwas, das ich nie begreifen lernte, dennoch verzeihen.“ „Du mußt mir noch mehr darüber sagen, Walter. Ich verstehe dich noch nicht völlig.“ „Und es ist doch so klar, Liebste! Ein hartes Geheimnis, lediglich durch einen Zufall enthüllt, würde für immer Glauben und Vertrauen in mir vernichten.“ „Auch die Liebe?“ fragte sie mit Aufbietung aller Kraft. „Meinst, daß die ohne Glauben und Vertrauen möglich ist?“ Einen Augenblick rang sie um Atem. Jetzt mußte sie es ihm sagen. Keine Minute durfte es länger nach diesem verschwiegen werden. Da legte er den Arm um sie und zog ihren Kopf an seine Brust. So ruhte sie aus, während der leichte Kahn fast stillstand, und dachte dumpf und verzweifelt und dennoch über alle Maßen selig: Noch einen Herzschlag lang, und dann -- -- Er küßte sie auf Mund und Augen. Ein leiser Wind begann sie ein wenig vorwärts zu treiben. Die Sonne sah ihr warm und strahlend ins Gesicht. Plötzlich ward sie fest entschlossen, ihr Glück nicht aufs Spiel zu setzen. Denn der Zufall? Er konnte ihr nichts anhaben. Niemand außer ihr wußte darum! „Wir törichten, dummen Menschen,“ flüsterte sie an seinem Herzen und lachte dabei. Wie von einem Alp befreit atmete er auf. Daß sie jetzt schweigen konnte und lachen war der beste Beweis, daß er sich alle Schatten nur eingebildet hatte! Sie wurde sprühend ausgelassen. „Daß hätte ich niemals für möglich gehalten,“ wunderte er sich beglückt. „Du wirst noch viel Seltsames an mir erleben.“ „Sicher aber lauter Schönes und Beseligendes.“ „Möglich! Als deine Frau findet auch das immer noch ausstehende Wunder, das eine Ahne verheißen hat, eine Erfüllung.“ „Worin könnte das wohl noch bestehen?“ „Daß einer Ostried, die gleich einer Nachtigall flötet -- verzeih’ mir diese Anmaßung, aber so steht es geschrieben -- eines Tages ein Märchenschloß vom Himmel herabfällt, worin wir Beide dann unsere allerreinste, allertiefste Liebe vor den neidischen Menschen verstecken können.“ „Das Schloß mag nahe genug sein. Aber, ich bin das Hindernis. Paß nur auf, du kennst meine Schattenseiten nicht.“ „Ich weiß nur, daß ich glücklich durch dich bin. Was wird nur die alte Pauline sagen, wenn sie alles erfährt.“ „Ich bilde mir ein, sie hat es vorausgewußt, Liebste.“ „Hat sie etwas derartiges verraten oder gar dir zugeredet.“ Es klang schelmisch und übermütig. „Gelobt hat sie dich nur immer, bis ich ihr das im vollen Ernst verbieten mußte.“ „Und darin ist sie gehorsam gewesen?“ „Aufs Wort.“ „Dann wirst du auch mich völlig beherrschen, Liebster.“ „Und du wirst dich zu deiner Kunst zurücksehnen?“ „Soll ich es dir wirklich wiederholen, du Unersättlicher? Mein Sehnen bist du! Ohne dich wäre mir jenes sagenhafte Märchenschloß nie und nimmer beschert worden.“ „So süß es in meinen Ohren klingt, Liebling. Der Jurist weiß es anders.“ Und er erzählte ihr von jener durch Horst Waldemar von Ostried aufgefundenen grundlegenden Erbfolgebestimmung. Sie hörte aufmerksam zu und brach schließlich in ein helles Lachen aus. Diesmal kam es aus einem schattenlos fröhlichen Herzen. „Nun verstehe ich endlich den Brief des Regierungsassessors und nunmehr entthronten Anwärters. Das heißt,“ fügte sie verbessernd ein, „jetzt kann er wieder seine alte langweilige Maske vorstecken. Zwei Tage nach dem Familientag erhielt ich ein Schreiben von ihm. Ach so -- ich muß noch etwas voranschicken. Er wollte mich nach jener Sitzung heimbegleiten -- aber ich hatte kein Verständnis dafür und schickte ihn fort. Darauf nahm er Bezug. Es war ein schöner Brief. Du mußt ihn auch lesen. Inhalt: Ich hätte es ihm angetan und er flehte um meine Huld!“ „Richtig Huld hat er geschrieben?“ „Jawohl! Du, das war sehr diplomatisch. Darunter konnte ich mir allerhand vorstellen. Warte, es geht noch weiter. Wann er kommen dürfe, um sich von meiner Vergebung zu überzeugen und wann vor allen Dingen er mich seinen lieben Eltern bringen könne, die sich herzlich auf mich freuten. Dabei schenkten mir damals besagte liebe Eltern auch nicht die geringste Beachtung.“ „Was hast du ihm geantwortet?“ „Geantwortet? Aber, Liebster?“ „Nun ja --“ „Kein Wort natürlich! Er ist doch auch Jurist und wenn ich ihm ganz klar meine Ansicht über diesen Fall mitgeteilt hätte, würde er mich sicher vor das hohe Gericht geschleppt haben. Denn, du mußt bedenken, daß ich bei Abfassung seines Briefes die für ihn ausschlaggebenden Beweggründe noch nicht ahnte. Ich habe ihn einfach für wahnsinnig gehalten. Später änderte ich diese betrübliche Ansicht in eine nicht minder unschöne ab. Er wurde mir langsam zu einem gewissenlosen Betörer, dem jedes Mittel zur Erlangung eines unsaubern Wunsches recht ist.“ „Du hättest also Frau Regierungsassessor und noch viel mehr werden können. Bestimmt aber die Schloßherrin von Waldesruh, wenn auch im reifsten Alter. Der jetzige Majoratsherr scheint keine Lust zur Wiedervermählung zu haben.“ Sie zuckte zusammen, als fröstele sie. „Niemals sah ich ein seelenloseres Gesicht als das seine! Findest du das nicht auch?“ „Sonderlich zu erwärmen vermag auch ich mich nicht für ihn. Aber er ist ein Mann von hochanständiger Gesinnung. Nicht wahr, wie leicht hätte er es gehabt, diese unbequeme Bestimmung aus dem verrosteten Kasten einfach verschwinden zu lassen. Wenn er auch nachträglich ausgeführt hat, daß sie ihn und einen eventuellen Sohn aus einer zweiten Ehe nicht anficht. Immerhin, es brachte ihm Arbeit und Reibereien ein.“ „Natürlich. Ich vergesse immer wieder, daß ich in den Augen der ganzen Familie verfehmt bin. Nein,“ verbesserte sie sich, „das wäre undankbar. Der Kummersbacher war herzlich gut mit mir und der kleine Dichter, der mich übrigens treu besucht, hat mir längst zwei Flügel verliehen.“ „Mache dich jedenfalls in allernächster Zeit auf die wichtige Eröffnung gefaßt, Evalein, daß deiner späteren Linie bei einer standesgemäßen Heirat die Aussicht zur Wiedererlangung der alten Heimat beschert sein soll!“ Sie errötete tief und nestelte sich von neuem an ihn. „Ich gehöre dir. Nur dir! Alles andere ist wertlos geworden! Du wirst mir auch diese Mitteilung, die hinfällig geworden ist, ersparen -- nicht wahr?“ „Das darf ich als pflichtgetreuer Anwalt, der gar nichts mit deinem Liebsten zu schaffen hat, nicht!“ „Aber, wenn ich nun doch sehr, sehr bald auch vor der Oeffentlichkeit deine Braut heiße.“ „Damit bist du leider noch nicht meine Frau!“ „Auch das wird gar nicht mehr so lange auf sich warten lassen?“ „Wären dir endlos lange zwei Monate als Verlobungszeit zu kurz, Liebste?“ „Nein, nein! Das sind ja mehr als sechzig Tage!“ Schweigsam aneinander gelehnt saßen sie, sahen träumerisch nach den silbergrauen Perlen und beschlossen, Hand in Hand, daß in den nächsten Tagen ein ausführlicher Brief über dies Ereignis nach Hohen-Klitzig berichten solle. Noch einmal jammerte Eva von Ostrieds Gewissen auf. Dann hatte sie auch diese Regung überwunden. [Illustration] [Illustration] 22. Sie hatte ein Herz aus Glas und der Geliebte sah alles, was darin vorging! Selbst bis dahin ahnungslos, daß es so war, offenbarte ihr erst sein entsetztes Stammeln, daß sich ihm nun doch ihr Geheimnis enthüllt habe. Sie gewann es über sich, um seine Vergebung zu betteln, sie zu gewähren war ihm unmöglich! Er schüttelte sie ab und floh mit einem Ruf des Abscheus für immer -- -- Als Eva von Ostried mit einem wilden Schrei aus diesem Traume emporfuhr, versuchte sie sich zu verhöhnen. Nachmittags, wenn sie sich zum Aussuchen der Verlobungsringe treffen würden, wollte sie ihm davon erzählen. Zugleich erschrak sie über diese Kühnheit, denn lediglich das gläserne Herz war ein Gebilde ihrer aufgepeitschten Nerven. Das weitere entsprach ja der Wahrheit! Die Morgensonne leuchtete durch die herbstlichen Bäume des Parkes und trug zu ihrem goldenen Strahlen den Widerschein der gelb und rotgefärbten Blätter ins Zimmer hinein; dabei wurde Evas Herz wieder ruhig. Gegen zehn Uhr vormittags brachte Gretchen Müller einen Rohrpostbrief. Eva von Ostried streckte mit glücklichem Lächeln die Hand danach aus. Walter Wullenweber schrieb in großer Eile: Mein Liebling, werde soeben telegraphisch zur Entgegennahme eines Testaments in die Nähe Berlins aufs Land gerufen. Komme wegen ungünstiger Bahnverbindung jedenfalls erst spät abends zurück. Auf morgen also... Ein neuer Tag ohne ihn! Es erschien ihr schmerzlich und doch süß zugleich! Die Tränen kamen ihr vor Glück. Der Montag vormittag war ihr sonst wegen der fünf aufeinanderfolgenden Stunden dahingeflogen. Heute dehnte er sich endlos. Nachdem ihr Tagewerk vollendet, schloß sie sich in das kleine einfenstrige Zimmer ein, wie damals, als sie ihm den Abschiedsbrief geschickt hatte. Ein Berliner Konzertagent kam, verhandelte mit Gretchen Müller und begehrte Eva von Ostried danach ungesäumt zu sprechen. „Er mag wiederkommen,“ sagte sie drinnen, ohne zu öffnen. Was ging sie noch die Kunst an? Ihr Glück lag einzig in +ihm+. Mechanisch nahm sie das dünne Päckchen aus dem Schreibtisch und legte es vor sich hin. Ihr graute vor der erneuten Berührung. Mit spitzen Fingern zog sie endlich seinen Inhalt ans Licht. Es enthielt nur noch zwei Scheine. Die letzten! Das andere des Raubes war aufgebraucht. Wenn sie die laufenden hauswirtschaftlichen Ausgaben beglichen haben würde, mußte sie von neuem einen dieser Scheine wechseln. Die letzte unbezahlte Arztrechnung für Gretchen Müller fiel ihr ein. Es waren wiederum dreihundert Mark, trotzdem sie selten genug nach dem Sanitätsrat gesandt hatte. Es schadete ja auch nichts. Gewechselt mußte doch werden. Sie brauchte ein Hochzeitskleid -- einen Schleier und den grünen Myrthenkranz. Wovon sollte sie dies und noch viel mehr bezahlen, wenn nicht von diesem Gelde? Seine Braut, die ihre äußere Schönheit gestohlen haben würde -- im wahrsten Sinne des Wortes. Den Treuschwur verachtend und selbst -- Verbrecherin! Aber heimliche Stimmen flüsterten Trost und Hoffnung: „Er läßt dich niemals! Ohne dich ist seine Zukunft schal. Sei ganz ruhig --“ Sie nickte und glaubte es zuletzt! Und spann nun aus, wie es sein würde, wenn Sie ihm alles gesagt hätte. Eine unbeschreibliche Seligkeit mußte das werden! Von dieser Vorstellung kam sie nicht mehr los. Gegen Abend schrieb sie ihm alles, wie es sie dünkte, zu nüchtern. Da sie es überlas, erschien es ihr grausam. Aber es war ihr unmöglich gewesen von ihren Gefühlen dabei zu sprechen; die würde er klar empfinden, ohne daß sie ein Wort verlöre, meinte sie. Unmöglich schien es ihr auch, der Opfer Erwähnung zu tun, die sie gebracht und noch eine Zeitlang weiter bringen mußte, weil sie der heimatlosen Schwerkranken eine Zufluchtsstätte bot. Das alles würde Sache der mündlichen Aussprache sein. Als der Brief fertig war, begriff sie nicht, wie sie jemals zaudern konnte. Sie trug ihn selbst fort, wie damals. -- Dann ging sie ihren Tag weiter! -- -- Jedesmal, wenn vierundzwanzig Stunden später die Klingel gellte, glaubte sie zu fühlen, daß er jetzt da sei. Glaubte es immer wieder, bis dieser Tag sank und ein neuer kam, der ebenso ereignislos verlief wie sein Vorgänger. Erst am dritten Tage packte sie eine fürchterliche Angst. Wenn er nicht darüber fortkäme? -- Das währte aber nicht lange. Seine tiefe große Liebe würde niemals sterben können. Am vierten Tage hatte sie keine Hoffnung mehr! Und am fünften Tage ertrug sie die Qual nicht länger. Ohne ihren Namen zu nennen, fragte sie im Büro an, ob er zu sprechen sei. Darauf erwartete sie ein „Nein“ und erhielt statt dessen den Bescheid, daß er, wie alle Tage, seine juristischen Sprechstunden abhalte. Da warf sie sich auf einen Stuhl und mußte lachen. Es klang schaurig. Sonst hätte sie aber schreien müssen -- immer nur schreien -- das ganze Haus zusammen und noch weiter zu der Straße hinaus, denn die Fenster waren weit geöffnet. Er lebte und gab ihr keine Antwort! Was war das? Ein paar Stunden später wußte sie es. Sie riß seinen Brief gleich vor der Tür auf, als sie ihn empfing. Da sank sie bewußtlos zusammen, und Gretchen Müller fand sie, den Brief in der Hand. Gretchen Müller hatte noch niemals einen Blick in fremde Post getan. Jetzt las sie, nach kurzem Zaudern, bewußt Wort um Wort, begriff nicht alles, aber wußte doch, daß der Strenge nun auch bereit war, sein eigenes Herz zu Tode zu foltern. „Du wirst viel gelitten haben, ehe Dir dieser Brief möglich war,“ schrieb er. „Das fühle ich deutlich. Was Du tatest, mag Dir damals einen Augenblick als der einzige Ausweg erschienen sein. Leichtsinnig hast Du es nicht tun können. Es wird sich auch hundertfach gerächt haben. Alles das wiederhole ich mir seit Tagen. Dein erster Brief war eine Folge davon und wie vieles andere wohl noch, das Du unerwähnt ließest. Ich glaube sogar, daß ich eine andere verteidigen könnte. Eine, die ich nicht liebe als meines Wesens Heiligstes. Um Deine Freisprechung habe ich vor meinem Gott gerungen und sie doch nicht finden können. Es ist unaussprechlich grausam, auch für Dich. Aber daran läßt sich vorläufig nichts ändern. Ich ringe weiter. Habe Geduld mit mir und mit dem dumpfen Schrecken, der mich nicht loslassen will.“ Nach überraschend kurzer Zeit konnte Eva von Ostried sich allein auf das Ruhebett begeben. Suchend irrte ihr Blick umher. „Ich habe den Brief auf Ihren Schreibtisch gelegt,“ sagte Gretchen Müller. Am nächsten Tage raffte sich Eva von Ostried auf und stand plötzlich vor der Hausgenossin. „Wenn Sie mir schnell etwas Warmes bereiten könnten, Gretchen. Ich muß nämlich zu dem Agenten, den ich neulich durch Sie abweisen ließ. Wie gut, daß Sie sich seine neue Adresse geben ließen.“ Es klang ruhig. Auch das Gesicht war, obgleich immer noch sehr blaß, wieder ebenmäßig schön, wie zuvor. Entsetzt wehrte Gretchen Müller ab: „Sie dürfen auf keinen Fall heraus. Hören Sie nur, wie scharf der Wind pfeift.“ „Es war leichtsinnig, daß ich den Agenten nicht anhörte,“ sagte Eva. „Erinnern Sie sich noch, was er sagte?“ „Ganz genau. Er käme, um eine Reihe Winterkonzerte mit Ihnen zu vereinbaren und wenn es möglich sein könnte, auch über das andere zu reden.“ „Welches andere? Mir ist nichts bekannt!“ „Ich wagte nicht danach zu fragen. Er war eilig und beleidigt, weil Sie ihn nicht vorließen.“ „Nun also, wie stehts jetzt mit der Wegzehrung, Gretchen?“ „Sie ist längst bereit. Aus dem Hause lasse ich Sie aber nicht.“ „Seien Sie nicht kindisch.“ „Ich flehe Sie an. Hören Sie nur dies eine Mal auf mich.“ Eva von Ostried fühlte ein inneres Erschrecken. Es mußte einen Grund haben, daß Gretchen Müller sie zurückhalten wollte. Sollte sie etwas ahnen? Aber was war denn überhaupt geschehen? Zwei Menschen, die sich auf seltsame Art gefunden, hatten sich ebenso wieder getrennt. Ein Teil war schuldig, der andere schneeweiß. Noch besser. Eins rang mit der Nacht des Wahnsinns; das andere hielt unentwegt seine juristischen Sprechstunden ab. Bedurfte es eines klareren Beweises, wer mehr litt? Sie biß die Zähne zusammen. Und wenn sie auf dem Wege niederfallen sollte, sie würde jetzt doch den Agenten aufsuchen und sich von ihm anwerben lassen, wohin er sie haben wollte. Und Toiletten würde sie anschaffen. Nicht mehr weiße, unschuldsvolle Nonnenkleider, sondern prunkvoll schimmernde, wie es sich für eine große Sünderin ziemte. Und kostbare Steine mußten Arme und Hals in Zukunft ebenfalls schmücken. Man bekam sie schon, wenn man es nur erlaubte! Ihre Augen brannten dunkel aus dem wieder erblaßten Gesicht. Heiß und rot lockten die Lippen. Sie suchte nach ihrem Mantel und vermochte ihn doch nicht zu fassen, trotzdem er vor ihr am Ständer hing. Es schwebte und wogte plötzlich alles um sie herum. „Ich gehe doch,“ stieß sie hervor, als stände der mächtige Feind neben ihr, der ihren Willen band. Sie fühlte ein Knäul aufsteigen, an dem sie zu ersticken drohte. „Wasser -- einen Schluck Wasser,“ keuchte sie atemlos. Sie netzte die Lippen, aber das Würgen blieb. Eine erbarmungslose Faust stieß sie auf den nächsten Stuhl. Ihre Hand fuhr an die Stirn. Wie leer das da war. Wie tot. Der Fahrt auf dem Wannsee erinnerte sie sich, als sein Mund sich auf den ihren preßte. „Ohne Glauben und Vertrauen keine Liebe möglich,“ sagte er -- -- Irgend etwas löste sich in ihr; ein Schrei, ein Schluchzen; Tränen stürzten aus ihren Augen. Gretchen Müller sah starr geradeaus, als merke sie von alledem nichts. Jedes Trostwort war sinnlos. Nur eins konnte helfen. Und dies eine blieb zu schwer für sie! Sie dachte an alle Güte, welche sie durch die jetzt namenlos Leidende erfahren hatte. Noch einmal durchlitt sie die Qualen der Armut und des erschütternden Erkennens eigenen Unwerts. Nichts blieb ihr erspart. Die Demütigungen, die sie als Stellungssuchende erfahren, die Ansinnen, die ihr noch jetzt das Blut vor Scham in die Wangen trieben -- die Liebe zu dem Unwürdigen, die nicht sterben wollte, obwohl sie ihn verachten mußte. Und zuletzt der nagende, jammervolle Hunger. Wie hatte das alles monatelang in ihrem Körper gewühlt, bis sie endlich entschlossen gewesen, das elende Leben von sich zu werfen. Erst jetzt war sie imstande eine Kleinigkeit für ihre Retterin zu tun. Sie hatte lediglich nötig ihm zu sagen: „So ist es und nicht anders. Mag sie selbst in den Augen der Welt das Schlimmste getan haben. Ich weiß nichts und will nichts davon wissen. Es ist alles aufgewogen durch ihre Güte und Größe. Ich habe doch Augen zu sehen. Wie viel Männer hätten ihren Reichtum willig hingegeben für ihr Lächeln, für das Dulden reicher Gaben. Sie hat nie etwas angenommen. Ich weiß, daß sie alle Schätze für Einen aufgespart hat. Und nun richtet er sie. Wer darf das tun?“ Mehr brauchte sie kaum zu sagen. Fast gierig prüfte Gretchen Müller das Gesicht, das ihr doch längst mit jedem Zug vertraut geworden. Seine Schönheit erfüllte sie in diesem Augenblick mit unsagbarer Freude. Es war unmöglich, daß einer, der sie liebte, hier freiwillig entsagte. „Vielleicht entschließe ich mich sehr bald zur Bühne. Vielleicht auch nicht! Es hat ja noch Zeit,“ sagte Eva nach längerer Zeit des Besinnens. -- -- Eine Woche später ging ihr, aus dem Büro in der Markgrafenstraße, von einer fremden kritzlichen Handschrift, deren Name unleserlich blieb, unterzeichnet, nachstehende Eröffnung zu: Gemäß einer durch Herrn Horst Woldemar von Ostried, derzeitigen Majoratsherrn auf Waldesruh, aufgefundenen grundlegenden Familienbestimmung aus dem Jahre 1701 wäre auch das weibliche eheliche Kind eines ohne männliche Nachkommenschaft verstorbenen Majoratsherrn von Waldesruh insoweit am Majorat erbberechtigt, als ein aus ihrer ebenbürtigen Ehe hervorgegangener Sohn mit dem vollendeten achtzehnten Lebensjahr, besagtes Majorat mit allen darauf ruhenden Rechten und Verbindlichkeiten übernehmen soll. Bedingung wäre, daß diese Tochter in jeder Beziehung einen einwandsfreien Lebenswandel geführt hat. Sie haben nach Ansicht des Seniorenkonvents bisher dies Recht nicht verwirkt und werden deshalb hiermit vorgemerkt. Aus der abschriftlich beigefügten, später aufgenommenen Bestimmung, die sich auf Seite 56 des Familienstatuts aus dem Jahre 1830 vorfindet, ersehen Sie die genausten Bedingungen für diese Vormerkung ebenso, wie auch dasjenige, was unter einer ebenbürtigen Ehe im Sinne der grundlegenden Bestimmung zu verstehen ist. Die Mitteilung, daß Sie von dieser Nachricht Kenntnis genommen und mit Ihrer Vormerkung resp. Eintragung vor dem Regierungsassessor von Ostried sich einverstanden erklären, erbitten wir gefälligst umgehend. Ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen, antwortete Eva von Ostried: Ich verzichte ausdrücklich auf dieses Recht und bitte, mich mit ähnlichen sich etwa in Zukunft noch neu ergebenden Mitteilungen zu verschonen. Dann mußte sie lachen. Es entsprang der Bitterkeit und Verachtung über alle Satzungen, die Menschen gemacht hatten. Langsam begriff sie das eine: Walter Wullenweber hatte die vorliegende Mitteilung nicht mit seinem Namen decken können, weil sie in seinen Augen nicht dasjenige „untadlige Weibsbildn“ war, das sie zu sein hatte, um als Stammutter eines zukünftigen Majoratsherrn in Betracht zu kommen. Es regte sie nicht mehr auf! Ihr Gesicht wurde hart wie ihre Seele. Ihre Hand zitterte nicht, als sie jetzt zum zweiten mal die Feder eintauchte, um einen unwiderruflich letzten Brief an Walter Wullenweber zu schreiben. Sie tat es wie eine Fremde: „Ich will dein Ringen, wenn es inzwischen nicht aufgegeben sein sollte, kurz beenden. Quäle dich nicht mehr damit, für mein Verbrechen Entschuldigung oder gar Vergebung zu finden. Dazu ist es zu spät geworden. Ich wüßte mir nichts mehr damit anzufangen. Der Rausch, dem ich mich hingab, wirkt nicht mehr. Daß ich Dir für Deine spätere würdigere Ehe das Beste wünsche, sei Dir ein Beweis, wie ruhig und empfindungslos mein Herz für Dich geworden ist.“ Sie überlas das Geschriebene nicht. Eilig verschloß sie den Umschlag und fühlte nichts dabei, außer der staunenden Verwunderung, daß sie ihm erst heute geschrieben hatte. Erst als er mit dem andern zusammen besorgt war, erschrak sie plötzlich so sehr, daß sie sich setzen mußte, weil ihre Knie zitterten. Wie war es möglich geworden, daß sie ihm darin noch das „Du“ gegeben hatte? Pah, sie wollte nicht mehr darüber nachdenken. Ihre Seele sollte endlich frei werden. Und als müsse sie diesen Entschluß ungesäumt bekräftigen, drückte sie auf den Knopf der elektrischen Klingel, die zur Küche hinausführte. Ihre Stimme klang aber fest, beinahe kalt, als sie zu der Eintretenden sagte: „Meine Verlobung, liebes Gretchen, war nicht von Bestand. Sie ist wieder gelöst. Und zwar endgültig!“ Dann sprach sie hastig, ohne eine Antwort zu ermöglichen, von gleichgültigen Dingen. -- -- Die nächste Zeit brachte viel Hast und Abwechslung. Der emsige Agent hatte von Eva von Ostrieds augenscheinlich eingetretenen Bekehrung zur Vernunft einem ihm bekannten Direktor Mitteilung gemacht. Das wiederum ergab vertrauliche Anfragen, die eine ausführliche Antwort erheischten. In irgendwelcher Weise band sich Eva von Ostried vorläufig nicht. Mitten in diese Unruhe hinein kam eines Tages der Brief des Waldesruher Majoratsherrn, der zwecks mündlicher Rücksprache in der bekannten Neuregelung und ihrer Ablehnung im Auftrage des Seniorenkonvents um die Gewährung einer mündlichen Aussprache an einem von ihr zwischen dem Zwanzigsten und Fünfundzwanzigsten zu bestimmenden Tage höflichst bat. Der Vorwand wäre für jede Andere, wie Eva von Ostried, durchsichtig gewesen. Seine Anwesenheit neulich im Blüthnersaal -- eine vor Tagen stattgefundene zufällige Begegnung mit ihm, bei welcher er deutlich die von ihr vereitelte Absicht einer Annäherung zu erkennen gab, hätten sie zum Nachdenken bringen müssen. Ihr lag dies alles viel zu weit ab. Sie mochte ihn nicht wiedersehen. Die Vorstellung seines kalten, ausdruckslosen Gesichts brachte ihr ein unbehagliches Gefühl. Kurz, wenn auch nicht unfreundlich, lehnte sie sein Ersuchen mit dem Hinweis ab, daß eine Aussprache ihren unabänderlich feststehenden Entschluß nicht umzustoßen vermöge. An einem der nächsten Tage kam, nach längerer Pause diesmal, der Vetter Javelingen wieder. Eva von Ostried sah ihm erstaunt entgegen. „So feierlich? Ja, was gibt es denn? Hat der neue Operntext seinen Komponisten gefunden und bringen Sie mir schon die weibliche Hauptrolle zum Studium?“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht! Ich komme als Abgesandter des Kummersbacher.“ Er sah, daß sie die Lippen verzog, als schmecke sie einen unangenehm bitteren Trank. „Augenscheinlich mochten Sie ihn damals sehr gern,“ wunderte er sich. „Und jetzt plötzlich? Wirklich, ich merkte längst die Umwandlung.“ Es klang hilflos. „Von solchen Kleinigkeiten sollten Sie sich nicht quälen lassen,“ mahnte sie sanft. „Es schmerzt mich, daß Sie sich so fest verschließen, Eva.“ „Tue ich das? Dann ist es jedenfalls nichts neues. Sie kennen mich nur noch nicht von dieser meiner eigentlichen Seite. Gewiß, der Kummersbacher war sehr gut zu mir und ich habe auch nicht das Geringste gegen ihn. Ich bin aber wider alles Gewaltsame. Warum soll ich jetzt plötzlich einer Verwandtschaft wegen, die mir bisher nichts war, in einen neuen Kreis hineinlaufen? Denn, nicht wahr, mit dem Kummersbacher allein hätte es in Zukunft nicht sein Bewenden.“ „Ich belästige Sie ja ohnehin schon,“ meinte er. „Halten Sie mich für so unehrlich, daß ich mir eine Belästigung gefallen ließe? Wenn Sie kommen, bringen Sie mir Freude mit. Wenn auch nicht in allen Fällen für mich, die Vielbeschäftigte, so doch für das liebe, kranke Mädchen, das ihrer dringender bedarf als ich, die körperlich Gesunde. Schon darum sind Sie mir stets willkommen. Sie wissen, meine Zeit gehört der Arbeit. Wenn es mir aber möglich wird, lausche ich Ihnen herzlich gern.“ Er zog ihre Hand ehrerbietig an die Lippen. Sie mußte denken, ob er das wohl auch tun würde, wenn er wüßte. „Ich komme also heute mit einem Auftrage,“ gestand er fast schüchtern. Ihr Gesicht nahm einen hochmütigen Ausdruck an. „In Wahrheit schickt Sie gar nicht der Kummersbacher, sondern der Waldesruher, nicht wahr?“ „Nein... wirklich nicht! Aber -- wissen Sie schon davon?“ „Daß er mich im Auftrage des hohen Seniorenkonvents zur Einwilligung jener mich lächerlich anmutenden Eintragung bewegen will? Nun, das hat er mir geschrieben!“ „Ich dachte an das... andere.“ Ein unbewußter Neid ließ seine sanfte Stimme schärfer als sonst werden. „Davon weiß ich nichts. Mag auch nichts hören. Verzeihen Sie diese Offenheit.“ „Ich fürchte aber, Sie werden ihm nicht mehr entgehen.“ „Dann ist es immer noch Zeit, daß ich mich darüber ärgere oder freue.“ „Sie dürfen sich nicht freuen,“ sagte er leidenschaftlich. „Ich glaube selbst, daß dies mein Schicksal ist.“ „Nicht so! Freude sollen Sie haben, so viel es nur irgend gibt.... Aber... Warum sind Sie so bitter geworden?“ „Sie irren, mein lieber Dichter. Nur abgearbeitet bin ich. Und... werde es in Zukunft noch viel mehr sein. Sehen Sie hier -- mein Büchlein ist voller Pflichten. In nächster Woche singe ich zweimal in Dresden. Danach in Weimar. Verhandlungen mit Dessau schweben gleichfalls. Berlin will mich auch. Die Vorbesprechungen, dies ängstliche Aufpassen, daß der Agent nicht den Löwenanteil in die eigene Tasche senkt, ist sehr anstrengend.“ „Ich könnte es nicht.“ „Wenn man ein bestimmtes Ziel vor Augen hat, geht auch dies!“ „Sehnen Sie sich denn nach Reichtum, Eva?“ fragte er. „Ja, das tue ich!“ Er erblaßte und sah auf seine schmalen, nervösen Hände nieder. „Reich ist er. Sehr reich sogar! Der Kummersbacher sprach von mehreren Millionen...“ „Nun also... hübsch für ihn! Wer der Glückliche ist, will ich nicht wissen. Ich gönne jedem sein Schäfchen. Nur Sie sollen jetzt endlich zum Ziel kommen. Was ist es für ein geheimnisvoller Auftrag, den Sie da übernommen haben.“ „Der Kummersbacher läßt Sie innig um Ihren Besuch bitten, so bald es sich einrichten läßt.“ „Hat er vielleicht gehört, daß ich gerade für die nächsten Monate täglich voll besetzt bin?“ „Wie mißtrauisch Sie geworden sind.“ „Das gehört zu meinem Geschäft! Denn, wenn ich nach dem Beschlusse des hohen Familienrats auch keine Bänkelsängerin bin, aber eine, die sich von zwei Mark an von Jedem anstarren lassen muß, die bin ich nun doch mal.“ „Ihnen muß etwas Hartes geschehen sein,“ forschte er. „Vielleicht! -- Machen Sie ein Sonett darüber. Aber am Schluß muß man lachen können. Hören Sie?“ Sie wurde ihm unheimlich. „Also, der gute Kummersbacher erinnert sich seiner freundlichen Einladung von dazumal?“ fuhr sie fort. „Sagen Sie ihm mit einem schönen Gruß meine Dankbarkeit und ich käme bestimmt in der Zeit von Januar bis April...“ „Dann beanspruchen ihn die Sitzungen im Herrenhaus und die Nachberatungen in Berlin.“ „Eben darum,“ meinte sie ruhig. „Und nun kein Wort mehr davon. Ich bitte Sie herzlich darum. Kleiden Sie meinetwegen die Ablehnung auf Ihre zarte Weise ein. Ich will nicht die Gastfreundschaft der Familie, von keinem Einzigen ...“ „Ohne Ausnahme?“ fragte er mit eigenem Nachdruck. „Ausnahmslos,“ bestätigte sie. „Und jetzt kommen Sie. Ich werde Sie begleiten. Gretchen Müller wird sehnsüchtig warten... Eine Stunde kann ich mich ebenfalls von Ihnen fortreißen lassen. Dann muß ich wieder arbeiten und Briefe schreiben. Ach, diese ewigen Geschäftsbriefe..“ -- -- -- Er las leise und bescheiden, wie auch sonst am Anfang! Die Eröffnung des Kummersbacher klang ihm in den Ohren. „Paß auf, es kommt. Für so was habe ich einen feinen Riecher... Darum beeile dich gefälligst, daß wir sie möglichst bald in meine ländliche Stille kriegen. Ihre Nerven, die deiner Ansicht nach reichlich runter sind, müssen erst in die Höhe, ehe er seinen Mund zu der entscheidenden Frage auftut...“ [Illustration] [Illustration] 23. Es kam wirklich... und zwar erheblich schneller, wie es der Kummersbacher nach der mit heimlicher Schadenfreude von ihm festgestellten Umwandlung des bis dahin scheinbar temperamentlosen Vetters erwartet hatte. Eva von Ostried stand noch im Schmuck eines weinroten Sammetkleides, das die Schneiderin erst soeben abgeliefert und zum letzten mal angeprobt hatte, als die Klingel tönte. Es war der Waldesruher Majoratsherr, der um die Ehre bat, die gnädige Base sprechen zu dürfen. Sie dachte lange nach, während er zuerst ungeduldig, danach empört über das rücksichtslose Wartenlassen auf dem schmalen Korridor hin- und herging. Warum erweckte dieser Besuch ihren Unmut? Er brachte ihr doch eine ehrenvolle Genugtuung. Denn, wenn es sich nicht um eine solche handelte, würde sich ein eiskalter, untadliger Ehrenmann wie dieser solcher Mühe nicht unterziehen. Eine feine Falte stand zwischen ihren Brauen, als sie sich endlich entschlossen hatte. „Führen Sie ihn in das Musikzimmer, Gretchen.“ „Aber das Kleid,“ gab die andere zu bedenken. „Es wird bei der kurzen Unterredung nicht stören.“ Horst Waldemar von Ostried sah eine Sekunde verblüfft auf. Sie reichte ihm nicht die Hand entgegen. Nur den feinen Kopf neigte sie und deutete höflich auf einen Polsterstuhl. „Warum kommen Sie, Herr von Ostried?“ „Sie werden sich erinnern... mein Brief...“ „Also darum,“ machte sie gedehnt, „ich dachte, das sei längst abgetan. Sie haben gehört, daß ich nicht will...“ „Darauf kommt es nicht an, gnädigste Base.“ „Soll das ein Scherz sein? Aber der läge Ihnen nicht..“ „Sie haben etwas bei der ganzen Sache übersehen,“ meinte er belehrend, „oder vielleicht unser Anwalt?! Die von mir aufgefundene Bestimmung hat ausdrücklich das Wort „soll“ bei der jetzt neu durchzuführenden Erbfolge vorgesehen.“ „Niemand kann über den Willen eines Menschen bestimmen, als er allein,“ wandte sie kühl ein. „Das ist ein großer Irrtum. Es gibt Höheres und Stärkeres, dem wir alle uns beugen müssen.“ „Was könnte das sein,“ fragte sie ungläubig. „In der Hauptsache... das Gesetz...“ „Jetzt wird er mir bestimmt alle Paragraphen aufzählen, die wir beachten müssen,“ fürchtete sie dumpf und ergeben. „Zuerst dasjenige, was in uns selber ist,“ begann er wieder. „Das meine will, daß ich mit gleicher Münze heimzahle. Verachtung gegen Verachtung.“ „Sie dürfen nicht abschweifen. Sonst werden wir uns nie verstehen.“ „Ich lege auch keinen Wert darauf.“ „Aber ich tue es. Sehen Sie, das Gesetz, welches ich meine, ist etwas Ehrfurchtgebietendes, denn es kommt aus der Schmiede der Ehre! Wie es sichtbare Orden und Ehrenzeichen für Heldentaten gibt, so sind unsichtbare da, deren Fehlen mehr wie Strafen reden. Daß Sie laut der jetzt zu Kraft erklärten Bestimmung vorgemerkt sind, ist ein solches unsichtbares Ehrenzeichen.“ „Wenn Sie es so auffassen und gekommen sind, um mich zu Ihrer Ansicht zu bekehren, danke ich Ihnen,“ sagte sie um vieles wärmer. „Wie stellen Sie sich also jetzt zu unserer Frage?“ „Nicht anders wie zuvor.“ „Das heißt, Sie sehen auch jetzt noch ab?“ „Natürlich. Es liegt mir nichts daran.. Ich will frei sein. Ich will...“ Sie wollte hinzufügen, daß sie keinen persönlichen Verkehr wünsche, empfand dies aber einen Augenblick später als taktlos und verstummte. Er schien die Streifen des Teppichs, der weich und dunkel am Boden hinkroch, zu zählen. „Ich bitte Sie um Ihre Einwilligung,“ sagte er plötzlich. Sie mußte ein Lächeln unterdrücken. „Was hätten Sie davon, Herr von Ostried?“ Er zuckte nervös zusammen. „Warum nennen Sie mich hartnäckig mit diesem... steifen Namen?“ „Erlassen Sie mir die Antwort. Sie sind zur Zeit unter meinem Dach und, wenn ich auch kein Edelfräulein in Ihrem Sinne sein mag, das ist mir stets heilig gewesen.“ „Ich möchte den sehen, der sich niemals irrt...“ „Gut! Wir wollen es nicht in Worte kleiden... Ich fühle es und danke Ihnen nochmals. Sagen Sie den andern auch davon, denn, nicht wahr, der -- wie nennen Sie ihn doch? -- Seniorenkonvent weiß um Ihr Kommen.“ „Nein,“ sagte er kurz und sehr laut. Das begriff sie nicht. „Ich habe mich niemals mit all diesen Bestimmungen beschäftigt,“ entschuldigte sie sich. „Ich will haben, daß Sie in den Augen der gesamten Familie rein und makellos dastehen. Daß wir Sie dafür befunden haben, bewirkt das noch nicht. Die Hämischen könnten behaupten, es habe sich inzwischen etwas ihnen Verborgenes herausfinden lassen, das Ihre Unwürdigkeit dennoch dartäte. Der Vetter Regierungsassessor hat Sie neulich auf dem Familientag bereits auffallend genug übersehen.“ Jetzt mußte sie lachen. „Stimmt das etwa nicht,“ fragte er gereizt. „Hat er Sie begrüßt oder Ihnen auch nur ein verbindliches Wort gesagt?“ „Aber... nachgelaufen ist er mir und hat mir seine Begleitung angeboten.“ „Und Sie?“ „Ich habe ihn fortgeschickt, wie man das auch ohne Ihre Familiengesetze zu kennen, eben tut...“ „Darum wird er Sie jetzt um so mehr mit seiner Abneigung verfolgen.“ „Daran liegt mir auch nicht das Geringste.“ „Aber mir liegt daran!“ Sie sah ihn erschrocken an und stellte fest, daß er sehr rot und erregt geworden war. „Ihnen? Sie hören ja, daß ich mich auch weiter allein zu schützen gedenke. Ja... und hören Sie weiter. Ich muß Ihnen einen Vorschlag machen. Vielleicht ist es Ihnen allen unangenehm, daß ich den alten Namen Ostried führe. Bitte, seien Sie ganz ehrlich mit mir. Ich bin Künstlerin und kann ihn, ohne, daß es besonders auffällt, jederzeit ablegen. Einmal war ich bereits dazu entschlossen...“ „Sie sollen ihn behalten! Aber der Vetter Regierungsassessor darf Sie nicht verächtlich machen.“ Sie legte den Kopf ein wenig auf die Seite und blinzelte in die Schatten, die jetzt dunkelblau und lila getönt den Raum erfüllten. „Leider verachtet er mich durchaus nicht. Fast wäre mir das lieber gewesen, als das andere...“ „Was ist das?“ fragte er. „Wenn ich ihn nicht... sehr tief einschätzte, würde ich darüber schweigen. Ich mißachte ihn aber. Darum...“ und sie erhob sich, ging in das Nebenzimmer und nahm aus dem Mittelfach ihres Schreibtisches seinen Brief. „Lesen Sie ihn. Dies Schreiben ging mir zu, nachdem die Anschlußsitzung über meine oder besser meines künftigen Sohnes Erbfolge stattgefunden hatte.“ Horst Waldemar von Ostried las erstaunlich lange an den kurzen Zeilen. „Es ist eine Gemeinheit,“ sagte er dann kurz und scharf. Sie nickte. „Man könnte es wohl als solche bezeichnen! Daß Sie so ehrlich sind, freut mich doppelt...“ „Könnten Sie mir den ungefähren Wortlaut Ihrer Antwort an ihn mitteilen?“ „Nein... das möchte ich nicht.“ „Hätte ich mich in Ihnen getäuscht?!“ „Möglich! Vielleicht mißverstehen wir uns aber. Weil ich nämlich keine Antwort gab, kann ich auch keinen Wortlaut wiederholen.“ Er atmete auf. „Das war gut!“ Dann saß er stumm und schweigsam da. „Warum geht er jetzt nicht,“ dachte sie erstaunt und sagte laut: „Verzeihen Sie diese Dunkelheit. Ich will jetzt Licht machen... Ich liebe die weichen, unbestimmbaren Farben der Dämmerung sehr.“ „Lassen Sie es!“ bat er. Gehorsam nahm sie wieder ihren Platz ein. Die drückende Stille begann sie unruhig zu machen. „Fühlen Sie den Zweck meines Besuches nicht endlich heraus?“ fragte er. Sie dachte nach und schüttelte den Kopf. „Und dennoch ist es gut, daß er ihn geschrieben hat,“ meinte er aus tiefem Sinnen heraus. Ihre Anschauungen mußten erdenweit auseinander gehen... sonst hätte sie ihn doch wenigstens einmal ohne Erklärung verstehen müssen. „Mir gilt er nicht mehr, als der Beweis, daß der Name allein noch lange nicht adelt...“ Er ließ diesen Einwurf unbeachtet. „Können Sie mir dies Schreiben anvertrauen,“ fragte er. „Wozu? Ich will nicht haben, daß er etwa zur Rechenschaft gezogen wird.“ „Eine Beleidigung in diesem Sinne enthält er nicht! Daß er den Wunsch ausspricht, Sie seinen Eltern zuzuführen, beweist ja gerade, daß er Sie respektiert. Er hätte noch etwas damit warten müssen. Aber er mag wohl gefürchtet haben, ein anderer käme ihm zuvor...“ „Sie baten um den Brief,“ lenkte Eva von Ostried hastig ab, „darf ich wenigstens wissen, zu welchem Zweck das geschah?“ „Um eine Handhabe zu besitzen.“ „Verstehe ich Sie recht? Glauben Sie, daß er unklug genug ist, um diese Sache vielleicht falsch wieder zu geben?“ „Das nicht. Seines Schweigens hierüber sind wir sicher. Nur etwas anderes steht zu befürchten. Vor jedem lauten Wort wird er sich hüten. Er ist in jeder Beziehung ein leiser, vorsichtiger Herr. Es könnte sich aber ereignen, daß er Sie aus dem Hinterhalt angriffe. Sagen wir mal, der Kummersbacher, der seine Augen und Ohren überall hat, würde etwas erfahren und mir wieder erzählen?“ „Warum grade Ihnen?“ „Untersuchen wir das jetzt nicht. Unterstellen wir es als sicher. Dann könnte ich diesen Brief vorzeigen und ihn bloßstellen, wie er es verdient hat....“ „Eigentlich sind wir beide uns doch sehr fremd,“ meinte sie zögernd. „Soll das heißen, daß Sie kein Vertrauen zu mir haben?“ „Vertrauen...“ sie dehnte das Wort aus, überlegte ein wenig und sah dann wieder und diesmal -- bewußt -- zu ihm hinüber. Seine kalten farblosen Augen hatten sich auffallend belebt. „Wir wollen den Begriff nicht zerlegen. Behalten Sie den Brief. Ich danke Ihnen für Ihre gute Absicht. Nicht wahr, wenn er etwa ein Jahr geschwiegen haben sollte, dann vernichten Sie ihn. Ein Zurückschicken ist unnötig.“ Als er ihn in die feine helle Ledertasche versenkt hatte, tat er die Frage, die er seit Wochen immer wieder überlegt und nach allen Seiten erwogen und nun endgültig beschlossen hatte: „Weil Sie es nicht fühlen, muß ich es klar aussprechen. Könnten Sie sich entschließen, meine Frau zu werden, Eva?“ Er sah, daß es sie gänzlich überraschend traf und fuhr fort: „Ich werde im nächsten Monat vierundfünfzig Jahr und gelte als ziemlich gefühllos. Vielleicht bin ich es auch. Meine erste Ehe war durchaus korrekt. Wie sich die zweite gestalten wird, liegt in Ihrer Hand. Sie werden enttäuscht sein, daß ich Ihnen kein Wort von Liebe spreche. Ich kann das nicht. Schon als kleiner Junge wäre ich lieber gestorben, ehe ich ein Gefühl verraten hätte. Es ist Vererbung. Meine Mutter war ebenso.“ Sie saß wie erstarrt und konnte nur denken... „Möchte er doch weiter sprechen. Wenn er aufhört, muß ich ihm antworten.“ Daß er ihr noch vor kurzem unangenehm, ja widerlich gewesen, begriff sie nicht mehr. Zur Zeit war er ihr nicht unleidlicher wie jeder andere! Und was sang und klang plötzlich vor ihren Ohren? Sanfte, verführerische Stimmen tönten! Und jede verhieß das nämliche! Erlösung -- Sühne -- Ruhe! Ihm würde sie kein Wort davon sagen. Kein inneres Drängen erzwang dies. Ihr ferneres Leben würde auf das Eine, Große, Letzte eingestellt sein. Untadlig zu werden und weiter Gutes zu tun, wo irgend sich nur die Gelegenheit bieten wollte. Und vor allem -- den Raub könnte sie zurückzahlen. Er war ja schwerreich. Der Dichter hatte von mehreren Millionen gesprochen. Denn jetzt war es ihr klar, daß er diesen und keinen anderen gemeint hatte. Sie wollte von ihrem Nadelgelde und seinen gewiß sehr reichlich fließenden Geschenken Pfennig um Pfennig zusammenraffen, bis sie endlich alles an den Justizrat Weißgerber, als eine sich an die Stiftung der Präsidentin anschließende Schenkung, zurückzuzahlen vermochte... Jetzt schwieg er und sah sie erwartungsvoll an. Eine furchtbare Angst begann sie zu foltern, daß er aufstehen und gehen könne... beleidigt, weil sie ihn keiner schnellen Antwort würdigte. „Haben Sie sich bereits gebunden -- dann allerdings,“ sagte er undeutlich, wie ihr schien. „Nein, ich bin frei.“ Das war keine Lüge. „Wie lange soll ich warten,“ fragte er. Es klang fast demütig. „Zwei Wochen,“ bat sie. „Ich habe ein paar Verpflichtungen in Dresden und Weimar übernommen. Dann werde ich auch mit mir fertig sein.“ In seinen Zügen arbeitete es. Aber er verriet nicht seine Gedanken. Er sah sie noch einmal an, als müsse er die Erinnerung an ihre stolze Schönheit mit fortnehmen für diese beiden Wochen. Später würde er sie nicht mehr nötig haben. Er wünschte keine lange Verlobungszeit. Langsam stand er auf, küßte ihre Hand und schied ohne ein weiteres Wort. Eva von Ostried zeigte sich die nächsten Tage gelassen, fast heiter. Sie erschien wohl und frisch, als habe sie nicht über schlaflose Nächte zu klagen. Daß ein wenig künstliches Rot über die tiefe Blässe und den scharfen Leidenszug hinwegtäuschte, ahnte Gretchen Müller nicht. Sie trat nie mehr, ohne zuvor feierlich anzuklopfen, in das kleine einfenstrige Zimmer ein. Die unbestimmte Angst, eine Zusammengebrochene oder doch Verzweifelte zu sehen, hielt sie zu dieser Vorsicht an. Einmal, als sie Eva von Ostried ausgegangen wähnte, sah sie sie mit eingewühltem Kopf auf dem Ruhebett liegen und hörte ein ersticktes, jammervolles Schluchzen. * * * * * Der Kummersbacher saß vor seinem alten Zylinderbureau, sah abwechselnd in das Wirtschaftsbuch seines Beamten und auf die kotbespritzten, von aufgeweichten Lehmwegen zeugenden Stiefeln herab, dachte aber weder an das eine noch das andere, sondern ärgerte sich mit verbissenem Ingrimm, weil der Doktor, der seines Rheumas wegen die Ritte im Regen streng untersagt hatte, wieder mal Recht behielt. Denn es zwickte und quälte ganz abscheulich. Draußen lief seit Tagen durch das graue Himmelssieb ein gleichmäßiger Regen nieder und verwandelte Straßen, Aecker und Gärten in einen zähen Brei von unappetitlicher Farbe. In solchen Zeiten merkte der Kummersbacher, daß er ein lediger Mann war. Er schielte nach den derben Jungen seines Hofmeisters, die unter dem Fenster des Arbeitszimmers mit krampfhaft hochgezogenen Hosenleder über die Pfützen sprangen. Dieser Anblick verbesserte seine schlechte Laune nicht. Als Hermann, der Getreue, seinen grauen Kopf zur Tür hineinsteckte, polterte er los: „Was störst du mich fortwährend. Ich habe zu tun. Verstanden?“ „Eine Dame ist draußen,“ meldete er unerschrocken und setzte vertraulich hinzu: „Sie war neulich auch in Berlin beim Familientag.“ Im Nu war der Kummersbacher auf den Beinen. „Wenn es die Eva wäre...“ Natürlich war sie es! Des kleinen Javelingens Antwort stand immer noch aus. Vielleicht hatte sie dies gewünscht und kam nun selbst, um sie zu bringen und... bei ihm zu bleiben. „Hol’ andere Stiefel,“ kommandierte er. „Aber ein bißchen pausenlos -- und... das gnädige Fräulein führe solange in das Eßzimmer.“ Dann dachte er gerührt und ärgerlich, daß dies Gerenne vom Bahnhof durch Wind, Regen und Brei eigentlich ein unverantwortlicher Leichtsinn von ihr gewesen sei... Hermann stand immer noch vor seinem Gebieter. „Was fällt dir ein. So lauf’ doch...“ „Gnädiger Herr,“ sagte er plötzlich und ein Lachen flog um seinen faltigen glattrasierten Mund, „die Stiebel vom gnädigen Fräulein sind noch viel dreckiger...“ Der Kummersbacher brummte etwas. Dann schob er sich an seinem Diener vorbei und lief humpelnd auf die Diele heraus. Hier stand etwas unendlich Gebücktes, Demütiges. Bei diesem Anblick erlosch seine Freude. Er stutzte und schüttelte den Kopf... Wo hatte der Hermann seine Augen gehabt? Das war doch gar keine Dame. Ein bis auf die Haut durchnäßtes armes, heimatloses Geschöpf war’s, das sich vor Hunger und Uebermüdung wohl nicht weiter zu schleppen vermocht hatte. „Gehen Sie in die Küche und lassen Sie sich allerlei Gutes von dem Koch verabreichen,“ sagte er mit der unbewußten Weichheit und Milde, die ihn stets beherrschte, sobald jemand seine Hilfe brauchte. Aber die Demütige blieb, richtete sich nur ein wenig empor und sagte leise: „Ich bin doch Klausine von Ostried...“ Es fuhr ihm in die Knochen. Er begriff nicht, wie sie sich zu ihm durchgefunden hatte. „Tritt, bitte, hier ein,“ sagte er endlich. „Du kannst auch im Zimmer ablegen... und nachher mußt du dir wohl trockene Sachen anziehen.“ Sie trug nichts in der Hand wie eine kleine, abgegriffene Tasche mit einstmals kunstvoller Perlenstickerei. Der Kummersbacher überlegte kurz, daß sich darin kaum alles, was eine Frau für ihren äußeren Menschen gebraucht, vorfinden könnte, wurde einen Augenblick verlegen und sagte zu dem Diener gewandt: „Was machen wir jetzt? Weiß der Himmel, nun haben wir nicht mal was zum Anziehen für sie bei der Hand. Sie muß also vorläufig sehr bald in die Federn. Na, nun geh, du kannst einen Grog für sie bringen und für mich zur Gesellschaft auch einen. Dann richte das wärmste Fremdenzimmer ... Hoppla!“ Klausine von Ostried, das Stiftsfräulein, hatte indessen ihre triefenden Hüllen über den Kaminofen ausgebreitet, in dem ein lustiges Feuer prasselte. „Setz’ dich einstweilen nahe an die Glut,“ kommandierte der Kummersbacher mitleidig. „So, aber verbrenne dir nicht die Hüfe...“ „Es ist himmlisch warm,“ flüsterte sie dankbar und hielt nun auch die mageren Hände an die durchhitzten Stäbe. Eine Weile gönnte er ihr diese Behaglichkeit. Dann tippte er ihr auf die Schulter und fragte langsam: „Jetzt möchte ich endlich wissen, weshalb du das gemacht hast, Klausine?“ Der freudige Ausdruck ihres verkümmerten, spitzen Gesichts erlosch. Sie begann zu weinen. Wie bei einem Kinde liefen auch ihr schließlich die Tränen stromweise über die eingefallenen Wangen. Er erinnerte sich, daß sie in beständiger Furcht vor der Schwester leben sollte und meinte endlich selbst die Erklärung für ihren Besuch gefunden zu haben. Hatte er ihr nicht, in einer Aufwallung von Mitleid, bei dem letzten Beisammensein in Berlin gesagt, daß sie jederzeit ein ruhiges Fleckchen bei ihm finden werde, wenn sie es im Stift etwa nicht mehr ertragen könne? „Du willst jetzt lieber hier bleiben?“ fragte er weich. Sie nickte nur und saß dann weiter -- hilflos und ängstlich -- neben der Glut. „Sage frei heraus, was passiert ist,“ forderte er nach neuem, geduldigen Warten. Sie begann stärker zu zittern. „Hunger,“ stotterte sie, als schäme sie sich dieses Geständnisses. Da ging der Kummersbacher selbst -- an dem verdutzten alten Melchers vorüber -- in die Speisekammer, schnitt von der freihängenden Seite eine Handbreit Speck herunter, riß das Schwarzbrot in den einen, die angebrochene Kümmelflasche in den andern Arm und ging wieder in das Speisezimmer zurück. Die Geschichte mit dem Tablett und den übrigen Zubehörteilen für ein richtiges Mahl dauerte ihm hierfür zu lange. „Iß tüchtig,“ nötigte er und schnitt ihr mit seinem derben Jagdmesser, das er niemals aus der Tasche ließ, selbst die Bissen zurecht. Gierig schlang sie alles herunter, bekam feuerrote Fleckchen und trank auch einen tüchtigen Schluck von dem alten, scharfen Kümmel, obwohl ihre Augen danach noch mehr tränten. Dann saß sie mit andächtig zusammengelegten Händen und blinzelte in die knackenden Holzscheite. „Jetzt wirst du reden, Klausine,“ befahl er nach geraumer Weile. „Was also ist geschehen?“ fragte er ungläubig und rüttelte sie ein wenig am Arm. „Sie hat unser ganzes Geld verloren und das konnte sie nicht überwinden.“ „Ja, wie hat sie das denn, in drei Deibels Namen, angefangen? Weißt du Genaueres darüber?“ „Gesagt hat sie mir kein Wort. Aber ich habe es aus den Briefen zusammengelesen. Du kannst dich selbst überzeugen. Ich habe sie dir mitgebracht.“ Er überflog die zerknitterten Schriftstücke, ballte sie zusammen und schleuderte sie endlich zornig in die äußerste Ecke des Zimmers. „Auf diesen plumpen Schwindel ist sie so einfach glatt reingefallen?“ „Das weiß ich nicht. Sieh, hier ist noch ein Brief. Er kam vor vier Tagen. Danach hat sie es getan...“ Er las auch diesen. „Richtig! Da teilt ihr ein anderer sauberer Vogel höflichst mit, daß ihr auf Grundstück soundso -- im Grundbuch Blatt soundso -- eingetragenes Geld in Summe 104000 Mark bei der Zwangsversteigerung ausgefallen sei. Also mit andern Worten, alles hops.“ „So habe ich es auch aufgefaßt.“ Das wunderte ihn, weil er sie für einfältiger gehalten hatte. „Was also hat sie getan, nachdem sie diesen Wisch gelesen?“ „Mich mit zwei Telegrammen zur Post weggeschickt. Ganz heimlich mußte ich mich fortschleichen. Die andern im Stift durften nichts davon ahnen.“ „Nun, und die Antwort? Sagtest du nicht, daß du sie gleich auf dem Amt erwarten mußtest?“ Sie nickte wieder. „Die hat sie in der Küche verbrannt. Wir haben nämlich jede unsere besondere,“ erzählte sie wichtig. „Laß jetzt die Nebensachen,“ verwies er streng. Sie hörte nicht darauf. „In der Küche ist es doch geschehen,“ fuhr sie eintöniger fort und begann schon wieder zu zittern. „Was ist geschehen? -- Nimm dich zusammen, Klausine. So weit warst du schon vorhin...“ „Genaues weiß ich nicht. Als ich dazu kam, waren schon alle Stiftsdamen bei ihr und schrieen und jammerten. Sie lag mitten auf den Fließ. Der Gasschlauch hing herunter und die Luft war schrecklich, trotzdem überall die Fenster offen standen...“ Nun begriff er! -- Sie hatte den Verlust des Geldes nicht verwinden können und wollte sich einfach aus dem für sie wertlos gewordenen Leben stehlen. „Sie ist tot?“ fragte er mit gedämpfter Stimme. „Sie haben gleich nach dem Arzt geschickt... Noch eine kleine Viertelstunde, hat der zu mir gesagt, dann wäre er zu spät gekommen.“ „Sie lebt also...“ „Sie hat mich doch zu dir geschickt...“ „Und der Auftrag?“ Da lag ihm plötzlich die schmale, verängstigte, durchnäßte Heimatlose zu Füßen. „Du sollst uns einen Winkel geben, wo uns kein Mensch sehen und finden kann,“ bettelte sie... „Ihr habt doch Euern Platz im Stift nach wie vor.“ „Sie kann nicht mehr dableiben. Sie müsse vor Scham sterben, hat sie gesagt. Und sie schickt dir auch was, damit du es tust... Es wäre ihr Letztes, läßt sie sagen...“ Es waren, mehrfach in einen kleinen schmutzig gewordenen Leinenbeutel eingenäht, zweiundachtzig Mark. Ein Würgen stieg in die Kehle des Kummersbachers hoch. Unsicher langte er nach der Kümmelflasche und füllte einen kleinen Becher, der irgendwo umherstand. Verdient hatte sie durch ihre Härte, Geldgier und Verleumdungssucht mancherlei. Aber dies war eine zu harte Strafe. „Du wirst vorläufig hier bleiben,“ entschied er nach kurzem Ueberlegen. „Ihr werde ich ausführlich schreiben.“ Ihr kleines Gesicht leuchtete in seliger Freude auf. „Und jetzt klingle ich nach Hermann. Er wird dir dein Zimmer anweisen. Lege dich aufs Ohr und versuche zu schlafen. Nötig hast du’s. Deine Sachen lege auf einen Stuhl draußen vor die Tür, damit sie richtig getrocknet werden können. Deine übrigen sollen nachkommen. Ich veranlasse das schon.“ Als er allein war und wieder an seinem Schreibtisch saß, stand er auf und schritt lange ruhelos auf und ab. Als er mit sich einig war, schrieb er an Hermine: Deine Schwester wird solange bei mir bleiben, bis sie frisch und gesund ist. Du aber wirst Dich innerhalb zweier Wochen bereit halten, meinem zu Dir entsandten Diener Hermann dorthin zu folgen, wohin er Dich bringen wird. Er ist treu wie Gold und zuverlässig -- auch im Schweigen. Verlaß Dich also ganz auf ihn. In mein Haus kann ich Dich leider nicht bitten. Vielleicht setze ich Dir die Gründe auseinander, wenn Du erst wieder Deine Nerven in der Hand hast. Jetzt nur das eine: Des Daseins Not wird nicht, solange Ihr lebt, an Euch herankommen, weil Ihr denselben Namen tragt wie auch ich. Nur dieser Grund und das grenzenlose Mitleid mit Deiner Schwester treibt mich hierzu. Zwanzig Kilometer von Schloß Kummersbach kaufte ich vor Jahresfrist für zwei inzwischen auch alt und grau gewordene, treue, brave Menschen, die in meinen Diensten durch einen Unfall das Gehör verloren, einen kleinen schmucken Bauernhof. Das geräumige Wohnhaus hat drei unbenutzte hübsche, helle Stuben, die ich sogleich für Euch herrichten lasse. An barem Gelde sollen Dir, außer allem, was Ihr dort kostenfrei bezieht, monatlich 50 Mark überwiesen werden. Kommst Du mit dieser Summe nicht aus, bin ich, nach Prüfung zu weiterem bereit. Es war ihm unmöglich, ein Trostwort oder auch nur einen warmen Gruß anzufügen. Nach alter Gewohnheit siegelte er den Brief und übergab ihn seinem Diener. Dann holte er noch einen Kümmel, obwohl er sich sonst nur einmal in der Woche etwas derartiges zu leisten pflegte. [Illustration] [Illustration] 24. Gretchen Müller saß allein im Zimmer und hielt Rückerinnerungen. Ihre seltsam aufregende Kindheit baute sich leuchtend klar vor ihr auf: Der Vater, der sie, wenn er bei guter Laune war, mit Schmeichelnamen und Süßigkeiten überschüttete -- dem sie zuweilen noch am späten Abend einen Brief ganz heimlich forttragen oder aus dem feinen Geschäft an der nächsten Ecke eine Flasche Wein besorgen mußte, streichelte ihr anerkennend das weiche Gesichtchen. Der Bruder, der dauernd über ihr und allen Ausgängen wachte, erschien ihr trotz des unaufhörlich zwischen ihnen bestehenden Kampfes als der Stab, der sie stützte und leitete. Wenn sie abends in ihrem Bettchen lag und die Hände zu dem von ihm gelehrten Gebet faltete, dachte sie seiner als letzten Gedanken. Er half bereits von der Tertia an für den Haushalt mit zu verdienen. Eine Anzahl Jungen, kaum älter als sie selbst, waren ins Haus gekommen. Ihnen allen hatte er mit nie versagendem Eifer in schwachen Fächern nachgeholfen. Zuweilen fiel von diesen Einnahmen eine Kleinigkeit für sie ab. Ein gutes Buch oder ein Blumenzwiebelchen, dessen Entwicklung sie eifrig zu überwachen hatte. Immer wieder hatte sie seiner gedenken müssen. Ihres Vaters, der sie bis auf das letzte unerhörte Quälen, das sie schließlich dem Verführer in die Arme getrieben, nur immer verwöhnte und bewunderte, gedachte sie längst als eines armen Verirrten, der auch seinen eigenen, richtigen Weg niemals erkannte. Und jetzt sollte sie -- vielleicht sehr bald -- sterben, ohne dem Bruder gedankt, seine Vergebung erfleht und ohne ihn vor allem auf die Straße zu seinem Glücke geführt zu haben! Bisher war sie sicher gewesen, daß der Tod, wenn er endlich käme, von ihr als heißersehnter Erlöser empfunden werde. Seit Tagen grübelte sie unaufhörlich! Sie suchte allein zu sein, denn sie wollte ungestört bleiben, um nur zu einem vernünftigen Entschluß zu kommen. Da klopfte es. -- Zuerst wollte sie nicht öffnen. Schließlich tat sie es, vor der Tür stand nur die schwächliche Sechszehnjährige des Hausmeisters. „Ich brauche Sie heute nicht,“ sagte Gretchen Müller leise und enttäuscht. „Fräulein von Ostried hat mir heute eine feine Ansichtskarte von Dresden geschrieben,“ erzählte Jene wichtig. „Ich soll alle Tage raufgehen und mich ja nicht von Ihnen wegschicken lassen. Sie hätte so viel Angst um Sie und darum gar keine rechte Ruhe.“ Gretchen Müller hatte sich nachdenklich an das Fenster neben Eva von Ostrieds Schreibtisch gesetzt. Es gab wirklich jemand, der sich um sie sorgte? Wie schön das war! Sie hätte es eigentlich nach aller empfangenen Güte wissen und daher keinen Augenblick vergessen dürfen. „Sie sollen auch ordentlich essen und trinken,“ tuschelte die Sechszehnjährige geheimnisvoll, indem sie auf einen freien Winkel neben dem Schreibtisch zeigte. „Da in der Ecke stände was ganz Feines für Sie, wenn Sie es noch nicht gefunden haben sollten.“ Eine Flasche stärkenden Weines, ein gebratenes Hühnchen und ein paar andere Leckerbissen. Am Halse der Flasche war ein Zettelchen befestigt, das Eva von Ostrieds klare Handschrift trug: Meinem lieben Gretchen, damit ich sie frisch und wohl wiederfinde. Daran hatte Eva von Ostried in ihrem Schmerz und in dem Kampf um die Antwort der schwersten Zukunftsfrage denken können! In diesem Augenblicke kam Gretchen Müller zum ersten Male die Frage an, wieviel sie ihrer Wohltäterin wohl gekostet haben mochte. Eine genaue Vorstellung besaß sie nicht davon. Sie hatte aber die bestimmte Ahnung, daß es eine große Summe sein müsse. Da lag die Mappe, in welche Eva von Ostried gewissenhaft alle Rechnungen einzuheften pflegte. Sie hatte die sonst, nach jedem Gebrauch ängstlich verschlossen, sicherlich über dem Schweren der letzten Zeit vergessen. Mechanisch klappte Gretchen Müller sie auf und überflog die einzelnen Posten. Immer wieder begegnete sie ihrem Namen als Veranlasserin der Ausgaben. Entsetzt zuckte sie zusammen, rieb die Augen, als wollte sie um jeden Preis aus diesem Traum erwachen und vertiefte sich von neuem. Dies alles waren Dinge, die sie benötigt hatte. Hier die langen Rechnungen des Apothekers und das erste beglichene Arzthonorar, die Kosten für die Pflegerin und Stärkungsmittel. Dort die Neuanschaffungen für Wäsche und Kleider. Mit bebenden Fingern tupfte sie auf die einzelnen Reihen und zählte sie umständlich zusammen: Dreitausend und fünfhundert Mark für sie. Und wovon? Um Gottes willen! Wenn Eva von Ostried darum jene Schuld, die der Mann ihrer Liebe nicht vergeben konnte, auf sich geladen hätte? Täglich hatte sie doch an dem ängstlichen Erwägen jeder Ausgabe gemerkt, daß Eva von Ostried nicht mit irdischen Schätzen gesegnet sein konnte! Ihre abgezehrten Hände hatten sich zusammengekrampft, als flehten sie um die Kraft zu dem schwersten, entsühnenden, letzten Schritt! Wenn sie aber noch einmal gesundete? Wozu dann die neue, jammervolle Qual? Dann würde sie gewiß nicht früher ruhen, bis sie alles zurückgezahlt hatte. Müde dämmerte sie ein. Wundervoll ruhig, wie seit Monaten nicht mehr, gestaltete sich ihr Schlummer. Als sie nach Stunden daraus erwachte, war sie frei von Schmerzen. Die Nacht durchschlief sie gleichfalls traumlos tief bis zum Morgen, an dem sie die gellende Pfeife des Novembersturms wachheulen mußte. Ihr war so wohl und leicht, wie seit langem nicht. „Ich werde bestimmt noch einmal gesund,“ dachte sie und tastete sich auf, um etwas zu genießen. Aber plötzlich -- sickerte es warm und purpurn, wie ein eiliges Bächlein, über ihre Lippen. Das war der fliehende Strom des Lebens; dagegen gab es nun nichts mehr. Morgen war sie vielleicht schon tot! Sie versuchte sich emporzurichten. Es schlug fehl. So rief sie mit lauter Stimme, wie sie fest überzeugt war, den Namen der Hausmeisterstochter. Es war aber nur ein heiseres Stammeln, das ungehört verklang. In höchster Angst begann sie zu beten. Als sie eine Stunde später noch einmal versuchte, sich zu erheben, schien ihre Kraft gewachsen zu sein. Sie brachte es fertig, zum Schreibtisch zu taumeln. Mit kaum leserlicher Hand malte sie wenige Zeilen: Lieber, guter Bruder! Komme sogleich zu mir. Ich soll sterben und muß Dich zuvor noch gesprochen haben. Frage die Botin nichts. Du wirst alles aus meinem Munde erfahren, auch warum ich bei Eva von Ostried bin. Fürchte keine Begegnung mit ihr. Sie weilt in Dresden. Die Schlüssel zur Wohnung schicke ich Dir mit. Es könnte sein, daß ich nicht mehr zu öffnen imstande wäre. Dann versuchte sie die Treppe herunter zu schleichen. Als sie endlich vor der gutmütigen Hauswartfrau stand, schrie diese laut auf. „Mein Je... wat ist denn mit Ihnen? Sie sehen ja wie ein Geist aus.“ „Ich bin sehr krank,“ sagte Gretchen Müller kaum verständlich. „Dieser Brief muß sofort an die Adresse hier. Bitte, rufen Sie Ihre Tochter...“ „Amanda? Die ist leider nicht da! Kann ich nicht meinen Max schicken?“ „Wie alt ist er?“ „Ostern wird er acht.“ „Nein. Bitte, gehen Sie selbst! Hier, nehmen Sie -- für Ihre Tochter.“ Es war ein Halskettchen aus feinstem Silberfiligran. -- -- -- Mit einem Aechzen sank sie dann auf das Ruhebett ihres einfenstrigen Zimmers, und ihre fieberglänzenden Augen verfolgten gespannt den gleichmäßig vorwärtsrückenden Zeiger der Uhr. Schließlich schlief sie vor Schwäche ein. * * * * * Die alte Pauline stand, noch schneeweiß bis in die Lippen, vor Walter Wullenweber und berichtete von dem Unglück, das sie am Vormittag betroffen hatte. „Wie es gekommen ist? Ich hatte mir einen heißen Stein ins Bett geschoben. Wenn man alt ist, kann man nicht mehr so recht warm werden. Hundertmal hab’ ich das schon gemacht und nie ist was passiert. Nun heute grade. Die Betten sind verkohlt und das schöne Kleiderspind ist ganz hin. Alle Sachen drin sind zu Fetzen verbrannt. Nur ein Kleid ist wie durch ein Wunder verschont, das gute Schwarzseidene, in dem unsere Frau Präsident gestorben ist...“ „Grämen Sie sich nicht darüber, Pauline,“ tröstete Walter Wullenweber. „Wäre die Flurnachbarin nicht so beherzt gewesen, hätt’ ich Ihnen die ganze Wohnung ausgeräuchert...“ „Freuen wir uns also des günstigen Ausgangs --“ „Nun hab’ ich richtig nichts anzuziehen. Und ich muß doch an ihr Grab. Ihr Geburtstag is...“ „Ich denke, das gute Schwarzseidene ist verschont geblieben? Sagten Sie das nicht soeben?“ Erschrocken wehrte sie ab. „Wo denken Sie hin, Herr Rechtsanwalt?! Das ist mir heilig. Nein, nein....“ „Ihre Frau Präsidentin würde Sie auslachen, wenn sie das gehört hätte..“ „Meinen Sie wirklich?“ Es klang, als leuchte eine scheue Hoffnung durch alle Trostlosigkeit. „Auch nach meinem Empfinden wäre es kindisch, wenn Sie aus diesem Grunde fernblieben. Nach allem, was Sie mir von ihr erzählt haben, kann ich mir unmöglich denken, daß sie dies billigen würde.“ „Ich glaube beinahe auch nicht recht dran...“ „Wie können Sie noch überlegen? Der Schaden ist gewiß schmerzlich für Sie, aber viel schmerzlicher würde es sein, wenn auch dies letzte Kleid -- dies Heiligtum in Ihren Augen -- mitverbrannt wäre.“ „Darüber könnt’ ich bestimmt nicht wegkommen...“ „Sehen Sie wohl? Also Kopf hoch! und Hand her. -- Vielleicht hat Ihre Frau Präsidentin aus der Höhe den ganzen Brand überhaupt bestellt, damit ihre alte, überbescheidene Pauline wenigstens einmal im Leben in Seide rauscht.“ „Zuzutrauen wär’ ihr das schon...“ „Na also. Nachher werden Sie mir jedes verbrannte Stück genau aufzählen und möglichst beschreiben, damit ich ordnungsgemäß Anzeige von dem Brand machen kann. Einstweilen sehen Sie, bitte, nach, wer draußen Sturm läutet.“ Es war die Hausmeistersfrau, die Gretchen Müllers Brief brachte. „Lieber, guter Bruder...“ Walter Wullenweber wischte mechanisch über die schrägliegenden Buchstaben, die ihm in zitternden Wellenlinien entgegensahen. Er rief nach der alten Pauline. Seine Füße waren plötzlich zu schwer zum Aufstehen, seine Hand zu unsicher zum Klingeln. „Ich möchte die Botin sprechen, die dies soeben gebracht hat. Schicken Sie sie herein,“ sagte er mit schwerer Zunge. „Ach Gott, Herr Rechtsanwalt.“ Er wehrte ab. „Die Frau ist sehr eilig gewesen; gleich ist sie wieder weg.“ „Hm --“. „Da liegt noch was Eingewickeltes, Herr Rechtsanwalt,“ erinnerte Pauline. „Es sind Schlüssel, hat die Frau gesagt. Sie möchten sich selbst die Wohnung aufschließen. Das Fräulein wäre nämlich ein bißchen kränklich ...“ * * * * * Der Name auf dem Schild und der Schlüssel in seiner Hand... Nein, nein, es war kein Traum! Schon stand er mit einem unsäglichen Gefühl von Verwirrtheit auf dem schmalen Korridor. „Lieselott!“ rief er laut und erschrak über den Klang der eigenen Stimme. Dann tappte er weiter. Das Musikzimmer kannte er aus Eva von Ostrieds Schilderungen. Er sah auch im Geist die hohe, stolze Gestalt der Besitzerin und fühlte, daß seine heiße Liebe zu ihr niemals sterben konnte. Jeder weitere Schritt war eine Qual für ihn. Wie ein Einbrecher kam er sich vor und ging doch weiter... bis er in dem kleinen, einfenstrigen Raume stand, dessen Fenster einen Ausschnitt der sommermüden Bäume zeigte... Auf dem Ruhebette lag eine schmale, zusammengekrümmte Mädchengestalt. Das Gesicht war wachsbleich. Die Lippen farblos. Der Goldton ihres Haares das einzig Lebendige an diesem starren Bilde. Mit einem dumpfen Aufschluchzen warf er sich über sie. „Kleine Lieselotte!“ Seine Arme hoben sie ein wenig empor. „Lieselott, ich bin bei dir.“ Da zuckten die Lider endlich und ihre Augen wachten auf: „Walter... Bruder...“ Nichts weiter vermochte sie zu sagen. Er fragte nichts. Er lag auf den Knieen und hatte seinen Kopf in ihre Hände gebettet. Sanft lehnte sie ihre Wange an sein dichtes, blondes Haar. „Wie schön ist das, Walterle...“ Und dann wie ein Hauch: „Der Vater... unser Vater... weiß er schon?“ Er machte eine verneinende Bewegung. „Walterle,“ sagte sie dicht an seinem Ohr, „ich habe mich halbtot vor dir geschämt. Jetzt ist alles, alles gut! Aber, es dauert nicht mehr lange. Und ich muß dir doch so viel erzählen.“ Zuerst sprach sie von sich, während er einen Stuhl neben ihr Lager geschoben hatte und ihre Hände festhielt. Sie mußte häufig Pausen machen. Sonst reichte ihr Atem nicht aus. Und er mußte doch so unendlich viel wissen. „Du wirst geahnt haben, wohin ich ging, als ich Euch verließ?“ begann sie in bebender Scham. „Ja,“ nickte er und verhüllte seine Augen mit der Rechten, „zu dem Mann, vor dem ich dich schützen wollte.“ „Laß mir deine Hände, Walter.“ Er fühlte die Eiseskälte ihrer Finger und schauerte zusammen, weil er daraus die Nähe des Todes zu spüren meinte. Ihre Stimme war so leise, daß er sich zu ihren Lippen herabneigen mußte, um sie überhaupt zu verstehen. „Er hatte geschworen, mich zu seiner Frau zu machen.“ „Das hast du geglaubt?“ „Wäre ich sonst zu ihm gegangen? Konntest du das auch nur einen Augenblick von mir glauben, Bruder?“ Er schwieg. Das war das Härteste gewesen, daß er davon überzeugt war. „Ich schwöre es dir! Als ich die untrüglichen Beweise seiner Treulosigkeit hatte, als ich wußte, daß bereits eine andere seinen Namen trug, ohne daß mir eine Ahnung davon gekommen war, verließ ich ihn.“ „Wie habe ich dich gesucht, Lieselott...“ „Finden lassen durfte ich mich nicht von dir. Nicht wahr, das verstehst du auch. Gelernt hatte ich nichts wie das bißchen Harfenspiel. Und in ein Nachtkaffee wollte ich nicht! -- Dein Name, Walter, hat mich vor vielem zurückgehalten. Mit diesem Namen durfte ich auch nicht in der Oeffentlichkeit arbeiten. Du hättest mich gefunden. Ein Zufall half mir. Als ich wieder einmal umsonst nach Beschäftigung gegangen war, fand ich, neben mir, in einem Abteil der Stadtbahn eine Tasche mit Ausweispapieren... Ich nahm sie an mich. Es ging doch nicht anders. Seitdem bin ich „Gretchen Müller.“ Aber er fand mich auch als solches und ließ mir keine Ruhe. In dem Geschäft, das mich angenommen, machte er mich unmöglich. Ich wollte sterben... Da war aber eine, die es verhindert hat. Eine Schülerin von Eva von Ostried. Sie hat mich zu ihr gebracht ...“ „Wie lange schon,“ fragte er heiser. „Länger als zwei Jahre. Ohne Eva von Ostried wäre ich verhungert. Ihr verdanke ich alles. Nicht nur, daß ich wieder anständige Kleider und eine Heimat erhielt, das sie mich pflegte und umsorgte. Ach, das war wohl schön... Aber das andere war das Wunder, das meine Seele gereinigt hat. Wie eine Schwester ist sie allzeit zu mir gewesen. Sieh her, diese Sachen hat sie für mich gekauft, damit ich auch in ihrer Abwesenheit nicht darbe. Und hier in dieser Mappe stehts, wieviel Geld sie für mich geopfert hat. Woher sie das konnte? -- Walterle, ich weiß es nicht, wie so vieles. Aber ich las deinen harten, letzten Brief an sie. Er bestätigte meine Ahnung, die mich nicht verlassen, seitdem ich das erste Mal einen Umschlag mit deiner Handschrift bei ihr sah. Sie ahnt nicht, daß ich deine Schwester bin, wie sie mir auch deinen Namen nicht verraten hat. Nur, daß sie Braut geworden und nachher -- -- das andere -- -- daß alles aus sei -- -- hat sie mir gesagt. Walterle, hör’ zu -- -- sie hat mich in die Arme genommen, auch damals, als der Verführer bei ihr eindrang und sie wissen mußte... Laß -- frage nichts -- -- fluche ihm auch nicht. Er ist tot -- -- Vielleicht tat sie es, weil sie auch um sich litt -- -- Und um dich. Am allermeisten. Nun hast du ihre heiße Liebe, die nur für dich fühlt und bangt, zurückgestoßen...“ Er stöhnte auf. „Was mich das gekostet hat -- -- --“ „Ich weiß es, denn ich kenne dich, Bruder! Du hättest mich nie wiedergefunden, wäre sie nicht in mein Leben getreten. -- Nicht um mich -- -- nein um ihretwillen fand ich die Kraft, dich zu rufen...“ „Sie liebt mich nicht mehr,“ wendete er ein. „Ach du! Ihre Liebe ist so stark, daß sie sich vor ihr fürchtet. Darum wird sie es auch vielleicht tun.“ „Wovon sprichst du?“ „Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie ein Verwandter von ihr -- ein Majoratsherr -- der denselben Namen wie sie führt, um sie geworben hat.“ „Und sie...? Ist sie schon seine Braut?“ „Noch nicht. Aber die beiden Wochen Bedenkzeit, die sie sich erbeten hat, sind bald verstrichen...“ „Wann sind sie vorüber?“ „Es war vor neun Tagen...“ Er stand auf. „Glaubst du, Lieselotte, daß sie nach allem mir noch einmal vertrauen kann?“ „Ich weiß nicht, was Euch getrennt hat und will es nicht wissen. Nur, daß sie dich weiter über alles liebt, weiß ich als einzig Gewisses.“ „Und ich sie ebenfalls --!“ „Also wirst du sie aufsuchen?“ „Es wird mich zwingen...“ „Dabei sollst du ihr diesen Brief geben. Ja, Bruder? Ehe du kamst, habe ich ihn geschrieben. Es steht nur eine Zeile darin.“ „Und warum willst du nicht selbst -- --?“ Sie lächelte ihn an. „Ich werde sterben. Es ist nur der Wein, der mir diese letzte Kraft gab, auszuhalten. Jetzt darfst du mich nicht allein lassen. Hörst du? Erst, wenn es ganz dunkel geworden ist, sollst du heimgehen...“ Ein langes Schweigen kam. Er hatte sie aufgerichtet. „Wo wohnt dein Arzt, Lieselotte,“ forschte er. „Laß ihn, Walter. Was soll er mir noch? Sieh mich an. Du bist mein Arzt und Erlöser... Und nun erzähle vom Vater -- --“ Er tat es, und sie nickte zuweilen. „Jetzt wird er sich über meinen Gruß freuen, Bruder...“ „Ich werde ihm telegraphieren, Lieselott!“ „Morgen, ja! Nicht heute! Es tut so bitterlich weh -- hier -- hier -- --“ und sie zeigte auf die Brust. Fest bettete er sie in seinen Armen. „Glaubst du, Walter, daß mich eine andere, wie sie, damals aufgenommen hätte -- mit dem Schimpf der Verlassenen und Geächteten. Todkrank. Kaum ein anständiges Stück Zeug auf dem Leibe -- --“ „Hör’ auf!“ flehte er gequält. „Du mußt genau wissen, wie es damals um mich stand. Sonst begreifst du ihr großes, warmes Opfer nicht voll.“ „Doch, ich fühle es in seiner ganzen Tragweite, Lieselott.“ „Du hast sie vorher eine Heilige genannt. Das ist sie wirklich... Sieh, ich weiß am besten, wie rein sich ihre Seele hält. Darin ist lauter Licht und Keuschheit. Alles nur für dich!“ „Und ich konnte sie richten,“ dachte er dumpf. Ihr leichter Körper wurde schwer in seinen Armen. Das Gesicht veränderte sich auffallend. Es nahm spitze, fremde Züge an. Der Atem setzte aus. -- Es ging aber wieder vorüber. „Tag und Nacht hat sie um dich geweint, Walter!“ Dann sprach sie lange nichts mehr. Nur der Atem kämpfte verzweifelter, bis wieder ein rosenrotes Bächlein über ihre Lippen quoll. Danach wurde ihr leichter wie zuvor. Nur die Stimme gehorchte nicht mehr, und die Gedanken waren weit -- weit weg. „Meine Harfe,“ verlangte sie mit einem röchelnden Lachen, „laßt sie mir doch!“ Er dachte daran, daß er sie ihr zuweilen verschlossen gehalten, weil sie ihre Aufgaben für die Schule und später für die Häuslichkeit darüber vernachlässigte. Ueberall empfand er seine Mißgriffe. „Herr Tebecke konnte keine Musik vertragen,“ träumte sie erschauernd. Das war der Name des Mannes, dessen Reichtum den Vater geblendet und sie aus dem Hause dem Andern entgegen gehetzt hatte. Auf ihren eingefallenen Wangen erblühte ein Röslein. Die Augen glänzten. Sie wußte nichts mehr von der Gegenwart... Sie lag, die Hände fromm gefaltet und lächelte. Mit einem Wehlaut warf er sich über ihre Hülle... Die kleine weiße Rose, aus dem Heimatsboden gerissen, durch den Strom sündiger Leidenschaft blutrot gefärbt, im Staub der Straße zertreten, -- nun war sie wieder schneeweiß und würdig für den himmlischen Garten des allmächtigen Vaters! [Illustration] [Illustration] Schluß. Eva von Ostried war einen halben Tag eher, wie sie zuerst gedacht, aus Dresden zurückgekehrt, hatte von jeder telegraphischen Benachrichtigung abgesehen, weil sie der kleinen, aufmerksamen Hausgenossin keine Mühe machen wollte und sich durch den mitgenommenen Schlüssel mühelos Zutritt verschafft. Die verworrene Erzählung der Hausmeistersfrau unten im Hausgange war ihr unverständlich geblieben. Nun stand sie, Sorge und Zärtlichkeit auf dem Gesicht, vor -- -- Walter Wullenweber -- -- Als sie ihn erkannte, streckten sich ihre Arme in stummer entsetzter Abwehr aus. -- Nichts begriff sie, als daß er da war. Alles andere wurde ihr unfaßbar. Erst nach geraumer Weile merkte sie, was geschehen, und schrie in grauenhafter Furcht auf, daß die Todkranke, als sie ihrer letzten Stunde gewiß wurde, ihn gerufen haben mußte. Aber warum? Hatte sie alles gewußt und wollte für sie bitten? Ja -- so war es! Durch diese Erkenntnis kam sie zur Kraft! „Sie hat es gut gemeint,“ sagte sie endlich leise und weich, „und es war auch gütig, daß du gekommen bist. Aber, nicht wahr, nun wollen wir uns nicht länger quälen. Ich werde mein nächstes Konzert abtelegraphieren und sie zur Ruhe betten lassen. Lebe wohl...“ Er war dicht neben ihr. „Eva!“ Sie hob nur die Hand. „Laß alles schlafen. Das ist meine letzte Bitte.“ Da stieß er heraus, was sie erst allmählich erfahren sollte. „Sie ist meine Schwester, Eva! Die arme kleine Lieselotte, von der ich dir schrieb... damals -- --“ „Deine -- Schwester -- die du so lange vergeblich gesucht hast?“ „Ja. Hier ist der Brief, mit dem sie mich rief.“ Sie starrte darauf hin, als begriffe sie seinen Sinn nicht. „Deine Schwester?“ wiederholte sie nur immer wieder. „Nicht wahr, das ändert alles!“ Sie sah mit wirrem Blick umher, an ihm vorbei und endlich auf das bleiche, lächelnde Gesicht der Toten. „Was könnte es wohl ändern? Doch, die Bitterkeit! Ich will dir wenigstens die Hand reichen.“ Wie einst riß er ihre Rechte an sein Herz. „Nicht so! Es ist nur um ihretwillen. Sie hat mir ja auch dies Opfer gebracht.“ „Fühlst du es als Opfer, Eva? Vergiß doch! Ich liebe dich noch immer über alles.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nichts mehr davon. Es ist alles längst vorbei und überwunden.“ „Bei ihrem Andenken schwöre ich dir, daß ich nie aufgehört habe, dich zu lieben. Nur das andere...“ Er stockte. „Es war sehr hart, aber ich habe es begreifen gelernt.“ „Jetzt mußt du begreifen, daß ich nicht ohne dich leben kann, Eva.“ „Du bildest dir nur ein, daß es so sein müsse. Begreiflich. Glaubst, mir um deiner Schwester willen Dankbarkeit zu schulden. Der Schmerz um sie -- -- ein wenig wohl auch die Reue -- haben dich, den sonst unbestechlich Ehrlichen so weit getrieben. Ich verstehe auch das. Und will -- vergessen -- --“ „Du sollst nicht, Eva!“ „Wenn ich schon -- -- vorher vergessen hätte -- --?“ Er sah sie fassungslos an. „Lieselott hat mir auch von der Werbung des Waldesruher gesprochen. Solltest du dich bereits vor Ablauf der beiden Wochen für ihn entschieden haben?“ „Ich wollte es tun,“ erwiderte sie sanft. „Aber -- -- nun wird es wohl doch nicht gehen.“ „Warum nicht?“ drängte er mit neu erwachender Hoffnung. „Warum? Ach -- -- das läßt sich schwer ausdrücken. Vielleicht, weil ich mich auch seiner nicht wert fühle.“ Er umklammerte ihre Handgelenke. „Du sprichst nicht die Wahrheit -- --“ „Ich könnte nichts anderes sagen -- -- im Augenblicke.“ „Soll das heißen, daß ich später -- -- morgen, übermorgen -- --“ „Nein,“ wehrte sie erschrocken ab. „Es soll heißen, daß ich niemals wieder -- --“ „Wen? Den Andern?“ „Nein, dich,“ sagte sie, immer noch wie im Traum. „Eva, ich flehe dich an. Denke daran, daß es das letzte Mal sein kann.“ „Das wäre gut! Ich will ruhig werden und sühnen. Gönne mir diese Ruhe.“ „Du hast hundertmal gut gemacht. Ich danke dir -- --“ Sie ließ ihn nicht zu Ende kommen. „Nur an mein Glück hat sie gedacht, deine kleine Schwester. Das sieht ihr ähnlich. Ich habe sie sehr lieb gehabt. Vielleicht -- --“ „Sei barmherzig. Vergib mir meine Härte und Ungerechtigkeit.“ „Steh auf -- -- ich allein bleibe die Schuldige. Es hilft nichts, ich -- -- habe gestohlen. Siehst du, jetzt zum ersten Mal geht das fürchterliche Wort aus meinem Munde. Das Gespenst läßt sich nicht vertreiben. Die Präsidentin hatte mir nichts zugedacht und ich habe es nicht glauben wollen. Ich habe dir nie von meinem Verhältnis zu ihr gesprochen. Jede ihrer Handlungen bewies mir, daß sie mich lieb hatte. Selbst, wenn sie unzufrieden mit mir war, wurde sie nicht hart. Ich merkte vielmehr, daß sie darunter litt. Und sie -- -- hat es mir auch versprochen. Klipp und klar. Da ist es mir unfaßbar gewesen, daß sie, die nie ein gegebenes Versprechen brach, nicht an mich gedacht haben sollte. Bei Gott! Mein Gefühl hat unablässig dagegen geeifert, immer noch, bis vor ganz kurzem. Nicht wahr, wenn sich schließlich doch ein Nachsatz, der mich bedacht hätte, vorfand, dann -- ja dann -- --. Das wirst du gewiß auch nicht verstehen. Wirst meinen, an meiner Schuld ändere das nichts. Mich hätte es losgesprochen. Ich hätte mir einbilden können, ich wäre nun nicht länger schuldig! So aber, wenn ich vergessen wollte -- wie damals -- in deinen Armen -- nachher kam es doch wieder. Ein Satz nur, aber ein fürchterlicher, strenger noch wie du -- -- „Der Uebel größtes... aber ist die Schuld...““ „Wir werden gemeinsam arbeiten und sparen, damit wir alles zurückerstatten,“ flehte er erschüttert. „Denn so grausam, daß du mich nun zu deinem Schuldner auf Lebenszeit machst, der nicht abtragen darf, was du seiner Schwester gegeben, kannst du nicht sein.“ „Das Geld -- -- das schreckliche Geld -- --“ klagte sie. „Wie es dich schon drückt, daß du es schuldest -- --“ „Nein, das andere ist mir die Hauptsache. Deine Liebe, die selbstverständliche Güte, dein Verstehen und Vergeben, mit dem du meine Schwester überschüttet hast -- --“ „Sollte ich, die schuldig Gewordene, sie verurteilen?“ „Ich war auch schuldig an ihr und habe dich doch gepeinigt.“ „Das tust du erst jetzt und ich kann es nicht länger ertragen. Laß uns das Nötige ruhig mit einander besprechen. Ich überlasse dir natürlich die Bestimmung über alles, was sie angeht. Willst du es lieber allein besorgen, weil doch auch wohl dein Vater kommen wird... so begebe ich mich für diese kurze Zeit in eine Pension. Wirklich, es macht mir nichts. Du denkst, daß dies hier die Heimstätte deiner kleinen Schwester sei, aus der, hinweggetragen zu werden, ihr gutes Recht ist. Wenn alles vorüber ist, kehre ich schon zurück. Wohl kaum mehr für lange... Ich weiß das alles noch nicht.“ Er stand hoch und stark neben ihr, als habe er die Last, die ihn zu ihren Füßen niederzwang, endlich abgeworfen. „Noch einmal. Ich liebe dich! Sei barmherzig. Stoße mich nicht zurück.“ „Weil ich es sein muß, sage ich: mache ein Ende! Glaubst du, daß du mir dankbar zu sein hast, dann habe ich ja auch die Erfüllung einer Bitte gut.“ „Sprich sie aus. Was du willst, soll geschehen!“ „Ich danke dir. Vergiß mich, Walter!“ „Kannst du dir das wirklich erbitten?“ „Ja, das kann ich!“ Er griff an die Stirn. Sein Gesicht wurde von einer schmerzhaften Angst verzerrt. „Eine Erklärung verlange ich wenigstens...“ Sie sann ein wenig. „Wie soll ich das erklären? Fühlst du es nicht?“ Er schüttelte wild den Kopf. „Nein? Du hast doch empfunden, daß ich dein Leben verdorben hätte... wenn...“ „Empfunden? Doch nicht! Nur einen Augenblick lang gefürchtet. Das, was dir gehört, hatte gar nichts damit zu schaffen. Das andere in mir, das für das Recht steht und fällt, schrieb dir den Brief. Mein Herz hat dich auch in diesem Augenblick keinen Deut weniger geliebt als zu Anfang und jetzt!“ Mit leicht geschlossenen Augen lauschte sie ihm. „Es klingt schön. -- Ich glaube es aber nicht!“ „Dann muß ich vollenden. Ich verstehe, daß du mich niemals geliebt hast wie ich dich...“ In ihrem Gesicht begann es zu zucken. Sie war am Ende ihrer Kraft. Noch ein Wort -- eine Wiederholung der alten Bitte -- ein Entgegenrecken seiner Arme und... Sah er denn ihre große, heiße Liebe, daß er nicht müde wurde, sie zu verlangen? Er durfte sie nicht gewahr werden. Nie mehr... Sein Leben mußte hell und rein bleiben. Würde sie sein Weib, machte sie ihn zum Mitschuldigen und vernichtete ihn langsam damit. Was lag an ihr? Mochte sie nachher zusammenbrechen. Bis sie es ausgesprochen hatte, würde sie sich aufrecht erhalten. „Ich gehe also. Du und die alte Pauline, Ihr werdet alles nach deinem Willen einrichten. Den Schlüssel kannst du danach unten bei der Hausmeistersfrau abgeben. Ich hole ihn mir später schon...“ „Soll das deine Antwort auf meine Anschuldigung sein?“ „Verlangst du wirklich eine?“ „Eva,“ stöhnte er, „laß es genug der Folter sein. Ich bitte dich nach diesem nicht mehr!“ Sanft streichelte sie die gefalteten Hände der Toten. Und es war, als bringe ihr die eisige Kühle die Besinnung zurück -- -- als sei sie nun gegen alle Sehnsucht gefeit. „Ich kann nicht,“ gestand sie leise, „und wenn ich mich halbtot quälen würde.“ „Quälen sollst du dich nicht. Nein -- das hast du nicht um uns verdient.“ Es klang hart und fest. „Du hast uns genug geopfert. -- Noch heute Abend werde ich meine kleine Schwester zu mir holen. Verzeih dies Letzte. Ich muß dich solange aus deiner eigenen Wohnung vertreiben. Danach aber -- ich hoffe gegen zehn Uhr -- ist jede Spur von uns verwischt.“ Sie fühlte mit kaltem Schrecken, wie sie zu taumeln begann. Wenn er sie jetzt noch einmal ansehen würde -- -- Seine Augen mieden ihr Gesicht, während er, nach kurzer Pause, wieder zu sprechen begann. „Du hast mir am Schluß deines letzten Briefes etwas schreiben können, was ich lange nicht begriffen habe. Vielleicht hast du es wirklich so gemeint. Daß ich glücklich werden soll ohne dich. Jetzt beginne ich deinen Wunsch zu begreifen. Du wirst und willst ohne mich glücklich werden. Das weiß ich nun -- --“ Sie widersprach ihm nicht. Einen Herzschlag lang wartete er darauf. -- „Lebe wohl, Eva.“ Hatte sie den gleichen Abschiedsgruß für ihn gehabt? Mit vorgeneigtem Oberkörper stand sie und lauschte, wie sein Schritt auf dem teppichlosen Stückchen Parkett zwischen Sterbezimmer und Musikraum hörbar wurde -- -- wie er über den langen Korridor tappte -- die Hand auf den Drücker schlug, der stets ein wenig schwer gehorchte und die Tür hinter sich zuklappte. Dann erst brach sie mit einem wilden verzweifelten Aufschrei, der nichts als unsterbliche, ewige Liebe nach ihm war, in die Kniee. * * * * * Major a. D. Wullenweber hatte nicht zur Bestattung seiner Tochter kommen können. Noch bevor der Eilbrief seines Sohnes in Hohen-Klitzig angekommen war, packte ihn ein neuer Schlaganfall. Lebensgefahr bestand auch diesmal nach dem Urteil des Arztes nicht. Immerhin war die größte Schonung und Ruhe erforderlich. Der Amtsrat verschwieg ihm daher den Inhalt des zur Vorbereitung des Vaters an seine Adresse gerichteten Briefes. So lag der Kranke -- ahnungslos -- mit leise röchelndem Atem, ohne zu ahnen, daß in derselben Stunde, in welcher er nach drei Tagen wieder mit Genuß einer schmackhaften Suppe zusprach, seine kleine Lieselott an der Seite ihrer Mutter zur letzten Ruhe gebettet wurde. Die alte Pauline war von Walter Wullenweber so weit ins Vertrauen gezogen, wie es sich um das traurige Geheimnis seiner kleinen Schwester handelte. Mehr hatte er ihr auch nicht sagen wollen! Und sprach ihr dann, als alles vorüber war, doch davon, daß er Eva von Ostried liebte und sie, nach kurzem unaussprechlichen Glück, verlieren mußte. „Sie dürfen morgen nun doch nicht zum Geburtstag Ihrer Frau Präsidentin heraus,“ sagte er am dritten Abend nach der Beisetzung. „Warum denn nicht, Herr Rechtsanwalt?“ „Weil Sie von rechtswegen längst ins Bett gehören...“ „Da halte ich es gar nicht aus. Mir ist, als müßte ich laufen und immer blos laufen, um einzuholen, was mir sonst wegflitzt.“ „Ich habe einen schönen großen Kranz bestellt, Pauline. Lauter tiefrote Astern, von denen Sie mir mal sagten, daß sie Frau Präsidentin von allen Blumen am liebsten hatte,“ versuchte er sie zu beruhigen. „Wie gut Sie sind,“ dankte sie gerührt. „Gut?!“ lachte er gerührt auf. „Sie dürften eigentlich sowas nicht sagen. Versprechen Sie mir jetzt feierlich, daß Sie sich mit meinem Vorschlag einverstanden erklären.“ „Was soll ich denn, Herr Rechtsanwalt?“ „Morgen brav daheimbleiben und hier den Tag im Gedächtnis an Ihre Frau Präsidentin verbringen. Den schönen Kranz trage ich ihr selbst ans Grab. Es macht mir nichts aus...“ Sie wurde rot wie ein junges Mädchen, das eine Not nicht länger verbergen kann. „Und wenn Sie mich festbänden, bliebe ich nicht zu Hause. So gut Sie es wieder mal meinen. Das geht nicht. Wie eine Meineidige käme ich mir vor. Ich hab’ ihr in die Hand versprochen, daß ich jedes Jahr, solange ich am Leben bin, ihr Grab an dem Tage schmücken wollt’, denn sie konnte keine Unordnung leiden. Und wenn ich mir gleich den Tod holen müßt’ -- jawohl... hin würde ich doch machen.“ Da sagte er kein weiteres Wort dagegen, sondern ließ sie gewähren, als sie am nächsten Tage in dem feierlichen Schwarzseidenen, mit dem Kranz auf dem Arm vor ihm stand und leise und beschämt wegen ihres Ungehorsams um Entschuldigung bat. -- Walter Wullenweber hielt sich mit eisernem Willen aufrecht. Seine stark entwickelte Pflichttreue, die unermüdlich die angehäufte Arbeit abtrug, unterstützte ihn. Nur in den kurz bemessenen Freistunden gab er sich seinen trostlosen Gedanken hin. Ob sie ihn wirklich nicht mehr liebte? Tagelang hatte er es als sicher angenommen. Wie durch ein aufregendes Ereignis Gesicht und Gehör verloren gehen konnten, mochte auch wohl ihre Liebe dieser Erschütterung nicht standgehalten haben. Jetzt begann er ihre Scham und ihren Stolz richtig einzuschätzen. Begriff, so sehr es auch gegen das starre Gesetz ging, daß eine nachträglich aufgefundene Bestimmung der Präsidentin zu ihren Gunsten die Last der Tat von ihr abgewälzt hätte. Damit ward ihm auch das Andere klar. Daß sie mit diesem Augenblick wieder sein und diesmal auf ewig gewesen wäre. Nun dies unmöglich geworden war, hatte er keinen Anteil mehr an ihr! Er hatte den Kopf auf die Platte des Schreibtisches gelegt und litt weit über alle Kraft unter der Unmöglichkeit, dies jemals zu ändern -- -- -- Das ungestüme Aufreißen der Korridortür, ihr heftiges Zuschlagen, das Hereinstürzen der feierlich angetanen, alten Pauline, ließ ihn erschrocken emporfahren. Selbst nach dem Brande war sie nicht so fassungslos erschienen. Sie stand vor ihm, wie er sie noch nie gesehen hatte. Ihre welken Lippen zittern. Augenscheinlich wollte sie etwas berichten und brachte doch nichts heraus, als ein Aufschluchzen der Freude! „Das habe ich in der Tasche von unserer Frau Präsidentin Schwarzseidenem gefunden,“ konnte sie endlich herausbringen. Er las den Inhalt des gelblich gewordenen Zettels. Ihn voll zu begreifen, war ihm noch versagt. Es war zu neu, zu gewaltig und zu schön. Als er sich endlich dazu zwingen konnte und sich auch überzeugte, daß Unterschrift und Datum diesen Zeilen volle Gültigkeit verliehen, steckte er ihn zu sich und sprang auf. Bescheiden, auch jetzt noch, wartete die alte Pauline auf das erste seiner Worte. Er preßte nur stumm ihre Hände zwischen den seinen, sodaß sie Mühe hatte, einen Aufschrei zu unterdrücken und stürzte fort -- -- -- Mit stillem Lächeln sah sie ihm nach. Ihr war nicht verborgen, wohin ihn jetzt sein Weg führen mußte. * * * * * Seit zwei Tagen weilte Eva von Ostried wieder in ihrem Heim. Es kam ihr grenzenlos öde vor. Der jubelnde Beifall, der ihr ebenso in Dresden wie in Weimar geworden, lag weit hinter ihr. Ihr Blick galt der Zukunft. Morgen in der Frühe würde sie den Vertrag unterzeichnen, der sie auf die Dauer von drei Monaten in die verschiedensten Großstädte führen sollte. Und dann -- -- Ja -- dann kam endlich doch wohl noch alles, wie sie es einst so heiß gewünscht und nun längst nicht mehr erstrebt hatte -- -- --. Wahrscheinlich zum kommenden Herbst würde sie einer schon jetzt ergangenen dringenden Einladung des Dresdner Intendanten folgend, dort auf Engagement singen. Sie kämpfte nicht mehr. Alles schien überwunden zu sein. Das einzige Gefühl, dessen sie sich für fähig hielt, bestand in einem brennenden Neid auf die Tote. Das kleine einfenstrige Zimmer, aus dem sie hinausgetragen war, blieb seither unbenutzt. Furchtsam wurde es von Eva von Ostried gemieden. Nicht die Tote allein wehrte ihr den Eintritt, sondern vor allem der Lebende, der erst langsam für sie sterben mußte. Sie saß vor dem Flügel, aber sie dachte nicht an das, was einst ihr höchstes Sehnen gewesen. Wie längst durchlesene Bücher, die kein Interesse mehr erwecken konnten, betrachtete sie die Stöße von Noten. Es gab nur noch ein Lied für sie, das sie niemals vergessen würde, das kleine Lied von der weißen Rose.... Sein Lied! Vorläufig hatte sie sich am Fenster einen Tisch mit allem Nötigen zum Schreiben zurechtgestellt. Sinnend ruhte ihr Blick auf dem großen weißen Bogen, der gespenstisch zu ihr hinwinkte. Ehe es Abend geworden war, wollte sie einen Brief schreiben... Sie ging hinüber und tauchte die Feder ein. Wenn er fort sein würde, hatte sie keine Anwartschaft mehr auf das alte stille Schloß in Waldesruh! Trotzdem schrieb sie ihn hastig! Er wurde kurz. Ich kann nicht Ihre Gattin werden. Aber ich danke Ihnen warm für die mir zugedachte Ehre... Warum konnte sie es nun doch nicht? -- Auf dem Tischchen lag ein Stoß geöffneter Briefe, die sie in Dresden und Weimar erhalten hatte. Schwärmerische Ergüsse -- -- Nun brach sie wieder hervor, die alte heiße, wilde Sehnsucht nach dem Geliebten. Das mühsame Versteckspiel mit den eigenen Gefühlen war nutzlose Marter. Ihre Seele gehörte ihm auf ewig. Wie erlöst atmete sie auf, als draußen die Klingel ging. „Wirklich kommt er,“ dachte sie befriedigt, während sie hinausging. Sie konnte den Eintretenden in dem Zwielicht nicht sogleich erkennen und ahnte doch sofort, wer er sei! Ihr Herz begann wie rasend zu pochen. -- -- -- Gehorsam blickte sie auf ein beschriebenes Blatt nieder, das er vor sie hingelegt hatte, als sie sich im Musikzimmer gegenüberstanden. „Ich kann nicht,“ flüsterte sie, als sie die Handschrift sah. Da las ihr Walter Wullenweber vor: Nach einem Anfall großer Herzschwäche, den ich zwar überwunden habe, dessen Wiederkehr ich aber fühle, bestimme ich hiermit als Nachtrag zu meinem bereits gemachten Testament, daß meine geliebte Pflegetochter Eva von Ostried bei meinem Ableben Einhundertundfünfzigtausend Mark durch Herrn Justizrat Weißgerber ausgezahlt erhalten soll. Und zwar ist diese Summe von derjenigen für die Stiftungen festgelegten abzuziehen. An den ausgesetzten Legaten soll nichts geändert werden. Meine treuesten Grüße gehören meiner lieben Eva. Zur Zeit Belgard a. d. Persante, Hinterpommern, im Wartesaal der 2. Klasse, den 24. August 1918. Frau Präsident Hanna Melchers. Als Walter Wullenweber zu Ende gelesen hatte, sah er sie an. Und sah, daß sie ihre Hände, wie bittend, zu ihm erhoben hatte. Nun lag sie an seinem Herzen. „Eva -- jetzt -- bleibst du mein?“ „Ja,“ flüsterte sie, „dein, nur dein!“ Er ließ den Brief der kleinen toten Schwester in ihren Schoß gleiten, während er sie küßte. „Den mußt du selbst lesen.“ Wie kurz er war! Die Zeichen fast unleserlich. Und doch der einzige Satz wundervoll freisprechend -- an dem endlich errungenen Glück vollendend, was ihm im Augenblick -- vielleicht noch unbewußt -- fehlte. „Der Uebel größtes ist die +ungesühnte+ Schuld!“ In dieser heiligen Stunde streifte Eva von Ostried alle Bitterkeit ab. Die Zeit des Leidens erschien ihr als eine Gnade, durch welche sie pilgern mußte, um des Geliebten würdig zu sein. Während sie ihre Wange an die seine schmiegte, sagte sie dankbar und demütig: „Unsere kleine Schwester hat recht! Aber ich will noch weiter in ihrem Sinne sühnen, um meines großen Glückes auch würdig zu bleiben!“ [Illustration] *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER UEBEL GRÖSSTES .. *** Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for an eBook, except by following the terms of the trademark license, including paying royalties for use of the Project Gutenberg trademark. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our website which has the main PG search facility: www.gutenberg.org This website includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
47112-8
The Project Gutenberg EBook of Der Jesuit, by Carl Spindler This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Der Jesuit Charakter-Gemälde aus dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts Author: Carl Spindler Release Date: October 14, 2014 [EBook #47112] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER JESUIT *** Produced by Peter Becker, Karl Eichwalder and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was produced from scanned images of public domain material from the Google Print project.) +--------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription: | | | | Gesperrt Text ist als _gesperrt_ markiert. In Antiqua | | gesetzter Text ist als =Antiuqa= gekennzeichnet. Eine Liste | | mit Korrekturen befindet sich am Ende des Textes. | | | +--------------------------------------------------------------+ Der Jesuit. Charakter-Gemälde aus dem Ersten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts von C. Spindler. Amerikanische Stereotyp-Ausgabe. Philadelphia. Verlag von F. W. Thomas. 1855. Printed by T. K. & P. G. Collins Der Jesuit. Erster Theil. Erster Abschnitt. 1720. Des Senators Familienleben. -- Sein Comptoir und dessen Diener. -- James. -- Fortuna's Launen. -- Der Geschäftsfreund aus Holland. -- Das Gespräch unter den Kastanienbäumen. -- Der verhängnißvolle Besuch. Schön ist es, über eine Schwelle zu schreiten, jenseits welcher der Fleiß und die geschäftige Betriebsamkeit ihren Thron erbaut haben, sobald man sieht, daß all das ewige Treiben das Wohlsein des Lebens begründen soll, und nicht blos einen glatten Gypsmarmor um die trockne, dürre Säule von Holz. Der Hausvater ist ein ehrwürdiger, geliebter Mann, wendet er seiner unermüdlichen Thätigkeit Zinsen dazu an, daß die Seinen sich fröhlich daheim finden in dem traulichen Hause; -- daß er selbst, -- der Schöpfer des Wohlstandes -- behaglich ruhe in seinem Eigenthume. Die heitere Wohnung wird ein Paradies für den Besitzer, ein Ort des Friedens den Freunden, den Bedrängten ein Asyl. Keucht aber im Erdgeschosse die besoldete Mühe im eisernen Dienstjoche, während im obern Stockwerke die Langeweile, die Verdrossenheit, auf einsamen Polstern, hinter kaltem Stein und vornehmen Goldwänden gähnt, -- dann, Wanderer, meide die stolze Pforte, wenn auch noch so einladend das »Salve« von ihrer Schwelle spricht. In dem Steinhaufen gebietet kein fühlendes Gemüth, und vor dem starren Reichthum floh die Zufriedenheit! -- Wer im Jahre 1720 gelebt, und das Innere des Hauses gesehen hätte, welches der Senator Müssinger in der deutschen Reichs- und Handelsstadt, die der Aufzeichner dieser Begebenheiten meint, aber nicht nennt, dazumal bewohnte, müßte dem einleitenden Spruche Beifall geben. Das stattliche Gebäude war von Uranbeginn zum Denkmale des Hochmuths bestimmt gewesen. Ein Spekulant, der in den ersten Jahren des spanischen Erbfolgekriegs durch Lieferungen für die alliirten Heere ungeheure Summen gewonnen hatte, legte das Fundament zu dem pallastähnlichen Hause. Die Vollendung desselben sollte er nicht sehen. Mancher Schurkereien überwiesen, sollte ihm, kurze Zeit nach der Schlacht bei Hochstädt, der Prozeß gemacht werden: er entging der Schande jedoch durch einen kühnen Pistolenschuß. Die leere, unausgebaute Prachtwohnung des verunglückten Lieferanten kaufte bald der vom Glücke begünstigte Senator Müssinger. Der unternehmende Handelsherr, der mit Ost- und Westindien verkehrte, fand sich zu enge in dem kleinen Vaterhause, zog über in das Neue, Große; und Fortuna, die bereitwillig in dem bescheidenen Spezereikrame des Kaufmanns Platz genommen hatte, siedelte mit in das neue, geräumige Comptoir. Müssingers Firma war die Erste auf dem Markte, und florirte weit und breit im Aus- wie im Inlande; trieb Jahr für Jahr die schönsten Blüthen und Früchte. Die Mehrzahl seiner Mitbürger beneidete den glücklichen Senator; sie bewies aber durch diesen Neid -- entweder ihre Unbekanntschaft mit Müssingers anderweitigen Verhältnissen, -- oder einen Gelddurst, der Alles schnöde übersieht, was das Herz berührt, und nicht allein den Courszettel im Gehirn. Trieb des Kaufmanns Geschäft auch Blüthen, -- der Hausvater sammelte keine aus seinem Familienleben. Seine Frau, seit achtzehn Jahren mit ihm vermählt, hatte ihm viele Geldsäcke, keine Neigung zugebracht, und die Zeit nichts gethan, die vom Berechnungsgeist der Väter verbundenen Ehegatten im Gemüthe zu vereinen. Unfriede herrschte gerade nicht; -- der Friede aber, der versöhnt und duldet und vergibt, wahrlich auch nicht. Der Senator, ein lebendiger Mann, an den Fünfzigen stehend, cholerischen Temperaments, dem beim geringsten Anlaß zu heiß unter der Stirn, die Halsbinde zu enge wurde, stellte das schneidendste Widerspiel seiner Ehefrau dar, die mit beleidigendem Uebermuth, welcher seine Quelle in fehlerhafter Erziehung gefunden, eine Kälte und Trägheit vereinigte, wie sie sonst nur im höchsten Norden, oder im sengendsten Süden vorkommen mag. Frau Jacobine, im Ueberflusse aufgehätschelt, kannte nicht Sorge, nicht Mühe, nicht einmal das bequeme Streben einer vornehmen Hausfrau. Kam der Tag, so verlebte sie ihn, und er mußte eben so prunkend einhertreten, wie seine Vorgänger; Geld in Hülle und Fülle für jedes, auch noch so eingebildete Bedürfniß spenden, reichen Schmaus für Lippe und Gaumen, und eine lange Plaudersitzung im Kreise der geschwätzigsten Muhmen. Während dessen schaffte und plackte der Senator, bald wie der ärmste Knecht, bald wie der härteste Frohn, im Bezirk seines Handelsgetriebes, und gönnte sich kaum vor sprudelnder Thätigkeit und muthwillig gehäufter Arbeits- und Spekulationslast, die nöthigen Ruhestunden. Doch feierte er diese wenigen nicht im Schoße der Seinen. Weder beim Frühstück, wo man den braunen westindischen Trank aus japanischen Gefäßen schlürfte, und dabei so steif saß, wie die blassen Figuren auf diesen Tassen, -- noch beim Mittagsmahl, wo die leckerste Kost entweder mit gieriger Hast, oder mit vitellischer Trägheit verschlungen wurde, war ihm froh zu Sinne. Bald verdrüßlich keifend mit dem verdrüßlich langweiligen Weibe, bald seine überseeischen Hoffnungen und Handelsoperationen nicht loslassend in stummer Grübelei, floh ihn die Heiterkeit innerhalb seiner Mauern; und auswärts, -- auf einem Collegium, wo er wieder von nichts, als von Geschäften reden hörte, eine Pfeife Tabak rauchte, um sich zu betäuben, in der Karte spielte, um sich zu zerstreuen -- verträumte er seine Abende. -- Nicht Er, nicht sein Weib, das mit schnödem Geschwätze, oder abgeschmackter Frömmelei den verlangweilten Tag beschloß, ahnten die Quelle von Genuß und Freudigkeit, die ihnen in der Tochter, dem einzigen Sprößling dieser übelpassenden Ehe, aufgehen hätte können. Die Natur hatte in diesem lieblichen Geschöpfe die glücklichste Verschmelzung widerstrebender Gemüthsrichtung zu Stande gebracht. Des Vaters Heftigkeit herrschte zwar vor, allein mäßigende Ruhe stellte bald das Gleichgewicht wieder her. Das Mädchen hatte seinen eigenen Kopf und Willen; es war ja das einzige Kind, und nicht beschränkt von den Eltern. Allein, der Leidenschaftlichkeit, dem heftigen Zorn sogar, folgte schnell die Besinnung, die Theilnahme, die zarte Reue, die gefühlvollste Vergeltung. Der Liebreiz des so wunderlich herangebildeten Mädchens war in diesen Versöhnungsmomenten so groß, daß Freundinnen und Gesinde gern den Sturm auflodernder Hitze ertrugen, um doppelt in der Milde zu schwelgen, die unmittelbar darauf das Engelherz der Zürnenden bethätigte. Der Vater war nicht so; -- denn, that ihm die jache Härte manchmal selber weh, so verschloß er, seinem Stolze nichts zu vergeben, das Gefühl in sich. Die Mutter glich eben so wenig ihrem Kinde; sie _liebte_ zwar Niemanden auf der weiten Erde, aber sie _haßte_ aus Gewohnheit; sie verachtete mit jener stumpfen Stätigkeit, an der sich, hat sie einmal ein Ziel des Widerwillens ersehen, vergebens Belehrung, Erfahrung und Pflichtgebot verschwendet. Justine, ein siebzehnjähriges Mädchen, früh entfaltet in Gestalt und Verstand, fühlte wohl dunkel und unbehaglich, daß sie zwischen den getrennten Eltern ihren eigenen Weg wandle. Die Jugend aber, jene herrliche Zeit, in welcher man nur sich selbst, wenn gleich oft allzuviel, vertraut, ungeduldig in's Freie, in die Zukunft blickt, sie setzt sich über das Peinliche in naher Umgebung hinweg; schafft sich ihre eigne Welt, und flieht die Mürrischen, um sich an Freundliche zu schließen. So kam es, daß Justine bald wie ein fremder Gast im Vaterhause wohnte, und größtentheils nur in dem Zirkel ihrer Jugendgefährtinnen lebte. Seit der Confirmation war es jedoch ein bischen anders mit Justinen geworden. Nie hatte sie noch ihren Vater so bewegt gesehen, als in dem Augenblicke, wo sie, von der heiligen Handlung kommend, in seinem Schreibstübchen vor ihm auf die Kniee sank, ihn bittend, seinen Segen mit dem des Himmels zu vereinen. Des Senators Stimme hatte gewankt, als er den Segen aussprach; an's Herz hatte er die Tochter gedrückt, und, wie mit einem leisen Vorwurf gegen sich selbst, hinzugesetzt: Glaube nur um Gotteswillen, mein Kind, daß ich dich liebe, herzlich, wie es einem christlichen Vater zusteht. Aber ich muß an mich halten mit dieser Zuneigung, sonst bricht mir das Herz vollends, wenn du aus dem Hause gehst, nimmer wiederkehrst, und ich dann in ganz Europa keinen Menschen mehr weiß, der mir näher am Herzen liegt, als der kalte Tressenrock. Du bist alt genug, Justine, um zu wissen, daß eine Heirath die Bestimmung eines jeden Mädchens ist, folglich auch die deine. -- Du bist bereits verlobt: zu New-York in Amerika wohnt dein Bräutigam, der junge Kaufmann Birsher, und, wie mir sein Vater neulich schrieb, werden wohl nicht anderthalb Jahre vorübergehen, so kommt der designirte Schwiegersohn selbst, um dich abzuholen. Dein Bestreben gehe also jetzt vornehmlich dahin, der englischen Sprache mächtig zu werden, zu welchem Endzweck ich für eine Lehrerin sorgen will. Justine verließ den Vater mit sichtlichem Behagen. Ausgezeichnet vor all ihren Gespielinnen nach Amerika zu ziehen, in das junge Land, das sich europäische Imagination damals nur als ein Paradies, unerschöpflich in Genuß und Reichthum, vorstellte; ... als Frau, an der Seite eines jungen Crösus, dahin zu ziehen, das schmeichelte der jugendlichen Eitelkeit gar sehr. Des Vaters Erklärung hatte vollendet, was die Confirmation begonnen; das Mädchen war rasch zur Jungfrau, zur Braut geworden. Justine zog sich nun auch wähliger von dem Haufen ihrer Freundinnen zurück, verkehrte nur mit den Wenigen, die, gleich ihr, nicht fern vom Hochzeitfeste zu stehen vermeinten, und beschäftigte sich mehr als sonst, in Einsamkeit und Stille, mit Arbeit und wißbegierigem Forschen. Mit der englischen Sprache allein wollte es bei dem fleißigen Mädchen nicht so fort. Die Zisch- und Gaumenlaute waren der Schülerin zuwider, und eine Lehrerin nach der andern wich dem Ungestüm Justinens, die auf Jener Nachlässigkeit den eignen Fehler schob. Die Zahl der, mit dem englischen Idiom vertrauten Frauen war in jener Stadt nicht groß; daher hatte Justine bald die Reihe durchgemacht. Die männlichen Lehrer ließen keinen bessern Erfolg hoffen. Der Eine derselben, ein grämlicher Alter, mit wunderlichen Launen, hatte schon nach der zweiten Lehrstunde all seine Autorität eingebüßt; den zweiten, einen allbekannten Wüstling, noch in rüstigen Jahren, trug der Vater billig Bedenken, bei der Tochter einzuführen. Der Zufall schlug sich in's Mittel. An einem Tage saurer Geschäfte handthierte und ordnete der Senator in eigner Person an dem Krahnenhause der Stadt. Beträchtliche Waarensendungen in Ballen und Kisten waren für ihn angekommen; nicht minder beträchtliche Ladungen wollte er dem dienstfertigen Flusse anvertrauen. Seine rüstigsten Handelsdiener, zwei junge und gewandte Leute aus guter Familie zur Seite, ging er am Ufer auf und nieder, befahl hier den ausladenden Bootsknechten, dort den herbeischaffenden Kärrnern. Der eine Diener, Berndt, revidirte, die Frachtbriefe und Geleitzettel in Händen; der andere Diener, Nothhaft, machte Zeichen und Zahlen auf die Frachtstücke; um und um bewegten sich rührige, geschäftige Leute, und _ein_ Treiben beseelte die Vielen am Ufer, vom Centnerschleppenden Lastträger bis zu dem kleinen Buben herab, der die Theerpfanne hielt. Ein einziger lehnte unbeschäftigt, mit verschränkten Armen an dem Krahnengebäude. Der Einzige mußte unter dem Getümmel dem Senator auffallen, als dieser gerade ihm vorüberkam. Der eifrige Mann blieb unwillkürlich vor dem jungen Menschen stehen, dessen Kleidung, obgleich nicht allzuwohl erhalten, auf einen Lehrling oder Diener der Kaufmannsgilde schließen ließ. -- He, junger Mensch! redete der Senator ihn an: he! warum so müßig? Die Sonnenstrahlen machen nicht satt; wohl aber eine Schüssel, die man im Schweiße seines Angesichts verdient hat. Trägheit in der Jugend macht alte Spitalleute. Hat Er hier nichts weiter zu schaffen, so geh' Er wieder hinter Sein Pult, statt Maulaffen feil zu haben, und stehle Er Seinem Prinzipal nicht das Brod ab, das Er ißt! -- Nicht die Flamme, die der gerechte Tadel auf dem Angesichte des Gescholtenen entzündet, sondern die Röthe eines unschuldig gekränkten Gefühls stieg auf die Stirne des Fremden, der in ausländisch betontem Deutsch nicht mit der Antwort säumte. -- »Seht zuvor, mit wem Ihr sprecht, Herr!« sagte er etwas bitter: »Niemand würde lieber arbeiten, denn ich, wenn mir nur Jemand Arbeit gäbe.« -- Kann's hier daran fehlen? fragte Müssinger verwundert. -- »Ich bin ein Fremder.« -- Woher? -- »Ein Engländer. Mein Name ist James White. Mein Vater war Baronet und Tory. Sein Schicksal wollte, daß sein Wappen, die blutige Hand von Ulster, sich an ihm erwahre. Für den Prätendenten bewaffnete er seine Faust. Georgs Henker schlug sie ihm ab, und hierauf das Haupt. Vor fünfthalb Jahren floh meine Mutter mit mir nach Deutschland herüber. Seit einem Jahre hat sie hier ihr Grab gefunden. Sie starb, bevor der Mangel zu uns trat. Ihr Hinscheiden raffte aber alle Hülfsmittel weg. Die Armuth trieb mich in's Werbhaus; die Barmherzigkeit eines alten Mannes, der mir wohl will, rettete mich vom Soldatenstande. Aber noch lebe ich von seinen Wohlthaten, und ich schäme mich dessen.« Das ist recht; Wohlthaten erzeigen, ist wacker, aber edler, sie nicht zu mißbrauchen. Versteht Ihr etwas vom Handel, junger Herr? -- »Nein; ich sollte Theologie studiren; verstehe Latein, Rhetorik, Philosophie, ein bischen Spanisch, und aus dem Grunde meine Muttersprache.« -- So? Verdorbner Theolog also? Doch Protestant, will ich hoffen? -- Der junge Mann bückte sich schweigend. »Könnt und wollt Ihr Unterricht im Englischen geben?« fragte Müssinger weiter. -- »Ich kann's, und schäme mich dessen nicht.« »Kommt mit. Versuchts mit meiner Tochter. Freie Station, wie meine Comptoirdiener, die Wohnung ausgenommen, und ein billiges Salär nach Euern Fähigkeiten verspreche ich Euch. Beliebt's?« -- »Gern; doch muß ich's meinem Versorger melden.« -- Gut; wer ist der Mann? -- »Ein Doctor der Rechte, heißt Leupold, ist von Herkunft ein Fremder, lebt zu seinem Vergnügen seit anderthalb Jahren ungefähr in hiesiger Stadt, und beschäftigt sich ausschließlich mit seinen Studien.« -- Ein Bücherwurm und Rechtsverdreher also? murmelte der Senator zwischen den Zähnen: Bin nicht neugierig auf die Bekanntschaft. Mögt indessen sein Gutachten einholen, junger Herr. Er wird wohl nichts dagegen haben, denn ich bin der Senator Müssinger! -- Der stolze Kaufmann ging von dem unglücklichen jungen Baronet weg, und vergaß denselben im Gewühl seiner Geschäfte bald darauf. Der finstere und einsilbige Buchhalter trat ihm in der großen Schreibstube mit einem Paket Briefe entgegen, die er alsobald, wie gewohnt, erbrach und durchlas. Er begleitete jedoch diese alltägliche Verrichtung mit so vielen heftigen Bewegungen und schlecht unterdrückten Zornworten, daß die Comptoirgehülfen aufmerksam wurden, und manchen neugierigen Blick durch die Gitterrahmen in das Cabinet des Prinzipals sandten. Endlich, nachdem der ganze Briefpack durchflogen, stürmte der Senator wie ein Pfeil vom Sessel auf, warf Schubladen und Schlösser zu, und tobte durch die Nebenthür in das Innere des Hauses. »Der himmlische Vater erbarme sich!« seufzte Berndt mit andächtigem Blicke und Händefalten, denn er gehörte zur philadelphischen Gesellschaft: »was wird es heute wieder in dem Hause geben?« -- Der andere Diener, Nothhaft, ein ziemlich lockrer Geselle, lachte indessen wie ein Schelm vor sich hin, und summte die Worte eines damals beliebten Liedes: Nach dem Brunnen geht der Krug Oft genug; Und am End' bekömmt er doch Welch ein Loch! St! zischte der Buchhalter, hinter dem Hauptbuche aufstehend, zu dem Vorlauten hinüber, und Berndt stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Rippen. Der arge Mensch fuhr aber kichernd, wiewohl noch leiser, fort: Christ! sitz steif, denn der Protest Setzt Dich fest; Und dann heißt's mit Schand und Spott Bankerott! Will Er wohl schweigen? schalt der Buchhalter auffahrend: Was sollen diese Schelmenverse in einer ehrsamen Handelsstube? Pfui des leichtfertigen Dieners, der seine eigne saubere Firma gern für eine schmutzige ausgeben möchte. Noch einen solchen Ausdruck, und Er ist um Dienst und Lohn, und für ein schlecht Testimonium will ich dann schon sorgen. Ueberhaupt mag Er sichs gesagt sein lassen, daß ich hinfüro Seinen Lebenswandel, von dem mir zu Ohren gekommen ist, nicht also dulden werde. Alle Abende spielt und bankettirt Er, und am Sonntag kömmt Er nicht aus der Kaffeeschenke, der Billardstecken nicht aus Seiner Hand. Wo das beste Rostocker Bier zu finden ist, das weiß Er auf ein Haar; aber man fragt Ihn vergebens, wie die spanischen Dublonen stehen. Sein Nebengehülfe ist allzustill; Er ist allzutoll. Ein Karthäuser wird ein schlechter Kaufmann; ein Bruder Lüderlich aber noch ein schlechterer. Gott steh' Ihm im Commerz bei, wenn Er es einmal zum eignen Herrn bringt. -- Das wird er auch; versetzte Nothhaft trocken, ohne sich zu erzürnen: Der Kaufmann muß wagen und wetten, und dazu bin ich gemacht, wie unser Herr, der sich aus der Saffranbude zum ersten Kaufmann allhier verstiegen hat. Sorgen Sie nicht für mich, Herr Buchhalter. Der Herr Senator kennt mich besser, als daß er mich um eines zwecklosen Liedleins willen, oder weil ich den Sonntag Nachmittag beim Billard zubringe, fortschicken sollte. -- Der Buchhalter schwieg verdrüßlich; theils weil ihn des Dieners Verstockung empörte, theils, weil der Senator wieder in sein Cabinet zurückkam, und ihn eilends zu sich hinein beschied. Hierauf wurde die Thüre geschlossen, die Schieber vor die Gitter gestoßen, und die beiden Comptoristen waren von den Vorgesetzten geschieden, wie die Lehrlinge, die im Vorzimmer schafften und bosselten, von ihnen selbst geschieden waren. -- Sie sitzen im geheimen Rath! flüsterte Nothhaft seinem Nachbar zu: Der Perückennarr, der Buchhalter, mag aber schwatzen und difteln, wie er will. Unsere Contanti stehen schlecht, abscheulich schlecht. Ich habe schon neulich einmal einen Blick in des Herrn Correspondenzlade geworfen, die zufällig offen stand...... -- O pfui! Du neugieriger Saaldiener! fiel Berndt ein. Nothhaft sprach aber wie oben weiter: »Du Hans! Was kann ich denn für mein scharfes Auge? Genug; wir sollen zahlen und zahlen, und wollen und wollen nicht; weil wir nicht können. Unsere Aktien in Indien stehen schlecht. Mit der vermaledeiten Bodmerei haben wir, wie es scheint, unsinnig viel Geld verschleudert und verloren. Assekuranten unserer eigenen Schiffe sind bankerott geworden; viel Unglück auf einmal! und dann das Leben in diesem Hause! ein wahres Heidideldum!« -- »Ja wohl,« bekräftigte Berndt seufzend, »ein heidnisches Scandalum. Herz, was begehrst du? Keine Wirthschaft, keine Gottesfurcht! Wir müssen nach dem Gemüse gleich vom Tische aufstehen, und Braten, Gänselebern und indianische Vogelnester kommen hinterdrein. Also, lieber Freund und Kollege! wir beginnen zu wanken? Danke für gegebenes Aviso. Ich will gleich auf anderweitige Versorgung denken.« -- »Unter der Hand, Bester,« setzte Nothhaft bei: »nicht vor der Zeit gebrochen. Hübsch alles abgewartet; für einen klugen Diener gibt's in Bankerottchen gute Ernten.« -- »Der Eintritt des Unheils möge noch ferne bleiben, bis mir eine andere Schwelle gesegnet ist!« betete Berndt mit zerknirschter Miene: »das Schlampampen ohne Condition ist mir und dem lieben Gott zuwider, und kostet nur Geld, statt einzubringen.« -- »Betbruder und Scharrer!« schalt Nothhaft. »Jammre nicht. Der Geist Gottes wird ja nicht ermangeln, dir Alles im Voraus zu entdecken. Ich bin zwar nur ein Weltkind, habe keine Anwartschaft auf das tausendjährige Reich, aber im Herzen bin ich froh, wenn die Umstände mich zwingen, ein Haus zu verlassen, in dem mich nur der gute Lohn zurück hält. 'S ist eine Galeere, dies Comtoir.« -- »Bete und arbeite! sagt die heilige Schrift,« sprach Berndt hierauf demüthig, »ich weiß mich einer Zeit zu erinnern, in welcher dir gar wohl in dieser Schreibstube war, und noch wohler an dem Tische des Prinzipals. Du hattest damals noch große Dinge im Kopfe, und scheutest dich nicht, deine sündhaften Augen auf die Jungfer zu werfen. Aber seit sie dir den Spaß verdorben, ...« -- »Pfui, Berndt, mich daran zu erinnern,« entgegnete Nothhaft: »die hochmüthige Person! wie sie sich spreizte in ihrem Stolz! Und mein Vater ist doch eben so gut in seinem Städtchen ein Rathsherr, als der Ihrige hier! und mein Vater hat vielleicht mehr Geld, als ihr Vater besaß, da er noch die Rosinen Pfundweis, und das Baumöl pr. Kännchen verkaufte. Ich hätte sie geheirathet. Parbleu! Das hätte ich gethan; aber sie trug die Nase verzweifelt hoch! Stand ich in der Kirche und stierte hinauf zum Betstübchen, so zog sie gewiß das Fenster vor, oder versteckte sich hinter's Gesangbuch. Zweimal paßte ich's ab, und präsentirte ihr, an Kirchendieners Statt, den Predigttext und die Nummer des Lieds. Immer erhielt ich ein frostiges: »Inkommodir' Er sich nicht, Mosje!« zum Dank. So schlag der Donner hinein!« Berndt hielt bei der Verwünschung beide Ohren zu. Nothhaft fuhr indessen schadenfroh fort: »Na, Gott gesegn' ihr die baldige Abkühlung! Hochmuth kommt vor dem Fall. Prosit, Justinchen. Die Puppe hat dem Papa und der Mama gesagt: mein Gesicht sei ihr fatal, und darum mußte ich am Tische den Platz verändern, damit sie sich nicht an meinem vis à vis den Appetit verderbe. Geliebt es Gott, wollen wir bald den Spieß umkehren. Wo sie weint, will ich lachen!« Berndt stieß ihn abermals in die Seite, denn Senator und Buchhalter kamen aus dem Kabinet, mit entschlossenen Gesichtern, und ein Lehrling wurde gleich hinweg gesandt, Eilpferde für den Geschäftsführer zu bestellen; Eilpferde nach Amsterdam. Der Prinzipal händigte dem dienstfertigen und erprobten Diener noch ein wohlverschlossenes Portefeuille ein, nahm von ihm Abschied, und ging, da die Mittagsglocke im Hause läutete, mit seinem Comptoristen zu Tische. Die gewöhnlichen Bürgergerichte waren verzehrt, die Diener durch einen Wink von der bisher schweigsamen Tafel entlassen und eine kostbare Gallertschüssel aus welcher der Duft des Zimmts, und herrlichen Bordeauxweins stieg, wurde, nebst den Platten des Nachtisches, aufgesetzt. Die Frau Senatorin wendete sich leckerhaft vergnügt zu der reizenden Speise; Justine schnitzte kichernd ein Eichhörnchen aus einem Mandelkerne; der Hausherr sah trüb vor sich hin, klopfte mit dem Messer an die silbernen Gefäße und brach endlich das Stillschweigen mit einer Einleitung, auf die er lange studirt haben mochte. »Was meint Ihr wohl,« begann er mit erzwungenem Scherze, -- »was meint Ihr, wenn auf einmal all' dieses Silber und Porzellan zur Decke hinausflöge, und eitel irdene Teller auf dem Tische zurückblieben mit nothdürftiger Kost?« Die Senatorin zuckte verächtlich die Achseln ob dem mißlungenen Spaße. Justine rief lachend: »'s wäre ein hübscher Herrenstreich. Papa würde alsdann tief in den Geldkasten greifen müssen, um dem Schaden abzuhelfen.« »Und wenn nun auch diese Geldkiste leer geworden wäre?« fragte Müssinger weiter. »Narrethei!« versetzte die Frau, ruhig essend: »was sollen diese Fragen?« »Euch vorbereiten auf eine unangenehme Möglichkeit;« brach Müssinger los: »Es steht noch auf der Schwebe, ob wir reiche Leute bleiben, oder Bettler werden sollen.« »Ist denn heute der erste April,« fragte die Frau, »daß der Herr Senator uns mit ähnlichen Kindereien behelligt?« -- Justine merkte aber, in des Vaters Augen sehend, den Ernst, wie die Ungeduld, die in ihm arbeitete. Er fuhr heftiger fort: »Deine Frage ist Kinderei, Jacobine. Ein Kaufmann scherzt nicht dergestalt mit seiner Bilanz. Wahr ist's. Mir droht Unglück. Eng mit mir verbundene Häuser sind gebrochen, Kaper haben meine Schiffe genommen, der letzte Sturm, von dem die Berichte meldeten, hat Kauffahrer vernichtet, auf welche ich bedeutende Kapitalien =à grosse Aventure= herlieh. Der Ultimo bringt eine Fracht von schweren holländischen Wechseln. Ich bin zu Grunde gerichtet, wenn es meinem Buchhalter nicht gelingt, meinen Hauptcreditor in Amsterdam zu besänftigen und zur Prolongation zu bewegen.« »Armer Vater!« versetzte Justine mitleidig. Die Mutter zog jedoch die Stirne in Falten. »Unbesonnener Vater!« predigte sie: »Räuber an Weib und Kind! Mußt du dein Hab und Gut auf die Spitze stellen, und an ein paar elende Schiffe hängen? Pfui, du bist ein Verschwender, den man in's Irrenhaus stecken sollte, wenn nur damit gedient wäre. Doch ist dein Vergehen gewiß nur ein schlechter Scherz, sonst wollte ich anders mit dir reden. Sprächst du wahr, so müßte mein Vermögen heraus bei Heller und Pfennig, samt Zinsen und Zubehör. Ich würde mich nicht hinsetzen, dir zu Liebe, und Grütze speisen, wie eine Taglöhnersfrau. Ich bin ein gutes Leben gewöhnt, und hätte hundert Männer haben können, die reicher und schöner waren, als du. Darum fordere ich auch, daß du mich haltest, wie bisher, oder das Eingebrachte herausgibst; sonst müßte ich klagen.« Des Senators Gesicht überlief Leichenblässe, und er bückte sich scheinbar nach der entfallenen Serviette, um seine Verlegenheit und seinen Grimm zu verbergen. Dann sagte er gezwungen gleichgültig: »Recht, Jacobine. Deine Liebe ist mir wieder recht klar geworden. Leider kann sie sich nicht so triftig vor dem Gerichte ausweisen, indem wirklich mein Vorgeben nur Scherz war, um deine Gesinnung auf den denkbaren Fall hin, zu prüfen.« »Schäme dich,« eiferte, nun erst zornroth werdend, die Senatorin: »Ich dachte es gleich. Mir den Appetit in dem Grade zu verderben! Mir also die Galle zu reizen! Ich bin ohnehin die unglücklichste Frau in der ganzen Welt, wenn ich nicht meine Seelenruhe und Bequemlichkeit habe! Gottvergessener, frevelhafter Mann! Justine, den Extract!« Justine, bereits angewiesen, wie bei ähnlichen Gelegenheiten zu verfahren, stand schon mit der stärkenden Essenz vor der Mutter. Der Senator fuhr heftig vom Stuhle auf, summte das Marlborough-Lied durch die Zähne, und zog die Halsbinde weiter. Mit einem Male erblickte er, seitwärts unter der Thüre, den jungen Mann, den er am Morgen zum Sprachlehrer angeworben. Der Eintretende war ein erwünschter Ableiter und Besänftiger. Der Senator liebte es durchaus nicht, vor einem Andern, als den Hausgenossen, seinen Jähzorn zu zeigen, und hielt plötzlich an sich. »Sieh da, mein junger Freund!« redete er den Jüngling an, »Ihr kommt gerade recht. Wie es scheint, hat Euer Pflegvater eingewilligt?« »Er erlaubte mir, in dem ungewohnten Dienste mich zu versuchen;« antwortete James bescheiden und ruhig. Die Senatorin hatte bei seinem Eintritt die begonnene Ohnmacht vergessen. Nicht minder neugierig und überrascht sah Justine nach dem jungen, fremden Manne, der in seiner einfachen, fast dürftigen Kleidung, furchtloser vor ihrem Vater stand, als sie es bisher an irgend einem Aermern und Jüngern wahrgenommen. »Ein junger Engländer,« sagte Müssinger, ihn den Frauen vorstellend, »der Justinen in seiner Sprache unterrichten soll. Ich empfehle der Jungfer Fleiß, und dem Lehrer den besten Eifer. Geht hin, junger Herr, und empfehlt Euch der Frau Senatorin und Eurer Schülerin. Dann mögt Ihr gleich den Unterricht beginnen, und zeigen, was Ihr wißt und könnt.« James ging frei und ungezwungen auf die Mutter zu, faßte, indem er sich verneigte, ihre beiden Hände, und schüttelte sie, näherte sich dann Justinen, that dasselbe, und wollte ihr zierlich die Wange küssen. Erröthend und heftig bog sich das Mädchen zurück, und stieß ihn von sich. Die Mutter rümpfte die Nase, der Vater lächelte. »Ei,« sprach er, »junger Herr, wir sind hier zu Lande nicht in Eurer Heimath, wo solcher Brauch üblich ist. Hier küßt man den Frauen die Hand und den Jungfrauen die Fingerspitze.« Mit einiger Verlegenheit sich entschuldigend, aber mit vielem Anstande, that nun James, was ihm geheißen war, und versöhnte somit die Mutter; Justine jedoch nur halb, die in dem ungewöhnten Wesen des neuen Lehrers etwas fand, das ihr mißfiel, von dem sie sich indessen keine klare Rechenschaft geben konnte. Mit übel verhehltem Widerwillen führte sie den Jüngling an ihren Arbeitstisch, zeigte ihm die Bücher, die bisher ihr Leitfaden gewesen waren, und berichtete von ihren bisherigen schwachen Fortschritten. James meinte, nach flüchtiger Einsicht und flüchtigem Hören, die Jungfer sei bei Weitem nicht so mehr im Wissen zurück, als sie wohl meine; desto mehr hingegen im guten Willen. -- Justinens Gesicht verfinsterte sich wieder merklich, und schweigend setzte sie sich, als der Vater den Befehl wiederholt hatte, den Unterricht alsobald anzufangen. Auf die Stuhllehne seiner Frau gelehnt, folgte nun der Senator dem Beginnen des jungen Engländers, und sah bald, daß derselbe seiner Sache vollkommen gewiß sei. Zugleich gefiel ihm die zutrauliche, freundliche Weise, mit welcher er der stummen Schülerin die Vorzüge der Sprache auseinander setzte; er hoffte von dieser, aus dem Alltagsgeleise weichenden Art, den besten Erfolg, und entfernte sich endlich unter aufmunterndem Lobe. Die Lehrstunde ging fort unter der Aufsicht der Mutter, die aber bald, der Gewohnheit nachgehend, dem Schlummer in die Arme sank. Justine hatte, wenig auf die Reden ihres Lehrers horchend, mit unverwandtem Auge die Mutter beobachtet, und wie es schien, den Moment der Siesta erwartet, denn im Augenblicke, als Jacobinens Augen zufielen, nahm sie dem in seinem Vortrag versunkenen James das Buch aus der Hand, klappte es schnell zu, und sagte, kurz abfertigend: »Lassen wir's jetzt gut sein, Monsieur. Ich habe keine Lust, und damit genug. Weil mein Vater es will, und Euch vielleicht an einem Verdienste in unserem Hause etwas gelegen sein möchte, will ich wohl mich anstellen, als sei mir die Sache Ernst. Spart Euch jedoch alle ernstliche Mühe, denn ich kann Eure Sprache nicht leiden, folglich nicht sprechen. Adieu bis Morgen, Monsieur.« James sah die gar offenherzige Schülerin überrascht an, biß sich gekränkt in die Lippen, und erwiderte: »Wahrlich, Mademoiselle, aus Ihrem Munde hätte ich ein lieblicheres Wort erwartet. Mein Vater war ein Edelmann, und hat mir den Grundsatz eingeprägt, nirgends lästig zu sein, wo ich nicht nützen kann. Ich werde gehen; erlauben Sie jedoch, daß ich das Erwachen Ihrer Mutter abwarte, um mich in der Form von ihr zu beurlauben. Bis dahin dulden Sie meine Gegenwart.« »Ich wollte Euch nicht beleidigen, mein Herr,« antwortete hierauf Justine etwas beschämt: »Vergebt, wenn ich die Worte vielleicht schlecht gewählt. Ich bin oft vorlaut mit Reden, die mich nachher reuen. Eure Person wäre mir nicht so unangenehm, aber Eure Sprache pfeift und zischt so viel, sie ist so rauh, daß...« »Wundern muß ich mich,« fiel James schnell versöhnt ein, »daß Ihr Herr Vater, Ihnen und Ihrem Wunsche gegenüber, mit Gewalt auf dieser Sprache besteht. Unlust lernt und fördert nicht, aber die Zeit ist verloren.« »Hm!« lächelte Justine, die Augen auf das Schreibbuch geheftet: »ich soll nach New-York verheirathet werden, und der Vater glaubt...« »Nach New-York in Nordamerika?« fragte James staunend. Justine nickte schweigend, und machte Buchstaben auf das vor ihr liegende Blatt. »Nach New-York?« wiederholte James, und schlug mit verschränkten Armen die Blicke zur Decke auf: »So weit vom Vaterhause? Da müssen Sie freilich englisch lernen.« »Nicht doch,« versetzte Justine lächelnd, aber bestimmt: »mein zukünftiger Mann mag deutsch lernen, und die Freunde meinethalben französisch, um sich mit mir zu unterhalten. Das Englisch für die Domestiken lernt sich dort an Ort und Stelle.« »Sie irren sich im ersten Punkte,« behauptete James: »man würde es zu New-York für eine Schande halten, eine andere Sprache in Gesellschaft zu reden, als die englische Colonisten-Muttersprache. Im Innern finden Sie wohl noch das holländische Idiom, aber...« »Sieh' doch,« unterbrach ihn Justine, durch den Widerspruch gereizt: »Ihr redet ja so entschieden, als ob Ihr mit eigenen Ohren gehört hättet, was Ihr behauptet.« »Das hab' ich auch;« bekräftigte James mit aufgeheiterten Zügen: »den größten Theil der Knabenzeit verlebte ich auf Amerika's Continente, zu New York, mitunter auch weiter im Lande.« »Wie?« fragte Justine, plötzlich zutraulicher und milder: »ach, erzählt mir doch von dieser meiner zweiten Heimath. Man hat mir schon so viel Schönes davon vorgesagt, daß ich begierig bin. Wir wollen fein zusammen rücken, und recht leise sprechen, und recht leise horchen, daß die Mutter nicht so früh erwache. Seht, ich bin ganz Ohr.« Sie hatte sich bei diesen Worten mit beiden Armen auf den Rand des Tisches gelehnt, und sah mit gespannter Aufmerksamkeit und so vorwitzigen Augen dem Lehrer in's Gesicht, daß er seine Blicke auf die Manschetten seiner Hände richten mußte, um nur den Faden des Gesprächs festhalten zu können. »Mein Vater,« hob er auf wiederholte Aufforderung an, »hatte zur Zeit ein Commando in der Citadelle zu New-York; mein Onkel einen entlegenen Wachtposten gegen das Gebiet der Indianerstämme zu. Gelegenheit gab es für mich, den achtjährigen Knaben, genug, somit das Leben in der amerikanischen Stadt wie auf dem Lande kennen zu lernen. Innerhalb der erstern fand ich wenig Freude. Das Sein darinnen war steif und einförmig, keine Heiterkeit, aber viel Frömmelei und militärischer Druck. Am Werkeltage schafft die sich selbst übertreibende Mühe, denn _reich_ zu werden ist das Ziel, wonach Alle streben. Dazwischen tönt die Trommel und das Commandowort der Besatzung. Am Sonntage ist der Sabbath strenger geheiligt, als in England selbst. Die Lust hüllt sich in Sack und Asche, und einförmige Glockenschläge langweilen den Städter, bis er, von der Last des Feiertags ermüdet, das Bette sucht.« »O weh!« seufzte Justine, »das ist ein traurig Bild. Da lebt sich's ja in unserer dunkeln Stadt noch besser und schöner. Doch macht das Landleben vielleicht wieder Alles gut, und Herr Birsher wird mir wohl den Gefallen erzeigen, es der Stadt vorzuziehen.« »Wenn ich vom freien Lande Amerika's reden soll,« erwiderte James, »so bemeistert sich meiner eine heilige Wehmuth, denn mir gefiel es sehr, obgleich eine frohe Jungfrau, wie Sie, nicht leicht dieses Gefallen theilen möchte. Um New-York, in billiger Nähe, finden Sie kein städtisch Landhaus: kümmerliche, flache Gärten nur, ohne Schatten, ohne Obdach, denn die Soldatenherrschaft duldet im Umkreise von Stadt und Citadelle nicht Busch, nicht Haus. Setzt man jedoch über's Wasser, und dringt in's Innere vor, so geht für ein muthig Herz und ein kühnes Auge die Wonne an. Der angebauten Fluren sind nur wenige, von sklavisch pflügenden Colonisten besorgt, allein ringsum dehnen sich Forste, in deren Saum sich nur bis jetzt die Axt verirrte, Urwälder mit himmelhohen Bäumen und zahlreichem Wilde. Welch' ein herrlich Schauspiel, auf solcher Waldstraße hinzureiten, unterm dichten Laubdach, durch welches nie der Sonne Strahlen dringen! Welch' ewiges Schweigen weit umher! so geeignet, das Gemüth zu erheben! Stundenlang bin ich oft im Grase gelegen, und habe auf das Hacken des Hehers, auf das Fuchsgebell gehorcht; lauschend unter den tausendjährigen Säulen der Natur. Doch fördert man endlich gern den Weg, weil die Dämmerung naht, das wilde Gethier in seinen Lagern aufsteht, und vielleicht der Weg noch lange sich streckt, bis zu dem einsamen Blockhause, in dem der müde Wanderer das Nachtlager finden soll. Man erreicht des Waldes Ende, und sieh, ein neues Schauspiel fesselt den entzückten Blick. Einer der Riesenströme, die Amerika durchschneiden, hemmt den Weg. Das Auge trägt kaum bis an das jenseitige Ufer, und stolz schaukeln sich die Wogen des gewaltigen Flusses dahin. Da zeigt sich ein schwarzer Punkt in dem Geschäume der Wellen. Die Reisenden verdoppeln den Ruf »Hü-o!« denn der schwarze Fleck ist die Fähre, die wild und gebieterisch durch die Strömung dringt, und uns über das rothe Gold, das die Abendsonne auf den Wasserrücken legt, zum ersehnten Gestade schafft. Nun geht's über Haide und feuchten Grund hinweg, dem Walde zu, der blau und ungewiß aus der Ferne sieht. Rechts starren Felsen, und aus ihren Schluchten donnern die Gießbäche und Wasserfälle der Wildniß meilenweit zu uns herüber. Links dehnt sich die Fläche, schlecht bebaut, aber üppig wuchernd mit dem, was die Natur auf sie gepflanzt, an mastigen Futterkräutern und prachtvollem Unkraut. Schaaren von kreischenden Vögeln schwirren über die Ebene, den Felsen zu, denn die sinkende Sonne scheucht ein Gewitter auf, das eilig daherkömmt, eiliger, als jener nackte, rothhäutige Indianer, der, von seinem Hunde begleitet, Flinte und Tasche auf der Schulter, gestreckten Laufs von der Jagd zurückkehrt, und von den Gestirnen, wie von den Felsenspitzen den Weg zu seines Stammes Wohnplatz erfragt. Mit der Schnelligkeit des Rosses jagt der Sohn der Wildniß durch den weiten Raum, einem Nebelbilde gleich das auf Sumpf und Moor zur Nachtzeit der Luftzug hin und her treibt. Ihn kümmert keine Straße, kein Pfad, keine Brücke, keine Fähre, denn die Welt ist sein Haus, der Himmel sein Zelt, und frische Sinne stellt er als Wacht und Läufer aus. Gerade aus geht er, wie das flüchtige Wild, das er verfolgt. Nicht um den Hügel herum, über ihn hinweg eilt sein Fuß. Er ruft nicht den Kahn oder den Floß; schnell wie ein Fisch schießt er durch Strom und Gewässer. Wir haben ihn aus den Augen verloren, ehe fünf Minuten vergehen. Er sieht uns jedoch durch Dämmerung und Gewitterduft noch auf eine halbe Stunde weit, und lacht der unbehülflichen Eile, mit welcher wir dem Walde zulaufen, um uns vor dem Regen zu schützen, der in großen Tropfen fällt; vor dem Orkan, der mächtig daher braust. Nun ist der Forst nicht mehr schweigend; nun redet er mit Millionen Zungen, und dieses Rauschen, dieses Wehen, das Krachen und Fallen der Aeste und Kronen macht den Menschen stumm. Bären und Wölfe fliehen über den Weg, ganze Strecken lang neben dem Reisenden her, und an Zwietracht und Kampf denkt im Sturme keiner von Beiden. Der Donner, der Blitzstrahl machen nun die schönen Schrecknisse voll, die uns erschüttern und erheben, aber diese Himmelslampen leuchten auch zur Hütte, die uns gastlich aufnimmt, und auf deren Mooslager wir in behaglicher Ruhe das Hochgewitter verschlummern.« James endete hier, Athem schöpfend, die pittoreske Schilderung eines Ganges durch Haide und Forst der neuen Welt, zu welcher ihn die zauberische Macht wohlthuender Erinnerung wider Willen hingerissen hatte, und erhob beinahe schüchtern den Blick zu Justinen, in deren Antlitz er Unzufriedenheit mit seinem langen und abschweifenden Berichte zu entdecken fürchtete. Wie freudig überrascht war er jedoch, in Justinen's glänzenden Augen die aufmerksamste Theilnahme leuchten zu sehen. -- Das Mädchen nickte ihm beifällig zu, legte zutraulich ihre Hand auf die seinige, und sagte: »Ei, wie gut erzählt Ihr doch, mein guter Herr! Ich habe just _gesehen_, was Ihr beschrieben habt. Doch hab' ich auch an dem _Gemälde_ genug. Die Herrlichkeiten, deren Schönheit ich wohl _ahne_, sind im Grunde doch nicht für ein schwaches Weib, das im bequemen Stübchen oder auf dem hübsch geordneten Landgut wohl dann und wann gern hören oder lesen mag, wie es in der Wildniß aussieht, ohne darum die Lust zu verspüren, selbst sie zu beschauen. Diese Wälder .... diese Haiden und Ströme .... und vollends diese einsamen Blockhäuser, Tagereisen weit von jeder Nachbarschaft entfernt....! mich schaudert!« »Gerade in diesen Hütten ist patriarchalische Glückseligkeit zu Hause,« erinnerte James mit Wärme, »noch entsinne ich mich der Einwohner von einigen solchen Wohnungen. Glückliche Familien, zufrieden in ihrer Abgeschiedenheit, im Kreise ihres stillen Eigenthums. Das innigste Band verknüpft hier die Gatten, die Kinder, die Enkel: das Band der Liebe; und Liebe fordert ja nur den kleinsten Raum; ein Winkelchen nur, in dem die glücklichen Leute so viel Platz finden, sich in die Arme zu nehmen und zu sagen: ich bin dir gut, auf ewig, bis zum Tode gut!« -- So sehr auch die vorige Rede des Lehrers Justine in Anspruch genommen hatte, so wenig schien das Mädchen Geschmack an der folgenden zu finden. Verwundert hatte sie den jungen Mann betrachtet, -- beängstigt fast die Gelegenheit gesucht, seine Worte zu unterbrechen, und endlich ungeduldig das schwere Wörterbuch vom Tisch gestoßen, daß ob dem Geräusche die Frau Senatorin erschreckt aus dem Schlummer fuhr. »Die Lehrstunde ist zu Ende, bester Monsieur;« sagte Justine mit steifer Verbeugung zu James. »Vergeßt jedoch nicht, daß ich Euch morgen Vormittag ganz bestimmt erwarte. Ich habe plötzlich viele Lust bekommen, Eure Sprache zu erlernen, und hoffe, daß Euer Beistand mir von vielem Nutzen sein werde.« James, obgleich nicht wissend, ob er seinen Ohren, nach allem dem, was vorgegangen war, zu trauen habe, versprach feierlichst, wiederzukehren, küßte der Senatorin mit aller Förmlichkeit die fleischige Hand, bückte sich still vor der gleichgültig nickenden Justine, und empfahl sich, wie ein Mann von Bildung und Welt. »Warum blieb er nicht zum Abendbrod?« war des Vaters erste Frage, als er zu den Frauen heraufkam: »ich habe ihm freie Kost versprochen, damit er sich häufig einfinde, und Justine durch die Conversation die Fortschritte mache, die ihr Fleiß nicht erringt. Ich hätte gern heut mit dem Menschen geplaudert, denn auf dem Collegio schwatzen sie auch nur von Briefen, Procenten, Sicht und Manco, und mir brummt vor Arbeiten der Kopf. Mit dem pietistischen Berndt ist nichts anzufangen, und Nothhaft jubilirt gewiß wieder in der Schenke. Die Frau Senatorin erwartet ihre Basen, Justinchen treibt Kindereien, oder liest in Arminius und Thusnelda. Mit dem Engländer hätte ich ein vernünftig Wort reden können.« »O, ich bitte dich,« erwiderte die Frau, indem sie vornehm vom Stuhle aufrauschte: »binde den fremden Menschen nicht so sehr an's Haus. Die Unschicklichkeit von heute werde ich ihm nie vergessen. Es taugt nicht, wenn man einen Adelichen in eine Bürgerfamilie verpflanzt. Solch hungriges Geziefer ohne Geld und Mittel bewahrt doch immer sein Vornehmthun und seinen Stolz, dem Alles zu schlecht ist, was ihn umgibt.« »Du vergissest, Frau,« antwortete der Senator, »daß du selbst in diesem Augenblicke den unerträglichsten Hochmuth auskramst. Ich kann das an einem Weibe vollends nicht leiden, weil nur der Mann ihm die Würde und den Rang im Staate verleiht. Schweig darum!« »Wenn's mir beliebt,« setzte die Senatorin phlegmatisch bei: »Deine Matrosen- und Lastträger-Weisheit beleidigt mich nicht, und ich gebe darum meinen Stolz nicht auf. Mir gehört er, einem hergelaufenen Burschen gegenüber, der kein Verdienst hat, als daß sein Vater Baronet war, und ein gehenkter, fürchte ich obendrein, weil du vom Prätendenten ein Wort fallen ließest. Wer an meinem Tische ißt, und von meinem Gelde lebt, ist _unter_ mir, und damit gut.« Der Senator fühlte seine Geduld zu Ende gehen, und entfernte sich schnell, die Thüre hinter sich zuwerfend. -- »Der Mann ereifert sich um des Kaisers Bart,« sagte die Mutter spöttisch und eiskalt, indem sie die Seidenzupfkästchen, mit welchen sie sich in der Abendgesellschaft zu beschäftigen pflegte, hervorholte: »es verlohnt sich auch der Mühe, für einen Menschen Parthie zu nehmen, den ich morgen aus dem Hause jage, wenn mir's beifällt.« »Ich will nur von _ihm_ englisch lernen!« erwiderte kurz und herrisch Justine, und drehte sich auf dem Absatze gegen das Fenster um. »Oho, mein Püppchen!« sagte die Mama lächelnd, und wollte dem Mädchen scherzend auf die Wangen klopfen. Die Tochter entzog sich ihr jedoch ziemlich ungestüm, und entgegnete scharf und bestimmt: »ich will, daß man meinen Lehrer mit Freundlichkeit behandle; sonst werde ich Gleiches mit Gleichem vergelten.« -- Die Mutter wußte nun, woran sie war, und gab, wie schon unzähligemale, um nicht einen guten Alliirten gegen den kampflustigen Eheherrn zu verlieren, auch diesmal nach; ging, ohne die eigensinnige Tochter zu schelten, in ihr Kränzchen, und ließ dem jungen James in ihrem Hause freien Paß. Sie begnügte sich, ihm ihre Abneigung dadurch zu beweisen, daß sie ihm kein Wort gönnte; nicht bei Tische, nicht während der Lehrstunden, die sie sorgsam bewachte. Am Vormittage lernte Justine fleißig, und schien die eifrigste Schülerin. In den Nachmittagsstunden jedoch wurde der Schlummer der Mutter benützt. Justine gab das Signal zum Schweigen, und alsdann das des Erzählens, und Nordamerika war einige Tage hindurch die Axe, um die sich James Berichte und Erklärungen drehen mußten. Endlich sagte einst Justine, da der Engländer wieder von dem beliebten Thema anheben wollte: »Stille; genug! ich kenne das dortige Leben, wie meinen Arbeitssack, und muß gestehen, es gefällt mir nicht. Herr Birsher wird sich entschließen müssen, sich mit mir in einem andern Lande anzusiedeln, wo es lebendigere, fröhlichere Leute gibt, und einen mildern Himmelsstrich, und viele Freude, und viel Gesang. Wenn ich aus Kälte, Reif und Nebel im Winter nicht scheiden soll, bleibe ich lieber in der Heimath, und zur traurigen Hausunke will ich mich in meiner Jugend nicht machen lassen. Wißt Ihr, guter Herr, was ich will und verlange? Ein Dasein voll Vergnügen. Ich bin ja reich, des Vaters und der Mutter einzige Erbin, und Herr Birsher ist, wie es heißt, ein kleiner König an Ueberfluß. Warum soll ich mich nicht der Welt freuen, weil ich Alles dazu besitze? Ferner will ich einen ewig heitern Himmel über mir, blau und sonnefunkelnd; Myrthen, Lorbeer und Rosen auf meinen Wegen....; ach! wenn ich Euch beschreiben könnte, wie mir manchmal im Traum das Land erscheint, in dem ich leben möchte...!« »Die Myrthe winkt Ihnen schon,« antwortete James mit leichtem Seufzer: »das Land, von dem Sie sprachen und träumten, _ist_ auch wirklich. Ziehen Sie südwärts in dem schönen jungen Welttheil Amerika, so finden Sie es. Die Mittagsländer bieten die üppigste Reichthumsfülle. Der Schöpfer hat über sie das Horn des Ueberflusses ausgeschüttet. Ueber ihren Triften und Höhen hängt der ewig leuchtende Himmel; in ihren Fluren wächst die ungeheure Palme neben dem Heer von duftenden Kräutern, die in der Luft auf Meilen in die Runde Wohlgeruch verbreiten. Der Mensch _kämpft_ dort nicht dem Boden sein Leben ab; spielend gewinnt er ein fröhliches Dasein. In jenen lustigen Wäldern tummelt sich der bunten Vögel glänzendes Gefieder; stattliche Heerden, und der kräftigen Wildrosse flüchtige Geschwader beleben die Landschaft, die an jedem Morgen in neuem tausendfältigen Reiz aufgeht, und in der dunkelsten Nacht nichts von ihrem Reiz verliert. Dort bewegt sich ein leidenschaftlich lebendiges Volk. Die Cymbeln rufen zum Tanz; die duftenden Büsche, vom Glühwurm erleuchtet, hallen den Jubel wieder, und die Githarre murmelt wie eine liebe Geisterstimme unter dem Fenster der angebeteten Dame.« »Das klingt ja schön!« flüsterte Justine froh bewegt: »O sagt, gehört das schöne Land auch Euerm Könige?« »_Mein_ König,« versetzte schmerzhaft der Jüngling, »besitzt kein Land, als seine himmlische Heimath, die ihm kein Usurpator rauben kann. Der Krone England gehören jedoch jene Länder auch nicht. Dort herrscht Spanien und der Pabst.« »Gott steh' uns bei!« rief unwillkürlich Justine aus. Da sie jedoch bemerkte, daß James sie fragend ansah, fühlte sie Beschämung, und setzte bei: »Bin ich nicht ein närrisches Kind, und werdet Ihr mich nicht auslachen, daß ich vor dem Pabst erschrecke?« -- »Ich weiß ja,« entgegnete James ruhig, »daß in England, so wie hie und da auf deutschem Boden die Amme schon dem Säugling den Namen des Pabstthums neben der Verdammniß nennt. Mich wundert das eingesogene Vorurtheil nicht, ob es mich gleich schmerzt, es in einer Seele, so schöner Anlagen und Keime voll, wie die Ihrige, zu entdecken. Lassen Sie unserm Parlamente seine Barbarei gegen Irland, dem fanatischen Calvin seine Scheiterhaufen: dem Weibe sei Duldung ein bekannter, wohlaufgenommener Gast.« Das Mädchen sah den Lehrer mit großen Augen an; äußerte jedoch alsdann: »Wahr, mein Herr; sehr wahr. Ohnehin kann ich nur urtheilen, wie der Blinde von der Farbe. Ich habe noch nie einen Katholiken gekannt, noch nie den römischen Gottesdienst gesehen.« »Dann sahen Sie das Schönste nicht, was jemals der menschliche Geist ersann, seine Anbetung des Allerhöchsten glänzend und würdig an den Tag zu legen,« rief James, wie begeistert: »das geheimnißvollste, und doch zu den Sinnen ernst und schmeichelnd sprechende Schauspiel! O! wer rühmte sich wohl, je gewußt zu haben, was Gebet ist, der nicht dem römischen Cultus einmal beigewohnt? Diesem erhabenen Opfer, das ein so heiliges Band um alle Gemüther webt! Das ist der Tempeldienst für fühlende Menschen, für Seelen, die sich begeistert an die Flügel der Gottheit hängen wollen; der Dienst, den der heitere Süden gebar, und das Land, in dem der Herr sichtbar wandelte. In unserm traurigen Norden, wo das Herz kalt und unfruchtbar ist, wie der harte Boden, wo der Alltagsverstand grübelt, statt zu _glauben_, ist Alles anders, und in der eisigen Form versteinert endlich auch der Geist.« »Ich wundre mich, daß ein englischer Protestant der feindlichen Kirche so glänzend Gerechtigkeit wiederfahren lassen mag,« versetzte Justine, als James schwieg: »_Unsre_ Prediger schildern sie ganz anders. Indessen ist etwas Wahres an Euern Empfindungen und Meinungen. Das fühle ich wohl. Aufrichtig gesagt: die Perücke unsers Pfarrers hat mir nie besser, nie schlechter gefallen als seine Predigt, und die schnarrenden und schluchzenden Stimmen meiner Kirchennachbarinnen machen allezeit das Lied zu einem possierlichen, nicht ehrwürdigen Ohrenschmaus. Wir haben indessen schon allzulang von Babylon gesprochen, mein guter Monsieur, und die Mutter nimmt sich eben vor, zu erwachen.« Die Unterredung, die einen so wunderlichen Umschwung genommen hatte, fand ihr Ende, aber in Justinens Ohren setzte sie sich leise fort, und das Mädchen konnte sich nicht erwehren, dann und wann Betrachtungen über den Gegenstand anzustellen. Wohl hatte sie hin und wieder von den geweihten Flammen, den prächtigen Gewändern einer Messe gehört; von der herrlichen Musik, den duftenden Weihrauchwolken, den Blumengefäßen und heitern Panieren; ... allein, theils war immer in ihrem Kreise nur mißbilligend und verdammend von diesen Dingen die Rede gewesen, theils waren diese angedeuteten Bilder zu verworren, um sich in _einem_ Rahmen vor der Seele zusammenfügen zu können. Durch James feurige Rede waren die seltsamen Vorstellungen wieder erwacht. Hielt sie mit ihnen die finstre Johanniskirche zusammen, mit dem schmucklosen Altar, der einfachen gothischen Kanzel, und dem zufällig eintönigen näselnden Vortrag des Predigers, so mußten Letztere verlieren. Ihr lebhaftes, fröhliches Gemüth haschte nach dem fröhlichern Eindruck, und, sann sie oberflächlich über den Kern der unfreundlichen Schaale nach, so waren eben jene geschmacklosen Kanzelreden, und das geistlose Plappergebet, das ihre Mutter alle Abende ableierte, nicht geeignet, sie in dem unbedingten Vertrauen zu _ihrer_ Lehre zu stärken. In dem Geschäftslokale des Hauses ging indessen alles einen gedrängten, unheimlichen, leisen Gang. Von Mäcklern und Unterkäufern wurde es nicht leer. Aufgebrachte, drohende Gläubiger und Bürgen gingen oft aus dem Hause; lauernde Juden, Leute die sonst nimmer in des Senators Schreibstube gesehen worden, gingen häufig hinein, und einer gab dem Andern die Thüre in die Hand. Waarenvorräthe wurden schnell losgeschlagen, um Spottpreise weggegeben; kleinere Schuldposten an des Senators Firma mit Härte und Ungebühr von Nothhaft eingetrieben. Dürftige Geldlasten kamen ein, schwerere Ladungen gingen hinaus. Der Neid hatte auf den _glücklichen_ Müssinger ein offnes Auge gehabt. Der Unglückliche wurde von tausend Augen belauert. Ein dumpfes Gerücht kam auf der Börse aus: der Senator stehe schlecht, sein Haus würde fallen. Viele Geschäftsfreunde zogen sich plötzlich aus allen Verhältnissen mit ihm; Andere, die nicht so schnell sich losmachen konnten, führten drohende Reden in der Blume; die wenigsten warnten den Senator; keiner bot ihm die Freundeshand. Müssinger hatte Mühe und Plage, unter diesen beunruhigenden Vorzeichen sein unbefangenes Gesicht zu bewahren, und das vornehme Uebersehen, das er sich angewöhnt hatte. Indessen wünschte sein Herz ungeduldig den Buchhalter herbei, und _viele_ Augen warteten auf dessen Rückkehr. Es hieß, von Amsterdam aus werde die Entwicklung kommen; ob nun der erfrischende Ostwind, oder der niederwerfende Sturm. Endlich kam in der Nacht der Buchhalter wieder an; mit Eilpferden, wie er verreis't war. Der Senator wurde geweckt, und stieg zu dem Harrenden in das Cabinet hinunter. Bei stiller Lampe und fest verriegelter Thüre wurde die Unterhandlung gepflogen, bis das Morgenroth zu den Oeffnungen der Fensterladen hereinsah, und die Gassen belebt wurden. Da trat der Senator allein aus seinem Hause, und schlug den Weg zum Kaufhause ein. Sein Anzug war in einer Unordnung, wie er ihn noch nie auf der Straße gezeigt hatte; unverändert so, wie er ihn um die Mitternachtsstunde umgeworfen hatte; die Schuhe niedergetreten, die Strümpfe hängend, die Halsbinde locker, und das Haar zerrüttet. Doch war sein Schritt so hastig, daß er wie im Fluge an den Leuten vorbeischoß, die mit Lebensmitteln zur Stadt kamen. Am Krahnenhause war Alles noch still und einsam. Einzelne Schiffer lungerten am Gestade, oder wälzten sich auf dem Verdeck ihrer Fahrzeuge. Der Senator hielt sich nicht bei den Grüßenden auf, sondern lief immer stromabwärts, bis er die letzten Gebäude und Schuppen der Quai's und der Stadt hinter sich hatte, und zu der Kastanienallee gelangte, welche, auf eine Viertelmeile sich erstreckend, neben dem Flusse hinlief, zum Spaziergange der Städter dienend. Steinbänke waren zwischen den Bäumen angebracht, und eine mäßig hohe Brustwehr von Eisengitter schloß den Platz gegen den Strom zu, der reißend und tief unter der Balustrade vorüber tobte. Dieser Ort war, der Kühlung wegen, im hohen Sommer stark besucht; jedoch meistens nur in den Abendstunden; denn die Aurora verträumen die Müßigen gerne, und ihren Genuß im Freien verschmähen die Arbeitsamen. So kam es denn, daß auch am heutigen Tage nur ein einziger Mann auf der Promenade saß, halb von einem mächtigen Stamme verdeckt, dessen Farbe von dem grauen Oberrocke des Mannes wenig abstach. Eine Druckschrift lag auf den Knieen des Einsamen, allein die Aufmerksamkeit, die er auf dieselbe verwendete, hinderte ihn nicht, den Senator zu gewahren, der herbeieilte, ohne etwas vor sich zu sehen, als das Ziel seiner Wünsche; der, einige Schritte von dem Lesenden entfernt, schnell wie der Blitz den Stock wegwarf, mit _einem_ Satze auf dem Geländer saß, und sich im folgenden Moment in den Fluß gestürzt haben würde, hätte ihn nicht der herzugekommene kräftig bei den Schultern gefaßt, und ihn zurückgezogen. Der Versuch eines feigen Selbstmords duldet keine Zeugen. Der Mann der, einem großen Zwecke zu genügen, das Leben wegwirft, wird in seiner Begeisterung den Arm zurückstoßen, der ihn hindern will. Der Schwärmer, der Wahnsinnige, der gegen sich den Dolch zuckt, wird auf kurze Zeit die Raserei eines Thieres gegen Denjenigen wenden, der ihm die Waffe entreißt; der Schwächling aber, oder der Mensch, der einem falschen Ehrgefühl, seinem Hochmuth, sich zum Opfer schlachten will, verliert alle Herzhaftigkeit, sieht er sich ertappt; denn er ging auf einen Frevel aus. Ohnmächtig läßt er den Vorsatz fahren, und die bitterste Beschämung vergilt den kurzen Rausch eines erzwungenen Heroismus. Der Senator lag mit geschlossenen Augen und hochathmender Brust in den Armen des unbekannten Helfers, und ließ sich von ihm, ohne das mindeste Widerstreben zu äußern, nach der nächsten Bank geleiten. Hier hielt er sich an den Baum, und schlug beide Hände vor's Gesicht. Nach einem kurzen Stillschweigen sagte der Andre mit sanfter und wohlklingender Stimme: »Sie wollten ein voreilig Werk thun, lieber Mann, aber Gott hat Anderes mit Ihnen im Sinne. Beruhigen Sie sich daher; vergessen Sie, daß der Teufel Sie in Versuchung führte, und gehen Sie wieder muthvoll an die Geschäfte, die Ihnen obliegen.« Der Senator zuckte zusammen, schlug die Augen wild auf, und erwiderte dem Manne, in dessen ernstem Gesichte ein erfreuliches Mitgefühl zu lesen war, mit gepreßter Stimme: »Warum haben Sie mich zurückgehalten, Herr? Jetzt wäre Alles vorbei, und meine Ehre nicht doppelt verloren, wie es geschehen wird, wenn man in der Stadt erfährt, was ich versucht habe.« »Bekümmert Sie das allein?« fragte der Nachbar tröstend: »Beruhigen Sie sich, wiederhole ich Ihnen. Ich bin ein verschwiegener Mann, verpflichtet zur Bewahrung der Geheimnisse, die man mir anvertraut, und werde niemals Ihren Frieden oder den Ihrer Familie durch eine Unbescheidenheit stören.« Der Senator sah sich scheu um. »Wahr ist's;« sagte er hierauf: »Wir sind die einzigen Anwesenden an diesem Orte. Wenn Sie daher schweigen wollten... Kennen Sie mich?« »Ich könnte es verneinen, um Sie zu täuschen;« erwiderte der Andere: »allein ich hasse den unschuldigsten Winkelzug. Sie sind mir bekannt, Herr Senator; aber wie gesagt, schon mein Stand schützt Sie vor einer möglichen Indiskretion.« »Darf ich fragen...?« sagte Müssinger, ihm gespannt in's Auge blickend. -- »Ich nenne mich Leupold, bin Doctor beider Rechte, und habe seit manchen Jahren als Sachwalter bei verschiedenen Gerichten fungirt. Ich verstehe mich auf's Schweigen; um so mehr, als es hier den Ruf eines Mannes gilt, dessen Haus mein guter Pflegesohn zu besuchen berufen worden ist.« »Ich entsinne mich,« entgegnete der Senator, nicht unangenehm überrascht, den neuen Bekannten durch ein gewisses Band des Vertrauens an sich gefesselt zu sehen: »Wären andre Umstände vorhanden, ich würde mich Ihrer Bekanntschaft freuen, Herr Doctor. Vergeben Sie mir daher, wenn ich nicht bin, wie ich sein sollte.« »Solche Revolutionen gehen nicht leicht ab. Gehen sie nach Hause, Herr Senator. Ein niederschlagendes Pulver und Ruhe werden Ihre Besonnenheit am Besten wieder herstellen.« »Nach Hause? Wo denken Sie hin? Nach Hause, wo ich der Schande entgegen sehe? Sie haben mich verhindert, im Flusse mein Ende zu suchen. Lassen Sie mich wenigstens so weit fliehen, als mich meine Füße tragen. Ich bin ein zu Grunde gerichteter Mann. Ich kann den Spott der Feinde und die Vorwürfe der Meinen nicht ertragen. Ich will fort, über See!« Er stand rasch auf, um in dem verstörten Zustande, worinnen er sich befand, in die Welt zu laufen. Der Doctor hielt ihn zurück. -- »Bedenken Sie, was sie thun!« sagte er: »Ich kenne nicht Ihr Leid, nicht Ihre Verhältnisse. Aber die Lage Ihrer Angehörigen wird zehnfach schlimmer, wenn Sie diesen Schritt thun, und Ihnen folgt die Schande zehnfach. Ich habe viel erfahren in der Welt. Das Schicksal hat uns auf eine so seltne Weise zusammengeführt, daß ich mir fast die Freiheit nehmen möchte, mir ein Recht auf Ihr Vertrauen anzumaßen. Daher...« »Ist es denn der Mühe werth, Ihnen ein Geheimniß aus dem zu machen, was binnen drei Tagen die ganze Stadt wissen wird, wissen muß? Herr! mein Geschäft bricht ein. Der Ultimo kommt heran, ich kann nicht zahlen. Ein unbarmherziger Gläubiger, der jede Verlängerung ausschlug, kommt übermorgen selbst hier an, um mich zu verderben. Kaum vermochte mein Agent mir davon früher Kunde zu bringen. Ich kann ihn nicht befriedigen, nicht den sechsten Theil seiner Wechselforderung schaffen. Alle Quellen sind erschöpft; meine Bücher weisen eine geldleere Wüste auf. Der Senat stößt den Bankerutier aus, und meine Familie in's Elend. Da, da wissen sie Alles, was ein Kaufmann sonst nur im letzten Augenblick gesteht. Ermessen Sie meine Lage, und posaunen Sie dieselbe aus, oder schweigen Sie. Mir ist Alles gleichviel. Lassen Sie mich aber fort. --« »Wollen Sie in's Verderben rennen, und auf Glück, auf Gott, und Ihre eigne Männlichkeit nicht vertrauen -- gehen Sie hin!« sprach mit abstoßendem Tone der Doctor, und wendete sich mißmuthig von dem Verzagenden. -- Dieser kurze Bescheid brachte indessen den Senator wieder zu sich. Wir sind häufig in mißlichen Lagen, wie die Kinder, klagen und jammern immer mehr, je größre Mitklage wir erwecken, und schweigen plötzlich gefaßt, wenn unser »Zeter« keinen Eindruck mehr macht. Der Senator sah sich betroffen nach seinem neuen Freunde um. Sein Fuß wurzelte. Er legte seine Hand auf des grauen Mannes Schulter, und fragte nach geraumen Schweigen: »Was sagten Sie da? Wem soll ich vertrauen? Gott? Guter Herr, ich bin kein Pietist, und nicht von heute. Lassen wir das. Dem Glück? Ich habe mich lange dabei wohl befunden, allein, wenn _eine_ Stütze bricht, halten auch die andern nicht lange mehr. Meiner Männlichkeit? Wie meinen Sie das?« »Der Wille des Menschen vermag viel,« antwortete der Doctor: »In ihm liegt der Beistand des Höchsten; er regiert das Glück; glauben Sie mir das. Das Leben ist nun einmal ein Kampf, diese Welt der Fechtplatz. Wer sich am rüstigsten durchschlägt, gelangt sicher zum Ziel. Uebelverstandenes Ehrgefühl, -- schlecht ausgelegte Moral sogar, kann den besten Kämpfer entwaffnen, und zum Spott seiner Gegner machen. Man behaupte die Bahn, in welche man geworfen ist, und träume sich nicht in eine andere. Man zittre nicht vor der Gefahr, man trete ihr auf den Nacken.« »Ich verstehe Sie nicht,« äußerte der Senator, und ließ sich horchend neben den Doctor nieder: »ich bin fünfzig Jahre alt geworden, und wenn ich gleich schon Aehnliches, wie Sie mir da predigen, _gefühlt_ habe, _gesagt_ hat mir es noch Niemand.« »Sie haben nur die Handelswelt kennen gelernt,« versetzte achselzuckend der Doctor: »Ein Beispiel wird Sie jedoch überzeugen. Sehen Sie hier einen Traktat über die Seeschlacht bei la Hogue, wo Admiral Russel die französische Flotte vernichtet hat. Diese Schlacht war eine der außerordentlichsten Begebenheiten der Zeit, und herbeigeführt und gewonnen unter den widerstrebendsten Conjunkturen. Nicht Wind, nicht Wetter, nicht das eiserne Joch der Verantwortlichkeit achtend, wurde geschlagen, wurde gesiegt. Aus dem gefürchteten Verderben trat glänzend die Victorie hervor. So viel vermag der Wille und die dadurch aufgeregte Kraft des Menschen. Und, -- merken Sie sich das genau: im bürgerlichen Leben, wie im Schlachtandrang gilt der Satz: Hilf dir selbst, und Gott ist mit dir. Stoße _den_ vom Brett, der dich hinunterstoßen will, oder schweige und ergieb dich verzagt in das verdiente Geschick.« -- »Ich staune über Ihre Reden, gelehrter Herr,« sagte der Senator, obschon aufgerichteter als zuvor: »wie aber soll ich sie in =praxi= anwenden? Dunkel bleiben mir Ihre Worte, oder machen mich zittern, sollte ich Sie verstehen.« -- Der Doctor lächelte. »Träumen Sie ja nicht von Gespenstern,« erwiderte er halb im Scherze: »ich schreibe nur sanfte Mittel vor. Sie führen ja nicht das Bajonnet, nicht den Commandostab. Nur so viel in Kurzem: Geben Sie nicht feig Alles verloren. Von Stunde zu Stunde wechselt das Glück seine Häuser, und schüttet vielleicht in der nächsten den goldenen Regen durch Ihren Schornstein. Verlarven Sie nicht. Spricht das Unglück von Ihrer Stirne, so finden Sie keinen Freund mehr, während der Schein der Zuversicht Ihnen vielleicht in der letzten Minute den thätigsten wirbt. Waffnen Sie sich wider den Gegner, der sich naht; nicht mit Messer und trotziger Schmähung, sondern mit dem glatten, überredenden Worte, und der vielversprechenden Stirne. Freundlichkeit bezwingt den festesten Vorsatz. Jeder Mensch hat den verwundbaren Fleck. Jeder Mensch ist eitel. Suchen Sie die Ferse des Achilles. Schmeicheln Sie seiner Eitelkeit. Der günstige Augenblick einmal benützt, und die Wechsel werden prolongirt, die Frist ist gewonnen, mit ihr die Hoffnung, und in der Hoffnung liegen ja alle unsere Reiche. Was möglich ist, kann auch wahr werden, und das Mißgeschick macht immer wieder der Fortuna Platz. Hören Sie nie auf, auf sich zu zählen, und auf meine Verschwiegenheit.« Mit einer anständigen Verbeugung verließ der Doctor den Handelsherrn, und wandelte nach der Stadt zurück. Müssinger sah ihm verwundert nach, und dann in sein eignes Innres. Mittel und Wege fand er freilich darinnen nicht vor, aber ein besserer Muth belebte seinen Geist, und sein Plan, sich aus der Welt zu schaffen, kam ihm bald wie ein Traum, bald lächerlich vor. Der prachtvolle Morgen trug das Seinige dazu bei, den aufgeregten zu beruhigen. Die erste Folge dieser eintretenden Ruhe war die Sorgfalt, die der Senator darauf verwendete, seinen Anzug wieder bildlicher und anständiger herzustellen. Alsdann stand er auf, blickte zum Himmel auf, und murmelte: Wohlan! den Versuch ist ja wohl die Lehre werth, und im schlimmsten Falle ändert ja der Strom binnen drei Tagen nicht sein Bett! -- Somit drückte er den Hut in die Augen, wanderte gravitätisch zur Stadt zurück, und seiner gleichgültigen Miene hätte Niemand angesehen, wie es vor einer halben Stunde um ihn gestanden. »Mein Guter,« sprach er nach einiger Ueberlegung in seinem Cabinette zu dem Buchhalter: »Es liegt mir daran, daß Ihr Euch von dem Amsterdamer nicht in meinem Hause finden lasset. Es dient mir zu besserem Stand und Hinterhalt, wenn ich sagen kann, daß Ihr, auf andern Geschäftstouren begriffen, noch nicht zu mir heimkehrtet, mir seine Antwort noch nicht hinterbrachtet. Ihr habt mir nur in einem Briefe gemeldet, daß _er_ selbst kommen würde, sich mit mir in Richtigkeit zu setzen; nichts weiter, versteht Ihr mich? Ich gewinne durch diese Unwissenheit Aufschub, und während dessen geht eine neue Quelle auf.« -- »Das gebe Gott!« seufzte der treue Buchhalter: »wo befiehlt aber mein hochzuverehrender Herr Prinzipal, daß ich mich hinbegebe?« -- »Ihr mögt nach Steinstadt reisen,« erwiderte der Senator, »und bei Gericht den Zwangprozeß gegen unsern saumseligen Schuldner, den Apotheker, eifrig betreiben und anhängig machen. In einigen Tagen ist das Geschäft beendigt, zu dem ich einen Diener abfertigen würde, wenn nicht die Umstände wären, wie sie sind. Damit jedoch Eure Abfertigung ein gewisses Aufsehen mache, mögt Ihr hier noch zu verbreiten suchen, daß Ihr in meinem Namen auf die Steinkohlengruben bieten sollt, die der Graf zu Steinstadt versteigern läßt.« »In Gottes Namen!« ließ sich der Buchhalter vernehmen, und ging, sich fertig zu machen. Der Senator stieg indessen hinauf zu seinen Frauensleuten, und kündigte ihnen an, der Herr van den Höcken von Amsterdam werde binnen wenigen Tagen eintreffen, und eingeladen werden, in dem Hause seines Geschäftsfreundes sein Quartier zu nehmen. Deshalb müsse das beste Gastzimmer in Stand gesetzt, und in Küche und Keller alles auf den Fuß hergerichtet werden, einen so ehrenwerthen Besuch nach Gebühr zu empfangen und zu vergnügen. Die Senatorin murrte und maulte viel über die ungelegene Störung des Hauswesens, gab dann, da sie nichts an dem Befehl zu ändern vermochte, in aller Gleichgültigkeit Justinen die Schlüssel zu Haus und Hof und ließ die flinke, bereitwillige Tochter für Alles sorgen. Sie selbst sah, nach wie vor, ganze Stunden lang durch's Fenster, schlief, betete ihre Psalmen gedankenlos, und hatte am Abend, in träger Ruhe unter den Freundinnen sitzend, viel von der Mühe und Plackerei einer weitläufigen Wirthschaft und unbequemer Gäste zu erzählen. Die Spiel- und Klatschschwestern säumten nicht, das Erfahrene und Gehörte in der ganzen Stadt zu verbreiten. Durch Lehrlinge und Diener und Mäkler ging von der andern Seite das Gerücht von jener Steinkohlenspekulation um, und der Senator hatte die Freude, auf der Börse wieder freundliche Gesichter zu sehen, und das Wiederaufkommen seines Credits zu bemerken. »Van den Höcken wird bei ihm wohnen!« flüsterten sich Händler und Sensale zu; »er erwartet ihn also mit gutem Gewissen! Auf die Steinkohlengruben des Grafen läßt er bieten? Sie müssen baar bezahlt werden, weil die Excellenz das Geld für Spa braucht. Er florirt also wieder, der Herr Müssinger!« Und: »Ein wackrer Mann! ein braver Mann!« scholl es nun wieder weit und breit, gerade aus dem Munde derjenigen, die ihn schon am meisten geschmäht hatten. Die ruhigern, solidern Kaufleute zuckten indessen die Achseln, schüttelten die Köpfe, murmelten von Dunst und tauben Nüssen und erwarteten die Zukunft. Aengstlicher und sehnsüchtiger als sie Alle, erwartete der Senator die Tage der Entscheidung, und es wurde ihm schwül zu Sinne, denn schon waren fast zweimal 24 Stunden seit der Unterredung mit dem Doktor verflossen, und noch hatte sich, außer dem Dunst nichts geändert in seinen Verhältnissen. Wo er ging und stand, dachte er an unausbleiblichen Bankerott, und zugleich an die Worte des Doktors, die wie Metallklänge an sein Ohr schlugen: »Hilf dir selbst, und Gott ist mit dir. Stoße _den_ vom Brett, der dich hinabstoßen will!« »Kann ich denn diese harten Reden nicht los werden?« fragte er sich oft, wild an seine Stirne schlagend, und verschloß sich dann wieder auf Viertelstunden in den stillsten Winkel seines Hauses. Unterdessen machte Justine die fleißige Wirthin, und ordnete und putzte in den Gastzimmern, daß es eine Freude war. James, der vergebens zur Stunde kam, und den die Mutter schnöde abgefertigt hatte, sah im Vorübergehen die Thüre der Gaststube zufällig offen, blickte hinein und grüßte Justine, die auf einem Tische stand, und sich umsonst bemühte, die schwere Stange des Vorhangs auf die Hacken über dem Fenster zu bringen. Ihr Gesichtchen war feuerroth vor Zorn, und mit weinerlicher Stimme rief sie dem Engländer zu: »So kommt doch herein, Monsieur! seit zehn Minuten rufe ich mir die Kehle rauh, nach den einfältigen dummen Mägden, die mich hier allein gelassen haben. Noch eine Minute, und ich hätte die schwere Fahne da, wie sie ist, auf das Getäfel geworfen, und wenn Spiegel und Marmortisch, und Alles dabei zu Grunde gegangen wäre. Helft mir!« »Mit Vergnügen!« betheuerte James, legte den Hut ab, und bereitete sich, auf den Tisch zu steigen. Justine stampfte ungeduldig mit den Füßchen. »Mein Gott, wie förmlich!« rief sie, »legt doch um Gottes Willen Euer englisches Phlegma ab. Ein Anderer wäre mit _einem_ Sprunge schon bei mir gewesen!« -- »Ein wenig Geduld!« ermahnte James das Mädchen, nahm den armen Vorhang aus dessen Hand und in einem Augenblicke saß er, wo er sollte. »Besonnen kommt man nicht minder schnell zum Ziele,« sprach James weiter, und reichte Justinen die Hände, sie vom Tische zu heben. Sie bedachte sich eine Weile, wollte ihr böses Gesicht beibehalten, das schelmische Lächeln drang aber durch das Gewitter, und wie ein Zephyr flog sie an des Jünglings Armen zur Erde. »Ihr seid ein possirlicher Mensch!« sagte sie, ihm neckend in die Augen sehend: »so oft ich Euch die Wahrheit sage, spielt Ihr den Gekränkten, und gebt eine Sentenz zum Besten. Gewöhnt Euch das ab, Monsieur. Ihr seid ja kein Kandidat, der blöde thun muß, um's liebe Brod. Was ein vorwitziges Mädchen sagt, muß den Vernünftigen nicht kümmern.« »Menschen, die mir gleichgültig sind, kümmern mich auch nicht,« antwortete James, der noch nicht alle Bitterkeit besiegen konnte. Justine blickte ihn rasch und gleich wie strafend an, verzog dann fröhlich lächelnd den Mund, und drehte sich, schnell wie der Wind, im Kreise um. »Seht aber doch, wie schön ich Alles hier eingerichtet habe!« rief sie, sich dreimal gegen den Spiegel verbeugend, und lustig in die Hände klatschend: »Ich wette darauf, die Königin Ulricke hat keine schönere Wohnung.« -- »Die Freude, die Sie an Ihrem eigenen Werke haben,« entgegnete James scherzend, »brächte mich beinahe auf die Vermuthung, diese Zimmer seien für Ihren Verlobten eingerichtet.« »Ach Gott, nein!« versetzte Justine, indem Sie die Hände in spaßhafter Klage zusammenschlug; »Herr Birsher wohnt leider nicht an der Ecke, um so geschwinde seinen Besuch abstatten zu können. Vor der Hand wird nur ein alter steifer Holländer, der Herr van den Höcken hier sein Quartier nehmen. Der beste Freund meines Vaters: sie haben sich aber in ihrem Leben noch nicht gesehen. Der liebenswürdigste Mann: wir wissen aber noch nicht das Geringste davon. Seht Euch das Zimmer noch einmal recht an, und lobt meinen Geschmack. In _diesem_ Zustande seht Ihr es nicht mehr wieder!« »Wie so?« »Herr van den Höcken wird schon alle meine Bemühungen zu Schanden machen. Diese weißen Vorhänge wird der Rauch seiner Pfeife schwärzen, all' diese Ordnung seine plumpe Hand zerstören. Ach, die Männer sind ja nur dazu vorhanden, der Weiber zierliche Schöpfung zu verunglimpfen.« »Wie kommen _Sie_ jetzt zu der Sentenz?« »Das Medaillon an jenem Vorhang, den Ihr, Monsieur befestigt habt, bringt mich zu der Beschwerde. Es steht schief und baufällig. Schade dennoch um das arme Bild.« »Warum befehlen Sie nicht?« fragte James lebhaft, sprang abermals auf den Tisch, und richtete das vergoldete Prunkstück nach der Regel auf. Justine verneigte sich steif. »Monsieur!« sagte sie, »ich bin mit Euch zufrieden. Wie kömmt's, daß Ihr jetzt lebendiger werdet?« »Ich _strebe_ nach Ihrer Zufriedenheit, Mademoiselle,« entgegnete James verbindlich. -- »Das gefällt mir,« sprach Justine ernsthaft wie eine Königin. »Ihr möget aber wissen, daß ich nicht genügsam in meinen Forderungen bin.« »Und doch würde ich eine _jede_ erfüllen!« versicherte James nicht minder ernsthaft. »Jede?« fragte Justine noch ernsthafter: »Besinnt Euch, Monsieur. Ich lasse nicht mit mir scherzen.« »Auch scherze ich nicht,« schloß James fest und bestimmt. »So wolltet Ihr also auch, wenn ich es verlange, den einfältigen Lauscher über die Treppe werfen, der schon seit einer Minute den Kopf in die Thüre steckt, und nicht ahnt, daß ich im Spiegel seine Ohren sehe?« James sah sich verwundert um, und gewahrte Nothhafts Kopf, ein albernes ertapptes Fuchsgesicht, aus dessen Munde stammelnd die Worte kamen: »Mit Permiß, hochgeehrte Jungfer! Ich suche nur Ihren Herrn Vater!« »Mit Permiß,« antwortete Justine verächtlich: »Er ist ein erbärmlicher Pinsel, dem mein Herr Vater für seine Horcherei den Kopf zurecht setzen soll. Führ' Er sich ab, und such' Er anderswo.« Nothhaft verschwand mit leisen Verwünschungen. Justine lachte herzlich, theils über den Diener, theils über James, der, wie aus einem Himmel gefallen, vor ihr stand. »Sagen Sie, wunderliche Fee!« sprach er: »Wie soll ich Sie nennen? Sie wechseln die Farbe wie ein Demant. Schon glaubte ich auserkohren zu sein, Ihnen einen wichtigen Dienst leisten, Ihren Beifall erwerben zu können, und plötzlich löst sich Alles in einen Scherz auf.« »Gesteht es nur, Monsieur!« erwiderte hierauf Justine: »Ihr seid eitel. Ich bin es aber nicht weniger. Ihr könntet ein Franzose sein. Mein Ernst ist jedoch nicht _immer_ Scherz.« Die Gutmüthigkeit, die sich in Justinens Rede kund gab, machte dem Jüngling Muth, nach ihrer Deutung zu fragen, allein Müssinger's Dazwischenkunft setzte seiner Neugier unübersteigliche Schranken. Der Senator trat heftig ein, und rief mit auffallender Sorglichkeit: »Ist alles fertig, Justine? Alles hergerichtet und geordnet?« Auf die Bejahung fuhr er fort, ohne auf James zu achten: »Brav, schön, meine Tochter. Zur besten Zeit, mein Kind. Er ist angekommen. Van den Höcken ist da. Der Kellerbursche aus dem römischen Kaiser hat mir's so eben gesteckt. Allein gekommen, ohne Bedienung. Man kann den Mann nicht im Gasthause lassen. Ich gehe selbst zu ihm. Sage mir, bin ich angezogen, wie sich's gebührt? Fällt die Perücke gut? Sitzen die Strümpfe und Kniebänder? Hängt der Degen recht, wie er soll? Wie findest du den Busenstreif?« »Schön und wohlanständig wie alles Uebrige, lieber Vater,« antwortete Justine, ein feines Lächeln kaum bemeisternd: »Sie sind jedoch in einer Unruhe befangen, die mir auffällt. Sie haben ja nicht vor den Kaiser zu treten, sondern vor einen Kaufmann, der nicht mehr, nicht weniger ist, als Sie selbst, und obendrein Ihr Handelsfreund!« »Ach ja!« versetzte der Senator mit ängstlichem Athemzuge: »ach ja! das ist er, aber die Schicklichkeit, die Mores, ... und dann meine Pflicht, ... und worauf es ankömmt! Liebe Justine, erhebe deine Seele zum Gebet! ... Deine Mutter ist Eis, ... du aber mein Kind halte den Daumen für mich! hörst du? bringe mir Glück! freilich darfst du nicht wissen, ... aber ... wie gesagt ... Adieu!« Schon war er jenseits der Schwelle. Die Herzensangst, die unverkennbar aus ihm sprach, machte Justine sehr nachdenklich. Sie stützte sich auf den Tisch, und blickte sinnend auf die Straße. Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens drehte sie sich kopfschüttelnd um, um zu gehen. »Wie? Ihr seid noch da, Monsieur White?« fragte sie, wie erstaunt den jungen Mann zu sehen, der sie mit verschränkten Armen und theilnehmend betrachtete. »Könnt Ihr mir nicht sagen, was der Auftritt so eben bedeutete?« setzte sie gezwungen lächelnd hinzu. »Die Mächte, die uns leiten, warnen oft den Glücklichen, daß er sich auf Unheil gefaßt mache,« entgegnete schonend und vorbereitend der Jüngling. »So?« fragte Justine wieder mit durchdringendem Blicke: »Euch steht's jedoch schlecht an, den Unglückspropheten allein hier spielen zu wollen. Was berechtigt euch dazu? gewiß nur meine Nachsicht, die Euch zu solcher mißbrauchten Vertraulichkeit den Muth giebt. -- Außer der Lehrstunde bin ich nicht für Euch zu Hause.« James Gefühl wallte über. »Nach Befehl,« entgegnete er kaum hörbar, »hätte ich geahnt, daß Sie auf Ihre Frage nur ein stummes Achselzucken wünschen, und nicht ein freundlich offen Wort, so hätte ich mir die Beleidigung, Ihnen die Reue erspart.« Er entfernte sich schnell. Schon war Justine im Begriff, bereits von dem innern Vorwurfe gequält, ihn zurückzurufen; schon hob sich ihr Fuß, ihm nachzueilen, aber Stimme und Bewegung bezwang sie im stolzen Selbstgefühle. »Ein unerträglicher Mensch!« eiferte sie vor sich hin: »Was er sich erlaubt! Ist das nicht der Ton, den ein Vater gegen seine Tochter annimmt? Gelte ich ihm denn nicht für _voll_? Bin ich denn ein Kind, das sich Alles gefallen lassen muß?« Ein schneller Blick in den Spiegel belehrte sie zur Genüge, daß sie kein Kind mehr war, sondern eine Jungfrau in der schönsten Blüthe des Alters. Wohlgefällig ordnete sie die Spitzen, die ihren Busen zart und schwach verhüllten, die Schärpe um das enge pralle Mieder, die Falte ihres seidenen Gewandes, und ging einigemal vor dem Spiegel auf und ab. »Wahrlich!« sprach sie alsdann mit verklärtem Angesichte: »Herr Birsher wird nicht die häßlichste Braut aus Europa entführen. Wenn er nur auch recht hübsch ist, und wohlgewachsen, und prächtig und sauber im Aeußern! Wie werden sich die Jungfern ärgern und die Frauen, wenn ich in aller Herrlichkeit mit ihm abziehe! Wie werde ich dagegen jubeln, wenn ich aus diesem Hause scheide, wo mich die Mutter nicht liebt, nicht haßt und nur für ihre Kammerjungfer ansieht, wo der Vater von Tag zu Tag wunderlicher wird. Wahrhaftig, noch einmal ein Auftritt wie der vorige, und mir würde bange um seinen Verstand!« So eben ließen sich Stimmen in der Hausflur vernehmen, und gewichtige Schritte kamen über die Treppe herauf. Erschreckt flog Justine aus dem Zimmer, und bewillkommte sehr verlegen einen sehr dicken schweren Mann, der an der Hand des Senators, in Reisekleider gehüllt, emporkeuchte. Ein Lastträger folgte mit einem gewichtigen Koffer auf der Schulter. Das ganze Comptoirpersonale lauschte unten mit vorgestreckten Hälsen. »Der sehr achtbare Herr und Freund van den Höcken aus Amsterdam,« sprach der Vater geschäftig zu Justine, und zupfte sie, einen sehr tiefen Knix zu machen. Der Holländer versuchte seinerseits eine Verbeugung, sah Justine starr aber freundlich an, blinzelte mit den kleinen Augen. »Ein hübsches Kind, die Jungfer Tochter,« sagte er noch halb athemlos: »ein recht hübsches Kind, eine lockende Eva! es ist charmant, Ew. Edeln, daß ich dem römischen Kaiser Valet gesagt habe, um hier in die Arme einer griechischen Helena zu sinken.« »Ei, der Himmel bewahre mich in Gnaden!« platzte Justine heraus, und floh vor den ausgestreckten Armen des Fremdlings nach der Mutter Zimmer. Van den Höcken lachte ungemessen, und wehrte dem Senator ab, der Justinen nacheilen wollte. »Lassen Ew. Edeln das wilde Jüngferlein immerhin springen und laufen,« sagte er fortlachend, »der Wein muß brausen, das Bier schäumen. Am Ende gibt es noch den solidesten Trank. Ich bin der Jungfer schon recht zugethan, und denke, _sie_ soll mir es auch werden. Alte Hagestolze wie ich, haben das Geheimniß endlich weg, wie man das Frauenzimmer kirre macht. Für's Erste jedoch,« setzte er hinzu, »weisen Sie mir mein Zimmer an, und entschuldigen Sie mich bei Ihrer lieben Frau. Zum Thee komme ich herüber. Meine müden Beine müssen bis dahin ausrasten.« Der Senator stieß dienstfertig die Thüre auf, und van den Höcken betrachtete mit Wohlgefallen sein Quartier. »Ew. Edeln haben mich wie einen Cogreßambassadeur logirt,« schmunzelte er, »Item, unsere persönliche Bekanntschaft hebt vollkommen gut an; wünsche nur, daß auch in =saeteris= alles gut ablaufe, mein bester Herr.« Der Senator wollte den Augenblick benutzen. Er stellte sich daher vor den im Lehnstuhle ruhenden Gast, und begann zu erzählen von dem Buchhalter, der nicht zugegen, von dessen oberflächlichem Brief, von der Freude, die er empfinde, den Handelsfreund zu bewirthen, von den bösen Zeiten und den Wagnissen eines Spekulanten, und besonders von der Nothwendigkeit, sich als Christen gegenseitig zu unterstützen, und zu schonen. Als er jedoch bis zu diesem Punkte gekommen war, faltete der Gast seine Stirne mächtig, bewegte mißbilligend den Kopf, und entgegnete ziemlich unfreundlich: »Geschätzter Herr Senator! Dergleichen Betrachtungen schicken sich wenig in der ersten Bewillkommnungsstunde. Was jedoch die Spekulanten betrifft, und die christliche Moral, so sollen Erstere nicht weiter fliegen wollen, als die Federn reichen, und Letztere nicht begehren, daß Einer, um dem Andern durch die Finger zu sehen, sich selber ruinire. Sie werden mich begreifen, obgleich ich nicht das beste Deutsch rede. Im Holländischen könnte ich mich freilich besser ausdrücken. Uebrigens lassen wir dergleichen Erörterungen auf morgen. Meine Maxime ist: zuerst ruhen, dann arbeiten. Morgen nach dem Frühstück von Geschäften. Meine Wechsel sind in aller Ordnung. Halten Sie nur das Ihrige in Bereitschaft.« Der Senator war wie von kaltem Wasser übergossen. -- »Ew. Edeln vergessen,« stotterte er, »daß meines Buchhalters Abwesenheit......« »Doch keinen Aufschub macht?« unterbrach ihn van den Höcken, herzlich lachend. »Warum nicht gar! Ein exakter Kaufmann, wie Sie, weiß die Zahltermine auch ohne den Buchführer. Respekttage habe ich in Hülle und Fülle gelassen, und aufhalten kann ich mich nicht länger als zwei Tage. Also haben Ew. Edeln die Güte, sich nicht länger zu sträuben. Ich weiß es; große Summen gehen schwer vom Herzen; mir selbst nicht minder; allein was sein muß......, nun, Sie sind ja ein Ehrenmann, und somit heute kein Wort mehr hievon.« Müssinger empfahl sich mit verstecktem Mißvergnügen, und ging bis zur Dämmerung heftig auf dem Altan des Hauses hin und her, um sich die gehörige Fassung zuzuwenden, deren er, seinem Gaste gegenüber, bedurfte. Plötzlich blieb er stehen, und sagte vor sich hin: »Bin ich denn nicht ein blödsinniger Mensch, daß ich noch hoffe, und kann diese Hoffnung mit nichts in der Welt rechtfertigen? Was soll mir eine leere gespenstige Erwartung? Warum habe ich nicht auf der Stelle dem hartnäckigen Manne gesagt, was er morgen dennoch erfahren muß? daß es weit ärger mit mir steht, als selbst mein Buchhalter ihm gesagt, dessen vergebliche Bemühungen er nur für die Flausen eines Mannes, der nicht zahlen _will_, zu halten scheint. Ich muß mich demüthigen vor ihm, wie nicht vor einem Kaiser, und nur von seiner Barmherzigkeit Rettung erwarten! Ein saurer Schritt, -- der sauerste meines Lebens! ist er aber vergebens, auch mein Letzter, so wahr mir Gott gnädig ist. Vor des Holländers Augen zerschmettre ich mir den Kopf!« Von diesem Gedanken erfüllt, stieg er hinab in sein Cabinet, lud mit der Entschlossenheit der abgestumpften Verzweiflung seine großen Reisepistolen, und legte sie, unfern von seinem Drehstuhle, in ein verstecktes Fach des Schreibtisches. Hierauf schloß er sorgfältig zu, gab den Comptoirbedienten für den _ganzen_ folgenden Tag -- einen Sonntag -- freien Urlaub, und verfügte sich in die Wohnstube, wo er seine Frau, ihre Freundinnen, Justine und van den Höcken schon beisammen fand. Der Thee wurde nach holländischer Sitte herumgereicht. Der Gast setzte sein größtes Vergnügen darein, sich von der Tochter bedienen zu lassen, und durch mehrere Scherze, wie sie alte Herren seines Schlags sich oft zu erlauben pflegen, die Röthe der Jungfräulichkeit auf ihre Wangen zu jagen. »Das wäre ein Mädchen,« sagte er unter Andern, »das wieder Leben in mein verödetes Hauswesen bringen könnte, wenn ich einen Sohn hätte, oder wenn die Jungfer mich selbst zum Manne nehmen wollte. Unsre steifen Amsterdamer Puppen müßten sich verstecken vor der muntern Frau van den Höcken. Wahrhaftig, Ew. Edeln: -- seh' ich die Jungfer an, so wird mir's wohl begreiflich, wie sie _ihre_ Tochter sein kann; aber die bequeme Madam dort im Kanape würde nicht jeder für _ihre_ Mutter halten.« »Hm!« dehnte die Senatorin etwas empfindlich, »Ew. Edeln und meine Wenigkeit stellten dafür ein passenderes Paar vor.« »Wahrhaftig!« lachte van den Höcken ausgelassen. »Sie haben recht, meine Werthgeschätzte, und ich würde auch des Schicksals Wink nicht unbeachtet lassen, hätte es dem Himmel gefallen, sie in ledigem Stande vor meine Augen und Gemüth zu führen. Wie die Sachen aber jetzo stehen, werde ich mich schon an die Jungfer Tochter halten müssen.« »Bitte sehr!« lächelte Justine schnippisch, und zog ihre Hand aus der Rechten des Holländers. Die geneigte Mama setzte indessen phlegmatisch bei: »Inkommodire sich der Herr nicht. Meine Tochter ist versprochen, sie wird eine Birsher in New-York.« »Oho!« entgegnete van den Höcken. »Mit dem Birsher nehm ich's auch noch auf. Bin ich nicht so jung wie der Sohn, bin ich doch reicher als der Vater, und der Weg nach Amsterdam ist um ein gutes Stück näher, als der nach Amerika.« »Danke gar sehr, lieber Herr!« spöttelte Justine. -- Die Mutter nickte ihr den völligsten Beifall zu. Der Vater ließ sich vertraulich neben dem Holländer nieder, und sagte, als die Frauen sich wieder alle um die Theekanne und Butterschnitten drängten, so süß als möglich: »Ew. Edeln haben eine unvergleichliche Gabe, zu scherzen. Ein Anderer hätte glauben können, Sie hätten in der That ein Auge auf unser Kind.« »Das habe ich auch,« bekräftigte van den Höcken. »Ich bin der schnippischen Jungfer seelengut, und möchte sie für mein Leben gern in _meinem_ Bauerchen haben.« -- »Ha!« versetzte der Senator, vor dessen Seele allerlei Hoffnungen und Plane wieder aufdämmerten: »Wir waren ja bisher, ohne uns zu kennen, so gute Freunde, achtbarer Herr...« Er stockte, _ein_ Auge sah verlegen auf den zitternden Busenstreif, das Andere auf den Holländer, der, seine Pfeife kaltblütig anbrennend, langsam zu ihm sagte: »Nun? und weiter? Drücken Ew. Edeln ab! Nun?« »Ich meinte nur,« fuhr der Senator, seine Schmiegsamkeit mit ungeduldiger Ruhe behauptend, fort, -- »daß ich Ihnen nicht leicht ein Ansuchen fehl gehen lassen möchte, wenn dessen Erfüllung in meiner Macht stände.« »Versteh ich Sie?« fragte van den Höcken heimlicher: »Vielleicht auch nicht das Ansuchen um die Jungfer Tochter?« -- »Ihr Scharfsinn, werther Herr, ...« begann der Senator. -- »Bitte! keine Complimente!« fiel der Holländer ein. »Der Birsher steht aber im Wege. Wie könnte man _den_ wegschaffen?« »I nun,« flüsterte Müssinger, »man müßte sehen, wie sich etwa die Gelegenheit darböte...« »Ein ehrliches Mannswort zu brechen?« sagte van den Höcken ernst, und mit Vorwurf: »ein kaufmännisches Versprechen ist heilig wie ein Eid. Es muß gehalten werden, wenn auch eine Gelegenheit sich darböte ... lieber Mann, und ein noch zehnmal reicherer Freier als van den Höcken von Amsterdam, der Ihnen nur um der lieblichen Tochter willen den niedrigen Charakterzug vergibt --« »Mein werther Herr,« wollte der Senator auffahren. Der Gast hielt ihn jedoch im Zaume, indem er ihm zuflüsterte: »Machen Sie doch Ihren Schritt nicht vor Ihrer Familie und den Fremden offenbar. Schämen Sie sich im Stillen vor mir allein, und wundern Sie sich nicht, wenn ein ehrlicher Mann zögert, Ihnen Credit zu geben, da Ihre feierlichen Zusagen Ihnen feil geworden sind.« Den Rücken des Senators überlief es wie mit tausend Nadelspitzen. Kurz und trotzig, um den Herrn von Amsterdam seine Beschämung nicht sehen zu lassen, wendete er sich von ihm, und vergaß die Pflichten des Hausherrn. Van den Höcken übersah ihm den Ingrimm, und mischte sich in ein Gesellschaftsspiel, das die Frauen beliebt hatten. Hier entfaltete er bald eine Fröhlichkeit, die man ihm nicht angesehen hatte, eine Freigebigkeit, die den Spielerinnen nicht mißfiel, und eine Gutmüthigkeit, die ihm Justinens Herz geneigter machte. Er zog es auffallend vor, sich mit dem muntern Mädchen zu unterhalten, gab sich viele Mühe, es an sich zu fesseln. Der Senator sah mit schwankenden Hoffnungen und vieler Reue dieser feinen Bewerbung zu, bis die zehnte Stunde schlug, und die Schicklichkeit gebot, den Gast nach seinem Zimmer zu geleiten, und die Frauen allein zu lassen. Verbindlich und gefällig wünschte van den Höcken allerseits gute Nacht, und begehrte scherzend von Justinen den Verlobungskuß. Die Jungfer verweigerte sich lachend. Van den Höcken hatte sich's vorgenommen, die süße Frucht nicht unberührt zu lassen. -- »Will Sie mich nicht qua Bräutigam küssen, spröde Jungfer,« sagte er lachend, »so erlaube Sie mir doch wenigstens, Sie =qua= Papa zu küssen. Ich könnte es ja doch sein, denke ich; he? --« »Gute Nacht, Herr Vater!« antwortete dem Scherze nachgebend und munter das lustige Mädchen, und bot ihm Stirne und Wange zum Kuß. Van den Höcken zauderte nicht, von der Erlaubniß Gebrauch zu machen, und verließ, glänzend und strahlend von Vergnügen das Zimmer. Der Herr vom Hause, von widrigen Gefühlen bewegt, ging, den vergoldeten Armleuchter in der Hand, zum Gastzimmer hinaus. Beide Männer schwiegen ernsthaft. Der Senator öffnete mit eignen Händen die grünen Damastvorhänge des Alkovens, schloß die Fenster, zeigte stumm auf alle Bequemlichkeiten der Wohnung, und wollte sich mit einem trocknen: »Schlafen Ew. Edeln wohl!« abführen. Van den Höcken redete ihn darauf an. »Wollen wir denn im Groll scheiden, werther Herr und Gastfreund?« sagte er: »Lassen Sie uns Friede machen. Ich habe Ihnen meine Meinung gesagt, und Sie haben bereut; somit gut. Wollen Sie bedenken, daß Feindseligkeit nichts taugt. Sie haben mich selber in Ihr Haus geladen, und vertrauensvoll hab ich's angenommen. Sein Sie auch freundlich in dem gastfreundlichen Hause. Bei Gott, ich bin es auch wieder.« Der Senator konnte zwar die dargebotene Rechte des Kaufmanns nicht ausschlagen, aber gefangen geben mochte sich sein Stolz auch nicht. Steif verbeugte er sich daher und erwiderte: »Ew. Edeln wollen scherzen. Ich habe Alles vergessen, und bitte um dieselbe Vergünstigung. Wann befehlen Sie morgen geweckt zu werden?« »Ich incommodire nicht,« versetzte van den Höcken, ziemlich unbefriedigt von des Senators Rede: »mein übergesegneter Körperumfang weckt mich frühzeitig, duldet mich nicht im Bette. Um acht Uhr wünsche ich mit dem Frühstück bedacht zu werden, damit wir um Neun an unser Geschäft gehen können.« »Sehr wohl,« entgegnete Müssinger eiskalt; »Alles soll geschehen, wie Sie es anordnen. Gute Nacht!« -- Van den Höcken legte sich zu Bette: aber der Senator fand in seiner Stube keine Ruhe. Einmal sogar verließ er dieselbe, das Licht in der Hand, und schlich in leisen Pantoffeln bis zu der Schlafkammer seiner Tochter. Schon hatte er den Finger gekrümmt, um anzuklopfen, aber scheu trat er wieder zurück, suchte er wieder seine Stube. -- Warum das Mädchen in das Geheimniß ziehen? sagte er mißbilligend zu sich selbst: Wird nicht ihr Eigensinn oder ihre Angst mich verderben? Es ist nicht gut, wenn der Vater die Rettung seiner Habe in schwache Kinderhände legt. Im Alter folgt der Vorwurf hinterdrein, oder auf der Stelle mißlingt der Plan. In welchem Lichte stünde ich vor dem holländischen Herrn! Könnte er's dann nicht mit Händen greifen, daß ich ihn nur in's Haus gelockt, um ihn zu kirren; daß ich auf gewisse Art der Kuppler meiner Tochter...? Pfui, Müssinger. Diese Blöße wäre unverzeihlicher, als die, welche deine Schwäche und deine fürchterliche Bedrängniß gaben. Fasse Muth, unglücklicher Mann! Trinke den bittern Kelch aus, wie du es dir vorgenommen. Ist der Holländer, seiner Pünktlichkeit und Hartnäckigkeit zum Trotz, ein Mann von Gefühl, wie ich beinahe nach seinen Reden vor dem Schlafengehen glauben möchte, so wird ihn die treue Schilderung meiner Lage rühren; wo nicht ... in Gottes Namen! Mit einem schweren Seufzer löschte der Senator sein Licht, und gab sich einem wilden Traumgewirre hin, das den von Schlafstörungen und Grübeln Erschöpften endlich gegen Morgen umfing. Van den Höcken hatte schon einigemal nach ihm gefragt, als er erwachte. Wie ein, seiner Sinne nicht klar bewußter Mann, ließ er sich von dem eintretenden Bedienten die Haare ordnen, zog sich nicht allzu sorgfältig an, und begab sich unter dem ersten Geläute der Kirchenglocken zu den Seinigen. Die Senatorin stand schon, geschmückt und mit Putz trotz einer Markgräfin überladen, in der Mitte des Zimmers. Justine trat mit Blumensträußen und Gesangbüchern versehen, ebenfalls im Staate von =Cros de Tours=, herein. Die Senatorin nannte mit ihrer gewohnten Schläfrigkeit in Ton und Wesen, ihren Mann einen trägen Langschläfer, der sein Frühstück allein, oder mit seinem galanten Freunde aus Holland verzehren könne. Justinens Scharfblick errieth jedoch weit gelehriger, daß in dem Vater immer noch das ungewöhnliche Treiben wühle, das sie schon in den verflossenen Tagen bemerkt hatte. Von der Freundlichkeit ihres Grußes wohlthuend angeregt, wurde der Senator milder, und sagte fast liebevoll zu seiner Ehefrau: »Liebe Jacobine! Ich muß dich heute freilich allein in die Kirche gehen lassen, weil mich ein Geschäft zu Hause hält. Aber gerade deshalb bete _du_ für mich, und denke meiner einmal im Guten gegen den Schöpfer.« -- »Faselt er nicht schon wieder?« fragte die Senatorin, spöttisch zu Justine gewendet: »Bete ein Jeder für sich, und erhalte der Herr jedem den Verstand. Wenn ich den Doctor in der Kirche sehen sollte, will ich nicht versäumen, ihn zu dir zu schicken. Ein Aderlaß ist dir wahrlich nöthig, denn richtig scheint mir's seit einiger Zeit nicht mehr in deinem Kopfe zu sein.« Der Senator hob, statt der Antwort, beide Arme heftig gen Himmel, und wendete sich von dem Weibe. -- »Ich will mich nicht erzürnen,« sagte er mit gewaltsam unterdrücktem Unmuth: »es möchte vielleicht gut sein, daß wir gerade _jetzt_ nicht im Hader scheiden. Darum gehe recht geschwinde, Jacobine, und leb' wohl!« »Der Mann wird sich noch durch seine Galle umbringen!« versetzte die Senatorin gleichgültig, füllte sich den Mund mit getrockneten Feigen, und rauschte in ihrem weiten Stoffkleide vornehm zur Thüre hinaus. Justine blieb hinter ihr zurück, kam auf den Vater zu, und sagte mitleidig: »Sprechen Sie lieber Vater, ob ich bei Ihnen bleiben soll? Sie scheinen mir in der That krank zu sein.« -- »Geh', mein Kind,« entgegnete Müssinger: »du erzürnst deine Mutter.« -- »Ich fürchte ihren Zorn nicht,« versicherte Justine gleichmüthig; allein da der Senator darauf bestand, zu bleiben, um seinen Geschäften zu genügen, folgte sie, wiewohl besorgt, der Mutter in die Kirche. Die Glocken schlugen ringsum die neunte Stunde, und Müssinger klopfte an van den Höcken's Thüre. Der Gast, erhitzt von der Pein einer fast schlaflosen Nacht, empfing ihn nicht in der besten Laune, und schien geneigt zu sein, das unangenehme Geschäft zu verschieben. Der Senator jedoch, dem es wie ein Fels auf der Brust lag, der um jeden Preis der Qual fernerer Ungewißheit enthoben sein wollte, drang, wiewohl bescheiden, dennoch so bestimmt auf der Arbeit Beginnen, daß van den Höcken endlich mit den Worten: »Sieh, wie sich das machte! Gestern so säumig, heute ohne Rast und Weile!« den Rock überwarf, seine Brieftasche aus dem wohlverschlossenen Koffer nahm, und dem Hausherrn nach der Schreibstube folgte. »Der Tag ist recht günstig,« sagte er, da sie durch das leere Comptoir nach dem Cabinette schritten: »die Diener sind vermuthlich alle im Gottesdienste. Da läßt sich das Geschäft rund abmachen, und bei den Zahlungen liebe ich sonderlich keine Zeugen.« »Ich auch nicht,« entgegnete der Senator zähneklappernd; zog den Laden des Hoffensters auf, und bot dem Fremden einen Stuhl. Van den Höcken machte sich mit dem Schlosse des Portefeuille zu schaffen; Müssinger blätterte mit zitternder Hand in dem Hauptbuche. Nachdem endlich der Holländer eine ziemliche Partie von Wechseln geordnet, und die Brieftasche wieder zugemacht hatte, sah er mit fragenden Blicken auf den unruhigen Schuldner. Der Letztere bemerkte es, und sagte mit kaum hörbarer Stimme: »Es wird Alles bald abgethan sein, werther Herr. Hier -- sehen Sie im Buche, was ich Ihnen soll; und in meiner Cassa, was ich habe!« Er stieß mit dem Fuße den Deckel der Geldkiste auf; sie war beinahe leer. -- Van den Höckens Gesicht verfinsterte sich ungemein. »Was soll das, Herr?« fragte er scharf. -- »Ich bin jetzt schon ein vornehm thuender Bettler,« versetzte Müssinger: »Gewährt mir Ihr Mitleid nicht Jahresfrist, so stehe ich auch am Pranger.« -- »Sie haben es durch Ihre unmäßige Spekulationswuth verschuldet,« fuhr van den Höcken mit strengem Verweise fort: »Ihre Firma schien nur solid, und war eine Seifenblase, um Andere sichere Creditoren zu täuschen.« -- »Herr!« sprach der Senator mit mühsamer Fassung und Unterwürfigkeit: »Sein Sie nicht ungerecht; Ihre Menschlichkeit, ... mein Unglück...!« »Pah!« eiferte der Gläubiger: »jeder Verschwender schützt Unglück vor, und appellirt an weiche Herzen. Ein Kaufmann muß ein steinhartes Herz besitzen, soll er nicht selbst zu Grunde gehen. Und wer steht mir denn am Ende dafür, daß diese ganze Wehklage nicht eine bloße Komödie sei, und in einen fraudulösen Bankerott ausgehen werde, weil sich gerade die _Gelegenheit_ darbietet...« »Herr! nehmen Sie den Schimpf zurück!« fuhr ihm der Senator wüthend in die Rede. »Was da!« brummte van den Höcken wild entgegen: »Dero gestrige Proposition darf wohl auf den Gedanken führen; und kurz und gut: die leere Geldkiste befriedigt mich nicht. Hier in meiner Hand sind Ihre Wechsel. Sehen Sie dieselben an, und lernen Sie mich kennen! Ich bin nicht umsonst den weiten Weg hierher gereist; ich will nicht vergebens...« »Wohlan,« unterbrach ihn der verzweifelnde Schuldner: »Da doch nichts Ihr Menschengefühl erregen kann! Wohlan! Sie sollen Ihren Willen haben. Diese Wechsel kenne ich, und Sie sollen nicht umsonst sich bemüht haben. Sehen sollen Sie, wie ich meine Rechnung schließe!« Mit der einen Hand stieß er die Wechselpapiere von sich, die ihm van den Höcken vorhielt, mit der andern zog er eine von den Pistolen aus dem Fache des Schreibtisches. Bei dieser unverhofften drohenden Bewegung entsetzte sich van den Höcken zum Tode. »Herr! Sie wollen doch nicht...« lallte er, vom Stuhle auffahrend. * * * * * Nothhaft, der Comptorist, hatte die Kirche umgangen, seine Zeit in einer versteckten Spielstube zugebracht, und kehrte, nach manchem Verluste, nach Hause zurück, um seine letzten Thaler zu sich zu stecken, und auf's Neue sein Glück zu versuchen. Zweimal hatte er schon an der verschlossenen Hausthüre geklingelt, niemand ihm aufgethan. Die haushütende Magd hielt am Dachfenster des Hintergebäudes eine gewichtige Unterredung mit der Dienerin im Nachbarhause. Der Knecht war auswärts zu seinem Schätzchen geschlichen. Demnach brannte dem lockern Kaufdiener die Ungeduld auf den Nägeln, und, als nehme er sich vor, Sturm zu läuten, zog er kräftig und unausgesetzt an der volltönenden Schelle. Sein Bemühen ermangelte nicht des gewünschten Erfolges. Schritte kamen, das Schloß ging langsam und zögernd auf. »Taubes, ungeschicktes Murmelthier!« grollte der Eintretende, erschrack aber über die Maßen, als er nicht die Hausmagd, die er gemeint, sondern den Prinzipal selbst vor sich sah, der das Amt eines Pförtners verrichtet hatte. Seine Unbesonnenheit verwünschend, und den Jähzorn des Senators aus Erfahrung fürchtend, bückte er sich verlegen, und stotterte eine Entschuldigung her, die nicht schlechter hätte ausfallen können. Wunderbarer Weise genügte sie gerade heute dem wenig duldsamen Prinzipal. »Schon gut, mein lieber Nothhaft,« versetzte er mit leiser Stimme: »Er meint es nicht böse. Darum,« -- hier schloß er die Thüre wieder sorgfältig, -- »darum ist mir's auch lieb, daß _Er_ gerade heimkömmt. Ist etwa die Kirche schon zu Ende?« fragte er hastig nach. -- Nothhaft war innerlich erschrocken ob der Todtenblässe, die auf des Senators Antlitz lag, und nicht minder ob der raschen Unsicherheit in seiner leisen Rede; er erwiderte daher kleinlaut: »Nein, hochgeehrter Herr, ich konnte aber vor Uebelsein nicht in der Kirche ausdauern. Deshalb ... so eben schlug es zehn Uhr.« -- »Zehn Uhr erst?« fragte der Senator wieder mit schleppendem Tone: »wie die Zeit schleicht! ich dachte, es müsse Mittag vorüber sein. Komm' Er mit in's Comptoir.« »Soll ich nicht die Fensterladen öffnen?« sagte Nothhaft, als sie in der finstren Stube standen. -- »Nicht doch,« erwiderte Müssinger hastig, »drinnen ist es schon heller. Nicht wahr, Nothhaft, Er hat nicht Furcht, noch Grauen?« »Ich habe Beides nie gekannt,« betheuerte Nothhaft, sehr aufmerksam werdend. »Desto besser!« setzte der Senator bei: »so wird Er doch Rath wissen. Mich hat es stark angegriffen.« -- »Was denn Herr Senator?« -- »Rede Er nicht laut. Es hat sich vor einer halben Stunde, -- es kann vielleicht auch eine Stunde sein, -- ein Unglück im Hause begeben.« »Ein Unglück? hier im Hause?« »Ja doch; nur leise gesprochen. Dort im Kabinett...« Der Senator drückte, das Gesicht wegwendend, die Thüre auf. »Im Kabinett?« fragte Nothhaft, dem es kalt über den Körper fuhr, ohne sich zu regen. »Was ist dort?« »Der Holländer ...« stammelte Müssinger, -- »es war plötzlich aus mit ihm.« »Mit dem Holländer?« »Er ist in meinen Armen ... gestorben, glaube ich. Geh Er hinein, und sehe Er nach, ob Er's auch so findet, oder ob vielleicht...« Nothhaft war schon im Kabinette. Van den Höcken lag leblos an der Erde, mit entstelltem Gesichte, und in Unordnung gebrachter Kleidung. Kein Athem war an ihm zu erhorchen, kein Pulsschlag zu finden. Der Diener fühlte des Körpers Eiseskälte, und hielt sich nicht lange bei demselben auf. Einen Falkenblick warf er durch das Gemach, und kam eilends wieder zu dem Herrn zurück. Dieser saß, die Hände zwischen den Knieen gefaltet, und das Haupt gesenkt, im Winkel der dunklen Schreibstube. »Nun?« war sein einziges Fragewort. Nothhaft zuckte die Achseln. »Hin ist hin;« sagte er, »er hört den Kuckuck nicht mehr schreien. Wie kam denn Alles so plötzlich, Herr Senator?« Müssinger zog einen tiefen Seufzer aus der Brust. »Wir rechneten zusammen;« -- flüsterte er scheu: »wir hatten eben Alles geschlossen, da überkam es ihn plötzlich, -- er sank -- auf meinen Knieen wurde es mit ihm alle.« -- »So?« entgegnete Nothhaft mit seltsam gezogenem Tone: »Ein Glück nur, daß es _nach_ dem Rechnungsabschluß traf.« -- »Was meint Er?« fuhr der Senator schnell, wie aus einem Traume, in die Höhe: »was ist jetzt bei der Sache zu thun?« -- »Der Herr Prinzipal scherzen wohl mit mir;« versetzte der Diener: »die Gerichte müssen gerufen, des Verblichenen Effekten versiegelt werden: das ist ja klar.« -- »Die Gerichte?« fragte Müssinger, wie von Schauder überlaufen, und sehr zerstreut: »ach ja, ... wahr ist's; das ist zu thun, ... und Siegel, meint Er, müssen auch?...« »Herr Senator,« entgegnete Nothhaft spitzig: »Sie sind ja selbst beim Rathe; müssen das besser verstehen, als ich einfältiger Schreiber.« -- »Er hat Recht, mein Sohn, sehr Recht;« sprach der Kaufherr alsdann, wie sich besinnend: »Und wann wäre es wohl nöthig, ... glaubt Er?« ... -- »So schnell als möglich:« fiel Nothhaft ein: »Verzögerung könnte zu Unannehmlichkeiten Anlaß geben.« -- »Leider! leider!« stimmte der Senator ein: »Darum laufe Er, guter Nothhaft, und sei Er diskret gegen Jedermann, damit es sich so glatt und stille abmachen lasse, als nur möglich.« »Sehr wohl, Herr Senator;« antwortete Nothhaft, bereitwillig nach dem Hute greifend: »wollten Sie indessen einen Rath nicht verschmähen? Schaffen Sie die Pistole weg, die drinnen auf dem Boden liegt.« Der Senator fuhr zusammen. »Eine Pistole?« stotterte er: »es muß ein Zufall dieselbe ... laßt doch sehen!« Sich an den Diener haltend ging er nach dem Cabinete, wendete aber alsobald der Stelle, wo der Holländer lag, den Rücken, und stierte auf die Waffe nieder, die Nothhaft dienstwillig und eifrig aufhob. -- »Wir wollen sie zu der andern legen,« sagte derselbe leise und hastig; »sie könnte übeln Effekt machen, und wenn Sie's erlauben, bringe ich auch die Halsbinde des armen Schelmen hier wieder in Ordnung. Es läßt gerade, als ob sich drei Finger hinein verwickelt hätten, um sie zusammenzuschnüren.« Ohne Regung kehrte der Senator dem Diener, der ohne Scheu an van den Höcken die besagte Aenderung vornahm, den Rücken fortwährend zu. »Ich wollte ihm die Binde öffnen,« sagte er halblaut: »aber es ist möglich, daß ich in der Alteration sie fester zuzog...« »Ja, ja,« stimmte Nothhaft, sein Geschäft vollendend ein: »es geschieht wohl öfters, daß die Hand ungeschickter ist, als der Kopf. So. Das wäre gut, und ich will laufen, was ich kann. Haben Sie noch etwas hier mitzunehmen, Herr Prinzipal, so nehmen Sie es jetzt. Es wird schicklich sein, daß die Herren von Gericht das Cabinet verschlossen finden.« Der Senator wurde wieder regsam, und begann, ohne eine Sylbe zu sprechen, aber mit einer beunruhigenden Hast, auf seinem Schreibtische Papiere und Bücher untereinander zu werfen, ohne in der beklagenswerthen Zerstreuung, die ihn fesselte, dasjenige zu finden, was er zu suchen schien. Nothhaft trat hinter ihn, und sein Auge fiel auf ein Packet von Wechselbriefen, nach welchen des Senators linke Hand immer tappte, während seine Rechte sie immer wieder verschob. Der Diener ergriff sie. »Sie suchen wohl diese Papiere mit Ihrer Unterschrift?« fragte er dringend. »Da! da! Herr -- sechs -- sieben -- neun Tratten auf sie selbst, von van den Höcken in Cours gesetzt und endossirt.« -- »Endossirt?« fragte der Senator, heftig nach den Briefen haschend. »Endossirt auf die Ordre des Georg Birsher zu New-York!« fuhr Nothhaft fort, indem er sie überlieferte: »und -- wahrhaftig quittiert von demselben.« »Birsher?« fragte der Senator, betäubt auf die Blätter schauend. Nothhaft lächelte betäubend: »Stecken Sie ein, Herr Prinzipal. Daß Sie bezahlt haben, beweisen ja schon die Wechsel in Ihrer Hand,.... das ="Quitta"= hätte wegbleiben können. Die Dinte ist gar zu frisch. Lägen vielleicht noch andere Dokumente in der Brieftasche, die ich bei dem Holländer wahrnahm?« »Was geht mich van den Höcken's Portefeuille an?« fuhr Müssinger stutzig werdend auf. Nothhaft machte einen entschuldigenden Katzenbuckel, und trieb zum Fortgehen an. Wie ein Kind folgte der Senator seinen Worten, schloß das Kabinet, ohne sich _einmal_ umzusehen, und ging, an Nothhaft's Arme, zu seiner Stube, wo er sich, an allen Gliedern zitternd, zu Bette legte. Wie ein guter Geist erschien ihm die aus der Kirche zurückkehrende Justine, die, von des Vaters Unpäßlichkeit hörend, mitleidig zu ihm eilte. Der Vater konnte und wollte nicht reden, sondern versuchte nur in einzelnen Lauten sein Kind zu beruhigen. Justine erschöpfte sich in Muthmaßungen über des Rathsherrn Zustand, bis die Schelle des Hauses wieder sehr stark geläutet, und vieles Geräusch hörbar wurde. Die Thüre des Zimmers sprang auf, und Frau Müssinger, weiß wie die Wand, und schwerfällig, wie noch nie, schwankte in's Zimmer. -- »Was ist das?« kreischte sie, ohne des Kranken zu achten: »Das Haus wimmelt von Gerichtspersonen und Schergen! Ach, das Unglück! Der Holländer soll sich erhängt haben, höre ich! Ach, welch eine Schande! Gieb die Schlüssel her, du gottvergessener Mann, der mir durch seine sauberen Freunde so viel Schrecken verursacht!« »Justine wird öffnen,« versetzte der Senator unter Fieberschauern, indem er dem Mädchen die Schlüssel reichte: »Stecke diese Wechsel zu dir,« flüsterte er demselben zu; »bewahre sie sorgfältig!« -- Justine schob, nicht minder blaß vor Schrecken, die Papiere ein, und entfernte sich eilends. Die Mutter dagegen blieb zurück, um den Mann ferner zu quälen. -- »Welch ein abscheulicher Spektakel!« ächzte sie, in den Lehnstuhl am Bette sinkend: »In diesem Hause halte ich's nicht mehr aus. Der Holländer wird umgehen, in seinem weißen Mantel, ein schreckhaftes Gespenst! O Herr, gehe nicht mit uns in's Gericht! Was ich erleben muß! Pfui, abscheulich! Die Steuercommissärin hatte Recht, obgleich schon _Sie_ mich in der Kirche zum Entsetzen gebracht hat. _Sie_ hat gestern gesehen, was wir alle nicht sahen. Wir saßen Abends zu Dreizehn am Tische, und Einer von den Dreizehn muß binnen Jahresfrist sterben! Wie mich das schon alterirte! Man sieht aber: Wahr ist's! der Holländer hat bereits die Welt gesegnet.« »Und ich werde es noch heute,« seufzte der Senator, »wenn du nicht nachlässest mit deinem abscheulichen Gekreische, Jacobine!« »Und dennoch wirst du mich dulden müssen, bis Justine kömmt,« antwortete sie phlegmatisch: »Ich gehe ohne Begleitung nicht über den Gang.« Nothhaft trat ein, und ging rasch auf den Senator zu. »Alles besorgt, Herr Prinzipal,« rief er wichtig und vertraulich: »Die Herren sind schon unten, lassen ihre Condolenz vermelden, und soeben den Verstorbenen über die Treppe nach seinem Zimmer bringen.« »Gott stehe uns bei!« jammerte die Senatorin mit der ausgelassenen Betrübniß stumpffühlender Leute, während Müssinger sein Gesicht in dem Kissen verbarg: »Warum ließest du den Landläufer nicht im römischen Kaiser, da es ihm ohnehin nicht beliebte, in seiner Heimath zu sterben? Wie würde sich jetzt die hoffärtige Wirthsfrau gebärden, die sich trägt wie unsereins, hochmüthig thut, wie der Großmogul, und sich erst heute in einem ganz neuen Stoffkleide brüstete, daß es der ganzen Kirche zum Aergerniß gereichte! Statt dessen haben _wir_ nun die Schande! Geh' Er, Nothhaft, sorge Er wenigstens dafür, daß der Mensch nicht von den Amtsknechten heraufgetragen werde. Ich bin des Todes, wenn der Scherge in das Stockwerk kommt, das ich bewohne.« »Sorgen Sie nicht, wertheste Frau Prinzipalin,« versetzte Nothhaft: »Der Herr sind ja verblichen, wie schon viele tausend Christenmenschen, und die Ehre schneidet der Tod nicht ab. Die Herren werden ein Inventarium dressiren, und die Habseligkeiten des van den Höcken unter Siegel verwahren, bis die Erben auszumitteln. Auch habe ich für nöthig erachtet, Herr Senator, einen Postboten nach Steinstadt abzuordnen, damit der Buchhalter hereinkomme, sintemalen Dero Leibesumstände denselben nicht erlauben werden, an der Spitze der Geschäfte zu bleiben.« »Warum nicht?« fragte der Senator mühsam, aber aufbrausend: »Der Unglücksfall hat mich sehr angegriffen, aber bis zur Krankheit ist noch ein weiter Sprung. Ein Magnesia-Pülverchen bringt wieder alles in's Geleis.« »Mit Gottes Hülfe!« sagte Justine, die so eben, nicht wenig erschüttert, hereinkam, und dem Senator die Comptoirschlüssel übergab. Sie holte das Medikament aus der kleinen Hausapotheke, reichte es dem Vater, und fuhr fort: »Ich will gleich nach dem Doctor Widerlein schicken, -- was bis jetzt vergessen wurde, -- damit Sie wieder von dem Schrecken zu recht kommen.« »Ich bin nicht krank,« behauptete der Senator, sich ärgerlich aufrichtend: »kein solch Geschwätze! Ich werde allen meinen Arbeiten vorstehen, wie bisher! --« »Der Briefträger brachte so eben diese beiden Schreiben,« unterbrach ihn der süßliche Berndt, der mit den Briefen in der Hand hereinschlich. »Geb' Er her,« befahl der Senator, und winkte alsdann den Dienern sich zu entfernen. Sie gehorchten; gähnend und schmollend schloß sich Frau Jacobine, die Langeweile des Krankendienstes fürchtend, an die Subalternen an, um ohne Gefahr nach ihrem Zimmer zu gelangen. Der Senator gab aber der Tochter die Briefe, und sagte leise zu ihr: »Nimm, mein Kind; mir schwimmt und flirrt es vor den Augen. Es frommt jedoch viel, sich vor dem Comptoirgesindel rüstiger zu stellen, als man ist. Dir verberge ich mich nicht. Lies du mir daher vor, und unterstütze meine Schwäche.« Bereitwillig erbrach Justine das erste Schreiben. »Von Amsterdam!« sagte sie, und der Senator zuckte hoch auf. »Hochedelgeborner Herr!« fuhr sie lesend fort: »Ew. Edeln will ich nicht ermangeln, nach abgethaner fataler Differenz mit denen Verschreibungen Ew. Edeln in Wechselform, anzuzeigen, daß wieder bereit bin, auf Garantie des werthen Freundes, der sich jetzo bei Denselben befindet, in Allewege Credit obwalten zu lassen. -- Wir Kaufleute stehen ja in Gotteshand, und können wanken. Wohl _dem_ jedoch, der einen Bürgen und Stützen findet, wie den aller Orten geachteten Herrn Birsher von New-York.« »Was soll das?« fuhr der Senator auf, da Justine verwundert inne hielt: »Der Teufel verstehe, was der Schreiber will. Sieh nach der Unterschrift.« Justine that es, stutzte, wischte sich die Augen, und sagte endlich leise: »Ich weiß nicht.... aber doch stehts da; -- van den Höcken heißt die Unterschrift.« »Van den Höcken!« schrie der Senator: »Sind wir beide toll?« »Das Datum ist vier Tage alt,« versetzte Justine mit schwankender zweifelhafter Stimme. »O mein Kopf, mein Kopf!« jammerte Müssinger, die Stirne mit beiden Händen haltend: »ich werde närrisch, rasend! Laß den Brief sehen! Gott sei mir gnädig! es ist Höckens Schrift...! O du mein lieber starker Gott und Herr!« -- Er weinte fast in der fürchterlichen Wallung seines heftigen Gemüths. -- »Dieser Brief!« stöhnte er, -- »und jene Wechsel, das Endossement, das Acquit, -- ich erinnere mich erst jetzt, -- von Birsher's Hand...! o mein armes Gehirn!« -- »Mein Vater! was haben Sie, was ist?« fragte Justine schluchzend in der höchsten Angst. Der Senator riß ihr statt der Antwort den andern Brief aus der Hand. »Gib!« stammelte er außer sich: »Gib! vielleicht macht mich dies Papier vollends wahnsinnig!« Er riß es, trotz Justinens Widerstreben, auf, überflog es mit dem starrenden Blick,.... ein krampfhaftes schreckliches Lachen erschütterte seine Brust, und mit den trostlosen Worten: »Auch das noch! Einen Tag früher, und -- ich elender, elender Mensch!« sank er ohnmächtig aufs Lager zurück. Schaudernd raffte Justine das fallende Blatt auf. In wenig Zeilen meldet darinnen ein Hamburger Correspondent ein großes Glück. Die Hamburger Lotterie war gezogen worden, und das große Loos auf den Senator gefallen. Zweiter Abschnitt. Verdacht. -- Der Pastor der Johanniskirche. -- Sein Nachfolger bei dem Senator. -- Der Doctor in seinem Hause. -- Die Kupferstecher-Familie. -- Justinens geheimer Ausgang. -- Die Messe. -- Die Wittwe des bei Denain gebliebenen Offiziers. -- Die Beichte. -- Des Doctors Tagewerk. -- Geschichte eines Schauspielers. -- Der unerwartete Fremde. -- Es bestätigte sich durch den von Amsterdam eingelaufenen Brief, der den Commissarien des Gerichts schuldigerweise vorgelegt wurde, daß der in des Senators Hause verschiedene Fremde nicht van den Höcken gewesen; aus dem Inventarium dagegen, welches über den an Creditbriefen, Empfehlungsschreiben, kostbarem Leibgeräthe und beträchtlichen Pretiosen reich ausgestatteten Nachlaß des Verstorbenen aufgerichtet wurde, schien nicht undeutlich hervorzugehen, daß Herrn Birsher den Aeltern von New-York selbst das Unglück betroffen. Vor Allem rechtfertigte diese Muthmaßung ein reicher Frauenschmuck, der sich vorfand, in ein artiges Etui gepackt, auf welchem mit Goldschrift die Worte standen: »Meiner vielgeliebten künftigen Schwiegertochter und Freundin, Justine Müssinger, zum Hochzeitsgeschenke.« -- Der Anblick dieses Schmucks, den ein galanter Commissarius der Verlobten vorwies, regte in derselben erst deutlich die Beziehung an, in welche sie zu dem Dahingegangenen hatte treten sollen. Seine letzten Worte vergegenwärtigten sich ihr wieder aufs Neue, und ihr Gemüth ergriff eine stille Wehmuth, wie sie noch nie empfunden. Sie wäre selbst krank geworden, wenn die Umstände eine längere Pflege an des Vaters Bette erheischt hätten. Der Senator genas indessen wie durch ein Wunder, plötzlich am Tage der Bestattung seines Gastes. Durch die tobenden Vorzeichen einer furchtbaren Nervenkrankheit hatte sich seine starke Natur gearbeitet, aber der fliehende Feind rächte sich demungeachtet. Die Paar Tage streiften die Schärfe und klare Bestimmtheit seines cholerischen Temperaments von ihm. Haltung und Gang, Gesichtsfarbe und Rede, -- Alles war anders geworden; aus dem heftigen, gerade durchgehenden Manne ein scheuer schwermüthiger Mensch, der seiner Arbeiten nicht mehr froh wurde, nicht mehr polterte und lärmte, aber dafür gern innerhalb seiner vier Wände für sich allein brütete und glossirte. Dieses Benehmen, das schon am Begräbnißtage deutlich hervortrat, ermangelte nicht die gebührende Aufmerksamkeit zu erregen. Die plötzliche Schreckensbegebenheit hatte Aufsehen gemacht; die vorangehenden Ereignisse, wie der Ort, die Stunde und alle Einzelnheiten des Sterbefalls, waren geschickt, zu allerlei Verarbeitung zu dienen. Ein entehrendes Gerücht hatte sich plötzlich auf tausend Zungen verbreitet, und selbst im Senate seinen Sitz gefaßt. Die Mehrzahl des Rathes jedoch, -- eifersüchtig auf dessen Vorrechte, und die Bewahrung eines unbefleckten Rufs der Glieder desselben, -- bemühte sich, jede Ahnung, jede Vermuthung niederzuschlagen, die der bürgerlichen Existenz des Collegen Müssinger hätte schädlich werden können; und jede Angabe, und jede noch so leise Hindeutung auf obige Begebenheit wurde mit Gewalt unterdrückt, während der Gegenstand dieser Anklagen durch sein auffallend verändertes Betragen, dem bloßen Verdacht einen Dolch nach dem Andern in die Hände gab. Die wenigen Besucher mieden das Haus des Senators; er erschien am nächsten Sonntage mit seiner Familie in der Kirche: nach seinem Betstübchen starrte die gaffende Menge, aber aus seiner Nähe entfernten sich alle diejenigen, die sonst während des Gottesdienstes gute Nachbarschaft mit ihm gehalten hatten. Frau Jacobine merkte es nicht, Dank ihrer Stumpfsinnigkeit; Justine nicht, denn ihre Unbefangenheit hatte keine Ahnung von dem gräßlichen Verdacht; aber dem Senator, der dieses wohl verstand, zehrte es, wie ein Wurm am Herzen. Er wurde immer verschlossener. Zwischen ihm und der Mutter fielen die Worte immer seltener; Justine litt unter den Folgen dieser übeln Verstimmung, und ihr einziger Trost wurde jetzt, da sie -- ihr unbegreiflich -- keine ihrer Freundinnen mehr bei sich sah, oder zu Hause fand, die englische Lehrstunde, zu der sich James wieder, nach den drei Tagen, eingefunden hatte. Mit keiner Sylbe der vorangegangenen Mißhelligkeit gedenkend, suchte Justine durch ein sittlich mildes Betragen ihre Uebereilung gut zu machen, und James war nicht unversöhnlich. Es stellte sich ein gewisses Vertrauen zwischen den beiden jungen Leuten her. Justine benutzte den ersten Augenblick, in welchem sie ungestört waren, es zu befestigen. Ernst und nachdenkend saß sie dem vortragenden Lehrer gegenüber, und sagte, indem sie ihn bat, das Buch wegzulegen: »Wir wollen plaudern, mein Herr, und uns gegenseitig wundern, wie wir so plötzlich für einander passend geworden sind. Ich habe Eurer Prophetenkunst schreiendes Unrecht angethan, und muß dieselbe leider jetzo anerkennen. Der Abend jenes Samstags war der letzte glückliche in unserm Hause. Heiterkeit und geräuschvolles Leben sind daraus entschwunden, und es kommt mir beinahe vor, als wenn man von außen her unser Unglück uns recht fühlbar zu machen suchte.« »Dem Unglücklichen ist Mißgunst näher, als der Trost;« meinte James. »Ich selbst habe, als Flüchtling, diese Erfahrung oft genug gemacht. Indessen haben auch die Blumen der Freude ihre Zeit der Wiederkehr. Der Sturm zernichtet nicht immer; er entwickelt auch Blüthen.« »In unserm Hause?« fragte Justine ungläubig: »O nein, mein guter Herr. Die Mutter, -- Ihr kennt sie. Der Vater ist heute noch einmal so finster und verdrossen geworden. Uns wurde durch einen Amsterdamer Brief die Gewißheit, daß Herr Birsher in unserm Hause verblichen.« »Was ihn nur bewogen haben mag, die fremde Maske vorzunehmen?« -- »Er wollte uns kennen lernen, selber unerkannt. Ein Scherz, der, sich unbewußt, den Trauermantel auf den Schultern trug.« -- »Der Mensch sei auf sein Ende gefaßt, jederzeit,« entgegnete James! »Genug indessen von dem traurigen Gegenstande. Fröhlichkeit steht Ihnen besser, als Betrübniß; und die Braut hat ja den Bräutigam nicht verloren!« »Ich verbitte mir die Anspielung,« sagte Justine lebhaft: »Herrn Birsher's Sinn wird sich wohl anders wenden. Mir vergingen auch alle Heirathsgedanken, stünde ich am Sarge meines Vaters. -- Mein guter Vater!« setzte sie seufzend hinzu, in die stille Wehmuth versinkend, die, in ihrem Schmerze selbst, uns wohl thut. »Erheitern Sie sich!« erwähnte James, sich zu ihr beugend. »Hören Sie mich. Der Schmerz bedarf nur eines Ableiters, um gemäßigt und ruhig hinzufließen, wie ein geräuschloser Strom in seinem Bette. Was wäre wohl zu diesem Zwecke geeigneter, als eine gute That? Im Ungemach ist ja ohnehin das Herz weicher, geneigt zum Mitgefühl, weil der Kummer ihm nicht mehr ein fremder ist. Ich nehme mir daher den Muth, Ihrem Tiefsinn eine andere Richtung gebend, im Namen einer sehr bedrängten Frau Ihr Mitleid, Ihre Freigebigkeit aufzufordern. Fürchten Sie keinen Mißbrauch Ihrer Güte, hoffen Sie aber auf den Segen von Oben.« »Nicht so viel Worte, Monsieur,« sprach das Mädchen, bereitwillig, der neuen Wendung des Gesprächs zu folgen: »Man überredet mich selten, wenn nicht schon mein Kopf und mein Gefühl gewonnen sind. Ich helfe gern, bin auch nicht hart, wie oft die Leute sagen; ich bin auch nicht so leichtsinnig, fremde Noth nicht zu bemerken und zu bedauern. Redet, wer ist die Frau?« »Eines französischen Offiziers Wittwe. Ihr Mann blieb in dem Treffen bei Denain. Villars empfahl die unglückliche Frau der königlichen Gnade, aber Ludwig vergaß der Armen. Der Regent mißhandelte sie sogar, als sie es wagte, nach des Königs Tode bittend und flehend ihr Recht geltend zu machen. Aus der Hauptstadt verwiesen, fristete sie in ihrer Heimath durch Handarbeit kümmerlich ihr Leben. Endlich schien ihr das Glück wieder zu leuchten. Eine sächsische Herrschaft, rückkehrend aus den Bädern zu Aix schlug ihr vor, sie als Gouvernante der Kinder nach Dresden zu nehmen. Von allen Hülfsmitteln entblößt schlug Madame de Laynez willig ein, schied vom Vaterlande, um in Sachsen eine neue Lebensbahn zu betreten, kam aber nur bis in diese Mauern. Von einer heftigen Krankheit befallen, mußte sie hier zurückbleiben. Ihre Gebieter hinterließen ihr eine dürftige Geldsumme, und sagten sich von ihr los. Mehrere Monden hindurch schwebte die Verlassene zwischen Tod und Leben. Das Mitleid gefühlvoller Menschen rettete sie endlich vom Grabe, aber ihre völlige Genesung geht langsam von Statten. Mangel drückt sie, und es bleibt ihr nichts übrig, als auf's Neue sich an die Theilnahme wahrer Christen zu wenden.« James hatte kaum geendet, und schon lag Justinens ansehnlich gefüllte Börse in seiner Hand. -- »Kein Wort!« gebot sie, da er sprechen wollte: »nichts davon. Gebt, helft, rettet! Es soll nicht dabei bleiben, wenn es mir gelingt, den Vater in günstiger Stunde für die Bedrängte zu gewinnen.« -- Eilig ging sie davon, damit James nicht die Bewegung sehen sollte, die sich auf ihrem holden Antlitz kund gab. Aber der junge Mann hatte scharfe Augen. Es war ihm nicht entgangen, daß die ganze Fülle der herrlichen Seele aus Justinens Zügen gesprochen, und, selig überrascht von einem Anblick, wie er ihn noch nie gehabt, sah er der Fliehenden sehnsüchtig nach. »Welch ein Mädchen!« seufzte er: »und ich -- täglich fühle ich mein Unglück mehr, und darf nicht wanken und nicht weichen von der Stelle, die mir so gefährlich wird.« Justinens Gabe im Busen verbergend, schied er, um heim zu kehren. Unten im Hause war viel Geräusch. Geldsäcke wurden gewogen, Thaler klangen; die Diener gingen geschäftig hin und her; Nothhaft stieß im Vorbeigehen mit dem Ellenbogen an James Arm, und machte ein sehr herrisches Gesicht, als der Engländer sich befremdet nach ihm umsah. -- »_Der_ muß mir auch aus dem Hause, und wenn's mich tausend Gulden kosten sollte!« murmelte der Diener, dem Engländer nachsehend, zwischen den Zähnen. Berndt, der eben in's Haus getreten war, hörte die Rede. »Warum so giftig, lieber Bruder?« fragte er lächelnd: »giftig und freigebig obendrein? Du wirfst mit Tausenden um dich? Glück zu!« -- »Ist's ein Wunder?« sagte Nothhaft hierauf: »Baar Geld macht Muth. Wir schwimmen ja in Geld, siehst du. Laß uns daher auch in Gottes Namen davon reden, und lüderliche Schmeißfliegen damit todt schlagen.« »Ich verstehe dich nicht, Herr Bruder,« versetzte Berndt achselzuckend, »aber ich sehe, daß deine Prophezeihung nicht falscher hätte sein können. Statt des Bankerotts strömt der Segen Gottes in das Haus.« »Erbschaft! unverdientes Glück!« versicherte Nothhaft leise: »Wer weiß, ob ich so Unrecht hatte;.... doch -- Stille! --« Er schlug sich bedeutend auf den Mund. »Wer weiß auch« -- fügte er hinzu, wichtig und geheim -- »wem's die Firma verdankt, daß sie noch mit Ehren steht?« »Wichtigkeitskrämer!« lächelte Berndt ungläubig: »Du spreizest dich so absonderlich, daß -- wer nicht wüßte, welch' ein Windbeutel du bist, -- glauben sollte, du errathest auf's Haar, was unser Herr denkt und beschließt. Glück auf, zu dem Vertrauen, Herr Geheimhorcher! empfehle mich zu Gnaden!« »Ei, des breitmäuligen Augenverdrehers!« schalt Nothhaft verächtlich: »wir wollen sehen, _wer_ am Ende hier im Sattel bleibt. Du bist ein Esel, sonst hättest du schon gemerkt, daß meine Aktien um 200 Prozent besser stehen, als ehedem.« »Gott sei mir vor dem Prahler gnädig,« sagte Berndt, den Kopf schüttelnd: »der Prinzipal redet mit dir so wenig, als mit mir, und die Jungfer macht dir immer ein verdrüßlich Gesicht.« »Soll bald ein freundlicheres machen,« versicherte Nothhaft hochmüthig. »So?« fragte Berndt, dessen Neid allgemein rege wurde: »Du mein Jesulein! darf man schon Glück wünschen, Herr Hochzeiter?« »Narren sagen oft die Wahrheit;« erwiderte Nothhaft, noch patziger als zuvor, und Berndt versetzte giftiger: »Gratulire also, Herr Associé und Schwiegersohn. Wird bald heißen: Müssinger und Compagnie? Charmant. Nun begreife ich erst, warum ich den Pastor Lammer zum Herrn habe bitten müssen. Das Aufgebot wird gewiß bereits bestellt? Nun, viel Succeß und geneigte Protektion, werthester Herr College! Vergessen Sie Dero getreusten Diener nicht im Glücke!« »O du miserabler, kothiger Adam!« spottete Nothhaft. Der Buchhalter klopfte aber an's Comptoirfenster, und rief: »Soll ich euch Stühle hinaussetzen zu bequemerer Conversation, ihr Lungerer? Herein, hier giebt's zu thun, ihr, des lieben Herrgotts Müssiggänger!« Berndt schwenzelte, der Amtspflicht getreu, schnell in die Schreibstube, Nothhaft zögerte stätig. Indessen trat bereits der Pastor der Johanniskirche im Amtsrock in das Haus. -- »Der Herr Senator oben?« fragte er vornehm und schleppend. Nothhaft bejahte freundlichst, und schlich mit einem bedeutenden: »Aha!« an sein Pult. Der Senator empfing den Pastor an der Thüre seines Zimmers, und bewillkommte ihn so freundlich, als ein im Gemüth Verletzter nur vermag. Der Geistliche nahm dieses Entgegenkommen als eine ihm gebührende Huldigung an, und antwortete darauf ohne sichtbare Herablassung. »Ich bin wahrlich neugierig, Herr Senator,« sagte er, »zu erfahren, zu welchem Endzweck ich hier bin. Unter allen den, meiner geistlichen Pflege Empfohlenen, haben Sie mir noch am wenigsten zu schaffen gemacht. Mein Amt legt mir indessen die Pflicht auf, einem Jeden Gehör zu schenken; dem Sterbenden, dem Frommen und dem Sünder. Das Erste sind Sie nicht; das Zweite?.. will ich nicht beschwören. Was befehlen Sie?« »Sündig sind alle Menschen vor Gott und seiner Kirche;« entgegnete der Senator melancholisch und achselzuckend: »Die Frömmigkeit ist dagegen nur ein Gnadengeschenk. Ich habe Sie, würdiger Herr, für jetzt ersuchen wollen, der Spender einer Gabe zu sein, die ich der Armuth bestimme. Vertheilen Sie nach Ihrem Gutdünken diese Summen unter diejenigen Bedürftigen, die Ihnen der Unterstützung am würdigsten scheinen.« Der Pastor wog die ansehnliche Rolle in der Hand, und ein Schimmer von Behagen flog über sein düstres Gesicht. Im nächsten Augenblicke war es jedoch wieder Stein, wie zuvor. »In Gottes Namen,« sprach er, und ließ das Geld in die weite Tasche seines Priesterrockes gleiten: »Der Armuth sei dies Scherflein gesegnet. Ew. Hochedlen Freigebigkeit kömmt mir unerwartet.« »Der Himmel hat mich mit einer reichen Erbschaft bedacht,« antwortete der Senator seufzend: »ich opfere einen kleinen Theil derselben auf den Tisch der Dürftigen. Sie mögen für einen Unglücklichen beten.« Der Prediger faßte den Handelsherrn scharf in's Auge. »Für einen Sünder?« fragte er betonend, und da keine Antwort erfolgte, fuhr er gemessen und drohend fort: »Der Unglückliche, von Gott gewichene, betrüge sich nur nicht. Geld und Gut ist eine schöne Sache, insoferne man damit Christum speist; aber eitel Schlacken vor dem großen Richter der Welt, will man damit eine Missethat abkaufen. Die Buße ist unfruchtbar, wenn nicht herzliche Reue die Brust des Verirrten erfüllt; unfruchtbar, und wenn er Millionen in Klingelbeutel oder Armenbüchsen wärfe.« Der Senator sah den Pastor erstaunt und erbleichend an, bedachte sich einen Augenblick, und erwiderte alsdann mit niedergeschlagenen Augen: »Ich begreife Ew. Ehrwürden nicht. Man kann unglücklich sein, ohne gesündigt zu haben. Der Sünder selbst jedoch kehrt sich freudig zur Reue, wenn man ihm nur _glauben_ will; wenn er nur das Vertrauen haben darf, daß ihm einst vergeben werde.« »Einst? einst?« versetzte der Pastor mit überlegendem Blick gen Himmel: »Ja, einst vielleicht; denn Gottes Barmherzigkeit ist ein tiefer Brunnen. Das entscheidet sich indessen -- nach meiner Meinung -- erst am letzten Tage des Zorns und der Strafe. Ich halte nämlich dafür, daß kein Mensch auf Erden, selbst nicht ein ordinirter, sich anmaßen dürfe, die Sünden eines Anderen hinwegzunehmen, -- sobald sie unter die Schweren gehören. Nur der Herr prüft Herzen und Nieren. Das Gewand der wahren Reue ist ein feines Kleid, aber es muß das Leben hindurch getragen, in's Grab genommen, und dem Herrn am jüngsten Gerichte untadelhaft vorgewiesen werden. Dann mag allerdings seine unendliche Milde vergeben.« »Sie entfalten eine traurige Zukunft vor meinen Augen,« erwiderte der Senator schwerbekümmert, und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl nieder: »Ihre Kollegen --« »Sprechen vielleicht anders,« fiel der Geistliche ein: »ich betheure aber, daß sie im Irrthume tappen, und bin bereit, meine Meinung vor jeder Synode durchzufechten. Meine Mitarbeiter im Weinberge sind zum Theil junge Leute, denen der philosophische Kram unserer Zeit den Kopf verwirrt hat. Der alte Lammer geht jedoch nicht ab von seinen Grundsätzen, die er seit fünfzig Jahren gelehrt hat. Er läßt kein Schäflein seiner Heerde davon abgehen, so lange er noch ein rüstiger Hirt ist. Er ist Keiner von den Sanften und Süßen, die nur schmeicheln, wo sie packen, -- nur einlullen, wo sie donnern sollten. Trost dem Unglücklichen, denn er ist zu seinem Heil! Krieg dem Sünder, denn er ist wieder zu seinem Heil. Unablässig, bis an seinen Tod, schneide ich ihm das wilde Fleisch aus der Wunde, daß sie frisch blutend vor Gottes Thron komme, und ich dann sagen darf: Sieh, Herr, dein unwürdiger Knecht hat dir nicht in's Amt gegriffen. Er hat nicht gepfuscht, da, wo _Du_ nur heilen kannst; aber er bringt dir den Kranken, dürstend nach der Genesung, wie in der Stunde, da ihm zuerst sein Uebel unerträglich wurde!« Eine heftige Unruhe bemeisterte sich Müssingers, und sein von Schwermuth in Fesseln geschlagener Jähzorn rüttelte gewaltsam an seinen Banden. »Ich weiß nicht,« sagte der Senator, mit Mühe an sich haltend: »wie Sie dazu kommen, Herr Pastor, mir Ihr System so schonungslos darzulegen. Ich kann diejenigen blos bedauern, die, in einem Fehltritt befangen, von Ihnen Trost und Erlassung begehren, und wünsche Ew. Ehrwürden recht wohl und lange zu leben!« -- Der Pastor bückte sich, und versetzte spitzig: »Alles, wie Gott will, Ew. Hochedeln. Der alte Lammer stirbt gern, wenn seine Uhr abgelaufen ist. Der Herr schenke Allen einen sanften Tod. Meine Worte bereue ich jedoch nicht, denn ich glaubte sie _hier_ vonnöthen. Uebrigens hat unsere Unterredung sicherlich ein anderes Ende erreicht, als wir beide hofften, Herr Senator, nicht wahr? _Ich_ bin nicht böse deshalb, und wünsche kein Vertrauen, das ich nicht mit der sündlichen Willfährigkeit vergelten könnte, die man von mir erwartet. Die offne Beichte in der Kirche steht Ihnen frei. Werde mit seinem Gewissen fertig, wer da kann. =Sapienti sat=, Herr Senator, und: Gott bess're Sie!« »Was ist das? Was sagen Sie da?« fuhr der Senator auf. Lammer zog aber bereits die Thüre hinter sich zu. Müssinger schritt im Zimmer auf und nieder, und rang die Hände. Steht mir denn das Zeichen auf die Stirne gebrannt? fragte er sich mit erstickter Stimme: Die blöden Augen dieses Wolfs im Hirtenkleide selbst scheinen errathen zu haben, ... o gewiß!... und der Mensch kann so unbarmherzig sein!... und der Mann ist _Protestant_? O der herzlosen, steifen Eiferer! was sie berühren, wird Eis oder Thräne. Hätte ich, wie ein altes Weib, auch in der _Woche_ die Kirche besucht, keine Nachmittagspredigt, keine Bet- und Vorbereitungsstunde versäumt, dem Klingelbeutel reichlicher gegeben, und den Schwarzröcken Ueberfluß in Küche und Kasten geliefert, -- der harte Mensch würde nun nicht so widrig mit mir gesprochen haben, da ihm sonst _Worte_ weit wohlfeiler sind, als der Heller, den der Geizige, selten genug, einem Bettler spendet! Warum habe ich auch nur einen Schritt versucht, mich der Kirche wieder zu nähern, die Alles gethan zu haben glaubt, ist die trockene Predigt und das Geplärre des Lieds vorüber! -- Warum? setzte er fragend und gemäßigter bei: Warum? Ach! drückt nicht hier auf meiner Brust eine Last, unter welcher ich erliege? Ist es nicht verzeihlich, daß ich in der Angst meiner Seele Linderung suche und Trost? Aber nun fehlt mir der Muth, und ich fürchte... Ein bescheidenes Klopfen unterbrach seine Betrachtungen. Fast erschreckt eilte er an die Thüre, öffnete, und sah, sehr überrascht, den Doctor Leupold draußen stehen. Er konnte sich nicht Rechenschaft geben, warum der Anblick des Mannes ihn freundlicher ansprach, als er wohl zuweilen gehofft hatte, wenn er sich die Möglichkeit gedacht, ihm wieder zu begegnen. Er bewillkommte ihn mit einiger Auszeichnung, und führte ihn bei sich ein. Der Doctor entschuldigte sich tausendmal um der Störung willen, die er vielleicht verursache, und ließ im freundlichsten Tone das Wort fallen, daß sein Besuch wohl eben so gut hätte unterbleiben können. »Mein Herr Doctor,« sagte der Senator hierauf verbindlich: »die Besuche werther Freunde, denen wir Dank schuldig sind, sollten _nie_ unterbleiben. Sie lehren mich ohnehin, was ich schon längst hätte thun sollen. Sie verzeihen jedoch; eine Fluth von Begebenheiten raubte mir die Muße, Ihre Wohnung aufzusuchen.« »Unnöthig,« versicherte der Doctor: »ich dachte nicht daran, Sie an einen sehr erläßlichen Besuch mahnen zu wollen. Mein Gang in Ihr Haus hatte einen anderen Zweck; ... allein -- und ich darf sagen -- mit Vergnügen sehe ich, daß er wohl vereitelt ist.« »Ein Zweck?... vereitelt?...« fragte Müssinger. »Wie so? erklären Sie sich.« »Sie setzen mich durch Ihre Frage in Verlegenheit,« sagte Leupold hierauf zögernd: »indessen darf der Mensch, wenn er sich seines Wollens nicht zu schämen hat, wohl reden, ohne den Vorwurf der Ruhmredigkeit auf sich zu laden. Ich habe hier einige Wechsel auf St. Sebastian und Brasilien. Das Haus Minhaô ist solid, die Summen sind nicht unbedeutend, bald fällig. Ich hatte den Auftrag, Ihnen dieselben auf eine gewisse Zeit zum Genuß gegen äußerst billige Preise anzubieten. Allein, -- wie ich beim Eintritt in Ihr Haus bemerkte, so hat der Ueberfluß Ihnen auf's Neue die Hand gereicht, und durch ihn wird meine wohlgemeinte Hülfe überflüssig.« Der Senator erhob bewundernd seine Augen, ergriff beide Hände des Doctors, schüttelte sie, und sprach: »Mein Herr, Sie bereiten mir den frohsten Augenblick meines Lebens! Da ich gerade an allem Trost verzweifle, richten Sie, ein Fremder, mich wieder auf. Gott sei Lob, ich bedarf Ihres freundlichen Darlehens nicht; aber -- glauben Sie mir, -- demungeachtet habe ich's _doppelt_ empfangen.« »Und somit keine Sylbe mehr davon,« setzte der Doctor ruhig hinzu: »Sie preisen mich unverdient. Eine Gesellschaft von Menschenfreunden wollte Ihnen Ihre Theilname beweisen, und hatte keine Gefahr dabei, da sich Ihre Geschäfte etablirt haben.« Der Senator nickte seufzend mit dem Kopfe und entgegnete: »Ja, mein Herr, so ist's. Nicht minder jedoch meinen wärmsten Dank der Gesellschaft, von welcher Sie sprachen, und die ich wünschte kennen zu lernen.« »Das ist Ihnen -- _hier_ -- unmöglich,« sagte der Doctor: »lassen Sie uns, da ich einmal Ihnen zur Last falle, von etwas Anderem reden. Wie gesagt: Fortuna ist bei Ihnen eingekehrt, und ich freue mich, Ihnen damals auf der Promenade ein gutes Prognostikon gestellt zu haben; allein -- Sie selbst -- Herr Senator, -- scheinen sich nicht im Geringsten zu freuen.« »Einem Manne gegenüber,« entgegnete Müssinger, »der sich mir als verschwiegener und hülfreicher Freund erwiesen hat, kann ich keine Lüge sagen. Die ... Erbschaft, die mich wieder auf den Gipfel meines vorigen Reichthums hebt, ist mir ganz gleichgültig. Ich bin ein armer, armer Mann. Mein Gemüth ist krank, meine Seele sehnt sich vergebens nach Genesung.« »Und Religion, -- die sicherste Trösterin?« fragte der Doctor mitleidig. »O, lassen Sie das!« erwiderte der Senator still ergrimmt: »Die Religion ist entartet in ihren Dienern. Weiß Gott, -- Herr! wir haben uns in einer sehr bedeutenden Stunde kennen gelernt, -- aber -- ob ich nicht vielleicht Ursache hätte, jetzt dem Flußbette näher zu stehen, als damals?« »Ich würde Sie alsdann nicht mehr zurückhalten,« erwiderte der Doctor kalt und ernsthaft: »Sie verdienen hier und jenseits das traurigste Loos, wenn Sie zum zweitenmal wagen, wovon die Vorsehung Sie _einmal_ schon gerettet.« »Sie wissen nicht...!« entschlüpfte dem leidenschaftlichen Senator: »Es giebt noch drückendere Schmerzen, als _die_ des Mangels und der Schaam. Die Stimme des Innern...« »Sagen Sie nur frei heraus: das Gewissen,« unterbrach ihn der Doctor sanft aber fest: »Um das Gewissen ist es eine kitzliche Sache; freilich. -- So lange aber Gott die Quelle aller Liebe, die Kirche eine freundliche Mutter ist, so lange darf selbst der trotzigste Sünder unverrückt auf Gnade und Verzeihung rechnen. Im Zeitlichen wie in der Ewigkeit. Soll denn der Mensch, der ein Verbrechen beging, das _er_ vielleicht in der nächsten Minute bereut, an diesem Unglück verkümmern, rettungslos daran verzweifeln, während sein frisches Leben noch viel des _Guten_ schaffen könnte? In der Strafe selbst liegt Vergebung, und ein Augenblick der Reue des Sünders wiegt manches schuldlose Menschenleben auf.« »Sie sprechen von Gott, dem Quell aller Liebe?« fragte der Senator scheu. -- »Er ist's!« bekräftigte der Doctor. -- »Von der Kirche, einer freundlichen Mutter?« -- »Sie ist's.« Der Senator seufzte tief beim Angedenken an Lammers Worte. Der Doctor sagte aber nun mit gemessenem Tone: »Unsere Ansichten weichen ab, wie ich sehe. Es befremdet mich nicht, da ich mich zu einer andern Kirche bekenne, als Sie.« -- Dem Senator starb die weitere Frage im Munde, da der Doctor ganz ruhig fortfuhr: »Ich bin Katholik. Von _meiner_ Kirche hab' ich gesprochen: und -- wahrlich -- sie erfüllt ihre Mutterpflichten tüchtiger als Eine.« -- Müssinger bückte sich verlegen. Der Doctor sprach unbefangen weiter: »Von unserer Kirche Schwelle geht kein Vertrauender ungetröstet, kein Leidtragender unerquickt, kein Verirrter ungelöset. Alle ihre Gebräuche deuten in ihrer mystischen Form auf die heiligsten Pflichten hin; auf die der Versöhnung, der Menschenliebe. Doch, wem sage ich das, und zu welchem Endzweck?« fügte er, sich besinnend bei: »Sie mein verehrter Herr, haben nie die apostolische Lehre näher prüfen gelernt, da die Gesetze Ihrer freien Stadt die Ausübung jenes Cultus und die Ausbreitung unsers Lehrbegriffs auf ihrem Gebiete aufs strengste untersagen; gewiß ist es Ihnen auch völlig gleichgültig, wie ein Katholik von seinem Glauben denkt.« »Ich habe zu Augsburg meine Lehrzeit verlebt,« versetzte nachdenkend der Senator: »Ich habe mich oft hinter dem Rücken meiner Vorgesetzten in die katholische Kirche geschlichen, mich an der feierlichen Pracht des Gottesdienstes, an der herrlichen Musik ergötzt, ... ich kann nicht läugnen, daß...« Justinens Stimme störte die Herren. Das Mädchen trat ein, und berichtete dem Vater, -- sich vor dem Fremden sittsam verbeugend -- über eine nicht besonders bedeutende Angelegenheit der Wirthschaft. Der Doctor betrachtete während dessen sowohl den Senator, als seine Tochter mit der größten Aufmerksamkeit. Als Justine wieder hinausgegangen war, sagte Leupold mit fast bewegter Stimme: »Wahrlich, Herr Senator! Wüßte ich nicht durch meinen Pflegesohn, daß Ihre Tochter sich Justine nennt, ich würde darauf schwören, sie müsse Clara heißen.« Der Senator richtete schnell und fragend die Augen auf den Doctor. »Clara?« fragte er: »Wie kommen Sie zu diesem Namen?« »Clara war, wie _Justine_.« »Welche Clara?« »Clara Münzner.« »Mein Gott! Sie wissen...?« »Ja, mein Freund.« »Woher? -- Herr, Sie reißen eine Vergangenheit vor mir auf, die jetzt doppelt schmerzlich mein Gefühl verletzt.« »Das soll sie nicht. Eines Engels Gedächtniß bringt Segen.« »Ja, sie war ein Engel!... ein Engel, wie ihn diese Welt nicht verdient.« »Der Engel ist in seine Heimath gegangen.« »Barmherziger! versteh ich Sie?« »Clara ist todt.« »Todt?... todt?... Und ich lebe noch; ... _wie_ lebe ich?...« »Bis an ihr Ende hat sie in Ihnen gelebt, wenn gleich Länder und ein Jahrzehend sie von Ihnen trennten. Jetzt wird sie, sollte es Noth thun, für Sie beten bei dem unsterblichen Vater!« -- »Oh!« seufzte Müssinger, und lehnte sich mit vor das Gesicht gehaltenen Händen zurück. Dann fragte er jedoch lebhaft: »Erklären Sie mir, räthselhafter Mann! wie können _Sie_ von dem unterrichtet sein, was außer mir...« »Ich bin Clarens Bruder!« flüsterte der Doctor dem Senator in das Ohr... »Xaver?« »Derselbe, mein Freund. Ich höre, daß man uns wieder unterbricht. Ihr Zimmer, dem Drang der Geschäfte Preis gegeben, ist nicht geeignet, daß wir uns darinnen der wohlthätigen Erinnerung ungestört hingeben könnten. Macht Ihnen die Vergangenheit Freude, so besuchen Sie mich. Ich wohne eng, aber niedlich und einsam, in der Rahmgasse. Das Haus ist zum Apfel geschildet. Fragen Sie im zweiten Stocke nach dem Doctor Leupold. Sie werden mir willkommen sein.« Indem der Buchhalter eintrat, verbeugte sich der Doctor gelassen und fremdthuend gegen den unbeweglich hinstarrenden Senator, und ging. Langsam und sinnend durchstrich er die Stadt, und machte geflissentlich einen Umweg nach seiner Wohnung, um seinen Gedanken nachhängen zu können. Hie und da nickten ihm aus Hütten oder wohlanständigen Bürgerhäusern freundlich grüßende Gesichter zu. In einem armseligen Gäßchen schlich eine bettelhaft gekleidete Frau, nachdem sie sich vorher überall umgesehen, geheimnißvoll an ihn, und küßte seine Hand. Er reichte ihr dagegen eine kleine Münze, und ermahnte sie für die Ruhe eines Sünders zu beten. Hierauf schlug er sich rechts durch ein Paar Durchgänge nach der Rahmgasse, und stieg im bezeichneten Hause in sein Quartier hinauf. -- Eine sauber angekleidete Magd öffnete ihm ehrfurchtsvoll die Gitterthüre an der Treppe. James, der in der Wohnstube schreibend saß, richtete sich grüßend auf, und brachte dienstfertig dem Pflegevater den Steifrock herbei, gegen den der Doctor eilig den unbequemen Schlafrock vertauschte. Er nahm seinen Platz im Lehnstuhle am Fenster, das, auf einen Garten aussehend, selbst einen Garten vorstellte, geschmückt mit würzigen Blumenstöcken. In der Stube sah es so reinlich, so friedlich und traulich aus; sie stellte ein reizendes Stillleben dar. Der Boden, sauber wie ein Spiegel; die Geräthschaften blank und rein. Ordnung überall; keine Falten in den Teppichen der Tische, kein Stäubchen auf dem grünen Vorhange, der eine kleine Büchersammlung barg; ein niedlicher Vogel im luftigen Bauer von der weißen Decke schwebend; eine tickende Schwarzwälderuhr an der Wand; viele summende Mücken auf dem Blumenflor am Fenster. Das Schweigen wurde lange nur durch der Thierchen Geschwätz, den Perpendikelschlag, und die knarrende Feder des jungen Engländers unterbrochen, der sich gleich wieder an seine Arbeit gesetzt hatte. Der Doctor saß mit gefalteten Händen, rückwärts gelehntem Kopf und geschlossenen Augen in seinem Lehnstuhle. Seine Lippen trugen das Lächeln einer freundlichen Gedankenwelt, die unter den zugezogenen Augendeckeln vorüber schwebte, und er schwieg wie ein Träumender, bis er einen leisen Hauch an seiner Wange fühlte, und forschend die Augen aufschlug. Schon dämmerte es. James stand bei ihm, und hatte sich über sein Gesicht gebeugt. »Ich wollte mich überzeugen, ob Sie schliefen, mein Vater,« sprach der Jüngling. »Meine Arbeit ist vollendet; die Feierstunde da. Sie sind aber heute nicht so munter und gesprächig, wie wohl sonst. Darf Ihr Pflegesohn nach der Ursache fragen?« »Die Ursache, mein Sohn, ist nur eine kleine Geschichte aus der Zeit, da ich dein Alter hatte;« antwortete der Doctor, freundlich ihm zunickend; »setze dich zu mir, und höre sie, wenn du willst. Ich sage dir aber im Voraus, daß die Geschichte so kurz und einfach und natürlich ist, wie nur eine in der Welt. Den Jüngling befriedigt freilich nur ein Labyrinth von Abenteuern. Dem greisen Manne jedoch schließt gerade die klarste Begebenheit einen Zaubertempel auf. Versetze dich mit mir nach Augsburg, wo du zwar niemals warst, von dem du aber manches gelesen. In jener alten, weit berühmten Stadt ist eine abgelegene Gegend an der Stadtmauer, unfern von einem kleinen Thore. Durch diesen leicht zu übersehenden Winkel soll, heißt die Sage, der Teufel den Doctor Luther in's Freie geführt haben, da demselben große Gefahr drohte, und alle anderen Ausgänge von Feinden besetzt waren. Obgleich nun diese Geschichte durchaus Fabel und unhaltbar, so führt doch noch zu heutiger Stunde der Platz den Namen: Dahinab! -- In diesem Dahinab nun stand unter andern kleinen Häusern ein von einem Gärtchen umgebenes; reputirlich anzuschauen, und die Wohnung eines braven Mannes. Der Fleiß desselben hatte das Haus gebaut, und die Heiligen, -- buchstäblich zu verstehen, -- hülfreich dazu gethan. Der Fleißige war nämlich Kupferstecher, und hat -- durchaus dem Fach sich hingebend, -- viele hundert Heiligenbilder gestochen und geätzt, die zu damaliger Zeit in großen Ladungen über die Berge nach Italien gingen. Der Künstler war fromm und still, wie seine Bilder, arbeitete unverdrossen von früh bis spät, und seine einzige Erholung außer dem Hause war am Sonnabend ein Ruhe-Stündchen auf der Schießstatt, bei einem Krug Bier und freundlichem Geschwätze. Den Sonntag nahm die Kirche und -- bei schönem Wetter -- ein Spaziergang mit dem Weibe nach dem Ablaß oder nach Göggingen hinweg. Diese Lebensordnung machte auch, daß es im Hause fein und ordentlich aussah, und der Friede doppelt mit den Kindern einkehrte, die der Himmel dem einfachen Künstler schenkte. Der Bube hieß Xaver, die Tochter Clara. Der Erste, zugleich der Aeltere, sollte anfangs Kupferstecher werden, wie der Vater; die Zweite ein braves Weib, wie die Mutter. Es ergab sich indessen bald, daß Xaver, um schwacher Augen willen, der Kupferstecherkunst nicht gewachsen war, und, noch in der Wahl verharrend, was einst aus dem Jungen werden möchte, schickte ihn der Vater in die Schulen, damit er etwas Tüchtiges lerne. Clara wuchs arbeitend und blühend auf, besuchte kein anderes Haus, als das Haus Gottes, und ahnte nicht, daß an jener Stätte ein sehnsüchtiger Jünglingsblick die verborgene Blume ausgespäht hatte. Die Eltern ahnten's um so weniger. Der Bruder allein, der oft, um zu studiren, im Gärtchen sich befand, merkte das Erste von der Sache. Eine Bastion der Festungswerke, die gerade, -- senkrecht fast, -- in die Höhe stieg, und die Ansicht über die Häuser des Dahinab frei gab -- bildete die Schlußwand des Gartens. Auf dem Rand dieser Bastion stand einmal um die Mittagszeit ein blutjunger Mann, und sah immer so steif und unverrückt in den Garten hinab, daß dem studirenden Xaver, -- als dieser, durch die Blätter der Laube schielend, zum zweiten oder dritten Male das Unwesen wahrnahm, -- bang um den Verstand des jungen Menschen wurde. Bald kam er jedoch dahinter, daß die Schildwache auf der Bastion eigentlich der Schwester gelte. Denn so oft diese, blühend und frisch wie eine Rose, um die Mittagsstunde aus dem Hause hüpfte, den Bruder zu Tisch zu rufen, -- so oft zog _der_ auf der Schanze ein Fernrohr aus der Tasche, und richtete es so scharf und fest auf das Mädchen, als ein Constabler nur mit seinem Geschütz thun kann. Der Bruder hütete sich wohl, der unbefangenen Schwester das Geringste von seinen Beobachtungen, -- die er eine ganze Woche hindurch fortsetzte, mitzutheilen. Endlich eines Vormittags, aus dem Collegium kommend, wandelt ihn die Lust an, der Sache auf den Grund nachzuspüren. Er steigt auf die Bastion, und findet den Bewußten bereits am Posten. Er schlägt ihn auf die Schulter, und fragt ihn: Was hat Er dahinab zu spioniren, mein Freund? -- Der Andere erröthet, antwortet aber vornehm: Das geht _Ihn_ nichts an, mein Freund. -- Er ist ein Narr! sagt ihm hierauf Xaver, und der Andere antwortet mit einem »unverschämten Menschen.« Für einen Studenten von neunzehn Jahren ist das zu viel. Er antwortet ebenfalls mit einer nachdrücklichen Beleidigung. Der Andere greift nach seinem Degen. Xaver bedeutet ihm, er selbst dürfe als angehender Theolog keine Waffe tragen; er werde aber nur hinunter in's Haus gehen, sich einen Degen holen, und sicherlich binnen wenig Minuten auf die Schanze zurückkehren, um die Sache auszumachen. »Was hat Er in jenem Hause zu thun?« fragt der Andere verwundert. -- Es ist das meiner Eltern; entgegnete Xaver. -- Und das Mädchen? -- Meine Schwester. -- Nun lacht der Mensch ausgelassen, steckt die Klinge ein, fällt dem Studenten um den Hals, und ruft: Wir müssen Kameradschaft trinken. -- Wie so? -- Ich bin in deine Schwester verliebt, mein Junge; fährt der Andere fort: ich sterbe, wenn ich nicht wenigstens bald zu ihr sagen kann: Wie befinden Sie sich, Jungfer? Du mußt mich bei deinen Eltern einführen, als einen Mitstudenten, als einen Freund aus dem Gasthause, -- als was du willst. -- Nun erzählte der heftige närrische Mensch weiter, und es kam heraus, daß er Kaufmannsdiener sei, vor wenigen Wochen erst die Lehre verlassen habe, und in einer der ersten Handlungen Augsburgs conditionirte. Ein Zufall hatte ihm meine Schwester gezeigt. Dazumal wurden gerade Bittgänge gehalten und Gottesdienst gefeiert, zum Besten und Frommen der unglücklichen Rheinländer und Pfälzer, die unter dem Mordschwerdt des Königs von Frankreich bluteten. Bei einer dieser Processionen war der Kaufmannsdiener an Clara's Seite gekommen, und sie hatte ihm schnell gefallen, obwohl sein Mund keine Sylbe mit ihr gesprochen. -- Xaver, der in dem fremden jungen Mann einen Sohn wohlhabender Eltern aus einer entfernten Stadt erkannte, dem derselbe gefiel, ließ sich endlich bereden, gab den sonderbaren Gesellen für einen Bekannten aus, und brachte ihn in der Eltern Wohnung. Ach, nun beginnt eine schöne Zeit; sie umfaßt beinahe ein Jahr. Die Eltern gewannen den Fremdling lieb; Clara theilte seine Gefühle. Xaver sah eine schöne Zukunft für die Schwester leuchten. Die Mutter betete zu diesem Endzweck im Stillen. Harmlos flossen die Tage, von Vertrauen, von Freundschaft und Liebe getragen, dahin! In dem engen Häuschen, in dem kleinen Garten waren alle glücklich. Aber -- der Friede, das Glück hat seine Grenzen, und somit endigte auch dieses.« Der Doctor sammelte sich hier, wehmüthig werdend, und sprach nach einer langen Stille, gefaßt und trocken weiter: »Der junge Mensch hatte nicht redlich an der Familie gehandelt. In dem Augenblick, als alle, -- Clara selbst -- im Stillen auf eine baldige Erklärung und Werbung hofften, verließ er Augsburg, heimlich, schnell, um in die Heimath zurückzukehren. Ein Brief belehrte uns, daß er als Protestant, -- er hatte sich für einen der Unsern ausgegeben -- nicht daran denken könne, aus der Neigung seiner Jugend Ernst zu machen, und mit blutendem Herzen sich von der Stelle losreißen müsse, die ihm theuer und lieb geworden, wie das Vaterhaus. -- Wir weinten; Clara verzweifelte fast. Die Jahre beruhigten zwar ihr Herz, aber -- an dem Entfernten treu und eigen hängend, blieb sie Jungfrau, legte als fromme Wärterin die Eltern in's Grab, und folgte ihnen dann, zehn Jahre, nachdem _er_ sie verlassen, -- mit seinem Namen auf den Lippen. Hiermit, mein Sohn, endigt sich die Geschichte, deren erster Theil noch jetzt meine Seele mit angenehmen Bildern füllt. Du hast meine Eltern, meine Schwester und mich kennen gelernt. Vor achtzehn Jahren habe ich Claren verloren, und heute -- bewundere die Wege der Allmacht! heute finde ich _ihn_ wieder, der sie verließ, der vielleicht ihr Leben abkürzte; finde ihn wieder, unglücklich, darniedergedrückt von _schweren_, schweren Aengsten, wie ich fürchte; ein armer, elender Mensch, im Schooße des Ueberflusses der eiteln Welt!« »Errathe ich?« fragte James ungestüm: »Der Senator?« Der Doctor nickte mit dem Haupte. -- »Beinahe,« sagte er, »hätte mich die Schwachheit überrascht, ein Wohlbehagen zu empfinden, als ich ihn so erbarmenswürdig vor mir stehen sah, und jetzt erst bestimmt in's Reine kam, daß _er_ jener Walter sei, den ich -- seltsam fürwahr -- beinahe vergessen hatte. Kein Zug der Jugend mehr in seinem Gesichte; keine Zufriedenheit in seinem Hause; keine Ruhe in seiner Brust. Die Vergeltung hat an dir gearbeitet! wollte ich sagen; doch Gott hielt meine Zunge im Zaume. Clara hat mir ja auf dem letzten Lager ihre Liebe zu ihm als Vermächtniß hinterlassen, und ich muß ihn oder die Seinen glücklich machen, wenn ich's vermag; schon darum, weil ihn _Clara_ geliebt, weil ihn _Clara_ gesegnet hat! --« »O ein heiliges Gefühl, ein heiliges Erbe ist die Liebe!« versetzte James mit einer wehmüthigen Innigkeit. Der Doctor ergriff ihn fest bei der Hand, und redete: »Mein Sohn, hüte dich vor Sophismen, wie sie nur gar zu gerne die Leidenschaft gebiert, wenn sie sich in Fesseln spürt. Denke deines Versprechens, der Zusage, die du mir gegeben. Du gehörst nicht mehr dir selbst an, du gehörst nicht _mir_. Und wäre dies Alles nicht, so sollte meine Erzählung dir bewiesen haben, daß Ungleichheit des Glaubens Verderben bringt.« -- James schwieg mit bitterem Gefühle. -- »Ich sehe, daß es Zeit ist, deine Besuche in des Senators Hause abzukürzen,« fuhr der Doctor sorglich fort: »die letzte Aufgabe vollende noch. Vielleicht begründest du dadurch das Heil einer Person, die du _liebst_, wie ich fürchten muß.« -- »Und gelänge es mir,« fragte James, Muth fassend: »dürfte ich alsdann hoffen, mein Vater?« »Dein Schicksal hängt nicht von mir ab,« antwortete der Doctor: »wäre dieses aber auch, -- Sohn! hätten wir uns in dir getäuscht...? Laß mich das nicht ahnen!« »O, welch' ein Schicksal ist mir bereitet worden?« seufzte der junge Mann: »Zu welchem Gewerbe, -- mir widerstrebend, meinen Sinn empörend, wurde ich bestimmt! und zum Dank dafür verbietet man mir grausam, zu fühlen wie ein Mensch!« »Dafür rasest du wie ein Thor,« unterbrach ihn der Doctor heftig: »zur Strafe wirst du deine bisherigen Andachtsübungen verdoppeln, bis ich es anders bestimme! --« Milder fuhr er, und plötzlich besonnen fort: »Was wäre dein Schicksal unter den dänischen Dragonern gewesen, du Verblendeter? Du schlägst die Hand, die dir wohl that. Dein Gewerbe empört dich? Das heißt: Deine Pflicht gefällt dir nicht. Glaube mir: Oft ist auch _mir_ die Meinige zuwider, aber ich erfülle sie dennoch ohne Murren, weil ich überzeugt bin, daß zu einem vollkommenen Bau der geringste Dienst vonnöthen ist, wie der edelste. Die Leute, die im finstern Schacht den Keller wölben, haben durch ihre lichtscheue Arbeit mehr gethan, als der Meister, der das leichte Prunkgetäfel anschlägt, und den Blumenstrauß stecken auf den fertigen Bau kann vollends jeder Lehrjunge. Bescheide dich also dankbar vor dem Höchsten, zu dessen größerer Ehre wir handeln, und bemeistre flüchtige Aufwallungen der Jugend, die immer nur eitel sind, und denen im vorliegenden Falle ohnehin nicht _entgegengekommen_ wird.« Dieses letzte Argument entschied. James fühlte wohl, was _er_ empfand, aber die Empfindung der Geliebten war ihm mehr als zweifelhaft geblieben. Er schwieg daher halb unterwürfig, halb gekränkt, und waffnete sich mit starrer Kälte, als er am folgenden Tage des Senators Haus betreten mußte. »Wo will Er hin?« schnauzte ihn mit unerträglicher Grobheit der verdrießliche Nothhaft an, der ihm just entgegen kam. »Zur Jungfer Justine.« -- »Die Jungfer hat Kopfschmerzen. Komm Er ein Andermal.« -- James wollte, nachdem er mit leichtem Achselzucken den Ungeschliffenen gemessen, still davon gehen, als sich Justinens Stimme von oben vernehmen ließ: »Kommt nur herauf, werther Monsieur; für Euch bin ich zu Hause, nur für den Neidhammel nicht, der Euch =sans façon= belügt, wie ein Schelm!« -- James stutzte erfreut. Von Zorn brennend, und mit einem: »Verdammter Naseweis!« lief Nothhaft in das Comptoir. »Laßt Euch meine Sprache nicht befremden,« sagte Justine ohne Umstände in Gegenwart der Mutter zu dem jungen Engländer: »Wir Deutsche haben -- wie wir denn in allem derb sind -- ein derbes Sprichwort, das man wohl sonst nur in Pöbels Mund hört, das aber stets wohl angebracht ist, wenn man _vom_ Pöbel redet: Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil! -- Ich zweifle nicht, daß in Eurer Sprache sich ebenfalls ein ähnlicher Spruch vorfinden werde. Der Bursche, der Euch belog, ist der Klotz, der sich sogar einmal unterstanden hat, sich in mich zu verlieben. Ich bitte Euch! damals noch ein Kind von fünfzehn Jahren, sollte ich an dem blatternarbigten Ungeschickt eine Freude finden! Ich habe ihm das Zärtlichthun abgewöhnt; nun verfolgt mich jedoch der holde Amadis mit tausend Tücken und Nücken, die mir, -- wider seinen Willen, -- Spaß machen, weil ich sie gewöhnlich vereitle. Seit der letzten Horcherei hat er auch auf Euch seinen hohen Zorn geworfen. Fürchtet Euch aber nicht, Monsieur: Ihr steht unter meinem Schutze.« »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Mademoiselle,« antwortete James lächelnd: »Doch wüßte ich schon selbst mir den Ueberlästigen vom Halse zu schaffen, wenn er mir ernstlich zur Last fallen wollte.« »Das meine ich auch,« ließ sich die Senatorin breit und förmlich vernehmen; »Er hat starke Knochen, Monsieur, und mag sich durchhelfen. Für dich, Justine, schickt es sich indessen ganz und gar nicht, einem jungen Mann solche Promessen zu geben. Die Chapeaus sind doch -- so Gott will, -- dafür in der Welt, _uns_ zu beschützen, und es ziemen sich folglich solche cavaliere Redensarten keineswegs für eine schon verlobte Tochter. Ich werde also...« »Uebergenug, beste Mama,« fiel Justine kurz abfertigend ein; »Sie verstehen es, mich zum Schweigen zu bringen, und Ihr, Monsieur, beginnt die Lehrstunde!« -- James gehorchte, doch Justinens Geist war keineswegs bei der Grammatik. Ungeduldig zählte ihr Auge die Minuten auf der Wanduhr, und sie machte Schicht, sobald die Glocke schlug. Ein Vorwand wurde bald gefunden, den Lehrer zu begleiten, und schnell raunte sie ihm zu: »Wie ist's, Herr? habt Ihr der armen Französin das Geschenk gebracht? Lindert es ihr Elend? Was ist ferner zu thun?« -- James erwiderte verlegen: »Ich bringe Ihnen der Unglücklichen heißen Dank, Ihre reichliche Gabe hat sie in Ueberfluß versetzt, und zu ihrem Glücke fehlt nur noch Eines: _Sie_, freundliche Geberin, von Angesicht zu sehen; Ihnen mündlich danken zu können!« -- »Rathet der guten Frau ab,« versetzte Justine ängstlich; »sie soll ja nicht hierher kommen. Der Vater, -- er ist ohnehin mürrisch -- würde es nicht gerne sehen. Die Mutter gibt in ihrem Leben kein Almosen, und ich hätte nur Verdruß, wenn es herauskäme, daß ich mein Taschengeld...« Sie stockte, besann sich einen Augenblick und setzte dann hinzu: »Die arme Frau soll sich deshalb nicht so grämen. Ich wünsche selbst, sie zu sehen, mich nach ihren Bedürfnissen zu erkundigen, aber Ihr begreift, es geht nicht an, daß sie komme. Ja, -- wenn ich ein Mittel wüßte, ... ich würde mich gerne selbst einmal zu ihr schleichen ... ich helfe gar zu gern; ... aber ... ich weiß nicht...« »Das Mittel wäre leicht,« entgegnete James, etwas zögernd: »Vertrauen Sie sich mir an; ich führe Sie; in einer Stunde sind wir hin- und zurückgegangen.« Justine blickte ihn neugierig und strenge forschend an: »Ich halte Euch für einen Ehrenmann, Herr White. Ich würde mich nicht fürchten, mit Euch zu gehen. Aber wann? Ich will nicht mit Euch gesehen werden, und am Abend gehe ich nicht aus, mögt Ihr wissen.« »So bleiben uns die frühen Morgenstunden,« meinte James, und der Vorschlag gefiel Justinen. »Schön!« rief sie, »das paßt. Mutter schläft fest bis um neun Uhr. Vater ist vor acht nicht sichtbar, und kümmert sich nicht um mich. Um sechs Uhr also. Dann sind die Straßen noch ziemlich leer von den Leuten, die mich nicht sehen sollen. Wartet meiner morgen um diese Stunde am Neumarkte. Wollt Ihr das thun, so wird mir das artige Abenteuer Freude machen.« James versicherte seine Bereitwilligkeit, und ging, nicht mit leichtem Herzen, aus dem Hause. Justine schwelgte dagegen in dem Genusse ihres kleinen Geheimnisses. Der Umstand, die Wohlthäterin einer Bedrängten geworden zu sein, schmeichelte ihrer Eitelkeit, und schien ihrem Leben eine gewisse Bedeutung zu verleihen. Sie sah sich nicht mehr verdammt, zwischen einer stumpfsinnigen Mutter und einem schwermüthigen Vater den freudenlosen Pfad zu gehen; sie wirkte nach Außen hin, und diese Idee erquickte ihren Geist, der ihr zu etwas Besserem geschaffen schien, als zu der Einklammerung in alltägliche Hausverhältnisse. Justine war so gut und liebevoll, als sie sich manchmal schroff und ungestüm geberdete. Sie hätte gewünscht, die Pflegerin der Welt zu sein, alle Schätze der Goldminen Amerikas zu besitzen, um sie an die Armuth zu vertheilen. Sie konnte darum der Neugierde nicht widerstehen, das dankbare Geschöpf ihrer Milde zu sehen, dessen Noth mit eigenen Ohren zu vernehmen, ihm Trost zu geben durch Worte und durch die freigebige That. Mit Ungeduld erhob sie sich, als der bezeichnete Tag angebrochen, von ihrem Lager. Ein Blick durch's Fenster belehrte sie, daß das schönste Wetter ihre heimliche Wanderung begünstige; schnell war sie in ein unscheinbares Gewand gehüllt, ihr Haar, ihr Antlitz von einem dichten Schleier bedeckt, und, bevor noch der Zeiger auf sechs Uhr wies, die Thüre ihrer Schlafkammer leise, leise geöffnet. Ein Geräusch hielt sie auf der Schwelle zurück. Am Ende des Ganges öffnete nämlich auch der Senator behutsam die Thüre _seines_ Gemachs, und trat, wie auf den Zehen, heraus; völlig angezogen. Langsam schritt er die Treppe hinab, und ging aus dem Hause. Justine war betroffen. Sie hatte den Vater gestern am ganzen Tage nicht gesehen. Eine Sitzung des Senats hatte ihn, seinem Vorgeben nach, fern gehalten. Und heute, dieses leise, schleichende Ausgehen ... es kam ihr seltsam vor. Allein, was war denn, seit jener unglücklichen Begebenheit, nicht seltsam in dem Benehmen ihre Vaters? Schnell gefaßt trat Justine ihren Weg an, um die Zeit nicht zu versäumen, und ihren Begleiter nicht warten zu lassen. James hatte sich schon seit geraumer Zeit auf dem Neumarkte eingefunden. Auch an ihm war der Senator, tief in Gedanken, vorbeigekommen. Mit klopfendem Herzen begrüßte er Justine, die eiligst herbei hüpfte, den Schleier nur leicht lüftete, mit dem Kopfe nickte, und zur Eile antrieb. Stumm ging James neben der Holden her, die ihre Schritte immer munterer förderte. Der Weg war jedoch weit. James führte seine Schülerin in ein entlegenes Quartier der Stadt, wohin sie noch nie gekommen war. Stutzig sah sie sich auf einer Kreuzstraße um, und sagte englisch zu dem Führer: »Hat hier nicht die Ehrlichkeit ein Ende, Sir? und wie steht's mit der Euern? --« James lächelte etwas verlegen, deutete jedoch auf eine Thüre, und antwortete: »Wir sind am Ziele!« Justine betrachtete diese Pforte aufmerksam. Nur eine Mauer stellte sich dar, über welche sparsame Epheugewinde herabhingen. Das Pförtchen, ohne Seitenfenster oder Lücke, war enge, niedrig, und sehr fest, von Eichenholz gezimmert. In der Umgegend, durch Gartenmauern und Gehäge von dem Pförtchen abgesondert, standen nur einige halbverfallene, elende Wallhäuschen, deren Bewohner, im Taglohne arbeitend, schon beim Grauen des Morgenlichts ausgingen, und in später Nacht erst wieder heimkamen. Alle Thüren und Fenster zu; nur hie und da schrie aus dem Innern ein eingesperrtes Kind, oder bellte ein angeketteter Hund. -- Mit fragendem Blicke deutete Justine auf die bezeichnete Thüre. James nickte, und wollte an dieselbe pochen. Rasch hielt ihm das Mädchen die Hand, und sagte mit gedämpfter Stimme: »Wo führt Er mich hin, Monsieur? Da hinein gehe ich nicht.« James betrachtete einen Augenblick ihre Miene. Die seinige verfinsterte sich nicht. »Nach Belieben!« entgegnete er schnell, »so gehen wir zurück, weil Sie sich fürchten.« Der Vorwurf der Furcht, so wenig er verwunden sollte, traf sein Ziel. Justine maß von neuem mit dem Auge die verschlossene Thüre, den zum Gehen gewendeten Jüngling, die menschenleere Nachbarschaft. »Glaubt Ihr, daß ich ein Kind sei?« fragte sie alsdann mit Vorwurf. »Furcht kenne ich nicht, Monsieur, aber ich muß darauf sehen, daß mein Vorwitz mich nicht an einen Ort bringe, der vielleicht meinem Geschlecht und meiner Familie gleich unangemessen wäre.« »Wie, Mademoiselle?« fragte James mit flammenden Augen: »Glauben Sie, daß _ich_ fähig sei, Sie an einen solchen Ort zu führen? O wenden Sie schnell um, ich will Ihre Erniedrigung nicht.« Justine machte ihm rasch ein Zeichen, zu schweigen, und faßte, an ihn tretend, seinen Arm. Sie hatte eines Mannes Schritt gehört, und in der That kam ein Herr um die Ecke der Mauer, den Hut tief in's Gesicht gedrückt, und zum Ueberfluß einen Mantel um das Kinn geschlagen, daß auch kein Zug von ihm zu erkennen war. Einen flüchtigen Blick warf er auf die verhüllte Dame und ihren Begleiter, klopfte dann ziemlich vertraut zweimal an die räthselhafte Thüre. Ein Mensch von gemeinem Ansehen öffnete sie, und schob hinter dem Eintretenden die Riegel vor. Justine hatte eben in dem Moment des Oeffnens die Aussicht auf einen Hof mit Bäumen, und ein darin stehendes Gebäude erhascht. -- »Kennt Ihr den Mann?« fragte Sie ihren Führer. Er verneinte. »Es sieht doch da drinnen nicht wie in einer Mörderhöhle aus!« fuhr sie lächelnd fort: »wäre es Euch noch gefällig, mich zu begleiten?« »Ihr wollt es?« versetzte James: »in Gottes Namen denn!« -- Er klopfte zweimal wie der Vorgänger. Derselbe Pförtner schloß auf, bückte sich wie ein Bekannter vor dem Engländer, und begrüßte auch auf ein Zeichen desselben die Dame. Der Hof war bald durchschritten, das Gebäude bald erreicht. Tiefe Stille herrschte rund um das alterthümliche Haus, das ehedem ein Kloster gewesen zu sein schien. Die in der Hausflur aufgeschichteten Geräthe ließen vermuthen, daß hier früher ein Magazin gewesen. Die halbdunkle, halbverfallene Treppe knisterte unter den Schritten der Kommenden. Neue Besorgnisse stiegen in Junstinens Seele auf. Da pochte James an eine recht unscheinbare Thüre. Sie ward geöffnet, und der Engländer mit seiner Begleiterin trat rasch hinein. »Mein Gott!« flüsterte nun James der Letzteren zu: »wir sind am unrechten Orte!« Aber schon hatte der Oeffnende, ein Pförtner, wie jener am Hauptthore, die Thüre zugemacht, und wies die Kommenden in einen hölzernen Verschlag, der zur Seite stand. Eine Bank war in dem dämmerigen Versteck zu sehen, und ein hölzernes Gitter gab die Aussicht auf das Gemach, in welches die Senatorstochter gerathen war. Ein Spitzgewölbe, dem Ansehen nach eine verwitterte Kapelle, mit Grabsteinen auf dem Fußboden, und ausgebrochenem Ziegelpflaster. Die Fenster waren theils zerfallen, theils von Spinneweben umflort. An den Mauern liefen zu beiden Seiten Verschläge hin, dem ähnlich, in welchem sich Justine befand; theils mit vergitterten, theils mit offenen Fensterlucken; Betstübchen aus sehr lang verwichener Zeit. Durch die Oeffnungen waren tief verhüllte Männer, Weiber in Schleierhauben, Kaputzmänteln und anderer Vermummung zu sehen. -- »Wir sind in der ehemaligen Kapitelstube der Johanniter!« sagte James leise und verlegen zu der staunenden Freundin: »Verzeihen Sie mein Ungeschick. Schweigen Sie aber zu Allem, was hier vorgehen möchte. Sie haben nichts zu befahren.« Justine sah ihn starr an, und wendete sich, ohne eine Sylbe zu erwidern, zu dem Gitter, um zu beobachten, was der Thürsteher beginnen würde, der durch die Kapelle auf einen großen Kasten zuging, welcher am obern Ende derselben stand. Er öffnete das Schloß, hob den Deckel, schlug die vordere Wand herab, und siehe, es gestaltete sich unter seinem Geschäfte ein Altar mit zwei hölzernen Stufen, und belegt mit einem sauberen weißen Linnen. Zwei Leuchter mit Wachskerzen, die der Diener anzündete, und einige Gefäße mit Blumen standen zu den Seiten eines Kruzifixes. Schmucklos war im Uebrigen der Altar. Der Diener nahm einige zinnerne Kännchen nebst Schlüssel und Serviette aus einer Lade, setzte eine kleine Schelle auf die Stufen nieder, und entfernte sich durch eine enge Thüre hinter dem schnell errichteten Opfertische. Justine sah nun deutlich, wie von den Leuten um und um Gebetbücher und Rosenkränze aus den Taschen genommen wurden, und sie ahnte, was hier geschehen würde. Diese Ahnung wurde zur Gewißheit, als die enge Thüre wieder aufging, der Diener heraustrat, mit einem großen Buche in der Hand, aus welchem viele bunte Bänder herabhingen, und ihm ein ansehnlicher, ehrwürdig aussehender Mann folgte, in einem funkelnden, wunderlich geschnittenen Gewande, einen vergoldeten Kelch tragend, und in ernstes Sinnen und Gebet versunken. Justine hatte einigemal auf Bildern und in Kupferstichen römisch-katholische Priester in solchen Kleidern gesehen, und zweifelte nun nicht, sich an einem Orte zu befinden, wo man den römischen Gottesdienst unter'm Schleier des Geheimnisses feierte. Welch ein Gefühl in ihrer Brust entstand, läßt sich nicht beschreiben. Unwillig gegen die ihrem Glauben widerstrebende Form, gegen den dienstfertigen Führer, gegen ihren eigenen Leichtsinn, hätte sie den Ort verlassen, aber die verriegelte Thüre, die Furcht vor dem Aufsehen, das entstehen würde, -- mehr noch als das -- ihre _Neugierde_ hielt sie fest. Das Meßopfer begann mit der größten Ruhe, und der Anstand des Geistlichen versöhnte bald die Protestantin mit den Gebräuchen, die sie nicht faßte. Sie sah den Priester demüthig vor den Stufen des Altars auf die Kniee sinken; sie fühlte, daß er vor dem Einigen seine Schuld bekenne, für sich und seine Gläubigen; und geheimnißvoll vorbereitend drangen die halblaut gesprochenen lateinischen Worte zu ihrem Ohr. Unwillkürlich machte sie die Geberden der übrigen Zuhörer nach. Sie hörte stehend das Evangelium, beugte das Haupt bei der Wandlung. Sie genoß im Geiste das Abendmahl des Priesters mit, und als derselbe dem Volke verkündete, die Messe sei vorüber, als er wieder hinter der Thüre entschwand, durch welche er gekommen, -- da bedauerte fast Justine, daß das seltsame, nie gesehene Schauspiel vorüber gegangen. Um den Eindruck, den dasselbe auf sie gemacht, noch aus dem baufälligen Hause mit sich in die freie Luft zu retten, drängte sie rasch den Begleiter, der sie zurückhalten wollte, nach der Thüre, und trat, -- beinahe die Erste der Davongehenden, aus der Kapelle. »Was thun Sie?« flüsterte ihr James besorglich zu: »Sie werden sich verrathen, erkannt werden! Wir hätten die Letzten sein sollen!« Von der triftigen Einrede erschüttert, stand Justine verlegen still, zog den Schleier fester zu, und sah kaum nach den Vorübergehenden, die, vermummt wie sie, mit flüchtigem Seitenblick von dannen zogen. »Hier herein!« sagte mittlerweile der junge Engländer, und zog Justine in eine andere, nur angelehnte Thüre: »Hier finden wir, was wir gesucht, und indessen wird Haus und Hof von den neugierigen Gästen rein.« Justine sah sich in dem Gemache um, und ward angenehm überrascht, ein ziemlich junges und hübsches Frauenzimmer, in prunkloser, aber sorgfältiger Kleidung, vor sich zu haben. Dieses Letztere bewillkommte sie demüthig freundlich, mit einem wohlgesetzten Gruße in ausländischem Deutsch. »Darf ich fragen...?« äußerte Justine. -- »Mein Name ist Lainez;« versetzte die junge Frau: »wie glücklich machen Sie mich, indem Sie mich eines Besuchs würdigen, und einer Gelegenheit, Ihnen zu sagen, wie dankbar ich für die großmüthige Hülfe bin, die Sie mir durch den uneigennützigsten Wohlthäter, durch Herrn White, angedeihen ließen.« »Die Offizierswittwe, von der ich Ihnen sagte;« schaltete James ein: »Nur ein Zufall ließ uns die rechte Thüre verfehlen.« »So?« erwiderte Justine trocken, indem sie einen mißfälligen und mißtrauischen Blick auf den Engländer warf, sich aber dann schnell zu der Französin wendete: »Sie leben in einer geheimnißvollen Nachbarschaft, Madame.« »Ich kenne meinen nächsten Nachbar nicht;« antwortete die Wittwe unbefangen, und sah Justinen furchtlos in das Auge; »der Verwalter dieses ehemaligen Magazinhauses hat viel von dem bedeutenden Gelasse, in dem er befiehlt, an arme Miethsleute gegeben, und die Armuth verkriecht sich gern. Die Hausgenossen sind mir fremd, bis auf eine alte, beinahe taube Frau, die mich mit Wasser und Holz versieht.« »Ich glaube Ihnen,« versicherte Justine, indem sie der Freundlichen die Hand reichte: »Monsieur White wird um desto bekannter mit den Leuten sein, die ich so eben verließ.« -- »Ein Zufall, wie gesagt, Mademoiselle, brachte uns in die Mitte einer Versammlung, von der ich unter der Hand Einiges vernommen, zu welcher ich mich jedoch nicht zähle.« Justine betrachtete ihn ungläubig, und erwiderte rasch und drohend: »Gleichviel, Monsieur, wie's Euch gefällt, mich zu belehren. Die Herrn und Frauen mögen unterdessen sorgen, daß nicht auch der _Senat_ unter der Hand Einiges von ihrem Thun vernehme. War mein Vater heute an _meinem_ Platze, so war ein Unheil fertig. Wer bürgt übrigens dafür, daß _ich_ nicht plaudre?« »Ihr Herz,« versetzte James ruhig und zuversichtlich: »Sie sind ein zartfühlendes Weib. Sie werden nicht vorsätzlich Unglück über Menschen bringen, die es wagen, im Verborgenen eine Feier zu begehen, welche ihr Gewissen zu seiner Beruhigung verlangt, obgleich ein hartes Staatsgesetz sie verbietet.« »Was ist denn hier im Werke? Was ist vorgefallen?« fragte Madame Lainez verwundert und neugierig. Justine sagte: »Das kümmert Sie nicht, liebe Frau. Noch ein Wort zu Herrn White: Ich bin Euch für die gute Meinung verbunden, Monsieur. Ihr fangt an, in meiner Seele zu lesen. Was wünscht diese wohl gerade jetzt?« »Die Heimkehr;« antwortete James gefällig: »darf ich Ihnen wieder meinen Arm bieten?« »Mit nichten, Monsieur. Ich werde ohne Euch den Weg nach dem Hause meines Vaters finden. Ich fürchte weitere _Zufälle_ an Eurer Seite. Eure völlige Entfernung ist mein Wunsch, und bis Ihr diesen erfüllt, werde ich schon der Dame hier zur Last fallen müssen.« »Welche Ehre!« betheuerte die Lainez: »Wie schmeichelhaft diese Güte!« »Sie zürnen?« fragte James gekränkt und bestürzt. »Die ganze Stadt spricht von Justinen's Launen;« erwiderte Müssingers Tochter; »ich habe heute die Caprice vorsichtig zu sein; ich werde sie auch Morgen und Uebermorgen haben, und bitte Euch daher, dieses heutige Zusammensein als unser Letztes anzusehen.« »Sie verstoßen mich?« rief James mit den Lauten des tiefsten Grams, wollte heftig auf das Mädchen zugehen, -- faltete jedoch, sich besinnend, die Hände, warf noch einen seelenvollen Blick auf Justine, und empfahl sich dann rasch mit einer Verbeugung. Justine hatte den schnellen Abschied nicht erwartet, und ihr aufgeregtes Mißtrauen machte einem wärmern, mildern Gefühl Platz. »Ich habe dem Monsieur vielleicht Unrecht gethan,« sagte sie langsam zu der Offizierswittwe, die neugierig auf ihrer Stirne las; »allein was soll ein Mädchen thun, dem ein Mann Ursache zu gerechtem Argwohn gab? Aengstlich auf der Hut sein, denn die Männer sollen lieben, uns mit Schlingen zu überziehen, und jenes Engländers Zufälle scheinen mir ein Netz. Nun aber zu Ihnen, meine Gute. Ihr Gesicht gefällt mir, wie Ihr Benehmen, das von keiner gewöhnlichen Herkunft zeugt. Lassen Sie mich wissen, worin ich Ihnen noch gefällig sein könnte.« »Meine junge Dame! ich habe schon so Vieles von Ihrer Güte genossen, daß ich unbescheiden sein würde, wenn ich ein Mehreres verlangte. Ihre Hülfe reichte hin, die Wohnung, in welcher Sie mich finden, wie ein anständiges Wittwenzimmer auszuschmücken, und Sie würdiger aufzunehmen. Darf ich noch begehren, daß Sie Ihrer Milde Etwas hinzufügen, so flehe ich Sie nur an, dem guten Herrn White, der trostlos von Ihnen ging, zu verzeihen, wenn ich gleich nicht weiß, wodurch er Ihren Unmuth verschuldet hat.« Justine bewegte ungeduldig das Haupt. »Warum reden Sie von ihm?« fragte Sie: »Ich habe Krieg mit ihm, nicht Sie; Sie scheinen viel von ihm zu halten.« »Mademoiselle!« erwiderte die Lainez: »Ich lebe eigentlich nur in meinen Wohlthätern. Von der übrigen Welt habe ich Abschied genommen, seit ich meinen Mann verlor, der bei Denain den Tod eines braven Soldaten starb. Gott sei gelobt, daß die Handlungen eines wackern Mannes noch für dessen Wittwe und Nachkommen Früchte tragen. Mademoiselle! mein Gatte, Victor Lainez, machte, -- wir waren kaum einige Monate verbunden, -- an der Spitze seiner Grenadierkompagnie, die Schlacht bei Malplaquet mit. Der Himmel wollte, daß er den tapfern Boufflers aus der drohendsten Gefahr retten konnte, worein ein scheu gewordenes Pferd den Marschall versetzt hatte; ferner, daß er den kühnen Ritter St. George, der die Reiterei gegen die Feinde führte, durch einen heldenmüthigen Angriff aus dem Gedränge riß. -- Villars belohnte freilich die seinem Nebenbuhler Boufflers geleistete Hülfe nur mit Geiz und Verdruß, aber des Marschalls Familie verließ mich doch nicht in meiner Noth. Und als ich, vom Mißgeschick dem vaterländischen Boden entfremdet, hier in Krankheit verfiel, erwarb mir des Ritters St. George Rettung einen Freund in dem guten James White. Das Ungefähr machte ihn mit meiner Lage bekannt: kaum hörte er, daß mein seliger Mann dem Stuart, den er mit vielen tausend Engländern als König verehrt, einen Ehrendienst geleistet, als auch sein Beistand sich verdoppelte. Er wußte, selbst mittellos, seinen Pflegevater, den Doctor, in mein Interesse zu ziehen, -- mein Schicksal zu erleichtern, und endlich in Ihnen nicht minder einen guten Engel für mich zu gewinnen.« »So?« versetzte Justine, beinahe mit einem Anstriche von Eifersucht: »Es muß Ihnen peinlich sein, Madame, von einem jungen Mann abzuhängen. Frauen sollten billig wieder nur Frauen die Erleichterung eines unverdienten Mißgeschicks verdanken. Welches ist denn Ihr weiteres Ziel? Ohne Zweifel sehnen Sie sich, in die Heimath zurückzukehren?« Die Lainez schüttelte traurig den Kopf. »Ich finde nur Gräber dort, die mir werth sind,« antwortete sie: »meine Lieben sind alle hinüber. -- Weitläufige Verwandte, die die Aufhebung des Edikts von Nantes aus ihrer Heimath verwiesen, leben zu Berlin. Ich kenne diese fremden Vettern und Basen nicht, und fürchte, sie werden auch mich nicht kennen wollen.« »Ihre Furcht möchte gegründet sein,« begann Justine, nach einigem Nachdenken. Die Lainez fuhr fort: »Und ist es nicht grausam, daß ich diese Ueberzeugung hegen muß? Trage ich denn die Schuld, daß mein Vater, seiner Familie Vortheil berücksichtigend, den katholischen Glauben für sich und die Seinigen annahm? Die Auswanderung hätte uns zu Grunde gerichtet, um Gut und Leben gebracht. Im Grunde ist es ja doch gleichviel, unter welchen Gebräuchen wir Gott verehren. Wir sind die Kinder _Eines_ Vaters, und, so gut von ihm die zahllosen Sprachen verstanden werden, in welchen die Welt zum Himmel betet, so gut versteht er auch des Herzens frommen Willen von der Form zu sondern.« Justine sah ihr bewegt, scheu und dennoch freundlich in's Auge. -- »Sie sprechen gut, Madame!« sagte sie: »Sie erregen meine lebhafte Theilname. Ich werde Sie wieder sehen; ganz gewiß, Madame. Ich will über Ihre Zukunft mit Ihnen reden. Verlassen Sie sich auf mich. Ich bin ein junges Mädchen, aber ich habe meinen eigenen Kopf. Ich dürfte Ihnen von größerem Nutzen sein, als der Monsieur White. Es wäre mir lieb, wenn Sie sich seinem Beistande entzögen, und mir erlaubten, Ihnen schicklichere Dienste zu leisten. Ich muß überlegen, ... mein Gott! ich habe diesen Morgen schon so Vieles gehört und gesehen;.... sagen Sie mir aufrichtig: Sie wissen in der That nicht, was in Ihrem Hause -- Ihrem Zimmer gegenüber, vorzugehen pflegt?« »Wahrlich: Nein, Mademoiselle.« »So bleibt mir nichts übrig, als die Delikatesse zu bewundern, womit sich augenscheinlich eine Gesellschaft Ihrer annimmt, zu welcher Sie eigentlich gehören, -- die es aber vermeidet, Sie in ihren Kreis zu drehen, um Sie der Gefahr einer möglichen Entdeckung zu entziehen. Oder.... will man erst Ihrer Verschwiegenheit gewisser werden.« »Noch einmal, Mademoiselle, ich verstehe Sie nicht.« Justine rieb sich ungeduldig die Stirne. -- »Ich werde ganz verwirrt,« sagte sie: »Ihre Unwissenheit.... White's räthselhaftes Betragen.... ist der Monsieur Protestant oder nicht?« »So viel ich weiß: ja. --« »Und Sie, Madame, sind, wie Sie sagten, Katholikin?« »Aufrichtig zu sein, Mademoiselle, muß ich Ihnen bekennen, daß mein Vater, ob er gleich zur Messe ging, dennoch Protestant geblieben. Wir Kinder folgten, größer geworden, seinen Grundsätzen. Herr von Lainez ließ mir freien Willen in Religionssachen. Meine Verwandten zu Berlin werden freilich nie glauben, was ich Ihnen so eben gestand, aber es ist nicht minder wahr, daß ich einem Rücktritt mich entgegen sehne.« »Dann müssen Sie aus diesem Hause!« rief Justine lebhaft: »ja Madame. Sie müssen, -- ehe Sie erfahren...« »Was, Mademoiselle?« »Ich werde überlegen, -- nachdenken, Sie dieser Lage entreißen. Glauben Sie mir; ich will nur Ihr Heil, Ihres Lebens Wohl.« »Erklären Sie sich....« »Ein Andermal ... Morgen oder Uebermorgen! So eben schlägt die Stunde, in der ich schon zu Hause sein sollte. Ich verlasse Sie jetzt, um Sie bald gefaßter wieder zu sehen. Veranstalten Sie indessen, daß ich den Engländer hier nicht finde. Leben Sie wohl, meine Beste. Keinen Dank für die Kleinigkeit, die ich Ihnen reichen durfte; ich wünsche, ich hoffe, ein Mehreres für Sie thun zu können. Adieu.« Justine ging in der heftigsten Bewegung von dannen. Die Lainez folgte ihr verlegen über den Hof; öffnete ihr die Pforte, und des Senators Tochter eilte die Gasse hinauf. James, der an der Ecke ihrer wartete, wie ein armer Sünder seines Richters, hätte zu keiner unpassenderen Zeit in ihren Weg treten können. »Was wollt Ihr?« fragte sie ernst und hastig, und streifte an ihm vorüber. »Mademoiselle!« entgegnete er verschüchtert: »hassen Sie mich nicht! ich wollte meine Reue ... ich hatte nicht Ruhe; ... darf ich nicht ein Wort...?« »Incommodirt Euch nicht, Monsieur,« sagte Justine kurz: »Schleicht nicht an meiner Seite hin. Bleibt zurück. Ihr wißt bereits wie ich denke. Adieu.« Der niedergedonnerte James blieb in der That, an der Geduld der Zornigen verzweifelnd, zurück, und schlug den Weg in eine andere Straße ein. Er rannte an einer bekannten Figur vorbei; an dem Kaufmannsdiener Berndt, der ihn von der Seite mit einem Blicke, ohne ihn zu grüßen, maß, und dann eiligst der Jungfer folgte, die er wahrscheinlich von ferne, mit James redend, gesehen. White hatte indessen nicht Zeit, nicht Besonnenheit genug, über diese Begegnung nachzudenken. Die, wie er sich bewußt war, verschuldete Mißbilligung und Verachtung eines geliebten Mädchens, auf dessen Gedanken-Consequenz nicht gehörig gerechnet worden war, bekränkte ganz allein sein Herz, erfüllte sein Gemüth. Er verwünschte im raschen Laufe nach seiner Wohnung seine Bestimmung, sein Geschick, seine Liebe, und den Zwang, dem er unterworfen. Mit thränendem Auge und hochschlagender Brust erreichte er sein Stübchen, und warf sich, wie trostlos auf das Lager. Er hatte nur wenige Minuten mit geschlossenen Augen seine Sinne gesammelt, als er hinter der Bretterwand, die sein Gemach von dem Schlafkabinete des Doctors trennte, das Geräusch einer aufgehenden und zufallenden Thüre vernahm. Er horchte, und unterschied die Stimme des Doctors, die Stimme des Senators Müssinger. »Erholen Sie sich,« sagte der Erstere: »in allen Verhältnissen des Lebens ist uns Fassung am nöthigsten. Der Mensch ist seiner Herr, sobald er über seinem Schmerze, wie über seinem Glücke steht. Die Erinnerung an das Jahr 1690 hat Sie übel angegriffen. Hier stört uns niemand; hier lauscht niemand.« »Arme Clara!« seufzte der Senator: »nach neun und zwanzig Jahren muß sich Dein Andenken so grell in meinem Gehirne erneuern! In welcher bösen Zeit, mein Freund! O, in welchen betrübten Stunden!« »Clara ist im Himmel, Herr Senator. Sie sitzt zu den Füßen der Gebenedeiten, und sieht gewiß segnend auf uns herab, denn dort oben löscht jeder Groll aus, und Clara grollte Ihnen auch hienieden nicht.« »Welche Reden, würdiger Herr! das sind Worte des Trostes, der unendlichen Zuversicht auf unendliche Barmherzigkeit! Aber -- was hilft es? Ein stummer Fluch verfolgt mich, -- und weil mein frevelhafter Leichtsinn ein unschuldig Herz gebrochen, bricht die Schuld das Meine. --« »Der Schatz göttlicher Liebe ist groß, unermeßlich. Vertrauen Sie dem Heiland. Ich darf seine Stelle auf Erden vertreten, wenn ein reuiges, nach Versöhnung lechzendes Gemüth sich vor dem Kreuze in Staub wirft. Sie erschraken beinahe, Herr Senator, als ich, Vertrauen mit Vertrauen vergeltend, Ihnen bekannte, daß ich die Weihen meiner Kirche trage. Wollte die heilige Mutter Gottes, daß Sie auch derselben angehörten! um zu erproben, ob ich den Beruf und die göttliche Gnade zu meinem Stande besitze.« »O!« -- stieß der Senator nach einigen Augenblicken mit Gram und Kummer heraus: »fast wünschte ich auch, einer der Ihrigen zu sein, daß ich auf Milde und Vergebung rechnen dürfte. --« »Die Sonne scheint dem Bösen, wie dem Guten;« antwortete der Doctor mit Salbung: »Der Verirrte hat in seinem Irrthum selbst Anspruch auf die Gnade seines Schöpfers: um wie viel mehr der Bereuende? der Entfremdete, der einen Bild des Sehnens nach der traurenden Heimath zurückwirft? Beruhigen Sie sich, bester Freund. Das Wort, das Sie so eben gesprochen haben, macht Sie schon gleichsam zu den Unsrigen. Ich trage daher, -- die Macht benützend, die unsere frommen Väter im Namen des Statthalters Gottes auszuüben begannen, -- kein Bedenken, Ihnen die Tröstungen unsrer Religion anzubieten, da Ihnen, wie ich bemerke, diejenigen, welche Ihre bisherige Lehre Ihnen zu geben vermag, nicht zulänglich scheinen. Sammeln Sie Ihr Gedächtniß, mein werther Sohn, und erleichtern Sie Ihr Herz. Mein Ohr ist Ihnen offen, und meine Hand bereit, jeden Kummer aus Ihrer Brust zu nehmen, und den Balsam der Versöhnung dafür hinein zu legen.« Der Doctor schwieg, und James hörte Stühle rücken, den Senator verlegen husten, und endlich mit unsicherer Stimme erwidern: »Ich danke Ihnen, würdiger Herr, für die Wohlthat, die Sie mir zu erzeigen bereit sind. Allein, -- obgleich mein Herz sich nach der himmlischen Speise sehnt, und ich nicht läugnen mag, daß es noch empört ist von der starren Härte, mit welcher der Diener meiner Kirche meinem kindlichen Vertrauen entgegen kam, -- so muß ich doch nicht minder bekennen, daß die in der Jugend eingesogenen Grundsätze und Lehren mir zu verbieten scheinen, von Ihrer barmherzigen Freundschaft Gebrauch zu machen. Ich bin nie ein Kopfhänger gewesen, -- leide nur seit einiger Zeit an den schweren Scrupeln meines Gewissens, -- ich darf nur von der mildesten aller Religionen Milderung meines Zustandes erwarten, -- aber -- das ist die Macht des Vorurtheils, wenn Sie es so nennen wollen, daß ich in meiner Angst nicht weiß, ob ich in Ihren Vorschlag eingehen darf, wenn ich gleich sonst an jeder Tröstung verzweifle.« »Herr Senator!« lautete des Doctors ruhige und alsobald folgende Antwort: »Sie gebrauchen das rechte, das wahre Wort. Vorurtheil! so heißt die schwere Kette, die das Herz an die Erde bindet, während es sich umsonst bestrebt, sich zu Gott zu erheben. In der heidnischen Fabel von dem Vogel Phönix finden Sie den Zustand einer muthigen Seele angegeben, die, über Zeit und irdische Hinfälligkeit hinaus verlangend, sich durch ein heilig Feuer reinigt, um mit Gott vermählt zu werden. Die Heiden verstanden selbst die Fabel nicht, die sie dichteten, aber dem wahren Christen muß sie verständlich sein. Er verbrenne in der Anschauung des Höchsten den vom alten Adam umsponnenen Körper, und mit ihm alles Irdische, damit er in Gott verjüngt werde. Er lasse sich nicht von weltliche und irrthümlichen Fesseln halten, um das Wahre zu finden. Er verschmähe nicht die herrlichste Frucht, weil ihm etwa von Kindheit auf aberwitzige Leute gesagt haben, sie sei ungesund.« »Indessen,«, fuhr der Doctor fort, nachdem er einen Augenblick inne gehalten: »indessen rottet man das Vorurtheil, für welches der arme, irrende Mensch nicht kann, nicht mit Gewalt aus. Die zarten Blumen verlangen von ihrem fürsichtigen Gärtner eine kluge, treue und sanfte Pflege. Welche Milde entwickelt daher unsere Kirche, die, allen Lästerungen zum Trotze, dennoch die weißeste, sanfteste -- und freudigste Gärtnerin im Paradiese des Herrn ist? Sie spricht also zu Ihnen, mein werther Freund und Beichtsohn: Es ist nicht zu läugnen, daß gebieterische Umstände das Abweichen von der gewohnten und vorgeschriebenen Regel entschuldigen. So gilt zu Zeiten das mündliche Testament eines vom gerichtlichen Testiren abgehaltenen Sterbenden; -- so gilt die Nothtaufe des Vaters, der Wehmutter, und im dringenden Fall tauft Wein oder Sand wie das reinigende heilige Wasser. -- Soll ich noch von den Begräbnißgebräuchen reden, die der Capitän eines Schiffes, in Ermangelung eines Geistlichen an den verschiedenen Matrosen verrichten darf? oder von der Absolution, die im Augenblicke der Schlacht der Soldat seinem Nebenmanne ertheilen darf, als komme sie aus Priesters Munde? Es wäre überflüssig, mich weiter darüber zu verbreiten. Ihre Seele liegt in Extremis, Herr Senator, und ob ein katholischer Priester oder ein Prädikant ihr beisteht, -- gleichviel! wenn sie nur gesundet!« »Wahr, ehrwürdiger Herr!« versetzte Müssinger: »jedoch...« Der Doctor unterbrach ihn alsobald: »Mit wie viel größerem Rechte aber bietet Ihnen _meine_ Kirche ihre tröstende Hand! Sie dringt sich Ihnen nicht auf, sie bettelt auch nicht um ihre Genehmigung zu Ihrem Heil! Sie will Sie nicht erst überreden, sich zu ihr zu wenden; sie macht alte Rechte auf Sie geltend. Wahrlich, mein Herr Senator, was auch Ihre Partei sagen mag: Die katholische Kirche ist Ihre Mutterkirche. _Sie_ haben ihren Schooß verlassen; aber die Mutter hat _Sie_ nicht aufgegeben, Sie sind, indem Sie zu den Gebräuchen der katholischen, der Allgemeinen Kirche zurückkehren, kein Proselyt für diese Letzte, kein Abtrünniger von Ihrer Sekte; -- Sie sind ganz einfach nur dem verirrten Kinde zu vergleichen, das wieder ins Vaterhaus zurückkommt, und sich an die gewohnte Stelle am Tische setzt. Die römische Kirche ist Ihr Haus, auf welches sich Ihre Ansprüche nicht verjähren, so wie sich hinwiederum das Recht derselben auf Sie nicht verjährt; ob es anerkannt werde, oder nicht. Darum begehen Sie nicht nur keine Sünde, sondern Sie üben eine Tugend, wenn Sie dem Zuge Ihres Herzens ohne Zweifelmuth folgen, da es Ihnen selbst sagt, daß ich wahr geredet habe.« »Ihre Worte rühren und ergreifen mich,« erwiderte der Senator, »verlangen Sie aber nicht, daß mein so befangener geängstigter Geist sich davon überzeugen lasse. Ich bin keiner der Frommen in meiner Kirche, aber wenn es darauf ankömmt, die dem Knaben eingepflanzte Lehre zu vertauschen, so rasch, so unüberlegt...« »Verlange ich denn dieses?« fragte der Doctor sehr sanft, »Hat denn der Mensch seinen freien Willen umsonst? Ist denn die Kirche neidisch auf den Pflegling, der einer irrthümlichen Idee nachjagt? Keineswegs. Dem Vater ist es Freude genug, wenn der Sohn einmal wieder nach Hause kommt, unbekümmert, ob ihn der nächste Augenblick wieder von dannen reiße. Weil die Mutter nur um Seinetwillen das Kind liebt, füllt sie dem Scheidenden die Reisetasche mit köstlicher Speise und mit Ruhe die Brust. Mag es dann wieder fremdem Zuge folgen; sie liebt es nicht minder zärtlich.« »Sie meinen also, daß der Seelentrost, den Sie mir verheißen, von mir genossen werden kann, ohne daß ich aus der Glaubensbahn treten müßte, die ich bisher beschritt?« »Nichts faßlicher, als dieses. Soll ich von Ihnen einen Eid verlangen, der Sie um nichts näher dem Vater bringt, dem Sie doch einmal angehören? Werde ich von Ihnen erst ein Glaubensbekenntniß fordern, das von dem Verlangen Ihrer Seele schon ausgesprochen wurde? Ohne es zu wissen, waren Sie schon wieder der Unsrige geworden, -- und ist, mein werther Beichtsohn, in Ihrem Sünden-Bekenntnisse und der daraus entspringenden Vergebung, der erneuerte Bund mit der wahren Kirche erst aufgegangen, so ist Alles geschehen, was Sie im Grunde bedürfen. Sie sind im Innern wieder geworden, wozu Sie Gott erschuf, und das genügt uns. Von Ihrem Gutdünken, und der Forderung Ihrer Seele allein wird es abhängen, ob Sie nicht in der Befolgung aller Gebräuche unsrer Kirche eine größere Beruhigung finden möchten. Die Weisheit Gottes und seines Stellvertreters auf Erden ermächtigt uns, in den Fällen, deren Gewicht unsre Nachsicht verlangt, den Rücktretenden, den heimkehrenden Söhnen und Töchtern, jede öffentliche Aussprechung dieser Handlung zu erlassen, damit die Vereinigung mit der allgeliebten Mutter, dem Vater und dem Sohne, und dem Geiste, nicht durch weltliche Rücksichten und Bedenklichkeiten aufgehalten oder gar verhindert werde. Doch dieses berührt Sie vor der Hand nicht, mein werther Beichtsohn, den ich als einen Gast freundlich zum Tische des Allbarmherzigen lade. Machen Sie sich demnach keine weitere Gemüthsbewegung; sammeln Sie Ihre Gedanken, und beginnen Sie, im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit, die ungeschmückte schlichte Schilderung des Kummers, der Sie bedrängt, und der Sünden, von denen Wir Alle nicht rein sind, in meinen Schooß niederzulegen.« -- James hörte, wie hierauf der Senator mehreremale heftig auf und ab ging, wie er sich alsdann mit einem tief aus der Brust geholten: »Ach! in Gottesnamen denn!« neben dem Doktor niederließ, -- wie er mit gedämpfter Stimme begann, demselben sein Herz zu eröffnen. Ein unbehagliches Gefühl, mit dem Gedanken verbunden, daß es edler und gewissenhafter sein würde, nicht länger den Horcher abzugeben, -- die Scheu endlich, ein Beichtgeheimniß zu erlauschen, vermochte den Jüngling, ohne Geräusch vom Lager zu entweichen, und sich an das Fenster zurückzuziehen, das in den Garten eine friedlich reizende Aussicht gewährte. Er verlor sich in den Träumen seines Verstandes, in den Bewegungen seines Herzens, und sein wachendes Auge theilte sich mit dem Letztern in das Geschäft: eine Täuschung zu geben, die dem Hellsehen ähnlicher ist, als dem gewöhnlichen Spiele aufgeregter Einbildungskraft. Die Bohnenlaube des Gartens gestaltete sich zu dem Hause des Senators, und darinnen waltete ein liebliches, wohlbekanntes Bild, das, einem Zauberwerke gleich, den Beschauer durch unendliche Anmuth fesselte, durch unendliche Seltsamkeit abstieß. Dem jungen Engländer kam es vor, als sei es ihm vergönnt, in das Innere Justinens einen scharfen Blick zu werfen; als sei er auf dem Punkte, dieses holde und quälende Räthsel zu entziffern. Justinens Blicke sprachen Empfindung für den Freund, Liebe für den Liebenden aus, und vergebens schien der trotzige Mund es zu leugnen, das fremde Wort es zu verneinen. James sah sein Bild in ihrem Herzen leben, während ihre Hand es muthwillig von sich warf. Warum wehrst du dich gegen das Gefühl, das uns verbinden möchte? fragte seine Zunge stille vor sich hin: Siehst du denn nicht, daß ich dennoch im Grunde deiner werth bin? daß mein Herz nicht böse, meine Seele ohne Falsch ist? Betrübe dich doch nicht um meiner Handlungen willen! Verachte mich doch nicht um ihretwillen! Sie sind mir ja von einem harten Loose aufgegeben: noch bin ich zu schwach, den Bann zu zerreißen, der mich zu einem Maskenspiele zwingt, das ich Muth haben möchte, zu verabscheuen, und zu endigen! Ich kann ja nur durch deine Liebe zum Manne werden, nur in dir meine Stütze finden, so wie du in mir, denn verwaist stehen wir beide: Du, einsam im Vaterhause zwischen den lebendigen Eltern, -- ich, in der Fremde, zwischen dem Schaffot, das meinen Vater, und dem öden Grabe, das meine Mutter verschlang! Wenn ich dich rufe, damit du mich zu kühner That begeisterst, -- wirst du mich nicht hören? Wenn ich meine Arme nach dir ausstrecke, um dich an mein Herz zu ziehen, -- wirst du dich ewig sträuben? -- Das Bild der Geliebten entzog sich den Armen des Jünglings nicht; es beugte sich aus den spiegelhellen Fenstern, -- heller, klarer als diese; seine Brust pochte vor Entzücken, seine Hand zitterte vor Wonne, und doch blieben der Sehnende und die Gewährende getrennt. Ein dunkles Feld schob sich zwischen Beide. Ein Thurm schoß auf aus der Tiefe, und trug Justinens Gestalt bis zu den Wolken, daß der Zurückbleibende bald ihre Züge nicht mehr unterscheiden konnte. Statt ihres glänzenden Auges blinkte ein vergoldeter Thurmknopf auf die Wasserwüste hernieder, die auf ihren unstäten Wellen den Jüngling fortzureißen schien. Wie vorhin die Laube zum Hause, so wurde nun die hochstrebende Tanne zum Maste, von welchem schwarze Wimpel flatterten. Je frischer der Wind über des Gartens Blumenbeete strich, und deren Häupter bewegte, je drohender schienen die Wasser zu schwellen, und James ängstigte sich, von Heimweh und Sehnsucht gemartert, auf der reißenden Fahrt. Wohl klärte sich der betäubende Schwindel wieder in ein helles Bewußtsein auf; -- wohl warf an den Ufern eines reizenden Landes die Hoffnung den Anker aus, und es rastete der fluthenschneidende Kiel ... wohl winkte aus dem Myrthengebüsch am Strande, aus den Palmenwipfeln der Höhen ein reizendes Weib, verführerisch in ihrer Anmuth und in fremder Tracht und Sitte..., James konnte nicht weilen im herrlichen Gebäude, durfte nicht rasten, wie das verlassene Schiff. Justine schwebte ja über den blauen Bergen des Horizonts; ihre versagende Geberde, ihr strenges Lebewohl, riß ihn ja dahin wie mit Göttergewalt, -- bis unter den Blätterbehängen eines lautlosen Waldes ihre Huldgestalt verschwand, ihr abmahnender Ruf verhallte. James konnte ihr nicht mehr in das Innre jenes geheimnißvollen Waldes folgen, denn seine Sinne endigten, erschöpft von den übermenschlichen Hindernissen, die ihre eigene Laune gebar, das trügerische, peinliche und dennoch angenehme Spiel. Es war mit einem Schlage Alles um ihn her, wie zuvor; der Thurm zur kleinen Laube, der schwarzgewimpelte Mast zur düster belaubten Tanne geworden. Das wogende Meer hatte sich wieder in ein Blumenfeld, die myrthenbekränzte Küste in des Nachbars wohlgeschmückte Orangerie verwandelt; der blaue Gebirgsrücken in das hohe Schieferdach der Paulskirche; der schweigende Wald in die Pappelspitzen des zu St. Paul gehörenden Friedhofs. Das Schauspiel war vorüber, und den Gedanken des Jünglings wurde sogar verwehrt, ihm einen grübelnden Epilog zu halten, denn die Herren im Nebenzimmer, die wieder angefangen hatte, laut zu sprechen, erregten des fast unwillkürlich Lauschenden Aufmerksamkeit. »Sie können von der Sünde, die Sie sich zuzurechnen haben, nur in Ihres Gewissens Buße und im Gebete Befreiung finden,« hob der Doctor ernst und mit bewegter Stimme an: »Gott und die Barmherzigkeit sind Eins: ich darf Ihnen im Namen des Allbarmherzigen Vergebung zusichern, und muß jetzo doppelt beklagen, daß Ihre Eltern Sie den Gebräuchen der wahren Kirche entfremdet haben; ein Irrthum, woran Sie unschuldig sind; der aber nichts desto weniger störend auf Ihren Seelenzustand in vorliegendem Falle einwirken muß.« »Wie das, mein würdiger Vater?« fragte der Senator mit zerknirschter und erschöpfter Stimme. »Hätten Sie den Muth, den Willen, mein Sohn,« -- begann der Doctor wieder, -- »mehr als ein Gast am Tische Ihres Vaters, in den Armen Ihrer Mutter zu sein, -- würden Sie aufhören, die heiligen Glaubenslehren wegzuweisen, die allein unsere Glückseligkeit ausmachen, -- in einem Augenblicke würde Ihr Herz beruhigt, glücklich sein. Ich würde Sie _los_ sprechen; das Vergangene gänzlich ungeschehen machen. Vermittelst einer kleinen Buße, die den Armen zu Gute käme, und einiger geistlichen Betrachtungen könnte ich jedweden Fehler von Ihrem Haupte nehmen, während ich jetzo nur als Freund Sie auf des Ewigen Liebe zu verweisen habe. Ihre Prediger, mein Lieber, sind gut und böse, wie die Welt; aber die Besten unter ihnen, die Gelehrtesten, wie die Spitzfindigsten, die Tugendhaftesten, wie die Klügsten, ermangeln des Stempels, der ihrem Thun die Weihe aufdrücken könnte. Gewandtheit in der Rede und in der Dialektik ist nicht die Gelehrsamkeit vor Gott, dem das Opfer lieber ist, als ein wohlgesetzter Sermon. Ihre Prediger, Herr Senator, sind nicht Priester, und gleichwie ihr Gewand sich dem Weltlichen nähert, so ist leider ihr Geschäft nur ein Weltliches. _Uns_ ist vom Heiland die Macht vertraut, zu lösen. Darum sprechen wir mit voller Zuversicht die zuversichtigen Glaubensbrüder los, während Ihre Geistlichkeit, indem sie dem Gewissen des Pönitenten und einem oberflächlichen sorglosen Vertrauen auf den Höchsten alles Sündenwesen anheimstellt, an jedem Beichttage eine Sünde mehr auf das Haupt derjenigen ladet, die ihr glauben.« »Sie sprechen hart ab, würdiger Herr.« »Nicht so hart, als man über uns das Verdammungsurtheil fällt. Gott duldet aber diese Schmähungen seiner Kirche, damit ihr Sieg einst glänzender werde. Seine Langmuth kennt nur die weitesten Grenzen. Hin und wieder warnt sie scharf, aber der taube Irrende überhört den Ruf der Warnung. Ein Beispiel, mein Lieber: Es sind kaum sechs Monden verflossen, seit an einem Vorbereitungs- und Beichttage in der Johanniskirche, plötzlich, wie aus heiterem Himmel kommend, ein Blitzstrahl in die Emporkirche schlug, die Orgel beschädigte, das in Marmor gehauene Evangelienbuch über dem Altare zertrümmerte, und durch ein offenstehendes Fenster in's Freie fuhr. Sehen Sie hierin einen Fingerzeig des Ewigen, der in seinem Gewitter warnte, und dennoch nicht strafte, da kein Mensch beschädigt wurde, und der Organist mit einer leichten Betäubung davon kam. Der Tag, an welchem dieser merkwürdige Vorfall Statt hatte, das kecke Sinnbild, das der Blitz zertrümmerte, Alles erregte die gerechten Bedenklichkeiten der Menge, die immer mehr bereit ist, Gottes Willen zu erkennen, als ihren Führern lieb ist. Ihre Geistlichen verkündigten freilich von den Kanzeln, daß man den Schöpfer beleidigen würde, wollte man in der reinen Zufälligkeit jener _Naturerscheinung_ den Ausdruck seines Zorns erkennen. Was soll man jedoch von den gelehrten Männern denken, die am folgenden Tage vielleicht mit aller Wärme den Satz vertheidigen, daß kein Sperling von dem Dache, kein Haar von unserem Haupte fällt, ohne den Willen des Allmächtigen? -- Den schlechten Vogel auf dem Dache also, das dünne Haar auf unserem Scheitel vermag er zu halten, aber nicht das Gewitter, auf dem er daherfährt? nicht den Blitzstrahl, seinen fürchterlichen Macht- und Zornboten?« »Ich sehe Sie in Gedanken vertieft,« fuhr er nach einer Pause fort, während welcher sich der Senator ganz ruhig verhielt: »Lassen Sie uns abbrechen. Die Gnade des Herrn arbeitet an Ihrer Wiedergeburt. Folgen Sie Ihr. Jeder Mensch ist zur Gnade reif, wenn er nur will, und die Wege zur Besserung einschlägt. Jeder Sünder oder Irrende, der das Heil _sucht_, hat Theil an demselben, weil Christus es für Alle durch sein Blut erworben hat, und man muß gerade nur Jansenist sein, um diesen Trost läugnen zu wollen. Gehen Sie hin: ich bin überzeugt, daß Sie nach den acht Tagen Bedenkzeit, die ich Ihnen hiermit erlaube, freudig zu mir zurückkehren werden, um das Kleid der Unschuld völlig anzuziehen.« Der Senator seufzte wieder schwer, und setzte zögernd hinzu: »Was die Summen betrifft, würdiger Herr, welche den Betrag der Wechsel ausmachten ... mich peinigt der Betrug des Augenblicks. Ich könnte freilich, -- Dank sei es jenem blinden Glückszufall, -- dem Erben die Summen abtragen, allein schon zirkuliren sie im Handel. Mein gesunkener Credit bedurfte starken Aufschwungs, -- jetzt kann ich das Geld nicht wohl ermangeln. In einigen Jahren allenfalls, ... der Himmel behüte mich, es gänzlich abläugnen zu wollen ... aber ... wie gesagt..« »Ich weiß bereits,« versetzte der Doctor: »ich glaube, daß Sie vor der Hand die fraglichen Summen gar wohl behalten dürfen. Wären Sie unsers Glaubens, ich würde unumwunden sagen: Behalten Sie das Geld, mein Sohn. Ihr redlicher Wille, es einst wieder zurückzuzahlen, genügt der Moral vollkommen, da -- Erstens -- Sie sich durch die einstweilige Verwendung der Summen aus der bedenklichsten Lage retten, und Selbsterhaltung die erste Pflicht ist; da -- Zweitens -- der jetzige Creditor in seinem Reichthume des Geldes nicht bedarf. Bei Ihnen ist =periculum=; die Gelder, einst mit Interessen zurückgegeben, werden ihm doppelt erwünscht kommen. Sollte hingegen zu jener Frist er selbst nicht mehr leben, und keine Familie hinterlassen, so befreien Sie, der Kirche eine Stiftung von dem Gelde machend, Ihr Gewissen völlig. Wären etwa Hinterbliebene vorhanden, so genügen Sie den Anforderungen der Moral, wenn Sie unter diese und die Kirche den Betrag gleich vertheilen: denn, da die Erben persönlich kein Unrecht erlitten, so entschädigt sie hinlänglich die Hälfte, während die andere, zu milden Stiftungen verwendet, am zweckmäßigsten die Rechnung mit dem Verstorbenen ausgleicht.« »Sie sind ein wackerer, kluger Mann,« versicherte der Senator mit leichterem Herzen: »Ich fühle Vertrauen zu Ihnen, wie zu keinem Menschen auf der Welt. Sie beruhigen meine Seele durch einige Worte mehr, als alle unsere Geistliche durch ihre strengen Forderungen und schwülstigen Reden. Ihre Sittenlehre paßt in die Welt, wie sie ist. Sie verstehen die Bedürfnisse eines Hausvaters und Geschäftsmannes zu beachten. Wenn nur die Gestalt des armen Birsher von mir weichen wollte!« »Die Absolution ist der beste Exorcism gegen die Gespenster des Gewissens. Nur die Lossprechung wälzt den Fels, den verschuldeten, von Ihrer Brust. Sie wissen den Weg zur Gnade. Wählen Sie in Zeiten.« »Wenn mich nur die Furcht vor Sünde nicht abhielte, meine Sündhaftigkeit zu heilen!« sagte der Senator ängstlich: »Ich armer Mensch!« »Wir halten häufig für Sünde und Verbrechen, was eine gleichgültige Handlung ist. Menschensatzung ist immer voll von Fehlern, und das Lutherthum ist eine solche. Der heilige Petrus konnte _uns_ wohl Worte vom Himmel bringen, er vernahm sie aus dem Munde seines himmlischen Meisters. Der Augustinermönch von Wittenberg konnte Ihnen nur Weltliches lehren. _Wir_ öffneten ihm die Arme, _er_ stieß uns verstockt zurück. Wer handelte hier im Geiste des versöhnlichen Gottes? Ein Cardinalhut hätte den ehrgeizigen Mönch beschwichtigt und zahm gemacht; die demüthige Kutte behagte ihm nicht mehr. Am römischen Hofe nannte man es Verbrechen, den Widersacher durch heilige Würden kirren zu wollen. Er nannte es zu Worms ein Verbrechen, der milden Mutter reuig entgegen zu kommen. Was ist also Sünde, so lang die Welt es mit Recht und Unrecht zugleich hält? Würde man zu Hamburg Ihnen ein Verbrechen daraus machen, daß Sie in der Lotterie spielten, und das große Loos gewannen? Gewißlich nicht, während man Sie hier, würde es bekannt, aus dem Senate stoßen würde. -- Wird ein unbefangener Mensch Sie eines Verbrechens beschuldigen, weil Sie nun wissen, daß ich ein katholischer Geistlicher bin, und weil Sie nicht hingehen, um mich zu denunciren, damit man mich aus der Stadt bringe? Sicher: nein. Und doch würden Sie Ihrer Würde verlustig und in starke Geldbuße verfallen sein, erführe es die Stadt. Thun Sie Recht, bereuen Sie das Vergangene, damit Gott Ihnen vergebe. Werden Sie einer der Unsern, daß ich die Freude haben kann, Ihr Gewissen gänzlich zufrieden zu stellen. Dahin gehe Ihr Trachten. Besuchen Sie mich, wie Nikodemus den Herrn, im Stillen: Sie sollen immer in mir den verschwiegensten, den treuesten Freund finden.« »Der Engel Clara spricht für Ihre Tugend und Ihre Liebe!« rief der Senator unter Thränen, die an des Doctors Brust zu fließen schienen. »Um Clara's willen also, Herr Senator,« versetzte der Doctor eindringlich: »Muth! heilsamer Entschluß! Vertrauen zu mir und meinen Worten. Um Clara's willen, armer zweifelnder Mann!« Nach einer kurzen Stille hörte der junge Engländer den Senator fortgehen. Der Doctor rief nach seinem Frühstück, sang seinem Lieblingsvogel eine Melodie vor, und als James die Tasse klirren hörte, glaubte er, es sei an der Zeit, dem Pflegvater sich vorzustellen. Der Doctor hatte die Gewohnheit, sich zur Zeit des Frühstücks in sein Cabinet zurückzuziehen, um daselbst ungestört sein Brevier beten zu können. James fand ihn damit beschäftigt. Leupold legte das Buch indessen alsobald weg, und sagte heiter: »Guten Morgen, mein Sohn. Du findest mich erfreut, denn Gott will erlauben, daß ich wieder eine Seele zu dem Freudenreiche der alleinseligmachenden Mutter zurückführen darf. Wie hat sich deine Bemühung belohnt, James? Ich glaube, dich in der Kapelle gesehen zu haben.« James berichtete mit Bedauern und Achselzucken. Der Doctor hörte aufmerksam zu. »Recht gut!« sagte er alsdann. »Ich finde keinen Grund zum Verdruß und zur Mißbilligung. Das Mädchen hat, wie du sagst, mit gespannter Neugierde die Messe abgewartet? folglich hat die heilige Handlung Eindruck auf dasselbe gemacht. Der Reiz des Mysteriösen vollendet die gegebene Richtung. Plaudern wird Justine nicht. Sie scheint fester und verschlossener zu sein, als Mädchen gemeinhin zu sein pflegen. -- Die Lainez soll hier ihr Meisterwerk machen. Seitdem sie hier ist, hat sie, den jungen Pahlens ausgenommen, keine Seele gewonnen. Die Frau ist noch zu jung, zu hübsch, zu eitel, um mit Vortheil wirken zu können. Sie wirft ihre Netze nach Männern aus, während sie die Frauen erobern sollte. Die Kunst, die sie besitzt, ihr Aeußeres zu formen, wie es die Nothwendigkeit erheischt, -- ihre Geschicklichkeit, den Protestantismus auszuhängen, um eben durch diese List für die gute Sache zu werben, -- diese lobenswerthen Eigenschaften sind mir wohl bekannt; aber ich wünschte dennoch, der Pater Superior hätte mir eine andere Mitarbeiterin, älter, gediegener, zuverlässiger, an die Seite gestellt. Eine solche würde auch dich, mein Sohn, mehr zu begeistern vermögen, als diese Lainez kann, von der du dich augenscheinlich abwendest.« »O, mein Vater;« entgegnete James mißmuthig: »die heuchlerische Lainez, wie ich, wir spielen eine recht gehässige Parthie.« »Wieder die alte Klage?« fragte der Doctor finster: »Du wirst mich zwingen, dich vor Beendigung meiner Mission in's Noviziat abgehen zu lassen. Schweige, wenn du nichts Verständigeres vorzubringen weißt. Dort liegen Frachtbriefe, Rechnungen, und zu beantwortende Missiven. Schreibe ab, trage in's Buch und auf mein eigenes Register. Vergiß nicht nachzurechnen, mein Sohn. Der Ansatz der Medizinalkräuter und Farbehölzer, den mir der Pater Thomas Cosedro von Assumption beigelegt hat, scheint mir übertrieben. Sieh vorläufig nach, bis der Capitän selbst angelangt sein wird. Ich erwarte ihn bald. Ich werde nun ausgehen, und mein Brevier im Freien lesen, und bei Spaldinger Wechsel für das Provinzialat negoziren, und dem Himmel danken, daß er unsers Ordens Bemühungen in hiesiger Stadt mit außerordentlichem Gedeihen segnet. Wir zählen bereits mehrere bedeutende Männer zu unserer kleinen Gemeinde, und der Beitritt eines einflußreichen Rathsherrn soll unserer Mission, mit Christi Hülfe, größere Sicherheit und ein erfreuliches Bestehen erleichtern. Gott erleuchte dich, mein Sohn, und behüte dich, bis zum Wiedersehen!« Wie der Doctor, nachdem er sein Haus verlassen, seine Wechselgeschäfte verrichtet, wie er sodann unter den Bäumen der sogenannten Brunnenhaide seine Gebete mit geflügelter Zunge abgethan, -- im Voraus weglesend, was noch zum Nachmittag aufbehalten hätte bleiben sollen, bedarf keiner weitläufigeren Beschreibung. Zufrieden, von Niemand in seiner Andachtsübung gestört worden zu sein, schob er das Buch in die Tasche, und ging zur Stadt zurück, berichtigte an der Brücke auf's Pünktlichste den Zollpfennig, grüßte freundlich und ergebenst alle Gutgekleideten, die an ihm vorüber kamen, und nickte mit verstohlener Herablassung einigen gemeinen Arbeitsleuten zu, die eben so verstohlen beim Läuten der Mittagsglocke ihre Kappe zogen. Die Höflichkeit des klugen Mannes erstreckte sich sogar auch auf leblose Gegenstände. Vor dem Schilderhause an der Thüre des ersten Bürgermeisters, vor dem Stadtwappen über dem Thore des Rathhauses, vor den Kanonen der Hauptwache, zog er den Hut ab, und entblößte sein Haupt beinahe vor jedem ansehnlichen Hause, wenn gleich aus dessen Fenstern Niemand sah. Sobald er wieder in die engen Straßen seines Viertels kam, machte die Demuth dem Selbstbewußtsein Platz, und in der That war eine in jener Gegend vorfallende Begebenheit ganz dazu geeignet, seinen Ideen eine andere Richtung zu verleihen. In einem engen Gäßchen standen alle Bewohner vor den Thüren. Viele fremde Nachbarn aus den anliegenden Straßen erfüllten den Eingang des Gäßchens, und all' die zerstreuten Gruppen gafften nach einem Hause, das auf seinem Aeußern schon das Gepräge der Armseligkeit trug, hätte man auch nicht an dessen Fenstern die blassen, von Schmutz und Hunger entstellten Kindergesichter gesehen, die daraus auf die schwatzenden Leute starrten. Schon hatte sich der Doctor zu einem Trupp plaudernder Schustergesellen gewendet, um Erkundigungen einzuziehen, als aus dem Hause, nach welchem alle Blicke sahen, der Pastor der Johanniskirche trat; im Amtskleide zwar, aber mit dem feindseligsten Gesichte. Dem heftig ausschreitenden und schnaubenden Manne folgte der gutmüthige Arzt Häckel, den das Volk gemeinhin nur den Armendoctor nannte, und verschwendete manches gutgemeinte Wort des Zuredens. Mehr noch indessen, als des Arztes Fürsprache griff das Gesicht und das Aeußere eines andern Mannes, der hinter dem Arzte einherschlich, an jedes halbmenschliche Herz. Der Prediger in seinem Unmuthe wurde jedoch nicht gerührt. »Keine Begleitung, keine Nachrede!« sagte er heftig: »Verehrtester Herr Doctor Häckel! kein Jota weiter! und Er, Monsieur, schweige Er vollends. Ich mag kein Wort an Ihn verlieren. Er hat mich betrogen, mir und der Bürgerschaft ein Scandalum gegeben. Hätte ich von Anfang gewußt, mit welchem =nebulone=, mit welchem Gelichter ich's zu thun haben sollte, ... nicht einen Schritt weit wäre ich gegangen! nicht Seine _Schwelle_ hätt' ich betreten!« »Aber, ehrwürdiger Herr Pastor! eine Sterbe...« stammelte der so unsanft Zurechtgewiesene. »Was kümmert das mich?« eiferte der Geistliche mit größerem Unwillen: »Wie gelebt, so gestorben. Wem Ihr Leute im Leben angehörtet, dem bleibt auch im Tode. Helf Euch der, dem Ihr Euch übergeben, Ihr Auswurf!« Er ging mit allen Zeichen fortdauernden Zorns aus der Gasse, und die Mehrzahl der Gaffenden zog hinter ihm drein. Der Doctor sah noch, wie der gutmüthige Arzt Häckel dem in seiner Betrübniß verstummenden Bewohner jenes Häuschens ein Stück Geld in die Hand drückte, wie er, mitleidig, aber ohnmächtig die Achseln zuckte, und sich dann eiligst entfernte. »Dem hat's der Pfarrer recht gesagt!« lachten einige rohe Bursche im Vorübergehen; und auf Leupolds Fragen erwiderte ihm ein alter Bürger, der, traurig den Kopf schüttelnd, sich ebenfalls zum Gehen wendete: »Lieber Herr, Sie glauben nicht, welch ein Jammer das ist! Der Pastor mag wohl im Grunde Recht haben, aber hart ist's, wenn man bedenkt, daß die Armen doch Menschen sind!« »Erkläre Er sich genauer, mein Freund.« »Sie müssen wissen, lieber Herr, daß der blasse Mensch, der eben wieder wie ein Verzweifelter in's Haus geht, ein Komödiant ist. Er gehört zu der Bande, welche mit Erlaubniß des preislichen Magistrats in der Bude auf dem Schwanenmarkte spielt. Vor acht Tagen sind die Leute erst angekommen, und jener Mann, der eine schwerkranke Frau und vier oder fünf Kinder mit sich führt, hat bei dem Wagenmeister Ulrich eine Wohnung gefunden. Die Menschen behelfen sich gar kümmerlich in der feuchten Stube und schlafen, so zu sagen, auf der schwarzen Erde. Da ist die Frau nun kränker geworden, und bis an's Sterben gekommen. Der Armendoctor, der um Gotteswillen zu ihr kam, und die Arznei aus seiner Tasche bezahlte, hat dem armen Mann vertraut, wie schlimm es mit dem Weibe steht, und ihn aufgefordert, sich nach geistlichem Zuspruch umzusehen. Der Pastor ist zwar wie der Blitz bei der Hand gewesen, aber kaum hat er gehört, daß die Frau eines Komödianten Weib sei, und -- wie ich meine, -- demselben nicht einmal angetraut, als er ihr das Abendmahl versagte. Wie es alsdann mit dem Begräbnisse gehen wird, das weiß Gott.« Der Doctor ging, an der entsetzlichen Lage der Armen Antheil nehmend, auf das elende Häuschen zu, blickte durch's Fenster, und übersah eine Scene des Jammers, die sich jedes fühlende Herz versinnlichen mag. Das Weib lag, von Verzweiflung und Schwäche gleich erschöpft, auf dem elendesten Strohlager, und lallte die Worte: »Ach, Joseph! Joseph! warum sind wir nur geboren worden? Ach, wie verläßt uns Gott! Ach! was soll aus den Kindern werden!« Und die Kinder schrieen, und der Mann stand im Winkel, drückte beide Hände vor die Augen, und das eiskalte, bleiche, abgezehrte Gesicht sprach mehr, als Worte vermocht hätten. Des Doctors Herz wurde aber noch einmal so schwer, als er in des Mannes Zügen, besonders dann, als er wieder die Augen öffnete, und wild zum Himmel hob, die Züge eines bekannten Gesichts erblickte. Er klopfte rasch an's Fenster. Langsam öffnete es der Trauernde. Der Doctor reichte ein Scherflein hinein, und fragte leise: »Wie ist Euer Name, mein Freund.« »Ich heiße Wohlgemuth, mein Herr« Der Doctor schüttelte den Kopf. »Das ist nicht Euer wahrer Name, Mann Gottes. Sagt mir den rechten.« Der Mensch sah ihn verwundert an, und rieb sich verlegen die Hände. »Ich wundre mich, daß ich meinen ächten Namen nicht schon vergessen habe,« sagte er schmerzlich: »aber weil Sie so bestimmt fragen, will ich ihn doch wieder einmal aus dem Gedächtniß hervorholen. Ich hieß einmal Joseph Litzach.« »Weiß Gott! er ist's!« sagte der Doctor, wie vor sich hin. »Ich kenne Euch,« setzte er bei: »ich wünsche mit Euch unter vier Augen zu sprechen.« Der Mann deutete kummervoll auf die dahinschmachtende Frau. »Bevor es nicht hier vorüber ist ...« sagte er leise, »kann ich nicht ausgehen. Der Doctor meint: um die dritte oder vierte Stunde Nachmittags ... der Pfarrer wird's wohl noch um ein Stündchen beschleunigt haben...« Dem Doctor traten die Thränen in die Augen. »Vertraut auf Gott!« sprach er: »Ich will Morgen wieder vorbeikommen.« »Bewahre!« entgegnete Litzach hastig: »Sagen Sie, mein Herr, wo ich Sie antreffen kann. Ich kann heute noch zu Ihren Diensten sein, wenn nicht Gott an meiner Alten ein Wunder thut. Um vier Uhr haben wir ohnehin Komödie...« »Wie? und Ihr agirt mit, an diesem Trauertage?« »O, mein Herr, darnach fragt der Principal nicht. Ich käme um den Wochenlohn, um's ganze Brod. Wir agiren heute eine Schnurre, und ich muß darinnen den Hanswurst machen, lustig, recht lustig, damit das verehrte Publikum lacht, wenn mir auch das Herz unter der bunten Jacke entzwei ginge.« Der Doctor fand keine Worte. Litzach fuhr aber bald wieder fort: »Um sechs Uhr stehe ich zu Diensten, mein Herr. Wenn Sie allenfalls um diese Zeit auf der Mailbahn am Schwanenmarkte lustwandeln wollten ... ich will mir aus des Principals Kleiderkammer einen reputirlichen Rock borgen, damit ich Ihnen keine Schande mache. Jetzt aber ... entschuldigen Sie. Meine Alte ruft ihren Joseph. Vielleicht muß ich ihr jetzo schon Lebewohl sagen...« Leupold nickte stumm mit dem Kopfe, und ging betrübt weiter, während der Schauspieler wieder sein Fenster zumachte. Der Doctor benützte den Umstand, daß er an einigen Häusern heimlicher Glaubensgenossen vorbeikam, um mit einem Worte Litzachs arme Familie ihrem Mitleid zu empfehlen. Die Leute waren alsobald bereit, einiges Essen und ein Paar Pfennige hinzuschicken. Der Dürftige ist am Ersten geneigt, dem Dürftigen beizustehen. Dem Doctor war es lieb, durch die Begegnung eines andern Bekannten aus seinen trüben Gedanken gerissen zu werden. Aus seinem Hause trat ein rüstiger Seemann in braunem Rocke und manchesternen Beinkleidern, tüchtigen Schuhen mit großen silbernen Schnallen, das Halstuch nachlässig in den Schifferknoten geschlungen, und ein derbes spanisches Rohr in der Hand. Der bordirte Hut mit der auszeichnenden Schleife verrieth den Capitän. »Grüße Sie Gott, Ew. Hochw... Herr Doctor, wollt' ich sagen!« rief der Capitän in tiefem Basse: »Ich wollte eben ein Paar Dutzend Tonnen Teufel reklamiren, weil ich Sie nicht zu Hause gefunden. Sie müssen, Gott bessre mich! mit mir zu Mittag speisen; später als gewöhnlich, aber gut und herzhaft, wie's ein Seehund gerne hat. Um elf Uhr bin ich aus der Kalesche gestiegen, und habe im goldnen Schwan mein Absteigquartier genommen oder, besser gesagt, Anker geworfen.« Somit nahm er den Doctor vertraulich, aber ergebenst unter dem Arm, und steuerte mit ihm in anderer Richtung weiter. »Sie haben mich wohl früher erwartet?« fuhr er fort: »Aber, -- Sturm und Segel! ich mußte laviren, bald auf Osten, bald auf Westen halten, ehe ich hier anlegen konnte. Mein Schiff ist frisch und gut im Havre eingelaufen, und das würdige Collegium zu Paris hat bereits seine Contanti empfangen. Der Handel blüht im Stillen, und er Vater Lavalette, der, so jung er noch ist, bereits eine ungemeine Spekulationsgabe entwickelt, hat mir schon von neuen Etablissementen und neu auszurüstenden Fahrzeugen gesprochen. Ich habe Briefe von Paris und Lissabon an den Pater Superior, und wünsche, daß Sie mir nach Vidimirung der eingesandten Rechnungen und Bescheinigung des Geldes, das ich bei Ihnen niederzulegen habe, einen Empfehlungsbrief an den wackern Herrn mitgeben möchten.« Der Doctor versicherte ihn seiner Bereitwilligkeit, und die Herren setzten sich im Gastzimmer des Schwanen zum Speisen nieder. Leupold war hier auf wohlbekanntem Felde. Die Gastwirthin, eine noch ziemlich junge und rasche Frau, hatte, von andächtigen Freundinnen bestürmt, von dem Doctor in's Geheimniß gezogen, ihren heimlichen Uebertritt zur verborgenen Kirche nicht schwer gemacht. Der Wirth, ein schwerfälliger Reichsstädter von wenig Scharfsinn, war leicht zu täuschen gewesen, und ahnte nicht das Mindeste von der Religionsveränderung seines Weibes. Er schätzte den Doctor, der häufig das Haus besuchte, als tüchtigen Politiker hoch, und die Frau benutzte jede unbewachte Minute, um aus den salbungsvollen Worten ihres geheimen Beichtigers Trost und Ruhe zu schöpfen. Ihre unerfreuliche Ehe, wie die immer neu erwachsenden Zweifel ihres Gewissens machten ihr Trost zum Bedürfniß. Nebenbei sprach die Stadt auch Vieles von ihrem weichen gefühlvollen Herzen, und der Nachbarn Zunge bezeichnete ziemlich genau diejenigen junge Männer, die sich der Theilnahme der hübschen Frau zu schmeicheln gehabt. Die Gesellschaft in dem Schwan war nicht zahlreich. Der Capitän und der Doctor, tafelnd in der einen Ecke. In der andern die Wirthin, am Schenktische und an dem Küchenfenster beschäftigt, durch welches die Speisen hereingereicht wurden. In der Stube auf und niederwandelnd der Herr des Hauses selbst, -- bald mit der Fliegenklatsche arbeitend, bald von Belgrads Einnahme, vom Reichstag zu Saragossa, und den schlechten Zeiten posaunend. Am Fenster zwei Kartenspieler: ein pausbäckiger Sensal, und ein Offizier der Stadtmiliz: beide der Frau vom Hause zärtlich zugethan; beide nicht von ihr erhört. Die Unterhaltung war, wie gewöhnlich, wenn Einer allein spricht, wie hier der Wirth, -- nicht sehr glänzend und erbaulich. Der Capitän aß stark und trank nicht wenig; der Doctor beobachtete seine Umgebung, die Wirthin tranchirte, die Spieler trieben ihre Belustigung fort. Eine Reisekalesche, die vor dem Hause hielt, brachte alle Köpfe in Bewegung. Sie fuhren an's Fenster; nur die erfahrnern Tafelgäste blieben ruhig. Der Reisende, ein junger Mann, trat langsam in die Stube, während er befahl, Mantelsack und übriges Gepäck nach dem besten Zimmer des Hauses zu liefern. Die von dem Anblick des hübschen Mannes freundlich angesprochene Wirthin machte denselben zum Nachbar des Doctors, und gebot, das verlangte Diner eiligst herbeizuschaffen. Der Fremde grüßte Capitän und Doctor höflich, und streckte sich dann bequem auf dem Stuhle aus. Der Wirth setzte sich gegenüber, und stierte den Gast neugierig an. Die Spieler setzten das Spiel fort. Der Capitän brach das Schweigen. »Gute Reise gehabt, mein Herr?« »Sehr gut.« »Kommen weit her, ohne Zweifel?« »Sehr weit.« »Durchreisend?« »Nein.« »Geschäfte auf hiesigem Platze?« »Ja.« »Wären wir Landsleute? Ich bin ein Friese.« »Ich nicht.« »Darf man fragen, mein Herr...« »O ja.« »Woher die Reise...« »Kellner! eine Flasche Wein!« Hiermit brach der einsilbige Fremde ab. Der Capitän biß sich versehentlich in die dicken Lippen. Der Doctor lächelte und betrachtete den Lakonischen genauer. Er sah gar nicht aus wie ein Spaßvogel, sondern wie ein ernsthafter, sehr besonnener Mann. Sein regelmäßiges Gesicht war ruhig, die Augen groß, und blickten fest vor sich hin. Keine Freudigkeit, aber eine eiserne Fassung sprach von der Stirne, und der ganzen Gestalt. Das Trauerkleid, das der Fremde trug, entschuldigte allerdings den Ernst, welcher der natürlichen Heiterkeit der Jugend Abbruch that. Der Fremde aß mit vielem Anstande, was ihm vorgesetzt wurde, und trank den Wein stark mit Wasser vermischt. Den Doctor, dem seine früheren Verhältnisse Mäßigkeit zur ersten Pflicht gemacht hatten, freute das regelmäßige, abgewogene Betragen des Fremden, und er richtete auf die Gefahr hin, eben so zurecht gewiesen zu werden, wie vorhin der Capitän, einige artige Worte an den Nachbar, die auch verbindlich und kalt erwidert wurden. Indessen sprang der Offizier, der so eben seine Partie gewonnen hatte, mit Getöse von dem Stuhle, und riß die Fensterflügel auf. »=Mort de ma vie!=« rief er: »Sensal! Wechselbote! schau er auf! ein Kernmädel giebt's hier zu schauen!« Der Sensal sah hin, und sagte ziemlich lau: »Die Jungfer Müssinger! Aha! benebst Frau Mama!« »Thu' Er nicht so kalt und vornehm!« zankte der Offizier; »=Parole d'honneur!= das Mädel ist das Liebenswürdigste in der ganzen Stadt! Seh' er nur, was sich die Flegel von Sänftenträgern einbilden, daß sie eine so artige Last, wie diese, aufzunehmen gewürdigt sind.« »Wohl bekomme ihnen die Mama von vier Zentnern!« sagte der Sensal spöttisch, und nippte an seinem Glase. »Sie und ihr federleichtes Töchterlein gönne ich Ihnen von Herzen.« »Das spricht der Neid aus Ihm, Sensal.« »Ei nu, Herr Lieutenant,« hob die Wirthin an, die es nicht leiden konnte, daß andere Frauenzimmer hübsch gefunden wurden: »das absonderliche Wunderwerk finde ich nun auch nicht an der Mamsell. Ein putziges Dingelchen, recht keck, recht unverschämt, und geschminkt, ich lasse mir's nicht nehmen. Geht sie nicht am Sonntage wie ein Pfau auf ihren hohen Absätzen über die Gasse? Ist wohl ein Mensch, der sich nicht über ihren Stolz ärgerte? Die Mama ist auch grob und hochmüthig, das weiß Gott! aber dabei ist sie dumm wie eine Henne. Das Töchterchen hingegen versteht Antworten zu geben, -- so spitzig und witzig, und giftig und triftig, daß allen ehrlichen Leuten die Galle steigt. Das leichte Töchterchen mag froh sein, daß sie schwere Geldsäcke aufzuweisen vermag.« Der Sensal schnippte mit den Fingern. »Das spricht der Neid aus Ihnen, Frau Gasthalterin!« schaltete der Lieutenant ein, spaßhaft und impertinent zugleich: »Der Himmel verdopple mir die Gage, wenn ich nicht gleich zugriffe; -- die Jungfer dürfte nur die Hälfte ihres Geldes haben. Meine Schulden zu bezahlen fände ich doch genug: auf Ehre.« »Ew. Gnaden sprechen in's Blaue hinein,« versicherte kaltblütig der Sensal: »O! der Himmel hängt in diesem Hause voller Geigen, aber die Baßgeige wird doch am Ende ein Loch bekommen. Sie hätte es jetzt schon, wenn der dicke Holländer nicht so artig gewesen wäre, ... na! ich will klüger thun, und schweigen.« »Hm!« begann die Wirthin: »es wurde allerlei gemunkelt, das einem die Haut schaudern machte, und das...« »Das gefährlich ist, wiederzukauen!« fuhr der Wirth dazwischen: »ich bitte mir's aus, Frau Schwanenwirthin, daß Sie kein Wort mehr darüber verliert. Der hochpreißliche Senat hat's allen rechtschaffenen Bürgern befohlen. Auf allen Zunftstuben wurde es verblämt, und den Plaudermäulern angedeutet; und ich bin auch Zunftmeister, und muß auch auf Ordnung halten.« »Wohl geredet!« rief der Lieutenant beifällig: »Wie die Zunft, muß auch die Frau pariren und Subordination muß sein. Bei alledem möchte ich wissen, wohin die Damen sich begeben haben. Auf Ehre, ich möchte es erfahren. Wäre ihres Spazierwegs Ziel der Kuchengarten oder die Windmühle, ich ließe flugs meinen Polen satteln, um die reizende Jungfer von Mund zu Mund zu begrüßen.« Der Sensal zuckte bei den prahlerischen Aeußerungen des Windbeutels die Achseln, sah aber beinebst durch's Fenster, und erwiderte: »Da kommt Einer, der Ihnen, gnädiger Herr Lieutenant, ganz gewiß die beste Auskunft zu geben vermag: der übergeschnappte Thürmer von St. Paul, der zum Rasendwerden in des Senators Tochter verliebt ist, ohne daß er je ein Wort mit ihr gesprochen hätte. Brüstet sich nicht der Geck in seinem betrodelten Kleide wie ein Graf, und wer sollt es dem geputzten Affen ansehen, daß er zu Posaune und Glockenstrang geboren und gebildet wurde?« Der Mann Quaestionis flatterte in das Zimmer, geschmückt wie der albernste Zierbengel seiner Zeit. »Sieh da, Monsieur Pahlens,« rief ihm der Offizier entgegen: »Magnifiquester aller Thürmer! Woher, wohin, guter Freund? Ist Ihnen der Stern unserer Stadt, die wonnevollste und freudenbringendste der Grazien begegnet?« »Ach, gnädiger Herr!« versetzte Pahlenz mit schwärmerischem Ausdruck: »Des Lebens Licht hat mir gefunkelt auf meinem Seufzerpfad! Ich habe sie gesehen, in deren Aug Cupido mit gespanntem Bogen sitzt; das Götterkind. Zum Ritterhof begibt sich die Schöne, wie ich höre. Wäre ich doch der Kaffee, den sie schlürft, der Kuchen, den sie genießt. Gleich dem Zwieback, das ihre Hand zerbricht, zerbröselt sich mein Herz in eitler Sehnsucht!« -- »Abgeschmackter Gimpel!« brummte der schwarze Fremde leise vor sich hin, stand auf, und entfernte sich, langsam, wie er gekommen. Niemand, den Doctor ausgenommen, bemerkte seinen Abgang, denn der verliebte Thürmer ergoß sich in blumenreichen und geschraubten Redensarten, schnitt Jedem das Wort von Munde, betäubte das Ohr eines Jeden. Der Offizier unterbrach ihn endlich ziemlich brüsk, schnallte sich den Degen um, setzte sich den Hut martialisch auf, fuhr in die Handschuhe, und bereitete sich, den Damen zum Ritterhofe zu folgen. »Geht Er mit, Sensal?« fragte er barsch. »Ich habe auf der Niederlage zu thun. Auch besitze ich kein Pferd, das mit Ihrem Polen gleichen Schritt halten könnte.« »=Mort de ma vie!= ich besinne mich so eben, daß mein armer Polak sich den Fuß zertrat, und den Stall hüten muß. Ich werde zu Fuß gehen müssen. Begleiten Sie mich etwa, Monsieur Pahlens?« »Das würde sich nicht schicken, Ew. Gnaden. Ohnehin schlägt um 4 Uhr meine Stunde. Mein armer Teufel von Gesell ist ziemlich krank, und kann die Abendluft nicht vertragen. Ich muß also selbst...« »Die Posaune zur Hand nehmen, und tuten?« fiel der Offizier spottend ein: »=Parole d'honneur!= Schade um den jungen galanten Mann! Das ignoble Handwerk paßt wenig zu seinen feinen Gewohnheiten. Nicht wahr, meine Herren? nicht wahr, Madam? =A revoir! Adieu!=« Er empfahl sich unter lautem Gelächter. Nach einigen Anmerkungen über den Offizier und dessen Schulden ging auch der Mäckler. Den Capitän riefen seine Geschäfte, die Wirthin die Hauswirthschaft; der Gastwirth schlief, der Doctor und Pahlens gingen zusammen auf die Straße. »Wie habe ich mich gesehnt, einmal mit Ihnen allein zu sprechen,« begann Pahlens vertraulich, aber ehrfurchtsvoll: »Seitdem Sie mein geistlicher Vater wurden, kenne ich niemand auf der Erde, vor dem ich mein Herz auszuschütten geneigter wäre.« »Das gehört in den Beichtstuhl, mein Sohn;« erwiderte der Doctor leise. »Nicht doch, Herr Doctor;« versetzte Pahlens: »Rathen Sie mir als Freund. Meine Lage wird mir unerträglich. Ich bin zu etwas Besserem geboren, als auf dem abscheulichen Thurme zu verblühen, und den Lutheranern zu ihrem Gottesdienste hülfreiche Hand und Lunge zu leihen. Was werden Sie denken, wenn ich Ihnen sage, daß mir in verwichener Nacht die heilige Mutter im Traume erschien, und zu mir sprach: »Mein lieber Sohn; allzulange schon verkümmerst Du im Ketzerdienste. Geh hinaus, und suche Dir ein bessers Glück. Ich und alle heiligen Engel werden dir den nöthigen Beistand leisten.« Sofort erwachte ich, und konnte nicht mehr einschlafen. Wie sehr ich jedoch grübelte, ein Mittel zu finden, die gnädigen Absichten des Himmels zu erfüllen, so stumpf blieb dennoch mein Geist. Rathen Sie mir, was soll ich thun? Als Geiger oder Lautenschläger in die Welt ziehen, oder etwa als Apostel der wahren Lehre? Das Letztere wäre mein Wunsch, allein mich fesselt hier ein Sehnen und Wähnen, ein Hangen, ein Verlangen, das vielleicht sündlich ist, weil es eine Ketzerin zum Gegenstande hat.« »Was soll ich Euch sagen, mein Sohn?« antwortete der Doctor: »Ich will die Erscheinung, die Ihr gehabt, nicht bezweifeln. Wunder sind allerdings möglich, und es wäre Frevel, sie zu läugnen. So wahr es ist, daß der göttliche Mittler dem heiligen Franziskus, die göttliche Mutter dem preiswürdigen Loyola in Person erschienen, so läßt sich's gar wohl denken, daß die unbefleckte Mutter auch zu Euch im Traum gesprochen; denn -- was Euch an der Heiligkeit jener Männer mangelt, das ersetzt Ihr durch gläubige Zuversicht, und kindlichen Gehorsam. Jedoch, gerade, weil ich an diese Erscheinung wahrhaft glaube, dächte ich, Ihr fordert durch eifrige Gebeterweckung den Himmel auf, Euch einen nähern Fingerzeig zu geben; bevor Ihr Euer jetziges Amt von Euch werft, um in die Welt ohne Plan hinauszugehen. Ein besserer Redner als ich, würde Euch sagen, daß Euer Loos kein böses ist; daß Ihr besser thätet, gerade auf Eurem einsamen Thurme sitzen zu bleiben, und Euere Seele, gleich der eines Einsiedlers, zum wahren Christenthum immer mehr zu erwecken und anzufeuern, als daß Ihr jetzo wie ein Irrwisch im Weltgetümmel umher fackelt. Er würde Euch sagen, daß Ihr jetzo, als ein, Gottlob zur Mutterkirche Bekehrter, auf Eurem Thurme ein wahres Sinnbild der siegenden Kirche vorstellt, wie sie, im Verborgenen triumphirend, oben sitzt, während zu ihren Füßen die Baaldiener orgeln, schreien und ihre Possen treiben. Ich sage Euch blos: Schweigt, betet, und erwartet mit Geduld, wie es der Himmel mit Euch zum Guten lenken wird. Was ist's aber mit der Neigung, von der Ihr spracht? Hat sie nicht die Tochter des Senators Müssinger zum Gegenstand?« »Ach! Sie lesen in den Falten meines Herzens!« entgegnete der Geck; »Ich muß meine Schwachheit gestehen. Gehen Sie aber nicht strenge mit mir in's Gericht. Mein Herz ist so weich und empfänglich, als mein Mund blöde. Durch das Auge ist das Mädchen in meine Seele gedrungen. Geredet habe ich noch nicht mit ihr, und werde es auch nie, wenn Sie mir's nicht erlauben.« »Das darf ich nicht,« entgegnete der Doctor; »Zu welchem Endzweck auch? Ihr seid arm, die Jungfer ist reich. Ihr Vater ist Senator; Ihr seid Thürmer. Das paßt nicht. Aber die Hauptsache ist, daß Ihr Katholik seid, daß sie Lutheranerin ist. Zwar arbeitet die Gnade des Höchsten, wie ich vernehme, an ihrer Wiedergeburt, wie denn überhaupt, Dank sei es der Fürbitte unserer hohen Patronin, unsere Gemeinde täglich im Stillen zunimmt, bis sie laut wird reden können. Aber man rechne nicht auf das, was noch nicht ist. Ich weiß nun zwar, daß ein Jünglingsherz ein weiblich Gemüthe sucht, an das es sich bindet, wie die Rebe an die Ulme. Die reine Verschwisterung tugendhafter Seelen mag und darf ich nicht hindern. Ihr dankt der würdigen und gottseligen Frau Lainez die Erleuchtung in Eurem frühern Irrthum. Weiht ihr Euer dankbar Gemüth, und vergeßt das Weib, das nicht für Euch auf der Welt ist.« Pahlens verneigte sich, etwas unbefriedigt jedoch, und schied von dem Doctor, der sich zur Mailbahn begab. Auf und niederschreitend überlegte er sein heutiges Tagewerk, horchte verdrüßlich auf die Trommel, die von Zeit zu Zeit von der Komödienbude herüber schallte, auf das Geschrei des Lustigmachers, der vor der Thüre des Schauplatzes sein Publikum einlud; auf das Gejauchze der Gassenjungen, die den Possenreißer umschwärmten. Die Mailbahn, von Spazierengehenden angefüllt, wurde leer, weil die Neugierigen nach der Bude rannten, und bald befand sich der Doctor allein mit einem Frauenzimmer, das schon lange auf den Augenblick, mit ihm unter vier Augen zu reden, gewartet zu haben schien. Die Frau, in bürgerlichem Kleide, näherte sich ihm schüchtern, und sagte nach einem tiefen Knix: »Ich bin des Schreiners Buttler Frau, Ew. Hochwürden: Ihr eifriges Beichtkind.« »Was will Sie? Ich kenne Sie. Nun?« »Ich kann es mit meinem Mann nicht länger aushalten.« »Wie so?« »Er mißhandelt mich.« »Warum?« »Weil ich, eine Krankheit vorschützend, mich weigere zur Kirche zu gehen, und die Predigt zu hören, wie er's verlangt. Und dennoch fürchte ich mich vor der Sünde.« »Ohne Noth. Ich spreche Sie los. Gehe Sie in die Kirche, damit der Schein bewahrt werde. Singe Sie mit, hört Sie aufmerksam der Predigt zu; aber bewahre Sie Ihr kaum genesenes Seelenheil mit geistlichen Stärkungsmitteln. So wird Ihr Mann beruhigt, und die Gemeinde schöpft nicht Verdacht.« »Aber, Ew. Hochwürden: ich fürchte, das ist Heuchelei!« »Um einen guten Zweck zu erfüllen, ist auch eine gewisse Heuchelei erlaubt. Beruhige Sie sich, gute Frau. Wie steht's mir Ihren Kindern? Spürt Sie in diesen keine Anlagen zum Heil?« »Ach Gott, nein, Herr Doctor. Die Buben sind so roh, und die Tochter hat kaum die Confirmation überstanden.« »So lasse Sie ab von ihnen. Keine voreilige Vertraulichkeit, damit die Kirche nicht in Gefahr komme. Sie muß wachsen, im Verborgenen, wie die Saat des Feldes. Uebergebe Sie die Kinder ihrem Schicksale. Gott wird die Seinigen schon herausfinden.« »Aber mich jammert, daß sie verdammt sein sollen. Sie sind doch _meine_ Kinder, meine ehelichen Kinder.« »Die Frage wäre erst noch aufzustellen. Ist Sie nicht katholisch? Ihr Mann Protestant? Abgesehen, daß solche paritätische Verbindungen an und für sich nichts taugen, so könnte man gerade _Ihre_ Ehe nicht gültig erklären. Sie wurde von keinem katholischen Priester eingesegnet.« »Herr Doctor...!« stotterte die arme bestürzte Frau. »Gräme Sie sich nicht. Ich will es so genau nicht nehmen. Aber lasse Sie die Kinder den eigenen Weg gehen, und erwarte Sie alles von der Zeit.« Die Frau verneigte sich wieder demüthig, und entfernte sich. Der Doctor setzte sich auf eine Bank, lehnte sich an die dahinter stehende Linde, und schloß, wie er zu thun pflegte, nachdenkend die Augen. Der heutige Tag war jedoch ganz dazu gemacht, ihm die Unterhaltung der verschiedensten Art zu bereiten. Ein rasch daherkommender Mann nahm geräuschvoll neben ihm Platz. Der Doctor erkannte, aufblickend, in dem Nachbar des Senators Comptoirdiener Nothhaft. Der Mensch, dem der Doctor als solcher unbekannt war, befand sich heute in gar aufgeregter Stimmung, und eine händelsüchtige, tückische Weinlaune sprach aus seinen Augen und seiner Haltung. Um ein Gespräch anzuknüpfen, das er zu wünschen den Anschein hatte, bot er dem Doctor eine Priese Tabak. Dieser versagte. »Brauchen sich nicht zu geniren!« redete Nothhaft ziemlich barsch: »s'ist nichts Giftiges, nichts Schlafmachendes darunter.« Der Doctor, um den Grobian nicht zu beleidigen, nahm eine Priese, ohne davon Gebrauch zu machen. Nothhaft besänftigte sich, und versetzte: »Freue mich, Dero Bekanntschaft zu machen. Ew. Edeln sind ohne Zweifel fremd auf hiesigem Platze?« »Nicht doch, mein Herr; und dennoch mögen Sie Recht haben.« Nothhaft stierte ihn verlegen an, lächelte dann, und fuhr fort: »Recht gut gesagt, mein Herr. Justissime! Optime! Das ist all' mein Latein! Wie finden Sie das? Wenn man indessen Geld hat, -- er klopfte auf die klingende Tasche, -- so braucht man die Schulfüchserei nicht. He?« Der Doctor nickte. »Um aber wieder auf den Tabak zu kommen, so ist eine prudente Vorsicht wohl vonnöthen. Da kommt oft ein Mensch daher, bietet Ihnen Tabak; Sie schnupfen, schlafen ein, und finden sich am andern Morgen entweder im Werbhaus, oder auf einem holländischen Transportschiffe. Nicht so, mein Herr?« »Ich weiß das nicht.« »Sie wissen das nicht? Parbleu! das ist zum Lachen. Nun, nun! Sie haben freilich nichts mehr zu riskiren. _Junge_ Seelen sind die besten. Na! wie gehen hier die Geschäfte?« »Welche?« »Sapperment! die Ihrigen. Wie läßt sich die Kaperei an? Ja, bei uns gibt's einen tüchtigen Menschenschlag, wie gemacht zum Matrosen und Soldaten. Wie viel Seelen haben Sie schon auf dem Korne? Na, Männchen! machen Sie _mir_ doch aus Ihrem Handel kein Geheimniß. Parbleu! ich bin auch schon in Amsterdam gewesen. Ich kenne die Vögel an den Federn. Thun Sie nicht so unschuldig. Unser Magistrat kann einen Puff vertragen, ist seelenfroh, wenn man _ihn_ ungeschoren läßt, drückt beide Augen zu. Damit Sie aber sehen, wie redlich meine Absicht ist, so bin ich bereit, Ihnen ein bedeutenderes Pfand meines Vertrauens zu geben.« »Monsieur! Wofür halten Sie mich?« »Ei, Liebster! wozu die Umstände? Für ein kluges Holländerchen, für ein pfiffiges Seelenverkäuferchen. Machen Sie mir doch nichts weiß. Ich hatte noch nicht die Ehre, Sie zu kennen, aber wie ich Sie heute mit dem Capitän Tormerpick aus dem Schwanen treten sah, vertraulich, Arm in Arm, von Geschäften redend, -- ich war im Kaffeehause gegenüber, -- da hatte ich's auf der Stelle weg. Der Capitän hat den Ruf, mit Seelen zu handeln, und nach dem Sprüchlein: »Gleich und gleich...«« »Sie erzeigen mir viel Ehre, mein Herr!« »Noch mehr, mein werthester Geschäftsfreund. Ich will Ihnen Credit geben: ein Capital; solid und unverzinslich; im Gegentheil: ich will die Deposit-Interessen tragen.« »Ich begreife Sie nicht.« »Werden's alsobald. Sub dato Morgen oder Uebermorgen liefre ich Ihnen eine Seele: kerngesund, jung, von denselben Schultern und Fäusten; etwas naseweis zwar und ungezogen, allein in den Colonieen hat man vortreffliche Schulen aufgerichtet. Soll mich der Teufel holen, wenn die gute Seele nicht ihre 2000 spanische Taler werth ist, wie einen Albus. Nun, acceptiren Sie? Die Emballirkosten trage ich noch obenein aus meinem Beutel...« »Erklären Sie sich deutlicher.« »Parbleu! ich habe schon Alles gesagt. Als ich Sie da so allein und brütend sitzen sah, fuhr mir's gerade durch den Kopf. Mit einem Worte: ich weiß einen Burschen, den diverse Leute gern vom Halse haben möchten. Er hat Bärenkraft, und der Stock wird seinen harten Kopf schon zurechte bringen. Meinen Namen sollen Sie indessen gut behalten, aber ich garantire Ihnen meine Solvabilität. Ich bezahle die Fang- und Transportkosten bis an das Schiff. Schlagen Sie ein, und sagen Sie mir, wann die Promesse liquidirt werden soll.« »Das ist noch sehr zu überlegen, mein Herr,« versetzte der Doctor lächelnd: »wenn Ihnen morgen noch eine Unterredung beliebt, so finden Sie sich um dieselbe Stunde hier ein. Für heute muß ich meiner Unterhaltung ein Ende machen, da, wie ich sehe, ein Freund, den ich hierher beschied, uns zu stören kommt.« »Meinetwegen!« sagte Nothhaft, des Doctors Hand schüttelnd: »Auf Morgen also. Ew. Edeln, fehlen Sie nicht, ich werde auf dem Platze sein.« Er ging, und Litzach, der schon vor einigen Minuten auf der Mailbahn erschienen war, kam. Der Doctor hatte Mühe, den Mann unter der übertrieben großen Perücke, dem pfirsichblüthfarbigen Sammetkleide mit Seidenstickerei verbrämt, zu erkennen. Das hagere, kummervolle Gesicht des Schauspielers paßte so wenig zu dem Staatsrocke, als die unscheinbaren Strümpfe, der zerknitterte Hut und die unmäßige Bandschleife, die vom kurzen Degen in verblichenen Farben herniederhing. »Setzt Euch, mein Herr!« sagte der Doctor voll mitleidiger Höflichkeit: »Für's Erste: erzählt mir, wie es in Eurem Hause steht!« »Meine Alte lebt noch,« antwortete Litzach: »der Doctor meint jetzo, sie werde am Leben bleiben, und Gott sei gepriesen dafür. Mitleidige Menschen haben meine Hütte mit ihren Wohlthaten erfüllt, und der Principal machte mir so eben das schmeichelhafte Compliment: ich hätte meine Lazzi noch nie so gut gemacht, als heute. Die Leute haben viel gelacht, und der extemporirte Spaß floß mir nur so vom Munde. Gottlob! ich darf hoffen, daß mich der Impresar behält.« »Das Alles macht mir Freude,« versetzte der Doctor: »Ihr möget wissen, Monsieur, daß ich Euch schon lange kenne, wenn Ihr der Litzach seid, der auf der Jesuitenschule zu Augsburg studirte.« »Der bin ich,« sagte Litzach seufzend: »und Sie, mein Herr?« »Ich bin Münzner,« erwiderte der Doctor. »Münzner?« wiederholte Litzach, wie sich besinnend, ergriff dann des Doctors Hände, sah ihm lange ins Gesicht, drückte dann einige Augenblicke, wie von Erinnerung verklärt, die Augen zu, öffnete sie wieder weit, und rief mit einem tiefen Athemzuge: »Weiß es Gott: das ist Xavers redliches, ehrbares Antlitz! Ach! habe ich denn das fröhliche Angedenken an Schul- und Jugendfreundschaft verdient? Wir haben uns »Du« genannt, mein lieber, alter Xaver! fürchte jedoch nicht, daß ich noch jetzt, wenn fremde Leute zugegen sind, das »Du« gebrauchen werde! du bist gewiß ein gelehrter und reicher Mann geworden, ich hingegen nur ein armer, verachteter Comödiant. Aber, erlaube mir, dich wenigstens in der ersten Stunde des Wiedersehens mit dem vertraulichen Namen zu begrüßen. Erlaube, daß ich dich nur jetzo Bruder nennen darf; das wird mich erheben auf lange Zeit.« »Rede, mein armer Litzach! Erzähle mir, was dir seit unserer Trennung begegnete.« »Ich könnte hierauf antworten: Unglück, Unglück, Unglück! und Alles wäre gesagt; aber du willst, ich soll weitläufiger sein, und so will ich dir folgen, obschon ich dennoch nicht viel Worte machen werde. Ich hatte meine Schulen perfekt durchgemacht, viel im Kopfe, und auch, Dank meiner sparsamen Eltern, viel im Beutel. Das war ein Unglück. Ich hing die Wissenschaften an den Nagel, lebte in Hülle und Fülle, versuchte es im Kriege bei einer Freipartie, und kam endlich ganz herunter. Der Kasten war leer, der Kopf wüst geworden, und in meinen besten Jahren stand ich da, und fragte mich, wie ich mich als zehnjähriger Bube gefragt hatte: »Was willst du werden? Was anfangen? Was unternehmen?« Zu jener Zeit kam die Merseburgische Comödiantenbande nach dem Orte, der meinen letzten Heller verschlungen hatte, und ich erinnerte mich plötzlich, daß man uns im Collegium auch hin und wieder hatte Comödie spielen lassen. Wenn du dich erinnerst, so wirst du wissen, daß man mich um meines glatten Gesichts und meiner schwächlichen Gliedmaßen willen, vorzugsweise erwählt hatte, die Weibsbilder zu agiren. Ich habe die Judith gespielt und die Herodia, und sogar einmal die Lalage in dem Schäferspiele: »Der treue Hirt,« womit der junge Professor der Rhetorik einst zu Augsburg so viel Aergerniß anrichtete. -- Ei! dachte ich bei mir; wenn die Väter der Gesellschaft Jesu das Comödienspiel bei ihren jungen Leuten einführten, warum soll ich nicht mein Brod verdienen, wie andere verdorbene Studenten und reducirte Soldaten? Gedacht, gethan. Der Principal Richter nahm mich an, und eine recht fröhliche Wanderzeit begann für mich. Damals, lieber Münzner, machte ich nicht den Hanswurst, sondern die Amanten. Ich stellte vornehme Leute auf der Bühne vor, und trug mich auch nobel außer derselben, in Tressenröcken und sorgfältiger Wäsche. Hätte ich mich nur nicht verliebt!« »Bis hieher war ich frei, und hatte nichts geliebet; Doch, daß mir diese Pein die Sinnen nie betrübet, Kam nicht von Tugend her. Weil mich der Wahn verkehrt Schätz' ich aus Uebermuth nicht _eine_ meiner werth, Bis ich das Wunderbild beschauet, Das mich vor dem ergötzt, ob dem mir jetzund grauet.« »Ich rede von meiner Frau, eines herrschaftlichen Beamten Tochter zu Halberstadt. Wie sehr empfand ich den Dichter, als ich sie sah:« »Die als ein Wirbelwind mich hin und her gerückt, Und mein zerscheitert Schiff in langem Sturm zerstückt! Ich sah sie, und entbrannt'! sie fühlte neue Flammen! Kurz: ihr und mein Gemüth, die stimmten wohl zusammen!« »Ich entführte die Liebste. Der Fluch ihres Vaters folgte uns nach, und, sobald meines Weibes Eltern in die Grube gesunken, fiel das Elend über uns her. Der lustige Name, den ich mir beigelegt, war ein schneidender Spott auf unsere traurige Lage. Katharine hatte nicht ein bischen Geschick zu der Comödie. Man _lachte_ sie aus, sobald sie sich nur zeigte: der Principal zankte, und ich antwortete gallebitter, und wir wurden von der Gesellschaft weggeschickt. Eine schwere Brustkrankheit warf mich nieder, und verschlang Alles, was wir hatten! Am Stabe schleichend, von Katharinen geführt, die unser erstes Kind auf dem Rücken trug, bettelte ich mich weiter, von Kloster zu Kloster, von Spital zu Spital, von Bande zu Bande. Endlich fanden wir einen gutmüthigen Principal, der uns einen Wochenlohn anbot. Mein Weib sollte für die Truppe waschen, _ich_ sollte agiren. Aber mit dem Amoroso war's vorbei! Ich hatte keine Stimme mehr, und keine Kraft. Der Principal richtete mich zum Rüpel ab. Ach, Münzner! wie war mir zu Muthe, als ich zum ersten Male als Narr auf die Bretter trat! Daheim lag mein Jüngstes im Sarge, meine Katharine, der Niederkunft gewärtig, auf dem Strohlager, und sie war allein, und nur Hunger und Mangel saßen an ihrer Seite, und ich mußte Possen reißen, und die bittern Thränen der Verzweiflung flossen aus meinen Augen über die geschminkte Narrenlarve in den Kienrußbart!« Litzach wischte sich eine Zähre von der Wange, und fuhr gepreßten Herzens fort: »Ich machte den Lustigmacher schlecht. Die Zuschauer meinten, ich sei ein betrübter weinerlicher Narr; sie warfen mich mit verdorbenen Aepfeln, und der Principal zog mir die Jacke aus, und schickte mich fort. Als ich heimkam, brachte mir die Wehmutter einen Buben entgegen, den sie um Gotteswillen empfangen hatte, und _ich_ brachte der Mutter meine Kindes sechszehn Groschen -- und -- den Abschied.« »Herr Gott!« seufzte der Doctor. Litzach fuhr fort: »Ja, mein lieber, alter Freund: wer nur als Zuschauer vor dem gemalten Vorhange der Comödie steht, weiß nicht, wie viel gebrochene Herzen unter dem Tand der Flimmer-Kleidung schlagen. Ist es gerade nicht Kummer, der die Brust der Maskenspieler zerreißt, so ist es der giftige Neid, so ist es die brütende Unzufriedenheit, die hinter dem bunten Spiele eine fröhliche Welt suchte, und nur kümmerliche Lappen und eine trostlose Zukunft fand. Der Leichtsinn nur, dem Alles gleichgültig geworden, mag ruhig in diesem Getobe niedriger Leidenschaften schlafen; auf diesem wankenden Boden, den Prahlerei und Jammer beherrschen. Was uns Geschicklichkeit erwirbt, raubt uns auf der anderen Seite die Ungewißheit unserer Lage, und die Verachtung, die auf uns lastet. -- Ich überspringe nun manches Jahr des Unheils, und bemerke blos, daß ich in der Zeit einen Theil jenes Leichtsinns mir errang. Ich wurde stumpf, fühllos; ich lernte seltsame und lächerliche Grimassen machen und Capriolen schneiden, ob mir schon der Tod an der Kehle säße. Ich errang den Ruf eine guten Comödianten, eines possierlichen Burschen, ich fand ein besseres Brod. Ich hatte gespart: ich hatte meinen Kindern ganze Kleidungsstücke angeschafft, meine Katharine mit dem Nöthigsten versehen; ich hatte ein Bett gekauft, und beinahe schon die Summe zu einem Plüschrocke beisammen, der mich in den Stand gesetzt hätte, reputirlich unter die Leute zu geben, als Katharine in die langwierige Krankheit verfiel. Unser Wohlstand verging wie eine Seifenblase, und ein Dienst, den ich bei der Gesellschaft des sel. Velten antreten sollte, mußte ebenfalls aufgegeben werden. So kam ich hierher, so fandest du mich. Nach langen Jahren erregt dein Anblick, Münzner, wieder das erste lebhaft frohe Gefühl in meinem Herzen. Die Hoffnung, daß meine Katharine leben wird, und dein Wiederfinden, macht mich glücklich. Ach, wie wahr redet der unvergleichliche Lohenstein in einem seiner Trauerstücke: Je finsterer die Nacht, je heller ist das Licht: Je öfter man die Hand an spitz'ge Dörner sticht, Je mehr bekränzt man sich mit blutbemilchten Rosen: Je mehr die Mittagshitz uns sticht, je süßer tosen Die feuchten Abendlüft'; ist Wetter, Sturm und Well' Und Wolke trüb und schwarz, so dünkt uns noch so hell Und lustig Sonn' und Port. Die steinern harten Ketten, Die Felsenlast, die uns zu Boden schier getreten, Des Lebens steter Tod, der jeden Blick uns schreckt, Das dunkel-grause Loch, in das wir eingesteckt, Der Trauerrauch hat sich verkehrt in sanfte Wonne, Die Nacht hat sich verstellt in eine lichte Sonne!« Nach diesen pathetisch hergesagten Worten schüttelte der Schauspieler des Doctors Hand noch einmal herzlich, und ein warmer Tropfen fiel auf diese Hand. »Du bist mit dem Weibe, das du _deines_ nennst, nicht copulirt?« fragte der Doctor. »Die Ehen in unsrer Gilde,« erwiderte Litzach beschämt, »sind meistens wild, und leider ist's auch die meinige. Jedoch thut es mir und Katharinen sehr wehe, daß, unsern unablässigen Versuchen zum Trotz, sich noch kein Geistlicher unterstanden, unsern Bund zu segnen.« »Ich will es thun;« erwiderte der Doctor: »aber, die Hand auf den Mund, mein Freund, und eine Bedingung zugesichert.« »Ach, Ew. Hochwürden...« stammelte Litzach entzückt: »Ich will schweigen, wie das Grab, ... ich verstehe Sie wohl ... aber -- welche Bedingung?« »Eure Kinder müssen katholisch sein. Vermuthlich sind sie lutherisch getauft, da Euer Weib es ist, wie ich glaube.« »Ew. Hochwürden,« stammelte Litzach verlegen, »die armen Würmer sind noch gar nicht getauft. Die Kosten -- und dann die Scheu der meisten Geistlichen, ... wie gerne will ich...« »Gut;« versetzte der Doctor: »ihnen soll geholfen werden. Ich will Euch zu mir berufen lassen, Freund; die Seelen müssen gerettet sein, und Eure Noth gemildert. Ich will mehr für Euch thun, wenn Ihr verschwiegen seid und bereitwillig, das zu erfüllen, was ich im vorkommenden Falle von Euch verlangen werde. Entsagt indessen der Hanswurstjacke: ich will Euch eine Empfehlung auf das nächste Dorf, Breitenbach, mitgeben. Kost, Lagerstätte und Geborgenheit werden Euch dort nicht entstehen. Dann will ich weiter sehen, was zu Eurem Besten gereichen möchte.« »Ach, Engel Gottes!« rief Litzach: »wie soll ich danken...? Aber -- ich soll acht Tage vorher dem Principal aufkündigen, -- und dann ... bin ich in seiner Schuld. Mein Wochenlohn beträgt zwei Thaler und acht Groschen extra, was man gewöhnlich in der Kunstsprache Rekreation oder Biergeld zu nennen pflegt. Ich habe indessen einen Vorschuß von drei Thalern etlichen Groschen abzuzahlen, und...« »Mein Jesus! welch' betrübte Rechnung!« seufzte der Doctor voll Mitgefühl, und reichte dem Schauspieler eine Hand voll Geldes: »Sagt dem filzigen Direktor auf: im Augenblicke, und zahlt ihm den Bettel von drei Thalern. So soll nicht gesagt sein, daß ein Zögling der Väter von der Gesellschaft Jesu länger in solcher Dienstbarkeit bestehe. Geht, mein Freund. Ich werde Euch rufen lassen. Erquickt Eure Kranken und Hungrigen, und danket dem Herrn!« Litzach jauchzte: »Ja, mein Wohlthäter! Den Herrn und Sie werde ich preisen, -- dem Principal sein Geld und seine Kleider vor die Füße werfen, und voll Hoffnung erwarten, was Sie über mich beschließen. Von diesem Gelde kann ich mit den Meinen einen Monat lang durchkommen, und mein Glück ist gemacht! Wir Menschen irren stets. Wo wir uns sicher trauen, Sinkt unser Schiff in Grund. Wenn man's verloren hält, Hat das Verhängniß oft das beste Glück bestellt!« So rief er noch mit allem Aufwande seiner rhetorischen Kunst, und eilte mit geflügelten Schritten der Bude zu, aus welcher die befriedigten Zuschauer gerade nach Hause strömen. Der Doctor fand sich, da die größte Menge über die Mailbahn zog, in seinen Betrachtungen gestört, und wanderte, mit seinem Tagewerke wohl zufrieden, gegen seine Wohnung. James berichtete ihm: Der Senator Müssinger sei vor wenigen Minuten plötzlich bei dem Doctor eingetreten, habe sich eilig und zerstreut nach demselben erkundigt, und darauf mit zitternden Händen ein Billet geschrieben, das der junge Mann dem Doctor wohl unversiegelt zustellte. Der Senator sagte darin mit bebend gezeichneten Schriftzügen: »Mein einziger mitfühlender Jugendfreund! Ich verzweifle, Ew. Edeln nicht in =loco= zu finden. Kommen Sie eiligst, sobald Sie können, in meine Schreibstube. Wir werden ganz allein sein. Ich stehe am Rande einer Seelen-Crida; _Sie_ nur vermögen mir zu rathen. So eben erhalte ich den Aviso: der junge Birsher von New-York ist in Person hier angekommen!« Zweiter Theil. Erster Abschnitt. Der Freier. -- Jacobinens Geheimniß. -- Das Senators Tröster. -- Georg Birsher. -- Tischgespräche. -- Häuslicher Sturm. -- Justinens Opfer. -- Abendunterhaltungen. -- St. Sebastian und die heilige Pulcheria. -- Das Gespenst. -- Der Superior. -- Seine Philosophie. -- Wuth der Leidenschaft. -- Qual der Schuld. -- Neues Ungewitter. -- Der Heilige unter den Myrthen. -- Die Geisterbannerin. -- Verlobung. -- Vorträge auf der Mailbahn. -- Plaudern zur Unzeit. Nothhaft war schon seit den ersten Frühstunden im Hause des Senators herumgegangen, -- glänzend, strahlend, hoffärtig wie ein Pfau. Feiertäglich geputzt, vom Tressenhute bis zur schweren Silberschnalle am Korduanschuh mit dem leuchteten Absatze, hatte er mehrere Male an die Thüre des Principals geklopft, und murrend von der Verschlossenen Abschied genommen. So hielt er Schildwachtposten und Schildwachtgang durch's ganze Haus, getraute sich aus Respekt nicht den Fuß in der Senatorin Zimmer zu setzen, und hielt es unter seiner Würde, in die Schreibstube zu treten, durch deren Fensterchen Berndt den geputzten Wandler mit neugierig neidischen Augen betrachtete. Endlich, -- von mancher Priese Tabak gestärkt, und an dem Glauben haltend, daß Geduld Alles überwinde, besiegte der Commis, der nichts Geringes im Schilde führte, die schleichende Zeit und seinen Unmuth. Die Hausthüre ging auf; der Senator kam heim. Mit einer vertraulich patzigen Verbeugung empfing ihn Nothhaft an der obern Treppenstufe, und sein Herz lachte im Stillen, denn sein Benehmen schien zu wirken. Der hochfahrende Senator hatte völlig die Miene eines betretenen Kindes angenommen. Seine Stirne lag zwar glatt und freundlich, aber in den Augen saß eine gewisse unerklärliche Demuth, und seine Stimme war lammfromm und gemäßigt. »Was verlangt Er, mein Sohn?« fragte der Senator, nachdem er den Commis in seine Stube gewinkt; und stolzer hielt Nothhaft sein Haupt, und nachlässiger spielte er mit dem Uhrbande. »So geputzt?« fuhr Müssinger fort, mit niedergeschlagenen Augen den umherschweifenden des Dieners ausweichend: »Ich wette darauf, der junge Herr will mich besänftigen, daß ich nicht zürne, weil Er bereits zween Tage lang gefaullenzt hat? Danke Er Gott, Monsieur, daß ich nicht so strenge wie der Buchhalter bin, und mich überhaupt heute in einer Laune befinde, die mich nicht zum Zanken kommen läßt. Es sei Ihm Alles vergeben, aber continuire Er dafür in Seinem vorigen Fleiße.« »Es hat sich hier Nichts zu vergeben, Herr Senator und geschätztester Principal,« antwortete Nothhaft ziemlich dreist und nachdrücklich; »die Ursache meiner Abwesenheit von Dero Comptoir wird mich, -- so hoffe ich, -- sehr genügend entschuldigen. Ich bin hier, um dieselbe gebührend vorzutragen, da Ew. Edeln Geschäfte gestern und vorgestern mir Solches unmöglich gemacht. Freilich sollte ich gebührenderweise schwarz wie ein Tintenfaß vor Ihnen stehen; allein, erstens hat der saumselige Schneider mich noch nicht mit Kleidern versorgt, -- und -- zweitens -- will sich's wohl ziemen, -- da eine fröhliche Botschaft an der traurigen hängt, daß ich ihrer im fröhlichen Kleide gedenke. Wissen Sie demnach, Hochzuverehrender, daß mein Herr Vater, -- bis dato Kaufmann und Rathsherr in meiner Geburtsstadt, am verwichenen Freitage im 70sten Jahre seines Alters das Zeitliche mit dem Ewigen vertauscht hat. Ich bin sein einziger Erbe in Haus und Gewölbe geworden, und -- wie mir schmeichelhafte Verwandte versichern, -- würde der Magistrat sich nicht lange sperren, mir auch den Rathsstuhl des Verewigten als vollgültiges wohlerworbenes Erbe zu überlassen.« Der Senator war unwillkürlich vom Stuhle aufgestanden, hatte einen nebenstehenden Sessel herbeigezogen, und winkte lächelnd und verbindlich dem Commis, Platz darauf zu nehmen. Nothhaft ließ sich nicht lange bitten, und indessen sprach Müssinger sehr freundschaftlich: »Sehen Sie, bester Herr Nothhaft; der Tod ist so eigentlich kein Unglück, sondern ein _Soll_, das früher oder später jeder Lebensnegoziant zu saldiren hat. Trösten Sie sich demnach über den herben Verlust, und genehmigen Sie den wärmsten Ausdruck meiner Theilnahme an Ihrem fernern Wohlergehen. Dieses wird nun freilich lediglich von Ihnen abhängen, denn Sie haben in meinem Geschäfte von der edeln Handels-Wissenschaft ohne Zweifel so Vieles profitirt, daß Sie ganz gut auf Dero eigenen Füßen werden stehen können. Behalte mir demnach nur die Fortdauer Ihrer freundschaftlichen Anhänglichkeit vor, und bitte mir zu nächstem Sonntag die Ehre aus, Ihnen mit einem Löffel Suppe aufwarten zu dürfen, wie ein Handelsfreund dem Andern.« Müssinger hätte hier gerne, nachdem er der Förmlichkeit ihr Recht gegeben, das Gespräch beendet, aber Nothhaft saß immer noch breit und lästig im Stuhle, nickte vornehm dankend mit dem Kopfe, und hob an, den Zweisprach weiter fortzuspinnen. »Eben darum, geehrter Herr Senator,« -- sagte er -- »weil ich weiß, wie förderlich mir Ihre Freundschaft ist, und gewesen, so wie auch die Meinige =vice versa=, so unterstehe ich mich, an obige Trauer-Nachricht ein artiges Vergnügen zu knüpfen, indem ich auf ein Band hinweise, das unsre bisherige Freundschaft-Societät zu befestigen geschickt sein möchte. Mein seliger Herr Vater hat jeden Albus sechsmal umgewendet, ehe er ihn ausgab, und vermittelst dieses Grundsatzes einen ansehnlichen Kasten voll harter Thaler zusammengespart: ein Tuchgeschäft in vollem Gange, eine Wein-Fabrik, ein wohleingerichtetes Haus, Gartenland und Ackerfeld, Brunnen und Stall, Geschirr von Silber und Ringe von Gold. Alles dieses ist mein, und mir geht nichts ab, als ein Weib. Ich halte demnach, geziemend und gebührend, um Ew. Edeln Tochter an. Jungfer Justine ist zwar ein schwieriges, schnippiges Ding; aber ich mag sie doch wohl leiden, und hat man erst ein Dutzend Wochen im Ehestande zugebracht, so findet sich Alles hinterdrein.« -- Der Senator saß verstummt da, und lächelte vor sich hin; ob aus Spott oder aus Ueberraschung? Dann erwiderte er ziemlich treuherzig: »Lieber Herr Nothhaft! Sie thun mir unläugbar eine Ehre an, so wie Justinen. Aber, Bester! -- sollte es Ihnen denn unbekannt sein, daß meine Tochter noch immer versprochen ist? Bevor Herr Birsher junior nicht sein Wort und das meinige aufgegeben...« »Täuschen Sie sich noch beständig mit dem Bräutigam aus New-York?« fragte Nothhaft achselzuckend; »geben Sie um Gotteswillen die Anwartschaft auf. Der junge Herr wird an Deutschland gedenken, und über kurz oder lang wohl die _Brautgeschenke_ wieder einfordern lassen, die sein armer Papa hieher bringen mußte; aber sicher nicht die _Braut_.« »So?« -- fragte Müssinger etwas gereizt. »Woher wissen Sie das? Sind Ihre Briefe sicher?« »Hm!« antwortete Nothhaft ruhig und bedeutend; »ich meine nur...; wenn ich der Sohn wäre -- ich könnte nimmer in das Haus heirathen, worinnen man meinen Vater ... begraben hätte.« Des Senators Mundwinkel zuckten krampfig. »Man muß es darauf ankommen lassen,« sagte er trotzig. »Lassen Sie's nicht ankommen,« fuhr Nothhaft fort: »verkennen Sie Ihren Vortheil nicht. Eine Verbindung mit mir ist Ihnen heilsamer, als eine Verwandtschaft mit dem Amerikaner. Ich habe zwar keine Million in Cassa; aber einen Mund, der schweigen kann, und einen milden Verstand, der mit dem Mantel der Liebe allzeit fertig und bereit steht, wenn gewisse Menschen-Irrthümer zur Sprache kommen wollen.« »Wie so? Wie begreife ich, was Sie mir sagen?« »Denken Sie an des alten Gastfreundes Sterbetag. Gedenken Sie des seltsamen Sterbefalls...« »Und nun, Monsieur? Was will Er ... was wollen Sie damit sagen?« »Der Pistolen auf der Diele, der verzettelten, gerade noch vor Thorschluß, möchte man sagen, quittirten Wechsel ... oder Verschreibungen...« Der Senator wurde weiß wie die Wand, stand auf, schöpfte tief Athem, und sagte mit gepreßter Stimme: »Sie sind ein schauerlicher Patron, und verstehen's, solche unangenehme Todes-Auftritte recht täuschend zu schildern, daß man sich unwillkürlich fürchten möchte.« »Herrlich!« rief Nothhaft, »um so schneller werden Sie mit der Heirath in Ordnung kommen. Schlagen Sie ein: Allianz! Respect dann vor Ihrer Firma!« »Ei! den müssen Sie auch haben, junger Mensch!« fuhr der Senator auf: »haben ohne Allianz! Sie thun absonderlich vertraut mit mir; mehr als sich's schicken dürfte! Werden wohl berathen sein, wenn Sie dieses unterwegs lassen!« Nothhaft sah den Aufblitzenden stutzig und verblüfft an. Die auflodernde Hitze reute indessen den Senator im Augenblicke. Er beruhigte sich gewaltsam, murrte ein finsteres: »Pfui!« gegen sich selbst gerichtet, in den Bart, und fuhr fort: »Verzeihen Sie mir den Ausfall. Ich habe mir vorgenommen, mich nicht zu erzürnen; aber die Zunge läuft manchmal wie ein toller Deserteur davon. Mit Permiß! so wir uns alterirten, wollen wir wieder Freunde sein. Das Schätzbare Ihrer Werbung ist mir nicht entgangen; aber sagen Sie selbst: ist es möglich, Ihnen etwas, das geringste aufmunternd zuzusagen, da der junge Birsher selber hier eingetroffen ist?« Nothhaft sprang überrascht vom Sessel. Er studirte lange an dem Ernste in des Senators Augen; dann sprach er hitzig, wie ein Pfeil schwirrt: »Wenn's in der That also ist, Herr Senator, so heißt's: Kurz resolvirt. Ueberlegen sie genau, wie's anzufangen sein möchte, damit der Herr von New-York nicht an's Ueberlegen komme. Parbleu! Ihr Jawort ist so gut als schon in meiner Tasche. Justinens wird sich dann schon finden. Apropos indessen, Ew. Edeln: dem ehrlichen Freiersmann kann es nicht angenehm vorkommen, wenn sich die Braut an ein fremdes, leider malhonnettes Volk hängen will. Jungfer Justine ist in der Education sehr vernachlässigt.« »Monsieur Nothhaft!« sagte Müssinger erstaunt, und wieder böse werdend. -- »Na! ruhig im Gemüthe, Herr Senator! Ich hab's aus guter Quelle. Der englische melancholische Junker, der hier im Hause den Sprachmeister abgiebt -- der verdient's, daß Sie ihm böse, gram und giftig werden. Er hat Justine gekirrt; Parbleu! ich weiß es sehr genau. Morgen-Promenaden -- im Frühroth -- Berndt hat's mit angesehen, wie sie plauderten, wie sie Abschied nahmen. Solche Lustwandeleien im Morgenthau mögen vielleicht unter den grobhäutigen Engländern gäng und gäbe sein, aber der gute Ruf unsrer deutschen Töchter und Schwestern bekömmt leicht davon den Schnupfen.« »Ich werde die Sache untersuchen,« erwiderte der Senator strenge; wendete sich aber von dem Freiwerber ab, damit er nicht die Röthe der Schaam auf seiner Stirne bemerke: »Verlassen Sie sich darauf: ist's wahr, -- soll's gewiß nicht mehr geschehen!« »Dann bin ich um meiner Jungfer Braut willen bereits content!« äußerte Nothhaft, den Weg zum Abschiede suchend. Der Senator ermangelte nicht, dem Zuversichtlichen zu bemerken, daß seinem Ansuchen bei weitem noch kein _Amen_ gesprochen worden, aber unwillkürlich nahm seine Rede einen trügerischen Schein an, und Nothhaft -- wäre er auch nicht der alte dumm-dreiste und hochmüthige Geck gewesen, wie sonst, -- hatte Ursache, mit mancher Hoffnung von dannen zu gehen. »Verzeihe mir der Himmel die Sünde, wie er mir heute bereits die schwereren vergab!« sagte der Senator leise vor sich hin, wie im Gebet; »ich konnte mir in der Verlegenheit des Augenblicks nicht anders helfen. Der freche Tölpel, der ein Endchen meiner Geheimnisse kennt, muß berücksichtigt werden, -- wenigstens, bis er die Stadt im Rücken, den Weg nach seiner Heimath unter der Sohle hat.« Er ging hin und her in der Stube, musterte seinen Schreibtisch, seine Bücher, -- zuckte auf wie vor dem Anblick einer Schlange, als er die bestaubte Hauspostille darunter gewahr wurde, schob sie mit unmuthiger Hand in einen klaffenden Wandschrank, und reinigte dann die Finger vom Staube. -- »Wie dieser Anblick mich plötzlich an die Jugend erinnert hat!« sagte er mit wehmüthigem Vorwurfe zu sich selbst; »dieses Buch, woraus ich meinen Eltern den Abendsegen lesen mußte, dessen Haupt-Predigt- und Erbauungsstellen ich auswendig gelernt hatte, trotz dem Vater-Unser... Dieses Buch, worein der Vater alle Begebenheiten unsers Hauses verzeichnete, wie eine Geschlechterchronik, -- dieses Buch soll mir von nun an ein Gräuel sein!« Er seufzte, drückte jedoch den Wandschrank entschlossen zu, und zog ein kleines Büchlein aus dem Busen, das er mit einer seltsamen Mischung von Neugierde, Zuversicht und Zweifel betrachtete. »Du sollst in Zukunft mein Hort sein?« fragte er flüsternd und setzte, darin blätternd, hinzu: »Ihr Heiligen Alle, deren Häupter aus diesen Bildern, mit Dornen und Blut bekränzt, schauen! nehmt Euch meiner an, daß ich nicht vergehe in muthlosem Schwanken! wahrt mir doch den Frieden, den ich kaum durch einen beispiellos raschen Entschluß gewonnen!« Sein Blick fiel auf den Rand eines Kupferstichs, und in dem Blicke ging es auf wie ein Freudenfeuer. »Münzner! Münzner! ist das nichts Claras Weltname? Und ist sie nicht der Engel, der heute mein Pathe gewesen? Und ich sollte friedlos bleiben, da sie für mich zu den Füßen des Heilands betet? Muth, mein Herz!« Die Glocke, die zum Frühstück rief, ertönte. Der Senator versteckte das Gebetbuch, zog sein Gesicht in die gebieterischen Alltags-Falten, und begab sich zur Wohnstube. Der Kaffee dampfte von dem blaudamastenen Tafeltuche, das glänzende goldgeringelte Porzellan, berührt von dem schweren silbernen Geräthe, erklang hell; im Uebrigen blieb es stumm in dem kleinen Kreise. Die Senatorin, die kaum den Morgengruß des Mannes erwidert hatte, saß, zwar ihm zur Seite, aber dennoch halb von ihm gewendet, und genoß, die Tasse in der bequem ruhenden Hand haltend, das Frühstück und den Morgenstrahl, der durch's Fenster schlug, zugleich. Justine hütete mit besorgten Blicken bald den stillen Vater, bald die feindselige Mutter, und bestellte die Frühstücks-Angelegenheit; schenkte ein, bediente, nöthigte wie es der Brauch war. Berndt saß unfern, wie ein Lämmchen, unfähig, ein Wässerchen zu trüben, unterrichtete bald den Principal von den Arbeiten, die er heute schon gethan, bald schoß er lauernde Blicke nach dem Mädchen. Der ernste Buchhalter, gegen jede Kaffebedienung deprecirend, zum zwanzigsten Male behauptend, daß er bereits in aller Frühe seine Portion genossen, stand hinter dem Herrn, und producirte eine eingelaufene Missive nach der Andern, eine Reihe abzusendender, und eine Menge der Unterschrift bedürftiger Papiere. Müssinger las und unterschrieb schweigend, sandte den Buchhalter hinunter, beschied Berndt in einer Stunde auf seine Stube, und fragte, nachdem auch dieser feuerroth hinweggegangen, mit ungewöhnlich sanftem Tone: »Wie nun, Jacobine, und du, mein Justinchen? Ist denn schon die Tafel für den zu erwartenden Gast geordnet?« -- Justine wollte die Mama antworten lassen, aber die Senatorin hatte dazu keine Lust. Mit einem tiefen Seufzer setzte sie die Tasse geräuschvoll hin, kehrte dem Senator völlig den Rücken, und starrte in's Blaue. -- »Ei, Jacobine...!« -- sagte Müssinger hierauf staunend und gereizt, -- näherte sich der Schmollenden, und wollte die Hand auf die Lehne des Stuhles legen, um sich vertraulich zu ihr herabzubücken; aber wie vor einem Scorpion fuhr die Senatorin empor, wischte schnell mit ihrem Schnupftuche die Stelle ihres Kleides ab, woran zufällig sein Finger gestreift hatte, und schritt trotzig und stumm in's Seitenzimmer. Die Thüre ging krachend hinter ihr zu. -- »Was bedeutet das?« -- fragte Müssinger, seine Jast kaum bezwingend. Justine erzählte schüchtern und verlegen, daß sich der Mutter Betragen seit ihrem Spaziergange von gestern nach dem Ritterhofe geändert habe; daß sie nichts über die Veranlassung zu diesem stummen Groll geäußert, und daß sie, Justine, von der Sache nicht das Geringste begreife. -- »Mit wem hat deine Mutter draußen gesprochen?« -- fragte der Vater mit krauser Stirne. Justine gestand, daß sie, in Scherz und Gelächter mit andern Personen ihres Alters und ihrer Bekanntschaft vertieft, es nicht bemerkt habe. »Welche unselige Grille beherrscht das Weib nun wieder!« -- sagte der Senator empört, aber wie mitleidig die Achseln ziehend. -- »Ist denn wohl ein Hausvater in dieser Stadt, der unglücklicher wäre, als ich? Diese stumpfsinnige Xantippe, die mein Leben verbittert...« Justine flog mit thränendem Auge an seinen Hals, und fragte: »Lieber Vater! Sind Sie denn auch mit _mir_ böse? Verdiene auch ich Ihren Unwillen?« -- Der Senator sah sie gerührt an, schob sie dann, plötzlich verfinstert, von sich, und antwortete: »Unter deinen Fehlern vermißte ich wenigstens bis heute die Heuchelei. _Nun_ tritt auch diese hervor. Ungerathene mit dem Unschuldsblick! Wohin hast du dich verirrt? Mit einem jungen Manne, der mein Vertrauen verräth, bist du am frühen Morgen auf den Gassen der Stadt gesehen worden. -- Bekenne! wohin führen diese Gänge? und seit wann?« -- Justine erbleichte ein wenig; allein sie war bald wieder gefaßt. »Berndt hat mich verläumdet,« -- sagte sie ruhig; -- »der Schleicher trat auf meinen Fersen in das Haus. Glauben Sie dem Menschen nicht. Verlangen Sie jedoch nicht, daß ich Ihnen mehr von dem Morgengange sage, als daß er nur ein einzig Mal -- Gestern -- statt gefunden, und daß ich die Hütte einer Armen aufgesucht. Um Alles Uebrige befragen Sie, wenn es Ihnen gefällt, den Monsieur White selbst.« »Welch ein kühnes Vertrauen!« -- rief Müssinger. -- »Ich will glauben, daß noch die Sünde nicht mit Euch ging. Was soll aber daraus in Zukunft werden? Du wirst, hoffe ich, nicht den thörichten Gedanken hegen, den bettelarmen Baronet, -- obendrein zu einer Zeit, wo dich noch andere Bande fesseln, die vielleicht fester zu knüpfen, dein Verlobter kam...« »Vollenden Sie nicht, Herr Vater,« versetzte Justine; »lernen Sie mich besser kennen. Ihre Besorgnisse sind grundlos. Da Herr Birsher hier angekommen, schickt sich's ohnehin nicht, daß ich den Besuch eines Mannes ferner annehme. Sie werden mich verbinden, wenn Sie Herrn White heute schon entlassen. In Frieden, denke ich, wenn Sie meinen Ruf schonen wollen. Was Berndt betrifft....« »Das ist meine Sorge!« ergänzte der Senator, und eilte auf seine Stube, wo sich Berndt demüthig und bald einfand. »Er hat sich erlaubt,« fuhr ihn der Principal mit Strenge an, »meine Tochter durch böse Nachrede zu verunglimpfen, und ihr einen Spaziergang zum Verbrechen zu machen, von dem ich unterrichtet war, und der einer Armen galt. Verläumder und Züngler dulde ich nicht in meinem Hause. Er hat sich um einen andern Dienst umzusehen, und mit Ablauf des Quartals von meiner Schreibstube abzuziehen. =Bon Dies.=« Stumm und niedergeschlagen entfernte sich Berndt, und murmelte zwischen den Zähnen: »Das kommt von Nothhaft, dem neidischen Bengel! Das gedenk' ich ihm!« Der Geist der Verdrossenheit hatte sich auf Müssingers Dach gelagert. Ein dumpfes Mißbehagen bedrängte Alle, die darunter wohnten, Justine ausgenommen, die mit unbefangenem Herzen, mit klaren Augen die Zukunft musterte. Freilich mischte sich auch in diese unbefangene Klarheit dann und wann ein wenig Unruh, wenn sie an den Verlobten dachte, der so plötzlich erschienen war; von dessen Wollen und Wünschen noch nichts verlautet hatte. »Wie wird er die Sache entscheiden?« fragte sie sich, »und will er mich noch heimführen, oder hat der Tod seines Vaters seinen vielleicht erzwungenen Vorsatz geändert? Aber: wie sieht wohl der junge Mann aus?« fragte sie sich noch weit öfter, und erbebte ein Bischen, dachte sie sich des alten Birshers Corpulenz, seine Perücke, seine Manieren, die sich vielleicht alle, wenn auch nach verjüngtem Maßstabe, in dem Sohne wiedergaben, wie im Spiegel. Werde ich ihn heirathen? -- war natürlich die letzte, die bedeutendste Frage, die Justine an ihren Verstand, an ihr Herz richtete. Der Verstand, der den Reichthum und das daraus entspringende heitere Leben zu schätzen wußte, sagte allerdings: Ja! aber das Herz? In diesem verborgensten Winkel tauchte von Zeit zu Zeit, einem spielenden Geist zu vergleichen, ein Bild auf, -- angenehm in seinen Zügen, unangenehm jedoch in seiner Bedeutung: James. -- Justine wurde nun sehr ernsthaft, sehr unruhig, und dankte dann dem Himmel von ganzer Seele, als dieses Bild nach kräftigem Bedenken mit einem Male verschwand, und nimmer wieder kam. -- So halte ich dem besorgten Vater Wort, und meiner eigenen Würde! -- sagte sie gleich einer Siegerin, und ging, eines hellen Entschlusses voll, die Schlüssel des Hauses einzufordern, um das Gastmahl zu rüsten. Frau Jacobine machte gar keine Schwierigkeit, auch heute die Wirthschaft dem Mädchen anzuvertrauen. »Du wälzest einen Stein von meinem Herzen!« -- sprach sie, die Schlüssel hinreichend, und wieder in die Kissen des Kanape's versinkend, in denen sie sich ausnahm, wie eine im Nachdenken Verlorne. »Darf ich nicht wissen, was Sie beängstigt oder ärgert, liebste Mutter?« -- fragte Justine mit sanfter Theilnahme. Die Mutter schlug die Hände zusammen, und schüttelte den Kopf mit Heftigkeit. »Frage mich nicht, Justine!« -- sagte sie alsdann mit phlegmatischem Pathos: »Es wird die Zeit kommen, da sich Alles enthüllen wird. Armes Kind! und ich ... eine arme Mutter! Mir bleibt nichts übrig, als zu überlegen, wie wir beide einer großen Seelengefahr zu entrinnen haben. Gott wird ja einen Engel schicken! Behalte indessen die Schlüssel dieses unseligen Hauses! In meinem Leben rühre ich sie nicht mehr an!« Sie schwieg verstockt, und Justine fürchtete für den Verstand der Mutter. »So werden Sie mir doch erlauben,« -- sprach sie, -- »eine Gehülfin zu erwählen; denn in der Zeit, als Herr Birsher hier aus- und eingehen wird, dürfte es viel zu thun geben, dem ich allein nicht gewachsen wäre.« »Wie du willst. Gott segne den Herrn Birsher! Er hätte aber besser gethan, zu New York zu bleiben. Wen willst du jedoch dir zur Seite setzen?« »Eine Freundin: Madame Laynez, eine Französin.« -- »Wer ist die Person? Ich kenne sie nicht.« -- »Die Frau Syndikus empfahl sie mir,« -- versetzte, um eine Antwort etwas verlegen, Justine. -- »So?« -- erwiderte Jacobine mit großen Augen; -- »meinethalben dann. Die Syndikussin empfiehlt sicher kein Gesindel; sonst möchte ich wohl gerathen haben, auf der Hut zu sein. Die Franzosen machen gerne lange Finger, und bei Gelegenheiten, wie die heutige...« -- »Lassen Sie mich walten, Mutter; und erheitern Sie sich. Dieser unbegreifliche Mißmuth würde den Gast verschüchtern und den Vater erzürnen.« »Den Vater?« -- rief die Mutter zusammenfahrend aus; -- »schweige von ihm. Ich will nichts von ihm wissen, nichts von ihm hören! Ich wollte, ich hätte ihn nie gesehen. Du wärest nie geboren worden!« -- »Mutter!« -- »Ich wollte, meine Augen müßten den fremden Gast nicht sehen. Aber -- nicht wahr, es wäre unschicklich, wenn ich bei Tische fehlte?« -- »Gewiß, liebe Mutter! Bedenken Sie selbst, -- die Frau vom Hause...« »Mein Heiland, ja! Was muß man nicht thun, um der Schicklichkeit willen? Was muß man nicht verschweigen und verbeißen um der Schande willen! Ach, liebste Tochter, ich werde viel leiden an dieser Tafel! Jeder Bissen wird mir im Munde quellen. Ach Gott! verzeihe mir meine Sünden; womit hab' ich aber all' diese Noth verdient?« »Ich fürchte mich bei Ihnen, Mutter!« »Bei mir?« ächzte das Weib, das sich mit Gewalt in eine Aufregung versetzte, die sich lächerlich und peinlich zugleich ausnahm; »bei mir, du gottloses Kind? Und ich bin doch ein Lamm, wie Schnee so rein; und ich habe dich zur Welt geboren, und ich sinne und sinne seit gestern, daß mir der Kopf schwindelt, wie ich dich, meinen Herzensschatz, mit mir zugleich erretten kann. An _mir_ sollst du dich halten, und nur Gott fürchten in Demuth, und ... deinen Vater in Angst! Fürchte dich vor dem Vater, wie das unschuldige Lamm vor dem Wolf! Thue von heute an nie mehr, was er begehrt, denn er begehrt nur unser Verderben.« Justine sah die Frau, die sich wie eine in Wahnsinn fallende zerängstigte, mit großen Augen, dann mit Mitleid, dann mit Geringschätzung an, drehte sich endlich kurz und gut um, und sah nach ihren Pflichten. »Was ich versprochen, kann ich heute schon mit dem Segen Gottes beginnen,« -- schrieb sie in Eile an die Laynez: »Kommen Sie, gute Frau. Versuchen Sie es für's Erste auf ein Paar Tage, wie es Ihnen gefallen möchte bei Ihrer herzlichen Freundin Justine.« Sie sendete diesen Zettel durch den dümmsten Packknecht ihres Vaters in den Johanniterhof an die Adresse, und verlor im Drang ihrer überhäuften Geschäfte bald die seltsamen Launen ihrer Mutter, -- sogar den eingeladenen merkwürdigen Gast aus den Gedanken. Indessen hatte sich bereits ein anderer Geladener in des Senators Stube eingestellt. Müssinger erkannte selbst beinahe den Eintretenden nicht, so sehr veränderte diesen der schwerbetreßte Rock, die ansehnlich bauschende Halsbinde und die große weiß erglänzende Perücke. »Im Namen des Herrn und Heilands!« sagte der Kommende -- Doctor Leupold -- mit leiser Stimme. »Amen, und willkommen, hochwürdiger Herr!« antwortete der Senator ebenso, und ging dem Doctor entgegen, ihm die Hand zu küssen, eine Ehrenbezeugung, deren sich Leupold weigerte. »Lassen Sie diese Förmlichkeit der Jugend und dem Volke, die in Respect gehalten werden müssen, mein werther Beicht- und Taufsohn,« sprach der Doctor. »Unser Verhältniß sei das eines Freundes zum Freunde. Ich finde Sie mit den Büchern beschäftigt, deren Studium ich Ihnen empfahl, und frage nicht, ob die heutige bedeutungsvolle Frühstunde Frucht getragen, oder nicht. Im Herzen des Frommen gedeiht stets die himmlische Speise, und der schnellste Entschluß belohnt sich am schnellsten. So wären wir denn nun _eins_ in Gott und seiner Kirche, bester Herr, und Sie haben ohne Zweifel die Gnade recht empfunden, die unser Heiland und Erlöser in Ihnen erweckte? Die Huld unsrer barmherzigen liebreichen Mutter-Kirche, die Ihnen erlaubt hat, alle Vorübungen, Prüfungen und Bräuchlichkeiten zu überspringen, um sich so schnell als möglich in ihre Arme zu werfen? Das Glück, das ich genoß, ich, eines der geringsten Rüstzeuge, die im Felde des Herrn zu seiner größern Ehre streiten, -- Ihr Führer zur Himmelsleiter sein zu dürfen, erfüllt mein Herz mit seligem Behagen. Und auch in Ihrem Herzen, mein Sohn, ist nunmehr Friede; nicht wahr?« »Wenn Glaube an unbedingte Erlassung Friede ist, so genieße ich des Friedens,« antwortete Müssinger. »Glaube ist allerdings der schützende Schild, und seine Wohlthat zögert nicht. Ich wette darauf, Herr Senator, Sie erwarten nun mit sicherem Fuße den Gast, vor dem Ihnen gestern noch gegraut.« »Ihres Beistands versichert, ohne Zweifel.« »Des Beistands des Herrn und seiner Schaaren, deren Engelfittich auch den _Gedanken_ der Sünde von Ihrem Bewußtsein scheuchte. Halten Sie sich an dem Bewußtsein Ihrer nunmehrigen Reinheit fest, und Sie werden nicht straucheln. Der Versucher naht wohl zuweilen dem Menschen; am häufigsten dem Gottgefälligen. Ich habe Ihnen den Lebenslauf unsers heiligen Ordensstifters und des herrlichen Heidenapostels Xaver in die Hände gegeben. Sie werden meinen Reden als Belege dienen. Aber -- je gefährlicher die Versuchung, je herrlicher der Sieg der Beständigkeit. Und auch das ist Versuchung, wenn dem Neubekehrten der Teufel ketzerischen Zweifelmuths ins Ohr raunt: bist du denn nun auf dem rechten Wege? Und auch das ist herrlicher Sieg, wenn der gottselige Jünger ihm antwortet: Ja, Satan! Trotz dir und deinen Schrecken! -- Sie verstehen mich. Ihre früheren Sünden _sind_ nicht mehr, denn das Blut unsers Herrn hat sie getilgt, und mein Priesterwort ist Ihnen dafür Bürge. Muth also, und ein klares Auge! Sie haben Gottes Gnade gewonnen; -- gewinnen Sie auch jetzo das Vertrauen des Ordens, der Ihnen Genesung brachte. Ein Thron ist schön, aber ein Coadjutor unser Gesellschaft selbst in weltlichen Dingen zu sein, ist ein weit schönerer Beruf.« »Verlassen Sie sich auf mich, sobald Sie mir über die gefährlichste Brücke geholfen haben, in allen Dingen, die nicht mit meiner Bürger- und Vaterpflicht in Widerspruche stehen.« »Verfängliche, aber unnöthige Klauseln!« lächelte der Doctor; »Vaterpflicht? Die Kirche ist ja selbst die liebendste Mutter. Bürgerpflicht? Ein relativer Begriff. Halbheit, mein Bester, führt nur zu Trostlosigkeit. Man muß, was man sein will, _ganz_ sein, und auf dem Wege der Religion kommen unsere Pflichten nie ins Gedränge, wenn man ohne des Vorurtheils Brille um sich schaut. Die Wahrheit ist immer nur _Eine_: das Recht ist stets nur _Eines_. Menschliche Satzungen fehlen; die göttliche Wahrheit nimmer. Sind Sie überzeugt, Ihrer Mitbürger Bestes zu wollen, so gehen Sie muthig zum Ziel. Wüthende Parteien und schielende Gesetze schelten gar zu oft Hochverrath, was man mit allen Bürgerkronen nicht aufwiegt, -- die Rettung des Vaterlandes. Ich behalte mir vor, Ihnen diese unerschütterlichen Grundsätze deutlicher auszuprägen, wenn sie zur Anwendung reifen sollten.« »Zur Anwendung?« fragte der Senator gedehnt, denn sein Kopf ging im wirbelnden Kreise. »So ists, mein Sohn,« erwiderte der Doctor ruhig; »die Gestirne wandeln ihre Bahn; folglich auch die Schicksale der Welten, der Völker, der Gemeinden, der einzelnen Menschen. Lassen Sie uns den Fall setzen, es wäre dem Himmel gefällig, in dieser Stadt die Anarchie des Lutherthums zu beendigen, die von dem unerforschlichen Rathschluß nur aus dem Grunde zugelassen worden ist, damit der erschlaffende Christussinn sich an dem Widerstande wetze und siegend wieder auflebe. Noch mehr: der Allmächtige hätte _Sie_ ausersehen, das Panier des wahren Glaubens, dem Sie freiwillig sich unterworfen, kühn und frei zu erheben. Würden Sie sich dessen weigern? Gott durch eine schimpfliche Feigheit beleidigen? Oder gestehen, daß Sie sich selbst belogen, als Sie sich dem Meßopfer zugewendet?« »Wahrlich, ich erstaune ob Ihrer Rede,« sagte der Senator mit Angstschweiß auf der Stirne: »welch einen Kampfplatz thun Sie mir in diesen Worten auf?« »Keinen gefährlichen; denn Gott würde mit dem Beharrlichen sein, und sein Engel den Satan stürzen. Beruhigen Sie sich indessen. Das Heldenbild eines solchen Kampfes lebt nur in der Einbildungskraft, nicht in der Zeit, die eine gemessene, mathematisch schleichende ist. Wir bekehren nicht mehr mit Feuer und Schwert, sondern mit dem kraftvollen Honig der überzeugenden Rede. Wir dringen uns nicht mehr den Völkern auf. Die Völker werden aber, vom geheimen Zuge ergriffen, alle zu unserm Tische treten. Die Wunder der grauen Judenzeit geschehen nicht mehr, sondern langsam, still webend, wie der Trieb der Natur, bereitet der Schöpfer seine Ereignisse vor; Mirakel, nicht kleiner als die der heiligen Bücher, aber mystischer als sie. Durch göttliche Schickung rüttelte sich der Wolf der Ketzerei los; aber mit dem Gifte erstand zugleich das Gegengift. Der Ursprung unserer Gesellschaft, ist er nicht ein Wunder? erzeugt im Staube, und herrlich fortblühend an der Brust der Könige? Zeigen Sie mir ein ähnliches Beispiel in der Geschichte aller Völker, und bezweifeln Sie den Fingerzeig des Herrn, der uns, seine Streiter erweckte; nicht zum blutdürstigen Morde, wie jene Dominikaner, die ihren Beruf, die Unseligen, verkannten; nicht zum faulen Bettel, wie jene schmutzigen Mönche des Franziskus von Assisi, welche ihre Sendung mit Füßen treten; sondern zu der schweren Arbeit, wie sie die Noth der Zeit erfordert. Warum wüthet man gegen uns? Weil man uns ungemessen fürchtet. Warum verläumdet man uns? Weil wir heller sehen, als alle Welt. Wie kömmt es aber, daß wir das können? Weil die hunderttausend Augen meiner Brüder nur ein Einziges sind, und ein scharfes; ihre hunderttausend Arme nur ein Einziger, und ein thätiger; beseelt von _einem_ Willen, von _einer_ Kraft. Ein Ziel ermißt unser Blick, nach dem _Einen_ greifen unsere Hände; nach dem _Einen_ schreitet unser Fuß: Ehre dem Herrn in der Höhe! Nachfolge dem Menschgewordenen Sohne und seinem Kreuze! Belehrung der Gläubigen, Zurechtweisung der Verirrten und der noch nicht im Geiste Gebornen! Aufrechthaltung der allein seligmachenden Kirche! Krieg auf Tod und Leben dem Satan der Zeit, welcher da ist _der_ der Unvernunft, _der_ der Hartnäckigkeit _der_ des Lasters! -- Hier nannte ich Ihnen in Kürze die Grundlagen unserer Bestimmung, die Zwecke unsers Daseins. Giebt es vortrefflichere auf Erden? Verdienen Sie nicht die größte Theilnahme, und den göttlichen Schutz, der ihnen so offenbar zu Theil geworden? Ueberall verbreitet, in jedem Welttheile angesiedelt, predigen wir die wahre, reine Religion. Wir haben ganze Völker dem Heile zugewendet; wir haben Halbthiere zu Menschen gemacht. Wir leiten das Gewissen der Fürsten; wir bewachen den Stuhl des Statthalters Jesu Christi. Unsere Schulen -- wer lobte sie nicht als die Vollkommensten! Unsere Zöglinge -- wer rühmte sie nicht als die Gelehrtesten? Meine Brüder -- wer hätte sich nicht an ihrer heitern Freundlichkeit, an ihrem milden Ernste, an ihrer Weisheit erquickt? Um jedoch ausgezeichnet und allumfassend wirken zu können, mußten wir umfassende Hilfsmittel wählen und schaffen: ein Band der Religion, der Wissenschaften, der Künste, der Gewerbe, des Handels um die Erde und die fernsten Meere legen. Für alle Bedürfnisse des Menschenwohls Sorge zu tragen, haben wir uns verbindlich gemacht; wir besitzen in unserm Ordensschooße alle Elemente dazu; die Mittel muß die Außenwelt geben, die uns freilich gern und oft zurückstoßen möchte, während sie uns danken sollte. Die kanonische Armuth der Kirche, die Kargheit der meisten Fürsten, versagt uns bedeutende Unterstützungen, und unsere Spekulation muß aushelfen; daher -- im Vertrauen -- unsere Colonien in fernen Welttheilen; daher Schiffe mit unserer Fracht auf dem Meere; daher das Bedürfniß, Stapel-, Lager- und Ausladungsplätze in allen Gegenden der Windrose zu besitzen. Ich komme jetzt ganz natürlich auf unser hiesiges Etablissement, das im Anbeginn einen solchen Lagerplatz ganz allein bezwecken sollte. Einige Vertraute waren nöthig; mein Vorgänger entdeckte jedoch viel Glauben, viel fromme Sehnsucht, und pflanzte die Reben des Herrn mit gutem Gedeihen an, so daß ich, sein unwürdiger Nachfolger, schon eine ansehnliche Zahl von Sprößlingen vorgefunden. Auch mit _mir_ war der Segen des Herrn und das Glück, das mich berief, _Ihnen_ zu dienen; dem alten bereuenden Freunde, dem nievergessenden Freunde Clara's. Ihr Einfluß, mein Sohn, wird, hoffe ich, viel Gefahr von unserer stillen Gemeinde abwenden, und ein guter Wächter für den Handelsvertrieb der Gesellschaft sein, die hingegen stets bereit sein will, ihre müßigen auf hiesigem Platze liegenden Capitalien in Ihre vertrauten Hände zu legen, und gegen billigen Zins zu lassen; so wie sie Ihnen auch bereits, -- gänzlich uneigennützig, und mit Ihren frommen Gesinnungen nicht bekannt -- die bewußten Wechsel auf Brasilien angeboten: so wie ein Freund dem andern zu dienen verpflichtet sein sollte.« »Ihrem Orden meinen Dank;« sagte der Senator erheitert: »ich will zu vergelten suchen, wie ich kann. Treue Freunde thun heut zu Tage Noth. Sie haben mein Ohr bezaubert durch Ihren kurzen Bericht und Ueberblick Ihrer Wirkungskreise. Wahrlich! ein solcher Verein ist ein Wunder, ein noch nie gesehenes, nie erhörtes; und Sie, hochwürdiger Herr, müssen sich im Paradiese wähnen, wenn Sie stündlich sich erinnern, auch ein Glied an dieser großen edeln Brüderkette zu sein!« Der Doctor sah bei dieser Wendung ernst und wehmüthig auf die stumpfen Spitzen seiner Schuhe, lehnte das Kinn auf den Rohrstock, und entgegnete nach einem verhaltenen Seufzer: »Je nun, Herr Senator! Jeder Beruf hat seine Last! und ich gehöre zu den Lastthieren unseres Ordensberufs. Herr Senator! um ein gläubig Gewissen, um ein ungeschwächtes Vertrauen auf die Unfehlbarkeit eines vorgesetzten Endzwecks ist's eine schöne Sache. Dieses Vertrauen auf Gott, meine Obern und meiner Pflicht wohlthätige Früchte ist mein Reichthum, mein Paradies. Die Pflichten selbst sind gar oft schwer, widern oft an; allein man tröstet sich mit der Fürsicht, die das Alles befiehlt und ordnet, und wissen muß, zu welchem guten Zweck Alles so befohlen und geordnet werden soll. Lichtpunkte in meinem Berufe und Treiben sind Vereinigungen, so erwünscht, so freundlich, wie die mit Ihnen im Namen der sanftesten Religion eingegangene. Clara betete für Ihr Glück! Clara's Freund feindlich mir gegenüber zu sehen, der Verdammniß verfallen, der Hoffnung bar, einst mit Claren, mit mir vereinigt zu werden!... Der Gedanke schmerzte mich tief, und indem ich Sie für unsere Lehre gewinnen durfte, gewann ich selbst einen Schatz tröstenden Bewußtseins!« Der Senator war bewegt, da er in die bewegten Augen des Doctors sah, und auch die seinigen gaben Thränen, und in einer herzlichen Umarmung erkannten sich Priester und Neophyt als höhere Würdenträger der Menschheit; als verwandte Gemüther, als Freunde. Der Senator sagte hierauf, indem er sich die Augen trocknete, und des Doctors Hand ergriff: »Was mir einfällt, mein würdiger Freund! Ihr Pflegesohn scheint Lust zu haben, ein Proselyt meiner Tochter zu werden, denn umgekehrt läßt sich bei des Mädchens Starrköpfigkeit die Sache nicht denken. Allein ... Sie begreifen ... und ersparen mir wohl fernere Erläuterung.« »Allem ist schon vorgebaut;« unterbrach ihn der Doctor: »mir ist's nicht entgangen, und dem jungen Menschen ist bereits Ihr Haus untersagt. Ihn binden frühere Pflichten, und Zeit ist's, daß sein Schwärmen endige.« »Welch ein Mann sind Sie!« rühmte der Senator, freudig des Doctors Hand schüttelnd: »solch' ein Scharfsinn -- solch' feine verhütende Moral lernt sich wahrlich nur in Ihren Collegien. Was sind dagegen unsere trockenen, dürren Gymnasien, wo man nur Buchstaben lernt, und nicht Menschenkenntniß? -- Was unsere Schreibstuben, in denen man den Charakter unserer Geschäftsfreunde, wie der Welt, nur nach den Zahlen taxirt, die sie in Gold oder Papieren aufzustapeln vermögen! Was Ihnen der klare Forscherblick schon verrathen, das mußte mir der Mund eines schleicherischen Handlungdieners...« Die Schelle am Hause wurde gezogen: einmal, zweimal, dreimal, bescheiden, aber steigend, wie sich dazumal geladene Fremde anzumelden pflegten, während Hausfreunde nur zweimal läuteten und Hausgenossen das ganze mit _einem_ derben Riß an der Schelle abzuthun gewohnt waren. Der Senator erblaßte; das Wort erstarrte in seinem Munde, ein heftiges Zittern überkam ihn. »Herr ... Birsher...!« stammelte er. Der Doctor rüttelte ihn zurecht, und sagte ihm tröstend und ermahnend: »Sie sind entsündigt. Im Namen der Dreieinigkeit! gehen Sie hin; trauen Sie auf meinen Beistand, und geben Sie nicht Anlaß zum Argwohn, noch Aergerniß!« Ein nachfolgender Zug an der Comptoirschelle benachrichtigte den Hausherrn, daß der Fremde hereingelassen worden, -- daß der Besuch nicht dem _Kaufmann_ allein gelte. Seine Pflicht zu erfüllen, nahm sich Müssinger zusammen, und ging dem die Treppe Ersteigenden höflich entgegen. Der große junge in Schwarz gekleidete Mann mit dem wenig gefärbten ernsten Gesichte und den hellen geradausschauenden Augen hätte den Senator beinahe wieder aus der Fassung gebracht; was indessen der erste Anblick verderben zu wollen schien, brachten die ersten Worte des Fremden wieder ins Geleis. Der junge Mann streckte, ohne den Hut zu rücken, aber mit offenem Gesichte dem Wirthe die Hände entgegen, und sagte: »Ei, herzlich willkommen, Herr Senator. Freue mich, Sie endlich zu sehen. Vor Allem Entschuldigung, daß ich mich gestern, von der Reise ermüdet, durch den Kellner anmelden ließ. Hierauf verbindlichen Dank für die Einladung, und -- das Beste kömmt zuletzt -- meine herzlichste Erkenntlichkeit für die Bewirthung meines armen Vaters.« Der Senator bückte sich äußerst verlegen, und öffnete die Thüre des Tafelzimmers. Ohne sich jedoch unterbrechen zu lassen, fuhr der junge Mann ruhig und behaglich fort: »Das Grab meines guten Vaters war das Erste, was ich hier besuchte. Meine Thräne ist darauf zurückgeblieben, und mein Segen nicht minder. Wir wollen uns jedoch, nach diesem Berichte, die Hände darauf geben, daß wir kein Wort mehr über sein Schicksal verlieren wollen. Sie übersehen gütigst die Farbe meiner Kleider, so wie ich selbst den eigenen Kummer übersehen will, um Ihnen nicht ein unerträglicher, unwillkommener Gast zu sein.« Der Senator sah den Doctor verwundert, aber mit erleichtertem Herzen an. Leupold studirte in dem Gesichte Birshers. Er erkannte seinen gestrigen Tischnachbar im Schwan. Dieselbe ruhige Unbefangenheit, die ihn im Gasthause ausgezeichnet hatte, verließ ihn auch heute nicht. Der ungewöhnliche Prunk, von welchem die Tafel strotzte, nöthigte ihm keinen Blick der Verwunderung ab, und, als sei er schon seit geraumer Frist ein Genosse dieser Tafelrunde, begrüßte er ohne förmliche Umschweife die geputzte Senatorin, die sich endlich einfand, und Justine, die im Kleide der Hausfrau erschien, um, der Küche entsagend, bei Tische das Ehrenamt zu verrichten. Nachdem Doctor Leupold von dem Senator den Seinigen und dem Fremden vorgestellt worden, begann das Mahl, dem heute im Uebrigen kein anderer Gast als der ernsthafte Buchhalter beiwohnte. Die Unterhaltung war anfänglich geschraubt. Der Senator bewachte mit ängstlichem Auge Herrn Birsher, die Senatorin saß mit stummem verzogenem Munde und niedergeschlagenen Augen, der Buchhalter schwieg nicht minder devot, und der Doctor allein führte mit dem New-Yorker ein unbedeutendes Gespräch. Justine beobachtete, und ihre Aufmerksamkeit, -- sobald es ihre Geschäfte erlaubten -- theilte sich zwischen Herrn Birsher und dem Doctor. Die Züge des Letztern hatten für sie etwas Bekanntes, mancher Anklang seiner Stimme war ihr ebenfalls nicht fremd, und dennoch hatte sie ihn im Cabinete des Vaters nur ein einzigmal -- beinahe _nicht_ gesehen, keine Sylbe aus seinem Munde gehört. Sie grübelte in der Erinnerung, gelangte jedoch zu keinem Ergebniß, weil ihr des Doctors Nachbar interessanter erschien. Wider Willen kehrte ihr Auge immer häufiger auf den jungen Amerikaner zurück, und sie mußte sich gestehen, daß ihre Phantasie an dem Manne eine Sünde begangen. Nicht die müde Behaglichkeit des Vaters, -- die entschlossene Ruhe eines mit sich selbst auf's Reine gekommenen Menschen, redete von dieser Stirne, aus diesen Blicken, die manchmal hell und fest den ihrigen begegneten, -- die ihr eine freundliche Bewunderung, verbunden mit einer beinahe ehrfurchtsvollen Scheu, einflößten. Sie horchte neugierig auf jedes seiner Worte; sie lächelte unwillkürlich und beifällig, als der Zurückhaltende endlich gesprächig wurde. -- Nach der dritten Speise schob Birsher mit einer leichten Verbeugung den Teller etwas zurück, und sagte: »der Hunger ist gestillt, und zum Vergnügen esse ich nicht. Ich erbitte mir daher die Vergünstigung, unangefochten und nachsichtsvoll beurtheilt, ein unthätiger Zeuge der fernern Mahlzeit sein zu dürfen.« Die Senatorin, viel auf Tafelgenüsse haltend, und dieselben sogar in ihrem jetzigen gereizten Zustande nicht vernachlässigend, warf dem Redner einen mißbilligenden, verwunderten Blick zu. Birsher bemerkte denselben, fuhr aber, ruhig und verbindlich zu der Frau vom Hause gewendet, fort: »Ein Paar Worte, hochzuverehrende Gastfreundin, werden hinreichen, den Verdacht einer Unschicklichkeit von mir zu entfernen. Ich habe es wohl erfahren, daß man in Deutschland die freundschaftlichen Mahlzeiten hochschätzt und sie verlängert; daß man den Grundsatz hegt, dem willkommenen Gast könne nie zu viel angeboten werden, und er könne hinwieder nie zu viel genießen. Bei uns in Amerika ist die Lebensart viel einfacher, so wie unsere Wohnungen, unser Tafelgeräthe und unsere Kleidungen einfacher sind. Drei Gerichte, eine Flasche Bier oder Wein, ein herzliches Tischgespräch von einer halben Stunde, ein aufrichtiges Gebet zum Beschluß -- das sind die Bestandtheile unserer Sonntags- und Feier-Tafeln. Lassen Sie mich bei dieser Gewohnheit, die meine Landessitte mir einprägte, die mir immer wohl bekam. Ich will, da ich meinen Theil _von_ diesem überprächtigen Gastmahle nicht gehörig annehmen darf, meinen Antheil zu der Unterhaltung geben, und fange damit an, Ihnen unumwunden zu bekennen, weßwegen ich im Grunde hierher gekommen bin.« Alle Anwesende neigten höflich das Haupt, und der Senator, um eine Erwiderung verlegen, sagte mit zweifelhaft schwankendem Tone: »Ew. Edeln kommen unsern Wünschen zuvor. Ich darf gestehen, ... daß ... so höchst angenehm mir auch Dero Ankunft erschienen, ich nicht begreife, wie es möglich wurde, Sie schon jetzt hier zu begrüßen. Meiner erprobten Berechnung gemäß könnte das schnellst segelnde Schiff kaum die Nachricht nach New-York gebracht haben, daß...« »Ihre Berechnung täuscht nicht, Herr Senator,« antwortete Birsher: »das dänische Kauffahrteischiff Kiöbenhaven, das vom Texel abging, mit der Depesche des Herrn van den Höcken befrachtet, kann erst seit drei Wochen, fiel die Fahrt vollkommen günstig aus, zu New-York angekommen sein. Doch hatte ich nicht auf eine Nachricht aus Europa gewartet. Eine Ahnung -- man möchte sagen, wie mein schottischer Faktor zu sagen pflegt: ein zweites Gesicht hat mich über's Meer getrieben!« »So?« fragte Doctor und Buchhalter. Des Senators Gesicht verlängerte sich. Die Frauen hingen mit ihren Blicken an dem Munde des Erzählers. Dieser bemerkte die gespannte Neugier, und sprach lächelnd weiter: »Erwarten Sie keine Gespenstergeschichte. Nichts Ungewöhnliches. Ein einfacher Traum ist's nur, der sich leicht erklärt, wenn man erfährt, daß Vater und ich uns unaussprechlich lieb gehabt. Um ein Capital zu retten, das in Ostfriesland unsicher stand, und um mir -- wovon nachher -- einen Schatz mitzubringen, unternahm der alte Herr die mühevolle Reise. Eine Art von Heimweh gesellte sich zu den obigen Motiven. Er hatte früher in Holland und Deutschland gelebt. Es war ihm in diesen Ländern wohl ergangen. Er wollte das Paradies seiner Jugend noch einmal sehen vor seinem Ende. Er hoffte, seine lästige Corpulenz auf der Seefahrt zu vermindern. Er bestand -- eigensinnig von jeher -- auf seinem Vorhaben, und segelte ab. Das Schiff hatte einen bedeutungsvollen Namen: Fare well! Mein Glück- und Segensruf hing sich an des Schiffes Wimpel, und -- setzte ich mich gleich stracks wieder vor die Bücher und die Correspondenz, so schaukelte sich doch meine Seele neben dem Vater auf dem fern hingleitenden Fare well! Diese Einbildung verwuchs, so zu sagen, mit mir, und gab sicherlich Anlaß zu dem Traume, der mir einst, geraume Zeit nach des Vaters Abfahrt, vorkam. Ich saß im Comptoir und schrieb. An die Thüre klopfte es. »Herein!« rief ich. Alles still. Nun stand ich auf und sah selbst nach. Vor der Thüre stand mein Vater: gekleidet, wie wohl sonst, aber blaß. Willkomm! sagte ich, und streckte die Hand aus. Er aber sprach: Beileibe, Freund Georg; ich bin ja gestorben, und muß in Europa bleiben. -- Ich fuhr auf, und das nächste Schiff nahm mich mit nach Holland. Van den Höcken sagte mir bei der Ankunft in Amsterdam nichts Neues. Ich war von der Wahrheit meiner Ahnung innig überzeugt.« »Das ist eine entsetzliche Geschichte!« sagte die Senatorin, und erhob sich, von Gespensterfurcht ergriffen, vom Stuhle, um mit starren Augen und bebendem Kinn von hinnen zu wanken. Der Senator, der auf glühenden Kohlen gesessen, beeilte sich, der Frau seinen Arm zum Weggehen anzubieten. Mit einer Geberde schaudernden Abscheu's stieß ihn jedoch Frau Jacobine zurück, griff mit heftiger Gewalt nach Justinens Hand, und verließ, auf dieselbe gestützt, das Eßzimmer. »Die Frau Senatorin scheint reizbarer zu sein, als ihre Constitution errathen läßt,« versetzte Birsher, etwas aus der Fassung gewichen; »ich habe dennoch nur Alltägliches erzählt, um einen Beitrag zur Seelenkunde zu geben.« »Ein merkwürdiger Beitrag allerdings,« hob der Doctor an, um des Senators betretene Beschämung zu bemänteln; »die Geschichte zeugt von Ihrer außerordentlichen Liebe zu dem Vater, dessen Tugend ein späteres Lebensziel verdient hätte.« »Ich habe beschlossen, daß er in seinen Vorsätzen, in seinen Wünschen fortlebe,« entgegnete Birsher: »sein Wille ist mir ein schätzbareres Vermächtniß als seine beträchtlichen Güter. Ich bin weniger gekommen, um hier das mir zustehende Erbtheil zu holen, als um den hochachtbaren Herrn Senator zu fragen, ob er die Freundschaft, die er für meinen Vater hegte, auf mich fortpflanzen, und mich, wie der Selige gewünscht, zu seinem Schwiegersohne an- und aufnehmen will.« »Herr Birsher,« stammelte der Senator, höchlich überrascht: »Ihr wackerer Sinn spricht sich so unerwartet aus, da...« »Was der Vater beschloß, will ich gehorsam ausführen! -- Von seinen Händen hätte ich blindlings die nie gesehene, ungeliebte Braut empfangen. Was soll ich nun thun, da ich die liebliche Jungfer gesehen, da ich aus jedem Munde nur ihr Lob vernommen? Ich bin kein Freund von vielem Reden. Ja oder Nein, Herr Senator? obschon unter Männern von Wort ein »Nein« nicht wohl denkbar ist. Ueberlegen Sie nicht, grübeln Sie nicht. Der Brautschmuck ist in Ihrem Hause. Das Capital, das mein Vater, es schon verloren gebend, zu Emdes rettete, hat er verwendet, gewisse Verbindlichkeiten, die Ew. Edlen gegen van den Höcken hatten, aufzulösen; die quittirten Verschreibungen zu der Jungfer Nadelgeld bestimmt. Mein Vater hat Alles im Voraus geleistet und besorgt .... werden Sie nun nicht auch das Ihrige gegen mich thun?« »Ich wills, ich werde es!« rief der Senator ausbrechend, weil ihm ein Felsenberg von der Brust fiel: »ich heiße Sie doppelt willkommen, als meinen lieben Sohn und Handelsfreund.« Er und Birsher schüttelten sich treuherzig die Hände. Der Buchhalter, mit dem Glase an das des Doctors klingend, rief eine jubelndes »Gratulor, gratulor von Herzen!« Der Doctor stieß wohl an, neigte sich wohl glückwünschend, aber auf seiner Stirne saß nicht das zufriedene Einverständniß. Wie hätte sich jedoch die Falte auf des welterfahrenen Mannes Antlitz lange halten können? Nun wurde der Senator lebendig. Die Spannung seines Gemüths schien wiedergekehrt zu sein, eine heftige Freude ihn zu beleben. Die silberne Schelle ertönte in seiner Hand. »Alicante!« rief er dem eintretenden Burschen zu: »vier Flaschen! Das Siegel mit den vier Thürmen! Frisch! Schnell! nicht gezaudert! die spanischen Kelchgläser mit den Lilien dazu! den Nachtisch herein! Justine soll kommen; sie soll kredenzen!« Und so ging es fort in Feuer und Leben. Der Niersteiner, der gerade auf dem Tische kreiste, floß in ungeduldigen Bächen in die traulichen Römer. Gesundheit auf Gesundheit wurde getrunken. Unter den fröhlichen Bewegungen der Gäste erzitterten beständig die silbernen Glöckchen an dem prächtigen spiegelverzierten Aufsatze, der, einen chinesischen Tempel vorstellend, mitten auf der Tafel stand; aber das Funkeln dieser schillernden Spiegel und bewegten Perlen war todte Asche gegen Müssingers strahlendes Auge; das Schellengetön verklang unter der tönenden Sprache seiner erweiterten Brust. Die Thüre ging auf. Einen silbernen Präsentirteller in der Hand, auf welchem sechs Kelche voll des köstlichen Alicante schimmerten, neben der geöffneten Flasche, die nun mit einer prachtvollen Blume verschlossen war; -- gefolgt von dem dienenden Burschen, der im Korbe die drei übrigen Flaschen nach sich schleppte, -- trat eine schöne Frau herein, in einfachem aber angenehmem Kleide, mit Wirthlichkeit kündender Florschürze angethan, und die zierlichen Hände von saubern Handschuhen bedeckt. Die Herren fuhren überrascht und grüßend auf. Der Senator blickte überraschter als die Uebrigen auf die ihm Unbekannte. »Mademoiselle Justine ist nicht zu finden,« sagte die angenehme Wirthin, den Wein mit einem Anstande umherreichend, als bediene sie eines Königs Tisch. »Um die verehrten Herren nicht allzu lange warten zu lassen, mußte ich also selbst ... entschuldigen Sie gütigst.« So eben trat Justine aus der Seitenthüre. Mit einem Blicke begriff sie die Verlegenheit der Helferin, die Ueberraschung des Senators, und sagte mit der freundlichsten Betonung, zu der ganzen Gesellschaft gewendet: »Madame de Lainez, die Wittwe eines im Felde gebliebenen königlich französischen Hauptmanns, meine sehr liebe Freundin, die sich heute erbitten ließ, meine häusliche Pflicht zu theilen und mir zu erleichtern.« »Freut mich unendlich,« versetzte der Senator mit einem Bückling, und wies der Erröthenden den ledigen Stuhl Jacobinens an. Die Lainez wollte sich, stumm versagend, empfehlen. Justine hielt sie aber zurück, sagte ihr viele schmeichelhafte Worte und behauptete: durch eine plötzliche Unpäßlichkeit der Mutter würde sich die Tafel verwaist sehen, wenn nicht eine liebenswürdige Frau den Platz einnehme. -- Leise flüsterte sie indessen der Lainez zu: »Bleiben Sie um Gotteswillen, meine Beste, und unterhalten Sie die Herren. Ich finde noch kein Wort, das nicht meiner Seele wehe thäte.« So fügte sich Madam Lainez endlich. »Bei Denain fiel Ihr Gemahl?« fragte nach einigen vorläufigen Erkundigungen der Senator: »er ist in einem rühmlichen Kampfe gefallen gegen ehrenhafte Feinde. Man muß gestehen, daß des Kaisers Truppen in den Niederlanden einen Schauplatz vielen Ruhms, und nur weniger Niederlagen gefunden haben. Meine Herren! der Prinz Eugen soll leben!« »Ich bitte, unsern Marlborough nicht zu vergessen,« sprach Birsher in den Gläserklang: »das Heldenpaar hat sich zu Malplaquet unsterblich gemacht. Ich habe mich oft gesehnt, Flandern zu besuchen, wo so viele Tapfere gefochten. Ich will es thun, und bei dieser Gelegenheit nicht versäumen, das ehrenvolle Bette Ihres Gemahls zu betreten, Madame. Wissen Sie aber, daß Ihr Name weniger militärische Erinnerungen als vielmehr geistliche erweckt? Wenn ich nicht irre, so nannte sich der zweite Ordensgeneral der Jesuiten Lainez. Er war ein ausgezeichneter Mann; seine Feinde selbst müssen es eingestehen, denn seiner rastlosen Bemühung verdankt diese furchtbare Gesellschaft ihren raschen Aufschwung.« Die Lainez schlug die Augen nieder und erwiderte: »mir ist von jenem Manne nichts bekannt. Auch hörte ich nie von meinem Manne, daß einst in seiner Familie...« »Wünschen Sie sich Glück, Madame,« unterbrach sie der junge Birsher mit freundlicher Bestimmtheit: »so floß in seinen Adern auch kein Tropfen jenes herrschsüchtigen Alles verachtenden Uebermuths, der in den Jüngern des Loyola und des Lainez sich hervorthut.« »Ja wohl! ja wohl!« äußerte der Buchhalter, besorgt den Kopf schüttelnd: »die Jesuiten! die Jesuiten! Wer diese Firma zuerst auf den Markt brachte...« »Man macht, denke ich, die Leute gefährlicher als sie sind,« sagte der Doctor gutmüthig lächelnd: »was meinen Sie, Herr Senator? Unser hochgeehrter Tischgenosse hat sich, wie ich glaube, mehr mit der verrufenen Gesellschaft Jesu abgegeben, als bei einem Kaufmann bräuchlich ist...« »Freilich,« sagte Birsher aufrichtig: »es ist ganz natürlich. Wir Leute zu New-York hören an jedem Sonntage den Prediger über den Papst und sein Reich den Bann aussprechen, und der Jesuiten, dieser Trabanten des Stuhls Petri, wird allerdings dabei auch nicht geschont. Ferner lesen wir historische Schriften. Und spräche nicht die Weltgeschichte zu uns, -- würde auch unser Prediger der Schildhalter des Papstthums nicht erwähnen, -- die Zeit würde es von selbst thun. Dieser gefährliche Orden ist unsers Standes Nebenbuhler, Herr Senator. In den katholischen Staaten sitzen Jesuiten am Ruder, und lenken die Zügel des Handels und der Gewerbe. In Westindien, in Südamerika vorzüglich haben sie ihre Commanditen. Ihre Habsucht trachtet alle Monopole, von welchen die Handelswelt niedergedrückt ist, in ein Einziges zusammen zu ziehen, und dieses Einzige selbst auszubeuten.« »Ei, ei, Ew. Edeln gehen verzweifelt weit,« ermahnte der Senator lächelnd, und ungeduldig wegen des Doctors, der unruhiger wurde. »Keineswegs,« fuhr jedoch ohne Bitterkeit und Animosität der Amerikaner fort: »ich gestehe ein, daß ich die Katholiken nicht liebe. Unser Mutterland hat viel durch sie gelitten. Ich liebe eben so wenig den Orden, den wir berührten. Allein Parteilichkeit leitet mich auch nicht, indem ich ihn verdamme. Die ledige Erfahrung spricht für mich. Was haben wir, was hat die ganze Welt von einer Stiftung zu erwarten, die den Fürstenmord begünstigt? von einem Orden, dessen Glieder, als Beichtväter der Könige, Zwietracht säen zwischen den Herrschern und ihren Völkern? Man weiß, wer in den letzten Zeiten die abscheuliche Mörderei in den Cevennen, wer den Widerruf des Toleranzedikts von Nantes verschuldet hat, der Tausende der besten Bürger mit ihren Familien der Heimath entfremdete. Wer dem Vaterlande in seinen Söhnen das Mark aussaugt, wer es in seinen Söhnen ermordet, begeht Hochverrath an der ganzen Natur und an ihrem Schöpfer. Vielleicht sind Sie nicht meiner Meinung, Madame, aber ich denke nicht anders.« »Die Aufhebung des Edikts von Nantes machte mich mit meinen Eltern unglücklich,« erwiderte die Lainez mit feinem Doppelsinn. »Eine Vertriebene also? eine Gemißhandelte?« fragte Birsher mit warmer Theilnahme; »nun wahrlich, so freut es mich, hier unter ehrlichen Protestanten zu sitzen, vor denen mein Herz reden kann, wie ihm zu Sinne ist. Ich hasse die Heuchelei, und diese Aufrichtigkeit ist nicht _meine_ Tugend, sondern Sitte in Amerika.« »Eine schöne Sitte!« meinte der Buchhalter: »in Deutschland selbst verschwindet nach und nach die deutsche Treue und Offenheit. Wohl unsern Nachkommen, wenn sie wenigstens solche Qualitäten dann in Amerika wieder finden mögen!« »Es ist Schade,« begann der Doctor mit einem spitzigen Lächeln: »daß Sie, hochzuverehrender Herr Birsher, nicht den Beruf in sich empfunden, ein Weltumsegler zu werden. Vor Ihren Ansichten und Ihrer seltenen Aufrichtigkeit hätten alle fremde Götzen weichen, alle anders Glaubende sich bekehren müssen.« »Meine Reden sind zu harmlos, als daß sie vielleicht die feine Zurechtweisung verdienen,« erwiderte Birsher freundlich, aber ernst: »indessen muß ich mich rechtfertigen. Ich bin nicht unduldsam; ich verabscheue jeden Glaubenszwang. Wir Amerikaner denken in diesem Punkte freier, als man es in England darf. Mit Freuden würde ich's sehen und erleben, was mein Vater einst in einer halb prophetischen Stunde voraussagte: daß einstens allenthalben in Amerika jeder Glaube neben dem andern wohnen werde, friedlich, ungestört, wie in dem Schooße von Brüdern: wie Penn's Bruderstadt das Beispiel schon gegeben: wie bereits des Königs Duldungsakte dieses Beispiel unterstützt.« »Diese Aeußerung wirft Ihre frühere um!« sagte der Doctor triumphirend. »Oder lieben Sie Ihre Mitmenschen alle, den katholischen Bruder ausgenommen?« »Weil _ich_ sagte, daß ich den Katholiken nicht liebe, sagte ich damit, daß ich ihn hasse und verwerfe?« entgegnete Birsher, warm werdend: »ich werde ihn vielleicht nicht rufen, daß er neben mir sein Haus baue: das thut man nur lieben Freunden. Aber, wenn er aus eigenem Antrieb seine Hütte an die meinige lehnt, und zu mir spricht: Bruder, wir wollen versuchen, wie wir gute Nachbarn sein mögen! so werde ich ihm antworten: gern, Bruder, laß es uns versuchen. Und fügten wir uns Beide in Güte und nachbarlicher Geduld, so würde ich ihn am Ende wohl noch lieben, herzlich lieben lernen, und ihn nicht aus seinem Eigenthum jagen, und nicht von ihm begehren, daß er zu Gott bete wie ich. Allem Begehren, allem Uebertritte bin ich Feind. Bleibe Jeder auf der Seite, wohin ihn der Zufall, der ja auch unsere Geburt leitet, gestellt hat. Glaube Jeder, was er kann, und folge er den Gebräuchen seiner Lehre, damit die Schwachen kein Aergerniß nehmen, und die Schadenfrohen jenseits nicht triumphiren. Ich könnte dem Menschen nimmer trauen, der seine Religion verändert hat. Er hat den Rock seines Herrn weggeworfen, um keinen Herrn zu haben, und verdient kein Zutrauen, weil er sein Heiligstes verrieth.« »Und nun genug, mein Herr, von solch abnormem Gespräche,« sagte der Doctor verbindlich: in der That aber erschreckt von dem bleichgewordenen, nachdenkenden Gesichte des Senators: »Ihre Grundsätze sind redlich gedacht; wohl leichter anzugreifen, als Sie glauben; aber wir befinden uns hier nicht vor einer Synode, sind Beide, -- ein Kaufmann, ein Jurist -- nicht berufen, solche Streitigkeiten durchzufechten. Die Damen zumal finden an unsern Reden nur Langeweile.« »Nicht doch; wir hören gerne zu,« nahm Justine für sich und die Lainez, welche schwieg, das Wort: »eine Duldungspredigt aus Ihrem Munde, hochgeehrter Herr Birsher, müßte sich gut ausnehmen. Ich wünsche Ihnen den Sieg gegen den Herrn Doctor, obgleich derselbe schwere, uns unbekannte Waffen in den Streit führen möchte.« »Wünschen Sie mir wirklich den Sieg, schöne Jungfrau?« fragte Birsher verbindlich, und Justinens Wangen wurden Gluthrosen vor seinem Blick: »o dann habe ich meine Sache schon gewonnen, und dem Herrn Senator bleibt nichts übrig, als seinen und meinen Wunsch Ihrer Entscheidung vorzulegen.« Die Männer standen alle auf, und ergriffen die Gläser. Der Senator räusperte sich, um auf eine zierliche Weise seinen Spruch anzuheben, der der Tochter galt. Justine stand wie auf Nadeln, und wünschte eine Gelegenheit herbei, die Rede, deren Inhalt ihr Scharfsinn und ihre Eitelkeit ahnten, zu verhindern, zu unterbrechen. Siehe, da erhob sich auf dem Gange ein Getöse. Eine ferne Thüre flog auf, man hörte gellendes Geschrei. »Um Gotteswillen! der Mutter Stimme!« rief Justine erschrocken und erfreut zugleich, aus der Angst zu kommen. Sie enteilte schnell durch die Thüre. Die Lainez folgte. Staunend blieben die Herren zurück. Der Senator, von Groll gegen das Betragen seiner Frau erfüllt, verweigerte es kalt, zum Beistand der Hülferufenden zu gehen. Bald brachte die Lainez die Nachricht, daß ein lebhafter Traum Frau Jacobine ihrer Sieste entrissen, und ihre Unruhe erregt. Man habe die wieder zur Besinnung Gekommene zu Bette gebracht, und Justine wollte sie nicht verlassen. Sein Beileid bezeugend, wie seine Erzählung verwünschend, die vielleicht Anlaß zu der Senatorin Zustand gegeben haben durfte, beurlaubte sich Georg Birsher, mit dem Versprechen, Morgen bei Eröffnung der versiegelten Habe seines Vaters gegenwärtig sein zu wollen. Dem Ceremoniell schicklicher Sitte zu Folge begleiteten ihn Buchhalter und Doctor nach seinem Gasthause, und ließen den Senator nachdenkend allein. Der Drang, den Beweggrund so mancher unbegreiflichen Erscheinung in dem Benehmen seines Weibes zu erforschen, vermochte ihn, sich nach dem Schlafzimmer desselben zu begeben. Er trat leise in die dunkle Stube. Jacobine schien zu schlummern. Am Fuße ihres Bettes, den Kopf in beide Hände gestützt, saß Justine. Der Senator näherte sich der Kranken, ohne von Jemand bemerkt zu werden; er bückte sich lauschend über das Bette. Jacobine schlug die Augen auf, und fuhr mit dem Geschrei: »Alle gute Geister loben Gott den Herrn!« empor. Justine erwachte aus ihrem Nachdenken. »Der Vater, liebe Mutter!« -- sagte sie sanft zu derselben. »Weg, weg aus meinen Augen!« lautete die gellende Antwort: -- »Weg! weg! willst du mich umbringen? weg, entsetzlicher Mann!« Sie drehte den Kopf nach der Wandseite, und schwieg hochathmend. »Jacobine!« stammelte der von heftigem Zorn ergriffene Gatte, und faßte ihre Schulter: »Weib! was hast du vor? Was soll dies Alles?« Er mochte aber der Worte, so viele es ihm beliebte, verschwenden; umsonst. Die Senatorin beharrte wieder in dem dumpfen Unheilkündenden Schweigen. »Nun so strafe dich Gott, lästerndes, nichtswürdiges Weib, daß du also mit mir verfährst!« brach er in jäher Wuth aus, und hob die Hand zu einer Mißhandlung. Justine verhinderte diese ängstlich, und bat mit Lippe und Auge den Vater, hinwegzugehen. »Nun, so folge du mir; scheide von dieser Rabenmutter, die mein Leben zwecklos vergiftet!« sagte der Senator, zu sich selbst kommend, und ergriff ihre Hand. Justine zögerte. Die Senatorin erhob sich, bleich vor Aerger und Ungeduld. Sie drohte der Tochter mit dem Finger. Justine zog unschlüssig die Hand aus der des Vaters. Mit dem bittersten Gefühle der innern Empörung sagte dieser: »wie? auch du mein Kind, bist in dieses gräuliche unbegreifliche Complott gegen mein Herz verwickelt? Ich befehle dir, mir zu folgen; -- soll ich fremde Autorität anrufen, daß mir mein einziges Kind gehorsam bleibe?« Mit erneuter Gewalt ergriff er Justinens Hand und zog sie nach der Thüre. Die Senatorin winkte der Gehenden, legte den Finger auf den Mund, und rief ihr dann nach: »Du bist die elendeste Creatur, Justine, wenn du meine Befehle vergissest!« Justine ging nun mit dem Vater auf dessen Zimmer. Wie eine arme Sünderin stand sie vor ihm; er ruhte auf einem Lehnstuhl von den Bewegungen seines Gemüths aus, und sammelte seine Gedanken; sah die Tochter unverwandt an, seufzte, schüttelte öfters mißmuthig das Haupt, und sagte endlich mit angegriffener Stimme: »Gott weiß, Justine, daß ich mich immer bemüht habe, ein guter Hausvater zu sein; daß ich oft mit der äußersten Anstrengung meinen Jähzorn im Zaume gehalten habe, um Weib und Kind nicht weh zu thun, hatten sie gleich meinen Zorn verdient. Aber solch Betragen, wie es seit gestern Abend sich entwickelt, muß endlich ein Lamm in einen Wolf verkehren. Sieh, Justine, vor einer Stunde war ich noch so fröhlich! Es war mir Diverses wider Erwarten dergestalt nach Wunsch gegangen, -- es hatte sich so Manches, das ich befürchtete, anders und befriedigend gestaltet und gedreht, daß ich die Welt hätte umarmen mögen, und meinen liederlichsten Schuldner die Quittung geschrieben hätte. Da erhebt sich wieder auf's Neue dieser häusliche Sturm, dessen Ursprung mir ein Räthsel ist. Auch du, Justine, bist mir Eines. Am heutigen Morgen -- zu Anfang der Mittagstafel noch -- das fröhliche starke Mädchen, wie sonst, bist du plötzlich ein betrübtes, finsteres geworden. Läugne nicht; ich habe helle Augen, welche sahen, daß die deinigen verweint waren, als du beim Nachtisch wieder zu uns kamst, nachdem deine blödsinnige Mutter sich vor den Gästen zum bedauerlichen Spektakel gegeben hatte. Gezwungen, unbeholfen war deine Rede, und du zwangst dich, meinen Blicken zu entgehen. Jetzt bemerke ich wieder Thränen in deinen Wimpern. Sprich, Justine, woher diese Veränderung? Sei aufrichtig, mein Kind!« Justine öffnete den Mund, aber dennoch schwieg sie kopfschüttelnd und mit gesenktem Blicke. Der Senator sprang ungeduldig auf, spielte mit seiner Tabaksdose, pfiff einige Töne des Marlborough-Lieds, und stellte sich mit hochgerötheter Stirne vor die Tochter. »Undankbares Geschöpf!« sagte er mit unterdrücktem Grimme: »Wirst du reden? Soll ich wie ein Bube um die Gnade eines Worts von dir betteln? Heraus mit der Wahrheit, verlarvte Person! Du weißt, was deine stätige Mutter im Schilde führt. Du hast auf den Grund ihres Steinherzens gesehen; du hast erfahren, was in ihrem vertrockneten Gehirne spukt; heraus damit, oder ... Gott strafe mich!...« Er warf im Ausbruche der Wuth die porzellanene Tabatiere so stark zu Boden, daß sie in tausend Stücke zersprang. Justine fuhr zusammen, faßte des Vaters rechte Hand so kräftig, als sie konnte, und sagte zu ihm, zwischen Thränen der Angst und einem plötzlichen Entschlusse schwankend: »Um's Himmelswillen! keinen Schlag, mein Vater! ich bin solcher Begegnung nicht gewohnt; Sie würden mich durch diese Entwürdigung umbringen. Ich kann die Zwischenträgerin nicht machen. Ein schimpflicher Zwang würde mich vollends nicht bewegen! Hüten Sie sich, Vater! daß Sie nicht noch mehr des Fluchs auf Ihr Haus laden!« »Mehr des Fluchs!« versetzte der Senator, und ließ ohnmächtig die Hände sinken; »wahr gesprochen, meine Tochter; es lastet auf mir schon genug des Unsegens. Geh' hin!« Vor dem Bekümmerten ließ sich das gerührte Mädchen auf die Knie nieder, und redete mit gefaßten und bewegten Worten zu ihm: »Ach, wenn Sie gut und ruhig sind, mein Vater, will ich Alles thun; nur nicht ausplaudern, was die Mutter mir errathen ließ; was meine Zunge aus Ehrfurcht und Angst nicht aussprechen will. Sie sollen aber wissen, was die Mutter zuletzt so gewaltig aufregte. Ob es eine Täuschung ihrer gereizten Sinne gewesen -- ob Wirklichkeit -- ich weiß es nicht. Doch sie behauptet, es habe sich langsam die Thüre ihrer Kammer geöffnet, und die Erscheinung des in unserm Hause verstorbenen Birsher auf der Schwelle stehend sich gezeigt, mit trüb wankendem Haupte und drohender Geberde. Die Gestalt sei einige Augenblicke sichtbar geblieben, bis sie unter der Mutter Schreckgeschrei verschwunden.« »O des fratzenhaften Unsinns!« versetzte der Senator, obgleich sein eigen Gesicht länger und schmäler wurde: »Gaukelspiel eines verwirrten Weiberkopfes! Und daher die Mißhandlung, die mir von der Unverbesserlichen angethan wurde!« »Was im Uebrigen die Mutter verbittert,« fuhr Justine seufzend fort, »ich will es nicht ergründen; ich will daran nicht glauben! ich müßte ja an der Tugend des Mannes verzweifeln, den ich als Vater bis hieher geehrt habe, und noch ferner von Herzen ehren will. Ich überlasse es Ihnen, den Zwist mit Sanftmuth zu beenden und die Eintracht wieder herbeizuführen, denn es ist nicht gut, wenn sich das Kind als Mittler zwischen die Eltern stellen muß.« Der Senator trocknete sich kalten Schweiß von der Stirne. »So geh' hin,« sagte er ermattet. »Geh' hin, ich will nicht in dich dringen. Die Zeit mag lösen, was mir weibischer Eigensinn noch verhehlt.« Justine wollte bekümmert weggehen. Der Senator rief sie zurück. »Du bist meine Feindin geworden,« sagte er bitter und gekränkt; »ich verzweifle daran, deinen Starrkopf für ein Projekt zu gewinnen, in dem ich alberner Thor dein und mein Glück zu sehen vermeine. Ich hätte gewünscht, ich hatte es schon besprochen, meinem alten Vorhaben Kraft und Vollendung zu geben; -- dich mit Herrn Georg Birsher zu verheirathen, wie es schon beschlossen war. Aber ... nun wird wohl nichts daraus werden. Die abergläubische Mama wird dir's verbieten, wäre es auch nur aus dem Grunde, weil ich eine _Hoffnung_ darauf gesetzt. Du wirst dich weigern, weil du dein Loos an Jacobine bindest. O, bewege nicht die Lippen, mir ein versagendes Nein zuzurufen. Ich lese es schon in deinem scheuen Auge. So sei es darum. Ich werde tragen, und du -- gehe hin!« »Sie täuschen sich, bester Vater,« erwiderte Justine fest und bescheiden: »Ihr Wille ist _hier_ mein Gesetz; ich bin bereit, den Herrn zu heirathen, wenn Sie es befehlen.« Der Senator betrachtete sie mit großen Augen, und ein lächelnder Schein spielte um den bitter geklemmten Mund. Er streichelte Justinens Gesicht mit wiederkehrender Zärtlichkeit. »Belügst du mich nicht, Mädchen? Oder hältst du mich nicht etwa hin, um im Augenblick, wo es darauf ankömmt, wahr zu sein, dein Wort zurückzunehmen?« »Ich lüge nicht, lieber Herr Vater,« bekräftigte Justine mit offener Stirne; »ich will des Herrn Birsher Frau werden, wann Sie es haben wollen.« »Und deiner Mutter unvermeidliche Einsprache?« »Die Mutter ist damit einverstanden, lieber Vater.« »Einverstanden?« »Die hat mich sogar mit Thränen gebeten, den Antrag nicht zurückzuweisen, wenn er mir gemacht werden sollte; und ich darf Sie ersuchen, Herr Vater, daß Sie mit der Hochzeit eilen, wie es nur die Schicklichkeit verstattet.« »Unverständliche Sybille! ich fasse dich nicht.« »Mir ahnt, Herr Vater, als ob in diesem Bunde viel Besorgniß ihr Grab finden müßte,« erwiderte Justine mit Bedeutung: »wann Sie wollen, demnach, mein Vater.« »Wie ist es dem ruhig verständigen Mann gelungen, in so kurzer Zeit dein gepanzertes Herz zu erobern? Er hat nicht einmal deiner Eitelkeit geschmeichelt.« »Sie halten mich noch für ein Kind. Herr Birsher mißfällt mir nicht. Ich liebe ihn indessen eben so wenig. Ob sich die herzliche Zuneigung finden wird? -- ich weiß es nicht. Aber ich opfre mich gerne einer zweifelhaften Zukunft, um Sie und Ihr Haus zu beruhigen.« »Beruhigen? Du beglückst mich, Gold-Justine. Ich fange an, vor dir Respekt zu haben. Verlange für die Freude, die du mir so unvermuthet machst, was du willst.« Justine besann sich eine Weile, ernst und in sich versunken. »Wenn ich nun zweierlei verlangte?« fragte sie mit klarerem Auge. »Begehre.« »Daß Sie für's Erste die Mutter ganz ihren Gedanken überlassen, Friede mit ihr halten, und meine Heirath beschleunigen wollen?« »Zugestanden. Böses Mädchen! Du eilst, mein Haus zu verlassen und deinen verwaisten Vater!« »Sie ahnen nicht, wie schmerzlich dieses Scheiden mir sein wird; aber Mama wünscht Herrn Birsher so schnell als möglich aus der Stadt zu entfernen.« »Wie so? Weshalb denn, zum Donner?« Justine überging diese Frage mit Schweigen. »Für's Zweite,« fuhr sie fort: »geben Sie mir die Erlaubniß, Sie zu warnen. Monsieur White hat sich falsch gegen mich bewiesen; und ich fürchte, sein Pflegevater meint es auch nicht ehrlich mit Ihnen.« »Der Doctor?« Dem Senator schlug das Gewissen. »Wenn ich meinen Augen -- einer gewissen Erinnerung trauen darf, so ist der Doctor nicht, was er zu scheinen vielleicht Ursache hat.« »Unglückliche!« -- fuhr Müssinger auf. Justine unterbrach ihn: »Ich will meinen Scharfblick nicht über den Ihrigen stellen. Ich überlasse es Ihnen, auf der Hut zu sein. Es ist nicht unmöglich, daß ich mich getäuscht. Die Wahrheit muß sich jedoch bald auf diese oder die andere Weise enthüllen.« »Du treibst Gauklerkünste,« sagte der Senator verlegen lächelnd: »Und auf's Wort und deine vielleicht grundlose Ahnung hin, soll ich dir in einer Sache folgen, deren Bewandtniß mir völlig unbekannt ist?« »Der Tag, an dem ich mit Herrn Birsher abreise, wird Ihnen meine Vermuthung enthüllen. Ich fühle mich jetzt nicht aufgelegt, durch eine Unbesonnenheit einem Andern, oder Ihnen selbst Unrecht zu thun. Ich habe Ihre Klugheit gewarnt. Angeberin kann und will ich nicht sein.« Sie verließ heiterer, erleichterter den Vater. Die Dämmerung war schon eingebrochen. Die Thüre ihrer Mutter war verriegelt. Das Dienstmädchen berichtete, die Frau Senatorin hätte Thee begehrt, und hierauf das Zimmer verschlossen, um ruhig zu schlafen. Die alte Marthe wache an ihrem Lager. »O welch' eine Zerstörung alles häuslichen Friedens!« seufzte Justine, da sie an dem offenen Eßzimmer vorüber ging, das, verödet, vom blassen Mondlicht erhellt, die gemüthlichen Abendgäste nicht aufwies, die sich vor Zeiten wohl öfters darinnen einfanden. Justinens Schritte wurden schneller, als sie an der verschlossenen Thüre des Zimmers hinschlüpfte, welches der verstorbene Birsher eine Nacht hindurch bewohnt hatte. Mit beengtem Athem betrat sie ihr eignes Zimmer. Die Lainez saß darinnen, lesend, und erhob sich bei Justinens Ankunft. »Sie blieben recht lange, meine Verehrte,« sagte die Französin mit einem freundlichen Vorwurfe im blühenden Gesichte. »Die Pflicht allein, mein Amt in Ihre Hände niederzulegen, stärkte mich mit Geduld. Hier, meine Beste, ist all das kostbare Silberwerk, das man in der Verwirrung auf der Tafel gelassen -- eine Beute für jeden kecken Dieb. Zählen Sie die Stücke, Mademoiselle. Ferner empfangen Sie die Schlüssel zu Speisekammer und Keller, die Sie mir anvertrauten, und entbinden Sie mich meiner Verantwortlichkeit.« Justine küßte die Hülfreiche dankbar auf die Wange, erstaunte aber, als diese nach dem Mäntelchen und den Handschuhen griff. »Wollen Sie nicht bei mir bleiben?« fragte Justine verwundert: »ich bat Sie ja, mit unserm Hause verlieb zu nehmen.« »Ach, diese Güte! meine beste Jungfer, darf ich sie annehmen? Besinnen Sie sich wohl. Welche Figur würde ich in Ihrem Hause darstellen, worein ich so unvermuthet, unvorhergesehen kam? Das Staunen Ihres Vaters, der gar nicht ermuthigende kalte Empfang Ihrer Mutter, das Glotzen der Domestiken ... Ach der Spott dieser Letzteren, bei Allem, was ich anordnete, -- und ich verstehe doch, ein anständiges Haus zu verwalten, -- er schnitt mir in's Herz. Seht doch die Französin! hieß es rings um mich, und ich hatte Mühe, meinen Verdruß zu verbeißen; ein Unglücklicher ist ja doppelt reizbar! Erlauben Sie daher, daß ich Ihr freundliches Anerbieten ausschlagen darf.« »Ei mit nichten,« versetzte Justine sehr erbittert: »Sie erzählen mir da von Schändlichkeiten, denen ich ein schnelles Ende machen werde. Verzeihen Sie, liebe Frau, unserm dummen Mägdevolk vom Lande, dem Alles lächerlich vorkommt, das nur ein wenig aus dem Geleise schreitet, welches diese Gänse Tag für Tag auszutreten gewohnt sind. Morgen sollen Sie schon ernsthafter sein -- ich stehe ihnen dafür. Sie kennen mich, und wissen, wie man mit mir verfährt, wenn ich ungnädig bin. Ich verstehe die Mittel, solch' unbescheidenes Gesindel zur Ordnung zu bringen. -- Nein, Madame, Sie müssen bleiben; meine Ehre steht auf dem Spiele: denn, was ich mir einmal vorgenommen, muß ich durchsetzen, ... und wenn...! lächeln Sie nicht; man nennt mich allgemein die tolle Justine, und manchmal hat man Recht.« »Welche kindliche Naivität!« rief die Lainez, und streichelte Justinens Hände: »eine Königin, so schön, so liebenswürdig, so lebhaft wie Sie auf Frankreichs Throne, und meine Landsleute würden Sie vergöttern!« Justine sah plötzlich mit großen und sehr unmuthigen Augen in die Höhe. »Warum nicht gar?« sagte sie kurz abbrechend: »welche Schmeichelei. Sie können Ihr Vaterland nicht verläugnen, Madame Lainez!« Die Französin war betreten, dann erwiderte sie mit dem schmachtenden Augen-Aufschlag, den sie vollkommen in der Gewalt hatte: »Verzeihen Sie Mademoiselle. Entschuldigen Sie die fade Uebertreibung, womit sich mein Mund versündigte, mit der herzlichen Anhänglichkeit, die ich für Sie hege, und die etwas Besseres sagen wollte.« Justine bereute schon das harte Wort, und glaubte um so leichter dem Bittworte. »Das lasse ich mir gefallen,« sagte sie, der Lainez versöhnt die Hand reichend: »lernen sie immerhin in Deutschland, das Ihr zweites Vaterland werden soll, sich deutscher aussprechen.« Sie zog die Wittwe vertraulich neben sich auf einen Stuhl, und fuhr fort: »Hören Sie, wie ich mir Alles, was Sie betrifft, klar und baar ausgesponnen habe. Sie bleiben vor der Hand bei mir, -- unter dem Schutze Ihrer Königin,« setzte sie lächelnd bei. »Aber leider kann dieser unmittelbare Schutz nicht lange dauern, da mein eigenes Schicksal eine rasche Wendung nehmen, -- mich für immer von hier entfernen wird. Daher -- nebenbei gesagt, darf Ihnen vor Vater und Mutter nicht bange sein; ich heiße Justine und stehe für Alles, -- daher lasse ich an einem der nächsten Sonntage unsre Karosse einspannen, und bringe Sie, meine gute Frau, nach einem Städtchen in der Nachbarschaft, wo eine alte Base meines Vaters lebt; -- etwas taub, etwas stumpf, aber wohlhabend, gottesfürchtig, und mir mit uneigennütziger Liebe ergeben, ob sie gleich eine veraltete Jungfer ist. In ihrem Hause erhalten Sie Kost und Wohnung, und besuchen fleißig den Pfarrer der wallonischen Gemeinde in jener Stadt, wenden sich von der aufgedrungenen Religion zu der Angebornen, und treten, da hoffentlich Ihr Wille ernstlich ist, öffentlich in den Schoos Ihrer Gemeinde zurück. Sind Sie so weit gekommen, so bedürfen Sie meiner Unterstützung nicht mehr. Ihre Verwandten zu Berlin werden Sie alsdann mit offenen Armen aufnehmen; -- mir bleibt das Bewußtsein einer rechtschaffenen Bemühung, und Ihnen -- so Gott will -- ein freundliches Andenken an ein unbedeutendes Mädchen, das man böse nennt, das sich aber schmeichelt, von Herzen gut zu sein.« Die Lainez umarmte das zauberische Geschöpf mit Thränen in den Augen. »Ich bin Ihrer Wohlthaten nicht würdig,« -- sagte sie, das Gesicht an Justinens Busen verbergend: -- »wo werde ich jemals ein Gemüth wie das Ihrige wiederfinden?« Justine hielt ihr den Mund zu. »Wo werde ich jemals -- --?« -- parodirte sie, aber aus dem Scherze wurde Ernst. Sie ließ den Kopf sinken, und wiederholte langsam: »Wo werde _ich_ jemals finden, was mir Glück bringt? Ach meine Liebe, ich habe heute ein recht traurig Gemüth, und meine Seele ist müde, wie mein Körper. Ich will gehen, und den Vater fragen, ob er noch etwas wünscht. Dann wollen wir zu Bette. In jenem Cabinete habe ich Ihr Lager aufzuschlagen befohlen.« »Heute noch nicht,« -- bat die Lainez: »ich habe zu Hause noch Einiges zusammen zu räumen und zu packen. Morgen, wenn Sie's erlauben, will ich Ihrem Anerbieten nachkommen.« »Ich werde Ihnen keinen Zwang auferlegen,« -- sagte Justine, wie wohl etwas verdrüßlich: -- »morgen also. Aber es ist schon nahe an neun Uhr. So spät wollen Sie durch die Straßen gehen?« »Die Wittwe eines tapfern Soldaten fürchtet sich nicht.« »Ei, wenn auch. Christine soll mit der Laterne vorausgehen. Aber -- Morgen, nicht wahr? so bald als möglich? Ich sehne mich nach Ihrer Gesellschaft. Ich bedarf jetzt der Aufheiterung. Sie werden nicht zaudern, oder gar Ihr Wort zurücknehmen. Die Franzosen, sagt man, halten die Parole nicht zum Allerbesten. Geben Sie mir ein Pfand, daß Sie gewiß kommen.« »Ein Pfand, sonderbares, eigensinniges Mädchen? Ich würde Ihnen mein Herz schenken, wenn es möglich wäre. Nehmen Sie jedoch, was meinem Herzen zunächst ruht.« Die Lainez zog ein Medaillon, das an einem schwarzen Sammetbande um ihren Hals hing, hervor, nahm es ab, und überlieferte es lächelnd der mißtrauischen Gläubigerin. »Sieh doch!« rief Justine, als sie das Medaillon empfing, und es von allen Seiten betrachtete; »welche schön gearbeitete Bilder! Erklären Sie mir, liebe Frau! Wer ist dieses herrliche Weib im Purpurmantel, mit der blitzenden Krone auf dem Haupte, und dem noch strahlenderen Scheine um dasselbe?« »Es ist die fromme und selige Kaiserin Pulcheria, meine Patronin,« versetzte die Lainez: -- »ihre Schönheit war das Wunder ihrer Zeit; und ihre Tugend war ihren Reizen gleich, und die dankbare Erinnerung der Nachwelt versetzte sie unter die Heiligen!« »Welche Anmuth! welche Lieblichkeit!« fuhr Justine fort: »ja, wer so schön wäre! Diese Strahlen...« »Sind der Heiligschein, mit welchem die römische Kirche das Haupt der Gepriesenen umgibt. Die Bilder dieser Heiligen schmücken heiter und lebendig die Gotteshäuser, und es läßt recht angenehm, wenn Weihrauchwolken sie umnebeln, Kerzen davor flammen, Blumenbüsche um sie blühen und das Volk sich vor den Geehrten fromm verneigt.« »Mit andern Worten: die Götzen anbetet. Ich weiß, unser Pastor hat schon oft dieses Thun in seinen Streitpredigten berührt, und einen heidnischen Gräuel genannt.« »Vielleicht ging er darinnen zu weit. Die Katholiken haben in diesen Bildern nur das _Andenken_ frommer Tugendfürsten zu verehren: nicht das Holz, nicht den Stein.« »So? Dann lasse ich mir's gefallen. Ich finde die Sitte sogar hübsch. Man stellt ja auch Bildsäulen berühmter Männer in Städten auf. Wir haben z. B. hier auf dem Rathhause das Reiterbild eines Bürgermeisters aus der alten Zeit, der einst mit Opferung seines Lebens die Vaterstadt von Schimpf und Untergang gerettet hat. Das Bild steht wohl schön anzuschauen an der großen Treppe, aber die Leute gehen kalt vorüber, und beachten's nicht. Stünde es in einer Kirche, würde es besser geehrt.« Sie wendete das Medaillon um, stutzte etwas, und fragte kleinlaut: »Das ist ein Mann? nicht wahr? Der Maler hätte ihm allenfalls einen Mantel um die Schultern werfen können.« »Der Zweck wäre gefehlt gewesen; die Pfeile seines Märthyrthums müssen dem Gläubigen sichtbar sein. Man nennt den schönen Jüngling den heiligen Sebastian.« Justine sah das Bild noch einmal flüchtig erröthend an, legte es dann still auf den Tisch, warf ein Tuch darüber, und wünschte der scheidenden Lainez eine ziemlich einsylbige Gute Nacht! Indem die Wittwe aus Justinens Thüre trat, vernahm man in dem schräg gegenüber liegenden Zimmer des Senators ein starkes Geräusch, und Müssingers halberstickte Stimme, welche nach Leuten rief. »Mein Gott! was ist da wieder vorgefallen?« sagte Justine, auf das Gemach zueilend, und winkte der Lainez und der Magd, die derselben mit der Laterne vorausgehen sollte, sich zu entfernen, ohne weiter dem Geräusch nachzuforschen. Die Französin, der es in dem Hause unheimlich vorkam, trieb selbst die gaffende Magd zur Eile an. Sie erreichten Beide, ohne sich umzusehen, die Treppe, und stiegen schnell hinab. Doch unten am Geländer stand unbeweglich und lautlos eine breite weiße Gestalt, welche drohend den Arm gegen die Kommenden erhob, und alsdann im Dunkel niederzutauchen schien. Die erschrockene Lainez und die erschrockenere Magd stießen einen Schrei des Entsetzens aus. Die Letztere ließ die Laterne fallen, welche zusammenklirrte und erlosch. Das Dienstmädchen rannte schreiend über die Treppe zurück; die Lainez aber, welche im Mondstrahl, der durch ein vergittertes Fenster fiel, die Hausthüre wahrnahm, eilte schaudernd auf dieselbe zu, fand sie zu ihrer größten Freude nur angelehnt, riß sie auf und entfloh. Scheu zurückblickend, glaubte sie die grausende Erscheinung wieder auf der Schwelle des Hauses zu erblicken, auftauchend wie ein weißer Blitz, verschwindend wie dieser, und von Gespensterfurcht bedrängt, flüchtete sie auf's Gerathewohl in die Gassen. Allenthalben waren diese leer; von ferne her hörte man die Schnarre eines Nachtwächters, -- endlich den geschwinden Schritt eines Kommenden; ... eine Handlaterne näherte sich, -- ihr blendender Schein führte die Flüchtige gerade auf den Mann los, der sie trug... Der Doctor war's. »Ei, Madame! woher um diese Stunde? auf welchem Wege finde ich Euch?« Die zitternde Lainez bat um seine Hülfe, indem sie mit ein Paar Worten ihre Angst schilderte. Der Doctor, lächelnd bald, bald ernst und zweifelnd den Kopf schüttelnd, erbot sich, sie nach Hause zu führen. »Um Gotteswillen, nein!« bat die Lainez dringend; »in dem alten Gebäude allein ... von aller Welt geschieden ... würde mich heut nach diesem Auftritte die Angst umbringen. Ich schwöre darauf, daß mir mein Mann erschienen ist. Seine weiße Uniform ... sein drohendes Gesicht ... meine Sünden ... Hochwürdiger! nur unter Ihrem Schutze kann ich meine Seele beruhigen.« »Bedenkt meinen Stand, liebe Frau,« versetzte Leupold beschwichtigend; »Eure Phantasie ist erhitzt; Ihr bedürft der Sorgfalt; ... was kann ich jedoch für Euch thun? Doch, wenn Ihr's wünscht, will ich meine Wirthin bewegen, Euch diese Nacht zu beherbergen.« »Gleichviel!« rief die Lainez; »nur bringen Sie mich unter Menschen, oder ich sterbe an dem Schreck!« Der Doctor winkte ihr, nebenher zu gehen, und förderte, dann und wann sie unterstützend, seinen Weg. »Ich kehre soeben von einem Kranken zurück,« sagte er, »den ich seit Abends Einbruch mit geistlichem Troste und endlich mit dem Leibe des Herrn erquickte.« Er zeigte auf die Saffiantasche, die er, unter seinem Oberrocke verborgen, auf der Brust trug, und in welcher er die Hostie insgeheim zu überbringen pflegte. »Ein Glück, daß Ihr gerade _mir_ begegnen mußtet. Meine fromme Hausmeisterin wird ein Uebriges thun, und morgen sollt Ihr mir mit gesammelten Kräften den Hergang der ganz absonderlichen Erscheinung mittheilen.« Die Eigenthümerin des Quartiers, welches der Doctor bewohnte, eine eifrige Anhängerin der im Verborgenen waltenden Kirche, welche wußte, daß sie in der Lainez eine Verbreiterin dieser Kirche vor sich hatte, machte nicht die mindesten Umstände, in des Doctors Begehren zu willigen, und dieser Letztere, Mitleid mit der Niedergeschlagenheit der Französin fühlend, lud sie ein, auf seinem Zimmer, -- bis die Wirthin ihr Lager bereitet haben würde, -- eine Tasse Kräuterthee zu genießen, den er selbst auf's Beste zu bereiten versprach. Die Lainez nahm mit Dank den Antrag des Mannes an, der, aus Theilnahme für sie, die strenge Grenze, die sein Anstands- und Schicklichkeits-Gefühl zwischen ihm und der Mitarbeiterin gezogen hatte, in etwas erweitern wollte. Als sie jedoch an des Doctors Hand dessen Wohnzimmer betrat, wurde ihr Auge von einem Besucher überrascht, der in dem Großvaterstuhl am Fenster saß, und kaum merklich mit dem Kopfe nickte, als James den Doctor mit seiner Begleiterin einließ. »Gelobt sei Jesus Christus!« sprach der Fremde, und der Doctor, im höchsten Grade überrascht, erwiderte mit kaum hörbarer Stimme, sich tief verneigend: »In Ewigkeit. Der Herr segne Ihren Eingang, Pater Superior. Ihr Besuch ist eine unerwartete Freude.« Der Superior, ein hagrer Mann mit ganz blassem Gesichte, aus welchem ein Paar dunkle Augen sprühten, lüftete ein wenig das Käppchen, das seinen Scheitel bedeckte. »Ich bin vor gar nicht langer Zeit angekommen,« sagte er, -- »bin herzlich müde, und habe mir die Freiheit genommen, bei Ihnen, mein Vater, meine Schlafstelle zu suchen, indem ich hier unbemerkt und sichrer zu sein glaube, als in dem verstecktesten Gasthofe. Es thut mir indessen leid, wenn ich hier stören sollte.« Er warf einen zweideutigen Blick auf die Lainez. Der Doctor errieth dessen Sinn, und sagte empfindlich: »Ich hoffe, Ew. Hochwürden bewiesen zu haben, daß mein sittliches Betragen kein Mißtrauen verdient. Der Zufall nur...« Mehr als seine Worte beruhigte die Französin selbst den argwöhnischen Geistlichen. Sie ging demüthig auf ihn zu, küßte seine Hand, bat um seinen Segen, und erbot sich, alsbald das Zimmer zu verlassen. Der Superior schenkte ihr einen günstigen Blick, klopfte ihre Wange. »Lasse Sie's nur gut sein,« sprach er mit dem empfindlichen Uebergewicht, welches häufig von Priestern, den ihnen ganz ergebenen Weibern gegenüber, fühlbar gemacht wird: »ich kenne Sie ja, und hoffe in Ihr kein unwürdiges Rüstzeug vorgeschlagen zu haben. Vater Münzner wird mir Alles genügend erklären. Sie kann sich indessen wegbegeben, denn wir haben hier noch allerlei zu bereden, das nicht für Sie ist.« Noch ein gnädiger Schlag auf die Wange, und die Lainez, feuerroth und betreten, war entlassen. James sperrte das äußere Gitter, und wollte den Herren eine gute Nacht wünschen. Der Superior verhinderte dieses; sprechend: »Verbleibe Er immer noch ein Weilchen, junger Mensch. =Ab initio= wird von Ihm die Rede sein.« James bückte sich, und stumm stand er neben seinem Pflegevater vor dem Superior, der gemächlich seinen Platz fort und fort behauptete. »Ich habe den =Juvenem= allhier examiniert,« hob der Bequeme an, zu dem Doctor gewendet: »habe denselben doch noch nicht weit vorgerückt gefunden. Er scheint seine Studia oberflächlich betrieben zu haben, und -- was am übelsten -- das ernste und äußerst wichtige Ziel seiner künftigen Bestimmung nicht genug in's Auge zu fassen. Die Petulanz, so ich in seinem Wesen und seinen =expressionibus= wahrnehme, wird in seinen gegenwärtigen Beschäftigungen nur wachsen können. Es ist daher unumgänglich nothwendig, daß er unter die Disciplin des Novizialmeisters genommen werde.« James erröthete erbebend; der Doctor verneigte sich stumm. »Ich werde ihm vorläufig die =exercitia Spiritualia= unsers heiligen Ordensstifters und Regulators in die Hände geben,« fuhr der Superior fort, »und Er mag sich bereit halten, mir in das für Ihn bestimmte Collegium zu folgen, sobald meine Geschäfte in hiesiger Gegend beendigt sein werden. Ich habe mit dem Pater Rector schon die nöthige Rücksprache genommen, wie es Ihr letzter Brief, Pater Münzner, verlangt hat. =Quod erat demonstrandum.=« James küßte des Superiors Hand, und ging niedergeschlagen nach seiner Kammer. Der Doctor blickte ihm mitleidig nach, und sagte nach einer Pause leise und demüthig zu dem Superior: »Es kömmt mir beinahe vor, ehrwürdiger Herr, als ob ich mich in den Anlagen des jungen Mannes getäuscht hätte. Seine Geisteskräfte sind wohl scharf, allein noch schärfer ist der Trieb seines Herzens. Er begehrt, er verlangt wie ein kräftiger sinnlicher Jüngling. Er zeigt dann und wann Widerspruchsgeist, Grübelei ... es wird schwer halten, seine Vernunft in die wohlthätigen -- Ketten des Glaubens zu legen, und ich würde mir's zum ewigen Vorwurf machen, -- gestaltete sich aus diesem -- in die Welt berufenen Jüngling ein schlechter Priester.« Der Superior sah den Doctor hoch und mißbilligend an: »Sie reden jetzt ganz anders, mein Vater, als Sie vor kurzer Zeit geschrieben. Welche unzeitige kränkelnde Philanthropie! Wären auch Sie von der Lüstelei, von dem empfindelnden Wahnsinn des Jahrhunderts ergriffen worden? Haben nicht auch _wir_ begehrt und verlangt, und sind _wir_ deshalb schlechte Priester geworden? Die Disciplin bändigt den Widerspruch; die rastlose Thätigkeit der Novizen steuert der Grübelsucht. Vernunft? -- Glauben? -- Sie sind nicht klar über die Grundsätze unsrer Institutionen, ob Sie gleich Prozeß und Gelübde gethan haben. Fähige Geister gewinnen, -- dieselben nach ihrer Richtung beschäftigen, -- das ist unsere Aufgabe, und deren Erfüllung sichert das Gedeihen unserer Gesellschaft. -- Der nützliche Schwärmer, der ein begeisterter Apostel werden will, glaube. Der rein Vernünftige, geeignet, die politischen Zwecke unsers Daseins zu erreichen, gehorche, wo er nicht _glauben_ kann. Und dieses Gehorsams Triebfeder ist sein Vortheil, -- das Interesse, das man ihm an seinem auferlegten Streben beizubringen hat. Und nach den geschickten Combinationen unsers herrlichen Staats ist der Vortheil des Einzelnen der Vortheil des Ganzen. Darum _herrschen_ wir, darum _siegen_ wir; darum beneidet man uns. Glauben Sie mir: Ihr Pflegling wird noch gut werden, und reichliche Zinsen tragen, für das Geld, das wir an seine Bildung verschwendet haben, und noch verschwenden werden. Nun zur wichtigern Sache, Pater Missionär. Ich habe Ihre Bücher durchblättert. Unser Commerz über hiesigen Platz rentirt sich nicht besonders. Ob die Pariser uns Schaden bringen? oder ob die Schiffscapitäne, die unsere Frachten besorgen, Betrüger sind? Ist das Erstere, so müssen wir die Augen zudrücken. Das Zweite kann nur an Ort und Stelle erforscht werden. Ich erwarte darüber Befehle von dem Pater Provinzial. Ein geschickter Ordensmann hat zugleich mit meiner Eingabe ein Projekt eingesendet, das, wird es angenommen, dem Handelsfond unserer Gesellschaft unbegränzten Vortheil bringen wird. Es wird darinnen vorgeschlagen, den Sklavenhandel für Brasilien unter billigern Bedingungen zu übernehmen, als ihn bisher unsere unverschämten Schiffsmeister nebenbei getrieben haben.« »Den Sklavenhandel?« fragte der Doctor erschrocken. »Ja,« versetzte der Superior gleichgültig: »der Trafik mit denen schwarzen Negern bringt immense Dividenten.« »Aber die Menschlichkeit, Pater Superior?« fragte der Doctor schaudernd weiter. Der Jesuit lächelte vornehm. »Floskeln, lieber Pater Münzner. Diese Schwarzen sind eine untergeordnete Race; an schmutzigen Heiden, wie sie sind, ist nichts verloren. Ueberdies ist ihr Sklavenleben reicher an Genüssen, als ihre Freiheit.« »Das Naturrecht, Pater Superior...« »Sie sind Doctor =juris utriusque=;« sagte dieser gähnend: »man hört es Ihnen an. =Satis= über diesen Punkt. Der Verfasser jenes Projekts wird belobt werden, und es noch weit bringen. Wie weit ist's aber mit der heiligen Christenverbesserung gediehen?« Der Doctor berichtete in Kürze; legte die Liste der kleinen Gemeinde vor; ihre Beiträge zum Kirchendienst; die Berechnung des Ueberschusses. Der Superior durchging die Liste schmunzelnd und zählend. »Viele Leute,« sagte er hierauf: »aber nichts Besonders. Die meisten =ex infima plebe=.« »Unser Herr Jesus Christus fand unter dieser Classe seine ersten Jünger.« »Hm! ja. Sehr viele Weibspersonen finde ich hier aufgezeichnet; zum Theil wohl aus den bessern Ständen. Nun ja; das sind die Lämmlein, die zum Paradiese locken. Aber ... aber ... ich vermisse denn doch die Männer von Gewicht. Ein paar Kaufleute, ... ein Recheneiverwalter ... ein quiescirter Fünfzehner, ... heilige Maria! was will das im Ganzen heißen? Den Beschluß der Reihe macht doch endlich ein Senator. Wer ist der Mann? Derselbe, von dem Sie schon ein Wörtlein fallen ließen?« »Derselbe, Pater Superior.« »Hat seine Bekehrung sich so schnell gemacht? Gelobt sei der Herr. Dürfen wir von ihm hoffen?« »Vieles. Er ist durch ein besonderes Verhängniß ganz der Unsrige geworden.« »=Favente Deo.= Recht. Wie hat sich die Lainez gemacht?« »Sie hat Einiges gethan; doch Unwichtiges. Das Weib ist zu eitel, leichtsinnig und verliebt.« »=Bene dixisti=, Pater Münzner. Eitel und verliebt. Die Französin sieht überall hervor, und ihr Mann hat nicht so viel an ihr verloren. Es hat ihr indessen eine Zeitlang mit Proselyten recht geglückt. Sie ist sehr fromm und möchte die ganze Welt in's Paradies bringen. Eine lustige, schnackische Frauensperson im Uebrigen; nimmt nichts übel, und hat dem Pater Provinzial, der sie mir empfohlen, viele trübe Grillen verscherzt. Sie weiß allerlei von Sr. Hochwürden zu erzählen, und hält sich damit oben, so daß ihr =Sub manu= eine ewige Versorgung aus der zu ähnlichen Zwecken bestimmten Kasse versprochen wurde. Hierin wurde aber eine kluge =Reservatio mentalis= beliebt. Ködert sie nicht mehr, so steckt man sie in ein Kloster, und damit gut. Die Schwestern mögen sie dann füttern. Also _hier_ hat sie wenig genützt?« »Das Wichtigere hat sie vor kurzer Zeit übernommen: die Bekehrung der Tochter jenes Senators. Aber ein unseliger Zufall reißt hier alle Hoffnung ab.« »Wie so?« Der Doctor erzählte von der Ankunft des Verlobten, der seinen Heirathsantrag erneuernd, im Begriff stehe, das Mädchen unwiderruflich in ein protestantisches Land zu führen. »=Pessime!=« rief der Superior: »das darf nicht geschehen. Das Mädchen, als einzige Erbin eines sehr beträchtlichen Vermögens muß der Kirche zugewendet, und von dem Anglikanen abgezogen werden. Wir hätten =pro Studio et labore= nichts als das leere Nachsehen? Nein, lieber Pater Münzner! lassen Sie uns in die Fußstapfen unserer würdigen Vorgänger treten, die auch nicht vom Heller des Armen ihre Collegia und Prozeßhäuser erbaut haben.« »Wie wollen Sie aber vorbauen, Pater Superior? Ich mißbillige die Sache, weil es mich schmerzt, ein unschuldiges Schäflein auf ewig von der Heerde, der es sich näherte, getrennt zu sehen, -- aber ich begreife nicht, wie....« »Sie begreifen nicht? Sind Sie nicht der Beichtvater des Senators? Pressen Sie sein Gewissen in die Schrauben ihrer gerühmten Dialektik. Einem gewandten Beichtvater ist nichts unmöglich. =Experienta docet=. Während Sie sein Herz mit den Sturmblöcken einer zerschmetternden Rhetorik belagern, ihm sein Kind im Feuer der Verdammniß zeigen, -- mag die Lainez von der andern Seite dem Mädchen kräftig, schlagend zusetzen. Ich habe schon Meisterstücke in dergleichen Angelegenheiten, -- =Caeteris paribus=, -- verrichten gesehen, selbst verrichtet.« »Der Glaube ist in dem Senator nicht sonderlich stark genug, um...« »=Res indifferens!= So greifen Sie seine schwachen Seiten an. =Cum auxilio divino= muß Alles gehen. Die Lainez soll nicht saumselig sein! =periculum in mora=! Das Mädchen wird allerdings auch seine schwachen Seiten haben. Die Weiber sind gebrechlich. Ist unsere liebe Tochter in Hoffnung nicht etwa verliebt? Da könnte Ihr Pflegesohn benützt werden.« »O weh! Steh uns der Himmel bei. _Er_ ist in das Mädchen verliebt. Justine zeigt aber keine Spur von Empfänglichkeit. --« »Ein kalter Frosch? Desto besser. Sie muß in's Kloster; unserer Gesellschaft alles zuwenden, bis auf ein Pflichttheil für die Schwestern. Sie sagen, man schätze den Senator auf dreimal hunderttausend Thaler? Und diese Summe sollte uns entgehen? =Minime=, Pater Münzner. Alles zur größern Ehre Gottes!« »Sie legen mir da ein hartes Probestück auf,« versetzte der Doctor seufzend: »um des Eigennutzes willen....! ja, wenn es einzig die Sorgfalt für des Mädchens Seelenheil gälte! --« »Bilden Sie sich das ein, Pater Münzner. Ich erlaube es Ihnen. -- Aber, lassen Sie ja den goldgefiederten Vogel nicht aus. Und, -- beharrt das Mädchen auf Widerspenstigkeit, so muß es möglich gemacht werden, daß sie der Vater enterbt. Es _muß_ möglich gemacht werden, Pater Münzner! Verstehen Sie mich wohl?« »Ich verstehe;« antwortete der Doctor niedergebeugt. »Nie sind die Zeiten schwieriger gewesen, als jetzt;« fuhr der Superior ruhig fort: »die langen Kriegsjahre haben das flammende Verlangen der Gläubigen, der Kirche wohl zu thun, gedämpft. Der Handel hat durch Kapereien gelitten. Viele fähige Studenten werden auf Kosten der Gesellschaft erhalten, gebildet, versendet. Man muß zu allen Hülfsmitteln greifen, um die überschwenglichen Kosten unserer Arbeiten zu decken. Die dreimal hunderttausend Thaler dürfen nicht nach Amerika! Der Wiklefit soll abziehen, oder -- wenn Alles nichts hilft ... nun, wir werden sehen. Ich verpflichte Sie, Pater Missionär, Morgen alsobald Ihre Bemühungen, mir zu gehorsamen, anzutreten. Thun Sie die ersten Schläge, während ich mit dem verschmitzten Tormerpick Abrechnung halte. Wenn Ihrem Scharfsinn, was ich Ihnen andeutete, gelingt, -- und es _muß_ gelingen, -- so sein Sie der vortrefflichsten Note in meinem vierteljährigen Censurbericht an den General vergewissert.« Der Doctor, wenn schon im Herzen tief verwundet, verbeugte sich, wie es der Gehorsam erforderte, und brachte eine qualvolle Nacht unter dem Kampfe seines Gewissens, und der Pflicht, die er beschworen, zu. -- James, der ihm am nächsten Morgen mit rothgeweinten Augen entgegentrat, zerriß seine Seele noch mehr. »Mein Vater!« sagte ihm der junge Mann, auf dessen Zügen der Schmerz saß: »ich kann nicht in das Noviziat treten. Ich kann nicht, und sollte es mein Unglück sein!« »Du mußt!« erwiderte ihm der Doctor streng, und drehte sich von ihm, daß er das Mitgefühl nicht in den Zügen des Pflegers lese. »Ich muß nicht, mein Vater!« fuhr James mit kalter Entschlossenheit fort: »ich bin kein Leibeigener. Ich will Ihnen im Orden keine Schande machen. Ich tauge nicht dazu; ich verabscheue mich selbst, um der Winkelzüge, zu welchen ich mich brauchen ließ. Haben Sie Mitleid mit mir, Sie, mein zweiter Vater!« »Der Pater Superior nimmt mir meine Pflichten gegen dich, sammt meinen Rechten auf deine Person ab;« erwiderte der Doctor, wie oben: »fasse und füge dich.« -- »Ich mich fassen? ich mich fügen?« rief James, wie außer sich: »Ich soll mich in Klosterfesseln schmieden...? ich, der die Fesseln dieses _Lebens_ nur mit Mühe trägt?« »Mensch!« sagte der Doctor hierauf erschrocken, und sah dem Jüngling aufmerksam ins Auge: »Was sollen diese Worte bedeuten?« »Meinen Ueberdruß an der Welt, Vater; meinen Ekel am Dasein. Ich bin zum Unglück geboren, wie die Meinigen zum elendesten Tode. Hier lächelte mir, dem Spion, dem elenden Hehler und Helfershelfer ein Stern der Wonne; ... ich fühlte Seligkeit!« »Die Seligkeit eines Thoren! Die Verzuckung des heidnischen Bildhauers vor einem Marmorbilde!« »Nein, mein Vater! ich war kein Thor; ich bin es nicht! Noch jetzt erhält mich der Gedanke, daß Galathee im Innern der kalten Brust Leben für mich empfindet! Aber -- wenn das Geschick befiehlt, -- wenn sich erwahrt, was die Lainez mir so eben vertraute, -- wenn Justine einem Andern angehören soll, -- dann höre ich auf, zu leben; bei Gott! ich höre auf, zu sein!« »Wohlan!« entgegnete der Doctor bitter und verletzt: »so höre auf, wie tausend Narren deines Nebellandes, deren leeres Gehirn sich an der Leere ihres Lebens langweilt; höre auf, wie ein insolventer betrügerischer Schuldner, und überlasse mir, dem Getäuschten, die Last, deine Schulden an deine Ernährer zu bezahlen!« »Mein Vater!« stammelte James, von Scham ergriffen: »Was sagen Sie? O, Sie haben Recht! Ich gehöre ja nicht mehr mein. Ich bin Ihnen und den Obern verschuldet! ich bin Ihr Sklave! O, so machen Sie mich zu Gelde! Verkaufen Sie mich, damit ich mein Leben hindurch unter Blut und Thränen arbeiten muß, um das Jahr zu bezahlen, das mir Ihre Wohlthaten fristeten!« »Undankbarer, roher Mensch!« sagte der Doctor unwillig: »So gehe hin und suche den Tod in eitlem Wahne. Du sollst mir nicht noch einmal vorwerfen, wie wenig ich für dich gethan.« Der erschütterte Ton des Doctors machte den besten Eindruck. James stürzte reuevoll vor ihm nieder, weinte auf seine Hände. »Ich soll leben? ich _will_ leben!« schluchzte er; »aber wie wird es möglich sein, wenn Justine des Amerikaners Weib wird?« Den Doctor traf's durch's Herz. Er blickte nach dem Gemache, in welchem der Despot seiner Handlungen noch schlief, erinnerte sich seines qualvollen Geschäfts, neigte sich zu James und -- um wenigstens _eine_ gute Frucht aus der hinterlistigen That zu gewinnen, die er vollbringen sollte: die Beruhigung einer verzweifelnden Seele -- sagte er ihm: »Justine wird nicht des Amerikaners Weib!« Somit ging er von dem Staunenden, um den Senator zu besuchen. Ein finsterer, wolkenumzogener Tag paßte vortrefflich zu seiner Gemüthsstimmung. Während des Gehens wollte er beten, -- aber dunkle Gedanken durchbrachen in Massen sein Gebet. In sich gekehrt, betrat er Müssingers Haus. -- »Sind der Herr Senator oben?« fragte er mit gesenktem Auge einen Menschen, der ihm entgegenkam. -- »Ja, Monsieur;« antwortete man ihm kurz und unhöflich. Der Doctor sah auf. Nothhaft war der grobe Bescheidgeber, und nicht wenig erstaunt, den Mann vor sich zu schauen, mit dem er vorgestern einen Handel hatte abschließen wollen. Auch der Doctor erinnerte sich seiner. »Sieh da, Monsieur!« sagte er: »finden wir uns hier? Sie blieben aus, Verehrter?« -- »Ich weiß nicht, was Sie wollen!« schnauzte ihn der Andere überrascht, verlegen, und unerkannt zu sein wünschend, an: »Ich kenne Sie nicht, Monsieur!« _Er_ zum Hause hinaus; der Doctor die Treppe hinan. Des Senators Gesicht trug alle Spuren einer mühselig durchwachten Nacht, und kaum verzog sich seine Lippe zu einem matten Willkommslächeln, als der Beichtiger eintrat. »Sie finden mich schwach und krank,« sagte Müssinger, wieder in die Kissen seines Ruhebetts zurücksinkend; »doch ist mir Ihre Gegenwart von hohem Werthe. Ein stürmisch rollendes Geschick hat mich, so zu sagen, an Sie gebunden, während alle Wesen, welche die Natur mit mir verband, von mir abfallen zu wollen scheinen, und selbst übernatürliche sich in mein Verhängniß mischen. Eine Frage, hochwürdiger Herr: glauben Sie, daß zwischen Sterblichen und abgeschiedenen Geistern von Sterblichen ein Rapport eintreten kann?« Der Doctor stutzte. »Die Philosophie unserer Religion, und häufige, von Zweiflern vergebens bestrittene Erfahrungen weisen mich an, Ihre Frage zu bejahen.« Der Senator seufzte tief, und stützte das wankende Haupt in die kraftlose Hand. »Hören Sie an,« erwiderte er alsdann: »was mir in den Spätabendstunden des gestrigen Tages begegnet ist. Von den mancherlei Gemüthsbewegungen, die mich erschüttert hatten, wie von quälenden Mißverständnissen in meiner Häuslichkeit ermüdet, war ich in meine Stube gegangen, um zu ruhen und einen erquickenden Schlaf zu thun. Ich las in dem Gebetbuche, das ich Ihrer Fürsorge verdanke, die Lampe brannte dunkel; aus meinen Betrachtungen erwachend, erhebe ich mich, den flackernden Docht zu putzen, -- da schaue ich zufällig nach der Thüre, und diese steht halb offen, -- und zeigt mir eine Gestalt, die mich erbeben macht, die leichenhafte Gestalt des seligen Birsher in seinem weiten weißen Ueberrocke, den er zuletzt trug, -- mit hohlen, starrenden Augen. Ich will rufen, -- die Kehle ist mir zugeschnürt. Die Erscheinung öffnet dagegen den schaurigen Mund, und ich vernehme die dumpfen Worte: Du hast mich umgebracht, und willst auch die Tochter tödten? -- Nicht nach Amerika! Wehe sonst! -- Wie Todtenglocken sausten die Töne in mein Ohr, und im Nu verflimmerte das Gespenst vor meinen angstvollen Blicken. Sein Abschied löste die Bande meiner Zunge. Außer mir stürzte ich in einem Sessel um, rief nach Hülfe; Justine kam, Leute kamen. Die Erscheinung ist von einigen gesehen worden, und spurlos verschwunden. Ich befinde mich im gräßlichsten Seelensturm. Rathen _Sie_, reichen Sie mir den Anker des Heils!« Der Doctor combinirte, still vor sich hinschauend, des Senators Aussage mit dem Behaupten der Lainez, und betrachtete diesen Zwischenfall als einen Fingerzeig aus hohen Wolken zur Erreichung des ihm aufgegebenen Zwecks. »Eine seltsame Begebenheit!« sagte er bedächtig und ernst: »der innigsten Prüfung werth. Es scheint, als ob in der Zukunft Unheil brüte, ... als ob der Geist des Abgeschiedenen, der Ihre Tochter lieb gewonnen hatte, dieselbe zu retten, seinen Wohnort verlassen, ein nothwendiger, warnender Helfer!« Der Senator nickte stumm mit dem Kopfe. »Was würden Sie an meiner Statt thun, ehrwürdiger Mann?« fragte er. Der Doctor zuckte die Achseln. »Fragen Sie lieber,« sprach er, »was ich _vor_ jener bedeutungsvollen Erscheinung gethan haben würde. Ich hätte meine Tochter nicht mit dem Amerikaner verlobt. Diese Leute sind Ihnen verderblich. Mit dem Vater zog ein bedauerliches Unheil in Ihre Wohnung. Der Sohn wird nicht viel Besseres bringen. Nennen Sie dieses Vorurtheil. So wie es in der Natur Elemente gibt, die sich ewig Widerpart halten, so verflicht das Schicksal öfters gewisse Menschen in gegenseitige Feindseligkeit, ohne daß sie es ahnen. Wenn wir annehmen, daß mancher Tag, manche Stunde wichtiger ist, als die übrigen,-warum nicht auch ein Menschenloos vor dem andern? Ich hätte Justinen dem jungen Manne nicht versprochen, nicht dieses Einschreiten einer unbekannten Macht herbeigerufen!« »Ich war so heiter geworden,« versetzte der Senator, »ich sah eine furchtbare Wildniß, die mich entsetzt hatte, plötzlich geebnet. Sie wissen es: wir hatten uns zu offenem und heimlichem Krieg gegen den gefürchteten Gast gerüstet. Statt des Zürnenden, Argwöhnischen erschien jedoch ein Friedensengel, ein Johannes an milder Güte und Vertrauen. Ich konnte ihm die Tochter nicht weigern ... ich mochte es nicht,« setzte Müssinger stockend bei, »um oben den Schatten des Vaters zu versöhnen.« »Unglücklicher!« sagte der Doctor mißbilligend: »Kaum in den Schooß der wahren Kirche aufgenommen, verkennen Sie deren Wohlthaten? War nicht schon jede Sünde von Ihnen gewichen durch meine Absolution? Bedurften Sie noch eines Sühngedankens, der an heidnischen Irrthum gränzt? Mehr noch, Herr Senator: dieser Vorsatz ist ein Verbrechen gegen die liebende Allmutter unserer gottseligen Herde. Sie werfen durch die Verbindung mit dem Protestanten Ihre Tochter in den Pfuhl der Verdammniß, statt sich Ihrer väterlichen Gewalt zu bedienen, sanft und ernst die Unbekehrte auf den Pfad des Heils zu bringen!« »Mein Vater! das kann ich nicht,« entgegnete Müssinger entschlossen: »ich bin zum Bekehrer verdorben. Mein Kind wandle seinen Weg unter der Obhut des allbarmherzigen Vaters. Ist es dessen Wille, so wird meine Tochter selig werden -- so wird sie zum wahren Hirten gelangen; so Gott will, ohne, wie ich, von einem grausamen Zusammentreffen aller Schrecknisse zu einem Uebertritt gezwungen zu werden, den ich...« Er schwieg plötzlich. Der Doctor ergänzte mit strafendem Blicke, »den ich jetzt schon von Herzen bereue. Sprechen Sie es nur aus. Ihre Verhältnisse haben sich ja so gestaltet, daß, was Sie gethan, ganz unnöthig war. Sie bedurften der Lossprechung nicht, weil der Sohn des Todten Ihnen freundlich entgegentrat; Sie bedurften meines Rathes nicht, weil er Ihnen sogar die Gelder schenkte, vor deren Rückzahlung Ihre Oekonomie, vor deren Bewahrung Ihr zartes Gewissen schauderte. Sie bedurften meiner Hülfe gegen den Feind nicht, weil sich dieser selbst in Ihre Hände lieferte. Ihr Uebertritt war zwecklos. Sie wünschten ihn ungeschehen zu machen; beinahe wünschte ich es auch, weil Sie meine Theilnahme und mein Vertrauen auf eine unwürdige Weise mißbraucht haben.« »Hochwürdiger Herr...« »Ich gehe von Ihnen; wohl! Bedenken Sie jedoch, daß, indem ich auf immer von Ihnen scheide, mein Segens- und Lösespruch zu nichte wird. -- Sie werden in Ihre Irrthümer, in Ihre Zweifel, in Ihre Gewissensqualen zurückfallen; eine Beute der mahnenden Geisterwelt werden, Ihre Tochter mit Ihnen in's Verderben reißen, und, statt einst mit Clara vereint, himmlische Wonne zu genießen, in Ohnmacht und Pein vergehen, weil Ihr Ohr taub geblieben, -- weil Sie die irdischen Stimmen und die Stimmen von Jenseits nicht gehört!« »Ach! welch' ein Abgrund von Trostlosigkeit und Furcht!« klagte der Senator, den Doctor, der zu gehen Miene machte, zurückhaltend: »Verlassen Sie mich nicht! rathen Sie mir; helfen Sie mir! Mich verläßt der Verstand und Gott, wenn Sie von mir scheiden!« »Wo bleibt Ihre Entschlossenheit, Herr Senator? Ihr unbiegsamer Charakter?« »Ich bin nicht mehr Müssinger,« versetzte der Senator tiefgebeugt; »ich kenne mich selbst nicht mehr. Wenn Sie verlangen, will ich, wo möglich, alles zurücknehmen; aber ... der Betrag jener Wechsel, ... wird Georg denselben nicht fordern, wenn aus der Hochzeit nichts wird?« »Sind denn die Wechsel nicht in Ihren Händen? Ich bevollmächtige Sie, zu beschwören, daß Sie an Birsher, den Vater, das Geld gezahlt. -- Sie leisten den Eid mit dem stillschweigenden Sinnesvorbehalt, daß Sie die Nothausflucht auf dem Wege wieder ausgleichen wollen, den ich Ihnen bereits angegeben, und Alles ist in völliger Richtigkeit; Ihr Heil bewahrt.« Der Senator stand entschlossen aber unzufrieden auf, und entließ mit den Zeichen einer völligen Sinnesänderung den Doctor, an welchem Justine hastig und kalt grüßend vorüber zum Vater ging. »Verhüten Sie doch Unheil, bester Vater,« sagte sie schnell und mit Thränen des Unmuths in den Augen: »Erklären Sie sich gegen die Mutter. Sie räumt ihre kostbarsten Sachen zusammen, -- sie verschließt ihre Schränke, -- sie will heute Abend das Haus verlassen. Welch' eine Schande für uns, wenn das geschieht! Reden Sie mit ihr, und ein grausames Mißverständniß wird sich heben!« Des Senators bleiches Gesicht verwandelte sich in ein zornrothes. Erschrocken und verletzt zugleich eilte er, dem Justine zuredend und ermahnend folgte, dem Gemach seines Weibes zu. Jacobine war gerade beschäftigt, aus Schubfächern und Commoden ihre Kleider, ihre Wäsche zu nehmen, und die ungeheuern Schränke damit anzufüllen, die sie, voll von ihrer Aussteuer einst in's Haus gebracht. Sie zuckte etwas zusammen, als sie den Senator wahrnahm, ließ sich jedoch nicht stören, drehte ihm den Rücken, und kramte, ohne ein Wort zu reden, weiter fort. Auf die dreimal und immer heftiger wiederholte Frage des Gatten: »Jacobine! Was machst Du da?« antwortete sie endlich, der Anrede überdrüssig, kurz und verächtlich: »Du siehst's.« »Du packst ein?« »Ja.« »Warum?« »Ich gehe fort; heute noch.« »Jacobine! von deinem Ehemanne? aus deinem Hause? von deinem Kinde?« »Ist Justine ein brav Mädchen, so geht sie mit. Wo nicht, desto schlimmer für sie.« »Lieblose! Blödsinnige!« donnerte Müssinger, kaum seiner mächtig: »Wiegelst du wieder mein Kind gegen mich auf? Was that ich dir, Besessene? Rede endlich!« Die Senatorin schwieg in galligem Stumpfsinn. Justine, den bebenden Vater betrachtend, und Alles fürchtend, lief auf die Mutter zu, fasste deren Hände, und bat weich und flehend: »So reden Sie doch, Mutter. Beendigen Sie doch diesen gräulichen Zwist. Justine bittet Sie herzlich darum!« Die Senatorin schob sie heftig von sich, und trieb ihre Geschäfte weiter. Justine folgte ihr ins andere Zimmer, versuchte noch ein Bittwort, und da auch dieses nicht fruchtete, stellte sie sich der ausweichenden Mutter in den Weg, und sagte mit geschärftem Nachdruck: »Sie werden jetzo dem Aergerniß im Hause auf eine oder die andere Weise ein Ende machen, Mutter. Sie werden es, so wahr ich Justine heiße. Sollen die Dienstleute noch mehr des schändlichen Geredes unter die Leute bringen? Soll mein -- der Unschuldigen Wohl unter Ihrer übeln Laune leiden? Geben Sie jetzt noch nicht dem billigen Verlangen meines Herrn Vaters nach, so nenne ich Sie nie mehr meine Mutter!« »Unglückskind!« zürnte Jacobine: »hätte ich dich nicht geboren!« »O du Rabenmutter!« rief der Senator, der ihnen gefolgt war, und nun voll Wuth auf Jacobine zuging: »Bist du denn werth, daß dich die Sonne bescheint?« Seine Hand suchte und fand das spanische Rohr am Kamin. Justine hielt ihn mit aller Kraft zurück. Die Senatorin jedoch, ohne die drohende Bewegung zu fürchten, stellte sich ihm trotzig entgegen, und rief herausfordernd: »Nun, so komm' an! Schlage mich todt, wie den alten Birsher, dessen Gespenst schauderlich im Hause herumgeht, und mit dir, dem Schuldigen, alle Unschuldigen quält, daß sie unmöglich ausdauern können!« Wie Bildsäulen standen der Senator vor dem Donnerworte seines Weibes, -- Justine vor dem Erschrecken des Vaters. Er hatte die entsetzliche Entwicklung nicht geahnt. Justine _hatte_ sie geahnt, -- aber nicht das Verstummen des Beschuldigten, den ihr Gemüth bisher frei gesprochen. Mit Mühe gewann Müssinger seine Sinne wieder und die Sprache. »Lasse mich mit diesem Weibe, deiner Mutter, allein!« sagte er mit erlöschender Stimme, blaß wie der Tod und winkte dem Mädchen zu gehen. »O du mein Herrgott!« kreischte das Weib: »Er will mich mißhandeln!« »Bleibe, tolles Weib!« entgegnete der Senator, und zog sie mit solcher Gewalt in einen Sessel nieder, daß sie plötzlich verstummte, sich nicht mehr regte. Justine wich nun auf ein zweites Zeichen ihres Vaters der traurigen Scene aus, die sich unter ihren Augen entsponnen hatte. In der Wohnstube kam ihr Georg Birsher entgegen: freundlich, offen, ruhig wie gestern. »Ich sehe Sie gerne, liebe und gute Miß,« sagte er: »Ihr Anblick ist mir ein Trost vor dem traurigen Geschäfte, das mich erwartet. Die Commissarien des Gerichts werden erscheinen, und mir den Nachlaß des Vaters übergeben. Schenken Sie mir zuvor das Köstlichere: Ihre Gewogenheit.« »Ich habe nichts gegen Sie, Monsieur,« versetzte Justine, verlegen an der Schürze zupfend: »Was wird aber Ihnen an der Gewogenheit einer Jungfer, wie ich bin, liegen?« »Viel; weil aus der der Gewogenheit herzlichere Freundschaft werden kann. Sehen Sie, Miß: Als mein Vater sagte: Georg! du wirst heirathen, und das Mädchen nehmen, das ich dir bestimme: ein deutsches wirthliches Mädchen, das mein Correspondent sehr lobt an Eigenschaften und Vermögen! -- Da dachte ich bei mir selbst: In Gottesnamen! Der Vater wills; aber ich kann's schon erwarten. -- Als ich Europa betrat, und hörte, daß mein Vater gestorben, dachte ich: Sein Verlobungswort lebt zwar noch. Wird es mir jedoch zurückgegeben, ist mirs gleichviel. -- Als ich aber hier ankam, in Ihr leuchtendes Auge sah, und tief in Ihr Herz; -- da wurde es anders. Seitdem denke ich: es würde ein Unglück für mich sein, wenn ein solches Capital mir entginge. Ohne Umschweife denn, meine werthe Jungfer! Ihr Herr Vater wird mit Ihnen geredet haben. Ich bin ein ehrlicher Mann, suche eine ehrliche Frau, und wünsche Sie an dieser Stelle. Was antworten Sie hierauf?« Justine sah auf die Spitzen ihres Aermels, dann fest und sicher in Georgs festes und sicheres Auge, und sprach ohne Umstände: »Was mein Herr Vater will, ist mir, einer gehorsamen Tochter recht. Ich kann Sie, glaube ich, wohl leiden, mein Herr. Ich will mit Ihnen gehen, wenn sie es wünschen; als Ihr Weib und Ihre treueste Freundin.« Birsher verbeugte sich sehr erfreut, und versetzte: »Wollten Sie mir nicht erlauben, holdselige Braut, einen Kuß auf Ihre Wange drücken, und Ihnen ein Pfand dieser Stunde verehren zu dürfen?« Justine nickte freundlich, und duldete den verschämten Kuß. Georg zog hierauf einen schlichten goldenen Reif vom Finger, steckte ihn an ihre Hand, und sprach: »Amerikanisches Gold, ächt und klar wie amerikanische Treue! Der Brautschmuck von brasilianischen Steinen, den mein Vater Ihnen zugedacht, und den ich Ihnen bald überreichen werde dürfen, ist zwar zehnmal schöner als dieser Ring. Ich bilde mir jedoch ein, daß der Ring mehr Werth für Sie haben werde, weil er von _mir_ kömmt, und nicht vom freiwerbendem Vater eines willenlosen Sohnes.« »Sie charmiren mich durch das artige Präsent!« versicherte Justine lächelnd, und entfernte sich mit dreimaliger Verbeugung, weil die Commisarien sich hören ließen. Im Begriff, dem Vater diese Nachricht zu bringen, begegnete sie ihm, der aus der Mutter Zimmer trat. Er schien gefaßt. Die Senatorin saß, wie die klaffende Thüre sehen ließ, mit gefalteten Händen, stumpf brütend und niedergeschlagen auf einem Stuhle. Justine wünschte dem Vater schüchtern Glück, zur Beruhigung der Mutter. Die Albernheit hält in ihrem Kopfe offne Bank; sagte der Senator eiskalt und verächtlich: Man muß sie verblüffen, da mit Raison nicht anzukommen ist. Ich habe ihr geschworen, daß ich sie als verrückt ins Irrenhaus bringen lasse, wenn sie noch _einen_ Schwank macht, wie gestern an dem tollen Teufelstage. Du stehst mir dafür, daß sie mittlerweile nicht aus dem Hause geht. Die Verläumder, die ihr solche Schandmücken in das Ohr gesetzt, will ich schon finden, schon züchtigen. Justine freute sich der Ruhe ihres Vaters. Sie schien ihr ein Bürge seiner Schuldlosigkeit. Sie wollte seine Zufriedenheit erhöhen, und sagte: »Sie werden mich loben, Herr Vater. Justine ist gehorsam und eilig, Ihren Wünschen zu entsprechen. Monsieur Birsher kam vor einer Viertelstunde; er hat mit mir geredet; ich trage seinen Verlobungsring. Hier ist er, lieber Vater!« Des Senators Gesicht verzog sich düster und unwillig. »Warum diese Eile?« brauste er auf: »Alles zur Unzeit! Das Donnerwetter soll ... Welche Plage mit unbesonnenen Weibern!« »Mein Vater...« fragte Justine scheu: »welche Aenderung? sagten Sie nicht gestern?...« »_Heute_ ist nicht gestern, und gestern _war_ nicht heute!« versetzte Müssinger: »Der Ring muß zurück! Ich wills; ich befehle es dir!« »Sie befehlen mir Ungerechtigkeiten!« -- sagte Justine von kränkender Beschämung gepeinigt: »was müßte Herr Birsher glauben? Ich will nicht als wahnsinnig ausgeschrieen werden! besinnen Sie sich doch, mein Vater!« »Ihr _seid_ wahnsinnig; du und deine Mutter!« antwortete ihr in der höchsten Aufregung der Senator, und rannte dahin, wo die Commissarien seiner warteten. Justine schlug staunend die Hände zusammen, fühlte sich an die Stirne, um sich zu überzeugen, daß sie in der That wache und alles Vorige gehört habe. -- »Ich soll nicht fort?« fragte sie sich schmerzhaft! »O nicht doch! fort nach Amerika, wenn das Leben daselbst hundertmal einförmiger wäre, denn hier! Fort! hinaus in die Ferne! hinaus nur aus diesem Hause, in dem sich alles Unheil vereint, um uns sammt und sonders nach und nach um den Verstand zu bringen, wie es uns schon um Herz und Gemüth und Sorglosigkeit und Frieden brachte. Ich wollte ja lieber unter Fremden mein tägliches Brod _verdienen_, als es unter solcher Seelenangst verzehren zu müssen; ich wollte lieber ... gleich einer Flüchtigen...« Sie hielt inne. »Ei, die Lainez!« fuhr sie fort; »wo bleibt die gute Frau, deren Umgang allein jetzo meinen Geist erheitern könnte? Sollte sie, ihrem Pfande zum Trotz, wortbrüchig werden?...« Sie zog langsam, zögernd und erröthend, das Medaillon der Lainez aus der Tasche, und trat, von jungfräulicher Scheu und Neugierde zugleich befallen, aus dem Vorsälchen der Mutter in einen kleinen Versteck, kaum einen Kreuzstock breit -- ein Altänchen nach dem Hofe bildend, auf welchem eine Anzahl von Blumenstöcken an Geländer und Wand hingereiht war; von freierer Luft heimgesucht, und durch ein schirmendes Dach vor Sonnenhitze und Regen beschützt. Dieser Blumenwinkel am äußersten Ende des Hauses, stand mit dem, ebenfalls von Küche, Wohnstube und Gesindzimmer entlegenen Vorsaale der Senatorin vermittelst einer Thüre in Verbindung, in der eine drathvergitterte Glasscheibe angebracht, vor welcher ein Vorhang befestigt war. In der Mitte der Blumentöpfe, auf einem leeren Fleck des Gestells derselben, kauerte sich Justine nieder, und betrachtete, sich zu zerstreuen, und ihrem Vorwitze zu genügen, die Heiligenbilder der Lainez. Der heiligen Pulcheria wurde indessen kaum ein Blick geschenkt; der schöne Sebastian fesselte ihre Aufmerksamkeit. Der Maler hatte in dem kleinen Bilde ein großes Stück geliefert, und der Beschauer wußte nicht, was er vorzüglich daran preisen sollte: die männliche Formenschönheit des Märtyrers, die zu den Sinnen sprach; oder die himmlische Verklärung, die sowohl in seinem Gesichte, als auf seinen Gliedern lag, und jeder Sinnlichkeit wehrte, ... oder den magischen geheimnißvollen Farbenzauber, der aus den Blumen hervorging, die aus den stürzenden Blutstropfen des Heiligen sproßten; oder endlich das herrliche Schauspiel des aufgeschlossenen Himmels, der seine Goldstrahlen um das jugendlich schöne Haupt des Sterbenden legte, -- aus dessen Wolkenkranze die heilige Mutter sah, und der Heiland und ihre dienenden Engel! Justine konnte sich nicht satt sehen an dem lieblichen Meisterwerke, und so oft eine seltsame innere Beklemmung sie zwang, den Blick wegzuwenden, flugs kehrte er zu dem Bilde wieder zurück. Sie stellte es endlich, verschämt und dennoch zu kleinem Frevel versucht, in die Zweige einer jungen, grün und glänzend aufsprossenden Myrthe. Sie dachte sich den Altar hinzu, -- nicht den violettbehangenen der Johanniskirche, sondern den roth und weiß geschmückten aus der Johanniterkapelle; die Kerzen und den Weihrauch, von denen die Lainez gesprochen. Das Bild jener heimlichen Messe gesellte sich zu dem ganzen Begriff, und -- siehe da! in blühende schmeichelnde Formen gestaltete sich vor dem Mädchen der römische verpönte Gottesdienst, und es dachte bei sich: die Mittagsländer mit ihren heitern Tempeln müßten doch schön sein, wie ihr Kirchendienst fröhlich; glänzend und begeisternd, wie ihre Heiligenbilder zart, rührend und ideal. Da wurde der schweigend überlegenden und prüfenden Jungfrau plötzlich zu Muthe, als sei Herr Georg Birsher an ihre Seite getreten, und frage sie mit seiner ruhigen und männlichen Stimme: »Wozu das alles, liebe Miß? Ich fürchte: was Sie da treiben, sieht einer kleinen Sünde ähnlich auf ein Haar. Lassen Sie den raschbewegten Mittagskindern ihren bunten lustigen Schauspieldienst, und das Heer ihrer Heiligen und Seligen, zu denen man betet. Ihr wandelbarer Geist verlangt einen Blumenflor, auf dem er flattere und wühle, und schaue und genieße wie die Biene; denn der Süden zeugt rasches Blut und glühende Sinne. Bleiben Sie jedoch, gute Miß, in der Bahn des Nordens, des gemüthreichen, lang und beständig Empfindenden, zufrieden mit _einem_ Gotte, mit _einem_ treuen Herzen. Und dieses Herz -- bin ich gleich nicht schön wie der pfeildurchbohrte Sebastian, -- nicht Theilnahme erregend, wie ein Anderer, der mir gefährlicher wäre, als der todte Heilige -- dieses _treue_ Herz finden Sie in mir!« Justinens Phantasie hatte ihr eine eben so artige Täuschung vorgemacht, daß sie jetzt selbst verwundert aufsah, ob Birsher wirklich zugegen. Nein! er war nicht da. Ihr Auge sank zu Boden, aber ihr Ohr wurde von einem kreischenden Schrei erreicht, von der Stimme. »Das Gespenst!« flüsterte sie erschreckend, und hob mechanisch obgleich schaudernd den Vorhang von dem Thürfensterchen. Der Mutter Zimmer war offen; auf dem Sofa lag Jacobine, wie von Convulsionen durchschauert; über den Vorsaal nach der Ausgangsthüre schlurfte langsam eine weiße Gestalt. Vom Schrecken zu einer heldenmüthigen Entschlossenheit übergehend, sprang Justine aus ihrem Versteck, eilte der schnell sich fortbewegenden Gestalt, die diese Dazwischenkunft nicht vermuthet hatte, um so hastiger nach, faßte auf der Schwelle das fliegende weiße Gewand, und rief ihr wacker zu: »Halt! ergieb dich! du allzeit fertiges Gespenst!« Dieses Letztere hielt nicht, sondern ließ den Oberrock in den Händen der tapfern Angreiferin; ein Mann entsprang dieser Hülle, ließ Perücke und andern Ballast, der ihm zu beliebiger Ausstopfung gedient hatte, feig im Stich, und floh, da von der großen Treppe sowohl der Senator, als mehrere Domestiken auf Jacobinens Geschrei herbeikamen, eine schmale Wendelstiege hinab, die zum Magazin und Brunnen des Hauses führte. Der Geist rannte hier dem zufällig herankommenden Berndt in die Hände. »Halt! wer bist du, Deserteur?« »Laß mich! Bruder Berndt! um Gottes willen!« »Was? Dort oben schreit man nach Hülfe? und was gilt's? ich habe hier den Dieb! Halte still, und komm' mit.« »Kennst du mich denn nicht? Parbleu ... sei kein Kind!« »Eben deshalb, guter Freund! Weil ich kein Kind bin, und weil ich dich kenne, komm' mit. Deine Zwischenträgerei hat mich um den Dienst gebracht; meine Unerbittlichkeit soll dich zu Schanden machen, du Baalssohn!« So sanftmüthig auch Berndt diese Rede sagte, so derb packten seine Fäuste den Gegner, und trugen ihn beinahe in die Höhe. Justine, Senator und Gesinde empfingen den Ertappten, und führten ihn vor die Senatorin. Nachdem der Senator hierauf die Domestiken entfernt hatte, um ihnen nicht die Vapeurs seiner Frau und die Scham des entlarvten Geistes länger zum Schauspiel zu geben, sagte er zu Jacobine: »Sieh hier das übernatürliche Wesen, das seit gestern unser Haus umzuwälzen sich bemühte, das aus dem Grabe wiederkehrte, um Einspruch in eine Hochzeit zu thun, die ihm mißfiel, und denke daran, daß deine Ungerechtigkeit gegen mich aus eben so nichtiger Quelle fließt.« »Nothhaft!« rief die Senatorin, plötzlich ihre Krämpfe vergessend, und zornig aufspringend: »Nothhaft! Er niederträchtiger Bursche! Was bedeutet die schändliche Maskerade? Man hätte den Tod davon haben können! Am hellen Tage zu spuken! Den Amerikaner wieder aufleben zu lassen! Meinen armen Kopf zu verwirren! Ich hoffe, daß Herr Senator Müssinger Ihn exemplarisch zur Rechenschaft wird ziehen lassen! Auf dem Rathhause, vor allen Richtern und Volk!« »Ich hoffe, daß der Herr Senator das unterlassen werden,« entgegnete Nothhaft mit einem giftigen Drohblicke auf denselben. »Was in diesem Hause nur als ein unschuldiger Jokus passirte, könnte am geeigneten Orte zum Ernste werden! und Ihre Beleidigungen, Frau Senatorin, muß ich mir eben so ernstlich verbitten. Ich bin nicht mehr der Commis in Ihrem Hause; ich bin mein eigner Herr, und alle Tage fähig, einen Rathsherrn abzugeben, wie Ihr Herr Liebster.« »Ach Gott! das Lästermaul!« seufzte die Senatorin weinerlich und aufhetzend: »Ich zittere noch vor Schreck an allen Gliedern, und Er thut, als ob Er Fug und Recht gehabt hätte. Müssinger! wenn du das leidest....« »Ein Wort, Herr Ex-Principal!« sagte Nothhaft unverschämt, und zog den Senator bei Seite: »wir wollen uns nicht über die Gründe verbreiten, die mich zu der Vermummung bestimmt haben. Ich thue Ihnen damit einen Gefallen, so wie ich den ganzen Plan zu _Ihrem_ Besten allein angelegt habe. Vor der Hand lasse ich Ihnen noch die Wahl, mich als Schwiegersohn anzunehmen, und den Amerikaner aus dem Hause zu weisen, oder versichert zu sein, daß meine schonende Freundschaft für Sie ein Ende erreichen wird.« »Er ist ein schlechter Mensch!« polterte der Senator hitzig: »was werde ich auf seine elenden Drohungen geben? Packe Er sich aus meinem Hause! Ich habe Nichts mit Ihm gemein. Setze Er sich in seine Heimath hin, und rathe und verkaufe und spucke Er fort so viel als Er will. Ich warne Ihn, sich ferner hier betreten zu lassen. Ich würde sonst meine Anklage bei dem Polizeiaufsichter anbringen müssen, während ich jetzt noch den Scandal, den Er verursachte, mit Schweigen übergehen will.« Nothhaft schnitt ein grimmig saures Gesicht. »Na!« sagte er trotzig: »ich gehe, Herr Senator. Schreiben Sie das heutige Datum in's Kamin, Wünsche allerseits wohl zu leben. Und Sie, meine beste Jungfer! bittet Sie nicht ein wenig um Pardon für mich, da Sie mich doch eigentlich in die saubere Patsche versetzt hat?« »Ich freue mich, Monsieur, Ihn ertappt zu haben, während sich Männer vor dem Popanz fürchteten,« versetzte Justine spöttisch: »ich bin nicht vergnügt, daß nun auch die ganze Stadt von Ihm glauben wird, was ich schon längst von Ihm behauptete: daß Er eine bösartige Kröte ist, und damit Punktum.« »Damit noch nicht Punktum!« erwiderte Nothhaft frech und ergrimmt: »ich werde die Ehre haben, so Gott will, ein Weiteres von mir vernehmen zu lassen. Er aber, Mosje Berndt! Er wahre seine Ohren! Gott befohlen!« »Du ruchloses Höllenkind!« rief Berndt dem Davoneilenden nach: »der leidige Gott sei bei uns muß wenigstens dein Großvater gewesen sein!« Der Senator hatte indessen seine Partie genommen. Die alte Energie schien in den Mann zurückgekehrt zu sein. »Keine unnöthige Bethbruderei!« sagte er scharf, aber freundlich zu dem Augenverdreher: »wir müssen vor der Natter auf der Hut sein. Seh' Er nach, daß der Bengel seine Effekten noch in dieser Stunde aus dem Hause schaffe. Dann laufe Er, und zeige Er auf der Börse an, daß Nothhaft nicht mehr in meinen Diensten steht. Lasse Er merken, daß er mit Schimpf und Schande aus dem Hause kömmt. Aber von der Gespenstergeschichte kein Wort. Sonst bleibt's beim Quartalabschied. Unterdessen bedanke ich mich bei Ihm schönstens.« Berndt eilte, vergnügt über seine gesicherte Existenz, den Befehlen des Principals zu genügen. Der Senator wendete sich zu Justine: »Dir, mein Mädchen, danke ich in's Besondere. Dein Muth hat uns die Augen geöffnet. Der Bursche wußte, mit wem er's zu thun hatte. Zu mir kam er in der melancholischen Nacht, -- meiner leichtgläubigen, schreckbaren Frau erschien er am Mittage, -- wahrscheinlich, weil das Gespenst am Abend nicht durch die verschlossene Thüre dringen konnte. Auf den Aberglauben der Dienstleute konnte er's bei Tage wie bei Nacht wagen. Allein zu Justine kam er nicht. Er hat das Mädchen mit Recht gefürchtet. Mir bleibt jetzo noch Einiges zu thun. Meine Gegenwart ist im Hause entbehrlich. Ich war bei Eröffnung der Schränke. Man hat sich überzeugt, daß alle Siegel unverletzt geblieben. Ich will ausgehen, Justine! meinen Hut, meinen braunen Rock mit der schmalen Stickerei. Den Mantel, den Degen! Ich muß zum zweiten Bürgermeister gehen. Der Kerl von Nothhaft muß aus der Stadt, ehe die Sonne untergeht, ehe er mir Stänkereien macht: ich fürchte, der Bursche hat tausend Kniffe im Kopfe. -- Ich werde auch dem Steuercommissär meinen Besuch machen. Ich werde ihn ernstlich wegen des Geschwätzes seiner Frau bedrohen. Beruhige dich, Jacobine! du sahst, daß der Geist des Verstorbenen ein Posse war. Du wirst einsehen, daß die Commissärin in dem, was sie dir auf dem Ritterhofe vertraute, eine Lüge gesagt hat.« »Das gebe Gott!« entgegnete die Senatorin phlegmatisch und die Hände in dem Schooß faltend: »ich reiße mich nicht gerne aus meiner Ruhe, und verlasse nicht mit Plaisir dieses Haus. Aber, wenn du in der That ein so schlechter Mensch wärst, wie die Leute sagen....« »Schweig!« unterbrach sie der Senator finster, denn Justine kam mit Rock, Mantel, Hut und Degen. Während Müssinger sich in den Interimsstaat der Rathsherren warf, kam auch Georg Birsher hinzu. »Ich komme, Ihnen für die Bewahrung meines Eigenthums zu danken,« sagte er zu dem Senator: »welche Gerüchte haben sich jedoch zu meinem Ohr gefunden? Meines Vaters Geist soll sich gezeigt, und sich endlich, von einer muthigen Amazone ergriffen, in einen Ladenschwengel verwandelt haben?« »Dummes Zeug!« erwiderte der Senator verdrießlich: »das Domestikenvolk hat doch tausend Zungen. Beruhigen sich Ew. Edeln. Es war ein einfältiger Nebenbuhlerstreich.« »So?« versetzte Birsher lächelnd: »die Bosheit scheiterte sicherlich an Ihrem Ringe, beste Jungfer Braut. Die Wilden meines Vaterlandes beschenken sich mit solchen Talismanen, und vielleicht ist dieser Ring ein solcher. Erlauben Sie, Verehrteste, daß ich Ihren Heldenmuth und Ihre Treue mit diesem Diamantschmucke belohne, der freilich schon Ihr Eigenthum ist. Die Rose von Edelsteinen, die ich ebenfalls in dieses Kästchen gelegt habe, bitte ich, Ihrer Frau Mama, meiner allerwerthesten Schwiegermutter, als ein dürftiges Pfand meiner Ergebenheit zuzustellen.« Er hielt dem Mädchen freundlich das geöffnete Etui hin, aus welchem ein Meer von Demantenglanz strahlte. Die Senatorin zwinkerte lüstern mit den Augen; Justine, ein weigerndes Compliment machend, las in dem Gesichte des Vaters, dessen Sinnesänderung sie beunruhigte. Der Senator bemerkte ihre Verlegenheit, und fuhr rasch und lebendig dazwischen: »angenommen meine Tochter!« sagte er freundlich und dringend: »alles geht wieder im rechten Gleise! Die Stimmen aus der Unterwelt haben gelogen, und im Uebrigen.... will ich schon fertig werden. Ew. Edeln werden also mein Schwiegersohn!« Die Senatorin hatte sich der Diamanten bemächtigt, und bekräftigte des Mannes Wort mit einem tiefen verbindlichen Knix. Der Amerikaner umarmte den Senator, küßte der Senatorin beide Hände, der beruhigten Justine beide Wangen und die Stirne. »Eine Bedingung indessen!« fuhr der Senator zwischen beide Verliebte tretend fort: »ich trage an Sie, bester Sohn und Handelsfreund, eine heilige Schuld ab, indem ich Ihnen meine Liebste gebe. Ich habe jedoch meine Gründe, warum ich die Heirath für's Erste ganz geheim gehalten, und endlich in Bälde und Stille gefeiert wissen will, damit nicht ferner eine Albernheit dazwischen komme. Mein Buchhalter und --« hier seufzte er -- »Doctor Leupold schweigen wie beeidigte Männer. Knall und Fall! heute über acht Tage die Copulation in Liebkirchen; und dann, mein Brautpaar, zu Schiffe, und fort, in Gottes Namen! Jetzo aber Gott befohlen!« »Wenn Justine mein wird,« sagte Georg, »so bedarf ich keines Gepränges, und so wenig ich mir's nehmen lassen werde, zu New-York mit einer hübschen Frau groß zu thun, so wenig dringe ich hier -- in der fremden Stadt -- auf diese Befriedigung meiner Eitelkeit. In vierzehn Tagen ungefähr geht ein holländisches Schiff, das auf dem Texel liegt, nach Amerika unter Segel. Ich werde an van den Höcken schreiben, daß er dessen Cajüte für uns miethe. Bis dahin sind wir zu Amsterdam und reisefertig. Nicht wahr, Justine?« Justine nickte stumm aber bewegt mit dem Kopfe. In der Senatorin Gesicht zeigte sich sogar ein flüchtiger Wehmuthsschatten des Gedankens an Justinens Scheiden. Dem Senator gingen die Augen über. Er drückte Allen hastig die Hände, und entfernte sich rasch, seinen Geschäften nachzugehen. Das Herz wurde ihm leichter: er sah Nothhafts Koffer von den Packknechten nach dem Gasthause schaffen. Sein Herz wurde ihm schwerer: der Doctor begegnete ihm bald hierauf. »Nun, mein verehrter Herr?« fragte der Jesuit zutraulich und forschend: »Ihr Gesicht trägt das Gepräge eines reuigern Sinns? Gewiß haben Sie Ihren Entschluß gefaßt, und sind mit Ihrem Gewissen auf's Reine gekommen.« »Das bin ich, hochwürdiger Herr,« sagte der Senator hierauf muthig, und zu der Waffe des Doppelsinnes greifend: »ich werde in Bezug auf meine Tochter thun, was Recht ist.« »Dafür segne Sie Gott und der Dank Ihres Kindes!« erwiderte der Doctor mit Salbung, und verließ den ungeduldig Fortschreitenden. Während dieser zum Bürgermeister wanderte, um bei demselben gegen Nothhaft zu procediren, und hierauf den Steuercommissär aufsuchte, ihm zu sagen, daß dessen Weib sich unterstanden, gegen seine Ehefrau schändliche Injurien und Calumnien über ihn an den Tag zu legen, -- und dem Commissär zu drohen, im Wiederholungsfalle seine geschärfte Klage vor den Gerichten anzubringen, -- während dessen traf der Doctor Leupold sehr zufrieden mit Superior und dem Schiffscapitän auf der Mailbahn am Schwanenmarkte zusammen. Der Capitän war in seiner Uniform, der Superior als Quäcker gekleidet. Die Anhänger dieser Secte waren dazumal selten zu schauen, und von dem Volke sehr geehrt, weil die sonderbare Einfachheit des Aeußeren Vieles von dem Innern hoffen ließ. Der Lakonismus dieser Leute, die Gewohnheit derselben, den Hut auf dem Kopfe zu behalten, ihre schmucklose Kleidung und ihr schulmeisterlicher Gang sagten dem Superior als Larve vorzüglich zu, um darunter Tonsur und Priesterschaft zu verbergen. So zufrieden der Doctor zu den Herren trat, so unzufrieden waren diese gegenseitig, wie Leupold bemerkte. Der Superior blickte sehr vornehm und niederschmetternd vor sich hin. Der Capitän sah verdrüßlich aus, und ungeduldig mit dem Stocke in dem Sand stochernd, rief er den nahenden Doctor an, sagend: »Sehr recht, mein würdiger Herr, daß Sie kommen. Der sehr geehrte Herr und Freund zu meiner Seite hat mich auf's Korn genommen, und will mir den Spiegel sammt Mast und Korb und Raaen mit _einer_ Ladung zerschmettern. Helfen Sie mir auf. Bezeugen Sie, daß ich der ehrlichste niederländische Schiffscapitän bin, der jemals die See befuhr. Ist es wahr, daß ich schmutzige Procente von meiner Fracht nehme? Ist es wahr, daß ich Seelen-Verkäuferei und Negerspedition nebenbei betreibe, und somit meine Fracht an Qualität und Quantität in Gefahr setze und schmälere?« »Ich habe keine Beweise dafür,« versetzte der Doctor: »die Correspondenten melden bisweilen dergleichen, mein guter Herr Tormerpick, und wenn der sehr ehrwürdige Herr an Eurer Seite dasselbe behauptet, so muß er wohl genauer unterrichtet sein!« »Den Donner auch!« sagte Tormerpick mit galligem Ausdruck: »Es sollen mich hunderttausend Tonnen voll Teufel regieren, wenn es wahr ist; so wahr ich Jahn Tormerpick heiße und mein Vater, der wackerste Steuermann, von einem Hai gefressen wurde; Gott habe ihn selig. Wahr ist's, daß die Verläumdung am besten Rufe am eifrigsten nagt, und ich will gar nicht läugnen, daß darauf hin meiner Redlichkeit mancher unpassende Antrag gemacht wurde. Wie ich ihn aber stets zurückgewiesen habe? Bei allen Signalen: dort läuft just einer, der mir gestern Abends in der Schenke eine dito Eröffnung machte!« Der Kapitän deutete auf Nothhaft, der in der Ferne quer über die Straße ging. Der Doctor lächelte, an seine Unterredung mit dem Menschen gedenkend. Der Capitän nahm's für ein ungläubiges Lächeln, und betheuerte seine Aussage mit einem seemännischen Kraftworte. »Es waren ihrer zwei beisammen,« sagte er ausführlicher: »der Mensch dort -- wie er mir sagte: ein Ladenschwengel aus einem vornehmen Hause allhier; und ein Anderer, ein Hamburger Ellenreiter, der von seinem Principal weggejagt worden sein mußte, so abgerissen und liederlich sah er aus. Die Burschen tranken Bier und schwatzten von Hamburg, von dem Lotto, ... weiß Gott! wovon? Endlich schlief der Hamburger, der am Meisten geschrieen hatte, ein, und der Andere kam auf mich zu, und erzählte mir von einem jungen englischen Rindfleischesser, dessen er gern gerathen möchte, wenn ich demselben eine Kommißbrodpfarrei zu Batavia verschaffen wollte. Nun wissen Sie wohl, meine geehrten Herren, daß man für einen achtzehnjährigen englischen Burschen, der noch obendrein von guter Familie sein soll, einen ordentlichen Batzen Handgeld bekömmt, und daß mancher Capitän im Dienste unserer hochmögenden Herren eingeschlagen haben würde, -- wäre es nur aus Tück und Tort gegen die Hallunken von England, und weil sogar die Transportkosten bezahlt werden sollten; -- aber Capitän Tormerpick hat den Werber derb heimgeschickt, daß er nicht mehr anfragen soll!« »Armer James!« dachte der Doctor bei sich, der nun den Zusammenhang begriff; dann setzte er laut bei: »ich möchte Euch wahrhaftig nicht rathen, Capitän, in den Handel einzugehen. Ich kenne den bezeichneten Jüngling und prophezeie Euch schlechte Folgen, wenn Ihr Euch an demselben vergreifen solltet.« Der Capitän machte ein sehr langes und albernes Gesicht; der Superior setzte mit einem sehr finstern hinzu: »Ueberhaupt, Capitän, gebe ich Euch noch die Weisung in den Kauf, in Zukunft Eure Taxe, Zoll-Listen und Spesen billig einzurichten. Die Gesellschaft möchte ansonst leicht dazu bewogen werden, unter den holländischen Capitänen einen Stellvertreter für Euch zu erwählen. =Quod notandum!=« Tormerpick führte sich mit verschiedenen Gemeinplätzen und oberflächlichen Bereitswilligkeits-Versicherungen ab. Der Superior sandte ihm noch einige Anmerkungen nach, und sagte alsdann zu dem Doctor: »Pater Münzner! ich bin nicht sehr mit Ihnen zufrieden. Sie sehen dem Schiffs- und Speditoren-Volk nicht genugsam auf die Finger. Sie schaden dadurch den Benefizdividenden unserer Gesellschaft; sind auch zu nachsichtig gegen mangelhafte Zahler, sind auch zu freigebig gegen Arme. Ihr Almosenbuch, das ich heute durchblätterte, strotzt von Ausgaben aus Ihrer Cassa. Das geht nicht. Almosengeben mit billigem Maaß und Ziel ist nützlich; es empfiehlt; es bindet. Die diesem Zwecke entsprechende Quelle muß jedoch aus den Taschen christlicher Wohlthäter in den Sack der Armuth geleitet werden; nicht aus dem Vorrathe der Gesellschaft, die nur verstattet, größere Summen herzuleihen, welche doppelten und dreifachen Zins zu tragen versprechen. Ich glaube, wir thun ohnehin schon genug an der Menschheit. Nebenbei, mein lieber Pater, verschwenden Sie Ihre Freigebigkeit an Unwürdige. Was soll zum Beispiel die namhafte Unterstützung bedeuten, die Sie einem Comödianten zugewendet haben? In der That, -- wäre mir Ihr reiner Sittenwandel nicht bekannt, ich würde vermuthen, der Comödiant sei im Besitze eines hübschen Weibes.« Der Doctor, seinen Verdruß bezwingend, erzählte sein Zusammentreffen mit Litzach. Der Superior beruhigte sich. »Ein Zögling der Gesellschaft?« sagte er alsdann: »das ist etwas Anderes. Das war ein Ehrenpunkt. Was soll aber mit dem liederlichen Subjecte werden? Es darf nicht faullenzen. Man muß ihm Beschäftigung geben. War er ein guter Akteur, so muß er in zwanzig Kleider passen. Ich werde darauf denken. Nun aber ein Weiteres, mein Bruder und Freund im Herrn. Sie sind einer großer Lauheit im Bekehrungsgeschäfte angeklagt worden. Sie wollen nur diejenigen, wie ich höre, in den Bund der Kirche aufnehmen, an welchen Ihr Gemüth einigen Antheil nimmt. Sie haben verschiedene Bekehrungen der Lainez getadelt, stehen sich überhaupt mit der artigen Wittib nicht zum Besten. Nehmen Sie sich in Acht. Die Lainez hat sich bitter beschwert. Sie wissen, was die Person bei dem Provinzial gilt; Sie stellen sich einer empfindlichen Demüthigung blos. Der Lainez darf Nichts geschehen; weder von Ihnen, noch von dem jungen White, der sie quasi verächtlich behandelt. Es ist freilich, in Betreff des Provinzials, gut, daß der junge Mensch sie nicht _liebt_, allein _hassen_ soll er sie eben so wenig. -- Kein Wort der Erwiderung, Pater Münzner. Wir sind völlig über obige Punkte aufgeklärt worden, und es sollte uns leid thun, Ihrer in unserem Berichte nach Rom ungünstig erwähnen zu müssen. Den Provinzial ... =hunc tu amice caveto!= wie der Heide sagt. =Satis= von obigem Gegenstande. Ein Weiteres. Wie steht es mit dem Senator?« »Wohl;« versicherte der Doctor mit freierer Brust: »Die projektirte Heirath wird in sich selbst zerfallen. Ein seltsamer Gespensterglaube hat sich in's Mittel geschlagen, um --« »Gleichviel;« schaltete der Superior ein: »jedes Mittel taugt. Für's Erste, natürlicher Weise, lehrt die Klugheit, alle Umstände so zufällig als möglich zu combiniren; hilft aber der Alltagsgang zu nichts, dann mögen spanische Fliegen angewendet werden. Ich habe der Lainez die Instruction gegeben, in dem Hause des Senators alle Minen anzuzünden, um das sonderbare Gänschen von Tochter zu stimmen. Ich habe, im Namen der Gesellschaft, eine wahre Passion auf ihr Vermögen.« »Zu Ihrem Troste darf ich Ihnen also sagen,« -- versetzte der Doctor, über des Vorgesetzten heißhungrigen Geiz seufzend, »daß Justinens Vater mir sein Wort gegeben, daß der Amerikaner _nicht_ sein Schwiegersohn werden soll.« »=Quod sufficit.= Indessen geht die Zeit hin, und die Lainez wird schon das Uebrige thun.« Während Beide nun hingingen, völlig überzeugt, der Senator folge ihren Eingebungen unbedingt, fertigte dieser einen Brief nach Liebkirchen an den Prediger ab, um die Hochzeit geheimnißvoll vorzubereiten. Nothhaft schien von der Erde verschwunden, und das Schweigen über die Heirathssache wurde vortrefflich bewahrt. Die Senatorin, welche befürchtete, um der Geistergeschichte willen ausgelacht zu werden, sah ihre Muhmen nicht bei sich. Die Männer beobachteten das Geheimniß unverbrüchlich. Justinens Zunge, -- sie konnte wohl sonst verschweigen -- brach zuerst das Siegel. Mit der Lainez, die in dem Hause eingezogen war, auf ihrem Zimmer arbeitend, und über die Geisterhistorie lachend, sagte sie im Uebermuthe ihrer neu erwachenden Zufriedenheit: »Mit der Entlarvung des Spucks kam Alles wieder in's Geleise, und diese Wäsche, an welcher wir arbeiten, meine Beste, ist mein Brautzeug. Ich werde Herrn Birshers Frau. --« Die Lainez erschrak; faßte sich, und erfuhr nach ein Paar gleichgültigen Fragen auch das Nähere aus dem Munde der Braut. Zweiter Abschnitt. Die Unglücksprophetin. -- Das Bild in der Kapsel. -- Gewitter im Brautstande. -- Der Magister. -- Morgenbesuch bei der Braut. -- Trauliche und böse Stunde. -- Angst des Senators. -- Er und seine bösen Engel. -- Das schreckliche Billet. -- Todesschrecken; übereiltes Versprechen; listige Hülfe. -- Seelenverkauf. -- Birsher und Nothhaft. -- Hiobsposten. -- Die Predigt mit Donner und Blitz. -- Schande und Arrest. -- Wundergleiche Rettung. -- Die Lainez erscheint. -- Der Thurm von St. Paul. -- Hoffnung durch den Freund. -- Der Balsamhändler. -- Zehn Uhr. Das Leben im Hause des Senators hatte sich anders und besser gestaltet. In den Familienvater war die Spannung und Kraft zurückgekehrt, die auf _einen_ bestimmten Zweck hin arbeitete: auf das Glück seines Kindes, auf seine eigene Beruhigung zugleich. -- Die Senatorin schien in die ehemalige Lebensweise zurückgetreten; apathisch wie vordem, allein der begonnenen Feindseligkeit gegen den Ehegatten entrathend. Justine war zufrieden. Sie begriff, daß Georg Birsher, wenn sie ihn auch nicht mit jener Leidenschaft liebte, welche das Ziel jugendlichen Sehnens ist, nicht ermangeln würde, ihre billigen Ansprüche auf eheliches Glück zu erfüllen, und daß er geeignet sei, mit seinem besonnenen, ruhigen und klaren Wesen Hand in Hand mit ihr, der starken, nicht an Schwärmerei noch Idealen hängenden Jungfrau zu gehen. Ein Gedanke trug noch Vieles zu ihrer Beruhigung und Zufriedenheit bei. Sie fühlte in ihrem Innern, daß sie sich als Opfer für irgend eine Ungerechtigkeit, die ihr Vater an dem alten Birsher begangen, hinzugeben habe; sie fühlte, daß der Senator mit Verlangen ihrer Verbindung entgegensah; er hatte von einer heiligen Schuld gesprochen, und sie war stolz darauf, die Zahlerin derselben zu sein. Die Besuche, die ihr Herr Georg Tag für Tag zweimal abstattete, machten sie immer mehr und mehr mit den edeln Eigenschaften bekannt, deren sich sein Herz rühmen konnte, und wenn gleich Schüchternheit und Convenienz ihr verboten, dem Verlobten die volle Achtung zu zeigen, die sein Benehmen ihr abzwang, so entschädigte sie sich dafür in ihren Gesprächen mit der Lainez, die gutmüthig und freundlich dem Lobe zuhörte, das die Braut dem Bräutigam spendete, und ihr eine Theilnahme zeigte, welche die Mutter nicht äußerte, weil sie dieselbe nicht empfand. Unbemerkt nahmen indessen die Unterredungen eine andere Wendung. Die Lainez, obgleich die Verbindung mit dem Amerikaner höchlich billigend, stimmte allgemach das Lob des ungebundenen fessellosen Lebens an. »Glauben Sie nicht,« sagte sie einst, da Justine sich mißbilligend dagegen ausgesprochen hatte, »daß ich den mindesten Zweifel wider den Beruf hege, den der gute Herr Birsher verspürt, Ihr Mann zu werden. Ich halte ihn für einen rechtschaffenen Mann; für denjenigen, der das Glück zu schätzen weiß, das ihm in Ihnen zu Theil wird. Aber, -- beste Mademoiselle, -- erlauben Sie, daß meine Erfahrung Sie nicht ungewarnt lasse. Ich lebte in einer glücklichen Ehe, geliebt von einem jungen, schönen, mit Rang und Ehre begabten Manne; ich wurde von ihm auf den Händen getragen; aber dennoch fühlte ich oft recht schmerzlich den Verlust meiner Freiheit. Die Gattin, der Gewalt des Mannes unterworfen, darf keinen Schritt mehr nach ihrem Kopfe thun; denn die Männer haben die Gesetze gemacht. Die Frau bleibt vor den Augen der Welt nichts mehr und nichts weniger als eine ledige Zugabe des Gatten, der sie mit seiner Ehre bekleidet; eine trügende Sonne, die ihre Strahlen von dem Gestirne, woran sie geknüpft ist, entlehnt, und untergehen muß, sobald der Herrscherstern verlischt, oder ... was nicht selten geschieht, -- eine abweichende Bahn zu beschreiben für gut findet. Unvermählt, gibt Jugend und Schönheit uns einen Rang, auf welchen oft Fürstinnen neidisch herniedersehen; verheirathet, legen wir den Scepter der Reize nieder, um die Sklavin eines -- wenn auch geliebten -- Herrn, unsrer Wirthschaft, unserer Kinder, unsers Rufs zu werden, und in Dunkelheit ein Leben zu enden, das oft so reizend, so vielversprechend begann.« »Ei, gute Frau, welche Reden?« sagte Justine verwundert und empfindlich: »Ihre Gedanken fliegen hoch. Ihre Prophezeihung soll aber an mir zu Schanden werden. Halten Sie mich für das schwache Geschöpf, das sich unterjochen lassen, oder Herrn Birsher für den Mann, der solche Erniedrigung begehren würde? Wenn, -- verzeihen Sie mir, -- der Capitän Lainez, gewohnt, anderthalbhundert Menschen mit Sack und Pack nach seinem Wort zu leiten, diese militärische Tyrannei in sein Hauswesen übertrug, -- so machen's die Herren vom Degen nicht anders. _Ich_ soll jedoch die Associée eines friedlichen Kaufmanns werden, die Gefährtin seines Glücks, nicht die Magd seiner Bequemlichkeit, und, wenn die Wagschale einer gewissen Herrschaft auf _eine_ Seite schwanken sollte, so müßte es die _meinige_ sein; darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« Die Lainez lächelte, zuckte die Achseln. »Wir werden ja sehen!« sagte sie einsylbig. -- Justinen genügte dieses nicht. »Sie sollen die Sache nicht unentschieden lassen,« sagte sie lebhaft: -- »Sie müssen sich _mir_ gefangen geben, oder mich gefangen nehmen. Mein Charakter ist leicht zu erkennen, zu ergründen. Glauben Sie etwa, er passe, trotz seiner Gewohnheit, Alles durchzusetzen, unter das Joch, dessen Sie erwähnten?« -- »Fürchten Sie sich vor einem härtern, unerträglichern,« entgegnete Lainez hastig: »Sie gehen mit der Unbefangenheit, -- ich möchte sagen, -- Unbesonnenheit einer zuversichtlichen Jugend einem Bunde entgegen, zu welchem, wie Sie es auch läugnen wollen, das Herz, die Neigung, Sie nicht zieht. Sie werden blindlings die Frau eines Mannes, der Ihnen nicht mißfällt, den Sie aber auch nicht lieben. Diese Leidenschaft bleibt jedoch nicht aus. Wehe Ihnen, wenn in Ihr beschränktes, einförmiges Leben einst der Mann tritt, der Ihre Gefühle mit Siegergewalt an sich reißt; der es versteht, Sie, die Unbewachte, zu bezwingen. Hätten Sie auch die Obergewalt in Ihrem Hause errungen -- vor dem Fremdling müßten Sie dieselbe niederlegen!« Justine sah, bis unter die Haare erröthend, die Lainez starr und verwundert an: verzog dann spöttisch den Mund, und erwiderte: »Sie sprechen Dinge aus, woran meine Seele bis jetzt noch nicht gedacht. Sollten auch diese zu Ihren Erfahrungen gehören? Sorgen Sie nicht für mich: die _Ehre_ ist der Harnisch, der mich gegen den Versucher wappnen soll.« -- Die Wittwe verstand sehr wohl die rauhe Antwort; sie erhob sich schnell und gekränkt von ihrem Stuhle, schob die Arbeit von sich, und trat an's Fenster, Justinen stumm und beleidigt den Rücken kehrend. Das Mädchen bemerkte, schnell bereuend, den Eindruck, den seine Worte gemacht. Es näherte sich -- den Vorwurf fühlend, einen unglücklichen Gast gekränkt zu haben, -- der Französin. Zaudernd überlegte Justine, wie sie wohl die Verletzte anzureden habe; -- da gewahrte sie, an dem Stuhle der Lainez niederblickend, ein Papier, das der Aufstehenden entfallen war. Sie hob es auf, trat zu der Wittwe, und sagte ihr freundlichernst: »Hegen Sie keinen Groll gegen mich. Ich bedenke nicht lange, was ich sagen will. Es that mir aber leid, Ihnen so unsanft geantwortet zu haben. Vergeben Sie, und nehmen Sie ihren Platz wieder, wie dieses Papier, das Sie verloren.« »Sie sind ein heftiges, liebes Kind,« entgegnete die Lainez, und wendete die Augen voll Thränen der Reuigen zu: »Wer wollte Ihnen nicht vergeben?« Sie umarmte dabei Justine, und drückte, zum ersten Male, Küsse auf die Stirne, die Augen und den Mund des Mädchens, die wie Flammen brannten, und Flammen auf Justinens Antlitz riefen. Dann fuhr die Französin, ruhig werdend, zu der Errötheten fort: »es ist möglich, meine liebliche Freundin, daß ich mich, von Besorgniß für Ihr Wohl ergriffen, mancher Ausdrücke bedient habe, die Sie auf den Argwohn führen konnten: es sei mir darum zu thun, Ihren Geist, Ihr Herz in Unruhe zu versetzen, und gewissermaßen den Versucher selbst zu spielen. Verbannen Sie dieses Mißtrauen! Glauben Sie an meine harmlose Zuneigung. Dieses Papier, das Sie mir reichen, das mir entfiel, führt den Beweis für mich. Es ruht seit vorgestern in meiner Tasche, und ich zeigte es Ihnen nicht, um Ihre Ruhe zu erschüttern. Jetzt aber, da der Zufall es in Ihre Hände gegeben, da ich nun weiß, wie fest Ihre Entschlüsse stehen, mögen Sie es eröffnen, und sich von meiner Diskretion überzeugen.« Justine that neugierig und gespannt, wie ihr die Lainez hieß. Bekannte Schriftzüge. Sie las dieselben. Ihre Hand zitterte, aber ihr Auge, verrätherischer vielleicht, als ihre Hand, wich nicht von der Schrift, bis sie zu Ende war. James, der aus Justinens Nähe verwiesene James schrieb: »Wie auch immer Ihre Gesinnung, Madame, sich gegen mich entschieden, -- ich sende Ihnen diese Zeilen: Saatkörner, die auf ein wirthliches Feld fallen mögen, wenn Gott es will. Sie leben, wie ich höre, bei _Ihr_! Sie wohnen in dem Paradiese, aus dem mich leichte Schuld und eine allzustrenge Tugend verbannt hat! Sie athmen die Himmelsluft, und ich erstickenden Nebel, der mein Glück mit dem Trauerflor eines ewigen Scheidens bedeckt. Wollen Sie, die Reiche im Schooß der Seligkeit, dem Armen in dem Gefühle der Verzweiflung einen kühlenden Tropfen versagen, daß seine brennende Lippe sich labe? eine einzige Wohlthat, die Ihnen nur ein Wort der Fürsprache vor dem Throne der Gnade kostet? Madame, Sie retten mich vom zeitlichen, wie vom ewigen Tode, wenn Sie mir mit einer Sylbe sagen, daß _Sie_ mir vergiebt!« Justine legte das Blatt auf den Tisch, zog ihr Schnupftuch hervor, und ging schnell in das Cabinet. Nach einigen Augenblicken kehrte sie wieder; sie hatte geweint, aber die Thräne getrocknet; ihre Wange war blaß, aber ihr Gang sicher. Sie sagte zu der Lainez: »Nehmen Sie diesen Brief wieder zu sich; und erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie hart und grausam handelten, indem Sie mir den Brief nicht mittheilten. Was besorgten Sie für mich? Meine Brust ist ruhig, völlig ruhig; ich versichere es Ihnen. Aber das Gehirn des jungen Schwärmers, der von seiner trügerischen Gelassenheit völlig Abschied genommen zu haben scheint, ... welche Marter hat er vielleicht in den Paar Tagen ausgestanden -- eine Antwort ersehnend, und keine erhaltend? Schreiben Sie ihm, gewissenhafte Frau. Sagen Sie ihm, daß ich versöhnlich bin: unter der Bedingung, daß er vernünftig sei, und ferner rechtschaffen handle. --« »Sie sind ein Engel!« erwiderte die Lainez mit vielem Aufwand von Affekt: »ich wagte nicht, hier Fürsprecherin zu sein, und nun ... ja wahrlich: mein Brief wird Balsam für den Armen sein. Gut indessen, daß er, -- wie die Sachen abgeredet sind, -- nicht erfahren kann, daß, und wie bald schon Sie sich vermählen. Welch ein Sturm auf seine heftigen Gefühle! Vernimmt er die Nachricht, nachdem sich bereits Alles begeben, wird er sie leichter tragen. Denn was einmal geschehen...« »Ich verstehe Sie nicht,« unterbrach sie Justine, die Augen starr auf die Arbeit geheftet: »Sie reden wieder in Räthseln.« »Ei, Mademoiselle,« versicherte die Lainez lustig: »Ihr Scharfsinn und Ihre Weiblichkeit wären mir ein Räthsel, wenn Sie nicht errathen hätten, daß der junge Mann sterblich in Sie verliebt ist.« »Madame Lainez!« »Mademoiselle Müssinger! Sie werden abermals heftig und ungerecht. Ich will lieber schweigen.« »Was halten Sie von Monsieur White?« fragte Justine, nach einer langen Pause; »Sie kennen ihn, glaube ich, genauer.« »Wie Elias seine Versorger in der Wüste. Er war mein Wohlthäter; kam und ging, je nachdem sein Pflegevater meiner Armuth gedachte.« »Diesen Pflegevater,« nahm Justine schnell das Wort auf: »diesen Pflegevater -- Sie kennen ihn?« »Ich habe ihn nie gesehen.« »Er war neulich ein Gast meines Vaters; der Doctor mit der großen Perücke war's.« »So? hätte ich das gewußt! Und der edle Mann, der doch meinen Namen hörte, verrieth sich gegen mich mit keine Sylbe....!« »Das war sehr männlich und gut. Ich gäbe jedoch etwas darum, könnte ich von dem Doctor etwas Näheres erfahren.« »Welche Theilnahme! Wenn Sie es wünschen, so soll Herr White uns morgen schon die nächste Auskunft geben.« »Welch' ein Gedanke! Monsieur White wäre der Letzte, den ich zu diesem Zwecke auffordern würde.« »Ihre Gründe?« »Mein Geheimniß.« »Ich bescheide mich. Wenn Sie jedoch an der Bereitwilligkeit des jungen Herrn zweifeln sollten, so bürge ich Ihnen, diesem Brief zufolge, dafür. Aus diesen Zeilen spricht viel Hingebung. Ich bin überzeugt -- Ihnen zu Gefallen -- würde er sich den Pfeilen einer amerikanischen Horde mit so vielem Muthe aussetzen, als der heilige Sebastian es that, um den Himmel zu gewinnen.« »Welch' ein Gleichniß! Madame: Ihre Scherze sind stumpfe Pfeile.« »Eine Braut findet Alles langweilig. Uebrigens, meine gute Dame, werde ich wohl meinen armen Sebastian und die wunderschöne verlassene Pulcheria nimmer zu sehen bekommen? Finden Sie Geschmack daran, meine Bilder zu behalten?« »Warum nicht gar?« versetzte Justine ein bischen verlegen: »ich muß gestehen, daß ich das Medaillon gänzlich vergessen habe.« »Geben Sie es mir zurück.« Justine suchte verlegen in den Taschen. »Ich habe den Schlüssel zu meinem Schranke verlegt. Ich werde ihn holen.« Die Lainez lächelte. »Recht, meine Liebe,« sagte sie: »bringen Sie nur zugleich das Bild mit. Ich will Ihnen sagen, wo es sich befindet. Sie haben es zwischen Myrthen aufgestellt, und ihm ein liebliches Tempelchen hergerichtet; traulich, ungestört, denn Mama und Papa lieben die Blumen nicht sonderlich, und der Wärterin dieser Sommertöchter ist es unverwehrt, dort im sichern Versteck ihren stillen Gottesdienst zu halten.« »Abscheulich!« rief Justine: »bin ich eine Götzendienerin? Auf der Stelle sollen Sie das Bild haben, das ich in der That an jenem Platze vergessen habe.« -- Sie eilte rasch davon, und brachte, etwas verdrießlich und gereizt das Medaillon. »Hier, Madame, haben Sie Ihr Pfand zurück.« Die Lainez nahm es gleichmüthig, und ging damit zu einem Kästchen, das ihre Papiere, und einige aus dem Sturme ihrer Verhältnisse gerettete Angedenken einer bessern Zeit enthielt, und öffnete es. Während sie ein Futteral hervorholte, in welches sie das Medaillon verschloß, und dasselbe in die Chatouille niederlegte, sagte sie scherzend: »Es ist gleichwohl besser gewesen, daß dieses Bild unter jenen Myrthensträuchern und nicht an Ihrem Busen vergessen wurde, Mademoiselle.« »Wie so?« »Hm! es soll eine Eigenschaft besitzen, die...« »Und welche?« »Die alle diejenigen, welche das Bild tragen, zwingt, katholisch zu werden, oder es zu bleiben.« »Welche Posse!« »In der Kapsel liegt eine Reliquie des heiligen Kreuzes. Diese mag das Wunder wohl bewerkstelligen. Aber die Wirkung soll unläugbar sein. Darum wird es,« setzte die Lainez ernsthafter hinzu, »besser sein, wenn ich das Zauberbild nicht mehr am Halse trage. Es möchte sonst aus meiner Bekehrung zu Liebkirchen nichts werden.« »Sie sprechen etwas leichtfertig von der Wohlthat, wozu ich Ihnen verhelfen will, meine Schutzbefohlene. Um Sie von dem Aberglauben, wovon Sie sprachen, zu heilen, wollte ich wohl dieses Bild auf meiner Brust tragen, so lange Sie es begehren, ohne von dem thörichten Schwindel ergriffen zu werden, dessen Sie erwähnten.« »Es käme auf die Probe an,« sagte die Lainez leichtsinnig: »hier ist das Bild;« sie nahm es aus dem Kästchen: sammt der geweihten Kapsel. »Getrauen Sie sich, das übermüthige Wort zu bewähren?« »Geben Sie her!« erwiderte Justine eben so leichtsinnig und trotzig: »ich verspreche Ihnen sogar, nicht einmal die Kapsel zu öffnen, und die Wunderkraft der Reliquie, wie die Neugierde zumal zu besiegen: ein doppelter Triumph, der Sie von meiner Ausdauer überzeugen soll!« »Recht so, meine kleine Heldin!« rief die Lainez, und hing dem Mädchen das Bild um den Hals. »So reizend sich nun wohl dieses rabenschwarze Sammetband auf dem prachtvollen Nacken ausnimmt,« setzte die Schmeichlerin scherzend hinzu, »so wollen wir das Medaillon sammt Band doch sorgfältig unter dem Schleiertuche des Mieders verstecken. Mama könnte neugierig und ungehalten werden -- erführe Sie den Scherz!« Justine gab ihr Recht und ließ die Wittwe gewähren. Der bald darauf eintretende Bräutigam unterbrach das fernere Gespräch über obigen Gegenstand. Die Lainez, um die Unterhaltung der Brautleute nicht zu stören, ging aus, und nach und nach versammelten sich der Senator und seine Frau in Justinens Stube. Die Mama belobte die feine Arbeit der Französin, die Geschicklichkeit, mit welcher dieselbe die Spitzengarnitur angebracht; der Vater pries die stille Anspruchslosigkeit der neuen Hausgenossin; Georg schüttelte jedoch den Kopf und sagte: »Die Unglückliche, Heimatlose verdient mein Mitleid und meine Achtung. Mir ist es jedoch angenehmer, daß sie nach Berlin zieht, während ich und Justine nach Amerika ziehn. Französische Nachbarschaft thut weder der Deutschen noch dem Engländer in die Länge gut. Mich freut es indessen, bei dieser Gelegenheit die Herzensgüte meiner tugendsamen Braut kennen gelernt zu haben. Wer sich so freundlich einer Fremden, Hülfsbedürftigen anzuschließen versteht, wird den Verwandten nimmer fremd werden, den Gatten stets lieben, die Kinder stets sorglich pflegen. Ich billige es auch sehr, daß Sie, Herr und Frau Senatorin, diesem Hang zum Wohlthun keinen Zwang entgegensetzten.« »Sie ist das einz'ge Kind;« sagte der Senator lächelnd. »Sie thut immer, was sie will;« fügte Jacobine langweilig hinzu: »wir sind es schon an ihr gewöhnt, und es wäre nicht mit ihr auszukommen gewesen, hätten wir nicht die Landstreicherin, von der Niemand das Geringste weiß, im Hause geduldet. Freilich hat die Syndikussin sie empfohlen, wie das Töchterchen sagt; aber ihr Köpfchen hatte der Empfehlung nicht bedurft.« Die Senatorin schwieg, von der langen Rede erschöpft, und alle schwiegen mit ihr. Justine grollte über die ihr zugefügte Beschämung; der Senator über die geringe Lebensart seiner Frau; Georg überlegte, und sinnend ruhte sein Auge auf Justinen. »Sind Sie so herrschsüchtig?« fragte er plötzlich, und legte seine Hand auf Justinens arbeitende Rechte: »spricht Ihre Mutter wahr?« »Monsieur....« stammelte Justine, nach einer Antwort suchend. »O gewiß,« fuhr Georg offenherzig fort: »gewiß scherzte Ihre Mutter nur. In diesen Augen, in diesem Gesicht, das nur Ruhe und Festigkeit ausdrückt, suche ich vergebens nach Trotz und Eigensinn. Nachgiebigkeit und Sanftmuth schmücken ja die Frau. Durch diese Eigenschaften regiert sie den Mann, und erhält ihre Reize.« »Sie predigen frühzeitig, mein Herr!« versetzte Justine, ihn scharf von der Seite anblickend. »Man verständigt sich nie früh genug;« sagte er hierauf ohne Heftigkeit: »es ist besser, sich zuvor zu kennen. Unser Brautstand ist kurz: wir können _ihm_ nicht vertrauen. Wir sind riskirende Kaufleute, schließen einen Handel auf Treu und Glauben, ohne Assekuranz. Sein Sie daher offenherzig, wie ich, meine Liebe. Despotismus in der Ehe werde ich nicht tragen, der Launen Knecht nicht sein. Ich biete _Ihnen_ keine Eisenketten. Wollen Sie _mich_ damit binden? Sagen Sie mir's, damit wir Beide unser Glück und unsere Freiheit retten.« »Sie führen seltsame Discurse, worauf ich nicht antworten kann;« antwortete Justine sehr spitzig, erhob sich und verließ mit ihrer Arbeit das Zimmer. Georg sah die Zurückbleibenden verdüstert und fragend an. Die Eltern schlugen beschämt die Augen nieder. »Sehen Sie, mein Werthester,« begann der Senator sich räuspernd: »das Frauenzimmer ist hier zu Lande der Galanterien, die von den Wälschen kommen, mehr gewöhnt, als der amerikanischen Freimüthigkeit. Ich möchte Ew. Edeln nicht das Consilium geben, auf dem durchgreifenden Tone zu beharren, sintemalen das Kind noch in der Welt so fremd und unerfahren...« »Ich merke wohl, wo es hier fehlt;« sagte Birsher lächelnd: »es thut jedoch nichts, wenn nur das Herz gesund und gutgeartet ist. Sie wird sich an meiner Fassung, an meiner Aufrichtigkeit ein Beispiel nehmen, und alsdann die Härten mildern, die ihr noch aus der früheren Jugend ankleben. Könnte ich das Gegentheil voraussehen, so würde ich es, so weh mir es thäte, vorziehen, Ihnen, Herr Senator, Ihr Wort zurückzugeben.« Der Senator erschrak: »Ew. Edeln scherzen wohl;« sagte er, von dem Gewissen angeregt. »J nu;« entgegnete Georg lächelnd: »wer weiß, ob Justine mir das Meinige nicht zurückzugeben gedenkt. Das arme Kind ging sehr böse von hier, und scheint eine hartnäckige Feindin zu sein, wenn sie den Krieg erklärte.« Der Senator war verlegen. Die Senatorin versetzte jedoch sehr ruhig und treffend: »Sorgen Sie nicht, geehrter Herr Schwiegersohn. Justine ging nicht, ohne das Brautmieder, woran sie arbeitet, mit sich zu nehmen. Mit diesem beschäftigt, ist's den Mädchen mit dem Groll nicht Ernst.« »Sie beruhigen mich, geehrteste Frau,« entgegnete Birsher: »ich hoffe wieder, will aber, da ich das Scharwenzeln um die Jungfern nicht leiden kann, auf morgen die Versöhnung verschieben.« Ein Weibel des Raths erschien, und überbrachte dem Senator die Weisung, am folgenden Tage Punkt neun Uhr auf dem Rathhause zu erscheinen. »Ist denn morgen eine außerordentliche Sitzung?« fragte Müssinger verwundert; »warum eine Stunde früher, als sonst?« »Der wohlehrsame und weise Herr Senator sollen zuvor vor Sr. Magnificenz dem amtirenden Herr Bürgermeister privatim vernommen werden,« lautete die Antwort des abgehenden Rathsboten. Der Senator schwieg sinnend und staunend; die Senatorin wurde bald bleich, bald roth, und sah ihren Mann scheu von der Seite an. Georg sah sich hier überflüssig, und empfahl sich, nicht minder gedankenvoll. Er begab sich nach seinem Gasthofe zurück. Die Reden der Senatorin, das Betragen der Braut hatten auf den geraden Mann einen gefährlichen Eindruck gemacht. Das Ideal häuslicher Glückseligkeit, das er sich in einsamen Stunden entworfen, das er an Justinens Seite zu finden gehofft, schien ihm plötzlich eben nur Ideal zu sein und zu bleiben. So manche schielende Bemerkung, die er aus dem Munde der Gastwirthin über Justine sowohl, als das Hauswesen des Senators überhaupt vernommen und bis jetzt überhört, gewann mit einem Male Gewicht und Bedeutung. Ein schmeichelnder Traum, der seine Sinne und sein Urtheil umzogen, fiel stückweis vor ihm, der zu erwachen vermeinte, zusammen. In großen Mißmuth versunken, betrat er sein Zimmer, und suchte an seinem Fenster, das die Aussicht auf die vom Abendstrahl beleuchtete unferne Mailbahn mit ihren Spaziergängern gewährte, Unterhaltung, Zerstreuung. Ein leises Klopfen an der Thüre erregte seine Aufmerksamkeit, zog sie von der Aussicht ab. Auf sein »Herein!« kam demüthig grüßend und gebückt, ein ältlicher Mann mit kummervollen Zügen, in schwarzen Kleidern, mit einem schüchternen: »Guten Abend, mein Herr!« in das Zimmer. Georg hatte nicht so bald den unbekannten Besuch mit dem Blicke gemessen, als er auch in ihm einen jener reducirten Schullehrer oder grau gewordenen vacirenden Candidaten zu sehen glaubte, die dazumal häufig von Stadt zu Stadt wanderten, ein ärmlich Stück Brod suchten, und sowohl auf den Kanzleien, bei Pfarrern und Gutsbesitzern, als auch in Gasthäusern bei wohlhabenden Fremden ein Viaticum zu erbetteln pflegten. Der Amerikaner, dem ähnliche Figuren bereits in Deutschland vorgekommen waren, griff mitleidig in die Westentasche. Der Fremde verstand diese Geberde, und eine versagende Bewegung seines Kopfes und seiner Hand verrieth dem Freigebigen, daß es hier auf seine Geldwohlthat nicht abgesehen sei. Er ließ daher die milde Hand sinken, und fragte artig und zuvorkommend, was denn wohl zu den Diensten des Schwarzgekleideten stehe. Der Mann richtete sich besser empor, trat näher, und fragte mit einer sehr weichen Stimme entgegen, ob er die Ehre habe, mit Herrn Georg Birsher von New-York zu sprechen. »Ich bin's, Herr. Ihr Anliegen?...« »Ist lediglich ein Anliegen, das sich an Ihre Großmuth richtet. Ich frage nicht nach Ihrem Gelde, mein Herr; ich erkundige mich nur nach Ihrem Herzen.« Birsher staunte, und wies dem Fremden einen Sessel. Der Mann setzte sich und fuhr fort: »Man hat Sie als einen wackern, streng rechtlichen Herrn geschildert, der wenig Worte zu machen, aber desto mehr zu handeln pflegt. Da habe ich den Muth gefaßt, Sie auf die Probe zu stellen.« »Sonderbar! wie so?« »Ich befand mich gestern zu Liebkirchen; wohne eigentlich zu Faldern, und habe den Herrn Pfarrer und Inspektor in ersterem Orte besucht. Se. Ehrwürden, die gerne lustig und guter Dinge sind, und einen frohen Schmaus so sehr liebend, als es sich mit Ihrer Würde verträgt, sagten zu mir: Magister, wenn Sie sich =bene= thun wollen, -- so kommen Sie nächsten Dienstag. Es giebt hier eine Copulation, die sich fideliter endigen wird. Der Bräutigam ist reich, der Brautvater nicht minder, und lustig obendrein. Ein splendides Carmen von Ihrer Hand würde seinen Zweck nicht verfehlen, und Ihnen silberne Früchte und Wein und Kuchen nach Herzenslust eintragen. -- Sie wissen vielleicht, mein Herr, daß wir stellenlose Magister unser Zeitliches sauer und schmal zu verdienen haben, und daher Hochzeiter und Kindtaufen nachziehen, wo sich solche auch begeben. Ich freute mich daher und fragte nach den Namen des verehrtesten Brautpaars, damit ich solche in dem Epithalam gebührender Weise einfließen lassen möchte. Da nannte mir der ehrwürdige Herr Inspektor die Namen: Herr Georg Birsher, Kauf-und Handelsmann aus New-York, und die tugendbelobte Jungfer Justine Müssingerin, des Kaufherrn und Senators eheliche Tochter allhier. Ich stutzte zwar, verbarg jedoch dem Herrn Pfarrer mein Erstaunen, habe mich indessen eiligst auf den Weg gemacht, um, Verehrtester, aus Ihrem Munde zu hören, ob sich wirklich die Sache also verhalte.« -- »Der Herr Pfarrer, auch Inspektor, ist ein Schwätzer; Herr Magister. Er sollte nicht plaudern. Da Sie jedoch einmal unterrichtet sind, so mag ich's nicht läugnen, unter der Bedingung, daß Sie verschwiegener sind, und ein recht fröhliches Hochzeitlied liefern. Sie sollen dann zufrieden sein.« »Zufrieden?« sagte der Magister, indem er seufzend und mit gefurchter Stirne aufstand: »wie kann ich lächeln, da ich traurig bin? heißt es in irgend einem Psalm. Zu _dieser_ Copulation kann ich kein Hochzeitcarmen fertigen.« -- »So? Und warum nicht, wenn's beliebt?« »Ich will lieber ein Leichengedicht machen, und einen Sarg bestellen. --« »Herr! Sie sind ohne Zweifel im Kopfe nicht gesund.« »Doch; doch, Verehrtester. Allein ein Mensch, der mir nahe angehört, steht am Rande des Wahnsinns, am Rande des Grabes; und er taumelt hinein, sobald der Inspektor zu Ihrer Trauung läuten läßt. --« Dem Bräutigam wurde immer unheimlicher zu Muthe. Er starrte den seltsamen Magister an, rieb sich die Hände, -- faßte sich nun gewaltsam, und versetzte: »erklären Sie sich, Herr. Ich bin kein Kind, sondern ein Mann, mit dem sich das ernsteste Wort deutlich und ohne Umschweif reden läßt. Von welchem Menschen sprechen Sie, und welchen Bezug hat meine Ehe auf denselben?« »So hören Sie. Mein ehemaliger Zögling, der junge hoffnungsvolle Mann, ein Engländer von Geburt, -- ein Baronet -- unglücklich, aber brav -- liebt -- liebt Dero Jungfer Braut.« »So? das thut mir leid um meines Landsmanns willen. Er lasse sich indessen die Thorheit vergehen. Wo nicht Ansprüche sind, gilt die einseitige Leidenschaft nichts.« »Keine Ansprüche? Ach, er hat die gültigsten; denn Jungfer Justine hat ihm ihr Herz geschenkt. --« »Herr!« fuhr Georg auf. »Er war ihr Lehrer; Amor mischte sich in's Spiel. Ein Verständniß erwuchs. Der Vater schlug es nieder. Daher ohne Zweifel das Geheimniß, worein er diese Hochzeit verschleiern will. --« »Wahrlich; ich besinne mich, von einem jungen Engländer gehört zu haben -- aber -- Justinens Unbefangenheit....« »Ihre Neigung unterwarf sich dem strengen Willen des Herrn Senators. Es ist aber nur Asche über die Glut gedeckt. In der letzten Zusammenkunft der jungen Leute...« »Zusammenkünfte? Schöne Entdeckungen!« »Sollte Abschied genommen werden; aber Jungfer Justine wollte nichts davon wissen. Sie ermuthigte meinen James, ihr binnen einer gewissen Zeit nach Amerika zu folgen.« »Wahrhaftig?« »Dieser Vorschlag war der eines heftigen unbesonnenen Mädchens. Mein Zögling verwarf ihn. Glaubst du, sagte er, daß ich einen Landsmann, einen wackern Herrn, wie Herr Birsher ist, hintergehen möchte? -- Lieber sterbe ich, hier zurückbleibend, vor Gram.« -- »Sieh doch! Der Landsmann hat mehr Ehrgefühl, als die Jungfer Braut.« »Die Jungfer bereute auch alsbald, und weinte, und letzte sich mit dem Freunde. Ich wußte von Allem nichts. Der Jüngling hatte mir Alles verschwiegen. Seine Liebe hatte ich jedoch gemerkt. Darum kam ich zur Stadt, zu erfahren, ob er wohl wisse, was sich zu Liebkirchen begeben sollte. Da gestand er mir Alles, und weinte und verzweifelte, und ich fürchte: er thut sich ein Leides.« -- »Nein, nein! das soll der Landsmann nicht. Was wollten Sie aber eigentlich bei mir?« »Ich komme ohne Vorwissen meines James. Ich wollte Ihnen Alles entdecken, und Ihre Großmuth fragen, ob sie es über sich gewinnen kann, zwei Menschen unglücklich zu machen, die sich lieben? ein kaltes Herz an sich zu binden?« »Wahrlich! das will und werde ich nicht. Eine heuchelnde Gattin, die sich nach einem fernen Freunde sehnt? Nimmermehr. Einen Nebenbuhler der sich eine Kugel vor den Kopf schießt, und meine Frau zur Grube welken macht? Gott behüte mich vor solchem Verdruß und Jammer!« -- »Gott lohne Ihnen diesen Entschluß!« -- rief der Magister gefühlvoll, und führte ihn an das Fenster: »sehen Sie auf jener Bank den blassen jungen Mann, der tiefsinnig vor sich nieder sieht? Er ahnt nicht, daß hier von ihm geredet wird, aber das tiefe Weh, das seine Brust empfindet, läßt ihn auch Alles um ihn her vergessen. Das ist James. Ueber sein Leben haben Sie nun zu entscheiden.« -- »Ein ansprechendes Gesicht!« versetzte Georg, mitleidig herniederblickend: »wenn ich nun aber Ihrer Zuversicht auf meine Rechtlichkeit entspreche, und dem Glück, das ich geträumt, entsage? was wird es dem jungen Unbemittelten nützen? der Senator wird nicht zu bewegen sein.« »Was wäre der ausdauernden Liebe unmöglich?« fragte der Magister: »sie bändigt Löwenbrut; warum nicht ein zur glücklichen Stunde überraschtes Vaterherz?« »Ei, Herr Magister! Sie scheinen die Liebe studirt zu haben!« sagte Georg Birsher gedankenvoll lächelnd: »Ihre Beredsamkeit überzeugt jedoch den soliden Geschäftsmann nicht. Wo ist die Caution für Ihre Aussage? Sie sind der Magister..« »Liebhold aus Faldern.« »Ganz recht. Ihr Zögling ist in meine Braut verliebt. Woher der Beweis, daß ihn meine Braut wieder liebt? Frage ich gerade und offen wie ein Mann, so erröthet sie wohl, und läugnet nachher, des Vaters Zorn fürchtend, in den sie sich gehorsam gefügt. Der Vater wird mir, rede ich mit ihm, die Sache als eine jugendliche Thorheit schildern, und ich führe mißtrauisch, aber dennoch beim Wort gehalten, einen trügerischen Handel aus. Von der andern Seite _kann_ aber Alles nur Trug sein. Man hat schon eine gewisse Comödie auf meine und eines Verstorbenen Rechnung versucht. Wer weiß, ob Sie, Herr Magister, nicht ein Fuchs sind, der mich irre leiten soll? der Urheber eines neuen Possenspiels, mir Lust und Neigung zur Ehre zu rauben?« Der Magister bückte sich ergebenst. -- »Ich habe wie ein Mensch zum Menschen gesprochen,« sagte er mit dem Ausdruck tiefer Resignation: -- »mein Stand erlaubt mir nicht, öffentlich als Ehestörer aufzutreten. Ich hätte die Rache des Senators zu fürchten, und bin ein alter Mann, der den Rest seiner Jahre in Frieden zuzubringen wünscht. Meine Worte sind Ihnen vielleicht verdächtig. Ein gültigerer Zeuge ist wohl das Bildniß des Geliebten, das Jungfer Justine behielt, das sie, wie mir James vertraut, noch auf ihrer Brust trägt, das sie geschworen hat, auch ferner zu tragen, so oft...« Es wurde dem Amerikaner heiß vor der Stirne. Er sprang auf, unterbrach den Redner heftig. »Sein Bildniß!« rief er: »Gott verzeihe mir die Sünde! bald wäre mir ein unbescheidenes Wort entschlüpft! O ja, Herr Magister! das ist ein unverwerflicher Zeuge; ich werde ihn an's Licht ziehen! ich werde sehen ... und ... finde ich's so, wie ich jetzo beinahe fürchte ... Sie sollen von mir hören. Gehen Sie aber jetzo, mein Herr, denn ich bin etwas aus dem Gleichmuth getreten, der zu einer comfortablen Conversation gehört. Auf Wiedersehen ... wann und wo Sie wollen!« Er schob, ohne viele Umstände zu machen, den komplimentirenden Magister zur Thüre hinaus, und verriegelte diese hinter ihm. Ein stummer, aber heftig grollender Sturm bewegte seine sonst so ruhige Brust, und er mußte, zum Erstenmale in seinem Leben, sich bittere Gewalt anthun, um den Sturm zu beschwören. Er sah an diesem Abende keinen Menschen mehr, und suchte vergebens den wohlthätigen Schlaf. Der Morgen fand ihn jedoch wieder gelassener. Er machte sich Vorwürfe, seine Ruhe vergessen zu haben. Eine stille ahnungsvolle Wehmuth stellte sich bei ihm ein, während sein der Ungewißheit und dem Zögern feindlicher Charakter ihn ermahnte, den quälenden Verdacht, den marternden Zweifel, gegen baare unverfälschte Münze umzusetzen. Er warf sich in die Kleider, er verließ das Haus, er suchte des Senators Wohnung auf, zu einer Zeit, die für einen Besuch nicht die gewöhnlichste war, denn die Glocke auf dem Rathhause hatte kaum halb zehn Uhr geviertelt. Er fand Justine allein, in einem reizenden Hausgewande. Die Braut, erröthend vor der unerwarteten Ueberraschung, hatte kaum die Zeit, einen Blick in den Spiegel und ein seidenes Flortuch um den Busen zu werfen, der noch von keiner Schnürbrust beengt war. Ihre Locken fielen natürlich, unfrisirt um das Haupt. Das anliegende Gewand, günstiger als die steife Visitenrobe, zeigte die schönsten Formen. Die Flor-Enveloppe verhüllte nur schwach die schönen Arme, und schöner als je malte die Wange der Verlobten die Zufriedenheit, sich ohne künstlichen Schmuck, dem schmeichelarmen Spiegel gegenüber, schön zu wissen. Birshers Herz klopfte unruhig und sehnsuchtsvoll bei ihrem Anblicke; er hatte seine Vorsätze durcheinander geworfen. Streng wollte er sein und kalt, und wurde milder und wärmer als je. Justinens Gesicht sprach Sieg, aber auch zugleich die zarte Hoffnung, die Sanftmuth einer milden Siegerin. Justine hätte dem frühen waglichen Besucher gezürnt, wäre sie sich nicht des gestrigen Unrechts bewußt gewesen. Sein wehmuthsvolles Antlitz, nur leicht von Rosenschimmer überstrahlt, schien ihr die Leiden zu bekennen, die ihre Härte in ihm erzeugt. Sein frühes hastiges Erscheinen schmeichelte ihrem eiteln Stolze. So empfing sie ihn doppelt zauberisch; triumphirend und beschämt; vergebend und reuig; hoffärtig, also geliebt zu sein, und geneigt, liebend zu umfangen. Verlegen antwortete ihr Mund den verlegenen Entschuldigungen des Bräutigams. Sie schien seinen Muth tadeln zu wollen, und bekannte fast, daß er ein Recht dazu habe. Noch nie hatte sie den Gedanken an das innigere Verhältniß von Verlobten so lebhaft aufgefaßt. Noch nie war ihr dieser Vorhimmel das glückliche Mittelding zwischen Fremd- und zu Bekanntsein, klar geworden; und indem ihre Lippe lächelnd zürnte, verlobte sich erst und wurde erst bräutlich ihr Herz. Birsher hing, wohlthuend erregt, an ihren Augen, die lebendiger glänzten als die Diamanten des Brautschmucks, der vor ihr auf dem Tische stand; in dessen Beschauung der Bräutigam die Braut gestört hatte. »Ich hatte nicht gehofft, Sie mit diesem Gegenstande beschäftigt zu finden,« sagte der junge Mann leichter athmend: »Sie äußerten gestern unverdienten Groll gegen mich.« »Sind Sie überzeugt, daß er unverdient gewesen,« -- erwiderte Justine gefällig, und näherer Erläuterung feind, -- »so war er von meiner Seite ungerecht. Trauen Sie _mir_ zu, daß ich es eingesehen, und sind Sie nun zufriedener?« Birsher küßte entzückt ihre Fingerspitzen, und in den Hintergrund seiner Erinnerung waren Argwohn und Vorsatz zurückgetreten. »Dieser Empfang bürgt mir für mein künftig Glück,« sagte er freudig: »so zarte Versöhnung macht lüstern nach der veranlassenden Zwietracht. Hoffen auch Sie, beste Jungfer, mit mir glücklich zu werden?« »Ich hoffe es,« antwortete Justine freundlich, und reichte ihm ungeziert die weiche Hand: »nun aber keine Zweifelsfrage mehr. Ich glaube, daß vernünftige Leute sich in den Vortagen ihrer Ehe anders zu benehmen haben, als die Amanten in den Romanen gewöhnlich zu thun pflegen. Das Schäferleben und das Seufzen der Doris, und Corydons Klagen sind mir nicht angenehm, und Ihnen ebenfalls nicht sehr, mein werther Monsieur. Wir wollen uns demnach fein gescheit benehmen, und den Anstand wahren. Erlauben Sie daher, daß ich Sie ersuche, einstweilen die Bilder an den Wänden zu betrachten, bis ich Ihnen in geschickterer Kleidung aufzuwarten die Ehre haben werde. --« Die Listige wollte wie ein glatter Aal entschlüpfen. Birsher hielt sie sanft auf. »Neidische Braut!« sagte er: »Sie wollen mir den schönsten Anblick rauben, dessen sich meine Augen jemals rühmen konnten? Thun Sie es nicht. Ich bin kein langweilig girrender Corydon und suchte nicht eine seufzende Doris, aber ich liebe das Ungezwungene trotz den Schäfern Arkadiens. Der steife Haarputz, die umfangreichen Damastkleider, die martervollen Corsetts, welche Ihnen die Mode aufzwingt, sind eben so viele Beleidigungen der Natur, die Ihnen ihre schönsten und seltensten Gaben nicht verweigert hat. Gewähren Sie daher Ihrem treuesten Freunde ein ferneres trauliches Beisammensein mit Ihnen, der Ungeschmückten, aber desto Reizendern!« »Das schickt sich nicht!« hieß die Antwort der Widerstrebenden. Birsher ließ ihre Hand nicht los, und bat: »So lassen Sie mich wenigstens die erste Hand an Ihren Schmuck legen. Vergönnen Sie, daß ich Sie ersuche, heute mir zu Liebe diese Halskette, gleichsam zur Probe zu tragen. Erlauben Sie, daß ich selbst diesen schönen Nacken damit schmücken darf?« »Ei, welche Zumuthung!« versetzte Justine, und wickelte sich schamhaft in die Enveloppe. Birsher drang noch mehr auf die Erfüllung seiner Bitte, und der gesetzte Mann bat diesmal so sanft, so dringend, so freundlich, daß es dem Mädchen vorkam, als müsse es dem liebenden Freunde nachgeben. Sittsam die Enveloppe um einen Zoll vom Kinn sinken lassend, neigte sie das Köpfchen, schloß erröthend die Augen, und lispelte: »Sie sind ein arger Schalk, werther Herr! indessen, damit Sie mir nicht böse werden.... meinetwegen!« -- Georg ergriff freudig die blitzende Kette. Die blinzelnde Justine sah mit Entzücken, wie seine Hand zitterte, da sie das Schloß öffnete: schon berührte das kalte Gold, der eisige Diamant ihren zarten Hals. Das Flortuch sank tiefer, und ein staunendes »Ha!« entfuhr Birshers Lippen. »Was ist? Was haben Sie?« »Sie tragen bereits einen Schmuck, dessen Stelle ich beneide!« »Wie so?« Birsher zeigte auf das schwarze Sammetband, das sich aus dem verhüllenden Tuche gestohlen. Justinens Wange wurde Purpur. »Lassen Sie den Schatz sehen, der sich solchen Vorzugs freuen darf...« »Mein Gott! nein!« »Warum denn nicht?« »Ich ... ich darf nicht...« Birsher heftete einen starren verdüsterten Blick auf Justine. Sie gewahrte es; aber -- wie ein Blitz fuhr's durch ihr Herz: dem strengen Protestanten durfte sie, selbst im Scherze, das katholische Heiligenbild auf ihrer Brust nicht zeigen. Sie sträubte sich entschieden gegen sein Verlangen, es zu sehen. Er begehrte es freundlich, dann ernstlicher, dann mit kalter Bestimmtheit. »Nimmermehr!« rief sie: »Monsieur trauen mir zu, daß sich nichts Böses in diesem Medaillon befindet; aber ich bestehe nun einmal auf meinem Geheimniß!« Mit diesen Worten reißt sie das Band von ihrem Halse, um es in ihrer Tasche zu verbergen. Das Medaillon fällt von dem Bande, stürzt zu Boden. Die Kapsel springt. Justinens unsichere Hand erfaßt diese. Georg rafft das Bild auf, betrachtet es, ehe Justine es verhindern kann, mit bitterm Lachen und giebt es dann der Trägerin zurück. »Ich gratulire zu dem geliebtern Freunde!« sagte er, und Justine glaubt vor Scham und Bestürzung in die Erde zu sinken: das Bild ist James in der vollen Blüthe seiner Jugend: sprechend ähnlich; herrlich gemalt. Sie verstummt, das ungeheure Mißgeschick nicht begreifend. Der Amerikaner sagt aber mit zitterndem Tone zu ihr: »So ist es denn wahr, Jungfer Justine? ich war der Betrogene? sollte der Betrogene bleiben? Armes Geschöpf! ich bemitleide Sie!« Ohne noch ein Wort hinzuzufügen, verließ er Justine, die -- ebenfalls ohne ein Wort der Entschuldigung beizusetzen, ihm sprachlos und beklommen nachstarrte. Indem er eilig und außer sich dahin schoß, begegnete ihm -- zu seinem Entsetzen -- der Mensch, den er gestern gesehen, den das Bild vorstellte. »Sind Sie ein Engländer?« fragte er hastig, den Jüngling bei der Brust fassend. »Ja, Herr.« »Heißen James?« »James White.« »Sie lieben meine Braut, Justine Müssinger?« »Mein Gott! was soll das heißen? woher wissen Sie?« »Ihr Pflegvater hat mir Alles entdeckt.« »Wie? Doctor Leupold?« »Derselbe. Sie werden geliebt!« »Mein Herr!« »Sie trägt Ihr Bild auf der Brust...« »Ach, mein Herr! Sie sind ein Engel, wenn Sie...« »Stille. Warum ließen Sie mich im Dunkeln tappen? damit ich schmerzlicher erwachen mußte? das war Unrecht von Ihnen. Brav jedoch, daß Sie nicht nach Amerika folgen wollten. Darum renne ich Ihnen auch nicht den Degen durch den Leib. Sein Sie glücklich! Ich sage mich von ihr los!« Er ließ den Staunenden, Bebenden stehen, und eilte, seine aufwallende Wehmuth zu unterdrücken, weiter. Unfern vom Rathhause stieß er auf den Senator, der, schwankend und blaß wie ein Geist, einherkam. Kaum rückte er vor demselben den Hut, und stürzte davon, sich in sein Zimmer zu verschließen. Der Senator sah ihm verwundert, aufgebracht, niedergeschlagen nach; setzte dann seinen Weg nach Hause fort, und kam sehr verdrüßlich daselbst an. Frau und Tochter saßen still beisammen. Jacobine kämmte ihr Hündchen; Justine saß an seiner Arbeit, und that dennoch nichts. Der Senator warf sich seufzend in einen Stuhl. »Der Satan ist los!« sagte er: »Wenn ich mich aus dem Unglück losreiße, das mich jetzo niederschlägt, so will's etwas heißen. Mein Ruf, mein Amt, meine Würde stehen auf dem Spiele!« »Mein Gott!« sagten die Weiber; die Senatorin rückte weit ab von dem Senator; Justine rückte ihm dagegen näher. »Ihr wißt,« fuhr der Senator mit gedämpfter Stimme fort, »daß ich auf's Rathhaus beschieden wurde. Der Bürgermeister hat mich förmlich verhört. Ich denke, mein Kopf macht Bankerott, als er vom Lotto anhebt, und behauptet, ich hätte neulich das große Loos in dem Hamburger Glücksspiele gewonnen. Auf die Verschwiegenheit meines Correspondenten bauend, leugne ich Stein und Bein. Da wird er ernsthaft, nennt mir, als wäre er ein Hexenmeister, den Tag der Ziehung, die Nummer, die ich gespielt, den Gewinnstbetrag und die Prämie, den Kaufmann, der meine Angelegenheit besorgt, und endigt damit, mir frei zu erklären, ein Comptoirdiener jenes Mannes, der in Unfrieden von ihm gegangen, habe eine Collekturliste hieher gebracht, und dieselbe hin und wieder indiskret zur Schau gelegt. Mein Name sei von ihm genannt, der Senat stutzig geworden. Ich sei mit dem bestehenden Verbote bekannt, müsse mich diskulpiren, oder gewärtig sein, daß man Rechtens gegen mich verfahre. Der Angeber sei schon abgereist, die vidimirte Collekturliste liege aber vor; ich müsse erklären, woher mir damals das viele Geld gekommen, und die Erbschaft nachweisen, die ich dazumal vorgeschützt. Er, der Bürgermeister, könne mir nicht helfen, und müsse mir noch überdies bemerken, daß diverse Gerüchte über mich und mein Haus neuerdings in Schwung gekommen, die dem ganzen =Corpori Senatus= nachtheilig werden könnten. Vor Allem wolle er mich aufmerksam machen, daß der Pastor Lammer öffentlich über meine Saumseligkeit, die Kirche zu besuchen, lästere, und daß es von der äußersten Nothwendigkeit sei, hierüber den Menschen den Mund zu stopfen, worauf man allerdings im Uebrigen gelinder und gnädiger untersuchen wolle, um keinen Anstoß zu geben. Hierauf entläßt mich Se. Magnificenz sehr kalt und sehr unwillig, indem sie mir noch aufgiebt, binnen vier Wochen die Beweise beizubringen, wie es sich mit jenem Gelde verhalte. Da habt ihr mein Elend, ihr Weiber! mir ist's ein Trost gewesen, es in eurem Busen niederzulegen, aber ich wünsche, daß es darinnen, und ein Geheimniß bleibe.« »Das versteht sich,« sagte die Senatorin, die wieder zutraulicher geworden war; »die Bürgermeisterei hat sich im Geringsten nicht um die Art und Weise zu bekümmern, wie man zu Gelde kommt. Der saubere Bürgermeister sollte selber gar nicht den Großen spielen. Man weiß sich noch sehr wohl zu erinnern, wie er -- ein armer Schlucker -- zu den Schweden ging, um zu marketendern. Dann kam er an die Heulieferung, dann an die Spitalverwaltung, und endlich als reicher Mann hieher zurück. Wenn man seinem Reichthum nachfragen wollte ... pfui!« »O des unnöthigen, vergeblichen Geschwätzes!« versetzte der Senator ungeduldig. »Bei dem Allen,« fügte er bei, »ist es nothwendig, daß ich auf Mittel denke, das Gewitter abzuwenden. Ich bedarf des Raths.... und wer _soll_ mir rathen?...« »Du nimmst von mir den besten Rath nicht an,« sagte die Senatorin gähnend; »darum gehe ich. Weißt du dich jedoch nicht aus der Fatalität zu wickeln, und sie wollen dich nicht mehr im Rathe haben, so lasse ich mich scheiden. Ich muß Frau Senatorin heißen bis ans Ende. Der Titel ist ohnehin der einzige Gewinn, den ich aus der Ehe mit dir gezogen habe.« »Abscheuliches Weib!« murmelte der Senator der Abgehenden zwischen den Zähnen nach: »Rathe du mir, Justine. Mit wem soll ich mich bereden? wen beschicken? der Augenblick drängt. Ich will mich dem Buchhalter nicht anvertrauen: der Mann ist zu streng und ... nun heraus damit! zu _ehrlich_ mit einem Worte. Berndt ist eine philadelphische Schlafmütze. Wünschte ich mir doch fast wieder den vermaledeiten Nothhaft herbei! Er war ein geriebener Kniffespinner. -- Aber wie wäre es, wenn dein Bräutigam...? er ist die gute Stunde selbst, und gäbe vielleicht in aller Unschuld einen Ausweg an die Hand? was fehlt dir denn, Mädchen? du bist ja weiß wie eine Sternblume? hast nasse Augen? was hat's gegeben?« Justine läugnete. Der Senator besann sich nun, Birsher gesehen und sich über dessen Unhöflichkeit geärgert zu haben. »Ich verstehe,« rief er: »ein verliebter Zwist! Deine Hartnäckigkeit wird dir noch böses Spiel machen, Justine! was den _Bräutigam_ betrifft: der ist gut zu lenken, -- aber ... der Ehemann ist ein ganz anderer Herr. Zu viel Sonnenschein in dem Brautstand: finstre Wolken in der Ehe. Versöhnt Euch. Herr Birsher wird jedoch nicht geeignet sein, den besten Rath zu ertheilen; -- darum -- sende nach dem Doctor Leupold, mein Kind ... ich ließe mir die Ehre ausbitten...« »Das thue ich nicht gerne, Herr Vater!« antwortete Justine. »Warum nicht? -- Ach! ich besinne mich: du hast einen Widerwillen gegen den Mann. Mische dich doch nicht in unsere Angelegenheiten, Justine.« »Lassen Sie den Doctor nicht zu tief in die Ihrigen blicken,« ermahnte Justine: »ohne mich Ihnen ganz deutlich machen zu können, warne ich Sie noch einmal vor ihm.« Der Senator seufzte tief, und wendete sein Auge ab. »Er ist gewiß ein doppellarviger Mensch!« fuhr Justine fort: »überhaupt, mein Vater, kömmt es meiner Ahnung vor, als hätte uns ein immer enger werdendes Netz umfangen und umspannt; -- als sollten wir die Beute eines böslich bereiteten Verderbens werden.« Der Senator sah die Tochter betroffen und starr an. »Der Doctor,« sprach diese weiter, -- von der Unruhe ihres Herzens wie von dem vortheilhaften Augenblicke begeistert, -- »erscheint wie eine Hauptgestalt, bemüht, dieses Netz, das ich nicht kenne, nicht durchschaue, wohl aber fühle, zu bereiten. Mit jedem Tage wird mir klarer, was mir einst der Zufall enthüllte. Der Doctor ist nicht der einfache Jurist, der simple Privatmann, mein Vater; er ist ... wie ich beschwören möchte, ... er ist...« »Halt!« donnerte ihr der Senator, von Angst und Unruhe geschüttelt, zu: »ich will nichts hören! ich darf nichts aus deinem Munde erfahren! du machst mich unglücklich, Justine, und wirst es selbst, wenn eine Sylbe deiner ungereimten Vermuthungen unter die Leute kommt! Justine ... wir wären ja alle zu Grunde gerichtet!« Justinens Begeisterung schauderte vor dem außerordentlichen Schrecken des Vaters zurück. »Wie Sie befehlen!« stammelte sie verschüchtert: »beruhigen Sie sich nur. Ich habe mit der Mutter nicht geredet, und Gott wird wohl Alles gut machen. Ich aber will nach dem Doctor schicken.« Es wurde ihr erspart. Die Schelle des Comptoirs erklang, und der Doctor, wie von einer Ahnung gerufen, kam mit einem Fremden, den Senator zu besuchen. Dieser Fremde gab sich in einer salbungsvollen Begrüßung dem Senator als Superior eines Profeßhauses der Gesellschaft Jesu zu erkennen, und freute sich, in ihm ein bereitwilliges Werkzeug der göttlichen Gnade zu finden. Der Senator erwiderte das Compliment etwas lau, und sagte, die niedergeschlagene Verlegenheit des Doctors bemerkend, ohne besondere Umschweife, daß es ihm fast leid thue, sich durch seine sonderbaren Verhältnisse in Verbindungen verwickelt zu sehen, die seiner bürgerlichen Existenz nachtheilig werden könnten. »Ich hätte wenigstens gehofft,« sprach er, »nicht compromittirt zu werden, aber ich habe mich getäuscht. Indem ich heute vom Rathhause komme, nähert sich mir ein Mann; der Krämer Ernst, übel berüchtigt in der Stadt durch seine lockre Lebensweise und die Vergehen seines Bruders, wegen welcher derselbe im Gefängniß sitzt. Der Mensch redet mich an, und fordert mich ziemlich unverschämt auf, bei der Kriminalkammer dahin zu arbeiten, daß sein Bruder auf freien Fuß gestellt werde. Da ich es ihm nun natürlich abschlage, und mich wunderte, daß er sich gerade an mich gewendet, den er kaum kennt, so sagt mir der Mann im Vertrauen: ich kenne Niemand, der geeigneter und verbundener wäre, mir in dieser Sache beizustehen. Ich weiß ja, daß Sie eben so gut Katholik geworden sind, wie ich; und man hat mir den Anschlag gegeben, Sie zum Beistand aufzufordern. Ich war wie vom Donner gerührt, und hatte kaum Fassung genug, den Menschen mit einigen Drohungen der Lüge zu zeihen, und ihn von mir zu weisen; worauf er sich ärgerlich und stumm entfernte. Was soll ich nun denken? Kaum habe ich seit wenigen Tagen -- wie in einen Strudel hinabgezogen -- mich zum Uebertritt anregen lassen, und schon stehe ich blosgegeben da! verrathen an Menschen, für deren Verschwiegenheit kein Dreier zu verbürgen ist!« Der Doctor sah verwundert den Superior an; dann betheuerte der dem Senator, dessen Aufnahme geheim gehalten zu haben -- vor der ganzen Gemeinde. Der Superior versetzte dagegen hochmüthig und zuversichtlich: »Beruhigen Sie sich, Herr Senator. _Ich_ war's, der den armen Teufel auf Sie aufmerksam machte. Er suchte bei mir den Beistand eines geistlichen Vaters, und ich verwies ihn an Ihren weltlichen Schutz. Ein gutes Wort aus Ihrem Munde kann Vieles fruchten, und setzt Sie keinem Verrath aus; der Krämer ist mir als ein eifriges Glied der wachsenden Kirche geschildert worden, und ich habe durchaus keine Ursache gefunden, dieser Angabe zu mißtrauen. Sehen Sie, lieber Sohn: Eintracht, gemeinsames Wirken führt stets zum ersehnten Ziele. =Concordia parvae res crescunt!= Wie nun eine Gemeinde, die sich im Schooße der Verborgenheit bildet, einem Bruderverein im schönsten Sinne zu vergleichen ist, so ist auch jeder der Brüder dem andern Schutz und Hülfe schuldig. Leisten Sie daher dem Supplikanten nur einen leichten Beistand, wie er gerade in Ihren Kräften steht, und zählen Sie dagegen auf jeden Beistand des Ganzen.« »O, daß ich mich in diese mißliche Speculation eingelassen habe!« sagte der Senator mißmuthig, und achtete nicht der zornig aufsteigenden Wolke auf des Superiors Stirne, noch des bekümmerten Angesichts des Doctors. »Wenn Sie es vermögen, meine Brüder, beweisen Sie mir den Ernst Ihrer Worte. Rathen Sie mir in meinem äußerst kritischen Verhältnisse.« -- Er erzählte von dem Verhöre des Morgens. Der Doctor schüttelte mitleidig und besorgt den Kopf. Der Superior lächelte aber gleichmüthig und erwiderte, fast spöttisch: »das versetzt Sie in Unruhe? Gilt das Zeugniß eines verlaufenen Ladenburschen gegen Ihr Rathsherrnwort? Und hat man nicht Mittel, den Nothbehelf der Erbschaft klar darzuthun, als wäre er wahr wie die Sonne? Ich verpflichte mich, Ihnen Zeugen zu schaffen, und der Pater Münzner, der zugleich Doctor beider Rechte ist, wird Ihnen mit einem in allen Formen ausgestellten Testamente auszuhelfen nicht ermangeln.« »Pater Superior!« versetzte der Doctor stutzig: »bedenken Sie! ein fingirtes Testament! ein =falsum=!« »Nun?« fragte der Superior kalt: »was weiter? Es gilt hier, einen christlichen Bruder aus der Verlegenheit zu ziehen. Ich behaupte sogar, daß ein Testament, dessen Aussteller eine =persona fictitia= ist, gar kein =falsum= darbietet. Es sei übrigens Ihre Ansicht, welche sie wolle, so wird hoffentlich der Befehl Ihrer Obern hinreichend sein, alle Bedenklichkeiten zu heben.« Der Doctor bückte sich mit unterdrücktem Widerwillen. Der Senator schauderte ein wenig vor der Leichtigkeit, womit der Superior eine so trügliche Maßregel durchgehen ließ; aber da sein System, sollte es ihn vor Schande retten, auf Lügen beruhen mußte, ließ er sich's gefallen, daß es der kühne Pater übernahm, eine Zusammenstellung von Begebenheiten und Dokumenten -- beide in der Ferne geschehen und aus der Ferne gesendet -- zu erdichten, die dem Unbefangenen jeden Zweifel an des Senators Aufrichtigkeit rauben mußte, da man der Verschwiegenheit des Correspondenten in Hamburg versichert sein konnte. »Sie unterscheiden jetzt, bester Sohn,« sagte der Superior, »wie redlich wir es mit Ihnen meinen, und werden uns eine kleine Bitte Ihrerseits nicht abschlagen. Nach reiflicher Ueberlegung habe ich gefunden, daß unsre Handelsbücher und Register über kirchliche Angelegenheiten im Hause des ehrwürdigen Paters Münzner zu exponirt erscheinen. Ich ersuche Sie deshalb, diese =acta= in Ihren Verschluß zu nehmen, und zu erlauben, daß der Pater sich täglich etwa eine Stunde in irgend einem abgelegenen Winkelchen Ihres Hauses damit beschäftige, wenn es einzutragen oder abzuschließen gibt. In einem Lokale, wie das Ihrige sich darstellt, wird solches Ab- und Zugehen unbemerkt bleiben; Sie sind außer Gefahr, und wir können völlig ruhig sein.« Der Senator antwortete: »Da ich mich bereits so offen in Ihre Hände gegeben habe, meine Väter, so mag es darum sein. Ich will Ihnen auch im gegebenen Falle meine Bereitwilligkeit nicht entziehen. Ich will in aller Stille ein Cabinet, an den Hof stoßend, zum Gebrauch des Herrn Doctors einrichten lassen, und die nöthige Sorge tragen, daß er nicht gestört werde.« »So werde ich noch heute Abend die Bücher herbringen lassen,« setzte der Doctor bei: »da der ehrwürdige Pater Superior sie bei mir nicht sicher glaubt.« »=Quidquid agas, respice finem!=« bemerkte der Superior mit dem schlauesten Gesichte: »ich danke Ihnen für die schöne Bereitwilligkeit, womit Sie unserem Antrage entgegengekommen. Ich gestehe, daß derselbe mich mit dem Mangel an Aufrichtigkeit versöhnt, den Sie meinem würdigen Freunde, dem Pater Münzner beweisen.« »Wie so?« fragte der Senator, und fixirte den Doctor, der wie beschämt die Augen niederschlug. Der Superior fuhr, wie scherzend, fort: »Der würdige Herr hat Ihnen Gründe der Freundschaft, der Moral und der Pflicht angegeben, die eine Heirath zwischen Ihrer einzigen Tochter und dem protestantischen Amerikaner dringend verbieten. Er hat, wie er behauptet, Ihr Herz gerührt, indem Sie versprachen, seinen Gründen nachzugeben. Aber leider ist solche Rührung nur ein Phantasma gewesen, das eben so schnell zerstiebte, wie mancher gute Vorsatz. O, mein Sohn! in Ihrem Gemüthe liegt noch viel des ketzerischen Sauerteigs verborgen, von welchem Sie nur eine reine und reife Andacht zu dem geheiligten Herzen Jesu befreien kann! Wie könnten Sie es ansonst über sich genommen haben, Ihr Versprechen zu widerrufen, und, mit Fleiß ihre Wege vor _uns_ versteckend, auf dem alten erwiesenen Unrecht zu beharren?« Da der Senator, seiner Verstellung überführt, kein Wort redete, so hob der Doctor sanft und eindringlich zu ihm an: »Ja, bester Herr Senator! wir wissen, -- da uns nichts in die Länge verborgen bleibt, -- daß Sie dennoch Ihre Tochter mit Herrn Birsher zu vermählen gedenken, ... wann und wo Sie es thun wollen; und ich frage Sie noch einmal freundschaftlichst: haben Sie auch Alles erwogen und überlegt?« »Ich bin meinem Gewissen und meinem Worte Erfüllung schuldig;« antwortete der Senator auf's Aeußerste gebracht: »ich hasse jede Einmischung Unberufener in mein Hauswesen. Ich habe mir nur die Schwäche vorzuwerfen, daß ich vor Ihnen verhehlte, wie es mir darum zu thun sei, _recht_ zu handeln. Können Sie das nicht vergeben, meine Väter, so dispensiren Sie mich von jeder weitern Gemeinschaft mit Ihren Kirchen und Gesellschaftsverhältnissen!« »O welche bedauerliche Hitze!« sagte der Superior, die Augen wehmüthig gen Himmel richtend: »=Saule! Saule! cur me persequeris?= Verblendeter, heftiger, geliebter Sohn! Glauben Sie denn, daß das heilige Herz unsers Heilands sich so schnell von Ihnen reißen werde, als Ihr Unmuth sich von ihm zu trennen begehrt? Mit nichten, mein Sohn! Der Heiland wird Sie nicht verlassen, da Sie sich ihm einmal ergeben! Wir, seine unwürdigen Diener, Ihre innigen Freunde, werden es auch nicht thun, und sollten wir immer vergebens warnen, und immer vergebens ausrufen: Durch diese Verbindung machen Sie Ihr Kind des Himmelreichs verlustig! durch diese Verbindung bringt der Protestant Unglück in Ihr Haus, das erst kürzlich in Ihnen der Herr gesegnet hat mit Gnade, mit Erweckung, mit dem zukünftigen Paradiese!« Die Herren schwiegen allesammt, da sich vor der Thüre Schritte vernehmen ließen. Berndt schaute demüthig herein, und langte dem Principal ein Billet hin. Der Kellerbursche aus dem Schwan hat's gebracht, sagte er, grüßte höflich, und verschwand. Der Senator sah in der Ueberschrift Georg Birshers Hand. Seine Seele war so schreckhaft und argwöhnisch geworden, daß er unter jedem Siegel eine giftige Schlange fürchtete. Darum löste er auch dieses mit Herzklopfen, und -- wie sehr seine Ahnung die Wahrheit gesprochen, -- wie giftig die Schlange sei, die sich aus dem kleinen Briefe in seine Augen und sein Herz bohrte, -- das bezeugte das Erbleichen seiner Wangen, das Erstarren seines Blicks, die physische Vernichtung, die aus den schlaffen Zügen trat. Mit einer Bewegung der Verzweiflung aufspringend, reichte er mit zitternder Rechte das Briefchen an den Doctor, und sank mit dem Ausrufe: Nun bin ich ohne Rettung verloren! in den Stuhl zurück. Der Doctor las, während der Superior dem mit Ohnmacht Kämpfenden beisprang, für sich, was folgt: »Unglücklicher Müssinger! -- Meine Hand bebt, aber mein Herz erbebte noch heftiger, da ich erfuhr, was mich und Sie elend macht. Elender! Sie haben meinen armen Vater gemordet! der mir's entdeckt hat, ist fast Zeuge der schändlichen That gewesen! um mich vor dem schauerlichen Bunde mit Ihnen zu warnen, hat er's mir gestanden! aber ich weiß, wozu die Rache den Sohn auffordert. Die Gerechtigkeit anzurufen, ist meine Pflicht! um drei Uhr fahre ich bei dem Bürgermeister vor. Ich will nichts von dem wissen, was Sie bis dahin unternehmen! _Birsher_.« Der Senator schlug die verwirrten Augen wieder auf, sandte einen trostlosen Blick nach dem Doctor, der schnell das Briefchen wieder zusammenfaltete, dem Senator zurückgab, und sagte: »Fassen Sie sich, Sie sind nicht verloren. Nothhafts Beschuldigung -- gewiß durch die transpirirende Neuigkeit von Justinens Vermählung veranlaßt -- richtet Sie nicht zu Grunde. Ihre Seelenangst ist Ihr mächtigster Gegner: darum -- obschon Sie gegründete Hoffnung haben dürften, von den Gerichten erledigt zu werden -- ist es gerathener, das Unheil in der Geburt zu ersticken. Birsher scheint großmüthig handeln zu wollen. Er will Ihre Flucht begünstigen. Hüten Sie sich jedoch. Weichen Sie keinen Fuß breit. Halten Sie sich ruhig! überlassen Sie uns, für Sie zu handeln. Bevor es drei Uhr wird, denke ich, müßten Sie aller Gefahr enthoben sein!« »Wenn Sie das könnten!« rief der Senator, und warf sich dem Pater in die Arme: »mein Vater! Bruder meiner Clara! thun Sie das Möglichste! der Verdacht! mein Ruf! die Schande! Gott stehe mir bei, wenn Sie mich verlassen!« »Hier muß dieser Mann helfen!« versetzte der Doctor, auf den Superior zeigend, der aufmerksam und erwartend da stand. »Pater Superior! als Beichtvater dieses unglücklichen Mannes fordere ich Sie, einen der Vorsteher unsrer heiligen Gesellschaft, in Ihnen den ganzen Orden auf, ihn vor einer dringenden Gefahr zu retten, mit der ihn Birsher bedroht. Der Grund derselben ist ein Beichtgeheimniß, aber ich beschwöre Sie bei Ihrer priesterlichen Würde, den Folgen vorzubeugen.« »Ich werde mich mit Ihnen bereden,« antwortete der Superior gleichgültig; »ich werde Ihre Meinung hören, und thun, was ich mit Gottes Hülfe vermag. Verspräche aber wohl der Herr Senator, jeden fernern Gedanken an eine Verbindung seiner Tochter mit einem Protestanten aufzugeben? das unschuldige Kind unsrer alleinselig- und glücklichmachenden Mutterkirche zuzuwenden? es für ein erbauliches Jungfrauenleben zu bestimmen, damit es im Verein mit andern gottseligen Chorschwestern die Sünden des Vaters abkaufe mit Gebet und Ergebung? sein Vermögen nach seinem Hinscheiden der Kirche zu vermachen, der liebenden und helfenden Gesellschaft Jesu ins Besondere? =Respondeas, mi fili!= und dir soll geholfen sein!« Der Senator nickte sprachlos mit dem Kopfe, winkte mit der Hand, und der Superior ergriff dieselbe, ihn beim Worte nehmend. »Sie sind Zeuge, Pater,« sagte er feierlich, »und nun kommen Sie, damit wir das widrige Geschäft in Ordnung bringen. Ich bin sanfter Natur, wähle gewöhnlich leichte Mittel; hier aber, fürchte ich, wird es auf dasjenige ankommen, was ich schon einmal vorgeschlagen, und das Sie als zu hart verworfen haben.« Der Doctor winkte dem Pater, zu schweigen, indem er auf den Senator deutete, welcher aus seiner Betäubung erwachte. Die Jesuiten gingen bedächtig und stille von dannen. »O, der sauern Pflichten!« seufzte der Doctor, aber sein Mund sprach keine Sylbe, die seinem Vorgesetzten hätte mißfallen können. Die Herren fanden in ihrem geheimen Convente die Lainez und den ehemaligen Schauspieler Litzach. »Unser Plan scheitert!« sagte die Erstere, indem sie dem Doctor das gefährliche Medaillon zurückgab; »behalten Sie das Bild Ihres Zöglings, mein Vater; es hat Aufsehen genug gemacht, aber die Liebesleute vertragen sich nach dem heftigsten Zanke. Vor der Hand hat mich Jungfer Justine der Mühe, ihr Gesellschaft zu leisten, enthoben, und alle meine Entschuldigungen gingen in den Wind.« »Unser Plan glückt im Gegentheile, kurzsichtige Frau!« sagte der Superior stolz lächelnd. »Sie hat Ihre Commission ganz gut verrichtet, und es kommt nur darauf an, ob Er, Litzach, dasselbe thut.« Er führte den Unterthänigen in das Nebengemach. Indessen hatte der Doctor James Porträt in seinen Schrank verschlossen, und die Thränen waren ihm in die Augen gestiegen, und er lehnte sich über die in schwüler Hitze welkenden Blumen seines Fensters hinaus, in's Freie, und betete: »Du heilige Mutter! vergieb mir, daß ich ein Bild, welches von einem treuen Mutterbusen getragen wurde, bis das Herz darunter stille stand, daß ich es -- das heilige Geschenk jugendlicher Dankbarkeit -- mißbrauchen ließ, zu einer Betrügerei. Der Obere befahl es jedoch, und um der Pflicht willen wirst du die Sünde vergeben, gebenedeite Mutter!« Die Augen trocknend, fragte er die Lainez, ob sie den jungen James nicht gesprochen habe. Die Lainez wußte nichts von ihm, als daß er ihr mit dem fröhlichen Gesichte, das sie noch je an ihm gesehen, begegnet war, im Begriff, gegen das Thor zu eilen. Capitän Tormerpick, der hinzu kam, hatte den jungen Menschen ebenfalls auf dem alten Glacis angetroffen. James hatte ihn umarmt, hatte ausgerufen: »Capitän! sehe ich denn aus, wie der glücklichste Mensch in der Stadt?« und hatte sich dann entfernt -- wie sich der Capitän ausdrückte -- tanzend, wie ein Matrose, der nach sechs Monden wieder zum ersten Male festes Land betritt. Der Doctor schüttelte ernsthaft und betrübt den Kopf, und verfügte sich in das Seitenzimmer, aus welchem bald nachher Litzach schlüpfte, und dem Capitän bemerkte: die Herren erwarteten nun _ihn_. Während Litzach davon eilte, sprach Tormerpick mit den Vätern. »Ich nehme Abschied von Ihnen,« sagte er: »Schlag zwei Uhr fahre ich ab. Ein dringender Brief ruft mich nach dem Hafen. Das Schiff wird geladen. Ich bitte mir weitern Bericht oder anderwärtige Aufträge aus.« Der Superior gab ihm ein Paket, mit dem Bedeuten, daß sich darinnen alles befinde, was auf Handelsangelegenheiten Bezug hätte. »Wir hätten Euch noch Jemand mitzugeben,« schloß der Pater, listig lächelnd: »einen Engländer, wohl gewachsen, stark, robust; ein gutes Capital, in Batavia anzulegen.« Der Capitän runzelte die Stirne. »Wollen Sie mich foppen, meine frommen Väter?« »Nicht doch, Capitän. Versteht uns wohl! wir hassen die Seelenverkäuferei, wenn unsere Waarentransporte dadurch Noth leiden. Wo es aber auf eigene Rechnung geht...« »Ich verstehe,« erwiderte der Capitän grinsend: »Sie sollen Ihren Willen haben. Wann? wie? wo? Ich habe zwei Matrosen bei mir, die auf einem Kaperschiffe gedient haben. Den Burschen bangt vor dem Teufel nicht.« »Haltet um zwei Uhr auf dem Damme« instruirte der Superior: »dort ist's abgelegen und einsam. Der Mensch, welcher vorhin wegging, wird den Bewußten zum Damme bringen; einen großen tüchtigen Mann; nicht wahr, Pater Münzner?« »Unsern Tischnachbar im Schwan,« entgegnete der Doctor. Der Capitän lachte hell auf. »Den stummen Oelgötzen?« fragte er: »der mich so unverschämt anlaufen ließ? Hoho, den kenne ich, und werde ihn wohl von dem dürren Magister unterscheiden. Brav! ich habe dem naseweisen Flegel eine volle Lage zu geben! ich hab's ihm geschworen. Gut so! ein Pechpflaster auf den Mund, Strick um Arm und Beine! wie der Teufel nach dem Kanal gefahren; die Nacht durch gerudert, mit Tagesanbruch an der Küste.... binnen zwei Tagen im Schiffe! herrlich! die Moorländer sind wenig und nur von lockerem Gesindel bevölkert! ich bringe den Passagier glücklich durch, oder fülle ihm den Kopf mit Blei, wenn er mich durch ein unanständiges Spektakel in Gefahr setzen wollte. Gott behüte Ew. Ehrwürden! sollen von mir hören!« Der ungeschlachte Mensch ging wiehernd weg, aß im Schwan noch so tüchtig, als ob er sich auf ein Heldenwerk vorzubereiten hätte, ließ unter seine Matrosen viel Branntwein austheilen, und bestieg mit ihnen jubelnd den verdeckten Korbwagen, der ihn zum Damme, von da zum Kanal bringen sollte. Dem Kutscher wurde noch tüchtig mit Rum zugetrunken und bei'm Abfahren schwenkte der Capitän in frechem Uebermuthe den Hut gegen den Amerikaner, der oben aus dem Fenster sah, und brüllte ein: »Auf Wiedersehen!« Georg zog sich, ergrimmt über den widrigen Seemann, vom Fenster zurück, warf sich auf das Kanapee, stützte den Kopf eine Weile in die Hand, sprang dann wieder auf, legte mit erhabener Würde die Hände auf seine Brust, und sagte, mit einem freien Athemzuge, zu sich selbst: »Bist doch eine wackere Seele, Georg, und hast einen schweren aber um so rühmlicheren Sieg erfochten! Ach du mein lieber, lieber Vater! Siehst du nicht aus den Wolken, und freust dich meines Entschlusses? Ist gleich mein Auge zu schwach, dich zu erschauen, so ist doch gewiß der himmlische Friede, der in mein Herz einzieht, dein Werk! Ja! Vergebung ist eine süßere Rache für dich, als das Blut des Elenden, der denn doch sein Leben ferner nur wie eine Pestbeule mit sich umherschleppen kann!« Er warf einen Blick auf die Speisen, die unangerührt auf dem Tische standen, auf die Seitenthür. Er ging hastig auf dieselbe los, öffnete sie mit dem Schlüssel, und sagte ernst: »Komm' Er heraus, Monsieur!« Eine blasse, ängstliche Figur kam gebückt hervor: Nothhaft, wie ein armer Sünder. »Setze Er sich, und esse Er!« fuhr der Amerikaner fort: »vergesse Er seine Schrecken. Ich habe mich besonnen, und halte dafür, es sei besser, die ganze Anklage zu unterlassen.« »Ach, wenn Sie das im Ernste wollten,« -- stammelte Nothhaft -- »ich würde neu aufleben.« »Lerne Er, Mensch« sprach Birsher weiter, »daß es nichts Gemeines mit solchen Anschuldigungen auf sich hat. Er hat mir auf die Bibel zugeschworen, daß Alles, was Er mir heute entdeckt, reine Wahrheit sei; ich will es glauben; nicht um Seinetwillen, denn der erbärmliche Spuck in des Senators Hause verdächtigt ihn, aber um des seltsamen Benehmens des Senators willen; um der Voraussetzung willen, daß ein Mensch, der nur _einen_ redlichen Blutstropfen in sich verspürt, nicht auf eine Lüge hin seinen Nächsten in's Grab und in Schande stürzen werde. Er hatte nicht darauf gerechnet, daß mir es einfallen könnte, die Anklage öffentlich zu machen; Er hat mich beschworen, es zu unterlassen: das ist ein guter Zug von Ihm; Er hat mir gestanden, daß Er nur, um mich von der Ehe mit Justine abzuhalten, mir die Eröffnung gemacht, die aber demungeachtet eine völlig wahre sei. Er hat sich endlich gutwillig in jenes Zimmer verfügt, wo ich Ihn inne zu halten für gut befand, damit es mir bei der Klage nicht an dem Gewährsmanne fehlen möchte. Bedenke Er aber selbst, wohin meine Klage führen würde: zu Seiner eigenen Haft, zu Seiner eigenen Schmach, als Hehler der begangenen Blutthat. Der Senator würde eines schimpflichen Todes sterben, seine Familie würde zu Grunde gehen, mein Schmerz wieder tausendfach erneut, meines Vaters Gebeine in ihrem Grabe gestört werden; und zu welchem Endzweck? Würde diese Genugthuung mein Herz befriedigen, den geliebten Todten wieder in's Leben rufen? Und die Unglücklichen, die -- ihren schuldigen Gatten und Vater beweinend -- mir, dem unglücklichen Verfolger fluchen würden!... ach, welch' eine Zukunft! Darum will ich lieber schweigen, wie das Grab über dem Todten, und verlange dasselbe von Ihm: schwöre er mir's abermals auf die Bibel, und dann gehe Er hin, von wannen er gekommen, so wie ich nach der Heimath zurückkehren will: vergessend -- und rein von Fluch!« Nothhaft vernahm mit innigem Wohlgefallen Birshers Worte. Er hätte tausend Eide geschworen, nur um den Folgen eines Schritts zu entgehen, den er weniger aus unverbesserlicher Bosheit, als, von frechem Trotze und Eifersucht bewegt, gethan hatte. Er entlief mit Riesenschritten dem Gasthause und suchte den Weg nach seinem Städtchen. Birsher war mit seinen Entschlüssen zufrieden, und überlegte gerade, wie er dem Senator, wenn derselbe sich nicht bereits auf der Flucht befände, seinen edelmüthigen Vorsatz kund zu geben hätte -- wie er von Justine Abschied nehmen sollte, als der Magister aus Faldern zu ihm trat. »Was wollen Sie, Magister?« fragte Georg hastig und verdrüßlich, gestört zu werden. »Der Ueberbringer des Dankes sein, welchen Ihnen zwei redliche getröstete Herzen zollen,« antwortete der Magister freundlich und zutraulich. »_Zwei_ getröstete Herzen? -- Schon gut!« »Und der Bitte zugleich, diesen Dank aus dem Munde der Getrösteten selbst hören zu wollen.« »Ihr Zögling soll zu mir kommen. Ich will ihn kennen lernen.« »Und Justine, die sich sehnt, Ihnen ein dankbares Wort zu sagen.« »Welche Zumuthung? Will sie sehen, wie mich die Entsagung kleidet?« »Und Justine, die sich vor Ihnen rechtfertigen möchte?« »Falschheit, sich rechtfertigen? Ich mag sie nicht beschämen!« »Und Justine, die Ihnen etwas Wichtiges anzuvertrauen hat, das nur Ihrem theilnehmenden Herzen vertraut werden kann; das auf das Glück Ihres Lebens den größten Einfluß haben wird?« »Magister! Sie schlagen die rechte Saite an. Justine soll einen Mann in mir finden, den Liebeskummer nicht niederbeugt; einen Mann, der das Gute nicht halb thut. Ich bedarf dieser Prüfung, um mich zu einer edeln That würdig zu stärken. Ich folge Ihnen; ich will dem Mädchen ebenfalls eine Nachricht bringen, die wohl manches Herz beruhigen dürfte. Wo, wann harrt meiner das Paar, das ich durch meinen Rücktritt so sehr beglückte?« »Wenn Sie mir folgen wollten?... ich führe Sie.« »Recht; geschwinde mein Freund! Sie noch einmal zu sehen -- sie zu beruhigen, und dann schnell wiederzukehren, um meine Abreise anzuordnen. --« Georg ging mit dem Magister weg, ohne wiederzukehren. Die Stunden gingen vorüber, der Abend war da. Der Gast im Schwan blieb aus. Die Wirthin, die den jungen, stillen Mann wohlwollend in's Auge gefaßt hatte, wurde unruhig. Mit einbrechender Nacht sendete sie in des Senators Haus, um nach dem Amerikaner fragen zu lassen. Er war dort nicht gesehen worden. Der Senator schickte den Kellner mit dem kühlen Bescheide zurück; ging dann auf seine Stube, heimlich seinem Gott zu danken, und den Zettel wieder durchzulesen, den ihm um die zweite Stunde des Nachmittags der Doctor geschickt hatte, mit den lakonischen Worten: »Fassen Sie Muth, Gebeugter! Wir verlassen Sie nicht. So eben ist _er_ fort, um nicht wieder zu kommen. Er wird Sie ewig in Ruhe lassen!« Der Senator küßte, seiner Angst entledigt, den kurzen Brief; trat dann zu seiner Familie und sagte: »Mein armes Bräutchen Justine! Dein Verlobter scheint auf Abwege gekommen zu sein. Wir wollen morgen, am Tage des Herrn sammt und sonders zur Johanniskirche wandeln, um den Segen Gottes anzuflehen, daß er den Handelsfreund wieder gesund zu uns zurückbringe!« »Endlich wieder ein frommer Vorsatz,« erwiderte die Senatorin: »nur Schade, daß der _Bürgermeister_ dich heute zur Gottesfurcht bekehren mußte. Bei alle dem finde ich's ungezogen, daß Herr Birsher heute gänzlich ausbleibt. Wenn nur die leichtfertige Französin, die sich auch seit dem Morgen nicht sehen ließ, den zu täppigen =Sans façon= nicht berückte!« Justine schwieg; aber in ihre Augen traten unwillkürlich Thränen: unwillkürlich seufzte der Mund. »Ja, Vater,« sagte sie, als dieser am Abend freundlicher und ruhiger als seither Abschied von den Seinen nahm: »wir wollen morgen aus dem Grunde des Herzens beten, damit Eintracht und Friede nicht von uns weiche!« Am nächsten Morgen stand Pater Münzner sehr frühe auf, um sich zu dem Gottesdienste vorzubereiten. In dem Garten kam ihm bereits sein Pflegesohn entgegen. Leidenschaftlich faßte ihn dieser bei der Hand, und rief: »Wohl mir, daß ich Sie endlich allein finde, mein Vater! Des Superiors Gegenwart hat meine Zunge gebunden, sonst hätte ich Ihnen gestern schon gestanden, wie sehr ich's bereue, daß ich Sie verkannte! Ja, mein würdiger Pfleger! Sie wollen mein Glück; Sie wollen es, wenn Sie mir es auch verhehlen; meinen ewigen Dank dafür!« »Verstehe ich dich, Unbegreiflicher?« fragte Münzner staunend. »Ihre Güte war mir unbegreiflich,« fuhr James heftig und entzückt fort: »aber die Wege der Vorsehung sind es ja auch, und dennoch gut und dennoch beglückend! Mögen Sie es doch wissen, daß ich Alles erfuhr, aus Birshers edelmüthigem Munde erfuhr!...« »Birsher? um's Himmels willen! was weißt du?« »Daß Sie mit ihm geredet, daß Sie sein Herz gerührt!.... daß Justine -- das herrlichste Glück! daß Justine mir gut ist, daß sie, die so schlau ihre Liebe zu verbergen wußte, mein Bild, -- vielleicht hat ihre liebe Hand es selbst entworfen -- mein Bild auf ihrer Brust trägt, -- daß der gefürchtete Bräutigam zurücktritt!...« »Mensch! du fabelst!« »Läugnen Sie nicht, mein Vater! Ist es denn ein Verbrechen, einen liebenden Jüngling zu beglücken? Ich bin verschwiegen! Ich sehe ein, daß Sie Gründe haben können, vor dem Superior, der mich in's Noviziat schleppen will, Ihr menschenfreundliches Bestreben zu verbergen, daß Sie nur Zeit gewinnen wollen!... Legen Sie jedoch uns gegenüber das Geheimniß ab, und hören Sie meinen Plan. Ich werde nicht Priester! Der Soldatenstand allein kann und wird mich Justinen näher bringen. Ich habe gestern des letzten Schwedenkönigs Leben gelesen -- es hat mich begeistert! Noch bin ich jung; noch wetterleuchtet es am Horizonte Europa's! Ich liebe, ich hoffe! das Glück muß mir zur Seite stehen!« »Jesus Christus!« versetzte der Doctor blaß und betrübt: »Du lässest mich nicht zu Worte kommen, und dennoch muß ich dir mit blutendem Herzen betheuern...« Rasche Schritte von Annähernden unterbrachen ihn. Der Superior mit allen Zeichen des Schreckens -- die Lainez, wie ein Schatten folgend -- eilten herbei. »=Hannibal ante portas!=« rief der Erstere, der einen dicken Brief in der Hand trug: »Hochwürdiger Herr! Jetzt gilt's, zum Streit sich rüsten!« »Wie so? wie das?« fragten der Doctor und James. »Erzählen _Sie_, während ich dies Schreiben durchlaufe;« versetzte der Superior zitternd und bebend. Die Lainez sprach mit erlöschender Stimme: »Wir sind verrathen; Alles kömmt an den Tag. Des Schreiner Ulrichs Frau ist in der Nacht krank geworden; der Mann hat unser Gebetbuch unter ihrem Kissen gefunden. Die Drohungen des Mannes, wie der Schmerz ihres Körpers haben Sie zugleich bedrängt; sie hat gebeichtet, daß sie katholisch geworden, -- daß eine stille Gemeinde bestehe, -- daß in dem Johanniterhofe...« »Gott stehe uns bei!« riefen die Zuhörer. »Vor einer halben Stunde...« fuhr die Lainez erschöpft fort, -- »läßt der Rottmeister, bei dem der Schreiner Alles angezeigt, den Hof umringen, -- das Thor aufsprengen, den Verwalter fest nehmen, Alles durchsuchen. An meiner Thüre vorüber dringen die Schergen in die Kapelle. Unsre heiligen Zierden fallen in ihre Hände. Man bemerkt mich nicht im Tumulte: ich entspringe, um hier das Unglück anzusagen!« Litzach stürzte in den Garten. »O meine Herren! meine heiligen Väter! was wird daraus werden?« rief er: »ich erfahre so eben, von dem Dorfe kommend ... der Verwalter ist verhaftet, läugnet indessen noch fest; hat nichts gestanden; der Johanniterhof wird verschlossen gehalten, damit nichts vor der Zeit verlaute: vor dem Polizei-Aufsichter soll um neun Uhr erst Alles klar werden! Der Sigrist, der entsprang, sagte mirs, es Ihnen mitzutheilen!« »Das Interdikt über die Bübin, die den Herrn verrieth!« zürnte der Superior: »das Etablissement, die Mission ... Alles geht zu Grunde! Schande kommt über uns! Lassen Sie uns Hand an die Rettung legen, Pater Münzner! Wir müssen fort, ehe der Lärm um sich greift.« »Unsere Bücher liegen bei'm Senator;« tröstete der Doctor: »kein Mensch sucht sie dort. Die Translation war zweckmäßig.« »Zweckmäßiger als Ihre Verwaltung, Pater Münzner!« entgegnete der Superior zornig: »solche Leute, wie die Schreinersfrau, an- und aufzunehmen...! plaudernde Gänse...!« »Mein Vorgänger hat schon...« wollte sich Münzner entschuldigen. -- »Schweigen Sie!« befahl der Superior heftig: »Marsch, auf die Beine! ihr Uebrigen! Er, Litzach, tummle sich schnell um einen Wagen um. Vor dem Friederthore will ich einsteigen. Er, James, wird auf der Stelle alle Habseligkeiten des Paters compendiös zusammen packen. =Cito! citissime!=« James eilte hinweg. Litzach rang die Hände; »ich bin der Unglücklichste!« seufzte er: »was wird aus mir, -- was aus meinen Kindern, und was aus meiner kranken Frau werden?« »Was Gott will!« antwortete der Superior hart und rauh: »packe Er sich fort, und besorge Er den Wagen!« -- Litzach gehorchte, fast weinend. -- »Laufe Sie, Lainez!« sagte der Superior dringend zu dieser: »ein Weibsbild mengt sich ohne Gefahr unter Gaffer und Pöbel! Horche, laufe Sie. Wenn etwas Ungerades sich verspüren läßt, ... schnelle Post hieher!« -- Die Lainez eilte weg. »Pater Münzner!« fuhr der Superior fort: »unsers Bleibens ist in diesem Hause nicht. Der Doctor Leupold wird bald aufgesucht werden! Schändlicher Baalstreich! Wir flüchten uns einstweilen in des Senators Haus, wo man uns sicherlich nicht sucht.« »Ich Unglücklicher!« rief Münzner, wie in Verzweiflung; »daß dieses Unglück unter meiner Verwaltung geschehen mußte! Welch ein Empfang wartet meiner in unserm Hause und beim Provinzial!« »Erkennen Sie, ob ich Ihr Freund bin!« erwiderte der Superior, indem er ihm den Brief reichte, den er vorhin gelesen; »ich will Sie der Traufe entziehen, weil Sie mir ein wohlgefälliger Mitbruder gewesen. Der Provinzial trägt mir auf, ein tüchtiges Mitglied nach Assumption im Paraguay zu schicken, um den Handelsangelegenheiten vorzustehen. Ihre Mission allhier ist leider nun erledigt; verbergen Sie Ihre Scham in Amerika, bis der General Sie zur Rechenschaft rufen läßt. Es verfließen indessen Jahre, die Sache schlummert ein, und ein simpler Verweis tritt an die Stelle der harten Pönitenz.« Der Doctor nahm mechanisch die Commission, ohne ein Wort zu erwidern. Der Superior sowohl, als die Hauswirthin, die ängstlich herbeikam, drangen in ihn, sich in Sicherheit zu setzen. Kaum, daß ihm die Zeit verblieb, seinen James zu umarmen. »Ich gehe nach Paraguay!« sagte er weinend zu ihm; »das Schicksal macht hier ein schnelles Ende mit uns. Wir sehen uns vielleicht nie wieder. Folge darum dem ehrwürdigen Pater Superior, der dein Glück will! Vergiß, armer Getäuschter, und zürne mir nicht!« -- Der Jüngling war von dem Augenblicke zu sehr erschüttert, um auf die Rede seines Pflegevaters merken zu können. Der Superior riß den Doctor unwillig mit sich fort, und ermahnte den jungen Engländer im Novizenmeisterton, seine Packarbeit zu fördern, die Effekten vor das Friederthor zu schaffen, und bei dem Wagen seiner zu warten, um mit ihm sich zu entfernen. Hierauf schlugen die geistlichen Herren, die Hüte tief in die Stirne gedrückt und herabgekrempt, den Weg nach Müssingers Wohnung ein. Ein heftig niederstürzender Regen begünstigte ihre schnelle Wanderung. Die Kirchenglocken riefen von allen Seiten die Gläubigen zum Gottesdienste, und leerten die Straßen. Ohne Aufenthalt waren die Väter an des Senators Thüre gekommen. Sie war verschlossen. »Der Senator ist in der Kirche!« sagte der Superior, sich besinnend. »Wir erlaubten ihm ja gestern, als wir die Register brachten, das Possenspiel mitzumachen, um seinen Leumund wieder zu heben.« »Ich habe glücklicher Weise den Schlüssel zu der Hinterthüre in der Tasche,« versetzte der Doctor; »er gab mir ihn, um unbemerkt zu kommen, wann ich wollte; es ist sonderbar, daß es heute zum ersten und letzten Male sein muß.« Sie traten in das Gäßchen; der Schlüssel paßte, und die Herren stellten sich unter das Gewölbe des Hauses, um zu berathschlagen, ob der Senator zu erwarten, oder vielmehr rathsam sei, daß der Superior oder der Doctor zuerst sich auf die Flucht mache. -- Während dieses in seinem Hause vorging, saß der Senator, noch von Allem ununterrichtet, mit den Seinigen im Betstübchen der Johanniskirche. Das Gebäude war gedrängt voll. Das schlechte Wetter hatte es ungewöhnlich angefüllt. Die Orgel schmetterte die Melodie des Liedes, und nachdem einige Verse desselben verklungen, betrat Pastor Lammer die Kanzel. Sein Gesicht war feurig, seine Augen sprühten und rollten in der Runde umher. Auf dem Oratorium des Senators haftete ein drohender staunender Blick, dem alle Augen der Anwesenden folgten. Heftig zerrte des Predigers Hand an der faltenreichen Krause; er hustete; er öffnete den Mund, ... da fiel ein Donnerschlag ein, dessen Vorgänger unter dem geräuschvollen Orgelspiel nicht gehört worden waren, und ein Blitz leuchtete durch die grauen Fensterscheiben, die der Stromregen peitschte. Lammer sah, während ein Laut des Schreckens durch die Kirche ging, furchtlos nach der Seite, wo der Blitz erschienen, ... seine Mienen nahmen eine gewisse Begeisterung an, -- verächtlich schob er das Concept seiner Predigt, das vor ihm auf dem Kanzelrande lag, hinunter, und begann plötzlich aus dem Stegreife mit aller Kraft seiner Stimme: »Du donnerst, Herr der Welten? Du starker zorniger Gott? ja, Barmherziger, entziehe mich heute der schweren Pflicht, deine Gebote zu erklären! Nimm selbst das Wort, damit gerade am heutigen verhängnißvollen Tage die Sünder zittern und ächzen, wenn du in deinem Zorne sagst: »Ich bin der alleinige starke Gott, und du sollst keine Götter haben neben mir!« Laß deine Gewitter rollen und den grauen Schleier vom Himmel nieder fallen, damit die Natur in Sack und Asche traure; schreibe einen außerordentlichen Bußtag aus für außerordentliche Sünden! denn sie haben dein erstes Gebot mit Füßen getreten! denn sie haben andere Götzen neben dir! denn sie haben dich geschändet, als wärst du nicht der starke eifrige Gott, sondern das elende Heidenbild Dagon, ein zerbrechliches Stück Koth! aber sie täuschen sich, denn _sie_ knieen vor den faulen Götzen! sie betrügen sich, denn _sie_ haben keine Bundeslade, vor welcher du den Staub küssen müßtest! sie haben sich belogen, denn ihnen ist die Hölle worden; meine Brüder! vernehmt, daß das Weib aus Babylon auferstanden war, daß es sich gelagert hatte an den Thoren dieser Stadt, und daß es gesprochen: kommt her, die ihr mich heimlich lieben wollt, und sündigt mit mir! -- O der Schande! o des Gräuels! o der verfluchten Ueppigkeit! sie sind nicht vorübergegangen an dem frechen Weibe! sie haben ihr Ohr nicht vor der Schlange verstopft! sie haben mit ihr gebuhlt! ja, meine Freunde! ja, meine Brüder! das römische Pabstthum hat eine Winkelstube in unserer Stadt errichtet; es hat vielen Eurer Mitbürger das ewige Seelenheil gegen falschen Tand abgetauscht. Doch nicht alle Sündige waren verstockt; ihrer waren etliche, die Reue fühlten. Sie haben bekannt. Die Kapelle ist entdeckt, die Hülle ist von der abscheulichen Verschwörung der Finsterniß gefallen! sie sind entlarvt, und harren angstvoll der verwirkten Strafe!« Eine Bewegung der Unruhe, des Abscheus, der Bestürzung, durchlief die Versammlung, und jedes Ohr horchte neugierig auf die Fortsetzung der Predigt. Der Senator konnte sich kaum vor Schrecken an der Brüstung des Betstübchens erhalten; die Senatorin starrte dumm und nicht begreifend auf den Prediger; Justine, ahnungsvoll und beklommen, behielt den Vater ängstlich im Auge. -- Der Prediger fuhr mit erhöhtem Kraftaufwande fort: »O, wie zittern jetzo die Herzen der Sündigen! wie werden sie wünschen, gar nicht geboren zu sein! und dennoch selig noch diejenigen, die Schaam und Reue empfinden! seliger noch diejenigen, die ihre schweren Verbrechen durch ein aufrichtiges Geständniß versöhnten! aber dreimal verworfen diejenigen, so in ihrem Irrthume, in dem Laster beharren! dreimal verworfen die gottlosen Priester aus Babel, die das Volk des Herrn verführt haben, und Unkraut gestreut unter den Waizen! -- Wie soll ich euch aber nennen, Gottesläugner! was soll ich euch prophezeihen, ihr Verstockte! die mit der Abtrünnigkeit noch Heuchelei verbinden? die mit glatter Stirne den Tempel des wahren Christenthums besuchen, und das falsche im Busen tragen? besser wäre es, ihr bliebet aus dem Hause Gottes, das ihr durch eure betrügerische Gegenwart verunreinigt! -- wie soll ich aber denjenigen nennen, der -- selbst ein Richter im Volke.... der -- selbst ein Erhalter der Gesetze -- das Volk verräth, indem er dessen Verführung begünstigt?... das Gesetz schändet, indem er thut, was es in seiner Weisheit verbietet...? den ehrwürdigen Senat, dem er angehört, brandmarkt durch seine entsetzlichen Frevel? ihn, der schamlos genug ist, sich allen Augen im Tempel des wahren Gottes Preis zu geben, sich heuchlerisch darinnen zu brüsten, nachdem er, geschweige anderer Unthaten, die erst an's Licht kommen werden und müssen, in dem teuflischen verbotenen Lotto sein Hab und Gut gewagt, und satanisches Handgeld damit gewonnen?... nachdem er ... ich spreche es mit Schaudern aus, meine Brüder, -- nachdem er katholisch geworden?« Der von dem Feuer der tadelnswerthesten Heftigkeit ergriffene Geistliche deutete mit Blick und Finger auf den Senator unverholen hin, der, von Beschämung und Wuth gepeinigt, in den Schatten seiner Betloge zurücksank, nach welcher murmelnd und blasphemirend die Menge gaffte, auf die der wüthende Prediger noch einen Hagel von Verwünschungen niederrauschen ließ. Der Auftritt sollte noch gräulicher werden. Der Senator, an seinem Stuhle nierdergleitend, hatte unbewußt den Arm seiner Frau ergriffen. Diese, die endlich mit abergläubischem Entsetzen begriff, wo hinaus der Prediger wollte, fühlte kaum die Hand ihres Mannes, als sie dieselbe lautschreiend zurückstieß, aufsprang, mit dem Gesangbuche nach dem Ohnmächtigen warf und kreischte: »Weg von mir, elendiger Mann! das fehlte noch, katholisch zu werden! Gott erbarme sich unser! Ich bleibe keinen Augenblick mehr an deiner Seite!« -- Vergebens warf sich Justine ihr bittend in den Weg. Schluchzend, wüthend, wie eine dem Teufel Entlaufende, drängte die Senatorin ihre Tochter von der Thüre. »Weg, Satanskind!« rief sie aus vollem Halse: »helft mir, ihr guten Christen! Ich gehe nicht mit einem Schritte mehr in das Haus der Abtrünnigen!« Auf der Treppe von einem Schwarme von Betschwestern umringt, die fragten und schimpften, und bedauerten, ging das Kreischen des unvernünftigen Weibes in ein widerliches Heulen über, das der Menge Gemurre und des Predigers Stentorstimme gewältigte. »Ich unglückliches Weib!« schluchzte sie: »wer führt mich zu meinen Verwandten, damit ich sicher sei vor dem Teufel, an den man mich verheirathet hat? Ich habe zu Allem geschwiegen, aber nun kann ich's nicht mehr. Der elende hat im Lotto gespielt, hat den Holländer umgebracht, und nun erst ... katholisch zu werden...! ich armseliges Geschöpf!« Endlich wurde sie fortgebracht, und mit ihr ging die Steuercommissärin und viele Freundinnen. »Da haben wir's ja!« sagte die Erste triumphirend. »Da hören Sie's selbst, meine Lieben! den Holländer umgebracht, ... wahrscheinlich nicht minder dessen Sohn, der seit gestern verschwunden ist...! Lotterie gespielt ... katholisch geworden! und mit alle dem that der schlechte Mann als wie ein Tugendspiegel! Aber mein Mann soll auf der Stelle zum Bürgermeister, und dann wollen wir sehen, ob noch Recht im Lande ist!« Während dessen schritt, von einem angsterregenden Menschengedränge umgeben, von Justine unterstützt, der todtenähnliche Müssinger durch die Kirche und über die Gassen. Es regnete entsetzlich. »Warum gehst du nicht zu der Mutter?« fragte er die Tochter leise und ohne die Augen zu ihr aufzuheben. »Ich bleibe bei Ihnen,« erwiderte sie sanft: »ich kenne die Mutter nicht mehr. Ich habe im Stillen geahnt, was Ihre Vernichtung mir bestätigt! Ach, ich habe nicht falsch gesehen,.. der Doctor!.. Aber ich liebe Sie jetzt _mehr_, um Ihres Unglücks willen, und begehre nicht, von Ihnen mich zu trennen.« -- »O mein armes, einziges, liebes Kind!« sprach der Senator unter Wehmuthswellen, und schauderte sichtbar zusammen, weil eine Menge Volks vor seinem Hause sichtbar wurde, und die Hellebarden und rothen Röcke der Rathshatschiere von der Thüre daher blinkten. -- »Ich werde in Arrest gebracht!« seufzte der Beängstigte. Justine erschrack; ihre Thränen fielen auf seine Hand. Der Senator erhielt im Gedränge einen Stoß auf die Brust; er sah zur Seite und erblickte sein schweres Portefeuille, das ihm eine hülfreiche Hand in den Busen schob. »Einen Gruß von den Herren!« sagte der blasse Litzach zu ihm, der sich wieder niederduckte: »Sie sollen das bewahren und fliehen. Die Bücher sind verbrannt und zerrissen. Ernst hat Sie verrathen, fliehen Sie nach Amsterdam, der Doctor erwartet Sie.« Die Worte waren wie im Fluge gesprochen worden, und der dem Senator unbekannte Bote verschwand. Der Senator verbarg mechanisch das Taschenbuch, das seine Wechsel und Obligationen enthielt, ohne darüber nachzudenken, wie es wohl aus dem verschlossenen Hause in die Hände jenes Menschen gekommen. Zwei Senatoren, Commissarien des Bürgermeisteramts, die in ihren schwarzen Kleidern und weißen Perücken ungeduldig im Regen warteten, riefen dem verdächtigen Collegen zu, die Thüre schnell aufzumachen. Müssinger gehorchte; Commissarien, Hatschiere, Volk drangen in das Haus. Justine wurde von des Vaters Arm gerissen, und flüchtete in das obere Stockwerk, dessen Treppe von den Hatschieren besetzt wurde. »Ihre Papiere!« hieß es unterdessen zu dem Senator. -- Er bückte sich, die Thüre seines Cabinets zu öffnen. Sie war schon offen. Man trat ein. Der Pult war gewaltsam geöffnet ... von den Büchern der Jesuiten, die darinnen verwahrt gewesen, sah der Senator, selber staunend, keine Spur. Unglücklicherweise jedoch fand ein Spürhund in einem Winkel die Legenden der Heiligen Ignaz und Xaver. Als ein Beweis des Gesuchten wurde das Buch mit Jubel empfangen. »Unwürdiger Mann!« sagte ein Senator zu dem verstummenden Müssinger; »die Schlüssel zu der Kasse, damit sie für's Erste in Beschlag genommen werde!« »Oeffnen Sie die geheimsten Fächer des Bureau's!« sagte der Zweite; »man hat Sie mit Seelenverkäufern umgehen gesehen; nach der Aussage Ihrer eigenen Comptoirbedienten Nothhaft und Berndt. Wo ist die Correspondenz über diesen schändlichen Trafik?« -- Müssinger läugnete und verwies auf seine Handelsscripturen. »Wer seinen Gott verläugnen kann, lügt auch vor Menschen!« sagte Einer der Commissarien: »wie kömmt es aber, daß Ihr Pult bereits geöffnet, gewaltsam geöffnet ist?« -- Müssinger bezeigte seine Unwissenheit. Indessen kamen zwei Personen herbei, die viel Verwirrung in den Auftritt brachten. Der Erste, ein Schwager der Senatorin, zu dem die bösartige Frau sich geflüchtet und welcher erschien, um deren Eingebrachtes zu reklamieren; der Zweite, der Comptoirdiener Berndt, den Neugierde und Schrecken zu kommen vermocht hatten. Der Schwager der Senatorin mischte sich mit vielem Lärm und aufgeblasenem Benehmen in die Geschäfte der Commissarien, und diese hielten es für gut, den Diener Berndt verhaften zu lassen, weil gegen ihn der Verdacht obwalte, auf vorläufigen Befehl seines Principals aus der Kirche entwichen zu sein, und das Pult gesprengt zu haben, um die schwersten Indicien, sowohl des Katholicismus, als des Lottospiels, als der Seelenverkäuferei, aus dem Wege zu räumen. Während nun der unschuldige Comptorist deprecirte, und die Hatschiere Gewalt brauchen mußten, den jungen Mann, der seiner philadelphischen Sanftmuth gänzlich vergaß, festzuhalten, -- während der Senatorin Verwandter seinerseits schrie und die Commissarien übertäubte, die Zuschauer sich um diese Scene drängten, stießen, und kleine Debatten unter sich selbst hielten, erwischte Jemand den Senator Müssinger beim Kleide, und zog ihn mit kecker Faust in das Gedränge, durch das Gedränge, und Niemand bemerkte es im Tumult. James war der Kühne. »Kommen Sie!« flüsterte er dem Staunenden dringend zu, riß ihn durch den Ausgang, unfern von der bewachten Treppe vorbei in den Hof, nach der Hinterthüre, klinkte sie auf, und nun stracks mit dem Geretteten fort durch das öde Gäßchen. »Wohin, wohin, mein Freund?« fragte Müssinger athemlos. »Still! kein Wort!« versetzte der Jüngling, und lief, so schnell der Senator selbst konnte, nach einer Querstraße, wo er in ein Haus schlüpfte, das ein Werbschild über der Thüre trug. Er hieß den Begleiter folgen, und trat mit ihm rasch in die niedrige Stube, wo einige Reiter, in bunten Uniformen, saßen und tranken. »Kameraden!« rief James, als wie begeistert: »Ihr seid Katholiken! Es gilt hier, einen Katholischen zu retten! Einen Helm, einen Reitermantel, ein Pferd für den Verfolgten! Zwei von Euch zur Bedeckung, die ihn geleitet, bis zum Weichbilde geleitet, und nehmt dafür mich hin, mit Leib und Seele! Ich begehre kein Handgeld als den Liebesdienst!« »Was thut Ihr, mein Freund?« fragte Müssinger verweisend, sank aber erschöpft auf eine Bank. Ein Reiter bot ihm Wein. Die Andern überlegten; endlich, einig geworden, daß ein hübscher Bursche hier zu werben stehe, und wohlfeil, so wie nie, sagte der Wachtmeister: »Meinetwegen, Monsieur. Geb Er mir die Hand, und trink' Er aufs Wohlsein unsers Herrn!« -- James stieß eiligst an. -- »Pressirt's mit dem armen Mann?« fragte der Unteroffizier weiter. James bestätigte es dringend, erzählte, er habe gehört, man wolle die Thore schließen, um sich der heimlichen Gemeinde desto gewisser zu versichern. Der Unteroffizier lachte der ungeschickten Maßregel. »Unsrer Uniform stehen, so Gott will, alle Thore offen!« sagte er, trotzig den Bart streichend: »schafft nur für den Herrn Stiefel, Mantel und Helm herbei, ihr Bursche. Mit ihm auf's Pferd dann, in Gottes Namen! scharfen Trab! ich bleibe indessen bei dem jungen Rekruten da!« Während Einer ging, die Monturstücke herbeizuschaffen, und der Andere, die Gäule aufzuzäumen, umarmte Müssinger kraftlos schwankend den Jüngling. »Nehmt die Hälfte meines Geldes!« sagte er, die Brieftasche hinreichend. James stieß sie mit glänzendem Auge von sich. »Ich will schon meinen Lohn fordern, wann es Zeit sein wird!« antwortete er, half dann dem willenlosen Senator seine Verwandlung vollenden, drückte ihm an Statt der Perücke den Helm auf den Kopf, und empfahl ihm, das bartlose Kinn tief in den Radmantel zu stecken. Indem er ihn unterstützte, um ihn zum Pferd zu geleiten, rief Müssinger, wie aus einem Traume auffahrend: »Justine! Meine Tochter! Sie bleibt zurück; und hat doch geschworen, sich nie von mir zu trennen! Edelmüthiger Mensch! wollt Ihr die Krone auf Eure That setzen, und die Angst meiner Tochter endigen? Mein Buchhalter soll sich ihrer annehmen,..... er soll sie mir nachführen..... nach Amsterdam, zu van den Höcken, wo ich ihrer sehnsuchtsvoll warte!« »Es soll geschehen, Ew. Edeln,« versicherte James: »ich werde sie aufsuchen; -- will's Gott! auch sie retten, Ihnen nachsenden. Gott geleite Sie....« »Armer Mensch!« klagte Müssinger: »wie lasse ich dich zurück? Du hast deine Freiheit, dein Leben um meinetwillen verkauft. Schreibe, melde mir, ob Geld dich wieder befreien kann, und ich....« »Possen!« rief der Wachtmeister ärgerlich dazwischen: »war er ein Paar Wochen zu Pferde, so begehrt er's nicht mehr anders. Aber zu Pferde, Herr, zu Pferde, müssen auch Sie, damit meine Bursche um Mittag zurück sein können. Der Trompeter bläst. Steigen Sie auf, und machen Sie meinem Gaul keine Schande. Er geht auf's Wort.« Indessen hatte James dem Senator zugeflüstert: »Ich brauche kein Geld, lieber Herr, und indem Sie mir das trauliche »Du« gaben, haben Sie die Hälfte Ihrer Schuld abgetragen. Leben Sie wohl! Gott mit Ihnen!« Der Senator wurde auf's Pferd gehoben, und trabte majestätisch zwischen den Reitern durch Stadt und Thor, welches die Stadtsoldaten gefällig und gehorsam vor dem gefürchteten Feldzeichen aufrissen. Justine wußte von all' diesen Begebenheiten nicht das Geringste. Einer schüchternen Unentschlossenheit hingegeben, hatte sie in ihrem Zimmer sich verborgen, um sich zu fassen. Der scandalöse Auftritt in der Kirche, die Verhaftung ihres Vaters, die Ungewißheit ihrer zukünftigen Lage, bestürmten zugleich ihre Sinne, daß sie auf einen Augenblick die Selbstständigkeit ihres Charakters vergaß. Die Stimme ihres Vetters, der endlich sich vernehmen ließ, -- der die Treppen heranstieg, um die Effekten seiner Schwägerin in Beschlag zu nehmen, der von Verschließung aller Gemächer redete, der rauh und ungeschliffen sich bei allen Domestiken nach seiner Verwandten Justine erkundigte, um sie in sein Haus, zu ihrer Mutter zu führen, -- diese Stimme raffte Justinens Muth zusammen. Dem eigenwilligen Mädchen erschien plötzlich nichts auf Erden schrecklicher, als unter die Vormundschaft dieses Menschen treten zu sollen, den es längst gehaßt hatte; unter die Leitung einer Mutter, die es von ganzem Herzen mißachten mußte. Justine zauderte nun nicht mehr; sie hoffte nicht ferner auf eine Eingebung von Oben: ihr Entschluß war plötzlich gefaßt. Ihr Vater im Kerker? Welcher andere Ort wäre wohl ihre Stelle gewesen? Ihr Vater verbannt? Welche Pflicht erschien ihr theurer, als die, den Urheber ihrer Tage zu begleiten? Sie ließ, in ihre Stube eingeriegelt, den im Hause herumstöbernden Schwager ihrer Mutter seinem überlästigen Geschäfte obliegen. Sie packte während dessen ihr erspartes Geld, ihre Kleinodien zusammen; sie erwartete mit Herzklopfen den Augenblick, in welchem die Wege zur Flucht rein sein würden; er kam. Sie entschlüpfte; sie eilte die Treppe hinunter. Nirgends mehr eine Wache; das Comptoir verschlossen, und den Vater auf dem Bürgergewahrsam aufzusuchen ihre Aufgabe. Das Gewitter des Morgens sendete noch immer fürchterliche Regengüsse, Ihrer nicht achtend, trat Justine aus dem Hause. Eine Frau stürzt ihr entgegen; die Lainez. »Wohl mir, daß ich Sie finde!« sagt diese athemlos: »Sie glauben mich im Unrecht. Aber Sie sollen sich vom Gegentheil überführen. Ich habe den Moment erspäht, Sie zu retten. Kommen Sie mit mir, wenn Sie nicht nach Ihrer Mutter verlangen!« »Ich verlange auch nicht nach Ihnen!« antwortet Justine, und will sich von der Französin losmachen: »lassen Sie mich! mein Vater ist im Gefängniß! ich will -- ich muß zu ihm!« »Zu ihm? Sie wissen aber nicht?...« »Was, Madame?« »Ihr Vater ist entwischt; Niemand weiß, wohin!« »Entflohen? Gott sei gelobt! Adieu, Madame, ich folge ihm!« »Wie? ohne Spur? ohne Nachricht?« »Der Herr wird mich erhören. Meine Angst wird ihn finden! Lassen Sie mich!« »Sie machen sich unglücklich! Der Senator hat ohne Zweifel die Stadt verlassen!« »Gleichviel! Ich suche ihn auch nicht in dieser Stadt!« »Sie sind aber hier eingesperrt. Alle Thore sind geschlossen; Niemand wird ohne die strengste Untersuchung hinaus gelassen. Man kennt Sie! man wacht sorgfältig über die Angehörigen des Senators. Man wird Sie zu Ihrer Mutter bringen!« Diese Nachricht lähmte Justinens Kräfte. Mit einem tiefen »Ach!« griff die Wankende nach der Hand der Französin, die mit ihr indessen an die Ecke der Straße gekommen war, und dringend weiter redete: »Aufschub ist's, den Sie gewinnen müssen! Lassen Sie die ersten Tage der Unruhe vorübergehen! Sie werden ohne Zweifel Nachricht von dem Vater erhalten! Rauben Sie sich jedoch nicht die nöthige Freiheit, ihm alsdann folgen zu können. Vertrauen Sie sich mir. Auch ich bin verfolgt, fürchte ich; auch _mich_ verdächtigt mein Aufenthalt im Johanniterhofe, obgleich meine Seele rein an jenen Umtrieben ist, rein wie ein Sonnenstrahl. Ich weiß einen Ort, der uns Beide verbirgt, der uns für's Erste den nöthigen Schutz verleiht. Folgen Sie mir. Sie werden daselbst sichrer sein, als unter den Augen Ihrer Mutter, die vielleicht Schuld an dem ganzen Unheile trägt, das Ihren Vater betroffen hat.« »Lieber in den Tod als zu dem despotischen Onkel, -- als zu der Mutter, deren Vorwürfe mich umbringen würden!« rief Justine; »ich will noch einmal an Ihre Aufrichtigkeit glauben. Bringen Sie mich von hier!« »So eilen Sie!« ermahnte die Lainez, und führte Justine schnell mit sich von dannen; weit vom Vaterhause, auf dem Paulsplatz, wo sie sehr durchnäßt ankamen, allein doch unbeachtet. Rasch schritten die Frauen auf die Kirche los; heftig zog die Lainez die Glocke an dem Pförtchen des Thurms. Die wenigen Minuten, deren der Thürmer bedurfte, um herabzukommen und aufzuthun, wurden den Harrenden zu Ewigkeiten. Endlich ... Schlüsselklang ... das Pförtchen geht auf. Pahlens empfängt verwundert, freudig erschreckt, die Einstürmenden. »Gott grüße Sie, Herr Pahlens!« ruft die Lainez in Eile; »oben ein Näheres!« und mit flüchtigem Fuße eilen die Frauen über die hölzernen Stiegen; an Glocken und Uhr vorüber, über die finstern Wendeltreppen, durch die finstern Gangschluchten, und an den hohen Luken vorbei, die eine schwindelerregende Gruft vor dem Aufsteigenden eröffnen; und nimmer ruhen und nimmer rasten sie, bis der letzte Treppenabsatz erklimmt, und die Plate-Forme des Thurms erreicht ist, wo der heftig ziehende Luftstrom sie zwingt, in des Thürmers Stübchen einzutreten, Platz zu nehmen, Odem zu schöpfen, und endlich dem nachgefolgten Pahlens die Absicht ihres Kommens zu erklären. Die Französin faßt sich hierin, so wie in Allem kurz. »Sie wissen, Monsieur, was in der Stadt vorging,« sagt sie mit vertraulichem Tone zu dem Thürmer; »wir sind ebenfalls das Opfer jener traurigen Ereignisse. Wir fordern von Ihnen Schutz und sichern Aufenthalt für wenige Tage, und erwarten von Ihrer Galanterie die Erfüllung unsers Begehrens!« Ein Strahl von Freude und Behagen fuhr über Pahlens Gesicht; vergnügt rieb er sich die Hände, und versetzte: »Sie kommen zur besten Stunde, meine Damen. Mein Gehülfe wurde gestern in das Landkrankenhaus gebracht, und ich bin allein. Mehrere Tage hindurch kann ich mich wohl allein behelfen, und der Magistrat wird mir die Schonung seiner Kassa danken. Ueber diesem Zimmer, in der Kuppel des Thurms, befindet sich das schönste Belvedere; ein Plätzchen, wie geeignet, die Göttin Venus mit ihren Grazien und Amoretten zu beherbergen. Sie werden daselbst wohnen, ungestört sein, und nur die Vorsicht beobachten müssen, sich nicht sehen zu lassen, wenn sich Neugierige oder Leute, die hier oben Geschäfte haben, auf dem Thurme einfinden.« Justine, von dem albern galanten Wesen des Thürmers unangenehm berührt, drang darauf, das gerühmte Kuppel-Zimmer auf der Stelle zu beziehen. Ihrem Wunsche wurde also willfahrt, das Frauenpaar in sein Asyl eingeführt, das in der That eine gewisse Eleganz darbot, und eine vielversprechende Fernsicht; heute freilich von Regenschleiern verhüllt. Pahlens, nachdem er sich in seinen besten Putz geworfen, trug seinen Schutzbefohlenen Alles auf, was die beschränkte Speisekammer des Junggesellen vermochte, und lud seine Gäste ein, seine Gaben nicht zu verschmähen. Die Lainez ließ sich nicht nöthigen. Justine versagte, setzte sich an's Fenster, sah hinaus in die grauen Wolkenmassen, und weinte und seufzte, und machte Pläne. Pahlens, nachdem er vergeblich versucht, der Jungfer, die sein Herz erobert, ein Wörtchen abzugewinnen, ging verdrüßlich davon, die Stunde zu schlagen; ließ die Frauen allein. »Wohin sind wir gerathen?« fragte Justine heftig: »wie sind Sie _hier_ bekannt geworden, Madame? Von der Discretion eines geckenhaften Menschen abzuhängen, der mich durch seine Zudringlichkeiten ärgern könnte, machte ihn nicht seine Albernheit lächerlich! Warum habe ich mich von Ihnen beschwatzen lassen?« »Wissen Sie einen Ort, an dem man uns weniger vermuthet? an dem wir unbemerkter sind?« fragte die Lainez einsilbig dagegen, und setzte bei: »ich kenne den Herrn dieses lustigen Hauses zwar nur oberflächlich, aber getraue mir, für die redliche Reinheit seiner Gesinnung zu bürgen. Fürchten Sie keine Beleidigung Ihrer Würde, keine Verletzung des Anstands. Was Sie auch von mir halten mögen ... ich bin eine Freundin und Bewahrerin strenger Sitte, und Niemand wird mehr als ich von einer Unbescheidenheit verletzt. Schlafen Sie deshalb ruhig. Morgen leuchtet uns vielleicht ein günstigerer Himmel. Vielleicht sind wir so glücklich, etwas Näheres von Ihrem Vater zu erfahren, und Ihr Zweck ist dann erreicht.« Dieser Zuversicht sich überlassend, fügte sich Justine in die seltsame ungewohnte Lage. Der Abend kam, und verging bei einsamer Kerze, und bei'm Lautenspiel des Thürmers, der sich's nicht nehmen ließ, die Frauenzimmer zu unterhalten, bis die Zehner-Glocke geläutet werden mußte. Pahlens Fürsorge hatte den Damen auf den Ruhebettchen des Belvedere ein erträgliches Lager bereitet. Er wünschte ihnen gute Nacht, und empfahl ihnen das Licht zu löschen, damit der Wächter, der nach zehn Uhr auf dem Thurme einzutreffen habe, nicht Unrath merke. Justine verriegelte die Thüre. Die Lainez löschte die Kerze. Die beiden schönen Flüchtlinge versuchten, ohne ein Wort ferner zu wechseln, zu entschlummern. Justinens Augen floh jedoch der Schlaf; ihrer Begleiterin ging's nicht besser, denn Justine, ganz stille ruhend, hörte plötzlich, wie sich die Lainez leise aufrichtete, und in französischer Sprache, -- in der Meinung, ihre Gefährtin schlafe, -- zu beten anfing. Das Gebet war an die Himmelskönigin, an die heilige Jungfrau gerichtet, und die Flehende forderte die göttliche Mutter auf, durch ihre Gnade den traurigen Zustand zu endigen, in dem sich gegenwärtig die Bittende befinde; ihr es möglich zu machen, den lauernden Feinden zu entgehen, und unter den Schutz der Gläubigen zurückzukehren. Sie fügte hinzu, die Jungfrau möchte diese Gnade auch auf ihre Gefährtin ausdehnen, die um ihrer Eigenschaften willen, zu dem besten Glücke würdig und berufen sei. Sie möchte ein Wunder ihrer Huld thun, um das Seelenheil der Protestantin zu retten, sie auf die Bahn, die ihr Vater betreten, zu führen, ihr alle Sünden zu erlassen, sie frei und glücklich zu machen! Wenn die göttliche Fürsprecherin alles dieses Verlangte thue, so verspreche ihr die Beterin eine neuntägige Bußübung, ein vierzehntägiges Fasten und eine Votivtafel dem wunderthätigen Bilde zu Montserrat. Hierauf begab sich die Lainez wieder zur Ruhe, und entschlief bald in vollkommener Friedseligkeit. Justine, welche aufmerksam gelauscht hatte, machte ihre besondern Betrachtungen. In dem Grade, als ihr Mißtrauen gegen die Französin zunehmen mußte, in der sie nun eine eifrige Katholikin, und -- wie sie im Verlauf des letzten Tages geahnt hatte -- ein Werkzeug ihrer beabsichtigten Bekehrung empfand, nahm auf der andern Seite wieder ihr Vertrauen zu der Person zu. Die Lainez hatte ja in ihrem Gebet die Protestantin mehr noch den himmlischen Mächten empfohlen, als sich selbst; sie hatte für Justinens Erleuchtung und Rettung gebetet, sie hatte dafür ein Gelübde geleistet! Justine dankte ihr im innersten Herzen für die Beweise einer liebevollen Theilnahme, und vergab ihr allen Unglimpf. Justine beneidete sogar die Französin um ihr Vertrauen, um ihr gläubiges Gebet, das den ruhigen Schlaf auf die Augen der Beterin goß, erzeugt von der Zuversicht, daß das Gebet erhört, das Gelübde vergolten werden müsse. Justinens Auge blieb wach und munter ihr Ohr. Sie sah die Streiflichter der Wächterlaterne, die um das Thurmzimmergebäude die Runde machte; sie hörte Pahlens und des ablösenden Wächters Stimme, das heisere Gebelle des Wachthundes, die von Stunde zu Stunde gegebenen Posaunenstöße in die weithallende Luft, das erschütternde Ausheben der großen Uhr, die Donnerschläge der allzunahen Stundenglocken. Unwillkürlich dachte sie an die Mährchen ihrer Amme, an das Traumgesicht, das Georg Birsher erzählt hatte. Sie blickte sorglich nach der Gegend der Thüre, ob nicht etwa des alten Amerikaners wahrhaftiger Geist hereinschreiten werde. Aber quälender wurde ihre Angst, marternder ihre Schlaflosigkeit erinnerte sie sich der verflossenen Tage, des Glücksruins ihres Vaters, seiner Verblendung, seiner Flucht, des Verschwindens ihres Verlobten. Eine traurige Zukunft rollte sich vor ihrer Einbildungskraft auf, und sie hätte sich aus den Fenstern des Thurms in das Wolkenmeer geworfen, wenn es möglich gewesen wäre, auf demselben überzuschiffen nach der Weltgegend, in welcher sich ihr Vater befand. Dem Andenken des, gewiß auf immer von ihr getrennten Verlobten weihte ihr Herz nur eine vorübergehende Klage: des Vaters Bild erfüllte es ganz. Seine Führerin, seine Begleiterin in dem Labyrinthe seines Unglücks zu werden, schien ihr Beruf zu sein, und sie sehnte den Tag herbei, der ihr vielleicht Kunde zu geben bestimmt war. Der Tag kam herauf, herrlich und prächtig, wie sein Vorgänger häßlich und stürmisch gewesen war. Justine badete ihre glühende Wange in dem kühl strömenden Glanzmeere, das um des Thurmes Spitzen lag. Die Nebel des Himmels hatten sich zerstreut, waren am Horizonte niedergesunken. Durch die durchbrochenen gothischen Geländer der Plate-Forme schimmerte das tiefe Blau des Himmels, und über dem frei ragenden Gipfel strahlte ein feines durchsichtiges Dach von Azur. Schaaren von munterem Gefieder strichen neckend oder majestätisch vorüber. Der Storch klapperte fröhlich in seinem Neste; mit ihm um die Wette gurrten die Ringeltauben des Thürmers. Eine köstliche Aussicht hatte sich durch die Nacht zum Licht emporgearbeitet. Die weite Fläche um die Stadt, nur in der weitesten Ferne von Gebirgsumrissen begränzt, prangte in der vielfarbigen Fülle des nahenden Herbstes. Städtchen mit glänzenden Thurmknöpfen, Kirchdörfer mit luftigen Ziegeldächern, zwischendurch belebte Landstraßen, oder weite Baumgelände, oder grüne Fluren, oder silberne Ströme, oder abgelesene Felder und frisch umgewühlte Aecker, über deren Furchen wunderliche Herbstseidenfäden ihren weichen, eisgleichen Spiegel gezogen hatten -- entzückten das Auge. Die ansehnliche Stadt, von grünen Bastionen, alterthümlichen Warten und dem Strome umzogen, bildete gleichsam den Korb, aus welchem man in's Weite sah. Justine hatte diesen Anblick noch nie gehabt. Sie hatte noch nie hernieder gesehen in die dunkeln Straßen, auf die volkreichen Märkte, auf die Giebel der Häuser, auf die niederer liegenden Kirchen. Sie suchte, sie fand ihr Vaterhaus, die Wiege ihrer Freuden; sie suchte und fand den altergrauen Johanniterhof, die Wiege ihres Leidens und des Unglücks ihres Vaters; sie suchte nicht das Gasthaus, das ihren Bräutigam beherbergt hatte, damit ihr Schmerz nicht erwache; sie suchte aber die Straßen, die von den Thoren in alle Weltgegenden ausgingen; sie versuchte zu errathen, welche ihr Vater wohl eingeschlagen haben mochte, oder ob er vielleicht noch in der dumpfigen Häusermasse athme, deren Bewohner sich gegen ihn und seine Schwachheit verschworen hatten. Sie lief, ohne sich des »Warum?« bewußt zu sein, nach der Thüre, sie öffnete dieselbe unschlüssig, und hörte plötzlich vom Fuße der schmalen Treppe, die in's untere Gemach führte, leise Flüsterworte, eine Unterredung, die sie nahe mit anging. Pahlens und die Lainez, die schon seit einiger Zeit das Gemach verlassen hatte, sprachen zusammen, heimlich und vertraulich -- von Justinen. »Sie können sich leicht denken,« sagte der Thürmer: »wie mich's allarmirt hat, als ich's vernahm. Es ist doch Schade um die magnifique Jungfer. =Parole d'honneur!= die Mama und der Vormund wollen sie, sobald sie ausfindig gemacht worden, in die Kostschule sperren lassen, weil sie dergestalt an ihrem Vater hängt. Es wird behauptet, sie sei, wie _er_ katholisch geworden, und dieser Schmutz müsse abgekratzt werden.« »Nichts weniger als das,« versetzte die Lainez: »indessen müssen Sie, Monsieur, uns weiter helfen. Der Superior hat mir das Mädchen auf die Seele gebunden. Ich muß Wort halten, damit auch mir einst Wort gehalten werde.« »Ich will wohl behülflich sein,« sprach Pahlens wichtig: »aber um den Lohn begehre ich auch nicht zu kommen. Sie wissen, meine Beste, wie mich der blinde Cupido selbst =aveugle= gemacht hat. Ich bin =amoroso= dergestalt, daß ich mit Thränen meine Speisen salze, und täglich und nächtlicherweise von =Morpheo= verlassen werde. Wenn mir die ehrwürdigen =Patres= die Holdselige zur ehelichen Hausfrau geloben wollten, ... auf das Vermögen thäte ich Verzicht, und baute irgendwo mein stilles =Arcadia= an. Könnte ich alsdann in irgend einem Dome Organist werden, so sollten die dankbarsten Liebesgötter meine Register handhaben.« »Sie sind eigennützig, Monsieur Pahlens,« entgegnete die Lainez empfindlich. »Ich opfere auch Alles auf, bis auf die Braut, die ich =adorire=,« sagte der Geck: »wenn es herauskömmt, daß auch ich den Staub des Lutherwesens abgeschüttelt, so würde ich's nicht läugnen, und folglich meinen Bündel schnüren müssen, und von denen =Musis= erwarten, wo ich wieder meinen Unterhalt fände. Nicht wahr? Wäre hingegen Jungfer Justine meine Verlobte.... =vraiment!= noch heute sagte ich auf, zöge morgen ab, und erhielte alsbald meinen Abschied, weil sich Zehne für Einen um meinen Dienst bewerben.« »Das Mädchen will seinen freien Willen haben, Monsieur Pahlens.« »Recht, beste Madame. Sie soll meine Devotion erkennen lernen, und wenn sie meine liebeslustigen Sentiments erfährt, wird sie nicht unempfindlich bleiben. Die Zeiten sind anders. Der Papa davon gelaufen ... die Mama, die sie einsperren will; auf der andern Seite dagegen der niedliche Pahlens, ein Virtuose auf vielen musikalischen Instrumenten und heftig verliebt;.... ich bin gar nicht bange zu reussiren, wenn Sie mir Ihren Beistand nicht versagen, und ein acht Tage hier oben verweilen.« »Warum nicht gar? Sie müssen uns so schnell als möglich wegbringen. Man gibt vor, ihr Vater habe sie beschieden ... wohin? das ist gleichviel. Sie geht in die Falle. Wir bringen sie in den Bereich des Superiors, und das Zureden desselben, wie Ihre galante Bewerbungen werden das Uebrige thun. Wir Weiber sind schwach, Monsieur, und weichen gerne der Schmeichelei, wenn uns die Stütze eines Vaters fehlt.« »Wenn Sie meinen.....« fügte Pahlens hinzu, und das Gespräch verstummte. Justine zog sich, empört und erschreckt von dem, was sie vernommen, zurück. Sie mochte überlegen, wie sie wollte, sie war gefangen und gebunden. Dort, wenn ihre Hartnäckigkeit einen freien Abzug von dem Thurme erzwang, die schimpfliche Einsperrung in die Kostschule, worinnen ungehorsame Töchter oder leichtsinnige Weiber oft Jahrelang ihrer Lossprechung entgegenharrten; und dann die Autorität eines steifen unfreundlichen Familienraths, endlich der Spott, die ehrenrührigen Gerüchte der müßigen Stadtschwätzer. -- Hier eine begünstigte Flucht, die Hoffnung, den Ketten zu entrinnen, aber der Zwang einer lügenhaften Verstellung, die Gewalt eines intriganten Weibes, eines affenhaften Liebhabers, und irgend eines Superiors, den sie nicht kannte, nicht begriff, und der entscheiden sollte, ob sie den Thürmer zu heirathen hätte, oder nicht! sie sah sich schon im Netz heimtückischer Katholiken, und wenn hin und wieder ihr die Vernunft schmeichelnd zuflüsterte: sie möchte sich der Verstellung unterziehen, zu glauben vorgeben, was man ihr von Vaters Befehl vorspiegeln werde, und auf der Reise eine Gelegenheit suchen, von ihren falschen Freunden loszukommen, -- so sträubte sich doch dagegen sowohl ihr gerader Charakter, als auch die so natürliche mädchenhafte Schüchternheit. Wer wußte, ob sich jene Gelegenheit fände? ob man sie nicht bereits in einen katholischen Zwinger gebracht, ehe sie an ein Entrinnen denken konnte? wer gab ihr auch zunächst die Versicherung, daß sie den Vater finden würde, sie, ein hülfloses unerfahrenes Mädchen ohne Schutz? ja, wenn Georg an ihrer Seite gewesen wäre! auf ihn, den besonnenen und entschlossenen Mann hätte sie jede Hoffnung gesetzt! aber ... allein? Sie verlor sich in trostlosen Betrachtungen. Die Lainez verließ sie darinnen, um, wie sie vorgab, einen schnellen Gang durch die Stadt zu machen, um zu erfahren, was sich Neues zugetragen. Justine würdigte sie kaum eines Abschiedgrußes, und verschloß vor dem Thürmer, der gern den Anfang seiner Bewerbungen gemacht hätte, die Thüre. Wie sie nun da saß, und überlegte, und zu keinem klaren Willen gelangen konnte, hörte sie auf der Gallerie schwere klingende Tritte nahen. Ein Blick der Neugierde flog durch die ringsum freien Fenster des Belvedere. Zwei Männer in Uniform erstiegen die Plate-Forme, und der Voranschreitende, mit leuchtenden Achselbändern und einer vielfarbigen Schärpe geziert, von dessen Kasket eine breite Feder wehte, belobte alsobald die wunderschöne Rundsicht, deren man von dem hohen Standpunkte genoß. Pahlens, die Mütze in der Hand, trat zu ihm, und beeilte sich, dem Besuchenden dienstfertig die verschiedenen Theile des großen Rundbildes zu erklären, nannte ihm die Hauptgebäude der Stadt, die umliegenden Dörfer, und ließ sich eines Breitern in die Erläuterung der bestehenden Wächter- und Feuerordnung ein. Der Offizier hörte freundlich zu, sendete Fragen auf Fragen, und schien mit seiner Expedition auf den Paulsthurm sehr zufrieden. Sein Begleiter indessen, in derselben Uniform, doch ohne Silber und Schärpe und Feder und Achselquaste, ein gemeiner Reiter und dienender Gefährte des Offiziers, nahm keinen Antheil an dem Gespräche, und wanderte einsam um die Gallerie, bis er auf die, dem Offizier entgegengesetzte Seite zu stehen kam. Da legte er beide Ellenbogen auf das Geländer, stützte sich auf diese, und bückte sich nachdenkend hinunter. Justine war dem Menschen gefolgt. Er hatte -- so fremd seine Kleidung war, -- so viel Bekanntes in seiner Haltung; ... neugierig lauschte sie, verwendete kein Auge von ihm, und ... als er einmal das Kasket abnahm, um sich den Schweiß abzutrocknen, als ein jugendlich melancholisches Gesicht darunter zum Vorschein kam -- da bewegte sich Justinens Herz in unentschlossener Freude. Der Soldat war James, seine absichtslose Unbefangenheit ein Bürge, daß er hier nicht auf hinterlistigen Wegen wandle; daß er nicht, mit der Lainez einverstanden, gekommen war, um Justine mit eigner Hand noch tiefer in das Netz zu verwickeln, das sie bereits umgab. Vergessen waren alle Beweggründe, die einst Justinens Unmuth gegen ihn gereizt hatten; sein soldatisches Kleid, für Weiberherzen stets ein Vertrauen erregendes, zeugte von einer gänzlichen Veränderung seiner Lage, sein Gesicht von bekümmertem Ernste. Justine fühlte sich hingezogen zu dem Jüngling, der ihr ein Bekannter, ein ehemals geschätzter Freund gewesen. Da der Vater geflohen, da Georg verschwunden -- wo hätte sie eine Seele finden können, ihr verwandter, angehörender als dieser junge Mann? er oder Keiner war dazu gemacht, sie den treulosen Händen, worin sie sich befand, zu entreißen, und ein innerer Zug bestimmte sie zur Zuversicht auf ihn. Ohne sich ihrer klar bewußt zu sein, hatten diese Gedanken den Sieg in ihrem Verstande, in ihrem Herzen errungen. Leise, aber dennoch nicht ohne Geräusch, hatte sie das Fenster aufgezogen. James sah sich um: Ueberraschung, Freude, Entzücken zogen auf seinem Gesichte die fröhlichen Wimpel auf. Justine, ihm verbindlich zunickend, winkte ihm, behutsam zu sein. Er legte beide Hände auf die Brust, sah sie voll Liebe an, und erwartete ihr Begehren. »Ich bin gefangen,« lispelte Justine englisch, »wenn Ihr, Herr, kein Verschworner der Lainez seid, befreit mich; doch behutsam.« James, der bei dem Namen der Französin eine Bewegung des Abscheus nicht hatte unterdrücken können, antwortete rasch und ohne zu überlegen: »Mit Gottes Hülfe, Miß.« »Mein Vater?« fuhr zaudernd und ahnend Justine fort, »meine Zukunft? erfuhrt Ihr Nichts? darf ich Euch vollends vertrauen?« Die Sporen des Offiziers erklangen, des Thürmers gellende Stimme erscholl; James winkte der holden Bittenden, sich zurückzuziehen. Sie stellte sich hinter den offenen Fensterflügel, den Engländer im Auge behaltend, der sich wieder an das Geländer lehnte, den Blick gleichgültig gegen Pahlens Taubenschlag kehrte, und nach selbsterfundener Melodie ein Liedchen sang, das -- nicht künstlich in Strophen und Reim geschnitten -- in seiner Nationalsprache dem Mädchen zu wissen that, was ihm noth war: daß der Senator gerettet, daß er sie nach Amsterdam beschieden, daß James, ihre Spur verlierend, beinahe in Verzweiflung gerathen; daß er die Lainez hasse, Justinens Schicksal bedaure, und Alles zu ihrer Befreiung und zu ihrer Rückkehr zum Vater aufbieten werde. Die Thore der Stadt seien wieder offen, und Justine würde noch am Nachmittage Nachricht erhalten. Justinens Busen erzitterte von Wonne. Der Offizier machte jedoch dem improvisirten Liede ein Ende. »Brav,« sagte er in ziemlich schlechtem Deutsch; »ich sehe doch, daß Seine Melancholie ein Ziel hat. Wenn der Gesang auf die Zunge hüpft, wird auch das Herz ruhig. Er wird mich vollends zu Seinem Freunde machen, wenn Er aufgeweckt und munter ist.« James bückte sich, und wußte, auf geschickte Weise das Kasket in Stirn und Auge drückend, dem umherfaselnden Pahlens sein Gesicht auf's Beste zu verbergen. Nach einigen Worten empfahl sich der Offizier, und James folgte ihm dienstpflichtig. Der Schlüssel tragende Thürmer geleitete sie hinab. Wie schnell hüpfte nun Justine aus ihrem engen Zimmer! wie freudig tanzte sie auf der Gallerie umher! wie verächtlich sah sie auf die düstere Stadt, wie wonnetrunken auf die fern hinziehenden Heerwege nach Westen, wohin der väterliche Ruf sie beschied. Sie fürchtete keine Tücke von James! sie rechnete auf das Uebergewicht, das sie über die Handlungen des Jünglings stets behauptet ... und nur nach Freiheit, nach Vereinigung mit dem geliebten -- unglücklichen Vater, lechzte, alle Bedenklichkeit vergessend, ihre Brust. Und als Pahlens zurückkam, mit abgeschmackter Schmeichelei ihr näher trat, und den erbärmlichsten Witz, die traurigste Galanterie an sie verschwendete, -- als später auch die Lainez erschien, und ihr in einer wohl gesetzten Lüge erzählte: ihr Vater warte ihrer zu Steinstadt mit dem größten Verlangen, und Pahlens werde sich ein Vergnügen daraus machen, sie hinzubringen, -- da lächelte sie kindlich unbefangen; die List sprach nicht aus ihren Augen, die krause Stirn verrieth keinen Ernst, keine prüfende Ueberlegung. Sie schien die Vertrauende zu sein, die Einwilligende, die Zufriedene. Die Verbündeten glaubten ihr Spiel gewonnen, und nie war es so trostlos verloren. Am Nachmittage führte der von Justinens Nachgiebigkeit bezauberte Pahlens selbst einen Balsamhändler auf den Thurm, dessen verschmitzte Augen wie Blitze aus dem bleichen Gesichte strahlten. »Der Kerl ist ein Fremder; es hat keine Gefahr!« sagte Pahlens zu den Frauen, die sich sträubten, auf der Gallerie zu erscheinen, um die Galanterien auszuwählen, die ihnen der verliebte Thürmer zu kaufen willens war. -- »Mein Gott! ist das nicht Monsieur Litzach?« fragte die Lainez nach einem Blicke auf den Händler. Dieser bejahte achselzuckend, und freute sich, die Madame hier zu finden. »Einer der Unsrigen!« flüsterte die Französin dem erstaunten Pahlens zu; »was macht Ihr aber mit diesem Kram?« fragte sie weiter. »Ei nun, Madame,« antwortete der Schauspieler lächelnd; »da es mit der Komödie nicht fort wollte, und meiner Wohlthäter Waizen auch nicht ferner blühte, gab ich mich einem Parfümeur als Hausirer hin; will sehen, ob das Geschäft Weib und Kind ernährt! -- Die _Herren_ werden mich ja für die Zukunft nicht im Stiche lassen,« setzte er bedeutend hinzu. »Seid meiner Fürsorge gewiß, wenn Ihr diskret seid!« sagte die Lainez mit Beziehung und warnend. »Ich weiß, was ich meinen Glaubensfreunden schuldig bin,« entgegnete der Hausirer, der die Lainez verstand; und in dem Augenblicke, als die Letztere sich zu Pahlens wendete, um ihm zu betheuern, er könne diesem Menschen vertrauen, hatte auch schon Justine ein Blättchen Papier in der zitternden Hand. Sie dankte dem listigen Ueberbringer mit einem Blicke, und trat bald hinter einen Vorsprung des Thurms, um die Post zu lesen. James schrieb: »Sein Sie um 10 Uhr Abends an der Pforte des Thurms. Ich mußte meinen Capitän in's Geheimniß ziehen. Er läßt Sie in seinem Wagen fortbringen, weil er ein braver, ritterlicher Mann ist. Es quält mich, daß meine Pflicht mich hier zurückhält. Sie sollen indessen -- so Gott will -- ein Mehreres von mir erfahren.« Das Billet flog zerrissen über das Geländer. Nachdem Pahlens seine Geschenke gemacht, -- nachdem Litzach hinweggegangen, setzte sich Justine in ein Winkelchen, ging mit sich zu Rathe. »Was in aller Welt hat Herrn White zum Soldaten gemacht?« fragte sie sich; »und darf ich mich wohl der Diskretion des Capitäns anvertrauen?« -- Ihre Herzhaftigkeit überwand den Zweifel; sie fühlte sich über Furcht erhaben, und suchte nur nach Mitteln, dem verschlossenen Thurme, den Pahlens stets selber öffnete, um die bestimmte Zeit zu entkommen. Endlich gelangte sie mit dem Plane auf's Reine. Sie wollte gegen die zehnte Stunde, mit welcher der ablösende Wächter im Thurme einzutreffen pflegte, ihr Lager verlassen, die Treppen hinabschlüpfen, und hinter einer Säule am Eingange den Thürmer erwarten, wenn er kommen werde, dem Wächter zu öffnen. Sie wollte alsdann herzhaft den schmächtigen Pahlens zurückstoßen, und an dem Wächter vorbei durch die offene Thüre entspringen. Pahlens Vortheil, dachte sie, würde ihn bewegen, keinen Lärm zu machen, und der Retter nicht weit vom Thurme ihrer warten. -- Von ihren Hoffnungen ermuthigt, hörte sie mit vieler Geduld die Schmeicheleien der Lainez, die Albernheiten des Thürmers an, womit diese, ihr zu gefallen, den Abend tödteten, und suchte frühzeitig das Lager auf. Die Lainez löschte die Lampe aus, und entschlief bald an Justinens Seite. Diese Letztere versäumte keinen Augenblick. Sie war angekleidet geblieben; sie hatte das Päckchen, das ihren Schmuck und ihre Sparpfennige enthielt, unter ihr Kissen verborgen; dieses und die Schuhe in der Hand, entriegelte sie so leise als möglich die Thüre, fühlte sich das steile Treppchen hinab. -- Die Stiege knarrte; Justine erschrak: zum Glücke jedoch klimperte Pahlens, in dem Lehnstuhl seines Zimmerchens hingestreckt, auf der Laute, und kämpfte mit dem Schlafe. Justine bemerkte dies, durch das Thürfensterchen schauend, und dankte dem Strahle des durchschimmernden Lichts, der ihr die ersten Stufen der Wendeltreppe zeigte. Muthig betrat sie den dunkeln Weg, vorsichtig den Strick anfassend, der als Geländer diente. Endlich kam sie in den Bereich der Glockenstube, wo die Wendelsteige aufhörte, und die breiten hölzernen Treppen begannen. Eine falbe Sternenhelle schlug durch die riesengroßen Fenster. Das Uhrwerk webte und regte sich mit wunderlichem Geräusch neben der Fliehenden. Sie enteilte der schauerlichen, in abgemessenem Takte pickenden und schnarrenden Nachbarschaft. Ein schützender Geist führte sie die geländerlosen Stiegen, dicht am Rande einer rabendunkeln Tiefe hinab. Ungeziefer raschelte über ihren Pfad, hüpfte und kletterte auf und ab neben ihr; begleitete sie bis in die unterste Halle, wo sie hochathmend stille stand, hinter die Säule, die sie erfaßte, schlüpfte, und mit hoffender Seele wartete; -- denn schon glaubte sie, den herannahenden Wächter zu hören, -- doch -- das war nicht der Schritt eines Einzelnen; mehrere -- immer näher kommend....; »sind's die Retter?« fragte sie sich mit gespannter Aufmerksamkeit.... Und plötzlich wurde es sehr laut vor der Thüre: viele Stimmen; Flinten-Gerassel; rohe Reden; Spott, Gelächter, starker Schellenlärm; der vielstimmige Ruf nach der Höhe endlich: »im Namen des Magistrats!« Laternenglanz fiel durch das Schlüsselloch. Justine schreckte auf. »Das sind Verfolger!« klagte ihre ahnende Seele: ... »sie kommen, dich zu fangen! deine Freiheit soll verloren gehen! Oeffnet die Thüre, so geräthst du mitten in die Feinde!« Sie wendet sich entsetzt zum Rückwege. Sie eilt die Treppe hinan. -- Neue auflodernde Angst. Von oben naht sich Schlüsselgerassel, Lampenschein ... Pahlens unzufriedenes Schelten! -- Dem verhaßten Menschen, den Verfolgern zu entgehen ... Wo das Mittel? Ihre Hand tappt nach der Seite der Uhrstube, neben welcher sie wieder ist. Sie findet eine angelehnte Thüre; drückt sie auf; stürzt hinein ... klammert sich bebend an zwei dicke Pfosten fest, neben welchen durch man zum Uhrwerk geht. -- Sie läßt Pahlens vorüber gehen, hört ihn die Thüre öffnen, hört, wie man ihn gewaltsam ergreift, festnimmt, zwingt, den bewaffneten Troß hinauf zu führen, während unten sorgfältig die Thüre wieder verschlossen wird. Wenige Minuten, und der Schwarm kömmt zurück. In seiner Mitte jammert der arretirte Pahlens. -- »Verdammter heimlicher Katholik!« ruft eine Stimme: »du sollst schon reden lernen!« und fort tobt die Schaar, und verläßt den Thurm. Die Pforte fällt zu; Schlüssel drehen sich im Schloß; schwere Tritte kommen die Treppen herauf. Der neue Wächter gewinnt die Höhe. Seine Tritte verhallen, seiner Lampe Schimmer vergeht; Alles wird still -- todtenstill, und trostlos erräth Justine, daß sie ganz verlassen geblieben. Keine Hoffnung zu entkommen...; kein rettender Zuruf von Außen. Unter der Last ihrer Angst wanken ihre Kniee, schwindelt ihr das Haupt. Da fängt das Uhrwerk an zu rasseln wie Gewitterlärm, Walzen und Räder knarren, pfeifen und rauschen, und die furchtbar große Glocke schlägt an, als ob jeder Streich Justinens Leben zu vernichten hätte. Die Erschütterte sinkt unter den donnernden Schlägen, die nicht endigen wollen, zusammen. Ihr Bewußtsein schwindet. -- Dritter Theil. Erster Abschnitt. 1721. Der Abend in Santa Dominica. -- Luis und Ines. -- Der Fremde. -- Seine Erzählung. -- Seine Erinnerungen. -- Des indianischen Kindes erstes Abenteuer. -- Der Morgen in der Colonie. -- Die fremden Schiffe. -- Wiedersehen. -- Die Jäger aus den Savannen. -- Consultador und Rector. -- Justinens Loos. -- Der Vorschlag des Pfarrers. -- Die Nacht. -- Der Ueberfall. -- Die Savannen. -- Das Lager der Abiponer. -- Capitän und Capitana. -- Das Opfer. -- Fest des Siebengestirns. -- Hülfe aus der Ferne. -- Der Abend flammte purpurroth am Horizonte, den ein Kranz von schwarz aufsteigenden Wetterwolken einfaßte. Die Ebene lag von schwüler Hitze überbrütet. In dem Missionsorte Santa Dominica läutete die Glocke, und auf dem Platze vor der Kirche versammelten sich, von der Arbeit im Feld und Haus gehend, die Bewohner der Mission; Männer, Weiber und Kinder in buntem Gedränge, aber mit anständigem Schweigen. Ein großer Kreis wurde geschlossen, und andächtig falteten sich alle Hände, als das Thor des Missionshofes aufging, und der Pfarrer hervortrat, begleitet von einigen Negern, die schwere Karren, mit zerlegtem Fleische gefüllt, heranzogen, und von stämmigen indianischen Mägden, die in langen schwankenden Körben an Lianenstauden große Vorräthe von Mais und Thee herbeitrugen. Der Pfarrer, eine gesunde, obgleich siebzigjährige Gestalt, begab sich würdevoll in die Mitte seiner Pfarrkinder und sagte: »So ist denn wieder mit Gottes, des Ewigen, Hülfe ein mühevoller Tag der Arbeit und des Fleißes zurückgelegt. Der wackere Mann, Euer Corregidor, meine Kinder, hat mir den erfreulichsten Bericht über Euer Streben abgestattet; und neben dir, du guter Juan Bosco,« -- der genannte Indianer bückte sich geschmeichelt und demüthig -- »der unsere große Caamiripflanzung so vortrefflich zu bewässern unternommen hat, habe ich alle Uebrigen zu loben, mit Ausnahme eines Einzigen, dessen ich leider mit verdientem Tadel gedenken muß.« Die Leute sahen sich ernsthaft und verwundert an; aber ohne den Aufruf abzuwarten, trat Einer aus dem Volke, ein rüstiger junger Mann hervor, und kniete mit betrübter Miene nieder, indem er ausrief: »Ach, Vater Luis! vergebt doch ja, und auch der gute Vater über dem Himmel vergebe mir! Ich habe gesündigt; ich habe im Zorne meine Nachbarin, die gute Cordula, verwünscht, und Unkraut in ihren Acker geflucht. Ich bekenne meinen Fehltritt und will ihn nie wieder thun!« »Recht, Francisco,« versetzte der Pfarrer; »du hast die Liebe des Nächsten und Gottes Langmuth und Fürsicht beleidigt, ein schweres Vergehen. Laß sehen, ob Cordula die Pflichten einer wahren Christin besser versteht. Tritt hervor, du beleidigte Nachbarin des reuigen Francisco, und sage, was, nach deinem Wunsche, dem Beleidiger geschehen soll?« Cordula hatte Thränen im Auge und antwortete, ohne sich zu besinnen: »Thut ihm nichts zu Leide, lieber Vater. Ich vergebe ihm von Herzen!« Der Pfarrer sah sich vergnügt im Kreise um, nickte der Rednerin Beifall, berührte dann das Haupt des Reuigen und sagte sehr sanft: »Hast du's gehört, Francisco? So geh denn um Ihretwillen straflos hin in deine Hütte, faste heute, und schäme dich, damit du morgen ein anderer Mensch seist!« Der Getadelte küßte inbrünstig des Pfarrers Hand, und entfernte sich mit gebeugtem Haupte und zufriedenem Herzen. »Seht Ihr?« fuhr der Geistliche freudig zu dem lauschenden Volke fort: »seht Ihr, wie viel es werth ist, daß Ihr den wahren Gott und Heiland erkennen lerntet? Was ehedem unter Euch nur die Schleuder oder der rachsüchtige Pfeil entschied, schlichtet nun ein Wort des Friedens. So kommt denn heran, Ihr Fleißigen, Ihr Milden, Ihr Müden! Esset von dem Brode, das der Herr unter Euern Händen wachsen läßt; von dem nährenden Fleische, und trinket den Trank der Gesundheit, damit Ihr den Herrn noch lange preiset und lobet!« Nun setzte sich die Menge in Bewegung, schritt in Doppelpaaren an dem Pfarrer vorüber, empfing aus der Wage seiner Begleiter, Familie für Familie, Fleisch, Mais und die ersehnte Unze Thee; dann sprach der Geistliche den Segen; das Volk antwortete mit einem melodischen Kirchenliede, und zerstreute sich in seine stillen Hütten, um das Mahl zu bereiten, und auf der bequemen Ochsenhaut die Mühen des Tages und das herannahende Gewitter zu vergessen. Der Pfarrer beschäftigte sich noch eine Weile damit, dem Regidor und dem Alkalden der Mission die Arbeiten und Verhaltungsregeln für den nächsten Tag aufzugeben, und zog sich sodann in den Hof seines Hauses zurück. Das mannigfaltige Federvieh, das diesen Hof belebte, hatte sich vor dem in der Ferne brausenden Gewitter in die Ställe geflüchtet. Der zahme Straußvogel des Pfarrhauses allein ging stolz und aufgerichteten Hauptes mit gewöhnlicher Gravität auf dem zierlich gestampften Platze umher, und lüftete die Flügel dem streichenden Luftzuge entgegen. Der Pater streichelte seine wehenden Federn, und sagte lachend zu ihm: »Du mein guter Freund und Haustrabant! kannst du mir nicht verrathen, wo dein Spielgefährte ist, der heute so undankbar mein Haus verließ?« Der Vogel schien altklug die langen Augenbraunen in die Höhe zu ziehen; da erklang von Ferne ein silberner Glöckchenton. Ein leichter Trab, dem ein schwererer folgte, kam jenseits der Rohrwand, die den Hof umgab, heran. Ein schlanker Rehkopf sah über die Wand: die Thüre in derselben sprang unter der Pfote des Thieres auf; es trabte freudig hindurch, mit schellenden Halsbandglocken, und kauerte sich zu des Pfarrers Füßen, als ob es seines Ungehorsams wegen Vergebung betteln wollte. Der Pater, angenehm überrascht, bückte sich, den schmalen, graurothen Hals zu streicheln, als auch ein Pferd mit einer hübschen Reiterin durch's Thor stürmte. »Ines! Ines!« rief der Pfarrer, gutmüthig verweisend und mit dem Finger drohend. Ines sprang jedoch, leicht wie eine Feder, von dem Pferde, und jagte es mit einem Schlage ihrer Gerte wieder in's Freie zurück. Lauf, du wilder Negro! -- rief sie, ein wenig athemlos, indem sie die Thüre zuwarf, und mit dem hölzernen Riegel verschloß: »du hast deine Schuldigkeit gethan. Suche den Weg nach deiner Weide, ehe der Blitz kömmt!« Dann näherte sie sich etwas schüchtern dem Geistlichen, senkte den Kopf und fragte freundlich: »Habe ich dir Angst gemacht, lieber Vater? Ich mußte dir ja den Liebling wieder bringen. Das leichtsinnige Thier, verspielt und possenhaft wie es ist, hatte sich gewiß schäckernd von der Rinderheerde entfernt und in den Wald verlaufen. Es dauerte lange, bis das faule Reh, im Schatten rastend, meinen Ruf und ich seine Schellen vernahm. Ich meinte fast, ein Tiger hätte sich seiner bemächtigt. Doch endlich, die Jungfrau sei gelobt, kann ich dir's wiederbringen, Vater Luis!« »Und gehst von Hause, ohne zu sagen wohin?« versetzte der Pfarrer gekränkt: »und setzest dich selbst, in Waldschluchten dringend, dem Tiger, durch stille Wasser reitend, dem Krokodil aus, du böses, unbesonnenes Kind? Glaubst du vielleicht, ich sei dem Rehe in höherem Grade gut, als dir? Habe ich dich nicht von zarten Kindesbeinen an gepflegt und gewartet? habe ich dich nicht getauft, und somit zum zweiten Male und edler geboren, als deine Mutter es gethan?« Ines ergriff schmeichelnd des Pfarrers Hand und küßte sie. Er dankte ihr nun für den Liebesdienst und fügte bei: »Ich habe verziehen! Sieh' zu, wie du mit dem grämlichen Strutto, dem Dragonervogel fertig wirst, der heute die neckende Spielgefährtin sehr verdrüßlich vermißte.« Ines klopfte schäckernd die Brust des großen Vogels und sagte hierauf: »Ich will's einbringen, guter Bursche. Schlüpfe indessen nur in die Scheuer. Die Wolken kommen wild und schwarz über die Parana her, und die fernen Berge hängen voll Nebel. Fort, Gejenk!«[1] Der Strauß trabte ruhig nach der Scheune, die hinter ihm verriegelt wurde. Das Reh folgte dem Herrn in die Hausflur. Ines zog die Laden an den Fenstern zu, und sagte indessen, bedächtig innehaltend: »Wenn nur der Fremde noch ankömmt, bevor das Wetter losbricht. Es wird einen fürchterlichen Sturm geben.« »Welcher Fremde, Ines?« Das Mädchen lächelte verlegen. »Es scheint mir kaum ein Spanier zu sein,« sagte es alsdann, und seine bräunliche Wange röthete sich merklich; »er spricht nicht so gut spanisch wie wir. Ich begegnete ihm draußen an den Tabaksfeldern; ich holte ihn nämlich ein, im Heimkehren begriffen. Der arme junge Mann saß traurig bei seinem Pferde, das im Niederstürzen sich den Fuß verstaucht hatte. Freilich war der Herr unklug genug, daß er nicht, wie unsere Leute, einige Pferde auffing oder mit sich nahm; indessen hatte ich doch Mitleid, und wahrlich -- hätte ich nicht dem schnellen Reh zu folgen gehabt, mein eigen Pferd hätte ich dem jungen hübschen Herrn abgetreten. Er fragte, ob er nach Santa Dominica komme, wenn er weiter ginge, und ich bejahte es, und wies ihn an die Ochsenfänger, die sich in weiter Ferne und im Staube sehen ließen. Sie werden ihn wohl auf ein Pferd genommen haben, und mit ihm auf dem Wege sein. Eilen sie jedoch nicht, so ist der Sturm viel schneller als sie.« Ein dunkelrother Strahl, der aus den Wolken fuhr, und von einem grellen Wetterschlage begleitet wurde, bekräftigte die Furcht der Indianerin. Aber zu gleicher Zeit ließ sich aus der Ferne, vom Eingang der Mission kommend, das Geschrei und Getümmel der heimkehrenden Horde vernehmen, die in den Savannen gewesen war, um Ochsen zu fangen, zu schlachten, zu häuten. »Sie kommen!« rief Ines, zufrieden gestellt, und ging nach der Hausthüre, durch die Ritze zu lauschen. »Hätte ich doch beinahe meines Gastes vergessen!« sagte inzwischen der Pfarrer zu sich selbst, mit einem ungeheuchelten Vorwurfe: »wie zerstreut doch das Alter macht! absonderlich, wenn man sich eines wiedergefundenen Kindes, und dessen Geschwätzes erfreut!« Er trat an die kleine Stiege und rief hinan: »Pater Xaver! Pater Xaver! nicht zu Hause?« Keine Antwort. Der Pfarrer warf geschäftig seinen Regenmantel über, stülpte den Rohrhut mit den beiden wasserdichten Krempen auf, und schritt, so schnell es anging, nach dem kleinen Gärtchen vor, das zwischen Hof und Ackerfeld gelegen, den Hintertheil des Gebäudes begränzte. Unter dem Stamme einer mächtigen Algarova[2] ruhte der Gesuchte; vor sich hinstarrend in die Sturm brauende Luft; horchend auf das Wellenschlagen der unfern strömenden Parana, versunken in den Anblick der zum Schrecken sich rüstenden Natur, ohne vor ihr zu zittern; fühllosen Körpers, unbewußten Geistes. -- Die Stimme des Pfarrers rief ihn zum klaren Bewußtsein zurück. Er sah sich um und fragte: »Was wollen Sie, mein Freund?« »Was wollen denn Sie beginnen? frage ich;« versetzte Luis. »Der Wind beugt schon um und um die Palmen nieder, und Sie wollen ihm trotzen? Kommen Sie in's Haus. Beunruhigen Sie mich nicht.« Der Gedankenvolle stand mechanisch auf. »Ich gehorche,« sagte er, »ob es mir gleich lieber wäre, von dem Wetterwinde in die Haide, wo der Tiger streift, oder in die Wellen des Stroms getragen zu werden.« »Welche Reden für einen Christen und einen Geistlichen!« verwies ihm Pater Luis sanft und ernst: »lassen Sie Ihren Beichtvater dergleichen nicht zum zweitenmale hören!« »Ich redete ehedem, wie Sie, mein Vater!« antwortete der Gast, »aber seit acht Tagen hat sich so Vieles anders gemacht...« »Gottes Schickung!« tröstete der Pfarrer; »halten Sie darauf, Pater Xaver, und kommen Sie herein. Ihre Miethreiter kommen zurück, und nach ihrem Geschrei zu urtheilen, muß der Fang beträchtlich gewesen sein: wir wollen die Häute im Magazine unterbringen.« Die Aussicht auf das Geschäft war dem trüben Gaste willkommen. Die Pforten des Lagerhauses, dieser Vorrathskammer für die ganze Niederlassung, wurden aufgeriegelt. Die heimkommenden Indianer sprengten in bunter Reihe heran, warfen ihre Ladung von Fellen zum Boden nieder, und rannten von dannen, dem Gewitter zu entkommen. Auf so unordentliche Weise war die Beute bald niedergelegt, und Pater Xaver stand berechnend zusammen mit dem Anführer der Expedition in die Savannen, als noch ein Nachzüglertrupp von Reitern kam, deren Pferde schwer bepackt waren, und von welchen einer zweimännisch auf dem Gaule saß. Die wilden Jäger warfen sich erst unter Dach und Fach von den Thieren, denn draußen fiel der Regen dicht; und der Hintermann des Doppelreiters stürzte mit Jubelgeschrei an Xavers Brust. Dieser konnte sich des Andrangs nicht erwehren; doch eben so wenig den in einen verstellenden Indiermantel von Palmblätterzeug Gewickelten alsobald erkennen; bis dieser den Mantel fallen ließ, die Haare aus dem Gesichte strich, und dem Ueberraschten den Ausruf entpreßte: »James! James! wie kömmst _du_ hieher? Welch' ein Gottesengel führt dich in meine Verbannung?« James weinte einen Strom von Thränen an des Pflegevaters Halse, und konnte nicht sprechen, nur schluchzen, nur seufzen, nur hellauf weinen, bis Pater Luis beide bei den Händen ergriff, und nach dem Innern des Hauses führte. -- »Euer Gefühl ist für die Neugierde der Stierschlächter zu gut!« sprach er; »weint und sprecht Euch _hier_ aus, meine Freunde, denn die Einsamkeit ist sowohl für die, die da klagen, als für die, die sich im Herzen freuen!« Er verließ, bescheiden und schweigend, die eng Umarmten. Sie vergaßen des brüllenden Donners, des tobenden Regens, des bebenden Hauses, das unter Sturmesgewalt zu weichen drohte. Münzner konnte sich am Gesichte seines Pflegesohns nicht satt sehen, und tausendmal wiederholte er die einfachen Worte: »Du hier, mein Sohn! Du hier, guter James!« ehe es ihm einmal einfiel, nach der Art und Weise, wie Alles sich zugetragen, zu fragen. Endlich geschah es doch. -- James erwiderte: »Da Sie geschieden waren, konnte ich dem Superior nicht folgen. Ich _konnte_ es nicht. Ich rettete jedoch den Senator.« »Ich weiß, mein Sohn. Die That war brav und würdig. Aber, was du ihr geopfert, ... das zerriß mein Herz, da ich's erfuhr!« »Gott führt uns auf allen Wegen,« versetzte James; »nur auf diese Weise konnte mir's gelingen, Justine aus Angst und Gefahr zu erretten.« »Du hast's gethan?« fragte Münzner überrascht; »das ist mehr, als ich gehofft. Ich glaubte sie unter Protestanten auf ewig und auf immer verloren!« »Nicht doch, mein Vater!« fuhr James fort, und erzählte von Justinens Abenteuern auf dem Thurme, von ihrem zufälligen Wiederfinden, von dem Entschlusse, sie von der Gefahr, die ihr die Lainez und der Thürmer bereiteten, zu befreien. »Ich liebte das Mädchen,« sagte er mit schwärmerischem und wehmüthigem Feuer; »ich glaubte damals, von Justine geliebt zu sein. Mit welchem Auge konnte ich ihre Lage ansehen? sie in des Superiors Händen? sie in einem Kloster? während ich in meiner Unbesonnenheit den Augenblick schon nahe träumte, wo ich als geachteter Offizier um ihre Hand würde werben können? ich trug erst seit zwei Tagen die Uniform des Gemeinen; meine Einbildungskraft war Jahrzehende vorausgeeilt, und ich wollte lieber die _freie_ Justine fern von mir, in einem andern Welttheile wissen, als auf ewig gefesselt in meiner Nähe. Ich ging an's Werk. Ich sann. Aber, die Möglichkeit? ich hatte nicht Freunde, nicht Bekannte. Die Uniform schützte mich nur, daß man nicht in mir die rechte Hand des Doctors Leupold entdeckte, über dessen wahren Beruf man auf's Reine gekommen war. Ich durfte mich nirgends bloß geben. Ich hatte kein Geld, den Hebel aller Dinge. Je zuversichtlicher ich an meinen Plan gegangen war, je niedergeschlagener wurde ich, da endlich die Unzulänglichkeit meiner Kräfte sich mir nicht verhehlen konnte. Indessen hatte ich mein Wort gegeben, und mehr als das Wort fesselte mich die Leidenschaft. Ich gerieth auf den abenteuerlichsten Gedanken. Der Werbcapitän war am vorigen Tage angekommen; ein Franzose, leicht und gefällig im Benehmen; ein feiner Mann, der unter den Neuangeworbenen gerade _mich_ zu seinem Bedienten wählte, weil er in mir eine bessere Bildung entdeckte, -- weil ich ihm gefiel. Ich weiß nicht, wie es kam, -- aber ... ich glaubte in dem Betragen des Mannes eine gewisse Ritterlichkeit zu verspüren; ich faßte mir ein Herz; ich sprach mit ihm ungefähr so, wie in Balladen und Romanen der dienstfertige Zwerg zum Paladin redet, den er zur Rettung einer im Thurme des Riesen gefangenen Dame aufzufordern gedenkt. Zum Glück fand auch der Capitän die Sache artig und seltsam genug. Ein niedliches Mädchen befreien, dessen Rettung ich ganz _seiner_ Macht und Großmuth anheimstellte, -- das reizte ihn. Er ahnte nicht den Zusammenhang, den mein Herz mit der Geschichte hatte. Er sah vielleicht ein galantes Abenteuer in der Ferne. Mir alles gleichviel, weil er nur zusagte. Litzach brachte die Botschaft auf den Thurm. Wir warteten um die zehnte Stunde der Nacht unfern des Thurms, mit Wagen und Pferd. Ein ärgerliches Zwischenspiel hätte uns beinahe alles verdorben. Das Unglück will, daß in derselben Nacht ein Ohrenbläser dem Bürgermeister die Anzeige macht, daß auch Pahlens zu der entlarvten Sekte gehört. Es wird Wache abgeschickt, den Thürmer einzuziehen und nachzusuchen, ob er nicht Freunde auf dem Thurme verborgen. Das Unglück will, daß Justine, ihrer List und dem günstigen Augenblicke vertrauend, vom Thurme herniedersteigend, beinahe in die Hände der Wächter fällt. Ihr guter Geist bedeckt sie indessen schützend mit seinen Flügeln, wie auch die Lainez, die noch Zeit findet, sich oben zu verbergen, und der oberflächlichen Nachsuchung der Soldaten zu entgehen. -- Pahlens wird fortgeschleppt; der sogenannte Zehnerwächter bleibt an seiner Statt im Thurme; verschließt alles sorgfältig, steigt in die Höhe, und indem sein Laternchen immer schwächer durch die Fenster des Thurmes strahlt, verglimmt in uns Harrenden auch jede Hoffnung, unsere schöne Schutzbefohlene zu retten. Es war indessen anders beschlossen. Die Lainez, in ihrem Versteck beinahe verzweifelnd, sich allein und verlassen sehend, von der Morgenröthe ihr Verderben fürchtend, faßt einen kecken Entschluß, der Französin würdig. Behutsam wagte sie sich in der dunkeln Nacht an das Zimmer des Thürmers. Der Wächter, das Branntweinglas vor sich, wendet halb trunken und nickend der Thüre seinen Rücken, und spielt mit dem Hunde. Der Schlüssel des Thurmes liegt auf dem Tische. Auf dem Trompetergänglein an der Plateforme steht das Laternchen brennend, zum Elfergang gerichtet. Wie ein Schatten schwebt die Lainez durch die halb offene Zimmerthüre. Der Hund knurrt; sein Herr giebt ihm Schläge, denkt aber nicht daran, sich umzusehen. In einem Augenblicke nimmt die muthige Frau den Schlüssel leise weg, entflieht so stille, als sie kann, ergreift die Laterne, und eilt wie ein Wirbelwind über die Treppen. Auf der Hälfte des Weges schreckt sie ein Geräusch. Unterdrückte Seufzer -- leise Klagen dringen aus dem Gange zur Glockenstube an ihr Ohr. -- Entschlossen stößt sie die Thüre auf. Justine richtet sich eben hinter derselben aus einer Ohnmacht auf. Lainez fühlt das heftigste Mitleid für die Geisterbleiche. Ohne Rath, ohne Hülfe, ohne Aufsicht, nur dem Augenblicke und dem Triebe nach Freiheit gehorchend, unterstützt sie die Ermattete, führt sie schnell hinab ... die Thüre klingt ... öffnet sich ... Justine stürzt ins Freie, die Lainez folgt, sperrt wieder vorsichtig die Pforte, und der Wagen rollt, da wir weiße Gewänder durch die Finsterniß sahen, geschwinde herbei. -- »Das sind _zwei_ Damen?« flüstert mir der Capitän zu; ich hatte aber nur Augen für Justine, die sich, wie ein Kind, vertraulich auf meine Schulter stützte, als ich sie in den Wagen hob. Die Lainez, unwissend und über diese Vorbereitungen verwundert, folgte nicht minder. Der Capitän bedeckte die schönen Flüchtigen mit seinem weichen Mantel, befahl dem Reiter auf dem Bocke, scharf zu fahren, und behielt mich neben sich auf dem Rücksitze. -- »Du begleitest mich zur ersten Station,« sagte er: »von dort kehrst du mit dem Wagen zurück, und ich bringe die Damen noch eine Strecke weiter, erwarte dich mit meinem Pferde. Ich werde dir Nachricht hinterlassen.« -- Nun fühlte ich erst die Schwere der Subordination. Es galt aber Justine, und ich schwieg geduldig. Ohne Aufenthalt gelangten wir unterm Schutze des Capitäns durch das Thor, und fuhren stracklich weg. Die Damen schliefen oder stellten sich schlafend. Wir sprachen nur abgerissene Worte. Noch war der Tag nicht angebrochen, als wir hielten. Ein elendes Wirthshaus nahm uns auf. Hier sollte gefrühstückt werden. Hier löste sich Alles. Die Lampe des Wirths beleuchtete unsere Züge. -- »Alle Donner!« rief der Capitän: »ist das nicht Madame Lainez? wie kommen Sie hierher, meine Schöne?« -- die Lainez glaubte, in die Erde sinken zu müssen. -- »Das Abenteuer nimmt eine üble Wendung,« sagte der Capitän hierauf halb lachend, halb bitter zu mir: »die Eine (Justine), die mir gefällt, wird von dir mit verliebten und argwöhnischen Blicken gehütet, und die Andere ... bei'm heiligen Georg! 's ist meine Frau!« Die Lainez weinte heiße Thränen. Justine staunte; ich nicht minder. »Ei, Madame!« fuhr der Capitän fort; »wie erging es Ihnen, seit wir uns trennten? und erinnerten Sie sich nicht, daß wir uns heilig zusagten, uns nie wieder zu sehen? Ich gestehe, daß nur der Zufall diese Rencontre herbeigeführt, aber es ist doch ein verdrüßlicher Zufall. Mußte mich ein Duell aus Frankreich verjagen, und unter meinem Cadetnamen in fremden Diensten nach Deutschland führen, damit ich Sie, meine Charmante, wiederfände? Genug, keinen Augenblick mehr mit Ihnen!« -- Er sprang empor, -- ich hielt ihn auf. Was soll aus den Frauen werden? fragte ich für Justine besorgt. -- Sollen wir sie ohne Schutz, ohne Führer hier auf der Straße nach Amsterdam lassen? Vollenden Sie Ihr Werk, Herr Capitän, wie ein ächter Edelmann. -- Eben deshalb! antwortete er frivol. Ich habe mein heiligstes Wort verpfändet, nie mehr mit dieser Dame, die einst die Meinige war, zusammen zu weilen; nicht eine Stunde, nicht eine Viertelstunde, und ein Edelmann hält sein Wort. Darum, -- wenn Mademoiselle sich mir nicht allein anvertrauen, und das intriguante Weib hier ihrem guten Glücke überlassen will, so lasse ich die Parthie unbeendigt. -- Justine weigerte sich nun auf's Heftigste, die Lainez zu verlassen, die _sie_ in ihrer Ohnmacht nicht verlassen hatte; weigerte sich, mit dem Capitän die Reise fortzusetzen. -- Pardieu! sagte endlich der leichtsinnige Franzose, dem es in seiner Gattin Nähe sehr bange und unfriedlich zu werden schien: so weiß ich kein Mittel, als Ihnen, meine Schöne, einen geliebtern Stellvertreter beizugesellen. Monsieur Leblanc« -- wendete sich mit scherzender Liebenswürdigkeit zu mir -- »Sie sind ein Galant homme, der in den groben Rock nicht paßt. Kraft der Gewalt, die ich in meinem Depot ausübe, schenke ich Ihnen die Freiheit, und werde Ihre Ranzion gegen meinen Fürsten bestreiten. Vollenden Sie dafür meine Ritterpflicht gegen Mademoiselle. Ihre Herzen stimmen überein, und mein Auge hatte mich nicht getäuscht. Führen Sie jedoch nicht minder Madame Lainez recht weit, in Regionen hinweg, wo sie recht glücklich sei; so unaussprechlich glücklich, daß es ihr nie wieder einfalle, heimzukehren, und ihren Gatten so empfindlich zu erschrecken. -- Meinen Dank, so wie dem Jammer, den die Lainez anhob, zu entweichen, warf er sich in den Wagen, und ließ mir eine Börse zur Fortsetzung der Reise zurück, die ich nur annahm, weil ich Justine von jedem Hülfsmittel entblößt, und den Senator zu Amsterdam glaubte. Dieser würde unfehlbar die Ehrenschuld sogleich getilgt haben! -- Aber ... nun weiter. -- Was übrig bleibt, ist wenig. -- Wir setzten die Reise mit Eilpferden fort. Justine verklärte sich in der Hoffnung, den geliebten Vater wieder zu umarmen. Die Lainez weinte in einer Stunde eine Sündfluth, trocknete sie in der andern; verwünschte in der dritten ihren Mann und seine Unverträglichkeit, lachte in der vierten herzlich über die unvermuthete Ueberraschung, und schwor endlich, leichtsinnig und vogelfrei gegeben, Justine nicht zu verlassen, bis der Senator gefunden sei. Justine hegte ein stilles Mißtrauen gegen mich, das mich bekränkte, denn nie war ich redlicher ergeben, als gerade jetzt. -- Wir gelangten nach Amsterdam. Nicht Sie, nicht der Senator waren mehr zugegen. Das Schiff des Tormerpick hatte Sie schon hinweggetragen. Van den Höcken gab mir den lakonischen Brief des Senators, in dem es nur hieß: zu Assumcion in Paraguay erwartet der Vater seine Tochter! Diese neun Worte belebten Justine mit dem erstaunlichen Muth, der sowohl die Lainez als mich dem Mädchen dienstbar und unbedingt gehorsam machte. Wir betrieben unsere Abreise. Wir bestiegen das Schiff, wir befuhren die Meere. Aber je klarer die See _unter_ uns, je heiterer über uns der Himmel wurde, je trüber wurde meine Seele. Der Amerikaner hat mich getäuscht; meine Leidenschaft hat mich getäuscht; alle Hoffnungen der Sehnsucht haben mich betrogen. Justine ... _liebt_ mich nicht. Sie trägt mein Bild nicht in ihrem Herzen, nicht an ihrem Halse. Mein Leben ist verloren. Ich habe mich dem edeln Geschöpfe unwürdig, falsch gezeigt; ich fühle es: sie kann mir nicht vergeben, kann mich nur dulden, nicht achten, nicht lieben. Nichts mehr davon: das sei todt und ab. Ich habe mich ausgeweint, stand ich in verschleierter Nacht auf dem Verdeck des Schiffs, wo mich die Wache duldete. Ich habe den flammenden Sternen mein Leid geklagt! ich habe es den ziehenden Wolken mitgegeben, und in mancher Nacht, wann der gespenstige Holländer auf seinem Nebelschiff durch die graupige Luft sauste, daß den abergläubischen Matrosen das Haar zu Berge stand, einen härtern Kampf gekämpft, als jenes Luftgespenst mit seinen weißen Wolken. 'S ist nun vorüber, und ich will Ihnen nur kurz erzählen, daß wir auf der Rhede zu Buenos-Ayres Anker warfen, daß wir den mächtigen Silber- und Paraguayfluß heraufschifften, und unfern von Dios Padre mit einigen Geistlichen und ihrem Gefolge zusammentrafen, die sich ebenfalls den Fluß herauf begaben. Der Eine von ihnen ist ein vornehmer Geistlicher Ihres Ordens aus Cordova; der Andere Rector des Collegiums zu Assumcion. Sie gesellten sich zu uns; ihre Ruderer sind zahlreicher als die unserigen, geschickter und gehorsamer. Sie erfuhren unsere Namen bald, und der Rector erzählte hierauf von Ihnen und dem Senator, daß Sie beide nach der Doctrina Santa Dominica abgegangen; Sie, um eine Handelslieferung zu bewerkstelligen; der Senator, um seine angegriffene Gesundheit wieder herzustellen. Diese Nachricht beunruhigte Justine, und verdoppelte ihre Begierde, schneller fortzukommen, den Vater eher zu sehen. Der Zufall will, daß die Väter Jesuiten ebenfalls hierher ihre Reise richten. Wir blieben daher auf der Parana auch beisammen, und ich flog auf einem raschen Pferde voraus, unsere Ankunft anzusagen, und den Senator vorzubereiten, damit die unvermuthete Freude seiner geschwächten Gesundheit nicht schade. Morgen, spätestens zu Mittage kommen die Freunde nach, um die Gastfreundschaft von Santa Dominica anzusprechen.« -- »Ich heiße sie im Voraus, und im Namen meines freundlichen Wirths, willkommen,« sagte Münzner mit niedergeschlagenen Augen und zögerndem Tone: »Nur Schade, daß gerade in diesem, so fröhlichen Augenblicke, der gute Senator nicht zugegen sein kann.« »Nicht, mein Vater? Wo ist er?« »Er hat einen Streifgang in das Land gemacht,« fuhr der Jesuit wie oben fort: »wir erwarten ihn bald zurück, und dann...« »Einen Gang in das Land, mein Vater? ein kranker Mann? wie konnte er's wagen?...« »Tief im Lande träufelt aus einem Baume, den sie Anguay nennen, ein köstlicher Balsam, der an der schwächsten Brust Wunder thun soll. Dieser Balsam muß zur jetzigen Jahreszeit gewonnen, und sogleich an Ort und Stelle gereinigt und gebraucht werden. Dies Heilmittel aufzusuchen, entfernte sich der Senator.« »Und Sie begleiteten ihn nicht, mein Vater?.... Verhehlen Sie mir auch nichts? --« »Ich belüge dich nicht,« erwiderte Münzner scharf und ungeduldig, sich von ihm wendend; dann trat er besänftigter zu dem Jüngling, reichte ihm die Hand, und sagte: »laß uns von etwas Anderem reden, von etwas Erfreulicherm; von deiner Ankunft, und immer wieder von deiner Ankunft. Sieh, hier zu Lande fließt das Blut selbst in den Adern alter Leute rascher, als drüben. Man braust leicht auf: man liebt aber wärmer, man freut sich lebendiger. Wirst du denn meine Freude vervollständigen? Wirst du _hier_ das Gelübde erfüllen, das dich in Europa anwiderte? Thu es hier! hier hast du die schönsten Werke der Gesellschaft vor Augen.« »Muß denn diese Frage in der ersten Stunde meines Empfangs aus Ihrem Munde gehen?« fragte James sanft aber gekränkt. »Ich schweige!« versetzte Münzner mit einem Seufzer: »Wohl dir jedoch, mein Sohn, wenn nur _mein_ Mund ferner diese Frage an dich richtet. Doch, sieh!« fügte er hinzu: »Die Luft ist wieder hell geworden. In diesen gelobten Ländern reinigt das wohlthätige Gewitter in kurzer Zeit den Luftkreis. Der Abend ist wieder still und herrlich, und gewürzig duften alle Blumen und Büsche um uns her. Werde auch du ruhig, mein Sohn. Ich gehe, unsern ehrwürdigen Wirth auf den Besuch vorzubereiten, der ihm werden soll. Wir erwarten dich in dem kühlen Vorplatze.« Münzner entfernte sich. James lehnte sich an eine Fensterlucke, sah in den Hof. Der Empfang im Pfarrhause schien ihm räthselhaft; sein Wohlthäter um vieles verändert. Nicht die Züge allein, -- die in zehn Monden um so viel Jahre älter geworden waren -- was eine Folge der Himmelstrichsveränderung sein konnte,.... sein _Wesen_ war anders geworden. Nicht mehr jene ruhige Bestimmtheit, jenes klare Streben, jener einfache Gleichmuth, -- Eigenschaften, die ihn vor vielen ausgezeichnet hatten ... eine trübe Strenge, ein tiefsinniges Brüten lag auf Stirne und Schulter des Mannes, daß die Erstere sich faltete, wie im Kummer, -- daß die Letztere sich beugte, wie im Joch. James sah auf zu dem Himmel, der ein anderer und dennoch derselbe war, wie der, unter dem er geboren; er sah auf Häuser und Felder, die so ganz verschieden von den europäischen waren, und doch eben nicht anders als diese; und mitten unter diesen fremdartigen und doch bekannten Dingen und Gegenständen kam er sich so einsam, so fremd, so unbekannt vor; ... so verlassen! -- Schon flirrte die Dämmerung, früh einbrechend, um ihn. Ein schlankes Mädchen in der einfachen reizvollen Tracht jenes Landes schritt durch den Hof, nach dem Lusthäuschen im Garten, das, sich an den Johannisbrodbaum und die nachbarlichen Wachspalmen lehnend, aus engen, gegen Fliegenbesuch schützenden Gittern von Rohr erbaut, ein erquickendes Plätzchen in der Kühle gewährte. Der Tisch wurde darinnen zum Thee bereitet, und James, der lieblichen Gestalt folgend, die mit einer wohlverwahrten Glaslampe zuletzt nach der Laube ging, überraschte sie bei der Vollendung ihres Geschäfts. »Ach, sieh doch!« sagte er, »meine schöne Helferin! Kennst du mich noch, mein Kind? Dein Wort gab mir Trost, als ich rathlos am Wege saß!...« »Gott hilft immer!« versetzte das Mädchen, ihn mit kindlicher Ruhe betrachtend. »Durch seine Engel!« fügte James seufzend hinzu, und setzte bei: »die herrliche Blüthe, die deine Brust schmückt, wie nennt man sie?« »Die goldne Mondblüthe!« antwortete das Mädchen, und reichte sie ihm unbefangen hin: »wollt Ihr sie, Herr?« James nahm die Blüthe zögernd. »Du giebst einen schönen Schmuck weg, mein Kind, der dich besser ziert, als selbst das glänzendgelbe Glaskorallenband um deinen Hals.« »Das ist nicht Glas, Herr!« versetzte das Mädchen ernsthaft und unterrichtend: »das ist der Balsam, der aus einem Baume fließt, weit, weit von hier, den ich aber nicht zu nennen weiß.« »Wolltest du mir wohl _deinen_ Namen sagen?« fragte James weiter. »Warum nicht, Herr? Ich heiße Ines. So bin ich getauft, und Vater Luis hat mich selbst getauft, damit ich zum lieben Herrn im Himmel komme.« »Du Unschuldige! Wie alt bist du, gute Ines?« »Seit ich hier bin, hat die Algarova zwölf Mal geblüht, und im Walde erinnere ich mich, sie drei Mal in der Blume gesehen zu haben.« »Im Walde, Kind?« »Ich bin darin geboren, Herr, ein wildes Kind, von Wilden.« »Ja, wild bist du, meine Ines. Wie du auf dem schnaubenden Pferde dahersprengtest, und an mir vorüberjagtest; ... mir bangte für dich.« Ines lachte. »Seid ruhig,« sagte sie, »ich halte mich fest, und das Pferd, das eine Mähne trägt, wirft mich nicht ab. Meine Landsleute sind für's Pferd geboren.« »Deine Landsleute?« »Ja; die Abiponer, Herr! Der Vater setzte mich stets vorn auf seines Thieres Hals, und auch die Mutter saß zu Pferde. Ich entsinne mich dessen noch gar wohl. Wie ich von meinem Volke kam, ist mir viel dunkler geblieben. Ich schlief, Herr. Neben der Mutter schlief ich auf der Matte, und es war alles Nacht und dunkel um uns her, als wir uns niederlegten. Es waren viele Leute und viele Pferde, die um uns her im Kreise standen, und die Feuer ließ man ausgehen, weil die Sterne so herrlich am Himmel glitzerten. Das weiß ich noch gar gut; denn nimmer habe ich seither einen so großen, weitgespannten Himmel gesehen, wie dazumal. Wir schliefen also, und mit einem Male donnerte es, daß ich hell aufwachte. Ich sah recht Vieles um mich her: Feuer und Dampf; Blitze und Reiter. Die Mutter war auch zu Pferde, und ich hing an einem Sacke von Fellen an ihrem Sattel hernieder. Das Pferd rannte fort, und plötzlich ... wachte ich wieder auf, und sah nicht mehr das Pferd, und nicht mehr die Mutter, sondern ich lag in einem kleinen grünen Walde, wie in einem Korbe, und die feinen Spitzen des Waldes gingen hoch über mir, wie ein lichtes Dach, zusammen. Die Sonne schien sanft und gelb hindurch, und ein leichter Wind bewegte das Dach, daß es sich abwechselnd aufschloß, um mir in aller Höhe den blauen Himmel zu zeigen, bald sich wieder zuthat, mich in die grüne Einsamkeit zu versenken. Ich schrie, trotz meinem Behagen, denn die Mutter fehlte mir. Da raschelte es seitwärts neben mir, und durch die Halmen des Waldes streckte sich ein neugieriger beweglicher Kopf von einem wunderschönen Thiere, gefleckt, gestreift, in allen Farben glänzend, und ich wußte damals nicht, daß eine böse Schlange mich ansah, und streckte ihr spielend die Hände entgegen. Der Kopf zitterte, als ob er zaudernd witterte, immer näher, erreichte mich fast, und fuhr dann plötzlich zurück, mit einem pfeifenden Schrei. Ein großer Schlangenleib warf durch diese Bewegung eine seiner Windungen auf meinen Leib, riß sich indessen schnell und kräftig ins Grüne und verschwand wie ein Pfeil. Dafür kamen andere Gäste lärmend und brüllend einhergejagt, wie ein Sturm, und mit einem Male sah ich über die Spitzen des Waldes ein breites gehörntes Haupt herniederschauen. Ich glaubte die Heerde des Vaters in der Nähe, und schrie so laut, als der Stier brüllte, und -- nicht lange, -- so stand ein dichter Kreis von solchen Thieren um mich herum, und glotzte mich hülfloses Kind an, das sich an einer Staude emporrichtete, und furchtsam die unbeweglichen Thiere betrachtete. Da fand mich der Ochsenhirte von Rosario, hob mich auf, und brachte mich dem guten Pater Luis, der mein Vater wurde, weil Gott mir die Eltern genommen, damit ich sein _eigen_ Kind werden sollte. Die arme Mutter muß mich, vielleicht im Schlafe, vom Schooße verloren haben, denn der grüne Wald, von dem ich redete, war nur das hohe Gras der weiten Savanna, und ich wäre dahin gewesen, ohne Gottes Schutz!« »Armes Mädchen! Mutterlose, arme Waise!« »Ich bin nicht arm und nicht unglücklich, Herr! Ich habe ja in Don Luis einen Vater gefunden, und in der Kirche steht das Bild meiner _himmlischen_ Mutter, mit Gold und Seide geputzt. Ich bete zu ihm, ich rede mit ihm, und sie redet auch mit mir in meinen Träumen, oder wenn ich das Gesicht auf den Boden lege, und mir die Gedanken ausgehen lasse. Und die _heilige_ Mutter ist so gnädig, so liebevoll! Sie hat die arme dumme Ines verständig gemacht, ihr Heil zu begreifen; sie hat mich gekleidet, sie gibt mir Speise! Ach, Herr, ich bin nicht arm! Aber meine Mutter im Walde mag's sein, denn sie hat ihre Tochter nicht mehr, und auch keine im Himmel, mit der sie reden kann!« James schwieg ergriffen, und die fromme Ines ging weg. Ihre Reden klangen in des Jünglings Ohren nach. Unwillkürlich verglich er die Indianerin mit Justine. Beide schön, beide entschlossen und thatkräftig; beide die Unschuld selbst, und dennoch so ganz verschieden! -- Der feine Thee schmeckte ihm nicht. Das Gespräch der Jesuiten, das in lateinischer Sprache vor sich ging, behagte ihm nicht. Frühzeitig suchte er seine Matte, frühzeitig verließ er sie wieder. Die zahlreichen Heerden brüllten an der Gasse vorüber. Leute mit Ackergeräthschaften drängten sich auf dem Platze. Ein Zeichen mit der Glocke der Kirche, und die Schreitenden hielten an deren Pforte. Sie wurde aufgethan; Lichter brannten, Weihrauch dampfte; der silberhaarige Luis begann die Messe. Anstand und Würde von seiner, Andacht von der Zuhörer Seite vereinigten sich, den gewünschten Zweck hervorzubringen. Die Indianer gingen still befriedigt an die Arbeiten des Feldes, um unverdrossen die Stunde zu erwarten, in welcher Gott selbst durch die Hand ihres Vaters ihnen Nahrung spenden würde. -- James wünschte dem aus der Kirche tretenden Pfarrer Glück zu der Ruhe und fleißigen Eintracht in seiner Colonie. Luis lächelte und sagte: »Das findest du in allen unsern Doctrinen, mein Sohn. Friede ist erste Bedingung des Glücks, und Friede halten wir.« »Diese Leute besitzen jedoch nichts,« wendete der junge Mann ein: »Sie sind in jedem Stücke abhängig.« »Zu ihrem Besten, Freund,« sagte Luis lebhaft: »eigenes Besitzthum war die Quelle der Habsucht, des Neides, des Diebstahls, des Mordes. Wir kennen diese Dinge kaum von Namen; niemals hat seit meiner Amtführung einer von hier angesiedelten Quaraniern etwas entwendet; niemals endigte sich ein Streit mit Blut. Diese wilden Stämme, durch Ueberredung und Scharfsinn dem Walde, den Bergen und der Flußräuberei entfremdet, müssen wie unmündige Kinder gehalten werden. Freilich wird einst die Zeit kommen, die auch hier die Mündigkeit befiehlt; ich erlebe sie aber nicht mehr.« »Ihre Gesundheit, mein Vater, wird noch lange der Zeit trotzen.« »Die Zeit, mein Sohn, ist der Tropfen, der den _Stein_ höhlt. Gott sei Lob indessen für die Kraft und den Frohsinn, die mich in meine Silberzeit begleitet haben. Weißt du jedoch, woher das kömmt? ich bin im Gemüthe ruhig gewesen mein Lebelang. Ich habe nie hoch hinaus gewollt, nie von Ehrgeiz und Würden geträumt. Ich wundere mich selbst, daß ich Pfarrer geworden bin; ich meinte, höchstens zum Vikar tauglich zu sein. Aber der Pater Provinzial zu Cordova meinte es anders, und Gott hat mir mit dem Amte auch leidlichen Verstand dazu gegeben. So lebe ich denn ruhig und zufrieden hin, ohne Sorge, ohne Plage. Mich kümmert's nicht, was die Herren zu Cordova treiben; ich bin seit vierzig Jahren Bauer geworden, und die Bauern um mich her haben gelernt, mich nicht nur Vater zu _nennen_. In dieser rohen aber guten Kinder Mitte will ich sterben, arm und geliebt: das ist Alles, was ich wünsche. Daher bin ich auch gesund und frisch; frischer als Euer Pflegevater, der um zwanzig Jahre Lebens jünger ist, denn ich. Er trägt Gram auf dem Herzen; ich kenne den Kummer nicht; er hat sein Haus noch nicht bestellt ... ich habe seit vierzig Jahren meine Lampe angezündet. Er ist ein armer Mann, weil er zu Viel weiß, weil er zu Viel zu thun gezwungen,.... weil.... doch ich vergesse, daß ich zu seinem besten Freunde rede, der Alles dieses besser wissen muß, als ein beschränkter Landgeistlicher aus dem Missionlande. Beiläufig nur so viel: deine Weigerung, endlich das Kleid zu nehmen, mein guter fremder Sohn, trägt viel zu Pater Xaver's Betrübniß bei.« »Mein Vater...!« »Stelle dich nicht verwundert,« unterbrach ihn der Pfarrer gutmüthig aber eindringlich: »höre mich an: du hast dich verpfändet; du mußt dich lösen; das ist Eins. Du mußt denjenigen lösen, der aus Menschenfreundlichkeit dein Bürge geworden ist; das ist das Zweite. Du mußt endlich der Welt und dem Herrn dienen; das ist das Dritte, Nothwendigste. Wären wir in Europa, mitten im Gewebe der großen Spinne, um Mückenjäger in ihrem Solde zu werden, -- so würde ich die Achseln zucken, meinen Weg gehen, und mich nicht nach dem umsehen, was du beginnst. Aber -- hier -- in dieser jungen, frischen Welt, wo die äußersten Enden des Gewebes eingreifen, wo sie leichter, feiner sind, hier ist's etwas Anderes. Hier, auf dem Lande, hier können wir nützen. Hier kann die Mannskraft handeln, ein volles frommes Herz glücklich sein. Laßt den Herren zu Assumcion und Cordova ihre Ränke und Regierungssorgen! Wendet Eure Bemühungen auf diese armen Indianer, und handelt nach dem Willen des ewigen Vaters! O, mein guter Jüngling! wenn ich dich hier umherführe, und dir die reinlichen Haushaltungen zeige, in denen man christlich lebt und fleißig ist; die zufriedenen Familien, die weder das nomadische Leben, noch das betäubende Chicagetränk mehr verwüstet; die Väter, die, statt auf dem Pfühl der Trägheit zu ruhen, und dem Weibe Alles aufzubürden, jetzt die Versorger der Ihrigen sein würden, wenn die Gesellschaft nicht für Alle sorgte; die Mütter, die nicht mehr ihre unschuldigen Kinder würgen, um wieder der Leidenschaft zu huldigen, oder sich eine Plage mehr vom Halse zu schaffen; die Kinder selbst endlich, die in Gottesfurcht und Elternliebe emporwachsen, ein sanftes, friedliches, lernbegieriges Geschlecht; -- du wirst unser Loos glücklich preisen, und dich schnell demselben Berufe weihen, und schnell das Kleid anlegen, in welchem meine Quaranier mich als ihren Vater verehren; in dem ich mich dann und wann, von der Herrlichkeit meiner Bestimmung übermannt, für einen Strahl der Gottheit halten möchte, wenn es die einem armen Pfarrer anständige Demuth nur zuließe. Sieh um dich! diese Kirche habe ich errichtet, alle diese Hütten habe ich erbaut. Es ist keiner unter vierzig Jahren im Dorfe, den ich nicht getauft, -- es liegt keiner in unserer Kirchhoferde, den ich nicht begraben hätte. Wie die Palmen, wie die Tamarinden meines Hofes habe ich sie Alle, die da leben, jung gesehen! Alles ist hier mit mir alt geworden, und für das Generalat in Rom tauschte ich nicht meine geringe Pfarrei, in der ich Melchisedechs Würde trage, und nicht umsonst trage, weil mir das Bewußtsein sagt: dein Leben war nicht faul, nicht vergebens!« James sah noch horchend und lächelnd in des Greises hell leuchtende Augen, als vom Eingange der Mission sich viel Geräusch hören ließ, und der Alcade mit langen Schritten herbeikam. -- »Mein Vater!« sagte er zum Pfarrer: »Der Feldhüter bemerkt auf dem Strome schwere Kähne aufwärts kommen, mit vielen Leuten bemannt. Befehlt, was geschehen soll. Die Leute könnten räuberische Payaqua's oder spanische Abenteurer sein. Soll ich die Glocken läuten, Waffen austheilen? der Regidor ist auf den Aeckern, und ich habe nach ihm geschickt.« »Das sind unsere Freunde!« rief James, und eilte ohne Aufenthalt dem Strome zu. Die müßigen haushütenden Frauen und Greise und Kinder, die längs dem Ufer hin wohnten, oder Wäsche hielten, oder in der Sonne lagen, versammelten sich am Landungsplatze. Starke Reihen von zahmen Stieren und Pferden zogen die ankommenden Schiffe an tüchtigen Fellriemen und Leinenstricken gegen die Fluthen, und vierzig Ruder peitschten im schnellsten Takt, den Lauf zu verdoppeln den herrlichen Strom. Mehrere riesenhafte Payaquas, bis zum Gürtel im Wasser stehend, mit brennend roth gefärbten Haaren und breiten Schultern, leiteten die aus dem violetten Holze der Algarova gefertigten langen Kähne sorglich an Felsstücken und Sandhügeln vorbei, dem Landungsplatze zu. Der Anblick dieser wilden Leute beunruhigte die am Ufer stehenden Quaranier, doch ein Blick nach den Kähnen selbst beschwichtigte ihre Furcht. Zwei angenehme weiße Frauengesichter sahen zwischen krausen Negerköpfen wie Lilien aus der Nacht hervor, und neben ihnen flatterten schwarze Mäntel der Gesellschaft Jesu; _hier_ willkommene Boten der Friedlichkeit. -- Längs dem Strande zur Mission kehrende guaranische Jägersleute, die den Tapir in den Sumpfwäldern verfolgt hatten, feuerten mit gellendem Geschrei, die Väter des Ordens zu empfangen, ihre Gewehre in die Luft ab. Lebhafte Neger antworteten mit den Pistolen und Vogelflinten, die sie an Bord hatten. Die Glocke in der Mission läutete. Von Feldern und Wiesen strömten alle Bewohner zusammen. Pater Luis, sammt Regidor und Alcalde und den ältesten Indianern, erwartete am Ufervorsprung die Ausschiffung der Fremden. Auf den starken Schultern der Payaquas schwebten die Damen über die Fluthen; nach ihnen wurden die geistlichen Herren herübergeschafft. Mit ruhiger Demuth empfing der Pfarrer die Vorgesetzten; mit fröhlichem Jubel James seine Begleiterinnen. Justine sah sich mit glänzenden Augen rund um, und rief: »Ein herrlicher Ort, Monsieur White! wo aber ist mein Vater? ist er so krank, daß ihn die Nachricht von der Ankunft seines Kindes nicht an den Strand zu führen vermag? zu ihm! zu ihm, mein Herr! ich kann nicht eine Viertelstunde länger leben, ohne ihn zu sehen!« James führte sie, und versuchte, sie auf die Nachricht von der Abwesenheit des Senators vorzubereiten. Die lebhafte Jungfrau hörte indessen nicht auf seine Worte. Vergnügt, und mit strahlendem, Alles umfassendem Blick wendete sie sich im Gehen nach allen Seiten. Das mannigfache Grün der Cedern, der Palmen und Tamarinden, in welchem die gelben Dächer der Colonie lagen, ... bildete eine erquickende Aussicht. Der zarte Rasen des Ufers war ein sanfter Teppich, die Blüthen und Früchte an Hecken und Gelanden schmückten den Weg, und neugierig folgten die Weiber und Kinder, die noch nie an ihrem Wohnorte eine Europäerin gesehen, der lieblichen Gestalt. Justine war größer und voller geworden, ausgeprägter ihr Gesicht, schöner und feuriger ihr Auge, entschlossener ihre Haltung, ausdrucksvoller ihre Geberde; frei und zierlich ihr Gang, wie der der Lainez. Neugierig aber freundlich betrachtete sie das mitziehende Volk, grüßte, lachte mit den Kindern, sprach mit ihnen, erhielt aber von den Nichtverstehenden unverständliche Worte in den Kauf. Endlich war das Pfarrhaus erreicht, endlich stand Justine unter der Thüre desselben. Ihr Herz schlug ängstlich; ihr Mund öffnete sich, den Vater zu rufen. Pater Münzner erschien. Justinens Züge verdunkelten sich! -- »Sein Sie willkommen, geehrteste Tochter meines Freundes!« sagte Münzner, der diesen Eindruck wohl bemerkte, »ich wünschte Ihnen im ersten Augenblicke angenehmer zu sein.« »Das ist nicht möglich, und auch nicht nöthig,« entgegnete Justine ernsthaft und entschieden: »Ihr Anblick, mein Herr! erinnert mich an zu Viel. Erlauben Sie, daß ich Ihnen hier eine Freundin übergebe, die manches um Ihretwillen gelitten hat, und die ich den Verfolgern entriß, obgleich sie, wie Andere auch, ein falsches Spiel mit mir getrieben. Vergelten Sie mir den Dienst mit der einfachen Anweisung, wo ich meinen Vater zu suchen und zu finden habe.« Münzner schwieg bedeutungsvoll, und James, die ängstlich werdende Tochter zu beruhigen, wollte statt des Pflegevaters das Wort nehmen. Der geräuschvolle Eintritt des Pfarrers mit seinen geistlichen Obern, des Volks, das neugierig ihnen nachdrängte, unterbrach ihn. Zwei Indianer von den Schützen, die so eben wieder heimgekommen waren, machten sich heftig Platz durch die Menge und näherten sich eilfertig dem Pfarrer. »Da! guter Vater Luis!« sagten sie mit getrübter Geberde: »da ist Alles, was wir von deinem Gastfreunde gefunden haben! In dem Lager eines wilden Jagurate[3], den wir erlegten, fanden wir die traurige Beute.« -- Pater Luis starrte die Boten staunend an. Münzner erbleichte heftig, wie auch James. Justine stieß einen gellenden Schrei aus, denn -- war ihr gleich die Sprache der Jäger fremd und unbekannt, -- sie kannte das Kleid ihres Vaters, das sie blutig und zerfetzt, zu den Füßen des Pfarrers niederlegten. -- Mit rollenden Augen schlug das Mädchen die Hände zusammen, und rief mit dem Tone der entsetzlichsten Furcht: »Was ist hier geschehen? was mit meinem armen Vater vorgefallen? Wer Mitleid mit mir hat, verhehle mir nichts. Wer Gefühl in der Brust trägt, verheimliche einer bangenden Tochter nicht das Aergste!« Todtenstille im Kreise. Endlich faßte sich der Pfarrer, und sagte zu ihr in gebrochenem Deutsch: »Es ist besser, meine Tochter, daß der starke Christ die Zweifelschlange zertrete, denn die Wahrheit ist dem Himmel lieb und der Erde angenehm. Ihr Vater ist seit länger denn einer Woche abwesend. Er entfernte sich ohne unser Vorwissen, um in den unfernen Wäldern den Balsam zu suchen, der seine kranke Brust heilen sollte. Ein Indianer hat ihn begleitet. Keine Nachricht seitdem, bis auf diesen schrecklichen Fund, der uns nur zu deutlich macht, daß der Unglückliche eines wilden Thieres Beute geworden ist. Fassen Sie sich. Gottes Rath ist unerforschlich, aber weise.« Justine sank kraftlos in die Arme der Lainez, deren Augen selbst heiße Thränen entfielen. Eine erschütternde Scene folgte. Luis unterhielt seine Ordensbrüder von der traurigen Geschichte; James stand seinem Pflegevater bei, der in trüber Wehmuth verging, und auf das Ergreifendste immer wiederholte: »Meine Schuld! meine Schuld! meine größeste Schuld!« Justinens Schmerz wurde brennend wie die Wunde an ihrem sehnenden, zerrissenen Herzen. Sie stieß die Lainez von sich, den tröstenden James, den Doctor, der seine Leiden mit den ihrigen vereinigen wollte. -- »Weg!« rief sie außer sich: »Ihr Alle weicht von mir! denn Ihr habt unser Aller Elend verschuldet! Ihr habt meines Vaters Glück, seine Ehre, sein Leben gemordet! Was soll mir Eure Theilnahme! -- Weg auch du!« fuhr sie zürnend und weinend fort, indem sie den ehrwürdigen Luis, der sich ihr näherte, zurückwies: »Du trägst das Kleid dieser Mörder, dieser Diebe an Gut, Leben und Ehre! Weg! Deine weißen Haare lügen, wie deine fromme Stirne! Gebt mir meinen Vater zurück! Ich habe tausend Meilen gemacht, um Verbannung und Unglück mit ihm zu theilen, und finde ihn im Rachen eines Ungeheuers wieder! Und dieses Ungeheuer ist gnädiger als Ihr, denn es hat ihn schnell hinweggerafft, während Ihr ihn langsam hingerichtet habt! Kann ich denn meinen Erinnerungen so wenig entfliehen, als dieser qualvollen Gegenwart?« -- Sie drängte mit erneuter Kraft die Lainez von sich; ihr Auge fiel auf Ines, die ängstlich, aber freundlich zu der Fremden flehend, vor ihr auf den Knieen lag, ihre Hände drückte, ihr tausend schöne Worte sagte, und die kühlende beruhigende Frucht der Quembe bot; dem Gaumen der Erhitzten ein willkommenes Labsal. Die kindlichen reinen Züge der Indianerin stimmten Justinens Bewegung in sanftere Wehmuth um; die Leidende gestattete es, daß einige Tropfen des kühlenden Saftes ihre Lippen benetzten, sie litt die Liebkosungen der Indianerin; sie drückte dieselbe an ihre Brust. »Ja!« rief sie schmerzlich: »Du, fremdes Geschöpf, du bist hier meine einzige Verwandte! Jene, die meines Welttheils Farbe und Sitten haben, sind meine geschworensten Feinde! Sie haben meinen Vater in den Staub getreten, sie werden mich nicht verschonen! Sie haben ihn getödtet, sie werden auch mich vergiften. Nur von deinen Händen will ich meine Speise nehmen! Nur du, mein Kind, meine Schwester, nur du sollst bei mir sein, bis mich mein Gott wieder aus diesem Mörderlande führt!« -- »Beruhigen Sie sich!« sagte der Rector von Assumcion, ein Franzose von Geburt, schmeichelnd und süß wie Honig: »die arme Wilde hier versteht nicht, was Sie ihr sagen. Ihr Widerwille gegen unsern Trost ist dagegen unbegreiflich. Verwünschen Sie nicht uns, nicht dieses Land, das Canaan für Sie genannt werden mag. Gott hat Ihnen viel genommen, allein, wie er es gegeben, kann er es auch wieder entziehen. Ihr Vater ist in seinem Schooße, denn er ist in seiner wahren Kirche Grundsätzen gestorben. Sie haben noch den Schritt in diese Kirche zu thun, und je schneller Sie ihn machen, je schneller wird der göttliche Trost bei Ihnen einkehren.« »Monsieur!« rief Justine empört, und maß ihn mit zornigen Blicken. Der Rector ließ sich von dem Tone der Höflichkeit dadurch nicht abbringen. »Wie gut wäre es gewesen,« sagte er, »wenn Ihr würdiger Vater im Stande gewesen wäre, selbst, in eigener Person, seine Tochter dem Gotte darzubringen, dessen Gnade die letzten Jahre seines Lebens verherrlicht hat. Aber -- in seiner Ermangelung -- liegt mir, dem Vollstrecker des Testaments, das er vor seiner Abreise von Assumcion in meine Hände legte, ob, seine Pflichten gegen Sie und die Kirche zu erfüllen. Ein günstiges Zusammentreffen wird Sie schneller an's Ziel bringen. Pater Jose Aculcho, einer der würdigen Consultadoren des hochwürdigen Provincials zu Cordova, der hier steht, wird Sie unter seinem Schutze nach Cordova bringen, sobald unsere Umreise durch die ihm zugetheilten Doctrinen beendigt wurde. Im Kloster der Carmeliterinnen werden Sie Unterricht, theilnehmende Herzen und eine ewige sorgenlose Existenz finden, übereinstimmend mit den Bedürfnissen Ihrer Lage, und dem letzten Willen Ihres seligen Vaters!« »Mein Gott!« rief Justine, die nun erst begriff, wo Alles hinaus wollte; »was sagen Sie? Sie getrauten sich, mich, ein freies Mädchen, das Ihnen nicht in Lehre, nicht in Pflichten unterworfen ist, mit Zwang zu einem Dasein zu führen, das ich verabscheue?« »Ihr Vermögen, Ihres Vaters Erbe, liegt in unsern Händen, unbeschadet der Ansprüche, die wir noch dereinst auf Ihr europäisches Gut zu machen haben dürften,« lautete die trockene Antwort des Rectors. Justine blickte fragend und durchbohrend den Doctor Münzner an. Dieser nickte mit dem Haupte und sagte niedergeschlagen: »So ist's, beste Jungfer. Ihr Vater verlobte der heiligen Gesellschaft schriftlich sein Vermögen, _Sie_ der katholischen Kirche und einem beschauenden Klosterleben!« »O der Tücke, die ihn dazu gebracht!« versetzte Justine äußerst heftig; »Geldhunger war die Triebfeder Eurer Handlungen? So nehmt es denn hin, das elende Geld! Wo meines Vaters Leiche blieb, bleibe auch seine vergängliche Habe! Lassen Sie mich nur wieder von dannen ziehen um diesen Preis! Ich will nicht klagen, will nicht murren, will mein Brod vor den Thüren betteln! Nur hinaus aus diesem Lande, worinnen mich nicht einmal das Grab meines Vaters zurückhält! Hier sind noch einige Diamanten! Sie sollen von Werth sein! Nehmen Sie diese letzten Ueberreste einer Wohlhabenheit hin, die Ihre Brüder vernichteten. Lassen Sie mich jedoch zur Stunde fort! Hier lebt nicht mein Vater! nicht mein Glauben! Ich sterbe unter diesen Menschen!« »Arme!« sprach Münzner trübe vor sich hin; »_aus_ des Löwen Höhle führen keine Fußtapfen.« Der Rector lächelte über die Aufregung Justinens, und sprach mit dem Consultador spanisch. Dieser winkte mit der Gravität des Vorgesetzten dem Pfarrer, und sagte ihm: »Sie stehen mir dafür, daß die Person sich kein Leid anthut, und daß ich sie bei meiner Rückkehr wieder finde.« Justine, von Thränen übermannt, und das Gesicht in ihre Hände verbergend, beachtete nichts um sich her. Die Lainez und die Indianerin sprachen zu ihr, wie zu einer Bildsäule. Münzner ging händeringend im Hintergrunde des Gemachs auf und nieder. James starrte düster vor sich hin, und der Pfarrer entfernte das Volk, bis auf die Obern der Colonie. Dann sagte er bescheiden aber fest zu dem Consultador: »Mein Vater! ich erinnere Sie, daß mein Pfarrhaus kein Gefängniß ist. Noch viel weniger scheint mir die Jungfrau eine Verbrecherin.« »Sie gehorchen!« war die kurze drohende Antwort; »ich nehme Alles bei dem Provinzial auf mich.« »Bedenken Sie!« sagte Luis; »wenn der Generalcapitän erfährt...« »Was da?« brausten Consultador und Rector auf. »Hier ist der heilige Ignacio Generalcapitän. Wo wären wir der Excellenz zu Buenos-Ayres unterworfen? Haben wir nicht unsere Verträge, unsere Rechte? Wo die Gesellschaft befiehlt und den Tribut bezahlt, muß Monarch und Statthalter schweigen.« »Das nimmt kein gutes Ende!« sagte Luis: »ich protestire.« »Mademoiselle Müssinger ist eine Fremde!« sprach James, der nur mühsam bisher an sich gehalten: »wie wollen Sie, meine Väter, verantworten, was Sie thun?« »Wer spricht hier?« fragte der Rector drohend entgegen: »Mademoiselle ist durch den Tod ihres Vaters meine Mündel.« »Sie wollen die erschlichene Gewalt mißbrauchen!« rief James erhitzt. »Mein Sohn, bedenke, wo du bist!« mischte sich Münzner besorgt ein: »und Sie, meine Väter und Obern, vergeben Sie dem unbesonnenen jungen Manne, der ein schnelles Urtheil spricht.« »Das soll ihm übel bekommen!« sagte der Rector aufgebracht: »Des Provincials Nachrichten aus Deutschland reden von dem widerspenstigen Engländer, der seine Pflicht umgehen möchte. Das Provinzialat wird _ihm hier_ sein Urtheil sprechen.« »Unglücklicher!« seufzte Münzner, James Hand fassend: »siehst du? meine Ahnung!« »Mein Urtheil!« fuhr James auf: »Was habe ich Ihnen, was dem Orden gethan?« »Du hast viel gekostet, und unsere Erwartungen betrügen wollen,« antwortete der Consultador mit harter Stimme: »du hast schwere Buße verwirkt, und nur Nachgiebigkeit kann dir einen würdigern Platz in unsern Häusern erwerben.« »Nimmermehr!« entgegnete James: »Dieses unschuldige Lamm soll geopfert werden, und ich nicht minder? Machen Sie mich zu Ihrem Sklaven, aber nicht zu ihrem Bruder!« »Welche freche Sprache?« polterte der Rector. »Sie soll ihm vergehen,« sagte der Consultador: »die Bußkammer zu Cordova soll ihn zahmer machen. Für's Erste, Bursche, verlässest du diese Doctrina nicht. Wie für die Sennora, haften mir Pfarrer und Regidor für dich.« James knirschte. Münzner trat besänftigend vor ihn, und sagte zu dem unwilligen Herrn von Cordova: »Schonen Sie ihn um seines Jähzorns willen! Es wird sich Alles legen. _Ich_ bürge, daß Sie ihn ruhiger hier wieder finden.« »Wer bürgt uns denn für Sie, Pater Xaver?« fragte der Consultador höhnisch: »Ihr Schicksal habe ich in der Tasche. Ihr Provincial reklamirt Sie. Sie werden ungesäumt nach Europa zurückkehren, um sich vor ihm über den Ausschlag Ihrer Mission daselbst zu verantworten. Sie sind wichtiger Punkte angeklagt.« Münzner stand wie niedergedonnert; dann hob er die Augen gen Himmel und sagte: »Wie du willst, Herr! -- Aber dich zurücklassen, _hier_ zurücklassen, mein James?« setzte er bei. »Desto besser!« sprach der Rector bitter: »Euer Beispiel, Ihr Deutsche, verdirbt jeden guten Keim. Ihr bildet Raisonneurs, Grübler, und Grübelei führt zur Blasphemie.« James wollte sich voll Wuth von dem Doctor losreißen, der ihn begütigend fest hielt. -- »Sie werden dich noch binden lassen!« sagte er auf Deutsch zu dem Jüngling, und im selben Augenblick befahl der Consultador dem Alcalden, Negerketten herbeizubringen, und sie dem Jüngling anzulegen. Pater Luis trat schnell vor, und entgegnete mit edlem Feuer: »Meine Obern vergeben! Diese Dinge sind aber unbekannt in meiner Mission. Wir haben nicht Ketten, nicht Peitschen; nicht einen Strick, um einen Menschen damit zu binden. Diese armen jungen Leute sind meine Gäste. Die Gastfreundschaft duldet keine Mißhandlung.« »Gehorsam!« rief der Consultador. »Euer Hochwürden vergeben,« sagte der edle Greis wie oben: »ich bin siebzig Jahre alt geworden, ohne etwas Schlechtes zu thun. Ich will nicht erst jetzt anfangen, selbst wenn Don Philipp, unser allergnädigster Herr, es so zu haben begehrte. Wir sind hier auf dem Lande, unter harmlosen Menschen. Hier ist's uns auch in der Ordenskleidung vergönnt, ein Mensch zu sein. Ich bin der Vater meiner Untergebenen; der Freund der Fremden; nicht ihr Stockmeister. Verlangen Sie das nicht, meine Obern.« »Schwachkopf!« -- sagte der Rector verächtlich vor sich hin. Der Consultador drohte dem Pfarrer ernsthaft mit dem Finger: »Sie machen sich eine böse Note, lieber Mann,« sprach er: »Ohnehin hat Ihr Vikar, der nach Cordova zurückkam, Ihrer nicht zum Besten gedacht.« »Weil ich ihn fortschickte,« war Luis Antwort: »weil er in Kirche und Haus, bei Männern und Frauen Alles das that, was unser Heiland nicht gethan hat. Der ehrwürdige Pater Provincial wird aber auch mich hören, und nicht allein den tückischen Andalusier. So alt ich bin, scheue ich noch nicht, dem Recht zu Liebe, den weiten Weg nach Cordova.« »Ihr werdet ruhig hier verbleiben!« erwiderte ihm mit imponirendem Tone der Consultador: »Die Disciplinargesetze unserer Gesellschaft sind Euch seit einem halben Jahrhunderte bekannt, und somit kein Wort weiter.« -- »Ich bin kein Rebell,« antwortete der verblüffte Pfarrer: »aber was Sie verlangen, ist nicht meines Amts.« »Sie kommandiren Ihre Milizen als Oberst,« lachte der Consultador; »Sie verstehen es aber nicht, einen Menschen zur Haft bringen zu lassen! Sennor Corregidor! Sorgt Ihr, daß dieses Mädchen sowohl, als der junge Mensch getrennt in ein sicher verwahrtes Haus gebracht werden, bis zu meiner Rückkehr.« »Ruhig! du machst dich unglücklich, und mich noch elender, als ich bin!« sprach Münzner begütigend zu dem auflodernden James, der mit den Worten: »auch Sie mein Vater?« die Hände sinken, Alles mit sich beginnen ließ. Regidor und Alcade versuchten, den Befehlen des strengen Aculcho einige Milderung abzugewinnen, aber er faßte ihre schwächste Seite, indem er sagte: »Ihr seid excommunicirt, wenn Ihr länger widerstrebt! Der junge Mann ist ein unserm Hause Entsprungener, das Mädchen eine Ketzerin. Beide gehören vor unser Gericht, und der Generalcapitän zu Buenos-Ayres mit all' seinen Schergen hat ihr Schicksal nicht zu schlichten.« Das Wort »Ketzerin« machte die guten Leute, die um Justine beschäftigt waren, zurücktreten. Auch Ines entfernte sich, schüchtern ein Kreuz schlagend. James lachte bitter, und folgte finster schweigend dem Alcaden, der ihn fortführte. Der Regidor bedeutete Justinen, ihm ohne Widerrede zu folgen. Durch den Schleier ihrer Thränen emporsehend, fragte sie erschöpft: »wohin führt Ihr mich?« -- Da aber der Regidor ihr nicht antworten konnte, und keiner derjenigen, die ihre Frage verstanden, antworten wollte, so folgte sie ihrem Führer wie ein Lamm mit den Worten: »gleichviel, wohin es geht. Nur aus dem Bereiche dieser Menschen, deren Blicke mich vergiften!« -- »Sie, Pater Xaver,« sprach der Consultador, »geben mir Ihr Priesterwort, sich nur, um nach Cordova und von dannen nach Europa zu gehen, aus der Doctrine zu entfernen, und Ihrem Zögling auf keinerlei Weise zum Entweichen behülflich sein zu wollen!« -- Nach einigem Bedenken gab Münzner das Wort. »Das Erste mit Freuden,« sagte er: »ich hoffe, in einigen Tagen bereit zu sein, mit dem ersten Waarenkahn abzureisen. Das Zweite verspreche ich mit Leid; aber überzeugt, daß meine Hülfe meinen guten Sohn nur in größeres Unheil stürzen würde. Wenn übrigens die Bitte eines Mitbruders für Sie von einigem Gewicht wäre, so ersuchte ich Sie, die Tochter des verunglückten Müssinger gnädig und milde zu behandeln. Wir haben viel an ihrem Vater und Ihr verschuldet, meine Väter, was erst in der Folge klar werden dürfte. Mich, der ich das arme Werkzeug sein mußte, bald mit wohlwollendem, bald mit blutendem Herzen, ... mich ereilt jetzt das Schicksal; denn mein Loos in Europa wird ein hartes sein. Erschweren Sie es nicht, meine Freunde in Christo, durch die Leiden der unglücklichen Justine!« Die fremden Jesuiten sprachen hierauf kein Wort, und nannten den Fortgehenden verächtlich einen Träumer, dessen Zukunft hart, aber nicht ungerecht sein könne. Zugleich wurde die Lainez, von deren bisherigem Wirken man, durch die, fast gleichzeitig mit ihr angekommenen Berichte, genau unterrichtet schien, aufgefordert, bei Justine ihr Heil zu versuchen, und nichts zu versäumen, um diese auf den Weg des Heils zu führen. -- »Zu lange, wie wir vernehmen, arbeitet Ihr schon an diesem Geschäft,« sagte der Rector geringschätzend: »ich möchte Euch rathen, das Brod der Gesellschaft nicht als eine unnütze Arbeiterin zu verzehren. Im Gegentheile, wenn's Euch gelingt, die Widerspenstige, ehe der Pater Consultador wieder kommt, zu bekehren, sollt Ihr nach Verdienst belohnt werden. Die gottesfürchtige Frau von Guébriant, die sich vor den Gräueln der Regentschaft nach St. Fé flüchtete, bedarf einer Kammerfrau und Vorleserin, und dieser einträgliche Posten soll Euch durch mein Fürwort nicht entgehen.« Die Lainez, in ihrer Eitelkeit beleidigt, rümpfte, ebenfalls geringschätzend, die Nase, und antwortete: »ich danke Ihnen für den guten Willen, meine Väter; bin aber zu schwach, ihn zu verdienen. An dem Mädchen ist nicht das Mindeste zu ändern. Sie ist von einem Eigensinn, der Ihnen zu schaffen machen wird, und, da es nun einmal so ist, möchte ich rathen, sie lieber zu lassen, wie sie bisher war. Mein Streben ist, was sie betrifft, geendigt, und ich will die Freundschaft, die sie mir erzeigt, mit der sie mich gefesselt hat, nicht mit Leiden vergelten. Madame Guébriant wird eine andere Kammerfrau finden, und mich in Frieden nach Frankreich zurückkehren lassen, wo die Hitze nicht so unausstehlich, die Sprache angenehmer, und die Tracht weit anständiger ist.« -- »Das müßtet Ihr allerdings,« versetzte der Rector hochmüthig. »Wir gedenken nicht, unnütze Leute von zweifelhaftem Charakter in den Colonien zu füttern. Ihr werdet mit dem Deutschen Xaver abreisen, ein würdiges Paar träger Diener. Hebt Euch jetzo weg! Für eine gute Note wollen wir Sorge tragen!« Die Lainez ging mit diesem Bescheid. »Hätte ich Vermögen,« sagte sie mit Bitterkeit zu dem Pater Münzner, dem sie Alles erzählte, »so würden mich die gescheuten Finanziers schon freundlich gebeten haben, da zu bleiben. Pfui der Schande! ich eine Magd der alten unerträglichen Frau v. Guébriant? Um solchen Preis sollte ich meine schönsten Jahre einem Bemühen hingegeben haben, das täglich meinen Charakter und meine Existenz gefährdete? Aber nur Geduld, mein würdiger Vater! Man mißhandelt auch Sie. Lassen Sie unsere Kräfte vereint wirken. Mein Provincial wird unsere Berichte getreulich nach Rom befördern. Die Menschen hier am Ende der Welt sollen erfahren, was es heißt, einer Frau von Stande unwürdig zu begegnen.« »Madame Lainez,« antwortete der Doctor ruhig: »Laßt uns nicht Steine auf Andere werfen. Wir haben genug mit uns selbst zu thun. Wenn doch Ihr Geist ebenfalls die Erschütterung empfände, die der Meinige seit meiner Anwesenheit in diesem Lande empfindet! ich gehe nach Europa zurück, um elend zu werden, -- aber ich habe es nur zu sehr verdient.« -- Die Lainez entfernte sich achselzuckend, weil der Pfarrer eintrat. »Nach Europa zurück?« sagte dieser vertraulich, nachdem er an Thüre und Fenstern gehorcht hatte; »das wird Ihr Ernst nicht sein, Pater Xaver. Sie rennen in Ihr Unglück. Unsere Brüder in der alten Welt sind Leute, wie die in der neuen: arglistig, neugierig, unversöhnlich. Sie haben -- vielleicht unverschuldet -- das Ansehen der Gesellschaft Preis gegeben, weil unter Ihrer Amtsführung jene Gemeinde, der Sie vorstanden, verrathen wurde; das vergiebt man Ihnen nicht. Der Superior hat Ihre Abwesenheit benützt, sich rein zu brennen. Das Ungewitter bricht nun gegen Sie allein, später, aber schrecklicher, los. Opfern Sie sich nicht ohne Noth einem wilden Parteihasse, der vielleicht Ihr rüstiges Leben zwischen vier Mauern begräbt.« »Eine Strafe meiner Sünden,« erwiderte Münzner schwermüthig: »dann -- meine Pflicht. Gehorsam hieß mein Gelübde. Die Obern rufen, ich folge.« Luis schob sein Käppchen ungeduldig hin und her. -- »Die Gesellschaft,« sagte er schnell, -- »ist im Begriff, von einigen Gliedern derselben durch eine Ungerechtigkeit geschändet zu werden. Ich erfülle meine Pflicht gegen ihr Wohl auf bessere Art, wenn ich dieser Schande vorbaue. Ich bin ein alter, verbauerter Pfarrer, mein Bruder, aber eben weil ich alt bin, kann auch der liebe Gott rufen, wann er will, und ich will rein vor ihn treten. Ihr armer Pflegesohn, Ihres Freundes ärmere Tochter, sollen dem schmutzigen Eigennutze des Quinquevirats zu Cordova nicht geopfert werden. _Sie_ nicht den Mißgriffen Ihres Superiors. Lassen Sie die Väter abreisen. Meine Worte haben bei dem Regidor und dem Alcade, die ich erzogen, die _ich_ aus der Gemeinde gewählt habe, Gewicht und Einfluß. Ein Wink von mir, und sie lassen die widerrechtlich Verhafteten frei. Ich befördere dann ihre Flucht.« »Sie, edler Mann, wollten sich der Rache der Oberen blosstellen?« »In meiner entlegenen Doctrine, an den Gränzen des Gebiets barbarischer Völkerschaften, achte ich ihrer Drohungen für meine Person nicht. Sie sollen mich nicht wegführen aus dem Lande, wo ich wirkte, wo ich den Tag der Auferstehung erwarten will.« »Gesetzt, Sie retten meinen Zögling und das arme Mädchen, dessen Schicksal auf meiner Seele brennt ... was soll aus ihnen werden? werden sie nicht, mitten in einem unermeßlichen Lande, aller Hülfsmittel beraubt, dennoch wieder in die Hände der Feinde fallen, oder elend zu Grunde gehen?« »Hören Sie mich an. Die Berge, die wir von hier aus sehen, verketten sich mit den Alpgebirgen Brasiliens. Diese Höhen, dem Namen nach dem Scepter Portugals unterworfen, sind ihrem Beherrscher beinahe völlig unbekannt geblieben. Einzelne Wachtposten, die man so weit herausrückte, sind kaum vemögend, gegen die Schaaren unabhängiger Eingeborner ihre Existenz zu behaupten. Thäler und Berge von erstaunlichem Umfange haben noch nie einen Portugiesen gesehen. In einem dieser Thäler, umringt von Urwaldungen und von gähen Abstürzen, versteckt wie das Paradies, das noch kein Weltumsegler wieder aufgefunden, lebt, jung und kräftig, ein kleiner Staat, der unsern Flüchtlingen und Ihnen vor der Hand völlige Sicherheit gewähren würde. Unsre Obern, wie die Regierungen von Spanien und Portugal, halten, trotz ihrem Scharfsinn und ihren Nachforschungen, das Dasein dieses kleinen Staates für eine Fabel, für eine müßige Volkssage. Dennoch existirt diese Pflanzschule eines reinen Christenthums, und die Republik: »der gute Jesus in den Wildnissen« ist kein Mährchen einer träumerischen Amme. Ein Vetter meines Hauses, der in dem Regimente Arragon Capitän gewesen, der in der Folge, über Zurücksetzungen verdrießlich geworden, zu Cordova das Kleid des heiligen Franziskus genommen, mußte, um eines schweren Handels willen, den er mit unsrer Gesellschaft hatte, flüchtig werden, und zog sich in jene Wildnisse zurück, wo er eine aufblühende Gemeinde fand, an deren Spitze er jetzo als Vater, als Priester, als Feldherr und König steht. Es ist beinahe ein Jahrzehend verflossen, seit ich die letzte Kunde von ihm empfing, aber der riesenhafte Körperbau des Mannes verbürgt mir die Dauer seines Lebens. Ich sende Euch, meine Freunde, an ihn. Er hat mich einst wie seinen Vater geliebt, und wird mir ein freundliches Andenken bewahrt haben. Dem Genügsamen wird eine Wildniß bequem, und die Gelegenheit nicht fehlen, Euch in den Norden unseres Continents zu schaffen, wo Englands Scepter schützt, und Penn's Colonie jeden Glaubens-Bruder willig aufnimmt. Oder in Portugals Cabinet reifen günstigere Ansichten für die Freiheit der Confessionen, zugleich mit gehässigern gegen unsere Gesellschaft, deren wachsende Macht bald den Neid der bis jetzo glücklich geblendeten Regenten beunruhigen dürfte. Auf jeden Fall: weit von Jupiter sein, schützt vor dem Blitze! Beherzigen Sie das, mein Freund. Der Indianer, der vor zehn Jahren, nach dem guten Jesus in den Wildnissen verschlagen, mir davon Meldung zurückgebracht, lebt noch, und sein Gedächtniß wie seine Sinne sind rüstig und frisch. Geprüfte Leute in nicht geringer Anzahl sollen Euch geleiten, und Euch zum Frieden führen, den man in dieser sturmbewegten Welt und Zeit nur in der Einsamkeit der Troglodyten finden mag.« »Mann! ich staune vor den kühnen Schöpfungen Ihres jugendlichen Geistes! was Sie sagen, gleicht einem poetischen Traume!« »Sind denn diese Landschaften nicht Gebilde der kräftigsten Poesie? noch sträubt sich ihre Ueppigkeit gegen die Ketten unsers Verstandes; noch ist dieser Boden frisch. Europa ist ein ausgebrannter Vulkan; hier sprudelt noch Urkraft, und auf dem ungewöhnlichen Schauplatze kann noch Ungewöhnliches gedacht und gethan werden. Gedenken Sie meines Vorschlags. Ich will jetzt an meine Kinder die Lebensmittel austheilen, die sie heute verdient haben, und die Kähne unsrer Herren mit Vorräthen versorgen, daß sie morgen ungehindert nach der nächsten Doctrine abreisen können.« Münzner überlegte lange und schwer. Er seufzte ängstlich auf: »warum kam mir die Erkenntniß nicht früher? warum erst jetzt plötzlich nach dem Verschwinden, nach dem Tode des Senators? welche Zukunft von Leiden? und dennoch, wie so heiter gegen die Vergangenheit! fünfzig Jahre, die ich in stolz ruhigem Scheinbewußtsein verlebte, weisen mir nur ihr nacktes trauriges Gerippe. Keine Blüthe in irgend einer Furche, worein ich ein gutes Saatkorn zu legen glaubte! elend war meine Saat! O, so vollende sie sich denn an mir, dem Schöpfer so vielen Unglücks! O, so geißle mich die Pflicht, in deren Dienste ich Herrliches zu vollbringen glaubte, indem ich nur Böses schuf. Losgerissen von der Welt, will ich mich _hier_ zur Sühne geben, damit jenseits mein Loos milder werde! die Gesetze meines Standes haben mir die Ruhe genommen, so mögen sie auch meine Tage hinnehmen. James, der junge in's Leben tretende Mann, gehe hin in Gottes Namen. Vielleicht bringt ihm die Wüste Gewinn; vielleicht segnet in der Wüste der Himmel seine Liebe! ich will keinen Theil an seinem Schicksal haben, damit ihm nicht einst geschehe, wie mir. Ich gehe aber, wohin mich Beruf und Gehorsam ruft: zur ungerechten -- ach! zur gerechtesten Buße!« Ines trat zu dem Bekümmerten, zu dem Entschlossenen. Sie brachte Erfrischungen, und sah traurig aus. Münzner fragte nach der Ursache ihrer Niedergeschlagenheit. »Euer Sohn dauert mich,« sagte das Mädchen unbefangen, »und mit der jungen Sennora habe ich viel Mitleid. Warum sperrt man sie ein? Euer Sohn brütet stille vor sich hin. Die Sennora weint, zürnt, und denkt mit finstern Augen nach. Mit Euerm Sohne könnte ich reden, aber das geht nicht wohl an. Die Sennora verstehe ich nicht. Wenn ich jedoch zu ihren Füßen sitze und sie wehmütig anschaue, so ist's als ob sie wüßte, was in mir vorgeht, denn sie umarmt mich dann und herzt mich, als ob sie meine Schwester wäre. Sie ist so gut, und muß, wenn sie auch eine Ketzerin ist, in den Himmel zum Vater kommen; nicht wahr, Don Xaver? Pater Luis hat mir versprochen, daß ich auch meine Mutter im Himmel finden sollte, ob sie gleich nicht getauft sei. Die Sennora wird ja auch darinnen nicht fehlen.« Das plaudernde Kind wartete vergebens auf eine Antwort. Münzner sah düster mit übergeschlagenen Armen vor sich hin. Ines blickte verlegen nach dem Fenster. »Soll ich das Gitter schließen, Vater Xaver?« fragte sie schüchtern; »der Abend kommt, die Fliegen finden sich ein, und -- seht doch, wie es plötzlich dunkelt ... wie es Nacht wird...!« Sie lief zum Fenster, sah zum Himmel, und schlug mit einem Schrei die Flügel zu. »Ach! bei unsrer lieben Frau vom Rosenkranze,« rief sie erschrocken; »seht doch, mein Vater, welche ungeheure Menge von Aorkani[4] durch die Luft zieht und sie verfinstert! der Zug macht ein schwarzes Dach über die ganze Mission! Ach, wie das schauerlich durch die Wolken fliegt! das bedeutet ein Unglück, ein schweres Unglück, mein Vater!« »Aberglaube!« sagte Münzner verdrüßlich. »Mit Eurer Erlaubniß,« versetzte Ines; »es hat seine Richtigkeit, was ich sage, nur glauben es unsere Leute hier nicht, weil sie vom quaranischen Volke sind, und ich ein Abiponerkind bin. Sie lachen der Heuschrecken, wir fürchten sie aber, und immer ist etwas Schweres geschehen, wo diese Unholde vorüberzogen. Wenn nur _uns_ die heilige Jungfrau gnädig bewahrt. Ich bringe ihr alle Sonntage einen frischen Strauß im Namen der Gemeinde. Die fremden, schwarzen Herren mögen sehen, wie _sie_ fertig werden.« »Ei!« sagte Münzner verweisend; »Ines, ist das Christenliebe?« Ines schämte sich. Sie entgegnete schüchtern: »Ihr habt Recht, Vater Xaver. Ich habe gefehlt. Sagt es dem Vater Luis nicht. Er wird es schon in der Beichte hören. Aber mir kömmt immer vor, die beiden Herren von Cordova seien nur in Euer ehrwürdiges Kleid verkleidet. Vater Luis und Ihr, -- Ihr seid ganz anders, und ich möchte lieber Zeit Lebens bei Euch allein bleiben, als nur eine Stunde lang bei dem hagern Herrn von Assumcion, der mich immer so seltsam ansieht, wie der ehemalige Vikar, oder besser: wie die Schlange in der Savanne.« Die Glocke der Kirche läutete. Ines mußte zur Theevertheilung. Dieses Geschäft wurde, wie alltäglich, abgethan. Während Consultador und Rector mit Pater Luis und Xaver das frugale Abendmahl einnahmen, trug Ines auch den armen Gefangenen ihre Speisevorräthe zu. James und Justine bewohnten zwei getrennte Räume im Lagerhause. Des Alkade Sohn, der Wächter des jungen Engländers, brachte die Speisen in seines Gefangenen Gemach. Justinens Wächter ließ die freundliche Ines gern zu der trauernden Sennora. Justine saß an dem Gitter der Fensterluke, und sah dem Glanzspiele einiger Leuchtkäfer zu, die auf den schlanken Stauden hingen. Sie erschrak ein wenig, als Ines Finger ihre Schulter berührten; aber der Ausdruck der Freude folgte dem Schrecken. Hastig zog sie das liebe Mädchen an sich, weigerte sich, von den Speisen und dem würzigen Tranke zu genießen, und gab der Indianerin durch Geberden zu erkennen, daß sie eine Bitte an dieselbe richten wolle. Sie zeigte alsdann auf die Matte in der Ecke, auf den großen leeren Raum um sich her, und versuchte der Ines begreiflich zu machen, daß sie sich allein zu bleiben nicht getraue, und es gerne sehen würde, wenn das dienstfertige Mädchen die Nacht bei ihr zubringen wolle. Ines verstand Justine alsobald, und zeigte sich eben so schnell bereit, ihrem Wunsche zu entsprechen. Der Wächter mit der Lampe wurde hinweggesendet, die Thüre wieder mit den hölzernen Riegeln von außen verschlossen; tiefe Ruhe und tiefes Dunkel kehrten in dem Gebäude ein. Auch von außen wurde Alles ganz still. Drei Zeichen mit der Glocke gaben den Befehl allenthalben die Lichter auszulöschen, und die Straße im Dorfe wurde nur noch in dem Augenblicke belebt, als der Pfarrer nebst mehreren, mit Harzfackeln versehenen indianischen Knechten seine Gäste von Cordova und Assumcion nach ihren Schiffen führte, wo sie die Nacht zuzubringen begehrten. Pater Luis kehrte mit seinen Begleitern nach Hause zurück, und schloß sein Hofthor. Die Herren auf den Schiffen streckten sich unter dem leichten Zeltverdeck derselben auf ihre Matten. Die Schiffer, ein jeder an seinem Ruderplatze, duckten sich nieder, hüllten die Köpfe in ihre Mäntel und schliefen ein. Unter Akazien am Ankerplatze schnarchten die müden Payquas. Ein Neger hielt auf dem Vordertheile eines Kahns, bei glimmender Laterne, Wache, mit seiner Vogelflinte spielend. Noch mehr beschäftigte ihn jedoch die Chicaflasche und er entschlief gleich den Uebrigen. Grabesruhe auf dem dumpfmurmelnden Flusse, an seinem Strande, in dem Missionsorte. Der umgehende Wächter in demselben hatte sich vor einem unbedeutenden Regenschauer in seine Hütte zurückgezogen. Auf der Gasse athmete keine Menschenseele. Da kam von Süden her ein fernes, leises Getrappel. Es schwieg in kleiner Entfernung vom Dorfe. Einige Hunde knurrten, schwiegen jedoch ebenfalls plötzlich, und mehrere leicht gleitende Schatten kamen über Zaun, Graben und Gehäge in den Ort herein; mit Blitzesschnelle hin und wiederfahrend, schauend, horchend, verschwindend, wie sie gekommen waren. Geräusch von leise webenden Sägen, Knarren von aufgehenden Gatterthüren, und über den breiten Fahrweg, weit sich aber alsdann über den frischen Rasen zu beiden Seiten desselben verbreitend, zog still und geräuschlos eine Schaar von Reitern in das Dorf. Stumme schnaubende Hunde ihnen zur Seite, lange Speere in ihren Händen; versteckte Fackeln mitten im Zuge. Halt auf dem Platze, kurzes unverständliches Gemurmel unter den Nachtgästen, plötzlich hochblinkende Feuerbrände, entsetzliches Geheul und kriegerischer Ruf. Dieser Schrei, die Losung des Entsetzens, dringt wie der Donner des Himmels in die friedlichen Hütten der Quaranier. Schlaftrunken springen die Männer an die Thüren und Fenster. Zum zweitenmale tönt der gräßliche Schrei, und, mit dem Tone zugleich, fliegen brennende Pfeile in die Stroh- und Binsendächer der Cabanen. »Die Abiponer! 's ist ihr Kriegsruf!« antwortete der Weiber Wehlaut, und wüthend greifen die Männer nach der Axt. Die Glocke klingt gellend vom Thurme. Der nachlässige Wächter erinnerte sich zu spät seiner versäumten Pflicht. Indessen weht aber schon der Brand in der Luft, würgt schon der Feind am Boden. Ein wehmüthig Schauspiel! wilde Reiter, nackt auf den Pferden hängend, von abenteuerlichem Kopfputz gräßlicher gestaltet, bestrichen mit grellen, Blut und Tod kündenden Farben rasen hin und her durch die Gassen, schmettern mit ihrer fürchterlichen Schleuder alles zu Boden, was an ihnen vorüberrennt, werfen ihre langen Speere nach der keuchenden Menschenbrust, und Brände in die Gluth, damit die Flammen noch höher aufflackern, die betrübende Scene würdig zu beleuchten! Eine Horde wilder Räuber hatte das Lagerhaus erstürmt, sich der Waffen und Mundvorräthe bemächtigt. Die Quaranier konnten ihnen nirgends die Spitze bieten, nirgends ihrer Raublust ein Ziel setzen; kaum dem Morde entgehen. Denn in engem Kreise hielt um den Missionsort eine furchtbare Linie von Reitern mit drohendem Speere, und nur die Verzweiflung selbst schlug sich durch. Mit den Bolas bewaffnet, die jeder Bauer an sein Pferd hängt, wenn er über Land reitet, warfen die Entschlossensten der Quaranier einen Trupp von Pferden darnieder, öffneten ihren Freunden und Verwandten einen Paß. Die dem Strande zunächst wohnenden Leute flüchteten sich nach den vor Anker liegenden Schiffen. Die Herren derselben, von dem Mordgetöse aufgeschreckt, befahlen, die Seile zu kappen. In die Strandfluth des Flusses stürzte sich die hülfsbedürftige Menge; Kinder und Greise auf den Schultern der Eltern, der Söhne; sie jammerten nach Hülfe, nach Aufnahme, kaum die Köpfe aus den Fluthen hebend. Umsonst; die Väter auf den Kähnen, nur ihre eigene Rettung vor Augen, fürchteten der Schiffe Ueberfüllung, wiesen die Flüchtlinge mit harten Worten zurück, ließen die Fahrzeuge stromabwärts treiben. Aber Noth kennt kein Gebot; aber die Abiponer waren im Rücken der Flüchtlinge. Die riesenhaften Payaquas, die das Ruder in Händen, -- obwohl blinde Heiden, gewissenhafter den Rückzug ihrer Herren vertheidigten, als diese das Wohl ihrer christlichen Mitbrüder sich zu Herzen nahmen, -- fielen todt hin unter der Uebermacht. Schon netzen die Wellen der Parana die Füße der Abiponerpferde; schon stürzen sich diese wilden Krieger blutbegierig bis zum Kinn in den Strom... Gewaltsam halten die Flüchtlinge von Dominica die Schiffe auf, schwingen sich gewaltsam hinein, und die Väter müssen geschehen lassen, daß wider ihren Willen das treue Holz der Algarova auch die schlechten Indianer dem Mordstahle entführt. Welch ein Graus, wendet man den Blick von jenen Geretteten nach dem brennenden Pfarrhause. Vergebens stürmt die Glocke der Kirche. Sie vermag nicht dem lang gedehnten Brande in den hölzernen Gebäuden und Rohrwänden zu wehren. Sie vermag nicht, die treuen Diener zu erwecken, die für ihren Vater auf der Schwelle seines Hauses das Leben hingegeben haben. Sie haben sich umsonst geopfert. Der Raub drang dennoch hinein. In dem sonst lebendigen Hofe regt sich nur noch der von Flammenangst und Todeskampf gepeinigte Strauß, der von zwei Pfeilen durchbohrt, mit den ungelenken Flügeln flatternd, einen Ausweg sucht, und -- blind vor Schreck -- nicht findet. Ferne tönen die Silberglocken des Rehs; es sucht seinen Herrn; doch dieser fällt so eben, -- mit dem Alcade dem Lagerhause zueilend -- in die Hände des barbarischen Feindes, während auf den Stufen der Kirche Pater Xaver von einigen Abiponern gebunden wird, die in ihm den Padre des Orts zu fangen glauben. -- Aus den Fensteröffnungen des Lagerhauses, das ebenfalls schon brennt, dringt nebst dichten Rauchwolken der Wehruf ängstlicher Weiber. Zwei Krieger, furchtbar anzuschauen in den ungeheuern Federkronen, die ihre Eitelkeit dem Straußvogel der Savannen sammt der Haut abstreifte, stürmen hinein, dem Rufen entgegen. Krachende Thüren stürzen von oben auf sie hernieder. Ein Mann mit zwei Weibern, außer sich, mit versengten Haaren, stößt auf die Wilden, die ihn mit Löwenkraft aufhalten, packen und sammt seinen Begleiterinnen in's Freie schleppen. Hier lodern Fackeln und Brandglut. Hier halten die Caziken auf ihren dampfenden Gäulen, und unter ihren rothen goldverzierten Kopfbinden hervor rinnt der Schweiß der Ermattung auf die Brust der Starken. Der Anblick schöner Frauen reizt der rauhen Obern Lust. Ein Streit droht zwischen Rettern und Befehlshabern zu entspringen, da wirft sich das jüngste der Weibern zu Füßen des Obersten, und ruft ihm zu: »Siehst du denn nicht, daß ich deines Volkes bin? Gnade deshalb und Schutz für mich und dieses Weib, das meine Schwester geworden ist!« Verwunderung spricht aus den Blicken der Zuhörer; jedoch überwältigt von dem süßen Klang der vaterländischen Zunge, klatschen sie lebhaft in die Hände, und rufen: »wahrlich! sie ist ein Kind unsers Großvaters, und sie mit ihrer Schwester soll heilig sein und frei!« Justine und Ines wurden auf weiße Pferde gehoben, und folgten dem Zuge der Führer, die sich den Jammer besahen, den sie angerichtet. James wurde in der Kirche mit einigen andern lebendig Gefangenen, unter welchen sich sein Pflegevater befand, zusammengebunden. Nicht die Schmerzen der Brandwunden, die er, im Begriff, Justine zu retten, davongetragen, nicht die Ungewißheit seiner traurigen Lage zerriß ihm Herz und Gehirn. Seines zweiten Vaters, Justinens Verhängniß war seine Plage, war sein Kummer. -- Er weinte Thränen des Mitleids und ohnmächtiger Wuth auf die Hände, die gebundenen Hände seines ehemaligen Versorgers. Dieser stand vor ihm, -- aufgerichteter als je -- in seinen Leiden, wie ein verklärtes Menschenbild. »Wenn eine Folter meine Seele preßt, so ist es die Angst um dich, um Justine,« -- sagte der Muthiggewordene. »Mein Schicksal beunruhige dich nicht. Glaube mir, in diesem Drange des Unglücks wird mein vom Zweifel und von der Sünde gespaltenes Herz wieder _eins_. Es klammert sich wieder an _eine_ Hoffnung an: an die auf unsern Heiland. Nun ist der Augenblick gekommen, in welchem ein verlornes halbes Jahrhundert vielleicht durch die Märtyrkrone, die so vielen meiner Brüder zu Theil geworden, Bedeutung gewinnt. Diese Krone ist die schönste, denn sie ist eine versöhnende!« James schwieg niedergeschlagen, theils von der Würde des Redners ergriffen, der in seinen Banden so frei war, theils von der Nichtigkeit aller Trostgründe überzeugt, in einer Stunde, deren nächste Minute allen Ueberwundenen den Tod bringen konnte; -- gewisser, als der nächste Mond ihre Freiheit. Münzner blieb aber ruhig, und betete still für sich aus vollem Herzen. Inzwischen war die Nacht aus geworden, und der Morgen trat aus der Dämmerung. Wie die Sterne erbleichten, so erbleichte auch der Brand von Santa Dominica. Die von dem Sonnenauge beschämten Flammen krochen gebändigter in das stürzende und verkohlte Sparrenwerk zurück, aber die schwarzen rauchenden Stätten zeugten von ihrer Wuth, und der Anblick der Leichen in den Gassen und Räumen der Mission von der bösen, bösen Nacht. Die Hüter der Gefangenen bedeuteten diese, sich auf den Weg zu machen. Auf dem Platze klang die Pfeife und die dumpfe kleine Trommel, zum Aufbruche mahnend. Die Gefangenen wurden mit Lianen auf Maulthiere gebunden, und deren Zügel von Reitern geleitet. Der Abzug der Abiponer Horde war siegreich und lärmend. Jeder Krieger, beritten, und noch einige Pferde zum Wechseln neben sich führend, hatte sich mit Beute aller Art beladen. Die leichtesten Schwärme hüteten die Seiten des Zugs, in dessen Mitte die blöckenden Schafheerden, die gleichmüthigen, aber vor Hunger brüllenden Ochsen in unübersehbarer Zahl gingen. Schaaren von Hunden hielten diese lebendige Beute zusammen; und ihr Geheul und Gebell bildete, vermischt mit dem Getöse der plaudernden, lachenden und singenden Wilden, einen seltsamen Einklang. Ueber erstochene Pferde und Menschen ging der Zug hinweg, wie über den weichen Rasen, an den Häusertrümmern vorüber, und südwärts durch niedergetretene Tabaks- und Cacao-Pflanzungen. Die Gegend, die gestern noch in allem Reize des Wohlstands und der Herrlichkeit geblüht hatte, lag nun zerstört vor den Augen der Fortziehenden. Der rückwärts Blickende sah mit Wehmuth die Rauchsäulen aus den Trümmern Dominica's emporsteigen, und die hohen Palmen ihre Blätter über dem höllischen Schauspiele senken. So weit das Auge auf der Parana reichte, war kein Schiff mehr zu sehen. Die gewandten Abiponer stellten sich hin und wieder aufrecht auf die trabenden Rosse, und wendeten ihr Falkenauge im Rennen nach allen Seiten hin. Auf dem Flusse konnte nichts mehr wahrgenommen werden, und so lenkte denn der Trupp der Anführer, der weit vor dem ganzen Zuge hinritt, landeinwärts. Noch einige Zeit ging es vortrefflich durch Baumwälder und schattige, frisch grünende Sumpfebenen. Bald änderte sich jedoch die Landschaft. Immer mehr und mehr wichen plötzlich die Wälder zurück. Der hohe Baum schrumpfte zum niedern Busch, der Busch zum dürftigen Gestrüpp ein, und endlich verkroch sich auch dieses in einen nackten einförmigen Boden, der kaum hin und wieder Sandstriche bot, aber nirgends einen Stein. Auf dieser Fläche angelangt, die in der Spätmorgenhitze den Gefangenen unerträglich schien, fing der Abiponer erst an aufzuleben. Die unbeschlagnen, leicht gezäumten Pferde flogen nur dahin. Lebhaft schwangen die Reiter ihre hölzernen Speere, und die kleine Jagd begann. Nach allen Seiten streiften die Hunde aus, um Kaninchen aufzustöbern. Der Abiponer, ohne seinen Weg zu unterbrechen, stellt sich auf sein Roß, spannt den Bogen, zielt und fehlt fast nie das von den Hunden herbeigetriebene Ziel. Aber mitten in dieser Beschäftigung wird von den Vorderreitern ein langer grüner Saum gesehen, der längs dem Boden hinzieht, und das Meer zu sein scheint, oder ein viele, viele Meilen lang gedehnter Strom. Sie werfen ihre Federbüsche in die Luft, und ihr jubelndes Geschrei, das sich den andern schnell mittheilt, verkündigt die Nähe einer ihnen angenehmen Gegend. Die Pferde werden heftiger angetrieben. Gleichviel, ob einer der Reiter stürzt. Er verläßt das zu Grund gerichtete Thier, um sich auf ein anderes zu schwingen. Immer näher kömmt der grüne Saum; höher bald, bald niederer scheinend. »Die Savanne!« ruft Abiponer und Quaranier aus; jener freudig, dieser niedergeschlagen, weil sich dort sein Schicksal entscheiden soll. Man betritt endlich den Rand dieser ungeheuren Grasebene, auf welcher kein Baum steht, und kein Fels und kein wirthliches Dorf: nur etwa die leichte Hütte des wilden wandernden Jägers. Ein riesiger Strauß steht, wie der Wächter der grünen Wüste an ihrem Saume, und gafft neugierig nach den Kommenden. Ein gewandter Schütze sprengt auf ihn an. Zu spät denkt das verfolgte Wild an die Flucht. Schon wendet es sich, spreitet die Flügel aus, um mit ihrer Hülfe, schneller als das Pferd, das Weite zu suchen, -- da zerschmettert ein Pfeilschuß ihm das Beingelenk!... er stürzt, wird eine Beute des Siegers, der ihm die Federn entreißt, mit denselben den Sattel seines Pferdes schmückt, und lachend mit den Freunden in die Ebene einsprengt. Welch' ein reges Leben in diesen Flächen, von unglaublich hohem Grase bewachsen! Flüchtige Hirsche durchstreifen, wie ungewisse Schatten, kaum durch ihre Geweihe kenntlich, die Ferne. Tausende von wiehernden Pferden fliegen rechts durch die Halmen. Nicht geringere Geschwader von Stieren setzen links durch das Grasmeer und lagern sich brüllend in demselben, das ihnen Schatten vor dem glühenden Sonnenbrand gewährt. Und der wilde Abiponer, dessen Pferd bis zum Sattel in den Halmen schwimmt, ereilt das flüchtige Roß, und zähmt es durch die einfache Schlinge; er fällt den wildern Stier an, zerrt ihn mit der Schleife zu Boden, tödtet ihn mit einem Streich, und nicht Nothwehr, nicht Hunger rechtfertigt die tollkühne That: nur der leichtsinnige Muthwille, der, überlegener Kraft bewußt, und ihr vertrauend, spielend die Gefahr reizt, hat sie ersonnen, und begonnen und vollendet. Wenn nun die armen Gefangenen im Rücken des Zuges jene Aeußerungen ungebeugter Kraft wenig beachteten, so waren sie doch den Freiern, mit solchen Scenen Unbekannten, oder derselben Entwöhnten, ein besseres Schauspiel. Justine, deren Pferd von einem höflichen Abiponer geleitet wurde, vergaß Leiden und Gefahr in dem neuen Anblick. Ines sah mit Herzklopfen die Gebräuche ihres Volkes wieder, und die Erinnerung einer recht frühen Zeit wurden völlig in ihr lebendig, und mit der Erinnerung kamen auch die schweren Worte der Abiponer häufiger in ihren Kopf, geläufiger auf ihre Zunge. Ein Abiponer-Sklave, der einige Jahre zu Santa Dominica gearbeitet und gelitten, hatte damals die Landsmännin gekannt, und mit ihr die heimathliche Sprache geredet, und dem nun längst verstorbenen Manne verdankte Ines nun die bedeutende Hülfe, sich gegen ihre Landsleute verständlich zu machen, und ihrer Freundin Justine, die nicht einmal spanisch redete, nützlich werden zu können. Wie gerne hätte sie dann und wann die Spitze des Trosses verlassen, um nach den lieben Gefangenen zu sehen, nach dem Vater Luis, dessen Leben sie auch erbeten, nach dem jungen Manne, an dem sie so innig Theil nahm, nach dem fremden Geistlichen, ihr ehrwürdig, weil er des Jünglings Pflegevater gewesen. Auch Justine, -- obschon das Herz in dauerndem Groll von Münzner und James gewendet, -- sah -- unfähig ein schönes Mitgefühl zu unterdrücken, -- häufig nach der Gegend hin, wo die letzten Staubwolken aufflogen. Die Leute, die ihren Groll verdienten, waren seit der Schreckensnacht gewissermaßen ihre versöhnten Freunde geworden. Nur von _ihren_ Lippen, mitten unter Hunderten von tobenden Barbaren, konnte sie ja die Töne hören, die ihr Ohr verstand; die Töne der Muttersprache, die unter solchen Umständen den Gemeinsten im Glauben des Vornehmsten adeln. Aber -- es war nicht möglich, von den Obern der Schaar sich zu trennen. Der Führer, ein alter Cazik von einnehmenden Zügen und kühnem Blicke, ritt zwischen den Mädchen, und ließ sie nicht aus den Augen. Neugierig und verwundert betrachtete er von Zeit zu Zeit Justine, und ihr edles, bleiches Gesicht flößte ihm, wie seinen Leuten, sichtlich Ehrfurcht ein. Nachdenkender betrachtete er Ines, und, wie selten auch seine Geberden zu Justine sprachen, -- so häufig redete sein Mund zu Ines. »Du armes Kind ohne Vater!« sagt er mitleidig zu dem Mädchen; »dort dämmern die Spitzen unserer Dächer. Vergiß alles Leid. Du wirst viele Mütter und Schwestern finden, und ein Jeder von uns ist dein und der Fremden Freund, weil du sie liebst.« »Ihr werdet doch den Uebrigen kein Leid zufügen?« fragte Ines forschend dagegen. »Der Capitän, mein Bruder, hat darüber zu entscheiden, und die weise Pilagoterigenat!« erwiderte der Cazik achselzuckend; »je mehr ich aber dich ansehe, Kind, je bewegter wird mein Herz. Ich habe nie eine Tochter gehabt, sonst müßtest du die Meinige sein.« Das Lager des Stamms wurde sichtbar und deutlicher. Leichte Rohrdächer auf schlanken Pfählen ragten in die Luft. Einige zerfetzte, irgendwo den Spaniern abgenommene Zelte brüsteten sich, von fliegenden Wimpeln umgeben, in der Mitte der regellos zerstreuten Hütten. Ein Graben schloß das Lager ein, aber diesseits des Grabens weideten die Pferde des Volks, und der erste Laut, den die Ankömmlinge vernahmen, war die Glocke der Madrina[5]. Einige Augenblicke später ertönte ein gellender Ruf aus vielen Weiberkehlen. Aus dem hohen Grase stiegen Pferde auf. Auf ihrem Rücken hingen die abiponischen Weiber: Mädchen und Frauen. Die Ersteren trugen den aus der Ferne gesehenen Männern Schläuche mit Chika, die Zweiten die Säuglinge an der Brust entgegen. Ihr Jubel war grenzenlos, und scheuchte die Hundebanden in's Weite, die außerhalb des Lagers an den Ueberbleibseln der geschlachteten Ochsen und Schafe nagten. Gestreckten Laufs kamen die Weiber heran, -- schöne Gestalten, den wohlgebauten Männern nicht nachstehend, freundlichen Angesichts, mit rabenschwarzen Haaren. Das Wiedersehen hatte alles Feuer des Süden. Ein lustiges Getümmel mischte sich in den kriegerischen Zug. Die Lanzen und Bogen wurden den Männern abgenommen, der Meth ihnen kredenzt, und nach dem ersten Sturme des Willkommens reihte sich die Schaar der Weiber um Ines und Justine. Die blendende Farbe der Letztern, ihr fremdartiger Anzug; die Entschlossenheit, mit der sie zu Pferde saß; ihre Freundlichkeit, trotz der Lage einer Gefangenen, erregte Theilnahme. Die Weiber berührten ihre Hände, ihr Gesicht; zogen ihre seidenen Haare durch die Finger; erstaunten über ihre Augenbraunen und Wimpern, welche von den Abiponern vertilgt werden; verwunderten sich, daß sie kein eingeätztes Kreuz auf der Stirne trug, noch eingegrabene Figuren auf den Armen und Füßen, wie die Abiponerinnen, sagten ihr tausend Schmeichelworte, von welchen die arme Deutsche nichts begriff, und führten sie, sammt der lebhaft begrüßten Ines, die nicht genug erklären konnte, nach dem Zelte der Capitana, während der ganze Kriegertroß sich's in der wandernden Heimath bequem machte, die Weiber mit Geschenken vergnügte, das Gepäck ablud, und die Pferde in die Weide jagte. Die Capitana saß unter dem Eingange des Zeltes, und auf ihrem Schooße ruhte ein vor wenigen Tagen geborner Sohn. Die Mädchen klopften mit Zweigen an die Wand des Zelts, und riefen: »Heil bringe dem Sohne die Fremde, die wir ihm zuführen!« -- Die Frau des vornehmsten Caziken, dieselbe, die unter dem Eingange saß, ein nicht mehr junges, aber rüstiges Weib, stand auf, ging Justinen entgegen, und hielt eine lange Anrede. Ines antwortete der Begrüßung. Nun schlugen plötzlich alle Umgebenden verwundert in die Hände, und riefen: »Bei unsern Vorfahren! ist diese nicht die Tochter unserer Mutter? Der Gejenk der Savannen hat noch nie zwei Eier gelegt, die sich ähnlicher gewesen wären!« -- Die Capitana schrie auf, und fiel in Ines Arme. -- »Ach!« sagte sie weinend: »bist du's denn, arme, verlorne Misinga? die ich, auf der Flucht vor den bösen Waldreitern, entschlafen auf dem Pferde, aus den Armen verlor? Hat dich das Raubthier nicht verzehrt? Hat dich der Spanier nicht mißhandelt? Bist du's denn gewiß und keine Zauberin, die eine Mutter täuscht?« Ines erkannte der Mutter Stimme wieder. Sie durfte, sie wollte nicht mehr zweifeln. Die Weiber schlugen jauchzend die Trommeln, und die Capitana riß mit dem Rufe: »komme zum Vater!« die Tochter und Justine ihr nach in's Zelt. Hier lag der Capitan, der Sitte des Volks gemäß, auf einer Matte, in Decken eingewickelt, und hielt in strengem Fasten die Wochentage seiner Frau. Allenthalben, wie eine Wöchnerin, vor Zug und Sonnenstrahl geschützt, und mit Bedeckung überflüssig versehen, horchte er gerade in seiner trübseligen Lage, während Freunde um sein Lager saßen und schmausten, auf das Mährchen, das ihm ein häßliches Weib erzählte, welches, abenteuerlich mit Federn und Zweigen geschmückt, neben seiner Matte auf der Erde saß. Kaum vermochte die Nachricht von dem glücklich errungenen Siege, und dem Wiederfinden seiner Tochter ihn zu bewegen, die Stellung, worin er sich befand, einigermaßen zu verlassen. Er streckte der weinenden Ines die Hände entgegen, und rief ihr Willkomm zu. Einige junge Leute, die mit im Streifzuge gewesen waren, begrüßten und umarmten Ines als ihre Schwester. Die Capitana war außer sich vor Freuden, und endlich priesen alle vereint sowohl das Schicksal, das ihnen dieses Vergnügen gemacht, als die mildthätigen Menschen, die für Misinga Sorge getragen. -- Ines benutzte diesen Zeitpunkt, und sagte: »Vater! Mutter! Brüder! diese Menschen sind von Euch gefangen. Löst ihre Bande, und erfüllt für mich die Pflicht der Dankbarkeit!« »Sie sollen meine Gäste sein, wenn Pilagoterigenat es erlaubt,« sagte der Cazike, nach dem häßlichen Weibe sehend. Dieses, die Zauberin und Wahrsagerin der Horde, verdrehte überlegend die Augen, klopfte mit seltsamen Geberden auf die Trommel von Otternhaut, die ihr zur Seite stand, und antwortete mit singendem Tone: »Balichu[6] will mehr als geschlachtete Pferde! er will Hirnhäute der Feinde, sonst wird nimmer der Großvater genesen.« Mit diesen Worten kam plötzlich allgemeine Betrübniß über die Weiber: sie warfen sich zur Erde, zerschlugen sich die Brust, zerrauften das Haar. »Der Großvater[7] ist krank, und läßt sich nicht am Himmel sehen,« erläuterte der Cazike seiner Tochter sehr niedergeschlagen; »Balichu will ihn umbringen. Noch nie ist er so lange ausgeblieben. Es muß geschehen, was Pilagoterigenat befiehlt.« »Misinga's Wohlthäter müssen am Leben bleiben!« rief ein Bruder des Mädchens: »wir haben Quaranier gefangen. _Sie_ mögen fallen!« »Mordet doch keine Menschen!« bat Ines mit ängstlicher Rührung: »das bringt Euch nimmer Segen!« Die Gefangenen wurden in das Zelt gebracht. Die Zauberin sah nach dem dämmernden Himmel und sagte: »Steh' auf, Capitan, deine Zeit ist vorüber. Dein Kind hat nichts mehr zu befahren. Iß und trink, und wähle mit deinen Freunden Balichu's Opfer!« Eilfertig folgte der Cazike dem Befehl, ließ Speise und Trank herbeischaffen, und setzte sich mit seinen Freunden, den Anführern, unter den Eingang des Zeltes zum Schmause und Gericht. Der ehrwürdige Luis eröffnete den Trupp der Gefangenen, erschöpft aber muthig. Münzner folgte ihm, standhaft, emporgerichtet: auf Alles gefaßt. James, der Dritte, warf einen Blick in Justinens Auge, das Versöhnung und Angst ausdrückte, und dieses Auge gab ihm Muth. Einige Indianer, gebunden und niedergebeugt, machten den Beschluß. Ines flog an Luis Hals, streckte ihre Arme über James und seinen Pfleger aus, und rief: »Diese sind mein! diese dürfen nicht sterben, sondern beim Vater bitten für uns!« Pilagoterigenat, von dem Ehrfurcht gebietenden Aussehen der Priester gerührt, nickte mit dem Kopfe, und die Bande der Geschützten wurden gelöst; sie setzten sich zum Mahle des Capitans nieder, der ihre Stirne berührte, ihnen zu essen reichte, und somit ihre Freiheit heiligte. Ines führte Justine mit schmeichelnder Geberde in den Kreis der Mädchen, die, wie die Frauen, abgesondert standen. Alle Blicke richteten sich nach den, zum Opfer bezeichneten Quaraniern, und des edeln Luis Mund bewegte sich, um eine Fürbitte für die Armen einzulegen. Der Abiponersprache mächtig, so wie diese Wilden mit dem Spanischen etwas vertraut, durfte er hoffen, angehört zu werden. Die Quaranier hingegen, die geschmeidigen Leute, ihr Schicksal voraussehend, versuchten das letzte Mittel, eilten auf die blutdürstige Zauberin zu, warfen sich ihr zu Füßen, gaben ihr hundert Schmeichelnamen, -- nannten sie den blühenden Vollmond, und bettelten bei ihr um das Leben. Die Eitelkeit der alten Frau wurde rege. Die Flehenden waren hübsche, junge Leute, die sich ihrer Fürbitte anvertrauten. Sie nickte bald, bald schüttelte sie nachdenklich das Haupt, und an ihren Bewegungen hing der Caziken Auge. Nun rührte das Weib abermals die Trommel, starrte vor sich hin, renkte und krümmte sich, murmelte viele unverständliche Worte, und sang dann wie in Verzückung: »Hört, Capitane! Hört, Abiponer! ihr schnellen Reiter in den Haiden! Ihr schnellen Feinde der Straußenbrüder![8] Hört, was Pilagoterigenat Euch verkündet! Ihr seid menschlich und liebevoll im Streite; Ihr macht Eure Gefangenen zu Euren Brüdern![9] Ihr fraßet sie nie, wie die bluttriefenden Chiriguaner! Ihr werdet auch _diese_ hier, ob sie gleich schlechte, weichliche Quaranier sind, nicht schinden, aber Balichu hat Hunger, der gestillt werden muß, damit er den Großvater wieder loslasse. Ihr seid glücklich im Siege, der Meth ist gerathen, die Pferde sind gesund, und Ihr lebet lange, weil Ihr gerecht seid! Eure Sünde hält den Großvater nicht in Schweiß und Mattigkeit gefesselt. Eine fremde Sünde muß es also thun; und diese Sünde liegt in dem Fremden, den Bitalighuru vor wenigen Sonnen in's Lager brachte. Ihr erquickt, ihr Menschlichen, in ihm des Großvaters Tod. Ich koche ihm keinen Trank mehr. Ich röste ihm nicht mehr die Algarova. Betrachtet sein Stöhnen, sein Seufzen, seinen Schreck vor dem Schatten der Wolken! wie er zitterte, als neulich das Gewitter daher fuhr! wie er bebte und die Hände rang! Er ist ein Verbrecher, und sein Tod -- das ist Pilagoterigenats letztes Wort -- besänftigt allein unsern Feind.« Mit lautem Geschrei wurde der Hexenmeisterin Vortrag aufgenommen, und viele junge Leute stürmten fort nach der abgelegenen Hütte, die den Unglücklichen, so kaltblütig zum Tode Verurtheilten beherbergte. »Jesus, was wird das geben!« sagte der Pfarrer von Dominica zu dem Pater Xaver: »Hat mein Auge nicht schon der Gräuel genug gesehen?« Münzner seufzte still vor sich hin. James forschte nach Erläuterung der seltsamen Bewegung um ihn her. Justine blickte neugierig und beunruhigt nach der Ferne, woher der Lärm der Rückkehrenden sich vernehmen ließ. Ein armer, leidender Mensch wurde auf einer Stierhaut herbeigetragen. Zwei Jünglinge mit Skalpirmessern tanzten vor ihm her. Neugierig erhob sich Alles, den zum Tode Bestimmten zu sehen, der vor dem Capitan niedergelegt wurde. Die Schwarzkünstlerin, begierig, endlich ihren Willen erfüllt, Blut fließen zu sehen, geberdete sich rasend, auf den Verdammten zeigend, und schreiend: »_Der_ ist's! _der_ ist's! herunter mit seinen Haaren! Aus dem Leibe sein Herz!« Die Weiber heulten laut auf. Die Männer sangen ein Todtenlied. Die Opferer näherten sich mit seltsamen pathetischen Geberden dem Schlachtopfer: Luis und Xaver knieten, zugedrückten Auges, betend hinter dem stehenden Volke. Ines umklammerte zitternd Justine. Diese jedoch stürzte mit einem hellauf jammernden Schrei auf den Gegenstand des Bedauerns und der Wuth hin, umfaßte ihn krampfhaft, und kreischte, daß die weite Ebene hallte: »Um Gottes Barmherzigkeit und Gnade willen! Menschen! haltet ein! das ist mein Vater!« Eine allgemeine Verwirrung entsteht nun. Das Beginnen der stummen Fremden erregt Staunen. Die Priester blicken auf, erkennen den Senator, der, abgehärmt wie der Tod, kümmerlich in eine Decke gehüllt, ohnmächtig an dem Busen der verzweifelten Tochter hängt; James sieht die Mordmesser über Justinen's Haupte schweben. Des geliebten Mädchens Gefahr reißt ihn über die Schranken jeder Bedenklichkeit: »Justine!« ruft er, und setzt in den Kreis, stößt die Mordlustigen von dem Mädchen zurück, trotzt jeder Mißhandlung. Die aufhetzende Zauberin wüthet ihm gegenüber, Schaum vor dem Munde, und Zittern in allen Gelenken. »Fort mit der tollen Fremden!« brüllte sie: »das Böse sitzt in ihr. Fort mit ihr, wenn Euer Leben und der Großvater Euch lieb sind!« Es giebt unter der Menge Gemüther, die dem Aberglauben unbedingt gehorchen. Diese werfen James zu Boden, und schleppen ihn zur Seite. Ines, ihre geliebte Senora zu retten, umfaßt Justine mit voller Gewalt, und die übrigen Weiber, ohne auf ihr Zettergeschrei zu hören, zerren sie von dem Vater hinweg. Der Aermste ist aber noch nicht dem Feinde Preis gegeben, denn, stark wie ein Löwe, und stolz wie dieser, umschlingt den Betäubten der Pater Xaver. Ein Sieg verdienender Heldenmuth blitzt aus seinem Auge, zwanzig Jahre scheinen von seinem Scheitel entflohen zu sein. »Müssinger!« ruft er dem sich Ermannenden in's Ohr: »Du lebst noch! _noch_ sehe ich, der Reuige, dich wieder! Vergieb, wie ich bereue. Mein Blut für dich, oder _mit_ dem deinen!« Lächelnd sieht er gen Himmel: aus dem dämmernden Azur scheint die Marterkrone auf sein Haupt hernieder zu schweben. »Clara!« sagt er mit leiser himmlischer Sehnsucht: »Ich bringe ihn dir! wir kommen zusammen! hilf uns empor!« Während James wüthet, Justine laut jammert, die Zauberin rast, und die Haufen, um das fest umschlungene Paar versammelt, unschlüssig auf das Schauspiel sehen, redet Pater Luis mit Donnerkraft zu den Caziken, und schildert ihnen die Schändlichkeit des Mords, die Unzulässigkeit ihres Wahns, die Lügen ihrer Prophetin. Sie horchen aufmerksam zu, aber betrübt klingen stets die Worte wieder: »der Großvater stirbt: Vater! sollen wir ihn sterben lassen!« »Gott ist Euer Vater!« predigt mit jugendlichem Feuer der Greis: »jene Sterne sind nicht Eure Ahnen, sondern ein Werk seiner mächtigen Hand! Seinen Gesetzen folgen sie, und treten aus den Wolken, wann Er, unser einziger, heiliger Gott, es will; _nicht_, wann Ihr einen Menschen schlachtet. Noch mehr, meine Freunde! _ein_ Gedanke fliegt aus meiner Seele zum Himmel auf, ein _Einziger_, -- _eine_ Bitte, und dort leuchtet schon das Siebengestirn!« Den Zeitpunkt der Wiederkehr des Sternbilds geschickt benützend, deutet der Jesuit gen Himmel, wo es in seiner Pracht hervorgetreten war. Aller Augen folgten dem Fingerzeig; alle Mienen belebten sich mit Freude und Lust. Ein helles Gejauchze erschüttert den Plan. »Großvater!« rufen Männer, Weiber und Kinder, springend, tanzend und in die Hände klatschend: »Bist du endlich wieder zu uns Verlassenen zurückgekehrt? Bist du nicht mehr böse auf uns? wie danken wir dir, lieber Vorfahr! sei gegrüßt!« Und Feinde umarmen sich, und für die Gefangenen fließt Meth und Chika in vollen Strömen, und an Mord wird nicht mehr gedacht, noch an die Zauberin, die sich beschämt entfernte; Justine liegt ungehindert in des Vaters Armen, James in denen des Pflegers, die Caziken zu den Füßen des Priesters, dessen Wort und Gottesverheißung so schnell in Erfüllung gegangen. Im Nu ist ein anderer Geist lebendig geworden, die Trauer ist gewichen, und das Siegesmahl und das Fest des Siebengestirns verschmelzen in _eine_ Feier. Jeder liefert seinen Beitrag hiezu. Der Platz vor des Capitans Zelte wimmelt von frohen Menschen. Lebensmittel und Getränke kommen im Ueberflusse herbei. Trommeln und Pfeifen blasen zum Tanz, und rufen die Mädchen, die ihren Reihen bilden. Nach der seltsamen Musik einer mit Steinen gefüllten Kürbisflasche, tanzt in wüsten Stellungen die Schwarzkünstlerin, die sich wieder eingefunden. Gruppen von jungen Leuten ringen und springen; andere singen Kampfgesänge; die Weiber, auf ihren Matten abgesondert, stimmen mit ein, und auf den Häuten des Yagurate, oder des Stiers, gelagert, trinken die Männer aus Hirnschädeln erschlagener Feinde oder getreuer Hunde, oder aus großen Stierhörnern den berauschenden Meth, die gährende Chika; hören dem Pfarrer von Dominika zu, preisen den Gott der Spanier, und beschließen im Rausche, zum Dank Christen zu werden. »Wir haben deine Kinder getödtet,« sagen sie dem Pater treuherzig, »weil wir Euch für unsre Feinde hielten, und nach Beute lüstern waren; aber -- _wir_ selbst wollen von nun an dich Vater nennen, und deinen Caziken gehorchen, und dem, den du Gott nennst, denn er ist ein starker Geist, und, wahrlich, des Fremden Blut hätte es nicht allein gethan!« James und Münzner hatten sich indessen, Arm in Arm verschlungen, aus dem Gewühle entfernt, und gingen, erzählend und dankend und zufrieden, längs dem Graben hin. Sie kamen an ein schmales Rohrzelt, wohin Ines den Senator mit Justine hatte bringen lassen, damit sie ungestört seien. Auf dem Tummelplatze des freudigen Schmauses brannten hundert Fackeln, hier leuchtete nur der milde Sternenschimmer. Der kranke Vater schlief. Justine saß zu seinen Füßen, und ihr Herz war leidend und selig froh zugleich. Ines hatte sich herbeigeschlichen, und die Mädchen kauerten einander gegenüber, und drückten sich nur die Hände, und streichelten sich nur die Wange, und bedurften der Sprache nicht im Geringsten. Das Abendlicht war so helle, daß Justine ohne Mühe den Doctor und seinen Begleiter erkennen mochte, als sie in das Zelt traten. Sie stand schnell auf, streckte ihnen die Hände entgegen, und sagte, voll von dem ruhigen Schmerze, gegen den die Bosheit selbst keine Waffen hat: »was wollt Ihr hier, Herr Doctor? was Ihr, Monsieur White? O, kehret um, ich bitte Euch. Dort liegt mein Vater -- vielleicht in seinem letzten Schlummer! laßt ihn, wenigstens im Tode, seiner Tochter. Ihr habt den Wein seines Lebens vergeudet, laßt mir die Neige.« Sie setzte sich stumm zu des Kranken Seite nieder, und die Männer flohen vor ihrer Rede. Sie gingen weiter. James mit Thränen im Blicke, Münzner mit Feuerqual in der Brust. -- »Kaum wieder neu belebt durch das Leben meines Freundes,« sagte der Doctor schwermüthig, »so verstößt mich auch schon wieder der Tochter allzugerechter Vorwurf aus dem wiedergewonnenen Paradiese. Wie sehr bin ich der Vergebung bedürftig! auch der deinen, mein Sohn! Ich habe falsch geglaubt, falsch gehofft, falsch gehandelt! Gutes wollen, und Uebel thun, -- welch' verlornes Leben!« »Wir wollen zusammen gehen!« erwiderte James. »Zusammen und vereint dulden, wenn diese wilden Räuber uns nicht vereint noch tödten! hören Sie, wie ihre Stimmen jubeln? vernehmen Sie den trunknen Gesang? welche Schrecken, welche nie erhörte Lage umgiebt uns? ist es nicht ein Traum, daß ich auf der Parana schiffte, in Dominica sie wiederfand? daß wir nur durch ein Wunder dem Brande, dem Tode entgingen, daß wir hier in den Savannen athmen, und unter diesem Himmelsstriche den Senator wiedergefunden haben? Rütteln Sie mich, mein Vater, daß ich erwache; denn sicher wohnen wir noch in der Rahmgasse, und Alles ist nur Täuschung, eines schweren Schlummers Werk.« »Wäre es doch also!« versetzte Münzner. »Leider leben wir in der rauhsten Wirklichkeit. Dieser Himmel ist der Südamerika's, dort ragen die Zelte und Rohrdächer der Abiponer; in der Ferne heult der Tiger, und der Kaiman weint nach einem Raube. Alles ist wirklich um uns her, und Gottes Allmacht ist auch hier mit uns, so wahr als dort ganz in der Ferne von den Höhen ein Feuermeer zu wallen scheint.« »Wahrlich!« sagte James, hinsehend; »welch neue Erscheinung! ist nicht alles wunderbar in diesem zauberischen Lande? brennt dort ein vom Winde bewegter Wald? Oder fließt ein glühender Lavastrom um den Saum der Savanne?« Mit raschen Schritten eilten sie dem Feste zu. Die Indianer hatten die Erscheinung ebenfalls bemerkt, und standen, sie still betrachtend. Das Feuer, wandelnd, abwärts steigend, verschwand bald, bald kam es wieder hervor; endlich wogte es tief unter, daß nur der Schein am Firmamente es bemerkbar machte. »Das ist nicht Wald, nicht Erdfeuer!« sagte ein Abiponer, dessen Augen, im Dunkel sogar, Falkenschärfe hatten; »das sind wandelnde Holzbrände! ein Feind, der uns das Gras abbrennen will, ist, der dort kömmt.« Die Abiponer geriethen in stürmische Bewegung. Die Männer pfiffen den Pferden, die Weiber den Hunden, Kinder und Heerden, Alte und Kranke, Waffen und Vorräthe wurden auf einen Haufen geschleppt, alle Fackeln ausgelöscht; tiefe Stille geboten, und lauschend drückten die vordersten Wachen des Volks das Ohr an die Erde. -- Diese Kinder der Natur, mit den geschärftesten Sinnen, hören aus weiter Ferne das Schnauben von Thieren, die aus dem stillen Lager im Grase gejagt schienen, Gemurmel und Getöse von Menschen. »Beruhigt euch,« sagte Pater Luis zu seinen beiden Gastfreunden, dem Doctor und James, »ich weiß, was sich uns naht. Ich hoffe darauf mit Zuversicht. Jene Berge sind Brasiliens Vormauern. Der Indianer, von welchem ich Ihnen sprach, mein Vater, war unter den Gefangenen der verwichenen Nacht, war mit mir auf's selbe Pferd gebunden, wußte seine Bande zu lösen. Gott schütze dich, Vater, sagte er, leise vom Pferde unter den Troß des Viehs gleitend, ich bringe dir Hülfe. Dort hinter den Bergen liegt der gute Jesus in den Wildnissen, und ich bin dort wie ein Pfeil, wenn mich kein Abiponer erschießt. -- Im Grase kriechend verlor er sich aus den Augen, und gewiß -- ganz gewiß ist jenes Lichtmeer ein Bote seiner Hülfe. Unsere Fackeln zeigten den von den Bergen Steigenden die Richtung nach unserm Aufenthalt, und sie kommen jetzt sicher, um uns zu befreien.« Die Abiponer rührten sich nicht, im Anschauen der seltsamen Erscheinung verloren, und vertrauten auf des Pfarrers Wort, der ihnen versicherte, es würde nicht ihnen, nicht den Ihrigen ein Leides geschehen, so lange er auf ihrer Seite stände. Der Tag war bereits angebrochen, als sich im Strahle des Morgenlichts die Scene entwickelte. Durch die grasige Ebene näherte sich ein großer Haufe. Gewehre blitzten in langer Reihe. Dieser Anblick entmuthigte die Abiponer, und sie wollten, dem Pulverblitze feind, die Flucht ergreifen. Pater Luis hielt sie mit seiner Beredsamkeit im Zaume. Die fremden Krieger machten auf Flintenschußweite Halt. Sie hatten sich beinahe sämmtlich mit Pferden der Savanne beritten gemacht. Eine schimmernde Fahne flatterte in ihrer Mitte. Die Abiponer staunten das Panier mit dem goldenen Kreuze an, und blickten auf Don Luis, der die Obersten aus ihnen wählte, und von ihnen, Pater Xaver, James und der dienstfertigen Ines begleitet, wie in einer feierlichen Procession, mit weißen Federn wehend, auf die Fremden losging. Weiße, schwarze und rothbraune Männer saßen regungslos, den Karabiner oder die lange Flinte in der Faust, auf den Pferden; dürftig gekleidet, aber voll von Kraft und Muth. Bei dem Paniere hielt, von einigen besser gekleideten Anführern umgeben, der Hauptmann des ansehnlichen Trupps: eine herrliche Mannsgestalt mit schwarzem Bart und frisch gerötheten Wangen, in eine leichte braune Kutte gehüllt, Stiefel und Sporen an den Füßen, einen Strohhut mit einer bunten Feder auf dem Kopfe. Ein breiter Ledergürtel hielt ein Paar Pistolen und einen gewichtigen Säbel. Eine Doppelflinte hing über seinen Rücken. -- Kaum hatte er von ferne den Pater Luis wahrgenommen, als er vom Pferde sprang, und stürmisch auf ihn zulief. »Beim heiligen Jakob!« rief er ihm auf spanisch zu: »Onkel! kennen Sie den Vetter Vereira noch? finden wir uns hier, und bin ich nicht gekommen wie der Blitz? Ihr Name, den mir der Bote nannte, war genug; mein Korps stieß zusammen, und hier sind wir; fast unzufrieden, Euch nicht mehr in Ketten zu finden, um Euch zu beweisen, wie Ernst mir's war.« »Ich bringe Euch hier ein Volk von Gefangenen,« sagte Luis hierauf; »Gefangene im Glauben. Statt ihr Feind zu sein, werdet Ihr Taufpathe!« Zweiter Abschnitt. Die Taufe. -- Trennung. -- Unschuldige Liebe. -- Zug in die Berge. -- Der gute Jesus in den Wildnissen. -- Fernandez. -- Der Flüchtige. -- Der Fürst der Wildnisse. -- Das Bild des Erlösers. -- Reue, Bekenntniß und Versöhnung. -- Sehnsucht nach außen. -- Der Doctor in den Wäldern. -- Der Vorposten. -- Hauptquartier zu la Guasta. -- Brigadier und Assistent. -- Gezwungener Verrath. -- Kriegssturm. -- Das Asyl in den Felsen. -- Die verdächtigen Fremden. -- White's Edelmuth. -- Die Flucht aus den Felsen. -- Strand, Schiff und Heimath. -- Der Maierhof zu St. Dominica. -- Xaver's Brief. -- Schluß. -- Die Abiponer, eifersüchtig, ihr Wort zu halten, wenn sie es gleich im Rausche gegeben, -- von Dankbarkeit für den Pater Luis durchdrungen, weigerten sich der Taufe nicht, die mit so vielen Feierlichkeiten statt fand, als in der Savanne nur anzuwenden waren. Nach dem Hauptmanne Vereira, einem Neffen des Priesterfürsten vom guten Jesus in den Wildnissen, wurden alle Männer des Stammes Fernandez, -- nach der liebenswürdigen Cazikentochter Misinga, alle Frauen und Mädchen Ines genannt. -- Als die Ceremonie vorüber war, kamen alle Führer der Abiponer auf Luis zu, drückten ihm die Hände, küßten sein Kleid und sagten: »Wahrlich, du bist ein guter Mann, was auch Pilagoterigenat sage, die wir in's Freie gejagt haben, daß sie nicht wiederkomme. Du hast uns den Großvater und des Capitans Tochter wiedergegeben, und deinen Gott mit uns getheilt. Wenn du uns ernähren und nicht strafen willst, so begehren wir, mit dir nach deiner Heimath zu ziehen. Wir haben deine Hütte verbrannt: wir wollen sie wieder aufbauen; wir wollen dein Volk werden, und nicht in das Gebirge mit dem fremden Manne gehen, weil wir dort unsere Pferde schlachten müßten. In deinem Lande hingegen ist's _eben_, und Wild und Gras und Wasser fehlt nicht, und, weil du Misinga erhalten, wirst du uns _auch_ nicht verlassen, und darum lieben wir dich.« Die Antwort des Pfarrers war bejahend, und des redlichen Alten Brust hob sich freudiger bei dem Gedanken, in seinen entvölkerten Pflanzort wieder neue Kinder des Segens einzuführen. Alle Bedenklichkeiten des jungen Vereira widerlegend, beschloß er die Heimkehr an der Spitze der Abiponer, und bat seinen Vetter nur, die Fremden nicht verlassen zu wollen, die nicht nach St. Dominica zurückkehren durften. Vereira versprach's mit aufrichtiger Herzlichkeit, und Jedes ging seinerseits dahin, die Vorbereitungen zur nahen Trennung zu treffen. In dem Getümmel, das dadurch entstand, begegnete dem Doctor Münzner Justine, die ihn unter der Menge ausgespäht hatte. Schnell zusammengetroffen, standen Beide einander gegenüber. -- Justines Antlitz drückte Verlegenheit, Münzners staunende Ueberraschung aus. »Ein Wort, mein Herr,« sprach Erstere schüchtern: »ein Wort der Bitte, mein Herr, wenn Sie es anhören wollen. Sie haben gestern großmüthig und edel meines Vaters Leben beschützt, -- mit Ihrem eigenen Leben; -- ich erfuhr es heute erst durch den Vater; ich war gestern blind vor Schmerz; ich danke Ihnen aus voller Seele; ich bitte um Vergebung meiner Härte. Ich bitte Sie, zu meinem Vater zu kommen, der nach Ihnen verlangt. -- Schlagen Sie ihm die Wohlthat, -- mir die Gelegenheit nicht ab, Ihnen auf's Neue dankbar verpflichtet zu werden.« Sie schwieg erwartend, sie hatte viel über sich und ihren Groll gewonnen. Münzner stand beschämt vor der Tugend eines Kindes, das seinen Vater über alles liebt. »Meine beste Jungfer...« erwiderte er, »... wenn Sie wüßten, wie Ihre Worte mein Herz berühren...« Er vollendete nicht; Thränen, die seine Augen nur mit Gewalt zurückdrängten, verhinderten ihn daran. Aber, als er seinen Freund wieder sah, -- dahin siechend auf armseliger Matte, -- aller Arznei, aller Bequemlichkeit entbehrend, und dabei ruhig und geduldig, wie ein schon Abgeschiedener, da kamen dennoch die Thränen auf's Neue über ihn, und er wurde ihrer nimmer Meister. Ueber den Senator bückte er sich, legte seine Stirne an die fieberhaft brennende des Kranken, und sagte nur die Worte: »So uns wiedersehen, mein Freund?« »Ach! schon genug, daß _Wir_ uns noch wiedersahen!« erwiderte der Senator: »ich war des Lebens überdrüssig geworden. Meine Krankheit nahm zu. Meine Tochter wieder zu sehen hoffte ich nicht mehr. Die Zeit schlich mir träge dahin. Endlich dachte ich: es sei das Beste, den Anguaybaum aufzusuchen, von dem mir die Quaranier so viel sagten. Sein Balsam sollte mich heilen, oder die Mühseligkeit des Wegs mich umbringen. Euch nicht im Voraus zu beunruhigen, hielt ich den Vorsatz geheim, führte ihn ohne Euer Mitwissen aus. Der zweite Morgen unserer Reise war auch schon der Letzte meines armen Führers. Mit unserer Reisetasche und meinen Kleidern beladen, ging er vor mir her. Ein Tiger, der mit schon blutigem und dampfendem Maule aus dem Dickicht mit entsetzlichem Sprunge setzte, riß ihn zu Boden, schleppte ihn unbarmherzig in das Gestrüpp. Ich floh -- beinahe unbekleidet, ohne Speise, und ohne den Weg zu wissen. Ein Abiponer fand mich am Abend, beinahe verschmachtend am Boden liegend, und brachte mich in das Lager seiner Horde. Die Wilden verpflegten mich menschlich, aber vielleicht ist der Name St. Dominica, den ich stammelte, mit eine Veranlassung zu Euerm Unglück gewesen. -- Zu _meinem_ Glücke. Ich habe _Sie_ wieder gesehen, mein Freund. Ich darf hoffen, in Ihren und der Tochter Armen zu sterben.« »Ich gehe nach Dominica zurück,« antwortete Münzner verlegen und trübe: »meines Standes Pflicht ruft mich nach Europa.« »So ist es wahr?« seufzte der Senator, wehmüthig die Hände faltend: »Sie wollen mich verlassen, während ich mich an Sie gewöhnte, wie das Kind an die Mutter! _Sie_ mich verlassen, und ich hänge an Ihnen!« Münzner zeigte bedeutend auf Justine, die bleich und schweigend gegenüber saß. »Sie haben eine vortreffliche Tochter,« sagte der Doctor. »Ja, Dank sei dem Vater im Himmel!« versetzte Müssinger, Justinens Hand drückend: »Sie ist gut, aber ihre zärtliche Liebe genügt dem Sterbenden, dem Schwerbeladenen nicht. Ihre heiligste Pflicht hält Sie hier zurück.« Münzner schwieg, sinnend, widerstrebend, vergleichend, in schwerem Kampfe. Justine erhob sich, trat vor ihn, und sprach mit einfacher rührender Milde zu ihm: »ja, mein Herr! Ihre _heiligste_ Pflicht. Mein guter Vater würde, fürchte ich, in Verzweiflung gerathen, wenn Sie von uns scheiden. Sie haben verstanden, sich mit ehernen Banden an sein Herz zu ketten; zerreißen Sie es nicht mit der Fessel! --« »Wie, Mademoiselle?« fragte Münzner schwankend; »_Sie_, Sie halten mich auch zurück? Sie, die mich haßt, -- die mich verachtet?« »Ich bin nicht unversöhnlich,« sagte Justine mit vieler Klarheit: »ich habe Sie nie verachtet ... Gott! nein! gefürchtet hab' ich Sie und verabscheue noch Ihr Kleid! Aber -- könnten Sie zweifeln, daß ich Ihnen das Verderben meines Hauses aus voller Seele vergebe, wenn Ihre Gegenwart auch nur um eine Stunde meines geliebten Vaters Leben verlängert? Bleiben Sie daher; ich beschwöre Sie jetzt so aufrichtig, als ich Sie gestern aus diesem Zelte wies. Theilen Sie mit mir die Sorgfalt für meinen Vater.« Münzner konnte nicht widerstehen: nicht dem Bitten des Senators, nicht der einfachen Rede der Tochter. »Sie sammeln glühende Kohlen auf mein Haupt,« sagte er: »ich bleibe bei Ihnen, meine armen Freunde. Kömmt die Zeit, die unumgänglich die Erfüllung meiner Ordenspflicht begehrt, so finde ich auch über St. Sebastian meiner Reise Ziel.« »Recht, mein Freund,« sagte Pater Luis, der -- die letzten Worte hörend, -- mit Vereira und James in das Zelt trat. »Vergessen Sie den guten Jüngling nicht, der nicht nach Dominica zurückkehren kann, ohne das Kleid zu nehmen, das er nicht liebt, und der durch den Antheil, den er an Ihrem Schicksale nimmt, wohl auch Ihre Theilnahme verdient.« »Darf ich?« fragte James schüchtern, ohne kaum die Augen gegen Justine aufzuschlagen. »Mein Retter!« rief der Senator freudig, drückte ihn an seine Brust und weinte: »womit kann ich dich belohnen, was du für mich gethan? Ich bin ein Bettler geworden, mein guter James. Ich habe nichts, als mein schwaches, kaum noch schlagendes Herz! Ich muß verhungern, wenn nicht Wilde mich speisen, oder mitleidige Christen mich unterstützen.« »Ihr Unterhalt ist die Sorge dieses Mannes,« antwortete Luis, auf Vereira zeigend: »Ihre Heilung dürfen Sie getrost von seinem Oheim erwarten. Im Uebrigen sind Sie kein Bettler. Ihr Testament muß Ihnen zurückgestellt werden. Ich werde an den Provinzial berichten.« »Hoffen Sie nicht darauf,« sagte ihm bekümmert und leise Münzner in's Ohr: »der Empfangschein des Documents wurde mit dem Pfarrhause ein Raub der Flammen.« Ines, von ihren Eltern begleitet, trat herein, lief auf Justine zu, umarmte sie unter heftigem Schluchzen, nahm unter den lebhaftesten Geberden von ihr Abschied, und sagte alsdann zu Luis gewendet: »Alles ist bereit, mein Vater! führe uns Alle, die der Jungfrau Gnade erweckte, in unsre zweite Heimath. Wir folgen Dir!« Luis blickte auf die Freunde, die er verließ, -- sein Auge wurde feucht. Seinen besten Segen legte er auf Müssingers Haupt, und verließ, ohne ein Wort zu reden, das Zelt. Alle, bis auf Justine, die beim Vater blieb, folgten ihm. »Um Gotteswillen!« sprach er zu den Männern, die seine Hände schüttelten: »macht mich armen alten Sämann nicht weich und kindisch. Keinen zärtlichen Abschied. Ich brauche alle meine Kraft, um in meinem ein und siebzigsten Jahre wieder da anzufangen, wo ich vor vierzig Jahren anfing. Wohl werden neue Hütten zu Dominica entstehen; wohl werden viele meiner Kinder wieder dahin zurückkehren, und Gott mir beistehen, daß ich die bekehrten Widersacher zum Frieden leite. Für einen erschöpften Greis ist aber das Werk dennoch groß und zweifelhaft. Laßt mich daher ohne Kummer und Schwäche scheiden. Ueber den Himmeln sehen wir uns wieder, und ich will der Erste sein, der auf dem Platze ist. Gott, Glück, Heil und Segen -- kurz -- Gott mich Euch!« Er wendete sich rasch um, nach der Gegend zu, wo die Abiponer zu Gaule saßen, Vereira folgte, eine Thräne zerdrückend, seinem Beispiele, und ging zu seinen Leuten. »Lebt wohl, Vater Luis!« rief James; »eine Seelenmesse für die arme Lainez!« rief ihm Münzner nach. Ines kam hastig auf James zu, ängstliche Unruhe in den Blicken. -- »Wie, mein Herr und Freund?« sagte sie: »dort steht ein Pferd für Euch gezäumt. Zögert Ihr? Kommt!« »Nein, mein gutes Kind!« antwortete James: »ich kann, ich darf nicht mit dir gehen.« Alle Röthe trat von den Wangen des Mädchens zurück. »Nicht?« stammelte sie; »nicht? Jago! nicht mit mir?« »Es würde mein Unglück sein, Ines! ich müßte darinnen vergehen!« »Unglücklich sollt Ihr nicht sein, Herr, wo Ines glücklich ist. Nicht sterben, wo Ines lebt. Aber Ines wird arm sein, wird sterben, wo Ihr nicht seid.« James schwieg erschüttert. Mit dem Weinen kämpfend, fuhr Ines fort: »sagt mir wenigstens, wo Ihr hinzieht. In jene blauen Berge? in die Gegend, wo das große Wasser sein soll?« James nickte. »Ich ziehe mit Euch, Jago!« James erschrack. »Was willst du thun, Ines?« fragte er. »Welch ein Gedanke?« »Höret, Jago. Mein Vater, der Capitan, ist aus dem Stamme der Ruhaker entsprungen, und hat sich die Mutter aus dem Stamme der Yaaukaniga geholt, und sie folgte ihm, Alles dahinten lassend.« Das Erstaunen des Jünglings stieg. »Ines, welche Rede?« »Ich will Euer Weib sein, Jago, wenn Ihr mich leiden könnt! --« »Ines! wo denkst du hin? Deine Eltern....« »Eltern und Brüder willigen ein. Es ist eine Ehre für sie. Kommt mit uns, oder lasset mich mit Euch gehen.« »Keines von Beiden, Ines! vergiß mich, und folge einem andern wackern Manne. Ich darf nicht annehmen, was mir deine Unschuld bietet.« Ines weinte heftig. »Gesteht es nur!« sagte sie schluchzend, »die Sennora ist schöner, als ich. Bedenkt aber, Jago, daß sie eine Ketzerin ist.« James lächelte wider Willen. Dieses Lächeln zerschnitt das Herz der Indianerin. Empört wollte sie fliehen; er hielt sie, gut machend, sanft zurück, sah ihr ehrlich in's Auge, und sprach: »Behalte mich lieb. Die Sennora wird nicht mein Weib. Ich muß ohne Gattin bleiben, wie Pater Luis und Xaver.« Ines lächelte etwas zufriedener. »Nehmt mich auf Eure Pfarre, Vater Jago,« begann sie nun, »ich will fromm sein, und Euch bedienen, wie den guten ehrwürdigen Vater Luis; unverdrossen und freudig, wie man der heiligen Mutter dient.« »Und du wolltest den ehrwürdigen Vater verlassen?« fragte James mit gelindem Vorwurf: »gerade jetzo, wo er deiner Hülfe am meisten bedarf? und die Eltern verlassen, die du kaum wieder gefunden? mir in die rauhen Berge folgen, wo vielleicht der Mangel meiner harrt? Besinne dich.« Ines schlug die Augen nieder, wischte sich die blinkenden Tropfen von der Wange, verbiß den neu aufquellenden Schmerz, und antwortete: »ich danke Euch, Vater Jago. Ihr habt mich erinnert, daß ich meine Eltern und den Vater Luis zu pflegen habe. Ich will Euch gehorchen; ohne Murren. Die Mutter im Himmel wird mich ja beruhigen. Denkt meiner, betet für mich.« Sie reichte ihm zögernd und dennoch sehnend die Hand, und wendete sich halb von ihm. Er drückte die Rechte der Jungfrau. Schnell zog sie die Finger aus den Seinen, rief mit ausbrechender Klage: »Ach! und dennoch werdet Ihr sehen, Jago, daß Niemand in der Welt Euch liebt, wie ich es thue!« riß sich kräftig von ihm los, und eilte wie ein fliegender Vogel den Landsleuten zu. Wie betäubt sah ihr James nach, und als ob mit der unschuldvollen liebenden Indianerin ein Theil seines Herzens sich losgerissen hätte. Augenblicklich setzte sich die Abiponer-Horde in Bewegung. Ines saß weinend, ohne zurückzuschauen, auf ihrem Pferde. Neben ihr ritten die tröstenden Eltern, und Luis, der noch einige Male zurückblickte, mit seinem Tuch winkte, und endlich unter dem Schwarme der Neubekehrten verschwand. Der Zug wurde dem Auge undeutlicher. Die fernen Grasspitzen wuchsen immer höher an die Pferde der Fortziehenden hinan. Endlich ragten nur noch die schwankenden Speere am Horizonte hervor, und James stand noch immer mit untergeschlagenen Armen da, den zerrinnenden Schattenbildern nachstarrend. Das Horn der Krieger des guten Jesus rief ihn wieder zum Leben empor. Der Senator wurde so eben, auf einer bequemen, von Stauden geflochtenen Tragbahre vorüber geschafft, um von dem sanftesten Thiere getragen zu werden. Stumm schloß sich James Justinen an, die sorglich ordnend, und ängstlich beobachtend dem Vater folgte. Der junge Mann gewahrte Thränen in Justinens Augen, und fragte bescheiden nach deren Ursache. »Ich weine der guten Ines nach,« antwortete Müssingers Tochter; »dem Mädchen, das mich, ohne mit mir reden zu können, inniger liebte, als irgend eine Seele auf der Welt. Ich möchte fast bedauern, daß sie ihre Eltern fand, und ihnen folgte. Sie hätte sich nicht von mir getrennt. Jetzt bin ich allein, denn auch die arme Lainez fraß des Feindes Schwert, oder das Feuer!« »Allein, beste Jungfer?« fragte James mit schonendem Vorwurf: »sind wir Ihnen nicht geblieben? werden Sie unsere freundliche Hand zurückstoßen? haben Sie noch nicht gelernt, mir zu vertrauen?« »Ach, mein guter Monsieur!« sagte Justine entgegen, -- »Eurem Herzen, -- ja selbst dem des Doctors -- vertraue ich gern mich selbst und den Vater an. Euerm Kopfe jedoch nur ungern. Die Wüste schmiedet uns zusammen. Verargt mir's jedoch nicht, wenn ich befürchte, daß ein leichteres Verhältniß uns wieder scheide in Groll, in Meinung, in Erinnerung. Ich kann mich nicht deutlich aussprechen. Denkt jedoch an die Kette eines Sklaven, die ihn mit einem Andern verbindet, obschon sein Geist von Kette und Gefährten sich frei zu machen wünscht.« »Das ist mir genug,« entgegnete James sehr gekränkt, und blieb weit hinter Justine zurück. Der Zug setzte sich in Bewegung, und ging langsam der Abendkühle entgegen. Im tiefsten Dunkel gelangten die Reisenden an den Fuß der Berge. Hier wurde der Kranke auf die Schultern rüstiger Träger genommen, und von vielen Harzfackeln umgeben, ging's bergan. Die Pferde flohen in die Savannen zurück. Blos die Maulthiere für Vereira, Justine und den Pater blieben bei der kletternden Schaar. Die Morgenröthe fand sie auf der Berghöhe, in romantischen Waldpfaden, die immer noch bergan führten, bis sie in eine trockne, steinigte Fläche ausgingen, ringsum von niedersteigendem Wald begrenzt, eine Schlucht ausgenommen, durch welche sich eine herrliche Fernsicht zeigte. »=He acqui el nuestro paraiso del buen Jesu en los bosques!=« rief Vereira mit Löwenstimme, nach der Ferne deutend, und warf sich unter dem Schatten der letzten Bäume nieder. Die Seinigen folgten jubelnd seinem Beispiele, und der Zug rastete, damit die Sonnenhitze vorübergehen, und jedes Auge sich an dem schönen Anblick ergötzen möge. »Das gelobte Land!« sagte Münzner zu seinem Zögling, auf das Thal deutend, das sich unter ihren Füßen ausbreitete. Es schien zur Ruhe geschaffen; ein versteckter, stiller, reizender Erdwinkel. Die Abhänge von schwellendem grünen Rasen belegt, hin und wieder nur von Felswänden unterbrochen; aber auch diese lebten, denn silberne Sturzquellen entsprudelten ihnen, umnickt und umwinkt von steinsprengenden blühenden Bäumen. Lang, schmal und halbmondförmig zog sich das Thal in die Tiefe entlang, bewässert von murmelnder Fluth, bepflanzt mit üppigen Bäumen, durchschnitten von ruhigen und in Fülle liegenden Feldern, von heitern gelben Fußpfaden, geschmückt mit zierlichen Cabanen, mit Hütten von Rasen oder Rohr erbaut. Da, wo das Thal sich krümmt, lag eine ansehnliche Gruppe von Häusern, leicht und schlank gebaut, mit schmucklosen Dächern, im Schatten von kleinen dichten Hainen hinan gehend bis zum Saume der ringsum schützenden Wälder. Eine freundliche Sonntagsruhe schien über das Thal gebreitet, die Felder unbevölkert, keine Heerde auf den Triften, kein Mensch in Feld und Flur und auf den Wegen. »Es ist heute Feiertag,« erläuterte Vereira, »und alle unsre Greise und Weiber sammt ihren Kindern in der Kirche. Die rüstigen Männer sind alle hier unter den Waffen bei mir, und nur der Oheim mit den Schwachen hütet das Haus. Wartet nicht auf Glockenklang und Chorgesang. Beides ist nicht Sitte bei uns, damit der fern hindringende Schall nicht unser Dasein dem Feinde verrathe; denn Feind ist uns jeder Portugiese, jeder Spanier, der im Dienste seines Herrn und bewaffnet kömmt. Die Portugiesen thun in neuester Zeit dergleichen, als wollten sie wirklich das Innere ihres Landes sich eigen machen, und ihr äußerster Wachtposten la Guasta ist kaum sechs Wegstunden vom guten Jesus entfernt. Allein die schroffe, steinige Wüste, die uns gegen jene Seite hin umgibt und versteckt, wird die Weichlichen schon abhalten, ihre Entdeckungslust weit zu treiben. Wäre es auch.... wehe ihnen! Lebendig käme das Detachement nicht aus unserm Thale.« »Aber, Herr,« fragte James verwundert; »man rühmt ja Eures Oheims Milde und die patriarchalische Gutmüthigkeit, die die Grundlage seiner Regierung ausmachen soll. Wie vereint sich das mit Eurem kriegerischen Thun und Eurem Stand?« »Ich bin nicht geistlich,« antwortete Vereira lächelnd, »und wenn ich in einer Kutte gehe, die dem Kleide des heil. Franziskus ähnlich sieht, so geschieht das blos, um meines Oheims Uniform zu tragen; eigentlich, um mich vor dem Volke als den sogenannten Kronprinzen vom guten Jesus in den Wildnissen zu legitimiren. Mein Onkel, der ein tapferer Soldat in den Carabiniers von Arragon gewesen, denkt übrigens wie ich, daß der Friede nöthigenfalls nur durch den Krieg erhalten werden könne. Die Jünger Loyola's und die Statthalter des Königs Johann sind uns gleich verdächtig. Wahrlich, mein Vater, wäret Ihr nicht ein kaltblütiger Deutscher, der mehr Ehre im Leibe hat, als ein Portugiese oder ein Franzose, bequemer schweigt, und die Gastfreundschaft des guten Pater Luis, -- welcher leider auch Euer Kleid trägt, -- genug zu schätzen weiß, um ihn, der Euch empfahl und Uns, seine Verwandten, nicht zu verrathen, -- ich würde Euch nicht mitgenommen haben. -- Mit einem Portugiesen macht man übrigens nicht so viel Federlesens. Man schießt ihn vor den Kopf, und er mache dann was ihm beliebt.« »Sie sollten eine Armee kommandiren,« -- antwortete Münzner lächelnd. -- »Beim heiligen Jakob!« fuhr der kampflustige Fernandez fort: »das wäre eben meine Freude. Ein Commando gegen die Portugiesen! Ihr werdet Euch freilich wundern, wenn ich Euch sage, daß unser Haus selbst aus Portugal stammt; daß einer unsrer Vorfahren selbst vor achzig Jahren den Holländern -- Gott verdamme die Krämer, -- das Land längs den Küsten abnahm; das brasilische, meine ich. Aber der Undank, womit man ihn belohnte, bewog unsre Branche, die schon früher nach Spanien verpflanzte, in spanischem Dienste zu bleiben, bis denn endlich auch hier der Dienst so schlecht wurde, daß sich mein Onkel geistlich machte, und später auch mich vermochte, meinen Freibrief zu nehmen. Ich war Lieutenant unter den Pikenierern des Regiments der Milizen zu Lima; hing aber gerne Schärpe und Federbusch bei Seite, da mich der Onkel beschied. Seitdem suchen wir uns nun in dem Lande, wo unser glorreicher Verwandter Wunder der Tapferkeit gethan, zu behaupten; dem König Johann und allen Jesuiten des Königreichs zum Trotz. Unter Anderm, Pater Xaver, thut mir die Liebe, und legt Euer Kleid ab.« »Wie?« fragte Münzner überrascht: »Verstehe ich Sie, Sennor Vereira?« »Nichts Leichteres,« fuhr der junge Mann leicht und lebhaft fort; »Ihr werdet mich verbinden, und Euch einen bessern Empfang bei meinem Oheim bereiten, der schon vor dem schwarzen Rocke allein einen unüberwindlichen Abscheu hegt.« »Das thut mir leid,« entgegnete der Doctor, kälter werdend: »ich lege aber den Rock nicht ab.« »Wie? diese Gefälligkeit versagt Ihr mir?« fragte Vereira: »Stellt Euch nicht gewissenhaft, wo es unnöthig ist. Pater Luis hat einige Worte fallen lassen, die mir bewiesen, daß Ihr selbst Euern Stand nicht besonders liebet. Was soll denn das Sträuben?« »Wenn ich auch den Fall setzen möchte, daß ich meinen Orden nicht liebe,« entgegnete Münzner, »so ehre ich ihn doch, und verläugne seine Insignien nicht. Ohne den Befehl oder die Erlaubniß meiner Obern lege ich das Kleid nicht ab.« »Ihr machet mich lachen,« sprach Vereira etwas bitter: »Ihr sprecht von Euern Obern, in einer Wüste, fünfzig Meilen von jeder Mission, noch weiter von einem Ordenshause entfernt. Machet es, wie Ihr Herren es mit den Fasten macht: dispensirt Euch selbst.« »Wenn es den Umgang mit Protestanten gälte, so könnte ich's auf mich nehmen,« versicherte Münzner mit unerschütterlichem Ernst; »Gegen Religionsbrüder lüge ich nicht. Der Pabst hat unser Gewand geheiligt und bestätigt. Ich darf es mit Stolz überall zeigen, wo man zur Messe geht.« »In unserm Gebiete nicht!« fuhr der junge Fernandez auf: »ich verbiete es Euch!« »So werde ich umkehren müssen!« entgegnete Münzner entschlossen, und stand auf. Vereira hielt ihn zurück. »Wenn ich Euch nun gehen ließe?« sagte er mit scharfem Blicke. -- »Versuchen Sie es. -- Ohne Lebensmittel, ohne Begleitung, ohne Obdach? in Gottesnamen! wollt Ihr um Eures Orden Ehre willen in der Savanne verschmachten? in Gottesnamen! Euern Zögling halte ich zurück, wie Euern _Freund_. Ich stoße Euch allein, ganz allein, hinaus. Es sei: lebt wohl!« James, der mit gespannten Blicken Vereira's Gesicht gehütet hatte, hielt den Pater auf, den Fernandez plötzlich freundlich umarmte. »Ihr seid ein Mann!« sagte er: »Eure Gesellschaft ist zu beneiden, daß sie solche standhafte Glieder zählt. Kommt getrost mit mir; ich will meinen Oheim schon stimmen, daß er über dem Mann den Rock vergesse. Wäre ich ein legitimer, nicht ein wilder Prinz, ich würde Euch, allem Vorurtheil zum Trotz, zu meinem Beichtvater und Hofkaplan erheben. Ich liebe die entschlossenen Menschen sehr, und Eure erste Handlung müßte sein, mich mit jener wunderhübschen Deutschen zu trauen; denn wahrlich: sie gefällt mir wohl, und verdiente Besseres, als nur die Königin dieser Wildnisse zu sein.« Der eifersüchtige Blick James folgte dem glühenden, den Fernandez nach Justine sandte, die, ein lebendes Bild der Pietät, unfern saß, den Vater pflegend, wartend, erheiternd. Eine trübe Ahnung schlich durch des jungen Engländers Gehirn, und es sank ihm ein Centnerstein von der Brust, als Fernandez sich erhob, und sein Maulthier bestieg, um vorauszureiten. -- Er empfahl den Uebrigen, sich zu ordnen, und bald nachzukommen. Darauf verlor er sich, nur von seinen Hunden und einigen Schützen, die seitwärts durch die Büsche strichen, begleitet, in den Wald, der nach dem Thale hinunterführte. Er war, in Gedanken vertieft, nicht allzuweit bergab geritten, als in dem Gebüsche seine Hunde anschlugen, und ein Jäger seinen Gefährten pfiff. Zugleich raschelte es in dem Gestrüpp des Abhangs, wie das Geräusch eines Laufenden, und in der That riß sich auch ein Mann mit der größten Gewalt durch Busch und Hecken; kraftlos an einem Steine niedersinkend, als er den Reiter vor sich erblickte. Fernandez stutzte nicht wenig ob der fremden Erscheinung, und sprang vom Sattel, den Säbel in der Faust, denn der Niedergesunkene trug Portugiesische Uniform. »Ha! Elender! was machst du hier?« -- rief er ihm rauh entgegen, und schwang die Klinge. Der Entkräftete warf einen muthigen Blick auf den Bewaffneten, schloß dann die Augen, und erwartete den Streich. Dieses Benehmen machte die Hand Vereiras sinken. -- »Wer bist du? wie kömmst du hieher?« -- fragte er milder, und winkte den Schützen, die nachdrangen, ferne zu bleiben. Der Fremde antwortete in schlechtem Portugiesischem: »Ich bin Soldat ..... will's nicht mehr sein, ... lieber sterben!« -- »So? was hat man dir gethan? woher kömmst du?« »Von =la Guasta=. Heute war unser Detachement abgelöst, und auf dem Rückmarsche, noch unfern von dem Wachthause, mißhandelte mich der Knabe, der Fähndrich. Ich warf ihn zu Boden -- entfloh, -- hier bin ich. Tödtet mich, liefert mich aber nicht aus.« »Du sprichst wie ein Mann; du bist auch einer und doch kein Portugiese, wie ich vernehme.« »Ich bin ein Fremder. Ein elender Seelenverkäufer hat mich in diese Gegend gebracht. Ein portugiesischer Kaper bemächtigte sich unsers Schiffs und verhandelte mich an die Soldateska auf der Küste von Fernambuk; diese sendete mich weiter in das Land. Nie fand ich Gelegenheit zu entkommen, als heute auf's Aeußerste getrieben.« »Wohin wolltest du?« »Ich weiß nicht Weg noch Steg. Lieber in den Tod, als zurück.« »Recht. Du weißt nicht, wer ich bin, wer jene Leute sind, die mir folgen?« Der Soldat sah nach der Höhe, wo zwischen grünen dämmernden Blättern die Spitze des Zugs erschien, und sagte gleichgültig: »Ich kenne, auf Ehre, nicht Euch, nicht Eure Leute, und will nichts von Euch, als entweder den Tod auf der Stelle, oder Freiheit und ein Stück Brod; ich bin den ganzen Tag gegangen und gelaufen, und sinke um vor Hunger und Müdigkeit.« Ein Schütze reichte ihm eine erquickende Frucht, und Fernandez fuhr fort: »Es soll dir nichts mangeln, als die Freiheit, die ich dir auf ein Paar Tage nehmen muß, damit man sehe, welch ein Vogel du bist; ob ehrlich, oder Spion!« »Spion? Herr! ich bin ein Engländer!...« »So? ich hätte das an deiner Mundart merken sollen. Dein Name?« Dem Fremden wurde die Antwort erspart. Ein Schrei der Ueberraschung ließ sich aus der Mitte des Zugs vernehmen. »Vater,« -- rief Justinens Stimme: -- »Um Gotteswillen! sehen Sie auf. Es geschehen Wunder! Herr Birsher! Georg Birsher!« »Wer ruft mich?« -- fragte um sich blickend der Soldat, und stand wie versteinert, die Braut, ihren kranken Vater, James, den Doctor vor sich sehend. Er rieb sich die Augen, die Stirne, wollte auf Justine zugehen, und fuhr schnell und erschreckt vor dem Senator zurück. Müssinger, der Ueberraschung unterliegend, vermochte kein Wort zu stammeln. Ein heftiger Krampf packte seine kranke Brust, er sank, wie mit dem Tode kämpfend, zurück. Jammernd warf sich die Tochter über ihn. Vereira gab Befehl, den räthselhaften Fremden festzuhalten. Es geschah. »O ja, ihr Freunde!« -- rief Georg außer sich seinen Schergen zu; -- »Reißt mich hinweg von diesem Anblicke, der mein Herz zerschmettert. Ich bin nicht kalt, bin nicht ruhig in diesem Augenblicke. Ich kann den Mörder nicht in's Augen fassen!« Auf einen Wink des Fernandez wurde Georg schnell fortgeführt; und schnell folgte ihm der Zug, damit der dem Tode nahe Kranke sobald als möglich unter Dach und die Obhut des heilerfahrnen Priesterfürsten komme. Einen wohlthuenden Gegensatz zu der Bestürzung, die über die Europäer gekommen war, machte das Betragen des Doctors. Von Freude leuchtend, ging er dem Troß zur Seite, betete still, betete laut, streckte die Arme gen Himmel, und sagte: »Wie kann ich dir danken, du gnädiger Herr dort oben, daß du mich diesen Tag sehen ließest? Wahrlich, James,« -- sagte er zu dem neben ihm tiefsinnig und betrübt einher Schleichenden, -- »Was ich nicht zu hoffen wagte, ist eingetroffen. Ich sehe den Armen wieder, den ich unglücklich machen half; ich sehe ihn frei unter Freien. O Herr! hast du über meinen armen Freund beschlossen, so erhalte seine Sinne nur eine Stunde noch bei voller Kraft, daß sich von ihm löse, was ihn quält; denn dazu ist jetzt der Augenblick, -- dazu der Ort, -- und ich will dich loben ewiglich!« »Nur einen Abglanz Ihrer Stärke!« bat James, blaß wie ein Sterbender, mit inniger Klage; -- »nun ist jede Hoffnung auf mein irdisch Glück dahin! Selbst die Wüste vereint mich nun nicht mehr, mit der, die ich liebe; die Unschuld, die an mir mit voller Seele hing, wies ich schnöde von mir. Ich muß allein stehen, belohnt für mein hinterlistig Streben, bestraft für den Trug, zu dem meine Jugend verleitet wurde. Vater Münzner! kehren Sie mit mir nach Dominica, nach Assumcion zurück! Euer bin ich nun, ihr schlauen und geschäftigen Ordensleute! Ich will mich an Eure Selbstsucht, an den Schein Eurer Tugend ketten, da mich die Wahrheit verläßt und die Liebe!« »Du betrübst mich, mein Sohn!« -- entgegnete Münzner kräftig: »Wo ist die Stärke, womit du prahltest? Wo das Wohlwollen gegen die Menschheit, das dich auszeichnete? Du willst jetzo diesen Rock nehmen, indem du ihn verachtest? Weiche zurück von der Sünde! _Denke_ sie nicht. Dem schwachen Erdensohne ist's erlaubt, -- es ist sein Loos, getäuscht zu werden, harmlos die Schlange zu nehmen, die ihn alsdann tödtet. Wer aber mit der Erkenntniß das Böse thut, ist verächtlich. -- Mich, den Schwergetäuschten, laß immerhin an dem Platze fallen, der mir zum Kampfe angewiesen wurde. Treu meinem Schwure, weiche ich nimmer aus dem Streite, der mich verdirbt. _Dir_ verbiete ich aber jetzo, ferner an den Orden zu denken. Du würdest darinnen ein Ungeheuer, während ich nur schwach war. Laß ab! Deinen Wortbruch nehme ich auf mich, weil ich ihn verschuldete.« James warf sich weinend an des Pflegers Brust. Beide zu sich gekommen sahen sich um. Sie standen im Thale, an der Pforte eines luftigen Hauses. Eine Doppelreihe von Jungfrauen und Kindern bewegte sich heran, bunt und festlich gekleidet, Früchte in den Händen, und boten sie mit stiller Gastfreundlichkeit den Ankommenden. Unter dem leichten Vordache des Hauses, über welches sich zwei Palmen lehnten, stand der Fürst des guten Jesus, in der einfachen, groben Tracht des heiligen Franziskus, mit nackten, sandalentragenden Füßen, vom dürftigen Strick umgürtet. Der einzige Schmuck des hochbejahrten Mannes war sein weißes Haupthaar, der wie aus Schneefäden gesponnene Bart, der zum Gürtel hernieder floß, und die heitern, wohlwollenden Augen in dem braunen, ehrwürdigen Gesichte. Er sprach mit einfachen Worten den Segen über Alle, und richtete milde Trostworte an Justine, wie an den Senator, der sich mühsam von seiner Ohnmacht erholte. »Dies euer Haus, meine Gastfreunde!« sagte er. »Heil den Fremden, die es wohl meinen, wie wir es mit ihnen machen wollen! Heil dem Kranken, denn Gott will, daß er genese! Heil den Abwesenden, und vorzüglich dem guten Vater Luis, denn er gab uns Gelegenheit, barmherzig zu sein, und Freude bringe ihm dieser Abend!« Der Senator wurde in das Haus gebracht, und wie mit Zauberschnelligkeit war ein Trank bereitet, von welchem der Vater Franzisco viel versprach und erwartete. Alles Volk hatte sich ohne Geräusch nach seinen Häusern begeben; die stille Sabbathsruhe war wieder allenthalben eingetreten, Alles verödet; nur auf Felsspitzen rings um das Thal gewahrte das Auge bewaffnete Schildwachen, die das Thal in die Ferne mit Späherblicken hüteten. Franzisco, der Fürst dieser Wildnisse, saß neben dem Kranken, der in eine heftige Crisis fiel. Des Priesters Hand verließ den Puls nicht, wie die Augen der knieenden Justine die Züge des Vaters nicht verließen. Fernandez lehnte in der Ecke, und beschaute das Mädchen, das ihn sehr anzog; James kämpfte, unfern sitzend, mit seinem Herzen; mit gefalteten Händen stand Pater Xaver an der sehr großen Fensteröffnung, die beinahe eine ganze Seite der Stube einnahm, mit einer Balustrade versehen war, und die Aussicht auf einen großen Platz gewährte, mit Rasen bewachsen und frei; von Platanenreihen im Halbkreise umringt. Ein einfacher Altar erhob sich in seiner Mitte, und, beinahe die Baumreihe überragend, stand hinter dem Altar ein riesengroßes Bild des Heilands, sitzend und sprechend: Laßt die Kindlein zu mir kommen! Der Kopf der Bildsäule, ein Meisterwerk von Schnitzarbeit, sah ernst und sanft in das Zimmer, und nach ihm gewendet lag der Kranke, zu ihm gewendet betete Xaver. Des Senators Zustand besserte sich indessen, aber eine große Schwäche befiel ihn. Die Thüre öffnete sich, und ein Mann, zurückgehalten von einigen Wächtern, wollte herein. Franzisco winkte ihm, leise näher zu kommen. »Der Kranke hat nach Euch verlangt,« sagte er, »schont seinen Zustand!« Georg trat, um vieles gefaßter, mit ruhiger Stimme auf den Senator zu, der ihm schwach die Hände entgegen reichte. »Ich ahne,« sagte Georg, »was Sie bewogen haben mag, meine Nähe zu fordern. Sie glauben an der Pforte des Todes zu stehen, und wollen ein qualvolles Bekenntniß in meinen Schooß wälzen. Lassen Sie die traurige Pflicht. Versöhnen Sie sich mit dem Himmel; ich habe Ihnen vergeben, und auch mein armer Vater, der uns jetzo sieht, wird die Grausamkeit, die Sie an ihm begingen, nicht rügen. Er wird bei dem Ewigen um des Mordes willen, den Sie an ihm verschuldet, um Gnade bitten.« Des Senators Körper zitterte. Justinens Busen hob sich heftiger. Münzner trat langsam näher. »O wie ist es möglich,« seufzte Georg, sich selbst vergessend, und in den Anblick des Kranken verlierend, »daß dieser Mann, in dessen Gesicht jetzt die engelgleiche Sanftmuth liegt, daß dieser gerade gegen den Gastfreund seine Wuth kehren, daß er ihn erwürgen konnte! Was ist der Mensch?« »Ein Irrender, Herr Birsher,« antwortete Münzner; »und auch Sie sind im Irrthum, versöhnlicher, verzeihender Sohn. -- Hier ist Ihr grausames Gericht, -- hier ist die Folter nicht zu fürchten, -- hier ist keine Rücksicht auf öffentliche und geheime Lebensverhältnisse zu beachten, Herr Senator. Reden Sie mit dem jungen Ehrenmanne, daß der grimmigste Verdacht weiche, daß der Eine bezeichnet werde, der die meiste Schuld an Ihrem Unglück trägt.« Der Senator erholte sich ein wenig, und redete dann zu dem jungen Birsher. »Sie sind ein klarer Engel, Herr, Sie vergeben mir unbedingt, ob Sie gleich scheinen, das Schrecklichste von mir zu glauben. Und dennoch, -- wahrlich, Herr, -- so viele Schuld ich an Ihres Vaters Hinscheiden habe,.... verflucht sei meine Hand, wenn sie je sich an dem edeln Manne vergriffen.« »Wie?« fragte Birsher. Justine athmete freudig auf. »Ich bin zu Grunde gerichtet, sagte ich zu dem Mahnenden, dessen Güte ich nicht ahnte, eben so wenig, als seinen Namen,« fuhr der Senator fort; »ich muß sterben eher, als mich bankerott bekennen; ich riß die für mich geladene Pistole aus der Schublade. Herrgott! wollen Sie mich morden? fragte Ihr Vater auffahrend, und in selbem Augenblick sank er, der von der Reise bereits Ermüdete, von schlafloser Nacht Erhitzte, von dem unangenehmen Geschäfte und dem plötzlichen Schrecken aufgeregt, vom Schlage getroffen zu Boden. Mein Entsetzen ... wer beschreibt es? Ich wollte dem Röchelnden die fest zugezogene Halsbinde lüften.... ich war ungeschickt: um so schneller starb er unter meinen Händen; und der entsetzliche Gedanke, den nächsten Anlaß zu seinem Verscheiden gegeben zu haben, warf mich selbst zu Boden.« Georg sann nach, als der erschöpfte Erzähler geschwiegen, und fragte dann: »Wenn ich den Worten eines Sterbenden auch glaube, -- und die Lüge sitzt nicht auf Ihrer Stirne -- woher Ihre Befangenheit, Ihre Angst .... woher das räthselhafte Schweigen gegen mich, da ein freimüthiges Erklären Alles beigelegt haben würde?« Der Senator konnte nicht mehr reden, Münzner nahm für ihn mit erschütternder Wahrheit das Wort: »Ich gebe Ihnen mein heiligstes Priesterwort, im Angesichte des Heilands, der dort so hehr und rein sein göttliches Haupt in den Himmel hebt: der Senator spricht die Wahrheit. Dazumal war jedoch die Schlange seines Bewußtseins ihm so schreckend, daß ihm selbst die nackte Wahrheit ein Gräuel wurde. Seines vielseitigen Unrechts gegen die Gesetze seines Standes und seiner Vaterstadt bewußt, fürchtete er von deren harten und parteiischen Gerichten das Beginnen eines Prozesses, der ihn zu Boden gerissen, mehrere Jahre im Gefängnisse gehalten haben, ihn _vielleicht_, dem Schein zu Liebe, seinem Läugnen zum Trotz, auf das Schaffot, -- unschuldig unter das Schwert gebracht haben würde. So viel von seinem unerklärlichen Schweigen gegen den erregten Verdacht. Die Qualen seines _Bewußtseins_ habe ich zu tragen, und dieses Bekenntniß ist nur eine geringe Vorbuße für das, was ich gegen Sie alle, meine Lieben, verschuldet habe. Clara, -- mein Freund, -- empfahl Sie meiner Liebe! Mit aufrichtiger Theilnahme an Ihnen hängend, wußte ich Ihnen keine bessere Wohlthat zu bereiten, als den Eintritt in meine Kirche, -- die Wiedervereinigung mit Claren, jenseits des Fegfeuers. Ich bedurfte eines Bandes, Sie festzuhalten. Ich benützte den finstern Wahn, in dem Sie lagen, als ob Sie eigentlich durch ihre Drohung den ehrenwerthen Vater dieses Mannes getödtet; ich brauchte ihn als Schreckniß; ich zeigte Ihnen die Vergebung der entsetzlichen Sünde nur in dem Schooße des katholischen Glaubens. Endlich war mir das Werk gelungen, Sie waren unser; ich bemühte mich nun, Ihre Furcht vor dem eingebildeten Verbrechen durch die Lossprechung zu tilgen. -- Umsonst! der Wurm blieb, wurde schrecklicher, denn zuvor; Folge knüpfte sich an Folge, eine verderblicher, als die andere. Ihre Bekehrung wurde Sache des Ordens, -- ich sah Sie aus meinen Händen gerissen, völlig zum Abgrund geschleudert; ich sah die unseligen Wirkungen meines Beginnens, das in aufrichtiger Liebe entsprungen; ich schauderte selbst vor meinem Werke zurück, und _mußte_ nun Stein zu Stein tragen, Trug auf Trug bauen, um.... o, lassen Sie mich schweigen! Sie aber, edler Georg, vergeben Sie mir, daß auch Sie endlich unserer Sicherheit Opfer werden mußten. Wenn Sie gewußt hätten...! Wir fuhren auf demselben Schiffe: Sie, in den Fesseln des Raums, wurden von dem Senator nicht gesehen. Zu Buenos-Ayres angelangt, mußte ich Sie, unserer Selbsterhaltung willen, Ihrem traurigen Schicksale überlassen...! Welche Fügung des Herrn, daß Sie, statt nach Batavia geliefert zu werden, hieher kommen mußten! Hier sind alle Schleier gefallen! hier sehen Sie das Ungeheuer vor sich, das Ihre harmlose Menschenliebe, Ihre Hoffnungen, Ihren Brautstand, vielleicht Ihr ganzes irdisches Glück, und die Glückseligkeit dieser Beiden, und den Frieden jenes jungen Mannes unbarmherzig zernichten mußte! Gott sei Dank; endlich habe ich meine Gefühle reden lassen dürfen, und nun beginnen Sie mit mir nach Gutdünken.« Georg und James wendeten sich entsetzt ab; Justine betrachtete den furchtlosen Mann des Jammers ohne Verachtung nur mit Bangigkeit und innerer Freude über seiner, zur Wahrheit gehobenen, Seele Kraft: denn er hatte ja den Vater von der gefürchteten Blutschuld freigesprochen, und Birsher durfte ihnen nicht gerecht zürnen, und James war auch gerechtfertigter, als das Mädchen jemals vermeint hatte; und, wenn es Bedauern erregt, einen Gutdenkenden in Sünde versinken zu sehen, so erquickt den Kräftigen doppelt der Wiederaufschwung des neu erstarkten gefallenen Herzens! Der Senator winkte dem Pater Xaver zu, und lispelte: »Sie wollten mich um Clara's Willen dem Paradiese weihen, mein Freund. Ich spreche Sie frei, und danke Ihnen für diesen Augenblick. _Ich_ hasse Sie nicht.« »Nicht ich,« rief James weinend, und an den Hals des Lehrers fliegend. »Nicht ich,« setzte Georg edel entschlossen bei, und drückte ihm die Hand, »alles, was wir um uns sehen, ist Gottes Werk, und so auch die Handlungen der Menschen, und so auch Ihr gutes, aber zum Unsegen bestimmt gewesenes Herz! Gott hat uns schwer geprüft; aber ist es nicht auch seine Schickung und sein Friede, daß wir uns hier zusammenfinden? Ich verzeihe, ich vergesse, ich hasse nicht _Sie_; was jedoch den Orden betrifft, der...« »O, mein Herr!« bat Pater Münzner weich; »Auf mich allein die Schale Ihres Zorns! Ich habe Niemand angeklagt, als mich allein. Ich habe zu büßen. Die Fremden, die Unschuldigen verschone Ihr Unwille. Ich dächte: der Geist der Duldung stände dem Protestanten wohl an. Verdammen Sie nur den, der das Ueble mit seiner Hand gethan.« Georg nickte ihm zu, ging zu dem Senator, und gab ihm seine Hand. Schüchtern reichte er die Linke an Justine, die erröthend, aber gerne sie annahm. »Ich schwöre es,« rief er, »Euch nie zu verlassen, meine Lieben, so lange das Geschick uns in der Irre, auf wüstem Meer des Lebens treibt. Laßt uns Alle enge zusammentreten, vereint durch Noth, durch Friede, durch Versöhnung. Liegt nicht das Elend hinter uns in der alten Welt, und kann nicht das Glück auf's Neue _hier_ uns aufblühen?« Sein Blick traf auf Justine. Er las in ihren Augen Freude und Vertrauen. »Gieb mir deine Tochter, wenn du heimgehst, Vater!« sagte er zu dem Senator, und dieser legte die Hände des Brautpaares weinend in einander. James hatte den Muth, seinen Landsmann glückwünschend zu umarmen, und Münzner theilte die hier statt gefundene Versöhnung und ihre Folgen dem Priester Franzisko und seinem Neffen mit. »In diesem Thale,« sagte er, »wäre für die Leute ein stilles Glück zu hoffen, bis die Außenwelt wieder für sie zugänglich wird. Dürfen sie aber auf Ihren Schutz rechnen, mein Vater?« »Jesus ist die Liebe und der gute Hirt,« antwortete Franzisko: »wer tugendhaft ist, wohnt gut in diesem Thale, und -- wenn der den Portugiesen entflohene Mann nur unsere Felsengränzen nicht verläßt, so ist er sicher immerdar.« »Beim heiligen Jacob!« versetzte Fernandez, an seinen Säbel schlagend: »Ich beschütze ihn selbst, weil er brav sein muß, da die schöne Deutsche ihn liebt, für welche ich gerne meine altspanische Ritterlichkeit bewähren möchte!« So geschah es also, daß sie in dem kleinen Staat des guten Jesus in den Wildnissen eingebürgert wurden. Die Einwohner, ein harmloses Volk, aus allen Farben zusammengewürfelt, theils vom Unglück hieher verschlagen, theils im stillen Thal erwachsen, schlossen sich bald an die fremden Brüder an. Ein Haus von schlankem Rohre wurde denselben gebaut. Die Nahrung gab ihnen Vater Franziska aus dem Vorrathhause der Gemeinde, bis ihre Felder, ihre Bäume Früchte tragen würden; er gab durch seine Bemühung dem Senator das Köstlichste: die Gesundheit, wieder. Die Seelenruhe des Mannes beförderte seine Heilung, und ehe achtundzwanzig Tage vergingen, so strich er schon mit seiner Tochter und mit Georg durch die freundlichen Fluren um die Colonie. Die Liebe des Paares verjüngte seinen Geist, und, ungeduldig aufbrausend, wiewohl gutmüthiger, als in der verwichenen Zeit, sagte er zu seinen Kindern: »Ihr liebt Euch; Ihr wollt es nicht verhehlen! Warum wird mir nicht das Glück, Euch verbunden zu sehen? Warum hat Franzisko noch nicht den Segen über Euern Bund ausgesprochen? Ein Patriarch könnte es nicht besser, als dieser edle Mann.« Justine und Georg sahen sich an, ernst, einverstanden, drückten des Vaters Hand, und die Tochter sprach: »Nicht hier, mein lieber Vater! Hier herrscht nicht unser Glaube, und den Lockungen der andern Kirche seit langem widerstrebend, soll auch nicht die Einsamkeit den Sieg über mich erringen.« »Nicht ewig,« redete Georg, »wird uns das Geschick an diesen Boden fesseln, ich ahne es, wir werden meine Heimath sehen, und dann, Vater, dann knüpfen wir dort das Band vor dem _unsichtbaren_ Gotte.« Der Senator schlug beschämt die Augen nieder, und Justine, um seine Verlegenheit zu endigen, setzte schonend bei: »Wie wollen Sie auch, daß ich glücklich sei, so lange noch ein Mann in unserer Nähe lebt, den die Leidenschaft beim Anblick dieses Bundes elend machen würde?« Sie zeigte auf James, der unfern vorüberging, sinnend, brütend, gesenkten Hauptes, ohne sich umzusehen. »Sie waren ihm hold, beste Jungfer!« sagte Georg, ihm nachblickend. »Der Unglückliche, daß er diesen Lichtblick seines Lebens nicht für sich gewann!« »Zu meinem Frieden!« antwortete Justine. »Angezogen und zugleich abgestoßen von ihm, danke ich den Ränken, zu welchen ihn seine Erzieher verleiteten, meine Ruhe. Ich hasse die Falschheit -- und nur redliche klare Besonnenheit kann mein Herz gewinnen. Darum rechnen Sie, mein bester Herr, auf dieses, wenn es Ihnen angenehm ist, und vor Allem -- lassen Sie uns sammt und sonders auf baldige Erlösung nach der Heimath hoffen. Denn, nicht zu läugnen, daß hier in diesem Frieden, dieser Stille, nur ein geschmückter Kerker zu schauen ist.« Justine sprach wahr. Franzisko übte, seinen Verhältnissen gemäß, die strengste Despotie; mit Wachen war das Thal umstellt: Niemand sollte das Thal verlassen; auf die Fremden wurde das wachsamste Auge gehalten; besonders auf den Jesuiten, dessen Gewand, das er hartnäckig behielt, einen größeren Verdacht erregte, als die portugiesische Uniform, die Georg abgelegt hatte, um kein Aergerniß zu geben. Und gerade Münzner mußte es sein, der plötzlich aus dem wohlgehüteten Gefängnisse entwich, ohne es selbst zu ahnen. Bei all dem herzlichen Vergessen, das die Freunde ihm bewiesen, war der Stachel in seiner Brust zurückgeblieben. Er konnte sich nicht heimisch unter diesen Menschen fühlen. Seine Gewissenhaftigkeit trieb ihn, da der Senator genesen war, wieder nach dem heimathlichen Boden, vor die Schranken seines Provinzials. Der stille Kummer, worin sich James verzehrte, machte sein Herz bluten. Es quälte ihn, diesen Unfrieden eines geliebten Jünglings mit ansehen zu müssen. Botanik, eine Lieblingswissenschaft seiner jüngern Jahre, bot ihm Zerstreuung und Genuß. Er entfernte sich von den Landsleuten; er kletterte Tage lang an dem Gestein der Höhen, durchkroch die Furchen des Thalbodens. Die Wächter waren seiner Wanderungen gewöhnt worden. Dem schlichten einfachen Manne mißtraute keiner mehr; sie ließen von ihrer Achtsamkeit nach, und so kam es, daß der Pater sich eines Nachmittags, von seiner Forschbegierde verleitet, weiter verstieg als sonst, und sich mit einem Male hoch über den Wachtposten erblickte. Die herrliche Flora, die um ihn erblühte, führte ihn weiter. Die Waldpflanzen boten ihm einen blumigen Pfad, der ihn mehr und mehr verlockte, und, wie das Kind der Lockung süßer Früchte folgt, so folgte hier der Mann, dessen Herz sich seit Langem wieder einer ruhigen Freude hingab, dem Streben seiner Wißbegierde. Aber immer weiter war er gegangen. Der Wald hatte sich hinter ihm mit tausendstämmiger Wehrmauer zugeschlossen. Nur der Laut der Vögel sprach zu dem Wandernden; nur die Furche, die von der mächtigen einsamen Schlange durch das Gras gezogen wird, war sein Pfad, und endlich dämmerte es schon unter den hohen Bäumen, als er Halt machte und auf den Rückweg bedacht wurde. Wo jedoch diesen finden? Kein Sonnenstrahl mehr; noch kein Stern; grüne duftige Waldnacht allein. Münzner versuchte sein Heil, indem er auf's Gerathewohl einen Seitenpfad einschlug, wo von Ferne eine schwache Helle aufzudämmern schien. Je weiter er ging, je tiefer die Dämmerung wurde, je deutlicher wurde der helle Punkt; er blitzte auf: eine Feuerflamme redete zum Auge des Wanderers. Er förderte seine Schritte. Auf feuchtem Grunde, an hochwachsenden, üppiggeblätterten Sumpfstauden vorüber -- immer auf das Ziel zu, das die Gegenwart von Menschen verrieth. Mochte das Raubgethier um und um in der Ferne heulen und krächzen; er verfolgte die Spur. Schon erkannte er einen flammenden Holzstoß, Menschen um denselben gelagert. Seine Annäherung, von dem rauschenden Gestrüpp verrathen, erregte die Aufmerksamkeit der Lagernden. »Wer da!« rief eine portugiesische Zunge, und der Pater sah die Mündung einer Flinte gegen ihn gerichtet. »Ein Verirrter!...« antwortete er, und im Nu umgab ihn die Schaar der Aufspringenden: ein Dutzend von Männern in braune, grobe Mäntel gehüllt, mit herunterhängenden Hüten auf dem Kopfe, Säbeln an der Seite und Musketen in der Faust. Einer von ihnen, der unter dem Mantel eine Uniform sehen ließ, mit den Galonen eines Offiziers, fragte gravitätisch, daß die Cigarre zwischen seinen Zähnen nicht erlösche, woher der ehrwürdige Vater komme und wohin er wolle. Auf die unbestimmte Antwort Münzners, daß er sich verirrt habe, schüttelte der Offizier ungläubig den Kopf, küßte indessen dem Pater die Hand und erwiderte: »Ihre Aussage ist dunkel, Ew. Hochwürden. Ich muß sie in's Hauptquartier schaffen lassen, da Sie mir nicht angeben wollen, wo Ihr Wohnort ist.« »In's Hauptquartier?« »Nach la Guasta; einige Stunden von hier entfernt. Sie werden gefällige Leute daselbst finden, mein Vater.« »Aber mit welchem Rechte?« »Ich bin Soldat, hochwürdiger Herr. Das entschuldige mich. Miguel und du, Olao! nehmt eine Fackel mit Euch, und führt den ehrwürdigen Herrn zu Sr. Excellenz, dem Brigadier.« »Welche Behandlung, da ich hier nur Schutz für diese Nacht suchte!« »Befehl, hochwürdiger Herr! Geben Sie uns Ihren priesterlichen Segen, wenn es Ihnen gefällig wäre!« Die ganze Truppe senkte sich auf die Knie. Münzner that das Verlangte, und nachdem ihm noch von Allen auf's Inbrünstigste Hand und Kleid geküßt worden war, mußte er sich auf den Weg machen. Der Offizier bot ihm Cigarren und einen Tropfen Wein zur Erfrischung. Niedergeschlagen und geärgert verweigerte Münzner Beides, und folgte den Soldaten, die alle ersinnliche Ehrfurcht und Frömmigkeit gegen ihn bewiesen, ihn jedoch nicht aus den Augen ließen, die gespannte Flinte im Arme haltend. So verging die Nacht auf gefährlichem, halsbrecherischem Wege. Das Morgenlicht fand den Verhafteten auf der steifen und öden Bergplatte la Guasta. Abgründe ringsum; in der Tiefe Wälder; ein dürftiges Wachthaus bot ein Obdach; aber der sonst öde Ort wimmelte von gelagerten Soldaten einiger Milizen-Compagnien, Strauchdieben ähnlicher, als geregelten Kriegern; in abgetragenen Röcken und zerrissenen Schuhen. Die durchlöcherten Hüte, niedergekrempt, saßen verwegen auf den ölglatten, schwarzen, hängenden Haaren, und das olivengelbe Gesicht wurde furchtbar und drohend durch die großen, schwarzen Feueraugen, und den unordentlich gehaltenen Schnauzbart. Spielend, schlummernd, plaudernd lagen sie am Boden um Trommel und Fahne, die Waffen, in Pyramiden zusammen gestellt; so wie sie des nahenden Geistlichen ansichtig wurden, flogen die Hüte herunter; die Mannschaft lag auf den Knieen, und die Benediction war das Erste, was sie verlangten. In dem Augenblicke traten zwei Männer unter den Eingang des Wachthauses. Ein hoher Offizier, wie das Kleid verrieth, und der Ungestüm, mit welchem das Militär aufsprang, ihm die Honneurs zu machen; dann ein Vater der Gesellschaft Jesu, der sehr verwundert schien, einen Bruder vor sich zu sehen. -- Münzner war erstaunt über dieses Zusammentreffen, das, in Mitte so vieler Waffen, einen bedeutenden Zweck zu haben schien. Der Sergeant Miguel berichtete. Der Brigadier näherte sich dem Pater Münzner bescheiden, und fragte ihn: »Wollen Sie nicht aufrichtiger gegen uns sein, als gegen den Lieutenant des Vorpostens, mein Vater? Sie sind, wie aus Allem zu schließen, unbekannt in diesen unwegsamen Gegenden, und jede Ausflucht, die Sie ersinnen möchten, uns über diesen Punkt zu täuschen, würde vergebens sein. Wären Sie etwa bekannter in der Region, nach welcher wir unsern Marsch gerichtet haben? in dem Thale des guten Jesus in den Wildnissen?« Münzner erschrak. Die Ahnung vom Verderben seiner Freunde schoß durch seinen Kopf. Entschlossen, nichts zu verrathen, läugnete er, ohne jedoch einen Vorwand zu finden, der seine Existenz in diesen Landen beschönigen konnte. »Ich wiederhole Ihnen, mein Vater,« fuhr der Brigadier gemessen, ernst, aber immer höflich fort, »daß Sie Ihre Lage verschlimmern. Wir lassen uns nicht täuschen. Sie möchten sich die Folgen selbst zuzuschreiben haben. Woher kommen Sie? die nächste Mission liegt noch ferne von hier, und Ihr Gesicht scheint dem hochwürdigen Vater Assistenten der Missionobern zu St. Sebastian gänzlich unbekannt? Gestehen Sie, daß Sie ein Einwohner der wider des Königs Willen und Gottes Erlaubniß errichteten Colonie in den Wildnissen sind.« Münzner wollte sich in sein Leugnen beschränken. Der Pater Assistent durchbohrte ihn mit den Augen, ohne ein Wort zu reden. Der Brigadier fuhr stolz und schneidend fort: »Es ist wahrscheinlich, daß die spanische Krone die aufrührerische Niederlassung auf Don Juans Eigenthum begünstigt, und Väter der Gesellschaft Jesu aus ihrem Paraguay herüber sandte, dieselbe zu regieren, möglich indessen auch, daß Sie das Kleid und die Tonsur blos als Maske tragen, um verbrecherische Späherränke darunter zu verbergen. Mindestens sollten Sie Ihre Lection besser gelernt haben. Wenn Sie, wie Sie vorgeben wollen, zu Santa Catalina als Vicar stehen, wie kömmt es, daß Sie hier aufgehalten werden konnten? Man pflegt keine botanische Wanderung auf fünfzig Leguas in der Runde anzustellen. Diese Gründe werden mich bewegen, Sie nach St. Sebastian abführen zu lassen, woselbst Alles klar werden soll.« Münzner bückte sich schweigend, sich in sein Schicksal ergebend. Der Pater Assistent winkte indessen dem Brigadier verstohlen zu, nahm den Doctor bei der Hand, führte ihn in ein einsames Gemach des Wachthauses, und sagte hier zu ihm: »Mein verehrter Mitbruder im Herzen Jesu! Ich habe Sie durchschaut, und bescheide mich, die Gründe Ihres Betragens zu tadeln, weil ich dieselben gefunden zu haben glaube. Ihr Name, Ihre Verrichtung?« Münzner nannte sich, seine Heimath, sein Profeßhaus, seine Sendung nach Amerika. Der Assistent lächelte zufrieden und sagte: »Ihr Name ist mir bekannt, das Haus Minhao zu St. Sebastian führt ihn in seinen Registern und Correspondenzen. Ich fasse Vertrauen zu Ihnen, wie unsere Pflichten es wollen. Sie drücken sich aber nicht klar aus. Seit Ihrer Entfernung aus der Savanna unfern Dominica bleibt eine Lücke, die Sie nicht ausfüllen wollen. Wenn Sie dem Soldaten allein nicht Rede stehen wollten, kann ich's nicht schelten. Das Volk mit dem Degen nimmt häufig das Prae vor unserm Stande und Beruf. Mir gegenüber ist es ein Anderes. Sie sollen wissen, daß ich auf Befehl des hochwürdigen Paters General zu Rom mich hieher verfügt habe. Längst haben wir Kunde von dem »guten Jesus in den Wildnissen,« und den dort herrschenden Usurpatoren. Theils aber, um die spanische Krone in ihrer Unwissenheit zu lassen, -- theils aus Mangel an energischer Unterstützung unsers Statthalters, ließen wir die Einverleibung jener Gemeinden in den Schooß derer Missionen, die _Uns_ mit Fug und Recht gehören, dahin stehen. Endlich ist der Augenblick gekommen. Hinreichende Mannschaft unter dem Commando eines Brigadiers begleitet mich. Wir stehen an den Pforten jenes lichtscheuen Staats, um ihn für den König und den Orden zu behaupten. Zwei Kundschafter des elenden Franciskaners, der dort regiert, sind in unsere Hände gefallen. Das Geheimniß unsers Anrückens ist unverletzt. Wir sind im Besitz aller nöthigen Weisungen. Aus Ihrem Munde, dem eines Gebildeten, Vertrauten, wünsche ich nun den obigen Aufschluß zu erhalten. -- Weigern Sie sich noch, und stempeln sich dadurch als einen Theilnehmer jener Usurpation? als einen Verräther an den Interessen unserer Gesellschaft?« »Mein Vater!« unterbrach ihn Münzner mit lebhaftem Unwillen bei der letzten Frage. »Das Wohl unsrer heiligen Gesellschaft geht mir über Alles, bin ich gleich das unwürdigste ihrer Glieder.« »Sie sind zu bescheiden,« versetzte der Andere mit schmeichelnder Ueberredung; »es hängt nur von Ihnen ab, auf der Stelle ein sehr würdiges zu werden, indem Sie in meinem Wunsche den des gesammten Ordens befriedigen.« »O, mein Vater!« rief Münzner bewegt; »erlassen Sie mir diese Nothwendigkeit. Ich müßte Dankbarkeit und Freundschaft mit Füßen treten. Ich bin ein einzelner schwacher Mensch; ich kann Ihres Unternehmens Fortgang nicht aufhalten; aber Sie bedürfen meiner eben so wenig, um es zu beschleunigen.« »Sind Sie ein Bruder der heldenmüthigen Congregation, aus der der kühne und kluge Jacob Lainez, der glaubensstarke Xaver hervorging?« fragte der Pater Assistent mit dem Tone des Vorwurfs. »Wollen Sie eitle Privatverhältnisse vorschützen, wo die Gesellschaft von Ihnen ein so geringes Opfer, ein Paar Worte, fordert? Sind Sie der Sprache der Vernunft und der Bruderliebe unzugänglich, so folgen Sie der Stimme des Gehorsams. Bei ihrem Gelübde, Pater Xaver. Ich stehe hier an der Statt unsers würdigsten Generals, und befehle Ihnen, mir ohne Umschweife Alles mitzutheilen, was Sie wissen.« Der Befehl erschütterte den Pater Xaver auf's Aeußerste. Eine grimmige Verachtung gegen den hartherzigen Gebieter war sein erstes Gefühl; Ehre, Furcht vor den beschworenen Statuten seines Ordens, das darauf folgende. Einen bittern Kampf aushaltend zwischen dem Vortheil der Freunde und dem gelobten Gehorsam, erblaßte er bei dem Siege des Letztern. Was ihn aufrecht erhielt, war die Betrachtung, daß ja ohnehin die Colonie bereits in den Händen der Bedränger sei, und daß seine Aussagen nur versöhnend, nicht verschlimmernd wirken konnten. »Die Kundschafter, von denen Sie sprachen, mein Vater, haben Ihnen bereits entdeckt?« Der Pater Assistent nickte gespannten Blicks mit dem Haupte. »So bin ich bereit, Ihnen der pflichtschuldigen Gehorsam und Demuth zufolge, nicht länger das Wenige zu verhalten, was ich weiß.« Der Verhörende begann seine Fragen: »Sie begriffen so gut als Alles: die Lage, die Einwohnerzahl, die Regierungs- und Religionsform, die militärische Stärke, die Produkte der Colonie zum guten Jesus.« Münzner wurde von einer Frage zur Andern gezogen, mit dem subtilen Scharfsinn, der schon zum Voraus aus den funkelnden Augen des Assistenten sprach. Der Jesuit notirte sich Namen und Zahlen in dem Taschenbuche, und drang darauf, den Weg nach der versteckten Gemeinde deutlich angegeben zu wissen. Als nun Münzner mit der Behauptung der eigenen Unwissenheit hervortrat, und der Assistent immer dringender, immer härter wurde, so entschlüpfte dem staunenden Pater, nachdem er ungefähr die Himmelsgegend angegeben, nach welcher der »gute Jesus« lag, die Frage: »Aber wie ist es möglich, mein Vater, daß die gefangenen Emissarien Franzisco's, -- als Eingeborene des Thals -- Ihnen nicht die genaueste Auskunft gegeben haben sollen?« Der Pater Assistent antwortete nicht, aber wohl stürmte der Brigadier zornroth in das Gemach. -- »Sehen Sie die Folgen Ihrer Langmuth, mein Vater?« rief er wie wüthend: »Hätten Sie doch zugegeben, daß meine Soldaten die Hunde von Topinambou's, von elenden Indianern, mit brennenden Lunten zum Geständniß peinigten! _Nun_ erfahren wir von den verdammten Spionen Franzisco's keine Silbe mehr. Sie haben sich in ihrem Loche mit der Zunge erstickt, und spotten unsrer, kalt und steif, wie sie sind!« »Richtig, Ihro Excellenz,« versetzte der Assistent lächelnd und kaltblütig; »die Bursche haben ihren Lohn dafür, und, wenn sie selbst schweigen, so redete doch der gute Pater hier um so mehr!« Triumphirend wies er dem Brigadier die Schreibtafel hin. Dieser riß die Thüre auf, und rief hinaus: »In Ordnung, Soldaten! Die Sache hat sich gewendet! Wir ziehen nicht ab!« -- Münzner, die Bosheit seiner Handlungsweise durchschauend, sank auf die Bank, und verhüllte sein Gesicht. »Sie haben mich bitter getäuscht!« sagte er: »Ich bin nun der einzige Verräther. Jene Wilden, die für ihren und ihrer Freunde Heerd starben, sind Heilige geworden!« »Ihr blasphemirt!« rief ihm der Pater Assistent zu: »Eurer schwachherzigen Tücke setzte ich erlaubte List entgegen. Simson gebrauchte sie auch gegen die boshaften Philister. Ihr habt die Gesellschaft und den Heiland durch Euer Benehmen beleidigt. Ihr lebtet im Einverständniß mit dem Rebellen im Thale, mit den Unterthanen des Franziskaners! Ich wittre eine schwere Schuld in Euerm Leben. Ich werde dafür sorgen, daß Ihr plötzlich nach St. Sebastian gebracht werdet, um in unserm Hause abzuwarten, was über Euch beschlossen werden dürfte. Mindestens ist's unsre Pflicht, solch heuchelnd Unkraut wieder nach Europa zurückzuwerfen, woher es uns gekommen.« -- Er verließ den Pater Münzner in der trostlosesten Lage, und ließ wirklich ein kleines Commando beordern, das ihn auf der Stelle nach St. Sebastian führen sollte. Münzner wollte nun noch das Letzte thun: um Schonung seiner Freunde, um gütige Behandlung seines Pflegesohns bitten. Der Assistent verschloß seine Ohren vor ihm. Er wurde einsam bewacht. Erst nach mehreren Stunden, nachdem Botschaft von der Vorhut, die sich nach der, von Münzner bezeichneten Richtung, vorwärts begeben hatte, angekommen war, daß man von einem wohlverborgenen, noch nie entdeckten Klippenhügel das Thal überschaue und Häuser darinnen unterscheide, machten die Truppen, die heute unverrichteter Sache den Rückmarsch hatten antreten sollen, da ihnen Lebensmittel ausgegangen, Aufbruch. Im selben Augenblicke wurde Münzner auf das ledige Maulthier eines Marketenders gesetzt, und auf den, dem »guten Jesus« entgegengesetzten Pfaden, fortgebracht. Mit welchen Gefühlen er die lange Reise antrat? Muthiger, mit hochschlagender Brust, mit Durst nach eingebildeten Schätzen, ging die Mannschaft des Brigadiers weiter, aber stille, behutsam, vorsichtig. Der Abend senkte sich nieder, als die Soldaten nach unsäglichen Mühen an den Rand des Thalkessels gelangten und von den Höhen auf die stille Colonie niederblickten. Die jenseits postirten Wachen gewahrten die furchtbaren Fremdlinge, und Alarmschüsse durchzitterten die Luft. Rings um die Wachtpostenkette ging der Feuerlärm. Bald wimmelte es im Thale. Die rüstigen Leute liefen aus Höfen und Häusern zusammen. Waffen glänzten überall. Noch standen die Portugiesen unschlüssig, keines dienlichen Pfades ansichtig, der sie in Masse herunterführen möchte. Da wollte das Unglück, daß Montehol, der kühnste Kletterer aus Trazos-Montes, ein aufspringendes Wild verfolgend, sich längs den Felsen hinabwarf, und in den vorsichtig verborgenen, von einem Wachthause verschlossenen Hohlweg gerieth, der in die Thalschluchten führt. Der unerschrockene Bursche schrie laut seinen Kameraden zu. Einige Schüsse aus den Schießscharten des Wachthauses streckten ihn nieder, aber -- in seinem Blute schwimmend, von den Kugeln der Feinde zerfleischt, -- rief er, bis sein Leben verlosch: »Hieher! Milizen! hieher! Es lebe der König und Portugal!« Der willkommene Ruf hatte Erfolg. Die Menge stürzte sich in den Hohlweg, nicht aufgehalten von den mörderischen Schüssen, die geübte Hände hinter der Wehrmauer nach ihnen richteten. »Im Namen der Jungfrau Maria und aller Heiligen!« schrieen die Soldaten und der vorarbeitende Trupp der Schanzgräber mit den Beilen in der einen und der Picke in der andern Faust, stürzten wie die Löwen auf das Thor des Verhau's, während ihre Hintermänner mit Granaden das Dach des Hauses in Brand steckten. Der Hohlweg war gedrängt voll von Stürmern; und diesem Andrang, wie dem Brande und den Axthieben der Pioniers mußten endlich Gatter, Angel und Riegel weichen. Der Wachtposten Franzisco's war in zögerndem Rückzuge begriffen, und vom Thale herauf kam ein ansehnlich bewaffneter Haufe, und aus großen Standröhren schossen die gegenüberstehenden Wachen und trafen nicht selten. Aber so günstig das Feuergewehr den Angegriffenen diente, so muthig sie unter der Anführung des tapfern Fernandez stritten, und die Angreifer aufhielten: sie mußten ihrem Ungemach erliegen. Der Brigadier kommandirte donnernd, während seine ersten Reihen feuerten, den Uebrigen, die Bajonnette auf die Musketen zu setzen. Es geschah; im Nu theilten sich die Schützen; die Rotten der mit dem fürchterlichen Flintendolch Bewaffneten warfen sich auf die Feinde: die neue, in diesen Thälern noch nicht gekannte Waffe that in ihrer unwiderstehlichen Gewalt Wunder des Schreckens. Zerstreut und von panischer Furcht befallen, kehrten sich Franzisco's Leute zur Flucht. Die Fahne mit dem Kreuze, in der Faust ihres hingestreckten Trägers, blieb in den Händen der Sieger, die, über Waffen und Leichen wegschreitend, im Sturmmarsch das Thal betraten und sich den Häusern näherten. Vor den drohenden Bajonnetten, vor den streifenden Seitenbanden der Schützen, rettete sich, wer konnte. Flammen gingen im Thale auf. Keiner der Krieger Franzisco's hielt mehr das Feld. Weiber und Kinder, entwaffnete Flüchtlinge, warfen sich in den Staub, küßten des Brigadiers, des Jesuiten Füße, bettelten um Gnade. Während diese Scene des Schreckens vorging, hatte sich Franzisco mit vielen Weibern und Greisen und einigen treuen Anhängern in eine Schlucht gerettet, die, in mannichfachen Windungen das Gebiet durchschneidend, und endlich, Waldströme und Sümpfe dem Forscher entgegensendend, nach den spanischen Besitzungen führt. Unter den mit dem Priester Fliehenden befand sich Müssinger, seine Tochter und James, den Georg gebeten hatte, nicht von der Seite seiner Freundin zu weichen. Er selbst wollte, ob streitend, ob beobachtend, sehen, wie sich Alles gestalten würde. Unter schützenden Felsen, auf ihren dürftigen Habseligkeiten ruhend, erwarteten die Flüchtlinge Nachricht von dem Schauplatze des Gefechts, dessen Schüsse, vom Echo verdoppelt, zu ihren Ohren drangen, früher als ein belebendes oder entmuthigendes Wort. -- Endlich erschien Georg, von dem Fernschusse eines Portugiesen an der Achsel gestreift, und brachte keinen Trost. Endlich erschien Fernandez, schwerer verwundet, mit dem Rest seiner Leute, und brachte die baare Nachricht des Unglücks. -- »'sist aus mit uns!« rief er dem Oheim zu: »Rettet Euch, Don Franzisco! Die schurkischen Portugiesen haben den Sieg durch ihre niederträchtigen Musketenspeere errungen. Hieher sollen sie jedoch nicht dringen. Diesen Paß vertheidigen wir bis zu unserm Tode. Was mir aber das gallige Blut zum Herzen drängt, daß es bersten möchte vor ohnmächtiger Wuth, ist, daß der Jesuit, der schändliche Deutsche, uns verrathen hat. Er wurde seit gestern vermißt, und die scharfen Augen meiner Jäger haben ihn im Hintertreffen der Portugiesen neben dem Brigadier gesehen!« »Münzner?« riefen alle seine Landsleute: »wäre es möglich?« Georg nickte schweigend. James sprang aber, von edler Ungeduld ergriffen, auf, und sprach: »Welche Verläumdung! Mein Pflegevater ein Verräther? Nein! er lügt, wer das behauptet!« »Junger Mensch!« zürnte ihm Fernandez drohend zu: »Ihr vergeßt, daß ich einen Säbel trage, der --« »Der dem Dienste des Ganzen jetzo geweiht sein muß!« -- fiel Franzisco ein, herbeitretend: »in einem unnützen Kampfe um eines Wortes willen, soll sich Euer Blut nicht verspritzen, meine Freunde!« Die Streitenden schwiegen beschämt vor der mahnenden Stimme des ehrwürdigen Alten. Zugleich ließ sich ein bedeutender Lärm in dem Lager der Flüchtlinge hören. »Die Feinde?« -- fragte Franzisco, und das alte Soldatenfeuer blitzte aus seinen Augen, während seine Hand nach einem Säbel griff. »Nicht doch, Oheim,« -- versetzte Fernandez. -- »Der tapfre Neger Pablo hält mit seinen Schwarzen Wache am Eingange dieser Thalschlucht. Die gegen ihre ehemaligen Zwingherren Erbitterten haben geschworen, eher zu sterben, als sich überwältigen zu lassen. Ich weiß im Uebrigen von einem Entsprungnen, daß die Portugiesen das Eindringen in diesen unbekannten engen Paß vermeiden werden, bis ihr Nachtrab angelangt sein wird.« Ein Bewaffneter brachte die Nachricht: die ausgestellten Wachen hätten auf den Höhen gegen Osten einige Fremde in europäischer Kleidung ergriffen, und sie herbeigeführt. »Hätten uns die Elenden umzingelt?« -- fuhr Fernandez auf, und ließ die Fremdlinge heranbringen. -- Vier sonnverbrannte Gesichter, in unscheinbarer Kleidung steckend, mit metallnen heiligen Bildern auf den Hüten und Rosenkränzen um den Hals; ohne Waffen, wie sie der Soldat trägt; blos mit Messern, eisenbeschlagenen Stöcken und Feuerzeugen versehen. Aber nicht die Gestalten, nicht die Gesichter verriethen Spanier oder Portugiesen; ihre Sprache, -- ein unbeholfenes Kastilisch, zeigte vollends die in der europäischen Halbinsel völlig Fremden an. Sie brachten einen Paß, von dem Statthalter des Königs, zu St. Sebastian, vor, in dem sie als irländische Bergwerksleute angegeben waren, die auf Befehl der Regierung von Brasilien das Innere dieses Landes zu durchstreifen hätten, um nach edeln Erzen zu forschen, oder nach Demantgruben. Mündlich berichteten sie, über einen Gebirgsstock gewandert zu sein, und sich in den unermeßlichen Geländen verloren und verirrt zu haben, bis der Zufall und das Schießen, das sie vernommen, sie hiehergeführt. Franzisco, ihren Aussagen nicht mißtrauend, begnügte sich, sie zu fragen, ob sie portugiesische Truppen gesehen, und -- auf ihre desfallsige Verneinung -- sie unter einige Aufsicht zu stellen. Von dem unglücklichen Fürsten der Wildniß weggehend, begegneten die Fremden dem Master Georg. Befremdet blieb dieser, den Ersten ansichtig werdend, stehen. Auch Jenem fiel des Amerikaners Antlitz auf. »Georg Birsher!« rief er plötzlich. -- »Harry! Harry Haverly,« entgegnete der Andere nicht minder freudig, und sie schüttelten sich treuherzig die Hände. »Du _hier_?« fragte Harry englisch und mit beflügelten Worten; »wir glaubten dich vom Hay verschlungen!« »Ach, Bruder!« entgegnete Georg, »wie steht's zu New-York?« »In Hülle und Fülle. Ich verließ es erst vor einigen Monden. Dein Compagnon führt, unerschütterlich deiner Rückkehr vertrauend, die Geschäfte fort, und das Glück hat seine Bemühungen tausendfach belohnt.« »Aber du, mein Freund?« »Verrathe mich nicht an diese Menschen. Gieb vor, daß du mich in Irland kennen lerntest. Klugheit! reinen Mund! ein andermal mehr.« Die Wächter der vorgeblichen Irländer nöthigten sie, weiter zu gehen, und führten sie an einen abgelegenen, von den übrigen getrennten Platz. Fernandez hatte von Ferne ihr Zusammentreffen mit Georg angesehen, und sprach zu seinem Oheim: »die fremden Leute haben unserer Colonie Unheil gebracht. Alle sind mir als Portugals oder Spaniens Spione verdächtig. Wollen wir abwarten, daß sie uns, -- den Feinden so nahe -- vollends verderben? Standrecht über sie. Wir wollen nicht ungerächt mindestens untergehen.« »Junger Mann! wohin verleitet dich dein Zorn?« fragte der Alte verweisend. »Soll ich den letzten Schimmer meiner Patriarchen-Gewalt mit einem Verbrechen besudeln? Laß uns lieber die Nachtzeit benutzen, um auf spanisches Gebiet zu flüchten. Santa Dominica nimmt uns unter verändertem Namen auf, und wir dürfen daselbst auf Ruhe hoffen.« »O unglücklicher Ausgang schöner Plane!« seufzte Fernandez. -- »Das Unglück soll uns jedoch in jenen fremden Gästen nicht weiter begleiten. Wir lassen sie zurück. Schuldig, werden sie bei unsern Feinden Schutz und Hülfe, -- unschuldig, Gottes bessern Beistand finden.« Der Greis, von Fernandez Argwohn ergriffen, willigte in dessen Wunsch, und ließ die Anstalten zum nächtlichen Aufbruch in geheimster Stille vornehmen. Georg kehrte indessen nach der Höhle zurück, woinnen Müssinger und seine Tochter seiner mit peinlicher Ungeduld warteten. James stieß auf ihn. In der Dämmerung bemerkte Georg, daß der Jüngling seine portugiesische Uniform angelegt hatte. »Wohin in diesem Aufzuge?« fragte Birsher staunend; »wollt Ihr Euch von den Unsern erschießen machen?« »Verzeiht, Herr, daß ich Euer Kleid nahm,« entgegnete James ein wenig heftig, -- »aber mir brennts auf der Seele, daß Doctor Münzner ein Verräther sein soll. Ich will trotz Tod und Teufel hinüber, um zu erfahren, ob Fernandez wahr sprach, -- ob er log.« »Wie, Sir White? unter die Feinde?« »Dies Kleid schützt mich, und die Nacht. Und gälte es mein Leben, ich muß mich überzeugen, ob mein Pflegevater der Bösewicht ist, wofür man ihn ausgeben möchte. Lebt wohl, Mr. George. Ich bringe gute Botschaft, oder keine mehr in diesem Leben. Grüßt dann Justine von mir ... sagt ihr.... doch nein! sagt ihr nichts,.... und seid glücklich!« »James! reißt Euch das Feuer der Leidenschaft von hier? was habt Ihr vor?« Georg hatte gut ihm nachrufen; schon war er im steigenden Dunkel verschwunden. Auf geheimen, Thymian duftenden Pfaden kletterte James zum Ausgang der Schlucht hinab, und kroch, leise wie eine Schlange, an dem Hinterhalt der Negerpartei vorüber. Unfern an einem niederrauschenden Bache stand der Vorposten der Feinde, die es nicht wagen mochten, ohne Verstärkung in die Schlucht einzudringen. Rings an den Höhen brannten ihre Wachtfeuer. Mitten im Thale loderte ein Haus in vollen Flammen: Franzisco's bescheidene Wohnung. Die meisten Soldaten des Pikets waren dem Brande zugekehrt, und James glitt durch Stauden und hohes Gras an dem Zelte vorbei, ohne bemerkt zu werden. Neben dem Bache sich haltend, und in tiefes Dunkel verschleiert, näherte er sich den Hütten. Vor ihren Thüren standen die zurückgebliebenen Einwohner, mit Schmerz und Händeringen auf die Trümmer ihres bisherigen bescheidenen Glückes sehend. Um den Betplatz war die größte Menge versammelt, und viele Soldaten standen, theils bewaffnet, theils in bequemer Ruhe, umher. Der Pater Assistent, begleitet von dem Brigadier und den Pionniers, führte hier ein merkwürdig Schauspiel auf. »Nieder mit dem Bilde, das hier die Heiden unserm Heiland zu Hohn und Spott errichtet haben!« rief er mit wilder Begeisterung, in seiner Hand selbst ein Beil schwingend; »nieder mit dem Götzenbilde eines wahnsinnigen Opferdienstes! der elende Franziskaner hat euch, ihr Verblendeten, nur vorgespiegelt, daß diese Riesengestalt euern Erlöser vorstelle; er hat aber den Teufel hinein gebannt, wie die heidnischen Mexikaner in den gräßlichen Huitulopochtuli! -- Vergebung der Sünden dem, der mit thätiger Hand hier angreift, wie ich! Nieder mit dem Zauberblendwerk des verruchten Bettelmönchs!« Er führte den ersten Streich nach dem Bilde des Erhabenen, dessen Jünger er sich doch prahlend selbst nannte, und zwanzig Fäuste wütheten wie der Blitz gegen die ehrwürdige Gestalt. Sie sank zerstückt in den Rasen. Ihre Trümmer flogen in das wilde Feuer des angezündeten Hauses, das der schadenfrohe Soldat mit allem erdenklichen Muthwillen, sammt dem Garten, verwüstete, weil seine Hoffnung, Schätze darinnen zu finden, vereitelt worden war. An stillen Tugenden war das Thal reich gewesen, an Gold und Edelsteinen ärmer als das Grab. -- James, obgleich von dem empörenden Auftritte, den er mit angesehen, unwillig erregt, wie von dem rohen Geheul, womit die Soldaten, um das Feuer tanzend, das unsinnige Fest beschlossen, fühlte eine wohlthuende Empfindung in seiner, von der Unschuld seines Pflegers überzeugten Brust. »Ich wußte es ja wohl!« sagte er zu sich selbst. »Irren mochte er in seinem Leben, ein Schurke war er nie; und in der Tugend Frieden schied seine Seele, wenn ihn auch ein Raubthier, ferne von unsrer Hülfe, zerfleischte!« Mit zufriedenem Herzen machte er sich auf den Rückweg, unfähig, dem Soldatentumulte länger zuzusehen. Seine Eile erregte indessen Verdacht. »Warum läuft der Kamerad?« fragten sich zwei vorüberstreifende Portugiesen, und: »Halt!« rief eine Patrouille dem Eiligen zu. Der Corporal hielt ihm die Pike vor. »Wo ist dein Quartier? dein Posten?« »Dort beim Piket, ihr Leute!« »Bist unbewaffnet, Patron, und ein Ausländer?« -- »Welche Fragen!« -- »Halt da! das Feldgeschrei!« -- »Die Jungfrau und alle Heiligen,« antwortete James auf gut Glück. -- »Gefehlt! halt! Du bist ein maskirter Bursche, ein Spion! halt ein!« Man ergriff den Entdeckten. In seiner Bestürzung kam eine englische Verwünschung über seine Lippen. »Heda!« rief ein alter Soldat, der einst auf einem englischen Schiffe gefangen gelegen, »das ist englisch, meine Freunde, die Ketzersprache! Bindet den unchristlichen Jungen!« -- »Aber, meine Brüder...!« -- »Der Satanas ist dein Bruder!« fuhr ihn der Corporal an, »ich bin aber entweder verrückt, oder du bist der Deserteur, dessen Steckbrief uns auf dem Marsche hieher mitgetheilt wurde.« »Sennor Corporal!« »Aha, nun wird er höflich. Beim heiligen Täufer! Seht selbst, Kameraden! Groß, schlank; dunkle Haare, ernsthafter und kecker Blick, ohne Schnauzbart, ein Engländer! Er ist's, wir haben die achttausend Rees verdient, die auf seinen Fang gesetzt sind!« »Wie?« fragte James, über Georgs drohende Zukunft erschrocken, nachdem der Jubel der geldhungrigen Soldaten sich gelegt hatte. »Ihr sucht den Engländer? Ein Preis ist auf seinen Kopf gesetzt?« »Ja, beim heiligen Jakob!« hieß die Antwort. »Wir hätten nicht nachgelassen, dich zu suchen, Ausreißer, damit ein Beispiel gegeben werde.« »Mein Gott!« seufzte James für sich, »Georg in dieser Nähe, in solcher Gefahr? und Justinens Verzweiflung!... Freunde!« setzte er schnell und entschlossen hinzu, »das Schicksal und die Reue überliefert mich euren Händen. Was wird mit mir geschehen?« »Ei, die Excellenz wird dich zu deinem Regiment schicken. Bereite dich indessen zum Letzten. Hättest du blos der Fahne und dem König den Eid gebrochen, kämst du mit Prügeln davon, aber du hast deinen Fähndrich geschlagen, und das kostet dir das Leben!« James schauderte. »So macht es denn kurz,« sagte er kalt und resignirt, »führt mich zu eurem Commandeur! ich bin derjenige, den ihr sucht!« Vergnügt und lärmend brachten ihn die Soldaten nach dem Quartiere des Brigadiers. Mitten in der Nacht brachte ein aus den Banden entsprungener Neger die Nachricht von des Jünglings Geschick, und wie er sich darein ergeben, in Franzisco's Lager. »Wohl bekomm's dem Ueberläufer!« sagte Fernandez trocken, und kümmerte sich weiter nicht darum, mit wichtigeren Angelegenheiten beschäftigt. Einen bei weitem tiefern Eindruck machte die Kunde der Begebenheit auf Georg, auf den Senator; einen unbeschreiblich bittern auf Justine. »James!« rief sie, mit dem ihr eigenthümlichen Scharfsinn errathend, _wie_ alles so gekommen, »wißt ihr denn, meine Lieben, daß er sich für unser Wohl hingegeben? O wie diese That ihn so glänzend aus dem zweideutigen Nebel seiner Vergangenheit hervorhebt! Wie wohlthuend diese Kunde in ihrer Bangigkeit zu meinem Herzen spricht!« »Wäre es möglich?« sagte der Senator, während Georg nachsinnend und betrübt vor sich hinstarrte, »wäre er dazu berufen, sich immer für die zu opfern, die seinem Herzen weh thaten? die seinen liebsten Hoffnungen ein Hinderniß waren? _er_ dazu bestimmt, Georg von einer drohenden Gefahr zu retten?« »Gewiß! gewiß!« versetzte Justine mit leuchtendem Auge, »zweifeln Sie nicht, mein Vater, sonst läugnen Sie den Edelmuth in der Menschenbrust! Die wildeste Gefahr droht uns. Wenn morgen der Feind dieses Thal erstürmt, wenn sie Georg gefangen hätten, auf welchen ihre Blicke gerichtet waren? Jetzt glauben sie ihr Opfer zu halten. Jetzt ist ihre Aufmerksamkeit beruhigt. Jetzt können wir hoffen, während der muthige James hingeht, um für den dankbarsten Freund in das Gefängniß zu treten.« »Sagen Sie: den Todesplatz!« rief Georg mit heftiger Bewegung in ihre Rede, »Gefängniß büßt nicht das Vergehen gegen den knechtischen Gehorsam, das ich verübte. Darauf steht der Tod!« Justine wurde fast ohnmächtig. Krampfhaft packte sie Georgs, des Vaters Hände. »Der Tod?« stammelte sie: »Entsetzlich! Gräßlicher als ich je gefürchtet! Den Tod? Herr Georg! Für Uns soll er sterben? Nein! das dürfen wir nicht zugeben! Vom Arrest hätte ihn Fürsprache, einst vielleicht unser Geld, endlich gewiß die Zeit befreit.... aber den Tod leiden? Nein! nein! guter James! es müßte kein Tropfen warmen Bluts in unsern Adern rinnen, wenn wir hier noch zögern könnten! Kommen Sie, Vater! kommen Sie, Herr Birsher!« »Wie? wohin?« fragten Beide staunend. Das muthige Mädchen fuhr aufgeregter fort: »Hinüber in's portugiesische Lager, zu den Füßen des Commandanten! ihm alles zu entdecken, bei ihm um des armen Mannes Freiheit zu betteln! Doch nein,« setzte sie bei, »ihr Männer versteht die Sprache der Bitte nicht; ihr seid nicht thätig, nicht stark in eurer trägen Betrübniß. Das Unglück rührt euch nicht, wie es das Weib ergreift! -- Bleibt! _ich_ will gehen! allein! unbeschützt, unbewacht! Es müßte kein Gott über uns leben, wenn ich nicht zum Befehlshaber dränge! Ich kann freilich nicht wimmern, nicht weinen, nicht schmeicheln; ich habe es nie gelernt; aber der Wahrheit wird der Commandant nicht widerstehen, und der Portugiese wird die Ritterlichkeit gegen Damen nicht verlernt haben!« »Tochter!« rief Müssinger, sie zurückhaltend. »Was wollen Sie beginnen?« ermahnte Georg. »In tiefer Nacht? des Wegs unkundig? Durch unsre und des Feindes argwöhnische Posten? Der Tod lauert auf Sie. Sie betrüben uns durch diesen Entschluß zum Sterben!« Justine warf einen sehr ernsten Blick auf ihn, und entgegnete: »Monsieur, ich verstehe Sie nicht, ich werde an Ihrem Herzen irre. Wissen Sie nicht mehr, daß James meinen Vater gerettet? daß er mich über Land und Meer geführt hat? mich, Ihre Braut? _er_, der mich liebte? auf dessen Liebe ich jetzt erst stolz werde? Zu diesem Allen mögen Sie wissen, daß ich ihm herzlich gut war, daß ich ihn jetzt doppelt ehre, nachdem so Vieles ausgeglichen, nachdem er diese Heldenthat begonnen! Und Sie, der starke, besonnene Mann, Sie, den ich vorzog aus Ueberzeugung, Sie können mir verwehren....?« »_Weil_ ich besonnen bin,« fiel Georg gekränkt und heftig ein, »wenn Sie gleich an meinem ehrlichen Herzen zweifeln sollten!« »Justine!« bat der Senator mit all' der Lebendigkeit, die ihm sonst zu Gebote gestanden, »wenn du die Worte des Freundes nicht hörst, so vernimm die des Vaters. Was Georg Birsher nicht sagt, muß _ich_ sagen. Deine heftige Begeisterung führt dich und uns in's Verderben! Geh hin! verrathe durch deine vergebliche und unbesonnene Fürbitte deinen besten Freund, deinen Bräutigam. Weihe _ihn_ dem Tode, weil er an dir hing, und nicht weiter vor seinen Widersachern floh. James Unschuld muß an den Tag kommen. Sein Regiment wird ihn nicht erkennen, seine Täuschung entdecken: die Menschlichkeit des Statthalters ihn mit leichter Strafe belegen. Alles wird dann gut, und des Jünglings Bewußtsein versüßt ihm tausendfach die Haft. Du willst das gefährliche Spiel umkehren. Um den wenig bedrohten Freund zu retten, schleppst du den biedern Georg in's Grab; Georg, den du achtest und ehrst, -- Georg -- dessen Weib du werden sollst, -- Georg, den du liebst, innig liebst, -- wenn sich auch dein Gefühl hinter die Maske der gleichgültigen Förmlichkeit flüchtet.« Justine stand wie eine Bildsäule, mit niedergeschlagenen Augen. »Nicht so hart!« bat Georg den Vater. Müssinger fuhr jedoch, wie oben, fort: »Ich weiß, daß ich dein Herz verwunde; aber es ist von Erz, und muß stark berührt werden, soll die Glocke wohlthätigen Klang geben. Sieh, Justine, welchen Jammer du mir bereitest. Ich habe Alles verloren: Habe, bürgerliche Ehre, mein eigenes Bewußtsein. Alles gut zu machen, habe ich nur _Dich_. Von der Heimath, dem lieblosen Weibe und meinen Gütern geschieden, ist mein einzig Glück noch in der Hoffnung auf deinen Ehebund gegründet. Willst du durch den raschen, unüberlegten Schritt uns Alle verderben? dich zur Beute des Soldaten, -- _ihn_« auf Georg deutend, -- »zum Schlachtopfer, und mich zum verwaisten Greis machen?« Die heftige Rede erschütterte die Tiefen in Justinens Brust. Eine Fluth von Thränen schoß aus ihrem Auge, sie warf sich an des Senators Brust, und schluchzte: »Vergeben Sie, grausamer Vater, ich hatte das nicht bedacht! ich bin ja nicht böse; um Gotteswillen; wie möchte ich, ohne zu schaudern, daran denken, den Herrn hier zu opfern, der mir so -- werth, so achtbar ist? Glauben Sie das von mir?« setzte sie fragend, und zu Birsher gewendet, bei, und mitten durch den Schmerz ihres Antlitzes zuckte ein anmuthiges Lächeln, das Georgs trüben Ernst besiegte, daß er ihre Hand ergriff, und sagte: »Bewahre mich der Allmächtige, daß ich solches von meiner Braut glauben könnte. Diese Stunde hat von der Vortrefflichkeit Ihres Herzens ein neues Zeugniß gegeben, und für James bin ich unbesorgt, denn aus den Wolken hat der Herr Ihren -- den heiligsten -- Schmerz gesehen. Des jungen White Angedenken folge Ihnen unverkümmert in meine Heimath! Fern sei es von mir, es zu verwischen, meines Retters Gedächtniß, und wenn wir zur Heimath gelangen, und wenn Gold seine Fesseln brechen kann: mein ganzes Vermögen sei nicht zu viel, die Riegel seines Kerkers aufzuschließen: mein Haus nicht zu klein, den Vertriebenen auf ewig aufzunehmen!« »Nicht also, Herr Birsher,« sagte Justine gemäßigt; »es sei uns eine Freude, in der Ferne sein Glück zu begründen; doch in unserer Familie weile er nicht. Ich würde Sie und mein eigen Gefühl beleidigen, wollte ich, indem ich dieses sage, einer eingebildeten, unmöglichen Schwäche mißtrauen. Ich bin eisern fest und eisern treu, mein Herr! aber James würde unglücklich, und -- Sie werden sehen, -- ich müßte seinen Charakter nie gekannt haben, -- oder er schlägt unsern Antrag rund aus dem Felde, ginge es ihm noch so schlimm.« »Es ist beinahe sonderbar,« versetzte Müssinger mit leichtem Lächeln, »daß wir hier so ernsthaft bereden, wie wir das Glück eines Menschen machen wollen; und uns selbst umschließt ja noch die Wüste, uns selbst blüht nicht die Hoffnung, jemals in den sichern Port von New-York zu gelangen, .... wir selbst sind eher dem Schicksale unterworfen, unter der Portugiesen Säbel zu fallen, als jemals frei zu werden! Der gute, arme Münzner ist uns wahrscheinlich auf dem Wege zum Himmel vorangegangen, und uns fehlt noch die Heimath!« »Ach, das süße Vaterland!« seufzte Georg in seinem vaterländischen Idiome. »Gesegnet sei es!« antwortete ihm eine Mannsstimme in denselben Lauten. Georg erkannte beim Schimmer der Laterne den Landsmann und Schulfreund, Harry Haverly. Dessen Gefährten traten vorsichtig und leise auch herbei. »Gott sei gedankt, daß ich Euch hier finde,« fuhr Harry fort, »das weissagt uns ein gutes Glück, das wir nicht gehofft.« »Was soll die räthselhafte Rede?« fragte Georg entgegen. »So wißt Ihr denn nicht,« sagte Harry, »daß seit länger als einer halben Stunde der alte Bettelmönch mit seiner ganzen Schaar in aller Stille abgezogen? Vor einigen Minuten kam, nachdem sich unsere Wache verloren, ein Neger, der uns die Kunde brachte, unsere Bande löste, und sich eiligst davon machte. Wir gingen auf's Gerathewohl umher, berathend, was wohl anzufangen sei, als ich das englische Wort hörte, das mein Herz erbeben machte. Wie kommt es jedoch, daß Ihr nicht zu den Abgezogenen gehört?« »Man hat uns mit Vorbedacht zurückgelassen!« entgegnete Georg nach einigem Ueberlegen: »in's Himmels Namen denn! Wer bis hierher half, wird auch weiter helfen.« »So ist denn das Unglück noch nicht müde, uns zu verfolgen!« brach der Senator mit Unwillen aus. Justine beruhigte ihn durch ihren Muth. »Mein lieber Vater!« sagte sie: »folgten wir denn bisher dem Glücke? Welches war unser Loos im Gefolge jenes alten Priesters? Flucht und Verfolgung; wie _vor_ dem Einfall der Portugiesen ein Zwang, der dem freien Herzen widersteht. Wir sind uns jetzt selbst überlassen. Bessern konnten wir nicht anvertraut werden; mit uns wird der Herr sein! Vater! Herr Birsher! fassen Sie einen Entschluß, wie er sich auch gestalte; vergessen Sie in mir das zärtere Weib. Ich werde Alles unternehmen, weil es gilt, meinen schwachen Vater zu unterstützen.« »Der Entschluß sollte nicht schwer fallen,« meinte Harry Haverly: »wir vier bieten unsre Hände zur schnellsten Flucht, wenn Sie es nicht vorzögen, nach dem portugiesischen Lager zu gehen, oder den Einmarsch der Soldaten in dieses Thal zu erwarten, der sich nach Tagesanbruch nicht verzögern dürfte. Es steigen Raketen aus dem benachbarten Thale auf, ohne Zweifel ein Zeichen für nachrückende Truppen.« »Nein! nicht zu den Portugiesen!« riefen Justine und der Senator mit besorgten Blicken auf den gefährdeten Georg. »So folgen Sie uns,« entgegnete Harry Haverly: »Wir haben triftige Gründe, die Bekanntschaft jener Herren zu fürchten. Unsere Papiere und unsere Sendung sind nicht die richtigsten. Wir sind die Agenten einer Handels-Compagnie, die sich gebildet, um die spanischen und portugiesischen Besitzungen, die so sorgfältig vor uns geheim gehalten werden, zu erforschen, und zu erwahren, wie hoch sich im Besonderen der Reichthum an Metallen und edeln Steinen belaufen möge. Wir sind Alle von New-York, und kehren dahin zurück, weil wir hier die Grenzen _unserer_ Mission berührten. Ist es Ihnen gefällig, meine Freunde, unserem Trupp sich anzuschließen, so verbürge ich eine gute, fast bequeme Reise an den Strand. Die größere Zahl macht größern Muth, und einem Landsmann sammt seinen Freunden zu helfen, ist unsere Pflicht.« »Ihr seid falsche und unrichtige Gesellen,« sagte hierauf Birsher mit gerunzelter Stirne: »mit Spähern und Paß-Fabrikanten, und in Katholiken vermummten Protestanten habe ich nicht gerne zu thun: ich mag's Euch nicht verhehlen. Da jedoch Gottes Hand uns so sichtlich hier zusammenfügte, mag's geschehen, wie du meinst.« »Eine große Ehre, wackerer Georg!« erwiderte Harry Haverly lachend. »Du warst von jeher ein steif und altklug gehender Bursche. Du siehst jedoch, daß dein gerader Gang dich nicht um ein Haar breit weiter brachte, als uns die Schlangenlinie. Wir sind dem Sittenprediger nicht böse, und denken, er werde zu besserer Einsicht kommen.« »Wollen wir uns auf den Weg machen, so denke ich, wir thun es alsobald!« rief Müssinger ungeduldig: »Auf, meine jüngern Freunde! wenn mein altes Herz nach Freiheit dürstet, -- wo bleibt Eure Sehnsucht?« Alle erklärten sich bereit. »Werden Sie nicht zu schwach sein, allein zu gehen, mein Vater?« fragte Justine. »Stützen Sie sich auf meinen Arm, Ich ermüde nicht unter dieser Last.« »Lasse mich!« antwortete Müssinger. »Ich fühle mich stark; Glieder, Herz und Gewissen frei und leicht. Sollte ich dennoch ermatten, -- ein Blick auf meine beherzte Tochter würde mich schnell erkräftigen.« Von den Streiflichtern des nahenden Morgens geführt, betraten die Wanderer die Pfade, auf welchen die New-Yorker Diamantenspione hergekommen waren. Haverly wußte mit ziemlicher Bestimmtheit den Weg zurück zu finden: Die Schwierigkeiten häuften sich nach und nach. Mühen und Bedürfnisse wurden fühlbar. Alles jedoch überwand der menschliche Muth im Verein mit der gütigen Natur. Hatte ein steiniger Absturz die Füße der Wanderer gelähmt, und ihre Geduld erschöpft -- flugs breitete sich ein herrlicher Wiesenteppich aus, sie zu versöhnen. Hatte glühende Sonne ihren Scheitel versengt, schnell erstanden vor ihnen duftende, hallende Schatten des Waldes. Quälte sie Hunger, die nächsten Büsche gaben wohlschmeckende Früchte; peinigte sie der Durst, -- der nächste Fels gab einen Waldstrom, einen silbernen Quell. Sie flohen die Nähe wilder Menschenhorden, -- das wilde Thier ging ihnen aus dem Wege, und von Tag zu Tag wuchs ihr Vertrauen, und ihre -- selbst des verwundeten, von Justinen's Hand gepflegten Georgs -- Kraft. Da stiegen sie endlich hernieder aus den Gebirgen in die Thäler, in das trauliche Dorf, in die stille Pflanzerwohnung, wo neben dem Fleiß, der Genügsamkeit und der Frömmigkeit, auch die Gastfreundschaft zu Tische sitzt, und als sie an die erste Kirche kamen, wurden ihre Gefühle noch milder und erhebender. Die Protestanten standen entblößten Haupts, mit andächtigen Mienen, vor dem Tempel der feindlichen Religionspartei, die Gegenwart des Allmächtigen, dem sie zu danken hatten, in diesen Räumen, wie in ihren eigenen Kirchen, ahnend. Der Senator betrat allein das kleine Gotteshaus, warf sich nieder vor dem schlechten Bilde des Altars: er war, wie das Kirchlein, der heiligen Clara geweiht. Hier betete er zu dem Ewigen mit Worten, hier in Gedanken und Gefühlen zu der Clara, die er auf Erden gekannt, die er in dem Himmel verehrte. Hier gewann er neues Vertrauen auf eine leitende Vorsehung; _hier_ nahm er Abschied von dem Cultus, dem er nur kurze Zeit, im Verborgenen, angehört. Denn ihm bedünkte, als ob Clara's Stimme aus den Wolken riefe: »Dein Unglück begann, seit du falsch gegen mich gewesen. Du hast gebüßt, und der Glaube, den du damals leichtsinnig gelogen, hat dir die Buße recht schwer gemacht. Ermuthige dich jedoch, tritt aus dem Kreise, der dich nur wie ein Zauber umschließen konnte. In meiner seligen Wohnung ist nur _eine_ Wahrheit. Getrost! wir werden uns wiederfinden.« Aus der Kirche getreten, warf sich Müssinger an der Tochter, des Eidams Brust, und sagte heftig, aber gerührt: »Nehmt mich jetzt hin, meine Kinder. Ich bin jetzo wieder ganz der Eurige geworden. Nehmt den Bettler hin, und macht mich wieder reich im Abglanz Eurer Liebe!« Nun ging es im Fluge vorwärts, denn in einem von bevölkerten Ortschaften entlegenen Meierhofe fanden die Herren Haverly und Compagnie ihre Wagen, mit rüstigen Pferden bespannt. Immer mehr dem Uferlande sich nähernd, jauchzten die Reisenden ihrem Ziele entgegen. Kein gefürchteter Alkade, -- sie bückten sich alle vor dem Namenszuge des königlichen Statthalters auf dem zweifelhaften Passe, -- hinderte die Fahrt. Nirgends ein Soldat von dem Milizenregimente, in welchem Georg hatte dienen, die Messe besuchen und leiden müssen. Unverrückt ging eben und gerade der ersehnte Weg. Dort lag endlich der Hafenort, umspült von schäumender Meeresbrandung. Dort flatterten die Wimpel des vertrauten Amerikanerschiffs. Keine Zeit wurde verloren. Die Agenten schlossen ihre Berichte, die Schiffer ihre Fässer und Kisten. Birsher führte triumphirend Braut und Vater auf das erwünschte Fahrzeug. -- »Hier ist schon Heimathboden!« rief er fröhlich, und Alle dankten dem Lenker über den Sternen, als der letzte Ballen, der letzte Passagier, an Bord gekommen. Die Anker wurden gelichtet, die Flaggen aufgezogen, und hinaus in das ruhige Meer trieb der von siegreichen Hoffnungen befrachtete Kiel. Die See war gnädig, wie der Himmel es bisher gewesen. Die Fahrt war mit Segen bekränzt. In kurzer Zeit wurde die Strecke zum Asyle zurückgelegt. Endlich -- an einem lieblichen Morgen, -- kaum hatte die Sonne die Nebel überwunden, -- riß sich die Ansicht einer freundlichen Stadt vor den entzückten Reisenden auf. Hier die Rhede, dort der Flaggenthurm; hier die Festung mit ihren Fahnen und blinkenden Waffen, dort die lebendigen Landungsplätze: Gewimmel von Schiffen um sie her, -- wehende Wimpel, blendende Segel! die Kanonen donnern von Schiff und Kastell. »Hurrah!« rufen die ungeduldigen Matrosen. »New-York!« ruft Georg Birsher, und drückt frohlockend, und allen förmlichen Zwang vergessend, die geliebte und liebende Justine an die Brust. Stadt, Festung, Hafen und das darinnen webende Volk, ankerhaftende Schiffe und bewegliche Meereswellen nimmt der Edle zu Zeugen des Eides, den er ablegt, seine Liebe glücklich zu machen, -- und Georg Birsher hat nie sein Wort gebrochen. * * * * * Es waren mehrere Jahre verflossen, als sich eines Abends, bei noch funkelndem Sonnenglanze, mehrere Reiter dem Dorfe Santa Dominica näherten. Drei derselben, bewaffnete Diener, wie es schien, blieben ehrfurchtsvoll hinter dem Vorausreitenden, der, ein junger Mann, mit vernarbtem, kriegerischem Gesichte, eine goldverzierte Uniform unter dem schlichten Mantel bergend, bald schnell ritt, die Gegend wie mit begeisterten Augen überschauend, bald langsam, den trüben Blick zu Boden schlagend. Die Diener schwiegen, wie die von Arbeitern leeren Felder, und der Herr sprach leise mit sich selbst. »Dort liegen die neuen, muntern Hütten!« sagte er, »der Ort, den ich, auf la Guasta, in dem Thale des guten Jesus stehend, mit klopfendem Herzen herbeiwünschte, er ist da. Werde ich ihn wieder froh verlassen, den ich froh und ahnend betrete? Da sind die bekannten Wege; dort steht die Kirche, dort liegt des Pfarrers Hof! Ehrwürdiger Luis! Wo bist du, du mein Tröster?« Der edle Mann war heimgegangen. Frische Tamarinden, die er so sehr geliebt, beschatteten sein Grab mit leichtem Blättergewebe. Unter dem Thore seiner ehemaligen Wohnung stand ein Anderer: ein Geistlicher, mit vornehmem, flachem Gesichte; rauchte seine Cigarre, grüßte den Reiter herablassend, und sendete ihm, da dieser betrübt vorüberzog, eine Dienerin nach, ihn zur Herberge einzuladen. Die Magd trug abiponische Züge. Der Offizier redete mit ihr. »Wo ist Euer Pfarrer Luis?« -- »Dort!« antwortete das Weib und deutete gen Himmel und nach dem Kirchhof. -- Des Reiters Auge wurde naß. »Ich habe nichts mit Eurem jetzigen Pfarrer zu schaffen,« sagte er, wiewohl milde. »Danke ihm, mein Kind, in meinem Namen, und sage du mir, wo ich die schöne Ines finden mag. Sie ist aus deinem Stamme, wie mir bedünkt.« -- »Ines, Herr? Wir heißen Alle Ines.« -- »Die Tochter Euers Kaziken, die einst verlorne Misinga?« Das Weib zeigte nach einem seitwärts liegenden hübschen Meierhofe, von Palmen umweht. »Fragt dort nach Misinga, Herr!« sagte die Magd und ging gleichmüthig davon. Der Reiter trieb das Pferd; in einer Minute stand er am Gatter des Hofs; ein Mann kam freundlich entgegen, lüftete den Strohhut. »Fernandez Vereira!« rief der Ankömmling, vom Pferde springend. -- »Sennor White!« antwortete der Andere, und bot ihm freundlich die Hand. »Ihr hier? Ihr da?« wiederholten Beide einige Male, und in den schattigen Vorsprung des Gebäudes, zu herrlichem Weine, zog den Offizier der Meier. »Die Flucht aus Egypten bekam mir wohl,« sagte er zu dem Besucher; »wir verbargen uns hier, unter den Flügeln des wackern Luis. Mein Vater erhielt in der Folge seine Begnadigung, und löschte dann seine Lampe. Ich bin hier geblieben, -- ein schlichter Bauer, -- und mir würde zu dem Glücke meines Lebens nichts fehlen, hätte ich den lieben Vater, hätte ich den Pfarrer Luis noch, die beide fast an einem Tage in's ewige Vaterland gingen.« »Beneidenswerthester!« entgegnete James, schwermüthig seine Hand drückend. »Mich Armen flieht das Glück, wenn's mich auch noch mit mehreren Goldgalonen bekleidete. Ich hatte mich für Freund Georg hingegeben. In San Sebastian wurde meine List entdeckt. Der Kommandeur, gerührt und menschlich, gab mir schnell die Freiheit, und der Statthalter, eine That bewundernd, die doch so natürlich war, verlieh mir den Rang eines Sergeanten. Meines Pflegers, meiner Hoffnungen in der alten wie in der neuen Welt beraubt, schlug ich ein, und trug die Hellebarde heldenmüthig für den König, den ich nicht kenne, für das Land, das ich nicht liebe. Es war aber von jeher mein Loos gewesen, das thun zu müssen, dem mein Herz widerstrebte, und die Erlösung von des Lebens Fesseln suchte ich in dem kriegerischen Stand. Auch diese Hoffnung trog. In den Gefechten mit den widerspenstigen Eingebornen suchte ich den Tod, und fand Rang und Ehre. Ich bin Capitän geworden, könnte alle Freuden des Lebens genießen, -- verschmähe sie, und suche sie hier -- hunderte von Meilen von St. Sebastian entfernt -- in der Erinnerung an eine schmerzlich-süße Zeit. Ich finde jedoch nur Gräber!« »Auf ihnen wächst das Gras, wie einst auf den Unsrigen,« bemerkte Fernandez: »Laßt indessen auch Gras über den Argwohn und Verdacht wachsen, den ich vor Zeiten gegen Euch und Eure Freunde hegte. Ich habe Eure Handlungen würdigen und weiser sein gelernt... Was ist aus diesen Freunden geworden, mein biedrer Herr?« »Mein Pflegvater ist nach Deutschland zurückgekehrt,« versetzte James seufzend: »zu spät, als schon Soldatenpflicht mich band, erfuhr ich es. Ich hätte ihn nie verlassen. Der Senator lebt bei seinen Kindern in New-York, wie ich vernahm; und glücklich, wie es heißt, hat sich Aller Loos gestaltet. Ach, wie wünsche ich es ihnen! Mag mir der Himmel zürnen, wenn er nur Justinen lacht. In ihrer und ihres Gatten Tugend liegt der Segen, -- nicht in Birshers Reichthum, nicht in Müssingers Banknoten, die --« »Die er verlor,« fiel Fernandez ein: »Luis Verwendung nützte nicht. Die Väter des Collegiums zu Assumcion läugneten das Leben des Senators, prunkten mit dem Testamente, und haben, es zu vollstrecken, die Sennora Müssinger zu Cordova bei den Carmeliterinnen einkleiden lassen.« »Justine?« fragte James bestürzt: »ich falle aus den Wolken! Ist's ein Scherz oder ein unbegreifliches Räthsel?« »Eine begreifliche Bosheit,« antwortete Fernandez mit verächtlichem Achselzucken, »wenn es wahr ist, was Vater Luis behauptete: daß das Provincialat zu Cordova eine Französin, die Euch hierher begleitet, und sich in der Mordnacht auf dem Schiffe der Jesuiten gerettet, gezwungen habe, unter dem falschen Namen der Sennora Müssinger in jenes Kloster zu treten.« »Abscheulich!« »Und nicht zu bezweifeln. Luis verläumdete nicht, und war selbst nach Cordova gereist. Die Ueberzeugung, daß weder Müssinger noch seine Tochter jemals wiederkehren würden, ihre Ansprüche zu behaupten, die Begierde nach den bedeutenden Summen des Testaments waren die Triebfedern, und die schwere Ordensregel hindert das arme Schlachtopfer der trügerischen Willkür auf ewige Zeiten, ihre Beschwerden öffentlich zu machen!« »O! So hat auch diese, in den Netzen, die sie weben half, befangen, ihre Strafe gefunden!« sagte James, nachdenkend vor sich hinstarrend: »der Fluch, der diese Werkzeuge verfolgt, läßt in mir fast nicht die Hoffnung aufkommen; raubt mir fast den Muth, Euch, mein verständiger Fernandez, nach der schönen Ines, der Tochter des abiponischen Oberhauptes zu befragen.« »Ines? Des Kaziken Tochter? Was führt Euch zu dieser Frage?« »Ich bin des Einsiedlerlebens zu St. Sebastian müde geworden. Dort habe ich kein Herz gefunden, mit dem ich, was das Schicksal mir gab, theilen möchte. In Paraguay hat mir einst von Glück geträumt, -- von einem Glücke, das ich schnöde abgewiesen, um eines Schattens willen, der zerfloß; um einer Hoffnung willen, die entschwand. Freund! ich will offen gegen Sie sein, mich redlich aussprechen. Misinga-Ines hat mich einst geliebt, mir's gestanden. Das Andenken ihrer Unschuld, ihrer liebenswürdigen Neigung, ist lebendig vor mich hingetreten. Wie mich einst, durch räthselhaften Traum verkündet, das Bild der Versagenden in die Gebirge lockte, weit von der Gewährenden weg, so zog mich jetzo das Bild dieses holden Indianerkindes über Berg und Thal, Strom und Savanne. Hier soll ich es finden. In Eurem Hause soll ich seinen Aufenthalt erfahren. O sagt ihn mir. Bei Ines allein kann mein Herz gesunden; das wunde an einem liebenden. Zu ihren Füßen will ich die Güter des Lebens niederlegen, sie beschwören, mein eitles Glück mit mir zu genießen; ihr Gatte sein, von ihr beweint hinübergehen!« Er hatte im Feuer der Rede Fernandez Hand ergriffen, dessen Stirne sich verdüsterte, während sein offenes Auge eine bekümmerte Freundlichkeit aussprach. Langsam entzog der Spanier dem Bittenden die Hand, stand auf, schlug sinnend die Augen gegen die Decke, überlegte einen Moment, während James Blicke bittend an den Seinigen hingen, und sagte hierauf mit ernstem aber bewegtem Tone: »Kommen Sie mit mir, Sennor, ehe ich Ihnen antworte.« -- James erschrak vor diesem Tone. »Sie sprechen wie ein schauerliches Orakel!« sagte er bange: »soll ich Ihnen zu einem Grabe folgen? zu den Wohnungen Ihrer Väter? Ach! der Muth des Soldaten besteht nicht vor solchem Anblicke!« Statt einer Antwort winkte ihm Fernandez noch einmal, schweigend, zu folgen. Mit Anstrengung, mit ahnendem Widerwillen that es der Capitän. Sie gingen durch das Haus, nach einem reizenden Gebüsch, das den Hofraum begränzte. An blühenden Algaroven und Mondblumen vorüber, traten sie vor eine stille dunkle Laube. Auf dem Rasensitz darinnen ruhte ein schöner als alle Blumen blühendes Weib. Es schlummerte, und an ihrer Brust hing mit geschlossenen Augen ein lächelnder Säugling. »Ines!« seufzte leise -- denn seine Brust vermochte, zusammengeschnürt, keinen lauten Ton zu geben, -- der Capitän, und fuhr erbittert gegen sein Geschick, beschämt vor dem Glücklichen, zurück. -- »Mein Weib!« sagte Fernandez leise und schonend. Er wollte hingehen und die Schlummernde wecken. Mit Riesenkraft, sich ermannend, riß ihn James von der Stelle weg. »Um aller Heiligen Willen!« bat er außer sich: »haltet ein, Fernandez. Stört nicht ihren Frieden, mehrt nicht meinen Schmerz. Den offenen Augen dieses verscherzten Engels müßte ich unterliegen. Nennt ihr meinen Namen nicht, damit sie glücklich sei. Ich bin fertig mit den Freuden der Erde. Lebt wohl! Hinaus in die Savannen, in die Felsgebirge, mit der Handvoll Staub, die zertreten werden mußte, um die Blumen fremden Doppelglücks zu treiben!« -- Er schwang sich wie rasend, ohne auf Fernandez Zureden zu hören, auf sein Roß, und die Diener hatten Mühe, dem Zurückeilenden zu folgen, so spornte er das Thier, so trug ihn der Wind. Die vor die Hütte tretenden Abiponer, -- der Tage ihrer wilden Kraft sich wohlgefällig erinnernd, priesen den unerschrockenen Reiter; er hörte aber nicht ihr Lob, er sah nicht mehr die Gräber der Freunde, nicht mehr die Pracht der Felder, und wilder als die Thiere der Haide die vor ihm flohen, ritt er mit dem Staubwirbel, mit den Wolken der Nacht um die Wette; aber, allenthalben auf seinem Rosse hinter ihm, saß der dunkle brennende Schmerz. * * * * * Der Pater Xaver Münzner an den Hochwohlgebornen Herrn Baronet James White, Major unter dem 2ten Milizregiment zu St. Sebastian. Aus dem Profeßhause, im Jahre 1733. »Auf die Adresse gehört der Titel; in der Rede gebrauche ich ihn nicht bei dir, mein geliebter Sohn. Konnte doch der Majorrang dich meinem Herzen nicht näher bringen. Könnte ich dir doch mit dem demüthigsten _»Sie«_ nicht die Hälfte der Freude ausdrücken, die dein Brief in meine Einsamkeit brachte; oder den Dank dafür. Schreibe es daher meiner Nachlässigkeit, meiner Gleichgültigkeit nicht zu, daß diese Antwort erst nach mehreren Jahren erfolgt. Bis heute haben Zeit und Raum mich verhindert, mit dir zu reden; wovon in der Folge ein Mehreres. Zuerst von dir, mein Sohn! Ich habe Freude an dir, denn du dienst einem frommen Könige, der das Irdische geringer schätzt, als das Ewige, und, um vollkommener Salomo zu sein, nur mit dem heiligen Vater zu Rom mehr Frieden halten sollte. -- Du bist vom niedern Stande zu einem glänzenden heraufgestiegen, und die Würdigkeit ist in dir belohnt worden: freue dich dessen, denn in der Welt muß Macht und Ansehen sein, und dem Diener des Königs, wie dem Könige selbst, gebührt Ehrfurcht, so lange Beide vor Gott wandeln, und nicht aus den Gränzen ihres Rechts treten; widrigenfalls sie natürlich und leider den ursprünglichen Rechten ihrer Untergebenen verfallen müssen. -- Das ist nicht von dir zu fürchten. Du bist gottgefällig, ein milder Herr. Woher also der Unfriede, der dich quält? Das Gefühl, so man Liebe zum Weibe nennt, ist freilich ein blindes, wie es auch bereits die Poeten und Bildner des Alterthums in Figuren und Gedichten dargestellt haben; aber dein Alter, guter James, sollte schon ein hellsehendes sein. Wohl gethan ist's zu freien, sagt ein heiliger Mann, aber besser, es zu lassen. _Zwecklose_ Liebe ist jedesmal sogar verwerflich. Danke dem Himmel, daß er dich von der Protestantin riß: sie hätte deine Seele verderbt; danke ihm, daß er die Indianerin dir nahm, denn sie verehrt den Heiland und die Mutter wie eine Götzendienerin, und kennet den ewigen Vater nicht. Ich kann auch nicht glauben, daß in der That dein Herz noch bluten sollte, ob dieser eingebildeten Wunden. Du bist zu vernünftig dazu, und es möchte nur ein Selbstbetrug sein, der dich mit Kummer beschwert. Ich halte dafür, daß diese Bekümmerniß eine Buße sei, die dir der gnädige Vater auferlegte, weil du nicht gethan nach seinem Befehl und deinem Versprechen. Du fühltest dich freilich nicht geschickt, in unsere Gesellschaft zu treten; ich selbst -- bereuend gestehe ich's -- redete dir zu einer Zeit das Wort, da ich in deinen Glauben mich verwickelt hatte, und vor deinem Widerwillen schauderte. Ich armer einfältiger Mensch! Dem gereizten Herzen eines Jünglings ohne Ziel vertraute ich, -- nichttrauend der Macht und der Gnade unsers Erlösers, der auch das widerspenstigste -- ja, das unwürdigste der Gefäße zu heiligen vermag. Gedenke Sauls, der ein Held des Glaubens wurde, nachdem er dessen Feind gewesen. Darum hat der Herr Plage über dich gesendet, die nur eine aufrichtige Reue haben kann, und die Lossprechung vom Gelübde, die dir, um der Buße willen, nicht der General unsers Ordens, nicht der heilige Vater zu Rom versagen werden. Gehe darüber mit dir zu Rathe, und meide den Stand der Ehe, damit du wenigstens in diesem Punkte dem Herrn geweiht bleibest. Du wirst dann den Frieden gewinnen. -- Deine Leiden führen mich von selbst auf das bewundernswerthe Schicksal, das Uns Alle betroffen hat; auf die unerforschlichen Wege der Vorsehung. Auch der Leichtsinn der Lainez hat seinen Lohn gefunden, aber -- wie aus allen Züchtigungen des Himmels das Heil erwächst, so wird auch _sie_ in ihrer gottseligen Schwesterschaft daran nicht immer verzweifeln dürfen. -- _Meine_ Seele endlich hat ausgelitten durch die Gnade des Höchsten und die Bemühungen eines würdigen Mitbruders, der mein Beichtvater geworden ist. Irrthum und Zweifel waren meine Verbrechen, und die Ursachen meiner Schmerzen. -- Sieh, lieber James! Ich war ein lenksamer, gehorchender Mann bis zu der Stunde, da mich Gott und meiner würdigen Obern Wille zu einer Sendung berief, der meine Kräfte nicht gewachsen sein konnten, da ich vom Pfade abirrte. Ich bin nie gehässig gewesen: ich habe nie den Neid empfunden, nie eine Verfolgung angestiftet. Ein reines Wohlwollen für alle Menschen beseelte mich. Ich war -- ein Fünfziger -- noch ein gutmüthiges Kind, aber ein schwaches. Der Schwester letzte Bitte zu erfüllen, nahm ich's über mich, den Senator und seine Tochter selig zu machen. Sie verdienten's, diese Menschen: aber mein Uebermuth hat sie und mich verdorben. Was ich an ihnen zu thun begann, wagte ich für mich, zu meiner eigenen Zufriedenheit zu thun, und dieses war mein Vergehen gegen die Pflicht, nur für den Zweck des Allgemeinen zu arbeiten, nur im Sinne und zum Vortheil des Ganzen, der heil. Gesellschaft, der ich angehöre, zu wirken. Daher alle folgende Uebel, mit denen uns der Herr heimsuchte, zu dessen größerer Ehre allein wir handeln sollen, -- den ich aber vergaß, um eigener Schöpfung Behagen zu finden. So wie ich thätig für mich selbst wurde, trat ich aus des Ordens Schranken, und mußte dann, wie ein aus seiner Bahn geworfener Stern, meinem Schicksale folgen. -- Das ist mir erst seit einigen Jahren klar geworden, da mein Irrthum geschwunden war, der in Europa schon begonnen, der sich in der neuen Welt ausgewachsen. Ach, jene neue Welt war auf dem Punkte, mich gänzlich von der Mutter loszureißen. Jenem gefährlichen Boden entkeimt auch Gefahr für eine schwache Seele! Man glaubt, dort mit hellen Augen zu sehen, wie Gott die herrlichsten Gaben der Natur an Christen und Heiden spendet, gleichsam ohne Unterschied; wie der blindeste Götzendiener ruhig stirbt, wie nur der frömmste Diener des Herrn. Man geräth leicht in Versuchung, zu glauben, diese Unchristen möchten selig werden, wie wir: man möchte zweifeln an dem, was die Satzungen der Kirche sagen. Aber, -- indem man zweifelt, reißt uns schon der Strudel der Verderbniß mit fort, und, hätte mich nicht das Pflichtgefühl erhalten, auch ich wäre untergegangen. Von dem Senator fürchte ich dieses, und wünsche, du könntest mir das Gegentheil berichten. Denke dir, wie schmerzlich es für mich sein müßte, den Mann, um dessen Seligkeit ich fast die meinige geopfert hätte, wieder versinken zu sehen! Und dennoch kann ich nichts Anderes hoffen! Ich, das Werkzeug, wollte sein selbstständiger Retter sein, und nur zu wahrscheinlich ist's, daß eben darum mein wichtiges Werk in Staub zerfallen muß. Justine -- das vielleicht berufene und erwählt gewesene Mädchen -- scheint verloren. -- Ihr Starrsinn hätte sich vielleicht unter die Gesetze der mildesten Kirche gebeugt; aber -- verbunden mit dem Amerikaner Birsher, der -- ein klares, aber kaltes Gestirn, -- seine Bahn zieht, giebt sie keine Hoffnung mehr! -- Wer weiß indessen, was die Zukunft verbirgt? Der Herr hat Justine, den Senator und Herrn Birsher großen Prüfungen unterworfen. Sie haben in Wildnissen die Entbehrung und Genügsamkeit kennen gelernt; -- sie haben unter wüthenden Heiden die Nichtigkeit des Lebens eingesehen; -- sie haben Fassung und Geduld geübt; sie konnten bemerken, welchen Segen in barbarischen Regionen unsere ehrwürdige Kirche durch ihre ehrwürdigste Gesellschaft verbreitet. Ihrer heiligen Schutzengel Schuld ist's nicht, wenn dieser gute Saame nicht in der Folge gute Früchte trägt. Manchmal, lieber James, ist mir zu Muthe, als müßte ich über's Meer hinfliegen, wo sie, die Leute, die ich immer noch liebe, wohnen; als müßte ich, von der feurigen Apostelzunge entflammt, zu ihnen reden, sie überzeugen...! aber -- Gott will es nicht, meinem früherem Uebermuthe zur gerechten Strafe. Ich beuge mich daher seinem Willen, und würde, wäre ich selbst ein kleiner Vogel, nicht durch die Stäbe meiner Fenster entfliehen! -- Ach, James, ich sehe jetzt erst, daß ich schrieb, was ich dir verheimlichen wollte, und was ich -- vielleicht um in deinem Mitleiden zu schwelgen -- nicht mehr ausstreichen mag. So wisse es denn: Sie haben mich gefangen gesetzt, und werden mich freilassen, wenn einmal der Provinzial es gut heißt. Sie haben mir bewiesen, daß _ich_ die geheime Gemeinde und den Orden bloß gegeben; daß _ich_ jenes Unternehmen zerstört, daß _ich_ dich der Gesellschaft abwendig gemacht, daß ich pflichtwidrigen Gedanken und Worten Raum gegeben, daß ich dieselben verbreitet. -- Ich mußte endlich Alles zugeben, und danke von Herzen meinen Vätern und Brüdern die milde christliche Strafe; sie konnten dem alten Sünder das Kleid nehmen, und haben's nicht gethan, sie konnten mich verstoßen, oder in einen feuchten Kerker, dunkel und schaurig, sperren, und sie haben mich behalten; ich sitze in einer warmen Zelle; leibliche Speise bringt mir der gute Litzach, der -- Wittwer und kinderlos geworden -- unser Pförtner ist. -- Geistlichen Trost bereitet mir mein ehrwürdiger Beichtvater. Ich sehe freilich sonst keinen Menschen, aber dafür meinen innern; ich höre kaum etwas von der Welt, -- aber -- ist's denn auch der Mühe werth? Während im Reiche Polen und Sachsen und Frankreich Krieg brennt, wohne ich im stillsten Frieden, lese die Bücher geistlicher Autoren, die Lebensbeschreibungen der heiligen Märtyrer und unsrer Ordenslichter, -- und denke zuweilen über die Seele hinaus -- an dich und an Müssinger -- dann an meine guten Eltern und die arme Clara über den Sternen, -- und endlich an die Zeit, da ich sie Alle dort oben wiederfinden werde. Wenn ich meinen Beinen glaube, die -- der gewohnten Bewegung ermangelnd -- mir dann und wann den nöthigsten Dienst versagen, so dürfte bald die Hülle fallen; _noch_ schlägt jedoch das Herz gesund, und der Geist brennt hell genug, dein Bild vor meine trübern Augen zu bringen. Der Brief, den du mir durch den Kaufmann gesendet, hat, vermittelst des guten Litzachs, den Weg in meine Klausur gefunden; in's Geheim; denn dazumal lebte der alte Superior noch, der mich zu meinem Heil unter der strengsten Aufsicht hielt. Dieser Brief war mein Labsal, meine tägliche Erquickung am Morgen und am Abend. Du bist ja der einzige Mensch, der mich liebend mit der Außenwelt, -- ach -- mit der fernsten -- zusammenhält! Empfange daher auch liebend diese Zeilen, die mir, zu schreiben, der neue Superior, -- ein stiller Mann von vielem Kummer und Leiden, -- erlaubt, und zu befördern versprochen hat. Vielleicht ist dieser Brief, an dem meine zitternde Hand schon eine Woche schreibt, -- mein letzter Pulsschlag an dich; verzeihe also dem alten Vater die weitschweifige Länge. Wenn ich jedoch noch tausend Worte hinzusetzen wollte -- sie würden alle heißen: Sei glücklich! ich liebe dich! ich bete für dich!« _»Xaver.«_ * * * * * Dieses Schreiben eines nicht minder geliebten, einem grausamen Loos verfallenen Mannes, der mit kindlicher Unbefangenheit und Hingebung dieses Loos duldete, es sogar, in blinder Pflicht versinkend, gerecht nannte, erschütterte im tiefsten Gefühle den Empfänger. Sich den Fesseln des Dienstes entreißend und den reinsten Sohnespflichten Gehör gebend, verließ James Brasilien, kam nach Lissabon, ging mit Empfehlungen des Patriarchen versehen, nach Rom, erbettelte vom Jesuitengeneral und vom Pabste des Pflegevaters Freisprechung, -- brachte sie nach dem Profeßhause, wo der Unglückliche schmachtete. Er hatte schon ausgelitten: Er hatte sich, müde, und getröstet im Glauben, -- in die Erde gelegt. James fand ein Vermächtniß vor, das ihm gehörte: das in den letzten Jahren viel durchlesene Brevier des Verstorbenen. Für den Senator hatte Xaver das wohlgetroffene Bild der verewigten Clara, das bisher an seinem Bette gehangen, bestimmt. Dieses Bild gelangte -- eine Aussaat von vielen Thränen -- in die rechten Hände. -- Den Namen des Baronets und Obristlieutenants James White fand man später auf der Liste der in der Schlacht bei Culloden für den Prätendenten gefallenen Offiziere. _(Ende.)_ Fußnoten. [1] Des Straußvogels Name in abiponischer Mundart. [2] Johannisbrodbaum in Paraguay. [3] Tiger. [4] Heuschrecken. (Abiponische Mundart.) [5] Eine zahme Leitstute, die eine Schelle am Halse trägt. Die Pferde folgen diesem Klang. [6] Balichu: der Teufel, das böse Prinzip. [7] Darunter wird das Siebengestirn verstanden, das eine Zeit hindurch nicht am Himmel Südamerikas gesehen wird. Die Abiponer nennen die Sterne ihre Vorfahren. [8] Spottname der Spanier, oder im Allgemeinen der Europäer, um ihrer Augenbraunen willen erfunden. [9] Die Abiponer behandeln in der Regel ihre Gefangenen menschlich. +--------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription: | | | | Korrekturen beschränken sich auf Stellen, wo Setzfehler | | offensichtlich erschienen. Eine Liste der geänderten Worte | | folgt unten, Zeichensetzung wurde ohne gesonderte Angabe | | korrigiert. Unterschiedliche Schreibweisen (wie Cabinet - | | Cabinett, gibt - giebt, Plane - Pläne, Alcade - Alcalde) | | wurden beibehalten, sofern sie beide um 1855 gebräuchlich | | waren. | | | | Folgende Änderungen wurden vorgenommen: | | | | S. 4, "wenige" durch "wenigen" ersetzt | | S. 4, "kein n" durch "keinen" ersetzt | | S. 4, "eintr" durch "einer" ersetzt | | S. 9-11, "Jakobine" durch "Jacobine" ersetzt | | S. 15, "ihnen" durch "Ihnen" ersetzt | | S. 17, "lungernten" durch "lungerten" ersetzt | | S. 18, "Ballustrade" durch "Balustrade" ersetzt | | S. 18, "Dir Senator" durch "Der Senator" ersetzt | | S. 18, "Wer sind die" durch "Wir sind die" ersetzt | | S. 20, "her Gefahr" durch "der Gefahr" ersetzt | | S. 20, "ihrer" durch "Ihrer" ersetzt | | S. 21, "lies" durch "ließ" ersetzt | | S. 26, "Wagen" durch "Wangen" ersetzt | | S. 32, "er" durch "Er" ersetzt | | S. 44, "pickende" durch "tickende" ersetzt | | S. 46, "Hiemit" durch "Hiermit" ersetzt | | S. 52, "ein" durch "eine" ersetzt | | S. 55, doppeltes "und" entfernt | | S. 69, "glaubige" durch "gläubige" ersetzt | | S. 73, "Widersehens" durch "Wiedersehens" ersetzt | | S. 74, "floßen" durch "flossen" ersetzt | | S. 75, "Wiede finden" durch "Wiederfinden" ersetzt | | S. 76, "Jakobinens" durch "Jacobinens" ersetzt | | S. 77, "peofitirt" durch "profitirt" ersetzt | | S. 86, "Stappel" durch "Stapel" ersetzt | | S. 90, "an- aufnehmen" durch "an- und aufnehmen" ersetzt | | (wie in anderen Ausgaben des Buches) | | S. 94, "begleitete" durch "begleiteten" ersetzt | | S. 95, "Uns" durch "uns" ersetzt | | S. 115, 116, 121 "erwiederte" durch "erwiderte" ersetzt | | S. 122, "ihr" durch "Ihr" ersetzt | | S. 128, "Visittenrobe" durch "Visitenrobe" ersetzt | | S. 133, "Rathause" durch "Rathhause" ersetzt | | S. 134, "das" durch "daß" ersetzt | | S. 142, "laure" durch "laufe" ersetzt | | S. 144, "niederauschen" durch "niederrauschen" ersetzt | | S. 144, "Sentorstimme" durch "Stentorstimme" ersetzt | | S. 159, "verwies ihm" durch "verwies ihn" ersetzt | | S. 168, "Trapir" durch "Tapir" ersetzt | | S. 174, "Widerspendige" durch "Widerspenstige" ersetzt | | S. 178, "Asumcion" durch "Assumcion" ersetzt | | S. 179, "Mitbruder" durch "Mitbrüder" ersetzt | | S. 179, "sturzen" durch "stürzen" ersetzt | | S. 180, "Förne" durch "Ferne" ersetzt | | S. 180, "versenkten" durch "versengten" ersetzt | | S. 185, "viel" durch "viele" ersetzt | | S. 185, "gefesset" durch "gefesselt" ersetzt | | S. 191, "Ihnen" durch "Ihren" ersetzt | | S. 192, "Worten" durch "Worte" ersetzt | | S. 199, "Wächten" durch "Wächtern" ersetzt | | S. 200, "Umd" durch "Und" ersetzt | | S. 202, "Franziska" durch "Franzisko" ersetzt | | S. 203, "des Höhen" durch "der Höhen" ersetzt | | S. 203, "des Wanderes" durch "des Wanderers" ersetzt | | S. 207, "rieß" durch "riß" ersetzt | | S. 208, "den Häuser" durch "den Häusern" ersetzt | | S. 215, "grüßern" durch "größern" ersetzt | | S. 220, "Herzens" durch "Herzen" ersetzt | | | +--------------------------------------------------------------+ End of the Project Gutenberg EBook of Der Jesuit, by Carl Spindler *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER JESUIT *** ***** This file should be named 47112-8.txt or 47112-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/7/1/1/47112/ Produced by Peter Becker, Karl Eichwalder and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was produced from scanned images of public domain material from the Google Print project.) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. 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47112-8
The Project Gutenberg EBook of Der Jesuit, by Carl Spindler This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Der Jesuit Charakter-Gemälde aus dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts Author: Carl Spindler Release Date: October 14, 2014 [EBook #47112] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER JESUIT *** Produced by Peter Becker, Karl Eichwalder and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was produced from scanned images of public domain material from the Google Print project.) +--------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription: | | | | Gesperrt Text ist als _gesperrt_ markiert. In Antiqua | | gesetzter Text ist als =Antiuqa= gekennzeichnet. Eine Liste | | mit Korrekturen befindet sich am Ende des Textes. | | | +--------------------------------------------------------------+ Der Jesuit. Charakter-Gemälde aus dem Ersten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts von C. Spindler. Amerikanische Stereotyp-Ausgabe. Philadelphia. Verlag von F. W. Thomas. 1855. Printed by T. K. & P. G. Collins Der Jesuit. Erster Theil. Erster Abschnitt. 1720. Des Senators Familienleben. -- Sein Comptoir und dessen Diener. -- James. -- Fortuna's Launen. -- Der Geschäftsfreund aus Holland. -- Das Gespräch unter den Kastanienbäumen. -- Der verhängnißvolle Besuch. Schön ist es, über eine Schwelle zu schreiten, jenseits welcher der Fleiß und die geschäftige Betriebsamkeit ihren Thron erbaut haben, sobald man sieht, daß all das ewige Treiben das Wohlsein des Lebens begründen soll, und nicht blos einen glatten Gypsmarmor um die trockne, dürre Säule von Holz. Der Hausvater ist ein ehrwürdiger, geliebter Mann, wendet er seiner unermüdlichen Thätigkeit Zinsen dazu an, daß die Seinen sich fröhlich daheim finden in dem traulichen Hause; -- daß er selbst, -- der Schöpfer des Wohlstandes -- behaglich ruhe in seinem Eigenthume. Die heitere Wohnung wird ein Paradies für den Besitzer, ein Ort des Friedens den Freunden, den Bedrängten ein Asyl. Keucht aber im Erdgeschosse die besoldete Mühe im eisernen Dienstjoche, während im obern Stockwerke die Langeweile, die Verdrossenheit, auf einsamen Polstern, hinter kaltem Stein und vornehmen Goldwänden gähnt, -- dann, Wanderer, meide die stolze Pforte, wenn auch noch so einladend das »Salve« von ihrer Schwelle spricht. In dem Steinhaufen gebietet kein fühlendes Gemüth, und vor dem starren Reichthum floh die Zufriedenheit! -- Wer im Jahre 1720 gelebt, und das Innere des Hauses gesehen hätte, welches der Senator Müssinger in der deutschen Reichs- und Handelsstadt, die der Aufzeichner dieser Begebenheiten meint, aber nicht nennt, dazumal bewohnte, müßte dem einleitenden Spruche Beifall geben. Das stattliche Gebäude war von Uranbeginn zum Denkmale des Hochmuths bestimmt gewesen. Ein Spekulant, der in den ersten Jahren des spanischen Erbfolgekriegs durch Lieferungen für die alliirten Heere ungeheure Summen gewonnen hatte, legte das Fundament zu dem pallastähnlichen Hause. Die Vollendung desselben sollte er nicht sehen. Mancher Schurkereien überwiesen, sollte ihm, kurze Zeit nach der Schlacht bei Hochstädt, der Prozeß gemacht werden: er entging der Schande jedoch durch einen kühnen Pistolenschuß. Die leere, unausgebaute Prachtwohnung des verunglückten Lieferanten kaufte bald der vom Glücke begünstigte Senator Müssinger. Der unternehmende Handelsherr, der mit Ost- und Westindien verkehrte, fand sich zu enge in dem kleinen Vaterhause, zog über in das Neue, Große; und Fortuna, die bereitwillig in dem bescheidenen Spezereikrame des Kaufmanns Platz genommen hatte, siedelte mit in das neue, geräumige Comptoir. Müssingers Firma war die Erste auf dem Markte, und florirte weit und breit im Aus- wie im Inlande; trieb Jahr für Jahr die schönsten Blüthen und Früchte. Die Mehrzahl seiner Mitbürger beneidete den glücklichen Senator; sie bewies aber durch diesen Neid -- entweder ihre Unbekanntschaft mit Müssingers anderweitigen Verhältnissen, -- oder einen Gelddurst, der Alles schnöde übersieht, was das Herz berührt, und nicht allein den Courszettel im Gehirn. Trieb des Kaufmanns Geschäft auch Blüthen, -- der Hausvater sammelte keine aus seinem Familienleben. Seine Frau, seit achtzehn Jahren mit ihm vermählt, hatte ihm viele Geldsäcke, keine Neigung zugebracht, und die Zeit nichts gethan, die vom Berechnungsgeist der Väter verbundenen Ehegatten im Gemüthe zu vereinen. Unfriede herrschte gerade nicht; -- der Friede aber, der versöhnt und duldet und vergibt, wahrlich auch nicht. Der Senator, ein lebendiger Mann, an den Fünfzigen stehend, cholerischen Temperaments, dem beim geringsten Anlaß zu heiß unter der Stirn, die Halsbinde zu enge wurde, stellte das schneidendste Widerspiel seiner Ehefrau dar, die mit beleidigendem Uebermuth, welcher seine Quelle in fehlerhafter Erziehung gefunden, eine Kälte und Trägheit vereinigte, wie sie sonst nur im höchsten Norden, oder im sengendsten Süden vorkommen mag. Frau Jacobine, im Ueberflusse aufgehätschelt, kannte nicht Sorge, nicht Mühe, nicht einmal das bequeme Streben einer vornehmen Hausfrau. Kam der Tag, so verlebte sie ihn, und er mußte eben so prunkend einhertreten, wie seine Vorgänger; Geld in Hülle und Fülle für jedes, auch noch so eingebildete Bedürfniß spenden, reichen Schmaus für Lippe und Gaumen, und eine lange Plaudersitzung im Kreise der geschwätzigsten Muhmen. Während dessen schaffte und plackte der Senator, bald wie der ärmste Knecht, bald wie der härteste Frohn, im Bezirk seines Handelsgetriebes, und gönnte sich kaum vor sprudelnder Thätigkeit und muthwillig gehäufter Arbeits- und Spekulationslast, die nöthigen Ruhestunden. Doch feierte er diese wenigen nicht im Schoße der Seinen. Weder beim Frühstück, wo man den braunen westindischen Trank aus japanischen Gefäßen schlürfte, und dabei so steif saß, wie die blassen Figuren auf diesen Tassen, -- noch beim Mittagsmahl, wo die leckerste Kost entweder mit gieriger Hast, oder mit vitellischer Trägheit verschlungen wurde, war ihm froh zu Sinne. Bald verdrüßlich keifend mit dem verdrüßlich langweiligen Weibe, bald seine überseeischen Hoffnungen und Handelsoperationen nicht loslassend in stummer Grübelei, floh ihn die Heiterkeit innerhalb seiner Mauern; und auswärts, -- auf einem Collegium, wo er wieder von nichts, als von Geschäften reden hörte, eine Pfeife Tabak rauchte, um sich zu betäuben, in der Karte spielte, um sich zu zerstreuen -- verträumte er seine Abende. -- Nicht Er, nicht sein Weib, das mit schnödem Geschwätze, oder abgeschmackter Frömmelei den verlangweilten Tag beschloß, ahnten die Quelle von Genuß und Freudigkeit, die ihnen in der Tochter, dem einzigen Sprößling dieser übelpassenden Ehe, aufgehen hätte können. Die Natur hatte in diesem lieblichen Geschöpfe die glücklichste Verschmelzung widerstrebender Gemüthsrichtung zu Stande gebracht. Des Vaters Heftigkeit herrschte zwar vor, allein mäßigende Ruhe stellte bald das Gleichgewicht wieder her. Das Mädchen hatte seinen eigenen Kopf und Willen; es war ja das einzige Kind, und nicht beschränkt von den Eltern. Allein, der Leidenschaftlichkeit, dem heftigen Zorn sogar, folgte schnell die Besinnung, die Theilnahme, die zarte Reue, die gefühlvollste Vergeltung. Der Liebreiz des so wunderlich herangebildeten Mädchens war in diesen Versöhnungsmomenten so groß, daß Freundinnen und Gesinde gern den Sturm auflodernder Hitze ertrugen, um doppelt in der Milde zu schwelgen, die unmittelbar darauf das Engelherz der Zürnenden bethätigte. Der Vater war nicht so; -- denn, that ihm die jache Härte manchmal selber weh, so verschloß er, seinem Stolze nichts zu vergeben, das Gefühl in sich. Die Mutter glich eben so wenig ihrem Kinde; sie _liebte_ zwar Niemanden auf der weiten Erde, aber sie _haßte_ aus Gewohnheit; sie verachtete mit jener stumpfen Stätigkeit, an der sich, hat sie einmal ein Ziel des Widerwillens ersehen, vergebens Belehrung, Erfahrung und Pflichtgebot verschwendet. Justine, ein siebzehnjähriges Mädchen, früh entfaltet in Gestalt und Verstand, fühlte wohl dunkel und unbehaglich, daß sie zwischen den getrennten Eltern ihren eigenen Weg wandle. Die Jugend aber, jene herrliche Zeit, in welcher man nur sich selbst, wenn gleich oft allzuviel, vertraut, ungeduldig in's Freie, in die Zukunft blickt, sie setzt sich über das Peinliche in naher Umgebung hinweg; schafft sich ihre eigne Welt, und flieht die Mürrischen, um sich an Freundliche zu schließen. So kam es, daß Justine bald wie ein fremder Gast im Vaterhause wohnte, und größtentheils nur in dem Zirkel ihrer Jugendgefährtinnen lebte. Seit der Confirmation war es jedoch ein bischen anders mit Justinen geworden. Nie hatte sie noch ihren Vater so bewegt gesehen, als in dem Augenblicke, wo sie, von der heiligen Handlung kommend, in seinem Schreibstübchen vor ihm auf die Kniee sank, ihn bittend, seinen Segen mit dem des Himmels zu vereinen. Des Senators Stimme hatte gewankt, als er den Segen aussprach; an's Herz hatte er die Tochter gedrückt, und, wie mit einem leisen Vorwurf gegen sich selbst, hinzugesetzt: Glaube nur um Gotteswillen, mein Kind, daß ich dich liebe, herzlich, wie es einem christlichen Vater zusteht. Aber ich muß an mich halten mit dieser Zuneigung, sonst bricht mir das Herz vollends, wenn du aus dem Hause gehst, nimmer wiederkehrst, und ich dann in ganz Europa keinen Menschen mehr weiß, der mir näher am Herzen liegt, als der kalte Tressenrock. Du bist alt genug, Justine, um zu wissen, daß eine Heirath die Bestimmung eines jeden Mädchens ist, folglich auch die deine. -- Du bist bereits verlobt: zu New-York in Amerika wohnt dein Bräutigam, der junge Kaufmann Birsher, und, wie mir sein Vater neulich schrieb, werden wohl nicht anderthalb Jahre vorübergehen, so kommt der designirte Schwiegersohn selbst, um dich abzuholen. Dein Bestreben gehe also jetzt vornehmlich dahin, der englischen Sprache mächtig zu werden, zu welchem Endzweck ich für eine Lehrerin sorgen will. Justine verließ den Vater mit sichtlichem Behagen. Ausgezeichnet vor all ihren Gespielinnen nach Amerika zu ziehen, in das junge Land, das sich europäische Imagination damals nur als ein Paradies, unerschöpflich in Genuß und Reichthum, vorstellte; ... als Frau, an der Seite eines jungen Crösus, dahin zu ziehen, das schmeichelte der jugendlichen Eitelkeit gar sehr. Des Vaters Erklärung hatte vollendet, was die Confirmation begonnen; das Mädchen war rasch zur Jungfrau, zur Braut geworden. Justine zog sich nun auch wähliger von dem Haufen ihrer Freundinnen zurück, verkehrte nur mit den Wenigen, die, gleich ihr, nicht fern vom Hochzeitfeste zu stehen vermeinten, und beschäftigte sich mehr als sonst, in Einsamkeit und Stille, mit Arbeit und wißbegierigem Forschen. Mit der englischen Sprache allein wollte es bei dem fleißigen Mädchen nicht so fort. Die Zisch- und Gaumenlaute waren der Schülerin zuwider, und eine Lehrerin nach der andern wich dem Ungestüm Justinens, die auf Jener Nachlässigkeit den eignen Fehler schob. Die Zahl der, mit dem englischen Idiom vertrauten Frauen war in jener Stadt nicht groß; daher hatte Justine bald die Reihe durchgemacht. Die männlichen Lehrer ließen keinen bessern Erfolg hoffen. Der Eine derselben, ein grämlicher Alter, mit wunderlichen Launen, hatte schon nach der zweiten Lehrstunde all seine Autorität eingebüßt; den zweiten, einen allbekannten Wüstling, noch in rüstigen Jahren, trug der Vater billig Bedenken, bei der Tochter einzuführen. Der Zufall schlug sich in's Mittel. An einem Tage saurer Geschäfte handthierte und ordnete der Senator in eigner Person an dem Krahnenhause der Stadt. Beträchtliche Waarensendungen in Ballen und Kisten waren für ihn angekommen; nicht minder beträchtliche Ladungen wollte er dem dienstfertigen Flusse anvertrauen. Seine rüstigsten Handelsdiener, zwei junge und gewandte Leute aus guter Familie zur Seite, ging er am Ufer auf und nieder, befahl hier den ausladenden Bootsknechten, dort den herbeischaffenden Kärrnern. Der eine Diener, Berndt, revidirte, die Frachtbriefe und Geleitzettel in Händen; der andere Diener, Nothhaft, machte Zeichen und Zahlen auf die Frachtstücke; um und um bewegten sich rührige, geschäftige Leute, und _ein_ Treiben beseelte die Vielen am Ufer, vom Centnerschleppenden Lastträger bis zu dem kleinen Buben herab, der die Theerpfanne hielt. Ein einziger lehnte unbeschäftigt, mit verschränkten Armen an dem Krahnengebäude. Der Einzige mußte unter dem Getümmel dem Senator auffallen, als dieser gerade ihm vorüberkam. Der eifrige Mann blieb unwillkürlich vor dem jungen Menschen stehen, dessen Kleidung, obgleich nicht allzuwohl erhalten, auf einen Lehrling oder Diener der Kaufmannsgilde schließen ließ. -- He, junger Mensch! redete der Senator ihn an: he! warum so müßig? Die Sonnenstrahlen machen nicht satt; wohl aber eine Schüssel, die man im Schweiße seines Angesichts verdient hat. Trägheit in der Jugend macht alte Spitalleute. Hat Er hier nichts weiter zu schaffen, so geh' Er wieder hinter Sein Pult, statt Maulaffen feil zu haben, und stehle Er Seinem Prinzipal nicht das Brod ab, das Er ißt! -- Nicht die Flamme, die der gerechte Tadel auf dem Angesichte des Gescholtenen entzündet, sondern die Röthe eines unschuldig gekränkten Gefühls stieg auf die Stirne des Fremden, der in ausländisch betontem Deutsch nicht mit der Antwort säumte. -- »Seht zuvor, mit wem Ihr sprecht, Herr!« sagte er etwas bitter: »Niemand würde lieber arbeiten, denn ich, wenn mir nur Jemand Arbeit gäbe.« -- Kann's hier daran fehlen? fragte Müssinger verwundert. -- »Ich bin ein Fremder.« -- Woher? -- »Ein Engländer. Mein Name ist James White. Mein Vater war Baronet und Tory. Sein Schicksal wollte, daß sein Wappen, die blutige Hand von Ulster, sich an ihm erwahre. Für den Prätendenten bewaffnete er seine Faust. Georgs Henker schlug sie ihm ab, und hierauf das Haupt. Vor fünfthalb Jahren floh meine Mutter mit mir nach Deutschland herüber. Seit einem Jahre hat sie hier ihr Grab gefunden. Sie starb, bevor der Mangel zu uns trat. Ihr Hinscheiden raffte aber alle Hülfsmittel weg. Die Armuth trieb mich in's Werbhaus; die Barmherzigkeit eines alten Mannes, der mir wohl will, rettete mich vom Soldatenstande. Aber noch lebe ich von seinen Wohlthaten, und ich schäme mich dessen.« Das ist recht; Wohlthaten erzeigen, ist wacker, aber edler, sie nicht zu mißbrauchen. Versteht Ihr etwas vom Handel, junger Herr? -- »Nein; ich sollte Theologie studiren; verstehe Latein, Rhetorik, Philosophie, ein bischen Spanisch, und aus dem Grunde meine Muttersprache.« -- So? Verdorbner Theolog also? Doch Protestant, will ich hoffen? -- Der junge Mann bückte sich schweigend. »Könnt und wollt Ihr Unterricht im Englischen geben?« fragte Müssinger weiter. -- »Ich kann's, und schäme mich dessen nicht.« »Kommt mit. Versuchts mit meiner Tochter. Freie Station, wie meine Comptoirdiener, die Wohnung ausgenommen, und ein billiges Salär nach Euern Fähigkeiten verspreche ich Euch. Beliebt's?« -- »Gern; doch muß ich's meinem Versorger melden.« -- Gut; wer ist der Mann? -- »Ein Doctor der Rechte, heißt Leupold, ist von Herkunft ein Fremder, lebt zu seinem Vergnügen seit anderthalb Jahren ungefähr in hiesiger Stadt, und beschäftigt sich ausschließlich mit seinen Studien.« -- Ein Bücherwurm und Rechtsverdreher also? murmelte der Senator zwischen den Zähnen: Bin nicht neugierig auf die Bekanntschaft. Mögt indessen sein Gutachten einholen, junger Herr. Er wird wohl nichts dagegen haben, denn ich bin der Senator Müssinger! -- Der stolze Kaufmann ging von dem unglücklichen jungen Baronet weg, und vergaß denselben im Gewühl seiner Geschäfte bald darauf. Der finstere und einsilbige Buchhalter trat ihm in der großen Schreibstube mit einem Paket Briefe entgegen, die er alsobald, wie gewohnt, erbrach und durchlas. Er begleitete jedoch diese alltägliche Verrichtung mit so vielen heftigen Bewegungen und schlecht unterdrückten Zornworten, daß die Comptoirgehülfen aufmerksam wurden, und manchen neugierigen Blick durch die Gitterrahmen in das Cabinet des Prinzipals sandten. Endlich, nachdem der ganze Briefpack durchflogen, stürmte der Senator wie ein Pfeil vom Sessel auf, warf Schubladen und Schlösser zu, und tobte durch die Nebenthür in das Innere des Hauses. »Der himmlische Vater erbarme sich!« seufzte Berndt mit andächtigem Blicke und Händefalten, denn er gehörte zur philadelphischen Gesellschaft: »was wird es heute wieder in dem Hause geben?« -- Der andere Diener, Nothhaft, ein ziemlich lockrer Geselle, lachte indessen wie ein Schelm vor sich hin, und summte die Worte eines damals beliebten Liedes: Nach dem Brunnen geht der Krug Oft genug; Und am End' bekömmt er doch Welch ein Loch! St! zischte der Buchhalter, hinter dem Hauptbuche aufstehend, zu dem Vorlauten hinüber, und Berndt stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Rippen. Der arge Mensch fuhr aber kichernd, wiewohl noch leiser, fort: Christ! sitz steif, denn der Protest Setzt Dich fest; Und dann heißt's mit Schand und Spott Bankerott! Will Er wohl schweigen? schalt der Buchhalter auffahrend: Was sollen diese Schelmenverse in einer ehrsamen Handelsstube? Pfui des leichtfertigen Dieners, der seine eigne saubere Firma gern für eine schmutzige ausgeben möchte. Noch einen solchen Ausdruck, und Er ist um Dienst und Lohn, und für ein schlecht Testimonium will ich dann schon sorgen. Ueberhaupt mag Er sichs gesagt sein lassen, daß ich hinfüro Seinen Lebenswandel, von dem mir zu Ohren gekommen ist, nicht also dulden werde. Alle Abende spielt und bankettirt Er, und am Sonntag kömmt Er nicht aus der Kaffeeschenke, der Billardstecken nicht aus Seiner Hand. Wo das beste Rostocker Bier zu finden ist, das weiß Er auf ein Haar; aber man fragt Ihn vergebens, wie die spanischen Dublonen stehen. Sein Nebengehülfe ist allzustill; Er ist allzutoll. Ein Karthäuser wird ein schlechter Kaufmann; ein Bruder Lüderlich aber noch ein schlechterer. Gott steh' Ihm im Commerz bei, wenn Er es einmal zum eignen Herrn bringt. -- Das wird er auch; versetzte Nothhaft trocken, ohne sich zu erzürnen: Der Kaufmann muß wagen und wetten, und dazu bin ich gemacht, wie unser Herr, der sich aus der Saffranbude zum ersten Kaufmann allhier verstiegen hat. Sorgen Sie nicht für mich, Herr Buchhalter. Der Herr Senator kennt mich besser, als daß er mich um eines zwecklosen Liedleins willen, oder weil ich den Sonntag Nachmittag beim Billard zubringe, fortschicken sollte. -- Der Buchhalter schwieg verdrüßlich; theils weil ihn des Dieners Verstockung empörte, theils, weil der Senator wieder in sein Cabinet zurückkam, und ihn eilends zu sich hinein beschied. Hierauf wurde die Thüre geschlossen, die Schieber vor die Gitter gestoßen, und die beiden Comptoristen waren von den Vorgesetzten geschieden, wie die Lehrlinge, die im Vorzimmer schafften und bosselten, von ihnen selbst geschieden waren. -- Sie sitzen im geheimen Rath! flüsterte Nothhaft seinem Nachbar zu: Der Perückennarr, der Buchhalter, mag aber schwatzen und difteln, wie er will. Unsere Contanti stehen schlecht, abscheulich schlecht. Ich habe schon neulich einmal einen Blick in des Herrn Correspondenzlade geworfen, die zufällig offen stand...... -- O pfui! Du neugieriger Saaldiener! fiel Berndt ein. Nothhaft sprach aber wie oben weiter: »Du Hans! Was kann ich denn für mein scharfes Auge? Genug; wir sollen zahlen und zahlen, und wollen und wollen nicht; weil wir nicht können. Unsere Aktien in Indien stehen schlecht. Mit der vermaledeiten Bodmerei haben wir, wie es scheint, unsinnig viel Geld verschleudert und verloren. Assekuranten unserer eigenen Schiffe sind bankerott geworden; viel Unglück auf einmal! und dann das Leben in diesem Hause! ein wahres Heidideldum!« -- »Ja wohl,« bekräftigte Berndt seufzend, »ein heidnisches Scandalum. Herz, was begehrst du? Keine Wirthschaft, keine Gottesfurcht! Wir müssen nach dem Gemüse gleich vom Tische aufstehen, und Braten, Gänselebern und indianische Vogelnester kommen hinterdrein. Also, lieber Freund und Kollege! wir beginnen zu wanken? Danke für gegebenes Aviso. Ich will gleich auf anderweitige Versorgung denken.« -- »Unter der Hand, Bester,« setzte Nothhaft bei: »nicht vor der Zeit gebrochen. Hübsch alles abgewartet; für einen klugen Diener gibt's in Bankerottchen gute Ernten.« -- »Der Eintritt des Unheils möge noch ferne bleiben, bis mir eine andere Schwelle gesegnet ist!« betete Berndt mit zerknirschter Miene: »das Schlampampen ohne Condition ist mir und dem lieben Gott zuwider, und kostet nur Geld, statt einzubringen.« -- »Betbruder und Scharrer!« schalt Nothhaft. »Jammre nicht. Der Geist Gottes wird ja nicht ermangeln, dir Alles im Voraus zu entdecken. Ich bin zwar nur ein Weltkind, habe keine Anwartschaft auf das tausendjährige Reich, aber im Herzen bin ich froh, wenn die Umstände mich zwingen, ein Haus zu verlassen, in dem mich nur der gute Lohn zurück hält. 'S ist eine Galeere, dies Comtoir.« -- »Bete und arbeite! sagt die heilige Schrift,« sprach Berndt hierauf demüthig, »ich weiß mich einer Zeit zu erinnern, in welcher dir gar wohl in dieser Schreibstube war, und noch wohler an dem Tische des Prinzipals. Du hattest damals noch große Dinge im Kopfe, und scheutest dich nicht, deine sündhaften Augen auf die Jungfer zu werfen. Aber seit sie dir den Spaß verdorben, ...« -- »Pfui, Berndt, mich daran zu erinnern,« entgegnete Nothhaft: »die hochmüthige Person! wie sie sich spreizte in ihrem Stolz! Und mein Vater ist doch eben so gut in seinem Städtchen ein Rathsherr, als der Ihrige hier! und mein Vater hat vielleicht mehr Geld, als ihr Vater besaß, da er noch die Rosinen Pfundweis, und das Baumöl pr. Kännchen verkaufte. Ich hätte sie geheirathet. Parbleu! Das hätte ich gethan; aber sie trug die Nase verzweifelt hoch! Stand ich in der Kirche und stierte hinauf zum Betstübchen, so zog sie gewiß das Fenster vor, oder versteckte sich hinter's Gesangbuch. Zweimal paßte ich's ab, und präsentirte ihr, an Kirchendieners Statt, den Predigttext und die Nummer des Lieds. Immer erhielt ich ein frostiges: »Inkommodir' Er sich nicht, Mosje!« zum Dank. So schlag der Donner hinein!« Berndt hielt bei der Verwünschung beide Ohren zu. Nothhaft fuhr indessen schadenfroh fort: »Na, Gott gesegn' ihr die baldige Abkühlung! Hochmuth kommt vor dem Fall. Prosit, Justinchen. Die Puppe hat dem Papa und der Mama gesagt: mein Gesicht sei ihr fatal, und darum mußte ich am Tische den Platz verändern, damit sie sich nicht an meinem vis à vis den Appetit verderbe. Geliebt es Gott, wollen wir bald den Spieß umkehren. Wo sie weint, will ich lachen!« Berndt stieß ihn abermals in die Seite, denn Senator und Buchhalter kamen aus dem Kabinet, mit entschlossenen Gesichtern, und ein Lehrling wurde gleich hinweg gesandt, Eilpferde für den Geschäftsführer zu bestellen; Eilpferde nach Amsterdam. Der Prinzipal händigte dem dienstfertigen und erprobten Diener noch ein wohlverschlossenes Portefeuille ein, nahm von ihm Abschied, und ging, da die Mittagsglocke im Hause läutete, mit seinem Comptoristen zu Tische. Die gewöhnlichen Bürgergerichte waren verzehrt, die Diener durch einen Wink von der bisher schweigsamen Tafel entlassen und eine kostbare Gallertschüssel aus welcher der Duft des Zimmts, und herrlichen Bordeauxweins stieg, wurde, nebst den Platten des Nachtisches, aufgesetzt. Die Frau Senatorin wendete sich leckerhaft vergnügt zu der reizenden Speise; Justine schnitzte kichernd ein Eichhörnchen aus einem Mandelkerne; der Hausherr sah trüb vor sich hin, klopfte mit dem Messer an die silbernen Gefäße und brach endlich das Stillschweigen mit einer Einleitung, auf die er lange studirt haben mochte. »Was meint Ihr wohl,« begann er mit erzwungenem Scherze, -- »was meint Ihr, wenn auf einmal all' dieses Silber und Porzellan zur Decke hinausflöge, und eitel irdene Teller auf dem Tische zurückblieben mit nothdürftiger Kost?« Die Senatorin zuckte verächtlich die Achseln ob dem mißlungenen Spaße. Justine rief lachend: »'s wäre ein hübscher Herrenstreich. Papa würde alsdann tief in den Geldkasten greifen müssen, um dem Schaden abzuhelfen.« »Und wenn nun auch diese Geldkiste leer geworden wäre?« fragte Müssinger weiter. »Narrethei!« versetzte die Frau, ruhig essend: »was sollen diese Fragen?« »Euch vorbereiten auf eine unangenehme Möglichkeit;« brach Müssinger los: »Es steht noch auf der Schwebe, ob wir reiche Leute bleiben, oder Bettler werden sollen.« »Ist denn heute der erste April,« fragte die Frau, »daß der Herr Senator uns mit ähnlichen Kindereien behelligt?« -- Justine merkte aber, in des Vaters Augen sehend, den Ernst, wie die Ungeduld, die in ihm arbeitete. Er fuhr heftiger fort: »Deine Frage ist Kinderei, Jacobine. Ein Kaufmann scherzt nicht dergestalt mit seiner Bilanz. Wahr ist's. Mir droht Unglück. Eng mit mir verbundene Häuser sind gebrochen, Kaper haben meine Schiffe genommen, der letzte Sturm, von dem die Berichte meldeten, hat Kauffahrer vernichtet, auf welche ich bedeutende Kapitalien =à grosse Aventure= herlieh. Der Ultimo bringt eine Fracht von schweren holländischen Wechseln. Ich bin zu Grunde gerichtet, wenn es meinem Buchhalter nicht gelingt, meinen Hauptcreditor in Amsterdam zu besänftigen und zur Prolongation zu bewegen.« »Armer Vater!« versetzte Justine mitleidig. Die Mutter zog jedoch die Stirne in Falten. »Unbesonnener Vater!« predigte sie: »Räuber an Weib und Kind! Mußt du dein Hab und Gut auf die Spitze stellen, und an ein paar elende Schiffe hängen? Pfui, du bist ein Verschwender, den man in's Irrenhaus stecken sollte, wenn nur damit gedient wäre. Doch ist dein Vergehen gewiß nur ein schlechter Scherz, sonst wollte ich anders mit dir reden. Sprächst du wahr, so müßte mein Vermögen heraus bei Heller und Pfennig, samt Zinsen und Zubehör. Ich würde mich nicht hinsetzen, dir zu Liebe, und Grütze speisen, wie eine Taglöhnersfrau. Ich bin ein gutes Leben gewöhnt, und hätte hundert Männer haben können, die reicher und schöner waren, als du. Darum fordere ich auch, daß du mich haltest, wie bisher, oder das Eingebrachte herausgibst; sonst müßte ich klagen.« Des Senators Gesicht überlief Leichenblässe, und er bückte sich scheinbar nach der entfallenen Serviette, um seine Verlegenheit und seinen Grimm zu verbergen. Dann sagte er gezwungen gleichgültig: »Recht, Jacobine. Deine Liebe ist mir wieder recht klar geworden. Leider kann sie sich nicht so triftig vor dem Gerichte ausweisen, indem wirklich mein Vorgeben nur Scherz war, um deine Gesinnung auf den denkbaren Fall hin, zu prüfen.« »Schäme dich,« eiferte, nun erst zornroth werdend, die Senatorin: »Ich dachte es gleich. Mir den Appetit in dem Grade zu verderben! Mir also die Galle zu reizen! Ich bin ohnehin die unglücklichste Frau in der ganzen Welt, wenn ich nicht meine Seelenruhe und Bequemlichkeit habe! Gottvergessener, frevelhafter Mann! Justine, den Extract!« Justine, bereits angewiesen, wie bei ähnlichen Gelegenheiten zu verfahren, stand schon mit der stärkenden Essenz vor der Mutter. Der Senator fuhr heftig vom Stuhle auf, summte das Marlborough-Lied durch die Zähne, und zog die Halsbinde weiter. Mit einem Male erblickte er, seitwärts unter der Thüre, den jungen Mann, den er am Morgen zum Sprachlehrer angeworben. Der Eintretende war ein erwünschter Ableiter und Besänftiger. Der Senator liebte es durchaus nicht, vor einem Andern, als den Hausgenossen, seinen Jähzorn zu zeigen, und hielt plötzlich an sich. »Sieh da, mein junger Freund!« redete er den Jüngling an, »Ihr kommt gerade recht. Wie es scheint, hat Euer Pflegvater eingewilligt?« »Er erlaubte mir, in dem ungewohnten Dienste mich zu versuchen;« antwortete James bescheiden und ruhig. Die Senatorin hatte bei seinem Eintritt die begonnene Ohnmacht vergessen. Nicht minder neugierig und überrascht sah Justine nach dem jungen, fremden Manne, der in seiner einfachen, fast dürftigen Kleidung, furchtloser vor ihrem Vater stand, als sie es bisher an irgend einem Aermern und Jüngern wahrgenommen. »Ein junger Engländer,« sagte Müssinger, ihn den Frauen vorstellend, »der Justinen in seiner Sprache unterrichten soll. Ich empfehle der Jungfer Fleiß, und dem Lehrer den besten Eifer. Geht hin, junger Herr, und empfehlt Euch der Frau Senatorin und Eurer Schülerin. Dann mögt Ihr gleich den Unterricht beginnen, und zeigen, was Ihr wißt und könnt.« James ging frei und ungezwungen auf die Mutter zu, faßte, indem er sich verneigte, ihre beiden Hände, und schüttelte sie, näherte sich dann Justinen, that dasselbe, und wollte ihr zierlich die Wange küssen. Erröthend und heftig bog sich das Mädchen zurück, und stieß ihn von sich. Die Mutter rümpfte die Nase, der Vater lächelte. »Ei,« sprach er, »junger Herr, wir sind hier zu Lande nicht in Eurer Heimath, wo solcher Brauch üblich ist. Hier küßt man den Frauen die Hand und den Jungfrauen die Fingerspitze.« Mit einiger Verlegenheit sich entschuldigend, aber mit vielem Anstande, that nun James, was ihm geheißen war, und versöhnte somit die Mutter; Justine jedoch nur halb, die in dem ungewöhnten Wesen des neuen Lehrers etwas fand, das ihr mißfiel, von dem sie sich indessen keine klare Rechenschaft geben konnte. Mit übel verhehltem Widerwillen führte sie den Jüngling an ihren Arbeitstisch, zeigte ihm die Bücher, die bisher ihr Leitfaden gewesen waren, und berichtete von ihren bisherigen schwachen Fortschritten. James meinte, nach flüchtiger Einsicht und flüchtigem Hören, die Jungfer sei bei Weitem nicht so mehr im Wissen zurück, als sie wohl meine; desto mehr hingegen im guten Willen. -- Justinens Gesicht verfinsterte sich wieder merklich, und schweigend setzte sie sich, als der Vater den Befehl wiederholt hatte, den Unterricht alsobald anzufangen. Auf die Stuhllehne seiner Frau gelehnt, folgte nun der Senator dem Beginnen des jungen Engländers, und sah bald, daß derselbe seiner Sache vollkommen gewiß sei. Zugleich gefiel ihm die zutrauliche, freundliche Weise, mit welcher er der stummen Schülerin die Vorzüge der Sprache auseinander setzte; er hoffte von dieser, aus dem Alltagsgeleise weichenden Art, den besten Erfolg, und entfernte sich endlich unter aufmunterndem Lobe. Die Lehrstunde ging fort unter der Aufsicht der Mutter, die aber bald, der Gewohnheit nachgehend, dem Schlummer in die Arme sank. Justine hatte, wenig auf die Reden ihres Lehrers horchend, mit unverwandtem Auge die Mutter beobachtet, und wie es schien, den Moment der Siesta erwartet, denn im Augenblicke, als Jacobinens Augen zufielen, nahm sie dem in seinem Vortrag versunkenen James das Buch aus der Hand, klappte es schnell zu, und sagte, kurz abfertigend: »Lassen wir's jetzt gut sein, Monsieur. Ich habe keine Lust, und damit genug. Weil mein Vater es will, und Euch vielleicht an einem Verdienste in unserem Hause etwas gelegen sein möchte, will ich wohl mich anstellen, als sei mir die Sache Ernst. Spart Euch jedoch alle ernstliche Mühe, denn ich kann Eure Sprache nicht leiden, folglich nicht sprechen. Adieu bis Morgen, Monsieur.« James sah die gar offenherzige Schülerin überrascht an, biß sich gekränkt in die Lippen, und erwiderte: »Wahrlich, Mademoiselle, aus Ihrem Munde hätte ich ein lieblicheres Wort erwartet. Mein Vater war ein Edelmann, und hat mir den Grundsatz eingeprägt, nirgends lästig zu sein, wo ich nicht nützen kann. Ich werde gehen; erlauben Sie jedoch, daß ich das Erwachen Ihrer Mutter abwarte, um mich in der Form von ihr zu beurlauben. Bis dahin dulden Sie meine Gegenwart.« »Ich wollte Euch nicht beleidigen, mein Herr,« antwortete hierauf Justine etwas beschämt: »Vergebt, wenn ich die Worte vielleicht schlecht gewählt. Ich bin oft vorlaut mit Reden, die mich nachher reuen. Eure Person wäre mir nicht so unangenehm, aber Eure Sprache pfeift und zischt so viel, sie ist so rauh, daß...« »Wundern muß ich mich,« fiel James schnell versöhnt ein, »daß Ihr Herr Vater, Ihnen und Ihrem Wunsche gegenüber, mit Gewalt auf dieser Sprache besteht. Unlust lernt und fördert nicht, aber die Zeit ist verloren.« »Hm!« lächelte Justine, die Augen auf das Schreibbuch geheftet: »ich soll nach New-York verheirathet werden, und der Vater glaubt...« »Nach New-York in Nordamerika?« fragte James staunend. Justine nickte schweigend, und machte Buchstaben auf das vor ihr liegende Blatt. »Nach New-York?« wiederholte James, und schlug mit verschränkten Armen die Blicke zur Decke auf: »So weit vom Vaterhause? Da müssen Sie freilich englisch lernen.« »Nicht doch,« versetzte Justine lächelnd, aber bestimmt: »mein zukünftiger Mann mag deutsch lernen, und die Freunde meinethalben französisch, um sich mit mir zu unterhalten. Das Englisch für die Domestiken lernt sich dort an Ort und Stelle.« »Sie irren sich im ersten Punkte,« behauptete James: »man würde es zu New-York für eine Schande halten, eine andere Sprache in Gesellschaft zu reden, als die englische Colonisten-Muttersprache. Im Innern finden Sie wohl noch das holländische Idiom, aber...« »Sieh' doch,« unterbrach ihn Justine, durch den Widerspruch gereizt: »Ihr redet ja so entschieden, als ob Ihr mit eigenen Ohren gehört hättet, was Ihr behauptet.« »Das hab' ich auch;« bekräftigte James mit aufgeheiterten Zügen: »den größten Theil der Knabenzeit verlebte ich auf Amerika's Continente, zu New York, mitunter auch weiter im Lande.« »Wie?« fragte Justine, plötzlich zutraulicher und milder: »ach, erzählt mir doch von dieser meiner zweiten Heimath. Man hat mir schon so viel Schönes davon vorgesagt, daß ich begierig bin. Wir wollen fein zusammen rücken, und recht leise sprechen, und recht leise horchen, daß die Mutter nicht so früh erwache. Seht, ich bin ganz Ohr.« Sie hatte sich bei diesen Worten mit beiden Armen auf den Rand des Tisches gelehnt, und sah mit gespannter Aufmerksamkeit und so vorwitzigen Augen dem Lehrer in's Gesicht, daß er seine Blicke auf die Manschetten seiner Hände richten mußte, um nur den Faden des Gesprächs festhalten zu können. »Mein Vater,« hob er auf wiederholte Aufforderung an, »hatte zur Zeit ein Commando in der Citadelle zu New-York; mein Onkel einen entlegenen Wachtposten gegen das Gebiet der Indianerstämme zu. Gelegenheit gab es für mich, den achtjährigen Knaben, genug, somit das Leben in der amerikanischen Stadt wie auf dem Lande kennen zu lernen. Innerhalb der erstern fand ich wenig Freude. Das Sein darinnen war steif und einförmig, keine Heiterkeit, aber viel Frömmelei und militärischer Druck. Am Werkeltage schafft die sich selbst übertreibende Mühe, denn _reich_ zu werden ist das Ziel, wonach Alle streben. Dazwischen tönt die Trommel und das Commandowort der Besatzung. Am Sonntage ist der Sabbath strenger geheiligt, als in England selbst. Die Lust hüllt sich in Sack und Asche, und einförmige Glockenschläge langweilen den Städter, bis er, von der Last des Feiertags ermüdet, das Bette sucht.« »O weh!« seufzte Justine, »das ist ein traurig Bild. Da lebt sich's ja in unserer dunkeln Stadt noch besser und schöner. Doch macht das Landleben vielleicht wieder Alles gut, und Herr Birsher wird mir wohl den Gefallen erzeigen, es der Stadt vorzuziehen.« »Wenn ich vom freien Lande Amerika's reden soll,« erwiderte James, »so bemeistert sich meiner eine heilige Wehmuth, denn mir gefiel es sehr, obgleich eine frohe Jungfrau, wie Sie, nicht leicht dieses Gefallen theilen möchte. Um New-York, in billiger Nähe, finden Sie kein städtisch Landhaus: kümmerliche, flache Gärten nur, ohne Schatten, ohne Obdach, denn die Soldatenherrschaft duldet im Umkreise von Stadt und Citadelle nicht Busch, nicht Haus. Setzt man jedoch über's Wasser, und dringt in's Innere vor, so geht für ein muthig Herz und ein kühnes Auge die Wonne an. Der angebauten Fluren sind nur wenige, von sklavisch pflügenden Colonisten besorgt, allein ringsum dehnen sich Forste, in deren Saum sich nur bis jetzt die Axt verirrte, Urwälder mit himmelhohen Bäumen und zahlreichem Wilde. Welch' ein herrlich Schauspiel, auf solcher Waldstraße hinzureiten, unterm dichten Laubdach, durch welches nie der Sonne Strahlen dringen! Welch' ewiges Schweigen weit umher! so geeignet, das Gemüth zu erheben! Stundenlang bin ich oft im Grase gelegen, und habe auf das Hacken des Hehers, auf das Fuchsgebell gehorcht; lauschend unter den tausendjährigen Säulen der Natur. Doch fördert man endlich gern den Weg, weil die Dämmerung naht, das wilde Gethier in seinen Lagern aufsteht, und vielleicht der Weg noch lange sich streckt, bis zu dem einsamen Blockhause, in dem der müde Wanderer das Nachtlager finden soll. Man erreicht des Waldes Ende, und sieh, ein neues Schauspiel fesselt den entzückten Blick. Einer der Riesenströme, die Amerika durchschneiden, hemmt den Weg. Das Auge trägt kaum bis an das jenseitige Ufer, und stolz schaukeln sich die Wogen des gewaltigen Flusses dahin. Da zeigt sich ein schwarzer Punkt in dem Geschäume der Wellen. Die Reisenden verdoppeln den Ruf »Hü-o!« denn der schwarze Fleck ist die Fähre, die wild und gebieterisch durch die Strömung dringt, und uns über das rothe Gold, das die Abendsonne auf den Wasserrücken legt, zum ersehnten Gestade schafft. Nun geht's über Haide und feuchten Grund hinweg, dem Walde zu, der blau und ungewiß aus der Ferne sieht. Rechts starren Felsen, und aus ihren Schluchten donnern die Gießbäche und Wasserfälle der Wildniß meilenweit zu uns herüber. Links dehnt sich die Fläche, schlecht bebaut, aber üppig wuchernd mit dem, was die Natur auf sie gepflanzt, an mastigen Futterkräutern und prachtvollem Unkraut. Schaaren von kreischenden Vögeln schwirren über die Ebene, den Felsen zu, denn die sinkende Sonne scheucht ein Gewitter auf, das eilig daherkömmt, eiliger, als jener nackte, rothhäutige Indianer, der, von seinem Hunde begleitet, Flinte und Tasche auf der Schulter, gestreckten Laufs von der Jagd zurückkehrt, und von den Gestirnen, wie von den Felsenspitzen den Weg zu seines Stammes Wohnplatz erfragt. Mit der Schnelligkeit des Rosses jagt der Sohn der Wildniß durch den weiten Raum, einem Nebelbilde gleich das auf Sumpf und Moor zur Nachtzeit der Luftzug hin und her treibt. Ihn kümmert keine Straße, kein Pfad, keine Brücke, keine Fähre, denn die Welt ist sein Haus, der Himmel sein Zelt, und frische Sinne stellt er als Wacht und Läufer aus. Gerade aus geht er, wie das flüchtige Wild, das er verfolgt. Nicht um den Hügel herum, über ihn hinweg eilt sein Fuß. Er ruft nicht den Kahn oder den Floß; schnell wie ein Fisch schießt er durch Strom und Gewässer. Wir haben ihn aus den Augen verloren, ehe fünf Minuten vergehen. Er sieht uns jedoch durch Dämmerung und Gewitterduft noch auf eine halbe Stunde weit, und lacht der unbehülflichen Eile, mit welcher wir dem Walde zulaufen, um uns vor dem Regen zu schützen, der in großen Tropfen fällt; vor dem Orkan, der mächtig daher braust. Nun ist der Forst nicht mehr schweigend; nun redet er mit Millionen Zungen, und dieses Rauschen, dieses Wehen, das Krachen und Fallen der Aeste und Kronen macht den Menschen stumm. Bären und Wölfe fliehen über den Weg, ganze Strecken lang neben dem Reisenden her, und an Zwietracht und Kampf denkt im Sturme keiner von Beiden. Der Donner, der Blitzstrahl machen nun die schönen Schrecknisse voll, die uns erschüttern und erheben, aber diese Himmelslampen leuchten auch zur Hütte, die uns gastlich aufnimmt, und auf deren Mooslager wir in behaglicher Ruhe das Hochgewitter verschlummern.« James endete hier, Athem schöpfend, die pittoreske Schilderung eines Ganges durch Haide und Forst der neuen Welt, zu welcher ihn die zauberische Macht wohlthuender Erinnerung wider Willen hingerissen hatte, und erhob beinahe schüchtern den Blick zu Justinen, in deren Antlitz er Unzufriedenheit mit seinem langen und abschweifenden Berichte zu entdecken fürchtete. Wie freudig überrascht war er jedoch, in Justinen's glänzenden Augen die aufmerksamste Theilnahme leuchten zu sehen. -- Das Mädchen nickte ihm beifällig zu, legte zutraulich ihre Hand auf die seinige, und sagte: »Ei, wie gut erzählt Ihr doch, mein guter Herr! Ich habe just _gesehen_, was Ihr beschrieben habt. Doch hab' ich auch an dem _Gemälde_ genug. Die Herrlichkeiten, deren Schönheit ich wohl _ahne_, sind im Grunde doch nicht für ein schwaches Weib, das im bequemen Stübchen oder auf dem hübsch geordneten Landgut wohl dann und wann gern hören oder lesen mag, wie es in der Wildniß aussieht, ohne darum die Lust zu verspüren, selbst sie zu beschauen. Diese Wälder .... diese Haiden und Ströme .... und vollends diese einsamen Blockhäuser, Tagereisen weit von jeder Nachbarschaft entfernt....! mich schaudert!« »Gerade in diesen Hütten ist patriarchalische Glückseligkeit zu Hause,« erinnerte James mit Wärme, »noch entsinne ich mich der Einwohner von einigen solchen Wohnungen. Glückliche Familien, zufrieden in ihrer Abgeschiedenheit, im Kreise ihres stillen Eigenthums. Das innigste Band verknüpft hier die Gatten, die Kinder, die Enkel: das Band der Liebe; und Liebe fordert ja nur den kleinsten Raum; ein Winkelchen nur, in dem die glücklichen Leute so viel Platz finden, sich in die Arme zu nehmen und zu sagen: ich bin dir gut, auf ewig, bis zum Tode gut!« -- So sehr auch die vorige Rede des Lehrers Justine in Anspruch genommen hatte, so wenig schien das Mädchen Geschmack an der folgenden zu finden. Verwundert hatte sie den jungen Mann betrachtet, -- beängstigt fast die Gelegenheit gesucht, seine Worte zu unterbrechen, und endlich ungeduldig das schwere Wörterbuch vom Tisch gestoßen, daß ob dem Geräusche die Frau Senatorin erschreckt aus dem Schlummer fuhr. »Die Lehrstunde ist zu Ende, bester Monsieur;« sagte Justine mit steifer Verbeugung zu James. »Vergeßt jedoch nicht, daß ich Euch morgen Vormittag ganz bestimmt erwarte. Ich habe plötzlich viele Lust bekommen, Eure Sprache zu erlernen, und hoffe, daß Euer Beistand mir von vielem Nutzen sein werde.« James, obgleich nicht wissend, ob er seinen Ohren, nach allem dem, was vorgegangen war, zu trauen habe, versprach feierlichst, wiederzukehren, küßte der Senatorin mit aller Förmlichkeit die fleischige Hand, bückte sich still vor der gleichgültig nickenden Justine, und empfahl sich, wie ein Mann von Bildung und Welt. »Warum blieb er nicht zum Abendbrod?« war des Vaters erste Frage, als er zu den Frauen heraufkam: »ich habe ihm freie Kost versprochen, damit er sich häufig einfinde, und Justine durch die Conversation die Fortschritte mache, die ihr Fleiß nicht erringt. Ich hätte gern heut mit dem Menschen geplaudert, denn auf dem Collegio schwatzen sie auch nur von Briefen, Procenten, Sicht und Manco, und mir brummt vor Arbeiten der Kopf. Mit dem pietistischen Berndt ist nichts anzufangen, und Nothhaft jubilirt gewiß wieder in der Schenke. Die Frau Senatorin erwartet ihre Basen, Justinchen treibt Kindereien, oder liest in Arminius und Thusnelda. Mit dem Engländer hätte ich ein vernünftig Wort reden können.« »O, ich bitte dich,« erwiderte die Frau, indem sie vornehm vom Stuhle aufrauschte: »binde den fremden Menschen nicht so sehr an's Haus. Die Unschicklichkeit von heute werde ich ihm nie vergessen. Es taugt nicht, wenn man einen Adelichen in eine Bürgerfamilie verpflanzt. Solch hungriges Geziefer ohne Geld und Mittel bewahrt doch immer sein Vornehmthun und seinen Stolz, dem Alles zu schlecht ist, was ihn umgibt.« »Du vergissest, Frau,« antwortete der Senator, »daß du selbst in diesem Augenblicke den unerträglichsten Hochmuth auskramst. Ich kann das an einem Weibe vollends nicht leiden, weil nur der Mann ihm die Würde und den Rang im Staate verleiht. Schweig darum!« »Wenn's mir beliebt,« setzte die Senatorin phlegmatisch bei: »Deine Matrosen- und Lastträger-Weisheit beleidigt mich nicht, und ich gebe darum meinen Stolz nicht auf. Mir gehört er, einem hergelaufenen Burschen gegenüber, der kein Verdienst hat, als daß sein Vater Baronet war, und ein gehenkter, fürchte ich obendrein, weil du vom Prätendenten ein Wort fallen ließest. Wer an meinem Tische ißt, und von meinem Gelde lebt, ist _unter_ mir, und damit gut.« Der Senator fühlte seine Geduld zu Ende gehen, und entfernte sich schnell, die Thüre hinter sich zuwerfend. -- »Der Mann ereifert sich um des Kaisers Bart,« sagte die Mutter spöttisch und eiskalt, indem sie die Seidenzupfkästchen, mit welchen sie sich in der Abendgesellschaft zu beschäftigen pflegte, hervorholte: »es verlohnt sich auch der Mühe, für einen Menschen Parthie zu nehmen, den ich morgen aus dem Hause jage, wenn mir's beifällt.« »Ich will nur von _ihm_ englisch lernen!« erwiderte kurz und herrisch Justine, und drehte sich auf dem Absatze gegen das Fenster um. »Oho, mein Püppchen!« sagte die Mama lächelnd, und wollte dem Mädchen scherzend auf die Wangen klopfen. Die Tochter entzog sich ihr jedoch ziemlich ungestüm, und entgegnete scharf und bestimmt: »ich will, daß man meinen Lehrer mit Freundlichkeit behandle; sonst werde ich Gleiches mit Gleichem vergelten.« -- Die Mutter wußte nun, woran sie war, und gab, wie schon unzähligemale, um nicht einen guten Alliirten gegen den kampflustigen Eheherrn zu verlieren, auch diesmal nach; ging, ohne die eigensinnige Tochter zu schelten, in ihr Kränzchen, und ließ dem jungen James in ihrem Hause freien Paß. Sie begnügte sich, ihm ihre Abneigung dadurch zu beweisen, daß sie ihm kein Wort gönnte; nicht bei Tische, nicht während der Lehrstunden, die sie sorgsam bewachte. Am Vormittage lernte Justine fleißig, und schien die eifrigste Schülerin. In den Nachmittagsstunden jedoch wurde der Schlummer der Mutter benützt. Justine gab das Signal zum Schweigen, und alsdann das des Erzählens, und Nordamerika war einige Tage hindurch die Axe, um die sich James Berichte und Erklärungen drehen mußten. Endlich sagte einst Justine, da der Engländer wieder von dem beliebten Thema anheben wollte: »Stille; genug! ich kenne das dortige Leben, wie meinen Arbeitssack, und muß gestehen, es gefällt mir nicht. Herr Birsher wird sich entschließen müssen, sich mit mir in einem andern Lande anzusiedeln, wo es lebendigere, fröhlichere Leute gibt, und einen mildern Himmelsstrich, und viele Freude, und viel Gesang. Wenn ich aus Kälte, Reif und Nebel im Winter nicht scheiden soll, bleibe ich lieber in der Heimath, und zur traurigen Hausunke will ich mich in meiner Jugend nicht machen lassen. Wißt Ihr, guter Herr, was ich will und verlange? Ein Dasein voll Vergnügen. Ich bin ja reich, des Vaters und der Mutter einzige Erbin, und Herr Birsher ist, wie es heißt, ein kleiner König an Ueberfluß. Warum soll ich mich nicht der Welt freuen, weil ich Alles dazu besitze? Ferner will ich einen ewig heitern Himmel über mir, blau und sonnefunkelnd; Myrthen, Lorbeer und Rosen auf meinen Wegen....; ach! wenn ich Euch beschreiben könnte, wie mir manchmal im Traum das Land erscheint, in dem ich leben möchte...!« »Die Myrthe winkt Ihnen schon,« antwortete James mit leichtem Seufzer: »das Land, von dem Sie sprachen und träumten, _ist_ auch wirklich. Ziehen Sie südwärts in dem schönen jungen Welttheil Amerika, so finden Sie es. Die Mittagsländer bieten die üppigste Reichthumsfülle. Der Schöpfer hat über sie das Horn des Ueberflusses ausgeschüttet. Ueber ihren Triften und Höhen hängt der ewig leuchtende Himmel; in ihren Fluren wächst die ungeheure Palme neben dem Heer von duftenden Kräutern, die in der Luft auf Meilen in die Runde Wohlgeruch verbreiten. Der Mensch _kämpft_ dort nicht dem Boden sein Leben ab; spielend gewinnt er ein fröhliches Dasein. In jenen lustigen Wäldern tummelt sich der bunten Vögel glänzendes Gefieder; stattliche Heerden, und der kräftigen Wildrosse flüchtige Geschwader beleben die Landschaft, die an jedem Morgen in neuem tausendfältigen Reiz aufgeht, und in der dunkelsten Nacht nichts von ihrem Reiz verliert. Dort bewegt sich ein leidenschaftlich lebendiges Volk. Die Cymbeln rufen zum Tanz; die duftenden Büsche, vom Glühwurm erleuchtet, hallen den Jubel wieder, und die Githarre murmelt wie eine liebe Geisterstimme unter dem Fenster der angebeteten Dame.« »Das klingt ja schön!« flüsterte Justine froh bewegt: »O sagt, gehört das schöne Land auch Euerm Könige?« »_Mein_ König,« versetzte schmerzhaft der Jüngling, »besitzt kein Land, als seine himmlische Heimath, die ihm kein Usurpator rauben kann. Der Krone England gehören jedoch jene Länder auch nicht. Dort herrscht Spanien und der Pabst.« »Gott steh' uns bei!« rief unwillkürlich Justine aus. Da sie jedoch bemerkte, daß James sie fragend ansah, fühlte sie Beschämung, und setzte bei: »Bin ich nicht ein närrisches Kind, und werdet Ihr mich nicht auslachen, daß ich vor dem Pabst erschrecke?« -- »Ich weiß ja,« entgegnete James ruhig, »daß in England, so wie hie und da auf deutschem Boden die Amme schon dem Säugling den Namen des Pabstthums neben der Verdammniß nennt. Mich wundert das eingesogene Vorurtheil nicht, ob es mich gleich schmerzt, es in einer Seele, so schöner Anlagen und Keime voll, wie die Ihrige, zu entdecken. Lassen Sie unserm Parlamente seine Barbarei gegen Irland, dem fanatischen Calvin seine Scheiterhaufen: dem Weibe sei Duldung ein bekannter, wohlaufgenommener Gast.« Das Mädchen sah den Lehrer mit großen Augen an; äußerte jedoch alsdann: »Wahr, mein Herr; sehr wahr. Ohnehin kann ich nur urtheilen, wie der Blinde von der Farbe. Ich habe noch nie einen Katholiken gekannt, noch nie den römischen Gottesdienst gesehen.« »Dann sahen Sie das Schönste nicht, was jemals der menschliche Geist ersann, seine Anbetung des Allerhöchsten glänzend und würdig an den Tag zu legen,« rief James, wie begeistert: »das geheimnißvollste, und doch zu den Sinnen ernst und schmeichelnd sprechende Schauspiel! O! wer rühmte sich wohl, je gewußt zu haben, was Gebet ist, der nicht dem römischen Cultus einmal beigewohnt? Diesem erhabenen Opfer, das ein so heiliges Band um alle Gemüther webt! Das ist der Tempeldienst für fühlende Menschen, für Seelen, die sich begeistert an die Flügel der Gottheit hängen wollen; der Dienst, den der heitere Süden gebar, und das Land, in dem der Herr sichtbar wandelte. In unserm traurigen Norden, wo das Herz kalt und unfruchtbar ist, wie der harte Boden, wo der Alltagsverstand grübelt, statt zu _glauben_, ist Alles anders, und in der eisigen Form versteinert endlich auch der Geist.« »Ich wundre mich, daß ein englischer Protestant der feindlichen Kirche so glänzend Gerechtigkeit wiederfahren lassen mag,« versetzte Justine, als James schwieg: »_Unsre_ Prediger schildern sie ganz anders. Indessen ist etwas Wahres an Euern Empfindungen und Meinungen. Das fühle ich wohl. Aufrichtig gesagt: die Perücke unsers Pfarrers hat mir nie besser, nie schlechter gefallen als seine Predigt, und die schnarrenden und schluchzenden Stimmen meiner Kirchennachbarinnen machen allezeit das Lied zu einem possierlichen, nicht ehrwürdigen Ohrenschmaus. Wir haben indessen schon allzulang von Babylon gesprochen, mein guter Monsieur, und die Mutter nimmt sich eben vor, zu erwachen.« Die Unterredung, die einen so wunderlichen Umschwung genommen hatte, fand ihr Ende, aber in Justinens Ohren setzte sie sich leise fort, und das Mädchen konnte sich nicht erwehren, dann und wann Betrachtungen über den Gegenstand anzustellen. Wohl hatte sie hin und wieder von den geweihten Flammen, den prächtigen Gewändern einer Messe gehört; von der herrlichen Musik, den duftenden Weihrauchwolken, den Blumengefäßen und heitern Panieren; ... allein, theils war immer in ihrem Kreise nur mißbilligend und verdammend von diesen Dingen die Rede gewesen, theils waren diese angedeuteten Bilder zu verworren, um sich in _einem_ Rahmen vor der Seele zusammenfügen zu können. Durch James feurige Rede waren die seltsamen Vorstellungen wieder erwacht. Hielt sie mit ihnen die finstre Johanniskirche zusammen, mit dem schmucklosen Altar, der einfachen gothischen Kanzel, und dem zufällig eintönigen näselnden Vortrag des Predigers, so mußten Letztere verlieren. Ihr lebhaftes, fröhliches Gemüth haschte nach dem fröhlichern Eindruck, und, sann sie oberflächlich über den Kern der unfreundlichen Schaale nach, so waren eben jene geschmacklosen Kanzelreden, und das geistlose Plappergebet, das ihre Mutter alle Abende ableierte, nicht geeignet, sie in dem unbedingten Vertrauen zu _ihrer_ Lehre zu stärken. In dem Geschäftslokale des Hauses ging indessen alles einen gedrängten, unheimlichen, leisen Gang. Von Mäcklern und Unterkäufern wurde es nicht leer. Aufgebrachte, drohende Gläubiger und Bürgen gingen oft aus dem Hause; lauernde Juden, Leute die sonst nimmer in des Senators Schreibstube gesehen worden, gingen häufig hinein, und einer gab dem Andern die Thüre in die Hand. Waarenvorräthe wurden schnell losgeschlagen, um Spottpreise weggegeben; kleinere Schuldposten an des Senators Firma mit Härte und Ungebühr von Nothhaft eingetrieben. Dürftige Geldlasten kamen ein, schwerere Ladungen gingen hinaus. Der Neid hatte auf den _glücklichen_ Müssinger ein offnes Auge gehabt. Der Unglückliche wurde von tausend Augen belauert. Ein dumpfes Gerücht kam auf der Börse aus: der Senator stehe schlecht, sein Haus würde fallen. Viele Geschäftsfreunde zogen sich plötzlich aus allen Verhältnissen mit ihm; Andere, die nicht so schnell sich losmachen konnten, führten drohende Reden in der Blume; die wenigsten warnten den Senator; keiner bot ihm die Freundeshand. Müssinger hatte Mühe und Plage, unter diesen beunruhigenden Vorzeichen sein unbefangenes Gesicht zu bewahren, und das vornehme Uebersehen, das er sich angewöhnt hatte. Indessen wünschte sein Herz ungeduldig den Buchhalter herbei, und _viele_ Augen warteten auf dessen Rückkehr. Es hieß, von Amsterdam aus werde die Entwicklung kommen; ob nun der erfrischende Ostwind, oder der niederwerfende Sturm. Endlich kam in der Nacht der Buchhalter wieder an; mit Eilpferden, wie er verreis't war. Der Senator wurde geweckt, und stieg zu dem Harrenden in das Cabinet hinunter. Bei stiller Lampe und fest verriegelter Thüre wurde die Unterhandlung gepflogen, bis das Morgenroth zu den Oeffnungen der Fensterladen hereinsah, und die Gassen belebt wurden. Da trat der Senator allein aus seinem Hause, und schlug den Weg zum Kaufhause ein. Sein Anzug war in einer Unordnung, wie er ihn noch nie auf der Straße gezeigt hatte; unverändert so, wie er ihn um die Mitternachtsstunde umgeworfen hatte; die Schuhe niedergetreten, die Strümpfe hängend, die Halsbinde locker, und das Haar zerrüttet. Doch war sein Schritt so hastig, daß er wie im Fluge an den Leuten vorbeischoß, die mit Lebensmitteln zur Stadt kamen. Am Krahnenhause war Alles noch still und einsam. Einzelne Schiffer lungerten am Gestade, oder wälzten sich auf dem Verdeck ihrer Fahrzeuge. Der Senator hielt sich nicht bei den Grüßenden auf, sondern lief immer stromabwärts, bis er die letzten Gebäude und Schuppen der Quai's und der Stadt hinter sich hatte, und zu der Kastanienallee gelangte, welche, auf eine Viertelmeile sich erstreckend, neben dem Flusse hinlief, zum Spaziergange der Städter dienend. Steinbänke waren zwischen den Bäumen angebracht, und eine mäßig hohe Brustwehr von Eisengitter schloß den Platz gegen den Strom zu, der reißend und tief unter der Balustrade vorüber tobte. Dieser Ort war, der Kühlung wegen, im hohen Sommer stark besucht; jedoch meistens nur in den Abendstunden; denn die Aurora verträumen die Müßigen gerne, und ihren Genuß im Freien verschmähen die Arbeitsamen. So kam es denn, daß auch am heutigen Tage nur ein einziger Mann auf der Promenade saß, halb von einem mächtigen Stamme verdeckt, dessen Farbe von dem grauen Oberrocke des Mannes wenig abstach. Eine Druckschrift lag auf den Knieen des Einsamen, allein die Aufmerksamkeit, die er auf dieselbe verwendete, hinderte ihn nicht, den Senator zu gewahren, der herbeieilte, ohne etwas vor sich zu sehen, als das Ziel seiner Wünsche; der, einige Schritte von dem Lesenden entfernt, schnell wie der Blitz den Stock wegwarf, mit _einem_ Satze auf dem Geländer saß, und sich im folgenden Moment in den Fluß gestürzt haben würde, hätte ihn nicht der herzugekommene kräftig bei den Schultern gefaßt, und ihn zurückgezogen. Der Versuch eines feigen Selbstmords duldet keine Zeugen. Der Mann der, einem großen Zwecke zu genügen, das Leben wegwirft, wird in seiner Begeisterung den Arm zurückstoßen, der ihn hindern will. Der Schwärmer, der Wahnsinnige, der gegen sich den Dolch zuckt, wird auf kurze Zeit die Raserei eines Thieres gegen Denjenigen wenden, der ihm die Waffe entreißt; der Schwächling aber, oder der Mensch, der einem falschen Ehrgefühl, seinem Hochmuth, sich zum Opfer schlachten will, verliert alle Herzhaftigkeit, sieht er sich ertappt; denn er ging auf einen Frevel aus. Ohnmächtig läßt er den Vorsatz fahren, und die bitterste Beschämung vergilt den kurzen Rausch eines erzwungenen Heroismus. Der Senator lag mit geschlossenen Augen und hochathmender Brust in den Armen des unbekannten Helfers, und ließ sich von ihm, ohne das mindeste Widerstreben zu äußern, nach der nächsten Bank geleiten. Hier hielt er sich an den Baum, und schlug beide Hände vor's Gesicht. Nach einem kurzen Stillschweigen sagte der Andre mit sanfter und wohlklingender Stimme: »Sie wollten ein voreilig Werk thun, lieber Mann, aber Gott hat Anderes mit Ihnen im Sinne. Beruhigen Sie sich daher; vergessen Sie, daß der Teufel Sie in Versuchung führte, und gehen Sie wieder muthvoll an die Geschäfte, die Ihnen obliegen.« Der Senator zuckte zusammen, schlug die Augen wild auf, und erwiderte dem Manne, in dessen ernstem Gesichte ein erfreuliches Mitgefühl zu lesen war, mit gepreßter Stimme: »Warum haben Sie mich zurückgehalten, Herr? Jetzt wäre Alles vorbei, und meine Ehre nicht doppelt verloren, wie es geschehen wird, wenn man in der Stadt erfährt, was ich versucht habe.« »Bekümmert Sie das allein?« fragte der Nachbar tröstend: »Beruhigen Sie sich, wiederhole ich Ihnen. Ich bin ein verschwiegener Mann, verpflichtet zur Bewahrung der Geheimnisse, die man mir anvertraut, und werde niemals Ihren Frieden oder den Ihrer Familie durch eine Unbescheidenheit stören.« Der Senator sah sich scheu um. »Wahr ist's;« sagte er hierauf: »Wir sind die einzigen Anwesenden an diesem Orte. Wenn Sie daher schweigen wollten... Kennen Sie mich?« »Ich könnte es verneinen, um Sie zu täuschen;« erwiderte der Andere: »allein ich hasse den unschuldigsten Winkelzug. Sie sind mir bekannt, Herr Senator; aber wie gesagt, schon mein Stand schützt Sie vor einer möglichen Indiskretion.« »Darf ich fragen...?« sagte Müssinger, ihm gespannt in's Auge blickend. -- »Ich nenne mich Leupold, bin Doctor beider Rechte, und habe seit manchen Jahren als Sachwalter bei verschiedenen Gerichten fungirt. Ich verstehe mich auf's Schweigen; um so mehr, als es hier den Ruf eines Mannes gilt, dessen Haus mein guter Pflegesohn zu besuchen berufen worden ist.« »Ich entsinne mich,« entgegnete der Senator, nicht unangenehm überrascht, den neuen Bekannten durch ein gewisses Band des Vertrauens an sich gefesselt zu sehen: »Wären andre Umstände vorhanden, ich würde mich Ihrer Bekanntschaft freuen, Herr Doctor. Vergeben Sie mir daher, wenn ich nicht bin, wie ich sein sollte.« »Solche Revolutionen gehen nicht leicht ab. Gehen sie nach Hause, Herr Senator. Ein niederschlagendes Pulver und Ruhe werden Ihre Besonnenheit am Besten wieder herstellen.« »Nach Hause? Wo denken Sie hin? Nach Hause, wo ich der Schande entgegen sehe? Sie haben mich verhindert, im Flusse mein Ende zu suchen. Lassen Sie mich wenigstens so weit fliehen, als mich meine Füße tragen. Ich bin ein zu Grunde gerichteter Mann. Ich kann den Spott der Feinde und die Vorwürfe der Meinen nicht ertragen. Ich will fort, über See!« Er stand rasch auf, um in dem verstörten Zustande, worinnen er sich befand, in die Welt zu laufen. Der Doctor hielt ihn zurück. -- »Bedenken Sie, was sie thun!« sagte er: »Ich kenne nicht Ihr Leid, nicht Ihre Verhältnisse. Aber die Lage Ihrer Angehörigen wird zehnfach schlimmer, wenn Sie diesen Schritt thun, und Ihnen folgt die Schande zehnfach. Ich habe viel erfahren in der Welt. Das Schicksal hat uns auf eine so seltne Weise zusammengeführt, daß ich mir fast die Freiheit nehmen möchte, mir ein Recht auf Ihr Vertrauen anzumaßen. Daher...« »Ist es denn der Mühe werth, Ihnen ein Geheimniß aus dem zu machen, was binnen drei Tagen die ganze Stadt wissen wird, wissen muß? Herr! mein Geschäft bricht ein. Der Ultimo kommt heran, ich kann nicht zahlen. Ein unbarmherziger Gläubiger, der jede Verlängerung ausschlug, kommt übermorgen selbst hier an, um mich zu verderben. Kaum vermochte mein Agent mir davon früher Kunde zu bringen. Ich kann ihn nicht befriedigen, nicht den sechsten Theil seiner Wechselforderung schaffen. Alle Quellen sind erschöpft; meine Bücher weisen eine geldleere Wüste auf. Der Senat stößt den Bankerutier aus, und meine Familie in's Elend. Da, da wissen sie Alles, was ein Kaufmann sonst nur im letzten Augenblick gesteht. Ermessen Sie meine Lage, und posaunen Sie dieselbe aus, oder schweigen Sie. Mir ist Alles gleichviel. Lassen Sie mich aber fort. --« »Wollen Sie in's Verderben rennen, und auf Glück, auf Gott, und Ihre eigne Männlichkeit nicht vertrauen -- gehen Sie hin!« sprach mit abstoßendem Tone der Doctor, und wendete sich mißmuthig von dem Verzagenden. -- Dieser kurze Bescheid brachte indessen den Senator wieder zu sich. Wir sind häufig in mißlichen Lagen, wie die Kinder, klagen und jammern immer mehr, je größre Mitklage wir erwecken, und schweigen plötzlich gefaßt, wenn unser »Zeter« keinen Eindruck mehr macht. Der Senator sah sich betroffen nach seinem neuen Freunde um. Sein Fuß wurzelte. Er legte seine Hand auf des grauen Mannes Schulter, und fragte nach geraumen Schweigen: »Was sagten Sie da? Wem soll ich vertrauen? Gott? Guter Herr, ich bin kein Pietist, und nicht von heute. Lassen wir das. Dem Glück? Ich habe mich lange dabei wohl befunden, allein, wenn _eine_ Stütze bricht, halten auch die andern nicht lange mehr. Meiner Männlichkeit? Wie meinen Sie das?« »Der Wille des Menschen vermag viel,« antwortete der Doctor: »In ihm liegt der Beistand des Höchsten; er regiert das Glück; glauben Sie mir das. Das Leben ist nun einmal ein Kampf, diese Welt der Fechtplatz. Wer sich am rüstigsten durchschlägt, gelangt sicher zum Ziel. Uebelverstandenes Ehrgefühl, -- schlecht ausgelegte Moral sogar, kann den besten Kämpfer entwaffnen, und zum Spott seiner Gegner machen. Man behaupte die Bahn, in welche man geworfen ist, und träume sich nicht in eine andere. Man zittre nicht vor der Gefahr, man trete ihr auf den Nacken.« »Ich verstehe Sie nicht,« äußerte der Senator, und ließ sich horchend neben den Doctor nieder: »ich bin fünfzig Jahre alt geworden, und wenn ich gleich schon Aehnliches, wie Sie mir da predigen, _gefühlt_ habe, _gesagt_ hat mir es noch Niemand.« »Sie haben nur die Handelswelt kennen gelernt,« versetzte achselzuckend der Doctor: »Ein Beispiel wird Sie jedoch überzeugen. Sehen Sie hier einen Traktat über die Seeschlacht bei la Hogue, wo Admiral Russel die französische Flotte vernichtet hat. Diese Schlacht war eine der außerordentlichsten Begebenheiten der Zeit, und herbeigeführt und gewonnen unter den widerstrebendsten Conjunkturen. Nicht Wind, nicht Wetter, nicht das eiserne Joch der Verantwortlichkeit achtend, wurde geschlagen, wurde gesiegt. Aus dem gefürchteten Verderben trat glänzend die Victorie hervor. So viel vermag der Wille und die dadurch aufgeregte Kraft des Menschen. Und, -- merken Sie sich das genau: im bürgerlichen Leben, wie im Schlachtandrang gilt der Satz: Hilf dir selbst, und Gott ist mit dir. Stoße _den_ vom Brett, der dich hinunterstoßen will, oder schweige und ergieb dich verzagt in das verdiente Geschick.« -- »Ich staune über Ihre Reden, gelehrter Herr,« sagte der Senator, obschon aufgerichteter als zuvor: »wie aber soll ich sie in =praxi= anwenden? Dunkel bleiben mir Ihre Worte, oder machen mich zittern, sollte ich Sie verstehen.« -- Der Doctor lächelte. »Träumen Sie ja nicht von Gespenstern,« erwiderte er halb im Scherze: »ich schreibe nur sanfte Mittel vor. Sie führen ja nicht das Bajonnet, nicht den Commandostab. Nur so viel in Kurzem: Geben Sie nicht feig Alles verloren. Von Stunde zu Stunde wechselt das Glück seine Häuser, und schüttet vielleicht in der nächsten den goldenen Regen durch Ihren Schornstein. Verlarven Sie nicht. Spricht das Unglück von Ihrer Stirne, so finden Sie keinen Freund mehr, während der Schein der Zuversicht Ihnen vielleicht in der letzten Minute den thätigsten wirbt. Waffnen Sie sich wider den Gegner, der sich naht; nicht mit Messer und trotziger Schmähung, sondern mit dem glatten, überredenden Worte, und der vielversprechenden Stirne. Freundlichkeit bezwingt den festesten Vorsatz. Jeder Mensch hat den verwundbaren Fleck. Jeder Mensch ist eitel. Suchen Sie die Ferse des Achilles. Schmeicheln Sie seiner Eitelkeit. Der günstige Augenblick einmal benützt, und die Wechsel werden prolongirt, die Frist ist gewonnen, mit ihr die Hoffnung, und in der Hoffnung liegen ja alle unsere Reiche. Was möglich ist, kann auch wahr werden, und das Mißgeschick macht immer wieder der Fortuna Platz. Hören Sie nie auf, auf sich zu zählen, und auf meine Verschwiegenheit.« Mit einer anständigen Verbeugung verließ der Doctor den Handelsherrn, und wandelte nach der Stadt zurück. Müssinger sah ihm verwundert nach, und dann in sein eignes Innres. Mittel und Wege fand er freilich darinnen nicht vor, aber ein besserer Muth belebte seinen Geist, und sein Plan, sich aus der Welt zu schaffen, kam ihm bald wie ein Traum, bald lächerlich vor. Der prachtvolle Morgen trug das Seinige dazu bei, den aufgeregten zu beruhigen. Die erste Folge dieser eintretenden Ruhe war die Sorgfalt, die der Senator darauf verwendete, seinen Anzug wieder bildlicher und anständiger herzustellen. Alsdann stand er auf, blickte zum Himmel auf, und murmelte: Wohlan! den Versuch ist ja wohl die Lehre werth, und im schlimmsten Falle ändert ja der Strom binnen drei Tagen nicht sein Bett! -- Somit drückte er den Hut in die Augen, wanderte gravitätisch zur Stadt zurück, und seiner gleichgültigen Miene hätte Niemand angesehen, wie es vor einer halben Stunde um ihn gestanden. »Mein Guter,« sprach er nach einiger Ueberlegung in seinem Cabinette zu dem Buchhalter: »Es liegt mir daran, daß Ihr Euch von dem Amsterdamer nicht in meinem Hause finden lasset. Es dient mir zu besserem Stand und Hinterhalt, wenn ich sagen kann, daß Ihr, auf andern Geschäftstouren begriffen, noch nicht zu mir heimkehrtet, mir seine Antwort noch nicht hinterbrachtet. Ihr habt mir nur in einem Briefe gemeldet, daß _er_ selbst kommen würde, sich mit mir in Richtigkeit zu setzen; nichts weiter, versteht Ihr mich? Ich gewinne durch diese Unwissenheit Aufschub, und während dessen geht eine neue Quelle auf.« -- »Das gebe Gott!« seufzte der treue Buchhalter: »wo befiehlt aber mein hochzuverehrender Herr Prinzipal, daß ich mich hinbegebe?« -- »Ihr mögt nach Steinstadt reisen,« erwiderte der Senator, »und bei Gericht den Zwangprozeß gegen unsern saumseligen Schuldner, den Apotheker, eifrig betreiben und anhängig machen. In einigen Tagen ist das Geschäft beendigt, zu dem ich einen Diener abfertigen würde, wenn nicht die Umstände wären, wie sie sind. Damit jedoch Eure Abfertigung ein gewisses Aufsehen mache, mögt Ihr hier noch zu verbreiten suchen, daß Ihr in meinem Namen auf die Steinkohlengruben bieten sollt, die der Graf zu Steinstadt versteigern läßt.« »In Gottes Namen!« ließ sich der Buchhalter vernehmen, und ging, sich fertig zu machen. Der Senator stieg indessen hinauf zu seinen Frauensleuten, und kündigte ihnen an, der Herr van den Höcken von Amsterdam werde binnen wenigen Tagen eintreffen, und eingeladen werden, in dem Hause seines Geschäftsfreundes sein Quartier zu nehmen. Deshalb müsse das beste Gastzimmer in Stand gesetzt, und in Küche und Keller alles auf den Fuß hergerichtet werden, einen so ehrenwerthen Besuch nach Gebühr zu empfangen und zu vergnügen. Die Senatorin murrte und maulte viel über die ungelegene Störung des Hauswesens, gab dann, da sie nichts an dem Befehl zu ändern vermochte, in aller Gleichgültigkeit Justinen die Schlüssel zu Haus und Hof und ließ die flinke, bereitwillige Tochter für Alles sorgen. Sie selbst sah, nach wie vor, ganze Stunden lang durch's Fenster, schlief, betete ihre Psalmen gedankenlos, und hatte am Abend, in träger Ruhe unter den Freundinnen sitzend, viel von der Mühe und Plackerei einer weitläufigen Wirthschaft und unbequemer Gäste zu erzählen. Die Spiel- und Klatschschwestern säumten nicht, das Erfahrene und Gehörte in der ganzen Stadt zu verbreiten. Durch Lehrlinge und Diener und Mäkler ging von der andern Seite das Gerücht von jener Steinkohlenspekulation um, und der Senator hatte die Freude, auf der Börse wieder freundliche Gesichter zu sehen, und das Wiederaufkommen seines Credits zu bemerken. »Van den Höcken wird bei ihm wohnen!« flüsterten sich Händler und Sensale zu; »er erwartet ihn also mit gutem Gewissen! Auf die Steinkohlengruben des Grafen läßt er bieten? Sie müssen baar bezahlt werden, weil die Excellenz das Geld für Spa braucht. Er florirt also wieder, der Herr Müssinger!« Und: »Ein wackrer Mann! ein braver Mann!« scholl es nun wieder weit und breit, gerade aus dem Munde derjenigen, die ihn schon am meisten geschmäht hatten. Die ruhigern, solidern Kaufleute zuckten indessen die Achseln, schüttelten die Köpfe, murmelten von Dunst und tauben Nüssen und erwarteten die Zukunft. Aengstlicher und sehnsüchtiger als sie Alle, erwartete der Senator die Tage der Entscheidung, und es wurde ihm schwül zu Sinne, denn schon waren fast zweimal 24 Stunden seit der Unterredung mit dem Doktor verflossen, und noch hatte sich, außer dem Dunst nichts geändert in seinen Verhältnissen. Wo er ging und stand, dachte er an unausbleiblichen Bankerott, und zugleich an die Worte des Doktors, die wie Metallklänge an sein Ohr schlugen: »Hilf dir selbst, und Gott ist mit dir. Stoße _den_ vom Brett, der dich hinabstoßen will!« »Kann ich denn diese harten Reden nicht los werden?« fragte er sich oft, wild an seine Stirne schlagend, und verschloß sich dann wieder auf Viertelstunden in den stillsten Winkel seines Hauses. Unterdessen machte Justine die fleißige Wirthin, und ordnete und putzte in den Gastzimmern, daß es eine Freude war. James, der vergebens zur Stunde kam, und den die Mutter schnöde abgefertigt hatte, sah im Vorübergehen die Thüre der Gaststube zufällig offen, blickte hinein und grüßte Justine, die auf einem Tische stand, und sich umsonst bemühte, die schwere Stange des Vorhangs auf die Hacken über dem Fenster zu bringen. Ihr Gesichtchen war feuerroth vor Zorn, und mit weinerlicher Stimme rief sie dem Engländer zu: »So kommt doch herein, Monsieur! seit zehn Minuten rufe ich mir die Kehle rauh, nach den einfältigen dummen Mägden, die mich hier allein gelassen haben. Noch eine Minute, und ich hätte die schwere Fahne da, wie sie ist, auf das Getäfel geworfen, und wenn Spiegel und Marmortisch, und Alles dabei zu Grunde gegangen wäre. Helft mir!« »Mit Vergnügen!« betheuerte James, legte den Hut ab, und bereitete sich, auf den Tisch zu steigen. Justine stampfte ungeduldig mit den Füßchen. »Mein Gott, wie förmlich!« rief sie, »legt doch um Gottes Willen Euer englisches Phlegma ab. Ein Anderer wäre mit _einem_ Sprunge schon bei mir gewesen!« -- »Ein wenig Geduld!« ermahnte James das Mädchen, nahm den armen Vorhang aus dessen Hand und in einem Augenblicke saß er, wo er sollte. »Besonnen kommt man nicht minder schnell zum Ziele,« sprach James weiter, und reichte Justinen die Hände, sie vom Tische zu heben. Sie bedachte sich eine Weile, wollte ihr böses Gesicht beibehalten, das schelmische Lächeln drang aber durch das Gewitter, und wie ein Zephyr flog sie an des Jünglings Armen zur Erde. »Ihr seid ein possirlicher Mensch!« sagte sie, ihm neckend in die Augen sehend: »so oft ich Euch die Wahrheit sage, spielt Ihr den Gekränkten, und gebt eine Sentenz zum Besten. Gewöhnt Euch das ab, Monsieur. Ihr seid ja kein Kandidat, der blöde thun muß, um's liebe Brod. Was ein vorwitziges Mädchen sagt, muß den Vernünftigen nicht kümmern.« »Menschen, die mir gleichgültig sind, kümmern mich auch nicht,« antwortete James, der noch nicht alle Bitterkeit besiegen konnte. Justine blickte ihn rasch und gleich wie strafend an, verzog dann fröhlich lächelnd den Mund, und drehte sich, schnell wie der Wind, im Kreise um. »Seht aber doch, wie schön ich Alles hier eingerichtet habe!« rief sie, sich dreimal gegen den Spiegel verbeugend, und lustig in die Hände klatschend: »Ich wette darauf, die Königin Ulricke hat keine schönere Wohnung.« -- »Die Freude, die Sie an Ihrem eigenen Werke haben,« entgegnete James scherzend, »brächte mich beinahe auf die Vermuthung, diese Zimmer seien für Ihren Verlobten eingerichtet.« »Ach Gott, nein!« versetzte Justine, indem Sie die Hände in spaßhafter Klage zusammenschlug; »Herr Birsher wohnt leider nicht an der Ecke, um so geschwinde seinen Besuch abstatten zu können. Vor der Hand wird nur ein alter steifer Holländer, der Herr van den Höcken hier sein Quartier nehmen. Der beste Freund meines Vaters: sie haben sich aber in ihrem Leben noch nicht gesehen. Der liebenswürdigste Mann: wir wissen aber noch nicht das Geringste davon. Seht Euch das Zimmer noch einmal recht an, und lobt meinen Geschmack. In _diesem_ Zustande seht Ihr es nicht mehr wieder!« »Wie so?« »Herr van den Höcken wird schon alle meine Bemühungen zu Schanden machen. Diese weißen Vorhänge wird der Rauch seiner Pfeife schwärzen, all' diese Ordnung seine plumpe Hand zerstören. Ach, die Männer sind ja nur dazu vorhanden, der Weiber zierliche Schöpfung zu verunglimpfen.« »Wie kommen _Sie_ jetzt zu der Sentenz?« »Das Medaillon an jenem Vorhang, den Ihr, Monsieur befestigt habt, bringt mich zu der Beschwerde. Es steht schief und baufällig. Schade dennoch um das arme Bild.« »Warum befehlen Sie nicht?« fragte James lebhaft, sprang abermals auf den Tisch, und richtete das vergoldete Prunkstück nach der Regel auf. Justine verneigte sich steif. »Monsieur!« sagte sie, »ich bin mit Euch zufrieden. Wie kömmt's, daß Ihr jetzt lebendiger werdet?« »Ich _strebe_ nach Ihrer Zufriedenheit, Mademoiselle,« entgegnete James verbindlich. -- »Das gefällt mir,« sprach Justine ernsthaft wie eine Königin. »Ihr möget aber wissen, daß ich nicht genügsam in meinen Forderungen bin.« »Und doch würde ich eine _jede_ erfüllen!« versicherte James nicht minder ernsthaft. »Jede?« fragte Justine noch ernsthafter: »Besinnt Euch, Monsieur. Ich lasse nicht mit mir scherzen.« »Auch scherze ich nicht,« schloß James fest und bestimmt. »So wolltet Ihr also auch, wenn ich es verlange, den einfältigen Lauscher über die Treppe werfen, der schon seit einer Minute den Kopf in die Thüre steckt, und nicht ahnt, daß ich im Spiegel seine Ohren sehe?« James sah sich verwundert um, und gewahrte Nothhafts Kopf, ein albernes ertapptes Fuchsgesicht, aus dessen Munde stammelnd die Worte kamen: »Mit Permiß, hochgeehrte Jungfer! Ich suche nur Ihren Herrn Vater!« »Mit Permiß,« antwortete Justine verächtlich: »Er ist ein erbärmlicher Pinsel, dem mein Herr Vater für seine Horcherei den Kopf zurecht setzen soll. Führ' Er sich ab, und such' Er anderswo.« Nothhaft verschwand mit leisen Verwünschungen. Justine lachte herzlich, theils über den Diener, theils über James, der, wie aus einem Himmel gefallen, vor ihr stand. »Sagen Sie, wunderliche Fee!« sprach er: »Wie soll ich Sie nennen? Sie wechseln die Farbe wie ein Demant. Schon glaubte ich auserkohren zu sein, Ihnen einen wichtigen Dienst leisten, Ihren Beifall erwerben zu können, und plötzlich löst sich Alles in einen Scherz auf.« »Gesteht es nur, Monsieur!« erwiderte hierauf Justine: »Ihr seid eitel. Ich bin es aber nicht weniger. Ihr könntet ein Franzose sein. Mein Ernst ist jedoch nicht _immer_ Scherz.« Die Gutmüthigkeit, die sich in Justinens Rede kund gab, machte dem Jüngling Muth, nach ihrer Deutung zu fragen, allein Müssinger's Dazwischenkunft setzte seiner Neugier unübersteigliche Schranken. Der Senator trat heftig ein, und rief mit auffallender Sorglichkeit: »Ist alles fertig, Justine? Alles hergerichtet und geordnet?« Auf die Bejahung fuhr er fort, ohne auf James zu achten: »Brav, schön, meine Tochter. Zur besten Zeit, mein Kind. Er ist angekommen. Van den Höcken ist da. Der Kellerbursche aus dem römischen Kaiser hat mir's so eben gesteckt. Allein gekommen, ohne Bedienung. Man kann den Mann nicht im Gasthause lassen. Ich gehe selbst zu ihm. Sage mir, bin ich angezogen, wie sich's gebührt? Fällt die Perücke gut? Sitzen die Strümpfe und Kniebänder? Hängt der Degen recht, wie er soll? Wie findest du den Busenstreif?« »Schön und wohlanständig wie alles Uebrige, lieber Vater,« antwortete Justine, ein feines Lächeln kaum bemeisternd: »Sie sind jedoch in einer Unruhe befangen, die mir auffällt. Sie haben ja nicht vor den Kaiser zu treten, sondern vor einen Kaufmann, der nicht mehr, nicht weniger ist, als Sie selbst, und obendrein Ihr Handelsfreund!« »Ach ja!« versetzte der Senator mit ängstlichem Athemzuge: »ach ja! das ist er, aber die Schicklichkeit, die Mores, ... und dann meine Pflicht, ... und worauf es ankömmt! Liebe Justine, erhebe deine Seele zum Gebet! ... Deine Mutter ist Eis, ... du aber mein Kind halte den Daumen für mich! hörst du? bringe mir Glück! freilich darfst du nicht wissen, ... aber ... wie gesagt ... Adieu!« Schon war er jenseits der Schwelle. Die Herzensangst, die unverkennbar aus ihm sprach, machte Justine sehr nachdenklich. Sie stützte sich auf den Tisch, und blickte sinnend auf die Straße. Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens drehte sie sich kopfschüttelnd um, um zu gehen. »Wie? Ihr seid noch da, Monsieur White?« fragte sie, wie erstaunt den jungen Mann zu sehen, der sie mit verschränkten Armen und theilnehmend betrachtete. »Könnt Ihr mir nicht sagen, was der Auftritt so eben bedeutete?« setzte sie gezwungen lächelnd hinzu. »Die Mächte, die uns leiten, warnen oft den Glücklichen, daß er sich auf Unheil gefaßt mache,« entgegnete schonend und vorbereitend der Jüngling. »So?« fragte Justine wieder mit durchdringendem Blicke: »Euch steht's jedoch schlecht an, den Unglückspropheten allein hier spielen zu wollen. Was berechtigt euch dazu? gewiß nur meine Nachsicht, die Euch zu solcher mißbrauchten Vertraulichkeit den Muth giebt. -- Außer der Lehrstunde bin ich nicht für Euch zu Hause.« James Gefühl wallte über. »Nach Befehl,« entgegnete er kaum hörbar, »hätte ich geahnt, daß Sie auf Ihre Frage nur ein stummes Achselzucken wünschen, und nicht ein freundlich offen Wort, so hätte ich mir die Beleidigung, Ihnen die Reue erspart.« Er entfernte sich schnell. Schon war Justine im Begriff, bereits von dem innern Vorwurfe gequält, ihn zurückzurufen; schon hob sich ihr Fuß, ihm nachzueilen, aber Stimme und Bewegung bezwang sie im stolzen Selbstgefühle. »Ein unerträglicher Mensch!« eiferte sie vor sich hin: »Was er sich erlaubt! Ist das nicht der Ton, den ein Vater gegen seine Tochter annimmt? Gelte ich ihm denn nicht für _voll_? Bin ich denn ein Kind, das sich Alles gefallen lassen muß?« Ein schneller Blick in den Spiegel belehrte sie zur Genüge, daß sie kein Kind mehr war, sondern eine Jungfrau in der schönsten Blüthe des Alters. Wohlgefällig ordnete sie die Spitzen, die ihren Busen zart und schwach verhüllten, die Schärpe um das enge pralle Mieder, die Falte ihres seidenen Gewandes, und ging einigemal vor dem Spiegel auf und ab. »Wahrlich!« sprach sie alsdann mit verklärtem Angesichte: »Herr Birsher wird nicht die häßlichste Braut aus Europa entführen. Wenn er nur auch recht hübsch ist, und wohlgewachsen, und prächtig und sauber im Aeußern! Wie werden sich die Jungfern ärgern und die Frauen, wenn ich in aller Herrlichkeit mit ihm abziehe! Wie werde ich dagegen jubeln, wenn ich aus diesem Hause scheide, wo mich die Mutter nicht liebt, nicht haßt und nur für ihre Kammerjungfer ansieht, wo der Vater von Tag zu Tag wunderlicher wird. Wahrhaftig, noch einmal ein Auftritt wie der vorige, und mir würde bange um seinen Verstand!« So eben ließen sich Stimmen in der Hausflur vernehmen, und gewichtige Schritte kamen über die Treppe herauf. Erschreckt flog Justine aus dem Zimmer, und bewillkommte sehr verlegen einen sehr dicken schweren Mann, der an der Hand des Senators, in Reisekleider gehüllt, emporkeuchte. Ein Lastträger folgte mit einem gewichtigen Koffer auf der Schulter. Das ganze Comptoirpersonale lauschte unten mit vorgestreckten Hälsen. »Der sehr achtbare Herr und Freund van den Höcken aus Amsterdam,« sprach der Vater geschäftig zu Justine, und zupfte sie, einen sehr tiefen Knix zu machen. Der Holländer versuchte seinerseits eine Verbeugung, sah Justine starr aber freundlich an, blinzelte mit den kleinen Augen. »Ein hübsches Kind, die Jungfer Tochter,« sagte er noch halb athemlos: »ein recht hübsches Kind, eine lockende Eva! es ist charmant, Ew. Edeln, daß ich dem römischen Kaiser Valet gesagt habe, um hier in die Arme einer griechischen Helena zu sinken.« »Ei, der Himmel bewahre mich in Gnaden!« platzte Justine heraus, und floh vor den ausgestreckten Armen des Fremdlings nach der Mutter Zimmer. Van den Höcken lachte ungemessen, und wehrte dem Senator ab, der Justinen nacheilen wollte. »Lassen Ew. Edeln das wilde Jüngferlein immerhin springen und laufen,« sagte er fortlachend, »der Wein muß brausen, das Bier schäumen. Am Ende gibt es noch den solidesten Trank. Ich bin der Jungfer schon recht zugethan, und denke, _sie_ soll mir es auch werden. Alte Hagestolze wie ich, haben das Geheimniß endlich weg, wie man das Frauenzimmer kirre macht. Für's Erste jedoch,« setzte er hinzu, »weisen Sie mir mein Zimmer an, und entschuldigen Sie mich bei Ihrer lieben Frau. Zum Thee komme ich herüber. Meine müden Beine müssen bis dahin ausrasten.« Der Senator stieß dienstfertig die Thüre auf, und van den Höcken betrachtete mit Wohlgefallen sein Quartier. »Ew. Edeln haben mich wie einen Cogreßambassadeur logirt,« schmunzelte er, »Item, unsere persönliche Bekanntschaft hebt vollkommen gut an; wünsche nur, daß auch in =saeteris= alles gut ablaufe, mein bester Herr.« Der Senator wollte den Augenblick benutzen. Er stellte sich daher vor den im Lehnstuhle ruhenden Gast, und begann zu erzählen von dem Buchhalter, der nicht zugegen, von dessen oberflächlichem Brief, von der Freude, die er empfinde, den Handelsfreund zu bewirthen, von den bösen Zeiten und den Wagnissen eines Spekulanten, und besonders von der Nothwendigkeit, sich als Christen gegenseitig zu unterstützen, und zu schonen. Als er jedoch bis zu diesem Punkte gekommen war, faltete der Gast seine Stirne mächtig, bewegte mißbilligend den Kopf, und entgegnete ziemlich unfreundlich: »Geschätzter Herr Senator! Dergleichen Betrachtungen schicken sich wenig in der ersten Bewillkommnungsstunde. Was jedoch die Spekulanten betrifft, und die christliche Moral, so sollen Erstere nicht weiter fliegen wollen, als die Federn reichen, und Letztere nicht begehren, daß Einer, um dem Andern durch die Finger zu sehen, sich selber ruinire. Sie werden mich begreifen, obgleich ich nicht das beste Deutsch rede. Im Holländischen könnte ich mich freilich besser ausdrücken. Uebrigens lassen wir dergleichen Erörterungen auf morgen. Meine Maxime ist: zuerst ruhen, dann arbeiten. Morgen nach dem Frühstück von Geschäften. Meine Wechsel sind in aller Ordnung. Halten Sie nur das Ihrige in Bereitschaft.« Der Senator war wie von kaltem Wasser übergossen. -- »Ew. Edeln vergessen,« stotterte er, »daß meines Buchhalters Abwesenheit......« »Doch keinen Aufschub macht?« unterbrach ihn van den Höcken, herzlich lachend. »Warum nicht gar! Ein exakter Kaufmann, wie Sie, weiß die Zahltermine auch ohne den Buchführer. Respekttage habe ich in Hülle und Fülle gelassen, und aufhalten kann ich mich nicht länger als zwei Tage. Also haben Ew. Edeln die Güte, sich nicht länger zu sträuben. Ich weiß es; große Summen gehen schwer vom Herzen; mir selbst nicht minder; allein was sein muß......, nun, Sie sind ja ein Ehrenmann, und somit heute kein Wort mehr hievon.« Müssinger empfahl sich mit verstecktem Mißvergnügen, und ging bis zur Dämmerung heftig auf dem Altan des Hauses hin und her, um sich die gehörige Fassung zuzuwenden, deren er, seinem Gaste gegenüber, bedurfte. Plötzlich blieb er stehen, und sagte vor sich hin: »Bin ich denn nicht ein blödsinniger Mensch, daß ich noch hoffe, und kann diese Hoffnung mit nichts in der Welt rechtfertigen? Was soll mir eine leere gespenstige Erwartung? Warum habe ich nicht auf der Stelle dem hartnäckigen Manne gesagt, was er morgen dennoch erfahren muß? daß es weit ärger mit mir steht, als selbst mein Buchhalter ihm gesagt, dessen vergebliche Bemühungen er nur für die Flausen eines Mannes, der nicht zahlen _will_, zu halten scheint. Ich muß mich demüthigen vor ihm, wie nicht vor einem Kaiser, und nur von seiner Barmherzigkeit Rettung erwarten! Ein saurer Schritt, -- der sauerste meines Lebens! ist er aber vergebens, auch mein Letzter, so wahr mir Gott gnädig ist. Vor des Holländers Augen zerschmettre ich mir den Kopf!« Von diesem Gedanken erfüllt, stieg er hinab in sein Cabinet, lud mit der Entschlossenheit der abgestumpften Verzweiflung seine großen Reisepistolen, und legte sie, unfern von seinem Drehstuhle, in ein verstecktes Fach des Schreibtisches. Hierauf schloß er sorgfältig zu, gab den Comptoirbedienten für den _ganzen_ folgenden Tag -- einen Sonntag -- freien Urlaub, und verfügte sich in die Wohnstube, wo er seine Frau, ihre Freundinnen, Justine und van den Höcken schon beisammen fand. Der Thee wurde nach holländischer Sitte herumgereicht. Der Gast setzte sein größtes Vergnügen darein, sich von der Tochter bedienen zu lassen, und durch mehrere Scherze, wie sie alte Herren seines Schlags sich oft zu erlauben pflegen, die Röthe der Jungfräulichkeit auf ihre Wangen zu jagen. »Das wäre ein Mädchen,« sagte er unter Andern, »das wieder Leben in mein verödetes Hauswesen bringen könnte, wenn ich einen Sohn hätte, oder wenn die Jungfer mich selbst zum Manne nehmen wollte. Unsre steifen Amsterdamer Puppen müßten sich verstecken vor der muntern Frau van den Höcken. Wahrhaftig, Ew. Edeln: -- seh' ich die Jungfer an, so wird mir's wohl begreiflich, wie sie _ihre_ Tochter sein kann; aber die bequeme Madam dort im Kanape würde nicht jeder für _ihre_ Mutter halten.« »Hm!« dehnte die Senatorin etwas empfindlich, »Ew. Edeln und meine Wenigkeit stellten dafür ein passenderes Paar vor.« »Wahrhaftig!« lachte van den Höcken ausgelassen. »Sie haben recht, meine Werthgeschätzte, und ich würde auch des Schicksals Wink nicht unbeachtet lassen, hätte es dem Himmel gefallen, sie in ledigem Stande vor meine Augen und Gemüth zu führen. Wie die Sachen aber jetzo stehen, werde ich mich schon an die Jungfer Tochter halten müssen.« »Bitte sehr!« lächelte Justine schnippisch, und zog ihre Hand aus der Rechten des Holländers. Die geneigte Mama setzte indessen phlegmatisch bei: »Inkommodire sich der Herr nicht. Meine Tochter ist versprochen, sie wird eine Birsher in New-York.« »Oho!« entgegnete van den Höcken. »Mit dem Birsher nehm ich's auch noch auf. Bin ich nicht so jung wie der Sohn, bin ich doch reicher als der Vater, und der Weg nach Amsterdam ist um ein gutes Stück näher, als der nach Amerika.« »Danke gar sehr, lieber Herr!« spöttelte Justine. -- Die Mutter nickte ihr den völligsten Beifall zu. Der Vater ließ sich vertraulich neben dem Holländer nieder, und sagte, als die Frauen sich wieder alle um die Theekanne und Butterschnitten drängten, so süß als möglich: »Ew. Edeln haben eine unvergleichliche Gabe, zu scherzen. Ein Anderer hätte glauben können, Sie hätten in der That ein Auge auf unser Kind.« »Das habe ich auch,« bekräftigte van den Höcken. »Ich bin der schnippischen Jungfer seelengut, und möchte sie für mein Leben gern in _meinem_ Bauerchen haben.« -- »Ha!« versetzte der Senator, vor dessen Seele allerlei Hoffnungen und Plane wieder aufdämmerten: »Wir waren ja bisher, ohne uns zu kennen, so gute Freunde, achtbarer Herr...« Er stockte, _ein_ Auge sah verlegen auf den zitternden Busenstreif, das Andere auf den Holländer, der, seine Pfeife kaltblütig anbrennend, langsam zu ihm sagte: »Nun? und weiter? Drücken Ew. Edeln ab! Nun?« »Ich meinte nur,« fuhr der Senator, seine Schmiegsamkeit mit ungeduldiger Ruhe behauptend, fort, -- »daß ich Ihnen nicht leicht ein Ansuchen fehl gehen lassen möchte, wenn dessen Erfüllung in meiner Macht stände.« »Versteh ich Sie?« fragte van den Höcken heimlicher: »Vielleicht auch nicht das Ansuchen um die Jungfer Tochter?« -- »Ihr Scharfsinn, werther Herr, ...« begann der Senator. -- »Bitte! keine Complimente!« fiel der Holländer ein. »Der Birsher steht aber im Wege. Wie könnte man _den_ wegschaffen?« »I nun,« flüsterte Müssinger, »man müßte sehen, wie sich etwa die Gelegenheit darböte...« »Ein ehrliches Mannswort zu brechen?« sagte van den Höcken ernst, und mit Vorwurf: »ein kaufmännisches Versprechen ist heilig wie ein Eid. Es muß gehalten werden, wenn auch eine Gelegenheit sich darböte ... lieber Mann, und ein noch zehnmal reicherer Freier als van den Höcken von Amsterdam, der Ihnen nur um der lieblichen Tochter willen den niedrigen Charakterzug vergibt --« »Mein werther Herr,« wollte der Senator auffahren. Der Gast hielt ihn jedoch im Zaume, indem er ihm zuflüsterte: »Machen Sie doch Ihren Schritt nicht vor Ihrer Familie und den Fremden offenbar. Schämen Sie sich im Stillen vor mir allein, und wundern Sie sich nicht, wenn ein ehrlicher Mann zögert, Ihnen Credit zu geben, da Ihre feierlichen Zusagen Ihnen feil geworden sind.« Den Rücken des Senators überlief es wie mit tausend Nadelspitzen. Kurz und trotzig, um den Herrn von Amsterdam seine Beschämung nicht sehen zu lassen, wendete er sich von ihm, und vergaß die Pflichten des Hausherrn. Van den Höcken übersah ihm den Ingrimm, und mischte sich in ein Gesellschaftsspiel, das die Frauen beliebt hatten. Hier entfaltete er bald eine Fröhlichkeit, die man ihm nicht angesehen hatte, eine Freigebigkeit, die den Spielerinnen nicht mißfiel, und eine Gutmüthigkeit, die ihm Justinens Herz geneigter machte. Er zog es auffallend vor, sich mit dem muntern Mädchen zu unterhalten, gab sich viele Mühe, es an sich zu fesseln. Der Senator sah mit schwankenden Hoffnungen und vieler Reue dieser feinen Bewerbung zu, bis die zehnte Stunde schlug, und die Schicklichkeit gebot, den Gast nach seinem Zimmer zu geleiten, und die Frauen allein zu lassen. Verbindlich und gefällig wünschte van den Höcken allerseits gute Nacht, und begehrte scherzend von Justinen den Verlobungskuß. Die Jungfer verweigerte sich lachend. Van den Höcken hatte sich's vorgenommen, die süße Frucht nicht unberührt zu lassen. -- »Will Sie mich nicht qua Bräutigam küssen, spröde Jungfer,« sagte er lachend, »so erlaube Sie mir doch wenigstens, Sie =qua= Papa zu küssen. Ich könnte es ja doch sein, denke ich; he? --« »Gute Nacht, Herr Vater!« antwortete dem Scherze nachgebend und munter das lustige Mädchen, und bot ihm Stirne und Wange zum Kuß. Van den Höcken zauderte nicht, von der Erlaubniß Gebrauch zu machen, und verließ, glänzend und strahlend von Vergnügen das Zimmer. Der Herr vom Hause, von widrigen Gefühlen bewegt, ging, den vergoldeten Armleuchter in der Hand, zum Gastzimmer hinaus. Beide Männer schwiegen ernsthaft. Der Senator öffnete mit eignen Händen die grünen Damastvorhänge des Alkovens, schloß die Fenster, zeigte stumm auf alle Bequemlichkeiten der Wohnung, und wollte sich mit einem trocknen: »Schlafen Ew. Edeln wohl!« abführen. Van den Höcken redete ihn darauf an. »Wollen wir denn im Groll scheiden, werther Herr und Gastfreund?« sagte er: »Lassen Sie uns Friede machen. Ich habe Ihnen meine Meinung gesagt, und Sie haben bereut; somit gut. Wollen Sie bedenken, daß Feindseligkeit nichts taugt. Sie haben mich selber in Ihr Haus geladen, und vertrauensvoll hab ich's angenommen. Sein Sie auch freundlich in dem gastfreundlichen Hause. Bei Gott, ich bin es auch wieder.« Der Senator konnte zwar die dargebotene Rechte des Kaufmanns nicht ausschlagen, aber gefangen geben mochte sich sein Stolz auch nicht. Steif verbeugte er sich daher und erwiderte: »Ew. Edeln wollen scherzen. Ich habe Alles vergessen, und bitte um dieselbe Vergünstigung. Wann befehlen Sie morgen geweckt zu werden?« »Ich incommodire nicht,« versetzte van den Höcken, ziemlich unbefriedigt von des Senators Rede: »mein übergesegneter Körperumfang weckt mich frühzeitig, duldet mich nicht im Bette. Um acht Uhr wünsche ich mit dem Frühstück bedacht zu werden, damit wir um Neun an unser Geschäft gehen können.« »Sehr wohl,« entgegnete Müssinger eiskalt; »Alles soll geschehen, wie Sie es anordnen. Gute Nacht!« -- Van den Höcken legte sich zu Bette: aber der Senator fand in seiner Stube keine Ruhe. Einmal sogar verließ er dieselbe, das Licht in der Hand, und schlich in leisen Pantoffeln bis zu der Schlafkammer seiner Tochter. Schon hatte er den Finger gekrümmt, um anzuklopfen, aber scheu trat er wieder zurück, suchte er wieder seine Stube. -- Warum das Mädchen in das Geheimniß ziehen? sagte er mißbilligend zu sich selbst: Wird nicht ihr Eigensinn oder ihre Angst mich verderben? Es ist nicht gut, wenn der Vater die Rettung seiner Habe in schwache Kinderhände legt. Im Alter folgt der Vorwurf hinterdrein, oder auf der Stelle mißlingt der Plan. In welchem Lichte stünde ich vor dem holländischen Herrn! Könnte er's dann nicht mit Händen greifen, daß ich ihn nur in's Haus gelockt, um ihn zu kirren; daß ich auf gewisse Art der Kuppler meiner Tochter...? Pfui, Müssinger. Diese Blöße wäre unverzeihlicher, als die, welche deine Schwäche und deine fürchterliche Bedrängniß gaben. Fasse Muth, unglücklicher Mann! Trinke den bittern Kelch aus, wie du es dir vorgenommen. Ist der Holländer, seiner Pünktlichkeit und Hartnäckigkeit zum Trotz, ein Mann von Gefühl, wie ich beinahe nach seinen Reden vor dem Schlafengehen glauben möchte, so wird ihn die treue Schilderung meiner Lage rühren; wo nicht ... in Gottes Namen! Mit einem schweren Seufzer löschte der Senator sein Licht, und gab sich einem wilden Traumgewirre hin, das den von Schlafstörungen und Grübeln Erschöpften endlich gegen Morgen umfing. Van den Höcken hatte schon einigemal nach ihm gefragt, als er erwachte. Wie ein, seiner Sinne nicht klar bewußter Mann, ließ er sich von dem eintretenden Bedienten die Haare ordnen, zog sich nicht allzu sorgfältig an, und begab sich unter dem ersten Geläute der Kirchenglocken zu den Seinigen. Die Senatorin stand schon, geschmückt und mit Putz trotz einer Markgräfin überladen, in der Mitte des Zimmers. Justine trat mit Blumensträußen und Gesangbüchern versehen, ebenfalls im Staate von =Cros de Tours=, herein. Die Senatorin nannte mit ihrer gewohnten Schläfrigkeit in Ton und Wesen, ihren Mann einen trägen Langschläfer, der sein Frühstück allein, oder mit seinem galanten Freunde aus Holland verzehren könne. Justinens Scharfblick errieth jedoch weit gelehriger, daß in dem Vater immer noch das ungewöhnliche Treiben wühle, das sie schon in den verflossenen Tagen bemerkt hatte. Von der Freundlichkeit ihres Grußes wohlthuend angeregt, wurde der Senator milder, und sagte fast liebevoll zu seiner Ehefrau: »Liebe Jacobine! Ich muß dich heute freilich allein in die Kirche gehen lassen, weil mich ein Geschäft zu Hause hält. Aber gerade deshalb bete _du_ für mich, und denke meiner einmal im Guten gegen den Schöpfer.« -- »Faselt er nicht schon wieder?« fragte die Senatorin, spöttisch zu Justine gewendet: »Bete ein Jeder für sich, und erhalte der Herr jedem den Verstand. Wenn ich den Doctor in der Kirche sehen sollte, will ich nicht versäumen, ihn zu dir zu schicken. Ein Aderlaß ist dir wahrlich nöthig, denn richtig scheint mir's seit einiger Zeit nicht mehr in deinem Kopfe zu sein.« Der Senator hob, statt der Antwort, beide Arme heftig gen Himmel, und wendete sich von dem Weibe. -- »Ich will mich nicht erzürnen,« sagte er mit gewaltsam unterdrücktem Unmuth: »es möchte vielleicht gut sein, daß wir gerade _jetzt_ nicht im Hader scheiden. Darum gehe recht geschwinde, Jacobine, und leb' wohl!« »Der Mann wird sich noch durch seine Galle umbringen!« versetzte die Senatorin gleichgültig, füllte sich den Mund mit getrockneten Feigen, und rauschte in ihrem weiten Stoffkleide vornehm zur Thüre hinaus. Justine blieb hinter ihr zurück, kam auf den Vater zu, und sagte mitleidig: »Sprechen Sie lieber Vater, ob ich bei Ihnen bleiben soll? Sie scheinen mir in der That krank zu sein.« -- »Geh', mein Kind,« entgegnete Müssinger: »du erzürnst deine Mutter.« -- »Ich fürchte ihren Zorn nicht,« versicherte Justine gleichmüthig; allein da der Senator darauf bestand, zu bleiben, um seinen Geschäften zu genügen, folgte sie, wiewohl besorgt, der Mutter in die Kirche. Die Glocken schlugen ringsum die neunte Stunde, und Müssinger klopfte an van den Höcken's Thüre. Der Gast, erhitzt von der Pein einer fast schlaflosen Nacht, empfing ihn nicht in der besten Laune, und schien geneigt zu sein, das unangenehme Geschäft zu verschieben. Der Senator jedoch, dem es wie ein Fels auf der Brust lag, der um jeden Preis der Qual fernerer Ungewißheit enthoben sein wollte, drang, wiewohl bescheiden, dennoch so bestimmt auf der Arbeit Beginnen, daß van den Höcken endlich mit den Worten: »Sieh, wie sich das machte! Gestern so säumig, heute ohne Rast und Weile!« den Rock überwarf, seine Brieftasche aus dem wohlverschlossenen Koffer nahm, und dem Hausherrn nach der Schreibstube folgte. »Der Tag ist recht günstig,« sagte er, da sie durch das leere Comptoir nach dem Cabinette schritten: »die Diener sind vermuthlich alle im Gottesdienste. Da läßt sich das Geschäft rund abmachen, und bei den Zahlungen liebe ich sonderlich keine Zeugen.« »Ich auch nicht,« entgegnete der Senator zähneklappernd; zog den Laden des Hoffensters auf, und bot dem Fremden einen Stuhl. Van den Höcken machte sich mit dem Schlosse des Portefeuille zu schaffen; Müssinger blätterte mit zitternder Hand in dem Hauptbuche. Nachdem endlich der Holländer eine ziemliche Partie von Wechseln geordnet, und die Brieftasche wieder zugemacht hatte, sah er mit fragenden Blicken auf den unruhigen Schuldner. Der Letztere bemerkte es, und sagte mit kaum hörbarer Stimme: »Es wird Alles bald abgethan sein, werther Herr. Hier -- sehen Sie im Buche, was ich Ihnen soll; und in meiner Cassa, was ich habe!« Er stieß mit dem Fuße den Deckel der Geldkiste auf; sie war beinahe leer. -- Van den Höckens Gesicht verfinsterte sich ungemein. »Was soll das, Herr?« fragte er scharf. -- »Ich bin jetzt schon ein vornehm thuender Bettler,« versetzte Müssinger: »Gewährt mir Ihr Mitleid nicht Jahresfrist, so stehe ich auch am Pranger.« -- »Sie haben es durch Ihre unmäßige Spekulationswuth verschuldet,« fuhr van den Höcken mit strengem Verweise fort: »Ihre Firma schien nur solid, und war eine Seifenblase, um Andere sichere Creditoren zu täuschen.« -- »Herr!« sprach der Senator mit mühsamer Fassung und Unterwürfigkeit: »Sein Sie nicht ungerecht; Ihre Menschlichkeit, ... mein Unglück...!« »Pah!« eiferte der Gläubiger: »jeder Verschwender schützt Unglück vor, und appellirt an weiche Herzen. Ein Kaufmann muß ein steinhartes Herz besitzen, soll er nicht selbst zu Grunde gehen. Und wer steht mir denn am Ende dafür, daß diese ganze Wehklage nicht eine bloße Komödie sei, und in einen fraudulösen Bankerott ausgehen werde, weil sich gerade die _Gelegenheit_ darbietet...« »Herr! nehmen Sie den Schimpf zurück!« fuhr ihm der Senator wüthend in die Rede. »Was da!« brummte van den Höcken wild entgegen: »Dero gestrige Proposition darf wohl auf den Gedanken führen; und kurz und gut: die leere Geldkiste befriedigt mich nicht. Hier in meiner Hand sind Ihre Wechsel. Sehen Sie dieselben an, und lernen Sie mich kennen! Ich bin nicht umsonst den weiten Weg hierher gereist; ich will nicht vergebens...« »Wohlan,« unterbrach ihn der verzweifelnde Schuldner: »Da doch nichts Ihr Menschengefühl erregen kann! Wohlan! Sie sollen Ihren Willen haben. Diese Wechsel kenne ich, und Sie sollen nicht umsonst sich bemüht haben. Sehen sollen Sie, wie ich meine Rechnung schließe!« Mit der einen Hand stieß er die Wechselpapiere von sich, die ihm van den Höcken vorhielt, mit der andern zog er eine von den Pistolen aus dem Fache des Schreibtisches. Bei dieser unverhofften drohenden Bewegung entsetzte sich van den Höcken zum Tode. »Herr! Sie wollen doch nicht...« lallte er, vom Stuhle auffahrend. * * * * * Nothhaft, der Comptorist, hatte die Kirche umgangen, seine Zeit in einer versteckten Spielstube zugebracht, und kehrte, nach manchem Verluste, nach Hause zurück, um seine letzten Thaler zu sich zu stecken, und auf's Neue sein Glück zu versuchen. Zweimal hatte er schon an der verschlossenen Hausthüre geklingelt, niemand ihm aufgethan. Die haushütende Magd hielt am Dachfenster des Hintergebäudes eine gewichtige Unterredung mit der Dienerin im Nachbarhause. Der Knecht war auswärts zu seinem Schätzchen geschlichen. Demnach brannte dem lockern Kaufdiener die Ungeduld auf den Nägeln, und, als nehme er sich vor, Sturm zu läuten, zog er kräftig und unausgesetzt an der volltönenden Schelle. Sein Bemühen ermangelte nicht des gewünschten Erfolges. Schritte kamen, das Schloß ging langsam und zögernd auf. »Taubes, ungeschicktes Murmelthier!« grollte der Eintretende, erschrack aber über die Maßen, als er nicht die Hausmagd, die er gemeint, sondern den Prinzipal selbst vor sich sah, der das Amt eines Pförtners verrichtet hatte. Seine Unbesonnenheit verwünschend, und den Jähzorn des Senators aus Erfahrung fürchtend, bückte er sich verlegen, und stotterte eine Entschuldigung her, die nicht schlechter hätte ausfallen können. Wunderbarer Weise genügte sie gerade heute dem wenig duldsamen Prinzipal. »Schon gut, mein lieber Nothhaft,« versetzte er mit leiser Stimme: »Er meint es nicht böse. Darum,« -- hier schloß er die Thüre wieder sorgfältig, -- »darum ist mir's auch lieb, daß _Er_ gerade heimkömmt. Ist etwa die Kirche schon zu Ende?« fragte er hastig nach. -- Nothhaft war innerlich erschrocken ob der Todtenblässe, die auf des Senators Antlitz lag, und nicht minder ob der raschen Unsicherheit in seiner leisen Rede; er erwiderte daher kleinlaut: »Nein, hochgeehrter Herr, ich konnte aber vor Uebelsein nicht in der Kirche ausdauern. Deshalb ... so eben schlug es zehn Uhr.« -- »Zehn Uhr erst?« fragte der Senator wieder mit schleppendem Tone: »wie die Zeit schleicht! ich dachte, es müsse Mittag vorüber sein. Komm' Er mit in's Comptoir.« »Soll ich nicht die Fensterladen öffnen?« sagte Nothhaft, als sie in der finstren Stube standen. -- »Nicht doch,« erwiderte Müssinger hastig, »drinnen ist es schon heller. Nicht wahr, Nothhaft, Er hat nicht Furcht, noch Grauen?« »Ich habe Beides nie gekannt,« betheuerte Nothhaft, sehr aufmerksam werdend. »Desto besser!« setzte der Senator bei: »so wird Er doch Rath wissen. Mich hat es stark angegriffen.« -- »Was denn Herr Senator?« -- »Rede Er nicht laut. Es hat sich vor einer halben Stunde, -- es kann vielleicht auch eine Stunde sein, -- ein Unglück im Hause begeben.« »Ein Unglück? hier im Hause?« »Ja doch; nur leise gesprochen. Dort im Kabinett...« Der Senator drückte, das Gesicht wegwendend, die Thüre auf. »Im Kabinett?« fragte Nothhaft, dem es kalt über den Körper fuhr, ohne sich zu regen. »Was ist dort?« »Der Holländer ...« stammelte Müssinger, -- »es war plötzlich aus mit ihm.« »Mit dem Holländer?« »Er ist in meinen Armen ... gestorben, glaube ich. Geh Er hinein, und sehe Er nach, ob Er's auch so findet, oder ob vielleicht...« Nothhaft war schon im Kabinette. Van den Höcken lag leblos an der Erde, mit entstelltem Gesichte, und in Unordnung gebrachter Kleidung. Kein Athem war an ihm zu erhorchen, kein Pulsschlag zu finden. Der Diener fühlte des Körpers Eiseskälte, und hielt sich nicht lange bei demselben auf. Einen Falkenblick warf er durch das Gemach, und kam eilends wieder zu dem Herrn zurück. Dieser saß, die Hände zwischen den Knieen gefaltet, und das Haupt gesenkt, im Winkel der dunklen Schreibstube. »Nun?« war sein einziges Fragewort. Nothhaft zuckte die Achseln. »Hin ist hin;« sagte er, »er hört den Kuckuck nicht mehr schreien. Wie kam denn Alles so plötzlich, Herr Senator?« Müssinger zog einen tiefen Seufzer aus der Brust. »Wir rechneten zusammen;« -- flüsterte er scheu: »wir hatten eben Alles geschlossen, da überkam es ihn plötzlich, -- er sank -- auf meinen Knieen wurde es mit ihm alle.« -- »So?« entgegnete Nothhaft mit seltsam gezogenem Tone: »Ein Glück nur, daß es _nach_ dem Rechnungsabschluß traf.« -- »Was meint Er?« fuhr der Senator schnell, wie aus einem Traume, in die Höhe: »was ist jetzt bei der Sache zu thun?« -- »Der Herr Prinzipal scherzen wohl mit mir;« versetzte der Diener: »die Gerichte müssen gerufen, des Verblichenen Effekten versiegelt werden: das ist ja klar.« -- »Die Gerichte?« fragte Müssinger, wie von Schauder überlaufen, und sehr zerstreut: »ach ja, ... wahr ist's; das ist zu thun, ... und Siegel, meint Er, müssen auch?...« »Herr Senator,« entgegnete Nothhaft spitzig: »Sie sind ja selbst beim Rathe; müssen das besser verstehen, als ich einfältiger Schreiber.« -- »Er hat Recht, mein Sohn, sehr Recht;« sprach der Kaufherr alsdann, wie sich besinnend: »Und wann wäre es wohl nöthig, ... glaubt Er?« ... -- »So schnell als möglich:« fiel Nothhaft ein: »Verzögerung könnte zu Unannehmlichkeiten Anlaß geben.« -- »Leider! leider!« stimmte der Senator ein: »Darum laufe Er, guter Nothhaft, und sei Er diskret gegen Jedermann, damit es sich so glatt und stille abmachen lasse, als nur möglich.« »Sehr wohl, Herr Senator;« antwortete Nothhaft, bereitwillig nach dem Hute greifend: »wollten Sie indessen einen Rath nicht verschmähen? Schaffen Sie die Pistole weg, die drinnen auf dem Boden liegt.« Der Senator fuhr zusammen. »Eine Pistole?« stotterte er: »es muß ein Zufall dieselbe ... laßt doch sehen!« Sich an den Diener haltend ging er nach dem Cabinete, wendete aber alsobald der Stelle, wo der Holländer lag, den Rücken, und stierte auf die Waffe nieder, die Nothhaft dienstwillig und eifrig aufhob. -- »Wir wollen sie zu der andern legen,« sagte derselbe leise und hastig; »sie könnte übeln Effekt machen, und wenn Sie's erlauben, bringe ich auch die Halsbinde des armen Schelmen hier wieder in Ordnung. Es läßt gerade, als ob sich drei Finger hinein verwickelt hätten, um sie zusammenzuschnüren.« Ohne Regung kehrte der Senator dem Diener, der ohne Scheu an van den Höcken die besagte Aenderung vornahm, den Rücken fortwährend zu. »Ich wollte ihm die Binde öffnen,« sagte er halblaut: »aber es ist möglich, daß ich in der Alteration sie fester zuzog...« »Ja, ja,« stimmte Nothhaft, sein Geschäft vollendend ein: »es geschieht wohl öfters, daß die Hand ungeschickter ist, als der Kopf. So. Das wäre gut, und ich will laufen, was ich kann. Haben Sie noch etwas hier mitzunehmen, Herr Prinzipal, so nehmen Sie es jetzt. Es wird schicklich sein, daß die Herren von Gericht das Cabinet verschlossen finden.« Der Senator wurde wieder regsam, und begann, ohne eine Sylbe zu sprechen, aber mit einer beunruhigenden Hast, auf seinem Schreibtische Papiere und Bücher untereinander zu werfen, ohne in der beklagenswerthen Zerstreuung, die ihn fesselte, dasjenige zu finden, was er zu suchen schien. Nothhaft trat hinter ihn, und sein Auge fiel auf ein Packet von Wechselbriefen, nach welchen des Senators linke Hand immer tappte, während seine Rechte sie immer wieder verschob. Der Diener ergriff sie. »Sie suchen wohl diese Papiere mit Ihrer Unterschrift?« fragte er dringend. »Da! da! Herr -- sechs -- sieben -- neun Tratten auf sie selbst, von van den Höcken in Cours gesetzt und endossirt.« -- »Endossirt?« fragte der Senator, heftig nach den Briefen haschend. »Endossirt auf die Ordre des Georg Birsher zu New-York!« fuhr Nothhaft fort, indem er sie überlieferte: »und -- wahrhaftig quittiert von demselben.« »Birsher?« fragte der Senator, betäubt auf die Blätter schauend. Nothhaft lächelte betäubend: »Stecken Sie ein, Herr Prinzipal. Daß Sie bezahlt haben, beweisen ja schon die Wechsel in Ihrer Hand,.... das ="Quitta"= hätte wegbleiben können. Die Dinte ist gar zu frisch. Lägen vielleicht noch andere Dokumente in der Brieftasche, die ich bei dem Holländer wahrnahm?« »Was geht mich van den Höcken's Portefeuille an?« fuhr Müssinger stutzig werdend auf. Nothhaft machte einen entschuldigenden Katzenbuckel, und trieb zum Fortgehen an. Wie ein Kind folgte der Senator seinen Worten, schloß das Kabinet, ohne sich _einmal_ umzusehen, und ging, an Nothhaft's Arme, zu seiner Stube, wo er sich, an allen Gliedern zitternd, zu Bette legte. Wie ein guter Geist erschien ihm die aus der Kirche zurückkehrende Justine, die, von des Vaters Unpäßlichkeit hörend, mitleidig zu ihm eilte. Der Vater konnte und wollte nicht reden, sondern versuchte nur in einzelnen Lauten sein Kind zu beruhigen. Justine erschöpfte sich in Muthmaßungen über des Rathsherrn Zustand, bis die Schelle des Hauses wieder sehr stark geläutet, und vieles Geräusch hörbar wurde. Die Thüre des Zimmers sprang auf, und Frau Müssinger, weiß wie die Wand, und schwerfällig, wie noch nie, schwankte in's Zimmer. -- »Was ist das?« kreischte sie, ohne des Kranken zu achten: »Das Haus wimmelt von Gerichtspersonen und Schergen! Ach, das Unglück! Der Holländer soll sich erhängt haben, höre ich! Ach, welch eine Schande! Gieb die Schlüssel her, du gottvergessener Mann, der mir durch seine sauberen Freunde so viel Schrecken verursacht!« »Justine wird öffnen,« versetzte der Senator unter Fieberschauern, indem er dem Mädchen die Schlüssel reichte: »Stecke diese Wechsel zu dir,« flüsterte er demselben zu; »bewahre sie sorgfältig!« -- Justine schob, nicht minder blaß vor Schrecken, die Papiere ein, und entfernte sich eilends. Die Mutter dagegen blieb zurück, um den Mann ferner zu quälen. -- »Welch ein abscheulicher Spektakel!« ächzte sie, in den Lehnstuhl am Bette sinkend: »In diesem Hause halte ich's nicht mehr aus. Der Holländer wird umgehen, in seinem weißen Mantel, ein schreckhaftes Gespenst! O Herr, gehe nicht mit uns in's Gericht! Was ich erleben muß! Pfui, abscheulich! Die Steuercommissärin hatte Recht, obgleich schon _Sie_ mich in der Kirche zum Entsetzen gebracht hat. _Sie_ hat gestern gesehen, was wir alle nicht sahen. Wir saßen Abends zu Dreizehn am Tische, und Einer von den Dreizehn muß binnen Jahresfrist sterben! Wie mich das schon alterirte! Man sieht aber: Wahr ist's! der Holländer hat bereits die Welt gesegnet.« »Und ich werde es noch heute,« seufzte der Senator, »wenn du nicht nachlässest mit deinem abscheulichen Gekreische, Jacobine!« »Und dennoch wirst du mich dulden müssen, bis Justine kömmt,« antwortete sie phlegmatisch: »Ich gehe ohne Begleitung nicht über den Gang.« Nothhaft trat ein, und ging rasch auf den Senator zu. »Alles besorgt, Herr Prinzipal,« rief er wichtig und vertraulich: »Die Herren sind schon unten, lassen ihre Condolenz vermelden, und soeben den Verstorbenen über die Treppe nach seinem Zimmer bringen.« »Gott stehe uns bei!« jammerte die Senatorin mit der ausgelassenen Betrübniß stumpffühlender Leute, während Müssinger sein Gesicht in dem Kissen verbarg: »Warum ließest du den Landläufer nicht im römischen Kaiser, da es ihm ohnehin nicht beliebte, in seiner Heimath zu sterben? Wie würde sich jetzt die hoffärtige Wirthsfrau gebärden, die sich trägt wie unsereins, hochmüthig thut, wie der Großmogul, und sich erst heute in einem ganz neuen Stoffkleide brüstete, daß es der ganzen Kirche zum Aergerniß gereichte! Statt dessen haben _wir_ nun die Schande! Geh' Er, Nothhaft, sorge Er wenigstens dafür, daß der Mensch nicht von den Amtsknechten heraufgetragen werde. Ich bin des Todes, wenn der Scherge in das Stockwerk kommt, das ich bewohne.« »Sorgen Sie nicht, wertheste Frau Prinzipalin,« versetzte Nothhaft: »Der Herr sind ja verblichen, wie schon viele tausend Christenmenschen, und die Ehre schneidet der Tod nicht ab. Die Herren werden ein Inventarium dressiren, und die Habseligkeiten des van den Höcken unter Siegel verwahren, bis die Erben auszumitteln. Auch habe ich für nöthig erachtet, Herr Senator, einen Postboten nach Steinstadt abzuordnen, damit der Buchhalter hereinkomme, sintemalen Dero Leibesumstände denselben nicht erlauben werden, an der Spitze der Geschäfte zu bleiben.« »Warum nicht?« fragte der Senator mühsam, aber aufbrausend: »Der Unglücksfall hat mich sehr angegriffen, aber bis zur Krankheit ist noch ein weiter Sprung. Ein Magnesia-Pülverchen bringt wieder alles in's Geleis.« »Mit Gottes Hülfe!« sagte Justine, die so eben, nicht wenig erschüttert, hereinkam, und dem Senator die Comptoirschlüssel übergab. Sie holte das Medikament aus der kleinen Hausapotheke, reichte es dem Vater, und fuhr fort: »Ich will gleich nach dem Doctor Widerlein schicken, -- was bis jetzt vergessen wurde, -- damit Sie wieder von dem Schrecken zu recht kommen.« »Ich bin nicht krank,« behauptete der Senator, sich ärgerlich aufrichtend: »kein solch Geschwätze! Ich werde allen meinen Arbeiten vorstehen, wie bisher! --« »Der Briefträger brachte so eben diese beiden Schreiben,« unterbrach ihn der süßliche Berndt, der mit den Briefen in der Hand hereinschlich. »Geb' Er her,« befahl der Senator, und winkte alsdann den Dienern sich zu entfernen. Sie gehorchten; gähnend und schmollend schloß sich Frau Jacobine, die Langeweile des Krankendienstes fürchtend, an die Subalternen an, um ohne Gefahr nach ihrem Zimmer zu gelangen. Der Senator gab aber der Tochter die Briefe, und sagte leise zu ihr: »Nimm, mein Kind; mir schwimmt und flirrt es vor den Augen. Es frommt jedoch viel, sich vor dem Comptoirgesindel rüstiger zu stellen, als man ist. Dir verberge ich mich nicht. Lies du mir daher vor, und unterstütze meine Schwäche.« Bereitwillig erbrach Justine das erste Schreiben. »Von Amsterdam!« sagte sie, und der Senator zuckte hoch auf. »Hochedelgeborner Herr!« fuhr sie lesend fort: »Ew. Edeln will ich nicht ermangeln, nach abgethaner fataler Differenz mit denen Verschreibungen Ew. Edeln in Wechselform, anzuzeigen, daß wieder bereit bin, auf Garantie des werthen Freundes, der sich jetzo bei Denselben befindet, in Allewege Credit obwalten zu lassen. -- Wir Kaufleute stehen ja in Gotteshand, und können wanken. Wohl _dem_ jedoch, der einen Bürgen und Stützen findet, wie den aller Orten geachteten Herrn Birsher von New-York.« »Was soll das?« fuhr der Senator auf, da Justine verwundert inne hielt: »Der Teufel verstehe, was der Schreiber will. Sieh nach der Unterschrift.« Justine that es, stutzte, wischte sich die Augen, und sagte endlich leise: »Ich weiß nicht.... aber doch stehts da; -- van den Höcken heißt die Unterschrift.« »Van den Höcken!« schrie der Senator: »Sind wir beide toll?« »Das Datum ist vier Tage alt,« versetzte Justine mit schwankender zweifelhafter Stimme. »O mein Kopf, mein Kopf!« jammerte Müssinger, die Stirne mit beiden Händen haltend: »ich werde närrisch, rasend! Laß den Brief sehen! Gott sei mir gnädig! es ist Höckens Schrift...! O du mein lieber starker Gott und Herr!« -- Er weinte fast in der fürchterlichen Wallung seines heftigen Gemüths. -- »Dieser Brief!« stöhnte er, -- »und jene Wechsel, das Endossement, das Acquit, -- ich erinnere mich erst jetzt, -- von Birsher's Hand...! o mein armes Gehirn!« -- »Mein Vater! was haben Sie, was ist?« fragte Justine schluchzend in der höchsten Angst. Der Senator riß ihr statt der Antwort den andern Brief aus der Hand. »Gib!« stammelte er außer sich: »Gib! vielleicht macht mich dies Papier vollends wahnsinnig!« Er riß es, trotz Justinens Widerstreben, auf, überflog es mit dem starrenden Blick,.... ein krampfhaftes schreckliches Lachen erschütterte seine Brust, und mit den trostlosen Worten: »Auch das noch! Einen Tag früher, und -- ich elender, elender Mensch!« sank er ohnmächtig aufs Lager zurück. Schaudernd raffte Justine das fallende Blatt auf. In wenig Zeilen meldet darinnen ein Hamburger Correspondent ein großes Glück. Die Hamburger Lotterie war gezogen worden, und das große Loos auf den Senator gefallen. Zweiter Abschnitt. Verdacht. -- Der Pastor der Johanniskirche. -- Sein Nachfolger bei dem Senator. -- Der Doctor in seinem Hause. -- Die Kupferstecher-Familie. -- Justinens geheimer Ausgang. -- Die Messe. -- Die Wittwe des bei Denain gebliebenen Offiziers. -- Die Beichte. -- Des Doctors Tagewerk. -- Geschichte eines Schauspielers. -- Der unerwartete Fremde. -- Es bestätigte sich durch den von Amsterdam eingelaufenen Brief, der den Commissarien des Gerichts schuldigerweise vorgelegt wurde, daß der in des Senators Hause verschiedene Fremde nicht van den Höcken gewesen; aus dem Inventarium dagegen, welches über den an Creditbriefen, Empfehlungsschreiben, kostbarem Leibgeräthe und beträchtlichen Pretiosen reich ausgestatteten Nachlaß des Verstorbenen aufgerichtet wurde, schien nicht undeutlich hervorzugehen, daß Herrn Birsher den Aeltern von New-York selbst das Unglück betroffen. Vor Allem rechtfertigte diese Muthmaßung ein reicher Frauenschmuck, der sich vorfand, in ein artiges Etui gepackt, auf welchem mit Goldschrift die Worte standen: »Meiner vielgeliebten künftigen Schwiegertochter und Freundin, Justine Müssinger, zum Hochzeitsgeschenke.« -- Der Anblick dieses Schmucks, den ein galanter Commissarius der Verlobten vorwies, regte in derselben erst deutlich die Beziehung an, in welche sie zu dem Dahingegangenen hatte treten sollen. Seine letzten Worte vergegenwärtigten sich ihr wieder aufs Neue, und ihr Gemüth ergriff eine stille Wehmuth, wie sie noch nie empfunden. Sie wäre selbst krank geworden, wenn die Umstände eine längere Pflege an des Vaters Bette erheischt hätten. Der Senator genas indessen wie durch ein Wunder, plötzlich am Tage der Bestattung seines Gastes. Durch die tobenden Vorzeichen einer furchtbaren Nervenkrankheit hatte sich seine starke Natur gearbeitet, aber der fliehende Feind rächte sich demungeachtet. Die Paar Tage streiften die Schärfe und klare Bestimmtheit seines cholerischen Temperaments von ihm. Haltung und Gang, Gesichtsfarbe und Rede, -- Alles war anders geworden; aus dem heftigen, gerade durchgehenden Manne ein scheuer schwermüthiger Mensch, der seiner Arbeiten nicht mehr froh wurde, nicht mehr polterte und lärmte, aber dafür gern innerhalb seiner vier Wände für sich allein brütete und glossirte. Dieses Benehmen, das schon am Begräbnißtage deutlich hervortrat, ermangelte nicht die gebührende Aufmerksamkeit zu erregen. Die plötzliche Schreckensbegebenheit hatte Aufsehen gemacht; die vorangehenden Ereignisse, wie der Ort, die Stunde und alle Einzelnheiten des Sterbefalls, waren geschickt, zu allerlei Verarbeitung zu dienen. Ein entehrendes Gerücht hatte sich plötzlich auf tausend Zungen verbreitet, und selbst im Senate seinen Sitz gefaßt. Die Mehrzahl des Rathes jedoch, -- eifersüchtig auf dessen Vorrechte, und die Bewahrung eines unbefleckten Rufs der Glieder desselben, -- bemühte sich, jede Ahnung, jede Vermuthung niederzuschlagen, die der bürgerlichen Existenz des Collegen Müssinger hätte schädlich werden können; und jede Angabe, und jede noch so leise Hindeutung auf obige Begebenheit wurde mit Gewalt unterdrückt, während der Gegenstand dieser Anklagen durch sein auffallend verändertes Betragen, dem bloßen Verdacht einen Dolch nach dem Andern in die Hände gab. Die wenigen Besucher mieden das Haus des Senators; er erschien am nächsten Sonntage mit seiner Familie in der Kirche: nach seinem Betstübchen starrte die gaffende Menge, aber aus seiner Nähe entfernten sich alle diejenigen, die sonst während des Gottesdienstes gute Nachbarschaft mit ihm gehalten hatten. Frau Jacobine merkte es nicht, Dank ihrer Stumpfsinnigkeit; Justine nicht, denn ihre Unbefangenheit hatte keine Ahnung von dem gräßlichen Verdacht; aber dem Senator, der dieses wohl verstand, zehrte es, wie ein Wurm am Herzen. Er wurde immer verschlossener. Zwischen ihm und der Mutter fielen die Worte immer seltener; Justine litt unter den Folgen dieser übeln Verstimmung, und ihr einziger Trost wurde jetzt, da sie -- ihr unbegreiflich -- keine ihrer Freundinnen mehr bei sich sah, oder zu Hause fand, die englische Lehrstunde, zu der sich James wieder, nach den drei Tagen, eingefunden hatte. Mit keiner Sylbe der vorangegangenen Mißhelligkeit gedenkend, suchte Justine durch ein sittlich mildes Betragen ihre Uebereilung gut zu machen, und James war nicht unversöhnlich. Es stellte sich ein gewisses Vertrauen zwischen den beiden jungen Leuten her. Justine benutzte den ersten Augenblick, in welchem sie ungestört waren, es zu befestigen. Ernst und nachdenkend saß sie dem vortragenden Lehrer gegenüber, und sagte, indem sie ihn bat, das Buch wegzulegen: »Wir wollen plaudern, mein Herr, und uns gegenseitig wundern, wie wir so plötzlich für einander passend geworden sind. Ich habe Eurer Prophetenkunst schreiendes Unrecht angethan, und muß dieselbe leider jetzo anerkennen. Der Abend jenes Samstags war der letzte glückliche in unserm Hause. Heiterkeit und geräuschvolles Leben sind daraus entschwunden, und es kommt mir beinahe vor, als wenn man von außen her unser Unglück uns recht fühlbar zu machen suchte.« »Dem Unglücklichen ist Mißgunst näher, als der Trost;« meinte James. »Ich selbst habe, als Flüchtling, diese Erfahrung oft genug gemacht. Indessen haben auch die Blumen der Freude ihre Zeit der Wiederkehr. Der Sturm zernichtet nicht immer; er entwickelt auch Blüthen.« »In unserm Hause?« fragte Justine ungläubig: »O nein, mein guter Herr. Die Mutter, -- Ihr kennt sie. Der Vater ist heute noch einmal so finster und verdrossen geworden. Uns wurde durch einen Amsterdamer Brief die Gewißheit, daß Herr Birsher in unserm Hause verblichen.« »Was ihn nur bewogen haben mag, die fremde Maske vorzunehmen?« -- »Er wollte uns kennen lernen, selber unerkannt. Ein Scherz, der, sich unbewußt, den Trauermantel auf den Schultern trug.« -- »Der Mensch sei auf sein Ende gefaßt, jederzeit,« entgegnete James! »Genug indessen von dem traurigen Gegenstande. Fröhlichkeit steht Ihnen besser, als Betrübniß; und die Braut hat ja den Bräutigam nicht verloren!« »Ich verbitte mir die Anspielung,« sagte Justine lebhaft: »Herrn Birsher's Sinn wird sich wohl anders wenden. Mir vergingen auch alle Heirathsgedanken, stünde ich am Sarge meines Vaters. -- Mein guter Vater!« setzte sie seufzend hinzu, in die stille Wehmuth versinkend, die, in ihrem Schmerze selbst, uns wohl thut. »Erheitern Sie sich!« erwähnte James, sich zu ihr beugend. »Hören Sie mich. Der Schmerz bedarf nur eines Ableiters, um gemäßigt und ruhig hinzufließen, wie ein geräuschloser Strom in seinem Bette. Was wäre wohl zu diesem Zwecke geeigneter, als eine gute That? Im Ungemach ist ja ohnehin das Herz weicher, geneigt zum Mitgefühl, weil der Kummer ihm nicht mehr ein fremder ist. Ich nehme mir daher den Muth, Ihrem Tiefsinn eine andere Richtung gebend, im Namen einer sehr bedrängten Frau Ihr Mitleid, Ihre Freigebigkeit aufzufordern. Fürchten Sie keinen Mißbrauch Ihrer Güte, hoffen Sie aber auf den Segen von Oben.« »Nicht so viel Worte, Monsieur,« sprach das Mädchen, bereitwillig, der neuen Wendung des Gesprächs zu folgen: »Man überredet mich selten, wenn nicht schon mein Kopf und mein Gefühl gewonnen sind. Ich helfe gern, bin auch nicht hart, wie oft die Leute sagen; ich bin auch nicht so leichtsinnig, fremde Noth nicht zu bemerken und zu bedauern. Redet, wer ist die Frau?« »Eines französischen Offiziers Wittwe. Ihr Mann blieb in dem Treffen bei Denain. Villars empfahl die unglückliche Frau der königlichen Gnade, aber Ludwig vergaß der Armen. Der Regent mißhandelte sie sogar, als sie es wagte, nach des Königs Tode bittend und flehend ihr Recht geltend zu machen. Aus der Hauptstadt verwiesen, fristete sie in ihrer Heimath durch Handarbeit kümmerlich ihr Leben. Endlich schien ihr das Glück wieder zu leuchten. Eine sächsische Herrschaft, rückkehrend aus den Bädern zu Aix schlug ihr vor, sie als Gouvernante der Kinder nach Dresden zu nehmen. Von allen Hülfsmitteln entblößt schlug Madame de Laynez willig ein, schied vom Vaterlande, um in Sachsen eine neue Lebensbahn zu betreten, kam aber nur bis in diese Mauern. Von einer heftigen Krankheit befallen, mußte sie hier zurückbleiben. Ihre Gebieter hinterließen ihr eine dürftige Geldsumme, und sagten sich von ihr los. Mehrere Monden hindurch schwebte die Verlassene zwischen Tod und Leben. Das Mitleid gefühlvoller Menschen rettete sie endlich vom Grabe, aber ihre völlige Genesung geht langsam von Statten. Mangel drückt sie, und es bleibt ihr nichts übrig, als auf's Neue sich an die Theilnahme wahrer Christen zu wenden.« James hatte kaum geendet, und schon lag Justinens ansehnlich gefüllte Börse in seiner Hand. -- »Kein Wort!« gebot sie, da er sprechen wollte: »nichts davon. Gebt, helft, rettet! Es soll nicht dabei bleiben, wenn es mir gelingt, den Vater in günstiger Stunde für die Bedrängte zu gewinnen.« -- Eilig ging sie davon, damit James nicht die Bewegung sehen sollte, die sich auf ihrem holden Antlitz kund gab. Aber der junge Mann hatte scharfe Augen. Es war ihm nicht entgangen, daß die ganze Fülle der herrlichen Seele aus Justinens Zügen gesprochen, und, selig überrascht von einem Anblick, wie er ihn noch nie gehabt, sah er der Fliehenden sehnsüchtig nach. »Welch ein Mädchen!« seufzte er: »und ich -- täglich fühle ich mein Unglück mehr, und darf nicht wanken und nicht weichen von der Stelle, die mir so gefährlich wird.« Justinens Gabe im Busen verbergend, schied er, um heim zu kehren. Unten im Hause war viel Geräusch. Geldsäcke wurden gewogen, Thaler klangen; die Diener gingen geschäftig hin und her; Nothhaft stieß im Vorbeigehen mit dem Ellenbogen an James Arm, und machte ein sehr herrisches Gesicht, als der Engländer sich befremdet nach ihm umsah. -- »_Der_ muß mir auch aus dem Hause, und wenn's mich tausend Gulden kosten sollte!« murmelte der Diener, dem Engländer nachsehend, zwischen den Zähnen. Berndt, der eben in's Haus getreten war, hörte die Rede. »Warum so giftig, lieber Bruder?« fragte er lächelnd: »giftig und freigebig obendrein? Du wirfst mit Tausenden um dich? Glück zu!« -- »Ist's ein Wunder?« sagte Nothhaft hierauf: »Baar Geld macht Muth. Wir schwimmen ja in Geld, siehst du. Laß uns daher auch in Gottes Namen davon reden, und lüderliche Schmeißfliegen damit todt schlagen.« »Ich verstehe dich nicht, Herr Bruder,« versetzte Berndt achselzuckend, »aber ich sehe, daß deine Prophezeihung nicht falscher hätte sein können. Statt des Bankerotts strömt der Segen Gottes in das Haus.« »Erbschaft! unverdientes Glück!« versicherte Nothhaft leise: »Wer weiß, ob ich so Unrecht hatte;.... doch -- Stille! --« Er schlug sich bedeutend auf den Mund. »Wer weiß auch« -- fügte er hinzu, wichtig und geheim -- »wem's die Firma verdankt, daß sie noch mit Ehren steht?« »Wichtigkeitskrämer!« lächelte Berndt ungläubig: »Du spreizest dich so absonderlich, daß -- wer nicht wüßte, welch' ein Windbeutel du bist, -- glauben sollte, du errathest auf's Haar, was unser Herr denkt und beschließt. Glück auf, zu dem Vertrauen, Herr Geheimhorcher! empfehle mich zu Gnaden!« »Ei, des breitmäuligen Augenverdrehers!« schalt Nothhaft verächtlich: »wir wollen sehen, _wer_ am Ende hier im Sattel bleibt. Du bist ein Esel, sonst hättest du schon gemerkt, daß meine Aktien um 200 Prozent besser stehen, als ehedem.« »Gott sei mir vor dem Prahler gnädig,« sagte Berndt, den Kopf schüttelnd: »der Prinzipal redet mit dir so wenig, als mit mir, und die Jungfer macht dir immer ein verdrüßlich Gesicht.« »Soll bald ein freundlicheres machen,« versicherte Nothhaft hochmüthig. »So?« fragte Berndt, dessen Neid allgemein rege wurde: »Du mein Jesulein! darf man schon Glück wünschen, Herr Hochzeiter?« »Narren sagen oft die Wahrheit;« erwiderte Nothhaft, noch patziger als zuvor, und Berndt versetzte giftiger: »Gratulire also, Herr Associé und Schwiegersohn. Wird bald heißen: Müssinger und Compagnie? Charmant. Nun begreife ich erst, warum ich den Pastor Lammer zum Herrn habe bitten müssen. Das Aufgebot wird gewiß bereits bestellt? Nun, viel Succeß und geneigte Protektion, werthester Herr College! Vergessen Sie Dero getreusten Diener nicht im Glücke!« »O du miserabler, kothiger Adam!« spottete Nothhaft. Der Buchhalter klopfte aber an's Comptoirfenster, und rief: »Soll ich euch Stühle hinaussetzen zu bequemerer Conversation, ihr Lungerer? Herein, hier giebt's zu thun, ihr, des lieben Herrgotts Müssiggänger!« Berndt schwenzelte, der Amtspflicht getreu, schnell in die Schreibstube, Nothhaft zögerte stätig. Indessen trat bereits der Pastor der Johanniskirche im Amtsrock in das Haus. -- »Der Herr Senator oben?« fragte er vornehm und schleppend. Nothhaft bejahte freundlichst, und schlich mit einem bedeutenden: »Aha!« an sein Pult. Der Senator empfing den Pastor an der Thüre seines Zimmers, und bewillkommte ihn so freundlich, als ein im Gemüth Verletzter nur vermag. Der Geistliche nahm dieses Entgegenkommen als eine ihm gebührende Huldigung an, und antwortete darauf ohne sichtbare Herablassung. »Ich bin wahrlich neugierig, Herr Senator,« sagte er, »zu erfahren, zu welchem Endzweck ich hier bin. Unter allen den, meiner geistlichen Pflege Empfohlenen, haben Sie mir noch am wenigsten zu schaffen gemacht. Mein Amt legt mir indessen die Pflicht auf, einem Jeden Gehör zu schenken; dem Sterbenden, dem Frommen und dem Sünder. Das Erste sind Sie nicht; das Zweite?.. will ich nicht beschwören. Was befehlen Sie?« »Sündig sind alle Menschen vor Gott und seiner Kirche;« entgegnete der Senator melancholisch und achselzuckend: »Die Frömmigkeit ist dagegen nur ein Gnadengeschenk. Ich habe Sie, würdiger Herr, für jetzt ersuchen wollen, der Spender einer Gabe zu sein, die ich der Armuth bestimme. Vertheilen Sie nach Ihrem Gutdünken diese Summen unter diejenigen Bedürftigen, die Ihnen der Unterstützung am würdigsten scheinen.« Der Pastor wog die ansehnliche Rolle in der Hand, und ein Schimmer von Behagen flog über sein düstres Gesicht. Im nächsten Augenblicke war es jedoch wieder Stein, wie zuvor. »In Gottes Namen,« sprach er, und ließ das Geld in die weite Tasche seines Priesterrockes gleiten: »Der Armuth sei dies Scherflein gesegnet. Ew. Hochedlen Freigebigkeit kömmt mir unerwartet.« »Der Himmel hat mich mit einer reichen Erbschaft bedacht,« antwortete der Senator seufzend: »ich opfere einen kleinen Theil derselben auf den Tisch der Dürftigen. Sie mögen für einen Unglücklichen beten.« Der Prediger faßte den Handelsherrn scharf in's Auge. »Für einen Sünder?« fragte er betonend, und da keine Antwort erfolgte, fuhr er gemessen und drohend fort: »Der Unglückliche, von Gott gewichene, betrüge sich nur nicht. Geld und Gut ist eine schöne Sache, insoferne man damit Christum speist; aber eitel Schlacken vor dem großen Richter der Welt, will man damit eine Missethat abkaufen. Die Buße ist unfruchtbar, wenn nicht herzliche Reue die Brust des Verirrten erfüllt; unfruchtbar, und wenn er Millionen in Klingelbeutel oder Armenbüchsen wärfe.« Der Senator sah den Pastor erstaunt und erbleichend an, bedachte sich einen Augenblick, und erwiderte alsdann mit niedergeschlagenen Augen: »Ich begreife Ew. Ehrwürden nicht. Man kann unglücklich sein, ohne gesündigt zu haben. Der Sünder selbst jedoch kehrt sich freudig zur Reue, wenn man ihm nur _glauben_ will; wenn er nur das Vertrauen haben darf, daß ihm einst vergeben werde.« »Einst? einst?« versetzte der Pastor mit überlegendem Blick gen Himmel: »Ja, einst vielleicht; denn Gottes Barmherzigkeit ist ein tiefer Brunnen. Das entscheidet sich indessen -- nach meiner Meinung -- erst am letzten Tage des Zorns und der Strafe. Ich halte nämlich dafür, daß kein Mensch auf Erden, selbst nicht ein ordinirter, sich anmaßen dürfe, die Sünden eines Anderen hinwegzunehmen, -- sobald sie unter die Schweren gehören. Nur der Herr prüft Herzen und Nieren. Das Gewand der wahren Reue ist ein feines Kleid, aber es muß das Leben hindurch getragen, in's Grab genommen, und dem Herrn am jüngsten Gerichte untadelhaft vorgewiesen werden. Dann mag allerdings seine unendliche Milde vergeben.« »Sie entfalten eine traurige Zukunft vor meinen Augen,« erwiderte der Senator schwerbekümmert, und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl nieder: »Ihre Kollegen --« »Sprechen vielleicht anders,« fiel der Geistliche ein: »ich betheure aber, daß sie im Irrthume tappen, und bin bereit, meine Meinung vor jeder Synode durchzufechten. Meine Mitarbeiter im Weinberge sind zum Theil junge Leute, denen der philosophische Kram unserer Zeit den Kopf verwirrt hat. Der alte Lammer geht jedoch nicht ab von seinen Grundsätzen, die er seit fünfzig Jahren gelehrt hat. Er läßt kein Schäflein seiner Heerde davon abgehen, so lange er noch ein rüstiger Hirt ist. Er ist Keiner von den Sanften und Süßen, die nur schmeicheln, wo sie packen, -- nur einlullen, wo sie donnern sollten. Trost dem Unglücklichen, denn er ist zu seinem Heil! Krieg dem Sünder, denn er ist wieder zu seinem Heil. Unablässig, bis an seinen Tod, schneide ich ihm das wilde Fleisch aus der Wunde, daß sie frisch blutend vor Gottes Thron komme, und ich dann sagen darf: Sieh, Herr, dein unwürdiger Knecht hat dir nicht in's Amt gegriffen. Er hat nicht gepfuscht, da, wo _Du_ nur heilen kannst; aber er bringt dir den Kranken, dürstend nach der Genesung, wie in der Stunde, da ihm zuerst sein Uebel unerträglich wurde!« Eine heftige Unruhe bemeisterte sich Müssingers, und sein von Schwermuth in Fesseln geschlagener Jähzorn rüttelte gewaltsam an seinen Banden. »Ich weiß nicht,« sagte der Senator, mit Mühe an sich haltend: »wie Sie dazu kommen, Herr Pastor, mir Ihr System so schonungslos darzulegen. Ich kann diejenigen blos bedauern, die, in einem Fehltritt befangen, von Ihnen Trost und Erlassung begehren, und wünsche Ew. Ehrwürden recht wohl und lange zu leben!« -- Der Pastor bückte sich, und versetzte spitzig: »Alles, wie Gott will, Ew. Hochedeln. Der alte Lammer stirbt gern, wenn seine Uhr abgelaufen ist. Der Herr schenke Allen einen sanften Tod. Meine Worte bereue ich jedoch nicht, denn ich glaubte sie _hier_ vonnöthen. Uebrigens hat unsere Unterredung sicherlich ein anderes Ende erreicht, als wir beide hofften, Herr Senator, nicht wahr? _Ich_ bin nicht böse deshalb, und wünsche kein Vertrauen, das ich nicht mit der sündlichen Willfährigkeit vergelten könnte, die man von mir erwartet. Die offne Beichte in der Kirche steht Ihnen frei. Werde mit seinem Gewissen fertig, wer da kann. =Sapienti sat=, Herr Senator, und: Gott bess're Sie!« »Was ist das? Was sagen Sie da?« fuhr der Senator auf. Lammer zog aber bereits die Thüre hinter sich zu. Müssinger schritt im Zimmer auf und nieder, und rang die Hände. Steht mir denn das Zeichen auf die Stirne gebrannt? fragte er sich mit erstickter Stimme: Die blöden Augen dieses Wolfs im Hirtenkleide selbst scheinen errathen zu haben, ... o gewiß!... und der Mensch kann so unbarmherzig sein!... und der Mann ist _Protestant_? O der herzlosen, steifen Eiferer! was sie berühren, wird Eis oder Thräne. Hätte ich, wie ein altes Weib, auch in der _Woche_ die Kirche besucht, keine Nachmittagspredigt, keine Bet- und Vorbereitungsstunde versäumt, dem Klingelbeutel reichlicher gegeben, und den Schwarzröcken Ueberfluß in Küche und Kasten geliefert, -- der harte Mensch würde nun nicht so widrig mit mir gesprochen haben, da ihm sonst _Worte_ weit wohlfeiler sind, als der Heller, den der Geizige, selten genug, einem Bettler spendet! Warum habe ich auch nur einen Schritt versucht, mich der Kirche wieder zu nähern, die Alles gethan zu haben glaubt, ist die trockene Predigt und das Geplärre des Lieds vorüber! -- Warum? setzte er fragend und gemäßigter bei: Warum? Ach! drückt nicht hier auf meiner Brust eine Last, unter welcher ich erliege? Ist es nicht verzeihlich, daß ich in der Angst meiner Seele Linderung suche und Trost? Aber nun fehlt mir der Muth, und ich fürchte... Ein bescheidenes Klopfen unterbrach seine Betrachtungen. Fast erschreckt eilte er an die Thüre, öffnete, und sah, sehr überrascht, den Doctor Leupold draußen stehen. Er konnte sich nicht Rechenschaft geben, warum der Anblick des Mannes ihn freundlicher ansprach, als er wohl zuweilen gehofft hatte, wenn er sich die Möglichkeit gedacht, ihm wieder zu begegnen. Er bewillkommte ihn mit einiger Auszeichnung, und führte ihn bei sich ein. Der Doctor entschuldigte sich tausendmal um der Störung willen, die er vielleicht verursache, und ließ im freundlichsten Tone das Wort fallen, daß sein Besuch wohl eben so gut hätte unterbleiben können. »Mein Herr Doctor,« sagte der Senator hierauf verbindlich: »die Besuche werther Freunde, denen wir Dank schuldig sind, sollten _nie_ unterbleiben. Sie lehren mich ohnehin, was ich schon längst hätte thun sollen. Sie verzeihen jedoch; eine Fluth von Begebenheiten raubte mir die Muße, Ihre Wohnung aufzusuchen.« »Unnöthig,« versicherte der Doctor: »ich dachte nicht daran, Sie an einen sehr erläßlichen Besuch mahnen zu wollen. Mein Gang in Ihr Haus hatte einen anderen Zweck; ... allein -- und ich darf sagen -- mit Vergnügen sehe ich, daß er wohl vereitelt ist.« »Ein Zweck?... vereitelt?...« fragte Müssinger. »Wie so? erklären Sie sich.« »Sie setzen mich durch Ihre Frage in Verlegenheit,« sagte Leupold hierauf zögernd: »indessen darf der Mensch, wenn er sich seines Wollens nicht zu schämen hat, wohl reden, ohne den Vorwurf der Ruhmredigkeit auf sich zu laden. Ich habe hier einige Wechsel auf St. Sebastian und Brasilien. Das Haus Minhaô ist solid, die Summen sind nicht unbedeutend, bald fällig. Ich hatte den Auftrag, Ihnen dieselben auf eine gewisse Zeit zum Genuß gegen äußerst billige Preise anzubieten. Allein, -- wie ich beim Eintritt in Ihr Haus bemerkte, so hat der Ueberfluß Ihnen auf's Neue die Hand gereicht, und durch ihn wird meine wohlgemeinte Hülfe überflüssig.« Der Senator erhob bewundernd seine Augen, ergriff beide Hände des Doctors, schüttelte sie, und sprach: »Mein Herr, Sie bereiten mir den frohsten Augenblick meines Lebens! Da ich gerade an allem Trost verzweifle, richten Sie, ein Fremder, mich wieder auf. Gott sei Lob, ich bedarf Ihres freundlichen Darlehens nicht; aber -- glauben Sie mir, -- demungeachtet habe ich's _doppelt_ empfangen.« »Und somit keine Sylbe mehr davon,« setzte der Doctor ruhig hinzu: »Sie preisen mich unverdient. Eine Gesellschaft von Menschenfreunden wollte Ihnen Ihre Theilname beweisen, und hatte keine Gefahr dabei, da sich Ihre Geschäfte etablirt haben.« Der Senator nickte seufzend mit dem Kopfe und entgegnete: »Ja, mein Herr, so ist's. Nicht minder jedoch meinen wärmsten Dank der Gesellschaft, von welcher Sie sprachen, und die ich wünschte kennen zu lernen.« »Das ist Ihnen -- _hier_ -- unmöglich,« sagte der Doctor: »lassen Sie uns, da ich einmal Ihnen zur Last falle, von etwas Anderem reden. Wie gesagt: Fortuna ist bei Ihnen eingekehrt, und ich freue mich, Ihnen damals auf der Promenade ein gutes Prognostikon gestellt zu haben; allein -- Sie selbst -- Herr Senator, -- scheinen sich nicht im Geringsten zu freuen.« »Einem Manne gegenüber,« entgegnete Müssinger, »der sich mir als verschwiegener und hülfreicher Freund erwiesen hat, kann ich keine Lüge sagen. Die ... Erbschaft, die mich wieder auf den Gipfel meines vorigen Reichthums hebt, ist mir ganz gleichgültig. Ich bin ein armer, armer Mann. Mein Gemüth ist krank, meine Seele sehnt sich vergebens nach Genesung.« »Und Religion, -- die sicherste Trösterin?« fragte der Doctor mitleidig. »O, lassen Sie das!« erwiderte der Senator still ergrimmt: »Die Religion ist entartet in ihren Dienern. Weiß Gott, -- Herr! wir haben uns in einer sehr bedeutenden Stunde kennen gelernt, -- aber -- ob ich nicht vielleicht Ursache hätte, jetzt dem Flußbette näher zu stehen, als damals?« »Ich würde Sie alsdann nicht mehr zurückhalten,« erwiderte der Doctor kalt und ernsthaft: »Sie verdienen hier und jenseits das traurigste Loos, wenn Sie zum zweitenmal wagen, wovon die Vorsehung Sie _einmal_ schon gerettet.« »Sie wissen nicht...!« entschlüpfte dem leidenschaftlichen Senator: »Es giebt noch drückendere Schmerzen, als _die_ des Mangels und der Schaam. Die Stimme des Innern...« »Sagen Sie nur frei heraus: das Gewissen,« unterbrach ihn der Doctor sanft aber fest: »Um das Gewissen ist es eine kitzliche Sache; freilich. -- So lange aber Gott die Quelle aller Liebe, die Kirche eine freundliche Mutter ist, so lange darf selbst der trotzigste Sünder unverrückt auf Gnade und Verzeihung rechnen. Im Zeitlichen wie in der Ewigkeit. Soll denn der Mensch, der ein Verbrechen beging, das _er_ vielleicht in der nächsten Minute bereut, an diesem Unglück verkümmern, rettungslos daran verzweifeln, während sein frisches Leben noch viel des _Guten_ schaffen könnte? In der Strafe selbst liegt Vergebung, und ein Augenblick der Reue des Sünders wiegt manches schuldlose Menschenleben auf.« »Sie sprechen von Gott, dem Quell aller Liebe?« fragte der Senator scheu. -- »Er ist's!« bekräftigte der Doctor. -- »Von der Kirche, einer freundlichen Mutter?« -- »Sie ist's.« Der Senator seufzte tief beim Angedenken an Lammers Worte. Der Doctor sagte aber nun mit gemessenem Tone: »Unsere Ansichten weichen ab, wie ich sehe. Es befremdet mich nicht, da ich mich zu einer andern Kirche bekenne, als Sie.« -- Dem Senator starb die weitere Frage im Munde, da der Doctor ganz ruhig fortfuhr: »Ich bin Katholik. Von _meiner_ Kirche hab' ich gesprochen: und -- wahrlich -- sie erfüllt ihre Mutterpflichten tüchtiger als Eine.« -- Müssinger bückte sich verlegen. Der Doctor sprach unbefangen weiter: »Von unserer Kirche Schwelle geht kein Vertrauender ungetröstet, kein Leidtragender unerquickt, kein Verirrter ungelöset. Alle ihre Gebräuche deuten in ihrer mystischen Form auf die heiligsten Pflichten hin; auf die der Versöhnung, der Menschenliebe. Doch, wem sage ich das, und zu welchem Endzweck?« fügte er, sich besinnend bei: »Sie mein verehrter Herr, haben nie die apostolische Lehre näher prüfen gelernt, da die Gesetze Ihrer freien Stadt die Ausübung jenes Cultus und die Ausbreitung unsers Lehrbegriffs auf ihrem Gebiete aufs strengste untersagen; gewiß ist es Ihnen auch völlig gleichgültig, wie ein Katholik von seinem Glauben denkt.« »Ich habe zu Augsburg meine Lehrzeit verlebt,« versetzte nachdenkend der Senator: »Ich habe mich oft hinter dem Rücken meiner Vorgesetzten in die katholische Kirche geschlichen, mich an der feierlichen Pracht des Gottesdienstes, an der herrlichen Musik ergötzt, ... ich kann nicht läugnen, daß...« Justinens Stimme störte die Herren. Das Mädchen trat ein, und berichtete dem Vater, -- sich vor dem Fremden sittsam verbeugend -- über eine nicht besonders bedeutende Angelegenheit der Wirthschaft. Der Doctor betrachtete während dessen sowohl den Senator, als seine Tochter mit der größten Aufmerksamkeit. Als Justine wieder hinausgegangen war, sagte Leupold mit fast bewegter Stimme: »Wahrlich, Herr Senator! Wüßte ich nicht durch meinen Pflegesohn, daß Ihre Tochter sich Justine nennt, ich würde darauf schwören, sie müsse Clara heißen.« Der Senator richtete schnell und fragend die Augen auf den Doctor. »Clara?« fragte er: »Wie kommen Sie zu diesem Namen?« »Clara war, wie _Justine_.« »Welche Clara?« »Clara Münzner.« »Mein Gott! Sie wissen...?« »Ja, mein Freund.« »Woher? -- Herr, Sie reißen eine Vergangenheit vor mir auf, die jetzt doppelt schmerzlich mein Gefühl verletzt.« »Das soll sie nicht. Eines Engels Gedächtniß bringt Segen.« »Ja, sie war ein Engel!... ein Engel, wie ihn diese Welt nicht verdient.« »Der Engel ist in seine Heimath gegangen.« »Barmherziger! versteh ich Sie?« »Clara ist todt.« »Todt?... todt?... Und ich lebe noch; ... _wie_ lebe ich?...« »Bis an ihr Ende hat sie in Ihnen gelebt, wenn gleich Länder und ein Jahrzehend sie von Ihnen trennten. Jetzt wird sie, sollte es Noth thun, für Sie beten bei dem unsterblichen Vater!« -- »Oh!« seufzte Müssinger, und lehnte sich mit vor das Gesicht gehaltenen Händen zurück. Dann fragte er jedoch lebhaft: »Erklären Sie mir, räthselhafter Mann! wie können _Sie_ von dem unterrichtet sein, was außer mir...« »Ich bin Clarens Bruder!« flüsterte der Doctor dem Senator in das Ohr... »Xaver?« »Derselbe, mein Freund. Ich höre, daß man uns wieder unterbricht. Ihr Zimmer, dem Drang der Geschäfte Preis gegeben, ist nicht geeignet, daß wir uns darinnen der wohlthätigen Erinnerung ungestört hingeben könnten. Macht Ihnen die Vergangenheit Freude, so besuchen Sie mich. Ich wohne eng, aber niedlich und einsam, in der Rahmgasse. Das Haus ist zum Apfel geschildet. Fragen Sie im zweiten Stocke nach dem Doctor Leupold. Sie werden mir willkommen sein.« Indem der Buchhalter eintrat, verbeugte sich der Doctor gelassen und fremdthuend gegen den unbeweglich hinstarrenden Senator, und ging. Langsam und sinnend durchstrich er die Stadt, und machte geflissentlich einen Umweg nach seiner Wohnung, um seinen Gedanken nachhängen zu können. Hie und da nickten ihm aus Hütten oder wohlanständigen Bürgerhäusern freundlich grüßende Gesichter zu. In einem armseligen Gäßchen schlich eine bettelhaft gekleidete Frau, nachdem sie sich vorher überall umgesehen, geheimnißvoll an ihn, und küßte seine Hand. Er reichte ihr dagegen eine kleine Münze, und ermahnte sie für die Ruhe eines Sünders zu beten. Hierauf schlug er sich rechts durch ein Paar Durchgänge nach der Rahmgasse, und stieg im bezeichneten Hause in sein Quartier hinauf. -- Eine sauber angekleidete Magd öffnete ihm ehrfurchtsvoll die Gitterthüre an der Treppe. James, der in der Wohnstube schreibend saß, richtete sich grüßend auf, und brachte dienstfertig dem Pflegevater den Steifrock herbei, gegen den der Doctor eilig den unbequemen Schlafrock vertauschte. Er nahm seinen Platz im Lehnstuhle am Fenster, das, auf einen Garten aussehend, selbst einen Garten vorstellte, geschmückt mit würzigen Blumenstöcken. In der Stube sah es so reinlich, so friedlich und traulich aus; sie stellte ein reizendes Stillleben dar. Der Boden, sauber wie ein Spiegel; die Geräthschaften blank und rein. Ordnung überall; keine Falten in den Teppichen der Tische, kein Stäubchen auf dem grünen Vorhange, der eine kleine Büchersammlung barg; ein niedlicher Vogel im luftigen Bauer von der weißen Decke schwebend; eine tickende Schwarzwälderuhr an der Wand; viele summende Mücken auf dem Blumenflor am Fenster. Das Schweigen wurde lange nur durch der Thierchen Geschwätz, den Perpendikelschlag, und die knarrende Feder des jungen Engländers unterbrochen, der sich gleich wieder an seine Arbeit gesetzt hatte. Der Doctor saß mit gefalteten Händen, rückwärts gelehntem Kopf und geschlossenen Augen in seinem Lehnstuhle. Seine Lippen trugen das Lächeln einer freundlichen Gedankenwelt, die unter den zugezogenen Augendeckeln vorüber schwebte, und er schwieg wie ein Träumender, bis er einen leisen Hauch an seiner Wange fühlte, und forschend die Augen aufschlug. Schon dämmerte es. James stand bei ihm, und hatte sich über sein Gesicht gebeugt. »Ich wollte mich überzeugen, ob Sie schliefen, mein Vater,« sprach der Jüngling. »Meine Arbeit ist vollendet; die Feierstunde da. Sie sind aber heute nicht so munter und gesprächig, wie wohl sonst. Darf Ihr Pflegesohn nach der Ursache fragen?« »Die Ursache, mein Sohn, ist nur eine kleine Geschichte aus der Zeit, da ich dein Alter hatte;« antwortete der Doctor, freundlich ihm zunickend; »setze dich zu mir, und höre sie, wenn du willst. Ich sage dir aber im Voraus, daß die Geschichte so kurz und einfach und natürlich ist, wie nur eine in der Welt. Den Jüngling befriedigt freilich nur ein Labyrinth von Abenteuern. Dem greisen Manne jedoch schließt gerade die klarste Begebenheit einen Zaubertempel auf. Versetze dich mit mir nach Augsburg, wo du zwar niemals warst, von dem du aber manches gelesen. In jener alten, weit berühmten Stadt ist eine abgelegene Gegend an der Stadtmauer, unfern von einem kleinen Thore. Durch diesen leicht zu übersehenden Winkel soll, heißt die Sage, der Teufel den Doctor Luther in's Freie geführt haben, da demselben große Gefahr drohte, und alle anderen Ausgänge von Feinden besetzt waren. Obgleich nun diese Geschichte durchaus Fabel und unhaltbar, so führt doch noch zu heutiger Stunde der Platz den Namen: Dahinab! -- In diesem Dahinab nun stand unter andern kleinen Häusern ein von einem Gärtchen umgebenes; reputirlich anzuschauen, und die Wohnung eines braven Mannes. Der Fleiß desselben hatte das Haus gebaut, und die Heiligen, -- buchstäblich zu verstehen, -- hülfreich dazu gethan. Der Fleißige war nämlich Kupferstecher, und hat -- durchaus dem Fach sich hingebend, -- viele hundert Heiligenbilder gestochen und geätzt, die zu damaliger Zeit in großen Ladungen über die Berge nach Italien gingen. Der Künstler war fromm und still, wie seine Bilder, arbeitete unverdrossen von früh bis spät, und seine einzige Erholung außer dem Hause war am Sonnabend ein Ruhe-Stündchen auf der Schießstatt, bei einem Krug Bier und freundlichem Geschwätze. Den Sonntag nahm die Kirche und -- bei schönem Wetter -- ein Spaziergang mit dem Weibe nach dem Ablaß oder nach Göggingen hinweg. Diese Lebensordnung machte auch, daß es im Hause fein und ordentlich aussah, und der Friede doppelt mit den Kindern einkehrte, die der Himmel dem einfachen Künstler schenkte. Der Bube hieß Xaver, die Tochter Clara. Der Erste, zugleich der Aeltere, sollte anfangs Kupferstecher werden, wie der Vater; die Zweite ein braves Weib, wie die Mutter. Es ergab sich indessen bald, daß Xaver, um schwacher Augen willen, der Kupferstecherkunst nicht gewachsen war, und, noch in der Wahl verharrend, was einst aus dem Jungen werden möchte, schickte ihn der Vater in die Schulen, damit er etwas Tüchtiges lerne. Clara wuchs arbeitend und blühend auf, besuchte kein anderes Haus, als das Haus Gottes, und ahnte nicht, daß an jener Stätte ein sehnsüchtiger Jünglingsblick die verborgene Blume ausgespäht hatte. Die Eltern ahnten's um so weniger. Der Bruder allein, der oft, um zu studiren, im Gärtchen sich befand, merkte das Erste von der Sache. Eine Bastion der Festungswerke, die gerade, -- senkrecht fast, -- in die Höhe stieg, und die Ansicht über die Häuser des Dahinab frei gab -- bildete die Schlußwand des Gartens. Auf dem Rand dieser Bastion stand einmal um die Mittagszeit ein blutjunger Mann, und sah immer so steif und unverrückt in den Garten hinab, daß dem studirenden Xaver, -- als dieser, durch die Blätter der Laube schielend, zum zweiten oder dritten Male das Unwesen wahrnahm, -- bang um den Verstand des jungen Menschen wurde. Bald kam er jedoch dahinter, daß die Schildwache auf der Bastion eigentlich der Schwester gelte. Denn so oft diese, blühend und frisch wie eine Rose, um die Mittagsstunde aus dem Hause hüpfte, den Bruder zu Tisch zu rufen, -- so oft zog _der_ auf der Schanze ein Fernrohr aus der Tasche, und richtete es so scharf und fest auf das Mädchen, als ein Constabler nur mit seinem Geschütz thun kann. Der Bruder hütete sich wohl, der unbefangenen Schwester das Geringste von seinen Beobachtungen, -- die er eine ganze Woche hindurch fortsetzte, mitzutheilen. Endlich eines Vormittags, aus dem Collegium kommend, wandelt ihn die Lust an, der Sache auf den Grund nachzuspüren. Er steigt auf die Bastion, und findet den Bewußten bereits am Posten. Er schlägt ihn auf die Schulter, und fragt ihn: Was hat Er dahinab zu spioniren, mein Freund? -- Der Andere erröthet, antwortet aber vornehm: Das geht _Ihn_ nichts an, mein Freund. -- Er ist ein Narr! sagt ihm hierauf Xaver, und der Andere antwortet mit einem »unverschämten Menschen.« Für einen Studenten von neunzehn Jahren ist das zu viel. Er antwortet ebenfalls mit einer nachdrücklichen Beleidigung. Der Andere greift nach seinem Degen. Xaver bedeutet ihm, er selbst dürfe als angehender Theolog keine Waffe tragen; er werde aber nur hinunter in's Haus gehen, sich einen Degen holen, und sicherlich binnen wenig Minuten auf die Schanze zurückkehren, um die Sache auszumachen. »Was hat Er in jenem Hause zu thun?« fragt der Andere verwundert. -- Es ist das meiner Eltern; entgegnete Xaver. -- Und das Mädchen? -- Meine Schwester. -- Nun lacht der Mensch ausgelassen, steckt die Klinge ein, fällt dem Studenten um den Hals, und ruft: Wir müssen Kameradschaft trinken. -- Wie so? -- Ich bin in deine Schwester verliebt, mein Junge; fährt der Andere fort: ich sterbe, wenn ich nicht wenigstens bald zu ihr sagen kann: Wie befinden Sie sich, Jungfer? Du mußt mich bei deinen Eltern einführen, als einen Mitstudenten, als einen Freund aus dem Gasthause, -- als was du willst. -- Nun erzählte der heftige närrische Mensch weiter, und es kam heraus, daß er Kaufmannsdiener sei, vor wenigen Wochen erst die Lehre verlassen habe, und in einer der ersten Handlungen Augsburgs conditionirte. Ein Zufall hatte ihm meine Schwester gezeigt. Dazumal wurden gerade Bittgänge gehalten und Gottesdienst gefeiert, zum Besten und Frommen der unglücklichen Rheinländer und Pfälzer, die unter dem Mordschwerdt des Königs von Frankreich bluteten. Bei einer dieser Processionen war der Kaufmannsdiener an Clara's Seite gekommen, und sie hatte ihm schnell gefallen, obwohl sein Mund keine Sylbe mit ihr gesprochen. -- Xaver, der in dem fremden jungen Mann einen Sohn wohlhabender Eltern aus einer entfernten Stadt erkannte, dem derselbe gefiel, ließ sich endlich bereden, gab den sonderbaren Gesellen für einen Bekannten aus, und brachte ihn in der Eltern Wohnung. Ach, nun beginnt eine schöne Zeit; sie umfaßt beinahe ein Jahr. Die Eltern gewannen den Fremdling lieb; Clara theilte seine Gefühle. Xaver sah eine schöne Zukunft für die Schwester leuchten. Die Mutter betete zu diesem Endzweck im Stillen. Harmlos flossen die Tage, von Vertrauen, von Freundschaft und Liebe getragen, dahin! In dem engen Häuschen, in dem kleinen Garten waren alle glücklich. Aber -- der Friede, das Glück hat seine Grenzen, und somit endigte auch dieses.« Der Doctor sammelte sich hier, wehmüthig werdend, und sprach nach einer langen Stille, gefaßt und trocken weiter: »Der junge Mensch hatte nicht redlich an der Familie gehandelt. In dem Augenblick, als alle, -- Clara selbst -- im Stillen auf eine baldige Erklärung und Werbung hofften, verließ er Augsburg, heimlich, schnell, um in die Heimath zurückzukehren. Ein Brief belehrte uns, daß er als Protestant, -- er hatte sich für einen der Unsern ausgegeben -- nicht daran denken könne, aus der Neigung seiner Jugend Ernst zu machen, und mit blutendem Herzen sich von der Stelle losreißen müsse, die ihm theuer und lieb geworden, wie das Vaterhaus. -- Wir weinten; Clara verzweifelte fast. Die Jahre beruhigten zwar ihr Herz, aber -- an dem Entfernten treu und eigen hängend, blieb sie Jungfrau, legte als fromme Wärterin die Eltern in's Grab, und folgte ihnen dann, zehn Jahre, nachdem _er_ sie verlassen, -- mit seinem Namen auf den Lippen. Hiermit, mein Sohn, endigt sich die Geschichte, deren erster Theil noch jetzt meine Seele mit angenehmen Bildern füllt. Du hast meine Eltern, meine Schwester und mich kennen gelernt. Vor achtzehn Jahren habe ich Claren verloren, und heute -- bewundere die Wege der Allmacht! heute finde ich _ihn_ wieder, der sie verließ, der vielleicht ihr Leben abkürzte; finde ihn wieder, unglücklich, darniedergedrückt von _schweren_, schweren Aengsten, wie ich fürchte; ein armer, elender Mensch, im Schooße des Ueberflusses der eiteln Welt!« »Errathe ich?« fragte James ungestüm: »Der Senator?« Der Doctor nickte mit dem Haupte. -- »Beinahe,« sagte er, »hätte mich die Schwachheit überrascht, ein Wohlbehagen zu empfinden, als ich ihn so erbarmenswürdig vor mir stehen sah, und jetzt erst bestimmt in's Reine kam, daß _er_ jener Walter sei, den ich -- seltsam fürwahr -- beinahe vergessen hatte. Kein Zug der Jugend mehr in seinem Gesichte; keine Zufriedenheit in seinem Hause; keine Ruhe in seiner Brust. Die Vergeltung hat an dir gearbeitet! wollte ich sagen; doch Gott hielt meine Zunge im Zaume. Clara hat mir ja auf dem letzten Lager ihre Liebe zu ihm als Vermächtniß hinterlassen, und ich muß ihn oder die Seinen glücklich machen, wenn ich's vermag; schon darum, weil ihn _Clara_ geliebt, weil ihn _Clara_ gesegnet hat! --« »O ein heiliges Gefühl, ein heiliges Erbe ist die Liebe!« versetzte James mit einer wehmüthigen Innigkeit. Der Doctor ergriff ihn fest bei der Hand, und redete: »Mein Sohn, hüte dich vor Sophismen, wie sie nur gar zu gerne die Leidenschaft gebiert, wenn sie sich in Fesseln spürt. Denke deines Versprechens, der Zusage, die du mir gegeben. Du gehörst nicht mehr dir selbst an, du gehörst nicht _mir_. Und wäre dies Alles nicht, so sollte meine Erzählung dir bewiesen haben, daß Ungleichheit des Glaubens Verderben bringt.« -- James schwieg mit bitterem Gefühle. -- »Ich sehe, daß es Zeit ist, deine Besuche in des Senators Hause abzukürzen,« fuhr der Doctor sorglich fort: »die letzte Aufgabe vollende noch. Vielleicht begründest du dadurch das Heil einer Person, die du _liebst_, wie ich fürchten muß.« -- »Und gelänge es mir,« fragte James, Muth fassend: »dürfte ich alsdann hoffen, mein Vater?« »Dein Schicksal hängt nicht von mir ab,« antwortete der Doctor: »wäre dieses aber auch, -- Sohn! hätten wir uns in dir getäuscht...? Laß mich das nicht ahnen!« »O, welch' ein Schicksal ist mir bereitet worden?« seufzte der junge Mann: »Zu welchem Gewerbe, -- mir widerstrebend, meinen Sinn empörend, wurde ich bestimmt! und zum Dank dafür verbietet man mir grausam, zu fühlen wie ein Mensch!« »Dafür rasest du wie ein Thor,« unterbrach ihn der Doctor heftig: »zur Strafe wirst du deine bisherigen Andachtsübungen verdoppeln, bis ich es anders bestimme! --« Milder fuhr er, und plötzlich besonnen fort: »Was wäre dein Schicksal unter den dänischen Dragonern gewesen, du Verblendeter? Du schlägst die Hand, die dir wohl that. Dein Gewerbe empört dich? Das heißt: Deine Pflicht gefällt dir nicht. Glaube mir: Oft ist auch _mir_ die Meinige zuwider, aber ich erfülle sie dennoch ohne Murren, weil ich überzeugt bin, daß zu einem vollkommenen Bau der geringste Dienst vonnöthen ist, wie der edelste. Die Leute, die im finstern Schacht den Keller wölben, haben durch ihre lichtscheue Arbeit mehr gethan, als der Meister, der das leichte Prunkgetäfel anschlägt, und den Blumenstrauß stecken auf den fertigen Bau kann vollends jeder Lehrjunge. Bescheide dich also dankbar vor dem Höchsten, zu dessen größerer Ehre wir handeln, und bemeistre flüchtige Aufwallungen der Jugend, die immer nur eitel sind, und denen im vorliegenden Falle ohnehin nicht _entgegengekommen_ wird.« Dieses letzte Argument entschied. James fühlte wohl, was _er_ empfand, aber die Empfindung der Geliebten war ihm mehr als zweifelhaft geblieben. Er schwieg daher halb unterwürfig, halb gekränkt, und waffnete sich mit starrer Kälte, als er am folgenden Tage des Senators Haus betreten mußte. »Wo will Er hin?« schnauzte ihn mit unerträglicher Grobheit der verdrießliche Nothhaft an, der ihm just entgegen kam. »Zur Jungfer Justine.« -- »Die Jungfer hat Kopfschmerzen. Komm Er ein Andermal.« -- James wollte, nachdem er mit leichtem Achselzucken den Ungeschliffenen gemessen, still davon gehen, als sich Justinens Stimme von oben vernehmen ließ: »Kommt nur herauf, werther Monsieur; für Euch bin ich zu Hause, nur für den Neidhammel nicht, der Euch =sans façon= belügt, wie ein Schelm!« -- James stutzte erfreut. Von Zorn brennend, und mit einem: »Verdammter Naseweis!« lief Nothhaft in das Comptoir. »Laßt Euch meine Sprache nicht befremden,« sagte Justine ohne Umstände in Gegenwart der Mutter zu dem jungen Engländer: »Wir Deutsche haben -- wie wir denn in allem derb sind -- ein derbes Sprichwort, das man wohl sonst nur in Pöbels Mund hört, das aber stets wohl angebracht ist, wenn man _vom_ Pöbel redet: Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil! -- Ich zweifle nicht, daß in Eurer Sprache sich ebenfalls ein ähnlicher Spruch vorfinden werde. Der Bursche, der Euch belog, ist der Klotz, der sich sogar einmal unterstanden hat, sich in mich zu verlieben. Ich bitte Euch! damals noch ein Kind von fünfzehn Jahren, sollte ich an dem blatternarbigten Ungeschickt eine Freude finden! Ich habe ihm das Zärtlichthun abgewöhnt; nun verfolgt mich jedoch der holde Amadis mit tausend Tücken und Nücken, die mir, -- wider seinen Willen, -- Spaß machen, weil ich sie gewöhnlich vereitle. Seit der letzten Horcherei hat er auch auf Euch seinen hohen Zorn geworfen. Fürchtet Euch aber nicht, Monsieur: Ihr steht unter meinem Schutze.« »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Mademoiselle,« antwortete James lächelnd: »Doch wüßte ich schon selbst mir den Ueberlästigen vom Halse zu schaffen, wenn er mir ernstlich zur Last fallen wollte.« »Das meine ich auch,« ließ sich die Senatorin breit und förmlich vernehmen; »Er hat starke Knochen, Monsieur, und mag sich durchhelfen. Für dich, Justine, schickt es sich indessen ganz und gar nicht, einem jungen Mann solche Promessen zu geben. Die Chapeaus sind doch -- so Gott will, -- dafür in der Welt, _uns_ zu beschützen, und es ziemen sich folglich solche cavaliere Redensarten keineswegs für eine schon verlobte Tochter. Ich werde also...« »Uebergenug, beste Mama,« fiel Justine kurz abfertigend ein; »Sie verstehen es, mich zum Schweigen zu bringen, und Ihr, Monsieur, beginnt die Lehrstunde!« -- James gehorchte, doch Justinens Geist war keineswegs bei der Grammatik. Ungeduldig zählte ihr Auge die Minuten auf der Wanduhr, und sie machte Schicht, sobald die Glocke schlug. Ein Vorwand wurde bald gefunden, den Lehrer zu begleiten, und schnell raunte sie ihm zu: »Wie ist's, Herr? habt Ihr der armen Französin das Geschenk gebracht? Lindert es ihr Elend? Was ist ferner zu thun?« -- James erwiderte verlegen: »Ich bringe Ihnen der Unglücklichen heißen Dank, Ihre reichliche Gabe hat sie in Ueberfluß versetzt, und zu ihrem Glücke fehlt nur noch Eines: _Sie_, freundliche Geberin, von Angesicht zu sehen; Ihnen mündlich danken zu können!« -- »Rathet der guten Frau ab,« versetzte Justine ängstlich; »sie soll ja nicht hierher kommen. Der Vater, -- er ist ohnehin mürrisch -- würde es nicht gerne sehen. Die Mutter gibt in ihrem Leben kein Almosen, und ich hätte nur Verdruß, wenn es herauskäme, daß ich mein Taschengeld...« Sie stockte, besann sich einen Augenblick und setzte dann hinzu: »Die arme Frau soll sich deshalb nicht so grämen. Ich wünsche selbst, sie zu sehen, mich nach ihren Bedürfnissen zu erkundigen, aber Ihr begreift, es geht nicht an, daß sie komme. Ja, -- wenn ich ein Mittel wüßte, ... ich würde mich gerne selbst einmal zu ihr schleichen ... ich helfe gar zu gern; ... aber ... ich weiß nicht...« »Das Mittel wäre leicht,« entgegnete James, etwas zögernd: »Vertrauen Sie sich mir an; ich führe Sie; in einer Stunde sind wir hin- und zurückgegangen.« Justine blickte ihn neugierig und strenge forschend an: »Ich halte Euch für einen Ehrenmann, Herr White. Ich würde mich nicht fürchten, mit Euch zu gehen. Aber wann? Ich will nicht mit Euch gesehen werden, und am Abend gehe ich nicht aus, mögt Ihr wissen.« »So bleiben uns die frühen Morgenstunden,« meinte James, und der Vorschlag gefiel Justinen. »Schön!« rief sie, »das paßt. Mutter schläft fest bis um neun Uhr. Vater ist vor acht nicht sichtbar, und kümmert sich nicht um mich. Um sechs Uhr also. Dann sind die Straßen noch ziemlich leer von den Leuten, die mich nicht sehen sollen. Wartet meiner morgen um diese Stunde am Neumarkte. Wollt Ihr das thun, so wird mir das artige Abenteuer Freude machen.« James versicherte seine Bereitwilligkeit, und ging, nicht mit leichtem Herzen, aus dem Hause. Justine schwelgte dagegen in dem Genusse ihres kleinen Geheimnisses. Der Umstand, die Wohlthäterin einer Bedrängten geworden zu sein, schmeichelte ihrer Eitelkeit, und schien ihrem Leben eine gewisse Bedeutung zu verleihen. Sie sah sich nicht mehr verdammt, zwischen einer stumpfsinnigen Mutter und einem schwermüthigen Vater den freudenlosen Pfad zu gehen; sie wirkte nach Außen hin, und diese Idee erquickte ihren Geist, der ihr zu etwas Besserem geschaffen schien, als zu der Einklammerung in alltägliche Hausverhältnisse. Justine war so gut und liebevoll, als sie sich manchmal schroff und ungestüm geberdete. Sie hätte gewünscht, die Pflegerin der Welt zu sein, alle Schätze der Goldminen Amerikas zu besitzen, um sie an die Armuth zu vertheilen. Sie konnte darum der Neugierde nicht widerstehen, das dankbare Geschöpf ihrer Milde zu sehen, dessen Noth mit eigenen Ohren zu vernehmen, ihm Trost zu geben durch Worte und durch die freigebige That. Mit Ungeduld erhob sie sich, als der bezeichnete Tag angebrochen, von ihrem Lager. Ein Blick durch's Fenster belehrte sie, daß das schönste Wetter ihre heimliche Wanderung begünstige; schnell war sie in ein unscheinbares Gewand gehüllt, ihr Haar, ihr Antlitz von einem dichten Schleier bedeckt, und, bevor noch der Zeiger auf sechs Uhr wies, die Thüre ihrer Schlafkammer leise, leise geöffnet. Ein Geräusch hielt sie auf der Schwelle zurück. Am Ende des Ganges öffnete nämlich auch der Senator behutsam die Thüre _seines_ Gemachs, und trat, wie auf den Zehen, heraus; völlig angezogen. Langsam schritt er die Treppe hinab, und ging aus dem Hause. Justine war betroffen. Sie hatte den Vater gestern am ganzen Tage nicht gesehen. Eine Sitzung des Senats hatte ihn, seinem Vorgeben nach, fern gehalten. Und heute, dieses leise, schleichende Ausgehen ... es kam ihr seltsam vor. Allein, was war denn, seit jener unglücklichen Begebenheit, nicht seltsam in dem Benehmen ihre Vaters? Schnell gefaßt trat Justine ihren Weg an, um die Zeit nicht zu versäumen, und ihren Begleiter nicht warten zu lassen. James hatte sich schon seit geraumer Zeit auf dem Neumarkte eingefunden. Auch an ihm war der Senator, tief in Gedanken, vorbeigekommen. Mit klopfendem Herzen begrüßte er Justine, die eiligst herbei hüpfte, den Schleier nur leicht lüftete, mit dem Kopfe nickte, und zur Eile antrieb. Stumm ging James neben der Holden her, die ihre Schritte immer munterer förderte. Der Weg war jedoch weit. James führte seine Schülerin in ein entlegenes Quartier der Stadt, wohin sie noch nie gekommen war. Stutzig sah sie sich auf einer Kreuzstraße um, und sagte englisch zu dem Führer: »Hat hier nicht die Ehrlichkeit ein Ende, Sir? und wie steht's mit der Euern? --« James lächelte etwas verlegen, deutete jedoch auf eine Thüre, und antwortete: »Wir sind am Ziele!« Justine betrachtete diese Pforte aufmerksam. Nur eine Mauer stellte sich dar, über welche sparsame Epheugewinde herabhingen. Das Pförtchen, ohne Seitenfenster oder Lücke, war enge, niedrig, und sehr fest, von Eichenholz gezimmert. In der Umgegend, durch Gartenmauern und Gehäge von dem Pförtchen abgesondert, standen nur einige halbverfallene, elende Wallhäuschen, deren Bewohner, im Taglohne arbeitend, schon beim Grauen des Morgenlichts ausgingen, und in später Nacht erst wieder heimkamen. Alle Thüren und Fenster zu; nur hie und da schrie aus dem Innern ein eingesperrtes Kind, oder bellte ein angeketteter Hund. -- Mit fragendem Blicke deutete Justine auf die bezeichnete Thüre. James nickte, und wollte an dieselbe pochen. Rasch hielt ihm das Mädchen die Hand, und sagte mit gedämpfter Stimme: »Wo führt Er mich hin, Monsieur? Da hinein gehe ich nicht.« James betrachtete einen Augenblick ihre Miene. Die seinige verfinsterte sich nicht. »Nach Belieben!« entgegnete er schnell, »so gehen wir zurück, weil Sie sich fürchten.« Der Vorwurf der Furcht, so wenig er verwunden sollte, traf sein Ziel. Justine maß von neuem mit dem Auge die verschlossene Thüre, den zum Gehen gewendeten Jüngling, die menschenleere Nachbarschaft. »Glaubt Ihr, daß ich ein Kind sei?« fragte sie alsdann mit Vorwurf. »Furcht kenne ich nicht, Monsieur, aber ich muß darauf sehen, daß mein Vorwitz mich nicht an einen Ort bringe, der vielleicht meinem Geschlecht und meiner Familie gleich unangemessen wäre.« »Wie, Mademoiselle?« fragte James mit flammenden Augen: »Glauben Sie, daß _ich_ fähig sei, Sie an einen solchen Ort zu führen? O wenden Sie schnell um, ich will Ihre Erniedrigung nicht.« Justine machte ihm rasch ein Zeichen, zu schweigen, und faßte, an ihn tretend, seinen Arm. Sie hatte eines Mannes Schritt gehört, und in der That kam ein Herr um die Ecke der Mauer, den Hut tief in's Gesicht gedrückt, und zum Ueberfluß einen Mantel um das Kinn geschlagen, daß auch kein Zug von ihm zu erkennen war. Einen flüchtigen Blick warf er auf die verhüllte Dame und ihren Begleiter, klopfte dann ziemlich vertraut zweimal an die räthselhafte Thüre. Ein Mensch von gemeinem Ansehen öffnete sie, und schob hinter dem Eintretenden die Riegel vor. Justine hatte eben in dem Moment des Oeffnens die Aussicht auf einen Hof mit Bäumen, und ein darin stehendes Gebäude erhascht. -- »Kennt Ihr den Mann?« fragte Sie ihren Führer. Er verneinte. »Es sieht doch da drinnen nicht wie in einer Mörderhöhle aus!« fuhr sie lächelnd fort: »wäre es Euch noch gefällig, mich zu begleiten?« »Ihr wollt es?« versetzte James: »in Gottes Namen denn!« -- Er klopfte zweimal wie der Vorgänger. Derselbe Pförtner schloß auf, bückte sich wie ein Bekannter vor dem Engländer, und begrüßte auch auf ein Zeichen desselben die Dame. Der Hof war bald durchschritten, das Gebäude bald erreicht. Tiefe Stille herrschte rund um das alterthümliche Haus, das ehedem ein Kloster gewesen zu sein schien. Die in der Hausflur aufgeschichteten Geräthe ließen vermuthen, daß hier früher ein Magazin gewesen. Die halbdunkle, halbverfallene Treppe knisterte unter den Schritten der Kommenden. Neue Besorgnisse stiegen in Junstinens Seele auf. Da pochte James an eine recht unscheinbare Thüre. Sie ward geöffnet, und der Engländer mit seiner Begleiterin trat rasch hinein. »Mein Gott!« flüsterte nun James der Letzteren zu: »wir sind am unrechten Orte!« Aber schon hatte der Oeffnende, ein Pförtner, wie jener am Hauptthore, die Thüre zugemacht, und wies die Kommenden in einen hölzernen Verschlag, der zur Seite stand. Eine Bank war in dem dämmerigen Versteck zu sehen, und ein hölzernes Gitter gab die Aussicht auf das Gemach, in welches die Senatorstochter gerathen war. Ein Spitzgewölbe, dem Ansehen nach eine verwitterte Kapelle, mit Grabsteinen auf dem Fußboden, und ausgebrochenem Ziegelpflaster. Die Fenster waren theils zerfallen, theils von Spinneweben umflort. An den Mauern liefen zu beiden Seiten Verschläge hin, dem ähnlich, in welchem sich Justine befand; theils mit vergitterten, theils mit offenen Fensterlucken; Betstübchen aus sehr lang verwichener Zeit. Durch die Oeffnungen waren tief verhüllte Männer, Weiber in Schleierhauben, Kaputzmänteln und anderer Vermummung zu sehen. -- »Wir sind in der ehemaligen Kapitelstube der Johanniter!« sagte James leise und verlegen zu der staunenden Freundin: »Verzeihen Sie mein Ungeschick. Schweigen Sie aber zu Allem, was hier vorgehen möchte. Sie haben nichts zu befahren.« Justine sah ihn starr an, und wendete sich, ohne eine Sylbe zu erwidern, zu dem Gitter, um zu beobachten, was der Thürsteher beginnen würde, der durch die Kapelle auf einen großen Kasten zuging, welcher am obern Ende derselben stand. Er öffnete das Schloß, hob den Deckel, schlug die vordere Wand herab, und siehe, es gestaltete sich unter seinem Geschäfte ein Altar mit zwei hölzernen Stufen, und belegt mit einem sauberen weißen Linnen. Zwei Leuchter mit Wachskerzen, die der Diener anzündete, und einige Gefäße mit Blumen standen zu den Seiten eines Kruzifixes. Schmucklos war im Uebrigen der Altar. Der Diener nahm einige zinnerne Kännchen nebst Schlüssel und Serviette aus einer Lade, setzte eine kleine Schelle auf die Stufen nieder, und entfernte sich durch eine enge Thüre hinter dem schnell errichteten Opfertische. Justine sah nun deutlich, wie von den Leuten um und um Gebetbücher und Rosenkränze aus den Taschen genommen wurden, und sie ahnte, was hier geschehen würde. Diese Ahnung wurde zur Gewißheit, als die enge Thüre wieder aufging, der Diener heraustrat, mit einem großen Buche in der Hand, aus welchem viele bunte Bänder herabhingen, und ihm ein ansehnlicher, ehrwürdig aussehender Mann folgte, in einem funkelnden, wunderlich geschnittenen Gewande, einen vergoldeten Kelch tragend, und in ernstes Sinnen und Gebet versunken. Justine hatte einigemal auf Bildern und in Kupferstichen römisch-katholische Priester in solchen Kleidern gesehen, und zweifelte nun nicht, sich an einem Orte zu befinden, wo man den römischen Gottesdienst unter'm Schleier des Geheimnisses feierte. Welch ein Gefühl in ihrer Brust entstand, läßt sich nicht beschreiben. Unwillig gegen die ihrem Glauben widerstrebende Form, gegen den dienstfertigen Führer, gegen ihren eigenen Leichtsinn, hätte sie den Ort verlassen, aber die verriegelte Thüre, die Furcht vor dem Aufsehen, das entstehen würde, -- mehr noch als das -- ihre _Neugierde_ hielt sie fest. Das Meßopfer begann mit der größten Ruhe, und der Anstand des Geistlichen versöhnte bald die Protestantin mit den Gebräuchen, die sie nicht faßte. Sie sah den Priester demüthig vor den Stufen des Altars auf die Kniee sinken; sie fühlte, daß er vor dem Einigen seine Schuld bekenne, für sich und seine Gläubigen; und geheimnißvoll vorbereitend drangen die halblaut gesprochenen lateinischen Worte zu ihrem Ohr. Unwillkürlich machte sie die Geberden der übrigen Zuhörer nach. Sie hörte stehend das Evangelium, beugte das Haupt bei der Wandlung. Sie genoß im Geiste das Abendmahl des Priesters mit, und als derselbe dem Volke verkündete, die Messe sei vorüber, als er wieder hinter der Thüre entschwand, durch welche er gekommen, -- da bedauerte fast Justine, daß das seltsame, nie gesehene Schauspiel vorüber gegangen. Um den Eindruck, den dasselbe auf sie gemacht, noch aus dem baufälligen Hause mit sich in die freie Luft zu retten, drängte sie rasch den Begleiter, der sie zurückhalten wollte, nach der Thüre, und trat, -- beinahe die Erste der Davongehenden, aus der Kapelle. »Was thun Sie?« flüsterte ihr James besorglich zu: »Sie werden sich verrathen, erkannt werden! Wir hätten die Letzten sein sollen!« Von der triftigen Einrede erschüttert, stand Justine verlegen still, zog den Schleier fester zu, und sah kaum nach den Vorübergehenden, die, vermummt wie sie, mit flüchtigem Seitenblick von dannen zogen. »Hier herein!« sagte mittlerweile der junge Engländer, und zog Justine in eine andere, nur angelehnte Thüre: »Hier finden wir, was wir gesucht, und indessen wird Haus und Hof von den neugierigen Gästen rein.« Justine sah sich in dem Gemache um, und ward angenehm überrascht, ein ziemlich junges und hübsches Frauenzimmer, in prunkloser, aber sorgfältiger Kleidung, vor sich zu haben. Dieses Letztere bewillkommte sie demüthig freundlich, mit einem wohlgesetzten Gruße in ausländischem Deutsch. »Darf ich fragen...?« äußerte Justine. -- »Mein Name ist Lainez;« versetzte die junge Frau: »wie glücklich machen Sie mich, indem Sie mich eines Besuchs würdigen, und einer Gelegenheit, Ihnen zu sagen, wie dankbar ich für die großmüthige Hülfe bin, die Sie mir durch den uneigennützigsten Wohlthäter, durch Herrn White, angedeihen ließen.« »Die Offizierswittwe, von der ich Ihnen sagte;« schaltete James ein: »Nur ein Zufall ließ uns die rechte Thüre verfehlen.« »So?« erwiderte Justine trocken, indem sie einen mißfälligen und mißtrauischen Blick auf den Engländer warf, sich aber dann schnell zu der Französin wendete: »Sie leben in einer geheimnißvollen Nachbarschaft, Madame.« »Ich kenne meinen nächsten Nachbar nicht;« antwortete die Wittwe unbefangen, und sah Justinen furchtlos in das Auge; »der Verwalter dieses ehemaligen Magazinhauses hat viel von dem bedeutenden Gelasse, in dem er befiehlt, an arme Miethsleute gegeben, und die Armuth verkriecht sich gern. Die Hausgenossen sind mir fremd, bis auf eine alte, beinahe taube Frau, die mich mit Wasser und Holz versieht.« »Ich glaube Ihnen,« versicherte Justine, indem sie der Freundlichen die Hand reichte: »Monsieur White wird um desto bekannter mit den Leuten sein, die ich so eben verließ.« -- »Ein Zufall, wie gesagt, Mademoiselle, brachte uns in die Mitte einer Versammlung, von der ich unter der Hand Einiges vernommen, zu welcher ich mich jedoch nicht zähle.« Justine betrachtete ihn ungläubig, und erwiderte rasch und drohend: »Gleichviel, Monsieur, wie's Euch gefällt, mich zu belehren. Die Herrn und Frauen mögen unterdessen sorgen, daß nicht auch der _Senat_ unter der Hand Einiges von ihrem Thun vernehme. War mein Vater heute an _meinem_ Platze, so war ein Unheil fertig. Wer bürgt übrigens dafür, daß _ich_ nicht plaudre?« »Ihr Herz,« versetzte James ruhig und zuversichtlich: »Sie sind ein zartfühlendes Weib. Sie werden nicht vorsätzlich Unglück über Menschen bringen, die es wagen, im Verborgenen eine Feier zu begehen, welche ihr Gewissen zu seiner Beruhigung verlangt, obgleich ein hartes Staatsgesetz sie verbietet.« »Was ist denn hier im Werke? Was ist vorgefallen?« fragte Madame Lainez verwundert und neugierig. Justine sagte: »Das kümmert Sie nicht, liebe Frau. Noch ein Wort zu Herrn White: Ich bin Euch für die gute Meinung verbunden, Monsieur. Ihr fangt an, in meiner Seele zu lesen. Was wünscht diese wohl gerade jetzt?« »Die Heimkehr;« antwortete James gefällig: »darf ich Ihnen wieder meinen Arm bieten?« »Mit nichten, Monsieur. Ich werde ohne Euch den Weg nach dem Hause meines Vaters finden. Ich fürchte weitere _Zufälle_ an Eurer Seite. Eure völlige Entfernung ist mein Wunsch, und bis Ihr diesen erfüllt, werde ich schon der Dame hier zur Last fallen müssen.« »Welche Ehre!« betheuerte die Lainez: »Wie schmeichelhaft diese Güte!« »Sie zürnen?« fragte James gekränkt und bestürzt. »Die ganze Stadt spricht von Justinen's Launen;« erwiderte Müssingers Tochter; »ich habe heute die Caprice vorsichtig zu sein; ich werde sie auch Morgen und Uebermorgen haben, und bitte Euch daher, dieses heutige Zusammensein als unser Letztes anzusehen.« »Sie verstoßen mich?« rief James mit den Lauten des tiefsten Grams, wollte heftig auf das Mädchen zugehen, -- faltete jedoch, sich besinnend, die Hände, warf noch einen seelenvollen Blick auf Justine, und empfahl sich dann rasch mit einer Verbeugung. Justine hatte den schnellen Abschied nicht erwartet, und ihr aufgeregtes Mißtrauen machte einem wärmern, mildern Gefühl Platz. »Ich habe dem Monsieur vielleicht Unrecht gethan,« sagte sie langsam zu der Offizierswittwe, die neugierig auf ihrer Stirne las; »allein was soll ein Mädchen thun, dem ein Mann Ursache zu gerechtem Argwohn gab? Aengstlich auf der Hut sein, denn die Männer sollen lieben, uns mit Schlingen zu überziehen, und jenes Engländers Zufälle scheinen mir ein Netz. Nun aber zu Ihnen, meine Gute. Ihr Gesicht gefällt mir, wie Ihr Benehmen, das von keiner gewöhnlichen Herkunft zeugt. Lassen Sie mich wissen, worin ich Ihnen noch gefällig sein könnte.« »Meine junge Dame! ich habe schon so Vieles von Ihrer Güte genossen, daß ich unbescheiden sein würde, wenn ich ein Mehreres verlangte. Ihre Hülfe reichte hin, die Wohnung, in welcher Sie mich finden, wie ein anständiges Wittwenzimmer auszuschmücken, und Sie würdiger aufzunehmen. Darf ich noch begehren, daß Sie Ihrer Milde Etwas hinzufügen, so flehe ich Sie nur an, dem guten Herrn White, der trostlos von Ihnen ging, zu verzeihen, wenn ich gleich nicht weiß, wodurch er Ihren Unmuth verschuldet hat.« Justine bewegte ungeduldig das Haupt. »Warum reden Sie von ihm?« fragte Sie: »Ich habe Krieg mit ihm, nicht Sie; Sie scheinen viel von ihm zu halten.« »Mademoiselle!« erwiderte die Lainez: »Ich lebe eigentlich nur in meinen Wohlthätern. Von der übrigen Welt habe ich Abschied genommen, seit ich meinen Mann verlor, der bei Denain den Tod eines braven Soldaten starb. Gott sei gelobt, daß die Handlungen eines wackern Mannes noch für dessen Wittwe und Nachkommen Früchte tragen. Mademoiselle! mein Gatte, Victor Lainez, machte, -- wir waren kaum einige Monate verbunden, -- an der Spitze seiner Grenadierkompagnie, die Schlacht bei Malplaquet mit. Der Himmel wollte, daß er den tapfern Boufflers aus der drohendsten Gefahr retten konnte, worein ein scheu gewordenes Pferd den Marschall versetzt hatte; ferner, daß er den kühnen Ritter St. George, der die Reiterei gegen die Feinde führte, durch einen heldenmüthigen Angriff aus dem Gedränge riß. -- Villars belohnte freilich die seinem Nebenbuhler Boufflers geleistete Hülfe nur mit Geiz und Verdruß, aber des Marschalls Familie verließ mich doch nicht in meiner Noth. Und als ich, vom Mißgeschick dem vaterländischen Boden entfremdet, hier in Krankheit verfiel, erwarb mir des Ritters St. George Rettung einen Freund in dem guten James White. Das Ungefähr machte ihn mit meiner Lage bekannt: kaum hörte er, daß mein seliger Mann dem Stuart, den er mit vielen tausend Engländern als König verehrt, einen Ehrendienst geleistet, als auch sein Beistand sich verdoppelte. Er wußte, selbst mittellos, seinen Pflegevater, den Doctor, in mein Interesse zu ziehen, -- mein Schicksal zu erleichtern, und endlich in Ihnen nicht minder einen guten Engel für mich zu gewinnen.« »So?« versetzte Justine, beinahe mit einem Anstriche von Eifersucht: »Es muß Ihnen peinlich sein, Madame, von einem jungen Mann abzuhängen. Frauen sollten billig wieder nur Frauen die Erleichterung eines unverdienten Mißgeschicks verdanken. Welches ist denn Ihr weiteres Ziel? Ohne Zweifel sehnen Sie sich, in die Heimath zurückzukehren?« Die Lainez schüttelte traurig den Kopf. »Ich finde nur Gräber dort, die mir werth sind,« antwortete sie: »meine Lieben sind alle hinüber. -- Weitläufige Verwandte, die die Aufhebung des Edikts von Nantes aus ihrer Heimath verwiesen, leben zu Berlin. Ich kenne diese fremden Vettern und Basen nicht, und fürchte, sie werden auch mich nicht kennen wollen.« »Ihre Furcht möchte gegründet sein,« begann Justine, nach einigem Nachdenken. Die Lainez fuhr fort: »Und ist es nicht grausam, daß ich diese Ueberzeugung hegen muß? Trage ich denn die Schuld, daß mein Vater, seiner Familie Vortheil berücksichtigend, den katholischen Glauben für sich und die Seinigen annahm? Die Auswanderung hätte uns zu Grunde gerichtet, um Gut und Leben gebracht. Im Grunde ist es ja doch gleichviel, unter welchen Gebräuchen wir Gott verehren. Wir sind die Kinder _Eines_ Vaters, und, so gut von ihm die zahllosen Sprachen verstanden werden, in welchen die Welt zum Himmel betet, so gut versteht er auch des Herzens frommen Willen von der Form zu sondern.« Justine sah ihr bewegt, scheu und dennoch freundlich in's Auge. -- »Sie sprechen gut, Madame!« sagte sie: »Sie erregen meine lebhafte Theilname. Ich werde Sie wieder sehen; ganz gewiß, Madame. Ich will über Ihre Zukunft mit Ihnen reden. Verlassen Sie sich auf mich. Ich bin ein junges Mädchen, aber ich habe meinen eigenen Kopf. Ich dürfte Ihnen von größerem Nutzen sein, als der Monsieur White. Es wäre mir lieb, wenn Sie sich seinem Beistande entzögen, und mir erlaubten, Ihnen schicklichere Dienste zu leisten. Ich muß überlegen, ... mein Gott! ich habe diesen Morgen schon so Vieles gehört und gesehen;.... sagen Sie mir aufrichtig: Sie wissen in der That nicht, was in Ihrem Hause -- Ihrem Zimmer gegenüber, vorzugehen pflegt?« »Wahrlich: Nein, Mademoiselle.« »So bleibt mir nichts übrig, als die Delikatesse zu bewundern, womit sich augenscheinlich eine Gesellschaft Ihrer annimmt, zu welcher Sie eigentlich gehören, -- die es aber vermeidet, Sie in ihren Kreis zu drehen, um Sie der Gefahr einer möglichen Entdeckung zu entziehen. Oder.... will man erst Ihrer Verschwiegenheit gewisser werden.« »Noch einmal, Mademoiselle, ich verstehe Sie nicht.« Justine rieb sich ungeduldig die Stirne. -- »Ich werde ganz verwirrt,« sagte sie: »Ihre Unwissenheit.... White's räthselhaftes Betragen.... ist der Monsieur Protestant oder nicht?« »So viel ich weiß: ja. --« »Und Sie, Madame, sind, wie Sie sagten, Katholikin?« »Aufrichtig zu sein, Mademoiselle, muß ich Ihnen bekennen, daß mein Vater, ob er gleich zur Messe ging, dennoch Protestant geblieben. Wir Kinder folgten, größer geworden, seinen Grundsätzen. Herr von Lainez ließ mir freien Willen in Religionssachen. Meine Verwandten zu Berlin werden freilich nie glauben, was ich Ihnen so eben gestand, aber es ist nicht minder wahr, daß ich einem Rücktritt mich entgegen sehne.« »Dann müssen Sie aus diesem Hause!« rief Justine lebhaft: »ja Madame. Sie müssen, -- ehe Sie erfahren...« »Was, Mademoiselle?« »Ich werde überlegen, -- nachdenken, Sie dieser Lage entreißen. Glauben Sie mir; ich will nur Ihr Heil, Ihres Lebens Wohl.« »Erklären Sie sich....« »Ein Andermal ... Morgen oder Uebermorgen! So eben schlägt die Stunde, in der ich schon zu Hause sein sollte. Ich verlasse Sie jetzt, um Sie bald gefaßter wieder zu sehen. Veranstalten Sie indessen, daß ich den Engländer hier nicht finde. Leben Sie wohl, meine Beste. Keinen Dank für die Kleinigkeit, die ich Ihnen reichen durfte; ich wünsche, ich hoffe, ein Mehreres für Sie thun zu können. Adieu.« Justine ging in der heftigsten Bewegung von dannen. Die Lainez folgte ihr verlegen über den Hof; öffnete ihr die Pforte, und des Senators Tochter eilte die Gasse hinauf. James, der an der Ecke ihrer wartete, wie ein armer Sünder seines Richters, hätte zu keiner unpassenderen Zeit in ihren Weg treten können. »Was wollt Ihr?« fragte sie ernst und hastig, und streifte an ihm vorüber. »Mademoiselle!« entgegnete er verschüchtert: »hassen Sie mich nicht! ich wollte meine Reue ... ich hatte nicht Ruhe; ... darf ich nicht ein Wort...?« »Incommodirt Euch nicht, Monsieur,« sagte Justine kurz: »Schleicht nicht an meiner Seite hin. Bleibt zurück. Ihr wißt bereits wie ich denke. Adieu.« Der niedergedonnerte James blieb in der That, an der Geduld der Zornigen verzweifelnd, zurück, und schlug den Weg in eine andere Straße ein. Er rannte an einer bekannten Figur vorbei; an dem Kaufmannsdiener Berndt, der ihn von der Seite mit einem Blicke, ohne ihn zu grüßen, maß, und dann eiligst der Jungfer folgte, die er wahrscheinlich von ferne, mit James redend, gesehen. White hatte indessen nicht Zeit, nicht Besonnenheit genug, über diese Begegnung nachzudenken. Die, wie er sich bewußt war, verschuldete Mißbilligung und Verachtung eines geliebten Mädchens, auf dessen Gedanken-Consequenz nicht gehörig gerechnet worden war, bekränkte ganz allein sein Herz, erfüllte sein Gemüth. Er verwünschte im raschen Laufe nach seiner Wohnung seine Bestimmung, sein Geschick, seine Liebe, und den Zwang, dem er unterworfen. Mit thränendem Auge und hochschlagender Brust erreichte er sein Stübchen, und warf sich, wie trostlos auf das Lager. Er hatte nur wenige Minuten mit geschlossenen Augen seine Sinne gesammelt, als er hinter der Bretterwand, die sein Gemach von dem Schlafkabinete des Doctors trennte, das Geräusch einer aufgehenden und zufallenden Thüre vernahm. Er horchte, und unterschied die Stimme des Doctors, die Stimme des Senators Müssinger. »Erholen Sie sich,« sagte der Erstere: »in allen Verhältnissen des Lebens ist uns Fassung am nöthigsten. Der Mensch ist seiner Herr, sobald er über seinem Schmerze, wie über seinem Glücke steht. Die Erinnerung an das Jahr 1690 hat Sie übel angegriffen. Hier stört uns niemand; hier lauscht niemand.« »Arme Clara!« seufzte der Senator: »nach neun und zwanzig Jahren muß sich Dein Andenken so grell in meinem Gehirne erneuern! In welcher bösen Zeit, mein Freund! O, in welchen betrübten Stunden!« »Clara ist im Himmel, Herr Senator. Sie sitzt zu den Füßen der Gebenedeiten, und sieht gewiß segnend auf uns herab, denn dort oben löscht jeder Groll aus, und Clara grollte Ihnen auch hienieden nicht.« »Welche Reden, würdiger Herr! das sind Worte des Trostes, der unendlichen Zuversicht auf unendliche Barmherzigkeit! Aber -- was hilft es? Ein stummer Fluch verfolgt mich, -- und weil mein frevelhafter Leichtsinn ein unschuldig Herz gebrochen, bricht die Schuld das Meine. --« »Der Schatz göttlicher Liebe ist groß, unermeßlich. Vertrauen Sie dem Heiland. Ich darf seine Stelle auf Erden vertreten, wenn ein reuiges, nach Versöhnung lechzendes Gemüth sich vor dem Kreuze in Staub wirft. Sie erschraken beinahe, Herr Senator, als ich, Vertrauen mit Vertrauen vergeltend, Ihnen bekannte, daß ich die Weihen meiner Kirche trage. Wollte die heilige Mutter Gottes, daß Sie auch derselben angehörten! um zu erproben, ob ich den Beruf und die göttliche Gnade zu meinem Stande besitze.« »O!« -- stieß der Senator nach einigen Augenblicken mit Gram und Kummer heraus: »fast wünschte ich auch, einer der Ihrigen zu sein, daß ich auf Milde und Vergebung rechnen dürfte. --« »Die Sonne scheint dem Bösen, wie dem Guten;« antwortete der Doctor mit Salbung: »Der Verirrte hat in seinem Irrthum selbst Anspruch auf die Gnade seines Schöpfers: um wie viel mehr der Bereuende? der Entfremdete, der einen Bild des Sehnens nach der traurenden Heimath zurückwirft? Beruhigen Sie sich, bester Freund. Das Wort, das Sie so eben gesprochen haben, macht Sie schon gleichsam zu den Unsrigen. Ich trage daher, -- die Macht benützend, die unsere frommen Väter im Namen des Statthalters Gottes auszuüben begannen, -- kein Bedenken, Ihnen die Tröstungen unsrer Religion anzubieten, da Ihnen, wie ich bemerke, diejenigen, welche Ihre bisherige Lehre Ihnen zu geben vermag, nicht zulänglich scheinen. Sammeln Sie Ihr Gedächtniß, mein werther Sohn, und erleichtern Sie Ihr Herz. Mein Ohr ist Ihnen offen, und meine Hand bereit, jeden Kummer aus Ihrer Brust zu nehmen, und den Balsam der Versöhnung dafür hinein zu legen.« Der Doctor schwieg, und James hörte Stühle rücken, den Senator verlegen husten, und endlich mit unsicherer Stimme erwidern: »Ich danke Ihnen, würdiger Herr, für die Wohlthat, die Sie mir zu erzeigen bereit sind. Allein, -- obgleich mein Herz sich nach der himmlischen Speise sehnt, und ich nicht läugnen mag, daß es noch empört ist von der starren Härte, mit welcher der Diener meiner Kirche meinem kindlichen Vertrauen entgegen kam, -- so muß ich doch nicht minder bekennen, daß die in der Jugend eingesogenen Grundsätze und Lehren mir zu verbieten scheinen, von Ihrer barmherzigen Freundschaft Gebrauch zu machen. Ich bin nie ein Kopfhänger gewesen, -- leide nur seit einiger Zeit an den schweren Scrupeln meines Gewissens, -- ich darf nur von der mildesten aller Religionen Milderung meines Zustandes erwarten, -- aber -- das ist die Macht des Vorurtheils, wenn Sie es so nennen wollen, daß ich in meiner Angst nicht weiß, ob ich in Ihren Vorschlag eingehen darf, wenn ich gleich sonst an jeder Tröstung verzweifle.« »Herr Senator!« lautete des Doctors ruhige und alsobald folgende Antwort: »Sie gebrauchen das rechte, das wahre Wort. Vorurtheil! so heißt die schwere Kette, die das Herz an die Erde bindet, während es sich umsonst bestrebt, sich zu Gott zu erheben. In der heidnischen Fabel von dem Vogel Phönix finden Sie den Zustand einer muthigen Seele angegeben, die, über Zeit und irdische Hinfälligkeit hinaus verlangend, sich durch ein heilig Feuer reinigt, um mit Gott vermählt zu werden. Die Heiden verstanden selbst die Fabel nicht, die sie dichteten, aber dem wahren Christen muß sie verständlich sein. Er verbrenne in der Anschauung des Höchsten den vom alten Adam umsponnenen Körper, und mit ihm alles Irdische, damit er in Gott verjüngt werde. Er lasse sich nicht von weltliche und irrthümlichen Fesseln halten, um das Wahre zu finden. Er verschmähe nicht die herrlichste Frucht, weil ihm etwa von Kindheit auf aberwitzige Leute gesagt haben, sie sei ungesund.« »Indessen,«, fuhr der Doctor fort, nachdem er einen Augenblick inne gehalten: »indessen rottet man das Vorurtheil, für welches der arme, irrende Mensch nicht kann, nicht mit Gewalt aus. Die zarten Blumen verlangen von ihrem fürsichtigen Gärtner eine kluge, treue und sanfte Pflege. Welche Milde entwickelt daher unsere Kirche, die, allen Lästerungen zum Trotze, dennoch die weißeste, sanfteste -- und freudigste Gärtnerin im Paradiese des Herrn ist? Sie spricht also zu Ihnen, mein werther Freund und Beichtsohn: Es ist nicht zu läugnen, daß gebieterische Umstände das Abweichen von der gewohnten und vorgeschriebenen Regel entschuldigen. So gilt zu Zeiten das mündliche Testament eines vom gerichtlichen Testiren abgehaltenen Sterbenden; -- so gilt die Nothtaufe des Vaters, der Wehmutter, und im dringenden Fall tauft Wein oder Sand wie das reinigende heilige Wasser. -- Soll ich noch von den Begräbnißgebräuchen reden, die der Capitän eines Schiffes, in Ermangelung eines Geistlichen an den verschiedenen Matrosen verrichten darf? oder von der Absolution, die im Augenblicke der Schlacht der Soldat seinem Nebenmanne ertheilen darf, als komme sie aus Priesters Munde? Es wäre überflüssig, mich weiter darüber zu verbreiten. Ihre Seele liegt in Extremis, Herr Senator, und ob ein katholischer Priester oder ein Prädikant ihr beisteht, -- gleichviel! wenn sie nur gesundet!« »Wahr, ehrwürdiger Herr!« versetzte Müssinger: »jedoch...« Der Doctor unterbrach ihn alsobald: »Mit wie viel größerem Rechte aber bietet Ihnen _meine_ Kirche ihre tröstende Hand! Sie dringt sich Ihnen nicht auf, sie bettelt auch nicht um ihre Genehmigung zu Ihrem Heil! Sie will Sie nicht erst überreden, sich zu ihr zu wenden; sie macht alte Rechte auf Sie geltend. Wahrlich, mein Herr Senator, was auch Ihre Partei sagen mag: Die katholische Kirche ist Ihre Mutterkirche. _Sie_ haben ihren Schooß verlassen; aber die Mutter hat _Sie_ nicht aufgegeben, Sie sind, indem Sie zu den Gebräuchen der katholischen, der Allgemeinen Kirche zurückkehren, kein Proselyt für diese Letzte, kein Abtrünniger von Ihrer Sekte; -- Sie sind ganz einfach nur dem verirrten Kinde zu vergleichen, das wieder ins Vaterhaus zurückkommt, und sich an die gewohnte Stelle am Tische setzt. Die römische Kirche ist Ihr Haus, auf welches sich Ihre Ansprüche nicht verjähren, so wie sich hinwiederum das Recht derselben auf Sie nicht verjährt; ob es anerkannt werde, oder nicht. Darum begehen Sie nicht nur keine Sünde, sondern Sie üben eine Tugend, wenn Sie dem Zuge Ihres Herzens ohne Zweifelmuth folgen, da es Ihnen selbst sagt, daß ich wahr geredet habe.« »Ihre Worte rühren und ergreifen mich,« erwiderte der Senator, »verlangen Sie aber nicht, daß mein so befangener geängstigter Geist sich davon überzeugen lasse. Ich bin keiner der Frommen in meiner Kirche, aber wenn es darauf ankömmt, die dem Knaben eingepflanzte Lehre zu vertauschen, so rasch, so unüberlegt...« »Verlange ich denn dieses?« fragte der Doctor sehr sanft, »Hat denn der Mensch seinen freien Willen umsonst? Ist denn die Kirche neidisch auf den Pflegling, der einer irrthümlichen Idee nachjagt? Keineswegs. Dem Vater ist es Freude genug, wenn der Sohn einmal wieder nach Hause kommt, unbekümmert, ob ihn der nächste Augenblick wieder von dannen reiße. Weil die Mutter nur um Seinetwillen das Kind liebt, füllt sie dem Scheidenden die Reisetasche mit köstlicher Speise und mit Ruhe die Brust. Mag es dann wieder fremdem Zuge folgen; sie liebt es nicht minder zärtlich.« »Sie meinen also, daß der Seelentrost, den Sie mir verheißen, von mir genossen werden kann, ohne daß ich aus der Glaubensbahn treten müßte, die ich bisher beschritt?« »Nichts faßlicher, als dieses. Soll ich von Ihnen einen Eid verlangen, der Sie um nichts näher dem Vater bringt, dem Sie doch einmal angehören? Werde ich von Ihnen erst ein Glaubensbekenntniß fordern, das von dem Verlangen Ihrer Seele schon ausgesprochen wurde? Ohne es zu wissen, waren Sie schon wieder der Unsrige geworden, -- und ist, mein werther Beichtsohn, in Ihrem Sünden-Bekenntnisse und der daraus entspringenden Vergebung, der erneuerte Bund mit der wahren Kirche erst aufgegangen, so ist Alles geschehen, was Sie im Grunde bedürfen. Sie sind im Innern wieder geworden, wozu Sie Gott erschuf, und das genügt uns. Von Ihrem Gutdünken, und der Forderung Ihrer Seele allein wird es abhängen, ob Sie nicht in der Befolgung aller Gebräuche unsrer Kirche eine größere Beruhigung finden möchten. Die Weisheit Gottes und seines Stellvertreters auf Erden ermächtigt uns, in den Fällen, deren Gewicht unsre Nachsicht verlangt, den Rücktretenden, den heimkehrenden Söhnen und Töchtern, jede öffentliche Aussprechung dieser Handlung zu erlassen, damit die Vereinigung mit der allgeliebten Mutter, dem Vater und dem Sohne, und dem Geiste, nicht durch weltliche Rücksichten und Bedenklichkeiten aufgehalten oder gar verhindert werde. Doch dieses berührt Sie vor der Hand nicht, mein werther Beichtsohn, den ich als einen Gast freundlich zum Tische des Allbarmherzigen lade. Machen Sie sich demnach keine weitere Gemüthsbewegung; sammeln Sie Ihre Gedanken, und beginnen Sie, im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit, die ungeschmückte schlichte Schilderung des Kummers, der Sie bedrängt, und der Sünden, von denen Wir Alle nicht rein sind, in meinen Schooß niederzulegen.« -- James hörte, wie hierauf der Senator mehreremale heftig auf und ab ging, wie er sich alsdann mit einem tief aus der Brust geholten: »Ach! in Gottesnamen denn!« neben dem Doktor niederließ, -- wie er mit gedämpfter Stimme begann, demselben sein Herz zu eröffnen. Ein unbehagliches Gefühl, mit dem Gedanken verbunden, daß es edler und gewissenhafter sein würde, nicht länger den Horcher abzugeben, -- die Scheu endlich, ein Beichtgeheimniß zu erlauschen, vermochte den Jüngling, ohne Geräusch vom Lager zu entweichen, und sich an das Fenster zurückzuziehen, das in den Garten eine friedlich reizende Aussicht gewährte. Er verlor sich in den Träumen seines Verstandes, in den Bewegungen seines Herzens, und sein wachendes Auge theilte sich mit dem Letztern in das Geschäft: eine Täuschung zu geben, die dem Hellsehen ähnlicher ist, als dem gewöhnlichen Spiele aufgeregter Einbildungskraft. Die Bohnenlaube des Gartens gestaltete sich zu dem Hause des Senators, und darinnen waltete ein liebliches, wohlbekanntes Bild, das, einem Zauberwerke gleich, den Beschauer durch unendliche Anmuth fesselte, durch unendliche Seltsamkeit abstieß. Dem jungen Engländer kam es vor, als sei es ihm vergönnt, in das Innere Justinens einen scharfen Blick zu werfen; als sei er auf dem Punkte, dieses holde und quälende Räthsel zu entziffern. Justinens Blicke sprachen Empfindung für den Freund, Liebe für den Liebenden aus, und vergebens schien der trotzige Mund es zu leugnen, das fremde Wort es zu verneinen. James sah sein Bild in ihrem Herzen leben, während ihre Hand es muthwillig von sich warf. Warum wehrst du dich gegen das Gefühl, das uns verbinden möchte? fragte seine Zunge stille vor sich hin: Siehst du denn nicht, daß ich dennoch im Grunde deiner werth bin? daß mein Herz nicht böse, meine Seele ohne Falsch ist? Betrübe dich doch nicht um meiner Handlungen willen! Verachte mich doch nicht um ihretwillen! Sie sind mir ja von einem harten Loose aufgegeben: noch bin ich zu schwach, den Bann zu zerreißen, der mich zu einem Maskenspiele zwingt, das ich Muth haben möchte, zu verabscheuen, und zu endigen! Ich kann ja nur durch deine Liebe zum Manne werden, nur in dir meine Stütze finden, so wie du in mir, denn verwaist stehen wir beide: Du, einsam im Vaterhause zwischen den lebendigen Eltern, -- ich, in der Fremde, zwischen dem Schaffot, das meinen Vater, und dem öden Grabe, das meine Mutter verschlang! Wenn ich dich rufe, damit du mich zu kühner That begeisterst, -- wirst du mich nicht hören? Wenn ich meine Arme nach dir ausstrecke, um dich an mein Herz zu ziehen, -- wirst du dich ewig sträuben? -- Das Bild der Geliebten entzog sich den Armen des Jünglings nicht; es beugte sich aus den spiegelhellen Fenstern, -- heller, klarer als diese; seine Brust pochte vor Entzücken, seine Hand zitterte vor Wonne, und doch blieben der Sehnende und die Gewährende getrennt. Ein dunkles Feld schob sich zwischen Beide. Ein Thurm schoß auf aus der Tiefe, und trug Justinens Gestalt bis zu den Wolken, daß der Zurückbleibende bald ihre Züge nicht mehr unterscheiden konnte. Statt ihres glänzenden Auges blinkte ein vergoldeter Thurmknopf auf die Wasserwüste hernieder, die auf ihren unstäten Wellen den Jüngling fortzureißen schien. Wie vorhin die Laube zum Hause, so wurde nun die hochstrebende Tanne zum Maste, von welchem schwarze Wimpel flatterten. Je frischer der Wind über des Gartens Blumenbeete strich, und deren Häupter bewegte, je drohender schienen die Wasser zu schwellen, und James ängstigte sich, von Heimweh und Sehnsucht gemartert, auf der reißenden Fahrt. Wohl klärte sich der betäubende Schwindel wieder in ein helles Bewußtsein auf; -- wohl warf an den Ufern eines reizenden Landes die Hoffnung den Anker aus, und es rastete der fluthenschneidende Kiel ... wohl winkte aus dem Myrthengebüsch am Strande, aus den Palmenwipfeln der Höhen ein reizendes Weib, verführerisch in ihrer Anmuth und in fremder Tracht und Sitte..., James konnte nicht weilen im herrlichen Gebäude, durfte nicht rasten, wie das verlassene Schiff. Justine schwebte ja über den blauen Bergen des Horizonts; ihre versagende Geberde, ihr strenges Lebewohl, riß ihn ja dahin wie mit Göttergewalt, -- bis unter den Blätterbehängen eines lautlosen Waldes ihre Huldgestalt verschwand, ihr abmahnender Ruf verhallte. James konnte ihr nicht mehr in das Innre jenes geheimnißvollen Waldes folgen, denn seine Sinne endigten, erschöpft von den übermenschlichen Hindernissen, die ihre eigene Laune gebar, das trügerische, peinliche und dennoch angenehme Spiel. Es war mit einem Schlage Alles um ihn her, wie zuvor; der Thurm zur kleinen Laube, der schwarzgewimpelte Mast zur düster belaubten Tanne geworden. Das wogende Meer hatte sich wieder in ein Blumenfeld, die myrthenbekränzte Küste in des Nachbars wohlgeschmückte Orangerie verwandelt; der blaue Gebirgsrücken in das hohe Schieferdach der Paulskirche; der schweigende Wald in die Pappelspitzen des zu St. Paul gehörenden Friedhofs. Das Schauspiel war vorüber, und den Gedanken des Jünglings wurde sogar verwehrt, ihm einen grübelnden Epilog zu halten, denn die Herren im Nebenzimmer, die wieder angefangen hatte, laut zu sprechen, erregten des fast unwillkürlich Lauschenden Aufmerksamkeit. »Sie können von der Sünde, die Sie sich zuzurechnen haben, nur in Ihres Gewissens Buße und im Gebete Befreiung finden,« hob der Doctor ernst und mit bewegter Stimme an: »Gott und die Barmherzigkeit sind Eins: ich darf Ihnen im Namen des Allbarmherzigen Vergebung zusichern, und muß jetzo doppelt beklagen, daß Ihre Eltern Sie den Gebräuchen der wahren Kirche entfremdet haben; ein Irrthum, woran Sie unschuldig sind; der aber nichts desto weniger störend auf Ihren Seelenzustand in vorliegendem Falle einwirken muß.« »Wie das, mein würdiger Vater?« fragte der Senator mit zerknirschter und erschöpfter Stimme. »Hätten Sie den Muth, den Willen, mein Sohn,« -- begann der Doctor wieder, -- »mehr als ein Gast am Tische Ihres Vaters, in den Armen Ihrer Mutter zu sein, -- würden Sie aufhören, die heiligen Glaubenslehren wegzuweisen, die allein unsere Glückseligkeit ausmachen, -- in einem Augenblicke würde Ihr Herz beruhigt, glücklich sein. Ich würde Sie _los_ sprechen; das Vergangene gänzlich ungeschehen machen. Vermittelst einer kleinen Buße, die den Armen zu Gute käme, und einiger geistlichen Betrachtungen könnte ich jedweden Fehler von Ihrem Haupte nehmen, während ich jetzo nur als Freund Sie auf des Ewigen Liebe zu verweisen habe. Ihre Prediger, mein Lieber, sind gut und böse, wie die Welt; aber die Besten unter ihnen, die Gelehrtesten, wie die Spitzfindigsten, die Tugendhaftesten, wie die Klügsten, ermangeln des Stempels, der ihrem Thun die Weihe aufdrücken könnte. Gewandtheit in der Rede und in der Dialektik ist nicht die Gelehrsamkeit vor Gott, dem das Opfer lieber ist, als ein wohlgesetzter Sermon. Ihre Prediger, Herr Senator, sind nicht Priester, und gleichwie ihr Gewand sich dem Weltlichen nähert, so ist leider ihr Geschäft nur ein Weltliches. _Uns_ ist vom Heiland die Macht vertraut, zu lösen. Darum sprechen wir mit voller Zuversicht die zuversichtigen Glaubensbrüder los, während Ihre Geistlichkeit, indem sie dem Gewissen des Pönitenten und einem oberflächlichen sorglosen Vertrauen auf den Höchsten alles Sündenwesen anheimstellt, an jedem Beichttage eine Sünde mehr auf das Haupt derjenigen ladet, die ihr glauben.« »Sie sprechen hart ab, würdiger Herr.« »Nicht so hart, als man über uns das Verdammungsurtheil fällt. Gott duldet aber diese Schmähungen seiner Kirche, damit ihr Sieg einst glänzender werde. Seine Langmuth kennt nur die weitesten Grenzen. Hin und wieder warnt sie scharf, aber der taube Irrende überhört den Ruf der Warnung. Ein Beispiel, mein Lieber: Es sind kaum sechs Monden verflossen, seit an einem Vorbereitungs- und Beichttage in der Johanniskirche, plötzlich, wie aus heiterem Himmel kommend, ein Blitzstrahl in die Emporkirche schlug, die Orgel beschädigte, das in Marmor gehauene Evangelienbuch über dem Altare zertrümmerte, und durch ein offenstehendes Fenster in's Freie fuhr. Sehen Sie hierin einen Fingerzeig des Ewigen, der in seinem Gewitter warnte, und dennoch nicht strafte, da kein Mensch beschädigt wurde, und der Organist mit einer leichten Betäubung davon kam. Der Tag, an welchem dieser merkwürdige Vorfall Statt hatte, das kecke Sinnbild, das der Blitz zertrümmerte, Alles erregte die gerechten Bedenklichkeiten der Menge, die immer mehr bereit ist, Gottes Willen zu erkennen, als ihren Führern lieb ist. Ihre Geistlichen verkündigten freilich von den Kanzeln, daß man den Schöpfer beleidigen würde, wollte man in der reinen Zufälligkeit jener _Naturerscheinung_ den Ausdruck seines Zorns erkennen. Was soll man jedoch von den gelehrten Männern denken, die am folgenden Tage vielleicht mit aller Wärme den Satz vertheidigen, daß kein Sperling von dem Dache, kein Haar von unserem Haupte fällt, ohne den Willen des Allmächtigen? -- Den schlechten Vogel auf dem Dache also, das dünne Haar auf unserem Scheitel vermag er zu halten, aber nicht das Gewitter, auf dem er daherfährt? nicht den Blitzstrahl, seinen fürchterlichen Macht- und Zornboten?« »Ich sehe Sie in Gedanken vertieft,« fuhr er nach einer Pause fort, während welcher sich der Senator ganz ruhig verhielt: »Lassen Sie uns abbrechen. Die Gnade des Herrn arbeitet an Ihrer Wiedergeburt. Folgen Sie Ihr. Jeder Mensch ist zur Gnade reif, wenn er nur will, und die Wege zur Besserung einschlägt. Jeder Sünder oder Irrende, der das Heil _sucht_, hat Theil an demselben, weil Christus es für Alle durch sein Blut erworben hat, und man muß gerade nur Jansenist sein, um diesen Trost läugnen zu wollen. Gehen Sie hin: ich bin überzeugt, daß Sie nach den acht Tagen Bedenkzeit, die ich Ihnen hiermit erlaube, freudig zu mir zurückkehren werden, um das Kleid der Unschuld völlig anzuziehen.« Der Senator seufzte wieder schwer, und setzte zögernd hinzu: »Was die Summen betrifft, würdiger Herr, welche den Betrag der Wechsel ausmachten ... mich peinigt der Betrug des Augenblicks. Ich könnte freilich, -- Dank sei es jenem blinden Glückszufall, -- dem Erben die Summen abtragen, allein schon zirkuliren sie im Handel. Mein gesunkener Credit bedurfte starken Aufschwungs, -- jetzt kann ich das Geld nicht wohl ermangeln. In einigen Jahren allenfalls, ... der Himmel behüte mich, es gänzlich abläugnen zu wollen ... aber ... wie gesagt..« »Ich weiß bereits,« versetzte der Doctor: »ich glaube, daß Sie vor der Hand die fraglichen Summen gar wohl behalten dürfen. Wären Sie unsers Glaubens, ich würde unumwunden sagen: Behalten Sie das Geld, mein Sohn. Ihr redlicher Wille, es einst wieder zurückzuzahlen, genügt der Moral vollkommen, da -- Erstens -- Sie sich durch die einstweilige Verwendung der Summen aus der bedenklichsten Lage retten, und Selbsterhaltung die erste Pflicht ist; da -- Zweitens -- der jetzige Creditor in seinem Reichthume des Geldes nicht bedarf. Bei Ihnen ist =periculum=; die Gelder, einst mit Interessen zurückgegeben, werden ihm doppelt erwünscht kommen. Sollte hingegen zu jener Frist er selbst nicht mehr leben, und keine Familie hinterlassen, so befreien Sie, der Kirche eine Stiftung von dem Gelde machend, Ihr Gewissen völlig. Wären etwa Hinterbliebene vorhanden, so genügen Sie den Anforderungen der Moral, wenn Sie unter diese und die Kirche den Betrag gleich vertheilen: denn, da die Erben persönlich kein Unrecht erlitten, so entschädigt sie hinlänglich die Hälfte, während die andere, zu milden Stiftungen verwendet, am zweckmäßigsten die Rechnung mit dem Verstorbenen ausgleicht.« »Sie sind ein wackerer, kluger Mann,« versicherte der Senator mit leichterem Herzen: »Ich fühle Vertrauen zu Ihnen, wie zu keinem Menschen auf der Welt. Sie beruhigen meine Seele durch einige Worte mehr, als alle unsere Geistliche durch ihre strengen Forderungen und schwülstigen Reden. Ihre Sittenlehre paßt in die Welt, wie sie ist. Sie verstehen die Bedürfnisse eines Hausvaters und Geschäftsmannes zu beachten. Wenn nur die Gestalt des armen Birsher von mir weichen wollte!« »Die Absolution ist der beste Exorcism gegen die Gespenster des Gewissens. Nur die Lossprechung wälzt den Fels, den verschuldeten, von Ihrer Brust. Sie wissen den Weg zur Gnade. Wählen Sie in Zeiten.« »Wenn mich nur die Furcht vor Sünde nicht abhielte, meine Sündhaftigkeit zu heilen!« sagte der Senator ängstlich: »Ich armer Mensch!« »Wir halten häufig für Sünde und Verbrechen, was eine gleichgültige Handlung ist. Menschensatzung ist immer voll von Fehlern, und das Lutherthum ist eine solche. Der heilige Petrus konnte _uns_ wohl Worte vom Himmel bringen, er vernahm sie aus dem Munde seines himmlischen Meisters. Der Augustinermönch von Wittenberg konnte Ihnen nur Weltliches lehren. _Wir_ öffneten ihm die Arme, _er_ stieß uns verstockt zurück. Wer handelte hier im Geiste des versöhnlichen Gottes? Ein Cardinalhut hätte den ehrgeizigen Mönch beschwichtigt und zahm gemacht; die demüthige Kutte behagte ihm nicht mehr. Am römischen Hofe nannte man es Verbrechen, den Widersacher durch heilige Würden kirren zu wollen. Er nannte es zu Worms ein Verbrechen, der milden Mutter reuig entgegen zu kommen. Was ist also Sünde, so lang die Welt es mit Recht und Unrecht zugleich hält? Würde man zu Hamburg Ihnen ein Verbrechen daraus machen, daß Sie in der Lotterie spielten, und das große Loos gewannen? Gewißlich nicht, während man Sie hier, würde es bekannt, aus dem Senate stoßen würde. -- Wird ein unbefangener Mensch Sie eines Verbrechens beschuldigen, weil Sie nun wissen, daß ich ein katholischer Geistlicher bin, und weil Sie nicht hingehen, um mich zu denunciren, damit man mich aus der Stadt bringe? Sicher: nein. Und doch würden Sie Ihrer Würde verlustig und in starke Geldbuße verfallen sein, erführe es die Stadt. Thun Sie Recht, bereuen Sie das Vergangene, damit Gott Ihnen vergebe. Werden Sie einer der Unsern, daß ich die Freude haben kann, Ihr Gewissen gänzlich zufrieden zu stellen. Dahin gehe Ihr Trachten. Besuchen Sie mich, wie Nikodemus den Herrn, im Stillen: Sie sollen immer in mir den verschwiegensten, den treuesten Freund finden.« »Der Engel Clara spricht für Ihre Tugend und Ihre Liebe!« rief der Senator unter Thränen, die an des Doctors Brust zu fließen schienen. »Um Clara's willen also, Herr Senator,« versetzte der Doctor eindringlich: »Muth! heilsamer Entschluß! Vertrauen zu mir und meinen Worten. Um Clara's willen, armer zweifelnder Mann!« Nach einer kurzen Stille hörte der junge Engländer den Senator fortgehen. Der Doctor rief nach seinem Frühstück, sang seinem Lieblingsvogel eine Melodie vor, und als James die Tasse klirren hörte, glaubte er, es sei an der Zeit, dem Pflegvater sich vorzustellen. Der Doctor hatte die Gewohnheit, sich zur Zeit des Frühstücks in sein Cabinet zurückzuziehen, um daselbst ungestört sein Brevier beten zu können. James fand ihn damit beschäftigt. Leupold legte das Buch indessen alsobald weg, und sagte heiter: »Guten Morgen, mein Sohn. Du findest mich erfreut, denn Gott will erlauben, daß ich wieder eine Seele zu dem Freudenreiche der alleinseligmachenden Mutter zurückführen darf. Wie hat sich deine Bemühung belohnt, James? Ich glaube, dich in der Kapelle gesehen zu haben.« James berichtete mit Bedauern und Achselzucken. Der Doctor hörte aufmerksam zu. »Recht gut!« sagte er alsdann. »Ich finde keinen Grund zum Verdruß und zur Mißbilligung. Das Mädchen hat, wie du sagst, mit gespannter Neugierde die Messe abgewartet? folglich hat die heilige Handlung Eindruck auf dasselbe gemacht. Der Reiz des Mysteriösen vollendet die gegebene Richtung. Plaudern wird Justine nicht. Sie scheint fester und verschlossener zu sein, als Mädchen gemeinhin zu sein pflegen. -- Die Lainez soll hier ihr Meisterwerk machen. Seitdem sie hier ist, hat sie, den jungen Pahlens ausgenommen, keine Seele gewonnen. Die Frau ist noch zu jung, zu hübsch, zu eitel, um mit Vortheil wirken zu können. Sie wirft ihre Netze nach Männern aus, während sie die Frauen erobern sollte. Die Kunst, die sie besitzt, ihr Aeußeres zu formen, wie es die Nothwendigkeit erheischt, -- ihre Geschicklichkeit, den Protestantismus auszuhängen, um eben durch diese List für die gute Sache zu werben, -- diese lobenswerthen Eigenschaften sind mir wohl bekannt; aber ich wünschte dennoch, der Pater Superior hätte mir eine andere Mitarbeiterin, älter, gediegener, zuverlässiger, an die Seite gestellt. Eine solche würde auch dich, mein Sohn, mehr zu begeistern vermögen, als diese Lainez kann, von der du dich augenscheinlich abwendest.« »O, mein Vater;« entgegnete James mißmuthig: »die heuchlerische Lainez, wie ich, wir spielen eine recht gehässige Parthie.« »Wieder die alte Klage?« fragte der Doctor finster: »Du wirst mich zwingen, dich vor Beendigung meiner Mission in's Noviziat abgehen zu lassen. Schweige, wenn du nichts Verständigeres vorzubringen weißt. Dort liegen Frachtbriefe, Rechnungen, und zu beantwortende Missiven. Schreibe ab, trage in's Buch und auf mein eigenes Register. Vergiß nicht nachzurechnen, mein Sohn. Der Ansatz der Medizinalkräuter und Farbehölzer, den mir der Pater Thomas Cosedro von Assumption beigelegt hat, scheint mir übertrieben. Sieh vorläufig nach, bis der Capitän selbst angelangt sein wird. Ich erwarte ihn bald. Ich werde nun ausgehen, und mein Brevier im Freien lesen, und bei Spaldinger Wechsel für das Provinzialat negoziren, und dem Himmel danken, daß er unsers Ordens Bemühungen in hiesiger Stadt mit außerordentlichem Gedeihen segnet. Wir zählen bereits mehrere bedeutende Männer zu unserer kleinen Gemeinde, und der Beitritt eines einflußreichen Rathsherrn soll unserer Mission, mit Christi Hülfe, größere Sicherheit und ein erfreuliches Bestehen erleichtern. Gott erleuchte dich, mein Sohn, und behüte dich, bis zum Wiedersehen!« Wie der Doctor, nachdem er sein Haus verlassen, seine Wechselgeschäfte verrichtet, wie er sodann unter den Bäumen der sogenannten Brunnenhaide seine Gebete mit geflügelter Zunge abgethan, -- im Voraus weglesend, was noch zum Nachmittag aufbehalten hätte bleiben sollen, bedarf keiner weitläufigeren Beschreibung. Zufrieden, von Niemand in seiner Andachtsübung gestört worden zu sein, schob er das Buch in die Tasche, und ging zur Stadt zurück, berichtigte an der Brücke auf's Pünktlichste den Zollpfennig, grüßte freundlich und ergebenst alle Gutgekleideten, die an ihm vorüber kamen, und nickte mit verstohlener Herablassung einigen gemeinen Arbeitsleuten zu, die eben so verstohlen beim Läuten der Mittagsglocke ihre Kappe zogen. Die Höflichkeit des klugen Mannes erstreckte sich sogar auch auf leblose Gegenstände. Vor dem Schilderhause an der Thüre des ersten Bürgermeisters, vor dem Stadtwappen über dem Thore des Rathhauses, vor den Kanonen der Hauptwache, zog er den Hut ab, und entblößte sein Haupt beinahe vor jedem ansehnlichen Hause, wenn gleich aus dessen Fenstern Niemand sah. Sobald er wieder in die engen Straßen seines Viertels kam, machte die Demuth dem Selbstbewußtsein Platz, und in der That war eine in jener Gegend vorfallende Begebenheit ganz dazu geeignet, seinen Ideen eine andere Richtung zu verleihen. In einem engen Gäßchen standen alle Bewohner vor den Thüren. Viele fremde Nachbarn aus den anliegenden Straßen erfüllten den Eingang des Gäßchens, und all' die zerstreuten Gruppen gafften nach einem Hause, das auf seinem Aeußern schon das Gepräge der Armseligkeit trug, hätte man auch nicht an dessen Fenstern die blassen, von Schmutz und Hunger entstellten Kindergesichter gesehen, die daraus auf die schwatzenden Leute starrten. Schon hatte sich der Doctor zu einem Trupp plaudernder Schustergesellen gewendet, um Erkundigungen einzuziehen, als aus dem Hause, nach welchem alle Blicke sahen, der Pastor der Johanniskirche trat; im Amtskleide zwar, aber mit dem feindseligsten Gesichte. Dem heftig ausschreitenden und schnaubenden Manne folgte der gutmüthige Arzt Häckel, den das Volk gemeinhin nur den Armendoctor nannte, und verschwendete manches gutgemeinte Wort des Zuredens. Mehr noch indessen, als des Arztes Fürsprache griff das Gesicht und das Aeußere eines andern Mannes, der hinter dem Arzte einherschlich, an jedes halbmenschliche Herz. Der Prediger in seinem Unmuthe wurde jedoch nicht gerührt. »Keine Begleitung, keine Nachrede!« sagte er heftig: »Verehrtester Herr Doctor Häckel! kein Jota weiter! und Er, Monsieur, schweige Er vollends. Ich mag kein Wort an Ihn verlieren. Er hat mich betrogen, mir und der Bürgerschaft ein Scandalum gegeben. Hätte ich von Anfang gewußt, mit welchem =nebulone=, mit welchem Gelichter ich's zu thun haben sollte, ... nicht einen Schritt weit wäre ich gegangen! nicht Seine _Schwelle_ hätt' ich betreten!« »Aber, ehrwürdiger Herr Pastor! eine Sterbe...« stammelte der so unsanft Zurechtgewiesene. »Was kümmert das mich?« eiferte der Geistliche mit größerem Unwillen: »Wie gelebt, so gestorben. Wem Ihr Leute im Leben angehörtet, dem bleibt auch im Tode. Helf Euch der, dem Ihr Euch übergeben, Ihr Auswurf!« Er ging mit allen Zeichen fortdauernden Zorns aus der Gasse, und die Mehrzahl der Gaffenden zog hinter ihm drein. Der Doctor sah noch, wie der gutmüthige Arzt Häckel dem in seiner Betrübniß verstummenden Bewohner jenes Häuschens ein Stück Geld in die Hand drückte, wie er, mitleidig, aber ohnmächtig die Achseln zuckte, und sich dann eiligst entfernte. »Dem hat's der Pfarrer recht gesagt!« lachten einige rohe Bursche im Vorübergehen; und auf Leupolds Fragen erwiderte ihm ein alter Bürger, der, traurig den Kopf schüttelnd, sich ebenfalls zum Gehen wendete: »Lieber Herr, Sie glauben nicht, welch ein Jammer das ist! Der Pastor mag wohl im Grunde Recht haben, aber hart ist's, wenn man bedenkt, daß die Armen doch Menschen sind!« »Erkläre Er sich genauer, mein Freund.« »Sie müssen wissen, lieber Herr, daß der blasse Mensch, der eben wieder wie ein Verzweifelter in's Haus geht, ein Komödiant ist. Er gehört zu der Bande, welche mit Erlaubniß des preislichen Magistrats in der Bude auf dem Schwanenmarkte spielt. Vor acht Tagen sind die Leute erst angekommen, und jener Mann, der eine schwerkranke Frau und vier oder fünf Kinder mit sich führt, hat bei dem Wagenmeister Ulrich eine Wohnung gefunden. Die Menschen behelfen sich gar kümmerlich in der feuchten Stube und schlafen, so zu sagen, auf der schwarzen Erde. Da ist die Frau nun kränker geworden, und bis an's Sterben gekommen. Der Armendoctor, der um Gotteswillen zu ihr kam, und die Arznei aus seiner Tasche bezahlte, hat dem armen Mann vertraut, wie schlimm es mit dem Weibe steht, und ihn aufgefordert, sich nach geistlichem Zuspruch umzusehen. Der Pastor ist zwar wie der Blitz bei der Hand gewesen, aber kaum hat er gehört, daß die Frau eines Komödianten Weib sei, und -- wie ich meine, -- demselben nicht einmal angetraut, als er ihr das Abendmahl versagte. Wie es alsdann mit dem Begräbnisse gehen wird, das weiß Gott.« Der Doctor ging, an der entsetzlichen Lage der Armen Antheil nehmend, auf das elende Häuschen zu, blickte durch's Fenster, und übersah eine Scene des Jammers, die sich jedes fühlende Herz versinnlichen mag. Das Weib lag, von Verzweiflung und Schwäche gleich erschöpft, auf dem elendesten Strohlager, und lallte die Worte: »Ach, Joseph! Joseph! warum sind wir nur geboren worden? Ach, wie verläßt uns Gott! Ach! was soll aus den Kindern werden!« Und die Kinder schrieen, und der Mann stand im Winkel, drückte beide Hände vor die Augen, und das eiskalte, bleiche, abgezehrte Gesicht sprach mehr, als Worte vermocht hätten. Des Doctors Herz wurde aber noch einmal so schwer, als er in des Mannes Zügen, besonders dann, als er wieder die Augen öffnete, und wild zum Himmel hob, die Züge eines bekannten Gesichts erblickte. Er klopfte rasch an's Fenster. Langsam öffnete es der Trauernde. Der Doctor reichte ein Scherflein hinein, und fragte leise: »Wie ist Euer Name, mein Freund.« »Ich heiße Wohlgemuth, mein Herr« Der Doctor schüttelte den Kopf. »Das ist nicht Euer wahrer Name, Mann Gottes. Sagt mir den rechten.« Der Mensch sah ihn verwundert an, und rieb sich verlegen die Hände. »Ich wundre mich, daß ich meinen ächten Namen nicht schon vergessen habe,« sagte er schmerzlich: »aber weil Sie so bestimmt fragen, will ich ihn doch wieder einmal aus dem Gedächtniß hervorholen. Ich hieß einmal Joseph Litzach.« »Weiß Gott! er ist's!« sagte der Doctor, wie vor sich hin. »Ich kenne Euch,« setzte er bei: »ich wünsche mit Euch unter vier Augen zu sprechen.« Der Mann deutete kummervoll auf die dahinschmachtende Frau. »Bevor es nicht hier vorüber ist ...« sagte er leise, »kann ich nicht ausgehen. Der Doctor meint: um die dritte oder vierte Stunde Nachmittags ... der Pfarrer wird's wohl noch um ein Stündchen beschleunigt haben...« Dem Doctor traten die Thränen in die Augen. »Vertraut auf Gott!« sprach er: »Ich will Morgen wieder vorbeikommen.« »Bewahre!« entgegnete Litzach hastig: »Sagen Sie, mein Herr, wo ich Sie antreffen kann. Ich kann heute noch zu Ihren Diensten sein, wenn nicht Gott an meiner Alten ein Wunder thut. Um vier Uhr haben wir ohnehin Komödie...« »Wie? und Ihr agirt mit, an diesem Trauertage?« »O, mein Herr, darnach fragt der Principal nicht. Ich käme um den Wochenlohn, um's ganze Brod. Wir agiren heute eine Schnurre, und ich muß darinnen den Hanswurst machen, lustig, recht lustig, damit das verehrte Publikum lacht, wenn mir auch das Herz unter der bunten Jacke entzwei ginge.« Der Doctor fand keine Worte. Litzach fuhr aber bald wieder fort: »Um sechs Uhr stehe ich zu Diensten, mein Herr. Wenn Sie allenfalls um diese Zeit auf der Mailbahn am Schwanenmarkte lustwandeln wollten ... ich will mir aus des Principals Kleiderkammer einen reputirlichen Rock borgen, damit ich Ihnen keine Schande mache. Jetzt aber ... entschuldigen Sie. Meine Alte ruft ihren Joseph. Vielleicht muß ich ihr jetzo schon Lebewohl sagen...« Leupold nickte stumm mit dem Kopfe, und ging betrübt weiter, während der Schauspieler wieder sein Fenster zumachte. Der Doctor benützte den Umstand, daß er an einigen Häusern heimlicher Glaubensgenossen vorbeikam, um mit einem Worte Litzachs arme Familie ihrem Mitleid zu empfehlen. Die Leute waren alsobald bereit, einiges Essen und ein Paar Pfennige hinzuschicken. Der Dürftige ist am Ersten geneigt, dem Dürftigen beizustehen. Dem Doctor war es lieb, durch die Begegnung eines andern Bekannten aus seinen trüben Gedanken gerissen zu werden. Aus seinem Hause trat ein rüstiger Seemann in braunem Rocke und manchesternen Beinkleidern, tüchtigen Schuhen mit großen silbernen Schnallen, das Halstuch nachlässig in den Schifferknoten geschlungen, und ein derbes spanisches Rohr in der Hand. Der bordirte Hut mit der auszeichnenden Schleife verrieth den Capitän. »Grüße Sie Gott, Ew. Hochw... Herr Doctor, wollt' ich sagen!« rief der Capitän in tiefem Basse: »Ich wollte eben ein Paar Dutzend Tonnen Teufel reklamiren, weil ich Sie nicht zu Hause gefunden. Sie müssen, Gott bessre mich! mit mir zu Mittag speisen; später als gewöhnlich, aber gut und herzhaft, wie's ein Seehund gerne hat. Um elf Uhr bin ich aus der Kalesche gestiegen, und habe im goldnen Schwan mein Absteigquartier genommen oder, besser gesagt, Anker geworfen.« Somit nahm er den Doctor vertraulich, aber ergebenst unter dem Arm, und steuerte mit ihm in anderer Richtung weiter. »Sie haben mich wohl früher erwartet?« fuhr er fort: »Aber, -- Sturm und Segel! ich mußte laviren, bald auf Osten, bald auf Westen halten, ehe ich hier anlegen konnte. Mein Schiff ist frisch und gut im Havre eingelaufen, und das würdige Collegium zu Paris hat bereits seine Contanti empfangen. Der Handel blüht im Stillen, und er Vater Lavalette, der, so jung er noch ist, bereits eine ungemeine Spekulationsgabe entwickelt, hat mir schon von neuen Etablissementen und neu auszurüstenden Fahrzeugen gesprochen. Ich habe Briefe von Paris und Lissabon an den Pater Superior, und wünsche, daß Sie mir nach Vidimirung der eingesandten Rechnungen und Bescheinigung des Geldes, das ich bei Ihnen niederzulegen habe, einen Empfehlungsbrief an den wackern Herrn mitgeben möchten.« Der Doctor versicherte ihn seiner Bereitwilligkeit, und die Herren setzten sich im Gastzimmer des Schwanen zum Speisen nieder. Leupold war hier auf wohlbekanntem Felde. Die Gastwirthin, eine noch ziemlich junge und rasche Frau, hatte, von andächtigen Freundinnen bestürmt, von dem Doctor in's Geheimniß gezogen, ihren heimlichen Uebertritt zur verborgenen Kirche nicht schwer gemacht. Der Wirth, ein schwerfälliger Reichsstädter von wenig Scharfsinn, war leicht zu täuschen gewesen, und ahnte nicht das Mindeste von der Religionsveränderung seines Weibes. Er schätzte den Doctor, der häufig das Haus besuchte, als tüchtigen Politiker hoch, und die Frau benutzte jede unbewachte Minute, um aus den salbungsvollen Worten ihres geheimen Beichtigers Trost und Ruhe zu schöpfen. Ihre unerfreuliche Ehe, wie die immer neu erwachsenden Zweifel ihres Gewissens machten ihr Trost zum Bedürfniß. Nebenbei sprach die Stadt auch Vieles von ihrem weichen gefühlvollen Herzen, und der Nachbarn Zunge bezeichnete ziemlich genau diejenigen junge Männer, die sich der Theilnahme der hübschen Frau zu schmeicheln gehabt. Die Gesellschaft in dem Schwan war nicht zahlreich. Der Capitän und der Doctor, tafelnd in der einen Ecke. In der andern die Wirthin, am Schenktische und an dem Küchenfenster beschäftigt, durch welches die Speisen hereingereicht wurden. In der Stube auf und niederwandelnd der Herr des Hauses selbst, -- bald mit der Fliegenklatsche arbeitend, bald von Belgrads Einnahme, vom Reichstag zu Saragossa, und den schlechten Zeiten posaunend. Am Fenster zwei Kartenspieler: ein pausbäckiger Sensal, und ein Offizier der Stadtmiliz: beide der Frau vom Hause zärtlich zugethan; beide nicht von ihr erhört. Die Unterhaltung war, wie gewöhnlich, wenn Einer allein spricht, wie hier der Wirth, -- nicht sehr glänzend und erbaulich. Der Capitän aß stark und trank nicht wenig; der Doctor beobachtete seine Umgebung, die Wirthin tranchirte, die Spieler trieben ihre Belustigung fort. Eine Reisekalesche, die vor dem Hause hielt, brachte alle Köpfe in Bewegung. Sie fuhren an's Fenster; nur die erfahrnern Tafelgäste blieben ruhig. Der Reisende, ein junger Mann, trat langsam in die Stube, während er befahl, Mantelsack und übriges Gepäck nach dem besten Zimmer des Hauses zu liefern. Die von dem Anblick des hübschen Mannes freundlich angesprochene Wirthin machte denselben zum Nachbar des Doctors, und gebot, das verlangte Diner eiligst herbeizuschaffen. Der Fremde grüßte Capitän und Doctor höflich, und streckte sich dann bequem auf dem Stuhle aus. Der Wirth setzte sich gegenüber, und stierte den Gast neugierig an. Die Spieler setzten das Spiel fort. Der Capitän brach das Schweigen. »Gute Reise gehabt, mein Herr?« »Sehr gut.« »Kommen weit her, ohne Zweifel?« »Sehr weit.« »Durchreisend?« »Nein.« »Geschäfte auf hiesigem Platze?« »Ja.« »Wären wir Landsleute? Ich bin ein Friese.« »Ich nicht.« »Darf man fragen, mein Herr...« »O ja.« »Woher die Reise...« »Kellner! eine Flasche Wein!« Hiermit brach der einsilbige Fremde ab. Der Capitän biß sich versehentlich in die dicken Lippen. Der Doctor lächelte und betrachtete den Lakonischen genauer. Er sah gar nicht aus wie ein Spaßvogel, sondern wie ein ernsthafter, sehr besonnener Mann. Sein regelmäßiges Gesicht war ruhig, die Augen groß, und blickten fest vor sich hin. Keine Freudigkeit, aber eine eiserne Fassung sprach von der Stirne, und der ganzen Gestalt. Das Trauerkleid, das der Fremde trug, entschuldigte allerdings den Ernst, welcher der natürlichen Heiterkeit der Jugend Abbruch that. Der Fremde aß mit vielem Anstande, was ihm vorgesetzt wurde, und trank den Wein stark mit Wasser vermischt. Den Doctor, dem seine früheren Verhältnisse Mäßigkeit zur ersten Pflicht gemacht hatten, freute das regelmäßige, abgewogene Betragen des Fremden, und er richtete auf die Gefahr hin, eben so zurecht gewiesen zu werden, wie vorhin der Capitän, einige artige Worte an den Nachbar, die auch verbindlich und kalt erwidert wurden. Indessen sprang der Offizier, der so eben seine Partie gewonnen hatte, mit Getöse von dem Stuhle, und riß die Fensterflügel auf. »=Mort de ma vie!=« rief er: »Sensal! Wechselbote! schau er auf! ein Kernmädel giebt's hier zu schauen!« Der Sensal sah hin, und sagte ziemlich lau: »Die Jungfer Müssinger! Aha! benebst Frau Mama!« »Thu' Er nicht so kalt und vornehm!« zankte der Offizier; »=Parole d'honneur!= das Mädel ist das Liebenswürdigste in der ganzen Stadt! Seh' er nur, was sich die Flegel von Sänftenträgern einbilden, daß sie eine so artige Last, wie diese, aufzunehmen gewürdigt sind.« »Wohl bekomme ihnen die Mama von vier Zentnern!« sagte der Sensal spöttisch, und nippte an seinem Glase. »Sie und ihr federleichtes Töchterlein gönne ich Ihnen von Herzen.« »Das spricht der Neid aus Ihm, Sensal.« »Ei nu, Herr Lieutenant,« hob die Wirthin an, die es nicht leiden konnte, daß andere Frauenzimmer hübsch gefunden wurden: »das absonderliche Wunderwerk finde ich nun auch nicht an der Mamsell. Ein putziges Dingelchen, recht keck, recht unverschämt, und geschminkt, ich lasse mir's nicht nehmen. Geht sie nicht am Sonntage wie ein Pfau auf ihren hohen Absätzen über die Gasse? Ist wohl ein Mensch, der sich nicht über ihren Stolz ärgerte? Die Mama ist auch grob und hochmüthig, das weiß Gott! aber dabei ist sie dumm wie eine Henne. Das Töchterchen hingegen versteht Antworten zu geben, -- so spitzig und witzig, und giftig und triftig, daß allen ehrlichen Leuten die Galle steigt. Das leichte Töchterchen mag froh sein, daß sie schwere Geldsäcke aufzuweisen vermag.« Der Sensal schnippte mit den Fingern. »Das spricht der Neid aus Ihnen, Frau Gasthalterin!« schaltete der Lieutenant ein, spaßhaft und impertinent zugleich: »Der Himmel verdopple mir die Gage, wenn ich nicht gleich zugriffe; -- die Jungfer dürfte nur die Hälfte ihres Geldes haben. Meine Schulden zu bezahlen fände ich doch genug: auf Ehre.« »Ew. Gnaden sprechen in's Blaue hinein,« versicherte kaltblütig der Sensal: »O! der Himmel hängt in diesem Hause voller Geigen, aber die Baßgeige wird doch am Ende ein Loch bekommen. Sie hätte es jetzt schon, wenn der dicke Holländer nicht so artig gewesen wäre, ... na! ich will klüger thun, und schweigen.« »Hm!« begann die Wirthin: »es wurde allerlei gemunkelt, das einem die Haut schaudern machte, und das...« »Das gefährlich ist, wiederzukauen!« fuhr der Wirth dazwischen: »ich bitte mir's aus, Frau Schwanenwirthin, daß Sie kein Wort mehr darüber verliert. Der hochpreißliche Senat hat's allen rechtschaffenen Bürgern befohlen. Auf allen Zunftstuben wurde es verblämt, und den Plaudermäulern angedeutet; und ich bin auch Zunftmeister, und muß auch auf Ordnung halten.« »Wohl geredet!« rief der Lieutenant beifällig: »Wie die Zunft, muß auch die Frau pariren und Subordination muß sein. Bei alledem möchte ich wissen, wohin die Damen sich begeben haben. Auf Ehre, ich möchte es erfahren. Wäre ihres Spazierwegs Ziel der Kuchengarten oder die Windmühle, ich ließe flugs meinen Polen satteln, um die reizende Jungfer von Mund zu Mund zu begrüßen.« Der Sensal zuckte bei den prahlerischen Aeußerungen des Windbeutels die Achseln, sah aber beinebst durch's Fenster, und erwiderte: »Da kommt Einer, der Ihnen, gnädiger Herr Lieutenant, ganz gewiß die beste Auskunft zu geben vermag: der übergeschnappte Thürmer von St. Paul, der zum Rasendwerden in des Senators Tochter verliebt ist, ohne daß er je ein Wort mit ihr gesprochen hätte. Brüstet sich nicht der Geck in seinem betrodelten Kleide wie ein Graf, und wer sollt es dem geputzten Affen ansehen, daß er zu Posaune und Glockenstrang geboren und gebildet wurde?« Der Mann Quaestionis flatterte in das Zimmer, geschmückt wie der albernste Zierbengel seiner Zeit. »Sieh da, Monsieur Pahlens,« rief ihm der Offizier entgegen: »Magnifiquester aller Thürmer! Woher, wohin, guter Freund? Ist Ihnen der Stern unserer Stadt, die wonnevollste und freudenbringendste der Grazien begegnet?« »Ach, gnädiger Herr!« versetzte Pahlenz mit schwärmerischem Ausdruck: »Des Lebens Licht hat mir gefunkelt auf meinem Seufzerpfad! Ich habe sie gesehen, in deren Aug Cupido mit gespanntem Bogen sitzt; das Götterkind. Zum Ritterhof begibt sich die Schöne, wie ich höre. Wäre ich doch der Kaffee, den sie schlürft, der Kuchen, den sie genießt. Gleich dem Zwieback, das ihre Hand zerbricht, zerbröselt sich mein Herz in eitler Sehnsucht!« -- »Abgeschmackter Gimpel!« brummte der schwarze Fremde leise vor sich hin, stand auf, und entfernte sich, langsam, wie er gekommen. Niemand, den Doctor ausgenommen, bemerkte seinen Abgang, denn der verliebte Thürmer ergoß sich in blumenreichen und geschraubten Redensarten, schnitt Jedem das Wort von Munde, betäubte das Ohr eines Jeden. Der Offizier unterbrach ihn endlich ziemlich brüsk, schnallte sich den Degen um, setzte sich den Hut martialisch auf, fuhr in die Handschuhe, und bereitete sich, den Damen zum Ritterhofe zu folgen. »Geht Er mit, Sensal?« fragte er barsch. »Ich habe auf der Niederlage zu thun. Auch besitze ich kein Pferd, das mit Ihrem Polen gleichen Schritt halten könnte.« »=Mort de ma vie!= ich besinne mich so eben, daß mein armer Polak sich den Fuß zertrat, und den Stall hüten muß. Ich werde zu Fuß gehen müssen. Begleiten Sie mich etwa, Monsieur Pahlens?« »Das würde sich nicht schicken, Ew. Gnaden. Ohnehin schlägt um 4 Uhr meine Stunde. Mein armer Teufel von Gesell ist ziemlich krank, und kann die Abendluft nicht vertragen. Ich muß also selbst...« »Die Posaune zur Hand nehmen, und tuten?« fiel der Offizier spottend ein: »=Parole d'honneur!= Schade um den jungen galanten Mann! Das ignoble Handwerk paßt wenig zu seinen feinen Gewohnheiten. Nicht wahr, meine Herren? nicht wahr, Madam? =A revoir! Adieu!=« Er empfahl sich unter lautem Gelächter. Nach einigen Anmerkungen über den Offizier und dessen Schulden ging auch der Mäckler. Den Capitän riefen seine Geschäfte, die Wirthin die Hauswirthschaft; der Gastwirth schlief, der Doctor und Pahlens gingen zusammen auf die Straße. »Wie habe ich mich gesehnt, einmal mit Ihnen allein zu sprechen,« begann Pahlens vertraulich, aber ehrfurchtsvoll: »Seitdem Sie mein geistlicher Vater wurden, kenne ich niemand auf der Erde, vor dem ich mein Herz auszuschütten geneigter wäre.« »Das gehört in den Beichtstuhl, mein Sohn;« erwiderte der Doctor leise. »Nicht doch, Herr Doctor;« versetzte Pahlens: »Rathen Sie mir als Freund. Meine Lage wird mir unerträglich. Ich bin zu etwas Besserem geboren, als auf dem abscheulichen Thurme zu verblühen, und den Lutheranern zu ihrem Gottesdienste hülfreiche Hand und Lunge zu leihen. Was werden Sie denken, wenn ich Ihnen sage, daß mir in verwichener Nacht die heilige Mutter im Traume erschien, und zu mir sprach: »Mein lieber Sohn; allzulange schon verkümmerst Du im Ketzerdienste. Geh hinaus, und suche Dir ein bessers Glück. Ich und alle heiligen Engel werden dir den nöthigen Beistand leisten.« Sofort erwachte ich, und konnte nicht mehr einschlafen. Wie sehr ich jedoch grübelte, ein Mittel zu finden, die gnädigen Absichten des Himmels zu erfüllen, so stumpf blieb dennoch mein Geist. Rathen Sie mir, was soll ich thun? Als Geiger oder Lautenschläger in die Welt ziehen, oder etwa als Apostel der wahren Lehre? Das Letztere wäre mein Wunsch, allein mich fesselt hier ein Sehnen und Wähnen, ein Hangen, ein Verlangen, das vielleicht sündlich ist, weil es eine Ketzerin zum Gegenstande hat.« »Was soll ich Euch sagen, mein Sohn?« antwortete der Doctor: »Ich will die Erscheinung, die Ihr gehabt, nicht bezweifeln. Wunder sind allerdings möglich, und es wäre Frevel, sie zu läugnen. So wahr es ist, daß der göttliche Mittler dem heiligen Franziskus, die göttliche Mutter dem preiswürdigen Loyola in Person erschienen, so läßt sich's gar wohl denken, daß die unbefleckte Mutter auch zu Euch im Traum gesprochen; denn -- was Euch an der Heiligkeit jener Männer mangelt, das ersetzt Ihr durch gläubige Zuversicht, und kindlichen Gehorsam. Jedoch, gerade, weil ich an diese Erscheinung wahrhaft glaube, dächte ich, Ihr fordert durch eifrige Gebeterweckung den Himmel auf, Euch einen nähern Fingerzeig zu geben; bevor Ihr Euer jetziges Amt von Euch werft, um in die Welt ohne Plan hinauszugehen. Ein besserer Redner als ich, würde Euch sagen, daß Euer Loos kein böses ist; daß Ihr besser thätet, gerade auf Eurem einsamen Thurme sitzen zu bleiben, und Euere Seele, gleich der eines Einsiedlers, zum wahren Christenthum immer mehr zu erwecken und anzufeuern, als daß Ihr jetzo wie ein Irrwisch im Weltgetümmel umher fackelt. Er würde Euch sagen, daß Ihr jetzo, als ein, Gottlob zur Mutterkirche Bekehrter, auf Eurem Thurme ein wahres Sinnbild der siegenden Kirche vorstellt, wie sie, im Verborgenen triumphirend, oben sitzt, während zu ihren Füßen die Baaldiener orgeln, schreien und ihre Possen treiben. Ich sage Euch blos: Schweigt, betet, und erwartet mit Geduld, wie es der Himmel mit Euch zum Guten lenken wird. Was ist's aber mit der Neigung, von der Ihr spracht? Hat sie nicht die Tochter des Senators Müssinger zum Gegenstand?« »Ach! Sie lesen in den Falten meines Herzens!« entgegnete der Geck; »Ich muß meine Schwachheit gestehen. Gehen Sie aber nicht strenge mit mir in's Gericht. Mein Herz ist so weich und empfänglich, als mein Mund blöde. Durch das Auge ist das Mädchen in meine Seele gedrungen. Geredet habe ich noch nicht mit ihr, und werde es auch nie, wenn Sie mir's nicht erlauben.« »Das darf ich nicht,« entgegnete der Doctor; »Zu welchem Endzweck auch? Ihr seid arm, die Jungfer ist reich. Ihr Vater ist Senator; Ihr seid Thürmer. Das paßt nicht. Aber die Hauptsache ist, daß Ihr Katholik seid, daß sie Lutheranerin ist. Zwar arbeitet die Gnade des Höchsten, wie ich vernehme, an ihrer Wiedergeburt, wie denn überhaupt, Dank sei es der Fürbitte unserer hohen Patronin, unsere Gemeinde täglich im Stillen zunimmt, bis sie laut wird reden können. Aber man rechne nicht auf das, was noch nicht ist. Ich weiß nun zwar, daß ein Jünglingsherz ein weiblich Gemüthe sucht, an das es sich bindet, wie die Rebe an die Ulme. Die reine Verschwisterung tugendhafter Seelen mag und darf ich nicht hindern. Ihr dankt der würdigen und gottseligen Frau Lainez die Erleuchtung in Eurem frühern Irrthum. Weiht ihr Euer dankbar Gemüth, und vergeßt das Weib, das nicht für Euch auf der Welt ist.« Pahlens verneigte sich, etwas unbefriedigt jedoch, und schied von dem Doctor, der sich zur Mailbahn begab. Auf und niederschreitend überlegte er sein heutiges Tagewerk, horchte verdrüßlich auf die Trommel, die von Zeit zu Zeit von der Komödienbude herüber schallte, auf das Geschrei des Lustigmachers, der vor der Thüre des Schauplatzes sein Publikum einlud; auf das Gejauchze der Gassenjungen, die den Possenreißer umschwärmten. Die Mailbahn, von Spazierengehenden angefüllt, wurde leer, weil die Neugierigen nach der Bude rannten, und bald befand sich der Doctor allein mit einem Frauenzimmer, das schon lange auf den Augenblick, mit ihm unter vier Augen zu reden, gewartet zu haben schien. Die Frau, in bürgerlichem Kleide, näherte sich ihm schüchtern, und sagte nach einem tiefen Knix: »Ich bin des Schreiners Buttler Frau, Ew. Hochwürden: Ihr eifriges Beichtkind.« »Was will Sie? Ich kenne Sie. Nun?« »Ich kann es mit meinem Mann nicht länger aushalten.« »Wie so?« »Er mißhandelt mich.« »Warum?« »Weil ich, eine Krankheit vorschützend, mich weigere zur Kirche zu gehen, und die Predigt zu hören, wie er's verlangt. Und dennoch fürchte ich mich vor der Sünde.« »Ohne Noth. Ich spreche Sie los. Gehe Sie in die Kirche, damit der Schein bewahrt werde. Singe Sie mit, hört Sie aufmerksam der Predigt zu; aber bewahre Sie Ihr kaum genesenes Seelenheil mit geistlichen Stärkungsmitteln. So wird Ihr Mann beruhigt, und die Gemeinde schöpft nicht Verdacht.« »Aber, Ew. Hochwürden: ich fürchte, das ist Heuchelei!« »Um einen guten Zweck zu erfüllen, ist auch eine gewisse Heuchelei erlaubt. Beruhige Sie sich, gute Frau. Wie steht's mir Ihren Kindern? Spürt Sie in diesen keine Anlagen zum Heil?« »Ach Gott, nein, Herr Doctor. Die Buben sind so roh, und die Tochter hat kaum die Confirmation überstanden.« »So lasse Sie ab von ihnen. Keine voreilige Vertraulichkeit, damit die Kirche nicht in Gefahr komme. Sie muß wachsen, im Verborgenen, wie die Saat des Feldes. Uebergebe Sie die Kinder ihrem Schicksale. Gott wird die Seinigen schon herausfinden.« »Aber mich jammert, daß sie verdammt sein sollen. Sie sind doch _meine_ Kinder, meine ehelichen Kinder.« »Die Frage wäre erst noch aufzustellen. Ist Sie nicht katholisch? Ihr Mann Protestant? Abgesehen, daß solche paritätische Verbindungen an und für sich nichts taugen, so könnte man gerade _Ihre_ Ehe nicht gültig erklären. Sie wurde von keinem katholischen Priester eingesegnet.« »Herr Doctor...!« stotterte die arme bestürzte Frau. »Gräme Sie sich nicht. Ich will es so genau nicht nehmen. Aber lasse Sie die Kinder den eigenen Weg gehen, und erwarte Sie alles von der Zeit.« Die Frau verneigte sich wieder demüthig, und entfernte sich. Der Doctor setzte sich auf eine Bank, lehnte sich an die dahinter stehende Linde, und schloß, wie er zu thun pflegte, nachdenkend die Augen. Der heutige Tag war jedoch ganz dazu gemacht, ihm die Unterhaltung der verschiedensten Art zu bereiten. Ein rasch daherkommender Mann nahm geräuschvoll neben ihm Platz. Der Doctor erkannte, aufblickend, in dem Nachbar des Senators Comptoirdiener Nothhaft. Der Mensch, dem der Doctor als solcher unbekannt war, befand sich heute in gar aufgeregter Stimmung, und eine händelsüchtige, tückische Weinlaune sprach aus seinen Augen und seiner Haltung. Um ein Gespräch anzuknüpfen, das er zu wünschen den Anschein hatte, bot er dem Doctor eine Priese Tabak. Dieser versagte. »Brauchen sich nicht zu geniren!« redete Nothhaft ziemlich barsch: »s'ist nichts Giftiges, nichts Schlafmachendes darunter.« Der Doctor, um den Grobian nicht zu beleidigen, nahm eine Priese, ohne davon Gebrauch zu machen. Nothhaft besänftigte sich, und versetzte: »Freue mich, Dero Bekanntschaft zu machen. Ew. Edeln sind ohne Zweifel fremd auf hiesigem Platze?« »Nicht doch, mein Herr; und dennoch mögen Sie Recht haben.« Nothhaft stierte ihn verlegen an, lächelte dann, und fuhr fort: »Recht gut gesagt, mein Herr. Justissime! Optime! Das ist all' mein Latein! Wie finden Sie das? Wenn man indessen Geld hat, -- er klopfte auf die klingende Tasche, -- so braucht man die Schulfüchserei nicht. He?« Der Doctor nickte. »Um aber wieder auf den Tabak zu kommen, so ist eine prudente Vorsicht wohl vonnöthen. Da kommt oft ein Mensch daher, bietet Ihnen Tabak; Sie schnupfen, schlafen ein, und finden sich am andern Morgen entweder im Werbhaus, oder auf einem holländischen Transportschiffe. Nicht so, mein Herr?« »Ich weiß das nicht.« »Sie wissen das nicht? Parbleu! das ist zum Lachen. Nun, nun! Sie haben freilich nichts mehr zu riskiren. _Junge_ Seelen sind die besten. Na! wie gehen hier die Geschäfte?« »Welche?« »Sapperment! die Ihrigen. Wie läßt sich die Kaperei an? Ja, bei uns gibt's einen tüchtigen Menschenschlag, wie gemacht zum Matrosen und Soldaten. Wie viel Seelen haben Sie schon auf dem Korne? Na, Männchen! machen Sie _mir_ doch aus Ihrem Handel kein Geheimniß. Parbleu! ich bin auch schon in Amsterdam gewesen. Ich kenne die Vögel an den Federn. Thun Sie nicht so unschuldig. Unser Magistrat kann einen Puff vertragen, ist seelenfroh, wenn man _ihn_ ungeschoren läßt, drückt beide Augen zu. Damit Sie aber sehen, wie redlich meine Absicht ist, so bin ich bereit, Ihnen ein bedeutenderes Pfand meines Vertrauens zu geben.« »Monsieur! Wofür halten Sie mich?« »Ei, Liebster! wozu die Umstände? Für ein kluges Holländerchen, für ein pfiffiges Seelenverkäuferchen. Machen Sie mir doch nichts weiß. Ich hatte noch nicht die Ehre, Sie zu kennen, aber wie ich Sie heute mit dem Capitän Tormerpick aus dem Schwanen treten sah, vertraulich, Arm in Arm, von Geschäften redend, -- ich war im Kaffeehause gegenüber, -- da hatte ich's auf der Stelle weg. Der Capitän hat den Ruf, mit Seelen zu handeln, und nach dem Sprüchlein: »Gleich und gleich...«« »Sie erzeigen mir viel Ehre, mein Herr!« »Noch mehr, mein werthester Geschäftsfreund. Ich will Ihnen Credit geben: ein Capital; solid und unverzinslich; im Gegentheil: ich will die Deposit-Interessen tragen.« »Ich begreife Sie nicht.« »Werden's alsobald. Sub dato Morgen oder Uebermorgen liefre ich Ihnen eine Seele: kerngesund, jung, von denselben Schultern und Fäusten; etwas naseweis zwar und ungezogen, allein in den Colonieen hat man vortreffliche Schulen aufgerichtet. Soll mich der Teufel holen, wenn die gute Seele nicht ihre 2000 spanische Taler werth ist, wie einen Albus. Nun, acceptiren Sie? Die Emballirkosten trage ich noch obenein aus meinem Beutel...« »Erklären Sie sich deutlicher.« »Parbleu! ich habe schon Alles gesagt. Als ich Sie da so allein und brütend sitzen sah, fuhr mir's gerade durch den Kopf. Mit einem Worte: ich weiß einen Burschen, den diverse Leute gern vom Halse haben möchten. Er hat Bärenkraft, und der Stock wird seinen harten Kopf schon zurechte bringen. Meinen Namen sollen Sie indessen gut behalten, aber ich garantire Ihnen meine Solvabilität. Ich bezahle die Fang- und Transportkosten bis an das Schiff. Schlagen Sie ein, und sagen Sie mir, wann die Promesse liquidirt werden soll.« »Das ist noch sehr zu überlegen, mein Herr,« versetzte der Doctor lächelnd: »wenn Ihnen morgen noch eine Unterredung beliebt, so finden Sie sich um dieselbe Stunde hier ein. Für heute muß ich meiner Unterhaltung ein Ende machen, da, wie ich sehe, ein Freund, den ich hierher beschied, uns zu stören kommt.« »Meinetwegen!« sagte Nothhaft, des Doctors Hand schüttelnd: »Auf Morgen also. Ew. Edeln, fehlen Sie nicht, ich werde auf dem Platze sein.« Er ging, und Litzach, der schon vor einigen Minuten auf der Mailbahn erschienen war, kam. Der Doctor hatte Mühe, den Mann unter der übertrieben großen Perücke, dem pfirsichblüthfarbigen Sammetkleide mit Seidenstickerei verbrämt, zu erkennen. Das hagere, kummervolle Gesicht des Schauspielers paßte so wenig zu dem Staatsrocke, als die unscheinbaren Strümpfe, der zerknitterte Hut und die unmäßige Bandschleife, die vom kurzen Degen in verblichenen Farben herniederhing. »Setzt Euch, mein Herr!« sagte der Doctor voll mitleidiger Höflichkeit: »Für's Erste: erzählt mir, wie es in Eurem Hause steht!« »Meine Alte lebt noch,« antwortete Litzach: »der Doctor meint jetzo, sie werde am Leben bleiben, und Gott sei gepriesen dafür. Mitleidige Menschen haben meine Hütte mit ihren Wohlthaten erfüllt, und der Principal machte mir so eben das schmeichelhafte Compliment: ich hätte meine Lazzi noch nie so gut gemacht, als heute. Die Leute haben viel gelacht, und der extemporirte Spaß floß mir nur so vom Munde. Gottlob! ich darf hoffen, daß mich der Impresar behält.« »Das Alles macht mir Freude,« versetzte der Doctor: »Ihr möget wissen, Monsieur, daß ich Euch schon lange kenne, wenn Ihr der Litzach seid, der auf der Jesuitenschule zu Augsburg studirte.« »Der bin ich,« sagte Litzach seufzend: »und Sie, mein Herr?« »Ich bin Münzner,« erwiderte der Doctor. »Münzner?« wiederholte Litzach, wie sich besinnend, ergriff dann des Doctors Hände, sah ihm lange ins Gesicht, drückte dann einige Augenblicke, wie von Erinnerung verklärt, die Augen zu, öffnete sie wieder weit, und rief mit einem tiefen Athemzuge: »Weiß es Gott: das ist Xavers redliches, ehrbares Antlitz! Ach! habe ich denn das fröhliche Angedenken an Schul- und Jugendfreundschaft verdient? Wir haben uns »Du« genannt, mein lieber, alter Xaver! fürchte jedoch nicht, daß ich noch jetzt, wenn fremde Leute zugegen sind, das »Du« gebrauchen werde! du bist gewiß ein gelehrter und reicher Mann geworden, ich hingegen nur ein armer, verachteter Comödiant. Aber, erlaube mir, dich wenigstens in der ersten Stunde des Wiedersehens mit dem vertraulichen Namen zu begrüßen. Erlaube, daß ich dich nur jetzo Bruder nennen darf; das wird mich erheben auf lange Zeit.« »Rede, mein armer Litzach! Erzähle mir, was dir seit unserer Trennung begegnete.« »Ich könnte hierauf antworten: Unglück, Unglück, Unglück! und Alles wäre gesagt; aber du willst, ich soll weitläufiger sein, und so will ich dir folgen, obschon ich dennoch nicht viel Worte machen werde. Ich hatte meine Schulen perfekt durchgemacht, viel im Kopfe, und auch, Dank meiner sparsamen Eltern, viel im Beutel. Das war ein Unglück. Ich hing die Wissenschaften an den Nagel, lebte in Hülle und Fülle, versuchte es im Kriege bei einer Freipartie, und kam endlich ganz herunter. Der Kasten war leer, der Kopf wüst geworden, und in meinen besten Jahren stand ich da, und fragte mich, wie ich mich als zehnjähriger Bube gefragt hatte: »Was willst du werden? Was anfangen? Was unternehmen?« Zu jener Zeit kam die Merseburgische Comödiantenbande nach dem Orte, der meinen letzten Heller verschlungen hatte, und ich erinnerte mich plötzlich, daß man uns im Collegium auch hin und wieder hatte Comödie spielen lassen. Wenn du dich erinnerst, so wirst du wissen, daß man mich um meines glatten Gesichts und meiner schwächlichen Gliedmaßen willen, vorzugsweise erwählt hatte, die Weibsbilder zu agiren. Ich habe die Judith gespielt und die Herodia, und sogar einmal die Lalage in dem Schäferspiele: »Der treue Hirt,« womit der junge Professor der Rhetorik einst zu Augsburg so viel Aergerniß anrichtete. -- Ei! dachte ich bei mir; wenn die Väter der Gesellschaft Jesu das Comödienspiel bei ihren jungen Leuten einführten, warum soll ich nicht mein Brod verdienen, wie andere verdorbene Studenten und reducirte Soldaten? Gedacht, gethan. Der Principal Richter nahm mich an, und eine recht fröhliche Wanderzeit begann für mich. Damals, lieber Münzner, machte ich nicht den Hanswurst, sondern die Amanten. Ich stellte vornehme Leute auf der Bühne vor, und trug mich auch nobel außer derselben, in Tressenröcken und sorgfältiger Wäsche. Hätte ich mich nur nicht verliebt!« »Bis hieher war ich frei, und hatte nichts geliebet; Doch, daß mir diese Pein die Sinnen nie betrübet, Kam nicht von Tugend her. Weil mich der Wahn verkehrt Schätz' ich aus Uebermuth nicht _eine_ meiner werth, Bis ich das Wunderbild beschauet, Das mich vor dem ergötzt, ob dem mir jetzund grauet.« »Ich rede von meiner Frau, eines herrschaftlichen Beamten Tochter zu Halberstadt. Wie sehr empfand ich den Dichter, als ich sie sah:« »Die als ein Wirbelwind mich hin und her gerückt, Und mein zerscheitert Schiff in langem Sturm zerstückt! Ich sah sie, und entbrannt'! sie fühlte neue Flammen! Kurz: ihr und mein Gemüth, die stimmten wohl zusammen!« »Ich entführte die Liebste. Der Fluch ihres Vaters folgte uns nach, und, sobald meines Weibes Eltern in die Grube gesunken, fiel das Elend über uns her. Der lustige Name, den ich mir beigelegt, war ein schneidender Spott auf unsere traurige Lage. Katharine hatte nicht ein bischen Geschick zu der Comödie. Man _lachte_ sie aus, sobald sie sich nur zeigte: der Principal zankte, und ich antwortete gallebitter, und wir wurden von der Gesellschaft weggeschickt. Eine schwere Brustkrankheit warf mich nieder, und verschlang Alles, was wir hatten! Am Stabe schleichend, von Katharinen geführt, die unser erstes Kind auf dem Rücken trug, bettelte ich mich weiter, von Kloster zu Kloster, von Spital zu Spital, von Bande zu Bande. Endlich fanden wir einen gutmüthigen Principal, der uns einen Wochenlohn anbot. Mein Weib sollte für die Truppe waschen, _ich_ sollte agiren. Aber mit dem Amoroso war's vorbei! Ich hatte keine Stimme mehr, und keine Kraft. Der Principal richtete mich zum Rüpel ab. Ach, Münzner! wie war mir zu Muthe, als ich zum ersten Male als Narr auf die Bretter trat! Daheim lag mein Jüngstes im Sarge, meine Katharine, der Niederkunft gewärtig, auf dem Strohlager, und sie war allein, und nur Hunger und Mangel saßen an ihrer Seite, und ich mußte Possen reißen, und die bittern Thränen der Verzweiflung flossen aus meinen Augen über die geschminkte Narrenlarve in den Kienrußbart!« Litzach wischte sich eine Zähre von der Wange, und fuhr gepreßten Herzens fort: »Ich machte den Lustigmacher schlecht. Die Zuschauer meinten, ich sei ein betrübter weinerlicher Narr; sie warfen mich mit verdorbenen Aepfeln, und der Principal zog mir die Jacke aus, und schickte mich fort. Als ich heimkam, brachte mir die Wehmutter einen Buben entgegen, den sie um Gotteswillen empfangen hatte, und _ich_ brachte der Mutter meine Kindes sechszehn Groschen -- und -- den Abschied.« »Herr Gott!« seufzte der Doctor. Litzach fuhr fort: »Ja, mein lieber, alter Freund: wer nur als Zuschauer vor dem gemalten Vorhange der Comödie steht, weiß nicht, wie viel gebrochene Herzen unter dem Tand der Flimmer-Kleidung schlagen. Ist es gerade nicht Kummer, der die Brust der Maskenspieler zerreißt, so ist es der giftige Neid, so ist es die brütende Unzufriedenheit, die hinter dem bunten Spiele eine fröhliche Welt suchte, und nur kümmerliche Lappen und eine trostlose Zukunft fand. Der Leichtsinn nur, dem Alles gleichgültig geworden, mag ruhig in diesem Getobe niedriger Leidenschaften schlafen; auf diesem wankenden Boden, den Prahlerei und Jammer beherrschen. Was uns Geschicklichkeit erwirbt, raubt uns auf der anderen Seite die Ungewißheit unserer Lage, und die Verachtung, die auf uns lastet. -- Ich überspringe nun manches Jahr des Unheils, und bemerke blos, daß ich in der Zeit einen Theil jenes Leichtsinns mir errang. Ich wurde stumpf, fühllos; ich lernte seltsame und lächerliche Grimassen machen und Capriolen schneiden, ob mir schon der Tod an der Kehle säße. Ich errang den Ruf eine guten Comödianten, eines possierlichen Burschen, ich fand ein besseres Brod. Ich hatte gespart: ich hatte meinen Kindern ganze Kleidungsstücke angeschafft, meine Katharine mit dem Nöthigsten versehen; ich hatte ein Bett gekauft, und beinahe schon die Summe zu einem Plüschrocke beisammen, der mich in den Stand gesetzt hätte, reputirlich unter die Leute zu geben, als Katharine in die langwierige Krankheit verfiel. Unser Wohlstand verging wie eine Seifenblase, und ein Dienst, den ich bei der Gesellschaft des sel. Velten antreten sollte, mußte ebenfalls aufgegeben werden. So kam ich hierher, so fandest du mich. Nach langen Jahren erregt dein Anblick, Münzner, wieder das erste lebhaft frohe Gefühl in meinem Herzen. Die Hoffnung, daß meine Katharine leben wird, und dein Wiederfinden, macht mich glücklich. Ach, wie wahr redet der unvergleichliche Lohenstein in einem seiner Trauerstücke: Je finsterer die Nacht, je heller ist das Licht: Je öfter man die Hand an spitz'ge Dörner sticht, Je mehr bekränzt man sich mit blutbemilchten Rosen: Je mehr die Mittagshitz uns sticht, je süßer tosen Die feuchten Abendlüft'; ist Wetter, Sturm und Well' Und Wolke trüb und schwarz, so dünkt uns noch so hell Und lustig Sonn' und Port. Die steinern harten Ketten, Die Felsenlast, die uns zu Boden schier getreten, Des Lebens steter Tod, der jeden Blick uns schreckt, Das dunkel-grause Loch, in das wir eingesteckt, Der Trauerrauch hat sich verkehrt in sanfte Wonne, Die Nacht hat sich verstellt in eine lichte Sonne!« Nach diesen pathetisch hergesagten Worten schüttelte der Schauspieler des Doctors Hand noch einmal herzlich, und ein warmer Tropfen fiel auf diese Hand. »Du bist mit dem Weibe, das du _deines_ nennst, nicht copulirt?« fragte der Doctor. »Die Ehen in unsrer Gilde,« erwiderte Litzach beschämt, »sind meistens wild, und leider ist's auch die meinige. Jedoch thut es mir und Katharinen sehr wehe, daß, unsern unablässigen Versuchen zum Trotz, sich noch kein Geistlicher unterstanden, unsern Bund zu segnen.« »Ich will es thun;« erwiderte der Doctor: »aber, die Hand auf den Mund, mein Freund, und eine Bedingung zugesichert.« »Ach, Ew. Hochwürden...« stammelte Litzach entzückt: »Ich will schweigen, wie das Grab, ... ich verstehe Sie wohl ... aber -- welche Bedingung?« »Eure Kinder müssen katholisch sein. Vermuthlich sind sie lutherisch getauft, da Euer Weib es ist, wie ich glaube.« »Ew. Hochwürden,« stammelte Litzach verlegen, »die armen Würmer sind noch gar nicht getauft. Die Kosten -- und dann die Scheu der meisten Geistlichen, ... wie gerne will ich...« »Gut;« versetzte der Doctor: »ihnen soll geholfen werden. Ich will Euch zu mir berufen lassen, Freund; die Seelen müssen gerettet sein, und Eure Noth gemildert. Ich will mehr für Euch thun, wenn Ihr verschwiegen seid und bereitwillig, das zu erfüllen, was ich im vorkommenden Falle von Euch verlangen werde. Entsagt indessen der Hanswurstjacke: ich will Euch eine Empfehlung auf das nächste Dorf, Breitenbach, mitgeben. Kost, Lagerstätte und Geborgenheit werden Euch dort nicht entstehen. Dann will ich weiter sehen, was zu Eurem Besten gereichen möchte.« »Ach, Engel Gottes!« rief Litzach: »wie soll ich danken...? Aber -- ich soll acht Tage vorher dem Principal aufkündigen, -- und dann ... bin ich in seiner Schuld. Mein Wochenlohn beträgt zwei Thaler und acht Groschen extra, was man gewöhnlich in der Kunstsprache Rekreation oder Biergeld zu nennen pflegt. Ich habe indessen einen Vorschuß von drei Thalern etlichen Groschen abzuzahlen, und...« »Mein Jesus! welch' betrübte Rechnung!« seufzte der Doctor voll Mitgefühl, und reichte dem Schauspieler eine Hand voll Geldes: »Sagt dem filzigen Direktor auf: im Augenblicke, und zahlt ihm den Bettel von drei Thalern. So soll nicht gesagt sein, daß ein Zögling der Väter von der Gesellschaft Jesu länger in solcher Dienstbarkeit bestehe. Geht, mein Freund. Ich werde Euch rufen lassen. Erquickt Eure Kranken und Hungrigen, und danket dem Herrn!« Litzach jauchzte: »Ja, mein Wohlthäter! Den Herrn und Sie werde ich preisen, -- dem Principal sein Geld und seine Kleider vor die Füße werfen, und voll Hoffnung erwarten, was Sie über mich beschließen. Von diesem Gelde kann ich mit den Meinen einen Monat lang durchkommen, und mein Glück ist gemacht! Wir Menschen irren stets. Wo wir uns sicher trauen, Sinkt unser Schiff in Grund. Wenn man's verloren hält, Hat das Verhängniß oft das beste Glück bestellt!« So rief er noch mit allem Aufwande seiner rhetorischen Kunst, und eilte mit geflügelten Schritten der Bude zu, aus welcher die befriedigten Zuschauer gerade nach Hause strömen. Der Doctor fand sich, da die größte Menge über die Mailbahn zog, in seinen Betrachtungen gestört, und wanderte, mit seinem Tagewerke wohl zufrieden, gegen seine Wohnung. James berichtete ihm: Der Senator Müssinger sei vor wenigen Minuten plötzlich bei dem Doctor eingetreten, habe sich eilig und zerstreut nach demselben erkundigt, und darauf mit zitternden Händen ein Billet geschrieben, das der junge Mann dem Doctor wohl unversiegelt zustellte. Der Senator sagte darin mit bebend gezeichneten Schriftzügen: »Mein einziger mitfühlender Jugendfreund! Ich verzweifle, Ew. Edeln nicht in =loco= zu finden. Kommen Sie eiligst, sobald Sie können, in meine Schreibstube. Wir werden ganz allein sein. Ich stehe am Rande einer Seelen-Crida; _Sie_ nur vermögen mir zu rathen. So eben erhalte ich den Aviso: der junge Birsher von New-York ist in Person hier angekommen!« Zweiter Theil. Erster Abschnitt. Der Freier. -- Jacobinens Geheimniß. -- Das Senators Tröster. -- Georg Birsher. -- Tischgespräche. -- Häuslicher Sturm. -- Justinens Opfer. -- Abendunterhaltungen. -- St. Sebastian und die heilige Pulcheria. -- Das Gespenst. -- Der Superior. -- Seine Philosophie. -- Wuth der Leidenschaft. -- Qual der Schuld. -- Neues Ungewitter. -- Der Heilige unter den Myrthen. -- Die Geisterbannerin. -- Verlobung. -- Vorträge auf der Mailbahn. -- Plaudern zur Unzeit. Nothhaft war schon seit den ersten Frühstunden im Hause des Senators herumgegangen, -- glänzend, strahlend, hoffärtig wie ein Pfau. Feiertäglich geputzt, vom Tressenhute bis zur schweren Silberschnalle am Korduanschuh mit dem leuchteten Absatze, hatte er mehrere Male an die Thüre des Principals geklopft, und murrend von der Verschlossenen Abschied genommen. So hielt er Schildwachtposten und Schildwachtgang durch's ganze Haus, getraute sich aus Respekt nicht den Fuß in der Senatorin Zimmer zu setzen, und hielt es unter seiner Würde, in die Schreibstube zu treten, durch deren Fensterchen Berndt den geputzten Wandler mit neugierig neidischen Augen betrachtete. Endlich, -- von mancher Priese Tabak gestärkt, und an dem Glauben haltend, daß Geduld Alles überwinde, besiegte der Commis, der nichts Geringes im Schilde führte, die schleichende Zeit und seinen Unmuth. Die Hausthüre ging auf; der Senator kam heim. Mit einer vertraulich patzigen Verbeugung empfing ihn Nothhaft an der obern Treppenstufe, und sein Herz lachte im Stillen, denn sein Benehmen schien zu wirken. Der hochfahrende Senator hatte völlig die Miene eines betretenen Kindes angenommen. Seine Stirne lag zwar glatt und freundlich, aber in den Augen saß eine gewisse unerklärliche Demuth, und seine Stimme war lammfromm und gemäßigt. »Was verlangt Er, mein Sohn?« fragte der Senator, nachdem er den Commis in seine Stube gewinkt; und stolzer hielt Nothhaft sein Haupt, und nachlässiger spielte er mit dem Uhrbande. »So geputzt?« fuhr Müssinger fort, mit niedergeschlagenen Augen den umherschweifenden des Dieners ausweichend: »Ich wette darauf, der junge Herr will mich besänftigen, daß ich nicht zürne, weil Er bereits zween Tage lang gefaullenzt hat? Danke Er Gott, Monsieur, daß ich nicht so strenge wie der Buchhalter bin, und mich überhaupt heute in einer Laune befinde, die mich nicht zum Zanken kommen läßt. Es sei Ihm Alles vergeben, aber continuire Er dafür in Seinem vorigen Fleiße.« »Es hat sich hier Nichts zu vergeben, Herr Senator und geschätztester Principal,« antwortete Nothhaft ziemlich dreist und nachdrücklich; »die Ursache meiner Abwesenheit von Dero Comptoir wird mich, -- so hoffe ich, -- sehr genügend entschuldigen. Ich bin hier, um dieselbe gebührend vorzutragen, da Ew. Edeln Geschäfte gestern und vorgestern mir Solches unmöglich gemacht. Freilich sollte ich gebührenderweise schwarz wie ein Tintenfaß vor Ihnen stehen; allein, erstens hat der saumselige Schneider mich noch nicht mit Kleidern versorgt, -- und -- zweitens -- will sich's wohl ziemen, -- da eine fröhliche Botschaft an der traurigen hängt, daß ich ihrer im fröhlichen Kleide gedenke. Wissen Sie demnach, Hochzuverehrender, daß mein Herr Vater, -- bis dato Kaufmann und Rathsherr in meiner Geburtsstadt, am verwichenen Freitage im 70sten Jahre seines Alters das Zeitliche mit dem Ewigen vertauscht hat. Ich bin sein einziger Erbe in Haus und Gewölbe geworden, und -- wie mir schmeichelhafte Verwandte versichern, -- würde der Magistrat sich nicht lange sperren, mir auch den Rathsstuhl des Verewigten als vollgültiges wohlerworbenes Erbe zu überlassen.« Der Senator war unwillkürlich vom Stuhle aufgestanden, hatte einen nebenstehenden Sessel herbeigezogen, und winkte lächelnd und verbindlich dem Commis, Platz darauf zu nehmen. Nothhaft ließ sich nicht lange bitten, und indessen sprach Müssinger sehr freundschaftlich: »Sehen Sie, bester Herr Nothhaft; der Tod ist so eigentlich kein Unglück, sondern ein _Soll_, das früher oder später jeder Lebensnegoziant zu saldiren hat. Trösten Sie sich demnach über den herben Verlust, und genehmigen Sie den wärmsten Ausdruck meiner Theilnahme an Ihrem fernern Wohlergehen. Dieses wird nun freilich lediglich von Ihnen abhängen, denn Sie haben in meinem Geschäfte von der edeln Handels-Wissenschaft ohne Zweifel so Vieles profitirt, daß Sie ganz gut auf Dero eigenen Füßen werden stehen können. Behalte mir demnach nur die Fortdauer Ihrer freundschaftlichen Anhänglichkeit vor, und bitte mir zu nächstem Sonntag die Ehre aus, Ihnen mit einem Löffel Suppe aufwarten zu dürfen, wie ein Handelsfreund dem Andern.« Müssinger hätte hier gerne, nachdem er der Förmlichkeit ihr Recht gegeben, das Gespräch beendet, aber Nothhaft saß immer noch breit und lästig im Stuhle, nickte vornehm dankend mit dem Kopfe, und hob an, den Zweisprach weiter fortzuspinnen. »Eben darum, geehrter Herr Senator,« -- sagte er -- »weil ich weiß, wie förderlich mir Ihre Freundschaft ist, und gewesen, so wie auch die Meinige =vice versa=, so unterstehe ich mich, an obige Trauer-Nachricht ein artiges Vergnügen zu knüpfen, indem ich auf ein Band hinweise, das unsre bisherige Freundschaft-Societät zu befestigen geschickt sein möchte. Mein seliger Herr Vater hat jeden Albus sechsmal umgewendet, ehe er ihn ausgab, und vermittelst dieses Grundsatzes einen ansehnlichen Kasten voll harter Thaler zusammengespart: ein Tuchgeschäft in vollem Gange, eine Wein-Fabrik, ein wohleingerichtetes Haus, Gartenland und Ackerfeld, Brunnen und Stall, Geschirr von Silber und Ringe von Gold. Alles dieses ist mein, und mir geht nichts ab, als ein Weib. Ich halte demnach, geziemend und gebührend, um Ew. Edeln Tochter an. Jungfer Justine ist zwar ein schwieriges, schnippiges Ding; aber ich mag sie doch wohl leiden, und hat man erst ein Dutzend Wochen im Ehestande zugebracht, so findet sich Alles hinterdrein.« -- Der Senator saß verstummt da, und lächelte vor sich hin; ob aus Spott oder aus Ueberraschung? Dann erwiderte er ziemlich treuherzig: »Lieber Herr Nothhaft! Sie thun mir unläugbar eine Ehre an, so wie Justinen. Aber, Bester! -- sollte es Ihnen denn unbekannt sein, daß meine Tochter noch immer versprochen ist? Bevor Herr Birsher junior nicht sein Wort und das meinige aufgegeben...« »Täuschen Sie sich noch beständig mit dem Bräutigam aus New-York?« fragte Nothhaft achselzuckend; »geben Sie um Gotteswillen die Anwartschaft auf. Der junge Herr wird an Deutschland gedenken, und über kurz oder lang wohl die _Brautgeschenke_ wieder einfordern lassen, die sein armer Papa hieher bringen mußte; aber sicher nicht die _Braut_.« »So?« -- fragte Müssinger etwas gereizt. »Woher wissen Sie das? Sind Ihre Briefe sicher?« »Hm!« antwortete Nothhaft ruhig und bedeutend; »ich meine nur...; wenn ich der Sohn wäre -- ich könnte nimmer in das Haus heirathen, worinnen man meinen Vater ... begraben hätte.« Des Senators Mundwinkel zuckten krampfig. »Man muß es darauf ankommen lassen,« sagte er trotzig. »Lassen Sie's nicht ankommen,« fuhr Nothhaft fort: »verkennen Sie Ihren Vortheil nicht. Eine Verbindung mit mir ist Ihnen heilsamer, als eine Verwandtschaft mit dem Amerikaner. Ich habe zwar keine Million in Cassa; aber einen Mund, der schweigen kann, und einen milden Verstand, der mit dem Mantel der Liebe allzeit fertig und bereit steht, wenn gewisse Menschen-Irrthümer zur Sprache kommen wollen.« »Wie so? Wie begreife ich, was Sie mir sagen?« »Denken Sie an des alten Gastfreundes Sterbetag. Gedenken Sie des seltsamen Sterbefalls...« »Und nun, Monsieur? Was will Er ... was wollen Sie damit sagen?« »Der Pistolen auf der Diele, der verzettelten, gerade noch vor Thorschluß, möchte man sagen, quittirten Wechsel ... oder Verschreibungen...« Der Senator wurde weiß wie die Wand, stand auf, schöpfte tief Athem, und sagte mit gepreßter Stimme: »Sie sind ein schauerlicher Patron, und verstehen's, solche unangenehme Todes-Auftritte recht täuschend zu schildern, daß man sich unwillkürlich fürchten möchte.« »Herrlich!« rief Nothhaft, »um so schneller werden Sie mit der Heirath in Ordnung kommen. Schlagen Sie ein: Allianz! Respect dann vor Ihrer Firma!« »Ei! den müssen Sie auch haben, junger Mensch!« fuhr der Senator auf: »haben ohne Allianz! Sie thun absonderlich vertraut mit mir; mehr als sich's schicken dürfte! Werden wohl berathen sein, wenn Sie dieses unterwegs lassen!« Nothhaft sah den Aufblitzenden stutzig und verblüfft an. Die auflodernde Hitze reute indessen den Senator im Augenblicke. Er beruhigte sich gewaltsam, murrte ein finsteres: »Pfui!« gegen sich selbst gerichtet, in den Bart, und fuhr fort: »Verzeihen Sie mir den Ausfall. Ich habe mir vorgenommen, mich nicht zu erzürnen; aber die Zunge läuft manchmal wie ein toller Deserteur davon. Mit Permiß! so wir uns alterirten, wollen wir wieder Freunde sein. Das Schätzbare Ihrer Werbung ist mir nicht entgangen; aber sagen Sie selbst: ist es möglich, Ihnen etwas, das geringste aufmunternd zuzusagen, da der junge Birsher selber hier eingetroffen ist?« Nothhaft sprang überrascht vom Sessel. Er studirte lange an dem Ernste in des Senators Augen; dann sprach er hitzig, wie ein Pfeil schwirrt: »Wenn's in der That also ist, Herr Senator, so heißt's: Kurz resolvirt. Ueberlegen sie genau, wie's anzufangen sein möchte, damit der Herr von New-York nicht an's Ueberlegen komme. Parbleu! Ihr Jawort ist so gut als schon in meiner Tasche. Justinens wird sich dann schon finden. Apropos indessen, Ew. Edeln: dem ehrlichen Freiersmann kann es nicht angenehm vorkommen, wenn sich die Braut an ein fremdes, leider malhonnettes Volk hängen will. Jungfer Justine ist in der Education sehr vernachlässigt.« »Monsieur Nothhaft!« sagte Müssinger erstaunt, und wieder böse werdend. -- »Na! ruhig im Gemüthe, Herr Senator! Ich hab's aus guter Quelle. Der englische melancholische Junker, der hier im Hause den Sprachmeister abgiebt -- der verdient's, daß Sie ihm böse, gram und giftig werden. Er hat Justine gekirrt; Parbleu! ich weiß es sehr genau. Morgen-Promenaden -- im Frühroth -- Berndt hat's mit angesehen, wie sie plauderten, wie sie Abschied nahmen. Solche Lustwandeleien im Morgenthau mögen vielleicht unter den grobhäutigen Engländern gäng und gäbe sein, aber der gute Ruf unsrer deutschen Töchter und Schwestern bekömmt leicht davon den Schnupfen.« »Ich werde die Sache untersuchen,« erwiderte der Senator strenge; wendete sich aber von dem Freiwerber ab, damit er nicht die Röthe der Schaam auf seiner Stirne bemerke: »Verlassen Sie sich darauf: ist's wahr, -- soll's gewiß nicht mehr geschehen!« »Dann bin ich um meiner Jungfer Braut willen bereits content!« äußerte Nothhaft, den Weg zum Abschiede suchend. Der Senator ermangelte nicht, dem Zuversichtlichen zu bemerken, daß seinem Ansuchen bei weitem noch kein _Amen_ gesprochen worden, aber unwillkürlich nahm seine Rede einen trügerischen Schein an, und Nothhaft -- wäre er auch nicht der alte dumm-dreiste und hochmüthige Geck gewesen, wie sonst, -- hatte Ursache, mit mancher Hoffnung von dannen zu gehen. »Verzeihe mir der Himmel die Sünde, wie er mir heute bereits die schwereren vergab!« sagte der Senator leise vor sich hin, wie im Gebet; »ich konnte mir in der Verlegenheit des Augenblicks nicht anders helfen. Der freche Tölpel, der ein Endchen meiner Geheimnisse kennt, muß berücksichtigt werden, -- wenigstens, bis er die Stadt im Rücken, den Weg nach seiner Heimath unter der Sohle hat.« Er ging hin und her in der Stube, musterte seinen Schreibtisch, seine Bücher, -- zuckte auf wie vor dem Anblick einer Schlange, als er die bestaubte Hauspostille darunter gewahr wurde, schob sie mit unmuthiger Hand in einen klaffenden Wandschrank, und reinigte dann die Finger vom Staube. -- »Wie dieser Anblick mich plötzlich an die Jugend erinnert hat!« sagte er mit wehmüthigem Vorwurfe zu sich selbst; »dieses Buch, woraus ich meinen Eltern den Abendsegen lesen mußte, dessen Haupt-Predigt- und Erbauungsstellen ich auswendig gelernt hatte, trotz dem Vater-Unser... Dieses Buch, worein der Vater alle Begebenheiten unsers Hauses verzeichnete, wie eine Geschlechterchronik, -- dieses Buch soll mir von nun an ein Gräuel sein!« Er seufzte, drückte jedoch den Wandschrank entschlossen zu, und zog ein kleines Büchlein aus dem Busen, das er mit einer seltsamen Mischung von Neugierde, Zuversicht und Zweifel betrachtete. »Du sollst in Zukunft mein Hort sein?« fragte er flüsternd und setzte, darin blätternd, hinzu: »Ihr Heiligen Alle, deren Häupter aus diesen Bildern, mit Dornen und Blut bekränzt, schauen! nehmt Euch meiner an, daß ich nicht vergehe in muthlosem Schwanken! wahrt mir doch den Frieden, den ich kaum durch einen beispiellos raschen Entschluß gewonnen!« Sein Blick fiel auf den Rand eines Kupferstichs, und in dem Blicke ging es auf wie ein Freudenfeuer. »Münzner! Münzner! ist das nichts Claras Weltname? Und ist sie nicht der Engel, der heute mein Pathe gewesen? Und ich sollte friedlos bleiben, da sie für mich zu den Füßen des Heilands betet? Muth, mein Herz!« Die Glocke, die zum Frühstück rief, ertönte. Der Senator versteckte das Gebetbuch, zog sein Gesicht in die gebieterischen Alltags-Falten, und begab sich zur Wohnstube. Der Kaffee dampfte von dem blaudamastenen Tafeltuche, das glänzende goldgeringelte Porzellan, berührt von dem schweren silbernen Geräthe, erklang hell; im Uebrigen blieb es stumm in dem kleinen Kreise. Die Senatorin, die kaum den Morgengruß des Mannes erwidert hatte, saß, zwar ihm zur Seite, aber dennoch halb von ihm gewendet, und genoß, die Tasse in der bequem ruhenden Hand haltend, das Frühstück und den Morgenstrahl, der durch's Fenster schlug, zugleich. Justine hütete mit besorgten Blicken bald den stillen Vater, bald die feindselige Mutter, und bestellte die Frühstücks-Angelegenheit; schenkte ein, bediente, nöthigte wie es der Brauch war. Berndt saß unfern, wie ein Lämmchen, unfähig, ein Wässerchen zu trüben, unterrichtete bald den Principal von den Arbeiten, die er heute schon gethan, bald schoß er lauernde Blicke nach dem Mädchen. Der ernste Buchhalter, gegen jede Kaffebedienung deprecirend, zum zwanzigsten Male behauptend, daß er bereits in aller Frühe seine Portion genossen, stand hinter dem Herrn, und producirte eine eingelaufene Missive nach der Andern, eine Reihe abzusendender, und eine Menge der Unterschrift bedürftiger Papiere. Müssinger las und unterschrieb schweigend, sandte den Buchhalter hinunter, beschied Berndt in einer Stunde auf seine Stube, und fragte, nachdem auch dieser feuerroth hinweggegangen, mit ungewöhnlich sanftem Tone: »Wie nun, Jacobine, und du, mein Justinchen? Ist denn schon die Tafel für den zu erwartenden Gast geordnet?« -- Justine wollte die Mama antworten lassen, aber die Senatorin hatte dazu keine Lust. Mit einem tiefen Seufzer setzte sie die Tasse geräuschvoll hin, kehrte dem Senator völlig den Rücken, und starrte in's Blaue. -- »Ei, Jacobine...!« -- sagte Müssinger hierauf staunend und gereizt, -- näherte sich der Schmollenden, und wollte die Hand auf die Lehne des Stuhles legen, um sich vertraulich zu ihr herabzubücken; aber wie vor einem Scorpion fuhr die Senatorin empor, wischte schnell mit ihrem Schnupftuche die Stelle ihres Kleides ab, woran zufällig sein Finger gestreift hatte, und schritt trotzig und stumm in's Seitenzimmer. Die Thüre ging krachend hinter ihr zu. -- »Was bedeutet das?« -- fragte Müssinger, seine Jast kaum bezwingend. Justine erzählte schüchtern und verlegen, daß sich der Mutter Betragen seit ihrem Spaziergange von gestern nach dem Ritterhofe geändert habe; daß sie nichts über die Veranlassung zu diesem stummen Groll geäußert, und daß sie, Justine, von der Sache nicht das Geringste begreife. -- »Mit wem hat deine Mutter draußen gesprochen?« -- fragte der Vater mit krauser Stirne. Justine gestand, daß sie, in Scherz und Gelächter mit andern Personen ihres Alters und ihrer Bekanntschaft vertieft, es nicht bemerkt habe. »Welche unselige Grille beherrscht das Weib nun wieder!« -- sagte der Senator empört, aber wie mitleidig die Achseln ziehend. -- »Ist denn wohl ein Hausvater in dieser Stadt, der unglücklicher wäre, als ich? Diese stumpfsinnige Xantippe, die mein Leben verbittert...« Justine flog mit thränendem Auge an seinen Hals, und fragte: »Lieber Vater! Sind Sie denn auch mit _mir_ böse? Verdiene auch ich Ihren Unwillen?« -- Der Senator sah sie gerührt an, schob sie dann, plötzlich verfinstert, von sich, und antwortete: »Unter deinen Fehlern vermißte ich wenigstens bis heute die Heuchelei. _Nun_ tritt auch diese hervor. Ungerathene mit dem Unschuldsblick! Wohin hast du dich verirrt? Mit einem jungen Manne, der mein Vertrauen verräth, bist du am frühen Morgen auf den Gassen der Stadt gesehen worden. -- Bekenne! wohin führen diese Gänge? und seit wann?« -- Justine erbleichte ein wenig; allein sie war bald wieder gefaßt. »Berndt hat mich verläumdet,« -- sagte sie ruhig; -- »der Schleicher trat auf meinen Fersen in das Haus. Glauben Sie dem Menschen nicht. Verlangen Sie jedoch nicht, daß ich Ihnen mehr von dem Morgengange sage, als daß er nur ein einzig Mal -- Gestern -- statt gefunden, und daß ich die Hütte einer Armen aufgesucht. Um Alles Uebrige befragen Sie, wenn es Ihnen gefällt, den Monsieur White selbst.« »Welch ein kühnes Vertrauen!« -- rief Müssinger. -- »Ich will glauben, daß noch die Sünde nicht mit Euch ging. Was soll aber daraus in Zukunft werden? Du wirst, hoffe ich, nicht den thörichten Gedanken hegen, den bettelarmen Baronet, -- obendrein zu einer Zeit, wo dich noch andere Bande fesseln, die vielleicht fester zu knüpfen, dein Verlobter kam...« »Vollenden Sie nicht, Herr Vater,« versetzte Justine; »lernen Sie mich besser kennen. Ihre Besorgnisse sind grundlos. Da Herr Birsher hier angekommen, schickt sich's ohnehin nicht, daß ich den Besuch eines Mannes ferner annehme. Sie werden mich verbinden, wenn Sie Herrn White heute schon entlassen. In Frieden, denke ich, wenn Sie meinen Ruf schonen wollen. Was Berndt betrifft....« »Das ist meine Sorge!« ergänzte der Senator, und eilte auf seine Stube, wo sich Berndt demüthig und bald einfand. »Er hat sich erlaubt,« fuhr ihn der Principal mit Strenge an, »meine Tochter durch böse Nachrede zu verunglimpfen, und ihr einen Spaziergang zum Verbrechen zu machen, von dem ich unterrichtet war, und der einer Armen galt. Verläumder und Züngler dulde ich nicht in meinem Hause. Er hat sich um einen andern Dienst umzusehen, und mit Ablauf des Quartals von meiner Schreibstube abzuziehen. =Bon Dies.=« Stumm und niedergeschlagen entfernte sich Berndt, und murmelte zwischen den Zähnen: »Das kommt von Nothhaft, dem neidischen Bengel! Das gedenk' ich ihm!« Der Geist der Verdrossenheit hatte sich auf Müssingers Dach gelagert. Ein dumpfes Mißbehagen bedrängte Alle, die darunter wohnten, Justine ausgenommen, die mit unbefangenem Herzen, mit klaren Augen die Zukunft musterte. Freilich mischte sich auch in diese unbefangene Klarheit dann und wann ein wenig Unruh, wenn sie an den Verlobten dachte, der so plötzlich erschienen war; von dessen Wollen und Wünschen noch nichts verlautet hatte. »Wie wird er die Sache entscheiden?« fragte sie sich, »und will er mich noch heimführen, oder hat der Tod seines Vaters seinen vielleicht erzwungenen Vorsatz geändert? Aber: wie sieht wohl der junge Mann aus?« fragte sie sich noch weit öfter, und erbebte ein Bischen, dachte sie sich des alten Birshers Corpulenz, seine Perücke, seine Manieren, die sich vielleicht alle, wenn auch nach verjüngtem Maßstabe, in dem Sohne wiedergaben, wie im Spiegel. Werde ich ihn heirathen? -- war natürlich die letzte, die bedeutendste Frage, die Justine an ihren Verstand, an ihr Herz richtete. Der Verstand, der den Reichthum und das daraus entspringende heitere Leben zu schätzen wußte, sagte allerdings: Ja! aber das Herz? In diesem verborgensten Winkel tauchte von Zeit zu Zeit, einem spielenden Geist zu vergleichen, ein Bild auf, -- angenehm in seinen Zügen, unangenehm jedoch in seiner Bedeutung: James. -- Justine wurde nun sehr ernsthaft, sehr unruhig, und dankte dann dem Himmel von ganzer Seele, als dieses Bild nach kräftigem Bedenken mit einem Male verschwand, und nimmer wieder kam. -- So halte ich dem besorgten Vater Wort, und meiner eigenen Würde! -- sagte sie gleich einer Siegerin, und ging, eines hellen Entschlusses voll, die Schlüssel des Hauses einzufordern, um das Gastmahl zu rüsten. Frau Jacobine machte gar keine Schwierigkeit, auch heute die Wirthschaft dem Mädchen anzuvertrauen. »Du wälzest einen Stein von meinem Herzen!« -- sprach sie, die Schlüssel hinreichend, und wieder in die Kissen des Kanape's versinkend, in denen sie sich ausnahm, wie eine im Nachdenken Verlorne. »Darf ich nicht wissen, was Sie beängstigt oder ärgert, liebste Mutter?« -- fragte Justine mit sanfter Theilnahme. Die Mutter schlug die Hände zusammen, und schüttelte den Kopf mit Heftigkeit. »Frage mich nicht, Justine!« -- sagte sie alsdann mit phlegmatischem Pathos: »Es wird die Zeit kommen, da sich Alles enthüllen wird. Armes Kind! und ich ... eine arme Mutter! Mir bleibt nichts übrig, als zu überlegen, wie wir beide einer großen Seelengefahr zu entrinnen haben. Gott wird ja einen Engel schicken! Behalte indessen die Schlüssel dieses unseligen Hauses! In meinem Leben rühre ich sie nicht mehr an!« Sie schwieg verstockt, und Justine fürchtete für den Verstand der Mutter. »So werden Sie mir doch erlauben,« -- sprach sie, -- »eine Gehülfin zu erwählen; denn in der Zeit, als Herr Birsher hier aus- und eingehen wird, dürfte es viel zu thun geben, dem ich allein nicht gewachsen wäre.« »Wie du willst. Gott segne den Herrn Birsher! Er hätte aber besser gethan, zu New York zu bleiben. Wen willst du jedoch dir zur Seite setzen?« »Eine Freundin: Madame Laynez, eine Französin.« -- »Wer ist die Person? Ich kenne sie nicht.« -- »Die Frau Syndikus empfahl sie mir,« -- versetzte, um eine Antwort etwas verlegen, Justine. -- »So?« -- erwiderte Jacobine mit großen Augen; -- »meinethalben dann. Die Syndikussin empfiehlt sicher kein Gesindel; sonst möchte ich wohl gerathen haben, auf der Hut zu sein. Die Franzosen machen gerne lange Finger, und bei Gelegenheiten, wie die heutige...« -- »Lassen Sie mich walten, Mutter; und erheitern Sie sich. Dieser unbegreifliche Mißmuth würde den Gast verschüchtern und den Vater erzürnen.« »Den Vater?« -- rief die Mutter zusammenfahrend aus; -- »schweige von ihm. Ich will nichts von ihm wissen, nichts von ihm hören! Ich wollte, ich hätte ihn nie gesehen. Du wärest nie geboren worden!« -- »Mutter!« -- »Ich wollte, meine Augen müßten den fremden Gast nicht sehen. Aber -- nicht wahr, es wäre unschicklich, wenn ich bei Tische fehlte?« -- »Gewiß, liebe Mutter! Bedenken Sie selbst, -- die Frau vom Hause...« »Mein Heiland, ja! Was muß man nicht thun, um der Schicklichkeit willen? Was muß man nicht verschweigen und verbeißen um der Schande willen! Ach, liebste Tochter, ich werde viel leiden an dieser Tafel! Jeder Bissen wird mir im Munde quellen. Ach Gott! verzeihe mir meine Sünden; womit hab' ich aber all' diese Noth verdient?« »Ich fürchte mich bei Ihnen, Mutter!« »Bei mir?« ächzte das Weib, das sich mit Gewalt in eine Aufregung versetzte, die sich lächerlich und peinlich zugleich ausnahm; »bei mir, du gottloses Kind? Und ich bin doch ein Lamm, wie Schnee so rein; und ich habe dich zur Welt geboren, und ich sinne und sinne seit gestern, daß mir der Kopf schwindelt, wie ich dich, meinen Herzensschatz, mit mir zugleich erretten kann. An _mir_ sollst du dich halten, und nur Gott fürchten in Demuth, und ... deinen Vater in Angst! Fürchte dich vor dem Vater, wie das unschuldige Lamm vor dem Wolf! Thue von heute an nie mehr, was er begehrt, denn er begehrt nur unser Verderben.« Justine sah die Frau, die sich wie eine in Wahnsinn fallende zerängstigte, mit großen Augen, dann mit Mitleid, dann mit Geringschätzung an, drehte sich endlich kurz und gut um, und sah nach ihren Pflichten. »Was ich versprochen, kann ich heute schon mit dem Segen Gottes beginnen,« -- schrieb sie in Eile an die Laynez: »Kommen Sie, gute Frau. Versuchen Sie es für's Erste auf ein Paar Tage, wie es Ihnen gefallen möchte bei Ihrer herzlichen Freundin Justine.« Sie sendete diesen Zettel durch den dümmsten Packknecht ihres Vaters in den Johanniterhof an die Adresse, und verlor im Drang ihrer überhäuften Geschäfte bald die seltsamen Launen ihrer Mutter, -- sogar den eingeladenen merkwürdigen Gast aus den Gedanken. Indessen hatte sich bereits ein anderer Geladener in des Senators Stube eingestellt. Müssinger erkannte selbst beinahe den Eintretenden nicht, so sehr veränderte diesen der schwerbetreßte Rock, die ansehnlich bauschende Halsbinde und die große weiß erglänzende Perücke. »Im Namen des Herrn und Heilands!« sagte der Kommende -- Doctor Leupold -- mit leiser Stimme. »Amen, und willkommen, hochwürdiger Herr!« antwortete der Senator ebenso, und ging dem Doctor entgegen, ihm die Hand zu küssen, eine Ehrenbezeugung, deren sich Leupold weigerte. »Lassen Sie diese Förmlichkeit der Jugend und dem Volke, die in Respect gehalten werden müssen, mein werther Beicht- und Taufsohn,« sprach der Doctor. »Unser Verhältniß sei das eines Freundes zum Freunde. Ich finde Sie mit den Büchern beschäftigt, deren Studium ich Ihnen empfahl, und frage nicht, ob die heutige bedeutungsvolle Frühstunde Frucht getragen, oder nicht. Im Herzen des Frommen gedeiht stets die himmlische Speise, und der schnellste Entschluß belohnt sich am schnellsten. So wären wir denn nun _eins_ in Gott und seiner Kirche, bester Herr, und Sie haben ohne Zweifel die Gnade recht empfunden, die unser Heiland und Erlöser in Ihnen erweckte? Die Huld unsrer barmherzigen liebreichen Mutter-Kirche, die Ihnen erlaubt hat, alle Vorübungen, Prüfungen und Bräuchlichkeiten zu überspringen, um sich so schnell als möglich in ihre Arme zu werfen? Das Glück, das ich genoß, ich, eines der geringsten Rüstzeuge, die im Felde des Herrn zu seiner größern Ehre streiten, -- Ihr Führer zur Himmelsleiter sein zu dürfen, erfüllt mein Herz mit seligem Behagen. Und auch in Ihrem Herzen, mein Sohn, ist nunmehr Friede; nicht wahr?« »Wenn Glaube an unbedingte Erlassung Friede ist, so genieße ich des Friedens,« antwortete Müssinger. »Glaube ist allerdings der schützende Schild, und seine Wohlthat zögert nicht. Ich wette darauf, Herr Senator, Sie erwarten nun mit sicherem Fuße den Gast, vor dem Ihnen gestern noch gegraut.« »Ihres Beistands versichert, ohne Zweifel.« »Des Beistands des Herrn und seiner Schaaren, deren Engelfittich auch den _Gedanken_ der Sünde von Ihrem Bewußtsein scheuchte. Halten Sie sich an dem Bewußtsein Ihrer nunmehrigen Reinheit fest, und Sie werden nicht straucheln. Der Versucher naht wohl zuweilen dem Menschen; am häufigsten dem Gottgefälligen. Ich habe Ihnen den Lebenslauf unsers heiligen Ordensstifters und des herrlichen Heidenapostels Xaver in die Hände gegeben. Sie werden meinen Reden als Belege dienen. Aber -- je gefährlicher die Versuchung, je herrlicher der Sieg der Beständigkeit. Und auch das ist Versuchung, wenn dem Neubekehrten der Teufel ketzerischen Zweifelmuths ins Ohr raunt: bist du denn nun auf dem rechten Wege? Und auch das ist herrlicher Sieg, wenn der gottselige Jünger ihm antwortet: Ja, Satan! Trotz dir und deinen Schrecken! -- Sie verstehen mich. Ihre früheren Sünden _sind_ nicht mehr, denn das Blut unsers Herrn hat sie getilgt, und mein Priesterwort ist Ihnen dafür Bürge. Muth also, und ein klares Auge! Sie haben Gottes Gnade gewonnen; -- gewinnen Sie auch jetzo das Vertrauen des Ordens, der Ihnen Genesung brachte. Ein Thron ist schön, aber ein Coadjutor unser Gesellschaft selbst in weltlichen Dingen zu sein, ist ein weit schönerer Beruf.« »Verlassen Sie sich auf mich, sobald Sie mir über die gefährlichste Brücke geholfen haben, in allen Dingen, die nicht mit meiner Bürger- und Vaterpflicht in Widerspruche stehen.« »Verfängliche, aber unnöthige Klauseln!« lächelte der Doctor; »Vaterpflicht? Die Kirche ist ja selbst die liebendste Mutter. Bürgerpflicht? Ein relativer Begriff. Halbheit, mein Bester, führt nur zu Trostlosigkeit. Man muß, was man sein will, _ganz_ sein, und auf dem Wege der Religion kommen unsere Pflichten nie ins Gedränge, wenn man ohne des Vorurtheils Brille um sich schaut. Die Wahrheit ist immer nur _Eine_: das Recht ist stets nur _Eines_. Menschliche Satzungen fehlen; die göttliche Wahrheit nimmer. Sind Sie überzeugt, Ihrer Mitbürger Bestes zu wollen, so gehen Sie muthig zum Ziel. Wüthende Parteien und schielende Gesetze schelten gar zu oft Hochverrath, was man mit allen Bürgerkronen nicht aufwiegt, -- die Rettung des Vaterlandes. Ich behalte mir vor, Ihnen diese unerschütterlichen Grundsätze deutlicher auszuprägen, wenn sie zur Anwendung reifen sollten.« »Zur Anwendung?« fragte der Senator gedehnt, denn sein Kopf ging im wirbelnden Kreise. »So ists, mein Sohn,« erwiderte der Doctor ruhig; »die Gestirne wandeln ihre Bahn; folglich auch die Schicksale der Welten, der Völker, der Gemeinden, der einzelnen Menschen. Lassen Sie uns den Fall setzen, es wäre dem Himmel gefällig, in dieser Stadt die Anarchie des Lutherthums zu beendigen, die von dem unerforschlichen Rathschluß nur aus dem Grunde zugelassen worden ist, damit der erschlaffende Christussinn sich an dem Widerstande wetze und siegend wieder auflebe. Noch mehr: der Allmächtige hätte _Sie_ ausersehen, das Panier des wahren Glaubens, dem Sie freiwillig sich unterworfen, kühn und frei zu erheben. Würden Sie sich dessen weigern? Gott durch eine schimpfliche Feigheit beleidigen? Oder gestehen, daß Sie sich selbst belogen, als Sie sich dem Meßopfer zugewendet?« »Wahrlich, ich erstaune ob Ihrer Rede,« sagte der Senator mit Angstschweiß auf der Stirne: »welch einen Kampfplatz thun Sie mir in diesen Worten auf?« »Keinen gefährlichen; denn Gott würde mit dem Beharrlichen sein, und sein Engel den Satan stürzen. Beruhigen Sie sich indessen. Das Heldenbild eines solchen Kampfes lebt nur in der Einbildungskraft, nicht in der Zeit, die eine gemessene, mathematisch schleichende ist. Wir bekehren nicht mehr mit Feuer und Schwert, sondern mit dem kraftvollen Honig der überzeugenden Rede. Wir dringen uns nicht mehr den Völkern auf. Die Völker werden aber, vom geheimen Zuge ergriffen, alle zu unserm Tische treten. Die Wunder der grauen Judenzeit geschehen nicht mehr, sondern langsam, still webend, wie der Trieb der Natur, bereitet der Schöpfer seine Ereignisse vor; Mirakel, nicht kleiner als die der heiligen Bücher, aber mystischer als sie. Durch göttliche Schickung rüttelte sich der Wolf der Ketzerei los; aber mit dem Gifte erstand zugleich das Gegengift. Der Ursprung unserer Gesellschaft, ist er nicht ein Wunder? erzeugt im Staube, und herrlich fortblühend an der Brust der Könige? Zeigen Sie mir ein ähnliches Beispiel in der Geschichte aller Völker, und bezweifeln Sie den Fingerzeig des Herrn, der uns, seine Streiter erweckte; nicht zum blutdürstigen Morde, wie jene Dominikaner, die ihren Beruf, die Unseligen, verkannten; nicht zum faulen Bettel, wie jene schmutzigen Mönche des Franziskus von Assisi, welche ihre Sendung mit Füßen treten; sondern zu der schweren Arbeit, wie sie die Noth der Zeit erfordert. Warum wüthet man gegen uns? Weil man uns ungemessen fürchtet. Warum verläumdet man uns? Weil wir heller sehen, als alle Welt. Wie kömmt es aber, daß wir das können? Weil die hunderttausend Augen meiner Brüder nur ein Einziges sind, und ein scharfes; ihre hunderttausend Arme nur ein Einziger, und ein thätiger; beseelt von _einem_ Willen, von _einer_ Kraft. Ein Ziel ermißt unser Blick, nach dem _Einen_ greifen unsere Hände; nach dem _Einen_ schreitet unser Fuß: Ehre dem Herrn in der Höhe! Nachfolge dem Menschgewordenen Sohne und seinem Kreuze! Belehrung der Gläubigen, Zurechtweisung der Verirrten und der noch nicht im Geiste Gebornen! Aufrechthaltung der allein seligmachenden Kirche! Krieg auf Tod und Leben dem Satan der Zeit, welcher da ist _der_ der Unvernunft, _der_ der Hartnäckigkeit _der_ des Lasters! -- Hier nannte ich Ihnen in Kürze die Grundlagen unserer Bestimmung, die Zwecke unsers Daseins. Giebt es vortrefflichere auf Erden? Verdienen Sie nicht die größte Theilnahme, und den göttlichen Schutz, der ihnen so offenbar zu Theil geworden? Ueberall verbreitet, in jedem Welttheile angesiedelt, predigen wir die wahre, reine Religion. Wir haben ganze Völker dem Heile zugewendet; wir haben Halbthiere zu Menschen gemacht. Wir leiten das Gewissen der Fürsten; wir bewachen den Stuhl des Statthalters Jesu Christi. Unsere Schulen -- wer lobte sie nicht als die Vollkommensten! Unsere Zöglinge -- wer rühmte sie nicht als die Gelehrtesten? Meine Brüder -- wer hätte sich nicht an ihrer heitern Freundlichkeit, an ihrem milden Ernste, an ihrer Weisheit erquickt? Um jedoch ausgezeichnet und allumfassend wirken zu können, mußten wir umfassende Hilfsmittel wählen und schaffen: ein Band der Religion, der Wissenschaften, der Künste, der Gewerbe, des Handels um die Erde und die fernsten Meere legen. Für alle Bedürfnisse des Menschenwohls Sorge zu tragen, haben wir uns verbindlich gemacht; wir besitzen in unserm Ordensschooße alle Elemente dazu; die Mittel muß die Außenwelt geben, die uns freilich gern und oft zurückstoßen möchte, während sie uns danken sollte. Die kanonische Armuth der Kirche, die Kargheit der meisten Fürsten, versagt uns bedeutende Unterstützungen, und unsere Spekulation muß aushelfen; daher -- im Vertrauen -- unsere Colonien in fernen Welttheilen; daher Schiffe mit unserer Fracht auf dem Meere; daher das Bedürfniß, Stapel-, Lager- und Ausladungsplätze in allen Gegenden der Windrose zu besitzen. Ich komme jetzt ganz natürlich auf unser hiesiges Etablissement, das im Anbeginn einen solchen Lagerplatz ganz allein bezwecken sollte. Einige Vertraute waren nöthig; mein Vorgänger entdeckte jedoch viel Glauben, viel fromme Sehnsucht, und pflanzte die Reben des Herrn mit gutem Gedeihen an, so daß ich, sein unwürdiger Nachfolger, schon eine ansehnliche Zahl von Sprößlingen vorgefunden. Auch mit _mir_ war der Segen des Herrn und das Glück, das mich berief, _Ihnen_ zu dienen; dem alten bereuenden Freunde, dem nievergessenden Freunde Clara's. Ihr Einfluß, mein Sohn, wird, hoffe ich, viel Gefahr von unserer stillen Gemeinde abwenden, und ein guter Wächter für den Handelsvertrieb der Gesellschaft sein, die hingegen stets bereit sein will, ihre müßigen auf hiesigem Platze liegenden Capitalien in Ihre vertrauten Hände zu legen, und gegen billigen Zins zu lassen; so wie sie Ihnen auch bereits, -- gänzlich uneigennützig, und mit Ihren frommen Gesinnungen nicht bekannt -- die bewußten Wechsel auf Brasilien angeboten: so wie ein Freund dem andern zu dienen verpflichtet sein sollte.« »Ihrem Orden meinen Dank;« sagte der Senator erheitert: »ich will zu vergelten suchen, wie ich kann. Treue Freunde thun heut zu Tage Noth. Sie haben mein Ohr bezaubert durch Ihren kurzen Bericht und Ueberblick Ihrer Wirkungskreise. Wahrlich! ein solcher Verein ist ein Wunder, ein noch nie gesehenes, nie erhörtes; und Sie, hochwürdiger Herr, müssen sich im Paradiese wähnen, wenn Sie stündlich sich erinnern, auch ein Glied an dieser großen edeln Brüderkette zu sein!« Der Doctor sah bei dieser Wendung ernst und wehmüthig auf die stumpfen Spitzen seiner Schuhe, lehnte das Kinn auf den Rohrstock, und entgegnete nach einem verhaltenen Seufzer: »Je nun, Herr Senator! Jeder Beruf hat seine Last! und ich gehöre zu den Lastthieren unseres Ordensberufs. Herr Senator! um ein gläubig Gewissen, um ein ungeschwächtes Vertrauen auf die Unfehlbarkeit eines vorgesetzten Endzwecks ist's eine schöne Sache. Dieses Vertrauen auf Gott, meine Obern und meiner Pflicht wohlthätige Früchte ist mein Reichthum, mein Paradies. Die Pflichten selbst sind gar oft schwer, widern oft an; allein man tröstet sich mit der Fürsicht, die das Alles befiehlt und ordnet, und wissen muß, zu welchem guten Zweck Alles so befohlen und geordnet werden soll. Lichtpunkte in meinem Berufe und Treiben sind Vereinigungen, so erwünscht, so freundlich, wie die mit Ihnen im Namen der sanftesten Religion eingegangene. Clara betete für Ihr Glück! Clara's Freund feindlich mir gegenüber zu sehen, der Verdammniß verfallen, der Hoffnung bar, einst mit Claren, mit mir vereinigt zu werden!... Der Gedanke schmerzte mich tief, und indem ich Sie für unsere Lehre gewinnen durfte, gewann ich selbst einen Schatz tröstenden Bewußtseins!« Der Senator war bewegt, da er in die bewegten Augen des Doctors sah, und auch die seinigen gaben Thränen, und in einer herzlichen Umarmung erkannten sich Priester und Neophyt als höhere Würdenträger der Menschheit; als verwandte Gemüther, als Freunde. Der Senator sagte hierauf, indem er sich die Augen trocknete, und des Doctors Hand ergriff: »Was mir einfällt, mein würdiger Freund! Ihr Pflegesohn scheint Lust zu haben, ein Proselyt meiner Tochter zu werden, denn umgekehrt läßt sich bei des Mädchens Starrköpfigkeit die Sache nicht denken. Allein ... Sie begreifen ... und ersparen mir wohl fernere Erläuterung.« »Allem ist schon vorgebaut;« unterbrach ihn der Doctor: »mir ist's nicht entgangen, und dem jungen Menschen ist bereits Ihr Haus untersagt. Ihn binden frühere Pflichten, und Zeit ist's, daß sein Schwärmen endige.« »Welch ein Mann sind Sie!« rühmte der Senator, freudig des Doctors Hand schüttelnd: »solch' ein Scharfsinn -- solch' feine verhütende Moral lernt sich wahrlich nur in Ihren Collegien. Was sind dagegen unsere trockenen, dürren Gymnasien, wo man nur Buchstaben lernt, und nicht Menschenkenntniß? -- Was unsere Schreibstuben, in denen man den Charakter unserer Geschäftsfreunde, wie der Welt, nur nach den Zahlen taxirt, die sie in Gold oder Papieren aufzustapeln vermögen! Was Ihnen der klare Forscherblick schon verrathen, das mußte mir der Mund eines schleicherischen Handlungdieners...« Die Schelle am Hause wurde gezogen: einmal, zweimal, dreimal, bescheiden, aber steigend, wie sich dazumal geladene Fremde anzumelden pflegten, während Hausfreunde nur zweimal läuteten und Hausgenossen das ganze mit _einem_ derben Riß an der Schelle abzuthun gewohnt waren. Der Senator erblaßte; das Wort erstarrte in seinem Munde, ein heftiges Zittern überkam ihn. »Herr ... Birsher...!« stammelte er. Der Doctor rüttelte ihn zurecht, und sagte ihm tröstend und ermahnend: »Sie sind entsündigt. Im Namen der Dreieinigkeit! gehen Sie hin; trauen Sie auf meinen Beistand, und geben Sie nicht Anlaß zum Argwohn, noch Aergerniß!« Ein nachfolgender Zug an der Comptoirschelle benachrichtigte den Hausherrn, daß der Fremde hereingelassen worden, -- daß der Besuch nicht dem _Kaufmann_ allein gelte. Seine Pflicht zu erfüllen, nahm sich Müssinger zusammen, und ging dem die Treppe Ersteigenden höflich entgegen. Der große junge in Schwarz gekleidete Mann mit dem wenig gefärbten ernsten Gesichte und den hellen geradausschauenden Augen hätte den Senator beinahe wieder aus der Fassung gebracht; was indessen der erste Anblick verderben zu wollen schien, brachten die ersten Worte des Fremden wieder ins Geleis. Der junge Mann streckte, ohne den Hut zu rücken, aber mit offenem Gesichte dem Wirthe die Hände entgegen, und sagte: »Ei, herzlich willkommen, Herr Senator. Freue mich, Sie endlich zu sehen. Vor Allem Entschuldigung, daß ich mich gestern, von der Reise ermüdet, durch den Kellner anmelden ließ. Hierauf verbindlichen Dank für die Einladung, und -- das Beste kömmt zuletzt -- meine herzlichste Erkenntlichkeit für die Bewirthung meines armen Vaters.« Der Senator bückte sich äußerst verlegen, und öffnete die Thüre des Tafelzimmers. Ohne sich jedoch unterbrechen zu lassen, fuhr der junge Mann ruhig und behaglich fort: »Das Grab meines guten Vaters war das Erste, was ich hier besuchte. Meine Thräne ist darauf zurückgeblieben, und mein Segen nicht minder. Wir wollen uns jedoch, nach diesem Berichte, die Hände darauf geben, daß wir kein Wort mehr über sein Schicksal verlieren wollen. Sie übersehen gütigst die Farbe meiner Kleider, so wie ich selbst den eigenen Kummer übersehen will, um Ihnen nicht ein unerträglicher, unwillkommener Gast zu sein.« Der Senator sah den Doctor verwundert, aber mit erleichtertem Herzen an. Leupold studirte in dem Gesichte Birshers. Er erkannte seinen gestrigen Tischnachbar im Schwan. Dieselbe ruhige Unbefangenheit, die ihn im Gasthause ausgezeichnet hatte, verließ ihn auch heute nicht. Der ungewöhnliche Prunk, von welchem die Tafel strotzte, nöthigte ihm keinen Blick der Verwunderung ab, und, als sei er schon seit geraumer Frist ein Genosse dieser Tafelrunde, begrüßte er ohne förmliche Umschweife die geputzte Senatorin, die sich endlich einfand, und Justine, die im Kleide der Hausfrau erschien, um, der Küche entsagend, bei Tische das Ehrenamt zu verrichten. Nachdem Doctor Leupold von dem Senator den Seinigen und dem Fremden vorgestellt worden, begann das Mahl, dem heute im Uebrigen kein anderer Gast als der ernsthafte Buchhalter beiwohnte. Die Unterhaltung war anfänglich geschraubt. Der Senator bewachte mit ängstlichem Auge Herrn Birsher, die Senatorin saß mit stummem verzogenem Munde und niedergeschlagenen Augen, der Buchhalter schwieg nicht minder devot, und der Doctor allein führte mit dem New-Yorker ein unbedeutendes Gespräch. Justine beobachtete, und ihre Aufmerksamkeit, -- sobald es ihre Geschäfte erlaubten -- theilte sich zwischen Herrn Birsher und dem Doctor. Die Züge des Letztern hatten für sie etwas Bekanntes, mancher Anklang seiner Stimme war ihr ebenfalls nicht fremd, und dennoch hatte sie ihn im Cabinete des Vaters nur ein einzigmal -- beinahe _nicht_ gesehen, keine Sylbe aus seinem Munde gehört. Sie grübelte in der Erinnerung, gelangte jedoch zu keinem Ergebniß, weil ihr des Doctors Nachbar interessanter erschien. Wider Willen kehrte ihr Auge immer häufiger auf den jungen Amerikaner zurück, und sie mußte sich gestehen, daß ihre Phantasie an dem Manne eine Sünde begangen. Nicht die müde Behaglichkeit des Vaters, -- die entschlossene Ruhe eines mit sich selbst auf's Reine gekommenen Menschen, redete von dieser Stirne, aus diesen Blicken, die manchmal hell und fest den ihrigen begegneten, -- die ihr eine freundliche Bewunderung, verbunden mit einer beinahe ehrfurchtsvollen Scheu, einflößten. Sie horchte neugierig auf jedes seiner Worte; sie lächelte unwillkürlich und beifällig, als der Zurückhaltende endlich gesprächig wurde. -- Nach der dritten Speise schob Birsher mit einer leichten Verbeugung den Teller etwas zurück, und sagte: »der Hunger ist gestillt, und zum Vergnügen esse ich nicht. Ich erbitte mir daher die Vergünstigung, unangefochten und nachsichtsvoll beurtheilt, ein unthätiger Zeuge der fernern Mahlzeit sein zu dürfen.« Die Senatorin, viel auf Tafelgenüsse haltend, und dieselben sogar in ihrem jetzigen gereizten Zustande nicht vernachlässigend, warf dem Redner einen mißbilligenden, verwunderten Blick zu. Birsher bemerkte denselben, fuhr aber, ruhig und verbindlich zu der Frau vom Hause gewendet, fort: »Ein Paar Worte, hochzuverehrende Gastfreundin, werden hinreichen, den Verdacht einer Unschicklichkeit von mir zu entfernen. Ich habe es wohl erfahren, daß man in Deutschland die freundschaftlichen Mahlzeiten hochschätzt und sie verlängert; daß man den Grundsatz hegt, dem willkommenen Gast könne nie zu viel angeboten werden, und er könne hinwieder nie zu viel genießen. Bei uns in Amerika ist die Lebensart viel einfacher, so wie unsere Wohnungen, unser Tafelgeräthe und unsere Kleidungen einfacher sind. Drei Gerichte, eine Flasche Bier oder Wein, ein herzliches Tischgespräch von einer halben Stunde, ein aufrichtiges Gebet zum Beschluß -- das sind die Bestandtheile unserer Sonntags- und Feier-Tafeln. Lassen Sie mich bei dieser Gewohnheit, die meine Landessitte mir einprägte, die mir immer wohl bekam. Ich will, da ich meinen Theil _von_ diesem überprächtigen Gastmahle nicht gehörig annehmen darf, meinen Antheil zu der Unterhaltung geben, und fange damit an, Ihnen unumwunden zu bekennen, weßwegen ich im Grunde hierher gekommen bin.« Alle Anwesende neigten höflich das Haupt, und der Senator, um eine Erwiderung verlegen, sagte mit zweifelhaft schwankendem Tone: »Ew. Edeln kommen unsern Wünschen zuvor. Ich darf gestehen, ... daß ... so höchst angenehm mir auch Dero Ankunft erschienen, ich nicht begreife, wie es möglich wurde, Sie schon jetzt hier zu begrüßen. Meiner erprobten Berechnung gemäß könnte das schnellst segelnde Schiff kaum die Nachricht nach New-York gebracht haben, daß...« »Ihre Berechnung täuscht nicht, Herr Senator,« antwortete Birsher: »das dänische Kauffahrteischiff Kiöbenhaven, das vom Texel abging, mit der Depesche des Herrn van den Höcken befrachtet, kann erst seit drei Wochen, fiel die Fahrt vollkommen günstig aus, zu New-York angekommen sein. Doch hatte ich nicht auf eine Nachricht aus Europa gewartet. Eine Ahnung -- man möchte sagen, wie mein schottischer Faktor zu sagen pflegt: ein zweites Gesicht hat mich über's Meer getrieben!« »So?« fragte Doctor und Buchhalter. Des Senators Gesicht verlängerte sich. Die Frauen hingen mit ihren Blicken an dem Munde des Erzählers. Dieser bemerkte die gespannte Neugier, und sprach lächelnd weiter: »Erwarten Sie keine Gespenstergeschichte. Nichts Ungewöhnliches. Ein einfacher Traum ist's nur, der sich leicht erklärt, wenn man erfährt, daß Vater und ich uns unaussprechlich lieb gehabt. Um ein Capital zu retten, das in Ostfriesland unsicher stand, und um mir -- wovon nachher -- einen Schatz mitzubringen, unternahm der alte Herr die mühevolle Reise. Eine Art von Heimweh gesellte sich zu den obigen Motiven. Er hatte früher in Holland und Deutschland gelebt. Es war ihm in diesen Ländern wohl ergangen. Er wollte das Paradies seiner Jugend noch einmal sehen vor seinem Ende. Er hoffte, seine lästige Corpulenz auf der Seefahrt zu vermindern. Er bestand -- eigensinnig von jeher -- auf seinem Vorhaben, und segelte ab. Das Schiff hatte einen bedeutungsvollen Namen: Fare well! Mein Glück- und Segensruf hing sich an des Schiffes Wimpel, und -- setzte ich mich gleich stracks wieder vor die Bücher und die Correspondenz, so schaukelte sich doch meine Seele neben dem Vater auf dem fern hingleitenden Fare well! Diese Einbildung verwuchs, so zu sagen, mit mir, und gab sicherlich Anlaß zu dem Traume, der mir einst, geraume Zeit nach des Vaters Abfahrt, vorkam. Ich saß im Comptoir und schrieb. An die Thüre klopfte es. »Herein!« rief ich. Alles still. Nun stand ich auf und sah selbst nach. Vor der Thüre stand mein Vater: gekleidet, wie wohl sonst, aber blaß. Willkomm! sagte ich, und streckte die Hand aus. Er aber sprach: Beileibe, Freund Georg; ich bin ja gestorben, und muß in Europa bleiben. -- Ich fuhr auf, und das nächste Schiff nahm mich mit nach Holland. Van den Höcken sagte mir bei der Ankunft in Amsterdam nichts Neues. Ich war von der Wahrheit meiner Ahnung innig überzeugt.« »Das ist eine entsetzliche Geschichte!« sagte die Senatorin, und erhob sich, von Gespensterfurcht ergriffen, vom Stuhle, um mit starren Augen und bebendem Kinn von hinnen zu wanken. Der Senator, der auf glühenden Kohlen gesessen, beeilte sich, der Frau seinen Arm zum Weggehen anzubieten. Mit einer Geberde schaudernden Abscheu's stieß ihn jedoch Frau Jacobine zurück, griff mit heftiger Gewalt nach Justinens Hand, und verließ, auf dieselbe gestützt, das Eßzimmer. »Die Frau Senatorin scheint reizbarer zu sein, als ihre Constitution errathen läßt,« versetzte Birsher, etwas aus der Fassung gewichen; »ich habe dennoch nur Alltägliches erzählt, um einen Beitrag zur Seelenkunde zu geben.« »Ein merkwürdiger Beitrag allerdings,« hob der Doctor an, um des Senators betretene Beschämung zu bemänteln; »die Geschichte zeugt von Ihrer außerordentlichen Liebe zu dem Vater, dessen Tugend ein späteres Lebensziel verdient hätte.« »Ich habe beschlossen, daß er in seinen Vorsätzen, in seinen Wünschen fortlebe,« entgegnete Birsher: »sein Wille ist mir ein schätzbareres Vermächtniß als seine beträchtlichen Güter. Ich bin weniger gekommen, um hier das mir zustehende Erbtheil zu holen, als um den hochachtbaren Herrn Senator zu fragen, ob er die Freundschaft, die er für meinen Vater hegte, auf mich fortpflanzen, und mich, wie der Selige gewünscht, zu seinem Schwiegersohne an- und aufnehmen will.« »Herr Birsher,« stammelte der Senator, höchlich überrascht: »Ihr wackerer Sinn spricht sich so unerwartet aus, da...« »Was der Vater beschloß, will ich gehorsam ausführen! -- Von seinen Händen hätte ich blindlings die nie gesehene, ungeliebte Braut empfangen. Was soll ich nun thun, da ich die liebliche Jungfer gesehen, da ich aus jedem Munde nur ihr Lob vernommen? Ich bin kein Freund von vielem Reden. Ja oder Nein, Herr Senator? obschon unter Männern von Wort ein »Nein« nicht wohl denkbar ist. Ueberlegen Sie nicht, grübeln Sie nicht. Der Brautschmuck ist in Ihrem Hause. Das Capital, das mein Vater, es schon verloren gebend, zu Emdes rettete, hat er verwendet, gewisse Verbindlichkeiten, die Ew. Edlen gegen van den Höcken hatten, aufzulösen; die quittirten Verschreibungen zu der Jungfer Nadelgeld bestimmt. Mein Vater hat Alles im Voraus geleistet und besorgt .... werden Sie nun nicht auch das Ihrige gegen mich thun?« »Ich wills, ich werde es!« rief der Senator ausbrechend, weil ihm ein Felsenberg von der Brust fiel: »ich heiße Sie doppelt willkommen, als meinen lieben Sohn und Handelsfreund.« Er und Birsher schüttelten sich treuherzig die Hände. Der Buchhalter, mit dem Glase an das des Doctors klingend, rief eine jubelndes »Gratulor, gratulor von Herzen!« Der Doctor stieß wohl an, neigte sich wohl glückwünschend, aber auf seiner Stirne saß nicht das zufriedene Einverständniß. Wie hätte sich jedoch die Falte auf des welterfahrenen Mannes Antlitz lange halten können? Nun wurde der Senator lebendig. Die Spannung seines Gemüths schien wiedergekehrt zu sein, eine heftige Freude ihn zu beleben. Die silberne Schelle ertönte in seiner Hand. »Alicante!« rief er dem eintretenden Burschen zu: »vier Flaschen! Das Siegel mit den vier Thürmen! Frisch! Schnell! nicht gezaudert! die spanischen Kelchgläser mit den Lilien dazu! den Nachtisch herein! Justine soll kommen; sie soll kredenzen!« Und so ging es fort in Feuer und Leben. Der Niersteiner, der gerade auf dem Tische kreiste, floß in ungeduldigen Bächen in die traulichen Römer. Gesundheit auf Gesundheit wurde getrunken. Unter den fröhlichen Bewegungen der Gäste erzitterten beständig die silbernen Glöckchen an dem prächtigen spiegelverzierten Aufsatze, der, einen chinesischen Tempel vorstellend, mitten auf der Tafel stand; aber das Funkeln dieser schillernden Spiegel und bewegten Perlen war todte Asche gegen Müssingers strahlendes Auge; das Schellengetön verklang unter der tönenden Sprache seiner erweiterten Brust. Die Thüre ging auf. Einen silbernen Präsentirteller in der Hand, auf welchem sechs Kelche voll des köstlichen Alicante schimmerten, neben der geöffneten Flasche, die nun mit einer prachtvollen Blume verschlossen war; -- gefolgt von dem dienenden Burschen, der im Korbe die drei übrigen Flaschen nach sich schleppte, -- trat eine schöne Frau herein, in einfachem aber angenehmem Kleide, mit Wirthlichkeit kündender Florschürze angethan, und die zierlichen Hände von saubern Handschuhen bedeckt. Die Herren fuhren überrascht und grüßend auf. Der Senator blickte überraschter als die Uebrigen auf die ihm Unbekannte. »Mademoiselle Justine ist nicht zu finden,« sagte die angenehme Wirthin, den Wein mit einem Anstande umherreichend, als bediene sie eines Königs Tisch. »Um die verehrten Herren nicht allzu lange warten zu lassen, mußte ich also selbst ... entschuldigen Sie gütigst.« So eben trat Justine aus der Seitenthüre. Mit einem Blicke begriff sie die Verlegenheit der Helferin, die Ueberraschung des Senators, und sagte mit der freundlichsten Betonung, zu der ganzen Gesellschaft gewendet: »Madame de Lainez, die Wittwe eines im Felde gebliebenen königlich französischen Hauptmanns, meine sehr liebe Freundin, die sich heute erbitten ließ, meine häusliche Pflicht zu theilen und mir zu erleichtern.« »Freut mich unendlich,« versetzte der Senator mit einem Bückling, und wies der Erröthenden den ledigen Stuhl Jacobinens an. Die Lainez wollte sich, stumm versagend, empfehlen. Justine hielt sie aber zurück, sagte ihr viele schmeichelhafte Worte und behauptete: durch eine plötzliche Unpäßlichkeit der Mutter würde sich die Tafel verwaist sehen, wenn nicht eine liebenswürdige Frau den Platz einnehme. -- Leise flüsterte sie indessen der Lainez zu: »Bleiben Sie um Gotteswillen, meine Beste, und unterhalten Sie die Herren. Ich finde noch kein Wort, das nicht meiner Seele wehe thäte.« So fügte sich Madam Lainez endlich. »Bei Denain fiel Ihr Gemahl?« fragte nach einigen vorläufigen Erkundigungen der Senator: »er ist in einem rühmlichen Kampfe gefallen gegen ehrenhafte Feinde. Man muß gestehen, daß des Kaisers Truppen in den Niederlanden einen Schauplatz vielen Ruhms, und nur weniger Niederlagen gefunden haben. Meine Herren! der Prinz Eugen soll leben!« »Ich bitte, unsern Marlborough nicht zu vergessen,« sprach Birsher in den Gläserklang: »das Heldenpaar hat sich zu Malplaquet unsterblich gemacht. Ich habe mich oft gesehnt, Flandern zu besuchen, wo so viele Tapfere gefochten. Ich will es thun, und bei dieser Gelegenheit nicht versäumen, das ehrenvolle Bette Ihres Gemahls zu betreten, Madame. Wissen Sie aber, daß Ihr Name weniger militärische Erinnerungen als vielmehr geistliche erweckt? Wenn ich nicht irre, so nannte sich der zweite Ordensgeneral der Jesuiten Lainez. Er war ein ausgezeichneter Mann; seine Feinde selbst müssen es eingestehen, denn seiner rastlosen Bemühung verdankt diese furchtbare Gesellschaft ihren raschen Aufschwung.« Die Lainez schlug die Augen nieder und erwiderte: »mir ist von jenem Manne nichts bekannt. Auch hörte ich nie von meinem Manne, daß einst in seiner Familie...« »Wünschen Sie sich Glück, Madame,« unterbrach sie der junge Birsher mit freundlicher Bestimmtheit: »so floß in seinen Adern auch kein Tropfen jenes herrschsüchtigen Alles verachtenden Uebermuths, der in den Jüngern des Loyola und des Lainez sich hervorthut.« »Ja wohl! ja wohl!« äußerte der Buchhalter, besorgt den Kopf schüttelnd: »die Jesuiten! die Jesuiten! Wer diese Firma zuerst auf den Markt brachte...« »Man macht, denke ich, die Leute gefährlicher als sie sind,« sagte der Doctor gutmüthig lächelnd: »was meinen Sie, Herr Senator? Unser hochgeehrter Tischgenosse hat sich, wie ich glaube, mehr mit der verrufenen Gesellschaft Jesu abgegeben, als bei einem Kaufmann bräuchlich ist...« »Freilich,« sagte Birsher aufrichtig: »es ist ganz natürlich. Wir Leute zu New-York hören an jedem Sonntage den Prediger über den Papst und sein Reich den Bann aussprechen, und der Jesuiten, dieser Trabanten des Stuhls Petri, wird allerdings dabei auch nicht geschont. Ferner lesen wir historische Schriften. Und spräche nicht die Weltgeschichte zu uns, -- würde auch unser Prediger der Schildhalter des Papstthums nicht erwähnen, -- die Zeit würde es von selbst thun. Dieser gefährliche Orden ist unsers Standes Nebenbuhler, Herr Senator. In den katholischen Staaten sitzen Jesuiten am Ruder, und lenken die Zügel des Handels und der Gewerbe. In Westindien, in Südamerika vorzüglich haben sie ihre Commanditen. Ihre Habsucht trachtet alle Monopole, von welchen die Handelswelt niedergedrückt ist, in ein Einziges zusammen zu ziehen, und dieses Einzige selbst auszubeuten.« »Ei, ei, Ew. Edeln gehen verzweifelt weit,« ermahnte der Senator lächelnd, und ungeduldig wegen des Doctors, der unruhiger wurde. »Keineswegs,« fuhr jedoch ohne Bitterkeit und Animosität der Amerikaner fort: »ich gestehe ein, daß ich die Katholiken nicht liebe. Unser Mutterland hat viel durch sie gelitten. Ich liebe eben so wenig den Orden, den wir berührten. Allein Parteilichkeit leitet mich auch nicht, indem ich ihn verdamme. Die ledige Erfahrung spricht für mich. Was haben wir, was hat die ganze Welt von einer Stiftung zu erwarten, die den Fürstenmord begünstigt? von einem Orden, dessen Glieder, als Beichtväter der Könige, Zwietracht säen zwischen den Herrschern und ihren Völkern? Man weiß, wer in den letzten Zeiten die abscheuliche Mörderei in den Cevennen, wer den Widerruf des Toleranzedikts von Nantes verschuldet hat, der Tausende der besten Bürger mit ihren Familien der Heimath entfremdete. Wer dem Vaterlande in seinen Söhnen das Mark aussaugt, wer es in seinen Söhnen ermordet, begeht Hochverrath an der ganzen Natur und an ihrem Schöpfer. Vielleicht sind Sie nicht meiner Meinung, Madame, aber ich denke nicht anders.« »Die Aufhebung des Edikts von Nantes machte mich mit meinen Eltern unglücklich,« erwiderte die Lainez mit feinem Doppelsinn. »Eine Vertriebene also? eine Gemißhandelte?« fragte Birsher mit warmer Theilnahme; »nun wahrlich, so freut es mich, hier unter ehrlichen Protestanten zu sitzen, vor denen mein Herz reden kann, wie ihm zu Sinne ist. Ich hasse die Heuchelei, und diese Aufrichtigkeit ist nicht _meine_ Tugend, sondern Sitte in Amerika.« »Eine schöne Sitte!« meinte der Buchhalter: »in Deutschland selbst verschwindet nach und nach die deutsche Treue und Offenheit. Wohl unsern Nachkommen, wenn sie wenigstens solche Qualitäten dann in Amerika wieder finden mögen!« »Es ist Schade,« begann der Doctor mit einem spitzigen Lächeln: »daß Sie, hochzuverehrender Herr Birsher, nicht den Beruf in sich empfunden, ein Weltumsegler zu werden. Vor Ihren Ansichten und Ihrer seltenen Aufrichtigkeit hätten alle fremde Götzen weichen, alle anders Glaubende sich bekehren müssen.« »Meine Reden sind zu harmlos, als daß sie vielleicht die feine Zurechtweisung verdienen,« erwiderte Birsher freundlich, aber ernst: »indessen muß ich mich rechtfertigen. Ich bin nicht unduldsam; ich verabscheue jeden Glaubenszwang. Wir Amerikaner denken in diesem Punkte freier, als man es in England darf. Mit Freuden würde ich's sehen und erleben, was mein Vater einst in einer halb prophetischen Stunde voraussagte: daß einstens allenthalben in Amerika jeder Glaube neben dem andern wohnen werde, friedlich, ungestört, wie in dem Schooße von Brüdern: wie Penn's Bruderstadt das Beispiel schon gegeben: wie bereits des Königs Duldungsakte dieses Beispiel unterstützt.« »Diese Aeußerung wirft Ihre frühere um!« sagte der Doctor triumphirend. »Oder lieben Sie Ihre Mitmenschen alle, den katholischen Bruder ausgenommen?« »Weil _ich_ sagte, daß ich den Katholiken nicht liebe, sagte ich damit, daß ich ihn hasse und verwerfe?« entgegnete Birsher, warm werdend: »ich werde ihn vielleicht nicht rufen, daß er neben mir sein Haus baue: das thut man nur lieben Freunden. Aber, wenn er aus eigenem Antrieb seine Hütte an die meinige lehnt, und zu mir spricht: Bruder, wir wollen versuchen, wie wir gute Nachbarn sein mögen! so werde ich ihm antworten: gern, Bruder, laß es uns versuchen. Und fügten wir uns Beide in Güte und nachbarlicher Geduld, so würde ich ihn am Ende wohl noch lieben, herzlich lieben lernen, und ihn nicht aus seinem Eigenthum jagen, und nicht von ihm begehren, daß er zu Gott bete wie ich. Allem Begehren, allem Uebertritte bin ich Feind. Bleibe Jeder auf der Seite, wohin ihn der Zufall, der ja auch unsere Geburt leitet, gestellt hat. Glaube Jeder, was er kann, und folge er den Gebräuchen seiner Lehre, damit die Schwachen kein Aergerniß nehmen, und die Schadenfrohen jenseits nicht triumphiren. Ich könnte dem Menschen nimmer trauen, der seine Religion verändert hat. Er hat den Rock seines Herrn weggeworfen, um keinen Herrn zu haben, und verdient kein Zutrauen, weil er sein Heiligstes verrieth.« »Und nun genug, mein Herr, von solch abnormem Gespräche,« sagte der Doctor verbindlich: in der That aber erschreckt von dem bleichgewordenen, nachdenkenden Gesichte des Senators: »Ihre Grundsätze sind redlich gedacht; wohl leichter anzugreifen, als Sie glauben; aber wir befinden uns hier nicht vor einer Synode, sind Beide, -- ein Kaufmann, ein Jurist -- nicht berufen, solche Streitigkeiten durchzufechten. Die Damen zumal finden an unsern Reden nur Langeweile.« »Nicht doch; wir hören gerne zu,« nahm Justine für sich und die Lainez, welche schwieg, das Wort: »eine Duldungspredigt aus Ihrem Munde, hochgeehrter Herr Birsher, müßte sich gut ausnehmen. Ich wünsche Ihnen den Sieg gegen den Herrn Doctor, obgleich derselbe schwere, uns unbekannte Waffen in den Streit führen möchte.« »Wünschen Sie mir wirklich den Sieg, schöne Jungfrau?« fragte Birsher verbindlich, und Justinens Wangen wurden Gluthrosen vor seinem Blick: »o dann habe ich meine Sache schon gewonnen, und dem Herrn Senator bleibt nichts übrig, als seinen und meinen Wunsch Ihrer Entscheidung vorzulegen.« Die Männer standen alle auf, und ergriffen die Gläser. Der Senator räusperte sich, um auf eine zierliche Weise seinen Spruch anzuheben, der der Tochter galt. Justine stand wie auf Nadeln, und wünschte eine Gelegenheit herbei, die Rede, deren Inhalt ihr Scharfsinn und ihre Eitelkeit ahnten, zu verhindern, zu unterbrechen. Siehe, da erhob sich auf dem Gange ein Getöse. Eine ferne Thüre flog auf, man hörte gellendes Geschrei. »Um Gotteswillen! der Mutter Stimme!« rief Justine erschrocken und erfreut zugleich, aus der Angst zu kommen. Sie enteilte schnell durch die Thüre. Die Lainez folgte. Staunend blieben die Herren zurück. Der Senator, von Groll gegen das Betragen seiner Frau erfüllt, verweigerte es kalt, zum Beistand der Hülferufenden zu gehen. Bald brachte die Lainez die Nachricht, daß ein lebhafter Traum Frau Jacobine ihrer Sieste entrissen, und ihre Unruhe erregt. Man habe die wieder zur Besinnung Gekommene zu Bette gebracht, und Justine wollte sie nicht verlassen. Sein Beileid bezeugend, wie seine Erzählung verwünschend, die vielleicht Anlaß zu der Senatorin Zustand gegeben haben durfte, beurlaubte sich Georg Birsher, mit dem Versprechen, Morgen bei Eröffnung der versiegelten Habe seines Vaters gegenwärtig sein zu wollen. Dem Ceremoniell schicklicher Sitte zu Folge begleiteten ihn Buchhalter und Doctor nach seinem Gasthause, und ließen den Senator nachdenkend allein. Der Drang, den Beweggrund so mancher unbegreiflichen Erscheinung in dem Benehmen seines Weibes zu erforschen, vermochte ihn, sich nach dem Schlafzimmer desselben zu begeben. Er trat leise in die dunkle Stube. Jacobine schien zu schlummern. Am Fuße ihres Bettes, den Kopf in beide Hände gestützt, saß Justine. Der Senator näherte sich der Kranken, ohne von Jemand bemerkt zu werden; er bückte sich lauschend über das Bette. Jacobine schlug die Augen auf, und fuhr mit dem Geschrei: »Alle gute Geister loben Gott den Herrn!« empor. Justine erwachte aus ihrem Nachdenken. »Der Vater, liebe Mutter!« -- sagte sie sanft zu derselben. »Weg, weg aus meinen Augen!« lautete die gellende Antwort: -- »Weg! weg! willst du mich umbringen? weg, entsetzlicher Mann!« Sie drehte den Kopf nach der Wandseite, und schwieg hochathmend. »Jacobine!« stammelte der von heftigem Zorn ergriffene Gatte, und faßte ihre Schulter: »Weib! was hast du vor? Was soll dies Alles?« Er mochte aber der Worte, so viele es ihm beliebte, verschwenden; umsonst. Die Senatorin beharrte wieder in dem dumpfen Unheilkündenden Schweigen. »Nun so strafe dich Gott, lästerndes, nichtswürdiges Weib, daß du also mit mir verfährst!« brach er in jäher Wuth aus, und hob die Hand zu einer Mißhandlung. Justine verhinderte diese ängstlich, und bat mit Lippe und Auge den Vater, hinwegzugehen. »Nun, so folge du mir; scheide von dieser Rabenmutter, die mein Leben zwecklos vergiftet!« sagte der Senator, zu sich selbst kommend, und ergriff ihre Hand. Justine zögerte. Die Senatorin erhob sich, bleich vor Aerger und Ungeduld. Sie drohte der Tochter mit dem Finger. Justine zog unschlüssig die Hand aus der des Vaters. Mit dem bittersten Gefühle der innern Empörung sagte dieser: »wie? auch du mein Kind, bist in dieses gräuliche unbegreifliche Complott gegen mein Herz verwickelt? Ich befehle dir, mir zu folgen; -- soll ich fremde Autorität anrufen, daß mir mein einziges Kind gehorsam bleibe?« Mit erneuter Gewalt ergriff er Justinens Hand und zog sie nach der Thüre. Die Senatorin winkte der Gehenden, legte den Finger auf den Mund, und rief ihr dann nach: »Du bist die elendeste Creatur, Justine, wenn du meine Befehle vergissest!« Justine ging nun mit dem Vater auf dessen Zimmer. Wie eine arme Sünderin stand sie vor ihm; er ruhte auf einem Lehnstuhl von den Bewegungen seines Gemüths aus, und sammelte seine Gedanken; sah die Tochter unverwandt an, seufzte, schüttelte öfters mißmuthig das Haupt, und sagte endlich mit angegriffener Stimme: »Gott weiß, Justine, daß ich mich immer bemüht habe, ein guter Hausvater zu sein; daß ich oft mit der äußersten Anstrengung meinen Jähzorn im Zaume gehalten habe, um Weib und Kind nicht weh zu thun, hatten sie gleich meinen Zorn verdient. Aber solch Betragen, wie es seit gestern Abend sich entwickelt, muß endlich ein Lamm in einen Wolf verkehren. Sieh, Justine, vor einer Stunde war ich noch so fröhlich! Es war mir Diverses wider Erwarten dergestalt nach Wunsch gegangen, -- es hatte sich so Manches, das ich befürchtete, anders und befriedigend gestaltet und gedreht, daß ich die Welt hätte umarmen mögen, und meinen liederlichsten Schuldner die Quittung geschrieben hätte. Da erhebt sich wieder auf's Neue dieser häusliche Sturm, dessen Ursprung mir ein Räthsel ist. Auch du, Justine, bist mir Eines. Am heutigen Morgen -- zu Anfang der Mittagstafel noch -- das fröhliche starke Mädchen, wie sonst, bist du plötzlich ein betrübtes, finsteres geworden. Läugne nicht; ich habe helle Augen, welche sahen, daß die deinigen verweint waren, als du beim Nachtisch wieder zu uns kamst, nachdem deine blödsinnige Mutter sich vor den Gästen zum bedauerlichen Spektakel gegeben hatte. Gezwungen, unbeholfen war deine Rede, und du zwangst dich, meinen Blicken zu entgehen. Jetzt bemerke ich wieder Thränen in deinen Wimpern. Sprich, Justine, woher diese Veränderung? Sei aufrichtig, mein Kind!« Justine öffnete den Mund, aber dennoch schwieg sie kopfschüttelnd und mit gesenktem Blicke. Der Senator sprang ungeduldig auf, spielte mit seiner Tabaksdose, pfiff einige Töne des Marlborough-Lieds, und stellte sich mit hochgerötheter Stirne vor die Tochter. »Undankbares Geschöpf!« sagte er mit unterdrücktem Grimme: »Wirst du reden? Soll ich wie ein Bube um die Gnade eines Worts von dir betteln? Heraus mit der Wahrheit, verlarvte Person! Du weißt, was deine stätige Mutter im Schilde führt. Du hast auf den Grund ihres Steinherzens gesehen; du hast erfahren, was in ihrem vertrockneten Gehirne spukt; heraus damit, oder ... Gott strafe mich!...« Er warf im Ausbruche der Wuth die porzellanene Tabatiere so stark zu Boden, daß sie in tausend Stücke zersprang. Justine fuhr zusammen, faßte des Vaters rechte Hand so kräftig, als sie konnte, und sagte zu ihm, zwischen Thränen der Angst und einem plötzlichen Entschlusse schwankend: »Um's Himmelswillen! keinen Schlag, mein Vater! ich bin solcher Begegnung nicht gewohnt; Sie würden mich durch diese Entwürdigung umbringen. Ich kann die Zwischenträgerin nicht machen. Ein schimpflicher Zwang würde mich vollends nicht bewegen! Hüten Sie sich, Vater! daß Sie nicht noch mehr des Fluchs auf Ihr Haus laden!« »Mehr des Fluchs!« versetzte der Senator, und ließ ohnmächtig die Hände sinken; »wahr gesprochen, meine Tochter; es lastet auf mir schon genug des Unsegens. Geh' hin!« Vor dem Bekümmerten ließ sich das gerührte Mädchen auf die Knie nieder, und redete mit gefaßten und bewegten Worten zu ihm: »Ach, wenn Sie gut und ruhig sind, mein Vater, will ich Alles thun; nur nicht ausplaudern, was die Mutter mir errathen ließ; was meine Zunge aus Ehrfurcht und Angst nicht aussprechen will. Sie sollen aber wissen, was die Mutter zuletzt so gewaltig aufregte. Ob es eine Täuschung ihrer gereizten Sinne gewesen -- ob Wirklichkeit -- ich weiß es nicht. Doch sie behauptet, es habe sich langsam die Thüre ihrer Kammer geöffnet, und die Erscheinung des in unserm Hause verstorbenen Birsher auf der Schwelle stehend sich gezeigt, mit trüb wankendem Haupte und drohender Geberde. Die Gestalt sei einige Augenblicke sichtbar geblieben, bis sie unter der Mutter Schreckgeschrei verschwunden.« »O des fratzenhaften Unsinns!« versetzte der Senator, obgleich sein eigen Gesicht länger und schmäler wurde: »Gaukelspiel eines verwirrten Weiberkopfes! Und daher die Mißhandlung, die mir von der Unverbesserlichen angethan wurde!« »Was im Uebrigen die Mutter verbittert,« fuhr Justine seufzend fort, »ich will es nicht ergründen; ich will daran nicht glauben! ich müßte ja an der Tugend des Mannes verzweifeln, den ich als Vater bis hieher geehrt habe, und noch ferner von Herzen ehren will. Ich überlasse es Ihnen, den Zwist mit Sanftmuth zu beenden und die Eintracht wieder herbeizuführen, denn es ist nicht gut, wenn sich das Kind als Mittler zwischen die Eltern stellen muß.« Der Senator trocknete sich kalten Schweiß von der Stirne. »So geh' hin,« sagte er ermattet. »Geh' hin, ich will nicht in dich dringen. Die Zeit mag lösen, was mir weibischer Eigensinn noch verhehlt.« Justine wollte bekümmert weggehen. Der Senator rief sie zurück. »Du bist meine Feindin geworden,« sagte er bitter und gekränkt; »ich verzweifle daran, deinen Starrkopf für ein Projekt zu gewinnen, in dem ich alberner Thor dein und mein Glück zu sehen vermeine. Ich hätte gewünscht, ich hatte es schon besprochen, meinem alten Vorhaben Kraft und Vollendung zu geben; -- dich mit Herrn Georg Birsher zu verheirathen, wie es schon beschlossen war. Aber ... nun wird wohl nichts daraus werden. Die abergläubische Mama wird dir's verbieten, wäre es auch nur aus dem Grunde, weil ich eine _Hoffnung_ darauf gesetzt. Du wirst dich weigern, weil du dein Loos an Jacobine bindest. O, bewege nicht die Lippen, mir ein versagendes Nein zuzurufen. Ich lese es schon in deinem scheuen Auge. So sei es darum. Ich werde tragen, und du -- gehe hin!« »Sie täuschen sich, bester Vater,« erwiderte Justine fest und bescheiden: »Ihr Wille ist _hier_ mein Gesetz; ich bin bereit, den Herrn zu heirathen, wenn Sie es befehlen.« Der Senator betrachtete sie mit großen Augen, und ein lächelnder Schein spielte um den bitter geklemmten Mund. Er streichelte Justinens Gesicht mit wiederkehrender Zärtlichkeit. »Belügst du mich nicht, Mädchen? Oder hältst du mich nicht etwa hin, um im Augenblick, wo es darauf ankömmt, wahr zu sein, dein Wort zurückzunehmen?« »Ich lüge nicht, lieber Herr Vater,« bekräftigte Justine mit offener Stirne; »ich will des Herrn Birsher Frau werden, wann Sie es haben wollen.« »Und deiner Mutter unvermeidliche Einsprache?« »Die Mutter ist damit einverstanden, lieber Vater.« »Einverstanden?« »Die hat mich sogar mit Thränen gebeten, den Antrag nicht zurückzuweisen, wenn er mir gemacht werden sollte; und ich darf Sie ersuchen, Herr Vater, daß Sie mit der Hochzeit eilen, wie es nur die Schicklichkeit verstattet.« »Unverständliche Sybille! ich fasse dich nicht.« »Mir ahnt, Herr Vater, als ob in diesem Bunde viel Besorgniß ihr Grab finden müßte,« erwiderte Justine mit Bedeutung: »wann Sie wollen, demnach, mein Vater.« »Wie ist es dem ruhig verständigen Mann gelungen, in so kurzer Zeit dein gepanzertes Herz zu erobern? Er hat nicht einmal deiner Eitelkeit geschmeichelt.« »Sie halten mich noch für ein Kind. Herr Birsher mißfällt mir nicht. Ich liebe ihn indessen eben so wenig. Ob sich die herzliche Zuneigung finden wird? -- ich weiß es nicht. Aber ich opfre mich gerne einer zweifelhaften Zukunft, um Sie und Ihr Haus zu beruhigen.« »Beruhigen? Du beglückst mich, Gold-Justine. Ich fange an, vor dir Respekt zu haben. Verlange für die Freude, die du mir so unvermuthet machst, was du willst.« Justine besann sich eine Weile, ernst und in sich versunken. »Wenn ich nun zweierlei verlangte?« fragte sie mit klarerem Auge. »Begehre.« »Daß Sie für's Erste die Mutter ganz ihren Gedanken überlassen, Friede mit ihr halten, und meine Heirath beschleunigen wollen?« »Zugestanden. Böses Mädchen! Du eilst, mein Haus zu verlassen und deinen verwaisten Vater!« »Sie ahnen nicht, wie schmerzlich dieses Scheiden mir sein wird; aber Mama wünscht Herrn Birsher so schnell als möglich aus der Stadt zu entfernen.« »Wie so? Weshalb denn, zum Donner?« Justine überging diese Frage mit Schweigen. »Für's Zweite,« fuhr sie fort: »geben Sie mir die Erlaubniß, Sie zu warnen. Monsieur White hat sich falsch gegen mich bewiesen; und ich fürchte, sein Pflegevater meint es auch nicht ehrlich mit Ihnen.« »Der Doctor?« Dem Senator schlug das Gewissen. »Wenn ich meinen Augen -- einer gewissen Erinnerung trauen darf, so ist der Doctor nicht, was er zu scheinen vielleicht Ursache hat.« »Unglückliche!« -- fuhr Müssinger auf. Justine unterbrach ihn: »Ich will meinen Scharfblick nicht über den Ihrigen stellen. Ich überlasse es Ihnen, auf der Hut zu sein. Es ist nicht unmöglich, daß ich mich getäuscht. Die Wahrheit muß sich jedoch bald auf diese oder die andere Weise enthüllen.« »Du treibst Gauklerkünste,« sagte der Senator verlegen lächelnd: »Und auf's Wort und deine vielleicht grundlose Ahnung hin, soll ich dir in einer Sache folgen, deren Bewandtniß mir völlig unbekannt ist?« »Der Tag, an dem ich mit Herrn Birsher abreise, wird Ihnen meine Vermuthung enthüllen. Ich fühle mich jetzt nicht aufgelegt, durch eine Unbesonnenheit einem Andern, oder Ihnen selbst Unrecht zu thun. Ich habe Ihre Klugheit gewarnt. Angeberin kann und will ich nicht sein.« Sie verließ heiterer, erleichterter den Vater. Die Dämmerung war schon eingebrochen. Die Thüre ihrer Mutter war verriegelt. Das Dienstmädchen berichtete, die Frau Senatorin hätte Thee begehrt, und hierauf das Zimmer verschlossen, um ruhig zu schlafen. Die alte Marthe wache an ihrem Lager. »O welch' eine Zerstörung alles häuslichen Friedens!« seufzte Justine, da sie an dem offenen Eßzimmer vorüber ging, das, verödet, vom blassen Mondlicht erhellt, die gemüthlichen Abendgäste nicht aufwies, die sich vor Zeiten wohl öfters darinnen einfanden. Justinens Schritte wurden schneller, als sie an der verschlossenen Thüre des Zimmers hinschlüpfte, welches der verstorbene Birsher eine Nacht hindurch bewohnt hatte. Mit beengtem Athem betrat sie ihr eignes Zimmer. Die Lainez saß darinnen, lesend, und erhob sich bei Justinens Ankunft. »Sie blieben recht lange, meine Verehrte,« sagte die Französin mit einem freundlichen Vorwurfe im blühenden Gesichte. »Die Pflicht allein, mein Amt in Ihre Hände niederzulegen, stärkte mich mit Geduld. Hier, meine Beste, ist all das kostbare Silberwerk, das man in der Verwirrung auf der Tafel gelassen -- eine Beute für jeden kecken Dieb. Zählen Sie die Stücke, Mademoiselle. Ferner empfangen Sie die Schlüssel zu Speisekammer und Keller, die Sie mir anvertrauten, und entbinden Sie mich meiner Verantwortlichkeit.« Justine küßte die Hülfreiche dankbar auf die Wange, erstaunte aber, als diese nach dem Mäntelchen und den Handschuhen griff. »Wollen Sie nicht bei mir bleiben?« fragte Justine verwundert: »ich bat Sie ja, mit unserm Hause verlieb zu nehmen.« »Ach, diese Güte! meine beste Jungfer, darf ich sie annehmen? Besinnen Sie sich wohl. Welche Figur würde ich in Ihrem Hause darstellen, worein ich so unvermuthet, unvorhergesehen kam? Das Staunen Ihres Vaters, der gar nicht ermuthigende kalte Empfang Ihrer Mutter, das Glotzen der Domestiken ... Ach der Spott dieser Letzteren, bei Allem, was ich anordnete, -- und ich verstehe doch, ein anständiges Haus zu verwalten, -- er schnitt mir in's Herz. Seht doch die Französin! hieß es rings um mich, und ich hatte Mühe, meinen Verdruß zu verbeißen; ein Unglücklicher ist ja doppelt reizbar! Erlauben Sie daher, daß ich Ihr freundliches Anerbieten ausschlagen darf.« »Ei mit nichten,« versetzte Justine sehr erbittert: »Sie erzählen mir da von Schändlichkeiten, denen ich ein schnelles Ende machen werde. Verzeihen Sie, liebe Frau, unserm dummen Mägdevolk vom Lande, dem Alles lächerlich vorkommt, das nur ein wenig aus dem Geleise schreitet, welches diese Gänse Tag für Tag auszutreten gewohnt sind. Morgen sollen Sie schon ernsthafter sein -- ich stehe ihnen dafür. Sie kennen mich, und wissen, wie man mit mir verfährt, wenn ich ungnädig bin. Ich verstehe die Mittel, solch' unbescheidenes Gesindel zur Ordnung zu bringen. -- Nein, Madame, Sie müssen bleiben; meine Ehre steht auf dem Spiele: denn, was ich mir einmal vorgenommen, muß ich durchsetzen, ... und wenn...! lächeln Sie nicht; man nennt mich allgemein die tolle Justine, und manchmal hat man Recht.« »Welche kindliche Naivität!« rief die Lainez, und streichelte Justinens Hände: »eine Königin, so schön, so liebenswürdig, so lebhaft wie Sie auf Frankreichs Throne, und meine Landsleute würden Sie vergöttern!« Justine sah plötzlich mit großen und sehr unmuthigen Augen in die Höhe. »Warum nicht gar?« sagte sie kurz abbrechend: »welche Schmeichelei. Sie können Ihr Vaterland nicht verläugnen, Madame Lainez!« Die Französin war betreten, dann erwiderte sie mit dem schmachtenden Augen-Aufschlag, den sie vollkommen in der Gewalt hatte: »Verzeihen Sie Mademoiselle. Entschuldigen Sie die fade Uebertreibung, womit sich mein Mund versündigte, mit der herzlichen Anhänglichkeit, die ich für Sie hege, und die etwas Besseres sagen wollte.« Justine bereute schon das harte Wort, und glaubte um so leichter dem Bittworte. »Das lasse ich mir gefallen,« sagte sie, der Lainez versöhnt die Hand reichend: »lernen sie immerhin in Deutschland, das Ihr zweites Vaterland werden soll, sich deutscher aussprechen.« Sie zog die Wittwe vertraulich neben sich auf einen Stuhl, und fuhr fort: »Hören Sie, wie ich mir Alles, was Sie betrifft, klar und baar ausgesponnen habe. Sie bleiben vor der Hand bei mir, -- unter dem Schutze Ihrer Königin,« setzte sie lächelnd bei. »Aber leider kann dieser unmittelbare Schutz nicht lange dauern, da mein eigenes Schicksal eine rasche Wendung nehmen, -- mich für immer von hier entfernen wird. Daher -- nebenbei gesagt, darf Ihnen vor Vater und Mutter nicht bange sein; ich heiße Justine und stehe für Alles, -- daher lasse ich an einem der nächsten Sonntage unsre Karosse einspannen, und bringe Sie, meine gute Frau, nach einem Städtchen in der Nachbarschaft, wo eine alte Base meines Vaters lebt; -- etwas taub, etwas stumpf, aber wohlhabend, gottesfürchtig, und mir mit uneigennütziger Liebe ergeben, ob sie gleich eine veraltete Jungfer ist. In ihrem Hause erhalten Sie Kost und Wohnung, und besuchen fleißig den Pfarrer der wallonischen Gemeinde in jener Stadt, wenden sich von der aufgedrungenen Religion zu der Angebornen, und treten, da hoffentlich Ihr Wille ernstlich ist, öffentlich in den Schoos Ihrer Gemeinde zurück. Sind Sie so weit gekommen, so bedürfen Sie meiner Unterstützung nicht mehr. Ihre Verwandten zu Berlin werden Sie alsdann mit offenen Armen aufnehmen; -- mir bleibt das Bewußtsein einer rechtschaffenen Bemühung, und Ihnen -- so Gott will -- ein freundliches Andenken an ein unbedeutendes Mädchen, das man böse nennt, das sich aber schmeichelt, von Herzen gut zu sein.« Die Lainez umarmte das zauberische Geschöpf mit Thränen in den Augen. »Ich bin Ihrer Wohlthaten nicht würdig,« -- sagte sie, das Gesicht an Justinens Busen verbergend: -- »wo werde ich jemals ein Gemüth wie das Ihrige wiederfinden?« Justine hielt ihr den Mund zu. »Wo werde ich jemals -- --?« -- parodirte sie, aber aus dem Scherze wurde Ernst. Sie ließ den Kopf sinken, und wiederholte langsam: »Wo werde _ich_ jemals finden, was mir Glück bringt? Ach meine Liebe, ich habe heute ein recht traurig Gemüth, und meine Seele ist müde, wie mein Körper. Ich will gehen, und den Vater fragen, ob er noch etwas wünscht. Dann wollen wir zu Bette. In jenem Cabinete habe ich Ihr Lager aufzuschlagen befohlen.« »Heute noch nicht,« -- bat die Lainez: »ich habe zu Hause noch Einiges zusammen zu räumen und zu packen. Morgen, wenn Sie's erlauben, will ich Ihrem Anerbieten nachkommen.« »Ich werde Ihnen keinen Zwang auferlegen,« -- sagte Justine, wie wohl etwas verdrüßlich: -- »morgen also. Aber es ist schon nahe an neun Uhr. So spät wollen Sie durch die Straßen gehen?« »Die Wittwe eines tapfern Soldaten fürchtet sich nicht.« »Ei, wenn auch. Christine soll mit der Laterne vorausgehen. Aber -- Morgen, nicht wahr? so bald als möglich? Ich sehne mich nach Ihrer Gesellschaft. Ich bedarf jetzt der Aufheiterung. Sie werden nicht zaudern, oder gar Ihr Wort zurücknehmen. Die Franzosen, sagt man, halten die Parole nicht zum Allerbesten. Geben Sie mir ein Pfand, daß Sie gewiß kommen.« »Ein Pfand, sonderbares, eigensinniges Mädchen? Ich würde Ihnen mein Herz schenken, wenn es möglich wäre. Nehmen Sie jedoch, was meinem Herzen zunächst ruht.« Die Lainez zog ein Medaillon, das an einem schwarzen Sammetbande um ihren Hals hing, hervor, nahm es ab, und überlieferte es lächelnd der mißtrauischen Gläubigerin. »Sieh doch!« rief Justine, als sie das Medaillon empfing, und es von allen Seiten betrachtete; »welche schön gearbeitete Bilder! Erklären Sie mir, liebe Frau! Wer ist dieses herrliche Weib im Purpurmantel, mit der blitzenden Krone auf dem Haupte, und dem noch strahlenderen Scheine um dasselbe?« »Es ist die fromme und selige Kaiserin Pulcheria, meine Patronin,« versetzte die Lainez: -- »ihre Schönheit war das Wunder ihrer Zeit; und ihre Tugend war ihren Reizen gleich, und die dankbare Erinnerung der Nachwelt versetzte sie unter die Heiligen!« »Welche Anmuth! welche Lieblichkeit!« fuhr Justine fort: »ja, wer so schön wäre! Diese Strahlen...« »Sind der Heiligschein, mit welchem die römische Kirche das Haupt der Gepriesenen umgibt. Die Bilder dieser Heiligen schmücken heiter und lebendig die Gotteshäuser, und es läßt recht angenehm, wenn Weihrauchwolken sie umnebeln, Kerzen davor flammen, Blumenbüsche um sie blühen und das Volk sich vor den Geehrten fromm verneigt.« »Mit andern Worten: die Götzen anbetet. Ich weiß, unser Pastor hat schon oft dieses Thun in seinen Streitpredigten berührt, und einen heidnischen Gräuel genannt.« »Vielleicht ging er darinnen zu weit. Die Katholiken haben in diesen Bildern nur das _Andenken_ frommer Tugendfürsten zu verehren: nicht das Holz, nicht den Stein.« »So? Dann lasse ich mir's gefallen. Ich finde die Sitte sogar hübsch. Man stellt ja auch Bildsäulen berühmter Männer in Städten auf. Wir haben z. B. hier auf dem Rathhause das Reiterbild eines Bürgermeisters aus der alten Zeit, der einst mit Opferung seines Lebens die Vaterstadt von Schimpf und Untergang gerettet hat. Das Bild steht wohl schön anzuschauen an der großen Treppe, aber die Leute gehen kalt vorüber, und beachten's nicht. Stünde es in einer Kirche, würde es besser geehrt.« Sie wendete das Medaillon um, stutzte etwas, und fragte kleinlaut: »Das ist ein Mann? nicht wahr? Der Maler hätte ihm allenfalls einen Mantel um die Schultern werfen können.« »Der Zweck wäre gefehlt gewesen; die Pfeile seines Märthyrthums müssen dem Gläubigen sichtbar sein. Man nennt den schönen Jüngling den heiligen Sebastian.« Justine sah das Bild noch einmal flüchtig erröthend an, legte es dann still auf den Tisch, warf ein Tuch darüber, und wünschte der scheidenden Lainez eine ziemlich einsylbige Gute Nacht! Indem die Wittwe aus Justinens Thüre trat, vernahm man in dem schräg gegenüber liegenden Zimmer des Senators ein starkes Geräusch, und Müssingers halberstickte Stimme, welche nach Leuten rief. »Mein Gott! was ist da wieder vorgefallen?« sagte Justine, auf das Gemach zueilend, und winkte der Lainez und der Magd, die derselben mit der Laterne vorausgehen sollte, sich zu entfernen, ohne weiter dem Geräusch nachzuforschen. Die Französin, der es in dem Hause unheimlich vorkam, trieb selbst die gaffende Magd zur Eile an. Sie erreichten Beide, ohne sich umzusehen, die Treppe, und stiegen schnell hinab. Doch unten am Geländer stand unbeweglich und lautlos eine breite weiße Gestalt, welche drohend den Arm gegen die Kommenden erhob, und alsdann im Dunkel niederzutauchen schien. Die erschrockene Lainez und die erschrockenere Magd stießen einen Schrei des Entsetzens aus. Die Letztere ließ die Laterne fallen, welche zusammenklirrte und erlosch. Das Dienstmädchen rannte schreiend über die Treppe zurück; die Lainez aber, welche im Mondstrahl, der durch ein vergittertes Fenster fiel, die Hausthüre wahrnahm, eilte schaudernd auf dieselbe zu, fand sie zu ihrer größten Freude nur angelehnt, riß sie auf und entfloh. Scheu zurückblickend, glaubte sie die grausende Erscheinung wieder auf der Schwelle des Hauses zu erblicken, auftauchend wie ein weißer Blitz, verschwindend wie dieser, und von Gespensterfurcht bedrängt, flüchtete sie auf's Gerathewohl in die Gassen. Allenthalben waren diese leer; von ferne her hörte man die Schnarre eines Nachtwächters, -- endlich den geschwinden Schritt eines Kommenden; ... eine Handlaterne näherte sich, -- ihr blendender Schein führte die Flüchtige gerade auf den Mann los, der sie trug... Der Doctor war's. »Ei, Madame! woher um diese Stunde? auf welchem Wege finde ich Euch?« Die zitternde Lainez bat um seine Hülfe, indem sie mit ein Paar Worten ihre Angst schilderte. Der Doctor, lächelnd bald, bald ernst und zweifelnd den Kopf schüttelnd, erbot sich, sie nach Hause zu führen. »Um Gotteswillen, nein!« bat die Lainez dringend; »in dem alten Gebäude allein ... von aller Welt geschieden ... würde mich heut nach diesem Auftritte die Angst umbringen. Ich schwöre darauf, daß mir mein Mann erschienen ist. Seine weiße Uniform ... sein drohendes Gesicht ... meine Sünden ... Hochwürdiger! nur unter Ihrem Schutze kann ich meine Seele beruhigen.« »Bedenkt meinen Stand, liebe Frau,« versetzte Leupold beschwichtigend; »Eure Phantasie ist erhitzt; Ihr bedürft der Sorgfalt; ... was kann ich jedoch für Euch thun? Doch, wenn Ihr's wünscht, will ich meine Wirthin bewegen, Euch diese Nacht zu beherbergen.« »Gleichviel!« rief die Lainez; »nur bringen Sie mich unter Menschen, oder ich sterbe an dem Schreck!« Der Doctor winkte ihr, nebenher zu gehen, und förderte, dann und wann sie unterstützend, seinen Weg. »Ich kehre soeben von einem Kranken zurück,« sagte er, »den ich seit Abends Einbruch mit geistlichem Troste und endlich mit dem Leibe des Herrn erquickte.« Er zeigte auf die Saffiantasche, die er, unter seinem Oberrocke verborgen, auf der Brust trug, und in welcher er die Hostie insgeheim zu überbringen pflegte. »Ein Glück, daß Ihr gerade _mir_ begegnen mußtet. Meine fromme Hausmeisterin wird ein Uebriges thun, und morgen sollt Ihr mir mit gesammelten Kräften den Hergang der ganz absonderlichen Erscheinung mittheilen.« Die Eigenthümerin des Quartiers, welches der Doctor bewohnte, eine eifrige Anhängerin der im Verborgenen waltenden Kirche, welche wußte, daß sie in der Lainez eine Verbreiterin dieser Kirche vor sich hatte, machte nicht die mindesten Umstände, in des Doctors Begehren zu willigen, und dieser Letztere, Mitleid mit der Niedergeschlagenheit der Französin fühlend, lud sie ein, auf seinem Zimmer, -- bis die Wirthin ihr Lager bereitet haben würde, -- eine Tasse Kräuterthee zu genießen, den er selbst auf's Beste zu bereiten versprach. Die Lainez nahm mit Dank den Antrag des Mannes an, der, aus Theilnahme für sie, die strenge Grenze, die sein Anstands- und Schicklichkeits-Gefühl zwischen ihm und der Mitarbeiterin gezogen hatte, in etwas erweitern wollte. Als sie jedoch an des Doctors Hand dessen Wohnzimmer betrat, wurde ihr Auge von einem Besucher überrascht, der in dem Großvaterstuhl am Fenster saß, und kaum merklich mit dem Kopfe nickte, als James den Doctor mit seiner Begleiterin einließ. »Gelobt sei Jesus Christus!« sprach der Fremde, und der Doctor, im höchsten Grade überrascht, erwiderte mit kaum hörbarer Stimme, sich tief verneigend: »In Ewigkeit. Der Herr segne Ihren Eingang, Pater Superior. Ihr Besuch ist eine unerwartete Freude.« Der Superior, ein hagrer Mann mit ganz blassem Gesichte, aus welchem ein Paar dunkle Augen sprühten, lüftete ein wenig das Käppchen, das seinen Scheitel bedeckte. »Ich bin vor gar nicht langer Zeit angekommen,« sagte er, -- »bin herzlich müde, und habe mir die Freiheit genommen, bei Ihnen, mein Vater, meine Schlafstelle zu suchen, indem ich hier unbemerkt und sichrer zu sein glaube, als in dem verstecktesten Gasthofe. Es thut mir indessen leid, wenn ich hier stören sollte.« Er warf einen zweideutigen Blick auf die Lainez. Der Doctor errieth dessen Sinn, und sagte empfindlich: »Ich hoffe, Ew. Hochwürden bewiesen zu haben, daß mein sittliches Betragen kein Mißtrauen verdient. Der Zufall nur...« Mehr als seine Worte beruhigte die Französin selbst den argwöhnischen Geistlichen. Sie ging demüthig auf ihn zu, küßte seine Hand, bat um seinen Segen, und erbot sich, alsbald das Zimmer zu verlassen. Der Superior schenkte ihr einen günstigen Blick, klopfte ihre Wange. »Lasse Sie's nur gut sein,« sprach er mit dem empfindlichen Uebergewicht, welches häufig von Priestern, den ihnen ganz ergebenen Weibern gegenüber, fühlbar gemacht wird: »ich kenne Sie ja, und hoffe in Ihr kein unwürdiges Rüstzeug vorgeschlagen zu haben. Vater Münzner wird mir Alles genügend erklären. Sie kann sich indessen wegbegeben, denn wir haben hier noch allerlei zu bereden, das nicht für Sie ist.« Noch ein gnädiger Schlag auf die Wange, und die Lainez, feuerroth und betreten, war entlassen. James sperrte das äußere Gitter, und wollte den Herren eine gute Nacht wünschen. Der Superior verhinderte dieses; sprechend: »Verbleibe Er immer noch ein Weilchen, junger Mensch. =Ab initio= wird von Ihm die Rede sein.« James bückte sich, und stumm stand er neben seinem Pflegevater vor dem Superior, der gemächlich seinen Platz fort und fort behauptete. »Ich habe den =Juvenem= allhier examiniert,« hob der Bequeme an, zu dem Doctor gewendet: »habe denselben doch noch nicht weit vorgerückt gefunden. Er scheint seine Studia oberflächlich betrieben zu haben, und -- was am übelsten -- das ernste und äußerst wichtige Ziel seiner künftigen Bestimmung nicht genug in's Auge zu fassen. Die Petulanz, so ich in seinem Wesen und seinen =expressionibus= wahrnehme, wird in seinen gegenwärtigen Beschäftigungen nur wachsen können. Es ist daher unumgänglich nothwendig, daß er unter die Disciplin des Novizialmeisters genommen werde.« James erröthete erbebend; der Doctor verneigte sich stumm. »Ich werde ihm vorläufig die =exercitia Spiritualia= unsers heiligen Ordensstifters und Regulators in die Hände geben,« fuhr der Superior fort, »und Er mag sich bereit halten, mir in das für Ihn bestimmte Collegium zu folgen, sobald meine Geschäfte in hiesiger Gegend beendigt sein werden. Ich habe mit dem Pater Rector schon die nöthige Rücksprache genommen, wie es Ihr letzter Brief, Pater Münzner, verlangt hat. =Quod erat demonstrandum.=« James küßte des Superiors Hand, und ging niedergeschlagen nach seiner Kammer. Der Doctor blickte ihm mitleidig nach, und sagte nach einer Pause leise und demüthig zu dem Superior: »Es kömmt mir beinahe vor, ehrwürdiger Herr, als ob ich mich in den Anlagen des jungen Mannes getäuscht hätte. Seine Geisteskräfte sind wohl scharf, allein noch schärfer ist der Trieb seines Herzens. Er begehrt, er verlangt wie ein kräftiger sinnlicher Jüngling. Er zeigt dann und wann Widerspruchsgeist, Grübelei ... es wird schwer halten, seine Vernunft in die wohlthätigen -- Ketten des Glaubens zu legen, und ich würde mir's zum ewigen Vorwurf machen, -- gestaltete sich aus diesem -- in die Welt berufenen Jüngling ein schlechter Priester.« Der Superior sah den Doctor hoch und mißbilligend an: »Sie reden jetzt ganz anders, mein Vater, als Sie vor kurzer Zeit geschrieben. Welche unzeitige kränkelnde Philanthropie! Wären auch Sie von der Lüstelei, von dem empfindelnden Wahnsinn des Jahrhunderts ergriffen worden? Haben nicht auch _wir_ begehrt und verlangt, und sind _wir_ deshalb schlechte Priester geworden? Die Disciplin bändigt den Widerspruch; die rastlose Thätigkeit der Novizen steuert der Grübelsucht. Vernunft? -- Glauben? -- Sie sind nicht klar über die Grundsätze unsrer Institutionen, ob Sie gleich Prozeß und Gelübde gethan haben. Fähige Geister gewinnen, -- dieselben nach ihrer Richtung beschäftigen, -- das ist unsere Aufgabe, und deren Erfüllung sichert das Gedeihen unserer Gesellschaft. -- Der nützliche Schwärmer, der ein begeisterter Apostel werden will, glaube. Der rein Vernünftige, geeignet, die politischen Zwecke unsers Daseins zu erreichen, gehorche, wo er nicht _glauben_ kann. Und dieses Gehorsams Triebfeder ist sein Vortheil, -- das Interesse, das man ihm an seinem auferlegten Streben beizubringen hat. Und nach den geschickten Combinationen unsers herrlichen Staats ist der Vortheil des Einzelnen der Vortheil des Ganzen. Darum _herrschen_ wir, darum _siegen_ wir; darum beneidet man uns. Glauben Sie mir: Ihr Pflegling wird noch gut werden, und reichliche Zinsen tragen, für das Geld, das wir an seine Bildung verschwendet haben, und noch verschwenden werden. Nun zur wichtigern Sache, Pater Missionär. Ich habe Ihre Bücher durchblättert. Unser Commerz über hiesigen Platz rentirt sich nicht besonders. Ob die Pariser uns Schaden bringen? oder ob die Schiffscapitäne, die unsere Frachten besorgen, Betrüger sind? Ist das Erstere, so müssen wir die Augen zudrücken. Das Zweite kann nur an Ort und Stelle erforscht werden. Ich erwarte darüber Befehle von dem Pater Provinzial. Ein geschickter Ordensmann hat zugleich mit meiner Eingabe ein Projekt eingesendet, das, wird es angenommen, dem Handelsfond unserer Gesellschaft unbegränzten Vortheil bringen wird. Es wird darinnen vorgeschlagen, den Sklavenhandel für Brasilien unter billigern Bedingungen zu übernehmen, als ihn bisher unsere unverschämten Schiffsmeister nebenbei getrieben haben.« »Den Sklavenhandel?« fragte der Doctor erschrocken. »Ja,« versetzte der Superior gleichgültig: »der Trafik mit denen schwarzen Negern bringt immense Dividenten.« »Aber die Menschlichkeit, Pater Superior?« fragte der Doctor schaudernd weiter. Der Jesuit lächelte vornehm. »Floskeln, lieber Pater Münzner. Diese Schwarzen sind eine untergeordnete Race; an schmutzigen Heiden, wie sie sind, ist nichts verloren. Ueberdies ist ihr Sklavenleben reicher an Genüssen, als ihre Freiheit.« »Das Naturrecht, Pater Superior...« »Sie sind Doctor =juris utriusque=;« sagte dieser gähnend: »man hört es Ihnen an. =Satis= über diesen Punkt. Der Verfasser jenes Projekts wird belobt werden, und es noch weit bringen. Wie weit ist's aber mit der heiligen Christenverbesserung gediehen?« Der Doctor berichtete in Kürze; legte die Liste der kleinen Gemeinde vor; ihre Beiträge zum Kirchendienst; die Berechnung des Ueberschusses. Der Superior durchging die Liste schmunzelnd und zählend. »Viele Leute,« sagte er hierauf: »aber nichts Besonders. Die meisten =ex infima plebe=.« »Unser Herr Jesus Christus fand unter dieser Classe seine ersten Jünger.« »Hm! ja. Sehr viele Weibspersonen finde ich hier aufgezeichnet; zum Theil wohl aus den bessern Ständen. Nun ja; das sind die Lämmlein, die zum Paradiese locken. Aber ... aber ... ich vermisse denn doch die Männer von Gewicht. Ein paar Kaufleute, ... ein Recheneiverwalter ... ein quiescirter Fünfzehner, ... heilige Maria! was will das im Ganzen heißen? Den Beschluß der Reihe macht doch endlich ein Senator. Wer ist der Mann? Derselbe, von dem Sie schon ein Wörtlein fallen ließen?« »Derselbe, Pater Superior.« »Hat seine Bekehrung sich so schnell gemacht? Gelobt sei der Herr. Dürfen wir von ihm hoffen?« »Vieles. Er ist durch ein besonderes Verhängniß ganz der Unsrige geworden.« »=Favente Deo.= Recht. Wie hat sich die Lainez gemacht?« »Sie hat Einiges gethan; doch Unwichtiges. Das Weib ist zu eitel, leichtsinnig und verliebt.« »=Bene dixisti=, Pater Münzner. Eitel und verliebt. Die Französin sieht überall hervor, und ihr Mann hat nicht so viel an ihr verloren. Es hat ihr indessen eine Zeitlang mit Proselyten recht geglückt. Sie ist sehr fromm und möchte die ganze Welt in's Paradies bringen. Eine lustige, schnackische Frauensperson im Uebrigen; nimmt nichts übel, und hat dem Pater Provinzial, der sie mir empfohlen, viele trübe Grillen verscherzt. Sie weiß allerlei von Sr. Hochwürden zu erzählen, und hält sich damit oben, so daß ihr =Sub manu= eine ewige Versorgung aus der zu ähnlichen Zwecken bestimmten Kasse versprochen wurde. Hierin wurde aber eine kluge =Reservatio mentalis= beliebt. Ködert sie nicht mehr, so steckt man sie in ein Kloster, und damit gut. Die Schwestern mögen sie dann füttern. Also _hier_ hat sie wenig genützt?« »Das Wichtigere hat sie vor kurzer Zeit übernommen: die Bekehrung der Tochter jenes Senators. Aber ein unseliger Zufall reißt hier alle Hoffnung ab.« »Wie so?« Der Doctor erzählte von der Ankunft des Verlobten, der seinen Heirathsantrag erneuernd, im Begriff stehe, das Mädchen unwiderruflich in ein protestantisches Land zu führen. »=Pessime!=« rief der Superior: »das darf nicht geschehen. Das Mädchen, als einzige Erbin eines sehr beträchtlichen Vermögens muß der Kirche zugewendet, und von dem Anglikanen abgezogen werden. Wir hätten =pro Studio et labore= nichts als das leere Nachsehen? Nein, lieber Pater Münzner! lassen Sie uns in die Fußstapfen unserer würdigen Vorgänger treten, die auch nicht vom Heller des Armen ihre Collegia und Prozeßhäuser erbaut haben.« »Wie wollen Sie aber vorbauen, Pater Superior? Ich mißbillige die Sache, weil es mich schmerzt, ein unschuldiges Schäflein auf ewig von der Heerde, der es sich näherte, getrennt zu sehen, -- aber ich begreife nicht, wie....« »Sie begreifen nicht? Sind Sie nicht der Beichtvater des Senators? Pressen Sie sein Gewissen in die Schrauben ihrer gerühmten Dialektik. Einem gewandten Beichtvater ist nichts unmöglich. =Experienta docet=. Während Sie sein Herz mit den Sturmblöcken einer zerschmetternden Rhetorik belagern, ihm sein Kind im Feuer der Verdammniß zeigen, -- mag die Lainez von der andern Seite dem Mädchen kräftig, schlagend zusetzen. Ich habe schon Meisterstücke in dergleichen Angelegenheiten, -- =Caeteris paribus=, -- verrichten gesehen, selbst verrichtet.« »Der Glaube ist in dem Senator nicht sonderlich stark genug, um...« »=Res indifferens!= So greifen Sie seine schwachen Seiten an. =Cum auxilio divino= muß Alles gehen. Die Lainez soll nicht saumselig sein! =periculum in mora=! Das Mädchen wird allerdings auch seine schwachen Seiten haben. Die Weiber sind gebrechlich. Ist unsere liebe Tochter in Hoffnung nicht etwa verliebt? Da könnte Ihr Pflegesohn benützt werden.« »O weh! Steh uns der Himmel bei. _Er_ ist in das Mädchen verliebt. Justine zeigt aber keine Spur von Empfänglichkeit. --« »Ein kalter Frosch? Desto besser. Sie muß in's Kloster; unserer Gesellschaft alles zuwenden, bis auf ein Pflichttheil für die Schwestern. Sie sagen, man schätze den Senator auf dreimal hunderttausend Thaler? Und diese Summe sollte uns entgehen? =Minime=, Pater Münzner. Alles zur größern Ehre Gottes!« »Sie legen mir da ein hartes Probestück auf,« versetzte der Doctor seufzend: »um des Eigennutzes willen....! ja, wenn es einzig die Sorgfalt für des Mädchens Seelenheil gälte! --« »Bilden Sie sich das ein, Pater Münzner. Ich erlaube es Ihnen. -- Aber, lassen Sie ja den goldgefiederten Vogel nicht aus. Und, -- beharrt das Mädchen auf Widerspenstigkeit, so muß es möglich gemacht werden, daß sie der Vater enterbt. Es _muß_ möglich gemacht werden, Pater Münzner! Verstehen Sie mich wohl?« »Ich verstehe;« antwortete der Doctor niedergebeugt. »Nie sind die Zeiten schwieriger gewesen, als jetzt;« fuhr der Superior ruhig fort: »die langen Kriegsjahre haben das flammende Verlangen der Gläubigen, der Kirche wohl zu thun, gedämpft. Der Handel hat durch Kapereien gelitten. Viele fähige Studenten werden auf Kosten der Gesellschaft erhalten, gebildet, versendet. Man muß zu allen Hülfsmitteln greifen, um die überschwenglichen Kosten unserer Arbeiten zu decken. Die dreimal hunderttausend Thaler dürfen nicht nach Amerika! Der Wiklefit soll abziehen, oder -- wenn Alles nichts hilft ... nun, wir werden sehen. Ich verpflichte Sie, Pater Missionär, Morgen alsobald Ihre Bemühungen, mir zu gehorsamen, anzutreten. Thun Sie die ersten Schläge, während ich mit dem verschmitzten Tormerpick Abrechnung halte. Wenn Ihrem Scharfsinn, was ich Ihnen andeutete, gelingt, -- und es _muß_ gelingen, -- so sein Sie der vortrefflichsten Note in meinem vierteljährigen Censurbericht an den General vergewissert.« Der Doctor, wenn schon im Herzen tief verwundet, verbeugte sich, wie es der Gehorsam erforderte, und brachte eine qualvolle Nacht unter dem Kampfe seines Gewissens, und der Pflicht, die er beschworen, zu. -- James, der ihm am nächsten Morgen mit rothgeweinten Augen entgegentrat, zerriß seine Seele noch mehr. »Mein Vater!« sagte ihm der junge Mann, auf dessen Zügen der Schmerz saß: »ich kann nicht in das Noviziat treten. Ich kann nicht, und sollte es mein Unglück sein!« »Du mußt!« erwiderte ihm der Doctor streng, und drehte sich von ihm, daß er das Mitgefühl nicht in den Zügen des Pflegers lese. »Ich muß nicht, mein Vater!« fuhr James mit kalter Entschlossenheit fort: »ich bin kein Leibeigener. Ich will Ihnen im Orden keine Schande machen. Ich tauge nicht dazu; ich verabscheue mich selbst, um der Winkelzüge, zu welchen ich mich brauchen ließ. Haben Sie Mitleid mit mir, Sie, mein zweiter Vater!« »Der Pater Superior nimmt mir meine Pflichten gegen dich, sammt meinen Rechten auf deine Person ab;« erwiderte der Doctor, wie oben: »fasse und füge dich.« -- »Ich mich fassen? ich mich fügen?« rief James, wie außer sich: »Ich soll mich in Klosterfesseln schmieden...? ich, der die Fesseln dieses _Lebens_ nur mit Mühe trägt?« »Mensch!« sagte der Doctor hierauf erschrocken, und sah dem Jüngling aufmerksam ins Auge: »Was sollen diese Worte bedeuten?« »Meinen Ueberdruß an der Welt, Vater; meinen Ekel am Dasein. Ich bin zum Unglück geboren, wie die Meinigen zum elendesten Tode. Hier lächelte mir, dem Spion, dem elenden Hehler und Helfershelfer ein Stern der Wonne; ... ich fühlte Seligkeit!« »Die Seligkeit eines Thoren! Die Verzuckung des heidnischen Bildhauers vor einem Marmorbilde!« »Nein, mein Vater! ich war kein Thor; ich bin es nicht! Noch jetzt erhält mich der Gedanke, daß Galathee im Innern der kalten Brust Leben für mich empfindet! Aber -- wenn das Geschick befiehlt, -- wenn sich erwahrt, was die Lainez mir so eben vertraute, -- wenn Justine einem Andern angehören soll, -- dann höre ich auf, zu leben; bei Gott! ich höre auf, zu sein!« »Wohlan!« entgegnete der Doctor bitter und verletzt: »so höre auf, wie tausend Narren deines Nebellandes, deren leeres Gehirn sich an der Leere ihres Lebens langweilt; höre auf, wie ein insolventer betrügerischer Schuldner, und überlasse mir, dem Getäuschten, die Last, deine Schulden an deine Ernährer zu bezahlen!« »Mein Vater!« stammelte James, von Scham ergriffen: »Was sagen Sie? O, Sie haben Recht! Ich gehöre ja nicht mehr mein. Ich bin Ihnen und den Obern verschuldet! ich bin Ihr Sklave! O, so machen Sie mich zu Gelde! Verkaufen Sie mich, damit ich mein Leben hindurch unter Blut und Thränen arbeiten muß, um das Jahr zu bezahlen, das mir Ihre Wohlthaten fristeten!« »Undankbarer, roher Mensch!« sagte der Doctor unwillig: »So gehe hin und suche den Tod in eitlem Wahne. Du sollst mir nicht noch einmal vorwerfen, wie wenig ich für dich gethan.« Der erschütterte Ton des Doctors machte den besten Eindruck. James stürzte reuevoll vor ihm nieder, weinte auf seine Hände. »Ich soll leben? ich _will_ leben!« schluchzte er; »aber wie wird es möglich sein, wenn Justine des Amerikaners Weib wird?« Den Doctor traf's durch's Herz. Er blickte nach dem Gemache, in welchem der Despot seiner Handlungen noch schlief, erinnerte sich seines qualvollen Geschäfts, neigte sich zu James und -- um wenigstens _eine_ gute Frucht aus der hinterlistigen That zu gewinnen, die er vollbringen sollte: die Beruhigung einer verzweifelnden Seele -- sagte er ihm: »Justine wird nicht des Amerikaners Weib!« Somit ging er von dem Staunenden, um den Senator zu besuchen. Ein finsterer, wolkenumzogener Tag paßte vortrefflich zu seiner Gemüthsstimmung. Während des Gehens wollte er beten, -- aber dunkle Gedanken durchbrachen in Massen sein Gebet. In sich gekehrt, betrat er Müssingers Haus. -- »Sind der Herr Senator oben?« fragte er mit gesenktem Auge einen Menschen, der ihm entgegenkam. -- »Ja, Monsieur;« antwortete man ihm kurz und unhöflich. Der Doctor sah auf. Nothhaft war der grobe Bescheidgeber, und nicht wenig erstaunt, den Mann vor sich zu schauen, mit dem er vorgestern einen Handel hatte abschließen wollen. Auch der Doctor erinnerte sich seiner. »Sieh da, Monsieur!« sagte er: »finden wir uns hier? Sie blieben aus, Verehrter?« -- »Ich weiß nicht, was Sie wollen!« schnauzte ihn der Andere überrascht, verlegen, und unerkannt zu sein wünschend, an: »Ich kenne Sie nicht, Monsieur!« _Er_ zum Hause hinaus; der Doctor die Treppe hinan. Des Senators Gesicht trug alle Spuren einer mühselig durchwachten Nacht, und kaum verzog sich seine Lippe zu einem matten Willkommslächeln, als der Beichtiger eintrat. »Sie finden mich schwach und krank,« sagte Müssinger, wieder in die Kissen seines Ruhebetts zurücksinkend; »doch ist mir Ihre Gegenwart von hohem Werthe. Ein stürmisch rollendes Geschick hat mich, so zu sagen, an Sie gebunden, während alle Wesen, welche die Natur mit mir verband, von mir abfallen zu wollen scheinen, und selbst übernatürliche sich in mein Verhängniß mischen. Eine Frage, hochwürdiger Herr: glauben Sie, daß zwischen Sterblichen und abgeschiedenen Geistern von Sterblichen ein Rapport eintreten kann?« Der Doctor stutzte. »Die Philosophie unserer Religion, und häufige, von Zweiflern vergebens bestrittene Erfahrungen weisen mich an, Ihre Frage zu bejahen.« Der Senator seufzte tief, und stützte das wankende Haupt in die kraftlose Hand. »Hören Sie an,« erwiderte er alsdann: »was mir in den Spätabendstunden des gestrigen Tages begegnet ist. Von den mancherlei Gemüthsbewegungen, die mich erschüttert hatten, wie von quälenden Mißverständnissen in meiner Häuslichkeit ermüdet, war ich in meine Stube gegangen, um zu ruhen und einen erquickenden Schlaf zu thun. Ich las in dem Gebetbuche, das ich Ihrer Fürsorge verdanke, die Lampe brannte dunkel; aus meinen Betrachtungen erwachend, erhebe ich mich, den flackernden Docht zu putzen, -- da schaue ich zufällig nach der Thüre, und diese steht halb offen, -- und zeigt mir eine Gestalt, die mich erbeben macht, die leichenhafte Gestalt des seligen Birsher in seinem weiten weißen Ueberrocke, den er zuletzt trug, -- mit hohlen, starrenden Augen. Ich will rufen, -- die Kehle ist mir zugeschnürt. Die Erscheinung öffnet dagegen den schaurigen Mund, und ich vernehme die dumpfen Worte: Du hast mich umgebracht, und willst auch die Tochter tödten? -- Nicht nach Amerika! Wehe sonst! -- Wie Todtenglocken sausten die Töne in mein Ohr, und im Nu verflimmerte das Gespenst vor meinen angstvollen Blicken. Sein Abschied löste die Bande meiner Zunge. Außer mir stürzte ich in einem Sessel um, rief nach Hülfe; Justine kam, Leute kamen. Die Erscheinung ist von einigen gesehen worden, und spurlos verschwunden. Ich befinde mich im gräßlichsten Seelensturm. Rathen _Sie_, reichen Sie mir den Anker des Heils!« Der Doctor combinirte, still vor sich hinschauend, des Senators Aussage mit dem Behaupten der Lainez, und betrachtete diesen Zwischenfall als einen Fingerzeig aus hohen Wolken zur Erreichung des ihm aufgegebenen Zwecks. »Eine seltsame Begebenheit!« sagte er bedächtig und ernst: »der innigsten Prüfung werth. Es scheint, als ob in der Zukunft Unheil brüte, ... als ob der Geist des Abgeschiedenen, der Ihre Tochter lieb gewonnen hatte, dieselbe zu retten, seinen Wohnort verlassen, ein nothwendiger, warnender Helfer!« Der Senator nickte stumm mit dem Kopfe. »Was würden Sie an meiner Statt thun, ehrwürdiger Mann?« fragte er. Der Doctor zuckte die Achseln. »Fragen Sie lieber,« sprach er, »was ich _vor_ jener bedeutungsvollen Erscheinung gethan haben würde. Ich hätte meine Tochter nicht mit dem Amerikaner verlobt. Diese Leute sind Ihnen verderblich. Mit dem Vater zog ein bedauerliches Unheil in Ihre Wohnung. Der Sohn wird nicht viel Besseres bringen. Nennen Sie dieses Vorurtheil. So wie es in der Natur Elemente gibt, die sich ewig Widerpart halten, so verflicht das Schicksal öfters gewisse Menschen in gegenseitige Feindseligkeit, ohne daß sie es ahnen. Wenn wir annehmen, daß mancher Tag, manche Stunde wichtiger ist, als die übrigen,-warum nicht auch ein Menschenloos vor dem andern? Ich hätte Justinen dem jungen Manne nicht versprochen, nicht dieses Einschreiten einer unbekannten Macht herbeigerufen!« »Ich war so heiter geworden,« versetzte der Senator, »ich sah eine furchtbare Wildniß, die mich entsetzt hatte, plötzlich geebnet. Sie wissen es: wir hatten uns zu offenem und heimlichem Krieg gegen den gefürchteten Gast gerüstet. Statt des Zürnenden, Argwöhnischen erschien jedoch ein Friedensengel, ein Johannes an milder Güte und Vertrauen. Ich konnte ihm die Tochter nicht weigern ... ich mochte es nicht,« setzte Müssinger stockend bei, »um oben den Schatten des Vaters zu versöhnen.« »Unglücklicher!« sagte der Doctor mißbilligend: »Kaum in den Schooß der wahren Kirche aufgenommen, verkennen Sie deren Wohlthaten? War nicht schon jede Sünde von Ihnen gewichen durch meine Absolution? Bedurften Sie noch eines Sühngedankens, der an heidnischen Irrthum gränzt? Mehr noch, Herr Senator: dieser Vorsatz ist ein Verbrechen gegen die liebende Allmutter unserer gottseligen Herde. Sie werfen durch die Verbindung mit dem Protestanten Ihre Tochter in den Pfuhl der Verdammniß, statt sich Ihrer väterlichen Gewalt zu bedienen, sanft und ernst die Unbekehrte auf den Pfad des Heils zu bringen!« »Mein Vater! das kann ich nicht,« entgegnete Müssinger entschlossen: »ich bin zum Bekehrer verdorben. Mein Kind wandle seinen Weg unter der Obhut des allbarmherzigen Vaters. Ist es dessen Wille, so wird meine Tochter selig werden -- so wird sie zum wahren Hirten gelangen; so Gott will, ohne, wie ich, von einem grausamen Zusammentreffen aller Schrecknisse zu einem Uebertritt gezwungen zu werden, den ich...« Er schwieg plötzlich. Der Doctor ergänzte mit strafendem Blicke, »den ich jetzt schon von Herzen bereue. Sprechen Sie es nur aus. Ihre Verhältnisse haben sich ja so gestaltet, daß, was Sie gethan, ganz unnöthig war. Sie bedurften der Lossprechung nicht, weil der Sohn des Todten Ihnen freundlich entgegentrat; Sie bedurften meines Rathes nicht, weil er Ihnen sogar die Gelder schenkte, vor deren Rückzahlung Ihre Oekonomie, vor deren Bewahrung Ihr zartes Gewissen schauderte. Sie bedurften meiner Hülfe gegen den Feind nicht, weil sich dieser selbst in Ihre Hände lieferte. Ihr Uebertritt war zwecklos. Sie wünschten ihn ungeschehen zu machen; beinahe wünschte ich es auch, weil Sie meine Theilnahme und mein Vertrauen auf eine unwürdige Weise mißbraucht haben.« »Hochwürdiger Herr...« »Ich gehe von Ihnen; wohl! Bedenken Sie jedoch, daß, indem ich auf immer von Ihnen scheide, mein Segens- und Lösespruch zu nichte wird. -- Sie werden in Ihre Irrthümer, in Ihre Zweifel, in Ihre Gewissensqualen zurückfallen; eine Beute der mahnenden Geisterwelt werden, Ihre Tochter mit Ihnen in's Verderben reißen, und, statt einst mit Clara vereint, himmlische Wonne zu genießen, in Ohnmacht und Pein vergehen, weil Ihr Ohr taub geblieben, -- weil Sie die irdischen Stimmen und die Stimmen von Jenseits nicht gehört!« »Ach! welch' ein Abgrund von Trostlosigkeit und Furcht!« klagte der Senator, den Doctor, der zu gehen Miene machte, zurückhaltend: »Verlassen Sie mich nicht! rathen Sie mir; helfen Sie mir! Mich verläßt der Verstand und Gott, wenn Sie von mir scheiden!« »Wo bleibt Ihre Entschlossenheit, Herr Senator? Ihr unbiegsamer Charakter?« »Ich bin nicht mehr Müssinger,« versetzte der Senator tiefgebeugt; »ich kenne mich selbst nicht mehr. Wenn Sie verlangen, will ich, wo möglich, alles zurücknehmen; aber ... der Betrag jener Wechsel, ... wird Georg denselben nicht fordern, wenn aus der Hochzeit nichts wird?« »Sind denn die Wechsel nicht in Ihren Händen? Ich bevollmächtige Sie, zu beschwören, daß Sie an Birsher, den Vater, das Geld gezahlt. -- Sie leisten den Eid mit dem stillschweigenden Sinnesvorbehalt, daß Sie die Nothausflucht auf dem Wege wieder ausgleichen wollen, den ich Ihnen bereits angegeben, und Alles ist in völliger Richtigkeit; Ihr Heil bewahrt.« Der Senator stand entschlossen aber unzufrieden auf, und entließ mit den Zeichen einer völligen Sinnesänderung den Doctor, an welchem Justine hastig und kalt grüßend vorüber zum Vater ging. »Verhüten Sie doch Unheil, bester Vater,« sagte sie schnell und mit Thränen des Unmuths in den Augen: »Erklären Sie sich gegen die Mutter. Sie räumt ihre kostbarsten Sachen zusammen, -- sie verschließt ihre Schränke, -- sie will heute Abend das Haus verlassen. Welch' eine Schande für uns, wenn das geschieht! Reden Sie mit ihr, und ein grausames Mißverständniß wird sich heben!« Des Senators bleiches Gesicht verwandelte sich in ein zornrothes. Erschrocken und verletzt zugleich eilte er, dem Justine zuredend und ermahnend folgte, dem Gemach seines Weibes zu. Jacobine war gerade beschäftigt, aus Schubfächern und Commoden ihre Kleider, ihre Wäsche zu nehmen, und die ungeheuern Schränke damit anzufüllen, die sie, voll von ihrer Aussteuer einst in's Haus gebracht. Sie zuckte etwas zusammen, als sie den Senator wahrnahm, ließ sich jedoch nicht stören, drehte ihm den Rücken, und kramte, ohne ein Wort zu reden, weiter fort. Auf die dreimal und immer heftiger wiederholte Frage des Gatten: »Jacobine! Was machst Du da?« antwortete sie endlich, der Anrede überdrüssig, kurz und verächtlich: »Du siehst's.« »Du packst ein?« »Ja.« »Warum?« »Ich gehe fort; heute noch.« »Jacobine! von deinem Ehemanne? aus deinem Hause? von deinem Kinde?« »Ist Justine ein brav Mädchen, so geht sie mit. Wo nicht, desto schlimmer für sie.« »Lieblose! Blödsinnige!« donnerte Müssinger, kaum seiner mächtig: »Wiegelst du wieder mein Kind gegen mich auf? Was that ich dir, Besessene? Rede endlich!« Die Senatorin schwieg in galligem Stumpfsinn. Justine, den bebenden Vater betrachtend, und Alles fürchtend, lief auf die Mutter zu, fasste deren Hände, und bat weich und flehend: »So reden Sie doch, Mutter. Beendigen Sie doch diesen gräulichen Zwist. Justine bittet Sie herzlich darum!« Die Senatorin schob sie heftig von sich, und trieb ihre Geschäfte weiter. Justine folgte ihr ins andere Zimmer, versuchte noch ein Bittwort, und da auch dieses nicht fruchtete, stellte sie sich der ausweichenden Mutter in den Weg, und sagte mit geschärftem Nachdruck: »Sie werden jetzo dem Aergerniß im Hause auf eine oder die andere Weise ein Ende machen, Mutter. Sie werden es, so wahr ich Justine heiße. Sollen die Dienstleute noch mehr des schändlichen Geredes unter die Leute bringen? Soll mein -- der Unschuldigen Wohl unter Ihrer übeln Laune leiden? Geben Sie jetzt noch nicht dem billigen Verlangen meines Herrn Vaters nach, so nenne ich Sie nie mehr meine Mutter!« »Unglückskind!« zürnte Jacobine: »hätte ich dich nicht geboren!« »O du Rabenmutter!« rief der Senator, der ihnen gefolgt war, und nun voll Wuth auf Jacobine zuging: »Bist du denn werth, daß dich die Sonne bescheint?« Seine Hand suchte und fand das spanische Rohr am Kamin. Justine hielt ihn mit aller Kraft zurück. Die Senatorin jedoch, ohne die drohende Bewegung zu fürchten, stellte sich ihm trotzig entgegen, und rief herausfordernd: »Nun, so komm' an! Schlage mich todt, wie den alten Birsher, dessen Gespenst schauderlich im Hause herumgeht, und mit dir, dem Schuldigen, alle Unschuldigen quält, daß sie unmöglich ausdauern können!« Wie Bildsäulen standen der Senator vor dem Donnerworte seines Weibes, -- Justine vor dem Erschrecken des Vaters. Er hatte die entsetzliche Entwicklung nicht geahnt. Justine _hatte_ sie geahnt, -- aber nicht das Verstummen des Beschuldigten, den ihr Gemüth bisher frei gesprochen. Mit Mühe gewann Müssinger seine Sinne wieder und die Sprache. »Lasse mich mit diesem Weibe, deiner Mutter, allein!« sagte er mit erlöschender Stimme, blaß wie der Tod und winkte dem Mädchen zu gehen. »O du mein Herrgott!« kreischte das Weib: »Er will mich mißhandeln!« »Bleibe, tolles Weib!« entgegnete der Senator, und zog sie mit solcher Gewalt in einen Sessel nieder, daß sie plötzlich verstummte, sich nicht mehr regte. Justine wich nun auf ein zweites Zeichen ihres Vaters der traurigen Scene aus, die sich unter ihren Augen entsponnen hatte. In der Wohnstube kam ihr Georg Birsher entgegen: freundlich, offen, ruhig wie gestern. »Ich sehe Sie gerne, liebe und gute Miß,« sagte er: »Ihr Anblick ist mir ein Trost vor dem traurigen Geschäfte, das mich erwartet. Die Commissarien des Gerichts werden erscheinen, und mir den Nachlaß des Vaters übergeben. Schenken Sie mir zuvor das Köstlichere: Ihre Gewogenheit.« »Ich habe nichts gegen Sie, Monsieur,« versetzte Justine, verlegen an der Schürze zupfend: »Was wird aber Ihnen an der Gewogenheit einer Jungfer, wie ich bin, liegen?« »Viel; weil aus der der Gewogenheit herzlichere Freundschaft werden kann. Sehen Sie, Miß: Als mein Vater sagte: Georg! du wirst heirathen, und das Mädchen nehmen, das ich dir bestimme: ein deutsches wirthliches Mädchen, das mein Correspondent sehr lobt an Eigenschaften und Vermögen! -- Da dachte ich bei mir selbst: In Gottesnamen! Der Vater wills; aber ich kann's schon erwarten. -- Als ich Europa betrat, und hörte, daß mein Vater gestorben, dachte ich: Sein Verlobungswort lebt zwar noch. Wird es mir jedoch zurückgegeben, ist mirs gleichviel. -- Als ich aber hier ankam, in Ihr leuchtendes Auge sah, und tief in Ihr Herz; -- da wurde es anders. Seitdem denke ich: es würde ein Unglück für mich sein, wenn ein solches Capital mir entginge. Ohne Umschweife denn, meine werthe Jungfer! Ihr Herr Vater wird mit Ihnen geredet haben. Ich bin ein ehrlicher Mann, suche eine ehrliche Frau, und wünsche Sie an dieser Stelle. Was antworten Sie hierauf?« Justine sah auf die Spitzen ihres Aermels, dann fest und sicher in Georgs festes und sicheres Auge, und sprach ohne Umstände: »Was mein Herr Vater will, ist mir, einer gehorsamen Tochter recht. Ich kann Sie, glaube ich, wohl leiden, mein Herr. Ich will mit Ihnen gehen, wenn sie es wünschen; als Ihr Weib und Ihre treueste Freundin.« Birsher verbeugte sich sehr erfreut, und versetzte: »Wollten Sie mir nicht erlauben, holdselige Braut, einen Kuß auf Ihre Wange drücken, und Ihnen ein Pfand dieser Stunde verehren zu dürfen?« Justine nickte freundlich, und duldete den verschämten Kuß. Georg zog hierauf einen schlichten goldenen Reif vom Finger, steckte ihn an ihre Hand, und sprach: »Amerikanisches Gold, ächt und klar wie amerikanische Treue! Der Brautschmuck von brasilianischen Steinen, den mein Vater Ihnen zugedacht, und den ich Ihnen bald überreichen werde dürfen, ist zwar zehnmal schöner als dieser Ring. Ich bilde mir jedoch ein, daß der Ring mehr Werth für Sie haben werde, weil er von _mir_ kömmt, und nicht vom freiwerbendem Vater eines willenlosen Sohnes.« »Sie charmiren mich durch das artige Präsent!« versicherte Justine lächelnd, und entfernte sich mit dreimaliger Verbeugung, weil die Commisarien sich hören ließen. Im Begriff, dem Vater diese Nachricht zu bringen, begegnete sie ihm, der aus der Mutter Zimmer trat. Er schien gefaßt. Die Senatorin saß, wie die klaffende Thüre sehen ließ, mit gefalteten Händen, stumpf brütend und niedergeschlagen auf einem Stuhle. Justine wünschte dem Vater schüchtern Glück, zur Beruhigung der Mutter. Die Albernheit hält in ihrem Kopfe offne Bank; sagte der Senator eiskalt und verächtlich: Man muß sie verblüffen, da mit Raison nicht anzukommen ist. Ich habe ihr geschworen, daß ich sie als verrückt ins Irrenhaus bringen lasse, wenn sie noch _einen_ Schwank macht, wie gestern an dem tollen Teufelstage. Du stehst mir dafür, daß sie mittlerweile nicht aus dem Hause geht. Die Verläumder, die ihr solche Schandmücken in das Ohr gesetzt, will ich schon finden, schon züchtigen. Justine freute sich der Ruhe ihres Vaters. Sie schien ihr ein Bürge seiner Schuldlosigkeit. Sie wollte seine Zufriedenheit erhöhen, und sagte: »Sie werden mich loben, Herr Vater. Justine ist gehorsam und eilig, Ihren Wünschen zu entsprechen. Monsieur Birsher kam vor einer Viertelstunde; er hat mit mir geredet; ich trage seinen Verlobungsring. Hier ist er, lieber Vater!« Des Senators Gesicht verzog sich düster und unwillig. »Warum diese Eile?« brauste er auf: »Alles zur Unzeit! Das Donnerwetter soll ... Welche Plage mit unbesonnenen Weibern!« »Mein Vater...« fragte Justine scheu: »welche Aenderung? sagten Sie nicht gestern?...« »_Heute_ ist nicht gestern, und gestern _war_ nicht heute!« versetzte Müssinger: »Der Ring muß zurück! Ich wills; ich befehle es dir!« »Sie befehlen mir Ungerechtigkeiten!« -- sagte Justine von kränkender Beschämung gepeinigt: »was müßte Herr Birsher glauben? Ich will nicht als wahnsinnig ausgeschrieen werden! besinnen Sie sich doch, mein Vater!« »Ihr _seid_ wahnsinnig; du und deine Mutter!« antwortete ihr in der höchsten Aufregung der Senator, und rannte dahin, wo die Commissarien seiner warteten. Justine schlug staunend die Hände zusammen, fühlte sich an die Stirne, um sich zu überzeugen, daß sie in der That wache und alles Vorige gehört habe. -- »Ich soll nicht fort?« fragte sie sich schmerzhaft! »O nicht doch! fort nach Amerika, wenn das Leben daselbst hundertmal einförmiger wäre, denn hier! Fort! hinaus in die Ferne! hinaus nur aus diesem Hause, in dem sich alles Unheil vereint, um uns sammt und sonders nach und nach um den Verstand zu bringen, wie es uns schon um Herz und Gemüth und Sorglosigkeit und Frieden brachte. Ich wollte ja lieber unter Fremden mein tägliches Brod _verdienen_, als es unter solcher Seelenangst verzehren zu müssen; ich wollte lieber ... gleich einer Flüchtigen...« Sie hielt inne. »Ei, die Lainez!« fuhr sie fort; »wo bleibt die gute Frau, deren Umgang allein jetzo meinen Geist erheitern könnte? Sollte sie, ihrem Pfande zum Trotz, wortbrüchig werden?...« Sie zog langsam, zögernd und erröthend, das Medaillon der Lainez aus der Tasche, und trat, von jungfräulicher Scheu und Neugierde zugleich befallen, aus dem Vorsälchen der Mutter in einen kleinen Versteck, kaum einen Kreuzstock breit -- ein Altänchen nach dem Hofe bildend, auf welchem eine Anzahl von Blumenstöcken an Geländer und Wand hingereiht war; von freierer Luft heimgesucht, und durch ein schirmendes Dach vor Sonnenhitze und Regen beschützt. Dieser Blumenwinkel am äußersten Ende des Hauses, stand mit dem, ebenfalls von Küche, Wohnstube und Gesindzimmer entlegenen Vorsaale der Senatorin vermittelst einer Thüre in Verbindung, in der eine drathvergitterte Glasscheibe angebracht, vor welcher ein Vorhang befestigt war. In der Mitte der Blumentöpfe, auf einem leeren Fleck des Gestells derselben, kauerte sich Justine nieder, und betrachtete, sich zu zerstreuen, und ihrem Vorwitze zu genügen, die Heiligenbilder der Lainez. Der heiligen Pulcheria wurde indessen kaum ein Blick geschenkt; der schöne Sebastian fesselte ihre Aufmerksamkeit. Der Maler hatte in dem kleinen Bilde ein großes Stück geliefert, und der Beschauer wußte nicht, was er vorzüglich daran preisen sollte: die männliche Formenschönheit des Märtyrers, die zu den Sinnen sprach; oder die himmlische Verklärung, die sowohl in seinem Gesichte, als auf seinen Gliedern lag, und jeder Sinnlichkeit wehrte, ... oder den magischen geheimnißvollen Farbenzauber, der aus den Blumen hervorging, die aus den stürzenden Blutstropfen des Heiligen sproßten; oder endlich das herrliche Schauspiel des aufgeschlossenen Himmels, der seine Goldstrahlen um das jugendlich schöne Haupt des Sterbenden legte, -- aus dessen Wolkenkranze die heilige Mutter sah, und der Heiland und ihre dienenden Engel! Justine konnte sich nicht satt sehen an dem lieblichen Meisterwerke, und so oft eine seltsame innere Beklemmung sie zwang, den Blick wegzuwenden, flugs kehrte er zu dem Bilde wieder zurück. Sie stellte es endlich, verschämt und dennoch zu kleinem Frevel versucht, in die Zweige einer jungen, grün und glänzend aufsprossenden Myrthe. Sie dachte sich den Altar hinzu, -- nicht den violettbehangenen der Johanniskirche, sondern den roth und weiß geschmückten aus der Johanniterkapelle; die Kerzen und den Weihrauch, von denen die Lainez gesprochen. Das Bild jener heimlichen Messe gesellte sich zu dem ganzen Begriff, und -- siehe da! in blühende schmeichelnde Formen gestaltete sich vor dem Mädchen der römische verpönte Gottesdienst, und es dachte bei sich: die Mittagsländer mit ihren heitern Tempeln müßten doch schön sein, wie ihr Kirchendienst fröhlich; glänzend und begeisternd, wie ihre Heiligenbilder zart, rührend und ideal. Da wurde der schweigend überlegenden und prüfenden Jungfrau plötzlich zu Muthe, als sei Herr Georg Birsher an ihre Seite getreten, und frage sie mit seiner ruhigen und männlichen Stimme: »Wozu das alles, liebe Miß? Ich fürchte: was Sie da treiben, sieht einer kleinen Sünde ähnlich auf ein Haar. Lassen Sie den raschbewegten Mittagskindern ihren bunten lustigen Schauspieldienst, und das Heer ihrer Heiligen und Seligen, zu denen man betet. Ihr wandelbarer Geist verlangt einen Blumenflor, auf dem er flattere und wühle, und schaue und genieße wie die Biene; denn der Süden zeugt rasches Blut und glühende Sinne. Bleiben Sie jedoch, gute Miß, in der Bahn des Nordens, des gemüthreichen, lang und beständig Empfindenden, zufrieden mit _einem_ Gotte, mit _einem_ treuen Herzen. Und dieses Herz -- bin ich gleich nicht schön wie der pfeildurchbohrte Sebastian, -- nicht Theilnahme erregend, wie ein Anderer, der mir gefährlicher wäre, als der todte Heilige -- dieses _treue_ Herz finden Sie in mir!« Justinens Phantasie hatte ihr eine eben so artige Täuschung vorgemacht, daß sie jetzt selbst verwundert aufsah, ob Birsher wirklich zugegen. Nein! er war nicht da. Ihr Auge sank zu Boden, aber ihr Ohr wurde von einem kreischenden Schrei erreicht, von der Stimme. »Das Gespenst!« flüsterte sie erschreckend, und hob mechanisch obgleich schaudernd den Vorhang von dem Thürfensterchen. Der Mutter Zimmer war offen; auf dem Sofa lag Jacobine, wie von Convulsionen durchschauert; über den Vorsaal nach der Ausgangsthüre schlurfte langsam eine weiße Gestalt. Vom Schrecken zu einer heldenmüthigen Entschlossenheit übergehend, sprang Justine aus ihrem Versteck, eilte der schnell sich fortbewegenden Gestalt, die diese Dazwischenkunft nicht vermuthet hatte, um so hastiger nach, faßte auf der Schwelle das fliegende weiße Gewand, und rief ihr wacker zu: »Halt! ergieb dich! du allzeit fertiges Gespenst!« Dieses Letztere hielt nicht, sondern ließ den Oberrock in den Händen der tapfern Angreiferin; ein Mann entsprang dieser Hülle, ließ Perücke und andern Ballast, der ihm zu beliebiger Ausstopfung gedient hatte, feig im Stich, und floh, da von der großen Treppe sowohl der Senator, als mehrere Domestiken auf Jacobinens Geschrei herbeikamen, eine schmale Wendelstiege hinab, die zum Magazin und Brunnen des Hauses führte. Der Geist rannte hier dem zufällig herankommenden Berndt in die Hände. »Halt! wer bist du, Deserteur?« »Laß mich! Bruder Berndt! um Gottes willen!« »Was? Dort oben schreit man nach Hülfe? und was gilt's? ich habe hier den Dieb! Halte still, und komm' mit.« »Kennst du mich denn nicht? Parbleu ... sei kein Kind!« »Eben deshalb, guter Freund! Weil ich kein Kind bin, und weil ich dich kenne, komm' mit. Deine Zwischenträgerei hat mich um den Dienst gebracht; meine Unerbittlichkeit soll dich zu Schanden machen, du Baalssohn!« So sanftmüthig auch Berndt diese Rede sagte, so derb packten seine Fäuste den Gegner, und trugen ihn beinahe in die Höhe. Justine, Senator und Gesinde empfingen den Ertappten, und führten ihn vor die Senatorin. Nachdem der Senator hierauf die Domestiken entfernt hatte, um ihnen nicht die Vapeurs seiner Frau und die Scham des entlarvten Geistes länger zum Schauspiel zu geben, sagte er zu Jacobine: »Sieh hier das übernatürliche Wesen, das seit gestern unser Haus umzuwälzen sich bemühte, das aus dem Grabe wiederkehrte, um Einspruch in eine Hochzeit zu thun, die ihm mißfiel, und denke daran, daß deine Ungerechtigkeit gegen mich aus eben so nichtiger Quelle fließt.« »Nothhaft!« rief die Senatorin, plötzlich ihre Krämpfe vergessend, und zornig aufspringend: »Nothhaft! Er niederträchtiger Bursche! Was bedeutet die schändliche Maskerade? Man hätte den Tod davon haben können! Am hellen Tage zu spuken! Den Amerikaner wieder aufleben zu lassen! Meinen armen Kopf zu verwirren! Ich hoffe, daß Herr Senator Müssinger Ihn exemplarisch zur Rechenschaft wird ziehen lassen! Auf dem Rathhause, vor allen Richtern und Volk!« »Ich hoffe, daß der Herr Senator das unterlassen werden,« entgegnete Nothhaft mit einem giftigen Drohblicke auf denselben. »Was in diesem Hause nur als ein unschuldiger Jokus passirte, könnte am geeigneten Orte zum Ernste werden! und Ihre Beleidigungen, Frau Senatorin, muß ich mir eben so ernstlich verbitten. Ich bin nicht mehr der Commis in Ihrem Hause; ich bin mein eigner Herr, und alle Tage fähig, einen Rathsherrn abzugeben, wie Ihr Herr Liebster.« »Ach Gott! das Lästermaul!« seufzte die Senatorin weinerlich und aufhetzend: »Ich zittere noch vor Schreck an allen Gliedern, und Er thut, als ob Er Fug und Recht gehabt hätte. Müssinger! wenn du das leidest....« »Ein Wort, Herr Ex-Principal!« sagte Nothhaft unverschämt, und zog den Senator bei Seite: »wir wollen uns nicht über die Gründe verbreiten, die mich zu der Vermummung bestimmt haben. Ich thue Ihnen damit einen Gefallen, so wie ich den ganzen Plan zu _Ihrem_ Besten allein angelegt habe. Vor der Hand lasse ich Ihnen noch die Wahl, mich als Schwiegersohn anzunehmen, und den Amerikaner aus dem Hause zu weisen, oder versichert zu sein, daß meine schonende Freundschaft für Sie ein Ende erreichen wird.« »Er ist ein schlechter Mensch!« polterte der Senator hitzig: »was werde ich auf seine elenden Drohungen geben? Packe Er sich aus meinem Hause! Ich habe Nichts mit Ihm gemein. Setze Er sich in seine Heimath hin, und rathe und verkaufe und spucke Er fort so viel als Er will. Ich warne Ihn, sich ferner hier betreten zu lassen. Ich würde sonst meine Anklage bei dem Polizeiaufsichter anbringen müssen, während ich jetzt noch den Scandal, den Er verursachte, mit Schweigen übergehen will.« Nothhaft schnitt ein grimmig saures Gesicht. »Na!« sagte er trotzig: »ich gehe, Herr Senator. Schreiben Sie das heutige Datum in's Kamin, Wünsche allerseits wohl zu leben. Und Sie, meine beste Jungfer! bittet Sie nicht ein wenig um Pardon für mich, da Sie mich doch eigentlich in die saubere Patsche versetzt hat?« »Ich freue mich, Monsieur, Ihn ertappt zu haben, während sich Männer vor dem Popanz fürchteten,« versetzte Justine spöttisch: »ich bin nicht vergnügt, daß nun auch die ganze Stadt von Ihm glauben wird, was ich schon längst von Ihm behauptete: daß Er eine bösartige Kröte ist, und damit Punktum.« »Damit noch nicht Punktum!« erwiderte Nothhaft frech und ergrimmt: »ich werde die Ehre haben, so Gott will, ein Weiteres von mir vernehmen zu lassen. Er aber, Mosje Berndt! Er wahre seine Ohren! Gott befohlen!« »Du ruchloses Höllenkind!« rief Berndt dem Davoneilenden nach: »der leidige Gott sei bei uns muß wenigstens dein Großvater gewesen sein!« Der Senator hatte indessen seine Partie genommen. Die alte Energie schien in den Mann zurückgekehrt zu sein. »Keine unnöthige Bethbruderei!« sagte er scharf, aber freundlich zu dem Augenverdreher: »wir müssen vor der Natter auf der Hut sein. Seh' Er nach, daß der Bengel seine Effekten noch in dieser Stunde aus dem Hause schaffe. Dann laufe Er, und zeige Er auf der Börse an, daß Nothhaft nicht mehr in meinen Diensten steht. Lasse Er merken, daß er mit Schimpf und Schande aus dem Hause kömmt. Aber von der Gespenstergeschichte kein Wort. Sonst bleibt's beim Quartalabschied. Unterdessen bedanke ich mich bei Ihm schönstens.« Berndt eilte, vergnügt über seine gesicherte Existenz, den Befehlen des Principals zu genügen. Der Senator wendete sich zu Justine: »Dir, mein Mädchen, danke ich in's Besondere. Dein Muth hat uns die Augen geöffnet. Der Bursche wußte, mit wem er's zu thun hatte. Zu mir kam er in der melancholischen Nacht, -- meiner leichtgläubigen, schreckbaren Frau erschien er am Mittage, -- wahrscheinlich, weil das Gespenst am Abend nicht durch die verschlossene Thüre dringen konnte. Auf den Aberglauben der Dienstleute konnte er's bei Tage wie bei Nacht wagen. Allein zu Justine kam er nicht. Er hat das Mädchen mit Recht gefürchtet. Mir bleibt jetzo noch Einiges zu thun. Meine Gegenwart ist im Hause entbehrlich. Ich war bei Eröffnung der Schränke. Man hat sich überzeugt, daß alle Siegel unverletzt geblieben. Ich will ausgehen, Justine! meinen Hut, meinen braunen Rock mit der schmalen Stickerei. Den Mantel, den Degen! Ich muß zum zweiten Bürgermeister gehen. Der Kerl von Nothhaft muß aus der Stadt, ehe die Sonne untergeht, ehe er mir Stänkereien macht: ich fürchte, der Bursche hat tausend Kniffe im Kopfe. -- Ich werde auch dem Steuercommissär meinen Besuch machen. Ich werde ihn ernstlich wegen des Geschwätzes seiner Frau bedrohen. Beruhige dich, Jacobine! du sahst, daß der Geist des Verstorbenen ein Posse war. Du wirst einsehen, daß die Commissärin in dem, was sie dir auf dem Ritterhofe vertraute, eine Lüge gesagt hat.« »Das gebe Gott!« entgegnete die Senatorin phlegmatisch und die Hände in dem Schooß faltend: »ich reiße mich nicht gerne aus meiner Ruhe, und verlasse nicht mit Plaisir dieses Haus. Aber, wenn du in der That ein so schlechter Mensch wärst, wie die Leute sagen....« »Schweig!« unterbrach sie der Senator finster, denn Justine kam mit Rock, Mantel, Hut und Degen. Während Müssinger sich in den Interimsstaat der Rathsherren warf, kam auch Georg Birsher hinzu. »Ich komme, Ihnen für die Bewahrung meines Eigenthums zu danken,« sagte er zu dem Senator: »welche Gerüchte haben sich jedoch zu meinem Ohr gefunden? Meines Vaters Geist soll sich gezeigt, und sich endlich, von einer muthigen Amazone ergriffen, in einen Ladenschwengel verwandelt haben?« »Dummes Zeug!« erwiderte der Senator verdrießlich: »das Domestikenvolk hat doch tausend Zungen. Beruhigen sich Ew. Edeln. Es war ein einfältiger Nebenbuhlerstreich.« »So?« versetzte Birsher lächelnd: »die Bosheit scheiterte sicherlich an Ihrem Ringe, beste Jungfer Braut. Die Wilden meines Vaterlandes beschenken sich mit solchen Talismanen, und vielleicht ist dieser Ring ein solcher. Erlauben Sie, Verehrteste, daß ich Ihren Heldenmuth und Ihre Treue mit diesem Diamantschmucke belohne, der freilich schon Ihr Eigenthum ist. Die Rose von Edelsteinen, die ich ebenfalls in dieses Kästchen gelegt habe, bitte ich, Ihrer Frau Mama, meiner allerwerthesten Schwiegermutter, als ein dürftiges Pfand meiner Ergebenheit zuzustellen.« Er hielt dem Mädchen freundlich das geöffnete Etui hin, aus welchem ein Meer von Demantenglanz strahlte. Die Senatorin zwinkerte lüstern mit den Augen; Justine, ein weigerndes Compliment machend, las in dem Gesichte des Vaters, dessen Sinnesänderung sie beunruhigte. Der Senator bemerkte ihre Verlegenheit, und fuhr rasch und lebendig dazwischen: »angenommen meine Tochter!« sagte er freundlich und dringend: »alles geht wieder im rechten Gleise! Die Stimmen aus der Unterwelt haben gelogen, und im Uebrigen.... will ich schon fertig werden. Ew. Edeln werden also mein Schwiegersohn!« Die Senatorin hatte sich der Diamanten bemächtigt, und bekräftigte des Mannes Wort mit einem tiefen verbindlichen Knix. Der Amerikaner umarmte den Senator, küßte der Senatorin beide Hände, der beruhigten Justine beide Wangen und die Stirne. »Eine Bedingung indessen!« fuhr der Senator zwischen beide Verliebte tretend fort: »ich trage an Sie, bester Sohn und Handelsfreund, eine heilige Schuld ab, indem ich Ihnen meine Liebste gebe. Ich habe jedoch meine Gründe, warum ich die Heirath für's Erste ganz geheim gehalten, und endlich in Bälde und Stille gefeiert wissen will, damit nicht ferner eine Albernheit dazwischen komme. Mein Buchhalter und --« hier seufzte er -- »Doctor Leupold schweigen wie beeidigte Männer. Knall und Fall! heute über acht Tage die Copulation in Liebkirchen; und dann, mein Brautpaar, zu Schiffe, und fort, in Gottes Namen! Jetzo aber Gott befohlen!« »Wenn Justine mein wird,« sagte Georg, »so bedarf ich keines Gepränges, und so wenig ich mir's nehmen lassen werde, zu New-York mit einer hübschen Frau groß zu thun, so wenig dringe ich hier -- in der fremden Stadt -- auf diese Befriedigung meiner Eitelkeit. In vierzehn Tagen ungefähr geht ein holländisches Schiff, das auf dem Texel liegt, nach Amerika unter Segel. Ich werde an van den Höcken schreiben, daß er dessen Cajüte für uns miethe. Bis dahin sind wir zu Amsterdam und reisefertig. Nicht wahr, Justine?« Justine nickte stumm aber bewegt mit dem Kopfe. In der Senatorin Gesicht zeigte sich sogar ein flüchtiger Wehmuthsschatten des Gedankens an Justinens Scheiden. Dem Senator gingen die Augen über. Er drückte Allen hastig die Hände, und entfernte sich rasch, seinen Geschäften nachzugehen. Das Herz wurde ihm leichter: er sah Nothhafts Koffer von den Packknechten nach dem Gasthause schaffen. Sein Herz wurde ihm schwerer: der Doctor begegnete ihm bald hierauf. »Nun, mein verehrter Herr?« fragte der Jesuit zutraulich und forschend: »Ihr Gesicht trägt das Gepräge eines reuigern Sinns? Gewiß haben Sie Ihren Entschluß gefaßt, und sind mit Ihrem Gewissen auf's Reine gekommen.« »Das bin ich, hochwürdiger Herr,« sagte der Senator hierauf muthig, und zu der Waffe des Doppelsinnes greifend: »ich werde in Bezug auf meine Tochter thun, was Recht ist.« »Dafür segne Sie Gott und der Dank Ihres Kindes!« erwiderte der Doctor mit Salbung, und verließ den ungeduldig Fortschreitenden. Während dieser zum Bürgermeister wanderte, um bei demselben gegen Nothhaft zu procediren, und hierauf den Steuercommissär aufsuchte, ihm zu sagen, daß dessen Weib sich unterstanden, gegen seine Ehefrau schändliche Injurien und Calumnien über ihn an den Tag zu legen, -- und dem Commissär zu drohen, im Wiederholungsfalle seine geschärfte Klage vor den Gerichten anzubringen, -- während dessen traf der Doctor Leupold sehr zufrieden mit Superior und dem Schiffscapitän auf der Mailbahn am Schwanenmarkte zusammen. Der Capitän war in seiner Uniform, der Superior als Quäcker gekleidet. Die Anhänger dieser Secte waren dazumal selten zu schauen, und von dem Volke sehr geehrt, weil die sonderbare Einfachheit des Aeußeren Vieles von dem Innern hoffen ließ. Der Lakonismus dieser Leute, die Gewohnheit derselben, den Hut auf dem Kopfe zu behalten, ihre schmucklose Kleidung und ihr schulmeisterlicher Gang sagten dem Superior als Larve vorzüglich zu, um darunter Tonsur und Priesterschaft zu verbergen. So zufrieden der Doctor zu den Herren trat, so unzufrieden waren diese gegenseitig, wie Leupold bemerkte. Der Superior blickte sehr vornehm und niederschmetternd vor sich hin. Der Capitän sah verdrüßlich aus, und ungeduldig mit dem Stocke in dem Sand stochernd, rief er den nahenden Doctor an, sagend: »Sehr recht, mein würdiger Herr, daß Sie kommen. Der sehr geehrte Herr und Freund zu meiner Seite hat mich auf's Korn genommen, und will mir den Spiegel sammt Mast und Korb und Raaen mit _einer_ Ladung zerschmettern. Helfen Sie mir auf. Bezeugen Sie, daß ich der ehrlichste niederländische Schiffscapitän bin, der jemals die See befuhr. Ist es wahr, daß ich schmutzige Procente von meiner Fracht nehme? Ist es wahr, daß ich Seelen-Verkäuferei und Negerspedition nebenbei betreibe, und somit meine Fracht an Qualität und Quantität in Gefahr setze und schmälere?« »Ich habe keine Beweise dafür,« versetzte der Doctor: »die Correspondenten melden bisweilen dergleichen, mein guter Herr Tormerpick, und wenn der sehr ehrwürdige Herr an Eurer Seite dasselbe behauptet, so muß er wohl genauer unterrichtet sein!« »Den Donner auch!« sagte Tormerpick mit galligem Ausdruck: »Es sollen mich hunderttausend Tonnen voll Teufel regieren, wenn es wahr ist; so wahr ich Jahn Tormerpick heiße und mein Vater, der wackerste Steuermann, von einem Hai gefressen wurde; Gott habe ihn selig. Wahr ist's, daß die Verläumdung am besten Rufe am eifrigsten nagt, und ich will gar nicht läugnen, daß darauf hin meiner Redlichkeit mancher unpassende Antrag gemacht wurde. Wie ich ihn aber stets zurückgewiesen habe? Bei allen Signalen: dort läuft just einer, der mir gestern Abends in der Schenke eine dito Eröffnung machte!« Der Kapitän deutete auf Nothhaft, der in der Ferne quer über die Straße ging. Der Doctor lächelte, an seine Unterredung mit dem Menschen gedenkend. Der Capitän nahm's für ein ungläubiges Lächeln, und betheuerte seine Aussage mit einem seemännischen Kraftworte. »Es waren ihrer zwei beisammen,« sagte er ausführlicher: »der Mensch dort -- wie er mir sagte: ein Ladenschwengel aus einem vornehmen Hause allhier; und ein Anderer, ein Hamburger Ellenreiter, der von seinem Principal weggejagt worden sein mußte, so abgerissen und liederlich sah er aus. Die Burschen tranken Bier und schwatzten von Hamburg, von dem Lotto, ... weiß Gott! wovon? Endlich schlief der Hamburger, der am Meisten geschrieen hatte, ein, und der Andere kam auf mich zu, und erzählte mir von einem jungen englischen Rindfleischesser, dessen er gern gerathen möchte, wenn ich demselben eine Kommißbrodpfarrei zu Batavia verschaffen wollte. Nun wissen Sie wohl, meine geehrten Herren, daß man für einen achtzehnjährigen englischen Burschen, der noch obendrein von guter Familie sein soll, einen ordentlichen Batzen Handgeld bekömmt, und daß mancher Capitän im Dienste unserer hochmögenden Herren eingeschlagen haben würde, -- wäre es nur aus Tück und Tort gegen die Hallunken von England, und weil sogar die Transportkosten bezahlt werden sollten; -- aber Capitän Tormerpick hat den Werber derb heimgeschickt, daß er nicht mehr anfragen soll!« »Armer James!« dachte der Doctor bei sich, der nun den Zusammenhang begriff; dann setzte er laut bei: »ich möchte Euch wahrhaftig nicht rathen, Capitän, in den Handel einzugehen. Ich kenne den bezeichneten Jüngling und prophezeie Euch schlechte Folgen, wenn Ihr Euch an demselben vergreifen solltet.« Der Capitän machte ein sehr langes und albernes Gesicht; der Superior setzte mit einem sehr finstern hinzu: »Ueberhaupt, Capitän, gebe ich Euch noch die Weisung in den Kauf, in Zukunft Eure Taxe, Zoll-Listen und Spesen billig einzurichten. Die Gesellschaft möchte ansonst leicht dazu bewogen werden, unter den holländischen Capitänen einen Stellvertreter für Euch zu erwählen. =Quod notandum!=« Tormerpick führte sich mit verschiedenen Gemeinplätzen und oberflächlichen Bereitswilligkeits-Versicherungen ab. Der Superior sandte ihm noch einige Anmerkungen nach, und sagte alsdann zu dem Doctor: »Pater Münzner! ich bin nicht sehr mit Ihnen zufrieden. Sie sehen dem Schiffs- und Speditoren-Volk nicht genugsam auf die Finger. Sie schaden dadurch den Benefizdividenden unserer Gesellschaft; sind auch zu nachsichtig gegen mangelhafte Zahler, sind auch zu freigebig gegen Arme. Ihr Almosenbuch, das ich heute durchblätterte, strotzt von Ausgaben aus Ihrer Cassa. Das geht nicht. Almosengeben mit billigem Maaß und Ziel ist nützlich; es empfiehlt; es bindet. Die diesem Zwecke entsprechende Quelle muß jedoch aus den Taschen christlicher Wohlthäter in den Sack der Armuth geleitet werden; nicht aus dem Vorrathe der Gesellschaft, die nur verstattet, größere Summen herzuleihen, welche doppelten und dreifachen Zins zu tragen versprechen. Ich glaube, wir thun ohnehin schon genug an der Menschheit. Nebenbei, mein lieber Pater, verschwenden Sie Ihre Freigebigkeit an Unwürdige. Was soll zum Beispiel die namhafte Unterstützung bedeuten, die Sie einem Comödianten zugewendet haben? In der That, -- wäre mir Ihr reiner Sittenwandel nicht bekannt, ich würde vermuthen, der Comödiant sei im Besitze eines hübschen Weibes.« Der Doctor, seinen Verdruß bezwingend, erzählte sein Zusammentreffen mit Litzach. Der Superior beruhigte sich. »Ein Zögling der Gesellschaft?« sagte er alsdann: »das ist etwas Anderes. Das war ein Ehrenpunkt. Was soll aber mit dem liederlichen Subjecte werden? Es darf nicht faullenzen. Man muß ihm Beschäftigung geben. War er ein guter Akteur, so muß er in zwanzig Kleider passen. Ich werde darauf denken. Nun aber ein Weiteres, mein Bruder und Freund im Herrn. Sie sind einer großer Lauheit im Bekehrungsgeschäfte angeklagt worden. Sie wollen nur diejenigen, wie ich höre, in den Bund der Kirche aufnehmen, an welchen Ihr Gemüth einigen Antheil nimmt. Sie haben verschiedene Bekehrungen der Lainez getadelt, stehen sich überhaupt mit der artigen Wittib nicht zum Besten. Nehmen Sie sich in Acht. Die Lainez hat sich bitter beschwert. Sie wissen, was die Person bei dem Provinzial gilt; Sie stellen sich einer empfindlichen Demüthigung blos. Der Lainez darf Nichts geschehen; weder von Ihnen, noch von dem jungen White, der sie quasi verächtlich behandelt. Es ist freilich, in Betreff des Provinzials, gut, daß der junge Mensch sie nicht _liebt_, allein _hassen_ soll er sie eben so wenig. -- Kein Wort der Erwiderung, Pater Münzner. Wir sind völlig über obige Punkte aufgeklärt worden, und es sollte uns leid thun, Ihrer in unserem Berichte nach Rom ungünstig erwähnen zu müssen. Den Provinzial ... =hunc tu amice caveto!= wie der Heide sagt. =Satis= von obigem Gegenstande. Ein Weiteres. Wie steht es mit dem Senator?« »Wohl;« versicherte der Doctor mit freierer Brust: »Die projektirte Heirath wird in sich selbst zerfallen. Ein seltsamer Gespensterglaube hat sich in's Mittel geschlagen, um --« »Gleichviel;« schaltete der Superior ein: »jedes Mittel taugt. Für's Erste, natürlicher Weise, lehrt die Klugheit, alle Umstände so zufällig als möglich zu combiniren; hilft aber der Alltagsgang zu nichts, dann mögen spanische Fliegen angewendet werden. Ich habe der Lainez die Instruction gegeben, in dem Hause des Senators alle Minen anzuzünden, um das sonderbare Gänschen von Tochter zu stimmen. Ich habe, im Namen der Gesellschaft, eine wahre Passion auf ihr Vermögen.« »Zu Ihrem Troste darf ich Ihnen also sagen,« -- versetzte der Doctor, über des Vorgesetzten heißhungrigen Geiz seufzend, »daß Justinens Vater mir sein Wort gegeben, daß der Amerikaner _nicht_ sein Schwiegersohn werden soll.« »=Quod sufficit.= Indessen geht die Zeit hin, und die Lainez wird schon das Uebrige thun.« Während Beide nun hingingen, völlig überzeugt, der Senator folge ihren Eingebungen unbedingt, fertigte dieser einen Brief nach Liebkirchen an den Prediger ab, um die Hochzeit geheimnißvoll vorzubereiten. Nothhaft schien von der Erde verschwunden, und das Schweigen über die Heirathssache wurde vortrefflich bewahrt. Die Senatorin, welche befürchtete, um der Geistergeschichte willen ausgelacht zu werden, sah ihre Muhmen nicht bei sich. Die Männer beobachteten das Geheimniß unverbrüchlich. Justinens Zunge, -- sie konnte wohl sonst verschweigen -- brach zuerst das Siegel. Mit der Lainez, die in dem Hause eingezogen war, auf ihrem Zimmer arbeitend, und über die Geisterhistorie lachend, sagte sie im Uebermuthe ihrer neu erwachenden Zufriedenheit: »Mit der Entlarvung des Spucks kam Alles wieder in's Geleise, und diese Wäsche, an welcher wir arbeiten, meine Beste, ist mein Brautzeug. Ich werde Herrn Birshers Frau. --« Die Lainez erschrak; faßte sich, und erfuhr nach ein Paar gleichgültigen Fragen auch das Nähere aus dem Munde der Braut. Zweiter Abschnitt. Die Unglücksprophetin. -- Das Bild in der Kapsel. -- Gewitter im Brautstande. -- Der Magister. -- Morgenbesuch bei der Braut. -- Trauliche und böse Stunde. -- Angst des Senators. -- Er und seine bösen Engel. -- Das schreckliche Billet. -- Todesschrecken; übereiltes Versprechen; listige Hülfe. -- Seelenverkauf. -- Birsher und Nothhaft. -- Hiobsposten. -- Die Predigt mit Donner und Blitz. -- Schande und Arrest. -- Wundergleiche Rettung. -- Die Lainez erscheint. -- Der Thurm von St. Paul. -- Hoffnung durch den Freund. -- Der Balsamhändler. -- Zehn Uhr. Das Leben im Hause des Senators hatte sich anders und besser gestaltet. In den Familienvater war die Spannung und Kraft zurückgekehrt, die auf _einen_ bestimmten Zweck hin arbeitete: auf das Glück seines Kindes, auf seine eigene Beruhigung zugleich. -- Die Senatorin schien in die ehemalige Lebensweise zurückgetreten; apathisch wie vordem, allein der begonnenen Feindseligkeit gegen den Ehegatten entrathend. Justine war zufrieden. Sie begriff, daß Georg Birsher, wenn sie ihn auch nicht mit jener Leidenschaft liebte, welche das Ziel jugendlichen Sehnens ist, nicht ermangeln würde, ihre billigen Ansprüche auf eheliches Glück zu erfüllen, und daß er geeignet sei, mit seinem besonnenen, ruhigen und klaren Wesen Hand in Hand mit ihr, der starken, nicht an Schwärmerei noch Idealen hängenden Jungfrau zu gehen. Ein Gedanke trug noch Vieles zu ihrer Beruhigung und Zufriedenheit bei. Sie fühlte in ihrem Innern, daß sie sich als Opfer für irgend eine Ungerechtigkeit, die ihr Vater an dem alten Birsher begangen, hinzugeben habe; sie fühlte, daß der Senator mit Verlangen ihrer Verbindung entgegensah; er hatte von einer heiligen Schuld gesprochen, und sie war stolz darauf, die Zahlerin derselben zu sein. Die Besuche, die ihr Herr Georg Tag für Tag zweimal abstattete, machten sie immer mehr und mehr mit den edeln Eigenschaften bekannt, deren sich sein Herz rühmen konnte, und wenn gleich Schüchternheit und Convenienz ihr verboten, dem Verlobten die volle Achtung zu zeigen, die sein Benehmen ihr abzwang, so entschädigte sie sich dafür in ihren Gesprächen mit der Lainez, die gutmüthig und freundlich dem Lobe zuhörte, das die Braut dem Bräutigam spendete, und ihr eine Theilnahme zeigte, welche die Mutter nicht äußerte, weil sie dieselbe nicht empfand. Unbemerkt nahmen indessen die Unterredungen eine andere Wendung. Die Lainez, obgleich die Verbindung mit dem Amerikaner höchlich billigend, stimmte allgemach das Lob des ungebundenen fessellosen Lebens an. »Glauben Sie nicht,« sagte sie einst, da Justine sich mißbilligend dagegen ausgesprochen hatte, »daß ich den mindesten Zweifel wider den Beruf hege, den der gute Herr Birsher verspürt, Ihr Mann zu werden. Ich halte ihn für einen rechtschaffenen Mann; für denjenigen, der das Glück zu schätzen weiß, das ihm in Ihnen zu Theil wird. Aber, -- beste Mademoiselle, -- erlauben Sie, daß meine Erfahrung Sie nicht ungewarnt lasse. Ich lebte in einer glücklichen Ehe, geliebt von einem jungen, schönen, mit Rang und Ehre begabten Manne; ich wurde von ihm auf den Händen getragen; aber dennoch fühlte ich oft recht schmerzlich den Verlust meiner Freiheit. Die Gattin, der Gewalt des Mannes unterworfen, darf keinen Schritt mehr nach ihrem Kopfe thun; denn die Männer haben die Gesetze gemacht. Die Frau bleibt vor den Augen der Welt nichts mehr und nichts weniger als eine ledige Zugabe des Gatten, der sie mit seiner Ehre bekleidet; eine trügende Sonne, die ihre Strahlen von dem Gestirne, woran sie geknüpft ist, entlehnt, und untergehen muß, sobald der Herrscherstern verlischt, oder ... was nicht selten geschieht, -- eine abweichende Bahn zu beschreiben für gut findet. Unvermählt, gibt Jugend und Schönheit uns einen Rang, auf welchen oft Fürstinnen neidisch herniedersehen; verheirathet, legen wir den Scepter der Reize nieder, um die Sklavin eines -- wenn auch geliebten -- Herrn, unsrer Wirthschaft, unserer Kinder, unsers Rufs zu werden, und in Dunkelheit ein Leben zu enden, das oft so reizend, so vielversprechend begann.« »Ei, gute Frau, welche Reden?« sagte Justine verwundert und empfindlich: »Ihre Gedanken fliegen hoch. Ihre Prophezeihung soll aber an mir zu Schanden werden. Halten Sie mich für das schwache Geschöpf, das sich unterjochen lassen, oder Herrn Birsher für den Mann, der solche Erniedrigung begehren würde? Wenn, -- verzeihen Sie mir, -- der Capitän Lainez, gewohnt, anderthalbhundert Menschen mit Sack und Pack nach seinem Wort zu leiten, diese militärische Tyrannei in sein Hauswesen übertrug, -- so machen's die Herren vom Degen nicht anders. _Ich_ soll jedoch die Associée eines friedlichen Kaufmanns werden, die Gefährtin seines Glücks, nicht die Magd seiner Bequemlichkeit, und, wenn die Wagschale einer gewissen Herrschaft auf _eine_ Seite schwanken sollte, so müßte es die _meinige_ sein; darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« Die Lainez lächelte, zuckte die Achseln. »Wir werden ja sehen!« sagte sie einsylbig. -- Justinen genügte dieses nicht. »Sie sollen die Sache nicht unentschieden lassen,« sagte sie lebhaft: -- »Sie müssen sich _mir_ gefangen geben, oder mich gefangen nehmen. Mein Charakter ist leicht zu erkennen, zu ergründen. Glauben Sie etwa, er passe, trotz seiner Gewohnheit, Alles durchzusetzen, unter das Joch, dessen Sie erwähnten?« -- »Fürchten Sie sich vor einem härtern, unerträglichern,« entgegnete Lainez hastig: »Sie gehen mit der Unbefangenheit, -- ich möchte sagen, -- Unbesonnenheit einer zuversichtlichen Jugend einem Bunde entgegen, zu welchem, wie Sie es auch läugnen wollen, das Herz, die Neigung, Sie nicht zieht. Sie werden blindlings die Frau eines Mannes, der Ihnen nicht mißfällt, den Sie aber auch nicht lieben. Diese Leidenschaft bleibt jedoch nicht aus. Wehe Ihnen, wenn in Ihr beschränktes, einförmiges Leben einst der Mann tritt, der Ihre Gefühle mit Siegergewalt an sich reißt; der es versteht, Sie, die Unbewachte, zu bezwingen. Hätten Sie auch die Obergewalt in Ihrem Hause errungen -- vor dem Fremdling müßten Sie dieselbe niederlegen!« Justine sah, bis unter die Haare erröthend, die Lainez starr und verwundert an: verzog dann spöttisch den Mund, und erwiderte: »Sie sprechen Dinge aus, woran meine Seele bis jetzt noch nicht gedacht. Sollten auch diese zu Ihren Erfahrungen gehören? Sorgen Sie nicht für mich: die _Ehre_ ist der Harnisch, der mich gegen den Versucher wappnen soll.« -- Die Wittwe verstand sehr wohl die rauhe Antwort; sie erhob sich schnell und gekränkt von ihrem Stuhle, schob die Arbeit von sich, und trat an's Fenster, Justinen stumm und beleidigt den Rücken kehrend. Das Mädchen bemerkte, schnell bereuend, den Eindruck, den seine Worte gemacht. Es näherte sich -- den Vorwurf fühlend, einen unglücklichen Gast gekränkt zu haben, -- der Französin. Zaudernd überlegte Justine, wie sie wohl die Verletzte anzureden habe; -- da gewahrte sie, an dem Stuhle der Lainez niederblickend, ein Papier, das der Aufstehenden entfallen war. Sie hob es auf, trat zu der Wittwe, und sagte ihr freundlichernst: »Hegen Sie keinen Groll gegen mich. Ich bedenke nicht lange, was ich sagen will. Es that mir aber leid, Ihnen so unsanft geantwortet zu haben. Vergeben Sie, und nehmen Sie ihren Platz wieder, wie dieses Papier, das Sie verloren.« »Sie sind ein heftiges, liebes Kind,« entgegnete die Lainez, und wendete die Augen voll Thränen der Reuigen zu: »Wer wollte Ihnen nicht vergeben?« Sie umarmte dabei Justine, und drückte, zum ersten Male, Küsse auf die Stirne, die Augen und den Mund des Mädchens, die wie Flammen brannten, und Flammen auf Justinens Antlitz riefen. Dann fuhr die Französin, ruhig werdend, zu der Errötheten fort: »es ist möglich, meine liebliche Freundin, daß ich mich, von Besorgniß für Ihr Wohl ergriffen, mancher Ausdrücke bedient habe, die Sie auf den Argwohn führen konnten: es sei mir darum zu thun, Ihren Geist, Ihr Herz in Unruhe zu versetzen, und gewissermaßen den Versucher selbst zu spielen. Verbannen Sie dieses Mißtrauen! Glauben Sie an meine harmlose Zuneigung. Dieses Papier, das Sie mir reichen, das mir entfiel, führt den Beweis für mich. Es ruht seit vorgestern in meiner Tasche, und ich zeigte es Ihnen nicht, um Ihre Ruhe zu erschüttern. Jetzt aber, da der Zufall es in Ihre Hände gegeben, da ich nun weiß, wie fest Ihre Entschlüsse stehen, mögen Sie es eröffnen, und sich von meiner Diskretion überzeugen.« Justine that neugierig und gespannt, wie ihr die Lainez hieß. Bekannte Schriftzüge. Sie las dieselben. Ihre Hand zitterte, aber ihr Auge, verrätherischer vielleicht, als ihre Hand, wich nicht von der Schrift, bis sie zu Ende war. James, der aus Justinens Nähe verwiesene James schrieb: »Wie auch immer Ihre Gesinnung, Madame, sich gegen mich entschieden, -- ich sende Ihnen diese Zeilen: Saatkörner, die auf ein wirthliches Feld fallen mögen, wenn Gott es will. Sie leben, wie ich höre, bei _Ihr_! Sie wohnen in dem Paradiese, aus dem mich leichte Schuld und eine allzustrenge Tugend verbannt hat! Sie athmen die Himmelsluft, und ich erstickenden Nebel, der mein Glück mit dem Trauerflor eines ewigen Scheidens bedeckt. Wollen Sie, die Reiche im Schooß der Seligkeit, dem Armen in dem Gefühle der Verzweiflung einen kühlenden Tropfen versagen, daß seine brennende Lippe sich labe? eine einzige Wohlthat, die Ihnen nur ein Wort der Fürsprache vor dem Throne der Gnade kostet? Madame, Sie retten mich vom zeitlichen, wie vom ewigen Tode, wenn Sie mir mit einer Sylbe sagen, daß _Sie_ mir vergiebt!« Justine legte das Blatt auf den Tisch, zog ihr Schnupftuch hervor, und ging schnell in das Cabinet. Nach einigen Augenblicken kehrte sie wieder; sie hatte geweint, aber die Thräne getrocknet; ihre Wange war blaß, aber ihr Gang sicher. Sie sagte zu der Lainez: »Nehmen Sie diesen Brief wieder zu sich; und erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie hart und grausam handelten, indem Sie mir den Brief nicht mittheilten. Was besorgten Sie für mich? Meine Brust ist ruhig, völlig ruhig; ich versichere es Ihnen. Aber das Gehirn des jungen Schwärmers, der von seiner trügerischen Gelassenheit völlig Abschied genommen zu haben scheint, ... welche Marter hat er vielleicht in den Paar Tagen ausgestanden -- eine Antwort ersehnend, und keine erhaltend? Schreiben Sie ihm, gewissenhafte Frau. Sagen Sie ihm, daß ich versöhnlich bin: unter der Bedingung, daß er vernünftig sei, und ferner rechtschaffen handle. --« »Sie sind ein Engel!« erwiderte die Lainez mit vielem Aufwand von Affekt: »ich wagte nicht, hier Fürsprecherin zu sein, und nun ... ja wahrlich: mein Brief wird Balsam für den Armen sein. Gut indessen, daß er, -- wie die Sachen abgeredet sind, -- nicht erfahren kann, daß, und wie bald schon Sie sich vermählen. Welch ein Sturm auf seine heftigen Gefühle! Vernimmt er die Nachricht, nachdem sich bereits Alles begeben, wird er sie leichter tragen. Denn was einmal geschehen...« »Ich verstehe Sie nicht,« unterbrach sie Justine, die Augen starr auf die Arbeit geheftet: »Sie reden wieder in Räthseln.« »Ei, Mademoiselle,« versicherte die Lainez lustig: »Ihr Scharfsinn und Ihre Weiblichkeit wären mir ein Räthsel, wenn Sie nicht errathen hätten, daß der junge Mann sterblich in Sie verliebt ist.« »Madame Lainez!« »Mademoiselle Müssinger! Sie werden abermals heftig und ungerecht. Ich will lieber schweigen.« »Was halten Sie von Monsieur White?« fragte Justine, nach einer langen Pause; »Sie kennen ihn, glaube ich, genauer.« »Wie Elias seine Versorger in der Wüste. Er war mein Wohlthäter; kam und ging, je nachdem sein Pflegevater meiner Armuth gedachte.« »Diesen Pflegevater,« nahm Justine schnell das Wort auf: »diesen Pflegevater -- Sie kennen ihn?« »Ich habe ihn nie gesehen.« »Er war neulich ein Gast meines Vaters; der Doctor mit der großen Perücke war's.« »So? hätte ich das gewußt! Und der edle Mann, der doch meinen Namen hörte, verrieth sich gegen mich mit keine Sylbe....!« »Das war sehr männlich und gut. Ich gäbe jedoch etwas darum, könnte ich von dem Doctor etwas Näheres erfahren.« »Welche Theilnahme! Wenn Sie es wünschen, so soll Herr White uns morgen schon die nächste Auskunft geben.« »Welch' ein Gedanke! Monsieur White wäre der Letzte, den ich zu diesem Zwecke auffordern würde.« »Ihre Gründe?« »Mein Geheimniß.« »Ich bescheide mich. Wenn Sie jedoch an der Bereitwilligkeit des jungen Herrn zweifeln sollten, so bürge ich Ihnen, diesem Brief zufolge, dafür. Aus diesen Zeilen spricht viel Hingebung. Ich bin überzeugt -- Ihnen zu Gefallen -- würde er sich den Pfeilen einer amerikanischen Horde mit so vielem Muthe aussetzen, als der heilige Sebastian es that, um den Himmel zu gewinnen.« »Welch' ein Gleichniß! Madame: Ihre Scherze sind stumpfe Pfeile.« »Eine Braut findet Alles langweilig. Uebrigens, meine gute Dame, werde ich wohl meinen armen Sebastian und die wunderschöne verlassene Pulcheria nimmer zu sehen bekommen? Finden Sie Geschmack daran, meine Bilder zu behalten?« »Warum nicht gar?« versetzte Justine ein bischen verlegen: »ich muß gestehen, daß ich das Medaillon gänzlich vergessen habe.« »Geben Sie es mir zurück.« Justine suchte verlegen in den Taschen. »Ich habe den Schlüssel zu meinem Schranke verlegt. Ich werde ihn holen.« Die Lainez lächelte. »Recht, meine Liebe,« sagte sie: »bringen Sie nur zugleich das Bild mit. Ich will Ihnen sagen, wo es sich befindet. Sie haben es zwischen Myrthen aufgestellt, und ihm ein liebliches Tempelchen hergerichtet; traulich, ungestört, denn Mama und Papa lieben die Blumen nicht sonderlich, und der Wärterin dieser Sommertöchter ist es unverwehrt, dort im sichern Versteck ihren stillen Gottesdienst zu halten.« »Abscheulich!« rief Justine: »bin ich eine Götzendienerin? Auf der Stelle sollen Sie das Bild haben, das ich in der That an jenem Platze vergessen habe.« -- Sie eilte rasch davon, und brachte, etwas verdrießlich und gereizt das Medaillon. »Hier, Madame, haben Sie Ihr Pfand zurück.« Die Lainez nahm es gleichmüthig, und ging damit zu einem Kästchen, das ihre Papiere, und einige aus dem Sturme ihrer Verhältnisse gerettete Angedenken einer bessern Zeit enthielt, und öffnete es. Während sie ein Futteral hervorholte, in welches sie das Medaillon verschloß, und dasselbe in die Chatouille niederlegte, sagte sie scherzend: »Es ist gleichwohl besser gewesen, daß dieses Bild unter jenen Myrthensträuchern und nicht an Ihrem Busen vergessen wurde, Mademoiselle.« »Wie so?« »Hm! es soll eine Eigenschaft besitzen, die...« »Und welche?« »Die alle diejenigen, welche das Bild tragen, zwingt, katholisch zu werden, oder es zu bleiben.« »Welche Posse!« »In der Kapsel liegt eine Reliquie des heiligen Kreuzes. Diese mag das Wunder wohl bewerkstelligen. Aber die Wirkung soll unläugbar sein. Darum wird es,« setzte die Lainez ernsthafter hinzu, »besser sein, wenn ich das Zauberbild nicht mehr am Halse trage. Es möchte sonst aus meiner Bekehrung zu Liebkirchen nichts werden.« »Sie sprechen etwas leichtfertig von der Wohlthat, wozu ich Ihnen verhelfen will, meine Schutzbefohlene. Um Sie von dem Aberglauben, wovon Sie sprachen, zu heilen, wollte ich wohl dieses Bild auf meiner Brust tragen, so lange Sie es begehren, ohne von dem thörichten Schwindel ergriffen zu werden, dessen Sie erwähnten.« »Es käme auf die Probe an,« sagte die Lainez leichtsinnig: »hier ist das Bild;« sie nahm es aus dem Kästchen: sammt der geweihten Kapsel. »Getrauen Sie sich, das übermüthige Wort zu bewähren?« »Geben Sie her!« erwiderte Justine eben so leichtsinnig und trotzig: »ich verspreche Ihnen sogar, nicht einmal die Kapsel zu öffnen, und die Wunderkraft der Reliquie, wie die Neugierde zumal zu besiegen: ein doppelter Triumph, der Sie von meiner Ausdauer überzeugen soll!« »Recht so, meine kleine Heldin!« rief die Lainez, und hing dem Mädchen das Bild um den Hals. »So reizend sich nun wohl dieses rabenschwarze Sammetband auf dem prachtvollen Nacken ausnimmt,« setzte die Schmeichlerin scherzend hinzu, »so wollen wir das Medaillon sammt Band doch sorgfältig unter dem Schleiertuche des Mieders verstecken. Mama könnte neugierig und ungehalten werden -- erführe Sie den Scherz!« Justine gab ihr Recht und ließ die Wittwe gewähren. Der bald darauf eintretende Bräutigam unterbrach das fernere Gespräch über obigen Gegenstand. Die Lainez, um die Unterhaltung der Brautleute nicht zu stören, ging aus, und nach und nach versammelten sich der Senator und seine Frau in Justinens Stube. Die Mama belobte die feine Arbeit der Französin, die Geschicklichkeit, mit welcher dieselbe die Spitzengarnitur angebracht; der Vater pries die stille Anspruchslosigkeit der neuen Hausgenossin; Georg schüttelte jedoch den Kopf und sagte: »Die Unglückliche, Heimatlose verdient mein Mitleid und meine Achtung. Mir ist es jedoch angenehmer, daß sie nach Berlin zieht, während ich und Justine nach Amerika ziehn. Französische Nachbarschaft thut weder der Deutschen noch dem Engländer in die Länge gut. Mich freut es indessen, bei dieser Gelegenheit die Herzensgüte meiner tugendsamen Braut kennen gelernt zu haben. Wer sich so freundlich einer Fremden, Hülfsbedürftigen anzuschließen versteht, wird den Verwandten nimmer fremd werden, den Gatten stets lieben, die Kinder stets sorglich pflegen. Ich billige es auch sehr, daß Sie, Herr und Frau Senatorin, diesem Hang zum Wohlthun keinen Zwang entgegensetzten.« »Sie ist das einz'ge Kind;« sagte der Senator lächelnd. »Sie thut immer, was sie will;« fügte Jacobine langweilig hinzu: »wir sind es schon an ihr gewöhnt, und es wäre nicht mit ihr auszukommen gewesen, hätten wir nicht die Landstreicherin, von der Niemand das Geringste weiß, im Hause geduldet. Freilich hat die Syndikussin sie empfohlen, wie das Töchterchen sagt; aber ihr Köpfchen hatte der Empfehlung nicht bedurft.« Die Senatorin schwieg, von der langen Rede erschöpft, und alle schwiegen mit ihr. Justine grollte über die ihr zugefügte Beschämung; der Senator über die geringe Lebensart seiner Frau; Georg überlegte, und sinnend ruhte sein Auge auf Justinen. »Sind Sie so herrschsüchtig?« fragte er plötzlich, und legte seine Hand auf Justinens arbeitende Rechte: »spricht Ihre Mutter wahr?« »Monsieur....« stammelte Justine, nach einer Antwort suchend. »O gewiß,« fuhr Georg offenherzig fort: »gewiß scherzte Ihre Mutter nur. In diesen Augen, in diesem Gesicht, das nur Ruhe und Festigkeit ausdrückt, suche ich vergebens nach Trotz und Eigensinn. Nachgiebigkeit und Sanftmuth schmücken ja die Frau. Durch diese Eigenschaften regiert sie den Mann, und erhält ihre Reize.« »Sie predigen frühzeitig, mein Herr!« versetzte Justine, ihn scharf von der Seite anblickend. »Man verständigt sich nie früh genug;« sagte er hierauf ohne Heftigkeit: »es ist besser, sich zuvor zu kennen. Unser Brautstand ist kurz: wir können _ihm_ nicht vertrauen. Wir sind riskirende Kaufleute, schließen einen Handel auf Treu und Glauben, ohne Assekuranz. Sein Sie daher offenherzig, wie ich, meine Liebe. Despotismus in der Ehe werde ich nicht tragen, der Launen Knecht nicht sein. Ich biete _Ihnen_ keine Eisenketten. Wollen Sie _mich_ damit binden? Sagen Sie mir's, damit wir Beide unser Glück und unsere Freiheit retten.« »Sie führen seltsame Discurse, worauf ich nicht antworten kann;« antwortete Justine sehr spitzig, erhob sich und verließ mit ihrer Arbeit das Zimmer. Georg sah die Zurückbleibenden verdüstert und fragend an. Die Eltern schlugen beschämt die Augen nieder. »Sehen Sie, mein Werthester,« begann der Senator sich räuspernd: »das Frauenzimmer ist hier zu Lande der Galanterien, die von den Wälschen kommen, mehr gewöhnt, als der amerikanischen Freimüthigkeit. Ich möchte Ew. Edeln nicht das Consilium geben, auf dem durchgreifenden Tone zu beharren, sintemalen das Kind noch in der Welt so fremd und unerfahren...« »Ich merke wohl, wo es hier fehlt;« sagte Birsher lächelnd: »es thut jedoch nichts, wenn nur das Herz gesund und gutgeartet ist. Sie wird sich an meiner Fassung, an meiner Aufrichtigkeit ein Beispiel nehmen, und alsdann die Härten mildern, die ihr noch aus der früheren Jugend ankleben. Könnte ich das Gegentheil voraussehen, so würde ich es, so weh mir es thäte, vorziehen, Ihnen, Herr Senator, Ihr Wort zurückzugeben.« Der Senator erschrak: »Ew. Edeln scherzen wohl;« sagte er, von dem Gewissen angeregt. »J nu;« entgegnete Georg lächelnd: »wer weiß, ob Justine mir das Meinige nicht zurückzugeben gedenkt. Das arme Kind ging sehr böse von hier, und scheint eine hartnäckige Feindin zu sein, wenn sie den Krieg erklärte.« Der Senator war verlegen. Die Senatorin versetzte jedoch sehr ruhig und treffend: »Sorgen Sie nicht, geehrter Herr Schwiegersohn. Justine ging nicht, ohne das Brautmieder, woran sie arbeitet, mit sich zu nehmen. Mit diesem beschäftigt, ist's den Mädchen mit dem Groll nicht Ernst.« »Sie beruhigen mich, geehrteste Frau,« entgegnete Birsher: »ich hoffe wieder, will aber, da ich das Scharwenzeln um die Jungfern nicht leiden kann, auf morgen die Versöhnung verschieben.« Ein Weibel des Raths erschien, und überbrachte dem Senator die Weisung, am folgenden Tage Punkt neun Uhr auf dem Rathhause zu erscheinen. »Ist denn morgen eine außerordentliche Sitzung?« fragte Müssinger verwundert; »warum eine Stunde früher, als sonst?« »Der wohlehrsame und weise Herr Senator sollen zuvor vor Sr. Magnificenz dem amtirenden Herr Bürgermeister privatim vernommen werden,« lautete die Antwort des abgehenden Rathsboten. Der Senator schwieg sinnend und staunend; die Senatorin wurde bald bleich, bald roth, und sah ihren Mann scheu von der Seite an. Georg sah sich hier überflüssig, und empfahl sich, nicht minder gedankenvoll. Er begab sich nach seinem Gasthofe zurück. Die Reden der Senatorin, das Betragen der Braut hatten auf den geraden Mann einen gefährlichen Eindruck gemacht. Das Ideal häuslicher Glückseligkeit, das er sich in einsamen Stunden entworfen, das er an Justinens Seite zu finden gehofft, schien ihm plötzlich eben nur Ideal zu sein und zu bleiben. So manche schielende Bemerkung, die er aus dem Munde der Gastwirthin über Justine sowohl, als das Hauswesen des Senators überhaupt vernommen und bis jetzt überhört, gewann mit einem Male Gewicht und Bedeutung. Ein schmeichelnder Traum, der seine Sinne und sein Urtheil umzogen, fiel stückweis vor ihm, der zu erwachen vermeinte, zusammen. In großen Mißmuth versunken, betrat er sein Zimmer, und suchte an seinem Fenster, das die Aussicht auf die vom Abendstrahl beleuchtete unferne Mailbahn mit ihren Spaziergängern gewährte, Unterhaltung, Zerstreuung. Ein leises Klopfen an der Thüre erregte seine Aufmerksamkeit, zog sie von der Aussicht ab. Auf sein »Herein!« kam demüthig grüßend und gebückt, ein ältlicher Mann mit kummervollen Zügen, in schwarzen Kleidern, mit einem schüchternen: »Guten Abend, mein Herr!« in das Zimmer. Georg hatte nicht so bald den unbekannten Besuch mit dem Blicke gemessen, als er auch in ihm einen jener reducirten Schullehrer oder grau gewordenen vacirenden Candidaten zu sehen glaubte, die dazumal häufig von Stadt zu Stadt wanderten, ein ärmlich Stück Brod suchten, und sowohl auf den Kanzleien, bei Pfarrern und Gutsbesitzern, als auch in Gasthäusern bei wohlhabenden Fremden ein Viaticum zu erbetteln pflegten. Der Amerikaner, dem ähnliche Figuren bereits in Deutschland vorgekommen waren, griff mitleidig in die Westentasche. Der Fremde verstand diese Geberde, und eine versagende Bewegung seines Kopfes und seiner Hand verrieth dem Freigebigen, daß es hier auf seine Geldwohlthat nicht abgesehen sei. Er ließ daher die milde Hand sinken, und fragte artig und zuvorkommend, was denn wohl zu den Diensten des Schwarzgekleideten stehe. Der Mann richtete sich besser empor, trat näher, und fragte mit einer sehr weichen Stimme entgegen, ob er die Ehre habe, mit Herrn Georg Birsher von New-York zu sprechen. »Ich bin's, Herr. Ihr Anliegen?...« »Ist lediglich ein Anliegen, das sich an Ihre Großmuth richtet. Ich frage nicht nach Ihrem Gelde, mein Herr; ich erkundige mich nur nach Ihrem Herzen.« Birsher staunte, und wies dem Fremden einen Sessel. Der Mann setzte sich und fuhr fort: »Man hat Sie als einen wackern, streng rechtlichen Herrn geschildert, der wenig Worte zu machen, aber desto mehr zu handeln pflegt. Da habe ich den Muth gefaßt, Sie auf die Probe zu stellen.« »Sonderbar! wie so?« »Ich befand mich gestern zu Liebkirchen; wohne eigentlich zu Faldern, und habe den Herrn Pfarrer und Inspektor in ersterem Orte besucht. Se. Ehrwürden, die gerne lustig und guter Dinge sind, und einen frohen Schmaus so sehr liebend, als es sich mit Ihrer Würde verträgt, sagten zu mir: Magister, wenn Sie sich =bene= thun wollen, -- so kommen Sie nächsten Dienstag. Es giebt hier eine Copulation, die sich fideliter endigen wird. Der Bräutigam ist reich, der Brautvater nicht minder, und lustig obendrein. Ein splendides Carmen von Ihrer Hand würde seinen Zweck nicht verfehlen, und Ihnen silberne Früchte und Wein und Kuchen nach Herzenslust eintragen. -- Sie wissen vielleicht, mein Herr, daß wir stellenlose Magister unser Zeitliches sauer und schmal zu verdienen haben, und daher Hochzeiter und Kindtaufen nachziehen, wo sich solche auch begeben. Ich freute mich daher und fragte nach den Namen des verehrtesten Brautpaars, damit ich solche in dem Epithalam gebührender Weise einfließen lassen möchte. Da nannte mir der ehrwürdige Herr Inspektor die Namen: Herr Georg Birsher, Kauf-und Handelsmann aus New-York, und die tugendbelobte Jungfer Justine Müssingerin, des Kaufherrn und Senators eheliche Tochter allhier. Ich stutzte zwar, verbarg jedoch dem Herrn Pfarrer mein Erstaunen, habe mich indessen eiligst auf den Weg gemacht, um, Verehrtester, aus Ihrem Munde zu hören, ob sich wirklich die Sache also verhalte.« -- »Der Herr Pfarrer, auch Inspektor, ist ein Schwätzer; Herr Magister. Er sollte nicht plaudern. Da Sie jedoch einmal unterrichtet sind, so mag ich's nicht läugnen, unter der Bedingung, daß Sie verschwiegener sind, und ein recht fröhliches Hochzeitlied liefern. Sie sollen dann zufrieden sein.« »Zufrieden?« sagte der Magister, indem er seufzend und mit gefurchter Stirne aufstand: »wie kann ich lächeln, da ich traurig bin? heißt es in irgend einem Psalm. Zu _dieser_ Copulation kann ich kein Hochzeitcarmen fertigen.« -- »So? Und warum nicht, wenn's beliebt?« »Ich will lieber ein Leichengedicht machen, und einen Sarg bestellen. --« »Herr! Sie sind ohne Zweifel im Kopfe nicht gesund.« »Doch; doch, Verehrtester. Allein ein Mensch, der mir nahe angehört, steht am Rande des Wahnsinns, am Rande des Grabes; und er taumelt hinein, sobald der Inspektor zu Ihrer Trauung läuten läßt. --« Dem Bräutigam wurde immer unheimlicher zu Muthe. Er starrte den seltsamen Magister an, rieb sich die Hände, -- faßte sich nun gewaltsam, und versetzte: »erklären Sie sich, Herr. Ich bin kein Kind, sondern ein Mann, mit dem sich das ernsteste Wort deutlich und ohne Umschweif reden läßt. Von welchem Menschen sprechen Sie, und welchen Bezug hat meine Ehe auf denselben?« »So hören Sie. Mein ehemaliger Zögling, der junge hoffnungsvolle Mann, ein Engländer von Geburt, -- ein Baronet -- unglücklich, aber brav -- liebt -- liebt Dero Jungfer Braut.« »So? das thut mir leid um meines Landsmanns willen. Er lasse sich indessen die Thorheit vergehen. Wo nicht Ansprüche sind, gilt die einseitige Leidenschaft nichts.« »Keine Ansprüche? Ach, er hat die gültigsten; denn Jungfer Justine hat ihm ihr Herz geschenkt. --« »Herr!« fuhr Georg auf. »Er war ihr Lehrer; Amor mischte sich in's Spiel. Ein Verständniß erwuchs. Der Vater schlug es nieder. Daher ohne Zweifel das Geheimniß, worein er diese Hochzeit verschleiern will. --« »Wahrlich; ich besinne mich, von einem jungen Engländer gehört zu haben -- aber -- Justinens Unbefangenheit....« »Ihre Neigung unterwarf sich dem strengen Willen des Herrn Senators. Es ist aber nur Asche über die Glut gedeckt. In der letzten Zusammenkunft der jungen Leute...« »Zusammenkünfte? Schöne Entdeckungen!« »Sollte Abschied genommen werden; aber Jungfer Justine wollte nichts davon wissen. Sie ermuthigte meinen James, ihr binnen einer gewissen Zeit nach Amerika zu folgen.« »Wahrhaftig?« »Dieser Vorschlag war der eines heftigen unbesonnenen Mädchens. Mein Zögling verwarf ihn. Glaubst du, sagte er, daß ich einen Landsmann, einen wackern Herrn, wie Herr Birsher ist, hintergehen möchte? -- Lieber sterbe ich, hier zurückbleibend, vor Gram.« -- »Sieh doch! Der Landsmann hat mehr Ehrgefühl, als die Jungfer Braut.« »Die Jungfer bereute auch alsbald, und weinte, und letzte sich mit dem Freunde. Ich wußte von Allem nichts. Der Jüngling hatte mir Alles verschwiegen. Seine Liebe hatte ich jedoch gemerkt. Darum kam ich zur Stadt, zu erfahren, ob er wohl wisse, was sich zu Liebkirchen begeben sollte. Da gestand er mir Alles, und weinte und verzweifelte, und ich fürchte: er thut sich ein Leides.« -- »Nein, nein! das soll der Landsmann nicht. Was wollten Sie aber eigentlich bei mir?« »Ich komme ohne Vorwissen meines James. Ich wollte Ihnen Alles entdecken, und Ihre Großmuth fragen, ob sie es über sich gewinnen kann, zwei Menschen unglücklich zu machen, die sich lieben? ein kaltes Herz an sich zu binden?« »Wahrlich! das will und werde ich nicht. Eine heuchelnde Gattin, die sich nach einem fernen Freunde sehnt? Nimmermehr. Einen Nebenbuhler der sich eine Kugel vor den Kopf schießt, und meine Frau zur Grube welken macht? Gott behüte mich vor solchem Verdruß und Jammer!« -- »Gott lohne Ihnen diesen Entschluß!« -- rief der Magister gefühlvoll, und führte ihn an das Fenster: »sehen Sie auf jener Bank den blassen jungen Mann, der tiefsinnig vor sich nieder sieht? Er ahnt nicht, daß hier von ihm geredet wird, aber das tiefe Weh, das seine Brust empfindet, läßt ihn auch Alles um ihn her vergessen. Das ist James. Ueber sein Leben haben Sie nun zu entscheiden.« -- »Ein ansprechendes Gesicht!« versetzte Georg, mitleidig herniederblickend: »wenn ich nun aber Ihrer Zuversicht auf meine Rechtlichkeit entspreche, und dem Glück, das ich geträumt, entsage? was wird es dem jungen Unbemittelten nützen? der Senator wird nicht zu bewegen sein.« »Was wäre der ausdauernden Liebe unmöglich?« fragte der Magister: »sie bändigt Löwenbrut; warum nicht ein zur glücklichen Stunde überraschtes Vaterherz?« »Ei, Herr Magister! Sie scheinen die Liebe studirt zu haben!« sagte Georg Birsher gedankenvoll lächelnd: »Ihre Beredsamkeit überzeugt jedoch den soliden Geschäftsmann nicht. Wo ist die Caution für Ihre Aussage? Sie sind der Magister..« »Liebhold aus Faldern.« »Ganz recht. Ihr Zögling ist in meine Braut verliebt. Woher der Beweis, daß ihn meine Braut wieder liebt? Frage ich gerade und offen wie ein Mann, so erröthet sie wohl, und läugnet nachher, des Vaters Zorn fürchtend, in den sie sich gehorsam gefügt. Der Vater wird mir, rede ich mit ihm, die Sache als eine jugendliche Thorheit schildern, und ich führe mißtrauisch, aber dennoch beim Wort gehalten, einen trügerischen Handel aus. Von der andern Seite _kann_ aber Alles nur Trug sein. Man hat schon eine gewisse Comödie auf meine und eines Verstorbenen Rechnung versucht. Wer weiß, ob Sie, Herr Magister, nicht ein Fuchs sind, der mich irre leiten soll? der Urheber eines neuen Possenspiels, mir Lust und Neigung zur Ehre zu rauben?« Der Magister bückte sich ergebenst. -- »Ich habe wie ein Mensch zum Menschen gesprochen,« sagte er mit dem Ausdruck tiefer Resignation: -- »mein Stand erlaubt mir nicht, öffentlich als Ehestörer aufzutreten. Ich hätte die Rache des Senators zu fürchten, und bin ein alter Mann, der den Rest seiner Jahre in Frieden zuzubringen wünscht. Meine Worte sind Ihnen vielleicht verdächtig. Ein gültigerer Zeuge ist wohl das Bildniß des Geliebten, das Jungfer Justine behielt, das sie, wie mir James vertraut, noch auf ihrer Brust trägt, das sie geschworen hat, auch ferner zu tragen, so oft...« Es wurde dem Amerikaner heiß vor der Stirne. Er sprang auf, unterbrach den Redner heftig. »Sein Bildniß!« rief er: »Gott verzeihe mir die Sünde! bald wäre mir ein unbescheidenes Wort entschlüpft! O ja, Herr Magister! das ist ein unverwerflicher Zeuge; ich werde ihn an's Licht ziehen! ich werde sehen ... und ... finde ich's so, wie ich jetzo beinahe fürchte ... Sie sollen von mir hören. Gehen Sie aber jetzo, mein Herr, denn ich bin etwas aus dem Gleichmuth getreten, der zu einer comfortablen Conversation gehört. Auf Wiedersehen ... wann und wo Sie wollen!« Er schob, ohne viele Umstände zu machen, den komplimentirenden Magister zur Thüre hinaus, und verriegelte diese hinter ihm. Ein stummer, aber heftig grollender Sturm bewegte seine sonst so ruhige Brust, und er mußte, zum Erstenmale in seinem Leben, sich bittere Gewalt anthun, um den Sturm zu beschwören. Er sah an diesem Abende keinen Menschen mehr, und suchte vergebens den wohlthätigen Schlaf. Der Morgen fand ihn jedoch wieder gelassener. Er machte sich Vorwürfe, seine Ruhe vergessen zu haben. Eine stille ahnungsvolle Wehmuth stellte sich bei ihm ein, während sein der Ungewißheit und dem Zögern feindlicher Charakter ihn ermahnte, den quälenden Verdacht, den marternden Zweifel, gegen baare unverfälschte Münze umzusetzen. Er warf sich in die Kleider, er verließ das Haus, er suchte des Senators Wohnung auf, zu einer Zeit, die für einen Besuch nicht die gewöhnlichste war, denn die Glocke auf dem Rathhause hatte kaum halb zehn Uhr geviertelt. Er fand Justine allein, in einem reizenden Hausgewande. Die Braut, erröthend vor der unerwarteten Ueberraschung, hatte kaum die Zeit, einen Blick in den Spiegel und ein seidenes Flortuch um den Busen zu werfen, der noch von keiner Schnürbrust beengt war. Ihre Locken fielen natürlich, unfrisirt um das Haupt. Das anliegende Gewand, günstiger als die steife Visitenrobe, zeigte die schönsten Formen. Die Flor-Enveloppe verhüllte nur schwach die schönen Arme, und schöner als je malte die Wange der Verlobten die Zufriedenheit, sich ohne künstlichen Schmuck, dem schmeichelarmen Spiegel gegenüber, schön zu wissen. Birshers Herz klopfte unruhig und sehnsuchtsvoll bei ihrem Anblicke; er hatte seine Vorsätze durcheinander geworfen. Streng wollte er sein und kalt, und wurde milder und wärmer als je. Justinens Gesicht sprach Sieg, aber auch zugleich die zarte Hoffnung, die Sanftmuth einer milden Siegerin. Justine hätte dem frühen waglichen Besucher gezürnt, wäre sie sich nicht des gestrigen Unrechts bewußt gewesen. Sein wehmuthsvolles Antlitz, nur leicht von Rosenschimmer überstrahlt, schien ihr die Leiden zu bekennen, die ihre Härte in ihm erzeugt. Sein frühes hastiges Erscheinen schmeichelte ihrem eiteln Stolze. So empfing sie ihn doppelt zauberisch; triumphirend und beschämt; vergebend und reuig; hoffärtig, also geliebt zu sein, und geneigt, liebend zu umfangen. Verlegen antwortete ihr Mund den verlegenen Entschuldigungen des Bräutigams. Sie schien seinen Muth tadeln zu wollen, und bekannte fast, daß er ein Recht dazu habe. Noch nie hatte sie den Gedanken an das innigere Verhältniß von Verlobten so lebhaft aufgefaßt. Noch nie war ihr dieser Vorhimmel das glückliche Mittelding zwischen Fremd- und zu Bekanntsein, klar geworden; und indem ihre Lippe lächelnd zürnte, verlobte sich erst und wurde erst bräutlich ihr Herz. Birsher hing, wohlthuend erregt, an ihren Augen, die lebendiger glänzten als die Diamanten des Brautschmucks, der vor ihr auf dem Tische stand; in dessen Beschauung der Bräutigam die Braut gestört hatte. »Ich hatte nicht gehofft, Sie mit diesem Gegenstande beschäftigt zu finden,« sagte der junge Mann leichter athmend: »Sie äußerten gestern unverdienten Groll gegen mich.« »Sind Sie überzeugt, daß er unverdient gewesen,« -- erwiderte Justine gefällig, und näherer Erläuterung feind, -- »so war er von meiner Seite ungerecht. Trauen Sie _mir_ zu, daß ich es eingesehen, und sind Sie nun zufriedener?« Birsher küßte entzückt ihre Fingerspitzen, und in den Hintergrund seiner Erinnerung waren Argwohn und Vorsatz zurückgetreten. »Dieser Empfang bürgt mir für mein künftig Glück,« sagte er freudig: »so zarte Versöhnung macht lüstern nach der veranlassenden Zwietracht. Hoffen auch Sie, beste Jungfer, mit mir glücklich zu werden?« »Ich hoffe es,« antwortete Justine freundlich, und reichte ihm ungeziert die weiche Hand: »nun aber keine Zweifelsfrage mehr. Ich glaube, daß vernünftige Leute sich in den Vortagen ihrer Ehe anders zu benehmen haben, als die Amanten in den Romanen gewöhnlich zu thun pflegen. Das Schäferleben und das Seufzen der Doris, und Corydons Klagen sind mir nicht angenehm, und Ihnen ebenfalls nicht sehr, mein werther Monsieur. Wir wollen uns demnach fein gescheit benehmen, und den Anstand wahren. Erlauben Sie daher, daß ich Sie ersuche, einstweilen die Bilder an den Wänden zu betrachten, bis ich Ihnen in geschickterer Kleidung aufzuwarten die Ehre haben werde. --« Die Listige wollte wie ein glatter Aal entschlüpfen. Birsher hielt sie sanft auf. »Neidische Braut!« sagte er: »Sie wollen mir den schönsten Anblick rauben, dessen sich meine Augen jemals rühmen konnten? Thun Sie es nicht. Ich bin kein langweilig girrender Corydon und suchte nicht eine seufzende Doris, aber ich liebe das Ungezwungene trotz den Schäfern Arkadiens. Der steife Haarputz, die umfangreichen Damastkleider, die martervollen Corsetts, welche Ihnen die Mode aufzwingt, sind eben so viele Beleidigungen der Natur, die Ihnen ihre schönsten und seltensten Gaben nicht verweigert hat. Gewähren Sie daher Ihrem treuesten Freunde ein ferneres trauliches Beisammensein mit Ihnen, der Ungeschmückten, aber desto Reizendern!« »Das schickt sich nicht!« hieß die Antwort der Widerstrebenden. Birsher ließ ihre Hand nicht los, und bat: »So lassen Sie mich wenigstens die erste Hand an Ihren Schmuck legen. Vergönnen Sie, daß ich Sie ersuche, heute mir zu Liebe diese Halskette, gleichsam zur Probe zu tragen. Erlauben Sie, daß ich selbst diesen schönen Nacken damit schmücken darf?« »Ei, welche Zumuthung!« versetzte Justine, und wickelte sich schamhaft in die Enveloppe. Birsher drang noch mehr auf die Erfüllung seiner Bitte, und der gesetzte Mann bat diesmal so sanft, so dringend, so freundlich, daß es dem Mädchen vorkam, als müsse es dem liebenden Freunde nachgeben. Sittsam die Enveloppe um einen Zoll vom Kinn sinken lassend, neigte sie das Köpfchen, schloß erröthend die Augen, und lispelte: »Sie sind ein arger Schalk, werther Herr! indessen, damit Sie mir nicht böse werden.... meinetwegen!« -- Georg ergriff freudig die blitzende Kette. Die blinzelnde Justine sah mit Entzücken, wie seine Hand zitterte, da sie das Schloß öffnete: schon berührte das kalte Gold, der eisige Diamant ihren zarten Hals. Das Flortuch sank tiefer, und ein staunendes »Ha!« entfuhr Birshers Lippen. »Was ist? Was haben Sie?« »Sie tragen bereits einen Schmuck, dessen Stelle ich beneide!« »Wie so?« Birsher zeigte auf das schwarze Sammetband, das sich aus dem verhüllenden Tuche gestohlen. Justinens Wange wurde Purpur. »Lassen Sie den Schatz sehen, der sich solchen Vorzugs freuen darf...« »Mein Gott! nein!« »Warum denn nicht?« »Ich ... ich darf nicht...« Birsher heftete einen starren verdüsterten Blick auf Justine. Sie gewahrte es; aber -- wie ein Blitz fuhr's durch ihr Herz: dem strengen Protestanten durfte sie, selbst im Scherze, das katholische Heiligenbild auf ihrer Brust nicht zeigen. Sie sträubte sich entschieden gegen sein Verlangen, es zu sehen. Er begehrte es freundlich, dann ernstlicher, dann mit kalter Bestimmtheit. »Nimmermehr!« rief sie: »Monsieur trauen mir zu, daß sich nichts Böses in diesem Medaillon befindet; aber ich bestehe nun einmal auf meinem Geheimniß!« Mit diesen Worten reißt sie das Band von ihrem Halse, um es in ihrer Tasche zu verbergen. Das Medaillon fällt von dem Bande, stürzt zu Boden. Die Kapsel springt. Justinens unsichere Hand erfaßt diese. Georg rafft das Bild auf, betrachtet es, ehe Justine es verhindern kann, mit bitterm Lachen und giebt es dann der Trägerin zurück. »Ich gratulire zu dem geliebtern Freunde!« sagte er, und Justine glaubt vor Scham und Bestürzung in die Erde zu sinken: das Bild ist James in der vollen Blüthe seiner Jugend: sprechend ähnlich; herrlich gemalt. Sie verstummt, das ungeheure Mißgeschick nicht begreifend. Der Amerikaner sagt aber mit zitterndem Tone zu ihr: »So ist es denn wahr, Jungfer Justine? ich war der Betrogene? sollte der Betrogene bleiben? Armes Geschöpf! ich bemitleide Sie!« Ohne noch ein Wort hinzuzufügen, verließ er Justine, die -- ebenfalls ohne ein Wort der Entschuldigung beizusetzen, ihm sprachlos und beklommen nachstarrte. Indem er eilig und außer sich dahin schoß, begegnete ihm -- zu seinem Entsetzen -- der Mensch, den er gestern gesehen, den das Bild vorstellte. »Sind Sie ein Engländer?« fragte er hastig, den Jüngling bei der Brust fassend. »Ja, Herr.« »Heißen James?« »James White.« »Sie lieben meine Braut, Justine Müssinger?« »Mein Gott! was soll das heißen? woher wissen Sie?« »Ihr Pflegvater hat mir Alles entdeckt.« »Wie? Doctor Leupold?« »Derselbe. Sie werden geliebt!« »Mein Herr!« »Sie trägt Ihr Bild auf der Brust...« »Ach, mein Herr! Sie sind ein Engel, wenn Sie...« »Stille. Warum ließen Sie mich im Dunkeln tappen? damit ich schmerzlicher erwachen mußte? das war Unrecht von Ihnen. Brav jedoch, daß Sie nicht nach Amerika folgen wollten. Darum renne ich Ihnen auch nicht den Degen durch den Leib. Sein Sie glücklich! Ich sage mich von ihr los!« Er ließ den Staunenden, Bebenden stehen, und eilte, seine aufwallende Wehmuth zu unterdrücken, weiter. Unfern vom Rathhause stieß er auf den Senator, der, schwankend und blaß wie ein Geist, einherkam. Kaum rückte er vor demselben den Hut, und stürzte davon, sich in sein Zimmer zu verschließen. Der Senator sah ihm verwundert, aufgebracht, niedergeschlagen nach; setzte dann seinen Weg nach Hause fort, und kam sehr verdrüßlich daselbst an. Frau und Tochter saßen still beisammen. Jacobine kämmte ihr Hündchen; Justine saß an seiner Arbeit, und that dennoch nichts. Der Senator warf sich seufzend in einen Stuhl. »Der Satan ist los!« sagte er: »Wenn ich mich aus dem Unglück losreiße, das mich jetzo niederschlägt, so will's etwas heißen. Mein Ruf, mein Amt, meine Würde stehen auf dem Spiele!« »Mein Gott!« sagten die Weiber; die Senatorin rückte weit ab von dem Senator; Justine rückte ihm dagegen näher. »Ihr wißt,« fuhr der Senator mit gedämpfter Stimme fort, »daß ich auf's Rathhaus beschieden wurde. Der Bürgermeister hat mich förmlich verhört. Ich denke, mein Kopf macht Bankerott, als er vom Lotto anhebt, und behauptet, ich hätte neulich das große Loos in dem Hamburger Glücksspiele gewonnen. Auf die Verschwiegenheit meines Correspondenten bauend, leugne ich Stein und Bein. Da wird er ernsthaft, nennt mir, als wäre er ein Hexenmeister, den Tag der Ziehung, die Nummer, die ich gespielt, den Gewinnstbetrag und die Prämie, den Kaufmann, der meine Angelegenheit besorgt, und endigt damit, mir frei zu erklären, ein Comptoirdiener jenes Mannes, der in Unfrieden von ihm gegangen, habe eine Collekturliste hieher gebracht, und dieselbe hin und wieder indiskret zur Schau gelegt. Mein Name sei von ihm genannt, der Senat stutzig geworden. Ich sei mit dem bestehenden Verbote bekannt, müsse mich diskulpiren, oder gewärtig sein, daß man Rechtens gegen mich verfahre. Der Angeber sei schon abgereist, die vidimirte Collekturliste liege aber vor; ich müsse erklären, woher mir damals das viele Geld gekommen, und die Erbschaft nachweisen, die ich dazumal vorgeschützt. Er, der Bürgermeister, könne mir nicht helfen, und müsse mir noch überdies bemerken, daß diverse Gerüchte über mich und mein Haus neuerdings in Schwung gekommen, die dem ganzen =Corpori Senatus= nachtheilig werden könnten. Vor Allem wolle er mich aufmerksam machen, daß der Pastor Lammer öffentlich über meine Saumseligkeit, die Kirche zu besuchen, lästere, und daß es von der äußersten Nothwendigkeit sei, hierüber den Menschen den Mund zu stopfen, worauf man allerdings im Uebrigen gelinder und gnädiger untersuchen wolle, um keinen Anstoß zu geben. Hierauf entläßt mich Se. Magnificenz sehr kalt und sehr unwillig, indem sie mir noch aufgiebt, binnen vier Wochen die Beweise beizubringen, wie es sich mit jenem Gelde verhalte. Da habt ihr mein Elend, ihr Weiber! mir ist's ein Trost gewesen, es in eurem Busen niederzulegen, aber ich wünsche, daß es darinnen, und ein Geheimniß bleibe.« »Das versteht sich,« sagte die Senatorin, die wieder zutraulicher geworden war; »die Bürgermeisterei hat sich im Geringsten nicht um die Art und Weise zu bekümmern, wie man zu Gelde kommt. Der saubere Bürgermeister sollte selber gar nicht den Großen spielen. Man weiß sich noch sehr wohl zu erinnern, wie er -- ein armer Schlucker -- zu den Schweden ging, um zu marketendern. Dann kam er an die Heulieferung, dann an die Spitalverwaltung, und endlich als reicher Mann hieher zurück. Wenn man seinem Reichthum nachfragen wollte ... pfui!« »O des unnöthigen, vergeblichen Geschwätzes!« versetzte der Senator ungeduldig. »Bei dem Allen,« fügte er bei, »ist es nothwendig, daß ich auf Mittel denke, das Gewitter abzuwenden. Ich bedarf des Raths.... und wer _soll_ mir rathen?...« »Du nimmst von mir den besten Rath nicht an,« sagte die Senatorin gähnend; »darum gehe ich. Weißt du dich jedoch nicht aus der Fatalität zu wickeln, und sie wollen dich nicht mehr im Rathe haben, so lasse ich mich scheiden. Ich muß Frau Senatorin heißen bis ans Ende. Der Titel ist ohnehin der einzige Gewinn, den ich aus der Ehe mit dir gezogen habe.« »Abscheuliches Weib!« murmelte der Senator der Abgehenden zwischen den Zähnen nach: »Rathe du mir, Justine. Mit wem soll ich mich bereden? wen beschicken? der Augenblick drängt. Ich will mich dem Buchhalter nicht anvertrauen: der Mann ist zu streng und ... nun heraus damit! zu _ehrlich_ mit einem Worte. Berndt ist eine philadelphische Schlafmütze. Wünschte ich mir doch fast wieder den vermaledeiten Nothhaft herbei! Er war ein geriebener Kniffespinner. -- Aber wie wäre es, wenn dein Bräutigam...? er ist die gute Stunde selbst, und gäbe vielleicht in aller Unschuld einen Ausweg an die Hand? was fehlt dir denn, Mädchen? du bist ja weiß wie eine Sternblume? hast nasse Augen? was hat's gegeben?« Justine läugnete. Der Senator besann sich nun, Birsher gesehen und sich über dessen Unhöflichkeit geärgert zu haben. »Ich verstehe,« rief er: »ein verliebter Zwist! Deine Hartnäckigkeit wird dir noch böses Spiel machen, Justine! was den _Bräutigam_ betrifft: der ist gut zu lenken, -- aber ... der Ehemann ist ein ganz anderer Herr. Zu viel Sonnenschein in dem Brautstand: finstre Wolken in der Ehe. Versöhnt Euch. Herr Birsher wird jedoch nicht geeignet sein, den besten Rath zu ertheilen; -- darum -- sende nach dem Doctor Leupold, mein Kind ... ich ließe mir die Ehre ausbitten...« »Das thue ich nicht gerne, Herr Vater!« antwortete Justine. »Warum nicht? -- Ach! ich besinne mich: du hast einen Widerwillen gegen den Mann. Mische dich doch nicht in unsere Angelegenheiten, Justine.« »Lassen Sie den Doctor nicht zu tief in die Ihrigen blicken,« ermahnte Justine: »ohne mich Ihnen ganz deutlich machen zu können, warne ich Sie noch einmal vor ihm.« Der Senator seufzte tief, und wendete sein Auge ab. »Er ist gewiß ein doppellarviger Mensch!« fuhr Justine fort: »überhaupt, mein Vater, kömmt es meiner Ahnung vor, als hätte uns ein immer enger werdendes Netz umfangen und umspannt; -- als sollten wir die Beute eines böslich bereiteten Verderbens werden.« Der Senator sah die Tochter betroffen und starr an. »Der Doctor,« sprach diese weiter, -- von der Unruhe ihres Herzens wie von dem vortheilhaften Augenblicke begeistert, -- »erscheint wie eine Hauptgestalt, bemüht, dieses Netz, das ich nicht kenne, nicht durchschaue, wohl aber fühle, zu bereiten. Mit jedem Tage wird mir klarer, was mir einst der Zufall enthüllte. Der Doctor ist nicht der einfache Jurist, der simple Privatmann, mein Vater; er ist ... wie ich beschwören möchte, ... er ist...« »Halt!« donnerte ihr der Senator, von Angst und Unruhe geschüttelt, zu: »ich will nichts hören! ich darf nichts aus deinem Munde erfahren! du machst mich unglücklich, Justine, und wirst es selbst, wenn eine Sylbe deiner ungereimten Vermuthungen unter die Leute kommt! Justine ... wir wären ja alle zu Grunde gerichtet!« Justinens Begeisterung schauderte vor dem außerordentlichen Schrecken des Vaters zurück. »Wie Sie befehlen!« stammelte sie verschüchtert: »beruhigen Sie sich nur. Ich habe mit der Mutter nicht geredet, und Gott wird wohl Alles gut machen. Ich aber will nach dem Doctor schicken.« Es wurde ihr erspart. Die Schelle des Comptoirs erklang, und der Doctor, wie von einer Ahnung gerufen, kam mit einem Fremden, den Senator zu besuchen. Dieser Fremde gab sich in einer salbungsvollen Begrüßung dem Senator als Superior eines Profeßhauses der Gesellschaft Jesu zu erkennen, und freute sich, in ihm ein bereitwilliges Werkzeug der göttlichen Gnade zu finden. Der Senator erwiderte das Compliment etwas lau, und sagte, die niedergeschlagene Verlegenheit des Doctors bemerkend, ohne besondere Umschweife, daß es ihm fast leid thue, sich durch seine sonderbaren Verhältnisse in Verbindungen verwickelt zu sehen, die seiner bürgerlichen Existenz nachtheilig werden könnten. »Ich hätte wenigstens gehofft,« sprach er, »nicht compromittirt zu werden, aber ich habe mich getäuscht. Indem ich heute vom Rathhause komme, nähert sich mir ein Mann; der Krämer Ernst, übel berüchtigt in der Stadt durch seine lockre Lebensweise und die Vergehen seines Bruders, wegen welcher derselbe im Gefängniß sitzt. Der Mensch redet mich an, und fordert mich ziemlich unverschämt auf, bei der Kriminalkammer dahin zu arbeiten, daß sein Bruder auf freien Fuß gestellt werde. Da ich es ihm nun natürlich abschlage, und mich wunderte, daß er sich gerade an mich gewendet, den er kaum kennt, so sagt mir der Mann im Vertrauen: ich kenne Niemand, der geeigneter und verbundener wäre, mir in dieser Sache beizustehen. Ich weiß ja, daß Sie eben so gut Katholik geworden sind, wie ich; und man hat mir den Anschlag gegeben, Sie zum Beistand aufzufordern. Ich war wie vom Donner gerührt, und hatte kaum Fassung genug, den Menschen mit einigen Drohungen der Lüge zu zeihen, und ihn von mir zu weisen; worauf er sich ärgerlich und stumm entfernte. Was soll ich nun denken? Kaum habe ich seit wenigen Tagen -- wie in einen Strudel hinabgezogen -- mich zum Uebertritt anregen lassen, und schon stehe ich blosgegeben da! verrathen an Menschen, für deren Verschwiegenheit kein Dreier zu verbürgen ist!« Der Doctor sah verwundert den Superior an; dann betheuerte der dem Senator, dessen Aufnahme geheim gehalten zu haben -- vor der ganzen Gemeinde. Der Superior versetzte dagegen hochmüthig und zuversichtlich: »Beruhigen Sie sich, Herr Senator. _Ich_ war's, der den armen Teufel auf Sie aufmerksam machte. Er suchte bei mir den Beistand eines geistlichen Vaters, und ich verwies ihn an Ihren weltlichen Schutz. Ein gutes Wort aus Ihrem Munde kann Vieles fruchten, und setzt Sie keinem Verrath aus; der Krämer ist mir als ein eifriges Glied der wachsenden Kirche geschildert worden, und ich habe durchaus keine Ursache gefunden, dieser Angabe zu mißtrauen. Sehen Sie, lieber Sohn: Eintracht, gemeinsames Wirken führt stets zum ersehnten Ziele. =Concordia parvae res crescunt!= Wie nun eine Gemeinde, die sich im Schooße der Verborgenheit bildet, einem Bruderverein im schönsten Sinne zu vergleichen ist, so ist auch jeder der Brüder dem andern Schutz und Hülfe schuldig. Leisten Sie daher dem Supplikanten nur einen leichten Beistand, wie er gerade in Ihren Kräften steht, und zählen Sie dagegen auf jeden Beistand des Ganzen.« »O, daß ich mich in diese mißliche Speculation eingelassen habe!« sagte der Senator mißmuthig, und achtete nicht der zornig aufsteigenden Wolke auf des Superiors Stirne, noch des bekümmerten Angesichts des Doctors. »Wenn Sie es vermögen, meine Brüder, beweisen Sie mir den Ernst Ihrer Worte. Rathen Sie mir in meinem äußerst kritischen Verhältnisse.« -- Er erzählte von dem Verhöre des Morgens. Der Doctor schüttelte mitleidig und besorgt den Kopf. Der Superior lächelte aber gleichmüthig und erwiderte, fast spöttisch: »das versetzt Sie in Unruhe? Gilt das Zeugniß eines verlaufenen Ladenburschen gegen Ihr Rathsherrnwort? Und hat man nicht Mittel, den Nothbehelf der Erbschaft klar darzuthun, als wäre er wahr wie die Sonne? Ich verpflichte mich, Ihnen Zeugen zu schaffen, und der Pater Münzner, der zugleich Doctor beider Rechte ist, wird Ihnen mit einem in allen Formen ausgestellten Testamente auszuhelfen nicht ermangeln.« »Pater Superior!« versetzte der Doctor stutzig: »bedenken Sie! ein fingirtes Testament! ein =falsum=!« »Nun?« fragte der Superior kalt: »was weiter? Es gilt hier, einen christlichen Bruder aus der Verlegenheit zu ziehen. Ich behaupte sogar, daß ein Testament, dessen Aussteller eine =persona fictitia= ist, gar kein =falsum= darbietet. Es sei übrigens Ihre Ansicht, welche sie wolle, so wird hoffentlich der Befehl Ihrer Obern hinreichend sein, alle Bedenklichkeiten zu heben.« Der Doctor bückte sich mit unterdrücktem Widerwillen. Der Senator schauderte ein wenig vor der Leichtigkeit, womit der Superior eine so trügliche Maßregel durchgehen ließ; aber da sein System, sollte es ihn vor Schande retten, auf Lügen beruhen mußte, ließ er sich's gefallen, daß es der kühne Pater übernahm, eine Zusammenstellung von Begebenheiten und Dokumenten -- beide in der Ferne geschehen und aus der Ferne gesendet -- zu erdichten, die dem Unbefangenen jeden Zweifel an des Senators Aufrichtigkeit rauben mußte, da man der Verschwiegenheit des Correspondenten in Hamburg versichert sein konnte. »Sie unterscheiden jetzt, bester Sohn,« sagte der Superior, »wie redlich wir es mit Ihnen meinen, und werden uns eine kleine Bitte Ihrerseits nicht abschlagen. Nach reiflicher Ueberlegung habe ich gefunden, daß unsre Handelsbücher und Register über kirchliche Angelegenheiten im Hause des ehrwürdigen Paters Münzner zu exponirt erscheinen. Ich ersuche Sie deshalb, diese =acta= in Ihren Verschluß zu nehmen, und zu erlauben, daß der Pater sich täglich etwa eine Stunde in irgend einem abgelegenen Winkelchen Ihres Hauses damit beschäftige, wenn es einzutragen oder abzuschließen gibt. In einem Lokale, wie das Ihrige sich darstellt, wird solches Ab- und Zugehen unbemerkt bleiben; Sie sind außer Gefahr, und wir können völlig ruhig sein.« Der Senator antwortete: »Da ich mich bereits so offen in Ihre Hände gegeben habe, meine Väter, so mag es darum sein. Ich will Ihnen auch im gegebenen Falle meine Bereitwilligkeit nicht entziehen. Ich will in aller Stille ein Cabinet, an den Hof stoßend, zum Gebrauch des Herrn Doctors einrichten lassen, und die nöthige Sorge tragen, daß er nicht gestört werde.« »So werde ich noch heute Abend die Bücher herbringen lassen,« setzte der Doctor bei: »da der ehrwürdige Pater Superior sie bei mir nicht sicher glaubt.« »=Quidquid agas, respice finem!=« bemerkte der Superior mit dem schlauesten Gesichte: »ich danke Ihnen für die schöne Bereitwilligkeit, womit Sie unserem Antrage entgegengekommen. Ich gestehe, daß derselbe mich mit dem Mangel an Aufrichtigkeit versöhnt, den Sie meinem würdigen Freunde, dem Pater Münzner beweisen.« »Wie so?« fragte der Senator, und fixirte den Doctor, der wie beschämt die Augen niederschlug. Der Superior fuhr, wie scherzend, fort: »Der würdige Herr hat Ihnen Gründe der Freundschaft, der Moral und der Pflicht angegeben, die eine Heirath zwischen Ihrer einzigen Tochter und dem protestantischen Amerikaner dringend verbieten. Er hat, wie er behauptet, Ihr Herz gerührt, indem Sie versprachen, seinen Gründen nachzugeben. Aber leider ist solche Rührung nur ein Phantasma gewesen, das eben so schnell zerstiebte, wie mancher gute Vorsatz. O, mein Sohn! in Ihrem Gemüthe liegt noch viel des ketzerischen Sauerteigs verborgen, von welchem Sie nur eine reine und reife Andacht zu dem geheiligten Herzen Jesu befreien kann! Wie könnten Sie es ansonst über sich genommen haben, Ihr Versprechen zu widerrufen, und, mit Fleiß ihre Wege vor _uns_ versteckend, auf dem alten erwiesenen Unrecht zu beharren?« Da der Senator, seiner Verstellung überführt, kein Wort redete, so hob der Doctor sanft und eindringlich zu ihm an: »Ja, bester Herr Senator! wir wissen, -- da uns nichts in die Länge verborgen bleibt, -- daß Sie dennoch Ihre Tochter mit Herrn Birsher zu vermählen gedenken, ... wann und wo Sie es thun wollen; und ich frage Sie noch einmal freundschaftlichst: haben Sie auch Alles erwogen und überlegt?« »Ich bin meinem Gewissen und meinem Worte Erfüllung schuldig;« antwortete der Senator auf's Aeußerste gebracht: »ich hasse jede Einmischung Unberufener in mein Hauswesen. Ich habe mir nur die Schwäche vorzuwerfen, daß ich vor Ihnen verhehlte, wie es mir darum zu thun sei, _recht_ zu handeln. Können Sie das nicht vergeben, meine Väter, so dispensiren Sie mich von jeder weitern Gemeinschaft mit Ihren Kirchen und Gesellschaftsverhältnissen!« »O welche bedauerliche Hitze!« sagte der Superior, die Augen wehmüthig gen Himmel richtend: »=Saule! Saule! cur me persequeris?= Verblendeter, heftiger, geliebter Sohn! Glauben Sie denn, daß das heilige Herz unsers Heilands sich so schnell von Ihnen reißen werde, als Ihr Unmuth sich von ihm zu trennen begehrt? Mit nichten, mein Sohn! Der Heiland wird Sie nicht verlassen, da Sie sich ihm einmal ergeben! Wir, seine unwürdigen Diener, Ihre innigen Freunde, werden es auch nicht thun, und sollten wir immer vergebens warnen, und immer vergebens ausrufen: Durch diese Verbindung machen Sie Ihr Kind des Himmelreichs verlustig! durch diese Verbindung bringt der Protestant Unglück in Ihr Haus, das erst kürzlich in Ihnen der Herr gesegnet hat mit Gnade, mit Erweckung, mit dem zukünftigen Paradiese!« Die Herren schwiegen allesammt, da sich vor der Thüre Schritte vernehmen ließen. Berndt schaute demüthig herein, und langte dem Principal ein Billet hin. Der Kellerbursche aus dem Schwan hat's gebracht, sagte er, grüßte höflich, und verschwand. Der Senator sah in der Ueberschrift Georg Birshers Hand. Seine Seele war so schreckhaft und argwöhnisch geworden, daß er unter jedem Siegel eine giftige Schlange fürchtete. Darum löste er auch dieses mit Herzklopfen, und -- wie sehr seine Ahnung die Wahrheit gesprochen, -- wie giftig die Schlange sei, die sich aus dem kleinen Briefe in seine Augen und sein Herz bohrte, -- das bezeugte das Erbleichen seiner Wangen, das Erstarren seines Blicks, die physische Vernichtung, die aus den schlaffen Zügen trat. Mit einer Bewegung der Verzweiflung aufspringend, reichte er mit zitternder Rechte das Briefchen an den Doctor, und sank mit dem Ausrufe: Nun bin ich ohne Rettung verloren! in den Stuhl zurück. Der Doctor las, während der Superior dem mit Ohnmacht Kämpfenden beisprang, für sich, was folgt: »Unglücklicher Müssinger! -- Meine Hand bebt, aber mein Herz erbebte noch heftiger, da ich erfuhr, was mich und Sie elend macht. Elender! Sie haben meinen armen Vater gemordet! der mir's entdeckt hat, ist fast Zeuge der schändlichen That gewesen! um mich vor dem schauerlichen Bunde mit Ihnen zu warnen, hat er's mir gestanden! aber ich weiß, wozu die Rache den Sohn auffordert. Die Gerechtigkeit anzurufen, ist meine Pflicht! um drei Uhr fahre ich bei dem Bürgermeister vor. Ich will nichts von dem wissen, was Sie bis dahin unternehmen! _Birsher_.« Der Senator schlug die verwirrten Augen wieder auf, sandte einen trostlosen Blick nach dem Doctor, der schnell das Briefchen wieder zusammenfaltete, dem Senator zurückgab, und sagte: »Fassen Sie sich, Sie sind nicht verloren. Nothhafts Beschuldigung -- gewiß durch die transpirirende Neuigkeit von Justinens Vermählung veranlaßt -- richtet Sie nicht zu Grunde. Ihre Seelenangst ist Ihr mächtigster Gegner: darum -- obschon Sie gegründete Hoffnung haben dürften, von den Gerichten erledigt zu werden -- ist es gerathener, das Unheil in der Geburt zu ersticken. Birsher scheint großmüthig handeln zu wollen. Er will Ihre Flucht begünstigen. Hüten Sie sich jedoch. Weichen Sie keinen Fuß breit. Halten Sie sich ruhig! überlassen Sie uns, für Sie zu handeln. Bevor es drei Uhr wird, denke ich, müßten Sie aller Gefahr enthoben sein!« »Wenn Sie das könnten!« rief der Senator, und warf sich dem Pater in die Arme: »mein Vater! Bruder meiner Clara! thun Sie das Möglichste! der Verdacht! mein Ruf! die Schande! Gott stehe mir bei, wenn Sie mich verlassen!« »Hier muß dieser Mann helfen!« versetzte der Doctor, auf den Superior zeigend, der aufmerksam und erwartend da stand. »Pater Superior! als Beichtvater dieses unglücklichen Mannes fordere ich Sie, einen der Vorsteher unsrer heiligen Gesellschaft, in Ihnen den ganzen Orden auf, ihn vor einer dringenden Gefahr zu retten, mit der ihn Birsher bedroht. Der Grund derselben ist ein Beichtgeheimniß, aber ich beschwöre Sie bei Ihrer priesterlichen Würde, den Folgen vorzubeugen.« »Ich werde mich mit Ihnen bereden,« antwortete der Superior gleichgültig; »ich werde Ihre Meinung hören, und thun, was ich mit Gottes Hülfe vermag. Verspräche aber wohl der Herr Senator, jeden fernern Gedanken an eine Verbindung seiner Tochter mit einem Protestanten aufzugeben? das unschuldige Kind unsrer alleinselig- und glücklichmachenden Mutterkirche zuzuwenden? es für ein erbauliches Jungfrauenleben zu bestimmen, damit es im Verein mit andern gottseligen Chorschwestern die Sünden des Vaters abkaufe mit Gebet und Ergebung? sein Vermögen nach seinem Hinscheiden der Kirche zu vermachen, der liebenden und helfenden Gesellschaft Jesu ins Besondere? =Respondeas, mi fili!= und dir soll geholfen sein!« Der Senator nickte sprachlos mit dem Kopfe, winkte mit der Hand, und der Superior ergriff dieselbe, ihn beim Worte nehmend. »Sie sind Zeuge, Pater,« sagte er feierlich, »und nun kommen Sie, damit wir das widrige Geschäft in Ordnung bringen. Ich bin sanfter Natur, wähle gewöhnlich leichte Mittel; hier aber, fürchte ich, wird es auf dasjenige ankommen, was ich schon einmal vorgeschlagen, und das Sie als zu hart verworfen haben.« Der Doctor winkte dem Pater, zu schweigen, indem er auf den Senator deutete, welcher aus seiner Betäubung erwachte. Die Jesuiten gingen bedächtig und stille von dannen. »O, der sauern Pflichten!« seufzte der Doctor, aber sein Mund sprach keine Sylbe, die seinem Vorgesetzten hätte mißfallen können. Die Herren fanden in ihrem geheimen Convente die Lainez und den ehemaligen Schauspieler Litzach. »Unser Plan scheitert!« sagte die Erstere, indem sie dem Doctor das gefährliche Medaillon zurückgab; »behalten Sie das Bild Ihres Zöglings, mein Vater; es hat Aufsehen genug gemacht, aber die Liebesleute vertragen sich nach dem heftigsten Zanke. Vor der Hand hat mich Jungfer Justine der Mühe, ihr Gesellschaft zu leisten, enthoben, und alle meine Entschuldigungen gingen in den Wind.« »Unser Plan glückt im Gegentheile, kurzsichtige Frau!« sagte der Superior stolz lächelnd. »Sie hat Ihre Commission ganz gut verrichtet, und es kommt nur darauf an, ob Er, Litzach, dasselbe thut.« Er führte den Unterthänigen in das Nebengemach. Indessen hatte der Doctor James Porträt in seinen Schrank verschlossen, und die Thränen waren ihm in die Augen gestiegen, und er lehnte sich über die in schwüler Hitze welkenden Blumen seines Fensters hinaus, in's Freie, und betete: »Du heilige Mutter! vergieb mir, daß ich ein Bild, welches von einem treuen Mutterbusen getragen wurde, bis das Herz darunter stille stand, daß ich es -- das heilige Geschenk jugendlicher Dankbarkeit -- mißbrauchen ließ, zu einer Betrügerei. Der Obere befahl es jedoch, und um der Pflicht willen wirst du die Sünde vergeben, gebenedeite Mutter!« Die Augen trocknend, fragte er die Lainez, ob sie den jungen James nicht gesprochen habe. Die Lainez wußte nichts von ihm, als daß er ihr mit dem fröhlichen Gesichte, das sie noch je an ihm gesehen, begegnet war, im Begriff, gegen das Thor zu eilen. Capitän Tormerpick, der hinzu kam, hatte den jungen Menschen ebenfalls auf dem alten Glacis angetroffen. James hatte ihn umarmt, hatte ausgerufen: »Capitän! sehe ich denn aus, wie der glücklichste Mensch in der Stadt?« und hatte sich dann entfernt -- wie sich der Capitän ausdrückte -- tanzend, wie ein Matrose, der nach sechs Monden wieder zum ersten Male festes Land betritt. Der Doctor schüttelte ernsthaft und betrübt den Kopf, und verfügte sich in das Seitenzimmer, aus welchem bald nachher Litzach schlüpfte, und dem Capitän bemerkte: die Herren erwarteten nun _ihn_. Während Litzach davon eilte, sprach Tormerpick mit den Vätern. »Ich nehme Abschied von Ihnen,« sagte er: »Schlag zwei Uhr fahre ich ab. Ein dringender Brief ruft mich nach dem Hafen. Das Schiff wird geladen. Ich bitte mir weitern Bericht oder anderwärtige Aufträge aus.« Der Superior gab ihm ein Paket, mit dem Bedeuten, daß sich darinnen alles befinde, was auf Handelsangelegenheiten Bezug hätte. »Wir hätten Euch noch Jemand mitzugeben,« schloß der Pater, listig lächelnd: »einen Engländer, wohl gewachsen, stark, robust; ein gutes Capital, in Batavia anzulegen.« Der Capitän runzelte die Stirne. »Wollen Sie mich foppen, meine frommen Väter?« »Nicht doch, Capitän. Versteht uns wohl! wir hassen die Seelenverkäuferei, wenn unsere Waarentransporte dadurch Noth leiden. Wo es aber auf eigene Rechnung geht...« »Ich verstehe,« erwiderte der Capitän grinsend: »Sie sollen Ihren Willen haben. Wann? wie? wo? Ich habe zwei Matrosen bei mir, die auf einem Kaperschiffe gedient haben. Den Burschen bangt vor dem Teufel nicht.« »Haltet um zwei Uhr auf dem Damme« instruirte der Superior: »dort ist's abgelegen und einsam. Der Mensch, welcher vorhin wegging, wird den Bewußten zum Damme bringen; einen großen tüchtigen Mann; nicht wahr, Pater Münzner?« »Unsern Tischnachbar im Schwan,« entgegnete der Doctor. Der Capitän lachte hell auf. »Den stummen Oelgötzen?« fragte er: »der mich so unverschämt anlaufen ließ? Hoho, den kenne ich, und werde ihn wohl von dem dürren Magister unterscheiden. Brav! ich habe dem naseweisen Flegel eine volle Lage zu geben! ich hab's ihm geschworen. Gut so! ein Pechpflaster auf den Mund, Strick um Arm und Beine! wie der Teufel nach dem Kanal gefahren; die Nacht durch gerudert, mit Tagesanbruch an der Küste.... binnen zwei Tagen im Schiffe! herrlich! die Moorländer sind wenig und nur von lockerem Gesindel bevölkert! ich bringe den Passagier glücklich durch, oder fülle ihm den Kopf mit Blei, wenn er mich durch ein unanständiges Spektakel in Gefahr setzen wollte. Gott behüte Ew. Ehrwürden! sollen von mir hören!« Der ungeschlachte Mensch ging wiehernd weg, aß im Schwan noch so tüchtig, als ob er sich auf ein Heldenwerk vorzubereiten hätte, ließ unter seine Matrosen viel Branntwein austheilen, und bestieg mit ihnen jubelnd den verdeckten Korbwagen, der ihn zum Damme, von da zum Kanal bringen sollte. Dem Kutscher wurde noch tüchtig mit Rum zugetrunken und bei'm Abfahren schwenkte der Capitän in frechem Uebermuthe den Hut gegen den Amerikaner, der oben aus dem Fenster sah, und brüllte ein: »Auf Wiedersehen!« Georg zog sich, ergrimmt über den widrigen Seemann, vom Fenster zurück, warf sich auf das Kanapee, stützte den Kopf eine Weile in die Hand, sprang dann wieder auf, legte mit erhabener Würde die Hände auf seine Brust, und sagte, mit einem freien Athemzuge, zu sich selbst: »Bist doch eine wackere Seele, Georg, und hast einen schweren aber um so rühmlicheren Sieg erfochten! Ach du mein lieber, lieber Vater! Siehst du nicht aus den Wolken, und freust dich meines Entschlusses? Ist gleich mein Auge zu schwach, dich zu erschauen, so ist doch gewiß der himmlische Friede, der in mein Herz einzieht, dein Werk! Ja! Vergebung ist eine süßere Rache für dich, als das Blut des Elenden, der denn doch sein Leben ferner nur wie eine Pestbeule mit sich umherschleppen kann!« Er warf einen Blick auf die Speisen, die unangerührt auf dem Tische standen, auf die Seitenthür. Er ging hastig auf dieselbe los, öffnete sie mit dem Schlüssel, und sagte ernst: »Komm' Er heraus, Monsieur!« Eine blasse, ängstliche Figur kam gebückt hervor: Nothhaft, wie ein armer Sünder. »Setze Er sich, und esse Er!« fuhr der Amerikaner fort: »vergesse Er seine Schrecken. Ich habe mich besonnen, und halte dafür, es sei besser, die ganze Anklage zu unterlassen.« »Ach, wenn Sie das im Ernste wollten,« -- stammelte Nothhaft -- »ich würde neu aufleben.« »Lerne Er, Mensch« sprach Birsher weiter, »daß es nichts Gemeines mit solchen Anschuldigungen auf sich hat. Er hat mir auf die Bibel zugeschworen, daß Alles, was Er mir heute entdeckt, reine Wahrheit sei; ich will es glauben; nicht um Seinetwillen, denn der erbärmliche Spuck in des Senators Hause verdächtigt ihn, aber um des seltsamen Benehmens des Senators willen; um der Voraussetzung willen, daß ein Mensch, der nur _einen_ redlichen Blutstropfen in sich verspürt, nicht auf eine Lüge hin seinen Nächsten in's Grab und in Schande stürzen werde. Er hatte nicht darauf gerechnet, daß mir es einfallen könnte, die Anklage öffentlich zu machen; Er hat mich beschworen, es zu unterlassen: das ist ein guter Zug von Ihm; Er hat mir gestanden, daß Er nur, um mich von der Ehe mit Justine abzuhalten, mir die Eröffnung gemacht, die aber demungeachtet eine völlig wahre sei. Er hat sich endlich gutwillig in jenes Zimmer verfügt, wo ich Ihn inne zu halten für gut befand, damit es mir bei der Klage nicht an dem Gewährsmanne fehlen möchte. Bedenke Er aber selbst, wohin meine Klage führen würde: zu Seiner eigenen Haft, zu Seiner eigenen Schmach, als Hehler der begangenen Blutthat. Der Senator würde eines schimpflichen Todes sterben, seine Familie würde zu Grunde gehen, mein Schmerz wieder tausendfach erneut, meines Vaters Gebeine in ihrem Grabe gestört werden; und zu welchem Endzweck? Würde diese Genugthuung mein Herz befriedigen, den geliebten Todten wieder in's Leben rufen? Und die Unglücklichen, die -- ihren schuldigen Gatten und Vater beweinend -- mir, dem unglücklichen Verfolger fluchen würden!... ach, welch' eine Zukunft! Darum will ich lieber schweigen, wie das Grab über dem Todten, und verlange dasselbe von Ihm: schwöre er mir's abermals auf die Bibel, und dann gehe Er hin, von wannen er gekommen, so wie ich nach der Heimath zurückkehren will: vergessend -- und rein von Fluch!« Nothhaft vernahm mit innigem Wohlgefallen Birshers Worte. Er hätte tausend Eide geschworen, nur um den Folgen eines Schritts zu entgehen, den er weniger aus unverbesserlicher Bosheit, als, von frechem Trotze und Eifersucht bewegt, gethan hatte. Er entlief mit Riesenschritten dem Gasthause und suchte den Weg nach seinem Städtchen. Birsher war mit seinen Entschlüssen zufrieden, und überlegte gerade, wie er dem Senator, wenn derselbe sich nicht bereits auf der Flucht befände, seinen edelmüthigen Vorsatz kund zu geben hätte -- wie er von Justine Abschied nehmen sollte, als der Magister aus Faldern zu ihm trat. »Was wollen Sie, Magister?« fragte Georg hastig und verdrüßlich, gestört zu werden. »Der Ueberbringer des Dankes sein, welchen Ihnen zwei redliche getröstete Herzen zollen,« antwortete der Magister freundlich und zutraulich. »_Zwei_ getröstete Herzen? -- Schon gut!« »Und der Bitte zugleich, diesen Dank aus dem Munde der Getrösteten selbst hören zu wollen.« »Ihr Zögling soll zu mir kommen. Ich will ihn kennen lernen.« »Und Justine, die sich sehnt, Ihnen ein dankbares Wort zu sagen.« »Welche Zumuthung? Will sie sehen, wie mich die Entsagung kleidet?« »Und Justine, die sich vor Ihnen rechtfertigen möchte?« »Falschheit, sich rechtfertigen? Ich mag sie nicht beschämen!« »Und Justine, die Ihnen etwas Wichtiges anzuvertrauen hat, das nur Ihrem theilnehmenden Herzen vertraut werden kann; das auf das Glück Ihres Lebens den größten Einfluß haben wird?« »Magister! Sie schlagen die rechte Saite an. Justine soll einen Mann in mir finden, den Liebeskummer nicht niederbeugt; einen Mann, der das Gute nicht halb thut. Ich bedarf dieser Prüfung, um mich zu einer edeln That würdig zu stärken. Ich folge Ihnen; ich will dem Mädchen ebenfalls eine Nachricht bringen, die wohl manches Herz beruhigen dürfte. Wo, wann harrt meiner das Paar, das ich durch meinen Rücktritt so sehr beglückte?« »Wenn Sie mir folgen wollten?... ich führe Sie.« »Recht; geschwinde mein Freund! Sie noch einmal zu sehen -- sie zu beruhigen, und dann schnell wiederzukehren, um meine Abreise anzuordnen. --« Georg ging mit dem Magister weg, ohne wiederzukehren. Die Stunden gingen vorüber, der Abend war da. Der Gast im Schwan blieb aus. Die Wirthin, die den jungen, stillen Mann wohlwollend in's Auge gefaßt hatte, wurde unruhig. Mit einbrechender Nacht sendete sie in des Senators Haus, um nach dem Amerikaner fragen zu lassen. Er war dort nicht gesehen worden. Der Senator schickte den Kellner mit dem kühlen Bescheide zurück; ging dann auf seine Stube, heimlich seinem Gott zu danken, und den Zettel wieder durchzulesen, den ihm um die zweite Stunde des Nachmittags der Doctor geschickt hatte, mit den lakonischen Worten: »Fassen Sie Muth, Gebeugter! Wir verlassen Sie nicht. So eben ist _er_ fort, um nicht wieder zu kommen. Er wird Sie ewig in Ruhe lassen!« Der Senator küßte, seiner Angst entledigt, den kurzen Brief; trat dann zu seiner Familie und sagte: »Mein armes Bräutchen Justine! Dein Verlobter scheint auf Abwege gekommen zu sein. Wir wollen morgen, am Tage des Herrn sammt und sonders zur Johanniskirche wandeln, um den Segen Gottes anzuflehen, daß er den Handelsfreund wieder gesund zu uns zurückbringe!« »Endlich wieder ein frommer Vorsatz,« erwiderte die Senatorin: »nur Schade, daß der _Bürgermeister_ dich heute zur Gottesfurcht bekehren mußte. Bei alle dem finde ich's ungezogen, daß Herr Birsher heute gänzlich ausbleibt. Wenn nur die leichtfertige Französin, die sich auch seit dem Morgen nicht sehen ließ, den zu täppigen =Sans façon= nicht berückte!« Justine schwieg; aber in ihre Augen traten unwillkürlich Thränen: unwillkürlich seufzte der Mund. »Ja, Vater,« sagte sie, als dieser am Abend freundlicher und ruhiger als seither Abschied von den Seinen nahm: »wir wollen morgen aus dem Grunde des Herzens beten, damit Eintracht und Friede nicht von uns weiche!« Am nächsten Morgen stand Pater Münzner sehr frühe auf, um sich zu dem Gottesdienste vorzubereiten. In dem Garten kam ihm bereits sein Pflegesohn entgegen. Leidenschaftlich faßte ihn dieser bei der Hand, und rief: »Wohl mir, daß ich Sie endlich allein finde, mein Vater! Des Superiors Gegenwart hat meine Zunge gebunden, sonst hätte ich Ihnen gestern schon gestanden, wie sehr ich's bereue, daß ich Sie verkannte! Ja, mein würdiger Pfleger! Sie wollen mein Glück; Sie wollen es, wenn Sie mir es auch verhehlen; meinen ewigen Dank dafür!« »Verstehe ich dich, Unbegreiflicher?« fragte Münzner staunend. »Ihre Güte war mir unbegreiflich,« fuhr James heftig und entzückt fort: »aber die Wege der Vorsehung sind es ja auch, und dennoch gut und dennoch beglückend! Mögen Sie es doch wissen, daß ich Alles erfuhr, aus Birshers edelmüthigem Munde erfuhr!...« »Birsher? um's Himmels willen! was weißt du?« »Daß Sie mit ihm geredet, daß Sie sein Herz gerührt!.... daß Justine -- das herrlichste Glück! daß Justine mir gut ist, daß sie, die so schlau ihre Liebe zu verbergen wußte, mein Bild, -- vielleicht hat ihre liebe Hand es selbst entworfen -- mein Bild auf ihrer Brust trägt, -- daß der gefürchtete Bräutigam zurücktritt!...« »Mensch! du fabelst!« »Läugnen Sie nicht, mein Vater! Ist es denn ein Verbrechen, einen liebenden Jüngling zu beglücken? Ich bin verschwiegen! Ich sehe ein, daß Sie Gründe haben können, vor dem Superior, der mich in's Noviziat schleppen will, Ihr menschenfreundliches Bestreben zu verbergen, daß Sie nur Zeit gewinnen wollen!... Legen Sie jedoch uns gegenüber das Geheimniß ab, und hören Sie meinen Plan. Ich werde nicht Priester! Der Soldatenstand allein kann und wird mich Justinen näher bringen. Ich habe gestern des letzten Schwedenkönigs Leben gelesen -- es hat mich begeistert! Noch bin ich jung; noch wetterleuchtet es am Horizonte Europa's! Ich liebe, ich hoffe! das Glück muß mir zur Seite stehen!« »Jesus Christus!« versetzte der Doctor blaß und betrübt: »Du lässest mich nicht zu Worte kommen, und dennoch muß ich dir mit blutendem Herzen betheuern...« Rasche Schritte von Annähernden unterbrachen ihn. Der Superior mit allen Zeichen des Schreckens -- die Lainez, wie ein Schatten folgend -- eilten herbei. »=Hannibal ante portas!=« rief der Erstere, der einen dicken Brief in der Hand trug: »Hochwürdiger Herr! Jetzt gilt's, zum Streit sich rüsten!« »Wie so? wie das?« fragten der Doctor und James. »Erzählen _Sie_, während ich dies Schreiben durchlaufe;« versetzte der Superior zitternd und bebend. Die Lainez sprach mit erlöschender Stimme: »Wir sind verrathen; Alles kömmt an den Tag. Des Schreiner Ulrichs Frau ist in der Nacht krank geworden; der Mann hat unser Gebetbuch unter ihrem Kissen gefunden. Die Drohungen des Mannes, wie der Schmerz ihres Körpers haben Sie zugleich bedrängt; sie hat gebeichtet, daß sie katholisch geworden, -- daß eine stille Gemeinde bestehe, -- daß in dem Johanniterhofe...« »Gott stehe uns bei!« riefen die Zuhörer. »Vor einer halben Stunde...« fuhr die Lainez erschöpft fort, -- »läßt der Rottmeister, bei dem der Schreiner Alles angezeigt, den Hof umringen, -- das Thor aufsprengen, den Verwalter fest nehmen, Alles durchsuchen. An meiner Thüre vorüber dringen die Schergen in die Kapelle. Unsre heiligen Zierden fallen in ihre Hände. Man bemerkt mich nicht im Tumulte: ich entspringe, um hier das Unglück anzusagen!« Litzach stürzte in den Garten. »O meine Herren! meine heiligen Väter! was wird daraus werden?« rief er: »ich erfahre so eben, von dem Dorfe kommend ... der Verwalter ist verhaftet, läugnet indessen noch fest; hat nichts gestanden; der Johanniterhof wird verschlossen gehalten, damit nichts vor der Zeit verlaute: vor dem Polizei-Aufsichter soll um neun Uhr erst Alles klar werden! Der Sigrist, der entsprang, sagte mirs, es Ihnen mitzutheilen!« »Das Interdikt über die Bübin, die den Herrn verrieth!« zürnte der Superior: »das Etablissement, die Mission ... Alles geht zu Grunde! Schande kommt über uns! Lassen Sie uns Hand an die Rettung legen, Pater Münzner! Wir müssen fort, ehe der Lärm um sich greift.« »Unsere Bücher liegen bei'm Senator;« tröstete der Doctor: »kein Mensch sucht sie dort. Die Translation war zweckmäßig.« »Zweckmäßiger als Ihre Verwaltung, Pater Münzner!« entgegnete der Superior zornig: »solche Leute, wie die Schreinersfrau, an- und aufzunehmen...! plaudernde Gänse...!« »Mein Vorgänger hat schon...« wollte sich Münzner entschuldigen. -- »Schweigen Sie!« befahl der Superior heftig: »Marsch, auf die Beine! ihr Uebrigen! Er, Litzach, tummle sich schnell um einen Wagen um. Vor dem Friederthore will ich einsteigen. Er, James, wird auf der Stelle alle Habseligkeiten des Paters compendiös zusammen packen. =Cito! citissime!=« James eilte hinweg. Litzach rang die Hände; »ich bin der Unglücklichste!« seufzte er: »was wird aus mir, -- was aus meinen Kindern, und was aus meiner kranken Frau werden?« »Was Gott will!« antwortete der Superior hart und rauh: »packe Er sich fort, und besorge Er den Wagen!« -- Litzach gehorchte, fast weinend. -- »Laufe Sie, Lainez!« sagte der Superior dringend zu dieser: »ein Weibsbild mengt sich ohne Gefahr unter Gaffer und Pöbel! Horche, laufe Sie. Wenn etwas Ungerades sich verspüren läßt, ... schnelle Post hieher!« -- Die Lainez eilte weg. »Pater Münzner!« fuhr der Superior fort: »unsers Bleibens ist in diesem Hause nicht. Der Doctor Leupold wird bald aufgesucht werden! Schändlicher Baalstreich! Wir flüchten uns einstweilen in des Senators Haus, wo man uns sicherlich nicht sucht.« »Ich Unglücklicher!« rief Münzner, wie in Verzweiflung; »daß dieses Unglück unter meiner Verwaltung geschehen mußte! Welch ein Empfang wartet meiner in unserm Hause und beim Provinzial!« »Erkennen Sie, ob ich Ihr Freund bin!« erwiderte der Superior, indem er ihm den Brief reichte, den er vorhin gelesen; »ich will Sie der Traufe entziehen, weil Sie mir ein wohlgefälliger Mitbruder gewesen. Der Provinzial trägt mir auf, ein tüchtiges Mitglied nach Assumption im Paraguay zu schicken, um den Handelsangelegenheiten vorzustehen. Ihre Mission allhier ist leider nun erledigt; verbergen Sie Ihre Scham in Amerika, bis der General Sie zur Rechenschaft rufen läßt. Es verfließen indessen Jahre, die Sache schlummert ein, und ein simpler Verweis tritt an die Stelle der harten Pönitenz.« Der Doctor nahm mechanisch die Commission, ohne ein Wort zu erwidern. Der Superior sowohl, als die Hauswirthin, die ängstlich herbeikam, drangen in ihn, sich in Sicherheit zu setzen. Kaum, daß ihm die Zeit verblieb, seinen James zu umarmen. »Ich gehe nach Paraguay!« sagte er weinend zu ihm; »das Schicksal macht hier ein schnelles Ende mit uns. Wir sehen uns vielleicht nie wieder. Folge darum dem ehrwürdigen Pater Superior, der dein Glück will! Vergiß, armer Getäuschter, und zürne mir nicht!« -- Der Jüngling war von dem Augenblicke zu sehr erschüttert, um auf die Rede seines Pflegevaters merken zu können. Der Superior riß den Doctor unwillig mit sich fort, und ermahnte den jungen Engländer im Novizenmeisterton, seine Packarbeit zu fördern, die Effekten vor das Friederthor zu schaffen, und bei dem Wagen seiner zu warten, um mit ihm sich zu entfernen. Hierauf schlugen die geistlichen Herren, die Hüte tief in die Stirne gedrückt und herabgekrempt, den Weg nach Müssingers Wohnung ein. Ein heftig niederstürzender Regen begünstigte ihre schnelle Wanderung. Die Kirchenglocken riefen von allen Seiten die Gläubigen zum Gottesdienste, und leerten die Straßen. Ohne Aufenthalt waren die Väter an des Senators Thüre gekommen. Sie war verschlossen. »Der Senator ist in der Kirche!« sagte der Superior, sich besinnend. »Wir erlaubten ihm ja gestern, als wir die Register brachten, das Possenspiel mitzumachen, um seinen Leumund wieder zu heben.« »Ich habe glücklicher Weise den Schlüssel zu der Hinterthüre in der Tasche,« versetzte der Doctor; »er gab mir ihn, um unbemerkt zu kommen, wann ich wollte; es ist sonderbar, daß es heute zum ersten und letzten Male sein muß.« Sie traten in das Gäßchen; der Schlüssel paßte, und die Herren stellten sich unter das Gewölbe des Hauses, um zu berathschlagen, ob der Senator zu erwarten, oder vielmehr rathsam sei, daß der Superior oder der Doctor zuerst sich auf die Flucht mache. -- Während dieses in seinem Hause vorging, saß der Senator, noch von Allem ununterrichtet, mit den Seinigen im Betstübchen der Johanniskirche. Das Gebäude war gedrängt voll. Das schlechte Wetter hatte es ungewöhnlich angefüllt. Die Orgel schmetterte die Melodie des Liedes, und nachdem einige Verse desselben verklungen, betrat Pastor Lammer die Kanzel. Sein Gesicht war feurig, seine Augen sprühten und rollten in der Runde umher. Auf dem Oratorium des Senators haftete ein drohender staunender Blick, dem alle Augen der Anwesenden folgten. Heftig zerrte des Predigers Hand an der faltenreichen Krause; er hustete; er öffnete den Mund, ... da fiel ein Donnerschlag ein, dessen Vorgänger unter dem geräuschvollen Orgelspiel nicht gehört worden waren, und ein Blitz leuchtete durch die grauen Fensterscheiben, die der Stromregen peitschte. Lammer sah, während ein Laut des Schreckens durch die Kirche ging, furchtlos nach der Seite, wo der Blitz erschienen, ... seine Mienen nahmen eine gewisse Begeisterung an, -- verächtlich schob er das Concept seiner Predigt, das vor ihm auf dem Kanzelrande lag, hinunter, und begann plötzlich aus dem Stegreife mit aller Kraft seiner Stimme: »Du donnerst, Herr der Welten? Du starker zorniger Gott? ja, Barmherziger, entziehe mich heute der schweren Pflicht, deine Gebote zu erklären! Nimm selbst das Wort, damit gerade am heutigen verhängnißvollen Tage die Sünder zittern und ächzen, wenn du in deinem Zorne sagst: »Ich bin der alleinige starke Gott, und du sollst keine Götter haben neben mir!« Laß deine Gewitter rollen und den grauen Schleier vom Himmel nieder fallen, damit die Natur in Sack und Asche traure; schreibe einen außerordentlichen Bußtag aus für außerordentliche Sünden! denn sie haben dein erstes Gebot mit Füßen getreten! denn sie haben andere Götzen neben dir! denn sie haben dich geschändet, als wärst du nicht der starke eifrige Gott, sondern das elende Heidenbild Dagon, ein zerbrechliches Stück Koth! aber sie täuschen sich, denn _sie_ knieen vor den faulen Götzen! sie betrügen sich, denn _sie_ haben keine Bundeslade, vor welcher du den Staub küssen müßtest! sie haben sich belogen, denn ihnen ist die Hölle worden; meine Brüder! vernehmt, daß das Weib aus Babylon auferstanden war, daß es sich gelagert hatte an den Thoren dieser Stadt, und daß es gesprochen: kommt her, die ihr mich heimlich lieben wollt, und sündigt mit mir! -- O der Schande! o des Gräuels! o der verfluchten Ueppigkeit! sie sind nicht vorübergegangen an dem frechen Weibe! sie haben ihr Ohr nicht vor der Schlange verstopft! sie haben mit ihr gebuhlt! ja, meine Freunde! ja, meine Brüder! das römische Pabstthum hat eine Winkelstube in unserer Stadt errichtet; es hat vielen Eurer Mitbürger das ewige Seelenheil gegen falschen Tand abgetauscht. Doch nicht alle Sündige waren verstockt; ihrer waren etliche, die Reue fühlten. Sie haben bekannt. Die Kapelle ist entdeckt, die Hülle ist von der abscheulichen Verschwörung der Finsterniß gefallen! sie sind entlarvt, und harren angstvoll der verwirkten Strafe!« Eine Bewegung der Unruhe, des Abscheus, der Bestürzung, durchlief die Versammlung, und jedes Ohr horchte neugierig auf die Fortsetzung der Predigt. Der Senator konnte sich kaum vor Schrecken an der Brüstung des Betstübchens erhalten; die Senatorin starrte dumm und nicht begreifend auf den Prediger; Justine, ahnungsvoll und beklommen, behielt den Vater ängstlich im Auge. -- Der Prediger fuhr mit erhöhtem Kraftaufwande fort: »O, wie zittern jetzo die Herzen der Sündigen! wie werden sie wünschen, gar nicht geboren zu sein! und dennoch selig noch diejenigen, die Schaam und Reue empfinden! seliger noch diejenigen, die ihre schweren Verbrechen durch ein aufrichtiges Geständniß versöhnten! aber dreimal verworfen diejenigen, so in ihrem Irrthume, in dem Laster beharren! dreimal verworfen die gottlosen Priester aus Babel, die das Volk des Herrn verführt haben, und Unkraut gestreut unter den Waizen! -- Wie soll ich euch aber nennen, Gottesläugner! was soll ich euch prophezeihen, ihr Verstockte! die mit der Abtrünnigkeit noch Heuchelei verbinden? die mit glatter Stirne den Tempel des wahren Christenthums besuchen, und das falsche im Busen tragen? besser wäre es, ihr bliebet aus dem Hause Gottes, das ihr durch eure betrügerische Gegenwart verunreinigt! -- wie soll ich aber denjenigen nennen, der -- selbst ein Richter im Volke.... der -- selbst ein Erhalter der Gesetze -- das Volk verräth, indem er dessen Verführung begünstigt?... das Gesetz schändet, indem er thut, was es in seiner Weisheit verbietet...? den ehrwürdigen Senat, dem er angehört, brandmarkt durch seine entsetzlichen Frevel? ihn, der schamlos genug ist, sich allen Augen im Tempel des wahren Gottes Preis zu geben, sich heuchlerisch darinnen zu brüsten, nachdem er, geschweige anderer Unthaten, die erst an's Licht kommen werden und müssen, in dem teuflischen verbotenen Lotto sein Hab und Gut gewagt, und satanisches Handgeld damit gewonnen?... nachdem er ... ich spreche es mit Schaudern aus, meine Brüder, -- nachdem er katholisch geworden?« Der von dem Feuer der tadelnswerthesten Heftigkeit ergriffene Geistliche deutete mit Blick und Finger auf den Senator unverholen hin, der, von Beschämung und Wuth gepeinigt, in den Schatten seiner Betloge zurücksank, nach welcher murmelnd und blasphemirend die Menge gaffte, auf die der wüthende Prediger noch einen Hagel von Verwünschungen niederrauschen ließ. Der Auftritt sollte noch gräulicher werden. Der Senator, an seinem Stuhle nierdergleitend, hatte unbewußt den Arm seiner Frau ergriffen. Diese, die endlich mit abergläubischem Entsetzen begriff, wo hinaus der Prediger wollte, fühlte kaum die Hand ihres Mannes, als sie dieselbe lautschreiend zurückstieß, aufsprang, mit dem Gesangbuche nach dem Ohnmächtigen warf und kreischte: »Weg von mir, elendiger Mann! das fehlte noch, katholisch zu werden! Gott erbarme sich unser! Ich bleibe keinen Augenblick mehr an deiner Seite!« -- Vergebens warf sich Justine ihr bittend in den Weg. Schluchzend, wüthend, wie eine dem Teufel Entlaufende, drängte die Senatorin ihre Tochter von der Thüre. »Weg, Satanskind!« rief sie aus vollem Halse: »helft mir, ihr guten Christen! Ich gehe nicht mit einem Schritte mehr in das Haus der Abtrünnigen!« Auf der Treppe von einem Schwarme von Betschwestern umringt, die fragten und schimpften, und bedauerten, ging das Kreischen des unvernünftigen Weibes in ein widerliches Heulen über, das der Menge Gemurre und des Predigers Stentorstimme gewältigte. »Ich unglückliches Weib!« schluchzte sie: »wer führt mich zu meinen Verwandten, damit ich sicher sei vor dem Teufel, an den man mich verheirathet hat? Ich habe zu Allem geschwiegen, aber nun kann ich's nicht mehr. Der elende hat im Lotto gespielt, hat den Holländer umgebracht, und nun erst ... katholisch zu werden...! ich armseliges Geschöpf!« Endlich wurde sie fortgebracht, und mit ihr ging die Steuercommissärin und viele Freundinnen. »Da haben wir's ja!« sagte die Erste triumphirend. »Da hören Sie's selbst, meine Lieben! den Holländer umgebracht, ... wahrscheinlich nicht minder dessen Sohn, der seit gestern verschwunden ist...! Lotterie gespielt ... katholisch geworden! und mit alle dem that der schlechte Mann als wie ein Tugendspiegel! Aber mein Mann soll auf der Stelle zum Bürgermeister, und dann wollen wir sehen, ob noch Recht im Lande ist!« Während dessen schritt, von einem angsterregenden Menschengedränge umgeben, von Justine unterstützt, der todtenähnliche Müssinger durch die Kirche und über die Gassen. Es regnete entsetzlich. »Warum gehst du nicht zu der Mutter?« fragte er die Tochter leise und ohne die Augen zu ihr aufzuheben. »Ich bleibe bei Ihnen,« erwiderte sie sanft: »ich kenne die Mutter nicht mehr. Ich habe im Stillen geahnt, was Ihre Vernichtung mir bestätigt! Ach, ich habe nicht falsch gesehen,.. der Doctor!.. Aber ich liebe Sie jetzt _mehr_, um Ihres Unglücks willen, und begehre nicht, von Ihnen mich zu trennen.« -- »O mein armes, einziges, liebes Kind!« sprach der Senator unter Wehmuthswellen, und schauderte sichtbar zusammen, weil eine Menge Volks vor seinem Hause sichtbar wurde, und die Hellebarden und rothen Röcke der Rathshatschiere von der Thüre daher blinkten. -- »Ich werde in Arrest gebracht!« seufzte der Beängstigte. Justine erschrack; ihre Thränen fielen auf seine Hand. Der Senator erhielt im Gedränge einen Stoß auf die Brust; er sah zur Seite und erblickte sein schweres Portefeuille, das ihm eine hülfreiche Hand in den Busen schob. »Einen Gruß von den Herren!« sagte der blasse Litzach zu ihm, der sich wieder niederduckte: »Sie sollen das bewahren und fliehen. Die Bücher sind verbrannt und zerrissen. Ernst hat Sie verrathen, fliehen Sie nach Amsterdam, der Doctor erwartet Sie.« Die Worte waren wie im Fluge gesprochen worden, und der dem Senator unbekannte Bote verschwand. Der Senator verbarg mechanisch das Taschenbuch, das seine Wechsel und Obligationen enthielt, ohne darüber nachzudenken, wie es wohl aus dem verschlossenen Hause in die Hände jenes Menschen gekommen. Zwei Senatoren, Commissarien des Bürgermeisteramts, die in ihren schwarzen Kleidern und weißen Perücken ungeduldig im Regen warteten, riefen dem verdächtigen Collegen zu, die Thüre schnell aufzumachen. Müssinger gehorchte; Commissarien, Hatschiere, Volk drangen in das Haus. Justine wurde von des Vaters Arm gerissen, und flüchtete in das obere Stockwerk, dessen Treppe von den Hatschieren besetzt wurde. »Ihre Papiere!« hieß es unterdessen zu dem Senator. -- Er bückte sich, die Thüre seines Cabinets zu öffnen. Sie war schon offen. Man trat ein. Der Pult war gewaltsam geöffnet ... von den Büchern der Jesuiten, die darinnen verwahrt gewesen, sah der Senator, selber staunend, keine Spur. Unglücklicherweise jedoch fand ein Spürhund in einem Winkel die Legenden der Heiligen Ignaz und Xaver. Als ein Beweis des Gesuchten wurde das Buch mit Jubel empfangen. »Unwürdiger Mann!« sagte ein Senator zu dem verstummenden Müssinger; »die Schlüssel zu der Kasse, damit sie für's Erste in Beschlag genommen werde!« »Oeffnen Sie die geheimsten Fächer des Bureau's!« sagte der Zweite; »man hat Sie mit Seelenverkäufern umgehen gesehen; nach der Aussage Ihrer eigenen Comptoirbedienten Nothhaft und Berndt. Wo ist die Correspondenz über diesen schändlichen Trafik?« -- Müssinger läugnete und verwies auf seine Handelsscripturen. »Wer seinen Gott verläugnen kann, lügt auch vor Menschen!« sagte Einer der Commissarien: »wie kömmt es aber, daß Ihr Pult bereits geöffnet, gewaltsam geöffnet ist?« -- Müssinger bezeigte seine Unwissenheit. Indessen kamen zwei Personen herbei, die viel Verwirrung in den Auftritt brachten. Der Erste, ein Schwager der Senatorin, zu dem die bösartige Frau sich geflüchtet und welcher erschien, um deren Eingebrachtes zu reklamieren; der Zweite, der Comptoirdiener Berndt, den Neugierde und Schrecken zu kommen vermocht hatten. Der Schwager der Senatorin mischte sich mit vielem Lärm und aufgeblasenem Benehmen in die Geschäfte der Commissarien, und diese hielten es für gut, den Diener Berndt verhaften zu lassen, weil gegen ihn der Verdacht obwalte, auf vorläufigen Befehl seines Principals aus der Kirche entwichen zu sein, und das Pult gesprengt zu haben, um die schwersten Indicien, sowohl des Katholicismus, als des Lottospiels, als der Seelenverkäuferei, aus dem Wege zu räumen. Während nun der unschuldige Comptorist deprecirte, und die Hatschiere Gewalt brauchen mußten, den jungen Mann, der seiner philadelphischen Sanftmuth gänzlich vergaß, festzuhalten, -- während der Senatorin Verwandter seinerseits schrie und die Commissarien übertäubte, die Zuschauer sich um diese Scene drängten, stießen, und kleine Debatten unter sich selbst hielten, erwischte Jemand den Senator Müssinger beim Kleide, und zog ihn mit kecker Faust in das Gedränge, durch das Gedränge, und Niemand bemerkte es im Tumult. James war der Kühne. »Kommen Sie!« flüsterte er dem Staunenden dringend zu, riß ihn durch den Ausgang, unfern von der bewachten Treppe vorbei in den Hof, nach der Hinterthüre, klinkte sie auf, und nun stracks mit dem Geretteten fort durch das öde Gäßchen. »Wohin, wohin, mein Freund?« fragte Müssinger athemlos. »Still! kein Wort!« versetzte der Jüngling, und lief, so schnell der Senator selbst konnte, nach einer Querstraße, wo er in ein Haus schlüpfte, das ein Werbschild über der Thüre trug. Er hieß den Begleiter folgen, und trat mit ihm rasch in die niedrige Stube, wo einige Reiter, in bunten Uniformen, saßen und tranken. »Kameraden!« rief James, als wie begeistert: »Ihr seid Katholiken! Es gilt hier, einen Katholischen zu retten! Einen Helm, einen Reitermantel, ein Pferd für den Verfolgten! Zwei von Euch zur Bedeckung, die ihn geleitet, bis zum Weichbilde geleitet, und nehmt dafür mich hin, mit Leib und Seele! Ich begehre kein Handgeld als den Liebesdienst!« »Was thut Ihr, mein Freund?« fragte Müssinger verweisend, sank aber erschöpft auf eine Bank. Ein Reiter bot ihm Wein. Die Andern überlegten; endlich, einig geworden, daß ein hübscher Bursche hier zu werben stehe, und wohlfeil, so wie nie, sagte der Wachtmeister: »Meinetwegen, Monsieur. Geb Er mir die Hand, und trink' Er aufs Wohlsein unsers Herrn!« -- James stieß eiligst an. -- »Pressirt's mit dem armen Mann?« fragte der Unteroffizier weiter. James bestätigte es dringend, erzählte, er habe gehört, man wolle die Thore schließen, um sich der heimlichen Gemeinde desto gewisser zu versichern. Der Unteroffizier lachte der ungeschickten Maßregel. »Unsrer Uniform stehen, so Gott will, alle Thore offen!« sagte er, trotzig den Bart streichend: »schafft nur für den Herrn Stiefel, Mantel und Helm herbei, ihr Bursche. Mit ihm auf's Pferd dann, in Gottes Namen! scharfen Trab! ich bleibe indessen bei dem jungen Rekruten da!« Während Einer ging, die Monturstücke herbeizuschaffen, und der Andere, die Gäule aufzuzäumen, umarmte Müssinger kraftlos schwankend den Jüngling. »Nehmt die Hälfte meines Geldes!« sagte er, die Brieftasche hinreichend. James stieß sie mit glänzendem Auge von sich. »Ich will schon meinen Lohn fordern, wann es Zeit sein wird!« antwortete er, half dann dem willenlosen Senator seine Verwandlung vollenden, drückte ihm an Statt der Perücke den Helm auf den Kopf, und empfahl ihm, das bartlose Kinn tief in den Radmantel zu stecken. Indem er ihn unterstützte, um ihn zum Pferd zu geleiten, rief Müssinger, wie aus einem Traume auffahrend: »Justine! Meine Tochter! Sie bleibt zurück; und hat doch geschworen, sich nie von mir zu trennen! Edelmüthiger Mensch! wollt Ihr die Krone auf Eure That setzen, und die Angst meiner Tochter endigen? Mein Buchhalter soll sich ihrer annehmen,..... er soll sie mir nachführen..... nach Amsterdam, zu van den Höcken, wo ich ihrer sehnsuchtsvoll warte!« »Es soll geschehen, Ew. Edeln,« versicherte James: »ich werde sie aufsuchen; -- will's Gott! auch sie retten, Ihnen nachsenden. Gott geleite Sie....« »Armer Mensch!« klagte Müssinger: »wie lasse ich dich zurück? Du hast deine Freiheit, dein Leben um meinetwillen verkauft. Schreibe, melde mir, ob Geld dich wieder befreien kann, und ich....« »Possen!« rief der Wachtmeister ärgerlich dazwischen: »war er ein Paar Wochen zu Pferde, so begehrt er's nicht mehr anders. Aber zu Pferde, Herr, zu Pferde, müssen auch Sie, damit meine Bursche um Mittag zurück sein können. Der Trompeter bläst. Steigen Sie auf, und machen Sie meinem Gaul keine Schande. Er geht auf's Wort.« Indessen hatte James dem Senator zugeflüstert: »Ich brauche kein Geld, lieber Herr, und indem Sie mir das trauliche »Du« gaben, haben Sie die Hälfte Ihrer Schuld abgetragen. Leben Sie wohl! Gott mit Ihnen!« Der Senator wurde auf's Pferd gehoben, und trabte majestätisch zwischen den Reitern durch Stadt und Thor, welches die Stadtsoldaten gefällig und gehorsam vor dem gefürchteten Feldzeichen aufrissen. Justine wußte von all' diesen Begebenheiten nicht das Geringste. Einer schüchternen Unentschlossenheit hingegeben, hatte sie in ihrem Zimmer sich verborgen, um sich zu fassen. Der scandalöse Auftritt in der Kirche, die Verhaftung ihres Vaters, die Ungewißheit ihrer zukünftigen Lage, bestürmten zugleich ihre Sinne, daß sie auf einen Augenblick die Selbstständigkeit ihres Charakters vergaß. Die Stimme ihres Vetters, der endlich sich vernehmen ließ, -- der die Treppen heranstieg, um die Effekten seiner Schwägerin in Beschlag zu nehmen, der von Verschließung aller Gemächer redete, der rauh und ungeschliffen sich bei allen Domestiken nach seiner Verwandten Justine erkundigte, um sie in sein Haus, zu ihrer Mutter zu führen, -- diese Stimme raffte Justinens Muth zusammen. Dem eigenwilligen Mädchen erschien plötzlich nichts auf Erden schrecklicher, als unter die Vormundschaft dieses Menschen treten zu sollen, den es längst gehaßt hatte; unter die Leitung einer Mutter, die es von ganzem Herzen mißachten mußte. Justine zauderte nun nicht mehr; sie hoffte nicht ferner auf eine Eingebung von Oben: ihr Entschluß war plötzlich gefaßt. Ihr Vater im Kerker? Welcher andere Ort wäre wohl ihre Stelle gewesen? Ihr Vater verbannt? Welche Pflicht erschien ihr theurer, als die, den Urheber ihrer Tage zu begleiten? Sie ließ, in ihre Stube eingeriegelt, den im Hause herumstöbernden Schwager ihrer Mutter seinem überlästigen Geschäfte obliegen. Sie packte während dessen ihr erspartes Geld, ihre Kleinodien zusammen; sie erwartete mit Herzklopfen den Augenblick, in welchem die Wege zur Flucht rein sein würden; er kam. Sie entschlüpfte; sie eilte die Treppe hinunter. Nirgends mehr eine Wache; das Comptoir verschlossen, und den Vater auf dem Bürgergewahrsam aufzusuchen ihre Aufgabe. Das Gewitter des Morgens sendete noch immer fürchterliche Regengüsse, Ihrer nicht achtend, trat Justine aus dem Hause. Eine Frau stürzt ihr entgegen; die Lainez. »Wohl mir, daß ich Sie finde!« sagt diese athemlos: »Sie glauben mich im Unrecht. Aber Sie sollen sich vom Gegentheil überführen. Ich habe den Moment erspäht, Sie zu retten. Kommen Sie mit mir, wenn Sie nicht nach Ihrer Mutter verlangen!« »Ich verlange auch nicht nach Ihnen!« antwortet Justine, und will sich von der Französin losmachen: »lassen Sie mich! mein Vater ist im Gefängniß! ich will -- ich muß zu ihm!« »Zu ihm? Sie wissen aber nicht?...« »Was, Madame?« »Ihr Vater ist entwischt; Niemand weiß, wohin!« »Entflohen? Gott sei gelobt! Adieu, Madame, ich folge ihm!« »Wie? ohne Spur? ohne Nachricht?« »Der Herr wird mich erhören. Meine Angst wird ihn finden! Lassen Sie mich!« »Sie machen sich unglücklich! Der Senator hat ohne Zweifel die Stadt verlassen!« »Gleichviel! Ich suche ihn auch nicht in dieser Stadt!« »Sie sind aber hier eingesperrt. Alle Thore sind geschlossen; Niemand wird ohne die strengste Untersuchung hinaus gelassen. Man kennt Sie! man wacht sorgfältig über die Angehörigen des Senators. Man wird Sie zu Ihrer Mutter bringen!« Diese Nachricht lähmte Justinens Kräfte. Mit einem tiefen »Ach!« griff die Wankende nach der Hand der Französin, die mit ihr indessen an die Ecke der Straße gekommen war, und dringend weiter redete: »Aufschub ist's, den Sie gewinnen müssen! Lassen Sie die ersten Tage der Unruhe vorübergehen! Sie werden ohne Zweifel Nachricht von dem Vater erhalten! Rauben Sie sich jedoch nicht die nöthige Freiheit, ihm alsdann folgen zu können. Vertrauen Sie sich mir. Auch ich bin verfolgt, fürchte ich; auch _mich_ verdächtigt mein Aufenthalt im Johanniterhofe, obgleich meine Seele rein an jenen Umtrieben ist, rein wie ein Sonnenstrahl. Ich weiß einen Ort, der uns Beide verbirgt, der uns für's Erste den nöthigen Schutz verleiht. Folgen Sie mir. Sie werden daselbst sichrer sein, als unter den Augen Ihrer Mutter, die vielleicht Schuld an dem ganzen Unheile trägt, das Ihren Vater betroffen hat.« »Lieber in den Tod als zu dem despotischen Onkel, -- als zu der Mutter, deren Vorwürfe mich umbringen würden!« rief Justine; »ich will noch einmal an Ihre Aufrichtigkeit glauben. Bringen Sie mich von hier!« »So eilen Sie!« ermahnte die Lainez, und führte Justine schnell mit sich von dannen; weit vom Vaterhause, auf dem Paulsplatz, wo sie sehr durchnäßt ankamen, allein doch unbeachtet. Rasch schritten die Frauen auf die Kirche los; heftig zog die Lainez die Glocke an dem Pförtchen des Thurms. Die wenigen Minuten, deren der Thürmer bedurfte, um herabzukommen und aufzuthun, wurden den Harrenden zu Ewigkeiten. Endlich ... Schlüsselklang ... das Pförtchen geht auf. Pahlens empfängt verwundert, freudig erschreckt, die Einstürmenden. »Gott grüße Sie, Herr Pahlens!« ruft die Lainez in Eile; »oben ein Näheres!« und mit flüchtigem Fuße eilen die Frauen über die hölzernen Stiegen; an Glocken und Uhr vorüber, über die finstern Wendeltreppen, durch die finstern Gangschluchten, und an den hohen Luken vorbei, die eine schwindelerregende Gruft vor dem Aufsteigenden eröffnen; und nimmer ruhen und nimmer rasten sie, bis der letzte Treppenabsatz erklimmt, und die Plate-Forme des Thurms erreicht ist, wo der heftig ziehende Luftstrom sie zwingt, in des Thürmers Stübchen einzutreten, Platz zu nehmen, Odem zu schöpfen, und endlich dem nachgefolgten Pahlens die Absicht ihres Kommens zu erklären. Die Französin faßt sich hierin, so wie in Allem kurz. »Sie wissen, Monsieur, was in der Stadt vorging,« sagt sie mit vertraulichem Tone zu dem Thürmer; »wir sind ebenfalls das Opfer jener traurigen Ereignisse. Wir fordern von Ihnen Schutz und sichern Aufenthalt für wenige Tage, und erwarten von Ihrer Galanterie die Erfüllung unsers Begehrens!« Ein Strahl von Freude und Behagen fuhr über Pahlens Gesicht; vergnügt rieb er sich die Hände, und versetzte: »Sie kommen zur besten Stunde, meine Damen. Mein Gehülfe wurde gestern in das Landkrankenhaus gebracht, und ich bin allein. Mehrere Tage hindurch kann ich mich wohl allein behelfen, und der Magistrat wird mir die Schonung seiner Kassa danken. Ueber diesem Zimmer, in der Kuppel des Thurms, befindet sich das schönste Belvedere; ein Plätzchen, wie geeignet, die Göttin Venus mit ihren Grazien und Amoretten zu beherbergen. Sie werden daselbst wohnen, ungestört sein, und nur die Vorsicht beobachten müssen, sich nicht sehen zu lassen, wenn sich Neugierige oder Leute, die hier oben Geschäfte haben, auf dem Thurme einfinden.« Justine, von dem albern galanten Wesen des Thürmers unangenehm berührt, drang darauf, das gerühmte Kuppel-Zimmer auf der Stelle zu beziehen. Ihrem Wunsche wurde also willfahrt, das Frauenpaar in sein Asyl eingeführt, das in der That eine gewisse Eleganz darbot, und eine vielversprechende Fernsicht; heute freilich von Regenschleiern verhüllt. Pahlens, nachdem er sich in seinen besten Putz geworfen, trug seinen Schutzbefohlenen Alles auf, was die beschränkte Speisekammer des Junggesellen vermochte, und lud seine Gäste ein, seine Gaben nicht zu verschmähen. Die Lainez ließ sich nicht nöthigen. Justine versagte, setzte sich an's Fenster, sah hinaus in die grauen Wolkenmassen, und weinte und seufzte, und machte Pläne. Pahlens, nachdem er vergeblich versucht, der Jungfer, die sein Herz erobert, ein Wörtchen abzugewinnen, ging verdrüßlich davon, die Stunde zu schlagen; ließ die Frauen allein. »Wohin sind wir gerathen?« fragte Justine heftig: »wie sind Sie _hier_ bekannt geworden, Madame? Von der Discretion eines geckenhaften Menschen abzuhängen, der mich durch seine Zudringlichkeiten ärgern könnte, machte ihn nicht seine Albernheit lächerlich! Warum habe ich mich von Ihnen beschwatzen lassen?« »Wissen Sie einen Ort, an dem man uns weniger vermuthet? an dem wir unbemerkter sind?« fragte die Lainez einsilbig dagegen, und setzte bei: »ich kenne den Herrn dieses lustigen Hauses zwar nur oberflächlich, aber getraue mir, für die redliche Reinheit seiner Gesinnung zu bürgen. Fürchten Sie keine Beleidigung Ihrer Würde, keine Verletzung des Anstands. Was Sie auch von mir halten mögen ... ich bin eine Freundin und Bewahrerin strenger Sitte, und Niemand wird mehr als ich von einer Unbescheidenheit verletzt. Schlafen Sie deshalb ruhig. Morgen leuchtet uns vielleicht ein günstigerer Himmel. Vielleicht sind wir so glücklich, etwas Näheres von Ihrem Vater zu erfahren, und Ihr Zweck ist dann erreicht.« Dieser Zuversicht sich überlassend, fügte sich Justine in die seltsame ungewohnte Lage. Der Abend kam, und verging bei einsamer Kerze, und bei'm Lautenspiel des Thürmers, der sich's nicht nehmen ließ, die Frauenzimmer zu unterhalten, bis die Zehner-Glocke geläutet werden mußte. Pahlens Fürsorge hatte den Damen auf den Ruhebettchen des Belvedere ein erträgliches Lager bereitet. Er wünschte ihnen gute Nacht, und empfahl ihnen das Licht zu löschen, damit der Wächter, der nach zehn Uhr auf dem Thurme einzutreffen habe, nicht Unrath merke. Justine verriegelte die Thüre. Die Lainez löschte die Kerze. Die beiden schönen Flüchtlinge versuchten, ohne ein Wort ferner zu wechseln, zu entschlummern. Justinens Augen floh jedoch der Schlaf; ihrer Begleiterin ging's nicht besser, denn Justine, ganz stille ruhend, hörte plötzlich, wie sich die Lainez leise aufrichtete, und in französischer Sprache, -- in der Meinung, ihre Gefährtin schlafe, -- zu beten anfing. Das Gebet war an die Himmelskönigin, an die heilige Jungfrau gerichtet, und die Flehende forderte die göttliche Mutter auf, durch ihre Gnade den traurigen Zustand zu endigen, in dem sich gegenwärtig die Bittende befinde; ihr es möglich zu machen, den lauernden Feinden zu entgehen, und unter den Schutz der Gläubigen zurückzukehren. Sie fügte hinzu, die Jungfrau möchte diese Gnade auch auf ihre Gefährtin ausdehnen, die um ihrer Eigenschaften willen, zu dem besten Glücke würdig und berufen sei. Sie möchte ein Wunder ihrer Huld thun, um das Seelenheil der Protestantin zu retten, sie auf die Bahn, die ihr Vater betreten, zu führen, ihr alle Sünden zu erlassen, sie frei und glücklich zu machen! Wenn die göttliche Fürsprecherin alles dieses Verlangte thue, so verspreche ihr die Beterin eine neuntägige Bußübung, ein vierzehntägiges Fasten und eine Votivtafel dem wunderthätigen Bilde zu Montserrat. Hierauf begab sich die Lainez wieder zur Ruhe, und entschlief bald in vollkommener Friedseligkeit. Justine, welche aufmerksam gelauscht hatte, machte ihre besondern Betrachtungen. In dem Grade, als ihr Mißtrauen gegen die Französin zunehmen mußte, in der sie nun eine eifrige Katholikin, und -- wie sie im Verlauf des letzten Tages geahnt hatte -- ein Werkzeug ihrer beabsichtigten Bekehrung empfand, nahm auf der andern Seite wieder ihr Vertrauen zu der Person zu. Die Lainez hatte ja in ihrem Gebet die Protestantin mehr noch den himmlischen Mächten empfohlen, als sich selbst; sie hatte für Justinens Erleuchtung und Rettung gebetet, sie hatte dafür ein Gelübde geleistet! Justine dankte ihr im innersten Herzen für die Beweise einer liebevollen Theilnahme, und vergab ihr allen Unglimpf. Justine beneidete sogar die Französin um ihr Vertrauen, um ihr gläubiges Gebet, das den ruhigen Schlaf auf die Augen der Beterin goß, erzeugt von der Zuversicht, daß das Gebet erhört, das Gelübde vergolten werden müsse. Justinens Auge blieb wach und munter ihr Ohr. Sie sah die Streiflichter der Wächterlaterne, die um das Thurmzimmergebäude die Runde machte; sie hörte Pahlens und des ablösenden Wächters Stimme, das heisere Gebelle des Wachthundes, die von Stunde zu Stunde gegebenen Posaunenstöße in die weithallende Luft, das erschütternde Ausheben der großen Uhr, die Donnerschläge der allzunahen Stundenglocken. Unwillkürlich dachte sie an die Mährchen ihrer Amme, an das Traumgesicht, das Georg Birsher erzählt hatte. Sie blickte sorglich nach der Gegend der Thüre, ob nicht etwa des alten Amerikaners wahrhaftiger Geist hereinschreiten werde. Aber quälender wurde ihre Angst, marternder ihre Schlaflosigkeit erinnerte sie sich der verflossenen Tage, des Glücksruins ihres Vaters, seiner Verblendung, seiner Flucht, des Verschwindens ihres Verlobten. Eine traurige Zukunft rollte sich vor ihrer Einbildungskraft auf, und sie hätte sich aus den Fenstern des Thurms in das Wolkenmeer geworfen, wenn es möglich gewesen wäre, auf demselben überzuschiffen nach der Weltgegend, in welcher sich ihr Vater befand. Dem Andenken des, gewiß auf immer von ihr getrennten Verlobten weihte ihr Herz nur eine vorübergehende Klage: des Vaters Bild erfüllte es ganz. Seine Führerin, seine Begleiterin in dem Labyrinthe seines Unglücks zu werden, schien ihr Beruf zu sein, und sie sehnte den Tag herbei, der ihr vielleicht Kunde zu geben bestimmt war. Der Tag kam herauf, herrlich und prächtig, wie sein Vorgänger häßlich und stürmisch gewesen war. Justine badete ihre glühende Wange in dem kühl strömenden Glanzmeere, das um des Thurmes Spitzen lag. Die Nebel des Himmels hatten sich zerstreut, waren am Horizonte niedergesunken. Durch die durchbrochenen gothischen Geländer der Plate-Forme schimmerte das tiefe Blau des Himmels, und über dem frei ragenden Gipfel strahlte ein feines durchsichtiges Dach von Azur. Schaaren von munterem Gefieder strichen neckend oder majestätisch vorüber. Der Storch klapperte fröhlich in seinem Neste; mit ihm um die Wette gurrten die Ringeltauben des Thürmers. Eine köstliche Aussicht hatte sich durch die Nacht zum Licht emporgearbeitet. Die weite Fläche um die Stadt, nur in der weitesten Ferne von Gebirgsumrissen begränzt, prangte in der vielfarbigen Fülle des nahenden Herbstes. Städtchen mit glänzenden Thurmknöpfen, Kirchdörfer mit luftigen Ziegeldächern, zwischendurch belebte Landstraßen, oder weite Baumgelände, oder grüne Fluren, oder silberne Ströme, oder abgelesene Felder und frisch umgewühlte Aecker, über deren Furchen wunderliche Herbstseidenfäden ihren weichen, eisgleichen Spiegel gezogen hatten -- entzückten das Auge. Die ansehnliche Stadt, von grünen Bastionen, alterthümlichen Warten und dem Strome umzogen, bildete gleichsam den Korb, aus welchem man in's Weite sah. Justine hatte diesen Anblick noch nie gehabt. Sie hatte noch nie hernieder gesehen in die dunkeln Straßen, auf die volkreichen Märkte, auf die Giebel der Häuser, auf die niederer liegenden Kirchen. Sie suchte, sie fand ihr Vaterhaus, die Wiege ihrer Freuden; sie suchte und fand den altergrauen Johanniterhof, die Wiege ihres Leidens und des Unglücks ihres Vaters; sie suchte nicht das Gasthaus, das ihren Bräutigam beherbergt hatte, damit ihr Schmerz nicht erwache; sie suchte aber die Straßen, die von den Thoren in alle Weltgegenden ausgingen; sie versuchte zu errathen, welche ihr Vater wohl eingeschlagen haben mochte, oder ob er vielleicht noch in der dumpfigen Häusermasse athme, deren Bewohner sich gegen ihn und seine Schwachheit verschworen hatten. Sie lief, ohne sich des »Warum?« bewußt zu sein, nach der Thüre, sie öffnete dieselbe unschlüssig, und hörte plötzlich vom Fuße der schmalen Treppe, die in's untere Gemach führte, leise Flüsterworte, eine Unterredung, die sie nahe mit anging. Pahlens und die Lainez, die schon seit einiger Zeit das Gemach verlassen hatte, sprachen zusammen, heimlich und vertraulich -- von Justinen. »Sie können sich leicht denken,« sagte der Thürmer: »wie mich's allarmirt hat, als ich's vernahm. Es ist doch Schade um die magnifique Jungfer. =Parole d'honneur!= die Mama und der Vormund wollen sie, sobald sie ausfindig gemacht worden, in die Kostschule sperren lassen, weil sie dergestalt an ihrem Vater hängt. Es wird behauptet, sie sei, wie _er_ katholisch geworden, und dieser Schmutz müsse abgekratzt werden.« »Nichts weniger als das,« versetzte die Lainez: »indessen müssen Sie, Monsieur, uns weiter helfen. Der Superior hat mir das Mädchen auf die Seele gebunden. Ich muß Wort halten, damit auch mir einst Wort gehalten werde.« »Ich will wohl behülflich sein,« sprach Pahlens wichtig: »aber um den Lohn begehre ich auch nicht zu kommen. Sie wissen, meine Beste, wie mich der blinde Cupido selbst =aveugle= gemacht hat. Ich bin =amoroso= dergestalt, daß ich mit Thränen meine Speisen salze, und täglich und nächtlicherweise von =Morpheo= verlassen werde. Wenn mir die ehrwürdigen =Patres= die Holdselige zur ehelichen Hausfrau geloben wollten, ... auf das Vermögen thäte ich Verzicht, und baute irgendwo mein stilles =Arcadia= an. Könnte ich alsdann in irgend einem Dome Organist werden, so sollten die dankbarsten Liebesgötter meine Register handhaben.« »Sie sind eigennützig, Monsieur Pahlens,« entgegnete die Lainez empfindlich. »Ich opfere auch Alles auf, bis auf die Braut, die ich =adorire=,« sagte der Geck: »wenn es herauskömmt, daß auch ich den Staub des Lutherwesens abgeschüttelt, so würde ich's nicht läugnen, und folglich meinen Bündel schnüren müssen, und von denen =Musis= erwarten, wo ich wieder meinen Unterhalt fände. Nicht wahr? Wäre hingegen Jungfer Justine meine Verlobte.... =vraiment!= noch heute sagte ich auf, zöge morgen ab, und erhielte alsbald meinen Abschied, weil sich Zehne für Einen um meinen Dienst bewerben.« »Das Mädchen will seinen freien Willen haben, Monsieur Pahlens.« »Recht, beste Madame. Sie soll meine Devotion erkennen lernen, und wenn sie meine liebeslustigen Sentiments erfährt, wird sie nicht unempfindlich bleiben. Die Zeiten sind anders. Der Papa davon gelaufen ... die Mama, die sie einsperren will; auf der andern Seite dagegen der niedliche Pahlens, ein Virtuose auf vielen musikalischen Instrumenten und heftig verliebt;.... ich bin gar nicht bange zu reussiren, wenn Sie mir Ihren Beistand nicht versagen, und ein acht Tage hier oben verweilen.« »Warum nicht gar? Sie müssen uns so schnell als möglich wegbringen. Man gibt vor, ihr Vater habe sie beschieden ... wohin? das ist gleichviel. Sie geht in die Falle. Wir bringen sie in den Bereich des Superiors, und das Zureden desselben, wie Ihre galante Bewerbungen werden das Uebrige thun. Wir Weiber sind schwach, Monsieur, und weichen gerne der Schmeichelei, wenn uns die Stütze eines Vaters fehlt.« »Wenn Sie meinen.....« fügte Pahlens hinzu, und das Gespräch verstummte. Justine zog sich, empört und erschreckt von dem, was sie vernommen, zurück. Sie mochte überlegen, wie sie wollte, sie war gefangen und gebunden. Dort, wenn ihre Hartnäckigkeit einen freien Abzug von dem Thurme erzwang, die schimpfliche Einsperrung in die Kostschule, worinnen ungehorsame Töchter oder leichtsinnige Weiber oft Jahrelang ihrer Lossprechung entgegenharrten; und dann die Autorität eines steifen unfreundlichen Familienraths, endlich der Spott, die ehrenrührigen Gerüchte der müßigen Stadtschwätzer. -- Hier eine begünstigte Flucht, die Hoffnung, den Ketten zu entrinnen, aber der Zwang einer lügenhaften Verstellung, die Gewalt eines intriganten Weibes, eines affenhaften Liebhabers, und irgend eines Superiors, den sie nicht kannte, nicht begriff, und der entscheiden sollte, ob sie den Thürmer zu heirathen hätte, oder nicht! sie sah sich schon im Netz heimtückischer Katholiken, und wenn hin und wieder ihr die Vernunft schmeichelnd zuflüsterte: sie möchte sich der Verstellung unterziehen, zu glauben vorgeben, was man ihr von Vaters Befehl vorspiegeln werde, und auf der Reise eine Gelegenheit suchen, von ihren falschen Freunden loszukommen, -- so sträubte sich doch dagegen sowohl ihr gerader Charakter, als auch die so natürliche mädchenhafte Schüchternheit. Wer wußte, ob sich jene Gelegenheit fände? ob man sie nicht bereits in einen katholischen Zwinger gebracht, ehe sie an ein Entrinnen denken konnte? wer gab ihr auch zunächst die Versicherung, daß sie den Vater finden würde, sie, ein hülfloses unerfahrenes Mädchen ohne Schutz? ja, wenn Georg an ihrer Seite gewesen wäre! auf ihn, den besonnenen und entschlossenen Mann hätte sie jede Hoffnung gesetzt! aber ... allein? Sie verlor sich in trostlosen Betrachtungen. Die Lainez verließ sie darinnen, um, wie sie vorgab, einen schnellen Gang durch die Stadt zu machen, um zu erfahren, was sich Neues zugetragen. Justine würdigte sie kaum eines Abschiedgrußes, und verschloß vor dem Thürmer, der gern den Anfang seiner Bewerbungen gemacht hätte, die Thüre. Wie sie nun da saß, und überlegte, und zu keinem klaren Willen gelangen konnte, hörte sie auf der Gallerie schwere klingende Tritte nahen. Ein Blick der Neugierde flog durch die ringsum freien Fenster des Belvedere. Zwei Männer in Uniform erstiegen die Plate-Forme, und der Voranschreitende, mit leuchtenden Achselbändern und einer vielfarbigen Schärpe geziert, von dessen Kasket eine breite Feder wehte, belobte alsobald die wunderschöne Rundsicht, deren man von dem hohen Standpunkte genoß. Pahlens, die Mütze in der Hand, trat zu ihm, und beeilte sich, dem Besuchenden dienstfertig die verschiedenen Theile des großen Rundbildes zu erklären, nannte ihm die Hauptgebäude der Stadt, die umliegenden Dörfer, und ließ sich eines Breitern in die Erläuterung der bestehenden Wächter- und Feuerordnung ein. Der Offizier hörte freundlich zu, sendete Fragen auf Fragen, und schien mit seiner Expedition auf den Paulsthurm sehr zufrieden. Sein Begleiter indessen, in derselben Uniform, doch ohne Silber und Schärpe und Feder und Achselquaste, ein gemeiner Reiter und dienender Gefährte des Offiziers, nahm keinen Antheil an dem Gespräche, und wanderte einsam um die Gallerie, bis er auf die, dem Offizier entgegengesetzte Seite zu stehen kam. Da legte er beide Ellenbogen auf das Geländer, stützte sich auf diese, und bückte sich nachdenkend hinunter. Justine war dem Menschen gefolgt. Er hatte -- so fremd seine Kleidung war, -- so viel Bekanntes in seiner Haltung; ... neugierig lauschte sie, verwendete kein Auge von ihm, und ... als er einmal das Kasket abnahm, um sich den Schweiß abzutrocknen, als ein jugendlich melancholisches Gesicht darunter zum Vorschein kam -- da bewegte sich Justinens Herz in unentschlossener Freude. Der Soldat war James, seine absichtslose Unbefangenheit ein Bürge, daß er hier nicht auf hinterlistigen Wegen wandle; daß er nicht, mit der Lainez einverstanden, gekommen war, um Justine mit eigner Hand noch tiefer in das Netz zu verwickeln, das sie bereits umgab. Vergessen waren alle Beweggründe, die einst Justinens Unmuth gegen ihn gereizt hatten; sein soldatisches Kleid, für Weiberherzen stets ein Vertrauen erregendes, zeugte von einer gänzlichen Veränderung seiner Lage, sein Gesicht von bekümmertem Ernste. Justine fühlte sich hingezogen zu dem Jüngling, der ihr ein Bekannter, ein ehemals geschätzter Freund gewesen. Da der Vater geflohen, da Georg verschwunden -- wo hätte sie eine Seele finden können, ihr verwandter, angehörender als dieser junge Mann? er oder Keiner war dazu gemacht, sie den treulosen Händen, worin sie sich befand, zu entreißen, und ein innerer Zug bestimmte sie zur Zuversicht auf ihn. Ohne sich ihrer klar bewußt zu sein, hatten diese Gedanken den Sieg in ihrem Verstande, in ihrem Herzen errungen. Leise, aber dennoch nicht ohne Geräusch, hatte sie das Fenster aufgezogen. James sah sich um: Ueberraschung, Freude, Entzücken zogen auf seinem Gesichte die fröhlichen Wimpel auf. Justine, ihm verbindlich zunickend, winkte ihm, behutsam zu sein. Er legte beide Hände auf die Brust, sah sie voll Liebe an, und erwartete ihr Begehren. »Ich bin gefangen,« lispelte Justine englisch, »wenn Ihr, Herr, kein Verschworner der Lainez seid, befreit mich; doch behutsam.« James, der bei dem Namen der Französin eine Bewegung des Abscheus nicht hatte unterdrücken können, antwortete rasch und ohne zu überlegen: »Mit Gottes Hülfe, Miß.« »Mein Vater?« fuhr zaudernd und ahnend Justine fort, »meine Zukunft? erfuhrt Ihr Nichts? darf ich Euch vollends vertrauen?« Die Sporen des Offiziers erklangen, des Thürmers gellende Stimme erscholl; James winkte der holden Bittenden, sich zurückzuziehen. Sie stellte sich hinter den offenen Fensterflügel, den Engländer im Auge behaltend, der sich wieder an das Geländer lehnte, den Blick gleichgültig gegen Pahlens Taubenschlag kehrte, und nach selbsterfundener Melodie ein Liedchen sang, das -- nicht künstlich in Strophen und Reim geschnitten -- in seiner Nationalsprache dem Mädchen zu wissen that, was ihm noth war: daß der Senator gerettet, daß er sie nach Amsterdam beschieden, daß James, ihre Spur verlierend, beinahe in Verzweiflung gerathen; daß er die Lainez hasse, Justinens Schicksal bedaure, und Alles zu ihrer Befreiung und zu ihrer Rückkehr zum Vater aufbieten werde. Die Thore der Stadt seien wieder offen, und Justine würde noch am Nachmittage Nachricht erhalten. Justinens Busen erzitterte von Wonne. Der Offizier machte jedoch dem improvisirten Liede ein Ende. »Brav,« sagte er in ziemlich schlechtem Deutsch; »ich sehe doch, daß Seine Melancholie ein Ziel hat. Wenn der Gesang auf die Zunge hüpft, wird auch das Herz ruhig. Er wird mich vollends zu Seinem Freunde machen, wenn Er aufgeweckt und munter ist.« James bückte sich, und wußte, auf geschickte Weise das Kasket in Stirn und Auge drückend, dem umherfaselnden Pahlens sein Gesicht auf's Beste zu verbergen. Nach einigen Worten empfahl sich der Offizier, und James folgte ihm dienstpflichtig. Der Schlüssel tragende Thürmer geleitete sie hinab. Wie schnell hüpfte nun Justine aus ihrem engen Zimmer! wie freudig tanzte sie auf der Gallerie umher! wie verächtlich sah sie auf die düstere Stadt, wie wonnetrunken auf die fern hinziehenden Heerwege nach Westen, wohin der väterliche Ruf sie beschied. Sie fürchtete keine Tücke von James! sie rechnete auf das Uebergewicht, das sie über die Handlungen des Jünglings stets behauptet ... und nur nach Freiheit, nach Vereinigung mit dem geliebten -- unglücklichen Vater, lechzte, alle Bedenklichkeit vergessend, ihre Brust. Und als Pahlens zurückkam, mit abgeschmackter Schmeichelei ihr näher trat, und den erbärmlichsten Witz, die traurigste Galanterie an sie verschwendete, -- als später auch die Lainez erschien, und ihr in einer wohl gesetzten Lüge erzählte: ihr Vater warte ihrer zu Steinstadt mit dem größten Verlangen, und Pahlens werde sich ein Vergnügen daraus machen, sie hinzubringen, -- da lächelte sie kindlich unbefangen; die List sprach nicht aus ihren Augen, die krause Stirn verrieth keinen Ernst, keine prüfende Ueberlegung. Sie schien die Vertrauende zu sein, die Einwilligende, die Zufriedene. Die Verbündeten glaubten ihr Spiel gewonnen, und nie war es so trostlos verloren. Am Nachmittage führte der von Justinens Nachgiebigkeit bezauberte Pahlens selbst einen Balsamhändler auf den Thurm, dessen verschmitzte Augen wie Blitze aus dem bleichen Gesichte strahlten. »Der Kerl ist ein Fremder; es hat keine Gefahr!« sagte Pahlens zu den Frauen, die sich sträubten, auf der Gallerie zu erscheinen, um die Galanterien auszuwählen, die ihnen der verliebte Thürmer zu kaufen willens war. -- »Mein Gott! ist das nicht Monsieur Litzach?« fragte die Lainez nach einem Blicke auf den Händler. Dieser bejahte achselzuckend, und freute sich, die Madame hier zu finden. »Einer der Unsrigen!« flüsterte die Französin dem erstaunten Pahlens zu; »was macht Ihr aber mit diesem Kram?« fragte sie weiter. »Ei nun, Madame,« antwortete der Schauspieler lächelnd; »da es mit der Komödie nicht fort wollte, und meiner Wohlthäter Waizen auch nicht ferner blühte, gab ich mich einem Parfümeur als Hausirer hin; will sehen, ob das Geschäft Weib und Kind ernährt! -- Die _Herren_ werden mich ja für die Zukunft nicht im Stiche lassen,« setzte er bedeutend hinzu. »Seid meiner Fürsorge gewiß, wenn Ihr diskret seid!« sagte die Lainez mit Beziehung und warnend. »Ich weiß, was ich meinen Glaubensfreunden schuldig bin,« entgegnete der Hausirer, der die Lainez verstand; und in dem Augenblicke, als die Letztere sich zu Pahlens wendete, um ihm zu betheuern, er könne diesem Menschen vertrauen, hatte auch schon Justine ein Blättchen Papier in der zitternden Hand. Sie dankte dem listigen Ueberbringer mit einem Blicke, und trat bald hinter einen Vorsprung des Thurms, um die Post zu lesen. James schrieb: »Sein Sie um 10 Uhr Abends an der Pforte des Thurms. Ich mußte meinen Capitän in's Geheimniß ziehen. Er läßt Sie in seinem Wagen fortbringen, weil er ein braver, ritterlicher Mann ist. Es quält mich, daß meine Pflicht mich hier zurückhält. Sie sollen indessen -- so Gott will -- ein Mehreres von mir erfahren.« Das Billet flog zerrissen über das Geländer. Nachdem Pahlens seine Geschenke gemacht, -- nachdem Litzach hinweggegangen, setzte sich Justine in ein Winkelchen, ging mit sich zu Rathe. »Was in aller Welt hat Herrn White zum Soldaten gemacht?« fragte sie sich; »und darf ich mich wohl der Diskretion des Capitäns anvertrauen?« -- Ihre Herzhaftigkeit überwand den Zweifel; sie fühlte sich über Furcht erhaben, und suchte nur nach Mitteln, dem verschlossenen Thurme, den Pahlens stets selber öffnete, um die bestimmte Zeit zu entkommen. Endlich gelangte sie mit dem Plane auf's Reine. Sie wollte gegen die zehnte Stunde, mit welcher der ablösende Wächter im Thurme einzutreffen pflegte, ihr Lager verlassen, die Treppen hinabschlüpfen, und hinter einer Säule am Eingange den Thürmer erwarten, wenn er kommen werde, dem Wächter zu öffnen. Sie wollte alsdann herzhaft den schmächtigen Pahlens zurückstoßen, und an dem Wächter vorbei durch die offene Thüre entspringen. Pahlens Vortheil, dachte sie, würde ihn bewegen, keinen Lärm zu machen, und der Retter nicht weit vom Thurme ihrer warten. -- Von ihren Hoffnungen ermuthigt, hörte sie mit vieler Geduld die Schmeicheleien der Lainez, die Albernheiten des Thürmers an, womit diese, ihr zu gefallen, den Abend tödteten, und suchte frühzeitig das Lager auf. Die Lainez löschte die Lampe aus, und entschlief bald an Justinens Seite. Diese Letztere versäumte keinen Augenblick. Sie war angekleidet geblieben; sie hatte das Päckchen, das ihren Schmuck und ihre Sparpfennige enthielt, unter ihr Kissen verborgen; dieses und die Schuhe in der Hand, entriegelte sie so leise als möglich die Thüre, fühlte sich das steile Treppchen hinab. -- Die Stiege knarrte; Justine erschrak: zum Glücke jedoch klimperte Pahlens, in dem Lehnstuhl seines Zimmerchens hingestreckt, auf der Laute, und kämpfte mit dem Schlafe. Justine bemerkte dies, durch das Thürfensterchen schauend, und dankte dem Strahle des durchschimmernden Lichts, der ihr die ersten Stufen der Wendeltreppe zeigte. Muthig betrat sie den dunkeln Weg, vorsichtig den Strick anfassend, der als Geländer diente. Endlich kam sie in den Bereich der Glockenstube, wo die Wendelsteige aufhörte, und die breiten hölzernen Treppen begannen. Eine falbe Sternenhelle schlug durch die riesengroßen Fenster. Das Uhrwerk webte und regte sich mit wunderlichem Geräusch neben der Fliehenden. Sie enteilte der schauerlichen, in abgemessenem Takte pickenden und schnarrenden Nachbarschaft. Ein schützender Geist führte sie die geländerlosen Stiegen, dicht am Rande einer rabendunkeln Tiefe hinab. Ungeziefer raschelte über ihren Pfad, hüpfte und kletterte auf und ab neben ihr; begleitete sie bis in die unterste Halle, wo sie hochathmend stille stand, hinter die Säule, die sie erfaßte, schlüpfte, und mit hoffender Seele wartete; -- denn schon glaubte sie, den herannahenden Wächter zu hören, -- doch -- das war nicht der Schritt eines Einzelnen; mehrere -- immer näher kommend....; »sind's die Retter?« fragte sie sich mit gespannter Aufmerksamkeit.... Und plötzlich wurde es sehr laut vor der Thüre: viele Stimmen; Flinten-Gerassel; rohe Reden; Spott, Gelächter, starker Schellenlärm; der vielstimmige Ruf nach der Höhe endlich: »im Namen des Magistrats!« Laternenglanz fiel durch das Schlüsselloch. Justine schreckte auf. »Das sind Verfolger!« klagte ihre ahnende Seele: ... »sie kommen, dich zu fangen! deine Freiheit soll verloren gehen! Oeffnet die Thüre, so geräthst du mitten in die Feinde!« Sie wendet sich entsetzt zum Rückwege. Sie eilt die Treppe hinan. -- Neue auflodernde Angst. Von oben naht sich Schlüsselgerassel, Lampenschein ... Pahlens unzufriedenes Schelten! -- Dem verhaßten Menschen, den Verfolgern zu entgehen ... Wo das Mittel? Ihre Hand tappt nach der Seite der Uhrstube, neben welcher sie wieder ist. Sie findet eine angelehnte Thüre; drückt sie auf; stürzt hinein ... klammert sich bebend an zwei dicke Pfosten fest, neben welchen durch man zum Uhrwerk geht. -- Sie läßt Pahlens vorüber gehen, hört ihn die Thüre öffnen, hört, wie man ihn gewaltsam ergreift, festnimmt, zwingt, den bewaffneten Troß hinauf zu führen, während unten sorgfältig die Thüre wieder verschlossen wird. Wenige Minuten, und der Schwarm kömmt zurück. In seiner Mitte jammert der arretirte Pahlens. -- »Verdammter heimlicher Katholik!« ruft eine Stimme: »du sollst schon reden lernen!« und fort tobt die Schaar, und verläßt den Thurm. Die Pforte fällt zu; Schlüssel drehen sich im Schloß; schwere Tritte kommen die Treppen herauf. Der neue Wächter gewinnt die Höhe. Seine Tritte verhallen, seiner Lampe Schimmer vergeht; Alles wird still -- todtenstill, und trostlos erräth Justine, daß sie ganz verlassen geblieben. Keine Hoffnung zu entkommen...; kein rettender Zuruf von Außen. Unter der Last ihrer Angst wanken ihre Kniee, schwindelt ihr das Haupt. Da fängt das Uhrwerk an zu rasseln wie Gewitterlärm, Walzen und Räder knarren, pfeifen und rauschen, und die furchtbar große Glocke schlägt an, als ob jeder Streich Justinens Leben zu vernichten hätte. Die Erschütterte sinkt unter den donnernden Schlägen, die nicht endigen wollen, zusammen. Ihr Bewußtsein schwindet. -- Dritter Theil. Erster Abschnitt. 1721. Der Abend in Santa Dominica. -- Luis und Ines. -- Der Fremde. -- Seine Erzählung. -- Seine Erinnerungen. -- Des indianischen Kindes erstes Abenteuer. -- Der Morgen in der Colonie. -- Die fremden Schiffe. -- Wiedersehen. -- Die Jäger aus den Savannen. -- Consultador und Rector. -- Justinens Loos. -- Der Vorschlag des Pfarrers. -- Die Nacht. -- Der Ueberfall. -- Die Savannen. -- Das Lager der Abiponer. -- Capitän und Capitana. -- Das Opfer. -- Fest des Siebengestirns. -- Hülfe aus der Ferne. -- Der Abend flammte purpurroth am Horizonte, den ein Kranz von schwarz aufsteigenden Wetterwolken einfaßte. Die Ebene lag von schwüler Hitze überbrütet. In dem Missionsorte Santa Dominica läutete die Glocke, und auf dem Platze vor der Kirche versammelten sich, von der Arbeit im Feld und Haus gehend, die Bewohner der Mission; Männer, Weiber und Kinder in buntem Gedränge, aber mit anständigem Schweigen. Ein großer Kreis wurde geschlossen, und andächtig falteten sich alle Hände, als das Thor des Missionshofes aufging, und der Pfarrer hervortrat, begleitet von einigen Negern, die schwere Karren, mit zerlegtem Fleische gefüllt, heranzogen, und von stämmigen indianischen Mägden, die in langen schwankenden Körben an Lianenstauden große Vorräthe von Mais und Thee herbeitrugen. Der Pfarrer, eine gesunde, obgleich siebzigjährige Gestalt, begab sich würdevoll in die Mitte seiner Pfarrkinder und sagte: »So ist denn wieder mit Gottes, des Ewigen, Hülfe ein mühevoller Tag der Arbeit und des Fleißes zurückgelegt. Der wackere Mann, Euer Corregidor, meine Kinder, hat mir den erfreulichsten Bericht über Euer Streben abgestattet; und neben dir, du guter Juan Bosco,« -- der genannte Indianer bückte sich geschmeichelt und demüthig -- »der unsere große Caamiripflanzung so vortrefflich zu bewässern unternommen hat, habe ich alle Uebrigen zu loben, mit Ausnahme eines Einzigen, dessen ich leider mit verdientem Tadel gedenken muß.« Die Leute sahen sich ernsthaft und verwundert an; aber ohne den Aufruf abzuwarten, trat Einer aus dem Volke, ein rüstiger junger Mann hervor, und kniete mit betrübter Miene nieder, indem er ausrief: »Ach, Vater Luis! vergebt doch ja, und auch der gute Vater über dem Himmel vergebe mir! Ich habe gesündigt; ich habe im Zorne meine Nachbarin, die gute Cordula, verwünscht, und Unkraut in ihren Acker geflucht. Ich bekenne meinen Fehltritt und will ihn nie wieder thun!« »Recht, Francisco,« versetzte der Pfarrer; »du hast die Liebe des Nächsten und Gottes Langmuth und Fürsicht beleidigt, ein schweres Vergehen. Laß sehen, ob Cordula die Pflichten einer wahren Christin besser versteht. Tritt hervor, du beleidigte Nachbarin des reuigen Francisco, und sage, was, nach deinem Wunsche, dem Beleidiger geschehen soll?« Cordula hatte Thränen im Auge und antwortete, ohne sich zu besinnen: »Thut ihm nichts zu Leide, lieber Vater. Ich vergebe ihm von Herzen!« Der Pfarrer sah sich vergnügt im Kreise um, nickte der Rednerin Beifall, berührte dann das Haupt des Reuigen und sagte sehr sanft: »Hast du's gehört, Francisco? So geh denn um Ihretwillen straflos hin in deine Hütte, faste heute, und schäme dich, damit du morgen ein anderer Mensch seist!« Der Getadelte küßte inbrünstig des Pfarrers Hand, und entfernte sich mit gebeugtem Haupte und zufriedenem Herzen. »Seht Ihr?« fuhr der Geistliche freudig zu dem lauschenden Volke fort: »seht Ihr, wie viel es werth ist, daß Ihr den wahren Gott und Heiland erkennen lerntet? Was ehedem unter Euch nur die Schleuder oder der rachsüchtige Pfeil entschied, schlichtet nun ein Wort des Friedens. So kommt denn heran, Ihr Fleißigen, Ihr Milden, Ihr Müden! Esset von dem Brode, das der Herr unter Euern Händen wachsen läßt; von dem nährenden Fleische, und trinket den Trank der Gesundheit, damit Ihr den Herrn noch lange preiset und lobet!« Nun setzte sich die Menge in Bewegung, schritt in Doppelpaaren an dem Pfarrer vorüber, empfing aus der Wage seiner Begleiter, Familie für Familie, Fleisch, Mais und die ersehnte Unze Thee; dann sprach der Geistliche den Segen; das Volk antwortete mit einem melodischen Kirchenliede, und zerstreute sich in seine stillen Hütten, um das Mahl zu bereiten, und auf der bequemen Ochsenhaut die Mühen des Tages und das herannahende Gewitter zu vergessen. Der Pfarrer beschäftigte sich noch eine Weile damit, dem Regidor und dem Alkalden der Mission die Arbeiten und Verhaltungsregeln für den nächsten Tag aufzugeben, und zog sich sodann in den Hof seines Hauses zurück. Das mannigfaltige Federvieh, das diesen Hof belebte, hatte sich vor dem in der Ferne brausenden Gewitter in die Ställe geflüchtet. Der zahme Straußvogel des Pfarrhauses allein ging stolz und aufgerichteten Hauptes mit gewöhnlicher Gravität auf dem zierlich gestampften Platze umher, und lüftete die Flügel dem streichenden Luftzuge entgegen. Der Pater streichelte seine wehenden Federn, und sagte lachend zu ihm: »Du mein guter Freund und Haustrabant! kannst du mir nicht verrathen, wo dein Spielgefährte ist, der heute so undankbar mein Haus verließ?« Der Vogel schien altklug die langen Augenbraunen in die Höhe zu ziehen; da erklang von Ferne ein silberner Glöckchenton. Ein leichter Trab, dem ein schwererer folgte, kam jenseits der Rohrwand, die den Hof umgab, heran. Ein schlanker Rehkopf sah über die Wand: die Thüre in derselben sprang unter der Pfote des Thieres auf; es trabte freudig hindurch, mit schellenden Halsbandglocken, und kauerte sich zu des Pfarrers Füßen, als ob es seines Ungehorsams wegen Vergebung betteln wollte. Der Pater, angenehm überrascht, bückte sich, den schmalen, graurothen Hals zu streicheln, als auch ein Pferd mit einer hübschen Reiterin durch's Thor stürmte. »Ines! Ines!« rief der Pfarrer, gutmüthig verweisend und mit dem Finger drohend. Ines sprang jedoch, leicht wie eine Feder, von dem Pferde, und jagte es mit einem Schlage ihrer Gerte wieder in's Freie zurück. Lauf, du wilder Negro! -- rief sie, ein wenig athemlos, indem sie die Thüre zuwarf, und mit dem hölzernen Riegel verschloß: »du hast deine Schuldigkeit gethan. Suche den Weg nach deiner Weide, ehe der Blitz kömmt!« Dann näherte sie sich etwas schüchtern dem Geistlichen, senkte den Kopf und fragte freundlich: »Habe ich dir Angst gemacht, lieber Vater? Ich mußte dir ja den Liebling wieder bringen. Das leichtsinnige Thier, verspielt und possenhaft wie es ist, hatte sich gewiß schäckernd von der Rinderheerde entfernt und in den Wald verlaufen. Es dauerte lange, bis das faule Reh, im Schatten rastend, meinen Ruf und ich seine Schellen vernahm. Ich meinte fast, ein Tiger hätte sich seiner bemächtigt. Doch endlich, die Jungfrau sei gelobt, kann ich dir's wiederbringen, Vater Luis!« »Und gehst von Hause, ohne zu sagen wohin?« versetzte der Pfarrer gekränkt: »und setzest dich selbst, in Waldschluchten dringend, dem Tiger, durch stille Wasser reitend, dem Krokodil aus, du böses, unbesonnenes Kind? Glaubst du vielleicht, ich sei dem Rehe in höherem Grade gut, als dir? Habe ich dich nicht von zarten Kindesbeinen an gepflegt und gewartet? habe ich dich nicht getauft, und somit zum zweiten Male und edler geboren, als deine Mutter es gethan?« Ines ergriff schmeichelnd des Pfarrers Hand und küßte sie. Er dankte ihr nun für den Liebesdienst und fügte bei: »Ich habe verziehen! Sieh' zu, wie du mit dem grämlichen Strutto, dem Dragonervogel fertig wirst, der heute die neckende Spielgefährtin sehr verdrüßlich vermißte.« Ines klopfte schäckernd die Brust des großen Vogels und sagte hierauf: »Ich will's einbringen, guter Bursche. Schlüpfe indessen nur in die Scheuer. Die Wolken kommen wild und schwarz über die Parana her, und die fernen Berge hängen voll Nebel. Fort, Gejenk!«[1] Der Strauß trabte ruhig nach der Scheune, die hinter ihm verriegelt wurde. Das Reh folgte dem Herrn in die Hausflur. Ines zog die Laden an den Fenstern zu, und sagte indessen, bedächtig innehaltend: »Wenn nur der Fremde noch ankömmt, bevor das Wetter losbricht. Es wird einen fürchterlichen Sturm geben.« »Welcher Fremde, Ines?« Das Mädchen lächelte verlegen. »Es scheint mir kaum ein Spanier zu sein,« sagte es alsdann, und seine bräunliche Wange röthete sich merklich; »er spricht nicht so gut spanisch wie wir. Ich begegnete ihm draußen an den Tabaksfeldern; ich holte ihn nämlich ein, im Heimkehren begriffen. Der arme junge Mann saß traurig bei seinem Pferde, das im Niederstürzen sich den Fuß verstaucht hatte. Freilich war der Herr unklug genug, daß er nicht, wie unsere Leute, einige Pferde auffing oder mit sich nahm; indessen hatte ich doch Mitleid, und wahrlich -- hätte ich nicht dem schnellen Reh zu folgen gehabt, mein eigen Pferd hätte ich dem jungen hübschen Herrn abgetreten. Er fragte, ob er nach Santa Dominica komme, wenn er weiter ginge, und ich bejahte es, und wies ihn an die Ochsenfänger, die sich in weiter Ferne und im Staube sehen ließen. Sie werden ihn wohl auf ein Pferd genommen haben, und mit ihm auf dem Wege sein. Eilen sie jedoch nicht, so ist der Sturm viel schneller als sie.« Ein dunkelrother Strahl, der aus den Wolken fuhr, und von einem grellen Wetterschlage begleitet wurde, bekräftigte die Furcht der Indianerin. Aber zu gleicher Zeit ließ sich aus der Ferne, vom Eingang der Mission kommend, das Geschrei und Getümmel der heimkehrenden Horde vernehmen, die in den Savannen gewesen war, um Ochsen zu fangen, zu schlachten, zu häuten. »Sie kommen!« rief Ines, zufrieden gestellt, und ging nach der Hausthüre, durch die Ritze zu lauschen. »Hätte ich doch beinahe meines Gastes vergessen!« sagte inzwischen der Pfarrer zu sich selbst, mit einem ungeheuchelten Vorwurfe: »wie zerstreut doch das Alter macht! absonderlich, wenn man sich eines wiedergefundenen Kindes, und dessen Geschwätzes erfreut!« Er trat an die kleine Stiege und rief hinan: »Pater Xaver! Pater Xaver! nicht zu Hause?« Keine Antwort. Der Pfarrer warf geschäftig seinen Regenmantel über, stülpte den Rohrhut mit den beiden wasserdichten Krempen auf, und schritt, so schnell es anging, nach dem kleinen Gärtchen vor, das zwischen Hof und Ackerfeld gelegen, den Hintertheil des Gebäudes begränzte. Unter dem Stamme einer mächtigen Algarova[2] ruhte der Gesuchte; vor sich hinstarrend in die Sturm brauende Luft; horchend auf das Wellenschlagen der unfern strömenden Parana, versunken in den Anblick der zum Schrecken sich rüstenden Natur, ohne vor ihr zu zittern; fühllosen Körpers, unbewußten Geistes. -- Die Stimme des Pfarrers rief ihn zum klaren Bewußtsein zurück. Er sah sich um und fragte: »Was wollen Sie, mein Freund?« »Was wollen denn Sie beginnen? frage ich;« versetzte Luis. »Der Wind beugt schon um und um die Palmen nieder, und Sie wollen ihm trotzen? Kommen Sie in's Haus. Beunruhigen Sie mich nicht.« Der Gedankenvolle stand mechanisch auf. »Ich gehorche,« sagte er, »ob es mir gleich lieber wäre, von dem Wetterwinde in die Haide, wo der Tiger streift, oder in die Wellen des Stroms getragen zu werden.« »Welche Reden für einen Christen und einen Geistlichen!« verwies ihm Pater Luis sanft und ernst: »lassen Sie Ihren Beichtvater dergleichen nicht zum zweitenmale hören!« »Ich redete ehedem, wie Sie, mein Vater!« antwortete der Gast, »aber seit acht Tagen hat sich so Vieles anders gemacht...« »Gottes Schickung!« tröstete der Pfarrer; »halten Sie darauf, Pater Xaver, und kommen Sie herein. Ihre Miethreiter kommen zurück, und nach ihrem Geschrei zu urtheilen, muß der Fang beträchtlich gewesen sein: wir wollen die Häute im Magazine unterbringen.« Die Aussicht auf das Geschäft war dem trüben Gaste willkommen. Die Pforten des Lagerhauses, dieser Vorrathskammer für die ganze Niederlassung, wurden aufgeriegelt. Die heimkommenden Indianer sprengten in bunter Reihe heran, warfen ihre Ladung von Fellen zum Boden nieder, und rannten von dannen, dem Gewitter zu entkommen. Auf so unordentliche Weise war die Beute bald niedergelegt, und Pater Xaver stand berechnend zusammen mit dem Anführer der Expedition in die Savannen, als noch ein Nachzüglertrupp von Reitern kam, deren Pferde schwer bepackt waren, und von welchen einer zweimännisch auf dem Gaule saß. Die wilden Jäger warfen sich erst unter Dach und Fach von den Thieren, denn draußen fiel der Regen dicht; und der Hintermann des Doppelreiters stürzte mit Jubelgeschrei an Xavers Brust. Dieser konnte sich des Andrangs nicht erwehren; doch eben so wenig den in einen verstellenden Indiermantel von Palmblätterzeug Gewickelten alsobald erkennen; bis dieser den Mantel fallen ließ, die Haare aus dem Gesichte strich, und dem Ueberraschten den Ausruf entpreßte: »James! James! wie kömmst _du_ hieher? Welch' ein Gottesengel führt dich in meine Verbannung?« James weinte einen Strom von Thränen an des Pflegevaters Halse, und konnte nicht sprechen, nur schluchzen, nur seufzen, nur hellauf weinen, bis Pater Luis beide bei den Händen ergriff, und nach dem Innern des Hauses führte. -- »Euer Gefühl ist für die Neugierde der Stierschlächter zu gut!« sprach er; »weint und sprecht Euch _hier_ aus, meine Freunde, denn die Einsamkeit ist sowohl für die, die da klagen, als für die, die sich im Herzen freuen!« Er verließ, bescheiden und schweigend, die eng Umarmten. Sie vergaßen des brüllenden Donners, des tobenden Regens, des bebenden Hauses, das unter Sturmesgewalt zu weichen drohte. Münzner konnte sich am Gesichte seines Pflegesohns nicht satt sehen, und tausendmal wiederholte er die einfachen Worte: »Du hier, mein Sohn! Du hier, guter James!« ehe es ihm einmal einfiel, nach der Art und Weise, wie Alles sich zugetragen, zu fragen. Endlich geschah es doch. -- James erwiderte: »Da Sie geschieden waren, konnte ich dem Superior nicht folgen. Ich _konnte_ es nicht. Ich rettete jedoch den Senator.« »Ich weiß, mein Sohn. Die That war brav und würdig. Aber, was du ihr geopfert, ... das zerriß mein Herz, da ich's erfuhr!« »Gott führt uns auf allen Wegen,« versetzte James; »nur auf diese Weise konnte mir's gelingen, Justine aus Angst und Gefahr zu erretten.« »Du hast's gethan?« fragte Münzner überrascht; »das ist mehr, als ich gehofft. Ich glaubte sie unter Protestanten auf ewig und auf immer verloren!« »Nicht doch, mein Vater!« fuhr James fort, und erzählte von Justinens Abenteuern auf dem Thurme, von ihrem zufälligen Wiederfinden, von dem Entschlusse, sie von der Gefahr, die ihr die Lainez und der Thürmer bereiteten, zu befreien. »Ich liebte das Mädchen,« sagte er mit schwärmerischem und wehmüthigem Feuer; »ich glaubte damals, von Justine geliebt zu sein. Mit welchem Auge konnte ich ihre Lage ansehen? sie in des Superiors Händen? sie in einem Kloster? während ich in meiner Unbesonnenheit den Augenblick schon nahe träumte, wo ich als geachteter Offizier um ihre Hand würde werben können? ich trug erst seit zwei Tagen die Uniform des Gemeinen; meine Einbildungskraft war Jahrzehende vorausgeeilt, und ich wollte lieber die _freie_ Justine fern von mir, in einem andern Welttheile wissen, als auf ewig gefesselt in meiner Nähe. Ich ging an's Werk. Ich sann. Aber, die Möglichkeit? ich hatte nicht Freunde, nicht Bekannte. Die Uniform schützte mich nur, daß man nicht in mir die rechte Hand des Doctors Leupold entdeckte, über dessen wahren Beruf man auf's Reine gekommen war. Ich durfte mich nirgends bloß geben. Ich hatte kein Geld, den Hebel aller Dinge. Je zuversichtlicher ich an meinen Plan gegangen war, je niedergeschlagener wurde ich, da endlich die Unzulänglichkeit meiner Kräfte sich mir nicht verhehlen konnte. Indessen hatte ich mein Wort gegeben, und mehr als das Wort fesselte mich die Leidenschaft. Ich gerieth auf den abenteuerlichsten Gedanken. Der Werbcapitän war am vorigen Tage angekommen; ein Franzose, leicht und gefällig im Benehmen; ein feiner Mann, der unter den Neuangeworbenen gerade _mich_ zu seinem Bedienten wählte, weil er in mir eine bessere Bildung entdeckte, -- weil ich ihm gefiel. Ich weiß nicht, wie es kam, -- aber ... ich glaubte in dem Betragen des Mannes eine gewisse Ritterlichkeit zu verspüren; ich faßte mir ein Herz; ich sprach mit ihm ungefähr so, wie in Balladen und Romanen der dienstfertige Zwerg zum Paladin redet, den er zur Rettung einer im Thurme des Riesen gefangenen Dame aufzufordern gedenkt. Zum Glück fand auch der Capitän die Sache artig und seltsam genug. Ein niedliches Mädchen befreien, dessen Rettung ich ganz _seiner_ Macht und Großmuth anheimstellte, -- das reizte ihn. Er ahnte nicht den Zusammenhang, den mein Herz mit der Geschichte hatte. Er sah vielleicht ein galantes Abenteuer in der Ferne. Mir alles gleichviel, weil er nur zusagte. Litzach brachte die Botschaft auf den Thurm. Wir warteten um die zehnte Stunde der Nacht unfern des Thurms, mit Wagen und Pferd. Ein ärgerliches Zwischenspiel hätte uns beinahe alles verdorben. Das Unglück will, daß in derselben Nacht ein Ohrenbläser dem Bürgermeister die Anzeige macht, daß auch Pahlens zu der entlarvten Sekte gehört. Es wird Wache abgeschickt, den Thürmer einzuziehen und nachzusuchen, ob er nicht Freunde auf dem Thurme verborgen. Das Unglück will, daß Justine, ihrer List und dem günstigen Augenblicke vertrauend, vom Thurme herniedersteigend, beinahe in die Hände der Wächter fällt. Ihr guter Geist bedeckt sie indessen schützend mit seinen Flügeln, wie auch die Lainez, die noch Zeit findet, sich oben zu verbergen, und der oberflächlichen Nachsuchung der Soldaten zu entgehen. -- Pahlens wird fortgeschleppt; der sogenannte Zehnerwächter bleibt an seiner Statt im Thurme; verschließt alles sorgfältig, steigt in die Höhe, und indem sein Laternchen immer schwächer durch die Fenster des Thurmes strahlt, verglimmt in uns Harrenden auch jede Hoffnung, unsere schöne Schutzbefohlene zu retten. Es war indessen anders beschlossen. Die Lainez, in ihrem Versteck beinahe verzweifelnd, sich allein und verlassen sehend, von der Morgenröthe ihr Verderben fürchtend, faßt einen kecken Entschluß, der Französin würdig. Behutsam wagte sie sich in der dunkeln Nacht an das Zimmer des Thürmers. Der Wächter, das Branntweinglas vor sich, wendet halb trunken und nickend der Thüre seinen Rücken, und spielt mit dem Hunde. Der Schlüssel des Thurmes liegt auf dem Tische. Auf dem Trompetergänglein an der Plateforme steht das Laternchen brennend, zum Elfergang gerichtet. Wie ein Schatten schwebt die Lainez durch die halb offene Zimmerthüre. Der Hund knurrt; sein Herr giebt ihm Schläge, denkt aber nicht daran, sich umzusehen. In einem Augenblicke nimmt die muthige Frau den Schlüssel leise weg, entflieht so stille, als sie kann, ergreift die Laterne, und eilt wie ein Wirbelwind über die Treppen. Auf der Hälfte des Weges schreckt sie ein Geräusch. Unterdrückte Seufzer -- leise Klagen dringen aus dem Gange zur Glockenstube an ihr Ohr. -- Entschlossen stößt sie die Thüre auf. Justine richtet sich eben hinter derselben aus einer Ohnmacht auf. Lainez fühlt das heftigste Mitleid für die Geisterbleiche. Ohne Rath, ohne Hülfe, ohne Aufsicht, nur dem Augenblicke und dem Triebe nach Freiheit gehorchend, unterstützt sie die Ermattete, führt sie schnell hinab ... die Thüre klingt ... öffnet sich ... Justine stürzt ins Freie, die Lainez folgt, sperrt wieder vorsichtig die Pforte, und der Wagen rollt, da wir weiße Gewänder durch die Finsterniß sahen, geschwinde herbei. -- »Das sind _zwei_ Damen?« flüstert mir der Capitän zu; ich hatte aber nur Augen für Justine, die sich, wie ein Kind, vertraulich auf meine Schulter stützte, als ich sie in den Wagen hob. Die Lainez, unwissend und über diese Vorbereitungen verwundert, folgte nicht minder. Der Capitän bedeckte die schönen Flüchtigen mit seinem weichen Mantel, befahl dem Reiter auf dem Bocke, scharf zu fahren, und behielt mich neben sich auf dem Rücksitze. -- »Du begleitest mich zur ersten Station,« sagte er: »von dort kehrst du mit dem Wagen zurück, und ich bringe die Damen noch eine Strecke weiter, erwarte dich mit meinem Pferde. Ich werde dir Nachricht hinterlassen.« -- Nun fühlte ich erst die Schwere der Subordination. Es galt aber Justine, und ich schwieg geduldig. Ohne Aufenthalt gelangten wir unterm Schutze des Capitäns durch das Thor, und fuhren stracklich weg. Die Damen schliefen oder stellten sich schlafend. Wir sprachen nur abgerissene Worte. Noch war der Tag nicht angebrochen, als wir hielten. Ein elendes Wirthshaus nahm uns auf. Hier sollte gefrühstückt werden. Hier löste sich Alles. Die Lampe des Wirths beleuchtete unsere Züge. -- »Alle Donner!« rief der Capitän: »ist das nicht Madame Lainez? wie kommen Sie hierher, meine Schöne?« -- die Lainez glaubte, in die Erde sinken zu müssen. -- »Das Abenteuer nimmt eine üble Wendung,« sagte der Capitän hierauf halb lachend, halb bitter zu mir: »die Eine (Justine), die mir gefällt, wird von dir mit verliebten und argwöhnischen Blicken gehütet, und die Andere ... bei'm heiligen Georg! 's ist meine Frau!« Die Lainez weinte heiße Thränen. Justine staunte; ich nicht minder. »Ei, Madame!« fuhr der Capitän fort; »wie erging es Ihnen, seit wir uns trennten? und erinnerten Sie sich nicht, daß wir uns heilig zusagten, uns nie wieder zu sehen? Ich gestehe, daß nur der Zufall diese Rencontre herbeigeführt, aber es ist doch ein verdrüßlicher Zufall. Mußte mich ein Duell aus Frankreich verjagen, und unter meinem Cadetnamen in fremden Diensten nach Deutschland führen, damit ich Sie, meine Charmante, wiederfände? Genug, keinen Augenblick mehr mit Ihnen!« -- Er sprang empor, -- ich hielt ihn auf. Was soll aus den Frauen werden? fragte ich für Justine besorgt. -- Sollen wir sie ohne Schutz, ohne Führer hier auf der Straße nach Amsterdam lassen? Vollenden Sie Ihr Werk, Herr Capitän, wie ein ächter Edelmann. -- Eben deshalb! antwortete er frivol. Ich habe mein heiligstes Wort verpfändet, nie mehr mit dieser Dame, die einst die Meinige war, zusammen zu weilen; nicht eine Stunde, nicht eine Viertelstunde, und ein Edelmann hält sein Wort. Darum, -- wenn Mademoiselle sich mir nicht allein anvertrauen, und das intriguante Weib hier ihrem guten Glücke überlassen will, so lasse ich die Parthie unbeendigt. -- Justine weigerte sich nun auf's Heftigste, die Lainez zu verlassen, die _sie_ in ihrer Ohnmacht nicht verlassen hatte; weigerte sich, mit dem Capitän die Reise fortzusetzen. -- Pardieu! sagte endlich der leichtsinnige Franzose, dem es in seiner Gattin Nähe sehr bange und unfriedlich zu werden schien: so weiß ich kein Mittel, als Ihnen, meine Schöne, einen geliebtern Stellvertreter beizugesellen. Monsieur Leblanc« -- wendete sich mit scherzender Liebenswürdigkeit zu mir -- »Sie sind ein Galant homme, der in den groben Rock nicht paßt. Kraft der Gewalt, die ich in meinem Depot ausübe, schenke ich Ihnen die Freiheit, und werde Ihre Ranzion gegen meinen Fürsten bestreiten. Vollenden Sie dafür meine Ritterpflicht gegen Mademoiselle. Ihre Herzen stimmen überein, und mein Auge hatte mich nicht getäuscht. Führen Sie jedoch nicht minder Madame Lainez recht weit, in Regionen hinweg, wo sie recht glücklich sei; so unaussprechlich glücklich, daß es ihr nie wieder einfalle, heimzukehren, und ihren Gatten so empfindlich zu erschrecken. -- Meinen Dank, so wie dem Jammer, den die Lainez anhob, zu entweichen, warf er sich in den Wagen, und ließ mir eine Börse zur Fortsetzung der Reise zurück, die ich nur annahm, weil ich Justine von jedem Hülfsmittel entblößt, und den Senator zu Amsterdam glaubte. Dieser würde unfehlbar die Ehrenschuld sogleich getilgt haben! -- Aber ... nun weiter. -- Was übrig bleibt, ist wenig. -- Wir setzten die Reise mit Eilpferden fort. Justine verklärte sich in der Hoffnung, den geliebten Vater wieder zu umarmen. Die Lainez weinte in einer Stunde eine Sündfluth, trocknete sie in der andern; verwünschte in der dritten ihren Mann und seine Unverträglichkeit, lachte in der vierten herzlich über die unvermuthete Ueberraschung, und schwor endlich, leichtsinnig und vogelfrei gegeben, Justine nicht zu verlassen, bis der Senator gefunden sei. Justine hegte ein stilles Mißtrauen gegen mich, das mich bekränkte, denn nie war ich redlicher ergeben, als gerade jetzt. -- Wir gelangten nach Amsterdam. Nicht Sie, nicht der Senator waren mehr zugegen. Das Schiff des Tormerpick hatte Sie schon hinweggetragen. Van den Höcken gab mir den lakonischen Brief des Senators, in dem es nur hieß: zu Assumcion in Paraguay erwartet der Vater seine Tochter! Diese neun Worte belebten Justine mit dem erstaunlichen Muth, der sowohl die Lainez als mich dem Mädchen dienstbar und unbedingt gehorsam machte. Wir betrieben unsere Abreise. Wir bestiegen das Schiff, wir befuhren die Meere. Aber je klarer die See _unter_ uns, je heiterer über uns der Himmel wurde, je trüber wurde meine Seele. Der Amerikaner hat mich getäuscht; meine Leidenschaft hat mich getäuscht; alle Hoffnungen der Sehnsucht haben mich betrogen. Justine ... _liebt_ mich nicht. Sie trägt mein Bild nicht in ihrem Herzen, nicht an ihrem Halse. Mein Leben ist verloren. Ich habe mich dem edeln Geschöpfe unwürdig, falsch gezeigt; ich fühle es: sie kann mir nicht vergeben, kann mich nur dulden, nicht achten, nicht lieben. Nichts mehr davon: das sei todt und ab. Ich habe mich ausgeweint, stand ich in verschleierter Nacht auf dem Verdeck des Schiffs, wo mich die Wache duldete. Ich habe den flammenden Sternen mein Leid geklagt! ich habe es den ziehenden Wolken mitgegeben, und in mancher Nacht, wann der gespenstige Holländer auf seinem Nebelschiff durch die graupige Luft sauste, daß den abergläubischen Matrosen das Haar zu Berge stand, einen härtern Kampf gekämpft, als jenes Luftgespenst mit seinen weißen Wolken. 'S ist nun vorüber, und ich will Ihnen nur kurz erzählen, daß wir auf der Rhede zu Buenos-Ayres Anker warfen, daß wir den mächtigen Silber- und Paraguayfluß heraufschifften, und unfern von Dios Padre mit einigen Geistlichen und ihrem Gefolge zusammentrafen, die sich ebenfalls den Fluß herauf begaben. Der Eine von ihnen ist ein vornehmer Geistlicher Ihres Ordens aus Cordova; der Andere Rector des Collegiums zu Assumcion. Sie gesellten sich zu uns; ihre Ruderer sind zahlreicher als die unserigen, geschickter und gehorsamer. Sie erfuhren unsere Namen bald, und der Rector erzählte hierauf von Ihnen und dem Senator, daß Sie beide nach der Doctrina Santa Dominica abgegangen; Sie, um eine Handelslieferung zu bewerkstelligen; der Senator, um seine angegriffene Gesundheit wieder herzustellen. Diese Nachricht beunruhigte Justine, und verdoppelte ihre Begierde, schneller fortzukommen, den Vater eher zu sehen. Der Zufall will, daß die Väter Jesuiten ebenfalls hierher ihre Reise richten. Wir blieben daher auf der Parana auch beisammen, und ich flog auf einem raschen Pferde voraus, unsere Ankunft anzusagen, und den Senator vorzubereiten, damit die unvermuthete Freude seiner geschwächten Gesundheit nicht schade. Morgen, spätestens zu Mittage kommen die Freunde nach, um die Gastfreundschaft von Santa Dominica anzusprechen.« -- »Ich heiße sie im Voraus, und im Namen meines freundlichen Wirths, willkommen,« sagte Münzner mit niedergeschlagenen Augen und zögerndem Tone: »Nur Schade, daß gerade in diesem, so fröhlichen Augenblicke, der gute Senator nicht zugegen sein kann.« »Nicht, mein Vater? Wo ist er?« »Er hat einen Streifgang in das Land gemacht,« fuhr der Jesuit wie oben fort: »wir erwarten ihn bald zurück, und dann...« »Einen Gang in das Land, mein Vater? ein kranker Mann? wie konnte er's wagen?...« »Tief im Lande träufelt aus einem Baume, den sie Anguay nennen, ein köstlicher Balsam, der an der schwächsten Brust Wunder thun soll. Dieser Balsam muß zur jetzigen Jahreszeit gewonnen, und sogleich an Ort und Stelle gereinigt und gebraucht werden. Dies Heilmittel aufzusuchen, entfernte sich der Senator.« »Und Sie begleiteten ihn nicht, mein Vater?.... Verhehlen Sie mir auch nichts? --« »Ich belüge dich nicht,« erwiderte Münzner scharf und ungeduldig, sich von ihm wendend; dann trat er besänftigter zu dem Jüngling, reichte ihm die Hand, und sagte: »laß uns von etwas Anderem reden, von etwas Erfreulicherm; von deiner Ankunft, und immer wieder von deiner Ankunft. Sieh, hier zu Lande fließt das Blut selbst in den Adern alter Leute rascher, als drüben. Man braust leicht auf: man liebt aber wärmer, man freut sich lebendiger. Wirst du denn meine Freude vervollständigen? Wirst du _hier_ das Gelübde erfüllen, das dich in Europa anwiderte? Thu es hier! hier hast du die schönsten Werke der Gesellschaft vor Augen.« »Muß denn diese Frage in der ersten Stunde meines Empfangs aus Ihrem Munde gehen?« fragte James sanft aber gekränkt. »Ich schweige!« versetzte Münzner mit einem Seufzer: »Wohl dir jedoch, mein Sohn, wenn nur _mein_ Mund ferner diese Frage an dich richtet. Doch, sieh!« fügte er hinzu: »Die Luft ist wieder hell geworden. In diesen gelobten Ländern reinigt das wohlthätige Gewitter in kurzer Zeit den Luftkreis. Der Abend ist wieder still und herrlich, und gewürzig duften alle Blumen und Büsche um uns her. Werde auch du ruhig, mein Sohn. Ich gehe, unsern ehrwürdigen Wirth auf den Besuch vorzubereiten, der ihm werden soll. Wir erwarten dich in dem kühlen Vorplatze.« Münzner entfernte sich. James lehnte sich an eine Fensterlucke, sah in den Hof. Der Empfang im Pfarrhause schien ihm räthselhaft; sein Wohlthäter um vieles verändert. Nicht die Züge allein, -- die in zehn Monden um so viel Jahre älter geworden waren -- was eine Folge der Himmelstrichsveränderung sein konnte,.... sein _Wesen_ war anders geworden. Nicht mehr jene ruhige Bestimmtheit, jenes klare Streben, jener einfache Gleichmuth, -- Eigenschaften, die ihn vor vielen ausgezeichnet hatten ... eine trübe Strenge, ein tiefsinniges Brüten lag auf Stirne und Schulter des Mannes, daß die Erstere sich faltete, wie im Kummer, -- daß die Letztere sich beugte, wie im Joch. James sah auf zu dem Himmel, der ein anderer und dennoch derselbe war, wie der, unter dem er geboren; er sah auf Häuser und Felder, die so ganz verschieden von den europäischen waren, und doch eben nicht anders als diese; und mitten unter diesen fremdartigen und doch bekannten Dingen und Gegenständen kam er sich so einsam, so fremd, so unbekannt vor; ... so verlassen! -- Schon flirrte die Dämmerung, früh einbrechend, um ihn. Ein schlankes Mädchen in der einfachen reizvollen Tracht jenes Landes schritt durch den Hof, nach dem Lusthäuschen im Garten, das, sich an den Johannisbrodbaum und die nachbarlichen Wachspalmen lehnend, aus engen, gegen Fliegenbesuch schützenden Gittern von Rohr erbaut, ein erquickendes Plätzchen in der Kühle gewährte. Der Tisch wurde darinnen zum Thee bereitet, und James, der lieblichen Gestalt folgend, die mit einer wohlverwahrten Glaslampe zuletzt nach der Laube ging, überraschte sie bei der Vollendung ihres Geschäfts. »Ach, sieh doch!« sagte er, »meine schöne Helferin! Kennst du mich noch, mein Kind? Dein Wort gab mir Trost, als ich rathlos am Wege saß!...« »Gott hilft immer!« versetzte das Mädchen, ihn mit kindlicher Ruhe betrachtend. »Durch seine Engel!« fügte James seufzend hinzu, und setzte bei: »die herrliche Blüthe, die deine Brust schmückt, wie nennt man sie?« »Die goldne Mondblüthe!« antwortete das Mädchen, und reichte sie ihm unbefangen hin: »wollt Ihr sie, Herr?« James nahm die Blüthe zögernd. »Du giebst einen schönen Schmuck weg, mein Kind, der dich besser ziert, als selbst das glänzendgelbe Glaskorallenband um deinen Hals.« »Das ist nicht Glas, Herr!« versetzte das Mädchen ernsthaft und unterrichtend: »das ist der Balsam, der aus einem Baume fließt, weit, weit von hier, den ich aber nicht zu nennen weiß.« »Wolltest du mir wohl _deinen_ Namen sagen?« fragte James weiter. »Warum nicht, Herr? Ich heiße Ines. So bin ich getauft, und Vater Luis hat mich selbst getauft, damit ich zum lieben Herrn im Himmel komme.« »Du Unschuldige! Wie alt bist du, gute Ines?« »Seit ich hier bin, hat die Algarova zwölf Mal geblüht, und im Walde erinnere ich mich, sie drei Mal in der Blume gesehen zu haben.« »Im Walde, Kind?« »Ich bin darin geboren, Herr, ein wildes Kind, von Wilden.« »Ja, wild bist du, meine Ines. Wie du auf dem schnaubenden Pferde dahersprengtest, und an mir vorüberjagtest; ... mir bangte für dich.« Ines lachte. »Seid ruhig,« sagte sie, »ich halte mich fest, und das Pferd, das eine Mähne trägt, wirft mich nicht ab. Meine Landsleute sind für's Pferd geboren.« »Deine Landsleute?« »Ja; die Abiponer, Herr! Der Vater setzte mich stets vorn auf seines Thieres Hals, und auch die Mutter saß zu Pferde. Ich entsinne mich dessen noch gar wohl. Wie ich von meinem Volke kam, ist mir viel dunkler geblieben. Ich schlief, Herr. Neben der Mutter schlief ich auf der Matte, und es war alles Nacht und dunkel um uns her, als wir uns niederlegten. Es waren viele Leute und viele Pferde, die um uns her im Kreise standen, und die Feuer ließ man ausgehen, weil die Sterne so herrlich am Himmel glitzerten. Das weiß ich noch gar gut; denn nimmer habe ich seither einen so großen, weitgespannten Himmel gesehen, wie dazumal. Wir schliefen also, und mit einem Male donnerte es, daß ich hell aufwachte. Ich sah recht Vieles um mich her: Feuer und Dampf; Blitze und Reiter. Die Mutter war auch zu Pferde, und ich hing an einem Sacke von Fellen an ihrem Sattel hernieder. Das Pferd rannte fort, und plötzlich ... wachte ich wieder auf, und sah nicht mehr das Pferd, und nicht mehr die Mutter, sondern ich lag in einem kleinen grünen Walde, wie in einem Korbe, und die feinen Spitzen des Waldes gingen hoch über mir, wie ein lichtes Dach, zusammen. Die Sonne schien sanft und gelb hindurch, und ein leichter Wind bewegte das Dach, daß es sich abwechselnd aufschloß, um mir in aller Höhe den blauen Himmel zu zeigen, bald sich wieder zuthat, mich in die grüne Einsamkeit zu versenken. Ich schrie, trotz meinem Behagen, denn die Mutter fehlte mir. Da raschelte es seitwärts neben mir, und durch die Halmen des Waldes streckte sich ein neugieriger beweglicher Kopf von einem wunderschönen Thiere, gefleckt, gestreift, in allen Farben glänzend, und ich wußte damals nicht, daß eine böse Schlange mich ansah, und streckte ihr spielend die Hände entgegen. Der Kopf zitterte, als ob er zaudernd witterte, immer näher, erreichte mich fast, und fuhr dann plötzlich zurück, mit einem pfeifenden Schrei. Ein großer Schlangenleib warf durch diese Bewegung eine seiner Windungen auf meinen Leib, riß sich indessen schnell und kräftig ins Grüne und verschwand wie ein Pfeil. Dafür kamen andere Gäste lärmend und brüllend einhergejagt, wie ein Sturm, und mit einem Male sah ich über die Spitzen des Waldes ein breites gehörntes Haupt herniederschauen. Ich glaubte die Heerde des Vaters in der Nähe, und schrie so laut, als der Stier brüllte, und -- nicht lange, -- so stand ein dichter Kreis von solchen Thieren um mich herum, und glotzte mich hülfloses Kind an, das sich an einer Staude emporrichtete, und furchtsam die unbeweglichen Thiere betrachtete. Da fand mich der Ochsenhirte von Rosario, hob mich auf, und brachte mich dem guten Pater Luis, der mein Vater wurde, weil Gott mir die Eltern genommen, damit ich sein _eigen_ Kind werden sollte. Die arme Mutter muß mich, vielleicht im Schlafe, vom Schooße verloren haben, denn der grüne Wald, von dem ich redete, war nur das hohe Gras der weiten Savanna, und ich wäre dahin gewesen, ohne Gottes Schutz!« »Armes Mädchen! Mutterlose, arme Waise!« »Ich bin nicht arm und nicht unglücklich, Herr! Ich habe ja in Don Luis einen Vater gefunden, und in der Kirche steht das Bild meiner _himmlischen_ Mutter, mit Gold und Seide geputzt. Ich bete zu ihm, ich rede mit ihm, und sie redet auch mit mir in meinen Träumen, oder wenn ich das Gesicht auf den Boden lege, und mir die Gedanken ausgehen lasse. Und die _heilige_ Mutter ist so gnädig, so liebevoll! Sie hat die arme dumme Ines verständig gemacht, ihr Heil zu begreifen; sie hat mich gekleidet, sie gibt mir Speise! Ach, Herr, ich bin nicht arm! Aber meine Mutter im Walde mag's sein, denn sie hat ihre Tochter nicht mehr, und auch keine im Himmel, mit der sie reden kann!« James schwieg ergriffen, und die fromme Ines ging weg. Ihre Reden klangen in des Jünglings Ohren nach. Unwillkürlich verglich er die Indianerin mit Justine. Beide schön, beide entschlossen und thatkräftig; beide die Unschuld selbst, und dennoch so ganz verschieden! -- Der feine Thee schmeckte ihm nicht. Das Gespräch der Jesuiten, das in lateinischer Sprache vor sich ging, behagte ihm nicht. Frühzeitig suchte er seine Matte, frühzeitig verließ er sie wieder. Die zahlreichen Heerden brüllten an der Gasse vorüber. Leute mit Ackergeräthschaften drängten sich auf dem Platze. Ein Zeichen mit der Glocke der Kirche, und die Schreitenden hielten an deren Pforte. Sie wurde aufgethan; Lichter brannten, Weihrauch dampfte; der silberhaarige Luis begann die Messe. Anstand und Würde von seiner, Andacht von der Zuhörer Seite vereinigten sich, den gewünschten Zweck hervorzubringen. Die Indianer gingen still befriedigt an die Arbeiten des Feldes, um unverdrossen die Stunde zu erwarten, in welcher Gott selbst durch die Hand ihres Vaters ihnen Nahrung spenden würde. -- James wünschte dem aus der Kirche tretenden Pfarrer Glück zu der Ruhe und fleißigen Eintracht in seiner Colonie. Luis lächelte und sagte: »Das findest du in allen unsern Doctrinen, mein Sohn. Friede ist erste Bedingung des Glücks, und Friede halten wir.« »Diese Leute besitzen jedoch nichts,« wendete der junge Mann ein: »Sie sind in jedem Stücke abhängig.« »Zu ihrem Besten, Freund,« sagte Luis lebhaft: »eigenes Besitzthum war die Quelle der Habsucht, des Neides, des Diebstahls, des Mordes. Wir kennen diese Dinge kaum von Namen; niemals hat seit meiner Amtführung einer von hier angesiedelten Quaraniern etwas entwendet; niemals endigte sich ein Streit mit Blut. Diese wilden Stämme, durch Ueberredung und Scharfsinn dem Walde, den Bergen und der Flußräuberei entfremdet, müssen wie unmündige Kinder gehalten werden. Freilich wird einst die Zeit kommen, die auch hier die Mündigkeit befiehlt; ich erlebe sie aber nicht mehr.« »Ihre Gesundheit, mein Vater, wird noch lange der Zeit trotzen.« »Die Zeit, mein Sohn, ist der Tropfen, der den _Stein_ höhlt. Gott sei Lob indessen für die Kraft und den Frohsinn, die mich in meine Silberzeit begleitet haben. Weißt du jedoch, woher das kömmt? ich bin im Gemüthe ruhig gewesen mein Lebelang. Ich habe nie hoch hinaus gewollt, nie von Ehrgeiz und Würden geträumt. Ich wundere mich selbst, daß ich Pfarrer geworden bin; ich meinte, höchstens zum Vikar tauglich zu sein. Aber der Pater Provinzial zu Cordova meinte es anders, und Gott hat mir mit dem Amte auch leidlichen Verstand dazu gegeben. So lebe ich denn ruhig und zufrieden hin, ohne Sorge, ohne Plage. Mich kümmert's nicht, was die Herren zu Cordova treiben; ich bin seit vierzig Jahren Bauer geworden, und die Bauern um mich her haben gelernt, mich nicht nur Vater zu _nennen_. In dieser rohen aber guten Kinder Mitte will ich sterben, arm und geliebt: das ist Alles, was ich wünsche. Daher bin ich auch gesund und frisch; frischer als Euer Pflegevater, der um zwanzig Jahre Lebens jünger ist, denn ich. Er trägt Gram auf dem Herzen; ich kenne den Kummer nicht; er hat sein Haus noch nicht bestellt ... ich habe seit vierzig Jahren meine Lampe angezündet. Er ist ein armer Mann, weil er zu Viel weiß, weil er zu Viel zu thun gezwungen,.... weil.... doch ich vergesse, daß ich zu seinem besten Freunde rede, der Alles dieses besser wissen muß, als ein beschränkter Landgeistlicher aus dem Missionlande. Beiläufig nur so viel: deine Weigerung, endlich das Kleid zu nehmen, mein guter fremder Sohn, trägt viel zu Pater Xaver's Betrübniß bei.« »Mein Vater...!« »Stelle dich nicht verwundert,« unterbrach ihn der Pfarrer gutmüthig aber eindringlich: »höre mich an: du hast dich verpfändet; du mußt dich lösen; das ist Eins. Du mußt denjenigen lösen, der aus Menschenfreundlichkeit dein Bürge geworden ist; das ist das Zweite. Du mußt endlich der Welt und dem Herrn dienen; das ist das Dritte, Nothwendigste. Wären wir in Europa, mitten im Gewebe der großen Spinne, um Mückenjäger in ihrem Solde zu werden, -- so würde ich die Achseln zucken, meinen Weg gehen, und mich nicht nach dem umsehen, was du beginnst. Aber -- hier -- in dieser jungen, frischen Welt, wo die äußersten Enden des Gewebes eingreifen, wo sie leichter, feiner sind, hier ist's etwas Anderes. Hier, auf dem Lande, hier können wir nützen. Hier kann die Mannskraft handeln, ein volles frommes Herz glücklich sein. Laßt den Herren zu Assumcion und Cordova ihre Ränke und Regierungssorgen! Wendet Eure Bemühungen auf diese armen Indianer, und handelt nach dem Willen des ewigen Vaters! O, mein guter Jüngling! wenn ich dich hier umherführe, und dir die reinlichen Haushaltungen zeige, in denen man christlich lebt und fleißig ist; die zufriedenen Familien, die weder das nomadische Leben, noch das betäubende Chicagetränk mehr verwüstet; die Väter, die, statt auf dem Pfühl der Trägheit zu ruhen, und dem Weibe Alles aufzubürden, jetzt die Versorger der Ihrigen sein würden, wenn die Gesellschaft nicht für Alle sorgte; die Mütter, die nicht mehr ihre unschuldigen Kinder würgen, um wieder der Leidenschaft zu huldigen, oder sich eine Plage mehr vom Halse zu schaffen; die Kinder selbst endlich, die in Gottesfurcht und Elternliebe emporwachsen, ein sanftes, friedliches, lernbegieriges Geschlecht; -- du wirst unser Loos glücklich preisen, und dich schnell demselben Berufe weihen, und schnell das Kleid anlegen, in welchem meine Quaranier mich als ihren Vater verehren; in dem ich mich dann und wann, von der Herrlichkeit meiner Bestimmung übermannt, für einen Strahl der Gottheit halten möchte, wenn es die einem armen Pfarrer anständige Demuth nur zuließe. Sieh um dich! diese Kirche habe ich errichtet, alle diese Hütten habe ich erbaut. Es ist keiner unter vierzig Jahren im Dorfe, den ich nicht getauft, -- es liegt keiner in unserer Kirchhoferde, den ich nicht begraben hätte. Wie die Palmen, wie die Tamarinden meines Hofes habe ich sie Alle, die da leben, jung gesehen! Alles ist hier mit mir alt geworden, und für das Generalat in Rom tauschte ich nicht meine geringe Pfarrei, in der ich Melchisedechs Würde trage, und nicht umsonst trage, weil mir das Bewußtsein sagt: dein Leben war nicht faul, nicht vergebens!« James sah noch horchend und lächelnd in des Greises hell leuchtende Augen, als vom Eingange der Mission sich viel Geräusch hören ließ, und der Alcade mit langen Schritten herbeikam. -- »Mein Vater!« sagte er zum Pfarrer: »Der Feldhüter bemerkt auf dem Strome schwere Kähne aufwärts kommen, mit vielen Leuten bemannt. Befehlt, was geschehen soll. Die Leute könnten räuberische Payaqua's oder spanische Abenteurer sein. Soll ich die Glocken läuten, Waffen austheilen? der Regidor ist auf den Aeckern, und ich habe nach ihm geschickt.« »Das sind unsere Freunde!« rief James, und eilte ohne Aufenthalt dem Strome zu. Die müßigen haushütenden Frauen und Greise und Kinder, die längs dem Ufer hin wohnten, oder Wäsche hielten, oder in der Sonne lagen, versammelten sich am Landungsplatze. Starke Reihen von zahmen Stieren und Pferden zogen die ankommenden Schiffe an tüchtigen Fellriemen und Leinenstricken gegen die Fluthen, und vierzig Ruder peitschten im schnellsten Takt, den Lauf zu verdoppeln den herrlichen Strom. Mehrere riesenhafte Payaquas, bis zum Gürtel im Wasser stehend, mit brennend roth gefärbten Haaren und breiten Schultern, leiteten die aus dem violetten Holze der Algarova gefertigten langen Kähne sorglich an Felsstücken und Sandhügeln vorbei, dem Landungsplatze zu. Der Anblick dieser wilden Leute beunruhigte die am Ufer stehenden Quaranier, doch ein Blick nach den Kähnen selbst beschwichtigte ihre Furcht. Zwei angenehme weiße Frauengesichter sahen zwischen krausen Negerköpfen wie Lilien aus der Nacht hervor, und neben ihnen flatterten schwarze Mäntel der Gesellschaft Jesu; _hier_ willkommene Boten der Friedlichkeit. -- Längs dem Strande zur Mission kehrende guaranische Jägersleute, die den Tapir in den Sumpfwäldern verfolgt hatten, feuerten mit gellendem Geschrei, die Väter des Ordens zu empfangen, ihre Gewehre in die Luft ab. Lebhafte Neger antworteten mit den Pistolen und Vogelflinten, die sie an Bord hatten. Die Glocke in der Mission läutete. Von Feldern und Wiesen strömten alle Bewohner zusammen. Pater Luis, sammt Regidor und Alcalde und den ältesten Indianern, erwartete am Ufervorsprung die Ausschiffung der Fremden. Auf den starken Schultern der Payaquas schwebten die Damen über die Fluthen; nach ihnen wurden die geistlichen Herren herübergeschafft. Mit ruhiger Demuth empfing der Pfarrer die Vorgesetzten; mit fröhlichem Jubel James seine Begleiterinnen. Justine sah sich mit glänzenden Augen rund um, und rief: »Ein herrlicher Ort, Monsieur White! wo aber ist mein Vater? ist er so krank, daß ihn die Nachricht von der Ankunft seines Kindes nicht an den Strand zu führen vermag? zu ihm! zu ihm, mein Herr! ich kann nicht eine Viertelstunde länger leben, ohne ihn zu sehen!« James führte sie, und versuchte, sie auf die Nachricht von der Abwesenheit des Senators vorzubereiten. Die lebhafte Jungfrau hörte indessen nicht auf seine Worte. Vergnügt, und mit strahlendem, Alles umfassendem Blick wendete sie sich im Gehen nach allen Seiten. Das mannigfache Grün der Cedern, der Palmen und Tamarinden, in welchem die gelben Dächer der Colonie lagen, ... bildete eine erquickende Aussicht. Der zarte Rasen des Ufers war ein sanfter Teppich, die Blüthen und Früchte an Hecken und Gelanden schmückten den Weg, und neugierig folgten die Weiber und Kinder, die noch nie an ihrem Wohnorte eine Europäerin gesehen, der lieblichen Gestalt. Justine war größer und voller geworden, ausgeprägter ihr Gesicht, schöner und feuriger ihr Auge, entschlossener ihre Haltung, ausdrucksvoller ihre Geberde; frei und zierlich ihr Gang, wie der der Lainez. Neugierig aber freundlich betrachtete sie das mitziehende Volk, grüßte, lachte mit den Kindern, sprach mit ihnen, erhielt aber von den Nichtverstehenden unverständliche Worte in den Kauf. Endlich war das Pfarrhaus erreicht, endlich stand Justine unter der Thüre desselben. Ihr Herz schlug ängstlich; ihr Mund öffnete sich, den Vater zu rufen. Pater Münzner erschien. Justinens Züge verdunkelten sich! -- »Sein Sie willkommen, geehrteste Tochter meines Freundes!« sagte Münzner, der diesen Eindruck wohl bemerkte, »ich wünschte Ihnen im ersten Augenblicke angenehmer zu sein.« »Das ist nicht möglich, und auch nicht nöthig,« entgegnete Justine ernsthaft und entschieden: »Ihr Anblick, mein Herr! erinnert mich an zu Viel. Erlauben Sie, daß ich Ihnen hier eine Freundin übergebe, die manches um Ihretwillen gelitten hat, und die ich den Verfolgern entriß, obgleich sie, wie Andere auch, ein falsches Spiel mit mir getrieben. Vergelten Sie mir den Dienst mit der einfachen Anweisung, wo ich meinen Vater zu suchen und zu finden habe.« Münzner schwieg bedeutungsvoll, und James, die ängstlich werdende Tochter zu beruhigen, wollte statt des Pflegevaters das Wort nehmen. Der geräuschvolle Eintritt des Pfarrers mit seinen geistlichen Obern, des Volks, das neugierig ihnen nachdrängte, unterbrach ihn. Zwei Indianer von den Schützen, die so eben wieder heimgekommen waren, machten sich heftig Platz durch die Menge und näherten sich eilfertig dem Pfarrer. »Da! guter Vater Luis!« sagten sie mit getrübter Geberde: »da ist Alles, was wir von deinem Gastfreunde gefunden haben! In dem Lager eines wilden Jagurate[3], den wir erlegten, fanden wir die traurige Beute.« -- Pater Luis starrte die Boten staunend an. Münzner erbleichte heftig, wie auch James. Justine stieß einen gellenden Schrei aus, denn -- war ihr gleich die Sprache der Jäger fremd und unbekannt, -- sie kannte das Kleid ihres Vaters, das sie blutig und zerfetzt, zu den Füßen des Pfarrers niederlegten. -- Mit rollenden Augen schlug das Mädchen die Hände zusammen, und rief mit dem Tone der entsetzlichsten Furcht: »Was ist hier geschehen? was mit meinem armen Vater vorgefallen? Wer Mitleid mit mir hat, verhehle mir nichts. Wer Gefühl in der Brust trägt, verheimliche einer bangenden Tochter nicht das Aergste!« Todtenstille im Kreise. Endlich faßte sich der Pfarrer, und sagte zu ihr in gebrochenem Deutsch: »Es ist besser, meine Tochter, daß der starke Christ die Zweifelschlange zertrete, denn die Wahrheit ist dem Himmel lieb und der Erde angenehm. Ihr Vater ist seit länger denn einer Woche abwesend. Er entfernte sich ohne unser Vorwissen, um in den unfernen Wäldern den Balsam zu suchen, der seine kranke Brust heilen sollte. Ein Indianer hat ihn begleitet. Keine Nachricht seitdem, bis auf diesen schrecklichen Fund, der uns nur zu deutlich macht, daß der Unglückliche eines wilden Thieres Beute geworden ist. Fassen Sie sich. Gottes Rath ist unerforschlich, aber weise.« Justine sank kraftlos in die Arme der Lainez, deren Augen selbst heiße Thränen entfielen. Eine erschütternde Scene folgte. Luis unterhielt seine Ordensbrüder von der traurigen Geschichte; James stand seinem Pflegevater bei, der in trüber Wehmuth verging, und auf das Ergreifendste immer wiederholte: »Meine Schuld! meine Schuld! meine größeste Schuld!« Justinens Schmerz wurde brennend wie die Wunde an ihrem sehnenden, zerrissenen Herzen. Sie stieß die Lainez von sich, den tröstenden James, den Doctor, der seine Leiden mit den ihrigen vereinigen wollte. -- »Weg!« rief sie außer sich: »Ihr Alle weicht von mir! denn Ihr habt unser Aller Elend verschuldet! Ihr habt meines Vaters Glück, seine Ehre, sein Leben gemordet! Was soll mir Eure Theilnahme! -- Weg auch du!« fuhr sie zürnend und weinend fort, indem sie den ehrwürdigen Luis, der sich ihr näherte, zurückwies: »Du trägst das Kleid dieser Mörder, dieser Diebe an Gut, Leben und Ehre! Weg! Deine weißen Haare lügen, wie deine fromme Stirne! Gebt mir meinen Vater zurück! Ich habe tausend Meilen gemacht, um Verbannung und Unglück mit ihm zu theilen, und finde ihn im Rachen eines Ungeheuers wieder! Und dieses Ungeheuer ist gnädiger als Ihr, denn es hat ihn schnell hinweggerafft, während Ihr ihn langsam hingerichtet habt! Kann ich denn meinen Erinnerungen so wenig entfliehen, als dieser qualvollen Gegenwart?« -- Sie drängte mit erneuter Kraft die Lainez von sich; ihr Auge fiel auf Ines, die ängstlich, aber freundlich zu der Fremden flehend, vor ihr auf den Knieen lag, ihre Hände drückte, ihr tausend schöne Worte sagte, und die kühlende beruhigende Frucht der Quembe bot; dem Gaumen der Erhitzten ein willkommenes Labsal. Die kindlichen reinen Züge der Indianerin stimmten Justinens Bewegung in sanftere Wehmuth um; die Leidende gestattete es, daß einige Tropfen des kühlenden Saftes ihre Lippen benetzten, sie litt die Liebkosungen der Indianerin; sie drückte dieselbe an ihre Brust. »Ja!« rief sie schmerzlich: »Du, fremdes Geschöpf, du bist hier meine einzige Verwandte! Jene, die meines Welttheils Farbe und Sitten haben, sind meine geschworensten Feinde! Sie haben meinen Vater in den Staub getreten, sie werden mich nicht verschonen! Sie haben ihn getödtet, sie werden auch mich vergiften. Nur von deinen Händen will ich meine Speise nehmen! Nur du, mein Kind, meine Schwester, nur du sollst bei mir sein, bis mich mein Gott wieder aus diesem Mörderlande führt!« -- »Beruhigen Sie sich!« sagte der Rector von Assumcion, ein Franzose von Geburt, schmeichelnd und süß wie Honig: »die arme Wilde hier versteht nicht, was Sie ihr sagen. Ihr Widerwille gegen unsern Trost ist dagegen unbegreiflich. Verwünschen Sie nicht uns, nicht dieses Land, das Canaan für Sie genannt werden mag. Gott hat Ihnen viel genommen, allein, wie er es gegeben, kann er es auch wieder entziehen. Ihr Vater ist in seinem Schooße, denn er ist in seiner wahren Kirche Grundsätzen gestorben. Sie haben noch den Schritt in diese Kirche zu thun, und je schneller Sie ihn machen, je schneller wird der göttliche Trost bei Ihnen einkehren.« »Monsieur!« rief Justine empört, und maß ihn mit zornigen Blicken. Der Rector ließ sich von dem Tone der Höflichkeit dadurch nicht abbringen. »Wie gut wäre es gewesen,« sagte er, »wenn Ihr würdiger Vater im Stande gewesen wäre, selbst, in eigener Person, seine Tochter dem Gotte darzubringen, dessen Gnade die letzten Jahre seines Lebens verherrlicht hat. Aber -- in seiner Ermangelung -- liegt mir, dem Vollstrecker des Testaments, das er vor seiner Abreise von Assumcion in meine Hände legte, ob, seine Pflichten gegen Sie und die Kirche zu erfüllen. Ein günstiges Zusammentreffen wird Sie schneller an's Ziel bringen. Pater Jose Aculcho, einer der würdigen Consultadoren des hochwürdigen Provincials zu Cordova, der hier steht, wird Sie unter seinem Schutze nach Cordova bringen, sobald unsere Umreise durch die ihm zugetheilten Doctrinen beendigt wurde. Im Kloster der Carmeliterinnen werden Sie Unterricht, theilnehmende Herzen und eine ewige sorgenlose Existenz finden, übereinstimmend mit den Bedürfnissen Ihrer Lage, und dem letzten Willen Ihres seligen Vaters!« »Mein Gott!« rief Justine, die nun erst begriff, wo Alles hinaus wollte; »was sagen Sie? Sie getrauten sich, mich, ein freies Mädchen, das Ihnen nicht in Lehre, nicht in Pflichten unterworfen ist, mit Zwang zu einem Dasein zu führen, das ich verabscheue?« »Ihr Vermögen, Ihres Vaters Erbe, liegt in unsern Händen, unbeschadet der Ansprüche, die wir noch dereinst auf Ihr europäisches Gut zu machen haben dürften,« lautete die trockene Antwort des Rectors. Justine blickte fragend und durchbohrend den Doctor Münzner an. Dieser nickte mit dem Haupte und sagte niedergeschlagen: »So ist's, beste Jungfer. Ihr Vater verlobte der heiligen Gesellschaft schriftlich sein Vermögen, _Sie_ der katholischen Kirche und einem beschauenden Klosterleben!« »O der Tücke, die ihn dazu gebracht!« versetzte Justine äußerst heftig; »Geldhunger war die Triebfeder Eurer Handlungen? So nehmt es denn hin, das elende Geld! Wo meines Vaters Leiche blieb, bleibe auch seine vergängliche Habe! Lassen Sie mich nur wieder von dannen ziehen um diesen Preis! Ich will nicht klagen, will nicht murren, will mein Brod vor den Thüren betteln! Nur hinaus aus diesem Lande, worinnen mich nicht einmal das Grab meines Vaters zurückhält! Hier sind noch einige Diamanten! Sie sollen von Werth sein! Nehmen Sie diese letzten Ueberreste einer Wohlhabenheit hin, die Ihre Brüder vernichteten. Lassen Sie mich jedoch zur Stunde fort! Hier lebt nicht mein Vater! nicht mein Glauben! Ich sterbe unter diesen Menschen!« »Arme!« sprach Münzner trübe vor sich hin; »_aus_ des Löwen Höhle führen keine Fußtapfen.« Der Rector lächelte über die Aufregung Justinens, und sprach mit dem Consultador spanisch. Dieser winkte mit der Gravität des Vorgesetzten dem Pfarrer, und sagte ihm: »Sie stehen mir dafür, daß die Person sich kein Leid anthut, und daß ich sie bei meiner Rückkehr wieder finde.« Justine, von Thränen übermannt, und das Gesicht in ihre Hände verbergend, beachtete nichts um sich her. Die Lainez und die Indianerin sprachen zu ihr, wie zu einer Bildsäule. Münzner ging händeringend im Hintergrunde des Gemachs auf und nieder. James starrte düster vor sich hin, und der Pfarrer entfernte das Volk, bis auf die Obern der Colonie. Dann sagte er bescheiden aber fest zu dem Consultador: »Mein Vater! ich erinnere Sie, daß mein Pfarrhaus kein Gefängniß ist. Noch viel weniger scheint mir die Jungfrau eine Verbrecherin.« »Sie gehorchen!« war die kurze drohende Antwort; »ich nehme Alles bei dem Provinzial auf mich.« »Bedenken Sie!« sagte Luis; »wenn der Generalcapitän erfährt...« »Was da?« brausten Consultador und Rector auf. »Hier ist der heilige Ignacio Generalcapitän. Wo wären wir der Excellenz zu Buenos-Ayres unterworfen? Haben wir nicht unsere Verträge, unsere Rechte? Wo die Gesellschaft befiehlt und den Tribut bezahlt, muß Monarch und Statthalter schweigen.« »Das nimmt kein gutes Ende!« sagte Luis: »ich protestire.« »Mademoiselle Müssinger ist eine Fremde!« sprach James, der nur mühsam bisher an sich gehalten: »wie wollen Sie, meine Väter, verantworten, was Sie thun?« »Wer spricht hier?« fragte der Rector drohend entgegen: »Mademoiselle ist durch den Tod ihres Vaters meine Mündel.« »Sie wollen die erschlichene Gewalt mißbrauchen!« rief James erhitzt. »Mein Sohn, bedenke, wo du bist!« mischte sich Münzner besorgt ein: »und Sie, meine Väter und Obern, vergeben Sie dem unbesonnenen jungen Manne, der ein schnelles Urtheil spricht.« »Das soll ihm übel bekommen!« sagte der Rector aufgebracht: »Des Provincials Nachrichten aus Deutschland reden von dem widerspenstigen Engländer, der seine Pflicht umgehen möchte. Das Provinzialat wird _ihm hier_ sein Urtheil sprechen.« »Unglücklicher!« seufzte Münzner, James Hand fassend: »siehst du? meine Ahnung!« »Mein Urtheil!« fuhr James auf: »Was habe ich Ihnen, was dem Orden gethan?« »Du hast viel gekostet, und unsere Erwartungen betrügen wollen,« antwortete der Consultador mit harter Stimme: »du hast schwere Buße verwirkt, und nur Nachgiebigkeit kann dir einen würdigern Platz in unsern Häusern erwerben.« »Nimmermehr!« entgegnete James: »Dieses unschuldige Lamm soll geopfert werden, und ich nicht minder? Machen Sie mich zu Ihrem Sklaven, aber nicht zu ihrem Bruder!« »Welche freche Sprache?« polterte der Rector. »Sie soll ihm vergehen,« sagte der Consultador: »die Bußkammer zu Cordova soll ihn zahmer machen. Für's Erste, Bursche, verlässest du diese Doctrina nicht. Wie für die Sennora, haften mir Pfarrer und Regidor für dich.« James knirschte. Münzner trat besänftigend vor ihn, und sagte zu dem unwilligen Herrn von Cordova: »Schonen Sie ihn um seines Jähzorns willen! Es wird sich Alles legen. _Ich_ bürge, daß Sie ihn ruhiger hier wieder finden.« »Wer bürgt uns denn für Sie, Pater Xaver?« fragte der Consultador höhnisch: »Ihr Schicksal habe ich in der Tasche. Ihr Provincial reklamirt Sie. Sie werden ungesäumt nach Europa zurückkehren, um sich vor ihm über den Ausschlag Ihrer Mission daselbst zu verantworten. Sie sind wichtiger Punkte angeklagt.« Münzner stand wie niedergedonnert; dann hob er die Augen gen Himmel und sagte: »Wie du willst, Herr! -- Aber dich zurücklassen, _hier_ zurücklassen, mein James?« setzte er bei. »Desto besser!« sprach der Rector bitter: »Euer Beispiel, Ihr Deutsche, verdirbt jeden guten Keim. Ihr bildet Raisonneurs, Grübler, und Grübelei führt zur Blasphemie.« James wollte sich voll Wuth von dem Doctor losreißen, der ihn begütigend fest hielt. -- »Sie werden dich noch binden lassen!« sagte er auf Deutsch zu dem Jüngling, und im selben Augenblick befahl der Consultador dem Alcalden, Negerketten herbeizubringen, und sie dem Jüngling anzulegen. Pater Luis trat schnell vor, und entgegnete mit edlem Feuer: »Meine Obern vergeben! Diese Dinge sind aber unbekannt in meiner Mission. Wir haben nicht Ketten, nicht Peitschen; nicht einen Strick, um einen Menschen damit zu binden. Diese armen jungen Leute sind meine Gäste. Die Gastfreundschaft duldet keine Mißhandlung.« »Gehorsam!« rief der Consultador. »Euer Hochwürden vergeben,« sagte der edle Greis wie oben: »ich bin siebzig Jahre alt geworden, ohne etwas Schlechtes zu thun. Ich will nicht erst jetzt anfangen, selbst wenn Don Philipp, unser allergnädigster Herr, es so zu haben begehrte. Wir sind hier auf dem Lande, unter harmlosen Menschen. Hier ist's uns auch in der Ordenskleidung vergönnt, ein Mensch zu sein. Ich bin der Vater meiner Untergebenen; der Freund der Fremden; nicht ihr Stockmeister. Verlangen Sie das nicht, meine Obern.« »Schwachkopf!« -- sagte der Rector verächtlich vor sich hin. Der Consultador drohte dem Pfarrer ernsthaft mit dem Finger: »Sie machen sich eine böse Note, lieber Mann,« sprach er: »Ohnehin hat Ihr Vikar, der nach Cordova zurückkam, Ihrer nicht zum Besten gedacht.« »Weil ich ihn fortschickte,« war Luis Antwort: »weil er in Kirche und Haus, bei Männern und Frauen Alles das that, was unser Heiland nicht gethan hat. Der ehrwürdige Pater Provincial wird aber auch mich hören, und nicht allein den tückischen Andalusier. So alt ich bin, scheue ich noch nicht, dem Recht zu Liebe, den weiten Weg nach Cordova.« »Ihr werdet ruhig hier verbleiben!« erwiderte ihm mit imponirendem Tone der Consultador: »Die Disciplinargesetze unserer Gesellschaft sind Euch seit einem halben Jahrhunderte bekannt, und somit kein Wort weiter.« -- »Ich bin kein Rebell,« antwortete der verblüffte Pfarrer: »aber was Sie verlangen, ist nicht meines Amts.« »Sie kommandiren Ihre Milizen als Oberst,« lachte der Consultador; »Sie verstehen es aber nicht, einen Menschen zur Haft bringen zu lassen! Sennor Corregidor! Sorgt Ihr, daß dieses Mädchen sowohl, als der junge Mensch getrennt in ein sicher verwahrtes Haus gebracht werden, bis zu meiner Rückkehr.« »Ruhig! du machst dich unglücklich, und mich noch elender, als ich bin!« sprach Münzner begütigend zu dem auflodernden James, der mit den Worten: »auch Sie mein Vater?« die Hände sinken, Alles mit sich beginnen ließ. Regidor und Alcade versuchten, den Befehlen des strengen Aculcho einige Milderung abzugewinnen, aber er faßte ihre schwächste Seite, indem er sagte: »Ihr seid excommunicirt, wenn Ihr länger widerstrebt! Der junge Mann ist ein unserm Hause Entsprungener, das Mädchen eine Ketzerin. Beide gehören vor unser Gericht, und der Generalcapitän zu Buenos-Ayres mit all' seinen Schergen hat ihr Schicksal nicht zu schlichten.« Das Wort »Ketzerin« machte die guten Leute, die um Justine beschäftigt waren, zurücktreten. Auch Ines entfernte sich, schüchtern ein Kreuz schlagend. James lachte bitter, und folgte finster schweigend dem Alcaden, der ihn fortführte. Der Regidor bedeutete Justinen, ihm ohne Widerrede zu folgen. Durch den Schleier ihrer Thränen emporsehend, fragte sie erschöpft: »wohin führt Ihr mich?« -- Da aber der Regidor ihr nicht antworten konnte, und keiner derjenigen, die ihre Frage verstanden, antworten wollte, so folgte sie ihrem Führer wie ein Lamm mit den Worten: »gleichviel, wohin es geht. Nur aus dem Bereiche dieser Menschen, deren Blicke mich vergiften!« -- »Sie, Pater Xaver,« sprach der Consultador, »geben mir Ihr Priesterwort, sich nur, um nach Cordova und von dannen nach Europa zu gehen, aus der Doctrine zu entfernen, und Ihrem Zögling auf keinerlei Weise zum Entweichen behülflich sein zu wollen!« -- Nach einigem Bedenken gab Münzner das Wort. »Das Erste mit Freuden,« sagte er: »ich hoffe, in einigen Tagen bereit zu sein, mit dem ersten Waarenkahn abzureisen. Das Zweite verspreche ich mit Leid; aber überzeugt, daß meine Hülfe meinen guten Sohn nur in größeres Unheil stürzen würde. Wenn übrigens die Bitte eines Mitbruders für Sie von einigem Gewicht wäre, so ersuchte ich Sie, die Tochter des verunglückten Müssinger gnädig und milde zu behandeln. Wir haben viel an ihrem Vater und Ihr verschuldet, meine Väter, was erst in der Folge klar werden dürfte. Mich, der ich das arme Werkzeug sein mußte, bald mit wohlwollendem, bald mit blutendem Herzen, ... mich ereilt jetzt das Schicksal; denn mein Loos in Europa wird ein hartes sein. Erschweren Sie es nicht, meine Freunde in Christo, durch die Leiden der unglücklichen Justine!« Die fremden Jesuiten sprachen hierauf kein Wort, und nannten den Fortgehenden verächtlich einen Träumer, dessen Zukunft hart, aber nicht ungerecht sein könne. Zugleich wurde die Lainez, von deren bisherigem Wirken man, durch die, fast gleichzeitig mit ihr angekommenen Berichte, genau unterrichtet schien, aufgefordert, bei Justine ihr Heil zu versuchen, und nichts zu versäumen, um diese auf den Weg des Heils zu führen. -- »Zu lange, wie wir vernehmen, arbeitet Ihr schon an diesem Geschäft,« sagte der Rector geringschätzend: »ich möchte Euch rathen, das Brod der Gesellschaft nicht als eine unnütze Arbeiterin zu verzehren. Im Gegentheile, wenn's Euch gelingt, die Widerspenstige, ehe der Pater Consultador wieder kommt, zu bekehren, sollt Ihr nach Verdienst belohnt werden. Die gottesfürchtige Frau von Guébriant, die sich vor den Gräueln der Regentschaft nach St. Fé flüchtete, bedarf einer Kammerfrau und Vorleserin, und dieser einträgliche Posten soll Euch durch mein Fürwort nicht entgehen.« Die Lainez, in ihrer Eitelkeit beleidigt, rümpfte, ebenfalls geringschätzend, die Nase, und antwortete: »ich danke Ihnen für den guten Willen, meine Väter; bin aber zu schwach, ihn zu verdienen. An dem Mädchen ist nicht das Mindeste zu ändern. Sie ist von einem Eigensinn, der Ihnen zu schaffen machen wird, und, da es nun einmal so ist, möchte ich rathen, sie lieber zu lassen, wie sie bisher war. Mein Streben ist, was sie betrifft, geendigt, und ich will die Freundschaft, die sie mir erzeigt, mit der sie mich gefesselt hat, nicht mit Leiden vergelten. Madame Guébriant wird eine andere Kammerfrau finden, und mich in Frieden nach Frankreich zurückkehren lassen, wo die Hitze nicht so unausstehlich, die Sprache angenehmer, und die Tracht weit anständiger ist.« -- »Das müßtet Ihr allerdings,« versetzte der Rector hochmüthig. »Wir gedenken nicht, unnütze Leute von zweifelhaftem Charakter in den Colonien zu füttern. Ihr werdet mit dem Deutschen Xaver abreisen, ein würdiges Paar träger Diener. Hebt Euch jetzo weg! Für eine gute Note wollen wir Sorge tragen!« Die Lainez ging mit diesem Bescheid. »Hätte ich Vermögen,« sagte sie mit Bitterkeit zu dem Pater Münzner, dem sie Alles erzählte, »so würden mich die gescheuten Finanziers schon freundlich gebeten haben, da zu bleiben. Pfui der Schande! ich eine Magd der alten unerträglichen Frau v. Guébriant? Um solchen Preis sollte ich meine schönsten Jahre einem Bemühen hingegeben haben, das täglich meinen Charakter und meine Existenz gefährdete? Aber nur Geduld, mein würdiger Vater! Man mißhandelt auch Sie. Lassen Sie unsere Kräfte vereint wirken. Mein Provincial wird unsere Berichte getreulich nach Rom befördern. Die Menschen hier am Ende der Welt sollen erfahren, was es heißt, einer Frau von Stande unwürdig zu begegnen.« »Madame Lainez,« antwortete der Doctor ruhig: »Laßt uns nicht Steine auf Andere werfen. Wir haben genug mit uns selbst zu thun. Wenn doch Ihr Geist ebenfalls die Erschütterung empfände, die der Meinige seit meiner Anwesenheit in diesem Lande empfindet! ich gehe nach Europa zurück, um elend zu werden, -- aber ich habe es nur zu sehr verdient.« -- Die Lainez entfernte sich achselzuckend, weil der Pfarrer eintrat. »Nach Europa zurück?« sagte dieser vertraulich, nachdem er an Thüre und Fenstern gehorcht hatte; »das wird Ihr Ernst nicht sein, Pater Xaver. Sie rennen in Ihr Unglück. Unsere Brüder in der alten Welt sind Leute, wie die in der neuen: arglistig, neugierig, unversöhnlich. Sie haben -- vielleicht unverschuldet -- das Ansehen der Gesellschaft Preis gegeben, weil unter Ihrer Amtsführung jene Gemeinde, der Sie vorstanden, verrathen wurde; das vergiebt man Ihnen nicht. Der Superior hat Ihre Abwesenheit benützt, sich rein zu brennen. Das Ungewitter bricht nun gegen Sie allein, später, aber schrecklicher, los. Opfern Sie sich nicht ohne Noth einem wilden Parteihasse, der vielleicht Ihr rüstiges Leben zwischen vier Mauern begräbt.« »Eine Strafe meiner Sünden,« erwiderte Münzner schwermüthig: »dann -- meine Pflicht. Gehorsam hieß mein Gelübde. Die Obern rufen, ich folge.« Luis schob sein Käppchen ungeduldig hin und her. -- »Die Gesellschaft,« sagte er schnell, -- »ist im Begriff, von einigen Gliedern derselben durch eine Ungerechtigkeit geschändet zu werden. Ich erfülle meine Pflicht gegen ihr Wohl auf bessere Art, wenn ich dieser Schande vorbaue. Ich bin ein alter, verbauerter Pfarrer, mein Bruder, aber eben weil ich alt bin, kann auch der liebe Gott rufen, wann er will, und ich will rein vor ihn treten. Ihr armer Pflegesohn, Ihres Freundes ärmere Tochter, sollen dem schmutzigen Eigennutze des Quinquevirats zu Cordova nicht geopfert werden. _Sie_ nicht den Mißgriffen Ihres Superiors. Lassen Sie die Väter abreisen. Meine Worte haben bei dem Regidor und dem Alcade, die ich erzogen, die _ich_ aus der Gemeinde gewählt habe, Gewicht und Einfluß. Ein Wink von mir, und sie lassen die widerrechtlich Verhafteten frei. Ich befördere dann ihre Flucht.« »Sie, edler Mann, wollten sich der Rache der Oberen blosstellen?« »In meiner entlegenen Doctrine, an den Gränzen des Gebiets barbarischer Völkerschaften, achte ich ihrer Drohungen für meine Person nicht. Sie sollen mich nicht wegführen aus dem Lande, wo ich wirkte, wo ich den Tag der Auferstehung erwarten will.« »Gesetzt, Sie retten meinen Zögling und das arme Mädchen, dessen Schicksal auf meiner Seele brennt ... was soll aus ihnen werden? werden sie nicht, mitten in einem unermeßlichen Lande, aller Hülfsmittel beraubt, dennoch wieder in die Hände der Feinde fallen, oder elend zu Grunde gehen?« »Hören Sie mich an. Die Berge, die wir von hier aus sehen, verketten sich mit den Alpgebirgen Brasiliens. Diese Höhen, dem Namen nach dem Scepter Portugals unterworfen, sind ihrem Beherrscher beinahe völlig unbekannt geblieben. Einzelne Wachtposten, die man so weit herausrückte, sind kaum vemögend, gegen die Schaaren unabhängiger Eingeborner ihre Existenz zu behaupten. Thäler und Berge von erstaunlichem Umfange haben noch nie einen Portugiesen gesehen. In einem dieser Thäler, umringt von Urwaldungen und von gähen Abstürzen, versteckt wie das Paradies, das noch kein Weltumsegler wieder aufgefunden, lebt, jung und kräftig, ein kleiner Staat, der unsern Flüchtlingen und Ihnen vor der Hand völlige Sicherheit gewähren würde. Unsre Obern, wie die Regierungen von Spanien und Portugal, halten, trotz ihrem Scharfsinn und ihren Nachforschungen, das Dasein dieses kleinen Staates für eine Fabel, für eine müßige Volkssage. Dennoch existirt diese Pflanzschule eines reinen Christenthums, und die Republik: »der gute Jesus in den Wildnissen« ist kein Mährchen einer träumerischen Amme. Ein Vetter meines Hauses, der in dem Regimente Arragon Capitän gewesen, der in der Folge, über Zurücksetzungen verdrießlich geworden, zu Cordova das Kleid des heiligen Franziskus genommen, mußte, um eines schweren Handels willen, den er mit unsrer Gesellschaft hatte, flüchtig werden, und zog sich in jene Wildnisse zurück, wo er eine aufblühende Gemeinde fand, an deren Spitze er jetzo als Vater, als Priester, als Feldherr und König steht. Es ist beinahe ein Jahrzehend verflossen, seit ich die letzte Kunde von ihm empfing, aber der riesenhafte Körperbau des Mannes verbürgt mir die Dauer seines Lebens. Ich sende Euch, meine Freunde, an ihn. Er hat mich einst wie seinen Vater geliebt, und wird mir ein freundliches Andenken bewahrt haben. Dem Genügsamen wird eine Wildniß bequem, und die Gelegenheit nicht fehlen, Euch in den Norden unseres Continents zu schaffen, wo Englands Scepter schützt, und Penn's Colonie jeden Glaubens-Bruder willig aufnimmt. Oder in Portugals Cabinet reifen günstigere Ansichten für die Freiheit der Confessionen, zugleich mit gehässigern gegen unsere Gesellschaft, deren wachsende Macht bald den Neid der bis jetzo glücklich geblendeten Regenten beunruhigen dürfte. Auf jeden Fall: weit von Jupiter sein, schützt vor dem Blitze! Beherzigen Sie das, mein Freund. Der Indianer, der vor zehn Jahren, nach dem guten Jesus in den Wildnissen verschlagen, mir davon Meldung zurückgebracht, lebt noch, und sein Gedächtniß wie seine Sinne sind rüstig und frisch. Geprüfte Leute in nicht geringer Anzahl sollen Euch geleiten, und Euch zum Frieden führen, den man in dieser sturmbewegten Welt und Zeit nur in der Einsamkeit der Troglodyten finden mag.« »Mann! ich staune vor den kühnen Schöpfungen Ihres jugendlichen Geistes! was Sie sagen, gleicht einem poetischen Traume!« »Sind denn diese Landschaften nicht Gebilde der kräftigsten Poesie? noch sträubt sich ihre Ueppigkeit gegen die Ketten unsers Verstandes; noch ist dieser Boden frisch. Europa ist ein ausgebrannter Vulkan; hier sprudelt noch Urkraft, und auf dem ungewöhnlichen Schauplatze kann noch Ungewöhnliches gedacht und gethan werden. Gedenken Sie meines Vorschlags. Ich will jetzt an meine Kinder die Lebensmittel austheilen, die sie heute verdient haben, und die Kähne unsrer Herren mit Vorräthen versorgen, daß sie morgen ungehindert nach der nächsten Doctrine abreisen können.« Münzner überlegte lange und schwer. Er seufzte ängstlich auf: »warum kam mir die Erkenntniß nicht früher? warum erst jetzt plötzlich nach dem Verschwinden, nach dem Tode des Senators? welche Zukunft von Leiden? und dennoch, wie so heiter gegen die Vergangenheit! fünfzig Jahre, die ich in stolz ruhigem Scheinbewußtsein verlebte, weisen mir nur ihr nacktes trauriges Gerippe. Keine Blüthe in irgend einer Furche, worein ich ein gutes Saatkorn zu legen glaubte! elend war meine Saat! O, so vollende sie sich denn an mir, dem Schöpfer so vielen Unglücks! O, so geißle mich die Pflicht, in deren Dienste ich Herrliches zu vollbringen glaubte, indem ich nur Böses schuf. Losgerissen von der Welt, will ich mich _hier_ zur Sühne geben, damit jenseits mein Loos milder werde! die Gesetze meines Standes haben mir die Ruhe genommen, so mögen sie auch meine Tage hinnehmen. James, der junge in's Leben tretende Mann, gehe hin in Gottes Namen. Vielleicht bringt ihm die Wüste Gewinn; vielleicht segnet in der Wüste der Himmel seine Liebe! ich will keinen Theil an seinem Schicksal haben, damit ihm nicht einst geschehe, wie mir. Ich gehe aber, wohin mich Beruf und Gehorsam ruft: zur ungerechten -- ach! zur gerechtesten Buße!« Ines trat zu dem Bekümmerten, zu dem Entschlossenen. Sie brachte Erfrischungen, und sah traurig aus. Münzner fragte nach der Ursache ihrer Niedergeschlagenheit. »Euer Sohn dauert mich,« sagte das Mädchen unbefangen, »und mit der jungen Sennora habe ich viel Mitleid. Warum sperrt man sie ein? Euer Sohn brütet stille vor sich hin. Die Sennora weint, zürnt, und denkt mit finstern Augen nach. Mit Euerm Sohne könnte ich reden, aber das geht nicht wohl an. Die Sennora verstehe ich nicht. Wenn ich jedoch zu ihren Füßen sitze und sie wehmütig anschaue, so ist's als ob sie wüßte, was in mir vorgeht, denn sie umarmt mich dann und herzt mich, als ob sie meine Schwester wäre. Sie ist so gut, und muß, wenn sie auch eine Ketzerin ist, in den Himmel zum Vater kommen; nicht wahr, Don Xaver? Pater Luis hat mir versprochen, daß ich auch meine Mutter im Himmel finden sollte, ob sie gleich nicht getauft sei. Die Sennora wird ja auch darinnen nicht fehlen.« Das plaudernde Kind wartete vergebens auf eine Antwort. Münzner sah düster mit übergeschlagenen Armen vor sich hin. Ines blickte verlegen nach dem Fenster. »Soll ich das Gitter schließen, Vater Xaver?« fragte sie schüchtern; »der Abend kommt, die Fliegen finden sich ein, und -- seht doch, wie es plötzlich dunkelt ... wie es Nacht wird...!« Sie lief zum Fenster, sah zum Himmel, und schlug mit einem Schrei die Flügel zu. »Ach! bei unsrer lieben Frau vom Rosenkranze,« rief sie erschrocken; »seht doch, mein Vater, welche ungeheure Menge von Aorkani[4] durch die Luft zieht und sie verfinstert! der Zug macht ein schwarzes Dach über die ganze Mission! Ach, wie das schauerlich durch die Wolken fliegt! das bedeutet ein Unglück, ein schweres Unglück, mein Vater!« »Aberglaube!« sagte Münzner verdrüßlich. »Mit Eurer Erlaubniß,« versetzte Ines; »es hat seine Richtigkeit, was ich sage, nur glauben es unsere Leute hier nicht, weil sie vom quaranischen Volke sind, und ich ein Abiponerkind bin. Sie lachen der Heuschrecken, wir fürchten sie aber, und immer ist etwas Schweres geschehen, wo diese Unholde vorüberzogen. Wenn nur _uns_ die heilige Jungfrau gnädig bewahrt. Ich bringe ihr alle Sonntage einen frischen Strauß im Namen der Gemeinde. Die fremden, schwarzen Herren mögen sehen, wie _sie_ fertig werden.« »Ei!« sagte Münzner verweisend; »Ines, ist das Christenliebe?« Ines schämte sich. Sie entgegnete schüchtern: »Ihr habt Recht, Vater Xaver. Ich habe gefehlt. Sagt es dem Vater Luis nicht. Er wird es schon in der Beichte hören. Aber mir kömmt immer vor, die beiden Herren von Cordova seien nur in Euer ehrwürdiges Kleid verkleidet. Vater Luis und Ihr, -- Ihr seid ganz anders, und ich möchte lieber Zeit Lebens bei Euch allein bleiben, als nur eine Stunde lang bei dem hagern Herrn von Assumcion, der mich immer so seltsam ansieht, wie der ehemalige Vikar, oder besser: wie die Schlange in der Savanne.« Die Glocke der Kirche läutete. Ines mußte zur Theevertheilung. Dieses Geschäft wurde, wie alltäglich, abgethan. Während Consultador und Rector mit Pater Luis und Xaver das frugale Abendmahl einnahmen, trug Ines auch den armen Gefangenen ihre Speisevorräthe zu. James und Justine bewohnten zwei getrennte Räume im Lagerhause. Des Alkade Sohn, der Wächter des jungen Engländers, brachte die Speisen in seines Gefangenen Gemach. Justinens Wächter ließ die freundliche Ines gern zu der trauernden Sennora. Justine saß an dem Gitter der Fensterluke, und sah dem Glanzspiele einiger Leuchtkäfer zu, die auf den schlanken Stauden hingen. Sie erschrak ein wenig, als Ines Finger ihre Schulter berührten; aber der Ausdruck der Freude folgte dem Schrecken. Hastig zog sie das liebe Mädchen an sich, weigerte sich, von den Speisen und dem würzigen Tranke zu genießen, und gab der Indianerin durch Geberden zu erkennen, daß sie eine Bitte an dieselbe richten wolle. Sie zeigte alsdann auf die Matte in der Ecke, auf den großen leeren Raum um sich her, und versuchte der Ines begreiflich zu machen, daß sie sich allein zu bleiben nicht getraue, und es gerne sehen würde, wenn das dienstfertige Mädchen die Nacht bei ihr zubringen wolle. Ines verstand Justine alsobald, und zeigte sich eben so schnell bereit, ihrem Wunsche zu entsprechen. Der Wächter mit der Lampe wurde hinweggesendet, die Thüre wieder mit den hölzernen Riegeln von außen verschlossen; tiefe Ruhe und tiefes Dunkel kehrten in dem Gebäude ein. Auch von außen wurde Alles ganz still. Drei Zeichen mit der Glocke gaben den Befehl allenthalben die Lichter auszulöschen, und die Straße im Dorfe wurde nur noch in dem Augenblicke belebt, als der Pfarrer nebst mehreren, mit Harzfackeln versehenen indianischen Knechten seine Gäste von Cordova und Assumcion nach ihren Schiffen führte, wo sie die Nacht zuzubringen begehrten. Pater Luis kehrte mit seinen Begleitern nach Hause zurück, und schloß sein Hofthor. Die Herren auf den Schiffen streckten sich unter dem leichten Zeltverdeck derselben auf ihre Matten. Die Schiffer, ein jeder an seinem Ruderplatze, duckten sich nieder, hüllten die Köpfe in ihre Mäntel und schliefen ein. Unter Akazien am Ankerplatze schnarchten die müden Payquas. Ein Neger hielt auf dem Vordertheile eines Kahns, bei glimmender Laterne, Wache, mit seiner Vogelflinte spielend. Noch mehr beschäftigte ihn jedoch die Chicaflasche und er entschlief gleich den Uebrigen. Grabesruhe auf dem dumpfmurmelnden Flusse, an seinem Strande, in dem Missionsorte. Der umgehende Wächter in demselben hatte sich vor einem unbedeutenden Regenschauer in seine Hütte zurückgezogen. Auf der Gasse athmete keine Menschenseele. Da kam von Süden her ein fernes, leises Getrappel. Es schwieg in kleiner Entfernung vom Dorfe. Einige Hunde knurrten, schwiegen jedoch ebenfalls plötzlich, und mehrere leicht gleitende Schatten kamen über Zaun, Graben und Gehäge in den Ort herein; mit Blitzesschnelle hin und wiederfahrend, schauend, horchend, verschwindend, wie sie gekommen waren. Geräusch von leise webenden Sägen, Knarren von aufgehenden Gatterthüren, und über den breiten Fahrweg, weit sich aber alsdann über den frischen Rasen zu beiden Seiten desselben verbreitend, zog still und geräuschlos eine Schaar von Reitern in das Dorf. Stumme schnaubende Hunde ihnen zur Seite, lange Speere in ihren Händen; versteckte Fackeln mitten im Zuge. Halt auf dem Platze, kurzes unverständliches Gemurmel unter den Nachtgästen, plötzlich hochblinkende Feuerbrände, entsetzliches Geheul und kriegerischer Ruf. Dieser Schrei, die Losung des Entsetzens, dringt wie der Donner des Himmels in die friedlichen Hütten der Quaranier. Schlaftrunken springen die Männer an die Thüren und Fenster. Zum zweitenmale tönt der gräßliche Schrei, und, mit dem Tone zugleich, fliegen brennende Pfeile in die Stroh- und Binsendächer der Cabanen. »Die Abiponer! 's ist ihr Kriegsruf!« antwortete der Weiber Wehlaut, und wüthend greifen die Männer nach der Axt. Die Glocke klingt gellend vom Thurme. Der nachlässige Wächter erinnerte sich zu spät seiner versäumten Pflicht. Indessen weht aber schon der Brand in der Luft, würgt schon der Feind am Boden. Ein wehmüthig Schauspiel! wilde Reiter, nackt auf den Pferden hängend, von abenteuerlichem Kopfputz gräßlicher gestaltet, bestrichen mit grellen, Blut und Tod kündenden Farben rasen hin und her durch die Gassen, schmettern mit ihrer fürchterlichen Schleuder alles zu Boden, was an ihnen vorüberrennt, werfen ihre langen Speere nach der keuchenden Menschenbrust, und Brände in die Gluth, damit die Flammen noch höher aufflackern, die betrübende Scene würdig zu beleuchten! Eine Horde wilder Räuber hatte das Lagerhaus erstürmt, sich der Waffen und Mundvorräthe bemächtigt. Die Quaranier konnten ihnen nirgends die Spitze bieten, nirgends ihrer Raublust ein Ziel setzen; kaum dem Morde entgehen. Denn in engem Kreise hielt um den Missionsort eine furchtbare Linie von Reitern mit drohendem Speere, und nur die Verzweiflung selbst schlug sich durch. Mit den Bolas bewaffnet, die jeder Bauer an sein Pferd hängt, wenn er über Land reitet, warfen die Entschlossensten der Quaranier einen Trupp von Pferden darnieder, öffneten ihren Freunden und Verwandten einen Paß. Die dem Strande zunächst wohnenden Leute flüchteten sich nach den vor Anker liegenden Schiffen. Die Herren derselben, von dem Mordgetöse aufgeschreckt, befahlen, die Seile zu kappen. In die Strandfluth des Flusses stürzte sich die hülfsbedürftige Menge; Kinder und Greise auf den Schultern der Eltern, der Söhne; sie jammerten nach Hülfe, nach Aufnahme, kaum die Köpfe aus den Fluthen hebend. Umsonst; die Väter auf den Kähnen, nur ihre eigene Rettung vor Augen, fürchteten der Schiffe Ueberfüllung, wiesen die Flüchtlinge mit harten Worten zurück, ließen die Fahrzeuge stromabwärts treiben. Aber Noth kennt kein Gebot; aber die Abiponer waren im Rücken der Flüchtlinge. Die riesenhaften Payaquas, die das Ruder in Händen, -- obwohl blinde Heiden, gewissenhafter den Rückzug ihrer Herren vertheidigten, als diese das Wohl ihrer christlichen Mitbrüder sich zu Herzen nahmen, -- fielen todt hin unter der Uebermacht. Schon netzen die Wellen der Parana die Füße der Abiponerpferde; schon stürzen sich diese wilden Krieger blutbegierig bis zum Kinn in den Strom... Gewaltsam halten die Flüchtlinge von Dominica die Schiffe auf, schwingen sich gewaltsam hinein, und die Väter müssen geschehen lassen, daß wider ihren Willen das treue Holz der Algarova auch die schlechten Indianer dem Mordstahle entführt. Welch ein Graus, wendet man den Blick von jenen Geretteten nach dem brennenden Pfarrhause. Vergebens stürmt die Glocke der Kirche. Sie vermag nicht dem lang gedehnten Brande in den hölzernen Gebäuden und Rohrwänden zu wehren. Sie vermag nicht, die treuen Diener zu erwecken, die für ihren Vater auf der Schwelle seines Hauses das Leben hingegeben haben. Sie haben sich umsonst geopfert. Der Raub drang dennoch hinein. In dem sonst lebendigen Hofe regt sich nur noch der von Flammenangst und Todeskampf gepeinigte Strauß, der von zwei Pfeilen durchbohrt, mit den ungelenken Flügeln flatternd, einen Ausweg sucht, und -- blind vor Schreck -- nicht findet. Ferne tönen die Silberglocken des Rehs; es sucht seinen Herrn; doch dieser fällt so eben, -- mit dem Alcade dem Lagerhause zueilend -- in die Hände des barbarischen Feindes, während auf den Stufen der Kirche Pater Xaver von einigen Abiponern gebunden wird, die in ihm den Padre des Orts zu fangen glauben. -- Aus den Fensteröffnungen des Lagerhauses, das ebenfalls schon brennt, dringt nebst dichten Rauchwolken der Wehruf ängstlicher Weiber. Zwei Krieger, furchtbar anzuschauen in den ungeheuern Federkronen, die ihre Eitelkeit dem Straußvogel der Savannen sammt der Haut abstreifte, stürmen hinein, dem Rufen entgegen. Krachende Thüren stürzen von oben auf sie hernieder. Ein Mann mit zwei Weibern, außer sich, mit versengten Haaren, stößt auf die Wilden, die ihn mit Löwenkraft aufhalten, packen und sammt seinen Begleiterinnen in's Freie schleppen. Hier lodern Fackeln und Brandglut. Hier halten die Caziken auf ihren dampfenden Gäulen, und unter ihren rothen goldverzierten Kopfbinden hervor rinnt der Schweiß der Ermattung auf die Brust der Starken. Der Anblick schöner Frauen reizt der rauhen Obern Lust. Ein Streit droht zwischen Rettern und Befehlshabern zu entspringen, da wirft sich das jüngste der Weibern zu Füßen des Obersten, und ruft ihm zu: »Siehst du denn nicht, daß ich deines Volkes bin? Gnade deshalb und Schutz für mich und dieses Weib, das meine Schwester geworden ist!« Verwunderung spricht aus den Blicken der Zuhörer; jedoch überwältigt von dem süßen Klang der vaterländischen Zunge, klatschen sie lebhaft in die Hände, und rufen: »wahrlich! sie ist ein Kind unsers Großvaters, und sie mit ihrer Schwester soll heilig sein und frei!« Justine und Ines wurden auf weiße Pferde gehoben, und folgten dem Zuge der Führer, die sich den Jammer besahen, den sie angerichtet. James wurde in der Kirche mit einigen andern lebendig Gefangenen, unter welchen sich sein Pflegevater befand, zusammengebunden. Nicht die Schmerzen der Brandwunden, die er, im Begriff, Justine zu retten, davongetragen, nicht die Ungewißheit seiner traurigen Lage zerriß ihm Herz und Gehirn. Seines zweiten Vaters, Justinens Verhängniß war seine Plage, war sein Kummer. -- Er weinte Thränen des Mitleids und ohnmächtiger Wuth auf die Hände, die gebundenen Hände seines ehemaligen Versorgers. Dieser stand vor ihm, -- aufgerichteter als je -- in seinen Leiden, wie ein verklärtes Menschenbild. »Wenn eine Folter meine Seele preßt, so ist es die Angst um dich, um Justine,« -- sagte der Muthiggewordene. »Mein Schicksal beunruhige dich nicht. Glaube mir, in diesem Drange des Unglücks wird mein vom Zweifel und von der Sünde gespaltenes Herz wieder _eins_. Es klammert sich wieder an _eine_ Hoffnung an: an die auf unsern Heiland. Nun ist der Augenblick gekommen, in welchem ein verlornes halbes Jahrhundert vielleicht durch die Märtyrkrone, die so vielen meiner Brüder zu Theil geworden, Bedeutung gewinnt. Diese Krone ist die schönste, denn sie ist eine versöhnende!« James schwieg niedergeschlagen, theils von der Würde des Redners ergriffen, der in seinen Banden so frei war, theils von der Nichtigkeit aller Trostgründe überzeugt, in einer Stunde, deren nächste Minute allen Ueberwundenen den Tod bringen konnte; -- gewisser, als der nächste Mond ihre Freiheit. Münzner blieb aber ruhig, und betete still für sich aus vollem Herzen. Inzwischen war die Nacht aus geworden, und der Morgen trat aus der Dämmerung. Wie die Sterne erbleichten, so erbleichte auch der Brand von Santa Dominica. Die von dem Sonnenauge beschämten Flammen krochen gebändigter in das stürzende und verkohlte Sparrenwerk zurück, aber die schwarzen rauchenden Stätten zeugten von ihrer Wuth, und der Anblick der Leichen in den Gassen und Räumen der Mission von der bösen, bösen Nacht. Die Hüter der Gefangenen bedeuteten diese, sich auf den Weg zu machen. Auf dem Platze klang die Pfeife und die dumpfe kleine Trommel, zum Aufbruche mahnend. Die Gefangenen wurden mit Lianen auf Maulthiere gebunden, und deren Zügel von Reitern geleitet. Der Abzug der Abiponer Horde war siegreich und lärmend. Jeder Krieger, beritten, und noch einige Pferde zum Wechseln neben sich führend, hatte sich mit Beute aller Art beladen. Die leichtesten Schwärme hüteten die Seiten des Zugs, in dessen Mitte die blöckenden Schafheerden, die gleichmüthigen, aber vor Hunger brüllenden Ochsen in unübersehbarer Zahl gingen. Schaaren von Hunden hielten diese lebendige Beute zusammen; und ihr Geheul und Gebell bildete, vermischt mit dem Getöse der plaudernden, lachenden und singenden Wilden, einen seltsamen Einklang. Ueber erstochene Pferde und Menschen ging der Zug hinweg, wie über den weichen Rasen, an den Häusertrümmern vorüber, und südwärts durch niedergetretene Tabaks- und Cacao-Pflanzungen. Die Gegend, die gestern noch in allem Reize des Wohlstands und der Herrlichkeit geblüht hatte, lag nun zerstört vor den Augen der Fortziehenden. Der rückwärts Blickende sah mit Wehmuth die Rauchsäulen aus den Trümmern Dominica's emporsteigen, und die hohen Palmen ihre Blätter über dem höllischen Schauspiele senken. So weit das Auge auf der Parana reichte, war kein Schiff mehr zu sehen. Die gewandten Abiponer stellten sich hin und wieder aufrecht auf die trabenden Rosse, und wendeten ihr Falkenauge im Rennen nach allen Seiten hin. Auf dem Flusse konnte nichts mehr wahrgenommen werden, und so lenkte denn der Trupp der Anführer, der weit vor dem ganzen Zuge hinritt, landeinwärts. Noch einige Zeit ging es vortrefflich durch Baumwälder und schattige, frisch grünende Sumpfebenen. Bald änderte sich jedoch die Landschaft. Immer mehr und mehr wichen plötzlich die Wälder zurück. Der hohe Baum schrumpfte zum niedern Busch, der Busch zum dürftigen Gestrüpp ein, und endlich verkroch sich auch dieses in einen nackten einförmigen Boden, der kaum hin und wieder Sandstriche bot, aber nirgends einen Stein. Auf dieser Fläche angelangt, die in der Spätmorgenhitze den Gefangenen unerträglich schien, fing der Abiponer erst an aufzuleben. Die unbeschlagnen, leicht gezäumten Pferde flogen nur dahin. Lebhaft schwangen die Reiter ihre hölzernen Speere, und die kleine Jagd begann. Nach allen Seiten streiften die Hunde aus, um Kaninchen aufzustöbern. Der Abiponer, ohne seinen Weg zu unterbrechen, stellt sich auf sein Roß, spannt den Bogen, zielt und fehlt fast nie das von den Hunden herbeigetriebene Ziel. Aber mitten in dieser Beschäftigung wird von den Vorderreitern ein langer grüner Saum gesehen, der längs dem Boden hinzieht, und das Meer zu sein scheint, oder ein viele, viele Meilen lang gedehnter Strom. Sie werfen ihre Federbüsche in die Luft, und ihr jubelndes Geschrei, das sich den andern schnell mittheilt, verkündigt die Nähe einer ihnen angenehmen Gegend. Die Pferde werden heftiger angetrieben. Gleichviel, ob einer der Reiter stürzt. Er verläßt das zu Grund gerichtete Thier, um sich auf ein anderes zu schwingen. Immer näher kömmt der grüne Saum; höher bald, bald niederer scheinend. »Die Savanne!« ruft Abiponer und Quaranier aus; jener freudig, dieser niedergeschlagen, weil sich dort sein Schicksal entscheiden soll. Man betritt endlich den Rand dieser ungeheuren Grasebene, auf welcher kein Baum steht, und kein Fels und kein wirthliches Dorf: nur etwa die leichte Hütte des wilden wandernden Jägers. Ein riesiger Strauß steht, wie der Wächter der grünen Wüste an ihrem Saume, und gafft neugierig nach den Kommenden. Ein gewandter Schütze sprengt auf ihn an. Zu spät denkt das verfolgte Wild an die Flucht. Schon wendet es sich, spreitet die Flügel aus, um mit ihrer Hülfe, schneller als das Pferd, das Weite zu suchen, -- da zerschmettert ein Pfeilschuß ihm das Beingelenk!... er stürzt, wird eine Beute des Siegers, der ihm die Federn entreißt, mit denselben den Sattel seines Pferdes schmückt, und lachend mit den Freunden in die Ebene einsprengt. Welch' ein reges Leben in diesen Flächen, von unglaublich hohem Grase bewachsen! Flüchtige Hirsche durchstreifen, wie ungewisse Schatten, kaum durch ihre Geweihe kenntlich, die Ferne. Tausende von wiehernden Pferden fliegen rechts durch die Halmen. Nicht geringere Geschwader von Stieren setzen links durch das Grasmeer und lagern sich brüllend in demselben, das ihnen Schatten vor dem glühenden Sonnenbrand gewährt. Und der wilde Abiponer, dessen Pferd bis zum Sattel in den Halmen schwimmt, ereilt das flüchtige Roß, und zähmt es durch die einfache Schlinge; er fällt den wildern Stier an, zerrt ihn mit der Schleife zu Boden, tödtet ihn mit einem Streich, und nicht Nothwehr, nicht Hunger rechtfertigt die tollkühne That: nur der leichtsinnige Muthwille, der, überlegener Kraft bewußt, und ihr vertrauend, spielend die Gefahr reizt, hat sie ersonnen, und begonnen und vollendet. Wenn nun die armen Gefangenen im Rücken des Zuges jene Aeußerungen ungebeugter Kraft wenig beachteten, so waren sie doch den Freiern, mit solchen Scenen Unbekannten, oder derselben Entwöhnten, ein besseres Schauspiel. Justine, deren Pferd von einem höflichen Abiponer geleitet wurde, vergaß Leiden und Gefahr in dem neuen Anblick. Ines sah mit Herzklopfen die Gebräuche ihres Volkes wieder, und die Erinnerung einer recht frühen Zeit wurden völlig in ihr lebendig, und mit der Erinnerung kamen auch die schweren Worte der Abiponer häufiger in ihren Kopf, geläufiger auf ihre Zunge. Ein Abiponer-Sklave, der einige Jahre zu Santa Dominica gearbeitet und gelitten, hatte damals die Landsmännin gekannt, und mit ihr die heimathliche Sprache geredet, und dem nun längst verstorbenen Manne verdankte Ines nun die bedeutende Hülfe, sich gegen ihre Landsleute verständlich zu machen, und ihrer Freundin Justine, die nicht einmal spanisch redete, nützlich werden zu können. Wie gerne hätte sie dann und wann die Spitze des Trosses verlassen, um nach den lieben Gefangenen zu sehen, nach dem Vater Luis, dessen Leben sie auch erbeten, nach dem jungen Manne, an dem sie so innig Theil nahm, nach dem fremden Geistlichen, ihr ehrwürdig, weil er des Jünglings Pflegevater gewesen. Auch Justine, -- obschon das Herz in dauerndem Groll von Münzner und James gewendet, -- sah -- unfähig ein schönes Mitgefühl zu unterdrücken, -- häufig nach der Gegend hin, wo die letzten Staubwolken aufflogen. Die Leute, die ihren Groll verdienten, waren seit der Schreckensnacht gewissermaßen ihre versöhnten Freunde geworden. Nur von _ihren_ Lippen, mitten unter Hunderten von tobenden Barbaren, konnte sie ja die Töne hören, die ihr Ohr verstand; die Töne der Muttersprache, die unter solchen Umständen den Gemeinsten im Glauben des Vornehmsten adeln. Aber -- es war nicht möglich, von den Obern der Schaar sich zu trennen. Der Führer, ein alter Cazik von einnehmenden Zügen und kühnem Blicke, ritt zwischen den Mädchen, und ließ sie nicht aus den Augen. Neugierig und verwundert betrachtete er von Zeit zu Zeit Justine, und ihr edles, bleiches Gesicht flößte ihm, wie seinen Leuten, sichtlich Ehrfurcht ein. Nachdenkender betrachtete er Ines, und, wie selten auch seine Geberden zu Justine sprachen, -- so häufig redete sein Mund zu Ines. »Du armes Kind ohne Vater!« sagt er mitleidig zu dem Mädchen; »dort dämmern die Spitzen unserer Dächer. Vergiß alles Leid. Du wirst viele Mütter und Schwestern finden, und ein Jeder von uns ist dein und der Fremden Freund, weil du sie liebst.« »Ihr werdet doch den Uebrigen kein Leid zufügen?« fragte Ines forschend dagegen. »Der Capitän, mein Bruder, hat darüber zu entscheiden, und die weise Pilagoterigenat!« erwiderte der Cazik achselzuckend; »je mehr ich aber dich ansehe, Kind, je bewegter wird mein Herz. Ich habe nie eine Tochter gehabt, sonst müßtest du die Meinige sein.« Das Lager des Stamms wurde sichtbar und deutlicher. Leichte Rohrdächer auf schlanken Pfählen ragten in die Luft. Einige zerfetzte, irgendwo den Spaniern abgenommene Zelte brüsteten sich, von fliegenden Wimpeln umgeben, in der Mitte der regellos zerstreuten Hütten. Ein Graben schloß das Lager ein, aber diesseits des Grabens weideten die Pferde des Volks, und der erste Laut, den die Ankömmlinge vernahmen, war die Glocke der Madrina[5]. Einige Augenblicke später ertönte ein gellender Ruf aus vielen Weiberkehlen. Aus dem hohen Grase stiegen Pferde auf. Auf ihrem Rücken hingen die abiponischen Weiber: Mädchen und Frauen. Die Ersteren trugen den aus der Ferne gesehenen Männern Schläuche mit Chika, die Zweiten die Säuglinge an der Brust entgegen. Ihr Jubel war grenzenlos, und scheuchte die Hundebanden in's Weite, die außerhalb des Lagers an den Ueberbleibseln der geschlachteten Ochsen und Schafe nagten. Gestreckten Laufs kamen die Weiber heran, -- schöne Gestalten, den wohlgebauten Männern nicht nachstehend, freundlichen Angesichts, mit rabenschwarzen Haaren. Das Wiedersehen hatte alles Feuer des Süden. Ein lustiges Getümmel mischte sich in den kriegerischen Zug. Die Lanzen und Bogen wurden den Männern abgenommen, der Meth ihnen kredenzt, und nach dem ersten Sturme des Willkommens reihte sich die Schaar der Weiber um Ines und Justine. Die blendende Farbe der Letztern, ihr fremdartiger Anzug; die Entschlossenheit, mit der sie zu Pferde saß; ihre Freundlichkeit, trotz der Lage einer Gefangenen, erregte Theilnahme. Die Weiber berührten ihre Hände, ihr Gesicht; zogen ihre seidenen Haare durch die Finger; erstaunten über ihre Augenbraunen und Wimpern, welche von den Abiponern vertilgt werden; verwunderten sich, daß sie kein eingeätztes Kreuz auf der Stirne trug, noch eingegrabene Figuren auf den Armen und Füßen, wie die Abiponerinnen, sagten ihr tausend Schmeichelworte, von welchen die arme Deutsche nichts begriff, und führten sie, sammt der lebhaft begrüßten Ines, die nicht genug erklären konnte, nach dem Zelte der Capitana, während der ganze Kriegertroß sich's in der wandernden Heimath bequem machte, die Weiber mit Geschenken vergnügte, das Gepäck ablud, und die Pferde in die Weide jagte. Die Capitana saß unter dem Eingange des Zeltes, und auf ihrem Schooße ruhte ein vor wenigen Tagen geborner Sohn. Die Mädchen klopften mit Zweigen an die Wand des Zelts, und riefen: »Heil bringe dem Sohne die Fremde, die wir ihm zuführen!« -- Die Frau des vornehmsten Caziken, dieselbe, die unter dem Eingange saß, ein nicht mehr junges, aber rüstiges Weib, stand auf, ging Justinen entgegen, und hielt eine lange Anrede. Ines antwortete der Begrüßung. Nun schlugen plötzlich alle Umgebenden verwundert in die Hände, und riefen: »Bei unsern Vorfahren! ist diese nicht die Tochter unserer Mutter? Der Gejenk der Savannen hat noch nie zwei Eier gelegt, die sich ähnlicher gewesen wären!« -- Die Capitana schrie auf, und fiel in Ines Arme. -- »Ach!« sagte sie weinend: »bist du's denn, arme, verlorne Misinga? die ich, auf der Flucht vor den bösen Waldreitern, entschlafen auf dem Pferde, aus den Armen verlor? Hat dich das Raubthier nicht verzehrt? Hat dich der Spanier nicht mißhandelt? Bist du's denn gewiß und keine Zauberin, die eine Mutter täuscht?« Ines erkannte der Mutter Stimme wieder. Sie durfte, sie wollte nicht mehr zweifeln. Die Weiber schlugen jauchzend die Trommeln, und die Capitana riß mit dem Rufe: »komme zum Vater!« die Tochter und Justine ihr nach in's Zelt. Hier lag der Capitan, der Sitte des Volks gemäß, auf einer Matte, in Decken eingewickelt, und hielt in strengem Fasten die Wochentage seiner Frau. Allenthalben, wie eine Wöchnerin, vor Zug und Sonnenstrahl geschützt, und mit Bedeckung überflüssig versehen, horchte er gerade in seiner trübseligen Lage, während Freunde um sein Lager saßen und schmausten, auf das Mährchen, das ihm ein häßliches Weib erzählte, welches, abenteuerlich mit Federn und Zweigen geschmückt, neben seiner Matte auf der Erde saß. Kaum vermochte die Nachricht von dem glücklich errungenen Siege, und dem Wiederfinden seiner Tochter ihn zu bewegen, die Stellung, worin er sich befand, einigermaßen zu verlassen. Er streckte der weinenden Ines die Hände entgegen, und rief ihr Willkomm zu. Einige junge Leute, die mit im Streifzuge gewesen waren, begrüßten und umarmten Ines als ihre Schwester. Die Capitana war außer sich vor Freuden, und endlich priesen alle vereint sowohl das Schicksal, das ihnen dieses Vergnügen gemacht, als die mildthätigen Menschen, die für Misinga Sorge getragen. -- Ines benutzte diesen Zeitpunkt, und sagte: »Vater! Mutter! Brüder! diese Menschen sind von Euch gefangen. Löst ihre Bande, und erfüllt für mich die Pflicht der Dankbarkeit!« »Sie sollen meine Gäste sein, wenn Pilagoterigenat es erlaubt,« sagte der Cazike, nach dem häßlichen Weibe sehend. Dieses, die Zauberin und Wahrsagerin der Horde, verdrehte überlegend die Augen, klopfte mit seltsamen Geberden auf die Trommel von Otternhaut, die ihr zur Seite stand, und antwortete mit singendem Tone: »Balichu[6] will mehr als geschlachtete Pferde! er will Hirnhäute der Feinde, sonst wird nimmer der Großvater genesen.« Mit diesen Worten kam plötzlich allgemeine Betrübniß über die Weiber: sie warfen sich zur Erde, zerschlugen sich die Brust, zerrauften das Haar. »Der Großvater[7] ist krank, und läßt sich nicht am Himmel sehen,« erläuterte der Cazike seiner Tochter sehr niedergeschlagen; »Balichu will ihn umbringen. Noch nie ist er so lange ausgeblieben. Es muß geschehen, was Pilagoterigenat befiehlt.« »Misinga's Wohlthäter müssen am Leben bleiben!« rief ein Bruder des Mädchens: »wir haben Quaranier gefangen. _Sie_ mögen fallen!« »Mordet doch keine Menschen!« bat Ines mit ängstlicher Rührung: »das bringt Euch nimmer Segen!« Die Gefangenen wurden in das Zelt gebracht. Die Zauberin sah nach dem dämmernden Himmel und sagte: »Steh' auf, Capitan, deine Zeit ist vorüber. Dein Kind hat nichts mehr zu befahren. Iß und trink, und wähle mit deinen Freunden Balichu's Opfer!« Eilfertig folgte der Cazike dem Befehl, ließ Speise und Trank herbeischaffen, und setzte sich mit seinen Freunden, den Anführern, unter den Eingang des Zeltes zum Schmause und Gericht. Der ehrwürdige Luis eröffnete den Trupp der Gefangenen, erschöpft aber muthig. Münzner folgte ihm, standhaft, emporgerichtet: auf Alles gefaßt. James, der Dritte, warf einen Blick in Justinens Auge, das Versöhnung und Angst ausdrückte, und dieses Auge gab ihm Muth. Einige Indianer, gebunden und niedergebeugt, machten den Beschluß. Ines flog an Luis Hals, streckte ihre Arme über James und seinen Pfleger aus, und rief: »Diese sind mein! diese dürfen nicht sterben, sondern beim Vater bitten für uns!« Pilagoterigenat, von dem Ehrfurcht gebietenden Aussehen der Priester gerührt, nickte mit dem Kopfe, und die Bande der Geschützten wurden gelöst; sie setzten sich zum Mahle des Capitans nieder, der ihre Stirne berührte, ihnen zu essen reichte, und somit ihre Freiheit heiligte. Ines führte Justine mit schmeichelnder Geberde in den Kreis der Mädchen, die, wie die Frauen, abgesondert standen. Alle Blicke richteten sich nach den, zum Opfer bezeichneten Quaraniern, und des edeln Luis Mund bewegte sich, um eine Fürbitte für die Armen einzulegen. Der Abiponersprache mächtig, so wie diese Wilden mit dem Spanischen etwas vertraut, durfte er hoffen, angehört zu werden. Die Quaranier hingegen, die geschmeidigen Leute, ihr Schicksal voraussehend, versuchten das letzte Mittel, eilten auf die blutdürstige Zauberin zu, warfen sich ihr zu Füßen, gaben ihr hundert Schmeichelnamen, -- nannten sie den blühenden Vollmond, und bettelten bei ihr um das Leben. Die Eitelkeit der alten Frau wurde rege. Die Flehenden waren hübsche, junge Leute, die sich ihrer Fürbitte anvertrauten. Sie nickte bald, bald schüttelte sie nachdenklich das Haupt, und an ihren Bewegungen hing der Caziken Auge. Nun rührte das Weib abermals die Trommel, starrte vor sich hin, renkte und krümmte sich, murmelte viele unverständliche Worte, und sang dann wie in Verzückung: »Hört, Capitane! Hört, Abiponer! ihr schnellen Reiter in den Haiden! Ihr schnellen Feinde der Straußenbrüder![8] Hört, was Pilagoterigenat Euch verkündet! Ihr seid menschlich und liebevoll im Streite; Ihr macht Eure Gefangenen zu Euren Brüdern![9] Ihr fraßet sie nie, wie die bluttriefenden Chiriguaner! Ihr werdet auch _diese_ hier, ob sie gleich schlechte, weichliche Quaranier sind, nicht schinden, aber Balichu hat Hunger, der gestillt werden muß, damit er den Großvater wieder loslasse. Ihr seid glücklich im Siege, der Meth ist gerathen, die Pferde sind gesund, und Ihr lebet lange, weil Ihr gerecht seid! Eure Sünde hält den Großvater nicht in Schweiß und Mattigkeit gefesselt. Eine fremde Sünde muß es also thun; und diese Sünde liegt in dem Fremden, den Bitalighuru vor wenigen Sonnen in's Lager brachte. Ihr erquickt, ihr Menschlichen, in ihm des Großvaters Tod. Ich koche ihm keinen Trank mehr. Ich röste ihm nicht mehr die Algarova. Betrachtet sein Stöhnen, sein Seufzen, seinen Schreck vor dem Schatten der Wolken! wie er zitterte, als neulich das Gewitter daher fuhr! wie er bebte und die Hände rang! Er ist ein Verbrecher, und sein Tod -- das ist Pilagoterigenats letztes Wort -- besänftigt allein unsern Feind.« Mit lautem Geschrei wurde der Hexenmeisterin Vortrag aufgenommen, und viele junge Leute stürmten fort nach der abgelegenen Hütte, die den Unglücklichen, so kaltblütig zum Tode Verurtheilten beherbergte. »Jesus, was wird das geben!« sagte der Pfarrer von Dominica zu dem Pater Xaver: »Hat mein Auge nicht schon der Gräuel genug gesehen?« Münzner seufzte still vor sich hin. James forschte nach Erläuterung der seltsamen Bewegung um ihn her. Justine blickte neugierig und beunruhigt nach der Ferne, woher der Lärm der Rückkehrenden sich vernehmen ließ. Ein armer, leidender Mensch wurde auf einer Stierhaut herbeigetragen. Zwei Jünglinge mit Skalpirmessern tanzten vor ihm her. Neugierig erhob sich Alles, den zum Tode Bestimmten zu sehen, der vor dem Capitan niedergelegt wurde. Die Schwarzkünstlerin, begierig, endlich ihren Willen erfüllt, Blut fließen zu sehen, geberdete sich rasend, auf den Verdammten zeigend, und schreiend: »_Der_ ist's! _der_ ist's! herunter mit seinen Haaren! Aus dem Leibe sein Herz!« Die Weiber heulten laut auf. Die Männer sangen ein Todtenlied. Die Opferer näherten sich mit seltsamen pathetischen Geberden dem Schlachtopfer: Luis und Xaver knieten, zugedrückten Auges, betend hinter dem stehenden Volke. Ines umklammerte zitternd Justine. Diese jedoch stürzte mit einem hellauf jammernden Schrei auf den Gegenstand des Bedauerns und der Wuth hin, umfaßte ihn krampfhaft, und kreischte, daß die weite Ebene hallte: »Um Gottes Barmherzigkeit und Gnade willen! Menschen! haltet ein! das ist mein Vater!« Eine allgemeine Verwirrung entsteht nun. Das Beginnen der stummen Fremden erregt Staunen. Die Priester blicken auf, erkennen den Senator, der, abgehärmt wie der Tod, kümmerlich in eine Decke gehüllt, ohnmächtig an dem Busen der verzweifelten Tochter hängt; James sieht die Mordmesser über Justinen's Haupte schweben. Des geliebten Mädchens Gefahr reißt ihn über die Schranken jeder Bedenklichkeit: »Justine!« ruft er, und setzt in den Kreis, stößt die Mordlustigen von dem Mädchen zurück, trotzt jeder Mißhandlung. Die aufhetzende Zauberin wüthet ihm gegenüber, Schaum vor dem Munde, und Zittern in allen Gelenken. »Fort mit der tollen Fremden!« brüllte sie: »das Böse sitzt in ihr. Fort mit ihr, wenn Euer Leben und der Großvater Euch lieb sind!« Es giebt unter der Menge Gemüther, die dem Aberglauben unbedingt gehorchen. Diese werfen James zu Boden, und schleppen ihn zur Seite. Ines, ihre geliebte Senora zu retten, umfaßt Justine mit voller Gewalt, und die übrigen Weiber, ohne auf ihr Zettergeschrei zu hören, zerren sie von dem Vater hinweg. Der Aermste ist aber noch nicht dem Feinde Preis gegeben, denn, stark wie ein Löwe, und stolz wie dieser, umschlingt den Betäubten der Pater Xaver. Ein Sieg verdienender Heldenmuth blitzt aus seinem Auge, zwanzig Jahre scheinen von seinem Scheitel entflohen zu sein. »Müssinger!« ruft er dem sich Ermannenden in's Ohr: »Du lebst noch! _noch_ sehe ich, der Reuige, dich wieder! Vergieb, wie ich bereue. Mein Blut für dich, oder _mit_ dem deinen!« Lächelnd sieht er gen Himmel: aus dem dämmernden Azur scheint die Marterkrone auf sein Haupt hernieder zu schweben. »Clara!« sagt er mit leiser himmlischer Sehnsucht: »Ich bringe ihn dir! wir kommen zusammen! hilf uns empor!« Während James wüthet, Justine laut jammert, die Zauberin rast, und die Haufen, um das fest umschlungene Paar versammelt, unschlüssig auf das Schauspiel sehen, redet Pater Luis mit Donnerkraft zu den Caziken, und schildert ihnen die Schändlichkeit des Mords, die Unzulässigkeit ihres Wahns, die Lügen ihrer Prophetin. Sie horchen aufmerksam zu, aber betrübt klingen stets die Worte wieder: »der Großvater stirbt: Vater! sollen wir ihn sterben lassen!« »Gott ist Euer Vater!« predigt mit jugendlichem Feuer der Greis: »jene Sterne sind nicht Eure Ahnen, sondern ein Werk seiner mächtigen Hand! Seinen Gesetzen folgen sie, und treten aus den Wolken, wann Er, unser einziger, heiliger Gott, es will; _nicht_, wann Ihr einen Menschen schlachtet. Noch mehr, meine Freunde! _ein_ Gedanke fliegt aus meiner Seele zum Himmel auf, ein _Einziger_, -- _eine_ Bitte, und dort leuchtet schon das Siebengestirn!« Den Zeitpunkt der Wiederkehr des Sternbilds geschickt benützend, deutet der Jesuit gen Himmel, wo es in seiner Pracht hervorgetreten war. Aller Augen folgten dem Fingerzeig; alle Mienen belebten sich mit Freude und Lust. Ein helles Gejauchze erschüttert den Plan. »Großvater!« rufen Männer, Weiber und Kinder, springend, tanzend und in die Hände klatschend: »Bist du endlich wieder zu uns Verlassenen zurückgekehrt? Bist du nicht mehr böse auf uns? wie danken wir dir, lieber Vorfahr! sei gegrüßt!« Und Feinde umarmen sich, und für die Gefangenen fließt Meth und Chika in vollen Strömen, und an Mord wird nicht mehr gedacht, noch an die Zauberin, die sich beschämt entfernte; Justine liegt ungehindert in des Vaters Armen, James in denen des Pflegers, die Caziken zu den Füßen des Priesters, dessen Wort und Gottesverheißung so schnell in Erfüllung gegangen. Im Nu ist ein anderer Geist lebendig geworden, die Trauer ist gewichen, und das Siegesmahl und das Fest des Siebengestirns verschmelzen in _eine_ Feier. Jeder liefert seinen Beitrag hiezu. Der Platz vor des Capitans Zelte wimmelt von frohen Menschen. Lebensmittel und Getränke kommen im Ueberflusse herbei. Trommeln und Pfeifen blasen zum Tanz, und rufen die Mädchen, die ihren Reihen bilden. Nach der seltsamen Musik einer mit Steinen gefüllten Kürbisflasche, tanzt in wüsten Stellungen die Schwarzkünstlerin, die sich wieder eingefunden. Gruppen von jungen Leuten ringen und springen; andere singen Kampfgesänge; die Weiber, auf ihren Matten abgesondert, stimmen mit ein, und auf den Häuten des Yagurate, oder des Stiers, gelagert, trinken die Männer aus Hirnschädeln erschlagener Feinde oder getreuer Hunde, oder aus großen Stierhörnern den berauschenden Meth, die gährende Chika; hören dem Pfarrer von Dominika zu, preisen den Gott der Spanier, und beschließen im Rausche, zum Dank Christen zu werden. »Wir haben deine Kinder getödtet,« sagen sie dem Pater treuherzig, »weil wir Euch für unsre Feinde hielten, und nach Beute lüstern waren; aber -- _wir_ selbst wollen von nun an dich Vater nennen, und deinen Caziken gehorchen, und dem, den du Gott nennst, denn er ist ein starker Geist, und, wahrlich, des Fremden Blut hätte es nicht allein gethan!« James und Münzner hatten sich indessen, Arm in Arm verschlungen, aus dem Gewühle entfernt, und gingen, erzählend und dankend und zufrieden, längs dem Graben hin. Sie kamen an ein schmales Rohrzelt, wohin Ines den Senator mit Justine hatte bringen lassen, damit sie ungestört seien. Auf dem Tummelplatze des freudigen Schmauses brannten hundert Fackeln, hier leuchtete nur der milde Sternenschimmer. Der kranke Vater schlief. Justine saß zu seinen Füßen, und ihr Herz war leidend und selig froh zugleich. Ines hatte sich herbeigeschlichen, und die Mädchen kauerten einander gegenüber, und drückten sich nur die Hände, und streichelten sich nur die Wange, und bedurften der Sprache nicht im Geringsten. Das Abendlicht war so helle, daß Justine ohne Mühe den Doctor und seinen Begleiter erkennen mochte, als sie in das Zelt traten. Sie stand schnell auf, streckte ihnen die Hände entgegen, und sagte, voll von dem ruhigen Schmerze, gegen den die Bosheit selbst keine Waffen hat: »was wollt Ihr hier, Herr Doctor? was Ihr, Monsieur White? O, kehret um, ich bitte Euch. Dort liegt mein Vater -- vielleicht in seinem letzten Schlummer! laßt ihn, wenigstens im Tode, seiner Tochter. Ihr habt den Wein seines Lebens vergeudet, laßt mir die Neige.« Sie setzte sich stumm zu des Kranken Seite nieder, und die Männer flohen vor ihrer Rede. Sie gingen weiter. James mit Thränen im Blicke, Münzner mit Feuerqual in der Brust. -- »Kaum wieder neu belebt durch das Leben meines Freundes,« sagte der Doctor schwermüthig, »so verstößt mich auch schon wieder der Tochter allzugerechter Vorwurf aus dem wiedergewonnenen Paradiese. Wie sehr bin ich der Vergebung bedürftig! auch der deinen, mein Sohn! Ich habe falsch geglaubt, falsch gehofft, falsch gehandelt! Gutes wollen, und Uebel thun, -- welch' verlornes Leben!« »Wir wollen zusammen gehen!« erwiderte James. »Zusammen und vereint dulden, wenn diese wilden Räuber uns nicht vereint noch tödten! hören Sie, wie ihre Stimmen jubeln? vernehmen Sie den trunknen Gesang? welche Schrecken, welche nie erhörte Lage umgiebt uns? ist es nicht ein Traum, daß ich auf der Parana schiffte, in Dominica sie wiederfand? daß wir nur durch ein Wunder dem Brande, dem Tode entgingen, daß wir hier in den Savannen athmen, und unter diesem Himmelsstriche den Senator wiedergefunden haben? Rütteln Sie mich, mein Vater, daß ich erwache; denn sicher wohnen wir noch in der Rahmgasse, und Alles ist nur Täuschung, eines schweren Schlummers Werk.« »Wäre es doch also!« versetzte Münzner. »Leider leben wir in der rauhsten Wirklichkeit. Dieser Himmel ist der Südamerika's, dort ragen die Zelte und Rohrdächer der Abiponer; in der Ferne heult der Tiger, und der Kaiman weint nach einem Raube. Alles ist wirklich um uns her, und Gottes Allmacht ist auch hier mit uns, so wahr als dort ganz in der Ferne von den Höhen ein Feuermeer zu wallen scheint.« »Wahrlich!« sagte James, hinsehend; »welch neue Erscheinung! ist nicht alles wunderbar in diesem zauberischen Lande? brennt dort ein vom Winde bewegter Wald? Oder fließt ein glühender Lavastrom um den Saum der Savanne?« Mit raschen Schritten eilten sie dem Feste zu. Die Indianer hatten die Erscheinung ebenfalls bemerkt, und standen, sie still betrachtend. Das Feuer, wandelnd, abwärts steigend, verschwand bald, bald kam es wieder hervor; endlich wogte es tief unter, daß nur der Schein am Firmamente es bemerkbar machte. »Das ist nicht Wald, nicht Erdfeuer!« sagte ein Abiponer, dessen Augen, im Dunkel sogar, Falkenschärfe hatten; »das sind wandelnde Holzbrände! ein Feind, der uns das Gras abbrennen will, ist, der dort kömmt.« Die Abiponer geriethen in stürmische Bewegung. Die Männer pfiffen den Pferden, die Weiber den Hunden, Kinder und Heerden, Alte und Kranke, Waffen und Vorräthe wurden auf einen Haufen geschleppt, alle Fackeln ausgelöscht; tiefe Stille geboten, und lauschend drückten die vordersten Wachen des Volks das Ohr an die Erde. -- Diese Kinder der Natur, mit den geschärftesten Sinnen, hören aus weiter Ferne das Schnauben von Thieren, die aus dem stillen Lager im Grase gejagt schienen, Gemurmel und Getöse von Menschen. »Beruhigt euch,« sagte Pater Luis zu seinen beiden Gastfreunden, dem Doctor und James, »ich weiß, was sich uns naht. Ich hoffe darauf mit Zuversicht. Jene Berge sind Brasiliens Vormauern. Der Indianer, von welchem ich Ihnen sprach, mein Vater, war unter den Gefangenen der verwichenen Nacht, war mit mir auf's selbe Pferd gebunden, wußte seine Bande zu lösen. Gott schütze dich, Vater, sagte er, leise vom Pferde unter den Troß des Viehs gleitend, ich bringe dir Hülfe. Dort hinter den Bergen liegt der gute Jesus in den Wildnissen, und ich bin dort wie ein Pfeil, wenn mich kein Abiponer erschießt. -- Im Grase kriechend verlor er sich aus den Augen, und gewiß -- ganz gewiß ist jenes Lichtmeer ein Bote seiner Hülfe. Unsere Fackeln zeigten den von den Bergen Steigenden die Richtung nach unserm Aufenthalt, und sie kommen jetzt sicher, um uns zu befreien.« Die Abiponer rührten sich nicht, im Anschauen der seltsamen Erscheinung verloren, und vertrauten auf des Pfarrers Wort, der ihnen versicherte, es würde nicht ihnen, nicht den Ihrigen ein Leides geschehen, so lange er auf ihrer Seite stände. Der Tag war bereits angebrochen, als sich im Strahle des Morgenlichts die Scene entwickelte. Durch die grasige Ebene näherte sich ein großer Haufe. Gewehre blitzten in langer Reihe. Dieser Anblick entmuthigte die Abiponer, und sie wollten, dem Pulverblitze feind, die Flucht ergreifen. Pater Luis hielt sie mit seiner Beredsamkeit im Zaume. Die fremden Krieger machten auf Flintenschußweite Halt. Sie hatten sich beinahe sämmtlich mit Pferden der Savanne beritten gemacht. Eine schimmernde Fahne flatterte in ihrer Mitte. Die Abiponer staunten das Panier mit dem goldenen Kreuze an, und blickten auf Don Luis, der die Obersten aus ihnen wählte, und von ihnen, Pater Xaver, James und der dienstfertigen Ines begleitet, wie in einer feierlichen Procession, mit weißen Federn wehend, auf die Fremden losging. Weiße, schwarze und rothbraune Männer saßen regungslos, den Karabiner oder die lange Flinte in der Faust, auf den Pferden; dürftig gekleidet, aber voll von Kraft und Muth. Bei dem Paniere hielt, von einigen besser gekleideten Anführern umgeben, der Hauptmann des ansehnlichen Trupps: eine herrliche Mannsgestalt mit schwarzem Bart und frisch gerötheten Wangen, in eine leichte braune Kutte gehüllt, Stiefel und Sporen an den Füßen, einen Strohhut mit einer bunten Feder auf dem Kopfe. Ein breiter Ledergürtel hielt ein Paar Pistolen und einen gewichtigen Säbel. Eine Doppelflinte hing über seinen Rücken. -- Kaum hatte er von ferne den Pater Luis wahrgenommen, als er vom Pferde sprang, und stürmisch auf ihn zulief. »Beim heiligen Jakob!« rief er ihm auf spanisch zu: »Onkel! kennen Sie den Vetter Vereira noch? finden wir uns hier, und bin ich nicht gekommen wie der Blitz? Ihr Name, den mir der Bote nannte, war genug; mein Korps stieß zusammen, und hier sind wir; fast unzufrieden, Euch nicht mehr in Ketten zu finden, um Euch zu beweisen, wie Ernst mir's war.« »Ich bringe Euch hier ein Volk von Gefangenen,« sagte Luis hierauf; »Gefangene im Glauben. Statt ihr Feind zu sein, werdet Ihr Taufpathe!« Zweiter Abschnitt. Die Taufe. -- Trennung. -- Unschuldige Liebe. -- Zug in die Berge. -- Der gute Jesus in den Wildnissen. -- Fernandez. -- Der Flüchtige. -- Der Fürst der Wildnisse. -- Das Bild des Erlösers. -- Reue, Bekenntniß und Versöhnung. -- Sehnsucht nach außen. -- Der Doctor in den Wäldern. -- Der Vorposten. -- Hauptquartier zu la Guasta. -- Brigadier und Assistent. -- Gezwungener Verrath. -- Kriegssturm. -- Das Asyl in den Felsen. -- Die verdächtigen Fremden. -- White's Edelmuth. -- Die Flucht aus den Felsen. -- Strand, Schiff und Heimath. -- Der Maierhof zu St. Dominica. -- Xaver's Brief. -- Schluß. -- Die Abiponer, eifersüchtig, ihr Wort zu halten, wenn sie es gleich im Rausche gegeben, -- von Dankbarkeit für den Pater Luis durchdrungen, weigerten sich der Taufe nicht, die mit so vielen Feierlichkeiten statt fand, als in der Savanne nur anzuwenden waren. Nach dem Hauptmanne Vereira, einem Neffen des Priesterfürsten vom guten Jesus in den Wildnissen, wurden alle Männer des Stammes Fernandez, -- nach der liebenswürdigen Cazikentochter Misinga, alle Frauen und Mädchen Ines genannt. -- Als die Ceremonie vorüber war, kamen alle Führer der Abiponer auf Luis zu, drückten ihm die Hände, küßten sein Kleid und sagten: »Wahrlich, du bist ein guter Mann, was auch Pilagoterigenat sage, die wir in's Freie gejagt haben, daß sie nicht wiederkomme. Du hast uns den Großvater und des Capitans Tochter wiedergegeben, und deinen Gott mit uns getheilt. Wenn du uns ernähren und nicht strafen willst, so begehren wir, mit dir nach deiner Heimath zu ziehen. Wir haben deine Hütte verbrannt: wir wollen sie wieder aufbauen; wir wollen dein Volk werden, und nicht in das Gebirge mit dem fremden Manne gehen, weil wir dort unsere Pferde schlachten müßten. In deinem Lande hingegen ist's _eben_, und Wild und Gras und Wasser fehlt nicht, und, weil du Misinga erhalten, wirst du uns _auch_ nicht verlassen, und darum lieben wir dich.« Die Antwort des Pfarrers war bejahend, und des redlichen Alten Brust hob sich freudiger bei dem Gedanken, in seinen entvölkerten Pflanzort wieder neue Kinder des Segens einzuführen. Alle Bedenklichkeiten des jungen Vereira widerlegend, beschloß er die Heimkehr an der Spitze der Abiponer, und bat seinen Vetter nur, die Fremden nicht verlassen zu wollen, die nicht nach St. Dominica zurückkehren durften. Vereira versprach's mit aufrichtiger Herzlichkeit, und Jedes ging seinerseits dahin, die Vorbereitungen zur nahen Trennung zu treffen. In dem Getümmel, das dadurch entstand, begegnete dem Doctor Münzner Justine, die ihn unter der Menge ausgespäht hatte. Schnell zusammengetroffen, standen Beide einander gegenüber. -- Justines Antlitz drückte Verlegenheit, Münzners staunende Ueberraschung aus. »Ein Wort, mein Herr,« sprach Erstere schüchtern: »ein Wort der Bitte, mein Herr, wenn Sie es anhören wollen. Sie haben gestern großmüthig und edel meines Vaters Leben beschützt, -- mit Ihrem eigenen Leben; -- ich erfuhr es heute erst durch den Vater; ich war gestern blind vor Schmerz; ich danke Ihnen aus voller Seele; ich bitte um Vergebung meiner Härte. Ich bitte Sie, zu meinem Vater zu kommen, der nach Ihnen verlangt. -- Schlagen Sie ihm die Wohlthat, -- mir die Gelegenheit nicht ab, Ihnen auf's Neue dankbar verpflichtet zu werden.« Sie schwieg erwartend, sie hatte viel über sich und ihren Groll gewonnen. Münzner stand beschämt vor der Tugend eines Kindes, das seinen Vater über alles liebt. »Meine beste Jungfer...« erwiderte er, »... wenn Sie wüßten, wie Ihre Worte mein Herz berühren...« Er vollendete nicht; Thränen, die seine Augen nur mit Gewalt zurückdrängten, verhinderten ihn daran. Aber, als er seinen Freund wieder sah, -- dahin siechend auf armseliger Matte, -- aller Arznei, aller Bequemlichkeit entbehrend, und dabei ruhig und geduldig, wie ein schon Abgeschiedener, da kamen dennoch die Thränen auf's Neue über ihn, und er wurde ihrer nimmer Meister. Ueber den Senator bückte er sich, legte seine Stirne an die fieberhaft brennende des Kranken, und sagte nur die Worte: »So uns wiedersehen, mein Freund?« »Ach! schon genug, daß _Wir_ uns noch wiedersahen!« erwiderte der Senator: »ich war des Lebens überdrüssig geworden. Meine Krankheit nahm zu. Meine Tochter wieder zu sehen hoffte ich nicht mehr. Die Zeit schlich mir träge dahin. Endlich dachte ich: es sei das Beste, den Anguaybaum aufzusuchen, von dem mir die Quaranier so viel sagten. Sein Balsam sollte mich heilen, oder die Mühseligkeit des Wegs mich umbringen. Euch nicht im Voraus zu beunruhigen, hielt ich den Vorsatz geheim, führte ihn ohne Euer Mitwissen aus. Der zweite Morgen unserer Reise war auch schon der Letzte meines armen Führers. Mit unserer Reisetasche und meinen Kleidern beladen, ging er vor mir her. Ein Tiger, der mit schon blutigem und dampfendem Maule aus dem Dickicht mit entsetzlichem Sprunge setzte, riß ihn zu Boden, schleppte ihn unbarmherzig in das Gestrüpp. Ich floh -- beinahe unbekleidet, ohne Speise, und ohne den Weg zu wissen. Ein Abiponer fand mich am Abend, beinahe verschmachtend am Boden liegend, und brachte mich in das Lager seiner Horde. Die Wilden verpflegten mich menschlich, aber vielleicht ist der Name St. Dominica, den ich stammelte, mit eine Veranlassung zu Euerm Unglück gewesen. -- Zu _meinem_ Glücke. Ich habe _Sie_ wieder gesehen, mein Freund. Ich darf hoffen, in Ihren und der Tochter Armen zu sterben.« »Ich gehe nach Dominica zurück,« antwortete Münzner verlegen und trübe: »meines Standes Pflicht ruft mich nach Europa.« »So ist es wahr?« seufzte der Senator, wehmüthig die Hände faltend: »Sie wollen mich verlassen, während ich mich an Sie gewöhnte, wie das Kind an die Mutter! _Sie_ mich verlassen, und ich hänge an Ihnen!« Münzner zeigte bedeutend auf Justine, die bleich und schweigend gegenüber saß. »Sie haben eine vortreffliche Tochter,« sagte der Doctor. »Ja, Dank sei dem Vater im Himmel!« versetzte Müssinger, Justinens Hand drückend: »Sie ist gut, aber ihre zärtliche Liebe genügt dem Sterbenden, dem Schwerbeladenen nicht. Ihre heiligste Pflicht hält Sie hier zurück.« Münzner schwieg, sinnend, widerstrebend, vergleichend, in schwerem Kampfe. Justine erhob sich, trat vor ihn, und sprach mit einfacher rührender Milde zu ihm: »ja, mein Herr! Ihre _heiligste_ Pflicht. Mein guter Vater würde, fürchte ich, in Verzweiflung gerathen, wenn Sie von uns scheiden. Sie haben verstanden, sich mit ehernen Banden an sein Herz zu ketten; zerreißen Sie es nicht mit der Fessel! --« »Wie, Mademoiselle?« fragte Münzner schwankend; »_Sie_, Sie halten mich auch zurück? Sie, die mich haßt, -- die mich verachtet?« »Ich bin nicht unversöhnlich,« sagte Justine mit vieler Klarheit: »ich habe Sie nie verachtet ... Gott! nein! gefürchtet hab' ich Sie und verabscheue noch Ihr Kleid! Aber -- könnten Sie zweifeln, daß ich Ihnen das Verderben meines Hauses aus voller Seele vergebe, wenn Ihre Gegenwart auch nur um eine Stunde meines geliebten Vaters Leben verlängert? Bleiben Sie daher; ich beschwöre Sie jetzt so aufrichtig, als ich Sie gestern aus diesem Zelte wies. Theilen Sie mit mir die Sorgfalt für meinen Vater.« Münzner konnte nicht widerstehen: nicht dem Bitten des Senators, nicht der einfachen Rede der Tochter. »Sie sammeln glühende Kohlen auf mein Haupt,« sagte er: »ich bleibe bei Ihnen, meine armen Freunde. Kömmt die Zeit, die unumgänglich die Erfüllung meiner Ordenspflicht begehrt, so finde ich auch über St. Sebastian meiner Reise Ziel.« »Recht, mein Freund,« sagte Pater Luis, der -- die letzten Worte hörend, -- mit Vereira und James in das Zelt trat. »Vergessen Sie den guten Jüngling nicht, der nicht nach Dominica zurückkehren kann, ohne das Kleid zu nehmen, das er nicht liebt, und der durch den Antheil, den er an Ihrem Schicksale nimmt, wohl auch Ihre Theilnahme verdient.« »Darf ich?« fragte James schüchtern, ohne kaum die Augen gegen Justine aufzuschlagen. »Mein Retter!« rief der Senator freudig, drückte ihn an seine Brust und weinte: »womit kann ich dich belohnen, was du für mich gethan? Ich bin ein Bettler geworden, mein guter James. Ich habe nichts, als mein schwaches, kaum noch schlagendes Herz! Ich muß verhungern, wenn nicht Wilde mich speisen, oder mitleidige Christen mich unterstützen.« »Ihr Unterhalt ist die Sorge dieses Mannes,« antwortete Luis, auf Vereira zeigend: »Ihre Heilung dürfen Sie getrost von seinem Oheim erwarten. Im Uebrigen sind Sie kein Bettler. Ihr Testament muß Ihnen zurückgestellt werden. Ich werde an den Provinzial berichten.« »Hoffen Sie nicht darauf,« sagte ihm bekümmert und leise Münzner in's Ohr: »der Empfangschein des Documents wurde mit dem Pfarrhause ein Raub der Flammen.« Ines, von ihren Eltern begleitet, trat herein, lief auf Justine zu, umarmte sie unter heftigem Schluchzen, nahm unter den lebhaftesten Geberden von ihr Abschied, und sagte alsdann zu Luis gewendet: »Alles ist bereit, mein Vater! führe uns Alle, die der Jungfrau Gnade erweckte, in unsre zweite Heimath. Wir folgen Dir!« Luis blickte auf die Freunde, die er verließ, -- sein Auge wurde feucht. Seinen besten Segen legte er auf Müssingers Haupt, und verließ, ohne ein Wort zu reden, das Zelt. Alle, bis auf Justine, die beim Vater blieb, folgten ihm. »Um Gotteswillen!« sprach er zu den Männern, die seine Hände schüttelten: »macht mich armen alten Sämann nicht weich und kindisch. Keinen zärtlichen Abschied. Ich brauche alle meine Kraft, um in meinem ein und siebzigsten Jahre wieder da anzufangen, wo ich vor vierzig Jahren anfing. Wohl werden neue Hütten zu Dominica entstehen; wohl werden viele meiner Kinder wieder dahin zurückkehren, und Gott mir beistehen, daß ich die bekehrten Widersacher zum Frieden leite. Für einen erschöpften Greis ist aber das Werk dennoch groß und zweifelhaft. Laßt mich daher ohne Kummer und Schwäche scheiden. Ueber den Himmeln sehen wir uns wieder, und ich will der Erste sein, der auf dem Platze ist. Gott, Glück, Heil und Segen -- kurz -- Gott mich Euch!« Er wendete sich rasch um, nach der Gegend zu, wo die Abiponer zu Gaule saßen, Vereira folgte, eine Thräne zerdrückend, seinem Beispiele, und ging zu seinen Leuten. »Lebt wohl, Vater Luis!« rief James; »eine Seelenmesse für die arme Lainez!« rief ihm Münzner nach. Ines kam hastig auf James zu, ängstliche Unruhe in den Blicken. -- »Wie, mein Herr und Freund?« sagte sie: »dort steht ein Pferd für Euch gezäumt. Zögert Ihr? Kommt!« »Nein, mein gutes Kind!« antwortete James: »ich kann, ich darf nicht mit dir gehen.« Alle Röthe trat von den Wangen des Mädchens zurück. »Nicht?« stammelte sie; »nicht? Jago! nicht mit mir?« »Es würde mein Unglück sein, Ines! ich müßte darinnen vergehen!« »Unglücklich sollt Ihr nicht sein, Herr, wo Ines glücklich ist. Nicht sterben, wo Ines lebt. Aber Ines wird arm sein, wird sterben, wo Ihr nicht seid.« James schwieg erschüttert. Mit dem Weinen kämpfend, fuhr Ines fort: »sagt mir wenigstens, wo Ihr hinzieht. In jene blauen Berge? in die Gegend, wo das große Wasser sein soll?« James nickte. »Ich ziehe mit Euch, Jago!« James erschrack. »Was willst du thun, Ines?« fragte er. »Welch ein Gedanke?« »Höret, Jago. Mein Vater, der Capitan, ist aus dem Stamme der Ruhaker entsprungen, und hat sich die Mutter aus dem Stamme der Yaaukaniga geholt, und sie folgte ihm, Alles dahinten lassend.« Das Erstaunen des Jünglings stieg. »Ines, welche Rede?« »Ich will Euer Weib sein, Jago, wenn Ihr mich leiden könnt! --« »Ines! wo denkst du hin? Deine Eltern....« »Eltern und Brüder willigen ein. Es ist eine Ehre für sie. Kommt mit uns, oder lasset mich mit Euch gehen.« »Keines von Beiden, Ines! vergiß mich, und folge einem andern wackern Manne. Ich darf nicht annehmen, was mir deine Unschuld bietet.« Ines weinte heftig. »Gesteht es nur!« sagte sie schluchzend, »die Sennora ist schöner, als ich. Bedenkt aber, Jago, daß sie eine Ketzerin ist.« James lächelte wider Willen. Dieses Lächeln zerschnitt das Herz der Indianerin. Empört wollte sie fliehen; er hielt sie, gut machend, sanft zurück, sah ihr ehrlich in's Auge, und sprach: »Behalte mich lieb. Die Sennora wird nicht mein Weib. Ich muß ohne Gattin bleiben, wie Pater Luis und Xaver.« Ines lächelte etwas zufriedener. »Nehmt mich auf Eure Pfarre, Vater Jago,« begann sie nun, »ich will fromm sein, und Euch bedienen, wie den guten ehrwürdigen Vater Luis; unverdrossen und freudig, wie man der heiligen Mutter dient.« »Und du wolltest den ehrwürdigen Vater verlassen?« fragte James mit gelindem Vorwurf: »gerade jetzo, wo er deiner Hülfe am meisten bedarf? und die Eltern verlassen, die du kaum wieder gefunden? mir in die rauhen Berge folgen, wo vielleicht der Mangel meiner harrt? Besinne dich.« Ines schlug die Augen nieder, wischte sich die blinkenden Tropfen von der Wange, verbiß den neu aufquellenden Schmerz, und antwortete: »ich danke Euch, Vater Jago. Ihr habt mich erinnert, daß ich meine Eltern und den Vater Luis zu pflegen habe. Ich will Euch gehorchen; ohne Murren. Die Mutter im Himmel wird mich ja beruhigen. Denkt meiner, betet für mich.« Sie reichte ihm zögernd und dennoch sehnend die Hand, und wendete sich halb von ihm. Er drückte die Rechte der Jungfrau. Schnell zog sie die Finger aus den Seinen, rief mit ausbrechender Klage: »Ach! und dennoch werdet Ihr sehen, Jago, daß Niemand in der Welt Euch liebt, wie ich es thue!« riß sich kräftig von ihm los, und eilte wie ein fliegender Vogel den Landsleuten zu. Wie betäubt sah ihr James nach, und als ob mit der unschuldvollen liebenden Indianerin ein Theil seines Herzens sich losgerissen hätte. Augenblicklich setzte sich die Abiponer-Horde in Bewegung. Ines saß weinend, ohne zurückzuschauen, auf ihrem Pferde. Neben ihr ritten die tröstenden Eltern, und Luis, der noch einige Male zurückblickte, mit seinem Tuch winkte, und endlich unter dem Schwarme der Neubekehrten verschwand. Der Zug wurde dem Auge undeutlicher. Die fernen Grasspitzen wuchsen immer höher an die Pferde der Fortziehenden hinan. Endlich ragten nur noch die schwankenden Speere am Horizonte hervor, und James stand noch immer mit untergeschlagenen Armen da, den zerrinnenden Schattenbildern nachstarrend. Das Horn der Krieger des guten Jesus rief ihn wieder zum Leben empor. Der Senator wurde so eben, auf einer bequemen, von Stauden geflochtenen Tragbahre vorüber geschafft, um von dem sanftesten Thiere getragen zu werden. Stumm schloß sich James Justinen an, die sorglich ordnend, und ängstlich beobachtend dem Vater folgte. Der junge Mann gewahrte Thränen in Justinens Augen, und fragte bescheiden nach deren Ursache. »Ich weine der guten Ines nach,« antwortete Müssingers Tochter; »dem Mädchen, das mich, ohne mit mir reden zu können, inniger liebte, als irgend eine Seele auf der Welt. Ich möchte fast bedauern, daß sie ihre Eltern fand, und ihnen folgte. Sie hätte sich nicht von mir getrennt. Jetzt bin ich allein, denn auch die arme Lainez fraß des Feindes Schwert, oder das Feuer!« »Allein, beste Jungfer?« fragte James mit schonendem Vorwurf: »sind wir Ihnen nicht geblieben? werden Sie unsere freundliche Hand zurückstoßen? haben Sie noch nicht gelernt, mir zu vertrauen?« »Ach, mein guter Monsieur!« sagte Justine entgegen, -- »Eurem Herzen, -- ja selbst dem des Doctors -- vertraue ich gern mich selbst und den Vater an. Euerm Kopfe jedoch nur ungern. Die Wüste schmiedet uns zusammen. Verargt mir's jedoch nicht, wenn ich befürchte, daß ein leichteres Verhältniß uns wieder scheide in Groll, in Meinung, in Erinnerung. Ich kann mich nicht deutlich aussprechen. Denkt jedoch an die Kette eines Sklaven, die ihn mit einem Andern verbindet, obschon sein Geist von Kette und Gefährten sich frei zu machen wünscht.« »Das ist mir genug,« entgegnete James sehr gekränkt, und blieb weit hinter Justine zurück. Der Zug setzte sich in Bewegung, und ging langsam der Abendkühle entgegen. Im tiefsten Dunkel gelangten die Reisenden an den Fuß der Berge. Hier wurde der Kranke auf die Schultern rüstiger Träger genommen, und von vielen Harzfackeln umgeben, ging's bergan. Die Pferde flohen in die Savannen zurück. Blos die Maulthiere für Vereira, Justine und den Pater blieben bei der kletternden Schaar. Die Morgenröthe fand sie auf der Berghöhe, in romantischen Waldpfaden, die immer noch bergan führten, bis sie in eine trockne, steinigte Fläche ausgingen, ringsum von niedersteigendem Wald begrenzt, eine Schlucht ausgenommen, durch welche sich eine herrliche Fernsicht zeigte. »=He acqui el nuestro paraiso del buen Jesu en los bosques!=« rief Vereira mit Löwenstimme, nach der Ferne deutend, und warf sich unter dem Schatten der letzten Bäume nieder. Die Seinigen folgten jubelnd seinem Beispiele, und der Zug rastete, damit die Sonnenhitze vorübergehen, und jedes Auge sich an dem schönen Anblick ergötzen möge. »Das gelobte Land!« sagte Münzner zu seinem Zögling, auf das Thal deutend, das sich unter ihren Füßen ausbreitete. Es schien zur Ruhe geschaffen; ein versteckter, stiller, reizender Erdwinkel. Die Abhänge von schwellendem grünen Rasen belegt, hin und wieder nur von Felswänden unterbrochen; aber auch diese lebten, denn silberne Sturzquellen entsprudelten ihnen, umnickt und umwinkt von steinsprengenden blühenden Bäumen. Lang, schmal und halbmondförmig zog sich das Thal in die Tiefe entlang, bewässert von murmelnder Fluth, bepflanzt mit üppigen Bäumen, durchschnitten von ruhigen und in Fülle liegenden Feldern, von heitern gelben Fußpfaden, geschmückt mit zierlichen Cabanen, mit Hütten von Rasen oder Rohr erbaut. Da, wo das Thal sich krümmt, lag eine ansehnliche Gruppe von Häusern, leicht und schlank gebaut, mit schmucklosen Dächern, im Schatten von kleinen dichten Hainen hinan gehend bis zum Saume der ringsum schützenden Wälder. Eine freundliche Sonntagsruhe schien über das Thal gebreitet, die Felder unbevölkert, keine Heerde auf den Triften, kein Mensch in Feld und Flur und auf den Wegen. »Es ist heute Feiertag,« erläuterte Vereira, »und alle unsre Greise und Weiber sammt ihren Kindern in der Kirche. Die rüstigen Männer sind alle hier unter den Waffen bei mir, und nur der Oheim mit den Schwachen hütet das Haus. Wartet nicht auf Glockenklang und Chorgesang. Beides ist nicht Sitte bei uns, damit der fern hindringende Schall nicht unser Dasein dem Feinde verrathe; denn Feind ist uns jeder Portugiese, jeder Spanier, der im Dienste seines Herrn und bewaffnet kömmt. Die Portugiesen thun in neuester Zeit dergleichen, als wollten sie wirklich das Innere ihres Landes sich eigen machen, und ihr äußerster Wachtposten la Guasta ist kaum sechs Wegstunden vom guten Jesus entfernt. Allein die schroffe, steinige Wüste, die uns gegen jene Seite hin umgibt und versteckt, wird die Weichlichen schon abhalten, ihre Entdeckungslust weit zu treiben. Wäre es auch.... wehe ihnen! Lebendig käme das Detachement nicht aus unserm Thale.« »Aber, Herr,« fragte James verwundert; »man rühmt ja Eures Oheims Milde und die patriarchalische Gutmüthigkeit, die die Grundlage seiner Regierung ausmachen soll. Wie vereint sich das mit Eurem kriegerischen Thun und Eurem Stand?« »Ich bin nicht geistlich,« antwortete Vereira lächelnd, »und wenn ich in einer Kutte gehe, die dem Kleide des heil. Franziskus ähnlich sieht, so geschieht das blos, um meines Oheims Uniform zu tragen; eigentlich, um mich vor dem Volke als den sogenannten Kronprinzen vom guten Jesus in den Wildnissen zu legitimiren. Mein Onkel, der ein tapferer Soldat in den Carabiniers von Arragon gewesen, denkt übrigens wie ich, daß der Friede nöthigenfalls nur durch den Krieg erhalten werden könne. Die Jünger Loyola's und die Statthalter des Königs Johann sind uns gleich verdächtig. Wahrlich, mein Vater, wäret Ihr nicht ein kaltblütiger Deutscher, der mehr Ehre im Leibe hat, als ein Portugiese oder ein Franzose, bequemer schweigt, und die Gastfreundschaft des guten Pater Luis, -- welcher leider auch Euer Kleid trägt, -- genug zu schätzen weiß, um ihn, der Euch empfahl und Uns, seine Verwandten, nicht zu verrathen, -- ich würde Euch nicht mitgenommen haben. -- Mit einem Portugiesen macht man übrigens nicht so viel Federlesens. Man schießt ihn vor den Kopf, und er mache dann was ihm beliebt.« »Sie sollten eine Armee kommandiren,« -- antwortete Münzner lächelnd. -- »Beim heiligen Jakob!« fuhr der kampflustige Fernandez fort: »das wäre eben meine Freude. Ein Commando gegen die Portugiesen! Ihr werdet Euch freilich wundern, wenn ich Euch sage, daß unser Haus selbst aus Portugal stammt; daß einer unsrer Vorfahren selbst vor achzig Jahren den Holländern -- Gott verdamme die Krämer, -- das Land längs den Küsten abnahm; das brasilische, meine ich. Aber der Undank, womit man ihn belohnte, bewog unsre Branche, die schon früher nach Spanien verpflanzte, in spanischem Dienste zu bleiben, bis denn endlich auch hier der Dienst so schlecht wurde, daß sich mein Onkel geistlich machte, und später auch mich vermochte, meinen Freibrief zu nehmen. Ich war Lieutenant unter den Pikenierern des Regiments der Milizen zu Lima; hing aber gerne Schärpe und Federbusch bei Seite, da mich der Onkel beschied. Seitdem suchen wir uns nun in dem Lande, wo unser glorreicher Verwandter Wunder der Tapferkeit gethan, zu behaupten; dem König Johann und allen Jesuiten des Königreichs zum Trotz. Unter Anderm, Pater Xaver, thut mir die Liebe, und legt Euer Kleid ab.« »Wie?« fragte Münzner überrascht: »Verstehe ich Sie, Sennor Vereira?« »Nichts Leichteres,« fuhr der junge Mann leicht und lebhaft fort; »Ihr werdet mich verbinden, und Euch einen bessern Empfang bei meinem Oheim bereiten, der schon vor dem schwarzen Rocke allein einen unüberwindlichen Abscheu hegt.« »Das thut mir leid,« entgegnete der Doctor, kälter werdend: »ich lege aber den Rock nicht ab.« »Wie? diese Gefälligkeit versagt Ihr mir?« fragte Vereira: »Stellt Euch nicht gewissenhaft, wo es unnöthig ist. Pater Luis hat einige Worte fallen lassen, die mir bewiesen, daß Ihr selbst Euern Stand nicht besonders liebet. Was soll denn das Sträuben?« »Wenn ich auch den Fall setzen möchte, daß ich meinen Orden nicht liebe,« entgegnete Münzner, »so ehre ich ihn doch, und verläugne seine Insignien nicht. Ohne den Befehl oder die Erlaubniß meiner Obern lege ich das Kleid nicht ab.« »Ihr machet mich lachen,« sprach Vereira etwas bitter: »Ihr sprecht von Euern Obern, in einer Wüste, fünfzig Meilen von jeder Mission, noch weiter von einem Ordenshause entfernt. Machet es, wie Ihr Herren es mit den Fasten macht: dispensirt Euch selbst.« »Wenn es den Umgang mit Protestanten gälte, so könnte ich's auf mich nehmen,« versicherte Münzner mit unerschütterlichem Ernst; »Gegen Religionsbrüder lüge ich nicht. Der Pabst hat unser Gewand geheiligt und bestätigt. Ich darf es mit Stolz überall zeigen, wo man zur Messe geht.« »In unserm Gebiete nicht!« fuhr der junge Fernandez auf: »ich verbiete es Euch!« »So werde ich umkehren müssen!« entgegnete Münzner entschlossen, und stand auf. Vereira hielt ihn zurück. »Wenn ich Euch nun gehen ließe?« sagte er mit scharfem Blicke. -- »Versuchen Sie es. -- Ohne Lebensmittel, ohne Begleitung, ohne Obdach? in Gottesnamen! wollt Ihr um Eures Orden Ehre willen in der Savanne verschmachten? in Gottesnamen! Euern Zögling halte ich zurück, wie Euern _Freund_. Ich stoße Euch allein, ganz allein, hinaus. Es sei: lebt wohl!« James, der mit gespannten Blicken Vereira's Gesicht gehütet hatte, hielt den Pater auf, den Fernandez plötzlich freundlich umarmte. »Ihr seid ein Mann!« sagte er: »Eure Gesellschaft ist zu beneiden, daß sie solche standhafte Glieder zählt. Kommt getrost mit mir; ich will meinen Oheim schon stimmen, daß er über dem Mann den Rock vergesse. Wäre ich ein legitimer, nicht ein wilder Prinz, ich würde Euch, allem Vorurtheil zum Trotz, zu meinem Beichtvater und Hofkaplan erheben. Ich liebe die entschlossenen Menschen sehr, und Eure erste Handlung müßte sein, mich mit jener wunderhübschen Deutschen zu trauen; denn wahrlich: sie gefällt mir wohl, und verdiente Besseres, als nur die Königin dieser Wildnisse zu sein.« Der eifersüchtige Blick James folgte dem glühenden, den Fernandez nach Justine sandte, die, ein lebendes Bild der Pietät, unfern saß, den Vater pflegend, wartend, erheiternd. Eine trübe Ahnung schlich durch des jungen Engländers Gehirn, und es sank ihm ein Centnerstein von der Brust, als Fernandez sich erhob, und sein Maulthier bestieg, um vorauszureiten. -- Er empfahl den Uebrigen, sich zu ordnen, und bald nachzukommen. Darauf verlor er sich, nur von seinen Hunden und einigen Schützen, die seitwärts durch die Büsche strichen, begleitet, in den Wald, der nach dem Thale hinunterführte. Er war, in Gedanken vertieft, nicht allzuweit bergab geritten, als in dem Gebüsche seine Hunde anschlugen, und ein Jäger seinen Gefährten pfiff. Zugleich raschelte es in dem Gestrüpp des Abhangs, wie das Geräusch eines Laufenden, und in der That riß sich auch ein Mann mit der größten Gewalt durch Busch und Hecken; kraftlos an einem Steine niedersinkend, als er den Reiter vor sich erblickte. Fernandez stutzte nicht wenig ob der fremden Erscheinung, und sprang vom Sattel, den Säbel in der Faust, denn der Niedergesunkene trug Portugiesische Uniform. »Ha! Elender! was machst du hier?« -- rief er ihm rauh entgegen, und schwang die Klinge. Der Entkräftete warf einen muthigen Blick auf den Bewaffneten, schloß dann die Augen, und erwartete den Streich. Dieses Benehmen machte die Hand Vereiras sinken. -- »Wer bist du? wie kömmst du hieher?« -- fragte er milder, und winkte den Schützen, die nachdrangen, ferne zu bleiben. Der Fremde antwortete in schlechtem Portugiesischem: »Ich bin Soldat ..... will's nicht mehr sein, ... lieber sterben!« -- »So? was hat man dir gethan? woher kömmst du?« »Von =la Guasta=. Heute war unser Detachement abgelöst, und auf dem Rückmarsche, noch unfern von dem Wachthause, mißhandelte mich der Knabe, der Fähndrich. Ich warf ihn zu Boden -- entfloh, -- hier bin ich. Tödtet mich, liefert mich aber nicht aus.« »Du sprichst wie ein Mann; du bist auch einer und doch kein Portugiese, wie ich vernehme.« »Ich bin ein Fremder. Ein elender Seelenverkäufer hat mich in diese Gegend gebracht. Ein portugiesischer Kaper bemächtigte sich unsers Schiffs und verhandelte mich an die Soldateska auf der Küste von Fernambuk; diese sendete mich weiter in das Land. Nie fand ich Gelegenheit zu entkommen, als heute auf's Aeußerste getrieben.« »Wohin wolltest du?« »Ich weiß nicht Weg noch Steg. Lieber in den Tod, als zurück.« »Recht. Du weißt nicht, wer ich bin, wer jene Leute sind, die mir folgen?« Der Soldat sah nach der Höhe, wo zwischen grünen dämmernden Blättern die Spitze des Zugs erschien, und sagte gleichgültig: »Ich kenne, auf Ehre, nicht Euch, nicht Eure Leute, und will nichts von Euch, als entweder den Tod auf der Stelle, oder Freiheit und ein Stück Brod; ich bin den ganzen Tag gegangen und gelaufen, und sinke um vor Hunger und Müdigkeit.« Ein Schütze reichte ihm eine erquickende Frucht, und Fernandez fuhr fort: »Es soll dir nichts mangeln, als die Freiheit, die ich dir auf ein Paar Tage nehmen muß, damit man sehe, welch ein Vogel du bist; ob ehrlich, oder Spion!« »Spion? Herr! ich bin ein Engländer!...« »So? ich hätte das an deiner Mundart merken sollen. Dein Name?« Dem Fremden wurde die Antwort erspart. Ein Schrei der Ueberraschung ließ sich aus der Mitte des Zugs vernehmen. »Vater,« -- rief Justinens Stimme: -- »Um Gotteswillen! sehen Sie auf. Es geschehen Wunder! Herr Birsher! Georg Birsher!« »Wer ruft mich?« -- fragte um sich blickend der Soldat, und stand wie versteinert, die Braut, ihren kranken Vater, James, den Doctor vor sich sehend. Er rieb sich die Augen, die Stirne, wollte auf Justine zugehen, und fuhr schnell und erschreckt vor dem Senator zurück. Müssinger, der Ueberraschung unterliegend, vermochte kein Wort zu stammeln. Ein heftiger Krampf packte seine kranke Brust, er sank, wie mit dem Tode kämpfend, zurück. Jammernd warf sich die Tochter über ihn. Vereira gab Befehl, den räthselhaften Fremden festzuhalten. Es geschah. »O ja, ihr Freunde!« -- rief Georg außer sich seinen Schergen zu; -- »Reißt mich hinweg von diesem Anblicke, der mein Herz zerschmettert. Ich bin nicht kalt, bin nicht ruhig in diesem Augenblicke. Ich kann den Mörder nicht in's Augen fassen!« Auf einen Wink des Fernandez wurde Georg schnell fortgeführt; und schnell folgte ihm der Zug, damit der dem Tode nahe Kranke sobald als möglich unter Dach und die Obhut des heilerfahrnen Priesterfürsten komme. Einen wohlthuenden Gegensatz zu der Bestürzung, die über die Europäer gekommen war, machte das Betragen des Doctors. Von Freude leuchtend, ging er dem Troß zur Seite, betete still, betete laut, streckte die Arme gen Himmel, und sagte: »Wie kann ich dir danken, du gnädiger Herr dort oben, daß du mich diesen Tag sehen ließest? Wahrlich, James,« -- sagte er zu dem neben ihm tiefsinnig und betrübt einher Schleichenden, -- »Was ich nicht zu hoffen wagte, ist eingetroffen. Ich sehe den Armen wieder, den ich unglücklich machen half; ich sehe ihn frei unter Freien. O Herr! hast du über meinen armen Freund beschlossen, so erhalte seine Sinne nur eine Stunde noch bei voller Kraft, daß sich von ihm löse, was ihn quält; denn dazu ist jetzt der Augenblick, -- dazu der Ort, -- und ich will dich loben ewiglich!« »Nur einen Abglanz Ihrer Stärke!« bat James, blaß wie ein Sterbender, mit inniger Klage; -- »nun ist jede Hoffnung auf mein irdisch Glück dahin! Selbst die Wüste vereint mich nun nicht mehr, mit der, die ich liebe; die Unschuld, die an mir mit voller Seele hing, wies ich schnöde von mir. Ich muß allein stehen, belohnt für mein hinterlistig Streben, bestraft für den Trug, zu dem meine Jugend verleitet wurde. Vater Münzner! kehren Sie mit mir nach Dominica, nach Assumcion zurück! Euer bin ich nun, ihr schlauen und geschäftigen Ordensleute! Ich will mich an Eure Selbstsucht, an den Schein Eurer Tugend ketten, da mich die Wahrheit verläßt und die Liebe!« »Du betrübst mich, mein Sohn!« -- entgegnete Münzner kräftig: »Wo ist die Stärke, womit du prahltest? Wo das Wohlwollen gegen die Menschheit, das dich auszeichnete? Du willst jetzo diesen Rock nehmen, indem du ihn verachtest? Weiche zurück von der Sünde! _Denke_ sie nicht. Dem schwachen Erdensohne ist's erlaubt, -- es ist sein Loos, getäuscht zu werden, harmlos die Schlange zu nehmen, die ihn alsdann tödtet. Wer aber mit der Erkenntniß das Böse thut, ist verächtlich. -- Mich, den Schwergetäuschten, laß immerhin an dem Platze fallen, der mir zum Kampfe angewiesen wurde. Treu meinem Schwure, weiche ich nimmer aus dem Streite, der mich verdirbt. _Dir_ verbiete ich aber jetzo, ferner an den Orden zu denken. Du würdest darinnen ein Ungeheuer, während ich nur schwach war. Laß ab! Deinen Wortbruch nehme ich auf mich, weil ich ihn verschuldete.« James warf sich weinend an des Pflegers Brust. Beide zu sich gekommen sahen sich um. Sie standen im Thale, an der Pforte eines luftigen Hauses. Eine Doppelreihe von Jungfrauen und Kindern bewegte sich heran, bunt und festlich gekleidet, Früchte in den Händen, und boten sie mit stiller Gastfreundlichkeit den Ankommenden. Unter dem leichten Vordache des Hauses, über welches sich zwei Palmen lehnten, stand der Fürst des guten Jesus, in der einfachen, groben Tracht des heiligen Franziskus, mit nackten, sandalentragenden Füßen, vom dürftigen Strick umgürtet. Der einzige Schmuck des hochbejahrten Mannes war sein weißes Haupthaar, der wie aus Schneefäden gesponnene Bart, der zum Gürtel hernieder floß, und die heitern, wohlwollenden Augen in dem braunen, ehrwürdigen Gesichte. Er sprach mit einfachen Worten den Segen über Alle, und richtete milde Trostworte an Justine, wie an den Senator, der sich mühsam von seiner Ohnmacht erholte. »Dies euer Haus, meine Gastfreunde!« sagte er. »Heil den Fremden, die es wohl meinen, wie wir es mit ihnen machen wollen! Heil dem Kranken, denn Gott will, daß er genese! Heil den Abwesenden, und vorzüglich dem guten Vater Luis, denn er gab uns Gelegenheit, barmherzig zu sein, und Freude bringe ihm dieser Abend!« Der Senator wurde in das Haus gebracht, und wie mit Zauberschnelligkeit war ein Trank bereitet, von welchem der Vater Franzisco viel versprach und erwartete. Alles Volk hatte sich ohne Geräusch nach seinen Häusern begeben; die stille Sabbathsruhe war wieder allenthalben eingetreten, Alles verödet; nur auf Felsspitzen rings um das Thal gewahrte das Auge bewaffnete Schildwachen, die das Thal in die Ferne mit Späherblicken hüteten. Franzisco, der Fürst dieser Wildnisse, saß neben dem Kranken, der in eine heftige Crisis fiel. Des Priesters Hand verließ den Puls nicht, wie die Augen der knieenden Justine die Züge des Vaters nicht verließen. Fernandez lehnte in der Ecke, und beschaute das Mädchen, das ihn sehr anzog; James kämpfte, unfern sitzend, mit seinem Herzen; mit gefalteten Händen stand Pater Xaver an der sehr großen Fensteröffnung, die beinahe eine ganze Seite der Stube einnahm, mit einer Balustrade versehen war, und die Aussicht auf einen großen Platz gewährte, mit Rasen bewachsen und frei; von Platanenreihen im Halbkreise umringt. Ein einfacher Altar erhob sich in seiner Mitte, und, beinahe die Baumreihe überragend, stand hinter dem Altar ein riesengroßes Bild des Heilands, sitzend und sprechend: Laßt die Kindlein zu mir kommen! Der Kopf der Bildsäule, ein Meisterwerk von Schnitzarbeit, sah ernst und sanft in das Zimmer, und nach ihm gewendet lag der Kranke, zu ihm gewendet betete Xaver. Des Senators Zustand besserte sich indessen, aber eine große Schwäche befiel ihn. Die Thüre öffnete sich, und ein Mann, zurückgehalten von einigen Wächtern, wollte herein. Franzisco winkte ihm, leise näher zu kommen. »Der Kranke hat nach Euch verlangt,« sagte er, »schont seinen Zustand!« Georg trat, um vieles gefaßter, mit ruhiger Stimme auf den Senator zu, der ihm schwach die Hände entgegen reichte. »Ich ahne,« sagte Georg, »was Sie bewogen haben mag, meine Nähe zu fordern. Sie glauben an der Pforte des Todes zu stehen, und wollen ein qualvolles Bekenntniß in meinen Schooß wälzen. Lassen Sie die traurige Pflicht. Versöhnen Sie sich mit dem Himmel; ich habe Ihnen vergeben, und auch mein armer Vater, der uns jetzo sieht, wird die Grausamkeit, die Sie an ihm begingen, nicht rügen. Er wird bei dem Ewigen um des Mordes willen, den Sie an ihm verschuldet, um Gnade bitten.« Des Senators Körper zitterte. Justinens Busen hob sich heftiger. Münzner trat langsam näher. »O wie ist es möglich,« seufzte Georg, sich selbst vergessend, und in den Anblick des Kranken verlierend, »daß dieser Mann, in dessen Gesicht jetzt die engelgleiche Sanftmuth liegt, daß dieser gerade gegen den Gastfreund seine Wuth kehren, daß er ihn erwürgen konnte! Was ist der Mensch?« »Ein Irrender, Herr Birsher,« antwortete Münzner; »und auch Sie sind im Irrthum, versöhnlicher, verzeihender Sohn. -- Hier ist Ihr grausames Gericht, -- hier ist die Folter nicht zu fürchten, -- hier ist keine Rücksicht auf öffentliche und geheime Lebensverhältnisse zu beachten, Herr Senator. Reden Sie mit dem jungen Ehrenmanne, daß der grimmigste Verdacht weiche, daß der Eine bezeichnet werde, der die meiste Schuld an Ihrem Unglück trägt.« Der Senator erholte sich ein wenig, und redete dann zu dem jungen Birsher. »Sie sind ein klarer Engel, Herr, Sie vergeben mir unbedingt, ob Sie gleich scheinen, das Schrecklichste von mir zu glauben. Und dennoch, -- wahrlich, Herr, -- so viele Schuld ich an Ihres Vaters Hinscheiden habe,.... verflucht sei meine Hand, wenn sie je sich an dem edeln Manne vergriffen.« »Wie?« fragte Birsher. Justine athmete freudig auf. »Ich bin zu Grunde gerichtet, sagte ich zu dem Mahnenden, dessen Güte ich nicht ahnte, eben so wenig, als seinen Namen,« fuhr der Senator fort; »ich muß sterben eher, als mich bankerott bekennen; ich riß die für mich geladene Pistole aus der Schublade. Herrgott! wollen Sie mich morden? fragte Ihr Vater auffahrend, und in selbem Augenblick sank er, der von der Reise bereits Ermüdete, von schlafloser Nacht Erhitzte, von dem unangenehmen Geschäfte und dem plötzlichen Schrecken aufgeregt, vom Schlage getroffen zu Boden. Mein Entsetzen ... wer beschreibt es? Ich wollte dem Röchelnden die fest zugezogene Halsbinde lüften.... ich war ungeschickt: um so schneller starb er unter meinen Händen; und der entsetzliche Gedanke, den nächsten Anlaß zu seinem Verscheiden gegeben zu haben, warf mich selbst zu Boden.« Georg sann nach, als der erschöpfte Erzähler geschwiegen, und fragte dann: »Wenn ich den Worten eines Sterbenden auch glaube, -- und die Lüge sitzt nicht auf Ihrer Stirne -- woher Ihre Befangenheit, Ihre Angst .... woher das räthselhafte Schweigen gegen mich, da ein freimüthiges Erklären Alles beigelegt haben würde?« Der Senator konnte nicht mehr reden, Münzner nahm für ihn mit erschütternder Wahrheit das Wort: »Ich gebe Ihnen mein heiligstes Priesterwort, im Angesichte des Heilands, der dort so hehr und rein sein göttliches Haupt in den Himmel hebt: der Senator spricht die Wahrheit. Dazumal war jedoch die Schlange seines Bewußtseins ihm so schreckend, daß ihm selbst die nackte Wahrheit ein Gräuel wurde. Seines vielseitigen Unrechts gegen die Gesetze seines Standes und seiner Vaterstadt bewußt, fürchtete er von deren harten und parteiischen Gerichten das Beginnen eines Prozesses, der ihn zu Boden gerissen, mehrere Jahre im Gefängnisse gehalten haben, ihn _vielleicht_, dem Schein zu Liebe, seinem Läugnen zum Trotz, auf das Schaffot, -- unschuldig unter das Schwert gebracht haben würde. So viel von seinem unerklärlichen Schweigen gegen den erregten Verdacht. Die Qualen seines _Bewußtseins_ habe ich zu tragen, und dieses Bekenntniß ist nur eine geringe Vorbuße für das, was ich gegen Sie alle, meine Lieben, verschuldet habe. Clara, -- mein Freund, -- empfahl Sie meiner Liebe! Mit aufrichtiger Theilnahme an Ihnen hängend, wußte ich Ihnen keine bessere Wohlthat zu bereiten, als den Eintritt in meine Kirche, -- die Wiedervereinigung mit Claren, jenseits des Fegfeuers. Ich bedurfte eines Bandes, Sie festzuhalten. Ich benützte den finstern Wahn, in dem Sie lagen, als ob Sie eigentlich durch ihre Drohung den ehrenwerthen Vater dieses Mannes getödtet; ich brauchte ihn als Schreckniß; ich zeigte Ihnen die Vergebung der entsetzlichen Sünde nur in dem Schooße des katholischen Glaubens. Endlich war mir das Werk gelungen, Sie waren unser; ich bemühte mich nun, Ihre Furcht vor dem eingebildeten Verbrechen durch die Lossprechung zu tilgen. -- Umsonst! der Wurm blieb, wurde schrecklicher, denn zuvor; Folge knüpfte sich an Folge, eine verderblicher, als die andere. Ihre Bekehrung wurde Sache des Ordens, -- ich sah Sie aus meinen Händen gerissen, völlig zum Abgrund geschleudert; ich sah die unseligen Wirkungen meines Beginnens, das in aufrichtiger Liebe entsprungen; ich schauderte selbst vor meinem Werke zurück, und _mußte_ nun Stein zu Stein tragen, Trug auf Trug bauen, um.... o, lassen Sie mich schweigen! Sie aber, edler Georg, vergeben Sie mir, daß auch Sie endlich unserer Sicherheit Opfer werden mußten. Wenn Sie gewußt hätten...! Wir fuhren auf demselben Schiffe: Sie, in den Fesseln des Raums, wurden von dem Senator nicht gesehen. Zu Buenos-Ayres angelangt, mußte ich Sie, unserer Selbsterhaltung willen, Ihrem traurigen Schicksale überlassen...! Welche Fügung des Herrn, daß Sie, statt nach Batavia geliefert zu werden, hieher kommen mußten! Hier sind alle Schleier gefallen! hier sehen Sie das Ungeheuer vor sich, das Ihre harmlose Menschenliebe, Ihre Hoffnungen, Ihren Brautstand, vielleicht Ihr ganzes irdisches Glück, und die Glückseligkeit dieser Beiden, und den Frieden jenes jungen Mannes unbarmherzig zernichten mußte! Gott sei Dank; endlich habe ich meine Gefühle reden lassen dürfen, und nun beginnen Sie mit mir nach Gutdünken.« Georg und James wendeten sich entsetzt ab; Justine betrachtete den furchtlosen Mann des Jammers ohne Verachtung nur mit Bangigkeit und innerer Freude über seiner, zur Wahrheit gehobenen, Seele Kraft: denn er hatte ja den Vater von der gefürchteten Blutschuld freigesprochen, und Birsher durfte ihnen nicht gerecht zürnen, und James war auch gerechtfertigter, als das Mädchen jemals vermeint hatte; und, wenn es Bedauern erregt, einen Gutdenkenden in Sünde versinken zu sehen, so erquickt den Kräftigen doppelt der Wiederaufschwung des neu erstarkten gefallenen Herzens! Der Senator winkte dem Pater Xaver zu, und lispelte: »Sie wollten mich um Clara's Willen dem Paradiese weihen, mein Freund. Ich spreche Sie frei, und danke Ihnen für diesen Augenblick. _Ich_ hasse Sie nicht.« »Nicht ich,« rief James weinend, und an den Hals des Lehrers fliegend. »Nicht ich,« setzte Georg edel entschlossen bei, und drückte ihm die Hand, »alles, was wir um uns sehen, ist Gottes Werk, und so auch die Handlungen der Menschen, und so auch Ihr gutes, aber zum Unsegen bestimmt gewesenes Herz! Gott hat uns schwer geprüft; aber ist es nicht auch seine Schickung und sein Friede, daß wir uns hier zusammenfinden? Ich verzeihe, ich vergesse, ich hasse nicht _Sie_; was jedoch den Orden betrifft, der...« »O, mein Herr!« bat Pater Münzner weich; »Auf mich allein die Schale Ihres Zorns! Ich habe Niemand angeklagt, als mich allein. Ich habe zu büßen. Die Fremden, die Unschuldigen verschone Ihr Unwille. Ich dächte: der Geist der Duldung stände dem Protestanten wohl an. Verdammen Sie nur den, der das Ueble mit seiner Hand gethan.« Georg nickte ihm zu, ging zu dem Senator, und gab ihm seine Hand. Schüchtern reichte er die Linke an Justine, die erröthend, aber gerne sie annahm. »Ich schwöre es,« rief er, »Euch nie zu verlassen, meine Lieben, so lange das Geschick uns in der Irre, auf wüstem Meer des Lebens treibt. Laßt uns Alle enge zusammentreten, vereint durch Noth, durch Friede, durch Versöhnung. Liegt nicht das Elend hinter uns in der alten Welt, und kann nicht das Glück auf's Neue _hier_ uns aufblühen?« Sein Blick traf auf Justine. Er las in ihren Augen Freude und Vertrauen. »Gieb mir deine Tochter, wenn du heimgehst, Vater!« sagte er zu dem Senator, und dieser legte die Hände des Brautpaares weinend in einander. James hatte den Muth, seinen Landsmann glückwünschend zu umarmen, und Münzner theilte die hier statt gefundene Versöhnung und ihre Folgen dem Priester Franzisko und seinem Neffen mit. »In diesem Thale,« sagte er, »wäre für die Leute ein stilles Glück zu hoffen, bis die Außenwelt wieder für sie zugänglich wird. Dürfen sie aber auf Ihren Schutz rechnen, mein Vater?« »Jesus ist die Liebe und der gute Hirt,« antwortete Franzisko: »wer tugendhaft ist, wohnt gut in diesem Thale, und -- wenn der den Portugiesen entflohene Mann nur unsere Felsengränzen nicht verläßt, so ist er sicher immerdar.« »Beim heiligen Jacob!« versetzte Fernandez, an seinen Säbel schlagend: »Ich beschütze ihn selbst, weil er brav sein muß, da die schöne Deutsche ihn liebt, für welche ich gerne meine altspanische Ritterlichkeit bewähren möchte!« So geschah es also, daß sie in dem kleinen Staat des guten Jesus in den Wildnissen eingebürgert wurden. Die Einwohner, ein harmloses Volk, aus allen Farben zusammengewürfelt, theils vom Unglück hieher verschlagen, theils im stillen Thal erwachsen, schlossen sich bald an die fremden Brüder an. Ein Haus von schlankem Rohre wurde denselben gebaut. Die Nahrung gab ihnen Vater Franziska aus dem Vorrathhause der Gemeinde, bis ihre Felder, ihre Bäume Früchte tragen würden; er gab durch seine Bemühung dem Senator das Köstlichste: die Gesundheit, wieder. Die Seelenruhe des Mannes beförderte seine Heilung, und ehe achtundzwanzig Tage vergingen, so strich er schon mit seiner Tochter und mit Georg durch die freundlichen Fluren um die Colonie. Die Liebe des Paares verjüngte seinen Geist, und, ungeduldig aufbrausend, wiewohl gutmüthiger, als in der verwichenen Zeit, sagte er zu seinen Kindern: »Ihr liebt Euch; Ihr wollt es nicht verhehlen! Warum wird mir nicht das Glück, Euch verbunden zu sehen? Warum hat Franzisko noch nicht den Segen über Euern Bund ausgesprochen? Ein Patriarch könnte es nicht besser, als dieser edle Mann.« Justine und Georg sahen sich an, ernst, einverstanden, drückten des Vaters Hand, und die Tochter sprach: »Nicht hier, mein lieber Vater! Hier herrscht nicht unser Glaube, und den Lockungen der andern Kirche seit langem widerstrebend, soll auch nicht die Einsamkeit den Sieg über mich erringen.« »Nicht ewig,« redete Georg, »wird uns das Geschick an diesen Boden fesseln, ich ahne es, wir werden meine Heimath sehen, und dann, Vater, dann knüpfen wir dort das Band vor dem _unsichtbaren_ Gotte.« Der Senator schlug beschämt die Augen nieder, und Justine, um seine Verlegenheit zu endigen, setzte schonend bei: »Wie wollen Sie auch, daß ich glücklich sei, so lange noch ein Mann in unserer Nähe lebt, den die Leidenschaft beim Anblick dieses Bundes elend machen würde?« Sie zeigte auf James, der unfern vorüberging, sinnend, brütend, gesenkten Hauptes, ohne sich umzusehen. »Sie waren ihm hold, beste Jungfer!« sagte Georg, ihm nachblickend. »Der Unglückliche, daß er diesen Lichtblick seines Lebens nicht für sich gewann!« »Zu meinem Frieden!« antwortete Justine. »Angezogen und zugleich abgestoßen von ihm, danke ich den Ränken, zu welchen ihn seine Erzieher verleiteten, meine Ruhe. Ich hasse die Falschheit -- und nur redliche klare Besonnenheit kann mein Herz gewinnen. Darum rechnen Sie, mein bester Herr, auf dieses, wenn es Ihnen angenehm ist, und vor Allem -- lassen Sie uns sammt und sonders auf baldige Erlösung nach der Heimath hoffen. Denn, nicht zu läugnen, daß hier in diesem Frieden, dieser Stille, nur ein geschmückter Kerker zu schauen ist.« Justine sprach wahr. Franzisko übte, seinen Verhältnissen gemäß, die strengste Despotie; mit Wachen war das Thal umstellt: Niemand sollte das Thal verlassen; auf die Fremden wurde das wachsamste Auge gehalten; besonders auf den Jesuiten, dessen Gewand, das er hartnäckig behielt, einen größeren Verdacht erregte, als die portugiesische Uniform, die Georg abgelegt hatte, um kein Aergerniß zu geben. Und gerade Münzner mußte es sein, der plötzlich aus dem wohlgehüteten Gefängnisse entwich, ohne es selbst zu ahnen. Bei all dem herzlichen Vergessen, das die Freunde ihm bewiesen, war der Stachel in seiner Brust zurückgeblieben. Er konnte sich nicht heimisch unter diesen Menschen fühlen. Seine Gewissenhaftigkeit trieb ihn, da der Senator genesen war, wieder nach dem heimathlichen Boden, vor die Schranken seines Provinzials. Der stille Kummer, worin sich James verzehrte, machte sein Herz bluten. Es quälte ihn, diesen Unfrieden eines geliebten Jünglings mit ansehen zu müssen. Botanik, eine Lieblingswissenschaft seiner jüngern Jahre, bot ihm Zerstreuung und Genuß. Er entfernte sich von den Landsleuten; er kletterte Tage lang an dem Gestein der Höhen, durchkroch die Furchen des Thalbodens. Die Wächter waren seiner Wanderungen gewöhnt worden. Dem schlichten einfachen Manne mißtraute keiner mehr; sie ließen von ihrer Achtsamkeit nach, und so kam es, daß der Pater sich eines Nachmittags, von seiner Forschbegierde verleitet, weiter verstieg als sonst, und sich mit einem Male hoch über den Wachtposten erblickte. Die herrliche Flora, die um ihn erblühte, führte ihn weiter. Die Waldpflanzen boten ihm einen blumigen Pfad, der ihn mehr und mehr verlockte, und, wie das Kind der Lockung süßer Früchte folgt, so folgte hier der Mann, dessen Herz sich seit Langem wieder einer ruhigen Freude hingab, dem Streben seiner Wißbegierde. Aber immer weiter war er gegangen. Der Wald hatte sich hinter ihm mit tausendstämmiger Wehrmauer zugeschlossen. Nur der Laut der Vögel sprach zu dem Wandernden; nur die Furche, die von der mächtigen einsamen Schlange durch das Gras gezogen wird, war sein Pfad, und endlich dämmerte es schon unter den hohen Bäumen, als er Halt machte und auf den Rückweg bedacht wurde. Wo jedoch diesen finden? Kein Sonnenstrahl mehr; noch kein Stern; grüne duftige Waldnacht allein. Münzner versuchte sein Heil, indem er auf's Gerathewohl einen Seitenpfad einschlug, wo von Ferne eine schwache Helle aufzudämmern schien. Je weiter er ging, je tiefer die Dämmerung wurde, je deutlicher wurde der helle Punkt; er blitzte auf: eine Feuerflamme redete zum Auge des Wanderers. Er förderte seine Schritte. Auf feuchtem Grunde, an hochwachsenden, üppiggeblätterten Sumpfstauden vorüber -- immer auf das Ziel zu, das die Gegenwart von Menschen verrieth. Mochte das Raubgethier um und um in der Ferne heulen und krächzen; er verfolgte die Spur. Schon erkannte er einen flammenden Holzstoß, Menschen um denselben gelagert. Seine Annäherung, von dem rauschenden Gestrüpp verrathen, erregte die Aufmerksamkeit der Lagernden. »Wer da!« rief eine portugiesische Zunge, und der Pater sah die Mündung einer Flinte gegen ihn gerichtet. »Ein Verirrter!...« antwortete er, und im Nu umgab ihn die Schaar der Aufspringenden: ein Dutzend von Männern in braune, grobe Mäntel gehüllt, mit herunterhängenden Hüten auf dem Kopfe, Säbeln an der Seite und Musketen in der Faust. Einer von ihnen, der unter dem Mantel eine Uniform sehen ließ, mit den Galonen eines Offiziers, fragte gravitätisch, daß die Cigarre zwischen seinen Zähnen nicht erlösche, woher der ehrwürdige Vater komme und wohin er wolle. Auf die unbestimmte Antwort Münzners, daß er sich verirrt habe, schüttelte der Offizier ungläubig den Kopf, küßte indessen dem Pater die Hand und erwiderte: »Ihre Aussage ist dunkel, Ew. Hochwürden. Ich muß sie in's Hauptquartier schaffen lassen, da Sie mir nicht angeben wollen, wo Ihr Wohnort ist.« »In's Hauptquartier?« »Nach la Guasta; einige Stunden von hier entfernt. Sie werden gefällige Leute daselbst finden, mein Vater.« »Aber mit welchem Rechte?« »Ich bin Soldat, hochwürdiger Herr. Das entschuldige mich. Miguel und du, Olao! nehmt eine Fackel mit Euch, und führt den ehrwürdigen Herrn zu Sr. Excellenz, dem Brigadier.« »Welche Behandlung, da ich hier nur Schutz für diese Nacht suchte!« »Befehl, hochwürdiger Herr! Geben Sie uns Ihren priesterlichen Segen, wenn es Ihnen gefällig wäre!« Die ganze Truppe senkte sich auf die Knie. Münzner that das Verlangte, und nachdem ihm noch von Allen auf's Inbrünstigste Hand und Kleid geküßt worden war, mußte er sich auf den Weg machen. Der Offizier bot ihm Cigarren und einen Tropfen Wein zur Erfrischung. Niedergeschlagen und geärgert verweigerte Münzner Beides, und folgte den Soldaten, die alle ersinnliche Ehrfurcht und Frömmigkeit gegen ihn bewiesen, ihn jedoch nicht aus den Augen ließen, die gespannte Flinte im Arme haltend. So verging die Nacht auf gefährlichem, halsbrecherischem Wege. Das Morgenlicht fand den Verhafteten auf der steifen und öden Bergplatte la Guasta. Abgründe ringsum; in der Tiefe Wälder; ein dürftiges Wachthaus bot ein Obdach; aber der sonst öde Ort wimmelte von gelagerten Soldaten einiger Milizen-Compagnien, Strauchdieben ähnlicher, als geregelten Kriegern; in abgetragenen Röcken und zerrissenen Schuhen. Die durchlöcherten Hüte, niedergekrempt, saßen verwegen auf den ölglatten, schwarzen, hängenden Haaren, und das olivengelbe Gesicht wurde furchtbar und drohend durch die großen, schwarzen Feueraugen, und den unordentlich gehaltenen Schnauzbart. Spielend, schlummernd, plaudernd lagen sie am Boden um Trommel und Fahne, die Waffen, in Pyramiden zusammen gestellt; so wie sie des nahenden Geistlichen ansichtig wurden, flogen die Hüte herunter; die Mannschaft lag auf den Knieen, und die Benediction war das Erste, was sie verlangten. In dem Augenblicke traten zwei Männer unter den Eingang des Wachthauses. Ein hoher Offizier, wie das Kleid verrieth, und der Ungestüm, mit welchem das Militär aufsprang, ihm die Honneurs zu machen; dann ein Vater der Gesellschaft Jesu, der sehr verwundert schien, einen Bruder vor sich zu sehen. -- Münzner war erstaunt über dieses Zusammentreffen, das, in Mitte so vieler Waffen, einen bedeutenden Zweck zu haben schien. Der Sergeant Miguel berichtete. Der Brigadier näherte sich dem Pater Münzner bescheiden, und fragte ihn: »Wollen Sie nicht aufrichtiger gegen uns sein, als gegen den Lieutenant des Vorpostens, mein Vater? Sie sind, wie aus Allem zu schließen, unbekannt in diesen unwegsamen Gegenden, und jede Ausflucht, die Sie ersinnen möchten, uns über diesen Punkt zu täuschen, würde vergebens sein. Wären Sie etwa bekannter in der Region, nach welcher wir unsern Marsch gerichtet haben? in dem Thale des guten Jesus in den Wildnissen?« Münzner erschrak. Die Ahnung vom Verderben seiner Freunde schoß durch seinen Kopf. Entschlossen, nichts zu verrathen, läugnete er, ohne jedoch einen Vorwand zu finden, der seine Existenz in diesen Landen beschönigen konnte. »Ich wiederhole Ihnen, mein Vater,« fuhr der Brigadier gemessen, ernst, aber immer höflich fort, »daß Sie Ihre Lage verschlimmern. Wir lassen uns nicht täuschen. Sie möchten sich die Folgen selbst zuzuschreiben haben. Woher kommen Sie? die nächste Mission liegt noch ferne von hier, und Ihr Gesicht scheint dem hochwürdigen Vater Assistenten der Missionobern zu St. Sebastian gänzlich unbekannt? Gestehen Sie, daß Sie ein Einwohner der wider des Königs Willen und Gottes Erlaubniß errichteten Colonie in den Wildnissen sind.« Münzner wollte sich in sein Leugnen beschränken. Der Pater Assistent durchbohrte ihn mit den Augen, ohne ein Wort zu reden. Der Brigadier fuhr stolz und schneidend fort: »Es ist wahrscheinlich, daß die spanische Krone die aufrührerische Niederlassung auf Don Juans Eigenthum begünstigt, und Väter der Gesellschaft Jesu aus ihrem Paraguay herüber sandte, dieselbe zu regieren, möglich indessen auch, daß Sie das Kleid und die Tonsur blos als Maske tragen, um verbrecherische Späherränke darunter zu verbergen. Mindestens sollten Sie Ihre Lection besser gelernt haben. Wenn Sie, wie Sie vorgeben wollen, zu Santa Catalina als Vicar stehen, wie kömmt es, daß Sie hier aufgehalten werden konnten? Man pflegt keine botanische Wanderung auf fünfzig Leguas in der Runde anzustellen. Diese Gründe werden mich bewegen, Sie nach St. Sebastian abführen zu lassen, woselbst Alles klar werden soll.« Münzner bückte sich schweigend, sich in sein Schicksal ergebend. Der Pater Assistent winkte indessen dem Brigadier verstohlen zu, nahm den Doctor bei der Hand, führte ihn in ein einsames Gemach des Wachthauses, und sagte hier zu ihm: »Mein verehrter Mitbruder im Herzen Jesu! Ich habe Sie durchschaut, und bescheide mich, die Gründe Ihres Betragens zu tadeln, weil ich dieselben gefunden zu haben glaube. Ihr Name, Ihre Verrichtung?« Münzner nannte sich, seine Heimath, sein Profeßhaus, seine Sendung nach Amerika. Der Assistent lächelte zufrieden und sagte: »Ihr Name ist mir bekannt, das Haus Minhao zu St. Sebastian führt ihn in seinen Registern und Correspondenzen. Ich fasse Vertrauen zu Ihnen, wie unsere Pflichten es wollen. Sie drücken sich aber nicht klar aus. Seit Ihrer Entfernung aus der Savanna unfern Dominica bleibt eine Lücke, die Sie nicht ausfüllen wollen. Wenn Sie dem Soldaten allein nicht Rede stehen wollten, kann ich's nicht schelten. Das Volk mit dem Degen nimmt häufig das Prae vor unserm Stande und Beruf. Mir gegenüber ist es ein Anderes. Sie sollen wissen, daß ich auf Befehl des hochwürdigen Paters General zu Rom mich hieher verfügt habe. Längst haben wir Kunde von dem »guten Jesus in den Wildnissen,« und den dort herrschenden Usurpatoren. Theils aber, um die spanische Krone in ihrer Unwissenheit zu lassen, -- theils aus Mangel an energischer Unterstützung unsers Statthalters, ließen wir die Einverleibung jener Gemeinden in den Schooß derer Missionen, die _Uns_ mit Fug und Recht gehören, dahin stehen. Endlich ist der Augenblick gekommen. Hinreichende Mannschaft unter dem Commando eines Brigadiers begleitet mich. Wir stehen an den Pforten jenes lichtscheuen Staats, um ihn für den König und den Orden zu behaupten. Zwei Kundschafter des elenden Franciskaners, der dort regiert, sind in unsere Hände gefallen. Das Geheimniß unsers Anrückens ist unverletzt. Wir sind im Besitz aller nöthigen Weisungen. Aus Ihrem Munde, dem eines Gebildeten, Vertrauten, wünsche ich nun den obigen Aufschluß zu erhalten. -- Weigern Sie sich noch, und stempeln sich dadurch als einen Theilnehmer jener Usurpation? als einen Verräther an den Interessen unserer Gesellschaft?« »Mein Vater!« unterbrach ihn Münzner mit lebhaftem Unwillen bei der letzten Frage. »Das Wohl unsrer heiligen Gesellschaft geht mir über Alles, bin ich gleich das unwürdigste ihrer Glieder.« »Sie sind zu bescheiden,« versetzte der Andere mit schmeichelnder Ueberredung; »es hängt nur von Ihnen ab, auf der Stelle ein sehr würdiges zu werden, indem Sie in meinem Wunsche den des gesammten Ordens befriedigen.« »O, mein Vater!« rief Münzner bewegt; »erlassen Sie mir diese Nothwendigkeit. Ich müßte Dankbarkeit und Freundschaft mit Füßen treten. Ich bin ein einzelner schwacher Mensch; ich kann Ihres Unternehmens Fortgang nicht aufhalten; aber Sie bedürfen meiner eben so wenig, um es zu beschleunigen.« »Sind Sie ein Bruder der heldenmüthigen Congregation, aus der der kühne und kluge Jacob Lainez, der glaubensstarke Xaver hervorging?« fragte der Pater Assistent mit dem Tone des Vorwurfs. »Wollen Sie eitle Privatverhältnisse vorschützen, wo die Gesellschaft von Ihnen ein so geringes Opfer, ein Paar Worte, fordert? Sind Sie der Sprache der Vernunft und der Bruderliebe unzugänglich, so folgen Sie der Stimme des Gehorsams. Bei ihrem Gelübde, Pater Xaver. Ich stehe hier an der Statt unsers würdigsten Generals, und befehle Ihnen, mir ohne Umschweife Alles mitzutheilen, was Sie wissen.« Der Befehl erschütterte den Pater Xaver auf's Aeußerste. Eine grimmige Verachtung gegen den hartherzigen Gebieter war sein erstes Gefühl; Ehre, Furcht vor den beschworenen Statuten seines Ordens, das darauf folgende. Einen bittern Kampf aushaltend zwischen dem Vortheil der Freunde und dem gelobten Gehorsam, erblaßte er bei dem Siege des Letztern. Was ihn aufrecht erhielt, war die Betrachtung, daß ja ohnehin die Colonie bereits in den Händen der Bedränger sei, und daß seine Aussagen nur versöhnend, nicht verschlimmernd wirken konnten. »Die Kundschafter, von denen Sie sprachen, mein Vater, haben Ihnen bereits entdeckt?« Der Pater Assistent nickte gespannten Blicks mit dem Haupte. »So bin ich bereit, Ihnen der pflichtschuldigen Gehorsam und Demuth zufolge, nicht länger das Wenige zu verhalten, was ich weiß.« Der Verhörende begann seine Fragen: »Sie begriffen so gut als Alles: die Lage, die Einwohnerzahl, die Regierungs- und Religionsform, die militärische Stärke, die Produkte der Colonie zum guten Jesus.« Münzner wurde von einer Frage zur Andern gezogen, mit dem subtilen Scharfsinn, der schon zum Voraus aus den funkelnden Augen des Assistenten sprach. Der Jesuit notirte sich Namen und Zahlen in dem Taschenbuche, und drang darauf, den Weg nach der versteckten Gemeinde deutlich angegeben zu wissen. Als nun Münzner mit der Behauptung der eigenen Unwissenheit hervortrat, und der Assistent immer dringender, immer härter wurde, so entschlüpfte dem staunenden Pater, nachdem er ungefähr die Himmelsgegend angegeben, nach welcher der »gute Jesus« lag, die Frage: »Aber wie ist es möglich, mein Vater, daß die gefangenen Emissarien Franzisco's, -- als Eingeborene des Thals -- Ihnen nicht die genaueste Auskunft gegeben haben sollen?« Der Pater Assistent antwortete nicht, aber wohl stürmte der Brigadier zornroth in das Gemach. -- »Sehen Sie die Folgen Ihrer Langmuth, mein Vater?« rief er wie wüthend: »Hätten Sie doch zugegeben, daß meine Soldaten die Hunde von Topinambou's, von elenden Indianern, mit brennenden Lunten zum Geständniß peinigten! _Nun_ erfahren wir von den verdammten Spionen Franzisco's keine Silbe mehr. Sie haben sich in ihrem Loche mit der Zunge erstickt, und spotten unsrer, kalt und steif, wie sie sind!« »Richtig, Ihro Excellenz,« versetzte der Assistent lächelnd und kaltblütig; »die Bursche haben ihren Lohn dafür, und, wenn sie selbst schweigen, so redete doch der gute Pater hier um so mehr!« Triumphirend wies er dem Brigadier die Schreibtafel hin. Dieser riß die Thüre auf, und rief hinaus: »In Ordnung, Soldaten! Die Sache hat sich gewendet! Wir ziehen nicht ab!« -- Münzner, die Bosheit seiner Handlungsweise durchschauend, sank auf die Bank, und verhüllte sein Gesicht. »Sie haben mich bitter getäuscht!« sagte er: »Ich bin nun der einzige Verräther. Jene Wilden, die für ihren und ihrer Freunde Heerd starben, sind Heilige geworden!« »Ihr blasphemirt!« rief ihm der Pater Assistent zu: »Eurer schwachherzigen Tücke setzte ich erlaubte List entgegen. Simson gebrauchte sie auch gegen die boshaften Philister. Ihr habt die Gesellschaft und den Heiland durch Euer Benehmen beleidigt. Ihr lebtet im Einverständniß mit dem Rebellen im Thale, mit den Unterthanen des Franziskaners! Ich wittre eine schwere Schuld in Euerm Leben. Ich werde dafür sorgen, daß Ihr plötzlich nach St. Sebastian gebracht werdet, um in unserm Hause abzuwarten, was über Euch beschlossen werden dürfte. Mindestens ist's unsre Pflicht, solch heuchelnd Unkraut wieder nach Europa zurückzuwerfen, woher es uns gekommen.« -- Er verließ den Pater Münzner in der trostlosesten Lage, und ließ wirklich ein kleines Commando beordern, das ihn auf der Stelle nach St. Sebastian führen sollte. Münzner wollte nun noch das Letzte thun: um Schonung seiner Freunde, um gütige Behandlung seines Pflegesohns bitten. Der Assistent verschloß seine Ohren vor ihm. Er wurde einsam bewacht. Erst nach mehreren Stunden, nachdem Botschaft von der Vorhut, die sich nach der, von Münzner bezeichneten Richtung, vorwärts begeben hatte, angekommen war, daß man von einem wohlverborgenen, noch nie entdeckten Klippenhügel das Thal überschaue und Häuser darinnen unterscheide, machten die Truppen, die heute unverrichteter Sache den Rückmarsch hatten antreten sollen, da ihnen Lebensmittel ausgegangen, Aufbruch. Im selben Augenblicke wurde Münzner auf das ledige Maulthier eines Marketenders gesetzt, und auf den, dem »guten Jesus« entgegengesetzten Pfaden, fortgebracht. Mit welchen Gefühlen er die lange Reise antrat? Muthiger, mit hochschlagender Brust, mit Durst nach eingebildeten Schätzen, ging die Mannschaft des Brigadiers weiter, aber stille, behutsam, vorsichtig. Der Abend senkte sich nieder, als die Soldaten nach unsäglichen Mühen an den Rand des Thalkessels gelangten und von den Höhen auf die stille Colonie niederblickten. Die jenseits postirten Wachen gewahrten die furchtbaren Fremdlinge, und Alarmschüsse durchzitterten die Luft. Rings um die Wachtpostenkette ging der Feuerlärm. Bald wimmelte es im Thale. Die rüstigen Leute liefen aus Höfen und Häusern zusammen. Waffen glänzten überall. Noch standen die Portugiesen unschlüssig, keines dienlichen Pfades ansichtig, der sie in Masse herunterführen möchte. Da wollte das Unglück, daß Montehol, der kühnste Kletterer aus Trazos-Montes, ein aufspringendes Wild verfolgend, sich längs den Felsen hinabwarf, und in den vorsichtig verborgenen, von einem Wachthause verschlossenen Hohlweg gerieth, der in die Thalschluchten führt. Der unerschrockene Bursche schrie laut seinen Kameraden zu. Einige Schüsse aus den Schießscharten des Wachthauses streckten ihn nieder, aber -- in seinem Blute schwimmend, von den Kugeln der Feinde zerfleischt, -- rief er, bis sein Leben verlosch: »Hieher! Milizen! hieher! Es lebe der König und Portugal!« Der willkommene Ruf hatte Erfolg. Die Menge stürzte sich in den Hohlweg, nicht aufgehalten von den mörderischen Schüssen, die geübte Hände hinter der Wehrmauer nach ihnen richteten. »Im Namen der Jungfrau Maria und aller Heiligen!« schrieen die Soldaten und der vorarbeitende Trupp der Schanzgräber mit den Beilen in der einen und der Picke in der andern Faust, stürzten wie die Löwen auf das Thor des Verhau's, während ihre Hintermänner mit Granaden das Dach des Hauses in Brand steckten. Der Hohlweg war gedrängt voll von Stürmern; und diesem Andrang, wie dem Brande und den Axthieben der Pioniers mußten endlich Gatter, Angel und Riegel weichen. Der Wachtposten Franzisco's war in zögerndem Rückzuge begriffen, und vom Thale herauf kam ein ansehnlich bewaffneter Haufe, und aus großen Standröhren schossen die gegenüberstehenden Wachen und trafen nicht selten. Aber so günstig das Feuergewehr den Angegriffenen diente, so muthig sie unter der Anführung des tapfern Fernandez stritten, und die Angreifer aufhielten: sie mußten ihrem Ungemach erliegen. Der Brigadier kommandirte donnernd, während seine ersten Reihen feuerten, den Uebrigen, die Bajonnette auf die Musketen zu setzen. Es geschah; im Nu theilten sich die Schützen; die Rotten der mit dem fürchterlichen Flintendolch Bewaffneten warfen sich auf die Feinde: die neue, in diesen Thälern noch nicht gekannte Waffe that in ihrer unwiderstehlichen Gewalt Wunder des Schreckens. Zerstreut und von panischer Furcht befallen, kehrten sich Franzisco's Leute zur Flucht. Die Fahne mit dem Kreuze, in der Faust ihres hingestreckten Trägers, blieb in den Händen der Sieger, die, über Waffen und Leichen wegschreitend, im Sturmmarsch das Thal betraten und sich den Häusern näherten. Vor den drohenden Bajonnetten, vor den streifenden Seitenbanden der Schützen, rettete sich, wer konnte. Flammen gingen im Thale auf. Keiner der Krieger Franzisco's hielt mehr das Feld. Weiber und Kinder, entwaffnete Flüchtlinge, warfen sich in den Staub, küßten des Brigadiers, des Jesuiten Füße, bettelten um Gnade. Während diese Scene des Schreckens vorging, hatte sich Franzisco mit vielen Weibern und Greisen und einigen treuen Anhängern in eine Schlucht gerettet, die, in mannichfachen Windungen das Gebiet durchschneidend, und endlich, Waldströme und Sümpfe dem Forscher entgegensendend, nach den spanischen Besitzungen führt. Unter den mit dem Priester Fliehenden befand sich Müssinger, seine Tochter und James, den Georg gebeten hatte, nicht von der Seite seiner Freundin zu weichen. Er selbst wollte, ob streitend, ob beobachtend, sehen, wie sich Alles gestalten würde. Unter schützenden Felsen, auf ihren dürftigen Habseligkeiten ruhend, erwarteten die Flüchtlinge Nachricht von dem Schauplatze des Gefechts, dessen Schüsse, vom Echo verdoppelt, zu ihren Ohren drangen, früher als ein belebendes oder entmuthigendes Wort. -- Endlich erschien Georg, von dem Fernschusse eines Portugiesen an der Achsel gestreift, und brachte keinen Trost. Endlich erschien Fernandez, schwerer verwundet, mit dem Rest seiner Leute, und brachte die baare Nachricht des Unglücks. -- »'sist aus mit uns!« rief er dem Oheim zu: »Rettet Euch, Don Franzisco! Die schurkischen Portugiesen haben den Sieg durch ihre niederträchtigen Musketenspeere errungen. Hieher sollen sie jedoch nicht dringen. Diesen Paß vertheidigen wir bis zu unserm Tode. Was mir aber das gallige Blut zum Herzen drängt, daß es bersten möchte vor ohnmächtiger Wuth, ist, daß der Jesuit, der schändliche Deutsche, uns verrathen hat. Er wurde seit gestern vermißt, und die scharfen Augen meiner Jäger haben ihn im Hintertreffen der Portugiesen neben dem Brigadier gesehen!« »Münzner?« riefen alle seine Landsleute: »wäre es möglich?« Georg nickte schweigend. James sprang aber, von edler Ungeduld ergriffen, auf, und sprach: »Welche Verläumdung! Mein Pflegevater ein Verräther? Nein! er lügt, wer das behauptet!« »Junger Mensch!« zürnte ihm Fernandez drohend zu: »Ihr vergeßt, daß ich einen Säbel trage, der --« »Der dem Dienste des Ganzen jetzo geweiht sein muß!« -- fiel Franzisco ein, herbeitretend: »in einem unnützen Kampfe um eines Wortes willen, soll sich Euer Blut nicht verspritzen, meine Freunde!« Die Streitenden schwiegen beschämt vor der mahnenden Stimme des ehrwürdigen Alten. Zugleich ließ sich ein bedeutender Lärm in dem Lager der Flüchtlinge hören. »Die Feinde?« -- fragte Franzisco, und das alte Soldatenfeuer blitzte aus seinen Augen, während seine Hand nach einem Säbel griff. »Nicht doch, Oheim,« -- versetzte Fernandez. -- »Der tapfre Neger Pablo hält mit seinen Schwarzen Wache am Eingange dieser Thalschlucht. Die gegen ihre ehemaligen Zwingherren Erbitterten haben geschworen, eher zu sterben, als sich überwältigen zu lassen. Ich weiß im Uebrigen von einem Entsprungnen, daß die Portugiesen das Eindringen in diesen unbekannten engen Paß vermeiden werden, bis ihr Nachtrab angelangt sein wird.« Ein Bewaffneter brachte die Nachricht: die ausgestellten Wachen hätten auf den Höhen gegen Osten einige Fremde in europäischer Kleidung ergriffen, und sie herbeigeführt. »Hätten uns die Elenden umzingelt?« -- fuhr Fernandez auf, und ließ die Fremdlinge heranbringen. -- Vier sonnverbrannte Gesichter, in unscheinbarer Kleidung steckend, mit metallnen heiligen Bildern auf den Hüten und Rosenkränzen um den Hals; ohne Waffen, wie sie der Soldat trägt; blos mit Messern, eisenbeschlagenen Stöcken und Feuerzeugen versehen. Aber nicht die Gestalten, nicht die Gesichter verriethen Spanier oder Portugiesen; ihre Sprache, -- ein unbeholfenes Kastilisch, zeigte vollends die in der europäischen Halbinsel völlig Fremden an. Sie brachten einen Paß, von dem Statthalter des Königs, zu St. Sebastian, vor, in dem sie als irländische Bergwerksleute angegeben waren, die auf Befehl der Regierung von Brasilien das Innere dieses Landes zu durchstreifen hätten, um nach edeln Erzen zu forschen, oder nach Demantgruben. Mündlich berichteten sie, über einen Gebirgsstock gewandert zu sein, und sich in den unermeßlichen Geländen verloren und verirrt zu haben, bis der Zufall und das Schießen, das sie vernommen, sie hiehergeführt. Franzisco, ihren Aussagen nicht mißtrauend, begnügte sich, sie zu fragen, ob sie portugiesische Truppen gesehen, und -- auf ihre desfallsige Verneinung -- sie unter einige Aufsicht zu stellen. Von dem unglücklichen Fürsten der Wildniß weggehend, begegneten die Fremden dem Master Georg. Befremdet blieb dieser, den Ersten ansichtig werdend, stehen. Auch Jenem fiel des Amerikaners Antlitz auf. »Georg Birsher!« rief er plötzlich. -- »Harry! Harry Haverly,« entgegnete der Andere nicht minder freudig, und sie schüttelten sich treuherzig die Hände. »Du _hier_?« fragte Harry englisch und mit beflügelten Worten; »wir glaubten dich vom Hay verschlungen!« »Ach, Bruder!« entgegnete Georg, »wie steht's zu New-York?« »In Hülle und Fülle. Ich verließ es erst vor einigen Monden. Dein Compagnon führt, unerschütterlich deiner Rückkehr vertrauend, die Geschäfte fort, und das Glück hat seine Bemühungen tausendfach belohnt.« »Aber du, mein Freund?« »Verrathe mich nicht an diese Menschen. Gieb vor, daß du mich in Irland kennen lerntest. Klugheit! reinen Mund! ein andermal mehr.« Die Wächter der vorgeblichen Irländer nöthigten sie, weiter zu gehen, und führten sie an einen abgelegenen, von den übrigen getrennten Platz. Fernandez hatte von Ferne ihr Zusammentreffen mit Georg angesehen, und sprach zu seinem Oheim: »die fremden Leute haben unserer Colonie Unheil gebracht. Alle sind mir als Portugals oder Spaniens Spione verdächtig. Wollen wir abwarten, daß sie uns, -- den Feinden so nahe -- vollends verderben? Standrecht über sie. Wir wollen nicht ungerächt mindestens untergehen.« »Junger Mann! wohin verleitet dich dein Zorn?« fragte der Alte verweisend. »Soll ich den letzten Schimmer meiner Patriarchen-Gewalt mit einem Verbrechen besudeln? Laß uns lieber die Nachtzeit benutzen, um auf spanisches Gebiet zu flüchten. Santa Dominica nimmt uns unter verändertem Namen auf, und wir dürfen daselbst auf Ruhe hoffen.« »O unglücklicher Ausgang schöner Plane!« seufzte Fernandez. -- »Das Unglück soll uns jedoch in jenen fremden Gästen nicht weiter begleiten. Wir lassen sie zurück. Schuldig, werden sie bei unsern Feinden Schutz und Hülfe, -- unschuldig, Gottes bessern Beistand finden.« Der Greis, von Fernandez Argwohn ergriffen, willigte in dessen Wunsch, und ließ die Anstalten zum nächtlichen Aufbruch in geheimster Stille vornehmen. Georg kehrte indessen nach der Höhle zurück, woinnen Müssinger und seine Tochter seiner mit peinlicher Ungeduld warteten. James stieß auf ihn. In der Dämmerung bemerkte Georg, daß der Jüngling seine portugiesische Uniform angelegt hatte. »Wohin in diesem Aufzuge?« fragte Birsher staunend; »wollt Ihr Euch von den Unsern erschießen machen?« »Verzeiht, Herr, daß ich Euer Kleid nahm,« entgegnete James ein wenig heftig, -- »aber mir brennts auf der Seele, daß Doctor Münzner ein Verräther sein soll. Ich will trotz Tod und Teufel hinüber, um zu erfahren, ob Fernandez wahr sprach, -- ob er log.« »Wie, Sir White? unter die Feinde?« »Dies Kleid schützt mich, und die Nacht. Und gälte es mein Leben, ich muß mich überzeugen, ob mein Pflegevater der Bösewicht ist, wofür man ihn ausgeben möchte. Lebt wohl, Mr. George. Ich bringe gute Botschaft, oder keine mehr in diesem Leben. Grüßt dann Justine von mir ... sagt ihr.... doch nein! sagt ihr nichts,.... und seid glücklich!« »James! reißt Euch das Feuer der Leidenschaft von hier? was habt Ihr vor?« Georg hatte gut ihm nachrufen; schon war er im steigenden Dunkel verschwunden. Auf geheimen, Thymian duftenden Pfaden kletterte James zum Ausgang der Schlucht hinab, und kroch, leise wie eine Schlange, an dem Hinterhalt der Negerpartei vorüber. Unfern an einem niederrauschenden Bache stand der Vorposten der Feinde, die es nicht wagen mochten, ohne Verstärkung in die Schlucht einzudringen. Rings an den Höhen brannten ihre Wachtfeuer. Mitten im Thale loderte ein Haus in vollen Flammen: Franzisco's bescheidene Wohnung. Die meisten Soldaten des Pikets waren dem Brande zugekehrt, und James glitt durch Stauden und hohes Gras an dem Zelte vorbei, ohne bemerkt zu werden. Neben dem Bache sich haltend, und in tiefes Dunkel verschleiert, näherte er sich den Hütten. Vor ihren Thüren standen die zurückgebliebenen Einwohner, mit Schmerz und Händeringen auf die Trümmer ihres bisherigen bescheidenen Glückes sehend. Um den Betplatz war die größte Menge versammelt, und viele Soldaten standen, theils bewaffnet, theils in bequemer Ruhe, umher. Der Pater Assistent, begleitet von dem Brigadier und den Pionniers, führte hier ein merkwürdig Schauspiel auf. »Nieder mit dem Bilde, das hier die Heiden unserm Heiland zu Hohn und Spott errichtet haben!« rief er mit wilder Begeisterung, in seiner Hand selbst ein Beil schwingend; »nieder mit dem Götzenbilde eines wahnsinnigen Opferdienstes! der elende Franziskaner hat euch, ihr Verblendeten, nur vorgespiegelt, daß diese Riesengestalt euern Erlöser vorstelle; er hat aber den Teufel hinein gebannt, wie die heidnischen Mexikaner in den gräßlichen Huitulopochtuli! -- Vergebung der Sünden dem, der mit thätiger Hand hier angreift, wie ich! Nieder mit dem Zauberblendwerk des verruchten Bettelmönchs!« Er führte den ersten Streich nach dem Bilde des Erhabenen, dessen Jünger er sich doch prahlend selbst nannte, und zwanzig Fäuste wütheten wie der Blitz gegen die ehrwürdige Gestalt. Sie sank zerstückt in den Rasen. Ihre Trümmer flogen in das wilde Feuer des angezündeten Hauses, das der schadenfrohe Soldat mit allem erdenklichen Muthwillen, sammt dem Garten, verwüstete, weil seine Hoffnung, Schätze darinnen zu finden, vereitelt worden war. An stillen Tugenden war das Thal reich gewesen, an Gold und Edelsteinen ärmer als das Grab. -- James, obgleich von dem empörenden Auftritte, den er mit angesehen, unwillig erregt, wie von dem rohen Geheul, womit die Soldaten, um das Feuer tanzend, das unsinnige Fest beschlossen, fühlte eine wohlthuende Empfindung in seiner, von der Unschuld seines Pflegers überzeugten Brust. »Ich wußte es ja wohl!« sagte er zu sich selbst. »Irren mochte er in seinem Leben, ein Schurke war er nie; und in der Tugend Frieden schied seine Seele, wenn ihn auch ein Raubthier, ferne von unsrer Hülfe, zerfleischte!« Mit zufriedenem Herzen machte er sich auf den Rückweg, unfähig, dem Soldatentumulte länger zuzusehen. Seine Eile erregte indessen Verdacht. »Warum läuft der Kamerad?« fragten sich zwei vorüberstreifende Portugiesen, und: »Halt!« rief eine Patrouille dem Eiligen zu. Der Corporal hielt ihm die Pike vor. »Wo ist dein Quartier? dein Posten?« »Dort beim Piket, ihr Leute!« »Bist unbewaffnet, Patron, und ein Ausländer?« -- »Welche Fragen!« -- »Halt da! das Feldgeschrei!« -- »Die Jungfrau und alle Heiligen,« antwortete James auf gut Glück. -- »Gefehlt! halt! Du bist ein maskirter Bursche, ein Spion! halt ein!« Man ergriff den Entdeckten. In seiner Bestürzung kam eine englische Verwünschung über seine Lippen. »Heda!« rief ein alter Soldat, der einst auf einem englischen Schiffe gefangen gelegen, »das ist englisch, meine Freunde, die Ketzersprache! Bindet den unchristlichen Jungen!« -- »Aber, meine Brüder...!« -- »Der Satanas ist dein Bruder!« fuhr ihn der Corporal an, »ich bin aber entweder verrückt, oder du bist der Deserteur, dessen Steckbrief uns auf dem Marsche hieher mitgetheilt wurde.« »Sennor Corporal!« »Aha, nun wird er höflich. Beim heiligen Täufer! Seht selbst, Kameraden! Groß, schlank; dunkle Haare, ernsthafter und kecker Blick, ohne Schnauzbart, ein Engländer! Er ist's, wir haben die achttausend Rees verdient, die auf seinen Fang gesetzt sind!« »Wie?« fragte James, über Georgs drohende Zukunft erschrocken, nachdem der Jubel der geldhungrigen Soldaten sich gelegt hatte. »Ihr sucht den Engländer? Ein Preis ist auf seinen Kopf gesetzt?« »Ja, beim heiligen Jakob!« hieß die Antwort. »Wir hätten nicht nachgelassen, dich zu suchen, Ausreißer, damit ein Beispiel gegeben werde.« »Mein Gott!« seufzte James für sich, »Georg in dieser Nähe, in solcher Gefahr? und Justinens Verzweiflung!... Freunde!« setzte er schnell und entschlossen hinzu, »das Schicksal und die Reue überliefert mich euren Händen. Was wird mit mir geschehen?« »Ei, die Excellenz wird dich zu deinem Regiment schicken. Bereite dich indessen zum Letzten. Hättest du blos der Fahne und dem König den Eid gebrochen, kämst du mit Prügeln davon, aber du hast deinen Fähndrich geschlagen, und das kostet dir das Leben!« James schauderte. »So macht es denn kurz,« sagte er kalt und resignirt, »führt mich zu eurem Commandeur! ich bin derjenige, den ihr sucht!« Vergnügt und lärmend brachten ihn die Soldaten nach dem Quartiere des Brigadiers. Mitten in der Nacht brachte ein aus den Banden entsprungener Neger die Nachricht von des Jünglings Geschick, und wie er sich darein ergeben, in Franzisco's Lager. »Wohl bekomm's dem Ueberläufer!« sagte Fernandez trocken, und kümmerte sich weiter nicht darum, mit wichtigeren Angelegenheiten beschäftigt. Einen bei weitem tiefern Eindruck machte die Kunde der Begebenheit auf Georg, auf den Senator; einen unbeschreiblich bittern auf Justine. »James!« rief sie, mit dem ihr eigenthümlichen Scharfsinn errathend, _wie_ alles so gekommen, »wißt ihr denn, meine Lieben, daß er sich für unser Wohl hingegeben? O wie diese That ihn so glänzend aus dem zweideutigen Nebel seiner Vergangenheit hervorhebt! Wie wohlthuend diese Kunde in ihrer Bangigkeit zu meinem Herzen spricht!« »Wäre es möglich?« sagte der Senator, während Georg nachsinnend und betrübt vor sich hinstarrte, »wäre er dazu berufen, sich immer für die zu opfern, die seinem Herzen weh thaten? die seinen liebsten Hoffnungen ein Hinderniß waren? _er_ dazu bestimmt, Georg von einer drohenden Gefahr zu retten?« »Gewiß! gewiß!« versetzte Justine mit leuchtendem Auge, »zweifeln Sie nicht, mein Vater, sonst läugnen Sie den Edelmuth in der Menschenbrust! Die wildeste Gefahr droht uns. Wenn morgen der Feind dieses Thal erstürmt, wenn sie Georg gefangen hätten, auf welchen ihre Blicke gerichtet waren? Jetzt glauben sie ihr Opfer zu halten. Jetzt ist ihre Aufmerksamkeit beruhigt. Jetzt können wir hoffen, während der muthige James hingeht, um für den dankbarsten Freund in das Gefängniß zu treten.« »Sagen Sie: den Todesplatz!« rief Georg mit heftiger Bewegung in ihre Rede, »Gefängniß büßt nicht das Vergehen gegen den knechtischen Gehorsam, das ich verübte. Darauf steht der Tod!« Justine wurde fast ohnmächtig. Krampfhaft packte sie Georgs, des Vaters Hände. »Der Tod?« stammelte sie: »Entsetzlich! Gräßlicher als ich je gefürchtet! Den Tod? Herr Georg! Für Uns soll er sterben? Nein! das dürfen wir nicht zugeben! Vom Arrest hätte ihn Fürsprache, einst vielleicht unser Geld, endlich gewiß die Zeit befreit.... aber den Tod leiden? Nein! nein! guter James! es müßte kein Tropfen warmen Bluts in unsern Adern rinnen, wenn wir hier noch zögern könnten! Kommen Sie, Vater! kommen Sie, Herr Birsher!« »Wie? wohin?« fragten Beide staunend. Das muthige Mädchen fuhr aufgeregter fort: »Hinüber in's portugiesische Lager, zu den Füßen des Commandanten! ihm alles zu entdecken, bei ihm um des armen Mannes Freiheit zu betteln! Doch nein,« setzte sie bei, »ihr Männer versteht die Sprache der Bitte nicht; ihr seid nicht thätig, nicht stark in eurer trägen Betrübniß. Das Unglück rührt euch nicht, wie es das Weib ergreift! -- Bleibt! _ich_ will gehen! allein! unbeschützt, unbewacht! Es müßte kein Gott über uns leben, wenn ich nicht zum Befehlshaber dränge! Ich kann freilich nicht wimmern, nicht weinen, nicht schmeicheln; ich habe es nie gelernt; aber der Wahrheit wird der Commandant nicht widerstehen, und der Portugiese wird die Ritterlichkeit gegen Damen nicht verlernt haben!« »Tochter!« rief Müssinger, sie zurückhaltend. »Was wollen Sie beginnen?« ermahnte Georg. »In tiefer Nacht? des Wegs unkundig? Durch unsre und des Feindes argwöhnische Posten? Der Tod lauert auf Sie. Sie betrüben uns durch diesen Entschluß zum Sterben!« Justine warf einen sehr ernsten Blick auf ihn, und entgegnete: »Monsieur, ich verstehe Sie nicht, ich werde an Ihrem Herzen irre. Wissen Sie nicht mehr, daß James meinen Vater gerettet? daß er mich über Land und Meer geführt hat? mich, Ihre Braut? _er_, der mich liebte? auf dessen Liebe ich jetzt erst stolz werde? Zu diesem Allen mögen Sie wissen, daß ich ihm herzlich gut war, daß ich ihn jetzt doppelt ehre, nachdem so Vieles ausgeglichen, nachdem er diese Heldenthat begonnen! Und Sie, der starke, besonnene Mann, Sie, den ich vorzog aus Ueberzeugung, Sie können mir verwehren....?« »_Weil_ ich besonnen bin,« fiel Georg gekränkt und heftig ein, »wenn Sie gleich an meinem ehrlichen Herzen zweifeln sollten!« »Justine!« bat der Senator mit all' der Lebendigkeit, die ihm sonst zu Gebote gestanden, »wenn du die Worte des Freundes nicht hörst, so vernimm die des Vaters. Was Georg Birsher nicht sagt, muß _ich_ sagen. Deine heftige Begeisterung führt dich und uns in's Verderben! Geh hin! verrathe durch deine vergebliche und unbesonnene Fürbitte deinen besten Freund, deinen Bräutigam. Weihe _ihn_ dem Tode, weil er an dir hing, und nicht weiter vor seinen Widersachern floh. James Unschuld muß an den Tag kommen. Sein Regiment wird ihn nicht erkennen, seine Täuschung entdecken: die Menschlichkeit des Statthalters ihn mit leichter Strafe belegen. Alles wird dann gut, und des Jünglings Bewußtsein versüßt ihm tausendfach die Haft. Du willst das gefährliche Spiel umkehren. Um den wenig bedrohten Freund zu retten, schleppst du den biedern Georg in's Grab; Georg, den du achtest und ehrst, -- Georg -- dessen Weib du werden sollst, -- Georg, den du liebst, innig liebst, -- wenn sich auch dein Gefühl hinter die Maske der gleichgültigen Förmlichkeit flüchtet.« Justine stand wie eine Bildsäule, mit niedergeschlagenen Augen. »Nicht so hart!« bat Georg den Vater. Müssinger fuhr jedoch, wie oben, fort: »Ich weiß, daß ich dein Herz verwunde; aber es ist von Erz, und muß stark berührt werden, soll die Glocke wohlthätigen Klang geben. Sieh, Justine, welchen Jammer du mir bereitest. Ich habe Alles verloren: Habe, bürgerliche Ehre, mein eigenes Bewußtsein. Alles gut zu machen, habe ich nur _Dich_. Von der Heimath, dem lieblosen Weibe und meinen Gütern geschieden, ist mein einzig Glück noch in der Hoffnung auf deinen Ehebund gegründet. Willst du durch den raschen, unüberlegten Schritt uns Alle verderben? dich zur Beute des Soldaten, -- _ihn_« auf Georg deutend, -- »zum Schlachtopfer, und mich zum verwaisten Greis machen?« Die heftige Rede erschütterte die Tiefen in Justinens Brust. Eine Fluth von Thränen schoß aus ihrem Auge, sie warf sich an des Senators Brust, und schluchzte: »Vergeben Sie, grausamer Vater, ich hatte das nicht bedacht! ich bin ja nicht böse; um Gotteswillen; wie möchte ich, ohne zu schaudern, daran denken, den Herrn hier zu opfern, der mir so -- werth, so achtbar ist? Glauben Sie das von mir?« setzte sie fragend, und zu Birsher gewendet, bei, und mitten durch den Schmerz ihres Antlitzes zuckte ein anmuthiges Lächeln, das Georgs trüben Ernst besiegte, daß er ihre Hand ergriff, und sagte: »Bewahre mich der Allmächtige, daß ich solches von meiner Braut glauben könnte. Diese Stunde hat von der Vortrefflichkeit Ihres Herzens ein neues Zeugniß gegeben, und für James bin ich unbesorgt, denn aus den Wolken hat der Herr Ihren -- den heiligsten -- Schmerz gesehen. Des jungen White Angedenken folge Ihnen unverkümmert in meine Heimath! Fern sei es von mir, es zu verwischen, meines Retters Gedächtniß, und wenn wir zur Heimath gelangen, und wenn Gold seine Fesseln brechen kann: mein ganzes Vermögen sei nicht zu viel, die Riegel seines Kerkers aufzuschließen: mein Haus nicht zu klein, den Vertriebenen auf ewig aufzunehmen!« »Nicht also, Herr Birsher,« sagte Justine gemäßigt; »es sei uns eine Freude, in der Ferne sein Glück zu begründen; doch in unserer Familie weile er nicht. Ich würde Sie und mein eigen Gefühl beleidigen, wollte ich, indem ich dieses sage, einer eingebildeten, unmöglichen Schwäche mißtrauen. Ich bin eisern fest und eisern treu, mein Herr! aber James würde unglücklich, und -- Sie werden sehen, -- ich müßte seinen Charakter nie gekannt haben, -- oder er schlägt unsern Antrag rund aus dem Felde, ginge es ihm noch so schlimm.« »Es ist beinahe sonderbar,« versetzte Müssinger mit leichtem Lächeln, »daß wir hier so ernsthaft bereden, wie wir das Glück eines Menschen machen wollen; und uns selbst umschließt ja noch die Wüste, uns selbst blüht nicht die Hoffnung, jemals in den sichern Port von New-York zu gelangen, .... wir selbst sind eher dem Schicksale unterworfen, unter der Portugiesen Säbel zu fallen, als jemals frei zu werden! Der gute, arme Münzner ist uns wahrscheinlich auf dem Wege zum Himmel vorangegangen, und uns fehlt noch die Heimath!« »Ach, das süße Vaterland!« seufzte Georg in seinem vaterländischen Idiome. »Gesegnet sei es!« antwortete ihm eine Mannsstimme in denselben Lauten. Georg erkannte beim Schimmer der Laterne den Landsmann und Schulfreund, Harry Haverly. Dessen Gefährten traten vorsichtig und leise auch herbei. »Gott sei gedankt, daß ich Euch hier finde,« fuhr Harry fort, »das weissagt uns ein gutes Glück, das wir nicht gehofft.« »Was soll die räthselhafte Rede?« fragte Georg entgegen. »So wißt Ihr denn nicht,« sagte Harry, »daß seit länger als einer halben Stunde der alte Bettelmönch mit seiner ganzen Schaar in aller Stille abgezogen? Vor einigen Minuten kam, nachdem sich unsere Wache verloren, ein Neger, der uns die Kunde brachte, unsere Bande löste, und sich eiligst davon machte. Wir gingen auf's Gerathewohl umher, berathend, was wohl anzufangen sei, als ich das englische Wort hörte, das mein Herz erbeben machte. Wie kommt es jedoch, daß Ihr nicht zu den Abgezogenen gehört?« »Man hat uns mit Vorbedacht zurückgelassen!« entgegnete Georg nach einigem Ueberlegen: »in's Himmels Namen denn! Wer bis hierher half, wird auch weiter helfen.« »So ist denn das Unglück noch nicht müde, uns zu verfolgen!« brach der Senator mit Unwillen aus. Justine beruhigte ihn durch ihren Muth. »Mein lieber Vater!« sagte sie: »folgten wir denn bisher dem Glücke? Welches war unser Loos im Gefolge jenes alten Priesters? Flucht und Verfolgung; wie _vor_ dem Einfall der Portugiesen ein Zwang, der dem freien Herzen widersteht. Wir sind uns jetzt selbst überlassen. Bessern konnten wir nicht anvertraut werden; mit uns wird der Herr sein! Vater! Herr Birsher! fassen Sie einen Entschluß, wie er sich auch gestalte; vergessen Sie in mir das zärtere Weib. Ich werde Alles unternehmen, weil es gilt, meinen schwachen Vater zu unterstützen.« »Der Entschluß sollte nicht schwer fallen,« meinte Harry Haverly: »wir vier bieten unsre Hände zur schnellsten Flucht, wenn Sie es nicht vorzögen, nach dem portugiesischen Lager zu gehen, oder den Einmarsch der Soldaten in dieses Thal zu erwarten, der sich nach Tagesanbruch nicht verzögern dürfte. Es steigen Raketen aus dem benachbarten Thale auf, ohne Zweifel ein Zeichen für nachrückende Truppen.« »Nein! nicht zu den Portugiesen!« riefen Justine und der Senator mit besorgten Blicken auf den gefährdeten Georg. »So folgen Sie uns,« entgegnete Harry Haverly: »Wir haben triftige Gründe, die Bekanntschaft jener Herren zu fürchten. Unsere Papiere und unsere Sendung sind nicht die richtigsten. Wir sind die Agenten einer Handels-Compagnie, die sich gebildet, um die spanischen und portugiesischen Besitzungen, die so sorgfältig vor uns geheim gehalten werden, zu erforschen, und zu erwahren, wie hoch sich im Besonderen der Reichthum an Metallen und edeln Steinen belaufen möge. Wir sind Alle von New-York, und kehren dahin zurück, weil wir hier die Grenzen _unserer_ Mission berührten. Ist es Ihnen gefällig, meine Freunde, unserem Trupp sich anzuschließen, so verbürge ich eine gute, fast bequeme Reise an den Strand. Die größere Zahl macht größern Muth, und einem Landsmann sammt seinen Freunden zu helfen, ist unsere Pflicht.« »Ihr seid falsche und unrichtige Gesellen,« sagte hierauf Birsher mit gerunzelter Stirne: »mit Spähern und Paß-Fabrikanten, und in Katholiken vermummten Protestanten habe ich nicht gerne zu thun: ich mag's Euch nicht verhehlen. Da jedoch Gottes Hand uns so sichtlich hier zusammenfügte, mag's geschehen, wie du meinst.« »Eine große Ehre, wackerer Georg!« erwiderte Harry Haverly lachend. »Du warst von jeher ein steif und altklug gehender Bursche. Du siehst jedoch, daß dein gerader Gang dich nicht um ein Haar breit weiter brachte, als uns die Schlangenlinie. Wir sind dem Sittenprediger nicht böse, und denken, er werde zu besserer Einsicht kommen.« »Wollen wir uns auf den Weg machen, so denke ich, wir thun es alsobald!« rief Müssinger ungeduldig: »Auf, meine jüngern Freunde! wenn mein altes Herz nach Freiheit dürstet, -- wo bleibt Eure Sehnsucht?« Alle erklärten sich bereit. »Werden Sie nicht zu schwach sein, allein zu gehen, mein Vater?« fragte Justine. »Stützen Sie sich auf meinen Arm, Ich ermüde nicht unter dieser Last.« »Lasse mich!« antwortete Müssinger. »Ich fühle mich stark; Glieder, Herz und Gewissen frei und leicht. Sollte ich dennoch ermatten, -- ein Blick auf meine beherzte Tochter würde mich schnell erkräftigen.« Von den Streiflichtern des nahenden Morgens geführt, betraten die Wanderer die Pfade, auf welchen die New-Yorker Diamantenspione hergekommen waren. Haverly wußte mit ziemlicher Bestimmtheit den Weg zurück zu finden: Die Schwierigkeiten häuften sich nach und nach. Mühen und Bedürfnisse wurden fühlbar. Alles jedoch überwand der menschliche Muth im Verein mit der gütigen Natur. Hatte ein steiniger Absturz die Füße der Wanderer gelähmt, und ihre Geduld erschöpft -- flugs breitete sich ein herrlicher Wiesenteppich aus, sie zu versöhnen. Hatte glühende Sonne ihren Scheitel versengt, schnell erstanden vor ihnen duftende, hallende Schatten des Waldes. Quälte sie Hunger, die nächsten Büsche gaben wohlschmeckende Früchte; peinigte sie der Durst, -- der nächste Fels gab einen Waldstrom, einen silbernen Quell. Sie flohen die Nähe wilder Menschenhorden, -- das wilde Thier ging ihnen aus dem Wege, und von Tag zu Tag wuchs ihr Vertrauen, und ihre -- selbst des verwundeten, von Justinen's Hand gepflegten Georgs -- Kraft. Da stiegen sie endlich hernieder aus den Gebirgen in die Thäler, in das trauliche Dorf, in die stille Pflanzerwohnung, wo neben dem Fleiß, der Genügsamkeit und der Frömmigkeit, auch die Gastfreundschaft zu Tische sitzt, und als sie an die erste Kirche kamen, wurden ihre Gefühle noch milder und erhebender. Die Protestanten standen entblößten Haupts, mit andächtigen Mienen, vor dem Tempel der feindlichen Religionspartei, die Gegenwart des Allmächtigen, dem sie zu danken hatten, in diesen Räumen, wie in ihren eigenen Kirchen, ahnend. Der Senator betrat allein das kleine Gotteshaus, warf sich nieder vor dem schlechten Bilde des Altars: er war, wie das Kirchlein, der heiligen Clara geweiht. Hier betete er zu dem Ewigen mit Worten, hier in Gedanken und Gefühlen zu der Clara, die er auf Erden gekannt, die er in dem Himmel verehrte. Hier gewann er neues Vertrauen auf eine leitende Vorsehung; _hier_ nahm er Abschied von dem Cultus, dem er nur kurze Zeit, im Verborgenen, angehört. Denn ihm bedünkte, als ob Clara's Stimme aus den Wolken riefe: »Dein Unglück begann, seit du falsch gegen mich gewesen. Du hast gebüßt, und der Glaube, den du damals leichtsinnig gelogen, hat dir die Buße recht schwer gemacht. Ermuthige dich jedoch, tritt aus dem Kreise, der dich nur wie ein Zauber umschließen konnte. In meiner seligen Wohnung ist nur _eine_ Wahrheit. Getrost! wir werden uns wiederfinden.« Aus der Kirche getreten, warf sich Müssinger an der Tochter, des Eidams Brust, und sagte heftig, aber gerührt: »Nehmt mich jetzt hin, meine Kinder. Ich bin jetzo wieder ganz der Eurige geworden. Nehmt den Bettler hin, und macht mich wieder reich im Abglanz Eurer Liebe!« Nun ging es im Fluge vorwärts, denn in einem von bevölkerten Ortschaften entlegenen Meierhofe fanden die Herren Haverly und Compagnie ihre Wagen, mit rüstigen Pferden bespannt. Immer mehr dem Uferlande sich nähernd, jauchzten die Reisenden ihrem Ziele entgegen. Kein gefürchteter Alkade, -- sie bückten sich alle vor dem Namenszuge des königlichen Statthalters auf dem zweifelhaften Passe, -- hinderte die Fahrt. Nirgends ein Soldat von dem Milizenregimente, in welchem Georg hatte dienen, die Messe besuchen und leiden müssen. Unverrückt ging eben und gerade der ersehnte Weg. Dort lag endlich der Hafenort, umspült von schäumender Meeresbrandung. Dort flatterten die Wimpel des vertrauten Amerikanerschiffs. Keine Zeit wurde verloren. Die Agenten schlossen ihre Berichte, die Schiffer ihre Fässer und Kisten. Birsher führte triumphirend Braut und Vater auf das erwünschte Fahrzeug. -- »Hier ist schon Heimathboden!« rief er fröhlich, und Alle dankten dem Lenker über den Sternen, als der letzte Ballen, der letzte Passagier, an Bord gekommen. Die Anker wurden gelichtet, die Flaggen aufgezogen, und hinaus in das ruhige Meer trieb der von siegreichen Hoffnungen befrachtete Kiel. Die See war gnädig, wie der Himmel es bisher gewesen. Die Fahrt war mit Segen bekränzt. In kurzer Zeit wurde die Strecke zum Asyle zurückgelegt. Endlich -- an einem lieblichen Morgen, -- kaum hatte die Sonne die Nebel überwunden, -- riß sich die Ansicht einer freundlichen Stadt vor den entzückten Reisenden auf. Hier die Rhede, dort der Flaggenthurm; hier die Festung mit ihren Fahnen und blinkenden Waffen, dort die lebendigen Landungsplätze: Gewimmel von Schiffen um sie her, -- wehende Wimpel, blendende Segel! die Kanonen donnern von Schiff und Kastell. »Hurrah!« rufen die ungeduldigen Matrosen. »New-York!« ruft Georg Birsher, und drückt frohlockend, und allen förmlichen Zwang vergessend, die geliebte und liebende Justine an die Brust. Stadt, Festung, Hafen und das darinnen webende Volk, ankerhaftende Schiffe und bewegliche Meereswellen nimmt der Edle zu Zeugen des Eides, den er ablegt, seine Liebe glücklich zu machen, -- und Georg Birsher hat nie sein Wort gebrochen. * * * * * Es waren mehrere Jahre verflossen, als sich eines Abends, bei noch funkelndem Sonnenglanze, mehrere Reiter dem Dorfe Santa Dominica näherten. Drei derselben, bewaffnete Diener, wie es schien, blieben ehrfurchtsvoll hinter dem Vorausreitenden, der, ein junger Mann, mit vernarbtem, kriegerischem Gesichte, eine goldverzierte Uniform unter dem schlichten Mantel bergend, bald schnell ritt, die Gegend wie mit begeisterten Augen überschauend, bald langsam, den trüben Blick zu Boden schlagend. Die Diener schwiegen, wie die von Arbeitern leeren Felder, und der Herr sprach leise mit sich selbst. »Dort liegen die neuen, muntern Hütten!« sagte er, »der Ort, den ich, auf la Guasta, in dem Thale des guten Jesus stehend, mit klopfendem Herzen herbeiwünschte, er ist da. Werde ich ihn wieder froh verlassen, den ich froh und ahnend betrete? Da sind die bekannten Wege; dort steht die Kirche, dort liegt des Pfarrers Hof! Ehrwürdiger Luis! Wo bist du, du mein Tröster?« Der edle Mann war heimgegangen. Frische Tamarinden, die er so sehr geliebt, beschatteten sein Grab mit leichtem Blättergewebe. Unter dem Thore seiner ehemaligen Wohnung stand ein Anderer: ein Geistlicher, mit vornehmem, flachem Gesichte; rauchte seine Cigarre, grüßte den Reiter herablassend, und sendete ihm, da dieser betrübt vorüberzog, eine Dienerin nach, ihn zur Herberge einzuladen. Die Magd trug abiponische Züge. Der Offizier redete mit ihr. »Wo ist Euer Pfarrer Luis?« -- »Dort!« antwortete das Weib und deutete gen Himmel und nach dem Kirchhof. -- Des Reiters Auge wurde naß. »Ich habe nichts mit Eurem jetzigen Pfarrer zu schaffen,« sagte er, wiewohl milde. »Danke ihm, mein Kind, in meinem Namen, und sage du mir, wo ich die schöne Ines finden mag. Sie ist aus deinem Stamme, wie mir bedünkt.« -- »Ines, Herr? Wir heißen Alle Ines.« -- »Die Tochter Euers Kaziken, die einst verlorne Misinga?« Das Weib zeigte nach einem seitwärts liegenden hübschen Meierhofe, von Palmen umweht. »Fragt dort nach Misinga, Herr!« sagte die Magd und ging gleichmüthig davon. Der Reiter trieb das Pferd; in einer Minute stand er am Gatter des Hofs; ein Mann kam freundlich entgegen, lüftete den Strohhut. »Fernandez Vereira!« rief der Ankömmling, vom Pferde springend. -- »Sennor White!« antwortete der Andere, und bot ihm freundlich die Hand. »Ihr hier? Ihr da?« wiederholten Beide einige Male, und in den schattigen Vorsprung des Gebäudes, zu herrlichem Weine, zog den Offizier der Meier. »Die Flucht aus Egypten bekam mir wohl,« sagte er zu dem Besucher; »wir verbargen uns hier, unter den Flügeln des wackern Luis. Mein Vater erhielt in der Folge seine Begnadigung, und löschte dann seine Lampe. Ich bin hier geblieben, -- ein schlichter Bauer, -- und mir würde zu dem Glücke meines Lebens nichts fehlen, hätte ich den lieben Vater, hätte ich den Pfarrer Luis noch, die beide fast an einem Tage in's ewige Vaterland gingen.« »Beneidenswerthester!« entgegnete James, schwermüthig seine Hand drückend. »Mich Armen flieht das Glück, wenn's mich auch noch mit mehreren Goldgalonen bekleidete. Ich hatte mich für Freund Georg hingegeben. In San Sebastian wurde meine List entdeckt. Der Kommandeur, gerührt und menschlich, gab mir schnell die Freiheit, und der Statthalter, eine That bewundernd, die doch so natürlich war, verlieh mir den Rang eines Sergeanten. Meines Pflegers, meiner Hoffnungen in der alten wie in der neuen Welt beraubt, schlug ich ein, und trug die Hellebarde heldenmüthig für den König, den ich nicht kenne, für das Land, das ich nicht liebe. Es war aber von jeher mein Loos gewesen, das thun zu müssen, dem mein Herz widerstrebte, und die Erlösung von des Lebens Fesseln suchte ich in dem kriegerischen Stand. Auch diese Hoffnung trog. In den Gefechten mit den widerspenstigen Eingebornen suchte ich den Tod, und fand Rang und Ehre. Ich bin Capitän geworden, könnte alle Freuden des Lebens genießen, -- verschmähe sie, und suche sie hier -- hunderte von Meilen von St. Sebastian entfernt -- in der Erinnerung an eine schmerzlich-süße Zeit. Ich finde jedoch nur Gräber!« »Auf ihnen wächst das Gras, wie einst auf den Unsrigen,« bemerkte Fernandez: »Laßt indessen auch Gras über den Argwohn und Verdacht wachsen, den ich vor Zeiten gegen Euch und Eure Freunde hegte. Ich habe Eure Handlungen würdigen und weiser sein gelernt... Was ist aus diesen Freunden geworden, mein biedrer Herr?« »Mein Pflegvater ist nach Deutschland zurückgekehrt,« versetzte James seufzend: »zu spät, als schon Soldatenpflicht mich band, erfuhr ich es. Ich hätte ihn nie verlassen. Der Senator lebt bei seinen Kindern in New-York, wie ich vernahm; und glücklich, wie es heißt, hat sich Aller Loos gestaltet. Ach, wie wünsche ich es ihnen! Mag mir der Himmel zürnen, wenn er nur Justinen lacht. In ihrer und ihres Gatten Tugend liegt der Segen, -- nicht in Birshers Reichthum, nicht in Müssingers Banknoten, die --« »Die er verlor,« fiel Fernandez ein: »Luis Verwendung nützte nicht. Die Väter des Collegiums zu Assumcion läugneten das Leben des Senators, prunkten mit dem Testamente, und haben, es zu vollstrecken, die Sennora Müssinger zu Cordova bei den Carmeliterinnen einkleiden lassen.« »Justine?« fragte James bestürzt: »ich falle aus den Wolken! Ist's ein Scherz oder ein unbegreifliches Räthsel?« »Eine begreifliche Bosheit,« antwortete Fernandez mit verächtlichem Achselzucken, »wenn es wahr ist, was Vater Luis behauptete: daß das Provincialat zu Cordova eine Französin, die Euch hierher begleitet, und sich in der Mordnacht auf dem Schiffe der Jesuiten gerettet, gezwungen habe, unter dem falschen Namen der Sennora Müssinger in jenes Kloster zu treten.« »Abscheulich!« »Und nicht zu bezweifeln. Luis verläumdete nicht, und war selbst nach Cordova gereist. Die Ueberzeugung, daß weder Müssinger noch seine Tochter jemals wiederkehren würden, ihre Ansprüche zu behaupten, die Begierde nach den bedeutenden Summen des Testaments waren die Triebfedern, und die schwere Ordensregel hindert das arme Schlachtopfer der trügerischen Willkür auf ewige Zeiten, ihre Beschwerden öffentlich zu machen!« »O! So hat auch diese, in den Netzen, die sie weben half, befangen, ihre Strafe gefunden!« sagte James, nachdenkend vor sich hinstarrend: »der Fluch, der diese Werkzeuge verfolgt, läßt in mir fast nicht die Hoffnung aufkommen; raubt mir fast den Muth, Euch, mein verständiger Fernandez, nach der schönen Ines, der Tochter des abiponischen Oberhauptes zu befragen.« »Ines? Des Kaziken Tochter? Was führt Euch zu dieser Frage?« »Ich bin des Einsiedlerlebens zu St. Sebastian müde geworden. Dort habe ich kein Herz gefunden, mit dem ich, was das Schicksal mir gab, theilen möchte. In Paraguay hat mir einst von Glück geträumt, -- von einem Glücke, das ich schnöde abgewiesen, um eines Schattens willen, der zerfloß; um einer Hoffnung willen, die entschwand. Freund! ich will offen gegen Sie sein, mich redlich aussprechen. Misinga-Ines hat mich einst geliebt, mir's gestanden. Das Andenken ihrer Unschuld, ihrer liebenswürdigen Neigung, ist lebendig vor mich hingetreten. Wie mich einst, durch räthselhaften Traum verkündet, das Bild der Versagenden in die Gebirge lockte, weit von der Gewährenden weg, so zog mich jetzo das Bild dieses holden Indianerkindes über Berg und Thal, Strom und Savanne. Hier soll ich es finden. In Eurem Hause soll ich seinen Aufenthalt erfahren. O sagt ihn mir. Bei Ines allein kann mein Herz gesunden; das wunde an einem liebenden. Zu ihren Füßen will ich die Güter des Lebens niederlegen, sie beschwören, mein eitles Glück mit mir zu genießen; ihr Gatte sein, von ihr beweint hinübergehen!« Er hatte im Feuer der Rede Fernandez Hand ergriffen, dessen Stirne sich verdüsterte, während sein offenes Auge eine bekümmerte Freundlichkeit aussprach. Langsam entzog der Spanier dem Bittenden die Hand, stand auf, schlug sinnend die Augen gegen die Decke, überlegte einen Moment, während James Blicke bittend an den Seinigen hingen, und sagte hierauf mit ernstem aber bewegtem Tone: »Kommen Sie mit mir, Sennor, ehe ich Ihnen antworte.« -- James erschrak vor diesem Tone. »Sie sprechen wie ein schauerliches Orakel!« sagte er bange: »soll ich Ihnen zu einem Grabe folgen? zu den Wohnungen Ihrer Väter? Ach! der Muth des Soldaten besteht nicht vor solchem Anblicke!« Statt einer Antwort winkte ihm Fernandez noch einmal, schweigend, zu folgen. Mit Anstrengung, mit ahnendem Widerwillen that es der Capitän. Sie gingen durch das Haus, nach einem reizenden Gebüsch, das den Hofraum begränzte. An blühenden Algaroven und Mondblumen vorüber, traten sie vor eine stille dunkle Laube. Auf dem Rasensitz darinnen ruhte ein schöner als alle Blumen blühendes Weib. Es schlummerte, und an ihrer Brust hing mit geschlossenen Augen ein lächelnder Säugling. »Ines!« seufzte leise -- denn seine Brust vermochte, zusammengeschnürt, keinen lauten Ton zu geben, -- der Capitän, und fuhr erbittert gegen sein Geschick, beschämt vor dem Glücklichen, zurück. -- »Mein Weib!« sagte Fernandez leise und schonend. Er wollte hingehen und die Schlummernde wecken. Mit Riesenkraft, sich ermannend, riß ihn James von der Stelle weg. »Um aller Heiligen Willen!« bat er außer sich: »haltet ein, Fernandez. Stört nicht ihren Frieden, mehrt nicht meinen Schmerz. Den offenen Augen dieses verscherzten Engels müßte ich unterliegen. Nennt ihr meinen Namen nicht, damit sie glücklich sei. Ich bin fertig mit den Freuden der Erde. Lebt wohl! Hinaus in die Savannen, in die Felsgebirge, mit der Handvoll Staub, die zertreten werden mußte, um die Blumen fremden Doppelglücks zu treiben!« -- Er schwang sich wie rasend, ohne auf Fernandez Zureden zu hören, auf sein Roß, und die Diener hatten Mühe, dem Zurückeilenden zu folgen, so spornte er das Thier, so trug ihn der Wind. Die vor die Hütte tretenden Abiponer, -- der Tage ihrer wilden Kraft sich wohlgefällig erinnernd, priesen den unerschrockenen Reiter; er hörte aber nicht ihr Lob, er sah nicht mehr die Gräber der Freunde, nicht mehr die Pracht der Felder, und wilder als die Thiere der Haide die vor ihm flohen, ritt er mit dem Staubwirbel, mit den Wolken der Nacht um die Wette; aber, allenthalben auf seinem Rosse hinter ihm, saß der dunkle brennende Schmerz. * * * * * Der Pater Xaver Münzner an den Hochwohlgebornen Herrn Baronet James White, Major unter dem 2ten Milizregiment zu St. Sebastian. Aus dem Profeßhause, im Jahre 1733. »Auf die Adresse gehört der Titel; in der Rede gebrauche ich ihn nicht bei dir, mein geliebter Sohn. Konnte doch der Majorrang dich meinem Herzen nicht näher bringen. Könnte ich dir doch mit dem demüthigsten _»Sie«_ nicht die Hälfte der Freude ausdrücken, die dein Brief in meine Einsamkeit brachte; oder den Dank dafür. Schreibe es daher meiner Nachlässigkeit, meiner Gleichgültigkeit nicht zu, daß diese Antwort erst nach mehreren Jahren erfolgt. Bis heute haben Zeit und Raum mich verhindert, mit dir zu reden; wovon in der Folge ein Mehreres. Zuerst von dir, mein Sohn! Ich habe Freude an dir, denn du dienst einem frommen Könige, der das Irdische geringer schätzt, als das Ewige, und, um vollkommener Salomo zu sein, nur mit dem heiligen Vater zu Rom mehr Frieden halten sollte. -- Du bist vom niedern Stande zu einem glänzenden heraufgestiegen, und die Würdigkeit ist in dir belohnt worden: freue dich dessen, denn in der Welt muß Macht und Ansehen sein, und dem Diener des Königs, wie dem Könige selbst, gebührt Ehrfurcht, so lange Beide vor Gott wandeln, und nicht aus den Gränzen ihres Rechts treten; widrigenfalls sie natürlich und leider den ursprünglichen Rechten ihrer Untergebenen verfallen müssen. -- Das ist nicht von dir zu fürchten. Du bist gottgefällig, ein milder Herr. Woher also der Unfriede, der dich quält? Das Gefühl, so man Liebe zum Weibe nennt, ist freilich ein blindes, wie es auch bereits die Poeten und Bildner des Alterthums in Figuren und Gedichten dargestellt haben; aber dein Alter, guter James, sollte schon ein hellsehendes sein. Wohl gethan ist's zu freien, sagt ein heiliger Mann, aber besser, es zu lassen. _Zwecklose_ Liebe ist jedesmal sogar verwerflich. Danke dem Himmel, daß er dich von der Protestantin riß: sie hätte deine Seele verderbt; danke ihm, daß er die Indianerin dir nahm, denn sie verehrt den Heiland und die Mutter wie eine Götzendienerin, und kennet den ewigen Vater nicht. Ich kann auch nicht glauben, daß in der That dein Herz noch bluten sollte, ob dieser eingebildeten Wunden. Du bist zu vernünftig dazu, und es möchte nur ein Selbstbetrug sein, der dich mit Kummer beschwert. Ich halte dafür, daß diese Bekümmerniß eine Buße sei, die dir der gnädige Vater auferlegte, weil du nicht gethan nach seinem Befehl und deinem Versprechen. Du fühltest dich freilich nicht geschickt, in unsere Gesellschaft zu treten; ich selbst -- bereuend gestehe ich's -- redete dir zu einer Zeit das Wort, da ich in deinen Glauben mich verwickelt hatte, und vor deinem Widerwillen schauderte. Ich armer einfältiger Mensch! Dem gereizten Herzen eines Jünglings ohne Ziel vertraute ich, -- nichttrauend der Macht und der Gnade unsers Erlösers, der auch das widerspenstigste -- ja, das unwürdigste der Gefäße zu heiligen vermag. Gedenke Sauls, der ein Held des Glaubens wurde, nachdem er dessen Feind gewesen. Darum hat der Herr Plage über dich gesendet, die nur eine aufrichtige Reue haben kann, und die Lossprechung vom Gelübde, die dir, um der Buße willen, nicht der General unsers Ordens, nicht der heilige Vater zu Rom versagen werden. Gehe darüber mit dir zu Rathe, und meide den Stand der Ehe, damit du wenigstens in diesem Punkte dem Herrn geweiht bleibest. Du wirst dann den Frieden gewinnen. -- Deine Leiden führen mich von selbst auf das bewundernswerthe Schicksal, das Uns Alle betroffen hat; auf die unerforschlichen Wege der Vorsehung. Auch der Leichtsinn der Lainez hat seinen Lohn gefunden, aber -- wie aus allen Züchtigungen des Himmels das Heil erwächst, so wird auch _sie_ in ihrer gottseligen Schwesterschaft daran nicht immer verzweifeln dürfen. -- _Meine_ Seele endlich hat ausgelitten durch die Gnade des Höchsten und die Bemühungen eines würdigen Mitbruders, der mein Beichtvater geworden ist. Irrthum und Zweifel waren meine Verbrechen, und die Ursachen meiner Schmerzen. -- Sieh, lieber James! Ich war ein lenksamer, gehorchender Mann bis zu der Stunde, da mich Gott und meiner würdigen Obern Wille zu einer Sendung berief, der meine Kräfte nicht gewachsen sein konnten, da ich vom Pfade abirrte. Ich bin nie gehässig gewesen: ich habe nie den Neid empfunden, nie eine Verfolgung angestiftet. Ein reines Wohlwollen für alle Menschen beseelte mich. Ich war -- ein Fünfziger -- noch ein gutmüthiges Kind, aber ein schwaches. Der Schwester letzte Bitte zu erfüllen, nahm ich's über mich, den Senator und seine Tochter selig zu machen. Sie verdienten's, diese Menschen: aber mein Uebermuth hat sie und mich verdorben. Was ich an ihnen zu thun begann, wagte ich für mich, zu meiner eigenen Zufriedenheit zu thun, und dieses war mein Vergehen gegen die Pflicht, nur für den Zweck des Allgemeinen zu arbeiten, nur im Sinne und zum Vortheil des Ganzen, der heil. Gesellschaft, der ich angehöre, zu wirken. Daher alle folgende Uebel, mit denen uns der Herr heimsuchte, zu dessen größerer Ehre allein wir handeln sollen, -- den ich aber vergaß, um eigener Schöpfung Behagen zu finden. So wie ich thätig für mich selbst wurde, trat ich aus des Ordens Schranken, und mußte dann, wie ein aus seiner Bahn geworfener Stern, meinem Schicksale folgen. -- Das ist mir erst seit einigen Jahren klar geworden, da mein Irrthum geschwunden war, der in Europa schon begonnen, der sich in der neuen Welt ausgewachsen. Ach, jene neue Welt war auf dem Punkte, mich gänzlich von der Mutter loszureißen. Jenem gefährlichen Boden entkeimt auch Gefahr für eine schwache Seele! Man glaubt, dort mit hellen Augen zu sehen, wie Gott die herrlichsten Gaben der Natur an Christen und Heiden spendet, gleichsam ohne Unterschied; wie der blindeste Götzendiener ruhig stirbt, wie nur der frömmste Diener des Herrn. Man geräth leicht in Versuchung, zu glauben, diese Unchristen möchten selig werden, wie wir: man möchte zweifeln an dem, was die Satzungen der Kirche sagen. Aber, -- indem man zweifelt, reißt uns schon der Strudel der Verderbniß mit fort, und, hätte mich nicht das Pflichtgefühl erhalten, auch ich wäre untergegangen. Von dem Senator fürchte ich dieses, und wünsche, du könntest mir das Gegentheil berichten. Denke dir, wie schmerzlich es für mich sein müßte, den Mann, um dessen Seligkeit ich fast die meinige geopfert hätte, wieder versinken zu sehen! Und dennoch kann ich nichts Anderes hoffen! Ich, das Werkzeug, wollte sein selbstständiger Retter sein, und nur zu wahrscheinlich ist's, daß eben darum mein wichtiges Werk in Staub zerfallen muß. Justine -- das vielleicht berufene und erwählt gewesene Mädchen -- scheint verloren. -- Ihr Starrsinn hätte sich vielleicht unter die Gesetze der mildesten Kirche gebeugt; aber -- verbunden mit dem Amerikaner Birsher, der -- ein klares, aber kaltes Gestirn, -- seine Bahn zieht, giebt sie keine Hoffnung mehr! -- Wer weiß indessen, was die Zukunft verbirgt? Der Herr hat Justine, den Senator und Herrn Birsher großen Prüfungen unterworfen. Sie haben in Wildnissen die Entbehrung und Genügsamkeit kennen gelernt; -- sie haben unter wüthenden Heiden die Nichtigkeit des Lebens eingesehen; -- sie haben Fassung und Geduld geübt; sie konnten bemerken, welchen Segen in barbarischen Regionen unsere ehrwürdige Kirche durch ihre ehrwürdigste Gesellschaft verbreitet. Ihrer heiligen Schutzengel Schuld ist's nicht, wenn dieser gute Saame nicht in der Folge gute Früchte trägt. Manchmal, lieber James, ist mir zu Muthe, als müßte ich über's Meer hinfliegen, wo sie, die Leute, die ich immer noch liebe, wohnen; als müßte ich, von der feurigen Apostelzunge entflammt, zu ihnen reden, sie überzeugen...! aber -- Gott will es nicht, meinem früherem Uebermuthe zur gerechten Strafe. Ich beuge mich daher seinem Willen, und würde, wäre ich selbst ein kleiner Vogel, nicht durch die Stäbe meiner Fenster entfliehen! -- Ach, James, ich sehe jetzt erst, daß ich schrieb, was ich dir verheimlichen wollte, und was ich -- vielleicht um in deinem Mitleiden zu schwelgen -- nicht mehr ausstreichen mag. So wisse es denn: Sie haben mich gefangen gesetzt, und werden mich freilassen, wenn einmal der Provinzial es gut heißt. Sie haben mir bewiesen, daß _ich_ die geheime Gemeinde und den Orden bloß gegeben; daß _ich_ jenes Unternehmen zerstört, daß _ich_ dich der Gesellschaft abwendig gemacht, daß ich pflichtwidrigen Gedanken und Worten Raum gegeben, daß ich dieselben verbreitet. -- Ich mußte endlich Alles zugeben, und danke von Herzen meinen Vätern und Brüdern die milde christliche Strafe; sie konnten dem alten Sünder das Kleid nehmen, und haben's nicht gethan, sie konnten mich verstoßen, oder in einen feuchten Kerker, dunkel und schaurig, sperren, und sie haben mich behalten; ich sitze in einer warmen Zelle; leibliche Speise bringt mir der gute Litzach, der -- Wittwer und kinderlos geworden -- unser Pförtner ist. -- Geistlichen Trost bereitet mir mein ehrwürdiger Beichtvater. Ich sehe freilich sonst keinen Menschen, aber dafür meinen innern; ich höre kaum etwas von der Welt, -- aber -- ist's denn auch der Mühe werth? Während im Reiche Polen und Sachsen und Frankreich Krieg brennt, wohne ich im stillsten Frieden, lese die Bücher geistlicher Autoren, die Lebensbeschreibungen der heiligen Märtyrer und unsrer Ordenslichter, -- und denke zuweilen über die Seele hinaus -- an dich und an Müssinger -- dann an meine guten Eltern und die arme Clara über den Sternen, -- und endlich an die Zeit, da ich sie Alle dort oben wiederfinden werde. Wenn ich meinen Beinen glaube, die -- der gewohnten Bewegung ermangelnd -- mir dann und wann den nöthigsten Dienst versagen, so dürfte bald die Hülle fallen; _noch_ schlägt jedoch das Herz gesund, und der Geist brennt hell genug, dein Bild vor meine trübern Augen zu bringen. Der Brief, den du mir durch den Kaufmann gesendet, hat, vermittelst des guten Litzachs, den Weg in meine Klausur gefunden; in's Geheim; denn dazumal lebte der alte Superior noch, der mich zu meinem Heil unter der strengsten Aufsicht hielt. Dieser Brief war mein Labsal, meine tägliche Erquickung am Morgen und am Abend. Du bist ja der einzige Mensch, der mich liebend mit der Außenwelt, -- ach -- mit der fernsten -- zusammenhält! Empfange daher auch liebend diese Zeilen, die mir, zu schreiben, der neue Superior, -- ein stiller Mann von vielem Kummer und Leiden, -- erlaubt, und zu befördern versprochen hat. Vielleicht ist dieser Brief, an dem meine zitternde Hand schon eine Woche schreibt, -- mein letzter Pulsschlag an dich; verzeihe also dem alten Vater die weitschweifige Länge. Wenn ich jedoch noch tausend Worte hinzusetzen wollte -- sie würden alle heißen: Sei glücklich! ich liebe dich! ich bete für dich!« _»Xaver.«_ * * * * * Dieses Schreiben eines nicht minder geliebten, einem grausamen Loos verfallenen Mannes, der mit kindlicher Unbefangenheit und Hingebung dieses Loos duldete, es sogar, in blinder Pflicht versinkend, gerecht nannte, erschütterte im tiefsten Gefühle den Empfänger. Sich den Fesseln des Dienstes entreißend und den reinsten Sohnespflichten Gehör gebend, verließ James Brasilien, kam nach Lissabon, ging mit Empfehlungen des Patriarchen versehen, nach Rom, erbettelte vom Jesuitengeneral und vom Pabste des Pflegevaters Freisprechung, -- brachte sie nach dem Profeßhause, wo der Unglückliche schmachtete. Er hatte schon ausgelitten: Er hatte sich, müde, und getröstet im Glauben, -- in die Erde gelegt. James fand ein Vermächtniß vor, das ihm gehörte: das in den letzten Jahren viel durchlesene Brevier des Verstorbenen. Für den Senator hatte Xaver das wohlgetroffene Bild der verewigten Clara, das bisher an seinem Bette gehangen, bestimmt. Dieses Bild gelangte -- eine Aussaat von vielen Thränen -- in die rechten Hände. -- Den Namen des Baronets und Obristlieutenants James White fand man später auf der Liste der in der Schlacht bei Culloden für den Prätendenten gefallenen Offiziere. _(Ende.)_ Fußnoten. [1] Des Straußvogels Name in abiponischer Mundart. [2] Johannisbrodbaum in Paraguay. [3] Tiger. [4] Heuschrecken. (Abiponische Mundart.) [5] Eine zahme Leitstute, die eine Schelle am Halse trägt. Die Pferde folgen diesem Klang. [6] Balichu: der Teufel, das böse Prinzip. [7] Darunter wird das Siebengestirn verstanden, das eine Zeit hindurch nicht am Himmel Südamerikas gesehen wird. Die Abiponer nennen die Sterne ihre Vorfahren. [8] Spottname der Spanier, oder im Allgemeinen der Europäer, um ihrer Augenbraunen willen erfunden. [9] Die Abiponer behandeln in der Regel ihre Gefangenen menschlich. +--------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription: | | | | Korrekturen beschränken sich auf Stellen, wo Setzfehler | | offensichtlich erschienen. Eine Liste der geänderten Worte | | folgt unten, Zeichensetzung wurde ohne gesonderte Angabe | | korrigiert. Unterschiedliche Schreibweisen (wie Cabinet - | | Cabinett, gibt - giebt, Plane - Pläne, Alcade - Alcalde) | | wurden beibehalten, sofern sie beide um 1855 gebräuchlich | | waren. | | | | Folgende Änderungen wurden vorgenommen: | | | | S. 4, "wenige" durch "wenigen" ersetzt | | S. 4, "kein n" durch "keinen" ersetzt | | S. 4, "eintr" durch "einer" ersetzt | | S. 9-11, "Jakobine" durch "Jacobine" ersetzt | | S. 15, "ihnen" durch "Ihnen" ersetzt | | S. 17, "lungernten" durch "lungerten" ersetzt | | S. 18, "Ballustrade" durch "Balustrade" ersetzt | | S. 18, "Dir Senator" durch "Der Senator" ersetzt | | S. 18, "Wer sind die" durch "Wir sind die" ersetzt | | S. 20, "her Gefahr" durch "der Gefahr" ersetzt | | S. 20, "ihrer" durch "Ihrer" ersetzt | | S. 21, "lies" durch "ließ" ersetzt | | S. 26, "Wagen" durch "Wangen" ersetzt | | S. 32, "er" durch "Er" ersetzt | | S. 44, "pickende" durch "tickende" ersetzt | | S. 46, "Hiemit" durch "Hiermit" ersetzt | | S. 52, "ein" durch "eine" ersetzt | | S. 55, doppeltes "und" entfernt | | S. 69, "glaubige" durch "gläubige" ersetzt | | S. 73, "Widersehens" durch "Wiedersehens" ersetzt | | S. 74, "floßen" durch "flossen" ersetzt | | S. 75, "Wiede finden" durch "Wiederfinden" ersetzt | | S. 76, "Jakobinens" durch "Jacobinens" ersetzt | | S. 77, "peofitirt" durch "profitirt" ersetzt | | S. 86, "Stappel" durch "Stapel" ersetzt | | S. 90, "an- aufnehmen" durch "an- und aufnehmen" ersetzt | | (wie in anderen Ausgaben des Buches) | | S. 94, "begleitete" durch "begleiteten" ersetzt | | S. 95, "Uns" durch "uns" ersetzt | | S. 115, 116, 121 "erwiederte" durch "erwiderte" ersetzt | | S. 122, "ihr" durch "Ihr" ersetzt | | S. 128, "Visittenrobe" durch "Visitenrobe" ersetzt | | S. 133, "Rathause" durch "Rathhause" ersetzt | | S. 134, "das" durch "daß" ersetzt | | S. 142, "laure" durch "laufe" ersetzt | | S. 144, "niederauschen" durch "niederrauschen" ersetzt | | S. 144, "Sentorstimme" durch "Stentorstimme" ersetzt | | S. 159, "verwies ihm" durch "verwies ihn" ersetzt | | S. 168, "Trapir" durch "Tapir" ersetzt | | S. 174, "Widerspendige" durch "Widerspenstige" ersetzt | | S. 178, "Asumcion" durch "Assumcion" ersetzt | | S. 179, "Mitbruder" durch "Mitbrüder" ersetzt | | S. 179, "sturzen" durch "stürzen" ersetzt | | S. 180, "Förne" durch "Ferne" ersetzt | | S. 180, "versenkten" durch "versengten" ersetzt | | S. 185, "viel" durch "viele" ersetzt | | S. 185, "gefesset" durch "gefesselt" ersetzt | | S. 191, "Ihnen" durch "Ihren" ersetzt | | S. 192, "Worten" durch "Worte" ersetzt | | S. 199, "Wächten" durch "Wächtern" ersetzt | | S. 200, "Umd" durch "Und" ersetzt | | S. 202, "Franziska" durch "Franzisko" ersetzt | | S. 203, "des Höhen" durch "der Höhen" ersetzt | | S. 203, "des Wanderes" durch "des Wanderers" ersetzt | | S. 207, "rieß" durch "riß" ersetzt | | S. 208, "den Häuser" durch "den Häusern" ersetzt | | S. 215, "grüßern" durch "größern" ersetzt | | S. 220, "Herzens" durch "Herzen" ersetzt | | | +--------------------------------------------------------------+ End of the Project Gutenberg EBook of Der Jesuit, by Carl Spindler *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER JESUIT *** ***** This file should be named 47112-8.txt or 47112-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/7/1/1/47112/ Produced by Peter Becker, Karl Eichwalder and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was produced from scanned images of public domain material from the Google Print project.) 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Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit www.gutenberg.org/donate While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works. Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. They may be modified and printed and given away--you may do practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. *** START: FULL LICENSE *** THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License (available with this file or online at http://gutenberg.org/license). Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works even without complying with the full terms of this agreement. See paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic works. See paragraph 1.E below. 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. If an individual work is in the public domain in the United States and you are located in the United States, we do not claim a right to prevent you from copying, distributing, performing, displaying or creating derivative works based on the work as long as all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily comply with the terms of this agreement by keeping this work in the same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when you share it without charge with others. 1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in a constant state of change. If you are outside the United States, check the laws of your country in addition to the terms of this agreement before downloading, copying, displaying, performing, distributing or creating derivative works based on this work or any other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning the copyright status of any work in any country outside the United States. 1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg: 1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed, copied or distributed: This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org/license 1.E.2. 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Additional terms will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the permission of the copyright holder found at the beginning of this work. 1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm License terms from this work, or any files containing a part of this work or any other work associated with Project Gutenberg-tm. 1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this electronic work, or any part of this electronic work, without prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with active links or immediate access to the full terms of the Project Gutenberg-tm License. 1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary, compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any word processing or hypertext form. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit http://pglaf.org While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: http://pglaf.org/donate Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works. Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
6637-8
The Project Gutenberg EBook of Der Alpenkonig und der Menschenfeind, by Ferdinand Raimund This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Der Alpenkonig und der Menschenfeind Author: Ferdinand Raimund Posting Date: June 6, 2012 [EBook #6637] Release Date: October, 2004 First Posted: January 8, 2003 Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER ALPENKONIG UND DER *** Produced by Delphine Lettau Der Alpenkönig und der Menschenfeind Ferdinand Raimund Romantisch-komisches Original-Zauberspiel in zwei Aufzügen Personen: Astragalus, der Alpenkönig Linarius und Alpanor, Alpengeister Herr von Rappelkopf, ein reicher Gutsbesitzer Sophie, seine Frau Malchen, seine Tochter dritter Ehe Herr von Silberkern, Sophiens Bruder, Kaufmann in Venedig August Dorn, ein junger Maler Lischen, Malchens Kammermädchen Habakuk, Bedienter bei Rappelkopf Sebastian, Kutscher in Rappelkopfs Dienst Sabine, Köchin in Rappelkopfs Dienst Christian Glühwurm, ein Kohlenbrenner Marthe, sein Weib Salchen, ihre Tochter Hänschen, Christoph und Andres, ihre Kinder Franzel, ein Holzhauer, Salchens Bräutigam Christians Großmutter Rappelkopfs verstorbene Weiber: Victorinens Gestalt Wallburgas Gestalt Emerentias Gestalt Alpengeister. Genien im Tempel der Erkenntnis. Dienerschaft in Rappelkopfs Hause. Die Handlung geht auf und um Rappelkopfs Landgut vor. Erster Aufzug Erster Auftritt Die Ouvertüre beginnt sanft und drückt fröhlichen Vogelsang aus, dann geht sie in fremdartiges Jagdgetön über, begleitet von Büchsenknall. Beim Aufziehen der Kurtine zeigt sich eine reizende Gegend am Fuß einer Alpe, welche sich im Hintergrunde majestätisch erhebt. Im Vordergrunde zeichnet sich in der Mitte ein Gebüsche von Alpenrosen, links ein abgebrochener Baumstamm und im Vordergrunde rechts ein hoher Fels aus. Ein Chor von Alpengeistern, dabei Linarius, durchaus grau als Gemsenjäger gekleidet, jeder eine erlegte Gemse über den Rücken hängen, eilt von der Alpe herab und sammelt sich im Vordergrunde der Bühne. Chor. Stellt die Jagd ein, luftge Schützen! Von den steilen Alpenspitzen Steigt herab ins blumge Tal. Zählt mit wilder Jägerfreude Schnell die frischgefällte Beute Hier im grünen Weidmannssaal. Zweiter Auftritt Astragalus, ganz grau gleich den übrigen Geistern als Alpenjäger gekleidet, ein Jagdgewehr über die Schulter. Astragalus (im rauhen Tone). Holla ho, ihr Jägersleute! Seid genügsam in der Beute. Laßt, ihr jagdberauschten Schergen, Ruhn das Gemsvolk in den Bergen. Lang gedonnert haben wir Heut im steinigten Revier. Linarius (erster Alpengeist). Großer Fürst, du magst nur winken, Und der Alpen Geister sinken Kraftberaubet in den Staub Wie vorm Sturmwind welkes Laub. Keiner ist hier, der es wagt, Fortzusetzen mehr die Jagd. Doch es kann nichts Schönres geben, Als auf Alpenspitzen schweben Und den Blitz vom Rohre senden, Der Gazelle Leben enden. Ha! wenn aus metallnem Lauf Krachend sich der Schuß entladet Und die goldne Kugel drauf In der Gemse Blut sich badet: Das ist echte Weidmannslust, Das erhebt des Jägers Brust. Alle. Das ist echte Weidmannslust! Das erhebt des Jägers Brust! Astragalus. Bei des Eismeers starren Wellen, Ihr seid wackre Jagdgesellen. Oft soll euch die Lust entzücken, Doch auch andre mags beglücken. Denn was wir dem Berg entwenden, Will ins dürftge Tal ich senden. An Bewohner niedrer Hütten, Die um karges Mahl oft bitten, Teilet eure Gemsen aus. Werft sie unsichtbar ins Haus. Linarius. Edel ist stets dein Beginnen, Und wir eilen schnell von hinnen, Um den mächtgen Herrscherwillen Stolz zu ehren durch Erfüllen. Laßt die Hütten uns umrauschen Und leis dem Entzücken lauschen, Wenn sie in der Tiere Wunden Goldne Kugeln aufgefunden. Dankesperlen, die sie weinen, Wollen wir zu Kränzen einen, Daß sie zieren dann zum Lohn Lieblich deinen Alpenthron. (Alle ab.) Dritter Auftritt Astragalus allein. Astragalus. Wohl soll in der Geister Walten Lieb und Großmut mächtig schalten, Und ihr Wesen hoher Art, Wo sich Kraft mit Freiheit paart, Soll, befreit von irdschem Band, Schwingen sich an Äthers Rand. Doch, so wies im Menschenleben Bös und gut Gesinnte gibt, Jener haßt und dieser liebt: So ists auch in Geistersphären, Daß nicht all nach oben kehren Ihr entkörpert Schattenhaupt, Und, des liebten Sinns beraubt, Auch der Böse schaut nach unten, An die finstre Macht gebunden. Und so wird der Krieg bedinget, Der die Welt mit Leid umschlinget, Der die Wolken jagt durch Lüfte, Der auf Erden baut die Grüfte, Der den Geist gen Geist entzweiet, Der dem Hai die Kraft verleihet, In des Meeres Flut zu wüten, Der dem Nordhauch schenkt die Blüten, Der den Sturm peitscht gegen Schiffe, Daß zerschmettern sie am Riffe, Der die Menschen reiht in Heere, Daß sie zu des Hasses Ehre Über ihrer Brüder Leichen Sich des Sieges Lorbeer reichen-- Doch ich liebe Geisterfrieden, Bin dem Menschen gut hienieden, Hause nicht in Bergesschlünden, Laß in freier Luft mich finden. Hab auf Höhen, glänzend weiß, Auf des Gletschers kühnstem Eis, Mein kristallnes Schloß erbaut, Das der Sterne Antlitz schaut. Und dort blick aus klaren Räumen Auf der Menschheit eitles Träumen Mitleidsvoll ich oft herab. Doch wenn ich am Pilgerstab Manch Verirrten wandern sehe, Steig von meiner wolkgen Höhe Nieder ich zum Erdenrunde, Reich ihm schnell die Hand zum Bunde Und leit ihn mit Freundessinn Zum Erkenntnistempel hin. (Ab.) Vierter Auftritt Auf der entgegengesetzten Seite Malchen, Lischen. Erstere im lichtblauen Sommerkleide, einen Strohhut auf dem Haupte, läuft fröhlich voraus. Malchen. Ach, das heiß ich gelaufen, wie pfeilschnell doch die Liebe macht! (Sieht sich um.) Hier ist mein teures Tal. Wie herrlich alles blüht, heut glänzt die Sonne doppelt schön, als wäre Festtag an dem Himmel und sie des Festes Königin. Ach, wie dank ich dir, du liebe Sonne, daß du mir meinen August bringst. Lischen, Lischen! (Ruft in die Kulisse.) Wo bleibst du denn? Wie ängstlich sie sich umsieht. Was hast du denn? Lischen (kommt ganz verwirrt und sehr geschwätzig). Aber Sie unglückseliges Fräulein, wie können Sie sich denn heute in diese berüchtigte, verrufene, bezauberte Gegend wagen? Haben Sie nicht die wilde Jagd gehört? heut ist der Alpenkönig los. Hätt ich das gewußt, Sie hätten mich nicht mit zwanzig Pferden aus dem Haus gezogen. Aber Sie weckten mich auf, sagten mir, ich sollte mich schnell anziehen, Sie wollten Ihrem August entgegeneilen, der heute von seiner Kunstreise aus Italien zurückkömmt. Malchen. Nun, das tat ich ja. Hier erwart ich meinen August. Sein letzter Brief nennt mir den heutgen Morgen. Hier schieden wir in Gegenwart meiner Mutter vor drei Jahren mit betrübtem Herzen voneinander. Du weißt, daß mein Vater schon damals gegen unsere Liebe war, obwohl Augusts Onkel starb und ihm einiges Vermögen hinterließ, schlug er ihm doch meine Hand ab, geriet in den heftigsten Zorn und warf ihm Talentlosigkeit in seiner Malerkunst vor. August, auf das bitterste gekränkt, beschloß, nach Italien zu reisen, um seinen Kummer zu zerstreuen und sich an den großen Mustern zu bilden. Hier schwor er mir ewge Treue, meine gute Mutter versprach uns ihren Beistand, doch du weißt, wie es um meinen armen Vater steht. Hier haben wir uns getrennt, hier gelobten wir uns wieder in die Arme zu stürzen. Nach seinen Briefen hat er große Fortschritte in seiner Kunst gemacht. Lischen. Was Italien, was Kunst, was helfen mir alle Maler von ganz Italien und Australien! In diesen Bergen haust der Alpenkönig. Und wenn uns der erblickt, so sind wir verloren. Malchen. So sei nur ruhig, es wird ja den Hals nicht kosten. Lischen. Aber die Schönheit kanns kosten, und der Verlust der Schönheit geht uns Mädchen an den Hals. Und wie innig ist die Schönheit mit dem Hals verbunden, wer halst uns denn, wenn wir nicht schön mehr sind? Wissen Sie denn nicht, daß jedes Mädchen, das den Alpenkönig erblickt, in dem Augenblick um vierzig Jahre älter wird? Ja sehen Sie mich nur an, keine Minute wird herabgehandelt. Vierzig Jahre, und unsere jetzigen auch noch dazu, da wird eine schöne Rechnung herauskommen. Stellen Sie sich die Folgen einer so entsetzlichen Verwandlung vor. Was würde ihr geliebter Maler dazu sagen, wenn er in Ihnen statt einer blühenden Frühlingslandschaft eine ehrwürdige Wintergegend aus der niederländischen Schule erblickte, was würden alle meine Anbeter dazu sagen, wenn der Anblick dieses Ungetüms meine Wangen in Falten legte wie eine hundertjährige Pergamentrolle? Malchen. Aber wer hat dir denn solche Märchen aufgebunden? Beinahe könnt ich selbst in Angst geraten. Es gibt gar keinen Alpenkönig. Lischen. Nicht? Nun gut--bald werd ich Sie wie meine Großmutter verehren. Folgen Sie mir, oder ich laufe allein davon. (Will fort.) Malchen. So bleib nur, mein August wird bald hier sein, die Sonne steht schon hoch, du mußt mir Toilette machen helfen, der Wind hat meine Locken ganz zerrüttet. Du hast doch den kleinen Spiegel mitgenommen, wie ich dir befahl? Lischen. Ei freilich, ach, hätt ich lieber meine Angst vergessen! Malchen. So. (Setzt sich auf den Baumstamm und öffnet ihre Locken. Lischen steht mit dem Spiegel vor ihr.) Halt ihn nur! Weißt du, Lischen, ich muß mich doch ein wenig zusammenputzen, er kömmt aus Italien, und die Frauenzimmer sollen dort sehr schön sein. Lischen. Hahaha, warum nicht gar! Ich kenne in der Welt nur ein schönes Frauenzimmer. Sie werden mich verstehen, Fräulein. Malchen (nimmt es auf sich). Du bist zu galant, Lischen, das verdien ich nicht. Lischen (beiseite). Die glaubt, ich mein sie, wie man nur so eitel sein kann--und ich meine mich. Malchen. So, Lischen, jetzt sind die Locken alle offen--jetzt halt nur gut, der Alpenkönig tut uns nichts. Lischen. Ach ums Himmels willen, nennen Sie doch den abscheulichen Alpenfürsten nicht--(erschrickt) es rauscht ja etwas im Gebüsche, Himmel, ich laß den Spiegel fallen. (Ein Auerhahn fliegt aus dem Gebüsche auf. Sie schreit.) Ach der Alpenkönig! (Läuft mit dem Spiegel fort.) Malchen (nachrufend). Lischen, Lischen, was schreiest du denn, es ist ja nur ein Vogel. Ach du lieber Himmel, sie hat ja den Spiegel mitgenommen, die läuft ganz sicher nach Hause. Lischen, so höre doch! Entsetzlich, meine Locken, wenn jetzt August kömmt und mich so erblickt. Das überleb ich nicht. Ach du lieber Himmel, wie hätt ich mir das vorstellen können, das ist doch das größte Unglück, das einem Menschen begegnen kann. (Besinnt sich.) Aber pfui, Malchen, was ist das für eine Eitelkeit, August wird dich doch nicht deiner Locken wegen lieben? (Ärgerlich.) Aber die Locken tragen dazu bei, wenn die Männer nun einmal so sind, was kann denn ich dafür? Und warum heißen sie denn Locken, wenn sie nicht bestimmt wären, die Männer anzulocken? (Sieht in die Szene.) Ach, dort eilt er schon den Hügel herauf. O welche Freude (hüpft), welche Freude! (Plötzlich stille.) Wenn nur die fatalen Locken nicht wären! Ich will mich hinter den Rosenbusch verstecken, vielleicht bring ich sie doch ein wenig zurechte. (Verbirgt sich hinter das Rosengebüsche.) Fünfter Auftritt August im einfachen Reiseanzug, eine Mappe unter dem Arme. August. Von dem meerumwogten Strande, Aus dem wunderholden Lande, Wo die goldnen Ährenfelder Wechseln mit Orangenwälder, Wo die stolzen Apenninen Über alte Größe sinnen, Wo die Kunst mit Geisteswaffen Das Vollendetste erschaffen, Wo die ungeheuren Reste Der zerfallenen Paläste An die Kraft der Zeit uns mahnen Und wir bebend Hohes ahnen: Aus dem Tempel der Natur Kehr ich heim zur stillen Flur. Denn im biedern Vaterlande Ketten mich die teuern Bande Zarter Liebe, fester Treue, Und der Riesenbilder Reihe, Die wie Träume mich umwehen, Schließt ein frohes Wiedersehen. Seid mir gegrüßt, ihr heimatlichen Berge! O Erinnerung, wie nah trittst du an mich und reichst mir einen schönen Kranz, geflochten aus vergangnen Freuden. Und doch muß ich bei all dem Schönen hier das Schönste noch vermissen, bei all dem Lieben fehlt mein Liebstes mir. Wo bist du, teures Malchen? Warum erwartest du mich nicht? Sollte sie meinen Brief nicht empfangen haben? Ist sie krank? Vielleicht kann sie so früh vom Haus nicht fort. Sie kömmt gewiß. Ich will indes die Gegend zeichnen hier, die sie so liebt, und zum Geschenk ihrs bieten, wenn sie naht. (Er setzt sich auf den Baumstamm und zeichnet.) Wie herrlich dort die Alpe glänzt im Sonnenstrahl, die heitre Luft, und hier--der dunkle Fels, der üppge Rosenstrauch--nur eins gefällt mir nicht, die bleichen Rosen machen sich nicht gut, ich wüßte schönere, die auf ihren Wangen blühn. Wär nur Malchen hier, sie sagte mir gewiß, was ich für Farben wählen soll. Malchen (öffnet mit beiden Händen den Rosenstrauch und blickt liebevoll hervor, so daß sie mit halbem Leibe sichtbar ist und sagt zärtlich). Laß sie blau sein wie Beständigkeit. August (höchst entzückt). Amalie! (Sie stürzen sich in die Arme.) Malchen. August, lieber August! Astragalus (erscheint auf dem Fels im Vordergrunde und ruft). Heisa he! da gehts ja lustig zu im Alpentale. (Er stützt sich auf sein Gewehr und behorcht das folgende Gespräch.) August. Liebes, schönes, gutes Malchen--(plötzlich scherzhaft) böses Malchen, warum hast du mich auch nur einen Augenblick geneckt? Malchen. Sei nicht böse, lieber August! August. Dafür räch ich mich durch diesen Kuß. (Küßt sie.) Malchen. O du rachsüchtiger Mensch! August (sanft). Bist du ungehalten darüber? Malchen (unschuldig). Gott bewahre, räche dich nur. Böse Leute sagen, die Rache sei süß, und auf diese Weise möcht ich es beinahe glauben. August. Gutes Malchen! Wie glücklich fühl ich mich, dich wieder zu sehen, nichts soll uns trennen als der Tod Malchen. Und mein Vater, August, der ist noch weit über den Tod. Wenn der gute Vater nur nicht gar so böse auf mich wäre! August. Sorge nicht, Malchen, wenn er die Fortschritte meiner Kunst erfahren wird, wenn er sich von der Beständigkeit meiner Liebe überzeugt, so kann uns seine Einwilligung nicht entgehen. Ich will noch heute zu ihm. Malchen. Ach, das ist vergebens. Mein Vater spricht niemand außer seiner Familie, nur selten die Dienerschaft. Er ist zum Menschenfeind geworden. August. Unmöglich, und du rühmtest mir sein Herz, seine Rechtlichkeit. Malchen. Er besitzt beides. Doch du weißt, daß mein Vater, als er in der Stadt noch den ausgebreiteten Buchhandel hatte, um große Summen betrogen wurde, die er aus Gutmütigkeit an falsche Freunde verlieh. Undank und Niederträchtigkeit brachten ihn zu dem Entschluß, seinen Buchhandel aufzugeben, die Stadt zu fliehen und sich auf seinem gegenwärtigen Landsitz vor der Zudringlichkeit ähnlicher Menschen zu verbergen. Hier liest er nun unaufhörlich philosophische Bücher, die ihm den Kopf verrücken. Sein Mißtrauen hat keine Grenzen. Er hat die unglückliche Weise, gegen jeden Menschen so aufzufahren, daß er die gleichgültigsten Dinge mit einer Art von Wut verlangt. Niemand, selbst die Mutter, kann um ihn weilen. Alles flieht und fürchtet ihn, und darum hat er jeden im Verdacht der Untreue und gönnt doch keinem eine Verteidigung. Sein Menschenhaß steigt mit jedem Tage, und wir fürchten für sein Leben. Wie gerne würden wir alles dafür tun, ihn von unserer Liebe zu überzeugen; doch, wer lehrt ihn den Fehler seiner unbilligen Heftigkeit einsehen und ablegen, womit er sich alles zum Feinde macht und sich der Mittel beraubt, die Menschen aus einem bessern Gesichtspunkte zu betrachten. Deinen Namen dürfen wir gar nicht aussprechen, er weiß, daß meine Mutter unsre Liebe billiget, und haßt sie darum bis in den Tod. August. O grausames Schicksal, warum vernichtest du all meine glücklichen Träume wieder? Also kann ich dich nie besitzen, Malchen? Malchen. Wenn ich nur ein Mittel wüßte, dich zu erringen! Wär ich frei wie jener Vogel, der sich so fröhlich in der blauen Luft dort wiegt, ich zöge mit dir durch die ganze Welt. Glückliches beneidenswertes Tier! Wer darf dir deine Freiheit rauben? (Astragalus schießt den Vogel aus der Luft. Man sieht ihn aber nicht fallen. Malchen erschrickt.) Ha! Astragalus (immer im rauhen Tone). Des Schützen Blei, weil du die Frage stellst. Malchen (blickt hinauf). O August, sieh! August. Wer bist du, grauer Wundermann? Astragalus. Den Alpenkönig nennt man mich. Malchen. Der Alpenkönig! wehe mir! (Sinkt ohnmächtig in Augusts Arme.) August. Was ist dir, Malchen? Hülfe, Hülfe, steht ihr bei! Astragalus (lachend). Da müssen Steine sich erbarmen selbst. Hab Mitleid, Fels, und öffne schnell dein Herz! (Er stoßt mit dem Kolben des Gewehrs an den Fels. Der Fels öffnet sich, man sieht einen kleinen Wasserfall, der über Rosen sprudelt, an dem zwei Genien lauschen, sie fangen mit goldnen Muscheln Wasser aus der Quelle und besprengen Malchen damit.) Erwache, Törin, die sich Flügel wünscht und so die Erde höhnt! August. Sie schlägt das Auge auf. Wie ist dir, Malchen? Malchen. Ach, wie kann mir sein! Ich habe den Alpenkönig erblickt. Jetzt bin ich gewiß um vierzig Jahre älter geworden. Erkennst du mich noch, August? August. Bist du von Sinnen? Was hast du denn? Malchen. Ach, Falten habe ich, lieber August, viele tausend Falten. Ich muß entsetzlich aussehen. Sieh mich nur nicht an! August. Was fällt dir ein! Du bist so schön, als du es immer warst. Malchen. Schön wär ich? Gewiß? Und hätte keine Falte, keine einzige? August. Gewiß nicht. Malchen. Ach du lieber Himmel, wie danke ich dir! Nein, eine solche Angst hab ich in meinem Leben noch nicht ausgestanden! August. Was war dir denn? Malchen. Nun, Lischen sagte mir, ein Mädchen, das den Alpenkönig sieht, würd um vierzig Jahre älter. Astragalus (tritt vor). So sagte sie? Malchen. Ach! da ist er schon wieder! (Verhüllt das Gesicht.) Astragalus. Seid ohne Furcht und horcht, was Alpenkönig spricht. Schon zweimal sah ich eurer Herzen Brand Wie Morgenrot auf Lilienschnee erglühen Und Tränen, edler Sehnsucht nur verwandt, Leidkündend über eure Wangen ziehen. Und weil mich dies so inniglich erfreut, Daß ihr so seltsam treu noch denket, Hab ich euch meine Fürstengunst geweiht Und eure Lieb mit meinem Schutz beschenket. (Zu Malchen.) Ich weiß um deines Vaters Menschenhaß, Hab ihn belauscht, wenn er den Wald durchrannte Mit Ebersgrimm, auf Bergesgipfel saß Und seinen Fluch nach allen Winden sandte. Doch laßt darum den treuen Mut nicht sinken. Erkennen wird mit seinem Wahnsinn rechten. Die Sterne werden bald zur Brautnacht winken, (zu Malchen) Und Alpenkönig wird den Kranz dir flechten. (Ab.) Sechster Auftritt August. Malchen. Malchen. Hast dus gehört, August, ists ein Traum, wir sollen glücklich werden? August. Wir wollen seinem Worte glauben. Und obwohl ich seine Existenz für ein Märchen hielt, muß ich sie für wahr erkennen, wenn ich nicht ungerecht gegen meine Sinne handeln will. Malchen. Komm, wir wollen meiner Mutter alles erzählen, ich werde schon sehen, daß du mit ihr sprechen kannst. Laß uns vertrauen auf den Alpenkönig. Er scheint nicht bös zu sein, ich hab ihm auch dreist ins Auge geblickt, und es hat mir nichts geschadet, nicht wahr, lieber August? Ich bin um gar nichts älter geworden? August. Nein, liebes Malchen. Seit ich dich wiedersehe, kaum um eine Stunde. Malchen. Um eine Stunde nur? (Ihm sanft ins Auge blickend.) Nun, eine Stunde kann ich schon verschmerzen und es war eine glückliche, denn ich habe sie mit dir verlebt. August. O gutes Malchen, wie beglückst du mich! (Beide Arm in Arm ab.) Siebenter Auftritt Verwandlung Zimmer auf Rappelkopfs Landgut. Sophie. Sabine. Der Kutscher. Die sämtliche Dienerschaft. Chor. Euer Gnaden sind so gütig, Doch wir haltens nimmer aus. Unser Herr ist gar zu wütig, Und das treibt uns aus dem Haus. Niemand kann bei ihm bestehn, Und wir wollen alle gehn. Sopie. Seid nur ruhig, liebe Leute, verseht euren Dienst, nur kurze Zeit noch, es wird sich vielleicht bald alles ändern. Geht an eure Pflicht! Wenn mein Mann herüberkäme, ich bin in Todesangst. Kutscher. Ei, was nutzt denn das, Euer Gnaden, er solls wissen, wir könnens nicht mehr länger aushalten mit ihm, wir tun unser Schuldigkeit, und er kann uns nicht leiden. Sopie. Es wird sich alles ändern, ich habe an meinen Bruder nach Venedig geschrieben, ihm meines Mannes Seelenkrankheit und ihre üblen Folgen vorgestellt, er wird vielleicht noch heute ankommen, um alles zu versuchen, seinen Menschenhaß zu heilen--oder mich von meinem armen Mann zu trennen. Kutscher. Na, das ist die höchste Zeit, Euer Gnaden schauen sich ja gar nimmer gleich. Drei Weiber hat er schon umbrachte er ist ja ein völliger blauer Bart. Achter Auftritt Vorige. Habakuk. Sopie. Diese gemeinen Äußerungen hören zu müssen! Habakuk, ist mein Mann auf seinem Zimmer? Ist Malchen schon zu Hause? Habakuk. Der gnädige Herr ist schon wieder im Gartenzimmer, er hat sich selbst seinen Schreibtisch und seinen Stuhl hinübergetragen und geht mit sieben Ellen langen Schritten auf und ab. Ich versichere Euer Gnaden, ich war zwei Jahr in Paris, aber ein solcher Herr ist mir nicht vorgekommen. Sabine (im schwäbischen Dialekt). Nu da habe wirs, jetzt trau ich mich nicht in den Garte hinaus, er hat den Schlüssel von der Hofgartetür abgezogen.--Ich kann nicht koche-- Sopie. Nun so geh Sie durch das Gartenzimmer. Sabine. Ja wer traut sich denn hinein? Wenn der Herr drinne ist? Da geh ich ja eher zu einem Leopard in die Falle. Er jagt ja alles hinaus. Wenn er in die Kuchel kommt, so wärs notwendig, ich schliefet unter den Herd. Habakuk. Nun ja, und da sind so schon so viel Schwaben unten. Kutscher. Mich kann er gar nicht leiden, ich muß mich immer unters Heu verstecken. Habakuk. Mich haßt er doch nur bis daher (zeigt den halben Leib). Er sagt, ich wär nur ein halbeter Mensch. Sopie. Aber er beschenkt euch ja so oft. Sabine. Ja aber wie? Er tut einem dabei alle Grobheiten an und wirft einem das Geld vor die Füß. Habakuk. Oh, da ist er noch in seinem besten Humor, aber neulich nimmt er sein goldene Uhr, ich glaub, er macht mir ein Präsent, derweil wirft er mir s' an den Kopf. (Hochdeutsch.) Ja, das sind halt Berührungen, in die man nicht gern mit seiner Herrschaft kommt, ich war zwei Jahr in Paris, aber das hab ich nicht erlebt. Zu was brauch ich zwei Uhren, ich hab meine Uhr im Kopf, aber am Kopf brauch ich keine. Sabine. Kurz, in dem Haus ist nichts zu mache, wenn man nicht einmal in den Garten kann-- Habakuk. Wie soll man denn da auf ein grünes Zweig kommen! Alle. Kurzum, wir wollen alle fort. Sopie. Also wollt ihr eure Frau, die euch immer so menschenfreundlich gewogen war, so plötzlich verlassen, da ihr doch seht, daß sowohl ich als meine Tochter eine gleiche Behandlung zu erdulden haben? Ich kann euch nicht fortlassen, weil zwischen heut und morgen mein Bruder ankömmt, der vieles über meinen Mann vermag. So lange müßt ihr die Launen eures Herrn noch ertragen. Alle. Es geht nicht, Euer Gnaden, es ist nicht zum existieren. Sopie. Nun, so nehmt dieses kleine Geschenk (sie gibt jedem einige Silberstücke) und stärkt eure Geduld damit, vielleicht geht es doch. Alle. Ach! Wir küssen die Hand, Euer Gnaden. Kutscher. Wir werden halt sehen, ob wir auskommen können mit ihm. Habakuk. Solang wir mit dem Geld auskommen, kommen wir schon mit ihm auch aus. Sabine. Und wisse Euer Gnade, er wär nicht gar so übel, der gnädge Herr-- Kutscher. Ach gar nicht--wenn er nur anders wär. Habakuk. Freilich, das ist der einzige Umstand. Sopie. Doch jetzt geht beruhigt an eure Geschäfte. Alle. Gleich, gnädige Frau. (Ab.) Kutscher. Euer Gnaden sind halt eine gscheide Frau. Ich sag immer, Euer Gnaden sind einmal ein Kutscher gwesen, weil Euer Gnaden so gut wissen, daß man einen Wagen schmieren muß, wann er fahren soll. (Lacht dumm und geht ab.) Sabine (küßt ihr die Hand). Das ist wahr, Euer Gnaden sind eine Frau, die man in der ganzen Welt suche darf. (Ab.) Habakuk. Ich versichere Euer Gnaden, ich war zwei Jahr in Paris, aber ein Herz, wie Euer Gnaden zu haben belieben, das ist wirklich, wie man auf französisch sagt, nouveau! Neunter Auftritt Lischen. Vorige. Sopie. Nun endlich seid ihr zurück. Wo ist Malchen? Ist August angekommen? Haben sie sich getroffen? Lischen. Von allen dem weiß ich keine Silbe, gnädige Frau, ich weiß gar nichts, als daß der Mädchen verfolgende Alpenkönig eine Jagd gegeben hat, daß mich an dem Ort des Rendezvous eine Angst befallen hat und daß ich über Hals und Kopf zurückgelaufen bin. Sopie. Und Malchen? Lischen. Wollte ihren Liebhaber erwarten und war nicht zu bewegen, mit zurückzugehen. Sopie. Aber wie kann Sie sich unterstehen, meine Tochter allein zu lassen? Sie leichtsinnige Person, der ich mein Kind anvertraut habe! Ich muß nur gleich Leute hinaussenden. Wenn ihr ein Unglück widerführe! O Himmel, was bin ich für ein gequältes Geschöpf! Lischen. Aber gnädge Frau-- Sopie. Geh Sie mir aus den Augen. (Eilig ab.) Zehnter Auftritt Lischen. Habakuk. Lischen (äußerst zornig). Nein, das ist nicht zum Aushalten, das Haus ist ja eine wahre Folterbank. Wie man nur die Dienstleute so herabsetzen kann? Habakuk. Es ist aber auch ein Volk. Ich bin ein Bedienter, aber wenn ich mein eigner Herr wär, ich jaget mich selber fort. Lischen. Mich eine Person zu heißen! Habakuk. Solche Personalitäten! Lischen. Halt Er Sein Maul! Wenn ich nur diesen langweiligen Menschen nicht mehr vor mir sehen dürfte! Habakuk. Ich bin kein Menschenfeind, aber ich habe einen Stubenmädelhaß. Was mir diese Person zuwider ist, bloß weil sies nicht glauben will, daß ich in Paris gewesen bin. (Boshaft.) Gschieht Ihr schon recht, Mamsell Liserl! Lischen. O Er erbärmlicher Wicht! Er verdient gar nicht, daß sich ein Stubenmädchen von meiner Qualität mit Ihm unter einem Dache befindet. Habakuk. Oh, prahlen Sie nicht so mit Ihrer Stubenmädelschaft, Sie haben auch die Stubenmädlerei nicht erfunden. Ich versichere Sie, ich war zwei Jahr in Paris, da gibt es Stubenmädel--wenn man die ins Deutsche übersetzen könnt, das gäbet eine Stubenmädliade, wo sich die ganze hiesige Kammerjungferschaft verstecken müßt. Und Sie schon gar, meine liebe Exkammerjungfer. Lischen. Er zwei Jahre in Paris gewesener Einfaltspinsel, Er kommt mir gerade recht, wenn Er sich noch einmal untersteht, seine unverschämte Zunge zu meinem Nachteil zu bewegen, so werd ich Seinen Backen einen Krieg erklären und Ihm den auffallendsten Beweis liefern, auf was für eine kräftige Art ein deutsches Kammermädchen die Ehre ihres Standes zu rächen weiß. (Gibt ihm eine Ohrfeige und geht schnell ab.) Habakuk (hält sich die Wange). Nein, was man in dem Haus alles erlebt--ich war zwei Jahre in Paris, aber so etwas ist mir nicht vors Gesicht gekommen. (Geht ab, indem er sich den Backen hält.) Elfter Auftritt Verwandlung Kürzeres Zimmer. Rechts die Eingangstür, links führt eine Glastür nach dem Garten. Auf dieser Seite befindet sich ein massiver altmodischer Tisch und ein Stuhl. Rechts an der Wand neben der Tür ein hoher Spiegel. Neben der Gartentür ein Sekretär. Rappelkopf kömmt in heftiger Bewegung zur Glastür herein. Sein ganzes Wesen ist sehr auffahrend. Er sieht die Menschen nur auf Augenblicke oder mit Seitenblicken an und wendet sich schnell, entweder erzürnt oder verächtlich, von ihnen ab. Rappelkopf. Ha! Ja! Lied Ja, das kann nicht mehr so bleiben, 's ist entsetzlich, was sie treiben. Ins Gesicht werd ich belogen, Hinterm Rücken frech betrogen, 's Geld muß ich am End vergraben, Denn sie stehln als wie die Raben. Ich hab keinen Kreuzer Schulden, Bare hunderttausend Gulden, Und doch wirds mir noch zu wenig, Es tät not, ich wurd ein König. Meine Felder sind zerhagelt, Meine Schimmel sind vernagelt, Meine Tochter, wie betrübt, Ist das ganze Jahr verliebt. Alle Tag ist das ein Gwinsel Um den Maler, um den Pinsel, Der kaum hat ein Renommee, Und vom Geld ist kein Idee. Und mein Weib, bei allen Blitzen, Will die Frechheit unterstützen, Sagt, er wär ein Mann zum Küssen, Wie die Weiber das gleich wissen! Und das soll mich nicht verdrüßen? Ja, da möcht man sich erschießen. Und statt daß man mich bedauert, Wird auf meinen Tod gelauert, Und so sind sie alle, alle, Ich zerberste noch vor Galle. Drum hab ich beschlossen und werd es vollstrecken, Ich laß von den Menschen nicht länger mich necken. Ich lasse mich scheiden, ich dringe darauf. Der ganzen Welt künd auf Michäli ich auf. Die Liebe, die Sehnsucht, die Freundschaft, die Treue, Mir falln s' nur nicht alle gschwind ein nach der Reihe, Die lockenden, falschen, gewandten Mamsellen, Die mich fast ein halbes Jahrhundert schon prellen, Die lad ich noch einmal zum Frühstück ins Haus Und peitsch sie, wie Timon, zum Tempel hinaus. Es ist aus! Die Welt ist nichts als eine giftge Belladonna, ich habe sie gekostet und bin toll davon geworden. Ich brauch nichts von den Leuten, und sie kriegen auch nichts von mir, nichts Gutes, nichts Übles, nichts Süßes und nichts Saures. Nicht einmal meinen sauren Wein will ich ihnen mehr verkaufen. Ich habe Aufrichtigkeit angebaut, und es ist Falschheit herausgewachsen. Es ist schändlich, ich bin auf dem Punkte durch meinen eignen Schwager zum Bettler zu werden. Er hat mich überredet, mein Vermögen einem Handlungshause in Venedig anzuvertrauen, das jetzt dem Sturze nah sein muß. Ich erhalte keine Interessen, keinen Brief von meinem heuchlerischen Schwager, den ich verkannt und der vielleicht im Bunde steht mit dem betrügerischen Volk. Und so täuscht mich alles! alles! Darum will ich keinen Kameraden mehr haben als die zanksüchtige Erfahrung. Das ist der vorsichtge, weltghetzte Hase Mit der vom Unglück zerstoßenen Nase, Mit dem millionmal verwundeten Schädel, Das ist mein Mann, den behandle ich edel. Ich hab zu viel ausgestanden in der Welt. Mich hat die Freundschaft getäuscht, die Liebe betrogen und die Ehe gefoltert. Ich kanns beweisen, ich hab vier Attestaten, denn ich hab das vierte Weib. Und was für Weiber! Eine jede hat eine andere Untugend ghabt. Die erste war herrschsüchtig. Die hat wollen eine Königin spielen. Bis ich als Treffkönig aufgetreten bin. Die zweite war eifersüchtig bis zum Wahnsinn. Wie sich nur eine Fliegen auf meinem Gsicht hat blicken lassen, pums, hat sie s' erschlagen. Das waren zwei Ehen--da kann man sagen, Schlag auf Schlag. Die dritte war mondsüchtig. Wenn ich in der Nacht hab etwas auf sie sprechen wollen, ist sie auf dem Dach oben gsessen. Jetzt frag ich einen Menschen, ob das zum Aushalten war? Aber sie haben doch behauptet, sie könnten mit mir nicht leben, und sind aus lauter Bosheit gestorben. Bin aber nicht gscheid geworden, hat mich die Höllenlust angewandelt, eine vierte zu nehmen. Eine vierte, die viermal so falsch ist als die andern drei. Die mein Kind in ihrem Ungehorsam unterstützt. Den Maler protegiert, den Maler, der vor Hunger alle Farben spielt. Nichts als immer wispert mit der Dienstbotenbrut, Komplotte macht gegen ihren Herrn und Meister. (Sieht zur halboffnen Eingangstür hinaus.) Aha! Da schleicht das Stubenmädel herum. Die hat schon wieder eine Betrügerei im Kopf. Die wär nicht so übel, das Stubenmädel, das ist noch die sauberste--aber ich hab einen Haß auf sie, einen unendlichen--ich werd sie aber doch hereinrufen, bloß um sie auf eine feine Art auszuforschen. He! Lischen! (Schreit.) Herein mit ihr! Zwölfter Auftritt Voriger. Lischen tritt furchtsam ein. Lischen. Was befehlen Euer Gnaden? Rappelkopf (immer barsch). Ich hab etwas zu reden mit ihr. Lischen (erschrickt). Mit mir? (Beiseite.) Nun das wird eine schöne Konversation werden. Was er schon für Augen macht! Rappelkopf (beiseite). Ich werd alle möglichen Feinheiten gebrauchen. (Roh.) Da geh Sie her! (Lischen nähert sich verzagt. Rappelkopf betrachtet sie verächtlich vom Kopf bis zu den Füßen.) Infame Person! Lischen. Aber Euer Gnaden-- Rappelkopf. Was Gnaden--nichts Gnaden--schweig Sie still und antwort Sie. Lischen. Das kann ich ja nicht zugleich. Rappelkopf. Sie kann alles. Es gibt keinen Betrug, der Ihr nicht möglich wäre. Sie ist eine Mosaik aus allen Falschheiten zusammengesetzt. (Beiseite.) Ich muß mich zurückhalten, damit ich nur nicht unhöflich mit ihr bin. Lischen (empört). Aber wer wird sich denn solche Impertinenzen sagen lassen? Rappelkopf (heftig). Sie, Sie wird 's sich sagen lassen. Und wird keinen Laut von sich geben. Was hat Sie für eine Betrügerei vorgehabt? Sie will mich bestehlen? Lischen. Nein! Rappelkopf. Was denn? Lischen. Ich will mich empfehlen. (Will fort.) Rappelkopf (nimmt ein ungeladenes Jagdgewehr). Nicht von der Stelle, oder ich schieß Sie nieder! Lischen (schreit). Hülfe, Hülfe! Rappelkopf. Nicht mucksen! Antwort! Warum hat Sie so verdächtig herumgesehen? Was ist im Werk? Lischen. Himmel, wenn es losgeht! Rappelkopf. Nutzt nichts! losgehn muß etwas, entweder Ihr Maul oder die Flinten. Lischen. Ach, was soll ich denn mein Leben riskieren! (Kniet nieder.) Lieber gnädiger Herr, ich will alles bekennen. Rappelkopf. Endlich kommts an den Tag. Himmel, tu dich auf! Lischen. Ich habe gelauscht, ob das Fräulein nicht aus dem Alpental zurückkömmt, die gnädge Frau hat mich ausgezankt, weil ich nicht bei ihr geblieben bin, da sie ihren Liebhaber erwartet, der heute ankommt. Die gnädige Frau ist mit ihr einverstanden, doch weil sie mich so mißhandelt hat, so verrate ich sie. Rappelkopf. Entsetzlicher Betrug! O falsche Niobe! Und Sie niedrigdenkende Person, Sie wagt es, Ihre Frau zu verraten--der Sie so viel Dank schuldig ist? O Menschen, Menschen! Ausgeartetes Geschlecht! Aus meinen Augen geh Sie mir, Sie undankbare Kreatur, ich will nie mehr etwas von Ihr wissen. Lischen. Aber was hätt ich denn tun sollen? Rappelkopf. Schweigen hätt Sie sollen. Lischen. Aber Euer Gnaden hätten mich ja erschossen. Rappelkopf. Ist nicht wahr, es ist nicht geladen. Betrug für Betrug. Lischen. So, also hätt ich diese Angst umsonst ausgestanden? Das ist abscheulich. Rappelkopf. Nein, nicht umsonst. Du Krokodil von einem Stubenmädel--du sollst eine Menge dafür haben: meine Verachtung, meinen Haß, meinen Schimpf, meine Verfolgung und deinen Lohn. (Wirft ihr einen Beutel vor die Füße.) Nimms und geh aus meinem Haus. Mach dich zahlhaft, oder ich zahl dich auf eine andre Art aus. So nimms, warum nimmst du es denn nicht? Lischen. Oh, ich werds schon nehmen. (Denkt nach.) Gnädger Herr! Rappelkopf. Was denkst denn nach, du Viper? Nimms und ruf mir deine Frau. Lischen (schnell auf die Gartentür deutend). Dort ist sie ja! Rappelkopf (schießt schnell gegen die Gartentür). Wo ist sie? Wo? Her mit ihr. Lischen (hebt schnell den Beutel auf). Das ist ein alter Narr! (Läuft schnell ab.) Rappelkopf (sieht ihr nach). Hat ihn schon! O ihr Welten, stürzt zusammen, dieses weibliche Insekt wagt es, mich zum besten zu halten! O Rappelkopf! Wie falsch diese Menschen mit mir sind, und ich bin so gut mit ihnen! Ha! Dort kommt mein Weib, entsetzlicher Anblick--meine Haar sträuben sich empor, ich muß aussehen wie ein Stachelschwein. Dreizehnter Auftritt Voriger. Sophie. Sopie (gelassen). Was willst du denn, lieber Mann? Rappelkopf. Dich will ich, aus der gesamten Menschheit dich! und von dir mein Fleisch und Blut, mein Kind! Wo ist sie? Sopie (verlegen). Sie ist nicht zu Hause-- Rappelkopf (sehr heftig). Nun also, wo ist sie--? Wo?-- Sopie. So sei nur nicht so heftig. Rappelkopf. Jetzt bin ich heftig, und ich bin ganz erstaunt über meine Gelassenheit. Im Wald ist sie draußen. Also auch mein Kind ist verloren für mich? Sopie. Nu, nu, in dem Wald ist ja kein Bär. Rappelkopf. Aber ein junger Herr--Also die Gschicht ist noch nicht aus, mit diesem Maler? Sopie. Und darf nicht aus sein, denn das Glück und die Ruhe deiner Tochter stehen auf dem Spiele. Sie wird ihn ewig lieben. Rappelkopf. Und ich werd ihn ewig hassen. Sopie. Was hast du als Mensch an ihm auszusetzen? Rappelkopf. Nichts, als daß er einer ist. Sopie. Was hast du gegen seine Kunst einzuwenden? Rappelkopf. Alles! Ich hasse die Malerei, sie ist eine Verleumderin der Natur, weil sie s' verkleinert. Die Natur ist unerreichbar. Sie ist ein ewig blühender Jüngling, doch Gemälde sind geschminkte Leichen. Sopie. Ich kann deine Ansichten nicht billigen und darf es nicht. Meine Pflicht verbietet es. Rappelkopf. Weil du dir die Pflicht aufgelegt hast, mich zu hassen, zu betrügen, zu belügen et cetera. (Wendet sich von ihr ab.) Sopie. So laß dir doch nur sagen-- Rappelkopf. Ist nicht wahr. Sopie. Ich habe ja nichts gesagt noch-- Rappelkopf. Du darfst nur das Maul aufmachen, so ist es schon erlogen. Sopie. So blick mich doch nur an-- Rappelkopf. Nein, ich hab meinen Augen jedes Rendezvous mit den deinigen untersagt. Lieber Kronäugeln als Liebäugeln. Aus meinem Zimmer! (Setzt sich und dreht ihr den Rücken zu.) Sopie (empört). Du wendest mir den Rücken zu? Rappelkopf. In jeder Hinsicht. Weil du alles hinter meinem Rücken tust, so red auch mit mir hinter meinem Rücken. Ich bin kein Janushaupt, ich hab nur ein Antlitz, und da ist nicht viel daran, aber wenn ich hundert hätt, so würd ich sie alle von euch abwenden. Darum befrei mich von deiner Gegenwart! Hinaus, Ungeheuer! Sopie. Mann, ich warne dich zum letzten Male. Diese Behandlung hab ich weder verdient, noch darf ich sie länger erdulden, wenn ich nicht die Achtung vor mir selbst verlieren soll. Niemand ist deines Hasses würdiger als dein Betragen. Es ist ein Feind, der sich in seinem eignen Haus bekriegt. Und es ist wirklich hohe Zeit, daß ich mich entferne, damit ich mich nicht durch den Wunsch versündige, der Himmel möchte dich von einer Welt befreien, die deinem liebeleeren Herzen zur Last geworden ist und in der du keine Freude mehr kennst als die Qual deiner Angehörigen. (Geht erzürnt ab.) Rappelkopf (allein). Das ist eine schreckliche Person. Alles ist gegen mich, und ich tu niemand etwas. Wenn ich auch manchmal in die Hitz komm, es ist eine seltene Sach, wenn ich ausgeredt hab, ich weiß kein Wort mehr, was ich gsagt hab. Aber die Menschen sind boshaft, sie könnten mich vergiften. Und dieses Weib, gegen die ich eine so auspeitschenswerte Liebe ghabt hab, ist imstande, mich so zu hintergehen. Und doch fordert sie Vertrauen. Woher nehmen? Wenn ich nur einen wüßt, der mir eines leihte! Ich wollte ihm dafür den ganzen Reichtum meiner Erfahrung einsetzen. (Stellt sich an die Gartentür.) Dieser Garten ist noch meine einzige Freud. Die Natur ist doch etwas Herrliches. Es ist alles so gut eingerichtet. Aber wie diese Raupen dort wieder den Baum abfressen. Dieses kriechende Schmarotzergesindel. (Sich höhnisch freuend.) Freßts nur zu. Nur zu. Bis nichts mehr da ist, nachher wieder weiter um ein Haus. O bravissimo! (Bleibt in den Anblick versunken mit verschlungenen Armen stehen.) Vierzehnter Auftritt Voriger. Habakuk tritt zur Eingangtür herein, ein Kuchelmesser in der Hand. Habakuk. Jetzt wollen wirs probieren. (Sieht Rappelkopf, erschrickt.) Sapperment, da steht er just vor der Gartentür! Wie komm ich denn jetzt hinaus? Ich trau mich nicht vorbei. Er fahret auf mich los als wie ein Kettenhund. Ach, was kann denn mir geschehen! Ich war zwei Jahr in Paris. Euer Gnaden erlauben, daß ich (Rappelkopf kehrt sich schnell um und erschrickt. Habakuk erschrickt ebenfalls.) Rappelkopf. Was ists--? Was will Er? Habakuk (für sich). Bellt mich schon an. (Versteckt das Messer unwillkürlich.) Rappelkopf (packt ihn an der Brust). Was willst du da herin, warum erschrickst? Habakuk (für sich). Hat mich schon. (Laut.) Euer Gnaden verzeihen, ich hab-- Rappelkopf. Was hast? Ein schlechtes Gewissen hast. Was versteckst denn da? Ans Licht damit! Habakuk (zeigt es vor). Ich versteck gar nichts, Euer Gnaden. Es ist ein Kuchelmesser-- Rappelkopf (prallt entsetzt zurück). Himmel und Hölle! Der Kerl hat mich umbringen wollen. Habakuk. Warum nicht gar-- Rappelkopf. Den Augenblick gesteh! (Packt ihn und entreißt ihm das Messer.) Ist dieses Messer für mich geschliffen? Habakuk. Ah, das wär ja rasend, wenn Euer Gnaden so was glauben könnten-- Ich hab ja Euer Gnaden nur fragen wollen-- Rappelkopf. Ob du mich umbringen darfst? Habakuk. Warum nicht gar, da würd man ja Euer Gnaden lang fragen-- Rappelkopf. O du schändlicher Verräter! Habakuk. So lassen sich Euer Gnaden nur berichten-- Rappelkopf. Keine Entschuldigung, hinaus mit dir! Habakuk (beiseite). Er laßt einem nicht zu Wort kommen. (Laut.) Euer Gnaden müssen mich hören. (Will auf ihn zu.) Rappelkopf (hält einen Stuhl vor). Untersteh dich und komm mir auf den Leib. Ich glaub, er hat noch ein paar Messer bei sich. Der Kerl ist ein völliger Messerschmied. Habakuk. So untersuchen mich Euer Gnaden ins Teufels Namen-- Rappelkopf (packt ihn wieder). Das will ich auch. Gesteh, Bandit von Treviso, wer hat dich gedungen? Habakuk. Ich versteh Euer Gnaden gar nicht. Rappelkopf. Ich will wissen, wer diese Schreckenstat veranlaßt hat. Habakuk. Mein Himmel, die gnädige Frau hat gschafft-- Rappelkopf. Genug, ich brauch nicht mehr zu wissen. Entsetzlich! (Habakuk will reden. Rappelkopf schreit.) Nichts mehr! Mein Weib will mich ermorden lassen! (Sinkt in einen Stuhl und verhüllt sein Gesicht.) Habakuk (für sich). Ah, das ist schrecklich! ich hätt sollen einen Zichori ausstechen (ringt die Hände), und er glaubt, ich will ihn umbringen. Ah, das ist schrecklich, das ist schrecklich! Rappelkopf. Ja, es ist schrecklich--es ist entsetzlich, es ist das Unmenschlichste, was die Weltgeschichte aufzuweisen hat. (Nimmt den Stuhl.) Hinaus, du Mörder! du Abällino! du Ungeheuer in der Livree! Habakuk. Aber Euer Gnaden-- Rappelkopf. Hinaus mit dir-- Habakuk. Nein, ich war-- Rappelkopf (wütend). Hinaus, sag ich, oder--(jagt ihn hinaus.) Habakuk (schon vor der Tür, schreit). Ich war zwei Jahr in Paris, aber das hab ich noch nicht erlebt. (Ab.) Rappelkopf (allein). Es ist vorbei, ich bin unter meinem eignen Dache nicht mehr sicher. Drum hinaus, nur hinaus Aus dem mörderischen Haus! Doch vorher will ich mich rächen, Alle Möbel hier zerbrechen. Gleich zuerst nehm ich beim Schößel Diesen vierzigjährgen Sessel, Auf dem meine Weiber saßen, Die mein Lebensglück mir fraßen. Ha! Dich tret ich ganz zuschanden. (Zertritt den Stuhl.) So--der hat es überstanden. Auch den Tisch, an dem ich Briefe, Voll Gemüt und treuer Tiefe, Einst an falsche Freunde schrieb, Spalte ich auf einen Hieb. (Schlägt in den Tisch.) Und der weltverführnde Spiegel, Der Verderbtheit blankes Siegel, Dieser Abgott aller Schönen, Dem die eitlen Narren frönen, Wo sie stehen, wo sie gaffen Und sich putzen wie die Affen, Gsichter schneiden, Buckerl machen, Weißer Zähne willen lachen: O du truggeschliffner Räuber! Du Verführer eitler Weiber! O du niedrige Lappalie! Wart, dir liefr ich jetzt Bataille. (Erblickt sich in dem Spiegel.) Pfui! das häßliche Gesicht, Ich ertrag es länger nicht. (Zerschlägt den Spiegel mit geballter Faust.) So! da liegt er jetzt, der Held, Und sein Harnisch ist zerschellt. (Besieht die Hand.) Ha! der glänzende Betrüger Hat verwundet seinen Sieger, Doch ich mach mir nichts daraus, Flöß ein Eimer Blut heraus. (Öffnet den Schreibtisch und nimmt Briefe aus demselben.) Auch die Briefe voll von Lieb, Die im Wahnsinn ich einst schrieb, Die zerreiß ich alle hier. 's ist nur schad um das Papier. (Zerreißt sie und streut sie auf den Boden. Nimmt Geldrollen und Geldbeutel aus einer Schatulle.) Nur das tiefgehaßte Geld, Die Mätresse dieser Welt, Das bewahr ich mir allein, Das muß mit, das steck ich ein. (Steckt es schnell in die Taschen.) Nun? Ihr Esel, ihr vier Wände, Die ich hasse ohne Ende, Warum schaut ihr mich so an? Bin ich nicht ein ganzer Mann? Euch kann ich zwar nicht zerschlagen, Doch ich will euch etwas sagen: Ich geh jetzt in Wald hinaus Und komm nimmermehr nach Haus. (Läuft wütend ab.) Fünfzehnter Auftritt Verwandlung Das Innere einer Köhlerhütte. Rußige Wände. Salchen am Spinnrocken. Hänschen, Christopherl, Andresel sitzen am Tisch. Marthe an einer Wiege, in der ihr Kind liegt. Unterm Tisch ein großer schwarzer Hund. Auf dem Tisch eine Katze, mit welcher die Knaben spielen. Im Hintergrunde zwei schlechte Betten. In einem liegt die kranke Großmutter, in dem andern der betrunkene Christian. Quintett Salchen (fröhlich). Wenn ich an mein Franzel denk, Wird mir halt so gut. 's Herzel, das ich ihm nur schenk, Kriegt gleich frohen Mut. Die drei Kinder. He, Mutter, gib was z' essen her, Der Magen tut uns weh! Salchen. Das Hungern fällt mir gar nicht schwer, Wenn ich mein Bürschel seh. Wenn ich an mein Franzel denk, Wird mir halt so gut. 's Herzel, das ich ihm nur schenk, Kriegt gleich frohen Mut. Die drei Kinder. Mutter, gib uns Brot! Christian (mit lallender Stimme). Ihr Bagage, seids nicht still? Tausendschwerenot! Marthe (ruft). Still! Das Kind. Qua qua! Die Katze. Miau! Der Hund. Hau hau! (Die erste Melodie fällt ein.) Salchen. Mein Franzel ist ein wiffer Bua, Singt den ganzen Tag: Daß er mich alleinig nur Und kein andre mag. Die drei Kinder. Wenn wir nicht was z' essen kriegn, So gehn wir ja zugrund! Salchen. So weckts das Kind nicht in der Wiegn, Und spielts euch mit den Hund! Mein Franzel ist ein wiffer Bua, Singt den ganzen Tag: Daß er mich alleinig nur Und kein andre mag. Die drei Kinder. Sapperment, ein Brot! Christian. Wanns nicht euern Schnabel halts, Schlag ich euch noch tot! Marthe. Still! Das Kind. Qua qua! Die Katze. Miau! Der Hund. Hau hau! Marthe. Still seids, ihr ausgelassenen Buben! Hänschen (weinerlich). Mutter, a Brot! Salchen. Ist keins da, Holzbirn eßts! Marthe. Und machts keinen solchen Lärm. Euern Vater ist nicht gut. Andresel. Was fehlt ihm denn? Marthe. Den Schwindel hat er. (Für sich.) Man darfs den Kindern nicht einmal sagen. Christoph. Jetzt hat der Vater so viel Kohlen verkauft-- Andresel. Und hat kein Geld z' Haus bracht, nichts als ein Schwindel. Salchen. Was geht das euch an? Andresel. Weil wir hungrig sein. Ich weiß schon, warum wir so wenig z' essen kriegen, weil der Vater so viel trinkt. Salchen. Jetzt schaut d' Mutter einmal die Spitzbuben an. Sie haben gar kein Respekt vor ihren Vatern. Christian. Ich massakrier die Buben alle drei. (Er will auf und taumelt.) Marthe. Liegen bleib! (Sie drängt ihn ins Bette.) Andresel. Er kriegt schon wieder den Schwindel. Alle drei Buben (lachen). Haha! Der Vater kann nicht grad stehn! Marthe. Ob ihr aufhört! Nein, wie hat mich der Himmel gstraft! Das Kind (schreit). Qua qua! Marthe (zu Salchen). Aufs Kind schau! (Salchen wiegt.) Eine Butten voll Kinder und so einen liederlichen Mann. Kein Pfennig Geld im Haus. (Die Großmutter niest im Bett.) Hört d' Mutter zum niesen auf. Man hört sein eignes Wort nicht. Die drei Buben. Ah, das ist a Spaß. Andresel. D' Mutter ist zornig. Haha! Marthe. Nein, die Gall bringt mich um. Du verdammter Bub du, wart, ich will dir deine Mutter ausspotten lernen! (Nimmt ihn beim Kopf und schlägt ihn.) Andresel (schreit). Au weh! (Weint.) Salchen (springt herzu und hält sie ab). So hört d' Mutter auf!-- (Die zwei andern Buben verkriechen sich hinter den Tisch und hinters Bett.) Alles zugleich: Das Kind (in der Wiege). Qua qua! Die Großmutter (streckt im Bett die Arme heraus und niest). Hehe! Der Hund (bellt). Hau hau! (Die Katze springt davon.) Sechszehnter Auftritt Vorige. Rappelkopf öffnet die Tür und bleibt stehen. Rappelkopf. Holla, da gehts zu, nur hinauf auf die Köpf! Das ist ein Gesindel. (Geht in die Mitte des Zimmers und klatscht in die Hände. Schadenfroh.) Bravo! Bravissimo! Salchen. Jetzt schauts den an. Was will denn der da? Marthe. Nu was will Er? Was schaut Er? Rappelkopf. Sie will ich nicht. Sie Altertum! Was kost die Hütten da? Was muß ich zahlen, wenn ich euch alle hinauswerfen darf? Salchen. Ah, der hat einen kuriosen Gusto. Marthe. Er impertinenter Mensch, was untersteht Er sich denn, da hereinzukommen-- Salchen. Und uns Grobheiten anzutun. Christian (halb schlaftrunken). Werfts ihn aussi! Marthe (verdrüßlich). Halt's Maul! (Zu Rappelkopf) Was hat denn Er zu befehlen, ich kann meine Kinder schlagen, wie ich will. Andresel. Nun ja, was geht denn den Herrn mein Buckel an? Die Schläg sein unser Mittagmahl. Der Bub unterm Bett. Sultel! Huß huß! Der Hund. Hau hau! Marthe und Salchen. Hinaus mit Ihm! Rappelkopf. Still! kein Wort reden! (Zieht zwei Geldbeutel hervor und klingelt damit.) Geld ist da! Dukaten sind da! Die gehören alle euch. Verstanden? Also freundlich sein. Die Zähn herblöcken. Euer Gnaden sagen. Gschwind! Bagage! Gschwind! Marthe. Euer Gnaden, wir bitten um Verzeihung. Gehts, Kinder, küßt den gnädigen Herrn die Hand. Kriegts was zu schenken. (Die Kinder kriechen hervor.) Andresel (lacht dumm). Dukaten hat er? Gehts, Buben, küssen wir ihm die Hand. (Sie küssen ihm die Hände.) Rappelkopf. Ist schon da die Brut. Alle drei Buben. Euer Gnaden, bitt gar schön um ein Dukaten. Christian. Bringts mir auch welche her! Salchen. Schamts euch nicht? er foppt euch nur. Rappelkopf. Was will die Frau, da, für die Keischen? Ich kauf s'. Wenn s' noch so teuer ist. Marthe. Ah, Euer Gnaden machen nur einen Spaß. Was wollten S' denn mit der miserablichen Hütten da? Rappelkopf. Das geht Sie nichts an. Hat Sie genug an zweihundert Dukaten? Marthe. O mein, Euer Gnaden! So viel Geld kanns ja gar nicht geben auf der Welt, da wären wir ja versorgt auf unser Lebtag. Salchen. Aber die Mutter wird doch nicht die Hütten verkaufen? Was wird denn mein Franzel sagen, wenn ers hört? Andresel. Mutter, gebts ihm s', es ist nicht mehr wert. Marthe (freudig). O du lieber Himmel, das ist a Glück! Wenn nur mit mein Mann was zu reden wär! Andresel. Vater! steht der Vater auf! Oder wir verkaufen 's Haus, und den Vatern auch dazu. Marthe. Du Mann! (Für sich.) Nein, die Schand vorn Leuten! Er kann sich gar nicht rühren. (Während dieser Rede liebkost der Hund Rappelkopf, welcher ihn mit dem Fuß von sich stößt. Der Hund bellt auf ihn. Marthe laut.) Die Hütten kannst verkaufen, stell dir vor, zweihundert Dukaten kriegen wir dafür. Christian (schlaftrunken). Ist zu wenig--viel zu wenig. Salchen. Wenn er s' nur nicht hergebet! Marthe. Der Mann weiß gar nicht, was er redt. Sie können s' habn, Euer Gnaden, es ist schon alles in der Ordnung. Rappelkopf. Da kauf ich alles, wies da liegt und steht. Marthe. Oh, da drauß ist auch ein Kuchel, da hängt a Menge Kuchelgschirr. Andresel. Und Mäus gibts, die sind gar nicht zu bezahlen. Rappelkopf. Also da ist's Geld. (Wirft ihnen Geld hin.) Und jetzt augenblicklich hinaus. Alle miteinander. In zwei Minuten will ich keins mehr sehen. Salchen. Sieht die Mutter, jetzt kommts halt doch auf Hinauswerfen heraus. (Während dieser Reden haben die Kinder alles nach und nach zurückgeräumt, so daß die Bühne im Vordergrunde frei von Möbeln ist, bis auf einen Stuhl, auf den sich Rappelkopf setzt. Franzel tritt ein.) Franzel. Guten Abend, der Franzel ist da! Rappelkopf. Da kommt noch so ein Halbmensch. Salchen. O lieber Franzel, schau nur den Fremden an, dem hat die Mutter die Hütten verkauft, er wirft uns alle 'naus. Er hat s' schon zahlt. Franzel. Aber Mutter, was fallt Euch denn ein? Gebts ihm doch 's Geld zurück, dem abscheulichen Menschen. Marthe. Warum nit gar--das gib ich nimmer her, keinen solchen Narren finden wir nicht mehr. Seids still, von dem Geld könnts euch heiraten. Salchen. Aber wo bleiben wir denn? Es ist ja schon bald Nacht. Marthe. Ums Geld lassen s' uns überall hinein. He! Kinder, Vater, Mutter, auf, auf! wir müssen alle fort. Andresel. Das wird ein Auszug werden! Ich freu mich schon. Marthe. Aufsteh, Mann! (Sie zerrt ihn auf und führt ihn vor.) Rappelkopf. Ist er krank? Marthe. Nu, ich glaubs. Rappelkopf. Schon lang? Marthe. Halt ja, das ist gar ein altes Übel, das ist noch vom vorigen Jahr. Rappelkopf. Das ist nicht wahr! es ist vom Heurigen. Hinaus mit ihm! Christian. Ich geh nicht fort, bis ich das Geld nicht hab. Ich bin ein Mann, ich hab etwas im Kopf, so will ich im Sack auch was haben. Marthe. Ich hab schon 's Geld, (zieht ihm den Rock an und setzt ihm den Hut auf) so geh nur zu! Jetzt Kinder, packts zusammen. (Hansel nimmt den Hund an einen Strick.) Der Christoph führt die Großmutter. (Sie heben die Alte aus dem Bett und geben ihr die Krücke in die Hand. Auf Hänschen.) Du führst den Hund, und ich mein Mann. Rappelkopf. Und das Kind? Was gschieht mit den? Andresel. Das nimm ich unterm Arm. Rappelkopf. Das ist ein Hottentottenvolk. Seid ihr in Ordnung jetzt? Andresel. Ja. Eingspannt ists. Rappelkopf. So fahrt hinaus. Salchen. So müssen wir denn wirklich fort, aus unsern lieben Haus-- Christoph (weint). Wo wir alle geboren und verzogen sein. Salchen. Meiner Seel, der Herr kanns nicht verantworten, was der Herr mit seinen Geld für ein Unheil anstift. Sextett Salchen. So leb denn wohl, du stilles Haus, Wir ziehn betrübt aus dir hinaus. Alle (bis auf Rappelkopf). So leb denn wohl, du stilles Haus, Wir ziehn betrübt aus dir hinaus. Salchen. Und fänden wir das höchste Glück, Wir dächten doch an dich zurück. Alle. Und fänden wir das höchste Glück, Wir dächten doch an dich zurück. (Alle Paar und Paar ab. Sie sehen sich im Abgehen betrübt um, auch der Hund.) Der Hund (mit gedämpftem Ton gegen Rappelkopf im Abführen). Hau hau! Hau hau! (Geht hinten nach, von Hänschen an einem Strick geführt.) Siebzehnter Auftritt Rappelkopf allein. Lied mit Chor Rappelkopf (springt vom Stuhle auf). Jetzt bin ich allein, und ich will es auch bleiben, Will mich mit der Einsamkeit zärtlichst beweiben, Will gar keine Freunde als Berge und Felsen, Verjag das Schmarotzergesindel wie Gelsen, Will nie dem Geschwätze der Weiber mehr lauschen, Da hör ich viel lieber des Wasserfalls Rauschen. Zu Pagen erwähl ich die vier Elemente, Die regen geschäftig die riesigen Hände. Den Westwind ernenn ich zu meinem Friseur, Der kräuselt die Locken und weht um mich her, Und wenn ich ein hohes Toupet vielleicht schaff, Frisiert mich der Sturmwind gleich à la Giraff. So leb ich zufrieden im finsteren Haus Und lache die Torheit der Menschen hier aus. (Tritt in die Mitte des Theaters zurück und starrt vor sich hin. Nah an der Hütte ertönt sanft der Chor nach der vorigen Melodie.) Chor. So leb denn wohl, du stilles Haus, Wir ziehn betrübt aus dir hinaus. Der Hund. Hau hau! Rappelkopf (tritt vor). Ich will nichts mehr hörn von den boshaften Leuten, Verachte die Dummen und fliehe die Gscheidten. Und ob sie sich raufen, und ob sie sich schlagen, Und ob sie Prozesse führn und sich verklagen, Und ob sie sich schmeicheln, und ob sie sich küssen, Und ob sie der Schnupfen plagt, wie oft sie niesen, Und ob sie gut schlafen, und was sie gegessen, Und ob sie vernünftig sind oder besessen, Und ob wohl in Indien der Hafer ist teuer, Und obs in Pest regnt und in Ofen ist Feuer, Und ob eine Hochzeit wird oder ein Leich: Ha! das ist mir einerlei, das gilt mir gleich. Ich lebe zufrieden im finsteren Haus Und lache die Torheit der Menschen hier aus. (Wirft sich in den Stuhl. Weiter entfernt von der Hütte:) Chor. So leb denn wohl, du stilles Haus, Wir ziehn betrübt aus dir hinaus. Der Hund. Hau hau! (Es wird finster.) Rappelkopf (springt auf und schleudert den Stuhl zurück, auf dem er saß). Und wollte die Welt sich auch gänzlich verkehren, Und brächte der Galgen die Leute zu Ehren, Und läge die Tugend verpestet am Boden, Und tanzten nur Langaus die Kranken und Toten, Und brauchten die uralten Weiber noch Ammen, Und stünde der Nordpol in glühenden Flammen, Und schenkte der Wucher der Welt Millionen, Und würden so wohlfeil wie Erbsen die Kronen, Und föcht man mit Degen, die ganz ohne Klingen, Und flögen die Adler und fehlten die Schwingen, Und gäbs eine Liebe, gereinigt von Qualen, Und schien' eine Sonne, beraubt ihrer Strahlen: Ich bliebe doch lieber im finsteren Haus Und lachte die Torheit der Menschen hier aus. (Er eilt zurück und öffnet die Fensterbalken. Der Wald erglüht im Abendrot, welches auch Rappelkopf bestrahlt. Er blickt düster hinaus und von ferne erschallt der) Chor. So leb denn wohl, du stilles Haus, Wir ziehn betrübt aus dir hinaus. Der Hund. Hau hau! Achzehnter Auftritt (Langsam verwandelt sich die Bühne in ein kurzes Zimmer in Rappelkopfs Hause. In der Mitte ein großer Spiegel. Tag.) Sophie, von Malchen und August geführt, setzt sich weinend in einen Stuhl. Malchen. Trösten Sie sich, teure Mutter, der Vater wird schon wieder zurückkehren, wenn er ausgetobt hat. Wie oft verließ er nicht das Haus und lief den Bergen zu. Sopie. Ach Kinder, es ist eine böse Ahnung in meinem Busen, die mir jede Hoffnung raubt, daß wir ihn gesund und wohlbehalten wiedersehen. August. Wenn Sie mir nur erlauben wollten, ihm nachzueilen, ich wollte alle Mittel anwenden, ihn zu besänftgen. Sopie. O lieber August, Ihr Anblick würde ihn nur noch mehr erbittern. Eben weil er Sie hier weiß, ist sein Unmut zur Raserei geworden. Malchen. Da kommt Lischen mit Habakuk, vielleicht hat man schon Nachricht gebracht. (Lischen, eilig Habakuk hereinziehend.) Lischen. Da komm Er herein, Er abscheulicher Mensch, und erzähl Er der gnädgen Frau den ganzen Vorfall! Stellen sich Euer Gnaden vor, mit dem Habakuk hat er den letzten Auftritt gehabt. Wegen dem Habakuk ist er fort. Habakuk. So red Sie nur nicht so einfältig! Was kann denn ich dafür? August. Der Mensch ist ja blaß wie eine Leiche. Sopie. Warum hat Er denn das nicht gleich gemeldet, wo war Er bis jetzt? Lischen. Auf den Kornboden hat er sich versteckt, aus lauter Angst vor den gnädgen Herrn. Er hat ihn ja ermorden wollen. Alle. Wen? Lischen. Der Habakuk den gnädigen Herrn. Alle. Nicht möglich! Lischen. Nicht möglich? Er hat es ja selbst gestanden. Sehen Euer Gnaden nur diese Mörderphysiognomie, er bringt noch das ganze Haus um. Habakuk. Ah, das ist ja eine schändliche Person. Euer Gnaden, ich bitt, daß ich mich an ihr eine halbe Stund vergreifen darf. Das kann ich ja nicht leiden. Lischen. Untersteh Er sich und komm Er her, Er Missetäter! Malchen. Du wirst dir doch keinen Scherz erlauben, Lischen? Sopie. Sprech Er, Habakuk! Warum zittert Er denn so? Habakuk. Aus lauter Zorn, ich benimm mich gegen alle présence d'esprit, ich war zwei Jahr in Paris, und mir schnappen die Füß zusammen. August (gibt ihm einen Stuhl). Hier setz Er sich nieder und erklär Er sich über die Sache. Habakuk. Ich kann mich nicht anders erklären, als daß ich, wie Euer Gnaden geschafft haben, einen Zichori hab ausstechen wollen, und wie der gnädige Herr ein Messer bei mir erblickt, so hat er behauptet, ich hätt ihn gschwind unter der Hand umbringen wollen. Laßt mich nicht zu Wort kommen, schüttelt mich wie einen Zwetschkenbaum und fragt mich, wer mich gedünget hat. Ich wollt antworten: Die gnädige Frau braucht einen Zichori. Wer aber diesen Zichori gar nicht aus mir herauslaßt, das war er. Denn kaum hab ich das Wort: »Die gnädige Frau« gesagt, so ist er schon mit beiden Füßen bis auf den Blavon hinauf gsprungen. Hat immer geschrien, meine Frau will mich ermurden lassen, hat mich einen Habällino hin, den andern her geheißen, und hat mich mir nichts dir nichts bei der Tür hinausgeprügelt. Von wo ich mich aus lauter Desperation auf den Kornboden versteckt hab. Bis mich dieses intrigante Frauengeziefer heruntergestöbert hat und jetzt die ganze Gschicht auf eine so verkehrte Weise erzählt. Lischen. Er hat einmal behauptet-- Habakuk. Daß Sie eine niedrigdenkende Seele ist, die einen Mann von meinen Meriten ins Unglück hineinstürzen will. Sopie. Genug jetzt, mit diesen Albernheiten. Also das ist die Ursache, die meinen Mann in solche Wut geraten ließ? Des Mordes hält er mich verdächtig? So ungereimt diese Zumutung auch ist, so gibt sie doch einen Beweis, wie gemein er von meinem Charakter denkt. Malchen. Beruhigen Sie sich, liebe Mutter! August. Wer sollte glauben, daß ein gesunder Verstand so phantastisch ausarten könne? Lischen. Der gnädge Herr hatte immer etwas Düstres an sich, selbst wie er noch Buchhändler war, seine Bücher waren immer gut aufgelegt, er aber nie. Habakuk. Er ist ein Hypokontrolist. Er hat zu reizende Nerven. Lischen (lacht). Es ist schrecklich--dieser Mensch war zwei Jahr in Paris und ist so einfältig wie eine Auster. Habakuk. Diese Person fällt noch von meiner Hand. Sopie (zu Lischen). Und du hast ihn aus dem Hause laufen sehen? Lischen. Dem Walde zu. Nachdem er vorher die große Schlacht gegen alle Möbel gewonnen hatte. Sopie (weint). Ach du lieber Gott, mir bangt um sein Leben, ich kann nicht ruhig bleiben mehr, ich muß selbst hinaus-- August. Bleiben Sie-- Malchen. Ach August, der Alpenkönig hat uns getäuscht. August. Ich verwünsche diesen Kobold. (Donnerschlag. Der Spiegel öffnet sich, man sieht auf einem schroffen Fels den Alpenkönig sitzen. Im Hintergrunde ferne Berge, blauer Himmel.) Sopie. Himmel, welche Erscheinung! August, Malchen. Er ist es! Sopie. Wer? Habakuk. Der Aschenmann! August, Malchen. Der Alpenkönig! Lischen. Ach, daß der Himmel erbarm! (Sie schließt die Augen.) Astragalus. Warum verfluchst du mich? August (kniet). Du Wunderwesen, dessen Macht wir nicht erklären können und die doch unleugbar, weil sie dem Auge und dem Herzen sich zugleich verkündet, du hast uns deinen Schutz gelobt. Und doch ward diesem Haus so tiefes Leid, daß ich beinahe fürchten muß, du könntest meiner Liebe Glück durch ihres Vaters Unglück nur bezwecken. Malchen (kniet). Wenn du die Stelle kennst, auf der sein Fuß jetzt irrt, so rett ihn, hoher Klippenfürst. Sopie (kniet). Ich verstehe meiner Kinder Worte nicht, doch wenn meines Mannes Herz in deinen Zauberbanden liegt und darum sich von uns gewendet hat, so gib es frei, wir werden dich dafür stets als ein gutes Wesen ehren. Lischen (kniet). Hoher Alpenkönig! Ich traue mich zwar nicht, mein Auge zu dir zu erheben, warum? das weiß ich schon. Aber wenn du ein galanter Herr bist, so wird auch die Bitte einer hübschen Kammerjungfer etwas bei dir gelten. Habakuk (kniet). Ich bitt auch ganz erschrecklich, Euer gesteinigte Hochheit! Astragalus (steht auf). Ich dacht es wohl, es wandle euch Besorgnis an, Weil mein Geschäft so üblen Anfang nimmt. Doch sorgt euch nicht, ich bin ein kluger Handwerksmann, Der seinen Vorteil schon voraus bestimmt. Denn wenn man sprödes Erz geschmeidig sucht zu biegen, So lasse man es in des Ofens Bauch erglühn. Und so muß sein Gemüt in Hassesflammen liegen, In wilder Leidenschaft die Seele Funken sprühn, Dann kann ich seinen Wahn durch Überzeugung schmieden Und seiner Denkart ihre alte Form verleihn. Von selbst schließt mit der Menschheit er dann neu den Frieden Und wird sein Wirken freudig ihrem Wohle weihn. Drum, was ihr Böses mögt in baldger Zukunft schauen, Wenn ihr bei nächster Sonne wieder ihn erblickt, Doch mögt ihr kühn und treulich auf mein Wort vertrauen, Noch eh sie sinkt, hat Alpenkönig euch beglückt. (Sinkt in seine frühere Stellung zurück. Das Spiegelglas erscheint wieder.) Sopie. So unerklärbar dieses Phantom mir ist, so hat es doch Trost in meine Seele gesendet. Begleitet mich nach dem Gemach, das uns die Aussicht nach dem Wald hin bietet, vielleicht sehen wir schon einige von den Boten zurückkehren, welche ich nach meinem Manne ausgesendet habe. Dort sollt ihr mir auch Aufklärung über den Alpenkönig geben. (Sophie, Malchen, August ab.) Neunzehnter Auftritt Habakuk. Lischen. Habakuk. Nein, was einem in unserm Haus für Erscheinungen begegnen, das geht in das Entsetzliche hinüber. (Stellt sich vor Lischen.) Lischen. Nu was gibts, Monsieur? Was sieht Er mich so an? Habakuk (gezogen). Sie hat mich auf das Schafott bringen wollen, darum hab ich Ihr in dieser Welt nichts mehr zu sagen, als-- Lischen. Daß Er zwei Jahre in Paris gewesen ist, Er abgeschmackter Mensch? Habakuk. Oui, Mademoiselle, und dieses Bewußtsein gibt mir die Kraft, Ihre Gemeinheit zu verachten. (Geht pathetisch ab.) Lischen (allein). Und ich werde mich in des gnädgen Herrn Zimmer verfügen und mich in den zerbrochenen Spiegel schauen, ob ich meine ganze Schönheit noch besitze. Dann werde ich die zerrissenen Liebesbriefe zusammenkehren und diese mit Füßen getretenen Empfindungen ganz langsam in den Kamin hineinschaufeln. So sind die Männer, ihre Liebesschwüre sind lauter Wechsel an die Ewigkeit, in diesem Leben zahlt sie keiner aus. Wenn ich wieder auf die Welt komme, so werd ich ein Mann und will gar keine von meinen jetzigen Eigenschaften behalten als die Eroberungskunst. Ariette Ach, wenn ich nur kein Mädchen wär, Das ist doch recht fatal, So ging' ich gleich zum Militär Und würde General. Oh, ich wär gar ein tapfrer Mann, Bedeckte mich mit Ruhm! Doch ging' die Kanonade an, So machte ich rechtsum. Nur wo ich schöne Augen säh, Da schöß ich gleich drauf hin. Dann trieb' ich vorwärts die Armee Mit wahrem Heldensinn. Da flögen Blicke hin und her, So feurig wie Granaten. Ich sprengte vor der Fronte her, Ermutigt die Soldaten. Ihr Krieger, schrie' ich, gebt nicht nach! Zum Sieg sind wir geboren, Wird nur der linke Flügel schwach, (aufs Herz zeigend) So ist der Feind verloren. So würde durch Beharrlichkeit Am End der Preis errungen Und Hymens Fahn in kurzer Zeit Von Amors Hand geschwungen. Dann zög ich ein mit Sang und Spiel, Die Mannschaft parodierte. Wär auch der Lorbeer nicht mein Ziel, So schmückte mich die Myrte. So nützte ich der Kriegskunst Gab, Eroberte--ein Täubchen. Dann dankt ich die Armee schnell ab Und blieb' bei meinem Weibchen. (Ab.) Zwanzigster Auftritt Verwandlung Tiefer Wald. Rechts vorne die Köhlerhütte. Eine Tür, neben dieser ein Fenster, auf dem Dache ein praktikables Bodenfenster. Dieser Hütte gegenüber ein großer Eichbaum. Hinter diesem ein Gebüsch. Im Hintergrunde ein kleiner Wasserfall. Es ist spät am Abend. Rappelkopf mit einem Wasserkrug aus der Hütte. Er hat eine berußte Schlafmütze des Köhlers und einen runden Bauernhut auf dem Kopfe und eine Jacke von ihm an. Rappelkopf. So!--Der Timon ist fertig, nun fehlt nur noch sein Kompagnon, der Esel--und wenn ich der auch jetzt nicht bin, so war ichs doch--ich war zu gut, das ist mein größter Fehler. Die Leute wollen es nicht. Es gibt manche Menschen, wenn ihnen einer begegnet, der ihnen noch so viele Wohltaten erwiesen hat, so sagen s' höchstens zu einander: Oh, das ist ein guter Kerl, der tut kein Menschen was, der ist froh, wenn man ihm nichts tut. (Gleichgültig grüßend.) Servus! Servus! Lassen wir ihn leben. Wenn aber einer kommt, von dem sie glauben, daß er ihnen schaden könnt, da stoßen s' einander: Oh! das ist ein böser Kerl, vor dem muß man sich in acht nehmen. (Freundliches tiefes Kompliment.) Tänigster Diener! Tänigster Diener! hab ich die Ehr, mein Kompliment zu machen. Wann der anfangt, der kanns. Gleich wieder: Tänigster Diener! Oh, es wird mich noch zum Wahnsinn bringen. In meinem Haus bin ich nicht sicher mehr, mein Weib will mich ermorden lassen. Habt ihrs gehört, ihr verfolgten Stämme dieses edlen Waldes, die der Mensch gar zu zweifachem Tod bestimmt, weil euch die Axt erst fällt und man euch dann noch hinterdrein verbrennt? Habt ihrs gehört? Mein Weib will mich ermorden lassen! Ist denn der Wald so echolos, daß ich der einzge bin, der diese Schandtat ausposaunt? (Geräusch in den Blättern.) Ha! wer rührt sich da? ist es ein Mensch, so soll er hervorkommen, damit ich meinen ganzen Vorrat von Impertinenzen in sein Antlitz werfen kann. Heraus da, wer ist hier? Qui vive? Ein Stier (streckt aus dem Gebüsche, hinter dem er gefressen, seinen Hals gegen Rappelkopf und brüllt sehr stark.) Ohn! (Man sieht ihn jedoch nur bis an die Brust, der Unterleib ist durch das Gebüsch verdeckt.) Rappelkopf (verblüfft). Diese Antwort hab ich nicht erwartet. (Reißt einen Baumast ab und jagt den Stier fort.) Gehst hinaus! Eine solche Gesellschaft möcht ich mir noch ausbitten. Einundzwanzigster Auftritt Voriger. Astragalus tritt hervor. Astragalus. Du verdienst keine bessere. Warum verfolgst du diesen Sohn meiner Herde? Rappelkopf. Gib der Herr auf seine Kinder besser acht. Hier ist mein Territorium, und da leid ich weder etwas Vierfüßiges noch etwas Zweifüßiges. Also weiter, Vater und Sohn! Astragalus. Du irrest, wenn du wähnst, daß du auf eignem Boden herrschest. Mein ist das Tal, in dem die Alpe wurzelt. Drum frag ich dich, wie du es wagst, schamlose Flüche auszuhauchen hier, daß sie wie giftger Reif an diesen Blättern hangen, und eine Welt zu schmähn, in der du Wurm, aus Schlamm gezeugt, in eines Waldes dunklem Busen dich verkriechst, weil du den Strahl des heitren Lebens fürchtest? Rappelkopf. Was kümmerts dich? (Beiseite.) Der Kerl sieht aus, als wenn er von Gußeisen wär. Dem geh ich gar keine Antwort, den laß ich stehen. (Will in die Hütte.) Astragalus (zielt auf ihn). Halt an! Gib Leben oder Worte! Rappelkopf. Was ist das für eine Art, auf einen Menschen zu schießen? Astragalus. Du bist kein Mensch. Rappelkopf. Nicht? Das ist das Neuste, was ich höre. Astragalus. Du hast dich ausgeschlossen aus der Menschen Kreis. Gib Losung, ob du es noch bist. Bist du gesellig wie der Mensch? Du bist es nicht. Hast du Gefühl? Du fühlst nur Haß. Hast du Vernunft? Ich finde keine Spur. Rappelkopf. Impertinent! Astragalus. Drum sprich, zu welcher Gattung ich dich zählen soll, der du des Tieres unbarmherzge Roheit mit dem milden Ansehn und der Sprache eines Menschen paarst. Rappelkopf. Ah, das ist eine gute Geschichte, der führt einen logischen Beweis, daß ich ein Tier bin und noch dazu eins von der neuesten Gattung. Astragalus. Was hast du zu erwidern mir? Rappelkopf (beiseite). Ich wollt ihm schon etwas erwidern, wenn er keine Flinten hätte. Astragalus. Antwort gib, ob du in meine Jagdbarkeit gehörst und meiner Kugel bist verwandt? Rappelkopf (beiseite). Jetzt muß ich vor dem eine Rechenschaft ablegen, und ich möcht ihn lieber massakrieren. (Laut.) Die Flinte weg. Ich bin ein Mensch, und das ein besserer, als ich sein hätt sollen. Astragalus. Und warum hassest du die Welt? Rappelkopf. Weil ich hab blinde Mäusl gespielt mit ihr, die Treue hab erhaschen wollen und den Betrug erwischt, der mir die Binde von den Augen nahm. Astragalus. Dann mußt du auch dem Wald entfliehen, weil er mißgestalte Bäume hegt, die Erde meiden, weil sie giftge Kräuter zeugt, des Himmels Blau bezweifeln, weil es Wolken oft verhüllen, wenn du den Teil willst für das Ganze nehmen. Rappelkopf. Was nützt das Ganze mich, wenn mich ein jeder Teil sekkiert. Ich bin in meinem eignen Haus des Lebens nicht mehr sicher. Astragalus. Machs mit dem Mißtraun aus, das dich belogen hat. Rappelkopf. Mich haßt mein Weib, mich flieht mein Kind, mich richten meine Dienstleut aus. Astragalus. Weil dein Betragen jeden tief erbittert, weil du den Haß verdienst, den man dir zollt. Rappelkopf. Das ist nicht wahr, ich bin ein Mensch, so süß wie Zuckerkandel ist. Nur mir wird jede Lust verbittert, und ich trage keine Schuld. Astragalus. Die größte, denn du kennst dich selber nicht. Rappelkopf. Das ist nicht wahr. Ich bin der Herr von Rappelkopf. (Es fängt an, Nacht zu werden.) Astragalus. Das ist auch alles, was du von dir weißt. Doch daß du störrisch, wild, mißtrauisch bis zum Ekel bist, vom Starrsinn angetrieben, hin bis an der niedern Bosheit Grenze, und wie die üblen Eigenschaften alle heißen, die du für Vorzug deines Herzens hältst, das ist dir unbekannt, nicht wahr? (Der Mond geht auf.) Rappelkopf. Mir ist nur eins bekannt, daß du ein Lügner bist, der eine Menge Fehler mir andichtet, die ich doch nicht hab. Astragalus. So geh die Wette ein, daß du weit mehr noch hast. Ich führe den Beweis, wenn du dich meiner Macht vertraust und mir gelobst, daß du dich ändern willst. Rappelkopf. Das hätt ich lang getan, wenn ich das gefunden hätte. Ich vertrau mich keinem Menschen an, Betrug ist das Panier der Welt. Astragalus. Glaubst du, die Welt sei darum nur erschaffen, damit du deinen Geifer auf ihr Wappen speien kannst? Die Menschheit hinge nur von deinen Launen ab? Dir dürften andre nur, du andern nicht genügen? Bist du denn wahnsinnig, du übermütger Wurm? Rappelkopf. Sapperment, nicht lang per Wurm, das Ding fangt mich zu wurmen an. Ich gib nicht nach, du bankrottierter Philosoph! Ich bin zu gut, und du zu schlecht, als daß ich länger mit dir red. Drum fort mit dir, der Mond geht auf, und du gehst ab, und künftighin werd ich in meiner Hütten mich verschanzen und herunterstukatieren, wenn sich eins sehen läßt. Astragalus. So willst du nicht die Hand zur Beßrung bieten? Rappelkopf. Ich biete nichts, und wenn mir's Wasser bis an Hals auch geht. Astragalus. Wohlan! So laß uns den Versuch beginnen. Weil nicht Vernunft kann dein Gemüt gewinnen, Soll Geistermacht zu deinem Glück dich zwingen, Und mit dem Alpenkönig wirst du ringen. Vermeid dies Haus! Sonst tritt auf allen Wegen Vergangenheit dir leichenblaß entgegen. Und willst du Elemente Brüder nennen, Lern ihre Wut und ihre Schrecken kennen. Der Blitz soll deines Hauses Dach umarmen, Dann kann dein Herz an Freundesbrust erwarmen. Weil du die Luft willst statt der Gattin küssen, Soll dich des Sturmes Angstgeheul begrüßen. Der Boden soll dich Halbmensch nimmer tragen, Dann magst du über Erdenundank klagen. Und daß du mit den Wellen dich kannst streiten, Will ich die Flut dir bis zur Kehle leiten. So soll dich Feuer, Wasser, Luft und Erd betrügen. Dann wähl, ob du dich willst in meinen Vorschlag fügen. Und wirst du liebend nicht dein Herz zur Menschheit wenden, So sollst du wildes Tier in Waldesnacht hier enden! (Rasch ab.) Rappelkopf (allein). Das ist ein schrecklicher Kerl. Und ich tu doch, was ich will. Just! Du sollst mich nicht um meinen Schlaf heut bringen. Gute Nacht, Freund Wald, ihr Eicheln, lebet wohl, zum Frühstück finden wir uns wieder. (Will gegen das Haus. Beim Öffnen der Tür sitzt Victorinens Geist auf einem Stuhl. Sie ist in blaue Schleier gehüllt und sieht gespensterartig aus. Ihr Gesicht ist bleich und die ganze Gestalt von einem grünen Schirm beleuchtet. Sie spricht mit halblauter Stimme.) Victorinens Geist. Wo bleibst du denn so lang, du liederlicher Mann? Und kommst so spät erst in der Nacht nach Haus. Gehst gleich herein, mir wird schon angst allein, Sonst rauf ich alle Haar dir aus. Rappelkopf. Himmel! das ist mein erstes Weib, die erkenn ich, weil sie die Herrschaft noch im Grab behauptet. Da bringt mich niemand bei der Tür hinein. Die hat den Satan in den Leib. Wenn nur das Fenster offen wär! (Es donnert.) Jetzt fangts zum donnern an. (Am Fenster zeigt sich, ebenso wie Victorinens, Wallburgas Geist und sieht heraus.) Wer schaut denn da heraus? Wallburgas Geist (mit hohler Stimme). Ich bins, du falscher Mann, du Ungetreuer du! Warum hast du nach mir jetzt schon das zweite Weib? Und ich hab dich so lieb, hab selbst im Grab kein Ruh, Ich schau kein andern an, kann ohne dich nicht leben. Drum komm herein, ich muß dir Küsse geben. Rappelkopf (erschrickt). Entsetzlich! Schaudervolle Nacht, zeigst du mir auch die zweite noch, die sich durch Eifersucht verrät? Sie modert schon und will nicht leben ohne mich. Welch schreckenvolle Lag! Es rieselt kalt durch mein Gebein. (Es blitzt.) Der Donner brüllt, die Blitze leuchten fürchterlich. Könnt ich doch nur durchs Dach ins Haus! Mut! ich versuchs. (Er steigt hinauf. Währenddessen erscheint Emerentias Geist, auf dem Dach sitzend. Rappelkopf erschrickt.) Weh! Hier die dritte noch, dem Kirchhof ungetreu wie mir! (Will fort.) Emerentias Geist. Wo willst du hin? Du darfst nicht fort. Du mußt den Mond mit mir betrachten. (Der Mond verwandelt sich in ein weißumschleiertes Geisterhaupt, das aus den Wolken sieht.) Sieh hin, das bleiche Antlitz dort, Es ist das Bild von deiner jetzgen Frau. Sie weint! Schau hin! Schau! Schau! Rappelkopf. Jetzt grinst mich auch die vierte an. O teuflisches Quartett! Mich würgt die Angst! Ha! laß mich fort! Mich wandelt Ohnmacht an. Rachsüchtge Hölle, warum hast du das getan? Ich bleib nicht da. Ich muß hinab. (Springt über das Dach.) O Himmel, sei gedankt! daß deine Erd mich wieder trägt. Doch, was beginn ich nun? (Der Sturm heult.) Der Sturm heult immer schrecklicher. Es gießt, und doch verschwinden nicht die gräßlichen Gestalten. (Regen strömt herab.) Nun platzt ein Wolkenbruch! ich rette mich auf diesen Baum, sonst reißt die Flut mich fort. (Er steigt auf den Baum. Die Weiber verschwinden, es schlagt in die Hütte ein, sie steht in hellen Flammen.) Wenn das so fortgeht, bricht die Welt in Trümmer. (Die Hütte brennt fort. Heftiger Regen, Sturmgeheul und Donner. Die Wasserflut schwillt immer höher, bis sie Rappelkopf, der sich auf den Gipfel des Baumes rettet, bis an den Mund steigt, so daß nur die Hälfte seines Hauptes mehr zu sehen ist.) Zu Hülfe, zu Hülfe! ich ersauf! Astragalus(fährt schnell in einem goldnen Nachen bis zu seinem Haupt und spricht). Was bist du nun zu tun gesonnen? Rappelkopf (voll Angst). Ich will mich bessern, ich sehs ein, weil mir das Wasser schon ins Maul 'nein lauft. Astragalus. So führ ich dich nach meinem Schloß. Schnelle Verwandlung Der Nachen verwandelt sich in zwei Steinböcke mit goldenen Hörnern. Der Baum, auf dem Rappelkopf steht, in einen schönen Wolkenwagen, in dem sich der Alpenkönig und Rappelkopf befinden. Das Wasser verschwindet. Das ganze Theater verwandelt sich in eine pittoreske Felsengegend, die Teufelsbrücke in der Schweiz vorstellend, auf welcher Kinder, als graue Alpenschützen angekleidet, Böller losfeuern, während der Wolkenwagen über die Bühne fährt. Zugleich von innen: Chor. Geendet ist die Geisterschlacht, Die Sonne strahlt durch finstre Nacht. Der Alpenkönig hat gesiegt, Seht, wie er hin zum Ziele fliegt. Zweiter Aufzug Erster Auftritt Thronsaal im Eispalaste des Astragalus, mit hohen Säulen geziert, die silberartig erglänzen. Im Vordergrunde ein hoher Thron von pittoreskem Ansehen, als wäre er aus unregelmäßigem Eis geformt. Auf ihm Astragalus als Alpenkönig. Eine lange lichtblaue weißgestickte Tunika, weiten griechischen Mantel. Weißen Bart, auf dem Haupte eine smaragdene Krone. Vor ihm knien im Kreise ideal gekleidete Alpengeister. Weiße kurze Tunika, mit grünen Folioblättern garniert. Chor. Hehr zu schauen auf dem Throne Bist du, Fürst der Alpenflur, Denn dich schmückt der Tugend Krone, Du vertilgst des Lasters Spur. Astragalus (steht auf und spricht). Auf des Thrones eisgen Stufen Horcht ich gern noch eurem Chor. Doch laßt uns den Fremdling rufen, Denn die Zeit tritt mahnend vor. Alpanor. Lange steht er schon bereitet In der Halle vor dem Saal. Auch ist er schon angekleidet, Wie dein Wink es uns befahl. Astragalus. Höhnt ihn aus, wenn er erscheint. (Rappelkopf in einem drapfarben Reiseüberrock, gleichen Gamaschen mit silbernen Knöpfen, schwarzem Haar, etwas hoher Stirne, wird hereingebracht.) Ein Alpengeist. Fürst, hier ist der Menschenfeind. (Alle lachen.) Rappelkopf. Nun? Was ist da Spaßigs dran? Alpanor. Weißt du wohl, warum sie lachen? Unter einem Menschenfeind Dachten sie sich einen Drachen, Der als grimmer Ries erscheint. Und nun sehn sie einen Zwergen, Wer soll 's Lachen da verbergen? Von dem Unsinn mußt du lassen, Freund, das ist ja ganz verkehrt. Du willst alle andern hassen? Und bist selber nicht viel wert. Rappelkopf. Versteht sich. Du wirst mir sagen, was ich zu tun hab. (Für sich.) Verdammtes Hexenvolk! Astragalus. Du bist die Wette mit mir eingegangen, du wollest dein Gemüt in edleres verkehren, wenn du die Fehler deines jetzigen erkennst. Rappelkopf. Das hab ich gsagt im Angesichte von vier Zeugen: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Nun gib mir Überzeugung, oder laß mir Ruh in meinem Wald. Astragalus. So hör mich an. Damit du kannst in solchem Seelenspiegel schauen, so will ich deinen Geist aus deinem Leib entführn und ihn in eines neuerschaffnen Körpers Haus verbannen. Rappelkopf. Das will sagen, mein Geist wird von einer Bouteille in die andere hinübergefüllt, das ist schon nichts, da kann schon eine Spitzbüberei geschehen, bei dieser Füllung muß ich dabei sein. Da kann er ausrauchen, oder verwechselt werden. Ich traue niemand mehr. Astragalus. Er wird es nicht. Ich schwör es bei des Chimborassos eisgekröntem Haupte. Du wirst dein Denken, Wollen, Handeln, Fühlen genau in eines andern Bild erblicken. Rappelkopf. Und was gschieht dann mit mir, geh ich so ohne Seel herum, oder bekomm ich wo eine andere zu leihen? Astragalus. Du wirst als Bruder deiner Frau erscheinen. Rappelkopf. Diese Verwandtschaft hätt ich mir nie träumen lassen. Astragalus. Doch ganz die Kraft der eigenen Gesinnungen behalten. Rappelkopf. Das heißt, ich werde aussehn wie mein Schwager und denken, was ich will. Astragalus. So ists. Dadurch kannst du dich überzeugen, wie gegen dich dein Weib, dein Kind und der von dir gehaßte Maler denken. Doch daß du auch an deinem Ebenbild den höchsten Anteil nimmst und dich in ihm genau ergründest und betrachtest, so hängt dein künftig Schicksal ganz von dem freien Handeln dieses Doppelgängers ab. Und was zu deinem Nutzen oder Nachteil wird durch ihn in deinem Haus geschehn, das wird, wenn er verschwindet, unveränderlich dir bleiben. Rappelkopf. Also wenn er mir mein Haus verkauft, kann ich nachher auf der Straße wohnen? Ah, das ist eine schöne Einquartierung. Astragalus. Auch ist dein Leben selbst an seines festgebunden, und wenn er es verliert, solang er statt dir lebt, stirbst du mit ihm und wirst durch ihn erkranken auch, wenn es der Zufall fügt, daß ihm ein bös Geschick Gesundheit raubt. Rappelkopf. Zwei Menschen und nur ein Leben! Jetzt fangt sogar die Natur zum ökonomisiern an. Da hats der Tod kommod, der nimmt s' gleich Paar und Paar. Nun gut, so laß denn sehen, was deine Taschenspielerei vermag. Der Prozeß ist eingeleitet. Ein unendlich verwickelter Fall, der wird in hundert Jahren nicht aus. Also was gschieht denn jetzt? Hab ich noch meinen Geist, oder hat ihn schon ein anderer? Bin ich schon mein Schwager, oder bin ich noch der Schwager meines Schwagers? Astragalus. Es wird dich jeder für den Bruder deines Weibs erkennen. Darum hab ich in deinem Äußern dich gestaltet so wie ihn. Ihr Alpengeister, führt ihn fort und bringt ihn an des Berges Fuß. Dort werdet ihr ein leichtberädert Fahrwerk finden, zwei rüstge Maultier vorgespannt, mit Staub bedeckt, als kämen sie von weiter Reise aus dem Land der welschen Glut. Sie bringen schnell ihn vor sein Schloß, dort werde seinem Übermut Beschämung, Überzeugung, Strafe. Rappelkopf. Nun gut, so will ich dies Asyl der Falschheit noch einmal betreten. Ich geh und übergeb dir meinen Geist, von dem ich weiß, daß er so wenig Fehler hat, als die Donau Linienschiffe trägt, als Eicheln auf dem Kirschbaum wachsen und blondes Haar in deinem grauen Bart. (Ab mit den Alpengeistern, nur Alpanor bleibt zurück.) Astragalus. Sein Starrsinn ists, der mich zu festen Hoffnungen berechtigt, denn hat er sich erkannt, wird ihn mit gleicher Heftigkeit der Trieb zur Besserung erfassen, als seine kräftge Phantasie den Wahn des Hasses jetzt umklammert hält. Alpanor! Hast du den Bruder seines Weibs zurückgehalten, daß er nicht heute morgens schon von seiner Reise in des Menschenfeindes Schloß eintrifft? Alpanor. Es geschieht in diesem Augenblick. Der Alpengeist Linarius leitet seiner Pferde Zügel und setzt ihn aus in einer wüsten Felsengegend, so lang, bis, großer Alpenkönig, du die Ankunft ihm erlaubst. Astragalus. Und ich will scheinbar mich in ihn verwandeln (er verwandelt sich in Rappelkopfs Gestalt in seiner ersten Kleidung) Und so durch Trug zu seinem Besten handeln. Wie auf des Schlosses Dache die metallne Spitze Das Haus bewahret vor der Wut der Blitze, Will ich den Haß, den er sich gen die Welt erlaubt, Herniederleiten auf sein eignes Haupt. Dort mag die Donnerwolke sich entleeren Und Glut durch Glut hellflammend sich verzehren, Bis aus der Asche wird zum neuen Leben Die Liebe gleich dem Phönix sich erheben. (Beide ab.) Zweiter Auftritt Verwandlung Wilde Felsengegend. Im Hintergrunde ein hoher praktikabler Fels, welcher von der rechten Kulisse aber zwei Dritteil der Bühne bis ohngefähr zwei Schuh weit von der linken sich erstreckt und in einem steilen Abhang endigt. Auf ihm ist eine gedeckte Reisekalesche mit zwei Schimmeln sichtbar. Die Pferde stehen schon ganz an dem Abhange des Felsens. Auf dem Sattelpferde sitzt der Alpengeist Linarius, als Postillion gekleidet. Im Wagen Herr von Silberkern, so gekleidet wie Herr von Rappelkopf zu Anfange des zweiten Aktes. Er droht mit einem Stock dem Postillion und schreit heftig. Silberkern. Halt! Halt! Was treibt Er denn, Er verwünschter Kerl, ich bin ja des Todes, wo führt Er mich denn hin? Linarius. Geduld, mein Herr, wir werden gleich am Ziele sein. Silberkern. Das ist ja keine Möglichkeit, der Kerl ist besoffen wie eine Kanone, er muß glauben, da unten ist ein Weinkeller. Ich massakrier Ihn, Er verflixter Lumpenhund. Was treibt Er denn mit Seinen gottverdammten Schimmeln? Linarius. Ich habe meine Pferde ausgespannt. Silberkern. Untersteh Er sich, Er infamer Mensch! wir stürzen ja hinab. Linarius. Wer wird denn da viel Sprünge machen? das Trinkgeld ist mir ein für allemal zu schlecht. Adieu, mein Herr! Silberkern. Wo will Er denn hin? Linarius. Ich reite durch die Luft-- (Die Pferde bekommen Flügel. Linarius erhebt sich mit ihnen bis in die halbe Höhe des Theaters. Der Wagen bleibt stehen, zugleich fällt der hintere Teil des Felsens herab, und nur das Stück, worauf die Kutsche ist, bleibt stehen.) Du bleibst zurück auf diesem Fels und genießest hier die Luft. Zur rechten Zeit spann ich die Pferde wieder vor. Dann bitt ich mir ein tüchtig Trinkgeld aus. Bis dahin lebe wohl und unterhalt dich gut. Juhe! Zum Alpenkönig heißt das Posthaus hier. Ihr Schimmel, hi! stoßt euch an keinen Stein! Lebt wohl, Herr Passagier, und bleibt mir fein gesund! (Fliegt fort und blast das Posthorn dabei.) Silberkern. Verdammter Hexenspuk! Der Kerl fliegt herum wie eine Fledermaus. Flieg zum Geier, falscher Rabe! Ich brauche deine Pferde nicht. (Er will heraussteigen.) I potz Hagel, was ist das? Ich kann ja nicht heraus. Der Wagen hängt ja in der Luft. Das ist ja aufs Verhungern abgesehen. Verflixter Kerl, komm zurück! Es rührt sich nichts, ich sehe keinen Menschen, nicht einmal Ochsen weiden hier. Ich bin der einzge in der ganzen Gegend. (Schreit.) Hört mich denn niemand? Echo. Niemand--(Entfernter.) Niemand--Niemand--Nieman-- Silberkern (stampft mit dem Fuße). Ich ersticke noch vor Zorn-- (Der Fels, auf dem der Wagen steht, öffnet sich wie eine Höhle und in ihr sind eine Menge kleine Alpengeister aufeinanderkauernd gruppiert, welche mit schadenfroher Miene aus vollem Halse lachen. Auch aus den Gebüschen, welche um den Fels angebracht sind, sehen einige schelmisch hervor.) Alpengeister. Hahahahaha! Silberkern (schnell, räsonierend, mit dem Stock herumfechtend). O du Geistergesindel, du unsichtbares Lumpengepack, komm herauf zu mir, ich schlag dich tot. Das ist eine verflixte Geschichte. (Neues Lachen und schnelles Vorfallen der Kurtine, welche ein Zimmer in Rappelkopfs Hause vorstellt.) Dritter Auftritt Mehrere Dienstleute stürzen auf die Bühne. Sophie von der Seite. Sopie. Wo, wo ist mein Bruder? Dienstleute. Er kömmt soeben die Treppe herauf. Hier ist er schon. Sopie. Holt Herrn von Dorn und meine Tochter. Das Gepäcke in das grüne Zimmer. Vierter Auftritt Vorige. Rappelkopf stürzt herein. Sopie (fällt ihm um den Hals). O mein Bruder, mein geliebter Bruder! (Bleibt an seiner Brust.) Rappelkopf (für sich). Entsetzlich! Diese Natter liegt an meiner Brust. Sie kennt mich wirklich nicht. Nimm dich zusammen, Rappelkopf! (Freundlich.) Endlich seh ich dich wieder, liebe Schwester. (Beiseite.) Ich kann s' nicht anschaun. (Wieder freundlich.) Wie gehts dir denn, du liebe Schwester du? Sopie. Ach Bruder, mir geht es sehr übel. Rappelkopf (beiseite). So? Da gschieht dir recht. Sopie. Was sagst du, lieber Bruder? Rappelkopf. Daß ich dich recht bedaure, und zwar auf eine ganz besondere Art. Denn ich weiß alles, liebe Schwester, dein Mann ist ein schändlicher Mensch. Sopie. Das ist er nicht, lieber Bruder, aber ein unglücklicher Mensch. Rappelkopf (beiseite). Viper! Sopie. Wenn du wüßtest, wie sehr ich mich nach dir gesehnt habe, um mein Herz vor dir auszuschütten! Rappelkopf. So schütt es aus, liebe Schwester! (Beiseite.) Da erfahr ich etwas. Schütts aus! Sopie. Aber du wirst ermüdet sein von der Reise? Rappelkopf. Nur meine Füß sind müde, meine Ohren nicht. Sopie. So setz dich, lieber Bruder. (Sie setzt Stühle.) Rappelkopf. Ich dank dir, liebe Schwester. (Setzt sich.) Fatale Situation! Sopie. Meine Tochter und ihr künftiger Bräutigam werden sogleich erscheinen. Rappelkopf (fährt wild auf). So? (Faßt sich und sagt plötzlich mit freundlichem Lächeln.) Wird mir eine unendliche Ehr sein. Sopie. Du bist so sonderbar, lieber Bruder. Was ist dir denn? Rappelkopf. Verschiedenes. Die Reise, dein Anblick, es ist alles so ergreifend für mich. Sopie. Ich danke dir. Du bist ein Bruder, wie man keinen mehr finden wird. Rappelkopf (beiseite). Der Meinung bin ich selbst. Sopie. Fünf Jahre bist du abwesend. Die Ursache meines Unglücks wird dir schon aus meinen Briefen bekannt sein. Rappelkopf. Ich weiß, du hassest deinen Mann. Sopie. Was fällt dir ein! Wo gäb es eine Frau, die ihrem Manne mehr zugetan wäre, als ich dem meinigen! Rappelkopf. Wirklich? (Beiseite.) Was man für Neuigkeiten erfährt! Sopie. Wenn du nur die Geduld hättest sehen können, mit welcher ich seine Launen ertrug, die Sanftmut, mit der ich ihn behandelte. Rappelkopf. Ja, das hätt ich sehen mögen. (Beiseite.) Es ist zum Durchgehn, wie sie lügt, ich bin schon völlig blau auf dieser Seite. Sopie. Und alles dies hat seinen ungerechten Menschenhaß nur noch vermehrt. Rappelkopf. Aber warum haßt er denn die Menschen, er muß doch eine Ursache haben? Sopie. Weil er ein Narr ist, der sie verkennt. Rappelkopf (beiseite). Ich bedank mich aufs allerschönste. Sopie. Und doch lieb ich ihn so zärtlich-- Rappelkopf. Diesen Narren? o närrische Lieb! (Beiseite.) Es ist zum Teufelholen! Sopie. Und muß die Angst ausstehen, ihn seit gestern zu vermissen. Rappelkopf. Ja wo ist er denn? Sopie. In einem Anfall von Wahnsinn zerschlug er alle Möbel, glaubte, der Bediente wolle ihn ermorden, und rannte wütend aus dem Hause. Rappelkopf. Nun er wird schon wieder zurückkommen. Sopie. Nein, das wird er nicht. Was er beschließt, vollführt er auch. Rappelkopf (beiseite). Sie kennt mich doch. (Laut.) Aber wie ist er denn auf den Gedanken gekommen, daß man ihn ermorden will? Sopie. Auf die unsinnigste Weise von der Welt. Ich befahl meinem einfältigen Bedienten, er sollte nach dem Garten gehen und Zichorien ausstechen, und das Messer in seiner Hand läßt meinen unglückselgen Mann glauben, er wolle ihn ermorden. Rappelkopf. Zichorien hat er ausstechen wollen? Sopie. Ei freilich. Rappelkopf (beiseite). Das ist nicht möglich, oder ich wär der einfältigste Mensch, den die Sonne noch beschienen hat. (In Nachdenken versunken.) Zichorien hat er ausstechen wollen? Sopie. Warum ergreift dich das so? Rappelkopf (gleichgültig). Weil mir der Kaffee einfällt, den ich im letzten Wirtshaus getrunken hab. Der war auch mit Zichorien vergiftet. Sopie. Was soll ich nun beginnen, lieber Bruder? Rappelkopf. Laß den Narren laufen! Sopie. Das kann dein Ernst nicht sein. Er ist mein Mann, und ich werd ihn nie verlassen. Rappelkopf (schnell). Ist das wahr? Sopie. Gewiß. Rappelkopf (unwillkürlich erfreut, beiseite). Sie ist doch nicht gar so schlecht. (Wieder verändert.) Aber schlecht ist sie doch. Sopie. Ach Bruder! (Sinkt an seine Brust.) Wenn mein Mann imstande wäre, sich ein Leid anzutun! (Weinend.) Ich hätte mir nichts vorzuwerfen, aber ich könnte diesen Vorfall nicht überleben. Rappelkopf. Das Weib martert mich, ich schwitz schon im ganzen Leib. Und sie weint wirklich, mein ganzes Schapodl ist naß. Aber ich glaub ihr nicht, die Weiber können alles. (Laut.) Beruhige dich nur, liebe Schwester, es kommt jemand. Fünfter Auftritt Vorige. August. Malchen. Malchen. Ist es wahr, ist der Onkel angekommen? (Sieht ihn.) Ach liebster, bester Onkel! mit welcher Sehnsucht haben wir Sie erwartet. Rappelkopf. Die ist so falsch wie ihre Mutter. Malchen. August, komm doch her. Rappelkopf (erschrickt). Wer? August (hervortretend). Bester Herr von Silberkern--(will auf ihn zu.) Rappelkopf (fährt zurück). Himmel, wer bringt dies Bild vor meine Augen? Sopie. Was ist dir, lieber Bruder? Malchen. Aber Onkel! Rappelkopf (beiseite). Ich muß mich fassen, damit ich allen auf den Grund komme. (Laut, mit Zwang.) Verzeihen Sie mir, mein Herr, sein Sie mir willkommen. August. Erlauben Sie, Herr von Silberkern--(Tritt näher.) Rappelkopf (fährt wieder auf). Nein, es ist nicht möglich--Drei Schritt vom Leib! (Beiseite.) Vergiften könnt ich den Verführer! August. Was soll ich davon denken? Malchen. Onkel! Sopie (gleichzeitig). Bruder! Rappelkopf (faßt sich wieder). Verzeihen Sie, aber Sie haben eine Ähnlichkeit, eine Ähnlichkeit-- August. Mit wem? Rappelkopf. Mit--mit einem Menschen August. Mit was für einem? Rappelkopf. Der mich bestohlen hat. Sopie. Aber Bruder! August (lacht). Herr von Silberkern-- Malchen. Ach Onkel, er hat nichts gestohlen als mein Herz. Rappelkopf (auffahrend). Das ist es eben--(faßt sich) was mich nichts angeht. (Sehr freundlich.) Sind Sie nur nicht so kindisch, ich hab nur einen Spaß gemacht. (Für sich.) Verstellung, steh mir bei! (Laut.) Endlich sind wir alle recht froh beieinander, meine lieben Kinder. (Lacht boshaft.) Das ist ein freudiger Tag heute. (Für sich.) Ich möcht zur Decke hinauffahren. Sopie. Wir wollen dich jetzt allein lassen, lieber Bruder. Damit du eine Stunde ausruhen kannst. Du bist zu angegriffen. In diesem Zimmer findest du ein Ruhebett, unterdessen werden wir die Nachforschungen nach meinem armen Mann verdoppeln, denn es gibt keinen ruhigen Augenblick für mich, solange ich in Ungewißheit über sein Schicksal leben muß. (Geht ab.) Rappelkopf. Da werd ein anderer klug, ich nicht. August. Herr von Silberkern, ich weiß, daß Sie alles über Herrn von Rappelkopf vermögen. Rappelkopf. Da haben Sie recht, wenn ich nichts über ihn vermag, dann richtet niemand etwas mit ihm aus. August. Oh, dann werden Sie mir Ihren Beistand nicht versagen. Rappelkopf. Ihnen? hahaha! Nun, das will ich hoffen. August. Wenn meines Malchens Vater sein Haus wieder betritt und es Ihnen gelingt, ihm mildere Gesinnungen gegen die Welt einzuflößen, so vergessen Sie auch meiner nicht! Versichern Sie ihm, daß es keinen jungen Mann auf Erde gäbe, der mit einer so unwandelbaren Treue an seiner liebenswürdigen Tochter und mit einer so innigen Dankbarkeit an ihrem edlen, aber unglücklichen Vater hinge als der von ihm so ungerecht verfolgte August Dorn. (Verbeugt sich und geht ab.) Rappelkopf. Das ist mir unbegreiflich. Malchen (weinend). Lieber Onkel, wenn Sie meinen Vater sprechen, was ich gewiß nicht darf, so sagen Sie ihm, daß er seine Amalie unendlich gekränkt hat, daß ihn niemand so sehr liebt wie seine Tochter, aber daß ihr auch gewiß das Herz brechen wird, wenn sie ihren August verlieren müßte. (Weint heftig.) Rappelkopf (sein Vatergefühl bricht los, er schließt Malchen heftig in seine Arme). Du bist halt doch mein Kind, wenn ich auch jetzt nicht dein Vater bin. (Nimmt sie am Kopf.) Was nützt denn das, das läßt sich nicht verleugnen. Ich muß dich küssen, Malchen. Malchen. Ach guter Onkel! Rappelkopf. Sag du mir, ist das wahr, liebst du deinen Vater? Malchen. Unendlich, lieber Onkel! Rappelkopf. Und du lügst nicht? Malchen. Bei Gott nicht. Rappelkopf (freudig überrascht). Das ist schön von dir, das freut mich. (Legt ihren Kopf an seine Brust.) Sie hat mich lieb! So hab ich doch eine Seele auf der Welt, die mich liebt. Aber jetzt geh hinaus, ich bitt dich um alles in der Welt, geh hinaus. Malchen. Sie verstoßen mich doch nicht, lieber Onkel? Rappelkopf. Nein, ich verstoß dich nicht, ich will dich noch einmal küssen sogar, aber geh hinaus, sonst muß ich mich vor mir selber schämen, geh hinaus. Malchen. So ruhen Sie sanft, bester Onkel. (Ab.) Rappelkopf (allein). O Schande! ich bin ein Menschenfeind und komm da in eine Küsserei hinein, die gar kein End nimmt. Das war der einzige vergnügte Augenblick, den ich seit fünf Jahren erlebt hab. Aber wie ist mir denn? bin ich betrunken? Das ist ja keine Möglichkeit. Wenn das alles wahr wäre, was die Leute zusammenreden, so wären sie ja völlige Engel. Das ist Betrug, da muß etwas dahinterstecken. Das ist ein Einverständnis. Mein Weib ist eine Schlange. Zu was braucht sie einen Zichori? wenn so viel Kaffee aufgeht. Aber meine Tochter ist brav. Über die laß ich jetzt nichts mehr kommen. Auch den jungen Menschen trau ich nicht, den haben sies einstudiert. Er wär ohnehin bald steckengeblieben. Ha, da kommt der Habakuk, der große Bandit. Der soll mir Licht geben. Sechster Auftritt Voriger. Habakuk. Rappelkopf. He, Habakuk! Habakuk. Wie? Euer Gnaden wissen, wie ich heiß, und haben mich noch nicht gesehen? Rappelkopf. Nu, ich kann Ihn ja wo anders gesehen haben. Habakuk. Ja freilich, ich war zwei Jahr in Paris. Befehlen Euer Gnaden etwas? Rappelkopf. Ja! was ich sagen wollte--(Beiseite.) Ich trau dem Kerl nicht. (Laut.) Hat Er nicht ein Messer bei sich? Habakuk. Nein, ich werd aber gleich eins holen. (Will ab.) Rappelkopf (erschrickt). Untersteh Er sich, ich brauch keins mehr. Ich hab nur etwas abschneiden wollen. (Für sich.) Er wär imstande er holet eins. Habakuk. Ich weiß nicht, ich trag sonst immer ein Messer bei mir-- Rappelkopf (für sich). Nun da haben wirs ja, das ist ein routinierter Mörder. (Laut.) Lieber Freund, ich werd Ihm ein gutes Geschenk machen, geh Er mir ein wenig an die Hand. Er weiß, ich bin der Bruder Seiner Frau. Habakuk. Habs schon weg, Euer Gnaden. Rappelkopf (für sich). Unbegreifliche Zauberei! (Laut.) Sag Er mir, wie behandelt denn mein Schwager seine Frau? Habakuk. Infam, Euer Gnaden. Rappelkopf. Was sagt Er? Habakuk. Oh, das ist ein sekkanter Mensch, der glaubt, die Leut sind nur wegen ihm auf der Welt, daß er s' mit Füßen treten kann. Rappelkopf (für sich). Nun bei dem hört man doch ein wahres Wort. Der redt doch, wie er denkt. (Laut.) Ja, es soll nicht zum Aushalten sein. Darum kann ihn aber auch meine Schwester nicht ausstehen. Nicht wahr? Habakuk. Ah, was fallt Euer Gnaden ein, sie weint sich ja völlig die Augen aus um ihn. Ich kann sie nicht genug trösten. Rappelkopf. Man hat aber erzählt, sie hätte ihn wollen gar ermorden lassen. Habakuk. Ah, hören Euer Gnaden auf. Euer Gnaden werden doch nicht auch so einfältig sein, das zu glauben. Rappelkopf. Ja, Er ist ja, glaub ich, mit dem Messer auf ihn gegangen. Habakuk. Ich? warum nicht gar, ich fall in Ohnmacht, wenn sie nur ein Hendel abstechen. Er war im Gartenzimmer, und kein Mensch hat sich hinausgetraut, und die Köchin hat einen Zichori gebraucht, und die Frau hat gschafft, ich soll einen ausstechen. Rappelkopf (beiseite). Mit dem ewigen Zichori! am End ists doch wahr. Habakuk. Er laßt ja keinen Menschen zu Wort kommen, der Satanas. Rappelkopf (für sich). Das ist ein impertinenter Bursch. Ein Verleumder. (Laut.) Und sag Er mir, ist denn Sein Herr ein gescheidter Mann? Habakuk (verneinend). Ah! (Vertraulich.) Wissen Euer Gnaden, wir reden jetzt unter uns, es ist nichts zu Haus bei ihm. (Deutet auf den Kopf.) Rappelkopf (beiseite). Nein, das ist nicht zum Aushalten. (Gibt ihm Geld.) Da hat Er, mein lieber Freund, Er hat mir schöne Sachen gesagt, ich bin sehr zufrieden mit Ihm, aber geh Er jetzt. Habakuk. Küß die Hand! (Für sich.) Aha, den freuts, daß ich über den andern schimpf. Er kann ihn nicht recht leiden. Ich muß noch ärger anfangen, vielleicht schenkt er mir noch etwas. (Laut.) Ja sehen Euer Gnaden, ich war zwei Jahr in Paris, aber ein so zuwiderer Mensch ist mir nicht vorgekommen, und es gibt ihm alles nach, das ist gar nichts nutz, da wird er nie kuriert. Ich versteh nichts von der Medizin, aber ich glaub, wenn er einmal recht durchgewassert wurd, es müßte sich seine ganze Natur umkehren. Rappelkopf. Jetzt hat Er Zeit, daß Er geht. Den Augenblick hinaus, Er undankbarer Mensch, wie kann Er sich unterstehen, so von Seinem Herrn zu reden? Gleich fort, oder ich schlag Ihm Arm und Bein entzwei. (Sucht einen Stock.) Habakuk. So ists recht, jetzt fängt der auch an. (Im Abgehen.) Nun, den sag ich bald wieder was, das ist eine schreckliche Familie. Na, das ging' mir ab. (Geht brummend ab.) Rappelkopf (allein). So kann man seine Leute kennenlernen. Von meiner Frau redt er nicht so schlecht, er getraut sich nicht, weil er mich für ihren Bruder hält. Aber für einen Mörder ist er doch zu dumm, ich hab ihn für pfiffiger gehalten. Es wird doch auf den Zichori hinauskommen. Was mich das für eine Überwindung kostet, mit all diesen Menschen zu reden! Aber ich muß meine Untersuchung vollenden, weil ich sie begonnen habe und weil ich in nichts zurücktrete, wenn ich nicht muß, wie heut im Walde. Siebenter Auftritt Voriger. Lischen. Lischen. Die gnädige Frau läßt fragen, ob Euer Gnaden eine Tasse Tee befehlen. Rappelkopf. Ich danke. (Für sich.) Die werd ich auch in die Kur nehmen. (Laut.) Was macht meine Schwester? Lischen. Sie ist sehr betrübt. Rappelkopf. Weswegen? Lischen. Unseres gnädigen Herrn wegen. Rappelkopf. Wegen mir? Lischen. Ah, wegen Ihnen nicht. Rappelkopf (faßt sich). Ja so. (Für sich.) Die kennt mich auch nicht. (Laut.) Und was macht meine Nichte? Lischen. Sie spricht mit ihrem Bräutigam. Rappelkopf (für sich). Himmel und Hölle! (Faßt sich. Laut.) Was ist denn das für ein Mensch? Lischen. Ein sehr liebenswürdiger Mensch. Rappelkopf. Was heißt das, macht er Ihr auch die Cour? Lischen. Nun, das wäre der Wahre, er wagt es ja kaum, ein anderes Mädchen anzusehen. Das wird ein handfester Pantoffelritter werden. Ich glaube, er hat mir bloß darum noch keinen Heller zum Geschenke gemacht, damit er nur meine Hand nicht berühren darf. Er und mein Fräulein taugen ganz zusammen, und es ist himmelschreiend, daß der gnädge Herr seine Einwilligung nicht gibt. Rappelkopf (rasch). Da hat er recht, wenn er sie nicht gibt. Der junge Mensch hat keine Achtung vor ihn. Lischen. Ei bewahre, er schätzt ihn weit mehr--verzeihen Euer Gnaden, wenn ich so von Ihren Herrn Schwager spreche--aber weit mehr, als er es verdient. Rappelkopf (für sich). Es ist, als ob sie sich alle verschworen hätten wider mich. Geduld, verlasse mich nicht! (Laut.) Ich will Ihr etwas schenken, aber sag Sie mir in der größten Geschwindigkeit alle üblen Eigenschaften Ihres Herrn. Lischen. In einer Geschwindigkeit, das ist ohnmöglich, gnädger Herr. Rappelkopf. Warum nicht? Lischen. Weil, wenn ich jetzt diesen Augenblick anfange, ich morgen früh noch nicht fertig bin. Rappelkopf. Wo ich nur die Geduld hernehme, das alles anzuhören! Lischen. Es ist schon genug, daß er ein Menschenfeind ist. Ich begreife gar nicht, wie man bei einem so großen Vermögen, einer gutmütigen Frau, einer wohlerzogenen Tochter und einem so hübschen Stubenmädchen ein Menschenfeind sein kann. Lied Ach, die Welt ist gar so freundlich Und das Leben ist so schön. Darum soll der Mensch nicht feindlich Seinem Glück entgegenstehn. Alles sucht sich zu gefallen, Liebend ist die Welt vereint, Und das Häßlichste von allen Ist gewiß ein Menschenfeind. Heitrer Sinn nur kann beglücken, Nur die Freude hebt die Brust, Nur die Liebe bringt Entzücken, Und der Haß zerstört die Lust. Doch wenn alle sich erfreun Und der Stern des Frohsinns scheint, Sitzt im düstern Wald allein Drauß der finstre Menschenfeind. Sieht man nur die goldne Sonne, Wenn sie auf am Himmel steigt, Wie sie schon mit holder Wonne Allen Wesen ist geneigt: Dann kann man die Welt nicht hassen, Die 's im Grund nicht böse meint, Man muß nur die Lieb nicht lassen, Wird man nie zum Menschenfeind. (Ab.) Rappelkopf (allein). Schrecklich! Muß ich mich auch noch ansingen lassen! Das sind Beleidigungen nach den Noten, und ich darf den Takt nicht dazu schlagen. Und alles bleibt auf einem Wort! Wer kommt? Achter Auftritt Voriger. Sophie. Lischen. Sopie (stürzt rasch herein). Bruder, er kommt! Rappelkopf. Wer kommt? Lischen. Der gnädge Herr! Sopie. Mein Mann! Rappelkopf. Ich komm! (Schlägt sich begeistert an die Brust.) Endlich einmal. Solang die Welt steht, war noch niemand so neugierig auf sich selbst als ich. Astragalus (ruft noch vor der Tür). Daß niemand zu mir gelassen wird! Rappelkopf. Meine ganze Stimme. Ich hör mich schon. (Tritt zurück.) Neunter Auftritt Vorige. Astragalus tritt ein. Astragalus (wie er Sophie sieht, prallt er zurück und ruft). Ha! (Er will zurück.) Rappelkopf (sagt schnell). Ich bins, ist kein Zweifel! Sopie (hält ihn zurück). Oh, bleib doch, lieber Mann! wir sind glücklich, daß wir dich wieder sehn. Astragalus (reißt sich los). Laß mich. Entweder gehst du oder ich. Sopie (Mit Überwindung). Nun so bleib, ich will gehn. (Geht seufzend ab.) (Astragalus tritt mit empörter Miene vor, bleibt mit verschränkten Armen stehn und blickt wild umher, ohne Rappelkopf zu bemerken.) Rappelkopf (betrachtet ihn vom Fuß bis zum Kopfe mit ungeheurem Erstaunen und spricht dann überzeugt). Ich bins--Aufgelegt bin ich nicht gut, aber das kann nicht anders sein. Astragalus (zu Lischen). Was will Sie da? Lischen (zitternd). Fragen, ob Euer Gnaden nichts befehlen. Rappelkopf. Eine Angst hat alles vor mir, daß es eine Freude ist. Astragalus. Wo ist die Tinte? Lischen. Dort ist sie. (Deutet auf den Tisch.) Astragalus. Und Federn? Lischen (ängstlich). Die hab ich nicht. Rappelkopf. Jetzt hat die Gans keine Federn! Astragalus. Hol Sie welche! hat Sies gehört? Hinaus mit Ihr, Sie Schlange, Sie Basilisk, Sie Krokodil, Sie Anakonda! Rappelkopf. In der Naturgeschichte bin ich gut bewandert. Lischen. Gleich, Euer Gnaden. (Im Abgehen.) Der böse Feind hat ihn zurückgeführt. Ich laß mich nicht mehr sehn. (Ab.) Rappelkopf. Die lauft. Ich weiß nicht, ich gfall mir recht gut. Ein wenig rasch bin ich, das ist wahr. Astragalus (entschlossen). Ja! Ich will mein Testament machen. Rappelkopf (für sich). Testament? Nu wär nicht übel. Den Entschluß muß ich gleich unterbrechen. (Laut.) Grüß Sie Gott, lieber Schwager. Eben bin ich angekommen. Astragalus. Wer ist das? Rappelkopf (entzückt). Das ist ein eigner Anblick, wenn man vor sich selber steht. Astragalus (schnell). Was machen Sie hier? Warum haben Sie nicht geschrieben? Haben Sie meine Intressen mitgebracht? Wie stehts mit meinem Vermögen? Rappelkopf (für sich). Jetzt gehts recht, das möcht ich selbst gern wissen. Astragalus. Das Haus in Venedig soll nicht gut stehen, ist es verloren? Rappelkopf (erschrickt). Verloren? Wär nicht übel, (beiseite) mir wird selbst angst. Astragalus. Ich hab keine Intressen erhalten. Rappelkopf. Ich auch nicht. Astragalus. Sie müssen es haben, Sie haben mir es sonst geschickt, da steckt ein Betrug dahinter. Rappelkopf. So lassen Sie sich nur sagen-- Astragalus. Ich laß mir nichts sagen--ich kenn die Welt, sie gehört zum Katzengeschlechte-- Rappelkopf. Ich-- Astragalus (wütend). Still-- Rappelkopf. Wenn er nur nicht gar so schreien möchte, mir tun die Ohren weh. Zehnter Auftritt Vorige. Habakuk mit Federn. Habakuk (zitternd). Euer Gnaden, hier bring ich die Federn. Astragalus (entsetzt sich). Ha! Dieser Mörder wagt es, vor meine Augen zu kommen! (Nimmt den Stuhl vor und retiriert sich.) Komm mir nicht an den Leib! Bandit! Rappelkopf. Ach, das ist übertrieben. Wer wird sich denn vor dem Esel fürchten? Habakuk. Die gnädige Frau laßt fragen, ob sie noch nicht herüberkommen darf. Astragalus. Nein. Habakuk. Sie weint aber so abscheulich. Astragalus. So soll sie schöner weinen, hahaha, oder ich fang zum lachen an. Habakuk. Wenn sie aber krank wird? Astragalus. Die Gicht in ihren Leib! Und ins Spital mit ihr! Rappelkopf (beiseite). Das ist ein kurioser Humor. Habakuk. Ah, verzeihen Euer Gnaden, aber das ist zu stark. Ich war zwei Jahr in Paris, aber-- Astragalus (aufspringend). Wenn Er es noch einmal wagt, dieses unerträgliche Sprichwort in meinem Haus ertönen zu lassen, so--zahl ich hier Seinen Lohn in vorhinein. (Er wirft ihm einen Geldbeutel vor die Füße und trifft damit Rappelkopf an das Schienbein.) Rappelkopf (zieht den Fuß auf). Sapperment hinein, achtgeben, das müssen harte Taler sein. Astragalus. Hab ich Ihnen weh getan? Rappelkopf. Ich glaub, ich hab ein Loch im Fuß. Astragalus. Gschieht Ihnen recht. (Zu Habakuk.) Wenn Er also dieses Wort noch einmal sagt, so geht Er an der Stelle aus meinem Dienst. Wenn ich auch nicht dabei bin. Nehm Er! Rappelkopf. Es ist meine ganze Manier. (Zu Habakuk.) Nu apport! Habakuk. Euer Gnaden, um diesen Preis kann ich mich nicht darauf einlassen, denn ich habe keinen Stolz, als daß ich zwei Jahr in-- Astragalus (faßt ihn am Halse). Ich erdroßle Ihn, wenn Er noch einen Buchstaben mehr dazu sagt. Habakuk. Zu Hülfe! Zu Hülfe! Rappelkopf (springt dazwischen). Aber Herr Schwager, das hätt ich meinem Leben nicht geglaubt. Astragalus (hält ihn noch immer). Wo warst du zwei Jahr, warst du in Paris? Habakuk (schreit ängstlich). Nein, in Stockerau. Astragalus. Also geh hin, wo der Pfeffer wächst. (Stoßt ihn zur Tür hinaus.) Rappelkopf. Ich find doch, daß ich etwas Abstoßendes in meinem Betragen habe. Wenn das so fortgeht, so käm ich mit mir selbst nicht draus. Ja so! Mein Geld muß ich wieder einstecken. Wir haben ja eine Kassa, das ist kommod, wenns der eine wegwirft, hebts der andere auf. Und wenn nur das nicht wär, daß, was ihm geschieht, auch mir geschehen muß. Und wie lang er draußen bleibt, ganz erhitzt, wenn er sich erkühlt, so kriegen wir die Kolik. (Astragalus tritt ein.) Astragalus. Weil ich im Wald keine Ruh hab, so sollen sie auch von mir keine haben. Denn sie sind boshaft, sie könnten mich vergiften. (Setzt sich in einen Stuhl.) Rappelkopf. Das sind so übertriebene Sachen. Wenn er nur etwas mit sich reden ließ'. Herr Schwager! Astragalus (wendet ihm den Rücken zu). Hinaus! Ungeheuer! Rappelkopf. So hab ichs akkurat gemacht. (Laut.) Aber warum denn? Wir sind ja die besten Freunde. Astragalus. Ich bin keines Menschen Freund. Und Sie will ich gar nicht ansehen. Ihr Gesicht ist mir verdächtig. Rappelkopf. Sie werden mich doch für keinen Betrüger halten? Astragalus. Das nicht, aber man erinnert sich an einen, wenn man Sie ansieht. Rappelkopf. Ah, das ist impertinent, diese Grobheit hätt ich mir nicht zugetraut. Und doch erinnere ich mich auf ähnliche Worte. Astragalus (zum Fenster hinaus). Halt, wer schleicht da zur Tür hinaus? Donner und Blitz, das ist der junge Maler, der war bei meiner Tochter. Rappelkopf. Jetzt wirds angehn. Astragalus. Wart, du kommst mir nicht mehr aus. (Springt zur Tür hinaus und stößt Rappelkopf der ihm im Weg steht, auf die Seite.) Rappelkopf. Ich bin ja ein rasender Mensch. Ich fang mir ordentlich an selbst zuwider zu werden. Das hätt ich meinen Leben nicht gedacht. Astragalus (von innen, schreiend). Sie müssen herein, ich lasse Sie nicht los. Rappelkopf. Hat ihn schon bei der Falten. Astragalus (von innen). Herein, sag ich. Rappelkopf. Und wie er schreit! und das geht alles auf meine Rechnung. Bis die Gschicht ein Ende hat, ruiniert er mir noch meine ganze Brust. (Astragalus zerrt August an der Hand herein.) Astragalus. Herein, du Verführer meines Kindes! Wie können Sie es wagen, mein Haus zu betreten? Wer gibt Ihnen ein Recht dazu? Rappelkopf. Das ist wieder gut gesprochen, das gefällt mir. August (ganz bleich). Meine Liebe, Herr von Rappelkopf, und meine redlichen Absichten. Astragalus. Sie sollen gar keine Absichten haben, weil Sie keine Aussichten haben. Rappelkopf. Bravo! Astragalus. Ich kann mein Kind verheiraten, an wen ich will, denn ich bin Vater. Rappelkopf. Bravissimo! Astragalus. Und es ist eine Frechheit von Ihnen, daß Sie sich gegen meine Erlaubnis in mein Haus zu schleichen suchen, um mein Kind von dem Gehorsam gegen seinen Vater abzubringen. Rappelkopf. Sehr schön, ich muß mich selber loben. August. Herr von Rappelkopf, ich beschwöre Sie bei allen Gefühlen, welche Ihr leidenschaftliches Herz je bestürmten, haben Sie Nachsicht mit den meinigen. Ich kann ohne Ihre Tochter nicht leben, ich war drei Jahre abwesend, und meine Gesinnungen haben sich nicht verändert. Ich besitze ein kleines Vermögen, habe mich in meiner Kunst verbessert, schenken Sie mir Ihre Einwilligung, nie werde ich Ihre Gnade vergessen, und Sie werden einen dankbaren Sohn an mir gewinnen. Rappelkopf. Das ist kein gar so schlechter Mensch, er soll doch nicht so hart mit ihm sein. Astragalus. Ich traue Ihren Worten nicht, denn Falschheit blickt aus Ihrem Auge. Darum wagen Sie es nicht mehr, meine Schwelle zu betreten. Eh steht mein Tor hungrigen Wölfen offen, eh laß ich Raben unter meinem Dache nisten, eh will ich giftge Schlangen an dem Busen nähren, eh laß ich alle Seuchen hier im Hause wüten und will die Pest zu meinem Tische laden, eh ich nur Ihrer Lunge einen Atemzug in meinem Schloß erlaube. Rappelkopf. Das ist ein Unsinn ohnegleichen. Es ist beinah nicht zu glauben, daß ein Mensch so sein kann. August. Herr von Rappelkopf, wenn Ihnen das Leben eines Menschen etwas gilt, so reizen Sie meine Leidenschaft nicht auf das höchste-- Herr von Silberkern, nehmen Sie sich meiner an. Rappelkopf. Ich kann ja nicht, ich bin froh, wenn er mich selber nicht hinauswirft. August. Also wollen Sie mir mit Gewalt das Leben rauben? Astragalus (boshaft). Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mir es zum Geschenke machen wollten. Rappelkopf (entrüstet). Ah, das ist infam--Herr Schwager (Geht auf Astragalus zu.) Astragalus (fährt heftig auf ihn los). Schweigen Sie! Sie sind auch im Komplott mit ihm, aber ich schwöre es Ihnen bei dem glühenden Eingeweide des Vesuvs: wenn Sie es wagen, mein Kind in dieser Leidenschaft zu unterstützen, wenn Sie nur eine Miene machen, meine Ansichten zu mißbilligen, so werden Sie ein Andenken nach Venedig mit zurücknehmen, daß ganz Italien darüber in Entsetzen geraten soll. (Ab ins Nebenzimmer.) Elfter Auftritt Rappelkopf. August. Rappelkopf. Nein, das ist nicht mein Ebenbild. Der übertreibt. Das ist ein schauderhafter Mensch, ich krieg einen ordentlichen Haß auf ihn. Wenn der so fortwütet, in acht Tagen sind wir alle zwei hin. August (der mit sich gekämpft). Leben Sie wohl, Herr von Silberkern, grüßen Sie mein Malchen und vergessen Sie mich nicht. Rappelkopf. Wo wollen Sie denn hin? August. Fragen Sie mich nicht. Ich kann ohne Amalie nicht leben-- (Will fort.) Rappelkopf. So sein Sie nur ruhig, ich geh Ihnen mein Wort, Sie bekommen sie. August. Wenn aber der Vater nicht will? Rappelkopf. Er will schon, der Vater, sorgen Sie sich nicht. Gehen Sie jetzt unterdessen fort, ich werde alles ausgleichen, und wenn Sie Liebesbriefe haben, so geben Sie s' mir, ich werd sie schon besorgen. August. Ach bester Onkel, ich muß Sie umarmen, o Freude, Freude, verlassen Sie mich nicht, sagen Sie meinem Malchen-- Rappelkopf. Gehen Sie nur-- August. Nie werd ich Ihre Güte vergessen-- Rappelkopf (drängt ihn zur Tür hinaus). Auf Wiedersehn! (Allein.) Das ist ein passabler Mensch. Den hab ich beinahe verkannt. Überhaupt fängt es bei mir an, etwas Tag zu werden. Zwölfter Auftritt Habakuk. Voriger. Habakuk. Euer Gnaden verzeihen, daß ich meine Zuflucht zu Ihnen nimm, mit meinen gnädigen Herrn zu reden, ist zu halsbrecherisch. Da sind Euer Gnaden viel gütiger. Euer Gnaden haben mir doch nur Arm und Bein entzwei schlagen wollen, und unter zwei Übeln muß man das kleinste wählen, und da bin ich also an Euer Gnaden geraten. Rappelkopf. Das ist gar ein dummer Mensch, ich kann gar nicht begreifen, wie mich etwas beleidigen hat können von ihm. Nu was hat Er denn? Habakuk. Ein Anliegen, Euer Gnaden. Rappelkopf. Was denn für eines? Habakuk. Sehen Euer Gnaden, ich--(Hält inne und seufzt tief.) Ich halts nicht aus. Rappelkopf. Was hält Er nicht aus? (Beiseite.) Das ist ein unerträglicher Kerl, mir steigt schon die Gall auf. Habakuk. Euer Gnaden wissen, daß ich das Bewußte nicht mehr sagen darf, und wenn das nicht anders wird, so muß ich zugrunde gehen. Rappelkopf. Aber was hat Er denn davon, wenn Er sagt, daß Er zwei Jahr in Paris war? Habakuk. Unendlich viel, es hat alles viel mehr Achtung vor einem. Das hab ich schon viel hundertmal an andern bemerkt. Kurz, wenn ich das verschweigen muß, ich bekomme eine Gemütskrankheit, ich geh drauf. Rappelkopf (unwillkürlich lächelnd). Ich weiß nicht, soll ich mich ärgern oder soll ich lachen. Habakuk. Ich unterdruck es immer, und das macht mir Beklemmungen. Denn ich war zwei--(Setzt ab.) Sehn Euer Gnaden, mir wird völlig nicht gut. Rappelkopf. Ja wegen was darf Ers denn nicht sagen? Habakuk. Er jagt mich ja fort. Rappelkopf. Wenn er es aber nicht hört? Habakuk. Ja was glauben Sie denn, was der für Ohren hat, die gehn ja ins Unendliche. Rappelkopf. Schimpft in einem fort über mich und weiß es nicht. Was ich für Grobheiten einstecken muß! (Scharf.) Wenn ers befohlen hat, so muß Ers tun, ich kann Ihm nicht helfen. Habakuk. Also keine Rettung. Ich empfehl mich Euer Gnaden! aber es wird eine Zeit kommen, wo es zu spät ist. Ich habe meinen Dienst ordentlich versehen, ich hab keinen Kreuzer veruntreut, aber das ist meine Leidenschaft, von der kann ich nicht lassen. Rappelkopf. Nu so sag Ers-- Habakuk. Ich trau mich nicht. Rappelkopf. Auf meine Verantwortung. Habakuk. Lassen sich Euer Gnaden statt mir fortjagen? Rappelkopf. Nun ja-- Habakuk. Nun so versichre ich Euer Gnaden, ich war zwei Jahr in Paris, aber das werd ich Ihnen nicht vergessen. (Atem schöpfend, als fühlte er sich erleichtert.) Das ist eine Wohltat, die nicht zu beschreiben ist. Rappelkopf. Also ich erlaub es Ihm, von diesem Augenblick an, es wieder zu sagen, unter der Bedingung, daß Er nicht mehr über seinen Herrn schimpft. Habakuk. Oh, das ist ein Mann, wies gar keinen mehr gibt. Und jetzt erlauben Euer Gnaden, daß ich Euer Gnaden umarmen darf. Euer Gnaden sind mein Wohltäter, mein Vater! Heut bringt kein Mensch mehr ein anderes Wort aus mir heraus als: Ich war zwei Jahr in Paris. (Ab.) Rappelkopf (allein). Es ist unglaublich, der eine möcht gern ewig verliebt sein, und dieser ist wieder zufrieden, wenn man ihm erlaubt, daß er sagen darf, daß er zwei Jahr in Paris gewesen ist. Es ist lächerlich, und doch findet er seinesgleichen. Es hat halt jedermann sein Steckenpferd. Arie Die Welt, ich schreib ihr die Devise, Ist bloß ein wahnberauschter Riese. Der eine spräch gern mit den Sternen, Der andre möcht gern gar nichts lernen, Der dritte denkt, zum Existieren Müßt sich die Menschheit parfümieren. Der läuft im Wahn dem Wasser zu, Der andre läßt dem Wein kein Ruh. Der ist so blöd wie ein Stück Holz, Und jener kennt sich nicht vor Stolz. Der sitzt und erbt zehntausend Gulden, Der läuft herum und ist voll Schulden. Oft möcht der eine avancieren, Der andre möcht sich retirieren. Der Blinde möcht gern Augen finden, Und mancher sieht und möcht erblinden. So dreht die Welt sich immer fort Und bleibt doch stets an einem Ort. Der Egoismus ist die Achse, Der Hochmut zahlt am End die Taxe. Die Erd, es kömmt darauf heraus, Ist nur im Grund ein Irrenhaus. Und wie ich nach und nach gewahr, So bin ich selbst ein großer Narr. Dreizehnter Auftritt Voriger. Sophie, Malchen und Lischen treten ein. Sopie. Lieber Bruder, was sagst du zu dem Betragen meines Mannes? Hab ich das um ihn verdient? Rappelkopf. Nein, liebe Schwester, so lang ich da bin, nicht. (Beiseite.) Wenn nicht noch was nachkommt. Malchen (weint). Ach Onkel, jetzt ist mein Unglück entschieden. Rappelkopf. So tröste dich, Malchen! (Beiseite.) Nur um das Kind ist mir leid, an den andern allen liegt mir nichts. (Man hört von innen läuten.) Lischen. Er läutet. Wer geht denn jetzt hinein? Sopie. Mich will er ja nicht sehen. Rappelkopf. Und ich mag ihm nicht sehen. Lischen. Ich trau mich nicht hinein. Malchen. Ich auch nicht, liebe Mutter. Rappelkopf. Ich bin ungemein beliebt. Malchen. Lieber Onkel, gehen Sie! Rappelkopf. Ich? Ich nicht. (Beiseite.) Ich fürcht mich vor mir selber. (Es läutet wieder.) Sopie. Er läutet wieder. Ich muß doch-- Lischen (schnell). Ich geh schon, gnädge Frau. (Steckt den Kopf zur Kabinettstür hinein und ruft.) Was befehlen Ihro Gnaden? Astragalus. Frisches Wasser! schnell! Alle drei. Was ist ihm denn? Lischen. Er sitzt erhitzt am Fenster, es scheint ihm nicht wohl zu sein, er ruft nach Wasser. Sopie. Bring Sie welches. Wenn er nur nicht krank wird! (Lischen geht ab.) Rappelkopf. Nu wär nicht übel, das könnt ich brauchen. Sopie. Am Ende trifft ihn noch der Schlag. Rappelkopf. Hör auf, mir wird schon völlig bang. Sopie. Gib die Hausapotheke her! Niederschlagendes Pulver! Rappelkopf. Nur geschwind etwas Niederschlagendes. Malchen (nimmt sie aus dem Schrank). Hier ist sie. Lischen (ein Glas Wasser bringend). Hier ist Wasser! Rappelkopf. Wartet nur, ich werd es selbst hineinrühren. (Tut es. Für sich.) Ich muß ja schauen auf mich, was wär denn das? Lischen (die am Kabinett gehorcht, springt weg davon). Er kömmt. Vierzehnter Auftritt Vorige. Astragalus aus dem Kabinette. Astragalus. Also so werden meine Befehle respektiert? (Zu Sophie.) Was machst du hier? Was hat der Maler hier im Hause wollen? Wir sprechen uns schon noch. Sopie. So sei nur ruhig, lieber Mann, dir ist nicht wohl, setz dich doch und nimm Arznei. (Sie reicht ihm das Glas.) Astragalus (wild). Wasser will ich, und sonst nichts. Sopie. Du mußt, ich darf dich nicht erkranken lassen. So nimm, ich bitte dich. Astragalus. Nein! Malchen. Lieber Vater, nehmen Sie. Rappelkopf. Es gehört wirklich eine Geduld dazu. Ich möcht mich selbst ohrfeigen, aber auf seinem Gesicht. Astragalus. So gib denn her. (Er nimmt das Glas.) Hölle, was ist das? der Trank ist trübe. Gesteh, du hast ihn mir vergiftet. Malchen. Aber Vater-- Lischen. Gnädger Herr! Astragalus. Da hilft kein Leugnen mehr, der Trank ist Gift. Rappelkopf. Ah, das ist noch über den Zichori. Sopie. So hör doch nur, es ist ja niederschlagendes Pulver. Astragalus. Es ist nicht wahr. Rappelkopf. Ich schlag ihn noch ohne Pulver nieder. Astragalus (wirft das Glas um die Erde). Ich bin in meinem eignen Haus des Lebens nicht mehr sicher. Rappelkopf. Entsetzlich! meine eigenen Worte. Astragalus. Mein Weib ist eine Mörderin. Darum herab mit euch, ihr Früchte, die für meinen Haß gereift. (Entreißt Sophien ihre Halskette, woran sein Porträt hängt.) Was trägst du hier am Hals? hinweg damit, du sollst kein Angedenken von mir tragen als den Fluch, womit ich deine Bosheit krönen will. So hör mich denn, du mörderisches Weib-- Rappelkopf. Genug, genug! das ist der ganze Narr wie ich, ich kann mich selber nicht mehr anschauen mehr. Sopie (fällt in einen Stuhl). Ich unglückselges Weib! Astragalus. Verlaß mein Schloß, ich will allein hier hausen, und mein Geschäft heißt Menschenhaß. Ich will von dir und von der Welt nichts wissen mehr, verwünsche dich, verwünsch mein Kind-- Rappelkopf. Nein Sapperment, jetzt wirds mir z'viel. Der Mensch verflucht mir 's ganze Haus. Astragalus. Geh hin zu deinem Maler, treib es bunt, wie ein Chamäleon sollst du in allen Farben prangen, werd grün vor Galle, blau von Schlägen, rot vor Schande, weiß vor Kummer, gelb von Fieber, grau vom Alter und-- Rappelkopf (freudig). Das ist gscheid, jetzt gehn ihm d' Farben aus. Astragalus. Doch laß dich nimmermehr vor meinen Antlitz sehen, verleugne mich, ich bin dein Vater nicht-- Malchen (umklammert weinend seine Knie). Vater, Barmherzigkeit, verstoßen Sie mich nicht! Astragalus. Hinweg von mir! (Stoßt sie fort.) Rappelkopf. Das leid ich nicht--potz Donnerkeil und Wolkenbruch--Nun hab ichs satt, ich muß mich um meine Familie annehmen. Der Mensch ruiniert mir Weib und Kind. Sapperment! Sie sind kein Mensch, ein Teufel sind Sie, der mich schwärzer darstellt, als ich bin. Astragalus. Du kommst mir eben recht, du schändlicher Betrüger! Gib mir Genugtuung dafür, daß du Komplotte hinter meinem Rücken schmiedest. Gib Rechenschaft--(er packt ihn an der Brust) wie mein Vermögen steht-- Malchen. Zu Hülfe! Onkel! Sopie (gleichzeitig). Zu Hülfe! Bruder! Lischen (gleichzeitig). Zu Hülfe! Rappelkopf. Was? anpacken? Ha, Entehrung! Satisfaktion, Duell! (Alle Hausleute.) Astragalus. Pistolen her! Rappelkopf. Kanonen her! Astragalus (nimmt Pistolen von der Wand). Hier sind sie schon. Rappelkopf. Das wird ein Treffen wie bei Navarin. Sopie. Mann, ich bitte dich um alles in der Welt! Astragalus. Umsonst! Malchen. Onkel, sind Sie doch vernünftig! Rappelkopf. Geh weg, ich hab keine Zeit dazu. Astragalus. Fünf Schritte sind genug. Wir schießen uns zugleich. Zähl drei! Sopie. Versöhnt euch doch! Rappelkopf. Wir sind die besten Freund, jetzt sind wir erst auf du und du. Geh fort, ich muß. (Zählt und zielt.) Eins, zwei-- Sopie (fällt in Ohnmacht). Ach! Rappelkopf. Die fallt schon um, ich hab noch gar nicht gschossen. Malchen. Die Mutter stirbt! Rappelkopf. Sie soll noch warten, sag! Astragalus. Drück los! Malchen (umschlingt ihren Vater). Ach Onkel, halten Sie, sonst töten Sie zwei Menschen. Rappelkopf (prallt zurück). Was? Himmel, jetzt fallt mir was ein, ich kann mich gar nicht duellieren mit ihm! Wir haben nur alle zwei ein Leben. Wann ich ihm erschieß, so schieß ich mich selber tot. Wenn ich jetzt losdruckt hätt, jetzt wärs schon gar. Astragalus. Mach fort! warum besinnst du dich? Rappelkopf. Nu wenn sich einer da nicht besinnen soll, hernach gehts recht. Astragalus. Nur einer fällt, ich oder du. Rappelkopf. Das kann nicht sein, wir falln in Kompagnie. Astragalus. Gleichviel, es geht auf Leben und Tod. (Zielt.) Rappelkopf. Halt, es geht auf Tod und Tod. Astragalus (geht auf ihn zu). Warum willst du nicht schießen, feiger Wicht? (Sophie hat sich indessen erholt.) Rappelkopf. Weil mich meine Schwester dauert--ich will sie nicht zur Witwe machen--, und ihr Kind, und ihr Schwager, und die ganze Freundschaft. (Beiseite.) Das ist eine Schande, ich weiß gar nimmer, was ich sagen soll. Astragalus. Ich will mein Leben nicht für sie erhalten, und dir will ichs am wenigsten verdanken. Es gilt mir nichts, ich werf ihn weg, den unschmackhaften Rest des altgewordnen Seins, ich brauch ihn nicht. Rappelkopf. Wie der mit meinem Leben herumwirft, und ihm gehts gar nichts an. Astragalus. Doch deine Feigheit will ich nicht hier dulden, du packst dich fort aus meinem Haus, sonst werf ich dich hinaus-- Rappelkopf. Jetzt wirft er mich gar aus meinen eignen Haus? Der Mensch spielt noch Ballon mit mir, und bring ich ihn recht in Zorn, so trifft uns alle zwei der Schlag. Ich weiß gar nicht, was er noch immer will, ich sehs ja ein, ich war ein unvernünftig Tier, ein Tiger, drum will ich wissen, was denn jetzt noch kommt. (Habakuk mit einem Brief tritt schnell ein.) Habakuk (eintönig). Ein Brief. Rappelkopf. Aus Paris? Du Dummkopf! Habakuk. Nein, dasmal ist er aus Venedig. Astragalus (schießt darauf los). Aus Venedig? her damit! Rappelkopf. Her damit! Der intressiert mich selbst. (Will hineingehen.) Astragalus (fährt ihn an). Was wollen Sie? Rappelkopf (erschrickt). Ja so! Jetzt darf ich meine eignen Briefe nicht lesen. Verdammter Doppelgänger du! (Astragalus wird während des Lesens unruhig und bleich und zittert.) Das muß eine schöne Nachricht sein. Astragalus (läßt zitternd das Blatt fallen und sagt mit Entsetzen). Ich bin verloren! Rappelkopf (fängt zum zittern an). So bin ichs auch. Astragalus (sinkt in einen Stuhl.) Mir wird nicht wohl. Rappelkopf. Und mir wird übel. (Sinkt in den gegenüberstehenden Stuhl.) Astragalus. Ich geh zugrunde Rappelkopf. Ich bin schon hin. Alle. Wasser! Wasser! (Die Weiber sind besorgt. Lischen läuft ab.) Astragalus (springt auf). Wasser! Ja, ihr erinnert mich darauf. (Zu Rappelkopf) Du Verräter bist an allem schuld. (Stürzt ab.) Rappelkopf (springt auch auf). Nein, mein Schwager ist an allem schuld! Wo ist der Brief? (Liest. Erstarrt.) »Mein Herr, ich berichte Ihnen, daß das Handlungshaus, bei welchem Ihr Vermögen liegt, ge--ge-- fallen ist.« Ich lieg schon da--ich streck schon alle vier von mir. (Lischen kommt zitternd.) Lischen. Hülfe! Hülfe! der gnädge Herr ist fort, er ruft, er wolle sich ersäufen, er stürzt sich in den Strom. Sopie. Mein Mann! Malchen. Der Vater! Alles. Eilt ihm nach! (Alles stürzt ab.) Rappelkopf (kann vor Angst nicht von der Stelle). Halts ihn auf, den unglückselgen Kerl, was der Mensch mit meim Leben treibt! Ich komm aus einen Tod in den andern hinein. (Die Knie brechen ihm.) Ich kann nicht fort, er springt hinein. Er ist schon drin, ich fang zum schwimmen an. (Schleppt sich fort.) Der Himmel steh mir bei, dasmal ein Menschenfeind, in meinem Leben nimmermehr. Verzweiflung, gib mir Kraft, sonst muß ich untergehn. (Ab.) Fünfzehnter Auftritt Verwandlung Freie Gegend vor dem Schlosse. Im Hintergrunde ein tiefer Strom, an der Seite ein hoher Fels. Alle Hausleute. Malchen. August. Astragalus wird gehalten. Sophie kniet vor ihm. Gruppe. Chor. Haltet ihn, haltet ihn! Seht, er will entrinnen. Laßt ihn nicht, laßt ihn nicht, Denn er ist von Sinnen! (Astragalus reißt sich los und eilt auf den Fels. In dem Augenblick erscheint) Rappelkopf (und ruft). Halt! (Astragalus springt hinab. Rappelkopf fällt ohnmächtig in die Arme seiner Frau und Tochter.) Schnelle Verwandlung in den Tempel der Erkenntnis. Hohe Säulen von Kristall mit Gold geziert. Auf der Hinterwand eine große Sonne, in deren Mitte die Wahrheit schwebt. Vor ihr ein Opferaltar. Astragalus' Gestalt, welche in das Wasser sprang, war eine falsche. Dieser zeigt sich nun wie zu Anfang des zweiten Aktes. Mit ihm ideal gekleidete Alpengeister. Rappelkopf hat sich indessen in seine wahre Gestalt verwandelt. Sophie. Malchen. August. Astragalus (zu Rappelkopf). Willkommen hier in der Erkenntnis hellstrahlendem Tempel, im wahrheiterleuchteten Saale. Ich sehe dich beschämt und reuergriffen vor mir stehen. Rappelkopf. Ja leb ich denn noch? Bin ich denn nicht in Kompagnie ersoffen? Sopie. Du lebst noch, lieber Mann! Malchen. Sie leben, lieber Vater! Rappelkopf. Und künftig nur für euch. (Umschlingt sie beide.) Wenn ich euch nicht zu schlecht bin, daß ihr für mich auch lebt. Astragalus. Du hast nun Menschenhaß geschaut und eines Menschenfeindes Ende. Rappelkopf. Und ist er denn wirklich hin, dieser verwünschte Lebenskompagnon, dieses Zerrbild meiner Unverträglichkeit? Astragalus. Er ist verschwunden wie dein Menschenhaß. Rappelkopf. Nu das waren ein Paar saubre Leute, ich bin froh, daß ich sie losgeworden bin. Aber weil Eure Hoheit gar so viel vermögend sind, könnten Sie denn nicht auch etwas über mein verlornes Vermögen vermögen. Damit ich auch meinem Schwager verzeihen könnt, weil er der einzige ist, den ich noch hasse. (Man hört ein Posthorn. Linarius, als Postknecht gekleidet, mit Herrn von Silberkern.) Linarius. Hier lad ich meinen Passagier von seiner Wolkenreise ab. Die Alpenluft hat ihm recht gut getan. Silberkern. Nu wart, du saubrer Postillon! Herr Schwager, seh ich Sie einmal? Rappelkopf. Sie sind mir schon der liebste Schwager, jetzt kommt er erst daher, wenn schon alles vorbei ist. Sie sind an meinem Unglück schuld, ich bin ein Bettler. Silberkern. Von einmalhunderttausend Gulden Münze, die ich ohne Ihre Einwilligung bei dem Bankier erhoben habe, bevor das Haus noch fiel. Weil ich Wind bekam und Ihr Vermögen retten wollte, das ich Ihnen hier in Wechseln übergebe. Rappelkopf. Ach, das ist ein Schwager, den laß ich mir gfallen, der bringt doch was ins Haus. (Umarmt ihn, Silberkern umarmt Sophie.) Kinder, mein Vermögen, die Menge Wechsel, ich bin völlig ausgewechselt vor lauter Freuden. Herr Schwager, das werd ich Ihnen nie vergessen. Silberkern. Zahlen Sie mir lieber meine Angst, die ich Ihretwegen ausstehn mußte. Rappelkopf. Ich geh Ihnen die meinige dafür, Sie kommen nicht zu kurz. Silberkern. Aber wie hängt denn das alles zusammen? Rappelkopf. Freund, das werden wir Ihnen morgen früh erzählen, sonst möcht es den Leuten zu viel werden. Denn ich hab heut schon so viel geredet, daß ich nichts mehr sagen kann als: (zu August) Sie sind mein Schwiegersohn. Nehmen Sie sie hin. Aber Sie sind ein Maler, schmieren Sie s' nicht an. Lieben Sie s' so, wie ich Sie unrechterweise gehaßt habe, dann kann sie schon zufrieden sein. August, Malchen (zugleich). Bester Vater! Rappelkopf (auf den Alpenkönig zeigend). Dort bedankt euch. August, Malchen (stürzen zu Astragalus' Füßen). Großer Alpenkönig, Dank! Astragalus (mit Rührung). Ich hab dir gestern einen Kranz versprochen, Als ich dein Leid im Alpentale sah. Du siehst, ich habe nicht mein Wort gebrochen, Das Leid ist fort, der Kranz ist da. (Er nimmt einen Kranz aus schönen Alpenblumen von glänzender Folio, den ihm einer von den Alpengeistern reicht, und setzt ihn Malchen auf.) So nimm ihn hin, du Mädchen seltner Art, Das treulich hält, was liebend es verspricht, Und weil ich euch so väterlich gepaart, Vergeßt auch auf den Alpenkönig nicht. (Geht ab.) Rappelkopf. Kinder, ich bin ein pensionierter Menschenfeind, bleibt bei mir, und ich werde meine Tage ruhig im Tempel der Erkenntnis verleben. Schlußgesang Erkenntnis, du lieblich erstrahlender Stern, Dich suchet nicht jeder, dich wünscht mancher fern. Zum Beispiel die Leute, die uns oft betrügn, Die wolln nicht erkannt sein, sonst würden s' nicht lügn. Doch seien vor allen die Schönen genannt, Die werdn von uns Männern am ersten erkannt. Die Guten, die brauchen schon längere Zeit, Obwohl die Erkenntnis dann ewig erfreut. Die Jugend will oft mit Erkennen sich messen, Die hat den Verstand schon mit Löffeln gegessen. Doch rückt nur das Alter einmal an die Reih, Dann kommt die Erkenntnis schon selber herbei. Der Mensch soll vor allem sich selber erkennen, Ein Satz, den die ältesten Weisen schon nennen, Drum forsche ein jeder im eigenen Sinn: Ich hab mich erkannt heut, ich weiß, wer ich bin. Erkannt zu sein wünscht sich vor allem die Kunst. Die feine Kokette bewirbt sich um Gunst. Und wird sie auch heute mit Ruhm nicht genannt, So werde denn doch nicht ihr Wille verkannt! Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Der Alpenkönig und der Menschenfeind, von Ferdinand Raimund. End of the Project Gutenberg EBook of Der Alpenkonig und der Menschenfeind, by Ferdinand Raimund *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER ALPENKONIG UND DER *** ***** This file should be named 6637-8.txt or 6637-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/6/6/3/6637/ Produced by Delphine Lettau Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
6637-8
The Project Gutenberg EBook of Der Alpenkonig und der Menschenfeind, by Ferdinand Raimund This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Der Alpenkonig und der Menschenfeind Author: Ferdinand Raimund Posting Date: June 6, 2012 [EBook #6637] Release Date: October, 2004 First Posted: January 8, 2003 Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER ALPENKONIG UND DER *** Produced by Delphine Lettau Der Alpenkönig und der Menschenfeind Ferdinand Raimund Romantisch-komisches Original-Zauberspiel in zwei Aufzügen Personen: Astragalus, der Alpenkönig Linarius und Alpanor, Alpengeister Herr von Rappelkopf, ein reicher Gutsbesitzer Sophie, seine Frau Malchen, seine Tochter dritter Ehe Herr von Silberkern, Sophiens Bruder, Kaufmann in Venedig August Dorn, ein junger Maler Lischen, Malchens Kammermädchen Habakuk, Bedienter bei Rappelkopf Sebastian, Kutscher in Rappelkopfs Dienst Sabine, Köchin in Rappelkopfs Dienst Christian Glühwurm, ein Kohlenbrenner Marthe, sein Weib Salchen, ihre Tochter Hänschen, Christoph und Andres, ihre Kinder Franzel, ein Holzhauer, Salchens Bräutigam Christians Großmutter Rappelkopfs verstorbene Weiber: Victorinens Gestalt Wallburgas Gestalt Emerentias Gestalt Alpengeister. Genien im Tempel der Erkenntnis. Dienerschaft in Rappelkopfs Hause. Die Handlung geht auf und um Rappelkopfs Landgut vor. Erster Aufzug Erster Auftritt Die Ouvertüre beginnt sanft und drückt fröhlichen Vogelsang aus, dann geht sie in fremdartiges Jagdgetön über, begleitet von Büchsenknall. Beim Aufziehen der Kurtine zeigt sich eine reizende Gegend am Fuß einer Alpe, welche sich im Hintergrunde majestätisch erhebt. Im Vordergrunde zeichnet sich in der Mitte ein Gebüsche von Alpenrosen, links ein abgebrochener Baumstamm und im Vordergrunde rechts ein hoher Fels aus. Ein Chor von Alpengeistern, dabei Linarius, durchaus grau als Gemsenjäger gekleidet, jeder eine erlegte Gemse über den Rücken hängen, eilt von der Alpe herab und sammelt sich im Vordergrunde der Bühne. Chor. Stellt die Jagd ein, luftge Schützen! Von den steilen Alpenspitzen Steigt herab ins blumge Tal. Zählt mit wilder Jägerfreude Schnell die frischgefällte Beute Hier im grünen Weidmannssaal. Zweiter Auftritt Astragalus, ganz grau gleich den übrigen Geistern als Alpenjäger gekleidet, ein Jagdgewehr über die Schulter. Astragalus (im rauhen Tone). Holla ho, ihr Jägersleute! Seid genügsam in der Beute. Laßt, ihr jagdberauschten Schergen, Ruhn das Gemsvolk in den Bergen. Lang gedonnert haben wir Heut im steinigten Revier. Linarius (erster Alpengeist). Großer Fürst, du magst nur winken, Und der Alpen Geister sinken Kraftberaubet in den Staub Wie vorm Sturmwind welkes Laub. Keiner ist hier, der es wagt, Fortzusetzen mehr die Jagd. Doch es kann nichts Schönres geben, Als auf Alpenspitzen schweben Und den Blitz vom Rohre senden, Der Gazelle Leben enden. Ha! wenn aus metallnem Lauf Krachend sich der Schuß entladet Und die goldne Kugel drauf In der Gemse Blut sich badet: Das ist echte Weidmannslust, Das erhebt des Jägers Brust. Alle. Das ist echte Weidmannslust! Das erhebt des Jägers Brust! Astragalus. Bei des Eismeers starren Wellen, Ihr seid wackre Jagdgesellen. Oft soll euch die Lust entzücken, Doch auch andre mags beglücken. Denn was wir dem Berg entwenden, Will ins dürftge Tal ich senden. An Bewohner niedrer Hütten, Die um karges Mahl oft bitten, Teilet eure Gemsen aus. Werft sie unsichtbar ins Haus. Linarius. Edel ist stets dein Beginnen, Und wir eilen schnell von hinnen, Um den mächtgen Herrscherwillen Stolz zu ehren durch Erfüllen. Laßt die Hütten uns umrauschen Und leis dem Entzücken lauschen, Wenn sie in der Tiere Wunden Goldne Kugeln aufgefunden. Dankesperlen, die sie weinen, Wollen wir zu Kränzen einen, Daß sie zieren dann zum Lohn Lieblich deinen Alpenthron. (Alle ab.) Dritter Auftritt Astragalus allein. Astragalus. Wohl soll in der Geister Walten Lieb und Großmut mächtig schalten, Und ihr Wesen hoher Art, Wo sich Kraft mit Freiheit paart, Soll, befreit von irdschem Band, Schwingen sich an Äthers Rand. Doch, so wies im Menschenleben Bös und gut Gesinnte gibt, Jener haßt und dieser liebt: So ists auch in Geistersphären, Daß nicht all nach oben kehren Ihr entkörpert Schattenhaupt, Und, des liebten Sinns beraubt, Auch der Böse schaut nach unten, An die finstre Macht gebunden. Und so wird der Krieg bedinget, Der die Welt mit Leid umschlinget, Der die Wolken jagt durch Lüfte, Der auf Erden baut die Grüfte, Der den Geist gen Geist entzweiet, Der dem Hai die Kraft verleihet, In des Meeres Flut zu wüten, Der dem Nordhauch schenkt die Blüten, Der den Sturm peitscht gegen Schiffe, Daß zerschmettern sie am Riffe, Der die Menschen reiht in Heere, Daß sie zu des Hasses Ehre Über ihrer Brüder Leichen Sich des Sieges Lorbeer reichen-- Doch ich liebe Geisterfrieden, Bin dem Menschen gut hienieden, Hause nicht in Bergesschlünden, Laß in freier Luft mich finden. Hab auf Höhen, glänzend weiß, Auf des Gletschers kühnstem Eis, Mein kristallnes Schloß erbaut, Das der Sterne Antlitz schaut. Und dort blick aus klaren Räumen Auf der Menschheit eitles Träumen Mitleidsvoll ich oft herab. Doch wenn ich am Pilgerstab Manch Verirrten wandern sehe, Steig von meiner wolkgen Höhe Nieder ich zum Erdenrunde, Reich ihm schnell die Hand zum Bunde Und leit ihn mit Freundessinn Zum Erkenntnistempel hin. (Ab.) Vierter Auftritt Auf der entgegengesetzten Seite Malchen, Lischen. Erstere im lichtblauen Sommerkleide, einen Strohhut auf dem Haupte, läuft fröhlich voraus. Malchen. Ach, das heiß ich gelaufen, wie pfeilschnell doch die Liebe macht! (Sieht sich um.) Hier ist mein teures Tal. Wie herrlich alles blüht, heut glänzt die Sonne doppelt schön, als wäre Festtag an dem Himmel und sie des Festes Königin. Ach, wie dank ich dir, du liebe Sonne, daß du mir meinen August bringst. Lischen, Lischen! (Ruft in die Kulisse.) Wo bleibst du denn? Wie ängstlich sie sich umsieht. Was hast du denn? Lischen (kommt ganz verwirrt und sehr geschwätzig). Aber Sie unglückseliges Fräulein, wie können Sie sich denn heute in diese berüchtigte, verrufene, bezauberte Gegend wagen? Haben Sie nicht die wilde Jagd gehört? heut ist der Alpenkönig los. Hätt ich das gewußt, Sie hätten mich nicht mit zwanzig Pferden aus dem Haus gezogen. Aber Sie weckten mich auf, sagten mir, ich sollte mich schnell anziehen, Sie wollten Ihrem August entgegeneilen, der heute von seiner Kunstreise aus Italien zurückkömmt. Malchen. Nun, das tat ich ja. Hier erwart ich meinen August. Sein letzter Brief nennt mir den heutgen Morgen. Hier schieden wir in Gegenwart meiner Mutter vor drei Jahren mit betrübtem Herzen voneinander. Du weißt, daß mein Vater schon damals gegen unsere Liebe war, obwohl Augusts Onkel starb und ihm einiges Vermögen hinterließ, schlug er ihm doch meine Hand ab, geriet in den heftigsten Zorn und warf ihm Talentlosigkeit in seiner Malerkunst vor. August, auf das bitterste gekränkt, beschloß, nach Italien zu reisen, um seinen Kummer zu zerstreuen und sich an den großen Mustern zu bilden. Hier schwor er mir ewge Treue, meine gute Mutter versprach uns ihren Beistand, doch du weißt, wie es um meinen armen Vater steht. Hier haben wir uns getrennt, hier gelobten wir uns wieder in die Arme zu stürzen. Nach seinen Briefen hat er große Fortschritte in seiner Kunst gemacht. Lischen. Was Italien, was Kunst, was helfen mir alle Maler von ganz Italien und Australien! In diesen Bergen haust der Alpenkönig. Und wenn uns der erblickt, so sind wir verloren. Malchen. So sei nur ruhig, es wird ja den Hals nicht kosten. Lischen. Aber die Schönheit kanns kosten, und der Verlust der Schönheit geht uns Mädchen an den Hals. Und wie innig ist die Schönheit mit dem Hals verbunden, wer halst uns denn, wenn wir nicht schön mehr sind? Wissen Sie denn nicht, daß jedes Mädchen, das den Alpenkönig erblickt, in dem Augenblick um vierzig Jahre älter wird? Ja sehen Sie mich nur an, keine Minute wird herabgehandelt. Vierzig Jahre, und unsere jetzigen auch noch dazu, da wird eine schöne Rechnung herauskommen. Stellen Sie sich die Folgen einer so entsetzlichen Verwandlung vor. Was würde ihr geliebter Maler dazu sagen, wenn er in Ihnen statt einer blühenden Frühlingslandschaft eine ehrwürdige Wintergegend aus der niederländischen Schule erblickte, was würden alle meine Anbeter dazu sagen, wenn der Anblick dieses Ungetüms meine Wangen in Falten legte wie eine hundertjährige Pergamentrolle? Malchen. Aber wer hat dir denn solche Märchen aufgebunden? Beinahe könnt ich selbst in Angst geraten. Es gibt gar keinen Alpenkönig. Lischen. Nicht? Nun gut--bald werd ich Sie wie meine Großmutter verehren. Folgen Sie mir, oder ich laufe allein davon. (Will fort.) Malchen. So bleib nur, mein August wird bald hier sein, die Sonne steht schon hoch, du mußt mir Toilette machen helfen, der Wind hat meine Locken ganz zerrüttet. Du hast doch den kleinen Spiegel mitgenommen, wie ich dir befahl? Lischen. Ei freilich, ach, hätt ich lieber meine Angst vergessen! Malchen. So. (Setzt sich auf den Baumstamm und öffnet ihre Locken. Lischen steht mit dem Spiegel vor ihr.) Halt ihn nur! Weißt du, Lischen, ich muß mich doch ein wenig zusammenputzen, er kömmt aus Italien, und die Frauenzimmer sollen dort sehr schön sein. Lischen. Hahaha, warum nicht gar! Ich kenne in der Welt nur ein schönes Frauenzimmer. Sie werden mich verstehen, Fräulein. Malchen (nimmt es auf sich). Du bist zu galant, Lischen, das verdien ich nicht. Lischen (beiseite). Die glaubt, ich mein sie, wie man nur so eitel sein kann--und ich meine mich. Malchen. So, Lischen, jetzt sind die Locken alle offen--jetzt halt nur gut, der Alpenkönig tut uns nichts. Lischen. Ach ums Himmels willen, nennen Sie doch den abscheulichen Alpenfürsten nicht--(erschrickt) es rauscht ja etwas im Gebüsche, Himmel, ich laß den Spiegel fallen. (Ein Auerhahn fliegt aus dem Gebüsche auf. Sie schreit.) Ach der Alpenkönig! (Läuft mit dem Spiegel fort.) Malchen (nachrufend). Lischen, Lischen, was schreiest du denn, es ist ja nur ein Vogel. Ach du lieber Himmel, sie hat ja den Spiegel mitgenommen, die läuft ganz sicher nach Hause. Lischen, so höre doch! Entsetzlich, meine Locken, wenn jetzt August kömmt und mich so erblickt. Das überleb ich nicht. Ach du lieber Himmel, wie hätt ich mir das vorstellen können, das ist doch das größte Unglück, das einem Menschen begegnen kann. (Besinnt sich.) Aber pfui, Malchen, was ist das für eine Eitelkeit, August wird dich doch nicht deiner Locken wegen lieben? (Ärgerlich.) Aber die Locken tragen dazu bei, wenn die Männer nun einmal so sind, was kann denn ich dafür? Und warum heißen sie denn Locken, wenn sie nicht bestimmt wären, die Männer anzulocken? (Sieht in die Szene.) Ach, dort eilt er schon den Hügel herauf. O welche Freude (hüpft), welche Freude! (Plötzlich stille.) Wenn nur die fatalen Locken nicht wären! Ich will mich hinter den Rosenbusch verstecken, vielleicht bring ich sie doch ein wenig zurechte. (Verbirgt sich hinter das Rosengebüsche.) Fünfter Auftritt August im einfachen Reiseanzug, eine Mappe unter dem Arme. August. Von dem meerumwogten Strande, Aus dem wunderholden Lande, Wo die goldnen Ährenfelder Wechseln mit Orangenwälder, Wo die stolzen Apenninen Über alte Größe sinnen, Wo die Kunst mit Geisteswaffen Das Vollendetste erschaffen, Wo die ungeheuren Reste Der zerfallenen Paläste An die Kraft der Zeit uns mahnen Und wir bebend Hohes ahnen: Aus dem Tempel der Natur Kehr ich heim zur stillen Flur. Denn im biedern Vaterlande Ketten mich die teuern Bande Zarter Liebe, fester Treue, Und der Riesenbilder Reihe, Die wie Träume mich umwehen, Schließt ein frohes Wiedersehen. Seid mir gegrüßt, ihr heimatlichen Berge! O Erinnerung, wie nah trittst du an mich und reichst mir einen schönen Kranz, geflochten aus vergangnen Freuden. Und doch muß ich bei all dem Schönen hier das Schönste noch vermissen, bei all dem Lieben fehlt mein Liebstes mir. Wo bist du, teures Malchen? Warum erwartest du mich nicht? Sollte sie meinen Brief nicht empfangen haben? Ist sie krank? Vielleicht kann sie so früh vom Haus nicht fort. Sie kömmt gewiß. Ich will indes die Gegend zeichnen hier, die sie so liebt, und zum Geschenk ihrs bieten, wenn sie naht. (Er setzt sich auf den Baumstamm und zeichnet.) Wie herrlich dort die Alpe glänzt im Sonnenstrahl, die heitre Luft, und hier--der dunkle Fels, der üppge Rosenstrauch--nur eins gefällt mir nicht, die bleichen Rosen machen sich nicht gut, ich wüßte schönere, die auf ihren Wangen blühn. Wär nur Malchen hier, sie sagte mir gewiß, was ich für Farben wählen soll. Malchen (öffnet mit beiden Händen den Rosenstrauch und blickt liebevoll hervor, so daß sie mit halbem Leibe sichtbar ist und sagt zärtlich). Laß sie blau sein wie Beständigkeit. August (höchst entzückt). Amalie! (Sie stürzen sich in die Arme.) Malchen. August, lieber August! Astragalus (erscheint auf dem Fels im Vordergrunde und ruft). Heisa he! da gehts ja lustig zu im Alpentale. (Er stützt sich auf sein Gewehr und behorcht das folgende Gespräch.) August. Liebes, schönes, gutes Malchen--(plötzlich scherzhaft) böses Malchen, warum hast du mich auch nur einen Augenblick geneckt? Malchen. Sei nicht böse, lieber August! August. Dafür räch ich mich durch diesen Kuß. (Küßt sie.) Malchen. O du rachsüchtiger Mensch! August (sanft). Bist du ungehalten darüber? Malchen (unschuldig). Gott bewahre, räche dich nur. Böse Leute sagen, die Rache sei süß, und auf diese Weise möcht ich es beinahe glauben. August. Gutes Malchen! Wie glücklich fühl ich mich, dich wieder zu sehen, nichts soll uns trennen als der Tod Malchen. Und mein Vater, August, der ist noch weit über den Tod. Wenn der gute Vater nur nicht gar so böse auf mich wäre! August. Sorge nicht, Malchen, wenn er die Fortschritte meiner Kunst erfahren wird, wenn er sich von der Beständigkeit meiner Liebe überzeugt, so kann uns seine Einwilligung nicht entgehen. Ich will noch heute zu ihm. Malchen. Ach, das ist vergebens. Mein Vater spricht niemand außer seiner Familie, nur selten die Dienerschaft. Er ist zum Menschenfeind geworden. August. Unmöglich, und du rühmtest mir sein Herz, seine Rechtlichkeit. Malchen. Er besitzt beides. Doch du weißt, daß mein Vater, als er in der Stadt noch den ausgebreiteten Buchhandel hatte, um große Summen betrogen wurde, die er aus Gutmütigkeit an falsche Freunde verlieh. Undank und Niederträchtigkeit brachten ihn zu dem Entschluß, seinen Buchhandel aufzugeben, die Stadt zu fliehen und sich auf seinem gegenwärtigen Landsitz vor der Zudringlichkeit ähnlicher Menschen zu verbergen. Hier liest er nun unaufhörlich philosophische Bücher, die ihm den Kopf verrücken. Sein Mißtrauen hat keine Grenzen. Er hat die unglückliche Weise, gegen jeden Menschen so aufzufahren, daß er die gleichgültigsten Dinge mit einer Art von Wut verlangt. Niemand, selbst die Mutter, kann um ihn weilen. Alles flieht und fürchtet ihn, und darum hat er jeden im Verdacht der Untreue und gönnt doch keinem eine Verteidigung. Sein Menschenhaß steigt mit jedem Tage, und wir fürchten für sein Leben. Wie gerne würden wir alles dafür tun, ihn von unserer Liebe zu überzeugen; doch, wer lehrt ihn den Fehler seiner unbilligen Heftigkeit einsehen und ablegen, womit er sich alles zum Feinde macht und sich der Mittel beraubt, die Menschen aus einem bessern Gesichtspunkte zu betrachten. Deinen Namen dürfen wir gar nicht aussprechen, er weiß, daß meine Mutter unsre Liebe billiget, und haßt sie darum bis in den Tod. August. O grausames Schicksal, warum vernichtest du all meine glücklichen Träume wieder? Also kann ich dich nie besitzen, Malchen? Malchen. Wenn ich nur ein Mittel wüßte, dich zu erringen! Wär ich frei wie jener Vogel, der sich so fröhlich in der blauen Luft dort wiegt, ich zöge mit dir durch die ganze Welt. Glückliches beneidenswertes Tier! Wer darf dir deine Freiheit rauben? (Astragalus schießt den Vogel aus der Luft. Man sieht ihn aber nicht fallen. Malchen erschrickt.) Ha! Astragalus (immer im rauhen Tone). Des Schützen Blei, weil du die Frage stellst. Malchen (blickt hinauf). O August, sieh! August. Wer bist du, grauer Wundermann? Astragalus. Den Alpenkönig nennt man mich. Malchen. Der Alpenkönig! wehe mir! (Sinkt ohnmächtig in Augusts Arme.) August. Was ist dir, Malchen? Hülfe, Hülfe, steht ihr bei! Astragalus (lachend). Da müssen Steine sich erbarmen selbst. Hab Mitleid, Fels, und öffne schnell dein Herz! (Er stoßt mit dem Kolben des Gewehrs an den Fels. Der Fels öffnet sich, man sieht einen kleinen Wasserfall, der über Rosen sprudelt, an dem zwei Genien lauschen, sie fangen mit goldnen Muscheln Wasser aus der Quelle und besprengen Malchen damit.) Erwache, Törin, die sich Flügel wünscht und so die Erde höhnt! August. Sie schlägt das Auge auf. Wie ist dir, Malchen? Malchen. Ach, wie kann mir sein! Ich habe den Alpenkönig erblickt. Jetzt bin ich gewiß um vierzig Jahre älter geworden. Erkennst du mich noch, August? August. Bist du von Sinnen? Was hast du denn? Malchen. Ach, Falten habe ich, lieber August, viele tausend Falten. Ich muß entsetzlich aussehen. Sieh mich nur nicht an! August. Was fällt dir ein! Du bist so schön, als du es immer warst. Malchen. Schön wär ich? Gewiß? Und hätte keine Falte, keine einzige? August. Gewiß nicht. Malchen. Ach du lieber Himmel, wie danke ich dir! Nein, eine solche Angst hab ich in meinem Leben noch nicht ausgestanden! August. Was war dir denn? Malchen. Nun, Lischen sagte mir, ein Mädchen, das den Alpenkönig sieht, würd um vierzig Jahre älter. Astragalus (tritt vor). So sagte sie? Malchen. Ach! da ist er schon wieder! (Verhüllt das Gesicht.) Astragalus. Seid ohne Furcht und horcht, was Alpenkönig spricht. Schon zweimal sah ich eurer Herzen Brand Wie Morgenrot auf Lilienschnee erglühen Und Tränen, edler Sehnsucht nur verwandt, Leidkündend über eure Wangen ziehen. Und weil mich dies so inniglich erfreut, Daß ihr so seltsam treu noch denket, Hab ich euch meine Fürstengunst geweiht Und eure Lieb mit meinem Schutz beschenket. (Zu Malchen.) Ich weiß um deines Vaters Menschenhaß, Hab ihn belauscht, wenn er den Wald durchrannte Mit Ebersgrimm, auf Bergesgipfel saß Und seinen Fluch nach allen Winden sandte. Doch laßt darum den treuen Mut nicht sinken. Erkennen wird mit seinem Wahnsinn rechten. Die Sterne werden bald zur Brautnacht winken, (zu Malchen) Und Alpenkönig wird den Kranz dir flechten. (Ab.) Sechster Auftritt August. Malchen. Malchen. Hast dus gehört, August, ists ein Traum, wir sollen glücklich werden? August. Wir wollen seinem Worte glauben. Und obwohl ich seine Existenz für ein Märchen hielt, muß ich sie für wahr erkennen, wenn ich nicht ungerecht gegen meine Sinne handeln will. Malchen. Komm, wir wollen meiner Mutter alles erzählen, ich werde schon sehen, daß du mit ihr sprechen kannst. Laß uns vertrauen auf den Alpenkönig. Er scheint nicht bös zu sein, ich hab ihm auch dreist ins Auge geblickt, und es hat mir nichts geschadet, nicht wahr, lieber August? Ich bin um gar nichts älter geworden? August. Nein, liebes Malchen. Seit ich dich wiedersehe, kaum um eine Stunde. Malchen. Um eine Stunde nur? (Ihm sanft ins Auge blickend.) Nun, eine Stunde kann ich schon verschmerzen und es war eine glückliche, denn ich habe sie mit dir verlebt. August. O gutes Malchen, wie beglückst du mich! (Beide Arm in Arm ab.) Siebenter Auftritt Verwandlung Zimmer auf Rappelkopfs Landgut. Sophie. Sabine. Der Kutscher. Die sämtliche Dienerschaft. Chor. Euer Gnaden sind so gütig, Doch wir haltens nimmer aus. Unser Herr ist gar zu wütig, Und das treibt uns aus dem Haus. Niemand kann bei ihm bestehn, Und wir wollen alle gehn. Sopie. Seid nur ruhig, liebe Leute, verseht euren Dienst, nur kurze Zeit noch, es wird sich vielleicht bald alles ändern. Geht an eure Pflicht! Wenn mein Mann herüberkäme, ich bin in Todesangst. Kutscher. Ei, was nutzt denn das, Euer Gnaden, er solls wissen, wir könnens nicht mehr länger aushalten mit ihm, wir tun unser Schuldigkeit, und er kann uns nicht leiden. Sopie. Es wird sich alles ändern, ich habe an meinen Bruder nach Venedig geschrieben, ihm meines Mannes Seelenkrankheit und ihre üblen Folgen vorgestellt, er wird vielleicht noch heute ankommen, um alles zu versuchen, seinen Menschenhaß zu heilen--oder mich von meinem armen Mann zu trennen. Kutscher. Na, das ist die höchste Zeit, Euer Gnaden schauen sich ja gar nimmer gleich. Drei Weiber hat er schon umbrachte er ist ja ein völliger blauer Bart. Achter Auftritt Vorige. Habakuk. Sopie. Diese gemeinen Äußerungen hören zu müssen! Habakuk, ist mein Mann auf seinem Zimmer? Ist Malchen schon zu Hause? Habakuk. Der gnädige Herr ist schon wieder im Gartenzimmer, er hat sich selbst seinen Schreibtisch und seinen Stuhl hinübergetragen und geht mit sieben Ellen langen Schritten auf und ab. Ich versichere Euer Gnaden, ich war zwei Jahr in Paris, aber ein solcher Herr ist mir nicht vorgekommen. Sabine (im schwäbischen Dialekt). Nu da habe wirs, jetzt trau ich mich nicht in den Garte hinaus, er hat den Schlüssel von der Hofgartetür abgezogen.--Ich kann nicht koche-- Sopie. Nun so geh Sie durch das Gartenzimmer. Sabine. Ja wer traut sich denn hinein? Wenn der Herr drinne ist? Da geh ich ja eher zu einem Leopard in die Falle. Er jagt ja alles hinaus. Wenn er in die Kuchel kommt, so wärs notwendig, ich schliefet unter den Herd. Habakuk. Nun ja, und da sind so schon so viel Schwaben unten. Kutscher. Mich kann er gar nicht leiden, ich muß mich immer unters Heu verstecken. Habakuk. Mich haßt er doch nur bis daher (zeigt den halben Leib). Er sagt, ich wär nur ein halbeter Mensch. Sopie. Aber er beschenkt euch ja so oft. Sabine. Ja aber wie? Er tut einem dabei alle Grobheiten an und wirft einem das Geld vor die Füß. Habakuk. Oh, da ist er noch in seinem besten Humor, aber neulich nimmt er sein goldene Uhr, ich glaub, er macht mir ein Präsent, derweil wirft er mir s' an den Kopf. (Hochdeutsch.) Ja, das sind halt Berührungen, in die man nicht gern mit seiner Herrschaft kommt, ich war zwei Jahr in Paris, aber das hab ich nicht erlebt. Zu was brauch ich zwei Uhren, ich hab meine Uhr im Kopf, aber am Kopf brauch ich keine. Sabine. Kurz, in dem Haus ist nichts zu mache, wenn man nicht einmal in den Garten kann-- Habakuk. Wie soll man denn da auf ein grünes Zweig kommen! Alle. Kurzum, wir wollen alle fort. Sopie. Also wollt ihr eure Frau, die euch immer so menschenfreundlich gewogen war, so plötzlich verlassen, da ihr doch seht, daß sowohl ich als meine Tochter eine gleiche Behandlung zu erdulden haben? Ich kann euch nicht fortlassen, weil zwischen heut und morgen mein Bruder ankömmt, der vieles über meinen Mann vermag. So lange müßt ihr die Launen eures Herrn noch ertragen. Alle. Es geht nicht, Euer Gnaden, es ist nicht zum existieren. Sopie. Nun, so nehmt dieses kleine Geschenk (sie gibt jedem einige Silberstücke) und stärkt eure Geduld damit, vielleicht geht es doch. Alle. Ach! Wir küssen die Hand, Euer Gnaden. Kutscher. Wir werden halt sehen, ob wir auskommen können mit ihm. Habakuk. Solang wir mit dem Geld auskommen, kommen wir schon mit ihm auch aus. Sabine. Und wisse Euer Gnade, er wär nicht gar so übel, der gnädge Herr-- Kutscher. Ach gar nicht--wenn er nur anders wär. Habakuk. Freilich, das ist der einzige Umstand. Sopie. Doch jetzt geht beruhigt an eure Geschäfte. Alle. Gleich, gnädige Frau. (Ab.) Kutscher. Euer Gnaden sind halt eine gscheide Frau. Ich sag immer, Euer Gnaden sind einmal ein Kutscher gwesen, weil Euer Gnaden so gut wissen, daß man einen Wagen schmieren muß, wann er fahren soll. (Lacht dumm und geht ab.) Sabine (küßt ihr die Hand). Das ist wahr, Euer Gnaden sind eine Frau, die man in der ganzen Welt suche darf. (Ab.) Habakuk. Ich versichere Euer Gnaden, ich war zwei Jahr in Paris, aber ein Herz, wie Euer Gnaden zu haben belieben, das ist wirklich, wie man auf französisch sagt, nouveau! Neunter Auftritt Lischen. Vorige. Sopie. Nun endlich seid ihr zurück. Wo ist Malchen? Ist August angekommen? Haben sie sich getroffen? Lischen. Von allen dem weiß ich keine Silbe, gnädige Frau, ich weiß gar nichts, als daß der Mädchen verfolgende Alpenkönig eine Jagd gegeben hat, daß mich an dem Ort des Rendezvous eine Angst befallen hat und daß ich über Hals und Kopf zurückgelaufen bin. Sopie. Und Malchen? Lischen. Wollte ihren Liebhaber erwarten und war nicht zu bewegen, mit zurückzugehen. Sopie. Aber wie kann Sie sich unterstehen, meine Tochter allein zu lassen? Sie leichtsinnige Person, der ich mein Kind anvertraut habe! Ich muß nur gleich Leute hinaussenden. Wenn ihr ein Unglück widerführe! O Himmel, was bin ich für ein gequältes Geschöpf! Lischen. Aber gnädge Frau-- Sopie. Geh Sie mir aus den Augen. (Eilig ab.) Zehnter Auftritt Lischen. Habakuk. Lischen (äußerst zornig). Nein, das ist nicht zum Aushalten, das Haus ist ja eine wahre Folterbank. Wie man nur die Dienstleute so herabsetzen kann? Habakuk. Es ist aber auch ein Volk. Ich bin ein Bedienter, aber wenn ich mein eigner Herr wär, ich jaget mich selber fort. Lischen. Mich eine Person zu heißen! Habakuk. Solche Personalitäten! Lischen. Halt Er Sein Maul! Wenn ich nur diesen langweiligen Menschen nicht mehr vor mir sehen dürfte! Habakuk. Ich bin kein Menschenfeind, aber ich habe einen Stubenmädelhaß. Was mir diese Person zuwider ist, bloß weil sies nicht glauben will, daß ich in Paris gewesen bin. (Boshaft.) Gschieht Ihr schon recht, Mamsell Liserl! Lischen. O Er erbärmlicher Wicht! Er verdient gar nicht, daß sich ein Stubenmädchen von meiner Qualität mit Ihm unter einem Dache befindet. Habakuk. Oh, prahlen Sie nicht so mit Ihrer Stubenmädelschaft, Sie haben auch die Stubenmädlerei nicht erfunden. Ich versichere Sie, ich war zwei Jahr in Paris, da gibt es Stubenmädel--wenn man die ins Deutsche übersetzen könnt, das gäbet eine Stubenmädliade, wo sich die ganze hiesige Kammerjungferschaft verstecken müßt. Und Sie schon gar, meine liebe Exkammerjungfer. Lischen. Er zwei Jahre in Paris gewesener Einfaltspinsel, Er kommt mir gerade recht, wenn Er sich noch einmal untersteht, seine unverschämte Zunge zu meinem Nachteil zu bewegen, so werd ich Seinen Backen einen Krieg erklären und Ihm den auffallendsten Beweis liefern, auf was für eine kräftige Art ein deutsches Kammermädchen die Ehre ihres Standes zu rächen weiß. (Gibt ihm eine Ohrfeige und geht schnell ab.) Habakuk (hält sich die Wange). Nein, was man in dem Haus alles erlebt--ich war zwei Jahre in Paris, aber so etwas ist mir nicht vors Gesicht gekommen. (Geht ab, indem er sich den Backen hält.) Elfter Auftritt Verwandlung Kürzeres Zimmer. Rechts die Eingangstür, links führt eine Glastür nach dem Garten. Auf dieser Seite befindet sich ein massiver altmodischer Tisch und ein Stuhl. Rechts an der Wand neben der Tür ein hoher Spiegel. Neben der Gartentür ein Sekretär. Rappelkopf kömmt in heftiger Bewegung zur Glastür herein. Sein ganzes Wesen ist sehr auffahrend. Er sieht die Menschen nur auf Augenblicke oder mit Seitenblicken an und wendet sich schnell, entweder erzürnt oder verächtlich, von ihnen ab. Rappelkopf. Ha! Ja! Lied Ja, das kann nicht mehr so bleiben, 's ist entsetzlich, was sie treiben. Ins Gesicht werd ich belogen, Hinterm Rücken frech betrogen, 's Geld muß ich am End vergraben, Denn sie stehln als wie die Raben. Ich hab keinen Kreuzer Schulden, Bare hunderttausend Gulden, Und doch wirds mir noch zu wenig, Es tät not, ich wurd ein König. Meine Felder sind zerhagelt, Meine Schimmel sind vernagelt, Meine Tochter, wie betrübt, Ist das ganze Jahr verliebt. Alle Tag ist das ein Gwinsel Um den Maler, um den Pinsel, Der kaum hat ein Renommee, Und vom Geld ist kein Idee. Und mein Weib, bei allen Blitzen, Will die Frechheit unterstützen, Sagt, er wär ein Mann zum Küssen, Wie die Weiber das gleich wissen! Und das soll mich nicht verdrüßen? Ja, da möcht man sich erschießen. Und statt daß man mich bedauert, Wird auf meinen Tod gelauert, Und so sind sie alle, alle, Ich zerberste noch vor Galle. Drum hab ich beschlossen und werd es vollstrecken, Ich laß von den Menschen nicht länger mich necken. Ich lasse mich scheiden, ich dringe darauf. Der ganzen Welt künd auf Michäli ich auf. Die Liebe, die Sehnsucht, die Freundschaft, die Treue, Mir falln s' nur nicht alle gschwind ein nach der Reihe, Die lockenden, falschen, gewandten Mamsellen, Die mich fast ein halbes Jahrhundert schon prellen, Die lad ich noch einmal zum Frühstück ins Haus Und peitsch sie, wie Timon, zum Tempel hinaus. Es ist aus! Die Welt ist nichts als eine giftge Belladonna, ich habe sie gekostet und bin toll davon geworden. Ich brauch nichts von den Leuten, und sie kriegen auch nichts von mir, nichts Gutes, nichts Übles, nichts Süßes und nichts Saures. Nicht einmal meinen sauren Wein will ich ihnen mehr verkaufen. Ich habe Aufrichtigkeit angebaut, und es ist Falschheit herausgewachsen. Es ist schändlich, ich bin auf dem Punkte durch meinen eignen Schwager zum Bettler zu werden. Er hat mich überredet, mein Vermögen einem Handlungshause in Venedig anzuvertrauen, das jetzt dem Sturze nah sein muß. Ich erhalte keine Interessen, keinen Brief von meinem heuchlerischen Schwager, den ich verkannt und der vielleicht im Bunde steht mit dem betrügerischen Volk. Und so täuscht mich alles! alles! Darum will ich keinen Kameraden mehr haben als die zanksüchtige Erfahrung. Das ist der vorsichtge, weltghetzte Hase Mit der vom Unglück zerstoßenen Nase, Mit dem millionmal verwundeten Schädel, Das ist mein Mann, den behandle ich edel. Ich hab zu viel ausgestanden in der Welt. Mich hat die Freundschaft getäuscht, die Liebe betrogen und die Ehe gefoltert. Ich kanns beweisen, ich hab vier Attestaten, denn ich hab das vierte Weib. Und was für Weiber! Eine jede hat eine andere Untugend ghabt. Die erste war herrschsüchtig. Die hat wollen eine Königin spielen. Bis ich als Treffkönig aufgetreten bin. Die zweite war eifersüchtig bis zum Wahnsinn. Wie sich nur eine Fliegen auf meinem Gsicht hat blicken lassen, pums, hat sie s' erschlagen. Das waren zwei Ehen--da kann man sagen, Schlag auf Schlag. Die dritte war mondsüchtig. Wenn ich in der Nacht hab etwas auf sie sprechen wollen, ist sie auf dem Dach oben gsessen. Jetzt frag ich einen Menschen, ob das zum Aushalten war? Aber sie haben doch behauptet, sie könnten mit mir nicht leben, und sind aus lauter Bosheit gestorben. Bin aber nicht gscheid geworden, hat mich die Höllenlust angewandelt, eine vierte zu nehmen. Eine vierte, die viermal so falsch ist als die andern drei. Die mein Kind in ihrem Ungehorsam unterstützt. Den Maler protegiert, den Maler, der vor Hunger alle Farben spielt. Nichts als immer wispert mit der Dienstbotenbrut, Komplotte macht gegen ihren Herrn und Meister. (Sieht zur halboffnen Eingangstür hinaus.) Aha! Da schleicht das Stubenmädel herum. Die hat schon wieder eine Betrügerei im Kopf. Die wär nicht so übel, das Stubenmädel, das ist noch die sauberste--aber ich hab einen Haß auf sie, einen unendlichen--ich werd sie aber doch hereinrufen, bloß um sie auf eine feine Art auszuforschen. He! Lischen! (Schreit.) Herein mit ihr! Zwölfter Auftritt Voriger. Lischen tritt furchtsam ein. Lischen. Was befehlen Euer Gnaden? Rappelkopf (immer barsch). Ich hab etwas zu reden mit ihr. Lischen (erschrickt). Mit mir? (Beiseite.) Nun das wird eine schöne Konversation werden. Was er schon für Augen macht! Rappelkopf (beiseite). Ich werd alle möglichen Feinheiten gebrauchen. (Roh.) Da geh Sie her! (Lischen nähert sich verzagt. Rappelkopf betrachtet sie verächtlich vom Kopf bis zu den Füßen.) Infame Person! Lischen. Aber Euer Gnaden-- Rappelkopf. Was Gnaden--nichts Gnaden--schweig Sie still und antwort Sie. Lischen. Das kann ich ja nicht zugleich. Rappelkopf. Sie kann alles. Es gibt keinen Betrug, der Ihr nicht möglich wäre. Sie ist eine Mosaik aus allen Falschheiten zusammengesetzt. (Beiseite.) Ich muß mich zurückhalten, damit ich nur nicht unhöflich mit ihr bin. Lischen (empört). Aber wer wird sich denn solche Impertinenzen sagen lassen? Rappelkopf (heftig). Sie, Sie wird 's sich sagen lassen. Und wird keinen Laut von sich geben. Was hat Sie für eine Betrügerei vorgehabt? Sie will mich bestehlen? Lischen. Nein! Rappelkopf. Was denn? Lischen. Ich will mich empfehlen. (Will fort.) Rappelkopf (nimmt ein ungeladenes Jagdgewehr). Nicht von der Stelle, oder ich schieß Sie nieder! Lischen (schreit). Hülfe, Hülfe! Rappelkopf. Nicht mucksen! Antwort! Warum hat Sie so verdächtig herumgesehen? Was ist im Werk? Lischen. Himmel, wenn es losgeht! Rappelkopf. Nutzt nichts! losgehn muß etwas, entweder Ihr Maul oder die Flinten. Lischen. Ach, was soll ich denn mein Leben riskieren! (Kniet nieder.) Lieber gnädiger Herr, ich will alles bekennen. Rappelkopf. Endlich kommts an den Tag. Himmel, tu dich auf! Lischen. Ich habe gelauscht, ob das Fräulein nicht aus dem Alpental zurückkömmt, die gnädge Frau hat mich ausgezankt, weil ich nicht bei ihr geblieben bin, da sie ihren Liebhaber erwartet, der heute ankommt. Die gnädige Frau ist mit ihr einverstanden, doch weil sie mich so mißhandelt hat, so verrate ich sie. Rappelkopf. Entsetzlicher Betrug! O falsche Niobe! Und Sie niedrigdenkende Person, Sie wagt es, Ihre Frau zu verraten--der Sie so viel Dank schuldig ist? O Menschen, Menschen! Ausgeartetes Geschlecht! Aus meinen Augen geh Sie mir, Sie undankbare Kreatur, ich will nie mehr etwas von Ihr wissen. Lischen. Aber was hätt ich denn tun sollen? Rappelkopf. Schweigen hätt Sie sollen. Lischen. Aber Euer Gnaden hätten mich ja erschossen. Rappelkopf. Ist nicht wahr, es ist nicht geladen. Betrug für Betrug. Lischen. So, also hätt ich diese Angst umsonst ausgestanden? Das ist abscheulich. Rappelkopf. Nein, nicht umsonst. Du Krokodil von einem Stubenmädel--du sollst eine Menge dafür haben: meine Verachtung, meinen Haß, meinen Schimpf, meine Verfolgung und deinen Lohn. (Wirft ihr einen Beutel vor die Füße.) Nimms und geh aus meinem Haus. Mach dich zahlhaft, oder ich zahl dich auf eine andre Art aus. So nimms, warum nimmst du es denn nicht? Lischen. Oh, ich werds schon nehmen. (Denkt nach.) Gnädger Herr! Rappelkopf. Was denkst denn nach, du Viper? Nimms und ruf mir deine Frau. Lischen (schnell auf die Gartentür deutend). Dort ist sie ja! Rappelkopf (schießt schnell gegen die Gartentür). Wo ist sie? Wo? Her mit ihr. Lischen (hebt schnell den Beutel auf). Das ist ein alter Narr! (Läuft schnell ab.) Rappelkopf (sieht ihr nach). Hat ihn schon! O ihr Welten, stürzt zusammen, dieses weibliche Insekt wagt es, mich zum besten zu halten! O Rappelkopf! Wie falsch diese Menschen mit mir sind, und ich bin so gut mit ihnen! Ha! Dort kommt mein Weib, entsetzlicher Anblick--meine Haar sträuben sich empor, ich muß aussehen wie ein Stachelschwein. Dreizehnter Auftritt Voriger. Sophie. Sopie (gelassen). Was willst du denn, lieber Mann? Rappelkopf. Dich will ich, aus der gesamten Menschheit dich! und von dir mein Fleisch und Blut, mein Kind! Wo ist sie? Sopie (verlegen). Sie ist nicht zu Hause-- Rappelkopf (sehr heftig). Nun also, wo ist sie--? Wo?-- Sopie. So sei nur nicht so heftig. Rappelkopf. Jetzt bin ich heftig, und ich bin ganz erstaunt über meine Gelassenheit. Im Wald ist sie draußen. Also auch mein Kind ist verloren für mich? Sopie. Nu, nu, in dem Wald ist ja kein Bär. Rappelkopf. Aber ein junger Herr--Also die Gschicht ist noch nicht aus, mit diesem Maler? Sopie. Und darf nicht aus sein, denn das Glück und die Ruhe deiner Tochter stehen auf dem Spiele. Sie wird ihn ewig lieben. Rappelkopf. Und ich werd ihn ewig hassen. Sopie. Was hast du als Mensch an ihm auszusetzen? Rappelkopf. Nichts, als daß er einer ist. Sopie. Was hast du gegen seine Kunst einzuwenden? Rappelkopf. Alles! Ich hasse die Malerei, sie ist eine Verleumderin der Natur, weil sie s' verkleinert. Die Natur ist unerreichbar. Sie ist ein ewig blühender Jüngling, doch Gemälde sind geschminkte Leichen. Sopie. Ich kann deine Ansichten nicht billigen und darf es nicht. Meine Pflicht verbietet es. Rappelkopf. Weil du dir die Pflicht aufgelegt hast, mich zu hassen, zu betrügen, zu belügen et cetera. (Wendet sich von ihr ab.) Sopie. So laß dir doch nur sagen-- Rappelkopf. Ist nicht wahr. Sopie. Ich habe ja nichts gesagt noch-- Rappelkopf. Du darfst nur das Maul aufmachen, so ist es schon erlogen. Sopie. So blick mich doch nur an-- Rappelkopf. Nein, ich hab meinen Augen jedes Rendezvous mit den deinigen untersagt. Lieber Kronäugeln als Liebäugeln. Aus meinem Zimmer! (Setzt sich und dreht ihr den Rücken zu.) Sopie (empört). Du wendest mir den Rücken zu? Rappelkopf. In jeder Hinsicht. Weil du alles hinter meinem Rücken tust, so red auch mit mir hinter meinem Rücken. Ich bin kein Janushaupt, ich hab nur ein Antlitz, und da ist nicht viel daran, aber wenn ich hundert hätt, so würd ich sie alle von euch abwenden. Darum befrei mich von deiner Gegenwart! Hinaus, Ungeheuer! Sopie. Mann, ich warne dich zum letzten Male. Diese Behandlung hab ich weder verdient, noch darf ich sie länger erdulden, wenn ich nicht die Achtung vor mir selbst verlieren soll. Niemand ist deines Hasses würdiger als dein Betragen. Es ist ein Feind, der sich in seinem eignen Haus bekriegt. Und es ist wirklich hohe Zeit, daß ich mich entferne, damit ich mich nicht durch den Wunsch versündige, der Himmel möchte dich von einer Welt befreien, die deinem liebeleeren Herzen zur Last geworden ist und in der du keine Freude mehr kennst als die Qual deiner Angehörigen. (Geht erzürnt ab.) Rappelkopf (allein). Das ist eine schreckliche Person. Alles ist gegen mich, und ich tu niemand etwas. Wenn ich auch manchmal in die Hitz komm, es ist eine seltene Sach, wenn ich ausgeredt hab, ich weiß kein Wort mehr, was ich gsagt hab. Aber die Menschen sind boshaft, sie könnten mich vergiften. Und dieses Weib, gegen die ich eine so auspeitschenswerte Liebe ghabt hab, ist imstande, mich so zu hintergehen. Und doch fordert sie Vertrauen. Woher nehmen? Wenn ich nur einen wüßt, der mir eines leihte! Ich wollte ihm dafür den ganzen Reichtum meiner Erfahrung einsetzen. (Stellt sich an die Gartentür.) Dieser Garten ist noch meine einzige Freud. Die Natur ist doch etwas Herrliches. Es ist alles so gut eingerichtet. Aber wie diese Raupen dort wieder den Baum abfressen. Dieses kriechende Schmarotzergesindel. (Sich höhnisch freuend.) Freßts nur zu. Nur zu. Bis nichts mehr da ist, nachher wieder weiter um ein Haus. O bravissimo! (Bleibt in den Anblick versunken mit verschlungenen Armen stehen.) Vierzehnter Auftritt Voriger. Habakuk tritt zur Eingangtür herein, ein Kuchelmesser in der Hand. Habakuk. Jetzt wollen wirs probieren. (Sieht Rappelkopf, erschrickt.) Sapperment, da steht er just vor der Gartentür! Wie komm ich denn jetzt hinaus? Ich trau mich nicht vorbei. Er fahret auf mich los als wie ein Kettenhund. Ach, was kann denn mir geschehen! Ich war zwei Jahr in Paris. Euer Gnaden erlauben, daß ich (Rappelkopf kehrt sich schnell um und erschrickt. Habakuk erschrickt ebenfalls.) Rappelkopf. Was ists--? Was will Er? Habakuk (für sich). Bellt mich schon an. (Versteckt das Messer unwillkürlich.) Rappelkopf (packt ihn an der Brust). Was willst du da herin, warum erschrickst? Habakuk (für sich). Hat mich schon. (Laut.) Euer Gnaden verzeihen, ich hab-- Rappelkopf. Was hast? Ein schlechtes Gewissen hast. Was versteckst denn da? Ans Licht damit! Habakuk (zeigt es vor). Ich versteck gar nichts, Euer Gnaden. Es ist ein Kuchelmesser-- Rappelkopf (prallt entsetzt zurück). Himmel und Hölle! Der Kerl hat mich umbringen wollen. Habakuk. Warum nicht gar-- Rappelkopf. Den Augenblick gesteh! (Packt ihn und entreißt ihm das Messer.) Ist dieses Messer für mich geschliffen? Habakuk. Ah, das wär ja rasend, wenn Euer Gnaden so was glauben könnten-- Ich hab ja Euer Gnaden nur fragen wollen-- Rappelkopf. Ob du mich umbringen darfst? Habakuk. Warum nicht gar, da würd man ja Euer Gnaden lang fragen-- Rappelkopf. O du schändlicher Verräter! Habakuk. So lassen sich Euer Gnaden nur berichten-- Rappelkopf. Keine Entschuldigung, hinaus mit dir! Habakuk (beiseite). Er laßt einem nicht zu Wort kommen. (Laut.) Euer Gnaden müssen mich hören. (Will auf ihn zu.) Rappelkopf (hält einen Stuhl vor). Untersteh dich und komm mir auf den Leib. Ich glaub, er hat noch ein paar Messer bei sich. Der Kerl ist ein völliger Messerschmied. Habakuk. So untersuchen mich Euer Gnaden ins Teufels Namen-- Rappelkopf (packt ihn wieder). Das will ich auch. Gesteh, Bandit von Treviso, wer hat dich gedungen? Habakuk. Ich versteh Euer Gnaden gar nicht. Rappelkopf. Ich will wissen, wer diese Schreckenstat veranlaßt hat. Habakuk. Mein Himmel, die gnädige Frau hat gschafft-- Rappelkopf. Genug, ich brauch nicht mehr zu wissen. Entsetzlich! (Habakuk will reden. Rappelkopf schreit.) Nichts mehr! Mein Weib will mich ermorden lassen! (Sinkt in einen Stuhl und verhüllt sein Gesicht.) Habakuk (für sich). Ah, das ist schrecklich! ich hätt sollen einen Zichori ausstechen (ringt die Hände), und er glaubt, ich will ihn umbringen. Ah, das ist schrecklich, das ist schrecklich! Rappelkopf. Ja, es ist schrecklich--es ist entsetzlich, es ist das Unmenschlichste, was die Weltgeschichte aufzuweisen hat. (Nimmt den Stuhl.) Hinaus, du Mörder! du Abällino! du Ungeheuer in der Livree! Habakuk. Aber Euer Gnaden-- Rappelkopf. Hinaus mit dir-- Habakuk. Nein, ich war-- Rappelkopf (wütend). Hinaus, sag ich, oder--(jagt ihn hinaus.) Habakuk (schon vor der Tür, schreit). Ich war zwei Jahr in Paris, aber das hab ich noch nicht erlebt. (Ab.) Rappelkopf (allein). Es ist vorbei, ich bin unter meinem eignen Dache nicht mehr sicher. Drum hinaus, nur hinaus Aus dem mörderischen Haus! Doch vorher will ich mich rächen, Alle Möbel hier zerbrechen. Gleich zuerst nehm ich beim Schößel Diesen vierzigjährgen Sessel, Auf dem meine Weiber saßen, Die mein Lebensglück mir fraßen. Ha! Dich tret ich ganz zuschanden. (Zertritt den Stuhl.) So--der hat es überstanden. Auch den Tisch, an dem ich Briefe, Voll Gemüt und treuer Tiefe, Einst an falsche Freunde schrieb, Spalte ich auf einen Hieb. (Schlägt in den Tisch.) Und der weltverführnde Spiegel, Der Verderbtheit blankes Siegel, Dieser Abgott aller Schönen, Dem die eitlen Narren frönen, Wo sie stehen, wo sie gaffen Und sich putzen wie die Affen, Gsichter schneiden, Buckerl machen, Weißer Zähne willen lachen: O du truggeschliffner Räuber! Du Verführer eitler Weiber! O du niedrige Lappalie! Wart, dir liefr ich jetzt Bataille. (Erblickt sich in dem Spiegel.) Pfui! das häßliche Gesicht, Ich ertrag es länger nicht. (Zerschlägt den Spiegel mit geballter Faust.) So! da liegt er jetzt, der Held, Und sein Harnisch ist zerschellt. (Besieht die Hand.) Ha! der glänzende Betrüger Hat verwundet seinen Sieger, Doch ich mach mir nichts daraus, Flöß ein Eimer Blut heraus. (Öffnet den Schreibtisch und nimmt Briefe aus demselben.) Auch die Briefe voll von Lieb, Die im Wahnsinn ich einst schrieb, Die zerreiß ich alle hier. 's ist nur schad um das Papier. (Zerreißt sie und streut sie auf den Boden. Nimmt Geldrollen und Geldbeutel aus einer Schatulle.) Nur das tiefgehaßte Geld, Die Mätresse dieser Welt, Das bewahr ich mir allein, Das muß mit, das steck ich ein. (Steckt es schnell in die Taschen.) Nun? Ihr Esel, ihr vier Wände, Die ich hasse ohne Ende, Warum schaut ihr mich so an? Bin ich nicht ein ganzer Mann? Euch kann ich zwar nicht zerschlagen, Doch ich will euch etwas sagen: Ich geh jetzt in Wald hinaus Und komm nimmermehr nach Haus. (Läuft wütend ab.) Fünfzehnter Auftritt Verwandlung Das Innere einer Köhlerhütte. Rußige Wände. Salchen am Spinnrocken. Hänschen, Christopherl, Andresel sitzen am Tisch. Marthe an einer Wiege, in der ihr Kind liegt. Unterm Tisch ein großer schwarzer Hund. Auf dem Tisch eine Katze, mit welcher die Knaben spielen. Im Hintergrunde zwei schlechte Betten. In einem liegt die kranke Großmutter, in dem andern der betrunkene Christian. Quintett Salchen (fröhlich). Wenn ich an mein Franzel denk, Wird mir halt so gut. 's Herzel, das ich ihm nur schenk, Kriegt gleich frohen Mut. Die drei Kinder. He, Mutter, gib was z' essen her, Der Magen tut uns weh! Salchen. Das Hungern fällt mir gar nicht schwer, Wenn ich mein Bürschel seh. Wenn ich an mein Franzel denk, Wird mir halt so gut. 's Herzel, das ich ihm nur schenk, Kriegt gleich frohen Mut. Die drei Kinder. Mutter, gib uns Brot! Christian (mit lallender Stimme). Ihr Bagage, seids nicht still? Tausendschwerenot! Marthe (ruft). Still! Das Kind. Qua qua! Die Katze. Miau! Der Hund. Hau hau! (Die erste Melodie fällt ein.) Salchen. Mein Franzel ist ein wiffer Bua, Singt den ganzen Tag: Daß er mich alleinig nur Und kein andre mag. Die drei Kinder. Wenn wir nicht was z' essen kriegn, So gehn wir ja zugrund! Salchen. So weckts das Kind nicht in der Wiegn, Und spielts euch mit den Hund! Mein Franzel ist ein wiffer Bua, Singt den ganzen Tag: Daß er mich alleinig nur Und kein andre mag. Die drei Kinder. Sapperment, ein Brot! Christian. Wanns nicht euern Schnabel halts, Schlag ich euch noch tot! Marthe. Still! Das Kind. Qua qua! Die Katze. Miau! Der Hund. Hau hau! Marthe. Still seids, ihr ausgelassenen Buben! Hänschen (weinerlich). Mutter, a Brot! Salchen. Ist keins da, Holzbirn eßts! Marthe. Und machts keinen solchen Lärm. Euern Vater ist nicht gut. Andresel. Was fehlt ihm denn? Marthe. Den Schwindel hat er. (Für sich.) Man darfs den Kindern nicht einmal sagen. Christoph. Jetzt hat der Vater so viel Kohlen verkauft-- Andresel. Und hat kein Geld z' Haus bracht, nichts als ein Schwindel. Salchen. Was geht das euch an? Andresel. Weil wir hungrig sein. Ich weiß schon, warum wir so wenig z' essen kriegen, weil der Vater so viel trinkt. Salchen. Jetzt schaut d' Mutter einmal die Spitzbuben an. Sie haben gar kein Respekt vor ihren Vatern. Christian. Ich massakrier die Buben alle drei. (Er will auf und taumelt.) Marthe. Liegen bleib! (Sie drängt ihn ins Bette.) Andresel. Er kriegt schon wieder den Schwindel. Alle drei Buben (lachen). Haha! Der Vater kann nicht grad stehn! Marthe. Ob ihr aufhört! Nein, wie hat mich der Himmel gstraft! Das Kind (schreit). Qua qua! Marthe (zu Salchen). Aufs Kind schau! (Salchen wiegt.) Eine Butten voll Kinder und so einen liederlichen Mann. Kein Pfennig Geld im Haus. (Die Großmutter niest im Bett.) Hört d' Mutter zum niesen auf. Man hört sein eignes Wort nicht. Die drei Buben. Ah, das ist a Spaß. Andresel. D' Mutter ist zornig. Haha! Marthe. Nein, die Gall bringt mich um. Du verdammter Bub du, wart, ich will dir deine Mutter ausspotten lernen! (Nimmt ihn beim Kopf und schlägt ihn.) Andresel (schreit). Au weh! (Weint.) Salchen (springt herzu und hält sie ab). So hört d' Mutter auf!-- (Die zwei andern Buben verkriechen sich hinter den Tisch und hinters Bett.) Alles zugleich: Das Kind (in der Wiege). Qua qua! Die Großmutter (streckt im Bett die Arme heraus und niest). Hehe! Der Hund (bellt). Hau hau! (Die Katze springt davon.) Sechszehnter Auftritt Vorige. Rappelkopf öffnet die Tür und bleibt stehen. Rappelkopf. Holla, da gehts zu, nur hinauf auf die Köpf! Das ist ein Gesindel. (Geht in die Mitte des Zimmers und klatscht in die Hände. Schadenfroh.) Bravo! Bravissimo! Salchen. Jetzt schauts den an. Was will denn der da? Marthe. Nu was will Er? Was schaut Er? Rappelkopf. Sie will ich nicht. Sie Altertum! Was kost die Hütten da? Was muß ich zahlen, wenn ich euch alle hinauswerfen darf? Salchen. Ah, der hat einen kuriosen Gusto. Marthe. Er impertinenter Mensch, was untersteht Er sich denn, da hereinzukommen-- Salchen. Und uns Grobheiten anzutun. Christian (halb schlaftrunken). Werfts ihn aussi! Marthe (verdrüßlich). Halt's Maul! (Zu Rappelkopf) Was hat denn Er zu befehlen, ich kann meine Kinder schlagen, wie ich will. Andresel. Nun ja, was geht denn den Herrn mein Buckel an? Die Schläg sein unser Mittagmahl. Der Bub unterm Bett. Sultel! Huß huß! Der Hund. Hau hau! Marthe und Salchen. Hinaus mit Ihm! Rappelkopf. Still! kein Wort reden! (Zieht zwei Geldbeutel hervor und klingelt damit.) Geld ist da! Dukaten sind da! Die gehören alle euch. Verstanden? Also freundlich sein. Die Zähn herblöcken. Euer Gnaden sagen. Gschwind! Bagage! Gschwind! Marthe. Euer Gnaden, wir bitten um Verzeihung. Gehts, Kinder, küßt den gnädigen Herrn die Hand. Kriegts was zu schenken. (Die Kinder kriechen hervor.) Andresel (lacht dumm). Dukaten hat er? Gehts, Buben, küssen wir ihm die Hand. (Sie küssen ihm die Hände.) Rappelkopf. Ist schon da die Brut. Alle drei Buben. Euer Gnaden, bitt gar schön um ein Dukaten. Christian. Bringts mir auch welche her! Salchen. Schamts euch nicht? er foppt euch nur. Rappelkopf. Was will die Frau, da, für die Keischen? Ich kauf s'. Wenn s' noch so teuer ist. Marthe. Ah, Euer Gnaden machen nur einen Spaß. Was wollten S' denn mit der miserablichen Hütten da? Rappelkopf. Das geht Sie nichts an. Hat Sie genug an zweihundert Dukaten? Marthe. O mein, Euer Gnaden! So viel Geld kanns ja gar nicht geben auf der Welt, da wären wir ja versorgt auf unser Lebtag. Salchen. Aber die Mutter wird doch nicht die Hütten verkaufen? Was wird denn mein Franzel sagen, wenn ers hört? Andresel. Mutter, gebts ihm s', es ist nicht mehr wert. Marthe (freudig). O du lieber Himmel, das ist a Glück! Wenn nur mit mein Mann was zu reden wär! Andresel. Vater! steht der Vater auf! Oder wir verkaufen 's Haus, und den Vatern auch dazu. Marthe. Du Mann! (Für sich.) Nein, die Schand vorn Leuten! Er kann sich gar nicht rühren. (Während dieser Rede liebkost der Hund Rappelkopf, welcher ihn mit dem Fuß von sich stößt. Der Hund bellt auf ihn. Marthe laut.) Die Hütten kannst verkaufen, stell dir vor, zweihundert Dukaten kriegen wir dafür. Christian (schlaftrunken). Ist zu wenig--viel zu wenig. Salchen. Wenn er s' nur nicht hergebet! Marthe. Der Mann weiß gar nicht, was er redt. Sie können s' habn, Euer Gnaden, es ist schon alles in der Ordnung. Rappelkopf. Da kauf ich alles, wies da liegt und steht. Marthe. Oh, da drauß ist auch ein Kuchel, da hängt a Menge Kuchelgschirr. Andresel. Und Mäus gibts, die sind gar nicht zu bezahlen. Rappelkopf. Also da ist's Geld. (Wirft ihnen Geld hin.) Und jetzt augenblicklich hinaus. Alle miteinander. In zwei Minuten will ich keins mehr sehen. Salchen. Sieht die Mutter, jetzt kommts halt doch auf Hinauswerfen heraus. (Während dieser Reden haben die Kinder alles nach und nach zurückgeräumt, so daß die Bühne im Vordergrunde frei von Möbeln ist, bis auf einen Stuhl, auf den sich Rappelkopf setzt. Franzel tritt ein.) Franzel. Guten Abend, der Franzel ist da! Rappelkopf. Da kommt noch so ein Halbmensch. Salchen. O lieber Franzel, schau nur den Fremden an, dem hat die Mutter die Hütten verkauft, er wirft uns alle 'naus. Er hat s' schon zahlt. Franzel. Aber Mutter, was fallt Euch denn ein? Gebts ihm doch 's Geld zurück, dem abscheulichen Menschen. Marthe. Warum nit gar--das gib ich nimmer her, keinen solchen Narren finden wir nicht mehr. Seids still, von dem Geld könnts euch heiraten. Salchen. Aber wo bleiben wir denn? Es ist ja schon bald Nacht. Marthe. Ums Geld lassen s' uns überall hinein. He! Kinder, Vater, Mutter, auf, auf! wir müssen alle fort. Andresel. Das wird ein Auszug werden! Ich freu mich schon. Marthe. Aufsteh, Mann! (Sie zerrt ihn auf und führt ihn vor.) Rappelkopf. Ist er krank? Marthe. Nu, ich glaubs. Rappelkopf. Schon lang? Marthe. Halt ja, das ist gar ein altes Übel, das ist noch vom vorigen Jahr. Rappelkopf. Das ist nicht wahr! es ist vom Heurigen. Hinaus mit ihm! Christian. Ich geh nicht fort, bis ich das Geld nicht hab. Ich bin ein Mann, ich hab etwas im Kopf, so will ich im Sack auch was haben. Marthe. Ich hab schon 's Geld, (zieht ihm den Rock an und setzt ihm den Hut auf) so geh nur zu! Jetzt Kinder, packts zusammen. (Hansel nimmt den Hund an einen Strick.) Der Christoph führt die Großmutter. (Sie heben die Alte aus dem Bett und geben ihr die Krücke in die Hand. Auf Hänschen.) Du führst den Hund, und ich mein Mann. Rappelkopf. Und das Kind? Was gschieht mit den? Andresel. Das nimm ich unterm Arm. Rappelkopf. Das ist ein Hottentottenvolk. Seid ihr in Ordnung jetzt? Andresel. Ja. Eingspannt ists. Rappelkopf. So fahrt hinaus. Salchen. So müssen wir denn wirklich fort, aus unsern lieben Haus-- Christoph (weint). Wo wir alle geboren und verzogen sein. Salchen. Meiner Seel, der Herr kanns nicht verantworten, was der Herr mit seinen Geld für ein Unheil anstift. Sextett Salchen. So leb denn wohl, du stilles Haus, Wir ziehn betrübt aus dir hinaus. Alle (bis auf Rappelkopf). So leb denn wohl, du stilles Haus, Wir ziehn betrübt aus dir hinaus. Salchen. Und fänden wir das höchste Glück, Wir dächten doch an dich zurück. Alle. Und fänden wir das höchste Glück, Wir dächten doch an dich zurück. (Alle Paar und Paar ab. Sie sehen sich im Abgehen betrübt um, auch der Hund.) Der Hund (mit gedämpftem Ton gegen Rappelkopf im Abführen). Hau hau! Hau hau! (Geht hinten nach, von Hänschen an einem Strick geführt.) Siebzehnter Auftritt Rappelkopf allein. Lied mit Chor Rappelkopf (springt vom Stuhle auf). Jetzt bin ich allein, und ich will es auch bleiben, Will mich mit der Einsamkeit zärtlichst beweiben, Will gar keine Freunde als Berge und Felsen, Verjag das Schmarotzergesindel wie Gelsen, Will nie dem Geschwätze der Weiber mehr lauschen, Da hör ich viel lieber des Wasserfalls Rauschen. Zu Pagen erwähl ich die vier Elemente, Die regen geschäftig die riesigen Hände. Den Westwind ernenn ich zu meinem Friseur, Der kräuselt die Locken und weht um mich her, Und wenn ich ein hohes Toupet vielleicht schaff, Frisiert mich der Sturmwind gleich à la Giraff. So leb ich zufrieden im finsteren Haus Und lache die Torheit der Menschen hier aus. (Tritt in die Mitte des Theaters zurück und starrt vor sich hin. Nah an der Hütte ertönt sanft der Chor nach der vorigen Melodie.) Chor. So leb denn wohl, du stilles Haus, Wir ziehn betrübt aus dir hinaus. Der Hund. Hau hau! Rappelkopf (tritt vor). Ich will nichts mehr hörn von den boshaften Leuten, Verachte die Dummen und fliehe die Gscheidten. Und ob sie sich raufen, und ob sie sich schlagen, Und ob sie Prozesse führn und sich verklagen, Und ob sie sich schmeicheln, und ob sie sich küssen, Und ob sie der Schnupfen plagt, wie oft sie niesen, Und ob sie gut schlafen, und was sie gegessen, Und ob sie vernünftig sind oder besessen, Und ob wohl in Indien der Hafer ist teuer, Und obs in Pest regnt und in Ofen ist Feuer, Und ob eine Hochzeit wird oder ein Leich: Ha! das ist mir einerlei, das gilt mir gleich. Ich lebe zufrieden im finsteren Haus Und lache die Torheit der Menschen hier aus. (Wirft sich in den Stuhl. Weiter entfernt von der Hütte:) Chor. So leb denn wohl, du stilles Haus, Wir ziehn betrübt aus dir hinaus. Der Hund. Hau hau! (Es wird finster.) Rappelkopf (springt auf und schleudert den Stuhl zurück, auf dem er saß). Und wollte die Welt sich auch gänzlich verkehren, Und brächte der Galgen die Leute zu Ehren, Und läge die Tugend verpestet am Boden, Und tanzten nur Langaus die Kranken und Toten, Und brauchten die uralten Weiber noch Ammen, Und stünde der Nordpol in glühenden Flammen, Und schenkte der Wucher der Welt Millionen, Und würden so wohlfeil wie Erbsen die Kronen, Und föcht man mit Degen, die ganz ohne Klingen, Und flögen die Adler und fehlten die Schwingen, Und gäbs eine Liebe, gereinigt von Qualen, Und schien' eine Sonne, beraubt ihrer Strahlen: Ich bliebe doch lieber im finsteren Haus Und lachte die Torheit der Menschen hier aus. (Er eilt zurück und öffnet die Fensterbalken. Der Wald erglüht im Abendrot, welches auch Rappelkopf bestrahlt. Er blickt düster hinaus und von ferne erschallt der) Chor. So leb denn wohl, du stilles Haus, Wir ziehn betrübt aus dir hinaus. Der Hund. Hau hau! Achzehnter Auftritt (Langsam verwandelt sich die Bühne in ein kurzes Zimmer in Rappelkopfs Hause. In der Mitte ein großer Spiegel. Tag.) Sophie, von Malchen und August geführt, setzt sich weinend in einen Stuhl. Malchen. Trösten Sie sich, teure Mutter, der Vater wird schon wieder zurückkehren, wenn er ausgetobt hat. Wie oft verließ er nicht das Haus und lief den Bergen zu. Sopie. Ach Kinder, es ist eine böse Ahnung in meinem Busen, die mir jede Hoffnung raubt, daß wir ihn gesund und wohlbehalten wiedersehen. August. Wenn Sie mir nur erlauben wollten, ihm nachzueilen, ich wollte alle Mittel anwenden, ihn zu besänftgen. Sopie. O lieber August, Ihr Anblick würde ihn nur noch mehr erbittern. Eben weil er Sie hier weiß, ist sein Unmut zur Raserei geworden. Malchen. Da kommt Lischen mit Habakuk, vielleicht hat man schon Nachricht gebracht. (Lischen, eilig Habakuk hereinziehend.) Lischen. Da komm Er herein, Er abscheulicher Mensch, und erzähl Er der gnädgen Frau den ganzen Vorfall! Stellen sich Euer Gnaden vor, mit dem Habakuk hat er den letzten Auftritt gehabt. Wegen dem Habakuk ist er fort. Habakuk. So red Sie nur nicht so einfältig! Was kann denn ich dafür? August. Der Mensch ist ja blaß wie eine Leiche. Sopie. Warum hat Er denn das nicht gleich gemeldet, wo war Er bis jetzt? Lischen. Auf den Kornboden hat er sich versteckt, aus lauter Angst vor den gnädgen Herrn. Er hat ihn ja ermorden wollen. Alle. Wen? Lischen. Der Habakuk den gnädigen Herrn. Alle. Nicht möglich! Lischen. Nicht möglich? Er hat es ja selbst gestanden. Sehen Euer Gnaden nur diese Mörderphysiognomie, er bringt noch das ganze Haus um. Habakuk. Ah, das ist ja eine schändliche Person. Euer Gnaden, ich bitt, daß ich mich an ihr eine halbe Stund vergreifen darf. Das kann ich ja nicht leiden. Lischen. Untersteh Er sich und komm Er her, Er Missetäter! Malchen. Du wirst dir doch keinen Scherz erlauben, Lischen? Sopie. Sprech Er, Habakuk! Warum zittert Er denn so? Habakuk. Aus lauter Zorn, ich benimm mich gegen alle présence d'esprit, ich war zwei Jahr in Paris, und mir schnappen die Füß zusammen. August (gibt ihm einen Stuhl). Hier setz Er sich nieder und erklär Er sich über die Sache. Habakuk. Ich kann mich nicht anders erklären, als daß ich, wie Euer Gnaden geschafft haben, einen Zichori hab ausstechen wollen, und wie der gnädige Herr ein Messer bei mir erblickt, so hat er behauptet, ich hätt ihn gschwind unter der Hand umbringen wollen. Laßt mich nicht zu Wort kommen, schüttelt mich wie einen Zwetschkenbaum und fragt mich, wer mich gedünget hat. Ich wollt antworten: Die gnädige Frau braucht einen Zichori. Wer aber diesen Zichori gar nicht aus mir herauslaßt, das war er. Denn kaum hab ich das Wort: »Die gnädige Frau« gesagt, so ist er schon mit beiden Füßen bis auf den Blavon hinauf gsprungen. Hat immer geschrien, meine Frau will mich ermurden lassen, hat mich einen Habällino hin, den andern her geheißen, und hat mich mir nichts dir nichts bei der Tür hinausgeprügelt. Von wo ich mich aus lauter Desperation auf den Kornboden versteckt hab. Bis mich dieses intrigante Frauengeziefer heruntergestöbert hat und jetzt die ganze Gschicht auf eine so verkehrte Weise erzählt. Lischen. Er hat einmal behauptet-- Habakuk. Daß Sie eine niedrigdenkende Seele ist, die einen Mann von meinen Meriten ins Unglück hineinstürzen will. Sopie. Genug jetzt, mit diesen Albernheiten. Also das ist die Ursache, die meinen Mann in solche Wut geraten ließ? Des Mordes hält er mich verdächtig? So ungereimt diese Zumutung auch ist, so gibt sie doch einen Beweis, wie gemein er von meinem Charakter denkt. Malchen. Beruhigen Sie sich, liebe Mutter! August. Wer sollte glauben, daß ein gesunder Verstand so phantastisch ausarten könne? Lischen. Der gnädge Herr hatte immer etwas Düstres an sich, selbst wie er noch Buchhändler war, seine Bücher waren immer gut aufgelegt, er aber nie. Habakuk. Er ist ein Hypokontrolist. Er hat zu reizende Nerven. Lischen (lacht). Es ist schrecklich--dieser Mensch war zwei Jahr in Paris und ist so einfältig wie eine Auster. Habakuk. Diese Person fällt noch von meiner Hand. Sopie (zu Lischen). Und du hast ihn aus dem Hause laufen sehen? Lischen. Dem Walde zu. Nachdem er vorher die große Schlacht gegen alle Möbel gewonnen hatte. Sopie (weint). Ach du lieber Gott, mir bangt um sein Leben, ich kann nicht ruhig bleiben mehr, ich muß selbst hinaus-- August. Bleiben Sie-- Malchen. Ach August, der Alpenkönig hat uns getäuscht. August. Ich verwünsche diesen Kobold. (Donnerschlag. Der Spiegel öffnet sich, man sieht auf einem schroffen Fels den Alpenkönig sitzen. Im Hintergrunde ferne Berge, blauer Himmel.) Sopie. Himmel, welche Erscheinung! August, Malchen. Er ist es! Sopie. Wer? Habakuk. Der Aschenmann! August, Malchen. Der Alpenkönig! Lischen. Ach, daß der Himmel erbarm! (Sie schließt die Augen.) Astragalus. Warum verfluchst du mich? August (kniet). Du Wunderwesen, dessen Macht wir nicht erklären können und die doch unleugbar, weil sie dem Auge und dem Herzen sich zugleich verkündet, du hast uns deinen Schutz gelobt. Und doch ward diesem Haus so tiefes Leid, daß ich beinahe fürchten muß, du könntest meiner Liebe Glück durch ihres Vaters Unglück nur bezwecken. Malchen (kniet). Wenn du die Stelle kennst, auf der sein Fuß jetzt irrt, so rett ihn, hoher Klippenfürst. Sopie (kniet). Ich verstehe meiner Kinder Worte nicht, doch wenn meines Mannes Herz in deinen Zauberbanden liegt und darum sich von uns gewendet hat, so gib es frei, wir werden dich dafür stets als ein gutes Wesen ehren. Lischen (kniet). Hoher Alpenkönig! Ich traue mich zwar nicht, mein Auge zu dir zu erheben, warum? das weiß ich schon. Aber wenn du ein galanter Herr bist, so wird auch die Bitte einer hübschen Kammerjungfer etwas bei dir gelten. Habakuk (kniet). Ich bitt auch ganz erschrecklich, Euer gesteinigte Hochheit! Astragalus (steht auf). Ich dacht es wohl, es wandle euch Besorgnis an, Weil mein Geschäft so üblen Anfang nimmt. Doch sorgt euch nicht, ich bin ein kluger Handwerksmann, Der seinen Vorteil schon voraus bestimmt. Denn wenn man sprödes Erz geschmeidig sucht zu biegen, So lasse man es in des Ofens Bauch erglühn. Und so muß sein Gemüt in Hassesflammen liegen, In wilder Leidenschaft die Seele Funken sprühn, Dann kann ich seinen Wahn durch Überzeugung schmieden Und seiner Denkart ihre alte Form verleihn. Von selbst schließt mit der Menschheit er dann neu den Frieden Und wird sein Wirken freudig ihrem Wohle weihn. Drum, was ihr Böses mögt in baldger Zukunft schauen, Wenn ihr bei nächster Sonne wieder ihn erblickt, Doch mögt ihr kühn und treulich auf mein Wort vertrauen, Noch eh sie sinkt, hat Alpenkönig euch beglückt. (Sinkt in seine frühere Stellung zurück. Das Spiegelglas erscheint wieder.) Sopie. So unerklärbar dieses Phantom mir ist, so hat es doch Trost in meine Seele gesendet. Begleitet mich nach dem Gemach, das uns die Aussicht nach dem Wald hin bietet, vielleicht sehen wir schon einige von den Boten zurückkehren, welche ich nach meinem Manne ausgesendet habe. Dort sollt ihr mir auch Aufklärung über den Alpenkönig geben. (Sophie, Malchen, August ab.) Neunzehnter Auftritt Habakuk. Lischen. Habakuk. Nein, was einem in unserm Haus für Erscheinungen begegnen, das geht in das Entsetzliche hinüber. (Stellt sich vor Lischen.) Lischen. Nu was gibts, Monsieur? Was sieht Er mich so an? Habakuk (gezogen). Sie hat mich auf das Schafott bringen wollen, darum hab ich Ihr in dieser Welt nichts mehr zu sagen, als-- Lischen. Daß Er zwei Jahre in Paris gewesen ist, Er abgeschmackter Mensch? Habakuk. Oui, Mademoiselle, und dieses Bewußtsein gibt mir die Kraft, Ihre Gemeinheit zu verachten. (Geht pathetisch ab.) Lischen (allein). Und ich werde mich in des gnädgen Herrn Zimmer verfügen und mich in den zerbrochenen Spiegel schauen, ob ich meine ganze Schönheit noch besitze. Dann werde ich die zerrissenen Liebesbriefe zusammenkehren und diese mit Füßen getretenen Empfindungen ganz langsam in den Kamin hineinschaufeln. So sind die Männer, ihre Liebesschwüre sind lauter Wechsel an die Ewigkeit, in diesem Leben zahlt sie keiner aus. Wenn ich wieder auf die Welt komme, so werd ich ein Mann und will gar keine von meinen jetzigen Eigenschaften behalten als die Eroberungskunst. Ariette Ach, wenn ich nur kein Mädchen wär, Das ist doch recht fatal, So ging' ich gleich zum Militär Und würde General. Oh, ich wär gar ein tapfrer Mann, Bedeckte mich mit Ruhm! Doch ging' die Kanonade an, So machte ich rechtsum. Nur wo ich schöne Augen säh, Da schöß ich gleich drauf hin. Dann trieb' ich vorwärts die Armee Mit wahrem Heldensinn. Da flögen Blicke hin und her, So feurig wie Granaten. Ich sprengte vor der Fronte her, Ermutigt die Soldaten. Ihr Krieger, schrie' ich, gebt nicht nach! Zum Sieg sind wir geboren, Wird nur der linke Flügel schwach, (aufs Herz zeigend) So ist der Feind verloren. So würde durch Beharrlichkeit Am End der Preis errungen Und Hymens Fahn in kurzer Zeit Von Amors Hand geschwungen. Dann zög ich ein mit Sang und Spiel, Die Mannschaft parodierte. Wär auch der Lorbeer nicht mein Ziel, So schmückte mich die Myrte. So nützte ich der Kriegskunst Gab, Eroberte--ein Täubchen. Dann dankt ich die Armee schnell ab Und blieb' bei meinem Weibchen. (Ab.) Zwanzigster Auftritt Verwandlung Tiefer Wald. Rechts vorne die Köhlerhütte. Eine Tür, neben dieser ein Fenster, auf dem Dache ein praktikables Bodenfenster. Dieser Hütte gegenüber ein großer Eichbaum. Hinter diesem ein Gebüsch. Im Hintergrunde ein kleiner Wasserfall. Es ist spät am Abend. Rappelkopf mit einem Wasserkrug aus der Hütte. Er hat eine berußte Schlafmütze des Köhlers und einen runden Bauernhut auf dem Kopfe und eine Jacke von ihm an. Rappelkopf. So!--Der Timon ist fertig, nun fehlt nur noch sein Kompagnon, der Esel--und wenn ich der auch jetzt nicht bin, so war ichs doch--ich war zu gut, das ist mein größter Fehler. Die Leute wollen es nicht. Es gibt manche Menschen, wenn ihnen einer begegnet, der ihnen noch so viele Wohltaten erwiesen hat, so sagen s' höchstens zu einander: Oh, das ist ein guter Kerl, der tut kein Menschen was, der ist froh, wenn man ihm nichts tut. (Gleichgültig grüßend.) Servus! Servus! Lassen wir ihn leben. Wenn aber einer kommt, von dem sie glauben, daß er ihnen schaden könnt, da stoßen s' einander: Oh! das ist ein böser Kerl, vor dem muß man sich in acht nehmen. (Freundliches tiefes Kompliment.) Tänigster Diener! Tänigster Diener! hab ich die Ehr, mein Kompliment zu machen. Wann der anfangt, der kanns. Gleich wieder: Tänigster Diener! Oh, es wird mich noch zum Wahnsinn bringen. In meinem Haus bin ich nicht sicher mehr, mein Weib will mich ermorden lassen. Habt ihrs gehört, ihr verfolgten Stämme dieses edlen Waldes, die der Mensch gar zu zweifachem Tod bestimmt, weil euch die Axt erst fällt und man euch dann noch hinterdrein verbrennt? Habt ihrs gehört? Mein Weib will mich ermorden lassen! Ist denn der Wald so echolos, daß ich der einzge bin, der diese Schandtat ausposaunt? (Geräusch in den Blättern.) Ha! wer rührt sich da? ist es ein Mensch, so soll er hervorkommen, damit ich meinen ganzen Vorrat von Impertinenzen in sein Antlitz werfen kann. Heraus da, wer ist hier? Qui vive? Ein Stier (streckt aus dem Gebüsche, hinter dem er gefressen, seinen Hals gegen Rappelkopf und brüllt sehr stark.) Ohn! (Man sieht ihn jedoch nur bis an die Brust, der Unterleib ist durch das Gebüsch verdeckt.) Rappelkopf (verblüfft). Diese Antwort hab ich nicht erwartet. (Reißt einen Baumast ab und jagt den Stier fort.) Gehst hinaus! Eine solche Gesellschaft möcht ich mir noch ausbitten. Einundzwanzigster Auftritt Voriger. Astragalus tritt hervor. Astragalus. Du verdienst keine bessere. Warum verfolgst du diesen Sohn meiner Herde? Rappelkopf. Gib der Herr auf seine Kinder besser acht. Hier ist mein Territorium, und da leid ich weder etwas Vierfüßiges noch etwas Zweifüßiges. Also weiter, Vater und Sohn! Astragalus. Du irrest, wenn du wähnst, daß du auf eignem Boden herrschest. Mein ist das Tal, in dem die Alpe wurzelt. Drum frag ich dich, wie du es wagst, schamlose Flüche auszuhauchen hier, daß sie wie giftger Reif an diesen Blättern hangen, und eine Welt zu schmähn, in der du Wurm, aus Schlamm gezeugt, in eines Waldes dunklem Busen dich verkriechst, weil du den Strahl des heitren Lebens fürchtest? Rappelkopf. Was kümmerts dich? (Beiseite.) Der Kerl sieht aus, als wenn er von Gußeisen wär. Dem geh ich gar keine Antwort, den laß ich stehen. (Will in die Hütte.) Astragalus (zielt auf ihn). Halt an! Gib Leben oder Worte! Rappelkopf. Was ist das für eine Art, auf einen Menschen zu schießen? Astragalus. Du bist kein Mensch. Rappelkopf. Nicht? Das ist das Neuste, was ich höre. Astragalus. Du hast dich ausgeschlossen aus der Menschen Kreis. Gib Losung, ob du es noch bist. Bist du gesellig wie der Mensch? Du bist es nicht. Hast du Gefühl? Du fühlst nur Haß. Hast du Vernunft? Ich finde keine Spur. Rappelkopf. Impertinent! Astragalus. Drum sprich, zu welcher Gattung ich dich zählen soll, der du des Tieres unbarmherzge Roheit mit dem milden Ansehn und der Sprache eines Menschen paarst. Rappelkopf. Ah, das ist eine gute Geschichte, der führt einen logischen Beweis, daß ich ein Tier bin und noch dazu eins von der neuesten Gattung. Astragalus. Was hast du zu erwidern mir? Rappelkopf (beiseite). Ich wollt ihm schon etwas erwidern, wenn er keine Flinten hätte. Astragalus. Antwort gib, ob du in meine Jagdbarkeit gehörst und meiner Kugel bist verwandt? Rappelkopf (beiseite). Jetzt muß ich vor dem eine Rechenschaft ablegen, und ich möcht ihn lieber massakrieren. (Laut.) Die Flinte weg. Ich bin ein Mensch, und das ein besserer, als ich sein hätt sollen. Astragalus. Und warum hassest du die Welt? Rappelkopf. Weil ich hab blinde Mäusl gespielt mit ihr, die Treue hab erhaschen wollen und den Betrug erwischt, der mir die Binde von den Augen nahm. Astragalus. Dann mußt du auch dem Wald entfliehen, weil er mißgestalte Bäume hegt, die Erde meiden, weil sie giftge Kräuter zeugt, des Himmels Blau bezweifeln, weil es Wolken oft verhüllen, wenn du den Teil willst für das Ganze nehmen. Rappelkopf. Was nützt das Ganze mich, wenn mich ein jeder Teil sekkiert. Ich bin in meinem eignen Haus des Lebens nicht mehr sicher. Astragalus. Machs mit dem Mißtraun aus, das dich belogen hat. Rappelkopf. Mich haßt mein Weib, mich flieht mein Kind, mich richten meine Dienstleut aus. Astragalus. Weil dein Betragen jeden tief erbittert, weil du den Haß verdienst, den man dir zollt. Rappelkopf. Das ist nicht wahr, ich bin ein Mensch, so süß wie Zuckerkandel ist. Nur mir wird jede Lust verbittert, und ich trage keine Schuld. Astragalus. Die größte, denn du kennst dich selber nicht. Rappelkopf. Das ist nicht wahr. Ich bin der Herr von Rappelkopf. (Es fängt an, Nacht zu werden.) Astragalus. Das ist auch alles, was du von dir weißt. Doch daß du störrisch, wild, mißtrauisch bis zum Ekel bist, vom Starrsinn angetrieben, hin bis an der niedern Bosheit Grenze, und wie die üblen Eigenschaften alle heißen, die du für Vorzug deines Herzens hältst, das ist dir unbekannt, nicht wahr? (Der Mond geht auf.) Rappelkopf. Mir ist nur eins bekannt, daß du ein Lügner bist, der eine Menge Fehler mir andichtet, die ich doch nicht hab. Astragalus. So geh die Wette ein, daß du weit mehr noch hast. Ich führe den Beweis, wenn du dich meiner Macht vertraust und mir gelobst, daß du dich ändern willst. Rappelkopf. Das hätt ich lang getan, wenn ich das gefunden hätte. Ich vertrau mich keinem Menschen an, Betrug ist das Panier der Welt. Astragalus. Glaubst du, die Welt sei darum nur erschaffen, damit du deinen Geifer auf ihr Wappen speien kannst? Die Menschheit hinge nur von deinen Launen ab? Dir dürften andre nur, du andern nicht genügen? Bist du denn wahnsinnig, du übermütger Wurm? Rappelkopf. Sapperment, nicht lang per Wurm, das Ding fangt mich zu wurmen an. Ich gib nicht nach, du bankrottierter Philosoph! Ich bin zu gut, und du zu schlecht, als daß ich länger mit dir red. Drum fort mit dir, der Mond geht auf, und du gehst ab, und künftighin werd ich in meiner Hütten mich verschanzen und herunterstukatieren, wenn sich eins sehen läßt. Astragalus. So willst du nicht die Hand zur Beßrung bieten? Rappelkopf. Ich biete nichts, und wenn mir's Wasser bis an Hals auch geht. Astragalus. Wohlan! So laß uns den Versuch beginnen. Weil nicht Vernunft kann dein Gemüt gewinnen, Soll Geistermacht zu deinem Glück dich zwingen, Und mit dem Alpenkönig wirst du ringen. Vermeid dies Haus! Sonst tritt auf allen Wegen Vergangenheit dir leichenblaß entgegen. Und willst du Elemente Brüder nennen, Lern ihre Wut und ihre Schrecken kennen. Der Blitz soll deines Hauses Dach umarmen, Dann kann dein Herz an Freundesbrust erwarmen. Weil du die Luft willst statt der Gattin küssen, Soll dich des Sturmes Angstgeheul begrüßen. Der Boden soll dich Halbmensch nimmer tragen, Dann magst du über Erdenundank klagen. Und daß du mit den Wellen dich kannst streiten, Will ich die Flut dir bis zur Kehle leiten. So soll dich Feuer, Wasser, Luft und Erd betrügen. Dann wähl, ob du dich willst in meinen Vorschlag fügen. Und wirst du liebend nicht dein Herz zur Menschheit wenden, So sollst du wildes Tier in Waldesnacht hier enden! (Rasch ab.) Rappelkopf (allein). Das ist ein schrecklicher Kerl. Und ich tu doch, was ich will. Just! Du sollst mich nicht um meinen Schlaf heut bringen. Gute Nacht, Freund Wald, ihr Eicheln, lebet wohl, zum Frühstück finden wir uns wieder. (Will gegen das Haus. Beim Öffnen der Tür sitzt Victorinens Geist auf einem Stuhl. Sie ist in blaue Schleier gehüllt und sieht gespensterartig aus. Ihr Gesicht ist bleich und die ganze Gestalt von einem grünen Schirm beleuchtet. Sie spricht mit halblauter Stimme.) Victorinens Geist. Wo bleibst du denn so lang, du liederlicher Mann? Und kommst so spät erst in der Nacht nach Haus. Gehst gleich herein, mir wird schon angst allein, Sonst rauf ich alle Haar dir aus. Rappelkopf. Himmel! das ist mein erstes Weib, die erkenn ich, weil sie die Herrschaft noch im Grab behauptet. Da bringt mich niemand bei der Tür hinein. Die hat den Satan in den Leib. Wenn nur das Fenster offen wär! (Es donnert.) Jetzt fangts zum donnern an. (Am Fenster zeigt sich, ebenso wie Victorinens, Wallburgas Geist und sieht heraus.) Wer schaut denn da heraus? Wallburgas Geist (mit hohler Stimme). Ich bins, du falscher Mann, du Ungetreuer du! Warum hast du nach mir jetzt schon das zweite Weib? Und ich hab dich so lieb, hab selbst im Grab kein Ruh, Ich schau kein andern an, kann ohne dich nicht leben. Drum komm herein, ich muß dir Küsse geben. Rappelkopf (erschrickt). Entsetzlich! Schaudervolle Nacht, zeigst du mir auch die zweite noch, die sich durch Eifersucht verrät? Sie modert schon und will nicht leben ohne mich. Welch schreckenvolle Lag! Es rieselt kalt durch mein Gebein. (Es blitzt.) Der Donner brüllt, die Blitze leuchten fürchterlich. Könnt ich doch nur durchs Dach ins Haus! Mut! ich versuchs. (Er steigt hinauf. Währenddessen erscheint Emerentias Geist, auf dem Dach sitzend. Rappelkopf erschrickt.) Weh! Hier die dritte noch, dem Kirchhof ungetreu wie mir! (Will fort.) Emerentias Geist. Wo willst du hin? Du darfst nicht fort. Du mußt den Mond mit mir betrachten. (Der Mond verwandelt sich in ein weißumschleiertes Geisterhaupt, das aus den Wolken sieht.) Sieh hin, das bleiche Antlitz dort, Es ist das Bild von deiner jetzgen Frau. Sie weint! Schau hin! Schau! Schau! Rappelkopf. Jetzt grinst mich auch die vierte an. O teuflisches Quartett! Mich würgt die Angst! Ha! laß mich fort! Mich wandelt Ohnmacht an. Rachsüchtge Hölle, warum hast du das getan? Ich bleib nicht da. Ich muß hinab. (Springt über das Dach.) O Himmel, sei gedankt! daß deine Erd mich wieder trägt. Doch, was beginn ich nun? (Der Sturm heult.) Der Sturm heult immer schrecklicher. Es gießt, und doch verschwinden nicht die gräßlichen Gestalten. (Regen strömt herab.) Nun platzt ein Wolkenbruch! ich rette mich auf diesen Baum, sonst reißt die Flut mich fort. (Er steigt auf den Baum. Die Weiber verschwinden, es schlagt in die Hütte ein, sie steht in hellen Flammen.) Wenn das so fortgeht, bricht die Welt in Trümmer. (Die Hütte brennt fort. Heftiger Regen, Sturmgeheul und Donner. Die Wasserflut schwillt immer höher, bis sie Rappelkopf, der sich auf den Gipfel des Baumes rettet, bis an den Mund steigt, so daß nur die Hälfte seines Hauptes mehr zu sehen ist.) Zu Hülfe, zu Hülfe! ich ersauf! Astragalus(fährt schnell in einem goldnen Nachen bis zu seinem Haupt und spricht). Was bist du nun zu tun gesonnen? Rappelkopf (voll Angst). Ich will mich bessern, ich sehs ein, weil mir das Wasser schon ins Maul 'nein lauft. Astragalus. So führ ich dich nach meinem Schloß. Schnelle Verwandlung Der Nachen verwandelt sich in zwei Steinböcke mit goldenen Hörnern. Der Baum, auf dem Rappelkopf steht, in einen schönen Wolkenwagen, in dem sich der Alpenkönig und Rappelkopf befinden. Das Wasser verschwindet. Das ganze Theater verwandelt sich in eine pittoreske Felsengegend, die Teufelsbrücke in der Schweiz vorstellend, auf welcher Kinder, als graue Alpenschützen angekleidet, Böller losfeuern, während der Wolkenwagen über die Bühne fährt. Zugleich von innen: Chor. Geendet ist die Geisterschlacht, Die Sonne strahlt durch finstre Nacht. Der Alpenkönig hat gesiegt, Seht, wie er hin zum Ziele fliegt. Zweiter Aufzug Erster Auftritt Thronsaal im Eispalaste des Astragalus, mit hohen Säulen geziert, die silberartig erglänzen. Im Vordergrunde ein hoher Thron von pittoreskem Ansehen, als wäre er aus unregelmäßigem Eis geformt. Auf ihm Astragalus als Alpenkönig. Eine lange lichtblaue weißgestickte Tunika, weiten griechischen Mantel. Weißen Bart, auf dem Haupte eine smaragdene Krone. Vor ihm knien im Kreise ideal gekleidete Alpengeister. Weiße kurze Tunika, mit grünen Folioblättern garniert. Chor. Hehr zu schauen auf dem Throne Bist du, Fürst der Alpenflur, Denn dich schmückt der Tugend Krone, Du vertilgst des Lasters Spur. Astragalus (steht auf und spricht). Auf des Thrones eisgen Stufen Horcht ich gern noch eurem Chor. Doch laßt uns den Fremdling rufen, Denn die Zeit tritt mahnend vor. Alpanor. Lange steht er schon bereitet In der Halle vor dem Saal. Auch ist er schon angekleidet, Wie dein Wink es uns befahl. Astragalus. Höhnt ihn aus, wenn er erscheint. (Rappelkopf in einem drapfarben Reiseüberrock, gleichen Gamaschen mit silbernen Knöpfen, schwarzem Haar, etwas hoher Stirne, wird hereingebracht.) Ein Alpengeist. Fürst, hier ist der Menschenfeind. (Alle lachen.) Rappelkopf. Nun? Was ist da Spaßigs dran? Alpanor. Weißt du wohl, warum sie lachen? Unter einem Menschenfeind Dachten sie sich einen Drachen, Der als grimmer Ries erscheint. Und nun sehn sie einen Zwergen, Wer soll 's Lachen da verbergen? Von dem Unsinn mußt du lassen, Freund, das ist ja ganz verkehrt. Du willst alle andern hassen? Und bist selber nicht viel wert. Rappelkopf. Versteht sich. Du wirst mir sagen, was ich zu tun hab. (Für sich.) Verdammtes Hexenvolk! Astragalus. Du bist die Wette mit mir eingegangen, du wollest dein Gemüt in edleres verkehren, wenn du die Fehler deines jetzigen erkennst. Rappelkopf. Das hab ich gsagt im Angesichte von vier Zeugen: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Nun gib mir Überzeugung, oder laß mir Ruh in meinem Wald. Astragalus. So hör mich an. Damit du kannst in solchem Seelenspiegel schauen, so will ich deinen Geist aus deinem Leib entführn und ihn in eines neuerschaffnen Körpers Haus verbannen. Rappelkopf. Das will sagen, mein Geist wird von einer Bouteille in die andere hinübergefüllt, das ist schon nichts, da kann schon eine Spitzbüberei geschehen, bei dieser Füllung muß ich dabei sein. Da kann er ausrauchen, oder verwechselt werden. Ich traue niemand mehr. Astragalus. Er wird es nicht. Ich schwör es bei des Chimborassos eisgekröntem Haupte. Du wirst dein Denken, Wollen, Handeln, Fühlen genau in eines andern Bild erblicken. Rappelkopf. Und was gschieht dann mit mir, geh ich so ohne Seel herum, oder bekomm ich wo eine andere zu leihen? Astragalus. Du wirst als Bruder deiner Frau erscheinen. Rappelkopf. Diese Verwandtschaft hätt ich mir nie träumen lassen. Astragalus. Doch ganz die Kraft der eigenen Gesinnungen behalten. Rappelkopf. Das heißt, ich werde aussehn wie mein Schwager und denken, was ich will. Astragalus. So ists. Dadurch kannst du dich überzeugen, wie gegen dich dein Weib, dein Kind und der von dir gehaßte Maler denken. Doch daß du auch an deinem Ebenbild den höchsten Anteil nimmst und dich in ihm genau ergründest und betrachtest, so hängt dein künftig Schicksal ganz von dem freien Handeln dieses Doppelgängers ab. Und was zu deinem Nutzen oder Nachteil wird durch ihn in deinem Haus geschehn, das wird, wenn er verschwindet, unveränderlich dir bleiben. Rappelkopf. Also wenn er mir mein Haus verkauft, kann ich nachher auf der Straße wohnen? Ah, das ist eine schöne Einquartierung. Astragalus. Auch ist dein Leben selbst an seines festgebunden, und wenn er es verliert, solang er statt dir lebt, stirbst du mit ihm und wirst durch ihn erkranken auch, wenn es der Zufall fügt, daß ihm ein bös Geschick Gesundheit raubt. Rappelkopf. Zwei Menschen und nur ein Leben! Jetzt fangt sogar die Natur zum ökonomisiern an. Da hats der Tod kommod, der nimmt s' gleich Paar und Paar. Nun gut, so laß denn sehen, was deine Taschenspielerei vermag. Der Prozeß ist eingeleitet. Ein unendlich verwickelter Fall, der wird in hundert Jahren nicht aus. Also was gschieht denn jetzt? Hab ich noch meinen Geist, oder hat ihn schon ein anderer? Bin ich schon mein Schwager, oder bin ich noch der Schwager meines Schwagers? Astragalus. Es wird dich jeder für den Bruder deines Weibs erkennen. Darum hab ich in deinem Äußern dich gestaltet so wie ihn. Ihr Alpengeister, führt ihn fort und bringt ihn an des Berges Fuß. Dort werdet ihr ein leichtberädert Fahrwerk finden, zwei rüstge Maultier vorgespannt, mit Staub bedeckt, als kämen sie von weiter Reise aus dem Land der welschen Glut. Sie bringen schnell ihn vor sein Schloß, dort werde seinem Übermut Beschämung, Überzeugung, Strafe. Rappelkopf. Nun gut, so will ich dies Asyl der Falschheit noch einmal betreten. Ich geh und übergeb dir meinen Geist, von dem ich weiß, daß er so wenig Fehler hat, als die Donau Linienschiffe trägt, als Eicheln auf dem Kirschbaum wachsen und blondes Haar in deinem grauen Bart. (Ab mit den Alpengeistern, nur Alpanor bleibt zurück.) Astragalus. Sein Starrsinn ists, der mich zu festen Hoffnungen berechtigt, denn hat er sich erkannt, wird ihn mit gleicher Heftigkeit der Trieb zur Besserung erfassen, als seine kräftge Phantasie den Wahn des Hasses jetzt umklammert hält. Alpanor! Hast du den Bruder seines Weibs zurückgehalten, daß er nicht heute morgens schon von seiner Reise in des Menschenfeindes Schloß eintrifft? Alpanor. Es geschieht in diesem Augenblick. Der Alpengeist Linarius leitet seiner Pferde Zügel und setzt ihn aus in einer wüsten Felsengegend, so lang, bis, großer Alpenkönig, du die Ankunft ihm erlaubst. Astragalus. Und ich will scheinbar mich in ihn verwandeln (er verwandelt sich in Rappelkopfs Gestalt in seiner ersten Kleidung) Und so durch Trug zu seinem Besten handeln. Wie auf des Schlosses Dache die metallne Spitze Das Haus bewahret vor der Wut der Blitze, Will ich den Haß, den er sich gen die Welt erlaubt, Herniederleiten auf sein eignes Haupt. Dort mag die Donnerwolke sich entleeren Und Glut durch Glut hellflammend sich verzehren, Bis aus der Asche wird zum neuen Leben Die Liebe gleich dem Phönix sich erheben. (Beide ab.) Zweiter Auftritt Verwandlung Wilde Felsengegend. Im Hintergrunde ein hoher praktikabler Fels, welcher von der rechten Kulisse aber zwei Dritteil der Bühne bis ohngefähr zwei Schuh weit von der linken sich erstreckt und in einem steilen Abhang endigt. Auf ihm ist eine gedeckte Reisekalesche mit zwei Schimmeln sichtbar. Die Pferde stehen schon ganz an dem Abhange des Felsens. Auf dem Sattelpferde sitzt der Alpengeist Linarius, als Postillion gekleidet. Im Wagen Herr von Silberkern, so gekleidet wie Herr von Rappelkopf zu Anfange des zweiten Aktes. Er droht mit einem Stock dem Postillion und schreit heftig. Silberkern. Halt! Halt! Was treibt Er denn, Er verwünschter Kerl, ich bin ja des Todes, wo führt Er mich denn hin? Linarius. Geduld, mein Herr, wir werden gleich am Ziele sein. Silberkern. Das ist ja keine Möglichkeit, der Kerl ist besoffen wie eine Kanone, er muß glauben, da unten ist ein Weinkeller. Ich massakrier Ihn, Er verflixter Lumpenhund. Was treibt Er denn mit Seinen gottverdammten Schimmeln? Linarius. Ich habe meine Pferde ausgespannt. Silberkern. Untersteh Er sich, Er infamer Mensch! wir stürzen ja hinab. Linarius. Wer wird denn da viel Sprünge machen? das Trinkgeld ist mir ein für allemal zu schlecht. Adieu, mein Herr! Silberkern. Wo will Er denn hin? Linarius. Ich reite durch die Luft-- (Die Pferde bekommen Flügel. Linarius erhebt sich mit ihnen bis in die halbe Höhe des Theaters. Der Wagen bleibt stehen, zugleich fällt der hintere Teil des Felsens herab, und nur das Stück, worauf die Kutsche ist, bleibt stehen.) Du bleibst zurück auf diesem Fels und genießest hier die Luft. Zur rechten Zeit spann ich die Pferde wieder vor. Dann bitt ich mir ein tüchtig Trinkgeld aus. Bis dahin lebe wohl und unterhalt dich gut. Juhe! Zum Alpenkönig heißt das Posthaus hier. Ihr Schimmel, hi! stoßt euch an keinen Stein! Lebt wohl, Herr Passagier, und bleibt mir fein gesund! (Fliegt fort und blast das Posthorn dabei.) Silberkern. Verdammter Hexenspuk! Der Kerl fliegt herum wie eine Fledermaus. Flieg zum Geier, falscher Rabe! Ich brauche deine Pferde nicht. (Er will heraussteigen.) I potz Hagel, was ist das? Ich kann ja nicht heraus. Der Wagen hängt ja in der Luft. Das ist ja aufs Verhungern abgesehen. Verflixter Kerl, komm zurück! Es rührt sich nichts, ich sehe keinen Menschen, nicht einmal Ochsen weiden hier. Ich bin der einzge in der ganzen Gegend. (Schreit.) Hört mich denn niemand? Echo. Niemand--(Entfernter.) Niemand--Niemand--Nieman-- Silberkern (stampft mit dem Fuße). Ich ersticke noch vor Zorn-- (Der Fels, auf dem der Wagen steht, öffnet sich wie eine Höhle und in ihr sind eine Menge kleine Alpengeister aufeinanderkauernd gruppiert, welche mit schadenfroher Miene aus vollem Halse lachen. Auch aus den Gebüschen, welche um den Fels angebracht sind, sehen einige schelmisch hervor.) Alpengeister. Hahahahaha! Silberkern (schnell, räsonierend, mit dem Stock herumfechtend). O du Geistergesindel, du unsichtbares Lumpengepack, komm herauf zu mir, ich schlag dich tot. Das ist eine verflixte Geschichte. (Neues Lachen und schnelles Vorfallen der Kurtine, welche ein Zimmer in Rappelkopfs Hause vorstellt.) Dritter Auftritt Mehrere Dienstleute stürzen auf die Bühne. Sophie von der Seite. Sopie. Wo, wo ist mein Bruder? Dienstleute. Er kömmt soeben die Treppe herauf. Hier ist er schon. Sopie. Holt Herrn von Dorn und meine Tochter. Das Gepäcke in das grüne Zimmer. Vierter Auftritt Vorige. Rappelkopf stürzt herein. Sopie (fällt ihm um den Hals). O mein Bruder, mein geliebter Bruder! (Bleibt an seiner Brust.) Rappelkopf (für sich). Entsetzlich! Diese Natter liegt an meiner Brust. Sie kennt mich wirklich nicht. Nimm dich zusammen, Rappelkopf! (Freundlich.) Endlich seh ich dich wieder, liebe Schwester. (Beiseite.) Ich kann s' nicht anschaun. (Wieder freundlich.) Wie gehts dir denn, du liebe Schwester du? Sopie. Ach Bruder, mir geht es sehr übel. Rappelkopf (beiseite). So? Da gschieht dir recht. Sopie. Was sagst du, lieber Bruder? Rappelkopf. Daß ich dich recht bedaure, und zwar auf eine ganz besondere Art. Denn ich weiß alles, liebe Schwester, dein Mann ist ein schändlicher Mensch. Sopie. Das ist er nicht, lieber Bruder, aber ein unglücklicher Mensch. Rappelkopf (beiseite). Viper! Sopie. Wenn du wüßtest, wie sehr ich mich nach dir gesehnt habe, um mein Herz vor dir auszuschütten! Rappelkopf. So schütt es aus, liebe Schwester! (Beiseite.) Da erfahr ich etwas. Schütts aus! Sopie. Aber du wirst ermüdet sein von der Reise? Rappelkopf. Nur meine Füß sind müde, meine Ohren nicht. Sopie. So setz dich, lieber Bruder. (Sie setzt Stühle.) Rappelkopf. Ich dank dir, liebe Schwester. (Setzt sich.) Fatale Situation! Sopie. Meine Tochter und ihr künftiger Bräutigam werden sogleich erscheinen. Rappelkopf (fährt wild auf). So? (Faßt sich und sagt plötzlich mit freundlichem Lächeln.) Wird mir eine unendliche Ehr sein. Sopie. Du bist so sonderbar, lieber Bruder. Was ist dir denn? Rappelkopf. Verschiedenes. Die Reise, dein Anblick, es ist alles so ergreifend für mich. Sopie. Ich danke dir. Du bist ein Bruder, wie man keinen mehr finden wird. Rappelkopf (beiseite). Der Meinung bin ich selbst. Sopie. Fünf Jahre bist du abwesend. Die Ursache meines Unglücks wird dir schon aus meinen Briefen bekannt sein. Rappelkopf. Ich weiß, du hassest deinen Mann. Sopie. Was fällt dir ein! Wo gäb es eine Frau, die ihrem Manne mehr zugetan wäre, als ich dem meinigen! Rappelkopf. Wirklich? (Beiseite.) Was man für Neuigkeiten erfährt! Sopie. Wenn du nur die Geduld hättest sehen können, mit welcher ich seine Launen ertrug, die Sanftmut, mit der ich ihn behandelte. Rappelkopf. Ja, das hätt ich sehen mögen. (Beiseite.) Es ist zum Durchgehn, wie sie lügt, ich bin schon völlig blau auf dieser Seite. Sopie. Und alles dies hat seinen ungerechten Menschenhaß nur noch vermehrt. Rappelkopf. Aber warum haßt er denn die Menschen, er muß doch eine Ursache haben? Sopie. Weil er ein Narr ist, der sie verkennt. Rappelkopf (beiseite). Ich bedank mich aufs allerschönste. Sopie. Und doch lieb ich ihn so zärtlich-- Rappelkopf. Diesen Narren? o närrische Lieb! (Beiseite.) Es ist zum Teufelholen! Sopie. Und muß die Angst ausstehen, ihn seit gestern zu vermissen. Rappelkopf. Ja wo ist er denn? Sopie. In einem Anfall von Wahnsinn zerschlug er alle Möbel, glaubte, der Bediente wolle ihn ermorden, und rannte wütend aus dem Hause. Rappelkopf. Nun er wird schon wieder zurückkommen. Sopie. Nein, das wird er nicht. Was er beschließt, vollführt er auch. Rappelkopf (beiseite). Sie kennt mich doch. (Laut.) Aber wie ist er denn auf den Gedanken gekommen, daß man ihn ermorden will? Sopie. Auf die unsinnigste Weise von der Welt. Ich befahl meinem einfältigen Bedienten, er sollte nach dem Garten gehen und Zichorien ausstechen, und das Messer in seiner Hand läßt meinen unglückselgen Mann glauben, er wolle ihn ermorden. Rappelkopf. Zichorien hat er ausstechen wollen? Sopie. Ei freilich. Rappelkopf (beiseite). Das ist nicht möglich, oder ich wär der einfältigste Mensch, den die Sonne noch beschienen hat. (In Nachdenken versunken.) Zichorien hat er ausstechen wollen? Sopie. Warum ergreift dich das so? Rappelkopf (gleichgültig). Weil mir der Kaffee einfällt, den ich im letzten Wirtshaus getrunken hab. Der war auch mit Zichorien vergiftet. Sopie. Was soll ich nun beginnen, lieber Bruder? Rappelkopf. Laß den Narren laufen! Sopie. Das kann dein Ernst nicht sein. Er ist mein Mann, und ich werd ihn nie verlassen. Rappelkopf (schnell). Ist das wahr? Sopie. Gewiß. Rappelkopf (unwillkürlich erfreut, beiseite). Sie ist doch nicht gar so schlecht. (Wieder verändert.) Aber schlecht ist sie doch. Sopie. Ach Bruder! (Sinkt an seine Brust.) Wenn mein Mann imstande wäre, sich ein Leid anzutun! (Weinend.) Ich hätte mir nichts vorzuwerfen, aber ich könnte diesen Vorfall nicht überleben. Rappelkopf. Das Weib martert mich, ich schwitz schon im ganzen Leib. Und sie weint wirklich, mein ganzes Schapodl ist naß. Aber ich glaub ihr nicht, die Weiber können alles. (Laut.) Beruhige dich nur, liebe Schwester, es kommt jemand. Fünfter Auftritt Vorige. August. Malchen. Malchen. Ist es wahr, ist der Onkel angekommen? (Sieht ihn.) Ach liebster, bester Onkel! mit welcher Sehnsucht haben wir Sie erwartet. Rappelkopf. Die ist so falsch wie ihre Mutter. Malchen. August, komm doch her. Rappelkopf (erschrickt). Wer? August (hervortretend). Bester Herr von Silberkern--(will auf ihn zu.) Rappelkopf (fährt zurück). Himmel, wer bringt dies Bild vor meine Augen? Sopie. Was ist dir, lieber Bruder? Malchen. Aber Onkel! Rappelkopf (beiseite). Ich muß mich fassen, damit ich allen auf den Grund komme. (Laut, mit Zwang.) Verzeihen Sie mir, mein Herr, sein Sie mir willkommen. August. Erlauben Sie, Herr von Silberkern--(Tritt näher.) Rappelkopf (fährt wieder auf). Nein, es ist nicht möglich--Drei Schritt vom Leib! (Beiseite.) Vergiften könnt ich den Verführer! August. Was soll ich davon denken? Malchen. Onkel! Sopie (gleichzeitig). Bruder! Rappelkopf (faßt sich wieder). Verzeihen Sie, aber Sie haben eine Ähnlichkeit, eine Ähnlichkeit-- August. Mit wem? Rappelkopf. Mit--mit einem Menschen August. Mit was für einem? Rappelkopf. Der mich bestohlen hat. Sopie. Aber Bruder! August (lacht). Herr von Silberkern-- Malchen. Ach Onkel, er hat nichts gestohlen als mein Herz. Rappelkopf (auffahrend). Das ist es eben--(faßt sich) was mich nichts angeht. (Sehr freundlich.) Sind Sie nur nicht so kindisch, ich hab nur einen Spaß gemacht. (Für sich.) Verstellung, steh mir bei! (Laut.) Endlich sind wir alle recht froh beieinander, meine lieben Kinder. (Lacht boshaft.) Das ist ein freudiger Tag heute. (Für sich.) Ich möcht zur Decke hinauffahren. Sopie. Wir wollen dich jetzt allein lassen, lieber Bruder. Damit du eine Stunde ausruhen kannst. Du bist zu angegriffen. In diesem Zimmer findest du ein Ruhebett, unterdessen werden wir die Nachforschungen nach meinem armen Mann verdoppeln, denn es gibt keinen ruhigen Augenblick für mich, solange ich in Ungewißheit über sein Schicksal leben muß. (Geht ab.) Rappelkopf. Da werd ein anderer klug, ich nicht. August. Herr von Silberkern, ich weiß, daß Sie alles über Herrn von Rappelkopf vermögen. Rappelkopf. Da haben Sie recht, wenn ich nichts über ihn vermag, dann richtet niemand etwas mit ihm aus. August. Oh, dann werden Sie mir Ihren Beistand nicht versagen. Rappelkopf. Ihnen? hahaha! Nun, das will ich hoffen. August. Wenn meines Malchens Vater sein Haus wieder betritt und es Ihnen gelingt, ihm mildere Gesinnungen gegen die Welt einzuflößen, so vergessen Sie auch meiner nicht! Versichern Sie ihm, daß es keinen jungen Mann auf Erde gäbe, der mit einer so unwandelbaren Treue an seiner liebenswürdigen Tochter und mit einer so innigen Dankbarkeit an ihrem edlen, aber unglücklichen Vater hinge als der von ihm so ungerecht verfolgte August Dorn. (Verbeugt sich und geht ab.) Rappelkopf. Das ist mir unbegreiflich. Malchen (weinend). Lieber Onkel, wenn Sie meinen Vater sprechen, was ich gewiß nicht darf, so sagen Sie ihm, daß er seine Amalie unendlich gekränkt hat, daß ihn niemand so sehr liebt wie seine Tochter, aber daß ihr auch gewiß das Herz brechen wird, wenn sie ihren August verlieren müßte. (Weint heftig.) Rappelkopf (sein Vatergefühl bricht los, er schließt Malchen heftig in seine Arme). Du bist halt doch mein Kind, wenn ich auch jetzt nicht dein Vater bin. (Nimmt sie am Kopf.) Was nützt denn das, das läßt sich nicht verleugnen. Ich muß dich küssen, Malchen. Malchen. Ach guter Onkel! Rappelkopf. Sag du mir, ist das wahr, liebst du deinen Vater? Malchen. Unendlich, lieber Onkel! Rappelkopf. Und du lügst nicht? Malchen. Bei Gott nicht. Rappelkopf (freudig überrascht). Das ist schön von dir, das freut mich. (Legt ihren Kopf an seine Brust.) Sie hat mich lieb! So hab ich doch eine Seele auf der Welt, die mich liebt. Aber jetzt geh hinaus, ich bitt dich um alles in der Welt, geh hinaus. Malchen. Sie verstoßen mich doch nicht, lieber Onkel? Rappelkopf. Nein, ich verstoß dich nicht, ich will dich noch einmal küssen sogar, aber geh hinaus, sonst muß ich mich vor mir selber schämen, geh hinaus. Malchen. So ruhen Sie sanft, bester Onkel. (Ab.) Rappelkopf (allein). O Schande! ich bin ein Menschenfeind und komm da in eine Küsserei hinein, die gar kein End nimmt. Das war der einzige vergnügte Augenblick, den ich seit fünf Jahren erlebt hab. Aber wie ist mir denn? bin ich betrunken? Das ist ja keine Möglichkeit. Wenn das alles wahr wäre, was die Leute zusammenreden, so wären sie ja völlige Engel. Das ist Betrug, da muß etwas dahinterstecken. Das ist ein Einverständnis. Mein Weib ist eine Schlange. Zu was braucht sie einen Zichori? wenn so viel Kaffee aufgeht. Aber meine Tochter ist brav. Über die laß ich jetzt nichts mehr kommen. Auch den jungen Menschen trau ich nicht, den haben sies einstudiert. Er wär ohnehin bald steckengeblieben. Ha, da kommt der Habakuk, der große Bandit. Der soll mir Licht geben. Sechster Auftritt Voriger. Habakuk. Rappelkopf. He, Habakuk! Habakuk. Wie? Euer Gnaden wissen, wie ich heiß, und haben mich noch nicht gesehen? Rappelkopf. Nu, ich kann Ihn ja wo anders gesehen haben. Habakuk. Ja freilich, ich war zwei Jahr in Paris. Befehlen Euer Gnaden etwas? Rappelkopf. Ja! was ich sagen wollte--(Beiseite.) Ich trau dem Kerl nicht. (Laut.) Hat Er nicht ein Messer bei sich? Habakuk. Nein, ich werd aber gleich eins holen. (Will ab.) Rappelkopf (erschrickt). Untersteh Er sich, ich brauch keins mehr. Ich hab nur etwas abschneiden wollen. (Für sich.) Er wär imstande er holet eins. Habakuk. Ich weiß nicht, ich trag sonst immer ein Messer bei mir-- Rappelkopf (für sich). Nun da haben wirs ja, das ist ein routinierter Mörder. (Laut.) Lieber Freund, ich werd Ihm ein gutes Geschenk machen, geh Er mir ein wenig an die Hand. Er weiß, ich bin der Bruder Seiner Frau. Habakuk. Habs schon weg, Euer Gnaden. Rappelkopf (für sich). Unbegreifliche Zauberei! (Laut.) Sag Er mir, wie behandelt denn mein Schwager seine Frau? Habakuk. Infam, Euer Gnaden. Rappelkopf. Was sagt Er? Habakuk. Oh, das ist ein sekkanter Mensch, der glaubt, die Leut sind nur wegen ihm auf der Welt, daß er s' mit Füßen treten kann. Rappelkopf (für sich). Nun bei dem hört man doch ein wahres Wort. Der redt doch, wie er denkt. (Laut.) Ja, es soll nicht zum Aushalten sein. Darum kann ihn aber auch meine Schwester nicht ausstehen. Nicht wahr? Habakuk. Ah, was fallt Euer Gnaden ein, sie weint sich ja völlig die Augen aus um ihn. Ich kann sie nicht genug trösten. Rappelkopf. Man hat aber erzählt, sie hätte ihn wollen gar ermorden lassen. Habakuk. Ah, hören Euer Gnaden auf. Euer Gnaden werden doch nicht auch so einfältig sein, das zu glauben. Rappelkopf. Ja, Er ist ja, glaub ich, mit dem Messer auf ihn gegangen. Habakuk. Ich? warum nicht gar, ich fall in Ohnmacht, wenn sie nur ein Hendel abstechen. Er war im Gartenzimmer, und kein Mensch hat sich hinausgetraut, und die Köchin hat einen Zichori gebraucht, und die Frau hat gschafft, ich soll einen ausstechen. Rappelkopf (beiseite). Mit dem ewigen Zichori! am End ists doch wahr. Habakuk. Er laßt ja keinen Menschen zu Wort kommen, der Satanas. Rappelkopf (für sich). Das ist ein impertinenter Bursch. Ein Verleumder. (Laut.) Und sag Er mir, ist denn Sein Herr ein gescheidter Mann? Habakuk (verneinend). Ah! (Vertraulich.) Wissen Euer Gnaden, wir reden jetzt unter uns, es ist nichts zu Haus bei ihm. (Deutet auf den Kopf.) Rappelkopf (beiseite). Nein, das ist nicht zum Aushalten. (Gibt ihm Geld.) Da hat Er, mein lieber Freund, Er hat mir schöne Sachen gesagt, ich bin sehr zufrieden mit Ihm, aber geh Er jetzt. Habakuk. Küß die Hand! (Für sich.) Aha, den freuts, daß ich über den andern schimpf. Er kann ihn nicht recht leiden. Ich muß noch ärger anfangen, vielleicht schenkt er mir noch etwas. (Laut.) Ja sehen Euer Gnaden, ich war zwei Jahr in Paris, aber ein so zuwiderer Mensch ist mir nicht vorgekommen, und es gibt ihm alles nach, das ist gar nichts nutz, da wird er nie kuriert. Ich versteh nichts von der Medizin, aber ich glaub, wenn er einmal recht durchgewassert wurd, es müßte sich seine ganze Natur umkehren. Rappelkopf. Jetzt hat Er Zeit, daß Er geht. Den Augenblick hinaus, Er undankbarer Mensch, wie kann Er sich unterstehen, so von Seinem Herrn zu reden? Gleich fort, oder ich schlag Ihm Arm und Bein entzwei. (Sucht einen Stock.) Habakuk. So ists recht, jetzt fängt der auch an. (Im Abgehen.) Nun, den sag ich bald wieder was, das ist eine schreckliche Familie. Na, das ging' mir ab. (Geht brummend ab.) Rappelkopf (allein). So kann man seine Leute kennenlernen. Von meiner Frau redt er nicht so schlecht, er getraut sich nicht, weil er mich für ihren Bruder hält. Aber für einen Mörder ist er doch zu dumm, ich hab ihn für pfiffiger gehalten. Es wird doch auf den Zichori hinauskommen. Was mich das für eine Überwindung kostet, mit all diesen Menschen zu reden! Aber ich muß meine Untersuchung vollenden, weil ich sie begonnen habe und weil ich in nichts zurücktrete, wenn ich nicht muß, wie heut im Walde. Siebenter Auftritt Voriger. Lischen. Lischen. Die gnädige Frau läßt fragen, ob Euer Gnaden eine Tasse Tee befehlen. Rappelkopf. Ich danke. (Für sich.) Die werd ich auch in die Kur nehmen. (Laut.) Was macht meine Schwester? Lischen. Sie ist sehr betrübt. Rappelkopf. Weswegen? Lischen. Unseres gnädigen Herrn wegen. Rappelkopf. Wegen mir? Lischen. Ah, wegen Ihnen nicht. Rappelkopf (faßt sich). Ja so. (Für sich.) Die kennt mich auch nicht. (Laut.) Und was macht meine Nichte? Lischen. Sie spricht mit ihrem Bräutigam. Rappelkopf (für sich). Himmel und Hölle! (Faßt sich. Laut.) Was ist denn das für ein Mensch? Lischen. Ein sehr liebenswürdiger Mensch. Rappelkopf. Was heißt das, macht er Ihr auch die Cour? Lischen. Nun, das wäre der Wahre, er wagt es ja kaum, ein anderes Mädchen anzusehen. Das wird ein handfester Pantoffelritter werden. Ich glaube, er hat mir bloß darum noch keinen Heller zum Geschenke gemacht, damit er nur meine Hand nicht berühren darf. Er und mein Fräulein taugen ganz zusammen, und es ist himmelschreiend, daß der gnädge Herr seine Einwilligung nicht gibt. Rappelkopf (rasch). Da hat er recht, wenn er sie nicht gibt. Der junge Mensch hat keine Achtung vor ihn. Lischen. Ei bewahre, er schätzt ihn weit mehr--verzeihen Euer Gnaden, wenn ich so von Ihren Herrn Schwager spreche--aber weit mehr, als er es verdient. Rappelkopf (für sich). Es ist, als ob sie sich alle verschworen hätten wider mich. Geduld, verlasse mich nicht! (Laut.) Ich will Ihr etwas schenken, aber sag Sie mir in der größten Geschwindigkeit alle üblen Eigenschaften Ihres Herrn. Lischen. In einer Geschwindigkeit, das ist ohnmöglich, gnädger Herr. Rappelkopf. Warum nicht? Lischen. Weil, wenn ich jetzt diesen Augenblick anfange, ich morgen früh noch nicht fertig bin. Rappelkopf. Wo ich nur die Geduld hernehme, das alles anzuhören! Lischen. Es ist schon genug, daß er ein Menschenfeind ist. Ich begreife gar nicht, wie man bei einem so großen Vermögen, einer gutmütigen Frau, einer wohlerzogenen Tochter und einem so hübschen Stubenmädchen ein Menschenfeind sein kann. Lied Ach, die Welt ist gar so freundlich Und das Leben ist so schön. Darum soll der Mensch nicht feindlich Seinem Glück entgegenstehn. Alles sucht sich zu gefallen, Liebend ist die Welt vereint, Und das Häßlichste von allen Ist gewiß ein Menschenfeind. Heitrer Sinn nur kann beglücken, Nur die Freude hebt die Brust, Nur die Liebe bringt Entzücken, Und der Haß zerstört die Lust. Doch wenn alle sich erfreun Und der Stern des Frohsinns scheint, Sitzt im düstern Wald allein Drauß der finstre Menschenfeind. Sieht man nur die goldne Sonne, Wenn sie auf am Himmel steigt, Wie sie schon mit holder Wonne Allen Wesen ist geneigt: Dann kann man die Welt nicht hassen, Die 's im Grund nicht böse meint, Man muß nur die Lieb nicht lassen, Wird man nie zum Menschenfeind. (Ab.) Rappelkopf (allein). Schrecklich! Muß ich mich auch noch ansingen lassen! Das sind Beleidigungen nach den Noten, und ich darf den Takt nicht dazu schlagen. Und alles bleibt auf einem Wort! Wer kommt? Achter Auftritt Voriger. Sophie. Lischen. Sopie (stürzt rasch herein). Bruder, er kommt! Rappelkopf. Wer kommt? Lischen. Der gnädge Herr! Sopie. Mein Mann! Rappelkopf. Ich komm! (Schlägt sich begeistert an die Brust.) Endlich einmal. Solang die Welt steht, war noch niemand so neugierig auf sich selbst als ich. Astragalus (ruft noch vor der Tür). Daß niemand zu mir gelassen wird! Rappelkopf. Meine ganze Stimme. Ich hör mich schon. (Tritt zurück.) Neunter Auftritt Vorige. Astragalus tritt ein. Astragalus (wie er Sophie sieht, prallt er zurück und ruft). Ha! (Er will zurück.) Rappelkopf (sagt schnell). Ich bins, ist kein Zweifel! Sopie (hält ihn zurück). Oh, bleib doch, lieber Mann! wir sind glücklich, daß wir dich wieder sehn. Astragalus (reißt sich los). Laß mich. Entweder gehst du oder ich. Sopie (Mit Überwindung). Nun so bleib, ich will gehn. (Geht seufzend ab.) (Astragalus tritt mit empörter Miene vor, bleibt mit verschränkten Armen stehn und blickt wild umher, ohne Rappelkopf zu bemerken.) Rappelkopf (betrachtet ihn vom Fuß bis zum Kopfe mit ungeheurem Erstaunen und spricht dann überzeugt). Ich bins--Aufgelegt bin ich nicht gut, aber das kann nicht anders sein. Astragalus (zu Lischen). Was will Sie da? Lischen (zitternd). Fragen, ob Euer Gnaden nichts befehlen. Rappelkopf. Eine Angst hat alles vor mir, daß es eine Freude ist. Astragalus. Wo ist die Tinte? Lischen. Dort ist sie. (Deutet auf den Tisch.) Astragalus. Und Federn? Lischen (ängstlich). Die hab ich nicht. Rappelkopf. Jetzt hat die Gans keine Federn! Astragalus. Hol Sie welche! hat Sies gehört? Hinaus mit Ihr, Sie Schlange, Sie Basilisk, Sie Krokodil, Sie Anakonda! Rappelkopf. In der Naturgeschichte bin ich gut bewandert. Lischen. Gleich, Euer Gnaden. (Im Abgehen.) Der böse Feind hat ihn zurückgeführt. Ich laß mich nicht mehr sehn. (Ab.) Rappelkopf. Die lauft. Ich weiß nicht, ich gfall mir recht gut. Ein wenig rasch bin ich, das ist wahr. Astragalus (entschlossen). Ja! Ich will mein Testament machen. Rappelkopf (für sich). Testament? Nu wär nicht übel. Den Entschluß muß ich gleich unterbrechen. (Laut.) Grüß Sie Gott, lieber Schwager. Eben bin ich angekommen. Astragalus. Wer ist das? Rappelkopf (entzückt). Das ist ein eigner Anblick, wenn man vor sich selber steht. Astragalus (schnell). Was machen Sie hier? Warum haben Sie nicht geschrieben? Haben Sie meine Intressen mitgebracht? Wie stehts mit meinem Vermögen? Rappelkopf (für sich). Jetzt gehts recht, das möcht ich selbst gern wissen. Astragalus. Das Haus in Venedig soll nicht gut stehen, ist es verloren? Rappelkopf (erschrickt). Verloren? Wär nicht übel, (beiseite) mir wird selbst angst. Astragalus. Ich hab keine Intressen erhalten. Rappelkopf. Ich auch nicht. Astragalus. Sie müssen es haben, Sie haben mir es sonst geschickt, da steckt ein Betrug dahinter. Rappelkopf. So lassen Sie sich nur sagen-- Astragalus. Ich laß mir nichts sagen--ich kenn die Welt, sie gehört zum Katzengeschlechte-- Rappelkopf. Ich-- Astragalus (wütend). Still-- Rappelkopf. Wenn er nur nicht gar so schreien möchte, mir tun die Ohren weh. Zehnter Auftritt Vorige. Habakuk mit Federn. Habakuk (zitternd). Euer Gnaden, hier bring ich die Federn. Astragalus (entsetzt sich). Ha! Dieser Mörder wagt es, vor meine Augen zu kommen! (Nimmt den Stuhl vor und retiriert sich.) Komm mir nicht an den Leib! Bandit! Rappelkopf. Ach, das ist übertrieben. Wer wird sich denn vor dem Esel fürchten? Habakuk. Die gnädige Frau laßt fragen, ob sie noch nicht herüberkommen darf. Astragalus. Nein. Habakuk. Sie weint aber so abscheulich. Astragalus. So soll sie schöner weinen, hahaha, oder ich fang zum lachen an. Habakuk. Wenn sie aber krank wird? Astragalus. Die Gicht in ihren Leib! Und ins Spital mit ihr! Rappelkopf (beiseite). Das ist ein kurioser Humor. Habakuk. Ah, verzeihen Euer Gnaden, aber das ist zu stark. Ich war zwei Jahr in Paris, aber-- Astragalus (aufspringend). Wenn Er es noch einmal wagt, dieses unerträgliche Sprichwort in meinem Haus ertönen zu lassen, so--zahl ich hier Seinen Lohn in vorhinein. (Er wirft ihm einen Geldbeutel vor die Füße und trifft damit Rappelkopf an das Schienbein.) Rappelkopf (zieht den Fuß auf). Sapperment hinein, achtgeben, das müssen harte Taler sein. Astragalus. Hab ich Ihnen weh getan? Rappelkopf. Ich glaub, ich hab ein Loch im Fuß. Astragalus. Gschieht Ihnen recht. (Zu Habakuk.) Wenn Er also dieses Wort noch einmal sagt, so geht Er an der Stelle aus meinem Dienst. Wenn ich auch nicht dabei bin. Nehm Er! Rappelkopf. Es ist meine ganze Manier. (Zu Habakuk.) Nu apport! Habakuk. Euer Gnaden, um diesen Preis kann ich mich nicht darauf einlassen, denn ich habe keinen Stolz, als daß ich zwei Jahr in-- Astragalus (faßt ihn am Halse). Ich erdroßle Ihn, wenn Er noch einen Buchstaben mehr dazu sagt. Habakuk. Zu Hülfe! Zu Hülfe! Rappelkopf (springt dazwischen). Aber Herr Schwager, das hätt ich meinem Leben nicht geglaubt. Astragalus (hält ihn noch immer). Wo warst du zwei Jahr, warst du in Paris? Habakuk (schreit ängstlich). Nein, in Stockerau. Astragalus. Also geh hin, wo der Pfeffer wächst. (Stoßt ihn zur Tür hinaus.) Rappelkopf. Ich find doch, daß ich etwas Abstoßendes in meinem Betragen habe. Wenn das so fortgeht, so käm ich mit mir selbst nicht draus. Ja so! Mein Geld muß ich wieder einstecken. Wir haben ja eine Kassa, das ist kommod, wenns der eine wegwirft, hebts der andere auf. Und wenn nur das nicht wär, daß, was ihm geschieht, auch mir geschehen muß. Und wie lang er draußen bleibt, ganz erhitzt, wenn er sich erkühlt, so kriegen wir die Kolik. (Astragalus tritt ein.) Astragalus. Weil ich im Wald keine Ruh hab, so sollen sie auch von mir keine haben. Denn sie sind boshaft, sie könnten mich vergiften. (Setzt sich in einen Stuhl.) Rappelkopf. Das sind so übertriebene Sachen. Wenn er nur etwas mit sich reden ließ'. Herr Schwager! Astragalus (wendet ihm den Rücken zu). Hinaus! Ungeheuer! Rappelkopf. So hab ichs akkurat gemacht. (Laut.) Aber warum denn? Wir sind ja die besten Freunde. Astragalus. Ich bin keines Menschen Freund. Und Sie will ich gar nicht ansehen. Ihr Gesicht ist mir verdächtig. Rappelkopf. Sie werden mich doch für keinen Betrüger halten? Astragalus. Das nicht, aber man erinnert sich an einen, wenn man Sie ansieht. Rappelkopf. Ah, das ist impertinent, diese Grobheit hätt ich mir nicht zugetraut. Und doch erinnere ich mich auf ähnliche Worte. Astragalus (zum Fenster hinaus). Halt, wer schleicht da zur Tür hinaus? Donner und Blitz, das ist der junge Maler, der war bei meiner Tochter. Rappelkopf. Jetzt wirds angehn. Astragalus. Wart, du kommst mir nicht mehr aus. (Springt zur Tür hinaus und stößt Rappelkopf der ihm im Weg steht, auf die Seite.) Rappelkopf. Ich bin ja ein rasender Mensch. Ich fang mir ordentlich an selbst zuwider zu werden. Das hätt ich meinen Leben nicht gedacht. Astragalus (von innen, schreiend). Sie müssen herein, ich lasse Sie nicht los. Rappelkopf. Hat ihn schon bei der Falten. Astragalus (von innen). Herein, sag ich. Rappelkopf. Und wie er schreit! und das geht alles auf meine Rechnung. Bis die Gschicht ein Ende hat, ruiniert er mir noch meine ganze Brust. (Astragalus zerrt August an der Hand herein.) Astragalus. Herein, du Verführer meines Kindes! Wie können Sie es wagen, mein Haus zu betreten? Wer gibt Ihnen ein Recht dazu? Rappelkopf. Das ist wieder gut gesprochen, das gefällt mir. August (ganz bleich). Meine Liebe, Herr von Rappelkopf, und meine redlichen Absichten. Astragalus. Sie sollen gar keine Absichten haben, weil Sie keine Aussichten haben. Rappelkopf. Bravo! Astragalus. Ich kann mein Kind verheiraten, an wen ich will, denn ich bin Vater. Rappelkopf. Bravissimo! Astragalus. Und es ist eine Frechheit von Ihnen, daß Sie sich gegen meine Erlaubnis in mein Haus zu schleichen suchen, um mein Kind von dem Gehorsam gegen seinen Vater abzubringen. Rappelkopf. Sehr schön, ich muß mich selber loben. August. Herr von Rappelkopf, ich beschwöre Sie bei allen Gefühlen, welche Ihr leidenschaftliches Herz je bestürmten, haben Sie Nachsicht mit den meinigen. Ich kann ohne Ihre Tochter nicht leben, ich war drei Jahre abwesend, und meine Gesinnungen haben sich nicht verändert. Ich besitze ein kleines Vermögen, habe mich in meiner Kunst verbessert, schenken Sie mir Ihre Einwilligung, nie werde ich Ihre Gnade vergessen, und Sie werden einen dankbaren Sohn an mir gewinnen. Rappelkopf. Das ist kein gar so schlechter Mensch, er soll doch nicht so hart mit ihm sein. Astragalus. Ich traue Ihren Worten nicht, denn Falschheit blickt aus Ihrem Auge. Darum wagen Sie es nicht mehr, meine Schwelle zu betreten. Eh steht mein Tor hungrigen Wölfen offen, eh laß ich Raben unter meinem Dache nisten, eh will ich giftge Schlangen an dem Busen nähren, eh laß ich alle Seuchen hier im Hause wüten und will die Pest zu meinem Tische laden, eh ich nur Ihrer Lunge einen Atemzug in meinem Schloß erlaube. Rappelkopf. Das ist ein Unsinn ohnegleichen. Es ist beinah nicht zu glauben, daß ein Mensch so sein kann. August. Herr von Rappelkopf, wenn Ihnen das Leben eines Menschen etwas gilt, so reizen Sie meine Leidenschaft nicht auf das höchste-- Herr von Silberkern, nehmen Sie sich meiner an. Rappelkopf. Ich kann ja nicht, ich bin froh, wenn er mich selber nicht hinauswirft. August. Also wollen Sie mir mit Gewalt das Leben rauben? Astragalus (boshaft). Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mir es zum Geschenke machen wollten. Rappelkopf (entrüstet). Ah, das ist infam--Herr Schwager (Geht auf Astragalus zu.) Astragalus (fährt heftig auf ihn los). Schweigen Sie! Sie sind auch im Komplott mit ihm, aber ich schwöre es Ihnen bei dem glühenden Eingeweide des Vesuvs: wenn Sie es wagen, mein Kind in dieser Leidenschaft zu unterstützen, wenn Sie nur eine Miene machen, meine Ansichten zu mißbilligen, so werden Sie ein Andenken nach Venedig mit zurücknehmen, daß ganz Italien darüber in Entsetzen geraten soll. (Ab ins Nebenzimmer.) Elfter Auftritt Rappelkopf. August. Rappelkopf. Nein, das ist nicht mein Ebenbild. Der übertreibt. Das ist ein schauderhafter Mensch, ich krieg einen ordentlichen Haß auf ihn. Wenn der so fortwütet, in acht Tagen sind wir alle zwei hin. August (der mit sich gekämpft). Leben Sie wohl, Herr von Silberkern, grüßen Sie mein Malchen und vergessen Sie mich nicht. Rappelkopf. Wo wollen Sie denn hin? August. Fragen Sie mich nicht. Ich kann ohne Amalie nicht leben-- (Will fort.) Rappelkopf. So sein Sie nur ruhig, ich geh Ihnen mein Wort, Sie bekommen sie. August. Wenn aber der Vater nicht will? Rappelkopf. Er will schon, der Vater, sorgen Sie sich nicht. Gehen Sie jetzt unterdessen fort, ich werde alles ausgleichen, und wenn Sie Liebesbriefe haben, so geben Sie s' mir, ich werd sie schon besorgen. August. Ach bester Onkel, ich muß Sie umarmen, o Freude, Freude, verlassen Sie mich nicht, sagen Sie meinem Malchen-- Rappelkopf. Gehen Sie nur-- August. Nie werd ich Ihre Güte vergessen-- Rappelkopf (drängt ihn zur Tür hinaus). Auf Wiedersehn! (Allein.) Das ist ein passabler Mensch. Den hab ich beinahe verkannt. Überhaupt fängt es bei mir an, etwas Tag zu werden. Zwölfter Auftritt Habakuk. Voriger. Habakuk. Euer Gnaden verzeihen, daß ich meine Zuflucht zu Ihnen nimm, mit meinen gnädigen Herrn zu reden, ist zu halsbrecherisch. Da sind Euer Gnaden viel gütiger. Euer Gnaden haben mir doch nur Arm und Bein entzwei schlagen wollen, und unter zwei Übeln muß man das kleinste wählen, und da bin ich also an Euer Gnaden geraten. Rappelkopf. Das ist gar ein dummer Mensch, ich kann gar nicht begreifen, wie mich etwas beleidigen hat können von ihm. Nu was hat Er denn? Habakuk. Ein Anliegen, Euer Gnaden. Rappelkopf. Was denn für eines? Habakuk. Sehen Euer Gnaden, ich--(Hält inne und seufzt tief.) Ich halts nicht aus. Rappelkopf. Was hält Er nicht aus? (Beiseite.) Das ist ein unerträglicher Kerl, mir steigt schon die Gall auf. Habakuk. Euer Gnaden wissen, daß ich das Bewußte nicht mehr sagen darf, und wenn das nicht anders wird, so muß ich zugrunde gehen. Rappelkopf. Aber was hat Er denn davon, wenn Er sagt, daß Er zwei Jahr in Paris war? Habakuk. Unendlich viel, es hat alles viel mehr Achtung vor einem. Das hab ich schon viel hundertmal an andern bemerkt. Kurz, wenn ich das verschweigen muß, ich bekomme eine Gemütskrankheit, ich geh drauf. Rappelkopf (unwillkürlich lächelnd). Ich weiß nicht, soll ich mich ärgern oder soll ich lachen. Habakuk. Ich unterdruck es immer, und das macht mir Beklemmungen. Denn ich war zwei--(Setzt ab.) Sehn Euer Gnaden, mir wird völlig nicht gut. Rappelkopf. Ja wegen was darf Ers denn nicht sagen? Habakuk. Er jagt mich ja fort. Rappelkopf. Wenn er es aber nicht hört? Habakuk. Ja was glauben Sie denn, was der für Ohren hat, die gehn ja ins Unendliche. Rappelkopf. Schimpft in einem fort über mich und weiß es nicht. Was ich für Grobheiten einstecken muß! (Scharf.) Wenn ers befohlen hat, so muß Ers tun, ich kann Ihm nicht helfen. Habakuk. Also keine Rettung. Ich empfehl mich Euer Gnaden! aber es wird eine Zeit kommen, wo es zu spät ist. Ich habe meinen Dienst ordentlich versehen, ich hab keinen Kreuzer veruntreut, aber das ist meine Leidenschaft, von der kann ich nicht lassen. Rappelkopf. Nu so sag Ers-- Habakuk. Ich trau mich nicht. Rappelkopf. Auf meine Verantwortung. Habakuk. Lassen sich Euer Gnaden statt mir fortjagen? Rappelkopf. Nun ja-- Habakuk. Nun so versichre ich Euer Gnaden, ich war zwei Jahr in Paris, aber das werd ich Ihnen nicht vergessen. (Atem schöpfend, als fühlte er sich erleichtert.) Das ist eine Wohltat, die nicht zu beschreiben ist. Rappelkopf. Also ich erlaub es Ihm, von diesem Augenblick an, es wieder zu sagen, unter der Bedingung, daß Er nicht mehr über seinen Herrn schimpft. Habakuk. Oh, das ist ein Mann, wies gar keinen mehr gibt. Und jetzt erlauben Euer Gnaden, daß ich Euer Gnaden umarmen darf. Euer Gnaden sind mein Wohltäter, mein Vater! Heut bringt kein Mensch mehr ein anderes Wort aus mir heraus als: Ich war zwei Jahr in Paris. (Ab.) Rappelkopf (allein). Es ist unglaublich, der eine möcht gern ewig verliebt sein, und dieser ist wieder zufrieden, wenn man ihm erlaubt, daß er sagen darf, daß er zwei Jahr in Paris gewesen ist. Es ist lächerlich, und doch findet er seinesgleichen. Es hat halt jedermann sein Steckenpferd. Arie Die Welt, ich schreib ihr die Devise, Ist bloß ein wahnberauschter Riese. Der eine spräch gern mit den Sternen, Der andre möcht gern gar nichts lernen, Der dritte denkt, zum Existieren Müßt sich die Menschheit parfümieren. Der läuft im Wahn dem Wasser zu, Der andre läßt dem Wein kein Ruh. Der ist so blöd wie ein Stück Holz, Und jener kennt sich nicht vor Stolz. Der sitzt und erbt zehntausend Gulden, Der läuft herum und ist voll Schulden. Oft möcht der eine avancieren, Der andre möcht sich retirieren. Der Blinde möcht gern Augen finden, Und mancher sieht und möcht erblinden. So dreht die Welt sich immer fort Und bleibt doch stets an einem Ort. Der Egoismus ist die Achse, Der Hochmut zahlt am End die Taxe. Die Erd, es kömmt darauf heraus, Ist nur im Grund ein Irrenhaus. Und wie ich nach und nach gewahr, So bin ich selbst ein großer Narr. Dreizehnter Auftritt Voriger. Sophie, Malchen und Lischen treten ein. Sopie. Lieber Bruder, was sagst du zu dem Betragen meines Mannes? Hab ich das um ihn verdient? Rappelkopf. Nein, liebe Schwester, so lang ich da bin, nicht. (Beiseite.) Wenn nicht noch was nachkommt. Malchen (weint). Ach Onkel, jetzt ist mein Unglück entschieden. Rappelkopf. So tröste dich, Malchen! (Beiseite.) Nur um das Kind ist mir leid, an den andern allen liegt mir nichts. (Man hört von innen läuten.) Lischen. Er läutet. Wer geht denn jetzt hinein? Sopie. Mich will er ja nicht sehen. Rappelkopf. Und ich mag ihm nicht sehen. Lischen. Ich trau mich nicht hinein. Malchen. Ich auch nicht, liebe Mutter. Rappelkopf. Ich bin ungemein beliebt. Malchen. Lieber Onkel, gehen Sie! Rappelkopf. Ich? Ich nicht. (Beiseite.) Ich fürcht mich vor mir selber. (Es läutet wieder.) Sopie. Er läutet wieder. Ich muß doch-- Lischen (schnell). Ich geh schon, gnädge Frau. (Steckt den Kopf zur Kabinettstür hinein und ruft.) Was befehlen Ihro Gnaden? Astragalus. Frisches Wasser! schnell! Alle drei. Was ist ihm denn? Lischen. Er sitzt erhitzt am Fenster, es scheint ihm nicht wohl zu sein, er ruft nach Wasser. Sopie. Bring Sie welches. Wenn er nur nicht krank wird! (Lischen geht ab.) Rappelkopf. Nu wär nicht übel, das könnt ich brauchen. Sopie. Am Ende trifft ihn noch der Schlag. Rappelkopf. Hör auf, mir wird schon völlig bang. Sopie. Gib die Hausapotheke her! Niederschlagendes Pulver! Rappelkopf. Nur geschwind etwas Niederschlagendes. Malchen (nimmt sie aus dem Schrank). Hier ist sie. Lischen (ein Glas Wasser bringend). Hier ist Wasser! Rappelkopf. Wartet nur, ich werd es selbst hineinrühren. (Tut es. Für sich.) Ich muß ja schauen auf mich, was wär denn das? Lischen (die am Kabinett gehorcht, springt weg davon). Er kömmt. Vierzehnter Auftritt Vorige. Astragalus aus dem Kabinette. Astragalus. Also so werden meine Befehle respektiert? (Zu Sophie.) Was machst du hier? Was hat der Maler hier im Hause wollen? Wir sprechen uns schon noch. Sopie. So sei nur ruhig, lieber Mann, dir ist nicht wohl, setz dich doch und nimm Arznei. (Sie reicht ihm das Glas.) Astragalus (wild). Wasser will ich, und sonst nichts. Sopie. Du mußt, ich darf dich nicht erkranken lassen. So nimm, ich bitte dich. Astragalus. Nein! Malchen. Lieber Vater, nehmen Sie. Rappelkopf. Es gehört wirklich eine Geduld dazu. Ich möcht mich selbst ohrfeigen, aber auf seinem Gesicht. Astragalus. So gib denn her. (Er nimmt das Glas.) Hölle, was ist das? der Trank ist trübe. Gesteh, du hast ihn mir vergiftet. Malchen. Aber Vater-- Lischen. Gnädger Herr! Astragalus. Da hilft kein Leugnen mehr, der Trank ist Gift. Rappelkopf. Ah, das ist noch über den Zichori. Sopie. So hör doch nur, es ist ja niederschlagendes Pulver. Astragalus. Es ist nicht wahr. Rappelkopf. Ich schlag ihn noch ohne Pulver nieder. Astragalus (wirft das Glas um die Erde). Ich bin in meinem eignen Haus des Lebens nicht mehr sicher. Rappelkopf. Entsetzlich! meine eigenen Worte. Astragalus. Mein Weib ist eine Mörderin. Darum herab mit euch, ihr Früchte, die für meinen Haß gereift. (Entreißt Sophien ihre Halskette, woran sein Porträt hängt.) Was trägst du hier am Hals? hinweg damit, du sollst kein Angedenken von mir tragen als den Fluch, womit ich deine Bosheit krönen will. So hör mich denn, du mörderisches Weib-- Rappelkopf. Genug, genug! das ist der ganze Narr wie ich, ich kann mich selber nicht mehr anschauen mehr. Sopie (fällt in einen Stuhl). Ich unglückselges Weib! Astragalus. Verlaß mein Schloß, ich will allein hier hausen, und mein Geschäft heißt Menschenhaß. Ich will von dir und von der Welt nichts wissen mehr, verwünsche dich, verwünsch mein Kind-- Rappelkopf. Nein Sapperment, jetzt wirds mir z'viel. Der Mensch verflucht mir 's ganze Haus. Astragalus. Geh hin zu deinem Maler, treib es bunt, wie ein Chamäleon sollst du in allen Farben prangen, werd grün vor Galle, blau von Schlägen, rot vor Schande, weiß vor Kummer, gelb von Fieber, grau vom Alter und-- Rappelkopf (freudig). Das ist gscheid, jetzt gehn ihm d' Farben aus. Astragalus. Doch laß dich nimmermehr vor meinen Antlitz sehen, verleugne mich, ich bin dein Vater nicht-- Malchen (umklammert weinend seine Knie). Vater, Barmherzigkeit, verstoßen Sie mich nicht! Astragalus. Hinweg von mir! (Stoßt sie fort.) Rappelkopf. Das leid ich nicht--potz Donnerkeil und Wolkenbruch--Nun hab ichs satt, ich muß mich um meine Familie annehmen. Der Mensch ruiniert mir Weib und Kind. Sapperment! Sie sind kein Mensch, ein Teufel sind Sie, der mich schwärzer darstellt, als ich bin. Astragalus. Du kommst mir eben recht, du schändlicher Betrüger! Gib mir Genugtuung dafür, daß du Komplotte hinter meinem Rücken schmiedest. Gib Rechenschaft--(er packt ihn an der Brust) wie mein Vermögen steht-- Malchen. Zu Hülfe! Onkel! Sopie (gleichzeitig). Zu Hülfe! Bruder! Lischen (gleichzeitig). Zu Hülfe! Rappelkopf. Was? anpacken? Ha, Entehrung! Satisfaktion, Duell! (Alle Hausleute.) Astragalus. Pistolen her! Rappelkopf. Kanonen her! Astragalus (nimmt Pistolen von der Wand). Hier sind sie schon. Rappelkopf. Das wird ein Treffen wie bei Navarin. Sopie. Mann, ich bitte dich um alles in der Welt! Astragalus. Umsonst! Malchen. Onkel, sind Sie doch vernünftig! Rappelkopf. Geh weg, ich hab keine Zeit dazu. Astragalus. Fünf Schritte sind genug. Wir schießen uns zugleich. Zähl drei! Sopie. Versöhnt euch doch! Rappelkopf. Wir sind die besten Freund, jetzt sind wir erst auf du und du. Geh fort, ich muß. (Zählt und zielt.) Eins, zwei-- Sopie (fällt in Ohnmacht). Ach! Rappelkopf. Die fallt schon um, ich hab noch gar nicht gschossen. Malchen. Die Mutter stirbt! Rappelkopf. Sie soll noch warten, sag! Astragalus. Drück los! Malchen (umschlingt ihren Vater). Ach Onkel, halten Sie, sonst töten Sie zwei Menschen. Rappelkopf (prallt zurück). Was? Himmel, jetzt fallt mir was ein, ich kann mich gar nicht duellieren mit ihm! Wir haben nur alle zwei ein Leben. Wann ich ihm erschieß, so schieß ich mich selber tot. Wenn ich jetzt losdruckt hätt, jetzt wärs schon gar. Astragalus. Mach fort! warum besinnst du dich? Rappelkopf. Nu wenn sich einer da nicht besinnen soll, hernach gehts recht. Astragalus. Nur einer fällt, ich oder du. Rappelkopf. Das kann nicht sein, wir falln in Kompagnie. Astragalus. Gleichviel, es geht auf Leben und Tod. (Zielt.) Rappelkopf. Halt, es geht auf Tod und Tod. Astragalus (geht auf ihn zu). Warum willst du nicht schießen, feiger Wicht? (Sophie hat sich indessen erholt.) Rappelkopf. Weil mich meine Schwester dauert--ich will sie nicht zur Witwe machen--, und ihr Kind, und ihr Schwager, und die ganze Freundschaft. (Beiseite.) Das ist eine Schande, ich weiß gar nimmer, was ich sagen soll. Astragalus. Ich will mein Leben nicht für sie erhalten, und dir will ichs am wenigsten verdanken. Es gilt mir nichts, ich werf ihn weg, den unschmackhaften Rest des altgewordnen Seins, ich brauch ihn nicht. Rappelkopf. Wie der mit meinem Leben herumwirft, und ihm gehts gar nichts an. Astragalus. Doch deine Feigheit will ich nicht hier dulden, du packst dich fort aus meinem Haus, sonst werf ich dich hinaus-- Rappelkopf. Jetzt wirft er mich gar aus meinen eignen Haus? Der Mensch spielt noch Ballon mit mir, und bring ich ihn recht in Zorn, so trifft uns alle zwei der Schlag. Ich weiß gar nicht, was er noch immer will, ich sehs ja ein, ich war ein unvernünftig Tier, ein Tiger, drum will ich wissen, was denn jetzt noch kommt. (Habakuk mit einem Brief tritt schnell ein.) Habakuk (eintönig). Ein Brief. Rappelkopf. Aus Paris? Du Dummkopf! Habakuk. Nein, dasmal ist er aus Venedig. Astragalus (schießt darauf los). Aus Venedig? her damit! Rappelkopf. Her damit! Der intressiert mich selbst. (Will hineingehen.) Astragalus (fährt ihn an). Was wollen Sie? Rappelkopf (erschrickt). Ja so! Jetzt darf ich meine eignen Briefe nicht lesen. Verdammter Doppelgänger du! (Astragalus wird während des Lesens unruhig und bleich und zittert.) Das muß eine schöne Nachricht sein. Astragalus (läßt zitternd das Blatt fallen und sagt mit Entsetzen). Ich bin verloren! Rappelkopf (fängt zum zittern an). So bin ichs auch. Astragalus (sinkt in einen Stuhl.) Mir wird nicht wohl. Rappelkopf. Und mir wird übel. (Sinkt in den gegenüberstehenden Stuhl.) Astragalus. Ich geh zugrunde Rappelkopf. Ich bin schon hin. Alle. Wasser! Wasser! (Die Weiber sind besorgt. Lischen läuft ab.) Astragalus (springt auf). Wasser! Ja, ihr erinnert mich darauf. (Zu Rappelkopf) Du Verräter bist an allem schuld. (Stürzt ab.) Rappelkopf (springt auch auf). Nein, mein Schwager ist an allem schuld! Wo ist der Brief? (Liest. Erstarrt.) »Mein Herr, ich berichte Ihnen, daß das Handlungshaus, bei welchem Ihr Vermögen liegt, ge--ge-- fallen ist.« Ich lieg schon da--ich streck schon alle vier von mir. (Lischen kommt zitternd.) Lischen. Hülfe! Hülfe! der gnädge Herr ist fort, er ruft, er wolle sich ersäufen, er stürzt sich in den Strom. Sopie. Mein Mann! Malchen. Der Vater! Alles. Eilt ihm nach! (Alles stürzt ab.) Rappelkopf (kann vor Angst nicht von der Stelle). Halts ihn auf, den unglückselgen Kerl, was der Mensch mit meim Leben treibt! Ich komm aus einen Tod in den andern hinein. (Die Knie brechen ihm.) Ich kann nicht fort, er springt hinein. Er ist schon drin, ich fang zum schwimmen an. (Schleppt sich fort.) Der Himmel steh mir bei, dasmal ein Menschenfeind, in meinem Leben nimmermehr. Verzweiflung, gib mir Kraft, sonst muß ich untergehn. (Ab.) Fünfzehnter Auftritt Verwandlung Freie Gegend vor dem Schlosse. Im Hintergrunde ein tiefer Strom, an der Seite ein hoher Fels. Alle Hausleute. Malchen. August. Astragalus wird gehalten. Sophie kniet vor ihm. Gruppe. Chor. Haltet ihn, haltet ihn! Seht, er will entrinnen. Laßt ihn nicht, laßt ihn nicht, Denn er ist von Sinnen! (Astragalus reißt sich los und eilt auf den Fels. In dem Augenblick erscheint) Rappelkopf (und ruft). Halt! (Astragalus springt hinab. Rappelkopf fällt ohnmächtig in die Arme seiner Frau und Tochter.) Schnelle Verwandlung in den Tempel der Erkenntnis. Hohe Säulen von Kristall mit Gold geziert. Auf der Hinterwand eine große Sonne, in deren Mitte die Wahrheit schwebt. Vor ihr ein Opferaltar. Astragalus' Gestalt, welche in das Wasser sprang, war eine falsche. Dieser zeigt sich nun wie zu Anfang des zweiten Aktes. Mit ihm ideal gekleidete Alpengeister. Rappelkopf hat sich indessen in seine wahre Gestalt verwandelt. Sophie. Malchen. August. Astragalus (zu Rappelkopf). Willkommen hier in der Erkenntnis hellstrahlendem Tempel, im wahrheiterleuchteten Saale. Ich sehe dich beschämt und reuergriffen vor mir stehen. Rappelkopf. Ja leb ich denn noch? Bin ich denn nicht in Kompagnie ersoffen? Sopie. Du lebst noch, lieber Mann! Malchen. Sie leben, lieber Vater! Rappelkopf. Und künftig nur für euch. (Umschlingt sie beide.) Wenn ich euch nicht zu schlecht bin, daß ihr für mich auch lebt. Astragalus. Du hast nun Menschenhaß geschaut und eines Menschenfeindes Ende. Rappelkopf. Und ist er denn wirklich hin, dieser verwünschte Lebenskompagnon, dieses Zerrbild meiner Unverträglichkeit? Astragalus. Er ist verschwunden wie dein Menschenhaß. Rappelkopf. Nu das waren ein Paar saubre Leute, ich bin froh, daß ich sie losgeworden bin. Aber weil Eure Hoheit gar so viel vermögend sind, könnten Sie denn nicht auch etwas über mein verlornes Vermögen vermögen. Damit ich auch meinem Schwager verzeihen könnt, weil er der einzige ist, den ich noch hasse. (Man hört ein Posthorn. Linarius, als Postknecht gekleidet, mit Herrn von Silberkern.) Linarius. Hier lad ich meinen Passagier von seiner Wolkenreise ab. Die Alpenluft hat ihm recht gut getan. Silberkern. Nu wart, du saubrer Postillon! Herr Schwager, seh ich Sie einmal? Rappelkopf. Sie sind mir schon der liebste Schwager, jetzt kommt er erst daher, wenn schon alles vorbei ist. Sie sind an meinem Unglück schuld, ich bin ein Bettler. Silberkern. Von einmalhunderttausend Gulden Münze, die ich ohne Ihre Einwilligung bei dem Bankier erhoben habe, bevor das Haus noch fiel. Weil ich Wind bekam und Ihr Vermögen retten wollte, das ich Ihnen hier in Wechseln übergebe. Rappelkopf. Ach, das ist ein Schwager, den laß ich mir gfallen, der bringt doch was ins Haus. (Umarmt ihn, Silberkern umarmt Sophie.) Kinder, mein Vermögen, die Menge Wechsel, ich bin völlig ausgewechselt vor lauter Freuden. Herr Schwager, das werd ich Ihnen nie vergessen. Silberkern. Zahlen Sie mir lieber meine Angst, die ich Ihretwegen ausstehn mußte. Rappelkopf. Ich geh Ihnen die meinige dafür, Sie kommen nicht zu kurz. Silberkern. Aber wie hängt denn das alles zusammen? Rappelkopf. Freund, das werden wir Ihnen morgen früh erzählen, sonst möcht es den Leuten zu viel werden. Denn ich hab heut schon so viel geredet, daß ich nichts mehr sagen kann als: (zu August) Sie sind mein Schwiegersohn. Nehmen Sie sie hin. Aber Sie sind ein Maler, schmieren Sie s' nicht an. Lieben Sie s' so, wie ich Sie unrechterweise gehaßt habe, dann kann sie schon zufrieden sein. August, Malchen (zugleich). Bester Vater! Rappelkopf (auf den Alpenkönig zeigend). Dort bedankt euch. August, Malchen (stürzen zu Astragalus' Füßen). Großer Alpenkönig, Dank! Astragalus (mit Rührung). Ich hab dir gestern einen Kranz versprochen, Als ich dein Leid im Alpentale sah. Du siehst, ich habe nicht mein Wort gebrochen, Das Leid ist fort, der Kranz ist da. (Er nimmt einen Kranz aus schönen Alpenblumen von glänzender Folio, den ihm einer von den Alpengeistern reicht, und setzt ihn Malchen auf.) So nimm ihn hin, du Mädchen seltner Art, Das treulich hält, was liebend es verspricht, Und weil ich euch so väterlich gepaart, Vergeßt auch auf den Alpenkönig nicht. (Geht ab.) Rappelkopf. Kinder, ich bin ein pensionierter Menschenfeind, bleibt bei mir, und ich werde meine Tage ruhig im Tempel der Erkenntnis verleben. Schlußgesang Erkenntnis, du lieblich erstrahlender Stern, Dich suchet nicht jeder, dich wünscht mancher fern. Zum Beispiel die Leute, die uns oft betrügn, Die wolln nicht erkannt sein, sonst würden s' nicht lügn. Doch seien vor allen die Schönen genannt, Die werdn von uns Männern am ersten erkannt. Die Guten, die brauchen schon längere Zeit, Obwohl die Erkenntnis dann ewig erfreut. Die Jugend will oft mit Erkennen sich messen, Die hat den Verstand schon mit Löffeln gegessen. Doch rückt nur das Alter einmal an die Reih, Dann kommt die Erkenntnis schon selber herbei. Der Mensch soll vor allem sich selber erkennen, Ein Satz, den die ältesten Weisen schon nennen, Drum forsche ein jeder im eigenen Sinn: Ich hab mich erkannt heut, ich weiß, wer ich bin. Erkannt zu sein wünscht sich vor allem die Kunst. Die feine Kokette bewirbt sich um Gunst. Und wird sie auch heute mit Ruhm nicht genannt, So werde denn doch nicht ihr Wille verkannt! Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Der Alpenkönig und der Menschenfeind, von Ferdinand Raimund. End of the Project Gutenberg EBook of Der Alpenkonig und der Menschenfeind, by Ferdinand Raimund *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER ALPENKONIG UND DER *** ***** This file should be named 6637-8.txt or 6637-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/6/6/3/6637/ Produced by Delphine Lettau Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
3217-8
The Project Gutenberg EBook of Mr Honey's Small Business Dictionary (English-German), by Winfried Honig This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Mr Honey's Small Business Dictionary (English-German) Author: Winfried Honig Posting Date: March 28, 2011 [EBook #3217] Release Date: July, 2002 Language: English Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MR HONEY'S SMALL BUSINESS *** Produced by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com. Mr Honey's Small Business Dictionary (English-German) (C)2001, 2002 by Winfried Honig This is a work in progress dictionary of phrases commonly used. This book contains English and equivalent German phrases. We are releasing two versions of this book, sorted for the English reader and sorted for the German reader. Dieses Buch wurde uns freundlicherweise von dem Verfasser zur Verfügung gestellt. This book was generously donated to us by the author. ------------------Acknowledgement: In the 1970s Winfried Honig, known as Mr Honey, started compiling and computerizing English/German dictionaries, partly to provide his colleagues and students with samples of the language of business, partly to collect convincing material for his State Department of Education to illustrate the need for special dictionaries covering the special language used in different branches of the industry. In 1997 Mr Honey began to feed his wordlists into the LEO Online Dictionary http://dict.leo.org of the Technische Universität München, and in 2000 into the DicData Online Dictionary http://www.dicdata.de While more than 500.000 daily visitors use the online versions, CD-ROM versions are available, see: http://www.leo.org/dict/cd_en.html http://www.dicdata.de http://mrhoney.purespace.de/latest.htm Mr. Honey would be pleased to answer questions sent to winfried.honig@online.de. Permission granted to use the word-lists, on condition that links to the sites of LEO, DICDATA and MR HONEY are maintained. Mr Honey's services are non-commercial to promote the language of business both in English and in German.------------------- History and Philosophy Die Anfänge dieses Wörterbuches gehen zurück in die Zeit als England der Europäischen Gemeinschaft beitreten wollte. In einer Gemeinschaftsarbeit von BBC, British Council, dem Dept. of Educ. und der OUP machte man sich Gedanken, wie man dem Führungsnachwuchs auf dem Kontinent die englische Wirtschaftssprache beibringen könnte. Als einer der wenigen Dozenten, die damals in London Wirtschaftsenglisch lehrten, kam ich in Kontakt mit dem Projekt. Da ich mich zu jener Zeit für eine Karriere in der Daten-verarbeitung oder als Hochschullehrer für Wirtschaftsenglisch entscheiden musste, wählte ich eine Kombination von beidem. Als Dozent der FH machte ich den Einsatz von Multimedia in der Vermittlung von brauchbarem Wirtschaftsenglisch zu meiner Aufgabe. Für die Anforderungen verschiedener Seminare, Schwerpunkte, Zielgruppen entstanden aus der praktischen Arbeit die Wortlisten und Wörterbücher. Aufgewachsen und geschult in der praktischen Denkweise von A.S. Hornby, einem Fellow des University College London, legte ich besonderen Wert auf die hohe Zahl möglichst dienlicher Anwendungsbeispiele. Die indizierten sequentiellen Wortlisten der Kompaktversionen, --anders und meines Erachtens noch viel besser--die großen sequentiellen Wortlisten der CD-ROM-Versionen mit der stufenweisen bis globalen Suche in den Wort- und Beispiellisten zunehmenden Umfangs, ermöglichen eine optimale sprachliche Orientierung in einem umfangreichen wirtschaftlichen Sprachsschatz. Dabei sehe ich neue Wege und Möglichkeiten des Erwerbs und des Umgangs mit der Fachsprache. Wahrscheinlich bietet sich hier weit mehr als sich im ersten Eindruck erahnen läßt. Spielerisch sollte es möglich sein, leichter, schneller und intensiver zu lernen. Durch die Vielzahl der Assoziationen dürfte sich schneller als bisher eine gehobene fachsprachliche Kompetenz entwickeln. A A1 at Lloyd's erste Klasse; hervorragend abandon aufgeben abandon a business ein Geschäft aufgeben abandon a plan einen Plan aufgeben abandon a project ein Projekt aufgeben abandonment Abtretung; Überlassung abandonment of action Klagerücknahme abate herabsetzen abatement Ermäßigung; Nachlass abbreviation Abkürzung abide by the law sich an das Gesetz halten ability Fähigkeit ability to pay Zahlungsfähigkeit ability to earn one's livelihood Erwerbsfähigkeit able fähig aboard an Bord abolish abschaffen abolishment Aufhebung abound im Überfluss vorhanden sein abroad im Ausland; ins Ausland above-mentioned obenerwähnt absence Abwesenheit absence from duty Dienstabwesenheit absenteeism unentschuldigtes Fernbleiben absolute unbeschränkt absolute advantage absoluter Vorteil absolute monopoly absolutes Monopol absolve freisprechen abstinence Enthaltsamkeit abstract kurz gefasst; Kurzfassung abundance Überfluss abundant im Überfluss abuse Missbrauch accelerated depreciation beschleunigte Abschreibung accelerator Beschleuniger accept akzeptieren accept in blank blanko akzeptieren acceptable quality level annehmbare Qualität acceptance Akzept acceptance of a draft Wechselakzept acceptance for honour Ehrenakzept acceptance of a tender Zuschlag acceptance house Bank spezialisiert in Wechselakzept (Br.) acceptor Annehmer; Akzeptant access Zugang accessibility Zugänglichkeit accessory Mitschuldiger accident Unfall accident insurance Unfallversicherung accident sensitive störanfällig accidental zufällig accommodate unterbringen; entgegenkommen accommodation bill Gefälligkeitswechsel accomplish bewerkstelligen accomplishment Durchführung accord Übereinkommen accordance Übereinstimmung according to gemäß account Konto account of proceeds Erlöskonto account book Rechnungsbuch account day Abrechnungstag accountancy Rechnungswesen accountant Buchhalter account executive (in Werbeagentur) Kundenkontobetreuer account payee only nur auf das Konto des Begünstigten account purchases Einkaufsabrechnung des Kommissionärs account sales Verkaufsabrechnung des Kommissionärs accounts payable Kreditorenkonto; Schuldposten accounts receivable Forderungen accounting period Abrechnungszeitraum accrue anfallen accrued charges aufgelaufene Gebühren accrued interest aufgelaufener Zins accumulate auflaufen; sich anhäufen accumulation Anhäufung accumulative kumulativ accuracy Genauigkeit accurate genau accusation Anklage accuse anklagen achieve vollbringen achievement Leistung acid test harter Test acknowledge den Empfang bestätigen acknowledgement Empfangsbestätigung acknowledgement of debt Schuldanerkenntnis acknowledgement of order Auftragsbestätigung acknowledgement of receipt Empfangsbestätigung act handeln; Handlung; Gesetz act of bankruptcy Konkursvergehen Act of God höhere Gewalt Act of Parliament vom Parlament verabschiedetes Gesetz act of protest Protestaufnahme acting geschäftsführend action Handlung; Klage action for damages Schadensersatzklage action for support Unterhaltsklage action for an injunction Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfüg. activate aktivieren active lebhaft; tätig active partner aktiver Teilhaber activity Aktivität; Handlung actual wirklich actual total loss wirklicher Gesamtverlust actuary Versicherungsmathematiker adapt anpassen adaptation Anpassung add addieren; hinzufügen addendum Zusatz adding machine Addiermaschine additional zusätzlich address Adresse address for delivery Lieferanschrift addressee Empfänger addressing machine Adressiermaschine adequacy Angemessenheit adequate angemessen adhere festhalten adjoining angrenzend adjourn vertagen adjudicate gerichtlich entscheiden adjust regeln; anpassen; regulieren adjustable regulierbar adjustment Schadensregelung; Berichtigung adjuster Schadensachverständiger administer verwalten administration Verwaltung administration of property Vermögensverwaltung administrative verwaltungstechnisch admissibility Zulässigkeit admissible zulässig admit zulassen admittance Zulass ad valorem nach Wert advance vorschießen; Vorschuss advance payment Vorauszahlung advance of salary Gehaltsvorschuß advantage Vorteil adventurer Abenteurer; Spekulant adversary Gegner; Prozessgegner advertise werben advertisement Werbung; Inserat; Anzeige advertiser Inserent advertising Werbung advertising agency Werbeagentur advertising media Werbeträger; Werbemittel advice Rat; Ratschlag advice of arrival Empfangsanzeige; Eingangsanzeige advice of collection Inkassoanzeige advice of dispatch Versandanzeige advice of loss Verlustanzeige advice of receipt Empfangsanzeige advice note Avis; Versandanzeige advise raten; beraten adviser Ratgeber advisory beratend affair Angelegenheit affect beeinträchtigen affidavit eidesstattliche Erklärung affiliate sich angliedern affiliation Angliederung affirm bekräftigen; bestätigen affirmation Zustimmung affirmative zustimmend; bejahend affluence Reichtum; Überfluss affluent reich; im Überfluss schwimmend affluent society Überflussgesellschaft affreight befrachten affreightment Befrachtung aftereffect Nachwirkung against all risks gegen alle Risiken age at entry Eintrittsalter aging Alterung agency Agentur agency agreement Vertretungsvertrag agency of necessity Vertretung im Notfall ohne Ermächtigung agenda Tagesordnung agent Vertreter; Agent agent's commission Vertretungsprovision agglomeration Zusammenballung aggregate Gesamtsumme aggregate demand Gesamtnachfrage aggregate supply Gesamtangebot aggregation Anhäufung aggression Angriff aggressive aggressiv; angriffslustig aggressiveness Aggressivität aggressor Angreifer agio Aufgeld; Zuschlag agitate agitieren agitator Agitator agree übereinstimmen; vereinbaren agree tacitly stillschweigend übereinstimmen agreement Vereinbarung agriculture Landwirtschaft agricultural economics Landwirtschaftslehre aid Hilfe aim zielen; Ziel aircraft Flugzeug airfreight Luftfracht airlift Luftkorridor airline Luftfahrtslinie airliner großes Passagierflugzeug airmail Luftpost air terminal Flugabfertigungsstelle mit Busbahnhof alien Ausländer alienate veräußern align koordinieren allocate zuweisen allocation Zuweisung; Kontingentierung allonge Verlängerungsstück an Wechsel allot zuweisen allotment Zuweisung allotment note Zuweisungszettel allow erlauben allowance Erlaubnis allowed time zugestandene Zeit all risks whatsoever alle möglichen Risiken alongside ship längsseits alter ändern; abändern alteration Änderung alternate demand alternatives Bedarfsdeckungsgut alternative Alternative alternative costs Ersatzwert amalgamate verschmelzen amalgamation Verschmelzung ambiguity Mehrdeutigkeit ambulatory umherziehend amend verbessern amendment Verbesserung amends Wiedergutmachung amenities Annehmlichkeiten amortization Amortisierung amortize amortisieren; abzahlen amount Betrag amount of an invoice Rechnungsbetrag amount of depreciation Abschreibungsbetrag amount of interest Zinsbetrag amount of investment Investitionsbetrag amount of turnover Umsatzhöhe amounting to betragend ample reichlich amusement Vergnügen amusement tax Vergnügungssteuer analysis Analyse analysis of profitability Rentabilitätsanalyse analyses Analysen analyst Analytiker analyze analysieren anchorage Ankergebühr ancillary untergeordnet ancillary industry Zulieferindustrie annex Anhang annotation Erläuterung; Anmerkung announce ankündigen announcement Ankündigung annual jährlich annual meeting Jahresversammlung annual general meeting Jahrshauptversammlung annual report Jahresbericht annual return Jahresmeldung annuity Annuität; Rente antedate vordatieren anticipate vorwegnehmen anticipated cost erwartete Kosten anticipated price erwarteter Preis anticipated profit erwarteter Gewinn anticipation Vorwegnahme anticipatory vorwegnehmend anti-dumping policy Anti-Dumping-Politik anti-dumping duty Anti-Dumping-Abgabe anti-trust legislation Anti-Trust-Gesetzgebung appeal appellieren; Rechtsmittel einlegen appear scheinen; erscheinen appearance äußerliches Erscheinungsbild append hinzufügen appendix Anhang appliance Gerät apologize sich entschuldigen apology Entschuldigung applicant Bewerber application Bewerbung; Anwendung application form Bewerbungsformblatt application for a job Stellenbewerbung application for shares Antrag auf Zuteilung von Aktien application for official quotation Antrag auf Börsenzulassung (Br.) applied economics Angewandte Volkswirtschaftslehre appoint einsetzen appointment Berufung apportion zuteilen appreciation Würdigung appreciate würdigen apprentice Lehrling apprenticeship Lehre approach annähern approbation Genehmigung appropriate angemessen appropriation Inbesitznahme approval Billigung approve billigen approximate annähernd approximately annähernd; ungefähr approximation Annäherung approximative annähernd apt angemessen aptitude test Neigungstest arbiter Schiedsrichter arbitrage Schiedsgerichtsbarkeit arbitral schiedsrichterlich arbitration Schiedsgerichtsbarkeit arbitration clause Schiedsgerichtsbarkeitsklausel arbitrator Schiedsrichter; Richter am Schiedsgericht archives Archiv area Gebiet argue argumentieren argument Argument argumentation Beweisführung arithmetic mean arithmetisches Mittel arithmetic progression arithmetische Progression arrange arrangieren arrangement Regelung; Vereinbarung array mathematische Anordnung; Array arrear Rückstand arrears Rückstände; Zahlungsrückstände arrival Ankunft arrive ankommen article Artikel; Gegenstand Articles of Association Satzung Articles of Partnership Satzung einer oHG artificial künstlich artisan Handwerker ascertain sich vergewissern ascertainable feststellbar asked price der geforderte Preis aspect Ansicht aspirant Aspirant; Bewerber assemble zusammenbauen assembly Montage assembly line Montageband assent einwilligen; Einwilligung assert behaupten assess veranlagen assessment Veranlagung assessor Assessor asset Aktivposten assets Aktivseite der Bilanz; Aktiva assign zuweisen assignee Zessionar assigner Zedent assignment Zuweisung assignor Abtretender assist helfen assistance Hilfe assistant Gehilfe associate Gesellschafter associated angeschlossen associated companies angeschlossene Gesellschaften association Gesellschaft assort sortieren assorted sortiert; gemischt assortment Sortiment assume annehmen assuming that in der Annahme dass assumption Annahme assurance Versicherung; bes. Lebensversicherung assure versichern; zusichern assured versichert assurer Versicherer at call auf Abruf attach beifügen attached beigelegt; in der Anlage attempt versuchen; Versuch attend zugegen sein attendance Anwesenheit attention Aufmerksamkeit attest bescheinigen attestation Bescheinigung attitude Haltung attitude survey Erforschung der Einstellung zu einer Sache attorney (US) Rechtsanwalt; (Br.) Staatsanwalt attorney-at-law (US) Rechtsanwalt attract anziehen attractive attraktiv; reizvoll attractiveness Attraktivität; Anziehungskraft attribute Eigenschaft auction Versteigerung auctioneer Versteigerer; Auktionator audit Revision auditor Buchprüfer; Revisor autarchy wirtschaftliche Unabhängigkeit; Autarkie authentic echt authenticity Echtheit authority Autorität authorization Bevollmächtigung authorize bevollmächtigen authorized capital zur Ausgabe berechtigtes Aktienkapital authorized clerk an der Börse zugelassener Angestellter authorized dealer zugelassener Händler automatic automatisch automation Automatisierung availability Verfügbarkeit available verfügbar average Durchschnitt averaging Durchschnittberechnung avoid vermeiden avoidance Vermeidung award Belohnung; Preis; Schiedsspruch B back Rückseite back up sb. jemanden unterstützen backdate rückdatieren background Hintergrund backing Unterstützung backlog Rückstand back pay Nachzahlung backward rückständig backward area rückständiges Gebiet backwardation Prolongationsgebühr bad debts Dubiose bad debts insurance Ausfallversicherung badge Abzeichen badness schlechte Beschaffenheit bag einpacken; eintüten; Beutel; Tasche; Tüte bagman (Br.; veraltet) Handlungsreisender baggage Gepäck bail Bürgschaft balance Saldo balance of accounts Rechnungsabschluß balance of an invoice Rechnungsbetrag; Rechnungssaldo balance forward Saloübertrag balance of payments Zahlungsbilanz balance of trade Handelsbilanz balance sheet Bilanz balancing Saldierung; Abschluss bale Ballen ballast Ballast ban verbannen; Verbot bank Bank bank acceptance Bankakzept eines Wechsels bank account Bankkonto bank charge Bankgebühr bank credit Bankdarlehen bank deposit Sparbucheinlage banker Bankier; Bankbeamter; Bankangestellter banker's draft Banktratte; von Bank gezogener Scheck banker's order Bankanweisung bank holiday Bankfeiertag Bank for International Settlement Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Bank of England Bank von England; britische Zentralbank bank of issue Notenbank bank loan Bankdarlehen bank note Banknote bank overdraft Girokontenüberziehung bank rate Diskontsatz der Bank von England bank reserves Bankreserven bankrupt zahlungsunfähig; Zahlungsunfähiger bankruptcy Bankrott; Zahlungseinstellung bank statement Kontenauszug der Bank bar Barren bar chart Balkendiagramm bargain günstige Gelegenheit; günstiges Angebot bargain-sale Ausverkauf mit günstigen Gelegenheiten bargaining Verhandeln barometer Barometer baron Baron; (Financier mit großem Einfluss) (Br.) barrier Schranke; Hindernis barrister (Br.) bei höheren Gerichten zugel. Anwalt barter tauschen; Tauschhandel base period Basiszeitraum zum Vergleich basic grundlegend basic wage Grundlohn basis Basis; Ausgangsebene basis price Grundpreis basket of goods Warenkorb batch Charge; Satz; Beschickung batch processing (EDV) Verarbeitung von Aufgabensätzen bazaar Basar bear "Bär" an der Börse; Baissespekulant bear market Börsensituation; in der die Bären dominieren bearer Inhaber eines Wertpapieres; Überbringer bearer cheque Überbringerscheck bearer of a bill Wechselinhaber below par unter Nennwert bellow the line unter der Linie; unter dem Strich beneficiary Begünstigter benefit Nutzen bequest vererben bid Gebot; Angebot bidder Anbieter bidding Ausschreibung; Angebot biennial alle zwei Jahre Big Five die großen fünf Londoner Banken bilateral zweiseitig bilateral agreement Vertrag zwischen zwei Partnern bilateral trade Handel zwischen zwei Staaten bill Rechnung (US); Rechnung im Restaurant bill of clearance Zollabfertigungsschein bill of costs Spesenrechnung bill of exchange Wechsel bill of lading Konnossement billboard (US) Anschlagtafel bills payable zu zahlende Rechnungen bills receivable Außenstände; Forderungen bill-board schwarzes Brett bimonthly alle zwei Monate binding verbindlich birth rate Geburtenrate bit Stückchen biweekly alle zwei Wochen blacklist schwarze Liste blackmail Erpressung black market schwarzer Markt; verbotener Markt black marketeer Händler am schwarzen Markt blank leer blank cheque Blankoscheck blank endorsement Blankoindossament blanket insurance generelle Versicherung; Dachvertrag blend vermischen; Mischung blending Vermischung block Block block of data Datenblock blocked account Sperrkonto blockade blockieren; Blockade blue chips Stammaktien erstklassiger Firmen blueprint Lichtpause board Behörde board of administration Verwaltungsrat board of complaint Beschwerdeausschuß board of creditors Gläubigerausschuß board of directors Aufsichtsrat; Vorstand board of examiners Prüfungsausschuß board of inquiry Untersuchungsausschuß Board of Trade Handelsministerium (Br.) boardroom Sitzungszimmer des Aufsichtsrats body Körperschaft bona fide in gutem Glauben bond Obligation; Pfandbrief; Versprechen bonded goods Waren unter Zollverschluss bonded warehouse Zollverschlusslager bondholder Inhaber einer Obligation bonus Sondervergütung bonus wages system Prämienlohnsystem book Buch; buchen; verbuchen book value Buchwert booking Verbuchung bookkeeper Buchhalter bookkeeping Buchhaltung bookmaker Buchmacher booklet Broschüre boom Blüte; Aufschwung; Hochkonjunktur boost erhöhen; Erhöhung border Grenze borderer Grenzbewohner bordering angrenzend borderland Grenzbereich; Grenzland borderline Grenzlinie borough Gemeinde borrow borgen borrower Entleiher; Borger borrowing power Kreditvermögen boss Chef bottle auf Flaschen füllen; Flasche bottleneck Engpass bottom Boden; niedrigster Stand bounce platzen (Scheck) bounced cheque geplatzter Scheck boundary Grenze; Grenzlinie bourse Börse boycott Boykott bracket Klammer brainstorming Ideensammlungsmethode branch Zweig; Filiale branch office Filiale brand Marke branded goods Markenartikel breach Bruch; brechen breach of condition Nichteinhaltung von Bedingungen breach of contract Vertragsbruch breach of law Gesetzesübertretung breach of promise Bruch eines Versprechens breach of secrecy Verletzung der Geheimhaltung breach of warranty Verletzung der Gewährleistung break brechen; unterbrechen; Pause breakage Bruch; Bruchschaden breakdown Zusammenbruch breakdown of costs Kostenaufgliederung break even gerade noch Gewinn machen breakthrough Durchbruch breakup Zerfall bribery Bestechung bribe bestechen bridge überbrücken; Brücke bridging loan Überbrückungsdarlehen brisk lebhaft brief kurz; kurz einweisen; kurz unterrichten briefcase Aktentasche brochure Broschüre broker Makler brokerage Maklergebühr budget Budget; Haushalt budgetary haushaltsmäßig; den Haushalt betreffend budgetary control Haushaltskontrolle budget period Haushaltsperiode building society Wohnungsbaugenossenschaft buildup Aufbau bulk in großen Gebinden; Bulkware bulk buying Großeinkauf; Einkauf unverpackter Ware bulk cargo Massenladung; Schüttgut bulk order Großauftrag; Auftrag für unverpackte Ware bull "Bulle" an der Börse bull market Börsensituation regiert von sog. Bullen bulletin amtliche Bekanntmachung bullion Gold in Barren bullion market Goldmarkt bundle Bündel burden Last bureau de change Wechselstelle bureaucracy Bürokratie business Geschäft business cycle Geschäftszyklus business forecasting Umsatzvoraussage business game Planspiel businessman Geschäftsmann buy kaufen buyable käuflich buyer Käufer; Einkäufer buyers' market vom Käufer bestimmter Markt buying department Einkaufsabteilung; Einkauf bye-law städtische Verordnung bypass Umgehungsstraße by-product Nebenprodukt C cabinet Regierung cable Kabel; Telegramm cable transfer telegraphische Geldüberweisung calculability Berechenbarkeit calculable berechenbar calculate kalkulieren calculator Rechenmaschine calculation Kalkulation; Berechnung calculation of costs Kostenberechnung calculation of profits Gewinnberechnung calculator Rechner calendar Kalender calendar month Kalendermonat calibrate eichen calibration Eichung call rufen; anrufen; telefonieren; aufsuchen callable abrufbar call-back Rückruf call-box Fernsprechzelle campaign Feldzug; Kampagne campus Hochschulgelände canal Kanal cancel streichen; annullieren; stornieren cancellation Annullierung; Stornierung cancelled annulliert candidate Kandidat canvass um Kunden werben; Kundenwerbung canvasser Werber capability Fähigkeit capable fähig capacity Kapazität; Fassungsvermögen capital Kapital; Vermögen capital account Kapitalkonto capital assets Kapitalvermögen capital investment Kapitalanlage capital employed eingesetztes Kapital capital unemployed totes Kapital capital expenditure Kapitalaufwand capital gains tax Kapitalzuwachssteuer capital goods Investitionsgüter capital paid up Einlagekapital capital yield Kapitalertrag capital-intensive kapitalintensiv capitalism Kapitalismus capitalist Kapitalist capitalistic kapitalistisch capital levy Kapitalabgabe; Kapitalsteuer capital market Kapitalmarkt captain of industry Industriekapitän caption Überschrift capture fangen carat Karat carbon copy Durchschlag carbon paper Kohlepapier card Karte cardboard Karton card index Kartei care sorgen; Sorge cargo Fracht; Ladung; Frachtgut caretaker Hausverwalter carnet Zollbegleitschein carriage Transportkosten; Beförderung carriage forward unfrei; Frachtkosten per Nachnahme carrier Frachtführer carry tragen carry forward übertragen; vortragen carry-over Übertrag carrying business Transportgewerbe; Transportunternehmen cartage Rollgeld cartel Kartell cartelization Kartellbildung carter Fuhrunternehmer case Kiste; Fall case study Fallstudie cash bar; kassieren; Kasse cash account Kassakonto cash box Kasse; Kassette cash business Bargeschäft cash credit Barkredit cash discount Barzahlunsrabatt; Skonto cash deposit Bareinlage cash expenditure Barauslage cash and carry Ware ist bar zu zahlen und selbst zu transp. cash on delivery Nachnahme cash on hand Kassenbestand cash order Sichtwechsel cash payment Barzahlung cash price Barpreis cash register Registrierkasse cash sale Barverkauf cash with order Kassa bei Auftragserteilung cash book Kassabuch cash transaction Kassageschäft cash flow Berechnung der verfügbaren Mittel cash price Barpreis cash reserves Barreserven cashier Kassier cashless bargeldlos cask Faß cast werfen casting of votes Stimmenabgabe casual worker Gelegenheitsarbeiter casualty Unfall; Unfallopfer catalogue Katalog category Kategorie categorization Einstufung cater for sth. versorgen; sorgen caterer Gastronom catering Gastronomie caution Vorsicht cautious vorsichtig ceiling price Höchstpreis cease aufhören census Zählung; Volkszählung census of population Volkszählung cent Cent (US) central bank Zentralbank centralization Zentralisierung centralize zentralisieren certificate Zertifikat certificate of damage Schadenszertifikat certificate of incorporation Inkorporationsurkunde certificate of origin Ursprungszeugnis certificate of inspection Abnahmebescheinigung certificate of protest Beglaubigung eines Wechselprotests certify bestätigen; bescheinigen certified accountant Wirtschaftsprüfer certified cheque beglaubigter Scheck ceteris paribus im übrigen gleich chain Kette chain store Kettenladen chain of command Weisungslinie chain of distribution Vertriebsweg chairman Vorsitzender chairperson Vorsitzende Chamber of Commerce Handelskammer Chamber of Trade Handwerkskammer chance Zufall chances of success Erfolgschancen Chancellor of the Exchequer Schatzkanzler (Br.); Finanzminister change Veränderung; Wechsel change of domicile Wohnsitzverlegung change in ownership Besitzwechsel channel Kanal channel of distribution Vertriebskanal channel of supply Versorgungsweg charge Belastung; Gebühr; Kosten; Anklage charge account Anschreibekonto charge up against sth. aufrechnen chart Karte; graphische Darstellung chart of accounts Kontenplan charter Charter; Befrachtung; ein Schiff mieten charter party Chartervertrag charter plane Charterflugzeug chartered accountant Wirtschaftsprüfer charterer Mieter eines Schiffes chattel bewegliches Gut cheap billig cheap money billiges Geld wegen billiger Zinsen cheapness Billigkeit check untersuchen check (US) Scheck checking account (US) Girokonto check list Kontroll-Liste check book (US) Scheckbuch check mark Markierung checking of purchases Einkaufskontrolle cheque (Br.) Scheck cheque book Scheckbuch; Scheckheft cheque to bearer Überbringerscheck cheque to order Orderscheck cheque transactions Scheckverkehr chief Chef chief accountant Hauptbuchhalter chief executive leitender Angestellter chief of an agency (US) Leiter einer Vertretung; Abteilung child allowance Kinderermäßigung choice Wahl; Auswahl choice of occupation Berufswahl church tax Kirchensteuer circulation of money Geldumlauf cipher Chiffre circular letter Rundschreiben circular note Reisekreditbrief circular ticket Rundreisefahrkarte circular trip Rundreise circulate in Umlauf sein circulating capital Betriebskapital circulation of bank notes Notenumlauf circulation Umlauf; Zirkulation circumstances Umstände city Innenstadt; Geschäftsstadt City Weltwirtschaftszentrum London City of London Stadt London city limits Stadtgrenzen city planner Stadtplaner city transportation städtische Verkehrsmittel civil servant Beamter civil service öffentlicher Dienst; Staatsdienst claim Anspruch; Forderung; Klage claim for damages Anspruch auf Schadensersatz claim for compensation Entschädigungsanspruch claim for indemnity Entschädigungsanspruch claim for money Geldforderung class Klasse classification Klassifizierung; Einstufung classify klassifizieren clause Klausel clean rein; sauber; ohne Einschränkung clean acceptance bedingunsloses Akzept clean bill of lading reines Konnossement clean bill of exchange Wechsel ohne Dokumentensicherung clean copy Reinschrift clear klar clear profit Reingewinn clearance sale Totalausverkauf clearance certificate Zollfreigabebescheinigung clearance of payments Zahlungsausgleich clearance inwards Eingangsdeklaration clearance outwards Ausgangsdeklaration clearing Abrechnung clearing account Verrechnungskonto clearing bank Verrechnungsbank; Verrechnungsstelle clearing house Abrechnungsstelle clearing item Abrechnungsposten clearing transaction Verrechnungsgeschäft clerical assistant Bürogehilfe clerical error Schreibfehler clerical work Büroarbeit clerk Büroangestellter client Klient; Kunde; Mandant clientele Kundschaft clip schneiden clippings Zeitungsausschnitte clique Gruppe cloak room ticket Gepäckaufbewahrungsschein clock Uhr clock in den Arbeitsbeginn registrieren clock out das Arbeitsende registrieren clock card Uhrenstechkarte close schließen; Schluss close of argument Schluss der Beweisführung close the books die Bücher abschließen closed geschlossen closed shop alle gehören der Gewerkschaft an closing price Schlusspreis; Schlusskurs closing of accounts Rechnungsabschluß closure Schließung coast guards Küstenwache coasting trade Küstenschifffahrt; Küstenhandel coastal steamer Küstendampfer code Kode code number Kennziffer code word Schlüsselwort coding Kodierung; Verschlüsselung coefficient Koeffizient coefficient of elasticity of demand Koeffizient der Nachfrageelastizität coefficient of elasticity of supply Koeffizient der Angebotselastizität coin Münze coin box Münzfernsprecher coinage Münzprägung collaborate zusammenarbeiten collaboration Zusammenarbeit collaborator Mitarbeiter collapse zusammenbrechen; Zusammenbruch collateral Sicherheit collateral loan Lombardkredit collateral securities doppelte Sicherheit collect sammeln; einsammeln; Inkasso vornehmen collect on delivery Nachnahme collectible einlösbar collection Inkasso collection agency Inkassobüro collection expenses Inkassokosten collection of data Erfassung von Daten collective kollektiv collective account Sammelkonto collective bargaining Tarifverhandlungen collective expenditure Sammelaufwendung collective ownership Kollektivbesitz column Spalte columnar bookkeeping amerikanische Buchführung combination Kombination; Verbindung combine verbinden; Konzern come in einlaufen; ankommen come into force in Kraft treten come to sth. sich belaufen auf comeback Neuanfang; Erholung coming into force Inkrafttreten commence anfangen commencement Anfang commend empfehlen commendatory letter Empfehlungsschreiben comment erklären; Kommentar commerce Handel commercial wirtschaftlich; kommerziell commercial academy Handelsakademie commercial advertising Wirtschaftswerbung commercial agreement Handelsabkommen commercial attache Handelsattache commercial bill Warenwechsel commercial centre Wirtschaftszentrum commercial draft Handelstratte commercial enterprise Handelsunternehmen commercial interests Handelsinteressen commercial invoice Handelsrechnung commercial law Handelsrecht commercial policy Handelspolitik commercial risk privatwirtschaftliches Risiko commercial traveller Handelsreisender commercial treaty Handelsvertrag commercial usage Handelsbrauch commission Kommission; Ausschuss commission account Provisionskonto commission agent Kommissionär commission basis Provisionsgrundlage commission business Kommissionsgeschäft commit sich verpflichten commitment Verpflichtung committee Kommission committee of inspection Inspektionskomitee; Gläubigerausschuss committee of creditors Gläubigerausschuss commodities Wirtschaftsgüter commodity exchange Warenbörse commodity markets Rohstoffmärkte common gemein; einfach; gewöhnlich common carrier Transportunternehmer common law bürgerliches Recht; Gewohnheitsrecht common labourer ungelernter Arbeiter Common Market Gemeinsamer Markt common stock Stammaktien common shares Stammaktien communicate mitteilen communication Nachrichtenverbindung; Nachrichtenverkehr community Gemeinde community of interests Interessengemeinschaft commuter Pendler compact kompakt; kurzgefasst; Pakt; Vertrag Companies Act (Br.) entspricht AG-Gesetz und GmbH-Gesetz company Firma company promoter Finanzierungsvermittler company reserves Firmenreserven comparable with vergleichbar mit comparative vergleichsweise comparatively verhältnismäßig compare vergleichen comparison Vergleich comparison of costs Kostenvergleich compensate kompensieren compensation Kompensierung; Abfindung compensation insurance Unfallversicherung compensation for loss of office Abfindung compete konkurrieren; im Wettstreit liegen competence Zuständigkeit competent zuständig competition Wettbewerb competitive wettbewerbsfähig competitor Konkurrent; Mitbewerber compilation Zusammenstellung compile zusammenstellen complain sich beschweren complaint Beschwerde complement ergänzen complementary komplementär; ergänzend complementary goods Komplementärprodukte complete ausfüllen; vollständig completion Vervollständigung compliance Erfüllung complicate kompliziert machen; komplizieren complicated kompliziert comply with erfüllen component Komponente; Bestandteil composite zusammengefasst composite demand Gesamtbedarf composite rate Durchschnittssteuersatz composition Zusammensetzung; Vergleich compound interest Zinseszins compound entry Sammelbuchung compound item Sammelposten comprehensive komprehensiv; umfassend comprehensive school Gesamtschule comprehensive insurance umfassende Versicherung compromise Vergleich comptroller (Br) (alte Form) staatlicher Kontrolleur compulsory liquidation Zwangsauflösung computation Errechnung computation of interest Zinsberechnung computation of income tax Einkommensteuerberechnung compute errechnen computer Computer; Rechner conceal verschleiern; verbergen concealment Verschleierung concentrate konzentrieren concentration Konzentration concern betreffen; Unternehmen; Firma concerned betroffen; beteiligt concerning betreffs concession Erlaubnis; Zugeständnis conciliation Schlichtung conciliator Schiedsrichter conciliatory proceedings Güteverfahren; Schlichtungsverfahren conclude schließen; zum Schluss kommen conclusion Schluss condemn verdammen condense kurz fassen condensed form zusammengefasste Form; gekürzte Form condition Bedingung conditions of sale Lieferbedingungen conditional bedingt conditional endorsement Indossament mit Vorbehalt conditional sale Verkauf unter Eigentumsvorbehalt conduct Benehmen confer with sb. mit jemandem Rücksprache nehmen conference Besprechung confidant Vertrauensperson confide anvertrauen confidential vertraulich confine beschränken confirm bestätigen confirmation Bestätigung confirmatory letter Bestätigungsschreiben confirmed letter of credit bestätigtes Akkreditiv confiscate konfiszieren; beschlagnahmen confiscation Beschlagnahme conflict Konflikt conflict of interest Interessenkonflikt conform gleichlautend conformity Übereinstimmung connect verbinden connection Verbindung consent zustimmen; Zustimmung consider bedenken; überlegen considerable beträchtlich consideration Überlegung; Gegenleistung consign übersenden consignee Empfänger consigned goods Konsignationsware consignment Sendung; Kommission consignment note Frachtbrief consignor Absender consolidate vereinigen; konsolidieren consolidated balance sheet konsolidierte Bilanz consols Staatspapiere (Br.) consortium Konsortium constant konstant constant costs konstante Kosten constitute festlegen construct erbauen; errichten; auslegen construction Errichtung; Bau; Auslegung consul Konsul consular konsularisch consular invoice Konsulatsfaktura consular fee Konsulatsgebühr consult konsultieren consultant Berater consult befragen consultation Beratung consume verbrauchen; konsumieren consumer Verbraucher consumer credit Verbraucherkredit consumer goods Verbrauchsgüter consumer industry Verbrauchsgüterindustrie consumer preference Bevorzugung durch den Verbraucher consumer price index Verbraucherpreisindex consumption Verbrauch consumption tax Verbrauchssteuer contact Kontakt; kontaktieren; Kontakt aufnehmen contain enthalten container Behälter; Container containerization Containerisierung containerize auf Container umsteigen containerized freight containerisierte Fracht container ship Container-Schiff contemporaneous performance Erfüllung Zug um Zug contents Inhalt contest anfechten contestation Anfechtung continuation Fortsetzung continue fortsetzen continuity Kontinuität continuous inventory Dauerinventur contra gegen contraband Kontrabande contract Vertrag contract in writing schriftlicher Vertrag contract of affreightment Frachtvertrag contract of personal service Dienstvertrag contract period Vertragsdauer contract terms Vertragsbedingungen contracting party vertragschießende Partei contraction Schrumpfung contractor Unternehmer; Bauunternehmer contractual vertraglich contribute beitragen contribution Beitrag control Kontrolle; kontrollieren; beherrschen control of consumption Konsumlenkung control of costs Kostenüberwachung controlled economy Zwangswirtschaft control of operations Betriebsüberwachung control of purchasing power Kaufkraftlenkung controller Kontrolleur; Revisor controlling interest maßgebendes Kapitalinteresse convenience Bequemlichkeit convenience goods Verbrauchsgüter convenient bequem; dienlich convention Abkommen conventional konventionell conversion Umwandlung conversion cost Verarbeitungskosten conversion of a debt Umschuldung convert konvertieren; umwandeln convertibility Umwandelbarkeit convertible umwandelbar cook of the books derjenige der Bücher verschleiert cooking of balances Bilanzverschleierung cooling-off period Abkühlungsperiode cooperate kooperieren cooperation Zusammenarbeit cooperative genossenschaftlich cooperative basis genossenschaftliche Basis cooperative credit association Kreditgenossenschaft cooperative marketing genossenschaftliches Absatzwesen cooperative society Genossenschaft coordinate koordinieren coordination Koordinierung co-ownership Miteigentumsrecht co-proprietor Mitbesitzer cope with mit etwas fertig werden; etwas schaffen copy Kope; Abschrift; Ablichtung copyright Urheberrecht copy typist Typistin; Schreibkraft corporate genossenschaftlich; gemeinsam corporate body juristische Person corporate debt Gemeinschaftsschuld; Gemeinschuld corporate enterprise Körperschaft corporation (US) soviel wie AG; GmbH; (Br) Körperschaft corporation property transfer tax Kapitalverkehrssteuer corporation tax Körperschaftssteuer corner Ecke corner the market einen Aufkäuferring binden correct berichtigen correspond with übereinstimmen mit correlation Korrelation cost Kosten cost account Unkostenaufstellung cost accounting Kostenrechnung cost allocating Kostenzuordnung cost and freight Warenkosten und Frachtkosten cost benefit analysis Kosten/Nutzen-Anbalyse cost centre Kostenstelle cost effectiveness Kostenwirksamkeit cost free gratis cost insurance and freight C.I.F. (Incoterm) cost and freight C. & F.; Kosten und Fracht (INCOTERM) cost of cartage Rollgeld; Fuhrgeld; Fuhrkosten cost of delivery Kosten der Anlieferung cost of education Bildungsaufwand cost of entertainment Repräsentationskosten cost of living Lebenshaltungskosten cost of living bonus Teuerungszulage cost of living index Lebenshaltungsindex cost of production Produktionskosten cost report Kostenaufstellung cost variance Kostenabweichung costs Kosten costs incurred angefallene Kosten costs of financing Finanzierungskosten costs of maintenance Instandhaltungskosten costs of replacement Wiederbeschaffungskosten cost-conscious kostenbewusst cost-price Selbstkostenpreis costing Kostenermittlung costly kostspielig council Ratsversammlung counsel Rat; Beratung counseling Beratungsdienst count rechnen countable zählbar counter Schalter counter claim Gegenforderung counter entry Gegenbuchung counterbalance Gegengewicht counterfeit Fälschung counterfeit money Falschgeld counterfoil Abschnitt countermand rückgängig machen countersign gegenzeichnen countersignature Gegenzeichnung country Land country of origin Ursprungsland country of destination Bestimmungsland country of exportation Exportland country of importation Importland country of production Herstellungsland county Grafschaft coupon Abschnitt course Gang course of business Geschäftsablauf course of instruction Lehrgang course of studies Studiengang; Lehrgang court Gerichtshof court fees Gerichtskosten court of arbitration Schiedsgericht court of bankruptcy Konkursgericht cover decken; Umschlag; Deckung coverage Deckung; Versicherungsschutz covering letter Begleitschreiben covering note Begleitschreiben co-worker Mitarbeiter craft Handwerk craftsman Handwerker cranage Krangebühr crash Krach; Zusammenstoß; Zusammenbruch crate Lattenverschlag credentials Beglaubigungsschreiben credit Kredit; Guthaben; Vertrauen credit accommodation Krediterleichterung credit agency Kreditbüro credit card Kreditkarte credit control Kreditüberwachung credit department Kreditabteilung credit expansion Kreditausweitung credit limit Kreditgrenze; Darlehensgrenze credit line Kreditgrenze credit note Gutschrift creditor Gläubiger credit transfer Überweisung eines Guthabens crisis Krise critical path analysis Netzplantechnik cross querschreiben crossed cheque Verrechnungsscheck cross reference Verweisung cum dividend mit Dividende cumulative kumulativ currency Währung currency clause Währungsklausel currency rates Umtauschsätze currency restrictions Währungsbeschränkungen currency reform Währungsreform currency system Währungssystem current laufend current account (Br.) Girokonto current assets Umlaufvermögen current liabilities laufende Verbindlichkeiten current price Tagespreis current rate Tageskurs curtail beschneiden; kürzen custodian Vermögensverwahrer custody Gewahrsam custom Brauch customer Kunde customs Zoll customs authorities Zollbehörde customs barriers Zollschranken customs broker Zollmakler customs duties Zölle customs invoice Zollfaktura customs shed Zollschuppen customs union Zollunion cut kürzen cutback Reduzierung; Abbau cutting of prices Preisunterbietung; Preisnachlass cycle Zyklus; Kreis cyclical fluctuation Konjunkturschwankung cyclical unemployment konjunkturbedingte Arbeitslosigkeit D daily täglich daily allowance Tagegeld daily earnings Tagesverdienst damage schaden; beschädigen; Schaden damages Schadenersatz damages at law gesetzlicher Schadensersatzanspruch danger Gefahr danger bonus Gefahrenzulage data Daten data processing Datenverarbeitung date datieren; Datum; Verabredung date book Terminkalender date of invoice Rechnungsdatum date of payment Zahlungstag date of maturity Verfalltag dating forward Vorausdatieren days of grace drei Tage Zahlungsfrist dead freight zu zahlende aber nicht genutzte Fracht deadline letzter Termin deadlock Stillstand dead weight Leergewicht deal Geschäft; Abschluß dealer Händler dear money teure Gelder; bei hohem Zinssatz death duties Erbschaftssteuer death rate Sterblichkeit debenture Schuldverschreibung debenture capital durch Verkauf von Obligationen erworben debenture stock Aktien mit garantierter Dividende debit belasten; Lastposten; Schuldposten debit balance Saldo zu Ihren Lasten debit note Lastschrift debit side Soll debt Schuld debtor Schuldner debtor nation Schuldnerland decade system Zehnersystem decartelization Entflechtung decartelize entflechten decentralization Dezentralisierung decentralize dezentralisieren deceptive mark irreführendes Markenzeichen decimal dezimal decimalization Dezimalisierung decimalize dezimalisieren decision Entscheidung decision theory Entscheidungstheorie deck Deck deck cargo Deckfracht declaration Erklärung declaration of bankruptcy Bankrotterklärung declaration of property Vermögensanmeldung declare erklären declared dividend gebilligte Dividende declared value angegebener Wert decline Niedergang; Rückgang decrease Abnahme decrement Verminderung deduct abziehen deductible abzugsfähig deductible from income tax einkommensteuerabzugsfähig deduction Abzug deduction at source Abzugspflicht deduction of expenses Abzug der Spesen deed Urkunde deed of partnership Gesellschaftsvertrag der oHG default Nichterfüllung; Versäumnis default of payment Nichtzahlung default in delivery Lieferverzug default fine Verspätungszuschlag defaulted notleidend defaulter säumiger Zahler defeasible anfechtbar defect Fehler; Mangel defective mangelhaft defer aufschieben deferment Aufschub deferred charges to expense transitorisches Aktivum deferred charges to income transitorisches Passivum deferred demand verzögerte Nachfrage deferred item Übergangsposten deferred shares Verzugsaktien deferred stock Verzugsaktien deficit Defizit; Fehlbetrag deficiency Fehlbetrag definite bestimmt; endgültig deflation Deflation defraud betrügen defraudation of customs Zollhintergehung defunct gelöscht defunct company im Handelsregister gelöschte Firma delay Verzögerung; verzögern delaying tactics Verzögerungstaktik delcredere agent Vertreter der das Inkasso garantiert delegate delegieren delegation Übertragung einer Vollmacht delete streichen delinquent account Dubiosekonto deliver ausliefern; anliefern deliver a letter einen Brief zustellen delivery Anlieferung; Lieferung delivery date Liefertermin delivery note Lieferschein demand nachfragen; Nachfrage demand and supply Nachfrage und Angebot demography Bevölkerungsstatistik demonstrate beweisen; vorführen demonstration Vorführung; Demonstration demoralized market äußerst gedrückter Markt demurrage Liegegeld denationalize in Privatbesitz überführen depart abfahren department Abteilung Department of Commerce (US) Handelsministerium Department of Trade and Industry Wirtschaftsministerium department store Kaufhaus departmental costs Abteilungskosten departure Abfahrt depend on abhängig sein von deposit Einlage; Anzahlung deposit account Sparkonto deposit bank Depositenbank deposit slip Einzahlungsschein depositor Einzahler depot Lagerhalle; (US) Güterbahnhof depreciate abschreiben; abwerten depreciation Abschreibung depreciation of currency Geldentwertung depression Baisse; Wirtschaftskrise derived demand abgeleitete Nachfrage; sekundäre Nachfrage derived income abgeleitetes Einkommen; sekundäres Einkommen describe beschreiben description Beschreibung descriptive beschreibend; erklärend descriptive economics beschreibende Volkswirtschaftslehre design Entwurf; Gestaltung; Konstruktion designer Gestalter desk Schreibtisch desk work Büroarbeit destination Bestimmungsort detach abtrennen; trennen; lösen detachable abtrennbar detail Einzelheit devaluate abwerten devalue abwerten devaluation Abwertung develop entwickeln developing country Entwicklungsland development Entwicklung development areas Entwicklungsgebiet development of costs Kostenentwicklung development potentialities Entwicklungsmöglichkeiten deviate abweichen deviate from a principle von einem Grundsatz abweichen deviation Abweichung device Gerät diagram Diagramm; Schaubild dial eine Telefonnummer anwählen dialing tone Amtszeichen diary Tagebuch; Terminkalender differ sich unterscheiden; abweichen difference Unterschied differentiation Staffelung diminish verringern diminishing returns abnehmender Ertrag diminishing utility abnehmender Nutzen diplomat Diplomat diplomatic diplomatisch diplomatic immunity diplomatische Immunität diplomatist Diplomat direct direkt direct costs direkte Kosten direct charges direkte Kosten direct mail direkte Zuschrift; direkte Werbung direct materials einer Ware zugeordnetes Material direct selling direkter Verkauf direction Anweisung director Direktor director general Generaldirektor director's report Jahresbericht directors' remuneration Aufsichtsratsvergütung directorship Aufsichtsratsposten directory Namensverzeichnis disagio Kursverlust; Abschlag disadvantage Nachteil disburse auslegen discharge entlassen; Entlassung discharged bankrupt rehabilitierter Konkursschuldner discharge from liability einer Verbindlichkeit entheben discount Diskont; Nachlaß; Skonto discount house Wechselbank discounts received Liefererskonto discounting of a bill Wechseldiskontierung discrepancy Unstimmigkeit discretion Diskretion; Ermessen discretionary power Ermessen discriminate diskriminieren; benachteiligen discrimination Diskriminierung; Benachteiligung dishonour entehren; nichtachten; nicht einlösen dishonoured note nicht eingelöster Wechsel dishonouring of a B/L Nichthonorierung eines Wechsels dishonourable unredlich dismantle auseinandernehmen dismiss entlassen dismissal Entlassung disparity Ungleichheit dispatch absenden; abfertigen; Abfertigung disposable personal income verfügbare persönliche Einkommen disposal Verfügung dispose verfügen; verkaufen dispossess enteignen dispossession Enteignung display ausstellen; Schaufensterdekoration disputable strittig dispute auseinandersetzen; Auseinandersetzung disregard mißachten disrepute Mißkredit dissolve auflösen dissolution Auflösung distrainable pfändbar distraint Zwangsvollstreckung distribute verteilen; vertreiben distribution Vertrieb distribution basis Verteilungsschlüssel distributor Zwischenhändler diversification Diversifikation diversify diversifizieren divide teilen dividend Dividende dividend on capital Kapitaldividende dividend prospects Dividendenaussichten division Teilung; Abteilung division of labour Arbeitsteilung division of profits Gewinnverteilung division of territory Gebietsaufteilung dock Dock; Trockendock dock dues Hafengebühren; Dockgebühren doctoring of balances Bilanzverschleierung document Dokument documentary durch Dolumente belegt documentary credit Dokumentenakkredtitiv documentary proof schriftlicher Nachweis documents against acceptance Dokumente gegen Wechselakzept documents against payment Zahlung gegen Dokumente dodge a tax eine Steuer umgehen domestic inländisch domestic bill Inlandswechsel domestic consumption Inlandsverbrauch domestic debts Inlandsschulden domestic market Inlandsmarkt domestic price Inlandspreis domestic trade Binnenhandel domestic sales Inlandsumsätze domicile Wohnort donation Spende dormant partner stiller Teilhaber doubtful claim zweifelhafte Forderung down payment Anzahlung downtown Innenstadt (US) downward drift fallende Tendenz double entry bookkeeping doppelte Buchführung double indemnity Doppelversicherung draft entwerfen; ziehen; Entwurf; Tratte drafts and cheques in hand Wechsel- und Scheckbestand draw ziehen; zeichnen drawback Nachteil drawer Aussteller drawee Bezogener drift Tendenz drive Werbefeldzug driver Fahrer drop fallen; fallen lassen dry goods nicht Lebensmittel dubious ungewiß due fällig due date Fälligkeitstag dull lustlos dullness Flaute dull season flaue Geschäftszeit duly authorized person Bevollmächtigter dummy Schaufensterpuppe dump auf den Markt werfen dumping Dumping; Unterbietung dunning (US) Mahnung dunning letter Mahnbrief (US) dunning statistics Mahnstatistik duplicate Duplikat; zweifach durable dauerhaft; unverderblich durable commodities unverderbliche Güter dutiable abgabepflichtig duty Pflicht; Zoll duty free zollfrei duty-free shop zollfreier Laden duty paid verzollt E E. & O.E. Irrtümer und Auslassungen zugelassen early warning system Frühwarnsystem earmark Buchzeichen; Kennzeichen earn verdienen earned income durch eigene Arbeit verdientes Einkommen earner Verdiener earnest money Handgeld earnings Einkünfte earnings statement Gewinaufteilung ease erleichtern; Erleichterung easing Abschwächung easy money leichtverdientes Geld eat up savings Ersparnisse aufbrauchen econometrics Ökonometrie economic wirtschaftlich economic adviser Wirtschaftsberater economic boom Konjunkturaufschwung economic demand wirtschaftliche Nachfrage economic area Wirtschaftsgebiet economic forecaster Konjunkturbeobachter economic geography Wirtschaftsgeographie economic growth Wirtschaftswachstum economic history Wirtschaftsgeschichte economic independence wirtschaftliche Unabhängigkeit economic law Wirtschaftsrecht economic planning Wirtschaftsplanung economic sanctions Wirtschaftssanktionen economic system Wirtschaftssystem economic theory Wirtschaftstheorie economical sparsam; wirtschaftlich economics of growth Wachstumstheorien economies of scale Kostenersparnis durch Massenproduktion economist Wirtschaftswissenschaftler; Volkswirt economize einsparen economy Wirtschaft educate erziehen education Erziehung; Bildung educational advertising Aufklärung EEC Europäischer Gemeinsamer Markt effect Wirkung effective wirksam effective demand wirksame Nachfrage effects Auswirkungen efficiency Leistungsfähigkeit efficiency bonus Leistungsprämie; Leistungszulage efficient leistungsfähig eight-hour day Achtstundentag elaborate ausgearbeitet; durchdacht; ausarbeiten elaboration Ausarbeitung elapse verstreichen elapsed time verstrichene Zeit elastic elastisch elastic demand elastische Nachfrage elastic supply elastisches Angebot elasticity Elastizität elasticity of demand Elastizität der Nachfrage elasticity of supply Elastizität des Angebots electronic elektronisch electronic data processing elektronische Datenverarbeitung electronics Elektronik element Element element of expenditure Ausgabeposten elementary elementär eligible wählbar eliminate eliminieren; ausschließen elimination Eliminierung elimination of risk Risikoausschaltung embargo Embargo; Handelssperre embarrassed in Verlegenheit embassy Botschaft embezzle veruntreuen embezzlement Veruntreuung emerge auftauchen emergency Notlage emergency address Notadresse emigrant Auswanderer emigrate auswandern emigration Auswanderung employ beschäftigen; einsetzen; anwenden employee Beschäftigter; Angestellter; Arbeitnehmer employee benefits Sozialleistungen employer Arbeitgeber employer's salary Unternehmerlohn employment Beschäftigung employment exchange Arbeitsvermittlung employment of capital Kapitaleinsatz employment of labour Arbeitseinsatz empower ermächtigen empties Leergut empty leer enable ermöglichen en bloc im ganzen encashment of debt Schuldeneinziehung encashment charges Einzugskosten enclose einschließen enclosure Einlage; Anlage encourage ermutigen encouragement Ermutigung endanger in Gefahr bringen endeavour bemühen; Bemühung endless endlos endorse indossieren endorsee Indossatar endorsement Indossament endorser Indossant endow stiften endowment Stiftung endowment fund Fond end product Endprodukt endure ertragen; dulden enforce erzwingen enforceable vollstreckbar enforcement Vollstreckung engage beschäftigen; verpflichten engaged beschäftigt; besetzt engagement Beschäftigung; Verabredung; Verpflichtung enlarge vergrößern enlargement Vergrößerung enroll einschreiben ensure absichern; sichern; gewährleisten enter eintreten enterprise Unternehmen; Unternehmung enterprising unternehmenslustig entertainment tax Vergnügungssteuer entitle berechtigen entity Einheit entity accounting Konzernbuchführung entrepreneur Unternehmer entrepreneurial activity Unternehmertätigkeit entice locken entitle berechtigen entrust anvertrauen entry Eintrag; Buchung envelope Umschlag equal gleich equalize ausgleichen equal pay gleiche Entlohnung equilibrium Gleichgewicht equalization Ausgleichung equip ausstatten equipment Ausstattung; Ausrüstung; Gerätschaft equity Eigenkapital equities Dividendenpapiere equivalent gleichwertig; Gegenwert era Epoche; Zeitraum erase auslöschen; ausradieren erect aufrichten; bauen ergonomics Ergonomie errand Botengang erroneous entry Fehlbuchung; Falschbuchung error Irrtum errors and omissions accepted Irrtümer und Auslassungen vorbehalten escalator clause Gleitklausel escape clause Rücktrittsklausel essential wesentlich essentials lebensnotwendige Güter; lebenswichtige Güter establish sich etablieren; begründen establishment Unternehmen estate Grundbesitz estate agent Immobilienmakler; Grundstücksmakler estate agency Immobilienbüro esteem Achtung; Hochschätzung estimate einschätzen; veranschlagen; bewerten estimation Beurteilung; Meinung estimation of damage Schadensabschätzung estimation of expenditure Ausgabenschätzung estimation of prospective profits Gewinnabschätzung estimated inventory geschätzte Inventur Euro-dollars EURO-Dollar Europe Europa European Europäer evade vermeiden; ausweichen evaded income tax hinterzogene Einkommensteuer evaluate bewerten evaluation Bewertung evasion of taxes Steuerumgehung evidence Beweis; Beweismaterial evident offensichtlich; erwiesen; klar ex works ab Werk (INCOTERM) ex warehouse ab Lager (INCOTERM) ex factory ab Fabrik (INCOTERM) exact time genaue Zeit exaggerate übertreiben exaggerated demand Übernachfrage exaggeration Übertreibung exceed überschreiten except ausgenommen exception Ausnahme exceptional ausnahmsweise exceptional offer Sonderangebot exceptional price Sonderpreis excess Übermaß excess capacity Überkapazität excess delivery Mehrlieferung excess of purchasing power Kaufkraftüberhang excess of weight Übergewicht excess payment Überzahlung excessive übermäßig exchange Wechsel; Wechselstube; Telephonvermittlung exchange control Devisenkontrolle exchange office Wechselstube exchange rate Umrechnungskurs exchange table Kurstabelle exchange of goods and services Waren- und Dienstleistungsverkehr exchange of ideas Meinungsaustausch exchange of information Informationsaustausch Exchequer Schatzkanzler (Br.) excise tax Verbrauchssteuer exclude ausschließen exclusion Ausschluss exclusive ausschließlich exclusive agent Alleinvertreter exclusive agency Alleinvertretung exclusive agreement Exklusivvertrag execute ausführen execution Ausführung execution of a contract Ausführung eines Vertrages execution of an order Auftragsausführung executive leitender Angestellter executor Testamentsvollstrecker exempt ausgenommen; erlassen exemption Befreiung exemption clause Ausnahmebestimmung ex gratia payment Zahlung ohne Verpflichtung exhaust erschöpfen exhausted erschöpft; geleert exhibit ausstellen exhibited articles Ausstellungsgüter exhibiting company Aussteller exhibition Ausstellung exhibitor Aussteller exit Ausgang expand expandieren; sich ausdehnen expansion Ausdehnung expectancy of life Lebenserwartung expected profit erwarteter Gewinn expenditure Ausgabe; Aufwand expense Spesen expense account Spesenkonto expensive teuer expert Fachkundiger expert opinion Gutachten expiration Verfall expire verfallen; ungültig werden; auslaufen expiration Verfall expiration date Verfalltag expired verfallen explanation Erklärung explain erklären explicit consent ausdrückliche Zustimmung exploit ausnutzen; verwerten; ausbeuten exploitation Ausnutzung; Ausbeutung exploitation rights Ausbeutungsrechte export Export; exportieren export agent Exportvertreter export bonus Ausfuhrprämie export clerk Exportsachbearbeiter export duty Ausfuhrzoll export credit insurance Exportversicherung export incentives Exportvergünstigungen export licence Exportgenehmigung; Ausfuhrgenehmigung export promotion Exportförderung exporter Exporteur; Ausführer exporting country Ausfuhrland exports Exportgeschäfte; Exportumsätze express ausdrücken express delivery Eilzustellung express parcel Eilpaket extend ausdehnen; verlängern extended coverage erweiterter Versicherungsschutz extension Ausdehnung; Verlängerung extension of a B/L Prolongation eines Wechsels extension of a period Fristenverlängerung extension of payment Zahlungsaufschub extension of permit Verlängerung der Genehmigung extension of a patent Patentverlängerung extension of visa Visaverlängerung extensive umfassend extent Ausmaß external ausländisch; Auslands- external account externes Konto external trade Außenhandel extinction of a debt Löschung einer Schuld extra zusätzlich extra pay Zulage extract Auszug extractive industry Rohstoffindustrie extraordinary außergewöhnlich extraordinary circumstances außergewöhnliche Umstände extraordinary depreciation außergewöhnliche Abschreibung extraordinary expenditure außergewöhnliche Aufwendungen extraordinary general meeting außerordentliche Hauptversammlung extraordinary income außerordentliche Erträge extras Nebenausgaben extravagant expenses übermäßiger Aufwand extreme extrem ex warehouse ab Lager (INCOTERM) ex factory ab Fabrik (INCOTERM) ex works ab Werk (INCOTERM) eye catcher Blickfang eye strain Augenbelastung F fabric Gewebe; Stoff fabricate herstellen fabulous wealth sagenhafter Reichtum face Vorderseite eines Dokuments face amount Nennbetrag face value Nennwert facilitate erleichtern; ermöglichen facilities Einrichtungen; Erleichterungen facilities for payment Zahlungserleichterungen facsimile Faksimile fact Tatsache fact-finding Untersuchung factor Faktor factors of production Produktionsfaktoren factors of safety Sicherheitsfaktoren factoring Faktoring factory Fabrik factory building Fabrikgebäude factory bookkeeping Betriebsbuchhaltung Factory Acts (Br.) Gesetz betreffend Fabriken factory-made fabrikmäßig hergestellt fact-finding Tatsachenfeststellung factory system Fabriksystem fail versagen; verfehlen; durchfallen failing which in Ermangelung von failure Fehlschlag failure to meet a deadline Fristenüberschreitung fair anständig fair Messe fair market value üblicher Marktpreis Fair Trade Law Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb fair wear and tear übliche Abnutzung fall Herbst (US) false falsch false entry Falschbuchung; Fehlbuchung false pretences falscher Vorwand familiar vertraut family allowance Familienzulage family expenditure survey Untersuchung der Lebenshaltungskosten family income Einkommen der Familie family income supplement Familienzulage fancy goods Modeartikel fare Fahrpreis farm Farm; Bauernhof farmer Farmer; Bauer farm cooperative landwirtschaftliche Genossenschaft fast-growing schnell wachsend fast-selling sich schnell verkaufend fault Fehler; Verschulden faulty fehlerhaft faulty goods nicht einwandfreie Ware; fehlerhafte Ware favour Gunst; Gefallen favourable günstig favourable balance of trade aktive Handelsbilanz feasible machbar feasibility Durchführbarkeit feasibility study Realisierbarkeitsstudie featherbedding Einstellung überflüssiger Arbeitskräfte feature Charakteristikum federal tax Bundessteuer federation Verband federation of employers Arbeitgeberverband fee Gebühr feedback Rückkopplung; Feedback feudal system Feudalsystem figure Zahl; Figur figurehead Repräsentationsfigur file ablegen; Akte filing of a claim Anmeldung einer Forderung; eines Anspruchs filing of an application Hinterlegung eines Antrags filing of a petition Hinterlegung einer Eingabe final endgültig; letzte final amount Endbetrag final dividend Schlußdividende final stock Endbestand finance Finanzwirtschaft finance company Finanzierungsgesellschaft finance market Geldmarkt financial finanziell financial accounting Finanzbuchführung financial aid finanzielle Hilfe financial control Finanzkontrolle financial policy Finanzpolitik financial position finanzielle Lage financial report Finanzbericht financial standing finanzielle Lage; Vermögenslage financial statement Finanzaufstellung financial status finanzielle Lage Financial Times industrial ordinary share index financial transactions Geldgeschäfte financial year Geschäftsjahr financially sound kapitalstark financially weak kapitalschwach financier Bankier; Geldgeber financing Finanzierung finding of capital Kapitalbeschaffung finding of means Mittelbeschaffung findings Resultate fine Geldstrafe finish beenden; abschließen finished goods Fertigwaren finishing Veredelung finishing process Veredelungsverfahren fire insurance Feuerversicherung firm fest; Firma first-class erstklassig first-grade erstklassig first-rate erstklassig first of exchange Primawechsel first in; first out die ältesten Anträge zuerst fiscal year Geschäftsjahr; Rechnungsjahr fiscal period Abrechnungszeitraum fiscal policy Steuerpolitik fit geeignet; anpassen fitter Mechaniker fix festsetzen fixation Festsetzung fixed assets Anlagevermögen fixed charge feste Gebühr fixed befestigt; festgelegt fixed charges fixe Kosten fixed costs fixe Kosten fixed liabilities langfristige Verbindlichkeiten fixed-price contract Vertrag zu festen Preisen fixtures Zubehör; Einbauten; festes Inventar fixtures and fittings Einbauten und Zubehör flexible flexibel; wendig flag Flagge flags of convenience Gefälligkeitsflaggen flat flach flat rate einheitlicher Satz flat rate of interest einheitlicher Zinssatz fleece jemanden ausnehmen; übervorteilen flexible working hours gleitende Arbeitszeit flimsy paper Durchschlagpapier flight Flug floating schwebend floating capital Umlaufvermögen; Betriebskapital floating policy Generalpolice floating assets Betriebskapital floating debt schwebende Schulden flotsam and jetsam Strandgut flourish blühen; gedeihen flourishing blühend flow Fluß flow of capital Kapitalabwanderung flow of material Materialfluß flow of traffic Verkehrsstrom flow chart Durchlaufplan fluctuate fluktuieren; schwanken fluctuating market value veränderlicher Kurswert fluctuation Schwankung fluctuation of price Preisschwankung fluctuation of the market Marktschwankung fluctuations in the money market Geldmarktschwankungen folder Schnellhefter follow folgen follow-up nachfassen follow-up date Nachfaßtermin follow-up system Wiedervorlageverfahren follow-up of orders Terminüberwachung foods Lebensmittel fool-proof narrensicher force Kraft; zwingen forced sale Zwangsverkauf force majeure höhere Gewalt force of attraction Anziehungskraft forced erzwungen forecast vorhersagen; Vorhersage; Voraussage forecasting Vorhersage; Prognose; Konjunkturprognose; foreign ausländisch foreign assets Auslandsguthaben foreign bill Auslandswechsel foreign currency ausländische Währung; Devisen foreign currency account Konto in ausländischer Währung foreign debts Auslandsschulden foreign department Auslandsabteilung foreign exchange Devisen foreign exchange broker Devisenmakler foreign trade Außenhandel foreign investment Auslandsinvestition foreign-controlled in ausländischem Besitz foreman Vorarbeiter forfeit verfallen forge fälschen forgery Fälschung form of appearance Erscheinungsform form of enterprise Unternehmensform formal requirements Formvorschriften; Förmlichkeiten formality Formsache formation Errichtung formation of a company Gründung einer Firma formation of prices Preisbildung fortnight vierzehn Tage; zwei Wochen fortune Glück; Vermögen forward nachsenden forwarded letter nachgesadter Brief forward buyer Terminkäufer forward price Terminpreis forward purchases Terminkäufe forward sales Terminkäufe forward seller Terminverkäufer forward transaction Termingeschäft forwarder Versender forwarding agent Spediteur forwarding expenses Versandkosten forwarding charges Versandkosten forwarding instructions Versandvorschriften forwarding of goods Güterbeförderung found gefunden found begründen foundation Gründung founder Gründer fractional amount Bruchteil fragile zerbrechlich frame Rahmen framework System franchise Lizenzvergabe frank frei machen franking machine Frankiermaschine fraud Betrug fraudulent betrügerisch fraudulent entry betrügerische Falschbuchung fraudulent bankruptcy betrügerischer Bankrott free alongside ship frei längsseits Schiff (INCOTERM) free of cost gratis free of charge gebührenfrei free of debt schuldenfrei free of interest zinsfrei free of tax steuerfrei free from breakage bruchfrei free from defects frei von Mängeln free on board frei an Bord (INCOTERM) free on rail frei verladen unsere Station free on truck frei verladen Ihr Fahrzeug free to the door frei Haus free accomodation freie Unterkunft free enterprise freie Marktwirtschaft free gift Werbegeschenk free ticket Freikarte freedom of competition Wettbewerbsfreiheit freedom of speech Redefreiheit freedom of trade Gewerbefreiheit freehold Eigentum; Grundbesitz freehold property Grundbesitz freehold flat Eigentumswohnung free market freier Markt freeze einfrieren freight Fracht freight costs Frachtkosten freight forward Empfänger bezahlt die Fracht (Br.); unfrei freight collect Empfänger bezahlt die Fracht (US); unfrei freight paid Fracht bezahlt freight prepaid Fracht im voraus bezahlt freighting Befrachtung frequency Häufigkeit; Frequenz frequency distribution Häufigkeitsverteilung frequency of loss Schadenshäufigkeit frequency of occurrence Häufigkeit frequent frequentieren; aufsuchen friction Reibung frictional unemployment Fluktuationsarbeitslosigkeit friendly society Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit fringe benefits zusätzliche Sozialaufleistungen frozen eingefroren frozen cargo Gefriergut frozen price eingefrorener Preis; fester Preis fulfill erfüllen fulfillment Erfüllung fulfillment of a contract Vertragserfüllung fulfillment of a plan Planerfüllung full coverage volle Deckung; voller Versicherungsschutz full employment Vollbeschäftigung full-time ganztags; ganztägig fully paid voll eingezahlt function Funktion; Tätigkeit functional building Zweckbau fund Fond fund manager Vermögensverwalter funds Mittel; Staatspapiere funds at disposal verfügbare Mittel furnish versehen furnished apartment möbliertes Zimmer fusion Fusion; Verschmelzung future Zukunft futures Termingeschäfte G gain gewinnen gain of time Zeitgewinn gains Gewinn; Einnahmen gainful einträglich gainings Verdienst gamble Spiel; Glücksspiel; spielen gambler Spekulant gambling Spekulation gambling on the stock exchange Börsenspekulation game of luck Glücksspiel game of pure chance reines Glücksspiel game-playing Spielen gang Arbeitskolonne gang leader Kolonnenführer gap Lücke gasoline price (US) Benzinpreis gate Flugsteig gauge Spurweite gazette Amtsblatt general allgemein general endorsement Blankoindossament General Agreement on Tariffs and Trade GATT-Abkommen general average große gemeinschaftliche Haverie general ledger Hauptbuch general strike Generalstreik generally im allgemeinen generally binding allgemein verbindlich gentleman Herr; Ehrenmann gentlemen's agreement Absprache genuine echt geometric progression geometrische Progression gift Geschenk; Gabe gifted begabt gift parcel Geschenksendung gilt-edged securities mündelsichere Wertpapiere giro (Br.) Postscheckdienst; Postgirodienst giro account Postgirokonto giveaway Werbegeschenk given gegeben give up a business ein Geschäft aufgeben; sich zurückziehen glut Fülle; Flut glut in the market überfüllter Markt glut of money Geldüberhang go-slow Bummelstreik go-between Vermittler goal Ziel gold bar Goldbarren gold reserves Goldreserven gold standard Goldstandard golden handshake Abfindung good address angesehene Wohnlage; angesehene Firma good faith guter Glauben good merchantable quality and condition Ware in gutem Zustand goods Waren goods and chattels Hab und Gut goods in process Halbfertigwaren goods in transit Transportgüter goods of quality Wualitätsware goods on consignment Kommissionsware goods dangerous in themselves an sich gefährliches Gut goods on order Auftragsbestand goods billed to customer in Rechnung gestellte Ware goods in short supply Mangelware goods in stock Warenbestand goods on hand verfügbare Ware goods of foreign make im Ausland hergestellte Ware goods returned Rückware goods on sale or return Kommissionsware goodwill imaginärer Firmenwert goodwill advertising Prestigewerbung go public an die Börse gehen go-slow Bummelstreik government Regierung government department Ministerium government securities Staatsanleihe grade Sorte grading Klassenbezeichnung grant Zuschuss grant a concession eine Konzession erteilen grant a licence eine Lizenz erteilen grant a loan ein Darlehen gewähren graph graphische Darstellung gratuity Gratifikation; Zuwendung gray market grauer Markt grievance Beschwerde grocery Lebensmittelladen gross brutto gross amount Bruttobetrag gross earnings Bruttoeinkünfte gross income Bruttoverdienst gross loss Bruttoverlust gross margin Bruttohandelsspanne gross national product Bruttosozialprodukt gross profit Bruttogewinn gross receipts Bruttoeinnahmen gross salary Bruttogehalt gross weight Bruttogewinn gross yield Bruttoertrag group Gruppe group incentives Gruppenbonus group of banks Bankenkonsortium group piece rate Gruppenakkord group of companies Unternehmensgruppe grow wachsen growth Wachstum growth in consumption Konsumsteigerung growth of population Bevölkerungswachstum growth of saving deposits Spareinlagenzuwachs growth rate Wachstumsrate growth target Wachstumsziel guarantee Bürgschaft; Garante (Br.) guarantee of delivery Liefergarantie guarantee of quality Qualitätsgarantie guaranteed employment garantierte Mindestbeschäftigung guaranteed prices garantierte Preise guaranteed wages garantierte Löhne guarantor Bürge guaranty garantieren; Garantie (US) guardian Vormund guidance Leitung; Anleitung guide Führer; Fremdenführer guidebook Reisehandbuch; Reiseführer; Ratgeber guild Zunft H haberdasher Kurzwarenhändler hail insurance Hagelversicherung half a holiday halber freier Tag half-price halber Preis hallmark Feingehaltsstempel handbook Leitfaden hand over aushändigen handing over Übergabe; Aushändigung handbill Handzettel; Flugblatt handicapped behindert handicraft Handwerk; Kunsthandwerk handle erledigen; handhaben handle any sort of business Geschäfte jeder Art erledigen handle with care vorsichtig umgehen handling charge Bearbeitungsgebühr handling capacity Umschlagskapazität handout Informationsblatt hand worked handgefertigt handwriting Handschrift handwritten handschriftlich handy geschickt haphazard zufällig harbour dues Hafengebühr harbour master Hafenmeister hard cash Hartgeld hard currency harte Währung hard to sell sachwer verkäuflich harden härten; verhärten hardening of the market Erschwerung des Absatzes hardship allowance Härtezulage hardship clause Härteklausel hard up in Geldverlegenheit hardware Geräte (im Computerbereich); Eisenwaren haulage Fuhrgeld; Transport have-not Habenichts hawker Straßenhändler; Wandergewerbetreibender hazard Risiko hazards of the sea Gefahren der See hazardous goods gefährliche Güter hazardous occupation gefährlicher Beruf head of department Abteilungsleiter head of a letter Briefkopf head of a delegation Leiter der Abordnung head of the business Chef des Unternehmens head of the household Familienvorstand head clerk Bürovorsteher headhunting Jagd nach qualifizierten Arbeitskräften heading Briefkopf headline Schlagzeile head office Hauptbüro; Zentrale; Stammhaus headquarters Hauptquartier; Hauptgeschäftsstelle health Gesundheit health hazard Gesundheitsrisiko hearing Anhörung hearing of a witness Vernehmung eines Zeugen heavy schwer heavy industry Schwerindustrie heavy traffic Lastenverkehr health insurance Krankenversicherung hedging Deckungsgeschäfte heir Erbe helicopter Helikopter hidden versteckt hidden defect versteckter Mangel hidden distribution of profits versteckte Gewinnausschüttung hidden effect versteckte Wirkung hidden fault versteckter Fehler; Mangel hidden inflation versteckte Inflation hidden reserves versteckte Reserven; stille Rücklagen highest bid Höchstangebot highest bidder Höchstanbieter high-capacity von hoher Kapazität high-class erstklassig high-grade hochgradig; hochwertig high-performance Hochleistungs- high-pressure selling aggressive Verkaufstechnik high-quality hochwertig high finance Hochfinanz highlight Glanzpunkt highway Fernstraße highway transport Güterfernverkehr (US) hint andeuten; Hinweis; Tip hire mieten hire purchase Mietkauf hire purchase agreement Mietkaufvertrag hire purchase system Mietkaufsystem hire a crew eine Mannschaft anheuern histogram Histogramm hoard horten hoarding Horten hoard up a treasure ein Vermögen ansammeln hold halten hold sb. liable jemanden zur Verantwortung heranziehen hold good gelten hold one's ground sich behaupten holder Inhaber holder in due course rechtmäßiger Inhaber holder of a licence Lizenzinhaber holder of a position Stelleninhaber holding company Dachgesellschaft; Beteiligungsgesellschaft holdup Betriebsstörung; Stillstand holiday pay Urlaubszulage home Zuhause home address Heimatanschrift; Privatanschrift home country Heimatland home delivery Anlieferung frei Haus home made selbstgemacht home market Inlandsmarkt; Binnenmarkt home demand Inlandsnachfrage home consumption Inlandsverbrauch Home Office (Br.) Innenministerium home produced goods Inlandserzeugnisse Home Secretary (Br.) Innenminister homestead Heimstätte; Eigenheim (US) homework system Heimarbeitssystem honorary ehrenhalber honour Ehre; ehren; honorieren honour a bill at maturity Wechsel einlösen honour a bill on presentation einen Wechsel bei Vorlage einlösen honorary member Ehrenmitglied hot heiß hot money heißes Geld hotel Hotel hotel accommodation Hotelunterkunft hotel business Hotelgewerbe hotel reservation Hotelreservierung hour Stunde hours of attendance Dienststunden hours of work Arbeitszeit hourly output Stundenleistung hourly rate Stundenlohn; Stundensatz household Haushalt house hunting Wohnungssuche housekeeping Haushaltsführung housekeeping allowance Haushaltsgeld housing allowance Wohnungszuschuss housing area Wohngebiet housing shortage Wohnungsnot human menschlich human relations zwischenmenschliche Beziehungen im Betrieb hunt jagen hunting for a job auf Arbeitssuche hush money Schweigegeld hypothecation Beleihung I ideal optimal idle ungenutzt; stilliegend idle capital totes Kapital idle money ungenutztes Geld idle time Wartezeit; Leerlaufzeit if necessary nötigenfalls illegal ungesetzlich; illegal illicit dealing unerlaubte Geschäfte illiquid illiquide illiquid assets schwer zu liquidierende Aktivposten illiquidity Zahlungsunfähigkeit imaginary imaginär imaginary profit erwarteter Gewinnverlust bei Versicherungen imitate nachahmen imitation Nachahmung immediate sofort immediate delivery sofortige Lieferung immigrate einwandern immigration quota Einwanderungsquote immovable unbeweglich immovable property Immobilien impair schmälern imperfect unvollkommen imperfect competition unvollständige Konkurrenz implication Implikation imply implizieren import Import; Einfuhr; importieren; einführen import duty Einfuhrzoll import licence Einfuhrerlaubnis import quota Einfuhrquote import restrictions Einfuhrbeschränkungen import of foreign capital Kapitaleinfuhr imported goods Einfuhrwaren importer Importeur; Einführer impose auferlegen inactive untätig; flau inactive capital brachliegendes Kapital incentive Ansporn; Anreiz; Bonus incentive bonus Leistungsprämie incentive scheme Prämiensystem incidence Ereignis incidentals Nebenausgaben include einschließen; beinhalten included eingeschlossen including einschließlich income Einkommen income tax Einkommensteuer income tax return Einkommensteuererklärung income from capital Einkünfte aus Kapitalvermögen income from dependent work Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit income from independent work Einkünfte aus selbstständiger Arbeit income from property Einkünfte aus Miete und Verpachtung income in kind Naturaleinkommen incoming mail Eingangspost incompetent nicht kompetent incorporation handelsgerichtliche Eintragung incorporation of a company Eintragung einer Firma Incoterms internationale Handelsbedingungen der ICC increase Erhöhung; Zunahme; erhöhen; zunehmen increase in efficiency Leistungssteigerung increased demand Mehrbedarf increasing zunehmend increment Zunahme incremental cost Mehrkosten indebted verschuldet indebtedness Verschuldung indemnification Entschädigung indemnify entschädigen indemnity Entschädigung indent Auslandsauftrag über Exporthaus (Br.) independency Unabhängigkeit independent unabhängig index Index; Meßziffer index number Messziffer; Kennziffer index of retail prices Einzelhandelskostenindex indicate anzeigen indication Anzeichen indication of price Preisangabe indifference Gleichgültigkeit indifference curve Indifferenzkurve indirect indirekt indirect costs mittelbare Kosten indirect taxes indirekten Steuern indispensable unerlässlich individual Individuum; einzeln individual costs Einzelkosten individualism Individualismus inducement to buy Kaufanreiz inductive method induktive Methode industrial industriell industrial accident Betriebsunfall industrial building gewerblich genutztes Gebäude industrial development industrielle Erschließung industrial engineering Maßnahmen zur Arbeitseinsparung industrial estate Gewerbegebiet industrial psychology Betriebspsychologie industrial potential Industriepotential industrial relations Beziehung zw. Management und Gewerkschaft industrial revolution industrielle Revolution industrial training gewerbliche Ausbildung industrialization Industrialisierung industrialize industrialisieren industry Industrie inefficiency Leistungsschwäche inefficient leistungsschwach inelastic unelastisch inelastic demand unelastische Nachfrage inelastic supply unelastisches Angebot infant Kind inferior minderwertig inferior goods minderwertige Ware inflate aufblähen inflation Inflation inflationary inflationär inflationary adjustment Inflationsausgleich inflationary gap inflatorische Lücke inflationary spiral Preisspirale inflationary trend inflationistische Tendenz informal formlos informal meeting formlose Zusammenkunft informant Auskunftsgeber information Information; Auskunft information retrieval Wiederauffinden von Information informatory informierend infrastructure Infrastruktur infringe brechen infringe a patent gegen ein Patent verstoßen infringe a trade mark gegen ein Warenzeichen verstoßen infringement Verstoß gegen ein Recht; Rechtsverletzung inherent vice innewohnender Mangel inherit erben inheritance Erbschaft inheritance tax Erbschaftssteuer initial anfangs; Anfangsbuchstabe initial order Erstauftrag initials Anfangsbuchstaben initiative Initiative injection of capital Kapitalspritze injunction einstweilige Verfügung injury Verletzung inland bill Inlandswechsel inland money order Inlandspostanweisung inland revenue Steuereinnahmen innovation Innovation input Einsatz; Material- und Kräfteeinsatz inquiry Anfrage inquiry office Auskunftsbüro insecure investment unsichere Kapitalanlage insert einfügen inside address Innenandresse insider Mitglied der Börse (US) insider dealings unerlaubte Geschäfte von Börsenmitgliedern insiders eingeweihte Kreise insolvency Zahlungsunfähigkeit insolvent zahlungsunfähig inspect inspizieren inspection Inspektion; Nachschau inspector Inspektor install installieren; einrichten; einbauen installation Installation; Einbau; Montage installment Teilzahlung installment business Abzahlungsgeschäft; Teilzahlungsgeschäft installment plan Teilzahlungsplan installment system Abzahlungssystem; Teilzahlungssystem instance Beispiel instant sofortig institute einrichten institution Institution; Einrichtung institutional institutionell institutional advertising Repräsentationswerbung instruct anweisen instruction Anweisung instructions Richtlinien instructor Instrukteur instrument Instrument insurable interest versicherbares Interesse insurance Versicherung insurance agent Versicherungsvertreter insurance broker Versicherungsmakler insurance certificate Versicherungszertifikat insurance company Versicherung insurance coverage Deckung insurance policy Versicherungspolice insurance premium Versicherungsprämie insurance rate Versicherungssatz insurance value Versicherungswert insurant Versicherungsnehmer insured person versicherte Person insured property versicherter Gegenstand insurer Versicherer intangible assets immaterielle Werte intelligence Intelligenz; Nachrichten intelligence test Intelligenztest intelligent intelligent intercompany zwischenbetrieblich interconnecting flight Anschlussflug interdepartmental zwischen den Abteilungen interdiction of payment Zahlungsverbot interdiction of commerce Handelsverbot intensity Intensität intensive intensiv intensive cultivation intensive Bearbeitung interest Interesse; Zins interest account Zinskonto interest earned Zinsertrag interest rate Zinssatz interest on account of delay Verzugszinsen interest payable Zinsaufwendungen interest receivable Zinsforderungen interest income Zinsertrag interest table Zinstabelle interfere sich einmischen interference Einmischung interfirm comparison zwischenbetrieblicher Vergleich intermediary Mittelsmann internal innerbetrieblich; inländisch international international International Chamber of Commerce Internationale Handelskammer interoffice innerbetrieblich interpolation Interpolation interpret dolmetschen interpretation Auslegung interpreter Dolmetscher interview Interview intrinsic value eigentliche Wert introduce einführen introduction Einführung introductory einleitend; einführend; anfangs introductory campaign Einführungswerbung invent erfinden invention Erfindung inventor Erfinder inventory Inventar; Bestand inventory control Bestandsaufnahme; Bestandskontrolle invest investieren invested capital Anlagekapital investigate erforschen; untersuchen investigation Untersuchung investment Investition investment bank Emissionsbank investment banking Emissionsgeschäft investment company Kapitalanlagegesellschaft investment grants Investitionszuschüsse investment trust Investmentgesellschaft investments abroad Auslandsanlagen investor Kapitalanleger invisible unsichtbar invisible exports unsichtbare Exporte invisible hand unsichtbare Hand invisible items of trade unsichtbare Handelsgüter invisibles unsichtbare Handelsgüter invitation to bid Ausschreibung invoice Rechnung invoiced goods fakturierte Ware; berechnete Ware involve verwickeln irrecoverable debt uneinbringliche Forderung irregular unregelmäßig irregularity Unregelmäßigkeit issue Ausgabe issue price Emissionspreis issued capital ausgegebene Aktien issuer Aussteller issuing house Emissionsbank item Posten; Artikel itemize nach Posten aufgliedern itinerary Reiseplan; Reiseroute J jetsam Strandgut jettison über Bord werfen jeopardize in Gefahr bringen job Beschäftigung job analysis Arbeitsplatzbeurteilung; Arbeitsstudie job classification Tätigkeitskategorie job costing Kostenrechnung für einen Auftrag job cost sheet Auftragskostensammelblatt job description Arbeitsplatzbeschreibung job evaluation Tätigkeitsbewertung job factor Arbeitsplatzbewertungsmerkmal job grading Bewertung einer Tätigkeit; Einstufung job hunting Arbeitssuche job rate Akkordsatz job sheet Akkordzettel job specification Arbeitsplatzbeschreibung job work Akkordarbeit jobber Großhändler an der Börse; Akkordarbeiter jobbing Gelegenheitsarbeiten verrichten join a company in eine Firma eintreten join a cartel sich einem Kartell anschließen join the majority sich der Mehrheit anschließen joint gemeinsam joint account Gemeinschaftsrechnung joint agreement Vereinbarung mit der Gewerkschaft joint capital of a company Gesellschaftskapital joint costs gekoppelte Herstellungskosten joint demand gekoppelte Nachfrage joint editor Mitherausgeber joint guarantee solidarische Haftung; Gemeinbürgschaft joint rate Sammeltarif joint-stock bank Aktienbank joint-stock capital Aktienkapital joint-stock company Aktiengesellschaft joint possession Mitbesitz; gemeinsamer Besitz joint return gemeinsame Steuererklärung der Ehepartner joint supply gekoppeltes Angebot joint surety Gemeinbürgschaft joint undersigner Mitunterzeichner joint use gemeinschaftliche Nutzung joint venture Gemeinschaftsunternehmen joint and several gesamtschuldnerisch journal Zeitschrift; Journal journey abroad Auslandsreise journeyman Geselle judge Richter; beurteilen judgement Urteil; richterliche Entscheidung judgement by default Versäumnisurteil jump sprunghafter Anstieg jump ahead Sprung nach vorn junior junior junior clerk Bürogehilfe junior partner Junior; Junior-Partner jurisdiction Rechtssprechung juristictional strike zwischengewerkschaftlicher Streik just compensation Entschädigung bei Grundstücksenteignung justice of the peace Friedensrichter justification Rechtfertigung justified claim berechtigte Forderung justify rechtfertigen K keen scharf keen demand starke Nachfrage keen competition scharfe Konkurrenz keep halten keep an account ein Konto unterhalten keep accounts Bücher führen keep a shop einen Laden führen keep a secret etwas geheimhalten keep dry trocken halten; trocken aufbewahren keep for sale feilhalten keep in safe custody sicher aufbewahren keep separate getrennt halten keep the minutes Protokoll führen keep track die Spur verfolgen; einer Spur nachgehen keep track of costs den Kosten nachgehen keep prices down Preise niedrig halten keep up to date auf dem neuesten Stand halten keen scharf; verwegen key Schlüssel key businessmen führende Geschäftsleute key industry Schlüsselindustrie key job Schlüsselstellung key personality Schlüsselperson key position Schlüsselposition keyboard Schlüsselbrett keynote Grundgedanke kickback Schmiergeld an Vorarbeiter kilogram Kilogramm kilolitre 1000 Liter kilometre Kilometer kilowatt Kilowatt kingdom Königreich kind Art kind of business Art des Unternehmens kind of goods Warenart kite Gefälligkeitswechsel knocked-down price Spottpreis know-how Fachwissen; Fachkenntnisse knowingly wissentlich L lack of capital Kapitalmangel label Etikette label an article einen Artikel auszeichnen labeling Etikettierung; Preisauszeichnung labour Arbeit labour dispute Streitigkeit mit den Gewerkschaftsvertretern labour exchange Arbeitsamt labour force Arbeiterschaft labour grade Tätigkeitseinstufung labour market Arbeitsmarkt labour piracy Abwerbung labour relations Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen labourer Arbeiter labour saving arbeitssparend laissez-faire wirtschaftsliberales Verhalten large-scale in großem Umfang land landen; ausladen land and buildings Grundstücke und Gebäude land acquisition Grunderwerb land agent Grundstücksmakler; Grundstücksverwalter landing charges Landegebühren landlady Hausherrin; Dame des Hauses landlord Grundherr; Hausherr land purchase tax Grunderwerbssteuer land register Grundbuch land value Grundstückswert landed property Liegenschaften landed property account Grundstückskonto lame duck lahme Ente last in; first out Bearbeitung des zuletzt hereingekommenen last in; first out Bewertung nach Wiederbeschaffungspreis last will Testament latent defects innewohnende unsichtbare Mängel launch vom Stapel laufen lassen launch a product ein Produkt auf den Markt bringen launching costs Anlaufkosten law Recht law charges Gerichtsgebühren law costs Gerichtskosten law of comparative advantages Gesetz des komparativen Nutzens law of diminishing returns Gesetz vom abnehmenden Ertrag law of supply and demand Gesetz von Angebot und Nachfrage law of economy of time Gesetz der Ökonomie der Zeit law of nature Naturgesetz law society Verband der Rechtsanwälte law-suit Gerichtsverfahren lawyer Jurist lay out ausgeben; aufwenden layout Anlage (z.B. eines Briefes) lead führen; Führung leader Anführer leaflet Flugblatt; Handzettel; Faltblatt leak lecken leakage Bruch; Verlust durch Auslaufen learn lernen learner Lerner; Anfänger learning curve Lernkurve learning process Lernprozess lease Pacht; verpachten lease of land Verpachtung leasehold Pachtgrundstück; Erbpachtgrundstück leaseholder Pächter leasing Vermietung von Maschinen least-squares method Methode der kleinsten Quadrate; Annäherung ledger Hauptbuch ledger keeper Hauptbuchführer legacy Erbschaft left-luggage office Gepäckaufbewahrung (Br.) legacy Vermächtnis legal gesetzlich; rechtsgültig legal action gerichtliches Vorgehen legal advice Rechtsberatung legal adviser Rechtsberater legal assistance Rechtshilfe legal basis Rechtsgrundlage legal department Rechtsabteilung legal measures gerichtliche Maßnahmen legal person juristische Person legal rate gesetzlicher Höchstzinssatz legal remedy Rechtsmittel legal reserves vorgeschriebene Bankreserven legal means Rechtsmittel legal steps gerichtliche Schritte legal tender gesetzliches Zahlungsmittel legal title Rechtsanspruch legally binding rechtsverbindlich legitimate claim Rechtsanspruch lend verleihen lender Verleiher lender of the last resort (Br.) Bank von England als Wechselkäufer lending fee Leihgebühr length of life Lebensdauer length of service Dienstalter length of warranty Gewährleistungsdauer lessee Pächter lessor Verpächter let lassen; überlassen; vermieten let a room Zimmer vermieten let a house Haus vermieten let a house furnished Haus möbliert vermieten letter Brief letter-box Briefkasten letter-head Briefkopf letter of application Bewerbung letter of apology Entschuldigungsschreiben letter of attorney Vollmacht letter of complaint Beschwerdebrief letter of credit Kreditbrief; Akkreditiv letter of guarantee Garantiebrief (Br.) letter of hypothecation Verpfändungsurkunde letter of indemnity Ausfallbürgschaft letter of inquiry Anfrage letter of introduction Einführungsschreiben; Empfehlung letter of recommendation Empfehlung letter of sympathy Beileidsbekundung letter of thanks Dankschreiben level Ebene level of employment Beschäftigungsniveau level of living Lebenshaltungsniveau levy Steuer; Abgabe liable verantwortlich liability Verantwortlichkeit; Haftung liabilities Passiva; Verbindlichkeiten licence Lizenz (Br.) license Lizenz (US) licensed zugelassen licensed dealer Vertragshändler licensee Lizenznehmer licensing agreement Lizenzvertrag licensor Lizenzgeber lien Pfandrecht life annuity Leibrente life assurance Lebensversicherung life expectancy Lebenserwartung life estate Wohnrecht und Nutzungsrecht auf Lebenszeit life of a contract Laufzeit eines Vertrages; Vertragsdauer life of a lease Laufzeit eines Mietvertrags life of an agreement Vertragsdauer limit Grenze; limitieren; begrenzen limit of demand Nachfragegrenze limit of profitability Rentabilitätsgrenze limitation Begrenzung limitation of birth Beschränkung der Geburtenzahl limitation of imports Importbeschränkung limitation of liability Beschränkung der Haftung limitation of membership Beschränkung der Mitgliederzahl limitation of production Produktionseinschränkung limited partnership begrenzt haftende Teilhaberschaft limited liability begrenzte Haftung limited liability company GmbH limited partnership Teilhaberschaft mit beschränkter Haftung limited partnership Kommanditgesellschaft limited market beschränkte Absatzmöglichkeiten linear programming lineare Programmierung linear increase lineare Erhöhung line Linie; Branche; Artikel; Telephonverbindung line management Linienführung line of command Weisungslinie line of communication Nachrichtenweg line of industry Industriezweig link Verbindung; Verbindungsglied liquid flüssig; liquid; zahlungsfähig liquidate liquidieren; auflösen liquidation Liquidation; Auflösung liquidator Liquidator liquidity Liquidität liquidity problem Liquiditätsproblem liquidity requirements Liquiditätsvorschriften list Liste list of applicants Bewerberliste list of articles Warenliste list of prospective buyers Kaufinteressentenliste list of exhibitors Ausstellerliste list of sailings Segelliste; Liste der Abfahrten list price Listenpreis listed auf der Börsenliste livestock lebendes Inventar; Vieh living Unterhalt; Lebensunterhalt living costs Lebenshaltungskosten Lloyds LLoyds Lloyd's Register LLoyds Schifffahrtsregister load laden; beladen; Ladung loading charges Verladekosten loading capacity Tragfähigkeit loading of goods Verladung loan Darlehen; Anleihe loan account Darlehenskonto loan capital Anleihekapital loan interest Darlehenszinsen loan value Beleihungswert local agent Bezirksvertreter local branch Zweigstelle local rate Ortstarif localization of labour Konzentration qualifizierter Arbeitskräfte locate ausfindig machen location Standort lockout Aussperrung loco am Ort loco price Ortspreis lodge hinterlegen; deponieren lodge a claim eine Forderung anmelden; Klage einbringen lodge a document ein Dokument amtlich hinterlegen lodge a deed ein Dokument bei Gericht hinterlegen lodger Untermieter lodgings möblierte Unterkunft logistics Logistik lombard business LOmbardgeschäft lombard credit Lombardkredit long lang long-dated bill Wechsel mit langer Laufzeit long-term langfristig long-term appointment Dauerstellung long-term liability langfristige Verbindlichkeit long-term loan langfristiges Darlehen long-term debt langfristige Verschuldung long-term deposit langfristige Einlage loose lose loose capital brachliegendes Kapital lorenz curve Lorenzkurve lorry Lastwagen (Br.); offener Lastwagen lose customers Kunden verlieren lose in value an Wert verlieren losing bargain Verlustgeschäft loss Verlust loss deduction Verlustabzug loss fully covered by insurance voll gedeckter Schaden loss leaders Lockartikel loss in weight Gewichtsverlust; Untergewicht loss of custom Verlust der Kundschaft loss of earnings Verdienstausfall loss of interest Zinsverlust loss of profits Gewinnrückgang loss of time Zeitausfall lost verloren lost property office Fundamt low grade von niedriger Qualität low level Tiefstand low prices niedrige Preise lower geringer; herabsetzen lower the rate of interest die Zinsen senken lowest bid niedrigstes Angebot; Mindestgebot luggage Gepäck (Br.) luggage label Gepäckanhänger luggage ticket Gepäckaufbewahrungsschein lump Stück; Masse lump sum Pauschalbetrag lunch Mittagessen luncheon Mittagessen lunch break Mittagspause luxury luxuriös; Luxus luxury apartment Luxuswohnung luxury goods Luxusgüter luxury tax Luxussteuer M machine Maschine machine hour Maschinenarbeitsstunde machine hour rate Maschinenarbeitsstundensatz machine replacement Maschinenerneuerung machine-made maschinell hergestellt machinery Maschinerie; Maschinen; Maschinenpark machinery account Maschinenkonto machine-tool Werkzeugmaschine macro-analysis Makroanalyse macroeconomics Makroökonomie made to order auf Bestellung hergestellt made to measure nach Maß magazine Zeitschrift; Warenlager magistrate Magistrat mail Post; mit der Post senden mail-order Versandauftrag mail-order business Versandhaus; Versandgeschäft mail-order catalogue Versandkatalog mail-order house Versandhaus mailing list Adressenliste main hauptsächlich main artery road Hauptverkehrsstraße main catalogue Hauptkatalog main consumer Hauptverbraucher main office Hauptbüro; Zentrale main supplier Hauptlieferant mainly hauptsächlich maintain aufrechterhalten maintained price gebundener Preis maintenance Maschinenunterhaltung maintenance costs Unterhaltungskosten maintenance repairs laufende Reparaturen major größer; bedeutender major difficulty größere Schwierigkeit; größeres Problem majority Mehrheit majority of shares Aktienmehrheit majority of creditors Gläubigermehrheit majority vote Mehrheitsbeschluss+ Malthusian theory of population Bevölkerungstheorie von Malthus make machen; herstellen make available verfügbar machen make good for sth. wieder gut machen; etwas nachholen make out an invoice eine Rechnung ausstellen make over one's estate sein Vermögen vermachen make up for losses den Verlust ausgleichen maker Hersteller; Aussteller makeshift Notbehelf maladministration Misswirtschaft malfeasance Gesetzesübertretung malpractice gewissenloses Praktizieren malfunction Funktionsstörung manage managen; ein Unternehmen leiten manageable leicht zu handhaben management Unternehmensleitung management by delegation Betriebsführung durch Delegation management by exception Betriebsführung nach dem Ausnahmeprinzip management by motivation Betriebsführung durch Motivierung management by innovation Betriebsführung durch Systemerneuerung management by objectives Betriebsführung durch Zielvorgaben management by results Betriebsführung nach Ergebnissen management by system systemorientierte Betriebsführung management committee Betriebsleitung management consultant Betriebsberater management hierarchy Betriebshierarchie management policy Betriebspolitik management science wissenschaftliche Betriebsführung manager Unternehmensleiter; Geschäftsführer manageress Abteilungsleiterin; Direktrice managerial economics Betriebswirtschaftslehre managerial position leitende Position managing director geschäftsführender Direktor mandatory retiring age vorgeschriebenes Pensionsalter man-hour Arbeitsstunde manipulate accounts Konten fälschen; Bücher frisieren manpower menschliche Arbeitskraft manual work Handarbeit manufacture herstellen; Herstellung manufacturer Fabrikant manufactured goods Fabrikware manufacturing Herstellung manufacturing industry Fertigungsindustrie manufacturing company Fabrikationsbetrieb manufacturing costs Herstellungskosten manufacturing expenses Herstellungsnebenkosten manufacturing facilities Betriebsausstattung; Produktionsanlagen manufacturing process Herstellungsverfahren margin Spanne marginal analysis Grenzkostenrechnung marginal borrower Entleiher der zu dem Preis gerade noch leiht marginal buyer Käufer der zu dem Preis gerade noch kauft marginal cost Grenzkosten marginal costing Grenzkostenrechnung marginal efficiency of capital Grenzleistung des Kapitals marginal production Grenzproduktion marginal productivity Grenzproduktivität marginal productivity of labour Grenzproduktivität der Arbeit marginal profit Grenzertrag marginal propensity to consume Grenzneigung zu verbrauchen marginal propensity to save Grenbzneigung zu sparen marginal revenue Grenzertrag marginal utility Grenznutzen marine insurance Seeversicherung marine underwriter Seeversicherungsgesellschaft marine perils Gefahren der See maritime zur See gehörig maritime freight Seefracht maritime law Seerecht markdown herabsetzen; Herabsetzung von Preisen market Markt market analysis Marktanalyse market capacity Aufnahmefähigkeit des Marktes market flexibility Nachfrageflexibilität market leader führende Aktie market monopoly Marktmonopol market penetration Marktdurchdringung market potential Marktpotential market price Marktpreis market report Marktbericht market research Marktforschung market value Marktwert market for futures Terminmarkt marketable marktfähig; marktgängig marketing Marketing; Vertrieb marketing agreement Vertriebsvereinbarung marketing consultant Vertriebsberater marketing manager Vertriebsleiter marketing director Vertriebsdirektor marketing know-how Vertriebserfahrung marketing oriented vertriebsorientiert; absatzorientiert marketing policy Vertriebspolitik; Absatzpolitik marketing research Marktforschung marketplace Marktplatz marking requirements Markierungsvorschriften markup Preiserhöhung mass Masse; Menge mass industry Massengüterindustrie mass media Massenmedien mass production Massenproduktion mass unemployment Massenarbeitslosigkeit master Meister master's receipt Konnossement Master of Arts Magister Artium mate's receipt Verladebescheinigung material Material material control Materialprüfung material on hand vorrätiges Material materials handling Umgang mit Material matrix Matrix matter of public concern Angelegenheit von öffentlichem Interesse matter of price Preisfrage mature reif; fällig; verfallen maturity Fälligkeit maturity date Fälligkeitsdatum; Fälligkeitstag maturity value Fälligkeitswert maxim Grundsatz maximum Höchstwert maximum amount Höchstbetrag maximum capacity Höchstleistung maximum price Höchstpreis maximum rate Höchstkurs maximum wage Höchstlohn mean Mitte mean average gewogener Mittelwert means Mittel means test Vermögensprüfung; Bedürftigkeitsnachweis means of communication Kommunikationsmittel means of control Kontrollmaßnahmen means of exchange Tauschmittel means of income Einnahmequellen means of payment Zahlungsmittel means of subsistence Existenzmittel means of transport Transportmittel measure messen; bemessen; Maß measure of precaution Vorsichtsmaßnahme measure of quality Maßstab für die Güte mechanic Mechaniker mechanical mechanisch mechanization Mechanisierung mechanize mechanisieren media concept Werbekonzeption median Mittel mediation Vermittlung mediator Vermittler; Unterhändler Medicaid (US) ärztliche Hilfe für alte Leute Medicare (US) Gesundheitsversorgung für alte Leute medium of exchange Tauschmittel medium Mittel medium-prized goods Waren mittlerer Preislage medium of exchange Tauschmittel meet treffen meet a bill einen Wechsel einlösen meet obligations Verpflichtungen nachkommen meet the demand die Nachfrage befriedigen meeting Konferenz; Besprechung; Versammlung member Mitglied member of a company Gesellschafter member of a partnership Teilhaber member of the board of directors Mitglied des Vorstands membership Mitgliedschaft memo Kurzmitteilung; Aktennotiz memorandum Kurzmitteilung; Aktennotiz memorandum of association Gesellschaftsvertrag der GmbH memorandum of partnership Gesellschaftsvertrag der oHG memory Gedächtnis; Datenspeicher mercantile agency Kreditauskunftei mercantile concern Handelsunternehmen mercantile directory Branchenverzeichnis mercantilism Merkantilismus merchandise Handelsware merchandising Absatzförderung merchant Kaufmann merchant prince königlicher Kaufmann merchant vessel Handelsschiff merchantable verkäuflich merchant bank Handelsbank merge verschmelzen; fusionieren merger Fusionierung merit Verdienst messenger Bote meter Zähler method Methode; Verfahren method study Verfahrensstudie method of amortization Tilgungsart method of accounting Rechnungsmethode; Buchungsverfahren method of allocation Verteilungsmethode method of calculation Berechnungsmethode method of depreciation Abschreibungsmethode method of estimation Schätzungsmethode method of financing Finanzierungsart method of operation Arbeitsverfahren method of payment Zahlungsweise method of time measurement Zeiterfassungsverfahren metric system metrisches Maßsystem microeconomics Mikroökonomie mid-week Mitte der Woche; mittwöchig middleman Mittelsmann middle management mittlere Führungsebene middle price mittlerer Preis middle-term mittelfristig middle-sized von mittlerer Größe middling quality mittlere Qualität migration Abwanderung migrant workers Wanderarbeiter mileage Reichweite in Meilen mill Mühle; Fabrik; Walzwerk minimum Minimum; mindest minimum amount Mindestbetrag minimum benefit Mindestunterstützung; Mindestzulage minimum deposit Mindesteinlage; Mindestanzahlung minimum period of employment Mindestbeschäftigungszeit minimum rate Mindestsatz minimum pay Mindestverdienst minimum requirements Mindestanforderungen minimum value Mindestwert minimum wage Mindestlohn minister Minister ministry Ministerium minor geringer minor difficulty kleinere Schwierigkeit minor problem kleineres Problem minor matter geringfügige Angelegenheit; Nebensache minor changes kleinere Änderungen minor repairs geringfügige Reparaturen minority Minorität minority interests Interessen der Minorität mint Münze mint price of gold Münzpreis des Goldes minus weniger minute book Protokollbuch minutes Protokoll misappropriate veruntreuen; unterschlagen misappropriation Veruntreuung; Unterschlagung miscalculate sich verrechnen miscalculation Rechenfehler misclassify falsch klassifizieren misclassification falsche Klassifizierung misdemeanour Fehlverhalten misdirect falsch adressieren; fehlleiten misenter falsch verbuchen misunderstand missverstehen misunderstanding Missverständnis mixed calculation Mischkalkulation mixed account Mischkonto mixed economy gemischte Wirtschaftsform mobile beweglich mobile shop Wagen auf Rädern mobility Beweglichkeit mobility of labour Beweglichkeit; Bereitschaft umzuziehen mock vortäuschen mock auction Scheinauktion mode Modus; Verfahren mode of dispatch Versandart mode of employment Beschäftigungsart mode of operation Betriebsart mode of payment Zahlungsweise mode of transport Beförderungsart model Modell model of competitive economy Modell der freien Wirtschaft model of economic equilibrium Modell des wirtschaftlichen Gleichgewichts model of expanding economy Modell der expandierenden Wirtschaft moderate bescheiden; dürftig moderate income bescheidenes Einkommen; dürftiges Einkommen moderation Dämpfung modernization Modernisierung modernize modernisieren modification Abänderung modify abändern monetary geldlich monetary area Währungsgebiet monetary compensation geldliche Abfindung monetary reform Währungsreform monetary policy Währungspolitik monetary system Währungssystem monetary unit Währungseinheit money Geld money at call and short notice Geld auf Abruf money at one month Monatsgeld money at long term langfristige Gelder money box Sparbüchse money changer Geldwechsler money due Außenstände money gap Finanzierunslücke money lender Geldverleiher money market Geldmarkt money order Postanweisung money in circulation im Umlauf befindliche Zahlungsmittel money on account Guthaben money in reserve Reserven money saver wirtschaftlicher Artikel; sparsames Gerät monopolist Monopolist monopolistic monopolistisch monopoly Monopol Monte Carlo Method Monte-Carlo-Methode month Monat month under report Berichtsmonat monthly monatlich monthly installment Monatsrate monthly requirements Monatsbedarf monthly salary Monatsgehalt moonlighting Zweitbeschäftigung außerhalb der Arbeitszeit moonlighter Doppelverdiener morale Moral mortality table Sterblichkeitstabelle mortgage hypothekarisch belasten; verpfänden; Hypothek mortgage amortization Hypothekenabzahlung mortgage bank Hypothekenbank mortgage deed Hypothekenbrief mortgage insurance Hypothekenversicherung mortgage interest Hypothekenzins mortgaged mit Hypothek belasted mortgaging Beleihung most-favoured nation meistbegünstigste Nation most-favoured nation clause Meistbegünstigungsklausel motion Bewegung; Antrag bei einer Sitzung motion study Bewegungsstudie motivation Motivation motivation research Motivforschung motive for buying sth. Kaufmotiv motor vehicle tax KFZ-Steuer motor industry Automobilindustrie movable goods bewegliches Gut movables bewegliche Güter move bewegen moving allowance Umzugsgeld multi-channel mehrkanalig multifunctional machine Mehrzweckmaschine multilateral mehrseitig multilingual mehrsprachig multinational company Multi multiple mehrfach multiple shop Filialladen multiple store Filialladen multiplier Vervielfacher municipal gemeindlich municipal authority Gemeindebehörde municipal bonds Kummunalobligationen municipal debentures Kommunalobligationen municipal loan Kommunalanleihe municipals Kummunalobligationen mutual gegenseitig mutual agreement Vergleich mutual basis genossenschaftliche Basis; gemeinsame Basis mutual consent Übereinkommen mutual friend gemeinsamer Bekannter mutual insurance Versicherung auf Gegenseitigkeit mutual insurance company Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit mutual savings bank genossenschaftliche Sparkasse N name Name name of account Kontenbezeichnung nation Nation national staatlich; Staatsangehöriger national assistance staatliche Fürsorge national debt Verschuldung des Staates; Staatsschuld national economy Volkswirtschaft national giro (Br.) Postgirodienst National Giro Service (Br.) Postgirodienst National Health Service (Br.) staatlicher Gesundheitsdienst National Insurance Act (Br.) Sozialversicherungsgesetz national insurance card (Br.) Sozialversicherungskarte national income Nationaleinkommen national product Sozialprodukt national revenue Steueraufkommen nationality Nationalität nationalization Verstaatlichung nationalize verstaatlichen natural business year normales Geschäftsjahr naturalization Einbürgerung naturalize einbürgern natural resources Bodenschätze naught null necessary notwendig necessity Notwendigkeit necessities lebensnotwendige Güter needy notleiden negative negativ; verneinend negative report Fehlanzeige neglect of business Vernachlässigung der geschäftlichen Pflichten negligence Nachlässigkeit negligible geringfügig negotiable übertragbar negotiable instrument übertragbares Handelspapier; Wertpapier negotiate verhandeln; weiterbegeben; girieren negotiation Verhandlung negotiation of a B/L Begebung eines Wechsels negotiator Verhandlungsführer nepotism Vetternwirtschaft net netto net advantages Nettovorteile net amount Nettobetrag net cash netto Kasse net cost price Selbstkostenpreis net earnings Nettoverdienst net effect Nettoergebnis net income Nettoeinkommen net liabilities reine Schulden net loss Nettoverlust net price Nettopreis net profit Nettogewinn; Reingewinn net profit on sales Nettoverkaufserlös net proceeds Nettoerlös net receipts Nettoeinnahmen net wages Nettolohn net weight Nettogewicht net worth Nettowert network Netzwerk; Netz network analysis Netzplantechnik network of trunk roads Fernstraßennetz network of railroads Eisenbahnnetz net worth Nettowert net yield Nettoertrag never-never Abzahlung; Abstottern (Br.) new acquisition Neuerwerbung new issue Neuauflage; Neuausgabe new-fashioned neumodisch night employment Beschäftigung bei Nacht night safe Nachttresor night shift Nachschicht nil null nominal nominell nominal capital eingetragenes Kapital nominal price nomineller Preis nominal value Nennwert nominate nominieren; benennen nominee Strohmann non-acceptance Nichtannahme non-applicable nichtanwendbar non-committal unverbindlich non-commercial gemeinnützig non-delivery Nichtlieferung non-deductible nicht abzugsfähig non-graded nicht sortiert non-observance Nichtbeachtung non-payment Nichtzahlung non-performance Nichterfüllung non-profit organization gemeinnützige Gesellschaft normal normal; gewöhnlich normal curve of distribution Normalverteilung normalize normalisieren normative economics normative Volkswirtschaftslehre not negotiable nur zur Abrechnung; nicht übertragbar not sufficient funds keine Deckung notary public Notar note schriftliche Mitteilung note issue Notenausgabe note of expenses Spesenabrechnung note of protest Protesturkunde note payable Eigenwechsel note receivable Kundenwechsel notice Bekanntmachung; Kündigung notice in writing schriftliche Kündigung; Benachrichtigung notice of accident Unfallanzeige notice of defects Mängelrüge notice of dismissal Entlassungsschreiben notice of exemption Freistellungsbescheid notice of loss Verlustmeldung notice of meeting Ladung zu einer Konferenz notice of removal Meldung des Umzugs notice of termination Kündigung notice of withdrawal Rücktrittsanzeige notification Benachrichtigung notice-board schwarzes Brett notify benachrichtigen not sufficient funds keine Deckung nought null nuclear energy Kernenergie nuclear vessel von Atomkraft angetriebenes Schiff nuisance Ärgernis null and void nichtig; ungültig; null und nichtig number nummerieren; Zahl number of entry Buchungsnummer number of units Stückzahl numerous zahlreich O oath Eid oath of office Diensteid object Gegenstand; Einwand erheben objection Einwand objectionable verwerflich objective objektiv; sachlich obligation Verpflichtung; Schuldverschreibung obligations Verpflichtungen oblige verpflichten observance Beachtung observe beachten; beobachten observe the law das Gesetz beachten; einhalten observe the rule die Regeln beachten; einhalten obsolescence Veralterung eines Gebrauchsgegenstandes obsolescence of stock Veralterung der Lagerbestände; Veralten obsolete veraltert; unmodisch obtain erhalten obtainable erhältlich obvious offensichtlich obviously offensichtlich (adv.) occasion Gelegenheit occasional gelegentlich occupation Beschäftigung occupation census Berufszählung occupation index Berufsgruppenindex occupation money Besatzungsgeld occupational beruflich; berufsbezogen occupational level Beschäftigungsniveau occupational disease Berufskrankheit occur sich ereignen odd ungerade; gelegentlich odd jobs Gelegenheitsarbeiten odd numbers ungerade Zahlen odd lot Restposten off season außerhalb der Saison offer Angebot; anbieten offer for sale Verkaufsangebot offer to buy Kaufangebot offer without engagement unverbindliches Angebot offer subject to prior sale Angebot mit Zwischenverkaufsvorbehalt office Büro; Dienststelle office Amt; Büro; Geschäftsraum office accommodation Büroräume office boy Laufbursche office equipment Büroeinrichtung office furniture Büromöbel office gossip Büroklatsch office hours Geschäftsstunden office landscape Bürolandschaft office manager Büroleiter office machines Büromaschinen office premises Geschäftsräume office supplies Bürobedarf officer (US) leitender Angestellter; Direktor official offiziell; Beamter official exchange rate offizieller Wechselkurs official hours Dienststunden; Öffnungsstunden official quotation amtliche Kursnotierung an der Börse official receiver Zwangsverwalter; Konkursverwalter official support offizielle Unterstützung offset gegenrechnen; Gegenrechnung; Aufrechnung old-age hohes Alter old-age benefits Altersruhegeld old-age pension Altersrente old-established alteingesessen oligopoly Oligopol omission Auslassung; Unterlassung omit auslassen on consignment in Kommission; als Konsignationsware on sale or return in Kommission one-man business Einmanngeschäft open offen open an account ein Konto eröffnen open a business ein Geschäft eröffnen open a letter of credit ein Akkreditiv eröffnen open all night die ganze Nacht geöffnet open account offene Rechnung open cheque Barscheck open competition freier Wettbewerb open credit laufender Credit open items offenstehende Beträge open market Aktienverkauf ohne Beschränkung open policy Pauschalversicherung open shop Beschäftigung ohne Gewerkschaftszugehörigkeit opening Geschäftseröffnung; freie Stelle opening balance sheet Eröffnungsbilanz opening rate Eröffnungskurs operate tätig sein; betätigen operating costs Betriebskosten operating efficiency betriebliche Leistung operating expenses Betriebsausgaben operating income Betriebseinkommen operating loss Betriebsverlust operating result Betriebsergebnis operation Handlung; Operation; Betrieb operational loss Betriebsverlust operations research mathematische Entscheidungsvorbereitung operator Bediener; Maschinenarbeiter opinion Meinung opinion poll Meinungsumfrage opportunity Gelegenheit opportunity cost Ersatzkosten optimism Optimismus optimist Optimist optimistic optimistisch optimum Optimum; optimal optimum population optimale Bevölkerungsdichte option Option; Vorkaufsrecht optional auf Wunsch optional equipment Sonderausstattung order Auftrag order of events Folge der Ereignisse order of priority nach Priorität order form Auftragsformblatt order in advance im voraus bestellen ordinary gewöhnlich ordinary care übliche Sorgfalt ordinary partner voll haftender Teilhaber ordinary resolution Beschluss mit einfacher Mehrheit ordinary share Stammaktie ordinary shareholder Stammaktionär organization Organisation organization and methods Untersuchung der Büroeffizienz organization chart schematische Aufstellung der Organisation organize organisieren; gestalten original Original; ursprünglich original assets Anfangsvermögen original value Anschaffungswert original costs Anschaffungskosten out of date veraltet; datiert out of time unzeitgemäß out of stock nicht am Lager out of fashion nicht mehr modisch out of print vergriffen outdoor advertising Außenwerbung outdoor job Arbeit im Freien; Außenarbeit outfit Ausstattung; Ausrüstung outlay Ausgabe; Auslage outlet Verkaufsstelle; Abnehmer; Absatz outline Umriss output Ausstoß; Leistung output figures Produktionszahlen output per man-hour Stundenleistung outside außerberuflich outside funds Fremdmittel outsider Außenseiter outstanding accounts Außenstände outstanding sums ausstehende Beträge overall gesamt overdraft Kontenüberziehung overdraw überziehen overdue überfällig overestimate überbewerten overheads Gemeinkosten overnight loan Tagesgeld overproduction Überproduktion override aufheben overseas Übersee; (Br.) Ausland oversubscribed überzeichnet overtime Überstunden overvalued currency überbwertete Währung overweight Übergewicht own funds eigene Mittel owner Eigentümer owner of a car KFZ-Halter owner of a house Hauseigentümer owner of a patent Patentinhaber owner of a trade-mark Warenzeicheninhaber ownership Eigentümerschaft owner's risk Risiko des Eigentümers P pace Schritt pacesetter Schrittmacher pack Packung package Verpackung package deal Pauschalgeschäft package tour Pauschalreise packaged verpackt packed for railway transport bahnmäßig verpackt packaging Verpacken packet Päckchen packing Verpackung packing costs Verpackungskosten packing department Verpackungsabteilung packing included Verpackung eingeschlossen packing list Packliste packing material Verpackungsmaterial packing paper Packpapier pad Block; Notizblock padding Füllmaterial; Beiwerk paid bezahlt paid-in einbezahlt paid-up abgezahlt; voll eingezahlt paid-up capital eingezahltes Kapital pamphlet Flugblatt panic Panik panic buying Angstkäufe paper Papier; Dokument paper currency Papierwährung paper money Papiergeld paperwork Schreibarbeit par value Pariwert paragraph Absatz parallel parallel parameter Kennziffer; Parameter parcel Paket parcel-post Paketpost parent company Muttergesellschaft; Stammhaus parity Parität parking attendant Parkwächter parking meter Parkuhr parking place Parkplatz Parkinson's Law Parkinsons Gesetz part Teil partial teilweise partial loss Teilverlust participant Teilnehmer participate teilnehmen; teilhaben particular besonders parties to a contract Parteien des Vertrags partner Gesellschafter; Partner partnership Partnerschaft; (ähnlich oHG) part-time nebenberuflich part-time job nebenberufliche Tätigkeit part-time employment Teilzeitbeschäftigung party Partei party line Gemeinschaftstelephon passbook (US) Spareinlagenbuch passenger Passagier; Fahrgast; Fluggast passport Pass passport control Passkontrolle paste-on label Aufkleber patent Patent patented patentiert; durch Patent geschützt patent office Patentamt patron Stammkunde patronage Stammkundschaft pattern Muster; Stoffmuster; Ausfallmuster pattern of demand Nachfragestruktur pattern of growth Wachstumsstruktur pattern of requirements Nachfragestruktur pattern book Musterbuch pauper Armer; arme Person pauper relief Armenunterstützung pawnbroker Pfandleiher pawnshop Pfandleihe pay zahlen pay-as-you-earn Einbehaltung der Lohnsteuer payable zahlbar pay back zurückzahlen pay day Zahltag payee Zahlungsempfänger payer Bezogener pay-in slip Einzahlungsbeleg payment Zahlung payment by results Erfolgsentlohnung payment in advance Vorauszahlung payment in kind Zahlung in Naturalien pay pause Lohnpause payroll Lohnkonto; Lohnbuch; Lohnliste peak hours Hauptgeschäftsstunden pecuniary auf Geld bezogen pecuniary aid finanzielle Hilfe; finanzielle Unterstützung pegging Preisabstützung penalty Strafe penalty clause Klausel betreffend die Vertragsstrafe pence Penny (pl.) penny Penny pension Pension; Rente pensionable ruhegehaltsfähig pensioner Rentner pension fund Pensionskasse pension plan Plan für die Altersversorgung pension pool Pensionskasse per capita je Kopf per cent Prozent percentage prozentualer Anteil per diem je Tag perfect perfekt perfect competition uneingeschränkter freier Wettbewerb perform ausführen; durchführen performance Ausführung performance of a contract Erfüllung eines Vertrages peril Gefahr perils of the sea Gefahren der hohen See peril point Gefahrenpunkt period Zeitraum period of apprenticeship Lehrzeit period of employment Beschäftigungszeit period of guarantee Garantiezeit periodical periodisch peripheral equipment Zusatzausstattung perish umkommen; zugrunde gehen perishable verderblich perishable products verderbliche Güter perjury Meineid permanent dauerhaft; andauernd permission Erlaubnis permit erlauben; Erlaubnis perpetual inventory laufende Inventur personal persönlich personal assistant persönlicher Assistent personal data persönliche Daten; personenbezogene Daten personal loan privates Darlehen personal property persönliches Eigentum; Sachbesitz personnel Personal personnel department Personalabteilung personnel manager Personalchef; Leiter der Personalabteilung petition Petition; Eingabe petty klein petty cash Portokasse petty cash account Portokassenkonto petty cash book Portokassenbuch phone Telephone photo Photographie photo-copy Photokopie picket Streikposten picketing Absperrung durch Streikposten pickup car Kleinlastwagen piece Stück piece-work Stückarbeit; Stücklohn pie-chart Tortengraphik; Kuchengraphik pigeon-hole Abholfach; Verteilfach piggyback trucking Huckepacktransport pilferage Kleindiebstahl pilot Pilot; Lotse place Platz; Ort place an order for sth. einen Auftrag für jemanden plazieren place an order with sb. jemandem einen Auftrag erteilen place of birth Geburtsort place of jurisdiction Gerichtsstand place of performance Erfüllungsort plaintiff Kläger plan Plan planned economy Planwirtschaft planning department Planungsabteilung plant Pflanze; Fabrik (US) plead plädieren pledge verpfänden; Pfand pledged as security als Sicherheit hinterlegt plot verschwören; Verschwörung ploughing back profits Gewinne wiederinvestieren plus plus pocket Tasche pocket money Taschengeld point deuten; Punkt point of entry Grenzübergangsstelle point of indifference Indifferenzpunkt point of sale Ort des Verkaufs; Verkaufsstelle point of view Standpunkt policy Politik; Versicherungspolice policyholder Inhaber einer Versicherungspolice political politisch political economy Volkswirtschaftspolitik pollster Meinungsforscher pollution Verschmutzung; Umweltverschmutzung pollution control Verschmutzungskontrolle pool zusammenlegen; Interessenverband pool of labour Vorrat an freien Arbeitskräften popular pupulär; beliebt population Bevölkerung population pyramid Bevölkerungspyramide popularize populär machen port Hafen port authority Hafenbehörde port of departure Abfahrshafen; Verladehafen port of destination Bestimmungshafen; Entladehafen port of discharge Entladehafen port of entry (US) Importhafen port of importation Importhafen port of registry Heimathafen port of shipment Verschiffungshafen portfolio Portfolio position Lage positive positiv; überzeugt positive economics positive Volkswirtschaftslehre possession Besitz post Posten postage Porto postage stamp Briefmarke postal code Postleitzahl (Br.) postal order Postanweisung postal saving (US) Postspardienst poster Plakat poste restante postlagernd post office Postamt postmark Datumstempel der Post postpone verschieben postscript Nachschrift potential Potenzial; potenziell potential customer möglicher Kunde potential buyer möglicher Käufer potential market entwicklungsfähiger Markt potential sales mögliche Umsätze power Macht; Kraft; Energie power of attorney Vollmacht power of discretion Ermessensfreiheit power station Elektrizitätswerk precaution Vorsichtsmaßnahme precautious vorsichtig precis Kurzfassung predict voraussagen prediction Voraussage prefabricate vorfertigen; vorfabrizieren prefer bevorzugen preferable vorzugsweise preferably möglichst preference Vorzug preference dividend Vorzugsdividende preference shares Vorzugsaktien preferential bevorzugt preferential claim bevorrechtigte Forderung preferential duty Vorzugszoll preferential tariff Vorzugszolltarif preliminary vorläufig preliminary report vorläufiger Bericht premises Geschäftsräume; Firmengelände premium Prämie premium bonus system Prämiensystem premium pay Pramienlohn premium for risk Risikoprämie prepaid vorausbezahlt preparatory work Arbeitsvorbereitung present gegenwärtig; jetzig; präsentieren; vorlegen presentation Darbietung; Vorführung; Präsentation present value gegenwärtiger Wert president Präsident press Presse; pressen; drängen pressure Druck presume annehmen presumption Annahme previous vorherig previous day vorige Tag previous week vorige Woche previous month voriger Monat; Vormonat previous year voriges Jahr; Vorjahr price Preis price agreement Preisabsprache price control Preisüberwachung price current laufende Preis; gültige Preis price fixing Preisfestlegung price fluctuations Preisschwankungen price leader Preisführer price level Preislage price limit Preisgrenze; Limit price list Preisliste price loco Locopreis; Preis am Ort price maintenance Preisbindung price system Preissystem price war Preiskrieg primarily in erster Linie primary deposit Stammeinlage primary industries Primärindustrie prime rate (US) Diskontsatz principal Chef; Auftraggeber principle Prinzip print drucken; Druck print shop Druckerei printed matter Drucksache prior vorher; vorherig priority Priorität private privat; persönlich private arrangement persönliche Vereinbarung private bank Privatbank private enterprise Privatunternehmen; freie Wirtschaft private property Privatbesitz private sector Privatsektor privilege Vorrecht prize Preis; Siegespreis probability Wahrscheinlichkeit probability curve Wahrscheinlichkeitskurve probability theory Wahrscheinlichkeitstheorie probable error mutmaßlicher Fehler probably wahrscheinlich procedure Prozedur; Verfahren proceeds Einkünfte process Prozeß; Verfahren produce erzeugen; Erzeugnis produce exchange Produktenbörse producer Erzeuger product Produkt; Ware product costing Kostenrechnung eines Produkts production Produktion production factors Produktionsfaktoren production manager Leiter der Produktion production planning Produktionsplanung productive produktiv productivity Produktivität profession Beruf; akademischer Beruf professional professionell professional earnings Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit professional qualification berufliche Qualifikation professional training Berufsausbildung profit Gewinn profit margin Gewinnspanne profit-sharing Gewinnbeteiligung profit and loss account Gewinn- und Verlustkonto profit-and-loss statement Gewinn- und Verlustkonto profitable gewinnbringend pro forma Proforma pro forma invoice Proformarechnung program Programm (US) programme Programm (Br.) programmed instruction programmierte Unterweisung programme evaluation and review technique P.E.R.T. programmer Programmierer progressive progressiv prohibit verhindern; verbieten prohibition Verhinderung project Projekt proletariat Proletariat promissory note Solawechsel promote vorantreiben prompt prompt; sofort; umgehend promptly sofortig; umgehend proof Beweis proof of loss Nachweis des Verlustes propensity Neigung propensity to consume Neigung zu verbrauchen propensity to invest Neigung zu investieren propensity to hoard Neigung zu horten; Neigung zu sparen property Eigentum property tax Vermögenssteuer proportion Verhältnis proportional im Verhältnis proposal Vorschlag propose vorschlagen proprietor Eigentümer prospects Aussichten prospective customer Kaufinteressent prospectus Prospekt prosper blühen prospering blühend prosperity Wohlstand prosperous gedeihend protect beschützen protection Schutz protectionism Protektionismus protectionist Verfechter der Schutzzölle protective beschützend; schützend protective tariffs Schutzzölle protest protestieren; Protest provide vorsehen provision Bereitstellung provisional provisorisch; einstweilig proximo nächster proxy Vertreter prudent weise psychic psychisch psychological psychologisch psychological factors psychologische Faktoren public öffentlich public corporation Körperschaft des öffentlichen Rechts public debt öffentliche Verschuldung public domain in öffentlichem Besitz; jedermann zugänglich public limited company Aktiengesellschaft public opinion öffentliche Meinung public relations Beziehungspflege; Firmenwerbung public revenue Staatseinnahmen public utility Öffentlicher Versorgungsbetrieb publication Veröffentlichung publicity Reklame publish veröffentlichen publisher Verleger purchase Kauf (auf Rechnung) purchase order Auftrag; Ware auf Rechnung zu liefern purchase tax Verkaufssteuer purchase on approval Kauf auf Probe purchasing country Käuferland purchasing power Kaufkraft purchasing power of a currency Kaufkraft einer Währung purser Zahlmeister Q quadruplicate vierfach; in vierfacher Ausfertigung qualification Qualifikation; Befähigung qualified qualifiziert; befähigt; berechtigt qualified acceptance Akzept unter Vorbehalt qualified endorsement unverbindliches Indossament qualify qualifizieren quality Qualität; Güte quality control Qualitätskontrolle quality goods hochwertige Ware quantitative nach der Menge; mengenbezogen quantity Quantität; Menge quantity theory of money Geldmengentheorie quarantine Quarantäne quarter Viertel; Quartier; Vierteljahr quarter of the year Vierteljahr quarterly vierteljährlich quarterly account Vierteljahresabrechnung quasi gewissermaßen quasi-monopoly gewissermaßen ein Monopol quay Kai quay dues Kaigebühren queue Schlange stehen; Reihe; Warteschlange question befragen; Frage questionnaire Fragebogen quickie strike (US) ungesetzlicher Streik; spontaner Streik quintuplicate fünffach; in fünffacher Ausfertigung quit aufgeben; quitt quorum Quorum; Mindestanzahl quota Quote quota increase Quotenerhöhung quota licence Stücklizenz quotation Preisangabe; Angebot quotation of the price Preisangabe quotation of references Angabe von Referenzen quote angeben; zitieren quote a price einen Preis angeben R Rachmanism (Br.) System der Ausbeutung der Mieter rack Gestell; Ständer rack rent ungewöhnlich hoher; ausbeuterischer Pacht racket unlauteres Unternehmen radio advertising Rundfunkwerbung raffle Verlosung rag and bone man Lumpensammler railway Eisenbahn railway advice Benachrichtigung railway authority Eisenbahnbehörde railway guide Kursbuch railway station Bahnhof railway ticket Eisenbahnfahrkarte raise Gehaltserhöhung raise capital Kapital aufbringen; Kapital aufnehmen raise of discount Diskonterhöhung raise of funds Mittel aufbringen raise of salary Gehaltserhöhung random Zufall random sampling Stichprobe ransom Lösegeld ransom demand Lösegeldforderung range Bereich range of goods Warenauswahl range of patterns Musterauswahl range of products Produktauswahl; Sortiment rank Rang rapid schnell rateable value Einheitswert für die Grundsteuer rate Verhältnis; Satz rate of commission Provisionssatz rate of contribution Beitragssatz rate of depreciation Abschreibungssatz rate of discount Diskontsatz rate of dividend Dividendensatz rate of economic growth Wachstumsrate rate of exchange Umrechnungskurs rate of increase Wachstumsrate rate of interest Zinssatz rate of premium Prämiensatz rate of profit Gewinnsatz rate of return Kapitalversinsung rate of turnover Umschlagsgeschwindigkeit rate of unemployment Arbeitslosenquote rates Grundsteuer rate relief Grundsteuernachlass ratepayer Grundsteuerpflichtiger; Hausbesitzer ratification Ratifizierung ratify ratifizieren ratio Verhältnis ration Ration rationed rationiert rationing Rationierung rationalization Rationalisierung rationalization efforts Rationalisierungsbemühungen rationalize rationalisieren raw material Rohmaterial re bezüglich react reagieren readable lesbar ready fertig ready cash Bargeld ready money Bargeld ready market aufnahmebereiter Markt ready-made von der Stange; Konfektionsware ready for service betriebsfähig ready for operation betrebsbereit real real; wirklich real estate Grundbesitz real estate account Grundstückskonto real estate agent Grundstücksmakler real estate broker Grundstücksmakler; Immobilienmakler real estate speculation Grundstücksspekulation; Bodenspekulation real income Realeinkommen real investment Sachanlage real value wirklicher Wert; Realwert real time Echtzeit real wage Reallohn realization Verwirklichung; Liquidierung realize verwirklichen; erkennen realtor (US) Immobilienmakler rebate Rabatt recession Rezession; Konjunkturrückgang receipt Quittung receipt of goods Wareneingang receipt of payment Zahlungseingang receipts Eingänge receivables Außenstände receive erhalten received for shipment zur Verschiffung entgegengenommen receiver Empfänger reception Rezeption; Empfang receptionist Empfangsdame recession Rezession; Flaute reckon rechnen reclaim zurückfordern reclamation Zurückforderung recommend empfehlen recommendation Empfehlung recommended retail selling price empfohlener Einzelhandelsabgabepreis recompense entgelten reconciliation of accounts Kontenabstimmung reconstruction Wiederaufbau record Aufzeichnung record sales Rekordumsatz record year Rekordjahr recorded delivery Zustellungsbescheinigung recording Aufzeichnung records Aufzeichnungen; Unterlagen; Akten recourse Regress recover erholen; wieder einbringen recovery Erholung recreation area Erholungsgebiet recruit einstellen recycle wiederaufbereiten recycling Wiederaufbereitung; Wiederverwertung red tape "Bürokratie" redeem ablösen redeemable securities Wertpapiere die zurückgekauft werden redeemable bonds kündbare Obligationen redirect weitersenden; nachsenden rediscount rediskontieren; Rediskont redistribution of income Umverteilung des Einkommens redraft nochmals entwerfen; neu entwerfen; ändern redraft a bill of exchange einen Wechsel nochmals ziehen reduce reduzieren; herabsetzen reduced price reduzierter Preis reduction Reduzierung reduction of expenses Kostenreduzierung reduction of fees Gebührenermäßigung reduction of working hours Arbeitszeitverkürzung redundancy Arbeitslosigkeit redundancy payment Arbeitslosenunterstützung redundant arbeitslos; nicht gebraucht; überzählig re-export wieder exportieren; rückexportieren re-import wieder importieren; rückimportieren refer beziehen refer to drawer wenden Sie sich an den Aussteller referring to mit Bezug auf reference Referenz; Bezugnahme referee in case of need Notadresse refinance rückfinanzieren refinancing Rückfinanzierung reflux of capital Kapitalrückfluss reforestation Wiederaufforstung reform reformieren; Reform refrain from von etwas Abstand nehmen refund vergüten refundable zurückzahlbar refusal Weigerung refusal of acceptance Annahmeverweigerung refusal to pay Zahlungsverweigerung refuse weigern regard Hinsicht regarding bezüglich regardless ohne Bezug; ohne Rücksicht regards Empfehlungen; Grüße region Region; Gebiet regional regional regional planning regionale Planung register Register register of companies Handelsregister register of directors Liste der Direktoren register of members Liste der Mitglieder; Mitgliederverzeichnis registered capital eingetragenes Kapital registered customer Stammkunde; eingeschriebener Kunde registered letter Einschreibbrief registered luggage Passagiergut registered office eingetragener Firmensitz registered mail Einschreiben registered proprietor eingetragener Eigentümer registered residence eingetragener Wohnsitz registered trade mark eingetragenes Warenzeichen registrar Beamter verantwortlich für das Register registration Registrierung; Anmeldung regress Regreß regressive regressiv regular regulär regulate regeln; regulieren regulation Regelung reimburse vergüten reinsurance Rückversicherung reject zurückweisen; ablehnen rejected goods beanstandete Ware rejection Zurückweisung rejections Ausschussware relating to mit Bezug auf relations Beziehungen; Verwandtschaft relative verhältnismäßig reliable zuverlässig reliability Zuverlässigkeit relocate verlagern relocation of industry Industrieverlagerung rely on sich verlassen auf remain verbleiben remainder Rest; Restbestand remaining amount Restbetrag remind erinnern reminder Mahnung; Mahnschreiben remit übersenden; überweisen remittance Überweisung remedy Heilmittel removal Umzug; Entfernung; Entlassung removal expenses Umzugskosten removal van Möbelwagen remove umziehen; entfernen; entlassen remunerate belohnen; entlohnen remuneration Belohnung; Entlohnung renegotiation Neuverhandlung renew erneuern renewal Erneuerung rent mieten; pachten; Miete; Pacht rent value Mietwert rental Miete; Pacht; Mietsumme reorganization Neuorganisierung; Umorganisierung reorganize neuorganisieren; umorganisieren repair reparieren; Reparatur reparation Wiedergutmachung repatriate zurückführen repatriation Rückführung repay zurückzahlen repayment Zurückzahlung repeat order Wiederholung eines Auftrags replace ersetzen replacement Ersatz; Ersatzlieferung replacement costs Wiederbeschaffungskosten replenish wieder auffüllen report berichten; Bericht represent vertreten representation Vertretung representative Vertreter reprint Neudruck; Nachdruck repurchase value Rückkaufwert reputation Ruf reputed bekannt als request ersuchen; Ersuchen request for payment Zahlungsaufforderung require benötigen requirements Bedarf requisition Requirierung resale Wiederverkauf resale price Wiederverkaufspreis resale price maintenance Preisbindung zweiter Hand rescind auslöschen; widerrufen research erforschen; Forschung research and development Forschung und Entwicklung research department Forschungsabteilung researcher Forscher reservation Reservierung reserve reservieren reserve capital Kapitalreserve reserve for bad debts Rücklagen für Dubiose reservoir Wasserbehälter residence Wohnsitz resign abdanken resignation Abdankung resolute resolut; entschlossen resolution Beschluss resources Quellen; Rohstoffquellen; Ressourcen respective bezüglich respectively bezüglich responsible verantwortlich responsibility Verantwortung restock das Lager wieder auffüllen restrict einschränken restriction Einschränkung; Beschränkung restrictive einschränkend results Ergebnisse retail Einzelhandel retail cooperative Konsumgenossenschaft retail price index Einzelhandelspreisindex retail shop Einzelhandelsgeschäft retail trade Einzelhandel retailer Einzelhändler retire sich zurückziehen; in Pension gehen retirement Pensionierung return zurückkehren return of empties Rücksendung von Leergut returns Rücksendungen returns from landed property Grundstücksertrag revaluate neu bewerten; aufwerten revaluation Aufwertung einer Währung revenue Einkünfte revenue authorities Finanzbehörden revenue office Finanzamt reverse umgekehrt reverse side die andere Seite review nochmals durchsehen; nachprüfen; Nachprüfung revision Revision reward Belohnung; Preis; Entlohnung right of action Klagerecht right of way Wegerecht; Fuhrrecht right to strike Streikrecht ring Ring; Vereinigung riot and civil commotion Aufruhr und Unruhen rise aufsteigen; zunehmen; Aufstieg; Zunahme rise in prices Preisanstieg rise in pay (Br.) Lohnerhöhung rise in output Produktionssteigerung rise in productivity Produktivitätssteigerung risk riskieren; Risiko risky riskant rival Rivale road charge Straßengebühr robber economy Raubbau; Raubwirtschaft rock-bottom price allerniedrigster Preis rocket steiler Anstieg rolling stock rollendes Inventar; Waggons und Lokomotiven room service Zimmerdienst rotate rotieren rotation Rotation rough derb; grob rough balance Rohbilanz rough estimate grobe Schätzung round Runde round up abrunden round figure ungefähre Zahl rounding Abrundung routine Routine routine job Routinetätigkeit; Routineaufgabe royalty Lizenz rubber stamp Gummistempel rule regeln; beherrschen; Regel rumour Gerücht run rennen; run a business ein Geschäft führen run on a bank Ansturm auf eine Bank runaway inflation galoppierende Inflation running laufend running machine laufende Maschine running costs variable Kosten rush Ansturm; lebhafte Nachfrage rush hour Hauptverkehrszeit rush of orders Auftragswelle S sack Sack safe sicher; Tresor safe assumption sichere Annahme safe custody Verwahrung safe deposit Depotverwahrung safe deposit box Bankschließfach safekeeping sichere Aufbewahrung safety Sicherheit safety instructions Sicherheitsanweisungen safeguard sichern; Sicherung; Schutzmaßnahme safekeeping sichere Aufbewahrung sailing list Abfahrtsliste sailing date Abfahrtstag salary Gehalt sale Verkauf sale by sample Verkauf nach Muster sale by description Verkauf nach Warenbeschreibung sale ex bond Verkauf ab Zollager sale for prompt delivery Verkauf zur sofortigen Lieferung sale of goods Warenverkäufe Sale of Goods Act Gesetz betreffend den Verkauf von Waren sale of services Dienstleistungsverkauf sale on account Verkauf auf Rechnung sale on approval zur Probe; Kauf auf Probe sale or return in Kommission sale on trial Verkauf auf Probe sale to the highest bidder Zuschlag an Meistbietenden saleable verkäuflich saleability Verkäuflichkeit sales account Warenverkaufskonto sales assistant Verkäufer sales agent Verkaufsvertreter sales channel Vertriebsweg sales commission Verkaufsprovision sales figures Verkaufszahlen; Umsätze sales force Verkaufspersonal sales force alle zum Verkauf gehörigen Kräfte; Personen sales forecast Umsatzvoraussage sales inducement Verkaufsanreiz sales promotion Verkaufsförderung salesgirl Verkäuferin saleslady Verkäuferin salesman Verkäufer salesmanship Kunst des Verkaufens salespeople Verkaufspersonal salvage Bergung salvage costs Bergungskosten salvage value Bergungswert sample Muster sampling Stichprobenentnahme sanction Sanktion sanctions Sühnemaßnahmen satisfaction Zufriedenstellung; Befriedigung satisfactory zufriedenstellend; befriedigend satisfactory job zufriedenstellender Arbeitsplatz satisfactory results zufriedenstellende Ergebnisse satisfy zufrieden stellen satisfy claims Ansprüche befriedigen satisfy needs den Bedarf decken save retten save costs Kosten sparen save time Zeit sparen saving Kosteneinsparung saving of energy Energieeinsparung saving of material Materialeinsparung saving deposit Spareinlage savings Ersparnisse savings bank Sparkasse savings account Sparkonto say in Worten scale Maßstab scale of length Längenmaßstab scarce rar scarcity Knappheit scarcity of capital Kapitalmangel scarcity of material Materialknappheit scarcity of money Geldknappheit scarcity value Seltenheitswert scattered verstreut schedule Plan; Aufstellung scheduled eingeplant scheme Plan; Vorhaben science Wissenschaft scientific wissenschaftlich scientific management wissenschaftliche Betriebsführung scientific methods wissenschaftliche Verfahren scientist Wissenschaftler scope Umfang; Spielraum scope of authority Umfang der Vollmacht scope of business Geschäftsumfang; Geschäftsbereich scope of duties Aufgabenbereich scrap Schrott scrap metal Metallabfälle screen Bildschirm seal Siegel sealed versiegelt sealed up versiegelt sealing wax Siegelwachs search suchen; Suche search warrant Suchbefehl season Jahreszeit seasonal saisonbedingt seasonal adjustment saisonbedingte Anpassung seasonal fluctuations saisonbedingte Schwankungen seasonally adjusted saisonbereinigt seaworthy packing seemäßige Verpackung second mortgage zweite Hypothek second of exchange Sekundawechsel secondary zweitrangig secondary effect Nebenwirkung secondary school Schule im Sekundarbereich; Gymnasium u.a. secretarial die Arbeit des Sekretariats betreffend secretarial job Büroarbeit secretary Sekretär; Sekretärin secrecy Geheimhaltung; Verschwiegenheit section Abteilung sector Sektor secure sichern; sicherstellen security Sicherheit securities Wertpapiere secondhand aus zweiter Hand secretarial work Büroarbeiten seek advice Rat suchen seize ergreifen seizure Ergreifung; Beschlagnahme seldom selten select auswählen selection Auswahl selective auswählend; selektiv selective advertising gezielte Werbung self-controlled automatisch self-dependent selbständig self-explanatory sich selbst erklärend self-service Selbstbedienung self-service shop Selbstbedienungsladen sell verkaufen seller Verkäufer sellers' market Verkäufermarkt selling Verkaufen selling expenses Verkaufsspesen semi-finished halbfertig semi-skilled angelernt sender Absender senior senior sensitive empfindlich sensitivity training Bewusstseinstraining sentimental value Liebhaberwert separate getrennt serial Reihe; Serie series Serie serve dienen service Dienst; Dienstleistung; Kundendienst service industries Dienstleistungsgewerbe session Sitzung; Beratung set setzen; stellen settle down in business sich im Geschäft niederlassen settle an account ein Konto begleichen; eine Rechnung zahlen settlement Niederlassung; Kontenausgleich; Zahlung settlement of accounts Abrechnung der Konten settling day Abrechnungstag set-up Aufbau; Organisation severance pay Trennungsgeld share Anteil; Aktie share certificate Aktienzertifikat shareholder Aktionär shelf Regal shelve sth. etwas auf die lange Bank schieben shift Schicht; umschalten auf Großbuchstaben ship Schiff ship broker Schiffsmakler shipment Verschiffung; Sendung shipping agent Seehafenspediteur; Schiffsmakler shipping costs Verschiffungskosten shipping documents Versandpapiere shipping department Versandabteilunjg shipping instructions Versandanweisungen shipping papers Versandpapiere shop Laden; Werkstätte shop steward Betriebsobmann shopping Einkaufen shopping centre Einkaufszentrum short kurz short of sth. Mangel an etwas short list Liste der engeren Wahl short-dated kurzfristig shortage Mangel shortage of capital Kapitalmangel shortage of labour Mangel an Arbeitskräften shortage of material Materialmangel shortage of money Geldmangel shorthand Kurzschrift shorthand typist Stentypistin short-term kurzfristig short-term credit Kredit mit kurzer Laufzeit short-term orders Aufträge zur umgehenden Ausführung short-time kurz; kurzzeitig short shipment unvollständige Verschiffung short weight Untergewicht show zeigen; Show; Darbietung show business Show Business; Unterhaltungsgewerbe show of hands durch Handzeichen showroom Musterzimmer shrinkage Schrumpfen; Minderung shrinkage in value Wertminderung sick pay Krankengeld sideline Nebenbeschäftigung; zusätzliche Artikel sight Sicht sight bill Sichttratte sight draft Sichttratte sightseeing tour Besichtigungsfahrt sign Zeichen signature Unterschrift signature is missing es fehlt die Unterschrift significance Bedeutung significant bedeutungsvoll; wichtig; wesentlich silent still silent partner stiller Teilhaber similar ähnlich similarly in gleicher Weise simple einfach simple average einfache Haverie simple interest einfache Verzinsung simple majority einfache Mehrheit simulate simulieren simulated transaction Scheingeschäft simulation Simulierung simultaneous gleichzeitig single einzeln single entry bookkeeping einfache Buchführung sit sitzen sit-down strike Sitzstreik site Platz site development Baulanderschließung situated gelegen situation Situation; Lage sizable ziemlich groß size Größe size of the market Umfang des Marktes skeleton agreement Mantelvertrag skewness Schräge skilled gelernt; geschickt skilled labour Facharbeiter skilled worker Facharbeiter skywriting Himmelsschreiben slacken nachgeben; nachlassen slash (US) Schrägstrich sleeping partner stiller Teilhaber sliding down prices nachlassende Preise sliding scale Gleitskala; gestuft slip Zettel; Papier slogan Slogan; Spruch; Werbespruch slot machine Automat slow down verlangsamen; nachlassen slump Baisse small ad Kleinanzeige small advertisement Kleinanzeige smart gerissen; geschickt smuggled goods Schmuggelware social sozial social insurance Sozialversicherung social insurance contribution Sozialversicherungsbeitrag social security Sozialversicherung social services soziale Dienste socialism Sozialismus socialist Soztialist society Gesellschaft socket Sockel soft weich soft drink alkoholfreies Getränk soft drink industry alkoholfreie Getränkeindustrie soft goods Textilien softness Schwäche software Computer Programme sole agency Alleinvertretung sole proprietor Einzelkaufmann sole proprietorship Einzelfirma sole right ausschließliches Recht sole right of representation Alleinvertretungsrecht solicit erbitten solicitor Advokat; Rechtsanwalt solid gold gediegenes Gold solution Lösung solve a problem Problem lösen solvency Liquidität solvent liquid; flüssig source Quelle source of earnings Einkommensquelle spare capacity ungenutzte Kapazität spare parts Ersatzteile spare room Fremdenzimmer spare time Freizeit special speziell; besonders special equipment Spezialgerät specialty Besonderheit; Spezialität specialization Spezialisierung specialize in sth. sich auf etwas spezialisieren specialized spezialisiert specialized knowledge Fachkenntnisse specific besonders specific performance effektive Vertragserfüllung specific reasons besondere Gründe specification technische Einzelheiten; Maßangaben specifications technische Bedingungen specification of costs Kostenaufstellung specimen Muster specimen signature Unterschriftenprobe speculate spekulieren speculation Spekulation speculator Spekulant speed Geschwindigkeit speedy flink spend ausgeben spending power Kaufkraft sphere Sphäre; Kreis sphere of interest Interessensbereich spiritless lustlos; flau split spalten sponsor Sponsor; Gönner spontaneous spontan spot Platz; Fleck; Stelle spot cash sofortige Barzahlung bei Kaufabschluss spot price Spottpreis; Locopreis spread ausbreiten spread the risk das Risiko verbreiten; verteilen squeeze zwingen squeeze in dazwischenzwängen squeeze down drücken stabilization Stabilisierung stabilize stabilisieren stability Stabilität stable stabil stable money stabile Währung staff Belegschaft staff department Personalabteilung staff manager Personalchef stag "Hirsch" an der Börse stage Bühne; Stufe stage of affairs Stand der Dinge stage of production Fertigungsstufe stagnant stagnierend stagflation Stagflation stagnation Stagnation stale cheque überfälliger Scheck stall Stand; Messestand; Verkaufsstand stamp Briefmarke; Stempel stamp duty Stempelsteuer stand Stand; Messestand standard Standard standard deviation Standardabweichung standard of living Lebensstandard standard performance Standard der Ausführung standardization Standardisierung standardize standardisieren standardized product Standardartikel standing order Dauerauftrag standpoint Standpunkt standstill Stillstand staple goods Stapelware starting position Ausgangsposition starting salary Anfangsgehalt starvation wages Hungerlohn state angeben; Staat; Zustand statement Erklärung statement of account Kontenauszug static statisch stationery Firmenbriefpapier; Büropapier; Bürobedarf statistical statistisch statistics Statistik status Status statute Gesetz statutory gesetzlich festgelegt steep rise steiler Anstieg step Stufe; Schritt sterling Sterling Silber sterling area Sterling Gebiet stipulate vertraglich festlegen stock Lagerbestand stockbroker Börsenmakler stock certificate Stammaktienzertifikat stockholder Aktionär stock exchange Effektenbörse stock list Warenbestandsliste stocktaking Warenbestandsaufnahme stockpile Waren stapeln stockpiling Warenstapelung; Vorratsbildung stop a cheque ein Scheck stoppen storage Lagerhaltung storage of goods Lagerung von Waren storage of raw material Rohmateriallagerung storage of food Lebensmittellagerung storage of finished goods Fertigwarenlagerung storage room Lagerraum storage space Lagerfläche store Lager storekeeper Lagerhalter straightforward direkt strain Belastung strategic strategisch strategic planning strategische Planung streamline Stromlinie strict strikt strike streiken; Streik strike-pay Streikgeld striking bemerkenswert stringent streng stringency Strenge strong-room Stahlkammer structural changes Strukturveränderungen structure Struktur study Studie; Untersuchung study languages Sprachen lernen study economics Volkswirtschaft studieren study mathematics Mathematik studieren study a map eine Karte studieren sub-agent Untervertreter sub-contractor Unterlieferant sub-division Unterteilung subject unterwerfen; Untertan subject matter Gegenstand subject to authorization genehmigungspflichtig subject to change Änderung vorbehalten subject to immediate acceptance zur sofortigen Annahme subject to interest zinspflichtig subject to prior sale Zwischenverkauf vorbehalten subject to goods being unsold Zwischenverkauf vorbehalten subject to acceptance within 3 days zur Annahme innerhalb von 3 Tagen subject to immediate acceptance zur sofortigen Annahme subjective subjektiv subjective value subjektiver Wert subliminal unterschwellig subliminal advertising unterschwellige Werbung submit unterbreiten; vorlegen subscribe abonnieren subscribed capital gezeichnetes Kapital subscription Subskription subsidiary Tochtergesellschaft subsidiary company Tochtergesellschaft subsidize subventionieren subsidy Subvention subsistence Lebensunterhalt subsistence money Zuwendung für Lebensunterhalt substantial beträchtlich substantial contribution ansehnlicher Beitrag substitute ersetzen; Ersatz sub-total Zwischensumme subtract abziehen succeed in business im Geschäft erfolgreich sein successful experiment erfolgreiches Experiment succession Nachfolge successor Nachfolger sudden change plötzlicher Wechsel sudden increase plötzliche Zunahme sudden fall plötzliches Nachlassen sue sb. for sth. jemanden wegen etwas verklagen suffer losses Verluste erleiden sufficient ausreichend sufficient material ausreichend Material suggest vorschlagen; suggerieren suggestion Vorschlag; Suggestion suit Klage sum Summe sum total Gesamtsumme; Endsumme summarize zusammenfassen summons Vorladung sundries Verschiedenes superannuation Pension superior überlegen; Vorgesetzter super prima supermarket Supermarkt supervise beaufsichtigen supervision Überwachung supervisor Aufseher supplement Ergänzung supplementary equipment Zusatzausstattung supply versorgen; liefern supply and demand Angebot und Nachfrage support unterstützen; Unterstützung supposition Voraussetzung suppression Unterdrückung surcharge Zuschlag surplus überschüssig; Überschuss surplus amount Mehrbetrag surplus material überschüssiges Material surplus population Bevölkerungsüberschuss surplus profit Mehrgewinn surplus weight Übergewicht surprise Überraschung surprisingly überraschenderweise surrender übergeben surrender value Rückkaufwert surtax Steuerzuschlag survey Untersuchung; Umfrage suspend aufheben suspension Aufhebung; Suspensierung suspension of further development Einstellung weiterer Entwicklung suspension of payment Zahlungseinstellung suspension of a regulation Aufhebung einer Verordnung swap tauschen; Tausch sweat schwitzen sweat-mill Tretmühle switch schalten; Schalter switch on einschalten switch off abschalten switch over to umschalten syndicate Syndikat; Verband synthetic synthetisch synthetics synthetische Stoffe system System systematically systematisch T t-account T-Konto tab Schildchen; Karteireiter table auf den Tisch legen; Tisch; Tabelle tabular form Tabellenform table of charges Gebührenaufstellung; Gebührenverzeichnis table of contents Inhaltsverzeichnis tabulating machine Tabelliermaschine tabular bookkeeping amerikanische Buchführung tabularize tabellarisieren tacit stillschweigend tack Reißzwecke tacit approval schweigende Zustimmung tag Anhänger take-home-pay Nettolohn take legal advice sich beraten lassen take a day off sich frei nehmen take a risk ein Risiko auf sich nehmen take for sth. else für etwas anderes halten take in account in Betracht ziehen take off wegnehmen take up the bill einen Wechsel aufnehmen; einlösen take stock Bestand aufnehmen take away wegnehmen take into account beachten; berücksichtigen take over a company eine Firma übernehmen; die Leitung übernehmen taking of an inventory Inventuraufnahme takings Einnahmen takeover Geschäftsübernahme takeover agreement Übernahmevertrag takeover bid Übernahmegebot talented begabt tally übereinstimmen tangible property Sachvermögen talon Talon tape Band tape-recorder Tonbandgerät tare Gewicht der Verpackung target Ziel; Vorgabe target line Ziellinie tariff Zolltarif tariff agreement Zollabkommen tariff barriers Zollbarrieren; Zollschranken tariff cuts Zollsenkungen tariff rates Zollsätze tariff policy Tarifpolitik tariff protection Zollschutz tariff union Zollunion tariff walls Zollmauern; Zollgrenzen tariff war Handelskrieg task Aufgabe tax besteuern; Steuer tax advisor Steuerberater tax allowance Steuerfreibetrag; Steuernachlass tax avoidance Steuerhinterziehung tax assessment Steuerveranlagung tax burden Steuerlast tax class Steuerklasse tax collector Steuereinnehmer tax collector's office Steuerkasse tax cutting Steuersenkung tax deduction Steuerabzug tax dodger Steuerhinterzieher tax evasion Steuerflucht tax exemption Steuerbefreiung tax expert Helfer in Steuersachen tax haven Steuerparadies tax return Steuererklärung tax office Finanzamt tax paid versteuert tax privilege Steuerprivileg; Steuervergünstigung tax regulations Steuerbestimmungen tax relief Steuererleichterung tax table Steuertabelle tax year Steuerjahr tax on consumption Konsumbesteuerung tax on real estate Grundstücksbesteuerung taxation Besteuerung taxed besteuert taxpayer Steuerzahler tea break Teepause team Team; Arbeitsgruppe teamwork Teamwork; Gruppenarbeit technical technisch technical assistance technische Unterstützung technical director technischer Leiter technical difficulties technische Schwierigkeiten technical position technische Stelle technical reasons technische Gründe technique Verfahren technocracy Technokratie technological gap technologischer Rückstand; Abstand technology Technologie; Verfahrenstechnik telecommunications Fernmeldetechnik telegraphic telegraphisch telegraphic transfer telegraphische Überweisung telegraphy Telegraphie telephone Telephone telephone exchange Telephonvermittlung telephone subscriber Telefonteilnehmer telephone call Anruf teleprinter Fernschreiber telex Telex; Fernschreiben; Fernschreiber teller Kassier temporary vorübergehend temporary appointment vorübergehende Berufung; zeitlich begrenzt temporary credit Zwischenkredit temporary employment vorübergehende Beschäftigung temporary job Aushilfe; Aushilfstätigkeit temporary regulation Übergangsregelung temporary staff Aushilfen; Saisonarbeiter tenancy Pachtverhältnis tenancy agreement Mietvertrag; Pachtvertrag tenant Mieter; Pächter tend tendieren tendency Tendenz tender (öffentliche Ausschreibung) Kostenvoranschlag tentatively zögernd; versuchsweise term Bedingung; Frist term of credit Zahlungsziel term of guarantee Garantiefrist term of insurance Versicherungsdauer term of lease Pachtdauer term of office Amtsdauer term of payment Zahlungstermin; Zahlungsfrist term of a bill Laufzeit eines Wechsels terms Bedingungen; Zahlungsbedingungen terms of an agreement Bedingungen einer Vereinbarung terms of payment Zahlungsbedingungen terms of conveyance Transportbedingungen terms of delivery Lieferbedingungen terms of subscription Subskriptionsbedingungen; Bezugsbedingungen terms of trade Handelsverhältnis Import/Export terminable kündbar terminal Endstation terminate beenden termination of a contract Beendigung eines Vertrags termination of employment Beendigung der Beschäftigung territorial waters territoriale Gewässer; Hoheitsgewässer territorial allocation Gebietszuteilung; Gebietsaufteilung territory Gebiet test testen; Test test series Versuchsserie testament Testament testamentary testamentarisch theoretical theoretisch theory Theorie theory of probability Wahrscheinlichkeitsrechnung theory of large samples Theorie der großen Stichproben thinking in terms of cost Kostendenken third-party insurance Unfallhaftpflichtversicherung threat of strike Streikdrohung thrift Sparsamkeit thriftiness Sparsamkeit thrifty sparsam through bill of lading Durchgangskonnossement through traffic Durchgangsverkehr tick off an item einen Posten abhaken ticker Fernschreiber; Telegraph; Börsenschreiber ticket Fahrkarte; Flugschein ticket office Fahrkartenschalter tie-on sale gebundener Verkauf; Kupplungsverkauf tie up money Geld binden; Geld festlegen tight angespannt tightness of money Geldknappheit till Kasse; Ladenkasse time Zeit time allowed zugestandene Zeit time allowed for payment Zahlungsfrist time and motion study Arbeitsablaufstudie time bill Nachsichttratte; Zeitwechsel time consuming zeitraubend time of arrival Ankunftszeit time of departure Abfahrtszeit time lag Nachhinken time limit zeitliche Begrenzung; Frist time of circulation Umlaufzeit time of maturity Verfallszeit time studies Zeitstudien timing gute zeitliche Koordinierung tip Trinkgeld title Anrecht; Titel to whom it may concern - Bescheinigung - token Gutschein tolerable erträglich; tolerierbar ton Tonne tonnage Tonnage tools Werkzeuge top oben; erstklassig top executive leitender Angestellter top management Unternehmensleitung top manager leitender Angestellter top priority an erster Stelle top salary Spitzenverdienst topic Thema; Gegenstand tort verdrehen; Rechtsverdrehung total gesamt total loss Totalverlust total utility Gesamtnutzen tour Reise; Tour tour of inspection Besichtigungsreise tourist office Reisebüro tourist trade Fremdenverkehrsgewerbe track Spur trade Gewerbe; Handel trade agreement Handelsabkommen trade and industry Handel und Industrie trade association Handelsverband trade barriers Handelsbarrieren trade bill Handelswechsel; Warenwechsel trade bloc Blockländer trade cycle Konjunkturzyklus trade deficit Handelsdefizit trade discount Händlerrabatt trade fair Handelsmesse trade-in value Handelswert trade-mark Warenzeichen trade monopoly Handelsmonopol trade union Gewerkschaft trader Händler trading account gemischtes Warenkonto trading company Handelsgesellschaft trading certificate Gewerbeerlaubnis trading profit Gewinn aus Handelsgeschäften trained ausgebildet trainee Auszubildender trainer Ausbilder tramp steamer Trampschiff transact umschlagen; umsetzen transaction Geschäft transfer übertragen; Übertragung transit Transit transit traffic Durchgangsverkehr transitional arrangement Übergangsregelung translate übersetzen translation Übersetzung translation bureau Übersetzungsbüro translator Übersetzer transmit übersenden transmission Übersendung transport transportieren; Transport transportation Transport transportation costs Transportkosten travel reisen; Reise travel agency Reiseagentur; Reisebüro travel expense report Reisekostenabrechnung traveller Reisender traveler's cheque Reisescheck traveler's letter of credit Reisekreditbrief travelling Reisen travelling expenses Reisespesen travelling salesman Reisender; Vertreter treasurer Schatzmeister; Kassier treasury bond Schatzanweisung treasury notes Banknoten treat behandeln; bearbeiten treaty Vertrag zwischen Regierungen Treaty of Rome Verträge von Rom trend Tendenz; Trend trend of prices Preisentwicklung trial Probe trial balance Probebilanz triangular trade Dreiecksgeschäft true copy genaue Abschrift; Ablichtung trust vertrauen; Vertrauen; Trust trust deposits treuhänderische Einlagen trustee Treuhänder Trustee Savings Bank Sparkasse auf Gegenseitigkeit (Br.) trustworthy vertrauenswürdig try versuchen triplicate dreifach trunk road Fernstraße turn wenden; Wende turn of events Wende der Ereignisse; Wende des Schicksals turn an honest penny sein Geld redlich verdienen turn into cash in Geld umsetzen; zu Geld machen turnover Umsatz turnover tax Umsatzsteuer tycoon Herrscher über Geld; Firmen und Leute type Typ; auf Maschine schreiben type of account Kontenart type of enterprise Unternehmensform type of costs Kostenart type of product Art des Artikels typescript maschinengeschriebenes Schriftstück typewriter Schreibmaschine typewritten maschinengeschrieben typing pool Schreibraum typist Stenotypistin; Schreibdame; Schreiber U ultimate consumer Endverbraucher ultimo letzter Monat umpire Schlichter unable außerstande unable to pay zahlungsunfähig unability Unfähigkeit unacceptable nicht annehmbar unaltered unverfälscht unanimous einstimmig unanimously einstimmig (adv.) unanswered unbeantwortet unauthorized ohne Vollmacht unavailable nicht verfügbar unavoidable unvermeidlich uncertain unsicher unchanged unverändert uncollectible uneinbringlich uncollectible receivables Dubiose unconcerned nicht betroffen unconditional bedingungslos unconfirmed letter of credit unbestätigtes Akkreditiv uncontrolled frei uncovered ungedeckt undated undatiert under the circumstances unter diesen Umständen under separate cover in getrenntem Umschlag undercharge zu wenig berechnen undercut unterbieten underdeveloped area unterentwickeltes Gebiet underdeveloped country unterentwickeltes Land underemployed unterbeschäftigt underestimate unterschätzen underinsurance Unterversicherung underinsure unterversichern underline unterstreichen underpaid unterbezahlt underpay unterbezahlen underpopulated unterbevölkert underprivileged unterpriviligiert underrate unterbewerten underrated unterbewertet undersell unterbieten underselling Unterbietung understaffed unterbelegt; nicht genug Arbeitskräfte understand verstehen understanding Verständnis understatement Untertreibung undertake übernehmen; sich verpflichten undertaking Unternehmen; Verpflichtung underweight Untergewicht underwrite unterschreiben underwriter Versicherer underwriting Zeichnen von Versicherungsrisiken undeveloped unentwickelt undischarged bankrupt nicht rehabilitierter Konkursschuldner undistributed profits unverteilte Gewinne; nicht ausgeschüttete undrawn profit nicht entnommener Gewinn undue hardship unbillige Härte undue influence ungebührlicher Einfluß unearned income nicht durch eigene Arbeit erworben unearned discount unerlaubter Skontenabzug uneconomic unwirtschaftlich unemployed arbeitslos; Arbeitsloser unemployed capital brachliegendes; ungenutztes Kapital unemployment Arbeitslosigkeit unemployment benefit Arbeitslosenunterstützung unemployment insurance Arbeitslosenversicherung unemployment rate Arbeitslosenanteil unencumbered unbelastet unenforceable nicht vollstreckbar uneven ungleich unexpected unerwartet unfair unlauter unfair practices unlautere Handlungen unfavourable ungünstig unfavourable balance of payments ungünstige; passive Zahlungsbilanz unfavourable balance of trade ungünstige; passive Handelsbilanz unfinished goods Halbfertigwaren unfit ungeeignet unforeseen unvorhergesehen unfurnished room unmöbliertes Zimmer uniform einheitlich Uniform Commercial Code (US) einheitliches Handelsgesetz uniform law einheitliches Gesetz uniform rules einheitliche Richtlinien unilateral einseitig uninsurable nicht versicherbar union Vereinigung union shop Unternehmen nur mit Gewerkschaftsangehörigen unissued stock nichtausgegebene Aktien unit Einheit; Gerät; Stück unit accounting Stückrechnung unit cost Stückkosten unit price Stückpreis unit of currency Währungseinheit unit of measurement Maßeinheit unit of quantity Mengeneinheit United Nations Vereinte Nationen United States Chamber of Commerce Dachverband der US Handelskammern Universal Postal Union Weltpostverband unlawful rechtswidrig unlicensed ohne Lizenz unlimited unbegrenzt unlimited company (Br.) Ges. mit unbeschränkter Haftung unlimited liability unbeschränkte Haftung unlisted nicht aufgelistet unload entladen unloading charges Entladekosten unmerchantable unverkäuflich unofficial nicht offiziell unpaid unbezahlt unpayable unbezahlbar unpriced goods nicht ausgezeichnete Ware unproductive nicht produktiv unprofitable nicht gewinnbringend unproportional außer Proportion unqualified ungeeignet; untauglich unqualified document nicht eingeschränktes Dokument unreasonable unverschämt unreliable unzuverlässig unsafe nicht sicher unsaleable unverkäuflich unsecured nicht abgesichert; ohne Sicherheit unsecured debt nicht abgesicherte Verbindlichkeit unskilled ungeschickt; nicht ausgebildet unskilled labour Hilfsarbeit unskilled worker Hilfsarbeiter upset aufgebracht upswing Aufschwung up-to-date auf dem neuesten Stand urban städtisch urban area Stadtgebiet urban renewal Stadterneuerung usage Brauch; Gepflogenheit usance Handelsbrauch use verwenden; Verwendung useful dienlich; nützlich usefulness Nützlichkeit user Anwender user group Anwendergruppe usurer Wucherer usurious interest Wucherzins usury Wucher utility Nützlichkeit; Nutzen utilize nutzen utilization Verwertung utilization of resources Nutzung der Resourcen utopian utopisch utmost äußerste V vacancies freie Stellen vacancy Stellenangebot vacant frei vacate a position eine Stellung aufgeben; räumen vacation Urlaub; Ferien (US) vacation money Urlaubsgeld vacation of a building Räumung eines Gebäudes vacation allowance Urlaubsgeld vacation period Haupturlaubszeit valid gültig valuable consideration entgeltliche Gegenleistung valuables Wertgegenstände valuation Bewertung valuation of stocks Bewertung des Lagerbestands value Wert value-added tax Mehrwertsteuer value analysis Wertprüfung value received Gegenwert erhalten value of goods Warenwert value of goods in progress Wert der in Produktion befindlichen Ware van Lieferwagen; geschlossener LKW (Br.) variable variabel variable costs variable Kosten variation Abweichung; Variation variety Vielfalt vary variieren vary with the season Saisonschwankungen unterliegen vault Stahlkammer vehicle Fahrzeug velocity Geschwindigkeit velocity of circulation Umlaufsgeschwindigkeit vending machine Automat; Warenautomat vendor Verkäufer venture Wagnis; Unternehmen; Risiko venture capital Risikokapital verbal mündlich verbal offer mündliches Angebot verification Nachprüfung verify nachprüfen vested interest erworbenes Recht vice-chairman stellvertretender Vorsitzender vice-president Vizepräsident view Ansicht violation of a contract Vertragsverletzung violation of secrecy Verletzung der Geheimhaltung violation of professional secrecy Verletzung des Berufsgeheimnisses visa Visum visible sichtbar visible exports sichtbare Exporte visible imports sichtbare Importe visible items of trade sichtbarer Teil des Handels visit besuchen; Besuch visiting lecturer Lehrbeauftragter visitor Besucher vital lebenswichtig vital interests lebenswichtige Interessen vocational advisor Berufsberater vocational counselling Berufsberatung vocational training Berufsausbildung vocational guidance Berufsberatung void nichtig volume Umfang; Volumen volume of business Geschäftsumfang volume of credit Kreditumfang volume of expenditure Ausgabenumfang volume of sales Umfang der Verkäufe volume of trade Umfang des Handels volume of work Arbeitsumfang; Arbeitsanfall voluntary freiwillig vote stimmen; Stimme vote of confidence Vertrauensvotum voucher Gutschein W wage Lohn; Arbeitsentgelt wage accounting Lohnabrechnung wage adjustment Lohnangleichung wage bargaining Lohnverhandlung wage bracket Tarifklasse wage cut Lohnkürzung wage dispute Lohnstreitigkeit wage group Lohngruppe wage earner Lohnempfänger wage and price control Lohn- und Preiskontrolle wage freeze Lohnstop wage packet Lohntüte wage-price spiral Lohn-Preis-Spirale wagering contract Vertrag betreffend eine Wette wages Entlohnung wages in kind Naturallohn wages clerk Lohnsachbearbeiter wages packet Lohntüte wages theory Lohntheorie wageworker Lohnarbeiter wagon train Güterzug wagon load Waggonladung wait warten waiting time Wartezeit walkout Arbeitsniederlegung Wall Street Börsenzentrum in New York want of care mangelnde Sorgfalt want of confidence mangelndes Vertrauen want of money mangelndes Geld; Geldmangel want of raw material Mangel an Rohstoffen want of appreciation Mangel an Anerkennung ware Ware warehouse Warenlager; Lagerhalle warehouse keeper Lagerverwalter warehouse receipt Lagerempfangsschein warehousing charges Lagergeld warehouse rent Lagermiete warehouseman Lagerist warn warnen warning Warnung warrant gewährleisten warranted echt warranty Gewährleistung wastage Verschwendung waste Abfall waste land Ödland waste material Abfall waste paper Papierabfälle; Makulatur waste product Abfallprodukt waste of effort Arbeitsverschwendung waste of goodwill Vergeudung des guten Ansehens waste of material Materialverschwendung waste of money Geldverschwendung waste of paper Papierverschwendung waste of public funds Verschwendung öffentlicher Gelder waste of time Zeitverschwendung water supply Wasserversorgung waterproof wasserdicht waterways Wasserstraßen waybill Frachtbrief (US) ways and means Mittel und Wege weaker tendency Abschwächung wealth Wohlstand; Reichtum wear tragen; abnutzen wear and tear Abnutzung weather insurance Wetterversicherung weekly wöchentlich weekly allowance wöchentliches Taschengeld weekly wage Wochenlohn weekly pay Wochenlohn weekly rent Wochenmiete weekly ticket Wochenfahrkarte weighbridge Brückenwaage für Fahrzeuge und deren Ladung weighing charges Wiegegeld weight Gewicht weight of packing Gewicht der Verpackung weighted index gewichteter Index weighting Gewichtung welfare Wohlfahrt welfare committee Wohlfahrtskommittee welfare state Wohlfahrtsstaat welfare system Wohlfahrtssystem welfare work Sozialarbeit welfare worker Sozialarbeiter well-educated gut erzogen well-priced preisgünstig well-trained gut ausgebildet well off wohlhabend well-to-do vermögend wet goods flüssige Güter wharfage Werftgebühr white-collar worker Büroangestellter White Paper Weißbuch wholesale Großhandel wholesale business Großhandelsgeschäft wholesale cooperative Großhandelsgenossenschaft wholesale dealer Großhändler wholesale discount Großhandelsrabatt wholesale price Großhandelspreis wholesale trade Großhandel wholesaler Großhändler widow's allowance Witwengeld wildcat strike wilder Streik willingness to pay Zahlungswilligkeit wind up abwickeln winding-up Abwicklung; Liquidation windfall profit überraschender Gewinn; unerwarteter Gewinn window Fenster window display Schaufenstergestaltung; Schaufensterreklame window dressing Schaufenstergestaltung; "Spiegeln" window envelope Fensterumschlag window shopping Schaufensterbummel withdraw zurückziehen; zurücknehmen; annullieren withdrawal Zurücknahme withdrawal of an application Zurücknahme eines Antrags withdrawal of a credit Kündigung eines Kredits withdrawal of a licence Zurücknahme einer Lizenz withdrawal of an order Stornierung eines Auftrags without prejudice ohne Vorurteil without recourse ohne Regreß witness bezeugen; Zeuge witness summons Zeugenvorladung wording Wortlaut; Formulierung wording of a contract Wortlaut eines Vertrages wording of a bill Wortlaut eines Wechsels wording of a letter Wortlaut eines Briefes work arbeiten; Arbeit work day Arbeitstag work overtime Überstunden machen work short-time kurzarbeiten work full-time ganztägig arbeiten work off a debt eine Schuld abarbeiten work part-time halbtags arbeiten work of reference Nachschlagewerk work a market einen Markt bearbeiten workforce Arbeiterschaft; Belegschaft working assets Umlaufvermögen working capital Arbeitskapital; Betriebsvermögen working classes Arbeiterschaft working conditions Arbeitsbedingungen working hours Arbeitszeit working life Berufsleben working plan Arbeitsplan working papers Arbeitspapiere working to rule gemäß den Vorschriften arbeiten workmanship Bearbeitung; Qualitätsarbeit; Verarbeitung workpeople Arbeiter workshop Werkstatt work study Arbeitsstudie works manager Betriebsleiter world economy Weltwirtschaft world price Weltmarktpreis world trade Welthandel world-wide weltweit world-wide crisis Weltkrise worth wert; Wert worthless wertlos wrapping Verpackung writ Schrieb; Schriftsatz writ of attachment Pfändungsbefehl writ of execution Vollstreckungsbefehl writ of summons Vorladung write down niederschreiben write off abschreiben write-off Abschreibung write an article einen Artikel schreiben write a letter einen Brief schreiben write sth. down etwas notieren write out a cheque einen Scheck ausstellen written schriftlich written agreement schriftliche Zustimmung written application schriftliche Bewerbung written evidence schriftlicher Beweis wrong falsch; Unrecht wrongly fälschlicherweise X xerox Xerox; schnelldrucken; kopieren xerography Xerographie; Kopierverfahren Y yardstick Maßstab year Jahr year of assessment Veranlagungsjahr year under review Berichtsjahr yearbook Jahrbuch yellow pages gelbe Seiten ; Branchenadressbuch der Post yield einbringen; Ertrag yield on securities Ertrag aus Wertpapieren yield on shares Ertrag aus Aktien young person (Br.) Jugendlicher zwischen 14 und 17 Jahren yours faithfully hochachtungsvoll yours sincerely mit freundlichen Grüßen youth employment service Arbeitsberatung; Ausbildungsberatung Z zero Null zero growth Wachstumsstillstand zero deviation Nullabweichung zip code Postleitzahl (US) zone Zone zoning Unterteilung in Zonen zoning restrictions Baubeschränkungen in einer Zone zzzzz zzzzz zzzzz COPYRIGHT WINFRIED HONIG zzzzz zzzzz NUERNBERG 2001 zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz WINFRIED HONIG zzzzz zzzzz FRANZ-REICHEL-RING 12 zzzzz zzzzz 90473 Nuernberg zzzzz zzzzz Germany zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz Tel. 0911 / 80 84 45 zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz winfried.honig@online.de zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz http://dict.leo.org zzzzz zzzzz http://www.dicdata.de zzzzz zzzzz http://mrhoney.purespace.de/latest.htm zzz zzzzz zzzzz End of Mr Honey's Small Business Dictionary (English-German) (C)2001, 2002 by Winfried Honig **This is a COPYRIGHTED Project Gutenberg Etext, Details Above** End of the Project Gutenberg EBook of Mr Honey's Small Business Dictionary (English-German), by Winfried Honig *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MR HONEY'S SMALL BUSINESS *** ***** This file should be named 3217-8.txt or 3217-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/3/2/1/3217/ Produced by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com. Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. They may be modified and printed and given away--you may do practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. *** START: FULL LICENSE *** THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License (available with this file or online at http://gutenberg.org/license). Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works even without complying with the full terms of this agreement. See paragraph 1.C below. 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INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance with this agreement, and any volunteers associated with the production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works, harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees, that arise directly or indirectly from any of the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause. Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of electronic works in formats readable by the widest variety of computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit http://pglaf.org While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: http://pglaf.org/donate Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works. Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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The Project Gutenberg EBook of Mr Honey's Small Business Dictionary (English-German), by Winfried Honig This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Mr Honey's Small Business Dictionary (English-German) Author: Winfried Honig Posting Date: March 28, 2011 [EBook #3217] Release Date: July, 2002 Language: English Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MR HONEY'S SMALL BUSINESS *** Produced by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com. Mr Honey's Small Business Dictionary (English-German) (C)2001, 2002 by Winfried Honig This is a work in progress dictionary of phrases commonly used. This book contains English and equivalent German phrases. We are releasing two versions of this book, sorted for the English reader and sorted for the German reader. Dieses Buch wurde uns freundlicherweise von dem Verfasser zur Verfügung gestellt. This book was generously donated to us by the author. ------------------Acknowledgement: In the 1970s Winfried Honig, known as Mr Honey, started compiling and computerizing English/German dictionaries, partly to provide his colleagues and students with samples of the language of business, partly to collect convincing material for his State Department of Education to illustrate the need for special dictionaries covering the special language used in different branches of the industry. In 1997 Mr Honey began to feed his wordlists into the LEO Online Dictionary http://dict.leo.org of the Technische Universität München, and in 2000 into the DicData Online Dictionary http://www.dicdata.de While more than 500.000 daily visitors use the online versions, CD-ROM versions are available, see: http://www.leo.org/dict/cd_en.html http://www.dicdata.de http://mrhoney.purespace.de/latest.htm Mr. Honey would be pleased to answer questions sent to winfried.honig@online.de. Permission granted to use the word-lists, on condition that links to the sites of LEO, DICDATA and MR HONEY are maintained. Mr Honey's services are non-commercial to promote the language of business both in English and in German.------------------- History and Philosophy Die Anfänge dieses Wörterbuches gehen zurück in die Zeit als England der Europäischen Gemeinschaft beitreten wollte. In einer Gemeinschaftsarbeit von BBC, British Council, dem Dept. of Educ. und der OUP machte man sich Gedanken, wie man dem Führungsnachwuchs auf dem Kontinent die englische Wirtschaftssprache beibringen könnte. Als einer der wenigen Dozenten, die damals in London Wirtschaftsenglisch lehrten, kam ich in Kontakt mit dem Projekt. Da ich mich zu jener Zeit für eine Karriere in der Daten-verarbeitung oder als Hochschullehrer für Wirtschaftsenglisch entscheiden musste, wählte ich eine Kombination von beidem. Als Dozent der FH machte ich den Einsatz von Multimedia in der Vermittlung von brauchbarem Wirtschaftsenglisch zu meiner Aufgabe. Für die Anforderungen verschiedener Seminare, Schwerpunkte, Zielgruppen entstanden aus der praktischen Arbeit die Wortlisten und Wörterbücher. Aufgewachsen und geschult in der praktischen Denkweise von A.S. Hornby, einem Fellow des University College London, legte ich besonderen Wert auf die hohe Zahl möglichst dienlicher Anwendungsbeispiele. Die indizierten sequentiellen Wortlisten der Kompaktversionen, --anders und meines Erachtens noch viel besser--die großen sequentiellen Wortlisten der CD-ROM-Versionen mit der stufenweisen bis globalen Suche in den Wort- und Beispiellisten zunehmenden Umfangs, ermöglichen eine optimale sprachliche Orientierung in einem umfangreichen wirtschaftlichen Sprachsschatz. Dabei sehe ich neue Wege und Möglichkeiten des Erwerbs und des Umgangs mit der Fachsprache. Wahrscheinlich bietet sich hier weit mehr als sich im ersten Eindruck erahnen läßt. Spielerisch sollte es möglich sein, leichter, schneller und intensiver zu lernen. Durch die Vielzahl der Assoziationen dürfte sich schneller als bisher eine gehobene fachsprachliche Kompetenz entwickeln. A A1 at Lloyd's erste Klasse; hervorragend abandon aufgeben abandon a business ein Geschäft aufgeben abandon a plan einen Plan aufgeben abandon a project ein Projekt aufgeben abandonment Abtretung; Überlassung abandonment of action Klagerücknahme abate herabsetzen abatement Ermäßigung; Nachlass abbreviation Abkürzung abide by the law sich an das Gesetz halten ability Fähigkeit ability to pay Zahlungsfähigkeit ability to earn one's livelihood Erwerbsfähigkeit able fähig aboard an Bord abolish abschaffen abolishment Aufhebung abound im Überfluss vorhanden sein abroad im Ausland; ins Ausland above-mentioned obenerwähnt absence Abwesenheit absence from duty Dienstabwesenheit absenteeism unentschuldigtes Fernbleiben absolute unbeschränkt absolute advantage absoluter Vorteil absolute monopoly absolutes Monopol absolve freisprechen abstinence Enthaltsamkeit abstract kurz gefasst; Kurzfassung abundance Überfluss abundant im Überfluss abuse Missbrauch accelerated depreciation beschleunigte Abschreibung accelerator Beschleuniger accept akzeptieren accept in blank blanko akzeptieren acceptable quality level annehmbare Qualität acceptance Akzept acceptance of a draft Wechselakzept acceptance for honour Ehrenakzept acceptance of a tender Zuschlag acceptance house Bank spezialisiert in Wechselakzept (Br.) acceptor Annehmer; Akzeptant access Zugang accessibility Zugänglichkeit accessory Mitschuldiger accident Unfall accident insurance Unfallversicherung accident sensitive störanfällig accidental zufällig accommodate unterbringen; entgegenkommen accommodation bill Gefälligkeitswechsel accomplish bewerkstelligen accomplishment Durchführung accord Übereinkommen accordance Übereinstimmung according to gemäß account Konto account of proceeds Erlöskonto account book Rechnungsbuch account day Abrechnungstag accountancy Rechnungswesen accountant Buchhalter account executive (in Werbeagentur) Kundenkontobetreuer account payee only nur auf das Konto des Begünstigten account purchases Einkaufsabrechnung des Kommissionärs account sales Verkaufsabrechnung des Kommissionärs accounts payable Kreditorenkonto; Schuldposten accounts receivable Forderungen accounting period Abrechnungszeitraum accrue anfallen accrued charges aufgelaufene Gebühren accrued interest aufgelaufener Zins accumulate auflaufen; sich anhäufen accumulation Anhäufung accumulative kumulativ accuracy Genauigkeit accurate genau accusation Anklage accuse anklagen achieve vollbringen achievement Leistung acid test harter Test acknowledge den Empfang bestätigen acknowledgement Empfangsbestätigung acknowledgement of debt Schuldanerkenntnis acknowledgement of order Auftragsbestätigung acknowledgement of receipt Empfangsbestätigung act handeln; Handlung; Gesetz act of bankruptcy Konkursvergehen Act of God höhere Gewalt Act of Parliament vom Parlament verabschiedetes Gesetz act of protest Protestaufnahme acting geschäftsführend action Handlung; Klage action for damages Schadensersatzklage action for support Unterhaltsklage action for an injunction Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfüg. activate aktivieren active lebhaft; tätig active partner aktiver Teilhaber activity Aktivität; Handlung actual wirklich actual total loss wirklicher Gesamtverlust actuary Versicherungsmathematiker adapt anpassen adaptation Anpassung add addieren; hinzufügen addendum Zusatz adding machine Addiermaschine additional zusätzlich address Adresse address for delivery Lieferanschrift addressee Empfänger addressing machine Adressiermaschine adequacy Angemessenheit adequate angemessen adhere festhalten adjoining angrenzend adjourn vertagen adjudicate gerichtlich entscheiden adjust regeln; anpassen; regulieren adjustable regulierbar adjustment Schadensregelung; Berichtigung adjuster Schadensachverständiger administer verwalten administration Verwaltung administration of property Vermögensverwaltung administrative verwaltungstechnisch admissibility Zulässigkeit admissible zulässig admit zulassen admittance Zulass ad valorem nach Wert advance vorschießen; Vorschuss advance payment Vorauszahlung advance of salary Gehaltsvorschuß advantage Vorteil adventurer Abenteurer; Spekulant adversary Gegner; Prozessgegner advertise werben advertisement Werbung; Inserat; Anzeige advertiser Inserent advertising Werbung advertising agency Werbeagentur advertising media Werbeträger; Werbemittel advice Rat; Ratschlag advice of arrival Empfangsanzeige; Eingangsanzeige advice of collection Inkassoanzeige advice of dispatch Versandanzeige advice of loss Verlustanzeige advice of receipt Empfangsanzeige advice note Avis; Versandanzeige advise raten; beraten adviser Ratgeber advisory beratend affair Angelegenheit affect beeinträchtigen affidavit eidesstattliche Erklärung affiliate sich angliedern affiliation Angliederung affirm bekräftigen; bestätigen affirmation Zustimmung affirmative zustimmend; bejahend affluence Reichtum; Überfluss affluent reich; im Überfluss schwimmend affluent society Überflussgesellschaft affreight befrachten affreightment Befrachtung aftereffect Nachwirkung against all risks gegen alle Risiken age at entry Eintrittsalter aging Alterung agency Agentur agency agreement Vertretungsvertrag agency of necessity Vertretung im Notfall ohne Ermächtigung agenda Tagesordnung agent Vertreter; Agent agent's commission Vertretungsprovision agglomeration Zusammenballung aggregate Gesamtsumme aggregate demand Gesamtnachfrage aggregate supply Gesamtangebot aggregation Anhäufung aggression Angriff aggressive aggressiv; angriffslustig aggressiveness Aggressivität aggressor Angreifer agio Aufgeld; Zuschlag agitate agitieren agitator Agitator agree übereinstimmen; vereinbaren agree tacitly stillschweigend übereinstimmen agreement Vereinbarung agriculture Landwirtschaft agricultural economics Landwirtschaftslehre aid Hilfe aim zielen; Ziel aircraft Flugzeug airfreight Luftfracht airlift Luftkorridor airline Luftfahrtslinie airliner großes Passagierflugzeug airmail Luftpost air terminal Flugabfertigungsstelle mit Busbahnhof alien Ausländer alienate veräußern align koordinieren allocate zuweisen allocation Zuweisung; Kontingentierung allonge Verlängerungsstück an Wechsel allot zuweisen allotment Zuweisung allotment note Zuweisungszettel allow erlauben allowance Erlaubnis allowed time zugestandene Zeit all risks whatsoever alle möglichen Risiken alongside ship längsseits alter ändern; abändern alteration Änderung alternate demand alternatives Bedarfsdeckungsgut alternative Alternative alternative costs Ersatzwert amalgamate verschmelzen amalgamation Verschmelzung ambiguity Mehrdeutigkeit ambulatory umherziehend amend verbessern amendment Verbesserung amends Wiedergutmachung amenities Annehmlichkeiten amortization Amortisierung amortize amortisieren; abzahlen amount Betrag amount of an invoice Rechnungsbetrag amount of depreciation Abschreibungsbetrag amount of interest Zinsbetrag amount of investment Investitionsbetrag amount of turnover Umsatzhöhe amounting to betragend ample reichlich amusement Vergnügen amusement tax Vergnügungssteuer analysis Analyse analysis of profitability Rentabilitätsanalyse analyses Analysen analyst Analytiker analyze analysieren anchorage Ankergebühr ancillary untergeordnet ancillary industry Zulieferindustrie annex Anhang annotation Erläuterung; Anmerkung announce ankündigen announcement Ankündigung annual jährlich annual meeting Jahresversammlung annual general meeting Jahrshauptversammlung annual report Jahresbericht annual return Jahresmeldung annuity Annuität; Rente antedate vordatieren anticipate vorwegnehmen anticipated cost erwartete Kosten anticipated price erwarteter Preis anticipated profit erwarteter Gewinn anticipation Vorwegnahme anticipatory vorwegnehmend anti-dumping policy Anti-Dumping-Politik anti-dumping duty Anti-Dumping-Abgabe anti-trust legislation Anti-Trust-Gesetzgebung appeal appellieren; Rechtsmittel einlegen appear scheinen; erscheinen appearance äußerliches Erscheinungsbild append hinzufügen appendix Anhang appliance Gerät apologize sich entschuldigen apology Entschuldigung applicant Bewerber application Bewerbung; Anwendung application form Bewerbungsformblatt application for a job Stellenbewerbung application for shares Antrag auf Zuteilung von Aktien application for official quotation Antrag auf Börsenzulassung (Br.) applied economics Angewandte Volkswirtschaftslehre appoint einsetzen appointment Berufung apportion zuteilen appreciation Würdigung appreciate würdigen apprentice Lehrling apprenticeship Lehre approach annähern approbation Genehmigung appropriate angemessen appropriation Inbesitznahme approval Billigung approve billigen approximate annähernd approximately annähernd; ungefähr approximation Annäherung approximative annähernd apt angemessen aptitude test Neigungstest arbiter Schiedsrichter arbitrage Schiedsgerichtsbarkeit arbitral schiedsrichterlich arbitration Schiedsgerichtsbarkeit arbitration clause Schiedsgerichtsbarkeitsklausel arbitrator Schiedsrichter; Richter am Schiedsgericht archives Archiv area Gebiet argue argumentieren argument Argument argumentation Beweisführung arithmetic mean arithmetisches Mittel arithmetic progression arithmetische Progression arrange arrangieren arrangement Regelung; Vereinbarung array mathematische Anordnung; Array arrear Rückstand arrears Rückstände; Zahlungsrückstände arrival Ankunft arrive ankommen article Artikel; Gegenstand Articles of Association Satzung Articles of Partnership Satzung einer oHG artificial künstlich artisan Handwerker ascertain sich vergewissern ascertainable feststellbar asked price der geforderte Preis aspect Ansicht aspirant Aspirant; Bewerber assemble zusammenbauen assembly Montage assembly line Montageband assent einwilligen; Einwilligung assert behaupten assess veranlagen assessment Veranlagung assessor Assessor asset Aktivposten assets Aktivseite der Bilanz; Aktiva assign zuweisen assignee Zessionar assigner Zedent assignment Zuweisung assignor Abtretender assist helfen assistance Hilfe assistant Gehilfe associate Gesellschafter associated angeschlossen associated companies angeschlossene Gesellschaften association Gesellschaft assort sortieren assorted sortiert; gemischt assortment Sortiment assume annehmen assuming that in der Annahme dass assumption Annahme assurance Versicherung; bes. Lebensversicherung assure versichern; zusichern assured versichert assurer Versicherer at call auf Abruf attach beifügen attached beigelegt; in der Anlage attempt versuchen; Versuch attend zugegen sein attendance Anwesenheit attention Aufmerksamkeit attest bescheinigen attestation Bescheinigung attitude Haltung attitude survey Erforschung der Einstellung zu einer Sache attorney (US) Rechtsanwalt; (Br.) Staatsanwalt attorney-at-law (US) Rechtsanwalt attract anziehen attractive attraktiv; reizvoll attractiveness Attraktivität; Anziehungskraft attribute Eigenschaft auction Versteigerung auctioneer Versteigerer; Auktionator audit Revision auditor Buchprüfer; Revisor autarchy wirtschaftliche Unabhängigkeit; Autarkie authentic echt authenticity Echtheit authority Autorität authorization Bevollmächtigung authorize bevollmächtigen authorized capital zur Ausgabe berechtigtes Aktienkapital authorized clerk an der Börse zugelassener Angestellter authorized dealer zugelassener Händler automatic automatisch automation Automatisierung availability Verfügbarkeit available verfügbar average Durchschnitt averaging Durchschnittberechnung avoid vermeiden avoidance Vermeidung award Belohnung; Preis; Schiedsspruch B back Rückseite back up sb. jemanden unterstützen backdate rückdatieren background Hintergrund backing Unterstützung backlog Rückstand back pay Nachzahlung backward rückständig backward area rückständiges Gebiet backwardation Prolongationsgebühr bad debts Dubiose bad debts insurance Ausfallversicherung badge Abzeichen badness schlechte Beschaffenheit bag einpacken; eintüten; Beutel; Tasche; Tüte bagman (Br.; veraltet) Handlungsreisender baggage Gepäck bail Bürgschaft balance Saldo balance of accounts Rechnungsabschluß balance of an invoice Rechnungsbetrag; Rechnungssaldo balance forward Saloübertrag balance of payments Zahlungsbilanz balance of trade Handelsbilanz balance sheet Bilanz balancing Saldierung; Abschluss bale Ballen ballast Ballast ban verbannen; Verbot bank Bank bank acceptance Bankakzept eines Wechsels bank account Bankkonto bank charge Bankgebühr bank credit Bankdarlehen bank deposit Sparbucheinlage banker Bankier; Bankbeamter; Bankangestellter banker's draft Banktratte; von Bank gezogener Scheck banker's order Bankanweisung bank holiday Bankfeiertag Bank for International Settlement Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Bank of England Bank von England; britische Zentralbank bank of issue Notenbank bank loan Bankdarlehen bank note Banknote bank overdraft Girokontenüberziehung bank rate Diskontsatz der Bank von England bank reserves Bankreserven bankrupt zahlungsunfähig; Zahlungsunfähiger bankruptcy Bankrott; Zahlungseinstellung bank statement Kontenauszug der Bank bar Barren bar chart Balkendiagramm bargain günstige Gelegenheit; günstiges Angebot bargain-sale Ausverkauf mit günstigen Gelegenheiten bargaining Verhandeln barometer Barometer baron Baron; (Financier mit großem Einfluss) (Br.) barrier Schranke; Hindernis barrister (Br.) bei höheren Gerichten zugel. Anwalt barter tauschen; Tauschhandel base period Basiszeitraum zum Vergleich basic grundlegend basic wage Grundlohn basis Basis; Ausgangsebene basis price Grundpreis basket of goods Warenkorb batch Charge; Satz; Beschickung batch processing (EDV) Verarbeitung von Aufgabensätzen bazaar Basar bear "Bär" an der Börse; Baissespekulant bear market Börsensituation; in der die Bären dominieren bearer Inhaber eines Wertpapieres; Überbringer bearer cheque Überbringerscheck bearer of a bill Wechselinhaber below par unter Nennwert bellow the line unter der Linie; unter dem Strich beneficiary Begünstigter benefit Nutzen bequest vererben bid Gebot; Angebot bidder Anbieter bidding Ausschreibung; Angebot biennial alle zwei Jahre Big Five die großen fünf Londoner Banken bilateral zweiseitig bilateral agreement Vertrag zwischen zwei Partnern bilateral trade Handel zwischen zwei Staaten bill Rechnung (US); Rechnung im Restaurant bill of clearance Zollabfertigungsschein bill of costs Spesenrechnung bill of exchange Wechsel bill of lading Konnossement billboard (US) Anschlagtafel bills payable zu zahlende Rechnungen bills receivable Außenstände; Forderungen bill-board schwarzes Brett bimonthly alle zwei Monate binding verbindlich birth rate Geburtenrate bit Stückchen biweekly alle zwei Wochen blacklist schwarze Liste blackmail Erpressung black market schwarzer Markt; verbotener Markt black marketeer Händler am schwarzen Markt blank leer blank cheque Blankoscheck blank endorsement Blankoindossament blanket insurance generelle Versicherung; Dachvertrag blend vermischen; Mischung blending Vermischung block Block block of data Datenblock blocked account Sperrkonto blockade blockieren; Blockade blue chips Stammaktien erstklassiger Firmen blueprint Lichtpause board Behörde board of administration Verwaltungsrat board of complaint Beschwerdeausschuß board of creditors Gläubigerausschuß board of directors Aufsichtsrat; Vorstand board of examiners Prüfungsausschuß board of inquiry Untersuchungsausschuß Board of Trade Handelsministerium (Br.) boardroom Sitzungszimmer des Aufsichtsrats body Körperschaft bona fide in gutem Glauben bond Obligation; Pfandbrief; Versprechen bonded goods Waren unter Zollverschluss bonded warehouse Zollverschlusslager bondholder Inhaber einer Obligation bonus Sondervergütung bonus wages system Prämienlohnsystem book Buch; buchen; verbuchen book value Buchwert booking Verbuchung bookkeeper Buchhalter bookkeeping Buchhaltung bookmaker Buchmacher booklet Broschüre boom Blüte; Aufschwung; Hochkonjunktur boost erhöhen; Erhöhung border Grenze borderer Grenzbewohner bordering angrenzend borderland Grenzbereich; Grenzland borderline Grenzlinie borough Gemeinde borrow borgen borrower Entleiher; Borger borrowing power Kreditvermögen boss Chef bottle auf Flaschen füllen; Flasche bottleneck Engpass bottom Boden; niedrigster Stand bounce platzen (Scheck) bounced cheque geplatzter Scheck boundary Grenze; Grenzlinie bourse Börse boycott Boykott bracket Klammer brainstorming Ideensammlungsmethode branch Zweig; Filiale branch office Filiale brand Marke branded goods Markenartikel breach Bruch; brechen breach of condition Nichteinhaltung von Bedingungen breach of contract Vertragsbruch breach of law Gesetzesübertretung breach of promise Bruch eines Versprechens breach of secrecy Verletzung der Geheimhaltung breach of warranty Verletzung der Gewährleistung break brechen; unterbrechen; Pause breakage Bruch; Bruchschaden breakdown Zusammenbruch breakdown of costs Kostenaufgliederung break even gerade noch Gewinn machen breakthrough Durchbruch breakup Zerfall bribery Bestechung bribe bestechen bridge überbrücken; Brücke bridging loan Überbrückungsdarlehen brisk lebhaft brief kurz; kurz einweisen; kurz unterrichten briefcase Aktentasche brochure Broschüre broker Makler brokerage Maklergebühr budget Budget; Haushalt budgetary haushaltsmäßig; den Haushalt betreffend budgetary control Haushaltskontrolle budget period Haushaltsperiode building society Wohnungsbaugenossenschaft buildup Aufbau bulk in großen Gebinden; Bulkware bulk buying Großeinkauf; Einkauf unverpackter Ware bulk cargo Massenladung; Schüttgut bulk order Großauftrag; Auftrag für unverpackte Ware bull "Bulle" an der Börse bull market Börsensituation regiert von sog. Bullen bulletin amtliche Bekanntmachung bullion Gold in Barren bullion market Goldmarkt bundle Bündel burden Last bureau de change Wechselstelle bureaucracy Bürokratie business Geschäft business cycle Geschäftszyklus business forecasting Umsatzvoraussage business game Planspiel businessman Geschäftsmann buy kaufen buyable käuflich buyer Käufer; Einkäufer buyers' market vom Käufer bestimmter Markt buying department Einkaufsabteilung; Einkauf bye-law städtische Verordnung bypass Umgehungsstraße by-product Nebenprodukt C cabinet Regierung cable Kabel; Telegramm cable transfer telegraphische Geldüberweisung calculability Berechenbarkeit calculable berechenbar calculate kalkulieren calculator Rechenmaschine calculation Kalkulation; Berechnung calculation of costs Kostenberechnung calculation of profits Gewinnberechnung calculator Rechner calendar Kalender calendar month Kalendermonat calibrate eichen calibration Eichung call rufen; anrufen; telefonieren; aufsuchen callable abrufbar call-back Rückruf call-box Fernsprechzelle campaign Feldzug; Kampagne campus Hochschulgelände canal Kanal cancel streichen; annullieren; stornieren cancellation Annullierung; Stornierung cancelled annulliert candidate Kandidat canvass um Kunden werben; Kundenwerbung canvasser Werber capability Fähigkeit capable fähig capacity Kapazität; Fassungsvermögen capital Kapital; Vermögen capital account Kapitalkonto capital assets Kapitalvermögen capital investment Kapitalanlage capital employed eingesetztes Kapital capital unemployed totes Kapital capital expenditure Kapitalaufwand capital gains tax Kapitalzuwachssteuer capital goods Investitionsgüter capital paid up Einlagekapital capital yield Kapitalertrag capital-intensive kapitalintensiv capitalism Kapitalismus capitalist Kapitalist capitalistic kapitalistisch capital levy Kapitalabgabe; Kapitalsteuer capital market Kapitalmarkt captain of industry Industriekapitän caption Überschrift capture fangen carat Karat carbon copy Durchschlag carbon paper Kohlepapier card Karte cardboard Karton card index Kartei care sorgen; Sorge cargo Fracht; Ladung; Frachtgut caretaker Hausverwalter carnet Zollbegleitschein carriage Transportkosten; Beförderung carriage forward unfrei; Frachtkosten per Nachnahme carrier Frachtführer carry tragen carry forward übertragen; vortragen carry-over Übertrag carrying business Transportgewerbe; Transportunternehmen cartage Rollgeld cartel Kartell cartelization Kartellbildung carter Fuhrunternehmer case Kiste; Fall case study Fallstudie cash bar; kassieren; Kasse cash account Kassakonto cash box Kasse; Kassette cash business Bargeschäft cash credit Barkredit cash discount Barzahlunsrabatt; Skonto cash deposit Bareinlage cash expenditure Barauslage cash and carry Ware ist bar zu zahlen und selbst zu transp. cash on delivery Nachnahme cash on hand Kassenbestand cash order Sichtwechsel cash payment Barzahlung cash price Barpreis cash register Registrierkasse cash sale Barverkauf cash with order Kassa bei Auftragserteilung cash book Kassabuch cash transaction Kassageschäft cash flow Berechnung der verfügbaren Mittel cash price Barpreis cash reserves Barreserven cashier Kassier cashless bargeldlos cask Faß cast werfen casting of votes Stimmenabgabe casual worker Gelegenheitsarbeiter casualty Unfall; Unfallopfer catalogue Katalog category Kategorie categorization Einstufung cater for sth. versorgen; sorgen caterer Gastronom catering Gastronomie caution Vorsicht cautious vorsichtig ceiling price Höchstpreis cease aufhören census Zählung; Volkszählung census of population Volkszählung cent Cent (US) central bank Zentralbank centralization Zentralisierung centralize zentralisieren certificate Zertifikat certificate of damage Schadenszertifikat certificate of incorporation Inkorporationsurkunde certificate of origin Ursprungszeugnis certificate of inspection Abnahmebescheinigung certificate of protest Beglaubigung eines Wechselprotests certify bestätigen; bescheinigen certified accountant Wirtschaftsprüfer certified cheque beglaubigter Scheck ceteris paribus im übrigen gleich chain Kette chain store Kettenladen chain of command Weisungslinie chain of distribution Vertriebsweg chairman Vorsitzender chairperson Vorsitzende Chamber of Commerce Handelskammer Chamber of Trade Handwerkskammer chance Zufall chances of success Erfolgschancen Chancellor of the Exchequer Schatzkanzler (Br.); Finanzminister change Veränderung; Wechsel change of domicile Wohnsitzverlegung change in ownership Besitzwechsel channel Kanal channel of distribution Vertriebskanal channel of supply Versorgungsweg charge Belastung; Gebühr; Kosten; Anklage charge account Anschreibekonto charge up against sth. aufrechnen chart Karte; graphische Darstellung chart of accounts Kontenplan charter Charter; Befrachtung; ein Schiff mieten charter party Chartervertrag charter plane Charterflugzeug chartered accountant Wirtschaftsprüfer charterer Mieter eines Schiffes chattel bewegliches Gut cheap billig cheap money billiges Geld wegen billiger Zinsen cheapness Billigkeit check untersuchen check (US) Scheck checking account (US) Girokonto check list Kontroll-Liste check book (US) Scheckbuch check mark Markierung checking of purchases Einkaufskontrolle cheque (Br.) Scheck cheque book Scheckbuch; Scheckheft cheque to bearer Überbringerscheck cheque to order Orderscheck cheque transactions Scheckverkehr chief Chef chief accountant Hauptbuchhalter chief executive leitender Angestellter chief of an agency (US) Leiter einer Vertretung; Abteilung child allowance Kinderermäßigung choice Wahl; Auswahl choice of occupation Berufswahl church tax Kirchensteuer circulation of money Geldumlauf cipher Chiffre circular letter Rundschreiben circular note Reisekreditbrief circular ticket Rundreisefahrkarte circular trip Rundreise circulate in Umlauf sein circulating capital Betriebskapital circulation of bank notes Notenumlauf circulation Umlauf; Zirkulation circumstances Umstände city Innenstadt; Geschäftsstadt City Weltwirtschaftszentrum London City of London Stadt London city limits Stadtgrenzen city planner Stadtplaner city transportation städtische Verkehrsmittel civil servant Beamter civil service öffentlicher Dienst; Staatsdienst claim Anspruch; Forderung; Klage claim for damages Anspruch auf Schadensersatz claim for compensation Entschädigungsanspruch claim for indemnity Entschädigungsanspruch claim for money Geldforderung class Klasse classification Klassifizierung; Einstufung classify klassifizieren clause Klausel clean rein; sauber; ohne Einschränkung clean acceptance bedingunsloses Akzept clean bill of lading reines Konnossement clean bill of exchange Wechsel ohne Dokumentensicherung clean copy Reinschrift clear klar clear profit Reingewinn clearance sale Totalausverkauf clearance certificate Zollfreigabebescheinigung clearance of payments Zahlungsausgleich clearance inwards Eingangsdeklaration clearance outwards Ausgangsdeklaration clearing Abrechnung clearing account Verrechnungskonto clearing bank Verrechnungsbank; Verrechnungsstelle clearing house Abrechnungsstelle clearing item Abrechnungsposten clearing transaction Verrechnungsgeschäft clerical assistant Bürogehilfe clerical error Schreibfehler clerical work Büroarbeit clerk Büroangestellter client Klient; Kunde; Mandant clientele Kundschaft clip schneiden clippings Zeitungsausschnitte clique Gruppe cloak room ticket Gepäckaufbewahrungsschein clock Uhr clock in den Arbeitsbeginn registrieren clock out das Arbeitsende registrieren clock card Uhrenstechkarte close schließen; Schluss close of argument Schluss der Beweisführung close the books die Bücher abschließen closed geschlossen closed shop alle gehören der Gewerkschaft an closing price Schlusspreis; Schlusskurs closing of accounts Rechnungsabschluß closure Schließung coast guards Küstenwache coasting trade Küstenschifffahrt; Küstenhandel coastal steamer Küstendampfer code Kode code number Kennziffer code word Schlüsselwort coding Kodierung; Verschlüsselung coefficient Koeffizient coefficient of elasticity of demand Koeffizient der Nachfrageelastizität coefficient of elasticity of supply Koeffizient der Angebotselastizität coin Münze coin box Münzfernsprecher coinage Münzprägung collaborate zusammenarbeiten collaboration Zusammenarbeit collaborator Mitarbeiter collapse zusammenbrechen; Zusammenbruch collateral Sicherheit collateral loan Lombardkredit collateral securities doppelte Sicherheit collect sammeln; einsammeln; Inkasso vornehmen collect on delivery Nachnahme collectible einlösbar collection Inkasso collection agency Inkassobüro collection expenses Inkassokosten collection of data Erfassung von Daten collective kollektiv collective account Sammelkonto collective bargaining Tarifverhandlungen collective expenditure Sammelaufwendung collective ownership Kollektivbesitz column Spalte columnar bookkeeping amerikanische Buchführung combination Kombination; Verbindung combine verbinden; Konzern come in einlaufen; ankommen come into force in Kraft treten come to sth. sich belaufen auf comeback Neuanfang; Erholung coming into force Inkrafttreten commence anfangen commencement Anfang commend empfehlen commendatory letter Empfehlungsschreiben comment erklären; Kommentar commerce Handel commercial wirtschaftlich; kommerziell commercial academy Handelsakademie commercial advertising Wirtschaftswerbung commercial agreement Handelsabkommen commercial attache Handelsattache commercial bill Warenwechsel commercial centre Wirtschaftszentrum commercial draft Handelstratte commercial enterprise Handelsunternehmen commercial interests Handelsinteressen commercial invoice Handelsrechnung commercial law Handelsrecht commercial policy Handelspolitik commercial risk privatwirtschaftliches Risiko commercial traveller Handelsreisender commercial treaty Handelsvertrag commercial usage Handelsbrauch commission Kommission; Ausschuss commission account Provisionskonto commission agent Kommissionär commission basis Provisionsgrundlage commission business Kommissionsgeschäft commit sich verpflichten commitment Verpflichtung committee Kommission committee of inspection Inspektionskomitee; Gläubigerausschuss committee of creditors Gläubigerausschuss commodities Wirtschaftsgüter commodity exchange Warenbörse commodity markets Rohstoffmärkte common gemein; einfach; gewöhnlich common carrier Transportunternehmer common law bürgerliches Recht; Gewohnheitsrecht common labourer ungelernter Arbeiter Common Market Gemeinsamer Markt common stock Stammaktien common shares Stammaktien communicate mitteilen communication Nachrichtenverbindung; Nachrichtenverkehr community Gemeinde community of interests Interessengemeinschaft commuter Pendler compact kompakt; kurzgefasst; Pakt; Vertrag Companies Act (Br.) entspricht AG-Gesetz und GmbH-Gesetz company Firma company promoter Finanzierungsvermittler company reserves Firmenreserven comparable with vergleichbar mit comparative vergleichsweise comparatively verhältnismäßig compare vergleichen comparison Vergleich comparison of costs Kostenvergleich compensate kompensieren compensation Kompensierung; Abfindung compensation insurance Unfallversicherung compensation for loss of office Abfindung compete konkurrieren; im Wettstreit liegen competence Zuständigkeit competent zuständig competition Wettbewerb competitive wettbewerbsfähig competitor Konkurrent; Mitbewerber compilation Zusammenstellung compile zusammenstellen complain sich beschweren complaint Beschwerde complement ergänzen complementary komplementär; ergänzend complementary goods Komplementärprodukte complete ausfüllen; vollständig completion Vervollständigung compliance Erfüllung complicate kompliziert machen; komplizieren complicated kompliziert comply with erfüllen component Komponente; Bestandteil composite zusammengefasst composite demand Gesamtbedarf composite rate Durchschnittssteuersatz composition Zusammensetzung; Vergleich compound interest Zinseszins compound entry Sammelbuchung compound item Sammelposten comprehensive komprehensiv; umfassend comprehensive school Gesamtschule comprehensive insurance umfassende Versicherung compromise Vergleich comptroller (Br) (alte Form) staatlicher Kontrolleur compulsory liquidation Zwangsauflösung computation Errechnung computation of interest Zinsberechnung computation of income tax Einkommensteuerberechnung compute errechnen computer Computer; Rechner conceal verschleiern; verbergen concealment Verschleierung concentrate konzentrieren concentration Konzentration concern betreffen; Unternehmen; Firma concerned betroffen; beteiligt concerning betreffs concession Erlaubnis; Zugeständnis conciliation Schlichtung conciliator Schiedsrichter conciliatory proceedings Güteverfahren; Schlichtungsverfahren conclude schließen; zum Schluss kommen conclusion Schluss condemn verdammen condense kurz fassen condensed form zusammengefasste Form; gekürzte Form condition Bedingung conditions of sale Lieferbedingungen conditional bedingt conditional endorsement Indossament mit Vorbehalt conditional sale Verkauf unter Eigentumsvorbehalt conduct Benehmen confer with sb. mit jemandem Rücksprache nehmen conference Besprechung confidant Vertrauensperson confide anvertrauen confidential vertraulich confine beschränken confirm bestätigen confirmation Bestätigung confirmatory letter Bestätigungsschreiben confirmed letter of credit bestätigtes Akkreditiv confiscate konfiszieren; beschlagnahmen confiscation Beschlagnahme conflict Konflikt conflict of interest Interessenkonflikt conform gleichlautend conformity Übereinstimmung connect verbinden connection Verbindung consent zustimmen; Zustimmung consider bedenken; überlegen considerable beträchtlich consideration Überlegung; Gegenleistung consign übersenden consignee Empfänger consigned goods Konsignationsware consignment Sendung; Kommission consignment note Frachtbrief consignor Absender consolidate vereinigen; konsolidieren consolidated balance sheet konsolidierte Bilanz consols Staatspapiere (Br.) consortium Konsortium constant konstant constant costs konstante Kosten constitute festlegen construct erbauen; errichten; auslegen construction Errichtung; Bau; Auslegung consul Konsul consular konsularisch consular invoice Konsulatsfaktura consular fee Konsulatsgebühr consult konsultieren consultant Berater consult befragen consultation Beratung consume verbrauchen; konsumieren consumer Verbraucher consumer credit Verbraucherkredit consumer goods Verbrauchsgüter consumer industry Verbrauchsgüterindustrie consumer preference Bevorzugung durch den Verbraucher consumer price index Verbraucherpreisindex consumption Verbrauch consumption tax Verbrauchssteuer contact Kontakt; kontaktieren; Kontakt aufnehmen contain enthalten container Behälter; Container containerization Containerisierung containerize auf Container umsteigen containerized freight containerisierte Fracht container ship Container-Schiff contemporaneous performance Erfüllung Zug um Zug contents Inhalt contest anfechten contestation Anfechtung continuation Fortsetzung continue fortsetzen continuity Kontinuität continuous inventory Dauerinventur contra gegen contraband Kontrabande contract Vertrag contract in writing schriftlicher Vertrag contract of affreightment Frachtvertrag contract of personal service Dienstvertrag contract period Vertragsdauer contract terms Vertragsbedingungen contracting party vertragschießende Partei contraction Schrumpfung contractor Unternehmer; Bauunternehmer contractual vertraglich contribute beitragen contribution Beitrag control Kontrolle; kontrollieren; beherrschen control of consumption Konsumlenkung control of costs Kostenüberwachung controlled economy Zwangswirtschaft control of operations Betriebsüberwachung control of purchasing power Kaufkraftlenkung controller Kontrolleur; Revisor controlling interest maßgebendes Kapitalinteresse convenience Bequemlichkeit convenience goods Verbrauchsgüter convenient bequem; dienlich convention Abkommen conventional konventionell conversion Umwandlung conversion cost Verarbeitungskosten conversion of a debt Umschuldung convert konvertieren; umwandeln convertibility Umwandelbarkeit convertible umwandelbar cook of the books derjenige der Bücher verschleiert cooking of balances Bilanzverschleierung cooling-off period Abkühlungsperiode cooperate kooperieren cooperation Zusammenarbeit cooperative genossenschaftlich cooperative basis genossenschaftliche Basis cooperative credit association Kreditgenossenschaft cooperative marketing genossenschaftliches Absatzwesen cooperative society Genossenschaft coordinate koordinieren coordination Koordinierung co-ownership Miteigentumsrecht co-proprietor Mitbesitzer cope with mit etwas fertig werden; etwas schaffen copy Kope; Abschrift; Ablichtung copyright Urheberrecht copy typist Typistin; Schreibkraft corporate genossenschaftlich; gemeinsam corporate body juristische Person corporate debt Gemeinschaftsschuld; Gemeinschuld corporate enterprise Körperschaft corporation (US) soviel wie AG; GmbH; (Br) Körperschaft corporation property transfer tax Kapitalverkehrssteuer corporation tax Körperschaftssteuer corner Ecke corner the market einen Aufkäuferring binden correct berichtigen correspond with übereinstimmen mit correlation Korrelation cost Kosten cost account Unkostenaufstellung cost accounting Kostenrechnung cost allocating Kostenzuordnung cost and freight Warenkosten und Frachtkosten cost benefit analysis Kosten/Nutzen-Anbalyse cost centre Kostenstelle cost effectiveness Kostenwirksamkeit cost free gratis cost insurance and freight C.I.F. (Incoterm) cost and freight C. & F.; Kosten und Fracht (INCOTERM) cost of cartage Rollgeld; Fuhrgeld; Fuhrkosten cost of delivery Kosten der Anlieferung cost of education Bildungsaufwand cost of entertainment Repräsentationskosten cost of living Lebenshaltungskosten cost of living bonus Teuerungszulage cost of living index Lebenshaltungsindex cost of production Produktionskosten cost report Kostenaufstellung cost variance Kostenabweichung costs Kosten costs incurred angefallene Kosten costs of financing Finanzierungskosten costs of maintenance Instandhaltungskosten costs of replacement Wiederbeschaffungskosten cost-conscious kostenbewusst cost-price Selbstkostenpreis costing Kostenermittlung costly kostspielig council Ratsversammlung counsel Rat; Beratung counseling Beratungsdienst count rechnen countable zählbar counter Schalter counter claim Gegenforderung counter entry Gegenbuchung counterbalance Gegengewicht counterfeit Fälschung counterfeit money Falschgeld counterfoil Abschnitt countermand rückgängig machen countersign gegenzeichnen countersignature Gegenzeichnung country Land country of origin Ursprungsland country of destination Bestimmungsland country of exportation Exportland country of importation Importland country of production Herstellungsland county Grafschaft coupon Abschnitt course Gang course of business Geschäftsablauf course of instruction Lehrgang course of studies Studiengang; Lehrgang court Gerichtshof court fees Gerichtskosten court of arbitration Schiedsgericht court of bankruptcy Konkursgericht cover decken; Umschlag; Deckung coverage Deckung; Versicherungsschutz covering letter Begleitschreiben covering note Begleitschreiben co-worker Mitarbeiter craft Handwerk craftsman Handwerker cranage Krangebühr crash Krach; Zusammenstoß; Zusammenbruch crate Lattenverschlag credentials Beglaubigungsschreiben credit Kredit; Guthaben; Vertrauen credit accommodation Krediterleichterung credit agency Kreditbüro credit card Kreditkarte credit control Kreditüberwachung credit department Kreditabteilung credit expansion Kreditausweitung credit limit Kreditgrenze; Darlehensgrenze credit line Kreditgrenze credit note Gutschrift creditor Gläubiger credit transfer Überweisung eines Guthabens crisis Krise critical path analysis Netzplantechnik cross querschreiben crossed cheque Verrechnungsscheck cross reference Verweisung cum dividend mit Dividende cumulative kumulativ currency Währung currency clause Währungsklausel currency rates Umtauschsätze currency restrictions Währungsbeschränkungen currency reform Währungsreform currency system Währungssystem current laufend current account (Br.) Girokonto current assets Umlaufvermögen current liabilities laufende Verbindlichkeiten current price Tagespreis current rate Tageskurs curtail beschneiden; kürzen custodian Vermögensverwahrer custody Gewahrsam custom Brauch customer Kunde customs Zoll customs authorities Zollbehörde customs barriers Zollschranken customs broker Zollmakler customs duties Zölle customs invoice Zollfaktura customs shed Zollschuppen customs union Zollunion cut kürzen cutback Reduzierung; Abbau cutting of prices Preisunterbietung; Preisnachlass cycle Zyklus; Kreis cyclical fluctuation Konjunkturschwankung cyclical unemployment konjunkturbedingte Arbeitslosigkeit D daily täglich daily allowance Tagegeld daily earnings Tagesverdienst damage schaden; beschädigen; Schaden damages Schadenersatz damages at law gesetzlicher Schadensersatzanspruch danger Gefahr danger bonus Gefahrenzulage data Daten data processing Datenverarbeitung date datieren; Datum; Verabredung date book Terminkalender date of invoice Rechnungsdatum date of payment Zahlungstag date of maturity Verfalltag dating forward Vorausdatieren days of grace drei Tage Zahlungsfrist dead freight zu zahlende aber nicht genutzte Fracht deadline letzter Termin deadlock Stillstand dead weight Leergewicht deal Geschäft; Abschluß dealer Händler dear money teure Gelder; bei hohem Zinssatz death duties Erbschaftssteuer death rate Sterblichkeit debenture Schuldverschreibung debenture capital durch Verkauf von Obligationen erworben debenture stock Aktien mit garantierter Dividende debit belasten; Lastposten; Schuldposten debit balance Saldo zu Ihren Lasten debit note Lastschrift debit side Soll debt Schuld debtor Schuldner debtor nation Schuldnerland decade system Zehnersystem decartelization Entflechtung decartelize entflechten decentralization Dezentralisierung decentralize dezentralisieren deceptive mark irreführendes Markenzeichen decimal dezimal decimalization Dezimalisierung decimalize dezimalisieren decision Entscheidung decision theory Entscheidungstheorie deck Deck deck cargo Deckfracht declaration Erklärung declaration of bankruptcy Bankrotterklärung declaration of property Vermögensanmeldung declare erklären declared dividend gebilligte Dividende declared value angegebener Wert decline Niedergang; Rückgang decrease Abnahme decrement Verminderung deduct abziehen deductible abzugsfähig deductible from income tax einkommensteuerabzugsfähig deduction Abzug deduction at source Abzugspflicht deduction of expenses Abzug der Spesen deed Urkunde deed of partnership Gesellschaftsvertrag der oHG default Nichterfüllung; Versäumnis default of payment Nichtzahlung default in delivery Lieferverzug default fine Verspätungszuschlag defaulted notleidend defaulter säumiger Zahler defeasible anfechtbar defect Fehler; Mangel defective mangelhaft defer aufschieben deferment Aufschub deferred charges to expense transitorisches Aktivum deferred charges to income transitorisches Passivum deferred demand verzögerte Nachfrage deferred item Übergangsposten deferred shares Verzugsaktien deferred stock Verzugsaktien deficit Defizit; Fehlbetrag deficiency Fehlbetrag definite bestimmt; endgültig deflation Deflation defraud betrügen defraudation of customs Zollhintergehung defunct gelöscht defunct company im Handelsregister gelöschte Firma delay Verzögerung; verzögern delaying tactics Verzögerungstaktik delcredere agent Vertreter der das Inkasso garantiert delegate delegieren delegation Übertragung einer Vollmacht delete streichen delinquent account Dubiosekonto deliver ausliefern; anliefern deliver a letter einen Brief zustellen delivery Anlieferung; Lieferung delivery date Liefertermin delivery note Lieferschein demand nachfragen; Nachfrage demand and supply Nachfrage und Angebot demography Bevölkerungsstatistik demonstrate beweisen; vorführen demonstration Vorführung; Demonstration demoralized market äußerst gedrückter Markt demurrage Liegegeld denationalize in Privatbesitz überführen depart abfahren department Abteilung Department of Commerce (US) Handelsministerium Department of Trade and Industry Wirtschaftsministerium department store Kaufhaus departmental costs Abteilungskosten departure Abfahrt depend on abhängig sein von deposit Einlage; Anzahlung deposit account Sparkonto deposit bank Depositenbank deposit slip Einzahlungsschein depositor Einzahler depot Lagerhalle; (US) Güterbahnhof depreciate abschreiben; abwerten depreciation Abschreibung depreciation of currency Geldentwertung depression Baisse; Wirtschaftskrise derived demand abgeleitete Nachfrage; sekundäre Nachfrage derived income abgeleitetes Einkommen; sekundäres Einkommen describe beschreiben description Beschreibung descriptive beschreibend; erklärend descriptive economics beschreibende Volkswirtschaftslehre design Entwurf; Gestaltung; Konstruktion designer Gestalter desk Schreibtisch desk work Büroarbeit destination Bestimmungsort detach abtrennen; trennen; lösen detachable abtrennbar detail Einzelheit devaluate abwerten devalue abwerten devaluation Abwertung develop entwickeln developing country Entwicklungsland development Entwicklung development areas Entwicklungsgebiet development of costs Kostenentwicklung development potentialities Entwicklungsmöglichkeiten deviate abweichen deviate from a principle von einem Grundsatz abweichen deviation Abweichung device Gerät diagram Diagramm; Schaubild dial eine Telefonnummer anwählen dialing tone Amtszeichen diary Tagebuch; Terminkalender differ sich unterscheiden; abweichen difference Unterschied differentiation Staffelung diminish verringern diminishing returns abnehmender Ertrag diminishing utility abnehmender Nutzen diplomat Diplomat diplomatic diplomatisch diplomatic immunity diplomatische Immunität diplomatist Diplomat direct direkt direct costs direkte Kosten direct charges direkte Kosten direct mail direkte Zuschrift; direkte Werbung direct materials einer Ware zugeordnetes Material direct selling direkter Verkauf direction Anweisung director Direktor director general Generaldirektor director's report Jahresbericht directors' remuneration Aufsichtsratsvergütung directorship Aufsichtsratsposten directory Namensverzeichnis disagio Kursverlust; Abschlag disadvantage Nachteil disburse auslegen discharge entlassen; Entlassung discharged bankrupt rehabilitierter Konkursschuldner discharge from liability einer Verbindlichkeit entheben discount Diskont; Nachlaß; Skonto discount house Wechselbank discounts received Liefererskonto discounting of a bill Wechseldiskontierung discrepancy Unstimmigkeit discretion Diskretion; Ermessen discretionary power Ermessen discriminate diskriminieren; benachteiligen discrimination Diskriminierung; Benachteiligung dishonour entehren; nichtachten; nicht einlösen dishonoured note nicht eingelöster Wechsel dishonouring of a B/L Nichthonorierung eines Wechsels dishonourable unredlich dismantle auseinandernehmen dismiss entlassen dismissal Entlassung disparity Ungleichheit dispatch absenden; abfertigen; Abfertigung disposable personal income verfügbare persönliche Einkommen disposal Verfügung dispose verfügen; verkaufen dispossess enteignen dispossession Enteignung display ausstellen; Schaufensterdekoration disputable strittig dispute auseinandersetzen; Auseinandersetzung disregard mißachten disrepute Mißkredit dissolve auflösen dissolution Auflösung distrainable pfändbar distraint Zwangsvollstreckung distribute verteilen; vertreiben distribution Vertrieb distribution basis Verteilungsschlüssel distributor Zwischenhändler diversification Diversifikation diversify diversifizieren divide teilen dividend Dividende dividend on capital Kapitaldividende dividend prospects Dividendenaussichten division Teilung; Abteilung division of labour Arbeitsteilung division of profits Gewinnverteilung division of territory Gebietsaufteilung dock Dock; Trockendock dock dues Hafengebühren; Dockgebühren doctoring of balances Bilanzverschleierung document Dokument documentary durch Dolumente belegt documentary credit Dokumentenakkredtitiv documentary proof schriftlicher Nachweis documents against acceptance Dokumente gegen Wechselakzept documents against payment Zahlung gegen Dokumente dodge a tax eine Steuer umgehen domestic inländisch domestic bill Inlandswechsel domestic consumption Inlandsverbrauch domestic debts Inlandsschulden domestic market Inlandsmarkt domestic price Inlandspreis domestic trade Binnenhandel domestic sales Inlandsumsätze domicile Wohnort donation Spende dormant partner stiller Teilhaber doubtful claim zweifelhafte Forderung down payment Anzahlung downtown Innenstadt (US) downward drift fallende Tendenz double entry bookkeeping doppelte Buchführung double indemnity Doppelversicherung draft entwerfen; ziehen; Entwurf; Tratte drafts and cheques in hand Wechsel- und Scheckbestand draw ziehen; zeichnen drawback Nachteil drawer Aussteller drawee Bezogener drift Tendenz drive Werbefeldzug driver Fahrer drop fallen; fallen lassen dry goods nicht Lebensmittel dubious ungewiß due fällig due date Fälligkeitstag dull lustlos dullness Flaute dull season flaue Geschäftszeit duly authorized person Bevollmächtigter dummy Schaufensterpuppe dump auf den Markt werfen dumping Dumping; Unterbietung dunning (US) Mahnung dunning letter Mahnbrief (US) dunning statistics Mahnstatistik duplicate Duplikat; zweifach durable dauerhaft; unverderblich durable commodities unverderbliche Güter dutiable abgabepflichtig duty Pflicht; Zoll duty free zollfrei duty-free shop zollfreier Laden duty paid verzollt E E. & O.E. Irrtümer und Auslassungen zugelassen early warning system Frühwarnsystem earmark Buchzeichen; Kennzeichen earn verdienen earned income durch eigene Arbeit verdientes Einkommen earner Verdiener earnest money Handgeld earnings Einkünfte earnings statement Gewinaufteilung ease erleichtern; Erleichterung easing Abschwächung easy money leichtverdientes Geld eat up savings Ersparnisse aufbrauchen econometrics Ökonometrie economic wirtschaftlich economic adviser Wirtschaftsberater economic boom Konjunkturaufschwung economic demand wirtschaftliche Nachfrage economic area Wirtschaftsgebiet economic forecaster Konjunkturbeobachter economic geography Wirtschaftsgeographie economic growth Wirtschaftswachstum economic history Wirtschaftsgeschichte economic independence wirtschaftliche Unabhängigkeit economic law Wirtschaftsrecht economic planning Wirtschaftsplanung economic sanctions Wirtschaftssanktionen economic system Wirtschaftssystem economic theory Wirtschaftstheorie economical sparsam; wirtschaftlich economics of growth Wachstumstheorien economies of scale Kostenersparnis durch Massenproduktion economist Wirtschaftswissenschaftler; Volkswirt economize einsparen economy Wirtschaft educate erziehen education Erziehung; Bildung educational advertising Aufklärung EEC Europäischer Gemeinsamer Markt effect Wirkung effective wirksam effective demand wirksame Nachfrage effects Auswirkungen efficiency Leistungsfähigkeit efficiency bonus Leistungsprämie; Leistungszulage efficient leistungsfähig eight-hour day Achtstundentag elaborate ausgearbeitet; durchdacht; ausarbeiten elaboration Ausarbeitung elapse verstreichen elapsed time verstrichene Zeit elastic elastisch elastic demand elastische Nachfrage elastic supply elastisches Angebot elasticity Elastizität elasticity of demand Elastizität der Nachfrage elasticity of supply Elastizität des Angebots electronic elektronisch electronic data processing elektronische Datenverarbeitung electronics Elektronik element Element element of expenditure Ausgabeposten elementary elementär eligible wählbar eliminate eliminieren; ausschließen elimination Eliminierung elimination of risk Risikoausschaltung embargo Embargo; Handelssperre embarrassed in Verlegenheit embassy Botschaft embezzle veruntreuen embezzlement Veruntreuung emerge auftauchen emergency Notlage emergency address Notadresse emigrant Auswanderer emigrate auswandern emigration Auswanderung employ beschäftigen; einsetzen; anwenden employee Beschäftigter; Angestellter; Arbeitnehmer employee benefits Sozialleistungen employer Arbeitgeber employer's salary Unternehmerlohn employment Beschäftigung employment exchange Arbeitsvermittlung employment of capital Kapitaleinsatz employment of labour Arbeitseinsatz empower ermächtigen empties Leergut empty leer enable ermöglichen en bloc im ganzen encashment of debt Schuldeneinziehung encashment charges Einzugskosten enclose einschließen enclosure Einlage; Anlage encourage ermutigen encouragement Ermutigung endanger in Gefahr bringen endeavour bemühen; Bemühung endless endlos endorse indossieren endorsee Indossatar endorsement Indossament endorser Indossant endow stiften endowment Stiftung endowment fund Fond end product Endprodukt endure ertragen; dulden enforce erzwingen enforceable vollstreckbar enforcement Vollstreckung engage beschäftigen; verpflichten engaged beschäftigt; besetzt engagement Beschäftigung; Verabredung; Verpflichtung enlarge vergrößern enlargement Vergrößerung enroll einschreiben ensure absichern; sichern; gewährleisten enter eintreten enterprise Unternehmen; Unternehmung enterprising unternehmenslustig entertainment tax Vergnügungssteuer entitle berechtigen entity Einheit entity accounting Konzernbuchführung entrepreneur Unternehmer entrepreneurial activity Unternehmertätigkeit entice locken entitle berechtigen entrust anvertrauen entry Eintrag; Buchung envelope Umschlag equal gleich equalize ausgleichen equal pay gleiche Entlohnung equilibrium Gleichgewicht equalization Ausgleichung equip ausstatten equipment Ausstattung; Ausrüstung; Gerätschaft equity Eigenkapital equities Dividendenpapiere equivalent gleichwertig; Gegenwert era Epoche; Zeitraum erase auslöschen; ausradieren erect aufrichten; bauen ergonomics Ergonomie errand Botengang erroneous entry Fehlbuchung; Falschbuchung error Irrtum errors and omissions accepted Irrtümer und Auslassungen vorbehalten escalator clause Gleitklausel escape clause Rücktrittsklausel essential wesentlich essentials lebensnotwendige Güter; lebenswichtige Güter establish sich etablieren; begründen establishment Unternehmen estate Grundbesitz estate agent Immobilienmakler; Grundstücksmakler estate agency Immobilienbüro esteem Achtung; Hochschätzung estimate einschätzen; veranschlagen; bewerten estimation Beurteilung; Meinung estimation of damage Schadensabschätzung estimation of expenditure Ausgabenschätzung estimation of prospective profits Gewinnabschätzung estimated inventory geschätzte Inventur Euro-dollars EURO-Dollar Europe Europa European Europäer evade vermeiden; ausweichen evaded income tax hinterzogene Einkommensteuer evaluate bewerten evaluation Bewertung evasion of taxes Steuerumgehung evidence Beweis; Beweismaterial evident offensichtlich; erwiesen; klar ex works ab Werk (INCOTERM) ex warehouse ab Lager (INCOTERM) ex factory ab Fabrik (INCOTERM) exact time genaue Zeit exaggerate übertreiben exaggerated demand Übernachfrage exaggeration Übertreibung exceed überschreiten except ausgenommen exception Ausnahme exceptional ausnahmsweise exceptional offer Sonderangebot exceptional price Sonderpreis excess Übermaß excess capacity Überkapazität excess delivery Mehrlieferung excess of purchasing power Kaufkraftüberhang excess of weight Übergewicht excess payment Überzahlung excessive übermäßig exchange Wechsel; Wechselstube; Telephonvermittlung exchange control Devisenkontrolle exchange office Wechselstube exchange rate Umrechnungskurs exchange table Kurstabelle exchange of goods and services Waren- und Dienstleistungsverkehr exchange of ideas Meinungsaustausch exchange of information Informationsaustausch Exchequer Schatzkanzler (Br.) excise tax Verbrauchssteuer exclude ausschließen exclusion Ausschluss exclusive ausschließlich exclusive agent Alleinvertreter exclusive agency Alleinvertretung exclusive agreement Exklusivvertrag execute ausführen execution Ausführung execution of a contract Ausführung eines Vertrages execution of an order Auftragsausführung executive leitender Angestellter executor Testamentsvollstrecker exempt ausgenommen; erlassen exemption Befreiung exemption clause Ausnahmebestimmung ex gratia payment Zahlung ohne Verpflichtung exhaust erschöpfen exhausted erschöpft; geleert exhibit ausstellen exhibited articles Ausstellungsgüter exhibiting company Aussteller exhibition Ausstellung exhibitor Aussteller exit Ausgang expand expandieren; sich ausdehnen expansion Ausdehnung expectancy of life Lebenserwartung expected profit erwarteter Gewinn expenditure Ausgabe; Aufwand expense Spesen expense account Spesenkonto expensive teuer expert Fachkundiger expert opinion Gutachten expiration Verfall expire verfallen; ungültig werden; auslaufen expiration Verfall expiration date Verfalltag expired verfallen explanation Erklärung explain erklären explicit consent ausdrückliche Zustimmung exploit ausnutzen; verwerten; ausbeuten exploitation Ausnutzung; Ausbeutung exploitation rights Ausbeutungsrechte export Export; exportieren export agent Exportvertreter export bonus Ausfuhrprämie export clerk Exportsachbearbeiter export duty Ausfuhrzoll export credit insurance Exportversicherung export incentives Exportvergünstigungen export licence Exportgenehmigung; Ausfuhrgenehmigung export promotion Exportförderung exporter Exporteur; Ausführer exporting country Ausfuhrland exports Exportgeschäfte; Exportumsätze express ausdrücken express delivery Eilzustellung express parcel Eilpaket extend ausdehnen; verlängern extended coverage erweiterter Versicherungsschutz extension Ausdehnung; Verlängerung extension of a B/L Prolongation eines Wechsels extension of a period Fristenverlängerung extension of payment Zahlungsaufschub extension of permit Verlängerung der Genehmigung extension of a patent Patentverlängerung extension of visa Visaverlängerung extensive umfassend extent Ausmaß external ausländisch; Auslands- external account externes Konto external trade Außenhandel extinction of a debt Löschung einer Schuld extra zusätzlich extra pay Zulage extract Auszug extractive industry Rohstoffindustrie extraordinary außergewöhnlich extraordinary circumstances außergewöhnliche Umstände extraordinary depreciation außergewöhnliche Abschreibung extraordinary expenditure außergewöhnliche Aufwendungen extraordinary general meeting außerordentliche Hauptversammlung extraordinary income außerordentliche Erträge extras Nebenausgaben extravagant expenses übermäßiger Aufwand extreme extrem ex warehouse ab Lager (INCOTERM) ex factory ab Fabrik (INCOTERM) ex works ab Werk (INCOTERM) eye catcher Blickfang eye strain Augenbelastung F fabric Gewebe; Stoff fabricate herstellen fabulous wealth sagenhafter Reichtum face Vorderseite eines Dokuments face amount Nennbetrag face value Nennwert facilitate erleichtern; ermöglichen facilities Einrichtungen; Erleichterungen facilities for payment Zahlungserleichterungen facsimile Faksimile fact Tatsache fact-finding Untersuchung factor Faktor factors of production Produktionsfaktoren factors of safety Sicherheitsfaktoren factoring Faktoring factory Fabrik factory building Fabrikgebäude factory bookkeeping Betriebsbuchhaltung Factory Acts (Br.) Gesetz betreffend Fabriken factory-made fabrikmäßig hergestellt fact-finding Tatsachenfeststellung factory system Fabriksystem fail versagen; verfehlen; durchfallen failing which in Ermangelung von failure Fehlschlag failure to meet a deadline Fristenüberschreitung fair anständig fair Messe fair market value üblicher Marktpreis Fair Trade Law Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb fair wear and tear übliche Abnutzung fall Herbst (US) false falsch false entry Falschbuchung; Fehlbuchung false pretences falscher Vorwand familiar vertraut family allowance Familienzulage family expenditure survey Untersuchung der Lebenshaltungskosten family income Einkommen der Familie family income supplement Familienzulage fancy goods Modeartikel fare Fahrpreis farm Farm; Bauernhof farmer Farmer; Bauer farm cooperative landwirtschaftliche Genossenschaft fast-growing schnell wachsend fast-selling sich schnell verkaufend fault Fehler; Verschulden faulty fehlerhaft faulty goods nicht einwandfreie Ware; fehlerhafte Ware favour Gunst; Gefallen favourable günstig favourable balance of trade aktive Handelsbilanz feasible machbar feasibility Durchführbarkeit feasibility study Realisierbarkeitsstudie featherbedding Einstellung überflüssiger Arbeitskräfte feature Charakteristikum federal tax Bundessteuer federation Verband federation of employers Arbeitgeberverband fee Gebühr feedback Rückkopplung; Feedback feudal system Feudalsystem figure Zahl; Figur figurehead Repräsentationsfigur file ablegen; Akte filing of a claim Anmeldung einer Forderung; eines Anspruchs filing of an application Hinterlegung eines Antrags filing of a petition Hinterlegung einer Eingabe final endgültig; letzte final amount Endbetrag final dividend Schlußdividende final stock Endbestand finance Finanzwirtschaft finance company Finanzierungsgesellschaft finance market Geldmarkt financial finanziell financial accounting Finanzbuchführung financial aid finanzielle Hilfe financial control Finanzkontrolle financial policy Finanzpolitik financial position finanzielle Lage financial report Finanzbericht financial standing finanzielle Lage; Vermögenslage financial statement Finanzaufstellung financial status finanzielle Lage Financial Times industrial ordinary share index financial transactions Geldgeschäfte financial year Geschäftsjahr financially sound kapitalstark financially weak kapitalschwach financier Bankier; Geldgeber financing Finanzierung finding of capital Kapitalbeschaffung finding of means Mittelbeschaffung findings Resultate fine Geldstrafe finish beenden; abschließen finished goods Fertigwaren finishing Veredelung finishing process Veredelungsverfahren fire insurance Feuerversicherung firm fest; Firma first-class erstklassig first-grade erstklassig first-rate erstklassig first of exchange Primawechsel first in; first out die ältesten Anträge zuerst fiscal year Geschäftsjahr; Rechnungsjahr fiscal period Abrechnungszeitraum fiscal policy Steuerpolitik fit geeignet; anpassen fitter Mechaniker fix festsetzen fixation Festsetzung fixed assets Anlagevermögen fixed charge feste Gebühr fixed befestigt; festgelegt fixed charges fixe Kosten fixed costs fixe Kosten fixed liabilities langfristige Verbindlichkeiten fixed-price contract Vertrag zu festen Preisen fixtures Zubehör; Einbauten; festes Inventar fixtures and fittings Einbauten und Zubehör flexible flexibel; wendig flag Flagge flags of convenience Gefälligkeitsflaggen flat flach flat rate einheitlicher Satz flat rate of interest einheitlicher Zinssatz fleece jemanden ausnehmen; übervorteilen flexible working hours gleitende Arbeitszeit flimsy paper Durchschlagpapier flight Flug floating schwebend floating capital Umlaufvermögen; Betriebskapital floating policy Generalpolice floating assets Betriebskapital floating debt schwebende Schulden flotsam and jetsam Strandgut flourish blühen; gedeihen flourishing blühend flow Fluß flow of capital Kapitalabwanderung flow of material Materialfluß flow of traffic Verkehrsstrom flow chart Durchlaufplan fluctuate fluktuieren; schwanken fluctuating market value veränderlicher Kurswert fluctuation Schwankung fluctuation of price Preisschwankung fluctuation of the market Marktschwankung fluctuations in the money market Geldmarktschwankungen folder Schnellhefter follow folgen follow-up nachfassen follow-up date Nachfaßtermin follow-up system Wiedervorlageverfahren follow-up of orders Terminüberwachung foods Lebensmittel fool-proof narrensicher force Kraft; zwingen forced sale Zwangsverkauf force majeure höhere Gewalt force of attraction Anziehungskraft forced erzwungen forecast vorhersagen; Vorhersage; Voraussage forecasting Vorhersage; Prognose; Konjunkturprognose; foreign ausländisch foreign assets Auslandsguthaben foreign bill Auslandswechsel foreign currency ausländische Währung; Devisen foreign currency account Konto in ausländischer Währung foreign debts Auslandsschulden foreign department Auslandsabteilung foreign exchange Devisen foreign exchange broker Devisenmakler foreign trade Außenhandel foreign investment Auslandsinvestition foreign-controlled in ausländischem Besitz foreman Vorarbeiter forfeit verfallen forge fälschen forgery Fälschung form of appearance Erscheinungsform form of enterprise Unternehmensform formal requirements Formvorschriften; Förmlichkeiten formality Formsache formation Errichtung formation of a company Gründung einer Firma formation of prices Preisbildung fortnight vierzehn Tage; zwei Wochen fortune Glück; Vermögen forward nachsenden forwarded letter nachgesadter Brief forward buyer Terminkäufer forward price Terminpreis forward purchases Terminkäufe forward sales Terminkäufe forward seller Terminverkäufer forward transaction Termingeschäft forwarder Versender forwarding agent Spediteur forwarding expenses Versandkosten forwarding charges Versandkosten forwarding instructions Versandvorschriften forwarding of goods Güterbeförderung found gefunden found begründen foundation Gründung founder Gründer fractional amount Bruchteil fragile zerbrechlich frame Rahmen framework System franchise Lizenzvergabe frank frei machen franking machine Frankiermaschine fraud Betrug fraudulent betrügerisch fraudulent entry betrügerische Falschbuchung fraudulent bankruptcy betrügerischer Bankrott free alongside ship frei längsseits Schiff (INCOTERM) free of cost gratis free of charge gebührenfrei free of debt schuldenfrei free of interest zinsfrei free of tax steuerfrei free from breakage bruchfrei free from defects frei von Mängeln free on board frei an Bord (INCOTERM) free on rail frei verladen unsere Station free on truck frei verladen Ihr Fahrzeug free to the door frei Haus free accomodation freie Unterkunft free enterprise freie Marktwirtschaft free gift Werbegeschenk free ticket Freikarte freedom of competition Wettbewerbsfreiheit freedom of speech Redefreiheit freedom of trade Gewerbefreiheit freehold Eigentum; Grundbesitz freehold property Grundbesitz freehold flat Eigentumswohnung free market freier Markt freeze einfrieren freight Fracht freight costs Frachtkosten freight forward Empfänger bezahlt die Fracht (Br.); unfrei freight collect Empfänger bezahlt die Fracht (US); unfrei freight paid Fracht bezahlt freight prepaid Fracht im voraus bezahlt freighting Befrachtung frequency Häufigkeit; Frequenz frequency distribution Häufigkeitsverteilung frequency of loss Schadenshäufigkeit frequency of occurrence Häufigkeit frequent frequentieren; aufsuchen friction Reibung frictional unemployment Fluktuationsarbeitslosigkeit friendly society Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit fringe benefits zusätzliche Sozialaufleistungen frozen eingefroren frozen cargo Gefriergut frozen price eingefrorener Preis; fester Preis fulfill erfüllen fulfillment Erfüllung fulfillment of a contract Vertragserfüllung fulfillment of a plan Planerfüllung full coverage volle Deckung; voller Versicherungsschutz full employment Vollbeschäftigung full-time ganztags; ganztägig fully paid voll eingezahlt function Funktion; Tätigkeit functional building Zweckbau fund Fond fund manager Vermögensverwalter funds Mittel; Staatspapiere funds at disposal verfügbare Mittel furnish versehen furnished apartment möbliertes Zimmer fusion Fusion; Verschmelzung future Zukunft futures Termingeschäfte G gain gewinnen gain of time Zeitgewinn gains Gewinn; Einnahmen gainful einträglich gainings Verdienst gamble Spiel; Glücksspiel; spielen gambler Spekulant gambling Spekulation gambling on the stock exchange Börsenspekulation game of luck Glücksspiel game of pure chance reines Glücksspiel game-playing Spielen gang Arbeitskolonne gang leader Kolonnenführer gap Lücke gasoline price (US) Benzinpreis gate Flugsteig gauge Spurweite gazette Amtsblatt general allgemein general endorsement Blankoindossament General Agreement on Tariffs and Trade GATT-Abkommen general average große gemeinschaftliche Haverie general ledger Hauptbuch general strike Generalstreik generally im allgemeinen generally binding allgemein verbindlich gentleman Herr; Ehrenmann gentlemen's agreement Absprache genuine echt geometric progression geometrische Progression gift Geschenk; Gabe gifted begabt gift parcel Geschenksendung gilt-edged securities mündelsichere Wertpapiere giro (Br.) Postscheckdienst; Postgirodienst giro account Postgirokonto giveaway Werbegeschenk given gegeben give up a business ein Geschäft aufgeben; sich zurückziehen glut Fülle; Flut glut in the market überfüllter Markt glut of money Geldüberhang go-slow Bummelstreik go-between Vermittler goal Ziel gold bar Goldbarren gold reserves Goldreserven gold standard Goldstandard golden handshake Abfindung good address angesehene Wohnlage; angesehene Firma good faith guter Glauben good merchantable quality and condition Ware in gutem Zustand goods Waren goods and chattels Hab und Gut goods in process Halbfertigwaren goods in transit Transportgüter goods of quality Wualitätsware goods on consignment Kommissionsware goods dangerous in themselves an sich gefährliches Gut goods on order Auftragsbestand goods billed to customer in Rechnung gestellte Ware goods in short supply Mangelware goods in stock Warenbestand goods on hand verfügbare Ware goods of foreign make im Ausland hergestellte Ware goods returned Rückware goods on sale or return Kommissionsware goodwill imaginärer Firmenwert goodwill advertising Prestigewerbung go public an die Börse gehen go-slow Bummelstreik government Regierung government department Ministerium government securities Staatsanleihe grade Sorte grading Klassenbezeichnung grant Zuschuss grant a concession eine Konzession erteilen grant a licence eine Lizenz erteilen grant a loan ein Darlehen gewähren graph graphische Darstellung gratuity Gratifikation; Zuwendung gray market grauer Markt grievance Beschwerde grocery Lebensmittelladen gross brutto gross amount Bruttobetrag gross earnings Bruttoeinkünfte gross income Bruttoverdienst gross loss Bruttoverlust gross margin Bruttohandelsspanne gross national product Bruttosozialprodukt gross profit Bruttogewinn gross receipts Bruttoeinnahmen gross salary Bruttogehalt gross weight Bruttogewinn gross yield Bruttoertrag group Gruppe group incentives Gruppenbonus group of banks Bankenkonsortium group piece rate Gruppenakkord group of companies Unternehmensgruppe grow wachsen growth Wachstum growth in consumption Konsumsteigerung growth of population Bevölkerungswachstum growth of saving deposits Spareinlagenzuwachs growth rate Wachstumsrate growth target Wachstumsziel guarantee Bürgschaft; Garante (Br.) guarantee of delivery Liefergarantie guarantee of quality Qualitätsgarantie guaranteed employment garantierte Mindestbeschäftigung guaranteed prices garantierte Preise guaranteed wages garantierte Löhne guarantor Bürge guaranty garantieren; Garantie (US) guardian Vormund guidance Leitung; Anleitung guide Führer; Fremdenführer guidebook Reisehandbuch; Reiseführer; Ratgeber guild Zunft H haberdasher Kurzwarenhändler hail insurance Hagelversicherung half a holiday halber freier Tag half-price halber Preis hallmark Feingehaltsstempel handbook Leitfaden hand over aushändigen handing over Übergabe; Aushändigung handbill Handzettel; Flugblatt handicapped behindert handicraft Handwerk; Kunsthandwerk handle erledigen; handhaben handle any sort of business Geschäfte jeder Art erledigen handle with care vorsichtig umgehen handling charge Bearbeitungsgebühr handling capacity Umschlagskapazität handout Informationsblatt hand worked handgefertigt handwriting Handschrift handwritten handschriftlich handy geschickt haphazard zufällig harbour dues Hafengebühr harbour master Hafenmeister hard cash Hartgeld hard currency harte Währung hard to sell sachwer verkäuflich harden härten; verhärten hardening of the market Erschwerung des Absatzes hardship allowance Härtezulage hardship clause Härteklausel hard up in Geldverlegenheit hardware Geräte (im Computerbereich); Eisenwaren haulage Fuhrgeld; Transport have-not Habenichts hawker Straßenhändler; Wandergewerbetreibender hazard Risiko hazards of the sea Gefahren der See hazardous goods gefährliche Güter hazardous occupation gefährlicher Beruf head of department Abteilungsleiter head of a letter Briefkopf head of a delegation Leiter der Abordnung head of the business Chef des Unternehmens head of the household Familienvorstand head clerk Bürovorsteher headhunting Jagd nach qualifizierten Arbeitskräften heading Briefkopf headline Schlagzeile head office Hauptbüro; Zentrale; Stammhaus headquarters Hauptquartier; Hauptgeschäftsstelle health Gesundheit health hazard Gesundheitsrisiko hearing Anhörung hearing of a witness Vernehmung eines Zeugen heavy schwer heavy industry Schwerindustrie heavy traffic Lastenverkehr health insurance Krankenversicherung hedging Deckungsgeschäfte heir Erbe helicopter Helikopter hidden versteckt hidden defect versteckter Mangel hidden distribution of profits versteckte Gewinnausschüttung hidden effect versteckte Wirkung hidden fault versteckter Fehler; Mangel hidden inflation versteckte Inflation hidden reserves versteckte Reserven; stille Rücklagen highest bid Höchstangebot highest bidder Höchstanbieter high-capacity von hoher Kapazität high-class erstklassig high-grade hochgradig; hochwertig high-performance Hochleistungs- high-pressure selling aggressive Verkaufstechnik high-quality hochwertig high finance Hochfinanz highlight Glanzpunkt highway Fernstraße highway transport Güterfernverkehr (US) hint andeuten; Hinweis; Tip hire mieten hire purchase Mietkauf hire purchase agreement Mietkaufvertrag hire purchase system Mietkaufsystem hire a crew eine Mannschaft anheuern histogram Histogramm hoard horten hoarding Horten hoard up a treasure ein Vermögen ansammeln hold halten hold sb. liable jemanden zur Verantwortung heranziehen hold good gelten hold one's ground sich behaupten holder Inhaber holder in due course rechtmäßiger Inhaber holder of a licence Lizenzinhaber holder of a position Stelleninhaber holding company Dachgesellschaft; Beteiligungsgesellschaft holdup Betriebsstörung; Stillstand holiday pay Urlaubszulage home Zuhause home address Heimatanschrift; Privatanschrift home country Heimatland home delivery Anlieferung frei Haus home made selbstgemacht home market Inlandsmarkt; Binnenmarkt home demand Inlandsnachfrage home consumption Inlandsverbrauch Home Office (Br.) Innenministerium home produced goods Inlandserzeugnisse Home Secretary (Br.) Innenminister homestead Heimstätte; Eigenheim (US) homework system Heimarbeitssystem honorary ehrenhalber honour Ehre; ehren; honorieren honour a bill at maturity Wechsel einlösen honour a bill on presentation einen Wechsel bei Vorlage einlösen honorary member Ehrenmitglied hot heiß hot money heißes Geld hotel Hotel hotel accommodation Hotelunterkunft hotel business Hotelgewerbe hotel reservation Hotelreservierung hour Stunde hours of attendance Dienststunden hours of work Arbeitszeit hourly output Stundenleistung hourly rate Stundenlohn; Stundensatz household Haushalt house hunting Wohnungssuche housekeeping Haushaltsführung housekeeping allowance Haushaltsgeld housing allowance Wohnungszuschuss housing area Wohngebiet housing shortage Wohnungsnot human menschlich human relations zwischenmenschliche Beziehungen im Betrieb hunt jagen hunting for a job auf Arbeitssuche hush money Schweigegeld hypothecation Beleihung I ideal optimal idle ungenutzt; stilliegend idle capital totes Kapital idle money ungenutztes Geld idle time Wartezeit; Leerlaufzeit if necessary nötigenfalls illegal ungesetzlich; illegal illicit dealing unerlaubte Geschäfte illiquid illiquide illiquid assets schwer zu liquidierende Aktivposten illiquidity Zahlungsunfähigkeit imaginary imaginär imaginary profit erwarteter Gewinnverlust bei Versicherungen imitate nachahmen imitation Nachahmung immediate sofort immediate delivery sofortige Lieferung immigrate einwandern immigration quota Einwanderungsquote immovable unbeweglich immovable property Immobilien impair schmälern imperfect unvollkommen imperfect competition unvollständige Konkurrenz implication Implikation imply implizieren import Import; Einfuhr; importieren; einführen import duty Einfuhrzoll import licence Einfuhrerlaubnis import quota Einfuhrquote import restrictions Einfuhrbeschränkungen import of foreign capital Kapitaleinfuhr imported goods Einfuhrwaren importer Importeur; Einführer impose auferlegen inactive untätig; flau inactive capital brachliegendes Kapital incentive Ansporn; Anreiz; Bonus incentive bonus Leistungsprämie incentive scheme Prämiensystem incidence Ereignis incidentals Nebenausgaben include einschließen; beinhalten included eingeschlossen including einschließlich income Einkommen income tax Einkommensteuer income tax return Einkommensteuererklärung income from capital Einkünfte aus Kapitalvermögen income from dependent work Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit income from independent work Einkünfte aus selbstständiger Arbeit income from property Einkünfte aus Miete und Verpachtung income in kind Naturaleinkommen incoming mail Eingangspost incompetent nicht kompetent incorporation handelsgerichtliche Eintragung incorporation of a company Eintragung einer Firma Incoterms internationale Handelsbedingungen der ICC increase Erhöhung; Zunahme; erhöhen; zunehmen increase in efficiency Leistungssteigerung increased demand Mehrbedarf increasing zunehmend increment Zunahme incremental cost Mehrkosten indebted verschuldet indebtedness Verschuldung indemnification Entschädigung indemnify entschädigen indemnity Entschädigung indent Auslandsauftrag über Exporthaus (Br.) independency Unabhängigkeit independent unabhängig index Index; Meßziffer index number Messziffer; Kennziffer index of retail prices Einzelhandelskostenindex indicate anzeigen indication Anzeichen indication of price Preisangabe indifference Gleichgültigkeit indifference curve Indifferenzkurve indirect indirekt indirect costs mittelbare Kosten indirect taxes indirekten Steuern indispensable unerlässlich individual Individuum; einzeln individual costs Einzelkosten individualism Individualismus inducement to buy Kaufanreiz inductive method induktive Methode industrial industriell industrial accident Betriebsunfall industrial building gewerblich genutztes Gebäude industrial development industrielle Erschließung industrial engineering Maßnahmen zur Arbeitseinsparung industrial estate Gewerbegebiet industrial psychology Betriebspsychologie industrial potential Industriepotential industrial relations Beziehung zw. Management und Gewerkschaft industrial revolution industrielle Revolution industrial training gewerbliche Ausbildung industrialization Industrialisierung industrialize industrialisieren industry Industrie inefficiency Leistungsschwäche inefficient leistungsschwach inelastic unelastisch inelastic demand unelastische Nachfrage inelastic supply unelastisches Angebot infant Kind inferior minderwertig inferior goods minderwertige Ware inflate aufblähen inflation Inflation inflationary inflationär inflationary adjustment Inflationsausgleich inflationary gap inflatorische Lücke inflationary spiral Preisspirale inflationary trend inflationistische Tendenz informal formlos informal meeting formlose Zusammenkunft informant Auskunftsgeber information Information; Auskunft information retrieval Wiederauffinden von Information informatory informierend infrastructure Infrastruktur infringe brechen infringe a patent gegen ein Patent verstoßen infringe a trade mark gegen ein Warenzeichen verstoßen infringement Verstoß gegen ein Recht; Rechtsverletzung inherent vice innewohnender Mangel inherit erben inheritance Erbschaft inheritance tax Erbschaftssteuer initial anfangs; Anfangsbuchstabe initial order Erstauftrag initials Anfangsbuchstaben initiative Initiative injection of capital Kapitalspritze injunction einstweilige Verfügung injury Verletzung inland bill Inlandswechsel inland money order Inlandspostanweisung inland revenue Steuereinnahmen innovation Innovation input Einsatz; Material- und Kräfteeinsatz inquiry Anfrage inquiry office Auskunftsbüro insecure investment unsichere Kapitalanlage insert einfügen inside address Innenandresse insider Mitglied der Börse (US) insider dealings unerlaubte Geschäfte von Börsenmitgliedern insiders eingeweihte Kreise insolvency Zahlungsunfähigkeit insolvent zahlungsunfähig inspect inspizieren inspection Inspektion; Nachschau inspector Inspektor install installieren; einrichten; einbauen installation Installation; Einbau; Montage installment Teilzahlung installment business Abzahlungsgeschäft; Teilzahlungsgeschäft installment plan Teilzahlungsplan installment system Abzahlungssystem; Teilzahlungssystem instance Beispiel instant sofortig institute einrichten institution Institution; Einrichtung institutional institutionell institutional advertising Repräsentationswerbung instruct anweisen instruction Anweisung instructions Richtlinien instructor Instrukteur instrument Instrument insurable interest versicherbares Interesse insurance Versicherung insurance agent Versicherungsvertreter insurance broker Versicherungsmakler insurance certificate Versicherungszertifikat insurance company Versicherung insurance coverage Deckung insurance policy Versicherungspolice insurance premium Versicherungsprämie insurance rate Versicherungssatz insurance value Versicherungswert insurant Versicherungsnehmer insured person versicherte Person insured property versicherter Gegenstand insurer Versicherer intangible assets immaterielle Werte intelligence Intelligenz; Nachrichten intelligence test Intelligenztest intelligent intelligent intercompany zwischenbetrieblich interconnecting flight Anschlussflug interdepartmental zwischen den Abteilungen interdiction of payment Zahlungsverbot interdiction of commerce Handelsverbot intensity Intensität intensive intensiv intensive cultivation intensive Bearbeitung interest Interesse; Zins interest account Zinskonto interest earned Zinsertrag interest rate Zinssatz interest on account of delay Verzugszinsen interest payable Zinsaufwendungen interest receivable Zinsforderungen interest income Zinsertrag interest table Zinstabelle interfere sich einmischen interference Einmischung interfirm comparison zwischenbetrieblicher Vergleich intermediary Mittelsmann internal innerbetrieblich; inländisch international international International Chamber of Commerce Internationale Handelskammer interoffice innerbetrieblich interpolation Interpolation interpret dolmetschen interpretation Auslegung interpreter Dolmetscher interview Interview intrinsic value eigentliche Wert introduce einführen introduction Einführung introductory einleitend; einführend; anfangs introductory campaign Einführungswerbung invent erfinden invention Erfindung inventor Erfinder inventory Inventar; Bestand inventory control Bestandsaufnahme; Bestandskontrolle invest investieren invested capital Anlagekapital investigate erforschen; untersuchen investigation Untersuchung investment Investition investment bank Emissionsbank investment banking Emissionsgeschäft investment company Kapitalanlagegesellschaft investment grants Investitionszuschüsse investment trust Investmentgesellschaft investments abroad Auslandsanlagen investor Kapitalanleger invisible unsichtbar invisible exports unsichtbare Exporte invisible hand unsichtbare Hand invisible items of trade unsichtbare Handelsgüter invisibles unsichtbare Handelsgüter invitation to bid Ausschreibung invoice Rechnung invoiced goods fakturierte Ware; berechnete Ware involve verwickeln irrecoverable debt uneinbringliche Forderung irregular unregelmäßig irregularity Unregelmäßigkeit issue Ausgabe issue price Emissionspreis issued capital ausgegebene Aktien issuer Aussteller issuing house Emissionsbank item Posten; Artikel itemize nach Posten aufgliedern itinerary Reiseplan; Reiseroute J jetsam Strandgut jettison über Bord werfen jeopardize in Gefahr bringen job Beschäftigung job analysis Arbeitsplatzbeurteilung; Arbeitsstudie job classification Tätigkeitskategorie job costing Kostenrechnung für einen Auftrag job cost sheet Auftragskostensammelblatt job description Arbeitsplatzbeschreibung job evaluation Tätigkeitsbewertung job factor Arbeitsplatzbewertungsmerkmal job grading Bewertung einer Tätigkeit; Einstufung job hunting Arbeitssuche job rate Akkordsatz job sheet Akkordzettel job specification Arbeitsplatzbeschreibung job work Akkordarbeit jobber Großhändler an der Börse; Akkordarbeiter jobbing Gelegenheitsarbeiten verrichten join a company in eine Firma eintreten join a cartel sich einem Kartell anschließen join the majority sich der Mehrheit anschließen joint gemeinsam joint account Gemeinschaftsrechnung joint agreement Vereinbarung mit der Gewerkschaft joint capital of a company Gesellschaftskapital joint costs gekoppelte Herstellungskosten joint demand gekoppelte Nachfrage joint editor Mitherausgeber joint guarantee solidarische Haftung; Gemeinbürgschaft joint rate Sammeltarif joint-stock bank Aktienbank joint-stock capital Aktienkapital joint-stock company Aktiengesellschaft joint possession Mitbesitz; gemeinsamer Besitz joint return gemeinsame Steuererklärung der Ehepartner joint supply gekoppeltes Angebot joint surety Gemeinbürgschaft joint undersigner Mitunterzeichner joint use gemeinschaftliche Nutzung joint venture Gemeinschaftsunternehmen joint and several gesamtschuldnerisch journal Zeitschrift; Journal journey abroad Auslandsreise journeyman Geselle judge Richter; beurteilen judgement Urteil; richterliche Entscheidung judgement by default Versäumnisurteil jump sprunghafter Anstieg jump ahead Sprung nach vorn junior junior junior clerk Bürogehilfe junior partner Junior; Junior-Partner jurisdiction Rechtssprechung juristictional strike zwischengewerkschaftlicher Streik just compensation Entschädigung bei Grundstücksenteignung justice of the peace Friedensrichter justification Rechtfertigung justified claim berechtigte Forderung justify rechtfertigen K keen scharf keen demand starke Nachfrage keen competition scharfe Konkurrenz keep halten keep an account ein Konto unterhalten keep accounts Bücher führen keep a shop einen Laden führen keep a secret etwas geheimhalten keep dry trocken halten; trocken aufbewahren keep for sale feilhalten keep in safe custody sicher aufbewahren keep separate getrennt halten keep the minutes Protokoll führen keep track die Spur verfolgen; einer Spur nachgehen keep track of costs den Kosten nachgehen keep prices down Preise niedrig halten keep up to date auf dem neuesten Stand halten keen scharf; verwegen key Schlüssel key businessmen führende Geschäftsleute key industry Schlüsselindustrie key job Schlüsselstellung key personality Schlüsselperson key position Schlüsselposition keyboard Schlüsselbrett keynote Grundgedanke kickback Schmiergeld an Vorarbeiter kilogram Kilogramm kilolitre 1000 Liter kilometre Kilometer kilowatt Kilowatt kingdom Königreich kind Art kind of business Art des Unternehmens kind of goods Warenart kite Gefälligkeitswechsel knocked-down price Spottpreis know-how Fachwissen; Fachkenntnisse knowingly wissentlich L lack of capital Kapitalmangel label Etikette label an article einen Artikel auszeichnen labeling Etikettierung; Preisauszeichnung labour Arbeit labour dispute Streitigkeit mit den Gewerkschaftsvertretern labour exchange Arbeitsamt labour force Arbeiterschaft labour grade Tätigkeitseinstufung labour market Arbeitsmarkt labour piracy Abwerbung labour relations Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen labourer Arbeiter labour saving arbeitssparend laissez-faire wirtschaftsliberales Verhalten large-scale in großem Umfang land landen; ausladen land and buildings Grundstücke und Gebäude land acquisition Grunderwerb land agent Grundstücksmakler; Grundstücksverwalter landing charges Landegebühren landlady Hausherrin; Dame des Hauses landlord Grundherr; Hausherr land purchase tax Grunderwerbssteuer land register Grundbuch land value Grundstückswert landed property Liegenschaften landed property account Grundstückskonto lame duck lahme Ente last in; first out Bearbeitung des zuletzt hereingekommenen last in; first out Bewertung nach Wiederbeschaffungspreis last will Testament latent defects innewohnende unsichtbare Mängel launch vom Stapel laufen lassen launch a product ein Produkt auf den Markt bringen launching costs Anlaufkosten law Recht law charges Gerichtsgebühren law costs Gerichtskosten law of comparative advantages Gesetz des komparativen Nutzens law of diminishing returns Gesetz vom abnehmenden Ertrag law of supply and demand Gesetz von Angebot und Nachfrage law of economy of time Gesetz der Ökonomie der Zeit law of nature Naturgesetz law society Verband der Rechtsanwälte law-suit Gerichtsverfahren lawyer Jurist lay out ausgeben; aufwenden layout Anlage (z.B. eines Briefes) lead führen; Führung leader Anführer leaflet Flugblatt; Handzettel; Faltblatt leak lecken leakage Bruch; Verlust durch Auslaufen learn lernen learner Lerner; Anfänger learning curve Lernkurve learning process Lernprozess lease Pacht; verpachten lease of land Verpachtung leasehold Pachtgrundstück; Erbpachtgrundstück leaseholder Pächter leasing Vermietung von Maschinen least-squares method Methode der kleinsten Quadrate; Annäherung ledger Hauptbuch ledger keeper Hauptbuchführer legacy Erbschaft left-luggage office Gepäckaufbewahrung (Br.) legacy Vermächtnis legal gesetzlich; rechtsgültig legal action gerichtliches Vorgehen legal advice Rechtsberatung legal adviser Rechtsberater legal assistance Rechtshilfe legal basis Rechtsgrundlage legal department Rechtsabteilung legal measures gerichtliche Maßnahmen legal person juristische Person legal rate gesetzlicher Höchstzinssatz legal remedy Rechtsmittel legal reserves vorgeschriebene Bankreserven legal means Rechtsmittel legal steps gerichtliche Schritte legal tender gesetzliches Zahlungsmittel legal title Rechtsanspruch legally binding rechtsverbindlich legitimate claim Rechtsanspruch lend verleihen lender Verleiher lender of the last resort (Br.) Bank von England als Wechselkäufer lending fee Leihgebühr length of life Lebensdauer length of service Dienstalter length of warranty Gewährleistungsdauer lessee Pächter lessor Verpächter let lassen; überlassen; vermieten let a room Zimmer vermieten let a house Haus vermieten let a house furnished Haus möbliert vermieten letter Brief letter-box Briefkasten letter-head Briefkopf letter of application Bewerbung letter of apology Entschuldigungsschreiben letter of attorney Vollmacht letter of complaint Beschwerdebrief letter of credit Kreditbrief; Akkreditiv letter of guarantee Garantiebrief (Br.) letter of hypothecation Verpfändungsurkunde letter of indemnity Ausfallbürgschaft letter of inquiry Anfrage letter of introduction Einführungsschreiben; Empfehlung letter of recommendation Empfehlung letter of sympathy Beileidsbekundung letter of thanks Dankschreiben level Ebene level of employment Beschäftigungsniveau level of living Lebenshaltungsniveau levy Steuer; Abgabe liable verantwortlich liability Verantwortlichkeit; Haftung liabilities Passiva; Verbindlichkeiten licence Lizenz (Br.) license Lizenz (US) licensed zugelassen licensed dealer Vertragshändler licensee Lizenznehmer licensing agreement Lizenzvertrag licensor Lizenzgeber lien Pfandrecht life annuity Leibrente life assurance Lebensversicherung life expectancy Lebenserwartung life estate Wohnrecht und Nutzungsrecht auf Lebenszeit life of a contract Laufzeit eines Vertrages; Vertragsdauer life of a lease Laufzeit eines Mietvertrags life of an agreement Vertragsdauer limit Grenze; limitieren; begrenzen limit of demand Nachfragegrenze limit of profitability Rentabilitätsgrenze limitation Begrenzung limitation of birth Beschränkung der Geburtenzahl limitation of imports Importbeschränkung limitation of liability Beschränkung der Haftung limitation of membership Beschränkung der Mitgliederzahl limitation of production Produktionseinschränkung limited partnership begrenzt haftende Teilhaberschaft limited liability begrenzte Haftung limited liability company GmbH limited partnership Teilhaberschaft mit beschränkter Haftung limited partnership Kommanditgesellschaft limited market beschränkte Absatzmöglichkeiten linear programming lineare Programmierung linear increase lineare Erhöhung line Linie; Branche; Artikel; Telephonverbindung line management Linienführung line of command Weisungslinie line of communication Nachrichtenweg line of industry Industriezweig link Verbindung; Verbindungsglied liquid flüssig; liquid; zahlungsfähig liquidate liquidieren; auflösen liquidation Liquidation; Auflösung liquidator Liquidator liquidity Liquidität liquidity problem Liquiditätsproblem liquidity requirements Liquiditätsvorschriften list Liste list of applicants Bewerberliste list of articles Warenliste list of prospective buyers Kaufinteressentenliste list of exhibitors Ausstellerliste list of sailings Segelliste; Liste der Abfahrten list price Listenpreis listed auf der Börsenliste livestock lebendes Inventar; Vieh living Unterhalt; Lebensunterhalt living costs Lebenshaltungskosten Lloyds LLoyds Lloyd's Register LLoyds Schifffahrtsregister load laden; beladen; Ladung loading charges Verladekosten loading capacity Tragfähigkeit loading of goods Verladung loan Darlehen; Anleihe loan account Darlehenskonto loan capital Anleihekapital loan interest Darlehenszinsen loan value Beleihungswert local agent Bezirksvertreter local branch Zweigstelle local rate Ortstarif localization of labour Konzentration qualifizierter Arbeitskräfte locate ausfindig machen location Standort lockout Aussperrung loco am Ort loco price Ortspreis lodge hinterlegen; deponieren lodge a claim eine Forderung anmelden; Klage einbringen lodge a document ein Dokument amtlich hinterlegen lodge a deed ein Dokument bei Gericht hinterlegen lodger Untermieter lodgings möblierte Unterkunft logistics Logistik lombard business LOmbardgeschäft lombard credit Lombardkredit long lang long-dated bill Wechsel mit langer Laufzeit long-term langfristig long-term appointment Dauerstellung long-term liability langfristige Verbindlichkeit long-term loan langfristiges Darlehen long-term debt langfristige Verschuldung long-term deposit langfristige Einlage loose lose loose capital brachliegendes Kapital lorenz curve Lorenzkurve lorry Lastwagen (Br.); offener Lastwagen lose customers Kunden verlieren lose in value an Wert verlieren losing bargain Verlustgeschäft loss Verlust loss deduction Verlustabzug loss fully covered by insurance voll gedeckter Schaden loss leaders Lockartikel loss in weight Gewichtsverlust; Untergewicht loss of custom Verlust der Kundschaft loss of earnings Verdienstausfall loss of interest Zinsverlust loss of profits Gewinnrückgang loss of time Zeitausfall lost verloren lost property office Fundamt low grade von niedriger Qualität low level Tiefstand low prices niedrige Preise lower geringer; herabsetzen lower the rate of interest die Zinsen senken lowest bid niedrigstes Angebot; Mindestgebot luggage Gepäck (Br.) luggage label Gepäckanhänger luggage ticket Gepäckaufbewahrungsschein lump Stück; Masse lump sum Pauschalbetrag lunch Mittagessen luncheon Mittagessen lunch break Mittagspause luxury luxuriös; Luxus luxury apartment Luxuswohnung luxury goods Luxusgüter luxury tax Luxussteuer M machine Maschine machine hour Maschinenarbeitsstunde machine hour rate Maschinenarbeitsstundensatz machine replacement Maschinenerneuerung machine-made maschinell hergestellt machinery Maschinerie; Maschinen; Maschinenpark machinery account Maschinenkonto machine-tool Werkzeugmaschine macro-analysis Makroanalyse macroeconomics Makroökonomie made to order auf Bestellung hergestellt made to measure nach Maß magazine Zeitschrift; Warenlager magistrate Magistrat mail Post; mit der Post senden mail-order Versandauftrag mail-order business Versandhaus; Versandgeschäft mail-order catalogue Versandkatalog mail-order house Versandhaus mailing list Adressenliste main hauptsächlich main artery road Hauptverkehrsstraße main catalogue Hauptkatalog main consumer Hauptverbraucher main office Hauptbüro; Zentrale main supplier Hauptlieferant mainly hauptsächlich maintain aufrechterhalten maintained price gebundener Preis maintenance Maschinenunterhaltung maintenance costs Unterhaltungskosten maintenance repairs laufende Reparaturen major größer; bedeutender major difficulty größere Schwierigkeit; größeres Problem majority Mehrheit majority of shares Aktienmehrheit majority of creditors Gläubigermehrheit majority vote Mehrheitsbeschluss+ Malthusian theory of population Bevölkerungstheorie von Malthus make machen; herstellen make available verfügbar machen make good for sth. wieder gut machen; etwas nachholen make out an invoice eine Rechnung ausstellen make over one's estate sein Vermögen vermachen make up for losses den Verlust ausgleichen maker Hersteller; Aussteller makeshift Notbehelf maladministration Misswirtschaft malfeasance Gesetzesübertretung malpractice gewissenloses Praktizieren malfunction Funktionsstörung manage managen; ein Unternehmen leiten manageable leicht zu handhaben management Unternehmensleitung management by delegation Betriebsführung durch Delegation management by exception Betriebsführung nach dem Ausnahmeprinzip management by motivation Betriebsführung durch Motivierung management by innovation Betriebsführung durch Systemerneuerung management by objectives Betriebsführung durch Zielvorgaben management by results Betriebsführung nach Ergebnissen management by system systemorientierte Betriebsführung management committee Betriebsleitung management consultant Betriebsberater management hierarchy Betriebshierarchie management policy Betriebspolitik management science wissenschaftliche Betriebsführung manager Unternehmensleiter; Geschäftsführer manageress Abteilungsleiterin; Direktrice managerial economics Betriebswirtschaftslehre managerial position leitende Position managing director geschäftsführender Direktor mandatory retiring age vorgeschriebenes Pensionsalter man-hour Arbeitsstunde manipulate accounts Konten fälschen; Bücher frisieren manpower menschliche Arbeitskraft manual work Handarbeit manufacture herstellen; Herstellung manufacturer Fabrikant manufactured goods Fabrikware manufacturing Herstellung manufacturing industry Fertigungsindustrie manufacturing company Fabrikationsbetrieb manufacturing costs Herstellungskosten manufacturing expenses Herstellungsnebenkosten manufacturing facilities Betriebsausstattung; Produktionsanlagen manufacturing process Herstellungsverfahren margin Spanne marginal analysis Grenzkostenrechnung marginal borrower Entleiher der zu dem Preis gerade noch leiht marginal buyer Käufer der zu dem Preis gerade noch kauft marginal cost Grenzkosten marginal costing Grenzkostenrechnung marginal efficiency of capital Grenzleistung des Kapitals marginal production Grenzproduktion marginal productivity Grenzproduktivität marginal productivity of labour Grenzproduktivität der Arbeit marginal profit Grenzertrag marginal propensity to consume Grenzneigung zu verbrauchen marginal propensity to save Grenbzneigung zu sparen marginal revenue Grenzertrag marginal utility Grenznutzen marine insurance Seeversicherung marine underwriter Seeversicherungsgesellschaft marine perils Gefahren der See maritime zur See gehörig maritime freight Seefracht maritime law Seerecht markdown herabsetzen; Herabsetzung von Preisen market Markt market analysis Marktanalyse market capacity Aufnahmefähigkeit des Marktes market flexibility Nachfrageflexibilität market leader führende Aktie market monopoly Marktmonopol market penetration Marktdurchdringung market potential Marktpotential market price Marktpreis market report Marktbericht market research Marktforschung market value Marktwert market for futures Terminmarkt marketable marktfähig; marktgängig marketing Marketing; Vertrieb marketing agreement Vertriebsvereinbarung marketing consultant Vertriebsberater marketing manager Vertriebsleiter marketing director Vertriebsdirektor marketing know-how Vertriebserfahrung marketing oriented vertriebsorientiert; absatzorientiert marketing policy Vertriebspolitik; Absatzpolitik marketing research Marktforschung marketplace Marktplatz marking requirements Markierungsvorschriften markup Preiserhöhung mass Masse; Menge mass industry Massengüterindustrie mass media Massenmedien mass production Massenproduktion mass unemployment Massenarbeitslosigkeit master Meister master's receipt Konnossement Master of Arts Magister Artium mate's receipt Verladebescheinigung material Material material control Materialprüfung material on hand vorrätiges Material materials handling Umgang mit Material matrix Matrix matter of public concern Angelegenheit von öffentlichem Interesse matter of price Preisfrage mature reif; fällig; verfallen maturity Fälligkeit maturity date Fälligkeitsdatum; Fälligkeitstag maturity value Fälligkeitswert maxim Grundsatz maximum Höchstwert maximum amount Höchstbetrag maximum capacity Höchstleistung maximum price Höchstpreis maximum rate Höchstkurs maximum wage Höchstlohn mean Mitte mean average gewogener Mittelwert means Mittel means test Vermögensprüfung; Bedürftigkeitsnachweis means of communication Kommunikationsmittel means of control Kontrollmaßnahmen means of exchange Tauschmittel means of income Einnahmequellen means of payment Zahlungsmittel means of subsistence Existenzmittel means of transport Transportmittel measure messen; bemessen; Maß measure of precaution Vorsichtsmaßnahme measure of quality Maßstab für die Güte mechanic Mechaniker mechanical mechanisch mechanization Mechanisierung mechanize mechanisieren media concept Werbekonzeption median Mittel mediation Vermittlung mediator Vermittler; Unterhändler Medicaid (US) ärztliche Hilfe für alte Leute Medicare (US) Gesundheitsversorgung für alte Leute medium of exchange Tauschmittel medium Mittel medium-prized goods Waren mittlerer Preislage medium of exchange Tauschmittel meet treffen meet a bill einen Wechsel einlösen meet obligations Verpflichtungen nachkommen meet the demand die Nachfrage befriedigen meeting Konferenz; Besprechung; Versammlung member Mitglied member of a company Gesellschafter member of a partnership Teilhaber member of the board of directors Mitglied des Vorstands membership Mitgliedschaft memo Kurzmitteilung; Aktennotiz memorandum Kurzmitteilung; Aktennotiz memorandum of association Gesellschaftsvertrag der GmbH memorandum of partnership Gesellschaftsvertrag der oHG memory Gedächtnis; Datenspeicher mercantile agency Kreditauskunftei mercantile concern Handelsunternehmen mercantile directory Branchenverzeichnis mercantilism Merkantilismus merchandise Handelsware merchandising Absatzförderung merchant Kaufmann merchant prince königlicher Kaufmann merchant vessel Handelsschiff merchantable verkäuflich merchant bank Handelsbank merge verschmelzen; fusionieren merger Fusionierung merit Verdienst messenger Bote meter Zähler method Methode; Verfahren method study Verfahrensstudie method of amortization Tilgungsart method of accounting Rechnungsmethode; Buchungsverfahren method of allocation Verteilungsmethode method of calculation Berechnungsmethode method of depreciation Abschreibungsmethode method of estimation Schätzungsmethode method of financing Finanzierungsart method of operation Arbeitsverfahren method of payment Zahlungsweise method of time measurement Zeiterfassungsverfahren metric system metrisches Maßsystem microeconomics Mikroökonomie mid-week Mitte der Woche; mittwöchig middleman Mittelsmann middle management mittlere Führungsebene middle price mittlerer Preis middle-term mittelfristig middle-sized von mittlerer Größe middling quality mittlere Qualität migration Abwanderung migrant workers Wanderarbeiter mileage Reichweite in Meilen mill Mühle; Fabrik; Walzwerk minimum Minimum; mindest minimum amount Mindestbetrag minimum benefit Mindestunterstützung; Mindestzulage minimum deposit Mindesteinlage; Mindestanzahlung minimum period of employment Mindestbeschäftigungszeit minimum rate Mindestsatz minimum pay Mindestverdienst minimum requirements Mindestanforderungen minimum value Mindestwert minimum wage Mindestlohn minister Minister ministry Ministerium minor geringer minor difficulty kleinere Schwierigkeit minor problem kleineres Problem minor matter geringfügige Angelegenheit; Nebensache minor changes kleinere Änderungen minor repairs geringfügige Reparaturen minority Minorität minority interests Interessen der Minorität mint Münze mint price of gold Münzpreis des Goldes minus weniger minute book Protokollbuch minutes Protokoll misappropriate veruntreuen; unterschlagen misappropriation Veruntreuung; Unterschlagung miscalculate sich verrechnen miscalculation Rechenfehler misclassify falsch klassifizieren misclassification falsche Klassifizierung misdemeanour Fehlverhalten misdirect falsch adressieren; fehlleiten misenter falsch verbuchen misunderstand missverstehen misunderstanding Missverständnis mixed calculation Mischkalkulation mixed account Mischkonto mixed economy gemischte Wirtschaftsform mobile beweglich mobile shop Wagen auf Rädern mobility Beweglichkeit mobility of labour Beweglichkeit; Bereitschaft umzuziehen mock vortäuschen mock auction Scheinauktion mode Modus; Verfahren mode of dispatch Versandart mode of employment Beschäftigungsart mode of operation Betriebsart mode of payment Zahlungsweise mode of transport Beförderungsart model Modell model of competitive economy Modell der freien Wirtschaft model of economic equilibrium Modell des wirtschaftlichen Gleichgewichts model of expanding economy Modell der expandierenden Wirtschaft moderate bescheiden; dürftig moderate income bescheidenes Einkommen; dürftiges Einkommen moderation Dämpfung modernization Modernisierung modernize modernisieren modification Abänderung modify abändern monetary geldlich monetary area Währungsgebiet monetary compensation geldliche Abfindung monetary reform Währungsreform monetary policy Währungspolitik monetary system Währungssystem monetary unit Währungseinheit money Geld money at call and short notice Geld auf Abruf money at one month Monatsgeld money at long term langfristige Gelder money box Sparbüchse money changer Geldwechsler money due Außenstände money gap Finanzierunslücke money lender Geldverleiher money market Geldmarkt money order Postanweisung money in circulation im Umlauf befindliche Zahlungsmittel money on account Guthaben money in reserve Reserven money saver wirtschaftlicher Artikel; sparsames Gerät monopolist Monopolist monopolistic monopolistisch monopoly Monopol Monte Carlo Method Monte-Carlo-Methode month Monat month under report Berichtsmonat monthly monatlich monthly installment Monatsrate monthly requirements Monatsbedarf monthly salary Monatsgehalt moonlighting Zweitbeschäftigung außerhalb der Arbeitszeit moonlighter Doppelverdiener morale Moral mortality table Sterblichkeitstabelle mortgage hypothekarisch belasten; verpfänden; Hypothek mortgage amortization Hypothekenabzahlung mortgage bank Hypothekenbank mortgage deed Hypothekenbrief mortgage insurance Hypothekenversicherung mortgage interest Hypothekenzins mortgaged mit Hypothek belasted mortgaging Beleihung most-favoured nation meistbegünstigste Nation most-favoured nation clause Meistbegünstigungsklausel motion Bewegung; Antrag bei einer Sitzung motion study Bewegungsstudie motivation Motivation motivation research Motivforschung motive for buying sth. Kaufmotiv motor vehicle tax KFZ-Steuer motor industry Automobilindustrie movable goods bewegliches Gut movables bewegliche Güter move bewegen moving allowance Umzugsgeld multi-channel mehrkanalig multifunctional machine Mehrzweckmaschine multilateral mehrseitig multilingual mehrsprachig multinational company Multi multiple mehrfach multiple shop Filialladen multiple store Filialladen multiplier Vervielfacher municipal gemeindlich municipal authority Gemeindebehörde municipal bonds Kummunalobligationen municipal debentures Kommunalobligationen municipal loan Kommunalanleihe municipals Kummunalobligationen mutual gegenseitig mutual agreement Vergleich mutual basis genossenschaftliche Basis; gemeinsame Basis mutual consent Übereinkommen mutual friend gemeinsamer Bekannter mutual insurance Versicherung auf Gegenseitigkeit mutual insurance company Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit mutual savings bank genossenschaftliche Sparkasse N name Name name of account Kontenbezeichnung nation Nation national staatlich; Staatsangehöriger national assistance staatliche Fürsorge national debt Verschuldung des Staates; Staatsschuld national economy Volkswirtschaft national giro (Br.) Postgirodienst National Giro Service (Br.) Postgirodienst National Health Service (Br.) staatlicher Gesundheitsdienst National Insurance Act (Br.) Sozialversicherungsgesetz national insurance card (Br.) Sozialversicherungskarte national income Nationaleinkommen national product Sozialprodukt national revenue Steueraufkommen nationality Nationalität nationalization Verstaatlichung nationalize verstaatlichen natural business year normales Geschäftsjahr naturalization Einbürgerung naturalize einbürgern natural resources Bodenschätze naught null necessary notwendig necessity Notwendigkeit necessities lebensnotwendige Güter needy notleiden negative negativ; verneinend negative report Fehlanzeige neglect of business Vernachlässigung der geschäftlichen Pflichten negligence Nachlässigkeit negligible geringfügig negotiable übertragbar negotiable instrument übertragbares Handelspapier; Wertpapier negotiate verhandeln; weiterbegeben; girieren negotiation Verhandlung negotiation of a B/L Begebung eines Wechsels negotiator Verhandlungsführer nepotism Vetternwirtschaft net netto net advantages Nettovorteile net amount Nettobetrag net cash netto Kasse net cost price Selbstkostenpreis net earnings Nettoverdienst net effect Nettoergebnis net income Nettoeinkommen net liabilities reine Schulden net loss Nettoverlust net price Nettopreis net profit Nettogewinn; Reingewinn net profit on sales Nettoverkaufserlös net proceeds Nettoerlös net receipts Nettoeinnahmen net wages Nettolohn net weight Nettogewicht net worth Nettowert network Netzwerk; Netz network analysis Netzplantechnik network of trunk roads Fernstraßennetz network of railroads Eisenbahnnetz net worth Nettowert net yield Nettoertrag never-never Abzahlung; Abstottern (Br.) new acquisition Neuerwerbung new issue Neuauflage; Neuausgabe new-fashioned neumodisch night employment Beschäftigung bei Nacht night safe Nachttresor night shift Nachschicht nil null nominal nominell nominal capital eingetragenes Kapital nominal price nomineller Preis nominal value Nennwert nominate nominieren; benennen nominee Strohmann non-acceptance Nichtannahme non-applicable nichtanwendbar non-committal unverbindlich non-commercial gemeinnützig non-delivery Nichtlieferung non-deductible nicht abzugsfähig non-graded nicht sortiert non-observance Nichtbeachtung non-payment Nichtzahlung non-performance Nichterfüllung non-profit organization gemeinnützige Gesellschaft normal normal; gewöhnlich normal curve of distribution Normalverteilung normalize normalisieren normative economics normative Volkswirtschaftslehre not negotiable nur zur Abrechnung; nicht übertragbar not sufficient funds keine Deckung notary public Notar note schriftliche Mitteilung note issue Notenausgabe note of expenses Spesenabrechnung note of protest Protesturkunde note payable Eigenwechsel note receivable Kundenwechsel notice Bekanntmachung; Kündigung notice in writing schriftliche Kündigung; Benachrichtigung notice of accident Unfallanzeige notice of defects Mängelrüge notice of dismissal Entlassungsschreiben notice of exemption Freistellungsbescheid notice of loss Verlustmeldung notice of meeting Ladung zu einer Konferenz notice of removal Meldung des Umzugs notice of termination Kündigung notice of withdrawal Rücktrittsanzeige notification Benachrichtigung notice-board schwarzes Brett notify benachrichtigen not sufficient funds keine Deckung nought null nuclear energy Kernenergie nuclear vessel von Atomkraft angetriebenes Schiff nuisance Ärgernis null and void nichtig; ungültig; null und nichtig number nummerieren; Zahl number of entry Buchungsnummer number of units Stückzahl numerous zahlreich O oath Eid oath of office Diensteid object Gegenstand; Einwand erheben objection Einwand objectionable verwerflich objective objektiv; sachlich obligation Verpflichtung; Schuldverschreibung obligations Verpflichtungen oblige verpflichten observance Beachtung observe beachten; beobachten observe the law das Gesetz beachten; einhalten observe the rule die Regeln beachten; einhalten obsolescence Veralterung eines Gebrauchsgegenstandes obsolescence of stock Veralterung der Lagerbestände; Veralten obsolete veraltert; unmodisch obtain erhalten obtainable erhältlich obvious offensichtlich obviously offensichtlich (adv.) occasion Gelegenheit occasional gelegentlich occupation Beschäftigung occupation census Berufszählung occupation index Berufsgruppenindex occupation money Besatzungsgeld occupational beruflich; berufsbezogen occupational level Beschäftigungsniveau occupational disease Berufskrankheit occur sich ereignen odd ungerade; gelegentlich odd jobs Gelegenheitsarbeiten odd numbers ungerade Zahlen odd lot Restposten off season außerhalb der Saison offer Angebot; anbieten offer for sale Verkaufsangebot offer to buy Kaufangebot offer without engagement unverbindliches Angebot offer subject to prior sale Angebot mit Zwischenverkaufsvorbehalt office Büro; Dienststelle office Amt; Büro; Geschäftsraum office accommodation Büroräume office boy Laufbursche office equipment Büroeinrichtung office furniture Büromöbel office gossip Büroklatsch office hours Geschäftsstunden office landscape Bürolandschaft office manager Büroleiter office machines Büromaschinen office premises Geschäftsräume office supplies Bürobedarf officer (US) leitender Angestellter; Direktor official offiziell; Beamter official exchange rate offizieller Wechselkurs official hours Dienststunden; Öffnungsstunden official quotation amtliche Kursnotierung an der Börse official receiver Zwangsverwalter; Konkursverwalter official support offizielle Unterstützung offset gegenrechnen; Gegenrechnung; Aufrechnung old-age hohes Alter old-age benefits Altersruhegeld old-age pension Altersrente old-established alteingesessen oligopoly Oligopol omission Auslassung; Unterlassung omit auslassen on consignment in Kommission; als Konsignationsware on sale or return in Kommission one-man business Einmanngeschäft open offen open an account ein Konto eröffnen open a business ein Geschäft eröffnen open a letter of credit ein Akkreditiv eröffnen open all night die ganze Nacht geöffnet open account offene Rechnung open cheque Barscheck open competition freier Wettbewerb open credit laufender Credit open items offenstehende Beträge open market Aktienverkauf ohne Beschränkung open policy Pauschalversicherung open shop Beschäftigung ohne Gewerkschaftszugehörigkeit opening Geschäftseröffnung; freie Stelle opening balance sheet Eröffnungsbilanz opening rate Eröffnungskurs operate tätig sein; betätigen operating costs Betriebskosten operating efficiency betriebliche Leistung operating expenses Betriebsausgaben operating income Betriebseinkommen operating loss Betriebsverlust operating result Betriebsergebnis operation Handlung; Operation; Betrieb operational loss Betriebsverlust operations research mathematische Entscheidungsvorbereitung operator Bediener; Maschinenarbeiter opinion Meinung opinion poll Meinungsumfrage opportunity Gelegenheit opportunity cost Ersatzkosten optimism Optimismus optimist Optimist optimistic optimistisch optimum Optimum; optimal optimum population optimale Bevölkerungsdichte option Option; Vorkaufsrecht optional auf Wunsch optional equipment Sonderausstattung order Auftrag order of events Folge der Ereignisse order of priority nach Priorität order form Auftragsformblatt order in advance im voraus bestellen ordinary gewöhnlich ordinary care übliche Sorgfalt ordinary partner voll haftender Teilhaber ordinary resolution Beschluss mit einfacher Mehrheit ordinary share Stammaktie ordinary shareholder Stammaktionär organization Organisation organization and methods Untersuchung der Büroeffizienz organization chart schematische Aufstellung der Organisation organize organisieren; gestalten original Original; ursprünglich original assets Anfangsvermögen original value Anschaffungswert original costs Anschaffungskosten out of date veraltet; datiert out of time unzeitgemäß out of stock nicht am Lager out of fashion nicht mehr modisch out of print vergriffen outdoor advertising Außenwerbung outdoor job Arbeit im Freien; Außenarbeit outfit Ausstattung; Ausrüstung outlay Ausgabe; Auslage outlet Verkaufsstelle; Abnehmer; Absatz outline Umriss output Ausstoß; Leistung output figures Produktionszahlen output per man-hour Stundenleistung outside außerberuflich outside funds Fremdmittel outsider Außenseiter outstanding accounts Außenstände outstanding sums ausstehende Beträge overall gesamt overdraft Kontenüberziehung overdraw überziehen overdue überfällig overestimate überbewerten overheads Gemeinkosten overnight loan Tagesgeld overproduction Überproduktion override aufheben overseas Übersee; (Br.) Ausland oversubscribed überzeichnet overtime Überstunden overvalued currency überbwertete Währung overweight Übergewicht own funds eigene Mittel owner Eigentümer owner of a car KFZ-Halter owner of a house Hauseigentümer owner of a patent Patentinhaber owner of a trade-mark Warenzeicheninhaber ownership Eigentümerschaft owner's risk Risiko des Eigentümers P pace Schritt pacesetter Schrittmacher pack Packung package Verpackung package deal Pauschalgeschäft package tour Pauschalreise packaged verpackt packed for railway transport bahnmäßig verpackt packaging Verpacken packet Päckchen packing Verpackung packing costs Verpackungskosten packing department Verpackungsabteilung packing included Verpackung eingeschlossen packing list Packliste packing material Verpackungsmaterial packing paper Packpapier pad Block; Notizblock padding Füllmaterial; Beiwerk paid bezahlt paid-in einbezahlt paid-up abgezahlt; voll eingezahlt paid-up capital eingezahltes Kapital pamphlet Flugblatt panic Panik panic buying Angstkäufe paper Papier; Dokument paper currency Papierwährung paper money Papiergeld paperwork Schreibarbeit par value Pariwert paragraph Absatz parallel parallel parameter Kennziffer; Parameter parcel Paket parcel-post Paketpost parent company Muttergesellschaft; Stammhaus parity Parität parking attendant Parkwächter parking meter Parkuhr parking place Parkplatz Parkinson's Law Parkinsons Gesetz part Teil partial teilweise partial loss Teilverlust participant Teilnehmer participate teilnehmen; teilhaben particular besonders parties to a contract Parteien des Vertrags partner Gesellschafter; Partner partnership Partnerschaft; (ähnlich oHG) part-time nebenberuflich part-time job nebenberufliche Tätigkeit part-time employment Teilzeitbeschäftigung party Partei party line Gemeinschaftstelephon passbook (US) Spareinlagenbuch passenger Passagier; Fahrgast; Fluggast passport Pass passport control Passkontrolle paste-on label Aufkleber patent Patent patented patentiert; durch Patent geschützt patent office Patentamt patron Stammkunde patronage Stammkundschaft pattern Muster; Stoffmuster; Ausfallmuster pattern of demand Nachfragestruktur pattern of growth Wachstumsstruktur pattern of requirements Nachfragestruktur pattern book Musterbuch pauper Armer; arme Person pauper relief Armenunterstützung pawnbroker Pfandleiher pawnshop Pfandleihe pay zahlen pay-as-you-earn Einbehaltung der Lohnsteuer payable zahlbar pay back zurückzahlen pay day Zahltag payee Zahlungsempfänger payer Bezogener pay-in slip Einzahlungsbeleg payment Zahlung payment by results Erfolgsentlohnung payment in advance Vorauszahlung payment in kind Zahlung in Naturalien pay pause Lohnpause payroll Lohnkonto; Lohnbuch; Lohnliste peak hours Hauptgeschäftsstunden pecuniary auf Geld bezogen pecuniary aid finanzielle Hilfe; finanzielle Unterstützung pegging Preisabstützung penalty Strafe penalty clause Klausel betreffend die Vertragsstrafe pence Penny (pl.) penny Penny pension Pension; Rente pensionable ruhegehaltsfähig pensioner Rentner pension fund Pensionskasse pension plan Plan für die Altersversorgung pension pool Pensionskasse per capita je Kopf per cent Prozent percentage prozentualer Anteil per diem je Tag perfect perfekt perfect competition uneingeschränkter freier Wettbewerb perform ausführen; durchführen performance Ausführung performance of a contract Erfüllung eines Vertrages peril Gefahr perils of the sea Gefahren der hohen See peril point Gefahrenpunkt period Zeitraum period of apprenticeship Lehrzeit period of employment Beschäftigungszeit period of guarantee Garantiezeit periodical periodisch peripheral equipment Zusatzausstattung perish umkommen; zugrunde gehen perishable verderblich perishable products verderbliche Güter perjury Meineid permanent dauerhaft; andauernd permission Erlaubnis permit erlauben; Erlaubnis perpetual inventory laufende Inventur personal persönlich personal assistant persönlicher Assistent personal data persönliche Daten; personenbezogene Daten personal loan privates Darlehen personal property persönliches Eigentum; Sachbesitz personnel Personal personnel department Personalabteilung personnel manager Personalchef; Leiter der Personalabteilung petition Petition; Eingabe petty klein petty cash Portokasse petty cash account Portokassenkonto petty cash book Portokassenbuch phone Telephone photo Photographie photo-copy Photokopie picket Streikposten picketing Absperrung durch Streikposten pickup car Kleinlastwagen piece Stück piece-work Stückarbeit; Stücklohn pie-chart Tortengraphik; Kuchengraphik pigeon-hole Abholfach; Verteilfach piggyback trucking Huckepacktransport pilferage Kleindiebstahl pilot Pilot; Lotse place Platz; Ort place an order for sth. einen Auftrag für jemanden plazieren place an order with sb. jemandem einen Auftrag erteilen place of birth Geburtsort place of jurisdiction Gerichtsstand place of performance Erfüllungsort plaintiff Kläger plan Plan planned economy Planwirtschaft planning department Planungsabteilung plant Pflanze; Fabrik (US) plead plädieren pledge verpfänden; Pfand pledged as security als Sicherheit hinterlegt plot verschwören; Verschwörung ploughing back profits Gewinne wiederinvestieren plus plus pocket Tasche pocket money Taschengeld point deuten; Punkt point of entry Grenzübergangsstelle point of indifference Indifferenzpunkt point of sale Ort des Verkaufs; Verkaufsstelle point of view Standpunkt policy Politik; Versicherungspolice policyholder Inhaber einer Versicherungspolice political politisch political economy Volkswirtschaftspolitik pollster Meinungsforscher pollution Verschmutzung; Umweltverschmutzung pollution control Verschmutzungskontrolle pool zusammenlegen; Interessenverband pool of labour Vorrat an freien Arbeitskräften popular pupulär; beliebt population Bevölkerung population pyramid Bevölkerungspyramide popularize populär machen port Hafen port authority Hafenbehörde port of departure Abfahrshafen; Verladehafen port of destination Bestimmungshafen; Entladehafen port of discharge Entladehafen port of entry (US) Importhafen port of importation Importhafen port of registry Heimathafen port of shipment Verschiffungshafen portfolio Portfolio position Lage positive positiv; überzeugt positive economics positive Volkswirtschaftslehre possession Besitz post Posten postage Porto postage stamp Briefmarke postal code Postleitzahl (Br.) postal order Postanweisung postal saving (US) Postspardienst poster Plakat poste restante postlagernd post office Postamt postmark Datumstempel der Post postpone verschieben postscript Nachschrift potential Potenzial; potenziell potential customer möglicher Kunde potential buyer möglicher Käufer potential market entwicklungsfähiger Markt potential sales mögliche Umsätze power Macht; Kraft; Energie power of attorney Vollmacht power of discretion Ermessensfreiheit power station Elektrizitätswerk precaution Vorsichtsmaßnahme precautious vorsichtig precis Kurzfassung predict voraussagen prediction Voraussage prefabricate vorfertigen; vorfabrizieren prefer bevorzugen preferable vorzugsweise preferably möglichst preference Vorzug preference dividend Vorzugsdividende preference shares Vorzugsaktien preferential bevorzugt preferential claim bevorrechtigte Forderung preferential duty Vorzugszoll preferential tariff Vorzugszolltarif preliminary vorläufig preliminary report vorläufiger Bericht premises Geschäftsräume; Firmengelände premium Prämie premium bonus system Prämiensystem premium pay Pramienlohn premium for risk Risikoprämie prepaid vorausbezahlt preparatory work Arbeitsvorbereitung present gegenwärtig; jetzig; präsentieren; vorlegen presentation Darbietung; Vorführung; Präsentation present value gegenwärtiger Wert president Präsident press Presse; pressen; drängen pressure Druck presume annehmen presumption Annahme previous vorherig previous day vorige Tag previous week vorige Woche previous month voriger Monat; Vormonat previous year voriges Jahr; Vorjahr price Preis price agreement Preisabsprache price control Preisüberwachung price current laufende Preis; gültige Preis price fixing Preisfestlegung price fluctuations Preisschwankungen price leader Preisführer price level Preislage price limit Preisgrenze; Limit price list Preisliste price loco Locopreis; Preis am Ort price maintenance Preisbindung price system Preissystem price war Preiskrieg primarily in erster Linie primary deposit Stammeinlage primary industries Primärindustrie prime rate (US) Diskontsatz principal Chef; Auftraggeber principle Prinzip print drucken; Druck print shop Druckerei printed matter Drucksache prior vorher; vorherig priority Priorität private privat; persönlich private arrangement persönliche Vereinbarung private bank Privatbank private enterprise Privatunternehmen; freie Wirtschaft private property Privatbesitz private sector Privatsektor privilege Vorrecht prize Preis; Siegespreis probability Wahrscheinlichkeit probability curve Wahrscheinlichkeitskurve probability theory Wahrscheinlichkeitstheorie probable error mutmaßlicher Fehler probably wahrscheinlich procedure Prozedur; Verfahren proceeds Einkünfte process Prozeß; Verfahren produce erzeugen; Erzeugnis produce exchange Produktenbörse producer Erzeuger product Produkt; Ware product costing Kostenrechnung eines Produkts production Produktion production factors Produktionsfaktoren production manager Leiter der Produktion production planning Produktionsplanung productive produktiv productivity Produktivität profession Beruf; akademischer Beruf professional professionell professional earnings Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit professional qualification berufliche Qualifikation professional training Berufsausbildung profit Gewinn profit margin Gewinnspanne profit-sharing Gewinnbeteiligung profit and loss account Gewinn- und Verlustkonto profit-and-loss statement Gewinn- und Verlustkonto profitable gewinnbringend pro forma Proforma pro forma invoice Proformarechnung program Programm (US) programme Programm (Br.) programmed instruction programmierte Unterweisung programme evaluation and review technique P.E.R.T. programmer Programmierer progressive progressiv prohibit verhindern; verbieten prohibition Verhinderung project Projekt proletariat Proletariat promissory note Solawechsel promote vorantreiben prompt prompt; sofort; umgehend promptly sofortig; umgehend proof Beweis proof of loss Nachweis des Verlustes propensity Neigung propensity to consume Neigung zu verbrauchen propensity to invest Neigung zu investieren propensity to hoard Neigung zu horten; Neigung zu sparen property Eigentum property tax Vermögenssteuer proportion Verhältnis proportional im Verhältnis proposal Vorschlag propose vorschlagen proprietor Eigentümer prospects Aussichten prospective customer Kaufinteressent prospectus Prospekt prosper blühen prospering blühend prosperity Wohlstand prosperous gedeihend protect beschützen protection Schutz protectionism Protektionismus protectionist Verfechter der Schutzzölle protective beschützend; schützend protective tariffs Schutzzölle protest protestieren; Protest provide vorsehen provision Bereitstellung provisional provisorisch; einstweilig proximo nächster proxy Vertreter prudent weise psychic psychisch psychological psychologisch psychological factors psychologische Faktoren public öffentlich public corporation Körperschaft des öffentlichen Rechts public debt öffentliche Verschuldung public domain in öffentlichem Besitz; jedermann zugänglich public limited company Aktiengesellschaft public opinion öffentliche Meinung public relations Beziehungspflege; Firmenwerbung public revenue Staatseinnahmen public utility Öffentlicher Versorgungsbetrieb publication Veröffentlichung publicity Reklame publish veröffentlichen publisher Verleger purchase Kauf (auf Rechnung) purchase order Auftrag; Ware auf Rechnung zu liefern purchase tax Verkaufssteuer purchase on approval Kauf auf Probe purchasing country Käuferland purchasing power Kaufkraft purchasing power of a currency Kaufkraft einer Währung purser Zahlmeister Q quadruplicate vierfach; in vierfacher Ausfertigung qualification Qualifikation; Befähigung qualified qualifiziert; befähigt; berechtigt qualified acceptance Akzept unter Vorbehalt qualified endorsement unverbindliches Indossament qualify qualifizieren quality Qualität; Güte quality control Qualitätskontrolle quality goods hochwertige Ware quantitative nach der Menge; mengenbezogen quantity Quantität; Menge quantity theory of money Geldmengentheorie quarantine Quarantäne quarter Viertel; Quartier; Vierteljahr quarter of the year Vierteljahr quarterly vierteljährlich quarterly account Vierteljahresabrechnung quasi gewissermaßen quasi-monopoly gewissermaßen ein Monopol quay Kai quay dues Kaigebühren queue Schlange stehen; Reihe; Warteschlange question befragen; Frage questionnaire Fragebogen quickie strike (US) ungesetzlicher Streik; spontaner Streik quintuplicate fünffach; in fünffacher Ausfertigung quit aufgeben; quitt quorum Quorum; Mindestanzahl quota Quote quota increase Quotenerhöhung quota licence Stücklizenz quotation Preisangabe; Angebot quotation of the price Preisangabe quotation of references Angabe von Referenzen quote angeben; zitieren quote a price einen Preis angeben R Rachmanism (Br.) System der Ausbeutung der Mieter rack Gestell; Ständer rack rent ungewöhnlich hoher; ausbeuterischer Pacht racket unlauteres Unternehmen radio advertising Rundfunkwerbung raffle Verlosung rag and bone man Lumpensammler railway Eisenbahn railway advice Benachrichtigung railway authority Eisenbahnbehörde railway guide Kursbuch railway station Bahnhof railway ticket Eisenbahnfahrkarte raise Gehaltserhöhung raise capital Kapital aufbringen; Kapital aufnehmen raise of discount Diskonterhöhung raise of funds Mittel aufbringen raise of salary Gehaltserhöhung random Zufall random sampling Stichprobe ransom Lösegeld ransom demand Lösegeldforderung range Bereich range of goods Warenauswahl range of patterns Musterauswahl range of products Produktauswahl; Sortiment rank Rang rapid schnell rateable value Einheitswert für die Grundsteuer rate Verhältnis; Satz rate of commission Provisionssatz rate of contribution Beitragssatz rate of depreciation Abschreibungssatz rate of discount Diskontsatz rate of dividend Dividendensatz rate of economic growth Wachstumsrate rate of exchange Umrechnungskurs rate of increase Wachstumsrate rate of interest Zinssatz rate of premium Prämiensatz rate of profit Gewinnsatz rate of return Kapitalversinsung rate of turnover Umschlagsgeschwindigkeit rate of unemployment Arbeitslosenquote rates Grundsteuer rate relief Grundsteuernachlass ratepayer Grundsteuerpflichtiger; Hausbesitzer ratification Ratifizierung ratify ratifizieren ratio Verhältnis ration Ration rationed rationiert rationing Rationierung rationalization Rationalisierung rationalization efforts Rationalisierungsbemühungen rationalize rationalisieren raw material Rohmaterial re bezüglich react reagieren readable lesbar ready fertig ready cash Bargeld ready money Bargeld ready market aufnahmebereiter Markt ready-made von der Stange; Konfektionsware ready for service betriebsfähig ready for operation betrebsbereit real real; wirklich real estate Grundbesitz real estate account Grundstückskonto real estate agent Grundstücksmakler real estate broker Grundstücksmakler; Immobilienmakler real estate speculation Grundstücksspekulation; Bodenspekulation real income Realeinkommen real investment Sachanlage real value wirklicher Wert; Realwert real time Echtzeit real wage Reallohn realization Verwirklichung; Liquidierung realize verwirklichen; erkennen realtor (US) Immobilienmakler rebate Rabatt recession Rezession; Konjunkturrückgang receipt Quittung receipt of goods Wareneingang receipt of payment Zahlungseingang receipts Eingänge receivables Außenstände receive erhalten received for shipment zur Verschiffung entgegengenommen receiver Empfänger reception Rezeption; Empfang receptionist Empfangsdame recession Rezession; Flaute reckon rechnen reclaim zurückfordern reclamation Zurückforderung recommend empfehlen recommendation Empfehlung recommended retail selling price empfohlener Einzelhandelsabgabepreis recompense entgelten reconciliation of accounts Kontenabstimmung reconstruction Wiederaufbau record Aufzeichnung record sales Rekordumsatz record year Rekordjahr recorded delivery Zustellungsbescheinigung recording Aufzeichnung records Aufzeichnungen; Unterlagen; Akten recourse Regress recover erholen; wieder einbringen recovery Erholung recreation area Erholungsgebiet recruit einstellen recycle wiederaufbereiten recycling Wiederaufbereitung; Wiederverwertung red tape "Bürokratie" redeem ablösen redeemable securities Wertpapiere die zurückgekauft werden redeemable bonds kündbare Obligationen redirect weitersenden; nachsenden rediscount rediskontieren; Rediskont redistribution of income Umverteilung des Einkommens redraft nochmals entwerfen; neu entwerfen; ändern redraft a bill of exchange einen Wechsel nochmals ziehen reduce reduzieren; herabsetzen reduced price reduzierter Preis reduction Reduzierung reduction of expenses Kostenreduzierung reduction of fees Gebührenermäßigung reduction of working hours Arbeitszeitverkürzung redundancy Arbeitslosigkeit redundancy payment Arbeitslosenunterstützung redundant arbeitslos; nicht gebraucht; überzählig re-export wieder exportieren; rückexportieren re-import wieder importieren; rückimportieren refer beziehen refer to drawer wenden Sie sich an den Aussteller referring to mit Bezug auf reference Referenz; Bezugnahme referee in case of need Notadresse refinance rückfinanzieren refinancing Rückfinanzierung reflux of capital Kapitalrückfluss reforestation Wiederaufforstung reform reformieren; Reform refrain from von etwas Abstand nehmen refund vergüten refundable zurückzahlbar refusal Weigerung refusal of acceptance Annahmeverweigerung refusal to pay Zahlungsverweigerung refuse weigern regard Hinsicht regarding bezüglich regardless ohne Bezug; ohne Rücksicht regards Empfehlungen; Grüße region Region; Gebiet regional regional regional planning regionale Planung register Register register of companies Handelsregister register of directors Liste der Direktoren register of members Liste der Mitglieder; Mitgliederverzeichnis registered capital eingetragenes Kapital registered customer Stammkunde; eingeschriebener Kunde registered letter Einschreibbrief registered luggage Passagiergut registered office eingetragener Firmensitz registered mail Einschreiben registered proprietor eingetragener Eigentümer registered residence eingetragener Wohnsitz registered trade mark eingetragenes Warenzeichen registrar Beamter verantwortlich für das Register registration Registrierung; Anmeldung regress Regreß regressive regressiv regular regulär regulate regeln; regulieren regulation Regelung reimburse vergüten reinsurance Rückversicherung reject zurückweisen; ablehnen rejected goods beanstandete Ware rejection Zurückweisung rejections Ausschussware relating to mit Bezug auf relations Beziehungen; Verwandtschaft relative verhältnismäßig reliable zuverlässig reliability Zuverlässigkeit relocate verlagern relocation of industry Industrieverlagerung rely on sich verlassen auf remain verbleiben remainder Rest; Restbestand remaining amount Restbetrag remind erinnern reminder Mahnung; Mahnschreiben remit übersenden; überweisen remittance Überweisung remedy Heilmittel removal Umzug; Entfernung; Entlassung removal expenses Umzugskosten removal van Möbelwagen remove umziehen; entfernen; entlassen remunerate belohnen; entlohnen remuneration Belohnung; Entlohnung renegotiation Neuverhandlung renew erneuern renewal Erneuerung rent mieten; pachten; Miete; Pacht rent value Mietwert rental Miete; Pacht; Mietsumme reorganization Neuorganisierung; Umorganisierung reorganize neuorganisieren; umorganisieren repair reparieren; Reparatur reparation Wiedergutmachung repatriate zurückführen repatriation Rückführung repay zurückzahlen repayment Zurückzahlung repeat order Wiederholung eines Auftrags replace ersetzen replacement Ersatz; Ersatzlieferung replacement costs Wiederbeschaffungskosten replenish wieder auffüllen report berichten; Bericht represent vertreten representation Vertretung representative Vertreter reprint Neudruck; Nachdruck repurchase value Rückkaufwert reputation Ruf reputed bekannt als request ersuchen; Ersuchen request for payment Zahlungsaufforderung require benötigen requirements Bedarf requisition Requirierung resale Wiederverkauf resale price Wiederverkaufspreis resale price maintenance Preisbindung zweiter Hand rescind auslöschen; widerrufen research erforschen; Forschung research and development Forschung und Entwicklung research department Forschungsabteilung researcher Forscher reservation Reservierung reserve reservieren reserve capital Kapitalreserve reserve for bad debts Rücklagen für Dubiose reservoir Wasserbehälter residence Wohnsitz resign abdanken resignation Abdankung resolute resolut; entschlossen resolution Beschluss resources Quellen; Rohstoffquellen; Ressourcen respective bezüglich respectively bezüglich responsible verantwortlich responsibility Verantwortung restock das Lager wieder auffüllen restrict einschränken restriction Einschränkung; Beschränkung restrictive einschränkend results Ergebnisse retail Einzelhandel retail cooperative Konsumgenossenschaft retail price index Einzelhandelspreisindex retail shop Einzelhandelsgeschäft retail trade Einzelhandel retailer Einzelhändler retire sich zurückziehen; in Pension gehen retirement Pensionierung return zurückkehren return of empties Rücksendung von Leergut returns Rücksendungen returns from landed property Grundstücksertrag revaluate neu bewerten; aufwerten revaluation Aufwertung einer Währung revenue Einkünfte revenue authorities Finanzbehörden revenue office Finanzamt reverse umgekehrt reverse side die andere Seite review nochmals durchsehen; nachprüfen; Nachprüfung revision Revision reward Belohnung; Preis; Entlohnung right of action Klagerecht right of way Wegerecht; Fuhrrecht right to strike Streikrecht ring Ring; Vereinigung riot and civil commotion Aufruhr und Unruhen rise aufsteigen; zunehmen; Aufstieg; Zunahme rise in prices Preisanstieg rise in pay (Br.) Lohnerhöhung rise in output Produktionssteigerung rise in productivity Produktivitätssteigerung risk riskieren; Risiko risky riskant rival Rivale road charge Straßengebühr robber economy Raubbau; Raubwirtschaft rock-bottom price allerniedrigster Preis rocket steiler Anstieg rolling stock rollendes Inventar; Waggons und Lokomotiven room service Zimmerdienst rotate rotieren rotation Rotation rough derb; grob rough balance Rohbilanz rough estimate grobe Schätzung round Runde round up abrunden round figure ungefähre Zahl rounding Abrundung routine Routine routine job Routinetätigkeit; Routineaufgabe royalty Lizenz rubber stamp Gummistempel rule regeln; beherrschen; Regel rumour Gerücht run rennen; run a business ein Geschäft führen run on a bank Ansturm auf eine Bank runaway inflation galoppierende Inflation running laufend running machine laufende Maschine running costs variable Kosten rush Ansturm; lebhafte Nachfrage rush hour Hauptverkehrszeit rush of orders Auftragswelle S sack Sack safe sicher; Tresor safe assumption sichere Annahme safe custody Verwahrung safe deposit Depotverwahrung safe deposit box Bankschließfach safekeeping sichere Aufbewahrung safety Sicherheit safety instructions Sicherheitsanweisungen safeguard sichern; Sicherung; Schutzmaßnahme safekeeping sichere Aufbewahrung sailing list Abfahrtsliste sailing date Abfahrtstag salary Gehalt sale Verkauf sale by sample Verkauf nach Muster sale by description Verkauf nach Warenbeschreibung sale ex bond Verkauf ab Zollager sale for prompt delivery Verkauf zur sofortigen Lieferung sale of goods Warenverkäufe Sale of Goods Act Gesetz betreffend den Verkauf von Waren sale of services Dienstleistungsverkauf sale on account Verkauf auf Rechnung sale on approval zur Probe; Kauf auf Probe sale or return in Kommission sale on trial Verkauf auf Probe sale to the highest bidder Zuschlag an Meistbietenden saleable verkäuflich saleability Verkäuflichkeit sales account Warenverkaufskonto sales assistant Verkäufer sales agent Verkaufsvertreter sales channel Vertriebsweg sales commission Verkaufsprovision sales figures Verkaufszahlen; Umsätze sales force Verkaufspersonal sales force alle zum Verkauf gehörigen Kräfte; Personen sales forecast Umsatzvoraussage sales inducement Verkaufsanreiz sales promotion Verkaufsförderung salesgirl Verkäuferin saleslady Verkäuferin salesman Verkäufer salesmanship Kunst des Verkaufens salespeople Verkaufspersonal salvage Bergung salvage costs Bergungskosten salvage value Bergungswert sample Muster sampling Stichprobenentnahme sanction Sanktion sanctions Sühnemaßnahmen satisfaction Zufriedenstellung; Befriedigung satisfactory zufriedenstellend; befriedigend satisfactory job zufriedenstellender Arbeitsplatz satisfactory results zufriedenstellende Ergebnisse satisfy zufrieden stellen satisfy claims Ansprüche befriedigen satisfy needs den Bedarf decken save retten save costs Kosten sparen save time Zeit sparen saving Kosteneinsparung saving of energy Energieeinsparung saving of material Materialeinsparung saving deposit Spareinlage savings Ersparnisse savings bank Sparkasse savings account Sparkonto say in Worten scale Maßstab scale of length Längenmaßstab scarce rar scarcity Knappheit scarcity of capital Kapitalmangel scarcity of material Materialknappheit scarcity of money Geldknappheit scarcity value Seltenheitswert scattered verstreut schedule Plan; Aufstellung scheduled eingeplant scheme Plan; Vorhaben science Wissenschaft scientific wissenschaftlich scientific management wissenschaftliche Betriebsführung scientific methods wissenschaftliche Verfahren scientist Wissenschaftler scope Umfang; Spielraum scope of authority Umfang der Vollmacht scope of business Geschäftsumfang; Geschäftsbereich scope of duties Aufgabenbereich scrap Schrott scrap metal Metallabfälle screen Bildschirm seal Siegel sealed versiegelt sealed up versiegelt sealing wax Siegelwachs search suchen; Suche search warrant Suchbefehl season Jahreszeit seasonal saisonbedingt seasonal adjustment saisonbedingte Anpassung seasonal fluctuations saisonbedingte Schwankungen seasonally adjusted saisonbereinigt seaworthy packing seemäßige Verpackung second mortgage zweite Hypothek second of exchange Sekundawechsel secondary zweitrangig secondary effect Nebenwirkung secondary school Schule im Sekundarbereich; Gymnasium u.a. secretarial die Arbeit des Sekretariats betreffend secretarial job Büroarbeit secretary Sekretär; Sekretärin secrecy Geheimhaltung; Verschwiegenheit section Abteilung sector Sektor secure sichern; sicherstellen security Sicherheit securities Wertpapiere secondhand aus zweiter Hand secretarial work Büroarbeiten seek advice Rat suchen seize ergreifen seizure Ergreifung; Beschlagnahme seldom selten select auswählen selection Auswahl selective auswählend; selektiv selective advertising gezielte Werbung self-controlled automatisch self-dependent selbständig self-explanatory sich selbst erklärend self-service Selbstbedienung self-service shop Selbstbedienungsladen sell verkaufen seller Verkäufer sellers' market Verkäufermarkt selling Verkaufen selling expenses Verkaufsspesen semi-finished halbfertig semi-skilled angelernt sender Absender senior senior sensitive empfindlich sensitivity training Bewusstseinstraining sentimental value Liebhaberwert separate getrennt serial Reihe; Serie series Serie serve dienen service Dienst; Dienstleistung; Kundendienst service industries Dienstleistungsgewerbe session Sitzung; Beratung set setzen; stellen settle down in business sich im Geschäft niederlassen settle an account ein Konto begleichen; eine Rechnung zahlen settlement Niederlassung; Kontenausgleich; Zahlung settlement of accounts Abrechnung der Konten settling day Abrechnungstag set-up Aufbau; Organisation severance pay Trennungsgeld share Anteil; Aktie share certificate Aktienzertifikat shareholder Aktionär shelf Regal shelve sth. etwas auf die lange Bank schieben shift Schicht; umschalten auf Großbuchstaben ship Schiff ship broker Schiffsmakler shipment Verschiffung; Sendung shipping agent Seehafenspediteur; Schiffsmakler shipping costs Verschiffungskosten shipping documents Versandpapiere shipping department Versandabteilunjg shipping instructions Versandanweisungen shipping papers Versandpapiere shop Laden; Werkstätte shop steward Betriebsobmann shopping Einkaufen shopping centre Einkaufszentrum short kurz short of sth. Mangel an etwas short list Liste der engeren Wahl short-dated kurzfristig shortage Mangel shortage of capital Kapitalmangel shortage of labour Mangel an Arbeitskräften shortage of material Materialmangel shortage of money Geldmangel shorthand Kurzschrift shorthand typist Stentypistin short-term kurzfristig short-term credit Kredit mit kurzer Laufzeit short-term orders Aufträge zur umgehenden Ausführung short-time kurz; kurzzeitig short shipment unvollständige Verschiffung short weight Untergewicht show zeigen; Show; Darbietung show business Show Business; Unterhaltungsgewerbe show of hands durch Handzeichen showroom Musterzimmer shrinkage Schrumpfen; Minderung shrinkage in value Wertminderung sick pay Krankengeld sideline Nebenbeschäftigung; zusätzliche Artikel sight Sicht sight bill Sichttratte sight draft Sichttratte sightseeing tour Besichtigungsfahrt sign Zeichen signature Unterschrift signature is missing es fehlt die Unterschrift significance Bedeutung significant bedeutungsvoll; wichtig; wesentlich silent still silent partner stiller Teilhaber similar ähnlich similarly in gleicher Weise simple einfach simple average einfache Haverie simple interest einfache Verzinsung simple majority einfache Mehrheit simulate simulieren simulated transaction Scheingeschäft simulation Simulierung simultaneous gleichzeitig single einzeln single entry bookkeeping einfache Buchführung sit sitzen sit-down strike Sitzstreik site Platz site development Baulanderschließung situated gelegen situation Situation; Lage sizable ziemlich groß size Größe size of the market Umfang des Marktes skeleton agreement Mantelvertrag skewness Schräge skilled gelernt; geschickt skilled labour Facharbeiter skilled worker Facharbeiter skywriting Himmelsschreiben slacken nachgeben; nachlassen slash (US) Schrägstrich sleeping partner stiller Teilhaber sliding down prices nachlassende Preise sliding scale Gleitskala; gestuft slip Zettel; Papier slogan Slogan; Spruch; Werbespruch slot machine Automat slow down verlangsamen; nachlassen slump Baisse small ad Kleinanzeige small advertisement Kleinanzeige smart gerissen; geschickt smuggled goods Schmuggelware social sozial social insurance Sozialversicherung social insurance contribution Sozialversicherungsbeitrag social security Sozialversicherung social services soziale Dienste socialism Sozialismus socialist Soztialist society Gesellschaft socket Sockel soft weich soft drink alkoholfreies Getränk soft drink industry alkoholfreie Getränkeindustrie soft goods Textilien softness Schwäche software Computer Programme sole agency Alleinvertretung sole proprietor Einzelkaufmann sole proprietorship Einzelfirma sole right ausschließliches Recht sole right of representation Alleinvertretungsrecht solicit erbitten solicitor Advokat; Rechtsanwalt solid gold gediegenes Gold solution Lösung solve a problem Problem lösen solvency Liquidität solvent liquid; flüssig source Quelle source of earnings Einkommensquelle spare capacity ungenutzte Kapazität spare parts Ersatzteile spare room Fremdenzimmer spare time Freizeit special speziell; besonders special equipment Spezialgerät specialty Besonderheit; Spezialität specialization Spezialisierung specialize in sth. sich auf etwas spezialisieren specialized spezialisiert specialized knowledge Fachkenntnisse specific besonders specific performance effektive Vertragserfüllung specific reasons besondere Gründe specification technische Einzelheiten; Maßangaben specifications technische Bedingungen specification of costs Kostenaufstellung specimen Muster specimen signature Unterschriftenprobe speculate spekulieren speculation Spekulation speculator Spekulant speed Geschwindigkeit speedy flink spend ausgeben spending power Kaufkraft sphere Sphäre; Kreis sphere of interest Interessensbereich spiritless lustlos; flau split spalten sponsor Sponsor; Gönner spontaneous spontan spot Platz; Fleck; Stelle spot cash sofortige Barzahlung bei Kaufabschluss spot price Spottpreis; Locopreis spread ausbreiten spread the risk das Risiko verbreiten; verteilen squeeze zwingen squeeze in dazwischenzwängen squeeze down drücken stabilization Stabilisierung stabilize stabilisieren stability Stabilität stable stabil stable money stabile Währung staff Belegschaft staff department Personalabteilung staff manager Personalchef stag "Hirsch" an der Börse stage Bühne; Stufe stage of affairs Stand der Dinge stage of production Fertigungsstufe stagnant stagnierend stagflation Stagflation stagnation Stagnation stale cheque überfälliger Scheck stall Stand; Messestand; Verkaufsstand stamp Briefmarke; Stempel stamp duty Stempelsteuer stand Stand; Messestand standard Standard standard deviation Standardabweichung standard of living Lebensstandard standard performance Standard der Ausführung standardization Standardisierung standardize standardisieren standardized product Standardartikel standing order Dauerauftrag standpoint Standpunkt standstill Stillstand staple goods Stapelware starting position Ausgangsposition starting salary Anfangsgehalt starvation wages Hungerlohn state angeben; Staat; Zustand statement Erklärung statement of account Kontenauszug static statisch stationery Firmenbriefpapier; Büropapier; Bürobedarf statistical statistisch statistics Statistik status Status statute Gesetz statutory gesetzlich festgelegt steep rise steiler Anstieg step Stufe; Schritt sterling Sterling Silber sterling area Sterling Gebiet stipulate vertraglich festlegen stock Lagerbestand stockbroker Börsenmakler stock certificate Stammaktienzertifikat stockholder Aktionär stock exchange Effektenbörse stock list Warenbestandsliste stocktaking Warenbestandsaufnahme stockpile Waren stapeln stockpiling Warenstapelung; Vorratsbildung stop a cheque ein Scheck stoppen storage Lagerhaltung storage of goods Lagerung von Waren storage of raw material Rohmateriallagerung storage of food Lebensmittellagerung storage of finished goods Fertigwarenlagerung storage room Lagerraum storage space Lagerfläche store Lager storekeeper Lagerhalter straightforward direkt strain Belastung strategic strategisch strategic planning strategische Planung streamline Stromlinie strict strikt strike streiken; Streik strike-pay Streikgeld striking bemerkenswert stringent streng stringency Strenge strong-room Stahlkammer structural changes Strukturveränderungen structure Struktur study Studie; Untersuchung study languages Sprachen lernen study economics Volkswirtschaft studieren study mathematics Mathematik studieren study a map eine Karte studieren sub-agent Untervertreter sub-contractor Unterlieferant sub-division Unterteilung subject unterwerfen; Untertan subject matter Gegenstand subject to authorization genehmigungspflichtig subject to change Änderung vorbehalten subject to immediate acceptance zur sofortigen Annahme subject to interest zinspflichtig subject to prior sale Zwischenverkauf vorbehalten subject to goods being unsold Zwischenverkauf vorbehalten subject to acceptance within 3 days zur Annahme innerhalb von 3 Tagen subject to immediate acceptance zur sofortigen Annahme subjective subjektiv subjective value subjektiver Wert subliminal unterschwellig subliminal advertising unterschwellige Werbung submit unterbreiten; vorlegen subscribe abonnieren subscribed capital gezeichnetes Kapital subscription Subskription subsidiary Tochtergesellschaft subsidiary company Tochtergesellschaft subsidize subventionieren subsidy Subvention subsistence Lebensunterhalt subsistence money Zuwendung für Lebensunterhalt substantial beträchtlich substantial contribution ansehnlicher Beitrag substitute ersetzen; Ersatz sub-total Zwischensumme subtract abziehen succeed in business im Geschäft erfolgreich sein successful experiment erfolgreiches Experiment succession Nachfolge successor Nachfolger sudden change plötzlicher Wechsel sudden increase plötzliche Zunahme sudden fall plötzliches Nachlassen sue sb. for sth. jemanden wegen etwas verklagen suffer losses Verluste erleiden sufficient ausreichend sufficient material ausreichend Material suggest vorschlagen; suggerieren suggestion Vorschlag; Suggestion suit Klage sum Summe sum total Gesamtsumme; Endsumme summarize zusammenfassen summons Vorladung sundries Verschiedenes superannuation Pension superior überlegen; Vorgesetzter super prima supermarket Supermarkt supervise beaufsichtigen supervision Überwachung supervisor Aufseher supplement Ergänzung supplementary equipment Zusatzausstattung supply versorgen; liefern supply and demand Angebot und Nachfrage support unterstützen; Unterstützung supposition Voraussetzung suppression Unterdrückung surcharge Zuschlag surplus überschüssig; Überschuss surplus amount Mehrbetrag surplus material überschüssiges Material surplus population Bevölkerungsüberschuss surplus profit Mehrgewinn surplus weight Übergewicht surprise Überraschung surprisingly überraschenderweise surrender übergeben surrender value Rückkaufwert surtax Steuerzuschlag survey Untersuchung; Umfrage suspend aufheben suspension Aufhebung; Suspensierung suspension of further development Einstellung weiterer Entwicklung suspension of payment Zahlungseinstellung suspension of a regulation Aufhebung einer Verordnung swap tauschen; Tausch sweat schwitzen sweat-mill Tretmühle switch schalten; Schalter switch on einschalten switch off abschalten switch over to umschalten syndicate Syndikat; Verband synthetic synthetisch synthetics synthetische Stoffe system System systematically systematisch T t-account T-Konto tab Schildchen; Karteireiter table auf den Tisch legen; Tisch; Tabelle tabular form Tabellenform table of charges Gebührenaufstellung; Gebührenverzeichnis table of contents Inhaltsverzeichnis tabulating machine Tabelliermaschine tabular bookkeeping amerikanische Buchführung tabularize tabellarisieren tacit stillschweigend tack Reißzwecke tacit approval schweigende Zustimmung tag Anhänger take-home-pay Nettolohn take legal advice sich beraten lassen take a day off sich frei nehmen take a risk ein Risiko auf sich nehmen take for sth. else für etwas anderes halten take in account in Betracht ziehen take off wegnehmen take up the bill einen Wechsel aufnehmen; einlösen take stock Bestand aufnehmen take away wegnehmen take into account beachten; berücksichtigen take over a company eine Firma übernehmen; die Leitung übernehmen taking of an inventory Inventuraufnahme takings Einnahmen takeover Geschäftsübernahme takeover agreement Übernahmevertrag takeover bid Übernahmegebot talented begabt tally übereinstimmen tangible property Sachvermögen talon Talon tape Band tape-recorder Tonbandgerät tare Gewicht der Verpackung target Ziel; Vorgabe target line Ziellinie tariff Zolltarif tariff agreement Zollabkommen tariff barriers Zollbarrieren; Zollschranken tariff cuts Zollsenkungen tariff rates Zollsätze tariff policy Tarifpolitik tariff protection Zollschutz tariff union Zollunion tariff walls Zollmauern; Zollgrenzen tariff war Handelskrieg task Aufgabe tax besteuern; Steuer tax advisor Steuerberater tax allowance Steuerfreibetrag; Steuernachlass tax avoidance Steuerhinterziehung tax assessment Steuerveranlagung tax burden Steuerlast tax class Steuerklasse tax collector Steuereinnehmer tax collector's office Steuerkasse tax cutting Steuersenkung tax deduction Steuerabzug tax dodger Steuerhinterzieher tax evasion Steuerflucht tax exemption Steuerbefreiung tax expert Helfer in Steuersachen tax haven Steuerparadies tax return Steuererklärung tax office Finanzamt tax paid versteuert tax privilege Steuerprivileg; Steuervergünstigung tax regulations Steuerbestimmungen tax relief Steuererleichterung tax table Steuertabelle tax year Steuerjahr tax on consumption Konsumbesteuerung tax on real estate Grundstücksbesteuerung taxation Besteuerung taxed besteuert taxpayer Steuerzahler tea break Teepause team Team; Arbeitsgruppe teamwork Teamwork; Gruppenarbeit technical technisch technical assistance technische Unterstützung technical director technischer Leiter technical difficulties technische Schwierigkeiten technical position technische Stelle technical reasons technische Gründe technique Verfahren technocracy Technokratie technological gap technologischer Rückstand; Abstand technology Technologie; Verfahrenstechnik telecommunications Fernmeldetechnik telegraphic telegraphisch telegraphic transfer telegraphische Überweisung telegraphy Telegraphie telephone Telephone telephone exchange Telephonvermittlung telephone subscriber Telefonteilnehmer telephone call Anruf teleprinter Fernschreiber telex Telex; Fernschreiben; Fernschreiber teller Kassier temporary vorübergehend temporary appointment vorübergehende Berufung; zeitlich begrenzt temporary credit Zwischenkredit temporary employment vorübergehende Beschäftigung temporary job Aushilfe; Aushilfstätigkeit temporary regulation Übergangsregelung temporary staff Aushilfen; Saisonarbeiter tenancy Pachtverhältnis tenancy agreement Mietvertrag; Pachtvertrag tenant Mieter; Pächter tend tendieren tendency Tendenz tender (öffentliche Ausschreibung) Kostenvoranschlag tentatively zögernd; versuchsweise term Bedingung; Frist term of credit Zahlungsziel term of guarantee Garantiefrist term of insurance Versicherungsdauer term of lease Pachtdauer term of office Amtsdauer term of payment Zahlungstermin; Zahlungsfrist term of a bill Laufzeit eines Wechsels terms Bedingungen; Zahlungsbedingungen terms of an agreement Bedingungen einer Vereinbarung terms of payment Zahlungsbedingungen terms of conveyance Transportbedingungen terms of delivery Lieferbedingungen terms of subscription Subskriptionsbedingungen; Bezugsbedingungen terms of trade Handelsverhältnis Import/Export terminable kündbar terminal Endstation terminate beenden termination of a contract Beendigung eines Vertrags termination of employment Beendigung der Beschäftigung territorial waters territoriale Gewässer; Hoheitsgewässer territorial allocation Gebietszuteilung; Gebietsaufteilung territory Gebiet test testen; Test test series Versuchsserie testament Testament testamentary testamentarisch theoretical theoretisch theory Theorie theory of probability Wahrscheinlichkeitsrechnung theory of large samples Theorie der großen Stichproben thinking in terms of cost Kostendenken third-party insurance Unfallhaftpflichtversicherung threat of strike Streikdrohung thrift Sparsamkeit thriftiness Sparsamkeit thrifty sparsam through bill of lading Durchgangskonnossement through traffic Durchgangsverkehr tick off an item einen Posten abhaken ticker Fernschreiber; Telegraph; Börsenschreiber ticket Fahrkarte; Flugschein ticket office Fahrkartenschalter tie-on sale gebundener Verkauf; Kupplungsverkauf tie up money Geld binden; Geld festlegen tight angespannt tightness of money Geldknappheit till Kasse; Ladenkasse time Zeit time allowed zugestandene Zeit time allowed for payment Zahlungsfrist time and motion study Arbeitsablaufstudie time bill Nachsichttratte; Zeitwechsel time consuming zeitraubend time of arrival Ankunftszeit time of departure Abfahrtszeit time lag Nachhinken time limit zeitliche Begrenzung; Frist time of circulation Umlaufzeit time of maturity Verfallszeit time studies Zeitstudien timing gute zeitliche Koordinierung tip Trinkgeld title Anrecht; Titel to whom it may concern - Bescheinigung - token Gutschein tolerable erträglich; tolerierbar ton Tonne tonnage Tonnage tools Werkzeuge top oben; erstklassig top executive leitender Angestellter top management Unternehmensleitung top manager leitender Angestellter top priority an erster Stelle top salary Spitzenverdienst topic Thema; Gegenstand tort verdrehen; Rechtsverdrehung total gesamt total loss Totalverlust total utility Gesamtnutzen tour Reise; Tour tour of inspection Besichtigungsreise tourist office Reisebüro tourist trade Fremdenverkehrsgewerbe track Spur trade Gewerbe; Handel trade agreement Handelsabkommen trade and industry Handel und Industrie trade association Handelsverband trade barriers Handelsbarrieren trade bill Handelswechsel; Warenwechsel trade bloc Blockländer trade cycle Konjunkturzyklus trade deficit Handelsdefizit trade discount Händlerrabatt trade fair Handelsmesse trade-in value Handelswert trade-mark Warenzeichen trade monopoly Handelsmonopol trade union Gewerkschaft trader Händler trading account gemischtes Warenkonto trading company Handelsgesellschaft trading certificate Gewerbeerlaubnis trading profit Gewinn aus Handelsgeschäften trained ausgebildet trainee Auszubildender trainer Ausbilder tramp steamer Trampschiff transact umschlagen; umsetzen transaction Geschäft transfer übertragen; Übertragung transit Transit transit traffic Durchgangsverkehr transitional arrangement Übergangsregelung translate übersetzen translation Übersetzung translation bureau Übersetzungsbüro translator Übersetzer transmit übersenden transmission Übersendung transport transportieren; Transport transportation Transport transportation costs Transportkosten travel reisen; Reise travel agency Reiseagentur; Reisebüro travel expense report Reisekostenabrechnung traveller Reisender traveler's cheque Reisescheck traveler's letter of credit Reisekreditbrief travelling Reisen travelling expenses Reisespesen travelling salesman Reisender; Vertreter treasurer Schatzmeister; Kassier treasury bond Schatzanweisung treasury notes Banknoten treat behandeln; bearbeiten treaty Vertrag zwischen Regierungen Treaty of Rome Verträge von Rom trend Tendenz; Trend trend of prices Preisentwicklung trial Probe trial balance Probebilanz triangular trade Dreiecksgeschäft true copy genaue Abschrift; Ablichtung trust vertrauen; Vertrauen; Trust trust deposits treuhänderische Einlagen trustee Treuhänder Trustee Savings Bank Sparkasse auf Gegenseitigkeit (Br.) trustworthy vertrauenswürdig try versuchen triplicate dreifach trunk road Fernstraße turn wenden; Wende turn of events Wende der Ereignisse; Wende des Schicksals turn an honest penny sein Geld redlich verdienen turn into cash in Geld umsetzen; zu Geld machen turnover Umsatz turnover tax Umsatzsteuer tycoon Herrscher über Geld; Firmen und Leute type Typ; auf Maschine schreiben type of account Kontenart type of enterprise Unternehmensform type of costs Kostenart type of product Art des Artikels typescript maschinengeschriebenes Schriftstück typewriter Schreibmaschine typewritten maschinengeschrieben typing pool Schreibraum typist Stenotypistin; Schreibdame; Schreiber U ultimate consumer Endverbraucher ultimo letzter Monat umpire Schlichter unable außerstande unable to pay zahlungsunfähig unability Unfähigkeit unacceptable nicht annehmbar unaltered unverfälscht unanimous einstimmig unanimously einstimmig (adv.) unanswered unbeantwortet unauthorized ohne Vollmacht unavailable nicht verfügbar unavoidable unvermeidlich uncertain unsicher unchanged unverändert uncollectible uneinbringlich uncollectible receivables Dubiose unconcerned nicht betroffen unconditional bedingungslos unconfirmed letter of credit unbestätigtes Akkreditiv uncontrolled frei uncovered ungedeckt undated undatiert under the circumstances unter diesen Umständen under separate cover in getrenntem Umschlag undercharge zu wenig berechnen undercut unterbieten underdeveloped area unterentwickeltes Gebiet underdeveloped country unterentwickeltes Land underemployed unterbeschäftigt underestimate unterschätzen underinsurance Unterversicherung underinsure unterversichern underline unterstreichen underpaid unterbezahlt underpay unterbezahlen underpopulated unterbevölkert underprivileged unterpriviligiert underrate unterbewerten underrated unterbewertet undersell unterbieten underselling Unterbietung understaffed unterbelegt; nicht genug Arbeitskräfte understand verstehen understanding Verständnis understatement Untertreibung undertake übernehmen; sich verpflichten undertaking Unternehmen; Verpflichtung underweight Untergewicht underwrite unterschreiben underwriter Versicherer underwriting Zeichnen von Versicherungsrisiken undeveloped unentwickelt undischarged bankrupt nicht rehabilitierter Konkursschuldner undistributed profits unverteilte Gewinne; nicht ausgeschüttete undrawn profit nicht entnommener Gewinn undue hardship unbillige Härte undue influence ungebührlicher Einfluß unearned income nicht durch eigene Arbeit erworben unearned discount unerlaubter Skontenabzug uneconomic unwirtschaftlich unemployed arbeitslos; Arbeitsloser unemployed capital brachliegendes; ungenutztes Kapital unemployment Arbeitslosigkeit unemployment benefit Arbeitslosenunterstützung unemployment insurance Arbeitslosenversicherung unemployment rate Arbeitslosenanteil unencumbered unbelastet unenforceable nicht vollstreckbar uneven ungleich unexpected unerwartet unfair unlauter unfair practices unlautere Handlungen unfavourable ungünstig unfavourable balance of payments ungünstige; passive Zahlungsbilanz unfavourable balance of trade ungünstige; passive Handelsbilanz unfinished goods Halbfertigwaren unfit ungeeignet unforeseen unvorhergesehen unfurnished room unmöbliertes Zimmer uniform einheitlich Uniform Commercial Code (US) einheitliches Handelsgesetz uniform law einheitliches Gesetz uniform rules einheitliche Richtlinien unilateral einseitig uninsurable nicht versicherbar union Vereinigung union shop Unternehmen nur mit Gewerkschaftsangehörigen unissued stock nichtausgegebene Aktien unit Einheit; Gerät; Stück unit accounting Stückrechnung unit cost Stückkosten unit price Stückpreis unit of currency Währungseinheit unit of measurement Maßeinheit unit of quantity Mengeneinheit United Nations Vereinte Nationen United States Chamber of Commerce Dachverband der US Handelskammern Universal Postal Union Weltpostverband unlawful rechtswidrig unlicensed ohne Lizenz unlimited unbegrenzt unlimited company (Br.) Ges. mit unbeschränkter Haftung unlimited liability unbeschränkte Haftung unlisted nicht aufgelistet unload entladen unloading charges Entladekosten unmerchantable unverkäuflich unofficial nicht offiziell unpaid unbezahlt unpayable unbezahlbar unpriced goods nicht ausgezeichnete Ware unproductive nicht produktiv unprofitable nicht gewinnbringend unproportional außer Proportion unqualified ungeeignet; untauglich unqualified document nicht eingeschränktes Dokument unreasonable unverschämt unreliable unzuverlässig unsafe nicht sicher unsaleable unverkäuflich unsecured nicht abgesichert; ohne Sicherheit unsecured debt nicht abgesicherte Verbindlichkeit unskilled ungeschickt; nicht ausgebildet unskilled labour Hilfsarbeit unskilled worker Hilfsarbeiter upset aufgebracht upswing Aufschwung up-to-date auf dem neuesten Stand urban städtisch urban area Stadtgebiet urban renewal Stadterneuerung usage Brauch; Gepflogenheit usance Handelsbrauch use verwenden; Verwendung useful dienlich; nützlich usefulness Nützlichkeit user Anwender user group Anwendergruppe usurer Wucherer usurious interest Wucherzins usury Wucher utility Nützlichkeit; Nutzen utilize nutzen utilization Verwertung utilization of resources Nutzung der Resourcen utopian utopisch utmost äußerste V vacancies freie Stellen vacancy Stellenangebot vacant frei vacate a position eine Stellung aufgeben; räumen vacation Urlaub; Ferien (US) vacation money Urlaubsgeld vacation of a building Räumung eines Gebäudes vacation allowance Urlaubsgeld vacation period Haupturlaubszeit valid gültig valuable consideration entgeltliche Gegenleistung valuables Wertgegenstände valuation Bewertung valuation of stocks Bewertung des Lagerbestands value Wert value-added tax Mehrwertsteuer value analysis Wertprüfung value received Gegenwert erhalten value of goods Warenwert value of goods in progress Wert der in Produktion befindlichen Ware van Lieferwagen; geschlossener LKW (Br.) variable variabel variable costs variable Kosten variation Abweichung; Variation variety Vielfalt vary variieren vary with the season Saisonschwankungen unterliegen vault Stahlkammer vehicle Fahrzeug velocity Geschwindigkeit velocity of circulation Umlaufsgeschwindigkeit vending machine Automat; Warenautomat vendor Verkäufer venture Wagnis; Unternehmen; Risiko venture capital Risikokapital verbal mündlich verbal offer mündliches Angebot verification Nachprüfung verify nachprüfen vested interest erworbenes Recht vice-chairman stellvertretender Vorsitzender vice-president Vizepräsident view Ansicht violation of a contract Vertragsverletzung violation of secrecy Verletzung der Geheimhaltung violation of professional secrecy Verletzung des Berufsgeheimnisses visa Visum visible sichtbar visible exports sichtbare Exporte visible imports sichtbare Importe visible items of trade sichtbarer Teil des Handels visit besuchen; Besuch visiting lecturer Lehrbeauftragter visitor Besucher vital lebenswichtig vital interests lebenswichtige Interessen vocational advisor Berufsberater vocational counselling Berufsberatung vocational training Berufsausbildung vocational guidance Berufsberatung void nichtig volume Umfang; Volumen volume of business Geschäftsumfang volume of credit Kreditumfang volume of expenditure Ausgabenumfang volume of sales Umfang der Verkäufe volume of trade Umfang des Handels volume of work Arbeitsumfang; Arbeitsanfall voluntary freiwillig vote stimmen; Stimme vote of confidence Vertrauensvotum voucher Gutschein W wage Lohn; Arbeitsentgelt wage accounting Lohnabrechnung wage adjustment Lohnangleichung wage bargaining Lohnverhandlung wage bracket Tarifklasse wage cut Lohnkürzung wage dispute Lohnstreitigkeit wage group Lohngruppe wage earner Lohnempfänger wage and price control Lohn- und Preiskontrolle wage freeze Lohnstop wage packet Lohntüte wage-price spiral Lohn-Preis-Spirale wagering contract Vertrag betreffend eine Wette wages Entlohnung wages in kind Naturallohn wages clerk Lohnsachbearbeiter wages packet Lohntüte wages theory Lohntheorie wageworker Lohnarbeiter wagon train Güterzug wagon load Waggonladung wait warten waiting time Wartezeit walkout Arbeitsniederlegung Wall Street Börsenzentrum in New York want of care mangelnde Sorgfalt want of confidence mangelndes Vertrauen want of money mangelndes Geld; Geldmangel want of raw material Mangel an Rohstoffen want of appreciation Mangel an Anerkennung ware Ware warehouse Warenlager; Lagerhalle warehouse keeper Lagerverwalter warehouse receipt Lagerempfangsschein warehousing charges Lagergeld warehouse rent Lagermiete warehouseman Lagerist warn warnen warning Warnung warrant gewährleisten warranted echt warranty Gewährleistung wastage Verschwendung waste Abfall waste land Ödland waste material Abfall waste paper Papierabfälle; Makulatur waste product Abfallprodukt waste of effort Arbeitsverschwendung waste of goodwill Vergeudung des guten Ansehens waste of material Materialverschwendung waste of money Geldverschwendung waste of paper Papierverschwendung waste of public funds Verschwendung öffentlicher Gelder waste of time Zeitverschwendung water supply Wasserversorgung waterproof wasserdicht waterways Wasserstraßen waybill Frachtbrief (US) ways and means Mittel und Wege weaker tendency Abschwächung wealth Wohlstand; Reichtum wear tragen; abnutzen wear and tear Abnutzung weather insurance Wetterversicherung weekly wöchentlich weekly allowance wöchentliches Taschengeld weekly wage Wochenlohn weekly pay Wochenlohn weekly rent Wochenmiete weekly ticket Wochenfahrkarte weighbridge Brückenwaage für Fahrzeuge und deren Ladung weighing charges Wiegegeld weight Gewicht weight of packing Gewicht der Verpackung weighted index gewichteter Index weighting Gewichtung welfare Wohlfahrt welfare committee Wohlfahrtskommittee welfare state Wohlfahrtsstaat welfare system Wohlfahrtssystem welfare work Sozialarbeit welfare worker Sozialarbeiter well-educated gut erzogen well-priced preisgünstig well-trained gut ausgebildet well off wohlhabend well-to-do vermögend wet goods flüssige Güter wharfage Werftgebühr white-collar worker Büroangestellter White Paper Weißbuch wholesale Großhandel wholesale business Großhandelsgeschäft wholesale cooperative Großhandelsgenossenschaft wholesale dealer Großhändler wholesale discount Großhandelsrabatt wholesale price Großhandelspreis wholesale trade Großhandel wholesaler Großhändler widow's allowance Witwengeld wildcat strike wilder Streik willingness to pay Zahlungswilligkeit wind up abwickeln winding-up Abwicklung; Liquidation windfall profit überraschender Gewinn; unerwarteter Gewinn window Fenster window display Schaufenstergestaltung; Schaufensterreklame window dressing Schaufenstergestaltung; "Spiegeln" window envelope Fensterumschlag window shopping Schaufensterbummel withdraw zurückziehen; zurücknehmen; annullieren withdrawal Zurücknahme withdrawal of an application Zurücknahme eines Antrags withdrawal of a credit Kündigung eines Kredits withdrawal of a licence Zurücknahme einer Lizenz withdrawal of an order Stornierung eines Auftrags without prejudice ohne Vorurteil without recourse ohne Regreß witness bezeugen; Zeuge witness summons Zeugenvorladung wording Wortlaut; Formulierung wording of a contract Wortlaut eines Vertrages wording of a bill Wortlaut eines Wechsels wording of a letter Wortlaut eines Briefes work arbeiten; Arbeit work day Arbeitstag work overtime Überstunden machen work short-time kurzarbeiten work full-time ganztägig arbeiten work off a debt eine Schuld abarbeiten work part-time halbtags arbeiten work of reference Nachschlagewerk work a market einen Markt bearbeiten workforce Arbeiterschaft; Belegschaft working assets Umlaufvermögen working capital Arbeitskapital; Betriebsvermögen working classes Arbeiterschaft working conditions Arbeitsbedingungen working hours Arbeitszeit working life Berufsleben working plan Arbeitsplan working papers Arbeitspapiere working to rule gemäß den Vorschriften arbeiten workmanship Bearbeitung; Qualitätsarbeit; Verarbeitung workpeople Arbeiter workshop Werkstatt work study Arbeitsstudie works manager Betriebsleiter world economy Weltwirtschaft world price Weltmarktpreis world trade Welthandel world-wide weltweit world-wide crisis Weltkrise worth wert; Wert worthless wertlos wrapping Verpackung writ Schrieb; Schriftsatz writ of attachment Pfändungsbefehl writ of execution Vollstreckungsbefehl writ of summons Vorladung write down niederschreiben write off abschreiben write-off Abschreibung write an article einen Artikel schreiben write a letter einen Brief schreiben write sth. down etwas notieren write out a cheque einen Scheck ausstellen written schriftlich written agreement schriftliche Zustimmung written application schriftliche Bewerbung written evidence schriftlicher Beweis wrong falsch; Unrecht wrongly fälschlicherweise X xerox Xerox; schnelldrucken; kopieren xerography Xerographie; Kopierverfahren Y yardstick Maßstab year Jahr year of assessment Veranlagungsjahr year under review Berichtsjahr yearbook Jahrbuch yellow pages gelbe Seiten ; Branchenadressbuch der Post yield einbringen; Ertrag yield on securities Ertrag aus Wertpapieren yield on shares Ertrag aus Aktien young person (Br.) Jugendlicher zwischen 14 und 17 Jahren yours faithfully hochachtungsvoll yours sincerely mit freundlichen Grüßen youth employment service Arbeitsberatung; Ausbildungsberatung Z zero Null zero growth Wachstumsstillstand zero deviation Nullabweichung zip code Postleitzahl (US) zone Zone zoning Unterteilung in Zonen zoning restrictions Baubeschränkungen in einer Zone zzzzz zzzzz zzzzz COPYRIGHT WINFRIED HONIG zzzzz zzzzz NUERNBERG 2001 zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz WINFRIED HONIG zzzzz zzzzz FRANZ-REICHEL-RING 12 zzzzz zzzzz 90473 Nuernberg zzzzz zzzzz Germany zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz Tel. 0911 / 80 84 45 zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz winfried.honig@online.de zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz http://dict.leo.org zzzzz zzzzz http://www.dicdata.de zzzzz zzzzz http://mrhoney.purespace.de/latest.htm zzz zzzzz zzzzz End of Mr Honey's Small Business Dictionary (English-German) (C)2001, 2002 by Winfried Honig **This is a COPYRIGHTED Project Gutenberg Etext, Details Above** End of the Project Gutenberg EBook of Mr Honey's Small Business Dictionary (English-German), by Winfried Honig *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MR HONEY'S SMALL BUSINESS *** ***** This file should be named 3217-8.txt or 3217-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/3/2/1/3217/ Produced by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com. 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40523-8
The Project Gutenberg EBook of Die Osternacht, by Leopold Schefer This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Die Osternacht Erste Abtheilung Author: Leopold Schefer Release Date: August 18, 2012 [EBook #40523] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE OSTERNACHT *** Produced by Jens Sadowski Leopold Schefer Die Osternacht Die Osternacht. Erste Abtheilung. Sinnwort: Erdennoth Keine Noth! Nur vom Herzen Kommen Leiden, Leben, Freuden, Tod und Schmerzen. 1. Wer machte denn die Thür auf, Johannes? -- Johannes, hörst Du! schlafe nur nicht so fest. Es weht die Kinder kalt in ihren Bettchen an. Geh', mache sie zu! ich fürchte mich. Sieh', guckt es nicht dort mit funkelnden Augen herein? hat es nicht Hörner? -- Christel fuhr unter die Bettdecke. Du bist ein furchtsames Kind, sprach Johannes; und das kommt daher, daß Deine Mutter Dich zehn Jahre nach ihrem vorletzten Kinde getragen und sich vor den Leuten geschämt und nur im Dunkel ausgegangen. War sie denn nicht eine eheliche Frau, noch ein Weib in ihren besten Jahren? Nun hab' ich mein Leiden mit Deiner Furcht, und auch der ganz kleine Junge alterirt sich schon, wenn man ihn nur mit einem Hasenfuß anrührt. -- Geh'; Daniel, stehe Du auf und mache die Thür zu und sperre die Ziege ein. Der kleine Daniel sprang mit bloßen Füßen aus dem Bett, um zu gehen. Vater, rief er, es ist Wasser in der Stube! Bis über die Kniee! Mutter, die Wiege ist schon zum Fenster geschwommen. Du bist noch im Traume! Daniel, sprach die Mutter. Nein, Mutter! wahrhaftig Wasser. Hörst Du? -- Und nun rauschte er mit den Füßen darin. Auch die Ziege kam gewatet. Die Mutter sprang aus dem Bett und eilte zum Kleinen in der Wiege. Der Vater sah zum Fenster hinaus. Um des Himmels willen, was ist denn? fragte Christel. Hu, wie kalt ist das Wasser! -- Johannes antwortete nicht. Er hörte nur scharfes Läuten vom Kirchthurm, ein dumpfes Rauschen, ängstliche Stimmen im Dorfe, gerufene Namen, Geschrei der Kinder und hohles gedämpftes Gebrüll des Viehes. Männer und Weiber und Kinder fuhren wie im Schattenspiel in der Nacht, selbst wie Schatten in Kähnen vor dem Hause vorüber, wo Abends noch trockene Straße war. Ein Mann führte seine Kühe watend nahe am Zaune des Gärtchens vor seinem Fenster hin. -- Was ist das? fragte er ihn. Keine Antwort. Ein Anderer ritt auf dem Pferde, einen Knaben vor sich. Ist denn das der Rhein hier? fragte er diesen. -- Das Wasser hier im Hause der Rhein! wiederholte Christel. -- _Das Mal_ ist er es! antwortete Jener draußen vom Pferde, vorüber eilend; macht, daß Ihr fort kommt, Johannes! der Damm ist gebrochen! -- Das hier der Rhein? das Wasser hier! Hat davon jemals im Dorfe ein alter Mann erzählt? fragte Christel. _Das Mal_ ist das der Rhein! Wir stehen hier im Rhein in der Stube! sagte Johannes. -- Horch, wieder die Sturmglocke vom Thurm! das klingt ängstlich! Nimm die Kinder, die Kinder, und fort, fort! Laß Dich nicht übereilen, Johannes! sagte Christel gefaßt. Einen Augenblick überlegt, was wir thun, was wir nehmen und lassen. _Der_ Augenblick kommt nicht wieder! Das hat Dir Gott eingegeben, den Kahn noch gestern im Hofe fertig zu machen, selber die Ruder hab' ich hineingelegt. -- Das Erste ist die Nürnberger Bibel von meinem Vater, dann die Kinder und die Sonntagskleider! Weißt Du noch Etwas? Geld haben wir nicht! seufzte Johannes mit gefalteten Händen. Unser Haus war das Beste -- und der Garten. Die Fische werden doch leben bleiben! So bleiben wir Fischer! -- Nun in Gottes Namen! ich bin angezogen; trieb Christel. So nahm sie denn das Kind in seinem Bettchen aus der Wiege, der kleine Daniel rief seinen Staar vom Ofen: du Dieb! du Dieb! dann nahm er den Vogel, der Vater den Daniel auf einen Arm, auf den andern das Mädchen, sein Sophiechen, und so wateten sie zum Kahn, der schon flott war. Christel stieg ein und blieb bei den Kindern. Der Vater holte noch die Nürnberger Bibel und die Federgebette und die Sonntagskleider aus der Lade, legte auch das hinein und fragte: haben wir sonst etwas Wichtiges vergessen? Daß ich nicht weiß! sagte Christel; ich habe Alles! Da sprang noch die Ziege in den Kahn, die Kuh war nicht mehr zu retten. Nun walte Gott! sprach Christel; und so fuhr denn Johannes sachte und vorsichtig über die niedrige, schon überschwemmte Mauer des Gehöftes mit dem Kahn voll seiner besten Habe hinüber nach den Bergen, über welchen ruhig, sicher und fern der Komet mit langem, weißem Schweife stand, der wie ein langes hinaufgestrecktes Schneckenhorn des Berges zum Himmel reichte und geisterhaft und doch gütig und freundlich den Menschen leuchtete. Du hast gut da im Trocknen scheinen und steuern! sagte Johannes. Du bist an Allem schuld! Spotte nicht! verwies ihm Christel; es ist ein Bote des Herrn mit seinem Stabe. Es ward plötzlich still auf den verworrenen Lärm im Dorfe. Das Schreckliche war geschehen. Die sich retten konnten, waren gerettet und waren nun still, auch wo sie flohen; und die sich nicht gerettet; waren auch still; nur manchmal erscholl noch Hundegebell, oder Geschrei der Hähne, die den Morgen anriefen, oder Geläut aus benachbarten Dörfern, auch wohl ferner Schüsse Hall das Thal hinab und hinauf, und ein lauer Thauwind fiel in zuckenden Stößen vom Himmel. So fuhr denn auch Johannes still an Mauern dahin, über Gärten und Wiesen, die zum See geworden. Nur zuweilen kam es ihnen vor, als hörten sie rufen: »Johannes!« und dann wieder schwächer: »Johannes!« aber es fiel ihnen nicht ein, daß sie ihre _Dorothee_ vergessen, die auf dem Boden geschlafen. Sie waren froh, daß ein Kahn sie einholte. »Guten Morgen!« grüßte es beklommen herüber. »Guten Morgen!« dankten sie wehmüthig hinüber, und schweigend gelangten sie ans Ufer. 2. Da! nimm mir das Kind ab, Dorothee! sagte Christel und hielt es ihr aus dem Kahn hin. Denn sie glaubte, das flinke Mädchen sei zuerst ans Ufer gesprungen. Dorothee! wo bist Du denn? rief sie noch einmal. Sie sahe sich um, sie überblickte den Kahn, da war keine Dorothee, und vor Schrecken hätte sie bald das Kind von den ausgestreckten Armen ins Wasser fallen lassen. Sie setzte sich aber und beugte sich über das Kind. -- Ich frug Dich ja noch, liebes Weib, sprach Johannes, ob wir Etwas vergessen. Etwas ist kein Mensch, erwiederte sie. Du sagtest, ich habe Alles! sprach er. -- Ach, ich habe Alles, das sagt' ich, weil ich meine Kinder hatte! den Daniel, das Sophiechen und den kleinen Gotthelf. Kehre um, Johannes, das Mädchen ist Dir ja so lieb, wie ich und die Kinder! Sie hat Niemanden als Uns, wer denkt an sie? so ist sie denn Uns auf die Seele gebunden. Kehr' um! Soll sie so mißlich umkommen? Wie viel Häuser sind schon eingestürzt. Johannes kehre um. »Johannes!« rief sie, »Johannes!« jetzt weiß ich, wer rief, und wen sie meinte -- Dich, mein Johannes! -- Ich will! tröstete sie Johannes; nur wärmt Euch erst. So stiegen sie aus und richteten sich ein. Die Ziege weidete unbekümmert; Daniel las Holz zusammen, Johannes brachte einen Feuerbrand von dem Feuer des nächsten Unglücksgenossen, und während dessen erschien der Purpurstreif der Morgenröthe und beschimmerte das Thal und den Strom, und zuletzt kam auch die Sonne und schien sich umzusehen. Von Zeit zu Zeit läutete es noch im Dorfe vom Thurme. -- Wer muß das sein? sagte der junge Prediger, der herzugetreten, denn dort steht der alte Küster mit allen den Seinigen. Die Kirche liegt tief, und dem wir die Rettung, nächst Gott, am meisten verdanken, der steht nun selber in Noth. Seht, ist nicht Jemand dort im geöffneten Kirchthurmfenster? -- Es ist ein Mann! sagte Johannes, und keiner aus dem Dorfe; ich dächte, er trüge einen andern Rock, als wir Leute hier, jetzt weht er auch mit einem weißen Tuche. Nun geht er wieder läuten, horch! Das ist gewiß der Reisende, der gestern bei mir war und mich nicht zu Hause fand. Er wollte heute wieder zu mir kommen, bemerkte der Prediger. Ja, sagte der alte Küster. Als ich den Thurm aufschließen ließ, war er schon da und riß mir die Schlüssel aus der Hand, trieb mich fort und sprang selber zu läuten. Er ließ sich's nicht nehmen. Ich sah ihn gestern Abend im Wirthshaus. Er hat auch ein Pferd. Gehabt! sagte der Prediger; denn das ist nun ertrunken. Wir wohnen Alle dort tief. Das war wohl ein Schreckliches! Ach, es ist noch ein Schreckliches! seufzte Christel und deutete stumm und die Augen voll Thränen nach ihrem Hause, auf dessen Dache eine weiße Gestalt saß neben der Leiter. Wer von Euch ist das? fragte der Prediger. Unsere Dorothee, die meine Frau mit aus dem Vaterhause geerbt, sagte Johannes ihm leiser. Jetzt will ich hin. Das Dach hat sich schon gewandt, denn die Morgensonne bescheint den Giebel, was sie in ihrem Leben nicht gethan! -- Fahrt mit Gott! sagte der Prediger. Aber wer wird Euch begleiten außer ihm? Die Männer sind fort nach allerhand Hülfe, oder retten noch; ich verstehe es nicht, das Ruderscheit zu führen, und gehe denn lieber aus nach Zufuhr ins nächste Dorf, daß Ihr wenigstens Brot und Wein bekommt. So ging er. Christel küßte ihren Johannes; er küßte die Kinder, dann fuhr er allein zurück. Er mußte zuerst an der Kirche vorüber, worauf der Fremde jetzt stärker geläutet und nun hinab in das Fenster getreten. Johannes hätte müssen kein Herz haben, wenn er ihn nicht zuerst in den Kahn genommen. Und nach einigen kurzen Worten des Dankes half er nun selber hinüber rudern zum Hause, von dem das Mädchen ihn mehr geängstet als er sich selbst über seine Lage. -- So oft sie die Arme ausstreckte, riß ich wieder an der Glocke! erzählte er Johannes. Sie legten an das Dach an, aber sie mußten ihr laut zurufen, herabzusteigen, so erstarrt und versonnen saß sie da oben. Ja es erschien dann, als sie gleichgültig die Männer ansah, sogar ein Trotz, eine Rache, eine wehmüthige Lust, umzukommen, in ihrem Gesicht. Sie ward über und über roth. Sie wähnte sich _vernachlässigt_, als eine arme vater- und mutterlose Waise! nicht vergessen vor Angst; und auch jetzt hatte Johannes _zuerst_ den Fremden eingenommen, und nicht erst auf der Rückfahrt! So blieb sie, und auf wiederholten Zuruf schluchzte sie vollends vor Thränen und kehrte sich ab. -- Laßt das arme Mädchen erst ausweinen und sich die Thränen trocknen, damit sie die Sprossen der Leiter nicht fehlt, sagte der Fremde mitleidsvoll. Sie hat nicht mehr an das Leben geglaubt; und nun schlägt ihr das Herz auf einmal zu voll. Und so stieg er selbst hinauf und geleitete Dorotheen hinab. Sie schwieg während der Fahrt nach den Bergen und sahe zurück auf die Fläche des Wassers, während die Männer hinüber ruderten. Sie brach voll brauner Knospen schimmernde Zweige von den Obstbäumen, an denen sie hinfuhren, und warf sie in das Wasser, ohne sie anzusehen. Am Ufer warf sie sich der weinenden Christel an die Brust und sagte: Nun seid Ihr so arm als ich! Ist _das_ Dir ein Trost! erwiederte Christel. _Nun_ werdet Ihr mich lieber haben! seufzte Dorothee. Ach, wie war mir diese zwei Jahre her zu Muthe, seit der Prediger gestorben; und auch bei ihm, wie oft hab' ich geweint! Was kannst Du für Deine betrogene Mutter! sprach Christel. Es hat ihr auch das Leben gekostet. Sei ruhig. Wir waren nicht reich, aber wir liebten Dich! wir lieben Dich und sind nun arm. Gott sei Dank! seufzte Dorothee leise, nun ist mir wohl. Der Fremde hatte das schöne, sechzehnjährige Mädchen mit Verwunderung betrachtet. Ihr habt da ein eigenes Kind! sagt' er. Schöne Mädchen müssen nicht so stolz, so eigensinnig sein! drohte er ihr sanft mit dem Finger. Dorothee wollte ihn böse ansehen; aber es gelang ihr nicht: denn von einem freundlichen Blick getroffen, mußte sie endlich sogar auch lächeln, wie er lächelte. _Mir_ ist nicht wohl, sagte er, daß ich _jetzt_ arm bin. Ich kann nicht einmal meinem Freunde hier anders als mit Worten danken! Das ist nicht nöthig! sagte Dorothee. Er hat ja eigentlich mich geholt, wie er spricht. Oder nicht? Freilich! sagte Johannes. So schenkte der Fremde nur einige kleine Stücke Geld an die Kinder, schrieb sich Johannes Namen in seine Schreibtafel, drückte ihm die Hand, versicherte ihm, daß er sich werde vernehmen lassen, schnitt einen Stock aus dem Haselgesträuch, ließ sich den Weg nach Groß-Breitenthal weisen und wanderte in die Berge. Während dessen hatte sich die Schlinge, womit Johannes den Kahn an einen Stein in der Eile und der Freude befestigt, abgezogen durch das Wiegen auf den Wellen -- und jetzt war der Kahn schon unerreichbar, wandte in eine Strömung und schwamm fort. Daniel schrie; Johannes sah ihm nach und sagte dann: nun bin ich ein Fischer gewesen! nun ertrinken mir die Fische! -- Christel schwieg; Dorothee lächelte verstohlen, rief die Ziege, setzte sich auf den Stein und melkte Milch zum Frühstück für die Kinder. 3. Nun was sagt denn Deine Bibel? fragte Johannes nach Mittag seine Christel, die darin las; welches Winzerhäuschen in den Weinbergen ist denn noch leer? oder wohin sollen wir wandern? und was sollen wir anfangen? Christel machte gelassen die Bibel zu, drückte die Schlösser fest, und eine Hand auf den Deckel gestützt, sah sie ihn ruhig an. Siehst Du nicht, fragte sie ihn, was darin steht? wenn Du auch die Schrift nicht lesen kannst: so kannst Du doch in meinem Gesicht lesen, was darin steht: Zufriedenheit und Vertrauen! Aber können wir darin wohnen, wie in einer Hütte? können wir sie den Kindern geben als Brot? Du bist wunderlich, lieber Johannes, erwiederte Christel. Dir muß man das anders sagen. Siehst Du, -- zu _deinem_ armen Vater Frommholz können wir einmal nicht, da fern auch über den angeschwollenen Main, aber unter dem Lesen ist mir nun eingekommen, daß mein Vater dem Herrn von Borromäus in guten Zeiten auf inständiges Bitten 1000 Gulden geliehen hat. Er war ein schwacher Mann und dachte, der Hase habe ihn geleckt, wenn ihm ein »Herr von« die Hand gedrückt und sein erspartes Geld in eigner hoher Tasche nach Hause getragen. Doch _das_ Geld hab' ich ihm mit dem Voigt selber hinauf nach Breitenthal getragen, und ich bekam einen Dukaten Botenlohn, den unser Sophiechen da noch am Halse trägt, und einen Kuß, den ich mir hundert Mal abgewaschen. Ach, ich weiß noch wie heute, ich brach in seinen Armen vor Scham und Schande und Jammer, und wer weiß vor was allem in Thränen aus und war gar nicht zufrieden zu stellen. Ich kam mir vor, wie gestorben, verdorben, entweiht und entehrt auf immer. Das war eine Noth! Der alte Herr sogar war selber betreten und schrieb mir die Quittung. Und die 1000 Gulden gehören von Gott und Recht laut Testament nun mir. Darum wollen wir hinauf; denn unser Haus, das siehst Du, ist zerstört, und von dem Gelde bauen wir es neu auf. Der Edelmann hat ja niemals nur einen Kreuzer Interessen entrichtet und behauptet, er hätt' es dem Vater schon wieder bezahlt! lächelte Johannes. Leider hat es der arme verschuldete Herr gethan -- als wir noch Etwas hatten und ohne ihn lebten; aber, Johannes, _nun_ wird er es nicht leugnen, nun wird er es gewiß bezahlen, gewiß! nun wir verarmt sind. Du hast einen guten Glauben! meine Christel, sagte Johannes fast unmuthig. Die Mutter aber rief ihr Sophiechen herbei, nahm sie auf dem Schooß in die Arme, wiegte sie und fragte sie liebkosend: Sage Du mir, Sophiechen, werden wir das Geld bekommen? Nein? oder Ja! Nicht wahr Sophiechen, sag'! werden wir das Geld bekommen? Ja! sagte Sophiechen, mit der Post! -- Da hörst Du, Johannes! sagte die Mutter. Das Kind hat es gesagt. Du hättest nur noch deutlicher zu ihr sprechen sollen: Sage ja! -- Ist denn das Kind eine kluge Frau? oder bist Du eine kluge Frau? Du wirst schon abergläubisch; das macht das Unglück! meine gute Christel. Du wirst sehen, Johannes! was die unschuldigen Kinder sagen, ist wahr. Wenigstens unschuldig. Was wollen wir Anderes machen als hoffen. Im Dorfe kann uns Niemand helfen, Jeder braucht selber Hülfe. Es ist nicht zu weit hinauf, darum wollen wir noch vor Abend hinüber! hier haben wir uns satt gesehen an der lieben Gottesgabe, dem Wasser! Er wird doch irgend ein Häuschen, oder ein Stübchen haben der Borromäus. Es sind auch Wagen von Breitenthal da; Alles ist ausgetheilt, und sie fahren nun leer zurück, die nehmen die Kinder mit, und wir gehen. Das war bald geordnet, und so zogen sie in die Berge hinauf durch den Fichtenwald. Johannes sah noch manchmal zurück und weinte dann, wenn er die Kinder auf dem Wagen fröhlich darüber sah, daß sie fuhren, und Daniel, daß er das Ende der Zügel halten durfte. An der Waldkapelle mit dem Marienbilde aber war Christel heimlich zurück geblieben, hingekniet und dankte für die glückliche Rettung und betete für die Zukunft. Johannes hatte es gesehen, schlich hinzu und zog sie hinweg. Ist das _unsre_ Heilige! fragte er sie strafend. -- _Auch unsre!_ sprach Christel gelassen. Sie stellt die Mutter des Heilandes vor, der doch _unser_ Heiland ist, und sie bleibt ja auch seine _Mutter_. Ich bin auch eine Mutter, darum lasse mich nur! Mir war das Herz zu weich, und das Auge zu voll, ich dachte nur an den himmlischen Vater, das kann ich Dir sagen -- und das Herz ist mir ganz leicht geworden, das kannst Du mir glauben. Du bist ein Kind! sagte Johannes beruhigt. Aber er führte sie fort, und nach kurzer Zeit sahen sie halb im Gebüsch einen Jäger stehen, der dem Wagen nachsah. Waren das Eure Kinder? fragte er sie, als sie ihm nahe gekommen. Sie sind noch unser! Gott sei Dank! antwortete Johannes. Ihr seid also mit verunglückt, sagte der Jäger mit halbem Frageton! und mit stillen Blicken auf dem hübschen jungen Weibe, den braunen Augen, den rothen Wangen, den vollen Armen ruhend, und dann in sich lächelnd, fragte er Johannes: Wo gedenkt Ihr denn hin? -- Christel entdeckte ihm nun ihr Vorhaben, sogar von wem sie Geld zu erwarten hätten. Da kann ich Euch rathen! sagte der Jäger; ich heiße Niklas und bin in Diensten auf dem Edelhofe. Von Eurem Gelde weiß ich nun freilich nichts; aber daß der alte Herr Schulden hat, viele, was man sagt: Gläubiger, die an ihn geglaubt haben, das singen die Sperlinge auf dem Kirchdache, wie das eine und dasselbe Präludium des Schulmeisters Wecker, das sie alle Sonntage auf der Orgel hören. Was soll ich es Euch verschweigen! Ich habe selber einmal hinten auf dem Wagen, als wir zur Jagd fuhren, mit angehört, daß er zu seinem Herrn Sohne, dem gnädigen Gottlieb -- denn so heißt er -- und das ist er auch wirklich, einst sagte: Mein Sohn, lerne von mir! Ich spiele das chinesische Sackspiel, wo zehn, ja zwanzig mit Sand gefüllte Säcke im Zimmer von der Decke hängen, und der Spieler stellt sich mitten in die Säcke, setzt sie in Bewegung, daß sie alle gehen, wie geläutete Glocken: bim baum, bim baum! und nun besteht die ganze Kunst darin: jeden Sack, der ihn stoßen will, selber zuerst fortzustoßen, und weder von den groben Säcken allen zur Seite noch von vorn und von hinten tüchtig getroffen zu werden! Freilich bricht mir der Angstschweiß aus, von der unaufhörlichen Arbeit mit meinen sackgroben Gläubigern! aber ich stehe doch noch fest, wenn auch mit tüchtigen blauen Flecken, woher ich sie gar nicht vermuthet. -- Doch ich bin Kreisrath! und halte den Gerichtshalter warm, mich kümmert nur das Proxeneticum! -- so sagt' er und lachte. -- Aber laßt das nur gut sein, lieben Leutchen! Er hat jetzt eine furchtbare Brennerei angelegt, da das Getreide gar nicht gilt, und wenn er an den vielen Stückfässern sich nicht die Seligkeit an den Hals trinkt, weswegen er in seinem ewigen Taumel schon bei lebendigem Leibe nur der _selige Herr_ im Dorfe heißt -- und eine rothe Nase hat er sich auch schon bloß angekostet, und statt der Gradewage braucht er nur die Zunge, so ein Kenner ist er -- wenn er noch lange der selige Herr bleibt: so hat er, wie er sagt, in wenigen Jahren alle seine Gläubiger sich vom Halse gebrannt und wegdestillirt! Darum habt nicht gerade die größte Sorge, aber desto größere Geduld. -- Wenn er das Sackspiel so gut spielt, meinte Johannes -- -- so wird er Euch auch für einen ansehen, glaubt Ihr? Gedanken sind zollfrei. Aber dafür ist der gnädige Gottlieb; das ist ein prachtvoller Mann! dabei blickte er wieder auf Christel -- und daß er eine Frau hat, das schadet nichts. Das sollte ihm schaden? fragte Johannes. Nun wie ich das meine! versetzt' er. Die Frau ist so schön und brav, daß sie mir manchmal leid thut, aber auch wieder nicht, eben wenn ich bedenke, daß sie gar so brav ist! Da kommt es auf Eins hinaus. -- _Diese_ Aeußerung des rohen Niklas bewog Christel, den Jäger das erste Mal freundlich anzusehen. -- Nun kommt nur, kommt! ermuntert' er sie. Bei uns ist kein Raum, auch im Dorfe wüßt' ich eben keinen. Aber ich getraue mich bei dem gnädigen Gottlieb es zu verantworten, wenn ich Euch in ein leeres Häuschen weise. Bewohnt ist es nie gewesen, aber es ist zu bewohnen. Denn in dem einen Stübchen ist auch ein Ofen, daß wir es aushalten konnten, wenn wir früh an kalten Wintermorgen auf die Vögel lauerten, und daß die Locken für den Heerd des Nachts nicht erfroren. Es fließt ein muntrer Bach dabei vorüber in den Main hinab. Aber jetzt kommt Niemand hin; die Vögel haben einen andern Strich genommen, das junge Holz ist zu hoch geworden, und auch der gnädige Gottlieb ist groß und hat nun andre Gedanken. Seht Ihr, dort drüben stehen noch die Krakelstangen für die Vögel, wo sonst in der Mitte der Heerd war; der Platz ist freilich mit Disteln besamt, aber er gäbe bald ein hübsches Gärtchen, und Ihr sitzt im Holze, und anstatt der Miethe thut Ihr ein paar Erntedienste mit der Hand, und ein paar Jagddienste mit den Füßen. Ist das ein Vogelheerd, Vater? fragte Daniel; Vater, da wollen wir hin! Der Jäger ging dem Wagen voraus, und so folgten sie ihm zu dem Heerde vom Wege ab. 4. Das Häuschen war nett. Christel öffnete die Thür, stieß die Fensterladen auf, musterte es und sahe, was daraus zu machen sei, und wie Alles eingerichtet werden müsse. Daniel brachte einiges bestaubte Werkzeug hervor, eine Axt, ein Schnittmesser und Stricke und Breter. Johannes stand mit gefalteten Händen noch draußen und hatte den Kopf gesenkt. Christel küßte ihn, lachte und sagte: Vater, mache einen Tisch; und Du, Dorothee, was sitzest Du auf der Schwelle und getraust Dich nicht hinein, oder schämst Du dich! rühre dich, Mädchen, und hole Wasser aus dem Bach, daß Alles wird, wie es soll. Ein Bett ist das Erste! Worin man beinahe das halbe Leben zubringt, das muß bequem und weich und immer gut gemacht sein. Auch die Ziege bekam ihr Cabinet. Der Staar hatte wieder seinen Sitz auf dem Ofen erwählt. Der ausgetheilte Wein und das Brot langten noch morgen. Und als die Kinder, zeitig zu Bett gegangen, schliefen, als das Feuer auf dem Kamin loderte und in das Stübchen leuchtete, kniete Christel vor Johannes hin, stützte sich auf seine Kniee und sah ihm in die Augen. Bist Du mir gut? fragte sie ihn. -- Du armer Schelm! sagte er und hielt die Hand auf ihrem Kopfe. Nun bin ich wieder froh, ich habe Alles! sagte sie fast weichmüthig. Sieh' nur, wie herrlich die Kinder schlafen! und hast Du gehört, wie sie gebetet haben? so fromm wie immer. Nur Daniel weinte still und kehrte sich von mir, als er betete: »unser täglich Brot gieb uns heut'.« _Der_ fängt schon an zu verstehen, wie den Aeltern um's Herz ist! Morgen haben sie Alles vergessen! Und wenn die Kinder dann fröhlich sind, was fehlt uns denn? Wir sind jung und gesund, und Arbeit ist hier überall; in den Weinbergen ist Plage vom Frühling bis Herbst, und die Ernte will auch geschnitten sein, und der Acker wieder bestellt. Das hört nicht auf, das heilige Jahr! und die Jahre hören nicht auf! Das geht so fort wie eine Mühle. Und muß denn die Mühle _unser_ sein? Den meisten Menschen gehört sie ja nicht, sie gehört nur Einem, der Alle aufschütten läßt, was sie eben bringen. In der Welt nährt eigentlich doch nur die Arbeit mit Ehren, und _Andern_ arbeiten, ist ja auch eigene Arbeit und bringt uns _eigenes_ Brot. Nicht wahr, mein Johannes? Johannes antwortete nicht, sondern hatte die Augen geschlossen, und so ruhte sie ein Weilchen mit dem Gesicht auf seinem Schooß. Und -- fuhr sie dann lächelnd fort -- wenn das Wasser verlaufen ist, gehen wir hinab und sehen, was uns noch etwa geblieben, und was für Fische auf unsern Bäumen hängen! Du willst mich munter reden, Du armer Schelm, sagte Johannes; aber es ist Dir selber nicht recht um das Herz, sonst würdest Du mich nicht trösten. Das hast Du nicht gewußt. Nun geh' nur auch zu Bett! sieh', Dorothee hat sich schon fortgeschlichen. Die Zeit wird ihr lang bei uns, und nun erst recht lang werden. Sie weiß, was sich _schickt_, lächelte Christel. Wir sind ja Eheleute! -- Versteh' ich Dich recht, so bist Du ein Schelm! sagte Johannes. -- Und Du mein _lieber_ Schelm, flüsterte Christel. -- Jugend ist doch Goldes werth! meinte Johannes; wer im Alter arm ist, der ist wirklich arm! Lege an, Christel! -- Der Kien ist alle; meinte sie lächelnd. -- Du bist mein gutes Weib, sagte er; denn Du meinst es nur gut mit mir, weil Du weißt, daß ich Dich lieb habe von Herzen. Wie ich Dich! sagte Christel. 5. Am nächsten Sonntage gingen sie schon früh hinab in das Dorf. Dorothee blieb bei den Kindern. Sie nahten sich mit klopfendem Herzen; aber ihr eigenes Leid ward gemäßigt, ja überwogen durch das Mitleid mit vielen, vielen Menschen! Sie hörten schon von Weitem Gesang vom Kirchhofe und Geläut von Begräbnissen, die fast kein Ende nahmen. Sie sahen kaum, daß ihre Obstbäume im Garten bis an die Kronen mit Erd' und Sand verschwemmt waren, daß Stroh und Holz in den Aesten hing; sie bedauerten kaum, daß ihr Häuschen eingestürzt und der Boden ausgewühlt war, denn sie lebten, und ihre Kinder lebten alle! und drüben segnete der Pfarrer einen Todten nach dem Andern ein, um in geweihter Erde zu ruhen. Sie traten dann unter die Menge der Betrübten, Neugierigen und Weinenden und begrüßten sich still durch Kopfnicken und Lächeln mit ihren Bekannten. Dann hörten sie die Predigt unter freiem Himmel mit an. Aber Christel getraute sich kaum, ein Kind anzusehen, das seine Mutter verloren; und sie bejammerte nur still im Geiste den Schmerz ihrer Kinder um sie; -- oder eine Mutter anzusehen, die ein Kind verloren, oder den Mann, oder Kind und Mann! und sie lächelte ihrem Johannes zu, erkannte ihn kaum und mußte ihn ordentlich bewundern, wie er so in der Sonne stand! Sie getraute sich kaum Gott zu danken, so bescheiden und gönnend schlug ihr das Herz. Und so war sie doppelt reich und beglückt. Als sie Nachmittags nach Hause gehen wollten, suchten sie noch zuvor auf der Stätte ihrer Wohnung, und die Mutter las ein Körbchen voll allerhand Kleinigkeiten zusammen, die noch zu brauchen waren. Ihre Katze stellte sich ein, die Christel mitnahm, und Johannes fand ein kleines schwarzfleckiges Schweinchen auf, das sein gehörte. Auch von Sophiechens Puppen waren zwei in den Zweigen des großen Birnbaums hängen geblieben, ihr Gottlob und ihr Annaröschen; und die Mutter weinte fast vor Freuden. So gingen sie gestärkt durch die Ueberzeugung wieder heim, daß hier nichts mehr zu suchen sei, daß sie nicht _das Beste_ verloren hätten. Als sie nach Hause gekommen, fanden sie Dorotheen artig geputzt, die Haare geflochten, und Christel bemerkte auch ein kleines weißes Bündel, das Dorothee nun unter den Arm nahm, welche sie nur schien noch erwartet zu haben. Du willst uns wohl verlassen, liebes Mädchen? fragte Christel betreten. Ich bin Euch jetzt zur Last, antwortete Dorothee; und ich will sie Euch erleichtern. Du erschwerst sie uns, wenn Du gehst, gute Dorothee, das glaube gewiß! Was Viele mit Geduld und Lust ertragen, das ist kaum ein Unglück, so schwer es zu sein scheint, und so schwer es den Einsamen drückt. Mit wem soll ich mich nun ausreden, wenn Du gingest, wenn Du selbst nicht einmal mehr Ja! sagtest, oder Nein! nach Deiner Art, oder gar nicht mehr zuhörtest! Und wie werd' ich mich erst fürchten hier allein in der unheimlichen, schweigenden Mittagsstunde, und in der Dämmerung, ehe Johannes von der Arbeit kommt? Du meinst es nicht gut mit uns, nicht mit mir, noch den Kindern, Dorothee! sagte sie halb bittend. Dorothee schwieg und wollte ihr zum Abschied die Hand reichen, ja sie küssen, um die feuchten Augen nicht erst sehen zu lassen. Wo willst Du denn hin? Du thörichtes Kind, fragte Johannes. Muß es denn sein? -- _Uns_ gehst Du nichts an, wenn wir Dich nichts angehen, Dorothee! Dorothee sah ihn an, wandte sich dann zu Christel und sagte: daß Niklas hier gewesen; daß die junge gnädige Frau eine Jungfer brauche, und so wolle sie bei ihr Jungfer werden im Schlosse. Jungfer werden im Schlosse? fragte Johannes mit sonderbarem Lächeln und meinte: So ein Schloß, wo das einträte, wär' heut zu Tage was werth! und kein _verwünschtes!_ Ich weiß des Niklas Worte noch wohl. Ich seh' nicht so dumm aus, als ich bin! Auch nicht so böse, Johannes! verwies ihm Christel. Man muß keinem Mädchen und keiner Frau Furcht machen vor einem Manne! das ist der verkehrte Weg, kann ich Dir sagen; in der Furcht regt sich das Böse und wächst wie die stachlige Wassernuß im Teiche. -- Will sie ziehen, so laß sie ziehen. Sie hat kein schwaches Gemüth, und was sie thut, das wird sie _wollen_. Darauf kenn' ich sie. Wird ihr das helfen? fragte Johannes. Jetzt gerade will ich ziehen, sagte Dorothee entrüstet. -- Im Grunde betrachtet, thut sie so übel nicht, nahm Christel wieder das Wort. Bei uns hat sie nur Arbeit gehabt, selbst in guten Tagen; jetzt hat sie noch schlechte Tage dazu und kann eher bei uns nun das Essen verlernen, als Nähen lernen. Beim Prediger, der sie erzogen, hat sie Alles genug gehabt, Alles bequem, ja nett und schön, bis auf die Handschuh; mein Vater, der sie gleichsam von ihm geerbt, hat sie gehalten besser als mich, da ich in den Jahren war. Nun haben wir sie geerbt, und sie will vielleicht ihr eigen sein, da Niemand Anspruch an sie macht, und wir jetzt scheinen ihrer zu bedürfen. Und sie hat doch Anspruch vielleicht auf ein so schönes Glück als ihr Gesicht, wie irgend sonst ein Mädchen. Denn nicht die Reichen werden immer die Glücklichsten! selten! ja selten nur glücklich. Und Vieles braucht ein Mädchen einst zu wissen, was sie bei uns, bei mir nicht lernt. Aber zu _dienen_ hätte sie nicht nöthig! murrte Johannes. Im eignen Hause die Tochter auferzogen, und aus der Mutter Hand dem Manne anvertraut, das ist das Beste. -- Ich habe keine Mutter und keinen Vater, sagte Dorothee und sahe Johannes dabei an. Ist denn zu Dienste ziehen so etwas Schlimmes? meinte Christel. Niemand dient ja um das liebe Brot und die Schuh' und die Kleider! Sondern ein Mädchen sieht in fremden Häusern besser als in dem eignen, und mehr und anderes, wie die Wirthschaft geht. Sie sieht und lernt die wichtigen und kleinen Geschäfte einer Hausfrau, sie lernt am Kinderzeug _ihr_ Kinderzeug einst nähen, was zu Hause kaum mehr vorkommt; sie lernt Brot backen oder Kuchen zu kleinen Festen einst bei sich; sie lernt aufmerksam sein und denken, sich loben und sich tadeln lassen, sie lernt einem fremden Willen folgen, nicht bloß Speisen bereiten, die _sie_ gern äße, nicht _so_ zugerichtet, wie sie wollte, nicht sich kleiden, wie sie wünschte -- früh aufstehen, spät zu Bette gehen, vertreten, wenn ein Topf zerbrochen wird, und nicht entgegen reden, wenn sie ein Versehen gemacht, und es entschuldigen will und könnte. Sie lernt schweigen, hören, sie lernt _lernen_, selbst Unrecht erdulden und sich auch für Böses bedanken; kurz sie lernt eine _Frau_, eine _Mutter_ werden. _Das_ kann kommen! meinte Johannes. Ich bin arm, recht arm, und werde bei diesen Anstalten Gottes im Leben nicht reich; aber eh ich mein Kind von fremden Leuten -- denn die eignen schämen sich -- nur scheel ansehen, geschweige -- -- lieber noch schlagen und mit Füßen treten ließe, lieber soll sie ihren Vater nicht vor Gram in das Grab bringen, wie Deine Schwester Martha Deinen Vater. Von Grund' aus muß man reden! Das Drüberhin ist Sünde, wenn man die Wahrheit im Herzen behält. Christel wendete sich ab und weinte! Johannes nahm Sophiechen auf den Arm und fragte sie: hast Du mich lieb? wie lieb denn? meine kleine Tochter! Und das Kind schlang die Händchen um seinen Hals und drückte ihn, daß es zitterte und keinen Athem hatte. -- Der Vater weinte. Da Niemand sprach, sagte Dorothee: So lebt denn wohl! ich gehe. Ich danke Euch für Alles, auch für das! Christel aber sagte: komm her, noch einmal, meine Dorothee! sieh', hier schlag' ich Dir die Bibel auf, hier lies den Vers mir laut und ohne Beben mit der Stimme; und zu deinem Zeugniß sollst Du mir ihn immer lesen, wenn Du wieder zu uns kommst. Du kommst doch manchmal und siehst, ob wir noch leben? Dorothee war weich; aber sie las ohne Beben mit der Stimme und laut den Vers: »Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!« Dann machte sie sich von den Kindern los, die sich an sie gehangen, und ging, ihr kleines Bündel unter dem Arm. 6. Auf dem Hofe war Alles in Thätigkeit, große Anstalten wurden gemacht, denn das Landesväterchen, oder der Ländchenvater sollte durch Breitenthal kommen und auf dem Schlosse übernachten. Niklas nämlich kam und nannte ihn so, weil ein Wolkenschatten sein Land schon überdecken konnte, und ladete Johannes ein, Theil an den Arbeiten zu nehmen und sich ein Stück Geld zusammen zu verdienen. Der selige Herr, sagte er, rechnet sich großen Vortheil von einem solchen Besuch, wenigstens eine nachgelassene schriftliche Sauve-garde gegen seine Ungläubigen, die Gläubiger. Das Memorial ist schon aufgesetzt. Er verschreibt den Juden, so viel Procent sie begehren; denn Alles soll kostbar sein, und das Bett ist auch ein Prachtstück, so daß dem Prinzen schaudern wird, sich hinein zu legen! Da sind goldne Fransen von massivem Holz an den Vorhängen, Quasten, Spiegel, kurz Alles im Zimmer, was ein Mensch gar nicht zu brauchen im Stande ist. Was aber die Zurüstungen zum Empfange betrifft, da sagt er: mit nichts Ernsthaftem kann man einem Großen das Herz rühren; die Thränen lieben sie nicht, lachen müssen sie! Lachen müssen wir! Wer sie zum Lachen bringt, der hat einen Stein in ihrem Brete. Und so hat Er mit dem gnädigen Gottlieb hin und her gesonnen, bis er eine Hauptwache nebst Nobelgarde sich ausgedacht, die dem Gefeierten an der Grenze das Gewehr und sich selbst präsentiren soll, wie noch keine andre Garde in der Welt. Wir haben ein Fichtenwäldchen niedergeschlagen bis auf 24 Stämme am Wege; je zwei und zwei, die dicht neben einander stehen, wie zwei Beine, bilden einen Mann, der ausgestopft wird; oben werden bloß die Wipfel abgeschlagen, die Aeste vom Stamm geputzt, und nun werden die Kerls in mannshohe Stiefeln gesteckt, ihnen Hosen und Westen und Röcke angezogen, Masken vor, und Halsbinden umgebunden, und große Chakos aufgesetzt, ein Seitengewehr umgeschnallt, und losbrennbare Flinten in die ungeheuern Bärentatzen gegeben. Im Rücken aber wird eine Leiter angesetzt, ein natürlicher Mensch steigt in den Corpus und exercirt, wie ein hineingefahrner Geist, den hohen Besessenen. Auch der Tambour darf nicht fehlen und das furchtbare Schilderhaus, wie ein separates Glockenthürmchen, noch der entsetzliche Flügelmann. Die rothbäckigen Masken dazu liegen schon im Tanzsaal; Tuch, Leder, Leinwand, Pappen, Alles ist da, und der Heuwagen voll Schneidergesellen ist gestern Abend, in zwei Etagen sitzend, ins Dorf gejubelt, welche die großen Christophe ausmeubliren und uniformiren sollen. Zum großen Glück haben wir einen wandernden Schuhmachergesellen, den _Ronneburger_, aufgegabelt, der die Stiefeln nach dem großen Stiefel machen soll, welcher, wenn die Gesellen in Ronneburg zampern zu Fastnacht, auf den Straßen wandert wie von sich selbst, einen Sporn am Absatz wie ein Steuerruder; der Wein trinkt, und die Gläser oben zum Schafte hinauswirft, wie ein Stiefel aus einer bessern Welt! Ich habe den lustigen Bruder arbeiten sehen, und so oft er Eins trinkt mit dem seligen Herrn, singt er auf den Helden und Schutz-Patron aller Herrnschuh-Macher und Flicker, den braven Hans von Sagan, den Ehrenvers: Unserm Hans von Sagan zu Ehren Laßt die klingende Musicam hören! Ihr müßt Euch einmal die Geschichte von dem Schutzpatron vom Ronneburger erzählen lassen, wenn Ihr bei ihm arbeiten wollt; wie der Hans von Sagan, ein Schuhmachergesell, in Königsberg, das belagert war, in der höchsten Noth einen Ausfall gethan mit seinem Gewerk, die Fahne getragen und als ihm das Eine Bein abgeschossen, noch auf dem andern mit fliegender Fahne unter klingender Musika in den Feind gehopst. Seit der Nacht führen die Herrnschuh-Macher seinen Fuß oder Stiefel beständig im Schilde. -- Und auch eine neue Chaussee wird gemacht, ein gerader Weg durch Dick und Dünn, auf jeder Seite ein Graben gezogen, und der Sand und die Steine auf den Fahrweg geworfen. Wäre die Arbeit Euch nicht recht, so könnt' Ihr mit an der Pyramide von Reisig mitten im Dorfe arbeiten, wozu der Schulmeister Wecker die Inschriften macht, und der Gärtner die großen Buchstaben darauf aus Blumen. Der Daniel kann schon Kränze winden, und wenn Eure Christel nähen will, so kann sie mit helfen Westen, Hosen und Röcke für die Mannschaft da draußen machen. Es ist nur ein wahres Glück, daß die Kerls nicht essen und trinken und nicht einmal einrücken, sonst äßen sie ganz Breitenthal auf und tränken die Keller des seligen Herrn bei einigen Frühstückchen aus. Nun was Ihr wollt, Johannes! ich muß Alles anwerben, was Hände und Beine hat. Kommt mit, kommt nach, und leset Euch Arbeit aus, ich habe nicht Zeit dazu -- Gott sei Dank! So ging er. -- Siehst Du, mein Johannes, Gott schickt uns Arbeit! sagte Christel fröhlich, als Niklas fort war. Aber was für welche! sagte Johannes halb lachend, halb erboßt. Ist das Arbeit? schickt die Gott? verdient man das Geld nicht mit Sünden? Und _dazu_ lassen vernünftige Menschen sich brauchen und singen und jubeln dabei wie die Schneidergesellen und der Hans von Sagan! _Dazu_ müssen die Pferde sich fast um das Leben ziehen und sich mißhandeln lassen, als retteten sie Israel. Ja ich konnte es gar nicht ansehen, wenn mein Pathe, der Leinweber, ein alter, sonst ehrwürdiger Mann, 6 bis 7, ja 8 Stunden lang bei der Sonntagstanzmusik im Weinhaus hinter der Baßgeige steht, und immer streicht »G. D.! -- D. G.! -- G. D.!« denn so viel hab' ich davon gelernt, und ernsthaft bleibt, wie der Baßgeigenkopf, dem er seine Perücke aufgesetzt, während die jungen Burschen um die Säule toben, daß man sein G. D.! -- D. G.! kaum hört. Ei, so wollt' ich die Baßgeige! Manchmal ward er aber auch selber wild und strich mit dem Bogen ganz unbarmherzig darein, daß es ein Grausen war. Das freute mich von ihm! Da ist nun gar keine Frage, daß die alte Baßgeige glücklicher ist als der arme Mann, und die hölzerne Säule fast verehrungswürdig gegen die Bürschlein, die mit den Mädchen darum tanzen, ja selber der Branntwein ist nobler, als wer ihn trinkt, und ist es der selige Herr von Borromäus! -- Ich lerne die Welt ganz anders ansehen, viel geringer und schlechter, das will ich Dir nur sagen, Christel! Aber das seh' ich auch, wenn sie denn gar so thöricht ist und alles Närrische in ihren Schutz nimmt, wie ein Kind die Puppen: so kommt keiner um, am wenigsten ein Thor und ein Hasenfuß, eher wir, und am liebsten -- ich. Den Pathen mit der Baßgeige vergess' ich in meinem Leben nicht, und nun soll ich gar gehen: pappene Stiefel machen! Näh' Du, was Du willst, Christel, wenn Dich's nicht erbarmt, das edle Tuch so zu verwüsten zu einer Weste, wovon wir Alle Rock, Hosen und Westen hätten, Jahre lang -- ich bleibe zu Hause und warte auf den Rebenschnitt! -- Du bist ein Kind! sagte Christel. Aus aller Mühe und Arbeit wird ja die Freude! Im Weinberg -- was wird denn aus den mühselig bestellten Reben? Nicht wahr Trauben! süße Trauben; und was wird aus den mühsam gelesenen, mühsam gekelterten Trauben? Nicht wahr Wein! lieblicher Wein! -- Da hast Du's! Nun schweig' und besinne Dich. Denk' an die Kinder, wenn Du am Wege schaufelst, denke, Du worfelst Korn für uns, flugs wird der Sand Dir von Golde sein! Die Großen verthun ihr Geld, wie sie nur können, und wie sie wollen, wenn sie es nur verthun. Aber das ist weislich schon so geordnet, sie können es nicht da droben halten, wie die Wolke den Regen nicht, und wir Armen fangen es auf mit der Schaufel, mit dem Hute, mit dem Pfriem, mit der Nadel, mit Säge und Hammer -- was Jedem Gott in die Hände gegeben hat. Marsch, mache, daß Du zur _Arbeit_ kommst! Willst Du fort! lachte sie und ergriff im Scherz die frischgemachte Kinderruthe. 7. Sophiechens Dukaten war verwechselt, und bei der Sparsamkeit der lieben häuslichen Frau langte er glücklich bis zum Feste, nach welchem das Lohn zusammen ausgezahlt werden sollte. An dem Morgen selbst mußte Christel mit helfen Blumen winden. Johannes arbeitete an der Pyramide und befestigte die bunten duftenden Buchstaben, die an den vier Seiten derselben auf dem grünen Rasen geordnet lagen. Der Schulmeister _Wecker_ hatte die Aufsicht. Als er aber sein Werk so prangen sah, war er überglücklich, und wie ein junger Schriftsteller in dem ersten Probebogen seines, so Gott will berühmten, Werks keinen Druckfehler sieht vor Hast und Entzücken: so sah er auch die Fehler des Blumensetzers Johannes nicht, sondern lobte ihn sehr und war ganz begnügt, als er nur erst den Anfang der Schrift der ersten Seite, das SALU -- -- -- gesehen. Richtig! sagt' er, das wollt' ich nur wissen! nun könnt' Ihr gar nicht mehr fehlen, Johannes! Setzt nur die Buchstaben, wie sie geordnet liegen. Ich muß zu Hause nachsehen, mein Fritz schreibt das Carmina. Es ist in rothen Manschester gebunden, den ich aus Anstand von meiner Seligen Muffe auf dem Altar des Vaterlandes geopfert -- der Mann bin ich! Denn werde ich auch nicht General-Schulmeister für die bedungene öffentliche Erwähnung, so wirft mir der selige Herr bei erwünschtem Resultate doch eine Klafter raupenfräßiges Schuldeputatholz an den Kopf, daß meine armen Herren Jungen im Winter -- als wo sie bloß in die Schule gehen -- nicht so klappern und summen vor Frost wie die Bienen im Stocke. Mit blauen Nägeln schreibt man schlecht, das muß ich wissen! und von zu vielen Knipseln oder Handschmissen, um die Hände zu wärmen, aus Liebe zu sauberer Schrift gegeben, laufen am Ende die Finger auf! bei Manchen gleich zu Anfang! Nun setzt nur Eure Buchstaben ohne Conrector. Ich will redlich helfen, Euch warm zu machen! versicherte ihn Johannes. Aber die lustige Dorfjugend buchstabirte darin umher mit Augen und Händen und Füßen. Die Kinder suchten sich den schönen großen wohlriechenden Anfangsbuchstaben ihres Namens; Einer hob ein V auf, ein Andrer ein H. Ein Mädchen hatte ein E und ein M in den Händen, ein andres ein E und ein R, und sie spiegelten damit in der Sonne, ließen sich an die Blumen riechen, ja sie neckten und haschten sich zuletzt um die Pyramide damit umher. Wollt' Ihr die Buchstaben liegen lassen, Kinder, sagte Johannes, ich verschreibe mich ja sonst! Seht der gnädige Gottlieb kommt dort geritten! -- So blieben denn plötzlich die Kinder stehen auf der Seite, wo jedes eben mit seinen Buchstaben war, legten sie still in die Reihe und die Lücken, wie es eben kam, und schlichen sich fort. Der gnädige Gottlieb kam aber wirklich, um dem Prinzen entgegen zu reiten, und hinter ihm ritt Niklas und sein Jägerbursche in Galla, mit aufgesetzten Büchsen. Ein Blick von Niklas auf seinen Herrn, und dieser hielt vor Christel, die vor ihm auf dem Rasen saß und ganz rothgeworden war. Sie erhub sich aber nicht und sahe nicht auf. Der junge Herr lächelte nur, und sie ritten vorüber. Dann kam auch Dorothee, sehr lieblich gekleidet in ländlicher Tracht, das seidene Kissen für das Gedicht auf den Händen, und andere Mädchen begleiteten sie. Auch Clementine, die junge gnädige Frau, kam ein Augenblickchen, zu sehen, seufzte und schlich sich dann mit gesenktem Köpfchen hinweg. Dorothee aber grüßte kaum ihre Christel, ja es schien sie zu verdrießen, daß Johannes sie Du nannte, und sie fragte, wie es gehe? Laß sie nur heut', sagte Christel, sie kommt wohl wieder zu uns und spricht mit uns darüber im Hause, wenn sie den Vers liest. Der Ronneburger und die Schneider schwärmten herbei, standen und gingen dann, ihrer Hände Arbeit in völligem Glanze en parade zu sehen. Der Prinz kam erst spät gegen Abend. Er hatte befohlen, Schritt vor Schritt auf der neuen Chaussee zu fahren, denn die Pferde schwitzten wie aus dem Wasser gezogen. Der Wirbel der großen Trommel, aus einem Orhoft erdacht, war bis ins Dorf zu hören, die Wache hatte vortrefflich gefeuert und dem Ländchenvater glücklich ein Lächeln abgewonnen. Jetzt hielt er vor der Pyramide. Aber der Kindertanz mit den Buchstaben hatte die auffallendsten Setzfehler bei Johannes veranlaßt, der nicht lesen und schreiben konnte. Er hatte, wie er angewiesen, die Buchstaben zwar pünktlich befestigt, auf jede Seite der Pyramide, was auf jeder Seite derselben gelegen; aber ein Durchreisender hatte auf schelmische Art die letzte Correctur gemacht und Niemand hatte hier die Schrift nachcensirt. Die zwei anzüglichsten Seiten waren zum Glück dem im Wagen haltenden Prinzen verborgen: nämlich, daß aus dem höflichen »SALUTEM« ein im Zusammenhange mit dem folgenden Worte recht grobes »SALUTATE« geworden, und daß das E M davon an das Ende des BOV gewandert war. Aus dem ursprünglichen BONO. A. H. war aber vollends das N in das EX VOTO hinum, und das V dafür herum gewandert mit den Kinderfüßen, und das zweite O darin mit dem H vertauscht worden, so daß den guten Herrn nun rührend anschimmerte: »EX NOTH.« -- Das letzte O aus dem »Bono,« das nun abscheulich lautete, war aber durch denselben Tanz oder Corrector in das verwirrte »G Breitenthal« gemischt, so viel davon noch übrig gewesen, und so flehte ihn nun hier auf dieser Seite an: O GIB THALER. Ja die mit römischen Buchstaben ausgedrückte Jahrzahl 1811, die durch das übrige M mit Tausend multiplicirt worden, gab sogar dem mitleidigen Herzen desselben die _Summe_ von wenigstens Einer Million und achtmalhundert tausend Thalern an. -- Der Prinz ward roth, befahl auf die Pfarre zu fahren und hinterließ am andern Morgen ein gnädiges Handschreiben an den seligen Herrn, das er offen in die offenen Hände seines Wirthes gegeben, folgenden Inhalts: Mein Herr Kreisrath von Borromäus! Ich habe Ihr papiernes und pyramidales Memorial gelesen. Resolution: »Abgeschlagen.« Gründe: Tausend, außer diesem! Ich kenne keine _bessern_ Zeiten, als die _schlechten_. Was kein ohnmächtiger Fürst thun kann, das thun schlechte Zeiten mit Macht: Sie machen dem Volke die Augen auf! über sich, den Luxus und die Unzahl eingeschlichner unmenschlicher Bedürfnisse. Sie setzen das Volk in den wahren menschlichen, so genannten _vorigen_ Stand zurück und, gebe Gott, wieder ein, und in integrum! Ich sage es offen, und mein Abgabensystem, alle meine Handlungen beweisen es klar: Ich bin ein Feind der Reichen! der Reichen, die man durch Majorate und Maximats-Herrn wieder zu begründen vermeint, anstatt durch selbstständige Minorate und ignoble Minimats-Bauern; versteht sich bis zum Minimum, das Ein Hauswesen erklecklich nährt. Die Rechnungen nachgesehen -- Wer hat in den verhängnißvollen Jahren verhältnißmäßig, ja unverhältnißmäßig _weniger_ gegeben als die Reichen? Wer _mehr_ gegeben als die Armen? Vom _Thun_ wollen Wir gar nicht reden! -- Nicht Sonntags ein Huhn in den Topf -- sondern: Jeder Mann ein Haus, ein Weib, ein Feld um das Haus -- versteht sich Alles nicht in den Topf -- und dann die Hände gerührt! So soll es sein, und _so_ muß es werden, so _wird_ es, o Gott, durch die himmlischen -- schlechten Zeiten. Ich bin außer mir, vor wahrer menschlicher Freude. »Honni soit qui mal y pense!« Sind die schlechten Zeiten nicht die besten? -- Resolution: Ja! -- Und Sie, lieber von Borromäus, nähern sich laut Memorial, das die Sache ganz falsch ansieht und vorträgt, mit großen Schritten auch diesem allervortrefflichsten Zustande, und Sie sind mir erst doppelt lieb und schätzbar! Ich will Sie umarmen als nun ganz den _Meinigen_, der Mich und Meine Intentionen verstanden und sie praktisch ausgeführt! Mir zur Freude und Andern zum Exempel, das Belohnung, Erhebung verdient, nämlich nach unserm System: _Nichts_, und daß ich Sie ganz _fallen_ lasse, bis in Ihr Häuschen. Ich komme selbst, neben Ihnen zu wohnen, wenn Sie nur _ein_ Haus, ein Weib, ein Feld um das Haus haben und die Hände rühren -- und weiter nichts (scilicet haben)! Das wünsche Ich und flehe Ich vom Himmel tagtäglich jedem Reichen _nur!_ jedem Armen _auch!_ So hebt sich der alte Mißstand. Meine Herren Brüder arbeiten alle an diesem frommen Plan für das große Reich, und ich treffe dazu alle möglichen Einleitungen und Vorkehrungen unerbittlich aus -- Armen-Liebe. _Jetzt:_ Armen-Liebe, aber dann: _Menschen_-Liebe. Das sind die glücklichen Männer, die eine Frau nicht zum Staate brauchen, sondern in deren Hause sie die Hausfrau ist und alle Hände vollauf mit Tisch, Wäsche, Küche, Keller, Garten und Kindern zu thun hat, und Alles allein thun muß. Das sind auch die glücklichen Weiber! Denn anordnen, müßig bereiten sehen, nachsehen, _ob_ etwas -- und tadeln, _wie_ etwas gemacht ist, das heißt _bei Gott_ nicht Wirthschaft führen! das macht nicht glücklich, wie ein braves Weib ist, sondern unglücklich, wie der Ueberfluß macht, die Unsitte und das Wohlgefallen an den unmenschlichen Dingen und Sachen! Jetzt träumen die Menschen alles Andere zu sein: Fürsten, Grafen, Ritter, Nobles, Kreisräthe, kurz geradezu Alles -- nur nicht Menschen! Alles haben zu wollen -- nur nicht das Menschliche! Wann wird doch _die_ Phantasie einmal das Volk anwandeln: Menschen zu sein? Indessen der Komet! der Komet! guten Wein wird er machen, sprechen die Weinhändler, theuern, raren Wein! Ich sage: gute Menschen, rare Menschen! Es wird Krieg, geben Sie Acht, 1812. Also zu Jahre. Ich kann es Ihnen sagen, denn ich komme von Adam her, nämlich von dem neuen prophetischen Bauer, der mich ganz beruhigt hat und mir die schlechtesten Zeiten verheißen. Er ist der Schlüssel zu mir. Ihm folg' ich, und ihn befolg' ich. Das zu _Ihnen_ gesagt. P. S. Ihre Hauptwache hat Wunder gethan; sie hat mich entschieden -- meine Hauptwache zu entlassen. Mehr ist sie ja pro tempore doch nichts. Diese Revue hat mir _meine_ erspart! Man kann nicht Soldaten _machen_, nicht _ansäen_ wie Fichten und _einhegen_ -- _das_ haben Sie Mir gezeigt, und verdienen eine Bürger-, ja eine Bauer-Krone! Mein Armeechen kann fortlaufen, übergehen, sich schlecht schlagen -- aber hab' ich die _Meinung_ für mich, besonders diese, daß ich alle Welt gern arm haben will: so läuft mir jeder Knabe zu, sogar aus fremden Staaten, und meine Leute lassen sich geradezu todtschlagen für mich. Was will ich mehr? sagen Sie selbst, von Borromäus! Ich danke also nochmals von ganzem Herzen, Sie haben meinem Ländchen Millionen erspart und tausend Hände und Beine geschenkt, ditto viel Tausend Chakos, Säbel, Flinten. Trommeln, Röcke, Tornister, Westen, Mäntel -- die Knöpfe nicht zu vergessen! An der Inschrift sind Sie unschuldig, das weiß ich, und es sagt es Ihnen gern Ihr in Affect gerathener Hannes Manu propria. Die erste Folge davon für den armen Johannes war, daß er vor dem Gerichtshalter ein Examen rigorosissimum auszustehen hatte und den Beweis führen sollte, daß er _nicht_ lesen und _nicht_ schreiben könne! Der außerordentlich gewandte Mann wußte in diesem Fall selber einmal nicht, wie er ihm das Lesen und Schreiben beweisen könne, wie Johannes mit Augen und Buch und Feder und Hand das _nicht_ zu beweisen vermöge. Seine Praxis war hier aus, und er bedauerte laut die Abschaffung der Folter, worauf man jeden Unschuldigen schuldig finden konnte -- ad Collubitum. Aus Desperation ward also der Schulmeister Wecker suspendirt »wegen ermangelnder Absicht«; wie statt Obsicht im Urtheil stand. Aber die zweite Folge war: Johannes bekam zur -- Strafe -- kein Lohn für alle wochenlange Arbeit. Das war das Schlimmste für ihn, seine Christel und die Kinder, und ein wahrer Schlag in den Vogelheerd. 8. Johannes war nun sehr betreten und muthlos. Meine gute Christel, sagt' er, Du bist schlecht bei mir angekommen! es thut mir leid, daß Du mich geheirathet hast, daß Du des Wochentags in Sonntagskleidern gehen sollst, Du armer Schelm! Unsere Retter sind nun noch die Weinberge, und die Stöcke, die da zu stecken sind; da geh' ich nun hin und muß Dich die ganze Woche über verlassen, und sehe Dich nicht und die Kinder! Aber wenn ich Reben schneide, und sie weinen und tröpfeln, da kann ich mir denken, wie es daheim um Deine Augen aussieht! Du armer Schelm! -- Wein' ich denn? fragte ihn Christel und sah ihn mit ihren großen braunen Augen an, die sich regten und feucht glänzten. Dir sind die Augen naß, meine Christel, sagt' er. Nun ja, über Dich! daß Du so traurig bist, daß Du sprichst, es thue Dir leid, daß Du mich geheirathet hast. Sie weinte nun wirklich sanft. Deinetwegen nur thut mir es leid, sagte Johannes. Ich bin ja munter und vergnügt, sagte sie, so sei Du nur ruhig. Wir können fast nicht unglücklicher werden, als wir schon sind, seufzte Johannes. Da, verschneide mir meinen Kirchrock zu einer Arbeitsjacke, ich schäme mich sonst so im Staate. Gieb ihn mir, ich will es gleich machen; aber von den Schößeln bekommt der kleine Gotthelf ein Käppchen, nicht wahr? Aber, daß Du sprichst, wir könnten nicht unglücklicher werden -- das sage nicht! Da hätte der Himmel noch viel! Bitte lieber, daß wir so glücklich bleiben! So ward denn die Jacke und das Käppchen gemacht, das dem Kinde nur bis an die Kniee ging, und Johannes war nun die ganze Zeit in den Weinbergen und kam nur Sonnabend nach Hause. Das wußte nun Niklas. Aber der gnädige Gottlieb hatte Christel gesehen, als er mit dem Pferde vor ihr gehalten, sie nicht vergessen, sondern in einiger Zeit erst, hatt' er sich vorgenommen, mit der größten Gelassenheit und anscheinenden Ehrlichkeit das junge liebliche Weib zu sehen und ihr nahe zu kommen und ihr einige Wörtchen aus seinem bedeutenden Munde zu sagen. Jetzt auf das Häuschen von einer verborgenen Seite zu wandelnd, wollte er leise und ungesehen nahen, ohne anzuklopfen plötzlich die Stubenthür öffnen und im saubersten Anzuge still eintreten und ihr wie ein Halbgott erscheinen. Sie sollte vor ihm erschrecken, ihn anblicken und auf einmal die ganze Gewalt seiner Zaubererscheinung empfinden! Er reichte ihr schon in Gedanken die Hand hin, die sie ihm küssen würde -- er würd' es verweigern. -- Sie sollte in höchster Verlegenheit sein, einen hölzernen Schemel abwischen, vielmal den Wirrwarr der Kinder entschuldigen, vor die papierne Fensterscheibe im Fenster treten, in die Kammer gehen, mit einer bessern Schürze, mit weißen feinern Strümpfen wieder hervorkommen und sich gar nicht über die Erniedrigung und hohe Gnade zu gute geben können, daß der gnädige Gottlieb ihre -- seine -- niedrige Hütte mit seiner hohen Person beehrt zum unvergeßlichen Angedenken, zum Traum in der Nacht. Dann sollten die Kinder ihm mit Gewalt ihre Diener machen, die sich ungeschickt stellten; darauf sollten sie aus dem Zimmer hinaus spedirt werden; dann wollt' er ihre Hand fassen, sie drücken, sie halten und sagen: So ein schönes Weib ist der alberne Johannes gar nicht werth! Wie glücklich würd' ich sein, an seiner Stelle! -- Dann wollt' er seufzen, ihr in die Augen schmachten und sagen: Wir müssen zusammen näher bekannt werden! Nicht? Du hast mich bezaubert! Ich hatte keine Ruhe mehr Tag und Nacht, seit ich Dich gesehen, die Blumen im Schooß. -- Dann wand er einen Arm leise und vorsichtig um ihren schlanken Leib -- sie bebte, sie zitterte mit den Knieen. Dann küßte er sie, ein Mal, zwei Mal, drei Mal -- dann fühlte er leise einen nur angedeuteten Kuß wieder, dann küßte sie deutlicher, länger -- dann sog er an ihren Lippen -- dann fragte er nur flüsternd: sind wir allein? -- Aber sie wand sich los, stand glühend und wagte kaum zu sagen: ich bin ja nur ein schlechtes gemeines Weib, und Sie so ein großer, vornehmer Herr, Sie werden sich ja nicht zu mir herablassen. -- Du bist ein Närrchen! sagt' er. Deinetwegen bin ich allein gekommen! Bin ich nicht hier? Hast Du mich nicht? -- Aber Sie haben ja so ein schönes, junges, gutes Weib! -- Und Du einen grämlichen, einfältigen Mann! -- Und nun schämte sich Christel, fühlte sich ohne Willen, ohne Kraft, ohne Worte und erstaunte über die Kühnheit, daß sie ihn geküßt, über das Glück, daß er sie geküßt, und glaubte, er habe nur gescherzt! und sie sah ihm zweifelnd, beklommen und bewundernd in die Augen, als seine ganz unterthänige Magd, der geschehe, wie er gesagt hat. -- Oder: War sie nur angestochen von seinem Blick, sahe sie ihn, wenn er _kam_, nur an, und dann nicht, und nur wieder, wenn er fortging, und sah' sie ihm nach -- bat sie ihn wieder zu kommen -- sah er sich genöthigt, die Schule mit ihr durch zu machen, so gab er große Lectionen auf einmal, und die Schülerin schritt mit großen Schritten vorwärts. Denn aller Feinheiten, aller Mitteltinten der Liebe war er bei ihr überhoben. Und wie er als Knabe hier auf dem Heerde immer mit _denselben_ Disteln hundert schöne Stieglitze nach einander gefangen, hundert Rothkehlchen immer nur mit frisch eingebeerten rothen Ebereschbeeren: so war er überzeugt, daß dieselben Liebesmittel seine alte Liebeskrankheit auch dieß Mal heilen würden. Er lächelte nur -- auch über das Weib, sah, ob er Gold in der Weste habe, fühlte _seinen getreuen_ Dukaten, den Armerleuts-Augenblender, erst richtig darin, und ging nun sicher die letzten Schritte fast zu rasch. So öffnet' er denn, so trat er ein. Sein Auge suchte das junge Weib -- Niemand zu sehen! Ein Tisch in der Mitte, trockenes Brot darauf, und ein blankes Salzfaß, kaum ein Stuhl; ein Stück zerbrochenen Spiegels auf dem Fenster, in der Wiege am Bett ein schlafendes Kind. Der Staar vom Ofen rief ihn an: »Du Dieb! Du Dieb!« Mit dem Fuße, den er in die Stube setzte, trat er das andere kleine Kind auf sein Händchen, das er ganz übersehen. Das Kind schrie. Sein Solofänger fuhr hinein und fiel über ein irdenes Näpfchen mit Milch für die Kinder her. Der Staar flog auf den Rücken des Windspiels und pickte in ihn hinein. Es wandte sich, schnappte nach ihm, und der Staar fiel todt auf die Erde. Daniel kam hereingesprungen, sahe den todten armen Dieb, brach in Thränen und Klagen aus, und so trat denn auch Christel aus der Kammer herein, die Gelte in der Hand. Sie nahm das getretene Kind auf den Arm, begütigte es erst und schalt dann Daniel, daß er darauf nicht Acht gegeben, während sie gemolken, und das Alles, als wenn der gnädige Herr gar nicht zugegen wäre. Dann ging sie und reichte ihm die Hand und fragte, was er bringe? -- denn zu holen ist bei uns nichts, wie Sie sehen, sagte sie lächelnd. Er wollte den Gang nicht umsonst gegangen sein, leitete das Gespräch, und so wiederholte er nach und nach jene Worte, jene Reden, die er vorher in seinem Herzen gehalten. Und das Alles sehr allmälig und langsam, oft inne haltend und mit den Augen forschend, bis er Johannes albern genannt. -- Aber da brach Christel in Thränen aus und schluchzte vor Wehmuth und Scham, und wie sie weinte, weinten die Kinder, und so wenig, als Christel zuvor, mochten auch sie den Dukaten nicht, den er Einem nach dem Andern bot und zuletzt auf das Brot legte. Wenn Du so bist, Du Engel, dann komm' ich nicht wieder! versetzt' er im Gehen mit Drohen und Lächeln. Ja! machen Sie mir die Schande nicht! flehte ihn Christel und drückte und küßte ihm nun die Hände, aber anders, wie er zuvor im Geiste gesehen. Mein Johannes könnte wieder nicht zu Hause sein -- Sie sind verrufen, und wenn mich Jemand aus dem Dorfe anlachte: so nähm' ich mir gleich das Leben! Dabei drückte sie das Kind an ihr Herz, als wenn sie schon von ihm scheiden solle. Das war zu natürlich, ja schön und bezaubernd, nur nicht für ihn, daß er ihr glaubte; denn er wußte, wie leidend, wie krank seine Gemahlin sei, aus stillem Gram über ihn. Es ward ihm schwül unter dem Dache, er sah von Weitem den handfesten Johannes munter und rasch nach Hause schreiten, denn es war Sonnabend, und so legt' er den Finger auf den Mund und ging ohn' ein Wort, und der Hund boll um ihn her. Johannes trat ein. Er sah, daß die Frau sich die Thränen trocknete und ihn wehmüthig lächelnd ansah, und doch eine selige, unergründliche Heiterkeit aus ihrem Gesicht wie leuchtete. Dann sah er das Gold auf dem Brote, glaubte zu verstehen und sagte: der Niklas hat doch vielleicht recht, der gnädige Gottlieb ist doch gut! Aber Almosen -- Almosen, auch von Golde, verzeih' mir Gott! ich mag sie nicht. Was meinst Du, Christel? Oder denkst Du anders? -- Freilich denk' ich anders, sagte sie; ich hab' es gar nicht gesehen! Mein Johannes, das wäre theures Gold für Dich! nicht wahr, so wohlfeil verkaufest Du mich nicht? und ich Dich nicht; um gar keins! die Kinder nicht, die dann nicht mehr mein wären, und das gute Gewissen, und die Seligkeit. Das ist mir lieb, Christel, sagte Johannes ruhig; ich verstehe Dich, ich hab' ihn sehen gehen, den gnädigen Gottlieb. Du bist eine brave Frau, daß Du mir das sagst; denn eine brave Frau muß nicht solche schändliche Dinge dem Manne verschweigen, aus Scham oder Furcht oder um ihm einen Gram zu ersparen. Was sie ihm sagt von solcher Art, das macht ihm Freude. Es ist nur gut, daß wir Armen noch Ehre im Leibe haben, wir haben ja sonst nichts. Ich bleibe nicht hier im Hause! sagte Christel, auf seinem Heerde nicht, und nirgend auf seinem Grund und Boden. Das ist mir hier gar nicht wie die Erde mehr unter meinen Füßen. Ich ärgere mich nicht, sagte Johannes. Sondern in allen bösen Dingen ist das Beste, das zu thun, was dem Dinge abhilft. Wir ziehen fort, ins Dorf! Ich will noch heute gehen! und dem Niklas will ich es sagen warum, wenn er mich fragt, sonst auch nicht. Aber, mein Johannes, geh' nur nicht zu einem Wohlhabenden ins Haus! bat sie ihn. Siehst Du, der Schwan läßt keine Ente neben sich brüten; die Sperlinge beißen die Schwalbe aus ihrem Neste; große Bäume ersticken die kleinen darunter, aber das schüchterne Reh nimmt das kranke Reh in sein Dickicht, und der Arme theilt sein Lager mit dem Armen. Bei ihm ist kein Sparen der paar Kreuzer; zum Sammeln kommt es bei ihm ja doch nicht; er hat immer, weil er weiß, daß er niemals mehr erwirbt, sondern auf den Herrn vertraut, der ihm das gegeben, und so hat er auch in der Noth für einen Andern. Und wer uns nur manchmal bis zum Sonnabend jetzt einen Groschen leiht, der verdient sich ein Gotteslohn. Geh zu der alten Frau Redemehr am Teiche, wo die zwei Tannen stehen! Ich bin ihr manchmal begegnet. Und Johannes ging. Daniel aber machte einen Sarg aus Baumrinde für seinen armen Dieb, die Kinder sangen und trugen ihn zu Grabe, machten ein kleines Grab von Rasen, setzten ihm ein Kreuz und hingen einen kleinen Kranz von Vergißmeinnicht daran und weinten sich satt. Aber damit war es nicht genug. Der Dieb fehlte beim Frühstück, er sang nicht nach dem Essen, sein Brot lag des Abends noch da. Und so nahmen ihn die Kinder wieder aus seiner kleinen Gruft, sahen ihn wieder an, sangen und begruben ihn wieder, alle Abende, bis er nicht mehr zu begraben war, die Mutter ihm wo anders ein Ruheplätzchen gab und den Kindern, die ihn suchten, zum Troste sagte: Dieb ist im Himmel. 9. Im Häuschen der armen Frau lebten sie nun zufrieden, ja sie wären glücklich gewesen, wenn sie nicht Geld zu hoffen gehabt, oder gehofft hätten! So gefährlich für die Ruhe des Herzens ist das Gold, und die Armuth nur drückend, wenn man reicher sein will. Der Zwiespalt im Innern befängt den Menschen, und er machte auch Johannes blind über das Glück, das er hatte, und er konnte nicht Freude aus der Armuth schöpfen, wie die Biene Honig aus der einfachen, aber wunderschönen Fichtenblüthe vor seinen Fenstern. So sprachen denn Christel und Johannes kein Wort, als der Gerichtsbote zu ihnen trat, als sie fast ihr ganzes, sauer erspartes Geld für Kosten bezahlen mußten, und Christel das Siegel der Zufertigung erbrach und las: daß der selige Herr _geschworen!_ Christel hatte nicht schwören wollen, da ihr der Gerichtshalter in der sogenannten Vermahnung den Eid als ein so heiliges, schreckliches Unterfangen vorgestellt, daß das arme junge Weib vor demselben, als vor der Entweihung göttlicher Majestät, geschaudert. Der Voigt war todt; und wohin der Vater den Empfangschein gelegt, oder wo verborgen und aufgehoben, das wußte sie nicht. -- Sie ging des Sonntags in die Kirche, zu unserm Herrgott, wie sie sagte, _dem_ ihre Noth zu klagen. Aber die Ernte kam, Christel ging Getreide schneiden, und die geborgte Sichel war bald ihr eigen. Sie ward lieblich gebräunt in der Sonne, da sie keinen Strohhut hatte, sie war noch einmal so hübsch. -- Wenn Du noch lange Weizen schneidest, sagte Johannes, so verlieb' ich mich noch ein Mal in Dich! -- Ich will recht fleißig schneiden! sagte Christel. Aber wie lange wird es dauern, so ist die Weinlese, dann kommt der Winter, der Winter! mein Johannes. Johannes seufzte wie sie, aber sie waren nun ruhig: das Geld war verloren -- das Haus war gebaut! die Hoffnung quälte sie nicht mehr. Sie waren kleine Leute, arme Leute, wie Viele, Viele, die kein Haus hatten, und das gemiethete Stübchen war nun _ihre Heimath_, und Johannes setzte Alles darin in den Stand. So sollte es nun bleiben, lange, auf immer, bis zum Tode. Selbst sein dürftiges, sonst nur bemitleidetes Hausgeräth war _nun erst_ wie sein eigen und ward ihm theuer und werth, die Jacke bekam ihm einen ordentlichen Glanz -- und einen bessern Ort; und wo er ging und stand, da war er nun auch mit seinen Gedanken. Aber indem er seine Lage, die neue Gegenwart mit ganzer Seele ergriff, umfaßt' er zugleich auch den Mangel. Christel hatte schon lange ihrem Vater, dem Pächter, der auch Johannes hieß, und ihrer bei ihm gestorbenen Schwester Marthe bei dem Steinmetz ein einfaches Denkmal bestellt und vorausbezahlt. Der Mann wohnte in Breitenthal und kam eines Tages, um ihnen zu sagen, daß es fertig stehe, und daß es ihr eigen sei, wenn sie noch den Gulden für die Vergoldung der Namen bezahlte. Sie hatten das Geld nicht, und Daniel erinnerte an den Ducaten vom gnädigen Gottlieb. Aber der lag da, bis Dorothee käme, um ihn mitzunehmen. Dennoch ging Johannes mit Daniel in die Werkstatt, sahe, daß der Stein fertig war, und Daniel las ihm die Schrift des vom Großvater erwählten Textes: Halt fest an Gottes Wort, Es ist dein Glück auf Erden Und wird, so wahr Gott lebt, Dein Glück im Himmel werden. Der Mann putzte Alles rein vom Staube und hielt die Hand zum Gelde hin. Ich werde wiederkommen! sagte Johannes. Er ging aber mit thränenden Augen, und Daniel sprang heute nicht an seiner Hand. Sie begegneten Niklas, der stehen blieb und mit barscher Stimme sagte: Johannes, Ihr fürchtet Euch wohl? -- Freilich! erwiederte er; aber nur vor der Unverschämtheit! die muß man vermeiden. Niklas hörte das nicht und sprach: Ihr seid für Eure Miethe im Vogelheerd noch Jagddienste schuldig. Morgen ist Jagd. Früh um 6 Uhr an der Waldkapelle! Ich will nichts schuldig bleiben! sagte Johannes. So schieden sie. Am Morgen ging er als Treiber zur Waldkapelle. Christel ging mit. Aber sie ging weiter mit einem Korbe ins Dorf hinab, um die Früchte von den Obstbäumen in ihrem Garten zu holen. Aber sie sah schon von Weitem nichts leuchten, nicht roth, nicht gelb! Denn da die Bäume bis an die Kronen verschlemmt waren, so hatten gewiß die Kinder sie sich zu Nutze gemacht. So ging sie betrübt zum Leinweber und Contrabassisten, auch ihres Mannes besonders guten Pathen und ihren Gevatter und darum sogenannten Herrn Gevatter-Pathen »_Krieg_.« -- Gut, daß Ihr kommt, Christel! sagte er fröhlich. Ihr erspart mir einen Gang zu Euch hinauf. Hat der Pathe nicht Numero 96, und Numero 15,000? von der Frankfurter? Warum denn? fragte Christel. Johannes hat sie an die Stubenthür geklebt, daß sie nicht verloren gingen. Da bringt mir das Feld aus der Stubenthür! oder sägt sie aus mit der Lochsäge. Ich möchte die Nummern doch einschicken. Es ist zwar hierbei zu gering, aber Ordnung ist doch gut. Bringt mir sie nur, mein Pathchen. Warum denn? fragte Christel leiser und war ganz roth geworden. Nun erschreckt nur nicht, Pathchen! setzt Euch nieder und hört mich an! Die 96 hat 300 Gulden. -- Ja, ja! seht mich nur an! hier ist die Liste, hier hab' ich's roth gezeichnet. Die 15,000 hat meine Auslage gerade gedeckt, und hier sind die 300! Ein Stück wie das Andere, blank und neu! -- Dann setzt' er sich wieder an den Weberstuhl. -- Christel saß ruhig, aber sie hatte die Augen zu und wand die Hände wie jemand, der sich wäscht, um nicht vor den Leuten sehen zu lassen, daß sie bete und danke. -- Und dort ist ein Fäßchen Most, Kometenmost, wie er heißt, das nehmt Euch im Körbchen mit hinauf und trinkt ihn auf meine Gesundheit! sagte der Pathe. Nun, es ist mir lieb, von Herzen lieb, ja noch lieber, als wenn mir Jemand eine neue Perücke und einen nagelneuen echten cremoneser Contrabaß aus Prag oder Mittenwalde geschenkt hätte, mit silberbesponnenem E, und Schrauben! Meine alte Rumpel-Mama ist im Wasser zerfallen, da steht noch der Hals. Mein Brot ist verdient! -- Christel schüttelte ihm von dem Gelde ein gutes Theil auf die Leinwand, aber er fing an, den Stuhl zu rühren, das Schiffchen zu werfen und trat und dichtete mit dem Zeug, daß die Leinwand schütterte, und tanzend alles Geld hinunter fiel. Da habt Ihr etwas für Eure Mühe, mein curioses Pathchen! lacht' er. Nun leset es auf, aber laßt mir nichts liegen! So war es nicht gemeint! Ich meinte: mein Brot mit der Baßgeige wäre verdient, aber nicht das mit dem Schiffe! In dem Weberstuhl stecken noch mehr Brote als in hundert Backöfen -- ja, ja! guckt nur hinein, curioses Pathchen, duftet das Brot nicht gar? Christel war böse. Nun danken will ich Euch schon, das ist billig für Euern guten Willen! da nehmt den Kindern die Schlinge Leinwand mit! Nun aber macht, daß Ihr fortkommt, sonst seh' ich die Faden nicht! Und nun trat er wieder frisch und schlug und warf das Schiffchen, daß er keine Hand frei und ruhig hatte, die ihm Christel hätte drücken oder gar küssen können. Und als sie draußen war und noch ein Weilchen stand, sang der alte Mann sogar. 10. So schnell war Christel das erste Mal nicht hinaufgeeilt, als dieß Mal. Sie dachte sich nur die Freude, die ihr Johannes haben würde, wenn er nach Hause käme. Als sie in die Stube trat, küßte sie die Kinder erst, die sich an sie hingen, alle nach der Reihe, und die Geküßten drängten sich wieder an sie, und sie glaubte in ihrer Freude, sie habe noch zwei und drei Mal so viel Kinder als sonst! Dann sah sie nach den Nummern an der Stubenthür -- sie waren weg! sie lief hinzu -- die Thür stand nur weit offen -- sie waren noch da! Es waren richtig Nr. 96! und 15,000! die ein schwarzes Kreuz hatte. Darauf zählte sie das Geld weitläufig auf, daß der ganze Tisch davon voll ward. Nun ging sie ans Fenster, um zu sehen, ob Johannes käme, und sahe nun erst den Leichenstein, den der Steinmetz gebracht und in die Stube gestellt, damit er vielleicht nicht draußen beschädigt werde, und las den vergoldeten Namen »Johannes« und »Martha« und das: Halt' fest an Gottes Wort. Wer hat denn bezahlt? fragte sie den Daniel. Er hat ihn so gebracht, antwortete er und ward roth. Du lügst! sagte die Mutter, sieh', wie Du roth bist! Nun weine nur nicht, mein Kind. Wer hat denn bezahlt? Mutter! bat Daniel. Daniel! drohte ihm die Mutter! Ich wollte dem Vater zu einem heiligen Christe sparen. Wovon denn? fragte sie. Du hast mir ja immer gebracht -- Du weißt schon was! sagt' er. Guter Junge, rief die Mutter sich besinnend. Ja! die Wirthin hat mir gesagt, Du verkauftest die Weintrauben und Pfirsiche, die ich Dir aus den Weinbergen Abends immer mitgebracht, und lauertest auf der Schwelle auf jeden Fremden und Reisenden, ob er nicht zu Deinem Schemel, zu Deinem Schüsselchen komme? -- Und Du hast keine gegessen? Mutter! sagte Daniel. Christel beugte sich zu ihm, und Daniel war still an ihrem Halse. Da hielt ein Wagen vor dem Hause, Stimmen riefen: heraus! Christel sprang hinaus an den Wagen. Johannes reichte ihr die linke Hand über die Leiter, das Stroh war blutig. -- Das Volk schießt auch gegen die Treiber, anstatt dem Wilde nach, wie blind und rasend! sagte der Fuhrmann; als ob gar Niemand mehr in der Welt und im Dickicht wäre als ein lumpiger Hase! oder noch weniger bedeute! Aber das muß geschossen sein, wenn auch gefehlt und dennoch getroffen. Hier kann er nicht bleiben. Faßt nur an! Zum Klagen ist danach schon Zeit! -- Als Christel ihren Johannes hineintragen half, konnte sie ihm nicht in das blasse Gesicht sehen, sie blickte seitwärts, und ihr wehmüthiger Blick fiel gerade auf den bereitstehenden wie wartenden Leichenstein und den goldenen Namen: Johannes! -- Sie schrie laut und brauchte nun selber Beistand. Als sie wieder zu sich kam, setzte sie sich im Bette auf und sah sich um nach Johannes und horchte. Er war in guten Händen; er war schon verbunden und lag ruhig. Die gnädige Frau hatte den Arzt in das Haus gesandt, der zwar aus der Stadt war, aber sie selbst öfter und tagelang besuchen mußte. Sie stand auf, sie kniete zu seinem Bett, sie weinte erst auf seine Hand und küßte ihn dann auf die kalte Stirn. Sie hatte vergessen, und wenn sie auch noch daran dachte, so konnte sie ihm nicht sagen: Johannes, sieh' doch, da ist das Geld! sieh' doch, da ist der Leichenstein! -- -- Er schlief. -- 11. Am andern Morgen erwachte Johannes zeitig, so still auch die Kinder saßen und auf seine geöffneten Augen, sein erstes Wort harrten, so leise auch Christel auf Socken im Stübchen umher ging, und nur die nothwendigste Arbeit verrichtete. Aber er glaubte, er träume noch, oder er sei gestorben, da er den Denkstein sah. Bist _Du_ denn hier? Christel, fragte er. Ist das Sophiechen, die hier zu meinen Füßen im Bette sitzt? Ja, das ist ja ein Bett, ich habe geschlafen. Er wollte sich wenden, vielleicht aufstehen, und fühlte dadurch erst seine Schmerzen. Ja so! -- jammerte er für sich. Es hat nicht eben Noth, ich vergaß mich nur; sagte er zu Christel. Wenn ich nur wüßte, wer geschossen hätte? Laß das gut sein! und werde nur wieder bald gesund; sprach Christel weich und besorgt. Daniel hat mir ja gestern gelesen, was auf dem Steine steht: Halt' fest an Gottes Wort! -- Da brachte sie ihm das Geld auf das Bett, und Daniel lachte ihn an. Er hielt es eine Zeit lang in der Hand und fragte dann sich besinnend: Christel, weißt Du nicht, welches Loos hat denn gewonnen? Das ist ja nun einerlei, lächelte sie. _Wir_ haben gewonnen! Nun kann ich Dich pflegen! -- Das ist nicht einerlei! sagte Johannes. Du redest, wie Du es weist, und ich denke, wie ich es weiß. _Welches_ hat denn gewonnen? Je nun, die 96! lächelte Christel. Was weiß ich von 96! fuhr Johannes fort. Du mußt mir sagen, ob das mit dem schwarzen Kreuze -- so Gott will, wenn er gewollt hat, oder das reine? Sieh doch einmal hin! Das mit dem schwarzen Kreuze, sagte Christel an der Thür stehend, lauter: ist No. 15,000. Nun das ist unser! sagte Johannes. Und das andre, 96, das reine, hat eben gewonnen! bemerkte ihm Christel. So sagt der Pathe Leinweber. Da sind auch die Listen. Es ist roth unterstrichen. Was weiß Der! seufzte Johannes und schwieg sehr lange. Nun was ist Dir denn? freue Dich doch! -- Freilich Du bist krank! setzte Christel zu ihrer Frage bedenkend hinzu. Er nahm sie bei der Hand und sagte: sieh', meine Christel, das Loos, die 96 ist unser. Nun so ist ja Alles gut! unterbrach sie ihn. Recht gut! sagt' er. Aber das Geld ist nicht unser. Du bist ein Kind! lachte sie. Da ist es ja! -- _Schicke_ es nur der Dorothee! sagte er, da sie uns ganz vergessen hat und keinen Fuß zu uns armen Leuten setzt, die ihr Schande machen. Der Dorothee? das Geld? fragte sie ihn betroffen, etwas blässer und gespannt. -- Siehst Du, liebe Christel, das Loos habe ich in _Gedanken_ auf die Dorothee genommen. Sie hat es auch gezogen, und auf das unsere hab' ich zum Zeichen und Unterschied für mich ein schwarzes Kreuz aus Daniel's Tintenfasse gemacht. Das ist freilich etwas Anderes, seufzte Christel. Konntest Du nicht das schwarze Kreuz auf das andre machen? Das war recht thöricht! Du seufzest, Du siehst böse aus; ich will doch nicht hoffen, Christel, meine gute ehrliche Frau! Verspricht man denn mit Worten? oder mit Herz und Gedanken? Freilich mit Herz und Gedanken, meinte Christel. Nun siehst Du, so muß man auch die Gedanken halten. »Gedacht ist gethan!« sagte meine Mutter immer. Und Du, meine gute junge Mutter, laß das Gewinnloos aussägen, wir setzen ein Glasscheibchen in die Oeffnung und haben zu unserm Lohn und Angedenken ein Fensterchen ins Haus. Geh, schicke die Wirthin und den Daniel. Das Mädchen hat ja gar Nichts! Nun kann sie vom Schlosse, wenn sie will. -- Daniel fiel der Mutter um den Hals, sprang eilig davon und brachte die alte Frau Redemehr. Was hattest Du denn? Daniel! frug ihn die Mutter. Dauert Dich das Geld um uns, Du guter Junge! Ach Mutter, nun will ich Dir's sagen! sprach Daniel froh. Nun was denn? mein Daniel; frug ihn Christel. Aber Du wirst böse sein auf Dich, und danach auf mich! sprach Daniel leiser und wollte nicht reden. Ich weiß schon, was er sagen will, sprach Frau Redemehr. Ich habe einmal 6 Gulden gewonnen und war froh! und als ich das Geld sah und in die Hand nahm, überfiel mich ein Schreck und ein Zittern, als hätt' ich's entwendet. Wem? -- wußte ich nicht mit Namen. Aber ich hatte nur 10 Kreuzer gegeben! und nun bekam ich 6 Gulden so ohne alle Mühe und Arbeit! Und wenn ich einen ganzen Tag auf die Arbeit gehe, bekomme ich nur 10 Kreuzer. Woher war nun das Geld? von armen Leuten, von unzufriedenen unglücklichen Leuten, die sich selber darum betrogen, und deren Betrogenes ich nun einsteckte, als hätt' ich es sauer verdient! Ich that die erste Nacht kein Auge zu, und die andern Nächte wachte ich auf aus schweren Träumen, worin die Kobolde mich vor den König Salomo führten, als eine heimliche Diebin und unehrliche Frau, die anderer Leute Gut besitzt. Die Armen und Betrogenen weinten, verwünschten und verklagten mich! und Salomo sahe mich starr an und sprach, daß sie mein Geld hätten gewinnen wollen, das machte meinen Gewinn nicht gerechter »Frau Redemehr« -- sprach er -- »Euer Sinn ist schlecht! Ihr wollt dem lieben Gott das Leben abstehlen!« und spuckte vor mir aus. Und so geschahe mir alle Nächte, bis ich das Geld in die Kirche schenkte, zu einem neuen heiligen Geiste über die Kanzel. Da hatte ich Ruhe! Denn _gewonnenes_ Geld bringt Niemandem Segen. Fragt nur im Lande! Wie gewonnen, so zerronnen. Und noch ein schlechtes schweres Herz sich gemacht. Verdientes aber -- das hab' ich _verdient_, mit meiner Müdigkeit und meinem Tage, den mir der liebe Gott gegeben. -- Nun das hab' ich dem Daniel gestern erzählt, als Ihr das Geld gewonnen, und es hat ihm bald das Herz abgedrückt, daß seine Mutter und sein Vater nun sollten unverdientes und ungesegnetes Geld besitzen und Nachts vor dem Könige Salomo erscheinen. Darum freut er sich so, nun Ihr das Geld fortschickt, meine liebe Christel! Christel ward feuerroth bei der Rede der alten Frau Redemehr, gab ihr das Geld für die Dorothee, und sagte nur: Es war ja so nicht unser! Und als sie fort waren, setzte sie sich zu Johannes aufs Bett, und wand ihre Arme unter seinem Kopfe durch, neigte sich zu ihm und weinte. Jetzt hätten wir können arm werden! meinte Johannes. -- Freilich _ganz anders_ arm! Wenn ich mich nur nicht gefreut hätte! das kränkt mich; wenn Du nur nicht krank wärst, nicht stürbest! -- Nun wirst Du mir traurig! versteh' mich nicht unrecht, Johannes, mir ist es nur um Dich! Nur um die Kinder! So mein ich's auch; seufzte Johannes. Nein! ich nicht so. Daß sie _Dich_ nicht sollen haben! das thut mir leid! und Du _mich_ nicht! -- Mir aber, daß die Kinder sollen betteln gehen, wenn ich sterbe! oder Du stirbst dann auch -- ich und Du. Lieber Johannes, tröstete ihn Christel, hast Du nicht gesehen, daß das viele Vermögen dem alten Pachter vor unserem Vater nicht genutzt, daß er die Kinder ganz verwöhnt und verzogen, und daß sie es durchgebracht haben! Was hilft also Reichthum _ohne_ Gottes Segen? Nichts! denn der Herr kann nehmen, wie und wo und wenn er will. Und so kann er auch geben! Siehst Du denn nicht, wie des Predigers Kinder, die er mit der Witwe verlassen, Alle wohlerzogen, wohlgerathen in der Welt ihr Brot mit Ehren gefunden, und wieder Weib und Kinder haben, und Jedes doch ein Häuschen und ein Gärtchen, so viel ihrer sind! Was schadet denn also die Armuth mit Gottes Segen? -- Nichts! Er nimmt den Reichen selbst durch Ueberfluß und _gesegnete_ Ernten und _gute_ Zeiten, und giebt dem Armen selber durch Mißwachs, Krieg und Noth. Da ist Arbeit, da gelten Hände, da erwirbt, wer fleißig und klug ist! Siehe, Adam verließ seinen Kindern auch nichts, als die ganze leere Welt, und siehe, wir, seine tausendsten Enkel, leben auch noch. Freilich nicht im Paradiese! seufzte Johannes. Du hast keine Liebe zu Gott! Heißt nur Dein Vater Fommholz? Und gar erst, -- Du solltest doch denken, _wessen_ Namen Du trägst, Johannes; ach, Du hast Ihm nicht an der Brust gelegen, klagte Christel fast mit Thränen und Vorwurf. Es mag ihnen auch manchmal kümmerlich genug gegangen sein, als sie auf Erden pilgerten und bloß vom _Säen_ lebten! sagte mitleidig Johannes. Und dennoch hatten sie Liebe und thaten etwas, das sie nicht ließ an Noth und Mangel denken, belehrte ihn Christel. Bleibe uns nur gut, weil wir arm sind, weil ich arm bin, und verachte Dich selber nicht, weil Du uns nur so viel geben kannst, womit wir ja doch von Herzen zufrieden sind! Beten die Kinder nicht alle Morgen und Abende? Danken sie nicht bei Tische ihrem Herrgott für die empfangene Wohlthat? -- Und Du trocknest Dir die Augen mit der Schürze dazu und siehst mich nicht an. Du denkst, ich bin taub und blind, daß ich nicht sehe, wie die Kinder so bescheiden aussehen! wie Du immer sprichst: Ich bin satt! da, meine Kinder! wie Du dich grämst um sie und nicht wagst, mich anzusehen, wenn ich auf einmal in ihr Gebet mit einfalle und _laut_ Gott danke für Alles, was wir empfangen haben, und Du mir mit dem Finger drohst und mich dann strafst: Johannes! das ist kein Dank! -- Wohl dem, der seinen Kindern geben kann, was sie bedürfen! und reichlich, daß sie freudig sind! Wohl dem, und wohl ihnen, daß sie nicht gleich die Erde betrachten wie ein Armenhaus, worin nichts ist für sie, als was sie durch Mildthat empfangen, wo die Kirschbäume _ihnen_ keine Kirschen tragen, das Feld keinen Lein, der Weinstock keine Traube, keinen Tropfen Wein! Wo sie an die vollen lachenden Körbe mit Pfirsichen treten und sich wundern, daß die Gottesgabe nicht _umsonst_ gegeben wird, sich wundern, daß man sie mit einem Kreuzer _bezahlen_ kann, dann die Hände auf den Rücken legen und traurig fortgehen, daß sie den Kreuzer nicht haben! Und vollends _jetzt! jetzt!_ meine Christel. Es ist gut! sagte er, und kehrte sich von ihr weg, mit dem Gesichte an die Wand. Soll ich denn Alles sagen, weinte Christel. Ich habe den Vater im Sarge gesehen. Wie lag er doch so ruhig da! ja wie lächelte sein Gesicht! Und doch hatten wir sieben unerzogene Kinder an seinem Sterbebette gekniet und geweint, und doch entschlief er ohne Kummer, ohne ein Wort der Klage. Hat er nun nicht gewußt, daß wir ohne ihn verlassen sein würden? O ja, er hat es gewußt. Aber er hat auch in jener bittern Stunde, wo ihm _kein Mensch_ helfen konnte, kein Mensch etwas geben und sein, da hat er im _Herzen empfunden_, daß er selbst Nichts sei ohne den Vater im Himmel. So ist sein Zutrauen _zu sich_ verschwunden mit der Rathlosigkeit und Hülflosigkeit, in die er versunken war. So sah er uns zwar liebevoll Alle noch ein Mal an, zog uns Alle noch ein Mal an sein Herz und ließ uns die Hände, darauf zu weinen; aber er lächelte nur in unsere Thränengesichter und verwunderte sich; und so schloß er die Augen gelassen, und auf seinem Antlitz schwebte die _Gleichgültigkeit_ der Todten gegen Alles, was Welt heißt -- und die stille Furcht, zu Gott zu nahen, und die feste Zuversicht, ihn zu finden! Ach, wir waren ihm nicht _geringer_ geworden, als etwas so Vergängliches, wie Menschen sind. Nein! -- Gott war ihm als sein Vater und unser Vater erschienen, in seinem Glanz, seiner Macht und Liebe hervorgetreten. Er war auch nur wieder sein Kind geworden, und so waren wir auch nicht mehr nur seine, sondern auch seines Vaters Kinder. Das bedeutete sein letzter Blick zum Himmel, das sagte die stille Hoffnung auf seinem Gesicht im Sarge, sein stummes Scheiden aus dem Hause, und dort sein Text auf dem Steine! Sieh' nur hin, es glänzt Dich doch an! O eine Krankheit ist ein großes Glück für den leichtsinnigsten Menschen, geschweige für den Frommen. Und wir, die wir es sehen, wie die Sterbenden lächeln, wie sie still dahin ziehen, wir sollten sie nicht verstehen? Wir könnten mit offenen Augen, mit klopfendem Herzen wenigstens nicht nachempfinden, was ein Sterbender einzig und allein nur sieht? Ach, wir Gesunden, wir Lebenden sehen _zu viel!_ uns verwirrt die Arbeit und Sorge und Mühe, daß Gott auch um uns ist; wenn wir das reife Getreide schneiden, empfinden wir nur die Hitze des Tages, und legen uns, müde von Arbeit, zu schlafen, und denken, morgen einzualtern, oder an das Mahlen und Backen und das liebe Brot, das wir bedürfen. Ja wohl! Du hast schon Recht; Gott wird schon Recht behalten! sagte Johannes. Das soll er auch! eiferte Christel. Was hilft es denn mehr, als daß wir _das Unsere_ gethan, wenn wir für unsere Kinder sorgen. Aber wie weit reichen wir! Denn siehe doch an: Wer sorgt denn nur einst für die Kinder von unsern Kindern? Sind die nicht unsere? Gelten die Nichts? Und müssen wir diese nicht schon doch Gott und der Welt überlassen? Und warum denn nicht auch schon unsere Kinder, wenn wir das Unsere _gethan_, wenn es auch nur in Liebe und Wünschen bestand! Und hast Du die Kinder nicht lieb? Antwort: Ja! Und wünschest Du etwa uns Allen nicht ewige gute Tage? Antworte doch: Nein! Du verwunderst Dich! -- Du wirst schon besser werden, besonders wenn Du _besser_ wirst. Ich bin nicht furchtsam, sondern Du! Du bist der Hasenfuß -- nicht der kleine Junge! Johannes lächelte -- Christel lachte vor Freuden, und die mühsam verhaltenen Thränen kamen ihr nun erst hervor, -- wie es noch regnet, wenn vom seitwärts klar gewordenen Himmel die Sonne schon wieder scheint. Und so blieben sie Beide, zufrieden neben einander ruhend, lange Zeit. 12. Erst am andern Abend kam Dorothee in einem schwarz-seidenen Mantel. Sie gab Johannes die Hand, setzte sich und schwieg. Nur manchmal seufzte sie. Christel erwartete in Gedanken, daß sie Etwas von dem Gelde vielleicht ihr bringen, nur leihen sollte. Aber Dorothee langte aus dem Mantel ein besiegeltes Document, gab es Christel, und sagte: Hebt mir es auf, ich kann es vielleicht brauchen. Der Herr hat das Geld. Ich mußte -- Christel lächelte und hob das Papier auf. Dorothee schien hier keine Ruhe zu haben und ging umher. Geht Dir es nicht wohl? fragte sie Christel. Daß ich nicht wüßte! versetzte Dorothee. Nun ich will Dich nicht aufhalten! Johannes verlangt keinen Dank, wenn Dich das etwa beklemmt. Aber noch Eins, eh' Du gehst, hier ist die Bibel, und hier ist der Vers. Wir haben um Dich verdient, daß wir Dich bei Gutem erhalten. Ich habe meine Ursachen dazu. Sie schlug die Bibel auf, zündete einen Span an und leuchtete. Dorothee sah lang auf die Blätter. Nun? fragte Christel. Und so las denn Dorothee die Worte: Selig sind, die reines Herzens sind -- aber sie seufzte unmerklich, dann sah sie auf Johannes, um ihren feuchten Augen eine Ursache zu geben. Nun gehe mit Gott! Dorothee; sprach Christel. Aber da ist noch das Goldstück; gut, daß es mir einfällt! So holte sie es, wickelte es aus dem Papier und legte es auf die Bibel ihr hin. Kennst Du solches Geld? fragte sie. O ja, antwortete Dorothee erröthend. Nun so nimm es Deinem gnädigen Herrn mit! Dem gehört es. _Meinem?_ erschrak Dorothee, und wagte doch nicht in Christels Augen zu sehen, ob und was sie meine. Nun ja: Deinem, versetzte Christel. Ich bin ja Jungfer bei der gnädigen Frau; erwiederte Dorothee. Sie soll eine gute gnädige Frau sein; sagte Christel. Geh' nur mit Gott! -- Und so ging sie, und sie sahen dann erst, daß sie das Goldstück dagelassen. _Das_ Geld will sie nicht! meinte Christel zu Johannes. Du bist brav, meine Christel, dachte Johannes, ohn' es zu sagen; um Deinetwillen muß ich besser werden! 13. Christel that es nur leid, daß sie den vortrefflichen Kometen-Most allein trinken sollte, denn ihrem Johannes war er schädlich und vom Lizentiat verboten. Sie setzte sich aber jedes Mal aufs Bett zu ihm, wenn sie davon trank, sahe ihn dabei an, und so bildete sie sich ein, _er_ genieße seine Süßigkeit mit. Die alte Wirthin ward nicht vergessen, und auch der alte Schulmeister Wecker bekam, so viel er wollte. Denn der gute Mann hatte sich seine Suspension zu Gemüthe gezogen, besonders das Wort des Gerichtshalters: daß es ihm leid thue, daß suspendiren nicht »aufhängen« bedeute. So war er denn übergeschnappt, zuletzt sogar und dieß Mal nicht ohne Grund -- da er Alles verkehrt gelehrt und an den Kindern seinen Verdruß über den Tanz mit den Buchstaben alle Morgen aufs Neue unbarmherzig vermerken lassen, und zwar an der ganzen Schule durch die Bank, um die Schuldigen unfehlbar mit zu treffen -- wirklich abgesetzt, dispensirt worden, und der arme, irre Mann übersetzte das Wort nun: _zweimal gehangen_, weil durch einen Schreibfehler des Amtscopisten _bispensirt_ in seiner Entlassung stand, die er immer zu seiner Legitimation als abgesetzter Schulmeister bei sich trug. Das Schulhaus war, wie gewöhnlich, nicht sein, er lebte nun von seinen verkauften armseligen Sachen, die allgemach von ihm Abschied nahmen; und als er das erste Mal zu Christel eintrat, frug er, wie ihm sein alter Brotschrank um den Hals stehe? und das Butterfaß auf dem Kopfe? -- Christel aber sahe mit feuchten Augen, daß er eine neue Wintermütze auf dem Kopfe und ein neues Halstuch umhatte. -- Sehr schön! Herr Wecker; antwortete sie ihm. -- Nun das wollt ich nur wissen! versetzt' er. Nur der alte Seiger mit dem Kuckuck auf den Füßen ist mir zu enge! Das ist der Kuckuck! sagte er. -- Auch neue Schuhe! erstaunte Christel. Das wollt' ich nur wissen! sagt' er. Ich komme eigentlich, versetzt' er, um zu beweisen, daß ich auf Euren Johannes nicht böse bin, daß er mich um mein Amt buchstabirt hat. Das kommt aber daher, daß ihn seine lieben Aeltern nicht das heilige A. B. C. haben lehren lassen. Und ich bin der Mann, die Scharte auszuwetzen! Aber tüchtige Hiebe wird es setzen! Aber seht, ich habe eine tüchtige Ruthe, die wird schon aushalten bis zum O! oder W! -- es kommt auf sein Genie an. Ja! seht mich nur an, sagt' er! Ich bin der Mann! Denn wie mein Halstuch ein Brotschrank ist, so bin ich das leibhaftige Schulhaus nebst allem Zubehör, und was darum und daran hängt, wie an meinem alten Rocke. Unser Herrgott ist auch nicht die Welt, sondern ganz separat, und wenn er die Sonne ausbläst wie ein Licht: so sitzt er drum noch nicht im Finstern. Heut zu Tage ist Alles ambulant! ja sogar fliegend! selber das Lazareth! Ich aber schleiche ja nur ganz sacht auf meinem Kuckuck, als die sichtbare und wahre Schule. So wollen Wir denn in Gottes Namen anfangen! Darauf erhob er seine Stimme, ging in der Stube mit halb zugemachten Augen auf und ab und sang, wie er immer vor Anfang der Schule gewohnt war, den Vers: Erhalt' uns in der Wahrheit! Gieb ewigliche Freiheit, Zu preisen deinen Namen Durch Jesum Christum. Amen! Nun wie weit waren wir denn in der letzten Stunde? fragte er und setzte sich an das Bett, langte das A. B. C. Buch aus der Tasche und legte die Ruthe neben sich hin. Und so mußte denn Johannes das A. B. C. lernen, welches er ihm zu Gefallen that, um dem armen Mann seine Freude zu lassen. Dann ging er in andre Häuser lehren, und man hörte sein: »Erhalt' uns in der Wahrheit.« Manche behielten den als A. B. C. Lehrer immer noch brauchbaren Mann zum Danke zum Essen, oder steckten ihm Brot in seinen ambulanten und fliegenden Brotschrank, die großen Taschen, das er ruhig geschehen ließ, als wenn er nichts merkte, und während dessen die Kinder ermahnte, oder noch den Vers zum Schlusse der Schule sang und dann mit schlauem Blicke sich für das reichliche, wohlgebackene _Schulgeld_ bedankte. Er schlief des Nachts, wo es ihm gefiel, auf der Ofenbank, oder bei wem er gerade des Abends zuletzt war. Er hatte Niemand, denn sein Fritz war eigentlich schon ein großer Friedrich und bei durchziehenden Soldaten Tambour geworden. Da aber der alte Mann Wecker hieß, wie ihn jetzt Alle, statt Schulmeister nannten: so hatte er einen Haß gegen die Hähne bekommen und führte Krieg mit ihnen, wo er einen sah und krähen hörte, und sagte ihm: Mein Freund, _Ich_ bin Wecker! und so fing er an, früh die Menschen selber zu wecken ohne Unterschied, am liebsten jedoch mit inniger Freude die evangelischen Geistlichen in der Gegend nach der Reihe, ja er krähte zuletzt dabei auf einem Grashalm. Wie eigens nur dazu bestallte Männer in dem Pallaste der Könige von England krähten, zur Warnung: nicht den Herrn zu verrathen, wie -- Petrus. Das war seine ganze Verrücktheit und sein ganzes Unglück. Uebrigens war er glücklich, besonders wenn er des Sonntags Orgel spielen durfte, worauf der neue Schulmeister kein _Schneider_ war und nicht exschellirte, wie er sagte. Am liebsten war Wecker bei Johannes und hatte sich zuletzt fast eingenistet bei ihnen, ob es gleich mit dem reichlichen, wohlgebackenen lieben -- Schulgelde nicht immer ganz richtig aussah. Johannes, oft auf die Kinder blickend, oder auf Christel, die nun spinnen saß, machte oft grobe Fehler, die Wecker sonst mit Knien, Handschmissen oder dergleichen bestraft hatte. Da nun der kranke Johannes jetzt nicht die Strafe abthun konnte: so legte Wecker ein Schuldregister mit Kreide an der Kammerthür an, und es standen nach und nach mehr als ein alt Schock Sünden angeschrieben, jede nach ihrer Art mit besondern Zeichen, und Daniel kniete manchmal heimlich und löschte dann einen Sündenbock an der Thür hinweg. Denn er selber ließ sich nichts zu Schulden kommen und half dem Vater heimlich ein, oder überhörte ihn. Der Most nun langte zwar zu den Gesundheiten, die Wecker auf Johannes Herstellung trank und sich alle Mühe gab, ihm durch einen guten Zug zu beweisen, wie redlich er es meine; aber er langte bei Weitem nicht bis zu seiner Wiederherstellung selbst, die erst nach mehreren Wochen erfolgte. Der Lizentiat, ein geschickter Arzt, hatte sich alle Mühe bei ihm gegeben, _um der gnädigen Frau gefällig zu sein_, von der er wahrscheinlich schon die Curkosten bezahlt erhalten. Denn als er einst vom Edelhofe mit der Frau Lizentiatin im Wagen nach Hause fuhr, hielt er vor Johannes Thür, ließ ihn heraus kommen, und -- gab ihm eine sehr billige Rechnung. Der Apotheker ist auch dabei! den vertret' ich! bemerkte er ihm. Christel sagte aufrichtig: Beste Frau Lizentiatin, wir haben nur Nichts an Gelde! Auch Nichts an Geldeswerth? fragte die Frau Lizentiatin lächelnd. Die Ziege meckerte sehr zur Unzeit. Da ist ja eine Ziege! meinte sie etwas erheitert aus ihrer verdrießlichen Miene. Ja wohl! seufzte Christel, aber die brauch' ich für die Kinder! Ich habe keine Kinder! bemerkte die Frau Lizentiatin spitz. Wir haben auch ein Schwein! sagte Sophiechen hinter der Mutter Schürze hervor. So? mein Kind! -- Das ist ja ein recht liebes Kind! Laßt uns doch sehen! sagte die Frau Lizentiatin. So wurde denn aufgeriegelt, und Frau Lizentiatin bemühten sich, es in Augenschein zu nehmen und zu befühlen. Das ist gutes Essefleisch! freilich nicht in die Esse. Aber liebe arme Leutchen, man muß _von_ Euch nehmen, was Ihr habt! Es thut mir recht leid. Johannes und Christel sahen sich an. Johannes, sprach sie, Du bist ja wieder gesund! Nur nichts schuldig bleiben! Die Kinder leben auch ohne Wurst. Man hat jetzt Beispiele, daß Menschen daran gestorben sind! Wurstgift -- das ist ein ganz neues Gift! bemerkte der Lizentiat, eine Prise nehmend, und dachte: Du hast das Memento Doctoris hier vergessen: »Nimm! _wann_ es schmerzt« -- so nimm nur noch jetzt: _wenn_ es auch schmerzt! Das kleine Verbindungswörtchen »auch« ist ja keine Grausamkeit! -- Nur aufgeladen und festgebunden auf den Bedientensitz! Das geschah. Aber das giftige Schweinchen schrie so unbarmherzig, daß es wieder abgebunden werden mußte. Die Gans im Wagen schrie auch. Johannes! sagte der Lizentiat, ich gebe euch nun die Erlaubniß, zu gehen und wieder Eure Geschäfte zu verrichten, nach wie vor. Ihr werdet fühlen, daß Ihr gesund seid; Ihr seid lange nicht aus der dumpfen Stube gekommen -- die Stadt ist nicht weit -- Abends seid Ihr wieder da, macht Euch einen Weg mit dem kleinen guten Dinge. Die Frau Lizentiatin aber wußte sich noch hin und her zu beschäftigen und ließ sich ein Langes und Breites mit dem Herrn Schulmeister ein, und sie fuhren erst fort, als Johannes schon längst einen tüchtigen Stock genommen und schon weit mit dem guten Essefleisch voraus auf der Straße war. Christel und Wecker sahen nach. Die Liquidation schrie wie schon dem Tode nah'! sprach er. Das Schweinchen? sprach Christel. Wessen ist denn nun das Schweinchen? frug Wecker. Ihr seht ja: des Doctors! erwiederte Christel. Aber wessen ist das Himmelreich! fragte der Schulmeister. Ich denke: der Armen; erwiederte Christel. -- Das wollt' ich nur wissen! lächelte Wecker. 14. Johannes kam Abends im Mondenschein nach Hause, ging und zerhackte erboßt den Treibestock, legte dann einen blanken Zehnkreuzer, sein empfangenes Trinkgeld, auf den Tisch und warf sich auf's Bett. Ist Dir der Gang nicht wohl bekommen, mein Johannes? fragte ihn Christel. Recht schlecht! sagt' er. Bist Du müde? bist Du krank? forschte sie mitleidig. Nein! sagt' er; aber erbittert! Es war auch ein schwerer Gang! seufzte sie; ich will Dir es glauben. So drang sie nicht weiter in ihn. Johannes verschwieg ihr aber sein neues Unglück, das aus dem alten entstanden war, von der Hasenjagd. Denn als er schon nach Sonnenuntergang auf dem Rückwege von dem Lizentiat an das Feldgärtchen der alten Frau, seiner Wirthin, gekommen war, sah er einen Hasen, der ein Loch durch den Zaun gefunden und sich der Kohlstauden bediente, welche noch standen, um zu frieren, mürbe zu werden und der alten guten Seele besser zu schmecken. Er sprang über den Zaun und verscheuchte den Hasen. Dieser nun klemmte sich ein, indem er hinaus strebte, und Johannes erreichte ihn mit dem unbarmherzigen Stocke, mit dem er gleichsam meinte, in dem Hasen sein ganzes erduldetes Unheil, bis auf das heutige mit dem Essefleisch, todt zu schlagen. Dann zog er den Hasen hervor und warf ihn über den Zaun ins Feld. Als er aber, durch den Fall wieder zu sich gebracht, noch kläglich quäkte wie ein Kind, ging er aus Erbarmen und schlug ihn völlig todt. In diesem Augenblicke kam der gnädige Gottlieb geritten, von einem Fremden und Niklas begleitet. So? sagte er. Seid Ihr der Hasendieb? Da habt Ihr gewiß auch die Rebhühner und Fasanen, die nach und nach fehlen. Ein Faden Schwefel ist nicht theuer, und wovon lebt Ihr denn sonst, Ihr Ungeziefer! Johannes erzählte den Fall. Ihr steht hier auf meinem Grund und Boden. Hier liegt der Hase, hier habt ihr ihn erschlagen, hier stehen die Zeugen! Johannes mochte nicht bitten. Der _einzige_ Fall ist auch genug! sagte der junge Herr. Es soll so einmal ein Exempel statuirt werden; es ist mir lieb, daß es Euch trifft. Die Gesetze gegen Wilddiebe sind, Gott sei Dank! scharf und in Ehren, weil sie _vornehmer_ und reicher Leute Rechte schützen. Auf den Sonnabend ist Gerichtstag! der Gerichtshalter wird sich freuen, Euch wieder zu sehen und Euch zu _beweisen_, daß Ihr Hasen todt schlagen könnt. Stellt Euch also nur dann zu rechter früher Tageszeit von selber ein. Die Vorladungskosten will ich Euch sparen aus Gnaden. So war die Gesellschaft lachend von dannen geritten. Johannes ging in der Stille an dem bestimmten Tage, unter dem Vorwande, wo anders hin zu gehen, und empfing seinen Bescheid und sein Urtheil, das auf dreimonatliche Gefängnißstrafe lautete, da er kein Geld habe. Er hörte das ruhig an und bat nur, daß er erst zu Weihnachten sich einzustellen brauche, weil jetzt noch Verdienst sei, aber im völligen Winter nur wenig. Und er hatte große Freude, daß ihm das zugestanden ward, in der Kälte gefangen zu sitzen. -- Eingeheizt wird Euch nicht! lächelte der Herr Gerichtshalter. Dann bat Johannes nur noch, daß seine Strafe verschwiegen bliebe, bis er wieder entlassen sei. -- Das ist wider die Lehre von der Besserung durch das Beispiel! erhielt er zur Antwort. Er bat aber sehr und weinte im Herzen über die Angst seiner Christel und ließ nicht ab, bis er auch das erlangte. Versprechen ist ja nicht Halten! bemerkte der Gerichtshalter leiser zum gnädigen Gottlieb; ich kann das Bitten nicht ausstehen, es erinnert mich immer unangenehm an den Menschen in mir, und ich bin nur der leibhaftige Justinia-si-nus! Denn unsere Last ist schwer! schon die treuherzige Miene zu machen, die Rolle durchzuführen und immer gleichgültig -- grau auszusehen und uns sicher zu stellen, daß man _uns_ nicht auf das Pergament klopft, mein Hohlwohlgeborner! Doch wir können das Sackspiel! und besser! _Ruhig_ sie -- hängen lassen, so spielen es die Meister. -- Nun können Sie die Schule mit ihr anfangen! Mit _ihr_ ist nichts! das Volk hält gar nichts mehr auf angethane Ehre! ich habe nun andere Sorgen! bemerkte der Herr. Bedauere! -- _Ich_ habe meine Schuldigkeit gethan! neigte sich der Justini--anus. Johannes aber ging und sprach in Zeiten von einer Reise zu einem entfernten Anverwandten, der ihnen helfen solle. Er war fleißig bis zum Weihnachtsfest, um sein Weib und seine Kinder zur Noth zu versorgen, denn ihre Zahl sollte gegen Ostern noch um Eins vermehrt werden, wenn nicht durch Zwei, wie Gott nun segnete. 15. So kam Weihnachten heran, und am Tage vor der -- Abreise saß Johannes in trüben Gedanken und Kummer, die Seinen zu verlassen. Ach, sprach er bei sich -- die Strafe hab' ich verdient, die Welt ist einmal so, und was die Großen verbieten oder gebieten, das müssen wir kleinen Leute schon meiden oder thun, das wird uns mehr wie ein Kirchengebot, davon ist keine Erlösung auf Erden, wohin auch ein Armer geht; aber es scheint mir doch zweierlei, die hohe Stadttaxe auf die Landschaft anzuwenden, wie der Apotheker und der Lizentiat, -- der Schulmeister hat mir das wohl erklärt -- und einen armen Mann wie mich zu bestrafen, wie einen Reichen. Wer gesund ist, und fest steht im Zimmer, der verträgt einen derben Stoß; ein alter kranker Bettelmann, dem man mit einem Finger nachhilft, indem er die Treppe hinunter schleicht, der thut einen Fall, von dem er nicht mehr aufkommt. Aber davon wissen die Gesetze nichts, und _die_ nichts, die sie unterschrieben. Die Gerichten, ach, die Gerichten, das sind die wahren Herrn im Lande! die Gesetzanwender! wie Wecker sagt; und ein Gerichtshalter ist auf dem Dorfe geradezu mehr als alle seine stummen Gesetzbücher, die ihm der Herr Amtsschreiber nachträgt! pro firma, wie Wecker sagt; ja, dieser Herr Amtsschreiber schon ist mehr als selber der Landesherr! ein wahrer Pilatus, der züchtigt und losläßt, wie es ihm gefällt, wie er die Sache dem Principal vorträgt -- um ein Paar Eier. Gut, daß mir das Beispiel einfällt! was will ich armer Johannes da klagen! da ein ganz andrer Johannes ganz Anderes litt! Christel sah, daß er traurig war, und sprach: ich halte es selber für rahtschaffen, daß Du die Wanderung machst, daß wir einmal aus der Noth kommen! Ich kann Dich nicht länger so sehen, Du grämst Dich mir ordentlich ab, und die Jacke ist Dir so weit, daß mir die Thränen in die Augen treten. Wenn wir nur nicht die Kinder hätten! Du allein kämst indessen schon durch, seufzte Johannes. Lieber Mann, sprach Christel, wirst Du noch immer nicht klug, siehst Du noch immer nicht, was wir haben, und wie mich die Kinder erfreuen werden, wenn Du weg bist. Ich -- ich stelle mir tagtäglich vor: _das_ ist ein großes Glück, zu besitzen, was ein großes Unglück wäre zu verlieren. Da hast Du's! Sag' einmal, würdest Du lieber reich sein, und die lieben Kinder _nicht_ haben wollen? Oder uns haben wollen -- und arm sein, wie wir sind, und doch nicht sind! -- Curioses Pathchen, würde der Pathe Leinweber sagen, kann man denn nicht die Kinder haben, und noch Etwas für die Kinder dazu? sprach Johannes. -- Also bist Du mit mir und den Kindern nicht _ganz_ zufrieden? erschrak fast Christel. Laß uns doch! Siehe, Du wirst es jetzt eine Zeit lang besser haben als wir, Du wirst Dein gutes Essen haben, die Beine unter anderleuts Tisch stecken, ich will Dir's ja nicht beneiden -- komme nur wieder! wenn Du auch lange bleibst, und laß einmal schreiben! -- Johannes schwieg. Sie weinte und legte sich mit dem Kopf auf den Tisch. Der Vater aber sahe durch das Fenster, wie der erste Schnee herabtaumelte, wie er aus dem ganz gesenkten flirrenden Himmel sich hinab in den Teich stürzte, und wie aus dem Spiegel des Teiches zugleich die stürmenden Flocken aus der Tiefe herauf kamen, und Schnee von oben und Bild von unten sich auf der Fläche des Wassers ereilten, zerschmolzen und verschwanden, verfolgt von dem unendlichen Rieseln der Flocken. Er sah, wie die Kinder barfuß im Schnee fröhlich umher sprangen und Schneebälle wälzten, auf einander setzten, einen Stock durchsteckten und die Arme mit Schnee bekleideten und dem Schulmeister eine Ruthe in die Hand gaben und ihm Augen und Nase und Mund von Kohlen in den aufgesetzten Kopf steckten; wie sie dann umher tanzten und gar nicht daran dachten, daß sie überhaupt nur Kleider auf dem Leibe trügen, geschweige überall geflickte scheckige Jäckchen, und keine Hüte auf dem Kopfe. Denn sie froren nicht in den dürftigen Kleidern, nur der ganz kleine Junge, sein Gotthelfchen, stand dabei und fror, und doch _warm_ angezogen, und den einzigen großen Hut im Hause auf dem Kopfe, der ihm bis auf die Achseln ging, daß er kaum hervorsehen konnte; er fror, und doch freute er sich und zitterte, weil er noch nicht mitspielen konnte. Johannes konnte sich nicht genug verwundern und sprach bei sich: -- und sie nennen mich doch Alle: lieber Vater! ich muß ihnen doch lieb sein! und Christel nennt mich: lieber Mann! ich muß ihr doch lieb sein, -- ich muß ihr doch gut sein, und wenn mir das Herz springt. Wenn ich nur auch sagen könnte -- lieber Vater! wenn ich mir nur auch gut sein könnte! Da brachte Daniel einen Goldammer, den Wecker unter dem Siebe gefangen, und es war Jubel im Hause, daß die Mutter Ruhe gebieten mußte, weil die alte Frau Redemehr, die Wirthin, schlief und krank war. Ich mache ein Hirtenhäuschen auf den heiligen Christ! vertraute ihm Wecker, ein ganzes Wachslicht von vor Jahre Weihnachten vom Orgelpult hab' ich noch. Man wird wieder ein Narr mit den Kindern! sagt' er, die Hände reibend. Ihr seid ein braver Mann! lächelte Christel auf Johannes. Das wollt' ich nur wissen! versetzte der Alte. Damit hatten sie ihren, im Scheiden nach dem feuchten finstern, kalten Stockhause begriffenen Johannes an den Weihnachtsheiligenabend erinnert -- er dachte, wie die Kinder in der dunklen Stube sitzen und sich fürchten und freuen, daß das Christkind doch im Dorfe sei; wie die Mutter ihnen zum Troste sagen würde: zu Jahre wird Euch der Vater bescheren! und Sophiechen früge: ob ein Jahr lange sei? Dann dacht' er, daß Daniel ihm schon beschert -- den Leichenstein, und so ging er am andern Tage schon fort. Die Kinder baten ihn, was mitzubringen vom Vetter, und Christel hatte ihn mit einem kleinen Päcktchen beschwert; aber er mußte es nehmen, die Kinder und sie darum berauben, um sie glauben zu lassen, er gehe einen freien, guten Gang. Das Herz pochte ihm laut, und seine Thränen entschuldigte der Abschied. Und er mochte wohl oder übel, so mußte er auch vom Schulmeister die Wintermütze -- sein verwandeltes Butterfaß, sich auf den Kopf drücken lassen und hören, wie Christel ihm nachrief: Sorge nur nicht um uns! der Herr ist ja bei uns! -- und Wecker ihr sagte: das wollt' ich nur wissen! 16. Weihnachten aber saßen sie, um das Lämpchen zu sparen, still in der finstern Stube; der Kleine fürchtete sich vor der Mutter auf ihrem Schooße, weil er sie mit dem, in der düstern Verschattung schwarzen Gesicht nicht kannte; denn die Sterne am Himmel und der Schnee draußen dämmerten wohl herein, aber ihr Glanz fiel auf das Kleine, das vor ihr stand und nach ihr selber rief. Denn sie sprach nicht und dachte vor sich an Johannes. Da macht' es die Hausthür auf, ein leises Geräusch auf dem Flur, dann ging sie leise wieder zu. Von der Frau Redemehr drüben kam Wecker mit dem Hirtenhäuschen, das hell schimmerte wie eine große Laterne. Christel war ihm aufmachen gegangen, auch die Alte, bei der es gemacht und jetzt angezündet, hatte noch die Thür in der Hand und wollte nachfolgen. Da stieß Wecker an einen kleinen verdeckten Korb. Noch eine Christbescherung? fragte Frau Redemehr. Aber er steht nicht auf meiner Grenze, er wird wohl Euer sein, für die Kinder, Christel! Wer weiß, wer sich die unschuldige Freude gemacht! Christel dachte an Dorothee, nahm das Körbchen und setzte es auf den Tisch, das Hirtenhäuschen leuchtete dazu, und Wecker war fast böse, daß seine Freude nicht die einzige sein sollte, denn die Kinder umstanden den Tisch, und die Mutter fragte sie, was darin sein sollte? was Jedes am liebsten hätte? Daniel rieth ein Christbrot; Sophiechen ein Pischkind, und Gotthelf Aepfel und Nüsse und einen Zappelmann. Die Mutter öffnete nun, während die Schatten der ausgeschnittenen Bilder aus dem Hirtenhäuschen über den Korb liefen, von der Hitze des Lichtes darin im Kreise getrieben, und Jäger und Hunde und Hirsche sich einander friedlich verfolgten, ohne sich je zu erreichen. »Ein Pischkind!« schrie Sophiechen; das ist mein, Mutter gieb es mir her! Das ist recht künstlich gemacht! als wenn es natürlich wäre, sagte die Alte, die ihre Brille vermißte; und das Häubchen! die Wickelschnuren! nur geradezu Alles! Was doch die Menschen jetzt Alles machen! Nein Dergleichen! Aber Christel hatte die Augen voll Thränen, denn das Pischkind schlug die Aeuglein auf, und eine kleine Miene, wie zum Weinen, flog über sein Gesichtchen. Die Alte erschrak erst, trat dann näher und hielt ihm den kleinen Finger an den Mund. Das Kindchen ist hungrig! sagte sie. Aber aber -- _Euch_ das zu bringen, das scheint mir doch Sünde, wer so was gethan hat, der muß Euch nicht kennen! Ich setzt' es einem Reichen hin! Wecker aber sagte: Höchstens geben _die_ das Körbchen wieder auf die Ziehe! und Wer bekommt es dann? Es heißen nicht alle Weiber Christel, meine Frau Redemehr! Ich dächte, Sie redete nicht mehr! Das heilige Christkind wird Christel schon gekannt haben! Nicht wahr, Ihr Kinder? Wollt' Ihr es haben? -- -- Ich will mir den Segen verdienen! sagte Christel. So eine heilige Gottesgabe von sich zu stoßen, wie die Mutter! Ich danke meinem Gott für das gnädige Zutrauen zu uns Armen! Das wollt' ich nur wissen! sagt' Wecker. Nun sagt Sie noch was, meine Frau Redemehr? Ja! sagte die Alte, ich muß noch reden! Das Kindchen ist sicherlich nicht getauft! das macht wieder Kosten! Was Kosten! sagte Wecker; ich bin der Mann! wenn der Pastor nicht will. Die Nothtaufe ist jedem erlaubt, wenn das Kind in Noth ist, geschweige die Aeltern. Noth ist Noth, das weiß Ich! -- Ich backe einen Kuchen! Morgen des Tags! sagte Christel froh, daß sie eine herzliche Gelegenheit hatte, einmal wieder was Gutes zu kosten und den Kindern geben zu können. Nun in Gottes Namen! sagte Frau Redemehr, da steh' ich Gevatter. Mutter, fragte Sophiechen, was ist denn das Pischkind? ein Gottlob oder ein Annaröschen? Und nun ward das Kind erst herausgenommen, das alle mit Verwunderung indessen bestaunt; die alte Frau Redemehr nahm ihre Brille ab und sagte Sophiechen: Sophiechen, es ist ein richtiges Gottlobchen. Die Kinder kramten im Grunde des Körbchens und fanden kleine Hemdchen, Häubchen und mehrere Silbergulden. Die Mutter schlief vor zärtlichen Sorgen die ganze Nacht nicht, die Kinder kaum vor Freuden. Das lange starke Wachslicht im Hirtenhäuschen brannte, lieblichen Dämmer und eine stille Jagd an den Wänden verbreitend, bis zum Morgen. Wecker hielt im Traume Schule und weckte bei Zeiten, _zum Kuchenbacken_, wie er fröhlich sagte: -- _den_ Kuchen zu backen, der uns schmecken soll! Kein Grammaticus kann sich unterstehen zu sagen: ich wecke zu »_den_ Kuchen backen!« ergo heißt _Einen_ Kuchen backen auch »Kuchenbacken.« Und dazu gehört ein ganzer Backofen, so gut wie zum »Schulmeisterabsetzen« _ein ganzer Schulmeister_, ein ganz liebedienerisches Consistorium und das ganze Kirchspiel zum Bettelngehen. Ich wiege indessen die sogenannte namenlose _Anonyma_. Der Mann bin ich. -- Am Vormittag aber fehlte der Kreuzer zu einem Bogen Papier unter den guten großen Kindtaufenkuchen; denn Christel versprach sich selber, die wenigen Gulden auch in der größten eigenen Noth nicht anzugreifen, sondern bloß für das Kind zu verwenden, damit es an nichts ihm mangle, von dem Wenigen, was es noch bedurfte. Daher machte Wecker die Siegel inwendig vom Deckel der großen Bibel los, womit der Umschlagbogen befestigt war, und Christel kam nach dem Papier. Aber was ist denn das? fragte Wecker, die Papiere hier? und der versiegelte Brief? Christel nahm das Eine nach dem Andern und fand mit bangem Erschrecken die Schuldverschreibung vom seligen Herrn, die in der Bibel verborgen gewesen. Nun seid Ihr auf einmal reich! sagte der Alte. Wenn nur Borromäus was hätte! Der ist nicht der Mann! Ach, wenn er nur nicht geschworen hätte! seufzte Christel. Nun soll mich mein Gott bewahren, ihm das anzuthun. Er verdient' es um mich! sagte der Schulmeister. Ich bin der Mann! ich geh' mit dem falschen Eide ins Oberconsistorium -- oder kurzen geraden Wegs zum seligen Herrn, da werd' ich wieder eingesetzt, und wenn ich noch so närrisch soll sein -- was kümmern ihn die lieben Kinder! Thut das nicht! Wecker, bat ihn Christel; Gott wird uns die Armuth vergelten. Das wollt' ich nur wissen! sagt' er gerührt. Aber der alte Mann weinte zum ersten Male, ja er schlief nach und nach ein, mit dem Kopf auf die Bibel gelehnt, und die Sonne schimmerte in seine weißen Haare und sah ihn mild und lächelnd an; und als der Kuchen fertig war, legte Christel ein großes Stück vor ihm hin, daß er Freude habe, wenn er erwache. Christel aber hatte Verdacht auf Dorothee, daß sie das Körbchen beschert. Sie hatte im Dorfe umsonst umher gerathen. Wer hatte so weiße feine Leinwand? Wer konnte das Alles so sauber machen, wenn nicht des Predigers Töchter, die aber die liebe Unschuld waren. Das war nur vom Edelhofe! und dort nur von Dorothee! Denn dort war nur die Mutter der gnädigen Clementine, und eine alte Köchin. Sie hatte des Nachts schon geweint über das verführte Mädchen, das ihr nichts anging, als daß sie es liebte, weil ihm der Vater gut gewesen war. Jetzt aber öffnete sie auch noch den Brief vom verstorbenen Pastor an ihren Vater; das Recht sprach sie sich zu. Wie erschrak sie nun erst, als sie las, daß der Pastor bei seinem Sterben nun ihm das Kind anvertraute, da Jahre lang niemand nach ihm gefragt. Er habe sonst immer das Geld für die Pflege der Dorothee richtig erhalten, seinen eigenen Kindern könn' er, nun er scheide, nicht zutrauen, daß sie das Mädchen erziehen würden, und da es die Tochter von seiner Martha sei, so stehe ihm als Großvater zu, sich das Gotteslohn zu verdienen. In inliegendem Briefe, schrieb er, werden Sie den Namen des Vaters der Dorothee finden. Es ist derselbe reiche junge Herr aus Frankfurt, der, um Wein im Großen einzukaufen, sich oft Wochen lang in Ihrem Hause aufgehalten. Die Inlage aber hatte der Pastor wieder versiegelt dem Großvater zugesandt, der Brief war an den Pastor überschrieben, der Großvater hatte ihn nicht aufgemacht, sie getraute sich es noch weniger, zu thun, und was half auch der Name nun ihr? was Dorotheen? da sie sich so sündlich vergangen? Und so beweinte Christel aufs Neue ihre arme Schwester Martha, sie _freute_ sich jetzt, daß Johannes nicht da war bei der Taufe und hatte das Knäbchen noch lieber. War es doch so beklagenswerth wie unschuldig, ob es gleich _Gottliebchen_ hieß, als wahrhaftes Derivativum und richtiggebildetes Diminutivum von -- Gottlieb, wie Wecker es nannte. 17. Viele schwere Wintertage überwand nun Christel mit Hoffnung, Liebe und herzinniger Zufriedenheit. So nahte der März schon heran, und an einem heitern Nachmittage war Clementine, von Dorothee begleitet, vor das Dorf und an Frau Redemehr's Häuschen vorüber gegangen, der wärmenden Sonne entgegen. Auf dem Heimwege wollte Dorothee sie vorüber führen; aber die arme junge Frau war krank, ihre Kräfte dahin, und sie wünschte zu ruhen. Das traf sich eben vor Christel's Fenster. So ging sie denn hinaus, und bat sie freundlich, einzukehren! Clementine lächelte und nahm es an. Dorothee folgte stumm. In dem freundlichen Stübchen saß Clementine lange still, sah sich Alles mit wehmüthigem Lächeln an, was es enthielt, und war dann lange ernst und in sich gekehrt. Und da sie auch Weckern ein Mittagsschläfchen halten sah, so sprach sie endlich leise zu Christel und hielt sie an der Hand: Hätt' ich hier in dem kleinen Stübchen gelebt, so lebt' ich noch! Christel verwunderte sich über das Wort. Aber sie sagte freundlich: Ich lebe nicht mehr -- ich sterbe nur, so langsam, wie ich gehe. Die Lerche wird mich nicht mehr finden. Wie gern hätt' ich mit Dir getauscht, mein Kind! Wir haben auch alle Tage unsere Noth, meine gute gnädige Frau, sagte Christel ihr zum Troste; von früh bis Abend wird man gar nicht fertig! ich lege mich so müde hin, zu schlafen, daß mich das arme Kind kaum weckt. Glückliche Leutchen, seufzte Clementine, zeigt mir doch Eure Kinder. Und so kam auch die Reihe zuletzt an das Kleine, das Gottliebchen. Clementine schien zu wissen, daß es ihr eigen nicht sei, oder sah' es ja deutlich an Christel vor Augen, daß sie vor den wenigen Wochen des Kindes seine Mutter nicht könne gewesen sein. Sie wiegte es still auf ihren Knieen, war abwesend mit den Gedanken, und die Augen, die auf ihm geruht, waren ihr zuletzt vergangen und gaben der blassen schönen Frau mit ihrem sanften lächelnden Gesicht etwas Geisterhaftes, ja Engelhaftes; denn so lieblich saß sie da, so innerer Würde und Reinheit voll, daß Christel kaum sich getraute, Athem zu holen, oder das Kind nun wieder von ihr zu nehmen. Dann lächelte sie Dorothee an, die mit zugeschlossenen Augen Thränen vergoß, es nicht sah, wie Jene lächelte, und nur den schwachen Druck an ihrer Hand fühlte, die sie ihr zuckend entzog. Der Gang schien nicht vorbereitet zu sein; denn sie beschenkte die Kinder Alle, auch das Kleine in seinem Bettchen, aber mit so Wenigem, daß ihre Worte Wahrheit schienen, als sie sagte: Ich habe nicht viel! und brauche nicht mehr viel. Zu meinem Begräbnis wird es langen. Wecker erwachte jetzt, richtete sich auf, blieb eine Zeit lang ganz im Traume noch auf der Ofenbank sitzen, stand dann plötzlich auf und machte der fremden vornehmen Frau alle seine besten Diener. Das ist ja unsere liebe gnädige Frau! sagte ihm Christel. -- Da besann sich Wecker, setzte seine weiße Nachtmütze wieder auf, erkannte auch Dorotheen und ging erbittert hinaus. Das verdien' ich nicht! lächelte Clementine; an allen solchen Thaten bin ich unschuldig, aber wer braucht das noch auf der Welt zu wissen? Gott weiß es ja. Christel versuchte Dorothee, um in ihren Gedanken über sie gewiß zu werden. Sie gab ihr das Kind zu nehmen, und -- sie nahm es und wiegte es, zwar mit Verdruß; sie nahm es ihr ab, und sie gab es -- ohne Verdruß. Und während Clementine wie eingeschlummert da saß und Sophiechen neben sich im Arme hielt, die sich an sie geschmiegt, nahm Christel auch den Brief vom alten Prediger an ihren Vater und gab ihr ihn zu lesen. Dorothee weinte nicht; sie fiel ihr nicht um den Hals, als wenn sie ihr eine Schuld abbitten wollte! und dennoch, als Wecker draußen ein kleines Strohkränzchen geflochten und den Daniel hereingeschickt, vor Dorotheen es hinzulegen, gab sie dem armen unwissenden Boten eine derbe Ohrfeige, setzte es sich auf, besah sich in dem kleinen Spiegel und weinte dann unaufhörlich, aber still. Jetzt schien ihr das Herz getroffen und erweicht; Christel tröstete sie. Dorothee fiel vor ihr auf die Kniee und beschwor sie: Christel! meiner Mutter Schwester! schont die arme junge Frau dort! Pflegt das Kindchen wohl! Das wird Euch Gott vergelten. -- Gebt Ihr das Goldstück nicht! -- Christel war böse. Wecker trat ein und sagte: als er Dorotheen geschwind aufstehen und sich die Thränen trocknen sah; das wollt' ich nur wissen! und behielt seine Mütze auf. Clementine erhob sich und nahm von Christel Abschied. Wenn Euch Gott lieb hat, sagte sie weich, so läßt er Euch arm. Der Arme, oder der Geringe, den die Welt nicht kümmert, der hat die besten Güter, mit welchen sich Reichthum gar nicht, oder doch nicht lange verträgt und zuletzt sie heimlich aufhebt und zu Grabe trägt -- und sei's des Reichen eigne, reiche, unglücksel'ge Frau! -- Liebe gnädige Frau, sagte Christel, das thut ja der Reiche nicht, nur der Schlimme. Wir halten auch auf die paar Kreuzer! Nun also, fuhr Clementine fort, wenn es nicht der Reiche thut -- so wird der _Fromme_ die Armuth vorziehen, gern ertragen, segnen -- oder, ohne es zu wissen, unschuldig mit ihr glücklich sein, wie Ihr, mein gutes Kind. -- Das heißt ja nur: halt' fest an Gottes Wort! weiter nichts. Weiter nichts! wiederholte Jene und nickte freundlich und schied von ihr. Wecker aber sagte: Die lob' ich mir! sie ist nicht stolz; doch wenn der gnädige Gottlieb mich ein Mal vor die Schule fordern ließ in die kalte Zugluft, ruckt' er und stieß er mit seinem in Händen habenden Stöckchen, wegen ermangelnden Respekts, so lange an meiner Mütze, bis ich mit bloßem Kopfe da stand! Aber ich schämte mich nur vor ihm, so ein alter Mensch zu sein, dem der Kopf durch die Haare wächst! Jetzt nehm' ich meine Mütze _tief_ vor ihm ab, wenn ich ihn sehe, denn ich schäme mich nicht mehr vor ihm, sondern er vor mir. Der Mann bin ich! 18. Bis jetzt war Christel ruhig gewesen. Als es aber gegen Ostern kam, und die Zeit schon Wochen vorüber war, in welcher ihr Johannes zurück sein konnte, da ward ihr bang und bänger um ihn, und Kummer um sein Außenbleiben übermannte sie manchmal, daß sie im Stillen weinte. Wird er wiederkommen? getraute sie sich dann kaum sich selber zu fragen; wenn er wie Dorothee ist, die von uns schied, als sie glaubte, uns zur Last zu sein! Dann schämte sie sich ihrer argen Gedanken, sah auf die Kinder und empfand, daß es ja gar nicht möglich sei, die lieben Gottesgeschenke bei klarem Verstande nur kurze Zeit freiwillig je zu verlassen, geschweige für immer. An sich selber dachte sie kaum. Einst begegnete ihr Niklas, als sie Garn zum Weber trug zum Verkauf von ihrem Gespinnst. Sie blieb stehen vor Rührung, als sie ihn sah: denn sie getraute sich nicht über den Steg zu gehen, so verdunkelten Thränen ihre Augen. Beruhigt Euch! Frau Christel; sagt' er ihr mit trockenen Worten: Euer Mann ist in gutem Gewahrsam, es stiehlt ihn Euch Niemand -- er sitzt nur den Hasen ab, den er erschlagen, und sitzt nun schon auf der Blume! Er ist bald drüber hinweg. Seid nur ruhig. So blieb sie denn voll Wehmuth stehen, als er längst schon vorüber war. Sie ging nach Hause, das Garn in der Hand. Nun erst hatte sie keine Ruhe, nun verstand sie Johannes Reden, seinen stillen Unmuth; und die Worte, die sie ihm alle zum Abschied gesagt, fielen ihr schwer aufs Herz. Um nun ihren Johannes zu erlösen, er sei, wo er sei, beschloß sie, den Herrn von Borromäus anzugehen, die alte Schuldverschreibung in der Hand. Denn der Gerichtshalter wohnte in der Stadt, und so weit konnte sie sich nicht mehr entfernen. Der Schulmeister aber brachte ihr Nachricht, daß es mit dem seligen Herrn zu Ende gehe, daß ein neuer Gutsherr komme, der Breitenthal auf Schuld übernehme, ein reicher Kauf- und Handelsherr aus Frankfurt. Alle »exigibilen« Reste wären im »Transsubstantiations« Verkauf mit angenommen; die »inexigibilen« aber wollte der selige Herr noch für sich eintreiben zu einem Ausgedinge, und es würden schon Ziegeln angefahren auf den Vogelheerd. Geld also bekommt Ihr nicht mehr, gute Christel, sagte er; ein Sterbender hat keine Furcht mehr, besonders wenn der Gerichtshalter die Schwuracten nicht aufgehoben haben -- sollte! Wer hat danach zu fragen? -- Das sahe Christel ein. Sie sah auch, daß sich Wecker zusammennahm, so verständig als möglich zu reden und zu sein; denn es war ihm eine Freistelle in einem ganz närrischen Hause versprochen worden, wie er umschrieb, die erst noch ausgewirkt werden sollte, damit das Dorf und der arme Mann zur Ruhe komme. Er durfte nicht mehr umherlaufen, singen und Schule halten; das Wecken besonders hatte der immer gern, aber Morgens am süßesten schlafende Pastor sehr übel genommen; desgleichen hatten es die anderen Herren Pastoren im Umkreis als eine vorwurfsschwere Anspielung sich verbeten; und so mußte der alte Mann in die weiteren Dörfer wandern, sein tägliches -- Schulgeld holen, das er mit Thränen aß, und dabei Christel mit Stellen aus der Bibel bat, ihn nicht zu verstoßen in der Kälte. Denn so lau und öfter lieblich es die wahren Wintermonate gewesen, ihrem Johannes im Kerker zu Liebe, dachte nun Christel -- so stürmisch und kalt winterte es jetzt gegen Ostern nach, als wenn der Himmel den Menschen seine mährchenhaften Einfälle: von langsam rauchendem Dampf wie heimlich brennende Flüsse -- hoch beschneite Berge -- lange Eiszapfen an den Weinstöcken statt der Trauben -- wie mit weißen Blüthen beschüttete Bäume im Walde -- eingefrorene Fische -- weißbereifte Bärte und Blumen an den Fensterscheiben zum ersten Male in aller Pracht und Schönheit zeigen und recht lange den Wintergarten sie genießen lassen wolle, damit sie sich satt daran sähen und wieder einmal merkten, daß die Erde allein des Herrn sei. Denn alle Raine, Zäune, Grenzen und Werke der Menschen in seiner Natur waren hoch mit Schnee bedeckt und trugen nur seine Farbe, als wäre das große alte Lehn erloschen; und so weit das Auge reichte, erschien nur _eine_ weiße flimmernde Decke, und _ein_ blauer feiernder Himmel, mit seiner Sonne; zum Zeichen, daß Alles nur Einem Herrn gehöre. Daß Wecker wahr geredet, erfuhr Christel zu ihrem großen Leid. Denn die alte Frau im Hause, die wie Christel, so lange sie selbst es vor andern _kleinen_ Arbeiten konnte, und ihre Umstände es erlaubten, von Spinnen lebte, hatte ihr die letzten Monate her nach und nach drei Thaler geliehen. Nun aber wurden die »inexigibilen« Reste eingetrieben, wo freilich kein Ansehen der Person mehr galt; die Alte sollte also für ihren vor 20 Jahren schon begrabenen Mann 5 Thaler für Birkenruthen zu Besen entrichten, und das nun leider bei Todesstrafe der armen Ziege der Christel, die zur Ernährung der Kinder das Beste beitrug. Denn Christel mußte statt der geliehenen drei Thaler die gute Ziege geben, die Ziege mußte nun fort _auf das Schloß_ geführt und geschlachtet werden, und dennoch langte das dafür _gelöschte_ Geld nur hin, daß _Christel_ die große Schuld abzahlte, wenn auch die alte Frau noch um Gnade bitten mußte. Aber selbst die Ziege stemmte sich zu gehen, und Christel und die Kinder weinten der alten Frau nach, die ihrer kaum Herr ward. Dafür erhielt aber Christel zum Palmensonntag einen kleinen Braten von der jungen Ziege. Die Kinder wußten nicht, was sie aßen, Christel war in der That nicht wohl, schob den Teller hin, stand auf und Wecker ließ sich den »alten Rest von den Besen« schmecken. Von der _Ziege_ äße ich auch nicht, sagt' er; aber welcher große Herr weiß denn immer, _was_ er ißt? Was würden da manchmal, d. h. so manches _liebes_ Mal und Mahl für Dinge auf dem Tische stehen! _was_ für Getränke würde man auf den Inhaltszetteln an den _Wein_flaschen lesen! Von _was_ würden die Braten und Torten sein, wenn Alles in rerum natura zu sehen wäre! -- Hu! Phantasmata! daß mir die Haut schauert -- wenn es nur schmeckt! Ein Schulmeister braucht es auch nicht zu wissen, was er ißt, geschweige wenn er keiner ist, wie ich. Birkenruthen sind bitter; nicht wahr, ihr Kinder? -- und er lachte mit nassen Augen, als sie sagten: Ja! Herr Wecker -- -- und sein: »Das wollt' ich nur wissen,« konnte er das _Mal_ vor Jammer nicht sagen. Aber er lehrte dafür: Es hat einmal einen uralten Weltweisen gegeben, -- als welche auch Unterschiedliches gegessen haben sollen und müssen, wie Paulus Alles ohne Unterschied, was nur vom Himmel gehangen, -- _der_ hat in seinem unchristlichen Gedicht den Magen ein _Unthier_ genannt. Das ist so wahr wie das heilige A. B. C.! Der Mann hat den Magen so gut gekannt als ich. Das will viel sagen, Kinder! Ein wirklich armer, wirklicher Schulmeister muß sich das von mir erst sagen lassen, der Gelbschnabel! Die Kinder standen nun auf. Da Wecker aber noch nicht satt war, fing er statt des Dankgebetes mit lauter Stimme noch ein Mal sein Gebet um Speise, das: »Herr Gott, himmlischer Vater« an, schämte sich wie ein Nachtwächter, der, wenn er den Tag abrufen und singen soll: Der Tag vertreibt die finstre Nacht -- aber noch einmal abruft: Ruhet in dem Herrn! -- legte sich hin und _schlief_ sich wenigstens _satt_, wie ein armer Tagelöhner in der Mittagsstunde. Aber er schlief nicht so ruhig wie dieser im Schatten der Bäume, sondern er träumte; und so hörte Christel mit Furcht die Worte: »Blutbesudeltes Fleisch nun schmausten sie« -- -- und wieder: »die Sonnenrinder brüllten an den Spießen -- -- und die Häute krochen umher« -- -- -- -- -- und mir -- mir meckert die Ziege im Leibe -- -- sie will mir das Herz abstoßen, mein ehrliches Herz? Oder stößt sie nur mein Unthier, den Magen, der sie mitgegessen hat, ja, fast allein. Fort! hebe dich weg! -- Hilf mir doch, hilf, Friedrich, mein Sohn! Friedrich, mein Sohn! Er setzte sich vor Furcht im Schlafe auf. Auch die Kinder fürchteten sich und liefen zur Mutter, die ihnen sagte: Kinder, er schwatzt ja nur aus der Schule! und hat nur den Schlucken! ach im Traume gedenkt er seines Sohnes, der unter den Soldaten ist, wie mein armer Bruder _Stephan_. Ach! -- Sie rief ihn erst leise, dann laut und lauter bei seinem Namen: Wecker! -- Wecker! -- Wecker! -- wacht doch auf! Ihr träumt zum Fürchten und wißt es nicht! -- 19. Christel war in der Dämmerung im Dorfe gewesen, um die junge, arme, liebe, schöne, gnädige Frau noch ein Mal -- auf ihrem Castrum doloris zu sehen und sich satt zu weinen, und kam jetzt heim. Die Stube war kalt, die Nacht war lang, die Kinder fror. Aber sie hatte das letzte Holz heut' angelegt und verbraten, und dennoch ging sie hinaus, noch Etwas zu suchen. Es war Mondschein, und sie erblickte eine Menge schon kleingespaltenes Holz vor der Thür liegen. Das war nicht ihres. Aber sie bedurfte sein. Banden die Jünger den Esel nicht los? sprach sie bei sich; aß David nicht die Schaubrote? Das ist ja wirkliches Holz! und dennoch ging sie erst an der Stube der alten Frau Redemehr horchen. Alles still, doch die Kinder weinten! Sie eilte, sie drückte die Augen fest zu und ladete schnell einen Arm sich voll. Aber das trockene Fichtenholz klang doch, wenn sie Scheit auf Scheit legte, wie eine Strohfiedel; denn in der Angst zitterte sie, und es fiel ihr aus der wie brennenden Hand. Als sie die Augen aufschlug, hinein zu eilen ungesehen, erblickte sie die Alte, die zu ihr sagte: Wollt' Ihr nicht lieber gleich Alles hinein tragen! Man ist doch niemals vor Dieben sicher in der Kälte! Ich will Euch helfen! -- So ertappt als Diebin erreichte sie nur mit Mühe und Noth die Stubenthür; aber niedergedrückt von der ersten Schuld in ihrem Leben und von der ängstlichen Last, sank sie zu Boden und hätte noch lange gelegen, wenn ihr nicht Daniel beigestanden. Das ist brav! sagte Wecker und legte ohne Weiteres an von dem Holze. Christel aber saß auf dem Bett wie erstarrt, und noch ganz erstaunt über sich selbst, und darüber, daß das Holz brannte! die Flamme sie anschien und wärmte! -- Johannes hat Recht! sagte sie für sich. Aber es wird den Kindern wohlthun und dem alten Manne! und daß mich die Alte gesehen, das ist meine Strafe auf Lebenszeit. Sie wollte in der Bibel lesen; aber es ging nicht. Da trat die Alte ein und sagte ihr: Laßt das Holz doch nicht liegen! ich helfe Euch, oder trag' es mit Weckern ins Haus. Die liebe gnädige Frau hat es Euch geschickt; sie hat noch an alle Armen gedacht, selbst auf dem letzten Lager. Ihr waret nicht da. Meins ist schon verwahrt. -- So ging sie, Wecker und Daniel. Aber Christel war darum nicht erheitert. Ihr war die Last nicht vom Herzen. Desto schlimmer! seufzte sie. Wer oft nur einen Augenblick warten, nur etwas Geringes entbehren will -- dem giebt der Herr ja Alles mit Freuden zu seiner Freude. Außerdem aber zu seiner Qual! Doch ich will mich mit meinem Gott versöhnen, daß ich das Kind nicht verwahrlose, es ist ja so die letzte Zeit, und gut für jedes Weib, das, wie ich, mit einem Fuße im Grabe steht. So war sie noch fleißig bis zum Charfreitag früh. Dann wickelte sie das Goldstück, um auch das los zu werden, zum Beichtpfennig für den Prediger ein und ging in die Kirche. Zuvor bat sie Weckern, der Alten und den Kindern ab, wenn sie sie ja mit Worten oder Werken beleidigt, und im Geiste bat sie es auch ihrem Johannes ab, den sie ordentlich vor sich stehen sah, wie sonst an solchen Tagen, und hörte, wie sonst, wenn er ihr sagte: Du hast mich nicht beleidigt, meine Christel, vergieb nur mir! Und das that sie nun von Herzen. In der Halle der Kirche hörte sie schon den Tremulanten, der heute zum Todestage des Herrn gezogen war, und seine dumpfen Schläge schlugen an ihre Brust, und sie bebte mit, wie die Töne bebten, daß sie hinknien mußte, vor eigenem Elend, weit übertroffen von dem schönsten aber schmählichsten Tode. Die Orgel führte die Melodie des wunderlichen alten Kirchenliedes: O Traurigkeit! o Herzeleid! -- Der erste Vers war geendet, die langsam schwebenden Töne klangen allein, und nun fiel die ganze Gemeinde dumpf, und doch durch die Menge der Stimmen mit erschütternder Macht in die Worte ein: O große Noth: Gott selbst ist todt! -- Sie wußte nicht mehr, wo sie war, sie betete nur, und auch das nicht mehr; so ergriffen, ja entsetzt war sie von diesen Worten, die ihr so wahr, so traurig und fürchterlich erklangen. Und nun erst, als das Beben und Brausen schwieg, zitterte ihr Herz nicht mehr so ängstlich über das furchtbare Bild, das sie durch die Worte wie durch ein Feuer gehört und gesehen, aber es klang ihr selbst am Altar noch immer vor den Ohren, ihr war, als raunte eine tiefe Stimme zu ihrem Herzen: O große Noth: Gott selbst ist todt! -- Und wie das arme verlassene Weib durch die Noth aller dieser Tage zuletzt selbst in ihrem Muthe gebeugt war, wie ihr das große Wasser und Dorothee, der Leinweber und Wecker einfiel, die gnädige Frau, ja selbst die Ziege, und jene Reden im Traum, wie sie die Kinder vor Augen sah, Johannes vor Augen sah und bedachte, welche neue Angst ihr bevorstehe, die sie vielleicht den Kindern raube und in das Grab stürze; so brach ihr das Herz; und nun wiederholte sie selbst mit Grausen die Worte in ihrem verworrenen Geiste: Gott selbst ist todt. Dann opferte sie das Gold, wartete den Segen ab und ging ganz unter den Letzten aus dem Gotteshause. Wie aber die Geistlichen während des Opfers auf dem Altare stehen, ohne noch zu fungiren, und wie dabei doch auch von dem Würdigsten zu Zeiten ein Blick zur Seite nach dem Gelde fällt: so war besonders das Goldstück dem Herrn Prediger in die Augen geblinkt, und er hatte die Geberin gemerkt, sich sagen lassen, wer sie sei, und von dem neuen Schulmeister -- des alten wegen -- nichts eben Besonderes erfahren, auch daß ihr Mann im Stockhause sitze, und daß sie leben, ohne Jemand zur Last zu fallen. So winkte er ihr dann auf dem Nachhausegange. Sie beantwortete seine Frage, wie sie zu dem Golde komme, nicht unbefangen, noch wahrhaft; aber sie hörte kaum mehr, als er sagte: vielleicht ist es nicht wohlverdient, wohl gar entwandt! und es reut Euch, weil Ihr es opfert? Oder liegen da mehr wo Eins liegt? -- Sie lispelte nur »o große Noth!« und als er fortfuhr, ihr das Herz zu zerreißen und sprach: Man wird Euch streng beobachten! Daß Ihr nicht etwa entlauft! -- pfui schämt Euch, eine Frau, die mit einem Fuße im Grabe steht! nach den Feiertagen will ich die Sache untersuchen -- -- da weinte sie sogar nicht, sondern sie war todtenblaß, schlich dahin, im Finstern, denn sie sah die helle Mittagssonne nicht, und sie bebte und hörte wieder das bange Wort: Gott selbst ist todt. -- Daß das kleine Kind, ihr Liebchen, wie sie aus Gottliebchen mit mütterlicher Zärtlichkeit gebildet, nämlich das Weihnachtskind indessen verschwunden war, daß weder die Alte und Wecker, die auch in der Kirche gewesen, noch die Kinder, die Verstecken gespielt, deßgleichen nichts davon wußten, das rührte sie kaum. Sie glühte, sie war krank über Nachmittag; sie sah sich die untergehende Sonne noch einmal an, empfahl sich Gott und ging dann, als es Dunkel geworden, zu Bette, und sahe noch, mit Thränen in ihr Stübchen blickend, wie Fackeln vorüber zogen, wie Clementine, die gestorben war, nach ihres Vaters Gut, nach ihrem Willen, nicht in Breitenthal zu ruhen, mit schwarz behangenen Pferden langsam fortgeführt ward; hörte, wie die Glocken ihr nachriefen, ängstlich, ängstlich! und der Mond in den Fackelglanz schien -- bis Alles verschwand, bis sie die Augen schloß. In der Nacht nun träumte ihr der Traum: Unser Herr-Gott sei gestorben. Engel, blaß wie der Tod, hatten es ausgerufen, mit Stimmen, die bebten vor Wehmuth. Thränen fielen wie Thau und warmer Regen vom wolkenlosen Himmel, und die Kinder standen mit ausgestreckten Händen und fingen die Tropfen in ihrer Hand auf und staunten sie an und zeigten sie den Menschen, die sich lautlos und entgeistert einander ansahen. Ein unaufhörliches Lauten, wie von großen silbernen, aber gedämpften Glocken, summte in der Luft, und Alle sahen und hörten hinauf, und Niemand wußte, woher das feierliche Lauten scholl. Die Sonne stand verfinstert; ängstliche Düsternheit ward auf der Erde, die innerlich bebte. Die Eulen kamen aus ihren Höhlen, die Johanniswürmchen flogen und schimmerten sichtbar wie Funken, die Hähne krähten und gingen zu Bette, die Blumen schlossen sich zu und senkten ihr Haupt, die Vögel schwiegen, und die Krähen zogen zu Walde. Die verschatteten Gewölke erschienen wie schwarze herabgeworfene Flore, die Nachtigall brach in einzelne Klagetöne aus und verstummte plötzlich, und die Gestirne traten am Himmel bei Tage heraus, und eine Verwirrung war in der Natur voll Angst und Zagen und Hast und Bestürzung, und aus der äußersten Ferne des Himmels erdröhnte es dumpf, als stürzte sein altes Gewölbe zusammen und würde verschüttet, und das Dröhnen scholl immer näher, hörbarer, herzbeklemmender, und Niemand wußte Rettung. Und die Erde schwebte mit der Träumenden empor, und ihre Schwester Martha raunte ihr ins Ohr: Ich bin todt, und Du bist todt! Nichts lebt mehr, wenn der Vater todt ist. Unser Herz hat ausgeschlagen, unsere Augen sehen ungeblendet selbst in den Blitz -- komm! komm! komm -- ich will Dir den Heiligen zeigen in seinem Sarge. Und sie klopften an die Thür des Himmels, und Weihrauchduft quoll ihnen entgegen, und sie sahe in dem wie Herbstnebel wallenden silbernen, Alles verhüllenden Duft hohe, diamantene Leuchter stehen, aber keine Kerzen darauf, sondern ruhig um dieselben im Kreise sich drehend, schimmerten Lichtkugeln wie Gestirne und Sonnen, und kleinere Lichter wieder um sie. Und so standen unzählige Leuchter auf den Stufen eines himmelblauen Katafalks, von unten bis oben hinauf um das Castrum doloris, und oben darauf stand ein krystallener Sarg, und Engel hielten Wache um den wie schlafenden Vater und hatten vor Schmerz sich eingehüllt in ihre Flügel. -- Niemand wagte hinzuschauen. Eine feierliche, tödtliche Stille wie Gewitterschwüle. Nur leise Donner murmelten dumpf in der Ferne, weit, weit, wie Sterbegeseufz der Natur, und Flügelschlag der Winde sauste vorüber, und das veilchenblaue Gewand des Schlummernden, sanft davon bestreift, duftete lieblich wie ewiger Frühling, und die damit getränkte Luft verhauchte den Wohlgeruch, köstlich duftend, und hin und her ein Engel nur seufzte aus tiefer Brust: O große Noth! Und aus allen Regionen der Welt stürzten athemlos und verblaßt, Angst im Antlitz, auf ihren Flügeln, wie vor dem Sturm heimeilende Tauben, Engel herzu und sahen und blieben stehen, zu Bildern erstarrt mit gehobener Hand, oder sanken auf ihr Gesicht. Siehe da trat Einer mit gescheiteltem, goldenem Haar vor den Sarg und las mir weicher Stimme: Er, Er, der allein ist, der _allein_ sein wird, Er wollte die Welt nicht wieder zerstören, seiner Hände Werk; sie war ihm zu schön, zu geliebt -- aber zu sündhaft. Niemand sah _Ihn_ durch sein Werk, über ihm, in ihm, mit ihm, Sie lebten wie _ohne_ Ihn! -- Wehe! nicht das einzige Verbot: Du sollst nicht tödten! dieß grellklingende, leichte Verbot an die rohen Pilger in der Wüste, das Er auf den harten Stein mit dem Finger geschrieben, vermochten Weisere, Glücklichere, Spätere seiner Kinder zu halten! geschweige das ewige einzige Gebot, das im Blute der Natur wie Balsam zu allen Herzen drängt, das Sterne und Sonnen voll Milde und Schweigen _laut_ in Strahlen verkünden, das die Erden _blühen_ mit tausend Blumen, das auf dem Antlitz der Neugebornen als Lächeln steht, das Gebot: liebe Gott über Alles, und Deinen Nächsten als Dich selbst. -- So ist er gestorben, wie Er sterben kann; so ist er todt, wie _Jemand_ todt sein kann: -- Er schweigt und ruht in seiner eignen stillen Seligkeit, um der Welt zu zeigen, was sie ohne ihn sei, ohne die Liebe, die Er ist. Ihr Heiligen aber, verzaget nicht! Ihr wohnt, wie zuvor schon auf der Welt, auch jetzt in seinem schlummernden Geiste. -- Und eine Geisterstimme rief: Zur Gruft! zur Gruft! zur Gruft! Komme hinaus, mein König![A] [Fußnote A: [Greek: `Exelthe, `ô basileu]! rief die Stimme eines zum Engel verkleideten Menschen die griechischen Kaiser, wenn sie erhoben wurden, um in die Gruft getragen zu werden -- in das Heroon. Im _Europalata_.] Nun, sahen sie, nun erhoben ihn schauernd die Engel und trugen ihn zur Gruft und versenkten ihn. Auch Moses war unter den Begrabenden, und streute sein abgeschnittenes Silberhaar mit den Blumen Streuenden zuletzt in das offene Grab. -- Da fielen die Sterne vom Himmel, der Welt entging die Kraft, und sie zog zurück in sein Herz, wie eine leuchtende Wolke, die ihn umwob, und ein Strahl daraus wie ein Abendsonnenstrahl aus Gewölk glänzte und senkte sich, glühend und rege fließend, auf seine Brust. Finsterniß ward! Oede! Schweigen! Keine Wolke zog, kein Lüftchen wehte; die Flüsse versiegten, die Blumen verwelkten, alle Pulse stockten, keine Thräne hatte selbst ein Auge mehr; kein Ach! eine Stimme; keine Hände hatten die Kraft, zum Gebet sich zu falten; keinen Gedanken jetzt mehr: »Wir wollen uns lieben,« irgend ein Herz. Alle Propheten, alle Gesandten, alle Söhne Gottes von allen Sternen herbeigeschwirrt wie weiße Schatten, hauchten Gott den Geist Gottes aus, waren todt und nichts, von seiner zurückgenommenen geliehenen Kraft verlassen. Selbst die Engel sanken zuletzt am Grabe, von seiner Kraft verlassen, dahin; ein unermeßlicher weißer Regenbogen, wie eine unendliche, breite Milchstraße, zog sich aus allen den zerschollenen und zerstäubten flirrenden Massen von Leben und Licht über dem Grabe zusammen, aus welchem Glanz hervorbrach, warm und sanft und rosig, wie eine Rose schimmert im Mondschein. -- Sie nahte mit heiligem Schauder, sie beugte sich zitternd über, sein Antlitz -- Gottes Antlitz zu sehen -- aber sie sah nur zwei Thränen blinken wie Thau an seinen leicht geschlossenen Augenwimpern, und nur ein unaussprechliches Lächeln, ein wie sichtbares Lieben, das sie unwiderstehlich näher und näher, hinab, und zuletzt ihm fest an die Brust zog, unabtrennlich-fest, und selig-süß. Und die letzten leisen Stimmen der sterbenden Engel ächzten: Gott selbst ist todt! -- Und auch sie war gestorben -- ein Säuseln strich noch einmal verlöschend über die Gruft, und die Welt war verklungen. Aber sie fühlte auch todt noch ein warmes Herz in dem liebenden Busen des Vaters schlagen -- und sie verging. -- -- -- Wem sie aber am Herzen erwachte, das war ihr Johannes. Er war wiedergekehrt. Sie setzte sich auf, sie sah ihn an und erkannte ihn nicht. Ihr Geist war noch nicht zurückgekehrt, in diese Welt, wo so eben das schwere Geschütz vorüber in den Krieg rasselte, noch nicht wieder eingewohnt in ihrer Hütte, herabgestimmt zu ihren Kindern, zu ihrem Johannes, der vor Freuden weinte. Bis er sie munter küßte, bis sie ihm leise und schüchtern erzählte, was sie geträumt. Ich bin verwandelt, meine Christel, sagt' er ernst. Gott hat Dir den Traum zum Troste gesandt, daß Du für eine kurze Stunde heiliger Angst zeitlebens nun gedenken sollst: Gott lebt! Gott kann nicht sterben. So lebt er auch uns -- Du hast den Traum für mich geträumt, und nicht für Dich, Du gute Seele, für alle Armen und wer ihn hört. Wer reines Herzens ist, der soll Ihn schauen, und Du hast Ihn gesehen, Er lebt! Sieh' auf, dort scheint ja die Sonne! 20. Noch in der düstern Morgendämmerung des Ostersonnabendes, ehe der Vater nach Hause gekommen, war aber der kleine Daniel schon mit Wecker in ein anderes Dorf gegangen. Sie hatten sich Abends heimlich beredet, Daniel hatte sich ein kleines Säckchen geborgt und umgehangen; denn er sahe, wie nöthig das Nöthigste im Hause sei, was die Kleinen vergebens von der Mutter verlangt, nur er nicht. Er hatte die Jacke des Vaters an, die ihm in der Kälte ein kleiner Mantel war. Das hatte die Alte gesehen. Heut' ist ja heiliger Abend, sagte sie zu Johannes, da wird der Weg nicht leer von Dorf zu Dorf, wo nur Essen rauchen; da macht sich ja mancher auf und wird _darum_ nicht übler angesehen, weil er auch sonst das ganze Jahr nicht kommt! Mir ist nur der Schnee zu hoch, sonst ist es ja eine wahre Labung und Stärkung, gerade an solchem heiligen Tage betteln zu gehen. Die Wehmuth hat mir Gott schon geschenkt! Man wird so reich, so reich -- Ihr wißt das gar nicht, mein Johannes. Gönnt das dem Kinde und dem Alten! Doch war es schon Abend, ja Nacht geworden, und Beide kamen nicht wieder. Die Mutter hatte aber Manches in der Stille zurecht gelegt und besorgt, was sie genäht, und was so klein, so lieblich anzusehen war! Sie lächelte nur Johannes an, saß oft lange still, schlummerte wieder und bat ihn endlich nach Mitternacht, »mit dem blauen und rothen Strumpfe zu laufen,« wie es heißt, und den Storch zu holen. Er lief mit freudiger Hast. Er pochte. Ein junges Mädchen kam ans Fenster, nicht die Kindelfrau. -- Die Mutter ist drüben im andern Dorfe bei der reichen Müllerin, sagte sie ihm; schon drei Tage. -- Er zündete sich eine Kienfackel an und eilte, durch das feine Schneegestöber sich leuchtend, und geblendet, in einen engen Lichtkreis eingeschlossen. So kam er, weit außer dem Dorfe, vom Wege ab, in Windwehen, machte sich Bahn hindurch und stand auf einmal in dem Kalksteinbruch. Er leuchtete an dem bunten marmoradrigen Gestein umher, den Ausweg zu finden. Da sah er auf einer natürlichen Marmorbank, wie in einer Grotte die außer dem Winde und ohne Schnee war, eine kleine ruhige Gestalt sitzen, sanft hingelehnt. Er nahte mit Herzpochen; Knöpfe blitzten ihn an, das Tuch war blau -- es war sein gewesener Kirchrock; ein kleines blasses Gesicht lächelte ihn an -- es war sein gewesenes Kind, der Daniel, ein volles Täschchen auf seinem Schooße, einen Schnitt Brotes in seiner steif gefrornen Hand. Er leuchtete das an, er sah es und sah es nicht, er hielt die Hände fest vor die Augen, es nicht zu sehen. So stand er lange. Und als er wieder aufsah, mit Wehmuth hinblickte, war Alles verschwunden, wie ein Traum, keine röthliche grellerleuchtete Grotte, kein Kind, nur Nacht und Stille. Hast Du das auch geträumt? fragt' er sich froh und bestürzt. -- Er sahe zu Boden. Der Kienbrand, den er vor Schrecken fallen lassen, zischte im Schnee mit dem letzten Funken und war verloschen. -- So sagte er nichts und dachte Verwirrendes. Er fühlte sich zu dem Kinde, er umfaßt' es und küßte ihm die Hand, und das Brot. -- Du bist hin! sagt' er weich. So warte denn hier, mein liebes Kind! Die Mutter bedarf es. Nicht wahr, Du bist es zufrieden, daß ich gehe! -- und Dich, bis ich wiederkomme, Dich hier allein verlasse? -- Gewiß! Du bist es zufrieden. Du gingst ja schon um der Mutter willen, und um die Geschwister! Heiße mich gehen! mein Kind! und ich möchte doch bei Dir bleiben! Fürchte Dich nicht! ich komme ja wieder! Bald, geschwind! -- So redet' er mit dem erfrornen Kinde, das ermüdet und von Kälte ergriffen, ausruhen und essen wollen, zum Botenlohn, und süß und immer süßer eingeschlafen war, und das der unerbittliche Tod, der auch des Nachts überall umherschleicht, der weder Vater noch Mutter, Brüder und Schwestern hat, auch hier gefunden und ohne Herz und Mitleid nicht verschont. -- Das dachte Johannes im Weitereilen und sprach vor sich: Ich möchte doch der Tod nicht sein! Das ist das schrecklichste Amt in der Welt. Wie gern doch bin ich dagegen der arme Johannes! Und doch muß ich das sehen und dulden! Das Kind ist glücklich. Wie konnt' ich besser sehen, wie gut es ist, wie glücklich ich war, _als so!_ -- Heut' in der heiligen Osternacht hab' ich's gesehen und erfahren: Kein Mensch ist so unglücklich, daß er nicht noch weit unglücklicher werden kann! Ach, du lebendiger Vater im Himmel, sei doch auch Keiner so elend, der nicht wieder glücklich werden könnte. -- Gewiß, der Gute kann immer wieder glücklich werden! -- sprach eine innere Stimme in ihm. Gott ist nicht todt. -- Du _warst_ ein Thor und bist vielleicht noch einer. -- Wer das wüßte! seufzt' er. Wer weiß, wo Wecker sitzt! -- Er beeilte nun seinen Vatergang. Die Mühle stand. Die Räder waren eingefroren und wunderlich anzusehen. Aber die Müllerin ließ die Kindelfrau nicht fort, und sie selbst versprach sich keinen Lohn und tröstete ihn mit Gott und Gottes Hülfe. Das Wort trieb ihn beruhigt fort. Aber Wecker hatte in der Mühle geschlafen, war schon munter, hatte vom Schlaf auf dem Stroh keine Federn in Haaren, wie er vergnügt bemerkte, fragte nach Daniel, der sich nicht halten lassen, und ging mit Johannes, dem jetzt die Angst entnommen war: er könne auch den alten Mann so finden wie den Knaben. Wecker trug eine große Fackel brennend in einer Hand, und eine zum Vorrath in der andern. Johannes schritt vom Wege ab, in den Steinbruch, und als Wecker das starre Kind sah, fehlte nicht viel, er hätte die Fackel fallen lassen. Aber er zitterte nur, daß in den flackernden Lichtern und den bewegten Schatten das Kind lebendig zu werden schien. -- Der Mann bin ich! sprach er wie ein Sündenbekenntniß, das Johannes wohl verstand, aber schweigend den Knaben sich auflud und mit ihm fortschritt, während Wecker heut' im erregten Wahnsinn wunderliche Reden führte, während er vorn leuchtete. Das wollt' ich nur noch wissen! sagt' er zuletzt; nun kann ich sterben; die andre Noth hab' ich alle gelernt, bis auf den Tod. Ich sollte dem kleinen Betteltäschchen die Freude nicht machen! -- Wecker, du solltest mit heim gehen! das heißt, wo er zu Hause ist, oder auch heim! wo du heim bist! Johannes sollte lieber »das alte Schulhaus« schleppen, wie die Engel das Haus nach Loretto; dann schrie der Kuckuck nicht im Schnee, dann müßte der Pastor einmal umsonst begraben. Der sollte sich ärgern! -- Aber an einer oben brennenden Fackel kann man sich unten die Hände erfrieren, Johannes! Merkt Euch das. Gott wird der Christel den Schaden ersetzen, sagte Johannes. -- Da will ich die Wiege sein, die Euch fehlt; der Mann bin ich! freute sich Wecker. -- Aus den Dörfern umher schallte schon Ostergesang und hallte freudig im Walde nach, wie ein Echo vom Himmel, oder wie sanfte Stimmen unsichtbarer Engel, die an dem heiligen Morgen um die Menschen wandelten auf Erden. Alles war angeklungen von dem geweihten Gesang. Der Himmel und vor ihnen der blinkende große Morgenstern schien nicht _sein eigen_, die Erde nicht ihr eigen, nicht Wald und Flur, Hütten und Weinberge nicht, auch die Menschenherzen nicht, sondern der Name: _Christus_, gesungen aus der Brust der Mädchen, umfing und befing Alles mit sanftem Schall und eignete _Ihm_ es zu; und die Welt war Gottes des Vaters in dieser heiligen Morgenstunde. Hört ihr die Jungfrau'n, Johannes? wie das erbaulich klingt! sprach Wecker. Sie haben's heut kalt. Aber sonst wär's auch keine Kunst, zu singen! So Etwas ist ewig, und verlangt sein Recht zu aller Zeit. Ich mußte auch lauten, und wenn das Gewitter dicht über mir stand; es hat mich auch einmal so halb und halb, das heißt aber nicht etwa _ganz_ versengt, so nur angesengt! Dafür hab' ich auch keine Wetterscheu mehr! denn ein rechtes Unglück trifft Niemanden zwei Mal, wie das große Loos! Das könnt Ihr Euch merken! -- Johannes merkte sich das mit Stöhnen. Er blieb ein Weilchen stehen, um auszuruhen und Athem zu schöpfen, aber er setzte seinen guten Daniel unterdessen nicht in den Schnee. Hört nur, fuhr Wecker fort, dort singen sie drüben das Lied: Der Tod ist todt, Das Leben lebet, Das Grab ist selbst begraben! -- Das wäre gut für den Daniel! und gut für den Todtengräber, die Erde ist jetzt steinhart! Darauf gingen sie wieder. Als sie aber zum Dorfe kamen, vernahmen sie die Melodie, ja selbst die Worte: Auf, auf, mein Herz mit Freuden, Nimm wahr, was heut geschieht! Wie kommt nach großen Leiden Doch ein so großes Licht! Johannes stand gerührt. Nun da kann ich die Fackel auslöschen! meinte Wecker und stieß sie vor dem Hause in den Schnee. Der Vater aber trug den Knaben leise ins Haus und hörte mit Freudenthränen eine zarte Kinderstimme in dem Stübchen, stand und sah durch das kleine Fenster in der Thür, wie die Alte es schon im Bettchen auf den Armen trug. So legt' er den Daniel hastig in den Schuppen, damit ihn die Mutter nicht sähe. Er dachte kaum, daß dieser kein Strohdach hatte, daß es schon tief hinein geschneit, daß es immerfort noch häufig hinein schneie -- ihm schadete ja das Alles nichts! Da ruhe in Gottes Namen, mein Kind! sagt' er; nahm ihm das Täschchen ab und zog sich aus eigner Wehmuth selbst wieder den alten Sonntagsrock an, sahe noch einmal zurück, ob es gleich noch düster war, und ging erleichtert hinein zu Christel. Er blieb an der Thür stehen. Die Alte hatte das Kind der Mutter zum ersten Mal auf die Arme gegeben, und er hörte, daß Christel leise sprach: Segne dich Gott! mein liebes Kind! Lebe gesund und werde alt, bis Dir die Tage nicht mehr gefallen! Halte fest an Gottes Wort. -- Du bist zu _uns_ gekommen -- fuhr sie mit weicher Stimme fort -- anstatt in eines Reichen Haus? Wir haben Dich! -- und an _Liebe_ soll Dir's nicht fehlen, und an nichts, was ich habe, und was Du noch brauchst. Sei nur zufrieden und weine mir nicht. Du bist bei mir. -- Nun ward es still. Eine Herzstärkung thät ihr nun wohl! meinte leise die Alte. Und so öffnete Johannes das Täschchen, legte erst ein rothes Osterei daraus auf den Tisch und brockte das Brot in das kochende Wasser. Dann ging er und setzte sich zu Christel auf's Bett. Sie aß. Er hatte die Augen zu. -- Was weinst Du denn? Vor Freuden? ja wohl! mein Johannes, sprach sie, siehe nur her! -- Er aber sagte: Weißt Du auch, was Du issest? -- Ich habe ja meine Besinnung, antwortete sie: Brotsuppe! die ist mir jetzt am besten und dienlicher als von rüdesheimer Hinterhäuser. Aber von was für Brot! meine Christel, nickt' er. -- Bettelbrot von Daniel? sagte sie heiter; sei doch ruhig, Johannes, das Kind hat es gern gethan. Alles ist von Gott, auch das Brot, und von dem nehm' ich es an, und von dem guten Kinde noch einmal so lieb. -- Wo ist denn der Daniel? ruf ihn doch her. -- Er schläft; sagte Johannes; er war sehr müde, die Augen fielen ihm immer zu. -- Nun so laß ihn schlafen, lächelte Christel; er hat ein gutes Werk gethan. -- Der Vater aber ging von ihr, besah das Osterei, brachte heraus, was darauf gekritzelt war: »Friede sei mit Euch,« schnitt einen Eierkorb und hing es über dem Eßtisch auf, zu des Kindes Angedenken. 21. Da erklang ein Posthorn und rufte wie drüben vom zugefrornen und verschneiten Teiche her. Es ward still; dann ging die Hausthür auf, derbe Tritte stampften den Schnee von den Füßen, und das kleine, vom Kaminfeuer erleuchtete Fensterchen in der Thür lockte den Fremden herein. Bin ich noch weit von Breitenthal? fragt' er; guten Morgen auch! Man sieht im Schneegeflocke die Hand nicht vor den Augen. Wir wohnen im letzten Hause von Breitenthal, oder im ersten, wenn man kommt; sagte Johannes. An der Stimme, und näher getreten nun auch im Scheine des Feuers, erkannte der Fremde jetzt Johannes, reicht' ihm die Hand und sagte: Kennt Ihr mich noch! Ihr seid wohl der Herr vom Kirchthurm, meinte Johannes. Nicht allein der Herr vom Kirchthurm, sondern auch jetzt der Herr von Breitenthal! versetzte der Fremde lächelnd. Ich bin noch in Eurer großen Schuld! aber ich habe an Euch gedacht; ein kleines Schiff mit Sachen liegt für Euch schon befrachtet in Frankfurt bei mir auf dem Main; sobald der Fluß wieder aufgeht, kommt es für Euch, und Schiffchen und Alles ist Euer. Nehmt damit vor Willen; das macht Paschalis nicht ärmer. Ihr habt ja gehört -- ich bin nur nach _Dorothee_ gefahren! Ihr sollt mir ja nicht danken, hat sie gesagt; das ist nicht nöthig; wiederholte Johannes. Aber angenehm ist es, entgegnete Jener, und mir Bedürfniß, und, seh' ich recht, auch Euch. Da möcht' es nur _bald_ aufthauen! sagte Frau Redemehr. Aber wo habt Ihr die Dorothee? fragte Paschalis. Bester Herr, ließ Christel jetzt ihre Stimme vernehmen, fragen sie nicht nach _der!_ Sie hat uns großes Herzeleid angethan. Weihnachten hat sie mir ein Kind beschert, das Gottliebchen, und niemand anders als eben auch sie hat es zu meinem Kummer mir wieder geraubt. Ich habe gehört, die gnädige Frau hat an ihrem Sterbebette Allen vergeben, auch dem gnädigen Gottlieb, und Dorothee hat vor Thränen sich nicht fassen können! Nun ist sie verschwunden, und wer weiß, wo wir Mutter und Kind noch finden, wenn der Schnee und das Eis vergangen. Sie hat Dir ein Kind gebracht? fragte Johannes seine Christel verwundert. Mir thut es leid um das saubere, trotzige Mädchen; sagte Paschalis. Wie man sich irren kann! Ich glaubte mich schon klug genug, beim ersten Anblick eines Menschen ihm sein Schicksal aus dem Gesicht zu lesen; wie er war, und wie er sein kann! Aber seid nicht in Sorgen um sie. Er wollte zur Thür hinaus gehen; Johannes leuchtete ihm. Da erblickte Paschalis das steinerne weiße Denkmal, und der vergoldete Namen »Martha« schimmerte still ihn an. Martha! sagt' er für sich. Martha? und auch der alte Johannes! Kinder, fragte er betroffen, wie kommt ihr zu dem Stein? Er ist für meinen Vater und meine Schwester, antwortete Christel. Der Kirchhof drunten ist noch nicht in Ordnung. Deine Schwester, die arme Martha! sagt' er weich. Ich steh' als ein großer Schuldner an ihr vor Euch, aber verdammt mich nicht. Ich war aus Leidenschaft fähig, ein Unrecht zu begehen, aber es gut zu machen -- zu schwach, zu stolz, zu verblendet und fortgerissen von derselben Leidenschaft, die Liebe heißt und Verderben ist und es bringt! und als mein Vater gestorben war, als ich aus fremden Städten heim kam -- als ich weiser war -- da war sie todt. Arme Martha! Wenn Ihr Euch zu Martha bekennt, sagte Christel niedergeschlagen, so kann ich Euch noch ein trauriges Geschenk zum heiligen Ostertage machen! Dorothee ist Martha's Tochter. -- Geh' doch in die große Bibel, Johannes, und gieb dem Herrn den Brief! Er ist vom alten Pastor an unsern Vater, und auch den andern, den noch versiegelten! der ist gewiß nun von Euch. Ihr armer Mann! Johannes brachte die ganzen Papiere und auch die Schuldverschreibung von Borromäus, selbst die Letzte an Dorothee. Paschalis that kaum einen Blick hinein und sprach dann zu Johannes: Geht und holt doch Dorotheen aus dem Wagen und schickt ihn dann auf das Schloß. Der allzu gnädige Gottlieb droht' er. -- _Ihr_ bringt uns Dorotheen? fragte ihn Christel mit Freud' und Schmerz wunderlich gemischt im Klang ihrer Stimme. -- Ich überholte sie einige Stunden von hier, im Schnee watend, um nach Hause zu kehren, nahm sie ein und erkannte sie als dasselbe Mädchen, das ich bei Euch gesehen. -- War sie allein? und hatte kein Kind? fragte Christel hastig. Allein! kein Kind! versetzte Paschalis. Mir schauert! äußerte Christel und schwieg, das Gesicht in den Händen verborgen. Paschalis ging gleichfalls schweigend umher und blieb dann gedankenvoll vor der Inschrift stehen. Dorothee trat ein. Wo hast Du Dein Kind? redete streng sie Paschalis an. Wer hat danach zu fragen? sprach Dorothee mit düstern Augen ihn messend. Dein Vater! antwortete Paschalis noch strenger und ergriff sie bei der Hand. Wer ist denn hier mein Vater? versetzte Dorothee. Der sich jetzt schämt, es zu sein! erwiederte Paschalis und kehrte sich von ihr. Daran thut er jetzt klug! sagte ihm Dorothee; aber noch klüger hätt' er gethan: sich erst zu schämen, eh' ich seine Tochter ward -- und so sich von Martha zu kehren, wie jetzt von Dorothee. Aber die Kunst ist nicht groß -- ich kann es auch. Und nun kehrte sie ihm den Rücken, ganz erhitzt im Gesicht, und doch blaß und schneller und hörbar athmend. Eh' wir weiter reden, nahm Paschalis das Wort, wo ist Dein Kind? Das ist doch zum Lachen! versetzte Dorothee, wenn es sonst nicht zum Weinen wäre! -- Hätt' ich doch lieber nicht auf dem Thurme gelauten! bedauerte Paschalis. Ich komme in das Dorf nach meinem Kinde zum Prediger, dem ich sie anvertraut. Ein junges Weib sitzt da: ich schweige, ich gehe; ich will morgen wiederkommen, um zu erfahren, wo sie nun ist -- da brechen in der Nacht die Dämme, da eil' ich hinauf in Todesangst um mein Kind und laute, daß sie _meine Stimme_ höre! laute, um in der Menge verborgen sie _mit_ zu retten -- nur _sie_ -- -- hätt' ich doch nicht gelauten! hätt' ich doch Euch gefragt, wen ich suche, statt Euern Namen mir aufzuschreiben, dann zog sie nicht auf das Schloß! Die Alte aber sprach: die gnädige Frau ist todt; nun kann sie ja der gnädige Gottlieb _auch_ heirathen. Das ist meine Tochter! würd' ich ihm sagen, trotzte Paschalis und hielt Dorothee an seiner ausgestreckten Hand. Das ist nun eben ihm recht! setzte die Alte hinzu; da behält er das Gut. Ich würde ihm sagen: Sie heißen Gottlieb, aber Ihnen ist weder _Gott_ lieb! noch sind Sie Gott _lieb!_ wenigstens _mir_ nicht! Zieh' in den Krieg! rieth ihm Paschalis. Wenn Ihr mein Vater seid, was ich mir nicht wünsche, so seid Ihr doch werth, daß ich Euch frage: hatte Clementine nicht eine Mutter? lebte sie nicht als Wittwe bei ihr und bei _ihm?_ war sie nicht jung noch und üppig genug? -- _Ihr_ hab' ich _ihr_ Kind jetzt hingetragen! War das nicht werth, daß eine Tochter vor Gram starb? war das nicht werth, daß eine Mutter vom Sarge der Tochter entfloh! -- Alle schwiegen mit stummer Scheu. Dorotheens Worte hatten eingeschlagen. Jeder sah zur Erde, Jedem bebte das Herz. Paschalis wollte seine reine, unschuldige Dorothee umarmen und rief: Mein einziges Kind! -- Dorothee trat vor ihm zurück. Nun sind wir geschieden! sprach sie. Das Schloß ist Euer -- das Schloß betret' ich nimmer wieder! -- Ihr habt die Schulden zu Euren Schulden gemacht; gebt Eurer Martha Schwester ihre tausend Gulden, und mir den Lotteriegewinn, daß ich ihn Johannes wieder erstatte -- dann lebt in Frieden! Bedenkt, daß Martha meine Mutter war, und daß Ihr mich in ihr gekränkt und erniedrigt, unaufhebbar! Und wollt Ihr so schenkt dem alten Leinweber einen neuen Baß, so spielt er wieder, und Johannes befährt den alten Rhein. Einen großen Haupt-Straduarius soll der Mann bekommen! Du, Breitenthal! Dorothee, daß Du Dich rein erhalten in solchen Händen! Johannes aber ein Schiff mit goldenem Boden -- ich will Euch Alle glücklich machen! sagte Paschalis erregt zu Johannes. Wenn Ihr gestern kamt! Gestern war es noch möglich! entgegnete ihm Johannes. So elend war ich da nicht wie heut', und nun immerfort! -- o mein gutes Weib! -- und doch lebt ja der alte Gott! Du verstehst mich, aber nur halb! Ihr seid doch sonderbare Menschen! sprach Paschalis. Wer begreift das Alles! Doch daß Du mir nicht Schande, nein Ehre gemacht, o Dorothee, das segnet Dir Gott und mir! Ihr wundert Euch und seid ein großer Kaufmann, Herr Vater! lächelte Dorothee. Das jüngste Mädchen ist so klug wie der älteste Kaufmann. -- Nicht wahr, Ihr verliert nur _Eure Schätze_, wenn Jemand fallirt, dem Ihr sie anvertraut. Aber -- ein _gefallenes_ Haus hat keinen Credit, und ein Mädchen borgt _Ihm_ nicht einen Finger, geschweige die Lippe! -- Das sag' ich noch, damit es Euch nicht zu schwer wird, mich zu vermissen. Gerade nun! Du mußt mein sein! bei mir bleiben! bat sie der Vater. Das will ich mir funfzig Jahr überlegen! beschied ihn das kecke Mädchen. Johannes aber hatte schon längst das Zimmer verlassen und wankte hin, um sich auszuweinen bei seinem Daniel. -- Aber er fand Jemand schon neben ihm. Wer seid Ihr? fragt' er verwundert. -- Still! Still! ich bin Wecker! der wahre Wecker? Ich bin der Mann! schon eine halbe Stunde! Hier ist der Doctor! sprach er und wies ihm den abgeriebenen Strohwisch; er ist eigentlich nur ein _Lizentiat!_ fuhr er fort. Das Kind, im Schnee und mit Schnee vom Himmel beschüttet, war erwärmt, und seine Wärme hat sich eine Höhlung weggethaut, sein Haar ist feucht, und seine Wange glüht. Ex Noth wird wieder Ex voto! Hört ihr das Osterlied! Nun kommen die heiligen Frauen. Johannes aber kniete, betete und konnte vor Zittern der Hände nicht thun, was ihn Wecker hieß, der das Kind zuletzt auf die Füße stellte und in des Vaters Arme gab. Der Knabe besann sich endlich langsam wieder, glaubte noch in dem Steinbruch zu sein, bewegte den Mund, als wenn er wieder äße, hörte dann des Vaters Zuruf und sagte mit halber Stimme: Bist Du da, Vater? da hast Du Brot! komm', führe mich heim, der Mutter wird bange sein! Und so führte Johannes ihn zitternd hinein. Und von der aufgehenden Sonne Licht und Glanz geblendet, und schwach, schwankte das Kind und stand wie im Traume und gähnte und strich sich die Haare aus der Stirn. Nicht wahr, Daniel lebt? er lebt? fragte Johannes die Mutter. Freilich, da steht er und lächelt ja! sprach Christel, aber allmälig stammelnd und zögernd, und plötzlich erblaßt vor Ahnung, die aus Johannes Worten und Wesen sie anschauerte. Nun -- nun kannst Du auch wissen, daß er todt war! fuhr Johannes leiser fort und zog ihn der weinenden Mutter nah. Daniel! -- sprach sie mit versagender Stimme und streckte die Arme nach ihm. Mutter! -- sprach er, als bät' er sie um Vergebung, und lag in ihren Armen. Wecker hat ihn erweckt! meinte Johannes. Aber das hörte sie nicht an Daniels Halse. Wecker aber stand nur sehr freundlich da und hatte die Augen zu. Nun bin ich glücklich, rief Johannes; ich habe den Daniel wieder! und noch einen kleinen: »Vom Himmel hoch, da komm ich her!« -- Ich habe Alles! -- Dorothee! hörst Du, Dorothee, ergieb Dich Deinem Vater! -- Du weinst, mein Mädchen? Da traten die Jungfrau'n der Osternacht auch vor das kleine Haus und sangen: Es gingen drei heilige Frauen Alle-alleluja! Des Morgens früh im Thauen, Alle-alleluja! Alle erschraken darin und hörten gerührt die hellen Stimmen singen. Paschalis ließ sie hereintreten. Sie waren verkleidet. Da waren die drei Frauen, Maria, Martha und Magdelena, verschleiert, und die zwei Engel in weißen Gewanden. Und sie standen wie Erscheinungen, fuhren fort in dem Wechselgesang, und es sangen: _Die Engel:_ Erschrecket nicht, und seid All' froh! Alle-alleluja! Denn, den ihr sucht, der ist nicht da. Alle-alleluja! _Martha:_ Ach Engel! lieber Engel fein, Alle-alleluja! Wo find' ich doch den Herren mein? Alle-alleluja! _Die Engel:_ Er ist erstanden aus dem Grab, Alle-alleluja! Heut' an dem heil'gen Ostertag. Alle-alleluja! _Maria:_ Habt Dank, ihr lieben Engel fein. Alle-alleluja! Nun woll'n wir Alle fröhlich sein! Alle-alleluja! Sie schwiegen nun und lächelten. -- -- Und wir nicht auch? Nun wollen wir Alle fröhlich sein! sagte Paschalis und zog seine Tochter, die Willige nun, an das Herz. Und Ihr auch? alter Wecker! sprach mit dankbarem Handschlag Johannes. Ihr bleibt bei uns und zieht mit hinab, wenn das neue Haus steht. Das wollt' ich nur wissen! sagte der Alte und sang mit Thränen ein frohes: Alle-alleluja! Und Christel betete leise: Habt Dank, ihr lieben Engel! dann rief sie Sophiechen und sagte: siehe, mein Kind, heut' tanzt die Sonne! denn heut' ist heiliger Ostertag! Dorothee nahm sie auf den Arm. Und das Kind sah' in die rothe, große, zitternde Sonnenscheibe, und die Augen gingen ihm über, und Dorotheen. Aber Paschalis trat mit wunderlicher Scheu vor Martha, die ihn aus dem Schleier ansah, und bot _ihr_, wie zur Versöhnung, die Hand und blickte mit feuchten Augen zum Himmel. Die Engel aber schieden, küßten die Kinder und grüßten Alle mit freundlichem Lächeln und sprachen: _Friede sei mit Euch!_ Anmerkungen zur Transkription Quelle: Leopold Schefer's ausgewählte Werke. Dritter Theil. Veit und Comp., Berlin, 1845, pp. 1-107. Im Original g e s p e r r t e Textstellen werden _kursiv_ wiedergegeben. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. End of the Project Gutenberg EBook of Die Osternacht, by Leopold Schefer *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE OSTERNACHT *** ***** This file should be named 40523-8.txt or 40523-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/0/5/2/40523/ Produced by Jens Sadowski Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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40523-8
The Project Gutenberg EBook of Die Osternacht, by Leopold Schefer This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Die Osternacht Erste Abtheilung Author: Leopold Schefer Release Date: August 18, 2012 [EBook #40523] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE OSTERNACHT *** Produced by Jens Sadowski Leopold Schefer Die Osternacht Die Osternacht. Erste Abtheilung. Sinnwort: Erdennoth Keine Noth! Nur vom Herzen Kommen Leiden, Leben, Freuden, Tod und Schmerzen. 1. Wer machte denn die Thür auf, Johannes? -- Johannes, hörst Du! schlafe nur nicht so fest. Es weht die Kinder kalt in ihren Bettchen an. Geh', mache sie zu! ich fürchte mich. Sieh', guckt es nicht dort mit funkelnden Augen herein? hat es nicht Hörner? -- Christel fuhr unter die Bettdecke. Du bist ein furchtsames Kind, sprach Johannes; und das kommt daher, daß Deine Mutter Dich zehn Jahre nach ihrem vorletzten Kinde getragen und sich vor den Leuten geschämt und nur im Dunkel ausgegangen. War sie denn nicht eine eheliche Frau, noch ein Weib in ihren besten Jahren? Nun hab' ich mein Leiden mit Deiner Furcht, und auch der ganz kleine Junge alterirt sich schon, wenn man ihn nur mit einem Hasenfuß anrührt. -- Geh'; Daniel, stehe Du auf und mache die Thür zu und sperre die Ziege ein. Der kleine Daniel sprang mit bloßen Füßen aus dem Bett, um zu gehen. Vater, rief er, es ist Wasser in der Stube! Bis über die Kniee! Mutter, die Wiege ist schon zum Fenster geschwommen. Du bist noch im Traume! Daniel, sprach die Mutter. Nein, Mutter! wahrhaftig Wasser. Hörst Du? -- Und nun rauschte er mit den Füßen darin. Auch die Ziege kam gewatet. Die Mutter sprang aus dem Bett und eilte zum Kleinen in der Wiege. Der Vater sah zum Fenster hinaus. Um des Himmels willen, was ist denn? fragte Christel. Hu, wie kalt ist das Wasser! -- Johannes antwortete nicht. Er hörte nur scharfes Läuten vom Kirchthurm, ein dumpfes Rauschen, ängstliche Stimmen im Dorfe, gerufene Namen, Geschrei der Kinder und hohles gedämpftes Gebrüll des Viehes. Männer und Weiber und Kinder fuhren wie im Schattenspiel in der Nacht, selbst wie Schatten in Kähnen vor dem Hause vorüber, wo Abends noch trockene Straße war. Ein Mann führte seine Kühe watend nahe am Zaune des Gärtchens vor seinem Fenster hin. -- Was ist das? fragte er ihn. Keine Antwort. Ein Anderer ritt auf dem Pferde, einen Knaben vor sich. Ist denn das der Rhein hier? fragte er diesen. -- Das Wasser hier im Hause der Rhein! wiederholte Christel. -- _Das Mal_ ist er es! antwortete Jener draußen vom Pferde, vorüber eilend; macht, daß Ihr fort kommt, Johannes! der Damm ist gebrochen! -- Das hier der Rhein? das Wasser hier! Hat davon jemals im Dorfe ein alter Mann erzählt? fragte Christel. _Das Mal_ ist das der Rhein! Wir stehen hier im Rhein in der Stube! sagte Johannes. -- Horch, wieder die Sturmglocke vom Thurm! das klingt ängstlich! Nimm die Kinder, die Kinder, und fort, fort! Laß Dich nicht übereilen, Johannes! sagte Christel gefaßt. Einen Augenblick überlegt, was wir thun, was wir nehmen und lassen. _Der_ Augenblick kommt nicht wieder! Das hat Dir Gott eingegeben, den Kahn noch gestern im Hofe fertig zu machen, selber die Ruder hab' ich hineingelegt. -- Das Erste ist die Nürnberger Bibel von meinem Vater, dann die Kinder und die Sonntagskleider! Weißt Du noch Etwas? Geld haben wir nicht! seufzte Johannes mit gefalteten Händen. Unser Haus war das Beste -- und der Garten. Die Fische werden doch leben bleiben! So bleiben wir Fischer! -- Nun in Gottes Namen! ich bin angezogen; trieb Christel. So nahm sie denn das Kind in seinem Bettchen aus der Wiege, der kleine Daniel rief seinen Staar vom Ofen: du Dieb! du Dieb! dann nahm er den Vogel, der Vater den Daniel auf einen Arm, auf den andern das Mädchen, sein Sophiechen, und so wateten sie zum Kahn, der schon flott war. Christel stieg ein und blieb bei den Kindern. Der Vater holte noch die Nürnberger Bibel und die Federgebette und die Sonntagskleider aus der Lade, legte auch das hinein und fragte: haben wir sonst etwas Wichtiges vergessen? Daß ich nicht weiß! sagte Christel; ich habe Alles! Da sprang noch die Ziege in den Kahn, die Kuh war nicht mehr zu retten. Nun walte Gott! sprach Christel; und so fuhr denn Johannes sachte und vorsichtig über die niedrige, schon überschwemmte Mauer des Gehöftes mit dem Kahn voll seiner besten Habe hinüber nach den Bergen, über welchen ruhig, sicher und fern der Komet mit langem, weißem Schweife stand, der wie ein langes hinaufgestrecktes Schneckenhorn des Berges zum Himmel reichte und geisterhaft und doch gütig und freundlich den Menschen leuchtete. Du hast gut da im Trocknen scheinen und steuern! sagte Johannes. Du bist an Allem schuld! Spotte nicht! verwies ihm Christel; es ist ein Bote des Herrn mit seinem Stabe. Es ward plötzlich still auf den verworrenen Lärm im Dorfe. Das Schreckliche war geschehen. Die sich retten konnten, waren gerettet und waren nun still, auch wo sie flohen; und die sich nicht gerettet; waren auch still; nur manchmal erscholl noch Hundegebell, oder Geschrei der Hähne, die den Morgen anriefen, oder Geläut aus benachbarten Dörfern, auch wohl ferner Schüsse Hall das Thal hinab und hinauf, und ein lauer Thauwind fiel in zuckenden Stößen vom Himmel. So fuhr denn auch Johannes still an Mauern dahin, über Gärten und Wiesen, die zum See geworden. Nur zuweilen kam es ihnen vor, als hörten sie rufen: »Johannes!« und dann wieder schwächer: »Johannes!« aber es fiel ihnen nicht ein, daß sie ihre _Dorothee_ vergessen, die auf dem Boden geschlafen. Sie waren froh, daß ein Kahn sie einholte. »Guten Morgen!« grüßte es beklommen herüber. »Guten Morgen!« dankten sie wehmüthig hinüber, und schweigend gelangten sie ans Ufer. 2. Da! nimm mir das Kind ab, Dorothee! sagte Christel und hielt es ihr aus dem Kahn hin. Denn sie glaubte, das flinke Mädchen sei zuerst ans Ufer gesprungen. Dorothee! wo bist Du denn? rief sie noch einmal. Sie sahe sich um, sie überblickte den Kahn, da war keine Dorothee, und vor Schrecken hätte sie bald das Kind von den ausgestreckten Armen ins Wasser fallen lassen. Sie setzte sich aber und beugte sich über das Kind. -- Ich frug Dich ja noch, liebes Weib, sprach Johannes, ob wir Etwas vergessen. Etwas ist kein Mensch, erwiederte sie. Du sagtest, ich habe Alles! sprach er. -- Ach, ich habe Alles, das sagt' ich, weil ich meine Kinder hatte! den Daniel, das Sophiechen und den kleinen Gotthelf. Kehre um, Johannes, das Mädchen ist Dir ja so lieb, wie ich und die Kinder! Sie hat Niemanden als Uns, wer denkt an sie? so ist sie denn Uns auf die Seele gebunden. Kehr' um! Soll sie so mißlich umkommen? Wie viel Häuser sind schon eingestürzt. Johannes kehre um. »Johannes!« rief sie, »Johannes!« jetzt weiß ich, wer rief, und wen sie meinte -- Dich, mein Johannes! -- Ich will! tröstete sie Johannes; nur wärmt Euch erst. So stiegen sie aus und richteten sich ein. Die Ziege weidete unbekümmert; Daniel las Holz zusammen, Johannes brachte einen Feuerbrand von dem Feuer des nächsten Unglücksgenossen, und während dessen erschien der Purpurstreif der Morgenröthe und beschimmerte das Thal und den Strom, und zuletzt kam auch die Sonne und schien sich umzusehen. Von Zeit zu Zeit läutete es noch im Dorfe vom Thurme. -- Wer muß das sein? sagte der junge Prediger, der herzugetreten, denn dort steht der alte Küster mit allen den Seinigen. Die Kirche liegt tief, und dem wir die Rettung, nächst Gott, am meisten verdanken, der steht nun selber in Noth. Seht, ist nicht Jemand dort im geöffneten Kirchthurmfenster? -- Es ist ein Mann! sagte Johannes, und keiner aus dem Dorfe; ich dächte, er trüge einen andern Rock, als wir Leute hier, jetzt weht er auch mit einem weißen Tuche. Nun geht er wieder läuten, horch! Das ist gewiß der Reisende, der gestern bei mir war und mich nicht zu Hause fand. Er wollte heute wieder zu mir kommen, bemerkte der Prediger. Ja, sagte der alte Küster. Als ich den Thurm aufschließen ließ, war er schon da und riß mir die Schlüssel aus der Hand, trieb mich fort und sprang selber zu läuten. Er ließ sich's nicht nehmen. Ich sah ihn gestern Abend im Wirthshaus. Er hat auch ein Pferd. Gehabt! sagte der Prediger; denn das ist nun ertrunken. Wir wohnen Alle dort tief. Das war wohl ein Schreckliches! Ach, es ist noch ein Schreckliches! seufzte Christel und deutete stumm und die Augen voll Thränen nach ihrem Hause, auf dessen Dache eine weiße Gestalt saß neben der Leiter. Wer von Euch ist das? fragte der Prediger. Unsere Dorothee, die meine Frau mit aus dem Vaterhause geerbt, sagte Johannes ihm leiser. Jetzt will ich hin. Das Dach hat sich schon gewandt, denn die Morgensonne bescheint den Giebel, was sie in ihrem Leben nicht gethan! -- Fahrt mit Gott! sagte der Prediger. Aber wer wird Euch begleiten außer ihm? Die Männer sind fort nach allerhand Hülfe, oder retten noch; ich verstehe es nicht, das Ruderscheit zu führen, und gehe denn lieber aus nach Zufuhr ins nächste Dorf, daß Ihr wenigstens Brot und Wein bekommt. So ging er. Christel küßte ihren Johannes; er küßte die Kinder, dann fuhr er allein zurück. Er mußte zuerst an der Kirche vorüber, worauf der Fremde jetzt stärker geläutet und nun hinab in das Fenster getreten. Johannes hätte müssen kein Herz haben, wenn er ihn nicht zuerst in den Kahn genommen. Und nach einigen kurzen Worten des Dankes half er nun selber hinüber rudern zum Hause, von dem das Mädchen ihn mehr geängstet als er sich selbst über seine Lage. -- So oft sie die Arme ausstreckte, riß ich wieder an der Glocke! erzählte er Johannes. Sie legten an das Dach an, aber sie mußten ihr laut zurufen, herabzusteigen, so erstarrt und versonnen saß sie da oben. Ja es erschien dann, als sie gleichgültig die Männer ansah, sogar ein Trotz, eine Rache, eine wehmüthige Lust, umzukommen, in ihrem Gesicht. Sie ward über und über roth. Sie wähnte sich _vernachlässigt_, als eine arme vater- und mutterlose Waise! nicht vergessen vor Angst; und auch jetzt hatte Johannes _zuerst_ den Fremden eingenommen, und nicht erst auf der Rückfahrt! So blieb sie, und auf wiederholten Zuruf schluchzte sie vollends vor Thränen und kehrte sich ab. -- Laßt das arme Mädchen erst ausweinen und sich die Thränen trocknen, damit sie die Sprossen der Leiter nicht fehlt, sagte der Fremde mitleidsvoll. Sie hat nicht mehr an das Leben geglaubt; und nun schlägt ihr das Herz auf einmal zu voll. Und so stieg er selbst hinauf und geleitete Dorotheen hinab. Sie schwieg während der Fahrt nach den Bergen und sahe zurück auf die Fläche des Wassers, während die Männer hinüber ruderten. Sie brach voll brauner Knospen schimmernde Zweige von den Obstbäumen, an denen sie hinfuhren, und warf sie in das Wasser, ohne sie anzusehen. Am Ufer warf sie sich der weinenden Christel an die Brust und sagte: Nun seid Ihr so arm als ich! Ist _das_ Dir ein Trost! erwiederte Christel. _Nun_ werdet Ihr mich lieber haben! seufzte Dorothee. Ach, wie war mir diese zwei Jahre her zu Muthe, seit der Prediger gestorben; und auch bei ihm, wie oft hab' ich geweint! Was kannst Du für Deine betrogene Mutter! sprach Christel. Es hat ihr auch das Leben gekostet. Sei ruhig. Wir waren nicht reich, aber wir liebten Dich! wir lieben Dich und sind nun arm. Gott sei Dank! seufzte Dorothee leise, nun ist mir wohl. Der Fremde hatte das schöne, sechzehnjährige Mädchen mit Verwunderung betrachtet. Ihr habt da ein eigenes Kind! sagt' er. Schöne Mädchen müssen nicht so stolz, so eigensinnig sein! drohte er ihr sanft mit dem Finger. Dorothee wollte ihn böse ansehen; aber es gelang ihr nicht: denn von einem freundlichen Blick getroffen, mußte sie endlich sogar auch lächeln, wie er lächelte. _Mir_ ist nicht wohl, sagte er, daß ich _jetzt_ arm bin. Ich kann nicht einmal meinem Freunde hier anders als mit Worten danken! Das ist nicht nöthig! sagte Dorothee. Er hat ja eigentlich mich geholt, wie er spricht. Oder nicht? Freilich! sagte Johannes. So schenkte der Fremde nur einige kleine Stücke Geld an die Kinder, schrieb sich Johannes Namen in seine Schreibtafel, drückte ihm die Hand, versicherte ihm, daß er sich werde vernehmen lassen, schnitt einen Stock aus dem Haselgesträuch, ließ sich den Weg nach Groß-Breitenthal weisen und wanderte in die Berge. Während dessen hatte sich die Schlinge, womit Johannes den Kahn an einen Stein in der Eile und der Freude befestigt, abgezogen durch das Wiegen auf den Wellen -- und jetzt war der Kahn schon unerreichbar, wandte in eine Strömung und schwamm fort. Daniel schrie; Johannes sah ihm nach und sagte dann: nun bin ich ein Fischer gewesen! nun ertrinken mir die Fische! -- Christel schwieg; Dorothee lächelte verstohlen, rief die Ziege, setzte sich auf den Stein und melkte Milch zum Frühstück für die Kinder. 3. Nun was sagt denn Deine Bibel? fragte Johannes nach Mittag seine Christel, die darin las; welches Winzerhäuschen in den Weinbergen ist denn noch leer? oder wohin sollen wir wandern? und was sollen wir anfangen? Christel machte gelassen die Bibel zu, drückte die Schlösser fest, und eine Hand auf den Deckel gestützt, sah sie ihn ruhig an. Siehst Du nicht, fragte sie ihn, was darin steht? wenn Du auch die Schrift nicht lesen kannst: so kannst Du doch in meinem Gesicht lesen, was darin steht: Zufriedenheit und Vertrauen! Aber können wir darin wohnen, wie in einer Hütte? können wir sie den Kindern geben als Brot? Du bist wunderlich, lieber Johannes, erwiederte Christel. Dir muß man das anders sagen. Siehst Du, -- zu _deinem_ armen Vater Frommholz können wir einmal nicht, da fern auch über den angeschwollenen Main, aber unter dem Lesen ist mir nun eingekommen, daß mein Vater dem Herrn von Borromäus in guten Zeiten auf inständiges Bitten 1000 Gulden geliehen hat. Er war ein schwacher Mann und dachte, der Hase habe ihn geleckt, wenn ihm ein »Herr von« die Hand gedrückt und sein erspartes Geld in eigner hoher Tasche nach Hause getragen. Doch _das_ Geld hab' ich ihm mit dem Voigt selber hinauf nach Breitenthal getragen, und ich bekam einen Dukaten Botenlohn, den unser Sophiechen da noch am Halse trägt, und einen Kuß, den ich mir hundert Mal abgewaschen. Ach, ich weiß noch wie heute, ich brach in seinen Armen vor Scham und Schande und Jammer, und wer weiß vor was allem in Thränen aus und war gar nicht zufrieden zu stellen. Ich kam mir vor, wie gestorben, verdorben, entweiht und entehrt auf immer. Das war eine Noth! Der alte Herr sogar war selber betreten und schrieb mir die Quittung. Und die 1000 Gulden gehören von Gott und Recht laut Testament nun mir. Darum wollen wir hinauf; denn unser Haus, das siehst Du, ist zerstört, und von dem Gelde bauen wir es neu auf. Der Edelmann hat ja niemals nur einen Kreuzer Interessen entrichtet und behauptet, er hätt' es dem Vater schon wieder bezahlt! lächelte Johannes. Leider hat es der arme verschuldete Herr gethan -- als wir noch Etwas hatten und ohne ihn lebten; aber, Johannes, _nun_ wird er es nicht leugnen, nun wird er es gewiß bezahlen, gewiß! nun wir verarmt sind. Du hast einen guten Glauben! meine Christel, sagte Johannes fast unmuthig. Die Mutter aber rief ihr Sophiechen herbei, nahm sie auf dem Schooß in die Arme, wiegte sie und fragte sie liebkosend: Sage Du mir, Sophiechen, werden wir das Geld bekommen? Nein? oder Ja! Nicht wahr Sophiechen, sag'! werden wir das Geld bekommen? Ja! sagte Sophiechen, mit der Post! -- Da hörst Du, Johannes! sagte die Mutter. Das Kind hat es gesagt. Du hättest nur noch deutlicher zu ihr sprechen sollen: Sage ja! -- Ist denn das Kind eine kluge Frau? oder bist Du eine kluge Frau? Du wirst schon abergläubisch; das macht das Unglück! meine gute Christel. Du wirst sehen, Johannes! was die unschuldigen Kinder sagen, ist wahr. Wenigstens unschuldig. Was wollen wir Anderes machen als hoffen. Im Dorfe kann uns Niemand helfen, Jeder braucht selber Hülfe. Es ist nicht zu weit hinauf, darum wollen wir noch vor Abend hinüber! hier haben wir uns satt gesehen an der lieben Gottesgabe, dem Wasser! Er wird doch irgend ein Häuschen, oder ein Stübchen haben der Borromäus. Es sind auch Wagen von Breitenthal da; Alles ist ausgetheilt, und sie fahren nun leer zurück, die nehmen die Kinder mit, und wir gehen. Das war bald geordnet, und so zogen sie in die Berge hinauf durch den Fichtenwald. Johannes sah noch manchmal zurück und weinte dann, wenn er die Kinder auf dem Wagen fröhlich darüber sah, daß sie fuhren, und Daniel, daß er das Ende der Zügel halten durfte. An der Waldkapelle mit dem Marienbilde aber war Christel heimlich zurück geblieben, hingekniet und dankte für die glückliche Rettung und betete für die Zukunft. Johannes hatte es gesehen, schlich hinzu und zog sie hinweg. Ist das _unsre_ Heilige! fragte er sie strafend. -- _Auch unsre!_ sprach Christel gelassen. Sie stellt die Mutter des Heilandes vor, der doch _unser_ Heiland ist, und sie bleibt ja auch seine _Mutter_. Ich bin auch eine Mutter, darum lasse mich nur! Mir war das Herz zu weich, und das Auge zu voll, ich dachte nur an den himmlischen Vater, das kann ich Dir sagen -- und das Herz ist mir ganz leicht geworden, das kannst Du mir glauben. Du bist ein Kind! sagte Johannes beruhigt. Aber er führte sie fort, und nach kurzer Zeit sahen sie halb im Gebüsch einen Jäger stehen, der dem Wagen nachsah. Waren das Eure Kinder? fragte er sie, als sie ihm nahe gekommen. Sie sind noch unser! Gott sei Dank! antwortete Johannes. Ihr seid also mit verunglückt, sagte der Jäger mit halbem Frageton! und mit stillen Blicken auf dem hübschen jungen Weibe, den braunen Augen, den rothen Wangen, den vollen Armen ruhend, und dann in sich lächelnd, fragte er Johannes: Wo gedenkt Ihr denn hin? -- Christel entdeckte ihm nun ihr Vorhaben, sogar von wem sie Geld zu erwarten hätten. Da kann ich Euch rathen! sagte der Jäger; ich heiße Niklas und bin in Diensten auf dem Edelhofe. Von Eurem Gelde weiß ich nun freilich nichts; aber daß der alte Herr Schulden hat, viele, was man sagt: Gläubiger, die an ihn geglaubt haben, das singen die Sperlinge auf dem Kirchdache, wie das eine und dasselbe Präludium des Schulmeisters Wecker, das sie alle Sonntage auf der Orgel hören. Was soll ich es Euch verschweigen! Ich habe selber einmal hinten auf dem Wagen, als wir zur Jagd fuhren, mit angehört, daß er zu seinem Herrn Sohne, dem gnädigen Gottlieb -- denn so heißt er -- und das ist er auch wirklich, einst sagte: Mein Sohn, lerne von mir! Ich spiele das chinesische Sackspiel, wo zehn, ja zwanzig mit Sand gefüllte Säcke im Zimmer von der Decke hängen, und der Spieler stellt sich mitten in die Säcke, setzt sie in Bewegung, daß sie alle gehen, wie geläutete Glocken: bim baum, bim baum! und nun besteht die ganze Kunst darin: jeden Sack, der ihn stoßen will, selber zuerst fortzustoßen, und weder von den groben Säcken allen zur Seite noch von vorn und von hinten tüchtig getroffen zu werden! Freilich bricht mir der Angstschweiß aus, von der unaufhörlichen Arbeit mit meinen sackgroben Gläubigern! aber ich stehe doch noch fest, wenn auch mit tüchtigen blauen Flecken, woher ich sie gar nicht vermuthet. -- Doch ich bin Kreisrath! und halte den Gerichtshalter warm, mich kümmert nur das Proxeneticum! -- so sagt' er und lachte. -- Aber laßt das nur gut sein, lieben Leutchen! Er hat jetzt eine furchtbare Brennerei angelegt, da das Getreide gar nicht gilt, und wenn er an den vielen Stückfässern sich nicht die Seligkeit an den Hals trinkt, weswegen er in seinem ewigen Taumel schon bei lebendigem Leibe nur der _selige Herr_ im Dorfe heißt -- und eine rothe Nase hat er sich auch schon bloß angekostet, und statt der Gradewage braucht er nur die Zunge, so ein Kenner ist er -- wenn er noch lange der selige Herr bleibt: so hat er, wie er sagt, in wenigen Jahren alle seine Gläubiger sich vom Halse gebrannt und wegdestillirt! Darum habt nicht gerade die größte Sorge, aber desto größere Geduld. -- Wenn er das Sackspiel so gut spielt, meinte Johannes -- -- so wird er Euch auch für einen ansehen, glaubt Ihr? Gedanken sind zollfrei. Aber dafür ist der gnädige Gottlieb; das ist ein prachtvoller Mann! dabei blickte er wieder auf Christel -- und daß er eine Frau hat, das schadet nichts. Das sollte ihm schaden? fragte Johannes. Nun wie ich das meine! versetzt' er. Die Frau ist so schön und brav, daß sie mir manchmal leid thut, aber auch wieder nicht, eben wenn ich bedenke, daß sie gar so brav ist! Da kommt es auf Eins hinaus. -- _Diese_ Aeußerung des rohen Niklas bewog Christel, den Jäger das erste Mal freundlich anzusehen. -- Nun kommt nur, kommt! ermuntert' er sie. Bei uns ist kein Raum, auch im Dorfe wüßt' ich eben keinen. Aber ich getraue mich bei dem gnädigen Gottlieb es zu verantworten, wenn ich Euch in ein leeres Häuschen weise. Bewohnt ist es nie gewesen, aber es ist zu bewohnen. Denn in dem einen Stübchen ist auch ein Ofen, daß wir es aushalten konnten, wenn wir früh an kalten Wintermorgen auf die Vögel lauerten, und daß die Locken für den Heerd des Nachts nicht erfroren. Es fließt ein muntrer Bach dabei vorüber in den Main hinab. Aber jetzt kommt Niemand hin; die Vögel haben einen andern Strich genommen, das junge Holz ist zu hoch geworden, und auch der gnädige Gottlieb ist groß und hat nun andre Gedanken. Seht Ihr, dort drüben stehen noch die Krakelstangen für die Vögel, wo sonst in der Mitte der Heerd war; der Platz ist freilich mit Disteln besamt, aber er gäbe bald ein hübsches Gärtchen, und Ihr sitzt im Holze, und anstatt der Miethe thut Ihr ein paar Erntedienste mit der Hand, und ein paar Jagddienste mit den Füßen. Ist das ein Vogelheerd, Vater? fragte Daniel; Vater, da wollen wir hin! Der Jäger ging dem Wagen voraus, und so folgten sie ihm zu dem Heerde vom Wege ab. 4. Das Häuschen war nett. Christel öffnete die Thür, stieß die Fensterladen auf, musterte es und sahe, was daraus zu machen sei, und wie Alles eingerichtet werden müsse. Daniel brachte einiges bestaubte Werkzeug hervor, eine Axt, ein Schnittmesser und Stricke und Breter. Johannes stand mit gefalteten Händen noch draußen und hatte den Kopf gesenkt. Christel küßte ihn, lachte und sagte: Vater, mache einen Tisch; und Du, Dorothee, was sitzest Du auf der Schwelle und getraust Dich nicht hinein, oder schämst Du dich! rühre dich, Mädchen, und hole Wasser aus dem Bach, daß Alles wird, wie es soll. Ein Bett ist das Erste! Worin man beinahe das halbe Leben zubringt, das muß bequem und weich und immer gut gemacht sein. Auch die Ziege bekam ihr Cabinet. Der Staar hatte wieder seinen Sitz auf dem Ofen erwählt. Der ausgetheilte Wein und das Brot langten noch morgen. Und als die Kinder, zeitig zu Bett gegangen, schliefen, als das Feuer auf dem Kamin loderte und in das Stübchen leuchtete, kniete Christel vor Johannes hin, stützte sich auf seine Kniee und sah ihm in die Augen. Bist Du mir gut? fragte sie ihn. -- Du armer Schelm! sagte er und hielt die Hand auf ihrem Kopfe. Nun bin ich wieder froh, ich habe Alles! sagte sie fast weichmüthig. Sieh' nur, wie herrlich die Kinder schlafen! und hast Du gehört, wie sie gebetet haben? so fromm wie immer. Nur Daniel weinte still und kehrte sich von mir, als er betete: »unser täglich Brot gieb uns heut'.« _Der_ fängt schon an zu verstehen, wie den Aeltern um's Herz ist! Morgen haben sie Alles vergessen! Und wenn die Kinder dann fröhlich sind, was fehlt uns denn? Wir sind jung und gesund, und Arbeit ist hier überall; in den Weinbergen ist Plage vom Frühling bis Herbst, und die Ernte will auch geschnitten sein, und der Acker wieder bestellt. Das hört nicht auf, das heilige Jahr! und die Jahre hören nicht auf! Das geht so fort wie eine Mühle. Und muß denn die Mühle _unser_ sein? Den meisten Menschen gehört sie ja nicht, sie gehört nur Einem, der Alle aufschütten läßt, was sie eben bringen. In der Welt nährt eigentlich doch nur die Arbeit mit Ehren, und _Andern_ arbeiten, ist ja auch eigene Arbeit und bringt uns _eigenes_ Brot. Nicht wahr, mein Johannes? Johannes antwortete nicht, sondern hatte die Augen geschlossen, und so ruhte sie ein Weilchen mit dem Gesicht auf seinem Schooß. Und -- fuhr sie dann lächelnd fort -- wenn das Wasser verlaufen ist, gehen wir hinab und sehen, was uns noch etwa geblieben, und was für Fische auf unsern Bäumen hängen! Du willst mich munter reden, Du armer Schelm, sagte Johannes; aber es ist Dir selber nicht recht um das Herz, sonst würdest Du mich nicht trösten. Das hast Du nicht gewußt. Nun geh' nur auch zu Bett! sieh', Dorothee hat sich schon fortgeschlichen. Die Zeit wird ihr lang bei uns, und nun erst recht lang werden. Sie weiß, was sich _schickt_, lächelte Christel. Wir sind ja Eheleute! -- Versteh' ich Dich recht, so bist Du ein Schelm! sagte Johannes. -- Und Du mein _lieber_ Schelm, flüsterte Christel. -- Jugend ist doch Goldes werth! meinte Johannes; wer im Alter arm ist, der ist wirklich arm! Lege an, Christel! -- Der Kien ist alle; meinte sie lächelnd. -- Du bist mein gutes Weib, sagte er; denn Du meinst es nur gut mit mir, weil Du weißt, daß ich Dich lieb habe von Herzen. Wie ich Dich! sagte Christel. 5. Am nächsten Sonntage gingen sie schon früh hinab in das Dorf. Dorothee blieb bei den Kindern. Sie nahten sich mit klopfendem Herzen; aber ihr eigenes Leid ward gemäßigt, ja überwogen durch das Mitleid mit vielen, vielen Menschen! Sie hörten schon von Weitem Gesang vom Kirchhofe und Geläut von Begräbnissen, die fast kein Ende nahmen. Sie sahen kaum, daß ihre Obstbäume im Garten bis an die Kronen mit Erd' und Sand verschwemmt waren, daß Stroh und Holz in den Aesten hing; sie bedauerten kaum, daß ihr Häuschen eingestürzt und der Boden ausgewühlt war, denn sie lebten, und ihre Kinder lebten alle! und drüben segnete der Pfarrer einen Todten nach dem Andern ein, um in geweihter Erde zu ruhen. Sie traten dann unter die Menge der Betrübten, Neugierigen und Weinenden und begrüßten sich still durch Kopfnicken und Lächeln mit ihren Bekannten. Dann hörten sie die Predigt unter freiem Himmel mit an. Aber Christel getraute sich kaum, ein Kind anzusehen, das seine Mutter verloren; und sie bejammerte nur still im Geiste den Schmerz ihrer Kinder um sie; -- oder eine Mutter anzusehen, die ein Kind verloren, oder den Mann, oder Kind und Mann! und sie lächelte ihrem Johannes zu, erkannte ihn kaum und mußte ihn ordentlich bewundern, wie er so in der Sonne stand! Sie getraute sich kaum Gott zu danken, so bescheiden und gönnend schlug ihr das Herz. Und so war sie doppelt reich und beglückt. Als sie Nachmittags nach Hause gehen wollten, suchten sie noch zuvor auf der Stätte ihrer Wohnung, und die Mutter las ein Körbchen voll allerhand Kleinigkeiten zusammen, die noch zu brauchen waren. Ihre Katze stellte sich ein, die Christel mitnahm, und Johannes fand ein kleines schwarzfleckiges Schweinchen auf, das sein gehörte. Auch von Sophiechens Puppen waren zwei in den Zweigen des großen Birnbaums hängen geblieben, ihr Gottlob und ihr Annaröschen; und die Mutter weinte fast vor Freuden. So gingen sie gestärkt durch die Ueberzeugung wieder heim, daß hier nichts mehr zu suchen sei, daß sie nicht _das Beste_ verloren hätten. Als sie nach Hause gekommen, fanden sie Dorotheen artig geputzt, die Haare geflochten, und Christel bemerkte auch ein kleines weißes Bündel, das Dorothee nun unter den Arm nahm, welche sie nur schien noch erwartet zu haben. Du willst uns wohl verlassen, liebes Mädchen? fragte Christel betreten. Ich bin Euch jetzt zur Last, antwortete Dorothee; und ich will sie Euch erleichtern. Du erschwerst sie uns, wenn Du gehst, gute Dorothee, das glaube gewiß! Was Viele mit Geduld und Lust ertragen, das ist kaum ein Unglück, so schwer es zu sein scheint, und so schwer es den Einsamen drückt. Mit wem soll ich mich nun ausreden, wenn Du gingest, wenn Du selbst nicht einmal mehr Ja! sagtest, oder Nein! nach Deiner Art, oder gar nicht mehr zuhörtest! Und wie werd' ich mich erst fürchten hier allein in der unheimlichen, schweigenden Mittagsstunde, und in der Dämmerung, ehe Johannes von der Arbeit kommt? Du meinst es nicht gut mit uns, nicht mit mir, noch den Kindern, Dorothee! sagte sie halb bittend. Dorothee schwieg und wollte ihr zum Abschied die Hand reichen, ja sie küssen, um die feuchten Augen nicht erst sehen zu lassen. Wo willst Du denn hin? Du thörichtes Kind, fragte Johannes. Muß es denn sein? -- _Uns_ gehst Du nichts an, wenn wir Dich nichts angehen, Dorothee! Dorothee sah ihn an, wandte sich dann zu Christel und sagte: daß Niklas hier gewesen; daß die junge gnädige Frau eine Jungfer brauche, und so wolle sie bei ihr Jungfer werden im Schlosse. Jungfer werden im Schlosse? fragte Johannes mit sonderbarem Lächeln und meinte: So ein Schloß, wo das einträte, wär' heut zu Tage was werth! und kein _verwünschtes!_ Ich weiß des Niklas Worte noch wohl. Ich seh' nicht so dumm aus, als ich bin! Auch nicht so böse, Johannes! verwies ihm Christel. Man muß keinem Mädchen und keiner Frau Furcht machen vor einem Manne! das ist der verkehrte Weg, kann ich Dir sagen; in der Furcht regt sich das Böse und wächst wie die stachlige Wassernuß im Teiche. -- Will sie ziehen, so laß sie ziehen. Sie hat kein schwaches Gemüth, und was sie thut, das wird sie _wollen_. Darauf kenn' ich sie. Wird ihr das helfen? fragte Johannes. Jetzt gerade will ich ziehen, sagte Dorothee entrüstet. -- Im Grunde betrachtet, thut sie so übel nicht, nahm Christel wieder das Wort. Bei uns hat sie nur Arbeit gehabt, selbst in guten Tagen; jetzt hat sie noch schlechte Tage dazu und kann eher bei uns nun das Essen verlernen, als Nähen lernen. Beim Prediger, der sie erzogen, hat sie Alles genug gehabt, Alles bequem, ja nett und schön, bis auf die Handschuh; mein Vater, der sie gleichsam von ihm geerbt, hat sie gehalten besser als mich, da ich in den Jahren war. Nun haben wir sie geerbt, und sie will vielleicht ihr eigen sein, da Niemand Anspruch an sie macht, und wir jetzt scheinen ihrer zu bedürfen. Und sie hat doch Anspruch vielleicht auf ein so schönes Glück als ihr Gesicht, wie irgend sonst ein Mädchen. Denn nicht die Reichen werden immer die Glücklichsten! selten! ja selten nur glücklich. Und Vieles braucht ein Mädchen einst zu wissen, was sie bei uns, bei mir nicht lernt. Aber zu _dienen_ hätte sie nicht nöthig! murrte Johannes. Im eignen Hause die Tochter auferzogen, und aus der Mutter Hand dem Manne anvertraut, das ist das Beste. -- Ich habe keine Mutter und keinen Vater, sagte Dorothee und sahe Johannes dabei an. Ist denn zu Dienste ziehen so etwas Schlimmes? meinte Christel. Niemand dient ja um das liebe Brot und die Schuh' und die Kleider! Sondern ein Mädchen sieht in fremden Häusern besser als in dem eignen, und mehr und anderes, wie die Wirthschaft geht. Sie sieht und lernt die wichtigen und kleinen Geschäfte einer Hausfrau, sie lernt am Kinderzeug _ihr_ Kinderzeug einst nähen, was zu Hause kaum mehr vorkommt; sie lernt Brot backen oder Kuchen zu kleinen Festen einst bei sich; sie lernt aufmerksam sein und denken, sich loben und sich tadeln lassen, sie lernt einem fremden Willen folgen, nicht bloß Speisen bereiten, die _sie_ gern äße, nicht _so_ zugerichtet, wie sie wollte, nicht sich kleiden, wie sie wünschte -- früh aufstehen, spät zu Bette gehen, vertreten, wenn ein Topf zerbrochen wird, und nicht entgegen reden, wenn sie ein Versehen gemacht, und es entschuldigen will und könnte. Sie lernt schweigen, hören, sie lernt _lernen_, selbst Unrecht erdulden und sich auch für Böses bedanken; kurz sie lernt eine _Frau_, eine _Mutter_ werden. _Das_ kann kommen! meinte Johannes. Ich bin arm, recht arm, und werde bei diesen Anstalten Gottes im Leben nicht reich; aber eh ich mein Kind von fremden Leuten -- denn die eignen schämen sich -- nur scheel ansehen, geschweige -- -- lieber noch schlagen und mit Füßen treten ließe, lieber soll sie ihren Vater nicht vor Gram in das Grab bringen, wie Deine Schwester Martha Deinen Vater. Von Grund' aus muß man reden! Das Drüberhin ist Sünde, wenn man die Wahrheit im Herzen behält. Christel wendete sich ab und weinte! Johannes nahm Sophiechen auf den Arm und fragte sie: hast Du mich lieb? wie lieb denn? meine kleine Tochter! Und das Kind schlang die Händchen um seinen Hals und drückte ihn, daß es zitterte und keinen Athem hatte. -- Der Vater weinte. Da Niemand sprach, sagte Dorothee: So lebt denn wohl! ich gehe. Ich danke Euch für Alles, auch für das! Christel aber sagte: komm her, noch einmal, meine Dorothee! sieh', hier schlag' ich Dir die Bibel auf, hier lies den Vers mir laut und ohne Beben mit der Stimme; und zu deinem Zeugniß sollst Du mir ihn immer lesen, wenn Du wieder zu uns kommst. Du kommst doch manchmal und siehst, ob wir noch leben? Dorothee war weich; aber sie las ohne Beben mit der Stimme und laut den Vers: »Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!« Dann machte sie sich von den Kindern los, die sich an sie gehangen, und ging, ihr kleines Bündel unter dem Arm. 6. Auf dem Hofe war Alles in Thätigkeit, große Anstalten wurden gemacht, denn das Landesväterchen, oder der Ländchenvater sollte durch Breitenthal kommen und auf dem Schlosse übernachten. Niklas nämlich kam und nannte ihn so, weil ein Wolkenschatten sein Land schon überdecken konnte, und ladete Johannes ein, Theil an den Arbeiten zu nehmen und sich ein Stück Geld zusammen zu verdienen. Der selige Herr, sagte er, rechnet sich großen Vortheil von einem solchen Besuch, wenigstens eine nachgelassene schriftliche Sauve-garde gegen seine Ungläubigen, die Gläubiger. Das Memorial ist schon aufgesetzt. Er verschreibt den Juden, so viel Procent sie begehren; denn Alles soll kostbar sein, und das Bett ist auch ein Prachtstück, so daß dem Prinzen schaudern wird, sich hinein zu legen! Da sind goldne Fransen von massivem Holz an den Vorhängen, Quasten, Spiegel, kurz Alles im Zimmer, was ein Mensch gar nicht zu brauchen im Stande ist. Was aber die Zurüstungen zum Empfange betrifft, da sagt er: mit nichts Ernsthaftem kann man einem Großen das Herz rühren; die Thränen lieben sie nicht, lachen müssen sie! Lachen müssen wir! Wer sie zum Lachen bringt, der hat einen Stein in ihrem Brete. Und so hat Er mit dem gnädigen Gottlieb hin und her gesonnen, bis er eine Hauptwache nebst Nobelgarde sich ausgedacht, die dem Gefeierten an der Grenze das Gewehr und sich selbst präsentiren soll, wie noch keine andre Garde in der Welt. Wir haben ein Fichtenwäldchen niedergeschlagen bis auf 24 Stämme am Wege; je zwei und zwei, die dicht neben einander stehen, wie zwei Beine, bilden einen Mann, der ausgestopft wird; oben werden bloß die Wipfel abgeschlagen, die Aeste vom Stamm geputzt, und nun werden die Kerls in mannshohe Stiefeln gesteckt, ihnen Hosen und Westen und Röcke angezogen, Masken vor, und Halsbinden umgebunden, und große Chakos aufgesetzt, ein Seitengewehr umgeschnallt, und losbrennbare Flinten in die ungeheuern Bärentatzen gegeben. Im Rücken aber wird eine Leiter angesetzt, ein natürlicher Mensch steigt in den Corpus und exercirt, wie ein hineingefahrner Geist, den hohen Besessenen. Auch der Tambour darf nicht fehlen und das furchtbare Schilderhaus, wie ein separates Glockenthürmchen, noch der entsetzliche Flügelmann. Die rothbäckigen Masken dazu liegen schon im Tanzsaal; Tuch, Leder, Leinwand, Pappen, Alles ist da, und der Heuwagen voll Schneidergesellen ist gestern Abend, in zwei Etagen sitzend, ins Dorf gejubelt, welche die großen Christophe ausmeubliren und uniformiren sollen. Zum großen Glück haben wir einen wandernden Schuhmachergesellen, den _Ronneburger_, aufgegabelt, der die Stiefeln nach dem großen Stiefel machen soll, welcher, wenn die Gesellen in Ronneburg zampern zu Fastnacht, auf den Straßen wandert wie von sich selbst, einen Sporn am Absatz wie ein Steuerruder; der Wein trinkt, und die Gläser oben zum Schafte hinauswirft, wie ein Stiefel aus einer bessern Welt! Ich habe den lustigen Bruder arbeiten sehen, und so oft er Eins trinkt mit dem seligen Herrn, singt er auf den Helden und Schutz-Patron aller Herrnschuh-Macher und Flicker, den braven Hans von Sagan, den Ehrenvers: Unserm Hans von Sagan zu Ehren Laßt die klingende Musicam hören! Ihr müßt Euch einmal die Geschichte von dem Schutzpatron vom Ronneburger erzählen lassen, wenn Ihr bei ihm arbeiten wollt; wie der Hans von Sagan, ein Schuhmachergesell, in Königsberg, das belagert war, in der höchsten Noth einen Ausfall gethan mit seinem Gewerk, die Fahne getragen und als ihm das Eine Bein abgeschossen, noch auf dem andern mit fliegender Fahne unter klingender Musika in den Feind gehopst. Seit der Nacht führen die Herrnschuh-Macher seinen Fuß oder Stiefel beständig im Schilde. -- Und auch eine neue Chaussee wird gemacht, ein gerader Weg durch Dick und Dünn, auf jeder Seite ein Graben gezogen, und der Sand und die Steine auf den Fahrweg geworfen. Wäre die Arbeit Euch nicht recht, so könnt' Ihr mit an der Pyramide von Reisig mitten im Dorfe arbeiten, wozu der Schulmeister Wecker die Inschriften macht, und der Gärtner die großen Buchstaben darauf aus Blumen. Der Daniel kann schon Kränze winden, und wenn Eure Christel nähen will, so kann sie mit helfen Westen, Hosen und Röcke für die Mannschaft da draußen machen. Es ist nur ein wahres Glück, daß die Kerls nicht essen und trinken und nicht einmal einrücken, sonst äßen sie ganz Breitenthal auf und tränken die Keller des seligen Herrn bei einigen Frühstückchen aus. Nun was Ihr wollt, Johannes! ich muß Alles anwerben, was Hände und Beine hat. Kommt mit, kommt nach, und leset Euch Arbeit aus, ich habe nicht Zeit dazu -- Gott sei Dank! So ging er. -- Siehst Du, mein Johannes, Gott schickt uns Arbeit! sagte Christel fröhlich, als Niklas fort war. Aber was für welche! sagte Johannes halb lachend, halb erboßt. Ist das Arbeit? schickt die Gott? verdient man das Geld nicht mit Sünden? Und _dazu_ lassen vernünftige Menschen sich brauchen und singen und jubeln dabei wie die Schneidergesellen und der Hans von Sagan! _Dazu_ müssen die Pferde sich fast um das Leben ziehen und sich mißhandeln lassen, als retteten sie Israel. Ja ich konnte es gar nicht ansehen, wenn mein Pathe, der Leinweber, ein alter, sonst ehrwürdiger Mann, 6 bis 7, ja 8 Stunden lang bei der Sonntagstanzmusik im Weinhaus hinter der Baßgeige steht, und immer streicht »G. D.! -- D. G.! -- G. D.!« denn so viel hab' ich davon gelernt, und ernsthaft bleibt, wie der Baßgeigenkopf, dem er seine Perücke aufgesetzt, während die jungen Burschen um die Säule toben, daß man sein G. D.! -- D. G.! kaum hört. Ei, so wollt' ich die Baßgeige! Manchmal ward er aber auch selber wild und strich mit dem Bogen ganz unbarmherzig darein, daß es ein Grausen war. Das freute mich von ihm! Da ist nun gar keine Frage, daß die alte Baßgeige glücklicher ist als der arme Mann, und die hölzerne Säule fast verehrungswürdig gegen die Bürschlein, die mit den Mädchen darum tanzen, ja selber der Branntwein ist nobler, als wer ihn trinkt, und ist es der selige Herr von Borromäus! -- Ich lerne die Welt ganz anders ansehen, viel geringer und schlechter, das will ich Dir nur sagen, Christel! Aber das seh' ich auch, wenn sie denn gar so thöricht ist und alles Närrische in ihren Schutz nimmt, wie ein Kind die Puppen: so kommt keiner um, am wenigsten ein Thor und ein Hasenfuß, eher wir, und am liebsten -- ich. Den Pathen mit der Baßgeige vergess' ich in meinem Leben nicht, und nun soll ich gar gehen: pappene Stiefel machen! Näh' Du, was Du willst, Christel, wenn Dich's nicht erbarmt, das edle Tuch so zu verwüsten zu einer Weste, wovon wir Alle Rock, Hosen und Westen hätten, Jahre lang -- ich bleibe zu Hause und warte auf den Rebenschnitt! -- Du bist ein Kind! sagte Christel. Aus aller Mühe und Arbeit wird ja die Freude! Im Weinberg -- was wird denn aus den mühselig bestellten Reben? Nicht wahr Trauben! süße Trauben; und was wird aus den mühsam gelesenen, mühsam gekelterten Trauben? Nicht wahr Wein! lieblicher Wein! -- Da hast Du's! Nun schweig' und besinne Dich. Denk' an die Kinder, wenn Du am Wege schaufelst, denke, Du worfelst Korn für uns, flugs wird der Sand Dir von Golde sein! Die Großen verthun ihr Geld, wie sie nur können, und wie sie wollen, wenn sie es nur verthun. Aber das ist weislich schon so geordnet, sie können es nicht da droben halten, wie die Wolke den Regen nicht, und wir Armen fangen es auf mit der Schaufel, mit dem Hute, mit dem Pfriem, mit der Nadel, mit Säge und Hammer -- was Jedem Gott in die Hände gegeben hat. Marsch, mache, daß Du zur _Arbeit_ kommst! Willst Du fort! lachte sie und ergriff im Scherz die frischgemachte Kinderruthe. 7. Sophiechens Dukaten war verwechselt, und bei der Sparsamkeit der lieben häuslichen Frau langte er glücklich bis zum Feste, nach welchem das Lohn zusammen ausgezahlt werden sollte. An dem Morgen selbst mußte Christel mit helfen Blumen winden. Johannes arbeitete an der Pyramide und befestigte die bunten duftenden Buchstaben, die an den vier Seiten derselben auf dem grünen Rasen geordnet lagen. Der Schulmeister _Wecker_ hatte die Aufsicht. Als er aber sein Werk so prangen sah, war er überglücklich, und wie ein junger Schriftsteller in dem ersten Probebogen seines, so Gott will berühmten, Werks keinen Druckfehler sieht vor Hast und Entzücken: so sah er auch die Fehler des Blumensetzers Johannes nicht, sondern lobte ihn sehr und war ganz begnügt, als er nur erst den Anfang der Schrift der ersten Seite, das SALU -- -- -- gesehen. Richtig! sagt' er, das wollt' ich nur wissen! nun könnt' Ihr gar nicht mehr fehlen, Johannes! Setzt nur die Buchstaben, wie sie geordnet liegen. Ich muß zu Hause nachsehen, mein Fritz schreibt das Carmina. Es ist in rothen Manschester gebunden, den ich aus Anstand von meiner Seligen Muffe auf dem Altar des Vaterlandes geopfert -- der Mann bin ich! Denn werde ich auch nicht General-Schulmeister für die bedungene öffentliche Erwähnung, so wirft mir der selige Herr bei erwünschtem Resultate doch eine Klafter raupenfräßiges Schuldeputatholz an den Kopf, daß meine armen Herren Jungen im Winter -- als wo sie bloß in die Schule gehen -- nicht so klappern und summen vor Frost wie die Bienen im Stocke. Mit blauen Nägeln schreibt man schlecht, das muß ich wissen! und von zu vielen Knipseln oder Handschmissen, um die Hände zu wärmen, aus Liebe zu sauberer Schrift gegeben, laufen am Ende die Finger auf! bei Manchen gleich zu Anfang! Nun setzt nur Eure Buchstaben ohne Conrector. Ich will redlich helfen, Euch warm zu machen! versicherte ihn Johannes. Aber die lustige Dorfjugend buchstabirte darin umher mit Augen und Händen und Füßen. Die Kinder suchten sich den schönen großen wohlriechenden Anfangsbuchstaben ihres Namens; Einer hob ein V auf, ein Andrer ein H. Ein Mädchen hatte ein E und ein M in den Händen, ein andres ein E und ein R, und sie spiegelten damit in der Sonne, ließen sich an die Blumen riechen, ja sie neckten und haschten sich zuletzt um die Pyramide damit umher. Wollt' Ihr die Buchstaben liegen lassen, Kinder, sagte Johannes, ich verschreibe mich ja sonst! Seht der gnädige Gottlieb kommt dort geritten! -- So blieben denn plötzlich die Kinder stehen auf der Seite, wo jedes eben mit seinen Buchstaben war, legten sie still in die Reihe und die Lücken, wie es eben kam, und schlichen sich fort. Der gnädige Gottlieb kam aber wirklich, um dem Prinzen entgegen zu reiten, und hinter ihm ritt Niklas und sein Jägerbursche in Galla, mit aufgesetzten Büchsen. Ein Blick von Niklas auf seinen Herrn, und dieser hielt vor Christel, die vor ihm auf dem Rasen saß und ganz rothgeworden war. Sie erhub sich aber nicht und sahe nicht auf. Der junge Herr lächelte nur, und sie ritten vorüber. Dann kam auch Dorothee, sehr lieblich gekleidet in ländlicher Tracht, das seidene Kissen für das Gedicht auf den Händen, und andere Mädchen begleiteten sie. Auch Clementine, die junge gnädige Frau, kam ein Augenblickchen, zu sehen, seufzte und schlich sich dann mit gesenktem Köpfchen hinweg. Dorothee aber grüßte kaum ihre Christel, ja es schien sie zu verdrießen, daß Johannes sie Du nannte, und sie fragte, wie es gehe? Laß sie nur heut', sagte Christel, sie kommt wohl wieder zu uns und spricht mit uns darüber im Hause, wenn sie den Vers liest. Der Ronneburger und die Schneider schwärmten herbei, standen und gingen dann, ihrer Hände Arbeit in völligem Glanze en parade zu sehen. Der Prinz kam erst spät gegen Abend. Er hatte befohlen, Schritt vor Schritt auf der neuen Chaussee zu fahren, denn die Pferde schwitzten wie aus dem Wasser gezogen. Der Wirbel der großen Trommel, aus einem Orhoft erdacht, war bis ins Dorf zu hören, die Wache hatte vortrefflich gefeuert und dem Ländchenvater glücklich ein Lächeln abgewonnen. Jetzt hielt er vor der Pyramide. Aber der Kindertanz mit den Buchstaben hatte die auffallendsten Setzfehler bei Johannes veranlaßt, der nicht lesen und schreiben konnte. Er hatte, wie er angewiesen, die Buchstaben zwar pünktlich befestigt, auf jede Seite der Pyramide, was auf jeder Seite derselben gelegen; aber ein Durchreisender hatte auf schelmische Art die letzte Correctur gemacht und Niemand hatte hier die Schrift nachcensirt. Die zwei anzüglichsten Seiten waren zum Glück dem im Wagen haltenden Prinzen verborgen: nämlich, daß aus dem höflichen »SALUTEM« ein im Zusammenhange mit dem folgenden Worte recht grobes »SALUTATE« geworden, und daß das E M davon an das Ende des BOV gewandert war. Aus dem ursprünglichen BONO. A. H. war aber vollends das N in das EX VOTO hinum, und das V dafür herum gewandert mit den Kinderfüßen, und das zweite O darin mit dem H vertauscht worden, so daß den guten Herrn nun rührend anschimmerte: »EX NOTH.« -- Das letzte O aus dem »Bono,« das nun abscheulich lautete, war aber durch denselben Tanz oder Corrector in das verwirrte »G Breitenthal« gemischt, so viel davon noch übrig gewesen, und so flehte ihn nun hier auf dieser Seite an: O GIB THALER. Ja die mit römischen Buchstaben ausgedrückte Jahrzahl 1811, die durch das übrige M mit Tausend multiplicirt worden, gab sogar dem mitleidigen Herzen desselben die _Summe_ von wenigstens Einer Million und achtmalhundert tausend Thalern an. -- Der Prinz ward roth, befahl auf die Pfarre zu fahren und hinterließ am andern Morgen ein gnädiges Handschreiben an den seligen Herrn, das er offen in die offenen Hände seines Wirthes gegeben, folgenden Inhalts: Mein Herr Kreisrath von Borromäus! Ich habe Ihr papiernes und pyramidales Memorial gelesen. Resolution: »Abgeschlagen.« Gründe: Tausend, außer diesem! Ich kenne keine _bessern_ Zeiten, als die _schlechten_. Was kein ohnmächtiger Fürst thun kann, das thun schlechte Zeiten mit Macht: Sie machen dem Volke die Augen auf! über sich, den Luxus und die Unzahl eingeschlichner unmenschlicher Bedürfnisse. Sie setzen das Volk in den wahren menschlichen, so genannten _vorigen_ Stand zurück und, gebe Gott, wieder ein, und in integrum! Ich sage es offen, und mein Abgabensystem, alle meine Handlungen beweisen es klar: Ich bin ein Feind der Reichen! der Reichen, die man durch Majorate und Maximats-Herrn wieder zu begründen vermeint, anstatt durch selbstständige Minorate und ignoble Minimats-Bauern; versteht sich bis zum Minimum, das Ein Hauswesen erklecklich nährt. Die Rechnungen nachgesehen -- Wer hat in den verhängnißvollen Jahren verhältnißmäßig, ja unverhältnißmäßig _weniger_ gegeben als die Reichen? Wer _mehr_ gegeben als die Armen? Vom _Thun_ wollen Wir gar nicht reden! -- Nicht Sonntags ein Huhn in den Topf -- sondern: Jeder Mann ein Haus, ein Weib, ein Feld um das Haus -- versteht sich Alles nicht in den Topf -- und dann die Hände gerührt! So soll es sein, und _so_ muß es werden, so _wird_ es, o Gott, durch die himmlischen -- schlechten Zeiten. Ich bin außer mir, vor wahrer menschlicher Freude. »Honni soit qui mal y pense!« Sind die schlechten Zeiten nicht die besten? -- Resolution: Ja! -- Und Sie, lieber von Borromäus, nähern sich laut Memorial, das die Sache ganz falsch ansieht und vorträgt, mit großen Schritten auch diesem allervortrefflichsten Zustande, und Sie sind mir erst doppelt lieb und schätzbar! Ich will Sie umarmen als nun ganz den _Meinigen_, der Mich und Meine Intentionen verstanden und sie praktisch ausgeführt! Mir zur Freude und Andern zum Exempel, das Belohnung, Erhebung verdient, nämlich nach unserm System: _Nichts_, und daß ich Sie ganz _fallen_ lasse, bis in Ihr Häuschen. Ich komme selbst, neben Ihnen zu wohnen, wenn Sie nur _ein_ Haus, ein Weib, ein Feld um das Haus haben und die Hände rühren -- und weiter nichts (scilicet haben)! Das wünsche Ich und flehe Ich vom Himmel tagtäglich jedem Reichen _nur!_ jedem Armen _auch!_ So hebt sich der alte Mißstand. Meine Herren Brüder arbeiten alle an diesem frommen Plan für das große Reich, und ich treffe dazu alle möglichen Einleitungen und Vorkehrungen unerbittlich aus -- Armen-Liebe. _Jetzt:_ Armen-Liebe, aber dann: _Menschen_-Liebe. Das sind die glücklichen Männer, die eine Frau nicht zum Staate brauchen, sondern in deren Hause sie die Hausfrau ist und alle Hände vollauf mit Tisch, Wäsche, Küche, Keller, Garten und Kindern zu thun hat, und Alles allein thun muß. Das sind auch die glücklichen Weiber! Denn anordnen, müßig bereiten sehen, nachsehen, _ob_ etwas -- und tadeln, _wie_ etwas gemacht ist, das heißt _bei Gott_ nicht Wirthschaft führen! das macht nicht glücklich, wie ein braves Weib ist, sondern unglücklich, wie der Ueberfluß macht, die Unsitte und das Wohlgefallen an den unmenschlichen Dingen und Sachen! Jetzt träumen die Menschen alles Andere zu sein: Fürsten, Grafen, Ritter, Nobles, Kreisräthe, kurz geradezu Alles -- nur nicht Menschen! Alles haben zu wollen -- nur nicht das Menschliche! Wann wird doch _die_ Phantasie einmal das Volk anwandeln: Menschen zu sein? Indessen der Komet! der Komet! guten Wein wird er machen, sprechen die Weinhändler, theuern, raren Wein! Ich sage: gute Menschen, rare Menschen! Es wird Krieg, geben Sie Acht, 1812. Also zu Jahre. Ich kann es Ihnen sagen, denn ich komme von Adam her, nämlich von dem neuen prophetischen Bauer, der mich ganz beruhigt hat und mir die schlechtesten Zeiten verheißen. Er ist der Schlüssel zu mir. Ihm folg' ich, und ihn befolg' ich. Das zu _Ihnen_ gesagt. P. S. Ihre Hauptwache hat Wunder gethan; sie hat mich entschieden -- meine Hauptwache zu entlassen. Mehr ist sie ja pro tempore doch nichts. Diese Revue hat mir _meine_ erspart! Man kann nicht Soldaten _machen_, nicht _ansäen_ wie Fichten und _einhegen_ -- _das_ haben Sie Mir gezeigt, und verdienen eine Bürger-, ja eine Bauer-Krone! Mein Armeechen kann fortlaufen, übergehen, sich schlecht schlagen -- aber hab' ich die _Meinung_ für mich, besonders diese, daß ich alle Welt gern arm haben will: so läuft mir jeder Knabe zu, sogar aus fremden Staaten, und meine Leute lassen sich geradezu todtschlagen für mich. Was will ich mehr? sagen Sie selbst, von Borromäus! Ich danke also nochmals von ganzem Herzen, Sie haben meinem Ländchen Millionen erspart und tausend Hände und Beine geschenkt, ditto viel Tausend Chakos, Säbel, Flinten. Trommeln, Röcke, Tornister, Westen, Mäntel -- die Knöpfe nicht zu vergessen! An der Inschrift sind Sie unschuldig, das weiß ich, und es sagt es Ihnen gern Ihr in Affect gerathener Hannes Manu propria. Die erste Folge davon für den armen Johannes war, daß er vor dem Gerichtshalter ein Examen rigorosissimum auszustehen hatte und den Beweis führen sollte, daß er _nicht_ lesen und _nicht_ schreiben könne! Der außerordentlich gewandte Mann wußte in diesem Fall selber einmal nicht, wie er ihm das Lesen und Schreiben beweisen könne, wie Johannes mit Augen und Buch und Feder und Hand das _nicht_ zu beweisen vermöge. Seine Praxis war hier aus, und er bedauerte laut die Abschaffung der Folter, worauf man jeden Unschuldigen schuldig finden konnte -- ad Collubitum. Aus Desperation ward also der Schulmeister Wecker suspendirt »wegen ermangelnder Absicht«; wie statt Obsicht im Urtheil stand. Aber die zweite Folge war: Johannes bekam zur -- Strafe -- kein Lohn für alle wochenlange Arbeit. Das war das Schlimmste für ihn, seine Christel und die Kinder, und ein wahrer Schlag in den Vogelheerd. 8. Johannes war nun sehr betreten und muthlos. Meine gute Christel, sagt' er, Du bist schlecht bei mir angekommen! es thut mir leid, daß Du mich geheirathet hast, daß Du des Wochentags in Sonntagskleidern gehen sollst, Du armer Schelm! Unsere Retter sind nun noch die Weinberge, und die Stöcke, die da zu stecken sind; da geh' ich nun hin und muß Dich die ganze Woche über verlassen, und sehe Dich nicht und die Kinder! Aber wenn ich Reben schneide, und sie weinen und tröpfeln, da kann ich mir denken, wie es daheim um Deine Augen aussieht! Du armer Schelm! -- Wein' ich denn? fragte ihn Christel und sah ihn mit ihren großen braunen Augen an, die sich regten und feucht glänzten. Dir sind die Augen naß, meine Christel, sagt' er. Nun ja, über Dich! daß Du so traurig bist, daß Du sprichst, es thue Dir leid, daß Du mich geheirathet hast. Sie weinte nun wirklich sanft. Deinetwegen nur thut mir es leid, sagte Johannes. Ich bin ja munter und vergnügt, sagte sie, so sei Du nur ruhig. Wir können fast nicht unglücklicher werden, als wir schon sind, seufzte Johannes. Da, verschneide mir meinen Kirchrock zu einer Arbeitsjacke, ich schäme mich sonst so im Staate. Gieb ihn mir, ich will es gleich machen; aber von den Schößeln bekommt der kleine Gotthelf ein Käppchen, nicht wahr? Aber, daß Du sprichst, wir könnten nicht unglücklicher werden -- das sage nicht! Da hätte der Himmel noch viel! Bitte lieber, daß wir so glücklich bleiben! So ward denn die Jacke und das Käppchen gemacht, das dem Kinde nur bis an die Kniee ging, und Johannes war nun die ganze Zeit in den Weinbergen und kam nur Sonnabend nach Hause. Das wußte nun Niklas. Aber der gnädige Gottlieb hatte Christel gesehen, als er mit dem Pferde vor ihr gehalten, sie nicht vergessen, sondern in einiger Zeit erst, hatt' er sich vorgenommen, mit der größten Gelassenheit und anscheinenden Ehrlichkeit das junge liebliche Weib zu sehen und ihr nahe zu kommen und ihr einige Wörtchen aus seinem bedeutenden Munde zu sagen. Jetzt auf das Häuschen von einer verborgenen Seite zu wandelnd, wollte er leise und ungesehen nahen, ohne anzuklopfen plötzlich die Stubenthür öffnen und im saubersten Anzuge still eintreten und ihr wie ein Halbgott erscheinen. Sie sollte vor ihm erschrecken, ihn anblicken und auf einmal die ganze Gewalt seiner Zaubererscheinung empfinden! Er reichte ihr schon in Gedanken die Hand hin, die sie ihm küssen würde -- er würd' es verweigern. -- Sie sollte in höchster Verlegenheit sein, einen hölzernen Schemel abwischen, vielmal den Wirrwarr der Kinder entschuldigen, vor die papierne Fensterscheibe im Fenster treten, in die Kammer gehen, mit einer bessern Schürze, mit weißen feinern Strümpfen wieder hervorkommen und sich gar nicht über die Erniedrigung und hohe Gnade zu gute geben können, daß der gnädige Gottlieb ihre -- seine -- niedrige Hütte mit seiner hohen Person beehrt zum unvergeßlichen Angedenken, zum Traum in der Nacht. Dann sollten die Kinder ihm mit Gewalt ihre Diener machen, die sich ungeschickt stellten; darauf sollten sie aus dem Zimmer hinaus spedirt werden; dann wollt' er ihre Hand fassen, sie drücken, sie halten und sagen: So ein schönes Weib ist der alberne Johannes gar nicht werth! Wie glücklich würd' ich sein, an seiner Stelle! -- Dann wollt' er seufzen, ihr in die Augen schmachten und sagen: Wir müssen zusammen näher bekannt werden! Nicht? Du hast mich bezaubert! Ich hatte keine Ruhe mehr Tag und Nacht, seit ich Dich gesehen, die Blumen im Schooß. -- Dann wand er einen Arm leise und vorsichtig um ihren schlanken Leib -- sie bebte, sie zitterte mit den Knieen. Dann küßte er sie, ein Mal, zwei Mal, drei Mal -- dann fühlte er leise einen nur angedeuteten Kuß wieder, dann küßte sie deutlicher, länger -- dann sog er an ihren Lippen -- dann fragte er nur flüsternd: sind wir allein? -- Aber sie wand sich los, stand glühend und wagte kaum zu sagen: ich bin ja nur ein schlechtes gemeines Weib, und Sie so ein großer, vornehmer Herr, Sie werden sich ja nicht zu mir herablassen. -- Du bist ein Närrchen! sagt' er. Deinetwegen bin ich allein gekommen! Bin ich nicht hier? Hast Du mich nicht? -- Aber Sie haben ja so ein schönes, junges, gutes Weib! -- Und Du einen grämlichen, einfältigen Mann! -- Und nun schämte sich Christel, fühlte sich ohne Willen, ohne Kraft, ohne Worte und erstaunte über die Kühnheit, daß sie ihn geküßt, über das Glück, daß er sie geküßt, und glaubte, er habe nur gescherzt! und sie sah ihm zweifelnd, beklommen und bewundernd in die Augen, als seine ganz unterthänige Magd, der geschehe, wie er gesagt hat. -- Oder: War sie nur angestochen von seinem Blick, sahe sie ihn, wenn er _kam_, nur an, und dann nicht, und nur wieder, wenn er fortging, und sah' sie ihm nach -- bat sie ihn wieder zu kommen -- sah er sich genöthigt, die Schule mit ihr durch zu machen, so gab er große Lectionen auf einmal, und die Schülerin schritt mit großen Schritten vorwärts. Denn aller Feinheiten, aller Mitteltinten der Liebe war er bei ihr überhoben. Und wie er als Knabe hier auf dem Heerde immer mit _denselben_ Disteln hundert schöne Stieglitze nach einander gefangen, hundert Rothkehlchen immer nur mit frisch eingebeerten rothen Ebereschbeeren: so war er überzeugt, daß dieselben Liebesmittel seine alte Liebeskrankheit auch dieß Mal heilen würden. Er lächelte nur -- auch über das Weib, sah, ob er Gold in der Weste habe, fühlte _seinen getreuen_ Dukaten, den Armerleuts-Augenblender, erst richtig darin, und ging nun sicher die letzten Schritte fast zu rasch. So öffnet' er denn, so trat er ein. Sein Auge suchte das junge Weib -- Niemand zu sehen! Ein Tisch in der Mitte, trockenes Brot darauf, und ein blankes Salzfaß, kaum ein Stuhl; ein Stück zerbrochenen Spiegels auf dem Fenster, in der Wiege am Bett ein schlafendes Kind. Der Staar vom Ofen rief ihn an: »Du Dieb! Du Dieb!« Mit dem Fuße, den er in die Stube setzte, trat er das andere kleine Kind auf sein Händchen, das er ganz übersehen. Das Kind schrie. Sein Solofänger fuhr hinein und fiel über ein irdenes Näpfchen mit Milch für die Kinder her. Der Staar flog auf den Rücken des Windspiels und pickte in ihn hinein. Es wandte sich, schnappte nach ihm, und der Staar fiel todt auf die Erde. Daniel kam hereingesprungen, sahe den todten armen Dieb, brach in Thränen und Klagen aus, und so trat denn auch Christel aus der Kammer herein, die Gelte in der Hand. Sie nahm das getretene Kind auf den Arm, begütigte es erst und schalt dann Daniel, daß er darauf nicht Acht gegeben, während sie gemolken, und das Alles, als wenn der gnädige Herr gar nicht zugegen wäre. Dann ging sie und reichte ihm die Hand und fragte, was er bringe? -- denn zu holen ist bei uns nichts, wie Sie sehen, sagte sie lächelnd. Er wollte den Gang nicht umsonst gegangen sein, leitete das Gespräch, und so wiederholte er nach und nach jene Worte, jene Reden, die er vorher in seinem Herzen gehalten. Und das Alles sehr allmälig und langsam, oft inne haltend und mit den Augen forschend, bis er Johannes albern genannt. -- Aber da brach Christel in Thränen aus und schluchzte vor Wehmuth und Scham, und wie sie weinte, weinten die Kinder, und so wenig, als Christel zuvor, mochten auch sie den Dukaten nicht, den er Einem nach dem Andern bot und zuletzt auf das Brot legte. Wenn Du so bist, Du Engel, dann komm' ich nicht wieder! versetzt' er im Gehen mit Drohen und Lächeln. Ja! machen Sie mir die Schande nicht! flehte ihn Christel und drückte und küßte ihm nun die Hände, aber anders, wie er zuvor im Geiste gesehen. Mein Johannes könnte wieder nicht zu Hause sein -- Sie sind verrufen, und wenn mich Jemand aus dem Dorfe anlachte: so nähm' ich mir gleich das Leben! Dabei drückte sie das Kind an ihr Herz, als wenn sie schon von ihm scheiden solle. Das war zu natürlich, ja schön und bezaubernd, nur nicht für ihn, daß er ihr glaubte; denn er wußte, wie leidend, wie krank seine Gemahlin sei, aus stillem Gram über ihn. Es ward ihm schwül unter dem Dache, er sah von Weitem den handfesten Johannes munter und rasch nach Hause schreiten, denn es war Sonnabend, und so legt' er den Finger auf den Mund und ging ohn' ein Wort, und der Hund boll um ihn her. Johannes trat ein. Er sah, daß die Frau sich die Thränen trocknete und ihn wehmüthig lächelnd ansah, und doch eine selige, unergründliche Heiterkeit aus ihrem Gesicht wie leuchtete. Dann sah er das Gold auf dem Brote, glaubte zu verstehen und sagte: der Niklas hat doch vielleicht recht, der gnädige Gottlieb ist doch gut! Aber Almosen -- Almosen, auch von Golde, verzeih' mir Gott! ich mag sie nicht. Was meinst Du, Christel? Oder denkst Du anders? -- Freilich denk' ich anders, sagte sie; ich hab' es gar nicht gesehen! Mein Johannes, das wäre theures Gold für Dich! nicht wahr, so wohlfeil verkaufest Du mich nicht? und ich Dich nicht; um gar keins! die Kinder nicht, die dann nicht mehr mein wären, und das gute Gewissen, und die Seligkeit. Das ist mir lieb, Christel, sagte Johannes ruhig; ich verstehe Dich, ich hab' ihn sehen gehen, den gnädigen Gottlieb. Du bist eine brave Frau, daß Du mir das sagst; denn eine brave Frau muß nicht solche schändliche Dinge dem Manne verschweigen, aus Scham oder Furcht oder um ihm einen Gram zu ersparen. Was sie ihm sagt von solcher Art, das macht ihm Freude. Es ist nur gut, daß wir Armen noch Ehre im Leibe haben, wir haben ja sonst nichts. Ich bleibe nicht hier im Hause! sagte Christel, auf seinem Heerde nicht, und nirgend auf seinem Grund und Boden. Das ist mir hier gar nicht wie die Erde mehr unter meinen Füßen. Ich ärgere mich nicht, sagte Johannes. Sondern in allen bösen Dingen ist das Beste, das zu thun, was dem Dinge abhilft. Wir ziehen fort, ins Dorf! Ich will noch heute gehen! und dem Niklas will ich es sagen warum, wenn er mich fragt, sonst auch nicht. Aber, mein Johannes, geh' nur nicht zu einem Wohlhabenden ins Haus! bat sie ihn. Siehst Du, der Schwan läßt keine Ente neben sich brüten; die Sperlinge beißen die Schwalbe aus ihrem Neste; große Bäume ersticken die kleinen darunter, aber das schüchterne Reh nimmt das kranke Reh in sein Dickicht, und der Arme theilt sein Lager mit dem Armen. Bei ihm ist kein Sparen der paar Kreuzer; zum Sammeln kommt es bei ihm ja doch nicht; er hat immer, weil er weiß, daß er niemals mehr erwirbt, sondern auf den Herrn vertraut, der ihm das gegeben, und so hat er auch in der Noth für einen Andern. Und wer uns nur manchmal bis zum Sonnabend jetzt einen Groschen leiht, der verdient sich ein Gotteslohn. Geh zu der alten Frau Redemehr am Teiche, wo die zwei Tannen stehen! Ich bin ihr manchmal begegnet. Und Johannes ging. Daniel aber machte einen Sarg aus Baumrinde für seinen armen Dieb, die Kinder sangen und trugen ihn zu Grabe, machten ein kleines Grab von Rasen, setzten ihm ein Kreuz und hingen einen kleinen Kranz von Vergißmeinnicht daran und weinten sich satt. Aber damit war es nicht genug. Der Dieb fehlte beim Frühstück, er sang nicht nach dem Essen, sein Brot lag des Abends noch da. Und so nahmen ihn die Kinder wieder aus seiner kleinen Gruft, sahen ihn wieder an, sangen und begruben ihn wieder, alle Abende, bis er nicht mehr zu begraben war, die Mutter ihm wo anders ein Ruheplätzchen gab und den Kindern, die ihn suchten, zum Troste sagte: Dieb ist im Himmel. 9. Im Häuschen der armen Frau lebten sie nun zufrieden, ja sie wären glücklich gewesen, wenn sie nicht Geld zu hoffen gehabt, oder gehofft hätten! So gefährlich für die Ruhe des Herzens ist das Gold, und die Armuth nur drückend, wenn man reicher sein will. Der Zwiespalt im Innern befängt den Menschen, und er machte auch Johannes blind über das Glück, das er hatte, und er konnte nicht Freude aus der Armuth schöpfen, wie die Biene Honig aus der einfachen, aber wunderschönen Fichtenblüthe vor seinen Fenstern. So sprachen denn Christel und Johannes kein Wort, als der Gerichtsbote zu ihnen trat, als sie fast ihr ganzes, sauer erspartes Geld für Kosten bezahlen mußten, und Christel das Siegel der Zufertigung erbrach und las: daß der selige Herr _geschworen!_ Christel hatte nicht schwören wollen, da ihr der Gerichtshalter in der sogenannten Vermahnung den Eid als ein so heiliges, schreckliches Unterfangen vorgestellt, daß das arme junge Weib vor demselben, als vor der Entweihung göttlicher Majestät, geschaudert. Der Voigt war todt; und wohin der Vater den Empfangschein gelegt, oder wo verborgen und aufgehoben, das wußte sie nicht. -- Sie ging des Sonntags in die Kirche, zu unserm Herrgott, wie sie sagte, _dem_ ihre Noth zu klagen. Aber die Ernte kam, Christel ging Getreide schneiden, und die geborgte Sichel war bald ihr eigen. Sie ward lieblich gebräunt in der Sonne, da sie keinen Strohhut hatte, sie war noch einmal so hübsch. -- Wenn Du noch lange Weizen schneidest, sagte Johannes, so verlieb' ich mich noch ein Mal in Dich! -- Ich will recht fleißig schneiden! sagte Christel. Aber wie lange wird es dauern, so ist die Weinlese, dann kommt der Winter, der Winter! mein Johannes. Johannes seufzte wie sie, aber sie waren nun ruhig: das Geld war verloren -- das Haus war gebaut! die Hoffnung quälte sie nicht mehr. Sie waren kleine Leute, arme Leute, wie Viele, Viele, die kein Haus hatten, und das gemiethete Stübchen war nun _ihre Heimath_, und Johannes setzte Alles darin in den Stand. So sollte es nun bleiben, lange, auf immer, bis zum Tode. Selbst sein dürftiges, sonst nur bemitleidetes Hausgeräth war _nun erst_ wie sein eigen und ward ihm theuer und werth, die Jacke bekam ihm einen ordentlichen Glanz -- und einen bessern Ort; und wo er ging und stand, da war er nun auch mit seinen Gedanken. Aber indem er seine Lage, die neue Gegenwart mit ganzer Seele ergriff, umfaßt' er zugleich auch den Mangel. Christel hatte schon lange ihrem Vater, dem Pächter, der auch Johannes hieß, und ihrer bei ihm gestorbenen Schwester Marthe bei dem Steinmetz ein einfaches Denkmal bestellt und vorausbezahlt. Der Mann wohnte in Breitenthal und kam eines Tages, um ihnen zu sagen, daß es fertig stehe, und daß es ihr eigen sei, wenn sie noch den Gulden für die Vergoldung der Namen bezahlte. Sie hatten das Geld nicht, und Daniel erinnerte an den Ducaten vom gnädigen Gottlieb. Aber der lag da, bis Dorothee käme, um ihn mitzunehmen. Dennoch ging Johannes mit Daniel in die Werkstatt, sahe, daß der Stein fertig war, und Daniel las ihm die Schrift des vom Großvater erwählten Textes: Halt fest an Gottes Wort, Es ist dein Glück auf Erden Und wird, so wahr Gott lebt, Dein Glück im Himmel werden. Der Mann putzte Alles rein vom Staube und hielt die Hand zum Gelde hin. Ich werde wiederkommen! sagte Johannes. Er ging aber mit thränenden Augen, und Daniel sprang heute nicht an seiner Hand. Sie begegneten Niklas, der stehen blieb und mit barscher Stimme sagte: Johannes, Ihr fürchtet Euch wohl? -- Freilich! erwiederte er; aber nur vor der Unverschämtheit! die muß man vermeiden. Niklas hörte das nicht und sprach: Ihr seid für Eure Miethe im Vogelheerd noch Jagddienste schuldig. Morgen ist Jagd. Früh um 6 Uhr an der Waldkapelle! Ich will nichts schuldig bleiben! sagte Johannes. So schieden sie. Am Morgen ging er als Treiber zur Waldkapelle. Christel ging mit. Aber sie ging weiter mit einem Korbe ins Dorf hinab, um die Früchte von den Obstbäumen in ihrem Garten zu holen. Aber sie sah schon von Weitem nichts leuchten, nicht roth, nicht gelb! Denn da die Bäume bis an die Kronen verschlemmt waren, so hatten gewiß die Kinder sie sich zu Nutze gemacht. So ging sie betrübt zum Leinweber und Contrabassisten, auch ihres Mannes besonders guten Pathen und ihren Gevatter und darum sogenannten Herrn Gevatter-Pathen »_Krieg_.« -- Gut, daß Ihr kommt, Christel! sagte er fröhlich. Ihr erspart mir einen Gang zu Euch hinauf. Hat der Pathe nicht Numero 96, und Numero 15,000? von der Frankfurter? Warum denn? fragte Christel. Johannes hat sie an die Stubenthür geklebt, daß sie nicht verloren gingen. Da bringt mir das Feld aus der Stubenthür! oder sägt sie aus mit der Lochsäge. Ich möchte die Nummern doch einschicken. Es ist zwar hierbei zu gering, aber Ordnung ist doch gut. Bringt mir sie nur, mein Pathchen. Warum denn? fragte Christel leiser und war ganz roth geworden. Nun erschreckt nur nicht, Pathchen! setzt Euch nieder und hört mich an! Die 96 hat 300 Gulden. -- Ja, ja! seht mich nur an! hier ist die Liste, hier hab' ich's roth gezeichnet. Die 15,000 hat meine Auslage gerade gedeckt, und hier sind die 300! Ein Stück wie das Andere, blank und neu! -- Dann setzt' er sich wieder an den Weberstuhl. -- Christel saß ruhig, aber sie hatte die Augen zu und wand die Hände wie jemand, der sich wäscht, um nicht vor den Leuten sehen zu lassen, daß sie bete und danke. -- Und dort ist ein Fäßchen Most, Kometenmost, wie er heißt, das nehmt Euch im Körbchen mit hinauf und trinkt ihn auf meine Gesundheit! sagte der Pathe. Nun, es ist mir lieb, von Herzen lieb, ja noch lieber, als wenn mir Jemand eine neue Perücke und einen nagelneuen echten cremoneser Contrabaß aus Prag oder Mittenwalde geschenkt hätte, mit silberbesponnenem E, und Schrauben! Meine alte Rumpel-Mama ist im Wasser zerfallen, da steht noch der Hals. Mein Brot ist verdient! -- Christel schüttelte ihm von dem Gelde ein gutes Theil auf die Leinwand, aber er fing an, den Stuhl zu rühren, das Schiffchen zu werfen und trat und dichtete mit dem Zeug, daß die Leinwand schütterte, und tanzend alles Geld hinunter fiel. Da habt Ihr etwas für Eure Mühe, mein curioses Pathchen! lacht' er. Nun leset es auf, aber laßt mir nichts liegen! So war es nicht gemeint! Ich meinte: mein Brot mit der Baßgeige wäre verdient, aber nicht das mit dem Schiffe! In dem Weberstuhl stecken noch mehr Brote als in hundert Backöfen -- ja, ja! guckt nur hinein, curioses Pathchen, duftet das Brot nicht gar? Christel war böse. Nun danken will ich Euch schon, das ist billig für Euern guten Willen! da nehmt den Kindern die Schlinge Leinwand mit! Nun aber macht, daß Ihr fortkommt, sonst seh' ich die Faden nicht! Und nun trat er wieder frisch und schlug und warf das Schiffchen, daß er keine Hand frei und ruhig hatte, die ihm Christel hätte drücken oder gar küssen können. Und als sie draußen war und noch ein Weilchen stand, sang der alte Mann sogar. 10. So schnell war Christel das erste Mal nicht hinaufgeeilt, als dieß Mal. Sie dachte sich nur die Freude, die ihr Johannes haben würde, wenn er nach Hause käme. Als sie in die Stube trat, küßte sie die Kinder erst, die sich an sie hingen, alle nach der Reihe, und die Geküßten drängten sich wieder an sie, und sie glaubte in ihrer Freude, sie habe noch zwei und drei Mal so viel Kinder als sonst! Dann sah sie nach den Nummern an der Stubenthür -- sie waren weg! sie lief hinzu -- die Thür stand nur weit offen -- sie waren noch da! Es waren richtig Nr. 96! und 15,000! die ein schwarzes Kreuz hatte. Darauf zählte sie das Geld weitläufig auf, daß der ganze Tisch davon voll ward. Nun ging sie ans Fenster, um zu sehen, ob Johannes käme, und sahe nun erst den Leichenstein, den der Steinmetz gebracht und in die Stube gestellt, damit er vielleicht nicht draußen beschädigt werde, und las den vergoldeten Namen »Johannes« und »Martha« und das: Halt' fest an Gottes Wort. Wer hat denn bezahlt? fragte sie den Daniel. Er hat ihn so gebracht, antwortete er und ward roth. Du lügst! sagte die Mutter, sieh', wie Du roth bist! Nun weine nur nicht, mein Kind. Wer hat denn bezahlt? Mutter! bat Daniel. Daniel! drohte ihm die Mutter! Ich wollte dem Vater zu einem heiligen Christe sparen. Wovon denn? fragte sie. Du hast mir ja immer gebracht -- Du weißt schon was! sagt' er. Guter Junge, rief die Mutter sich besinnend. Ja! die Wirthin hat mir gesagt, Du verkauftest die Weintrauben und Pfirsiche, die ich Dir aus den Weinbergen Abends immer mitgebracht, und lauertest auf der Schwelle auf jeden Fremden und Reisenden, ob er nicht zu Deinem Schemel, zu Deinem Schüsselchen komme? -- Und Du hast keine gegessen? Mutter! sagte Daniel. Christel beugte sich zu ihm, und Daniel war still an ihrem Halse. Da hielt ein Wagen vor dem Hause, Stimmen riefen: heraus! Christel sprang hinaus an den Wagen. Johannes reichte ihr die linke Hand über die Leiter, das Stroh war blutig. -- Das Volk schießt auch gegen die Treiber, anstatt dem Wilde nach, wie blind und rasend! sagte der Fuhrmann; als ob gar Niemand mehr in der Welt und im Dickicht wäre als ein lumpiger Hase! oder noch weniger bedeute! Aber das muß geschossen sein, wenn auch gefehlt und dennoch getroffen. Hier kann er nicht bleiben. Faßt nur an! Zum Klagen ist danach schon Zeit! -- Als Christel ihren Johannes hineintragen half, konnte sie ihm nicht in das blasse Gesicht sehen, sie blickte seitwärts, und ihr wehmüthiger Blick fiel gerade auf den bereitstehenden wie wartenden Leichenstein und den goldenen Namen: Johannes! -- Sie schrie laut und brauchte nun selber Beistand. Als sie wieder zu sich kam, setzte sie sich im Bette auf und sah sich um nach Johannes und horchte. Er war in guten Händen; er war schon verbunden und lag ruhig. Die gnädige Frau hatte den Arzt in das Haus gesandt, der zwar aus der Stadt war, aber sie selbst öfter und tagelang besuchen mußte. Sie stand auf, sie kniete zu seinem Bett, sie weinte erst auf seine Hand und küßte ihn dann auf die kalte Stirn. Sie hatte vergessen, und wenn sie auch noch daran dachte, so konnte sie ihm nicht sagen: Johannes, sieh' doch, da ist das Geld! sieh' doch, da ist der Leichenstein! -- -- Er schlief. -- 11. Am andern Morgen erwachte Johannes zeitig, so still auch die Kinder saßen und auf seine geöffneten Augen, sein erstes Wort harrten, so leise auch Christel auf Socken im Stübchen umher ging, und nur die nothwendigste Arbeit verrichtete. Aber er glaubte, er träume noch, oder er sei gestorben, da er den Denkstein sah. Bist _Du_ denn hier? Christel, fragte er. Ist das Sophiechen, die hier zu meinen Füßen im Bette sitzt? Ja, das ist ja ein Bett, ich habe geschlafen. Er wollte sich wenden, vielleicht aufstehen, und fühlte dadurch erst seine Schmerzen. Ja so! -- jammerte er für sich. Es hat nicht eben Noth, ich vergaß mich nur; sagte er zu Christel. Wenn ich nur wüßte, wer geschossen hätte? Laß das gut sein! und werde nur wieder bald gesund; sprach Christel weich und besorgt. Daniel hat mir ja gestern gelesen, was auf dem Steine steht: Halt' fest an Gottes Wort! -- Da brachte sie ihm das Geld auf das Bett, und Daniel lachte ihn an. Er hielt es eine Zeit lang in der Hand und fragte dann sich besinnend: Christel, weißt Du nicht, welches Loos hat denn gewonnen? Das ist ja nun einerlei, lächelte sie. _Wir_ haben gewonnen! Nun kann ich Dich pflegen! -- Das ist nicht einerlei! sagte Johannes. Du redest, wie Du es weist, und ich denke, wie ich es weiß. _Welches_ hat denn gewonnen? Je nun, die 96! lächelte Christel. Was weiß ich von 96! fuhr Johannes fort. Du mußt mir sagen, ob das mit dem schwarzen Kreuze -- so Gott will, wenn er gewollt hat, oder das reine? Sieh doch einmal hin! Das mit dem schwarzen Kreuze, sagte Christel an der Thür stehend, lauter: ist No. 15,000. Nun das ist unser! sagte Johannes. Und das andre, 96, das reine, hat eben gewonnen! bemerkte ihm Christel. So sagt der Pathe Leinweber. Da sind auch die Listen. Es ist roth unterstrichen. Was weiß Der! seufzte Johannes und schwieg sehr lange. Nun was ist Dir denn? freue Dich doch! -- Freilich Du bist krank! setzte Christel zu ihrer Frage bedenkend hinzu. Er nahm sie bei der Hand und sagte: sieh', meine Christel, das Loos, die 96 ist unser. Nun so ist ja Alles gut! unterbrach sie ihn. Recht gut! sagt' er. Aber das Geld ist nicht unser. Du bist ein Kind! lachte sie. Da ist es ja! -- _Schicke_ es nur der Dorothee! sagte er, da sie uns ganz vergessen hat und keinen Fuß zu uns armen Leuten setzt, die ihr Schande machen. Der Dorothee? das Geld? fragte sie ihn betroffen, etwas blässer und gespannt. -- Siehst Du, liebe Christel, das Loos habe ich in _Gedanken_ auf die Dorothee genommen. Sie hat es auch gezogen, und auf das unsere hab' ich zum Zeichen und Unterschied für mich ein schwarzes Kreuz aus Daniel's Tintenfasse gemacht. Das ist freilich etwas Anderes, seufzte Christel. Konntest Du nicht das schwarze Kreuz auf das andre machen? Das war recht thöricht! Du seufzest, Du siehst böse aus; ich will doch nicht hoffen, Christel, meine gute ehrliche Frau! Verspricht man denn mit Worten? oder mit Herz und Gedanken? Freilich mit Herz und Gedanken, meinte Christel. Nun siehst Du, so muß man auch die Gedanken halten. »Gedacht ist gethan!« sagte meine Mutter immer. Und Du, meine gute junge Mutter, laß das Gewinnloos aussägen, wir setzen ein Glasscheibchen in die Oeffnung und haben zu unserm Lohn und Angedenken ein Fensterchen ins Haus. Geh, schicke die Wirthin und den Daniel. Das Mädchen hat ja gar Nichts! Nun kann sie vom Schlosse, wenn sie will. -- Daniel fiel der Mutter um den Hals, sprang eilig davon und brachte die alte Frau Redemehr. Was hattest Du denn? Daniel! frug ihn die Mutter. Dauert Dich das Geld um uns, Du guter Junge! Ach Mutter, nun will ich Dir's sagen! sprach Daniel froh. Nun was denn? mein Daniel; frug ihn Christel. Aber Du wirst böse sein auf Dich, und danach auf mich! sprach Daniel leiser und wollte nicht reden. Ich weiß schon, was er sagen will, sprach Frau Redemehr. Ich habe einmal 6 Gulden gewonnen und war froh! und als ich das Geld sah und in die Hand nahm, überfiel mich ein Schreck und ein Zittern, als hätt' ich's entwendet. Wem? -- wußte ich nicht mit Namen. Aber ich hatte nur 10 Kreuzer gegeben! und nun bekam ich 6 Gulden so ohne alle Mühe und Arbeit! Und wenn ich einen ganzen Tag auf die Arbeit gehe, bekomme ich nur 10 Kreuzer. Woher war nun das Geld? von armen Leuten, von unzufriedenen unglücklichen Leuten, die sich selber darum betrogen, und deren Betrogenes ich nun einsteckte, als hätt' ich es sauer verdient! Ich that die erste Nacht kein Auge zu, und die andern Nächte wachte ich auf aus schweren Träumen, worin die Kobolde mich vor den König Salomo führten, als eine heimliche Diebin und unehrliche Frau, die anderer Leute Gut besitzt. Die Armen und Betrogenen weinten, verwünschten und verklagten mich! und Salomo sahe mich starr an und sprach, daß sie mein Geld hätten gewinnen wollen, das machte meinen Gewinn nicht gerechter »Frau Redemehr« -- sprach er -- »Euer Sinn ist schlecht! Ihr wollt dem lieben Gott das Leben abstehlen!« und spuckte vor mir aus. Und so geschahe mir alle Nächte, bis ich das Geld in die Kirche schenkte, zu einem neuen heiligen Geiste über die Kanzel. Da hatte ich Ruhe! Denn _gewonnenes_ Geld bringt Niemandem Segen. Fragt nur im Lande! Wie gewonnen, so zerronnen. Und noch ein schlechtes schweres Herz sich gemacht. Verdientes aber -- das hab' ich _verdient_, mit meiner Müdigkeit und meinem Tage, den mir der liebe Gott gegeben. -- Nun das hab' ich dem Daniel gestern erzählt, als Ihr das Geld gewonnen, und es hat ihm bald das Herz abgedrückt, daß seine Mutter und sein Vater nun sollten unverdientes und ungesegnetes Geld besitzen und Nachts vor dem Könige Salomo erscheinen. Darum freut er sich so, nun Ihr das Geld fortschickt, meine liebe Christel! Christel ward feuerroth bei der Rede der alten Frau Redemehr, gab ihr das Geld für die Dorothee, und sagte nur: Es war ja so nicht unser! Und als sie fort waren, setzte sie sich zu Johannes aufs Bett, und wand ihre Arme unter seinem Kopfe durch, neigte sich zu ihm und weinte. Jetzt hätten wir können arm werden! meinte Johannes. -- Freilich _ganz anders_ arm! Wenn ich mich nur nicht gefreut hätte! das kränkt mich; wenn Du nur nicht krank wärst, nicht stürbest! -- Nun wirst Du mir traurig! versteh' mich nicht unrecht, Johannes, mir ist es nur um Dich! Nur um die Kinder! So mein ich's auch; seufzte Johannes. Nein! ich nicht so. Daß sie _Dich_ nicht sollen haben! das thut mir leid! und Du _mich_ nicht! -- Mir aber, daß die Kinder sollen betteln gehen, wenn ich sterbe! oder Du stirbst dann auch -- ich und Du. Lieber Johannes, tröstete ihn Christel, hast Du nicht gesehen, daß das viele Vermögen dem alten Pachter vor unserem Vater nicht genutzt, daß er die Kinder ganz verwöhnt und verzogen, und daß sie es durchgebracht haben! Was hilft also Reichthum _ohne_ Gottes Segen? Nichts! denn der Herr kann nehmen, wie und wo und wenn er will. Und so kann er auch geben! Siehst Du denn nicht, wie des Predigers Kinder, die er mit der Witwe verlassen, Alle wohlerzogen, wohlgerathen in der Welt ihr Brot mit Ehren gefunden, und wieder Weib und Kinder haben, und Jedes doch ein Häuschen und ein Gärtchen, so viel ihrer sind! Was schadet denn also die Armuth mit Gottes Segen? -- Nichts! Er nimmt den Reichen selbst durch Ueberfluß und _gesegnete_ Ernten und _gute_ Zeiten, und giebt dem Armen selber durch Mißwachs, Krieg und Noth. Da ist Arbeit, da gelten Hände, da erwirbt, wer fleißig und klug ist! Siehe, Adam verließ seinen Kindern auch nichts, als die ganze leere Welt, und siehe, wir, seine tausendsten Enkel, leben auch noch. Freilich nicht im Paradiese! seufzte Johannes. Du hast keine Liebe zu Gott! Heißt nur Dein Vater Fommholz? Und gar erst, -- Du solltest doch denken, _wessen_ Namen Du trägst, Johannes; ach, Du hast Ihm nicht an der Brust gelegen, klagte Christel fast mit Thränen und Vorwurf. Es mag ihnen auch manchmal kümmerlich genug gegangen sein, als sie auf Erden pilgerten und bloß vom _Säen_ lebten! sagte mitleidig Johannes. Und dennoch hatten sie Liebe und thaten etwas, das sie nicht ließ an Noth und Mangel denken, belehrte ihn Christel. Bleibe uns nur gut, weil wir arm sind, weil ich arm bin, und verachte Dich selber nicht, weil Du uns nur so viel geben kannst, womit wir ja doch von Herzen zufrieden sind! Beten die Kinder nicht alle Morgen und Abende? Danken sie nicht bei Tische ihrem Herrgott für die empfangene Wohlthat? -- Und Du trocknest Dir die Augen mit der Schürze dazu und siehst mich nicht an. Du denkst, ich bin taub und blind, daß ich nicht sehe, wie die Kinder so bescheiden aussehen! wie Du immer sprichst: Ich bin satt! da, meine Kinder! wie Du dich grämst um sie und nicht wagst, mich anzusehen, wenn ich auf einmal in ihr Gebet mit einfalle und _laut_ Gott danke für Alles, was wir empfangen haben, und Du mir mit dem Finger drohst und mich dann strafst: Johannes! das ist kein Dank! -- Wohl dem, der seinen Kindern geben kann, was sie bedürfen! und reichlich, daß sie freudig sind! Wohl dem, und wohl ihnen, daß sie nicht gleich die Erde betrachten wie ein Armenhaus, worin nichts ist für sie, als was sie durch Mildthat empfangen, wo die Kirschbäume _ihnen_ keine Kirschen tragen, das Feld keinen Lein, der Weinstock keine Traube, keinen Tropfen Wein! Wo sie an die vollen lachenden Körbe mit Pfirsichen treten und sich wundern, daß die Gottesgabe nicht _umsonst_ gegeben wird, sich wundern, daß man sie mit einem Kreuzer _bezahlen_ kann, dann die Hände auf den Rücken legen und traurig fortgehen, daß sie den Kreuzer nicht haben! Und vollends _jetzt! jetzt!_ meine Christel. Es ist gut! sagte er, und kehrte sich von ihr weg, mit dem Gesichte an die Wand. Soll ich denn Alles sagen, weinte Christel. Ich habe den Vater im Sarge gesehen. Wie lag er doch so ruhig da! ja wie lächelte sein Gesicht! Und doch hatten wir sieben unerzogene Kinder an seinem Sterbebette gekniet und geweint, und doch entschlief er ohne Kummer, ohne ein Wort der Klage. Hat er nun nicht gewußt, daß wir ohne ihn verlassen sein würden? O ja, er hat es gewußt. Aber er hat auch in jener bittern Stunde, wo ihm _kein Mensch_ helfen konnte, kein Mensch etwas geben und sein, da hat er im _Herzen empfunden_, daß er selbst Nichts sei ohne den Vater im Himmel. So ist sein Zutrauen _zu sich_ verschwunden mit der Rathlosigkeit und Hülflosigkeit, in die er versunken war. So sah er uns zwar liebevoll Alle noch ein Mal an, zog uns Alle noch ein Mal an sein Herz und ließ uns die Hände, darauf zu weinen; aber er lächelte nur in unsere Thränengesichter und verwunderte sich; und so schloß er die Augen gelassen, und auf seinem Antlitz schwebte die _Gleichgültigkeit_ der Todten gegen Alles, was Welt heißt -- und die stille Furcht, zu Gott zu nahen, und die feste Zuversicht, ihn zu finden! Ach, wir waren ihm nicht _geringer_ geworden, als etwas so Vergängliches, wie Menschen sind. Nein! -- Gott war ihm als sein Vater und unser Vater erschienen, in seinem Glanz, seiner Macht und Liebe hervorgetreten. Er war auch nur wieder sein Kind geworden, und so waren wir auch nicht mehr nur seine, sondern auch seines Vaters Kinder. Das bedeutete sein letzter Blick zum Himmel, das sagte die stille Hoffnung auf seinem Gesicht im Sarge, sein stummes Scheiden aus dem Hause, und dort sein Text auf dem Steine! Sieh' nur hin, es glänzt Dich doch an! O eine Krankheit ist ein großes Glück für den leichtsinnigsten Menschen, geschweige für den Frommen. Und wir, die wir es sehen, wie die Sterbenden lächeln, wie sie still dahin ziehen, wir sollten sie nicht verstehen? Wir könnten mit offenen Augen, mit klopfendem Herzen wenigstens nicht nachempfinden, was ein Sterbender einzig und allein nur sieht? Ach, wir Gesunden, wir Lebenden sehen _zu viel!_ uns verwirrt die Arbeit und Sorge und Mühe, daß Gott auch um uns ist; wenn wir das reife Getreide schneiden, empfinden wir nur die Hitze des Tages, und legen uns, müde von Arbeit, zu schlafen, und denken, morgen einzualtern, oder an das Mahlen und Backen und das liebe Brot, das wir bedürfen. Ja wohl! Du hast schon Recht; Gott wird schon Recht behalten! sagte Johannes. Das soll er auch! eiferte Christel. Was hilft es denn mehr, als daß wir _das Unsere_ gethan, wenn wir für unsere Kinder sorgen. Aber wie weit reichen wir! Denn siehe doch an: Wer sorgt denn nur einst für die Kinder von unsern Kindern? Sind die nicht unsere? Gelten die Nichts? Und müssen wir diese nicht schon doch Gott und der Welt überlassen? Und warum denn nicht auch schon unsere Kinder, wenn wir das Unsere _gethan_, wenn es auch nur in Liebe und Wünschen bestand! Und hast Du die Kinder nicht lieb? Antwort: Ja! Und wünschest Du etwa uns Allen nicht ewige gute Tage? Antworte doch: Nein! Du verwunderst Dich! -- Du wirst schon besser werden, besonders wenn Du _besser_ wirst. Ich bin nicht furchtsam, sondern Du! Du bist der Hasenfuß -- nicht der kleine Junge! Johannes lächelte -- Christel lachte vor Freuden, und die mühsam verhaltenen Thränen kamen ihr nun erst hervor, -- wie es noch regnet, wenn vom seitwärts klar gewordenen Himmel die Sonne schon wieder scheint. Und so blieben sie Beide, zufrieden neben einander ruhend, lange Zeit. 12. Erst am andern Abend kam Dorothee in einem schwarz-seidenen Mantel. Sie gab Johannes die Hand, setzte sich und schwieg. Nur manchmal seufzte sie. Christel erwartete in Gedanken, daß sie Etwas von dem Gelde vielleicht ihr bringen, nur leihen sollte. Aber Dorothee langte aus dem Mantel ein besiegeltes Document, gab es Christel, und sagte: Hebt mir es auf, ich kann es vielleicht brauchen. Der Herr hat das Geld. Ich mußte -- Christel lächelte und hob das Papier auf. Dorothee schien hier keine Ruhe zu haben und ging umher. Geht Dir es nicht wohl? fragte sie Christel. Daß ich nicht wüßte! versetzte Dorothee. Nun ich will Dich nicht aufhalten! Johannes verlangt keinen Dank, wenn Dich das etwa beklemmt. Aber noch Eins, eh' Du gehst, hier ist die Bibel, und hier ist der Vers. Wir haben um Dich verdient, daß wir Dich bei Gutem erhalten. Ich habe meine Ursachen dazu. Sie schlug die Bibel auf, zündete einen Span an und leuchtete. Dorothee sah lang auf die Blätter. Nun? fragte Christel. Und so las denn Dorothee die Worte: Selig sind, die reines Herzens sind -- aber sie seufzte unmerklich, dann sah sie auf Johannes, um ihren feuchten Augen eine Ursache zu geben. Nun gehe mit Gott! Dorothee; sprach Christel. Aber da ist noch das Goldstück; gut, daß es mir einfällt! So holte sie es, wickelte es aus dem Papier und legte es auf die Bibel ihr hin. Kennst Du solches Geld? fragte sie. O ja, antwortete Dorothee erröthend. Nun so nimm es Deinem gnädigen Herrn mit! Dem gehört es. _Meinem?_ erschrak Dorothee, und wagte doch nicht in Christels Augen zu sehen, ob und was sie meine. Nun ja: Deinem, versetzte Christel. Ich bin ja Jungfer bei der gnädigen Frau; erwiederte Dorothee. Sie soll eine gute gnädige Frau sein; sagte Christel. Geh' nur mit Gott! -- Und so ging sie, und sie sahen dann erst, daß sie das Goldstück dagelassen. _Das_ Geld will sie nicht! meinte Christel zu Johannes. Du bist brav, meine Christel, dachte Johannes, ohn' es zu sagen; um Deinetwillen muß ich besser werden! 13. Christel that es nur leid, daß sie den vortrefflichen Kometen-Most allein trinken sollte, denn ihrem Johannes war er schädlich und vom Lizentiat verboten. Sie setzte sich aber jedes Mal aufs Bett zu ihm, wenn sie davon trank, sahe ihn dabei an, und so bildete sie sich ein, _er_ genieße seine Süßigkeit mit. Die alte Wirthin ward nicht vergessen, und auch der alte Schulmeister Wecker bekam, so viel er wollte. Denn der gute Mann hatte sich seine Suspension zu Gemüthe gezogen, besonders das Wort des Gerichtshalters: daß es ihm leid thue, daß suspendiren nicht »aufhängen« bedeute. So war er denn übergeschnappt, zuletzt sogar und dieß Mal nicht ohne Grund -- da er Alles verkehrt gelehrt und an den Kindern seinen Verdruß über den Tanz mit den Buchstaben alle Morgen aufs Neue unbarmherzig vermerken lassen, und zwar an der ganzen Schule durch die Bank, um die Schuldigen unfehlbar mit zu treffen -- wirklich abgesetzt, dispensirt worden, und der arme, irre Mann übersetzte das Wort nun: _zweimal gehangen_, weil durch einen Schreibfehler des Amtscopisten _bispensirt_ in seiner Entlassung stand, die er immer zu seiner Legitimation als abgesetzter Schulmeister bei sich trug. Das Schulhaus war, wie gewöhnlich, nicht sein, er lebte nun von seinen verkauften armseligen Sachen, die allgemach von ihm Abschied nahmen; und als er das erste Mal zu Christel eintrat, frug er, wie ihm sein alter Brotschrank um den Hals stehe? und das Butterfaß auf dem Kopfe? -- Christel aber sahe mit feuchten Augen, daß er eine neue Wintermütze auf dem Kopfe und ein neues Halstuch umhatte. -- Sehr schön! Herr Wecker; antwortete sie ihm. -- Nun das wollt ich nur wissen! versetzt' er. Nur der alte Seiger mit dem Kuckuck auf den Füßen ist mir zu enge! Das ist der Kuckuck! sagte er. -- Auch neue Schuhe! erstaunte Christel. Das wollt' ich nur wissen! sagt' er. Ich komme eigentlich, versetzt' er, um zu beweisen, daß ich auf Euren Johannes nicht böse bin, daß er mich um mein Amt buchstabirt hat. Das kommt aber daher, daß ihn seine lieben Aeltern nicht das heilige A. B. C. haben lehren lassen. Und ich bin der Mann, die Scharte auszuwetzen! Aber tüchtige Hiebe wird es setzen! Aber seht, ich habe eine tüchtige Ruthe, die wird schon aushalten bis zum O! oder W! -- es kommt auf sein Genie an. Ja! seht mich nur an, sagt' er! Ich bin der Mann! Denn wie mein Halstuch ein Brotschrank ist, so bin ich das leibhaftige Schulhaus nebst allem Zubehör, und was darum und daran hängt, wie an meinem alten Rocke. Unser Herrgott ist auch nicht die Welt, sondern ganz separat, und wenn er die Sonne ausbläst wie ein Licht: so sitzt er drum noch nicht im Finstern. Heut zu Tage ist Alles ambulant! ja sogar fliegend! selber das Lazareth! Ich aber schleiche ja nur ganz sacht auf meinem Kuckuck, als die sichtbare und wahre Schule. So wollen Wir denn in Gottes Namen anfangen! Darauf erhob er seine Stimme, ging in der Stube mit halb zugemachten Augen auf und ab und sang, wie er immer vor Anfang der Schule gewohnt war, den Vers: Erhalt' uns in der Wahrheit! Gieb ewigliche Freiheit, Zu preisen deinen Namen Durch Jesum Christum. Amen! Nun wie weit waren wir denn in der letzten Stunde? fragte er und setzte sich an das Bett, langte das A. B. C. Buch aus der Tasche und legte die Ruthe neben sich hin. Und so mußte denn Johannes das A. B. C. lernen, welches er ihm zu Gefallen that, um dem armen Mann seine Freude zu lassen. Dann ging er in andre Häuser lehren, und man hörte sein: »Erhalt' uns in der Wahrheit.« Manche behielten den als A. B. C. Lehrer immer noch brauchbaren Mann zum Danke zum Essen, oder steckten ihm Brot in seinen ambulanten und fliegenden Brotschrank, die großen Taschen, das er ruhig geschehen ließ, als wenn er nichts merkte, und während dessen die Kinder ermahnte, oder noch den Vers zum Schlusse der Schule sang und dann mit schlauem Blicke sich für das reichliche, wohlgebackene _Schulgeld_ bedankte. Er schlief des Nachts, wo es ihm gefiel, auf der Ofenbank, oder bei wem er gerade des Abends zuletzt war. Er hatte Niemand, denn sein Fritz war eigentlich schon ein großer Friedrich und bei durchziehenden Soldaten Tambour geworden. Da aber der alte Mann Wecker hieß, wie ihn jetzt Alle, statt Schulmeister nannten: so hatte er einen Haß gegen die Hähne bekommen und führte Krieg mit ihnen, wo er einen sah und krähen hörte, und sagte ihm: Mein Freund, _Ich_ bin Wecker! und so fing er an, früh die Menschen selber zu wecken ohne Unterschied, am liebsten jedoch mit inniger Freude die evangelischen Geistlichen in der Gegend nach der Reihe, ja er krähte zuletzt dabei auf einem Grashalm. Wie eigens nur dazu bestallte Männer in dem Pallaste der Könige von England krähten, zur Warnung: nicht den Herrn zu verrathen, wie -- Petrus. Das war seine ganze Verrücktheit und sein ganzes Unglück. Uebrigens war er glücklich, besonders wenn er des Sonntags Orgel spielen durfte, worauf der neue Schulmeister kein _Schneider_ war und nicht exschellirte, wie er sagte. Am liebsten war Wecker bei Johannes und hatte sich zuletzt fast eingenistet bei ihnen, ob es gleich mit dem reichlichen, wohlgebackenen lieben -- Schulgelde nicht immer ganz richtig aussah. Johannes, oft auf die Kinder blickend, oder auf Christel, die nun spinnen saß, machte oft grobe Fehler, die Wecker sonst mit Knien, Handschmissen oder dergleichen bestraft hatte. Da nun der kranke Johannes jetzt nicht die Strafe abthun konnte: so legte Wecker ein Schuldregister mit Kreide an der Kammerthür an, und es standen nach und nach mehr als ein alt Schock Sünden angeschrieben, jede nach ihrer Art mit besondern Zeichen, und Daniel kniete manchmal heimlich und löschte dann einen Sündenbock an der Thür hinweg. Denn er selber ließ sich nichts zu Schulden kommen und half dem Vater heimlich ein, oder überhörte ihn. Der Most nun langte zwar zu den Gesundheiten, die Wecker auf Johannes Herstellung trank und sich alle Mühe gab, ihm durch einen guten Zug zu beweisen, wie redlich er es meine; aber er langte bei Weitem nicht bis zu seiner Wiederherstellung selbst, die erst nach mehreren Wochen erfolgte. Der Lizentiat, ein geschickter Arzt, hatte sich alle Mühe bei ihm gegeben, _um der gnädigen Frau gefällig zu sein_, von der er wahrscheinlich schon die Curkosten bezahlt erhalten. Denn als er einst vom Edelhofe mit der Frau Lizentiatin im Wagen nach Hause fuhr, hielt er vor Johannes Thür, ließ ihn heraus kommen, und -- gab ihm eine sehr billige Rechnung. Der Apotheker ist auch dabei! den vertret' ich! bemerkte er ihm. Christel sagte aufrichtig: Beste Frau Lizentiatin, wir haben nur Nichts an Gelde! Auch Nichts an Geldeswerth? fragte die Frau Lizentiatin lächelnd. Die Ziege meckerte sehr zur Unzeit. Da ist ja eine Ziege! meinte sie etwas erheitert aus ihrer verdrießlichen Miene. Ja wohl! seufzte Christel, aber die brauch' ich für die Kinder! Ich habe keine Kinder! bemerkte die Frau Lizentiatin spitz. Wir haben auch ein Schwein! sagte Sophiechen hinter der Mutter Schürze hervor. So? mein Kind! -- Das ist ja ein recht liebes Kind! Laßt uns doch sehen! sagte die Frau Lizentiatin. So wurde denn aufgeriegelt, und Frau Lizentiatin bemühten sich, es in Augenschein zu nehmen und zu befühlen. Das ist gutes Essefleisch! freilich nicht in die Esse. Aber liebe arme Leutchen, man muß _von_ Euch nehmen, was Ihr habt! Es thut mir recht leid. Johannes und Christel sahen sich an. Johannes, sprach sie, Du bist ja wieder gesund! Nur nichts schuldig bleiben! Die Kinder leben auch ohne Wurst. Man hat jetzt Beispiele, daß Menschen daran gestorben sind! Wurstgift -- das ist ein ganz neues Gift! bemerkte der Lizentiat, eine Prise nehmend, und dachte: Du hast das Memento Doctoris hier vergessen: »Nimm! _wann_ es schmerzt« -- so nimm nur noch jetzt: _wenn_ es auch schmerzt! Das kleine Verbindungswörtchen »auch« ist ja keine Grausamkeit! -- Nur aufgeladen und festgebunden auf den Bedientensitz! Das geschah. Aber das giftige Schweinchen schrie so unbarmherzig, daß es wieder abgebunden werden mußte. Die Gans im Wagen schrie auch. Johannes! sagte der Lizentiat, ich gebe euch nun die Erlaubniß, zu gehen und wieder Eure Geschäfte zu verrichten, nach wie vor. Ihr werdet fühlen, daß Ihr gesund seid; Ihr seid lange nicht aus der dumpfen Stube gekommen -- die Stadt ist nicht weit -- Abends seid Ihr wieder da, macht Euch einen Weg mit dem kleinen guten Dinge. Die Frau Lizentiatin aber wußte sich noch hin und her zu beschäftigen und ließ sich ein Langes und Breites mit dem Herrn Schulmeister ein, und sie fuhren erst fort, als Johannes schon längst einen tüchtigen Stock genommen und schon weit mit dem guten Essefleisch voraus auf der Straße war. Christel und Wecker sahen nach. Die Liquidation schrie wie schon dem Tode nah'! sprach er. Das Schweinchen? sprach Christel. Wessen ist denn nun das Schweinchen? frug Wecker. Ihr seht ja: des Doctors! erwiederte Christel. Aber wessen ist das Himmelreich! fragte der Schulmeister. Ich denke: der Armen; erwiederte Christel. -- Das wollt' ich nur wissen! lächelte Wecker. 14. Johannes kam Abends im Mondenschein nach Hause, ging und zerhackte erboßt den Treibestock, legte dann einen blanken Zehnkreuzer, sein empfangenes Trinkgeld, auf den Tisch und warf sich auf's Bett. Ist Dir der Gang nicht wohl bekommen, mein Johannes? fragte ihn Christel. Recht schlecht! sagt' er. Bist Du müde? bist Du krank? forschte sie mitleidig. Nein! sagt' er; aber erbittert! Es war auch ein schwerer Gang! seufzte sie; ich will Dir es glauben. So drang sie nicht weiter in ihn. Johannes verschwieg ihr aber sein neues Unglück, das aus dem alten entstanden war, von der Hasenjagd. Denn als er schon nach Sonnenuntergang auf dem Rückwege von dem Lizentiat an das Feldgärtchen der alten Frau, seiner Wirthin, gekommen war, sah er einen Hasen, der ein Loch durch den Zaun gefunden und sich der Kohlstauden bediente, welche noch standen, um zu frieren, mürbe zu werden und der alten guten Seele besser zu schmecken. Er sprang über den Zaun und verscheuchte den Hasen. Dieser nun klemmte sich ein, indem er hinaus strebte, und Johannes erreichte ihn mit dem unbarmherzigen Stocke, mit dem er gleichsam meinte, in dem Hasen sein ganzes erduldetes Unheil, bis auf das heutige mit dem Essefleisch, todt zu schlagen. Dann zog er den Hasen hervor und warf ihn über den Zaun ins Feld. Als er aber, durch den Fall wieder zu sich gebracht, noch kläglich quäkte wie ein Kind, ging er aus Erbarmen und schlug ihn völlig todt. In diesem Augenblicke kam der gnädige Gottlieb geritten, von einem Fremden und Niklas begleitet. So? sagte er. Seid Ihr der Hasendieb? Da habt Ihr gewiß auch die Rebhühner und Fasanen, die nach und nach fehlen. Ein Faden Schwefel ist nicht theuer, und wovon lebt Ihr denn sonst, Ihr Ungeziefer! Johannes erzählte den Fall. Ihr steht hier auf meinem Grund und Boden. Hier liegt der Hase, hier habt ihr ihn erschlagen, hier stehen die Zeugen! Johannes mochte nicht bitten. Der _einzige_ Fall ist auch genug! sagte der junge Herr. Es soll so einmal ein Exempel statuirt werden; es ist mir lieb, daß es Euch trifft. Die Gesetze gegen Wilddiebe sind, Gott sei Dank! scharf und in Ehren, weil sie _vornehmer_ und reicher Leute Rechte schützen. Auf den Sonnabend ist Gerichtstag! der Gerichtshalter wird sich freuen, Euch wieder zu sehen und Euch zu _beweisen_, daß Ihr Hasen todt schlagen könnt. Stellt Euch also nur dann zu rechter früher Tageszeit von selber ein. Die Vorladungskosten will ich Euch sparen aus Gnaden. So war die Gesellschaft lachend von dannen geritten. Johannes ging in der Stille an dem bestimmten Tage, unter dem Vorwande, wo anders hin zu gehen, und empfing seinen Bescheid und sein Urtheil, das auf dreimonatliche Gefängnißstrafe lautete, da er kein Geld habe. Er hörte das ruhig an und bat nur, daß er erst zu Weihnachten sich einzustellen brauche, weil jetzt noch Verdienst sei, aber im völligen Winter nur wenig. Und er hatte große Freude, daß ihm das zugestanden ward, in der Kälte gefangen zu sitzen. -- Eingeheizt wird Euch nicht! lächelte der Herr Gerichtshalter. Dann bat Johannes nur noch, daß seine Strafe verschwiegen bliebe, bis er wieder entlassen sei. -- Das ist wider die Lehre von der Besserung durch das Beispiel! erhielt er zur Antwort. Er bat aber sehr und weinte im Herzen über die Angst seiner Christel und ließ nicht ab, bis er auch das erlangte. Versprechen ist ja nicht Halten! bemerkte der Gerichtshalter leiser zum gnädigen Gottlieb; ich kann das Bitten nicht ausstehen, es erinnert mich immer unangenehm an den Menschen in mir, und ich bin nur der leibhaftige Justinia-si-nus! Denn unsere Last ist schwer! schon die treuherzige Miene zu machen, die Rolle durchzuführen und immer gleichgültig -- grau auszusehen und uns sicher zu stellen, daß man _uns_ nicht auf das Pergament klopft, mein Hohlwohlgeborner! Doch wir können das Sackspiel! und besser! _Ruhig_ sie -- hängen lassen, so spielen es die Meister. -- Nun können Sie die Schule mit ihr anfangen! Mit _ihr_ ist nichts! das Volk hält gar nichts mehr auf angethane Ehre! ich habe nun andere Sorgen! bemerkte der Herr. Bedauere! -- _Ich_ habe meine Schuldigkeit gethan! neigte sich der Justini--anus. Johannes aber ging und sprach in Zeiten von einer Reise zu einem entfernten Anverwandten, der ihnen helfen solle. Er war fleißig bis zum Weihnachtsfest, um sein Weib und seine Kinder zur Noth zu versorgen, denn ihre Zahl sollte gegen Ostern noch um Eins vermehrt werden, wenn nicht durch Zwei, wie Gott nun segnete. 15. So kam Weihnachten heran, und am Tage vor der -- Abreise saß Johannes in trüben Gedanken und Kummer, die Seinen zu verlassen. Ach, sprach er bei sich -- die Strafe hab' ich verdient, die Welt ist einmal so, und was die Großen verbieten oder gebieten, das müssen wir kleinen Leute schon meiden oder thun, das wird uns mehr wie ein Kirchengebot, davon ist keine Erlösung auf Erden, wohin auch ein Armer geht; aber es scheint mir doch zweierlei, die hohe Stadttaxe auf die Landschaft anzuwenden, wie der Apotheker und der Lizentiat, -- der Schulmeister hat mir das wohl erklärt -- und einen armen Mann wie mich zu bestrafen, wie einen Reichen. Wer gesund ist, und fest steht im Zimmer, der verträgt einen derben Stoß; ein alter kranker Bettelmann, dem man mit einem Finger nachhilft, indem er die Treppe hinunter schleicht, der thut einen Fall, von dem er nicht mehr aufkommt. Aber davon wissen die Gesetze nichts, und _die_ nichts, die sie unterschrieben. Die Gerichten, ach, die Gerichten, das sind die wahren Herrn im Lande! die Gesetzanwender! wie Wecker sagt; und ein Gerichtshalter ist auf dem Dorfe geradezu mehr als alle seine stummen Gesetzbücher, die ihm der Herr Amtsschreiber nachträgt! pro firma, wie Wecker sagt; ja, dieser Herr Amtsschreiber schon ist mehr als selber der Landesherr! ein wahrer Pilatus, der züchtigt und losläßt, wie es ihm gefällt, wie er die Sache dem Principal vorträgt -- um ein Paar Eier. Gut, daß mir das Beispiel einfällt! was will ich armer Johannes da klagen! da ein ganz andrer Johannes ganz Anderes litt! Christel sah, daß er traurig war, und sprach: ich halte es selber für rahtschaffen, daß Du die Wanderung machst, daß wir einmal aus der Noth kommen! Ich kann Dich nicht länger so sehen, Du grämst Dich mir ordentlich ab, und die Jacke ist Dir so weit, daß mir die Thränen in die Augen treten. Wenn wir nur nicht die Kinder hätten! Du allein kämst indessen schon durch, seufzte Johannes. Lieber Mann, sprach Christel, wirst Du noch immer nicht klug, siehst Du noch immer nicht, was wir haben, und wie mich die Kinder erfreuen werden, wenn Du weg bist. Ich -- ich stelle mir tagtäglich vor: _das_ ist ein großes Glück, zu besitzen, was ein großes Unglück wäre zu verlieren. Da hast Du's! Sag' einmal, würdest Du lieber reich sein, und die lieben Kinder _nicht_ haben wollen? Oder uns haben wollen -- und arm sein, wie wir sind, und doch nicht sind! -- Curioses Pathchen, würde der Pathe Leinweber sagen, kann man denn nicht die Kinder haben, und noch Etwas für die Kinder dazu? sprach Johannes. -- Also bist Du mit mir und den Kindern nicht _ganz_ zufrieden? erschrak fast Christel. Laß uns doch! Siehe, Du wirst es jetzt eine Zeit lang besser haben als wir, Du wirst Dein gutes Essen haben, die Beine unter anderleuts Tisch stecken, ich will Dir's ja nicht beneiden -- komme nur wieder! wenn Du auch lange bleibst, und laß einmal schreiben! -- Johannes schwieg. Sie weinte und legte sich mit dem Kopf auf den Tisch. Der Vater aber sahe durch das Fenster, wie der erste Schnee herabtaumelte, wie er aus dem ganz gesenkten flirrenden Himmel sich hinab in den Teich stürzte, und wie aus dem Spiegel des Teiches zugleich die stürmenden Flocken aus der Tiefe herauf kamen, und Schnee von oben und Bild von unten sich auf der Fläche des Wassers ereilten, zerschmolzen und verschwanden, verfolgt von dem unendlichen Rieseln der Flocken. Er sah, wie die Kinder barfuß im Schnee fröhlich umher sprangen und Schneebälle wälzten, auf einander setzten, einen Stock durchsteckten und die Arme mit Schnee bekleideten und dem Schulmeister eine Ruthe in die Hand gaben und ihm Augen und Nase und Mund von Kohlen in den aufgesetzten Kopf steckten; wie sie dann umher tanzten und gar nicht daran dachten, daß sie überhaupt nur Kleider auf dem Leibe trügen, geschweige überall geflickte scheckige Jäckchen, und keine Hüte auf dem Kopfe. Denn sie froren nicht in den dürftigen Kleidern, nur der ganz kleine Junge, sein Gotthelfchen, stand dabei und fror, und doch _warm_ angezogen, und den einzigen großen Hut im Hause auf dem Kopfe, der ihm bis auf die Achseln ging, daß er kaum hervorsehen konnte; er fror, und doch freute er sich und zitterte, weil er noch nicht mitspielen konnte. Johannes konnte sich nicht genug verwundern und sprach bei sich: -- und sie nennen mich doch Alle: lieber Vater! ich muß ihnen doch lieb sein! und Christel nennt mich: lieber Mann! ich muß ihr doch lieb sein, -- ich muß ihr doch gut sein, und wenn mir das Herz springt. Wenn ich nur auch sagen könnte -- lieber Vater! wenn ich mir nur auch gut sein könnte! Da brachte Daniel einen Goldammer, den Wecker unter dem Siebe gefangen, und es war Jubel im Hause, daß die Mutter Ruhe gebieten mußte, weil die alte Frau Redemehr, die Wirthin, schlief und krank war. Ich mache ein Hirtenhäuschen auf den heiligen Christ! vertraute ihm Wecker, ein ganzes Wachslicht von vor Jahre Weihnachten vom Orgelpult hab' ich noch. Man wird wieder ein Narr mit den Kindern! sagt' er, die Hände reibend. Ihr seid ein braver Mann! lächelte Christel auf Johannes. Das wollt' ich nur wissen! versetzte der Alte. Damit hatten sie ihren, im Scheiden nach dem feuchten finstern, kalten Stockhause begriffenen Johannes an den Weihnachtsheiligenabend erinnert -- er dachte, wie die Kinder in der dunklen Stube sitzen und sich fürchten und freuen, daß das Christkind doch im Dorfe sei; wie die Mutter ihnen zum Troste sagen würde: zu Jahre wird Euch der Vater bescheren! und Sophiechen früge: ob ein Jahr lange sei? Dann dacht' er, daß Daniel ihm schon beschert -- den Leichenstein, und so ging er am andern Tage schon fort. Die Kinder baten ihn, was mitzubringen vom Vetter, und Christel hatte ihn mit einem kleinen Päcktchen beschwert; aber er mußte es nehmen, die Kinder und sie darum berauben, um sie glauben zu lassen, er gehe einen freien, guten Gang. Das Herz pochte ihm laut, und seine Thränen entschuldigte der Abschied. Und er mochte wohl oder übel, so mußte er auch vom Schulmeister die Wintermütze -- sein verwandeltes Butterfaß, sich auf den Kopf drücken lassen und hören, wie Christel ihm nachrief: Sorge nur nicht um uns! der Herr ist ja bei uns! -- und Wecker ihr sagte: das wollt' ich nur wissen! 16. Weihnachten aber saßen sie, um das Lämpchen zu sparen, still in der finstern Stube; der Kleine fürchtete sich vor der Mutter auf ihrem Schooße, weil er sie mit dem, in der düstern Verschattung schwarzen Gesicht nicht kannte; denn die Sterne am Himmel und der Schnee draußen dämmerten wohl herein, aber ihr Glanz fiel auf das Kleine, das vor ihr stand und nach ihr selber rief. Denn sie sprach nicht und dachte vor sich an Johannes. Da macht' es die Hausthür auf, ein leises Geräusch auf dem Flur, dann ging sie leise wieder zu. Von der Frau Redemehr drüben kam Wecker mit dem Hirtenhäuschen, das hell schimmerte wie eine große Laterne. Christel war ihm aufmachen gegangen, auch die Alte, bei der es gemacht und jetzt angezündet, hatte noch die Thür in der Hand und wollte nachfolgen. Da stieß Wecker an einen kleinen verdeckten Korb. Noch eine Christbescherung? fragte Frau Redemehr. Aber er steht nicht auf meiner Grenze, er wird wohl Euer sein, für die Kinder, Christel! Wer weiß, wer sich die unschuldige Freude gemacht! Christel dachte an Dorothee, nahm das Körbchen und setzte es auf den Tisch, das Hirtenhäuschen leuchtete dazu, und Wecker war fast böse, daß seine Freude nicht die einzige sein sollte, denn die Kinder umstanden den Tisch, und die Mutter fragte sie, was darin sein sollte? was Jedes am liebsten hätte? Daniel rieth ein Christbrot; Sophiechen ein Pischkind, und Gotthelf Aepfel und Nüsse und einen Zappelmann. Die Mutter öffnete nun, während die Schatten der ausgeschnittenen Bilder aus dem Hirtenhäuschen über den Korb liefen, von der Hitze des Lichtes darin im Kreise getrieben, und Jäger und Hunde und Hirsche sich einander friedlich verfolgten, ohne sich je zu erreichen. »Ein Pischkind!« schrie Sophiechen; das ist mein, Mutter gieb es mir her! Das ist recht künstlich gemacht! als wenn es natürlich wäre, sagte die Alte, die ihre Brille vermißte; und das Häubchen! die Wickelschnuren! nur geradezu Alles! Was doch die Menschen jetzt Alles machen! Nein Dergleichen! Aber Christel hatte die Augen voll Thränen, denn das Pischkind schlug die Aeuglein auf, und eine kleine Miene, wie zum Weinen, flog über sein Gesichtchen. Die Alte erschrak erst, trat dann näher und hielt ihm den kleinen Finger an den Mund. Das Kindchen ist hungrig! sagte sie. Aber aber -- _Euch_ das zu bringen, das scheint mir doch Sünde, wer so was gethan hat, der muß Euch nicht kennen! Ich setzt' es einem Reichen hin! Wecker aber sagte: Höchstens geben _die_ das Körbchen wieder auf die Ziehe! und Wer bekommt es dann? Es heißen nicht alle Weiber Christel, meine Frau Redemehr! Ich dächte, Sie redete nicht mehr! Das heilige Christkind wird Christel schon gekannt haben! Nicht wahr, Ihr Kinder? Wollt' Ihr es haben? -- -- Ich will mir den Segen verdienen! sagte Christel. So eine heilige Gottesgabe von sich zu stoßen, wie die Mutter! Ich danke meinem Gott für das gnädige Zutrauen zu uns Armen! Das wollt' ich nur wissen! sagt' Wecker. Nun sagt Sie noch was, meine Frau Redemehr? Ja! sagte die Alte, ich muß noch reden! Das Kindchen ist sicherlich nicht getauft! das macht wieder Kosten! Was Kosten! sagte Wecker; ich bin der Mann! wenn der Pastor nicht will. Die Nothtaufe ist jedem erlaubt, wenn das Kind in Noth ist, geschweige die Aeltern. Noth ist Noth, das weiß Ich! -- Ich backe einen Kuchen! Morgen des Tags! sagte Christel froh, daß sie eine herzliche Gelegenheit hatte, einmal wieder was Gutes zu kosten und den Kindern geben zu können. Nun in Gottes Namen! sagte Frau Redemehr, da steh' ich Gevatter. Mutter, fragte Sophiechen, was ist denn das Pischkind? ein Gottlob oder ein Annaröschen? Und nun ward das Kind erst herausgenommen, das alle mit Verwunderung indessen bestaunt; die alte Frau Redemehr nahm ihre Brille ab und sagte Sophiechen: Sophiechen, es ist ein richtiges Gottlobchen. Die Kinder kramten im Grunde des Körbchens und fanden kleine Hemdchen, Häubchen und mehrere Silbergulden. Die Mutter schlief vor zärtlichen Sorgen die ganze Nacht nicht, die Kinder kaum vor Freuden. Das lange starke Wachslicht im Hirtenhäuschen brannte, lieblichen Dämmer und eine stille Jagd an den Wänden verbreitend, bis zum Morgen. Wecker hielt im Traume Schule und weckte bei Zeiten, _zum Kuchenbacken_, wie er fröhlich sagte: -- _den_ Kuchen zu backen, der uns schmecken soll! Kein Grammaticus kann sich unterstehen zu sagen: ich wecke zu »_den_ Kuchen backen!« ergo heißt _Einen_ Kuchen backen auch »Kuchenbacken.« Und dazu gehört ein ganzer Backofen, so gut wie zum »Schulmeisterabsetzen« _ein ganzer Schulmeister_, ein ganz liebedienerisches Consistorium und das ganze Kirchspiel zum Bettelngehen. Ich wiege indessen die sogenannte namenlose _Anonyma_. Der Mann bin ich. -- Am Vormittag aber fehlte der Kreuzer zu einem Bogen Papier unter den guten großen Kindtaufenkuchen; denn Christel versprach sich selber, die wenigen Gulden auch in der größten eigenen Noth nicht anzugreifen, sondern bloß für das Kind zu verwenden, damit es an nichts ihm mangle, von dem Wenigen, was es noch bedurfte. Daher machte Wecker die Siegel inwendig vom Deckel der großen Bibel los, womit der Umschlagbogen befestigt war, und Christel kam nach dem Papier. Aber was ist denn das? fragte Wecker, die Papiere hier? und der versiegelte Brief? Christel nahm das Eine nach dem Andern und fand mit bangem Erschrecken die Schuldverschreibung vom seligen Herrn, die in der Bibel verborgen gewesen. Nun seid Ihr auf einmal reich! sagte der Alte. Wenn nur Borromäus was hätte! Der ist nicht der Mann! Ach, wenn er nur nicht geschworen hätte! seufzte Christel. Nun soll mich mein Gott bewahren, ihm das anzuthun. Er verdient' es um mich! sagte der Schulmeister. Ich bin der Mann! ich geh' mit dem falschen Eide ins Oberconsistorium -- oder kurzen geraden Wegs zum seligen Herrn, da werd' ich wieder eingesetzt, und wenn ich noch so närrisch soll sein -- was kümmern ihn die lieben Kinder! Thut das nicht! Wecker, bat ihn Christel; Gott wird uns die Armuth vergelten. Das wollt' ich nur wissen! sagt' er gerührt. Aber der alte Mann weinte zum ersten Male, ja er schlief nach und nach ein, mit dem Kopf auf die Bibel gelehnt, und die Sonne schimmerte in seine weißen Haare und sah ihn mild und lächelnd an; und als der Kuchen fertig war, legte Christel ein großes Stück vor ihm hin, daß er Freude habe, wenn er erwache. Christel aber hatte Verdacht auf Dorothee, daß sie das Körbchen beschert. Sie hatte im Dorfe umsonst umher gerathen. Wer hatte so weiße feine Leinwand? Wer konnte das Alles so sauber machen, wenn nicht des Predigers Töchter, die aber die liebe Unschuld waren. Das war nur vom Edelhofe! und dort nur von Dorothee! Denn dort war nur die Mutter der gnädigen Clementine, und eine alte Köchin. Sie hatte des Nachts schon geweint über das verführte Mädchen, das ihr nichts anging, als daß sie es liebte, weil ihm der Vater gut gewesen war. Jetzt aber öffnete sie auch noch den Brief vom verstorbenen Pastor an ihren Vater; das Recht sprach sie sich zu. Wie erschrak sie nun erst, als sie las, daß der Pastor bei seinem Sterben nun ihm das Kind anvertraute, da Jahre lang niemand nach ihm gefragt. Er habe sonst immer das Geld für die Pflege der Dorothee richtig erhalten, seinen eigenen Kindern könn' er, nun er scheide, nicht zutrauen, daß sie das Mädchen erziehen würden, und da es die Tochter von seiner Martha sei, so stehe ihm als Großvater zu, sich das Gotteslohn zu verdienen. In inliegendem Briefe, schrieb er, werden Sie den Namen des Vaters der Dorothee finden. Es ist derselbe reiche junge Herr aus Frankfurt, der, um Wein im Großen einzukaufen, sich oft Wochen lang in Ihrem Hause aufgehalten. Die Inlage aber hatte der Pastor wieder versiegelt dem Großvater zugesandt, der Brief war an den Pastor überschrieben, der Großvater hatte ihn nicht aufgemacht, sie getraute sich es noch weniger, zu thun, und was half auch der Name nun ihr? was Dorotheen? da sie sich so sündlich vergangen? Und so beweinte Christel aufs Neue ihre arme Schwester Martha, sie _freute_ sich jetzt, daß Johannes nicht da war bei der Taufe und hatte das Knäbchen noch lieber. War es doch so beklagenswerth wie unschuldig, ob es gleich _Gottliebchen_ hieß, als wahrhaftes Derivativum und richtiggebildetes Diminutivum von -- Gottlieb, wie Wecker es nannte. 17. Viele schwere Wintertage überwand nun Christel mit Hoffnung, Liebe und herzinniger Zufriedenheit. So nahte der März schon heran, und an einem heitern Nachmittage war Clementine, von Dorothee begleitet, vor das Dorf und an Frau Redemehr's Häuschen vorüber gegangen, der wärmenden Sonne entgegen. Auf dem Heimwege wollte Dorothee sie vorüber führen; aber die arme junge Frau war krank, ihre Kräfte dahin, und sie wünschte zu ruhen. Das traf sich eben vor Christel's Fenster. So ging sie denn hinaus, und bat sie freundlich, einzukehren! Clementine lächelte und nahm es an. Dorothee folgte stumm. In dem freundlichen Stübchen saß Clementine lange still, sah sich Alles mit wehmüthigem Lächeln an, was es enthielt, und war dann lange ernst und in sich gekehrt. Und da sie auch Weckern ein Mittagsschläfchen halten sah, so sprach sie endlich leise zu Christel und hielt sie an der Hand: Hätt' ich hier in dem kleinen Stübchen gelebt, so lebt' ich noch! Christel verwunderte sich über das Wort. Aber sie sagte freundlich: Ich lebe nicht mehr -- ich sterbe nur, so langsam, wie ich gehe. Die Lerche wird mich nicht mehr finden. Wie gern hätt' ich mit Dir getauscht, mein Kind! Wir haben auch alle Tage unsere Noth, meine gute gnädige Frau, sagte Christel ihr zum Troste; von früh bis Abend wird man gar nicht fertig! ich lege mich so müde hin, zu schlafen, daß mich das arme Kind kaum weckt. Glückliche Leutchen, seufzte Clementine, zeigt mir doch Eure Kinder. Und so kam auch die Reihe zuletzt an das Kleine, das Gottliebchen. Clementine schien zu wissen, daß es ihr eigen nicht sei, oder sah' es ja deutlich an Christel vor Augen, daß sie vor den wenigen Wochen des Kindes seine Mutter nicht könne gewesen sein. Sie wiegte es still auf ihren Knieen, war abwesend mit den Gedanken, und die Augen, die auf ihm geruht, waren ihr zuletzt vergangen und gaben der blassen schönen Frau mit ihrem sanften lächelnden Gesicht etwas Geisterhaftes, ja Engelhaftes; denn so lieblich saß sie da, so innerer Würde und Reinheit voll, daß Christel kaum sich getraute, Athem zu holen, oder das Kind nun wieder von ihr zu nehmen. Dann lächelte sie Dorothee an, die mit zugeschlossenen Augen Thränen vergoß, es nicht sah, wie Jene lächelte, und nur den schwachen Druck an ihrer Hand fühlte, die sie ihr zuckend entzog. Der Gang schien nicht vorbereitet zu sein; denn sie beschenkte die Kinder Alle, auch das Kleine in seinem Bettchen, aber mit so Wenigem, daß ihre Worte Wahrheit schienen, als sie sagte: Ich habe nicht viel! und brauche nicht mehr viel. Zu meinem Begräbnis wird es langen. Wecker erwachte jetzt, richtete sich auf, blieb eine Zeit lang ganz im Traume noch auf der Ofenbank sitzen, stand dann plötzlich auf und machte der fremden vornehmen Frau alle seine besten Diener. Das ist ja unsere liebe gnädige Frau! sagte ihm Christel. -- Da besann sich Wecker, setzte seine weiße Nachtmütze wieder auf, erkannte auch Dorotheen und ging erbittert hinaus. Das verdien' ich nicht! lächelte Clementine; an allen solchen Thaten bin ich unschuldig, aber wer braucht das noch auf der Welt zu wissen? Gott weiß es ja. Christel versuchte Dorothee, um in ihren Gedanken über sie gewiß zu werden. Sie gab ihr das Kind zu nehmen, und -- sie nahm es und wiegte es, zwar mit Verdruß; sie nahm es ihr ab, und sie gab es -- ohne Verdruß. Und während Clementine wie eingeschlummert da saß und Sophiechen neben sich im Arme hielt, die sich an sie geschmiegt, nahm Christel auch den Brief vom alten Prediger an ihren Vater und gab ihr ihn zu lesen. Dorothee weinte nicht; sie fiel ihr nicht um den Hals, als wenn sie ihr eine Schuld abbitten wollte! und dennoch, als Wecker draußen ein kleines Strohkränzchen geflochten und den Daniel hereingeschickt, vor Dorotheen es hinzulegen, gab sie dem armen unwissenden Boten eine derbe Ohrfeige, setzte es sich auf, besah sich in dem kleinen Spiegel und weinte dann unaufhörlich, aber still. Jetzt schien ihr das Herz getroffen und erweicht; Christel tröstete sie. Dorothee fiel vor ihr auf die Kniee und beschwor sie: Christel! meiner Mutter Schwester! schont die arme junge Frau dort! Pflegt das Kindchen wohl! Das wird Euch Gott vergelten. -- Gebt Ihr das Goldstück nicht! -- Christel war böse. Wecker trat ein und sagte: als er Dorotheen geschwind aufstehen und sich die Thränen trocknen sah; das wollt' ich nur wissen! und behielt seine Mütze auf. Clementine erhob sich und nahm von Christel Abschied. Wenn Euch Gott lieb hat, sagte sie weich, so läßt er Euch arm. Der Arme, oder der Geringe, den die Welt nicht kümmert, der hat die besten Güter, mit welchen sich Reichthum gar nicht, oder doch nicht lange verträgt und zuletzt sie heimlich aufhebt und zu Grabe trägt -- und sei's des Reichen eigne, reiche, unglücksel'ge Frau! -- Liebe gnädige Frau, sagte Christel, das thut ja der Reiche nicht, nur der Schlimme. Wir halten auch auf die paar Kreuzer! Nun also, fuhr Clementine fort, wenn es nicht der Reiche thut -- so wird der _Fromme_ die Armuth vorziehen, gern ertragen, segnen -- oder, ohne es zu wissen, unschuldig mit ihr glücklich sein, wie Ihr, mein gutes Kind. -- Das heißt ja nur: halt' fest an Gottes Wort! weiter nichts. Weiter nichts! wiederholte Jene und nickte freundlich und schied von ihr. Wecker aber sagte: Die lob' ich mir! sie ist nicht stolz; doch wenn der gnädige Gottlieb mich ein Mal vor die Schule fordern ließ in die kalte Zugluft, ruckt' er und stieß er mit seinem in Händen habenden Stöckchen, wegen ermangelnden Respekts, so lange an meiner Mütze, bis ich mit bloßem Kopfe da stand! Aber ich schämte mich nur vor ihm, so ein alter Mensch zu sein, dem der Kopf durch die Haare wächst! Jetzt nehm' ich meine Mütze _tief_ vor ihm ab, wenn ich ihn sehe, denn ich schäme mich nicht mehr vor ihm, sondern er vor mir. Der Mann bin ich! 18. Bis jetzt war Christel ruhig gewesen. Als es aber gegen Ostern kam, und die Zeit schon Wochen vorüber war, in welcher ihr Johannes zurück sein konnte, da ward ihr bang und bänger um ihn, und Kummer um sein Außenbleiben übermannte sie manchmal, daß sie im Stillen weinte. Wird er wiederkommen? getraute sie sich dann kaum sich selber zu fragen; wenn er wie Dorothee ist, die von uns schied, als sie glaubte, uns zur Last zu sein! Dann schämte sie sich ihrer argen Gedanken, sah auf die Kinder und empfand, daß es ja gar nicht möglich sei, die lieben Gottesgeschenke bei klarem Verstande nur kurze Zeit freiwillig je zu verlassen, geschweige für immer. An sich selber dachte sie kaum. Einst begegnete ihr Niklas, als sie Garn zum Weber trug zum Verkauf von ihrem Gespinnst. Sie blieb stehen vor Rührung, als sie ihn sah: denn sie getraute sich nicht über den Steg zu gehen, so verdunkelten Thränen ihre Augen. Beruhigt Euch! Frau Christel; sagt' er ihr mit trockenen Worten: Euer Mann ist in gutem Gewahrsam, es stiehlt ihn Euch Niemand -- er sitzt nur den Hasen ab, den er erschlagen, und sitzt nun schon auf der Blume! Er ist bald drüber hinweg. Seid nur ruhig. So blieb sie denn voll Wehmuth stehen, als er längst schon vorüber war. Sie ging nach Hause, das Garn in der Hand. Nun erst hatte sie keine Ruhe, nun verstand sie Johannes Reden, seinen stillen Unmuth; und die Worte, die sie ihm alle zum Abschied gesagt, fielen ihr schwer aufs Herz. Um nun ihren Johannes zu erlösen, er sei, wo er sei, beschloß sie, den Herrn von Borromäus anzugehen, die alte Schuldverschreibung in der Hand. Denn der Gerichtshalter wohnte in der Stadt, und so weit konnte sie sich nicht mehr entfernen. Der Schulmeister aber brachte ihr Nachricht, daß es mit dem seligen Herrn zu Ende gehe, daß ein neuer Gutsherr komme, der Breitenthal auf Schuld übernehme, ein reicher Kauf- und Handelsherr aus Frankfurt. Alle »exigibilen« Reste wären im »Transsubstantiations« Verkauf mit angenommen; die »inexigibilen« aber wollte der selige Herr noch für sich eintreiben zu einem Ausgedinge, und es würden schon Ziegeln angefahren auf den Vogelheerd. Geld also bekommt Ihr nicht mehr, gute Christel, sagte er; ein Sterbender hat keine Furcht mehr, besonders wenn der Gerichtshalter die Schwuracten nicht aufgehoben haben -- sollte! Wer hat danach zu fragen? -- Das sahe Christel ein. Sie sah auch, daß sich Wecker zusammennahm, so verständig als möglich zu reden und zu sein; denn es war ihm eine Freistelle in einem ganz närrischen Hause versprochen worden, wie er umschrieb, die erst noch ausgewirkt werden sollte, damit das Dorf und der arme Mann zur Ruhe komme. Er durfte nicht mehr umherlaufen, singen und Schule halten; das Wecken besonders hatte der immer gern, aber Morgens am süßesten schlafende Pastor sehr übel genommen; desgleichen hatten es die anderen Herren Pastoren im Umkreis als eine vorwurfsschwere Anspielung sich verbeten; und so mußte der alte Mann in die weiteren Dörfer wandern, sein tägliches -- Schulgeld holen, das er mit Thränen aß, und dabei Christel mit Stellen aus der Bibel bat, ihn nicht zu verstoßen in der Kälte. Denn so lau und öfter lieblich es die wahren Wintermonate gewesen, ihrem Johannes im Kerker zu Liebe, dachte nun Christel -- so stürmisch und kalt winterte es jetzt gegen Ostern nach, als wenn der Himmel den Menschen seine mährchenhaften Einfälle: von langsam rauchendem Dampf wie heimlich brennende Flüsse -- hoch beschneite Berge -- lange Eiszapfen an den Weinstöcken statt der Trauben -- wie mit weißen Blüthen beschüttete Bäume im Walde -- eingefrorene Fische -- weißbereifte Bärte und Blumen an den Fensterscheiben zum ersten Male in aller Pracht und Schönheit zeigen und recht lange den Wintergarten sie genießen lassen wolle, damit sie sich satt daran sähen und wieder einmal merkten, daß die Erde allein des Herrn sei. Denn alle Raine, Zäune, Grenzen und Werke der Menschen in seiner Natur waren hoch mit Schnee bedeckt und trugen nur seine Farbe, als wäre das große alte Lehn erloschen; und so weit das Auge reichte, erschien nur _eine_ weiße flimmernde Decke, und _ein_ blauer feiernder Himmel, mit seiner Sonne; zum Zeichen, daß Alles nur Einem Herrn gehöre. Daß Wecker wahr geredet, erfuhr Christel zu ihrem großen Leid. Denn die alte Frau im Hause, die wie Christel, so lange sie selbst es vor andern _kleinen_ Arbeiten konnte, und ihre Umstände es erlaubten, von Spinnen lebte, hatte ihr die letzten Monate her nach und nach drei Thaler geliehen. Nun aber wurden die »inexigibilen« Reste eingetrieben, wo freilich kein Ansehen der Person mehr galt; die Alte sollte also für ihren vor 20 Jahren schon begrabenen Mann 5 Thaler für Birkenruthen zu Besen entrichten, und das nun leider bei Todesstrafe der armen Ziege der Christel, die zur Ernährung der Kinder das Beste beitrug. Denn Christel mußte statt der geliehenen drei Thaler die gute Ziege geben, die Ziege mußte nun fort _auf das Schloß_ geführt und geschlachtet werden, und dennoch langte das dafür _gelöschte_ Geld nur hin, daß _Christel_ die große Schuld abzahlte, wenn auch die alte Frau noch um Gnade bitten mußte. Aber selbst die Ziege stemmte sich zu gehen, und Christel und die Kinder weinten der alten Frau nach, die ihrer kaum Herr ward. Dafür erhielt aber Christel zum Palmensonntag einen kleinen Braten von der jungen Ziege. Die Kinder wußten nicht, was sie aßen, Christel war in der That nicht wohl, schob den Teller hin, stand auf und Wecker ließ sich den »alten Rest von den Besen« schmecken. Von der _Ziege_ äße ich auch nicht, sagt' er; aber welcher große Herr weiß denn immer, _was_ er ißt? Was würden da manchmal, d. h. so manches _liebes_ Mal und Mahl für Dinge auf dem Tische stehen! _was_ für Getränke würde man auf den Inhaltszetteln an den _Wein_flaschen lesen! Von _was_ würden die Braten und Torten sein, wenn Alles in rerum natura zu sehen wäre! -- Hu! Phantasmata! daß mir die Haut schauert -- wenn es nur schmeckt! Ein Schulmeister braucht es auch nicht zu wissen, was er ißt, geschweige wenn er keiner ist, wie ich. Birkenruthen sind bitter; nicht wahr, ihr Kinder? -- und er lachte mit nassen Augen, als sie sagten: Ja! Herr Wecker -- -- und sein: »Das wollt' ich nur wissen,« konnte er das _Mal_ vor Jammer nicht sagen. Aber er lehrte dafür: Es hat einmal einen uralten Weltweisen gegeben, -- als welche auch Unterschiedliches gegessen haben sollen und müssen, wie Paulus Alles ohne Unterschied, was nur vom Himmel gehangen, -- _der_ hat in seinem unchristlichen Gedicht den Magen ein _Unthier_ genannt. Das ist so wahr wie das heilige A. B. C.! Der Mann hat den Magen so gut gekannt als ich. Das will viel sagen, Kinder! Ein wirklich armer, wirklicher Schulmeister muß sich das von mir erst sagen lassen, der Gelbschnabel! Die Kinder standen nun auf. Da Wecker aber noch nicht satt war, fing er statt des Dankgebetes mit lauter Stimme noch ein Mal sein Gebet um Speise, das: »Herr Gott, himmlischer Vater« an, schämte sich wie ein Nachtwächter, der, wenn er den Tag abrufen und singen soll: Der Tag vertreibt die finstre Nacht -- aber noch einmal abruft: Ruhet in dem Herrn! -- legte sich hin und _schlief_ sich wenigstens _satt_, wie ein armer Tagelöhner in der Mittagsstunde. Aber er schlief nicht so ruhig wie dieser im Schatten der Bäume, sondern er träumte; und so hörte Christel mit Furcht die Worte: »Blutbesudeltes Fleisch nun schmausten sie« -- -- und wieder: »die Sonnenrinder brüllten an den Spießen -- -- und die Häute krochen umher« -- -- -- -- -- und mir -- mir meckert die Ziege im Leibe -- -- sie will mir das Herz abstoßen, mein ehrliches Herz? Oder stößt sie nur mein Unthier, den Magen, der sie mitgegessen hat, ja, fast allein. Fort! hebe dich weg! -- Hilf mir doch, hilf, Friedrich, mein Sohn! Friedrich, mein Sohn! Er setzte sich vor Furcht im Schlafe auf. Auch die Kinder fürchteten sich und liefen zur Mutter, die ihnen sagte: Kinder, er schwatzt ja nur aus der Schule! und hat nur den Schlucken! ach im Traume gedenkt er seines Sohnes, der unter den Soldaten ist, wie mein armer Bruder _Stephan_. Ach! -- Sie rief ihn erst leise, dann laut und lauter bei seinem Namen: Wecker! -- Wecker! -- Wecker! -- wacht doch auf! Ihr träumt zum Fürchten und wißt es nicht! -- 19. Christel war in der Dämmerung im Dorfe gewesen, um die junge, arme, liebe, schöne, gnädige Frau noch ein Mal -- auf ihrem Castrum doloris zu sehen und sich satt zu weinen, und kam jetzt heim. Die Stube war kalt, die Nacht war lang, die Kinder fror. Aber sie hatte das letzte Holz heut' angelegt und verbraten, und dennoch ging sie hinaus, noch Etwas zu suchen. Es war Mondschein, und sie erblickte eine Menge schon kleingespaltenes Holz vor der Thür liegen. Das war nicht ihres. Aber sie bedurfte sein. Banden die Jünger den Esel nicht los? sprach sie bei sich; aß David nicht die Schaubrote? Das ist ja wirkliches Holz! und dennoch ging sie erst an der Stube der alten Frau Redemehr horchen. Alles still, doch die Kinder weinten! Sie eilte, sie drückte die Augen fest zu und ladete schnell einen Arm sich voll. Aber das trockene Fichtenholz klang doch, wenn sie Scheit auf Scheit legte, wie eine Strohfiedel; denn in der Angst zitterte sie, und es fiel ihr aus der wie brennenden Hand. Als sie die Augen aufschlug, hinein zu eilen ungesehen, erblickte sie die Alte, die zu ihr sagte: Wollt' Ihr nicht lieber gleich Alles hinein tragen! Man ist doch niemals vor Dieben sicher in der Kälte! Ich will Euch helfen! -- So ertappt als Diebin erreichte sie nur mit Mühe und Noth die Stubenthür; aber niedergedrückt von der ersten Schuld in ihrem Leben und von der ängstlichen Last, sank sie zu Boden und hätte noch lange gelegen, wenn ihr nicht Daniel beigestanden. Das ist brav! sagte Wecker und legte ohne Weiteres an von dem Holze. Christel aber saß auf dem Bett wie erstarrt, und noch ganz erstaunt über sich selbst, und darüber, daß das Holz brannte! die Flamme sie anschien und wärmte! -- Johannes hat Recht! sagte sie für sich. Aber es wird den Kindern wohlthun und dem alten Manne! und daß mich die Alte gesehen, das ist meine Strafe auf Lebenszeit. Sie wollte in der Bibel lesen; aber es ging nicht. Da trat die Alte ein und sagte ihr: Laßt das Holz doch nicht liegen! ich helfe Euch, oder trag' es mit Weckern ins Haus. Die liebe gnädige Frau hat es Euch geschickt; sie hat noch an alle Armen gedacht, selbst auf dem letzten Lager. Ihr waret nicht da. Meins ist schon verwahrt. -- So ging sie, Wecker und Daniel. Aber Christel war darum nicht erheitert. Ihr war die Last nicht vom Herzen. Desto schlimmer! seufzte sie. Wer oft nur einen Augenblick warten, nur etwas Geringes entbehren will -- dem giebt der Herr ja Alles mit Freuden zu seiner Freude. Außerdem aber zu seiner Qual! Doch ich will mich mit meinem Gott versöhnen, daß ich das Kind nicht verwahrlose, es ist ja so die letzte Zeit, und gut für jedes Weib, das, wie ich, mit einem Fuße im Grabe steht. So war sie noch fleißig bis zum Charfreitag früh. Dann wickelte sie das Goldstück, um auch das los zu werden, zum Beichtpfennig für den Prediger ein und ging in die Kirche. Zuvor bat sie Weckern, der Alten und den Kindern ab, wenn sie sie ja mit Worten oder Werken beleidigt, und im Geiste bat sie es auch ihrem Johannes ab, den sie ordentlich vor sich stehen sah, wie sonst an solchen Tagen, und hörte, wie sonst, wenn er ihr sagte: Du hast mich nicht beleidigt, meine Christel, vergieb nur mir! Und das that sie nun von Herzen. In der Halle der Kirche hörte sie schon den Tremulanten, der heute zum Todestage des Herrn gezogen war, und seine dumpfen Schläge schlugen an ihre Brust, und sie bebte mit, wie die Töne bebten, daß sie hinknien mußte, vor eigenem Elend, weit übertroffen von dem schönsten aber schmählichsten Tode. Die Orgel führte die Melodie des wunderlichen alten Kirchenliedes: O Traurigkeit! o Herzeleid! -- Der erste Vers war geendet, die langsam schwebenden Töne klangen allein, und nun fiel die ganze Gemeinde dumpf, und doch durch die Menge der Stimmen mit erschütternder Macht in die Worte ein: O große Noth: Gott selbst ist todt! -- Sie wußte nicht mehr, wo sie war, sie betete nur, und auch das nicht mehr; so ergriffen, ja entsetzt war sie von diesen Worten, die ihr so wahr, so traurig und fürchterlich erklangen. Und nun erst, als das Beben und Brausen schwieg, zitterte ihr Herz nicht mehr so ängstlich über das furchtbare Bild, das sie durch die Worte wie durch ein Feuer gehört und gesehen, aber es klang ihr selbst am Altar noch immer vor den Ohren, ihr war, als raunte eine tiefe Stimme zu ihrem Herzen: O große Noth: Gott selbst ist todt! -- Und wie das arme verlassene Weib durch die Noth aller dieser Tage zuletzt selbst in ihrem Muthe gebeugt war, wie ihr das große Wasser und Dorothee, der Leinweber und Wecker einfiel, die gnädige Frau, ja selbst die Ziege, und jene Reden im Traum, wie sie die Kinder vor Augen sah, Johannes vor Augen sah und bedachte, welche neue Angst ihr bevorstehe, die sie vielleicht den Kindern raube und in das Grab stürze; so brach ihr das Herz; und nun wiederholte sie selbst mit Grausen die Worte in ihrem verworrenen Geiste: Gott selbst ist todt. Dann opferte sie das Gold, wartete den Segen ab und ging ganz unter den Letzten aus dem Gotteshause. Wie aber die Geistlichen während des Opfers auf dem Altare stehen, ohne noch zu fungiren, und wie dabei doch auch von dem Würdigsten zu Zeiten ein Blick zur Seite nach dem Gelde fällt: so war besonders das Goldstück dem Herrn Prediger in die Augen geblinkt, und er hatte die Geberin gemerkt, sich sagen lassen, wer sie sei, und von dem neuen Schulmeister -- des alten wegen -- nichts eben Besonderes erfahren, auch daß ihr Mann im Stockhause sitze, und daß sie leben, ohne Jemand zur Last zu fallen. So winkte er ihr dann auf dem Nachhausegange. Sie beantwortete seine Frage, wie sie zu dem Golde komme, nicht unbefangen, noch wahrhaft; aber sie hörte kaum mehr, als er sagte: vielleicht ist es nicht wohlverdient, wohl gar entwandt! und es reut Euch, weil Ihr es opfert? Oder liegen da mehr wo Eins liegt? -- Sie lispelte nur »o große Noth!« und als er fortfuhr, ihr das Herz zu zerreißen und sprach: Man wird Euch streng beobachten! Daß Ihr nicht etwa entlauft! -- pfui schämt Euch, eine Frau, die mit einem Fuße im Grabe steht! nach den Feiertagen will ich die Sache untersuchen -- -- da weinte sie sogar nicht, sondern sie war todtenblaß, schlich dahin, im Finstern, denn sie sah die helle Mittagssonne nicht, und sie bebte und hörte wieder das bange Wort: Gott selbst ist todt. -- Daß das kleine Kind, ihr Liebchen, wie sie aus Gottliebchen mit mütterlicher Zärtlichkeit gebildet, nämlich das Weihnachtskind indessen verschwunden war, daß weder die Alte und Wecker, die auch in der Kirche gewesen, noch die Kinder, die Verstecken gespielt, deßgleichen nichts davon wußten, das rührte sie kaum. Sie glühte, sie war krank über Nachmittag; sie sah sich die untergehende Sonne noch einmal an, empfahl sich Gott und ging dann, als es Dunkel geworden, zu Bette, und sahe noch, mit Thränen in ihr Stübchen blickend, wie Fackeln vorüber zogen, wie Clementine, die gestorben war, nach ihres Vaters Gut, nach ihrem Willen, nicht in Breitenthal zu ruhen, mit schwarz behangenen Pferden langsam fortgeführt ward; hörte, wie die Glocken ihr nachriefen, ängstlich, ängstlich! und der Mond in den Fackelglanz schien -- bis Alles verschwand, bis sie die Augen schloß. In der Nacht nun träumte ihr der Traum: Unser Herr-Gott sei gestorben. Engel, blaß wie der Tod, hatten es ausgerufen, mit Stimmen, die bebten vor Wehmuth. Thränen fielen wie Thau und warmer Regen vom wolkenlosen Himmel, und die Kinder standen mit ausgestreckten Händen und fingen die Tropfen in ihrer Hand auf und staunten sie an und zeigten sie den Menschen, die sich lautlos und entgeistert einander ansahen. Ein unaufhörliches Lauten, wie von großen silbernen, aber gedämpften Glocken, summte in der Luft, und Alle sahen und hörten hinauf, und Niemand wußte, woher das feierliche Lauten scholl. Die Sonne stand verfinstert; ängstliche Düsternheit ward auf der Erde, die innerlich bebte. Die Eulen kamen aus ihren Höhlen, die Johanniswürmchen flogen und schimmerten sichtbar wie Funken, die Hähne krähten und gingen zu Bette, die Blumen schlossen sich zu und senkten ihr Haupt, die Vögel schwiegen, und die Krähen zogen zu Walde. Die verschatteten Gewölke erschienen wie schwarze herabgeworfene Flore, die Nachtigall brach in einzelne Klagetöne aus und verstummte plötzlich, und die Gestirne traten am Himmel bei Tage heraus, und eine Verwirrung war in der Natur voll Angst und Zagen und Hast und Bestürzung, und aus der äußersten Ferne des Himmels erdröhnte es dumpf, als stürzte sein altes Gewölbe zusammen und würde verschüttet, und das Dröhnen scholl immer näher, hörbarer, herzbeklemmender, und Niemand wußte Rettung. Und die Erde schwebte mit der Träumenden empor, und ihre Schwester Martha raunte ihr ins Ohr: Ich bin todt, und Du bist todt! Nichts lebt mehr, wenn der Vater todt ist. Unser Herz hat ausgeschlagen, unsere Augen sehen ungeblendet selbst in den Blitz -- komm! komm! komm -- ich will Dir den Heiligen zeigen in seinem Sarge. Und sie klopften an die Thür des Himmels, und Weihrauchduft quoll ihnen entgegen, und sie sahe in dem wie Herbstnebel wallenden silbernen, Alles verhüllenden Duft hohe, diamantene Leuchter stehen, aber keine Kerzen darauf, sondern ruhig um dieselben im Kreise sich drehend, schimmerten Lichtkugeln wie Gestirne und Sonnen, und kleinere Lichter wieder um sie. Und so standen unzählige Leuchter auf den Stufen eines himmelblauen Katafalks, von unten bis oben hinauf um das Castrum doloris, und oben darauf stand ein krystallener Sarg, und Engel hielten Wache um den wie schlafenden Vater und hatten vor Schmerz sich eingehüllt in ihre Flügel. -- Niemand wagte hinzuschauen. Eine feierliche, tödtliche Stille wie Gewitterschwüle. Nur leise Donner murmelten dumpf in der Ferne, weit, weit, wie Sterbegeseufz der Natur, und Flügelschlag der Winde sauste vorüber, und das veilchenblaue Gewand des Schlummernden, sanft davon bestreift, duftete lieblich wie ewiger Frühling, und die damit getränkte Luft verhauchte den Wohlgeruch, köstlich duftend, und hin und her ein Engel nur seufzte aus tiefer Brust: O große Noth! Und aus allen Regionen der Welt stürzten athemlos und verblaßt, Angst im Antlitz, auf ihren Flügeln, wie vor dem Sturm heimeilende Tauben, Engel herzu und sahen und blieben stehen, zu Bildern erstarrt mit gehobener Hand, oder sanken auf ihr Gesicht. Siehe da trat Einer mit gescheiteltem, goldenem Haar vor den Sarg und las mir weicher Stimme: Er, Er, der allein ist, der _allein_ sein wird, Er wollte die Welt nicht wieder zerstören, seiner Hände Werk; sie war ihm zu schön, zu geliebt -- aber zu sündhaft. Niemand sah _Ihn_ durch sein Werk, über ihm, in ihm, mit ihm, Sie lebten wie _ohne_ Ihn! -- Wehe! nicht das einzige Verbot: Du sollst nicht tödten! dieß grellklingende, leichte Verbot an die rohen Pilger in der Wüste, das Er auf den harten Stein mit dem Finger geschrieben, vermochten Weisere, Glücklichere, Spätere seiner Kinder zu halten! geschweige das ewige einzige Gebot, das im Blute der Natur wie Balsam zu allen Herzen drängt, das Sterne und Sonnen voll Milde und Schweigen _laut_ in Strahlen verkünden, das die Erden _blühen_ mit tausend Blumen, das auf dem Antlitz der Neugebornen als Lächeln steht, das Gebot: liebe Gott über Alles, und Deinen Nächsten als Dich selbst. -- So ist er gestorben, wie Er sterben kann; so ist er todt, wie _Jemand_ todt sein kann: -- Er schweigt und ruht in seiner eignen stillen Seligkeit, um der Welt zu zeigen, was sie ohne ihn sei, ohne die Liebe, die Er ist. Ihr Heiligen aber, verzaget nicht! Ihr wohnt, wie zuvor schon auf der Welt, auch jetzt in seinem schlummernden Geiste. -- Und eine Geisterstimme rief: Zur Gruft! zur Gruft! zur Gruft! Komme hinaus, mein König![A] [Fußnote A: [Greek: `Exelthe, `ô basileu]! rief die Stimme eines zum Engel verkleideten Menschen die griechischen Kaiser, wenn sie erhoben wurden, um in die Gruft getragen zu werden -- in das Heroon. Im _Europalata_.] Nun, sahen sie, nun erhoben ihn schauernd die Engel und trugen ihn zur Gruft und versenkten ihn. Auch Moses war unter den Begrabenden, und streute sein abgeschnittenes Silberhaar mit den Blumen Streuenden zuletzt in das offene Grab. -- Da fielen die Sterne vom Himmel, der Welt entging die Kraft, und sie zog zurück in sein Herz, wie eine leuchtende Wolke, die ihn umwob, und ein Strahl daraus wie ein Abendsonnenstrahl aus Gewölk glänzte und senkte sich, glühend und rege fließend, auf seine Brust. Finsterniß ward! Oede! Schweigen! Keine Wolke zog, kein Lüftchen wehte; die Flüsse versiegten, die Blumen verwelkten, alle Pulse stockten, keine Thräne hatte selbst ein Auge mehr; kein Ach! eine Stimme; keine Hände hatten die Kraft, zum Gebet sich zu falten; keinen Gedanken jetzt mehr: »Wir wollen uns lieben,« irgend ein Herz. Alle Propheten, alle Gesandten, alle Söhne Gottes von allen Sternen herbeigeschwirrt wie weiße Schatten, hauchten Gott den Geist Gottes aus, waren todt und nichts, von seiner zurückgenommenen geliehenen Kraft verlassen. Selbst die Engel sanken zuletzt am Grabe, von seiner Kraft verlassen, dahin; ein unermeßlicher weißer Regenbogen, wie eine unendliche, breite Milchstraße, zog sich aus allen den zerschollenen und zerstäubten flirrenden Massen von Leben und Licht über dem Grabe zusammen, aus welchem Glanz hervorbrach, warm und sanft und rosig, wie eine Rose schimmert im Mondschein. -- Sie nahte mit heiligem Schauder, sie beugte sich zitternd über, sein Antlitz -- Gottes Antlitz zu sehen -- aber sie sah nur zwei Thränen blinken wie Thau an seinen leicht geschlossenen Augenwimpern, und nur ein unaussprechliches Lächeln, ein wie sichtbares Lieben, das sie unwiderstehlich näher und näher, hinab, und zuletzt ihm fest an die Brust zog, unabtrennlich-fest, und selig-süß. Und die letzten leisen Stimmen der sterbenden Engel ächzten: Gott selbst ist todt! -- Und auch sie war gestorben -- ein Säuseln strich noch einmal verlöschend über die Gruft, und die Welt war verklungen. Aber sie fühlte auch todt noch ein warmes Herz in dem liebenden Busen des Vaters schlagen -- und sie verging. -- -- -- Wem sie aber am Herzen erwachte, das war ihr Johannes. Er war wiedergekehrt. Sie setzte sich auf, sie sah ihn an und erkannte ihn nicht. Ihr Geist war noch nicht zurückgekehrt, in diese Welt, wo so eben das schwere Geschütz vorüber in den Krieg rasselte, noch nicht wieder eingewohnt in ihrer Hütte, herabgestimmt zu ihren Kindern, zu ihrem Johannes, der vor Freuden weinte. Bis er sie munter küßte, bis sie ihm leise und schüchtern erzählte, was sie geträumt. Ich bin verwandelt, meine Christel, sagt' er ernst. Gott hat Dir den Traum zum Troste gesandt, daß Du für eine kurze Stunde heiliger Angst zeitlebens nun gedenken sollst: Gott lebt! Gott kann nicht sterben. So lebt er auch uns -- Du hast den Traum für mich geträumt, und nicht für Dich, Du gute Seele, für alle Armen und wer ihn hört. Wer reines Herzens ist, der soll Ihn schauen, und Du hast Ihn gesehen, Er lebt! Sieh' auf, dort scheint ja die Sonne! 20. Noch in der düstern Morgendämmerung des Ostersonnabendes, ehe der Vater nach Hause gekommen, war aber der kleine Daniel schon mit Wecker in ein anderes Dorf gegangen. Sie hatten sich Abends heimlich beredet, Daniel hatte sich ein kleines Säckchen geborgt und umgehangen; denn er sahe, wie nöthig das Nöthigste im Hause sei, was die Kleinen vergebens von der Mutter verlangt, nur er nicht. Er hatte die Jacke des Vaters an, die ihm in der Kälte ein kleiner Mantel war. Das hatte die Alte gesehen. Heut' ist ja heiliger Abend, sagte sie zu Johannes, da wird der Weg nicht leer von Dorf zu Dorf, wo nur Essen rauchen; da macht sich ja mancher auf und wird _darum_ nicht übler angesehen, weil er auch sonst das ganze Jahr nicht kommt! Mir ist nur der Schnee zu hoch, sonst ist es ja eine wahre Labung und Stärkung, gerade an solchem heiligen Tage betteln zu gehen. Die Wehmuth hat mir Gott schon geschenkt! Man wird so reich, so reich -- Ihr wißt das gar nicht, mein Johannes. Gönnt das dem Kinde und dem Alten! Doch war es schon Abend, ja Nacht geworden, und Beide kamen nicht wieder. Die Mutter hatte aber Manches in der Stille zurecht gelegt und besorgt, was sie genäht, und was so klein, so lieblich anzusehen war! Sie lächelte nur Johannes an, saß oft lange still, schlummerte wieder und bat ihn endlich nach Mitternacht, »mit dem blauen und rothen Strumpfe zu laufen,« wie es heißt, und den Storch zu holen. Er lief mit freudiger Hast. Er pochte. Ein junges Mädchen kam ans Fenster, nicht die Kindelfrau. -- Die Mutter ist drüben im andern Dorfe bei der reichen Müllerin, sagte sie ihm; schon drei Tage. -- Er zündete sich eine Kienfackel an und eilte, durch das feine Schneegestöber sich leuchtend, und geblendet, in einen engen Lichtkreis eingeschlossen. So kam er, weit außer dem Dorfe, vom Wege ab, in Windwehen, machte sich Bahn hindurch und stand auf einmal in dem Kalksteinbruch. Er leuchtete an dem bunten marmoradrigen Gestein umher, den Ausweg zu finden. Da sah er auf einer natürlichen Marmorbank, wie in einer Grotte die außer dem Winde und ohne Schnee war, eine kleine ruhige Gestalt sitzen, sanft hingelehnt. Er nahte mit Herzpochen; Knöpfe blitzten ihn an, das Tuch war blau -- es war sein gewesener Kirchrock; ein kleines blasses Gesicht lächelte ihn an -- es war sein gewesenes Kind, der Daniel, ein volles Täschchen auf seinem Schooße, einen Schnitt Brotes in seiner steif gefrornen Hand. Er leuchtete das an, er sah es und sah es nicht, er hielt die Hände fest vor die Augen, es nicht zu sehen. So stand er lange. Und als er wieder aufsah, mit Wehmuth hinblickte, war Alles verschwunden, wie ein Traum, keine röthliche grellerleuchtete Grotte, kein Kind, nur Nacht und Stille. Hast Du das auch geträumt? fragt' er sich froh und bestürzt. -- Er sahe zu Boden. Der Kienbrand, den er vor Schrecken fallen lassen, zischte im Schnee mit dem letzten Funken und war verloschen. -- So sagte er nichts und dachte Verwirrendes. Er fühlte sich zu dem Kinde, er umfaßt' es und küßte ihm die Hand, und das Brot. -- Du bist hin! sagt' er weich. So warte denn hier, mein liebes Kind! Die Mutter bedarf es. Nicht wahr, Du bist es zufrieden, daß ich gehe! -- und Dich, bis ich wiederkomme, Dich hier allein verlasse? -- Gewiß! Du bist es zufrieden. Du gingst ja schon um der Mutter willen, und um die Geschwister! Heiße mich gehen! mein Kind! und ich möchte doch bei Dir bleiben! Fürchte Dich nicht! ich komme ja wieder! Bald, geschwind! -- So redet' er mit dem erfrornen Kinde, das ermüdet und von Kälte ergriffen, ausruhen und essen wollen, zum Botenlohn, und süß und immer süßer eingeschlafen war, und das der unerbittliche Tod, der auch des Nachts überall umherschleicht, der weder Vater noch Mutter, Brüder und Schwestern hat, auch hier gefunden und ohne Herz und Mitleid nicht verschont. -- Das dachte Johannes im Weitereilen und sprach vor sich: Ich möchte doch der Tod nicht sein! Das ist das schrecklichste Amt in der Welt. Wie gern doch bin ich dagegen der arme Johannes! Und doch muß ich das sehen und dulden! Das Kind ist glücklich. Wie konnt' ich besser sehen, wie gut es ist, wie glücklich ich war, _als so!_ -- Heut' in der heiligen Osternacht hab' ich's gesehen und erfahren: Kein Mensch ist so unglücklich, daß er nicht noch weit unglücklicher werden kann! Ach, du lebendiger Vater im Himmel, sei doch auch Keiner so elend, der nicht wieder glücklich werden könnte. -- Gewiß, der Gute kann immer wieder glücklich werden! -- sprach eine innere Stimme in ihm. Gott ist nicht todt. -- Du _warst_ ein Thor und bist vielleicht noch einer. -- Wer das wüßte! seufzt' er. Wer weiß, wo Wecker sitzt! -- Er beeilte nun seinen Vatergang. Die Mühle stand. Die Räder waren eingefroren und wunderlich anzusehen. Aber die Müllerin ließ die Kindelfrau nicht fort, und sie selbst versprach sich keinen Lohn und tröstete ihn mit Gott und Gottes Hülfe. Das Wort trieb ihn beruhigt fort. Aber Wecker hatte in der Mühle geschlafen, war schon munter, hatte vom Schlaf auf dem Stroh keine Federn in Haaren, wie er vergnügt bemerkte, fragte nach Daniel, der sich nicht halten lassen, und ging mit Johannes, dem jetzt die Angst entnommen war: er könne auch den alten Mann so finden wie den Knaben. Wecker trug eine große Fackel brennend in einer Hand, und eine zum Vorrath in der andern. Johannes schritt vom Wege ab, in den Steinbruch, und als Wecker das starre Kind sah, fehlte nicht viel, er hätte die Fackel fallen lassen. Aber er zitterte nur, daß in den flackernden Lichtern und den bewegten Schatten das Kind lebendig zu werden schien. -- Der Mann bin ich! sprach er wie ein Sündenbekenntniß, das Johannes wohl verstand, aber schweigend den Knaben sich auflud und mit ihm fortschritt, während Wecker heut' im erregten Wahnsinn wunderliche Reden führte, während er vorn leuchtete. Das wollt' ich nur noch wissen! sagt' er zuletzt; nun kann ich sterben; die andre Noth hab' ich alle gelernt, bis auf den Tod. Ich sollte dem kleinen Betteltäschchen die Freude nicht machen! -- Wecker, du solltest mit heim gehen! das heißt, wo er zu Hause ist, oder auch heim! wo du heim bist! Johannes sollte lieber »das alte Schulhaus« schleppen, wie die Engel das Haus nach Loretto; dann schrie der Kuckuck nicht im Schnee, dann müßte der Pastor einmal umsonst begraben. Der sollte sich ärgern! -- Aber an einer oben brennenden Fackel kann man sich unten die Hände erfrieren, Johannes! Merkt Euch das. Gott wird der Christel den Schaden ersetzen, sagte Johannes. -- Da will ich die Wiege sein, die Euch fehlt; der Mann bin ich! freute sich Wecker. -- Aus den Dörfern umher schallte schon Ostergesang und hallte freudig im Walde nach, wie ein Echo vom Himmel, oder wie sanfte Stimmen unsichtbarer Engel, die an dem heiligen Morgen um die Menschen wandelten auf Erden. Alles war angeklungen von dem geweihten Gesang. Der Himmel und vor ihnen der blinkende große Morgenstern schien nicht _sein eigen_, die Erde nicht ihr eigen, nicht Wald und Flur, Hütten und Weinberge nicht, auch die Menschenherzen nicht, sondern der Name: _Christus_, gesungen aus der Brust der Mädchen, umfing und befing Alles mit sanftem Schall und eignete _Ihm_ es zu; und die Welt war Gottes des Vaters in dieser heiligen Morgenstunde. Hört ihr die Jungfrau'n, Johannes? wie das erbaulich klingt! sprach Wecker. Sie haben's heut kalt. Aber sonst wär's auch keine Kunst, zu singen! So Etwas ist ewig, und verlangt sein Recht zu aller Zeit. Ich mußte auch lauten, und wenn das Gewitter dicht über mir stand; es hat mich auch einmal so halb und halb, das heißt aber nicht etwa _ganz_ versengt, so nur angesengt! Dafür hab' ich auch keine Wetterscheu mehr! denn ein rechtes Unglück trifft Niemanden zwei Mal, wie das große Loos! Das könnt Ihr Euch merken! -- Johannes merkte sich das mit Stöhnen. Er blieb ein Weilchen stehen, um auszuruhen und Athem zu schöpfen, aber er setzte seinen guten Daniel unterdessen nicht in den Schnee. Hört nur, fuhr Wecker fort, dort singen sie drüben das Lied: Der Tod ist todt, Das Leben lebet, Das Grab ist selbst begraben! -- Das wäre gut für den Daniel! und gut für den Todtengräber, die Erde ist jetzt steinhart! Darauf gingen sie wieder. Als sie aber zum Dorfe kamen, vernahmen sie die Melodie, ja selbst die Worte: Auf, auf, mein Herz mit Freuden, Nimm wahr, was heut geschieht! Wie kommt nach großen Leiden Doch ein so großes Licht! Johannes stand gerührt. Nun da kann ich die Fackel auslöschen! meinte Wecker und stieß sie vor dem Hause in den Schnee. Der Vater aber trug den Knaben leise ins Haus und hörte mit Freudenthränen eine zarte Kinderstimme in dem Stübchen, stand und sah durch das kleine Fenster in der Thür, wie die Alte es schon im Bettchen auf den Armen trug. So legt' er den Daniel hastig in den Schuppen, damit ihn die Mutter nicht sähe. Er dachte kaum, daß dieser kein Strohdach hatte, daß es schon tief hinein geschneit, daß es immerfort noch häufig hinein schneie -- ihm schadete ja das Alles nichts! Da ruhe in Gottes Namen, mein Kind! sagt' er; nahm ihm das Täschchen ab und zog sich aus eigner Wehmuth selbst wieder den alten Sonntagsrock an, sahe noch einmal zurück, ob es gleich noch düster war, und ging erleichtert hinein zu Christel. Er blieb an der Thür stehen. Die Alte hatte das Kind der Mutter zum ersten Mal auf die Arme gegeben, und er hörte, daß Christel leise sprach: Segne dich Gott! mein liebes Kind! Lebe gesund und werde alt, bis Dir die Tage nicht mehr gefallen! Halte fest an Gottes Wort. -- Du bist zu _uns_ gekommen -- fuhr sie mit weicher Stimme fort -- anstatt in eines Reichen Haus? Wir haben Dich! -- und an _Liebe_ soll Dir's nicht fehlen, und an nichts, was ich habe, und was Du noch brauchst. Sei nur zufrieden und weine mir nicht. Du bist bei mir. -- Nun ward es still. Eine Herzstärkung thät ihr nun wohl! meinte leise die Alte. Und so öffnete Johannes das Täschchen, legte erst ein rothes Osterei daraus auf den Tisch und brockte das Brot in das kochende Wasser. Dann ging er und setzte sich zu Christel auf's Bett. Sie aß. Er hatte die Augen zu. -- Was weinst Du denn? Vor Freuden? ja wohl! mein Johannes, sprach sie, siehe nur her! -- Er aber sagte: Weißt Du auch, was Du issest? -- Ich habe ja meine Besinnung, antwortete sie: Brotsuppe! die ist mir jetzt am besten und dienlicher als von rüdesheimer Hinterhäuser. Aber von was für Brot! meine Christel, nickt' er. -- Bettelbrot von Daniel? sagte sie heiter; sei doch ruhig, Johannes, das Kind hat es gern gethan. Alles ist von Gott, auch das Brot, und von dem nehm' ich es an, und von dem guten Kinde noch einmal so lieb. -- Wo ist denn der Daniel? ruf ihn doch her. -- Er schläft; sagte Johannes; er war sehr müde, die Augen fielen ihm immer zu. -- Nun so laß ihn schlafen, lächelte Christel; er hat ein gutes Werk gethan. -- Der Vater aber ging von ihr, besah das Osterei, brachte heraus, was darauf gekritzelt war: »Friede sei mit Euch,« schnitt einen Eierkorb und hing es über dem Eßtisch auf, zu des Kindes Angedenken. 21. Da erklang ein Posthorn und rufte wie drüben vom zugefrornen und verschneiten Teiche her. Es ward still; dann ging die Hausthür auf, derbe Tritte stampften den Schnee von den Füßen, und das kleine, vom Kaminfeuer erleuchtete Fensterchen in der Thür lockte den Fremden herein. Bin ich noch weit von Breitenthal? fragt' er; guten Morgen auch! Man sieht im Schneegeflocke die Hand nicht vor den Augen. Wir wohnen im letzten Hause von Breitenthal, oder im ersten, wenn man kommt; sagte Johannes. An der Stimme, und näher getreten nun auch im Scheine des Feuers, erkannte der Fremde jetzt Johannes, reicht' ihm die Hand und sagte: Kennt Ihr mich noch! Ihr seid wohl der Herr vom Kirchthurm, meinte Johannes. Nicht allein der Herr vom Kirchthurm, sondern auch jetzt der Herr von Breitenthal! versetzte der Fremde lächelnd. Ich bin noch in Eurer großen Schuld! aber ich habe an Euch gedacht; ein kleines Schiff mit Sachen liegt für Euch schon befrachtet in Frankfurt bei mir auf dem Main; sobald der Fluß wieder aufgeht, kommt es für Euch, und Schiffchen und Alles ist Euer. Nehmt damit vor Willen; das macht Paschalis nicht ärmer. Ihr habt ja gehört -- ich bin nur nach _Dorothee_ gefahren! Ihr sollt mir ja nicht danken, hat sie gesagt; das ist nicht nöthig; wiederholte Johannes. Aber angenehm ist es, entgegnete Jener, und mir Bedürfniß, und, seh' ich recht, auch Euch. Da möcht' es nur _bald_ aufthauen! sagte Frau Redemehr. Aber wo habt Ihr die Dorothee? fragte Paschalis. Bester Herr, ließ Christel jetzt ihre Stimme vernehmen, fragen sie nicht nach _der!_ Sie hat uns großes Herzeleid angethan. Weihnachten hat sie mir ein Kind beschert, das Gottliebchen, und niemand anders als eben auch sie hat es zu meinem Kummer mir wieder geraubt. Ich habe gehört, die gnädige Frau hat an ihrem Sterbebette Allen vergeben, auch dem gnädigen Gottlieb, und Dorothee hat vor Thränen sich nicht fassen können! Nun ist sie verschwunden, und wer weiß, wo wir Mutter und Kind noch finden, wenn der Schnee und das Eis vergangen. Sie hat Dir ein Kind gebracht? fragte Johannes seine Christel verwundert. Mir thut es leid um das saubere, trotzige Mädchen; sagte Paschalis. Wie man sich irren kann! Ich glaubte mich schon klug genug, beim ersten Anblick eines Menschen ihm sein Schicksal aus dem Gesicht zu lesen; wie er war, und wie er sein kann! Aber seid nicht in Sorgen um sie. Er wollte zur Thür hinaus gehen; Johannes leuchtete ihm. Da erblickte Paschalis das steinerne weiße Denkmal, und der vergoldete Namen »Martha« schimmerte still ihn an. Martha! sagt' er für sich. Martha? und auch der alte Johannes! Kinder, fragte er betroffen, wie kommt ihr zu dem Stein? Er ist für meinen Vater und meine Schwester, antwortete Christel. Der Kirchhof drunten ist noch nicht in Ordnung. Deine Schwester, die arme Martha! sagt' er weich. Ich steh' als ein großer Schuldner an ihr vor Euch, aber verdammt mich nicht. Ich war aus Leidenschaft fähig, ein Unrecht zu begehen, aber es gut zu machen -- zu schwach, zu stolz, zu verblendet und fortgerissen von derselben Leidenschaft, die Liebe heißt und Verderben ist und es bringt! und als mein Vater gestorben war, als ich aus fremden Städten heim kam -- als ich weiser war -- da war sie todt. Arme Martha! Wenn Ihr Euch zu Martha bekennt, sagte Christel niedergeschlagen, so kann ich Euch noch ein trauriges Geschenk zum heiligen Ostertage machen! Dorothee ist Martha's Tochter. -- Geh' doch in die große Bibel, Johannes, und gieb dem Herrn den Brief! Er ist vom alten Pastor an unsern Vater, und auch den andern, den noch versiegelten! der ist gewiß nun von Euch. Ihr armer Mann! Johannes brachte die ganzen Papiere und auch die Schuldverschreibung von Borromäus, selbst die Letzte an Dorothee. Paschalis that kaum einen Blick hinein und sprach dann zu Johannes: Geht und holt doch Dorotheen aus dem Wagen und schickt ihn dann auf das Schloß. Der allzu gnädige Gottlieb droht' er. -- _Ihr_ bringt uns Dorotheen? fragte ihn Christel mit Freud' und Schmerz wunderlich gemischt im Klang ihrer Stimme. -- Ich überholte sie einige Stunden von hier, im Schnee watend, um nach Hause zu kehren, nahm sie ein und erkannte sie als dasselbe Mädchen, das ich bei Euch gesehen. -- War sie allein? und hatte kein Kind? fragte Christel hastig. Allein! kein Kind! versetzte Paschalis. Mir schauert! äußerte Christel und schwieg, das Gesicht in den Händen verborgen. Paschalis ging gleichfalls schweigend umher und blieb dann gedankenvoll vor der Inschrift stehen. Dorothee trat ein. Wo hast Du Dein Kind? redete streng sie Paschalis an. Wer hat danach zu fragen? sprach Dorothee mit düstern Augen ihn messend. Dein Vater! antwortete Paschalis noch strenger und ergriff sie bei der Hand. Wer ist denn hier mein Vater? versetzte Dorothee. Der sich jetzt schämt, es zu sein! erwiederte Paschalis und kehrte sich von ihr. Daran thut er jetzt klug! sagte ihm Dorothee; aber noch klüger hätt' er gethan: sich erst zu schämen, eh' ich seine Tochter ward -- und so sich von Martha zu kehren, wie jetzt von Dorothee. Aber die Kunst ist nicht groß -- ich kann es auch. Und nun kehrte sie ihm den Rücken, ganz erhitzt im Gesicht, und doch blaß und schneller und hörbar athmend. Eh' wir weiter reden, nahm Paschalis das Wort, wo ist Dein Kind? Das ist doch zum Lachen! versetzte Dorothee, wenn es sonst nicht zum Weinen wäre! -- Hätt' ich doch lieber nicht auf dem Thurme gelauten! bedauerte Paschalis. Ich komme in das Dorf nach meinem Kinde zum Prediger, dem ich sie anvertraut. Ein junges Weib sitzt da: ich schweige, ich gehe; ich will morgen wiederkommen, um zu erfahren, wo sie nun ist -- da brechen in der Nacht die Dämme, da eil' ich hinauf in Todesangst um mein Kind und laute, daß sie _meine Stimme_ höre! laute, um in der Menge verborgen sie _mit_ zu retten -- nur _sie_ -- -- hätt' ich doch nicht gelauten! hätt' ich doch Euch gefragt, wen ich suche, statt Euern Namen mir aufzuschreiben, dann zog sie nicht auf das Schloß! Die Alte aber sprach: die gnädige Frau ist todt; nun kann sie ja der gnädige Gottlieb _auch_ heirathen. Das ist meine Tochter! würd' ich ihm sagen, trotzte Paschalis und hielt Dorothee an seiner ausgestreckten Hand. Das ist nun eben ihm recht! setzte die Alte hinzu; da behält er das Gut. Ich würde ihm sagen: Sie heißen Gottlieb, aber Ihnen ist weder _Gott_ lieb! noch sind Sie Gott _lieb!_ wenigstens _mir_ nicht! Zieh' in den Krieg! rieth ihm Paschalis. Wenn Ihr mein Vater seid, was ich mir nicht wünsche, so seid Ihr doch werth, daß ich Euch frage: hatte Clementine nicht eine Mutter? lebte sie nicht als Wittwe bei ihr und bei _ihm?_ war sie nicht jung noch und üppig genug? -- _Ihr_ hab' ich _ihr_ Kind jetzt hingetragen! War das nicht werth, daß eine Tochter vor Gram starb? war das nicht werth, daß eine Mutter vom Sarge der Tochter entfloh! -- Alle schwiegen mit stummer Scheu. Dorotheens Worte hatten eingeschlagen. Jeder sah zur Erde, Jedem bebte das Herz. Paschalis wollte seine reine, unschuldige Dorothee umarmen und rief: Mein einziges Kind! -- Dorothee trat vor ihm zurück. Nun sind wir geschieden! sprach sie. Das Schloß ist Euer -- das Schloß betret' ich nimmer wieder! -- Ihr habt die Schulden zu Euren Schulden gemacht; gebt Eurer Martha Schwester ihre tausend Gulden, und mir den Lotteriegewinn, daß ich ihn Johannes wieder erstatte -- dann lebt in Frieden! Bedenkt, daß Martha meine Mutter war, und daß Ihr mich in ihr gekränkt und erniedrigt, unaufhebbar! Und wollt Ihr so schenkt dem alten Leinweber einen neuen Baß, so spielt er wieder, und Johannes befährt den alten Rhein. Einen großen Haupt-Straduarius soll der Mann bekommen! Du, Breitenthal! Dorothee, daß Du Dich rein erhalten in solchen Händen! Johannes aber ein Schiff mit goldenem Boden -- ich will Euch Alle glücklich machen! sagte Paschalis erregt zu Johannes. Wenn Ihr gestern kamt! Gestern war es noch möglich! entgegnete ihm Johannes. So elend war ich da nicht wie heut', und nun immerfort! -- o mein gutes Weib! -- und doch lebt ja der alte Gott! Du verstehst mich, aber nur halb! Ihr seid doch sonderbare Menschen! sprach Paschalis. Wer begreift das Alles! Doch daß Du mir nicht Schande, nein Ehre gemacht, o Dorothee, das segnet Dir Gott und mir! Ihr wundert Euch und seid ein großer Kaufmann, Herr Vater! lächelte Dorothee. Das jüngste Mädchen ist so klug wie der älteste Kaufmann. -- Nicht wahr, Ihr verliert nur _Eure Schätze_, wenn Jemand fallirt, dem Ihr sie anvertraut. Aber -- ein _gefallenes_ Haus hat keinen Credit, und ein Mädchen borgt _Ihm_ nicht einen Finger, geschweige die Lippe! -- Das sag' ich noch, damit es Euch nicht zu schwer wird, mich zu vermissen. Gerade nun! Du mußt mein sein! bei mir bleiben! bat sie der Vater. Das will ich mir funfzig Jahr überlegen! beschied ihn das kecke Mädchen. Johannes aber hatte schon längst das Zimmer verlassen und wankte hin, um sich auszuweinen bei seinem Daniel. -- Aber er fand Jemand schon neben ihm. Wer seid Ihr? fragt' er verwundert. -- Still! Still! ich bin Wecker! der wahre Wecker? Ich bin der Mann! schon eine halbe Stunde! Hier ist der Doctor! sprach er und wies ihm den abgeriebenen Strohwisch; er ist eigentlich nur ein _Lizentiat!_ fuhr er fort. Das Kind, im Schnee und mit Schnee vom Himmel beschüttet, war erwärmt, und seine Wärme hat sich eine Höhlung weggethaut, sein Haar ist feucht, und seine Wange glüht. Ex Noth wird wieder Ex voto! Hört ihr das Osterlied! Nun kommen die heiligen Frauen. Johannes aber kniete, betete und konnte vor Zittern der Hände nicht thun, was ihn Wecker hieß, der das Kind zuletzt auf die Füße stellte und in des Vaters Arme gab. Der Knabe besann sich endlich langsam wieder, glaubte noch in dem Steinbruch zu sein, bewegte den Mund, als wenn er wieder äße, hörte dann des Vaters Zuruf und sagte mit halber Stimme: Bist Du da, Vater? da hast Du Brot! komm', führe mich heim, der Mutter wird bange sein! Und so führte Johannes ihn zitternd hinein. Und von der aufgehenden Sonne Licht und Glanz geblendet, und schwach, schwankte das Kind und stand wie im Traume und gähnte und strich sich die Haare aus der Stirn. Nicht wahr, Daniel lebt? er lebt? fragte Johannes die Mutter. Freilich, da steht er und lächelt ja! sprach Christel, aber allmälig stammelnd und zögernd, und plötzlich erblaßt vor Ahnung, die aus Johannes Worten und Wesen sie anschauerte. Nun -- nun kannst Du auch wissen, daß er todt war! fuhr Johannes leiser fort und zog ihn der weinenden Mutter nah. Daniel! -- sprach sie mit versagender Stimme und streckte die Arme nach ihm. Mutter! -- sprach er, als bät' er sie um Vergebung, und lag in ihren Armen. Wecker hat ihn erweckt! meinte Johannes. Aber das hörte sie nicht an Daniels Halse. Wecker aber stand nur sehr freundlich da und hatte die Augen zu. Nun bin ich glücklich, rief Johannes; ich habe den Daniel wieder! und noch einen kleinen: »Vom Himmel hoch, da komm ich her!« -- Ich habe Alles! -- Dorothee! hörst Du, Dorothee, ergieb Dich Deinem Vater! -- Du weinst, mein Mädchen? Da traten die Jungfrau'n der Osternacht auch vor das kleine Haus und sangen: Es gingen drei heilige Frauen Alle-alleluja! Des Morgens früh im Thauen, Alle-alleluja! Alle erschraken darin und hörten gerührt die hellen Stimmen singen. Paschalis ließ sie hereintreten. Sie waren verkleidet. Da waren die drei Frauen, Maria, Martha und Magdelena, verschleiert, und die zwei Engel in weißen Gewanden. Und sie standen wie Erscheinungen, fuhren fort in dem Wechselgesang, und es sangen: _Die Engel:_ Erschrecket nicht, und seid All' froh! Alle-alleluja! Denn, den ihr sucht, der ist nicht da. Alle-alleluja! _Martha:_ Ach Engel! lieber Engel fein, Alle-alleluja! Wo find' ich doch den Herren mein? Alle-alleluja! _Die Engel:_ Er ist erstanden aus dem Grab, Alle-alleluja! Heut' an dem heil'gen Ostertag. Alle-alleluja! _Maria:_ Habt Dank, ihr lieben Engel fein. Alle-alleluja! Nun woll'n wir Alle fröhlich sein! Alle-alleluja! Sie schwiegen nun und lächelten. -- -- Und wir nicht auch? Nun wollen wir Alle fröhlich sein! sagte Paschalis und zog seine Tochter, die Willige nun, an das Herz. Und Ihr auch? alter Wecker! sprach mit dankbarem Handschlag Johannes. Ihr bleibt bei uns und zieht mit hinab, wenn das neue Haus steht. Das wollt' ich nur wissen! sagte der Alte und sang mit Thränen ein frohes: Alle-alleluja! Und Christel betete leise: Habt Dank, ihr lieben Engel! dann rief sie Sophiechen und sagte: siehe, mein Kind, heut' tanzt die Sonne! denn heut' ist heiliger Ostertag! Dorothee nahm sie auf den Arm. Und das Kind sah' in die rothe, große, zitternde Sonnenscheibe, und die Augen gingen ihm über, und Dorotheen. Aber Paschalis trat mit wunderlicher Scheu vor Martha, die ihn aus dem Schleier ansah, und bot _ihr_, wie zur Versöhnung, die Hand und blickte mit feuchten Augen zum Himmel. Die Engel aber schieden, küßten die Kinder und grüßten Alle mit freundlichem Lächeln und sprachen: _Friede sei mit Euch!_ Anmerkungen zur Transkription Quelle: Leopold Schefer's ausgewählte Werke. Dritter Theil. Veit und Comp., Berlin, 1845, pp. 1-107. Im Original g e s p e r r t e Textstellen werden _kursiv_ wiedergegeben. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. End of the Project Gutenberg EBook of Die Osternacht, by Leopold Schefer *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE OSTERNACHT *** ***** This file should be named 40523-8.txt or 40523-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/0/5/2/40523/ Produced by Jens Sadowski Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. *** START: FULL LICENSE *** THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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The Project Gutenberg EBook of Hygiene des Geschlechtslebens, by Max Gruber This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Hygiene des Geschlechtslebens Author: Max Gruber Release Date: December 28, 2016 [EBook #53823] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HYGIENE DES GESCHLECHTSLEBENS *** Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net #################################################################### Anmerkungen zur Transkription Der vorliegende Text wurde anhand der 1916 erschienenen Ausgabe der Zeitschrift so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche sowie inkonsistente Schreibweisen wurden beibehalten, insbesondere wenn diese in der damaligen Zeit üblich waren oder im Text mehrfach auftreten. Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter an den Anfang des Textes verschoben. Die Erklärungen zu den Tafeln 1 und 2 wurden der Übersichtlichkeit halber direkt an die Abbildungen angeschlossen. Die Originalausgabe wurde in Frakturschrift gesetzt. Für abweichende Schriftschnitte wurden die folgenden Sonderzeichen verwendet: fett: =Gleichheitszeichen= gesperrt: +Pluszeichen+ Antiquaschrift: _Unterstriche_ #################################################################### Bücherei der Gesundheitspflege Band 13 Prof. Dr. M. v. Gruber Hygiene des Geschlechtslebens Hygiene des Geschlechtslebens Von Dr. Max v. Gruber K. Geh. Rat u. Obermedizinalrat o. ö. Professor der Hygiene an der Universität München +11. bis 13., verbesserte Auflage+ 53.-70. Tausend Mit vier farbigen Tafeln [Illustration] Verlag von Ernst Heinrich Moritz in Stuttgart Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten Gesetzliche Formel für den Schutz gegen Nachdruck in den Vereinigten Staaten: _Copyright 1916 by Ernst Heinrich Moritz, Stuttgart_ Druck der Engelhard-Reyherschen Hofbuchdruckerei in Gotha Inhalts-Übersicht. Seite Einleitung 1 1. Kapitel: Die Befruchtung 3 2. „ Vererbung und Zuchtwahl 18 3. „ Die Geschlechtsorgane 40 4. „ Der Geschlechtstrieb und die angebliche hygienische Notwendigkeit des Beischlafs 45 5. „ Folgen der geschlechtlichen Unmäßigkeit und Regeln für den ehelichen Geschlechtsverkehr 58 6. „ Künstliche Verhinderung der Befruchtung 67 7. „ Verirrungen des Geschlechtstriebs 76 8. „ Die venerischen Krankheiten und ihre Verhütung 83 9. „ Ehe oder freie Liebe 100 Einleitung. Mit einem lebhaften Gefühle von Bangigkeit habe ich diese kleine Schrift veröffentlicht. Ich habe in ihr die heikelsten Dinge rückhaltlos besprochen. Ich mußte es tun, wenn der Leser volle Einsicht in das Geschlechtsleben erhalten sollte. Diese aber wollte ich gewähren, weil ich überzeugt bin, daß diese Einsicht, zur rechten Zeit empfangen und vernünftig gebraucht, den besten Schutz gegen die furchtbaren Gefahren bietet, die dem einzelnen wie der Gesamtheit aus dem Geschlechtsleben drohen. „Vernunft und Wissenschaft des Menschen allerhöchste Kraft“ gilt hier wie überall! Aber das scharfgeschliffene Schwert wird in der unrechten Hand, unvorsichtig gebraucht, dem, den es schützen sollte, zur Gefahr; was Arznei sein sollte, wird zum Gift. Ich bitte daher den Leser dieses Schriftchens, es sorgfältig zu bewahren, damit es nicht Unberufenen in die Hand falle! Und den Knaben, dem es trotzdem in die Hände kommt, bitte ich, wenn sein Ohr bis dahin von unreinen Reden verschont geblieben ist und wenn er bis dahin noch nichts von den Regungen des Geschlechtstriebes verspürt hat, sich selbst zu beweisen, daß ein Mann in ihm steckt, seine Neugierde zu unterdrücken und es ungelesen wegzulegen. Möge er sich glücklich schätzen, solange er von diesem Triebe noch nicht beunruhigt wird, der ihn zum bloßen Werkzeug zur Erhaltung der Gattung machen will und nur allzufrüh eines der schlimmsten Hindernisse bilden wird, das zu überwinden er alle Kraft wird aufbieten müssen, wenn er seine persönlichen Fähigkeiten zur vollen Ausbildung bringen, als +Individuum+ etwas Tüchtiges werden und leisten will. Möge er sich hüten, den noch Schlummernden vorzeitig selbst zu wecken! Als Leser habe ich mir vor allen den zum Manne reifenden Jüngling gedacht. Aber auch ihm gegenüber muß es meine erste Sorge sein, seinen Geist richtig zu stimmen, damit er das, was er hören soll, mit Ernst und reinem Willen aufnehme. Die wichtigste Aufgabe der Söhne ist, gesunde Enkel zu erzeugen. So betrachtet, ist das Geschlechtsleben kein Gegenstand schamloser Leichtfertigkeit, als der es leider behandelt zu werden pflegt. So mannigfaltig die Empfindungen sind, die das Nachdenken und die Besprechung geschlechtlicher Dinge in uns erwecken, eine müßte bei richtiger Betrachtung die stärkste sein: die Empfindung der +Ehrfurcht+. Denn was gibt es Ehrwürdigeres auf Erden als den Drang der Geschlechter nach Vereinigung, der auch unsere Eltern zusammengeführt hat, als den geheimnisvollen Vorgang des Zusammentrittes der Zeugungsstoffe, aus dem wir selbst hervorgegangen sind und durch den wir wieder Erzeuger unserer Nachkommen werden? Was gibt es Ehrwürdigeres als diesen unversieglichen Quell jungen Lebens, der im Wechsel vergänglicher Generationen die Gattung unsterblich erhält? Wahrlich, nicht um unsere Lust handelt es sich, wenn die Natur den Geschlechtstrieb in uns zu erwecken beginnt, lange bevor wir selbst unsere volle körperliche und geistige Ausbildung erlangt haben. Das Individuum ist ihr nur das Werkzeug zur Erhaltung der Gattung. Sicherstellung neuer Befruchtungen, neuer Zeugungen ist das Ziel des ganzen Geschlechtslebens. Die Vorgänge, durch welche aus der befruchteten Eizelle das junge Tier hervorgeht, sind unfaßbar verwickelt. Der Wissenschaft ist es aber im Laufe der letzten Jahrzehnte gelungen, den Vorgang der Befruchtung selbst wenigstens im wesentlichen aufzuklären. Wir beginnen unsere Aufgabe am würdigsten, wenn wir uns diese Erkenntnisse zu eigen machen. Der ganze ungeheure Ernst des Geschlechtslebens und der Zeugung wird uns zum Bewußtsein kommen, wenn wir sehen, wie eng das Kind bis in jede einzelne seiner Myriaden von Zellen hinein mit dem Leibe seiner Eltern und Vorahnen verknüpft ist, in wie hohem Grade daher sein ganzes Sein von ihrer Eigenart, Tüchtigkeit, Kraft und Gesundheit abhängig ist. Neue Pflichten erwachsen uns aus dieser Einsicht: die Pflicht, in unserer Lebensführung alles zu vermeiden, was den von uns abgesonderten Keimstoffen schädlich werden kann, und die Pflicht, keine Kinder zu erzeugen, die voraussichtlich krank sein werden. 1. Kapitel. Die Befruchtung. Damit es bei den Organismen (Lebewesen) mit geschlechtlicher Fortpflanzung zur Entstehung eines neuen Individuums (Einzelwesens) komme, ist es notwendig, daß das weibliche Ei durch den männlichen +Samen+ befruchtet werde. Der Samen verdankt seine Fähigkeit, zu befruchten, winzig kleinen Körperchen, die massenhaft in ihm enthalten sind. Sie sind so klein, daß man sie nur unter dem Mikroskop bei starker Vergrößerung sehen kann. In jedem Tröpfchen menschlichen Samens sind Zehntausende dieser Körperchen enthalten, die sich, solange der Samen frisch und warm ist, lebhaft bewegen. Diese Körperchen heißen +Samenfäden+ (Spermatozoen, Spermatosomen, Spermien). Man unterscheidet an ihnen drei Abschnitte, den sog. +Kopf+, das +Mittelstück+ und den +Schwanz+ oder Geißelfaden. Beim Menschen ist der ganze Samenfaden etwa 5/100 _mm_ lang, sein Kopf, der etwa die Gestalt einer etwas plattgedrückten Birne hat, aber nur 3/1000 _mm_. Der größte Teil der Länge des Spermatosoms entfällt auf den feinen Geißelfaden, den Schwanz. Die Vorwärtsbewegung des Samenkörperchens erfolgt durch Schwingungen dieses Schwanzes. Mit seiner Hilfe kann es ziemlich weite Wege zurücklegen. In einer Sekunde kann ein Samenkörperchen bei gradlinig fortschreitender Bewegung einen Weg von 5/100 bis 15/100 _mm_ zurücklegen, in der Stunde also einen Weg von 180-540 _mm_ oder 18-54 _cm_. Bei Fischen und bei anderen Tieren, bei denen das unbefruchtete Ei nach außen abgesetzt und außerhalb des weiblichen Körpers befruchtet wird, kann man sehen, wie die Samenfäden alsbald das Ei aufzusuchen und zu umschwärmen beginnen. Auch die in die weiblichen Geschlechtsteile entleerten Samenfäden wandern mit Hilfe ihrer Geißelfäden dem Orte zu, wo sich das Ei befindet. Diese Bewegung der Samenfäden macht durchaus den Eindruck, als ob man mit eigenem Willen begabte Wesen vor sich hätte. Man hat die Samenfäden daher früher auch „+Samentierchen+“ genannt; aber sie sind keine des selbständigen Lebens und der Vermehrung fähige Wesen, sondern sehr hinfällige Zellen, die bald absterben, wenn sie sich nicht mit dem Ei vereinigen können. Das Ei ist eine kugelige Zelle, an der man die +Hüllhaut+ (Eihaut, Eimembran), den +Dotter+ und das +Keimbläschen+ unterscheiden kann. Bei den großen Eiern der Vögel kann man diese drei Teile leicht mit unbewaffnetem Auge erkennen: erst wenn die zarte Eihaut zerrissen wird, fließt der Dotter aneinander; in der Mitte des weißen Keimfleckes gewahrt man das Keimbläschen. Bei den Vögeln ist die Eizelle noch vom Eiweiß und der Eischale umhüllt. Beim Menschen ist das unbefruchtete Ei so klein, daß es gerade noch mit freiem Auge gesehen werden kann (Durchmesser 0,18-0,20 _mm_); aber es ist immer noch riesig groß im Verhältnisse zu den Samenfäden. Der Kopf des männlichen Samenfadens nimmt nur etwa ein Hunderttausendstel des Raumes eines menschlichen Eies ein. Dafür werden aber die Samenfäden in den männlichen Geschlechtsdrüsen, den +Hoden+, in ungeheuer viel größeren Mengen gebildet als die Eier in den +Eierstöcken+, den Geschlechtsdrüsen des Weibes. Im menschlichen Weibe reifen während der ganzen Zeit der Fortpflanzungsperiode etwa 400 Eier, während man schätzen kann, daß der Mann während der Dauer seiner Zeugungsfähigkeit etwa 400 Milliarden Samenfäden bildet, so daß also auf jedes reife Ei etwa 1000 Millionen Samenfäden kommen. So viele werden gebildet, damit wenigstens einige wenige ihr Ziel, das Ei, erreichen! Die ungeheure Mehrheit verfehlt ihr Ziel und geht zugrunde; selbst von jenen, welche bis zum Ei gelangt sind, gelingt es als Regel nur einem +einzigen+, ins Innere des Eies zu gelangen. Dort, wo die Befruchtung des Eies außerhalb des weiblichen Körpers erfolgt -- die See-Igel liefern besonders geeignetes Beobachtungsmaterial --, kann man sehen, wie die Samenfäden, mit dem Kopfe voran, da und dort in die Eihaut eindringen. Sobald ein Samenfaden sich dem Dotter bis auf eine gewisse Entfernung genähert hat, baucht sich der Dotter ihm entgegen aus, so daß sich hier ein Wulst, der sog. +Empfängnishügel+, bildet. In diesen Wulst dringt der Kopf des Samenfadens ein, während sein Schwanz, der seinen Dienst geleistet hat, abgestoßen und aufgelöst wird. Hierauf zieht sich der Wulst wieder in die Masse des Dotters zurück; die Befruchtung ist vollzogen. In diesem Augenblick umkleidet sich der Dotter mit einem neuen Häutchen, das keinen zweiten Samenfaden in den Dotter eindringen läßt. Um verstehen zu können, was nun im befruchteten Ei vor sich geht, ist es notwendig, daß wir weiter ausholen. Jedermann weiß, daß die einzelnen Abschnitte des Körpers, der Rumpf, die Gliedmaßen, nicht in sich gleichartige Gebilde sind, sondern aus Teilen von sehr verschiedenartigem Aussehen und mit sehr verschiedenartigen Leistungen bestehen. So finden wir in den Gliedmaßen unter der Haut die roten weichen Muskeln, die harten Knochen, die weißen Stränge der Nerven, die Röhren der Blutgefäße usw. Wenn wir dann die einzelnen +Organe+ (Werkzeuge) betrachten, so finden wir, daß auch sie nicht durch und durch aus einer gleichartigen Masse bestehen, sondern wieder aus verschiedenen +Geweben+ zusammengesetzt sind. Dies zeigt uns z. B. sofort eine aufmerksame Betrachtung des gekochten Fleisches, wie es auf unseren Tisch kommt. Auch die Gewebe wieder sind nicht homogene, in sich gleichartige Gebilde, sondern bestehen -- wie wir allerdings erst bei der mikroskopischen Untersuchung erkennen können -- aus winzig kleinen Elementarteilen, den sog. +Zellen+. Ebenso wie der Leib aller Tiere besteht der aller Pflanzen aus solchen Elementargebilden, die trotz manchen Verschiedenheiten im einzelnen der Hauptsache nach gleichartig gebaut sind. Manche pflanzliche und tierische Gewebe sehen zum Verwechseln ähnlich aus, so sehr stimmen sie in den Hauptzügen ihres Baues überein. Die niedrigsten Pflanzen und Tiere bestehen aus einer +einzigen+ Zelle. Hier leistet also die eine Zelle alle Lebensgeschäfte, wie die Aufnahme und Verdauung der Nahrung, die Ausscheidung des Unverdauten und der Abfälle des Stoffwechsels, die Wärmeerzeugung, Eigenbewegung, Fortpflanzung usw. Man nennt diese niedersten einzelligen Organismen, insofern sie tierischen Charakter haben, +Protozoen+. Im Gegensatz zu ihnen stehen die +Metazoen+, deren Leib aus einer Mehrheit von Zellen besteht. Das Metazoon ist gewissermaßen eine Kolonie von Protozoen. Je höher entwickelt das Tier ist, um so mehr unterscheiden sich seine einzelnen Zellen in ihrer Gestalt voneinander, um so verschiedener werden auch ihre Leistungen, um so vollkommener ist der Grundsatz der Teilung der Arbeit durchgeführt, so daß also nicht mehr alle, sondern nur ein Teil der Zellen mit der Nahrungsaufnahme und Verdauung beschäftigt ist, nur gewisse Zellen die Fortpflanzung besorgen usw. Der alte Name „Zelle“ bedeutet so viel als Kämmerchen, weil man anfangs dachte, daß jeder solcher Elementarorganismus mit eigenen, festen Wänden, einer Kapsel oder besonderen Haut umhüllt sei, wie man es bei vielen Pflanzenzellen tatsächlich findet. Heute wissen wir, daß durchaus nicht alle Zellen derartige Hüllen besitzen. Wir unterscheiden heute an jeder Zelle zwei Hauptteile: den +Zelleib+ oder das +Protoplasma+ und den +Kern+, ein bläschenartiges Gebilde, das meistens im Innern des Protoplasmas liegt und für gewöhnlich zu ruhen scheint, während ausschließlich vom Protoplasma die Aufnahme und Verdauung der Nahrung, die Bildung der Absonderungen, die Fortbewegung besorgt zu werden scheinen. Trotz der scheinbaren Ruhe ist aber der Kern an allen Vorgängen in der Zelle aufs engste beteiligt; er ist z. B. ganz unentbehrlich für die Verdauung der aufgenommenen Nahrung, für die Erhaltung und das Wachstum der Zelle, für die Bildung der Zellhaut, wo eine solche vorhanden ist. Man kann sagen, der Kern +regiere+ das Leben der Zelle. Die Eigenart der Zelle hängt fast ganz von ihm ab. Auch das Ei und der Samenfaden sind Zellen. Am Ei erkennen wir die Hauptteile der Zelle ohne weiteres; das Keimbläschen ist ihr Kern, der Dotter ihr Protoplasma, die Eihaut ihre Zellhaut. Der Samenfaden dagegen ist eine Zelle von sehr absonderlicher Form und mit einem Anhängsel, dem Schwanze. Aber auch bei ihm hat man den Kopf als Zellkern erkannt und einen zarten Saum um den Kopf und das Mittelstück als eine, allerdings winzig kleine, Menge von Protoplasma. Ei und Samenfaden unterscheiden sich dadurch sehr auffällig, daß das erstere in seinem Dotter ungeheuer viel Protoplasma besitzt, der letztere sehr wenig. Alle Zellen vermehren sich durch +Teilung+. Dies gilt für die mehrzelligen wie für die einzelligen Organismen. Unser ganzer Körper ist aus der fortgesetzten Teilung der befruchteten Eizelle hervorgegangen. „Jede Zelle stammt wieder von einer Zelle“; das ist eine der wichtigsten Feststellungen der Biologie. Dieser Wachstums- und Vermehrungsprozeß der Organismen ist eines der dunkelsten Rätsel, vor denen die Naturforschung steht; vorläufig unfaßbar auch dort, wo, wie bei den +Bakterien+, das Ganze sehr einfach vor sich zu gehen scheint. Einfach scheint uns die Sache nur deshalb, weil wir bei diesen winzigen Wesen von den meisten Vorgängen nichts sehen. Wir sehen hier nur, wie die Zelle wächst, eine stäbchenförmige Zelle z. B. sich bis zu einem gewissen Grade verlängert, wie dann in der Mitte ihrer Länge eine Scheidewand, dann eine Einschnürung auftritt, diese letztere immer deutlicher wird, bis schließlich die zwei Hälften auseinanderfallen. Jede Hälfte sieht genau so aus wie die Mutterzelle, bevor sie sich in die Länge gestreckt hatte, und jede hat auch genau dieselben Eigenschaften wie die Mutterzelle und ist wie diese befähigt, sofort wieder zu wachsen und sich zu teilen. Unter günstigen Umständen erfordert eine solche Teilung nicht mehr Zeit als 20 Minuten, so daß bei Fortdauer günstigster Umstände durch fortgesetzte Teilung binnen 24 Stunden aus einem einzigen Bakterium 4700 Trillionen werden könnten.[A] [Illustration: Tafel 1. (Nach Boveri.)] =Erklärung der Fig. 1-10 auf Tafel 1.= Fig. 1. Ruhende Zelle; _a_) Zelleib oder Protoplasma; _b_) ruhender Kern mit Chromatingerüste, Kernhaut und Kernsaft; _c_) Zentralkörperchen oder Centrosoma. -- Fig. 2. Zweiteilung des Centrosomas; beginnende Chromosomenbildung. -- Fig. 3. Die beiden Tochter-Centrosomen rücken gegen die Pole und umgeben sich mit Strahlenhöfen; das ganze Chromatin in (4) Chromosomen vereinigt. -- Fig. 4. Fortschreiten der beiden Vorgänge; Auflösung der Kernhaut, Aufsaugung des Kernsaftes. -- Fig. 5. Anordnung der Chromosomen in der sog. Äquatorialplatte; fädige Verbindungen mit den Centrosomen. -- Fig. 6. Längsteilung aller Chromosomen. -- Fig. 7 und 8. Wanderung der Tochter-Chromosomen zu den Polen: beginnende Teilung des Zelleibes. -- Fig. 9. Die Zweiteilung der Zelle vollzogen: Neubildung von Kernhaut und Kernsaft um jede Chromosomengruppe. Schwinden der Strahlenhöfe um die Centrosomen. -- Fig. 10. Übergang beider Tochterzellen in die Ruheform; Auswachsen der Chromosomen zum Chromatingerüste. Bei den Bakterien vermag man nicht recht den Kern und das Protoplasma zu unterscheiden, und vermag man daher auch nicht zu sagen, wie sich beide bei der Teilung verhalten. Anders ist es bei jenen Zellen, bei denen Protoplasma und Kern deutlich voneinander geschieden sind. Hier hat man die allermerkwürdigsten Vorgänge kennen gelernt. Wir müssen uns mit dieser sog. +indirekten+ (Umwegs-) +Zellteilung+ der kernhaltigen Zellen genauer beschäftigen, weil wir nur durch sie zu einem tieferen Verständnis der Befruchtung vordringen können. Wenn wir eine nicht in Teilung begriffene Zelle unter sehr starker Vergrößerung betrachten, erscheint uns der ruhende Kern als ein Bläschen, das in der Regel die Gestalt der Mutterzelle nachahmt. Wenn wir die Zelle künstlich färben, sehen wir, daß auch der Kern wieder ein zusammengesetztes Gebilde ist. Wir sehen in ihm ein oder mehrere rundliche Körperchen, die +Kernkörperchen+, und ein badeschwammartiges Gerüstwerk, das mit der deutlich erkennbaren Kernhaut zusammenhängt und den ganzen Kern durchzieht. Die Maschen der Waben dieses Gerüstwerkes sind vom +Kernsafte+ ausgefüllt. Eine der Substanzen, aus welchen das Gerüst besteht, hat die Eigenschaft, sich mit gewissen Farbstoffen stark zu beladen, wenn man die Zelle künstlich zu färben sucht; sie wird daher +Chromatin+ (färbbarer Stoff) genannt. Kommt es nun zur sog. indirekten Teilung oder Teilung durch „+Mitose+“ (+Fadenbildung+ des Chromatins), so verändert sich zunächst der Kern in der auffallendsten Weise (s. Tafel 1 Fig. 1-10). Das Chromatingerüste zieht sich zu einem zunächst vielfach gewundenen Strange zusammen, der weiter zusammenschrumpft, sich dabei verdickt und verkürzt und schließlich durch Querteilung in eine Anzahl von Teilstücken zerfällt, welche +Chromosomen+ genannt werden. Die Zahl dieser Chromosomen ist bei den verschiedenen Organismenarten verschieden (4, 8, 16 und mehr; beim Menschen 24), aber für die Zellen jeder Tier- und Pflanzenart unveränderlich. Während es zur Bildung der Chromosomen kommt, löst sich der Kern als solcher auf, indem die Kernhaut verschwindet und der Kernsaft ins Protoplasma übertritt. Die Chromosomen ordnen sich nun in einer Ebene, die ungefähr dem Äquator der Zelle entspricht, parallel hinter- und nebeneinander. Dann spaltet sich jedes Chromosoma der Länge nach in zwei genau gleichgroße Hälften, und die Hälften jedes Chromosoms wandern nun in entgegengesetzter Richtung, die eine nach dem einen, die andere nach dem andern Pol der Zelle. Die Zahl der Chromosomen hat sich also genau verdoppelt, und in der Nähe jeden Poles versammeln sich genau so viele Chromosomen, als die Mutterzelle hatte; also 4, wenn diese 4 hatte, 8, wenn 8 usw. Um jede der Chromosomengruppen scheidet sich nun wieder Flüssigkeit aus dem Protoplasma aus, die Chromosomen fangen an, Fortsätze auszusenden, die miteinander verwachsen, so daß wieder ein genau solches Gerüstwerk und eine genau solche Kernblase entstehen, wie sie die Mutterzelle hatte. Inzwischen hat sich auch das Protoplasma am Äquator eingeschnürt. Es wächst hier eine Scheidewand quer durch die Mutterzelle durch, die beiden Hälften lösen sich allmählich voneinander los, und indem sie wachsen, werden sie mehr und mehr das genaue Abbild der Mutterzelle, aus der sie hervorgegangen sind. So umständlich der Vorgang der Kernteilung und Kernneubildung schon nach dem bisher Gesagten ist, in Wirklichkeit ist er noch weit verwickelter. Tatsächlich fängt der Teilungsvorgang damit an, daß sich ein besonderes, kleines Körperchen, das sich neben dem Kerne im Protoplasma der Zelle findet, das +Zentralkörperchen+ oder +Centrosoma+, verdoppelt und die beiden Hälften an die Pole der Zelle auseinanderrücken. Um jedes der beiden neuen Centrosomen bilden sich fädige Strahlen. Ein Teil dieser Fäden heftet sich an die Chromosomen an, und mit Hilfe dieser Fäden werden die Chromosomenhälften -- wie wir’s beschrieben haben -- schließlich auseinandergezogen und gegen die Pole hingeführt. Tatsächlich regiert also das Zentralkörperchen oder Centrosoma den ganzen Teilungsvorgang. Aber so wichtig an sich dieser Vorgang ist, wollen wir uns auf diese Andeutungen beschränken, die aus der Abbildung wohl verständlich werden dürften. Für uns ist vor allem wichtig die Umwandlung des ruhenden Kernes in die Chromosomen, die Halbierung der Chromosomen und die sorgfältige Verteilung der Hälften auf die beiden Tochterzellen. Was durch den ganzen Vorgang erreicht wird, ist völlig klar: offenbar wird dadurch das Chromatin, die färbbare Substanz des Kernes, so gleichmäßig als irgend möglich auf die Tochterzellen verteilt. Offenbar ist diese gleichmäßige Verteilung des Chromatins Bedingung dafür, daß die Tochterzellen der Mutterzelle gleich werden. Der geschilderte Vorgang der sog. indirekten Zellteilung verläuft in der ganzen Tier- und Pflanzenwelt in der Hauptsache völlig gleichartig: der überraschendste Beweis für die enge Verwandtschaft alles Lebendigen! Genau so, wie wir’s hier geschildert haben, verläuft nicht nur die Zellteilung beim Wachstum der mehrzelligen Organismen, der Metazoen, sondern auch die ungeschlechtliche Fortpflanzung der Protozoen. Zellteilung folgt bei ihnen in dieser Weise auf Zellteilung; ohne Ende, wenn nicht äußere Hindernisse eintreten. Neben der ungeschlechtlichen Fortpflanzung sehen wir aber auch schon bei vielen Einzelligen geschlechtliche Fortpflanzung auftreten. Wir finden bei ihnen sogar mehrere Arten davon. Am einfachsten sind die +Kopulation+ und die +Konjugation+. Es kommt vor, daß sich zwei von diesen einander völlig gleichenden einzelligen Wesen aneinanderlegen, ihre Kerne sich spalten, die Hüllhäute an der Berührungsstelle der beiden Zellen verschwinden und nun die Kernhälften zwischen den beiden Individuen ausgetauscht werden. Die Hälfte des Kernes des Individuums _A_ wandert in das Individuum _B_ und umgekehrt, worauf sich die beiden Individuen wieder voneinander trennen. Die beiden Kernhälften, die eigene und die fremde, vereinigen sich, und in jedem Individuum erfolgt nun eine neue Kernteilung und die Teilung der Mutterzelle in Tochterzellen, genau so, wie wir’s oben geschildert haben. Noch einfacher ist der Vorgang, wenn geradezu zwei Individuen zu einem verschmelzen. Die beiden Kerne legen sich aneinander, und nun erfolgt die Vermehrung, indem jeder der beiden aneinanderliegenden Kerne in zwei Hälften geteilt wird, so daß jede Tochterzelle den halben Kern der Elternzellen _A_ und _B_ erhält und ihre Tochterzellen wieder je ein Viertel von _A_ und _B_ usf. Bei manchen Protozoen, bei den Metazoen und beim Menschen wird die Fortpflanzung, wie wir schon besprochen haben, durch +bestimmte Geschlechtszellen+ besorgt. Es gibt dann, wie wir bereits wissen, bei jeder Art zweierlei Geschlechtszellen, die sich durch ihr Aussehen unterscheiden und verschiedene Leistungen zu verrichten haben, aber in der Hauptsache, nämlich bezüglich ihrer Kerne, gleichartig sind. Diese Geschlechtszellen werden in eigenartigen Mutterzellen, bei den höheren Pflanzen und Tieren in besonderen Organen, durch Zellteilung gebildet. Im Gegensatz zu den anderen Zellen sind diese Geschlechtszellen in der Regel unfähig, für sich allein weiterzuleben, zu wachsen, sich zu teilen und zu vermehren. Es kommen aber Ausnahmen vor, und bei vielen höheren Wesen kann sich unter bestimmten natürlichen oder künstlich hergestellten Bedingungen auch aus dem +unbefruchteten+ Ei ein neues Individuum entwickeln (sog. +Parthenogenesis+ oder Jungfrauenzeugung, z. B. Entstehung der Drohnen aus den unbefruchteten Eiern der Bienen). In der Regel gehen die Geschlechtszellen zugrunde, wenn sie nicht zur Vereinigung gelangen; den Samenfäden fehlt es an Protoplasma, den Eiern fehlt das Zentralkörperchen, das Centrosoma, das den ersten Anstoß zur Zellteilung gibt. Im reifen, befruchtungsfähigen Zustande haben Eizelle und Samenfäden auch nur +halb so viel+ Chromatin und bilden auch nur +halb so viele+ Chromosomen als die gewöhnlichen Körperzellen ihrer Art, +da bei ihrer Reifung die Hälfte der Chromosomen ausgestoßen worden ist+. Dieser Unterschied in der Chromosomenzahl tritt zutage, wenn die Befruchtung erfolgt ist, die beiden Geschlechtszellen sich vereinigt haben. Nachdem der Kopf des Samenfadens vom Ei aufgenommen worden ist und die neugebildete Dotterhaut das Eindringen eines zweiten Samenfadens in das Innere des Eies unmöglich gemacht hat, sehen wir (s. Tafel 2, Fig. 11 bis 17), wie der Kopf des Spermatozoons sich allmählich dem Kerne der Eizelle nähert. Sein Kern nimmt dabei an Größe zu und teilt sich dann in +halb+ so viele Chromosomen, als den Kernen des Organismus, von dem der Samenfaden abstammt, sonst zukommen; beim Menschen also in 12. Die Chromosomen wachsen durch Fortsätze zu einem feinen Netzwerk aus. Zugleich scheidet sich aus dem Protoplasma der Eizelle Flüssigkeit aus, so daß der Kern des Spermatozoons nun genau wie das Kernbläschen einer ruhenden Zelle aussieht und dem Kerne der Eizelle zum Verwechseln ähnlich geworden ist. +Es besteht kein Geschlechtsunterschied mehr zwischen den beiden Kernen.+ Auch ihre Größe ist in diesem Stadium vollkommen gleich. Während diese Veränderungen mit dem Kerne vorgehen, hat sich ein winziges Körperchen, das mit dem Kopfe des Spermatozoons in das Ei mit hereingebracht worden ist, mit einem Strahlenhofe umgeben und in zwei Körperchen geteilt. Jedes von diesen bekommt wieder einen Strahlenhof. Wir haben ohne Zweifel Gebilde vor uns, die genau den Zentralkörperchen oder Centrosomen der gewöhnlichen, in der Teilung begriffenen Zellen entsprechen. Während Eikern und Samenkern immer näher zusammenrücken, rücken die beiden Centrosomen auseinander. Die beiden Kerne fangen nun gleichzeitig an, Chromosomen zu bilden; der Kern des Eies genau so viele wie der Kern des Samenkörperchens, also ebenfalls nur halb so viele, als die Kerne der betreffenden Tierart sonst bilden. Diese Chromosomen ordnen sich in einer Ebene zusammen und teilen sich der Länge nach. Ihre Hälften werden durch die Fäden, die von den Centrosomen ausgegangen sind, auseinander- und gegen die Pole hingezogen; kurz, alles weitere verläuft genau so wie mit dem +einen+ Kerne einer gewöhnlichen Zelle, die sich in indirekter Zellteilung befindet. Der einzige wahrnehmbare Unterschied ist nur der, daß die Hälfte der Chromosomen vom Eikern, die andere Hälfte vom Samenkern herrührt, und daß +jedem Pole angenähert die Hälfte der väterlichen und der mütterlichen Kernsubstanz zugeführt wird, also jede der beiden Tochterzellen einen Kern bekommt, der zur Hälfte vom Vater, zur Hälfte von der Mutter abstammt+. Da der Spermakern wie der Eikern halb so viele Chromosomen bildet als die Kerne der Körperzellen, so liefern beide zusammen ebensoviel Chromatin und Chromosomen, wie in einer normalen Zelle vorhanden ist, und jede der beiden Tochterzellen bekommt daher ebenfalls die normale Menge davon. Jede der beiden Tochterzellen teilt sich nun in derselben Weise weiter, und jedesmal erhält jede der bei der Teilung neu entstehenden Enkel-, Urenkel-, Ururenkel- usw. Zellen ungefähr gleichviel mütterliches und väterliches Chromatin; die Hälfte ihrer Chromosomen ist väterlicher, die andere Hälfte mütterlicher Herkunft. +Die Kernsubstanz jeder Zelle unseres Körpers stammt also halb vom Vater, halb von der Mutter her.+ Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß während der fortgesetzten Teilungen und Wachstumsvorgänge die Gesamtmasse des Chromatins sich ganz ungeheuer vermehrt hat. Die Substanzen, aus denen das neue Chromatin gebildet wurde, stammen natürlich aus der Nahrung; aber sie werden zuerst chemisch umgewandelt, +assimiliert+, dem ursprünglichen Chromatin gleichgemacht, bevor sie Teile der Zellkerne werden. Die Art dieser Umwandlung und Formung wird in einer noch nicht genügend aufgeklärten Weise durch die Beschaffenheit des ursprünglich ererbten Chromatins bestimmt. [Illustration: Tafel 2. (Nach Boveri.)] =Erklärung der Fig. 11-17 auf Tafel 2.= Fig. 11. _A_) +Ei.+ _a_) Eihaut mit ihren Porenkanälen (in den späteren Figuren weggelassen); _b_) Eidotter; _c_) ruhender Eikern; _d_) Empfängnishügel mit eingedrungenem Samenfaden. _B_) +Samenfäden.+ _e_) Kopf; _f_) Mittelstück; _g_) Schwanz des Samenfadens. -- Fig. 12. Vordringen des Samenkerns gegen den Eikern; Auftreten des Centrosoms der Samenzelle mit Strahlenhof; Auflösung des Schwanzes. -- Fig. 13. Teilung des Samenfadenkopfes in zwei Chromosomen. -- Fig. 14. Fortschreitende Annäherung des Samenkerns an den Eikern unter Auseinanderrücken der Tochter-Centrosomen an die Pole; Auswachsen der Samenkern-Chromosomen zum Chromatingerüste. -- Fig. 15. Der Samenkern ist dem Eikern gleich geworden. -- Fig. 16. Samenkern und Eikern haben gleichzeitig (je 2) Chromosomen gebildet. -- Fig. 17. Längsteilung der väterlichen und mütterlichen Chromosomen in gleiche Hälften und Verbindung der Hälften mit den Centrosomen. (Bezüglich der weiteren Entwickelung s. Fig. 7-10.) +Die Kernsubstanz unserer Zellen ist die eigentliche Vererbungssubstanz+; sie ist jedenfalls die Hauptträgerin der die einzelnen Individuen einer Art unterscheidenden vererblichen Anlagen. Das Protoplasma der Eizelle scheint hauptsächlich die Bedeutung eines Nahrungsstoffes für die wachsenden und sich teilenden Kerne zu haben, wenn es auch bei den verschiedenen Organismenarten chemisch und baulich ebenso spezifisch verschieden ist wie die Kernsubstanz und daher die der ganzen Art gemeinsame Beschaffenheit mitbestimmt. So wird es begreiflich, daß im allgemeinen das väterliche und das mütterliche Erbe gleichgroßen Einfluß auf die körperliche und geistige Beschaffenheit ihrer Nachkommen ausüben, obwohl die Mutter das große Ei, der Vater den winzigen Samenfaden liefert. Von der ganzen großen Masse des Eies ist nur ein winziger Teil, nicht größer als der Kopf des Spermatozoons, Vererbungssubstanz. Wie das Chromatin aller anderen Zellen ist auch das des Samenfadens und der Eizelle halb väterlichen, halb mütterlichen Ursprungs, und dies macht es wieder verständlich, daß Eigenschaften der Großeltern und viel fernerer Ahnen in den Enkeln wieder auftauchen können (+Atavismus+). Wenn wir uns vor Augen halten, daß auch auf ungeschlechtlichem Wege Fortpflanzung durch anscheinend unbegrenzte Zeiten möglich ist (man denke nur an die ungeschlechtliche Teilung der Bakterien und anderer Protisten [einfachster Lebewesen] und an die Fortzüchtung vieler Pflanzen durch sog. Ableger!), so kommt man zu dem Schlusse, daß es die Aufgabe der geschlechtlichen Fortpflanzung, der Befruchtung sei, durch Vermischung der Keimstoffe einerseits individuelle Eigentümlichkeiten und Abnormitäten der Eltern auszugleichen und so die Gesamtheit der Anlagen und damit die Haupteigenschaften der Spezies unverändert zu erhalten, andererseits wieder neue Kombinationen von Anlagen und dadurch Mannigfaltigkeit unter den Individuen herzustellen. 2. Kapitel. Vererbung und Zuchtwahl. Im vorhergehenden Kapitel ist es mir vor allem darum zu tun gewesen, dem Leser zu zeigen, daß die aufeinanderfolgenden Generationen aufs allerengste miteinander verknüpft sind. Geformte Teile des elterlichen Körpers haben sich losgelöst und setzen in dem neuen Gebilde, das wir Individuum nennen, das Leben fort, das sie im elterlichen Körper geführt haben. Das +Neue+ an dem neuen Individuum ist +nur+, daß eine neue +Mischung+ von Lebendigem erfolgt ist. +Wir sind, wenigstens den Anlagen nach durchaus, körperlich und geistig, die Geschöpfe unserer Eltern und Ahnen.+ In dem elterlichen Chromatin, in dem +Keimplasma+ oder +Idioplasma+, wie es auch genannt wird, ist unsere ganze Organisation vorherbestimmt. Durch das Keimplasma ist vorherbestimmt gewesen, daß wir Angehörige der +Spezies Mensch+ geworden sind; von ihm hängen die Farbe unserer Haut, die Beschaffenheit unserer Haare, der Bau des Schädels und alle anderen Eigentümlichkeiten der +Menschenrasse+ ab, die wir an uns tragen, alle Eigentümlichkeiten unseres +Volksstammes+ innerhalb der Rasse; innerhalb der Eigentümlichkeiten des Volksstammes wieder alle Besonderheiten der +Familie+ und alles mit der +Individualität+ unserer Eltern Übereinstimmende in uns. Die Farbe unserer Augen, die Gestalt der Nase, des Mundes, der Ohren, die Statur, der Gang, die Gebärde, die Sprechweise, die geistige Begabung, der Charakter, das Talent und Temperament, kurz +alles+ ist hier im Keimplasma in der Hauptsache schon festgelegt, so groß und wichtig auch die äußeren oder „+Umwelts+“-(„Milieu-“)Einflüsse sind, die die Keime während ihrer Entwicklung und bis zu ihrer Vereinigung und das Individuum +nach+ der Vereinigung der elterlichen Keime treffen. Wenn trotzdem selbst die Kinder gleicher Eltern in der Regel untereinander verschieden sind und nicht selten sogar sehr auffällige Unterschiede zeigen, so rührt dies -- wenn wir von der merkwürdigen, noch nicht genügend aufgeklärten Tatsache der sog. +Mutation+, d. h. des plötzlichen Neuauftretens oder Verlustes einer vererbbaren Eigenschaft oder Anlage in einem Individuum, hier absehen -- hauptsächlich von zwei Umständen her. Erstens davon, daß kaum jemals die Bedingungen, unter denen sich zwei Individuen entwickeln, ganz gleich sind und die +Verschiedenheit der Lebensbedingungen bei gleichen Anlagen+ Verschiedenheiten des Aussehens und der Leistungen der Individuen herbeiführt (+Modifikation+, +Lebenslage-Variation+). Zweitens aber -- und dies ist viel wichtiger! -- davon, daß +kaum jemals die Kinder desselben Elternpaares tatsächlich gleiche Anlagen erhalten+. Die Keimstoffe sind nämlich nichts Einheitliches! +Die Erbmasse ist ein Konglomerat (Zusammenballung) einer ungeheuren Anzahl einzelner Anlagen (Erbeinheiten), welche in hohem Maße unabhängig voneinander vererbt werden.+ Wir haben gehört, daß bei der Reife der Keimzellen die Hälfte der Chromosomen und des Chromatins ausgestoßen wird. Bei dieser Ausstoßung trennen sich die +zusammengehörigen+ väterlichen und mütterlichen Anlagen voneinander, und nur eine von ihnen bleibt in der reifen Keimzelle zurück (z. B. die Anlage zu brauner Augenfarbe, die etwa vom Vater ererbt war, oder die Anlage zu blauer, die von der Mutter ererbt war). Es ist aber +rein zufällig+, +welche+ von diesen beiden Anlagen im einzelnen Falle zurückbleibt. Da es sich dabei um eine ungeheuere Zahl von Anlagenpaaren handelt, ist es klar, daß auf diese Weise eine ungeheuere Zahl von Kombinationen (Zusammenstellungen) der Anlagen bei der Reifung der Keimzellen entstehen muß; sowohl bei denen des Mannes wie bei denen der Frau. Und wieder ist es +völlig dem Zufall+ anheimgegeben, welche von diesen verschiedenartigen Keimzellen des Vaters und der Mutter bei der einzelnen Befruchtung gerade zusammentreffen! Und nun wirken diese neukombinierten zusammengehörigen Anlagen wieder in verschiedener Weise aufeinander, mischen sich in einem Falle in ihrer Wirkung, während in einem andern Falle die eine die andere völlig unterdrückt! Alle diese Umstände müssen bewirken, daß fast niemals zwei Individuen einander ganz gleich werden; müssen jene Unterschiede alles Geborenen in bezug auf Gestalt, Körperkraft, Gesundheit, Begabung, Tatkraft herbeiführen, die zwar im Vergleiche zu dem Übereinstimmenden klein, trotzdem aber für Wert und Schicksal des Individuums entscheidend sind! Wie weit die Abhängigkeit der Beschaffenheit der Nachkommen von der Beschaffenheit der elterlichen Zeugungsstoffe geht, wird durch nichts klarer bewiesen als durch das Vorkommen von sog. +identischen Zwillingen+, zum Verwechseln ähnlichen Individuen, die infolge einer Störung des normalen Entwicklungsganges aus +einem Ei+ und +einem Samenkörperchen+ entstanden sind. Wenn beim Menschen die Vererbung der +Besonderheiten+ der Eltern und Familienstämme auf die Nachkommen nicht auffallender ist, so rührt dies davon her, daß wir bei der Gattenwahl meistens auf diese Eigentümlichkeiten keine Rücksicht nehmen, sondern von ganz anderen Beweggründen uns leiten lassen. Mit welcher Vollkommenheit individuelle Eigenschaften der Eltern auf die Nachkommenschaft vererbt und bei ihr ausgebildet werden können, zeigt die +künstliche Zuchtwahl+, die der Mensch unter seinen Haustieren und Kulturpflanzen trifft. Die Mittel, die er dabei anwendet, sind: Auslese der vollkommensten oder mit einer bestimmten erwünschten Eigenschaft ausgestatteten Exemplare für die Zucht, Kreuzung möglichst ähnlicher Individuen, Auslese der Nachkommen in demselben Sinne, Inzucht der erwünschten Varietät (Abart), strenge Reinzucht der Rasse, strengster Ausschluß aller minderwertigen, fehlerhaften oder kranken Exemplare von der Fortpflanzung und jeder Vermischung mit fremden Blute, sorgfältige Pflege der Brut. So gelingt es, binnen weniger Generationen Stämme von vollendeter Schönheit und Tüchtigkeit oder von auffallendester Besonderheit zu züchten. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn wir unter uns in ähnlich sorgfältiger Weise +Zuchtwahl+ treiben würden, +binnen weniger Generationen Menschenstämme erzeugt werden könnten, die alles, was es bisher von Menschen gegeben hat, an Schönheit, Kraft und Tüchtigkeit weit hinter sich lassen würden+. An nichts kranken die menschlichen Zustände so sehr, als daß viel zu viele Minderwertige, Dumme, Schwache, Faule, Gesellschaftsfeindliche erzeugt werden und viel zu wenig Vollwertige, Gescheite, Starke, Strebsame, Gemeinsinnige, Gewissenhafte! Zwangsweise läßt sich auf absehbare Zeit die Züchtung einer edlen Menschenrasse nicht durchführen. Aber jeder sollte beim Abschluß der Ehe daran denken, daß die Kinder nicht vom Himmel fallen und Edles nur durch Erbschaft von Edlem entstehen kann, gut geratene Kinder nur durch glückliche Vereinigung des gut Geratenen der Ahnen. +Die tüchtige Jugend sollte daher das hohe Ideal der bewußten Erzeugung und Fortpflanzung körperlich, geistig und sittlich bestbeanlagter Familienstämme, =bewußter Zuchtwahl=, erfassen und freiwillig befolgen.+ Vor solchen Generationen von Tüchtigen aus Tüchtigen müßten Minderwertigkeit und Nichtswürdigkeit bald das Feld räumen. Wenn wir auch nicht zwangsweise Übermenschen züchten können, mit jener Gedankenlosigkeit und Leichtfertigkeit wie bisher darf es bei der Kindererzeugung jedenfalls nicht weitergehen! Es muß ins allgemeine Bewußtsein übergehen, +daß es eines der schlimmsten Verbrechen ist, Kinder zu erzeugen, von denen man vorher wissen kann, daß sie höchstwahrscheinlich verkümmert, verkrüppelt, schwer krank oder mit schwerer Krankheitsanlage behaftet sein werden+. Tausende und Tausende werden erzeugt, die besser unerzeugt geblieben wären. Namenloses Elend, eine unendliche Summe von Schmerz und Qual wird dadurch immer von neuem in die Welt gebracht! Vernunftbegabten Wesen geziemt es nicht, so zu handeln. Wenn ein Mensch von Geburt auf mit Fehlern oder Krankheit behaftet, zu bestimmten Erkrankungen veranlagt oder im allgemeinen schwächlich und wenig widerstandsfähig ist, so kann dies sehr verschiedene Ursachen haben. Es kann darauf beruhen, daß er aus Keimstoffen hervorgegangen ist, die +von den Ahnen her+ fehlerhaft oder minderwertig sind (+Vererbung im eigentlichen Sinne+). Es kann sein, daß von Hause aus gutgeartete Keimstoffe erst +im Leibe der Eltern+ verschlechtert worden sind (+Keimverderb+). Es kann sein, daß ein aus gesunden und kräftigen Keimen hervorgegangener Sprößling +während seines Lebens im Mutterleibe geschädigt+ oder krank geworden ist. Es gibt aber auch nicht wenige Fälle, wo es nur so scheint, als ob das Kind bereits krank und minderwertig geboren worden wäre und in Wahrheit seine Krankheit oder Minderwertigkeit auf Schädigungen beruht, die es erst +nach der Geburt in seiner frühesten Kindheit+ erfahren hat. Es ist wichtig, diese Dinge zu unterscheiden, da sie beim Abschluß der Ehe und bei der Kindererzeugung berücksichtigt werden müssen. Was die im eigentlichen Sinn vererblichen Fehler und Mängel des Keimplasmas anbelangt, so ist zunächst zu sagen, daß es eine Reihe von +Bildungsfehlern+ gibt, die bei sonstiger normaler Beschaffenheit von Generation auf Generation, manchmal mit Überspringung einzelner Glieder der Kette, vererbt werden. Zum Teile sind sie ganz geringfügig und nicht beachtenswert, z. B. Muttermale oder Vertauschung von rechts und links bei der Lagerung der Eingeweide. Viel bedeutungsvoller ist die Vererbung von schlechter, zu Zahnfäule (Karies) neigender Zahnbeschaffenheit, von Kurzsichtigkeit, Farbenblindheit und anderen Fehlern des Auges, von gewissen Formen unheilbarer, fortschreitender Schwerhörigkeit, die Vererbung überzähliger Finger und Zehen, der Hasenscharte (gespaltene Oberlippe oder Oberkiefer), des Wolfsrachens (gespaltener Gaumen), von Mißbildungen der Finger und der Hände. Höchst ungünstig für die Nachkommenschaft ist die vererbliche Verkümmerung der Brustdrüse, wegen der damit verbundenen Unfähigkeit zum Stillen. Ein anderer böser ererbter Bildungsfehler ist die sog. Bluterkrankheit oder Hämophilie. Die geringste Verletzung kann beim „Bluter“ fast unstillbare Blutverluste und selbst den Tod durch Verblutung herbeiführen. Höchst merkwürdig ist bei dieser glücklicherweise seltenen Krankheit, daß sie nur bei den männlichen Nachkommen auftritt und nur durch die selbst gesund bleibenden weiblichen Nachkommen vererbt wird. Diese +Latenz+ (das Verborgenbleiben) der Erbeigenschaften in den weiblichen Gliedern eines Familienstammes kommt übrigens auch bei anderen krankhaften sowie bei lebensnützlichen Anlagen (Talenten) vor; geradeso, wie Frau und Mann gewisse Besonderheiten der Merkmale des anderen Geschlechtes (z. B. des Bartwuchses, der Form und Größe der Brüste) verborgen auf ihre Söhne bzw. Töchter vererben. Auf vererblichen Fehlern der Keimstoffe beruht ferner die Neigung der Mitglieder mancher Familien zu gewissen +Stoffwechselkrankheiten+, wie namentlich zur Gicht, zur Fettsucht, zur Zuckerharnruhr; die Neigung zu gewissen langwierigen +Hautkrankheiten+, insbesondere zu den sog. Flechten. Auch gewisse Erkrankungen des Herzens und der Blutgefäße, die zum Schlagflusse führen, scheinen auf erblicher Grundlage zu entstehen. Allgemein bekannt ist es endlich, daß in einzelnen Familien die Neigung zu +Geisteskrankheiten+ und +nervösen Leiden+ mannigfacher Art sich forterbt. Dabei ist bemerkenswert, daß die Art des Nervenleidens bei den verschiedenen Familiengliedern sehr verschieden sein kann. Einige zeigen reizbare Schwäche oder Exzentrizität in ihren Meinungen und Neigungen, jähen Wechsel ihrer Stimmung, andere leiden an Krämpfen, Lähmungen, Epilepsie; neben eigentlichen Geisteskrankheiten treten Hysterie, Hypochondrie, Trunksucht, Neigung zu geschlechtlichen Ausschweifungen, zu Selbstmord, zu Verbrechen auf. Das Vererbte ist eine abnorm +leichte Störbarkeit+ und +Verwundbarkeit+ des Nervensystems. Welche Krankheit sich dann tatsächlich entwickelt, scheint bis zu einem gewissen Grade vom „Zufall“ abzuhängen. Nach neueren Forschungen ist es aber gewiß, daß es +verschiedenartige+ krankhafte Veranlagungen des Nervensystems gibt, z. B. besondere Anlagen zu Verrücktheit, zu Epilepsie usw. Ein erheblicher Bruchteil der Nachkommen pflegt übrigens selbst bei schwerer Belastung von wirklicher Erkrankung freizubleiben, und bei manchen Arten solcher Vererbungen können neben der fehlerhaften Anlage hohe geistige Begabung, Talent, Schwung und Tatkraft einhergehen. Bei schwerster Belastung zeigen einzelne Familienglieder auch körperliche Bildungs- und Entwicklungsfehler (die sog. Degenerationszeichen). Viel häufiger als eine solche begrenzte Fehlerhaftigkeit der Keime, die sich in bestimmten Bildungsfehlern und Krankheitsanlagen der im übrigen vielleicht völlig gesunden und kräftigen Nachkommen äußert, ist ihre +Minderwertigkeit und Schwächlichkeit im ganzen+, wie sie in der Lebensschwäche und kümmerlichen körperlichen, intellektuellen und moralischen Entwicklung des Kindes und in seiner Kränklichkeit, d. h. seiner geringen Widerstandsfähigkeit gegen äußere Schädlichkeiten, zutage tritt. Diese Lebensschwäche der Keime kann wieder etwas sein, was schon von den Vorfahren ererbt ist. Meistens aber ist sie erst die Folge der ungünstigen Bedingungen, unter denen die Keime im Körper der Eltern gewachsen sind. So ist die Schwächlichkeit der Kinder nicht selten einfach auf das +unpassende Alter der Eltern+ zurückzuführen. Nur innerhalb einer gewissen Lebensperiode steht die Keimbildung auf voller Höhe. Kinder zu junger Eltern (Mutter unter 20, Vater unter 24 Jahren) sind nicht selten lebensschwach und sterben daher zahlreicher schon im ersten Lebensjahr wieder ab. Es kommen bei ihnen auch häufiger als sonst Bildungsfehler, wie Hasenscharte, Wolfsrachen, Idiotie, vor, zum Zeichen, daß die Keimstoffe der Jugendlichen häufiger nicht allein weniger kräftig, sondern auch mit Fehlern behaftet sind. Bemerkenswert ist auch, daß jugendliche Mütter verhältnismäßig häufig Zwillinge gebären. Sie teilen diese Eigenschaft mit den älteren Frauen. Wie die zu jungen gebären zu alte Frauen häufiger lebensschwache Kinder. Auch Idiotie kommt unter den Kindern von Frauen über 40 Jahre häufiger vor als unter solchen von Frauen in der Vollkraft. Ebenso wie höheres Alter der Mutter wirkt das des Vaters (über 50 Jahre) im Durchschnitt nicht günstig. Ungünstig auf die Produktion der Keimstoffe wirken +schlechte äußere Lebensbedingungen, wie unzureichende Ernährung, körperliche Überanstrengung+ durch Arbeit, durch geschlechtliche Exzesse beim Manne, zu zahlreiche und zu rasch aufeinanderfolgende Schwangerschaften bei der Frau, +ungünstiges Klima+ (Aussterben der europäischen Familien in den +Tropen+) und anderes. Auch manche akute (heftige und kurzdauernde) und namentlich chronische (langwierige) +Erkrankungen+ des elterlichen Körpers schädigen die Keimstoffe. Weitaus am gefährlichsten sind diesen die +chronischen Vergiftungen+. Als der Nachkommenschaft besonders gefährliche Gifte sind zu nennen: der Alkohol, das Morphium, die giftigen Metalle und unter diesen das Blei und das Quecksilber, ferner gewisse von Mikrobien herrührende Gifte. Unter diesen letzteren ist mit Recht besonders berüchtigt das +syphilitische Gift+, das bei der +Syphilis+, der wichtigsten unter den sog. Geschlechtskrankheiten, im Körper auftritt. Dieses Gift vor allen führt zum Verderb vieler von Hause gesunder Keimstoffe und bedroht die modernen Völker mit Degeneration; dieses Gift ist es, das die städtischen Familien in ungeheuerem Umfang ausrottet. Infolge der Vergiftung des elterlichen Organismus mit diesem Gifte kommt es zu einer Verkümmerung der Zeugungsstoffe, die sich in dem Auftreten von Fehl-, Früh- und Totgeburten, in Lebensschwäche der Kinder, Mißbildungen und Verkümmerungen, nervösen Leiden, allgemeinem Siechtum und geringer Widerstandskraft gegen äußere Schädlichkeiten äußert. Besonders nachdrücklich möchte ich darauf hinweisen, daß die elterliche Syphilis in sehr hohem Maße für Tuberkulose zu disponieren (geneigt machen) scheint. Nächst dem Syphilisgifte dürfte der +Alkohol+ die wichtigste Ursache des Keimverderbs sein. Es ist erwiesen, daß Säufer sehr häufig unfruchtbar sind, und daß dies auf einem vorzeitigen Schwund der Hoden beruht. Unzählige ärztliche Erfahrungen scheinen zu beweisen, daß auch schon eine geringergradige chronische Vergiftung des elterlichen Körpers mit Alkohol in geringerer Lebensfähigkeit, in Schwächlichkeit und Kränklichkeit der Nachkommen und insbesondere in der +Minderwertigkeit ihres Nervensystems+ sich äußert. Kinder von eigentlichen Trinkern leiden überaus häufig an Idiotie, Geisteskrankheiten, Epilepsie, Trunksucht usw., wobei es allerdings schwierig zu entscheiden ist, inwiefern nicht schon die Trunksucht des Vaters als ein Zeichen für die +ererbte+ Krankhaftigkeit seines eigenen Zentralnervensystems anzusehen ist. Bei elterlicher Syphilis kommt noch etwas anderes vor als die Vergiftung der Keimstoffe im kranken elterlichen Körper. In einem gewissen Stadium der Syphilis kann +Ansteckung+ des befruchteten Keimes mit dem Syphilisparasiten, der _Spirochaete pallida_, erfolgen, so daß das Kind bereits mit Syphilis behaftet geboren wird oder schon im Mutterleibe infolge der Ansteckung mit Syphilis abstirbt. Solche Fälle sind leider sehr häufig. Anders steht es bei der +Tuberkulose+ der Eltern. Es kann auch hier vorkommen, daß das Kind bereits mit dem Tuberkelbazillus angesteckt geboren wird. Dies scheint indessen nicht vom Vater, sondern nur von der Mutter aus möglich zu sein und überaus selten vorzukommen. Erst nach der Geburt droht dem Kinde die Hauptgefahr, von seinen tuberkulösen Eltern oder sonstigen Verwandten angesteckt zu werden. Besonders gefährlich ist ihm der Tuberkelbazillen enthaltende Auswurf der Mutter und ihre Tuberkelbazillen enthaltende Milch. Die Gefahr ist um so größer, als eine überaus häufige Folge der elterlichen Tuberkulose Schwächlichkeit und Kränklichkeit der Kinder ist, wodurch ihre Widerstandskraft +allen+ äußeren Schädlichkeiten gegenüber von vornherein herabgesetzt ist. Man spricht aber auch von einer +spezifischen+ (einseitigen) Neigung, an Tuberkulose zu erkranken. Man spricht sogar von einem „tuberkulösen Habitus“ (äußerer Beschaffenheit). Leute mit „tuberkulösem Habitus“ sind charakterisiert durch große Körperlänge bei geringem Brustumfang, langem, flachem, oben engem Brustkorb mit abstehenden Schulterblättern und durch schlechte, schlaffe Körperhaltung. Diese Leute sind dabei mager, blutarm und größerer körperlicher Anstrengung nicht gewachsen, leicht in Schweiß versetzt; sehr häufig sind sie nervös leicht erregbar, von rascher Auffassung und lebhaftem Gemüte, aber von geringer Ausdauer. Ihre Muskeln sind schwach entwickelt, ihre Schleimhäute zart und blaß, ihr Appetit und ihre Verdauungskraft häufig gering. Ihr Herz ist leicht erregbar, aber schwach. Auffallend ist bei ihnen der rasche Wechsel von Röte und Blässe des Gesichtes, die Kühlheit von Händen und Füßen. Die genaue anatomische Untersuchung hat gezeigt, daß ihr Herz im Verhältnisse zu ihrer Körpergröße zu klein, ihre Blutgefäße zu eng sind. Dieser Habitus kann indessen auch bei Kindern von Eltern auftreten, welche weder tuberkulös erkrankt noch hereditär (erblich) belastet sind; andererseits bei Kindern tuberkulöser Eltern fehlen. Er führt auch keineswegs mit Notwendigkeit zu tuberkulöser Erkrankung. Es ist überhaupt zweifelhaft, ob es eine +spezifische+ Disposition (einseitige Empfänglichkeit) für Tuberkulose gibt und ob nicht die Häufigkeit der Tuberkulose in gewissen Familien neben der schon erwähnten Schwächlichkeit und geringen Widerstandsfähigkeit von Kindern kränklicher Eltern überhaupt, einfach auf der frühzeitigen massenhaften Ansteckung beruht, der die Kinder in solchen Familien, in der Nachbarschaft von Hustenden und Spuckenden ausgesetzt sind. Tatsächlich kann man nachweisen, daß die Kinder aus solchen Familien schon in den ersten Lebensjahren bis zu 90 und 100 Prozent angesteckt werden, während es bei Kindern aus nicht tuberkulösen Familien 18 und noch mehr Jahre dauern kann, bis alle infiziert sind. Übrigens kommt es auch nach erfolgter Ansteckung in der Regel nur unter Zusammenwirken ungünstiger Umstände, unter denen namentlich schlechte oder falsche Ernährung, körperliche Überanstrengung, Exzesse _in baccho et venere_ und schwächende Krankheiten zu nennen sind, zum Ausbruch der Krankheit. Unter dem Zusammenwirken solcher Einflüsse können auch Menschen aus gesundem Stamme an Tuberkulose erkranken; die Nachkommen von tuberkulösen Eltern erkranken nur häufiger und erliegen der Krankheit rascher. In den schlimmsten Fällen vermögen die sorgfältigste Pflege, die beste Ernährung, die größte körperliche Schonung Erkrankung und Tod im kräftigsten Lebensalter nicht zu hindern. Aber so schlimm steht es glücklicherweise selten. In den meisten Fällen kann man durch +möglichst frühzeitige Absonderung der Kinder von Personen mit offener Tuberkulose+ und durch Schaffung guter hygienischer Verhältnisse, durch Vermeidung aller Ausschweifungen, durch Enthaltsamkeit von Alkohol auch solche disponierte Personen vor der Krankheit bewahren. Man ist jetzt geneigt anzunehmen, daß ihre Neigung, an Tuberkulose zu erkranken, davon herrührt, daß sie seit der ersten Kindheit in einzelnen tuberkulös erkrankten Organen, z. B. in erkrankten Lymphdrüsen, besonders reichliche Mengen von Tuberkelbazillen mit sich herumtragen, die gelegentlich in die Lunge geraten und hier die Schwindsucht hervorrufen können. Im Zusammenhange mit der Vererbung muß auch die sog. +Inzucht+ besprochen werden, d. h. die Kindererzeugung zwischen nahen Blutsverwandten. Sie ist nicht +an sich+ schädlich. Dies lehren die Erfahrungen der Tier- und Pflanzenzüchter, die gerade durch eine vorsichtige Inzucht vorzügliche Rassen herzustellen imstande sind. Sie darf sich nur nicht in zu vielen Generationen wiederholen, sonst führt sie zur Unfruchtbarkeit. Alle Völker, welche eine bedeutende Rolle in der Geschichte gespielt haben, wie die nordische Rasse oder die Juden, sind ohne Zweifel aus einer weit getriebenen und lange fortgesetzten Inzucht hervorgegangen. Die Gefahr der Inzucht für den Menschen liegt darin, daß nahe Verwandte häufig die +gleichen+ Anlagen zu Bildungsfehlern und Krankheiten haben und die ungünstige Wirkung dieser Anlagen sich dann bei den Nachkommen summiert. Der Züchter schließt dies so gut als möglich aus, indem er nur tadellose Exemplare paart. Beim Menschen fehlt aber diese sorgfältige und scharfe Auslese und ließe sich vielfach auch gar nicht treffen, weil wir gar nicht jene Kenntnisse über unsere Stammbäume haben, über welche der Züchter bei seinen Tieren verfügt. Man muß daher vor Verwandtenehen dringend warnen. Daß die Natur Einrichtungen getroffen hat, namentlich bei vielen Blütenpflanzen, um die Selbstbefruchtung zu verhüten, kann uns auch als Fingerzeig dienen. Wie +enge+ Blutsverwandtschaft meistens schädlich wirkt, so ist auch die Kreuzung von Rassen, die sich +zu ferne+ stehen, nicht günstig. Solche Ehen sind häufig auch wenig fruchtbar. So treffen in Preußen auf 100 rein christliche Ehen 454 Kinder, auf 100 rein jüdische 421, auf 100 Ehen zwischen Juden und Christen aber nur 138 bis 178 Kinder. Allerdings ist es wahrscheinlich, daß hierbei auch die sozialen Verhältnisse, d. h. die absichtliche Einschränkung der Kinderzahl eine sehr große Rolle spielt. Die vorstehenden Erörterungen dürften genügen, um zu zeigen, welch ungeheuer ernstes Geschäft die Gattenwahl ist oder vielmehr sein sollte! Freilich dürfen wir auch nicht zu ängstlich und wählerisch sein. +Völlig+ normal und frei von fehlerhaften oder minderwertigen Anlagen ist kein einziger Mensch. In der Regel ist auch nur ein Bruchteil der Keime, welche ein mit -- selbst ernstlicheren -- vererblichen Fehlern, Krankheiten oder Krankheitsanlagen behaftetes Individuum erzeugt, mit der schlimmen Erbschaft behaftet. Selbst dann ferner, wenn ein mit der krankhaften Anlage behafteter Keim an der Entstehung eines Kindes beteiligt ist, +muß+ nicht in allen Fällen der Fehler oder die Krankheit zur Entwicklung kommen, da bei manchen Keimfehlern die krankhafte Beschaffenheit des einen Keimes durch die gesunde des anderen unwirksam gemacht, unterdrückt wird [+Dominanz+ oder +Prävalenz+ (Vorherrschaft) der normalen Anlage über die krankhafte; +Rezession+ (Rücktritt) der krankhaften Anlage gegenüber der normalen], und da bei manchen krankhaften Anlagen +zweckmäßige Lebensweise+ den wirklichen Ausbruch der Krankheit zu verhindern vermag. Durch fortgesetzte +Kreuzung+ mit Stämmen, welche von der gleichen krankhaften Anlage frei sind, kann bei solchen Anlagen das Krankhafte dauernd +verborgen+ gehalten und trotz dem Vorhandensein der krankhaften Anlage in gar manchen der Nachkommen eine ganze Reihe von Generationen erzeugt werden, welche von der betreffenden Krankheit vollkommen frei ist. Nur wenn bei unzweckmäßiger Gattenwahl +zwei+ krankhafte Anlagen +gleicher+ Art zusammentreffen, tritt dann die ererbte krankhafte Anlage in dem betroffenen Nachkommen als Krankheit hervor. So scheint es sich glücklicherweise mit der Mehrzahl der +Krankheitsanlagen des Nervensystems+ zu verhalten, bei denen also die +=richtige Kreuzung= für die individuelle Gesundheit der Nachkommen von ausschlaggebender Wichtigkeit ist+. Aber nicht immer ist das Verhältnis der krankhaften zur gesunden Anlage ein solches, wie wir es soeben besprochen haben; in nicht wenigen Fällen +dominiert+ die krankhafte Anlage über die normale, so daß +alle Individuen, welche die abnorme Anlage besitzen, auch tatsächlich abnormal geraten+! Die beiden Tafeln 3 und 4 werden die Regelmäßigkeit klarmachen, mit welcher die Vererbung der einzelnen Anlagen (Erbeinheiten) von den Eltern auf die Kinder erfolgt, und die verschiedene Wirkung, welche die Vererbung einer bestimmten Anlage auf die Beschaffenheit der Kinder hat, je nachdem diese Anlage sich dominant oder rezessiv verhält. Wir können hier selbstverständlich nur die einfacher gelagerten Vererbungsweisen besprechen. Es gibt auch verwickeltere; z. B. solche, bei denen eine Mehrheit von Erbeinheiten zusammentreffen muß, damit ein Merkmal (Eigenschaft) zum Vorschein kommt. [Illustration: Tafel 3. Vererbung einer dominanten Anlage.] Auf Tafel 3 ist die Vererbung einer +dominanten+ Anlage dargestellt. Jeder +kleine+ rote Kreis bedeutet eine väterliche oder mütterliche +Keimzelle+, welche die dominante Anlage (z. B. die für Sechsfingrigkeit) +besitzt+, jeder kleine weiße eine Keimzelle, welche diese Anlage +nicht+ besitzt. Jeder +große+ rote Kreis bedeutet eine Person, welche die Anlage +zeigt+, also z. B. mehr als fünf Finger (Zehen) an einer Gliedmaße besitzt; jeder große weiße Kreis eine Person, welche die Anlage +nicht+ zeigt, durchwegs die normale Finger-(Zehen-)Zahl aufweist. Die in die großen Kreise eingezeichneten (weißen und roten) Halbkreise bedeuten wieder die Keimzellen, welche von der betreffenden Person gebildet werden. Sind beide eingezeichneten Halbkreise rot, so heißt das, daß +alle+ Keimzellen, welche die betreffende Person hervorbringt oder hervorbringen wird, mit der dominanten Anlage +behaftet+ sind; sind beide Halbkreise weiß, so sind +sämtliche+ Keimzellen +frei+ von der Anlage; ist ein Halbkreis rot und der andere weiß, so heißt das, daß die eine +Hälfte+ der Keimzellen dieser Person die Anlage besitzt und die andere nicht. Die zweimal zwei kleinen Kreise in der ersten Säule bedeuten die je zwei Keimzellen, aus deren Vereinigung die +Eltern+ hervorgegangen sind, und ebenso die Keimzellen, welche sie selbst produzieren. Wie man sieht, sind in bezug auf +eine+ dominante Anlage sechs Fälle möglich: 1. Beide Eltern sind aus je +zwei+ Keimzellen +mit+ der Anlage hervorgegangen und produzieren auch wieder nur Keimzellen +mit+ der Anlage; oder 2. der eine der Eltern ist aus +zwei+ Keimzellen +mit+ der Anlage hervorgegangen und der andere aus +einer+ Keimzelle +mit+ und +einer+ Keimzelle +ohne+ diese Anlage, und der erstere produziert dabei auch wieder nur Keimzellen mit der Anlage und der zweite je zur Hälfte Keimzellen mit und ohne Anlage; oder 3. der eine ist aus +zwei+ Keimzellen +mit+, der andere aus +zwei+ Keimzellen +ohne+ die Anlage entstanden; oder 4. beide sind aus je +einer+ Keimzelle +mit+ und +einer ohne+ die Anlage entstanden; oder 5. der eine aus +einer+ Keimzelle +mit+ und +einer+ Keimzelle +ohne+ die Anlage, der andere aus +zwei+ Keimzellen +ohne+ die Anlage; oder endlich 6. +alle+ Keimzellen waren +frei+ von der Anlage, und daher sind dann auch alle neu produzierten frei davon. In der zweiten Säule bedeuten die viermal zwei kleinen Kreise die möglichen Fälle der Kombination der von den Eltern produzierten Keimzellen. Also dort, wo die Eltern ausschließlich Keimzellen mit der Anlage hervorbringen, ist selbstverständlich nur eine Kombination möglich; dort, wo der eine der Eltern nur Keimzellen +mit+ der Anlage, der andere +zur Hälfte+ Keimzellen +mit+ und Keimzellen +ohne+ die Anlage produziert, sind zweierlei Kombinationen möglich, die mit +gleicher Häufigkeit+ auftreten werden usw. In den folgenden drei Säulen findet man dann die Beschaffenheit der Kinder und ihrer Keimzellen angegeben. Im Falle 1 sind alle Kinder sechsfingrig und bringen nur Keimzellen +mit+ der Anlage dazu hervor; im Falle 6 sind alle Kinder normalfingrig und bringen auch nur normale Keimzellen hervor; im Falle 3 sind alle Kinder sechsfingrig und bringen alle +zur Hälfte+ Keimzellen +mit+ und zur Hälfte Keimzellen +ohne+ die Anlage hervor usw. Man sieht, daß bei +dominanter+ Anlage +alle+ Personen, welche die Anlage +empfangen+ haben, auch diese Anlage +zeigen+, und daß +nur solche+ Personen, welche die Anlage +zeigen+, diese Anlage +vererben+ können. Ganz anders liegen die Verhältnisse, wenn es sich um eine +rezessive+ Anlage, z. B. um Taubstummheit, handelt, wie Tafel 4 lehrt. Die Zeichen bedeuten hier dasselbe wie auf Tafel 3, nur daß die +kleinen+ roten Kreise und Halbkreise hier Keimzellen mit einer +rezessiven+ Anlage bedeuten und die großen roten Kreise Personen, welche diese rezessive Anlage zeigen; nach der Erklärung, welche soeben für Tafel 3 gegeben wurde, wird auch Tafel 4 sofort verständlich sein. [Illustration: Tafel 4. Vererbung einer rezessiven Anlage.] Wieder sind alle sechs möglichen Fälle der Anlagenkombination der Eltern in Betracht gezogen. Man sieht, daß hier durchaus nicht alle Personen, welche die Anlage empfangen haben, diese auch zeigen, sondern +nur jene+, welche die Anlage +zweimal+ empfangen haben, und daß eine Generation existieren kann, welche selbst keine Spur der krankhaften Anlage zeigt, aber (s. Fall 3) in allen ihren Gliedern Keimzellen produziert, welche zur Hälfte die Anlage besitzen und daher beim Zusammentreffen mit einer zweiten +gleichartigen+ Keimzelle kranke Personen hervorrufen. Die Angabe in den Tafeln 3 und 4: „Von je 4 Kindern zeigen (zeigen nicht) die Anlage“ darf natürlich +nicht wörtlich+ genommen werden, als ob in den Fällen 2, 4 und 5 wirklich +in jeder einzelnen Gruppe+ von 4 Geschwistern die Verteilung der Anlagen und Eigenschaften genau nach der Regel vor sich gehen müßte. Es verhält sich hier genau so wie mit dem Satze, „daß gleichviel Knaben und Mädchen geboren werden (genau 106 Knaben auf 100 Mädchen)“. Diese Regelmäßigkeit tritt erst dann hervor, wenn eine +sehr große Masse+ von Geburten durchgezählt wird. In den einzelnen Familien gibt es bekanntlich die größten Abweichungen davon. Zusammenfassend wäre als vernünftige Regel für die Zulässigkeit der Kindererzeugung etwa folgendes hinzustellen: Leute mit ernsteren Bildungsfehlern, Idioten, Schwachsinnige, Irrsinnige, Epileptische, Säufer, verbrecherische Naturen, chronisch Kranke wie: an Tuberkulose Leidende, Syphilitische im primären und sekundären Stadium, dürfen sich an der Fortpflanzung nicht beteiligen. Ebenso taugen wenig zur Fortpflanzung Individuen, welche in ihrer körperlichen Entwicklung zurückgeblieben sind oder deren Geschlechtscharaktere mangelhaft ausgeprägt sind; also namentlich nicht Frauen mit schlecht entwickelten Brüsten und Hüften oder solche, die nicht oder von Anfang an unregelmäßig oder krankhaft menstruieren. Schlechte Entwicklung des Knochengerüstes, deutliche Zeichen früherer Rachitis (englische Krankheit) sind bei der Frau besonders deshalb bedenklich, weil dann nicht selten auch Fehler am knöchernen Becken vorhanden sind, welche das Gebären erschweren oder selbst unmöglich machen können. Schlechte Zähne lassen befürchten, daß die Frau nicht imstande sein werde, ihre Kinder zu stillen, da beide Gebrechen sehr häufig zusammen auftreten. Glücklicherweise findet der +unverdorbene+ Geschmack des Mannes nur solche Frauen schön und verlockend, bei denen der ganze Körper und insbesondere die Geschlechtscharaktere gut entwickelt sind und die daher auch zur Zeugung am besten geeignet erscheinen. Wer kräftige Kinder zu erhalten wünscht, suche sich überhaupt einen kräftigen, gesunden Gatten. Wer selbst nicht ganz kräftig ist, muß um so mehr trachten, eine kräftige, blühende Frau zu bekommen. Leider täuscht aber oft der Schein; die Jugendblüte verhüllt manche Mängel. In sehr vielen Fällen ist auch die hervorragende Beschaffenheit eines Individuums („+Plusvariante+“) rein individuell und nicht vererblich. Ebenso können allerdings auch Schwächlichkeit oder gewisse Arten von Kränklichkeit einer +Minusvariante+ rein individuell sein; bei guten Keimstoffen! Es ist daher unbedingt notwendig, sich nicht allein um die Beschaffenheit des zu ehelichenden Individuums selbst, sondern auch um seine +Abstammung+ zu kümmern. +Gute Abstammung gibt die beste Bürgschaft für gute Nachkommen!+ Viel verläßlicheren Aufschluß als die Betrachtung des einen Individuums allein gewährt die Betrachtung der Beschaffenheit und Lebensführung seiner Eltern. Haben diese tüchtig und rechtschaffen gelebt, erfreuen sie sich eines gesunden Alters, oder sind sie nach einem gesunden Leben an zufälligen Krankheiten gestorben, welche ohne ererbte Anlage auftreten, so darf man hoffen, daß die Tochter oder der Sohn von tüchtigem und gesundem Stamme sei und daher selbst eine gute Beschaffenheit besitzen und gute Keime liefern werde. Hat die Mutter ihre Kinder gesäugt, so darf man zuversichtlicher hoffen, daß auch die Tochter dazu imstande sein werde, als wenn die Mutter dazu unvermögend war. Man achte aber auch auf die Beschaffenheit etwa vorhandener +Geschwister+ und darauf, an welchen Krankheiten verstorbene Geschwister zugrunde gegangen sind. Denn wir haben schon gehört, daß gewisse krankhafte Anlagen in einzelnen oder allen Individuen einer Generation verborgen bleiben, in deren Nachkommen aber wieder hervortreten können, also „latent“ (verborgen) vom Großelter auf den Enkel übertragen werden können. Soweit es möglich ist, ziehe man daher auch Erkundigungen über die +weitere Aszendenz+ (Ahnenschaft), über die +Großeltern+ usw. ein. Man achte insbesondere darauf, ob etwa die +gleiche+ Anomalie oder krankhafte Anlage in +beiden+ Familienstämmen, dem väterlichen und dem mütterlichen, aufgetreten ist. In diesem Falle ist die Wahrscheinlichkeit besonders groß, daß das Individuum selbst erkranken oder die krankhafte Anlage auf seine Nachkommen vererben wird, auch wenn augenblicklich keine Krankheitserscheinungen an ihm wahrzunehmen sind. Je schwerer das Leiden ist, um das es sich handelt, um so größer ist die Gefahr für die Nachkommen, um so weniger läßt es sich daher verantworten, wenn ein schwer belastetes Individuum Kinder erzeugt. Ein rühmenswertes Beispiel von Entsagung haben die Mädchen von +Tenna+, einem Dorfe in Graubünden, gegeben. In diesem Dorfe hauste die Hämophilie durch viele Generationen und griff infolge der Inzucht immer mehr um sich. Da beschlossen die Mädchen aus den belasteten Familien, die, wie wir wissen, selbst von dieser Krankheit stets verschont bleiben, auf die Ehe zu verzichten und so die Krankheit zum Erlöschen zu bringen! Je unbedeutender sich nach der Häufigkeit des Vorkommens und nach der Schwere der Mängel die erbliche Belastung darstellt, um so eher ist die Fortpflanzung zulässig. Von größter Bedeutung ist es natürlich bei Vorhandensein einer vererblichen krankhaften Anlage in einer Familie, zu wissen, ob es sich um eine +dominante+ oder um eine +rezessive Anlage+ handelt (s. o.). Wenn ein Individuum +frei+ ist von einer in seiner Familie vorkommenden Krankheit mit einer beim eigenen Geschlechte +dominanten+ Anlage, dann wird es +sicher+ nur normale Keime liefern. Dagegen wird ein Individuum, das selbst von einer Familienkrankheit mit +rezessiver+ Anlage frei ist und frei bleibt, trotzdem krankhafte Keime liefern +können+. Leider ist unsere wissenschaftliche Kenntnis in dieser Hinsicht noch nicht sehr groß, so daß es +als eine der wichtigsten Regeln bezeichnet werden muß, unter allen Umständen auf Kreuzung mit gesundem, d. h. mindestens von der eigenen krankhaften Familienanlage freiem Stamme+ zu achten. Am sichersten wäre es für die Zukunft, wenn +alle+ Personen, in deren Aszendenz schlimme rezessive Anlagen heimisch sind, sich der Fortpflanzung gänzlich enthalten würden, gleichgültig, ob sie selbst krank sind oder nicht. Dieser Grundsatz ist aber heute, wo gewisse rezessive Anlagen, wie die Krankhaftigkeiten des Nervensystems, so häufig sind, völlig undurchführbar. Aber die +Kreuzung mit gesundem Stamm+ sollte bei Vorhandensein von rezessiven Krankheitsanlagen als Gewissenspflicht betrachtet werden. Die Gatten müssen auch alles zu tun suchen, um durch entsprechende eigene Lebensweise und durch Schaffung günstiger Entwicklungs- und Lebensbedingungen für die Nachkommenschaft das +Hervortreten+ der ererbten krankhaften Anlagen zu verhindern (s. o.). Zu junge und zu alte oder erkrankte Personen sollen keine Kinder zeugen. Sowohl zu enge Verwandtschaft als zu große Verschiedenheit der Abstammung sind der Fortpflanzung ungünstig. Selbst bei bester Abstammung, passendstem Alter und gesundem Aussehen der Erzeuger kann die Nachkommenschaft schlecht ausfallen. Es kommt gar nicht selten vor, daß scheinbar völlig gesunde Eltern aus gutem Stamme kranke oder schwer zu Krankheit veranlagte Kinder erzeugen. Dann ist +Keimverderb+ im Spiele. So kommt es z. B. vor, daß aus der Ehe eines +geheilten Syphilitikers+ Kinder hervorgehen, die eines nach dem anderen tuberkulös werden. Überaus häufig ist es, daß Leute, die +Mißbrauch mit alkoholischen Getränken+ treiben oder getrieben haben, selbst scheinbar gesund bleiben, aber unfruchtbar sind oder überwiegend lebensschwache, mehr oder weniger verkümmerte und minderwertige, insbesondere zu Tuberkulose, zu Herz-, Nieren-, Nervenkrankheiten neigende Kinder erzeugen. Die auffallend häufige Verkümmerung der Familien der akademisch Gebildeten ist ohne Zweifel im wesentlichen die Folge der traurigen akademischen Trink- und Sexualsitten und ihrer Fortsetzung weit in die Philisterzeit hinein. Auch manche +Berufsschädigungen+ scheinen einen sehr üblen Einfluß auf die Keime ausüben zu können, ohne daß das die Keime liefernde Individuum selbst auffällig krank zu sein braucht. Besonders schädlich wird der Nachkommenschaft +angestrengte Berufstätigkeit der Frau+. +Überreichliche Ernährung+ schadet ebenfalls -- wie bei Tieren und Pflanzen nachgewiesen ist -- der Erzeugung guter Keime. Vielleicht gibt es auch noch andere schädliche Einflüsse im Leben der +Wohlhabenden+ und der +Städter+, welche ihre Keime verschlechtern. Sicher ist, daß die lebenskräftigsten Keime in der Regel von Individuen zu erwarten sind, die selbst vom Lande stammen oder väter- oder mütterlicherseits aus einer Familie, welche erst jüngst in die Stadt, in eine höhere Gesellschaftsklasse gelangt ist. Bei Kreuzung unter sich sterben die städtischen Familien und die Familien der höheren Stände in der Regel binnen drei Generationen aus. Dies bedeutet für das Volk im ganzen die fortgesetzte Ausmerzung seiner begabtesten Zuchtstämme und damit die Gefahr einer fortschreitenden Verschlechterung der Beschaffenheit des Durchschnittes und zunehmenden Mangels an zur +Führung+ geeigneten Persönlichkeiten. Es muß ernstlich versucht werden, durch vernünftige Gattenwahl und vernünftige Lebensführung diesem Unheil Einhalt zu tun. 3. Kapitel. Die Geschlechtsorgane. Die Keime werden in besonderen Drüsen gebildet und abgesondert; die Samenkörperchen oder Spermatozoen in den beiden Hoden des Mannes, die Eier in den beiden Eierstöcken der Frau. Diese Keimdrüsen sind die wichtigsten Teile des ganzen Geschlechtsapparates; sie bestimmen den Geschlechtscharakter. Die übrigen Teile sind dazu bestimmt, die beiden Keimstoffe zusammenzubringen; bei der Frau außerdem dazu, dem befruchteten Keime eine Stätte der Entwicklung und des Wachstums zu gewähren und der Ernährung des Neugeborenen zu dienen. Der männliche Zeugungs- und Begattungsapparat besteht aus den Hoden, den Nebenhoden, den Samenleitern, den Samenblasen (oder Blasendrüsen), der Vorsteherdrüse, den Cowperschen Drüsen und dem Zeugungsgliede. Alle Teile bis auf Vorsteherdrüse und Zeugungsglied sind paarig. Der weibliche Geschlechtsapparat besteht aus den beiden Eierstöcken, den beiden Eileitern, aus der Gebärmutter, der Scheide, den Bartholinischen Drüsen, den äußeren Geschlechtsteilen und den Brüsten. Trotz aller Verschiedenheit im Baue und in der Lage -- die männlichen Geschlechtsteile liegen zum größten Teile außerhalb der Leibeshöhlen, die weiblichen innerhalb -- läßt sich nachweisen, daß beide Geschlechtsapparate aus einer äußerlich ursprünglich gleichartigen Anlage durch verschiedenartige Entwicklung hervorgehen. Die +Hoden+ mit den +Nebenhoden+ haben die Gestalt eines von vorne und hinten etwas plattgedrückten Eies. Sie sind beim erwachsenen Manne etwa 5 _cm_ lang, 3 _cm_ breit und 2,5 _cm_ dick, jeder wiegt etwa 16 _g_. Sie hängen am Samenstrange und sind mit mehreren häutigen Hüllen versehen. Sie stecken im Hodensacke, der durch eine Scheidewand in zwei Hälften, eine rechte und eine linke, geteilt ist. Die Lage der Scheidewand ist außen durch die Naht, die von vorne nach hinten über den Hodensack wegläuft, bezeichnet. Bei der mikroskopischen Untersuchung läßt sich erkennen, daß der ganze Hoden aus Knäueln von langen Schläuchen besteht, in deren Wänden sich eigentümliche Drüsenzellen, die Samenmutterzellen, befinden, welche die Spermatozoen liefern. Nach ungefährer Schätzung sind diese Drüsenschläuche des Hodens zusammen 500 bis 600 _m_ lang. An einem Ende sind sie blind; das andere findet seine Fortsetzung zunächst im Nebenhoden, dann im Samenleiter. Der +Samenleiter+ bildet zusammen mit den Blut- und Lymphgefäßen und den Nerven des Hodens den +Samenstrang+, an dem der Hoden hängt und der im sogenannten Leistenkanale die Bauchwand durchsetzt. Im Bauchraume ziehen die Samenleiter um die Harnblase herum zum Blasengrunde, wo sie schließlich in die Harnröhre münden. Die Wand der Samenleiter wird hauptsächlich aus einer dicken Schicht von Ring- und Längsmuskeln gebildet, die sich wurmartig zusammenziehen können. Dort, wo die Samenleiter in die Harnröhre münden, unter dem Grunde der Harnblase, liegen die zwei +Blasendrüsen+ oder Samenblasen und die +Vorsteherdrüse+ oder Prostata. Alle drei Drüsen sondern Flüssigkeiten ab, die zusammen mit dem Samen entleert werden und dazu dienen, den Spermatozoen ihre Bewegungsfähigkeit und dadurch ihre Befruchtungsfähigkeit zu erhalten. Die Vorsteherdrüse, welche etwa die Größe und die Gestalt einer Kastanie hat, wird von der Harnröhre, dem Abflußrohre der Harnblase, durchbohrt. An der +Harnröhre+ unterscheidet man drei Abschnitte. Der oberste heißt „Vorsteherteil“, weil er von der Vorsteherdrüse umschlossen ist, dann kommt der „häutige Teil“, in dessen Wand sich kräftige Ringmuskeln befinden, und endlich der Gliedteil, welcher aus dem Körper herausragt, während die beiden anderen Teile im Körper verborgen sind. Dort, wo der Gliedteil beginnt, münden in die Harnröhre noch die Ausführungsgänge zweier etwa erbsengroßer Drüsen, der +Cowperschen Drüsen+. Der Gliedteil der Harnröhre ist dadurch ausgezeichnet, daß er von drei sog. +Schwellkörpern+ umgeben ist. Man unterscheidet zwei Schwellkörper des Gliedes und einen Schwellkörper der Harnröhre. Die drei Schwellkörper zusammen bilden das +Begattungsglied+ oder männliche Glied. Die +Schwellkörper des Gliedes+ liegen nebeneinander an der Ober-(Vorder-)seite des Gliedes, die Harnröhre mit ihrem Schwellkörper verläuft an ihrer Unter-(Hinter-)seite in der Längsfurche zwischen ihnen. Die Schwellkörper des Gliedes sind walzenförmige Gebilde, deren inneren Bau man sich ähnlich dem eines Badeschwammes vorstellen mag. Ein Netz- und Fachwerk aus Bindegewebe umschließt zahlreiche Hohlräume, die untereinander und mit den Schlagadern und Blutadern in offener Verbindung stehen und stets mehr oder weniger von Blut durchströmt werden. Ganz ähnlich wie die Schwellkörper des Gliedes ist auch der +Schwellkörper der Harnröhre+ eingerichtet, welcher wie der Mantel eines Mantelrohres die Harnröhre umhüllt. Dieser Schwellkörper hat hinten, wo der häutige Teil der Harnröhre in ihn eintritt, eine Anschwellung, die sog. +Zwiebel+, und geht vorne in die +Eichel+ über, welche über das vordere Ende der Schwellkörper des Gliedes kappenartig übergestülpt ist. Die sog. Zwiebel des Schwellkörpers der Harnröhre und ebenso die hinteren Enden der Schwellkörper des Gliedes sind an der Unterseite von kräftigen Muskeln umschlossen, welche willkürlich bewegt werden können. Auf der Kuppe der Eichel mündet die Harnröhre als Schlitz mit einer rechten und linken Lippe. Der Rand der Eichel ist wulstig verdickt und durch eine tiefe Furche gegen die Schwellkörper des Gliedes abgesetzt. Im gewöhnlichen Zustande hängt das Glied schlaff nach abwärts. Wenn sich aber die Schwellkörper stärker mit Blut füllen, dann streckt sich das Glied und richtet sich auf. Es nimmt dabei bedeutend an Größe zu und wird infolge der prallen Füllung der Schwellkörper mit Blut sehr steif und hart. Dabei entblößt sich beim Geschlechtsreifen die Eichel, die für gewöhnlich von der +Vorhaut+, einer Falte der leicht verschiebbaren Oberhaut des Gliedes, bedeckt ist. Die Vorhaut ist durch das +Bändchen+ an der Unterseite des Gliedes mit der Eichel verwachsen. Zwischen Vorhaut und Eichel sammelt sich das sog. +Smegma+ an, eine käseartig riechende, fettige Masse, welche von Drüsen am Eichelwulst abgesondert wird. Bei der Frau entsprechen den Hoden die +Eierstöcke+. Sie haben eine ähnliche Gestalt wie jene, sind aber kleiner. Jeder Eierstock wiegt nur etwa 6 _g_. Sie bestehen aus einem Gerüstwerk, in dem Tausende (zirka 70000) von winzig kleinen Bläschen liegen, die sog. +Graaf+schen +Follikel+. In den Graafschen Follikeln entwickeln sich die +Eier+, in jedem Follikel eines. Es werden jedoch nur etwa 400 von den vielen Tausenden während des ganzen Lebens reif. Wenn es zur Entwicklung eines Eies kommt, dann schwillt der Graafsche Follikel sehr bedeutend an, bis zu 15 _mm_ Durchmesser. Er rückt zugleich an die Oberfläche des Eierstocks und platzt schließlich, so daß das reife Ei frei wird und in die Bauchhöhle austritt, in welche die Eierstöcke hineinragen. Das Ei wird dann durch eigentümliche Vorrichtungen in den benachbarten +Eileiter+ (die sog. Muttertrompete), ein enges Rohr mit muskulöser Wand, hineinbefördert und in diesem der Gebärmutter zugeführt. Die +Gebärmutter+ hat etwa die Gestalt einer vorne und hinten etwas abgeplatteten kleinen Birne. Sie ist ein enger Sack mit einer dicken Muskelwand. Man unterscheidet an ihr den Körper -- der oberste dickste Teil -- den Hals und den Scheidenteil. Sie ist durch Aufhängebänder am Becken befestigt und mit den Eileitern verwachsen, die oben in den Körper der Gebärmutter münden. Unten öffnet sich die Gebärmutter mit dem sog. +Muttermunde+ gegen die Scheide. Während der Schwangerschaft, wo sich das Kind in der Gebärmutter entwickelt, nimmt diese das 20- bis 30fache ihrer normalen Größe an. Die +Scheide+ ist ein häutiges Rohr mit einem oberen blinden Ende. Sie ist zur Aufnahme des männlichen Gliedes bei der Begattung bestimmt. In den oberen Teil der Vorderwand der Scheide ragt zapfenartig der +Scheidenteil+ der Gebärmutter herein, an dem sich der Muttermund befindet. Nach unten geht die Scheide in die +Schamspalte+ über, einen Schlitz, der von den inneren kleinen und den äußeren großen +Schamlippen+ gebildet wird. Vorne, wo die kleinen Schamlippen verwachsen sind, befindet sich die sog. +Klitoris+, ein kleines zapfenartiges Gebilde, das aus einem Schwellkörper, ähnlich denen des Mannes, besteht. Im Grunde der Schamspalte, am vorderen Rande des Einganges der Scheide, mündet die Harnröhre; am hinteren Rande des Scheideneinganges münden die Ausführungsgänge der kleinen +Bartholinischen Drüsen+. Bei der Jungfrau befindet sich hier meist eine Schleimhautfalte, welche den Scheideneingang teilweise verschließt, das +Jungfernhäutchen+, das in der Regel unter geringer Blutung beim ersten Beischlafe zerreißt. 4. Kapitel. Der Geschlechtstrieb und die angebliche hygienische Notwendigkeit des Beischlafes. In unseren Gegenden beginnt beim Knaben etwa im 14. oder 15. Lebensjahre die sog. Pubertäts- oder Mannbarkeitsperiode, d. h. die Zeit, in welcher die männlichen Geschlechtsdrüsen erst ihre volle Reife und Ausbildung erlangen. Sie dauert mehrere Jahre. Um diese Zeit stellt sich eine erhebliche Vergrößerung der Hoden ein, in denen jetzt erst die Bildung der Spermatozoen beginnt.[B] Beim Mädchen beginnt die Geschlechtsreife in der Regel etwas früher. Sie ist bei diesem durch das rasche Wachstum der Eierstöcke und durch die Ausbildung reifer Eier charakterisiert. Alle 28 Tage wird in der Regel ein Ei reif und aus dem Eierstock in die Eileiter befördert. Zur Zeit dieses Vorganges tritt eine Erweiterung der Gefäße in der Schleimhautauskleidung der Gebärmutter ein. Ein Teil der Gefäße zerreißt, und Blut tritt aus ihnen aus. Das ausgetretene Blut (etwa 100-200 _ccm_) fließt aus den äußeren Geschlechtsteilen ab. Der Blutausfluß dauert normalerweise drei bis vier Tage (monatliche Blutung, Periode, +Menstruation+). Bei der gesunden Frau wiederholt sich der Vorgang der Menstruation in der geschilderten Weise vom Beginne der Geschlechtsreife bis zum Eintritte des sog. +Klimakteriums+ oder +Wechsels+ zwischen dem 45. bis 50. Lebensjahre. Nur solange die Frau menstruiert, ist sie befruchtungsfähig. Während der Schwangerschaft und während des Stillens setzt die Menstruation in der Regel vollständig aus. Beim Manne findet die Samenabsonderung ununterbrochen statt. Sie hält auch in viel höheres Alter hinein an als die Bildung reifer Eier bei der Frau. Wenn sich eine gewisse Menge Samen in den Ausführungsgängen der Hoden angesammelt hat, kommt es zu freiwilliger Samenentleerung; normalerweise zur Nachtzeit: nächtliche +Pollution+. Ihr erstes Auftreten bezeichnet scharf den Eintritt der Pubertät. Mit der Pubertät entwickeln sich auch die sogenannten +sekundären Geschlechtscharaktere+. Beim Jünglinge wie beim Mädchen beginnen an den äußeren Geschlechtsteilen und in den Achselhöhlen, beim Manne auch an den Lippen, am Kinne und an den Backen Haare hervorzusprießen; die äußeren Geschlechtsteile, beim Manne das Glied, beim Weibe die Brustdrüse, beginnen rasch zu wachsen; der ganze Körper, namentlich das Knochen- und Muskelsystem, treten in eine Periode stärkeren Wachstums ein; auch der Kehlkopf nimmt, insbesondere beim Manne, rasch an Größe zu, was die bekannte Veränderung der Stimmlage, das +Mutieren+, zur Folge hat. Alle diese Veränderungen sind Folgen des Beginnes der Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen und bleiben aus, wenn die Hoden vor Eintritt der Pubertät entfernt werden (bei Kastraten). Sie sind darauf zurückzuführen, daß die tätigen Keimdrüsen neben Samen und Ei noch andere Stoffe absondern, die ins Blut übergehen und dann auf die verschiedenen Organe des Körpers einwirken (+innere Sekretion+). Diese inneren Absonderungen der Geschlechtsdrüsen wirken auch auf das Zentralnervensystem ein und führen die Entwicklung des männlichen und weiblichen seelischen Geschlechtscharakters und das freiwillige Erwachen des +Geschlechtstriebes+ herbei. Der Geschlechtstrieb äußert sich in verschiedener Weise: als Verlangen nach +geschlechtlicher Vereinigung+ und als Verlangen nach +Nachkommenschaft+. Bei noch unberührten Frauen guter Art ist meistens dieses letztere Verlangen viel stärker als das erstere. Der Begattungstrieb äußert sich zunächst darin, daß der Anblick oder die Vorstellung einer Person des anderen Geschlechtes Freude erregt, den Wunsch nach Annäherung, nach Berührung, Umarmung, nach Gegenliebe zu erwecken vermag. Bei der unberührten Jungfrau geht das Verlangen in der Regel nicht weiter; ja, es gibt nicht wenige Frauen, die zeitlebens in Kuß und inniger Umarmung volle Befriedigung finden würden, denen der eigentliche Begattungsakt keine besondere Lust gewährt und die den Beischlaf nur aus Verlangen nach Nachkommenschaft und aus dem Wunsche, dem geliebten Manne Freude zu bereiten, gestatten. Gerade derartige Frauen geben häufig treffliche Hausfrauen und Mütter ab. Beim Manne aber führt die Befriedigung des Verlangens nach Berührung zum immer stärker anschwellenden Verlangen nach dem Vollzuge der Begattung, zu welcher ihn die inzwischen eingetretene Steifheit des Gliedes befähigt. Beim +Beischlafe+ wird das infolge der geschlechtlichen Erregung steif gewordene Glied in die Scheide hineingeschoben und in derselben hin und her bewegt. Infolge der Reibung und des dadurch bewirkten Nervenreizes kommt es zur Ausschleuderung des Samens, zur +Ejakulation+. Der Samen wird zuerst aus den Nebenhoden in die Samenleiter gedrückt und in diesen dann durch die erwähnten wurmartigen Zusammenziehungen ihrer Muskeln weiter bis in die Harnröhre gepreßt. Zugleich mit dem Samen werden auch die Absonderungen der Blasendrüsen und der Vorsteherdrüse in die Harnröhre ergossen. Alsbald folgen Zusammenziehung der Muskelfasern des häutigen Teiles der Harnröhre und jener Muskeln, welche die hinteren Teile der Schwellkörper umhüllen, so daß die gemischten Flüssigkeiten aus der Mündung der Harnröhre stoßweise herausgeschleudert werden. Der Schließmuskel der Harnblase hat sich gleichzeitig ebenfalls so fest als möglich zusammengezogen, so daß der Samen aus der Harnröhre nur nach vorne und nicht nach hinten in die Blase befördert werden kann. Der abgeschleuderte Samen gelangt in die Scheide, manchmal aber durch den sich öffnenden Muttermund zum Teile unmittelbar in den Halskanal der Gebärmutter. Auf alle Fälle gelangt ein Teil der Spermatozoen auf der Suche nach dem Ei mit der Zeit in die Gebärmutter und in die Eileiter, nicht selten bis in die Bauchhöhle. Nach ihrer Auflösung gelangen ihre Bestandteile in die Säfte des Weibes. Es ist also in der Anatomie und Physiologie begründet, wenn die Frau instinktiv zurückhaltender ist als der Mann, und wenn selbst eine tiefstehende Moral, die dem Manne keine Zügel anlegt, von ihr geschlechtliche Zurückhaltung streng fordert. Auch wenn es nicht zur Befruchtung mit allen ihren für die Frau so gewichtigen Folgen kommt, bedeutet der Beischlaf für die Frau eine unvergleichlich tiefere und nachhaltigere körperliche Einwirkung als für den Mann. Mit Eintritt der Ejakulation sinkt das geschlechtliche Verlangen sofort auf Null herab, um erst nach einiger -- allerdings sehr ungleich langer -- Zeit wieder zu erwachen. Das äußere Kennzeichen dafür ist die normalerweise alsbald nach der Ejakulation eintretende vollständige Erschlaffung des Gliedes. Auch bei der geschlechtlich stärker erregbaren oder durch das geschlechtliche Zusammenleben stärker erregbar gewordenen Frau stellt sich unmittelbar vor und während des Beischlafes eine starke Blutfüllung in den Geschlechtsteilen und infolgedessen ebenfalls ein Verlangen nach Entspannung ein. Beide Erscheinungen erlöschen erst dann vollständig, wenn eine gewisse Höhe der Wollustempfindung (geschlechtlicher Orgasmus) überschritten worden ist, ähnlich der, welche beim Manne die Ejakulation zu begleiten pflegt. Die Befriedigung des Geschlechtstriebes durch den Beischlaf ist für gesunde, reife Menschen ohne Zweifel das Naturgemäße. Indessen ist es mit der Heranzucht einer gesunden und tüchtigen Nachkommenschaft, mit höherer Kultur und geordnetem Gesellschaftsleben überhaupt unvereinbar, daß jeder das auftauchende Verlangen ohne weiteres befriedigt -- blindlings Kinder in die Welt setzt. +Die gesetzliche Ordnung des Geschlechtsverkehrs ist eine soziale Notwendigkeit.+ Natur und Kultur befinden sich da im Widerstreite, und jede Generation ist von neuem vor die folgenschwere Entscheidung gestellt, wie sie sich mit den einander widerstreitenden Forderungen abfinden kann und abfinden will. Es interessiert uns daher vor allem die Frage, ob die Befriedigung des Geschlechtstriebes durch den Beischlaf eine hygienische Notwendigkeit ist; ob die Enthaltung vom Beischlaf schädlich ist, etwa wie die Nichtbefriedigung des Hungers, des Durstes, des Schlafbedürfnisses. Muß, ganz abgesehen von der Befriedigung des Verlangens nach Beischlaf, der Samen aus dem Körper des Mannes häufig entfernt werden, wie der Harn oder der Darmkot? Von all dem kann keine Rede sein. Der Nahrungstrieb, der Schlaftrieb dienen der Erhaltung des Individuums. Sie müssen befriedigt werden, wenn nicht das Individuum zugrunde gehen soll; der Geschlechtstrieb aber dient nur zur Erhaltung der Gattung; er sucht das Individuum rücksichtslos einem seinem individuellen Leben ganz fremden Zwecke zu unterjochen. Der Mann ist bei uns etwa erst im 24. Jahre voll erwachsen; das Mädchen etwa erst mit 20 Jahren voll gebärfähig, da erst in diesem Alter das Wachstum seines knöchernen Beckens vollendet ist. Lange, bevor die volle körperliche Entwicklung eingetreten ist, erwacht aber schon der Trieb. Die Befriedigung des Geschlechtstriebes vor Vollendung der Entwicklung ist aber keineswegs zuträglich, wie die höhere Sterblichkeit jugendlicher Ehemänner und Ehefrauen unter 20 Jahren im Vergleiche mit ihren ledigen Altersgenossen lehrt. Ebenso zeigt sich der Geschlechtstrieb bei Männern gar nicht selten noch im hohen Alter, und auch hier lehrt die Erfahrung, daß seine Befriedigung überaus schädlich werden kann. Diese Tatsachen beweisen aufs klarste, wie ganz anders es sich mit dem Fortpflanzungstriebe verhält als mit dem Selbsterhaltungstriebe. An eine Schädlichkeit der Zurückhaltung des Samens im Körper ist erst recht nicht zu denken. Der Samen ist kein schädlicher Auswurfstoff, kein Stoffwechselabfallstoff wie der Harn oder der Kot. Man hat darüber Experimente gemacht, indem man Menschen Samenflüssigkeit oder wässerige Auszüge aus Tierhoden unter die Haut gespritzt hat. Diese Einspritzungen wirken günstig. Namentlich ist es erwiesen, daß sie die Wirkung der Übung auf unsere Muskeltätigkeit erhöhen. Bekanntlich erhöhen körperliche Übungen die Leistungfähigkeit unserer Muskeln. Dies ist nun in viel höherem Grade der Fall, wenn Hodenauszug oder Samen eingespritzt wird; die Muskeln und die Muskelnerven ermüden dann viel weniger und erholen sich dann viel rascher. Diese Experimente stehen auch im Einklang mit der uralten Erfahrung, daß höchste körperliche Leistungen nur bei vollständiger Enthaltung von jeder Art Befriedigung des Geschlechtstriebes erzielt werden können. Deshalb enthielten sich die Athleten bei den Griechen und Römern ebenso des Beischlafes, wie dies unsere heutigen Sportsleute tun, wenn sie sich auf ihre Wettkämpfe vorbereiten (trainieren). Und daß es sich auch mit den geistigen Leistungen ganz ähnlich verhält, lehren vielfache Erfahrungen von Gelehrten und Künstlern. Während der Zeit der Enthaltung wird sicherlich Samen aufgesaugt und gelangen seine Bestandteile ins Blut. Dies wirkt also -- wie wir sehen -- nicht schädlich, sondern günstig. Wir haben übrigens soeben erst davon gesprochen, wie die innere Sekretion der Geschlechtsdrüsen den Körper von Mann und Frau erst zur vollen Entwicklung bringt. Man könnte nun allerdings denken, daß die Aufsaugung von Samen nur dann nützlich ist, wenn sie eine gewisse Höhe nicht überschreitet, daß ein Zuviel davon aber schädlich werden könne. Diesem Einwande gegenüber muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Natur durch die nächtlichen Pollutionen -- die etwas ganz Normales sind, wenn sie nicht allzu häufig stattfinden -- schon vorgesorgt hat, daß keine übermäßigen Ansammlungen von Samenflüssigkeit stattfinden, ferner darauf, daß die Absonderung des Samens von selbst abnimmt, wenn der Geschlechtsapparat nicht benützt wird. Mit den Hoden verhält es sich in dieser Beziehung geradeso wie mit den anderen Organen. Wenn sie nicht benützt werden, erhalten sie weniger Blut zugeführt, und wenn sie weniger Blut erhalten, sinkt ihre Ernährung und ihre ganze Lebenstätigkeit. Also auch dadurch ist einem Schaden vorgebeugt. Der Leser wird aber vielleicht sagen: „Es mag sein, daß der Samen keine schädliche Flüssigkeit ist, die entfernt werden muß; ich sehe ein, daß der Geschlechtstrieb keine Einrichtung zur Erhaltung des Individuums ist; aber was hilft es? Ist denn der Trieb nicht unüberwindlich? Und wenn er überwunden werden kann, erregt und erschöpft denn dieser beständige Kampf unser Nervensystem nicht in solcher Weise, daß dadurch die Gesundheit leidet? Das wird doch auch von Ärzten gelehrt.“ Davon, daß bei einem gesunden, normalen Manne das Verlangen nach Beischlaf +unüberwindlich+ ist, so daß es befriedigt werden +müßte+, kann keine Rede sein. Es ist unleugbar, daß manchem geschlechtsreifen Manne der nicht befriedigte Trieb erhebliche Beunruhigungen schafft, und daß es ihm zeitweise große Anstrengungen kosten kann, ihn im Zaume zu halten. Bei den meisten Männern ist der Geschlechtstrieb aber gar nicht so stark, als manchmal behauptet wird, und bei jedem Manne hängt die Stärke seiner Regungen in hohem Maße von seiner Lebensweise und von seinem ganzen Verhalten ab. Wenn wir unsere Vernunft und unseren Willen gebrauchen wollten, würde es der ungeheuren Mehrheit der gesunden Männer nicht allzu schwer werden, sich des geschlechtlichen Verkehrs zu enthalten und sich auch bei mangelnder geschlechtlicher Befriedigung von stärkerer Belästigung und Störung des Wohlbefinden freizuhalten. Um darüber klar zu werden, müssen wir zunächst genauer betrachten, wie die geschlechtliche Erregung zustande kommt. Auch der leidenschaftlichste Mann ist nicht +immer+ sexuell erregt. Die geschlechtliche Erregung tritt stets nur zeitweise, in der Regel nur auf äußere Anstöße hin, ein und läßt von selbst nach einer gewissen Dauer wieder nach, wenn der äußere Anlaß zu wirken aufgehört hat. Von dem Zustande, in dem sich die Hoden befinden, namentlich von ihrer Blutfülle und der Füllung ihrer Ausführungsgänge mit Samen, hängt der Grad der Erregbarkeit ab, d. h. ob schwächere oder stärkere Einwirkungen erforderlich sind, damit die geschlechtliche Erregung wirklich eintritt. Die Erregung kann zunächst durch örtliche Reizung der Empfindungsnerven veranlaßt werden. Von den Geschlechtsteilen, insbesondere vom Gliede, laufen Empfindungsnerven zum Rückenmarke. Werden sie, z. B. durch Berührung des Gliedes, erregt, so leiten sie diese Erregung zum Rückenmarke fort, wo sie unmittelbar auf Nerven übergeht, die wieder zum Gliede zurücklaufen, und zwar zu seinen Blutgefäßen. Die Erregung dieser Nerven hat zur Folge, daß den Schwellkörpern des Gliedes reichlicher Blut zugeführt wird, während gleichzeitig der Abfluß des Blutes aus ihnen erschwert wird. Das Blut häuft sich also im Gliede an; diesem schwillt an, richtet sich auf und wird steif. Dieser Vorgang der Erektion (Aufrichtung) kann völlig unabhängig von unserem Bewußtsein verlaufen, kann ein reiner +Reflexvorgang+ sein -- wie wir zu sagen pflegen. Er kann auch ohne jede Wollustempfindung stattfinden, wie z. B. bei ganz jungen Knaben bei Harndrang. Bei älteren Knaben aber erwecken die Erregungen, die von den sensiblen Nerven der Geschlechtsteile zum Rückenmark und zum Gehirne weitergeleitet werden, oft schon lange vor dem Eintritte der Pubertät eigentümliche Lustgefühle; beim Geschlechtsreifen erweckt die Steifheit des Gliedes außerdem Bedürfnis nach Entspannung und Verlangen nach dem Weibe. So kommen z. B. wollüstige Träume zustande, wenn während des Schlafes infolge des Reizes, den der Druck der gefüllten Blase auf die Nachbarschaft ausübt, das Glied steif geworden ist (was am häufigsten gegen Morgen eintritt, daher die Bezeichnung „Morgensteifheit“). Wie durch den Druck der gefüllten Blase kann auch durch den Druck des gefüllten Mastdarmes auf seine Nachbarschaft, durch Druck und Reibung der äußeren Geschlechtsteile seitens der Kleidung oder der übereinandergeschlagenen Beine, durch Jucken infolge von Unreinlichkeit der Haut oder von Hautausschlägen Erektion und durch diese wieder geschlechtliches Verlangen erregt werden. Es ist ohne weiteres klar, daß man sehr vieles tun kann, um diesen Erregungen vorzubeugen. Man vermeide, abends viel zu trinken, man sorge für geregelten Stuhlgang, man trage weite Hosen und vermeide auch sonst jeden stärkeren Druck auf die Geschlechtsteile, wie durch Übereinanderschlagen der Beine oder durch schwere Bettdecken und Überbetten; man vermeide jede überflüssige Berührung der Geschlechtsteile mit der Hand, man halte durch Waschungen und Bäder die Haut rein, sorge für frühzeitige ärztliche Behandlung von Hautausschlägen usw. Ebenso wie örtliche Erregung wollüstige Vorstellungen hervorrufen kann, führen umgekehrt gewisse Vorstellungen zur Erregung der Geschlechtslust und zur Erektion. Wenn man derartige erregende Vorstellungen zu vermeiden sucht, kann man unendlich viel in der Beherrschung des Triebes erreichen. Aber nur allzu häufig geschieht das Gegenteil: der Geschlechtstrieb wird durch leichtfertige Gespräche, durch Lesen unzüchtiger Bücher, durch Anblick obszöner Bilder und Theatervorstellungen u. dgl. künstlich erweckt und gestachelt! Wenn der Geschlechtstrieb heute bei so vielen Knaben und unreifen Jünglingen frühzeitig zur Äußerung kommt, so ist dies nicht ein natürliches Erwachen, sondern sicherlich bei 90 von 100 die Folge von Verführung. Und dieselbe verruchte Afterkunst und Afterliteratur, die unsere Sinnlichkeit mit allen Mitteln unablässig reizt und stachelt, lehrt dann die angebliche Unüberwindlichkeit des Triebes! Ebenso, wie wir in hohem Maße fähig sind, der geschlechtlichen Erregung vorzubeugen, so sind wir auch imstande, die eingetretene Erregung zu bändigen. Wenn so viele junge Männer dem geschlechtlichen Verlangen ohne weiteres Folge leisten und es durch unehelichen Beischlaf befriedigen, so ist dies keineswegs ein Beweis dafür, daß sie ihm folgen müssen. Sie +wollen+ nur nicht ernstlich sich beherrschen! Weichlichkeit, Neugierde und kindischer Ehrgeiz, es den anderen gleichzutun, Betäubung des Gewissens und der Urteilskraft durch Alkohol spielen dabei eine viel größere Rolle als der Trieb selbst. Die meisten wohlerzogenen jungen Leute machen ihren ersten Besuch bei Prostituierten und holen sich ihre venerischen Erkrankungen in „angeheitertem“ Zustande, wenn sie nicht mehr fähig sind, die Folgen ihres Tuns klar zu überblicken. Vom Gehirne gehen nicht allein Erregungen des Geschlechtsapparates aus, sondern auch +Hemmungen+ des Reflexvorganges der Erektion. Diese Hemmungen kommen häufig von selbst, ganz unwillkürlich zustande. So ist z. B. bekannt, daß Schrecken, Schmerz und andere heftige Empfindungen, daß lebhaft auftauchende Vorstellungen überhaupt, welche die Aufmerksamkeit ablenken, ganz plötzlich Erlöschen des Verlangens und Erschlaffen des Gliedes herbeiführen können. Intensive geistige Beschäftigung pflegt die Erregungen, die von den Geschlechtsorganen ausgehen, von vornherein zu übertönen. Wir können nun auch willkürlich solche Vorstellungen erwecken, welche die Erregung hemmen, z. B. die Vorstellung von unseren Pflichten oder von den Gefahren, welche die Befriedigung des Triebes mit sich bringt. Nicht allein auf dem Gebiete des Geschlechtslebens, sondern allen Einwirkungen der Außenwelt gegenüber ist nur derjenige +Herr seiner selbst und daher frei+, der die Hemmungseinrichtungen, die in seinem Gehirne vorhanden sind, zu gebrauchen gelernt hat; diese Fähigkeit kennzeichnet den Kulturmenschen. Der andere bleibt der Sklave des Augenblicks. Wir stehen also keineswegs machtlos da. Die wichtigste Regel aber für den, der Selbstbeherrschung üben soll und üben will, ist: +Widerstehe dem Anfange!+ „_Principiis obsta!_“ +In ihrem ersten Beginne+ ist die einzelne geschlechtliche Erregung meist so schwach, daß sie mit leichter Mühe unterdrückt werden kann. Versäumt man aber dies Stadium oder gibt man der Empfindung nach, dann schwillt sie lawinenartig an und erfordert schließlich eine gewaltige und peinliche Willensanstrengung zu ihrer Unterdrückung. Daß aber die Gesundheit Schaden nimmt, wenn selbst heftigere derartige Kämpfe häufiger stattfinden, kommt bei Menschen mit einem von vornherein normalen und nicht geschwächten Nervensysteme wohl kaum vor. Jene krankhaften Erscheinungen, die man gerne der Enthaltsamkeit zuschreibt, sind nicht die Folge von dieser, sondern im Gegenteile in der Regel die Folge geschlechtlicher Ausschweifungen und Sünden. Es können aber auch nachweisbare Krankheiten des Geschlechtsapparates oder des Zentralnervensystems vorliegen. Es sind Fabeln, wenn behauptet wird, daß beim Manne Samenfluß oder schmerzhafte Entzündungen im Hoden und Nebenhoden, Samenaderbruch (Varikokele), Unfähigkeit zum Beischlaf (Impotenz), oder umgekehrt die sog. Satyriasis; beim Weibe weißer Fluß, Bleichsucht, Hysterie, Lageveränderungen und Geschwülste der Gebärmutter, die sog. Nymphomanie; bei beiden Geschlechtern Irrsinn, Neigung zum Selbstmord, zu Verbrechen aus der Nichtbefriedigung des Geschlechtstriebes durch den Beischlaf entständen. Allerdings zeigt der Vergleich der Sterblichkeitsverhältnisse der Verheirateten und der Ledigen, daß die Mortalität der verheirateten Männer in allen Altern über 20 Jahre und die Mortalität der Ehefrauen, nachdem das Alter der größten Geburtenhäufigkeit überschritten ist, erheblich geringer ist als die der Ledigen. Aber diese geringere Sterblichkeit, ebenso wie die geringere Häufigkeit von Irrsinn, Selbstmord, Verbrechen unter ihnen kann schon deshalb nicht auf die Befriedigung des Geschlechtstriebes bei den Verheirateten bezogen werden, weil die Ledigen leider zum großen Teile durchaus nicht Personen sind, die den Trieb nicht durch Beischlaf befriedigen. Die geringere Sterblichkeit der Verheirateten beruht zum Teile darauf, daß beim Abschlusse der Ehe auch heute schon eine gewisse Auslese stattfindet und körperlich elende, kranke oder verkümmerte Individuen, Idioten, Irrsinnige, Blinde, Lahme usw., in der Regel nicht geehelicht werden. Hauptsächlich aber beruht sie darauf, daß die Verheirateten in der Regel ein geordneteres Leben führen, weniger Alkoholmißbrauch treiben und viel weniger der Gefahr der Geschlechtskrankheiten ausgesetzt sind. Wie gering die Rolle ist, welche die Befriedigung des Geschlechtstriebes durch den Beischlaf dabei spielt, geht daraus hervor, daß Mönche und Nonnen trotz der Ungunst mancher ihrer Lebensbedingungen im allgemeinen keine wesentlich höhere Sterblichkeit aufweisen als ihre Altersgenossen unter den Laien. Leichtere Störungen und Unbehaglichkeiten, wie unruhiger Schlaf infolge von Erektionen, häufigere Pollutionen, Kopfschmerzen und eine gewisse nervöse Aufregung infolge von Blutfülle, lassen sich durch die früher besprochenen Maßregeln, ferner durch Enthaltung von alkoholischen Getränken und stark gewürzten Speisen, kühles, nicht zu weiches Bett, kalte Waschungen und Bäder, ferner insbesondere durch intensive Pflege von körperlichen Übungen bis zu deutlicher Ermüdung in der Regel leicht vermeiden oder beseitigen. Je beharrlicher alles vermieden wird, was den Geschlechtstrieb erregen könnte, um so leichter fällt im allgemeinen die Enthaltsamkeit, da -- wie wir schon besprochen haben -- die Hoden bei Nichtgebrauch des Geschlechtsapparates ihre Tätigkeit einschränken. 5. Kapitel. Folgen der geschlechtlichen Unmäßigkeit und Regeln für den ehelichen Geschlechtsverkehr. Während kaum irgend etwas Sicheres von schädlichen Folgen der Enthaltsamkeit vom Beischlaf für Menschen mit gesundem Nervensystem bekannt ist, steht es fest, daß +geschlechtliche Unmäßigkeit+ sehr häufig schadet. Besonders häufig leidet beim Manne das Nervensystem darunter, was leicht begreiflich ist, wenn man die heftige Erregung bedenkt, unter welcher sich der Beischlaf vollzieht.[C] Schon deshalb darf also auch in der Ehe der Geschlechtstrieb nicht zügellos befriedigt werden. Auch in jenen Perioden der Ehe, während deren der Beischlaf erlaubt ist, darf er nicht zu häufig ausgeübt werden. Viele alte Gesetzgeber haben darüber Vorschriften gegeben: Zoroaster erlaubte ihn alle neun Tage, Solon dreimal im Monate, Mohammed einmal wöchentlich. Eine uralte deutsche Regel, die auch ich früher fälschlich Luther zugeschrieben habe, lautet: „Alle Wochen zwier Schadet weder ihr noch mir, Macht im Jahr hundertundvier“, wobei allerdings auf die Menstruation vergessen wurde. Es ist nicht möglich, eine feste Regel aufzustellen. Wie oft der Beischlaf ausgeübt werden kann, ohne daß es schadet, hängt nämlich in hohem Maße von der persönlichen Anlage, vom Alter, der Ernährung und der Arbeitsleistung des Mannes ab. Stark geistig Arbeitende müssen in der Regel mäßig sein. Wer auf die Winke der Natur achtet, wird leicht selbst das zuträgliche Maß finden. Wenn lebhaftes Verlangen nach dem Beischlaf besteht, die Erektion rasch und kräftig eintritt, wenn nach vollzogenem Beischlaf eine angenehme Müdigkeit empfunden wird, die nach kurzer Ruhe dem Gefühle voller Frische Platz macht, tiefer und ruhiger Schlaf nachfolgt, so ist nicht zuviel geschehen, auch wenn die obige alte Regel weit überschritten wird. Dagegen lasse man sich durch träge Erektionen, durch das Gefühl von Ermüdung und Unlust, Gefühl von Druck in der Kreuzgegend, Aufgeregtheit und Schlaflosigkeit hinterher warnen. Der Satz: „Jedes Tier ist nach dem Beischlafe traurig,“ gilt nur für Kranke und Unmäßige. Was die beste Tageszeit für die Vornahme des Beischlafes anbelangt, so bevorzugen die einen die Zeit unmittelbar nach dem Zubettlegen, wobei dann die ganze Nacht der Erholung dient, die anderen die Zeit unmittelbar nach dem Erwachen, wenn die Gatten völlig ausgeruht und frisch sind. Im letzteren Falle ist es aber ratsam, sich nach Vollendung des Beischlafs noch eine kurze Ruhezeit und ein Schläfchen zu gönnen. Überhaupt wird der Beischlaf am zuträglichsten sein, wenn er in voller Bequemlichkeit und Ungestörtheit, frei von Sorgen oder Gewissensbissen, vollzogen wird. Der eheliche Geschlechtsverkehr ist deshalb viel zuträglicher als der außereheliche. Am zweckmäßigsten ist die Rückenlage der Frau mit gespreizten Schenkeln unter dem Manne. Diese Lage ist schon durch den Bau der Geschlechtsteile als die natürliche vorgezeichnet. Andere Stellungen ermüden stärker. Bei Lage des Mannes unten und der Frau oben sinkt die Gebärmutter zu sehr nach unten, sie wird schädlichen Erschütterungen ausgesetzt und an ihren Bändern gezerrt. Die Frau empfindet dann häufig hinterher Schmerzen, ja, es kann zu Entzündungen im Innern kommen. Jede Künstelei ist überhaupt zu vermeiden, insbesondere die willkürliche Verzögerung der Samenausschleuderung, um die Dauer der Wollustempfindung zu verlängern. Dagegen ist es für die physische und psychische Gesundheit der Frau und für das Glück der Ehe sehr wichtig, daß auch +die geschlechtliche Erregung der Frau durch den Eintritt des Orgasmus beim Geschlechtsakt voll befriedigt und gelöst wird+. Man darf nie vergessen, daß die Ehe weder wegen des wirtschaftlichen Nutzens allein noch wegen der seelischen Freuden, die sie mit sich führt, sondern im wesentlichen um des physischen Zweckes willen, behufs regelmäßiger Befriedigung des geschlechtlichen Bedürfnisse geschlossen wird. Dies muß mit Nachdruck betont werden. Die verstiegene Sentimentalität und der fleischlose Intellektualismus sind ebensowenig imstande, eine befriedigende Ordnung in das Verhältnis von Mann und Weib zu bringen, als der brutale Sensualismus. Wohl niemals würden es zwei Menschen auf die Dauer ertragen, in der Weise von Ehegatten miteinander verkettet zu sein, wenn sie nicht dabei die physische Befriedigung ihres Geschlechtstriebes suchen und finden würden. Auch bei solchen Frauen, welche mit noch schlummerndem Geschlechtstriebe in die Ehe eingetreten sind, wird er durch die Ehe notwendigerweise geweckt. Erregung von Wollustempfindungen durch geschlechtliche Handlungen ohne nachfolgende vollständige Befriedigung aber wirkt schädlicher und verstimmt mehr als völlige Enthaltung vom geschlechtlichen Verkehr. +Der kluge und rücksichtsvolle Gatte wird sich daher nicht allein um seine eigene Befriedigung kümmern, sondern auch auf die seiner Frau bedacht sein.+ Mit einer Frau, die nur langsam in höhere Grade geschlechtlicher Erregung gerät, wird er den Beischlaf erst dann beginnen, wenn auch bei ihr starke Erregung eingetreten ist; etwa infolge fortgesetzter Liebkosungen. Je einfacher man in seinen Genüssen bleibt, um so gesünder. Eheleute mögen sich immer vor Augen halten, daß, je mäßiger sie im Genusse sind, um so länger der normale Beischlaf seinen Reiz für sie behält, um so länger die beiderseitige geschlechtliche Gesundheit, besonders die Leistungsfähigkeit des Mannes vorhalten wird, sie um so länger also der ehelichen Genüsse sich erfreuen zu können hoffen dürfen. Eine gewisse zeitliche Regelmäßigkeit im Vollzuge des Beischlafes ist durchaus ratsam. Die ganze Funktion des männlichen Geschlechtsapparates richtet sich dann darauf ein, und der Beischlaf geht dann ohne schädliches Übermaß von Erregung vor sich. Selbstverständlich soll man aber nur dann beischlafen, wenn man sich vollkommen gesund und kräftig fühlt, und nur dann, wenn die Erektion sich von selbst eingestellt hat. Sie zum Zwecke des Beischlafes künstlich herbeizuführen, ist ein Mißbrauch, der sich mit der Zeit an der Gesundheit rächt. In berauschtem Zustande den Beischlaf auszuführen, ist durchaus verwerflich, weil die Gefahr besteht, daß ein in solchem Zustande erzeugtes Kind krank und schwächlich wird. Wer noch Kinder zu erzeugen die Absicht hat, sollte sich überhaupt regelmäßigen oder irgend häufigeren Genusses von alkoholischen Getränken enthalten und auch niemals ausnahmsweise ein Übermaß davon zu sich nehmen. +Je besser die Gatten für Gesundheit und Kraft ihres Körpers sorgen, um so gesündere und lebensfrischere Kinder dürfen sie erwarten. Diese Fürsorge für die eigene Gesundheit, die geordnete, vernünftige Lebensführung ist eine der größten und wichtigsten Pflichten derjenigen, welche Kinder in die Welt setzen wollen.+ Unmäßigkeit und Unordnung im Geschlechtsverkehre schaden hauptsächlich dem Manne. Die Frau, welche sich beim Beischlafe lediglich duldend verhält, kann in dieser Hinsicht viel mehr vertragen als er. Da die weiblichen Geschlechtsteile stets zum Vollzuge des Beischlafes bereit sind, während beim Manne erst Gliedsteife eingetreten sein muß, kann die Frau beliebig oft hintereinander den Beischlaf an sich vollziehen lassen. Wenn sie nur langsam in Erregung gerät, bleibt sie oft nach dem ersten Beischlafe noch in starker unbefriedigter Erregung und brächte ihr erst der zweite oder dritte Vollzug die volle Höhe des Genusses. Wenn solche Frauen einmal Erfahrung gewonnen und die schamhafte Scheu abgestreift haben, suchen sie mit allen Künsten den Mann möglichst rasch nach dem Beischlaf wieder zu einem neuen zu stacheln. Es gibt Frauen von wahrhaft unersättlicher Begierde, die den Mann buchstäblich bis auf den letzten Tropfen auszusaugen vermögen. Da ihnen Jünglinge mit unabgestumpfter geschlechtlicher Reizbarkeit besonders erwünscht sind, sei der junge Mann vor solchen Frau Potiphars auf der Hut. Die ersten Folgen der Unmäßigkeit sind Abnahme der Wollustempfindung beim Beischlafe, damit zusammenhängend Verzögerung des Eintrittes der Ejakulation, Verminderung der Kraft, mit welcher der Samen ausgeschleudert wird. Nach dem Beischlafe Gefühl der Verstimmung, der Ermüdung, der Mattigkeit in den Beinen, die länger und länger anhalten, je länger und ärger die Unmäßigkeit fortgetrieben wurde. Als weitere Folgen können auftreten: Druck in der Lendengegend, nervöse Erregbarkeit, Gefühl von Druck im Kopf, von Eingenommensein des Kopfes, gestörter Schlaf, Ohrensausen, Flimmern vor den Augen, Lichtscheu, zittriges Gefühl und wirkliches Zittern, Neigung zum Schwitzen. Es kann ferner Herzklopfen eintreten; Muskelschwäche, die sich schon in den schlaffen Mienen, in der schlaffen Haltung des geschlechtlich Ermüdeten und Erschöpften verrät; Unlust zu anhaltender, schwerer Arbeit und Unfähigkeit, sie zu leisten, Gedächtnisschwäche, Neurasthenie und Melancholie. Die Verdauungstätigkeit sinkt, die Ernährung wird schlechter; infolge davon Blutarmut und Schwächung der Widerstandskraft gegen äußere Schädlichkeiten, insbesondere gegen Infektionskeime und unter diesen wieder insbesondere gegen den Tuberkelbazillus. Auch der Geschlechtsapparat selbst funktioniert bald noch schlechter und weist die Erscheinungen der sog. reizbaren Schwäche auf: die Erektionen verlieren an Kraft und Dauer; bei unvollkommener Erektion oder alsbald nach der Einführung des Gliedes in die Scheide tritt die Ejakulation ein, ohne daß die Höhe des Wollustgefühles erreicht wird; die Fähigkeit zum Beischlaf geht damit mehr und mehr verloren; nächtliche Pollutionen treten häufig auf und hinterlassen eine gesteigerte nervöse Erregung und Mattigkeit. Die leichteren Störungen des Wohlbefinden gehen übrigens im allgemeinen rasch wieder vorüber, wenn Enthaltsamkeit geübt wird, wenn die Ernährung gut und die ganze sonstige Lebensweise den hygienischen Grundsätzen gemäß ist. Insbesondere erholen sich vollkommen geschlechtsreife junge Männer, die von vornherein gesund und kräftig waren, von den Torheiten der Flitterwochen bald, wenn die Vernunft die Herrschaft wiedererlangt hat. Je länger die Exzesse gedauert haben, je schwächlicher das Individuum von vornherein war, um so schwieriger tritt volle Wiederherstellung ein. Am gefährlichsten wird die geschlechtliche Unmäßigkeit unreifen oder nicht voll erwachsenen Jünglingen, sowie Männern, die sich bereits dem Greisenalter nähern; sind sie etwa von vornherein nicht ganz gesund, so können sie sich dadurch dauerndes Siechtum, ja selbst raschen Tod zuziehen. +Auch in der Ehe kommen Zeiten, in welchen vollständige Enthaltsamkeit geübt werden muß.+ Sie sind durch Rücksichten auf die Frau und auf die Nachkommenschaft unbedingt gefordert. Zur Zeit der Menstruation darf der Beischlaf nicht ausgeübt werden. Er verbietet sich übrigens für das feinere Empfinden von selbst durch den Zustand der weiblichen Geschlechtsteile. Während der Menstruation ist das Innere der Gebärmutter wund, der ganze Geschlechtsapparat des Weibes gereizt und mit Blut überfüllt. Unter diesen Umständen ist, wie bei allen Wundflächen, die Gefahr vorhanden, daß eine Wundinfektion eintritt, diese dann zu Entzündungen der Gebärmutter und ihrer Anhänge führt und so die Frau auf die Dauer krank macht. Diese Gefahr wird durch das Einführen des Gliedes in die Scheide sehr gesteigert.[D] Jedenfalls muß der Beischlaf während des Blutabganges unterbleiben; noch besser ist es, ihn auch während der darauffolgenden Woche zu unterlassen, bis die Innenfläche der Gebärmutter wieder vollkommen überhäutet ist. Bei dieser Gelegenheit sei Ehemännern der Rat erteilt, das Glied durch Waschungen immer reinzuhalten, wobei insbesondere auf die Furche hinter dem Randwulst der Eichel und auf die Falten des Bändchens zu achten ist. Ebenso soll die Frau die äußeren Geschlechtsteile, namentlich die Schamspalte, reinhalten. Sehr empfehlenswert ist es, einige Zeit nach vollzogenem Beischlaf mit Hilfe eines +Irrigators+ und eines +Mutterrohres+ die Scheide mit lauwarmer, reiner Kochsalzlösung (1 Kaffeelöffel Kochsalz auf 1 _l_ Wasser) auszuspülen. Dies darf aber nicht sogleich nach dem Beischlafe geschehen, da sonst die Empfängnis verhindert werden könnte. Der Irrigator und das Mutterrohr müssen reingehalten und durch Waschen mit einer Desinfektionsflüssigkeit, z. B. mit 2 prozentiger Lysollösung (20 _ccm_ Lysol auf 1 _l_ Wasser), vor dem Gebrauche desinfiziert werden. Die Kochsalzlösung soll abgekocht sein. Desinfektionsmittel dürfen ihr aber nicht zugesetzt werden. Ich kenne Fälle, wo die sehnlichst gewünschte Schwängerung infolge solcher fehlerhafter Reinlichkeit ausblieb, aber sofort eintrat, als die „hygienischen“ Ausspülungen ausgesetzt wurden. Durch alle diese Maßregeln wird manchen Erkrankungen, namentlich dem sogenannten weißen Flusse, vorgebeugt, einem Katarrhe der Scheide, der der Frau wie ihrem Ehemann recht lästig werden kann. Sehr vorsichtig muß man mit dem Beischlafe auch während der Schwangerschaft sein. Er darf nicht zu häufig und nie stürmisch ausgeführt werden. In den ersten Monaten der Schwangerschaft, namentlich bei Erstgeschwängerten, wird er am besten ganz unterlassen. Werden diese Vorschriften nicht beachtet, dann kommt es leicht zu Fehl- und Frühgeburt, durch die nicht allein das Kind verloren geht oder geschädigt wird, sondern auch die Frau dauernden Schaden nehmen kann. Unbedingt verboten ist der Beischlaf während des Wochenbettes, wenn nicht die Frau, deren innere Geschlechtsteile arg verwundet sind, schwerer Gefahr ausgesetzt werden soll. Auch bei ganz normalem Verlaufe des Wochenbettes soll mindestens vier Wochen damit gewartet werden, und auch dann noch ist weise Beschränkung dringend anzuraten. Mit Rücksicht auf die Frau wie auf das Kind wäre es eigentlich geboten, der Frau, die geboren hat, eine monatelange Schonzeit zu gewähren. Man muß auf das dringendste fordern, daß jede gesunde Mutter ihr Kind stillt, wenn möglich 8-9 Monate lang. Das Leben des Kindes im ersten Lebensjahre ist in hohem Grade gefährdet, wenn es nicht seine natürliche Nahrung erhält; und die üblen Folgen der künstlichen Fütterung scheinen auch noch in der späteren Lebenszeit nachzuwirken. Die Erfahrung lehrt aber, daß bei sexuell erregbaren Frauen durch Ausübung des Beischlafes, namentlich wenn er häufiger oder stürmisch unter größerer Aufregung erfolgt, die Milchabsonderung frühzeitig zum Stillstand kommen kann oder die Menstruation und damit zugleich die Befruchtungsfähigkeit trotz des Stillgeschäftes wieder eintritt. Für den Säugling wie für die Mutter ist es aber schädlich, wenn es bald zu einer neuen Schwangerschaft kommt; für den Säugling, weil dann die Milchabsonderung bald unzureichend wird und aufhört; für die Mutter, weil die Frauen durch allzu rasch aufeinanderfolgende Schwangerschaften überanstrengt werden, rasch verblühen und Neigung zu Krankheiten, insbesondere zu Tuberkulose, bekommen. Bei zu rascher Geburtenfolge werden auch meist schwächliche Kinder geboren. Rascher als etwa alle 2½ Jahre sollten die Schwangerschaften nicht aufeinanderfolgen, wenn die Frau bei voller Kraft und Gesundheit bleiben und einer kräftigen Nachkommenschaft das Leben schenken soll. 6. Kapitel. Künstliche Verhinderung der Befruchtung. Die Natur hat uns nicht allein das Verlangen nach Begattung eingepflanzt, sondern auch den Wunsch, Nachkommen zu erzeugen und großzuziehen. Bei der Frau, deren natürliche Lebensaufgabe es ist, Kinder zu tragen und zu gebären, pflegt dieser Wunsch von klein auf überaus lebhaft zu sein. Beim Manne pflegt er erst mit der Zahl der Jahre zu wachsen. Je älter der Kinderlose wird, je mehr seine persönliche Leistungfähigkeit abnimmt, um so mehr überkommt ihn ein Gefühl der Leere, der Entbehrung eines wichtigsten Lebensgutes und zugleich ein Gefühl seiner Überflüssigkeit in der Welt. Eine Ehe ohne Kinder hat ihren Hauptzweck verfehlt. Nur wer Vaterfreuden und Vaterleiden empfunden hat, hat voll ausgelebt, was das Dasein zu bieten vermag. Ein Volk, dessen Angehörige nicht mehr die Tatkraft und den Lebensmut haben, die Last der Aufzucht von Kindern auf sich zu nehmen, dafür Opfer zu bringen, dafür etwas zu wagen, ein Staat, dessen Bürger die Zahl der Kinder aufs äußerste beschränken, nur um nicht zuviel Sorgen zu haben, nicht zu hart arbeiten zu müssen, um ein schlaffes Wohlleben führen oder um Besitz anhäufen zu können, sind dem Untergange geweiht. Für ein Volk von bequemen Rentnern oder von raffiniert genießenden Intellektuellen und Ästheten ist kein dauernder Platz auf der Erde. Nur derben Völkern, die nicht erst besonderer Reizmittel der Zivilisation und der Kunst bedürfen, um ihres Lebens froh zu werden, die sich kräftig vermehren und fröhlich im Gefühle des Gebrauches ihrer Kräfte für ihre Kinder sich rühren, gehört die Zukunft. Wenn wir Deutsche uns nicht kräftig vermehren, wird uns Rußland mit seiner Volksmasse binnen 100 Jahren erdrücken. Mit Rücksicht darauf, daß ein erheblicher Bruchteil der Geborenen abstirbt, bevor das Alter der vollen Fortpflanzungsfähigkeit erreicht ist, daß nicht wenige, welche dieses Alter erreichen, doch zur Erzeugung gesunder Kinder untauglich sind, daß viele aus äußeren Gründen an der Eheschließung verhindert werden, müßte jede Ehe zwischen Gesunden heute +mindestens vier+ Kinder tragen, wenn das ganze Volk in gesundem Blühen erhalten werden soll. Die Überhandnahme der willkürlichen Einschränkung der Kinderzahl („Zweikindersystem“, Einkind-, Keinkindehen) muß daher die größte Besorgnis für die Zukunft des deutschen Volkes erwecken. Besonders verhängnisvoll ist die zunehmende Ehelosigkeit, Verspätung der Verehelichung, absichtliche Verhinderung der Befruchtung und unzulängliche Kindererzeugung bei den besser Begabten. (S. o.) Das Ein- und Zweikindersystem ist auch deshalb schädlich, weil sich statistisch herauszustellen scheint, daß das dritte und vierte Kind der Frau im Durchschnitt am kräftigsten und besten geraten. Nebenbei hat das Kleinhalten der Familie auch schlimme Folgen für die +Kultur+. Die Kinder in solchen kinderarmen Familien werden sehr häufig +verzogen+, zu anspruchsvollen, beständig auf ihr eigenes Wohlsein bedachten, eigensüchtigen Menschen gemacht. Das Aufziehen von ein oder zwei Kindern vermag die Frau nicht genügend zu beschäftigen. Schon in jungen Jahren, im Vollbesitze ihrer Kräfte hat sie keine ausfüllende Lebensaufgabe mehr und sucht dann -- nicht selten auf bedenklichsten Wegen -- Zerstreuung oder drängt sich in das Arbeitsgebiet des Mannes, auf dem sie in der Regel doch nur zu stümpern vermag. Sie schwärmt für „soziale Tätigkeit“, weil ihr die natürliche soziale Tätigkeit -- die wichtigste und wertvollste von allen! --, die Erfüllung des Mutterberufes, genommen oder verkümmert worden ist. Es gilt, das +richtige Maß der Kindererzeugung+ zu treffen, denn blindlings darf die Vermehrung auch nicht vor sich gehen. Allerdings bietet vorläufig die Erde noch reichlich Raum für die Vermehrung der Menschheit im ganzen und kann ihr Ertrag an Nahrungsmitteln noch ums Mehrfache gesteigert werden. Wir dürfen auch hoffen, daß der Weltkrieg, der zu unserer Vernichtung führen sollte, uns einen solchen Zuwachs an Siedelungs- und Ackerland verschaffen wird, daß nicht so bald ein Mißverhältnis zwischen der Zahl der zu Nährenden und zu Pflegenden und der Menge der verfügbaren Nahrung, Wohnung und Kleidung entstehen kann. Der Krieg hat leider auch so stark unter den erwerbstätigen Männern aufgeräumt, daß es den Überlebenden nicht an reichlicher Gelegenheit zu lohnender Tätigkeit fehlen wird. Bei jeder einzelnen Familie lassen sich aber darüber Erfahrungen machen, daß der Haushalt nur so lange gedeiht, als die Zahl der Kinder im richtigen Verhältnisse zur Größe des Einkommen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern steht, so daß die Kinder genügend ernährt, mit genügender Sorgfalt gewartet, beaufsichtigt und erzogen werden können, während zugleich jedes schädliche Übermaß darin ausgeschlossen bleibt. Sind der Nachkommen zu wenige, dann werden sie leicht verwöhnt, verzärtelt und verzogen; werden der Nachkommen zu viele, dann verkommt alles. Die Frau leidet physisch unter den ungeheuren Zumutungen, welche die gehäuften Schwangerschaften und Säugungen an ihren Körper stellen, und vermag um so weniger die sich stets vermehrende Last des Haushalts zu tragen; die angeborene Kraft und Gesundheit der Kinder nimmt im Mittel vom 8. bis 9. Kinde einer Mutter an merklich ab -- auch dann, wenn die Pausen zwischen den einzelnen Geburten lange genug waren --, und die schwächlichen und kränklichen, die um so größerer Sorgfalt bedürften, finden sie nicht mehr. Ordnung und Reinlichkeit sind nicht mehr aufrechtzuerhalten, die Familie verfällt und zerfällt; Krankheit und Laster räumen unter ihr auf. Die Vernunft gebietet also, nicht mehr Kinder zu erzeugen, als man bei Arbeitslust und frischem Mut und bei einiger Gunst des Schicksals voraussichtlich ernähren und aufziehen können wird. Die Kindererzeugung muß in Schranken gehalten werden, wenn sich der Mensch von dem grausamen Zustande befreien will, der in der unvernünftigen Natur das Gleichgewicht erhält: Massentod neben Massenzeugung! Es gibt noch andere Gründe, welche einzelne zwingen oder wenigstens zwingen sollten, auf die Erzeugung von Kindern vollständig oder zeitweise zu verzichten. Wir haben schon ausführlich von der Vererbung gesprochen, und wie in manchen Stämmen die erbliche Belastung, die Fehlerhaftigkeit des Keimplasmas derartig ist, daß keine Hoffnung auf Erzielung einer wenigstens ihrer Erscheinung nach (s. S. 31) gesunden Generation durch Kreuzung mit gesundem Stamme besteht; eine elende, kranke Nachkommenschaft mit Bestimmtheit oder großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Aber auch wenn der Stamm ein guter ist, kann die Aussicht auf gesunde Nachkommenschaft schlecht sein wegen chronischer, zeitweise auch wegen akuter Krankheit der Frau oder des Mannes. Dann ist es ebenfalls Pflicht, sich der Zeugung zu enthalten. Daß die Schwangerschaften überhaupt nicht rasch aufeinanderfolgen dürfen, wenn die Güte der Kinder nicht leiden und das Selbststillen lange genug fortgesetzt werden soll, wurde schon oben erwähnt. Ein Mann, welcher das 50. Lebensjahr überschritten hat, sollte, auch wenn er sich noch vollkommen gesund und rüstig fühlt, in der Regel keine Kinder mehr erzeugen, da die Kinder älterer Männer nicht selten schwächlich sind und da er kaum hoffen darf, so lange zu leben, bis die Kinder, erwerbsfähig geworden, seiner Unterstützung nicht mehr bedürfen. In anderen Fällen verbietet sich eine neue Schwängerung, weil eine frühere Geburt Veränderungen im Geschlechtsapparate der Frau hinterlassen hat oder weil eine der so häufigen Frauenkrankheiten sie befallen hat, die eine neue Schwangerschaft, eine neue Entbindung zur Lebensgefahr machen. Die Notwendigkeit, der Erzeugung von Kindern Schranken zu setzen, ist daher unbestreitbar, und mit dieser Forderung dürfte auch jeder ohne weiteres einverstanden sein. Weniger Neigung besteht aber zur Beschränkung im Geschlechtsgenusse. Man will die Erzeugung von Kindern vermeiden, aber auf den Geschlechtsgenuß nicht verzichten, und man wendet daher +künstliche Mittel+ an, um die Befruchtung zu verhindern. Wir müssen darüber hier sprechen, weil durchaus nicht alle diese Mittel so ganz harmlos sind, wie angepriesen wird. Wir müssen auch deshalb warnen, weil die meisten von ihnen den Zweck, dem sie dienen sollen, nur sehr unvollkommen erreichen. Das älteste und am häufigsten angewandte Verfahren ist wohl der sog. +unterbrochene Beischlaf+ (_Coïtus interruptus_). Das Glied wird vor der Ejakulation aus der Scheide herausgezogen, so daß der Samen außerhalb der weiblichen Geschlechtsteile ergossen wird. Wird dies pünktlich vollzogen und die etwa mit Samen benetzte Außenseite der Geschlechtsteile und ihre Nachbarschaft alsbald gereinigt[E], dann ist selbstverständlich die Schwängerung vollständig ausgeschlossen. Aber die Ausführung stellt an die Aufmerksamkeit und Willenskraft des Mannes eine nicht geringe Zumutung. Der Mann darf sich nicht sorglos den Wollustgefühlen überlassen und findet daher auch nicht so leicht volle Befriedigung. Die Samenentleerung findet, wenn nicht zum Schlusse manuell nachgeholfen wird, nicht mit jener Kraft statt, die sie beim normalen Akte hat und die notwendig ist, um volle Lösung der nervösen Spannung und der Blutfüllung herbeizuführen. Der Widerstreit zwischen dem Triebe und dem bewußten Willen scheint bei manchen das Nervensystem stärker anzugreifen als die Aufregung des natürlichen Beischlafes, wenn sich auch ohne Zweifel die meisten an diese Art des Vollzuges des Beischlafes allmählich völlig gewöhnen. Auch die Frau bleibt unbefriedigt, falls der Beischlaf unterbrochen wird, bevor bei ihr der Orgasmus eingetreten ist. Wie schädlich dies nach verschiedener Richtung werden kann, wurde schon früher hervorgehoben. Es wurde aber dort auch schon angedeutet, wie sich durch geeignete Vorbereitung erreichen läßt, daß der Gipfel der Wollustempfindung bei der Frau eintritt, bevor es beim Mann zur Ausspritzung des Samens kommt. Ohne Zweifel wird der unterbrochene Beischlaf von sehr vielen jahrzehntelang fortgetrieben, ohne daß sie merklich Schaden nehmen. Aber früher oder später scheinen sich doch bei manchen Störungen einzustellen, und es gibt Menschen, die dadurch in einen krankhaften Zustand geraten. Als Wirkungen des unterbrochenen Beischlafes +können+ auftreten: beim Manne Neurasthenie in den mannigfaltigsten Formen, Störungen der Erektion und Ejakulation und damit rasche Abnahme der Potenz bis zum vorzeitigen, vollständigen Erlöschen der Fähigkeit, den Beischlaf auszuführen (s. o.), Nervenschmerzen in den Genitalien, Vergrößerung und Verhärtung der Vorsteherdrüse; bei der Frau ebenfalls Neurasthenie, dann chronische Blutüberfülle der inneren Geschlechtsteile, Lockerung der Aufhängebänder der Gebärmutter, Lageveränderungen der letzteren und im Gefolge davon Hysterie. Durch Enthaltsamkeit und entsprechende ärztliche Behandlung, namentlich durch passende Wasser- oder Luftkur, können übrigens viele von diesen Störungen wieder beseitigt werden, wenn sie noch nicht einen allzu hohen Grad erreicht haben. Viel gesundheitsschädlicher als der _Coïtus interruptus_ dürfte die namentlich in England und Nordamerika vielfach geübte sogenannte „_Male Continence_“ („männliche Zurückhaltung“) sein, für welche in zahlreichen Schriften der Neo-Malthusianer Propaganda gemacht wird. Das Glied wird in die Scheide eingeführt und hier ruhig liegen gelassen, so daß es überhaupt nicht zur Ejakulation kommt. Hier wird also eine überaus starke geschlechtliche Erregung herbeigeführt und überlang aufrechterhalten, ohne daß die physiologisch erforderliche Entladung nachfolgt. Dies muß schädlich werden. In der Regel wird wohl die Befriedigung schließlich durch Masturbation erzielt werden, wenn auch davon nicht gesprochen wird. Alle anderen Mittel zur Verhütung der Empfängnis sollen verhindern, daß der +innerhalb+ der Scheide entleerte Samen bis zum Ei gelangt. Hierher gehören einerseits der +Kondom+ (Präservativ), ein Überzug aus Gummi oder aus Fischblase, der vor dem Beischlafe über das Glied gezogen und an der Wurzel des Gliedes durch einen darübergezogenen Kautschukring festgehalten und in den dann der Samen ergossen wird, andererseits +Schwämmchen+, +Scheidenkugeln+ aus Fett oder Leim mit keimtötenden Stoffen, Kautschukringe mit darin ausgespannter Membran (das sog. _+Pessarium occlusivum+_), welche, vor dem Beischlafe in die Scheide eingeführt, dem Samen den Weg zur Gebärmutter versperren sollen, +Einblasung von pulverigen Spermatozoengiften+ in die Scheide unmittelbar vor dem Beischlafe, endlich +Ausspülung der Scheide+ unmittelbar nach demselben. Von diesen Mitteln ist zu sagen, daß in der Praxis keines derselben volle Sicherheit gewährt. Am verläßlichsten ist der Kondom. Aber der Überzug über das Glied kann die Befruchtung nur dann verhindern, wenn er die Dehnungen und Zerrungen während des Beischlafes aushält und nicht zerreißt. Ist der Kondom dickwandig und daher fest und haltbar, dann stört er das Zustandekommen der Wollustempfindung des Mannes in beträchtlichem Maße; dies gilt besonders von den Kondoms aus Gummi, welche überdies bald brüchig werden. Ist der Kondom dagegen dünn und zart, wie die feineren Kondoms aus Fischblase, Kalbs- oder Schafsblinddarm, dann spürt man allerdings nicht viel von ihm, besonders, wenn man ihn nach dem Überziehen über das Glied mit Wasser befeuchtet, dann kann er aber während des Beischlafes leicht zerreißen. Die Verstopfungen der Scheide durch Schwämmchen usw. sind viel unsicherer, wenn sie nicht von sachkundiger Hand vorgenommen werden. Außerdem stören sie die geschlechtliche Befriedigung der Frau in mehr oder minder hohem Maße und können ihr dadurch in derselben Weise schädlich werden wie der unterbrochene Beischlaf. Endlich kommt es durch die Hantierungen in der Scheide, durch den Druck der Einlagen und durch Infektion sehr leicht zu Entzündungen und Katarrhen. Am harmlosesten für Mann und Frau sind die Ausspülungen der Scheide mit lauem Wasser oder lauer Kochsalzlösung unmittelbar nach dem in normaler Weise vollzogenen Beischlafe (s. o.). Aber dieses Verfahren ist das unsicherste von allen, da sogleich bei der Ejakulation Samen in den äußeren Muttermund und in den Halskanal der Gebärmutter eingedrungen sein kann und dieser Teil des Samens durch die nachfolgende Ausspülung nicht entfernt wird. Ich kenne mehrere Fälle, wo trotz der Ausspülungen bald Befruchtung erfolgte. Kaum weniger unzuverlässig als die Ausspülung nach dem Beischlafe ist das Einblasen von gepulverter Borsäure und ähnlichen Stoffen vor dem Beischlafe. Sie können auch durch den chemischen Reiz, den sie ausüben, schädlich werden. Der Leser sei also bei allen diesen künstlichen Verhinderungen der Befruchtung auf der Hut! Er darf auch ihren schlechten Einfluß auf das sittliche Verhältnis von Mann und Frau nicht übersehen. Ein solcher wird wohl nicht eintreten in einer Ehe, die bereits mit Kindern gesegnet ist und in welcher die durch jahrelanges Zusammenleben gefestigte innige Zuneigung der Gatten zueinander das Abstoßende derartiger Praktiken verhüllt. Wird dagegen der Geschlechtsverkehr von vornherein lediglich zum Zwecke des Genusses gepflegt, so vergiftet dies die Beziehung der Gatten zueinander, und schädigt es namentlich die Sittlichkeit der Frau. Sie betrachtet den Vollzug des Beischlafes nicht mehr, wie sie von Natur aus geneigt ist, mit Ehrfurcht als eine folgenschwere und feierliche Handlung, bei der die geheimnisvollen Urmächte des Lebens das verborgen Treibende sind, sondern lernt allmählich, daß es sich bloß um ein Vergnügen handle, das man sich bei einiger Klugheit gönnen kann, ohne verräterische Folgen fürchten zu müssen. Ein Gatte, welcher sich nicht überhaupt seiner Frau gegenüber Zurückhaltung bezüglich der geschlechtlichen Vergnügungen auferlegt, die angeborene Schamhaftigkeit der Frau nicht schont, sondern im Gegenteile ihre Sinnlichkeit künstlich weckt und stachelt, darf sich dann über ihre gelegentliche Untreue nicht wundern und beklagen. 7. Kapitel. Verirrungen des Geschlechtstriebes. Ich habe nicht die Absicht, in diesem Büchelchen alle Verirrungen des Geschlechtstriebes ausführlich zu besprechen. Im allgemeinen will ich nur sagen, daß jene Verirrung, über welche in unserer Zeit so viel Lärm gemacht wird, die Neigung zum eigenen, Abneigung gegen das andere Geschlecht, nur höchst selten angeboren sein dürfte. Wo diese Neigung wirklich angeboren ist, beruht sie auf einer Mißbildung. In den allermeisten Fällen ist sie aber gar nicht angeboren, sondern zurückzuführen auf die Weise, in welcher das Individuum zum ersten Male zum Genusse von intensivsten Wollustempfindungen gekommen ist; ein Erlebnis, das bei stark sinnlichen Naturen einen ungemein tiefen Eindruck zu hinterlassen pflegt und namentlich Personen mit krankhafter psychischer Veranlagung dauernd aus der Bahn normalen Empfindens abzulenken vermag. Wie sich’s übrigens verhalten möge, ob die Verirrung angeboren oder erworben ist, keineswegs dürfen Staat und Gesellschaft dulden, daß diese Personen („Homosexuelle“, „Urninge“) ihre Neigungen ungestört befriedigen, ungestört um ihre Art von Liebe werben. Denn wenn man dies zuließe, würde die Verführung bald in ungeheurem Maße um sich greifen, und wenn nicht die Zahl der Urninge, so doch die der sog. Bisexuellen bald zu einem Heere heranwachsen und eine Zeit geschlechtlicher Ausartung kommen, wie die, welche den Untergang der antiken Kultur herbeiführen half. Der gesetzliche und gesellschaftliche Gegendruck ist übrigens eine Wohltat für die Verirrten selbst. Ich kenne mehrere Fälle, wo unter diesem Druck solche zur Homosexualität Verführte wieder zu durchaus normalem Geschlechtsempfinden zurückgebracht und glückliche Gatten und Väter geworden sind. Über eine einzige Art von abnormaler Befriedigung des Geschlechtstriebes muß ich mehr sagen: über die +Masturbation+ oder +Onanie+, da dieses Übel ungemein verbreitet ist und darüber die verkehrtesten Ansichten herrschen, welche die Schäden noch vergrößern. Während die einen erklären, daß das Masturbieren ein sehr zweckmäßiges Mittel sei, sich Erleichterung zu verschaffen, wenn sich zuviel Samen angesammelt hat und der eheliche Beischlaf nicht möglich ist, und daher ebensowenig Tadel verdiene als der Gebrauch des Taschentuches oder der Klistierspritze, mit denen man auch der Natur nachhilft, sehen andere im Masturbieren das furchtbarste Übel mit den schädlichsten Folgen für die Gesundheit. Beide Meinungen sind falsch. Beim normalen Beischlafe wird die Ejakulation durch mechanische Einwirkung der Scheide auf das Glied herbeigeführt. Es ist nicht einzusehen, warum es schädlicher sein soll, warum die nervöse Erschütterung größer sein soll, wenn die mechanische Einwirkung auf einem anderen Wege vor sich geht als beim natürlichen Beischlaf. Mäßig getriebenes Masturbieren ist für den Geschlechtsreifen wohl ganz unschädlich, wahrscheinlich sogar weniger gefährlich als der unterbrochene Beischlaf. Nicht in der absoluten Schädlichkeit des einzelnen Aktes liegt die Gefahr der Masturbation, sondern vor allem darin, daß, da zum Beischlafe zwei Personen notwendig sind, zur Masturbation aber nur eine, +die Gelegenheit zum Masturbieren ungeheuer viel größer ist als die zum Beischlaf und damit auch die Verlockung zur Unmäßigkeit ganz ungeheuer wächst+! Die Leiden, die der Arzt so häufig bei Onanisten findet, sind dieselben, wie sie nach exzessiver Unmäßigkeit im Beischlafe auftreten: also Verstimmung, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Druck und Schmerzen in der Lendengegend, Störungen der Ernährung, Schwächung des Gedächtnisse und der übrigen geistigen Fähigkeiten, Schwäche der Willenskraft, Schwäche der Erektionen, vorzeitiger Eintritt der Ejakulation und damit Schwierigkeiten, den normalen Beischlaf auszuführen. Wenn diese Störungen so viel häufiger und ausgeprägter bei Onanisten als bei Koitierenden angetroffen werden, so liegt dies eben daran, daß der Koitus selten durch längere Zeit so unmäßig geübt wird, wie dies bei Masturbation vorkommt, und dann daran, daß +die Masturbation vor allem von geschlechtsunreifen oder halbreifen Knaben und Jünglingen betrieben wird, für welche jede Betätigung des Geschlechtstriebes ungesund ist+. Es muß daher die ernsteste Sorge der Eltern und Erzieher sein, die Kinder vor diesem hygienischen Laster zu behüten. (Auch Mädchen masturbieren!) In den allermeisten Fällen verfallen die Kinder nicht von selbst darauf, sondern kommen durch Verführung und böses Beispiel dazu. +Sorgfältige Auswahl der Spielkameraden und Gefährten und beständige Überwachung des Verkehrs der Kinder miteinander sind daher der wichtigste Schutz.+ Nichts macht die Kinder der Verführung zugänglicher als die unbefriedigte Neugierde bezüglich der Herkunft der Kinder. Es ist daher im höchsten Grade töricht, die Kinder mit dem Storchenmärchen abzuspeisen, statt sie rechtzeitig in +beschränktem Umfange+ aufzuklären. Die Zeit zwischen dem zehnten und zwölften Jahre ist dazu am besten geeignet; die Kinder haben schon genug Verständnis, während ihr Geschlechtstrieb noch nicht erwacht ist. Ohne viel Aufheben zu machen, zeige man den Kindern in der Blüte auch die Staubfäden und den Fruchtknoten mit seinen Eiern und erkläre ihnen, daß die Eier durch den Pollenstaub befruchtet werden müssen, damit neue Pflanzen daraus hervorgehen können. Wenn die Kinder Käfer oder Schmetterlinge finden oder Hunde auf der Straße sehen, die gerade in der Begattung begriffen sind, +und man ihrer Frage nicht ausweichen kann, ohne ihr Mißtrauen gegen unsere Aufrichtigkeit zu erwecken+, so sage man ihnen kaltblütig, ohne Verlegenheit oder verdächtiges Schmunzeln, mit kurzen Worten, daß dies geschehe, damit das Weibchen Eier lege bzw. Junge bekomme; +ohne die geringste Andeutung, daß dies für die Tiere mit Lustgefühlen verbunden ist+! Bei einigem Geschicke läßt sich dies so machen, daß das Kind von selbst den erforderlichen Analogieschluß zieht, ohne daß seine Phantasie ungebührlich erregt wird. +Sollte+ das Kind fragen, ob es beim Menschen ebenso sei, so antworte man +ohne Zögern trocken+ mit Ja, schneide aber weitere Fragen mit einem: „Das kannst du noch nicht verstehen!“ ab. Schon dem ganz kleinen Kinde, das fragt, sage man, daß es von seiner lieben Mutter unter Schmerzen geboren worden sei. Man wird davon nur günstige Wirkungen sehen. +Dagegen hüte man sich, mit der Aufklärung vorzeitig zu weit zu gehen+ und dadurch erst Aufmerksamkeit und Phantasie des Kindes auf das Geschlechtliche zu lenken. Von frühester Jugend auf muß darauf geachtet werden, daß das Kind nicht die üble Gewohnheit annimmt, seine Geschlechtsteile anzufassen, das Glied zwischen den Schenkeln zu drücken und ähnliches. Lange vor Erwachen des Geschlechtstriebes können sich, wie wir gehört haben, Erektionen und Lustempfindungen einstellen, und so kann es kommen, daß manchmal Knaben von zwei und drei Jahren schon masturbieren; selbstverständlich, ohne daß es zu einer Samenergießung kommt. Wie ich aus Erfahrung weiß, kann man dem Kinde sehr leicht Sorge vor den schädlichen Folgen der Betastung der Geschlechtsteile beibringen, ohne daß man ihm deren Bestimmung auseinanderzusetzen braucht. Der Umstand, daß die Geschlechtswerkzeuge zugleich Harnwerkzeuge sind, macht es sehr bequem, dem Kinde die üblen gesundheitlichen Folgen von Hantierungen an ihnen verständlich zu machen. Diese Belehrung wird dem Kinde um so weniger auffallen, je mehr man ihm auch sonst hygienische Ratschläge gibt und es zu hygienischer Lebensweise anleitet. Überaus wichtig ist es, den Körper der Kinder, namentlich die Geschlechtsteile, reinzuhalten -- selbstverständlich, ohne sie durch +zartes+ Reiben zu reizen --, Hautausschläge rasch behandeln zu lassen, damit nicht Jucken zur Masturbation führe. Die Körperwaschungen müssen auch benützt werden, um einen lebhaften +Ekel gegen alles Unreine+, alle unreinen Berührungen usw. anzuerziehen. Dieser Ekel wird zu einem nicht zu unterschätzenden Schutzmittel sowohl gegen widernatürliche Hantierungen als gegen den Verkehr mit den von so vielen Männern besudelten Prostituierten. Die Kinder sollen geschlossene Hosen tragen, so daß sie die Geschlechtsteile nicht ohne weiteres mit der Hand erreichen können; andererseits sollen die Hosen weit genug sein, um nicht zu drücken und zu spannen. Man bringe die Kinder müde zu Bett, so daß sie sofort einschlafen, und lasse sie alsbald nach dem Erwachen aufstehen. Man dulde nicht, daß sie die Hände unter die Bettdecke schieben, geradesowenig als daß die Knaben mit den Händen in den Hosentaschen umhergehen und sitzen. Man sehe häufig nach, ob die Nähte der Hosentaschen nicht zerrissen sind und so nicht etwa ein verborgener Weg zu den Geschlechtsteilen eröffnet ist. Im übrigen helfen alle jene Maßregeln, die wir früher schon als Mittel zur Erleichterung der Enthaltsamkeit kennen gelernt haben, auch zur Verhütung der Masturbation. Die wichtigsten Vorbeugungsmaßregeln, um die Kinder von sexuellen Verirrungen und späterhin von ungezügeltem Geschlechtsgenusse zurückzuhalten, sind +Erziehung zu Pflichterfüllung, Selbstbeherrschung und freiwilliger Enthaltung von einzelnen Genüssen+ überhaupt; ohne diese werden alle anderen wenig helfen. Ist ein Kind bereits auf das Masturbieren verfallen, so sind alle eben besprochenen Maßregeln um so strenger anzuwenden und das Kind beständig zu überwachen. Namentlich achte man auch darauf, daß es nicht zu lange auf dem Abort verweile. Übertriebene Strenge und harte Bestrafungen sind nicht am Platze. Viel nützlicher ist es, das Kind selbst zu belehren und sein Vertrauen zu gewinnen. Im übrigen lasse man sich durch die übertriebenen Schilderungen, die man nicht selten auch in ärztlichen Schriften aus früherer Zeit findet, nicht allzusehr erschrecken. Wenn die Masturbation nicht exzessiv getrieben wird, tritt geradeso wie nach Übermaß im Beischlaf bei Enthaltsamkeit und passender Lebensweise wieder vollständige Erholung ein. Sehr schwere Gesundheitsstörungen sind überhaupt selten. Wenn man liest, daß infolge von exzessiver Masturbation Geistesstörungen, Krämpfe, Veitstanz und Epilepsie auftreten, so liegt eine Verwechslung von Ursache und Wirkung vor. Das Verhältnis ist vielmehr dies, daß zügellose Masturbation ein Zeichen einer schon bestehenden psychischen Krankhaftigkeit ist, die sich dann später zu den genannten Krankheiten ausbildet. Eine sehr häufige Erscheinung ist, daß junge Männer, die, nachdem sie gewohnheitsmäßig masturbiert haben, in die Ehe treten, fürs erste nicht fähig sind, den Beischlaf auszuführen. Es ist dies fast immer nur die Folge ihrer Besorgnis, daß sie zum Beischlafe nicht fähig sein werden, da sie in den populären Schriften gelesen haben, daß die Masturbation zur Impotenz führe. Ihre Aufregung hemmt das Zustandekommen der Erektion. In einem solchen Falle heißt es nichts erzwingen wollen und +in Geduld die gute Stunde abwarten+. Sie kommt ganz bestimmt, und mit dem ersten Gelingen sind alle Schwierigkeiten überwunden. Die Neigung zur Masturbation erlischt beim gesunden Manne meist sofort, wenn er den normalen Geschlechtsverkehr kennen gelernt hat. Dies ist der Grund dafür, daß masturbierenden jungen Männern häufig der Rat gegeben wird, Prostituierte aufzusuchen. Ich halte dies aber für eine verwerfliche Torheit, da -- um von allem anderen zu schweigen -- das +Masturbieren für den gesunden Geschlechtsreifen eine winzige Schädlichkeit ist verglichen mit den venerischen Krankheiten+, die man sich im Verkehr mit Prostituierten früher oder später fast mit Gewißheit holt. Einen Unreifen aber frühzeitig zum Beischlafe mit Prostituierten verlocken hieße erst recht ihn völlig in die Gefahr des Verderbens stürzen. Ich mußte die Besorgnis wegen der Schädlichkeit des Masturbierens auf das richtige Maß zurückführen, da die beständige Angst und die Verzweiflung des Masturbierenden die Schädlichkeit seines Tuns ganz wesentlich steigert. Der Jüngling möge aber darin keinen Anlaß finden, weniger energisch gegen eine etwa bei ihm vorhandene Neigung dazu anzukämpfen. Denn grade für den Jüngling ist es fast unmöglich, Maß zu halten, wenn er einmal der Verlockung erlegen ist. Und wenn ihm die strotzenden Hoden Beunruhigung schaffen, so möge er stets bedenken, daß von dieser strotzenden Fülle seiner Geschlechtsdrüsen auch das beglückende Gefühl der Lebensfreude und der Jugendkraft, sein Wagemut und seine Tatenkraft abhängen, und daß er sich des größten irdischen Glücken beraubt, wenn er sich durch Gebrauch eines elenden Surrogats bereits abgestumpft hat, bevor er zum ersten Male ein geliebtes Weib umarmt. In der Anziehung, welche die beiden Geschlechter aufeinander ausüben, liegt der reizvolle Zauber der Jugend. Das geschlechtliche Verlangen zieht uns zu unserem Wohle unwiderstehlich in die menschliche Gemeinschaft. Derjenige, der sich selbst befriedigt, wird leicht zum vereinsamten Sonderling und Selbstling. 8. Kapitel. Die venerischen Krankheiten und ihre Verhütung. „Die Wollust der Kreaturen ist gemengt mit Bitterkeit.“ Der Leser dieser Blätter hat bereits die Wahrheit dieses Ausspruches vielfach bestätigt gesehen. Und noch haben wir von den schlimmsten Übeln, die der Geschlechtsverkehr bringen kann, gar nicht eingehender gesprochen. Es gibt drei ansteckende Krankheiten, die hauptsächlich durch den Geschlechtsverkehr verbreitet werden und daher +venerische+ Krankheiten genannt werden. Es sind diese der +weiche Schanker+, der +Tripper+ und die +Syphilis+. Es ist möglich, sich mit allen drei Krankheiten auf einmal anzustecken. Der +weiche Schanker+ ist unter ihnen die am wenigsten gefährliche, ein Geschwür an den Geschlechtsteilen, beim Manne besonders häufig am Randwulste der Eichel, das bei frühzeitiger geeigneter Behandlung in der Regel bald heilt, ohne schlimme Folgen zu hinterlassen. Doch kann auch diese Krankheit ärger verlaufen. Insbesondere kommt es nicht selten zu Anschwellungen der Vorhaut, die so stark werden können, daß die Vorhaut nicht mehr über die Eichel vor- oder zurückgeschoben werden kann, wodurch äußerst heftige Schmerzen entstehen; ferner zu schmerzhaften und gefährlichen Vereiterungen der Lymphdrüsen in der Leistenbeuge, den sog. +Bubonen+. Jedes kleinste Geschwürchen, jede kleinste Abschürfung am Gliede darf übrigens schon deshalb nicht leicht genommen werden, weil es sich dabei um syphilitische Ansteckung handeln kann und der Laie dies nicht zu entscheiden vermag. Mit großem Unrechte hält man vielfach den +Tripper+ für eine ganz ungefährliche Krankheit. Die bakteriologischen Forschungen haben erst ins volle Licht gesetzt, wie gefährlich diese Krankheit dem Manne werden kann und ein wie schreckliches Leiden sie sehr häufig für die Frau ist. Beim Manne tritt der Tripper als eine eiternde Entzündung der Schleimhaut des vorderen Teiles der Harnröhre auf. Er beginnt meistens am dritten Tage nach dem unreinen Beischlafe, seltener später, im Laufe der ersten oder der zweiten Woche, mit einem geringfügigen, wasserhellen Ausflusse aus der Harnröhre, Rötung der Lippen der Harnröhre und Brennen und Kitzeln in derselben. Der Ausfluß wird bald eitrig und nimmt rasch an Menge zu. Der Tripper ist immer sehr schmerzhaft, heilt aber in der Regel leicht, wenn der Erkrankte so rasch als möglich ärztliche Hilfe sucht. In böseren Fällen aber, oder wenn die Erkrankung vernachlässigt worden ist, greift die Entzündung in der Harnröhre weiter nach hinten und von der Schleimhaut in die darunterliegenden Gewebe. Bei der Ausheilung, die dann nur schwierig und oft erst nach Monaten und Jahren vollständig wird, kommt es häufig zu Narben, die sich mit der Zeit zusammenziehen (sog. +Strikturen+) und durch die Beschwerden, welche sie, namentlich beim Beischlafe und beim Harnlassen, beim Reiten und Fahren, aber auch schon bei ruhigem Sitzen veranlassen, das Leben für immer verbittern können. Die Tripperentzündung kann sich aber auch noch weiter ausbreiten: auf die Cowperschen Drüsen, auf die Vorsteherdrüse, auf die Blasendrüsen („Samenblasen“), auf die Harnblase und durch die Harnleiter hinauf bis auf die Nieren. Gar nicht selten ergreift sie auch die Nebenhoden und führt dadurch zur Unfruchtbarkeit. Auch in entfernte Körpergegenden kann der Erreger des Trippers, der Gonokokkus, durch den Blut- und Lymphstrom verschleppt werden und dort Entzündungen hervorrufen. So kommen Tripperentzündungen und Eiterungen in den Gelenken vor; so können Entzündungen der Herzklappen, des Rippenfells, des Rückenmarkes entstehen; schwere Leiden, die selbst zum Tod führen können. Noch viel gefährlicher als für den Mann ist der Tripper für die Frau. Auch bei ihr beginnt die Erkrankung in der Regel in der Harnröhre; sie verbreitet sich aber rasch weiter und ergreift zunächst hauptsächlich die Bartholinischen Drüsen und den Mutterhals. Sie hat eine große Neigung, in das innere Genitale einzudringen. Es kommt zu Entzündungen der Gebärmutter, der Eileiter, der Eierstöcke und des diese Organe umgebenden Bindegewebes. Ist die Entzündung einmal in diese tieferen Teile eingedrungen, dann ist sie meistens unheilbar. In der Regel ist sie nicht geradezu lebensgefährlich, obwohl Fälle vorkommen, wo Bauchfellentzündung verhältnismäßig rasch zum Tode führt, und obwohl natürlich bei der Frau wie beim Manne entfernte lebenswichtige Organe ergriffen werden können. Aber stets ist die unheilbar gewordene Tripperentzündung der inneren Geschlechtsorgane ein Leiden, das der Frau durch beständige Schmerzen und Beschwerden das Leben verbittert, ihre Blüte und körperliche Leistungfähigkeit vernichtet und ihr meistens die Fähigkeit, befruchtet zu werden, raubt. Der Trippereiter bzw. der in ihm befindliche Gonokokkus ist äußerst ansteckend. Außer durch den Beischlaf kann er auch durch die Finger, durch mit frischem Eiter beschmutzte Kleidungsstücke und Instrumente übertragen werden. Wiederholt sind auch Ansteckungen kleiner Mädchen durch Wasser in Badebecken und Badewannen, in denen Tripperkranke gebadet hatten, vorgekommen. Besonders muß betont werden, daß die +Bindehaut des Auges+ sehr leicht mit dem Gonokokkus zu infizieren ist und die so entstehenden Augenentzündungen zu den allerbösartigsten gehören. Zu dieser Infektion der Augen kommt es besonders leicht, wenn das Kind bei der Geburt durch die Scheide und die Schamspalte der tripperkranken Mutter durchgedrückt wird. Es kommt so die berüchtigte ansteckende Augenentzündung der Neugeborenen zustande, welche in mehr als zehn Prozent der Fälle beiderseitiger Blindheit die Ursache der Erblindung ist! +Die Tripperkrankheit ist während ihrer ganzen Dauer ansteckungsfähig.+ Besonders schlimm ist dabei, daß die sichtbaren Krankheitserscheinungen bei einem lange bestehenden Tripper so unbedeutend werden können, daß selbst der Arzt sie leicht übersieht. Da der chronische Tripper in der Regel keine Schmerzen verursacht, kann der Mann glauben, er sei völlig genesen, und doch die Gattin beim ersten Beischlafe anstecken! Der Tripper ist furchtbar verbreitet. In manchen Städten bekommen nach und nach alle Männer, welche außerehelichen Beischlaf ausüben, den Tripper, und auf manchen Frauenkliniken hat man festgestellt, daß der vierte Teil aller Patientinnen daran leidet. Etwa sieben Prozent der heutigen Ehen sind wegen dieser Krankheit völlig unfruchtbar, sei es, daß der Mann, sei es, daß die Frau zeugungsunfähig geworden ist! Und weitere etwa sieben Prozent bringen es nur zu einem Kinde, weil der Mann seine Frau zugleich mit der ersten Schwängerung tripperkrank gemacht hat! Noch schlimmer als der Tripper ist die dritte venerische Krankheit, die durch die _Spirochaete pallida_ erzeugte +Syphilis+, da sie den ganzen Organismus ergreift. Man unterscheidet drei Stadien der Krankheit. Etwa vierzehn Tage bis drei Wochen nach der Ansteckung bildet sich ein derbes, rotes Knötchen, das an der Oberfläche wund oder geschwürig wird. (+Primäre Syphilis, harter Schanker.+) Bald stellt sich auch Schwellung der benachbarten Drüsen ein. Nicht selten sind diese Krankheitserscheinungen so unbedeutend, daß sie leicht vollständig übersehen werden. Acht bis zehn Wochen nach Auftreten des Geschwürs kommt es zu Allgemeinerscheinungen: die Ernährung leidet, der Kranke wird nervös reizbar, unter Fieber und Kopfschmerzen bilden sich Ausschläge auf der Haut und auf den Schleimhäuten, besonders auf denen des Mundes und des Rachens; auch Knochenhautentzündungen sind sehr häufig. Nach einiger Zeit verschwinden diese Krankheitserscheinungen. Nach einer Pause von etwa sechs Monaten kommen sie aber wieder, und dieses Verschwinden und Wiederauftreten wiederholt sich nun durch zwei bis drei Jahre alle drei bis sechs Monate. Man nennt dieses Stadium der Krankheit +sekundäre Syphilis+. Während der harte Schanker im Beginne ein rein örtliches Leiden ist, krankt bei der sekundären Syphilis der ganze Körper. Nach der angegebenen Zeit, also nach zwei bis drei und vier Jahren vom Beginne der Krankheit an, tritt scheinbar Genesung ein. Aber oft zeigen +schwere+ Erkrankungen, die +nach vielen Jahren+ auftreten, daß der Schein getrogen hat. Namentlich sind Erkrankungen des Zentralnervensystems, Geschwülste (sog. +tertiäre Syphilis+), +Tabes+ (oder Rückenmarksdarre) und +progressive Paralyse+ (oder fortschreitende Verblödung) solche späte Folgen der syphilitischen Ansteckung.[F] Überaus häufig bleibt auch nach der definitiven Genesung von der Syphilis der Organismus dauernd geschädigt und geschwächt. Insbesondere nehmen die Blutgefäße dauernden Schaden. +Syphilitiker haben im Durchschnitte eine erheblich kürzere Lebensdauer als Leute, welche niemals an Syphilis erkrankt waren.+ Nach den Erfahrungen der Gothaer Lebensversicherungsanstalt in den Jahren 1852 bis 1905 ist die Sterblichkeit jener Versicherten, welche Syphilis durchgemacht haben, um 68 Prozent höher als jene der von Syphilis verschont gebliebenen. In der Altersklasse von 36 bis 50 Jahren beträgt die Sterblichkeit der ersteren sogar 186 Prozent von jener der letzteren, also fast das Doppelte. Die Kranken sind +sicher ansteckend während des ganzen ersten und zweiten Stadiums+ und während des letzteren sowohl zur Zeit, wo Krankheitserscheinungen wahrnehmbar sind (Floreszenz), +als in den Pausen+ (Latenz). Nach neueren Erfahrungen können sogar auch noch in späterer Zeit, wenn schon lange keine Krankheitserscheinungen mehr aufgetreten sind, Ansteckungen erfolgen. Der Ansteckungsstoff ist vorhanden in den Absonderungen der Geschwüre und wunden, nässenden Stellen, in den abgestoßenen Oberhautschüppchen der erkrankten Hautstellen, während des sekundären Stadiums im Blute und in +allen+ Absonderungen, besonders auch im Speichel und im Mundschleime. Die Ansteckung erfolgt daher, +wenn auch weitaus am häufigsten+ beim Beischlafe, so doch nicht allein dabei, sondern auch von Mund zu Mund beim +Kusse+ oder durch gemeinsam benutzte Eß- und Trinkgeschirre, Tabakpfeifen, Musikinstrumente u. dgl., bei kleinen Verletzungen direkt auf die Finger, Hände und andere Körperstellen, von der Brustwarze der Amme auf den Säugling und umgekehrt vom Säugling auf die Amme. Auch bei kleinsten Operationen, z. B. bei der Impfung, kann durch infizierte Instrumente die Übertragung erfolgen. Von den Eltern kann direkt schon bei der Zeugung Syphilis auf die Nachkommenschaft übertragen werden. Ein gesund erzeugtes Kind kann im Mutterleibe infiziert werden, wenn die Mutter während der Schwangerschaft syphilitisch wird. Wir haben schon davon gesprochen, sowie davon, daß die elterliche Syphilis für die Nachkommenschaft auch dann verderblich werden kann, wenn das Kind nicht angesteckt wird, indem die Schädigung des elterlichen Körpers durch das vom Krankheitserreger erzeugte Gift auch eine Schädigung der Keime zur Folge hat, so daß die Kinder lebensschwach und elend ausfallen, Entwicklungshemmungen und Bildungsfehler, Skrofulose und andere Krankheiten der Ernährung aufweisen. Noch in der zweiten Generation kann, namentlich wenn die Frau hereditär syphilitisch ist, Neigung zu Abortus, Totgeburt und Geburt lebensschwacher Kinder vorhanden sein. Die Gefahr für die Nachkommenschaft besteht hauptsächlich während des primären und sekundären Stadiums, in den ersten drei bis vier Jahren nach der Infektion. Nach Ablauf dieses Stadiums werden in der Regel normale Kinder erzeugt. Doch auch noch bei manchen von diesen später Erzeugten gibt sich durch mancherlei krankhafte Zustände und Anlagen die Andauer der Störung der elterlichen Keimbildung kund. Das Überstehen der Syphilis macht für eine neue Infektion unempfänglich, es ruft, wie man zu sagen pflegt, +erworbene Immunität+ hervor. Auch die Syphilis ist ungeheuer verbreitet. In den verschiedenen Gebieten Mitteleuropa dürften mindestens fünf bis zehn Prozent der ganzen Bevölkerung im Laufe ihres Lebens syphilitisch infiziert werden; in den Großstädten sind es noch sehr viel mehr; in Berlin mindestens 40 Prozent der geschlechtsreifen Männer! Es ist klar, daß unter diesen Umständen der +außereheliche Geschlechtsverkehr stets gefährlich ist+. +Jede Frau, die bereits geschlechtlich verkehrt hat, ist verdächtig, eine venerische Krankheit durchgemacht zu haben oder noch venerisch krank zu sein+, und ebenso muß die Frau jeden Mann, der bereits den Beischlaf ausgeübt hat, von vornherein als verdächtig ansehen. Die Hauptquelle der Ansteckung sind jedoch ohne Zweifel die Prostituierten (Dirnen, Huren), die gegen Bezahlung jeden zum Beischlaf zulassen. Nahezu +alle+ erkranken früher oder später an Tripper und weichem Schanker, die meisten auch an Syphilis. Man hat in St. Petersburg konstatiert, daß von 100 Mädchen, die das Gewerbe der Prostitution beginnen, binnen fünf Jahren 80 syphilitisch wurden. Von 100 Bordellmädchen wurden jährlich 12 bis 51 wegen Syphilis ärztlich behandelt. In Berlin erkrankten laut Erhebungen von den freilebenden Prostituierten jährlich 32 bis 82 Prozent an venerischen Krankheiten, in Budapest von den Bordellmädchen 144 bis 180 Prozent. Man bemüht sich, durch polizeiliche Überwachung die Prostitution ungefährlich zu machen, indem man die erkrankten Prostituierten so rasch als möglich herauszufinden sucht, um sie dann abzusondern und ärztlich zu behandeln bis zur Genesung oder wenigstens bis zu dem Zeitpunkte, wo sie nicht mehr ansteckungsfähig sind. Dieses Ziel läßt sich aber nur höchst unvollkommen erreichen. Vor allem ist es unmöglich, alle Prostituierten zur Untersuchung heranzuziehen, da die Prostitution in allen möglichen verlarvten Formen auftritt (geheime Prostitution) und auch die unverhüllte Prostitution sich den Augen der Polizei so viel als möglich zu entziehen sucht; -- in den Großstädten wenigstens -- zum guten Teile mit Erfolg. Je schärfer die Polizei gegen die Prostituierten vorgeht, um so hartnäckiger und erfinderischer suchen sich die Prostituierten vor ihr zu verbergen. Ferner ist es unter Umständen ungemein schwierig, festzustellen, ob die Prostituierte krank ist oder nicht. Ein chronisch gewordener Tripper macht auch bei der Frau so geringe wahrnehmbare Erscheinungen, daß sehr häufig nur wiederholte mikroskopische Untersuchungen die Diagnose der Krankheit ermöglichen. Floride Syphilis ist zwar leicht zu erkennen, aber im latenten Stadium der sekundären Syphilis können alle Krankheitszeichen fehlen, während die Prostituierte doch infektiös ist. Sechs Siebentel aller syphilitischen Männer, die +Sperk+ in Petersburg behandelt hat, haben sich bei latent syphilitischen Dirnen angesteckt. Ein Mädchen, das heute gesund befunden worden ist, kann bei der ungeheuren Häufigkeit der venerischen Krankheiten in der nächsten Stunde angesteckt werden. Sie kann schon angesteckt sein, ohne daß die Krankheitserscheinungen schon ausgebrochen sind. Aber am nächsten Tage brechen sie aus, und nun ist sie ansteckend. Ja, es sind sogar Fälle sichergestellt, wo die Dirne die Krankheit von einem Manne unmittelbar auf den nächsten Besucher übertragen hat, ohne selbst zu erkranken. Etwas von dem, was der erste Besucher gebracht hat, hat der zweite sofort wieder mitgenommen. Hat man die Erkrankten herausgefunden, so ist es fast unmöglich, sie so lange abzusondern, bis sie nicht mehr ansteckungsfähig sind; die syphilitischen Dirnen müßten durch drei bis vier Jahre, die tripperkranken, sobald ihre inneren Organe ergriffen sind, eigentlich für immer abgeschlossen gehalten werden! +Jeder, dem Leben und Gesundheit lieb sind, jeder, der sich eine gesunde Nachkommenschaft wünscht, sollte schon dieser ungeheuren Gefahr wegen die Prostitution meiden.+ Ebenso wie den größten +physischen+ Abscheu sollte der Verkehr mit Prostituierten auch den größten +moralischen+ Abscheu erwecken. Lust ohne Liebe ist gemein und macht gemein, und die Hingabe des Körpers gegen Geld ist die tiefste Erniedrigung der Frau. Der Mitmensch in der Frau sollte uns zu hoch stehen, als daß wir sie einfach zum Werkzeug unserer Lust herabwürdigen; das Mitleid sollte uns abhalten, dieses Gewerbe fördern zu helfen, das die ungeheure Mehrzahl der unglücklichen Frauen, die sich ihm ergeben haben, körperlich und geistig zugrunde richtet! Wie sehr sind auch die armen Wichte selbst zu bedauern, die das Feuer ihrer ungebrochenen Jugendkraft an Wesen verschwenden, die, wie die Dirnen, zum größten Teile von Geburt aus tiefstehende, psychisch verkrüppelte Geschöpfe sind -- Vagabunden- und Verbrechernaturen ins Weibliche übersetzt! --, die auch infolge des Mißbrauchs ihrer Organe die rein physische Genußfähigkeit längst verloren haben und nur des Geschäft wegen mühsam heucheln, als ob sie beim Beischlaf noch irgendeine Wollustempfindung hätten! Als Moralist könnte ich damit schließen; aber ich bin Arzt und fühle Erbarmen mit der menschlichen Schwäche und fühle die Verpflichtung, wenigstens physischen Schaden so viel als möglich zu verhüten, wenn ich schon den sittlichen Schaden nicht verhindern kann. Ich fühle diese Verpflichtung um so lebhafter, als die venerischen Krankheiten nicht bloß den Sünder bedrohen, der sich leichtfertig in die Gefahr stürzt, sondern auch völlig Unschuldige und das Volk in seiner Gesamtheit. Ich will daher zunächst sagen, wie man die Gefahr, im Geschlechtsverkehr angesteckt zu werden, +vermindern+ kann; +sie mit Sicherheit auszuschließen, ist bis jetzt unmöglich+! Das weitaus beste Mittel gegen die Ansteckung, das wir heute kennen, ist der +Kondom+ (s. S. 74); +ihn beim Verkehr mit Dirnen, =beim außerehelichen Beischlafe überhaupt= nicht gebrauchen ist bodenloser Leichtsinn+! Wenn er während des Beischlafes hält, schützt er das Glied, den am meisten gefährdeten Körperteil, gegen alle drei Infektionen, und ebenso schützt er auch die Frau vor dem angesteckten, z. B. mit chronischem Tripper behafteten Manne. Aber dünnere Fabrikate reißen leicht; billigere und schlechtere sogenannte Fischblasen sind sehr häufig von vornherein nicht völlig dicht; Gummikondoms werden bei der Aufbewahrung sehr rasch brüchig. Es wäre daher töricht, dem Kondom ganz sorglos zu vertrauen. Ferner ist zu bedenken, daß der Kondom nach dem Beischlafe an seiner +Außenseite+ Infektionskeime tragen kann, daß man sich daher auch noch beim Abziehen desselben infizieren kann. Auch an die Nachbarschaft des Gliedes, auf den Hodensack usw., kann beim Beischlafe Infektionsstoff gekommen sein, und auch mit den Fingern kann man welchen aufgenommen haben, während das syphilitische Gift, wie wir gehört haben, an den verschiedensten Stellen der Haut und der Schleimhäute haften und durch die kleinsten Verletzungen eindringen kann. Die Benützung des Kondoms muß daher auf alle Fälle durch sorgfältige Waschung mit einer kräftigen Desinfektionsflüssigkeit, am besten mit 1 Promille Sublimatlösung (eine 1 _g_-Pastille auf 1 _l_ Wasser) ergänzt werden. Mit dieser Lösung muß vor allem die Außenseite des Kondoms abgewaschen werden, bevor dieser vom Gliede abgezogen wird, dann Glied, Hodensack und ihre ganze Nachbarschaft sowie die Hände. +Viel unsicherer+ als der Kondom ist die Anwendung chemischer Desinfektionsmittel. Ich kann sie +nur dann+ empfehlen, +wenn kein Kondom+ zu haben ist. +Ihre Anwendung ist aber jedenfalls viel besser als nichts!+ Gegen den Tripper gewähren Einträufelungen von 10- bis 20prozentigem +Protargol+, einer Silberverbindung, in die Harnröhre einen verhältnismäßig sicheren Schutz, wenn sie unmittelbar nach dem Beischlaf oder wenigstens so rasch als möglich -- keinesfalls später als fünf Stunden danach! -- vorgenommen werden. Dagegen ist es recht schwierig, durch Waschen oder Einsalben des Gliedes die Ansteckung mit Syphilis zu verhüten. Bei der deutschen Marine wird nach folgender Vorschrift verfahren: +So bald als möglich+ nach dem Beischlaf wird das Glied, insbesondere die Eichel, die Kranzfurche und die Vorhaut, mit Benzin gründlich gereinigt. Hierauf werden in die durch Druck mit zwei Fingern senkrecht auf den Schlitz der Eichel zum Klaffen gebrachte Harnröhrenmündung mittels einer Pipette zwei bis drei Tropfen 20 prozentiger Protargollösung eingeträufelt. Einige Tropfen werden auch auf ihre äußere Umgebung verteilt. Die Flüssigkeit muß 1 bis 2 Minuten lang in der Harnröhrenmündung stehen bleiben; so lange muß diese daher nach oben gerichtet und offengehalten werden. Hierauf wird das Glied mit 1 promilliger Sublimatlösung gewaschen, schließlich ein mit der Sublimatlösung getränkter Wattestreifen in die Eichelfurche eingelegt und dort bis zu 12 Stunden lang liegen gelassen. Die Waschung mit der Desinfektionslösung muß sehr gründlich vorgenommen werden, und man muß darauf achten, daß die +ganze+ Oberfläche des Gliedes, die Furche um die Eichel, das Bändchen, die beiden Blätter der Vorhaut wirklich von der Desinfektionsflüssigkeit benetzt werden, und daß alle Teile etwa zwei Minuten lang unter der Wirkung der Desinfektionsflüssigkeit stehen. Dem Laien wird es nicht so leicht gelingen, alle diese Vorschriften zu erfüllen. Die Nachbarschaft des Gliedes und die Hände wäscht und desinfiziert man selbstverständlich mit. Die Waschung darf natürlich auch nicht so grob ausgeführt werden, daß dabei die zarte Oberhaut abgeschürft und dem Ansteckungsstoff geradezu eine Pforte eröffnet wird. +Den Beischlaf auszuführen, wenn am Gliede auch nur die geringfügigsten Abschürfungen vorhanden sind, ist ganz besonders gefährlich und töricht.+ Statt der Waschungen wird auch +Einsalbung+ des Gliedes +vor+ und +nach+ dem Beischlaf angewendet. Die beste Salbe dürfte die „+Neisser-Siebertsche Desinfektionssalbe+“ sein, welche ebenfalls Sublimat enthält. Selbstverständlich muß auch ihre Anwendung mit der Einträufelung von Protargol in die Harnröhre verbunden werden. Billige Schutzbestecke mit Benützungsvorschrift (20-25 Pfg. für einmalige Anwendung) sind jetzt wohl in allen Apotheken käuflich. Man verlange ausdrücklich solche mit Protargol und Neisser-Siebertscher Salbe. Wer einen Beischlaf vollzogen hat, der unrein sein konnte, tut gut, sein Glied drei Wochen lang jeden Tag genau zu betrachten, ob er daran keine Krankheitszeichen wahrnimmt. +Jede Hautabschürfung+, jedes Eiterpünktchen, Knötchen oder Geschwürchen muß beachtet werden. Man untersuche besonders die Eichel und die Furche hinter ihrem Randwulste, das Bändchen und die Innenseite der Vorhaut. Sobald man +irgend etwas+ Verdächtiges wahrnimmt, eile man +sofort+ zum Arzte, um die verdächtigen Stellen gründlich verätzen zu lassen. Wenn dies in den ersten 24 Stunden, nachdem sich die angegebenen Erscheinungen gezeigt haben, geschieht, gelingt es nicht selten, die weitere Entwicklung des Schankers und der sekundären Syphilis abzuschneiden. Nach Besichtigung des Gliedes streife man mit dem Finger der Unterseite der Harnröhre entlang von hinten nach vorne und beachte, ob sich auf diese Weise ein Tropfen Flüssigkeit aus der Harnröhre herausdrücken läßt. Am besten ist es, diesen Versuch am Morgen vor dem ersten Harnlassen anzustellen. Tritt ein Tropfen aus der Harnröhre heraus, so suche man ebenfalls +sofort+ den Arzt auf, der sehr häufig imstande ist, durch energische Behandlung die Entwicklung des Trippers abzuschneiden. Überhaupt muß jedem, der in bezug auf Geschlechtsverkehr kein reines Gewissen hat, auf das allerdringendste empfohlen werden, bei Auftreten +irgendwelcher+ Krankheitserscheinungen nicht allein an den Geschlechtsteilen, sondern auch auf der Haut, an den Lippen, an der Schleimhaut des Mundes und des Rachens sogleich zum Arzt zu gehen und ihm volle Wahrheit einzuschenken. Verschämtheit oder Unwahrhaftigkeit dem Arzte gegenüber wäre das Allertörichteste. Auch wenn der Tripper, der weiche oder harte Schanker oder die sekundäre Syphilis sich schon entwickelt haben, ist volle Heilung möglich, wenn frühzeitig kräftige ärztliche Behandlung eingeleitet wird. Man befolge daher gewissenhaft die ärztlichen Verordnungen und lasse sich nicht durch törichtes Gerede von Naturheilkundigen und Kurpfuschern irremachen. Insbesondere bitte ich die Leser, mir, der ich gar nicht ärztliche Praxis ausübe, also ganz unverdächtig bin, zu glauben, daß die Behandlung der Syphilis mit Quecksilber (z. B. die sog. Schmierkur) eines der allerwirksamsten Heilverfahren ist, über das die Medizin verfügt, und daß es damit fast immer gelingt, die Syphilis wirklich zu heilen, während bei allen anderen seit längerer Zeit bekannten Heilverfahren die Gefahr der tertiären Syphilis, der Paralyse usw. viel größer ist. Die Heilung der sekundären Syphilis durch Quecksilber dauert stets sehr lange, und die Kur muß durch zwei bis drei Jahre mehrmals wiederholt werden, bis man des Erfolges sicher sein kann. Wir haben ja schon gehört, daß die Syphilis die Eigentümlichkeit hat, Pausen zu machen und nach mehreren Monaten zu rezidivieren. Der Patient darf also ja nicht die Geduld verlieren, wie dies so häufig geschieht. Vorzügliche und rasche Wirkung übt das neue von +Ehrlich+ empfohlene Arsenpräparat „+Salvarsan+“ aus. Es hilft aber auch nicht in allen Fällen und ist selbst keineswegs ganz harmlos für den Körper -- ebensowenig wie das Quecksilber --, so daß es höchst töricht wäre, im Vertrauen auf das Salvarsan die Gefahr der Ansteckung mit Syphilis leicht zu nehmen. Die Erfahrungen über das Salvarsan dauern noch nicht lange genug, um ein abschließendes Urteil über dieses Heilmittel zu gestatten; es muß aber schon jetzt dem Angesteckten auf das dringendste empfohlen werden, sich so früh als möglich der Salvarsankur zu unterziehen. Sorgt der Geschlechtskranke für sich, so muß er auch für andere sorgen. Er darf keinen Augenblick vergessen, daß er an einer ansteckenden Krankheit leidet. +Jeder Geschlechtsverkehr ist ein nichtswürdiges Verbrechen, wenn man weiß, daß man geschlechtskrank ist!+ Aber auch abgesehen davon muß der Geschlechtskranke vorsichtig sein. Der Tripperkranke muß darauf achten, daß er nichts von dem eitrigen Ausflusse, der das Ansteckende ist, in seine eigenen Augen bringt. Er muß seine Finger, wenn er sie damit beschmutzt haben könnte, stets sofort reinigen und desinfizieren, ebenso dafür Sorge tragen, daß alle Gegenstände, die infiziert sein können, z. B. Leibwäsche, desinfiziert werden, bevor sie anderen Leuten in die Hand kommen. Wir haben schon gehört, daß der Tripper sehr häufig chronisch wird, daß solche langwierige Tripper in der Regel höchst unbedeutende Erscheinungen machen, daß sie aber trotzdem noch im hohen Maße ansteckend sind. Die Vorsichtsmaßregeln dürfen daher erst dann eingestellt werden, wenn durch gründliche ärztliche Untersuchung mit Hilfe des Mikroskops die volle Ausheilung bzw. das Ende der Ansteckungsfähigkeit festgestellt ist. Dies gilt insbesondere von der Ausübung des Beischlafes[G] und von dem Eingehen der Ehe. Da der chronische Tripper jahrelang fortbestehen kann, +darf niemand, der an Tripper erkrankt war, heiraten, ohne daß ihm dies ein erfahrener Arzt nach gründlicher Untersuchung erlaubt hat+. Wer anders handelt, ist gewissenlos. Tausende und Abertausende von armen Frauen werden ohne geringstes eigenes Verschulden für die Dauer ihres Lebens siech, weil sie von ihrem Gatten, vielleicht gleich in der Hochzeitsnacht, mit Tripper angesteckt werden! Hat der Tripperkranke nur darauf zu achten, daß nichts von dem Ausflusse der Harnröhre an einen unrechten Ort gebracht wird, so muß der Syphilitische noch viel vorsichtiger sein, da +alle+ seine Absonderungen ansteckend sind und insbesondere durch den Speichel und den Mundschleim die Krankheit leicht übertragen wird. Also während der ganzen zwei- bis dreijährigen Dauer der sekundären Syphilis nicht küssen! insbesondere nicht auf den Mund! Keine gemeinschaftliche Benützung von Eß- und Trinkgeschirr, von Tabakpfeifen, von Gerät, das, wie Musikinstrumente oder Glasbläserpfeifen, in den Mund genommen werden muß. +Wie der Tripperkranke darf auch der Syphilitische nicht heiraten bzw. nicht den Beischlaf ausüben, bevor jede Gefahr der Ansteckung der Frau und der Erzeugung kranker Kinder ausgeschlossen ist.+ Da dies keinesfalls vor Ablauf von vier Jahren nach erfolgter Ansteckung sicher ist, muß mit der Ehe so lange gewartet werden. Aber auch nach vier Jahren ist eine Ehe nur dann zulässig, wenn eine sorgfältige ärztliche Behandlung stattgefunden hat, und wenn mindestens seit einem Jahre nicht die geringsten Erscheinungen von Syphilis aufgetreten sind. Diese Vorschriften mögen drakonisch scheinen, sie sind aber bei der Furchtbarkeit der Folgen eines vorzeitigen Abschlusses der Ehe unbedingt geboten. Alles dieses über die venerischen Krankheiten Gesagte möge sich nicht allein der Ehekandidat vor Augen halten, sondern auch die Frau, um die geworben wird, bzw. ihre Eltern und Vormünder. Sie sollen unbedingt verlangen, daß der Brautwerber sein +Freisein von venerischen Krankheiten+ durch ein ärztliches Zeugnis nachweist. Eigentlich sollte keine Ehe geschlossen werden dürfen, bevor beide Brautleute ärztlich untersucht, gesund und frei von gefährlicher erblicher Belastung befunden worden sind; zum mindesten sollte gesetzlich vorgeschrieben werden, daß die Brautleute ärztliche Untersuchungszeugnisse austauschen müssen, damit sie wissen, woran sie sind. Unendliches Unheil könnte dadurch verhütet werden! Einen gewissen Schutz gegen die Verehelichung mit Kranken wird es schon gewähren, wenn es zur allgemeinen Gewohnheit wird, was ja auch aus wirtschaftlichen Gründen dringend zu empfehlen ist, +daß die Gatten bei Abschluß der Ehe ihr Leben versichern+, und die Ehe unterbleibt, wenn die Versicherung versagt wird, was in der Regel auf Grund eines ungünstigen Ergebnisses der ärztlichen Untersuchung geschieht. Möge sich wenigstem dieser Gebrauch rasch einbürgern. 9. Kapitel. Ehe oder freie Liebe. Angesichts der Ekelhaftigkeit und Gefährlichkeit der Prostitution, wie sie soeben geschildert worden ist, werden sich gar manche versucht fühlen, in einem sog. „Verhältnis“ Befriedigung zu suchen bis zu dem Zeitpunkte, wo sie imstande sind, eine Ehe zu schließen. Sie mögen aber folgendes zu Herzen nehmen: Volle Sicherheit vor Ansteckung würde ein solches Verhältnis nur dann bieten, wenn es mit einer Jungfrau eingegangen wird und wenn beiderseits strenge Treue bewahrt wird, denn bei der heutigen Verbreitung der Geschlechtskrankheiten ist, wie schon früher betont wurde, +jeder+ polygamische Verkehr in hohem Grade gefährlich. Bei einem Mädchen, das sich leichten Herzens, etwa gar gegen Entgelt in irgendwelcher, wenn auch verhüllter Form, zu einem solchen „Verhältnisse“ hergibt, darf man aber nicht auf Treue rechnen. Wenn es, wie dies so häufig der Fall ist, schon von Hand zu Hand gewandert ist, ist es kaum weniger gefährlich als die offenkundige Prostituierte. Auch davor sollte sich der von Streben nach Höherem erfüllte junge Mann scheuen, daß das Zusammenleben mit einem Mädchen, das geistig und gemütlich tief steht, das kein Verständnis für seine Ziele hat und nur triviale Vergnügungen kennt, sein eigenes Kulturniveau erniedrigen muß. Ein solches „Liebesverhältnis“ beschmutzt +seelisch+ weit mehr als der gelegentliche Besuch bei einer Prostituierten, der den Charakter einer Notdurftsverrichtung, wie der Besuch eines öffentlichen Aborts, hat. Der unerfahrene Jüngling lasse sich auch gesagt sein, daß für ein weibliches Wesen nichts leichter ist, als Liebe und Verlangen zu heucheln, und daß es nicht wenige niedrig denkende Weiber gibt, die mit klarer Überlegung auf den Fang von solchen Gimpeln ausgehen, die, durch den Geschlechtstrieb blind gemacht, bereit sind, der Frau, welche ihnen Liebe heuchelt und die letzte Gunst gewährt, Geld und Arbeitskraft zu opfern, ihr die Sorge um den Lebensunterhalt wenigstens für einige Zeit, wenn nicht für immer abzunehmen, ihre Luxusbedürfnisse und Launen zu befriedigen. Gar mancher Harmlose meint zu erobern, während er wehrlos gefangen wird. Die Frau, die im selbständigen Lebenskampfe dem Manne nicht gewachsen ist, besitzt in der klugen Benutzung des männlichen Triebes eine Waffe, deren rücksichtsloser Gebrauch ihr nicht allzu selten vollen Triumph verschafft. In den Augen der Kurtisane ist der Mann ein dumm-gieriges Tier, das dazu da ist, für die Frau zu arbeiten, und, wenn es ihr Gut und Blut geopfert hat, noch immer dankbar sein muß, wenn sie es zu sich ins Bett läßt. Eine solche Gesinnung hat früher in der bürgerlichen Welt als verächtlich gegolten; die moderne Selbstvergötterung der Frau hat es aber fertiggebracht, auch die „Dame“ für diese Auffassung und deren sehr einträgliche Verwertung in der Ehe zu begeistern. Die Frau ist die Krone der Schöpfung; der Mann ein Wesen niederer Art, geschaffen, sie zu ernähren und zu bedienen! Amerika und England sind hierin die leuchtenden Vorbilder für das „rückständige“ Deutschland. Für diese Sorte Weiber gilt das Wort Nietzsches: „Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht!“ Ein ehrbares, hochgesinntes Mädchen zu einem „Liebesverhältnisse auf Zeit“ verleiten ist auch dann ein unverantwortliches Beginnen, wenn es mit voller Offenheit über die Endabsichten geschieht. Selbstverständlich ist es eine Schlechtigkeit, Kinder in die Welt zu setzen, für die man nicht sorgen will oder nicht sorgen kann. Das Schicksal der unehelichen Kinder ist ein überaus trauriges. Ihre Sterblichkeit ist im Vergleiche mit jener der ehelichen Kinder sehr hoch; die Zahl der Militärdiensttauglichen unter ihnen ist niedrig. Zeigen diese Tatsachen, wie schlecht es im Durchschnitt mit ihrer körperlichen Gesundheit steht, so lehrt die verhältnismäßig große Zahl von Geisteskranken, Selbstmördern, Trinkern und Verbrechern unter ihnen, daß auch ihre geistige Gesundheit keine bessere ist. Wenn auch sehr viel davon Erbschaft der Minderwertigkeit ihrer leichtsinnigen Erzeuger ist, so haben doch auch ungenügende Pflege und Erziehung einen wesentlichen Anteil daran. Kein halbwegs gewissenhafter Mann wird es also auf die Möglichkeit der Erzeugung eines unehelichen Kindes ankommen lassen wollen. Er könnte von vornherein bei einem solchen Verhältnisse nur an Geschlechtsverkehr mit Verhinderung der Empfängnis denken. Er möge aber zunächst sich klarmachen, wie leicht in einem Augenblicke leidenschaftlichster Erregung alle Vorsätze vergessen werden, das Nichtbeabsichtigte doch geschehen kann. Und selbst dann, wenn das Schlimmste, leichtsinnige Schwängerung, vermieden wird, bleibt ein solches Verhältnis unsittlich, ein Verstoß gegen die Nächstenliebe wie gegen eine der wichtigsten Forderungen sozialen Lebens. Ich will nicht davon reden, daß schon die Entjungferung an sich dem Mädchen Schaden bringt, indem sie ihm das spätere Eingehen der Ehe erschwert, da der Mann mit vollem Recht die unberührte Frau als Gattin bevorzugt. Die Hauptsache ist, daß es ohne Schädigung oder tiefe Verwundung der weiblichen Seele dabei nicht abgeht. Der Wunsch nach Mutterschaft ist der gutgearteten Frau eingeboren. Nur dann, wenn der Geschlechtsverkehr ihr die Hoffnung eröffnet, Mutter zu werden, beglückt er sie vollkommen. Wer eine Frau unter erbärmlichen Praktiken in den Geschlechtsverkehr einführt, beraubt sie um die Stunde höchster Glücksempfindung, die ihr die redliche Ehe mit den ersten schrankenlosen Umarmungen gebracht hätte. Noch schlimmer ist der Schaden, den ihr die Auflösung des Liebesverhältnisses bringt. Die Frau, der von der Natur die Last der Mutterschaft auferlegt ist, sucht instinktiv bei dem Manne dauernden Anschluß, dauernden Schutz. Daher die Innigkeit der Liebe der rechten Ehefrau, die weit über ihre Freude am physischen Genusse hinausgeht, daher ihre Treue und ihr Verlangen nach Treue. Auch wenn sie das Liebesverhältnis eingegangen haben sollte mit dem vollen Bewußtsein, daß es nur eine Episode werden solle, unvermerkt wird es ihr zum wesentlichen Lebensinhalt, so daß seine Auflösung eine Wunde setzt, die nur schwierig vernarbt und fürs ganze Leben schmerzt. Der besser veranlagte Mann, der diesen Kummer kommen sieht, fühlt sich dann oft außerstande, das Band zu zerreißen, und sieht sich durch Mitleid an ein Wesen gefesselt, das vielleicht doch nicht in seine Lebenssphäre paßt, doch nicht alle jene Eigenschaften besitzt, die er bei seiner Lebensgefährtin gewünscht hätte. Gelingt es dem Manne aber, der Frau seine eigenen brutal sinnlichen, polygamischen Neigungen beizubringen, dann zerstört er in ihr die sozial wertvollsten Empfindungen, dann macht er sie auch seelisch untauglich, eine gute Gattin und Mutter zu werden. Wir müssen die Keuschheit der Frau als höchstes soziales Gut schätzen und pflegen, denn in der Keuschheit der Frau ist die einzige sichere Bürgschaft dafür gegeben, daß wir wirklich die Väter unserer Kinder sein werden, daß wir für unser eigenes Blut uns mühen und schaffen. Ohne diese Bürgschaft aber keine Möglichkeit eines gesicherten, innigen Familienlebens, dieser auf absehbare Zeit unentbehrlichen Grundlage für das Gedeihen von Volk und Staat. Darin und nicht in der selbstsüchtigen Willkür des Mannes ist es begründet, daß Gesetz und Sitte strengere Anforderungen an die Frau bezüglich Keuschheit vor der Ehe und Treue in der Ehe stellen als an den Mann. Es steht bei ihrer Ungebundenheit viel mehr auf dem Spiele als bei seiner. Man schwärmt heute viel von der „Freien Liebe“ mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit von Mann und Frau, als Ersatz für die heutige, bürgerliche Ehe, deren Schattenseiten und Härten man nicht schwarz genug zu schildern weiß. Aber diese Schwärmereien, die ihr Bestechendes haben, sind vom hygienischen Standpunkte aus verwerflich. Sie müssen daran scheitern, daß es über die physische Leistungfähigkeit der ungeheuren Mehrheit der Frauen hinausgeht, neben den Bürden der Mutterschaft und der Pflege und Aufzucht der Kinder auch noch die des selbständigen Erwerbes zu tragen. Das Verderblichste an der sog. Frauenemanzipation und der Erwerbsarbeit der verheirateten Frau liegt darin, daß in dem Widerstreite zwischen Mutterschaft und Berufspflichten in der Regel die erstere den kürzeren zieht. Wenn überhaupt Kinder kommen, sind sie meistens kümmerlich. In der Regel hintertreibt man die Entstehung von Kindern von vornherein. Nichts gefährdet die Fruchtbarkeit der Kulturvölker mehr als die moderne außerhäusliche Erwerbsarbeit der Frau und die aus ihr hervorgegangene Frauenbewegung. Die Teilung der Arbeit zwischen Mann und Weib im gemeinschaftlichen Wirtschaftsbetriebe der Familie ist gerade für die Frau ein physiologisches und kulturelles Bedürfnis. Sie sichert auch den Kindern am besten Pflege und Erziehung. Es wäre ein ungeheurer Rückschritt gerade im Sinne individueller Entwicklung, wenn an Stelle der Familienerziehung Massenaufzucht in öffentlichen Anstalten treten würde. Dies wäre, nebenbei bemerkt, auch ein ungeheurer Verlust an jenen Lustempfindungen, die dem Menschen aus dem Zusammenleben von Eltern und Kindern erwachsen. Gewiß wird es in jeder Ehe Zeiten -- wenn auch vielleicht nur Augenblicke -- hochgradiger Verstimmung geben, wo es als drückende Last empfunden wird, aneinandergefesselt zu sein. Über solche unglückliche Störungen werden jene Gatten am leichtesten hinwegkommen, die keusch in die Ehe eingetreten und einander treu geblieben sind. Der Liebesgenuß, den sie ausschließlich beieinander zu suchen und zu finden gewohnt sind, ist etwas unendlich Süßes, das sie immer wieder zusammenführt und versöhnt. Alles in allem genommen ist die Ehe der richtige Boden für heiteres Gedeihen von Mann, Weib und Kind, und gehen diejenigen nicht irre, die sich nach der Ehe sehnen und nach ihr trachten! Wie wenig wissen überhaupt diejenigen, welche immer nur an die körperliche Schönheit des jungen Weibes und an den physischen Geschlechtsgenuß denken und welche die Menschen bejammern, daß sie durch Gesetz und öffentliche Meinung im geschlechtlichen Verkehr auf ein einziges Individuum beschränkt werden, von dem Glücke, das aus dem +seelischen+ Unterschiede und der +seelischen+ Anziehung von Mann und Weib zu erwachsen vermag! Wie bedauernswert sind diejenigen, die im Weibe nur das jagdbare Wild sehen, an dem man seine Stärke und seine List übt und an dem man, wenn man es gefangen hat, als Tier mit dem Tiere seinen physischen Drang befriedigt, solange einem dies Spaß macht! Sie ahnen nicht, daß auf der Grundlage gegenseitiger Achtung, Treue und Güte zwischen Mann und Weib ein Bund der Kameradschaft und Freundschaft entsteht, der, indem er Leib +und+ Gemüt befriedigt, weit höhere und dauerhaftere Glücksgefühle bereitet als der rasch verfliegende Rausch der Brunst. Der erwachende Jüngling betrachtet das Weib, dessen Leib und Seele dazu geschaffen ist, Mutter zu werden, mit Ehrfurcht; mit jener Ehrfurcht, die er seiner eigenen Mutter widmet, die ihn geboren, gesäugt und aufgezogen hat. Möchte er doch diese Empfindung, stark und rein, unbefleckt durch gemeinen Genuß, in die Ehe hinübernehmen. Dann wird diese an ihm das Dichterwort völlig wahr machen können. „Das ewig Weibliche zieht uns hinan!“ Mit diesen Worten soll keineswegs eine blinde Schwärmerei für das Weib in der Wirklichkeit erweckt werden. Nur allzu viele Weiber haben recht wenig „Ewigweibliches“, dafür aber ein ausgiebiges Maß von „Allzuweiblichem“ in sich, geradeso wie die meisten Männer Mangel an „Ewigmännlichem“ und Überfluß an „Allzumännlichem“ leiden. Aber durch gewissenhafte Arbeit kann aus wenigem viel und aus viel wenig gemacht werden. Je höher das Ziel ist, nach dem wir streben, um so Höheres werden wir erreichen. Wer einem anderen Menschen von vornherein zeigt, daß er ihn keiner höheren Leistung für fähig hält, wird ihn auch niemals zu einer solchen bringen. Je reiner und edler das Ideal der Weiblichkeit ist, das der Mann erträumt und ersehnt, je größeres Vertrauen er in die Fähigkeit der Frau setzt, sich diesem Ideale zu nähern, um so besser wird es ihm gelingen, die vorhandenen Keime des Ewigweiblichen im Weibe zu wecken. Je niedriger er die Frau von vornherein bewertet, um so mehr Niedriges wird er auch in ihr finden. Der Mann vergesse nie, daß er zur Führerschaft berufen ist, und daß, wenn er als Führer versagt, das ganze Volk in die Irre gehen muß. Natürlich gilt ganz Ähnliches wie von dem Einflusse des Mannes auf die Frau auch vom Einflusse der Frau auf den Mann. Kaum etwas spornt den Mann mehr zur Tat als der Beifall der Frau. Nicht als Kämpferin auf dem Kampfplatz der Männer, aber als +Kranzspenderin+ lenkt die Frau die völkische Entwicklung mit. Wenn sie nur dem +edlen+ Wettstreit ihren Beifall spendet, nur +nützliches+, +tüchtiges+ und +rechtschaffenes Handeln+ belobt und belohnt, leistet sie ihrem Volk den besten Dienst. Der Adel ihres Wesens und Verhaltens bestimmt den Adel ihres Hauswesens, die Gesittung ihrer Familie. Die Macht der Frau als Gattin und Mutter ist so groß, daß sie mitten in einer Wüste von Dummheit und Ichsucht, an deren Urbarmachung die treueste Arbeit des Mannes scheitert, eine Oase von Seelenhoheit und Glück zu schaffen vermag, -- wenn sie nur selbst ein reines Herz besitzt! Nur der Umstand, daß in der modernen Frauenbewegung alte Jungfern das große Wort führen, die infolge ihres bedauerlichen Schicksals von der Größe und Herrlichkeit des wahren Frauenberufes nichts ahnen, macht es verständlich, daß die „moderne Frau“ das Reich der Ehe und Familie, wo die Frau als Verwirklicherin des Ideals edler Menschlichkeit den Kreis ihrer Lieben beglücken und dadurch unberechenbare Fernwirkungen ausüben kann, als Gefängnis haßt und verachtet und mit unbelehrbarer Leidenschaftlichkeit in die unerfreuliche Welt des Mannes hineindrängt, um dort auf seinen Wegen kümmerlich dahinzukriechen. Dorthin, wo ein -- wenn auch kleines -- Reich dauernden Friedens bestehen kann, trägt die „Emanzipierte“ mit ihrer Selbstsucht Unruhe und Kampf; in der Welt des Mannes aber, für welche Kampf und Krieg unerschütterliches Gesetz sind, will sie, in der richtigen Einsicht, daß der Krieg die Unfähigkeit der Frau für das Staatsleben zu völliger Nacktheit enthüllt, den „ewigen Frieden“ stiften, wobei sie nichts anderes erreichen kann, als den Herzen der Männer Schwachheit, Wehleidigkeit und Feigheit einzuflößen. Es gehört zu den größten Mängeln unserer gesellschaftlichen Einrichtungen, daß sie der Mehrzahl erst lange nach Eintritt der Geschlechtsreife das Eingehen der Ehe gestatten. +Wie viele könnten aber auch unter den heutigen Verhältnissen längst die Wonnen jugendkräftiger Liebe ohne Gewissensskrupel in der Ehe genießen, wenn sie mit einem bescheidenen Haushalte zufrieden wären, wenn nicht der Hang nach trägem Wohlleben und nichtigem Luxus oder töricht überspannter Ehrgeiz sie von der Ehe zurückschrecken würde!+ * * * * * Ich bin am Schlusse meiner Erörterungen angelangt. Aus der ungeschminkten Darstellung der Wirklichkeit ergeben sich ungezwungen die Folgerungen. Die Hygiene kommt zu ganz denselben Forderungen wie die Moral. Die oberste Forderung ist: +daß jeder seinen Geschlechtstrieb beherrschen lernen muß+! Enthaltsamkeit von allen geschlechtlichen Genüssen bis zum Eintritt der vollen Geschlechtsreife und bis zur Vollendung des eigenen Wachstums! Befriedigung des Geschlechtstriebes ausschließlich in der Ehe! Maßhalten im Genusse; auch in der Ehe! Die Zahl der Kinder darf man nicht so weit anwachsen lassen, daß es der Familie unmöglich wird, sie zu ernähren und aufzuziehen. Die Erzeugung von Kindern, die voraussichtlich krank oder minderwertig geraten würden, muß unterlassen werden. Dagegen hat der Gesunde und Tüchtige seinem Volke gegenüber geradezu die Pflicht, zahlreiche Nachkommen zu erzeugen. Es ist ein unersetzlicher Verlust für die Nation und eine Sünde an ihr, wenn -- wie dies so häufig geschieht -- gerade geistig und sittlich hochstehende und dabei körperlich gesunde Männer ehelos bleiben und sich der Fortpflanzung enthalten, wenn so gerade der edelste Keimstoff vergeudet wird! Heute mehr als je, da uns der Weltkrieg Hunderttausende von Männern bester Art geraubt hat! +Regelung des ganzen Geschlechtslebens im Dienste der Fortpflanzung! Veredelung des rein tierischen Verkehrs zu einer sittlichen Gemeinschaft!+ Dies ist das Ideal! Möge die Jungmannschaft ihm aus allen Kräften nachstreben zum Wohle von Volk und Staat! [Illustration] Soeben erschien: Hygiene der Nerven und des Geistes Von Prof. Dr. =Aug. Forel= Vierte, verbesserte und erweiterte Auflage 348 Seiten mit Tafeln und Textbildern Geheftet M 3.40 :: Gebunden M 4.20 Der berühmte Gelehrte räumt in diesem Werke mit den vielen landläufigen Vorurteilen, all den bequemen Schlagwörtern von Modekrankheit, von Überbürdung mit Arbeit u. a. und all den verkehrten Ansichten über unsere Lebensweise gründlich auf. Seine Darstellung spricht zum Verstande und zum Herzen, sie weist klar und sicher auf die vielfältigen Ursachen der Nervosität hin und auf die Fehler, die der Kulturmensch gewohnheitsmäßig Tag für Tag macht und dadurch sein Nervenleiden selbst verschuldet. Der Verfasser zeigt Mittel und Wege zur Gesunderhaltung der Nerven und zur Herbeiführung ihrer Wiedergesundung. Die Darstellung der Nervenhygiene des Kindesalters, die das Buch gibt, verdient die besondere Beachtung aller Kreise. _Bücherei der Gesundheitspflege_ ········ Herausgeber: ········ Obermed.-Rat =Dr. F. v. Gußmann= und Geh. Medizinalrat =Prof. Dr. M. Rubner= a. d. Universität Berlin Die Bedeutung einer verständigen Gesundheitspflege erschließt sich in neuerer Zeit immer weiteren Kreisen. Dem Laien, der sich über ihre Aufgaben und Ziele genau unterrichten will, bietet sich in der „Bücherei der Gesundheitspflege“ die beste Gelegenheit, über alle Fragen der allgemeinen wie der speziellen Hygiene belehrt zu werden. Die Arbeiten dieser Sammlung sind wahre Meisterstücke der Volksaufklärungskunst. Wissenschaftlicher Ernst durchdringt ein jedes der prächtigen Bücher. Klare, übersichtliche Anordnung des Materials, deutliche, schöne Abbildungen, die berühmten Namen der Autoren, von denen jeder eine Größe in seinem Fache ist, endlich der äußerst geringe Preis lassen die „Bücherei der Gesundheitspflege“ ungemein empfehlenswert erscheinen. Die Sammlung wurde auf der Ausstellung für Wohlfahrts- und Gesundheitspflege in Berlin sowohl wie auf der Allgemeinen hygienischen Ausstellung in Wien mit der goldenen Medaille, und auf der Weltausstellung in Brüssel mit dem Ehrendiplom ausgezeichnet. -- Verzeichnis der erschienenen Bände nebenstehend. -- =Aufgaben, Zweck und Ziele der Gesundheitspflege= von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Orth. Brosch. M --.80. Eleg. geb. M 1.--. =Bakterien, Infektionskrankheiten und deren Bekämpfung= von Hofrat Pro. Dr. Schottelius. Mit 33 Taf. Br. M 5.--. Eleg. geb. M 6.--. =Gesundheitspflege im täglichen Leben= von Prof. Dr. Grawitz. Brosch. M 1.50. Geb. M 2.--. =Hygiene des Auges= von Prof. Dr. v. Sicherer. Mit vielen Abbild. Brosch. M 1.80. Geb. M 2.25. =Hygiene der Nase, des Rachens und des Kehlkopfes= von Prof. Dr. Neumayer. Mit Tafeln und Abbildungen. Br. M 1.80. Geb. M 2.25. =Hygiene der Zähne und des Mundes= von Prof. Dr. Port. Mit 4 Taf. u. Abbildungen. Brosch. M 1.40. Geb. M 1.80. =Hygiene der Lunge= von Prof. Dr. v. Schrötter. Mit 18 Originalabbildungen. Brosch. M 1.80. Geb. M 2.25. =Hygiene der Nerven und des Geistes= von Prof. Dr. Forel. Mit 4 Tafeln und 6 Textabbild. Brosch. M 3.40. Geb. M 4.20. =Hygiene des Magens, des Darms, der Leber und der Niere= von Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Ewald. Mit Tafeln und Illustrationen. Brosch. M 2.--. Geb. M 2.50. =Hygiene des Stoffwechsels= von Prof. Dr. Dennig. Brosch. M 1.20. Geb. M 1.50. =Hygiene des Blutes= von Medizinalrat Dr. Walz. Mit 4 kol. Abbild. Br. M 1.20. Geb. M 1.50. =Hygiene des Herzens und der Blutgefäße= von Prof. Dr. Eichhorst. Mit 9 Tafeln. Brosch. M 2.--. Geb. M 2.50. =Hygiene der Haut, Haare und Nägel= von Prof. Dr. Riecke. Mit 17 Originalabbildungen. Brosch. M 2.40. Geb. M 3.--. =Hygiene des Geschlechtslebens= von Obermedizinalrat Professor Dr. v. Gruber. Mit 4 Taf. Brosch. M 1.40. Geb. M 1.80. =Entstehung und Verhütung der menschlichen Mißgestalt= von Prof. Dr. Lange und Prof. Dr. Trumpp. Mit 125 Abbildungen. Brosch. M 1.60. Geb. M 2.--. =Säuglingspflege und allgemeine Kinderpflege= von Prof. Dr. Trumpp. Mit 35 Abbildungen. Brosch. M 1.80. Geb. M 2.25. =Körper- und Geistespflege im schulpflichtigen Alter= von Professor Dr. Trumpp. Brosch. M 1.40. Geb. M 1.80. =Gesundheitspflege für Frauen und Mütter= von Prof. Dr. S. Gottschalk. Mit 7 Tafeln und 32 Textbildern. Brosch. M 2.40. Gebunden M 3.--. =Körperpflege durch Gymnastik, Licht und Luft= von Dr. Jaerschky. Mit 42 Illustrationen. Brosch. M 1.60. Elegant geb. M 2.--. Übungstafeln apart M --.80. =Körperpflege durch Wasseranwendung= von Prof. Dr. Rieder. Mit 10 Tafeln und 16 Textabbild. Brosch. M 2.40. Eleg. geb. M 3.--. =Hygiene der Kleidung= von Prof. Dr. Jaeger und Frau Anna Jaeger. Mit 94 Abbildungen. Brosch. M 2.50. Geb. M 5.--. =Nahrungsmittel- u. Ernährungskunde= von Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Rubner. Mit viel. Tabellen. Brosch. M. 2.--. Eleg. geb. M 2.50. Ausführliche Prospekte versendet kostenfrei der Verlag: _Ernst Heinrich Moritz, Stuttgart._ FUSSNOTEN: [A] Zum Glück für die anderen Organismen mit geringerer Vermehrungsfähigkeit werden die Umstände rasch ungünstiger in dem Maße, als die Zahl der Nachkommen zunimmt, so daß in der Wirklichkeit die Nachkommenschaft niemals in annähernd so raschem Tempo wächst. Immerhin macht uns ihre außerordentlich große Vermehrungsfähigkeit begreiflich, wieso diese winzig kleinen Wesen rasch so gewaltige Veränderungen hervorrufen können, wie wir sie bei der Gärung und Fäulnis oder bei gewissen ansteckenden Krankheiten beobachten. [B] Von dieser Regel gibt es viele Ausnahmen. Es sind Fälle von Befruchtung durch 11jährige Knaben bekannt. Ebenso kommt verspäteter Eintritt der Geschlechtsreife vor. [C] Auch der Säfteverlust durch die häufige Samenentleerung mag schädlich sein, obwohl die entleerten Mengen selbst bei extremer Ausschweifung so klein sind, daß an einen schädlichen Verlust von Eiweiß nicht zu denken ist. Es ist möglich, daß der Verlust von spezifischen Absonderungsprodukten der Hoden empfunden wird, die bei Mäßigkeit zum Teil wieder aufgesogen worden wären. (S. o.) [D] Die Einführung des Gliedes in die durch zersetztes Blut verunreinigten weiblichen Geschlechtsteile kann übrigens auch beim Manne zu Entzündungen und kleinen Abszessen an der Eichel und an der Vorhaut Anlaß geben. [E] Es kann auch Schwängerung erfolgen, wenn der Samen außen auf die Schamspalte oder in deren Nähe ergossen worden ist. [F] Bei der Entstehung der Paralyse scheint auch nicht selten der Alkoholmißbrauch beteiligt zu sein. [G] Auch in diesen Fällen gewährt der Kondom einen wertvollen, wenn auch keineswegs ganz sicheren Schutz. End of Project Gutenberg's Hygiene des Geschlechtslebens, by Max Gruber *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HYGIENE DES GESCHLECHTSLEBENS *** ***** This file should be named 53823-0.txt or 53823-0.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/3/8/2/53823/ Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. 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64193-0
The Project Gutenberg eBook of Die Kringhäusler, by Alma Maximiliane Karlin This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Die Kringhäusler Drama in drei Akten Author: Alma Maximiliane Karlin Release Date: January 01, 2021 [eBook #64193] Language: German Character set encoding: UTF-8 Produced by: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.) *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KRINGHÄUSLER *** Die Kringhäusler Drama in drei Akten von A. M. Karlin Leipzig 1918 =Bruno Volger= Verlagsbuchhandlung Personen: Frau =Oberst Hasselstein=, Witwe Hans =Georg Hasselstein=, Professor der Naturwissenschaften, ihr Sohn Herr =Regierungsrat Pottenmiller=, ihr Schwager Frau =Petronella Pottenmiller=, ihre Schwester Herr =Direktor Knute=, auch ein Schwager Frau =Johanna Knute=, ihre zweite Schwester Herr ~Dr.~ =Brunnick=, Pottenmillers Schwiegersohn Frau =Ada Brunnick=, seine Frau =Hermine Schrift=, unverheiratet, Hans Georgs Tante =Ladislaja Schrift=, ihre Schwester Frau =Kommerzienrat Peloponesia Krickenfeld= Frau =Inspektor Margarete Holzheim= Frau =Professor Emilie Zungrapp= Herr =Norry= } Herr =Scharfen= } Herr =Roden= } Herr =Kapper= } Herr =Johanssen= } die Teilnehmer der Südpolexpedition Herr =Granelli= } Herr =Meroff= } Herr =Vickers= } =Berta Heller=, Hans Georgs Braut. Der erste Akt spielt in der Antarktis, der zweite und der dritte Akt in der Wohnung Frau Hasselsteins. =Zeit=: Gegenwart. 1. Akt. [Im Hintergrund der weiten Bühne sieht man mächtige Eisgebilde mit leuchtend weißen Oberflächen, während alle Unebenheiten, Spalten und Risse je nach ihrer Tiefe vom zartesten bis zum tiefsten Blau erscheinen. Etwas mehr gegen den Vordergrund ist ein kleiner Streifen des Polarmeeres sichtbar, in dem sich die tafelförmigen Eismassen und die zerklüfteten Eisberge spiegeln. Zur Rechten im Hintergrund steht ein vereistes und tiefverschneites, von den mächtigen Eisstücken teilweise über die Meeresfläche gehobenes Schiff, von dessen Masten die Eiszapfen herniederhängen. Zur Linken hängt ein riesiger, in der Mitte gespaltener Eisberg über die Bühne, aus dessen Innern ein herrliches bläuliches Licht fließt. Links und rechts im Vordergrund befinden sich kleinere Eisstücke, auf denen eine große Anzahl Pinguine in verschiedenen Stellungen sitzen. Mehr im Hintergrund liegen einige Seehunde am Rande des Meeres. Ganz im Vordergrund zur Linken steht ein tiefverschneites Zelt, in dessen Mitte ein kleiner Kochherd steht und sein rötliches Licht über die Zeltwände ergießt. Zur Rechten steht Hasselstein und blättert in seinem Notizbuch. Ein wunderbar schönes, bläuliches Licht erfüllt die ganze Szene, während da und dort der Schnee in allen Farben des Regenbogens glitzert. Vom leuchtendsten Tageslicht geht jedoch die Beleuchtung langsam während des ganzen Aktes immer mehr in ein mattes Dunkel über und als es vollkommen finster geworden, zeigt sich im Hintergrund die Aurora Borealis in flackernden Bändern und ewig wechselnden Lichteffekten. Die ganze Zeit hört man auch das Pfeifen des Windes -- im Anfang ganz schwach, dann mit zunehmender Stärke.] 1. Auftritt. =Hasselstein= [macht eben die letzten Aufzeichnungen in sein Notizbuch als der Vorhang aufgeht. Nach einigen Sekunden schließt er es und macht einige Schritte auf die Mitte der Bühne zu]. Das wäre getan! [Er zieht seine Uhr aus der Tasche.] Wie, schon so spät? Da heißt es frisch zulangen soll unser Depôt und Winterobservatorium fix und fertig sein, wenn die Kollegen von ihren Streifzügen heimkehren. [Er macht sich rechts an die Arbeit, schleppt von hinter den Kulissen große Eisblöcke herbei und beginnt sie aufeinander zu bauen und mit Schnee, den er zusammenfegt, zu befestigen. Während er eifrig arbeitet und das Schneehaus immer größer wird, spricht er, sich manchmal auf Augenblicke unterbrechend um auf die wechselnden Lichteffekte zu schauen.] Wie die Stunden fliehen und doch -- wie weit von mir scheint die Vergangenheit! [er schüttelt wehmutsvoll das Haupt]. Zwei Jahre sind es nun, daß ich der Heimat den Rücken gekehrt [er baut schweigend einige Sekunden]. Wirklich nur zwei Jahre? Ist mir's doch, als seien Jahrzehnte seit dem Augenblick verflossen, wo -- [er schleppt einige Eisstücke herbei]. Genug! Siebenhundertunddreißig Tage trennen mich von jener Stunde, in welcher mein Blick zum letztenmal in den ihren getaucht. Was wunder übrigens, daß die Zeit so lang mich deucht, denn die Zahl der Eindrücke und nicht der monotone Schlag der Stunden machen ja ein Menschenleben aus. Und ich -- ich hatte Eindrücke -- [er hält einen Augenblick inne und blickt, die Augen mit der Hand beschattend, forschend auf das Meer] -- und was für Eindrücke, barmherziger Himmel! Erst die ungestümen Reisevorbereitungen, die ununterbrochenen Kämpfe, die feindselige Haltung der guten alten Seelen daheim -- oh, die armen, entsetzten, aus dem Gleichgewicht gebrachten Kringhäusler! -- [er lacht plötzlich laut auf] -- wenig fehlte, daß man mich nicht mit Gewalt in eine Irrenanstalt sperren ließ, denn ein klardenkender Mensch -- ein Individuum, mit vollem Gebrauch der fünf von Mutter Natur so gnädig verliehenen Sinne -- kann sich nicht willig einer Südpolexpedition anschließen, das ist Wahnsinn, himmelschreiender erbarmenerweckender Wahnsinn! [er lacht wieder]. Arme Kringhäusler, sie müssen immer auf dem breiten, wohl ausgetretenen Pfad dahinhumpeln, -- daß man sich eigene Pfade brechen kann, das verstehen sie nicht und billigen noch weniger. Wenn die ganze Gemeinde an Hinzens Kuhstall vorbei zur Kirche geht, warum sollte da ein Pfarrkind einen anderen Weg einschlagen? Das ist Ketzerei! [er baut eine Weile schweigend weiter]. Ach, dann kamen die Aufregungen des Abschieds, -- von Berta -- von Mama -- von der lieben Heimat -- ein Abschied, der möglicherweise Trennung auf immer bedeuten konnte, hierauf die lange eintönige Fahrt, ein schläfriges Rollen und behagliches Dahinträumen, geschaukelt von leise plätschernden, tiefblauen Wassermassen, unter einem heißen, wolkenlosen Himmel -- [er schaufelt eifrig den Schnee zusammen]. Ja, wer noch einmal, ein =einziges= Mal solche Wärme empfinden dürfte. Und eines schönen Tages waren wir in Neuseeland mit seinen Geysirn, Wasserfällen, tropischen Wäldern, riesigen Eukalyptus, seinen flügellosen Vögeln, und den schneegekrönten und gleichzeitig feuerspeienden Bergen. Welche Pracht! [er bildet das Dach seiner Hütte]. Allzu kurze Rast gefolgt vom gefahrvollen Tummeln auf kalter, sturmgepeitschter See, das langsame Sichnähern der endlos scheinenden Eisbarrieren, schließlich ein kurzer Ausflug auf die verödeten Kerguelen und zuletzt [er blickt wieder sinnend auf das Meer] die eigentliche Antarktis, das Ueberwintern in eisstarren Zelten, während sich draußen die endlose, düstere Polarnacht, mit all' ihren Schrecken und Leiden auf uns herabsenkte und wir bei kümmerlichem Thranlicht ein mattes Scheinleben führten, hie und da unterbrochen von den Beobachtungen im Freien bei einer Temperatur von durchschnittlich 52 Grad Celsius unter Null! [er arbeitet einige Sekunden wieder schweigend, während das Licht langsam abnimmt, hierauf wieder frischerer, munterer]. Nichtsdestoweniger hat selbst das Leben hier seinen Zauber, so mitten in einem noch unerforschten Teile unserer Erdkugel, wo Tiere und Vögel im Menschen noch nicht ihren Feind zu sehen gelernt haben, wo er in ihr Tun und Lassen freien Einblick gewinnen kann, hier -- wo seltene Lichteffekte das Auge stündlich entzücken, wo eine Entdeckung der anderen auf dem Fuße folgt, wo ungeahnte Horizonte sich dem begierigem Geiste offenbaren! [er verbessert sein Werk da und dort] Neue Horizonte! Ach, wenn diese mich nur auch großmütiger im Beurteilen anderer machen würden! Mutterl, du liebes, gewiß tat ich dir oft Unrecht, wenn unsere Anschauungen nicht harmonierten. In Zukunft, da muß unser Zusammenleben ein besseres sein, denn ich habe alles aufgeboten um alle kleinlichen einseitigen Begriffe, alles falsche Beurteilen loszuwerden. Das liebe Mütterchen wird wohl auch einsehen gelernt haben, daß man nicht nur als Gymnasialprofessor in Kringen sein Glück machen kann und die lange Trennung, die ja so leicht eine ewige werden kann, hat gewiß auch ihre Skrupel, meine Heirat mit Berta betreffend, gemildert. Sie hat Zeit gehabt Berta zu prüfen -- meine Worte in Erwägung zu ziehen -- ja, ja, die Mutterliebe wird, sie muß siegen [er verbessert das Innere der Schneehütte]. Alle lächerlichen Vorurteile, alles Hängen am Zopf wird mutig über Bord geworfen und da wollen wir drei -- Mama, Berta und ich -- ein Heim gründen, dessen Grundpfeiler gegenseitige Nachsicht und unbegrenzte Liebe sind. Alle meine Tage will ich der Verbreitung freisinnigerer Anschauungen, milderem Denkens widmen. Nieder mit allem kleinlichen Huldigen äußeren Scheins! Der Kern allein soll gelten, nicht die Schale. [Das Schneehaus ist nun ganz fertig, er betrachtet sein Werk und ruft jubelnd aus:] Hurra! Vollendet ist das große Meisterwerk! [ernster.] Möge es mir einst gelingen den Kampf gegen alle kleinlichen Vorurteile, gegen alle beschränkten, feindseligen Anschauungen daheim zu ebenso befriedigendem Abschluß zu bringen -- da Berta, mein Liebling, soll dein Unglück dich nicht länger niederbeugen -- nein, treues, edles Herz, kein Mensch soll länger scheu vor dir zurückweichen. An meiner Seite sollst du stolz erhobenen Hauptes dahinschreiten und zuversichtlich in eine sonnige Zukunft blicken. Und du, mein liebes Mutterl, du sollst in mir den zärtlichsten Sohn, in Berta die liebendste Tochter finden und dazu bedarf es nur eins: Die lieben Kringhäusler ein wenig -- abzuschütteln! 2. Auftritt. [Roden, Norry und Scharfen kommen von rechts.] =Roden= [zu Scharfen]. Wir müssen die Messungen vor Einbruch der Nacht beendigen [er wirft eine Leine in das Meer und Scharfen hilft ihm dabei]. =Scharfen= [munter]. Holla, Hasselstein! Sie sind der reinste Baukünstler. Unser Depôt ist ja ein ganzes Wunderwerk. =Norry= [indem er eifrig einige Apparate in dasselbe schleppt]. Vortrefflich! Man kann unmöglich alle Geräte auf dem Schiffe oder im Zelte bequem unterbringen. Hier wollen wir unsere Winterbeobachtungen machen -- etwas wärmer als die windige Eisfläche wird diese Sternwarte sicher sein. =Roden= [indem er langsam die Leine aufwickelt]. Es fehlt eine Oeffnung im Dach -- =Hasselstein= [eifrig arbeitend]. Dem ist schnell abgeholfen. =Norry= [zu H.]. Sind viele neue Exemplare in die Falle gegangen? =Hasselstein= [auf den Meeresstrand zugehend]. Ich habe noch nicht nachgesehen [er zieht eifrig eine Fischfalle aus dem Wasser]. Ein reichhaltiger Fang, wie fast immer -- leider nur die gewöhnlichen Fischarten der Antarktis [er beugt sich noch einmal nieder und zieht ein kleines Netz aus dem Wasser]. Vielleicht enthält das kleine Netz wertvollere Exemplare. Hm, wie immer eine ganze Menge Isopoden, einige Fünffüßler, mehrere Korallen, -- was sehe ich? Ganz richtig! Eine Gattung auffallend kleiner Seegarnelen -- eine Anzahl Wasserbären und -- =Norry= [legt den Apparat heftig auf den Boden, springt auf das Meer zu, woher eben ein starkes Plätschern erklingt und ruft]. Schnell, schnell, Hasselstein! Haben Sie Ihre Flinte zur Hand? =Hasselstein= [rafft im Vorbeispringen seine Flinte vor dem Zelte auf und beide springen auf einige Eisstücke um freien Ausblick auf das Meer zu haben]. Ein Blauwal! Ein wahres Prachtexemplar! Aber leider außer Schußweite. =Norry= [eifrig spähend]. Verschwunden! Schade, -- eine Abwechselung im Speisezettel wäre nicht unwillkommen gewesen! =Roden= [singt tröstend]. Es wär' zu schön gewesen, es hat nicht sollen sein! =Scharfen.= Leider -- leider; ein erhöhter Thranvorrat vermindert immer die Schrecken der Polarnacht, doch -- fort ist fort und hin ist hin -- [er lacht auch heiter]. =Hasselstein= [zu Norry]. A propos! Funktioniert der Elektrometer jetzt wieder? Sind die Messungen vollkommen verläßlich? =Norry.= Vollkommen! Alles ist wieder in Ordnung. Ich will nur noch in aller Eile den Thermographen aufstellen, hierauf verwandle ich mich in einen Koch erster Qualität. Das ist ja meine Kochwoche [er stellt den Apparat auf und lacht]. =Hasselstein= [sammelt seinen Fang zusammen und wendet sich zu Roden und Scharfen, die eben die lange Schnur vollends aufgewunden haben]. Welche Tiefe? =Roden.= 1844 Klafter. Das bestätigt meine früheren Annahmen, daß die Tiefen hier in der Regel bedeutend größer als am Nordpol sind. =Hasselstein.= Wieviel Grade unter Null haben wir heute? =Scharfen= [liest vom Thermometer, das an einer Zeltstange hängt, ab]. 29 Grad Celsius. =Roden.= Besser Fisch als Mensch zu sein in diesen Gegenden -- das Wasser ist wärmer. =Hasselstein= [lachend]. Unzufriedener! Denken Sie an die Zeit, wo wir 52° gehabt haben! =Norry=. Und die bald wiederkehrt! =Hasselstein= [zu Norry, der eifrig seine Apparate in der neuen Schneehütte studiert]. Hören Sie einmal, verehrter Herr Wetterprophet -- welcher angenehmen Ueberraschungen dürfen wir gewärtig sein? =Norry= [seine Apparate untersuchend]. Machen Sie sich nur auf einen extrafeinen Schneesturm gefaßt. =Alle.= Danke sehr! =Hasselstein.= Davon hätten wir nachgerade genug. In diesem Monat allein mußten wir zehn Tage in den Zelten zubringen und selbst da wurde man nie warm oder trocken. Die Schneenadeln krochen bis in die Tiefen der Schlafsäcke und das Ausgehen bei solchem Unwetter wagt keiner von uns seit der arme Scharfen ganz wirr im Kopfe wurde, als er in solchem Wetter zufällig draußen war und beinahe umgekommen wäre. Nein, nein, so ein Schneesturm ist schlimmer als die ärgste Kälte! =Norry= [mißt eifrig]. Der südliche Wind nimmt bedeutend zu und bei den überaus häufigen und starken Niederschlägen muß man auf alles gefaßt sein. Da, Hasselstein, sehen Sie einmal selbst um wieviel die Nadel seit den letzten drei Stunden abgewichen ist. [Beide hantieren die verschiedenen Instrumente.] =Roden= [schreibt eifrig in sein Notizbuch während Scharfen die Schnur und die Fischfallen in das Zelt trägt und mehrere Pfannen auf den kleinen Herd stellt]. 1844 Klafter Meerestiefe, südwestliche Tiefströmung, südlicher Wind, 29° Celsius Lufttemperatur, zunehmendes Treibeis, abnehmendes Tageslicht -- nur mehr zwei Stunden Tag -- 734 ~mm~ Luftdruck -- Während er schreibt und vor sich hin murmelt ist es ganz dunkel geworden; die Eisstücke sehen nun beinahe schwarz aus und nur der Schnee im Vordergrund leuchtet weiß. Ganz im Hintergrund zeigt sich ein schwacher gelblichroter Lichtschein, hierauf entsteht ein knisterndes Geräusch und in flackernden Bändern taucht die ~Aurora borealis~ auf -- nie stille, immer wechselnd, sich jeden Augenblick verändernd. Das Heulen des Windes nimmt langsam zu, die Wogen machen auch ein stärkeres, plätscherndes Geräusch. =Hasselstein= [geht auf das Zelt zu, die anderen folgen ihm. Norry legt allerlei in die Pfanne und kocht eifrig, die anderen setzen sich auf die Schlafsäcke und zünden ihre Pfeifen an. Das rote Licht des Herdes bildet einen eigentümlichen Kontrast mit der wechselnden Beleuchtung draußen.] Meine Angst um unsere tapferen Gefährten nimmt täglich zu. Wenn sie nicht innerhalb der nächsten Tage einlangen, muß ein Unglück die Expedition getroffen haben, denn fünf Monate waren als Maximumtermin zur Erforschung des Beardmoregletschers festgesetzt. Seit ihrem Aufbruch sind 192 Tage vergangen. =Norry= [düster]. In kaum vierzehn Tagen bricht die lange Polarnacht herein -- Gnade ihnen, wenn sie uns bis dorthin nicht erreicht haben. =Scharfen= [nachdenklich rauchend]. Seit fünfzehnten November kämpfen sie verzweifelter selbst als wir gegen die Gefahren und Drangsale dieses unwirtlichen Klimas. Wer wird den Sieg erringen? Die starre Eisnatur oder unsere beharrlichen Gefährten? Und das Schlimmste an der Sache ist, daß wir hier stille sitzen müssen und nichts -- gar nichts -- zu ihrer Rettung beitragen können. =Norry.= Es ist ja eine Frage ob wir selbst die endlose Polarnacht überdauern werden. Werden unsere Nahrungsmittel bis zur Ankunft des Schiffes im November ausreichen und vorallem, wird es uns gelingen den Ausbruch des Skorbut zu verhindern? [Eine Pause entsteht, alle rauchen in düsterem Schweigen.] =Hasselstein= [träumend]. Es dünkt einen unglaublich, daß daheim gerade jetzt der Flieder blüht, das Mailüfterl über das sanftig grüne Land hinbraust, die Nachtigall -- =Roden= [heftig unterbrechend]. Nur um Himmels willen nicht sentimental werden: Das gibt uns, in der Verfassung, in der wir sind, den Gnadenstoß. Nichts ist gefährlicher und zweckloser als das Träumen vom Unerreichbaren. Es heißt einfach die Zähne zusammenbeißen und -- schweigen! =Hasselstein= [müde lächelnd]. Oder zu unserem alten Mittel zu greifen und Sorge mit Scherz verscheuchen? Leider gewinnen manchmal die Sorgen die Oberhand. Der Zunge kann man allerdings Schweigen gebieten, doch ach, dem Herzen nicht. Es gibt Augenblicke, in welchen einem alles zwecklos scheint, in welchen man seinen Gefühlen unterliegt, das Heimweh erwacht und man sich staunend fragt, ob man nicht am Ende alles einem Wahn geopfert -- =Scharfen= [eine dicke Rauchwolke ausblasend]. Und ob es wirklich nur ein Trugbild gewesen, was man so lebhaft angestrebt. =Norry= [nachdenklich]. Wir sind entmutigt und fragen daher nach dem Warum unserer Handlungsweise und wissen im Innersten doch, daß wir unter gleichen Umständen wieder so und nicht anders handeln würden. So nehme ich zum Beispiel an, daß wir uns alle der Expedition angeschlossen -- erstens, weil dies eine Lösung manch' verwickelten Problems bedeutete -- =Hasselstein= [ernst]. Sie haben vollkommen recht, Norry. Jeder von uns hatte seine Gründe -- =Norry= [bitter]. Und triftige. Eine Luftveränderung tut zuzeiten sehr gut. Das Leben ist wahrlich kein Honigschlecken -- es sticht einem verteufelt oft eine Biene in die Zunge. =Hasselstein= [finster]. Und mehr als eine! =Norry= [nach kurzer Pause]. Was mich betrifft, so befinde ich mich nur dort ganz wohl, wo die Natur in ihrer Urkraft auf mich einwirkt und die Civilisation -- die sogenannte -- sie noch nicht mit ihrem giftigen Speichel beleckt -- und verödet hat! Kampf und Abenteuer gegen die mächtigen Naturgewalten meinetwegen, aber gegen die Heuchelei, Beschränktheit und krasse Selbstsucht der sogenannten civilisierten Menschheit -- nein, danke -- lieber begrabe ich mich in den Einöden der Sahara, in den Urwäldern Südamerikas oder -- =Hasselstein= [lächelnd]. -- oder selbst in antarktischen Zonen. Bis hierher ist unsere Ueberkultur allerdings noch nicht durchgedrungen -- die Pinguine sind die Alleinherrscher der Antarktis. =Roden= [leidenschaftlich]. Lieber tausendmal Pinguine als Ueberkultur: Glauben Sie mir, die großartige Erfindungen hervorbringt und dabei doch täglich mehr und mehr natürliche Züge der menschlichen Natur kalt erdrückt oder in eine unnatürliche, seelenverkrüppelnde Gestalt preßt. Bah! [Er klopft heftig seine Pfeife aus und stopft eine neue.] =Hasselstein= [beschwichtigend]. Wie viele Geheimnisse der Natur sind entdeckt und der Menschheit dienstbar gemacht worden! =Roden= [verächtlich]. Und wie viele Tiere kennen den Wert heilsamer Kräuter, von denen wir keine Ahnung haben. Zudem -- die Völker des Westens, die ja gerade am stolzesten auf ihren Fortschritt sind, haben von vielen Sachen heute keine Ahnung, mit denen die morgenländischen Stämme vor mehreren tausend Jahren ganz vertraut waren. -- Fortschritt -- in der Tat! [Er lacht kurz und verächtlich auf.] Wir sind viel zu stolz auf die Errungenschaften unseres Geistes. =Hasselstein= [ruhig vor sich hin rauchend]. Menschlichere Anschauungen -- =Roden= [spöttisch]. Vortrefflich: Maschinengewehre, giftige Gase, bombengespickte Luftschiffe -- =Scharfen= [einwerfend]. Die Abschaffung der Folter -- =Roden= [kalt lachend]. Nein, lieber Freund! Ersatz der moralischen statt der physischen. Heute droht man jemand das Familienskelett an das Tageslicht zu ziehen und in den Zeitungen spazieren zu führen -- eine Folter, die ebenso wirkungsvoll, wie die Daumenschrauben einst, -- die Kritik ersetzt den Morgenstern und was das Spießrutenlaufen anbelangt, so verrichten die Zungen unserer stets auf der Lauer liegenden lieben Nächsten das wunderbar -- mit dem einzigen Unterschied, daß man früher absehen konnte, wo die Qual und wo der Schaden ein Ende nehmen wird -- die Ausdehnung und die Uebel der heutigen Folter kann niemand ermessen. Die Wunden des Körpers heilten leichter als wir nun unseren beschmutzten Namen, unsere geraubte Ehre in Ordnung bringen -- wenn es uns gelingt. =Hasselstein= [ruhig]. Wir verdanken der zunehmenden Civilisation eine erhabene monotheistische Religion -- =Roden.= Die nichts destoweniger wie im dunkeln Mittelalter noch heute mit Teufelsspuk und Höllenqual droht, deren Verbreiter Geld mit Beuteln oder Tassen im Gotteshause selbst einsammeln, genau wie es fahrende Sänger oder Seiltänzer unmittelbar vor Schluß der Vorstellung tun, deren Anhänger des guten Tones, der Musik oder der neuen Kleider willen zur Kirche gehen und die sechs Tage lang mit Wonne alle zehn Gebote übertreten um am siebenten eine scheinheilige Miene aufzusetzen und sich aller jener Tugenden zu rühmen, die zu besitzen sie anderen glauben machen wollen. =Scharfen= [halblächelnd]. Großartigen Erfindungen -- =Roden= [kalt]. Erfindungen, bester Herr Kollege, bedeuten erhöhten technischen oder rein materiellen aber deshalb noch lange nicht moralischen Fortschritt. Das Leben wird durch sie möglicherweise bequemer, die Handelsverbindungen leichter und schneller, aber diese Verbesserungen erhöhen leider nur unser Selbstbewußtsein ohne unseren inneren Menschen gleichzeitig auf eine höhere Entwicklungsstufe zu bringen. =Norry= [eifrig kochend]. Ganz richtig! Rein äußere Verfeinerung der Sitten, kosmopolitische Anschauungen, erhöhter Luxus, großartige Entdeckungen und ähnliches ist alles lange noch nicht Seelenkultur. Wenn die Ware nicht durch und durch reell ist, so springt die Politur schon bei der allerersten Gelegenheit ab. =Scharfen= [kopfschüttelnd]. Der Zeitgeist zerstört viel mehr als er bildet. Es ist geradezu eine Wut über die Menschheit gekommen in allen Werken der großen Meister, im Leben der edelsten Helden, bei unsterblichen Denkern und den Lehrern der erhabendsten Ideen immer und überall ein Fleckchen, irgend einen dunkeln Punkt zu suchen, der dann ans Licht gezogen, besprochen, und betastet wird, bis der winzige Fleck beinahe das ganze Werk, den ganzen Menschen verdunkelt. =Hasselstein= [traurig]. Ach, leider! Anstatt nach Menschenliebe streben alle nach größerer Pracht, nach höherer technischer Kultur, Verstand wird über Herz, der Schein über den Kern gesetzt. Die Kritik läßt weder Lebendige noch Tote in Frieden und jeder bemüht sich auf das eifrigste seines Nächsten Fehler zu entdecken und laut zu verkünden, statt sie milde zu bemänteln und großmütig zu übergehen. =Roden= [spöttisch]. Und mit welchen Stolz wir den ›Segen der Civilisation‹ zu den sogenannten Wilden tragen: Wir verkaufen ihnen Schießpulver und Gewehre, wir bieten ihnen zu hohen Preisen allerlei verderbliche Trinkwaren an, die ihr Leben verkürzen, ihre Gesundheit untergraben und in ihnen vorher unbekannte Leidenschaften erwecken. =Hasselstein= [lächelnd]. Zum Dank für solche Vorteile verdrängen wir sie von ihrer eigenen Scholle und lassen uns selbst dort nieder. =Scharfen= [lachend]. Ja! Die armen Wilden können uns dankbar sein, daß wir sie nicht wie einst mit Gewalt auf unsere Schiffe schleppen und als Sklaven verkaufen. =Roden= [eifrig nickend]. Wir tun etwas viel Besseres. Wir verwenden sie gleich als Sklaven an Ort und Stelle. Oh Fortschritt -- du gleißender Fortschritt! Nein, läßt mich in einem Erdstrich wohnen, wohin diese bewunderte Civilisation noch nicht vorgedrungen, wo Wahnsinn, Trunksucht, Selbstmord und Verbrechertum, wo Habgier, Neid und Verleumdung noch nicht zur Tagesordnung gehören! =Norry= [lachend und die Pfeife schwingend]. Es lebe das Reich der Pinguine! =Hasselstein= [nachdenklich]. Gott weiß es, Sie haben so unrecht nicht, Roden, trotz Ihrer entsetzlichen Spottlust! Hier, fern von den Einrichtungen bevölkerter Erdstriche fallen alle kleinlichen Charakterzüge wie Schuppen ab. Hier kann ein Mann nicht mehr scheinen als er ist. Kein Heucheln verdeckt hier den Mangel jener Eigenschaften, die zu besitzen man sich früher oft gerühmt haben mag -- die zu haben man sich möglicherweise selbst eingeredet. =Norry= [lebhaft]. Und doch entwickeln sich gerade hier oft Eigenschaften, das heißt schlummernde Fähigkeiten krystallisieren sich, welche zu besitzen man sich daheim nicht einmal geträumt hätte. =Scharfen= [eifrig zustimmend]. Stimmt! Dort war das eigene Ich immer der erste Faktor, hier tritt es beständig in den Hintergrund. Dort ging man am schreiendsten Elend kalt vorüber, weil man den Kopf mit höchst überflüssigen, aber im Augenblick außerordentlich wichtig scheinenden Kleinigkeiten vollgekramt hatte -- man hatte eben keine Zeit -- sondern lief blind irgend einem nichtigen Vergnügen, einer bedeutungslosen Belustigung nach oder beeilte sich irgend eine gesellschaftliche Verpflichtung anstatt jene höhere Pflicht lauterer Menschenliebe zu erfüllen! Hier dagegen bietet man alles auf um seinen Gefährten und nicht nur diesen sondern selbst den Tieren, die mit uns in Berührung kommen und unser Geschick teilen, die schlimme Lage nach Kräften zu erleichtern. =Roden= [sich zurücklehnend]. Zweifellos! Das Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt sich bedeutend stärker hier und geteilte Gefahren sind eiserne Bande. In alten Zeiten sind die einzelnen Stämme ebenso innig aneinander gehangen und haben stets freudige Opferwilligkeit an den Tag gelegt. Erst das Zusammenscharen vieler sich unbekannter und folglich einander gleichgültiger Menschen, die man alle wie toll auf ein gleiches Ziel zuhetzt und die wissen, daß sie es umso sicherer erreichen werden, je mehr Mitbewerber sie im Rennen niederstoßen, hat dieses Meer von Selbstsucht geschaffen, in dem so viele Schwache unverdienter Weise untergehen müssen. Auch ein Gewinn der zunehmenden Civilisation! =Hasselstein= [nach einigen Sekunden ernst]. Das ist der ewige Kampf der Natur, in welchem der Stärkste siegt, die Schwächeren untergehen. Dennoch -- -- unsere Anschauungen werden andere hier draußen. Das Bewußtsein menschlicher Erhabenheit schrumpft gegenüber den überwältigenden Wundern der unberührten Natur bedeutend zusammen. Unsere Unüberwindlichkeit scheint uns geringer, wenn wir eben einen Schneesturm mitgemacht oder die riesigen Eisbarrieren betrachtet haben, die seit Jahrtausenden hier herumzuschwimmen scheinen und unsere Widerstandskraft dünkt uns klein, wenn wir die winzigen Rotiferen betrachten, die ins Eis eingefroren, scheinbar jahrelang tot liegen, um, wenn ein günstiger Umstand die sie umschließenden Eispartikel wieder schmilzt, zu neuem Leben zu erwachen, als wäre nichts besonderes vorgefallen. Wie gebrechlich sind wir, stolze Menschen, verglichen mit ihnen! =Norry= [lachend]. Unbestreitbar, trotzdem verbleibe ich lieber Mensch als Radtier. Der Wert des Daseins liegt eben im Bewußtsein unseres Seins. =Hasselstein= [ernst]. Manchmal möchte man gerne einige Jahre wie ein Radtier schlummernd zubringen, während über einen hinweg unempfunden die Stürme des Lebens brausen. =Roden= [erregt]. Lächerlich! Das wäre wie der Vogel Strauß seinen Kopf unter den Flügel stecken und hierauf glauben den Feind besiegt, den Gegner verscheucht zu haben. Nicht im Zurückweichen -- im Vorwärtsdringen allein -- muß man das Ende irgend einer Mühsal suchen, da nur die Ruhe, die der Ueberwindung, sei es nun seiner Gegner, des Geschicks oder des eigenen Ichs liegt, von wahrem und dauerhaftem Wert sein kann. =Scharfen= [nickt]. Ein indischer Weise sagt: Festes Bestreben besiegt selbst das Geschick! Es gibt kein zwingendes ›Kismet‹ für den, der zu wollen gelernt. =Norry= [einlenkend]. Unzweifelhaft! Indessen bin ich überzeugt, daß uns nicht nur der Haß gegen die Unsitten unserer Zeit sondern auch jene alte Abenteuerlust herausgetrieben, die uns als Knaben schon beim ersten Märchen das Blut schneller durch die Adern rinnen ließ. Am Ende sind wir doch alle Kinder unserer Zeit. Wir verlachen herrschende Vorurteile zwar, bäumen uns gegen die enggezogenen Grenzen auf, aber wir wüten, nichts destoweniger, wenn jemand anderer es uns nachzumachen wagt. Es ist eben die alte Geschichte vom Balken und Splitter. =Hasselstein= [seufzend]. Wir täuschen unsere Mitmenschen zuweilen -- -- und dies mit vollem Bewußtsein -- -- wir täuschen uns selbst viel öfter und ohne davon die geringste Ahnung zu haben. Vielleicht verlieren wir Aufrichtigkeit und Natürlichkeit so leicht, weil wir uns immer mehr und mehr von der Natur entfernen. =Roden= [triumphierend]. Was sagte ich? =Hasselstein= [aus dem Zelte blickend]. Hier spricht Mutter Natur in all ihrer Pracht und Majestät zu uns und wir fühlen ihren wohltätigen Einfluß nicht nur körperlich, indem wir stärker, sondern auch seelisch, indem unsere besten Triebe begeistert rege werden. =Scharfen= [Triebe]. Ja, Schönheit läutert. Wer könnte auf die herrlichen Schneegebilde, die mächtigen Eisgrotten, das flackernde Nordlicht blicken können und im Herzen der alte Egoist, gleichgültig gegen alles, was nicht ›Ich‹ ist, bleiben? =Norry= [bitter]. Wer könnte hier glauben, daß es in der Tat Menschen gibt, die ein treues Herz, ein ganzes langes Leben voll stillen Glücks um einiger lumpiger Tausender klaglos opfern können -- -- =Hasselstein= [im selben Ton]. Oder daß es Leute gibt die sich an kleinliche Vorurteile wie der ~Octopus~ an sein Opfer klammern? [Nach einer Pause.] Es ist eine unleugbare Tatsache, -- wem Herd und Heim mit Glück und Ruhe winken, der stürzt sich nicht in unbekannte Gefahren, mag der Trieb dazu auch hundertmal in seiner Seele schlummern. Oft, wenn ich auf meinen einsamen Wanderungen ein Licht so freundlich aus einem Fenster strahlen sah, dachte ich mir, daß es wohl über irgend einen Teuren wache -- -- -- ein Auge in der Nacht, das wie ein milder Führer, wie ein getreuer Leuchtturm dem einsamen Schiffer zeigt, wo der ruheverheißende Hafen winkt. Wir, denen kein solcher Leuchtturm die Fahrt auf den Strom des Lebens erleichtert, wir segeln planlos, uns wirft des Lebens wechselnde Springflut unbarmherzig auf Klippen oder öde Inseln und was wunder, daß so viele von uns -- -- -- =Roden= [finster]. So jämmerlich untergehen! Es gehört ein guter Steuermann und eine feste Hand dazu ein Schiff zu steuern, das auf finsterem Meere treibt. [Alle rauchen eine Weile schweigend. Das Heulen des Windes nimmt zu, das Nordlicht verschwindet langsam. Es wird unheimlich finster.] =Scharfen= [die Hände gegen die Zeltdecke hebend]. Uns bleibt das Wissen -- die Suche nach dem Unbekannten, dem Unerforschten und endlich das Bewußtsein unsere Pflicht getreu erfüllt zu haben. =Hasselstein= [aufspringend]. Wir »schaffen« und »schaffen« bedeutet »leben«. =Norry= [lachend]. Sagen wir mit Calderon »Das Leben ist ein Traum!« =Roden= [achselzuckend]. Oder ein ver-- Alpdrücken -- individuell genommen! 3. Auftritt. [Man hört lautes Hundegebell und Stimmengewirr. Von rechts kommen eine Anzahl Rodel von Hunden gezogen und dicht bepackt auf die Szene. Mehrere Männer, die ganz vermummt sind, kommen auf Ski mit langen Stöcken und ganz vereisten Gewändern. Zwei Männer führen einen Kranken, der sich sichtlich kaum mehr auf den Beinen halten kann und den Hasselstein sofort auf einen Schlafsack niederlegen hilft, während Scharfen einen Medizinkasten bringt und etwas in einem Glase zusammenmischt. Norry und Roden zuerst, später Hasselstein, helfen die Hunde abkoppeln und abführen, nehmen die Schlittenverpackung herab und Norry füllt gleich viele Schüsseln mit dampfender Suppe.] =Hasselstein= [indem er eifrig mithilft]. Dem Himmel sei Dank, daß Ihr endlich zurückgekehrt! Wir gaben uns schon den allerernstesten Befürchtungen hin, denn die lange Polarnacht mit ihren Schrecken steht dicht vor der Türe. =Kapper= [ernst, indem er die Ski abschnallt]. Ihre Befürchtungen, Hasselstein, hätten sich bei einem Haar bewahrheitet. Die meisten von uns sind mehr oder weniger schneeblind geworden, und trotz der Mitternachtssonne und des steigenden Thermometers hat Meroff die Zehen beider Füße eingebüßt, denn das lange Marschieren im auftauenden Schnee, verbunden mit dem plötzlichen Fallen der Temperatur so oft ein Schneesturm im Anzug war -- alles dies hat die Mühsal unserer Entdeckungsreise sehr erhöht. Ich fürchte, Meroff wird beide Füße verlieren. =Johansson= [ernst]. Der Arme wird seine Heimat nicht wiedersehen -- es geht schnell abwärts mit ihm. =Hasselstein= [die anderen unterstützend]. Erreichten Sie den Beardmore Gletscher? =Granelli= [lebhaft]. Und ob! Wir machten auch viele wertvolle Aufzeichnungen und hatten großen Vorteil von diesem Ausflug vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, wenn nur beim Rückmarsch die Schwierigkeiten nicht geradezu unübersteiglich geworden wären, erst da -- [er schweigt]. =Johansson= [eifrig]. Die letzten vierzehn Tage waren die allerschlimmsten. Die Lebensmittel gingen zu Ende, mit dem Thranvorrat war es Schluß und was es heißen will mit nassen Füßen ohne etwas wärmendes in den Leib zu bekommen in den Schlafsack zu kriechen, das kennen Sie Hasselstein! Ein Wal war nicht zu erjagen, Meroffs Füße wurden täglich schlimmer, Skorbut war schon im Anzug, die Polarnacht näherte sich mit Riesenschritten. -- Ich glaubte wahrlich nicht Euch alle wiederzusehen, Kameraden. [Alle schütteln einander warm die Hände und rufen durcheinander.] Willkommen bei uns! Willkommen Freunde, in unserer Mitte! =Hasselstein= [nach einer Pause]. Wie war der Weg im allgemeinen? =Kapper= [kopfschüttelnd]. Die ersten Tagreisen waren so leidlich aber dann -- schauerlich! Wir sanken in der Regel bis zu den Knien in den weichen auftauenden Schnee, konnten uns überhaupt nur Dank der Ski auf der Oberfläche erhalten und bald mußte der eine, bald der andere von uns zurückeilen um den Hunden mit den Rodeln über eine schwere Stelle zu helfen. Drei Tiere sind uns schon eingegangen, zwei weitere mußten wir als Nahrung für die übrigen opfern und an ihrer Stelle selbst den Rodel ziehen. =Johansson= [den letzten Schlitten mit Hilfe der anderen abpackend und die Sachen in die Schneehütte tragend, während die anderen Fremden schon im Zelte auf den Schlafsäcken sitzen und sich die Suppen schmecken lassen, die Norry eifrig ausschenkt]. Oft brauchte es eine halbe Stunde, oft länger, bevor wir des Morgens unser Schuhzeug wieder auf die gefrorenen, hochgeschwollenen Füße zwingen konnten. =Hasselstein= [mitleidig]. Welch Leiden liegen hinter Euch! =Johansson= [abwehrend]. Bah! Wir haben alle unsere Leiden mitzumachen -- wir dort -- Ihr hier. Da ist die versprochene Beute! [Er reicht Hasselstein einige Vögel.] Zwei Königspinguine, drei Sturmvögel und einen weißen und einen schwarzen Albatroß. Was sagen Sie dazu? =Hasselstein= [ihm warm die Hand schüttelnd]. Großartig! Tausend Dank! Sie sollen einst das Museum Kringhausens zieren. Ich habe auch hier das Leben und Treiben der Pinguine studiert und muß sagen, daß die Damen von Kringhausen selbst nicht neugieriger sind als diese befiederten Bewohner der Antarktis und was das heißt -- =Johansson= [lachend; indem er alle Rodel mit Hilfe Hasselsteins aufeinandertürmt]. Bewahre! Weiß ich's etwa nicht? Ich habe zu meiner Zeit auch einige Erfahrungen mit bezug auf das zarte Geschlecht gesammelt -- was zum Beispiel meine Alte -- Gott hab' sie selig! -- nicht herausgefunden hat -- Nu, lassen wir's gut sein. Man sagt zwar, Wiedersehen macht Freude, aber was mich betrifft, so bitte ich, daß mir diese Freude noch recht lange erspart bleibt. =Vickers= [kommt aus dem Zelt]. Meroff ist in unruhigen Schlummer verfallen -- seine Beine sind bis hinauf geschwollen -- der erste, der uns verläßt. =Hasselstein= [nach kurzer Pause]. Und Sie, alter Freund, können die Augen kaum offen halten. =Vickers= [abweisend]. Oh ich? Ich bin nur schneeblind -- das wird sich bald geben. [Er geht in das Zelt zurück.] [In diesem Augenblick kommt ein entsetzlicher Windstoß dahergefahren. Das Brausen des Meeres ist unheimlich gewachsen, das Eis knarrt, der Sturm heult, so daß man keinen anderen Laut hören kann, kleinere Eisstücke rollen über die Szene, der Schnee wird aufgewirbelt.] =Hasselstein= [zieht so schnell er nur kann eine zweite Hülle über das Zelt, Norry hilft ihm]. Schnell, schnell! Der Schneesturm naht. [Er bindet die Hülle fest.] =Norry= [lebhaft]. Ins Zelt, ins Zelt! [Während Hasselstein die letzte Hand an das Zelt legt, hat Norry die Tür des Zeltes zugezogen. Die ganze Szene ist dunkel, der Sturm heult graueneinflößend und während der Vorhang langsam sinkt, braust eine ungeheure Schneewolke über die Bühne hin, so daß alles im Nu weiß erscheint.] Ende des ersten Aktes. 2. Akt. [Ein elegant ausgestattetes Zimmer. In der Mitte der Szene ein Spieltisch, an dem vier ältere Damen sitzen. Zwischen zwei und zwei Spielern steht ein stummer Diener mit Liqueurgläsern und Backwerk. Links und rechts eine Tür. An der Wand im Hintergrund eine Kredenz mit Obst und anderen Dingen. In den Ecken hübsche Figuren aus Gyps, an der Wand hängt ein Vogelhaus und kleine Tischchen mit Stühlen stehen da und dort. Bilder und Spiegel an den Wänden. Alles spricht von Wohlstand, aber alles hat ein kleinstädtisches Gepräge.] 1. Auftritt. =Frau Zungrapp= [lebhaft]. Wer spielt aus? =Frau Krickenfeld= [lächelnd]. Immer die, die fragt! =Zungrapp.= Will' mal sehn, wer mein Partner ist. =Frau Hasselstein= [zerstreut]. Was wurde gerufen? =Zungrapp= [lebhaft]. Herz! Bitte nur nicht in meine Karte zu schauen! =Krickenfeld= [zieht den Wurf heftig an sich und küßt sich die Fingerspitzen]. Gott sei Dank, der König wäre glücklich zuhause. Ich fühle mich nie ruhig, bevor ich ihn geborgen weiß. =Zungrapp= [besorgt das Haupt schüttelnd]. Ob ich meinen Pagat wohl werde retten können? =Krickenfeld= [nachdenklich]. Wo nur der Mond steckt? [Nach kurzer Pause.] Also der Herr Sohn ist wieder in Kringhausen? =Hasselstein= [froh]. Ja, Hans Georg ist vor einer Woche angekommen. Man hat ihn festlich empfangen und in der »Gelben Schwalbe« wurde ihm zu Ehren sogar ein Festessen veranstaltet. Zwei Universitätsprofessoren waren anwesend und außerdem der gesamte Lehrkörper des hiesigen Gymnasiums -- auch andere Honoratioren Kringhausens -- =Krickenfeld= [die Hand ausstreckend]. Mir gehört der Stich, bitte! -- Ja, ja, es muß schön sein einen so berühmten Sohn zu besitzen, der am Südpol gewesen, allerlei Meerungeheuer und ähnliche Dinge gesehen hat -- zwar =praktischen= Wert -- [sie schweigt]. =Zungrapp= [scharf]. Die heutige Jugend, liebste Peleponesia, denkt nicht an die praktische Seite des Lebens: So lange nur ein Mamatscherl die Moneten gibt -- [jubelnd] Pagat ultimo! meine Damen. [Sie rafft den Stich an sich.] =Die drei anderen Damen.= Waaaaaaaas? =Hasselstein= [ärgerlich]. Natürlich: So geht es immer. Hätten Sie, beste Frau Inspektor, besser achtgegeben, so hätten wir jetzt nicht den Pagat verloren. =Holzheim= [sich eifrig verteidigend]. Mit nichten, Frau Oberst, wenn Sie nicht den König gleich zu Anfang des Spieles so leichtsinnig ausgespielt hätten, so -- =Hasselstein= [noch gereizter]. Sie hätten eben kleine Tarockspiele nicht mit dem Mond und dem Zwanziger stechen sollen, da hätten Sie später auch noch -- =Holzheim= [mit lauter Stimme, heftig gestikulierend]. Wenn Tarock ausgespielt wurden, mußte ich den Mond hergeben -- ich hatte ja nur vier Tarock -- =Hasselstein= [noch lauter]. Was sagte ich -- Sie spielen und haben kein Blatt -- =Zungrapp= [die beiden überschreiend]. Bitte, meine Damen, dreißig Heller per Person -- =Holzheim= und =Hasselstein= [zugleich]. Wie dreißig Heller? Nicht möglich, der Pagat kostet bloß -- =Zungrapp= [sich stolz zurücklehnend mit Nachdruck]. Pagat ultimo!!!! =Hasselstein= [zahlt in Spielmarken aus]. Bitte, bitte, da sind schon die dreißig Heller. In Zukunft aber, beste Frau Inspektor, bitte mich nicht zu rufen, wenn Sie keine Karten haben. Man darf seinen Partner nicht auf diese Weise ins Verderben locken. =Holzheim= [lebhaft]. Wie? Ich habe den Mond und den Zwanziger und -- =Hasselstein= [ihre Rede unterbrechend]. Und nichts weiter gehabt. Wir mußten verlieren! =Zungrapp= [während die andern lachen]. Bitte zu geben, Frau Oberst, -- nächstes Spiel. [Es tritt eine momentane Stille ein, während alle die erhaltenen Karten prüfen.] =Hasselstein= [mit Siegermiene]. Ich spiele einen Solo! Was sagen die Damen? =Alle.= Passe! Unterm Tisch! Gut! =Hasselstein= [betrachtet ihren Kauf]. Den Achten! [Das Spiel beginnt.] =Zungrapp= [seufzend]. Ja, was du früher sagtest, meine teure Peleponesia, ist allerdings richtig. Praktischen Wert hat so eine Südpolfahrt wohl nicht. Das kostet nur Geld -- viel Geld -- es bringt zwar Ehren ein, aber nicht wahr, liebe Frau Oberst, mit Ehren allein kann man keinen Haushalt gründen und bei einem jungen Manne handelt es sich vorallem darum schnell sein eigenes Nest bauen zu können. =Hasselstein= [seufzend]. Ach ja! Aber daran will Hans Georg nicht denken. Er hat eben seine eigene Anschauungen! =Krickenfeld= [ihre Karten faltend und entfaltend]. Man sagt -- aber -- hm, mich betrifft es ja nicht! Ich gehöre nicht zu jenen, die ein Gerücht von Haus zu Haus tragen -- freilich, die Ohren verstopfen gegen das, wovon die ganze Stadt spricht, kann kein Mensch. Nein, ich habe aber wirklich ein elendes Blatt! Nicht einen einzigen Stecher! =Holzheim= [lächelt vergnügt]. Meine Damen, ich sage die »Trull« an. [Mit wichtiger Stimme.] Auch mir sind gewisse Gerüchte zu Ohren gekommen, aber -- =Krickenfeld= [ihre Karten betrachtend]. Du meine Güte, Frau Oberst, ich habe nicht einen Stecher -- wie -- =Zungrapp= [streng]. Nichts aus der Schule plaudern -- [Sie nickt mehrmals mit dem Haupte.] Ach, teure Peleponesia, es ist ein altes Sprüchwort: Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch einmal an die Sonnen. =Krickenfeld= [rasch]. Soll ich oder soll ich nicht? Ich wag's: Ich sage König ultimo an. =Alle.= Gut, gut! =Zungrapp= [schüttelt mißbilligend das Haupt]. Und vor kaum einer Minute sagst du, daß du keinen Stecher hast. Ach, Peleponesia: [Sie droht ihr mit dem Finger.] Ja, ja, man erzählt sich, doch -- uns geht alles das nicht an. Pardon: War das eben der Sechzehner, der ausgespielt wurde? Gut: Den kann ich gerade noch überstechen. =Holzheim= [ärgerlich zu Krickenfeld]. Jetzt haben Sie zu niedrig ausgespielt, beste Frau Kommerzienrat: Auf diese Weise werden wir das Spiel verlieren. =Hasselstein= [lachend]. Tut gar nichts, liebe Frau Inspektor, da gewinnen wir es. [Man spielt eifrig.] Was sagt man eigentlich? Sollte jemand etwas Nachteiliges über meinen Sohn geäußert haben? =Zungrapp= [bewegt die Karten]. So ein berühmter Gelehrter: -- ein Südpolforscher: -- indessen -- mein Gott, die Menschen sind einmal neidisch -- böswillig -- =Krickenfeld= [seufzt tief auf]. Ach, verehrteste Freundin, die Welt ist voller Tücke: Besonders wenn es sich um eine hervorragende Persönlichkeit handelt -- =Holzheim= [triumphierend]. Der Mond geht nach Hause, der Mond geht nach Hause: Was man sagt? Ach, liebste Frau Oberst, nur unsere aufrichtige Freundschaft für Sie vermag -- =Alle drei Damen= [die Karten wie zum Schwur erhebend] unsere bewährte vieljährige Freundschaft -- =Holzheim= [jubelnd]. Der Pagat: Dem Himmel sei Dank: Ja, und unser warmes Interesse für Ihren berühmten Herrn Sohn -- =Krickenfeld= [zur Decke aufsehend]. -- den wir schon liebten als er noch in Röckchen herumging -- =Zungrapp= [mit süßer Stimme]. -- den wir mit innigsten Interesse aufwachsen sahen -- =Holzheim= [einen Wurf an sich raffend]. -- vermag uns eine leise -- eine ganz leise -- die allergeringste Andeutung zu machen, daß -- daß -- =Zungrapp.= -- daß -- es fällt uns allen schwer eine so äußerst delikate Frage zu berühren -- =Krickenfeld= [eifrig]. Ja, man hat wirklich die Unverschämtheit zu behaupten -- natürlich, nur eine Verleumdung -- die Welt ist leider so verderbt -- =Holzheim= [seufzend]. Ja, verehrteste Frau Oberst, man ist der absurden Anschauung -- =Krickenfeld= [sich in die Brust werfend]. Das heißt unwissende Leute -- wir haben nie daran geglaubt -- =Holzheim= [eifrig]. -- böswillige Zungen -- =Zungrapp= [verächtlich]. -- Menschen, die immer auf der Lauer liegen irgend einen Skandal zu entdecken -- =Hasselstein= [die Augenbrauen hochziehend]. Einen Skandal? Meinen Sohn betreffend? =Holzheim= [sich zurücklehnend und das Spiel unterbrechend]. Beste Frau Oberst, wir sind eben noch nicht so modern -- so ultramodern wie der Herr Sohn -- In Kringhausen hält man sich noch an die strengen Sittenbegriffe unserer eigenen Jugendzeit, das ist heutzutage natürlich veraltet -- ich weiß -- aber Leute finden es hier eben -- ja, überraschend, hochgeschätzte Freundin -- daß -- =Zungrapp.= -- daß Ihr berühmter -- Ihr trefflicher Sohn -- daran denken könnte -- =Krickenfeld.= -- daß er sich dazu bestimmen ließe -- =Holzheim.= -- imstande sein würde -- [plötzlich jubelnd] Gewonnen, -- gewonnen: Wir haben die »Trull«, wir haben Pagat ultimo! =Krickenfeld= [sieht durch ihre Karten]. Wir haben zwei Stiche und einen König. [Großer Lärm, Durcheinanderrufen, Ausbezahlen.] =Hasselstein= [nach einer Pause, scharf]. Wozu könnte Hans Georg sich entschließen? =Holzheim= [seufzt tief auf, die anderen tun desgleichen]. Ach, beste Freundin, die liberalen Anschauungen des Herren Sohnes geben leider zu allerlei unbegründetem -- ich bin fest überzeugt ganz unbegründetem Gerede Anlaß -- man meint, er könnte sich hinreißen lassen -- ja, viele Leute gehen dahin zu behaupten es sei eine schon beschlossene Sache -- dieses -- Mädchen -- =Hasselstein= [finster]. Welches Mädchen? Ich verstehe nicht -- =Krickenfeld.= Bitte anzusagen -- was ist gerufen? Ja, es handelt sich um -- meine Lippen sträuben sich den Namen dieser unglücklichen Gefallenen auszusprechen -- kurz, um Berta Heller! =Holzheim.= Einen Dreier mit Herz: Was liegt im Talon? Ja, eben -- man -- böse Zungen -- gehen so weit anzudeuten, daß der Herr Sohn noch immer -- man erinnert sich an seine frühere Verblendung -- die Absicht haben soll an eine Verbindung mit -- =Zungrapp.= Es liegt wunderschön: Der Mond und zwei Könige! =Krickenfeld= [munter]. Und nicht einmal der Gerufene -- das nenne ich Glück! =Holzheim.= Das lasse ich mir gefallen: Ach, beste Frau Oberst, so ist es. Man meint wirklich allgemein -- =Zungrapp= [mit Pathos]. -- die ganze Stadt spricht davon -- =Krickenfeld.= -- daß Berta Heller die Schwiegertochter -- =Hasselstein= [entschieden]. Niemals! Geschwätz der Leute meine Damen, -- mein Sohn kann und wird nie vergessen, was er dem Namen seines toten Vaters schuldet. =Zungrapp= [süß lächelnd und einschmeichelnd]. Und dem seiner hochgeachteten allseitig geschätzten Mutter! =Hasselstein= [rafft erbittert ihren Wurf zusammen]. Er würde es nie wagen mir eine solche Schwiegertochter in das Haus zu bringen -- meine Ansicht kennt er -- =Alle drei= [lebhaft beteuernd]. Natürlich nicht! Ganz und gar ausgeschlossen! Gewiß nicht! =Krickenfeld.= Das habe ich den Verleumdern auch gleich gesagt. =Zungrapp.= Wenn junge Leute in die Welt hinausgekommen, so ist ihnen daheim nichts mehr recht [sie gibt sich einen Klaps auf den Mund]. Es ist nicht mein Sohn -- =Holzheim.= Der Herr Sohn hat eben so sehr moderne Anschauungen -- ein Gelehrter -- natürlich -- aber -- [sie seufzt]. =Krickenfeld= [lebhaft]. Wir schätzten die vielen Vorzüge des Herrn Professors sehr hoch -- =Holzheim.= Mein Pagat! O Jammer, er ist fort, er ist dahin! Wir sind eitel Bewunderung seiner -- seiner -- Tugenden -- nur -- nur -- =Zungrapp.= Wie? Ist der Mond noch nicht ausgespielt? =Hasselstein.= Das kommt davon, weil Sie nie die Tarock zählen! Sie wissen nie, was ausgespielt wurde, Frau Professor -- =Zungrapp= [gekränkt]. Ich zähle sie immer, aber wenn einmal fünfzehn oder sechzehn draußen sind -- so -- so verliere ich manchmal den Faden. Trotzdem sagt Hofrat Glaubig immer, daß ich ganz vortrefflich -- =Krickenfeld= [die Hände zusammenschlagend]. Wie, lebt dieser wandelnde Leichnam noch? Dem zahlt die Regierung seine Pension sicher schon seit vierzig Jahren. =Holzheim.= Und seine Tochter? Die hat vorzeiten trotz ihres kranken Beinleins auch manche Seitensprünge gemacht. Ha, ha, ha! =Zungrapp.= Jetzt muß sich dieses Gerippe auch den Fünfzigern nähern. Eine Vogelscheuche erster Klasse. =Krickenfeld= [entsetzt]. Gestochen? Mein König? Wie ist denn das möglich? =Hasselstein= [trocken]. Weil erst neunzehn Tarock ausgespielt sind. Und was ist aus dem verrückten Sohne geworden? =Zungrapp= [wichtig]. Oh der? Der hat auch so manches Vergehen auf dem Kerbholz -- er sollte wohl eigentlich in das Gefängnis geworfen werden, aber des alten Herrn wegen hat man ihn lieber irrsinnig erklärt. =Krickenfeld= [verzweifelt]. Jetzt ist unser König auch verloren! Frau Oberst tragen daran die Schuld! =Hasselstein= [heftig]. Ich?? Ich kann die Tarock zählen -- Gottlob [großer Lärm, alle schreien durcheinander]. =Holzheim= [erregt]. Sie hätten nicht Herz ausspielen sollen, als -- =Zungrapp= [gibt]. Bitte, nur schöne Blätter, meine Herrschaften! =Krickenfeld= [ihre Karten musternd]. Lassen Sie sich Ihre Handerl vergolden für die elendigen Stecher, die Sie mir zugeschoben haben. =Holzheim= [lebhaft]. Wird etwas angesagt? =Zungrapp= [legt die Karten zusammen]. Ich sitze unterm Tisch. =Krickenfeld.= Passe. =Hasselstein.= Spielt niemand? Da wage ich einen Zweier. Treff! =Zungrapp= [lachend]. Wie kühn unsere Frau Oberst plötzlich geworden ist. Da hat sie gewiß in unsere Blätter geschaut. =Hasselstein= [tut entrüstet]. Aber meine Damen [alle lachen]. =Holzheim.= Und ich sage alle Könige an -- hoffentlich bringe ich sie glücklich wieder nach Hause [alle spielen eifrig]. =Hasselstein= [mit einer Handbewegung]. Bitte sich doch zu bedienen, meine verehrten Damen. Ich glaube der Liqueur ist nicht schlecht -- mein Sohn hat ihn von der Reise mitgebracht. =Alle.= Aaaaaah! [sie kosten und nicken hierauf befriedigend]. Vortrefflich! ~Quel goût! Excellent!~ =Holzheim= [sich bedienend]. Ich muß einen Anisbogen nehmen. Die gute Frau Oberst macht wahre Meisterstücke an Geschmack. =Zungrapp= [einschmeichelnd]. Nein, diese Dattelbusserl sind meine Lieblinge. Meine Zähne erlauben mir nicht mehr den Genuß von hartem Backwerk. Was für Zukunftspläne hat der Herr Sohn? =Krickenfeld= [leise zu Holzheim]. Sie hat nicht einen eigenen Zahn im Munde -- lauter Kuckuckseier! =Holzheim= [vertraulich]. Ich habe drei falsche -- sonst nur meine eigenen -- ich bin aber auch um zehn Jahre jünger. =Zungrapp= [unterdessen leise zu Hasselstein]. Wie schrecklich alt und verfallen die gute Holzheim aussieht und doch bin ich selbst nur drei Jahre jünger [laut]. Heutzutage weihen uns die Kinder nicht mehr in ihre Pläne ein -- die Eltern um Rat zu fragen ist nicht mehr Sitte -- aber ich frage, weil wir den jungen Herrn eben wie unser eigenes Kind -- =Alle= [im Chor]. Wie unser eigenes Kind ansehen. [»Ich muß noch etwas nehmen« -- »ich auch« schwirrt es durcheinander. Alle essen und trinken eifrig.] =Hasselstein.= Es freut mich, wenn es den Damen schmeckt. Mein Sohn weiß das Wohlwollen der Damen zu schätzen und ich nicht minder. Was seine Zukunft betrifft, so wäre es mein Wunsch, daß er die Stelle als Professor der Zoologie am hiesigen Gymnasium annehmen würde. Indessen spricht man selbst von einer Oeffnung an der Universität in -- =Krickenfeld=. Wirklich? Ach, da wäre eine Heirat mit -- mit Berta ein Unglück für ihn, denn niemand könnte mit ihm in gesellschaftliche Beziehungen treten, weder hier noch in seiner neuen Heimat. Man kann auch schlechterdings die Erziehung der aufwachsenden Jugend nicht einem Manne anvertrauen, der sich über die herrschenden Grundsätze hinwegsetzt. Ach, teuerste Frau Oberst, machen Sie Ihren mütterlichen Einfluß geltend -- halten Sie ihn vor diesem Abgrund zurück! Ein Mädchen, das nun einmal das Unglück gehabt hat -- ja, man kann die Welt nicht auf den Kopf stellen -- ist eben verloren! =Hasselstein= [ernst]. Mein Sohn schließt gewiß nie eine Ehe mit einer ihm unwürdigen Frau. Leider will er jedoch keine bindende Stellung -- vorderhand wenigstens noch nicht -- annehmen. =Holzheim= [trinkt langsam]. Dieser Liqueur ist in der Tat vorzüglich. Und erst dieses Backwerk! Unsere liebe Frau Oberst gehört eben noch der alten Schule an, wo eine Hausfrau und Gattin vorallem kochen können mußte. In meinem Elternhause, wo täglich Gäste eintrafen, wo das Wild und Geflügel -- =Zungrapp= [lebhaft]. Beste Frau Inspektor, wenn Sie gar in meinem Elternhause gewesen wären, wo Fürsten und Prinzen -- =Krickenfeld= [macht eine Handbewegung]. Alles das ist nichts gegen den Aufwand, die Herrlichkeiten an Speise und Trank meines seligen Onkels des Erzbischofs -- =Holzheim= [sie erregt unterbrechend]. So viele Backhühner, wie bei uns hat man im ganzen Bezirk nicht gegessen und unsere Kirschpoganzen -- =Zungrapp= [sie unterbrechend]. In unserem Elternhause hatten wir täglich wenigstens vier verschiedene Weingattungen auf dem Tisch und zu den Festtagen -- =Krickenfeld= [mit vor Erregung zitternder Stimme]. Bei meinem seligen Onkel, dem Erzbischof -- =Holzheim.= Die Gänse wurden in meinem Elternhause so gut gefüttert wie nirgends sonst im Lande und was die Weingattungen betrifft -- =Krickenfeld= [einfallend]. Mein seliger Onkel der Erzbischof ließ den Champagner immer direkt von Frankreich kommen -- =Zungrapp= [lebhaft]. Ans Spiel, meine Damen. Ja, zu der Zeit wurde die Kochkunst viel höher geschätzt als heute. Jedes Mädchen selbst aus dem vornehmsten Hause, mußte kochen können. Sehen Sie einmal mich an -- =Krickenfeld= [einfallend]. Mein seliger Onkel, der Erzbischof, hielt strenge darauf, daß ich -- =Holzheim.= Unser Elternhaus genoß in der Hinsicht einen solchen Ruf, daß die Freier scharenweise zu unseren Eltern kamen. Damals war man noch nicht so modern, das man sich selbst einen Mann wählte -- das taten die Eltern. =Zungrapp= [bitter]. Welches Mädchen wird heute angehalten in der Küche mitzuhelfen -- alles will nur studieren -- will modern sein. =Hasselstein= [spielend]. Ja, leider! Heutzutage muß ein Mädchen dagegen Tennisspielen, Rollschuhlaufen und ähnliche Sachen können, muß allerlei unnützes Zeug lernen und will dann, ganz wie ein Mann, ins Leben hinaus. =Zungrapp= [langsam nickend]. Wobei sich mancher Falter die Flügel versengt. Das Heim geht verloren, die Heiraten nehmen ab und Kinder sind schon ganz und gar unmodern. Ich bitte, wie soll ein Mann auch Lust und vor allem die Mittel haben ein Mädchen von heute zu heiraten? Hunderterlei Ansprüche, keine Kenntnisse, keine Pflichten, wenigstens zwei Dienstboten, eine ganze Flucht von Zimmern, jeden Sommer eine Badereise, jede Saison mindestens drei Hüte -- =Krickenfeld= [mit Nachdruck]. Und keine Kinder, -- nicht zu vergessen! Hat eine Frau einmal eins oder zwei, so muß sie schon ins Bad, braucht eine Kur, muß ein halbes Jahr unter ärztlicher Behandlung stehen und setzt eine Märtyrermiene auf. Sehen Sie mich an! Ich hatte zwölf lebende und vier tote Kinder und ich bin nie länger als vierzehn Tage im Bette gelegen. =Holzheim= [die Karten zusammenraffend]. Gewonnen, gewonnen Frau Oberst! 25 Heller zu bezahlen. [Großer Lärm, Meinungsverschiedenheiten, Auszahlung.] =Krickenfeld.= Mein seliger Onkel, der Erzbischof, pflegte immer zu sagen: Frauen und Oefen gehören in das Haus. =Zungrapp.= Herz gerufen? Heute hat man die Oefen und die Frauen -- außer dem Hause. =Krickenfeld= [süßlich]. Um auf das herzige Bürschchen -- Pardon! Pardon! -- den berühmten Südpolforscher zurückzukommen -- so wissen Frau Oberst, daß wir die mütterlichsten Gefühle für ihn hegen -- so ein Frauenherz ist einmal gegen alle von Liebe erfüllt -- und deshalb erlauben wir uns zu sagen, daß ein junger Mann -- und trotz seiner hervorragenden Eigenschaften ist der liebe Herr Professor noch so jung -- manchmal des Rates bedarf. In höchster Erregung. Wie? Ist der Mond verloren? =Zungrapp= [gelassen]. Schon vor drei Stichen führte ich ihn nachhause. Warum will der Herr Sohn die Stelle nicht annehmen? =Hasselstein= [mißmutig]. Er will zuerst ein Buch herausgeben, das die Beschreibung seiner Fahrt und der von ihm gemachten Entdeckungen enthält. =Frau Zungrapp.= Ein Buch!!! Soooo interessant -- aber -- glaubt der Herr Sohn finanziellen Nutzen daraus ziehen zu können? Ich erlaube mir nur diese Frage, beste Frau Oberst, will jedoch nicht einen einzigen Augenblick andeuten -- =Krickenfeld= [süßlich]. Wir zweifeln nicht, daß das Werk vortrefflich geschrieben sein wird, aber wir meinen nur, daß ein wissenschaftliches Werk in Kringhausen -- Mein Gott, solche Arbeiten liest eben kein Mensch [sie schlägt sich auf den Mund] -- ich will sagen, so eine Arbeit wird nur von auserlesenen Geistern gelesen -- in Bibliotheken und so weiter -- aber nicht oft gekauft. =Holzheim= [achselzuckend]. Der Büchermarkt ist eben so überfüllt! =Hasselstein= [spitz]. Nicht mit Werken über den Südpol und die Antarktis überhaupt. =Alle= [sehr einschmeichelnd]. Beste Frau Oberst! Teuerste Freundin! =Krickenfeld= [ihre Hand drückend]. Bitte unsere Anmerkungen nicht mißzuverstehen. In uns hat der Herr Sohn seine eifrigsten Bewundererinnen, aber wir sind eben der Ansicht, daß -- daß die Verfasserlaufbahn keine sichere Versorgung für einen heiratsfähigen Mann ist -- indessen hat ja das Mamatscherl -- =Zungrapp= [tröstend]. Schon aus Höflichkeit für die Verwandten des Herrn Professors wird man einige Exemplare kaufen -- =Hasselstein= [spitz]. Dessen bedarf es nicht. [Eine kurze, peinliche Pause entsteht. Das Spiel wird wieder aufgenommen.] 2. Auftritt. [Der junge Hasselstein tritt ein.] =Alle Damen= [strecken ihm lebhaft die Hände entgegen]. Ach, da kommt unser lieber, unser berühmter Südpolforscher! Willkommen, Willkommen! =Hans Georg= [küßt jeder der Damen die Hand]. Ich bitte sich nicht stören zu lassen. =Krickenfeld= [süß]. Lieber Herr Professor, wer kann von einer Störung sprechen -- wir sind entzückt Sie wiederzusehen. [Es wird mit viel Lärm ausgezahlt.] =Holzheim.= Von einer Störung kann hier gar nicht die Rede sein, wir haben uns ja schon so sehr auf das Wiedersehen gefreut. =Zungrapp= [ihm mit dem Finger drohend]. Bei mir ist mein alter Freund noch nicht gewesen! =Hans Georg= [während die Damen aufbrechen]. Ich werde nicht verfehlen -- ich war nur so überaus in Anspruch genommen. =Zungrapp= [lächelnd]. Ich kann es mir wohl denken -- alle Professoren und -- man hat immer auch andere Bekanntschaften -- =Krickenfeld= [sie beim Arm fassend]. Liebe Emilie, die Frau Oberst muß sich danach sehnen mit Ihrem gefeierten Sohne ein wenig zu plaudern. Da sind wir überflüssig. Komm! =Holzheim= [während ihr Hans Georg in den Mantel hilft]. Ach so ein in Liebe pochendes Mutterherz! Aber wie hübsch er geworden ist! [Ihn von allen Seiten betrachtend, einschmeichelnd.] Darf ich Ihnen als alte, gute Freundin einen Kuß geben? =Zungrapp= [ihn betrachtend, während Fr. Holzheim ihn küßt]. Und was für einen schmucken Schnurrbart er hat! Er ist nicht umsonst am Südpol gewesen! Das nächste Mal aber, beste Frau Oberst, bringe ich mein bescheidenes Abendbrot mit und werde dann Ihren hochinteressanten Sohn mit Fragen bestürmen. -- Sie ahnen ja nicht, welches tiefe Interesse mich durchglüht, Sie lieber Herr Professor, von Ihnen die nähere Beschreibung der Paradiesvögel zu erhalten, die am Südpol -- =Hans Georg= [trocken]. Paradiesvögel gibt es leider keine in der Antarktis, meine Gnädigste! =Zungrapp= [verwundert]. Nicht? Was Sie nicht sagen? Ich meine jene Vögel, die immer auf zwei Beinen gehen. =Hans Georg= [leise]. Ja, auf vier können sie nicht leicht gehen. [Laut.] Gnädige Frau meinen wohl -- =Krickenfeld= [lebhaft]. -- die antarktischen Pelikane. Von denen habe ich auch gelesen. [Sie knöpft eifrig ihre Handschuhe zu, die anderen Damen haben auch umständlich eine Menge Kleider und Pelzsachen angelegt.] =Hans Georg= [lächelnd]. Gnädigste sprechen gewiß von den Pinguinen. =Krickenfeld= [triumphierend]. Siehst du, liebste Emilie, ich hatte es erraten -- mit »P« wenigstens fängt auch mein Wort an. =Holzheim= [neugierig]. Nun behalten wir Sie wohl in in unserem schönen Kringhausen, nicht wahr, Herr Professor! Beim Mamatscherl ist's eben am besten! =Hans Georg= [die Stirne runzelnd]. Ich hoffe bleibend bei Mama verweilen zu können -- indessen hängt dies noch von einigen anderen Umständen ab. =Krickenfeld= [mahnend]. Führen Sie nur auch bald ein nettes Frauchen heim. Ach, Sie Herzenstöter! [Sie droht ihm lächelnd mit dem Finger.] Ich kenne mehr als ein Mädchen, das nur von Ihnen träumt. Ha, ha, ha! =Hans Georg= [ernst]. Gnädige Frau belieben zu scherzen -- ich kenne nur eins! =Holzheim= [die Hand auf seinen Arm legend]. Wählen Sie sich nur ein häusliches, wohlerzogenes -- =Zungrapp= [mit Nachdruck]. -- ein Mädchen mit tadellosem Rufe -- das ist immer Hauptbedingung, hier, wo man eben in mancher Beziehung noch so unmodern ist. =Krickenfeld= [lebhaft]. Etwas Mitgift ist auch ein sehr wünschenswerter Faktor -- =Zungrapp= [abwehrend]. Letzteres spielt bei unserem Jungchen [schelmisch] Pardon! Pardon! so darf man eine angehende Berühmtheit wohl nicht nennen -- =Hans Georg= [verbeugt sich kalt]. Bitte sehr, gnädige Frau! [Alle Damen reichen nun zuerst Frau Hasselstein und hierauf ihrem Sohne die Hand, die er küßt. Abschiedsworte fliegen durcheinander, ein großer Lärm entsteht. Mutter und Sohn begleiten die Gäste bis zur Tür zur Rechten.] =Krickenfeld= [zu Hans Georg]. Stets willkommen bei mir, Herr Professor! =Zungrapp= [lächelnd]. Nur auf baldige Brautschau ausgegangen! Ein junger Mann braucht ein Heim. =Holzheim= [ruft von der Schwelle zurück]. Und nur die Warnungen der lieben Mama hübsch beherzigt! 3. Auftritt. [Mutter und Sohn allein.] =Hans Georg= [führt seine Mutter zu einem Lehnstuhl zur Linken, legt einen Polster für sie zurecht, schiebt einen kleinen Fußstuhl unter die Füße und bleibt dann, gegen die Kredenz im Hintergrund gelehnt stehen.] Seit meiner Heimkehr ist es mir noch nicht gelungen ein einziges trauliches Plauderstündchen mit dir zu halten und dennoch habe ich so vieles auf dem Herzen, das alles bald besprochen werden muß. =Hasselstein= [mit Stolz auf den hübschen jungen Mann blickend]. Sprich, mein Kind, ich bin begierig deine Pläne zu hören! =Hans Georg= [ernst]. Mutter! Es handelt sich um meine ganze Zukunft, um mein Glück! Als ich vor mehr als zwei Jahren der Heimat den Rücken kehrte, so geschah es, wie du dich erinnern wirst in zweiter Linie um mein Wissen zu vergrößern, Abenteuer zu bestehen, neue Entdeckungen zu machen -- Ich wagte mein Leben in unerforschten, unwirtlichen Gegenden -- =Hasselstein= [erregt]. Welche Sorge habe ich um dich, liebster Hans ausgestanden, wieviel Tränen -- =Hans Georg= [ernst]. Ich weiß es, Mama! Ich habe oft gewünscht, daß ich dir alle diese Leiden und Sorgen hätte ersparen können, aber eine Trennung war notwendig -- [leiser] -- für uns beide. Ich zog aus um neue Horizonte zu finden und dadurch auch neue, reinere, nachsichtigere Anschauungen zu gewinnen, um dir, liebes Mutterl, Zeit zu geben die Liebe zu deinem Sohne auf die Probe zu stellen, um dich in den Stand zu setzen dich allmählich von der Wahrheit meiner Worte mit bezug auf eine mir teure Person zu überzeugen und um einst heimkehren zu können in ein Heim, von denen die Schatten engherziger Beurteilung gewichen, -- gewichen, auf daß Nachsicht, Liebe und Vertrauen dort ihren Einzug halten. Auch ich habe sowohl mein Herz als auch meine innerste Ueberzeugung zu prüfen Zeit gehabt -- lange, ja lange sind die Stunden der düsteren Polarnacht und oft lag ich überlegend, prüfend, erwägend im Schlafsack, wenn der süße, traum- und sorgenlose Schlummer sich lange schon auf meine glücklicheren Kameraden gesenkt hatte. Ich prüfte mich, Mutter, und weiß, daß mein Entschluß unwiderruflich, daß Berta für meine Zukunft die beste Gefährtin, zu meinem Lebensglücke unerläßlich ist. Wie vor zwei Jahren bitte ich dich heute: Lass' mich sie, die mir schon seit Jahren teuer, zu dir bringen -- finde statt eines Kindes =zwei=! [Weich.] Zwei die dich lieben, zwei die für dich sorgen, zwei die alles aufbieten werden dir dein Alter zu verschönen, deinen Lebensabend friedvoll und heiter zu gestalten! =Hasselstein= [erregt]. Ach, Hans Georg! Nach all meinen Bitten -- =Hans Georg= [ernst nähertretend]. Es handelt sich um mein =Glück=, Mutter! =Hasselstein= [seufzend]. Du weißt, daß ich stets nur an dein Wohl, dein Bestes denke! =Hans Georg= [weich]. Ich weiß es Mütterchen! Aber du darfst nicht vergessen, daß die Zeiten sich ändern, daß die Anschauungen der heutigen Jugend notwendigerweise von denen, die verwichen vor vierzig Jahren geherrscht, verschieden sind. Wir gehen gottlob einer aufgeklärten Epoche entgegen, einer milder denkenden, verständnisvolleren und daher auch einer nachsichtigeren -- =Hasselstein= [heftig, sich aufrichtend]. Recht wird immer Recht, Unrecht eben Unrecht bleiben, Hans Georg! Die heutige Jugend genießt größere -- [sie seufzt und schweigt einen Augenblick] -- vielleicht allzu große Freiheit, aber der Ruf eines Mädchens bleibt heute wie vor vierzig Jahren ihr größter Schatz, der Prüfstein ihres Wertes! =Hans Georg= [bitter]. Selbst wenn sie den Verlust desselben einem gewissenlosen Schurken und nicht eigener Schuld verdankt? =Hasselstein= [das Haupt schüttelnd]. So ein Fall ist ein großes Unglück für das Mädchen -- aber -- in den Augen der Welt -- =Hans Georg= [mit wachsender Erregung]. Und woraus besteht diese »Welt«? Aus einigen beschäftigungslosen Pensionisten, vielen alten Klatschweibern und wenigen gedankenlosen Nachplapperern dieser beiden Kategorien -- Menschen, von denen die erste Gattung das Füttern der Vögel im Stadtparke und die zweite das Amfenstersitzen und Kartenspielen zur Hauptbeschäftigung hat. Und über ihr Urteil kannst du dich deines einzigen Sohnes willen, der nur wie durch ein Wunder überhaupt zurückkehrte, nicht hinwegsetzen? =Hasselstein= [betrübt]. Mein Sohn! Die Welt besteht aus allen jenen Menschen, mit denen wir zusammentreffen, in deren Mitte wir leben müssen. =Hans Georg= [die Brauen hochziehend]. Müssen? Man kann unliebsamen Personen aus dem Wege gehen. =Hasselstein= [müde]. Einigen vielleicht -- doch nicht allen. Der Mensch ist ein Gesellschaftstier und wir sind daher der öffentlichen Meinung unterworfen. =Hans Georg= [erregt auf und abgehend]. Ist es also besser sich selbst unglücklich zu machen als der sogenannten öffentlichen Meinung mutig die Stirne zu bieten? =Hasselstein.= Törichtes Kind! Glaubst du, daß dein Glück von Dauer sein würde, so du der Achtung deiner Mitmenschen beraubt wärest? =Hans Georg= [wirft stolz das Haupt zurück]. Vorurteile muß man eben bekämpfen -- der Anfang mag schwer, der Erfolg ein langsamer sein, aber endlich muß der Sieg errungen werden! =Hasselstein= [ernst]. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer -- ein Fall verändert noch nicht lange die traditionell gewordenen Gesetze von Jahrhunderten, die in Fleisch und Blut des Volkes übergegangen sind. [weich und bittend.] Ach, Hans Georg, lasse dich hier als Gymnasialprofessor nieder, wähle dir ein Mädchen aus gutem Hause und von tadellosem Rufe -- =Hans Georg= [bitter]. -- und führe ein Spießbürgerleben anseiten einer ungeliebten aber in den Augen der guten Kringhäusler hochachtbaren Frau -- danke! =Hasselstein= [weich]. Mein Jungchen! [Nach einer kurzen Pause.] Sag' mir, du mein Leben, mein Stolz, meine Freude, daß du auf deine alte Mutter hören willst, daß du nicht ernstlich daran denkst diese -- diese Berta Heller -- zu heiraten. Beim Andenken deines verstorbenen Vaters beschwöre ich dich -- =Hans Georg= [sinkt vor seiner Mutter in die Knie, stützt sich auf ihren Schoß und blickt zärtlich in ihr Antlitz]. Lassen wir Vater -- er genießt die Ruhe, um die ich ihn oft beneidet habe! [weich und bittend]. Kannst du es wirklich nicht über dich gewinnen den Kringhäuslern um meinetwegen zu trotzen? Hast du, während ich begraben unter Eis und Schnee, fern -- -- ach, so fern von dir -- ein gefahrvolles Leben führte, stets bereit vom Schauplatze irdischer und meist leider so nichtiger Kämpfe zu anderen Sphären berufen zu werden, hast du da nie gedacht, wie es sein würde, wenn ich nie wiederkäme, wenn ein Mitglied der Expedition dir statt des gesunden Sohnes die Nachricht seines frühen Todes zugeführt hätte, wenn du deinen Lebensabend einsam hier verleben müßtest, -- ohne daß die Stimmen froher Enkel in diesen Mauern widerhallen würden -- einzig von den Verwandten, einzig von den geschwätzigen Tarockdamen besucht. Hast du nie dir vorgestellt -- =Hasselstein= [sich die Tränen abtrocknend]. Oh mein Junge, mein geliebter Hans Georg! Wie oft lag ich stundenlang betend vor meinem Lager, wie oft saß ich weinend gerade hier, wenn die Einsamkeit mich allzu unerträglich deuchte, die Sorge um dich, du mein höchster Schatz, mein Herz zusammenkrampfte. Ich glaube, ich wäre wahnsinnig geworden, wenn [Mutter und Sohn halten sich lange umschlungen]. =Hans Georg= [sie liebkosend]. Hast du dir nie vorgestellt, Herzensmütterchen, wie schön unser Zusammenleben sein würde, wenn Berta -- wenn ich und sie dir immer nahe wären und alle deine Wünsche ausführen könnten -- Wünsche, die nur ein Sohn, eine liebende Tochter erfüllen können. Dachtest du nie, wie süß die Enkelchen -- ihre und meine Kinder -- =Hasselstein= [leidenschaftlich]. Deine Kinder -- doch nicht sie ins Haus -- nicht sie zu deiner Frau -- Oh, Hans Georg! =Hans Georg= [müde]. Warum nicht? Weil ein Schurke ohnegleichen es gewagt hatte die kaum sechzehnjährige liebliche Menschenblüte mit Gewalt zu brechen? Sie die sowohl vor wie auch nachher ein tadelloses, mustergültiges Leben führte, sie, die außer ihrer Schönheit ein edles Gemüt, ein warmes Herz, einen regen Geist und künstlerische Anlagen besitzt und die dem kranken Bruder ihr Erbteil abgetreten, ihren Vater jahrelang aufopfernd gepflegt hat, sie, an deren Seite einzig ich mein Glück finden kann? Vor zwei Jahren konnte ich noch zweifeln -- heute nicht mehr. Oft, wenn die Bitterkeit dieses schwache Herz erfüllte und es zu sprengen drohte, da stieg inmitten der Schneewüste das Bild Bertas tröstend vor mir auf und die Wellen des Abscheus gegen alle engherzigen Seelen daheim sanken in nichts zusammen, -- wenn ich mich freute mir einen Namen errungen zu haben, so war es, weil er ihr Schutz gewähren sollte gegen alle -- -- =Hasselstein= [ihn abwehrend unterbrechend]. Sie wird deinen reinen geachteten Namen in den Schmutz ziehen -- das weiße Tuch wird schwarz, wenn es mit Ruß in Berührung kommt, nicht der schwarze Ruß weiß vom Tuche. [Vorwurfsvoll.] Du denkst immer zuerst an sie -- erst hierauf an deine Mutter. =Hans Georg= [ihre Hände ergreifend]. An wen könnte ich mehr denken als an meine Mutter, aber siehst du, Berta ist bereit mir alles zu opfern, mit mir bis an das Ende der Welt zu ziehen, falls wir das Heim, das erhoffte Glück nicht bei dir, nicht in der Heimat finden können. Sie will gerne das schwere Leben eines Forschers in fremden Erdstrichen mit mir teilen, sie opfert mir willig Heimat, die Annehmlichkeiten der civilisierten Länder mit ihren Vergnügungen, ihren reichen Abwechselungen -- und du, ach, du willst deinem Sohn nicht einmal die Kringhäusler und ihre nichtige Meinung aufopfern! =Hasselstein= [besorgt]. Du sprichst von neuen Forschungsfahrten -- wärest du imstande mich wieder zu verlassen, mich neuem Kummer, neuen Sorgen auszusetzen? =Hans Georg= [weich]. Wie gerne, wie innig gerne verbliebe ich bei dir, doch du selbst schickst mich wieder hinaus in die weite Welt. Auch Berta, liebste Mutter, auch ich, wir beide haben gleich dir Anspruch auf Freude, auf Glück, auf eine sonnige Zukunft. Wäre mein Lieb' ein schlechter Charakter, ein leichtsinniges Mädchen, so würde ich nie ein solches Opfer, eine Ueberwindung von dir begehren -- aber einem Vorurteil allein kann ich nicht das Glück und die Zukunft eines ganzen Daseins opfern. [Weich.] Zieh' mit uns, Mutter verlasse Kringhausen und in einem fremden Orte -- unsere Heimat ist groß -- wollen wir ein neues Heim uns gründen. =Hasselstein= [müde]. Gerüchte erreichen auch entfernte Orte. =Hans Georg= [ihre Hände mutlos fallen lassend]. Du liebst die Kringhäusler mehr als deinen Sohn! [Nach düstern Schweigen leise.] Es sei, Mutter, wie schwer mir der Abschied auch wird, wie hart der Schlag, der meine schönsten Hoffnungen vernichtet, mich auch getroffen. [Fester, lauter.] Noch gibt es Völker, wo mein Name, meine Persönlichkeit allein genügen werden, dem Weibe, das ich liebe, das ich zu meiner Lebensgefährtin erwählt habe, Achtung zu verschaffen. [Er entfernt sich mit gesenktem Haupte etwas von Fr. H.] =Hasselstein= [nach einer peinlichen Pause]. Hans Georg! =Hans Georg= [sich müde umwendend]. Mutter! =Hasselstein= [die Hände nach ihm ausstreckend]. Komm' zu mir, mein Kind! [Er sinkt langsam wieder vor der Mutter in die Knie und hält sie umschlungen.] Kannst du nur mit Berta glücklich werden? =Hans Georg= [ernst]. Ja, Mütterchen, mit ihr allein! =Hasselstein= [weich und mit tränenerstickender Stimme indem sie ihn an sich zieht]. Mein Liebling, ich kann eine neue Trennung nicht ertragen, ich kann dich nicht wieder in die Fremde ziehen lassen -- ich muß daher wohl -- [sie küßt ihn]. =Hans Georg= [jubelnd]. Mama! O du mein süßes, o du mein geliebtes Mutterl -- 4. Auftritt. [Die Türe zur Rechten öffnet sich geräuschvoll und die ganze Verwandtschaft stürmt herein. Herr und Frau Pottenmiller, Herr und Frau Brunnick, Herr und Frau Knute, Ladislaja und Hermine Schrift und alle rufen allerlei durcheinander. Große Begrüßung. Alle nehmen endlich Platz und verhältnismäßige Ruhe tritt ein.] =Frau Regierungsrat Pottenmiller= [Hans Georg vom Scheitel bis zur Zehe durch ein Lorgnon musternd]. So, so, da wäre also unser Südpolfahrer. Endlich einmal treffen wir dich daheim -- bist sonst immer vergriffen. =Regierungsrat Pottenmiller.= Willkommen daheim, lieber Neffe. Wie hat es dir am Südpol gefallen? =Frau Direktor Knute.= Wer hat euch das Essen gekocht? =Hans Georg= [lächelnd]. Wir wechselten ab -- jede Woche kam die Reihe an jemand anderen. =Frau Knute= [mit Verachtung in Ton und Geberden]. Kein Wunder, daß du so mager bist! Was verstehen die Männer von der Speisezubereitung?! =Ada Brunnick= [sich zurücklehnend, mit scharfer kreischender Stimme]. Sag' einmal, was hast du für Pläne? Das darf man wohl erfahren, vermute ich. Wohlgemeinte Ratschläge wirst du natürlich wie immer ablehnen. [Sie zuckt mit den Achseln.] =Frau Knute= [in befehlendem Tone]. Jetzt wirst du natürlich nicht albern genug sein die Stelle am hiesigen Gymnasium wieder abzulehnen. Man nennt deinen Namen gerade jetzt häufig in den Blättern und mir wurde privatim gesagt, daß du, mit einiger Protektion sogar an der Universität unserer Kreishauptstadt -- =Ladislaja= [schlägt die Hände zusammen, mit dünner Fistelstimme]. Nein, stellt euch vor, unser kleiner Hansi Universitätsprofessor! =Frau Hasselstein.= Das ist auch mein höchster Wunsch -- am liebsten als Gymnasialprofessor hier, das ist eben eine sichere Versorgung mit späterer Pension -- =Hans Georg= [mit Sarkasmus]. Die langsame Verwandlung eines denkenden Menschen in eine wandelnde Maschine ist selbstverständlich ganz belanglos. =Ada Brunnick= [heftig, mit unruhig blitzenden Augen]. Was habe ich soeben gesagt? Ihm einen Vorschlag zu machen bedeutet so viel wie denselben augenblicklich verworfen zu sehen. Er dünkt sich stets der Klügste. [Spöttisch.] Er denkt wahrscheinlich wieder an eine Forschungsreise. =Hans Georg= [kalt]. Mein Bleiben oder mein Reisen hängt von Umständen ab. =Ladislaja= [salbungsvoll]. Bleibe im Lande und nähre dich redlich! =Hermine= [im gleichen Ton]. Ja, Hans Georg, so haben es unsere Väter gehalten und so ihre Väter vor ihnen und -- =Hans Georg= [verächtlich]. Ja, ja, bis zurück auf Adam und Eva. =Ada Brunnick= [kreischend]. Ganz wie ich voraussetzte! 5. Auftritt. [Ein Stubenmädchen öffnet die Tür und läßt Roden und Norry eintreten.] =Norry= [indem er Frau Hasselstein begrüßt]. Ich gratuliere Ihnen, gnädige Frau, zu Ihrem Sohne. Ein ausdauernder Forscher und ein liebenswürdiger Kamerad! =Roden= [Fr. Hasselstein begrüßend]. Gnädige Frau haben alle Ursache stolz auf ihn zu sein. Die Wissenschaft verdankt ihm wichtige Aufschlüsse über die antarktische Tier- und Pflanzenwelt, ganz besonders aber über die Lebens- und Fortpflanzungsweise mehrerer bisher noch ganz unbekannt gewesener Infusorien. Er hat eine glänzende Zukunft vor sich. =Hasselstein= [lächelnd]. Ja, ich bin wirklich stolz auf meinen Jungen und so froh ihn wieder bei mir zu haben. =Frau Pottenmiller= [zu Norry, nachdem alle wieder Platz genommen]. Helfen Sie uns, Herr Doktor, ihm den Kopf zurechtzusetzen. =Ada Brunnick= [zu Roden]. Wir sind eben im Begriff über seine Zukunft zu entscheiden -- wir wollen daß er endlich eine vernünftige Laufbahn einschlägt -- sich hier niederläßt. =Frau Knute= [heftig zu beiden Herren]. Denken Sie sich, man hat ihm eine Stelle am hiesigen k. u. k. Staatsgymnasium angeboten -- eine Versorgung mit Pension -- und er sagt -- der unmögliche Mensch sagt, daß er noch nicht weiß, ob er das Angebot auch annehmen wird. =Die Herren Pottenmiller und Knute= [sagen gehorsam nach]. Er weiß noch nicht, ob er sie annehmen wird. =Frau Knute= [mit einen Blick gegen den Himmel]. Wenn er doch endlich vernünftig sein wollte! =Die beiden alten Herren= [auf aufmunternde Blicke ihrer Ehehälften hin]. -- vernünftig sein wollte! =Roden= [sich erhebend]. Da bitten wir um Entschuldigung gestört zu haben. Ein Familienkonklave wollen wir um keinen Preis unterbrechen. =Frau Knute und Pottenmiller.= Im Gegenteil, Sie müssen bleiben und uns helfen. [Sie drücken ihn mit Gewalt in den Stuhl zurück.] =Ada= [indem sie Norry festhält, der gleichfalls aufgestanden]. Auf Ihre Worte wird er eher hören -- Fremden gehorcht er immer lieber als uns, seinen allernächsten Verwandten! =Die drei Herren= [auf ein Zeichen ihrer Gemahlinnen]. -- seinen nächsten Verwandten! =Roden= [sich vergeblich zu befreien suchend]. Wir kamen nur um Professor Hasselstein zu fragen, ob er bereit sein würde sich der in schon drei Wochen abgehenden Forschungsexpedition nach Mikrosenien anzuschließen. =Norry.= Unser Herr Kollege war nicht ganz sicher, ob er in Kringhausen verbleiben würde oder nicht. Nun ist es aber notwendig, daß alle Teilnehmer spätestens heute ihren Entschluß mitteilen und die Liste der Teilnehmer unterzeichnen. Sonst hätten wir die Herrschaften nicht gestört. =Alle Damen= [die Hände ringend]. Er will schon wieder auf Abenteuer ausfliegen! =Ladislaja= [vorwurfsvoll]. So etwas! Ein solch' greller Undank, nachdem ich mich für ihn bemüht habe und mir der hiesige Regimentsarzt versprochen hat Hans Georg zweimal die Woche als Privatlehrer ins Haus kommen zu lassen. [Zu Norry.] Ein junger Mann verdient ja nie zu viel. =Roden= [leise und erbittert zu Norry]. Himmel welche Menschen! Sie würden einen Michelangelo zum Zaunstreichen verwenden. =Hermine= [die Daumen drehend]. Eine gesicherte Stellung ist eine gesicherte Stellung. An den Südpol fahren und ähnliche Dummheiten machen, das mag in jungen Jahren ganz entschuldigbar, wenn auch ganz ohne praktischen Wert sein, aber im Alter sehnt man sich nach Ordnung, nach einem Heim, nach Ruhe -- =Alle drei Herren= [mit tiefen Seufzern]. -- nach Ruhe, nach Frieden! =Frau Knute.= Und nach einer braven, häuslichen Frau. =Die drei Herren= [leiser, noch seufzend]. Nach einer braven -- nach einer stillen Frau! =Hermine= [einen Strickstrumpf herausziehend und die Nadeln zurechtlegend]. Bäckers Linchen ist zum Beispiel ein sehr wohl erzogenes, fleißiges und ehrbares junges Mädchen -- =Hans Georg= [trocken]. Von dreißig Jahren mindestens! =Ada Brunnick= [mit blitzenden Augen und allen Anzeigen höchster Entrüstung]. Eine Bäckerstochter in unserer Familie! [Mit gespieltem Mitleid.] Tante Hermine wird altersschwach! =Frau Knute.= Oder Doktors Röschen? Niemand in ganz Kringhausen kann eine bessere Fleischsulz zubereiten als -- =Hans Georg= [trocken]. Verstand oder Gemüt braucht meine künftige Frau Eurer Ansicht nach nicht zu haben. Ich kann statt dessen ja jede Woche einmal eine vorzügliche Fleischsulz essen. =Herr Brunnick= [seufzend]. Bester Hans Georg, eine geistreiche Frau ist -- [er verbessert sich schnell] -- kann zur Geißel werden! =Roden= [leise zu Norry]. Der arme Tropf spricht sicher aus Ueberzeugung. =Norry= [leise zu Roden, während die Damen unter sich lebhaft gestikulierend plaudern]. Die Männer sehen allesamt nicht aus, als ob sie das Pulver erfunden hätten -- die Frauen haben mehr Grütze, aber Zungen -- =Roden= [im selben Ton]. Quantitativ genommen sehen die Männer nicht übel aus -- =Norry= [leise lachend]. Die größten Orangen haben die allerdickste Schale -- =Ada= [befehlend zu den beiden Forschern]. So reden Sie doch mit! Hans Georg hört nicht auf unsere wohlerwogenen -- =Frau Knute= [sich aufrichtend]. -- und weisen Ratschläge -- =Roden= [sarkastisch lächelnd]. Professor Hasselstein ist zweifelsohne imstande das für ihn Beste richtig zu wählen. =Alle Damen= [mit Ueberzeugung und viel Geschrei]. O glauben Sie das nicht!!! =Ada Brunnick= [verächtlich]. Hans Georg hat noch keine Lebenserfahrung! =Frau Pottenmiller.= Er kennt die Fallstricke des Daseins noch nicht. Mein Mann zum Beispiel wäre ohne mich -- [sie bemerkt plötzlich, daß er ganz ruhig eingeschlafen und schüttelt ihn nun kräftig]. =Regierungsrat Pottenmiller= [fährt jäh aus dem angenehmen Schläfchen empor]. Aaah -- was -- was -- schon Zeit zum Aufstehen! Gleich, gleich, beste Frederike -- wo sind meine Socken? [Er ist jetzt ganz wach geworden.] =Ada= [verächtlich auf den Vater blickend, zu Roden]. Ja, ja, der Papa! Wenn er uns nicht hätte! =Norry= [leise zu Roden von der andern Seite]. Ich glaube, daß er da viel glücklicher wäre. =Ada= [ruft zu Norry, den sie etwas murmeln hört]. Pardon! Sagten Herr Doktor mir etwas? =Norry= [lächelnd]. Ich wollte nur fragen ob die Tatsache, daß Professor Hasselstein den Gefahren und Beschwerden einer langen Südpolforschungsreise getrotzt hat, als Erfahrung so gar nicht ins Gewicht fällt. =Ada Brunnick= [verächtlich mit ihrer kreischenden Stimme]. Bester Herr Doktor, welche Frage! »Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt«, so sagt ja unser großer Denker! =Alle drei Damen.= So sagt er! =Frau Pottenmiller= [stolz]. Ach, unsere Aderl, die weiß alles! =Roden= [lächelnd]. Ich verstehe vollkommen, man muß eben den Strom in Kringhausen mitgemacht haben. =Norry= [leise]. V--t viele Wirbel und Strudel darin! =Roden= [im gleichen Ton]. Und statt Seejungfrauen gibt es Seeelefanten -- [laut] Hasselstein, welchen Entschluß haben Sie gefaßt! Wollen Sie dem schönen Kringhausen treulos den Rücken kehren oder -- =Ada= [entrüstet]. Er wird doch nicht wieder -- Der Mensch hat so gar keine Charakterfestigkeit! =Frau Knute= [das Haupt schüttelnd]. Statt Haus und Heim zu gründen -- =Frau Pottenmiller.= Wirst du das sichere Brot fahren lassen? =Die drei Herren= [auf einen ermahnenden Puff von Frau Knute im Chor]. Das Brot fahren lassen! =Hermine= [streng]. Die Möglichkeit, dir eine Position zu schaffen -- endlich ein solides Leben zu führen -- =Hans Georg= [lachend]. Ich erinnere mich nicht am Südpol, in der Antarktis überhaupt, unsolid gelebt zu haben. [Roden und Norry lachen mit.] =Frau Pottenmiller= [wirft dem Kleeblatt einen vernichtenden Blick zu]. In meiner Jugend -- man hielt damals noch auf guten Ton -- hätte ein junger Mann es nicht gewagt bei einer verdienten Zurechtweisung zu lachen und eine so -- so -- =Herr Pottenmiller= [aufhelfend]. -- so schnauzige Antwort -- =Ada Brunnick= [ihm einen vernichtenden Blick zuwerfend]. Papa! [Pottenmiller sinkt ganz und gar in sich zusammen und schweigt.] Gewiß hat sich der Papa im »weißen Hirschen« eine so vulgäre Ausdrucksweise angewöhnt. =Ladislaja= [lächelt dummvergnügt vor sich hin]. Otto wird bald nicht mehr zimmerrein sein. [Hans Georg und die beiden Forscher lachen, die Damen sind entsetzt.] =Alle Damen.= Ladislaja! Ladislajaaaaaaaaaa!!!!! =Ada= [leise zu Roden]. Die Tante leidet sicher an Gehirnerweichung. =Frau Knute= [in gebietendem Tone]. Hans Georg! =Hans Georg= [gelassen]. Du befiehlst, Tante? =Frau Knute= [kategorisch]. Ich habe schon eine Frau für dich bestimmt. Von deiner Abreise ist natürlich keine Rede, sondern du heiratest, läßt dich hier nieder und zur Belohnung für deinen Gehorsam verspreche ich dir, daß ich deiner Frau mit Rat und Tat selbst an die Hand gehen werde. So ein junges Ding bedarf der Anleitung. Von mir unterstützt aber -- =Hans Georg= [sich verbeugend]. Du bist außerordentlich liebenswürdig, liebe Tante, indessen -- ist meine Wahl schon getroffen. =Alle.= Schoooon getroffen!!!! =Frau Pottenmiller.= Und davon schwiegst du? =Frau Knute.= Und du machtest uns ein Geheimnis daraus? =Hans Georg= [ruhig]. Nein, ich bin noch nicht zu Wort gekommen. =Frau Knute.= Lieber Neffe, in solchen delikaten Angelegenheiten ist es immer am besten sich zuerst bei seinen weiblichen Anverwandten -- [mit einem Blick auf die drei Herren] -- die männlichen taugen nichts, -- Rat zu holen. =Frau Pottenmiller= [ernst]. Glaube mir, lieber Neffe, eine Frau ist in solchen Fällen weit besser imstande zu sagen, ob die Auserwählte auch allen Ansprüchen gerecht zu werden verspricht, ob sie -- =Hans Georg= [dem endlich die Geduld reißt]. Zum Teufel auch! Soll ich oder werdet Ihr mit ihr leben? =Ada Brunnick= [mit sichtbarer Befriedigung]. Sein ungezügeltes Temperament gewinnt die Oberhand -- wie immer! =Roden= [leise zu Norry]. Jean Baptiste Rousseau hat recht, wenn er sagt: »~Le pire venin est celui des serpents du genre feminin~«. =Frau Pottenmiller= [entrüstet]. Wo bleibt deine mütterliche Autorität, Schwester? =Hasselstein= [scheu]. Hans Georg liebt sie -- [sie seufzt] -- er will sie -- allerdings gegen meinen Willen, trotz meiner Bitten -- heiraten und was soll -- was kann ich -- [etwas entschlossener, da sie auf ihn blickt] -- er liebt seine Braut und ich -- ich bin Mutter! [Sie bricht in Tränen aus, Hans Georg ist aufgestanden, neigt sich über ihren Stuhl und küßt sie. Er bleibt dort stehen.] =Frau Knute= [streng]. Dein Sohn hat leider nie zu gehorchen gelernt! =Ada= [mit gespieltem Mitleid]. Die gute Tante hat den Erziehungskarren total verfahren. =Frau Pottenmiller= [stößt mühsam hervor]. Wer ist sie? =Ladislaja= [den Hals ausstreckend]. Ist sie reich? =Hermine.= -- und tugendhaft -- religiös, -- streng christlich erzogen? =Frau Knute.= Ist deine Braut häuslich? =Herr Pottenmiller= [schüchtern]. Ist sie hübsch? =Ada= [streng]. Papa! =Frau Pottenmiller= [in belehrendem Tone]. Darauf kommt es am allerwenigsten an. Je weniger auffallend die Erscheinung um so anspruchloser -- =Ada.= -- und biegsamer -- =Frau Knute.= -- und weniger zur Koketterie geneigt -- =Ladislaja.= -- und reineren Herzens -- =Hermine= [langsam und feierlich, Silbe für Silbe]. -- und passender für die heilige Ehe ist so ein Mädchen! =Alle= [zu Frau Hasselstein]. Tante! Schwester! Sprich! =Frau Hasselstein= [gleitet unruhig auf dem Stuhle hin und her und sagt endlich stotternd]. Die -- se -- ses -- Määä -- äd -- chen ist -- ist -- =Alle= [gebietend]. Ist!!!!? Schwester!!!!!! Ist!!!! =Frau Hasselstein= [nach kurzer Ueberwindung, leise]. Es ist -- Berta -- Berta Heller! =Ada Brunnick= [bissig]. Diese Verlorene -- diese -- diese -- =Frau Pottenmiller= [mit tugendhaftem Grauen in der Stimme, während die anderen sprechende Blicke austauschen]. Eine arme jugendliche Verunglückte -- ein Paria! =Frau Knute= [rücksichtslos wie immer, laut]. Eine Dirne! =Hans Georg= [dessen Zorn jetzt den Höhepunkt erreicht hat, mit donnernder Stimme indem er mitten unter sie tritt]. Nein! Schweigt! Ein junges Mädchen besser als alle die fälschlich als so tugendhaft betrachteten fraglichen Grazien Kringhausens, das das Unglück gehabt hat als ahnungsloses Kind einem Elenden in die Hände zu fallen. Ihr wagt es, meine Braut zu beschimpfen, sie deren Gedanken edler, reiner und menschenfreundlicher sind als die vieler, die mir gut bekannt. [Er blickt auf sie der Reihe nach.] Ihr wagt einer Unglücklichen etwas vorzuwerfen, woran sie keine Schuld trägt! Pfui! [Er wendet sich ab und geht ruhelos im Zimmer auf und nieder.] =Ada Brunnick= [erholt sich zuerst]. Und solchem Wahnsinn hältst du die Stange, Tante? [Sie mißt sie kalt. Zu ihrem Vater] Papa, sprich! =Herr Pottenmiller= [sich aufraffend]. Wie -- soll ich mich im »weißen Hirschen« zeigen können, wenn die Verlobung bekannt wird, Hans Georg? Niemand wird von etwas anderem sprechen, man wird hundert Fragen an mich stellen -- =Hans Georg= [bleibt einen Augenblick stehen]. So bleib' zu Hause, wenn du dich fürchtest! [Er nimmt seine Wanderung wieder auf, Herr Pottenmiller erneuert seinen Ueberredungsversuch nicht.] =Hermine= [weinerlich]. Und wie kann ich zu den Schneiderabenden des katholischen Jungfrauenvereins gehen? Ich müßte zu sehr erröten, wenn man Anspielungen -- an -- an machen würde. [Sie bedeckt das Gesicht mit den Händen.] =Ladislaja= [mit ihrer dünnen Fistelstimme]. Ach, und wie könnte ich dem jungen Prediger nur in die Augen schauen -- nein, nein, ich müßte vor Scham in die Erde sinken -- vergehen -- Er, der mich und unsere Familie den anderen Jungfrauen des Vereins als Muster hinstellt! Mit so einer Verwandten -- so ein Skandal! -- =Roden= [leise zu Norry]. Vor zwanzig Jahren hat ihre Jungfräulichkeit vielleicht noch einen Wert gehabt. =Norry= [im gleichen Ton]. Sagen wir ruhig: vor einem Vierteljahrhundert! =Frau Knute= [streng]. Mir ins Haus darfst du so eine -- [sie verstummt vor H. G.'s Blick]. =Hans Georg= [kalt]. Fürchte dich nicht -- wir werden uns allein genügen! =Frau Pottenmiller.= Auf die Stelle am hiesigen Gymnasium darfst du in dem Fall auch nicht rechnen, ebenso wenig wie auf die Protektion meines Mannes -- Wer die Jugend erziehen will muß vor allem selbst unerschütterliche sittliche Grundsätze haben -- =Frau Hasselstein= [traurig]. Das haben die Damen der Tarockgesellschaft auch gesagt. =Hans Georg= [verächtlich]. Alte Klatschbasen! Hast du also mit ihnen über meine Zukunft Rat gepflogen? =Frau Hasselstein= [schüchtern]. Sie erzählten, daß die ganze Stadt davon spricht, daß es deiner Zukunft schaden, dich gesellschaftlich zum Paria -- =Hans Georg= [kalt]. In Kringhausen machen wird, nicht wahr? Die Welt besteht Gott sei Dank nicht ausschließlich aus Kringhausen und -- Kringhäuslern! =Frau Knute.= Gehe wohin du willst, du wirst überall einen schweren Stand haben. Es gibt immer Menschen, die freundlich genug sind einen solchen Fleck im Namen einer Frau an irgend eine gute Freundin zu schreiben, die diese Neuigkeit hierauf die Runde im Städtchen machen läßt. =Hans Georg= [spöttisch]. Ich zweifle nicht daran. Hoffentlich wird mein Name dennoch Kraft genug besitzen meine Frau zu schützen. =Frau Pottenmiller= [mit Nachdruck]. Keine Frau deiner Kollegen wird mit dir in gesellschaftliche Verbindungen treten wollen, -- kurz, deine Laufbahn ist vernichtet, wir alle mit Schande überhäuft, dein toter Vater im Grabe -- =Hans Georg= [streng]. Laß die Toten in Frieden ruhen -- wir haben mit den Lebendigen mehr als genug. =Frau Hasselstein= [weinend]. Er würde sich im Grabe umwenden, wenn er eine Ahnung hätte! [Alle sprechen durcheinander, Hans Georg geht erbittert auf und ab.] =Roden= [zu Norry]. Der Arme dreht sich sicher nicht um, der muß totmüde sein und verwendet die ersten hundert Jahre seiner Befreiung gewiß dazu, das Ohrensausen loszuwerden. Lieber unter Krokodilen als zwei Tage unter Kringhäuslern! =Frau Pottenmiller.= Hoffentlich wird dich die Rücksicht auf deine Mutter bestimmen -- =wir= beanspruchen nichts -- diese verrückte Idee aufzugeben und keinen derartigen Skandal heraufzubeschwören. Wir werden alles tun um unsere unglückliche Schwester von der Torheit eines solchen Vorhabens zu überzeugen. =Hans Georg= [bitter]. Ich zweifle nicht daran! [Weich zu seiner Mutter.] Mama, die Herren warten und diesem peinlichen, höchst unerquicklichen Auftritt muß ein Ende gemacht werden. Als uns die Verwandten unterbrachen, hattest du mich eben unbeschreiblich glücklich gemacht. [Er ergreift ihre Hand.] Bist du, Teure, noch der Meinung, daß wir zusammen ein Leben voll Glück und Frieden führen könnten? Die Stürme, die nun aufgewühlt worden sind, sie legen sich bald und auf sie folgen schöne, frohe, sonnige Tage stiller Zufriedenheit, reinen Glücks. Darf ich deine Entscheidung von vorhin als bindend ansehen, soll ich meinen geschätzten Kollegen mitteilen, daß ich mit meiner Frau bei meiner Mutter bleiben oder -- =Alle= [auf sie einschreiend]. Tante! Schwester, um Himmelswillen laß dich nicht zu solchem Wahnsinn hinreißen! Denke an deine gesellschaftliche Stellung, was du dir und uns allen in der Hinsicht schuldest, denke an die gerechte moralische Entrüstung der gesamten Einwohnerschaft von Kringhausen -- =Hans Georg= [laut, mit Nachdruck]. Die Angelegenheit, die hier erörtert wird, geht nur meine Mutter und mich selbst an! Darf ich daher um Schweigen bitten! [Weich zu Fr. H.] Was sagst du mir, Mutterl! Soll ich in deiner Nähe bleiben oder wieder hinausziehen in die weite Welt? Zweimal komme ich wohl kaum zurück! =Frau Knute.= Du brauchst ja nicht zu gehen! Es gibt genug andere Mädchen in Kringhausen. =Hasselstein= [mit Würde]. Aber nur ein einziges Mädchen für mich -- meine Braut! [Die Hände seiner Mutter ergreifend und mit milder Ueberredung.] Bedenke, du mein teures Mütterchen, daß es sich hier um unser Glück und nicht um die Meinung anderer Leute handelt. Nach einigen Monaten schon werden die Kringhäusler diese Ueberraschung verwunden haben und alles, was ich tun kann soll geschehen um dir diese kurze Zeit so leicht, so erträglich als möglich zu gestalten. Willst du, daß ich mit Berta auf Reisen gehe und erst nach Ablauf von mehreren Monaten heimkehre? Willst du, Teure, nicht mit uns kommen? Sag mir nur eins: -- Willst du meine Braut willkommen heißen, willst du in unserer Mitte, bei ihr, bei mir, in Zukunft verweilen? =Frau Hasselstein= [schwankend]. Wenn nur -- aber du kennst die Leute -- die Tanten sind auch der Ansicht -- ganz wie meine anderen Bekannten -- die Damen der Tarockpartie -- ach, es wird ein solches Gerede geben -- =Hans Georg= [ernst]. Ich frage nicht nach der Meinung der Verwandten -- gleichgültig ist mir die Ansicht der Kringhäusler solange ich nur nicht vor =mir selbst= erröten muß, -- ich frage dich, dich, meine innigst geliebte Mutter, ob ich gehen soll, wieder hinausziehen in unbekannte Gefahren, von dir scheiden um nie wiederzukehren -- ich frage =dich=, ob du die Liebe zu mir oder die öffentliche Meinung wirst siegen lassen. Sprich, Mutter! =Frau Hasselstein= [leidenschaftlich]. Ach, geh' nicht -- verlasse mich nicht -- schon nähere ich mich dem Grabe -- bleib' bei mir, du, du mein einziger Sohn! =Hans Georg= [einen Arm um ihre Schultern legend]. Bei wem würde ich wohl lieber als bei dir verweilen, Mütterchen, doch nicht kann ich mein Wort Berta gegenüber brechen, mein Lebensglück und das ihre eines Vorurteils willen in den Staub treten. Ein solches Dasein hätte für mich jeden Wert verloren, wäre ein Zeugnis meiner moralischen Schwäche, hinterließe einen ewigen nagenden Vorwurf in meinem Innern, der das Beste in mir langsam aber sicher zerstören würde. Wenn du mich liebst, Mutter -- =Frau Hasselstein= [weinend]. O Hansi, Hansi, ich kann dich nicht ziehen lassen! Bleib' hier, selbst -- =Frau Knute= [scharf]. Schwester, ich beschwöre dich, bedenke -- =Frau Pottenmiller= [gleichfalls]. Was werden deine Bekannten dazu sagen? Du bist gesellschaftlich zugrundegerichtet, kein Mensch -- =Ada= [kalt und hart]. Sei kein Schwächling, Tante, wenn er das Mädchen dir vorzieht, so lasse ihn laufen. =Frau Knute.= Er wird schnell genug einsehen lernen, was eine Heirat mit so einem Wesen bedeutet. =Alle drei Herren= [sich aufraffend]. Ja, er wird schon sehen, er wird schon sehen! =Hans Georg= [sich ängstlich und zärtlich zugleich über seine Mutter neigend, besorgt]. Wem stimmst du bei, Mama, den Tanten als Sprachrohr der Kringhäusler oder mir, deinem einzigen Sohne? =Frau Hasselstein= [nach einigen Sekunden inneren Kampfes, unsicher]. Hans Georg! [Schwer atmend und die Hände gegen das Herz gepreßt.] Siehst du, die Tanten haben recht -- du wirst nie hier geachtet leben können und ich -- ich zittere wenn ich an alle Bemerkungen -- an all das Gerede denke. Wir sind -- eine -- geachtete Familie -- und -- =Hans Georg= [läßt die Hand, die er auf der Schulter der Mutter liegen gehabt, matt herabgleiten und entfernt sich etwas, sodann mit dumpfer Stimme, die Mutter noch einmal bittend ansehend]. Da ist es wohl am besten ich nehme das Anerbieten der Expedition an. Sind wir nur beide, Berta und ich, von Kringhausen fort und erfährt man einmal, daß du selbst meine Entfernung gewünscht, so vergeben dir sowohl die Verwandten als auch die Kringhäusler großmütig einen so entarteten Sohn zu haben. [Leise und traurig.] Möge nie der Tag kommen, an dem du fühlst, daß du es dir selbst nicht vergibst mich fortgeschickt -- eines kleinlichen Vorurteils halber fortgeschickt zu haben. [Er streckt müde die Hand nach dem Schriftstück aus, daß ihm Roden, düster schweigend reicht.] =Frau Hasselstein= [weinend]. Die öffentliche Meinung -- fern von hier, wo man Berta nicht kennt -- wo niemand unsere Sprache spricht -- =Frau Knute= [scharf]. -- irgendwo unter den Wilden -- =Roden= [ernst]. Gnädige Frau, ich habe Wilde gekannt, die den Kringhäuslern in Menschlichkeit bedeutend überlegen sind! [Er läßt seinen Blick kalt über sie hingleiten.] =Hans Georg= [reicht Norry das nun unterzeichnete Dokument]. Bitte! [Norry steckt es ein, betrübt vor sich hinblickend.] Es ist am besten so -- für uns alle! =Frau Knute= [Rodens Bemerkung beantwortend]. Die Herren der Schöpfung -- ob nun wilden oder civilisierten Völkern angehörend, vergeben immer gerne ein kleines Abweichen vom engen Pfad der Tugend. =Roden= [ernst]. Und dennoch gehört gerade das Vergeben zu den edelsten Vorrechten der Frau -- =Frau Knute= [ihn heftig unterbrechend]. Nicht -- =Roden= [sich verbeugend und zurückweichend]. Ich verstehe, gnädige Frau! Nicht unter den Kringhäuslern! =Hans Georg= [traurig zu seiner Mutter]. Die Würfel sind gefallen! =Frau Pottenmiller= [sie unter dem Arm nehmend und mit sich auf die Tür zur Linken führend]. Du hast verständig gehandelt, Schwester, sehr verständig. =Ada= [ihr folgend]. Laß' ihn nur erst draußen einsehen lernen, welche Schätze er in der Heimat zurückgelassen, da wird er schon kürre werden. Eine Scheidung -- =Frau Knute= [ebenfalls der Schwester nacheilend und sie mit Gewalt fortziehend, als sie noch einmal auf den Sohn zurückblickt und zu zögern scheint]. Du hast endlich, wenn auch spät, die gewünschte mütterliche Autorität geltend werden lassen. Bravo! =Frau Hasselstein= [zweifelnd, unter Tränen]. Glaubt -- meint Ihr -- ach, wenn er doch die Stelle am hiesigen Gymnasium angenommen und ein anderes Mädchen -- =Frau Pottenmiller= [scharf]. Er hat das Gute, die vielen Vorteile des Aufenthalts in einer wichtigen Stadt wie Kringhausen nie zu schätzen, zu würdigen verstanden! =Ada= [hart]. Wein' nicht, Tante, sei stark! Klagen dienen niemand und Tränen führen zu nichts. [Sie gehen links ab, alle die anderen mit Ausnahme von Norry, Roden und Hasselstein folgen.] 6. Auftritt. =Hans Georg= [bitter, nach kurzem Schweigen, während Roden und Norry Hut, Handschuhe und Stock aufraffen]. Wie schnell Hoffnungen scheitern, Trugbilder in nichts zerrinnen. In der Antarktis hoffte ich, daß die täglich wachsende Menge von Eindrücken und Erfahrungen, von überstandenen Gefahren und damit gestärkter, zunehmender Kraft mir helfen würden, den Sieg zu erringen, alle kleinlichen Vorurteile zu überkommen, alles lächerliche Beurteilen reiner Aeußerlichkeiten zu verwerfen. Wie schön deuchte mich, vom Abendrot der Erinnerung beleuchtet, da die Heimat, wie unerschütterlich fest war da meine Ueberzeugung, daß die Liebe einer Mutter größer als die Macht leeren Geredes. Und nun -- [er seufzt tief auf und senkt das Haupt] -- trotz der Fülle neuer Eindrücke, ungeachtet der erweiterten Horizonte, die sich mir erschlossen, muß ich im Kampfe gegen verächtliches Spießbürgertum unterliegen; muß die zarte Frau mit mir in die weite Welt hinaus führen, statt ihr hier bei meiner Mutter, hier, wo ich geboren und jedes Ding Bedeutung für mich hat, ein Echo meiner Kindheit, meiner Jugend ist, ein friedliches Heim gründen zu können. Alles, alles ist umsonst gewesen! =Roden= [ernst]. Armer Freund, das ist, weil Sie eben einen großen Fehler begangen haben! =Hans Georg= [sieht ihn verwundert an]. Einen Fehler? =Norry= [nickt plötzlich ebenfalls eifrig]. Einen ganz unverzeihlichen! =Hans Georg= [von dem einen auf den anderen blickend]. Und der wäre? =Roden= [mit Nachdruck, indem alle drei Herren langsam auf die Tür zur Rechten zugehen]. Nicht Sie hätten auf Suche neuer Horizonte in die Antarktis ziehen sollen -- sondern =Norry= [einfallend]. -- die Kringhäusler! [Der Vorhang fällt.] 3. Akt. [Dasselbe Zimmer wie im zweiten Akt. Alle Verwandten sind in tiefer Trauer. Die Damen der Tarockpartie sind gleichfalls anwesend und auch dunkel gekleidet. Alle halten das Taschentuch vor die Augen, Frau Hasselstein schluchzt von Zeit zu Zeit tief auf.] 1. Auftritt. =Regierungsrat Pottenmiller= [steht inmitten der Szene und liest, als sich der Vorhang hebt, mit monotoner Stimme aus einer Zeitung vor]. -- der einstige Teilnehmer an der Südpolexpedition, Professor Doktor Hans Georg Hasselstein, der auch in Mikrosenien seine ausdauernden Studien und Forschungen fortgesetzt, häufige höchst wertvolle Mitteilungen über die Flora und Fauna heimgeschickt und besonders interessante Aufschlüsse über die Lebensweise der Skolopandren und anderer Insekten dieser Zonen eingesendet, wie auch die Gewohnheiten des gefährlichen und von Matrosen und Fischern dort sehr gefürchteten Octopus, eines zeitweilig selbst im Mittelmeere in kleineren Exemplaren auftretenden Polypen mit großer Ausdauer erforscht und beschrieben hat. Sein letzter Ausflug -- [alle schluchzen laut und trocknen sich die Augen] -- wurde ebenfalls in der Absicht unternommen dieses Seeungeheuer auf einer der naheliegenden Inseln genauer zu studieren und die Fangmethode desselben besser zu prüfen als ihm dies bisher möglich gewesen, doch blieb der von einem unverläßlichen Eingeborenen gelenkte Kahn auf einem Korallenriff sitzen und während es dem Wilden gelang sich, wenn auch nur mit großen Schwierigkeiten und mit knapper Not zu retten, wurde der unglückliche Gelehrte von der starken Brandung ergriffen, einigemale gegen die spitzigen Riffe geschleudert und dann in die grausige Tiefe des Stillen Ozeans hinabgezogen. Man befürchtet, daß er von den um diese Inseln äußerst zahlreichen Haifischen angegriffen worden sei. Jede Suche nach der Leiche ist auch erfolglos geblieben. -- Der frühe Tod des berühmten Naturforschers und unermüdlichen Gelehrten hat nicht nur in seiner eigenen Heimat das tiefste und aufrichtigste Bedauern erweckt -- [alle schluchzen wieder laut] -- sondern wird von der gebildeten Menschheit der ganzen Welt auf das lebhafteste beklagt. Alle Teilnehmer der Forschungsexpedition betrauern in Professor Doktor Hasselstein einen allzeit liebenswürdigen, hilfsbereiten, schaffensfreudigen und tapferen Kollegen, der nicht nur klaglos sondern immer mit heiterer Miene die geradezu unbeschreiblichen Strapazen seines anstrengenden Berufes ertrug. Ein einfaches Kreuz am Strande der Ailukinsel, nicht weit von der Unglücksstätte trägt außer dem Namen und den Geburts- und Sterbedaten auch den kurzen Vers: »Durch Todesnacht bricht ew'ges Morgenrot«. -- Frau Professor Hasselstein, die treulich alle Gefahren und Entbehrungen ihres Gatten geteilt und sich die Bewunderung aller Teilnehmer der Expedition errungen, kehrt schmerzgebeugt mit dem kaum drei Monate alten Söhnchen zusammen mit der Expedition auf dem Dampfer »Ozeanien« in die deutsche Heimat zurück. Ob Frau Professor Hasselstein dort zu bleiben gedenkt, ist unbekannt. [Er legt die Zeitung langsam zusammen und setzt sich.] =Frau Hasselstein= [schluchzend]. Mein Kind! Mein einziges Kind! Er starb in fremden Zonen -- [leise und die Hände ringend --] durch meine Schuld! [Sie weint bitterlich.] =Krickenfeld= [ihre Hand auf den Arm Fr. Hasselsteins legend und sich eifrig die Augen wischend]. Beste Frau Oberst, wir alle teilen ihren Kummer, denn wir alle haben ihn wie einen Sohn geliebt! =Zungrapp= [sich auch die Augen trocknend]. Ach, du liebe Zeit! So ein staatlicher, so ein guter [sie schluchzt]. =Holzheim.= So ein edles Herz -- so ein gu -- gu gu -- [sie schluchzt laut auf]. =Krickenfeld.= Wenn nur dieses Mädchen nicht gewesen -- =Zungrapp.= Sccchhhttt! Sie war die Frau des berühmten Gelehrten. -- =Frau Pottenmiller= [beschwichtigend]. So, so, nur ruhig, du darfst dich nicht so aufregen, liebe Schwester. Hans Georg ist jetzt im Himmel, wo wir ihn alle einmal treffen werden. =Frau Hasselstein= [bitterlich weinend]. Wenn ich nur schon recht bald zu ihm käme. [Unter Schluchzen.] Warum ach, warum ließ ich ihn von mir gehen? [Alle versuchen sie zu trösten, allgemeine Bewegung, große Beileidsbezeugungen, betäubendes Stimmengewirr. Endlich tritt wieder Ruhe ein.] =Frau Knute.= Es muß dir doch ein großer Trost sein, teure Schwester, daß seine Majestät, unser allergnädigster Kaiser, dir in eigener Handschrift ein Beileidsschreiben schickte. =Ganz= Kringhausen spricht davon! =Frau Hasselstein= [weinend]. Mein Sohn, mein Sohn! Im besten Mannesalter, fern von der Heimat, fern von ihr, die ihn geboren, auf so entsetzliche Art -- [sie schaudert] -- sterben zu müssen! [Sie ergreift das Kuvert, das das kaiserliche Beileidsschreiben enthält und langsam versiegen ihre Tränen.] Ja, es war der einzige Lichtpunkt in dem großen Unglück, das mich getroffen. [Sie zeigt auf ein riesigen Haufen Briefe, der den ganzen großen Tisch bedeckt.] Und so viele mir vollständig unbekannte Personen haben mir so lieb geschrieben. Ich bin stolz und in meinem Kummer glücklich einen solchen Sohn gehabt zu haben. =Frau Pottenmiller= [wichtig]. Alle Zeitungen schreiben spaltenlange Artikel über ihn und sein Name steht fettgedruckt schon auf der ersten Seite. [Zu den Damen der Tarockpartie.] Mit allen Fasern meines Herzens bin ich an meinem Schwesterkind gehangen und habe nie verfehlt ihm weise Ratschläge zu geben. =Ada= [spitz]. Die er regelmäßig verworfen hat! =Krickenfeld= [den Brief mit Ehrfurcht aufhebend]. So eine Auszeichnung und all die schönen Reden sind wohl ein großer Trost für unsere liebe Frau Oberst! Ganz Kringhausen fühlt sich geehrt! [zu Frau Hasselstein, die wieder laut weint]. Nur ruhig, beste Freundin, ich hatte zwölf Kinder und mußte neun begraben. =Frau Zungrapp= [entschieden zu den Verwandten]. Wir werden uns der Armen schon annehmen, so ein kleines Spielchen -- =Holzheim= [lebhaft]. Natürlich! Natürlich! =Krickenfeld= [mit Ueberzeugung]. Das übt einen wohltätigen beruhigenden Einfluß auf die Nerven aus -- =Zungrapp= [fest]. Eine kleine Zerstreuung ist notwendig -- =Ada.= Es läßt sich an dem Vorgefallenen nichts ändern -- =Frau Hasselstein= [schluchzend]. Wie -- wie kö -- könnte ich -- in meinem großen Schmerz -- an -- an -- einer Tarockpartie teilnehmen -- =Alle Damen.= Eine Ablenkung tut not -- ist wie eine heilsame Medizin -- =Ladislaja= [mit salbungsvollem Tone]. Man muß sich in den Willen des Höchsten mit Demut fügen. =Hermine= [lebhaft]. Der neue Prediger wird vier Messen für seine Ruhe lesen und alle Jungfrauen unseres Vereins werden für sein Seelenheil beten. =Frau Knute= [aufspringend]. Schwester, hast du den neuen Trauerhut schon aufprobiert? =Frau Hasselstein= [müde]. Ja, -- er muß geändert werden. =Frau Knute= [indem sie auf den Lehnstuhl zur Linken zugeht auf dem eine Hutschachtel steht und den Hut samt langen Schleier herauszieht und betrachtet. Alle Damen folgen ihr mit den Blicken.] Als Mutter eines solchen Sohnes muß dein Hut tadellos sitzen! 2. Auftritt. [Ein Stubenmädchen öffnet geräuschvoll die Tür und läßt Roden und Norry eintreten, die auf Fr. Hasselstein zugehen und ihr schweigend die Hand küssen, während sie in neues, bitteres Weinen ausbricht.] =Roden= [indem er mehrere Gegenstände auf den Tisch vor Fr. Hasselstein legt]. Einige Kleinigkeiten als Andenken -- ein Jagdmesser, sein letztes Notizbuch, einige von ihm gesammelte Korallen, ein Ring -- die Uhr verbleibt dem Sohne. =Frau Hasselstein= [mit zitternder Erwartung in der Stimme]. Wo ist!? [Sie vollendet nicht.] =Roden= [mit unergründlicher Miene]. Der Sohn ist bei seiner Mutter! =Frau Hasselstein= [die Gegenstände mit zitternden Händen an sich raffend]. Ich -- ich danke Ihnen meine Herren! [Sie macht eine bittende Handbewegung und beide nehmen schweigend Platz.] =Frau Pottenmiller= [zu beiden Herren]. Sie sehen eine gramgebeugte Familie vor sich! =Krickenfeld=, =Holzheim= und =Zungrapp=. Die Zierde von Kringhausen ist nicht mehr! =Frau Knute= [sich die Augen wischend]. Unser hochbegabter Neffe fand ein so frühes Ende! =Frau Hasselstein= [ihre Hand bittend auf Norrys Arm legend]. Erzählen Sie mir -- von -- von -- meinem Sohne. =Norry= [mitleidig]. Hans Georg dachte immer voll Liebe an Sie, gnädige Frau -- wir sprachen oft von Ihnen; hoffnungsfreudig in der Nacht der Antarktis und mit warmer Hingebung unter den tropischen Bäumen Mikroseniens. [Frau H. weint.] =Frau Knute= [zu Roden]. Sie haben keine Ahnung, Herr Doktor, wie sehr uns der Schlag, der meine unglückliche Schwester getroffen, nahegeht! =Roden= [kalt]. Ich zweifle nicht daran. [Leise zu Norry.] Nun hat die Pfeife einen anderen Ton. =Frau Pottenmiller= [zu Norry]. So ein Mann -- alle Zeitungen berichten von ihm -- =Krickenfeld.= Ein so berühmter Forscher! Wie oft habe ich ihm einen Apfel gegeben! =Zungrapp= [zur Decke blickend]. Ein Talent! Ein Talent! meine Damen. =Ada= [die als einzige nicht geweint hat und nur kalt umherblickt]. Ein Talent, zugegeben und wie alle solche auch überspannt. Meine Tante verstand nicht sein Temperament zu zügeln, niemand konnte auf ihn einwirken. Hier in Kringhausen bot sich ihm eine gesicherte Existenz, die Achtung seiner Mitbürger, -- wenn er nur auf seine merkwürdigen Ideen verzichten gewollt, -- geistige Anregung auf allen Gebieten -- er aber -- =Frau Knute= [seufzt tief auf]. Meine Schwester war allzu schwach in ihrer Mutterliebe. =Frau Pottenmiller= [seufzt auch]. Allzu nachsichtig gegen ihren Sohn. =Ada Brunnick= [mit Befriedigung]. Ich habe es immer vorausgesehen, daß er ein abenteuerliches Ende finden werde, denn niemand bricht ungestraft die heiligsten Bande -- =Roden= [ärgerlich]. Aber man hat das Recht die Stricke zu durchschneiden, die einen Pegasus als Ackergaul festhalten oder einen Canova dazu verpflichten, als Topfmacher sein Brot zu verdienen. Nicht jeder, meine Gnädigste, ist von der Natur zum Kringhäusler geschaffen! =Norry= [zu Knute und Pottenmiller]. Die ihm am nächsten gestanden, haben seinen Wert zuletzt erkannt! =Frau Hasselstein= [bittend zu Norry]. Herr Doktor! =Norry= [ihr nähertretend, freundlich]. Gnädige Frau? =Hasselstein=. Wie -- wie -- war das Ende? =Norry= [ernst und voll Mitleid]. Wir waren alle auf dem Schiff viele Meilen von der Unglücksstelle entfernt und kamen alle erst vierzehn Tage später nach Ailuk. Der Eingeborene, der die Schreckensbotschaft der beklagenswerten jungen Gattin überbrachte, lag noch bei unserer Abreise krank darnieder, da er sich an den scharfen Korallenriffen Verletzungen zugezogen hatte und ein Haifisch -- =Alle= [mit Entsetzen]. Aaaaaah! Ooooooh! Ein Haifisch!!!! =Frau Hasselstein= [schluchzt untröstlich]. So ein gräßliches Ende und alles -- ach, alles -- durch meine Schuld! =Frau Knute= und =Pottenmiller= [vereint]. Liebe Schwester, teure Schwester, es steht nicht immer zu ändern -- du hast richtig gehandelt -- =Ada Brunnick= [hart]. Er hat es ja selbst so gewollt! =Roden= [ernst]. Hasselstein starb im Dienste der Wissenschaft, die ihm ewigen Dank schuldet. =Norry= [ernst zu Fr. H.]. Hätte er den Eingeborenen mit Gewalt zurückgehalten, so würde er wahrscheinlich sein eigenes Leben gerettet haben. Edel wie immer ließ er den Gefährten Rettung finden. =Krickenfeld= [während die anderen laut weinen]. Ja, so ein junger Mann, auf den können die Kringhäusler stolz sein! =Zungrapp.= Wenn ich denke, wie oft ich ihm ein Butterbrot gestrichen habe -- =Holzheim= [sich die Augen trocknend]. Und ich, die ich ihm stets von meinen besten Winteräpfeln gegeben habe. Das ist mir jetzt in der Tat ein erhebendes Bewußtsein. Auch ich habe zu seiner Größe beigetragen! =Frau Pottenmiller= [stolz]. Am regen Verstande meiner Adarl hat er zuerst den seinen zu schärfen gelernt! Ihr verdankt er -- =Roden= [leise zu Norry]. Über die Schärfe des Gehirns kann ich noch kein richtiges Urteil abgeben, aber die Zunge -- =Norry= [lächelnd]. -- ist die reinste Damaszenerklinge! Was war Harun al Raschids Schwert dagegen? =Roden= [im selben Ton]. Einem Haifisch käme ein Gruseln an! =Frau Krickenfeld.= Man will -- so sagte mir im Vorbeigehen die Frau unseres lieben Medizinalrates -- =Zungrapp= [heftig]. Peleponesia, hast du auch schon gehört, daß sie mit ihrem Vetter ein Verhältnis gehabt haben soll und ihr Mann die beiden -- =Hermine= und =Ladislaja= [sich vorbeugend]. -- ein Verhältnis? -- Diese scheinheilige -- diese -- =Roden= [leise zu Norry]. =Jetzt= erröten die holdseligen Jungfrauen nicht! =Holzheim= [sich aufblasend]. Nur =ich= allein kenne alle Einzelheiten, denn meine Masseuse -- =Krickenfeld= [mit Mißbilligung]. Lassen Sie sich noch massieren! =Holzheim= [etwas verlegen]. So sehr bedarf ich dessen freilich nicht mehr, aber die Masseuse weiß eben immer, was in der Stadt vorgeht und daher ist es mir eine große Genugtuung -- =Krickenfeld= [zustimmend]. Ja, die Peggy -- =Pottenmiller= [erregt]. Peggy? Das ist doch wohl nicht etwa diese merkwürdige Alte, die ihre eigene Magd jeden Sonnabend wäscht? Ha, ha, ha! =Zungrapp= [geheimnisvoll]. Man sagt von ihr, daß sie Säcke voll alter Münzen unter dem Bette verborgen hält -- =Ada Brunnick= [gelassen]. Da wird schon irgend jemand den alten Narren einmal aus dem Weg räumen! =Zungrapp= [mit Bestimmtheit]. Sie soll gar nie ihr Zimmer fegen lassen und Paula, ihr Dienstmädchen, hat der Köchin im Vertrauen mitgeteilt -- =Frau Holzheim= [lebhaft]. Nun, da Sie davon sprechen, hochverehrte Frau Direktor, fällt mir eben etwas ein. Stellen Sie sich einmal vor, meine Damen -- [Alle richten sich auf.] =Krickenfeld= [erbittert]. Hier kann ein Mensch wahrlich nicht zu Wort kommen! Ich muß schon bitten!! Ich sagte also, daß die Frau unseres Medizinalrates -- sie erwartet übrigens in Kürze das Fünfte -- =Frau Knute= [die Hände zusammenschlagend]. Du grundgütiger Himmel! Als ob wir nicht schon genug Mädchen in Kringhausen hätten und natürlich wird es wieder ein Mädchen sein! =Krickenfeld.= Werde ich denn nie aussprechen dürfen? Ich sagte, so weit ich mich nach all diesen Unterbrechungen erinnern kann, daß man die Absicht hat einen Bazar zu veranstalten und von dem Erlös will man Herrn Professor Hasselstein in seiner Vaterstadt ein Monument errichten. =Alle= [gerührt]. Aaaaaah! Ein Monument? =Roden= [leise zu Norry]. Nein, hörst du, hier möchte ich buchstäblich nicht einmal aufgemalt sein wollen. =Hasselstein= [weinend]. Alle, alle sind so gut gegen mich! [Es schlägt zwölf Uhr. Alle springen erregt auf, greifen nach ihren Sachen und nehmen schleunigst Abschied.] =Frau Knute= [küßt schnell Frau Hasselstein und winkt dann ihrem Manne]. Schon zwölf Uhr! Himmel! Mein Truthahn wird gewiß verkohlen -- Sie kennen ja die Dienstboten, beste Frau Kommerzienrat. =Krickenfeld.= Gar kein Verlaß auf dieses Gesindel. Sie bestehlen und betrügen, sie -- [Beide Frauen führen das Gespräch weiter fort.] =Frau Pottenmiller= [zärtlich]. Leb' wohl, liebste Schwester. Nimm' dir den Verlust nicht allzu sehr zu Herzen, erinnere dich, daß wir alle ihn mit dir teilen, hänge nicht deinen trüben Gedanken nach -- diese Damen -- =Zungrapp= und =Holzheim=. Versteht sich, versteht sich, hochverehrte Frau Regierungsrat, wir werden uns der Armen schon annehmen. Wir kommen -- =Hasselstein= [fast hart ablehnend]. Nein, nein, meine Damen -- wie soll ich an ein Kartenspiel -- [sie wendet sich weinend ab]. =Krickenfeld= [herzukommend]. Aber so ein Tarockerl, beste Frau Oberst, das ist Seelenmedizin. Das zerstreut. [Alle nehmen Abschied, aber die Tarockdamen rufen noch zurück:] Wir kommen, wir kommen! =Holzheim= [eilig]. Jetzt muß ich mich aber sputen was das Zeug hält. Wenn mein Mann nicht die Suppe auf dem Tische findet, wenn er heimkommt, so setzt es allemal ein Donnerwetter. =Frau Knute= [den Kopf schüttelnd]. Alles ihre eigene Schuld, beste Frau Inspektor. Warum verhätscheln Sie ihn so? Ich habe mir den meinigen gleich zu Anfang erzogen. [Alle sind endlich bei der Tür angelangt, man nimmt noch einmal einen sehr geräuschvollen Abschied, aber eine der Damen geht nach der anderen fort.] =Ada Brunnick= [kalt]. Grüß' Gott, Tante! [Zu den anderen, besonders Frau Krickenfeld, indem sie ihren Mann am Arm faßt und mit sich zieht.] Man muß das Unmögliche begehren, damit man das Mögliche erreicht. =Zungrapp= [noch einmal auf Fr. H. zukommend]. Meine teure, meine beklagenswerte Frau Oberst, nur Mut, nur Ruhe! Das Beileid unseres Landtsherrn muß Ihnen doch ein Trost -- ein großer Trost sein. =Hermine= [eher gedankenlos als böswillig]. Ach ja, uns allen ist sein Tod so ein Trost! [Sie folgt den anderen.] 3. Auftritt. =Frau Hasselstein= [winkt den beiden Forschern noch einmal Platz zu nehmen]. Gott sei Dank, endlich kann ich mich ungestört dem Glücke hingeben mit den wahren Freunden meines Sohnes zu sprechen. Erzählen Sie mir von seinem Tun und Treiben -- von allem -- von allem -- mein Herz dürstet danach! =Roden= [ernst]. Hasselstein hat sich zuerst auf den Rälik -- oder den Inseln gegen Tagesende aufgehalten, aber da das Klima daselbst seiner jungen Frau nicht zusagte, zog er nach den Inseln gegen Tagesanbruch -- den Ratakinseln -- und dort führte er das schwere Dasein eines Forschers -- unermüdlich, heiter und dank den rastlosen Bemühungen seiner Gattin sehr glücklich -- viel glücklicher als er es in -- [Norry winkt abweisend]. =Frau Hasselstein= [scheinbar nach großer Ueberwindung]. Ich -- ich möchte eine Frage an Sie stellen, meine Herren, eine Frage, die mich unbeschreiblich erregt. =Norry= [ermutigend]. Und diese Frage lautet? =Frau Hasselstein= [ihn mit verzehrenden Blicken betrachtend]. Wo ist meine Schwiegertochter, wird sie Kringhausen passieren, wird -- =Norry= [verlegen]. Ich dachte -- =Frau Hasselstein= [weinend]. Sie war die Frau meines Sohnes, sie durfte in seine Augen schauen, ihm nahe sein, während ich mich in der öden Behausung nach ihm zu Tode sehnte, sie durfte -- [sie schweigt]. =Roden= [ernst]. Sie hat viel geopfert, gnädige Frau dieser Privilegien halber. Gnädige Frau haben gleich ihr die Wahl gehabt und -- =Hasselstein= [ernst zu ihm aufsehend]. Ich weiß es, ich weiß es. Es war dies die Qual meiner schlaflosen Nächte, das Gespenst, das mich auch am hellen Tage nicht verließ. Ich hatte ja den einzigen Sohn in die weite Welt ziehen lassen statt seinem Wunsche nachzugeben, aber ich, Herr Doktor, ich bin ja nur eine schwache Frau, aufgewachsen und alt geworden in Kringhausen und seinen Ansichten, seinen Vorurteilen. Ich habe meine Zeit überlebt und konnte mich nicht in die neuen Anschauungen finden. Ein alter Baum läßt sich nicht umpflanzen und krumme Aeste werden nicht mehr gerade, wenn sie von Alter hart und dürr geworden. Wenn ich gefehlt, so habe ich schwer dafür gebüßt. Ein freudenloser Lebensabend steht mir bevor. =Norry= [die Weinende tröstend.] Es war so bestimmt -- es hat so kommen müssen. Können wir irgend etwas für Sie, gnädige Frau, tun? =Hasselstein= [aufblickend.] Berta ist auch in Europa -- sie ist vielleicht ganz nahe von Kringhausen -- [leise, die Hände auf das Herz drückend] -- und sie hat -- =Norry= [ernst.] Gegenwärtig weilt die Witwe unseres geliebten Kollegen hier in Kringhausen. =Hasselstein= [aufspringend.] In Kringhausen? Oh, wird sie mir je vergeben, wird sie unerbittlich sein? -- =Norry= [ist unterdessen auf die Tür zur Linken zugegangen. Er öffnet sie jetzt und in tiefe Trauer gekleidet, tritt die junge und schöne Frau Hasselstein über die Schwelle. Auf den Armen hält sie ein weißes Bündelchen mit schwarzen Bändern.] 4. Auftritt. =Frau Hasselstein= [auf sie blickend]. Berta! [Dann das Bündelchen bemerkend und alles darüber vergessend mit zitternder Stimme.] Ist das -- ist das?? -- =Berta= [in Tränen ausbrechend.] Das ist alles, was mir auf Erden geblieben. =Hasselstein= [schlägt langsam den Schleier zurück.] Ach Tochter, wie unsäglich reicher bist du doch als ich! [sie neigt sich über das Kind.] Wie heißt er? =Berta= [leise.] Wie sein Vater. =Hasselstein= [zögernd.] Ich war ungerecht -- selbstsüchtig einst, Berta, -- ich wollte, was ich besaß, nicht mit dir teilen und heute -- oh heute könnte ich dich auf meinen Knien mit gefalteten Händen anflehen großmütig zu sein und -- [leidenschaftlich] Berta, laß zu, daß sich meine Augen an deinem Schatze weiden. Führ ihn nicht wieder fort! Bleibe bei mir -- bei der Mutter deines toten Gatten. =Berta= [zögernd.] Meine Vergangenheit -- =Hasselstein= [stolz.] Du warst die Gattin meines Sohnes. =Berta= [leise.] Und -- und -- die Kringhäusler? =Hasselstein= [sich voll aufrichtend.] Die Kringhäusler? Was kümmert mich die Meinung der Kringhäusler? Das ist Fleisch von meinem Fleische, Blut von meinem Blute -- [weich, als Berta schweigend das Kind in ihre Arme legt] -- mein Enkelkind! [Beide Frauen neigen sich über den Kleinen und man hört Ausrufe wie »hat er nicht ganz die Nase seines Vaters« und »schau auf den Mund, ganz wie bei Hans Georg« usw. während sich beide Frauen halb umschlungen halten um besser auf das Kind sehen zu können.] =Roden= [indem er Norry winkt sich leise mit ihm zu entfernen]. Jetzt wären endlich die Kringhäusler überwunden! [Der Vorhang fällt.] =Ende!= Druck von Reinhold Berger in Lucka S.-A. [ Hinweise zur Transkription Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Darstellung abweichender Schriftarten: =gesperrt=, ~Antiqua~. Die Stellung des schließenden Satzzeichens in den Regieanweisungen wurde stillschweigend vereinheitlichend korrigiert. Das schließende Satzzeichen wurde innerhalb der eckigen Klammern angeordnet bei Regieanweisungen, die einen eigenen Satz bilden. Das schließende Satzzeichen wurde außerhalb der eckigen Klammern angeordnet bei Regieanweisungen, die keinen eigenen Satz bilden. Die Regieanweisung "Triebe" auf Seite 16 erscheint als unangebracht. Überkommene Rechtschreibung wurde beibehalten in "Geberden", "Lantsherr", "totmüde". Vermuteter Wortwitz wurde beibehalten, nämlich "Mikrosenien" an der Stelle von "Mikronesien", "staatlicher" an der Stelle von "stattlicher." Unterschiedliche Schreibweisen wurden beibehalten, beispielsweise "Adarl" -- "Aderl", "vor allem" -- "vorallem". Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen, Seite 4: "--" eingefügt (gebrachten Kringhäusler! -- [er lacht plötzlich) Seite 4: "daß" geändert in "das" (daß man sich eigene Pfade brechen kann, das verstehen sie) Seite 5: "," eingefügt (endlos scheinenden Eisbarrieren, schließlich) Seite 6: "." eingefügt (Der Kern allein soll gelten, nicht die Schale.) Seite 6: "," eingefügt (Kampf gegen alle kleinlichen Vorurteile, gegen alle) Seite 7: "." eingefügt vor "Sind" (=Norry= [zu H.]. Sind viele neue Exemplare) Seite 7: "sie ihre" geändert in "Sie Ihre" (Haben Sie Ihre Flinte zur Hand?) Seite 7: "--" eingefügt (hin ist hin -- [er lacht auch heiter]) Seite 8: ":" geändert in "." (=Hasselstein= [lachend]. Unzufriedener!) Seite 8: ":" geändert in "." (=Norry=. Und die bald wiederkehrt!) Seite 8: ":" entfernt hinter "=Hasselstein=" (=Hasselstein= [zu Norry, der eifrig) Seite 8: "." eingefügt (Schneehütte studiert]. Hören Sie einmal) Seite 8: "untersuchend:" geändert in "untersuchend]." (=Norry= [seine Apparate untersuchend]. Machen Sie) Seite 9: "." entfernt hinter "=Hasselstein=" (=Hasselstein= [geht auf das Zelt zu) Seite 9: ":" geändert in "." (bis dorthin nicht erreicht haben.) Seite 10: "dahein" geändert in "daheim" (daß daheim gerade jetzt der Flieder blüht) Seite 10: "einen" geändert in "einem" (am Ende alles einem Wahn geopfert) Seite 11: "spöttich" geändert in "spöttisch" (=Roden= [spöttisch]. Vortrefflich) Seite 12: "reel" geändert in "reell" (Wenn die Ware nicht durch und durch reell ist) Seite 13: "Ord" geändert in "Ort" (verwenden sie gleich als Sklaven an Ort und Stelle) Seite 15: "," eingefügt (verlachen herrschende Vorurteile zwar, bäumen uns) Seite 15: "wirwüten" geändert in "wir wüten" (aber wir wüten) Seite 16: "," eingefügt (indem wir stärker, sondern auch seelisch) Seite 16: "," eingefügt (die mächtigen Eisgrotten, das flackernde Nordlicht) Seite 16: "]" eingefügt (Es wird unheimlich finster.]) Seite 17: "Norrn" geändert in "Norry" (=Norry= [lachend].) Seite 18: "." eingefügt (die Hände und rufen durcheinander.]) Seite 21: "(" geändert in "[" ([Ein elegant ausgestattetes Zimmer.) Seite 21: ")" geändert in "]" (alles hat ein kleinstädtisches Gepräge.]) Seite 21: "eine" geändert in "ein" (In der Mitte der Szene ein Spieltisch) Seite 21: "lächelud" geändert in "lächelnd" (=Frau Krickenfeld= [lächelnd]. Immer die, die fragt!) Seite 21: "." entfernt hinter "]" ([Nach kurzer Pause.] Also der Herr Sohn) Seite 22: "." eingefügt (Natürlich: So geht es immer.) Seite 22: "bitten" geändert in "bitte," (Bitte, bitte, da sind schon die dreißig Heller.) Seite 23: "Haus" eingefügt hinter "zu" (die ein Gerücht von Haus zu Haus tragen) Seite 24: "[" eingefügt ([Man spielt eifrig.]) Seite 24: "Kickenfeld" geändert in "Krickenfeld" (=Krickenfeld= [seufzt tief auf].) Seite 25: "bedreffend" geändert in "betreffend" (Einen Skandal? Meinen Sohn betreffend?) Seite 25: "(" geändert in "[", ")" geändert in "]" ([Großer Lärm, Durcheinanderrufen, Ausbezahlen.]) Seite 26: "davan" geändert in "davon" (die ganze Stadt spricht davon --) Seite 26: "gleich-gesagt" geändert in "gleich gesagt" (Das habe ich den Verleumdern auch gleich gesagt.) Seite 26: "hinausge kommen" geändert in "hinausgekommen" (Wenn junge Leute in die Welt hinausgekommen) Seite 27: "sie" geändert in "Sie" (Das kommt davon, weil Sie nie die Tarock zählen!) Seite 28: "sie" geändert in "Sie" (Lassen Sie sich Ihre Handerl vergolden) Seite 28: "sie" geändert in "Sie" (für die elendigen Stecher, die Sie mir zugeschoben haben) Seite 29: "." eingefügt hinter "ansehen" (=Alle= [im Chor]. Wie unser eigenes Kind ansehen.) Seite 29: "schwirt" geändert in "schwirrt" (»ich auch« schwirrt es durcheinander) Seite 29: "," geändert in "." (=Krickenfeld=. Wirklich?) Seite 29: "sie ihren" geändert in "Sie Ihren" (machen Sie Ihren mütterlichen Einfluß geltend) Seite 29: "sie" geändert in "Sie" (halten Sie ihn vor diesem Abgrund zurück!) Seite 30: "sie" geändert in "Sie" (wenn Sie gar in meinem Elternhause gewesen wären) Seite 30: "sie" geändert in "Sie" (Sehen Sie einmal mich an --) Seite 31: "sie" geändert in "Sie" (Sehen Sie mich an!) Seite 31: "." eingefügt (=Holzheim= [die Karten zusammenraffend].) Seite 31: "." eingefügt ([Großer Lärm, Meinungsverschiedenheiten, Auszahlung.]) Seite 31: "Professer" geändert in "Professor" (ist der liebe Herr Professor noch so jung) Seite 32: "Sie" geändert in "sie" ([sie schlägt sich auf den Mund]) Seite 32: "[" und "]" eingefügt. ([Der junge Hasselstein tritt ein.]) Seite 32: "Biblioteken" geändert in "Bibliotheken" (in Bibliotheken und so weiter) Seite 32: "[" geändert in "]" (=Alle= [sehr einschmeichelnd]. Beste Frau Oberst!) Seite 32: "das" geändert in "daß" (daß die Verfasserlaufbahn keine sichere Versorgung) Seite 32: "Man" geändert in "Mann" (für einen heiratsfähigen Mann ist) Seite 33: "." eingefügt ([Es wird mit viel Lärm ausgezahlt.]) Seite 33: "überans" geändert in "überaus" (so überaus in Anspruch genommen) Seite 34: "Mam" geändert in "Mama" (bei Mama verweilen zu können) Seite 34: "]" eingefügt (begleiten die Gäste bis zur Tür zur Rechten.]) Seite 35: "allin" geändert in "allein" ([Mutter und Sohn allein.]) Seite 36: "--" eingefügt (engherziger Beurteilung gewichen, -- gewichen, auf daß) Seite 36: "," eingefügt hinter "Mutter" (Ich prüfte mich, Mutter, und weiß) Seite 37: "." eingefügt (Man kann unliebsamen Personen aus dem Wege gehen.) Seite 37: "Glanbst" geändert in "Glaubst" (Glaubst du, daß dein Glück von Dauer) Seite 38: "." eingefügt (=Hans Georg= [bitter].) Seite 38: "." eingefügt (und blickt zärtlich in ihr Antlitz].) Seite 38: "wircklich" geändert in "wirklich" (Kannst du es wirklich nicht über dich gewinnen) Seite 38: "Haselstein" geändert in "Hasselstein" (=Hasselstein= [sich die Tränen abtrocknend].) Seite 40: "daß" geändert in "das" (ich liebe, das ich zu meiner Lebensgefährtin erwählt) Seite 40: "[" eingefügt ([Die Türe zur Rechten öffnet sich geräuschvoll) Seite 41: "." eingefügt (=Regierungsrat Pottenmiller.= Willkommen daheim,) Seite 42: "." eingefügt ([Spöttisch.] Er denkt wahrscheinlich wieder an eine) Seite 42: "[" eingefügt ([Ein Stubenmädchen öffnet die Tür) Seite 42: "]" eingefügt (und läßt Roden und Norry eintreten.]) Seite 44: "." eingefügt (=Alle drei Herren= [mit tiefen Seufzern].) Seite 44: "kmeine" geändert in "meine" (Gemüt braucht meine künftige Frau) Seite 44: "sann" geändert in "kann" (Ich kann statt dessen ja jede Woche) Seite 45: "sie" geändert in "Sie" (O glauben Sie das nicht!!!) Seite 46: "," geändert in "." (=Roden= [im gleichen Ton].) Seite 47: "dnmmvergnügt" geändert in "dummvergnügt" (=Ladislaja= [lächelt dummvergnügt vor sich hin].) Seite 48: "." entfernt hinter "[sie seufzt]" (Hans Georg liebt sie -- [sie seufzt]) Seite 48: "." eingefügt (=Hermine.= -- und tugendhaft) Seite 48: "anspruchgloser" geändert in "anspruchloser" (Je weniger auffallend die Erscheinung um so anspruchloser) Seite 48: "." eingefügt (=Frau Knute.]= -- und weniger zur Koketterie geneigt) Seite 48: "Ladaslaja" geändert in "Ladislaja", "." eingefügt (=Ladislaja.= -- und reineren Herzens --) Seite 49: "Jugfrauenvereins" geändert in "Jungfrauenvereins" (Schneiderabenden des katholischen Jungfrauenvereins) Seite 49: "--" eingefügt (sehr erröten, wenn man Anspielungen -- an) Seite 50: "uur" geändert in "nur" (dem jungen Prediger nur in die Augen schauen) Seite 51: "," eingefügt (deine Laufbahn ist vernichtet, wir alle mit Schande) Seite 51: "Nachdruch" geändert in "Nachdruck" (=Hans Georg= [laut, mit Nachdruck].) Seite 52: "." eingefügt hinter "Fr. H" ([Weich zu Fr. H.] Was sagst du mir, Mutterl!) Seite 52: "Srich" geändert in "Sprich" (Sprich, Mutter!) Seite 53: "Vorurteilswillen" geändert in "Vorurteils willen" (eines Vorurteils willen in den Staub treten) Seite 53: "laugsam" geändert in "langsam" (das Beste in mir langsam aber sicher zerstören) Seite 53: "," eingefügt (ich beschwöre dich, bedenke --) Seite 53: "genung" geändert in "genug" (Er wird schnell genug einsehen) Seite 54: "Meuschlichkeit" geändert in "Menschlichkeit" (in Menschlichkeit bedeutend überlegen sind) Seite 54: "Bemerkuug" geändert in "Bemerkung" (=Frau Knute= [Rodens Bemerkung beantwortend].) Seite 55: "7." geändert in "6." (6. Auftritt.) Seite 56: "Hnns" geändert in "Hans" (=Hans Georg= [von dem einen auf den anderen blickend].) Seite 56: "]." eingefügt (=Norry= [einfallend]. -- die Kringhäusler!) Seite 57: "Dassellle" geändert in "Dasselbe" (Dasselbe Zimmer wie im zweiten Akt.) Seite 57: "1. Auftritt." eingefügt Seite 57: "vou" geändert in "von" (Frau Hasselstein schluchzt von Zeit zu Zeit tief auf) Seite 57: "Mitteilnngen" geändert in "Mitteilungen" (wertvolle Mitteilungen über die Flora) Seite 57: "besondes" geändert in "besonders" (besonders interessante Aufschlüsse) Seite 57: "auftretenten" geändert in "auftretenden" (in kleineren Exemplaren auftretenden Polypen) Seite 57: "Fangmetode" geändert in "Fangmethode" (die Fangmethode desselben besser zu prüfen) Seite 58: "Unglünsstätte" geändert in "Unglücksstätte" (nicht weit von der Unglücksstätte) Seite 58: "Erpedition" geändert in "Expedition" (zusammen mit der Expedition auf dem Dampfer) Seite 58: "]" eingefügt ([Er legt die Zeitung langsam zusammen und setzt sich.]) Seite 59: "Fran" geändert in "Frau" (=Frau Hasselstein= [bitterlich weinend].) Seite 59: "Tarokpartie" geändert in "Tarockpartie", "." eingefügt ([Zu den Damen der Tarockpartie.]) Seite 59: "Hasselsteiu" geändert in "Hasselstein" ([zu Frau Hasselstein, die wieder laut weint]) Seite 60: "," geändert in "." (=Frau Hasselstein= [schluchzend].) Seite 60: "tn" geändert in "in" (Man muß sich in den Willen des Höchsten mit Demut fügen.) Seite 60: "." eingefügt (während sie in neues, bitteres Weinen ausbricht.]) Seite 60: "Gegenständd" geändert in "Gegenstände" (indem er mehrere Gegenstände auf den Tisch) Seite 60: "." geändert in "," (einige von ihm gesammelte Korallen, ein Ring) Seite 61: "zügelu" geändert in "zügeln" (Meine Tante verstand nicht sein Temperament zu zügeln) Seite 62: "." eingefügt (=Hasselstein=. Wie -- wie -- war das Ende?) Seite 62: "." eingefügt hinter "]" (=Norry= [ernst zu Fr. H.]. Hätte er den Eingeborenen) Seite 63: "Hozheim" geändert in "Holzheim" (=Holzheim= [sich die Augen trocknend].) Seite 63: "Bewußtsen" geändert in "Bewußtsein" (Das ist mir jetzt in der Tat ein erhebendes Bewußtsein.) Seite 63: "rechtiges" geändert in "richtiges" (kann ich noch kein richtiges Urteil abgeben) Seite 63: "Juugfrauen" geändert in "Jungfrauen" (erröten die holdseligen Jungfrauen) Seite 63: "sie" geändert in "Sie" (Lassen Sie sich noch massieren!) Seite 63: "Krickenseld" geändert in "Krickenfeld" (=Krickenfeld= [mit Mißbilligung].) Seite 64: "," geändert in "." (=Krickenfeld.= Werde ich denn nie aussprechen dürfen?) Seite 67: "weises" geändert in "weißes" (Auf den Armen hält sie ein weißes Bündelchen) Seite 67: "5." geändert in "4." (4. Auftritt.) Seite 68: "Vater:" geändert in "Vater." (=Berta= [leise.] Wie sein Vater.) Seite 68: "." entfernt hinter "[leidenschaftlich]" (anflehen großmütig zu sein und -- [leidenschaftlich] Berta) Seite 68: "." entfernt hinter "legt" ([weich, als Berta schweigend das Kind in ihre Arme legt]) ] *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KRINGHÄUSLER *** ***** This file should be named 64193-0.txt or 64193-0.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: https://www.gutenberg.org/6/4/1/9/64193/ Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works even without complying with the full terms of this agreement. See paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic works. See paragraph 1.E below. 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. If an individual work is unprotected by copyright law in the United States and you are located in the United States, we do not claim a right to prevent you from copying, distributing, performing, displaying or creating derivative works based on the work as long as all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily comply with the terms of this agreement by keeping this work in the same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when you share it without charge with others. 1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in a constant state of change. If you are outside the United States, check the laws of your country in addition to the terms of this agreement before downloading, copying, displaying, performing, distributing or creating derivative works based on this work or any other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning the copyright status of any work in any country other than the United States. 1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg: 1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed, copied or distributed: This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. 1.E.2. 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Additional terms will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the permission of the copyright holder found at the beginning of this work. 1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm License terms from this work, or any files containing a part of this work or any other work associated with Project Gutenberg-tm. 1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this electronic work, or any part of this electronic work, without prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with active links or immediate access to the full terms of the Project Gutenberg-tm License. 1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary, compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any word processing or hypertext form. 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56045-0
Project Gutenberg's Erzgebirgische Geschichten. Erster Band, by August Peters This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org/license Title: Erzgebirgische Geschichten. Erster Band Author: August Peters Release Date: November 25, 2017 [EBook #56045] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ERZGEBIRGISCHE GESCHICHTEN. *** Produced by The Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This transcription was produced from images generously made available by Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State Library.) Anmerkungen zur Transkription Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist +so ausgezeichnet+. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so markiert~. Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches. Erzgebirgische Geschichten von Elfried von Taura, Verfasser von: »Die stille Mühle« etc. etc. [Illustration] Erster Band. Hannover. Carl Rümpler. 1858. Druck von August Grimpe in Hannover. Inhalt. Bretschneiderfritz. Die Fundgrube Vater Abraham. Der Gimpelkönig. I. Bretschneiderfritz. 1. Hoch auf dem Plateau des Erzgebirges, in der nordöstlichen Nachbarschaft des Keilberges, erhebt sich, weit nach Mitternacht und Morgen sichtbar, die rautenförmige Basaltkegelgruppe des Bärenstein, Scheibenberg, Pöhlberg und Haßberg. Es ist ein Raum von wenig Geviertstunden, den sie umschließt, aber ein Raum voll landschaftlicher und menschlicher Contraste. Die üppigsten Wiesengründe wechseln mit kahlen Bergkuppen und hochgethürmten Felsen, die herrlichsten Tannenwälder mit den traurigsten Torfmooren, die belebtesten, von bienenfleißigen Menschen wimmelnden Gegenden mit menschenleeren Wüstungen und die abgeschliffensten, auf der Höhe der Civilisation stehenden Stadtbewohner mit Gemeinden, die noch um Jahrzehente hinter jenen zurück sind. Tiefer als die Kluft, welche die Gegensätze der Bildung scheidet, kann das tiefe Thal nicht sein, welches die ganze Fläche in zwei Hälften scheidet, eine östliche und westliche. Aber von welchen Gegensätzen wüßte der Bach zu erzählen, der das Thal bald sanft, bald wild durchströmt, wenn wir ihn fragen wollten! Es genügt hier zu wissen, daß er in seinem obern Lauf die Grenze zweier Staaten und zweier Kirchengebiete bildet, daß er anfangs durch ein flaches Wiesenthal, dann durch ein enges, tiefes, felsiges Waldthal und endlich durch das tiefe und weite Thal von Königswald fließt. Da wo der schöne Bach die Grenze eines der augenfälligsten landwirthschaftlichen Contraste überschreitet, an der untern Oeffnung des erwähnten Waldthales, bespült er den Garten einer Försterei und treibt unterhalb derselben eine Mahl- und Sägmühle, oder, wie man hierzuland sagt, Bretmühle. Es wird mir weh ums Herz, so oft ich an diese Bretmühle denke. Denn immer muß ich da auch an den armen Bretschneiderfritz denken, der einst dort lebte und, wiewohl er fast nie aus dem Thal gekommen, mehr erlebte als manches Menschenkind, das die halbe Welt am Wanderstabe durchmessen. Wenn ich so um zwanzig Jahre in meiner Erinnerung zurückgehe, was war da der Bretschneiderfritz von Königswald für ein Mann! Alt und Jung hatte ihn gern und ehrte ihn als Einen, der sein Fach verstand und auch noch etwas mehr, der dabei ein rechtschaffen Stück Geld verdiente und »lebte und leben ließ.« Zwar der Förster drüben über dem Bach war nicht ganz gleicher Meinung mit den Königswaldern, denn er hatte den Fritz im Verdacht, daß er um die schönen Stämme und Klötze wisse, die von Zeit zu Zeit aus dem Theile des Reviers verschwanden, welcher mit dem Pöhlwasser zunächst der Bretmühle »raint«. Er konnte jedoch nichts auf ihn bringen, und so blieb Fritzens Ansehen bei den Königswaldern ungeschmälert. Er war kein Jüngling mehr, denn er hatte bereits in den Zwanzigern nichts mehr zu suchen, doch war er noch immer ein Junggeselle. Nicht als ob es ihm an Gelegenheit zum »Freien« gefehlt hätte! In Königswald mangelt es so wenig als anderwärts an heirathslustigen Jungfern, und da der Fritz ein »feiner Bursch« war, so hätte mehr als eine und nicht die schlechteste mit beiden Händen zugegriffen, wenn er gesagt hätte: »Nimm mich!« Aber unser Fritz war ein wenig wählerisch und zuletzt gab es nur Eine in Königswald, der er Herz und Hand schenken mochte, das war +Kordel+, die Mündel seines Brodherrn, des Müllers. Da hatte es nun so seinen besondern Haken, daß Fritz mit seinem Werben nicht recht vom Flecke kam. Nicht als ob er dem Mädchen nicht angestanden hätte, im Gegentheil, sie hatte deß vor ihren Freundinnen gar keinen Hehl, daß sie den Fritz gern habe; aber dieser war so bis über die Ohren in sie verliebt, daß er nicht wußte, wie er an sie kommen sollte. Das Mädchen hatte so sein eigenes Köpfchen, was sie von allen schönen Königswalderinnen unterschied: wie sie immer etwas Apartes vor diesen haben mußte, sei es nun an ihren Kleidern oder in der Art, wie sie das üppige kastanienbraune Haar scheitelte und aufsteckte, so wollte sie auch von den Männern anders genommen sein, wie jene, namentlich wollte sie dem Mann ihrer Wahl keinen Schritt entgegengehen, woran es die andern jungen Königswalderinnen keineswegs fehlen ließen. Dem Bretschneiderfritz machte Kordel's zurückhaltendes Wesen viel Herzensnoth, und in dieser verfiel er auf einen Weg, auf den er am allerwenigsten hätte verfallen sollen: er entdeckte sich dem Müller und bat ihn um seine Fürsprache. Der Müller sagte ihm ihre Hand ohne Weiteres zu, gerade als ob er als Vormund nur so mir nichts dir nichts über ein freies Menschenwesen hätte verfügen dürfen. Es war ihm indeß mit seiner Zusage gar nicht so ernst, wie er that, wenigstens schob er ihre Erfüllung auf die lange Bank, und das war Fritzens Unglück. In Königswald hieß es schon lange, daß Fritz und Kordel auf dem Punkte ständen, ein Paar zu werden; da fehlte es denn wie gewöhnlich nicht an spitziger Neckerei, noch an neidischer Afterrede. Wäre das Gerücht wahr gewesen, so hätte sich Kordel aus Beidem nichts gemacht, aber da die Sache noch im weiten Felde stand, Fritz noch kein Sterbenswörtchen von Liebe und Heirath zu ihr gesagt hatte, so verdroß es sie, so »in der Leute Mäuler herumzugehen«, und sie wurde dem Fritz fast böse, daß er das Gerücht vom Brautstand veranlaßt und doch nicht wahr machte. Als es ihr gar zu bunt ward, meinte sie, sie wolle dem Gerede bald ein Ende machen; es müsse ja der Fritz nicht sein; es gäbe der Bursche noch genug in der Welt, und der erste Beste, der sie haben wolle, und der ihr gefalle, solle sie heimholen. -- »Ja« -- mußte sie aber dann lächelnd einwenden -- »wenn nur erst Einer käme, so »fein wie der Fritz« oder »noch a Bissel feiner.« -- »Je nun« -- raisonnirte der Trotzkopf, sich stolz in die Höhe werfend, weiter -- »wer weiß, es kann morgen Einer kommen.« Es war eines Sonntags, als sie aus der Kirche kam, wo sie dieses Selbstgespräch hielt, und sie war dazu durch die Neckerei ihrer Freundinnen auf dem Kirchhof veranlaßt worden. Ihr Weg führte sie an ihrem von den Eltern ererbten Häuschen vorüber, welches jetzt eine alte Muhme bewohnte, die als Sibylle von Königswald bei allen jungen Mädchen, verliebten Burschen, wie lottospielenden Weibern und Männern des Ortes in hohem Ansehen stand. Kordel fand sich bei den letzten Worten ihres Selbstgesprächs gerade vor ihrem Besitzthum; was war bei der Richtung ihrer Gedanken natürlicher, als daß sie hineinging, die »Muhme Beate« zu fragen, was für ein Mann ihr beschieden wäre. Die Alte empfing ihre jugendliche Hauswirthin mit zuvorkommender Dienstwilligkeit -- ihr sibyllinisches Buch aus zweiunddreißig Blättern lag auf dem Tisch, eh' Kordel ihren Wunsch noch ausgesprochen hatte. Richtig! da war es ja ganz offenbar: ihr war »ein junger, schöner Herr in einem grünen Rock« beschieden, nicht aus Königswald, sondern weit, weit her -- aus Leipzig oder Dresden, wo nicht gar aus Bautzen;« er war bereits unterwegs und eh' drei Tage vergingen, konnte sie ihn schon gesehen haben. Es soll mich wundern, wenn Kordel an diesem Abend so geschwind eingeschlafen ist, wie sonst, und wenn sie nicht von dem Grünrock geträumt hat. Der Montag verging, ohne daß er ihr den Verheißenen vor die Augen brachte, so oft sie auch zum Fenster hinaussah oder sich im Hofe, im Garten und auf der Wiese zu thun machte. Aber sonderbar -- Abends beim Essen erzählte der Müller, daß beim Förster drüben ein neuer Gehülfe angekommen sei, ein »kreuzfideler Kauz«, mit dem er auf dem Weiperter Blechhammer einen so vergnügten Nachmittag zugebracht habe, wie lange keinen. Kordel wurde roth bis in den Nacken, und diese Nacht träumte sie wirklich von einem Grünrock. Am andern Morgen litt es sie nicht im Hause; kaum hatte sie ihren Kaffee getrunken, so nahm sie Sense und »Wetzkitze« und eilte auf die Wiese, die der Pöhlbach vom Garten des Försters trennte, dort zu mähen. Denn der Müller hielt sie nicht zum Staat in seinem Hause, sondern ließ sie ihr Brod ordentlich verdienen. Sie hatte kaum zwei Schwaden nieder, da horch! -- so etwas hatte sie noch nie gehört, -- aus dem offenen Giebelfenster des Forsthauses sang eine Tenorstimme, gegen welche die des Kantors nur heiseres Gekrächze war, das schöne Lied: »Es blies ein Jäger wohl in sein Horn -- trarah -- trarah -- trarah etc.« Das Mädchen vergaß gar das Mähen über den wunderholden Tönen, und die Empfindungen, welche Text und Melodie athmen, strömten in solchen Schauern durch ihre Brust, daß diese das fesselnde Mieder zu zersprengen drohte. Auch den Bretschneider lockte der ungewohnte Sang an sein Fensterlein, das nach dieser Seite herausgeht, und wie ihm wurde, als er sein Lieb nur fünfzig Schritte von dem Forsthause auf ihre Sense gelehnt in Zuhören versunken sah, das will ich Niemand sagen. Aber es sollt' ihm noch schlimmer werden. Denn das Lied war kaum zu Ende und Kordel hatte kaum die Sense wieder in Bewegung gesetzt, da kommt ein schlanker grünrockiger Gesell mit fliegenden schwarzen Locken zum Forsthause heraus, setzt wie ein Hirsch über den Bach und ist wie der Blitz an Kordel's Seite. »Guten Morgen, Jungfer Nachbarin!« grüßte der Wildfang. -- »So schöne Gelegenheit, Unterricht in der Landwirthschaft zu erhalten, finde ich im Leben nicht wieder; da muß ich gleich Stunde nehmen. Ich bitte!« Und damit nimmt er die Sense aus der Hand des erglühenden und bebenden Mädchens. »Ach, verzeihen Sie!« fährt er zu sprechen fort. -- »Ich habe Sie erschreckt -- dictiren Sie mir welche Strafe Sie wollen, und zürnen Sie mir nicht!« »Geben Sie mir meine Sense!« stammelte das verlegene Kind. »Warten Sie nur einen Augenblick!« versetzte der kecke Mensch. -- »Wenn Sie mir böse sind, so muß ich Ihren Vater, das fidele Haus, rufen, daß er meinen Advocaten bei Ihnen mache.« »Der Müller ist nicht mein Vater«, versetzte sie, »sondern nur mein Vormund.« »So vertritt mein alter Freund von gestern also doch Vaterstelle bei Ihnen. Wie ist es, muß ich mir seinen Beistand erbitten, oder verzeihen Sie mir so?« »Ich habe ja nichts zu verzeihen.« »Wohlan, Ihre Hand! O welche allerliebste kleine Hand! Man sollte nicht meinen, daß sie solche Arbeit verrichten könnte.« »O Sie sollen gleich sehen, ob sie's kann; geben Sie mir nur die Sense!« Er behielt sie jedoch und schickte sich an, eine Schwade zu hauen. »Um Gotteswillen!« schrie das Mädchen, ihm in den Arm fallend, »so hauen Sie sich ja die Zehen weg.« Und nun nahm sie die Sense und zeigte ihm, wie man sie führen müsse. Dem Allen mußte der gute Bretschneider von seiner Bretmühle aus zusehen, und ihm war, als ob die kreischende Säge hinter ihm mitten durch sein Herz schnitt. Jetzt -- das sah er ein -- war es die höchste Zeit, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen, sonst war es für ihn verloren. Er eilte stracks hinüber in die Mühle, um mit seinem Herrn ein ernstes Wort über die Heirathsangelegenheit zu reden. Leider war der Müller ausgegangen und Fritz mußte sich gedulden bis Mittag. Als er wieder über den Hof ging, begegnete ihm die von der Wiese zurückkommende Kordel. Er sah sie mit einem traurigen und doch so innigen Blick an, daß er ihr durch die Seele drang. Jetzt hätte er dreist sein und sein ganzes Herz vor ihr bloß legen sollen; gewiß, sie hätte ihm nicht widerstanden, und wenn sie einmal Ja gesagt, da wäre sie ihm auch treu geblieben, und es wäre ganz anders geworden mit dem armen Fritz -- aber auch mit ihr. Allein er seufzte blos, und ging zu seiner Säge -- mit der konnte er um die Wette seufzen. 2. Am Mittag, gleich nach dem Essen, als Kordel bereits wieder draußen herumwirthschaftete, zog Fritz den Müller mit sich auf die Bretmühle. Wie bekannt hat jede Schneidemühle ein Souterrain, in welchem sich die Radstube befindet. Dort häufen sich auch die von oben herabfallenden Sägespäne auf. Es mußte sich gerade treffen, daß Kordel, um dergleichen Späne einzufassen, sich in der Radstube befand, als Fritz und der Müller oben ankamen und sich auf den vor der Säge liegenden Klotz setzend, ein Gespräch begannen, in welchem das Mädchen fast das erste Wort war. Kordel war bestimmt nicht die Neugierigste ihres Geschlechtes, aber in diesem Falle konnte es ihr Niemand verargen, wenn sie sich nahe herbeischlich und sich hütete, ihre Anwesenheit zu verrathen. Der Bretschneider machte dem Müller Vorwürfe, daß er sein Versprechen bis heute nicht erfüllt hatte. Der Müller entschuldigte sich damit, daß es noch immer nicht habe passen wollen, fügte aber hinzu, daß er dem Fritz diesen wichtigen Dienst nur um einen Gegendienst leisten könnte. Auf Fritzens Befragen, was für Einer das wäre, antwortete der Müller: »Das kann Er sich schon denken, Fritz! Er soll mir zu meinem Eigenthum verhelfen, den achtzehn Fichten oben an der Waldecke hinter der Mühle.« Fritz kratzte sich hinter den Ohren und sagte kein Wort. »Er meint doch nicht, es wäre ein Unrecht,« fuhr der Müller fort, »wenn wir die Fichten holen? Sie gehören mir von Rechtswegen; der Boden, worauf sie stehen, gehört zu meiner Mühle; der frühere Förster hat bei Lebzeiten meines Schwiegervaters die Grenzsteine verrückt und so die schönen Fichten, wie er keine auf seinem Revier hatte, an den Staatswald gebracht.« »Warum suchen Sie denn Ihr Recht nicht?« fragte Fritz. »Red' Er mir nicht von Rechtsuchen dem Fiskus gegenüber!« versetzte der Müller. »Soll ich mich um die Mühle prozessiren? Er weiß doch, wie es den Grumbachern geht, die nun seit funfzig Jahren wegen des Streitwaldes mit dem Fiskus im Proceß liegen. Fritz -- sei Er nicht wunderlich! Es ist ja keine Gefahr bei der Sache. Der neue Forstgehülfe ist auf dem Revier noch unbekannt, auch bin ich bereits gut Freund mit ihm und will ihn schon lenken.« Fritz schüttelte den Kopf und sagte: »Mit dieser Sache möcht' ich nicht gern zu schaffen haben.« »So hab' ich auch nichts mit Seinen Absichten auf die Kordel zu schaffen und ich gebe sie, wen sie sonst will.« Damit erhob sich der Müller und ließ den armen Fritz in der traurigsten Stimmung sitzen. Kordel hatte von dieser Unterredung nicht ein Wort verloren. Sie vergaß die Sägspäne vor Zorn über den Vormund, daß er sie um achtzehn Fichten verkuppeln wollte und auch über den Fritz, daß er sich mit seiner Werbung an den Vormund statt an sie selber gewendet hatte. Ihr Groll gegen den Vormund milderte sich indeß schon am Abend; denn da brachte er den Forstgehülfen mit nach Hause. Dieser hatte jetzt seinen grünen Anzug durch einen Tirolerhut vervollständigt, der ihm verwegen auf dem rechten Ohre saß. Statt Büchse und Waidtasche trug er ein weit friedlicheres Instrument am Arme: eine Guitarre, auf der er im Schreiten über die Hausflur bis in die Mitte der Stube einen Marsch spielte, zum Ergötzen der Müllerin und des gesammten Hausgesindes, nur nicht des Bretschneiders. Der ärgerte sich über die Musik dermaßen, daß er mit einer verteufelten Unmusik gegen sie ins Feld rückte: er nahm die Feile zur Hand und fing an, die Säge in einer Weise zu schärfen, daß es über eine halbe Stunde weit schrillte. Da konnte der Jäger allerdings nicht spielen und singen, weshalb die Müllerin hinausrannte und dem Fritz das Schärfen untersagte. Der Forstgehülfe war in der That ein Sänger, wie ihrer nicht viele in grünen Pikeschen umherlaufen. Hätt' er nur einen bessern Gebrauch von seiner schönen Gottesgabe gemacht. Die gute Kordel hatte gar keine Ahnung, was für ein Springinsfeld der dunkellockige Sänger war, sonst hätte sie seinen schmeichelnden Tönen nicht so freien Eingang in ihr Herz gestattet, wie es schon am Morgen der Fall gewesen war und noch weit mehr diesen Abend geschah. Und diesem Abend folgten noch andere, ja, einen wie den andern stellte sich der Jäger ein, und eh' die Woche um war, fand er sich in der Mühle wie zu Hause, und Kordel's Herz hing wehrlos in seinem aus Gluthblicken und Tönen gewobenen Liebesnetz. Um den Bretschneiderfritz war es geschehen. Am Sonntage mußte er sehen, wie Kordel in Begleitung des Müllers und des Grünrocks in »das Gericht« zu Tanze ging. Da fuhr die Hölle in sein Herz, und wie er ihnen nachsah, ballte er seine Faust und sprach: »Warte, du Tagedieb, dich will ich bald aus meinem Gehege vertreiben.« Darauf zog er sich an und ging ebenfalls in das Gericht. Der Bretschneiderfritz war kein Säufer, und Niemand in ganz Königswald konnte auftreten und sagen, er habe ihn ein einziges Mal betrunken gesehen; heute betrank er sich, und das Bißchen Verstand, welches der Teufel der Eifersucht ihm noch gelassen, das trieb der Schnapsgeist vollends aus. Zwar war er nicht so voll, daß er taumelte, als er sich vom Müller bereden ließ, aus der Schänkstube hinauf in den Tanzsaal zu gehen, aber wer ihn kannte, sah, daß das Thier in ihm jetzt die Oberhand hatte. Die Kordel sah es ihm gleich an, als er auf sie zukam, und obschon sie nicht wagte, ihm den Tanz abzuschlagen, so riß sie sich doch gleich von ihm los, als er sie fest an sich riß, daß es ihr den Athem versetzte. Er wollte sich ihrer wieder bemächtigen, aber sie stieß ihn mit solcher Heftigkeit von sich, daß er zu Boden taumelte. Der Müller hob ihn auf und führte ihn fort, während Kordel sich unter den Schutz des Forstgehülfen flüchtete. »Herr!« sprach Fritz zum Müller, als sie wieder nach der Schänkstube gingen, »wollen Sie die Fichten noch haben?« »Er holt sie mir doch nicht,« erwiederte der Müller kühl. »Ich hole sie -- heute Nacht noch fang' ich an. Geben Sie auf die Kordel Acht und halten Sie den Försterburschen auf!« »Verlaß Er sich auf mich!« sagte der Müller, worauf Fritz, ohne noch ein Wort zu sagen, davon eilte. Der Forstgehülfe ließ sich nur zu gern halten, weniger durch das Zureden des Müllers, als durch den Zauber, den Kordel auf ihn übte. Es graute schon der Tag, als die drei Nachtschwärmer in die Mühle zurückkehrten. Der Forstgehülfe hängte sein Gewehr über, das er hier eingelegt hatte, nahm mit einem Kusse von Kordel Abschied und eilte dem Walde zu, um da nachträglich seine Pflicht zu erfüllen. Als er aber an ein wunderheimliches Plätzchen kam, wo ein von jungen Tannen beschatteter schwellender Mooshang zum Ruhen einlud, meinte er, es sei Eins besser als das Andere, legte sich und schlief ein. Erst als die Mittagssonne durch eine Oeffnung des dichten Gezweiges ihm ins Gesicht schien, erwachte er, und da mußte es sich noch schicken, daß ihm zwei Weiber mit schwergeladenen Holzkörben in den Weg kamen, gegen die er das Interesse des Staates durch Pfänden und Aufschreiben der Namen wahren konnte. Glücklich, zwei schneidende Beweise seines Diensteifers -- eine Handsäge und ein Beil -- dem Prinzipal überliefern zu können, betrat er das Forsthaus -- aber mit einem »Hol' Sie der Henker mit Ihrem Bettel da!« wurden ihm die Pfänder von dem erzürnten Förster vor die Füße geworfen. »Bei Ihnen heißt es wohl auch: Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man laufen?« fuhr der Förster fort; »hätten Sie lieber aufgepaßt, daß man nicht die drei schönsten Fichten im Walde gestohlen hätte, als daß Sie auf ein paar alte Weiber mit Kaffeeholz fahndeten. Wenn Sie sich noch eine solche Nachlässigkeit zu Schulden kommen lassen, so sind wir auf der Stelle geschiedene Leute. Von heute an inspiciren Sie lediglich den Kriegwald, und da haben Sie Acht auf die Bretmühle, denn irre ich nicht, so haust dort unser Dieb, obgleich eine genaue Haussuchung in allen Ställen und Schuppen der Mühle nicht das Geringste ergeben hat.« 3. Als der Gehülfe am Nachmittage den Platz besah, wo in der Nacht die stattlichen Bäume verschwunden waren, wurde es ihm gleich klar, daß dieselben nicht gut anders wohin als in die Mühle gewandert sein konnten. Sicher aber war der Müller unschuldig daran, denn wie sollte ein so bemittelter Mann Holz stehlen? Er ließ sich daher durch den Vorfall nicht abhalten, gegen Abend wieder in die Mühle zu gehen und eine Blumenlese theils verliebter, theils lustiger Lieder zum Besten zu geben. Länger aber als bis es finster geworden war, ließ er sich diesmal nicht halten, sondern er ging an seinen Posten, schwörend, daß wenn die Diebe heute kämen, sie ihren Mann finden sollten. Sie kamen aber nicht, und auch die folgende Nacht nicht, noch die dritte. In der vierten Nacht meinte der junge Forstwart, es sei doch eine Thorheit, da umsonst und nichts im kühlen Forst die halbe Nacht hindurch zu wachen, statt mit dem nettesten Mädchen, das je an eines Waidmanns Brust gelegen, zu kosen. Er ging zwar wie gewöhnlich um neun Uhr aus der Mühle fort und hinauf in den Wald, aber als im Dorfe der Wächter die zehnte Stunde abblies, schlich er sich wieder in die Mühle, wo Kordel ihn bereits erwartete -- das arme, arme Ding! -- Als am frühen Morgen der pflichtvergessene Bursche aus Kordel's Armen hinauseilte nach dem Walde, rührte ihn das Gewissen nicht, daß er ein holdes Menschenleben vergiftet hatte; dagegen wurde er von dem Anblick der drei frischen Stöcke, die neben den drei ersten entstanden waren, wie vom Donner gerührt. Jetzt mußte er aus dem Dienst, das wußte er, denn der Förster spaßte nicht, und dies und wieder dies allein war sein Gedanke und seine Sorge -- was aus der armen Kordel werden würde, daran dachte er nicht im Geringsten. Aber vielleicht konnte sie ihm zur Entdeckung des Diebes behülflich sein -- dieser Gedanke trieb ihn flugs in die Mühle zurück, wo, wie er wußte, Kordel noch wachte, da sie jetzt den Backofen zu heizen hatte. Kordel saß, beleuchtet von der röthlichen Flamme, die sie eben angezündet hatte, auf den Stufen vor dem Backofen und hatte ihr Antlitz in die Schürze gehüllt, als der Verführer wieder zu ihr trat. Sie fiel ihm weinend um den Hals und dankte, daß er wiederkomme, denn ihr sei so angst und bange geworden, seit er sie verlassen. »O nicht wahr« -- fuhr sie, ihm in die verführerischen Augen blickend, fort -- »nicht wahr, Du verlässest mich nicht?« »Wenn ich nur nicht muß, lieber Schatz!« erwiederte er, sie küssend. Das Mädchen fuhr erschrocken zurück und fragte, wie er das meine? Nun berichtete er ihr seine Entdeckung, theilte ihr mit, was er zu erwarten habe, und versetzte sie dadurch in die schrecklichste Angst. Gleichwohl gelang es ihm nicht sogleich, ihr das Geheimniß, um das sie wohl wußte, zu entlocken, erst nachdem er sie überredet hatte, daß das Vergehen mit einigen Wochen Gefängniß gesühnt sei, und als er mit traurigen Geberden für immer von ihr Abschied nahm, verrieth sie ihm den Ort, wo die entwendeten Fichten, in Klötze geschnitten, untergebracht waren; mehr aber konnte er nicht von ihr erfahren. Der Müller saß mit seinen Leuten beim Frühstück, als der Förster mit einem Gerichtsschöppen erschien, um abermals Haussuchung vorzunehmen. Aber diesmal nahmen sie sich nicht die Mühe, in Ställen und Schuppen herumzukriechen, sondern sie verfügten sich stracks hinter die Bretmühle, wo sie unter dem »Fluther« nach einigem Suchen ein großes verdecktes Gewölbe und darin die gesuchten Klötze entdeckten. Der Müller schien nicht im Geringsten verlegen bei dieser Entdeckung; er fluchte auf die Diebe, die sein Haus verunehrten, und that, als ob er nicht das Mindeste um das Vergehen wüßte, was der Förster auch glaubte, da er einem solchen Manne, der noch dazu sein Gevatter war, eine solche Handlung nimmermehr zutraute. »Ich habe dem Bretschneider schon lange nicht getraut,« erklärte er, »und kein Anderer als er und der Kadenlieb sind die Diebe.« Am folgenden Tage wurde der Bretschneiderfritz mit dem Tagelöhner »Kadenlieb« ins Amt abgeführt. Der Müller mußte zwar auch mit, aber nach kurzem Verhör wurde er als ein angesessener Mann entlassen. Den Bretschneider und seinen Mitverdächtigen sperrte man ein. Sie bekannten ihr Vergehen gleich im ersten Verhör, ohne die Mitschuld des Müllers anzugeben. Keiner von Beiden hatte eine Ahnung von dem Schicksale, das ihnen bevorstand. Walddiebstähle waren im Königswalder Forst keine Seltenheit, aber der höchste, der bis dahin an Königswalder Einwohnern gestraft worden war, hatte den Betheiligten nicht über drei Monate Gefängniß gebracht. Daß man wegen Waldfrevel ins Arbeitshaus kommen könne, das schien den Beiden ebenso unmöglich wie andern Königswaldern, denn welcher gemeine Mann kennt die so und so viel Paragraphen der verschiedenen Strafgesetzbücher? Wie erschraken daher die Inkulpaten, als ihnen nach halbjähriger Untersuchungshaft das Urtheil eröffnet wurde, welches über den Bretschneider drei und über den Kaden anderthalb Jahre Arbeitshaus verhängte! Der Letztere faßte sich zwar bald wieder und tröstete sich, es werde wohl auszuhalten sein, aber den Ersteren erschütterte der harte Richterspruch so tief und dauernd, daß sein Mitgefangener (seit die Akten spruchreif waren, hatte man die beiden Schuldgenossen zusammengesperrt) fortwährend befürchtete, er möchte sich »ein Leid anthun.« Und wer weiß, was geschehen wäre, hätte nicht vierzehn Tage nach der Urtheilsverkündigung der Amtswachtmeister folgenden Brief überbracht: »Guter, lieber Fritz! Sie sind gerächt. -- Ich habe den Ort, wo die Klötze lagen, verrathen. -- Gott weiß, ich wollte Ihnen kein Uebel zufügen -- aber die Liebe -- o Gott! wie fürchterlich bin ich für meine Verblendung gestraft! -- Ich bin nicht mehr in der Mühle -- als die Frau erfuhr, daß es anders mit mir stehe, hat sie mich aus dem Hause gejagt. Ich rannte in der Verzweiflung nach dem Hammerteich, aber der liebe Gott hat mich verstoßen, wie mich die Menschen verstießen, er ließ mich zur rechten Zeit die schwere Sünde, die ich zu begehen im Begriff stand, erkennen. -- Ich wohne nun im Hause mit der Kartenschlägerbeate zusammen. Es ist ein traurig Leben -- o wenn es überstanden wäre. Ich komme nicht aus dem Hause, selbst nicht in die Kirche, denn ich schäme mich vor den Leuten, und zu mir kommt Niemand in meinem Elend; sogar meine besten Freundinnen verachten mich, besonders seit er, dem ich meine Ehre geopfert, fort ist in die weite Welt. Nicht wahr, guter Fritz, so hätten Sie nicht handeln können? Mein Gewissen läßt mir keine Ruhe -- verzeihen Sie mir, lieber Fritz! -- ich werde ruhiger werden, wenn ich Ihre Verzeihung habe. Werth bin ich Sie freilich nicht, denn ich habe mich schwer an Ihnen versündigt und weiß auch, daß ich mein Vergehen nie wieder gut machen kann. O wenn ich doch das könnte! -- Denken Sie aber ja nicht, daß ich weiter etwas will, als Ihre Verzeihung -- daß ich ein so freches Ding wäre, welches einen braven Menschen wie Sie nun für gut genug hielte, nachdem ein Anderer sie sitzen lassen. -- Lassen Sie mir nur ein paar Zeilen zukommen, daß Sie mir nicht fluchen. Ich habe gehört, welch' ein hartes Urtheil Sie getroffen -- der Bube, der eine vater- und mutterlose Waise ins tiefste Elend stößt, geht frei aus, und ein braver Mensch, wie Sie, wird wegen ein paar Waldbäumen so entsetzlich bestraft! Aber verlieren Sie den Muth nicht -- Gott richtet anders als die Menschen, hoffen Sie auf ihn und den lieben Heiland, der uns zuruft: Kommt her zu mir, Alle, die ihr mühselig und beladen seid! -- Ich schicke Ihnen hier ein Buch mit, das ich einmal einem armen Handwerksburschen abgekauft habe; es ist eine wundersame, rührende Geschichte. Ich hätte mich gern selbst aufgemacht und Ihnen das Buch überbracht, aber ich schäme mich so. -- Der gute Vater im Himmel stärke und erhalte Sie! Ich werde allezeit für Sie beten. +Concordie E.+« Ein Thränenstrom rann über Fritzens abgehärmte Wangen beim Lesen dieses Briefes, und er konnte sich lange nicht satt daran lesen. Anfangs vermißte er das Buch gar nicht, von welchem im Briefe die Rede und das ihm doch nicht mit übergeben worden war. Er erhielt es erst zu Mittag; es war Zschokke's »Alamontade«. »Ich hoffe, Ihr werdet kein Hartkopf sein,« sprach der Wachtmeister, als er dem Fritz das Buch darreichte, »Ihr werdet das arme Frauenzimmer nicht ohne Trost lassen. Ihr wißt gar nicht, was sie für Euch gethan hat. Die Extrakost hat sie bezahlt.« »Sie? Nicht der Müller?« fragte Fritz erstaunt. »Der wird sich hüten,« erwiederte der Wachtmeister, »das würde ihn ja verdächtig machen. Die Kordel hat Alles bezahlt, mich aber gebeten, Euch nichts davon zu sagen. Und sie hat noch weit mehr thun wollen; sie hat sich erboten, die Fichten nach der Taxe zu bezahlen und auch alle Kosten, wenn Ihr freigegeben würdet. Das geht nun freilich nicht an, denn Strafe muß sein.« Fritz nahm dies Alles still auf -- er war keines Wortes mächtig vor den Empfindungen, die sich in seinem Busen drängten. Der Wachtmeister nahm sein Schweigen für »Hartköpfigkeit« und verließ ihn voll Unwillen. Aber am folgenden Morgen verlangte Fritz Papier und Schreibzeug, und als er das hatte, schrieb er einen Brief, der den Wachtmeister eines Andern belehrte. Ich habe den Brief nicht zu Gesicht bekommen, sonst würde ich seinen Inhalt ebenfalls mittheilen. Aber der Kadenlieb hat erzählt, daß dem alten Wachtmeister beim Lesen des Briefes das Wasser in den Augen gestanden hätte. Kordel's Brief und Buch waren für den gefangenen Fritz reiche Trostquellen; sein Benehmen wurde von Stund an so, daß es dem »Kadenlieb« zu seinen Befürchtungen keinen Anlaß mehr gab. Als ihm das zweite Erkenntniß, wodurch das erste bestätigt wurde, eröffnet worden war, ließ er sich ruhig und gefaßt in das Arbeitshaus abführen. Man würde sich aber sehr irren, wenn man glaubte, er hätte sich mit stoischem Gleichmuth in sein Schicksal ergeben. Zweierlei nagte an seinem Herzen und raubte ihm die Heiterkeit des Geistes und den muthigen Aufblick nach Oben, wodurch ein solches Loos erträglich wird: die Bekümmerniß um die arme, betrogene und verlassene Kordel, und der Gedanke an das Brandmal, welches seine Strafe für immer auf seinen Namen drückte. Und wie berechtigt dieser Gedanke war, das sollte er nur zu sehr erfahren. 4. Zwei Jahre hielt Fritz seine Strafe wacker aus. Sein musterhaftes Betragen gewann ihm bald die Liebe der Anstaltsbeamten und ihre menschenfreundliche Behandlung, verbunden mit der innigen Theilnahme, welche Kordel fortwährend an seinem Schicksale bezeugte, hielt ihn so lange aufrecht, und am Ende des zweiten Jahres wurde er auf nachdrückliche Verwendung des Vorstandes der Strafanstalt begnadigt. Als er, der Gewänder der Schmach entkleidet, aus dem schrecklichen Aufenthalt heraustrat und sich wieder frei in der unendlichen Behausung Gottes fand, da fiel alles Leid und alle finstere Sorge von seinem Herzen; stille bescheidene Hoffnungen hielten Einzug darin, begleiteten ihn und förderten seine Schritte nach der lieben Gebirgsheimath. Er hatte nur fünfzehn Stunden Weges bis Königswald, die gedachte er in einem Tage zurückzulegen. Er vergaß, daß er nicht mehr der frühere Bretschneiderfritz war, dem eine solche Tagereise allerdings Spaß gewesen; bevor er ein Viertel des Weges hinter sich hatte, wurde er inne, welche Verheerungen eine drittehalbjährige Haft auch in dem kräftigsten Körper anrichtet, und mit Mühe und Noth erreichte er gegen Abend das Städtchen Schwarzenberg, welches ungefähr auf der Mitte des Weges liegt. Dort suchte er in einem Gasthause ein Nachtquartier. Die Wirthin, an welche er sich deshalb wandte, machte jenes kalte Gesicht, das armen Fußwanderern gewöhnlich zu Theil wird, wenn sie in einem frequenten Gasthofe Einkehr halten; das hätte den Bretschneiderfritz jedoch wenig gekümmert, hätte die Wirthin nur nicht so schnippisch nach dem Passe gefragt. Da wurde er verlegen. Er hatte an Passes Statt nur seinen Entlassungsschein aus dem Arbeitshause -- sollte er das hochmüthige Weib mit seiner Schmach bekannt machen? Lieber hätte er ein Nachtquartier im wilden Forst gesucht, als das gethan. So schüttelte er den Staub von seinen Füßen und hinkte weiter, um in dem nächsten Dorfe Grünstädtel sein Heil zu versuchen. Aber wer weiß, wie es ihm dort wieder gegangen wäre! Glücklicherweise führte ein mitleidiger Stern einen Bergmann des Weges, der den erschöpften Pilger einholte, ein Gespräch mit ihm anknüpfte und, als er seine Lage erfahren hatte, ihn freundlichst einlud, mit ihm bis Raschau (das nur eine Viertelstunde weiter war als Grünstädtel) zu gehen und es sich eine Nacht bei ihm gefallen zu lassen. Fritz hätte dem gastfreundlichen Manne um den Hals fallen mögen, und es versteht sich, daß er sein Erbieten annahm. Die Liebe Gottes giebt sich auf mancherlei Weise kund, am schönsten aber dem Gedrückten durch mitfühlende Menschenherzen. Das erfuhr unser Wanderer so recht in der Hütte des guten Bergmanns, der »froh wie Gott« sein kärglich Mahl mit ihm theilte und ihm ein Lager zurechtmachte, wie er es seit Jahren nicht genossen hatte. Wie wohl that seinem Herzen die freundliche Begegnung, die ihm von den zahlreichen Gliedern der armen Bergmannsfamilie widerfuhr! Wie belebte sie seinen Muth, sein Vertrauen zu den Menschen, seine Hoffnungen wieder! »Ach! wie ist das Leben so schön in der Freiheit unter guten Menschen!« sprach er, als er sich auf sein Lager streckte, und nach innigem Gebete schlief er flugs und fröhlich ein. Gestärkt und im Herzen erquickt setzte er seine Reise am andern Morgen fort. Sie wurde ihm noch sauer genug, aber frohen Muthes überwand er eine bergige Strecke nach der andern, und wie die Sonne auf die Wipfel seiner heimathlichen Wälder den Scheidekuß glühete, überschritt er die letzte Anhöhe vor Königswald. Als nun die wohlbekannten Thalfluren ihm entgegenlachten, als der alte Kirchthurm und dann ein rauchender Schornstein und ein graues Schindel- oder Strohdach nach dem andern aus der Tiefe auftauchte, da erbebte sein Herz von nie empfundenem Entzücken. Das hemmte seinen wankenden Schritt -- er mußte sich am Waldsaum niederlassen, und in das blühende Haidekraut gestreckt, sog er die balsamische Luft der Heimath mit durstigen Zügen. So lag er noch, als die Abendglocke dem fliehenden Tage den Scheidegruß der Königswalder Christengemeine nachrief. Da wurde ihm weh -- recht weh ums Herz. Von den Feldern verloren sich die letzten Arbeiter und eilten heim an den traulichen Herd, in die Kreise der Ihrigen, wo das labende Mahl ihrer wartete und bald auch die erquickende Ruhe von des Tages Last und Hitze. Den armen Fritz erwartete Niemand, kein Mahl war ihm bereitet, und wo sollte er sein Haupt hinlegen? Jene Gedanken und diese Frage drängten sich ihm jetzt auf, und dunkle Schatten lagerten sich um seine Seele. Er erinnerte sich, woher er kam und was das in Königswalde zu bedeuten hatte. Es fiel ihm ein, wie die Königswalder es dem »Schneiderfriedel« gemacht hatten, der vor fünf Jahren vom Zuchthause heimgekommen war und den ihr moralischer Bettelstolz in Verzweiflung getrieben hatte. Zwar, Eine Seele lebte ihm in Königswald, bei der er eines freundlichen Empfanges gewiß sein konnte; aber das war ein lediges Frauenzimmer, bei dem er nicht herbergen konnte, zumal da sie ohnehin schon wegen ihres Fehltritts verachtet genug war. Doch stand ihm denn nicht die Mühle offen? Vielleicht -- aber ihr kennt den Fritz wenig, wenn ihr glaubt, er habe den Müller, der ihn in Schande und Elend gestürzt, dessen Weib die arme Kordel unbarmherzig aus dem Hause gestoßen, um ein Unterkommen ansprechen können. Mit dem wollte und durfte er nichts mehr zu schaffen haben. Nun, er hatte ja Verwandte in Königswald; gleich da oben im ersten Gute, da hauste seines Vaters Bruder, ein ziemlich vermöglicher Mann; weiter unten wohnten zwei Vettern, die einen einträglichen Grenzhandel trieben und außer diesen lebten auch zwei Mutterschwestern im Dorfe, der entfernten Verwandten nicht zu gedenken. Unser Fritz hatte vor seinem Unglück mit Allen im besten Vernehmen gestanden, dessen erinnerte er sich wohl, aber auch, daß sie sich während seiner Haft nicht um ihn gekümmert hatten. Was Wunder, wenn er jetzt ins Dorf zu gehen zögerte und als er sich endlich dazu entschloß, mit Bangigkeit dem Gute seines Oheims zuwankte! Seine Ahnung betrog ihn nicht. Der Oheim und seine Frau machten sehr verwunderte Gesichter, als sie den unerwarteten Spätgast eintreten sahen. Da gab es keine traute Umarmung, keinen warmen Händedruck, man bot ihm ein so kühles »Willkommen«, daß es ihm durchs Herz fuhr: man bot ihm einen Platz am Tisch, auf dem eine große Schüssel Kartoffelsuppe dampfte, aber mit so sichtbarem Mißbehagen, daß dem Gaste das Blut zu Häupten stieg. Er nahm Stock und Hut und verließ das ungastliche Haus seines nächsten Verwandten. Sollt' er nun sein Glück bei der Sippschaft weiter versuchen? Was blieb ihm übrig? Wer sollte ihn sonst freundlich aufnehmen, wenn es die Verwandten nicht thaten? Er nahm seinen Weg zum Vetter Konrad, der überdies sein Gevatter war. Hier wäre ihm auch wohl eine bessere Aufnahme zu Theil geworden, hätte der Gevatter Herrenrecht im Hause gehabt, das hatte aber die Frau Gevatterin und das war »eine hochmüthige Gans.« Ein Abendessen und ein Nachtlager sollte dem Fritz zwar gewährt werden, aber ihn ganz ins Haus zu nehmen -- das könne er nicht verlangen, meinte das Weib, ärgerlich über ihres Mannes freundliches Benehmen gegen den »Anrüchigen«. Dieser dankte für das Anerbieten und ging weiter. Der Arme! er sollte den bittern Kelch der Erfahrung, daß Vetternfreundschaft die allerunsicherste sei, bis auf die Hefen leeren. Die Vier, die er noch aufsuchte, nahmen ihn mit gleicher Kälte, wo nicht mit schwerverhaltenem Widerwillen auf; ein Nachtquartier wollten sie ihm zwar nicht versagen, und das wäre ihm auch vor der Hand genug gewesen, aber sie boten es ihm auf eine Weise, die sein Selbstgefühl empörte. Er dankte Allen und ging weiter -- aber nicht mehr zu irgend einem Gliede seiner Freundschaft, sondern aus dem Dorfe hinaus -- nach dem Gottesacker, dessen eingestürzte Mauer zu jeder Zeit den Zutritt zur stillen Wohnstatt der Todten gestattete. Im Mondschein fand er leicht die Stätte, die er suchte: das Doppelgrab seiner Eltern. Von Schmerz überwältigt sank er dort nieder und weinte und konnte lange nichts als weinen. O ihr Geister der längst abgeschiedenen Eltern! Sahet ihr aus euren seligen Wohnungen den einzigen Sohn sich winden an eurer Gruft? Sahet ihr nicht, wie seine Thränen euren zurückgelassenen Staub tränkten? Ja, ihr sahet es und ihr tratet vor Gott und batet ihn, daß er dem armen Dulder einen Engel zum Geleite sende auf der dornenvollen Bahn unter den harten, blödrichtenden Menschen. Und Gott war auch schon zuvorgekommen, der Engel war längst da, an eurem Grabe hat er sich dem Heimkehrenden schon geoffenbart durch die sinnigen Liebeszeichen, womit er euern Staub geehrt. Als Fritz sich wieder erhob, sah er das einfache Kreuz, welches er den Eltern hatte setzen lassen, mit einem frischen Kranze geschmückt und das Blumenbeet auf dem Hügel, das er angelegt hatte, so sauber gepflegt, wie er es selber kaum gethan -- er wußte gleich, wem er Beides verdanke. Er mußte sie sehen ohne Verzug -- er mußte ihr danken, und das nicht allein: er bedurfte ihres freundlichen Willkommens in der Heimath, ihres warmen, theilnehmenden Händedrucks. Der Wächter verkündete bereits die zehnte Stunde, da sah es ja Niemand, wenn er in ihr Haus ging, und ehe noch Jemand im Dorfe aufstand, konnte er es ja wieder verlassen. So schlug er denn den Weg nach ihrer Behausung ein. Durch die Ladenritzen schimmerte noch Licht, als Fritz dort ankam, die fleißige Bewohnerin klöppelte noch, -- mit hochschlagendem Herzen klopfte er an den Laden und rief sie beim Namen. Schnell wich der Riegel der Thür -- eine warme Hand zog ihn hinein -- er trat in die warme Stube -- Kordel lag schluchzend an seiner Brust. Aber war das die Kordel, die er vor wenig Jahren gekannt in der schwellenden Fülle und rosigen Frische der Jugend? O nein, das war nur der Schatten ihres holden Leibes. Mit welcher Gier hatte der nimmersatte Geier des Grams an diesen lieblichen Formen gezehrt, die ein leichtsinniger Bube frech entweihte, statt sich in Ehrfurcht zu neigen vor einem Meisterwerke seines Schöpfers! Fritz vermißte indeß keinen ihrer Reize, wenn ihm auch die traurige Verheerung ihrer Gestalt schmerzlich auffiel. Er ließ sie sich ausweinen an seiner Brust, aber er wagte es nicht, seinen Arm um ihren Leib zu legen, nur ihre Hand nahm er und preßte sie an seine Lippen. Nach dieser fast lautlosen Begrüßung führte Kordel den Gast an das Bettchen ihres kleinen Fritz (so hatte sie das vaterlose Knäblein taufen lassen), auf den die ganze Fülle und Frische seiner Mutter übergegangen zu sein schien. Dann eilte sie, ein warmes Essen für den Gast zu bereiten. Wie mundeten ihm die neuen Kartoffeln mit der frischen Butter und der durch den besten Rahm veredelte Kaffee! Zumal da Kordel ihm Gesellschaft leistete. Wie war sie so heiter, so freundlich und so sanft! Ihr besseres Theil trat geläutert und verklärt vor seinen Geist. Er sagte ihr, daß sie nicht fürchten möge, er werde sie in Verlegenheit bringen. Sie möge ihm nur ein Nachtlager auf dem Heuboden gönnen, daß er ein wenig ausruhen könnte, am Morgen mit dem ersten Hahnenschrei wolle er sich ungesehen fortmachen, sich nach einer Herberge umthun und Arbeit suchen. Doch von dem Schlafen auf dem Heuboden, dem Frühaufstehen und Ungesehenfortgehen konnte keine Rede sein; sie lächelte, als er den Grund angab, und sagte, daß sie sich vor dem Gerede der Leute nicht mehr fürchte. Mehr als sie ihr wegen des Kindes angethan, könnten sie ihr nicht anthun; in jenem Falle hätten sie allenfalls noch Grund gehabt, sie zu verachten, anders jetzt, wo sie eine heilige Pflicht erfülle, und wenn man sich gleichwohl darüber aufhielte, so dürfe und werde sie sich dadurch nicht irre machen lassen. Und sie bat den Bedenklichen in so rührenden Ausdrücken und in einer Weise, die ihn glauben ließ, er erzeige ihr eine Wohlthat, daß er sich entschloß, das Hinterstübchen, welches seit dem kürzlich erfolgten Tode der Kartenschlägerin ganz leer stand, zu beziehen, bis er irgend ein passendes Unterkommen würde gefunden haben. Ein solches zu suchen, ließ Fritz sich gleich am andern Tage angelegen sein. Er war früher ein sehr gesuchter Arbeiter gewesen; so ging er mit gutem Vertrauen aus. Aber obwohl es der Bretmühlen eine ziemliche Anzahl in dieser holz- und wasserreichen Gegend giebt, so wollte sich jetzt doch nirgends eine Stelle für ihn finden. Das machte ihn wohl etwas unmuthig, aber er verzagte darum nicht. Er verstand sich auch auf die »Zeugarbeit«, und so ging er abermals den Wässern der Umgegend nach. Aber er hatte in den Mahlmühlen eben so wenig Glück, als in den Bretmühlen; hie und da gab man ihm auf verblümte Weise zu verstehen, daß man einen Zuchthäusler nicht möge; denn Arbeitshaus oder Zuchthaus ist dem gemeinen Volke all' eins. So kehrte Fritz am Ende der zweiten Woche nach seiner Heimkunft völlig niedergeschlagen in sein Asyl zurück. Kordel gab sich die freundlichste Mühe ihn aufzurichten; sie stellte ihm vor, daß es ja nicht so dränge mit einem Unterkommen; der liebe Gott segne sie dieses Jahr reichlich mit Kartoffeln -- daß sie eine Kuh, ein Stück Jungvieh und eine Ziege halte, wisse er; ihre Wirthschaft sei bezahlt und außerdem habe sie auch noch ein paar hundert Thaler auf Interessen ausstehen. So könne sie es sich nun auch etwas leichter machen, als zeither, indem sie sich von ihm in der Wirthschaft helfen ließe. Die Arbeit aber, welche die kleine Wirthschaft für einen rüstigen Mann darbot, schien dem Bretschneider doch zu geringfügig, um sich dafür füttern zu lassen. Da er in seinem erlernten Fache nirgends ein Unterkommen fand, so entschloß er sich, bei den Begüterten von Königswald Taglöhnerarbeit zu suchen. Aber hier sollte ihm das tödtliche Gift des Mißtrauens und der Verachtung tropfenweise eingeflößt und in Galle und Blut hineingetrieben werden. Man hatte für den entlassenen Sträfling nirgends Arbeit. 5. Der Leser muß nicht glauben, daß es das +Vergehen+ des Bretschneiders war, was sie verachteten und weshalb sie ihn von ihren Thüren scheuchten, -- o da waren wohl wenige unter den wohlehrsamen Begüterten von Königswald ganz rein geschoren, so Mancher hatte dann und wann ein Stämmchen aus dem königlichen Forst geholt, ohne daß das Stempeleisen des Forstmeisters es berührt hatte; aber sie hatten es fein schlau angefangen und waren glücklich mit ihrer Beute weggekommen. Vor der Welt waren sie ehrliche Leute, so meinten sie, daß sie es wirklich wären, und glaubten von ihrer Ehrlichkeit keinen bessern Beweis liefern zu können, als wenn sie jeden wegen einer unehrlichen Handlung Bestraften recht sichtlich verachteten. Leser -- glaubst du nicht, daß solche Erfahrungen in solcher Lage einen Menschen zur Verzweiflung treiben, oder doch »die Milch der frommen Denkart in gährend Drachengift verwandeln« können? Bei unserm Fritz war es nahe daran, daß das Eine oder Andere geschah, nur Kordel's immer gleiche Sanftmuth und Freundlichkeit verhinderte, daß das so reichlich in ihm erzeugte Gift nicht alsbald seinen ganzen edleren Menschen vernichtete. Aber daß er durch alle die fehlgeschlagenen Hoffnungen und vergeblichen Anstrengungen, ein ehrlich Unterkommen zu finden, täglich schwermüthiger gemacht wurde, konnte sie nicht hindern. Das schmerzte sie und begann dem Wurm, der an ihrer Gesundheit nagte, neue Nahrung zu geben. Endlich konnte sie nicht länger an sich halten und ein Gedanke, der gleich nach seinen ersten vergeblichen Gängen in ihr aufgetaucht war, brach sich unwiderstehlich Bahn. »Fritz!« sprach sie etwas rascher als gewöhnlich, »Sie handeln unrecht an sich selbst. Was ärgern Sie sich so ab mit den unvernünftigen Leuten? Was sorgen und quälen Sie sich so um ein Unterkommen unter ihnen? Habe ich nicht genug für uns alle Drei? -- Lassen Sie mich ausreden! -- Ihre Hand! Sehen Sie den unschuldigen Wurm da -- er hat keinen Vater -- wer weiß, ob nicht bald auch keine Mutter.« Hier wurde sie roth und stockte; Fritz aber fiel ihr in die Rede und bat sie, nicht solche Gedanken zu hegen. »Man muß auf Alles gefaßt sein -- ja, lieber Fritz! -- mir ist, als werde ich nicht lange mehr für das arme Kind sorgen können. Dieser Husten -- meine abnehmenden Kräfte -- Fritz! soll ich, wenn der Herr mich abruft, das Kind als Waise zurücklassen?« »O wäre ich nicht, was ich bin!« rief Fritz gramvoll aus, »so sagte ich, ich will sein Vater sein!« »Ist es das und immer nur das?« erwiederte Kordel. »Wenn Sie mich auch nicht mehr lieben, wie einst, wenn ich auch nicht werth bin, Ihre Frau zu sein, so -- ich flehe Sie an -- werden Sie diesem verwaisten Wesen ein Vater!« »Versteh' ich Sie recht?« stammelte Fritz von einem heiligen Freudenschauer durchbebt. »Wollen Sie mich?« »Zum Vater meines Kindes machen,« sprach sie mit hohem Erröthen, seine Hand an ihr Herz drückend. »Aber bedenken Sie, ich bin ein Ausgestoßener.« »Und was bin ich? Wir tragen das gleiche Loos -- die ehrbaren Leute stoßen mich wie Sie von sich -- so lassen Sie uns gemeinsam tragen, was uns der Himmel aufgelegt hat! Zum Glück haben wir genug, um die hartherzige Gesellschaft allenfalls entbehren zu können. Wir können einen Handel anfangen -- gewiß, Gott wird uns helfen, wenn wir zufrieden sind und fortan auf seinen Wegen wandeln. Wollen Sie?« »Ob ich will? O du mein einziger Trost im Leben! Ich habe ja nie aufgehört, dich zu lieben und ich dachte mir es seit dem Augenblicke, da ich dein Unglück erfuhr, als das höchste Glück, für dich und dein Kind sorgen zu können. Wenn du mich nicht verschmähst, so will ich deinem Kinde ein treuer Vater sein.« Da schlang Kordel weinend ihre Arme um seinen Hals -- seine Thränen mischten sich mit den ihrigen, und der Engel, der den Schlummer des kleinen Knaben hütete, war Zeuge ihrer Verlobung. Sechs Wochen später wurden sie getraut. Hochzeitgepränge, Schmaus und Tanz gab es freilich nicht dabei; ihr einziger Hochzeitsgast »bei einem Gericht Gerngesehen« war der Kadenlieb. Dem ging es bei den Königswalder Pharisäern natürlich auch nicht besser oder vielmehr noch schlimmer, als dem Bretschneiderfritz, aber er machte sich nicht viel aus den »Dickköpfen«, wie er sie nannte, und Arbeit und Brod mußte ihm der Müller schaffen. Hätte Fritz nur einen Theil von dem leichten Sinn seines Schicksalsgenossen gehabt, so hätte er sich in seiner neuen Lage recht zufrieden fühlen mögen. Eine Zeitlang schien es auch, als ob er mit seinem Geschicke ausgesöhnt sei. Es gab vor und nach der Hochzeit vollauf für ihn zu thun: die Hafer- und Kartoffelnernte und andere Feldarbeit, verschiedene Reparaturen im Hause und an den Wirthschaftsgeräthen beschäftigten ihn mehrere Wochen lang recht gehörig, und da sein Weib immer mit einem Lächeln, einem zärtlichen Worte bei der Hand war, so vermißte er die Liebe und Achtung der Welt nicht. Dazu kam, daß Kordel sich merklich zu erholen schien, sie bekam ein frischeres Aussehen, als sie bisher gehabt hatte, und Fritz schöpfte daraus Hoffnung für ihre völlige Wiederherstellung. Auch die Zuneigung, womit der kleine Fritz sich an ihn gewöhnte, war eine Quelle der Freude und des Trostes für ihn. Als aber die Arbeit in Feld und Haus nachließ und der müssigen Stunden zu viele für ihn kamen, wollte ihn der alte Mißmuth wieder beschleichen. Es kränkte ihn doch, daß er sein Gewerbe nicht ausüben konnte; auch daß er unter polizeilicher Aufsicht stand, keine Ehrenrechte in Gemeinde und Staat besaß und von seinen Mitbürgern verachtet war, konnte er nicht verschmerzen. Er gerieth auf den Gedanken, sich selbst eine Bretmühle zu bauen, statt einen Handel anzulegen, und Kordel willigte mit Freuden ein. Sie kündigte ihr Kapital und machte ihm zu seinem Geburtstage, welcher im December fiel, ein Angebinde damit. Fritz lebte wieder etwas auf, da er nun einen sicheren Weg zu Arbeit und Verdienst vor sich sah. Er suchte und fand bald einen geeigneten Platz zu einer Schneidemühle an einem wasserreichen Nebenbach des Pöhlwassers. Da er aber mit dem Bau vor dem nächsten Frühjahr nicht beginnen konnte und auch zur Holzanfuhr die jetzige Zeit noch nicht günstig war, so trug er das Kapital, um es nicht nutzlos daliegen zu lassen, nach Annaberg zu einem Kaufmann, der zugleich Bankiergeschäfte trieb. Vierzehn Tage später erhielt er die Schreckensnachricht, daß der Kaufmann Bankerott gemacht habe und Fritzens Geld verloren sei. Das war ein furchtbarer Schlag für unser Paar; Fritz wollte sich nicht darüber zufrieden geben und jammerte immerfort: »Das arme Kind! das arme Kind!« Kordel, die den Verlust eher zu verschmerzen schien, suchte ihn zu trösten, doch gelang es ihr nur unvollkommen. »Wer weiß, wie der liebe Gott auf andere Weise für das Kind sorgt,« sagte sie, wenn Fritz so wehklagte. Sie hatte Recht -- der liebe Gott sorgte bald für das Kind, daß es das Geld entbehren konnte -- er nahm es zu sich; das Scharlachfieber raffte es weg. Das war kurz nach Weihnachten, -- am Aschermittwoch senkten sie neben der Hülle des Kindes die seiner Mutter ein. Die Auszehrung, welche ihr der Gram über die Treulosigkeit ihres Verführers, noch mehr aber über die Kränkungen, die sie von den Königswaldern erdulden mußte, zugezogen hatte, war nach dem Tode ihres Knaben plötzlich in ein entschiedeneres Stadium übergetreten. Ruhig und ergeben sah sie ihr Ende herannahen und sanft, wie sie in der letzten Zeit gelebt, schlummerte sie hinüber. Mit ihr erlosch aller Glanz aus dem Leben des armen Fritz; er schleppte es fortan als eine finstere und bleierne Last mit sich herum. Seine Heimathgenossen fingen allgemach an, mit dem hart Geschlagenen einiges Mitleid zu fühlen, sie zeigten sich freundlicher gegen ihn und boten ihm Arbeit an, aber er mochte nichts mehr von ihnen wissen. Sie waren vornehmlich schuld an dem Tode seines Weibes -- dies konnte er ihnen nicht verzeihen, wenn er ihnen auch die eigene Schmach verziehen hätte. Er schloß sich völlig von ihnen ab; außer dem Kadenlieb pflog er mit keinem lebendigen Menschen Umgang -- sein Herz war bei den Todten und ihrer Wohnstätte galten seine Besuche. Ihm war am wohlsten, wenn er zwischen seinen Gräbern weilen, oder doch nahe bei der Kirchhofmauer so sitzen konnte, daß er die Kreuze darauf sah. Kordel's Kreuz war allezeit frisch bekränzt. Eine Ziege, die sie aufgezogen und so an sich gewöhnt hatte, daß sie ihr überall hin folgte wie ein Hund, trug diese Anhänglichkeit bald auf ihren trauernden Herrn über, sie war immer bei ihm, wenn er seines traurigen Kultus pflog. So hat er es zwei Sommer getrieben. Am zweiten Jahrestage von Kordel's Tode brach in Königswald ein Feuer aus, welches bei dem starken Winde, der gerade wehte, für den größten Theil des Ortes verderblich zu werden drohte. Fritz eilte zum Löschen; es war das erste Mal, daß er sich wieder unter seine Mitbürger mischte, von denen es ihm keiner an entschlossener Thätigkeit gleich that, obschon die meisten tüchtig zugriffen. Leider war die Löschanstalt nicht im besten Stande und noch dazu schlecht geleitet. Fritz sah die Nothwendigkeit des Niederreißens zweier Gebäude ein, um das Fortschreiten der Flamme, die bereits ein zweites Haus ergriffen hatte, zu hemmen. Der Richter, welcher Feuer-Commissarius war, widersetzte sich Fritzens Rath und ordnete an, alle Thätigkeit auf das Löschen der brennenden Gebäude zu verwenden. Fritz, von der Nutzlosigkeit dieser Anstrengung überzeugt, rief nun die Hülfeleistenden auf, ihm mit dem erforderlichen Geräthe zu folgen und zum Niederreißen der bezeichneten Gebäude zu schreiten. Alle Einsichtigen folgten seinem Rufe; dadurch wurde der Richter in Wuth versetzt, er stürzte auf den Bretschneiderfritz los, packte ihn bei der Brust und schrie: »Was will Er hier? Commandiren? Aufwiegeln? Weiß Er, was Er ist? Er hat gar kein Recht in der Gemeine; nicht ein Wort hat Er zu sagen! Unter meiner Aufsicht steht Er, und ich kann Ihn ohne Weiteres ins Loch sperren lassen.« Fritz erwiederte kein Wort -- er vermochte keins hervorzubringen. Er wandte seinen Blick nach Oben und ging zu sehen, wo er sonst helfen konnte. Das zuerst in Brand gerathene Haus gehörte einer armen Wittwe. Sie hatte nur wenig von ihrer Habe zu retten vermocht, und Niemand getraute sich mehr in das über und über brennende Gebäude, um noch Etwas herauszuholen. »Helft mir doch wenigstens meine Ziege retten!« rief die jammervolle Wittwe aus; »hört doch, wie das arme Thier schreit!« Damit wollte sie in das Haus; doch Fritz, der eben hinzutrat, ergriff sie, schleuderte sie zurück und eilte selbst in das Gebäude, eh' Andere ihn zurückzuhalten vermochten. Es mag Manchem tollkühn erscheinen, um einer Ziege willen ein Menschenleben zu wagen, aber Fritz wußte, was einem verlassenen Menschen solch' ein Stück Vieh sein kann, und die Wittwe war verlassen wie er -- und was galt ihm sein Leben? Es gelang ihm wirklich, das Thier zu retten, ein Freudenruf entrang sich mancher beklommenen Brust, als er sich wieder unter der Thür zeigte. Schon war er fast aus dem Bereiche der fürchterlichen Gefahr, als plötzlich ein brennender Sparren niederstürzte und ihn zu Boden streckte. Der eben herbeigeeilte Kadenlieb trug ihn für todt in sein Haus; schnelle ärztliche Hülfe rief ihn jedoch wieder ins Leben. Der Arzt hoffte ihn zu retten, obschon seine Brust schwer verletzt war. Fritz wünschte blos, von den Menschen errettet zu sein und sein Wunsch ging in Erfüllung. Ein heftiger Blutsturz bahnte seiner Seele den Ausweg aus ihrem vergänglichen Gefäß. Der Kadenlieb, welcher nicht von seinem Bette wich und ihn wie ein Bruder pflegte, wurde sein Erbe. Der macht' es gescheidt -- als der Frühling ins Land kam, bepflanzt' er die Gräber seiner Freunde mit Veilchen und Immergrün, verkaufte Haus und Feld, gab dem Todtengräber ein Sümmchen, damit er die Gräber wohl pflege, und ging mit dem Rest nach Amerika. II. Die Fundgrube Vater Abraham. I. Die Bergleute des Reviers hatten Lohntag. Die Auslohnung war vorbei, und das muntere Bergvolk stand in Gruppen längs der Rathhausseite des großen Marktplatzes oder schlenderte durch die zwei Budenreihen des Krammarktes. Denn seit undenklichen Zeiten war in der freien Bergstadt dafür gesorgt, daß die Bergleute, deren Viele stundenweit herkamen, sich eines Theiles der schwergewonnenen Groschen auf leichte Art wieder entäußern konnten. Und wie man Fischreußen vor die Abflußöffnungen der Gewässer legt, so baute man die Buden gerade in die Verlängerung der Gasse, in welcher das Berg- und Zehntamt lag. Da mußten selbst diejenigen hindurch, welche Lust hatten, einen Theil ihres Lohnes in der Sparcasse niederzulegen, die seit einem Jahrzehent bestand, so daß gar manches für die Sparcasse bestimmte Fischlein dort hängen blieb. Das konnte freilich nur von dem unbeweibten Bergvolke gelten, denn der beweibte und dann sicher auch mit Kindern gesegnete Knappe konnte höchstens mit Hülfe eines Heckethalers sich an der Sparcasse betheiligen. Gönnt der sich doch nicht einmal ein billiges Frühstück in der Garküche, aus welcher es so bratenhaft duftet -- an das gegenüberliegende »süße Löchel«, die Conditorei, ist gar nicht zu denken, sondern er verzehrt höchstens in den Brodbänken ein »Dreierstöllchen« mit einer halben Knackwurst, nachdem er die Hälfte für seine »Alte«, vorausgesetzt, daß sie noch jung ist, im Kittel geborgen. Von jungen Burschen sah man in den Brodbänken höchstens den Bergner Ferdinand vom Vater Abraham. Heute war er da. Ein hochgewachsener, blonder, frischer Gesell, mit intelligenten Zügen. Der leinene Kittel kohlschwarz, Fahrleder und Gürtel schön lackirt, auch das Schuhwerk blank gewichst. Unter der Bänkenthür stand er und blickte mit seinen hellen, blauen Augen nach der gegenüberliegenden Conditorei, aber wohl eher nach dem lockigen Kopfe einer Dame, die dort an einem Fenster an der Seite eines Bergherrn stand, als nach den gaumenkitzelnden Dingen des Schaufensters. Dicht neben den Brodbänken befand sich der Laden eines Gelbgießers, an welchen sich die Gewölbe eines Tuchmachers und eines Zinngießers reihten. Diesen drei Geschäftsleuten schien der Lohntag keine Weizenblüthe zu sein; standen sie doch schon seit einer halben Stunde vor dem Gelbgießerladen und klagten über den flauen Geschäftsgang. Plötzlich aber wurde ihre Aufmerksamkeit nach der Conditorei hinübergelenkt, aus welcher eine hochgewachsene Dame mit einer Schaar junger Dämchen in orgelpfeifenähnlicher Größenabstufung hervorquoll. »Da kommt die Staatsglucke vom Vater Abraham mit ihren Küchlein!« rief der Tuchmacher; »acht Stück, und was für eine Prachtrace! Und richtig -- der Liebhaber der Aeltesten, der neue Herr Obereinfahrer, ist auch dabei; der wird wohl die ganze Schaar tractirt haben.« »Soll mich wundern, ob aus dem Freier auch ein Nehmer wird,« sagte der Zinngießer; »der Herr Obereinfahrer ist ein Feiner; reich und von Adel, wie er ist, denkt er wohl höher hinaus, als zu der armen Schichtmeisterstochter, die Nichts hat, als was sie auf dem Leibe trägt.« »Ja, wenn das nur noch ihr Eigenthum wäre,« fiel der Tuchmacher ein; »ich will mein Contobuch vom Schinder verbrennen lassen, wenn von all den Fahnen und Behängen, worin das schöne Fräulein prangt, nicht über Dreiviertel in verschiedenen Contobüchern ungelöscht stehen.« »Oho!« nahm der Gelbgießer das Wort; »macht's nur nicht so gefährlich! Dazu ist mein Schichtmeister Frenzel denn doch ein viel zu wackerer Mann, als daß er solche Schuldenwirthschaft dulden sollte. Es ist wahr, die Schichtmeisterin trägt die Nase ein wenig hoch und macht am Ende mehr aus sich und ihren Töchtern, als dahinter steckt; aber sie ist doch eine tüchtige Hauswirthin, und man findet nirgends eine so ausgesuchte Ordnung und Sauberkeit, wie bei ihr zu Hause.« »Ei, das ist doch nicht etwa ihr Verdienst!« sagte der Tuchmacher. »Ihr als Gewerke vom Vater Abraham solltet doch wissen, wer da eigentlich die Hauswirthin ist, obgleich sie nur für das Aschenbrödel gilt. Das ist die Kleine, die Stieftochter der großen Dame dort, die Einzige von des Schichtmeisters erster Frau.« »Die kenn' ich ja gar nicht,« erwiederte der Gelbgießer. »Natürlich,« erklärte der Tuchmacher; »sowie sich ein Besuch auf dem Vater Abraham zeigt, muß sich Aschenbrödel in der Küche verkriechen. Sie würde schön ankommen, wollte sie sich als schwarze Henne unter den bunten Küchlein der Frau Mama zeigen. Aber sie ist es, die eigentlich das ganze Haus erhält, denn das müßt Ihr doch selbst zugeben, daß die Schichtmeisterin, wenn sie eine Wirthin sein wollte, nicht mehr Staat treiben würde, wie eine Bergmeisterin!« »Nun, wer weiß,« unterbrach der Zinngießer den Sprecher, »wer weiß, ob sich der Schichtmeister nicht besser steht wie unser Bergmeister. Der Vater Abraham hat schönes Erz, und wer kann einen Schichtmeister, der auf seiner Grube wohnt, so genau --« hier stockte der Redner; ein Blick auf das Gesicht des Gelbgießers machte ihn verstummen. Doch dieser rief schnell: »Was wolltet Ihr sagen, Nachbar Paul? Redet weiter, was meint Ihr? Bedenkt, daß ich Kuxinhaber vom Vater Abraham bin, und mich das sehr nahe angeht, was Ihr da auf der Zunge hattet!« »Ich hab's verschluckt und vergessen,« sagte der Zinngießer; »Ihr wißt ja, Nachbar Mickley, es kommt Einem manchmal ein überzwercher Gedanke in den Mund. Ich weiß nichts, will nichts wissen und glaube, daß der Schichtmeister Frenzel ein wackerer Mann ist, wie Ihr selbst ihn nanntet.« »Bis jetzt,« erwiederte der Gelbgießer, »hat seine Gewerkschaft alle Ursach' gehabt, mit ihm zufrieden zu sein, und er gilt allgemein als der tüchtigste Grubenbeamte im ganzen Revier. Aber es ist eine böse Zeit, man darf fast seinem Bruder nicht mehr trauen, und was Ihr da angedeutet, will ich mir hinter die Ohren schreiben.« »Aber Nachbar Mickley,« sagte der Zinngießer fast ängstlich, »seid doch nicht so wunderlich! Ich habe gar nichts angedeutet, gar nichts. Euer Schichtmeister ist gewiß ein wackerer Mann, kein Mensch kann wider ihn auftreten, auch der Nachbar Kunz nicht. Gewiß, Nachbar Kunz, behauptet Ihr nicht im Ernst, daß es mit den Schichtmeistersleuten so übel stehe, wie Ihr vorhin sagtet.« »Oh! was ich gesagt hab', das hab' ich gesagt,« versetzte der Tuchmacher, »wollt Ihr einen kleinen Beweis für meine Worte sehen, so schaut in mein Contobuch, da steht noch ein alter Rest von zehn Thalern, um den ich schon zehnmal umsonst gemahnt habe. Aber jetzt ist meine Geduld zu Ende, und wenn ich morgen mein Geld nicht habe, geht's vor Gericht!« Das ganze Gespräch war von dem jungen Bergmann, der unter der Brodbänkenthür stand, mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt worden. Mehrmals hatte sein Gesicht den Ausdruck heftigen Unwillens angenommen, und bei den letzten Worten des Tuchmachers geschah dies wieder. Er fuhr hastig in seinen Kittel und zog ein Perlbeutelchen hervor, dessen Inhalt er überzählte. Ach! es war viel, viel zu wenig, um die Schuld seines Vorgesetzten zu decken. Er besann sich aber nicht lange; er steckte seine Börse wieder ein und eilte nach der Spar-Casse. Der Geschäftsführer derselben wunderte sich nicht wenig, daß sein treuester Sparkunde heute Geld entnehmen wollte, statt welches einzulegen; aber es half nichts, er mußte dem drängenden Häuer acht blanke Thaler auszahlen. Mit diesem Zuschuß zu seinem heutigen Lohn verfügte dieser sich nach dem Gewölbe des Gelbgießers, wo die drei Bürger noch immer beisammen standen und jetzt neue Glossen über die Schichtmeisterin machten, die mit ihren zwei ältesten Töchtern in einen Goldschmiedsladen getreten war. »Ist hier nicht der Meister Kunz?« fragte Ferdinand, zu dem Kleeblatt tretend, nachdem er nicht unterlassen hatte, sein Glückauf! zu bieten. »Der bin ich,« antwortete der Tuchmacher, »was steht zu Diensten? Ich seh's Ihm an, Er bringt Handgeld -- nun Er soll heute einen guten Handel machen.« »Ich komme blos im Auftrage meines Schichtmeisters,« sagte Ferdinand; »soll Ihnen die zehn Thaler auszahlen, die er noch schuldig ist.« »So?« versetzte der Tuchmacher; »nun, das ist auch Handgeld, -- doch ein Ehrenmann der Herr Schichtmeister; aber es hätte ja noch Zeit gehabt, bis der Herr Schichtmeister wieder etwas gebraucht hätte. Komm Er, ich will Ihm gleich die Quittung schreiben.« Und er nahm den Häuer mit in sein Gewölbe. »Da habt Ihr's!« sagte der Zinngießer zu dem Gelbgießer: »da hat der Nachbar Kunz auch raisonnirt über den schlechten Zahler; nun ist er doch ein Ehrenmann, und Ihr müßt Euch keinen Floh ins Ohr setzen lassen. Ich für meine Person weiß nichts Unlauteres von Euerm Schichtmeister und alle Welt nennt ihn einen tüchtigen Mann. Ich habe nichts gesagt, behüt' Euch Gott!« Damit entfernte sich der Zinngießer und ging in die Garküche nach seinem Morgentöpfchen. Der Gelbgießer blieb unter seinem Laden stehen und schaute nach dem des Tuchmachers. Nach einer Weile kam Ferdinand daraus wieder zum Vorschein. »Nochmals meinen gehorsamsten Dank an den Herrn Schichtmeister!« rief ihm der Tuchmacher nach, »und ich lasse mich und mein neu assortirtes Lager bestens empfehlen.« Ferdinand steckte lächelnd seine Quittung zu dem Rest seiner Baarschaft und wollte sich auf den Heimweg machen. Als er aber an das Gewölbe des Gelbgießers kam, hielt dieser ihn auf und nöthigte ihn hinein. Er holte aus einem Wandschrank einen Teller mit Knackwurst und Brodschnitten, eine Flasche und ein Gläschen, schenkte ein und bat den jungen Häuer, zuzulangen. Dieser nahm ein Brodschnittchen, verschmähte aber den Inhalt des Gläschens, weil er nie Branntwein trinke. Der Gelbgießer nannte dies eine Sonderbarkeit und wollte ihn zu dem echten »Eibenstocker« nöthigen. Aber Ferdinand beharrte bei seiner Weigerung, und als der Gelbgießer einen Grund dafür wissen wollte, sagte er: »Ich halte das Branntweintrinken für eins der Hauptübel der Menschheit.« »Ja, wenn man den Branntwein säuft,« fiel Meister Mickley ein; »aber ein Gläschen zum Imbiß dient zur Gesundheit.« »Halten Sie zur Güte, Meister!« erwiederte Ferdinand; »unser Herr Markscheider, der alle Dinge der Natur kennt, soweit Menschen sie erforscht haben, hat uns in der Bergschule klar bewiesen, daß der Branntwein, in was immer für einem Verhältniß genommen, nie von Nutzen für die menschliche Natur sein könne; daß er aber in einiger Menge genossen immer verderblich wirke. Die Säufer, die unter das Vieh herabgesunken sind, haben auch Anfangs nur Gläschen getrunken. Doch selbst der mäßigste Genuß bleibt eine Sünde gegen Gott und Menschen, weil er immer die Mitschuld trägt, daß das, was Gott den Menschen zur Nahrung bestimmt hat, so gut wie unter die Füße getreten wird. Lieber Meister, Sie dulden gewiß nicht, daß auch nur ein Bröcklein Brod in Ihrem Hause muthwillig weggeworfen werde; aber in jedem Glase Schnapps werden ein paar Loth Brod zu nichte gemacht. Bedenken Sie, Meister, wie viel tausend Scheffel Korn und Kartoffeln nur in unserm lieben Gebirge jährlich zu Branntwein verbrannt werden -- das ist Brod für viele tausend Menschen. Wahrlich, wenn man sich's recht überlegt, so darf es Einen nicht wundern, wenn der liebe Gott über den Greuel einmal ergrimmt und uns ganz entzieht, was wir so schmählich mißbrauchen.« »Er ist ja ein halber Pastor!« rief der Gelbgießer aus; »na, so lassen wir den Schnapps! Also Er ist auf der Bergschule -- sagte Er nicht?« »Ich wohne bei meiner Mutter in Pobersdorf und fahre auf dem Vater Abraham an, besuche aber die Bergschule seit zwei Jahren.« »Und da kommt Er alle Tage anderthalb Stunden weit herein in die Stunden? Das macht jeden Tag drei Stunden Wegs um eine Stunde Unterricht!« »Was kann es helfen,« erwiederte Ferdinand, »in der Stadt ist theuer leben, dazu reicht das Häuerlohn nicht aus.« »Und von der Grube wohnt Er auch eine Stunde entfernt; da hat Er täglich einen Marsch von 5 Stunden zu machen. Dazu kommt die saure Grubenschicht von 8 Stunden, das thut 13 Stunden täglich, mit der Schule 14 -- da bleibt Ihm ja gar keine Zeit zu einem Ueberwerk!« »Freilich nicht; -- nun, ich richte mich mit meiner Mutter ein, und da wir eigne Herberg haben und eine Kuh im Stall, so kommen wir schon aus. Freilich, der Fleischtopf steht bei uns immer weit vom Feuer, aber dafür hat's uns noch kein Jahr an den lieben Kartoffeln gefehlt. Uebrigens leb' ich mit meinen Kameraden in der guten Hoffnung, daß unsere Herren Gewerken uns bald auch zu einem wenig Fleisch helfen werden, da der Vater Abraham neuerdings so höflich geworden.« »Höflich?« versetzte Meister Mickley, -- »es geht wahrlich an mit der Höflichkeit. Es ist wahr, es hat in den letzten Quartalen einige Ausbeute gesetzt; aber lieber Freund, Er bedenkt wohl nicht, daß wir Gewerken viele Jahre nicht einen Heller von unsern Kuxen gehabt, ja gar einmal Zubuße gezahlt haben.« »Aber die ist doch gewiß längst reichlich wieder erstattet, und nach meiner Ansicht muß es in der letzten Zeit eine ansehnliche Ausbeute gesetzt haben.« Der Gelbgießer sah den Sprecher scharf an; dann ging er an sein Schreibpult und brachte ein Schreiben zum Vorschein, welches er dem Knappen vorlegen wollte, aber erst noch einmal zurückzog, indem er den jungen Mann fixirend fragte: »Wie hoch schätzt Er ungefähr die Ausbeute vom Vater Abraham auf das letzte Quartal? Ich will einmal sehen, ob Er schon einen tüchtigen Steiger abgäbe, wenn unser alter Meier bergfertig würde. Er muß wissen, daß ich vier Kuxe baue und im Ausschusse der Gewerken sitze, also ein Wörtlein mitzureden habe, wenn es eine Stelle auf dem Abraham zu besetzen giebt. Ich will einmal sehen, ob Er schon ein wenig Erz zu taxiren versteht. Laß Er hören!« Der Jüngling sah vor sich nieder. Er mußte sich des Gesprächs der drei Bürger erinnern, namentlich der halben Aeußerung des Zinngießers, die zuerst seinen Unwillen erregt hatte. Offenbar wollte der Gelbgießer ihn aushorchen, und er war im Begriff, eine kurze Antwort zu geben; doch lag auch wieder etwas so Herzliches im Tone des Fragenden, daß Ferdinand das rauhe Wort nicht über die Lippen brachte. Zudem war seine Ehrliebe erregt und, was mehr sagen wollte, ihm eine Aussicht gezeigt worden, die sein höchstes Lebensglück zum Hintergrund hatte. Nach einigem Nachsinnen sagte er: »Mit dem Erzschätzen ohne genaue Probe ist es immer ein unsicheres Ding, -- aber nach meinem Dafürhalten kann die Ausbeute im letzten Quartal nicht unter 1300 Species betragen haben.« »Die Ausbeute?« rief der Gelbgießer. »Er meint wohl den Gesammtwerth des gewonnenen Erzes?« »Nein, den reinen Ertrag, nach Abzug der Gewinnungskosten und des Zehntens.« Jetzt schlug der Gelbgießer das Buch auf und hielt es dem Häuer vor das Gesicht: »Da les' Er, was unter Quartal Crucis notirt ist.« Der Jüngling las die Notiz und schüttelte mit dem Kopfe. »Da hätte ich mich stark verrechnet,« sagte er, das Buch zurückgebend; »blos 5 Species auf den Kux, das thut für alle 128 Kuxe 640 Species, also noch nicht die Hälfte der von mir vermutheten Summe. So stark sollte sich einer, der Steiger werden will, freilich nicht verrechnen!« »Ob Er sich aber auch nur verrechnet hat?« sagte der Meister. »Er scheint mir einen offenen Kopf zu haben -- vielleicht hat Er doch recht gerechnet -- he?« »Sie überzeugen mich ja hier vom Gegentheil,« antwortete Ferdinand. »Aber die Differenz kann wohl an etwas ganz Anderem liegen, als an Seiner Berechnung? Sei er aufrichtig, junger Freund, es soll Sein Schade nicht sein. -- Hat Er keine Vermuthung, auf welche Art die schöne Ausbeute, welche Er der Gewerkschaft zugeschätzt hat, auf weniger als die Hälfte geschwunden sein kann?« Der Jüngling stand rasch auf. »Meister Mickley!« sagte er, »ich habe Ihnen gleich gesagt, daß Erzschätzen nach dem bloßen Augenschein etwas sehr Unsicheres sei; und wenn Sie anderer Meinung sind, so denken Sie, daß ich noch lange in die Bergschule gehen muß, eh' ich reif bin zum Steiger!« »Ei, nur nicht so heftig, lieber junger Mann!« bat Mickley, ihn bei der Hand nehmend; »nehm' Er nur wieder Platz, und hör' Er, was ich ihm sagen will.« Ferdinand aber gab vor, daß er zu Hause nothwendig zu thun habe. »Nun, so besuch' Er mich ein ander Mal, komm Er doch immer, wenn Er die Bergschule besucht; die ist alle Nachmittage zwischen 3 und 4, da kann Er bei mir sich an einer Tasse Kaffee erquicken; und wenn Er Zeichnenmaterial braucht, das kann Er bei mir auch haben, braucht's nicht in der Buchhandlung zu holen. Wart' Er, ich will Ihm einmal etwas zeigen!« Und er schob sich hinter seinen Ladentisch und brachte verschiedene Reißzeuge zum Vorschein. »Ist Er schon mit einem Reißzeuge versehen?« fragte er. »Ich habe mich mit einem Zirkel und einem selbstgemachten Transporteur behelfen müssen,« sagte Ferdinand; »ein gutes Reißzeug war mir zu kostspielig.« Der Gelbgießer öffnete das größte der mit schwarzem Maroquin überzogenen Kästchen und legte es mit seinen aus rothem Sammet hervorblitzenden feinen Instrumenten dem jungen Häuer vor. Dieser wurde von dem Anblick unwiderstehlich gefesselt. Ein so kostbares Reißzeug hatte er selbst bei seinem Markscheider nicht gesehen. Stumm stand er darüber gebeugt und wagte kaum Athem zu holen, damit sein Hauch das funkelnde Metall nicht erblinden mache. »Ist das wohl vollständig?« fragte Mickley; »gefällt es Ihm?« »Wem wollte das nicht gefallen?« sagte Ferdinand; »wer die edle Mathematik treibt, der muß daran seine Freude haben. Aber es gehört wohl ein guter Beutel dazu, einen solchen Schatz zu besitzen?« »Manchmal hilft auch ein gutes, ehrliches Gesicht dazu,« sagte der Bürger. »Ich weiß nicht, Er hat mir's angethan. Ich will Ihm was sagen: Das Ding steht seit Jahren hier, und kein Mensch kauft es. Alles behilft sich mit billigen Kästen, den Zimmer- und Maurermeistern kommt's nicht darauf an, ob der Transporteur keinen Grad richtig zeigt, oder das Winkelmaß auf 89 Grad steht statt auf 90, und den Bergschülern fehlt's am Besten. Ich will aber das Ding einmal los sein, ehe es verrostet. Nehm' Er es als eine kleine Aufmunterung zu rechtem Fleiße, damit wir wieder einen tüchtigen Steiger bekommen, wenn der alte Meier bergfertig wird.« Ferdinand wollte zwar ein so kostbares Geschenk nicht nehmen, aber der Gelbgießer wußte es ihm aufzureden. Als wär' er in den Besitz eines Königreichs gekommen, so froh verließ er das Gewölbe. Draußen stieß er auf Brunhild, die älteste Tochter seines Schichtmeisters aus dessen zweiter Ehe. Er bot dem schönen, eleganten Mädchen sein Glückauf und wollte vorübergehen; aber sie hielt ihn freundlich an. »Haben Sie meinen Vater nicht gesehen, Herr Bergner?« fragte sie. »Oh, zum Herrn fehlt mir viel, Fräulein Brunhild,« erwiederte er, »Ihren Vater vermuth' ich beim Herrn Markscheider.« »Gut, ich danke,« sagte sie, »und nicht wahr, Sie thun mir einen Gefallen?« -- »Zwei für einen,« sagte er, »befehlen Sie nur!« -- »Sie machen sich wohl aus einem kleinen Umweg nichts, wenn er über den Vater Abraham führt?« sprach sie mit einem feinen Lächeln, »wollen Sie nicht unserer Hedwig sagen, sie möchte der Mutter ihr neues Barègekleid schicken und nicht auf die Eltern mit dem Essen warten; wir sind Alle zu Landgraf's zu Tisch und zu einer Soirée bei Neuhoff's geladen; es kann Mitternacht werden, eh' die Eltern heimkommen. Grüßen Sie die gute Hedwig von mir -- und hier, wollten Sie ihr wohl das Stückchen Apfeltorte von mir bringen?« Ferdinand übernahm den Auftrag mit herzlicher Freude, und das schöne Mädchen nahm freundlich Abschied. »Die hat doch ein Herz,« sagte der Häuer ihr nachblickend; »das hat sie von ihrem Vater, und die Mutter hat es nicht verwüsten können. Gott segne sie!« -- Nun lenkte er seinen Schritt dem Thore zu. II. Brunhild fand ihren Vater wirklich bei dem Markscheider. Sie theilte ihm mit, welche Einladungen an ihn und die Seinigen ergangen waren, und bat ihn, augenblicklich mit ihr zu kommen. Er ging mit ihr. »Wo ist denn die Mutter?« fragte er vor der Thür. »Bei dem Goldschmied,« antwortete sie. »Schon wieder?« fragte er trübe. »Sei nur nicht bös,« sagte Brunhild, »ich wollte es nicht haben; aber Du weißt, wie die Mutter ist, und vielleicht hat sie heute nicht ganz Unrecht, ich habe Dir noch nicht gesagt, daß die Frau Baronin zum Besuch hierher kommt und bei Neuhoff's absteigt.« »Heute?« fragte der Schichtmeister; »und da sollen wir wohl am Abend in Gesellschaft der Baronin sein?« »Ja, und auch schon bei Landgraf's mit ihr speisen.« »Also die Frau Baronin kommt? Sie will uns kennen lernen,« sagte der Schichtmeister erheitert, »so komm denn!« Bei dem Goldschmied angekommen und von diesem in sein Wohnzimmer geführt, wurde der Schichtmeister von seiner Frau auf die Seite gezogen. »Hast Du schon gehört, lieber Schatz, welche Ehre, welches Glück uns erwartet?« redete sie ihn an. Und als er bejahte, sagte sie: »Denke Dir, das ist Alles so von dem Baron veranstaltet; der liebe, goldne Mann erwartet den günstigsten Eindruck von der Begegnung unsers Kindes mit seiner Mutter, und hofft morgen schon ihr Jawort zu erhalten. Du kannst Dir meine Seligkeit denken, Schatz, denk' einmal, in einem Vierteljahr ist unser Kind vielleicht Frau Baronin -- gnädige Frau! Aber Du weißt, man muß das Eisen schmieden, wenn es glüht, und nur den Dummen kommt das Glück im Schlafe. Es versteht sich, daß wir vor der Frau Baronin anständig erscheinen müssen. Glücklicherweise sind unsere Mädchen, als hätten sie es geahnt, in den letzten Tagen fleißig hinter ihrer Garderobe her gewesen, und mein neues Barègekleid macht sich auch. Aber zu den noblen Gewändern gehört auch ein nobler Schmuck, wenigstens für Brunhild. Ich bin daher gleich hierher gegangen und habe uns einige sehr einfache, aber noble Sachen ausgesucht; Du weißt, ich verstehe mich auf dergleichen. Aber denke Dir, der Goldschmied will uns nur auf einen Wechsel von Dir weitern Credit geben. Vergebens tröstete ich ihn auf das nahe Ende meines Erbschaftsprocesses; er besteht auf dem Wechsel. Nun, Du weißt doch besser als er, wie es um den Proceß steht, daß wir ihn in erster Instanz gewonnen, und daß nach der Versicherung unsers Advocaten das Erkenntniß der zweiten Instanz bald erfolgen und unser Erbe in spätestens drei Monaten in unsern Händen sein muß. Du hast hoffentlich kein Bedenken gegen den Wechsel?« »Allerdings, liebe Bertha, hab' ich das,« erwiederte der Schichtmeister, »Alles, nur keinen Wechsel! Ich hoffe zwar auch, daß der Proceß bis dahin entschieden sein wird, aber es bleibt doch immer eine Möglichkeit, daß er sich noch sehr lange hinauszieht. Ich meine auch, der Schmuck sei nicht so nothwendig --« »Nicht nothwendig?« fiel ihm die Frau ins Wort, und da der Goldschmied hinausgegangen war, so rief sie laut: »Brunhild! Klotilde! sagt, ob die Schmucksachen uns nicht nöthig sind, um vor der Frau Baronin zu bestehen?« Brunhild sagte, sie wolle nichts bestimmen, aber so viel wisse sie, daß ihr Alexis nicht nach Schmuck bei ihr frage. -- »Aber,« fiel Klotilde ein, »die Frau Baronin ist eine Banquierstochter, und diese Damen halten viel auf Geschmeide. Die Frau Magisterin sagte, der erste Eindruck einer Begegnung entscheide oft über die ganze Zukunft, und ich möchte der geschmeideliebenden Baronin nicht allzu einfach vor die Augen kommen, wenn ich ihre Schwiegertochter werden wollte!« »Aus Dir spricht Welt, Mädchen,« rief die Mutter; »ja so ist es, wir müssen den ersten Eindruck wahren!« Zögernd erklärte der Schichtmeister seine Bereitwilligkeit, den Schmuck gegen eine Obligation zu erstehen. »Ich zweifle nur, daß Herr Reichel darauf eingeht,« bemerkte die Frau, »doch versuche Dein Glück. Komm mit in den Laden!« Sie gingen hinaus. Der Goldschmied hatte die ausgewählten Gegenstände schon bereit gelegt. Die Frauen überließen sich mit Entzücken der Betrachtung dieser nothwendigen Entbehrlichkeiten, indeß der Schichtmeister mit dem Goldschmied über die Art der Zahlungssicherstellung verhandelte. Herr Reichel wollte von der vorgeschlagenen Art der Zahlungssicherstellung nichts wissen; er bestand auf einem Wechsel nicht nur für die schon im Buch stehende, sondern auch für die neue Schuld. Der Schichtmeister konnte sich zu dem Wechsel nicht entschließen, und der ganze Handel drohte sich zu zerschlagen. Aber Töchter, die zur rechten Zeit bethauete Wimpern zeigen, und Mütter, die im rechten Augenblick das Vaterherz zu packen verstehen, werden meist siegreich aus einem Angriff auf väterliche Finanzscrupel hervorgehen. Klotilden, die als das leibhaftige Ebenbild der Mutter des Vaters Liebling war, perlten Tröpfchen über die rosigen Wangen, und sie ging mit dem Tuche vor den Augen ins Zimmer zurück. »Komm, Brunhild!« rief die Mutter zornig und zog sie jener nach. »Aber Bertha!« sagte der Schichtmeister folgend, »sei nur nicht so bös! Ich kann doch nicht anders.« Die Beleidigte wendete sich von ihm ab und rief ihren Töchtern zu: »Jetzt kommt, Kinder! kommt gleich mit nach Hause! Es war sehr unrecht, Euch in Pension zu thun. Euer Vater will, Ihr sollt Häuersweiber werden wie das Gänseblümchen, die Hedwig. Kommt! Ihr setzt keinen Fuß wieder in die Pension, und Du, Brunhild, vergissest Deinen Alexis! Vielleicht findet sich auch noch ein Steiger für Dich -- armes -- unglückliches -- Kind --« und ihre Stimme erstarb in Schluchzen. Da brach dem Schichtmeister das Herz. Er kratzte sich den Kopf -- er besann sich -- es galt, sich zur Zahlung von 400 Thalern nach Ablauf von drei Monaten verbindlich zu machen. -- Die Erbschaft seiner Frau, so redete er sich in der Erregung des Herzens ein, die Erbschaft mußte bis dahin eingehen, und wenn nicht, so wäre darauf inzwischen schon ein Darlehn zu erlangen. -- Er ging in den Laden zurück und unterzeichnete den schon ausgefüllten Wechsel. Seine Hand zitterte, aber doch war ihm leichter ums Herz, als er, den Kasten mit dem erstandenen Geschmeide in den Händen, zu seiner Frau trat. Die vier Familienglieder verfügten sich nun zu der »Frau Magisterin«, bei welcher Brunhild und Klotilde sich jenen schimmernden Anstrich holten, der in gewissen Gesellschaftskreisen für die Blüthe der Erziehung gilt. Als sie nur wenig Minuten das Haus des Goldschmieds verlassen, trat bei diesem ein einzelner, auch bergmännischer Besuch ein. Ein langer, hagerer Graukopf mit dem Abzeichen eines Grubensteigers. Sein gefurchtes Gesicht ließ ihn älter erscheinen, als er war. Sein Glückauf! war nicht das helle, herzhafte, wie es gewöhnlich aus der Knappen Mund ertönt, es klang hohl und traurig. Der Goldschmied führte ihn in ein kleines Bureau, das hinten an den Laden stieß. Der Steiger brachte aus seinem Kittel ein Päckchen in Papier, das ihm der Goldschmied hastig abnahm und mit den Händen wog. »Es scheint leichtes Gut zu sein,« sagte er. »Leicht?« versetzte der Steiger; »ich wette, daß Sie noch nie schwereres Erz in den Händen gehabt, sehen Sie es nur erst an!« Der Goldschmied entfernte das Papier und vergaß einen Augenblick den Kunstgriff des Wucherers, das zu kaufende Gut mit Geringschätzung zu betrachten. »Wie viel haben Sie von dieser Art?« fragte er. »Zwei Centner,« antwortete der Steiger mit einem tiefen Seufzer. »Freilich wenig,« sagte der Goldschmied; »wird sich kaum des Schmelzens verlohnen.« »So sprechen Sie immer,« sagte der Steiger; »aber ich weiß so gut wie Sie, was in dem Erze steckt, und was sich herausschmelzen läßt.« »Was verlangt Ihr für den Braß?« fragte der Goldschmied wieder. »Ich hoffe damit den Wechsel meines Sohnes gedeckt zu haben -- sonst will ich weiter nichts -- ich will froh sein, wenn ich diesen Stein vom Herzen habe.« Der Goldschmied wollte den Werth des Erzes herabsetzen, so daß der Wechsel nicht damit gedeckt erschien, aber der Steiger bestand auf seiner Forderung, und zuletzt versprach der Goldschmied, den Wechsel auszuliefern, sobald er das Erz in Empfang nähme. Der Steiger wollte es in der zweitnächsten Nacht zum Theil bringen und verabschiedete sich. »O, mein Sohn! mein Sohn!« murmelte er unter der Thür, »wenn Du wüßtest, wohin Dein Uebermuth Deinen alten Vater gebracht hat!« Eine Thräne quoll aus seinem Auge -- langsam stieg er die Stufen vor dem Laden hinab. Plötzlich fand er sich angeredet. Aufblickend sah er den Gelbgießer Mickley vor sich stehen. »Ihr noch in der Stadt?« fragte dieser, »und kommt vom Goldschmied?« Der Steiger erschrak. »Ich war -- ich hatte -- mein Sohn schickte mich hierher --« stotterte er. »So?« versetzte Mickley; »ist der Herr auch wieder einmal zu Platze? Er ist nun endlich einmal Doctor geworden und geht mit einer vornehmen Heirath um -- he?« »Wie er thut, ja; und da er so gut mit dem Herrn Obereinfahrer steht, so mag wohl was d'ran sein.« »Ach ja, es ist ja die Schwester vom Herrn Baron, um die er freit; -- da gratulir' ich zur vornehmen Freundschaft, Alter!« »Danke, Meister Mickley, eine brave, bürgerliche Schwiegertochter wäre mir lieber. --« »Ihr seid ein braver Mann, Steiger,« sagte der Gelbgießer, ihm auf die Schulter klopfend, »ich weiß, Ihr habt's nicht wie Eure Schichtmeisterin darauf angelegt, in vornehme Freundschaft zu kommen. Hättet Ihr doch in Eurer Demuth Euren Sohn gar nicht studiren lassen; aber gute Freunde haben Euch überredet. Daß er nun aus der Art geschlagen, ist somit nicht Eure Schuld.« »Dort kommt er gerade,« sagte der Steiger, »dort aus dem Posthause; der Herr Obereinfahrer und eine Dame sind bei ihm -- sie kommen hierher, wir wollen doch ein wenig auf die Seite gehen.« »Ei warum nicht gar! Es sind Menschen wie wir auch. Ich möchte Euern Sohn 'mal in der Nähe sehen.« Jene Drei waren bald in die Nähe der Beiden gekommen; der Steiger salutirte seinem Vorgesetzten, der Bürger grüßte höflich; der Obereinfahrer erwiederte freundlich die Grüße, aber der Doctor, anscheinend in tiefem Gespräch mit der Dame, der eine Zofe und ein Lakai mit Gepäck folgten, ging, ohne nur den Kopf nach seinem Vater zu wenden, stolz vorüber. »War das Euer Sohn?« fragte der Gelbgießer nach einer Weile. Der Steiger bejahete es mit einem Seufzer. »Und er sah Euch nicht einmal an!« sagte jener, »und grüßte nicht einmal! Er verleugnet seinen Vater, er schämt sich seiner Herkunft! Armer, alter Mann!« Der ehrsame Bürger nahm Abschied von dem Greis, und dieser wankte dem Thore zu. III. Die Fundgrube Vater Abraham gehörte zu den ältesten Bergwerken des Reviers. An einem sanften Abhange der waldigen Hochebene gelegen, ragten die stattlichen Berggebäude, das gethürmte Huthaus, die Bergschmiede, die Wäsche und der Pferdegöpel aus dunkeln Tannen hervor. Ein Glöcklein, das von Minute zu Minute angeschlagen wurde, schallte weithin durch die einsame Gegend. Es war der Nachmittag desselben Lohntags. Das Wetter wunderschön. Auf einer Bank vor dem Huthause saß ein stattlicher Greis im Bergmannskittel zur Seite eines jungen, einfach bürgerlich gekleideten Mädchens von ausnehmender Anmuth. Eine kleine Gestalt, aber vom zierlichsten Bau, eine bewundernswürdige Vereinigung von Zartheit und Fülle. Während sie emsig strickte, hing ihr blaues Auge an den dunkelblauen Berghäuptern des Fichtelberges und seiner Nachbarn, welche trotz der Entfernung mehrer Stunden doch ganz nahe zu sein schienen, so durchsichtig war die Luft und so günstig die Lage des Standpunktes. »Ja, schau Dir ihn nur an, den alten lieben Bergkönig,« sagte der Greis; »so wie Du hab' ich ihn schon seit mehr als vierzig Jahren fast täglich betrachtet, entweder von dieser Bank oder vom Fenster aus, und doch hab' ich mich nie satt daran sehen können. Nein, je älter ich geworden, desto lieber hab' ich da hinauf geschaut; und wenn mir noch so weh ums Herz gewesen, von meinen Bergen herab ist mir Linderung gekommen.« »Ich habe schon oft nachgedacht,« sagte das junge Mädchen, »was es denn eigentlich sei, das uns so heimlich und so magisch von den duftigen Höhen anweht, aber ich habe den Schlüssel zu dem Zauber nicht finden können.« »Ja, sieh, mein Kind,« erwiederte der Greis; »zwischen den Bergen und dem unverdorbenen Menschenherzen findet eine nahe Verwandtschaft statt. Beide streben zum Himmel, und beide tragen himmlische Kräfte in sich. Aber was den Fichtelberg betrifft, so hat der für ein echtes, treues Bergmannskind noch einen ganz besondern Zauber. Denn sieh, im Fichtelberg hauste der gute Geist des ganzen Gebirges. Das jetzige superkluge Volk will zwar nichts davon wissen, aber ich weiß, was ich weiß.« »Erzählt mir doch etwas, Großvater!« bat das Mädchen und wandte ihm ihr sonniges Gesicht mit den blauen Augen zu. Zwar war es nur die alte, schon hundertmal von ihm vernommene Geschichte, die sie zu hören hoffen durfte; aber sie wußte, wie gern er sie erzählte, wenn er einen andächtigen Hörer fand, den er gern auch für einen gläubigen nahm. »Nun, Dir kann man allenfalls so etwas erzählen,« sagte er; »Du gehörst nicht zu den Superklugen.« »Vor Alters, wo alle Menschen gläubiger waren,« begann der Alte, »kamen die Berggeister häufig auf die Oberwelt und waren den Menschen hülfreich, wo es noth that; aber je ungläubiger die Menschen wurden, desto weniger mochten die guten Geister mit ihnen zu schaffen haben und so zogen sie sich immer mehr in den Schoß der Erde zurück. Doch kommen sie dann und wann noch ans Tages- oder Grubenlicht. Auch ihr Fürst, der Geist des Fichtelberges, ist vor gar nicht langer Zeit noch gesehen worden. Da ist bei meines seligen Vaters Lebzeiten zu Wiesenthal ein armer, armer Häuer gewesen, der hat die Stube voll Kinder und kein Brod in der »Almet« gehabt, auch keins schaffen können, denn seine Grube ist auflässig und er ohne neue Arbeit gewesen. Da treibt ihn das Geschrei der hungrigen Kinder bei Morgengrauen aus dem Hause, und in der Verzweiflung seines Herzens geht er, er weiß selbst nicht wohin. Und wie er gegangen und gegangen ist, steht er oben auf dem Fichtelberg. Da sitzt ein steinalter Bergmann unweit von ihm auf einem Stein, der winkt ihm. Wie er hinkommt, sieht er zu des Alten Füßen einen Brunnen voll hellen Wassers, und war ihm doch sonst nie ein Brunnen da oben vorgekommen. »Was soll ich?« hat er gefragt. »Räume doch die Steine aus meinem Brunnen hier; schlechtes Volk hat sie hineingeworfen.« Das hat sich der Wiesenthaler nicht zweimal sagen lassen; hat nicht gefragt: was krieg ich? oder was geht's mich an? sondern: 's ist ein alter Mann, hat er gedacht, und das Alter muß man ehren; hat sich frisch ans Werk gemacht und die Steine herausgeholt. Und wie er den letzten auf den Rand gebracht, siehe, da ist's blankes Gold gewesen; der Alte aber war verschwunden. Ist kein anderer gewesen, als der gute Bergfürst. Fröhlichen Muthes ist der Häuer heimgeeilt, und alle Noth hat bei ihm ein Ende gehabt. Später ist es ihm eingefallen, daß wohl auch die andern Steine, die er aus dem Brunnen geräumt, goldhaltig gewesen sein könnten; er ist daher wieder auf den Berg gestiegen, aber wie er auch gesucht, er hat keinen Brunnen, noch eine Spur davon mehr gefunden.« »Es ist recht schade,« sagte das Mädchen, »daß jetzt solche guten Geister keinem Menschen mehr zu Hülfe kommen, wo es der Noth so viel in unserm Gebirge giebt.« »Ach wohl giebt's der Noth viel im armen Gebirge!« rief der Greis, »mehr als ein Mensch aussagen kann, und die guten Berggeister wären nöthiger als je. Aber sieh, Hedwig, die Menschen haben sie durch ihren Undank selbst verscheucht. Mit den Berggeistern ist der Segen vom Gebirge geflohen; das Bergwerk, sein eigentlicher Lebenspuls, ist in Verfall gekommen, und ich weiß nicht, was noch aus ihm werden wird. Wenn ich zurückdenke in meine Jugendzeit, was für ein Leben war da noch in unserm Revier, und besonders auf unserm Vater Abraham! Wie ich als neuer Hutmann Deine Großmutter heimführte, da standen 250 Bergleute im Staat aufgepflanzt auf der Halde, lauter Vater-Abrahamer, und eine Hochzeit war's, woran die paar Alten, die aus jener Zeit noch leben, noch heute mit Lust denken. Aber wie muß es erst gewesen sein, als droben der alte Schacht noch gangbar war, wo an 500 Bergleute anfuhren und ein Häuer vom Vater Abraham von den Stadtleuten wie ein Herr angesehen war! Doch das war auch eine Strafe des erzürnten Berggeistes, daß er die schlagenden Wetter in den alten Bau schickte, so daß kein Häuer seines Lebens mehr darin sicher war, und der Schacht aufgelassen werden mußte. Nun schlug man da unten ein und suchte nach dem alten Gang, fand aber nur einen Zweig davon, dem zur Mächtigkeit und dem Reichthum des verlassenen gar viel fehlte. Ach, wenn der alte Schacht noch im Gang wäre, wie anders stände es um uns! Dann möchte allenfalls Deine Stiefmutter mit ihren Docken den Staat treiben, womit sie Deinen Vater jetzt ruinirt!« Hedwig seufzte und fragte dann: »Aber Großvater, sollte man denn den alten Schacht jetzt nicht wieder öffnen können, nachdem er über hundert Jahre darniedergelegen?« »Du weißt nicht, was es mit den schlagenden Wettern für eine Bewandtniß hat. Sieh, die kommen durch feine, unsichtbare Spalten aus dem feurigen und kochenden Innern des Erdkörpers. Da ist's wie in einem Schmelzofen, nur daß nicht blos ein, sondern alle möglichen Metalle da unter einander in glühendem Fluß sind, und wenn es schon in unsern Schmelzhütten an giftigen Dämpfen und Gasen nicht fehlt, die dem Schmelzer übel zusetzen, wie viel weniger da unten in dem ungeheuren Generalschmelzofen! Die Dämpfe sind zwar gut, es sind die Nährmütter unserer Erzadern, indem sie sich in den gröbern Spalten der Erde zu Metallen niederschlagen; aber ihre Gesellen, die Gase, werden, wenn sie in eine Grube eindringen, die größte Plage des Bergmanns. Es ist aber in der Macht des Berggeistes, die Gasritzen zu öffnen und zu schließen, und er öffnet sie zur Strafe, wenn die Gewerken oder das Bergvolk mit seinen Schätzen gottlosen Mißbrauch treiben. So war's auch auf dem alten Vater Abraham. Da sind die Bergleute gar übermüthig geworden; die Schichtmeisterin ist auch ein Weib gewesen wie Deine Stiefmutter, hoffärtig und hart gegen die Armuth, und ein Gewerke, der die meisten Kuxe gebaut, hat die Schwelgerei so weit getrieben, daß er sich in Wein gebadet und den so mißbrauchten edlen Saft den Armen geschenkt hat. Das hat der Berggeist nicht länger mit ansehen können. Erst hat er gewarnt, hie und da ist eine kleine Wand eingestürzt; dann und wann hat einem Bergmanne ein Schwaden den Athem versetzt -- aber wie alle Warnungen nichts gefruchtet, hat er seine furchtbarsten Wetterschleusen aufgezogen; da sind auf einmal zehn Mann vor Ort erschlagen worden, und wer sich nachher wieder hingewagt, hat das gleiche Schicksal gehabt, zuerst in der tiefsten, zuletzt in allen Gezeugstrecken. So hat man den reichen Gang im Stiche lassen müssen. Später sind wohl Versuche gemacht worden, den Gang wieder aufzunehmen, sie sind aber alle unglücklich abgelaufen; noch zu meiner Zeit ließ sich ein vorwitziger Bergmann in den Schacht und ward todt herausgezogen, nicht etwa erstickt, sondern erschlagen. Seitdem hat Niemand dem Zorne des Berggeistes zu trotzen gewagt; und dieser Zorn wird auch nicht weichen, wenn es die Menschen auf dem Vater Abraham treiben wie bisher.« »Aber Großvater,« sagte Hedwig, »es sind doch nicht alle Leute hoffärtig oder gottlos, die auf dem Vater Abraham leben und verkehren; sollte denn der Berggeist den Unschuldigen mit dem Schuldigen strafen? Das wäre doch ungerecht. Da seid Ihr, mein Vater, der Ferdinand, die Brunhild, der Steiger Meier und so viele rechtschaffene Bergleute, auch die Mutter hat ihre guten Seiten.« »Dich hast Du nicht mit genannt,« sagte der Greis, »und doch bist Du das einzige Wesen, um dessentwillen der Berggeist wenigstens nicht weiter geht in seinem Zorn. Du bist wie Deine selige Mutter -- o die Liebe! sie wäre der Schutzgeist vom Vater Abraham geworden, hätte sie fortgelebt und Deinem Vater eine Schaar Kinder geboren wie ihre Nachfolgerin, das unselige Weib. Mit Deiner Mutter ging der gute Engel Deines Vaters von der Erde, und Deine Stiefmutter scheuchte den letzten Segen vom Vater Abraham. Denn wie das Weib hier zu hausen begann, wurden da unten die Erze tauber und tauber, und zuletzt förderte der Göpel nichts mehr zu Tage als Haldensturz.« »Aber« -- wandte Hedwig ein -- »seit ein paar Jahren ist die Grube doch wieder recht höflich geworden, und es sind Aussichten vorhanden, daß sie es noch mehr wird.« -- »Ist doch kein Segen dabei!« versetzte der Greis. »Wenn man unser Erz sieht, so lacht Einem das Herz im Leibe, und wenn es in die Hütten kommt, ist's nichts. Ich sage Dir, es ist kein Segen mehr auf dem Vater Abraham; selbst das Gute, was die Erde noch giebt, wird zunichte, wenn nicht zum Fluch. Du sprachst vom Steiger Meier, ja, das ist mein alter Kamerad von Kindheit auf; wie ich Hutmann ward, wurde er Steiger, und wir sind immer gute Freunde gewesen. Erst als sein Student aus der Art schlug, und der alte Vater dem Oben'naus und Nirgendsan die Zügel nicht straff anzog, gab's manche Mißhelligkeit zwischen uns, und seit einiger Zeit ist er mir gar entfremdet. Ich weiß nicht, was ich denken soll, er kann mich nicht mehr aufrichtig anschauen, und in seinen Mienen liegt etwas, das mir weh thut.« »Der alte gute Mann hat so viel Sorgen um den Sohn ausgestanden, und die Sorgen haben sein Gesicht fast zur Unkenntlichkeit verzerrt,« meinte Hedwig. »Und dieser Sohn sollte einmal Dein Mann werden,« -- sagte der Greis; -- »es war ein Lieblingsgedanke von uns Alten; wer konnte denken, daß der schöne schwarzlockige Bube so ausarten würde! Nun, ich brauchte mein Wort gegen den Steiger nicht zu brechen, sein Herr Sohn sorgte dafür, daß nichts daraus ward. Der liebe Gott hatte es besser mit Dir im Sinne, als wir kurzsichtigen Menschen; er hatte Dir den Rechten schon erwählt. Ja, das ist der Trost meiner letzten Tage, daß ich Dich in der Hut eines so rechtschaffenen Menschen weiß, wie Dein Ferdinand ist. Das ist noch ein echtes Bergmannsblut, treu und wahr und unbefleckt.« Hedwigs Antlitz leuchtete wie verklärt; sie nahm die braune, schwielige Rechte ihres Ahnen und preßte sie zwischen ihre kleinen zierlichen Hände. »Deine Stiefmutter sieht zwar scheel zu Eurer Liebe,« fuhr er fort; »die hochmüthige Frau glaubt, es falle eine Perle aus ihrer Krone, wenn ihres Mannes Tochter eines Steigers Weib wird; aber Ihr sollt ihr zum Trotz ein Paar werden, bevor ich meine Augen schließe. Was ich Dich noch fragen wollte, Hedwig -- was denkst Du von den Besuchen, die der Doctor Meier seit seiner Ankunft dem Vater Abraham abstattet? Sonst mied er ihn ja.« Hedwig wurde roth und bückte sich auf ihren Strickstrumpf: »Ich weiß nicht, was er will,« sagte sie nach einer Pause, »ich geh' ihm aus dem Wege, wenn er kommt.« »Er scheint mit dem hoffärtigen Weibe ziemlich vertraut zu sein,« sagte der Alte, »es fehlte blos noch ein Laster auf dem Vater Abraham! -- Doch es fängt an, mir kühl zu werden; die Stunde des Schichtwechsels rückt auch heran, da will ich mich zum Beten fertig machen. Da unser Volk heut' nicht da ist, so hast Du wenig Kocherei auf den Abend, geh' doch noch ein wenig aus, mein Kind!« Er streichelte ihr das volle, in Wellen gescheitelte Haar, stand auf und ging ins Haus. Auch Hedwig erhob sich, verließ langsam die Halde und verlor sich im nahen Walde. Unwillkürlich schlug sie den Fußweg ein, der am alten Vater-Abraham-Schacht vorbei nach Pobersdorf führte. Der alte Schacht befand sich auf dem höchsten Theile des weiten Plateaus, und seine Halde bot eine vollständige Rundsicht dar, welche Hedwig benutzen wollte, nach ihrem Geliebten zu spähen, der jetzt anfahren mußte. Sie stieg daher hinauf, aber als sie oben ihren Blick in die rechte Richtung brachte, sah sie eine andere Gestalt daher kommen, als die ersehnte. Es war der Doctor Meier, derselbe, dem sie als Kind versprochen gewesen, und der sie aus Hochmuth von sich gestoßen, ehe sie noch das jungfräuliche Alter erreicht hatte. Am letzten Sonntage war sie ihm auf dem Kirchwege begegnet, das erste Mal seit vielen Jahren. Da war der inzwischen zum Mann Gereifte vor der blühenden Jungfrau voll Staunen stehen geblieben. Er hatte sie angeredet, doch war sie durch Ferdinands Dazwischenkunft aus dieser verlegenen Lage befreit worden. Als sie aber nach Hause gegangen, und Ferdinand auf dem halben Wege von ihr geschieden war, hatte der Doctor plötzlich vor ihr gestanden und sich ihr zur Weiterbegleitung aufgedrungen. Da hatte er einen Ton gegen sie angestimmt, der mit seinem frühern Betragen in vollem Widerspruche stand. Sie hatte indessen seine girrenden Aeußerungen für leeres Gerede genommen; doch war sie ihm, als er seitdem täglich im Vater Abraham einsprach, sorgfältig ausgewichen. Auch jetzt wünschte sie ihm nicht zu begegnen; sie schlüpfte daher in die nahe, offenstehende Kaue, welche den alten Schacht überdeckte. Aber die scharfen Geieraugen des Doctors hatten bereits die liebliche Gestalt erspäht, und gerade ihre Flucht reizte ihn, sie zu verfolgen. In raschen Sätzen sprang er die Halde hinan und stand bald im Eingange der Kaue, der schönen Flüchtigen gegenüber; aber zwischen ihm und ihr klaffte der furchtbare Schlund. »Was fliehen Sie, Hedwig?« fragte er. »Kommen Sie, ich habe einen Auftrag von Ihrer Mutter an Sie. Hier ist ihr Commodenschlüssel, den soll ich Ihnen mit der Bitte überbringen, ihr den neuen Pariser Shawl durch mich zu schicken. Das Kleid hat ihr der Junge richtig überbracht.« »Warum hat sie denn nicht dem Jungen aufgetragen, ihr den Shawl zu holen, wenn sie ihn durchaus haben muß?« »Da fragen Sie mich zu viel; -- genug, ich kam vorhin in ihre Gesellschaft, und als ich beim Abschiednehmen sagte, ich ginge erst noch einmal nach Pobersdorf, da bat sie mich, auf dem Rückwege ihr den kleinen Gefallen zu thun.« Zögernd kam jetzt Hedwig um das Mundloch des Schachtes herum. »So kommen Sie,« sprach sie, als sie sich ihm näherte. Er stand unbeweglich vor ihr und schien sie mit seinen Blicken verschlingen zu wollen. Nach einer Weile reichte er ihr die Hand. »Hedwig, Sie stehen mir gegenüber wie eine Fremde, fast wie eine Feindin; das sollte anders sein! Geben Sie mir die Hand.« »Kommen Sie nur!« drängte sie, »ich will Ihnen den Shawl holen.« »Stolzes Mädchen! Können Sie den Mann entgelten lassen, was der wilde Knabe verbrach? Konnte er auch in der verschlossenen Knospe die Herrlichkeit der Blume ahnen? Hedwig, der erste Strahl Ihrer Schönheit, der mein Auge traf, ist wie der Blitz durch meine Seele gegangen; ich möchte Ihnen zu Füßen fallen und Sie um Vergessen und Vergeben anflehen. -- Hedwig, lassen Sie die alten Zeiten wieder gelten, wo ich Ihnen der nächste Mensch auf Erden sein sollte! --« »Aber nicht wollte,« fiel sie ein, »und mit Recht, denn wie paßte solch ein Gänseblümchen zu solch einem stolzen Ritter! Nein, Herr Meier, die alten Zeiten sind todt und begraben -- lassen wir die Todten ruhen. Zu vergessen und zu vergeben habe ich nichts, denn Sie haben mich nicht gekränkt; die Blume weiß nichts von dem verächtlichen Blick, der die Knospe traf. Gehen Sie jetzt, ich folge Ihnen!« Aber er ergriff ihre Hand, und als sie sie ihm entziehen wollte, schlang er seinen Arm um ihren Leib und zog sie heftig an sich. »Nein, Mädchen! so mußt Du mich nicht abspeisen wollen. Sieh und fühle, wie Du plötzlich mein ganzes Wesen mit einer namenlosen Gluth erfüllt hast! -- Hedwig! es ist über mich gekommen wie ein plötzliches Erwachen aus wüstem Schlaf, wie ein Wirbel, der mich mit allmächtiger Gewalt zu Dir reißt. -- Hedwig -- das Wort unserer Väter muß sich erfüllen -- Du mußt mein werden!« »Lassen Sie mich los!« rief Hedwig ringend, »ich habe weder Lust noch Zeit, Komödie mit Ihnen zu spielen!« »Komödie? Mädchen! Siehst Du nicht, fühlst Du nicht, welch verzehrendes Feuer in mir rast, ein Feuer, das, beim Himmel! eher zu einer Tragödie paßt als zu einer Komödie! Hedwig, ich habe gelesen, daß Männer, die lange dem Geschoß des blinden Gottes Trotz boten, von ihm plötzlich mit unheilbarer Wunde gestraft wurden; ich fühle jetzt, daß dies kein bloßes Märchen ist. Hedwig, laß Gnade walten und gieb mir das Recht auf Deinen Besitz zurück!« Hedwig wand sich mit abgewandtem Gesicht ängstlich in den Armen des starken Mannes. »Gieb, gieb es mir zurück!« drängte er -- »oder ich nehme es mir!« Da blickte sie ihm ins Gesicht und erschrak vor dessen Ausdruck bis in die innerste Seele hinein. War es möglich, daß ein Mensch so plötzlich von einer rasenden Leidenschaft ergriffen werden konnte? »Lassen Sie mich!« schrie sie, »Sie sind wie ein Wahnsinniger!« »So scheint es mir selbst,« versetzte er, »darum gehen Sie glimpflich mit mir um -- seien Sie mild und versöhnlich!« »Lassen Sie mich erst los -- dann wollen wir vernünftig mit einander reden.« »Versprich mit einem Kuß, daß Du nicht entfliehen willst,« und er neigte sich zum Empfang des Pfandes. In diesem Augenblick riß sie sich mit verzweifelter Anstrengung los und floh. Aber er hatte sie schnell wieder erreicht und zog sie in das Innere der Kaue zurück. -- »Hülfe! Hülfe!« kreischte sie, daß es weit durch den Wald hin gellte; aber schnell verschloß er ihr den Mund mit seinen Küssen. Vergebens kämpfte Hedwig mit allen Waffen, die dem Weibe gegen die Gewalt verliehen sind, um sich der ungestümen Liebkosungen des Rasenden zu erwehren; aber ihre Kraft reichte gegen die Gewalt ihres Gegners nicht aus. Da plötzlich fühlte der Doctor sich hinten kräftig gepackt, ja eh' er sich noch besinnen konnte, sah er sich zu seinem Entsetzen gerade über dem schwarzen Schachtschlunde schweben, in den er unrettbar stürzen mußte, wenn die Riesenfaust, die ihn hielt, ihn fahren ließ. War etwa ein Berggeist dem bedrängten Mädchen zu Hülfe gekommen? Insofern man die Bergleute scherzweis auch Berggeister nennt, allerdings: Ferdinand war der Retter, der auf seinem Wege zur Schicht den Hülferuf vernommen hatte. Da stand er nun und hielt mit dem nervigen Arm den Dränger seiner Trauten über die grauenvolle Tiefe, und da kniete die Geliebte zu seinen Füßen und beschwor ihn, den Elenden zu schonen. Der Doctor war zu einem Bilde des Todes erblaßt. »So, nun wird er genug haben,« sagte Ferdinand; »diese Cur wird hoffentlich gründlich sein -- meint der Herr Doctor nicht selbst?« Und er trug den bleichen Mann vor die Kaue: »Nun komm, Hedwig!« sagte er, »den Arm kann ich Dir nicht bieten in meinem lettigen Grubenzeug.« -- Aber Hedwig hing sich ängstlich an seinen Arm und ging mit Ferdinand heim. Beide sahen nichts von den racheblitzenden Blicken, die ihnen folgten. IV. Der Doctor stand lange brütend auf der Halde. Langsam trat er endlich den Weg nach der Stadt an. Aber er beschloß, den Jungen zu erwarten, welchen Hedwig mit dem Shawl schicken wollte. Er brauchte nicht lange zu warten; der Junge war froh, sich seines Botendienstes so leicht entledigen zu können, und ein Trinkgeld machte seine Freude vollkommen. »Aber welche Entdeckung hab' ich machen müssen!« sagte der Doctor, als er der Schichtmeisterin den Shawl überreicht hatte und von ihr mit Dankesergießungen überschüttet worden war; »Ihre Hedwig lustwandelte ~tête-à-tête~ mit einem gemeinen Bergmann im Walde.« »+Meine+ Hedwig?« erwiederte die Frau; »die Sie meinen, ist doch nicht +mein+ Kind, sonst würde sie sich sicher nicht zu einer Liaison mit einem Häuer verirren. Aber interessiren Sie sich vielleicht jetzt für das Gänseblümchen, wie Sie es vor Jahren getauft haben?« »Das gerade nicht; ich wundere mich nur, daß die Liaison von ihnen geduldet wird. Immer ist Hedwig die rechte Tochter von Fräulein Brunhild's Vater, mithin des Barons künftige Schwägerin. Wenn nun die Frau Baronin Mutter erführe, daß ihr Sohn Gefahr liefe, der Schwager eines gemeinen Häuers zu werden, so könnte sie leicht --« »Um Gotteswillen!« unterbrach ihn die Schichtmeisterin entsetzt; »ich bitte, lassen Sie den Baron und die Frau Baronin ja nichts merken von dem, was Sie gesehen; dafür, daß aus Hedwigs Liaison nichts wird, stehe ich. Von Stund' an muß mein Mann den frechen Menschen, der sich in unsere Familie drängt, ablohnen und Hedwig jeden Verkehr mit ihm untersagen.« »Zum Glücke Ihrer Brunhild dürfte das klug und weise sein,« bemerkte der Doctor und empfahl sich in der Hoffnung eines genußreichen Abends. Er begab sich zu dem Goldschmied Reichel, der ihn wie einen guten Kunden empfing. »Wie steht's, Bester?« fragte der Doctor, »hat mein Alter gedeckt?« »Ich glaube -- wenn die ganze Lieferung der Probe gleicht; das muß sich erst ausweisen.« »Wißt Ihr was? Ihr müßt mir augenblicklich noch hundert Thaler vorstrecken; ich muß morgen nach Hallbach zu meiner Erkornen und da nobel auftreten; wahrscheinlich muß ich ihren Papa nach Bad Kissingen begleiten. Wir vertauschen den alten Wechsel mit einem neuen, und -- nun Ihr wißt Euch schon bezahlt zu machen.« »Aber Ihr Vater war schon jetzt schwierig,« wendete der Goldschmied ein. »Nur keine Umstände, mein Guter!« sagte der Doctor. »Hoffentlich ist das der letzte Schröpfkopf, den ich an den guten Alten ansetzen muß. Zieht nur die Casse auf, mein Goldmann!« Der Goldschmied mußte den Doctor wohl unwiderstehlich finden, er zog ein Kästchen aus seinem Ladentisch und zählte die verlangte Summe in Dukaten auf. Der Doctor strich sie ein. »Die habt Ihr aber gehörig mit Königswasser getauft,« sagte er, die Münzen prüfend, »Ihr seid doch ein unverbesserlicher Anabaptist!« Gleichgültig, als ob er die Anspielung nicht verstehe, füllte der Goldschmied ein Wechselformular aus und legte es dem Schuldner vor. Dieser unterzeichnete. »So, wieder ein Geschäft gemacht!« sagte er, sein Gold einsteckend. »Nun noch Eins: Vergeßt um Eurer selbst willen nicht, daß die Klausel, »nach Wechselrecht verfahren,« keine andere Bedeutung haben kann, als die eines Schreckschusses! Ihr kennt das Sprichwort vom Hehler!« Und er ging. »Das ist der leibhaftige Satan!« murmelte der Goldschmied, ihm nachstarrend. Diese Verhandlung zeigt, daß der unglückliche alte Steiger sich sehr irrte, indem er wähnte, seinem Sohne sei das verzweifelte Mittel, dessen übermäßige Geldbedürfnisse zu befriedigen, so verborgen geblieben, wie er es zu halten gesucht. Der entartete Sohn selbst hat den Goldschmied auf den Vater gehetzt. Nur der Ort, wo dieser das Erz aufbewahrte, war jenem unbekannt, und er hatte bisher auch nicht Ursache gehabt, danach zu forschen. Während der Vater tief im Schoße der Erde nicht nur mit seinem schweren Tagewerk sich plagte, sondern auch von Gewissensbissen gequält wurde, verlebte der Sohn einen genußreichen Abend im Salon des reichen Handelsherrn Neuhoff. Er war ein ausgezeichneter Gesellschafter, als solcher schon früher der Baronin von Brunn, in deren Haus ihn ihr Sohn eingeführt hatte, so lieb und werth geworden, daß man an ihrem Wohnorte Hallbach lange von einem zärtlichen Verhältniß zwischen Beiden munkelte, bis es offenkundig ward, daß der junge Arzt sich Hoffnung auf die Hand der Baronesse Lydia mache. Heute entfaltete er alle seine Gaben, theils um sich in guter Gesellschaft über die am Nachmittag erlittene Niederlage erhoben zu fühlen, theils um seinen Einfluß auf die Baronin zu befestigen. Diesen Einfluß bedurfte er nicht nur für seinen Heirathsplan, der freilich mit seinem Benehmen gegen Hedwig im Widerspruch stand, sondern auch zur Förderung der Wünsche des jungen Barons und Brunhild's, wodurch er an der Schichtmeisterin eine dankbare Bundesgenossin gegen Hedwig und ihren Häuer gewann. Seine Bemühungen gelangen vollständig; er wußte die Baronin dergestalt auf die in Wahrheit vorhandenen trefflichen und zum Theil glänzenden Eigenschaften Brunhild's aufmerksam zu machen, daß am Schlusse des Abends der Baron es wagen konnte, der Mutter seine Wahl zu gestehen. Und die von der schönen, und, was ihr allerdings viel galt, eleganten jungen Dame bezauberte Gnädige beschloß den Abend mit einer stillen Verlobung, vorbehältlich der Einwilligung ihres gichtkranken Gatten, an der sie nicht zweifelte. »Ich curire ihn,« sagte der Doctor, »und im schlimmsten Falle geht das Glück des Freundes dem meinigen vor, wenn ich liquidire.« Als er früh zwischen vier und fünf Uhr sich seiner väterlichen Behausung näherte, sah er aus der schwer zugänglichen Oeffnung eines alten Stollens eine dunkle Gestalt treten und gleichfalls auf das Haus zugehen. Er ging ihr schnell nach und stieß an der Hausthür auf seinen Vater. »Du kommst so spät aus der Stadt?« redete der Greis den Sohn an, »so lange hast Du geschwärmt? Und ich muß mich mit der sauern Nachtschicht plagen! Du solltest doch nun ein anderes Leben anfangen!« »Du hast keine Idee von dem Leben einer Gesellschaftssphäre, zu der ich nun einmal durch Anlage und Neigung gehöre,« antwortete der Doctor. »Ich muß meine höhere Bestimmung erfüllen, und Du wirst bald Ursache haben, Dich über alle Opfer zu freuen, die Du mir gebracht. Du sollst sie an keinen Undankbaren verschwendet haben. Laß Dir sagen, daß ich heute glücklich die Verlobung zwischen dem Obereinfahrer und Schichtmeisters Brunhild zu Stande gebracht habe; und was ich über die Mutter zu Gunsten Anderer vermocht, das vermag ich auch zu meinen eigenen. Du wirst sehen, in wenig Wochen darfst Du die reiche Baronesse Lydia von Brunn als Deine Schwiegertochter begrüßen!« »Dann werde ich wohl am längsten einen Sohn gehabt haben,« sagte der Greis, »wer seinen Vater auf der Straße nicht kennen will, wenn er nur in eines Barons Gesellschaft geht, wird ihm vollends fremd sein, wenn er der Mann einer Baronesse ist. Nun, ich wünsche Glück zu dem hohen Flug -- freuen könnte ich mich nur, wenn Du mir eine Schwiegertochter brächtest, wie meine Hedwig, die Du im tollen Hochmuth von Dir gestoßen.« »Die hat sich längst zu entschädigen gewußt,« sagte der Doctor. »Wohl ihr,« erwiederte der Steiger, »Gott hat ihr trefflichen Ersatz gegeben. Das ist auch mein Trost bei der ganzen Geschichte, daß das Mädchen nun doch noch glücklich wird. Doch jetzt laß uns hineingehen, ich höre die Mutter Licht anschlagen.« Sie gingen hinein. Die letzten Worte hatten den Stachel der Eifersucht und Rache, den der Sohn im Herzen trug, tiefer hineingetrieben. Daß sein Vater aus dem alten Stollen gekommen war, leitete ihn auf die Vermuthung, daß dort die geheime Erzniederlage desselben sei, und diese Vermuthung führte sein brütendes Gehirn auf einen Gedanken, dessen Tücke er vor sich selbst mit der Ausflucht beschönigen konnte, er müsse von seinem Vater die nahe Möglichkeit der Entdeckung seines Verbrechens entfernen; denn so gut wie er konnte auch ein fremder Mensch, vielleicht gar der Bergner, den Vater einmal bei seinem nächtlichen Gange von oder zu dem Stollen beobachten, Verdacht schöpfen, untersuchen -- und dann war der Vater verloren. Wie kein Mensch so bös ist, daß er nicht nach einer Rechtfertigung seiner bösen Absichten suchte und sie auch glücklich fände, so fand der Doctor, als er am Tage wieder in die Stadt kam und da zufällig den Häuer Ferdinand Bergner aus dem Laden des Gelbgießers treten und diesen das Abschiedswort rufen hörte: »Auf Wiedersehen, mein lieber Steiger ~in spe~,« in diesem Worte mehr als eine bloße Rechtfertigung seines schon fertigen Anschlages, er fand sich als Sohn verpflichtet, einen Menschen unschädlich zu machen, der offenbar seinem Vater nach dem Brode trachtete. Er hatte eigentlich heute abreisen wollen, aber sein tückischer Plan nöthigte ihn, noch eine Nacht in der Heimath zu verweilen. Sobald es finster war, verließ er die Stadt, nicht ohne sich vorher mit Wachszündern zu versehen, eilte nach Pobersdorf und in den alten Stollen bei der väterlichen Wohnung. Er mußte lange suchen, ehe er seine Vermuthung bestätigt fand; aber er fand sie bestätigt: in einem Haufen alten Schuttes lagen die schimmernden Stufen. Wie das Haus des Steigers, war auch Ferdinands Wohnung ein altes Zechenhaus, das von ersterem etwa tausend Schritte entfernt stand. Daher fehlte es auch nicht an einem Stollen daselbst, der dicht hinter dem Hause mündete. Der Doctor kannte, als Ferdinands Jugendgespiele, die Oertlichkeit genau; er wußte auch, daß dieser Stollen durch eine Thür verschlossen war; aber auch dafür hatte er sich gerüstet; er kannte die einfache Schließvorrichtung solcher Grubenthüren und hatte sich mit einem Stück Draht versehen, das er hier gleich in die rechte Form brachte. Seine Absicht war, die Erzstufen in Ferdinands Stollen, die sogenannte Jakobszeche, zu schaffen, dort zu verbergen und nach einiger Zeit den Verdacht der Erzentwendung auf den verhaßten Häuer zu lenken. Sein Werkzeug zur Vollendung des verruchten Vorhabens sollte ein naher Anverwandter, ebenfalls Häuer auf dem Vater Abraham und Aspirant auf die Steigerstelle, werden. Mittels einer Leinenschürze, welche seine Mutter am Gartenzaun zum Trocknen aufgehangen, bewirkte er in drei Gängen den nicht leichten Transport. In einer Stunde war das Werk der Bosheit geschehen. Er hatte das Erz in der Jakobszeche so untergebracht, daß nur ein mit Absicht spähendes Auge es entdecken konnte. Froh über das Vollbrachte ging er heim, um noch eine Nacht unter dem väterlichen Dache zuzubringen. Er hatte keine Ahnung, daß gerade diese Nacht, wo sein Vater die Nachtschicht aussetzte, zur Ablieferung einer Hälfte des gestohlenen Erzes bestimmt war. Um 1 Uhr nach Mitternacht stand der Steiger auf und begab sich in seinen Stollen. Wie erschrak der beklagenswerthe Mann, als das Erz nicht mehr zu finden war! Er durchsuchte alle Winkel und Schutthaufen des nicht tiefen Stollens -- das Erz war verschwunden. Wie vernichtet setzte er sich auf einen Stein im Stollen; er erschöpfte sich in Muthmaßungen, wer des Erzes habhaft geworden und es fortgetragen haben könnte; eben so wenig wie sein alter Camerad, der Hutmann, war er ganz frei von Aberglauben -- vielleicht war das Erz durch das Blendwerk eines Kobolds unsichtbar gemacht, vielleicht war es gar »heimgegangen« -- aber es konnte wohl auch von einem Menschen entdeckt und weggeschafft worden sein; dann war das Geheimniß schon nicht mehr blos unter Zweien. Er zitterte vor Angst, aber auch vor Frost; um sich zu erwärmen und zu ermuntern, nahm er einen Schluck aus seinem Fläschchen, das er jedes Mal gefüllt mit zur Schicht zu nehmen pflegte, die er heute von der Stadt aus antreten wollte. Aber statt daß er sonst das Fläschchen nur allmälig im Verlaufe der Schicht geleert hatte, trank er es jetzt in wenig Minuten aus. Neu belebt machte er sich an eine neue Durchsuchung des Stollens. Umsonst, das Erz war und blieb weg. Wieder setzte er sich nieder und versank in qualvolles Sinnen. Endlich erklang das Häuerglöcklein. Das lud zur Schicht. Er erhob sich, sein Kopf war schwer, taumelnd verließ er den Stollen und schlug die Richtung nach dem Vater Abraham ein. Was ihm noch nie begegnet, widerfuhr ihm jetzt: er verirrte sich im Walde und kam erst später als die andern Bergleute auf die Grube. Noch immer berauscht, voll Angst und Verdruß, stieg er in den Schacht. Die gewohnte Sicherheit des Trittes hatte ihn verlassen; in der halben Teufe verfehlte er eine Sprosse und stürzte hinab zu den Füßen Ferdinands, der heute bei der Förderung beschäftigt war. Dieser fing zwar noch den Oberkörper des stürzenden Greises mit seinen Armen auf, derselbe war aber bereits im Fallen durch die Wände erheblich verletzt, so daß er stark blutete und kein Lebenszeichen von sich gab. Ferdinand befahl dem nahen Hundejungen, Wasser zu bringen, und suchte dann seinen unglücklichen Vorgesetzten zu beleben. Auf den Lärm des Jungen kamen bald mehrere Häuer von ihren Oertern und theilten Ferdinands Bemühungen. Es gelang, dem Greise einige Lebenszeichen zu entlocken; aber sie blieben sehr schwach. »Wir müssen ihn hinaufschaffen,« erklärte Ferdinand, »ich fahre schnell aus und mache die Hängematte zurecht; Einer von Euch führt sie beim Herausfördern.« Die Cameraden waren damit einverstanden. Ferdinand fuhr aus, traf Hedwig schon wach, machte sie mit dem Unglücksfall bekannt, und erhielt nicht nur die nöthigen Decken und Stricke zu der Hängematte, sondern wurde auch von ihr in deren rascher Herstellung unterstützt. Nach einer halben Stunde lag der Verunglückte auf einem Sopha in der Wohnstube des Schichtmeisters, der sogleich einen Boten nach Pobersdorf schickte, um den Doctor herbeizuholen. Inzwischen kam der Steiger zum Bewußtsein; das erste Wort aber, das er wieder vernehmen ließ, war: »Ich muß sterben, ruft mir den Hutmann, daß ich ihm beichte!« Hedwig weckte ihren Großvater, der den Schlaf der Gerechten schlief. Sie theilte ihm schonend mit, was seinem Jugendfreunde zugestoßen war. Erschüttert stand der Greis auf und war bald am Lager des Sterbenden. Als dieser verlangte, mit ihm allein zu sein, ging der Schichtmeister mit den Uebrigen aus der Stube; und nun nahm der Unglückliche dem alten Freunde das Versprechen ab, gleich wie ein Geistlicher das Beichtgeheimniß zu ehren; dann bekannte er ihm seine Schuld und beschwor ihn, den Schichtmeister vor den Fallstricken des wucherischen Goldschmiedes zu warnen. Unmittelbar darauf verschied er. Der Doctor kam nur zur Leiche des durch ihn gemordeten Vaters. Ob er die grause Schuld wohl fühlte? Ob die Schmerzensäußerungen, denen er sich überließ, echt und von tiefem Grunde waren? Der weitere Verlauf dieser Geschichte wird es lehren. V. Für jetzt hatte der erschütternde Todesfall wenigstens den Einfluß auf das Gemüth des Doctors, daß er den Anschlag gegen Ferdinand nicht weiter verfolgte, sondern nach der Beerdigung seines Vaters seine so lange aufgeschobene Reise antrat. Der Trauerfall hatte auch bei den Bewohnern des Vater Abraham alles Andere so weit in den Hintergrund gedrängt, daß bis dahin der Schichtmeister die ihm von seiner Frau als nothwendig dargestellte und geforderte Ablohnung Ferdinands auszusprechen vergessen hatte. Kaum war der Steiger Meier begraben, so erinnerte die Schichtmeisterin ihren Gatten wieder an jene Maßregel. Vergebens stellte er vor, wie unentbehrlich gerade jetzt Ferdinand für die Grube geworden sei, denn der Häuer Meier, der sich zur Vertretung der Steigerstelle dränge, sei dieser Aufgabe nicht gewachsen. Allein die Frau brachte bald wieder durch den Vater den Beamten zum Schweigen. Glücklicherweise war die Verhandlung von Brunhild gehört worden, die auf einen kurzen Besuch da war; und diese vertraute Hedwig den ihrer Liebe drohenden Streich. Hedwig setzte augenblicklich ihren Großvater davon in Kenntniß. »Was!« schrie der würdige Greis, »den besten Häuer vom Vater Abraham will mein Sohn dem Drachen von Weib opfern? Und gerade jetzt, wo ein Steiger fehlt? Denn der Meier Hilf, der den Steiger spielen möchte, taugt kaum zum Scheidejungen. Wart', da will ich, der Hutmann, auch ein Wort mitreden!« Und er ging hinab, rief seinen Sohn aus dem Zimmer und lud ihn zu einem kleinen Gang in den Wald ein. »Lieber Sohn,« begann er, als sie im Schatten der Tannen wandelten, »ich habe noch den Auftrag eines Sterbenden an Dich auszurichten. Der arme Steiger Meier hat mir in seinen letzten Augenblicken ein schreckliches Geheimniß anvertraut, das mir zum Theil den Unsegen erklärt, der auf dem Vater Abraham lastet. Ich darf Dir nicht Alles sagen, aber ich soll Dich warnen vor den Fallstricken des wucherischen Goldschmieds. Ich will hinzufügen, daß dieser Goldschmied den unglücklichen Steiger zu einem Verbrechen verführt hat, zu dem er wohl auch Dich verleiten könnte, wenn er Dich so in seine Gewalt bekäme wie ihn.« »Ich weiß nicht, was mir das soll,« sagte der Schichtmeister empfindlich; »ich bin doch kein Knabe mehr.« »Höre Deinen Vater an, mein Sohn!« sagte der Greis. »Noch bin ich Hutmann auf dem Vater Abraham und das Haupt meines Stammes; ich habe darauf zu sehen, daß Zucht und Ehre in dem Hause wohne, das mir zur Hut übergeben worden, und in der Familie, die meinen Namen führt. Ich hätte schon eher ein ernstes Wort mit Dir reden sollen, um das Verderben abzuwehren, das dem Vater Abraham und meinem Hause droht. Aber es ist so, man bessert nicht eher einen gefährlichen Pfad, bis ein Nächster darauf den Hals gebrochen. Ich sage Dir, der Hochmuth, der in Deiner Familie eingerissen, führt Dich zum jähen Fall -- vielleicht zu einem schlimmeren, als er den Steiger Meier ereilte. Ihr treibt mehr Aufwand, als ihr ehrlicherweise bestreiten könnt.« »Ach Vater, mische Dich doch nicht in meine eigensten Angelegenheiten!« unterbrach ihn der Sohn, »ich weiß schon, wie weit ich dem Dir allerdings unbehaglichen Sinne meiner Frau für das Feine und Wohlanständige und ihrer Mutterzärtlichkeit nachzugeben habe. Ich hoffe, der Hutmann Frenzel wird die Ehre seines Namens nicht befleckt finden durch die Verbindung seiner Enkelin mit einem Freiherrn von Brunn.« »Alle Achtung vor dem Freiherrn von Brunn; ist er doch mein hoher Vorgesetzter und gewiß ein vortrefflicher Herr; aber die Ehre eines Namens wird in Wahrheit nur durch Rechtschaffenheit bewahrt. Mein Sohn, das edle Bergwerk ist im Verfall, wodurch? Durch die Schuld der Gewerke und des Bergvolkes, besonders seiner Vorgesetzten. Die sind nicht der wahren, sondern eitler Ehre nachgejagt, und diese Jagd hat die Treue von den Bergen gescheucht und mit der Treue den Segen.« »Sonst soll es der Unglaube gewesen sein, der die guten Berggeister verscheucht und so das Bergwerk zu Grunde gerichtet habe,« warf der Schichtmeister spottend ein. »Es hängt Alles zusammen,« sagte der Hutmann, »der Unglaube kommt aus einem hoffärtigen Herzen wie die Ehrsucht, und wo die Demuth wohnt, wohnt auch die Treue; und die guten Geister mögen nicht länger weilen, wo Treue, Glaube und Demuth fliehen; es hängt Alles zusammen.« »Ich will Dir bessern Bescheid über den Verfall unsers vaterländischen Bergbaues sagen,« fiel der Schichtmeister ein: »unser Erzgebirge ist nicht ärmer an Metallen als sonst, aber der Bau in den großen Teufen ist kostspieliger als sonst bei geringerer Teufe, und dazu ist der Metallwerth so gesunken, daß sich der Abbau manches Erzfeldes nicht mehr lohnt, das bei den alten Metallpreisen für reich und ergiebig gelten würde.« »Ja, Ihr studirten Herrn habt für Alles eine ganz natürliche Erklärung,« meinte der Alte, »aber ich weiß, was ich weiß, sei es, wie es sei, das kannst Du mir nicht abstreiten, daß die Hoffart die Mutter der Untreue ist, und wo Hoffart und Untreue hausen, da baut keine Schwalbe ihr Nest, da ist Unsegen und Verderben. Darum beschwör' ich Dich, treib' den Hoffartsteufel aus Deinem Hause, eh' er das Ei der Untreue ausbrütet! Fang' gleich damit an, daß Du zu Deinem hoffärtigen Weibe sprichst: Der Ferdinand Bergner bleibt auf dem Vater Abraham, Punktum! Was hast Du gegen den Menschen, daß Du ihn fortschicken willst?« Der Schichtmeister wußte keine Anklage wider den jungen Häuer vorzubringen, er behauptete blos, der bevorstehenden Familienverbindung mit dem Freiherrn von Brunn das Opfer bringen und einen ihm sonst selbst lieben Menschen dem Hause entfremden zu müssen. Der schwache Mensch glaubte, seinen Erzeuger von der Nothwendigkeit dieser Maßregel ebenso überzeugen zu können, wie er durch seine Frau überzeugt war. Aber er irrte sich. »Weißt Du, ob dem Obereinfahrer die Halbschwägerschaft mit dem Häuer, hoffentlich bald Steiger Bergner anstößig ist? Hast Du ihn schon darüber gefragt?« Der Schichtmeister mußte verneinen. »Also ist der ganze Vorwand nur ein Hirngespinnst Deiner Frau!« sagte der Greis; »der Obereinfahrer beweist ja schon dadurch, daß er selbst eine arme bürgerliche Schichtmeisterstochter freit, daß er weit über die lächerlichen Standesgrillen hinaus ist, die Ihr ihm zutraut. Ich glaube, er würde es Euch sehr wenig danken, daß Ihr mehr um seine Standesehre besorgt seid als er selbst. Aber so geht es der Hoffart allerwegen: immer macht sie die Rechnung ohne den Wirth. Ich hoffe, der Ferdinand bleibt auf der Grube, und solltest Du ihn vertreiben wollen, so werde ich mich den Weg in die Stadt nicht verdrießen lassen und dem Gewerkenausschuß rathen, der Grube sofort in dem Bergner einen neuen Steiger zu geben. Ich hoffe, daß mein Wort noch etwas gilt bei den Herren, und ich will es geltend machen; denn dem Vater Abraham thut gerade jetzt, wo der Schichtmeister so schwach ist, ein Steiger noth, der die Augen offen hat und die alte Bergmannstreue fest im Herzen!« »Du wirst mich doch nicht in eine schiefe Stellung zur Gewerkschaft bringen wollen?« sagte der Schichtmeister. »Gehe nur ein Jeder seinen geraden, rechten Weg, so giebt's keine schiefe Stellung!« versetzte der Alte. »Du weißt nun meine Meinung -- thu, was Du willst!« Er wandte sich wieder dem Huthause zu. Als der Schichtmeister heim kam, hatte er mit seiner Frau eine geheime Berathung, in welcher sie lange auf Ferdinands Entfernung bestand, sich endlich aber doch überzeugen ließ, daß nach der Willenserklärung des Großvaters der gefaßte Beschluß unausführbar war. Sie gab in der Hoffnung nach, bald Mittel zu finden, sich des »gemeinen Menschen« zu entledigen. Während der wackere Hutmann sich so eifrig seines Schützlings annahm, war auch der Gelbgießer Mickley bemüht, ihm den Steigerposten zuzuwenden. Ehe Ferdinand es sich träumen ließ, wurde er vom Bergamte zur Prüfung geladen. Es waren zwar außer dem Vetter des Doctors noch drei Bewerber um die Stelle da, aber er durfte es mit allen aufnehmen. Er ging als Sieger aus diesem Ehrenkampfe hervor und erhielt schon am folgenden Tage seine Bestallung als Steiger der Fundgrube Vater Abraham. Es versteht sich von selbst, daß ein redlich Liebender, wenn er sich in die Lage gebracht sieht, sein Nestchen zu bauen, damit nicht säumt. So empfing auch Ferdinand nicht so bald seine Bestallung aus der Hand seines Schichtmeisters, als er sich auch ein Herz faßte und um Hedwigs Hand bat. Der Schichtmeister hätte vielleicht im ersten Augenblick sich das Jawort durch den persönlichen Zauber, den der Freier auf ihn übte, entlocken lassen, wäre nicht die Schichtmeisterin eingetreten. Ein Blick auf sie und von ihr reichte hin, den ganzen Zauber wirkungslos zu machen, und der junge Steiger sah sich abgewiesen. Vergebens erklärte Hedwig ihren entschiedenen Willen, niemals von Ferdinand zu lassen, vergebens erhob auch der Großvater seine gewichtige Stimme zu Gunsten der Liebenden; die Schichtmeisterin setzte jetzt ihren Willen durch. »Na, weißt Du was,« sagte der Greis, als er mit Hedwig allein war, »eigentlich ist es gut, daß es nicht so glatt mit Euch Beiden geht; je steiler der Weg zum Himmel, desto größer die Seligkeit. Ich bin nun siebzig Jahre alt und hab' schon viel widerwillige Eltern gesehen; aber mir ist kein Fall vorgekommen, wo sie durchgedrungen wären, wenn anders die Liebenden das Herz auf dem rechten Flecke hatten. Na, bei Dir ist das der Fall, das weiß ich, und bei dem Ferdinand auch, das mußt Du noch besser wissen als ich. Daß Du noch eine Weile Aschenbrödel hier sein mußt, ist gewiß ein kleineres Unglück für Dich, als wenn Dich Deine Stiefmutter hätschelte und zur Hoffart erzöge!« Und zu Ferdinand sprach er: »Glückauf, Steiger! Du bist nun berufen, scharf nach dem Rechten zu sehen auf dem Vater Abraham. Für Deine Steigerbildung hat der Markscheider gesorgt; aber die Steigerbildung thut's nicht allein, ein echter Steiger braucht auch ein Steigerherz. Nun, ein solches hat Dir Gott verliehen, das halte fest und rein, so wird's wohl um Dich und den Vater Abraham stehen. Wisse, Dein Vorfahrer war auch ein rechter Steiger, aber er ließ sich vom Teufel blenden und entging vielleicht nur durch den schnellen Tod großer Schmach. Aber wenn er selbst auch noch so wegkam, das Bergwerk hat doch den Fluch seines Strauchelns gefühlt -- trag' Sorge, Steiger, daß der Fluch wieder hinweggenommen werde; halt' auf Recht und Treue auf dem Vater Abraham! Und wenn Du einmal etwas siehst, was nicht ganz recht ist vor Gott und Menschen, auf welcher Seite es immer sei, drück' nicht etwa Deine Augen zu -- aber fahr' auch nicht mit der Hast eines Büttels drein, der ein Dutzend Kinder von seinen Denunciations-Groschen füttern muß! Weißt, es würde weniger Verbrechen in der Welt geben, wenn man das erste Verbrechen unter vier Augen strafte, statt den Verbrecher sogleich der Brandmarkung für's ganze Leben preiszugeben!« Ferdinand schüttelte dem Greise herzlich die Hand und stieg mit hoffnungsfreudigem Herzen in den Schacht zu seiner ersten Steigerschicht. VI. Vier Wochen nach Ferdinands Beförderung erlangte der Obereinfahrer die väterliche Einwilligung in seine Heirath, und nun wurde seine Verlobung öffentlich bekannt gemacht. Schicklicherweise konnte Brunhild nun nicht länger in der Pension bleiben, sondern mußte bis zu ihrer Vermählung im Vaterhause wohnen. Da war jetzt alle Sorge auf Vollendung der bräutlichen Ausstattung und Vorbereitung zu einer würdigen Hochzeitsfeier gerichtet. Mit bangem Herzklopfen sah Hedwig, der jetzt die ganze Hauswirthschaft zufiel, das Herbeischleppen all der kostbaren Gegenstände, welche der eitlen Mutter zur Ausstattung der künftigen Baronin unerläßlich schienen, mit Kopfschütteln und Murren beobachtete der Großvater das Treiben; zumal als der Erbschaftsproceß, auf den seine Schwiegertochter pochte, kein Ende nehmen wollte, und der Schichtmeister selbst anfing, eine sehr besorgte Miene zu zeigen. Da jetzt der Obereinfahrer öfters auf dem Vater Abraham einsprach, um seine Braut zu sehen, so wachte die Schichtmeisterin strenger als je darüber, daß Ferdinand sich ihrem Familienkreise fernhielt. Doch fand sich bei ihren häufigen Stadtbesuchen und Brunhild's freundlicher Gesinnung für die Liebenden Gelegenheit genug, sich zu sehen und gegenseitig zu ermuthigen. Ferdinand ging jeden Tag mit frischer Hoffnungsfreudigkeit an sein schweres Tagewerk; er war seinen Untergebenen, von denen nur der bei der Steigerwahl durchgefallene Meier ihm mit Mißmuth gehorchte, ein Vorbild an Fleiß und Pünktlichkeit im Dienst und sah streng auf die Pflichterfüllung jedes Einzelnen. Aber er sorgte auch für die Verbesserung ihrer Lage. Die Anbrüche hielten aus, und ehe drei Monate um waren, erfuhr er durch seinen Gönner Mickley, daß die letzte Erzlieferung von der Schmelz-Administration doppelt so hoch bezahlt worden sei, als jede frühere Lieferung von gleichem Gewicht. Mußte Ferdinand, der keine so auffallende Veredlung des Ganzen wahrgenommen hatte, dies Ergebniß Wunder nehmen, so äußerte er doch nichts hierüber, vielmehr ergriff er diese Gelegenheit sogleich, um für seine Häuer eine Lohnaufbesserung zu beantragen. »Na,« sagte der Gelbgießer; »ich werde die Sache dem Ausschuß vorlegen. Es ist schön von Ihm, daß Er Seiner armen Kameraden gedenkt und für sich nichts begehrt. Wenn der Vater Abraham so höflich bleibt wie jetzt, so glaub' ich, die Gewerkschaft wird sich billig finden lassen. Ich werde mich gewiß dafür verwenden. Aber jetzt muß ich Ihm was zeigen.« Er holte aus einem Wandschrank eine Erzstufe. »Woher glaubt Er wohl, daß diese Stufe ist?« fragte er. Ferdinand nahm sie, wog und betrachtete sie genau. »Soll sie aus dem hiesigen Revier sein?« fragte er nach einer Weile. Der Gelbgießer bejahete, und der junge Metallurg begann seine Prüfung von Neuem. Endlich sagte er: »Die Gangart ist ganz die unsrige, und ich glaube nicht, daß im hiesigen Revier noch irgendwo Weißgiltigerz mit gediegenem Silber zugleich so in den Quarz einbricht, wie auf dem Vater Abraham. Ich kenne hier herum wohl jedes Gestein, wo man auf Silber baut, aber nirgends sonst hab' ich dergleichen gesehen, wie dieses ist.« »Hm!« sagte der Gelbgießer, »ich dachte mir's auch -- aber ich traute doch meinen Augen nicht ganz. Nun will ich Ihm auch sagen, wie ich zu der Stufe gekommen bin. Der Goldschmied Reichel hat seinen Lehrjungen mißhandelt, daß er ihm davongelaufen ist. Da er nicht wieder zu ihm und lieber Gelbgießer werden wollte, so bat mich sein Vater, es mit ihm zu versuchen. Nun, es scheint ein anstelliger Junge zu sein; deshalb brauchte ich ihn bei der neuen Einrichtung meines Stufen-Cabinets nach dem Breithaupt'schen System. Da sagte er, er hätte auch ein paar Stufen zu Hause, ob ich sie haben wolle. Nun, ich bin ein Liebhaber von dem Zeug und hieß ihn danach gehen. Da brachte er mir die schöne Silberstufe da, aber nur diese, die andere hatten seine Geschwister verschleppt. »Aber, Junge!« rief ich erstaunt, »wo hast Du die prächtige Stufe her?« Ganz unbefangen gab er zur Antwort, er habe sie beim Kartoffelabkeimen für seine Meisterin im Keller unter den Kartoffeln gefunden, und weil es gerade Weihnachten gewesen, wo bei seinen Eltern das Bergwerk für die Kinder aufgebaut worden, da habe er beide Stufen mit hingenommen und in das Bergwerk gethan. Was sagt Er dazu?« »Ich weiß nicht, was ich denken soll,« sagte Ferdinand, »wie können die Stufen vom Vater Abraham in den Keller des Goldschmieds gekommen sein, der nicht einmal zu den Gewerken gehört?« Bei sich mußte er wohl an die Anspielung des alten Hutmanns auf ein Verbrechen des Steigers Meier denken; aber er wagte nicht, den Gedanken laut werden zu lassen. Der Gelbgießer sah dem jungen Mann forschend ins Gesicht, doch nicht mißtrauisch, denn dieses Gesicht war ihm ein treuer Spiegel des fleckenlosesten Gemüthes. »Ich will Ihm was sagen, Steiger,« nahm Mickley endlich das Wort, »dem Goldschmied hab' ich nie getraut, er ist ein Wucherer, und wer einmal Wucher treibt, der ist auch zu andern Schlechtigkeiten fähig! Wer nur einmal in seinem Kartoffelkeller nachgraben könnte, der fände vielleicht noch mehr Erz vom Vater Abraham.« »Wenn er es nicht bei guter Zeit fortgeschafft hat,« fiel Ferdinand ein. »Aber Sie haben Recht, wo die zwei Stufen gelegen, da können auch noch mehr gelegen haben. Nur ist es mir ein Räthsel, wie sie hingekommen.« »Weiß Er noch, wie ich Ihn vor einem Vierteljahr fragte, wie hoch Er das gelieferte Erz schätze, und wie wenig die Ausbeute Seiner Schätzung entsprach? Junger Freund,« fuhr er seine Hand fassend fort, »wir sind jetzt unter uns, und was wir reden, bleibt unter uns: ist Ihm denn noch nicht der übermäßige Aufwand unseres Schichtmeisters aufgefallen?« »Seiner Frau, wollen Sie sagen,« versetzte Ferdinand, »denn der Schichtmeister selbst ist ein schlichter Mann, nur leider zu gut gegen seine Frau. Allerdings ist das für einen Schichtmeister eine sehr theure Ehehälfte.« »Zumal jetzt,« fiel der Gelbgießer ein, »wo sie Schwiegermutter eines Barons wird. Es ist ja übertrieben, was die Frau zusammenkauft -- borgt, wollt' ich sagen; aber später oder früher muß es doch einmal bezahlt werden. Wovon aber? he? etwa von dem da?« Er deutete auf die Stufe. Ferdinand erschrak -- »Herr Mickley!« rief er, -- »Sie thun unserm Schichtmeister Unrecht.« »Ich sage nicht, daß er schon auf solche Art gezahlt hat, aber es kann dazu kommen; Schulden und Schuld und Schuft -- es ist nur ein Unterschied von wenig Buchstaben, gewöhnlich geht's vom ersten zum letzten.« »Aber nicht Jeder, der Schulden hat, ist oder wird ein Schuft.« »Das sag' ich ja nicht, ich habe selbst einen Schuldner, einen Poeten, der hier die Schule besuchte; ein strebsamer, offener Kopf, aber armer Teufel, der hinter dem Webstuhl verkommen wäre, hätte er keine Schulden machen wollen. Nun, er hat als Student und Poet mehr Schulden machen müssen, als ich zu bezahlen haben möchte; aber er ist darum doch eine grundehrliche Haut und wird's auch bleiben, denn bei allem hohen Geist hat er ein demüthiges Herz. Aber wo Schulden eine Frucht der Hoffart und des Uebermuthes sind, da hat der Teufel sein Spiel.« »Für den Schichtmeister bin ich gut,« sagte Ferdinand warm, »und was die Frau betrifft, so hab' ich helle Augen, und wäre ich auch blind, so würde kein Häuer, kein Hundejunge ihr zu einem Unterschleif behülflich sein, drehte es sich auch nur um eine Bleiglanzstufe wie ein Daumenglied groß.« »Nun, ich will Ihm glauben,« sagte der Gelbgießer, -- »eine sonderbare Sache bleibt es mit der Stufe, -- aber es läßt sich vor der Hand nichts damit machen. Ein Glück, daß wir jetzt einen tüchtigen Steiger haben, -- der alte, -- na, man soll die Todten ruhen lassen. -- Seh' Er nur wacker zum Rechten, -- es wird Sein Schade nicht sein. Da fällt mir noch etwas ein. Neulich wurde im Ausschuß die Frage aufgeworfen, ob es nicht gut wäre, den alten Schacht wieder einmal zu untersuchen, es könnten die bösen Wetter wohl gewichen sein. Vor Jahren wurde schon einmal ein Gutachten darüber von unserm Schichtmeister verlangt. Der fand den Versuch nur unter der Bedingung möglich, daß wir einen neuen Stollen zur Wetterlosung vom Höllengrund aus treiben ließen. Das war und blieb uns ein zu kostspieliges Unternehmen. Jetzt wollen wir den Schichtmeister geradezu mit der Untersuchung beauftragen, weil wir glauben, bei gehöriger Vorsicht sei die Sache nicht nothwendig lebensgefährlich. Einen gemeinen Bergmann hinabzulassen, wie es vor Zeiten geschehen, das würde wenig nützen. Gesetzt aber, der Schichtmeister lehnte den Auftrag ab, was dem Vater einer so zahlreichen Familie Niemand verdenken könnte, hätte Er wohl den Muth, das Wagstück zu unternehmen?« »Wenn mir's befohlen wird, -- ja!« erklärte Ferdinand fest, »aus bloßem Vorwitz wär' es wohl strafbar, aber bei Erfüllung einer Pflicht giebt man sich in Gottes Hand. Da muß ja jeder Bergmann täglich sein Leben wagen!« »Er ist ein echtes Bergmannsblut!« rief der Gelbgießer. »Nun weiß Er was, ich hab' mir ein Plänchen erdacht. Wird der alte Schacht wieder gangbar, so müssen wir doch dort neue Bergleute anlegen und mehr als am neuen. Da reicht nun ein Schichtmeister mit einem Grubensteiger und Hutmann nicht aus, und wenn wir schon dem Frenzel die Leitung beider Gruben als Schichtmeister lassen, so brauchen wir doch noch ein paar Grubensteiger für den oberen Schacht und für beide Schächte einen tüchtigen Obersteiger. Und der wird Er und kein Anderer. Dann denk' ich, soll Er auch Sein Mädchen bekommen.« Ferdinand drückte dem Redner freudig die Hand. »Wenn über mich befohlen wird,« sagte er, »so gehorche ich. Aber den Schichtmeister übergehen Sie nicht! Und wenn er das Wagstück auf sich nimmt, so wollen die Herren Gewerken hübsch an seine Familie denken.« »Daran soll's nicht fehlen,« sagte Mickley und Ferdinand nahm Abschied. Ferdinand hatte in der einzigen Buchhandlung des Ortes ein Buch über Naturlehre bestellt und wollte sehen, ob es angekommen sei. Er mußte da an dem Hause des Goldschmieds vorbei und begegnete vor der Thür desselben dem Schichtmeister mit ganz verstörtem Gesicht. Er konnte sich nicht helfen, er trat mit einem Glückauf auf ihn zu und fragte, ob ihm etwas fehle. Der Gefragte starrte ihn an, -- nach einer Weile sagte er: »Was soll mir fehlen? Ich suche meine Frau, -- hat Er sie gesehen?« Da Ferdinand verneinte, so ließ ihn der Schichtmeister stehen und eilte in die nächste Seitengasse. Ferdinand sah ihm bedenklich und beklommen nach. Schon seit längerer Zeit war ihm eine zunehmende Abmagerung und Verdüsterung des sonst so vollen und freundlichen Gesichtes seines Vorgesetzten aufgefallen, und er und Hedwig hatten darüber oft ihre Besorgnisse getauscht; aber so verstört war ihm dieses Gesicht nie erschienen. Mit trüben Gedanken ging er in den nahen Buchladen; hier eingetreten, fand er sich dem Obereinfahrer und -- dem Doctor Meier gegenüber. Ferdinand bot dem Ersteren seinen bergmännischen Gruß und fragte dann nach seinem Buch. Es war nicht angekommen. »Wollen Sie das Buch für sich?« fragte der Baron, und als Ferdinand bejahete, sagte er: »Dann können Sie sich die Ausgabe ersparen; vielleicht ist das Buch noch gar nicht verschrieben, oder man macht die Bestellung rückgängig. Ich habe eine sehr gute Physik zum Selbstunterricht, -- irre ich nicht, so sind Sie der neue Steiger auf dem Vater Abraham, den ich mit geprüft habe, kommen Sie mit zu mir, ich schenke Ihnen das Buch.« Ferdinand war ganz überrascht von dieser Güte. Bis jetzt war der Herr nur immer an ihm vorübergegangen, ohne von ihm weiter Notiz zu nehmen, und nun kam er ihm auf einmal mit einem so freundlichen und werthvollen Geschenk entgegen. Hatte vielleicht Brunhild ihre Furcht vor der Mutter und ihre Schüchternheit vor dem vornehmen Bräutigam so weit überwunden, daß sie ihm von Hedwigs Liebe zu Ferdinand geplaudert? Während dieser hierüber nachsann, sagte der Obereinfahrer zu dem Doctor: »Es bleibt dabei, Robert: Du wohnst die wenigen Tage Deines Hierbleibens bei mir. Willst Du jetzt Deine Mutter begrüßen, was nicht mehr als billig ist, so geh' und komm' zurück, wann es Dir beliebt!« Dann ging er mit Ferdinand fort. Düster blickte diesem der Doctor nach und machte sich dann langsam ebenfalls auf den Weg. Auf dem Markte begegnete er der Schichtmeisterin mit ihrer zweiten Tochter. »Ei! da ist ja der Herr Doctor wieder!« rief ihm die Frau entgegen. Nach gewechselter Begrüßung fragte sie: »Wie geht's auf Hallbach? Was machen die gnädigen Herrschaften?« »O, die sind ~in dulci jubilo~, weil ich den Papa gichtfrei aus Kissingen zurückgebracht habe. Sie senden die herzlichsten Grüße an die Braut ihres lieben Sohnes und ihr ganzes Haus, aber der gnädige Herr will nun auch die künftige Schwiegertochter sehen. Ich komme als außerordentlicher Botschafter, um sie mit ihrer Frau Mama und dem Bräutigam abzuholen!« »O welche Ehre! die treffliche Herrschaft!« rief die Schichtmeisterin; »Klotilde, da gilt es, schnell etwas Garderobe in Stand zu setzen!« dann stellte sie noch manche Frage eitler Neugier, die der Doctor zur größten Befriedigung beantwortete. »Aber was hab' ich hören müssen?« sagte er darauf, -- »der Mensch, -- wie heißt er doch! -- nun, der früher Ihr Schwiegersohn werden wollte, der ist ja Steiger auf dem Vater Abraham geworden!« »Das erfahren Sie jetzt erst?« versetzte die Schichtmeisterin, »freilich ist er's geworden, so sehr ich dagegen gekämpft, er hat sich die Gunst der Gewerke erschlichen und schon auf den Tod Ihres Vaters gelauert.« »Das scheint mir selbst so,« sagte der Doctor, »und nun ist er Ihnen ein Stück näher gerückt; ich meine in Betreff seiner Heirathsabsichten.« »Das mag er sich einbilden, aber daß er sich täuscht, dafür bin ich da!« »Er scheint aber ein Fuchs zu sein, hat er doch auch schon den Baron für sich eingenommen. Der hat ihn jetzt freundlich zu sich eingeladen, um ihm ein Buch zu schenken. Wenn der Mensch da nur nicht von seiner Liebschaft plaudert!« »Das wäre ja gräßlich! Was meinen Sie, da wäre der Baron wohl im Stande, die Verlobung rückgängig zu machen?« »Das schon nicht,« erwiederte der Doctor lächelnd der erschrockenen Frau, »dazu liebt er die Brunhild zu innig; ja ich glaube, er könnte mit seinem guten Herzen wohl der Fürsprecher des Schleichers werden, aber auch dadurch sein eigenes Glück gefährden. Ich weiß, was es bedurft hat, den alten Herrn für die Verbindung mit einer so anständigen Familie, wie die Ihrige ist, zu gewinnen. Hätte ich nicht meine eigene Angelegenheit vor ihm einstweilen in den Hintergrund treten lassen, so weiß ich nicht, ob Sie so bald Hochzeit halten würden, als es nun der Fall sein wird.« »O, Sie guter, lieber Herr Doctor!« sagte die Frau, seinen Arm drückend, »wie dankbar müssen wir Ihnen sein! Aber verlassen Sie sich auch darauf, daß wir Ihren Empfehlungen keine Schande machen werden. Lassen Sie nur erst die Hochzeit vorbei sein, dann muß das Frauenzimmer zu fernen Verwandten. Jetzt bei dem Drasch, den wir haben, kann ich sie nicht entbehren.« Leise flüsterte der Doctor ihr zu: »Lassen Sie das Mädchen lieber da, vielleicht findet sich ein Mittel, den Steiger unschädlich zu machen -- wir sprechen weiter darüber -- auf Wiedersehen!« Damit trennten sie sich. Die Schichtmeisterin begab sich jetzt nach der Pension ihrer Kinder, wo sie ihrem Manne das Rendezvous gegeben, das sie aber um eine Stunde versäumt hatte. Er hatte, wie wir gesehen, sie inzwischen gesucht, war aber zuletzt wieder an den verabredeten Ort gegangen und traf, abermals zum Suchen ausgehend, sie unter der Thür. »Endlich!« rief er, »Du bist aber doch auch gar zu sorglos, Frau!« »Sorglos? Ich?« rief sie erstaunt. -- »Nun bitt' ich einen Menschen, zu entscheiden, wer mehr sorgt und schafft in dieser Zeit wie ich!« »Geh hinauf, Klotilde,« sagte der Schichtmeister, »ich muß mit Deiner Mutter noch einen Weg gehen.« Klotilde gehorchte, und der Schichtmeister nahm den Arm seiner Frau, blieb aber in der Hausflur stehen und sagte: »Weißt Du auch, daß wir verloren sind? Morgen ist der Wechsel fällig, und die Post ist wieder angekommen, ohne eine Entscheidung Deiner Angelegenheit, geschweige gar Geld zu bringen!« »Nun, der Goldschmied wird wohl prolongiren,« sagte sie. »Nicht eine Stunde. -- Ich war bei ihm, bat ihn, fiel ihm bald zu Füßen, -- umsonst: er erklärte, er könne nicht anders, er habe in jüngster Zeit solche Ohrfeigen von unsicheren Schuldnern bekommen, daß er nicht mehr schonen könne. Wenn der Wechsel morgen nicht gedeckt wäre, müsse er nach Wechselrecht verfahren.« »Um des Himmels willen!« rief die Frau, die Hände zusammenschlagend; »was wird da aus meinen Kindern? was aus Brunhild? Dich setzen lassen, -- Herr des Himmels! das wäre ja ein Schlag, der alle Hoffnungen vernichtete! Komm, Mann! ich will selbst mit zum Goldschmied gehen, -- er muß noch warten, ich will ihm meine Erbschaft verpfänden, -- komm!« Sie gingen zu dem Wucherer. Er empfing sie mit triumphirender Miene und führte sie in sein Zimmer. »Ist vielleicht die Erbschaft angelangt?« sagte er, »das wäre mir höchst erwünscht.« Die Schichtmeisterin berichtigte seinen vermeintlichen Irrthum und brachte ihren Vorschlag an. »Es thut mir leid, verehrte Frau,« entgegnete der Goldschmied, »darauf kann ich mich nicht einlassen. Ich bin schon zu sehr geprellt worden, -- verzeihen Sie, -- aber in Geldsachen keine Freundschaft! -- bis morgen Abend um fünf hab' ich mein Geld, oder der Herr Schichtmeister sitzt im Stockhaus. Ich kann's nicht ändern.« »Aber Mann! Sie werden doch kein solcher Tyrann sein?« rief die Schichtmeisterin. -- »Sie werden uns doch nicht unglücklich machen wollen? Denken Sie doch an meine Kinder, meine armen, unschuldigen Kinder, -- meine Brunhild, die dieser Schlag auf der Stelle tödtete!« »Die Kinder, -- hm, -- die Kinder,« sagte der Wucherer im Tone des Mitleidens, -- »um ihretwillen könnte man schon ein Uebriges thun.« -- »O Sie Guter!« rief die Frau, dem Manne fast um den Hals fallend, und der Schichtmeister sagte: »Ja, Herr Reichel, um meiner Kinder willen lassen Sie Billigkeit walten. -- Nur noch kurze Zeit Geduld, und Sie sollen mit gutem Zins bezahlt werden.« »Die Zeiten sind schlecht, sehr schlecht,« sagte der Wucherer, eine Thräne im Auge, -- »aber Ihre Fräulein Tochter ist ein herrliches Geschöpf, -- ja, die Natur hat sie sichtlich zu etwas Hohem bestimmt; es wäre jammerschade, wenn sie an der Schwelle ihres Glückes ins tiefste Elend geschleudert würde.« -- Die Schichtmeisterin schluchzte laut auf, dem Schichtmeister blutete das Herz. »Ich will Ihnen etwas sagen,« fuhr der Goldschmied fort, »borgen kann ich nicht länger, aber aus Erbarmen mit Ihrer lieben Fräulein Tochter will ich -- könnte ich -- nun, man ist auch ein Mensch -- ich könnte -- für Sie freilich ist es ein Leichtes, ich riskire doppelt und dreifach dabei, aber was thut man nicht aus christlicher Liebe! -- ich könnte mich allenfalls zur Annahme von Waare an Zahlungsstatt verstehen.« »Waare?« rief die Frau; »was für Waare sollen wir Ihnen denn bringen? Ich habe unbeschränkten Credit bei den Schnitt- und Modehändlern.« »Sie verstehen mich nicht,« sagte der Goldschmied lächelnd, »ich kann doch keinen Schnittladen etabliren! Ich meine: der Herr Schichtmeister soll mir von seiner Waare liefern.« »Von meiner Waare?« rief der Schichtmeister zusammenfahrend, »was hab' ich denn für Waare?« »Ich glaube, die Frau Schichtmeisterin versteht mich nun, ich kann mich nur auf Waare einlassen, die in mein Fach schlägt, denken Sie, ich wäre der Schuster und Sie der Gerber, liefern Sie dem Schuster Leder!« Der Schichtmeister sah starr zur Erde. Der Wucherer wechselte mit der Frau einen Blick der Verständigung. »Ich sehe, Sie sind unentschlossen,« sagte er dann zu dem Schichtmeister, »und Unentschlossenheit steckt an, ich finde doch, es sei gut, daß ich mir die Sache selbst erst noch überlege. Was Ihnen bedenklich scheint, muß es mir doppelt sein. Gut! ich will aus warmem Antheil an Ihrem Familienglück den Wechsel um acht Tage prolongiren, bis dahin wollen wir uns den Handel überlegen, aber ich schwöre, daß ich länger keinen Augenblick warten kann.« Wie Verhungernde ein Brodkrümchen, ergriffen die beiden Gatten die dargebotene Frist. Sie schmeichelten sich mit der Hoffnung, daß inzwischen der Erbschaftsstreit sich entscheiden und sie in den Besitz der nöthigen Zahlungsmittel bringen müsse. So gingen sie heim. VII. Der Schichtmeister und seine Frau sollten sich sehr bald enttäuscht sehen. Am folgenden Morgen brachte der Postbote ein Schreiben von ihrem Sachwalter aus der Kreisstadt, dem das appellationsgerichtliche Erkenntniß in ihrer Sache beilag, und dieses Erkenntniß sprach der Gegenpartei die Erbschaft ungetheilt zu. Das war ein fürchterlicher Schlag. Zwar vertröstete der Sachwalter auf das drittinstanzliche Urtheil, welches gewiß das erste Erkenntniß wieder herstellen würde, -- aber welche weit hinausgeschobene Aussicht war das, wie nutzlos für die Gefahr, in der man schwebte! Brunhild, welcher aus den aufgeregten und verstörten Mienen ihrer Eltern eine Ahnung von dem Inhalte der Hiobspost aufging, nahm die Mutter auf die Seite und erbot sich, all' ihren Schmuck, selbst den bezahlten, zurückzugeben; die Mutter und Schwester sollten das Gleiche thun, um den Goldschmied zu befriedigen. »Wo denkst Du hin, Kind?!« rief die Frau; »in einigen Tagen sollen wir zu Deinem Schwiegervater reisen, sollen uns dem freiherrlichen Hause präsentiren! Wie können wir so ärmlich auftreten, nachdem uns die gnädige Frau so geschmückt gesehen! Da müßte sie ja denken, wir hätten die Sachen blos geborgt gehabt. Nein, das geht nicht! Nur nicht ängstlich, meine Tochter! Es wird sich Alles machen. Der Goldschmied wird befriedigt, kümmere Dich um nichts!« Und sie ging zu ihrem Gatten, der bei ihrem Eintritte schnell ein paar Terzerole im Pulte verbarg. Sie bat ihn, mit in den Wald zu gehen, und er folgte ihr. »Noth kennt kein Gebot!« begann sie unter den Bäumen, nachdem sie sich sorgfältig umgesehen. »Wir müssen uns in das Unvermeidliche schicken; -- einmal ist nicht immer, -- und den kargen Gewerken, die ihrem Schichtmeister längst hätten eine Gehaltzulage geben können, da der Vater Abraham so höflich geworden, geschieht nur Recht, wenn wir uns selber helfen.« »Weib!« rief der Schichtmeister, -- »wo denkst Du hin? Es hieße ja ewige Schande über uns Alle bringen, wenn ich solche Untreue verübte. Nein, lieber geh' ich ins Gefängniß, oder --« »Und zerstörst das Glück Deiner Tochter, ja aller Deiner Kinder! Ich fürchte nicht, daß Du solch ein Rabenvater sein wirst. Brunhilds schönes Herz bräche auf der Stelle, zerrisse ihr Bund mit Alexis, -- denn die Tochter eines Schuldgefangenen kann nicht mehr hoffen, Baronin von Brunn genannt zu werden.« »O Gott! mein Gott! welche Qual!« klagte der Mann; »ich sehe keine Möglichkeit der Rettung. Ich bin gestern bei Pontius und Pilatus gewesen, um Geld zu erborgen, -- verlorne Mühe! Alles zog sich hinter Ausflüchte zurück. Es steht schrecklich, schrecklich mit uns!« »Nicht so schrecklich, als es Dir die Muthlosigkeit vorspiegelt,« versetzte die Frau, »Du wärest nicht der Erste, der sich auf die Art rettete, wie ich meine -- ein paar Centner Erz sind bald auf die Seite geschafft.« »Aber, Weib! wenn es herauskäme.« »Ja, dafür muß man sorgen, daß es nicht herauskommt.« »Wie wäre das möglich? Ja, wenn der alte gute Steiger Meier -- --« er konnte nicht vollenden; ihm fiel die Warnung seines Vaters ein, und ein Schauer durchrieselte ihn. »Du meinst, wenn der noch lebte, ließe sich eher etwas wagen, als unter den Späheraugen des neuen Steigers? Wolltest Du nicht so sagen?« Der Schichtmeister seufzte tief auf. -- »Bertha! brechen wir ab von dem Capitel!« »Nein, Schatz! wir müssen ins Reine kommen, was geschehen soll. Geschehen muß etwas; wir sind es unsern Kindern schuldig, daß wir handeln. Es ist mein einziger Stolz, meine Kinder zu Glück und Ehre zu bringen. Es sind Deine Kinder, Fritz! die liebsten, schönsten Kinder der Gegend. Sie dürfen nicht in Dunkelheit und Elend verkommen! Auf, Mann! Vater!« »Aber der Steiger -- der Ferdinand -- er hat seine Augen überall.« »Der Spion! -- Aber halt! -- ich entsinne mich -- wart' einmal, Mann! ich denke, wir werden den Aufpasser los.« »Wie so?« »Nun, laß mich nur machen! Ein Freund hat mir gestern etwas zugeflüstert. Ich gehe diesen Nachmittag wieder in die Stadt, um das Nähere zu erforschen.« »Vater! Mutter!« rief jetzt eine Stimme vom Huthause her. Es war Brunhilds Stimme. Die Gatten folgten dem Rufe und trafen vor dem Hause den Zubußboten, der den Schichtmeister einlud, den Nachmittag um 4 Uhr in der Wohnung des Gelbgießers Mickley zu einer Berathung des Gewerkeausschusses sich einzufinden. »Das paßt prächtig, da können wir zusammen gehen!« rief die Schichtmeisterin. -- Und so geschah es. Dem Schichtmeister wurde vom Ausschusse der Beschluß mitgetheilt, es solle ein Versuch gemacht werden, den alten Vater Abraham wieder zu befahren, und man wolle ihm diesen Versuch unter Zusicherung einer Gratification von 100 Thlrn. von der nächsten Quartalausbeute übertragen. Der Schichtmeister war überrascht, sich zu einem Wagstück erlesen zu sehen, das er früher widerrathen -- und doch erschien es ihm wie ein vom Himmel selbst ihm gewiesener Ausweg aus den Verstrickungen der Schuld. »Lieber ehrenvoll im Berufe sterben, als der Schande verfallen!« dachte er, -- »und wenn ich als ein Opfer meiner Pflicht sterbe, wird meiner Familie der Antheil aller Guten -- dann ist auch das Glück meiner Brunhild gewahrt!« Laut und fest erklärte er seine Bereitwilligkeit, den Auftrag auszuführen. Der Ausschuß war theils verwundert, theils erfreut hierüber. Man rühmte den mannhaften Sinn, der noch immer unter dem Bergstande nicht erstorben wäre; doch unterließ man auch nicht, ihn auf die Gefahr aufmerksam zu machen, der er entgegenging, man erinnerte ihn an seine zahlreiche Familie und wie es ihm Niemand verargen werde, wenn er um der Seinen willen einem Jüngeren, Familienlosen, vielleicht dem Steiger Bergner, das gefahrvolle Unternehmen überließe. Aber er blieb bei seiner Erklärung und verließ am Ende mit leichterem Herzen als er gekommen, die Versammlung. Der Schichtmeister fand seine Frau bei Klotilden. Sie war nicht so heiter gestimmt wie er, denn sie hatte den Doctor nicht daheim getroffen. Dieser hatte einen Ausflug gemacht, von dem er erst den dritten Tag zurückkehren würde. Der Schichtmeister theilte ihr, nachdem Klotilde entfernt worden, das auf seiner Seite Geschehene mit. »Gott im Himmel!« rief die Frau entsetzt aus, »und darüber kannst Du froh sein Mann? Siehst Du denn nicht ein, daß das nur eine Falle ist, die sie Dir legen? Sie wollen Dich los sein und ihren Liebling, den Schleicher Ferdinand, an Deine Stelle bringen! Es ist eine Verschwörung gegen Dein Leben, -- begreifst Du das nicht?« »Du bist entsetzlich, Bertha! Die Herren haben mich wohl auf die Gefahr aufmerksam gemacht und wollten mir es gar nicht verargen, wenn ich eben dem Ferdinand das Wagstück überließe. Aber das duldet einmal meine bergmännische Ehre nicht, und dann ist es für mich der einzige Weg, mit Ehren aus dieser verzweifelten Lage zu kommen.« »Nein! nein!« rief sie, ihm um den Hals fallend. »Ich lasse Dich nicht, Du darfst Dich nicht opfern, darfst Deine Kinder nicht zu Waisen machen!« Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke, -- sie fuhr in die Höhe, ihre Augen funkelten, ihre Nasenflügel dehnten sich weit. »Ich hab's! ich hab's!« rief sie, »weißt Du was? Du versprichst dem Ferdinand die Hand der Hedwig, -- und er stiege in die Hölle! Du mußt mir und Deinen Kindern bleiben, -- der Ferdinand wird vor Wonne tanzen, wenn ihm plötzlich die Hand seines Herzblattes geboten wird. Kostet ihm das Wagstück das Leben, nun so stirbt ein lediger Mensch und er stirbt im Rausche des Glückes; kommt er davon, nun, so muß die Verlobung so lange geheim bleiben, bis Brunhild Baronin von Brunn ist!« »Aber was wird dann aus mir? Wie entrinn' ich den Klauen des Wucherers?« »Folge nur jetzt dem Fingerzeig des Himmels! das Uebrige findet sich.« Bei sich dachte sie: ist nur erst der Aufpasser vom Wetter erschlagen, so haben wir freies Spiel auf dem Vater Abraham; es fällt mir nicht ein, den gemeinen Menschen in die Familie aufzunehmen. Es ward ihr nicht leicht, den Gatten von seinem gefaßten Entschlusse abzubringen; aber endlich siegte der Gedanke, seiner halbverwaisten und arg zurückgesetzten ältesten Tochter sich endlich einmal väterlich gerecht erweisen zu können, über seine Bedenken; und er überließ sich wieder ganz dem Einflusse seiner Frau. Ferdinand hatte sich inzwischen mit dem ganzen Feuer seines wißbegierigen Geistes über das Werk gemacht, das ihm von dem Obereinfahrer geschenkt worden war. Es war Müller-Pouillet's großes physikalisches Werk, für den armen Steiger ein außerordentlicher Schatz. Der Zufall hatte gewollt, daß ihm im ersten Durchblättern des Werkes die Beschreibung der von Humphry Davy erfundenen Sicherheitslampe in die Augen gefallen war, und in der Erinnerung an das letzte Gespräch mit Mickley ergriff er sogleich den Gedanken, eine solche Lampe nach Anleitung des Buches zu construiren. Er eilte in die Stadt und kaufte sich den dazu erforderlichen feinen Draht. Mochte nun der Schichtmeister selbst den Auftrag der Gewerken übernehmen oder ihm die Ausführung überlassen, jedenfalls sollte die Sicherheitslampe dabei ihre Dienste leisten. Es war kurz vor dem Schichtwechsel, wo er, schon wieder aus der Stadt zurückgekehrt, mit Hedwig und ihrem Großvater auf der Hausbank saß und Beiden seine schöne Entdeckung mittheilte, als Hedwigs Eltern heimkehrten. Der Schichtmeister forderte ihn sogleich auf, mit ins Zimmer zu kommen, und fragte ihn hier, ob er Hedwigs Hand unter der Bedingung annehme, daß er sich der Versuchsfahrt in den alten Schacht unterziehe. Dem jungen Manne war, als thäte sich plötzlich der Himmel vor ihm auf. »Und wenn zehntausend Kobolde darin hausten, ich führe hinein!« rief er trunken vor Entzücken, -- »aber ich nehme Sie beim Wort.« »Hier meine Hand!« sagte der Schichtmeister. »Bertha, gieb ihm die Deine auch zur Bekräftigung, daß er unser Schwiegersohn werden soll, wenn --« »Lassen Sie mich Hedwig mit dem Großvater holen und verloben Sie uns ordentlich,« bat Ferdinand und eilte hinaus. Thränen rollten über seine Wangen, als er zu den Beiden trat und sie, keines Wortes mächtig, auf- und mit in die Stube zog. Als Hedwig hier ihr Glück erfuhr, sank sie entzückt erst dem Vater, dann der Mutter an die Brust, dann in die Arme ihres Trauten. Das Verlöbniß ward unter der Bedingung vorläufiger Geheimhaltung geschlossen. Als Hedwig hinterher erfuhr, um welchen Preis ihr Glück erkauft worden, erschrak sie freilich; aber Ferdinand tröstete sie mit seiner Sicherheitslampe. Die Versuchsfahrt wurde auf übermorgen festgesetzt. Bis dahin wollte der Schichtmeister alle nöthigen Vorbereitungen dazu treffen. Der Hutmann, welcher seine Schwiegertochter halb durchschaute, sorgte dafür, daß sie ihr Wort später nicht zurücknehmen konnte; obgleich das Schreiben bei ihm schwer ging, so ließ er sich's doch nicht verdrießen, sogleich ein Anerkenntniß des geschlossenen Verlöbnisses aufzusetzen und es von beiden Eltern unterschreiben zu lassen. Er sorgte auch dafür, daß die Zurüstungen zur Befahrung des alten Schachtes streng nach der Regel getroffen wurden. Haspel, Seil, Signalschnur und Glocke, Fahrstuhl, -- Alles untersuchte er genau und ließ es wohl befestigen. Die zuverlässigsten Häuer wurden zur Dienstleistung bei dem Unternehmen ausgewählt. Dieses selbst fand statt in Gegenwart des Ausschusses und einer bergamtlichen Commission, zu welcher der Obereinfahrer gehörte. Freudig, in seinem besten Grubenkleide, seine Sicherheitslampe in der Blende und mit Schlägel und Eisen bewaffnet, ging Ferdinand ans Werk. Der Kuß der Liebe hatte ihn dazu geweiht, ihm schien es gefeit. Den Zeugen war nicht wohl zu Muthe, als Ferdinand in den Stuhl stieg und die Haspeldreher an ihre Kurbeln griffen. »Es gilt zwölf Schichten für einen Jeden von Euch!« rief ihnen der Gelbgießer zu. Es hätte dieses Versprechens nicht bedurft, denn die beiden Knappen hätten für ihren Steiger das Leben gelassen. Der Stuhl wurde über die Mündung gehoben und nun schwebte der kühne Schachtergründer frei über der grauenvollen Tiefe. Die Zuschauer erbleichten. -- »Los!« rief Ferdinand, und der Haspel begann zu arbeiten. »Glückauf!« rief der Verschwindende, und das Tageslicht schloß sich über ihm. Athemlos stand Alles umher, nur das Schnurren des Seiles unterbrach die Stille. »Wißt Ihr was?« brach endlich der Gelbgießer das Schweigen gegen seine Ausschußgenossen, »ist Alles, wie wir hoffen, so wollen wir ein paar Hundert Thaler nicht ansehen, es ist bei Gott ein Stück Arbeit, an das Keiner von uns um manches Tausend gehen möchte! Wir wollen dem braven Manne ein Geschenk von 300 Thalern aussetzen und dem Schichtmeister die schon bewilligten 100 Thaler zur Ausstattung seiner ältesten Tochter lassen. Ich verlege die Summe und ziehe sie nach und nach von der Ausbeute ab.« Es war der rechte Moment, Alle zu einer solchen Verwilligung geneigt zu finden; Angesichts der grausen Gefahr hatte Keiner den Muth, sie zu verweigern. »Abgemacht also!« sagte Mickley, und ihm war, als könnte er das Weitere nun leichtern Herzens abwarten. Die ganze Verhandlung aber war von dem Schichtmeister vernommen worden, und er hätte sich in den Schacht stürzen mögen, daß er sich um den reichen Lohn gebracht, der ihn aus aller Bedrängniß retten konnte. Langsam wand sich das Seil von seiner Walze; die Augen der Anwesenden waren bald auf diese, bald auf das Glöcklein gerichtet, welches mit der Signalschnur verbunden war, die sich von einer am Fahrstuhl angebrachten Rolle selbst abwickelte. Verabredeterweise sollte auf dreimaliges Läuten der Glocke hinter einander das Seil sogleich aufgewunden werden. Auf blos zweimaliges Läuten sollte man den Haspel nur in Ruhe stellen. Ring nach Ring verschwand von dem Haspel, das Glöcklein blieb unbewegt. Erst als das Seil bis auf wenige Ringe abgelaufen war, bewegte sich plötzlich die Schnur; Alles blickte auf die Glocke und lauschte, -- einmal -- zweimal; -- »in die Ruhe!« commandirte der Schichtmeister mit dem Hutmann zugleich. »Er hat gleich die tiefste Strecke genommen,« sagte der Obereinfahrer, »und nun schütze ihn Gott vor schlagendem Wetter!« Der Hutmann nahm seine Kappe ab und faltete die Hände; die Andern folgten seinem Beispiel, die ganze Versammlung war eine stille, betende Gemeinde. Aber Niemand von ihr hatte eine Ahnung von der einsamen Beterin, die draußen an einer Ecke der Halde hinter einem Fichtengebüsch knieete. Es war Hedwig, die nicht im Huthause hatte bleiben können, sondern von dem stürmisch bewegten Herzen in die Nähe des Ortes getrieben worden war, wo sich für sie Leben oder Tod entschied. Es war das Leben, das der Ewige Hedwig beschieden hatte. Nach Verlauf einer furchtbaren Stunde ertönte die Glocke von Neuem, und dies Mal in drei Pulsen. Hedwig kannte das Zeichen; hochauf jubelte ihr Herz; ein Ausruf des heißesten Dankes zum Himmel empor, und auf sprang sie, keine falsche Scheu hielt sie zurück, sie mußte dabei sein, wenn der Geliebte das Tageslicht wieder begrüßte, ihr Glückauf durfte nicht fehlen, wenn die, die ihn nicht liebten wie sie, ihm das ihrige entgegenriefen. Und da stand sie nun unter der Thür der Kaue zur Seite des Gelbgießers, und der sah zum ersten Male das holde Geschöpf, das der höchste Preis für die That seines jungen Freundes sein sollte. Der ehrliche Bürger ahnte gleich, daß diese und keine Andere die Erwählte sei, und er nahm ihre Hand und flüsterte: »Der Herr hilft, -- ich wünsche Glück zum Brautstand!« Lauter schnurrte das Seil, rüstiger drehten die Haspler, da halt! was war das? ein Angstschrei entrang sich Hedwigs Herzen, die Glocke klang, -- aber nein; nur ein Zufall bewegte die Schnur und vorwärts geht das Drehen, -- bald erglänzt der schwarze Schlund in einem goldenen Dämmer, -- noch ein paar Windungen, da taucht der Schachthut, der Kopf empor. »Glückauf!« ruft hell und stark der glückliche Teufenfahrer; -- »Glückauf! Glückauf!« rufen alle Männer, daß die alte Kaue erzittert und der Wald erdröhnt, -- aber wo bleibt denn Dein Glückauf, Du süße, liebeglühende Maid? Ach! Deine Seligkeit ist viel zu groß, als daß sie laut werden dürfte vor den Menschen, und ohne zu wissen, wie es geschieht, sinkst Du an die Brust dessen, den Gott Dir neu und nun wohl auf immer geschenkt. Vergessen ist das Versprechen des Geheimnisses, rein vergessen; der Augenblick ist zu groß für kleinliche Rücksichten, und wenn Könige und Kaiser zugegen wären und der Großmogul Euer künftiger Schwager, Ihr müßt Euch umarmen und vor Gott und der Welt bekennen, daß Euch eine Liebe eint, die stärker ist als der Tod. -- Erst dann mögen die Herren der Commission und des Ausschusses den Bericht vernehmen. Der Bericht war kurz, aber wenn auch etwas grauenhaft, doch in bergmännischer Hinsicht befriedigend. Ferdinand hatte die Leichen der einst in der Grube Erschlagenen gefunden, aber auch den alten Gang; und eine Stufe, die er abgeschlagen, erwies sich als reichhaltiges Silbererz, das den neuen Angriff des alten Baues wohl verlohnte. »Das ist Alles gut,« sagte der Obereinfahrer, der Ferdinands Geheimniß von der Sicherheitslampe kannte; »aber wir sind noch nicht versichert wegen der schlagenden Wetter.« »Doch,« erklärte Ferdinand; »auch das hab' ich nicht ungeprüft gelassen. Ich hatte mich mit Wachszündern versehen, die ich bei der Einfahrt von Zeit zu Zeit anzündete und fallen ließ; an ihrem schönen Fortbrennen überzeugte ich mich, daß der Schacht weder schlagende noch erstickende Wetter hatte, und unten in der söhligen Strecke zog ich einen langen Schwefelfaden viele Lachter weit hinter, den zündete ich vorn an und ließ das Feuer hinter laufen; nicht ein Lüftchen rührte sich. Wahrscheinlich sind in der langen Zeit, daß Niemand unten gewesen, die freien Spalten, durch welche die Wetter früher eindrangen, verwachsen; denn auch die Erdrinde, die man für starr und todt hält, ist ja fortwährenden Veränderungen unterworfen.« »Bravo!« sagte der Obereinfahrer; »so gratulire ich den Herren Gewerken vom Vater Abraham und empfehle diesen wackern, einsichtsvollen Steiger ihrer Gunst. Ich hoffe, wir werden uns von nun an öfter sehen, mein lieber Freund und -- Schwager! Denn daß Sie das werden wollen, hab' ich so eben gesehen!« Damit reichte er dem glücklichen Ferdinand die Hand. »Da siehst Du, was Deine Stiefmutter für eine Gans ist,« murmelte der Hutmann Hedwig zu, »der Herr Obereinfahrer freut sich, einen solchen Schwager zu haben.« Das Mädchen drückte ihm in namenloser Seligkeit die Hand. Die Versammlung bewegte sich nun langsam dem Huthause zu. Hier war inzwischen der Doctor Meier angekommen und befand sich mit der Hausfrau allein in eifrigem Gespräch, als eines der jüngeren Mädchen hereinsprang und rief: »Mutter! Mutter! sie kommen!« Die Frau eilte ans Fenster. Ein Blick hinaus machte sie erbleichen. »Er lebt, -- er ist dabei!« rief sie, »und an seiner Seite die Dirne -- und der Baron, -- ich kriege den Tod!« »Nur ruhig, meine Beste!« sagte der Doctor, »wenn Ihre Mine nicht wirkt, so wirkt die meinige. Verlassen Sie sich auf mich und treten Sie der Gesellschaft heiter entgegen!« Gleich darauf trat die Gesellschaft ein. VIII. Der Doctor hielt sich nur noch wenige Augenblicke im Huthause auf. Er eilte nach Pobersdorf zu seinem Vetter, dem er sich früher eben so sehr entfremdet hatte wie seinem Schulkameraden Ferdinand, dem er aber wieder näher getreten war, als er glaubte, ihn brauchen zu können. »Ich glaube, Du hast es jetzt in der Hand, Steiger auf dem Vater Abraham zu werden,« so eröffnete er jetzt seine Verhandlung mit ihm. »Wie so?« fragte der Bergmann stutzig. »Ich habe in der Stadt von Erzpartirerei gehört, die auf dem Vater Abraham getrieben werden soll. Du weißt, der Obereinfahrer ist mein Freund; der hat schon lange auf den Grund des Gerüchtes gespürt, aber umsonst. Durch einen Zufall glaub' ich dem Erzdiebe auf die Spur gekommen zu sein; aber da ich nicht gut selbst die Spur verfolgen konnte, so schwieg ich gegen meinen Freund davon. Täuscht mich die Spur nicht, so ist kein Anderer der Dieb als der -- wie heißt er doch! -- nun, der Dir die Steigerstelle vor der Nase weggeschnappt hat.« »Ach, Du meinst den Bergner Ferd--,« sagte der Vetter, »bist ja mit ihm in die Schule gegangen, -- der sollte Erz gestohlen haben? -- Ja, -- meiner Treu! jetzt geht mir ein Licht auf: Der »Boß!« hat 100 Thlr. in der Sparkasse und einen ganzen Schrank voll Bücher, so viel Geld hat ein Häuer nicht übrig, und wenn andere Bergleut' ihre freie Zeit zu Nebenverdienst verwendet haben, ist er daheim gesessen und hat gezeichnet, geschrieben, gerechnet und in Büchern gelesen; da hat er gut gescheidter werden können als Andere, aber er hat auch weniger verdient dabei und doch 100 Thaler gespart, -- das geht nicht mit rechten Dingen zu.« »Nun, ich denke, ich habe seine Geldquelle entdeckt,« sagte der Doctor, »aber ich müßte aus dem Spiele bleiben.« »Wenn ich Etwas finde, brauch' ich's nur meinem Schwager, dem Bergamtsboten zu stecken, der wird's schon vor die rechte Schmiede bringen.« »Ganz recht so! mach' Deine Sache, ich werde bei meinem Obereinfahrer das Meinige für Dich thun.« Hiermit schied er. Die Gesellschaft hatte sich vom Huthause verloren. Ferdinand war angefahren, und Hedwig waltete in der Küche. Da trat ihre Schwester Brunhild zu ihr. »Du hast recht viel Drasch um meinetwillen,« sagte sie in ihrer gewohnten, nur etwas schüchternen Freundlichkeit. »Arbeiten ist mir ja eine Lust,« erwiederte Hedwig. »Ich wollte, ich könnte wirklich etwas für Dich thun; Du warst immer so gut mit mir, wenn Du's auch vor Deiner Mutter nicht so merken lassen durftest; ich hätte gern an Deiner Garderobe mitgeholfen, aber da läßt mich die Mutter nicht an, weil sie meint, ich hätte keinen Geschmack.« »Ach, die Mutter quält sich und Andere mit ihrem Geschmacksfanatismus,« sagte Brunhild; »ich will froh sein, wenn ich erst bei meinem Alexis bin, dann hat doch diese peinliche Mutterfürsorge ein Ende. Sag', hast Du den Vater beobachtet?« »In den Augenblicken, wo ich mit ihm zusammenkomme, wohl,« sagte Hedwig, »Du bist mehr um ihn, kommt er Dir denn auch so verstört vor wie mir?« »Das wollt' ich von Dir wissen, -- o Gott! mir liegt eine fürchterliche Last auf dem Herzen. Ich habe schon gebetet; es wird nicht anders. Seit die Gesellschaft fort ist, kommt mir der Vater ganz verzweifelt vor; er hat sich mit der Mutter gezankt und jetzt auf seine Schreibstube eingeschlossen. Mit der Mutter läßt sich auch seit gestern kein vernünftiges Wort mehr reden; sie ist so leidenschaftlich, und manchmal erschreckt sie mich fast durch ihren Blick. Ich habe sie noch nie so gesehen! Höre Du mich, Hedwig, Du bist gut und klug, glaube mir, ich nehme den herzlichsten Antheil an Deinem Glücke, wenn ich mir es auch vor der Mutter nicht so merken lasse.« Hedwig zog sie an sich und küßte sie. »Was ich Dir sagen wollte,« fuhr Brunhild fort, »mir ahnt ein Unheil, -- und ich bin eigentlich die Hauptursache davon. Meinetwegen haben sich die Eltern in Schulden gestürzt. Freilich hab' ich gegen den übertriebenen Aufwand geredet, aber die Mutter ließ sich nicht weisen, es wurde gekauft und geborgt auf die Erbschaft los, und darauf hin hat sich der Vater auch verleiten lassen, dem Goldschmied einen Wechsel von vierhundert Thalern auszustellen, der in diesen Tagen fällig ist. So viel ich wegbekommen habe, ist der Erbschaftsproceß verloren, und nun soll der Vater den Wechsel decken und kann es nicht.« »Und was droht ihm da?« fragte Hedwig bebend. »Gefängniß, der Gläubiger kann ihn so lange setzen lassen, bis er zahlt.« »Barmherziger Gott!« rief Hedwig, »aber so weit wird's doch der Goldschmied nicht treiben?« »Du kennst den Mann nicht,« sagte Brunhild, »das ist ein Shylock; o, der Vater ist in fürchterliche Hände gerathen und um meinetwillen!« Beide Mädchen mußten weinen. Nach einiger Zeit sagte Hedwig: »Aber unser Klagen nützt nichts, wir müssen auf Mittel denken, dem Vater zu helfen.« »Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen,« sagte Brunhild, »aber ich sehe keinen Ausweg. Ich war heimlich in der Stadt und wollte dem Goldschmied meinen ganzen Schmuck geben; er nahm ihn nicht, in fünf Tagen wolle er den Wechsel baar gedeckt sehen, sagte er.« »Halt! ich hab's!« rief Hedwig, »der Gewerkenausschuß hat meinem Ferdinand 300 Thaler Belohnung für die Befahrung des alten Schachtes zugesichert, 100 Thaler hat er in der Sparcasse, das sind 400 Thaler, die muß er dem Vater leihen!« »Wird er das wohl thun?« »So gewiß, als es Dein Baron thun würde, wenn Du ihn darum bätest. Aber bei Euch vornehmen Leuten liegt ewig noch eine Scheidewand zwischen den Seelen, wenn Ihr Euch auch noch so sehr liebt!« »Ich hätte wahrlich nicht den Muth, an meinen Alexis solch eine Bitte zu richten.« »Das kommt von der Unnatur her, in die Du hineingezwängt worden bist; es ist ein Wunder, daß Du noch so gut und lieb geblieben. Ich hoffe, wenn Du erst ganz bei Deinem Alexis sein wirst, wird die gesunde Natur bei Dir wieder zu ihrem vollen Rechte kommen. Gräme Dich also nicht mehr um den Vater, fünf Tage noch hat es Zeit mit dem Wechsel, da ist er gedeckt.« Brunhild umschlang die edle Schwester und ergoß zum ersten Mal ihr ganzes volles Herz vor einer verwandten Frauenseele. Gleich darauf erschien der Baron und brachte die Nachricht, eine Tante von ihm sei angekommen, wolle aber noch heute nach Schloß Scharfenstein, wohin sie geladen worden. Und da er selbst seine Braut dort noch vorzustellen habe, so wolle er mit ihr die Tante begleiten. Die Schichtmeisterin fand es von selbst verständlich, daß Brunhild von der Partie war, und diese glaubte jetzt ohne Angst um den Vater, sich auf ein paar Tage entfernen zu dürfen. Als Ferdinand ausfuhr, gab Hedwig ihm eine Strecke weit das Geleit und theilte ihm die Bedrängniß ihres Vaters mit. Er war mit Freude zur Hülfe bereit. »Morgen wird mir wahrscheinlich das Geld für die Fahrt ausgezahlt,« sagte er, »wenn nicht, so gehe ich übermorgen früh in die Stadt und dem Mickley nicht vom Halse, bis ich das Geld habe. Dann ist die Sache abgemacht. Aber sag' Deinem Vater nichts davon, Du weißt, ich liebe es nicht, über solche Dinge viel Geräusch zu machen. Uebermorgen bringe ich Dir den quittirten Wechsel.« Dabei blieb es. Als Hedwig bei ihrer Rückkehr dem Vater unter der Hausthür begegnete, flüsterte sie ihm zu: »Hoffe und vertraue, es ist Hülfe nah!« Er sah ihr forschend in das mondbeglänzte Gesicht. Ihr Auge schwamm in Thränen, aber ihren Mund umspielte ein seliges Lächeln. Er streichelte ihr die Stirn und sagte: »Du sprichst wie ein Engel, -- ach --« aber das Dazwischentreten seiner Frau schloß ihm den Mund. »Wo steckst Du denn so lange?« herrschte sie Hedwig zu, »geh' doch an Deine Arbeit!« Dann wollte sie mit dem Gatten ein Gespräch anknüpfen, aber der machte sich unwillig los. -- »Du bist mein Dämon!« sagte er und ging in seine Schreibstube, wo er sich wieder einschloß. Hier lagen die Terzerole frei auf dem Tische. »Heute noch nicht!« sprach er und verbarg sie nochmals, »die Engelsstimme hat noch einmal Hoffnung in mein Herz gesenkt. Hoffe und vertraue, es ist Hülfe nahe! so sprach das verkannte, verstoßene Kind, -- o wie hab' ich das an ihm verdient? -- Weiß sie meine Lage und hat sie den Ferdinand zur Hülfe aufgefordert? Der könnte helfen; aber ich selbst hätte nicht den Muth, den edlen Menschen anzusprechen, den wir erst zu verderben getrachtet. O Gott! wie gerecht bist Du! Den wir verderben wollten, der ist mit Ehre gekrönt, und er trägt den Lohn davon, der unser hätte werden können. Jetzt wären wir gerettet, -- o Weib! Weib!« -- Er versank eine Zeit lang in trübes Brüten; nach und nach wurden seine Züge weicher und Thränen entquollen seinen Augen. -- »O Gott! o Gott! wie tief bin ich gefallen!« rief er aus und sank auf seine Kniee zum brünstigen Gebete. Der folgende Tag verging ziemlich still im Huthause, nur daß zwischen den beiden Gatten wieder ein verdrießlicher Auftritt stattfand, nach welchem der Schichtmeister sich in sein Zimmer schloß, und seine Frau von Stunde zu Stunde widerwärtiger gegen ihre Umgebung wurde. Niemand hatte darunter mehr zu leiden als Hedwig, doch trug sie Alles mit stiller Geduld; sie fühlte, daß ihre Tyrannin der elendere und beklagenswerthere Theil war. Da Ferdinand an diesem Tage das ihm zugesicherte Geschenk nicht erhielt, so machte er sich den folgenden Morgen auf den Weg nach der Stadt, um es zu fordern. Es bedurfte nur eines Wortes bei dem biedern Gelbgießer, um diesen zur Zahlung zu vermögen. Dreihundert baare Thaler wurden dem armen Bergmann zugezählt, -- eine Summe, die er nie beisammen gesehen, geschweige denn sein genannt hatte! Was würde der Sparcassenmann für Augen machen, wenn er eine solche Einlage brächte. Aber was machte er für welche, als der sparsame Knappe sein ganzes Guthaben verlangte und auch nicht eher vom Platze wich, bis er es hatte! Froh wie Gott ging Ferdinand dann zu dem Goldschmied und erklärte, von dem Schichtmeister abgeschickt zu sein, den Wechsel einzulösen. Der Goldschmied riß erstaunt die Augen auf, wollte Bedenklichkeiten erheben, aber Ferdinand hatte in seinem Wesen so etwas Gebietendes, daß der Wucherer sich gezwungen fühlte, den Wechsel herbeizuschaffen, zu quittiren und Ferdinand einzuhändigen. Kaum war dies geschehen, als die Ladenthür aufging und außer dem Bergschreiber und dem Bergamtsdiener einen Gerichtsactuar und den Gerichtsfrohn einließ. »Da finden wir die Compagnons gleich beisammen,« sagte der Bergschreiber. »Im Namen des Gesetzes erkläre ich diese beiden Herren für Gefangene!« sagte der Actuar; »ich hoffe, Sie werden sich Ihr Loos nicht durch Widersetzlichkeit erschweren!« Der Goldschmied bebte wie ein Espenblatt, indeß Ferdinand sich blos verwunderte. »Da muß ein Irrthum walten,« sagte er, »und der wird sich bald aufklären; ich gebe mich ruhig gefangen.« Der Goldschmied erhob allerlei Einwände; seine Frau kam herbeigeheult und wollte ihn nicht fortbringen lassen. Es half aber Alles nichts, die Verhaftung wurde vollzogen. Der Vetter des Doctors war rasch zu Werke gegangen, aber er würde seinen Zweck nicht so bald erreicht haben, hätte nicht die von den Geschwistern des Lehrburschen vom Gelbgießer Mickley verschleppte Silberstufe ihren Weg schon vorher in die Hände des Bergamtsboten gefunden gehabt. Dieser hatte nachgeforscht, woher die Stufe gekommen; und als nun sein Schwager ihm mittheilte, welche Entdeckung er in der alten Jacobszeche gemacht, da hatte es gar keiner Weitläufigkeiten bedurft; jener war in die Bergkanzlei gegangen und hatte dem Bergschreiber Anzeige erstattet. Es war sofort eine bergamtliche Untersuchung der Jacobszeche vorgenommen und dort das vom Doctor dahin getragene Erz gefunden worden. Mit großer Verwunderung sah der Gelbgießer Mickley seinen Schützling in Gesellschaft der Bergamts- und Gerichtspersonen sammt dem Goldschmied über den Markt nach dem Rathhause gehen. Bald erfuhr er die Bedeutung dieses Aufzuges. Sogleich zog er sich an und eilte aufs Rathhaus, um dem Gericht seine Bürgschaft für Ferdinand anzutragen. Der Richter erlaubte ihm nur, den Gefangenen in Beisein eines Actuars zu besuchen. Ferdinand empfing den edlen Freund mit einer Miene, welche das unerschütterliche Vertrauen, das dieser in ihn setzte, bestätigte. Er erzählte den Hergang der Verhaftung. Der Gelbgießer fragte, ob er etwas für ihn thun könne. Ferdinand bat ihn, seiner Mutter in beruhigender Weise wissen zu lassen, wo er sich befinde, und seiner Braut mitzutheilen, daß der Wechsel eingelöst, ihm aber vom Gericht abgenommen wäre. »Hat Er denn eine Wechselschuld bei dem Wucherer?« fragte Mickley. »Ich nicht,« sagte Ferdinand, »aber eine mir theure Person.« »Sollte die Verhaftung mit dem Wechsel in einem Zusammenhange stehen?« fragte Jener wieder. »Ich glaube nicht,« sagte Ferdinand. »Nun, ich werde Beides bestellen,« versicherte Mickley, »und für eine Erquickung will ich auch sorgen.« »Das Liebste wäre mir ein Buch; meine Mutter soll mir das neue, vom Herrn Obereinfahrer geschenkte schicken.« »So behalt' Er frohen Muth; der liebe Gott wird Ihm schon beistehen.« Damit schloß Mickley seinen Besuch. Hedwig war einen Augenblick durch die ihr vom Gelbgießer selbst gebrachte Schreckensbotschaft von der Einkerkerung ihres Geliebten wie niedergedonnert. Aber sie raffte sich bald wieder zusammen, war er doch unschuldig! Sie erklärte, den Gelbgießer in die Stadt begleiten zu wollen. Ihr Vater war im Schacht, und den Widerspruch der Mutter, die nicht wußte, was es gab, achtete sie nicht, es war ihr erster Ungehorsam. Unterwegs theilte ihr Mickley mit, wie die ganze Sache stand, und daß durch die Entdeckung einer beträchtlichen Partie reichhaltigen Erzes in der hinter Ferdinands Haus befindlichen Jacobszeche dieser allerdings ziemlich belastet erscheine. »Das Erz hat irgend ein schlechter Mensch hingeschafft!« rief Hedwig aus, »und der das gethan, muß einen besondern Zahn auf Ferdinand haben; ich weiß aber keinen Feind von ihm zu nennen als den Bergmann Meier, der sich auf den Steigerdienst gespitzt hatte, und seinen Vetter, den Doctor Meier.« Und sie erzählte, in welcher Weise einst der Doctor mit Ferdinand zusammengetroffen war. »Gut! gut!« sagte Mickley, »jetzt entsinn' ich mich, daß ich den alten Steiger Meier in seiner letzten Zeit ein paar Mal bei dem Goldschmied habe aus- und eingehen sehen, und nach dem letzten Mal stürzte er plötzlich in den Schacht. Ich hatte schon damals meine Gedanken darüber, aber ich wollte dem alten Mann nicht Unrecht thun. Wir gehen jetzt stracks aufs Stadtgericht; da will ich gleich den Antrag stellen, daß alle Papiere des Goldschmieds durchsucht werden!« So geschah es; auch wirkte der wackere Bürger für Hedwig die Erlaubniß aus, den Gefangenen zu sprechen. Mittlerweile war auf dem Huthause der Doctor Meier erschienen und hatte der Schichtmeisterin triumphirend zugerufen: »Die Falle ist zu, der Fuchs gefangen!« Diesen Zuruf hörte der in der Küche seine Pfeife anzündende Hutmann. Dieser war bei Mickley's Anwesenheit und Fortgehen mit Hedwig im Walde gewesen, wußte daher noch nichts von Ferdinands Verhaftung. Doch fiel ihm die Aeußerung des Doctors auf, und er brachte sie gleich in Zusammenhang mit Hedwigs ganz außerordentlichem Gang in die Stadt. Seine Aufmerksamkeit wurde noch mehr erregt durch den Jubel, mit dem die Schichtmeisterin den Ruf des Doctors aufnahm. »Also der Fuchs ist unschädlich gemacht?« rief sie, -- »o Sie sind der Schutzgeist meines Hauses!« -- »Gott behüt' uns vor solchem Schutzgeist!« sprach der Greis bei sich; »da ist ein Bubenstück gegen meinen Steiger ausgeführt worden!« Er konnte nicht hören, was die Beiden weiter verhandelten. Der Doctor entfernte sich bald, und der Greis beschloß, auf seine Schwiegertochter Acht zu haben. Es war nach Tisch. Der argwöhnische Alte raubte sich heute sein gewohntes Mittagsschläfchen, um auf Alles zu merken, was im Hause vorging. Doch hielt er sich still in seinem Stübchen. Gerade unter diesem befand sich die Scheidebank und die damit verbundene Erzkammer. Die Scheidearbeit ruhte heute; daher war die Scheidebank verschlossen. Der Schichtmeister brauchte die Scheidearbeiter zur Ausbesserung des Pumpwerks im Schacht. Dennoch vernahm der Hutmann auf einmal ein Geräusch in der Scheidebank oder Erzkammer. Er schlich sich hinaus und verbarg sich auf der Treppe. Bald darauf ging die in die Hausflur führende Thür der Erzkammer auf, und die Schichtmeisterin trat mit einem verdeckten Handkorbe heraus, der ihr sichtlich sehr schwer wurde. Sie betrat damit die dunkle Treppe und wurde ihren Schwiegervater erst gewahr, als sie dicht vor ihm stand. »Ei, Frau Tochter! was für schwere Spitzen, Hauben oder Tücher tragen Sie denn da?« redete er sie an, und ehe sie es hindern konnte, hatte er den Deckel aufgehoben, und die schönsten Erzstufen blinkten ihm entgegen. »Ich hätte nicht gedacht, daß meine Sohnsfrau sich so gut auf Erz verstände; wahrlich! die besten Stufen hat sie sich herausgeklaubt, -- kommen Sie doch gefälligst mit herauf, Madame, wir wollen uns oben die Dingelchen bei Licht besehen. Nur keine Umstände, sonst ruf' ich die Leute vom Göpel herüber und sage ihnen, bei wem sie sich bedanken mögen, daß sie zu keiner Lohnverbesserung kommen können.« Vernichtet folgte die Frau dem strengen Greise auf sein Zimmer. Er schloß hinter ihr ab. »Jetzt, Du Weib des Unheils, bekenne: was wolltest Du mit dem Erz thun?« Die Frau schwieg lange; aber endlich beichtete sie unter strömenden Thränen. Es kam ein seltsames Gemisch von wirklicher Mutterzärtlichkeit, Eigenliebe und Hoffart, wie es nur in der seichten Lache der Halbbildung möglich ist, zum Vorschein. Und als sie ein umfassendes Bekenntniß abgelegt hatte, und das ganze Gerüst ihres Hochmuths zusammengebrochen war und sie mit ihm, da sprach der Greis: »Unglückselige Frau! Du hast fürchterlich gefrevelt. Du hast uns Alle an einen Abgrund gebracht, von dem ich keine Rettung sehe, wenn Gott nicht ein Wunder thut!« »Mutter! Mutter!« rief jetzt eine Kinderstimme von unten. Der Greis öffnete die Thür und fragte hinaus, was die Mutter solle. »Es ist ein Mann da,« lautete die Antwort. Der Hutmann ging hinab; es war der Gerichtsbote, der den Schichtmeister auf das Stadtgericht beschied. »Was soll er dort?« fragte der Greis voll banger Ahnung. »Er soll als Zeuge aussagen, ob er dem Steiger Bergner aufgetragen, für ihn einen Wechsel zu bezahlen?« »Wie? weiter nichts? der Wechsel ist bezahlt?« »Wie die Quittung besagt, die man beim Steiger gefunden.« »Gut! ich will meinen Sohn gleich aus dem Schacht rufen lassen.« »Ja, thut das! denn die Freilassung des Steigers hängt von dem Zeugniß ab. Der Herr Obereinfahrer hat sich für ihn verwandt, und der Herr Stadtrichter will ihn entlassen, wenn es mit dem Wechsel seine Richtigkeit hat.« Der Greis ahnte den ganzen Zusammenhang; er eilte an den Göpel und schickte einen Bergmann in den Schacht nach seinem Sohn. »Sagt ihm, es gäbe eine gute Nachricht!« rief er dem Bergmann nach. Dann ließ er den Gerichtsboten in das Wohnzimmer treten und ging zu seiner Schwiegertochter zurück. »Jetzt, Frau, trag das Erz wieder an seinen Ort und danke dem barmherzigen Gott, daß er Dein Verbrechen verhütet. Er wollte nicht den Untergang der Deinen, darum hat er auch schon die Rettung aus aller Noth geschickt. Wie dies geschehen, wirst Du später hören!« Die Frau fiel auf ihre Kniee und umklammerte schluchzend die des Greises. Der Schichtmeister war bald oben und ging, nachdem er vernommen, was vorgefallen war, mit tief erschütterter Seele im Geleite des Gerichtsboten nach der Stadt. Zwei Stunden später füllte sich das Huthaus mit frohen Menschen. Im Triumph brachte Hedwig ihren Ferdinand, gefolgt von dem Schichtmeister, Ferdinands Mutter, dem Gelbgießer, dem Baron von Brunn und Brunhild. Die Letztern waren, von Scharfenstein zurückkehrend, in dem Augenblick über den Markt gefahren, wo Hedwig von Ferdinand gekommen war, und diese hatte sogleich die Schwester angerufen und ihr das Geschehene mitgetheilt. Da hatte Brunhild, die inzwischen alle Schüchternheit gegen ihren Bräutigam verloren, diesen sofort in das Geheimniß gezogen. Der edle Mann hatte sogleich seine Vermittelung angeboten und war ohne Säumen zur That geschritten. Auf seine Fürsprache wurde Ferdinand, nachdem der Schichtmeister sich zu dem Wechsel bekannt hatte, gegen Handgelöbniß entlassen. Da mußte nun die Schichtmeisterin in dem Manne, den sie erst dem Tode und dann der Entehrung preiszugeben versucht, den Wohlthäter ihres Hauses erkennen. Eine tiefere und heilsamere Beschämung konnte ihr nicht widerfahren. War Ferdinand nun schon noch immer der Untersuchung unterworfen, so dienten doch die Enthüllungen, welche die Schichtmeisterin ihrem Schwiegervater gemacht hatte, und die dieser dem Obereinfahrer mittheilte, dazu, die Wahrheit völlig ans Licht zu bringen. Mit Schmerz erkannte der Baron die Unwürdigkeit seines Freundes; er schüttelte den Schmarotzer ab und ließ ihm die Wahl, sich entweder über dem Meere eine neue Heimath zu suchen oder ins Gefängniß zu wandern. Der Elende wählte das Erstere. Als Brunn ihn am Bord eines Schiffes wußte, wirkte er auf Niederschlagung des Processes hin, die er auch erlangte, als der Goldschmied eines Morgens im Gefängniß erhängt gefunden wurde. Der Obereinfahrer Freiherr von Brunn und Steiger Bergner hatten an einem Tage Hochzeit, und es zeigte sich, daß nur in der hoffärtigen Einbildung der Schichtmeisterin die Furcht begründet war, die Familie des Freiherrn werde an der Verschwägerung mit einem redlichen Bergmanne niedern Grades Anstoß nehmen. Gleich nach der Hochzeit begann der neue Betrieb des alten Schachtes; Frenzel wurde Schichtmeister und Ferdinand Obersteiger der vereinigten Vater Abraham Fundgruben. Ein stattliches Huthaus krönt jetzt mit einem Dampfgöpel und anderen Betriebsgebäuden die alte Halde, und an schönen Sommertagen kann der Wanderer auf der Hausbank eine allerliebste junge Frau sich abwechselnd der reizenden Aussicht auf das wiesenthaler Gebirge und der drei kleinen Engel erfreuen sehen, die zu ihren Füßen spielen. An Sonntagen vervollständigt das anmuthige Bild der Vater Obersteiger und nicht selten der Groß- und Urgroßvater vom untern Huthause. Auch hier ist nach jener Lection ein einfältigerer Sinn, Friede und Segen eingekehrt. III. Der Gimpelkönig. 1. Da wo das Erzgebirge an das Voigtland grenzt, ist ein Landstrich, in welchem fast jeder dritte Ort sich auf »grün« endigt. Die Leute dort sagen, das rühre von den vielen Vogelherden her, die es da giebt. Denn »'s Grün« heißt der Platz, worauf der Vogelherd angelegt ist. Die vielen Vogelherde aber deuten auf die Hauptpassion der Bewohner; die Gegend ist weithin bekannt als Vogelstellerdistrikt. Der hat auch einen Vorort -- Wellersgrün nennen wir ihn, obgleich er auf der Landkarte anders lautet; doch »grünt« er sich wenigstens. Da hauste bei Menschengedenken ein Mann, der hatte sich vom Bürstenbinder, Krämer und Achtelhufengutsbesitzer zum Potentaten der Gimpel emporgeschwungen. Die Einleitung läßt schon ahnen, daß hier nicht von jener adamitischen Gimpelspecies die Rede ist, welcher das goldene Gefieder von den Händen leichtfertiger Evastöchter gerupft zu werden pflegt, sondern von dem niedlichen Sängervolke, dessen Heimath der grüne Tannenwald ist, und das den Wellersgrünern von jeher ihre gesuchtesten Virtuosen in der Tonkunst lieferte. Gottfried Unger -- so hieß unser Mann -- hatte keine Ahnung von jener uneigentlichen Gimpelspecies; ihm war Gimpel gleichbedeutend mit Genie, und darum war er stolz auf den Königstitel, welchen ihm seine Heimathgenossen ertheilt hatten, weil er im Fangen und Abrichten der kleinen Waldsänger eine Meisterschaft besaß, die man einer wunderbaren Herrschaft über diese Thiere zuschrieb. So berühmt vor allen seinen vogelstellenden Landsleuten war König Gottfried, daß seine Zöglinge nicht allein in ferne Gegenden verschrieben wurden, sondern daß auch nicht selten Bewohner der benachbarten Städte nach Wellersgrün lediglich in der Absicht wallfahrteten, den »Gimpelkönig« und seinen Hof zu sehen. Gewisse Leute wollten zwar behaupten, diese Besucher zöge noch etwas ganz Anderes nach dem schmucken gelben Hause am hüpfenden Wasserfall des »Grünbächels«, als König Ungers Hofkapelle -- nämlich die Prinzessin des kleinen Reiches, das über alle Beschreibung nette und herzige Hannchen, Ungers eheleibliche neunzehnjährige Tochter. Aber wenn dies auch vielleicht hinsichtlich des jüngeren Theiles der Wallfahrer seine Richtigkeit hatte, so doch bestimmt nicht in Ansehung der vielen gesetzten Männer, die sich darunter befanden; für die war es interessant genug, Herrn Gottfried umringt von seinem gefiederten Hofstaat zu sehen. Man denke sich eine große, weißgetünchte, vom Scharwerksmaurer unter der Decke mit einer Guirlande von Phantasieblumen geschmückte Stube, deren fünf Fenster rechts und links mit Reihen vollbesetzter Vogelbauer garnirt sind. Das der Stubenthür gegenüber befindliche Fenster ist mit Epheu eingefaßt, eine Reihe Blumentöpfe mit Balsaminen, Muskat- und Rosenkrautstöcken bedeckt das Bret, und die Bauer zu beiden Seiten zeichnen sich durch Größe und Zierlichkeit aus. Hier hausen die Gimpel -- sie sind der hohe Adel des Ungerschen Reiches; die andern in den unansehnlichen Behältern, die Quäker, Finken, Meisen, Zeisige und dergleichen, sind das gemeine Volk. Vom künstlerischen Gesichtspunkte aus betrachtet, sind jene die Solosänger, diese die Choristen. Vor dem solchergestalt ausgezeichneten Fenster steht ein kleiner Tisch und vor diesem ein Lederpolsterstuhl -- das ist der Thron des Monarchen, da sitzt er, ein stattlicher Funfziger, den einen Arm auf den Tisch gestemmt, mit dem andern die Meerschaumpfeife haltend, der er sparsam abgemessene Wolken entzieht und giebt seinen Lieblingen Audienz. Solches geschieht, indem er einen Bauer nach dem andern von seinem Nagel herunternimmt, ihn vor sich auf den Tisch setzt und eine Melodie intonirt, worauf der Bewohner des Bauers sofort einfällt und die Weise zu Ende führt. Auf diese Weise wird der Zuhörer nach und nach mit einer Blumenlese von Melodieen erfreut, die vom »Freund, ich bin zufrieden« bis zum »Frisch auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!« fast alle Rhythmen des Liedergesanges umfassen. Freilich wird dem fremden Zuhörer der Genuß dieses Concertes durch das wirre Durcheinander des Chores verdorben, denn es ist kaum möglich, vor dem Zwitschern, Zirpen und Wirbeln der Quäker, Zeisige, Finken u. s. w. den schulgerechten Gesang der Solisten zu vernehmen. Meister Ungers Gehör aber unterscheidet diesen recht wohl, ja für dasselbe dient der gemeine Chor den edlen Concertisten nur zur Folie, wie dies ja auch bei mancher musikalischen Kunstanstalt der Nichtgimpel der Fall ist. Wer den ehrenwerthen Meister so unter seinen Vögeln sah, oder wer gar seinen Lehrstunden beiwohnte, der mußte die heitere Gemüthsruhe, die unerschöpfliche Geduld desselben bewundern, und war es eine Frau, die ihn so beobachtete, so konnte sie kaum umhin, Frau Unger um ein solches Lamm von einem Eheherrn zu beneiden. Allein sowie Herr Gottfried seinen Vögeln den Rücken gewendet hatte, war er ein ganz anderer Mensch, da keifte und nörgelte er im Hause herum, bis es seiner Gattin glücklich gelang, ihn auf den Vogelherd oder in die Schänke zu spediren. Vielleicht wurde das Maß von Geduld, so ihm die Vorsehung verliehen, von seinen Zöglingen so vollständig absorbirt, daß ihm für den Verkehr mit Menschen nichts davon übrig blieb. Niemand konnte im Umgange reiz- und verletzbarer sein, und in ganz Wellersgrün gab es keinen Menschen, der so schwer zu versöhnen war wie er, zumal wenn ihm Jemand sein Steckenpferd unsanft berührte. Kam er doch seit vielen Jahren schon nicht mehr in die Ortskirche, weil der Pfarrer sich einmal von der Kanzel gegen das Vogelstellen auszusprechen gewagt hatte; da der hierdurch schwerbeleidigte Gimpelkönig aber doch ein guter Christ sein wollte, so ging er entweder nach Schönheide oder Hundshübel zum Gottesdienst. Desto fleißiger besuchte er eine der Ortsschänken, nicht nur weil der Inhaber derselben seine Liebhaberei theilte, sondern auch weil dies der Ort war, wo er fortwährend Gelegenheit hatte, neue »Stückla« für seine Gimpel zu hören. Zu seiner Ehre muß gesagt werden, daß er sich fast nie betrank; sein gewöhnliches Getränk war das heimische »Einfache«, worauf er höchstens zum Schluß einen »Eibenstöcker« setzte, den er seinen Magendoctor nannte. Hausdespoten werden von ihren Familien nicht mit Rosenketten in ihren vier Pfählen festgehalten -- der Ungerschen Familie war, als hätte sich ein böser Wind gelegt, sobald sich ihr Haupt auf den Vogelherd oder in die Schänke verfügt hatte. Da wurde es erst gemüthlich im Hause. Mutter und Tochter krochen aus Küche, Stall und Keller hervor und reiheten sich mit den beiden »Gimpelprinzen« um den Ofen; oft kam dazu auch der Geselle mit dem Lehrjungen. Da wurde nun gescherzt, erzählt oder gesungen, ohne daß jedoch dabei die Hände feierten. Sonntags traktirte Frau Unger das ganze Hausgesinde mit einem Nachmittagskaffee und »Hefenkloß«, in welchem die Rosinen nicht fehlen durften, und wer zur rechten Zeit bei ihr einsprach, war ein frohwillkommener Gast. Manches arme Dorfkind hatte regelmäßig das Glück, keins aber regelmäßiger, als das »Rußbuttenlobel«, ein alter Junggeselle, der in seiner Jugend mit Rußbutten durchs Land gezogen und seit er zu solchem Erwerb invalid geworden, in die Stelle eines Vice-Tag- und Nachtwächters von Wellersgrün eingerückt war. Diese wichtige Person war für das Ungersche Haus noch mehr, als ihr Titel besagte: sie war zugleich Historienbuch, Liedersammlung, Ortschronik und Zeitung. Daher geschah es, daß, sobald »Rußbuttenlobels« wohlbekannter Amtsspieß an der Ungerschen Hausthür lehnte, -- denn die Schwelle durfte dieses polizeiliche Attribut nicht überschreiten, das wäre eine Verletzung der Wellersgrüner Habeascorpusakte gewesen, -- eine Nachbarin nach der andern in die Gimpelresidenz »hutzen«[1] eilte, um das Neueste aus der Tagesgeschichte zu erfahren. [1] Hutzen heißt im Obererzgebirge soviel als: einen kurzen Besuch im Hauskleide machen. So war es auch am Trinitatisfeste des Jahres Eintausend Achthundert und --Zig. Der Hausherr saß beim Einfachen in der obern Schänke; die Hausfrau mit ihren Kindern und Hausgenossen am Kaffeetisch, und »Rußbuttenlobel« trat mit seinem »Helf Gott!« in die Stube. Nachdem er von allen Seiten freundlich bewillkommt und von Hannchen an den Tisch gezogen worden, hieß es rechts und links: »Was hat's Neues in der alten Welt?« Lobel warf sich in die Brust, that einen Zug aus der ihm vorgesetzten Tasse, einen kräftigen Biß in den »Hefenkloß« und sagte: »So in einem Athem, Ihr guten Leut', läßt sich das nicht erzählen.« Darauf leerte er die Tasse und ließ den Hefenkloß mit großer Schnelligkeit zwischen seinen Kinnladen verschwinden. Alle Anwesenden hefteten die Augen auf den Anfangspunkt dieser Werkzeuge; doch Lobel richtete seine Blicke, eh' er sprach, nach der Thür, als erwarte er noch einige Ohren für seine Zeitung. Er wartete nicht vergebens -- der Spieß war gesehen worden -- ehe fünf Minuten vergingen, war ein halbes Dutzend Nachbarinnen versammelt, von denen sich die eine ein Loth Kaffee, die andere ein Gebind Zwirn, die dritte für einen Pfennig Pfeffer zum schicklichen Behelf nahm, und der Bericht -- den wir mit Beseitigung der Mundart wortgetreu wiedergeben -- begann: »Es geht arg her in der alten Welt, Ihr guten Leut'! Der Franzos draußen ist wieder einmal kollerig, aber ob's ihm unter der Mütze fehlt oder in den Schuhen, das weiß der Himmel, und in Welschland wollen sie auch gescheidt werden, ob's ihnen aber von der hohen Obrigkeit erlaubt wird, das weiß der Zeitungsschreiber nicht, wie soll's Rußbuttenlobel wissen! Aber der Russ' dahinten scheert sich den Teufel darum, ob's in Polen Wölfe giebt oder nicht -- er hat einen gar guten Magen, das wissen wir von Anno dreizehn, da haben die Kosacken gefressen, was ihnen zwischen die Zähne kam; übrigens ist es oben im Sibirienland fast so kalt wie in Karlsfeld, wie die Polaken zu erzählen wissen und viele andere Ehrenleut', die dort auf dem Zobelfang waren -- Du mußt aber hübsch aufpassen, Heinerle, sonst bleibst zeitlebens ein dummer Junge, und die Rosinen mußt Du nicht aus dem Hefenkloß bohren -- und in England werden sie nächstens mit Dampf in den Mond fahren, ich wollte, sie wären schon alle droben gewesen, eh' sie unserm armen Gebirge sein Klöppelwesen ruinirten -- daß sich Gott erbarm'! meine Schwester hat gestern in der Stadt schon wieder zwei Pfennige weniger bekommen für die Elle Borten! Item: der Papst ist gestorben, der Tod kann's aber machen, wie er will, er wird nicht fertig mit der Gesellschaft, es ist schon wieder ein neuer da -- meiner Hühner halben! -- ich wollte nur, ich hätte ein paar Fuder von den Feigen und Apfelsinen, die dieses Jahr in Welschland gewachsen sind, und könnte sie in Wellersgrün verzehren. Doch daß ich nicht Eins über dem Andern vergesse -- Friedel, Du wirst gleich Dein Schälchen hinunterstoßen, 's wär' schad' um den eingebrockten Hefenkloß, aber der Steingutmacher will auch leben -- in Lindengrün hat eine Bergmannsfrau Vierlinge gehabt; da fleckt's! jedoch aber im Dänemarkschen -- 's muß wohl um Buxtehude herum liegen, dort bin ich nicht gewesen -- da will der Königsstamm aussterben -- geht mir auch nicht besser, bin Rußbuttenlobel der Erste und Letzte und habe nichts auf meinem Gewissen, als den armen Handwerksburschen, den ich verarretirt und aus dem Dorfe verbannt habe, weil er ins Lieben-Konrads Haus fechten kam, obwohl mein Spieß vor der Thür lehnte; da konnte der dumme Teufel doch denken, daß die Polizei nicht weit war und ihn erwischen würde; aber gedauert hat mich der Schelm, mein' Seel'. Wie gesagt, es geht arg zu in der alten Welt -- aber Ihre Hefenklöß' sind delicat, Frau Dore! -- wenn's nicht bald anders wird mit der Menschheit, glaub' ich, der Pfannenstieler Pfarrer, der zu den Heiligen gehört, behält Recht -- der sagt, das Ende aller Dinge sei vor der Thür. Nun meinetwegen! ich hab' Nichts zu verlieren als den Spieß und vier Zeilen Erdäpfel auf des Richters Feld; wegen des armen ausgewiesenen Handwerksburschen werd' ich nicht gleich in die Hölle fahren, wiewohl 's nicht christlich war. Ja, arg geht's zu in der Welt -- aber im Ungerhaus giebt's gute Hefenklöß', das ist auch gewiß!« Er wischte sich mit dem Aermel seiner Manchesterjacke den Schweiß von der Stirn, nahm einen frischen Hefenkloß, überlieferte ihn seinen Kauwerkzeugen, schlürfte eine zweite Tasse Kaffee und begann auf die Frage: »Ist das Alles?« von Neuem: »Das war's Auswärtige; nun kommt das Einheimische, und das ist das Wichtigste.« -- Er berichtete nun, wo ein Todesfall vorgekommen und zu erwarten, ein Kind geboren, eine Hochzeit vor der Thür, ein Hausbau in Angriff genommen war und dergleichen mehr, endlich schloß er: »Doch nun das Beste! Was denkt Ihr, daß das Allerneueste ist?« Alle sahen ihn gespannt an. »Gelt, Ihr wißt's nicht?« sagte er nach einer Pause. »Nun so hört: mein Vetter, der Sacher Heinrich, ist diesen Mittag aus der Fremde gekommen!« Das schien in der That eine unerwartete und wichtige Neuigkeit zu sein, denn alle Anwesenden gaben Zeichen der Ueberraschung und des Interesses von sich -- Niemand aber lebhaftere, als Hannchen, denn die stieß einen lauten Schrei aus und wurde roth wie eine Erdbeere bis in den Nacken hinein. »Nicht wahr, Jungfer Hannel,« bemerkte der Erzähler, »das ist Wasser auf Ihre Mühle?« Alle blickten die Gefragte an. Diese warf dem Frager einen zürnenden Blick zu und eilte zur Thür hinaus. »Da hat man's,« sagte Lobel, »alte Liebe rostet nicht!« »'s war auch gar ein feiner Bursch, der Sacher Heinrich,« meinte eine der Nachbarinnen. »Ihr solltet ihn erst jetzt sehen,« versetzte Lobel, »jetzt sticht er alle Wellersgrüner Bursche aus, sowohl was Ansehen als Manieren betrifft; ich sollt's nicht sagen, weil's mein leiblich Schwesterkind ist -- aber wahr bleibt wahr. Er ist aber auch ein Stück in der Welt herumgekommen, wie Keiner in Wellersgrün -- sogar in Welschland ist er gewesen, und in Frankreich hat er fast zwei Jahre gearbeitet -- da kann's Hannel bald hören, wie das auf Französisch heißt: -- keine von Allen Hat so mir gefallen Wie Hannchen, schön' Hannchen, lieb' Hannchen, mein Hannchen allein.« »Laß Er das Geplapper, Lobel!« gebot Frau Unger. »Vor drei Jahren, wie Sein Vetter in die Fremde ging, war mein Hannel noch ein Kind, und wer weiß, ob der Sacher Heinrich jetzt noch an die Tändelei denkt. Mein Hannel hat sie längst vergessen; und nun treib' Er mir das Mädel nicht wieder aus der Stube mit solchem Spaß! -- Aber sehen möcht' ich den Sacher Heinrich, das gesteh' ich.« »Ich auch« -- »ich auch« -- hieß es von mehren Seiten und Rußbuttenlobel schloß mit der Aeußerung: »Er wird schon kommen und sein Schätzel grüßen.« Jetzt schlugen ferne Trompetenklänge an die Ohren der Gesellschaft. »Das hätt' ich bald über dem Sacher Heinrich vergessen,« sagte die inkarnirte Dorfzeitung, »in der obern Schänke ist heute Musik -- sie blasen schon zusammen. Also munter, ihr jungen Leut'!« Diese Mahnung galt den ledigen Personen im Zimmer und man säumte nicht, ihr nachzukommen, denn das junge Volk tanzt in Wellersgrün so gern wie überall im lieben Gebirge. Bald war Frau Unger mit ihren Kindern allein daheim. Denn auch Rußbuttenlobel mußte von Amtswegen in die Schänke. Wie er, den kürzesten Weg nehmend, aus der Hinterthür in den Ungerschen Grasgarten trat, fand er Hannchen dort in sich versunken stehen. Er schlich sich nahe und sah, wie sie einer Sternblume die Blättchen nach einander ausriß und dazu halblaut sagte: »Er liebt mich -- von Herzen -- mit Schmerzen -- klein Wenig -- gar nicht -- er liebt mich -- --« Da fiel das letzte Blatt und Rußbuttenlobel ging mit den Worten vorüber: »Ei freilich! Komm Sie nur in die Schänke, Jungfer; da ist er auch.« 2. In der Schänke ging es laut. Aus dem ganzen Dorfe strömten die Gäste herbei, die Alten nach der Schänkstube im Erdgeschoß, die Jungen nach dem darüber gelegenen Tanzboden. Nur ein Trupp munterer Bursche, aus deren Mitte ein fast elegant gekleideter Jüngling hoch emporragte, folgte dem Zuge der Alten. Als er in die Schänkstube trat, gerieth die ganze anwesende Gesellschaft in Bewegung. »Der Sacher Heinrich!« lief's von Mund zu Munde, und bald fand sich der feingekleidete Mensch umdrängt von Solchen, die ihm ihr »Grüß Gott, Heinrich!« und das Bierglas zum Willkommentrunk entgegenbrachten. Während er allen in erwünschter Weise Bescheid that, wurde er mehr und mehr dem Hintergrunde zugeschoben, bis er dicht vor dem »Herrentisch« stand, an welchem die Angesehenen des Ortes, darunter auch der »Gimpelkönig«, ihren Platz hatten. Die gleiche Begrüßung ward ihm auch hier zu Theil; dann rückte man eng zusammen und bemächtigte sich des Ankömmlings gänzlich, indem man ihn an den Tisch zog und zwischen sich nahm, daß er weder zur Rechten, noch zur Linken entweichen konnte. Das war eine große Ehre, und Heinrich wußte sie zu schätzen; -- er zog seine wohlgefüllte Cigarrentasche, damals in Wellersgrün ein unerhörter Luxus, präsentirte sie den Umsitzenden und steckte sich selbst einen der duftenden Glimmstengel an, worauf er sich in Bereitschaft setzte, auf die mancherlei Fragen, die man an ihn richten würde, bündige Antwort zu geben. Seine Begleiter pflanzten sich, die dorfüblichen Pfeifen im Munde, vor dem Tische, dem Freunde gegenüber auf. An Fragen seitens der Tischgenossen Heinrichs fehlte es nun nicht, sie waren aber so mannigfaltig und wirr durcheinanderlaufend, daß der Gefragte gar nicht dazu kommen konnte, sie zu beantworten. Endlich machte der Wirth den Vorschlag, der Heimkömmling möge seine Reisegeschichte zum Besten geben, wogegen er sich zu einer »Stütze« Doppelbier erbot. Der Vorschlag wurde wie das Anerbieten freudig aufgenommen. Erst that man der »Stütze« alle mögliche Ehre an, und dann begann Heinrich seine Erzählung. Daraus erfuhren die Zuhörer, daß der junge Mann, nachdem er vor drei Jahren als Tischlergeselle das Felleisen genommen, sich nicht lange in den engen Grenzen seines Vaterlandes gefallen, daß es ihn in die Weite getrieben hatte, um Menschen und Sitten kennen und etwas Rechtes in seinem Fache zu lernen. Erst war er nach Wien gewandert, von da hatte es ihn nach Italien gezogen, wo es ihm aber sehr trübselig ergangen war. Unter unsäglichen Beschwerden hatte er sich nach der Schweiz durchgeschlagen und nachdem er hier wieder etwas »zu Federn gekommen«, sich der Hauptstadt Frankreichs zugewendet. So gut er es nun daselbst getroffen, so mächtig ihn anfangs das Leben in der ungeheuren Weltstadt angezogen hatte, so war doch allgemach die Sehnsucht nach der Heimath in ihm wach geworden. Sein Meister hatte ihn zum Werkführer über fünfzig Arbeiter, ja zu seinem Eidam machen wollen, aber da war plötzlich das Verlangen nach der lieben Heimath so mächtig geworden, daß er es keinen Tag mehr in Paris ausgehalten und »Knall und Fall« den Wanderstab zur Heimkehr ergriffen hatte. Die mancherlei kleinen Reiseabenteuer, welche in Heinrichs Erzählung vorkamen, verliehen derselben eine solche Würze, daß Einer von seinen Zuhörern nach Leerung der vom Wirth gespendeten Stütze gleich eine zweite bringen ließ. Heinrich schloß mit den Worten: »So bin ich denn nun glücklich wieder in Wellersgrün und denk' auch da zu bleiben, denn das können Sie mir glauben, werthe Landsleut', so schön es draußen sein mag, es bleibt doch wahr, wie man bei uns spricht: »d'rham is d'rham.« Da schüttelten ihm alle Umsitzenden die Hand, tranken auf sein Wohl, lobten seinen Entschluß und sicherten ihm zu seiner Niederlassung im Orte allen möglichen Beistand zu. »An meiner Fürsprache beim Handwerk soll's ihm nicht fehlen, Heinrich!« sagte unter andern der Obermeister von der Zunft der vereinigten fünfzehn Handwerke. »Und Credit, wie Empfehlungen nach Schneeberg und Auerbach finden Sie bei mir,« versprach der Krämer, oder wie er sich nannte, Kaufmann des Oberdorfes. Der Förster eröffnete ihm die besten Aussichten auf unbeschränkten Nutzholzcredit und der Zimmermeister wollte ihm sein mütterliches Häuschen herrichten, daß es eine Art hätte. Zuletzt war auch von einer Frau die Rede, und von mehr als einer Seite ließ man merken, daß er ein ganz annehmbarer Schwiegersohn wäre. »Mit dem Heirathen,« sagte jedoch Heinrich, »hat es bei mir noch Zeit. Vor der Hand drängt's mich nicht, denn meine Mutter ist, Gott sei Dank! noch rüstig, und übrigens -- kommt Zeit, kommt Rath!« Dabei warf er aber einen anhaltenden Seitenblick nach Meister Unger und nach einer Pause richtete er an diesen die Frage: »Wie geht's daheim, Meister Unger? Ist die Frau sammt den Kindern wohlauf?« »Was soll's mit denen für Noth haben?« war die Antwort. »Man sorgt und schafft doch genug für sie! Nun, Er besucht uns doch, Heinrich -- Er wird sich freuen, wenn Er meine Gimpel sieht und hört.« Heinrich lächelte und blies eine starke Wolke vor sich hin. »Ei, Heinrich!« sagte der Schänkwirth, »wir waren ja ehedem auch ein Vogelfreund und suchten als Steller Unsersgleichen -- wir werden jetzt das edle Vergnügen doch auch wieder treiben?« »Da sei Gott vor!« erwiederte der Gefragte. »Ich bedaure, daß ich jemals ein Vöglein seiner Freiheit beraubt habe -- halten Sie mir's zu Gute, lieben Leute! -- aber ich muß Ihnen sagen: mir erscheint es jetzt geradezu sündlich, das Vogelfangen.« Dem Gimpelkönig entsank die Pfeife, der Wirth wurde kirschbraun im Gesicht und der eine und andere der Tischgenossen rief: »Wie so? Was sagt er? Sündlich?« »Ja -- nehmen Sie mir's nicht übel!« erwiederte der junge Mann fest, »so erscheint es mir, und lassen Sie sich sagen warum? Lassen Sie sich erzählen, wie ich zu dieser Ansicht gekommen bin. Sie wissen, daß ich früher auch meinen Vogel gestellt habe, wie Einer, und der Meister Unger da muß mir bezeugen, daß im Lernen der Gimpel Keiner ihm gleich kam als ich -- es hat manchen kleinen Wettstreit zwischen uns gegeben, aber in aller Freundschaft -- und wie ich in die Fremde ging, that mir nichts so weh, als daß ich meine Vögel da lassen mußte; ich hätte sie lieber mitgenommen, wenn es gegangen wäre. Zog ich dann auf meiner Wanderschaft durch einen Wald und hörte einen Reiterfinken schlagen oder eine Amsel singen, so zuckte es mir in allen Gliedern, ich ärgerte mich, daß ich gar kein Stellzeug bei mir hatte, aber dessenungeachtet schlich ich den Vögeln wohl stundenlang nach und so kam es oft, daß ich über einer mäßigen Tagereise zwei, auch drei Tage zubrachte. Das war viel Zeitverlust und Verlust an Geld obendrein. Nach und nach verlor sich zwar das Erpichtsein aufs Vogelstellen etwas, ganz aber konnte ich's doch nicht los werden und wenn der liebe Sonntag kam, ging ich vogelstellen, statt in die Sonntagsschulen, welche einsichtsvolle Menschenfreunde zur Fortbildung des Handwerkerstandes weit und breit ins Leben gerufen haben. So ging es, bis ich ins Welschland kam. Da hatt' ich das Unglück, der Polizei verdächtig zu werden: statt für einen ehrlichen Handwerksburschen sah sie mich für einen geheimen Revolutionär an -- ich wurde verhaftet und nach Padua ins Gefängniß gebracht. Im Gefängniß, ihr lieben Leute, lernt man erst Jesum Christum erkennen. Vier Wochen mußte ich einsam in einem schauerlichen Loche sitzen -- ach! ich dachte, der liebe Herr Gott habe in seinem Zorn die Tage plötzlich zu Jahren ausgesponnen, so fürchterlich lang wurde mir die Zeit. Da fielen mir alle meine Sünden ein -- und auch mein Vogelstellen. Da dachte ich, wie meine armen Vöglein der Verlust ihrer Freiheit geschmerzt haben müsse, und ich mußte es als eine Strafe vom lieben Gott erkennen, daß ich jetzt auch in einem Käfig steckte, der freilich nicht von schwachem Draht oder Holz, sondern aus gewaltigen Steinen erbaut war. Als ein Tag nach dem andern dahinschlich, ohne daß ich erlöst wurde oder eine Vertröstung auf baldige Erlösung erhielt, wurde ich lebenssatt, die Verzweiflung übermannte mich, mehr als einmal war ich nahe daran, mit dem Kopfe wider die Wand zu rennen und ihn zu zerschmettern; nur der Gedanke an meine gute Mutter hielt mich davon zurück. Dann fielen mir meine Vögel immer wieder ein und ich dachte: so wie dir jetzt, so ist es auch den armen Thierlein zu Muthe gewesen, da sie deine Gefangenen waren! Du sahest wohl ihr ängstlich Flattern an der Leimruthe, im Netz oder im Bauer, du hörtest ihr kläglich Schreien, bemerktest ihre traurigen Mienen -- und doch ließest du sie im Käfig, getrennt von ihren Jungen, oder das Männchen von seinem Weibchen; sie mußten ihr herbes Loos tragen -- so füge nun auch du dich in dein Schicksal! Des Nachts aber kamen schreckhafte Träume; da verwandelten sich meine ehemaligen Gefangenen in gräuliche Riesenvögel, die mit ihren furchtbaren Schnäbeln nach mir hackten oder mich mit ihren Krallen packten und an den Rand eines schauerlichen Abgrundes rissen, bei dessen Anblick ich entsetzt aufschrie und erwachte. Da betete ich in meiner Angst zu Gott und schwur, nie wieder eines seiner für die Freiheit geborenen Geschöpfe dieses ersten Lebensgutes zu berauben -- denn das sag' ich aus Erfahrung: es giebt kein köstlicheres Gut im Leben als die Freiheit, und ein Raub an diesem Gute wider ein Geschöpf Gottes verübt ist ein Frevel schwarz wie der Mord --« »Einen Eibenstöcker!« rief der Gimpelkönig, und Heinrich, ohne auf dessen unwirsches Gesicht zu achten, fuhr fort: »Endlich ward ich frei -- mir war, als läge ein Zeitraum von Jahren zwischen Verlust und Wiedergewinn meiner Freiheit, und ich konnte kaum gehen, so hatte die Haft mich angegriffen. Als ich mich außerhalb der Stadt fand, kniete ich auf offenem Felde nieder und dankte Gott, daß ich wieder fessellos unter seinem Himmel und auf seiner Flur athmete, und wiederholte meinen Schwur, nie wieder Hand an ein lebendiges Wesen zu legen, um es seiner angeborenen Freiheit zu berauben. Darauf zog ich viele Tage durch herrlich bebaute Gegenden -- aber so mannigfach und üppig alle Gewächse erschienen, so reizend die goldenen Früchte aus den dunkelgrünen Kronen der Bäume schimmerten, so schwellend die Matten, so gestaltenreich die Höhen sich in Aug' und Seele drängten, so fehlte ihnen doch ein Reiz, den ich mit Wehmuth vermißte: die Schwärme singender Vögel, welche unsere Heimathwälder beleben. Wichen sie vor mir als vor einem Feind oder einem Verfluchten, dessen Ohr nimmer werth war, sich an ihren Melodieen zu weiden?« »Noch einen Eibenstöcker!« unterbrach Meister Unger den Erzähler abermals. »Willst Du schon nach Hause?« fragte der Obermeister der fünfzehn Handwerke. »Nein,« erwiederte der Gefragte, »es wird mir blos übel von dem Gemähre --« »Ruhig!« riefen mehre Stimmen, »erzähl' weiter, Heinrich!« »Ja, erzähl' Er weiter, Mosje Sacher!« stimmte der Förster bei -- aus Seiner Geschichte kann Mancher 'was lernen!« Dies beabsichtigte Heinrich eben und rücksichtslos, wie immer jugendliche Verkündiger ernster Wahrheiten, fuhr er fort: »Bald traf ich mit einem Landsmann zusammen, einem Maler, der desselben Weges zog wie ich, und als die Rede gerade auf den von mir wahrgenommenen Mangel an Singvögeln in der paradiesischen Gegend kam, fragte ich ihn nach der Ursache dieser Erscheinung. Er antwortete mir, daß nur die furchtbaren Nachstellungen der Menschen nach und nach die Wälder und Fluren dieses Striches von den kleinen Sängern entblößt hätten. Da dacht' ich an meine Heimath und den hier getriebenen Vogelfang, und mir war bange darum, daß da auch eintreten möchte, was ich dort zu beklagen fand. Später gingen wir durch eine große Kastanienpflanzung, die fast ganz abgestorben war. Die wenigen noch grünen Bäume waren mit Schaaren von Raupen bedeckt. Es war ein trauriger Anblick -- ich dachte an alle die Arbeit, die hier vergebens aufgewendet, an alle die Hoffnungen, welche vernichtet waren. Offenbar war die Pflanzung ein Opfer des Raupenfraßes, und ein Landmann, den mein Gefährte fragte, bestätigte dies. »So rächt sich jetzt an den Kindern, was ihre Väter gesündigt haben,« sagte der Maler, »hätten diese die Singvögel nicht von Wald und Flur vertilgt, so hätte das zerstörende Insekt nie so mächtig werden können, als es hier geworden.« Ich schrieb mir das hinter die Ohren und will's auch mein Leben lang nicht vergessen. Und ich hab' noch viel über den Gegenstand nachgedacht, und es ist mir immer klarer geworden, daß das Wegfangen der Singvögel eine Sünde sei und daß ein Vogelsteller Gott nimmermehr gefallen, ja schwerlich in den Himmel kommen könne.« »Hoho!« rief der Schänkwirth, »wer's glaubt, wird selig.« »Nein, der ist ein Esel!« polterte Meister Unger. »Es ist dummes Zeug,« sagte der Obermeister der Fünfzehnerzunft, »schmeckt nach Pfaffen -- fort damit!« »Ja, fort damit!« schrie der Gimpelmonarch. »Wirth, noch einen Eibenstöcker! Das fehlt noch, daß so ein Gelbschnabel uns Mores lehren will!« »Der Sacher hat aber Recht,« erklärte der Förster. »Bei Euch Grünröcken,« erwiederte Unger, das ihm gereichte Glas Branntwein hinabstürzend, »Ihr möchtet nur allein im Walde Herr sein, es soll kein anderer Mensch sein Vergnügen darin haben. -- Weiß Er was, Sacher: geh' Er lieber hin, wo Er hergekommen ist, wir brauchen in Wellersgrün keine Neuerer und Weltumstürzer, wie Er ist -- geh' Er wieder nach Paris, wo dergleichen hingehören!« Heinrich schwieg, aber seine jüngern Freunde drangen jetzt ungestüm auf den Gimpelkönig ein. »Das leiden wir nicht,« schrieen sie, -- »das ist schändlich, ein Wellersgrüner Kind so zu behandeln!« »Ein Wechselbalg mag er sein und kein Wellersgrüner!« rief Meister Unger, aber sogleich saß ihm ein Schlag im Gesicht. »Ums Himmelswillen, keine Schlägerei!« rief Heinrich und warf sich zwischen den Angegriffenen und die Angreifer -- da fuhr ein Bierglas durch die Luft, im Nu war die Schänkstube in ein Schlachtfeld verwandelt, wo zwischen zwei an Stärke fast gleichen Parteien ein erbitterter Faustkampf geführt wurde. Die Ursache des Kampfes selbst, Heinrich, gab sich alle Mühe, ihn beizulegen -- umsonst; -- er bat, er flehete, er weinte -- er ließ sich sogar von dem ergrimmten Gimpelkönig einen Schlag versetzen, ohne ihn zu erwiedern, -- es war vergebens, der Kampf wurde nur erbitterter -- bis »Rußbuttenlobel« außerhalb eines Fensters erschien, sich durch den offenen Flügel auf die innere Brüstung schwang und mit vorgehaltenem Spieß ausrief: »Ruhe! im Namen der Obrigkeit, Ruhe! eh' Ihr's Euch versehen werdet, ist der Gensd'arm hier!« Das wirkte. Die Parteien trennten sich; die Anhänger Heinrichs meinten, man müsse ja nicht bei den »Dickköpfen« sein, und alsbald zogen sie ab und hinauf auf den Tanzboden, wo sie, namentlich dem weiblichen Theile der Gesellschaft, ganz willkommen waren. Heinrich nahm aber traurig in einem Seitenzimmer Platz, und während seine Kameraden walzten, versank er in tiefes Sinnen. 3. Eine geraume Weile saß Heinrich gedankenvoll allein, als er seine Schulter von einer Hand berührt fühlte und aufblickend Rußbuttenlobel neben sich sah. Heinrich reichte ihm stumm das Glas dar; Lobel trank daraus, gab ihm die Hand und sagte: »Es war eine Finte mit dem Gensd'arm, Vetter! Ich wollt' Euch nur auseinander haben.« »Ich danke Dir, Vetter!« erwiederte Heinrich -- »ach, ich möchte weinen wie ein Kind über diesen Empfang in der Heimath. Wie hab' ich mich in der Fremde draußen auf diesen Tag gefreut -- und nun muß er mir so verdorben werden!« »Wie konntest Du auch dem Meister Unger so auf sein bestes Hühnerauge treten?« sagte Lobel. »Hast Du denn gar nicht ans Hannel gedacht? Drunten sitzt der alte Vogelfried nun, und tobt und schimpft auf Dich, und sagt ganz unverholen, er wisse wohl, daß Du ein Auge auf seine Tochter hättest, aber eher woll' er sie dem Rußbuttenlobel -- also mir -- geben, denn so einem Neuerer und Weltverbesserer, wie Du wärest. Wenn das arme Hannel dies wüßte!« »Ei was wird die sich darum härmen!« erwiederte Heinrich, »wer weiß, will sie noch etwas wissen von mir! Damals, wie ich mit ihr ging, war sie noch ein halbes Kind und ich selbst hinter den Ohren nicht trocken, und inzwischen sind drei Jahre vergangen -- ich hab' ihr nie geschrieben -- Lobel, lassen wir das Mädel sein -- ich weiß ja auch nicht, ob sie heute noch nach meinem Sinne wäre!« »Sieh sie nur einmal, Heinrich!« fiel der Andere ein, »ich wette meinen Spieß gegen was du willst, sie gefällt dir jetzt noch besser, denn sonst -- ach, die Augen werden Dir übergehen, wenn Du sehen wirst, wie das voll und schlank, und blumig und samig geworden ist, so voll Lieblichkeit, daß man's immer anschauen und drüber beten und fluchen vergessen möchte! Komm mit; sie erwartet Dich!« »Wo?« »Daheim, bei ihrer Mutter.« »Wo denkst Du hin, Lobel! Nach dem, was hier vorgefallen ist, kann nicht die Rede davon sein, daß ich die Schwelle des Unger'schen Hauses betrete. Ich hätte nach dieser Geschichte lieber Lust, wieder in die Fremde zu gehen.« »Und Deine alte Mutter zu verlassen -- und das traute Hannel! Du denkst, das Mädel hat Dich vergessen? Das weiß ich besser. Denk' nur, wie ich vorhin zum Kaffee unten war, da erzählt' ich der ganzen Gesellschaft, daß Du da wärest. Da schrie sie laut auf, wurde über und über roth, und als ich sie mit Dir aufzog, rannte sie zur Thür hinaus. Und als ich darauf fortging, stand sie im Grasgarten hinter ihrem Hause, und ließ sich von der Käseblume sagen, ob Du sie liebtest. Und als die Blume sagte: er liebt Dich, kreuzte sie die Hände über das wonnige Herzchen und sah mit entzückten Augen gen Himmel. Sieh, so liebt sie Dich -- und Du -- ja, die Blume spricht wahr: Du liebst sie, du willst Dir's nur nicht gestehen.« »Du irrst Dich, Vetter -- ich gestehe, daß ich mich des herzigen Kindes gern erinnere, aber mein Herz schlägt ganz ruhig dabei. Wie ist es -- wird sie nicht zum Tanz kommen?« »Seit Du fort warst, ist sie äußerst wenig zur Musik gewesen -- aber heute, da sie weiß, daß Du wieder da bist, wird sie wohl kommen.« »Gut -- warten wir das ab -- sehen möcht' ich sie wohl, aber in ihres Vaters Haus komm' ich nicht.« »Und mußt doch einmal Hochzeit darin machen.« »Still davon, Vetter! Das ist vorbei! -- Da, laß frisch einschenken!« Der Tanz war eben zu Ende; die Tänzer stürmten, soweit es der Platz zuließ, ins Zimmer, wo Heinrich saß. Die Freunde tranken ihm zu und als die Musik von Neuem begann, drangen sie in ihn zu tanzen. Er ließ sich endlich bewegen, aufzustehen, ging langsam nach der Saalthür und musterte den anwesenden Mädchenflor. Es schien nicht, daß ihn Eine anzog -- er stand unschlüssig da -- auf einmal öffnete sich die gegenüber befindliche Thür des Haupteingangs. -- »Da kommt sie,« flüsterte Lobel hinter Heinrich, der die eintretende Gestalt anstarrte. War das wirklich das Kind, mit dem er einst harmlos »Liebstens« gespielt hatte? War diese vollaufgeblühte Jungfrau, diese gebietende und doch so leicht daher schwebende Gestalt mit dem Zaubergrübchen im rosigen Kinn, dem schwellenden Purpurmund und den meertiefen Augen wirklich die stille Mädchenknospe, die einst an seinem Herzen geruht hatte, sorglos träumend in der sicheren Hut seines reinen Sinnes? Was damals nur Ahnung gewesen, das war jetzt Licht, Fülle, Leben -- was einst dulden konnte, daß der Jüngling harmlos mit ihm tändelte, das forderte jetzt Achtung, Verehrung, Liebe. Eine süße Bestürzung, ein minutenlanges Schwanken zwischen Staunen und Entzücken und dann ein Aufflammen des ganzen Feuers, das in seiner Brust verborgen glühte -- dann stand er vor ihr mit der stummen, aber tiefen Huldigung, die noch jeder männliche Geist dem Weibe darbrachte, dessen Liebreiz sein Herz rührte. Seine Verneigung vor ihr, die Schüchternheit, mit der er die ihm ebenso schüchtern gebotene Hand nahm, die ehrerbietige Art, mit welcher er sie »Jungfer Hannchen« anredete -- das waren die äußeren Zeichen dieser Huldigung; andere hatte der, trotz seinen weiten Wanderungen und seinem Verkehr mit Welschen und Franzosen, einfach gebliebene Gebirgssohn nicht. Und sie? Sie fand ihn freilich nicht in so bedeutsamer Weise verändert, wie er sie -- der Schritt vom einundzwanzigjährigen zum vierundzwanzigjährigen Jüngling ist kein so großer, wie der vom fünfzehn- zum achtzehnjährigen Mädchen -- aus dem Flaum um den Mund war ein zierlicher Bart geworden, eine weitere äußerliche Veränderung fiel ihr nicht auf. Erst war es ihr gewesen, als müsse sie ihm so frei und munter entgegenhüpfen wie sonst -- aber mit einemmal empfand sie ihm gegenüber eine unaussprechliche Beklemmung, ihre Hand zitterte in der seinen und außer dem großen, strahlenden Blick, mit dem sie ihn begrüßt hatte, wagte sie ihm keinen mehr ins Gesicht zu thun, wenn sie merkte, daß sein Auge auf ihr ruhte. So standen sie lange da und wer weiß, wie lange sie es so getrieben hätten, wäre nicht ein junger Mann im lichtblauen Rock auf sie zugekommen und hätte da Hannchen nicht schnell Heinrichs Arm genommen und ihm zugeflüstert: »Wir wollen tanzen, sonst fordert mich Der auf und ich kann ihn doch nicht leiden!« Da flog Heinrich mit ihr in den Reihen und tanzte nach Jahren wieder den ersten heimathlichen Walzer. Vergessen war alles vorhin Vorgefallene -- Athem wehete in Athem -- Puls schlug an Puls -- Blick flammte in Blick. -- »Mein Hannchen« klang es herüber -- »mein Heinrich« flüstert' es hinüber -- und als der Walzer zu Ende war, führte der glückliche Tänzer sein Mädchen mit dem Entschlusse aus dem Saale, nimmer wieder von der Heimath und seinem Hannchen zu weichen. Dort in dem heimlichen Winkel des Nebenzimmers, wo Heinrich vorhin allein gesessen, nahmen sie jetzt miteinander Platz, und nun ging es an ein Fragen und Erzählen und Händedrücken und -- was weiß ich! -- Zum Beschluß erklärte Heinrich dem entzückt aufhorchenden Mädchen noch, daß er in vier Wochen Meister würde und wenn's nach seinem Willen ginge, müßte Hannchen in einem Vierteljahr sein liebes Weibchen sein. Da kam »Rußbuttenlobel« und flüsterte: »Kinder! seid »a Bissel« auf Eurer Hut vor dem Kunz-Karl-Fried -- wenn er kommt und will mit Ihr tanzen, Jungfer Hannel, so schlag' Sie's ihm nicht ab; Sie weiß, er hat ein Aug' auf Sie, und wenn Sie ihn beleidigt, so geht er hinunter zum Alten und verdirbt Euch die Freude! Ich muß jetzt einmal ins Dorf schauen -- seid gescheidt!« Damit verschwand er. »Was?« sagte Hannchen, »mit dem Kunz soll ich tanzen? Nimmermehr! Ich will nur mit Dir tanzen, Heinrich!« »Doch,« erwiederte dieser, »doch möcht' ich Dir rathen, ihm wenigstens +einen+ Tanz zu gönnen. Du bist ihm vorhin schon ausgewichen -- ein zweites Mal nimmt er's gewiß sehr übel, und dann -- ich muß Dir sagen, daß ich bei Deinem Vater in Ungnade gefallen bin -- wenn ihm der Kunz hinterbringt, daß wir beisammen sind, so reißt er uns wohl auseinander.« »So wollen wir fortgehen -- ich sage Dir, ich kann und darf nicht mit diesem Menschen tanzen, Du wirst schon noch erfahren, warum --« »So laß uns noch den nächsten Reihen zusammentanzen,« sagte Heinrich, »damit ich wenigstens einmal bestelle -- man möchte mich sonst für einen Lump halten -- dann gehen wir spazieren.« Das Paar erhob sich -- aber da stand der Gemiedene schon vor ihnen und bat Hannchen um den nächsten Tanz. Diese schmiegte sich an den Geliebten und ward von ihm dem Unliebsamen im Fluge entführt. »Einen Walzer!« rief Heinrich den Musikern zu, ein Achtgroschenstück auf das Orchesterpult werfend. Schnell war der Tanz im Gange und Kunz hatte das Nachsehen. Inzwischen fuhr in der Schänkstube Meister Unger fort, dem so unberufen aufgetretenen Gegner des Vogelstellens in tiefster Seele zu grollen und dann und wann diesem Groll durch ein derbes Wort Luft zu machen. »Ich hab' ihm aber doch eins gegeben, daran er denken wird,« sagte er endlich und ließ sich den vierten »Eibenstöcker« geben und noch einen -- und wieder einen -- da wurde er immer aufgeregter, bis der junge Kunz-Müller von Neuhahn -- eben jener Karl-Fried -- hereintrat und sich dem »Herrentische« näherte. Er war ein guter Kunde des Gimpelkönigs; als ihn dieser daher zu Gesicht bekam, sänftigte sich sein Zorn etwas, er reichte ihm freundlich die Hand und zog ihn an seine Seite. »Na, wie ist's, Karl-Fried,« redete er den Platznehmenden an, »wollt Ihr meinen Wallheim noch haben? Wenn nicht, so wandert er nach Kirchberg, wo mir Einer fünf Thaler und Tuch zu einem Rock und ein Paar Lödelschuh dafür geboten hat.« Der Wallheim war aber einer seiner gefiederten Schüler, darum so genannt, weil er das Mantellied aus Holtei's »Lenore« sang. »Was der Wollklopper giebt, kann ich auch noch zahlen,« erwiederte der Müller, »ich nehme den Vogel für einen Doppellouisd'or, aber den Bauer müßt Ihr zugeben.« »Für eine Metze Heugesäm' -- topp! -- Wirthschaft, ein Fläschel zum Leihkauf!« rief der Verkäufer. Während der Wirth dem Befehl nachkam, flüsterte der Müller dem Vater Hannchens etwas ins Ohr. »Da soll doch gleich --« der Fluch erstarb dem empörten Vater auf der Zunge; er sprang auf und eilte zur Thür. Der Ohrenbläser rannte ihm bestürzt nach. »Lieber Meister Unger!« bat er, »seid nicht so hitzig! macht kein Aufsehen! -- ich bin dem Hannel gut -- und weil wir einmal darauf zu reden kommen, so will ich Euch nur sagen, daß es mein Wunsch ist, Euer Schwiegersohn zu werden.« Der Alte vergaß seinen Zorn für einen Augenblick. »Wirklich, Karl-Fried? Ist das Euer Ernst?« fragte er erfreut. »Warum habt Ihr mir das nicht schon längst gesagt?« »Je nun -- ich hatte immer das Herz nicht -- das Hannel that so apart gegen mich.« »Ich will ihr das Apartthun schon einstreichen,« erklärte Meister Unger. »Ihr wißt, in meinem Hause bin ich Herr, da gilt, was ich will. Ihr werdet mein Schwiegersohn, Karl-Fried, oder ich will zeitlebens keinen Vogel mehr fangen! Jetzt aber will ich meinen Nickel vom Tanzboden holen, wenn sie mit dem »Leimtiegel« karessirt.« Er eilte fort und stand in wenig Augenblicken vor den Liebenden, die bei der eben eingetretenen Tanzpause sich in ihren Plauderwinkel zurückgezogen hatten. »Du gehst augenblicklich mit mir in die Schänkstube oder nach Hause!« herrschte der Vater der Tochter zu. Hannchen, an unbedingten Gehorsam gegen die Eltern gewöhnt, erhob sich und erklärte, nach Hause gehen zu wollen, wenn sie nicht auf dem Tanzboden bleiben dürfe. Heinrich stand auf und sagte: »Verzeihen Sie mir, Meister Unger, wenn ich Sie beleidigt habe -- es war bestimmt nicht meine Absicht --« »Mit Ihm hab' ich gar nichts zu reden,« versetzte Jener, »und Er hat nichts mit meiner Tochter zu reden, merk' Er sich das, und wenn Er dem Mädel nachläuft, so will ich's Ihm schon einstreichen!« Das liebende Paar wäre dem Ergrimmten gern um den Hals gefallen, wenn der Ort eine solche Scene gestattet hätte. Mit feuchten Augen fügte sich Hannchen in den Befehl ihres Vaters. Er wollte sie mit in die Schänkstube nehmen, allein sie machte sich los und ging weinend nach Hause. Heinrich hatte ihr mitgetheilt, auf welche Weise er dazu gekommen war, den Vater so gegen sich zu erbittern, und sie kannte diesen zu gut, um nicht zu wissen, wie ernst und dauernd diese Erbitterung sein mußte. Aber so tief sie darum den Vorfall beklagte, so konnte sie doch dem Geliebten nicht Unrecht geben, daß er so freimüthig als Anwalt der armen Vöglein aufgetreten war, und wiewohl sie bisher über das Unrecht, das in der Liebhaberei des Vogelstellens lag, noch wenig nachgedacht hatte, so war es ihr doch sofort einleuchtend, und mit dem Feuer eines edlen Gemüthes faßte sie den lebhaftesten Abscheu dawider. Es beunruhigte sie sogar, daß sie ihren Vater zuweilen nach dem Vogelherd begleitet, Beeren für denselben gesammelt, auch wohl, wenn er selbst abwesend war, an seiner Statt den Herd besorgt hatte. Sie beschloß, sich künftig solchen Aufträgen nur gezwungen zu fügen. Daheim angelangt, fiel sie ihrer Mutter weinend um den Hals und gestand ihr ihr Glück und ihr Leid. Frau Unger tröstete die Bekümmerte, billigte ihre Liebe, ermahnte sie zur Geduld und versprach ihr, Alles aufzubieten, um ihr den Weg zur Hochzeit zu ebnen. Den folgenden Tag gab es zwei Brautwerbungen im Ungerschen Hause. Die eine kam schriftlich an die Hausfrau, Rußbuttenlobel war ihr Ueberbringer und Heinrich ihr Absender -- die andere brachte Kunz-Karl-Fried in Person bei dem Hausherrn an. Dieser saß indeß nicht auf dem hohen Pferde wie gestern; er war mit einem Rausche heimgekommen, und dessen schämte er sich heute vor seiner Familie. Er nahm daher den ihm so lieben Werber etwas kleinlaut auf und schob, um seine stillzürnende Ehehälfte zu begütigen, ihr die Entscheidung über diese Angelegenheit zu. Frau Unger aber entschied so: »Meister Kunz, Er hat schon Sein Theil -- heirath' Er das arme Mädel, dem Er die Ehre genommen!« Verblüfft vernahm der reiche Bewerber diesen Bescheid, stotterte etwas von dem Unpassenden, ein so armes Ding wie die Gemeinte zu seiner Frau zu machen, und zog sich, als ihm hierauf Frau Unger eine tüchtige Lection in Wellersgrüner Hochdeutsch gegeben, mit dem erhandelten Gimpel zurück, jedoch ohne seine Hoffnung auf Hannchens Besitz ganz aufzugeben, da er auf seinen Geldsack und Meister Jobsts Gunst pochte. Ganz andern Bescheid trug Rußbuttenlobel von Frau Unger heim. Zwar auf eine schriftliche Erwiederung des schriftlichen Antrages konnte die Gute sich nicht einlassen, da es zu ihrer Jugendzeit in Wellersgrün noch nicht Sitte gewesen war, daß ein Mädchen schreiben lernte -- aber der freundlichste Gruß und die herzlichste Zusage legte sie dem Liebesboten in den Mund, und dieser war nicht der Mann, der eine Silbe fehlen ließ, wenn er etwas auszurichten hatte. »Was die Einwilligung meines Alten betrifft,« hatte die wackere Frau gesagt, »so wird es zwar etwas Zeit und Mühe kosten, sie zu erlangen, aber einmal muß er doch Ja sagen.« »Du lieber Gott!« rief Heinrich, als er dies vernahm, »heute über zwanzig Jahre ist auch »einmal!« Da kann mir's gehen, wie dem Lautersgrüner Pastor, -- der hat sich mit seinem Schatz auch zwanzig Jahre geschleppt und wie er endlich zu der Pfarre gekommen, daß er hat heirathen können, sind sie beide halb stumpf gewesen!« »Ich denk', so soll's Dir nicht gehen,« tröstete Lobel, »der alte Gimpelkönig hat zwar einen harten Kopf, aber ich glaub', er ist mürb' zu machen -- ich hoffe, Du führst Dein Hannel in Kurzem heim, wenn Du mir folgst.« »Vetter -- Herzensvetter -- sprich, was soll ich thun?« »Du mußt den Alten mürb' machen -- mußt mit ihm um die Wette vogelstellen und Gimpel lernen --« »Nimmermehr!« »Versteh mich recht -- Du sollst's nur zum Schein -- sollst selbst nicht einen einzigen Vogel fangen, aber sollst einen Vogelherd bauen -- dem Alten in den Strich -- und ihm so den Fang verderben, Du weißt ja Bescheid damit.« »Man muß auch den Schein des Unrechts meiden, besonders wenn man sich zu seinem Bekämpfer aufwirft.« »Auch um dieses Bekämpfens willen ist es gut, wenn Du scheinbar umlenkst. Du hast es ganz falsch angefangen, daß Du so mit der Thür ins Haus fielst. Böse Gewohnheiten sind wie Warzen -- Wegschneiden hilft nicht, man muß sie durch Sympathie vertreiben. Jetzt, wo Du das ganze vogelstellende Wellersgrün vor den Kopf gestoßen hast, magst Du noch so schöne Reden wider den Vogelfang halten, Du predigst doch tauben Ohren. Mach' es einmal ganz anders! Gewinne Dir zuerst den Eckstein der Vogelstellerzunft, den Gimpelkönig, geh' ihm in seiner Leidenschaft zu Leibe! Ich verschaffe Dir Gimpel zum Lernen -- und Du mußt ein paar lernen, vor welchen sich alle Gimpel des Gimpelkönigs verstecken müssen. Er muß seine Reputation in Gefahr kommen, muß sie auf Dich übergehen sehen -- so wird er mürbe und kapitulirt!« »Vetter!« rief Heinrich und schloß die Wellersgrüner Sicherheitspolizei mit einer Freude in seine Arme, die dieses Institut ihm anderwärts nicht eingeflößt hatte -- »Vetter! Du bekommst in meinem Hause deinen Auszug -- Dein Plan ist göttlich -- daß ich nicht selbst darauf verfiel! -- Aber ich bin zu sehr verliebt, dergleichen auszudenken. -- Vetter, mach' Deine Sach', ich mache die meine!« 4. Die Zeit des Gimpelfangs war wieder da, und es that auch noth, denn Meister Ungers Kapelle war durch einen in letzter Zeit ungewöhnlich starken Absatz sehr zusammengeschmolzen und er mußte rekrutiren. Hannchen hatte sich längst auf diesen Zeitpunkt gefreut, denn nun lag ihr Vater zu halben Tagen im Vogelherd und sie konnte den Geliebten unter den Augen ihrer Mutter täglich bei sich empfangen. Dieser war inzwischen Meister geworden, erfreute sich einer guten Kundschaft, und sein Hauswesen war so in den Stand gesetzt, daß er jeden Tag ein Weibchen heimführen konnte. Bisher war es ihm nur selten vergönnt gewesen, die dazu Auserkorene auf Augenblicke verstohlen zu sprechen -- mit welchem Entzücken ging er am ersten Nachmittage, da Meister Unger auf dem Vogelfang war, frank und frei in das ihm geöffnete Haus! Ein Glück war es, daß der »Kunz-Karl-Fried« nicht im Orte hauste, sonst wäre dem glücklichen Freiersmann die Freude bald wieder versalzen gewesen; aber die Wellersgrüner konnten ihn immerhin zu seinem Schätzchen gehen sehen, die hielten das Geheimniß eines liebenden Paares heilig. Einiges Aufsehen machte es indeß, als man erfuhr, der Sacher Heinrich, der sich in der Schänke so kräftig gegen den Vogelfang ausgesprochen, habe jetzt selbst im Niederwellersgrüner Hammerwalde einen Vogelherd angelegt -- aber auch dies fand man bald in der Ordnung, indem man es als ein »Blendwerk« deutete, daß der pfiffige Liebhaber nothgedrungen dem Vater seiner Liebsten vormache, um diesem die Meinung beizubringen, er wäre gleich ihm selber auf dem Vogelfang, während er ganz gemüthlich um das Töchterlein freiete. Als aber Meister Unger die sonderbare Mär von Heinrichs Anstalten zum Vogelstellen hörte, rieb er sich vergnügt die Hände. »Da hat man das Großmaul!« sagte er, »wie es außer der Zeit war, da konnt' er gut wider das Vogelstellen predigen, aber kaum ist die Zeit da, da kann er's selbst nicht lassen. Ja, lehrt mich das nicht kennen! Was einmal zum Vogelfang geboren ist, kann sein' Lebtag' nicht davon loskommen! -- Meine Tochter kriegt er aber nun doch nicht!« Vier Wochen des herrlichsten Wetters für den Vogelfang gingen in das Land. Täglich ging Meister Unger ans Werk und täglich kehrte er heim, ohne mehr zu fangen, als hin und wieder einen »lumpigen Quäker«. Das edlere Geflügel, wie Grünertse, Zippen, namentlich aber Gimpel, schien ihm ganz und gar den Rücken gekehrt zu haben. Noch drei gelernte Gimpel hatte er in seinem Besitz und die Nachfragen nach diesen Sängern häuften sich wie noch nie. Nach Monatsfrist war er auch nicht um einen reicher. Man hätte glauben sollen, das fortwährende Fehlschlagen aller Bemühungen wäre das Grab von Seiner Majestät Geduld geworden; aber man hat keinen Begriff von der Geduld eines leidenschaftlichen Vogelstellers. Meister Unger wurde durch das Mißlingen seiner Operationen nur um so erpichter, zumal da die Anreizungen von Außen -- Bestellungen auf gelernte und ungelernte Gimpel -- sich mehrten. Aus diesen Bestellungen ersah er zugleich, welch' ungeheuern Ruf er erlangt hatte, und er war nicht der Mann, der gegen solchen Ruf gleichgültig sein, ihn ohne Schmerz verlieren konnte. Davon, daß viele Aufträge fingirt, ein bloßes Machwerk Rußbuttenlobels waren, hatte er freilich keine Ahnung. Statt des halben, legte er sich bald den ganzen Tag auf seine Lieblingsbeschäftigung; es fehlte wenig, so wäre er ganz hinaus auf den Vogelherd gezogen. Es war aber Alles umsonst -- das Glück hatte sich entschieden von ihm gewendet. Dagegen mußte er hören, wie dem Sacher die »rarsten« Vögel zuströmten und wie dieser bereits im Besitz einer so zahlreichen Gimpelkapelle sei, wie er selbst sie nie beisammen gehabt. Da wurde dem Gimpelkönig angst und bang um seinen Ruhm -- wenn jetzt bei seiner Anwesenheit zu Hause ein städtischer Besuch kam, versteckt' er sich und ließ sich verläugnen, denn er wußte nicht, wie er seine Armuth an Sängern beschönigen sollte. Er begann an Zauberei zu glauben, und als er eine Zeitlang weiter nichts fing, galt es ihm als ausgemacht, daß sein Vogelherd behext sei -- und wer konnte der Hexenmeister anders sein, als der in Welschland und Frankreich mit allen Teufelskünsten bekannt gewordene Sacher? -- Der Hexenmeister war jedoch Niemand als Rußbuttenlobel, welcher sich im Besitz eines Mittels befand, wodurch der für die Vögel ausgehängte Köder diesen schon von Weitem verleidet wurde -- eine feine Essenz, womit Lobel in der Nacht die Beeren, oder worin sonst der Köder bestand, besprengte und dadurch die Vögel verscheuchte. Mittlerweile machte der Müller aus Neuhahn vergebliche Versuche, sich bei Frau Unger sowohl, als bei Hannchen in Gunst zu setzen. Ein goldener Henkeldukaten an schwarzem Sammethalsbande wurde von ersterer ohne Antwort zurückgeschickt, und eine schwere goldene Halskette erfuhr bei Hannchen, die eben keine Danae war, gleiches Schicksal. Herr Kunz, der nicht begriff, wie ein Frauenzimmer blind gegen die Reize des Goldes sein könnte, argwöhnte ganz richtig, daß doch wohl der Sacher Heinrich noch zu dem Hannchen schleiche. Er legte sich in den Hinterhalt, um darüber ins Reine zu kommen, und brauchte nicht lange zu lauern, um seinen Verdacht bestätigt zu finden. Eine Stunde später erfuhr Meister Unger auf dem Vogelherd die Schreckenspost, daß der Mensch, der an all seinem Unglück schuld war, hinter seinem Rücken in sein Haus »auf die Freiet« ginge. »Der Mensch bringt mich unter die Erde!« rief der betrogene Vater aus und das Wasser trat ihm in die Augen vor Zorn und Schmerz. Er kratzte sich hinter den Ohren, raufte sich die Haare, lief im Vogelherd auf und ab und fragte: »Was soll ich thun? Den Vogelherd verlassen und nach Hause eilen, dort Ordnung zu schaffen? Aber wer weiß, mach' ich nicht gerade heute einen guten Fang? O ich geplagter Mann! Drin in meinem Hause geht's drunter und drüber und hier hält mich das Geschäft. -- Herzens-Karl-Fried«, redete er diesen weinerlich an, »jetzt kann ich unmöglich von hier fort -- Ihr müßt Euch gedulden -- wenn ich nach Hause komme, will ich meinem Weibsen den Marsch schon machen. Verlaßt Euch auf mich, der Tischler kommt mir nicht wieder ins Haus!« Es giebt keine blindere und verkehrtere Leidenschaft als die Eifersucht einer aufdringlichen Liebe. Kunz begriff nicht, daß eine angefochtene Liebe nur heißer und fester wird. Als Meister Unger am Abend seinem »Weibsen den Marsch machte« und Heinrichs Besuche in seinem Hause streng untersagte, unterwarfen sich zwar Weib und Kind dem Verbote; aber die wußten schon, wo sie waren: sie waren ja »d'rham« in Wellersgrün, im lieben Gebirge, wo verfolgte Liebe überall Schutz findet, wenn nicht unter dem eigenen Dache, so doch in irgend einem Nachbarstübchen, oder, wenn es sein muß, draußen im schattigen Tannenwald. »Ihr werdet einander doch dann und wann sehen,« tröstete die Mutter ihr Kind, »morgen gehst Du zur Muhme Christliebe zu Rocken, und wenn früh das Rußbuttenlobel kommt, so steck' ich's ihm, dann erfährt's Dein Heinrich schon.« Die Bestellungen auf Gimpel, welche Meister Unger erhalten und angenommen hatte, beliefen sich schon auf ein paar Dutzend, und er hatte noch immer nur seine alten drei Stück. Man kam und mahnte -- er vertröstete -- aber seine Hoffnungen auf eine Wendung seines Unsterns schlugen fehl -- er konnte sein Wort nicht halten -- er stand am Abgrunde seines Ruhmes. Heinrich hatte eine Menge der begehrten Vögel und zum Theil schon gelernte -- wenn Ungers Kunden davon erfuhren, so war er »gepritscht«, und Heinrich trat an seine, so lange mit Ehren behauptete Stelle. Als er eines Abends glücklos wie immer heimkehrte, kam ihm wohl der Gedanke, es koste vielleicht nur ein Wort bei dem Tischler, so ließe dieser ihm einen Theil seiner Herde, und er könne damit seine Ehre retten -- aber dieses Wort zu sprechen, war ihm unmöglich. Den Abend darauf schüttete er gegen Rußbuttenlobel, dem er nicht im mindesten mißtrauete, sein ganzes Herz aus. Der schlaue Wächter unterließ nicht, auf der einen Seite den Ehrgeiz des alten Voglers gehörig zu streicheln, auf der andern aber Heinrichs Virtuosen in das glänzendste Licht zu stellen. In der That war es dem jungen Tischlermeister gelungen, ein paar Gimpel vorzüglich gut abzurichten; der eine sang sogar zwei Melodieen: »Kommt a Vogerl g'flogen« und »Hörst Du nicht die Vöglein singen« -- ohne allen Anstoß und mit einer Richtigkeit des Zeitmaßes, die Unger seinen Sängern nie beizubringen wußte. Diesen Vogel taufte Rußbuttenlobel den »Steiermärker« und er hatte es durch seine Beredtsamkeit bald dahin gebracht, daß Meister Gottfried von Begierde brannte, den »Steiermärker« zu hören, ja wo möglich zu besitzen. Lobel äußerte jedoch bescheidene Zweifel in Bezug auf die Erfüllung des letzten Wunsches, dagegen versprach er zur Erreichung des ersten behülflich zu sein, nur müsse er abwarten, wenn Heinrich einmal einen Nachmittag nicht zu Hause wäre, da wolle er dem Meister den Steiermärker auf den Vogelherd bringen. Der Nachmittag, wo Heinrich nicht zu Hause war, mußte natürlich bald kommen, und Rußbuttenlobel zog vergnügt mit dem Käfig, welcher den Steiermärker beherbergte, hinaus nach Ungers Vogelherd. Der arme Mann hatte eben wieder einen Schritt näher zum Grabe seines Ruhmes gethan: er hatte »kein Schwänzel« gefangen und war recht niedergeschlagen, als Lobel in den Herd eintrat. Dem ehrlichen Boten das Bauer entreißen, das es verhüllende Tuch wegziehen und den Gimpel nach allen Seiten betrachten, war eins. Lobel intonirte und der Steiermärker begann. Lange lange schon war dem Gimpelkönig auf seinem jetzt wackeligen Throne kein Ohrenschmauß zu Theil geworden, wie in diesem Augenblick. Es war ihm, als müsse er den Sänger küssen -- er schnalzte mit der Zunge -- klatschte in die Hände -- er setzte den Vogel vor sich auf die Bank und kauerte andächtig davor -- am Ende fing er an zu greinen und sagte: »Mit mir ist's aus -- wenn die Leute dich hören, Steiermärker, so will kein Mensch von mir einen Gimpel mehr, und ich heiße der Gimpelkönig nur noch zum Spott! -- Rußbuttenlobel, verschafft mir den Steiermärker!« »Das steht nicht in meiner Macht -- Ihr könnt denken, daß mein Vetter den Vogel auch gern hat -- ja, ich sag' Euch, er hält ihn wie seinen Augapfel, und wenn er wüßte, daß ich ihn hier herausgetragen hätte -- ich käme ins Teufels Küche!« »Oho! ich werd' ihn nicht behexen, wie mir der Sacher den Vogelherd behext hat,« erwiederte Meister Unger. »Lobel! ich bitt' Euch, verhelft mir zu dem Gimpel da!« »Ich will dem Heinrich sagen, daß Ihr --« »Nein! nein! er darf nicht wissen, daß +ich+ den Vogel haben will.« »Das würde ihm ja doch nicht verborgen bleiben, wenn der Vogel in Eure Hände käme,« sagte Lobel und versprach alles Mögliche zu thun, um seinem Vetter den Gimpel feil zu machen. Von Stund' an war es um den letzten Rest von des Gimpelkönigs Seelenruhe geschehen. Der Gesang des Steiermärkers klang ihm in den Ohren, wo er ging und stand. Daheim, auf dem Vogelherd, auf dem Felde, überall war es ihm, als hörte er's tönen: »Kommt a Vogerl g'flogen, setzt sich auf mein'n Hut« -- er träumte wachend und schlafend von dem niedlichen Sänger. Er fing schon an, den Zwiespalt mit dem Eigenthümer desselben zu beklagen, begann zu bereuen, daß er ihn beleidigt, geschlagen, aus dem Hause gewiesen -- ach! wenn es ihm nur möglich gewesen wäre, dem Beleidigten die Hand zur Versöhnung zu bieten! Wie sich jetzt herausstellte, war es dem Tischler ja mit dem Verdammen des Vogelfanges gar nicht so ernst gewesen, als man es aufgenommen hatte -- jetzt ließ sich schon mit ihm leben -- aber ihm entgegengehen? -- nein -- das wäre eine Erniedrigung gewesen, ein solcher Gedanke durfte nicht aufkommen. »Wenn nur das Rußbuttenlobel käme!« seufzte der Geplagte, als er wieder leer vom Vogelherd heimkehrte. Rußbuttenlobel kam. »Es kann nicht anders sein,« klagte der unglückliche Vogelsteller dem würdigen Polizeimann, »mein Vogelherd ist behext -- zwei Tage hab' ich wieder kein Schwänzel gefangen.« »Das glaub' ich,« sagte Lobel, »in den letzten zwei Tagen ist mein Vetter beständig auf seinem Herd gewesen, da konntet Ihr nichts fangen, Meister Unger!« »Wie so? -- sagt mir's, wie so?« »So fragt man die Bauern aus, Meister Unger --« »Lobel, sagt mir's -- es soll Euer Schade nicht sein -- der Sacher kann hexen, gelt?« Lobel machte eine geheimnißvolle Miene, rückte seine Mütze, kratzte sich das Hinterhaupt, nahm den Frager beim Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Versprecht Ihr mir, daß Ihr mich nicht verrathen wollt, Meister Unger?« Dieser schwor »Stein und Bein« und Lobel sagte darauf: »Der Heinrich hat ein Mittel, alle Vögel eine Stunde im Umkreis an sich zu locken -- ich weiß nicht, worin es besteht, aber so viel kann ich Euch sagen: die Kraft liegt im Köder -- die Beeren sind in eine Flüssigkeit getaucht, deren Bereitung ich vergebens erforscht habe, sonst hätte ich Euch längst ein Fläschchen davon verschafft --« »Um's Himmelswillen, verschafft mir eins!« unterbrach ihn der leichtgläubige Hörer. »Das ist unmöglich, ich müßt' es denn stehlen -- das wäre ein schöner Streich von einem Polizeimann. Aber hört -- ich weiß einen Weg, Euch zu helfen. So viel hab' ich nach und nach ausspionirt, daß mein Vetter vor jedem Fang frische Beeren -- ich glaub', es sind Pfaffenhütle -- nimmt und sie auf dem Vogelherd selbst zubereitet. Ihr müßt sehen, wie Ihr solche Beeren in Eure Gewalt bekommt. Der Heinrich bleibt nie wie Ihr einen ganzen Nachmittag auf dem Herd -- er geht stundenlang davon weg und wieder hin, wie's ihm gelegen ist. Nun dürft Ihr nur einmal abpassen, wenn er eine solche Pause macht -- da schleicht Ihr -- ja so, das geht nicht -- eine Mannsperson und eine verheirathete Weibsperson darf die Beeren, wenn sie einmal geweiht sind, nicht berühren, sonst verlieren sie ihre Kraft; es muß eine reine Magd sein, welche die Beeren nimmt -- und auch nicht zu jeder Zeit darf das geschehen, sondern nur zum Neumond --« »Ich schick's Hannel,« fiel Meister Unger ein. »Aber wird die gehen -- wird die ihren Herzensschatz bestehlen?« »Ei was! -- so was ist kein Diebstahl, dergleichen kommt unter Jägersleuten vor. Also zum Neumond, sagt Ihr, muß es geschehen?« »Zu keiner andern Zeit -- all solch Hexenwerk will beim Neumond getrieben sein.« »Gut -- wenn haben wir den nächsten Neumond?« »Uebermorgen.« »Das ist herrlich! Aber wird da der Sacher gerade auf den Vogelherd gehen?« »Und wenn er sonst nie ginge, den Neumond versäumt er nicht. Instruirt nur's Hannel gut, damit sich's nicht erwischen läßt! Und noch eins, das ich bald vergessen hätte -- wenn sie hingeht, muß sie stracks nach dem Herd gehen, darf nicht davor stehen bleiben, sich nicht umsehen und keinen Laut von sich geben, bis sie bei den Beeren ist, und wenn sie die hat, muß sie, ohne sich umzusehen, wieder fortgehen. Das schärft ihr ja recht ein!« In der Erwartung des Neumonds und des damit verknüpften Hexenstückleins schlichen dem Gimpelkönig die Stunden langsam dahin. Er hatte jetzt für nichts mehr Sinn als für den Köderraub, selbst der Steiermärker trat etwas in den Hintergrund, doch vergaß er ihn nicht ganz, und als am Vorabend des verhängnißvollen Tages ein Brief von Leipzig an ihn kam, worin ein Unbekannter anfragte, ob es wahr sei, was man von dem wunderbaren Gimpel spräche, der zwei Melodieen mit unerhörter Virtuosität sänge, und ob dem Herrn Unger -- denn sonst könne doch Niemand im Besitz eines solchen Wunders sein -- das Thier feil wäre -- als Meister Unger diesen Brief gelesen, behauptete der Steiermärker den gleichen Platz mit dem morgenden Abenteuer. Er konnte unmöglich schlafen -- als Lobel in der Nähe die zehnte Stunde abrief, schlich er sich hinaus zu ihm und bat ihn, nach dem Abrufen zu ihm zu kommen und ein Gläschen »Eibenstöcker« mit ihm zu trinken, denn als Krämer führte er selbst seinen Magentrost im Laden. Lobel ließ nicht vergebens auf sich warten. Was die Beiden da mit einander ausgemacht haben, weiß ich nicht; aber am folgenden Morgen erschien der Wächter sehr früh bei Heinrich, lachte im ganzen Gesichte und sagte: »Heinrich, das Eisen ist warm -- nun schmiede zu! Heute oder nie wird die Komödie aus.« 5. Nie war der Gimpelkönig seinen Angehörigen milder erschienen, als am heutigen Tage. Nicht ein einzigesmal ließ er sich als Topfgucker betreffen, nicht ein einzigesmal keifte er um ein Nichts. Der wackern Hausfrau widerfuhr das Unglück, daß »der Götzen« in der Röhre anbrannte -- wenn es nun nichts setzt, dachte sie, so geht ein Wunder vor! Aber der gestrenge Hausherr verlor kein Wort darum, er setzte sich zu Tische und verschlang seinen Götzen sammt der verbrannten Rinde in schweigsamer Hast. Das frohe Staunen der Frau und Kinder war groß. Eben so groß, aber minder froh war Hannchens Staunen, als nach dem Essen der Alte sie ersuchte, sich fertig zu machen, daß sie mit ihm auf den Vogelherd gehen könne. Was sollte sie auf dem Vogelherd? Sollte sie an einem Geschäft sich betheiligen, das ihr Heinrich sie als ein Unrecht verabscheuen gelehrt? Sie machte Ausflüchte, aber umsonst; sie mußte sich entschließen, und ihre Mutter, von Lobel gestimmt, forderte sie selbst auf, diesmal dem Vater zu willfahren. »Nimm Dein Handkörbchen mit!« befahl er beim Fortgehen, und dem nachkommend, trat sie an seiner Seite den Gang an. Aber statt nach dem Gemeindeholz, wo der väterliche Vogelherd stand, ging es nach dem Hammerwalde. »Dort ist ja nicht Dein Vogelherd!« sagte sie stehen bleibend. »Komm nur!« erwiederte er, »wir machen einen Umweg; dort giebt's viel Beeren, die mir fehlen, die wollen wir mitnehmen.« Und sie schritten weiter. »Hannel!« sagte er bald darauf im sanftesten Tone, dessen er den Seinen gegenüber nur fähig war, »Hannel, Du mußt mir einen Gefallen thun -- wer weiß, ob ich Dir nicht auch einen thun kann.« Hannchen, die einer solchen Sprache aus dem Munde ihres Erzeugers gar nicht mehr gewohnt war, fühlte sich ganz gerührt dadurch und sagte: »Ich bin Dir ja immer folgsam gewesen -- nur wegen des Kunz-Karl-Fried war mir's unmöglich, Dir zu gehorchen -- ach, Vater! dringe mir doch diesen Menschen nicht weiter auf! ich will auch Alles thun, was Du nur willst.« »Gut, Du sollst Deinen Willen haben, wenn Du den Kunz nun einmal nicht leiden kannst -- aber laß mich nun auch meinen Willen haben.« »Nun?« fragte Hannchen mit erleichtertem Herzen. »Geh -- hm -- je nun -- Du sollst mit Deinem Körbchen hinübergehen nach des Sacher Heinrichs Vogelherd -- siehst Du, dort in der Telle liegt er -- Dort wirst Du viel Lockbeeren finden -- davon sollst Du mir ein Körbchen voll holen.« »Die Beeren sind aber ja nicht unser.« »Das weiß ich wohl -- sie sind dem Sacher -- aber ich muß die Beeren haben -- wenn Du mir sie nicht holst, so nehm' ich mein Wort zurück und Du mußt den Kunz-Karl-Fried doch heirathen!« Hannchen schrak zusammen. Sie hatte als einfaches gebirgisches Landmädchen keinen rechten Begriff von der Ausdehnung der väterlichen Gewalt, daher zitterte sie bei dem Gedanken, daß ihr Vater sie wohl am Ende ebenso gut zu einer Heirath mit dem ihr verhaßten Bewerber zwingen, als er seine Einwilligung zur Verbindung mit dem Geliebten verweigern konnte. In der Angst ihres Herzens gehorchte sie ohne Weiteres. Ihr Vater versicherte, daß sie nicht zu fürchten brauche, erwischt zu werden, da der Eigner des Herdes erst vor einer Stunde heimgegangen sei, schärfte ihr noch Rußbuttenlobels Anweisungen ein und entließ sie mit den Worten: »Ich verberge mich hier im Gebüsch und erwarte Dich.« Die Entfernung des Sacherschen Vogelherdes von besagtem Gebüsch betrug nur zehn Minuten; in spätestens einer halben Stunde mußte Hannchen mit dem Raube zurück sein. Allein es vergingen Dreiviertelstunden und die Abgesandte ließ sich nicht wiedersehen. Der Alte harrte in fieberhafter Aufregung -- an dem glücklichen Erfolge des Unternehmens hing sein Ruf, seine Ruhe, das Glück seiner Tage, wie er wähnte. Von Minute zu Minute steigerte sich diese Erregung. Er trat von Zeit zu Zeit aus seinem Versteck und spähete nach der Gegend des Vogelherdes hinüber -- aber Hannchen zeigte sich nicht. Endlich übermannte ihn die Unruhe seines Herzens -- es litt ihn nicht mehr auf dem Platze -- er mußte sehen, was aus dem Mädchen geworden. Er zog sich in dem Gebüsche, das den Hammerwald säumte, langsam und vorsichtig nach dem Vogelherde hin. Jeden Augenblick, wenn ein Vogel im Gebüsch sich regte, glaubte er, die Tochter käme, aber er fand sich allemal getäuscht. So gelangte er in die Nähe des Herdes. Keine Spur von einem Menschen rings zu sehen. Er kroch auf allen Vieren nah an die Einfriedigung -- es war so still hier wie auf dem Friedhofe. Nur dann und wann drang das Pfeifen eines Lockvogels aus der Reisighütte des Vogelherdes. Sollte Hannchen etwa da drinnen und eingeschlafen sein? Er schlich sich hinan -- es war, als vernähme er ein Flüstern und Murmeln -- er bog einige Zweige zurück, um ein Guckloch zu erhalten -- Himmel! welch ein Schauspiel öffnete sich da seinen Blicken! Da saß sie, die Pflichtvergessene, in den Armen ihres Buhlen; vor ihr stand das Körbchen, halb gefüllt mit Beertrauben, während eine Menge dergleichen auf Heinrichs Schooß lag. Andere hielt er in seiner Linken -- aber was that er damit? Er zählte die Beeren daran -- »fünfundzwanzig,« schloß er halblaut -- »also weiter, mein Kind! fünfundzwanzig Küsse als Lösegeld!« -- Und die Gefangene? Da hält sie das Mäulchen hin und zahlt, zahlt so prompt, wie es nur auf der Wechselbank geschehen kann. Fünfundzwanzig baare Küsse zählt der erstaunte Vater, dann sieht er, wie die Zahlerin die Traube lächelnd nimmt und sie in das Körbchen wirft -- mithin hat sie alle Trauben, die darin liegen, mit solcher Münze ausgelöst! Und weiter muß er sehen, wie Heinrich schon wieder eine andere Traube ergriffen hat und daran zählt -- also soll es so fortgehen, bis alle Beeren ins Körbchen gewandert sind? Welch Vaterauge könnte das mit ansehen? »Was ist das?« ruft Meister Unger in die Scene hinein und steht einen Augenblick später zürnend vor dem auseinandergeprallten Paare. Wehe! welch' ein Wetter wird nun über die Erschrockenen hereinbrechen? -- Doch horch! welch ein Tönen dringt an das Ohr des Ergrimmten und schmeichelt sich weich und lieblich in seine innerste Seele hinein? »Kommt a Vogerl g'flogen«, singt der Steiermärker zur Seite seines Herrn -- wie bezaubert steht der Gimpelkönig da, und lauscht und lauscht, vergißt Vaterzorn und Kindesungehorsam und hat nur Augen und Ohren für den kleinen Sänger. Und wie dem ersten Stücklein gar das andere folgt: »Hörst du nicht die Vöglein singen Abends von der Donau her, Wie sie dir die Botschaft bringen Daß mein Herz nicht läßt von dir!« da wird er so gerührt, so von Entzücken hingerissen, daß es ein Blinder wahrnehmen möchte, geschweige denn die scharfsichtige Liebe. Kaum hatte der Steiermärker ausgesungen, so ergriff Heinrich den Käfig und reichte ihn dem Lauschenden mit den Worten: »Nehmen Sie den Vogel, Meister Unger; er war längst für Sie bestimmt und alle meine Vögel sollen Sie haben -- seien Sie nur wieder gut mit mir!« Und Hannchen warf sich an die Vaterbrust und bat mit für den Geliebten und für sich selbst: »Du siehst, ich that Deinen Willen, aber ich wurde ertappt, und da ich Dir für mein Leben gern die Beeren verschaffen wollte, an denen Dir so viel gelegen schien, so unterwarf ich mich der Bedingung, unter welcher ich sie allein retten konnte: ich löste sie aus.« »Und das ist Dir gewiß nicht sauer geworden, Du Taubenschnabel!« fiel ihr der Alte ins Wort. Dann wendete er sich an Heinrich: »Er will mir den Steiermärker wirklich lassen?« fragte er. »Den Steiermärker sammt meinem ganzen Reichthum an Gimpeln.« »Und was will Er dafür haben?« »Für Geld sind mir die Vögel nicht feil -- schenken Sie mir Ihre Freundschaft!« Das war für den Gimpelkönig zu viel. Er fühlte, wie schwer er den jungen Mann gekränkt hatte -- und doch schenkte derselbe ihm jetzt den unschätzbaren Steiermärker -- solche Großmuth hätte einen Botokuden rühren müssen -- er richtete sich in die Höhe und sagte: »Von einem fremden Menschen kann ich kein Geschenk nehmen, Meister Sacher.« »O so lassen Sie das Fremdsein zwischen uns aufhören -- machen Sie mich zu einem Gliede Ihrer Familie -- zu Ihrem Sohne!« Hannchen umschlang mit dem Bittenden zugleich den mit seinem Ausspruch Zögernden -- da trat das bis jetzt versteckt gebliebene Rußbuttenlobel leise hinter ihn, intonirte, und der Steiermärker sang: »Hörst Du nicht die Vöglein singen.« Da war von einem längern Widerstande gegen die Bitten der Liebenden keine Rede. »Wenn Ihr denn durchaus nicht voneinander lassen könnt, so habt Euch in Gottes Namen!« sprach der Alte, drängte die Glücklichen von sich weg und schloß dafür den Vogelbauer mit dem Steiermärker in seine Arme. »Wann soll ich Euch denn die andern dreißig Vögel bringen, Meister Unger?« fragte Rußbuttenlobel vortretend. »Ihr auch da, Lobel?« rief der Gefragte. »Ja,« sagte Lobel; »ich hatte Lunten, daß hier 'was Polizeiwidriges im Werke wäre, und da gehörte ich auf den Plan. Ich bin nur froh, daß Alles so abgelaufen ist, denn es ist ein traurig Amt, der Gerechtigkeit in die Hände zu arbeiten, viel lieber schanz' ich der Geistlichkeit 'was zu.« Den andern Tag erfuhr ganz Wellersgrün und auch die Neuhahner Mühle durch die getreue Dorfpost die unerwartete Kunde von der Aussöhnung der Meister Gottfried und Heinrich und des Letzteren Verlobung mit Hannchen. Der Verlobung folgte bald die Hochzeit, und als Heinrich im Besitze seines Schatzes war, ließ er nicht nur seinen Vogelherd wieder eingehen, sondern bekämpfte auch aufs Neue, jedoch mit mehr Behutsamkeit und Mäßigung, als jenen Sonntag, die Leidenschaft seiner Heimathgenossen für den Vogelfang. Der Schwiegervater wurde leichter, als sich erwarten ließ, durch die Großvaterfreuden bekehrt, und wenn ihm auch der Steiermärker, so lange er lebte, schon als Vermittler dieser Freuden lieb und werth blieb, so war sein Vogelherd doch bei der Taufe seines fünften Enkels bereits verfallen, und es kam ihm fast wie eine alte Sage vor, daß es einst in Wellersgrün einen Gimpelkönig gegeben und daß dieser Niemand anders gewesen als er selbst. Weitere Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Wiederholte Anführungszeichen in Folgeabsätzen bei gleichem Sprecher wurden entfernt. Korrekturen: S. 50: Pohlwassers → Pöhlwassers einem wasserreichen Nebenbach des {Pöhlwassers} End of the Project Gutenberg EBook of Erzgebirgische Geschichten. Erster Band, by August Peters *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ERZGEBIRGISCHE GESCHICHTEN. *** ***** This file should be named 56045-0.txt or 56045-0.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/6/0/4/56045/ Produced by The Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This transcription was produced from images generously made available by Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State Library.) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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50529-0
The Project Gutenberg EBook of Der sächsische Prinzenraub nach älteren und neueren Quellen, by Anonymous This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Der sächsische Prinzenraub nach älteren und neueren Quellen nebst einer Beschreibung des zu dessen Erinnerung errichteten Denkmals und des zu seinem Schutz erbauten Köhlerhauses am Fürstenberge bei Grünhain Author: Anonymous Release Date: November 22, 2015 [EBook #50529] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SÄCHSISCHE PRINZENRAUB *** Produced by The Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by SLUB: Sächsische Landesbibliothek - Staats - und Universitätsbibliothek Dresden at http://www.slub-dresden.de ) Anmerkungen zur Transkription Das gedruckte Buch ist in Frakturschrift gesetzt. Im Original gesperrter Text ist +so ausgezeichnet+. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so ausgezeichnet~. Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches. Der sächsische PRINZENRAUB nach älteren und neueren Quellen nebst einer Beschreibung DES ZU DESSEN ERINNERUNG errichteten Denkmals _und des zu seinem Schutze erbauten_ Köhlerhauses am Fürstenberge bei Grünhain. Motto: _Wer seinem Fürstenhaus mit wahrer Treue zugethan, Der ist, -- sei er ein schlichter Köhler auch, -- doch stets ein edler, braver Mann._ Mit 3 Abbildungen. Annaberg, 1840. In Commission bei Rudolph & Dieterici. Inhaltsverzeichniß. I. Der +Prinzenraub+. S. 1. II. Das +Denkmal+ am Fürstenberge. (Nebst Abbild.) " 59. III. Das +Köhlerhaus+ dazu. (Nebst Abbildung.) " 68. I. Der Prinzenraub. +Friedrich der Streitbare+, welcher den 5. Januar 1428 starb, hinterließ vier Söhne. Namens: +Sigismund+, +Heinrich+, +Friedrich d. Sanftmüthige+ und +Wilhelm+ III., die das vom Vater geerbte sächs. meißnische Land gemeinschaftlich verwalteten. Nachdem aber +Sigismund+ den geistlichen Stand erwählte, Bischof zu Würzburg wurde; +Heinrich+ 1436 und ihr Vetter, Landgraf +Friedrich v. Thüringen+, der +Friedfertige+ genannt, 1440 ohne Erben starb, und Thüringen daher an Meißen kam, unternahmen +Friedrich+ und +Wilhelm+ den 10. Septbr. eine Theilung, so daß +Wilhelm+, Thüringen und die Hälfte des +Osterlandes+, +Friedrich+, die +Markgrafschaft+ nebst den zur +Kurwürde gehörigen Ländern+ allein, Freiberg aber und die Bergwerke gemeinschaftlich, durch das Loos erhielten. Allein +Wilhelm+ III. auf Anstiften seiner vertrauten Räthe: +Busse+ zu +Dornburg+, +Bernhardt von Kochberg+ zu +Wachsenburg+, +Friedrich von Witzleben+ zum +Wendelsteine+, +Busse+, +Apel+ und +Bernhardt v. Vitzthum+ zu +Roßla+ und +Thanrode+, war mit der Theilung nicht zufrieden. Ein Vergleich, welchen +Friedrich+ mit ihm im Kloster +Neumark+ bei Halle den 10. Decbr. 1445 abschloß (der +Hallische Machtspruch+ genannt) beruhigte ihn noch nicht und +Friedrichs+ Verlangen seine feindseligen Räthe zu entlassen, ließ er nicht allein unerfüllt, sondern unternahm auch einen Streifzug gegen Roßla, einer Vitzthumischen Besitzung und verursachte so den sogenannten +sächsischen Bruderkrieg+. Dieser Krieg hatte die traurigsten Folgen, namentlich die Verwüstung des thüringschen Landes, welche +Apel von Vitzthum+ verübte, weil er vom Herzoge +Wilhelm+ III. verabschiedet und einiger Güter beraubt worden war; dann den +sächsischen Prinzenraub+, dessen Geschichte diese wenigen Blätter füllen soll. +Kunz von Kauffungen+, kurfürstlicher Schloßhauptmann und Regimentsoberster hatte in den Diensten des Kurfürsten, +Friedrich d. Sanftmüthigen+, in dem Streite zwischen seinem Bruder +Wilhelm+ III. mit gefochten. Er war einer der tapfersten Ritter seiner Zeit, was er schon im Hussitenkriege, vorzüglich durch seinen unerschrockenen Muth bewiesen hatte.[1] -- Nun traf es sich aber, daß er, als er zum Entsatze der Stadt +Gera+ eilen wollte, mit seinen Genossen gefangen genommen wurde und nicht anders als gegen ein Lösegeld von 4000 Goldgülden, wieder freigegeben werden sollte. Kunz forderte diese Summe vom Kurfürsten zurück und um so eher als dieser auch für andere Ritter, wie für +Niklas von Pflugk+,[2] die seine Lehnsleute waren, Lösegeld bezahlt hatte. Der Kurfürst, da Kunz v. Kauffungen blos ein Söldner war, weigerte sich, ihm diese Summe zu ersetzen. Hierzu kam: Kunzs Besitzungen in Thüringen waren im Laufe des Bruderkrieges verwüstet, und der Kurfürst hatte ihm dafür einstweilen einige Güter +Apel v. Vitzthums+ wie +Schwickershain+ (-- das heutige Schweickershain --), +Kriebenstein+, +Ehrenburg+ u. Andere zur Entschädigung angewiesen, doch mit der Bedingung, nach dem Kriege sie wieder auszutauschen. +Kunz+ stellte dagegen zu +Meißen+ am Sonnabend in der Osterwoche 1449 eine handschriftliche Versicherung aus: Den Augenblick solche wieder ihrem rechtmäßigen Besitzer zu überlassen, sobald ihm der Kurfürst zu den seinigen Besitzungen verholfen haben würde.[3] -- Nachdem nun den 27. Jan. 1451 zu Kloster +Pforte+ die Zwistigkeiten der beiden Brüder wieder ausgeglichen waren und im Friedensvertrage ein Artikel so lautete, daß alles wie vorher bleiben sollte, jeder das Gewonnene herausgebe, erhielt +Kunz von Kauffungen+ +seine+ Besitzungen in Thüringen wieder, indem er nun auch die Vitzthumschen Besitzungen wieder herausgeben sollte. Allein zu diesem wollte er sich durchaus nicht verstehen; vorzüglich da er +Schwickershain+ ganz ausgebaut und bewohnbar gemacht hatte, auch für seine geleisteten Dienste Belohnung und Ersatz des Lösegeldes unbedingt zu verlangen glaubte. +Friedrich der Sanftmüthige+ erinnerte sich sowohl der treuen Dienste, die Kunz ihm geleistet hatte, doch konnte er sich zu einer solchen Forderung nicht verstehen, die dem mit seinem Bruder geschlossenen Frieden geradezu entgegen war, zumal auch Kunz, wie bereits oben erwähnt wurde, handschriftlich Verzicht geleistet hatte. Allein alle Vorstellungen, die ihm der Kurfürst deshalb machte, um ihn mit Güte zur Ruhe zu bringen, konnten +Kunzen+ zur Rückgabe der Güter nicht bewegen. +Apel von Vitzthum+, wie schon oben gesagt worden ist, war mit dem Herzoge +Wilhelm+ III. ebenfalls in Feindschaft gerathen, weil seine boshaften Anschläge gegen den Kurfürst +Friedrich+ durch den Frieden zu Nichte gemacht worden waren. Außer der Gnade seines Herrn verlor er auch seine schönen Schlösser.[4] Er suchte nun seinen Herzog auf alle mögliche Art zu necken, so daß Herzog +Wilhelm+ mit Hilfe der +Erfurter+, +Mühlhäuser+ und +Nordhäuser+ gegen +v. Vitzthum+ zu Felde zog, schleifte das Schloß +Gleißberg+, das sich, von Vitzthum nach dem Bruderkriege nur erst wieder aufgebaut hatte, erklärte ihn und seine Brüder als +Landesverräther+. Vitzthum flüchtete nun nach Böhmen; suchte dort Anhang zu gewinnen, sowohl gegen den Herzog +Wilhelm+ III., als auch gegen den Kurfürst +Friedrich+. Gegen letzteren war er deswegen erbittert, indem er einst so nachdrücklich auf seine Entfernung von Herzog +Wilhelms+ Hofe gedrungen hatte.[5] -- An diesem glaubte +Kunz von Kauffungen+ seinen Mann zu finden, der mit ihm gemeinschaftliche Sache machen würde. Kunz trat deshalb mit ihm in Briefwechsel; nichts war Vitzthumen willkommner. Sogar trat Vitzthum seine +Ansprüche auf seine meißnischen Güter ihm+ ab, um Kunzens Forderungen mehr Nachdruck zu geben. -- Kunz drang nun heftiger auf die Anerkennung seiner Besitznahme der Vitzthumschen Güter, die ihm der Kurfürst aber, Kraft der schriftlichen Versicherung, die er von ihm in den Händen hatte, standhaft verweigerte, und ihn deshalb förmlich vor Gericht belangte, Friedrich setzte nämlich deshalb +auf den Donnerstag nach Galle 1454 auf dem Schlosse zu Altenburg, einen Termin fest+, bei welchem +George von Haugewitz+, Dechant zu Meißen, der Kanzler +George von Bibenberg+ und die Ritter +Hans von Schleinitz+ und +Hans von Miltitz+ die ganze Sache nochmals untersuchten und dahin beschieden. Der Kurfürst sollte seine Forderungen an Kunzen und Kunz die seinigen an den Kurfürsten aufsetzen. Der Münzmeister zu Freiberg +Nikol Monhaupt+, der zugleich Statthalter und Landshauptmann der Provinz war, sollte dann beide Forderungen der kurfürstlichen Kanzlei übergeben, und was diese endlich entscheiden würde, dabei möchten beide Theile sich beruhigen. Doch Kunz wollte sich dabei nicht beruhigen und blieb daher bei seinem Entschlusse, und so sollte auf Befehl des Kurfürsten ein Rechtsgutachten bei den Leipziger, Magdeburger und Freibergischen Rechtsgelehrten eingeholt werden. Zur damaligen Zeit etwas Unerhörtes; viele von des Ritters von Kauffungs Anhang, betrachteten daher solches als eine Kränkung[6], die deshalb einen Fehdebrief an den Kurfürsten schickten. Kunz, welcher den Ausgang dieses Rechtsschrittes nicht zu seinen Gunsten auslegte, wollte sich nun durch Selbsthilfe seine Forderungen verschaffen, kaufte durch Vermittelung +Apels von Vitzthums+, das Schloß +Isenburg+ oder +Eisenberg+ unweit Brix[7] in Böhmen, nicht weit von der sächsischen Grenze, um es zu dem nachherigen Prinzenraube zu benutzen. Rache an dem Kurfürsten zu nehmen war nun +Kunzens+ und +Apels+ einziger Gedanke. -- Theils durch Verpfändung, theils durch Gewalt und friedliche Verträge, waren verschiedene böhmische Städte an die Markgrafen von Meißen gekommen. Je mächtiger nun die Markgrafen von Meißen dadurch wurden, desto scheeler sahen dazu die Könige v. Böhmen und forderten, den deshalb geschlossenen Verträgen ohngeachtet zu verschiedenen Malen alles wieder zurück. +Kunz v. Kauffungen+ und +Apel v. Vitzthum+ hatten daher nichts eiligeres zu thuen, als den damaligen König +Ladislaus+ gegen den Kurfürsten zu erbittern, so daß +Ladislaus+ 1453 eine Forderung von 64 Städten an den Kurfürst schickte. Natürlich wurde diese als ungegründet abgewiesen. +Ladislaus+ brach jedoch aus Böhmen in Sachsen ein und überfiel das Städtchen +Pirna+; doch wurde er sehr bald wieder zurückgeschlagen, so daß ihm ein dergleichen Ausfall nicht wieder gelüstete. Indeß hatte sich doch +Kunz+ und +Apel+ an den Kurfürsten gerächt. Sie hatten auch dadurch den König von Böhmen auf ihre Seite, und Kunz würde seine Forderungen vielleicht +nie+ so weit getrieben haben, wenn er in Böhmen nicht einen so mächtigen Rückenhalt gewußt hätte. -- Als nun der Ausspruch der Leipziger, Magdeburger und Freibergischen[8] Rechtsgelehrten ankam, der darauf drang: daß Kunz die Vitzthumschen Güter herausgeben sollte, wurde der Rechtsspruch Kunzen bekannt gemacht, allein Kunz wollte ihn durchaus nicht gelten lassen. Endlich beschied man ihn den +Dienstag nach dem Johannistage des Abends auf das Schloß Altenburg+, um Mittewochs darauf, den 25. Juni (7. Juli)[9] 1455 den letzten Termin mit ihm abzuhalten. Kunz kam, aber um die Güte zu pflegen nicht, sondern, nachdem er sich die Höhe des Schlosses und vorzüglich das Schlafgemach noch einmal[10] ordentlich besehen hatte, ritt er ohne Abschied vom Kurfürsten zu nehmen fort, in Gedanken, wie er dem Kurfürsten auch selbst gesagt hatte: +Er wolle sich für seinen Schaden nicht an Land und Leuten, sondern an des Kurfürsten eignem Fleisch und Blut rächen und erholen+, worauf der Kurfürst erwiedert haben soll: +Mein Kunz siehe zu, daß Du mir die Fische in den Teichen nicht verbrennest.+[11] +Kunz von Kauffungen+ ritt nun sofort auf sein Schloß +Isenburg+, (welches er befestigt hatte lassen,) um sich mit +Apel von Vitzthum+ über die Ausführbarkeit eines Prinzenraubes zu besprechen. +Friedrich der Sanftmüthige+ mit +Margaretha von Oesterreich+ vermählt, hatte zu dieser Zeit zwei Söhne +Ernst+ und +Albert+. Ersterer geboren den 25. März 1441, Letzterer aber den 27. Juli 1443.[12] -- Sein ältester Sohn +Friedrich+ war schon 1421 und sein jüngster Sohn +Alexander+ 1446 gestorben. -- Er residirte auf dem Schlosse +Altenburg+, welches ein hohes, schönes Felsenschloß, unweit der Stadt +Altenburg+, ist. Auf +Ernst+ und +Albert+ hatte Kunz sein Augenmerk gerichtet. Dieses theuere Kleinod der kurfürstlichen Familien meinte er, als er zum Kurfürsten gesagt hatte: +an des Kurfürsten eignem Fleisch und Blut wollte er sich rächen+. Entführen wollte er sie und auf seinem Schlosse +Isenburg+ so lange fest halten, bis der Kurfürst seine Forderungen genügen würde. Zu diesem gewagten Unternehmen brauchte er natürlich mehrere um es auszuführen. Diese fanden sich denn auch bald, denn schon lange vorher war er von Burg zu Burg geritten, Mithelfer zu seinem Unternehmen zu finden und fand auch durch seine gewandten Reden Theilnehmer für sich und Haß gegen den Kurfürsten zu erwecken. Nur fehlte es ihm nur noch an einem Kundschafter am kurfürstlichen Hofe, der ihm Nachricht ertheilen könnte, wenn der Raub am sichersten auszuführen wäre. Da lernte er denn in Böhmen einen böhmischen Küchenjungen kennen, Namens: +Hans Schwalbe+. Ein verschmizter Bube. Dieser, glaubte Kunz, würde in seine Plane eingehen, entdeckte ihm alles und schickte denselben mit Empfehlungsschreiben an seine guten Freunde am altenburger Hofe, wo man ihn auch sogleich als Küchenjunge, ohne Verdacht zu hegen, anstellte. Bald fand sich Gelegenheit, daß +Schwalbe+ Kunzen treue Dienste leisten konnte. Folgenden Brief, wie er sich in den +Wittenberger Originalacten+ befindet, schrieb Schwalbe an Kunzen:[13] »+Mein willigen Dienst sampt alles lybs und gutes tzuvor.+ »+Ehebarer strenger lyber Junker!+ »+Als der Kurfürst vestiglich beschlossen hat vf morgen Sundages nach der frumeß gein Lyptgk tzu wegfarten mitt den meresten Hofelüten, och Muntag vfe Abendt der Cantzler yn engelebete in synen Huse vsrichdten wirdet, samer mögen deheby mannichveltige Höfelinge wesen, vndt vffs Schloß pflege daczumalen allye der oldte Eßmus Drabandten Dynst, wellicher ast yngeschleffert wagk werden, der Pforthyner ist lagerigkrank, kan ich Uch nicht pregin, gelubener truwe Uch selbir gegewertiglich tzu dynen vndt Uwer Anstaltungk gewartin. Datum Aldenburg, am Samstag nach Vnser Frawentage. A. lv.+ +Hans Schwalbe.+« »+Dem Ehrbaren strengen Jungker Cunradt von Kawfungen vf Kalenberg. Meinen gynstiglichen lyben Jungker tzutzustellen tzu ainegen Handen.+« --[14] Dieser Brief war 9 Tage nach dem Termine, den Kunz mit dem Kurfürsten in Altenburg gehabt hatte, geschrieben. Eine bessere Gelegenheit zur Ausführung seiner Plane konnte wohl nicht kommen und Kunz hatte nichts eiligeres zu thun, als solches seinen Verschworenen zu benachrichtigen. Die Strickleitern[15], die zu diesem Behufe nöthig waren, wurden nicht weit von +Kahlenberg+ oder +Callenberg+, (bei Waldenburg, gehörte seinem Bruder +Dietrich+) in einer Scheune, die ebenfalls seinem Bruder +Dietrich von Kauffungen+ gehörte, gefertiget. -- +Kunz+ selbst hielt sich[16] zu der Zeit im Geheimen auf dem Schlosse +Kohren+ auf +und ging von hier aus des Nachts vor Altenburg+[17], wo er den Prinzenraub vollführte. Das Schloß +Kohren+ gehörte damals der Familie +von Meckau+. Geschichtlich merkwürdig ist noch, daß die Kurfürstin +Margaretha+ die Nacht vorher, ehe ihr Gemahl nach Leipzig reiste, folgenden Traum hatte: Sie sah ein großes Schwein in einem schönen Garten alles umwülen und besonders neben den Reben die schöne junge Raute. Endlich stürzte ein Bär darauf los und jagt das Schwein mit seiner Tatze fort. Die Kurfürstin erzählte diesen Traum, der ihr auf eine entsetzliche Art die ganze Nacht ängstigte, sogleich ihrem Gemahl, der jedoch, weil er Träumen nicht glaubte, seine Reise deswegen nicht aufschob und mit großem Gefolge den 7. Juli (d. 19. Juli) nach +Leipzig+ reiste. So war denn Niemand zur Aufsicht der Prinzen da, als ihr Hofmeister, +Graf von Barby+. Der 8. Juli (20. Juli) war von +Kunz von Kauffungen+ dazu bestimmt den Prinzenraub auszuführen. Die Hauptverschwornen waren mit ihren Knechten folgende:[18] +Kunz von Kauffungen+, sein Reißiger: +Johann Schweinitz+, sein Knecht: +Albrecht Adolph+; +Wilhelm von Schönfels+, sein Knecht: +Geveller+; +Hans Wilhelm von Mosen+, sein Knecht: +Hensel Herdin+; +Hans von Rußwurm+; +Dietrich von Kauffungen+; +Nikol vom Forst+; +Bernhardt von Trebin+; +Dix von Trebin+; +Barthol von Trebin+, beide letztere: Söhne von +Wenzel von Trebin+. Der ganze Zug bestand aus 37 Reitern, dessen Pferden die Hufeisen verkehrt aufgeschlagen worden waren, und 10 Fußknechte, welche also den 7. Juli (19. Juli) +Montags vor Kiliani+ 1455 +Nachts zwischen 11 und 12 Uhr+ aus einem dichten Walde bei Altenburg, die +Leine+ genannt, hervorbrachen. Nur +Johann Schweinitz+, Kunzens Reißiger, wurde vorausgeschickt, um mit Hilfe des Küchenjungen +Schwalbe+ die Strickleitern an einem hohen Fenster, neben der Küche zu befestigen. -- +Kunz+, bekannt im Schlosse, stieg zuerst hinauf, dann folgte +Wilhelm von Mosen+. Niemand störte dieselben, denn in dem Schlafgemache der Prinzen schlief niemand, als eine alte Kammerfrau und der Sohn des Hofmeisters des Prinzen, +Graf von Barby+. Kunz entführte den ältern Prinz +Ernst+ und +Wilhelm von Mosen+ sollte Prinz +Albrecht+ entführen, doch in der Eile fand eine Verwechselung statt, indem er den jungen +Graf Barby+, welcher in denselben Alter war als die Prinzen, entführte. +Kunz+, der den Irrthum erkannte, übergab +Wilhelm von Mosen+ den Prinz +Ernst+ mit dem Befehl immer fort zu reiten, indem er durch das Schloßthor, welches +Schwalbe+ vorher geöffnet hatte, den jungen +Graf Barby+ wieder zurückbrachte und dafür Prinz +Albrecht+, welcher aus Angst sich unter das Bette versteckt hatte, nahm. So wie Kunz diesen Prinzen über dem Schloßhofe brachte, öffnete die Kurfürstin das Fenster und rufte: »+Lieber Kunz, thue nicht so übel an mir und meinen lieben Herrn, verschone meine Kinder, es sollen alle Deine Sachen noch gut werden.+« Allein +Kunz+ achtete die Stimme einer liebenden Mutter nicht, sondern setzte den Prinzen +Albrecht+ auf ein Pferd, das er führte und sprengte, begleitet von seinem Reißiger +Johann Schweinitz+ und seinen Knecht +Albrecht Adolph+ mit verhängten Zügeln davon. Seinen Weg nahm er durch die +Leine+[19], wo er schon hergekommen war, und gelangte dann durch die +Rabensteiner+[20] und nachher die damals noch anstoßenden +Thalheimischen+ Waldungen und zwar in letzteren auf einem von Leukersdorf aus bis Elterlein führenden +Fußsteig+, wodurch weder die Stadt +Stollberg+, noch die Stadt +Zwönitz+ berührt wird. Dieser Fußsteig und jetzt +Holz-+ und +Kalkfuhrweg+ kommt auf der Höhe des +Glasberges+ bei +Elterlein+ über die +Grünhainer+ Straße[21] nicht weit von +Elterlein+ schon in die Gegend[22] des +Grünhainer Klosters+.[23] Dieser Weg war für sein Vorhaben der passendste, indem die Gegend um +Grünhain+ namentlich bei +Schwarzenberg+ und +Waschleute+ nichts als Wald war und durch den verheerenden Hussitenkrieg, der 1427 das Kloster zu Grünhain zerstörte,[24] ganz von Einwohnern entblößt sein mußte, indem bis 1455 die Volksmenge zur damaligen Zeit noch nicht so gewachsen sein konnte, wie es vielleicht in den jetzigen Zeiten geschehen dürfte. Auch war Kunz von einem Grünhainer Mönch unterrichtet[25], so daß er schnell aus der Gegend von +Waschleute+ nach Schwarzenberg kommen konnte, welches damals ein böhmisches Städtchen war[26], mithin durfte ihm Niemand mehr etwas anhaben, indem er den König von Böhmen auf seiner Seite hatte; und dann schaffte er die Prinzen auf sein Schloß +Isenburg+, und wollte sie so lange in Verwahrung behalten, bis er vom Kurfürsten die Versicherung erhalten hätte, die Vitzthumschen Güter rechtmäßig behalten zu können und vielleicht ein ansehnliches Lösegeld für ihn und seine Mitgenossen erhalten hätte. Allein seine Plane waren wohl gut ausgedacht, aber noch nicht vollführt. Denn der anstrengende Marsch, den er ohne auszuruhen zurückgelegt hatte, indem er von Mitternacht bis gegen Mittag geritten war, mußte vorzüglich den 12jährigen Prinzen bedeutend anstrengen und so kam es denn auch, daß der Prinz vor Hunger und Durst in der Gegend von Grünhain[27] Kunzen bat es zu erlauben vom Pferde abzusteigen und auszuruhen.[28] Da nun die Gegend durchaus nicht bewohnt war, so glaubte er ohne seine Sicherheit zu gefährten, es erlauben zu dürfen. -- Auf dem Schlosse zu +Altenburg+ war durch die Entführung der beiden Prinzen alles aufgeboten und dem große Belohnung versprochen worden, welcher zur Entdeckung des Prinzenraubes behilflich sein könnte. Der Kurfürst bekam auch sogleich einen Eilboten zugeschickt und ließ deshalb folgendes Schreiben und Aufforderung in alle Gegenden des Landes durch reitende Boten austheilen: »+Friedrich, Hertzog zu Sachsen, Churfürst! liebe getreuen, uns ist Cuntz und seine Helffers uff hind in unser Schloß Altenburgk gestiegen, und haben unser beyden Söhne, das Gott geklaget sey, weggebracht -- ist es versicherlich, Sie werden mit Ihnen aus unsere Landen nicht eylen, sondern sie etliche Tage uff den Wäldern und Höltzern enthalten, und sie zu Fuß fueder schicken. Begehren wir von Euch -- daß ihr mit reisiger Gezeug und Fuhren, so stark ihr immer werden möget, uff den Walden, Höltzern und sonst, wo ihr für das Beste erkennet, suchen und suchen lassen, und fleißiges Aufsehen haben, uff dieselben unsre Feinde und unsre Söhne, daß ihnen die wieder abgedrungen, und aus ihren Händen wieder zu uns bracht werden. In dem Euch so beweisen, als wir uns alles guten zu Euch versehen, das wollen wir in allen guten umb Euch erkennen. Geben Altenburg, ~tertia Kyliani Anno L. quinta~.+«[29] In allen Orten wurden die Glocken geläutet, und so wurde es denn bald in allen Gegenden des Landes verbreitet. In der erzgebirgischen Stadt +Geier+, 3 Stunden von +Grünhain+ zersprang die große Glocke.[30] -- +Kunz+, der durch das Stürmen wohl wußte, daß es ihm galt, glaubte dennoch sicher zu sein, da er bereits selbst bei +Waschleute+ glücklich vorbei geritten, also dem ersten Ziele ganz nahe, nur etwa ¾ Stunde noch von Schwarzenberg entfernt war, ließ also den jungen Prinz +Albrecht+ absteigen, um Waldbeere pflücken zu dürfen.[31] Auch Kunz stieg ab und suchte dem Prinzen +Albrecht+ Waldbeere, indem er sein Pferd am Zügel hielt. Indessen Kunz immer tiefer in dem Walde Waldbeere suchte, nährten sie sich einem Köhler, Namens +Georg Schmidt+, der mit seinem Hunde sein Mittagsbrod theilte. Dieser Köhler hatte früh seinen Lehrburschen, +Urban Schmidt+, seines Bruders Sohn, nach +Geier+[32] geschickt, um Lebensmittel zu holen, welcher denn daselbst gehört hatte, daß auf dem +Altenburger+ Schlosse ein großer Raub statt gefunden hätte. Köhler +Schmidt+, der nun in jenem Walde, wo damals blos eine Köhlerstraße hindurch führte, diesen Ritter erblickte, vermuthete deshalb, daß das der Räuber mit dem Raube wäre, er fragte ihn daher: »Woher und wohin mit diesem Knaben?« +Kunz+ entgegnete: »Ein böser Bube, der seinem Herrn entlaufen ist, den ich ihm wieder zuführen muß.« -- Doch in diesem Augenblicke verwickelte +Kunz+ sich mit seinen Sporen im dicken Dorngestrüppe und stürzte nieder. Schnell wollte er wieder aufspringen, allein sein Panzerhemde hinderte ihn dazu. Diese Gelegenheit benutzte der Prinz und raunte dem Köhler ins Ohr: »+Ich bin ein Fürst von Sachsen und bin gefangen, mache mich los, mein Vater soll dirs wohl vergelten!+« Dieses hörte Kunzens Reißiger, sein treuer +Schweinitz+,[33] erhob sein Schwerdt, und wollte den Prinzen, weil dadurch alles verrathen war, tödten. Allein der Köhler +Schmidt+ fing den Hieb durch seinen Schürbaum auf. Seinen Hund nun hetzte er sogleich auf Schweinitzen und er selbst lief zu Kunzen, der immer noch dalag und schlug ihn mit dem Schürbaum, daß er ihn todtgeschlagen hätte, wenn nicht Prinz +Albrecht+ für ihn gebeten hätte. Durch das Hundegebell und übrigen Lärm war des Köhlers Frau, geborne +Marie Wälderin+, herzugekommen. Als sie aber sah, daß ihr Mann sich mit Räubern herumschlug, gab sie das gewöhnliche Waldzeichen, was bei Gefahren alle Köhler zusammenruft.[34] Dadurch waren in einem kurzen Zeitraume viele Köhler versammelt,[35] so daß sich bald +Kunz+ mit seinem treuen Diener +Schweinitz+ gefangen geben mußte. Sein Knecht +Albrecht Adolph+ war entflohen, wurde jedoch noch eingeholt. Kunz, der sich nun für verloren sah, bot dem Köhler +Schmidt+, eine ansehnliche Belohnung, allein dem Köhler war Kunzens Gold nicht so lieb als seine eigne Person und er mußte sein Gefangner bleiben. Prinz +Albrechten+ führte er in seine nahe gelegene Köhlerhütte, stärkte ihn durch ein einfaches Mahl und gab ihm aus der Quelle, die jetzt durch das Denkmal eingefaßt ist, zu trinken. -- +Kunz von Kauffungen+ mit seinem Genossen führten sie aber zu ihrer Obrigkeit, in das ¾ Stunden davon entfernte +Cistercienser-Kloster Grünhain+, zum damaligen Abt +Liborius+,[36] noch an dem nämlichen Dienstage. Kunz, im Kloster angekommen, wurde in dem Gefängnisse daselbst festgehalten, was jetzt noch steht, und den Namen +Fuchsthurm+ führt. Es befindet sich mitten im Klostergarten, wird aber bald, weil es nicht im baulichen Stande erhalten wird, einer Ruine ähnlich sehen. Hier blieb Kunz nur einige Stunden,[37] indem er vom Abte +Liborius+ unter hinreichender Bedeckung, nach +Zwickau+ zum damaligen Amtshauptmann oder Voigt +Veit von Schönburg+, abgeliefert wurde.[38] Dieser +Veit von Schönburg+ erstattete wahrscheinlich schon am folgenden Tage, den 9. Juli, Bericht an den Kurfürsten, um sich Verhaltungsbefehle zu erbitten. Der Kurfürst ließ Kunzen nicht nach Altenburg bringen, sondern nach +Freiberg+, welches wahrscheinlich den 12. Juli geschah, wo er dem dortigen Rathe zu sicherer Verwahrung übergeben wurde. -- Prinz +Albrecht+ wurde aber in Begleitung des Köhlers +Schmidt+, nachdem er beim Abt +Liborius+ in der sogenannten +Schösserwohnung+[39] im Kloster zu +Grünhain+ übernachtet hatte, mit einer sicheren Bedeckung nach +Altenburg+ gebracht. Der Einzug ähnelte einem Triumphzuge in Altenburg. Eine große Anzahl Bewohner Altenburgs kam dem Zuge entgegen und begegneten dem Hauptanführer des Zugs, den Köhler +Georg Schmidt+, mit wahrer Achtung, so daß sie sich nicht scheuten zum Zeugen der Dankbarkeit seine schwarzen Hände zu küssen. Um nun auch das Schicksal des Prinzen +Ernst+ von seiner Entführung an zu wissen, müssen wir wieder aufs Schloß +Altenburg+ zurück gehen, wo +Kunz von Kauffungen+ den Prinzen Ernst seinen treusten Genossen +Wilhelm von Mosen+ und +Wilhelm von Schönfels+ übergab, um mit ihm immer die Flucht zu ergreifen, indem er selbst für den jungen Graf Barby, den jüngern Prinzen +Albrecht+ holte. Nach einer Verabredung mit +Mosen von Schönfels+ hatte es Kunz so bestimmt, daß sie mit +einem+ von den beiden Prinzen einen andern Weg einschlagen sollten und zwar gegen Franken zu nach Böhmen, wo sie ihn dann auf sein Schloß +Isenburg+ bringen sollten; damit, wenn im Fall die eine oder die andere Partei gefangen genommen werden sollte, die andere Partei ihren Raub nicht eher hergeben sollte, als bis Kunzens Forderungen erfüllt oder die Strafe für die Entführung der Prinzen erlassen wäre. Beides wurde durch einen gegenseitigen Schwur bekräftiget. Allein beide Ritter kamen mit ihrem Gefolge nicht weiter, als bis in die Gegend von Hartenstein, indem in allen Dörfern die Sturmglocke ertönte und die Unterthanen ebenfalls ihre Untersuchungen nicht allein auf den Fahrstraßen anstellten, sondern auch die Wälder durchsuchten. Vierzehn gesattelte Pferde und sechs Reiter waren ihnen schon abgenommen worden und die Gefahr sogleich ergriffen zu werden, zwang sie daher eine Höhle, die am rechten Ufer der Mulde liegt, nicht weit vom Schlosse +Stein+ der Burg +Eisenburg+[40] gegenüber zum Zufluchtsort zu nehmen[41]. Allein da sie durchaus keine Lebensmittel hatten, die dem jungen, zarten Fürstensohn behagen konnten, sie glauben mußten, daß er sterben könnte und ihr Aufenthaltsort immer unsicherer wurde, indem einer von ihren Knechten von einem Holzmacher gehört hatte: »+den einen Schelm+ (Kunz von Kauffungen) +haben sie erwischt und nach Grünhain gebracht, den andern Dieb werden sie schon noch bekommen und beide andere ihren verdienten Lohn erhalten+,« so fertigten sie den 11. Juli einen Boten an den Bruder des Amtshauptmanns Veit von Schönburg in Zwickau, an +Friedrich von Schönburg+ ab, welcher das Schloß Hartenstein besaß und dort residirte. Dem Boten gaben sie einen Brief mit, der folgenden Inhalt hatte:[42] »+Es reue sie, daß sie Kunz von Kauffungen zu Willen gewesen wären, ihrem lieben Kurfürsten und seinen Söhnen zu thun. Weil aber Herzog Friedrich ein sanftmüthiger Kurfürst sei, so hofften sie Gnade und thäten in diesem Vertrauen, dem Herrn von Schönburg zu wissen, daß sie den jungen Fürsten Ernst lebendig und gesund im sichren Gewahrsam hätten. Wolle er ihnen nur bei dem Kurfürsten Gnade und Befreiung von aller Strafe an Leben, Ehre, Gut auswirken und ihnen schriftlich dafür haften, so wollten sie den jungen Fürstensohn unverletzt wieder bringen. Käme man aber, sie zu fangen, so würden sie den Korfürstlichen Sun erstechen, sich bis aufs Aeußerste wehren; sich endlich selbst tödten und gewiß nicht ohne großes Blutvergießen in die Hände ihrer Feinde fallen. Die Antwort möchte ihnen der Amtshauptmann+ (Friedrich v. Schönburgs Bruder) +schriftlich geben+.« -- +Friedrich von Schönburg+[43] erkannte sogleich, nach Durchlesung dieses Briefes, die Gefahr in welcher der Prinz schwebte, und versprach ohne erst Genehmigung von seinem Bruder zu erholen schriftlich und bei seiner Ehre Verzeihung, wenn sie den Prinzen lebendig und unversehrt ausliefern würden. Hierauf eilte noch an demselben Tage v. +Mosen+ und +v. Schönfels+ mit dem Prinzen +Ernst+ auf das Schloß +Hartenstein+, wo der Herr +von Schönburg+ den Prinzen in Empfang nahm und die Ritter, seinem Versprechen gemäß, wieder frei erließ. +Prinz Ernst+ aus Freude, daß er gerettet war, schenkte +Wilhelm von Mosen+ und +Wilhelm von Schönfels+ jedem ein Roß[44] mit den Worten: »+Nun reitet hin und kommt in meines Vaters Land nicht wieder.+«[45] Denselben Tag, +Freitags den 11. Juli 1455+ wurde der Prinz +Ernst+ nach +Chemnitz+ gebracht, wo sich sein Vater, der Kurfürst, von +Leipzig+ und seine Mutter, die Kurfürstin, mit dem schon geretteten Prinz +Albrecht+ von +Altenburg+ begeben hatte. Der Kurfürst bestätigte mit Freuden des +Herrn von Schönburgs+ Verfahren, daß er +Mosen+ und +Schönfels+ begnadigt hatte.[46] Die guten Eltern an der Seite ihrer geretteten Söhne hatten nun nichts Nothwendigeres zu thun, als ihrem Gott für deren Errettung inbrünstig zu danken. Sie reisten daher, +den 15. Juli+, nach +Ebersdorf+[47] 1½ Stunde von Chemnitz, weil sich dort ein Marienbild befand, das im besonderen Ansehen stand, und zu welchem man häufige Wallfahrten anstellte. Nach vollbrachter Andacht ließen sie die Kleider der Prinzen,[48] die sie auf ihrer Flucht angehabt hatten, wie auch den Kittel des ehrlichen Kohlenbrenners der seine Andacht auch mit verrichtete, zum immerwährenden Andenken in der +Kirche+ zu +Ebersdorf+ aufbewahren.[49] -- Daneben hängt ein Täfelchen mit folgenden Reimen:[50] »Kunz von Kauffungen der viel wilde Mann In Meißner Land ist kommen an Wohl auf das Schloß jen Altenburg Sehr froh und kühn ohne alle Sorg Dem Fürsten allda seine Kind Entführet hat listig und geschwind Des Kleider noch hier hängen seht Ein jeder der fürüber geht Die dazumahl bald nach der That Der Vater hergehänget hat.« Der Zahn der Zeit hatte diese Andenken des Prinzenraubes nach und nach ziemlich zerfressen und und sie würden bald ganz eingegangen sein, wenn nicht Kurfürst +Christian+ II. 1607 aufs neue für ihre Fortdauer Sorge getragen hätte. Er befahl nämlich, sie in weißes Wachs einzutauchen und so vor die Verwesung etwas zu sichern. Allein es geschah nicht. Deswegen schickte er 1608 seinen Baumeister +Maria Nosseni+ nach +Ebersdorf+[51] der sie denn reinigen und durch Gummiwasser ziehen ließ. Die Kurfürstin stiftete außerdem noch auf alle +Dienstage+, +Marienfeste+ und den nächsten Tag +nach Kiliani+ in der Kirche zu +Ebersdorf+ Messen und Almosen für +zwei arme Leute+, besonders Köhler.[52] Nun waren also beide Prinzen befreit, doch +Kunz von Kauffungen+, welchen die beiden Ritter +Mosen+ u. +Schönfels+ in ihrem Begnadigungsschreiben an +Friedrich von Schönburg+ ausgeschlossen hatten, ohne dem heiligen Schwur eingedenk zu sein, welchen sie gegenseitig geleistet hatten, war, wie oben schon gesagt worden ist, nach +Freiberg+ gebracht worden. Hier saß nun Kunz glaubend, daß die andere Partei mit dem älteren Prinz +Ernst+ auf sein Schloß +Isenburg+ in Böhmen wohlbehalten angekommen wäre und ihrem Versprechen eingedenk sein würde. Allein als er die Glocken in Freiberg läuten hörte und nach der Ursache frug und vernahm, daß es aus Dankbarkeit für die glückliche Errettung beider Prinzen geschehe, entfuhren ihm die Worte: »+Das walt der Teufel, das gilt mir mein Leben.+«[53] Daraus war natürlich zu schließen, daß er befürchtete, sein Leben einbüßen zu müssen. Darum wandt er nun alles an, um durch seine vornehmen Freunde, Begnadigung zu erhalten, besonders durch den Marschall +Hildebrand von Einsiedel+ und die Ritter +Niklas von Schönberg+ und +Hugold von Schleinitz+, die am kurfürstlichen Hofe sehr bedeutende Stimmen hatten, doch wie man aus folgendem sehen wird, war es zu spät. Mehrere Schriftsteller behaupten auch Kurfürst +Friedrich+ hätte in +Magdeburg+, +Leipzig+ und +Freiberg+ rechtliche Erkenntnisse geholt, allein dies war der kurzen Zeit wegen unmöglich und der damaligen Zeit nicht anpassend, daher ist es glaubwürdiger, daß der Kurfürst das Urtheil darüber dem +Freiberger+ Rathe überlassen, indem der Rath zu +Freiberg+ die Gerechtsame dazu hatte.[54] Das Urtheil entschied für die Todesstrafe.[55] +Kunz von Kauffungen wurde daher den 14. Juli+ (26. Juli) +Montags nach Magaretha, Nachmittags um 4 Uhr zu Freiberg auf dem Obermarkte+ öffentlich enthauptet. Als Zeugen waren da der Köhler, +Georg Schmidt+, und einige andere Köhler. -- Der Ort, wo die Hinrichtung geschah, ist noch durch einen Stein bezeichnet.[56] Noch auf dem Schaffote sagte er, +daß er seinen schimpflichen Tod an den Nürnbergern verschuldet habe+.[57] Seine obengenannten Freunde brachten es nach mehrfachen Bitten bei dem Kurfürsten endlich doch so weit, daß er begnadigt wurde; allein der reitende Bote, der die Begnadigung dem Freiberger Rathe verkündigen sollte, kam zu spät; indem die Thore der Hinrichtung wegen schon geschlossen waren. Manche Schriftsteller zweifeln an Kunzens Begnadigung, weil sein Bruder +Dietrich von Kauffungen+, der die Strickleitern zu dem Prinzenraube in seiner Scheuer fertigen ließ und einst gesagt haben soll: »+Das Nest würden sie wohl finden, aber die Vögel wären ausgenommen+,« ebenfalls zu +Altenburg+, zwischen den +20. und 26. Juli+ enthauptet wurde, der bei weitem nicht die Schuld dabei hatte, als sein Bruder. -- Allgemeine Erbitterung bewirkte die schnelle Verurtheilung des +Kunz von Kauffungen+, besonders unter der Ritterschaft, in der er so hohe Verwandte und Freunde hatte. Sein Oheim der damalige Bischof von Meißen, +Casper v. Schönberg+ veranstaltete sogar ein feierliches Begräbniß desselben, ließ ihn in der +St. Petrikirche+ zu +Freiberg+ beisetzen und sein Grab erhielt einen Leichenstein. Allein das erregte unter den Regenten großes Mißfallen, besonders Herzog +Wilhelm+ war dagegen; daher durfte sein Leichnam in der Kirche nicht bleiben, sondern erhielt seine Ruhestätte dafür auf dem Kirchhofe zu +Neukirchen+ bei Freiberg. Der Leichenstein aber blieb in einem Winkel der St. Petrikirche stehen.[58] Seine übrigen Mitgenossen verloren meistentheils ihr Leben durch das Schwerdt; ausgenommen der böhmische Küchenjunge, +Hans Schwalbe+, der den +28. Juli zu Zwickau+ mit glühenden Zangen gezwickt und dann geviertheilt wurde, und Kunz v. Kauffungens treuer Reißiger, +Johann Schweinitz+, der gehangen wurde. -- Nach diesen harten Bestrafungen erfolgten aber auch Belohnungen, die der Kurfürst dem Köhler, +Georg Schmidt+, zu Theil werden ließ.[59] Er erhielt von ihm die Erlaubniß sich eine Gnade auszubitten -- und die bescheidene Bitte des Köhlers bestand darin, die Erlaubniß zu erhalten in dem Walde, wo er den Prinz +Albrecht+ gerettet hätte, frei Kohlen zu brennen. Nicht allein diese Bitte erhielt er erfüllt, sondern der Kurfürst schenkte ihm auch sogleich nach der That für sich und seine Nachkommen ein +Gnadenkorn+, welches aus 4 Scheffel +Zwickauer+ Maaß oder 5 Scheffel 2 Viertel und 3 Metzen +Dresdner+ Maaß besteht. Noch +jetzt+ erhält das älteste Mitglied dieses Geschlechts in männlicher Linie dieses Gnadenkorn aus dem +Rentamte+ zu +Zwickau+.[60] Später erhielt er auch ein Freigut im Dorfe +Eckartsbach+[61] bei Zwickau. Die Besitzung ist aber durch +verderbliche+ und +langwierige+ Kriege von der Familie wieder abgekommen. Als +Georg Schmidt+ alt und schwach ward, nahm ihn sogar der Kurfürst an den Hof nach +Altenburg+ und dadurch, daß er bei seiner Erzählung des Prinzenraubes sich immer der Worte bediente: »+Herr, ich habe den Kunzen mit meinem Schürbaum weidlich getrillert+,«[62] die er oft wiederholen mußte, erhielt er und seine Nachkommen den Namen +Triller+. -- Die übrigen Köhler, welche bei dem Rettungsacte durch den Lärm von +Georg Schmidts+ Frau herbeigekommen waren, erhielten ebenfalls Belohnungen, die wahrscheinlich in Gelde bestanden, doch aus Mangel an sicheren Nachrichten hier nicht aufgeführt werden können. Nur so viel ist gewiß, daß als Herzog +Albrecht+ im Jahre 1480 die Gegend des Befreiungsactes bereiste, in +Elterlein+[63] noch drei Köhler traf, welche bei seiner Befreiung aus Kunzens Händen thätig gewesen waren. Sie hießen +Wyland+, +Fischer+ und +Urban Schmidt+, letzterer damals der Köhlerbursche +Georg Schmidts+, und erhielten, nachdem sie dem Herzog +Albrecht+ den Ort seiner Errettung gewiesen hatten, eine gute +Ritterzehrung+.[64] Zum ewigen Andenken der Begebenheit des Prinzenraubes ließ Kurfürst +Friedrich+ eine Münze schlagen, die aber äußerst selten ist.[65] Auch schreibt ~+Vulpius+ l. c.~ §. 35., wie sich in +Schreiter+ a. a. O. ~pag.~ 109. befindet: »Zum Andenken hat der Höchstlöbliche sanftmüthige Kurfürst, der geraubten Prinzen Herr Vater, diese Geschichte auff vier Tafeln künstlich abmalen lassen, so in dem Zimmer, aus welchem die Entführung geschehen, befindlich sind. Deren die erste fürstellt, wie Cuntz und seine Gesellen die Prinzen aus dem Schlosse zu +Altenburg+ rauben: die andere, wie er im Walde von den Köhlern gefangen wird.« Die +Gemälde+ sind noch auf dem Schlosse zu +Altenburg+ befindlich und ~Dr.~ +Triller+ erhielt Copien davon, die er in Kupfer stechen ließ. Diese Kupfer findet man in seinem sächs. Prinzenraube. (In der Zueignungsschrift an den Herzog schreibt er: »die Kupfertafeln selbst, die meine Reime zieren, sind mir von Deinem Hof gezeichnet zugeschickt.« +Ranisch+ a. a. O. ~pag.~ 8. gedenkt dieses Umstandes auch: »Auf der Seite der jetzt veränderten Burg sieht man in einem Zimmer der höhern Gegend die vier vornehmsten Veränderungen dieses Trauerspiels von +den noch vorhandenen+ vier Tafeln sauber abgezeichnet.«) Diese vier Hauptgemälde stellen folgendes vor: 1.) Die Entführung der Prinzen +Ernst+ und +Albrecht+ aus dem Schlosse zu +Altenburg+. 2.) Die Befreiung des Prinzen +Albrecht+ durch den Köhler +Georg Schmidt+. 3.) Die Rückkehr des Prinzen +Albrecht+ in Begleitung des Abtes +Liborius+ nebst Gefolge, zu seinen fürstlichen Eltern. 4.) Die Enthauptung des +Kunz von Kauffungen+ auf dem Marktplatze zu +Freiberg+. Nach dem Urtheile Sachverständiger sind diese Bilder weit späteren Ursprungs und ohne künstlerischen Werth. Letzteres gilt auch von einer Tafel mit 30. Portraits der bei dem Prinzenraube betheiligt gewesenen Personen, die ebenfalls sich im Schlosse zu Altenburg befinden.[66] Dagegen befinden sich in Altenburg zwei Portraits der Prinzen +Ernst+ und +Albrecht+ in rothen Kleidern, welche weit authentischer zu sein scheinen. Von diesen beiden letztern Gemälden befinden sich jetzt +Copien+ im +Köhlerhause+ am +Fürstenberge+, welche +Se. Durchlaucht+ der jetzt regierende +Herzog von Altenburg+, +Joseph+, demselben huldreichst verehrt hat. Gemalt sind sie vom +Professor+ Friedrich Ludwig Theodor +Döll+ zu +Altenburg+ im Jahre 1839. -- Nachstehendes +Gedicht+ wurde zur damaligen Zeit als beliebtes Volkslied vorzüglich von den Bergleuten oft gesungen: Wir wollen ein Liedel heben an Was sich hat angespunnen Wies in dem Pleisnerlande gar schlecht war bestallt Als sein Jungen Fürsten geschah groß Gewalt Durch den Cunzen von Kauffungen, ja Kauffungen. Der Adler hat uf den Felß gebawt Ein schönes Nest mit Jungen Und wie er einst warn geflogen aus Holete ein Geyer die jungen Vogel raus Drauf wards Nest leer gefungen, ja gefungen. Wo der Geier uff dem Dache sitzt Da trugen die Küchlein selten Es wären mein weele ein seltsam Narrenspiel Welcher Fürst sein Rathen getrawt soviel Muß offt der Herrschaft entgelten, ja entgelten. Altenburg, du bist zwar eine feine Stadt Dich thät er mit Untreu meinen Da ie die waren all Hoflüt rauschend voll Qvam Cunze mit Leytern und Buben toll Und holte die Fürsten so kleine, ja so kleine. Was bloß Dich Cunz für Unlust an Da Du yns Schloß mir steigest Und stylst die zarten Herren raus Als der Curförst aber war nicht zu Hauß Die zarten Försten-Zweige, ja Försten-Zweige. Es war wohl als ein Wunder Ding Wie sich das Land beweget Was uff allen Straßen warn för Leut Die der Reubern nachfolgeten in Zeit, Alles wibbelt, kribbelt, sich bereget, ja bereget. Im Walde dort ward Cuntz ertapt Da wollt he Beeren naschen Were he in der Hast sacken fortgeretten Das öhm die Köhler nit geleppischt hetten Hett he sie kunt verpaschen, ja verpaschen. Aber sie wurden ihm wieder abgejagt Und Cunz mit synen Gesellen Uff +Grünhayn+ in unsers Herrn Abts Gewalt Gebracht und darnoch auch uf +Zwickau+ gestalt Und musten sich lan prellen, ja lan prellen. Davon fiel ab gar mancher Kopf Und keiner der gefangen Kam aus der Haft ganzbeinicht davon Schwerd, Rad, Zangen und Strick, die waren ihr Lohn Man sah die rümper hangen, ja hangen. So gehts, wer wider die öberkeit Sich unbesonnen empöret Wer es nicht meynt der schaw an Cunzen Syn Kop thu zu +Freyberg+ noch herußen schmunzen Und jedermann davon lehret, ja lehret.[67] Gott thu der frommen Curförsten alls guts Und laß die Jungen Herren In keines Feindes Hand mehe also komm Geb auch der Fraw Curförstinn vel fromm Das sie sich, in Ruhe vermehren, ja vermehren.[68] Nachtrag. Einige Notizen über die Familien der drei Hauptpersonen des Prinzenraubes: ~a.~) des Kurfürsten +Friedrich des Sanftmüthigen+. ~b.~) des Ritters +Kunz von Kauffungen+. ~c.~) des Köhlers +Georg Schmidt+, +vorzüglich nach dem Prinzenraube+. ~a.~) Des Kurfürsten Friedrich des Sanftmüthigen Familie. +Kurfürst, Friedrich der Sanftmüthige+, Vater der beiden geraubten Prinzen +Ernst+ und +Albrecht+ lebte nach dem Prinzenraube noch 9. Jahre, starb den 7. Septbr. 1464 zu +Altenburg+ im 54. Lebensjahre und wurde im Dome zu +Meißen+ beigesetzt. -- +Ernst+ und +Albrecht+ regierten nach dem Willen des entschlafenen Vaters nun +gemeinschaftlich+; außer, daß +Ernst+ nach dem Rechte der Erstgeburt die Kurwürde und das mit verbundene Herzogthum +Sachsen allein+ erhielt. Zwanzig Jahre regierten sie gemeinschaftlich und vermehrten ihre Macht durch verschiedene neue Besitzungen, besonders aber durch die Entdeckung der Silbergruben zu +Schneeberg+ 1471. und die Erbschaft ihres Oheims, des Herzogs +Wilhelm+ III. von Thüringen (Bruder ihres Vaters), welcher den 17. Septbr. 1482 ohne männliche Nachkommen starb, indem sie dadurch Besitzer seines ganzen Landes wurden. Zwistigkeiten, die dadurch geschahen, daß Herzog +Albrecht+ mit einigen Beamten[69] unzufrieden war, denen Kurfürst +Ernst+ sein ganzes Vertrauen schenkte, traten ein; so kam denn eine gänzliche Theilung der Länder den 26. August 1485 zu Leipzig zu Stande. Dem sächsischen Rechte gemäß vollführte die Theilung der ältere Bruder; der jüngere Bruder dagegen hatte die Wahl. Zum Verdruß des älteren Bruders wählte +Albrecht+ die meißnischen Länder und +Ernsten+ blieb Thüringen. Doch die Oberhoheit über den Bergbau blieb gemeinsam. So wurde das Haus Sachsen in die +ernestinische+ und +albertinische+ Linie getheilt, wodurch sie nun die Stammväter der beiden noch jetzt bestehenden Linien wurden. Allein die Kurwürde kam 62 Jahre später durch die Gefangennehmung des unglücklichen Kurfürsten +Johann Friedrich d. Großmüthigen+ den 24. April 1547 in der Schlacht bei +Mühlberg+ von Kaiser +Karl+ V. an die jüngere, +albertinische+ Linie, indem er seiner Würden und Länder gänzlich entsetzt wurde, und sein Vetter, Herzog +Moritz+, der jüngern Linie angehörig, vom Kaiser solche erhielt. Bei dieser Linie blieb die Kurwürde bis zum 11. Decbr. 1806, wo der damalige Kurfürst +Friedrich August+ III. sie mit einer Königswürde vertauschte. +Kurfürst Ernst+ starb den 26. August 1486 in +Kolditz+ und wurde im Dome zu +Meißen+ begraben. -- Vermählt war er mit der Tochter des Herzogs +Albrecht+ II. v. Baiern und zeugte mit dieser sechs Kinder, als vier Prinzen Namens: +Friedrich der Weise+, +Albrecht+, +Ernst+ und +Johann der Beständige+ und zwei Prinzessinnen Namens: +Christiane+ und +Margarethe+. Sein Sohn +Albrecht+ ward im Jahre 1482 zum +Erzbischof+ v. +Mainz+ gewählt, starb zwei Jahre darauf in einem Alter von 20 Jahren; +Ernst+ ward +Erzbischof+ von +Magdeburg+ und Bischof von +Halberstadt+; +Friedrich+ erhielt nach dem Tode seines Vaters die Kurwürde, als ältester Sohn; und +Johann+ folgte Friedrichen nach dessen Tode auf dem Throne. Von den beiden Prinzessinnen wurde die älteste an den +König Johann von Dänemark+, die jüngste an den +Herzog von Braunschweig+ vermählt. -- +Herzog Albrecht+ indessen, der den Beinamen, der +Beherzte+, erhielt, starb den 12. Septbr. 1500 im 58. Jahre seines Alters zu +Emden+ und wurde ebenfalls im Dome zu +Meißen+ beigesetzt. -- Vermählt war er mit der böhmischen Prinzessin +Sidonia+, Tochter +Georg Podiebrads+, König von Böhmen. Mit dieser zeugte er vier Kinder, eine Prinzessin und drei Prinzen Namens: +Georg der Bärtige+, +Heinrich der Fromme+ und +Friedrich+; von denen die beiden ersten ihrem Vater hintereinander in der Regierung folgten; +Friedrich+ aber zum +Hochmeister+ des deutschen Ordens gewählt, starb im Jahr 1510 zu +Rochlitz+. ~b.~) des Ritters Kunz von Kauffungen Familie, vor und nach dem Prinzenraube. Das adeliche Geschlecht derer +von Kaufungen+ findet man in der sächsischen Geschichte seit 1283[70], wo +Heinrich von Coufungen+ als ein +Dominus+ vorkommt, dessen Söhne: +Tunzold+ und +Heinrich+, sehr das Kloster +Buchau+ bei Leisnig plagten. Ihr Stammschloß war +Kauffungen+, ein Rittergut im Königreich Sachsen, im Leipziger Kreisdirectionsbezirke im Amte +Borna+, entfernt vom Amtsbezirke, mitten im Schönburgischen, auf der rechten Seite der Mulde, +Wolkenburg+ gegenüber, 1½ Stunde südlich von +Penig+ entfernt gelegen. +Tunzold von Coufungen+ (der Obige) ein Ritter, aber doch nur des +Unarc von Waldenburg Castrensis+, verkaufte 1298 an jenes Kloster +Nauenhain+ bei Geithain. 1357 schrieben sich +Kunz+ und +Heinrich von Kauffungen+ auch Herren zu +Waldenburg+ und mögen diese Herrschaften wohl unterpfändlich besessen haben. -- +Dietrich von Kauffungen+ auf +Brane+ (Mittelfrohna?) war 1357 einer der vornehmsten Zeugen bei dem vom Chemnitzer Kloster geschlossenen Kauf der Herrschaft Rabenstein; auch erscheint 1411 +Jost von Kauffungen+ als Schiedsrichter zwischen dem Kloster +Remsa+ und den Dynasten von Schönburg. In +Remsa+ ruhen auch noch mehrere Kauffungen z. E. obiger +Tunzold+, der es mit 400 Fl. dotirte, wofür es 9 Scheffel Zins vom Glauchauer Stadtrath erkaufte. 1444 stiftete, +Erich+, +Dietrich+ und +Hanns v. Kauffungen+ eine +Vicarie+ beim Remser Magdalene-Altar, welche der Abt +von Bürgel+ zu conferiren bekam, die aber 1469 vom Naumburger Bischof zur +Georgenkirche+ im Dorfe +Remse+ geschlagen wurde. 1493 verkaufte +Jobst von Kauffungen+ einige Güter an die +Anna von Schönburg+. Das Geschlecht besaß auch +Kirschbaum+ (ohne Zweifel im bair. Voigtl.) und starb nicht schon mit dem Prinzenräuber in Sachsen aus, sondern erst 1585 mit +Haubold von Kauffungen+ zu +Chemnitz+. Des Prinzenräubers Verwandte galten alle für Ritter von ächtem Schrot und Korne. +Kunzens+ Gemahlin war eine geborne +Anna von Einsiedel+, Schwester +Hildebrands von Einsiedel+, der Hofmarschall des Kurfürsten +Friedrich d. Sanftmüthigen+ war. Sein Bruder +Dietrich von Kauffungen+, war ein angesehener Ritter im Osterlande, seiner Mutter Bruder war +Caspar von Schönberg+, Bischof von Meißen. +Kunzens+ Schwester heirathete einen aus dem Geschlechte derer +von Schleinitz+, dessen Sohn hieß +Hugold+ oder +Haubold von Schleinitz+,[71] und die Herrn +von Schönberg+ auf +Sachsenburg Frankenberg+ waren seine nächsten Vettern. Uebrigens, daß der Prinzenräuber das Rittergut +Kauffungen+ wirklich besessen, zeigt sein Schein über den Interimsbesitz vor +Schweikartshain+. Außerdem besaß er +Kahlenberg+, +Kohren+, +Eisenberg+ oder Isenburg in Böhmen, und nach einigen Geschichtsforschern die kleine Burg +Streitwald+ bei Kohren. Kurz vor dem Prinzenraube war er bei +Friedrich+ V. +von Schönburg+ zu Gaste; denn unter den Zeugen von dessen Contracte mit +Elisabeth+, Herrin +von Gitschin+ kommt auch +Kunz von Kauffungen+ auf +~Eysemberczie~+ vor.[72] +Kunzens+ Söhne waren kurz vor dem Prinzenraube nach Böhmen gebracht worden, wo sie später in den Besitz des vom Vater erkauften Schlosses +Isenburg+ kamen.[73] +Kunzens+ Vetter, +Hans von Kauffungen+ und dessen Söhne: +Haubold+ und +Jost+, wendeten sich kurze Zeit nach dem Prinzenraube ebenfalls aus den sächsischen Landen, und es bekannte +Hans von Kauffungen+, daß er seine Besitzungen, +Wolkenburg+ und andere sich von dem Kurfürsten »geurlaubt« zugleich auch versprochen habe, für sich und seine Söhne nie wider den Kurfürsten zu handeln; eben so sagte er sich von aller Geldschuld los, die er etwa noch an den Kurfürsten zu fordern haben könnte. Dieß Versprechen bekräftigten Vater und Söhne +Kauffungen+ durch einen Eid, und stellten darüber eine Urkunde den 7. Novbr. 1455 zu +Grimma+ aus, im Beisein mehrerer hohen Beamten z. +B. Hildebrands von Einsiedel+ und anderer Räthe. Ob ein Zusammenhang hinsichtlich der in der Urkunde berührten Thaten +Kunzens+ auch mit diesem +Kauffung+ stattgefunden, ist zweifelhaft und eher zu verneinen; daß der Kurfürst auch hierbei den Namen des +Sanftmüthigen+ gerechtfertigt, und ob die Urkunde, und was sie bezeugt, so ganz das Ergebniß des freien Willens der Aussteller war, darüber ist ein Bedenken nicht zu entfernen.[74] In +Schlesien+ hat die Familie +von Kauffungen+, wie ein Denkmal an der Außenseite der Hauptkirche zu +Goldberg+[75] ausweist, noch im 17. Jahrhundert geblüht; doch dürfte dieß ein anderes Geschlecht sein, als das sächsische, da auch bei +Hirschberg+[76] ein (2 Stunden langes) Dorf +Kauffungen+[77] (mit 9 Rittergütern) liegt, so wie ein Flecken +Kaufungen+ in Kurhessen[78], woher einige Geschichtsforscher das sächsische Geschlecht leiten wollen. c.) des Köhlers Georg Schmidt Familie nach dem Prinzenraube. Die Nachkommenschaft des Köhlers +Georg Schmidt+ führte, was schon im Laufe der Geschichte des Prinzenraubes auseinander gesetzt worden ist, den Namen +Triller+. Mancher von dieser Familie gelangte zu großen Ehren, vorzüglich +Caspar Triller+, welcher eine mühsame Genealogie des Trillerischen Geschlechts schriftlich hinterließ, die er 1539 angefangen und bis 1612 fortgeführt hatte. Diese Schrift führt +Triller in seinem sächsischen Prinzenraube+ an, indem er sie selbst aus den hinterlassenen Schriften +Caspar Trillers+ hat. Er sagt: daß er in +Sangerhausen+, wo er in der St. Ullrichskirche begraben liegt, ansehnliche Vermächtnisse gestiftet habe, unter andern hätte er den +Trillerschen+ Tisch im Convict auf der Universität zu +Leipzig+ gestiftet, auch wäre er mit seinem Bruder +Michael+ am 28. Jan. 1592 vom Kaiser +Rudolph+ in den +Adelstand+, mit Schild und Helm versehen, erhoben worden. Das +von Trillersche+ Wappen ist noch bekannt und ist mit folgenden Insignien geschmückt: Ueber dem Helm zeigt sich der halbe Leib eines Köhlers, welcher mit beiden Händen einen Schürbaum[79] hält, als wolle er mit selbigem zuschlagen. Im Wappenschilde selbst sieht man im linken Felde einen gelben Löwen, der in seinen Branken einen Zschörper, oder großes Kohlenmesser hält. Im rechten Felde aber erscheint ein goldfarbner Löwe, welcher einen doppelt gekrümmten Schürhaken[80] in seinen Branken hat und in einem untern Felde ist ein schwarzer Bär, der auf den Traum deutet, welchen die Kurfürstin vor dem Prinzenraube hatte.[81] Die Familie ist jetzt sehr ausgebreitet, sie schreiben sich sowohl +von Triller+, als auch blos +Triller+. -- +Schreiter+ a. a. O. erwähnt einen +Johann Samuel Triller+, Tuchmachermeister und Bürger in +Saalfeld+, welcher im Jahre 1803, als ältestes Mitglied der Familie, männlicher Linie, das +Gnadenkorn+ aus dem Rentamte +Zwickau+ zu erheben hatte. Dieses Gnadenkorn bezieht gegenwärtig, wie schon oben einmal gedacht worden ist, der Herr Pastor +Triller+ zu Nägelstädt bei Langensalza in Thüringen. [Illustration: Lith. Anst. v. Rudolph & Dieterici in Annaberg R. Böhme lith W. Bischert gedr. Das Denkmal am Fürstenberge.] II. Das Denkmal am Fürstenberge. (Dazu Abbildung ~No.~ 2.) Jahrhunderte sind vergangen und nicht ein Stein, geschweige denn ein Monument zeigte oder zierte die Stelle, wo der Stammvater unsers allgeliebten Regentenhauses aus den Händen eines habsüchtigen Ritters befreit wurde. Nur durch Tradition wußte man, daß an diesem Orte, wo jetzt das Denkmal steht, Herzog +Albrecht+ seine Rettung einem schlichten Köhler zu verdanken hatte, doch noch sehr ungewiß, ob bei +Wiesenthal+[82] oder +Grünhain+ oder anderswo die Stelle wäre. Als ein Geschichtsforscher, Namens +Schreiter+, Pfarrer zu Elterlein, in seinem mit dem aufopfernsten Fleiße und sorgfältiger Mühe gearbeiteten Werke: »die Geschichte des Prinzenraubes kritisch bearbeitet. Leipzig, 1804« uns jeden Zweifel benahm. Die geschichtlichen Nachforschungen +Schreiters+; indem die Herrschaft +Crottendorf+ mit +Wiesenthal+ allererst im Jahre 1559 von dem Kurfürsten +August+ zu Sachsen erkauft wurde,[83] also zur Zeit des Prinzenraubes gar nicht dem Kloster in +Grünhain+ gehörte, dessen Abt doch der nächste Beschützer des Prinzen +Albrecht+ nach dem Köhler war und vorzüglich auch die hier bloß vorhandene +nie+ versiegende Quelle[84] gaben Aufschluß über Alles und letzterer gebührte daher die Ehre, daß ein Monument sie bedeckte, zierte und durch eine Einfassung dem müden Wanderer zu seinen stillen Betrachtungen ein Ruhepunct wurde. Das goldne Zeitalter der Monumente war gekommen, der verheerende Krieg war vorübergegangen und das Jahr 1822 wurde das Jahr, was nächst dem Jahre 1455 in der Geschichte des Prinzenraubes dem Andenken nie entzogen werden wird. Das Jahr 1822 war nämlich das Gründungsjahr des Monumentes am Fürstenbrunn. Wir folgen nun ganz in Ermangelung anderer vielleicht ausführlicheren Quellen, der glaubhaften Beschreibung der Gründung und Einweihung des Monuments, wie es ~Dr.~ +Hering+ in seinem Werke: »Geschichte des sächsischen Hochlands«, Leipzig, 1828. im 2. Theil ~pag.~ 167 u. ff. mittheilt: »Am 8. Juli fand auf dem +Fürstenberge+ zwischen +Grünhain+ und +Raschau+ eine merkwürdige Feier der hier am 8. Juli 1455 erfolgten Rettung des von +Kunz von Kauffungen+ entführten Prinzen +Albrecht+ statt. Es hatte nämlich bis dahin kein Denkmal den Ort ausgezeichnet, wo dies so wichtige Ereigniß statt fand. Im Jahre 1818 hatte der Herr Finanzprocurator +Lindner+ zu Schwarzenberg schon mehrere Freunde der vaterländischen Geschichte für den Plan gewonnen, durch freiwillige Beiträge den hier befindlichen +Fürstenbrunnen+ in einen steinernen Bassin einzufassen und sein Wasser für jeden Durstigen genießbar zu machen, daneben ein steinernes Denkmal aufzurichten und es am Regierungsjubelfeste des Königs feierlich zu weihen. Er trug diesen Plan dem Herrn Kreishauptmann +Freiherrn von Fischer+[85] vor, welcher ihm die vollste Beistimmung ertheilte; nur war für die Ausführung bis zum Jubelfeste die Zeit zu kurz. Im Jahre 1822 aber kam durch die mächtige Unterstützung des Herrn Kreishauptmanns +Frhr. von Fischer+ und die +lebhafteste+ Mitwirkung des Herrn Justizbeamten +Philippi+ der schöne Plan zur Reife. Es wurden im Kreisamte +Schwarzenberg+ und Amte +Grünhain+ über 200 Thlr. unterzeichnet. Den ansehnlichsten Geldbetrag gab der Herr Kreishauptmann selbst, und der Herr Bergcommissionsrath +Nitzsche+[86], Hammerherr zu Erla, ließ die, das errichtende Denkmal zierende, eiserne Tafel mit der gelungenen Inschrift[87] unentgeldlich auf seinem Werke gießen und vergolden, und leistete auch alle Steinfuhren. Die Verfertigung einer am Fürstenbrunnen zu errichtenden +Pyramide+ wurde dem Baumeister +Lohß+ in Schlettau übertragen und diese mit Einschluß des Fußgestelles 13 Ellen hohe Pyramide[88] am +7. Juli+ glücklich aufgerichtet. An der Feierlichkeit der Weihe nahm die weite Umgegend den freudigsten Antheil. Die +Schwarzenberger Bürgergarde+ marschirte schon Vormittags 10 Uhr auf den Platz, wo sie die Wachen versah und die Piquets ausstellte, um die Ankunft der hohen Beamten bei Zeiten zu erfahren. Mehr als 10,000 Menschen drängten sich um die Pyramide herum, erkletterten die Bäume, erstiegen die Dächer der erbauten Buden und erduldeten bei drückender Hitze unerschüttert Hunger und Durst. Nun marschirten die Schützencompagnien von +Crottendorf+ vor dem Plateau des Brunnens auf; diesen folgten 230 Bergleute mit ihren Fahnen und Hautboisten und bildeten einen Halbkreis um die Pyramide. Um 1 Uhr donnerten Kanonen durchs +Oswaldsthal+, um die Ankunft hoher und niedrer Beamten aus verschiedenen Orten zu verkündigen. Die +Offiziers+ von +Zwickau+ und +Schneeberg+ waren mit 36 Hautboisten schon zuvor angelangt, und wie am 8. Juli des Jahres 1455 in der Umgegend die Sturmglocken ertönten, um alles zur Rettung des geraubten +Prinzen+ aufzufordern, so ertönten jetzt die Glocken auf den benachbarten Kirchen und riefen zu Dank und Freude über die glückliche Rettung des Geraubten und Erhaltung des hohen Fürstenhauses alle Herzen auf. Die Feier begann mit dem Gesange eines Weiheliedes, welches der Herr Rektor +Lange+[89] zu Schwarzenberg dazu gedichtet hatte: Seid uns gegrüßt der grauen Vorzeit Tage! Euch suchet unser Blick! Gesang ertöne! -- Zu der Vorwelt trage Begeisternd uns zurück! Hier ist es, wo dem Vaterschloß entrissen Auf +Kunzens+ Räuberflucht Der Fürstensohn, gequält von Hungerbissen, Des Waldes Beere sucht; Prinz +Albert+ hier umringt von Todesschrecken Dem wackern Schmidt sich naht, Und leise Worte schüchtern ihm entdecken Die grause Frevelthat. Hier ists, wo dem Geraubten ach! so bange Der Stahl des Mordes blitzt, Und ihn mit hochgeschwungner, rußger Stange Des Köhlers Arm beschützt. Die Glockenstürme -- und das Köhlerzeichen Ruft Hilfe laut umher, Und es erliegen unter +Trillers+ Streichen Die Räuber bandenschwer. Gerettet ist der Fürstensohn -- die Quelle Erlabt den Durstgen hier, Sie quillt uns heut' noch unversiegt und helle, -- Sie segnen heute wir! Ein Denkmal soll die große That erneuen Den Söhnen künftger Zeit, Und Alberts Enkel, dem +Gerechten+[90], weihen Es wir aus Dankbarkeit. Der Herr Superintendent ~Dr.~ +Lommatzsch+[91] trat jetzt auf die mit Blumen bestreuten Stufen des Brunnens und sprach Worte der Weihe.[92] Ihm zur Rechten war die mit einem Eichenlaubkranze gezierte Büste des Königs +Friedrich August+ aufgestellt und über ihr hingen Blumengewinde von der Pyramide herab. Nach Beendigung der Rede folgte wieder ein Gesang, gedichtet vom Herrn Postmeister und Gerichtsdirector +Reiche+ zu Annaberg.[93] +Einer.+ Ein ~Gaudeamus~ soll uns heut' vereinen In Gottes heiliger Natur; Denn hier in dieses Waldes düstern Hainen Fand +Albert+ einst der Gottheit Spur. +Chor.+ Als Denkmal von Sachsens Vergangenheit Sei dieser Stein -- dem Leben geweiht! +Einer.+ Der treue Sachse blickt noch mit Entzücken Zurück in jene graue Zeit, Wo +Trillers+ Arm von Seines Räubers Tücken Den hohen Sprösling hat befreit. +Chor.+ Als Denkmal der Rührung und Dankbarkeit Sei unser Herz, o +Fürst+! +Dir+ geweiht. +Einer.+ Wie heißt Dein Zweig in Seinen Silberhaaren, Der Sachsen Vater und ihr Glück? Ists nicht +August+, den +Seines Hauses+ Laren Beschirmten einst ein Mißgeschick? +Chor.+ Wie heißt der König, der Glückliche schafft, Redlichkeit übet mit Jugendkraft? +Einer.+ Nennt Ihn ja Vater unsers Vaterlandes, Der Seinen Gott im Busen trägt! Der, eingedenk des hohen Völker-Bandes, Das Recht auf ächter Wage wägt! +Chor.+ Ja Treu' und Ehrfurcht dem +einzigen Mann+, Der allen Sachsen Treue gewann! In dem Augenblicke, wo der Chor diese letzten Worte sang, trat der Herr Kreishauptmann an die Stufen des Brunnens und sprach diese Worte noch einmal feierlich allein, und wie er geendet, sprach mit entblößtem Haupte die große Versammlung, unter dem Donner der Kanonen diese Worte nach. Es folgte ein tiefes ehrfurchtsvolles Schweigen, welches dann in den tausendstimmigen, von den Musikchören kräftig begleiteten Gesang überging: Den König segne Gott! etc. III. Das Köhlerhaus am Fürstenberge. Schon im Jahre 1822 bei Errichtung des Monuments am Fürstenbrunn wurde von vielen Geschichts- und Vaterlandsfreunden der Wunsch ausgesprochen, daß unweit des Denkmals eine bewohnbare Köhlerhütte erbaut werden möge, dessen Bewohner, einer armen Köhler- oder sonst rechtschaffnen Familie, die Aufsicht über das Monument und der nahe gelegenen Waldpflanzungen obliegen sollte, denn schon damals sah man es voraus, daß ein so unbewachtes Denkmal vielen Verunstaltungen ausgesetzt sein würde. Allein ohngeachtet der mancherlei Gaben, die damals zur Errichtung des Denkmals von Vaterlandsfreunden gespendet wurden, reichten sie doch nicht hin, um die Erbauung einer Köhlerhütte möglich zu machen. So vergingen denn volle 16 Jahre, ohne daß jemand sich der Sache unterzog, um durch abermalige milde Beiträge es möglich zu machen; als im Anfange des Jahres 1838 der Herr Finanzprocurator +Lindner+ zu Schwarzenberg, der sich schon bei Errichtung des Denkmals der Sammlungen milder Beiträge unterzogen und sehr thätig sich gezeigt hatte, eine unterthänige Bitte an ein hohes königl. +Finanzministerium+, zu Gewährung des nöthigen Platzes und Holzes der Köhlerhütte wagte. Diese hohe Behörde, patriotischen Unternehmungen nicht hinderlich, genehmigte es auch, und so wurde von dem Herrn Finanzprocurator +Lindner+ und dem Herrn Rentamtmann +von Schleinitz+ zu Grünhain[94] eine Sammlung milder Beiträge von Nah und Fern unternommen. [Illustration: Lith. Anst. v. Rudolph & Dieterici in Annaberg R. Böhme. lith. W. Bischert gedr. Ansicht vom Denkmale u. Köhlerhause am Fürstenberge bei Grünhain] Trotz der größten Bemühungen der beiden vorgenannten Herren ging die Einsammlung sehr spärlich von statten, so daß an der völligen Erbauung einer Köhlerhütte so leicht nicht gedacht werden konnte, als unser allverehrtes Fürstenhaus, welches +nie+ seine milde Hand sinken läßt, zu dem Unternehmen wahrhaft königl. beisteuerte[95], wodurch erst das begonnene Werk lebhaft von Statten gehen konnte, und schon sollte nun die Hütte gehoben werden, als den hiesigen Gebirgsbewohnern, so wie allen treuen Sachsen die große Freude zu Theil wurde, ihren allgeliebten König[96], nebst dessen hochverehrter Frau Gemahlin der Königin[97] in ihrer Mitte sehen zu dürfen. Nachdem beide Majestäten den 10. Septbr. 1838 in Annaberg übernachtet hatten, kam Se. Majestät der König am 11. Septbr. über +Schlettau+, +Scheibenberg+, +Elterlein+, +Zwönitz+ nach +Grünhain+ mit Gefolge geritten, geruhte daselbst den dasigen Klostergarten in Augenschein zu nehmen, wo noch das Gefängniß, +Fuchsthurm+ genannt, zu sehen ist, in welchem +Kunz v. Kauffungen+ vom Abt +Liborius+ festgehalten wurde, und ritt sodann nach +Gottesgeschick+[98], um daselbst höchstdero Frau Gemahlin, welche von +Scheibenberg+ kommend, hier das daselbst befindliche Bergwerk in Augenschein zu nehmen, geruht hatte, abzuholen, um gemeinschaftlich von da auf den Fürstenbrunnen zu fahren. Hier hatte sich schon unter Leitung des Herrn Pastor ~M.~ +Richter+ und der beiden Lehrer der Bürgerschule zu +Grünhain+, Herr Rektor +Hecker+ und Herr Cantor +Günther+ die Grünhainer Schuljugend versammelt, als auch der dasige Frauenverein, unter Leitung der damaligen Vorsteherin desselben, der Frau Rentamtmann +von Schleinitz+ so wie viele tausend Menschen, um das edele Regentenpaar zu empfangen. Sobald die hohen Herrschaften, geleitet von dem Amtshauptmann des Bezirks, den Domherrn +Freiherrn von Biedermann+ auf +Niederforchheim+, angekommen waren und geruht hatten aus dem Wagen zu steigen, gingen 12 Grünhainer Mädchen weiß gekleidet dem hohen Herrscherpaare voran, indem sie demselben Blumen auf den Weg streuten und zugleich brachten die Bergleute von den Werken +Gottesgeschick+ und +Graul+[99], welche eine ~Haie~ bis in die Nähe des Brunnens bildeten, ein freudiges: »Glück auf!« aus. Hierauf nahte sich Einer[100] von den +sieben Köhlern+, die sich dort versammelt hatten, um dem hohen Regentenpaare folgendes Gedicht[101] vorzutragen: Muß ich, mein König, mich nicht heute freuen, Daß dieser Tag mir aufgegangen ist? Ich, Einer von den Tausenden Getreuen, Der Dich als Wächter ehrerbietig grüßt. -- Sah' an der Quelle Jahre geh'n und kommen; Doch meinen König hieß ich nicht willkommen. Laß es gescheh'n, daß ich Dir hier verkünde, Was vor Jahrhunderten mein Auge sah' -- Wenn ich vor Dir das rechte Wort nicht finde, So ist wohl Deine Gnad' und Huld mir nah -- Drum hell Dich auf, Du Dunkel grauer Zeiten, Zu Dir will mich Erinn'rung jetzt geleiten. Hier an der Quell mußt ich mit seinen Händen Prinz Albert durstig Labung suchen seh'n, Es mußte mich, ich glaub's, in seine Nähe senden Der fernen Mutter still vernommnes Flehn. O, rette mich! -- sprach er -- und voll Vertrauen Sah ich den Prinzen mir ins Auge schauen. Den Schürbaum hier, das war nur meine Waffe, Vor welcher Kunz, der Räuber, furchtsam floh. Bleib weilend hier mein Prinz, daß ich Dir Hilfe schaffe! Sprach ich -- bald war er seiner Rettung froh; Denn sieh'! geschlagen schon in festen Banden Die Meinen bald den Prinzenräuber fanden. Seit dieser Zeit bewach' ich diese Quelle, Die Deinen Ahnherrn Rettungshafen ward, Des Waldes Saum ist meines Hauses Schwelle, Das Moos, das Lager, welches meiner harrt, Und drüber hat mein Gott ein Dach gebauet, In das mit Lust mein Aug' am Abend schauet. Doch sieh! dort soll dem Greis ein Obdach werden Und heiter schaut sein Giebel heut mich an, Noch wärmen soll ich mich am Heerd auf Erden, Nachdem die Blöcke längst verlangend sahn; Dein Volk baut mir -- mein König -- diese Hütte, Laß' es gescheh'n! -- gewähr mir diese Bitte. Ein guter König mußt Du sein auf Erden, Denn es bewachet solch' Erinnerung, Ja, glücklich soll'n wir durch Dich nur werden Und uns're Freude bleibe immer jung. Drum, guter König, langes, langes Leben Mag dieser Trunk, den ich Dir biete, geben. Ließ jüngst, mein König, mir so reichen Hausrath senden, Mag Gott dafür Dir reichen Seegen spenden. Nachdem beide Majestäten geruht hatten, dieses Gedicht anzuhören, überreichten drei kleine Mädchen, ebenfalls grün und weiß gekleidet, zweie[102] Sr. Majestät dem König, einen Teller mit Waldbeeren, die dritte[103] Ihro Majestät der Königin, einen Becher mit Wasser, mit den Worten: »Dir gute Königin, mög' langes, langes Leben Der frische Trunk, den ich Dir biete geben!« Sodann vereinigten sich die Mitglieder des obenerwähnten Frauenvereins, um durch die dermalige Vorsteherin die Frau Rentamtmann +von Schleinitz+ Ihro Majestät der Königin vorgestellt zu werden, indem ein Mädchen aus der vom Frauenverein zu +Grünhain+ errichteten Nähschule, Ihro Majestät ein Gedicht auf einem mit Blumen bekränzten Körbchen zu überreichen die Ehre hatte. Ihro Majestät geruhten huldvollst und herablassend mit mehreren Mitgliedern des Frauenvereins zu sprechen. Nachdem beide Majestäten das mit Blumen bekränzte Monument betrachtet und auf das wohlwollendste über die Ausführung der Sache als die Feier dieses Tages sich ausgesprochen hatten, geruhten sie in der zu dieser Feierlichkeit erbauten mit Blumen umwundenen Bude, ein von dem Stadtrathe von Grünhain veranstaltetes frugales Frühstück einzunehmen, bei welchem die Beamten von Nah und Fern die Ehre hatten hinzugezogen zu werden. Unter lautem Vivatruf setzte sodann das allgeliebte Regentenpaar die weitere Reise über +Schwarzenberg+ nach +Schneeberg+ fort. Durch mehrere milde Beiträge[104], kam es bald hierauf soweit, daß die Hütte gehoben werden konnte. Die Feierlichkeit dabei war in den Leipziger Zeitungen No. 236. Dienstags den 2. Octbr. 1838 ~pag.~ 3452 auf folgende Weise beschrieben: »+Vom Fürstenbrunn+, im königl. sächs. Erzgebirge, d. 27. Septbr. (Privatmittheilung.) Der heutige Tag war für Viele, welche diesem Brunnen zunächst wohnen, ein heiterer Festtag. Der Bau der Köhlerwohnung daselbst war so weit gediehen, daß sie gehoben werden konnte, und nun ihrer baldigen Vollendung entgegen sieht. Nicht jedes Volk ist so glücklich, Stätten nachweisen zu können, an welche es, wie es hier geschehen darf, der Anfang eines Jahrhunderte hindurch fortdauernden Glückes anknüpfen kann. Sinnbildlich erinnert uns auch die Quelle, welche seit Jahrhunderten ununterbrochen hervorsprudelt, und deren Wächter dieses Haus erbauet wurde, an jene Quelle, die seit dieser Zeit unserm Vaterlande Glück und Segen strömt. Hierdurch empfing der +27. September d. J.+ eine eigenthümliche Weihe. Das Musikcorps, aus Bergleuten von der benachbarten Grube »Gottesgeschick« bestehend, hatte sich freiwillig zu dieser Festlichkeit eingefunden. Es stimmte zuerst einen feierlichen Chorgesang an, dann sprach der Baumeister zu den zahlreich Versammelten die Empfindungen aus, mit welchen er -- auf Geheiß des treuen Sachsenvolkes -- dieses Wächterhaus soweit aufgerichtet habe, und nachdem er die heißen Wünsche für das fortdauernde Wohlergehen unsrer allverehrten Königsfamilie ausgesprochen hatte, gedachte er dankend derer, welche ihn durch ihre Beiträge in den Stand gesetzt hatten, diese Wohnung aufführen zu können -- er vergaß auch dessen nicht, welcher aus dem königl. preuß. Herzogthum Sachsen, ohne Nennung seines Namens, einen mit herzlichen Worten begleiteten Beitrag eingesendet hatte. -- Unwillkührlich stimmten hierauf die Versammelten aus vollem Herzen ihr »+den König segne Gott!+« an. Erst, als der Sonne letzte Strahlen auf das in alterthümlicher Einfachheit sich erhebende Köhlerhaus fielen, trennten sich die Anwesenden von einander, herzliche Grüße der Liebe und Verehrung von den Bergen der erhabenen königlichen Familie aus der Ferne zusendend. -- +Nachschrift.+ Gelingt es den ehrerbietig ausgesprochenen Bitten der thätigen Leitern dieses Baues, so dürfte das Wohnzimmer des Köhlers mit Copien von Gemälden[105] geschmückt werden, welche einzelne Ereignisse dieser Zeit darstellen, vielleicht mit den Copien von den Portraits des Köhlers +Schmidt+, des +Kunz von Kauffungen+ und a. welche sich in dem Besitze eines erlauchten Fürstenhauses befinden.« -- Nachstehende Rede (verfaßt von dem Herrn Pastor ~M.~ +Richter+ zu Grünhain) wurde am 27. Septbr. 1838 bei der Hebung des Köhlerhauses gesprochen: »Ein frohes Gefühl ergreift mich, daß ich als Baumeister dieses Wächterhauses, Ihnen allen geehrte Anwesende, die gewiß meine Freude theilen, den aufgerichteten Giebel zeigen, sein fest zusammengefügtes Gebälk, über welches bald das schützende Dach sich breiten wird, beschauen lassen kann. Sehen wir doch jetzt schon im Geiste den treuen Wächter der Quellen, den Köhler, hier, als aus seiner Wohnung aus- und eingehen, eine graue Vergangenheit taucht vor unseren Blicken wieder auf und wir Glücklichen schauen freudig hinein, weil mit dem Ereignisse, dessen heilige Erinnerung hier bewacht werden soll, eine gesegnete Zeit für uns begann, den Wohlstand unsers theuern Vaterlandes unter dem milden Scepter aller derer, welche in +Albrecht+ ihren Ahnherrn verehren, immer herrlicher und herrlicher erblüthe. Ja, gewiß! wie diese Quelle hier, seit Menschen sie sahen, +nie+ versiegt ist, so fließet auch heute noch die reiche Quelle des Segens von dem Throne, da unser hochverehrter König, der Wächter unsers Wohlstandes ist -- und trägt Glück und Friede in Hütten und Palläste. Ich muß es Ihnen gestehen, wenn ich so zurichtete das Gebälk, und neben mir im geschäftigen Fleiße die Maurer Stein auf Stein fügen sah, da nahm der Gedanke mein ganzes Herz ein; eine große Familie will eine schöne Erinnerung nicht untergehen lassen, ein sichtbares Zeichen der dankbaren Liebe will sie aufrichten, welches der Nachwelt erzählen soll, daß sie empfangene Liebe zu schätzen wußte, sie sammelt sich, freudig dankend, um diejenigen, welche jetzt Vater und Mutter dieser großen Familie sind und rufen Ihnen von den Bergen zu: lebet hoch! -- Allen den erlauchten Verwandten dieses Vaters und dieser Mutter: sie leben hoch! Derjenige, welcher jetzt unter fremden Scepter glücklich wohnend auch mit bauen wollte die Hütte, weil sein dankbares Herz es ihm gebot, der aus weiter Ferne seine Gaben sendete, er lebe hoch![106] Die als die Bauherren den Grundstein legten, sie leben hoch! Den künftigen Bewohnern dieser Hütte schenke Gott glückliche Tage und nehme sie, wie diese Hütte, in seinen besondern gnädigen Schutz!« -- * * * * * Sobald nun das Haus gehoben war, schritt der Bau bald vorwärts, durch die Bauunternehmer,[107] so daß es noch vor dem Winter bewohnbar hergestellt werden konnte. Der 1ste November 1838 wurde der Tag des Einzuges einer zwar armen aber ganz rechtlichen Bergmannsfamilie[108] aus +Raschau+, die also noch vor dem strengen anhaltenden Winter ein sicheres Obdach erhielt. Den 9. November 1838 wurde von der hohen Kreisdirection die +Schankconzession+, doch mit der Beschränkung nur +anständige+ Gesellschaft dort zu dulden, ertheilt. So wurde denn diese Stelle ein Ort, wo man nur +gerne+ weilt und dabei sich als ein Punkt auszeichnet, der schon von der Natur durch das grüne +Oswaldsthal+ in dem der Oswaldsbach von Waschleute nach Wildenau fließt, geschmückt ist, was man von dem Köhlerhause herab sehen kann, und dem gegenüber die Säulen des Fichtelgebirges sich majestätisch erheben, der aber auch durch die Ansicht der Berggebäude +Gottesgeschick+ und +Graul+ so wie der Ruinen der Oswaldskirche vieles malerische erhält. Der Fremdling wie der Einheimische wird hiervon angezogen und danket noch immer der Vorsehung für die Erhaltung des sächsischen Regentenhauses! -- * * * * * Das Haus nimmt einen Flächeninhalt von 5 □ Rth. ein und ist ungefähr 60 Ellen seitwärts vom Monumente entfernt. Auch ist den Bewohnern desselben ein 224 □ Rth. großes Stück Waldboden zugewiesen worden, wovon 189 □ Rth. als Feld und 65 □ Rth. als Wiese benutzt werden kann. Das Feldstück liegt südöstlich von dem Köhlerhause, das Wiesenstück aber unmittelbar unter dem Hause. Im Frühjahr 1839 wurde das Köhlerhaus vollends aufgebaut, daher erfreute sich solches schon im Laufe des ganzen Sommers 1839 eines ungetheilten Beifalls und zahlreichem Besuche, was das dort befindliche Fremdenbuch hinlänglich bescheiniget. Der 8. Juli 1839, Jahrestag der Befreiung des Prinzen +Albrecht+, wurde diesmal als der Tag der Einweihung des Köhlerhauses feierlich begangen, was man aus dem No. 29. des Erzgebirgischen Voigtländischen Kreisblattes vom 16. Juli 1839 ~pag.~ 216. befindlichen Aufsatze schließen kann. Dessen Inhalt war folgender: »+Fürstenberg+ bei Grünhain, am 8. Juli 1839. -- Das durch Beschädigungen sonst vielfach verunstaltete aber immer wieder hergestellte hiesige Denkmal zur Erinnerung an die Befreiung des Prinzen +Albrechts+ von Sachsen am 8. Juli 1455 hat endlich nun nebst der dasselbe umgebenden Waldung einen bleibenden Schutz durch das hier neu erbaute Köhlerhaus, in welchem dessen Wächter wohnt, gefunden. -- Recht erfreulich ist es dabei, daß viele noch gegenwärtig das Unternehmen, hier eine bewohnbare an den entschlossenen Befreier, den Köhler +Schmidt+, nachher Triller genannt, erinnernde Köhlerhütte herzustellen freiwillig unterstützen. So hat Herr Buchbinder +Buchner+ in Schneeberg zum gestrigen Tage ein recht geschmackvoll gefertigtes Fremdenbuch diesem Orte unentgeldlich gewidmet und vorzüglich Herr Kaufmann +Gottschald+ in Scheibenberg den neuen Wächter daselbst, dem seine erste Einrichtung manchen wesentlichen Aufwand verursachte, der zur Zeit noch seine Mittel übersteigen mußte, namhaft dabei unterstützt. Auch gestern, wo ein heiterer Sommertag der ganzen, jedem Sachsen heilige Stätte ein recht freundliches Aeußere verlieh, sind wieder freiwillige Beiträge zu diesem Unternehmen gesteuert worden. Die Aufforderungen, welche hierzu neuerlich in den öffentlichen Blättern besonders durch den für alle gemeinnützige Gegenstände mit vielem und beharrlichem Eifer erfüllten Herrn Pastor ~M.~ +Richter+ in Grünhain[109] erfolgt sind, lassen daher wohl noch manche weitere Unterstützung erwarten. Sollte es hierdurch mit der Zeit gelingen, daß die im Innern des Köhlerhauses angebrachten Räume zur geselligen Aufnahme die jetzt noch entbehrenden +Oefen+[110] erhielten, -- eine in der hiesigen ziemlich rauhen Gegend ganz nothwendige Zimmerausschmückung, -- so läßt es sich wohl erwarten, daß dieser historisch reich und von der Natur sehr freundlich ausgeschmückte Punkt dereinst zu jeder Jahreszeit von Fremden wie Einheimischen zahlreich besucht werden wird. Bei dem Festmahle am gestrigen Tage zeichneten sich vorzüglich die in dichterischer Form recht gelungen angebrachten Toaste des Herrn Oberzollinspectors +Frege+ in Annaberg, Herrn Kammerath +Reiche-Eisenstuck+ von dort und des Herrn Pastors +Behr+ zu Schwarzenberg aus. Dem Schlusse des Tages war ein Concert im Freien gewidmet und gegen Abend ein Feuerwerk, wobei zuletzt eine Opferflamme, auf der Spitze des pyramidenförmig gebauten Denkmales angebracht, die +allgemeine Liebe der Sachsen an ihr hochverehrtes Regentenhaus verkündete+.« -- Nähere Beschreibung des Köhlerhauses. (Dazu Abbildung ~No.~ 3.) Zuerst gelangt man (s. Abbildung ~B.~) auf 3 steinernen Stufen (~a~) in die 13½° lange und 3½° breite mit Steinplatten gepflasterte +Hausflur+ (~b~). Von der Hausflur rechts kommt man hiernächst in das +große Gesellschaftszimmer+ (~c~), welches 13½° lang und 9° breit ist. Auch befindet sich in selbigem an der Hausflurseite ein gußeiserner Etagenofen (~d~). Verläßt man dieses Zimmer und wendet sich in der Hausflur links, so gelangt man in die 6° lange und 5½° breite +Wohnstube+ des Wächters (~e~) in der sich ein Plattenofen (~f~) befindet. Von hieraus führt eine Thüre in die 6° lange und 3½° breite +Stubenkammer+ (~g~) worin sich auf der hinteren Seite eine +Erhöhung+ (~h~) durch den Kellerhals hervorgebracht, befindet, zu der eine 3 Stufen hohe Treppe führt (~i~). Geht man sodann in die Hausflur zurück, so kommt man auf der linken Seite, in die 3¾° lange und 2½° breite +Küche+ (~k~). In derselben steht ein gemauerter Heerd (~l~) mit eingesetzter Bratröhre (~m~). Ferner führt von der Hausflur aus links durch eine Doppelthüre auf einer Treppe (~n~) (s. Abbildung ~A. a.~) von 11 steinern Stufen in den 9° langen und 4° breite einfach gewölbten (s. Abbildung ~A. b.~) +Keller+ (~Ac.~) (~o~). Kommt man wieder hinauf aus dem Keller zurück, so gelangt man durch zwei Thüren in die Privets (~p~). In die Etage (~C.~) gelangt man durch eine mit Geländern versehene 13 Stufen hohe hölzerne Treppe (~q~). Durch die Treppe (s. Abbild. ~C.~) (~a~) kommt man auf einen kleinen Vorboden (~b~). Auf diesem befindet sich ein Dachfenster (~c~). Dem gegenüber in das 8¾° lange und 5½° breite +kleine Gesellschaftszimmer+ (~d~), in welchem ein kleiner gußeiserner sogenannter Kanonenofen (~e~) sich befindet. Verläßt man dieses Zimmer so kommt man rechts von obengenannten Vorboden in die +Schlafkammer+ des Wächters (~f~), sie ist 16° lang und 6½° breit, auch geht hier die Esse (~g~) zum Dache hinaus. Dieser Kammer gegenüber, mithin links des Vorbodens ist eine +zweite+ ebenfalls so lange und breite +Kammer+ (~i~) als die Vorige. Von dieser Kammer aus führt eine hölzerne 9 Stufen hohe Treppe (~k~) auf den +Oberboden+.[111] Der +Stall+ (s. Abbild. ~A. d.~) befindet sich im Erdgeschoß und ist 12° lang und 9° breit. Uebrigens ist er zu 8 Pferden, mit 3 Standbäumen (~e. f. g.~) und einer Krippe (~i~) versehen. Am östlichen Ende befindet sich ein Kuhstand. (~h~) -- * * * * * Die Kosten des Baues betrugen, alles gerechnet, über 1000 Thlr. Baumeister waren der Zimmermeister +Friedrich Rau+ in Schwarzenberg und der Mauermeister +Karl Hübschmann+ in +Grünstädtel+. --[112] So wurde ein Werk, welches im Anfang so schwierig zu gedeihen schien, doch durch den unermüdeten Eifer des Herrn Rentamtmann +von Schleinitz+ und des Herrn Finanzprocurator +Lindner+ zur Zufriedenheit Aller vollendet. -- Anhang. Als Anhang möge eine +Charade+ noch Platz finden, die durch ihren Inhalt zum 1. Theile passend ist:[113] Heller Himmel, blau und golden, Lerchenschlag, Pirolensang, Lockten mich mit meiner Holden Nach umbuschten Bergeshang. Wie berauscht vom Wonnemorgen, Plaudernd bald, und singend bald, Streiften wir ganz ohne Sorgen Immer tiefer in den Wald. Und schon trieb die muntere Heerde Blasend ein der ferne Hirt, Da -- macht' Etwas uns Beschwerde; Denkt! wir hatten uns verirrt. Alles war so lau und luftig, Gleich dem Sammte schien das Gras, Maien wehten, ach! so duftig -- Doch, zu hungern, ist kein Spaß! »Laß an +Drei+ und +Vier+ uns halten;« Sprach ich -- »der steht Felsenfest An ein unbekanntes Walten, Schützend selbst des Sperlings Nest.« »»Magst mir's, wenn ich satt bin, sagen;« -- Meinte, schlecht erbaut, mein Kind! -- »Doch, sieh' dort den Meiler ragen; Laß zu ihm uns gehn geschwind.«« Ob wir gleich den Lauf begannen, Eifrig suchten kreuz und quer, Sah'n wir, ob der hohen Tanne, Doch nun selbst den Rauch nicht mehr. Bald -- wie einst der schwarz Rabe Fütternd zum Propheten kam, Bot von +Eins+ und +Zwei+ ein Knabe; +Erdbeer'+ uns und Brod und Rahm. Von der treuen +Ersten+ Hütte Wählten wir den Speisesaal; Milch und Brod in ihrer Mitte Mahnt' uns an ein fröhlich Mahl.[114] Doppelt schien der Wald nun luftig, Noch einmal so grün der Grund, Auch die Tanne weht' uns duftig, Glas an Glas und Mund an Mund! »Siehst Du, Kind!« -- so rief ich fröhlich -- »Daß der +Letzte+ nicht verläßt; Woll'n an ihm, -- dann sind wir seelig -- Gleich, der +Ersten+, halten fest!« -- F. K. Auflösung. Den Schlüssel hier zur Schraube Giebt zwar -- der +Köhlerglaube+, -- Doch nimm ihn nicht sogleich als baare Münze hin, Prüf' lieber erst genau, bis Du erspähst den Sinn! Dann schlage +hier+ noch nach, triffts +hier+ auch glücklich ein? So war die Freude groß und -- nirgends leerer Schein! -- So prüf' gefälligst auch die Prosa dieser Schrift Und sprich nicht gleich zuvor die schrieb gewiß kein Swift! -- Ist dir dann manches neu, doch der Geschichte treu gewesen, Dann bitte, nimm es an, als Deiner Nachsicht werth zum Lesen. -- Annaberg, gedruckt bei +Eduard Hasper+. Berichtigungen. Seite 2 Zeile 22 v. o. nach: traf ist einzuschalten: +es+. " 3 " 3 " " statt: Plugk lies: +Pflugk+. " 3 " 10 " " nach: Schwickershain fehlt: (-- +das heutige Schweickershain+ --). " 4 " 3 " u. statt: Türingen lies: +Thüringen+. " 5 " 2 " o. statt: ihm lies: +ihn+. " 5 " 8 " " statt: vom lies: +von+. " 5 " 13 " " " im lies: +in+. " 5 " 15 " " " meißnische lies: +meißnischen+. " 5 " 9 " u. " dem lies: +den+. " 6 " 2 " o. " dem lies: +den+. " 7 " 12 " " " wären lies: +waren+. " 7 " 17 " " " Verträge lies: +Verträgen+. " 8 " 12 " u. " ihm lies: +ihn+. " 8 " 10 " " fällt nach Dienstag das +Komma+ hinweg. " 10 " 5 " o. fällt nach Isenburg das +Komma+ hinweg. " 10 " 6 " " statt: seine lies: +seinen+. " 10 " 5 " u. " folgender lies: +folgenden+. " 11 " 1 " " " Hanse lies: +Hause+. " 12 " 6 " o. nach: als ist einzuschalten: +solches+. " 15 " 10 " " statt: seinen lies: +seinem+. " 16 " 15 " " " Monument lies: +Monumente+. " 16 " 5 " u. " auch lies: +auf+. " 18 " 13 " " " solte lies: +sollte+. " 23 " 2 " o. " Prinz lies: +Prinze+. " 28 " 4 " u. " exestirte lies: +existirte+. " 30 " 1 " o. nach: zunehmen ist einzuschalten: [40] " 30 " 2 " " statt: den lies: +dem+. " 30 " 19 " " " wär lies: +wäre+. " 33 " 3 " u. laß die erste 1 weg. " 40 " 2 " o. statt: mehrfaches lies: +mehrfachen+. " 40 " 4 v. o. statt: den lies: +dem+. " 40 " 9 " " " Prinzenraub lies: +Prinzenraube+. " 40 " 14 " " " weiten lies: +weitem+. " 42 " 14 " u. " Pachter lies: +Pastor+. " 44 " 1 " o. " Hände lies: +Händen+. " 44 " 10 " " " Vulpius lies: +~Vulpius~+. " 47 " 19 " " " mit lies: +nit+. " 48 " 11 " " " der Familie lies: +die Familien+. " 48 " 3 " u. " deusche lies: +deutsche+. " 51 " 11 " " nach: vier Kinder schalte ein: +eine Prinzessin und+. " 52 " 2 " o. statt: Turzold lies: +Tunzold+. " 54 " 5 " " fällt das Wort: +der+ hinweg. " 57 " 11 " " statt: den lies: +dem+. " 58 " 1 " " " welcher lies: +welchen+. " 58 " 3 " u. " Pachter lies: +Pastor+. " 60 " 5 " " " Pachter lies: +Pastor+. " 69 " 6 " o. " hinterlich lies: +hinderlich+. " 70 " 6 " " " ihre lies: +ihrer+. " 71 " 7 " " " den beiden Lehrern lies: +der beiden Lehrer+. " 75 " 5 " o. " welchen lies: +welche+. " 75 " 8 " " " konnten lies: +konnte+. " 75 " 16 " " " jener lies: +jene+. " 76 " 1 " u. " ~p.~ 64 lies: ~p.~ 46. " 81 " 4 " " " Abgemeinen lies: +Allgemeinen+. " 82 " 9 " " setze: (~d~) unmittelbar hinter dem Worte: +Etagenofen+. " 82 " 1 " " setze: (~i~) unmittelbar hinter dem Worte: +führt+. " 83 " 3 " o. setze: (~k~) unmittelbar hinter dem Worte: +Küche+. " 83 " 4 " " setze: (~m~) unmittelbar hinter dem Worte: +Bratröhre+. " 83 " 11 " " setze: (~p~) unmittelbar hinter dem Worte: +Privets+. " 83 " 11 " u. statt: Kanonofen lies: +Kanonenofen+. " 83 " 10 " " nach: kommt schalte ein: +man+. " 83 " 5 " " statt: lang lies: +lange+. " 84 " 3 " " " speciel lies: +speciell+. [Illustration: Die innere Ansicht des Köhlerhauses am Fürstenberge.] Fußnoten [1] s. ~Aen. Sylvius de statu Europae c. 24. ap. Frkhr. T. II. pag. 221. (edit. Struv. Argentor 1717.) »Conradus Rauses (de Kauffungen) nobili loco apud Saxones natus, bellicae rei peritus, manu promptus, et animo imperterritus etc.«~ -- [2] ~Albinus~ Landchronik der Meißn. Lande. ~pag.~ 265. [3] s. Kunzens Revers wegen des ~ad interim~ ihm eingeräumten Gutes +Schwickershain+ und Zugehörungen unter den Beilagen zu den gleich anzuführenden +Churfürstl. Manifeste+ in +Wecks+ Dresdner Chronik, ~pag.~ 170. -- [4] sowohl die Koburgsche Pflege, als auch alle Schlösser und Güter in Thüringen. ~+Kammermeisteri+ Annal. Erfurt, ap. Menken. T. III, pag. 1180--1215.~ [5] +Müllers+ sächs. ~Annal. pag. 29, Chron. terrae Misn. pag. 360. Kammermeisteri, l. c. T. III. p. 1210~. [6] Der +Landfriede+ wurde zuerst durch eine Verordnung der geistlichen Synode zu +Elne+ in Rousilon den 16. Mai 1027. als eine Zeit, wo keine Fehden bei Vermeidung des Bannes eintreten sollten, ausgesprochen. Es durfte hierdurch namentl. kein Krieg statt finden, wenn Gottesdienst gehalten wurde. In Deutschland trat dieser Landfrieden später jedoch allgemeiner ein im Jahre 1495. und das Reichskammergericht entstand nun zugleich als Behörde, welche darüber zu richten hatte und bei welcher alle deutschen Fürsten verklagt werden konnten. Mithin fehlte es zur Zeit des Prinzenraubes noch an einer Gerichtsbehörde, sogar in Sachsen selbst wurden das Oberhofgericht zu Leipzig und die Landesregierung zu Dresden erst im Jahre 1483 u. 1486 errichtet, s. v. +Römers+ sächs. Staatsrecht Th. 2. ~pag.~ 104. §. 12. -- +Kretschmanns+ Geschichte des Oberhofgerichts zu Leipzig, seit seiner Entstehung. Leipzig 1804. 8. -- Früher wurde der Landfrieden in Thüringen als im Meißnischen und überhaupt in Deutschland eingeführt durch das auf dem Landtage zu Weisensee beschlossene Gericht vom J. 1446. s. +Weißens+ sächs. Geschichte Band 2. ~pag.~ 377. [7] Daß +Kunz Eisenberg vor+ dem Prinzenraube besessen hat, ersieht man aus einer Montags nach Ostern 1455. ausgestellten Urkunde. (~Schoettgenii opuscula minora per Godofr. Imman. Grandig.~ 337) worin +Kunz+ sich als Zeuge auf folgende Weise unterschrieben hat: +Kunyz Kauffungka snd in ein na Eysenberczia.+ d. i. Kunz von Kauffungen gesessen zu Eisenberg. -- +Eisenberg+ ist noch +jetzt+ der Name des Schlosses. [8] +Schreiters+ Geschichte des Prinzenraubes ~pag.~ 1 da 167 u. f. [9] Nach dem julianischen Kalender der 25. Juni, nach unserm verbesserten Kalender der 7. Juli. [10] Indem Kunz von Kauffungen als früherer Schloßhauptmann im ganzen Altenburger Schlosse bekannt war. [11] s. +Albinus+ a. a. O. ~pag.~ 266. -- [12] s. +Müller+ a. a. O. ~Tab.~ 2 u. ~Tab.~ 16. [13] Dieser Brief befindet sich auch in ~Vulpii Plagio Kauffung~. Weißenfeld 1704. 4. ~pag.~ 8. -- [14] +Im verständlicheren Deutsch+: Meinen willigen Dienst, samt alles Liebes und Gutes zuvor. Ehrbarer, strenger lieber Junker! Da der Kurfürst gewiß beschlossen hat, morgen Sonntags nach der Frühmesse nach Leipzig zu fahren mit den meisten Hofleuten, auch auf den Montag Abend der Kanzler ein Gastmahl in seinem Hause ausrichten wird, wobei denn viele Hofleute sein mögen, da nun auch auf dem Schlosse um diese Zeit der alte Asmus allein den Trabantendienst hat, der zuerst eingeschläfert werden muß, da endlich auch der Pförtner bettlägerig ist, so kann ich Euch dies alles nicht bergen, und meiner angelobten Treue gemäß Euch zu dienen, und nun Euern Veranstaltungen gewärtig zu sein. Darnach Ihr Euch zu richten habt. Datum Altenburg am Sonnabend nach Mariä Heimsuchung. Anno 1455. +Hans Schwalbe.+ [15] s. +Brauns+ monatl. Auszug der Gesch. v. Sachsen. Th. IV. ~pag.~ 486. Die Leiter hatte Schwalbe befestiget, doch waren es nicht eigentliche Strickleitern, wie die noch jetzt zu Freiberg befindlichen Stücke davon zeigen. Man sehe auch das Manifest bei +Weck+ a. a. O. [16] Nach einer Handschrift, welche ~M.~ +Joh. Tauchnitz+ 1633, der als Pfarrer in +Morstab+ bei Altenburg starb, hinterlassen hat. [17] s. +Albinus+ a. a. O. ~pag.~ 267 und die +sächs. Provinzialblätter+ 1801, im Januar Stück 82. [18] Die Namen derselben befinden sich, in einer Beilage zu dem Manifest. Bei +Weck+ a. a. O. ~pag.~ 172. [19] +Dieser Wald+ ist jetzt noch 2 Stunden lang und 1 Stunde breit. [20] Ehe er dorthin kam mußte er die Mulde passiren, allenfalls bei einem Furt durch die Mulde setzen, welches bei mittelmäßigem Wasser angeht, wäre aber dieß damals nicht möglich gewesen, so mußte er die +Wolkenburger+ Brücke passiren. Nun besaß er aber das nahe bei Wolkenburg über der Mulde gelegene Schloß und Rittergut +Kauffung+, sein Stammhaus, wo er sich bisweilen um die Zeit seiner Streitigkeiten mit dem Kurfürsten muß aufgehalten haben, weil er seinen Revers an den Kurfürsten mit folgenden Worten anfängt: +Ich Kunz von Kauffungen zu Kauffungen gesessen.+ [21] s. +Schreiter+, a. a. O. ~pag.~ 256. ff. [22] Nämlich am +Fürstenberg+, ein Berg im Zwickauer Kreisdirektionsbezirk, im Amte Grünhain ¾ Stunde von +Grünhain+ und ¾ Stunde von +Raschau+, im Schneeberger Bergamtsrevier gelegen. Diesen Namen führt er erst seit dem Prinzenraube, indem er früher »+Schmiedewald+« hieß. Man findet hier sehr viele alte Meilerstätten, vorzügl. rechts bei dem jetzt errichteten +Monumente hin+, auch oberhalb des Denkmals bei dem Marmor- und Kalkbruche, die mit Moos und Erde schon überzogen sind, wozu Jahrhunderte gehören. -- Nach +Schumanns+ Staats-, Post- und Zeitungslexikon. Band 15. ~pag.~ 976. käme der Name Fürstenberg, nicht von der Befreiung des Prinzen her, sondern von +First+ (+Hochberg+) allein blos der untere Theil des Berges heißt hier Fürstenberg, nicht auch die höchste Spitze desselben oben in der Nähe bei Grünhain, die +Spiegelwald+ genannt wird. Er verwechselt daher offenbar diesen Berg mit dem bei Schneeberg, und es ist +erwiesen+, daß dieser erstere früher +Schmiedewald+ hieß. (s. Anmerkg. 32.) Am Fürstenberge befinden sich mehrere Bergwerksgruben, so rechts von der Quelle die +Fürstenberger Fundgrube+, welche auf Eisenstein baut. Ferner links von der Quelle nach dem Dorfe +Haide+ zu +Himmlisch Heer+ und dann der +Frischglückstolln+. Nach +Gottesgeschick+ zu auf der Wiese liegt der +Mohrenstolln+. Der schon oben erwähnte +Marmorbruch+ befindet sich über dem Denkmale, auf der Spitze des Fürstenberges. Besitzer ist dermalen der Herr Erbrichter +Stölzel+ zu +Oberscheibe+. Dieser Marmor zeichnet sich vorzüglich wegen seiner Festigkeit und Weiße aus. Da man aber immer nicht den gehörigen Gebrauch davon gemacht hat, so ist er jetzt sehr schwer zu gewinnen, und wird zu Kalk verbrannt. Nicht weit davon ist +Kieselshoffnung+, wo man Kupferkies gewinnt. [23] s. +Spangenbergs+ Mansfelder Chronik 559. +Albinus+ a. a. O. 269. ~Fabric. Origg. Saxon. liber.~ 7. [24] s. +Oesfelds+ Landchronik. 2. Th. 65. [25] In Adam Daniel +Richters+ Annaberger Chronik. 1746. 1. Th. 1. St. ~pag.~ 6. steht folgendes geschrieben: »+Es ist ein geschickter, kunstreicher Mann gewesen, mit Namens, Peter Rosenkrantz, in das Kloster Grünhain gehörig, welcher noch am Leben gewesen, als der Schneeberg (1471.) aufkommen. Dieser Rosenkrantz und Kuntz von Kauffungen sind stets beisammen gewesen, und als Kuntz von Kauffungen die jungen Fürsten von dem Schlosse Altenburg wollen wegstehlen, hat ihn Rosenkrantz sehr gewehret, er sollte es nicht thun, es würde ihm Leib und Leben kosten. Welches auch hernach geschehen ist.+« -- [26] Kam erst 1459 zu Sachsen, indem +Georg Podiebrad+, König von Böhmen, seiner Tochter +Sidonia+ die Herrschaft +Schwarzenberg+ als +Morgengabe+ bei ihrer Vermählung mit dem Herzog +Albrecht+ (derselbe, den Kunz von Kauffungen geraubt hatte) mitgab. Schwarzenberg wurde damals Schwarzenburg genannt. s. +Lunigs+ deutsches Reichsarchiv. ~Part. spec. cont. I.~ B. 6. Der ersten ~Contin.~ 1. Forsetz. ~pag.~ 232. s. a. +Richter+ a. a. O. ~pag.~ 28. -- [27] +Grünhain+ ist eine kleine Bergstadt im Königreich Sachsen im Kreisdirektionsbezirk Zwickau, im Amte Grünhain, an der Chaussée nach Chemnitz gelegen. Sie ist offen, amtsässig und der Sitz des Amtes Grünhain. 153 Häuser mit 1389 Einwohner (1839) enthaltend. Die Stadt liegt untern 30° 28′ der Länge und 50° 34½′ bis 35′ der Breite. 1⅛ St. NNOlich von Schwarzenberg, 1 St. von Elterlein und 3 St. von Annaberg; östlich 2¼ Stunde von Scheibenberg, 2 St. von Schlettau und 3 St. von Geier; 1 St. südlich von Zwönitz; 1½ St. SOlich von Lößnitz; 1½ St. von Aue und 3 St. von Schneeberg OSOlich, gegen 2000 par. Fuß über dem Meere. -- Wo dermalen das Amthaus mit seinem sogenannten +Klostergarten+ steht, stand früher ein Cistercienser Kloster, welches 1142 (nach +Weinarts+ weiter unten angeführten Schrift: um das Jahr 1170, indem es in diesem Jahre mit Cistercienser Mönchen, aus dem Kloster +Sittichenbach+, und dieses 1141 aus dem Kloster Walkenreden besetzet worden sei), nach Andern 1236 gegründet und 1536 wieder aufgehoben wurde. Von den Aebten des Grünhainer Klosters sind nur noch folgende bekannt: Abt +Nicolaus+ 1443, +Liborius+ 1456, +Johann Funk+ (+Johannes+) 1475, +Paul Morgenstern+ von Zwickau, +Gregorius Küttner+ 1517, +Johannes+ (+Göpfert+) der letzte Abt 1533, wurde dann 1536 lutherisch, heirathete und zog nach +Schlettau+. s. +Oesfeld+ historische Beschreibung von Lößnitz (1777) II. ~pag.~ 65--76. -- +Erb-+ und +Lehnbrief Ottocari+, Königs von Böhmen, an das Kloster Grünhain v. Jahre 1261 (in den unschuldigen Nachrichten, 1725, ~pag.~ 529.) -- +Summarischer Extract+ eines diplomatischen Manuscripts vom Kloster Grünhain (s. +Horn's+ Handbibliothek II. ~pag.~ 304--19.) -- +Beschreibung+ von +Grünhain+ vom Pastor +Schreiter+ in Elterlein (s. Erzgebirg. Boten. 1808. ~pag.~ 218--24.) -- ~M.~ +Freibergs+ gelehrte Grünhain. Dresden 1737. 4. 2. Bogen. -- Altes aus allen Theilen der Geschichte ~C. I.~ ~pag.~ 415. -- ~+Schoettgen+ et +Kreyssig+ diplomat. II.~ ~No.~ 17. -- Tobias +Schmied+ in ~Chron. Cygnea Part. I.~ ~Cap.~ 4. ~pag.~ 18 u. 19. -- ~+Ecksterm.+ in Chron. Walkenred.~ ~pag.~ 48. -- ~+Schmied+ dict. Chron. Part. poster. in Annal.~ 1429. ~pag.~ 189. +Weinarts+ Rechte u. Gewohnheiten der beiden Markgrafthümer Ober- und Niederlausitz. Leipzig; 1793. 1. Th. ~pag.~ 512. -- +Richter+ a. a. O. 1. Th. 1. Stück 1746. ~pag.~ 6. u. dessen 2. Th. 1. Stück. 1748. ~pag.~ 33. -- +Schumann+ a. a. O. 3. Band. ~pag.~ 602--610. u. 16. Band, ~pag.~ 561--575. -- [28] Nach +Albinus+ a. a. O.; +Groschupf+ (~Oratio degentis Trillerianae ortu, progressu et insignibus~) und nach ~Dr.~ Daniel Wilhelm +Trillers+, sächsischer Prinzenraub, hat Prinz +Albrecht sich gestellt+ als habe er einen so heftigen Hunger und Durst, daß er erst selbigen stillen müsse, ehe er weiter reiten könne. [29] s. +Tenzels+ curieuse Bibliothek. 2. ~Repositor.~ 744. -- +Richters+, Chemnitzer Chronik. 2. Th. 1. Stück ~pag.~ 34. -- [30] Der Kurfürst ließ sie auf seine Kosten umgießen und die ganze Darstellung des Prinzenraubes nebst des Köhlers Bildniß darauf prägen. Allein sie sprang 1530 abermals und wurde 9 Jahre nachher eingeschmolzen. -- [31] Nach Albinus a. a. O. war es nur ein Vorwand, indem der Prinz schon die Köhler von weiten gesehen hätte. -- [32] Wahrscheinlich sagt +Schreiter+ a. a. O.: brannten sie die Kohlen für die Schmiede in Geier und wurden von ihnen mit Brod ausgelohnt. Auf diese Vermuthung bringt mich +Oesfeld+, welcher im Schömburgischen Kalender vom Jahre 1798 schreibt: »Zur Auflösung dieses Zweifels verhilft mir ein Kaufbrief über den der hiesigen Kirche und Hospital zu Lößnitz gehörenden +Grünwald+, daß derselbe an den +Schmiedewald+ grenze. Der Name des Schmiedewaldes rührt von den Geierschen Schmieden her, welche das Holz darauf gekauft und zu Kohlen haben brennen lassen. Da Geier eine alte Bergstadt ist, (erbaut im Jahre 1395. Richters Annaberger Chronik. Th. 1. ~pag.~ 8.) welche eher als die umliegenden Orte gestanden hat: so muß auch das Handwerk der Schmiede dort zahlreich und wohlhabend gewesen sein, dazu die Bergschmiede anbei viel müssen beigetragen haben. Da sie nun auf dem Schmiedewalde in einer Entfernung von 3 Stunden haben kohlen lassen; so ist es wahrscheinlich, daß sie auch solches auf dem Fürstenberge haben thun lassen können. (Der Fürstenberg hieß früher Schmiedewald.) Nimmt man nun an, daß dieses geschehen sei, so läßet es sich erklären, daß sie auch die Köhler mit Brod versorgt haben, folglich der +Bruderssohn+ des +Georg Schmidts+ in +Geier+ und nicht in Grünhain das Brod hat holen lassen.« -- Wenn nun die Herrn +von Schönburg+ den Schmieden zu Geier Erlaubniß ertheilten, im Schmiedewald Kohlen zu brennen, so ist +Oesfelds+ Vermuthung ganz richtig, daß sie ihnen auch am Fürstenberge auf demjenigen Hartensteinischen Theil, der ihnen damals noch gehörte, diese Erlaubniß ertheilen konnten. -- s. ~Vulpius l. c. §.~ 24. -- Die Hartensteiner und des Grünhainer Klosters Besitzungen lagen nämlich damals sehr untermengt untereinander. [33] +Schweinitz+ soll wirklich nach Albrecht einen +Schwerdtstreich+ geführt haben. s. +Albinus+ a. a. O. ~pag.~ 270. -- [34] Man schlägt nämlich mit einem Messer, das bei den Bergleuten und Köhlern +Zschörper+ heißt, auf das Eisen einer Holzaxt und der Schall davon ist sogleich allen Köhlern ein Zeichen, daß Gefahr vorhanden sei. -- [35] ~D.~ +Triller+ a. a. O. 77. ~sub lit. R.~ und ~Fabricius in Origg. Sax. lib. VII~. [36] Daß +Liborius+, Abt zu Grünhain im Jahre 1455 gewesen ist, sieht man daraus, indem +Horn+ in seiner Handbibliothek ~pag.~ 316 einen Auszug aus einer Urkunde, die Abt +Liborius+ in demselben Jahre ausgestellt hat, liefert. -- Die ganze Urkunde aber findet man in ~Historia diplomatica Abbatiae Grunhaynensis~. §. 55., welches Werk in ~Schoetgenii et Kreysigii scriptoribus Hist. Germ. med. aevi. Tom. II.~ 526.--569. eingerückt ist. -- Eine andere Urkunde dieses Abtes von 1456 enthält +Wellers+ Altes aus allen Theilen der Geschichte. 4tes Stück 417. -- [37] Mehrere Geschichtsforscher wollen behaupten, daß er in +Grünhain+ übernachtet hätte. -- [38] In +Schmiedts Zwickauer Chronik+, ~pag.~ 444 wird deswegen die Ablieferung nach Zwickau behauptet, weil er als Hauptmann (Amtshauptmann) zugleich Klostervoigt zu Grünhain, und der Klosterhof zu Zwickau, die Klostervoigtei gewesen sei und die Markgrafen zu Meißen, nachher Kurfürsten zu Sachsen, hätten durch ihre Hauptleute zu Zwickau immer die Voigteigerechtigkeit verwalten lassen. [39] Diese wurde erst im Jahre 1821. eingerissen und das jetzige +Amthaus+ dafür erbaut. Bis dahin existirte aber noch die +Fürstenstube+ oder der +Fürstensaal+ in dieser Schösserwohnung, in welcher, der Sage nach, Prinz +Albrecht+ geschlafen hat. [40] +Eisenburg+ ist eine ehemalige Burg im Zwickauer Kreisdirectionsbezirk, in der schönburgischen Herrschaft +Stein+, im Amte Lößnitz, ½ Stunde südl. von Hartenstein auf dem linken Ufer der Mulde, im Steinschen Walde gelegen. Es sind von derselben nur einige Ruinen übrig, und unter dem Namen des +Raubschlosses+ bekannt. Der Eisenburg gegenüber führt durch die Mulde der sogenannte Eisenfurt und nicht weit davon befindet sich die Eisenbrücke, beide von den Eisenfuhren so genannt, die sonst häufig zwischen Lößnitz und Schneeberg verkehrten. Man vergleiche +C. G. Grundigs+ Nachrichten von dem in der Herrschaft Stein ehemals gelegenen Schlosse Eisenburg. (in Kreißigs Beitr. II. ~pag.~ 378--391.) In +Schumann+ a. a. O. Band 15. ~pag.~ 569. steht geschrieben: »Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß +Mosen+ den Kurprinzen +Ernst+ hierherbringen wollte, vielleicht gar aus Mißverständniß, da Kaufungen ihn vielmehr nach +Eisenberg+ in Böhmen geschafft wissen wollte; denn wie sollte Mosen außerdem in die Gegend der sogenannten Prinzenhöhle gerathen sein? Nach der Volkssage war damals die Mulde so angelaufen, daß Mosen sich nicht hinüber wagte, und sich lieber in den erwähnten Stollen (Höhle!) verbarg. -- Nach Grundigs Meinung wäre die Eisenburg ums Jahr 1060 erbaut, und von jeher ein Zubehör oder eine Vorpost vom nahegelegenen Schlosse +Stein+ gewesen.« -- [41] Die +Höhle+ hieß früher die sogenannte +Teufelskluft+, die aber seitdem +Prinzenhöhle+ genannt wird. Nach +Engelhardts+ Denkwürdigkeiten der sächs. Geschichte, Theil 1. ~pag.~ 83. befindet sie sich: »am rechten Ufer der Mulde, der auf dem jenseitigen Berge liegenden +Eisenburg+ gegenüber (jetzt sieht man nur einige Ueberreste), ist von zweien oben zusammen gewachsenen Felsen gebildet, hat eine dreieckige Oeffnung und ist 36 Ellen lang und 4 Ellen breit. Unten am Fuße des Berges ging die fränkische und Nürnberger Straße vorbei. Man sieht noch in der Mulde Ueberbleibsel von steinernen Pfeilern einer ehemaligen Brücke bei seichtem Wasser und auch die alte Furt. Die Höhle war ganz mit Bäumen und Sträuchern verwachsen und ihrer erhabenen Lage wegen besonders bequem, den geraubten Prinzen zu verbergen. Man konnte auf die Landstraße sehen, unbemerkt jeden Angriff beobachten und sich dann auch mit leichter Mühe vertheidigen, weil der Aufgang zu der Höhle sehr steil ist.« -- In einer Anmerkung sagt derselbe Schriftsteller auch: »Man hatte sie längst vergessen und Niemand wußte sie zu zeigen. Im Jahre 1779. aber wurde sie bei der Vermählung einer +Gräfin von Hochberg+ mit dem +Grafen von Schönburg+ den 19. August wieder aufgesucht, gesäubert, mit einer Inschrift versehen und zu verschiedenen Feierlichkeiten gebraucht.« +Schreiter+ a. a. O. sagt von dieser Höhle: Die Höhle war ganz verwachsen bis 1779. bei der Vermählung der Comtesse in Hartenstein, +Sophie Friederike Erden+ mit dem Herrn +Grafen v. Hochberg+ in Schlesien, wo sie wieder vom Buschwerk befreit und zugänglich gemacht, auch inwendig auf einer aufgehangenen Tafel die Feierlichkeit eines dabei gehaltenen ländlichen Mahls aufgezeichnet wurde. Seit 1796 aber hat der damalige Eigenthumsherr der Herrschaft +Hartenstein+ mit +Stein+, +Fürst von Schönburg+, einen geräumigen Weg im Zickzack mit Ruhebänken anlegen und oben an dem schauerlichen Absturz ein Geländer machen lassen. -- [42] s. +Engelhardt.+ a. a. O. Th. 1. ~pag.~ 84. -- [43] Daß +v. Mosen+ und +v. Schönfels+ den Prinzen an +Friedrich+ und +nicht+ an +Veit von Schönburg+ ablieferten. s. +Schreiter+ a. a. O. ~pag.~ 246. ff. -- [44] +Triller+ a. a. O. ~pag.~ 100. [45] s. +Engelhardt+ a. a. O. Th. 1. ~pag.~ 86. Die deshalb gewechselten Schreiben s. beim ~Vulpius l. c. pag.~ 26. Auch findet man eine spätere Urkunde ohne Datum, wodurch die beiden Verbrecher, die ungeachtet jener Zusicherung, das Land meiden mußten, von dem Kurfürst +Ernst+ und seinem Bruder völlig begnadigt wurden, beim +Tentzel+ a. a. O. ~pag.~ 787. [46] Dieses versichert +Richter+, in seiner Chronik von Chemnitz, 2. Theil. 1 Stück 39., der es aus einem Fragmente einer Urkunde beweisen will. -- [47] +Ebersdorf+ liegt im Zwickauer Kreisdirectionsbezirk, im Amte Augustusburg, 1½ Stunde nordöstlich von Chemnitz bei Lichtewalde am Angerbache. -- [48] +Engelhardt+ a. a. O. Th. 1. ~pag.~ 88. beschreibt die Kleider so: »das eine Röckchen ist von rothem, grünen u. aschfarbigem, das andere von rothem, schwarzen u. weißem Landtuche. Sie sind mit Eisen ausgehackt und überall durchschnitten, wie man sie damals über Harnische zu tragen pflegte. Jedes ist 1⁹/₁₆ Elle lang, u. am Halse sehr weit ausgeschnitten. Die beiden schwäbischen Westerhemdchen haben um und um Falten und bunt genähte Borten. Des Köhlers Anzug besteht aus: einer grünen Tuchmütze, einem Rocke, Hemde und Kappe. -- [49] s. ~Vulp. Plag. Kauff.~ §. 27. +Ranisch+, verhinderten Raub der sächsischen Prinzen ~pag.~ 8. Ueber die Aechtheit der prinzlichen Kleider lese man die Schrift: ~Progr. de vestibus nunquam mutatis sed adhuc antiquis Princ. Ernesti atque Alberti Ebersdorf conservatis; ed. I. G. Hager, 4. Chemn. 1746~. [50] s. +Engelhardt+ a. a. O. Th. 1. ~pag.~ 89. [51] ~Hageri programma de vestibus nunquam mutatis, sed adhuc antiquis 1749.~ +Haschers+ Magazin 1784. 67. Mehrere Nachrichten von diesem +Nosseni+ findet man im 1. Band von +Grundigs+ Nachrichten zu der Geschichte von Obersachsen. -- Die Kosten der Reinigung der Kleider durch +Nosseni+ betrugen: 31. fl. 15 gr. 11 pf. [52] Die Messe wurde vom Pabst +Calixt+ III. 1456 bestätigt siehe die Urkunde beim +Teetzel+ a. a. O. ~pag.~ III. -- [53] ~Schoettgenius l. c.~ ~pag.~ 338. -- [54] +Schreiter+ a. a. O. ~pag.~ 183. sagt: Schon Markgraf +Friedrich der Gebissene+ von Meißen ertheilte im J. 1294 dem Rathe zu Freiberg ein solches Privilegium, welches folgenden merkwürdigen Inhalt hat: »Wir Marcgreve Friedrich von Meisen, pfalicggreve von sachsen etc. bekenne an diesem brive, daß wir uns mit unsern liben burgeren von Vriberc underredet haben, alshi nach geschriben stet. Unser gesworen sullen gewaldic sin unser recht czu rungnen unde czusecren alliz daz +uns unsir stat+ und +unsern bercwerke+ nuzce ist, unde was wir mit im +überkumen+, daz sal nimand wider reden. Wenn sie uns dazc gelobt haben, so gelobe wir in daz wider, daz sie irs liebes, irs gutes nummer ane varn sule vor uns sin +Vorwirket sich ymand yen uns, das wollen wir eugen unde teidiegen nach irme rate+. Daz wir diz gancz und stete halden. Das geb mir in diesen Brief besigelt mit unserem Insigeln. Unde der ist gegeben nach Gotes geburt, Tusend jar, zweihundert jar, in dem vir unde neucegistene jare, an denen tage der ufart unsers herrengotes.« -- (Dieses Privilegium befindet sich im ~Theatr. Freiberg.~ 169.; in +Klotzschens+ Ursprung der Bergwerke in Sachsen 283. -- Eigentlich war dies nur ein Bestätigungsbrief eines Privilegiums, das schon +Heinrich der Erlauchte+ dem Rathe zu Freiberg gegeben hatte, welches auch +Klotzsch+ in der jetzt genannten Schrift. ~pag.~ 281. hat abdrucken lassen, wo es unter andern heißt: ~volumus, ut siquid in Vriberc vel inmontibus judicandum sit vel tractandum, quod hoc fiat coram Advocato et illis viginti quatuor burgensibus nostris de Vriberc.~ -- Friedrich erweiterte aber nachher dies Privilegium und verstattete dem Rath zu Freiberg zu richten, nicht blos was dem Bergwerk, sondern auch +Ihm+ und der +Stadt+ zum Nutzen gereichen würde.) [55] Nach der damaligen Strafe für den Menschenraub. s. +Freiberger+ Stadtrecht, ~Cap.~ 5 und 22. +Sachsenspiegel.+ Band 2. ~Art.~ 13. +Sächs. Weichbildrecht.+ ~Art.~ 112. jedoch wahrscheinlich ohne Haltung von Acten hierüber, mithin auch ohne eine vorher stattgefundene Defension. s. +Schreiter+ a. a. O. ~pag.~ 176. ~ff.~ [56] Die Hauptquelle dieser Begebenheit ist das Kurfürstliche, schon angeführte +Manifest+. -- Zu den ältern von +Häberlein+ in seiner Reichshistorie. Th. 6. ~pag.~ 333. ~not. f.~ angeführten Geschichtsschreiber sind: ~Kammermeister l. c. Adpend. ad Annales Vet. Cell. ap. Mencken. Th. 2. pag. 428.~ und ~Ursinus in Chron. Thuring. pag. 1332.~ (der aber verschiedene Irrthümer enthält) beizufügen. Manches Einzelne der Erzählung findet man erst in spätern Geschichtsschreibern, besonders beim +Albinus+ a. a. O. ~pag.~ 267. ~ff.~ [57] +Engelhardt+ a. a. O. 1 Bd. ~pag.~ 31. schreibt davon folgendes: Als +Kunz von Kauffungen+ Oberster bei den Nürnbergern war, waren dieselben 1449 mit dem Markgrafen von Brandenburg +Albrecht+ III., in offene Fehde gerathen. Kunz erwarb sich dabei viel Ruhm, und es war Schade, daß er ihn durch eine unedle Handlung herabwürdigte. Am St. Gregorius Abend in der Fasten kam es zwischen den Nürnbergern und dem Markgrafen in einem Walde zu einem hitzigen Gefecht. Kunz von Kauffungen kämpfte mit fünfzig reißigen Schützen, die er anführte, so wacker, daß er den Markgrafen selbst gefangen bekam. Behielt er ihn, wie es seine Pflicht als Kriegsoberster der Nürnberger forderte, so hatte die Fehde gleich ein Ende und dem Blutvergießen war auf beiden Seiten gesteuert. Allein der gewinnsüchtige Kunz ließ ihn gegen ein tüchtiges Lösegeld +heimlich+ wieder los und so wurde denn die Fehde mit Erbitterung fortgesetzt. -- +Diese That+ meinte er in seiner letzten Stunde auf dem Schaffote. -- s. auch ~Christ. Schoett.~ -- ~gen. l. c. pag. 334.~ -- [58] +Albinus+ a. a. O. ~pag.~ 373. Wegen des Dorfes findet sich Verschiedenheit der Angabe. s. ~Schoettgen praetermissa pag. 14~. [59] s. ~Vulpius l. c.~, welcher die Belohnungen und Wohlthaten ausführlich beschreibt. [60] Gegenwärtig beziehet dieses Gnadenkorn der Herr Pastor +Triller+ in +Negelstädt+, 1. Stunde von Langensalza an der Unstrut und mithin im thüringer Kreise des königlich preußisch gewordenen Antheiles von Sachsen gelegen. Früher bezog dieses Deputat der Tuchmacher +Johann Samuel Triller+ in +Saalfeld+. s. +Schreiter+ a. a. O. ~pag.~ 95. [61] +Eckardsbach+, +Eckersbach+ ist ein unmittelbares Amtsdorf im Amte Zwickau, ¼ Stunde nordöstlich von Zwickau. Es besteht aus 15. Häusern und über 100 Einwohnern, welche nach Zwickau in die St. Moritzkirche eingepfarrt sind. Das Freigut in Eckardtsbach haben viele mit dem Kretzscham zu Rothensehma verwechselt, allein +Schreiter+ a. a. O. ~pag.~ 74 ff. hat solches sehr gründlich widerlegt. [62] +Triller+ ist ein altdeutsches Wort und heißt so viel als: plagen, ängstigen, zerschlagen. s. übrigens +Triller+ a. a. Orte. ~pag.~ 123. -- [63] +Elterlein+ ist eine kleine Bergstadt, 1 Stunde von Grünhain und 1¼ Stunde vom Fürstenberge, 1909 Einwohner und über 180 Häuser enthaltend. s. übrigens mehr davon in ~M.~ +Freibergs+ Abhandlung von gelehrten Elterleinern. 4. Dresd. 1739. Natürliche Seltenheiten um die Gegend Elterleins, s. in +Grundigs+ Natur- und Kunstgeschichte II., ~pag.~ 97. u. 108. -- +Richters+ Annaberger Chronik 2. Th. 1 Stück ~pag.~ 30. -- +Schumann+ a. a. O. 2. Band ~pag.~ 432--35. u. 15. Band. ~pag.~ 628--33. -- +Ziehnerts+ kleine Kirchen- und Schulchronik der Ephorie Annaberg u. Grünstädtel. Annaberg 1839. ~pag.~ 173 ff. -- +Schreiter+ a. a. O. ~pag.~ 49. -- [64] s. +Schreiter+ a. a. O. ~pag.~ 66. u. +Gast+, Geschichte des sächs. Prinzenraubes, Zwickau 1823 4. ~pag.~ 29. (es enthält diese Schrift zugleich eine Zusammenstellung der Schriften über jene Begebenheiten und die Portraits der bei ihr betheiligten Personen.) -- [65] s. +Engelhardt+ a. a. O. Band 1. ~pag.~ 90. -- [66] Diese 1--4 genannten Gemälde in größerem Formate, ingleichen die letzterwähnten 30 Portraits in kleinerm Formate befinden sich in einem Werke, welches beim Buchhändler +Weber+ in Ronneburg erschienen ist. -- Nachbildungen dieser Gemälde giebt +Gast+ a. a. O. -- Im +Staatsarchive+ zu +Dresden+ befinden sich ebenfalls Handzeichnungen, welche mit jenen Bildern übereinstimmen; ob sie die ersten Entwürfe sind, kann man nicht behaupten. -- [67] Am Erker des Rathhauses zu +Freiberg+ ist ein steinerner Kopf mit einem gräßlichen Gesichte, großen Knebelbarte und Sturmhaube ausgehauen, den man immer, wie wohl +fälschlich+, für Kunzens Kopf hielt. -- [68] s. +Engelhardt+ a. a. O. Band 1. ~pag.~ 101. ff. Dieser Gesang u. andere s. in +Herders+ Stimmen der Völker, auch in +Wagners+ deutsche Geschichte aus dem Munde deutscher Dichter, Darmstadt 1831. 1. Band ~pag.~ 205. -- [69] vorzüglich mit dem Obermarschall +Hugold von Schleinitz+. s. ~Dr.~ +von Langenns+ Werk über Herzog Albrecht d. Beherzten. 1838. ~pag.~ 141. 146. ff. u. 176. [70] s. ~Christ. Schoettgen. Praetermissa quaedam de Conrado (Kunz) Cauffungo ejusque familia in ejusdem Opusc. cura Grundiii pag. 325~. [71] +Haubold von Schleinitz+ nachmals Kurfürst +Ernsts+ und Herzog +Albrechts+ Gebrüdern von Sachsen, Oberhofmarschall (s. Anmerkung 69), welcher +Skassa+ bei Großenhain in Gnadenlehn erhielt, war von der +rothen+ Linie derer +von Schleinitz+, vermählt mit einer +Edlen von Plato+. [72] +Schumann+ a. a. O. unter +Kauffungen+. +Engelhardt+ a. a. O. Band 1. ~pag.~ 29. -- [73] Später nahm +Podiebrad+, König von Böhmen den Besitz von dem Schlosse Isenburg, wovon ~+Fabricius+ in origg. Saxon. liber VII. p. m. 773~ die Ursache davon angiebt. [74] so schreibt ~Dr.~ +von Lagenn+ a. a. O. ~pag.~ 29. Die Urkunde befindet sich ebenfalls in diesem Werke ~pag.~ 513. [75] Ist im Königreich Preußen, Provinz Schlesien, Regierungsbezirk Liegnitz, an der +Katzbach+ gelegen. [76] ebendaselbst gelegen, doch nicht an der Katzbach sondern am +Zacken+ und Bober. [77] +Kauffung+ berühmt durch seine Marmorbrüche. [78] Daselbst führt auch ein sehr bedeutender Wald den Namen: +Kauffunger+-Wald. [79] Der +Schürbaum+, der die Gestalt einer Keule hatte, wird jetzt bei dem Köhler selten mehr gebräuchlich sein. Statt dessen bedienen sie sich des sogenannten +Garschlägels+, welcher eine Aehnlichkeit mit dem Stockschlägel der Holzmacher hat. [80] Dieser +Schürhaken+ wird jetzt +Spreißhaken+ genannt und ist gemeiniglich nicht mehr doppelt, sondern nur einfach gekrümmt. -- [81] Dieses Wappen findet man in ~Vulpius l. c.~ [82] Diesen Namen führen 4 verschiedene Orte, nämlich das Bergstädtchen +Böhmisch-Wiesenthal+, am rechten Ufer der Pöhla, am linken herunter hingegen +Oberwiesenthal+, +Unterwiesenthal+ und +Hammerunterwiesenthal+ liegen, alle 4 Orte haben Stadtgerechtigkeit, nur daß die beiden letztern keinen Rath haben, sondern nach Art der Amtsdörfer dem Justiziariate +Oberwiesenthal+ unterliegen. -- Hier ist das Städtchen +Oberwiesenthal+ gemeint, welches damals zur Grafschaft +Hartenstein+ gehörte. [83] +Lünig+ a. a. O. ~Tom. XI. pag.~ 271. ff. [84] s. +Schreiter+ a. a. O. ~pag.~ 103, daselbst er angiebt, daß er sie den 18. Octbr. 1797 und am 8. Septbr. 1800 wo wegen großer Dürre alle Brunnen in hiesiger Gegend vertrocknet waren, besucht und doch wasserreich gefunden habe. [85] dermalen Obersteuerdirector und seit 1833 +Comthur+ des königl. sächs. Civilverdienstordens. [86] gestorben 1833. [87] Die +Inschrift+, mit lateinischen Lettern geschrieben, lautet: +Fürstenbrunn. Hier wurde Prinz Albrecht, Anherr des königl. sächsischen Fürstenhauses, am 8. Juli 1455 durch den Köhler Georg Schmidt, hernach Triller genannt, aus Kunzens von Kauffungen Räuberhand gerettet.+ [88] s. die +Abbildung+ ~No.~ 2. Die +Pyramide+, das Denkmal bildend, steht auf einem Piedestal von in Jaspis übergehenden braunrothen Thoneisenstein, an 5 Ellen hoch, hat an der Basis 4½ Ellen ins Gevierte und wurde 8 Ellen hoch aus Granit bei Schwarzenberg gehauen, welche 13 Stufen bilden. Dasselbe ist mit einer steinernen Mauer, an der Ruhebänke sich befinden und die in der Mitte das Denkmal mit dem in dessen Piedestal entspringenden +Fürstenbrunnen+ einfaßt, umgeben. -- Die Kosten dieses Baues betrugen: 509 Thlr. 10 gr. 11 pf. [89] gestorben 1835. [90] +~Friedrich August~ der ~Gerechte~+, König von Sachsen, geb. d. 23. Decbr. 1750, regierte vom 16. Septbr. 1768 an bis d. 5. Mai 1827, wo er sein Erdenleben vollendete. [91] geb. zu +Kindelbrück+ 1772. gest. zu +Annaberg+ 1834. [92] Die +Rede+ ist in Druck erschienen, betitelt: Rede zur Einweihung des am +Fürstenberge+ bei Grünhain errichteten patriot. Denkmales, gehalten am 8. Juli 1822. Annaberg bei Ed. Hasper. 8. [93] der jetzige Kammerrath +Reiche-Eisenstuck+ auf Schönfeld. [94] Dieser hatte sich schon früher für das Denkmal interessirt und bereits am 28. März 1836 nach erfolgtem Einverständniß mit dem Justizamte zu Grünhain dort eine Verbotstafel aufrichten lassen, allein leider! die Erfahrung machen müssen, daß auch eine solche Warnung den Verunstaltungen nicht Einhalt zu thun vermochte. [95] 100 Thlr. von Sr. Majestät dem +Könige+ und Ihro Majestät der +Königin+. 25 " Se. königl. Hoheit dem Prinzen +Johann+. 20 " Ihro königl. Hoheit dessen +Frau Gemahlin+. 20 " Ihro königl. Hoheit der Prinzessin +Auguste+. 20 " Ihro königl. Hoheit der Prinzessin +Marie Amalie+. Diese Beiträge wurden durch den Herrn Minister des königl. Hauses und Generalleutnant +von Watzdorf+, Excellenz, dem Herrn Rentamtmann von Schleinitz, der die gütige Verwendung desselben angegangen hatte, übersendet. [96] +Friedrich August+ II., König von Sachsen geb. d. Mai 1797, folgte den 6. Juni 1836 seinem Oheim, dem König Anton, in der Regierung. [97] +Marie+, Prinzessin von Baiern, Tochter König Maximilian's, geb. d. 27. Januar 1805, vermählt mit Sr. Majestät, den König von Sachsen den 24. April 1833. [98] +Gottesgeschick+ heißt eine gegenüberliegende Bergwerksgrube mit einem sehr stattlichen Berggebäude, unweit des Giftwerks »+Graul+«. Gebaut wird auf Silber. [99] Ein +Vitriol-+ und +Arsenikwerk+ zwischen dem Schwarzbache und dem Oswaldsbache, nächst bei Langenberg und Heide, dem Fürstenberge SOwärts gegenüber, ½ Stunde nördlich von Raschau. -- Dieses Werk gehört dermalen Herrn +Friedrich Fröhlich Köhler+ zu Beierfeld. s. mehr davon +Schumann+ a. a. O. Band 16. ~pag.~ 330. ff. [100] Der Herr Kreisamtscopist +Karl Süß+ zu Schwarzenberg, welcher sich als Köhler verkleidet hatte. [101] Der Verfasser des Gedichtes ist Herr Pastor ~M.~ +Richter+ zu Grünhain. [102] +Pauline Stiehler+ aus Grünhain, Tochter des Herrn Apotheker daselbst, und +Rosalie Grimm+, Tochter des Herrn Kaufmann +Grimm+ daselbst. [103] +Melanie Philippi+ aus Grünhain, Tochter des Herrn Justizbeamten daselbst. [104] vorzüglich ist da zu bemerken: 20 Thlr. von Sr. Durchlaucht +Otto Victor von Schönburg-Waldenburg+ und 10 Thlr. von Sr. Durchlaucht Fürst +Alfred Friedrich von Schönburg-Hartenstein+. [105] s. ~pag.~ 46. -- [106] ~C. C.~ aus +Herzberg+, im königl. preuß. Herzogthume Sachsen. [107] Herr Rentamtmann von +Schleinitz+ und Herr Finanzprocurator +Lindner+. [108] Es wohnt darin +Franz Anton Richter+ aus Raschau geb. d. 7. Juli 1808 mit seiner Frau und seinen Kindern. Er ist zugleich Bergarbeiter in der gegenüberliegenden Grube »+Gottesgeschick+«. -- [109] s. No. 164. der Leipziger Allgemeinen Zeitung, Donnerstags d. 13. Juni 1839. ~pag.~ 1912. -- [110] sind bereits im Jahre 1839 im Monat December angeschafft worden. [111] s. in Abbild. ~C.~ bedeutet das Dach. [112] Die Geldbeiträge, welche zum Aufbaue des Köhlerhauses von edlen Gebern gespendet wurden, findet man speciell verzeichnet in der ersten Beilage der Leipziger Zeitungen No. 101. 1839 ~pag.~ 1491 ff. unter dem Artikel: »Dank und Bitte.« -- [113] s. +Hebe+. Eine poetisch-musicalische Toilettenausgabe mit novellistischen und dramatischen Beiträgen, Gedichten, Räthseln etc. von Fr. Kind etc. Dresden und Pirna 1833 ~pag.~ 155. -- [114] Den 8. Juli 1455. Weitere Anmerkungen zur Transkription Die Längeneinheit ° auf S. 82 ff. bezeichnet vermutlich Klafter (ca. 1,7 Meter). Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend korrigiert. Unterschiedliche Schreibweisen wurden, sofern nicht unten dokumentiert, beibehalten. Die Korrekturen von S. 89/90 wurden eingearbeitet und sind unten ebenfalls aufgelistet. Korrekturen (das korrigierte Wort ist in {} eingeschlossen): S. 2: Plugk → Pflugk Niklas von {Pflugk} S. 2: es eingefügt Nun traf {es} sich aber S. 3: ergänzt: {(-- das heutige Schweickershain --)} S. 3: handschriftche → handschriftliche eine {handschriftliche} Versicherung aus S. 5: ihm → ihn erklärte {ihn} und seine Brüder als +Landesverräther+ S. 5: vom → von nachdrücklich auf seine Entfernung {von} Herzog S. 5: im → in Kunz trat deshalb mit ihm {in} Briefwechsel S. 5: meißnische → meißnischen auf seine {meißnischen} Güter S. 5: dem → dem auf {den} Donnerstag nach Galle S. 7: nehmrn → nehmen Rache an dem Kurfürsten zu {nehmen} S. 7: wären → waren {waren} verschiedene böhmische Städte S. 7: Verträge → Verträgen den deshalb geschlossenen {Verträgen} S. 8: ihm → ihn Kunz wollte {ihn} durchaus nicht gelten lassen S. 9: Augenwerk → Augenmerk hatte Kunz sein {Augenmerk} gerichtet S. 10: Folgender → Folgenden {Folgenden} Brief, wie er sich in den S. 12: solches ergänzt als {solches} seinen Verschworenen S. 15: seinen → seinem begleitet von {seinem} Reißiger S. 21: Entfühung → Entführung die {Entführung} der beiden Prinzen alles aufgeboten S. 23: Prinz → Prinzen und suchte dem {Prinzen} +Albrecht+ Waldbeere S. 23: Fußnotenanker korrigiert S. 30: zunehmen → zu nehmen, Fußnotenanker [41] ergänzt. gegenüber zum Zufluchtsort {zu nehmen[41]} S. 30: den → dem die {dem} jungen, zarten Fürstensohn S. 40: mehrfaches → mehrfachen brachten es nach {mehrfachen} Bitten S. 40: den → dem die Begnadigung {dem} Freiberger Rathe S. 40: Prinzenraub → Prinzenraube die Strickleitern zu dem {Prinzenraube} S. 40: weiten → weitem der bei {weitem} nicht die Schuld dabei hatte S. 41: Kauffungs → Kauffungens und Kunz v. {Kauffungens} treuer Reißiger S. 43: Hände → Händen Befreiung aus Kunzens {Händen} S. 45: des → der Die Entführung {der} Prinzen S. 47: mit → nit Das öhm die Köhler {nit} geleppischt hetten S. 48: der Familie → die Familien Einige Notizen über {die Familien} S. 51: Sepbt. → Septbr. starb den 12. {Septbr.} 1500 S. 51: ergänzt: {eine Prinzessin und} S. 52: Turzold → Tunzold dessen Söhne: +{Tunzold}+ und +Heinrich+ S. 54: der den → den zeigt sein Schein über {den} Interimsbesitz S. 55: uud → und {und} es bekannte +Hans von Kauffungen+ S. 55: Sanfmüthigen → Sanftmüthigen den Namen des +{Sanftmüthigen}+ gerechtfertigt S. 55: Aussenseite → Außenseite wie ein Denkmal an der {Außenseite} der S. 57: den → dem Ueber {dem} Helm zeigt sich S. 58: welcher → welchen {welchen} die Kurfürstin vor dem Prinzenraube hatte S. 58: Pachter → Pastor der Herr {Pastor} +Triller+ zu Nägelstädt S. 65: Superinteudent → Superintendent Der Herr {Superintendent} ~Dr.~ +Lommatzsch+ S. 69: hinterlich → hinderlich patriotischen Unternehmungen nicht {hinderlich} S. 70: ihre → ihrer in {ihrer} Mitte sehen zu dürfen S. 71: den beiden Lehrern → der beiden Lehrer und {der beiden Lehrer} der Bürgerschule S. 74: einen → einem auf {einem} mit Blumen bekränzten Körbchen S. 75: welchen → welche {welche} diesem Brunnen zunächst wohnen S. 75: konnten → konnte daß sie gehoben werden {konnte} S. 75: jener → jene Haus erbauet wurde, an {jene} Quelle S. 77: Anherrn → Ahnherrn ihren {Ahnherrn} verehren S. 79: Oswaldtsthal → Oswaldsthal durch das grüne +{Oswaldsthal}+ S. 81: nach → noch, Untestützung → Unterstützung {noch} manche weitere {Unterstützung} erwarten S. 82: Vor → Von {Von} der Hausflur rechts kommt S. 83 Kanonofen → Kanonenofen kleiner gußeiserner sogenannter {Kanonenofen} S. 83: man ergänzt so kommt {man} rechts von S. 83: lang → lange ebenfalls so {lange} und breite +Kammer+ S. 84: k → h befindet sich ein Kuhstand. (~{h}~) S. 85: uus → uns und +Vier+ {uns} halten Fußnote 4: Türingen → Thüringen auch alle Schlösser und Güter in {Thüringen} Fußnote 6: deutsche → deutschen bei welcher alle {deutschen} Fürsten Fußnote 8: da unklar (nicht korrigiert) ~pag.~ 1 {da} 167 Fußnote 14: Hanse → Hause Gastmahl in seinem {Hause} ausrichten Fußnote 22: Monument → Monumente dem jetzt errichteten +{Monumente} hin+ Fußnote 22: Zeitungslexion → Zeitungslexikon Post- und {Zeitungslexikon} Fußnote 22: auch → auf welche {auf} Eisenstein baut Fußnote 25: solte → sollte er {sollte} es nicht thun Fußnote 39: exestirte → existirte Bis dahin {existirte} aber noch die +Fürstenstube+ Fußnote 39: Schlösserwohnung → Schösserwohnung in dieser {Schösserwohnung}, in welcher Fußnote 40: wär → wäre Nach Grundigs Meinung {wäre} die Eisenburg Fußnote 41: nnd → und vom Buschwerk befreit {und} zugänglich gemacht Fußnote 45: 1. → s. {s.} +Engelhardt+ a. a. O. Th. 1. Fußnote 53: Schaettgenius → Schoettgenius ~{Schoettgenius} l. c.~ Fußnote 60: Pachter → Pastor Gnadenkorn der Herr {Pastor} +Triller+ Fußnote 66: im → in Gemälde {in} größerem Formate Fußnote 68: deusche → deutsche +Wagners+ {deutsche} Geschichte Fußnote 88: Elle → Ellen an der Basis 4½ {Ellen} ins Gevierte Fußnote 95: Exellenz → Excellenz {Excellenz}, dem Herrn Rentamtmann von Fußnote 104: Alferd → Alfred +{Alfred} Friedrich von Schönburg-Hartenstein+ Fußnote 105: 64 → 46 s. ~pag.~ {46} Fußnote 109: Abgemeinen → Allgemeinen No. 164. der Leipziger {Allgemeinen} Zeitung Fußnote 112: speciel → speciell findet man {speciell} verzeichnet End of the Project Gutenberg EBook of Der sächsische Prinzenraub nac älteren und neueren Quellen, by Anonymous *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SÄCHSISCHE PRINZENRAUB *** ***** This file should be named 50529-0.txt or 50529-0.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/0/5/2/50529/ Produced by The Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by SLUB: Sächsische Landesbibliothek - Staats - und Universitätsbibliothek Dresden at http://www.slub-dresden.de ) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. 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25783-8
The Project Gutenberg EBook of Experimentelle Untersuchungen über die Frage »Ist die Furcht vor Krankheitsübertragung durch das Telephon berechtigt«?, by Carl Weiss This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Experimentelle Untersuchungen über die Frage »Ist die Furcht vor Krankheitsübertragung durch das Telephon berechtigt«? Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde in der Medizin, Chirurgie und Geburtshülfe der Hohen Medizinischen Fakultät der Königlichen Universität Greifswald Author: Carl Weiss Release Date: June 14, 2008 [EBook #25783] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EXPERIMENTELLE UNTERSUCHUNGEN *** Produced by Jana Srna, Alexander Bauer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net [ Anmerkungen zur Transkription: Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit _ markiert. Schreibweise und Interpunktion wurden übernommen, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Eine Liste der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes. ] Experimentelle Untersuchungen über die Frage »Ist die Furcht vor Krankheitsübertragung durch das Telephon berechtigt«? Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde in der Medizin, Chirurgie und Geburtshülfe der Hohen Medizinischen Fakultät der Königlichen Universität Greifswald vorgelegt von Carl Weiss aus Essen-Ruhr. Buchdruckerei Hans Adler, Inh. E. Panzig, Greifswald 1913 Eingereicht im Oktober 1913. Gedruckt mit Genehmigung der Hohen Medizinischen Fakultät der Universität Greifswald. Dekan: Prof. Dr. Steyrer. Referent: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Loeffler. Meiner lieben Mutter. Mit der fortschreitenden Vervollkommnung der bakteriologischen Untersuchungsmethoden war bald der Nachweis erbracht, daß manche pathogene Mikroorganismen nahezu ubiquitär sind, daß sie auch den ungünstigsten Lebensbedingungen sich anzupassen vermögen und lange Zeit an ihrer Virulenz nichts einzubüßen brauchen. Man konnte viele von ihnen an allen möglichen Gebrauchsgegenständen, auch an solchen, die mit Kranken nicht in direkte Berührung gekommen waren, nachweisen und mußte für die Ansteckungsmöglichkeit nicht nur den direkten Weg von Mensch zu Mensch, sondern weit häufiger den der indirekten Übertragung über die verschiedensten Gebrauchsgegenstände des Kranken selbst oder seiner nächsten Umgebung in Betracht ziehen. Diese Vorstellungen haben bald in weiteren Bevölkerungsschichten Verbreitung gefunden und zu der für unsere Zeit so charakteristischen Erscheinung der Bazillenfurcht geführt. Wenn Dinge, die von Hand zu Hand gehen oder von mehreren Personen benutzt werden, wie z. B. Papiergeld, Bücher aus den Bibliotheken, Utensilien der Barbierstuben, Trinkgefäße, Zahnstocherbehälter u. a. auf das Vorkommen pathogener Keime mikroskopisch und bakteriologisch eingehend untersucht worden sind, so geschah es doch wohl vornehmlich aus dem Grunde, weil man diesen Dingen eine nicht zu unterschätzende Rolle als Krankheitsvermittler ansprechen zu müssen glaubte. Es ist nicht überraschend, daß bald nach allgemeiner Einführung der Telephone, die ja heute wie kein anderes Verständigungsmittel ein Allgemeingut der gesamten Bevölkerung geworden sind, sich auch gegen diese der Verdacht regte, ihre weitgehende Inanspruchnahme disponiere sie geradezu zu Überträgern ansteckender Krankheiten. Es mag zugegeben werden, daß vom rein theoretischen Standpunkte aus die Möglichkeit einer Infektion durch Benutzung des Fernsprechers nicht abgeleugnet werden kann. Man ist weiter gegangen und hat auf Grund dieser theoretischen Erwägungen auf die tatsächlich gegebenen Verhältnisse geschlossen und von einer großen Gefahr der Ansteckungsmöglichkeit gesprochen. Wenn Laien diese Ansicht äußern, so mag das ihren irrtümlichen Anschauungen von dem Zustandekommen und dem Wesen einer Infektion zu Gute gerechnet werden; wenn jedoch bakteriologisch geschulte Männer dieser häufig zu begegnenden Ansicht der Laien beipflichten, das Telephon stelle in hygienischer Beziehung eine Gefahr dar, so ist es berechtigt, dieser Frage näher zu treten, zumal in besonders interessierten Kreisen der Verdacht gegen das Telephon durch Veröffentlichungen in Fachzeitschriften wachgehalten und bestärkt wird. So ist in der »Deutschen Postzeitung« Nr. 31 vom 4. 8. 1912 von einer »häufig unterschätzten, in Wahrheit aber sehr bedeutenden Gefahr der Ansteckung am Fernsprecher« die Rede, einer Gefahr, »die durch systematische Versuche bedeutender Bakteriologen in England und Deutschland in ein helles Licht gerückt worden ist. Der englische Bakteriologe _Francis J. Allan_«, so heißt es in der Notiz »Wissenschaftliche Ergebnisse über die Ansteckungsgefahr am Telephon« weiter, »benutzte zu seinem Versuche ein öffentliches Telephon in der Londoner Zentralbörse. Die Mundöffnung des Apparates wurde mit einem Tuch abgewischt, und der Inhalt des Tuches wurde dann zu Versuchen an zwei Meerschweinchen benutzt. Das erste Meerschweinchen starb 23 Tage später, nachdem ihm von dem Inhalte des Wischtuches etwas eingeimpft worden war, und die Sezierung ließ die ausgesprochenen Kennzeichen der Tuberkulose erkennen. Das zweite Meerschweinchen starb 27 Tage nach der Infektion und zeigte ähnliche Zeichen der Ansteckung. Diese Experimente beweisen, daß tödliche Tuberkulosebazillen von öffentlichen Telephonapparaten auch auf den Menschen leicht übertragen werden können.« Kritiklos, wie derartige tendenziös gehaltene Mitteilungen zumeist hingenommen zu werden pflegen, wird diese Mitteilung das ihrige dazu beigetragen haben, die Furcht vor der Ansteckungsgefahr am Telephon noch zu erhöhen. Es ist lohnend, näher auf die Originalveröffentlichung _Allan_s im »Lancet« 1908 Nr. 4426 einzugehen: Es sind im ganzen sechs Versuche angestellt worden, von denen fünf negativ ausfielen. Bei dem 6. Versuch gelang die Infizierung der oben erwähnten 2 Meerschweinchen mit Tuberkelbazillen. Dieser sechste Versuch wird wie folgt näher beschrieben: »Tel. Nr. -- P. O. Zentral. Dieser Wischer hatte eine Masse von _weißgrauer, klebriger Substanz_ an sich haften; im gefärbten Ausstrich untersucht, zeigte sie eine Anzahl säurefester Bazillen, die in Gestalt und Form Tuberkelbazillen glichen.« Es ist offensichtlich, daß diese weißgraue, klebrige Substanz Sputum gewesen ist und zwar in so großer Menge mit dem Wischer entnommen wurde, daß man Ausstrichpräparate davon herstellen und mit dem Rest Tierversuche anstellen konnte. Dieser Fall, daß Sputum in dem Sprechtrichter in so großen Massen angetroffen wird, ist wohl praktisch so selten, daß man für die Frage einer Ansteckungsgefahr am Fernsprecher unter gewöhnlichen Verhältnissen daraus Schlüsse zu ziehen nicht berechtigt ist. Die Veröffentlichungen _Allan_'s im »Lancet« sind geeignet, ein gänzlich falsches Bild von der Möglichkeit einer Ansteckung am Telephon zu entwerfen und können mithin als ein Versuch, diese Frage wissenschaftlich zu klären, nicht betrachtet werden. Im Gegensatz zu den Ausführungen _Allan_'s möchte ich Ergebnisse einiger anderer Bakteriologen anführen. Die Versuche, die diesen Ergebnissen zu Grunde liegen, sind m. E. weit umfassender und weit mehr den tatsächlichen Verhältnissen angepaßt als die _Allan_'s und verdienen deshalb größere Beachtung. Speziell bezüglich der Ansteckungsmöglichkeit mit Tuberkelbazillen hat der Londoner Bakteriologe Dr. _Spitta_ eingehende Untersuchungen mit dem Fernsprecher angestellt. Es wurden Fernsprechapparate in Krankensälen angebracht, wo sie ausschließlich von Lungenkranken benutzt wurden. Während der Dauer eines ganzen Jahres hat man die Apparate weder gereinigt noch desinfiziert. Dann wurden die Mundstücke ausgewaschen und die Flüssigkeit Meerschweinchen injiziert. Der Versuch ergab selbst unter diesen für eine Übertragung der Krankheitsstoffe äußerst günstigen Bedingungen keine Ansteckung. Wenn man bedenkt, daß etwa 8 Tuberkelbazillen genügen, um ein Meerschweinchen tödlich zu infizieren, andrerseits in Betracht zieht, daß die Sekrete aus den tieferen Luftwegen Tuberkulöser u. U. massenhaft Tuberkelbazillen enthalten und falls sie in den Schallbecher gelangen sollten, über eine lange Zeit auch in eingetrocknetem Zustande lebensfähig bleiben, dann muß man nach den Versuchen _Spitta_s zu der Überzeugung kommen, daß selbst unter so günstigen Verhältnissen für das Zustandekommen einer tuberkulösen Infektion von einer Gefahr nicht die Rede sein kann. Die Möglichkeit einer Übertragung von Infektionsstoffen ist abhängig zu machen von einer Summe von Faktoren, die durchaus nicht immer zusammentreffen werden. Diese Fragen behandelt _Tomarkin_ in einer recht interessanten Arbeit in der »Münchener Medizinischen Wochenschrift«. Wie gelangen Infektionskeime überhaupt in den Schallbecher hinein? Die Exspirationsluft gesunder und kranker Personen ist, wie festgestellt worden ist, vollkommen keimfrei; während des Sprechaktes werden jedoch, wie _Flügge_ bewiesen hat, feinste Tröpfchen, die mit Bakterien beladen sein können, in die Umgebung geschleudert. _Cornet_ hat bezüglich der Tuberkulose den Nachweis geführt, daß diese verstäubten Tröpfchen, weil sie lediglich aus Mundspeichel bestehen, nur äußerst selten Tuberkelbazillen enthalten, immerhin werden bei Hustenstößen und namentlich in der Nähe einer sprechenden Person auch Sekrete der Tiefe verschleudert, die wohl Tuberkelbazillen enthalten können. Sind unter diesen Verhältnissen Keime in den Schalltrichter gelangt, so ist für eine nachträglich das Telephon benutzende Person eine Infektionsmöglichkeit gegeben in zweierlei Weise: Erstlich könnte die Person infiziert werden durch feinste infizierte Teilchen, die von dem vorhergehenden Benutzer in den Schalltrichter und dessen Umgebung hineinverstäubt sich dort noch eine Zeit schwebend erhalten haben, und zweitens durch infizierte trockene Teilchen, die etwa in dem Trichter abgelagert durch die Exspirationsluft des Sprechenden wieder aufgewirbelt würden. Von den Krankheitserregern, die beim Sprechakt in das Innere des Schallbechers gelangen und dort in irgend einer Form deponiert werden können, kommen nach _Tomarkin_ in Frage die Erreger der Tuberkulose, der Diphtherie, des Scharlachs, der Masern, der Influenza, Pneumonie, Meningitis cerebrospinalis, verschiedener Anginen, Katarrhe usw. Der Hörer könnte als Vermittler der verschiedensten Hautaffektionen in Betracht kommen, kommt er doch häufig genug in direkten Kontakt mit den Produkten der äußeren Haut kranker Personen, wodurch er gründlich und dauernd verunreinigt werden kann. Mit demselben Recht könnte man den Griff als Krankheitsvermittler betrachten. Man braucht nur an die Bazillenträger zu denken. Ein Diphtheriebazillenträger z. B., der eben noch in seine Hand hineingehustet hat, kann Diphtheriebazillen auf den Griff übertragen, diese könnten übergehen auf die Hand der nachträglich den Fernsprecher benutzenden Person und dieser gefährlich werden. Der gleiche Fall läge vor bei Typhusbazillenträgern, bei denen die Erreger durch Unreinlichkeit bei der Defäkation auf die Handfläche gelangt sein könnten. Indessen wäre die daraus resultierende Gefahr _nicht spezifisch für das Telephon_, da ja bei vielen anderen Gegenständen z. B. Türklinken die gleichen Verhältnisse gegeben wären. Die Untersuchung des Griffes ist mithin als über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausgehend unterlassen worden. Wenn wir nun von der Voraussetzung ausgehen, der Sprechtrichter sei infiziert mit Erregern ansteckender Krankheiten, so ist weiterhin für die Frage einer Ansteckungsmöglichkeit von Bedeutung, wie die in den Trichter abgelagerten Keime in die Atmungswege der nachträglich das Telephon benutzenden Person gelangen. _Tomarkin_ vertritt die Anschauung, daß zur Fortbewegung der in den Sprechtrichter abgelagerten infizierten Teilchen ganz geringe Luftströme wie z. B. die Exspirationsluft der am Telephon sprechenden Person ausreichend seien. Dieser Meinung möchte ich mich nicht anschließen auf Grund von Untersuchungen, die _Müller_ in der »Münchener Medizinischen Wochenschrift« veröffentlicht hat. Eine Entscheidung darüber, ob die Luftströme, die durch Räuspern, Niesen, Husten, Sprechen entstehen, ausreichen, um in den Sprechtrichter gelangte Keime loszulösen, die in Tröpfchen von Speichel oder Schleim eingeschlossen auf demselben haften geblieben sind, gehört meines Erachtens zu dem springenden Punkte der Frage einer Ansteckungsmöglichkeit. Die nach dieser Richtung hin von Dr. _Müller_ im Hygienischen Institut in München angestellten Versuche bieten für die aufgeworfene Frage großes Interesse. Es sei mir gestattet, sie wörtlich zu zitieren: »Es wurden nun, nachdem nachgewiesen war, daß die Telephonmembranen sich selbst überlassen, lange infiziert bleiben, mannigfaltig modifizierte Versuche darüber angestellt, ob sich die Keime bei der Benutzung des Telephons von der Membran ablösen und in die Luft übergehen. Bei einem Teile der Versuche wurden die Membranen für sich allein in der angegebenen Weise mehr oder weniger reichlich mit Prodigiosus infiziert; bei anderen Versuchen wurden die Apparate fertig montiert und dann erst dem Prodigiosusspray ausgesetzt, sodaß auch die Umrahmung infiziert war. Die Montierung wurde so angebracht, daß die Membran auch von rückwärts besprochen werden konnte. Nun wurde die Membran samt Montierung in den gerade ihrem Umfange entsprechenden Hals einer ca. 10 Liter haltenden Flasche, deren Boden durch Abschleifen völlig entfernt war, eingeführt und abgedichtet. Darauf wurde ½ bis 4 Stunden gewartet, damit die Membran lufttrocken gemacht werden konnte und etwa lediglich durch die Erschütterung beim Einführen in den Flaschenhals losgelöste Keime Zeit hätten, sich zu Boden zu senken. Nach dieser Zeit wurden von der weiten Bodenöffnung her mit aller Vorsicht Gelatineplatten in Petrischalen, gewöhnlich vier hintereinander, in die Flasche hineingeschoben und die Öffnung mit einem Glasdeckel verschlossen. Bei einigen Versuchen lag die Flasche nicht horizontal, sondern stand senkrecht und zwar war hohl auf untergeschobenen Holzklötzchen. Die Platten wurden in diesem Falle in der Bodenöffnung, also senkrecht unter der Membran, aufgestellt. Es wurde nun die Membran in Schwingungen versetzt, zunächst indem von rückwärts gegen sie durch längere Zeit laut gesprochen wurde; später als diese Versuche negativ ausgefallen waren, indem 1 bis 2 Minuten lang auf einer Trompete gegen sie geblasen wurde. Nach der Erschütterung wurde die ganze Vorrichtung durch 1 bis 24 Stunden sich selbst überlassen, um den losgelösten und in die Luft übergegangenen Keimen Zeit zu gewähren, sich auf die Kulturschichten abzusetzen. Die Platten wurden nach der Herausnahme aus der Flasche in der feuchten Kammer gehalten und 8 Tage lang beobachtet. Von 10 derartigen Versuchen sind 9 vollkommen negativ ausgefallen, negativ insbesondere auch die Trompetenversuche, bei denen das Telephon so heftig in Schwingungen versetzt worden war, wie es bei gewöhnlichem Gebrauch garnicht vorkommt. Nur bei einem einzigen derartigen Versuche wurden Prodigiosus Kolonieen und zwar nicht mehr als 5 auf den Nährplatten nachgewiesen. Außerdem wurden auch noch bei einem Kontrollversuche, bei welchem sich der infizierte Sprechtrichter 24 Stunden lang vertikal über dem Nährboden befand, ohne daß seine Membran in Schallschwingungen versetzt wurde, 3 Prodigiosuskolonieen aufgefunden. Wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, bei derartigen Versuchen zufällige Infektionen des Nährbodens mit einzelnen Keimen zu vermeiden, wird man diesen beiden positiven Fällen kein großes Gewicht beilegen dürfen. Es ist fraglich, ob die 5 Prodigiosuskeime wirklich vom Telephon herabgefallen sind. Schlimmstenfalls haben sich von den vielen Millionen, die sich am Telephon befanden, nur einige vereinzelte Keime losgelöst. Das Ergebnis der Versuche bestätigt somit nach unserem Dafürhalten die schon vorher gefaßte Meinung, daß die Infektionsgefahr bei halbwegs vernünftigem Gebrauch des Telephons minimal sei. Das Bedürfnis, es zu desinfizieren, scheint uns nicht vorzuliegen.« -- _Müller_ geht bei seinen Untersuchungen, soweit sie für die vorliegende Arbeit Interesse bieten, von der Voraussetzung aus, daß bereits eine Infizierung des Sprechers mit krankheitserregenden Keimen stattgefunden hat, und beschäftigt sich dann mit den Faktoren, die gegeben sein müssen, damit eine vom Telephon ausgehende Ansteckung erfolgen kann. _Müller_ ist, ohne die Frage zu berühren, ob überhaupt infektionsauslösende Keime am Fernsprecher nachweisbar sind, bereits zu dem Schlusse gekommen, daß die Infektionsgefahr minimal ist, und verwertet dieses Resultat seiner Untersuchungen, um die ihnen zu Grunde liegende Frage nach dem Bedürfnis einer Desinfektion der Telephone zu verneinen. Ich möchte der Kette dieser experimentellen Untersuchungen, die die Furcht vor der Ansteckungsmöglichkeit durch das Telephon zu beheben imstande sind, ein weiteres Glied einfügen und zu entscheiden versuchen, ob unter den gewöhnlichen alltäglichen Verhältnissen pathogene Keime sich nachweisen lassen. Ich gehe dabei von der Voraussetzung aus, daß, wenn man aus ihrem Vorkommen am Telephon für den Benutzenden eine Gefahr konstruieren will, sie in größerer Menge am Sprecher oder Hörer haften müssen, auf jeden Fall sich mit den bakteriologischen Methoden nachweisen lassen müssen. Die Versuche, die _Allan_ nach dieser Richtung hin angestellt hat, sind mir nicht einwandfrei und erschöpfend genug, werden ja auch bezüglich der Tuberkulose durch _Spitta_s Untersuchungen hinlänglich widerlegt. Um nun einen Einblick in die Bakterienflora am Telephon zu gewinnen, habe ich völlig vorurteilslos eine Reihe von Untersuchungen vorgenommen an 40 der am meisten in Anspruch genommenen Telephone der Stadt Greifswald: Öffentlichen Fernsprechstellen der Hauptpost, Bahnpost, des Bahnhofs, der Polizeiwachen, zahlreicher Gasthöfe, größerer Kaufhäuser, Privat- und Universitätskliniken u. a. Die Methode meiner Untersuchungen war folgende: Ein Stückchen steriler Watte wurde in 5 ccm steriler Bouillon gebracht. Mit diesem mit Bouillon angefeuchteten Wattebäuschchen wurden vermittels steriler Pinzetten Schallbecher und Hörrohr gründlich abgerieben. Hatte sich das Wattebäuschchen reichlich mit Bouillon getränkt, so kam es zuweilen vor, daß während des Abreibens Tropfen vom Schalltrichter abfielen. Diese abfallenden Tropfen wurden in sterilem Reagenzglase mit der sterilen Bouillon aufgefangen. Nach beendigter Abreibung wurde die Watte in die Bouillon zurückgebracht, mit Hilfe steriler Glasstäbe zerzupft und gründlichst in derselben ausgewaschen. Bei zehn Telephonen wurden anfänglich Hörer und Sprechtrichter gesondert untersucht, da ja in erster Linie die Frage nach der Art der Keime interessierte. Als sich herausstellte, daß die Bakterienflora des Hörers sich in keinem Punkte von der des Schallbechers unterschied, wurden bei den nächsten 20 Telephonen Hörer und Sprechtrichter mit dem gleichen Wattebäuschchen abgerieben und dieses in dieselbe Bouillon gebracht, deren Menge aber in diesen Fällen auf 10 ccm bemessen wurde. Als sich bei den ersten zehn Versuchen ein auffallender Unterschied in der Zahl der Keime, je nachdem sie dem Hörer oder dem Schallbecher entstammten, herausstellte, wurden nachträglich weitere 10 Telephone analog den ersten 10 untersucht. Es ist kaum zu glauben, wieviel Schmutz den Telephonen im allgemeinen anhaftet. Besonders trifft dies zu für die in dunkelen, geschlossenen Zellen untergebrachten Fernsprecher. Da vielfach nicht einmal für Beleuchtung in denselben gesorgt ist, so ist es begreiflich, daß der ungeheuere Schmutz von den Besitzern der Apparate garnicht gesehen und demzufolge für eine Entfernung garnicht Sorge getragen wird. So ist es wohl denkbar, daß in vielen derartigen Fällen der Schmutz sich über Jahre hin anhäufen konnte. Nach der Auswaschung nimmt die klare Bouillon eine schmutzig graue, oft tief schwarze Verfärbung an und bleibt in den wenigsten Fällen durchsichtig. Auch in den Fällen, wo eine tägliche Reinigung der Telephone vorgenommen wird, wie an den Apparaten der Postanstalten und vieler Kliniken, tritt, nachdem das Material in der Bouillon ausgewaschen ist, stets eine, wenn auch geringe Trübung ein. Zentrifugiert setzt sich ein mehr oder weniger reichlicher, grauer bis schwarzer Bodensatz ab, dessen Formbestandteile nicht näher zu differenzieren waren. Bringt man einen Tropfen dieser Bouillon auf ein Deckglas und betrachtet das ungefärbte, nicht lufttrocken gemachte Präparat unter dem Mikroskop oder nimmt man die Untersuchung am hängenden Tropfen vor, so sieht man eine unglaubliche Menge der verschiedensten Mikroorganismen, runde Kokken, die vereinzelt oder zu langen Ketten aneinandergereiht liegen und schon hier als Streptokokken zu diagnostizieren waren; kurze, längere, oft kolossal lange Stäbchen mit und ohne lebhafte Eigenbewegungen, mit und ohne stark glänzende Sporen. Die Bouillon enthielt also eine Unzahl von Keimen. Für die Aussaat auf Kulturplatten entschied ich mich nach längeren Probeversuchen für die Menge von 2 Platinösen. Es wuchsen bei dieser Aussaatmenge im Mittel 27 Kolonieen auf den Nährböden, was einer Menge von 67500 in den 5 ccm Waschflüssigkeit entsprechen würde. Mit dem gewonnenen Material wurden nun folgende Versuche angestellt: Je zwei Platinösen wurden auf Agar-Agarplatten verimpft und von diesen die eine bei Zimmertemperatur, die andere im Brutschrank bei 37° aufbewahrt und 14 Tage lang beobachtet. 2 Platinösen wurden in Gelatine verteilt und diese in Petrischalen ausgegossen; mit dem Rest der Bouillon wurden Tierexperimente angestellt. Zu den Versuchen wurden ausschließlich Meerschweinchen verwandt. Diesen wurde der ganze Rest der bakterienhaltigen Bouillon also ca. 5 oder 10 ccm, subcutan oder intraperitoneal injiciert. Von den auf den Platten gewachsenen Kolonieen wurden Reinkulturen gewonnen und auch mit diesen Tierversuche angestellt: 2-4 Platinösen dieser Reinkulturen wurden in 2 ccm steriler Kochsalzlösung fein verteilt und Meerschweinchen subcutan injiziert. Wo ich a priori infektiöses Material erwarten konnte, wie bei den Telephonen der Diphtherie- oder Typhusbaracke, wurden neben den gewöhnlichen Agarplatten auch andere Nährböden zur Züchtung verwandt: Material aus der Diphtheriebaracke wurde auf Hammelblutserumplatten ausgesät, und mit dem Material aus der Typhusbaracke das Verfahren der Anreicherung in Ochsengalle angestellt. Über das Ergebnis wird weiter unten berichtet werden. Die Versuche ergaben folgendes Resultat: Was zunächst die _Zahl_ der gewachsenen Kolonieen betrifft, so ist oben bemerkt worden, daß ein Unterschied zu konstatieren war, je nachdem die Platten mit dem Material des Hörers oder des Sprechtrichters besät waren. Hörer und Schallbecher wurden getrennt untersucht bei 20 Telephonen. Der besseren Übersicht diene folgende Zusammenstellung: Siehe Tabelle S. 18. Tabelle von Seite 17. Anzahl der auf Agar-Agar Platten gewachsenen Kolonieen =========+=======================+=============== Telephon | Material des Hörers | Material des Nr. | | Schallbechers ---------+-----------------------+--------------- 1 | 30 | 16 2 | 24 | 16 3 | 20 | 5 4 | 8 | 1 5 | 39 | 7 6 | 4 | 8! 7 | 18 | 3 8 | 245 | 18 9 | 12 | 74! 10 | 5 | 2 31 | 348 | 18 32 | 83 | 5 33 | 7 | 7 34 | 6 | 28! 35 | 23 | 26! 36 | 364 | 24 37 | 70 | 8 38 | 18 | 3 39 | 63 | 5 40 | 31 | 13 ---------+-----------------------+--------------- 20 1418 287 Telephone Kolonieen Kolonieen Die Tabelle zeigt uns, daß durchschnittlich die Kulturplatten, die mit dem Material des Hörers besät sind, rund 71 Kolonieen aufweisen, während auf den Kulturplatten, die mit dem Material des Schallbechers besät sind, nur rund 14 Kolonieen gewachsen sind. Die Platten, die dem Material des Hörers entstammen, enthielten demnach etwa 5 mal so viel Keime, als die des Schallbechers. Dieses Verhältnis 5 : 1 scheint mir etwas zu hoch gegriffen und ist lediglich auf die außerordentlich zahlreiche Bewachsung der Kulturplatten von den Telephonen Nr. 8, 31, 36 zurückzuführen. Indessen ist als erwiesen anzusehen, daß dem Hörer eine weit größere Menge Mikroorganismen anhaften als dem Schallbecher. Den Grund für dieses zunächst nicht zu erwartende Resultat möchte ich vornehmlich darin suchen, daß durch den direkten Kontakt der ganz ansehnlichen Fläche, die der Hörer bildet, mit der Haut und besonders auch den Haaren der das Telephon benutzenden Person das Haftenbleiben von Keimen stark begünstigt wird. Ferner ist in Erwägung zu ziehen, daß der Hörer der Ansiedelung von Keimen, die mit dem Staube verschleppt werden, eine größere Oberfläche darbietet und auch weit mehr der Staubablagerung exponiert ist als der trichterförmig abgeschlossene Schallbecher. Abgesehen von der Zahl der Keime interessierte nun besonders lebhaft die Frage nach der _Art_ derselben, unter besonderer Berücksichtigung des Umstandes, ob unter den aufgefundenen Arten pathogene Keime vorhanden seien. Zur Identifizierung der einzelnen Arten verwandte ich Züchtung in Bouillon, auf Agar-Agar-, Serum-, Gelatineplatten, ferner mikroskopische Untersuchung aller gewachsenen Kolonieen sowohl im hängenden Tropfen wie nach vorangegangener Färbung mit Methylenblau, Karbolfuchsin, Malachitgrün, oder Gramfärbung und zur besseren Darstellung der Sporen die Sporenfärbung nach _Möller_, bei Diphtherie ähnlichen Keimen die von _Loeffler_ modifizierte Neissersche Polkörnchenfärbung, an die sich eventuell weiter notwendige Maßnahmen wie Verimpfung auf Trauben- und Milchzuckerhaltige Nährböden, spezifische Typhusnährböden usw. anschlossen. Zur Entscheidung über die Pathogenität diente in jedem Falle der Tierversuch. Hiernach kam ich zu folgendem Resultat: Die Arten der durch die Plattenkulturen an den Fernsprechern nachgewiesenen Mikroorganismen sind fast in jedem Falle die gleichen. Die Bakterienflora des Hörers unterschied sich qualitativ in nichts von der des Schallbechers, weshalb nach einer Reihe von Untersuchungen das gesonderte Verfahren aufgegeben wurde. Weitaus am häufigsten, auf jeder Platte mehrmals, anzutreffen sind Kolonieen runder, Gram positiver Mikrokokken (Staphylokokken). Die Kolonieen sind in den meisten Fällen schon makroskopisch als Staphylokokkenkolonieen zu erkennen. Sie sind zumeist rund, glattrandig, starkglänzend und bilden ziemlich dicke Auflagerungen. Häufig zu beobachten ist nach längerer Zeit die Bildung von concentrischen Ringen und Dellen im Centrum der Kolonieen, sodaß die Randzone wallartig aufgeworfen erscheint. In der Farbe geben sie alle Nüancierungen wieder von einem dunklen Orange zum hellen Citronengelb, von einem leuchtenden Weiß über rosa Farbentöne zum Rot. Auch Farbenwechsel nach längerer Zeit ist beobachtet: Kolonieen, die anfänglich als weiße Auflagerungen protokolliert sind, nehmen später z. B. einen gelblichorangen Farbenton an. Andrerseits findet sich bei ein und derselben Kolonie stärker ausgesprochene Färbung des Centrums oder entsprechend den concentrischen Ringen, während häufig die Randzone blassere Farbentöne aufweist. Nicht immer ist der Grund darin zu suchen, daß die Kolonie stumpf kegelförmig vom Rande her nach dem Centrum ansteigt, also an der Peripherie dünner geschichtet ist. Die Größenverhältnisse der Kolonieen sind auch bei gleichem Alter verschieden: es finden sich Kolonieen im Durchmesser von 1-20 mm. Die Konsistenz der Kolonieen ist durchweg weich, das Material für die Untersuchungen ist mit der Platinöse stets leicht zu entnehmen. Die Form der Kokken ist in der Mehrzahl der Fälle rund und im allgemeinen treffen wir bei der gleichen Kolonie Kokken von gleicher Größe. Sie liegen haufenweise zusammen, ausgesprochene Traubenform ist nicht selten. Häufig liegen sie vereinzelt und imponieren dann oft als Diplokokken. Was die Größe der einzelnen Kokkenarten anbelangt, so finden wir alle Übergänge von winzigen zu recht ansehnlichen Kokken. Die Agarstrichkulturen zeigen die gleichen Eigenschaften bezüglich der Farbe und Beschaffenheit wie die Plattenkulturen. Sie bilden dicke, saftig erscheinende Auflagerungen längs des Striches, meist über ihn hinauswachsend. Das Kondenswasser ist diffus getrübt. Die Gelatine wird von den einzelnen Arten verschieden spät verflüssigt. Einige Kokkenarten verflüssigen rapide, bei anderen zeigt sich erst nach Ablauf von einigen Tagen eine schwache Verflüssigungszone um die Kolonie, wieder andere verflüssigen garnicht. Nach ihren genannten Merkmalen trage ich keine Bedenken, die meisten der gefundenen Arten je nach ihrer Farbstoffbildung als _Staphylococcus albus_, _aureus_, _citreus_, _rosaceus etc._ zu identifizieren. Der Staphylococcus albus, aureus, citreus wird ja vielfach als der verbreiteteste Eitererreger angesehen, und es liegt der Gedanke nahe, daß wir es bei den aufgefundenen Arten mit Vertretern pathogener Keime zu tun haben. Indessen kann man nicht lediglich aus der Form und der Art des Wachstums der Mikroorganismen Rückschlüsse auf deren Virulenz machen. Ich habe daher in all diesen Fällen den Tierversuch entscheiden lassen. Von Reinkulturen wurden 2 bis 4 Platinösen Meerschweinchen unter die Haut appliziert: trotz der reichlichen Menge zeigten die Tiere keinerlei Herd- oder Allgemeinerscheinungen, die auf krankhafte Prozesse schließen ließen. Ziemlich selten wurden Gram negative Kokken gefunden. Während von den Gram positiven Kokken jede einzelne Art häufiger anzutreffen war, ist von den Gram negativen Kokkenkolonieen fast keine der anderen gleich: Sind sie auch äußerlich nach Farbe und Beschaffenheit der Kolonieen nicht zu unterscheiden so finden sich Abweichungen in der Größe der einzelnen Kokken, der Fähigkeit, Gelatine zu verflüssigen, oder der Form, indem sie dann und wann als Diplokokken in Erscheinung treten. Relativ oft sind es blaßgraue bis bräunliche, stark saftig erscheinende Kolonieen, deren mehr oder weniger breite Randzone einen gezackten Rand aufweist und transparent ist. Ihre Oberfläche ist glatt, oft mit radiärer Streifung versehen. Treten dazu concentrische Ringe, so erhalten die Kolonieen, wie einige Mal beobachtet, ein kokardenähnliches Aussehen. Auch grünlichgelbe, citronen- bis schwefelgelbe Kolonieen kommen häufiger vor; auch diese Kolonieen bilden nach einiger Zeit concentrische Ringe, in noch älteren Stadien Schichtung im Centrum. Diese gelben Kolonieen zeigen die Eigentümlichkeit, daß die Größe der Kokken aus der gleichen Kolonie ziemlich variiert. Auch mit diesen Gram negativen Kokkenarten sind Tierexperimente angestellt worden. Es zeigte sich, daß auch sie nicht tierpathogen sind. Sehr häufig sind Sarcine auf den Kulturplatten anzutreffen. Fast ausschließlich sind es matt oder glänzend gelbe, glattrandige, die Gelatine mehr oder weniger zeitig verflüssigende Kolonieen. Auf Gelatineplatten wachsen sie langsam, schneller auf Agarplatten, wo Auflagerungen von 1 cm Durchmesser beobachtet wurden. Mikroskopisch finden wir neben ausgesprochener Warenballenform Anordnung der Sarcinekokken in Tetraden. Zweimal sind kleine, grauweiße, runde, matte Sarcinekolonieen angetroffen worden, die die Gelatine spät verflüssigten. Mikroskopisch erwiesen sie sich als kleine rundliche Kokken, die zu vieren zusammenlagen. Einige der oben angeführten gelb wachsenden Arten halte ich für identisch mit der _Sarcina flava_ und _lutea_. Auch mit den Sarcinearten sind Tierversuche angestellt worden. Injektionen von Reinkulturen unter die Haut von Meerschweinchen riefen keinerlei Veränderungen am Tierkörper hervor. Zu den allergewöhnlichsten Befunden auf den Kulturplatten gehören Stäbchen. Weitaus in der Mehrzahl sind es Vertreter aus der großen Gruppe der Heubazillen. Ihre Kolonieen finden sich auf jeder Platte als weißlichgraue, glänzende, auf Agar-Agar häufiger matte, glattrandige Auflagerungen. Ihre Oberfläche ist oft radiär oder concentrisch gefaltet und einem Häutchen vergleichbar. Mikroskopisch finden sich große und mittelgroße, oft zu langen Fäden vereinigte sporentragende Stäbchen, die sich nach Gram färben. Im hängenden Tropfen zeigen die Bazillen lebhafte Eigenbewegung. Die Gelatine wird schnell unter Bildung eines zarten Häutchens verflüssigt. Als sicher konnten diagnostiziert werden der _Bazillus subtilis_, der _Bazillus mesentericus vulgatus_, charakterisiert durch das typische Wachstum auf Kartoffeln, ferner der _Bazillus mycoides_, dessen Kolonieen wie die Ausläufer von Wurzeln sich verzweigen und schon makroskopisch nicht zu verkennen sind. Alle diese Mikroorganismen sind in Luft und Staub weit verbreitet und absolut unschädlich. Die pathogenen Arten der sporenbildenden Stäbchen, die Erreger des Milzbrandes, Rauschbrandes, des malignen Oedems sind nicht gefunden worden. Nicht sporentragende Stäbchen gehören ebenfalls zu den allergewöhnlichsten Befunden. Kurze, plumpe Gram positive Stäbchen sind von den verschiedensten Kolonieen zu gewinnen. Beobachtet wurden auf Agarplatten orangegelbe Kolonieen, die eine stark glänzende Oberfläche haben und nach dem Rande hin sich aufhellen. Die Kolonie ist stark prominent, ihr Rand glatt, bei älteren Kolonieen treffen wir im Centrum dellenförmige Einsenkungen an. Ein andermal entstammen nach ihrer Form mikroskopisch von den eben genannten nicht zu unterscheidende plumpe Kurzstäbchen weißlich runden, weniger intensiv glänzenden, durch concentrische Ringe und gezackten Rand sich auszeichnenden Auflagerungen. Mit einiger Regelmäßigkeit treffen wir ferner plumpe Kurzstäbchen an in Kolonieen, die blaßgraugelblich glänzend, transparent sind und eine unregelmäßige Form haben. Die Randzone ist stärker prominent, wallartig und intensiver gelblich gefärbt. Weiterhin sind plumpe Gram positive Kurzstäbchen nachzuweisen in großen, gelblichgrauen, glänzenden, glattrandigen, runden Kolonieen mit concentrischen Ringen. Die Stäbchen aus diesen Kolonieen liegen meist paarweise aneinander. Auch auf blaßrosa, runden, im Centrum intensiver rosa gefärbten Kolonieen wuchsen plumpe Gram positive Kurzstäbchen. Winzige, zarte, schlanke Gram positive Stäbchen bildeten oft Kolonieen, die eine saftig glänzende Oberfläche aufweisen, gelb bis gelblichbraun gefärbt sind und nach dem Rand hin durchsichtig werden. Die Auflagerungen sind zart und erreichen selten eine auffallende Größe. Längere, zarte, sich nach Gram entfärbende Stäbchen begegnen uns häufiger aus blaßgrau glänzenden, wie ein zarter Schleier auf Agarplatten wachsenden, durchsichtigen Kolonieen mit gezacktem Rand. In älteren Kolonieen nimmt das Centrum weißliche Verfärbung an und ist oft durch einen concentrischen transparenten Ring von der ebenfalls sich weißlich verfärbenden und dadurch undurchsichtig gewordenen Randzone getrennt. Auch zarte, kleine, Influenzabazillen ähnliche Mikroorganismen sind gefunden worden. Sie teilen mit dem Erreger der Influenza die Form und die Eigenschaft, nach Gram sich zu entfärben. Ihre Kolonieen bilden kleine, runde, saftig gelbe Auflagerungen bis zu einem Durchmesser von 1 mm, deren Rand glatt und gezackt ist. Die Tatsache, daß diese Bazillen sich auf Agarnährböden ohne Blutzusatz schon in erster Generation gewinnen und ohne Schwierigkeit fortzüchten ließen, spricht allein schon gegen die Vermutung, daß wir es mit Influenzabazillen zu tun haben könnten. Influenzabazillen sind auch dem Eintrocknen gegenüber wenig resistent. Rasches Eintrocknen soll sie nach _Lehmann-Neumann_ schon nach 2 Stunden zum Absterben bringen. Das Telephon wäre also an sich schon ein wenig geeigneter Fundort für diese Bazillen. Wahrscheinlich haben wir einen aus der Luft häufiger gewonnenen Bazillus vor uns, ähnlich dem _Bazillus aëris minutissimus_. Gram negative, bewegliche Bakterien, deren Kolonieen denen der Kolibakterien glichen und auch im mikroskopischen Bilde von ihnen nicht zu unterscheiden waren, konnten nicht als Kolibakterien angesprochen werden, da in den _Loeffler_'schen Grünlösungen Milch- und Traubenzucker von ihnen nicht vergärt wurden. Die Untersuchung typhusähnlicher Mikroorganismen auf spezifischen Nährböden blieb gleichfalls resultatlos. Besondere Aufmerksamkeit wurde dem Telephon der Typhusbaracke gewidmet. Typhusbazillen sind im Staub und auf den Fußböden von Wohnungen, in denen Typhuskranke gelegen haben, oftmals gefunden worden und wie _Rullmann_ nachgewiesen hat, bleiben diese Keime in sterilisierten Fußböden über ein Jahr am Leben. Mit dem aus dem Telephon der Typhusbaracke gewonnenen Material wurden abgesehen von den üblichen Verfahren Versuche angestellt, die besonders dem Nachweis von Typhusbazillen dienen sollten. Es wurde Material in Röhrchen mit Ochsengalle gebracht, um eine Anreicherung etwa vorhandener Typhusbazillen zu erzielen, und nun weiter auf Lakmusnutroseagar und Safranin-Reinblau-Malachitgrün-Nährböden nach _Loeffler_ verimpft. Die Versuche blieben negativ. Ebenfalls genaueren Untersuchungen wurde das Telephon der Diphtheriebaracke unterzogen. Nach den von _Weichardt_, _Kolle_, _Tjaden_, _Park_, _Wright_, _Emerson_, _Jäger_ und _Forbes_ angestellten Untersuchungen sind Diphtheriebazillen an den verschiedensten Gegenständen aus der Umgebung des Kranken, an Betteppichen, Halstüchern, Möbeln, Türklinken, den Kleidern und Schuhen des Pflegepersonals und, was für die vorliegenden Untersuchungen von besonderer Wichtigkeit sein dürfte, an den Haaren der Wärterinnen nachgewiesen worden. Der Gedanke, am Telephon der Diphtheriebaracke die _Loeffler_'schen Bazillen zu finden, hat jedenfalls viel Wahrscheinlichkeit für sich. Von vornherein wurde also Material auf _Loeffler_'sches Hammelblutserum ausgesät. Unter den gewachsenen Kolonieen war keine typisch für Diphtherie und auch mikroskopisch sind auf den der Diphtheriebaracke entstammenden Kulturen weder Diphtherie- noch Pseudodiphtheriebazillen aufgefunden worden. Dagegen fanden sich ein einziges Mal -- dem Telephon einer Privatklinik entstammend -- Bazillen, die Gram positiv waren und in ihrer Form und Struktur, auch in der Art, wie die einzelnen Bazillen zu einander lagen, echten Diphtheriebazillen glichen. Die Bazillen waren an den Enden hantelförmig verdickt. Auf den Originalagarplatten wuchsen sie in kleinen runden grauen Kolonieen mit matter Oberfläche. Die Fortzüchtung auf Agarschrägröhrchen gelang mühelos: es bildete sich ein grauer, matt glänzender, wie granuliert erscheinender Überzug. Die _Neisser_'sche Polkörnchenfärbung nach dem von _Loeffler_ angegebenen Verfahren ließ an der Vermutung, es könne sich um Diphtheriebazillen handeln, große Zweifel aufkommen. Die Färbung fiel wenig charakteristisch aus. Um eine sichere Unterscheidung zwischen diesen Bazillen und den echten Diphtheriebazillen durchzuführen, wurden frische Reinkulturen auf Hammelblutserum angelegt -- sie wuchsen dort wie Diphtheriekulturen --, und von diesen 24 Stunden alten Kolonieen zwei Platinösen subkutan auf Meerschweinchen verimpft. Die Tiere blieben am Leben, von einem Infiltrat an der Impfstelle war nichts zu sehen. Es handelt sich also um irgend eine Art Pseudodiphtheriebazillen. So zahlreich die gefundenen Arten sein mögen, und so schwer es ist, jede von ihnen zu diagnostizieren, die Frage nach der Pathogenität der aufgefundenen Keime, worauf es bei den vorliegenden Untersuchungen in erster Linie ankam, ist jedenfalls zu verneinen. Der Tierversuch ergab, daß kein Tier irgendwelche Krankheitserscheinungen aufwies, wobei zu bedenken ist, daß von allen genannten Keimen reichliches Material zur Verimpfung in Anwendung kam. Wiederholt sind derbe, graue bis weißliche, trockene gerunzelte Kolonieen auf den Kulturplatten angetroffen worden, die einem pergamentartigen Überzug gleichen, auf dem Agarnährboden fest haften und nach längerer Zeit wie mit einem weißen Flaum besetzt sind. Die Kulturplatten, auf denen sie zu finden sind, lassen beim Öffnen einen stark schimmelartigen Geruch entströmen. Im mikroskopischen Bilde sind dichotomisch verzweigte Fäden zu sehen. Wir haben hier _Streptothrixarten_ vor uns, die häufig als Luftverunreinigungen angetroffen werden und als Krankheitserreger nicht in Betracht kommen. Auf einigen Platten treffen wir kleine, rosafarbene Kolonieen mit granulierter Oberfläche an, deren Randzone kugelige Gebilde aufweist. Unter dem Mikroskop sehen wir große, eiförmige Gebilde mit ausgesprochener Sprossung. Zweifellos handelt es sich um die in der Luft häufig nachzuweisende, _nicht pathogene rosa Hefe_. Auf jeder Platte wachsen ferner im Durchschnitt 2 bis 3 Kolonieen von Schimmelpilzen. Sie waren leicht mit schwacher Vergrößerung an ihren Hyphen als _Mukor, Aspergillus, Penizillium und Oidiumarten zu differenzieren_. _Das Ergebnis der Untersuchungen, die angestellt wurden mit den auf den Kulturplatten aufgefundenen Mikroorganismen, ist also in dem Sinne zu bewerten, daß es nicht gelungen ist, krankheitserregende Keime unter ihnen nachzuweisen._ Bei der geringen Menge des zur Aussaat auf Kulturplatten gelangten Materials ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß Keime, die am Telephon vorkommen, garnicht auf die Kulturplatten gelangt sind, andrerseits Keime für ihre Weiterentwickelung ungünstige Bedingungen angetroffen haben könnten, wie dies z. B. für ausschließlich anaerob wachsende Arten und auch für Tuberkelbazillen zutreffen würde, die an sich schon ein sehr langsames Wachstum selbst auf den ihnen zusagenden Nährböden haben und auf den zur Verwendung gelangten Nährböden so gut wie garnicht wachsen. Um deren Vorkommen festzustellen, dienten in erster Linie die oben angeführten Tierversuche, die darin bestanden, daß Meerschweinchen die ganze Bouillon, mit der die Telephone abgerieben waren, subkutan respektive intraperitoneal injiziert wurde. Diese Versuche reihen sich zwanglos an die oben erwähnten Untersuchungen von Dr. _Spitta_-London bezüglich des Vorkommens von Tuberkelbazillen an den Fernsprechern an. Wegen der ungeheueren Menge von Keimen, die diese Bouillon enthielt, habe ich irgend eine stärkere Reaktion des Tierkörpers erwartet. Es überraschte mich also, daß bei sämtlichen Impfungen die Tiere am Leben blieben und abgesehen von einem Falle, keinerlei Krankheitserscheinungen zeigten. Die Injektionsflüssigkeit wurde alsbald resorbiert, von irgend welchen Symptomen einer Entzündung an der Injektionsstelle war nichts zu konstatieren. Bei den meisten Tieren zeigte sich jedoch nach 5 bis 7 Tagen eine Schwellung der der Injektionsstelle entsprechenden Achsel- und Leistendrüsen. Zu einer ausgesprochenen Verhärtung der Drüsen, die den Verdacht auf tuberkulöse Prozesse hätte wachrufen können, kam es jedoch nicht. Durchschnittlich nach weiteren 6 bis 8 Tagen ging die Anschwellung zurück; 14 Tage nach der Injektion, bei einzelnen Tieren erst nach 4 Wochen, war eine Vergrößerung oder Schwellung der Drüsen nicht mehr wahrzunehmen. Sämtliche Tiere wurden 8 Wochen lang beobachtet, sie blieben vollkommen gesund. Diese vorübergehenden Drüsenanschwellungen sind m. E. aufzufassen als die Antwort auf den durch die zugeführten Bakterien, den Staub und Schmutz ausgelösten Reiz. Nur bei einem Tiere kam es lokal zu einer Absceßbildung. Nach 3 Tagen bestand hochgradige Schwellung an der Injektionsstelle, das Tier machte äußerlich einen schwerkranken Eindruck. Am 5. Tage nach der Injektion erfolgte spontan der Aufbruch des Abscesses. Nach 10 Tagen vollkommene Ausheilung mit Hinterlassung einer 1 ½ cm langen Narbe. Als Ursache der Absceßbildung konstatierte ich unter dem Mikroskop runde Kokken. Das Material entstammte einem Telephon, das in dunkler, nicht ventilierbarer Zelle untergebracht war. Die Bouillon verfärbte sich nach der Auswaschung des Wattebausches tiefschwarz. Eine Bedeutung für die Frage, ob das Telephon eine Gefahr in gesundheitlicher Beziehung für die es benutzenden Personen darstellt, kommt indessen diesem Ausnahmefall nicht zu. Es ist doch ein gewaltiger Unterschied, ob, wie in diesem Falle, Millionen von Mikroorganismen einem Meerschweinchen unter die Haut geimpft werden oder zufällig Keime in die Mundhöhle und den Rachen eines Menschen gelangen. Sollte dieser Fall wirklich einmal eintreten, so ist selbst dann noch nicht eine Gefahr darin zu erblicken: einmal kann es sich nur um eine verschwindend geringe Anzahl von Keimen handeln, die während der Benutzung des Fernsprechers auf den Menschen übertragen werden können; dann sind die am Hörer und Schalltrichter nachgewiesenen Mikroorganismen durch das Ergebnis der Tierversuche als harmlose Saprophyten zu betrachten, denen krankheitserregende Eigenschaften nicht anhaften. Speziell ist zusammen mit den Untersuchungen von _Spitta_-London hinsichtlich der Tuberkuloseübertragung auf Grund der zahlreich unternommenen Tierversuche ausdrücklich zu konstatieren, daß Tuberkelbazillen nicht nachgewiesen werden konnten. Endlich stehen für den Fall, daß Mikroorganismen tatsächlich in die Mund-, Nasen- und Rachenhöhle gelangen sollten, dem Organismus eine Reihe von Schutzmaßregeln zur Verfügung, die zum mindesten eine Abschwächung der ohnehin schon recht minimalen Virulenz der Keime, wenn nicht gar deren vollständige Vernichtung bewirken. Die Sekrete der Schleim- und Speicheldrüsen in der Mundhöhle, dem Nasen- und Rachenraum und der tieferen Luftwege haben antibakterielle Eigenschaften und es ist somit in der normalen Schleim- und Speichelproduktion ein natürlicher Schutz des Organismus gegen schädliche Keime zu sehen. Weiterhin sucht sich der Körper rein mechanisch durch die Flimmerbewegungen der Epithelien der in die Luftröhre eingedrungenen Keime zu entledigen. Die Ergebnisse der bevorstehenden Arbeit geben in vollkommen objektiver Weise die Verhältnisse an zahlreichen im alltäglichen Gebrauch befindlichen Telephonen wieder. Pathogene Keime sind nicht gefunden worden. Die Befürchtungen, die im Publikum wiederholt betreffs der Tuberkuloseübertragung durch das Telephon laut geworden sind, entbehren jeder Begründung. _Allan_s Publikationen sind lediglich als Zufallsbeobachtungen zu bewerten. Die im Publikum weitverbreitete Angst vor einer Ansteckungsmöglichkeit durch die Benutzung des Fernsprechers ist demnach als vollkommen unbegründet zurückzuweisen. Die Frage nach einem Bedürfnis, das Telephon zu desinfizieren, möchte ich mit Dr. _Müller_-München verneinen. Den Geboten der Hygiene und der Ästhetik folgend soll indessen ausdrücklich an einer weitgehenden Sauberhaltung des Telephons festgehalten werden. In dem Bestreben, diesen hygienischen und ästhetischen Forderungen in weitgehendster Weise zu entsprechen, ist von jeher nichts unversucht gelassen worden. Das beweist die Unmenge von Apparaten, die mehr oder weniger kompliziert, alle das Ziel verfolgen, der Übertragung ansteckender Krankheiten durch den Gebrauch des Fernsprechers vorzubeugen; das beweisen ferner die zahlreichen Anpreisungen desinfizierender Stoffe, die eigens für das Telephon erdacht sind. Wo indessen Untersuchungen vorgenommen sind, um die desinfizierende Wirkung dieser Stoffe zu erproben, da ist man bald von der Wertlosigkeit dieser Mittel als Desinfizientien überzeugt worden. Von der Unmenge der Apparate, die _Kausch_ in der zusammenfassenden Übersicht über »Verfahren und Apparate zur Desinfektion der Telephone« beschreibt, ist auch keiner zur allgemeinen oder doch nur weiteren Verwendung gelangt, ein Umstand, der ihre praktische Unbrauchbarkeit zur Genüge beweist. Apparate, die selbsttätig beim Abnehmen und Anhängen des Fernhörers funktionieren, die in Verbindung mit dem Mechanismus des Fernsprechers Ozon oder heiße Luft erzeugen, sind in ihrer Konstruktion zu kompliziert und infolgedessen auch zu kostspielig, um weitere Verbreitung zu finden. Es genügt wohl in jedem Falle die Sauberhaltung der Fernsprecher durch einfaches tägliches Abreiben mit oder ohne desinfizierende Lösungen. Aus rein ästhetischen Gründen empfiehlt es sich, mit der Desinfektion eine Desodorierung der Schallbecher zu erzielen -- soll es doch vorkommen, daß die Schallbecher nach Benutzung durch Personen, die mit üblem Mundgeruch behaftet sind, noch lange Zeit einen widerlichen Geruch ausströmen lassen. Gröbliche Unsauberkeiten, wie sie oft von mir beobachtet werden konnten, ließen sich eher vermeiden, wenn man dem Schallbecher einen hellen Anstrich gäbe. Schmutzablagerungen würden eher wahrgenommen, das Publikum selbst würde auf eine Reinhaltung der Fernsprecher dringen und von der erfolgten Sauberhaltung sich leicht überzeugen können. * * * * * Zum Schlusse ist es mir eine angenehme Pflicht, Herrn Geheimen Medizinalrat Professor Dr. _Loeffler_ für die Überweisung der Arbeit und die vielen Anregungen während ihrer Ausführung meinen herzlichsten Dank auszusprechen. Ebenfalls möchte ich nicht verfehlen, Herrn Dr. _Walter_ für seine stets bereitwillige Hilfeleistung bei den bakteriologischen Untersuchungen zu danken. Literaturverzeichnis. _Allan_: Krankheitsübertragung durch das Telephon. Lancet 1908, No. 4426. _Spitta_: Medizinische Klinik 1912, No. 29, S. 1220 (Kleine Mitteilungen). _Tomarkin_: Über die Gefahren der Übertragung von Infektionsstoffen durch das Telephon und ihre Verhütung. Münchener Medizinische Wochenschrift 1906, S. 2435. _Cornet_: Die Tuberkulose. _Müller_: Der Percy-Simundt'sche Telephondesinfektor. Münchener Medizinische Wochenschrift 1905, No. 51, S. 2495. _Rullmann_: Zentralblatt für Bakteriologie Bd. 30, S. 321. _Weichardt_: Inaug.-Dissertation Breslau 1900. _Kolle_: Zeitschrift für Hygiene 1895, Bd. 19, S. 147. _Tjaden_: Archiv für klinische Medizin 1907, Bd. 89, S. 309. _Park_: Baumgartens Jahresbericht 1892, S. 194. _Wright_ und _Emerson_: Zentralblatt für Bakteriologie, Bd. 16, S. 412. _Jäger_: Deutsche Medizinische Wochenschrift 1899, S. 472. _Forbes_: Wiener medizinische Presse 1895, S. 192. _Kausch_: Zentralblatt für Bakteriologie, Bd. 33, S. 585. Ebenda Bd. 23, S. 289. Ebenda Bd. 35, S. 220. Ebenda Bd. 32, Verfahren und Apparate zur Desinfektion der Telephone. Lebenslauf. Ich, _Johannes Carl Hermann Weiß_, bin geboren am 5. Januar 1887 zu Alt-Anhalt im Kreise Pleß, Ober-Schlesien als Sohn des evangelischen Pastors _Carl Weiß_ und seiner Frau _Elisabeth_, geb. _Natorp_. In meinem 12. Lebensjahr, 1898 kam ich auf das Königliche humanistische Gymnasium in Marburg a. Lahn, 1899 auf das Königliche Gymnasium in Bunzlau in Schlesien, 1904 auf das Königliche Gymnasium in Essen a. d. Ruhr, wo ich Ostern 1907 das Reifezeugnis erhielt. Ich wählte das Studium der Medizin und studierte abwechselnd auf den Universitäten Jena und Greifswald. Nach fünf Semestern bestand ich im Jahre 1909 die ärztliche Vorprüfung in Jena, nach weiteren fünf Semestern im Juni 1912 das medizinische Staatsexamen vor der ärztlichen Prüfungskommission in Greifswald. Das praktische Jahr absolvierte ich am Hygienischen Institut in Greifswald, an der Provinzial-Hebammenlehranstalt in Paderborn, dem Städtischen Krankenhaus in Hamm i. Westf. und dem Friedrich Krupp'schen Krankenhaus in Essen-Ruhr. Meine Lehrer, denen ich an dieser Stelle meinen Dank ausspreche, waren _in Jena_: Bennecke, Biedermann, Busse, Dürck, v. Eggeling, Gärtner, Haeckel, Henkel, Kionka, Knorr, Lubosch, Maurer, Riedel, Schultze, Stahl, Stintzing, Winkelmann; _in Greifswald_: Beumer, Bleibtreu, Cohn, Grawitz, Groß, A. Hoffmann, E. Hoffmann, Kallius, Kochmann, König, Kroemer, Lange, Loeffler, Loehlein, Mangold, Peiper, Peter, Römer, Schultze, Schulz, Steyrer, Vorkastner. [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile steht. die ganze Vorrichtung durch 1 bis 24 Stunden sich selbst überlaßen, um die ganze Vorrichtung durch 1 bis 24 Stunden sich selbst überlassen, um längere, oft kollossal lange Stäbchen mit und ohne lebhafte längere, oft kolossal lange Stäbchen mit und ohne lebhafte protokolliert sind, nehmen später z. B. einen gelblichorange Farbenton protokolliert sind, nehmen später z. B. einen gelblichorangen Farbenton Diphteriebaracke unterzogen. Nach den von _Weichardt_, _Kolle_, Diphtheriebaracke unterzogen. Nach den von _Weichardt_, _Kolle_, _Allan_: Krankheitsübertragung durch das Telephon Lancet 1908, No. 4426. _Allan_: Krankheitsübertragung durch das Telephon. Lancet 1908, No. 4426. _Wright_ und _Emerson_: Zentralblatt für Bakteriologie, Bd. 16 S. 412. _Wright_ und _Emerson_: Zentralblatt für Bakteriologie, Bd. 16, S. 412. ] End of the Project Gutenberg EBook of Experimentelle Untersuchungen über die Frage »Ist die Furcht vor Krankheitsübertragung durch das Telephon berechtigt«?, by Carl Weiss *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EXPERIMENTELLE UNTERSUCHUNGEN *** ***** This file should be named 25783-8.txt or 25783-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: https://www.gutenberg.org/2/5/7/8/25783/ Produced by Jana Srna, Alexander Bauer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. 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25783-8
The Project Gutenberg EBook of Experimentelle Untersuchungen über die Frage »Ist die Furcht vor Krankheitsübertragung durch das Telephon berechtigt«?, by Carl Weiss This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Experimentelle Untersuchungen über die Frage »Ist die Furcht vor Krankheitsübertragung durch das Telephon berechtigt«? Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde in der Medizin, Chirurgie und Geburtshülfe der Hohen Medizinischen Fakultät der Königlichen Universität Greifswald Author: Carl Weiss Release Date: June 14, 2008 [EBook #25783] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EXPERIMENTELLE UNTERSUCHUNGEN *** Produced by Jana Srna, Alexander Bauer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net [ Anmerkungen zur Transkription: Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit _ markiert. Schreibweise und Interpunktion wurden übernommen, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Eine Liste der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes. ] Experimentelle Untersuchungen über die Frage »Ist die Furcht vor Krankheitsübertragung durch das Telephon berechtigt«? Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde in der Medizin, Chirurgie und Geburtshülfe der Hohen Medizinischen Fakultät der Königlichen Universität Greifswald vorgelegt von Carl Weiss aus Essen-Ruhr. Buchdruckerei Hans Adler, Inh. E. Panzig, Greifswald 1913 Eingereicht im Oktober 1913. Gedruckt mit Genehmigung der Hohen Medizinischen Fakultät der Universität Greifswald. Dekan: Prof. Dr. Steyrer. Referent: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Loeffler. Meiner lieben Mutter. Mit der fortschreitenden Vervollkommnung der bakteriologischen Untersuchungsmethoden war bald der Nachweis erbracht, daß manche pathogene Mikroorganismen nahezu ubiquitär sind, daß sie auch den ungünstigsten Lebensbedingungen sich anzupassen vermögen und lange Zeit an ihrer Virulenz nichts einzubüßen brauchen. Man konnte viele von ihnen an allen möglichen Gebrauchsgegenständen, auch an solchen, die mit Kranken nicht in direkte Berührung gekommen waren, nachweisen und mußte für die Ansteckungsmöglichkeit nicht nur den direkten Weg von Mensch zu Mensch, sondern weit häufiger den der indirekten Übertragung über die verschiedensten Gebrauchsgegenstände des Kranken selbst oder seiner nächsten Umgebung in Betracht ziehen. Diese Vorstellungen haben bald in weiteren Bevölkerungsschichten Verbreitung gefunden und zu der für unsere Zeit so charakteristischen Erscheinung der Bazillenfurcht geführt. Wenn Dinge, die von Hand zu Hand gehen oder von mehreren Personen benutzt werden, wie z. B. Papiergeld, Bücher aus den Bibliotheken, Utensilien der Barbierstuben, Trinkgefäße, Zahnstocherbehälter u. a. auf das Vorkommen pathogener Keime mikroskopisch und bakteriologisch eingehend untersucht worden sind, so geschah es doch wohl vornehmlich aus dem Grunde, weil man diesen Dingen eine nicht zu unterschätzende Rolle als Krankheitsvermittler ansprechen zu müssen glaubte. Es ist nicht überraschend, daß bald nach allgemeiner Einführung der Telephone, die ja heute wie kein anderes Verständigungsmittel ein Allgemeingut der gesamten Bevölkerung geworden sind, sich auch gegen diese der Verdacht regte, ihre weitgehende Inanspruchnahme disponiere sie geradezu zu Überträgern ansteckender Krankheiten. Es mag zugegeben werden, daß vom rein theoretischen Standpunkte aus die Möglichkeit einer Infektion durch Benutzung des Fernsprechers nicht abgeleugnet werden kann. Man ist weiter gegangen und hat auf Grund dieser theoretischen Erwägungen auf die tatsächlich gegebenen Verhältnisse geschlossen und von einer großen Gefahr der Ansteckungsmöglichkeit gesprochen. Wenn Laien diese Ansicht äußern, so mag das ihren irrtümlichen Anschauungen von dem Zustandekommen und dem Wesen einer Infektion zu Gute gerechnet werden; wenn jedoch bakteriologisch geschulte Männer dieser häufig zu begegnenden Ansicht der Laien beipflichten, das Telephon stelle in hygienischer Beziehung eine Gefahr dar, so ist es berechtigt, dieser Frage näher zu treten, zumal in besonders interessierten Kreisen der Verdacht gegen das Telephon durch Veröffentlichungen in Fachzeitschriften wachgehalten und bestärkt wird. So ist in der »Deutschen Postzeitung« Nr. 31 vom 4. 8. 1912 von einer »häufig unterschätzten, in Wahrheit aber sehr bedeutenden Gefahr der Ansteckung am Fernsprecher« die Rede, einer Gefahr, »die durch systematische Versuche bedeutender Bakteriologen in England und Deutschland in ein helles Licht gerückt worden ist. Der englische Bakteriologe _Francis J. Allan_«, so heißt es in der Notiz »Wissenschaftliche Ergebnisse über die Ansteckungsgefahr am Telephon« weiter, »benutzte zu seinem Versuche ein öffentliches Telephon in der Londoner Zentralbörse. Die Mundöffnung des Apparates wurde mit einem Tuch abgewischt, und der Inhalt des Tuches wurde dann zu Versuchen an zwei Meerschweinchen benutzt. Das erste Meerschweinchen starb 23 Tage später, nachdem ihm von dem Inhalte des Wischtuches etwas eingeimpft worden war, und die Sezierung ließ die ausgesprochenen Kennzeichen der Tuberkulose erkennen. Das zweite Meerschweinchen starb 27 Tage nach der Infektion und zeigte ähnliche Zeichen der Ansteckung. Diese Experimente beweisen, daß tödliche Tuberkulosebazillen von öffentlichen Telephonapparaten auch auf den Menschen leicht übertragen werden können.« Kritiklos, wie derartige tendenziös gehaltene Mitteilungen zumeist hingenommen zu werden pflegen, wird diese Mitteilung das ihrige dazu beigetragen haben, die Furcht vor der Ansteckungsgefahr am Telephon noch zu erhöhen. Es ist lohnend, näher auf die Originalveröffentlichung _Allan_s im »Lancet« 1908 Nr. 4426 einzugehen: Es sind im ganzen sechs Versuche angestellt worden, von denen fünf negativ ausfielen. Bei dem 6. Versuch gelang die Infizierung der oben erwähnten 2 Meerschweinchen mit Tuberkelbazillen. Dieser sechste Versuch wird wie folgt näher beschrieben: »Tel. Nr. -- P. O. Zentral. Dieser Wischer hatte eine Masse von _weißgrauer, klebriger Substanz_ an sich haften; im gefärbten Ausstrich untersucht, zeigte sie eine Anzahl säurefester Bazillen, die in Gestalt und Form Tuberkelbazillen glichen.« Es ist offensichtlich, daß diese weißgraue, klebrige Substanz Sputum gewesen ist und zwar in so großer Menge mit dem Wischer entnommen wurde, daß man Ausstrichpräparate davon herstellen und mit dem Rest Tierversuche anstellen konnte. Dieser Fall, daß Sputum in dem Sprechtrichter in so großen Massen angetroffen wird, ist wohl praktisch so selten, daß man für die Frage einer Ansteckungsgefahr am Fernsprecher unter gewöhnlichen Verhältnissen daraus Schlüsse zu ziehen nicht berechtigt ist. Die Veröffentlichungen _Allan_'s im »Lancet« sind geeignet, ein gänzlich falsches Bild von der Möglichkeit einer Ansteckung am Telephon zu entwerfen und können mithin als ein Versuch, diese Frage wissenschaftlich zu klären, nicht betrachtet werden. Im Gegensatz zu den Ausführungen _Allan_'s möchte ich Ergebnisse einiger anderer Bakteriologen anführen. Die Versuche, die diesen Ergebnissen zu Grunde liegen, sind m. E. weit umfassender und weit mehr den tatsächlichen Verhältnissen angepaßt als die _Allan_'s und verdienen deshalb größere Beachtung. Speziell bezüglich der Ansteckungsmöglichkeit mit Tuberkelbazillen hat der Londoner Bakteriologe Dr. _Spitta_ eingehende Untersuchungen mit dem Fernsprecher angestellt. Es wurden Fernsprechapparate in Krankensälen angebracht, wo sie ausschließlich von Lungenkranken benutzt wurden. Während der Dauer eines ganzen Jahres hat man die Apparate weder gereinigt noch desinfiziert. Dann wurden die Mundstücke ausgewaschen und die Flüssigkeit Meerschweinchen injiziert. Der Versuch ergab selbst unter diesen für eine Übertragung der Krankheitsstoffe äußerst günstigen Bedingungen keine Ansteckung. Wenn man bedenkt, daß etwa 8 Tuberkelbazillen genügen, um ein Meerschweinchen tödlich zu infizieren, andrerseits in Betracht zieht, daß die Sekrete aus den tieferen Luftwegen Tuberkulöser u. U. massenhaft Tuberkelbazillen enthalten und falls sie in den Schallbecher gelangen sollten, über eine lange Zeit auch in eingetrocknetem Zustande lebensfähig bleiben, dann muß man nach den Versuchen _Spitta_s zu der Überzeugung kommen, daß selbst unter so günstigen Verhältnissen für das Zustandekommen einer tuberkulösen Infektion von einer Gefahr nicht die Rede sein kann. Die Möglichkeit einer Übertragung von Infektionsstoffen ist abhängig zu machen von einer Summe von Faktoren, die durchaus nicht immer zusammentreffen werden. Diese Fragen behandelt _Tomarkin_ in einer recht interessanten Arbeit in der »Münchener Medizinischen Wochenschrift«. Wie gelangen Infektionskeime überhaupt in den Schallbecher hinein? Die Exspirationsluft gesunder und kranker Personen ist, wie festgestellt worden ist, vollkommen keimfrei; während des Sprechaktes werden jedoch, wie _Flügge_ bewiesen hat, feinste Tröpfchen, die mit Bakterien beladen sein können, in die Umgebung geschleudert. _Cornet_ hat bezüglich der Tuberkulose den Nachweis geführt, daß diese verstäubten Tröpfchen, weil sie lediglich aus Mundspeichel bestehen, nur äußerst selten Tuberkelbazillen enthalten, immerhin werden bei Hustenstößen und namentlich in der Nähe einer sprechenden Person auch Sekrete der Tiefe verschleudert, die wohl Tuberkelbazillen enthalten können. Sind unter diesen Verhältnissen Keime in den Schalltrichter gelangt, so ist für eine nachträglich das Telephon benutzende Person eine Infektionsmöglichkeit gegeben in zweierlei Weise: Erstlich könnte die Person infiziert werden durch feinste infizierte Teilchen, die von dem vorhergehenden Benutzer in den Schalltrichter und dessen Umgebung hineinverstäubt sich dort noch eine Zeit schwebend erhalten haben, und zweitens durch infizierte trockene Teilchen, die etwa in dem Trichter abgelagert durch die Exspirationsluft des Sprechenden wieder aufgewirbelt würden. Von den Krankheitserregern, die beim Sprechakt in das Innere des Schallbechers gelangen und dort in irgend einer Form deponiert werden können, kommen nach _Tomarkin_ in Frage die Erreger der Tuberkulose, der Diphtherie, des Scharlachs, der Masern, der Influenza, Pneumonie, Meningitis cerebrospinalis, verschiedener Anginen, Katarrhe usw. Der Hörer könnte als Vermittler der verschiedensten Hautaffektionen in Betracht kommen, kommt er doch häufig genug in direkten Kontakt mit den Produkten der äußeren Haut kranker Personen, wodurch er gründlich und dauernd verunreinigt werden kann. Mit demselben Recht könnte man den Griff als Krankheitsvermittler betrachten. Man braucht nur an die Bazillenträger zu denken. Ein Diphtheriebazillenträger z. B., der eben noch in seine Hand hineingehustet hat, kann Diphtheriebazillen auf den Griff übertragen, diese könnten übergehen auf die Hand der nachträglich den Fernsprecher benutzenden Person und dieser gefährlich werden. Der gleiche Fall läge vor bei Typhusbazillenträgern, bei denen die Erreger durch Unreinlichkeit bei der Defäkation auf die Handfläche gelangt sein könnten. Indessen wäre die daraus resultierende Gefahr _nicht spezifisch für das Telephon_, da ja bei vielen anderen Gegenständen z. B. Türklinken die gleichen Verhältnisse gegeben wären. Die Untersuchung des Griffes ist mithin als über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausgehend unterlassen worden. Wenn wir nun von der Voraussetzung ausgehen, der Sprechtrichter sei infiziert mit Erregern ansteckender Krankheiten, so ist weiterhin für die Frage einer Ansteckungsmöglichkeit von Bedeutung, wie die in den Trichter abgelagerten Keime in die Atmungswege der nachträglich das Telephon benutzenden Person gelangen. _Tomarkin_ vertritt die Anschauung, daß zur Fortbewegung der in den Sprechtrichter abgelagerten infizierten Teilchen ganz geringe Luftströme wie z. B. die Exspirationsluft der am Telephon sprechenden Person ausreichend seien. Dieser Meinung möchte ich mich nicht anschließen auf Grund von Untersuchungen, die _Müller_ in der »Münchener Medizinischen Wochenschrift« veröffentlicht hat. Eine Entscheidung darüber, ob die Luftströme, die durch Räuspern, Niesen, Husten, Sprechen entstehen, ausreichen, um in den Sprechtrichter gelangte Keime loszulösen, die in Tröpfchen von Speichel oder Schleim eingeschlossen auf demselben haften geblieben sind, gehört meines Erachtens zu dem springenden Punkte der Frage einer Ansteckungsmöglichkeit. Die nach dieser Richtung hin von Dr. _Müller_ im Hygienischen Institut in München angestellten Versuche bieten für die aufgeworfene Frage großes Interesse. Es sei mir gestattet, sie wörtlich zu zitieren: »Es wurden nun, nachdem nachgewiesen war, daß die Telephonmembranen sich selbst überlassen, lange infiziert bleiben, mannigfaltig modifizierte Versuche darüber angestellt, ob sich die Keime bei der Benutzung des Telephons von der Membran ablösen und in die Luft übergehen. Bei einem Teile der Versuche wurden die Membranen für sich allein in der angegebenen Weise mehr oder weniger reichlich mit Prodigiosus infiziert; bei anderen Versuchen wurden die Apparate fertig montiert und dann erst dem Prodigiosusspray ausgesetzt, sodaß auch die Umrahmung infiziert war. Die Montierung wurde so angebracht, daß die Membran auch von rückwärts besprochen werden konnte. Nun wurde die Membran samt Montierung in den gerade ihrem Umfange entsprechenden Hals einer ca. 10 Liter haltenden Flasche, deren Boden durch Abschleifen völlig entfernt war, eingeführt und abgedichtet. Darauf wurde ½ bis 4 Stunden gewartet, damit die Membran lufttrocken gemacht werden konnte und etwa lediglich durch die Erschütterung beim Einführen in den Flaschenhals losgelöste Keime Zeit hätten, sich zu Boden zu senken. Nach dieser Zeit wurden von der weiten Bodenöffnung her mit aller Vorsicht Gelatineplatten in Petrischalen, gewöhnlich vier hintereinander, in die Flasche hineingeschoben und die Öffnung mit einem Glasdeckel verschlossen. Bei einigen Versuchen lag die Flasche nicht horizontal, sondern stand senkrecht und zwar war hohl auf untergeschobenen Holzklötzchen. Die Platten wurden in diesem Falle in der Bodenöffnung, also senkrecht unter der Membran, aufgestellt. Es wurde nun die Membran in Schwingungen versetzt, zunächst indem von rückwärts gegen sie durch längere Zeit laut gesprochen wurde; später als diese Versuche negativ ausgefallen waren, indem 1 bis 2 Minuten lang auf einer Trompete gegen sie geblasen wurde. Nach der Erschütterung wurde die ganze Vorrichtung durch 1 bis 24 Stunden sich selbst überlassen, um den losgelösten und in die Luft übergegangenen Keimen Zeit zu gewähren, sich auf die Kulturschichten abzusetzen. Die Platten wurden nach der Herausnahme aus der Flasche in der feuchten Kammer gehalten und 8 Tage lang beobachtet. Von 10 derartigen Versuchen sind 9 vollkommen negativ ausgefallen, negativ insbesondere auch die Trompetenversuche, bei denen das Telephon so heftig in Schwingungen versetzt worden war, wie es bei gewöhnlichem Gebrauch garnicht vorkommt. Nur bei einem einzigen derartigen Versuche wurden Prodigiosus Kolonieen und zwar nicht mehr als 5 auf den Nährplatten nachgewiesen. Außerdem wurden auch noch bei einem Kontrollversuche, bei welchem sich der infizierte Sprechtrichter 24 Stunden lang vertikal über dem Nährboden befand, ohne daß seine Membran in Schallschwingungen versetzt wurde, 3 Prodigiosuskolonieen aufgefunden. Wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, bei derartigen Versuchen zufällige Infektionen des Nährbodens mit einzelnen Keimen zu vermeiden, wird man diesen beiden positiven Fällen kein großes Gewicht beilegen dürfen. Es ist fraglich, ob die 5 Prodigiosuskeime wirklich vom Telephon herabgefallen sind. Schlimmstenfalls haben sich von den vielen Millionen, die sich am Telephon befanden, nur einige vereinzelte Keime losgelöst. Das Ergebnis der Versuche bestätigt somit nach unserem Dafürhalten die schon vorher gefaßte Meinung, daß die Infektionsgefahr bei halbwegs vernünftigem Gebrauch des Telephons minimal sei. Das Bedürfnis, es zu desinfizieren, scheint uns nicht vorzuliegen.« -- _Müller_ geht bei seinen Untersuchungen, soweit sie für die vorliegende Arbeit Interesse bieten, von der Voraussetzung aus, daß bereits eine Infizierung des Sprechers mit krankheitserregenden Keimen stattgefunden hat, und beschäftigt sich dann mit den Faktoren, die gegeben sein müssen, damit eine vom Telephon ausgehende Ansteckung erfolgen kann. _Müller_ ist, ohne die Frage zu berühren, ob überhaupt infektionsauslösende Keime am Fernsprecher nachweisbar sind, bereits zu dem Schlusse gekommen, daß die Infektionsgefahr minimal ist, und verwertet dieses Resultat seiner Untersuchungen, um die ihnen zu Grunde liegende Frage nach dem Bedürfnis einer Desinfektion der Telephone zu verneinen. Ich möchte der Kette dieser experimentellen Untersuchungen, die die Furcht vor der Ansteckungsmöglichkeit durch das Telephon zu beheben imstande sind, ein weiteres Glied einfügen und zu entscheiden versuchen, ob unter den gewöhnlichen alltäglichen Verhältnissen pathogene Keime sich nachweisen lassen. Ich gehe dabei von der Voraussetzung aus, daß, wenn man aus ihrem Vorkommen am Telephon für den Benutzenden eine Gefahr konstruieren will, sie in größerer Menge am Sprecher oder Hörer haften müssen, auf jeden Fall sich mit den bakteriologischen Methoden nachweisen lassen müssen. Die Versuche, die _Allan_ nach dieser Richtung hin angestellt hat, sind mir nicht einwandfrei und erschöpfend genug, werden ja auch bezüglich der Tuberkulose durch _Spitta_s Untersuchungen hinlänglich widerlegt. Um nun einen Einblick in die Bakterienflora am Telephon zu gewinnen, habe ich völlig vorurteilslos eine Reihe von Untersuchungen vorgenommen an 40 der am meisten in Anspruch genommenen Telephone der Stadt Greifswald: Öffentlichen Fernsprechstellen der Hauptpost, Bahnpost, des Bahnhofs, der Polizeiwachen, zahlreicher Gasthöfe, größerer Kaufhäuser, Privat- und Universitätskliniken u. a. Die Methode meiner Untersuchungen war folgende: Ein Stückchen steriler Watte wurde in 5 ccm steriler Bouillon gebracht. Mit diesem mit Bouillon angefeuchteten Wattebäuschchen wurden vermittels steriler Pinzetten Schallbecher und Hörrohr gründlich abgerieben. Hatte sich das Wattebäuschchen reichlich mit Bouillon getränkt, so kam es zuweilen vor, daß während des Abreibens Tropfen vom Schalltrichter abfielen. Diese abfallenden Tropfen wurden in sterilem Reagenzglase mit der sterilen Bouillon aufgefangen. Nach beendigter Abreibung wurde die Watte in die Bouillon zurückgebracht, mit Hilfe steriler Glasstäbe zerzupft und gründlichst in derselben ausgewaschen. Bei zehn Telephonen wurden anfänglich Hörer und Sprechtrichter gesondert untersucht, da ja in erster Linie die Frage nach der Art der Keime interessierte. Als sich herausstellte, daß die Bakterienflora des Hörers sich in keinem Punkte von der des Schallbechers unterschied, wurden bei den nächsten 20 Telephonen Hörer und Sprechtrichter mit dem gleichen Wattebäuschchen abgerieben und dieses in dieselbe Bouillon gebracht, deren Menge aber in diesen Fällen auf 10 ccm bemessen wurde. Als sich bei den ersten zehn Versuchen ein auffallender Unterschied in der Zahl der Keime, je nachdem sie dem Hörer oder dem Schallbecher entstammten, herausstellte, wurden nachträglich weitere 10 Telephone analog den ersten 10 untersucht. Es ist kaum zu glauben, wieviel Schmutz den Telephonen im allgemeinen anhaftet. Besonders trifft dies zu für die in dunkelen, geschlossenen Zellen untergebrachten Fernsprecher. Da vielfach nicht einmal für Beleuchtung in denselben gesorgt ist, so ist es begreiflich, daß der ungeheuere Schmutz von den Besitzern der Apparate garnicht gesehen und demzufolge für eine Entfernung garnicht Sorge getragen wird. So ist es wohl denkbar, daß in vielen derartigen Fällen der Schmutz sich über Jahre hin anhäufen konnte. Nach der Auswaschung nimmt die klare Bouillon eine schmutzig graue, oft tief schwarze Verfärbung an und bleibt in den wenigsten Fällen durchsichtig. Auch in den Fällen, wo eine tägliche Reinigung der Telephone vorgenommen wird, wie an den Apparaten der Postanstalten und vieler Kliniken, tritt, nachdem das Material in der Bouillon ausgewaschen ist, stets eine, wenn auch geringe Trübung ein. Zentrifugiert setzt sich ein mehr oder weniger reichlicher, grauer bis schwarzer Bodensatz ab, dessen Formbestandteile nicht näher zu differenzieren waren. Bringt man einen Tropfen dieser Bouillon auf ein Deckglas und betrachtet das ungefärbte, nicht lufttrocken gemachte Präparat unter dem Mikroskop oder nimmt man die Untersuchung am hängenden Tropfen vor, so sieht man eine unglaubliche Menge der verschiedensten Mikroorganismen, runde Kokken, die vereinzelt oder zu langen Ketten aneinandergereiht liegen und schon hier als Streptokokken zu diagnostizieren waren; kurze, längere, oft kolossal lange Stäbchen mit und ohne lebhafte Eigenbewegungen, mit und ohne stark glänzende Sporen. Die Bouillon enthielt also eine Unzahl von Keimen. Für die Aussaat auf Kulturplatten entschied ich mich nach längeren Probeversuchen für die Menge von 2 Platinösen. Es wuchsen bei dieser Aussaatmenge im Mittel 27 Kolonieen auf den Nährböden, was einer Menge von 67500 in den 5 ccm Waschflüssigkeit entsprechen würde. Mit dem gewonnenen Material wurden nun folgende Versuche angestellt: Je zwei Platinösen wurden auf Agar-Agarplatten verimpft und von diesen die eine bei Zimmertemperatur, die andere im Brutschrank bei 37° aufbewahrt und 14 Tage lang beobachtet. 2 Platinösen wurden in Gelatine verteilt und diese in Petrischalen ausgegossen; mit dem Rest der Bouillon wurden Tierexperimente angestellt. Zu den Versuchen wurden ausschließlich Meerschweinchen verwandt. Diesen wurde der ganze Rest der bakterienhaltigen Bouillon also ca. 5 oder 10 ccm, subcutan oder intraperitoneal injiciert. Von den auf den Platten gewachsenen Kolonieen wurden Reinkulturen gewonnen und auch mit diesen Tierversuche angestellt: 2-4 Platinösen dieser Reinkulturen wurden in 2 ccm steriler Kochsalzlösung fein verteilt und Meerschweinchen subcutan injiziert. Wo ich a priori infektiöses Material erwarten konnte, wie bei den Telephonen der Diphtherie- oder Typhusbaracke, wurden neben den gewöhnlichen Agarplatten auch andere Nährböden zur Züchtung verwandt: Material aus der Diphtheriebaracke wurde auf Hammelblutserumplatten ausgesät, und mit dem Material aus der Typhusbaracke das Verfahren der Anreicherung in Ochsengalle angestellt. Über das Ergebnis wird weiter unten berichtet werden. Die Versuche ergaben folgendes Resultat: Was zunächst die _Zahl_ der gewachsenen Kolonieen betrifft, so ist oben bemerkt worden, daß ein Unterschied zu konstatieren war, je nachdem die Platten mit dem Material des Hörers oder des Sprechtrichters besät waren. Hörer und Schallbecher wurden getrennt untersucht bei 20 Telephonen. Der besseren Übersicht diene folgende Zusammenstellung: Siehe Tabelle S. 18. Tabelle von Seite 17. Anzahl der auf Agar-Agar Platten gewachsenen Kolonieen =========+=======================+=============== Telephon | Material des Hörers | Material des Nr. | | Schallbechers ---------+-----------------------+--------------- 1 | 30 | 16 2 | 24 | 16 3 | 20 | 5 4 | 8 | 1 5 | 39 | 7 6 | 4 | 8! 7 | 18 | 3 8 | 245 | 18 9 | 12 | 74! 10 | 5 | 2 31 | 348 | 18 32 | 83 | 5 33 | 7 | 7 34 | 6 | 28! 35 | 23 | 26! 36 | 364 | 24 37 | 70 | 8 38 | 18 | 3 39 | 63 | 5 40 | 31 | 13 ---------+-----------------------+--------------- 20 1418 287 Telephone Kolonieen Kolonieen Die Tabelle zeigt uns, daß durchschnittlich die Kulturplatten, die mit dem Material des Hörers besät sind, rund 71 Kolonieen aufweisen, während auf den Kulturplatten, die mit dem Material des Schallbechers besät sind, nur rund 14 Kolonieen gewachsen sind. Die Platten, die dem Material des Hörers entstammen, enthielten demnach etwa 5 mal so viel Keime, als die des Schallbechers. Dieses Verhältnis 5 : 1 scheint mir etwas zu hoch gegriffen und ist lediglich auf die außerordentlich zahlreiche Bewachsung der Kulturplatten von den Telephonen Nr. 8, 31, 36 zurückzuführen. Indessen ist als erwiesen anzusehen, daß dem Hörer eine weit größere Menge Mikroorganismen anhaften als dem Schallbecher. Den Grund für dieses zunächst nicht zu erwartende Resultat möchte ich vornehmlich darin suchen, daß durch den direkten Kontakt der ganz ansehnlichen Fläche, die der Hörer bildet, mit der Haut und besonders auch den Haaren der das Telephon benutzenden Person das Haftenbleiben von Keimen stark begünstigt wird. Ferner ist in Erwägung zu ziehen, daß der Hörer der Ansiedelung von Keimen, die mit dem Staube verschleppt werden, eine größere Oberfläche darbietet und auch weit mehr der Staubablagerung exponiert ist als der trichterförmig abgeschlossene Schallbecher. Abgesehen von der Zahl der Keime interessierte nun besonders lebhaft die Frage nach der _Art_ derselben, unter besonderer Berücksichtigung des Umstandes, ob unter den aufgefundenen Arten pathogene Keime vorhanden seien. Zur Identifizierung der einzelnen Arten verwandte ich Züchtung in Bouillon, auf Agar-Agar-, Serum-, Gelatineplatten, ferner mikroskopische Untersuchung aller gewachsenen Kolonieen sowohl im hängenden Tropfen wie nach vorangegangener Färbung mit Methylenblau, Karbolfuchsin, Malachitgrün, oder Gramfärbung und zur besseren Darstellung der Sporen die Sporenfärbung nach _Möller_, bei Diphtherie ähnlichen Keimen die von _Loeffler_ modifizierte Neissersche Polkörnchenfärbung, an die sich eventuell weiter notwendige Maßnahmen wie Verimpfung auf Trauben- und Milchzuckerhaltige Nährböden, spezifische Typhusnährböden usw. anschlossen. Zur Entscheidung über die Pathogenität diente in jedem Falle der Tierversuch. Hiernach kam ich zu folgendem Resultat: Die Arten der durch die Plattenkulturen an den Fernsprechern nachgewiesenen Mikroorganismen sind fast in jedem Falle die gleichen. Die Bakterienflora des Hörers unterschied sich qualitativ in nichts von der des Schallbechers, weshalb nach einer Reihe von Untersuchungen das gesonderte Verfahren aufgegeben wurde. Weitaus am häufigsten, auf jeder Platte mehrmals, anzutreffen sind Kolonieen runder, Gram positiver Mikrokokken (Staphylokokken). Die Kolonieen sind in den meisten Fällen schon makroskopisch als Staphylokokkenkolonieen zu erkennen. Sie sind zumeist rund, glattrandig, starkglänzend und bilden ziemlich dicke Auflagerungen. Häufig zu beobachten ist nach längerer Zeit die Bildung von concentrischen Ringen und Dellen im Centrum der Kolonieen, sodaß die Randzone wallartig aufgeworfen erscheint. In der Farbe geben sie alle Nüancierungen wieder von einem dunklen Orange zum hellen Citronengelb, von einem leuchtenden Weiß über rosa Farbentöne zum Rot. Auch Farbenwechsel nach längerer Zeit ist beobachtet: Kolonieen, die anfänglich als weiße Auflagerungen protokolliert sind, nehmen später z. B. einen gelblichorangen Farbenton an. Andrerseits findet sich bei ein und derselben Kolonie stärker ausgesprochene Färbung des Centrums oder entsprechend den concentrischen Ringen, während häufig die Randzone blassere Farbentöne aufweist. Nicht immer ist der Grund darin zu suchen, daß die Kolonie stumpf kegelförmig vom Rande her nach dem Centrum ansteigt, also an der Peripherie dünner geschichtet ist. Die Größenverhältnisse der Kolonieen sind auch bei gleichem Alter verschieden: es finden sich Kolonieen im Durchmesser von 1-20 mm. Die Konsistenz der Kolonieen ist durchweg weich, das Material für die Untersuchungen ist mit der Platinöse stets leicht zu entnehmen. Die Form der Kokken ist in der Mehrzahl der Fälle rund und im allgemeinen treffen wir bei der gleichen Kolonie Kokken von gleicher Größe. Sie liegen haufenweise zusammen, ausgesprochene Traubenform ist nicht selten. Häufig liegen sie vereinzelt und imponieren dann oft als Diplokokken. Was die Größe der einzelnen Kokkenarten anbelangt, so finden wir alle Übergänge von winzigen zu recht ansehnlichen Kokken. Die Agarstrichkulturen zeigen die gleichen Eigenschaften bezüglich der Farbe und Beschaffenheit wie die Plattenkulturen. Sie bilden dicke, saftig erscheinende Auflagerungen längs des Striches, meist über ihn hinauswachsend. Das Kondenswasser ist diffus getrübt. Die Gelatine wird von den einzelnen Arten verschieden spät verflüssigt. Einige Kokkenarten verflüssigen rapide, bei anderen zeigt sich erst nach Ablauf von einigen Tagen eine schwache Verflüssigungszone um die Kolonie, wieder andere verflüssigen garnicht. Nach ihren genannten Merkmalen trage ich keine Bedenken, die meisten der gefundenen Arten je nach ihrer Farbstoffbildung als _Staphylococcus albus_, _aureus_, _citreus_, _rosaceus etc._ zu identifizieren. Der Staphylococcus albus, aureus, citreus wird ja vielfach als der verbreiteteste Eitererreger angesehen, und es liegt der Gedanke nahe, daß wir es bei den aufgefundenen Arten mit Vertretern pathogener Keime zu tun haben. Indessen kann man nicht lediglich aus der Form und der Art des Wachstums der Mikroorganismen Rückschlüsse auf deren Virulenz machen. Ich habe daher in all diesen Fällen den Tierversuch entscheiden lassen. Von Reinkulturen wurden 2 bis 4 Platinösen Meerschweinchen unter die Haut appliziert: trotz der reichlichen Menge zeigten die Tiere keinerlei Herd- oder Allgemeinerscheinungen, die auf krankhafte Prozesse schließen ließen. Ziemlich selten wurden Gram negative Kokken gefunden. Während von den Gram positiven Kokken jede einzelne Art häufiger anzutreffen war, ist von den Gram negativen Kokkenkolonieen fast keine der anderen gleich: Sind sie auch äußerlich nach Farbe und Beschaffenheit der Kolonieen nicht zu unterscheiden so finden sich Abweichungen in der Größe der einzelnen Kokken, der Fähigkeit, Gelatine zu verflüssigen, oder der Form, indem sie dann und wann als Diplokokken in Erscheinung treten. Relativ oft sind es blaßgraue bis bräunliche, stark saftig erscheinende Kolonieen, deren mehr oder weniger breite Randzone einen gezackten Rand aufweist und transparent ist. Ihre Oberfläche ist glatt, oft mit radiärer Streifung versehen. Treten dazu concentrische Ringe, so erhalten die Kolonieen, wie einige Mal beobachtet, ein kokardenähnliches Aussehen. Auch grünlichgelbe, citronen- bis schwefelgelbe Kolonieen kommen häufiger vor; auch diese Kolonieen bilden nach einiger Zeit concentrische Ringe, in noch älteren Stadien Schichtung im Centrum. Diese gelben Kolonieen zeigen die Eigentümlichkeit, daß die Größe der Kokken aus der gleichen Kolonie ziemlich variiert. Auch mit diesen Gram negativen Kokkenarten sind Tierexperimente angestellt worden. Es zeigte sich, daß auch sie nicht tierpathogen sind. Sehr häufig sind Sarcine auf den Kulturplatten anzutreffen. Fast ausschließlich sind es matt oder glänzend gelbe, glattrandige, die Gelatine mehr oder weniger zeitig verflüssigende Kolonieen. Auf Gelatineplatten wachsen sie langsam, schneller auf Agarplatten, wo Auflagerungen von 1 cm Durchmesser beobachtet wurden. Mikroskopisch finden wir neben ausgesprochener Warenballenform Anordnung der Sarcinekokken in Tetraden. Zweimal sind kleine, grauweiße, runde, matte Sarcinekolonieen angetroffen worden, die die Gelatine spät verflüssigten. Mikroskopisch erwiesen sie sich als kleine rundliche Kokken, die zu vieren zusammenlagen. Einige der oben angeführten gelb wachsenden Arten halte ich für identisch mit der _Sarcina flava_ und _lutea_. Auch mit den Sarcinearten sind Tierversuche angestellt worden. Injektionen von Reinkulturen unter die Haut von Meerschweinchen riefen keinerlei Veränderungen am Tierkörper hervor. Zu den allergewöhnlichsten Befunden auf den Kulturplatten gehören Stäbchen. Weitaus in der Mehrzahl sind es Vertreter aus der großen Gruppe der Heubazillen. Ihre Kolonieen finden sich auf jeder Platte als weißlichgraue, glänzende, auf Agar-Agar häufiger matte, glattrandige Auflagerungen. Ihre Oberfläche ist oft radiär oder concentrisch gefaltet und einem Häutchen vergleichbar. Mikroskopisch finden sich große und mittelgroße, oft zu langen Fäden vereinigte sporentragende Stäbchen, die sich nach Gram färben. Im hängenden Tropfen zeigen die Bazillen lebhafte Eigenbewegung. Die Gelatine wird schnell unter Bildung eines zarten Häutchens verflüssigt. Als sicher konnten diagnostiziert werden der _Bazillus subtilis_, der _Bazillus mesentericus vulgatus_, charakterisiert durch das typische Wachstum auf Kartoffeln, ferner der _Bazillus mycoides_, dessen Kolonieen wie die Ausläufer von Wurzeln sich verzweigen und schon makroskopisch nicht zu verkennen sind. Alle diese Mikroorganismen sind in Luft und Staub weit verbreitet und absolut unschädlich. Die pathogenen Arten der sporenbildenden Stäbchen, die Erreger des Milzbrandes, Rauschbrandes, des malignen Oedems sind nicht gefunden worden. Nicht sporentragende Stäbchen gehören ebenfalls zu den allergewöhnlichsten Befunden. Kurze, plumpe Gram positive Stäbchen sind von den verschiedensten Kolonieen zu gewinnen. Beobachtet wurden auf Agarplatten orangegelbe Kolonieen, die eine stark glänzende Oberfläche haben und nach dem Rande hin sich aufhellen. Die Kolonie ist stark prominent, ihr Rand glatt, bei älteren Kolonieen treffen wir im Centrum dellenförmige Einsenkungen an. Ein andermal entstammen nach ihrer Form mikroskopisch von den eben genannten nicht zu unterscheidende plumpe Kurzstäbchen weißlich runden, weniger intensiv glänzenden, durch concentrische Ringe und gezackten Rand sich auszeichnenden Auflagerungen. Mit einiger Regelmäßigkeit treffen wir ferner plumpe Kurzstäbchen an in Kolonieen, die blaßgraugelblich glänzend, transparent sind und eine unregelmäßige Form haben. Die Randzone ist stärker prominent, wallartig und intensiver gelblich gefärbt. Weiterhin sind plumpe Gram positive Kurzstäbchen nachzuweisen in großen, gelblichgrauen, glänzenden, glattrandigen, runden Kolonieen mit concentrischen Ringen. Die Stäbchen aus diesen Kolonieen liegen meist paarweise aneinander. Auch auf blaßrosa, runden, im Centrum intensiver rosa gefärbten Kolonieen wuchsen plumpe Gram positive Kurzstäbchen. Winzige, zarte, schlanke Gram positive Stäbchen bildeten oft Kolonieen, die eine saftig glänzende Oberfläche aufweisen, gelb bis gelblichbraun gefärbt sind und nach dem Rand hin durchsichtig werden. Die Auflagerungen sind zart und erreichen selten eine auffallende Größe. Längere, zarte, sich nach Gram entfärbende Stäbchen begegnen uns häufiger aus blaßgrau glänzenden, wie ein zarter Schleier auf Agarplatten wachsenden, durchsichtigen Kolonieen mit gezacktem Rand. In älteren Kolonieen nimmt das Centrum weißliche Verfärbung an und ist oft durch einen concentrischen transparenten Ring von der ebenfalls sich weißlich verfärbenden und dadurch undurchsichtig gewordenen Randzone getrennt. Auch zarte, kleine, Influenzabazillen ähnliche Mikroorganismen sind gefunden worden. Sie teilen mit dem Erreger der Influenza die Form und die Eigenschaft, nach Gram sich zu entfärben. Ihre Kolonieen bilden kleine, runde, saftig gelbe Auflagerungen bis zu einem Durchmesser von 1 mm, deren Rand glatt und gezackt ist. Die Tatsache, daß diese Bazillen sich auf Agarnährböden ohne Blutzusatz schon in erster Generation gewinnen und ohne Schwierigkeit fortzüchten ließen, spricht allein schon gegen die Vermutung, daß wir es mit Influenzabazillen zu tun haben könnten. Influenzabazillen sind auch dem Eintrocknen gegenüber wenig resistent. Rasches Eintrocknen soll sie nach _Lehmann-Neumann_ schon nach 2 Stunden zum Absterben bringen. Das Telephon wäre also an sich schon ein wenig geeigneter Fundort für diese Bazillen. Wahrscheinlich haben wir einen aus der Luft häufiger gewonnenen Bazillus vor uns, ähnlich dem _Bazillus aëris minutissimus_. Gram negative, bewegliche Bakterien, deren Kolonieen denen der Kolibakterien glichen und auch im mikroskopischen Bilde von ihnen nicht zu unterscheiden waren, konnten nicht als Kolibakterien angesprochen werden, da in den _Loeffler_'schen Grünlösungen Milch- und Traubenzucker von ihnen nicht vergärt wurden. Die Untersuchung typhusähnlicher Mikroorganismen auf spezifischen Nährböden blieb gleichfalls resultatlos. Besondere Aufmerksamkeit wurde dem Telephon der Typhusbaracke gewidmet. Typhusbazillen sind im Staub und auf den Fußböden von Wohnungen, in denen Typhuskranke gelegen haben, oftmals gefunden worden und wie _Rullmann_ nachgewiesen hat, bleiben diese Keime in sterilisierten Fußböden über ein Jahr am Leben. Mit dem aus dem Telephon der Typhusbaracke gewonnenen Material wurden abgesehen von den üblichen Verfahren Versuche angestellt, die besonders dem Nachweis von Typhusbazillen dienen sollten. Es wurde Material in Röhrchen mit Ochsengalle gebracht, um eine Anreicherung etwa vorhandener Typhusbazillen zu erzielen, und nun weiter auf Lakmusnutroseagar und Safranin-Reinblau-Malachitgrün-Nährböden nach _Loeffler_ verimpft. Die Versuche blieben negativ. Ebenfalls genaueren Untersuchungen wurde das Telephon der Diphtheriebaracke unterzogen. Nach den von _Weichardt_, _Kolle_, _Tjaden_, _Park_, _Wright_, _Emerson_, _Jäger_ und _Forbes_ angestellten Untersuchungen sind Diphtheriebazillen an den verschiedensten Gegenständen aus der Umgebung des Kranken, an Betteppichen, Halstüchern, Möbeln, Türklinken, den Kleidern und Schuhen des Pflegepersonals und, was für die vorliegenden Untersuchungen von besonderer Wichtigkeit sein dürfte, an den Haaren der Wärterinnen nachgewiesen worden. Der Gedanke, am Telephon der Diphtheriebaracke die _Loeffler_'schen Bazillen zu finden, hat jedenfalls viel Wahrscheinlichkeit für sich. Von vornherein wurde also Material auf _Loeffler_'sches Hammelblutserum ausgesät. Unter den gewachsenen Kolonieen war keine typisch für Diphtherie und auch mikroskopisch sind auf den der Diphtheriebaracke entstammenden Kulturen weder Diphtherie- noch Pseudodiphtheriebazillen aufgefunden worden. Dagegen fanden sich ein einziges Mal -- dem Telephon einer Privatklinik entstammend -- Bazillen, die Gram positiv waren und in ihrer Form und Struktur, auch in der Art, wie die einzelnen Bazillen zu einander lagen, echten Diphtheriebazillen glichen. Die Bazillen waren an den Enden hantelförmig verdickt. Auf den Originalagarplatten wuchsen sie in kleinen runden grauen Kolonieen mit matter Oberfläche. Die Fortzüchtung auf Agarschrägröhrchen gelang mühelos: es bildete sich ein grauer, matt glänzender, wie granuliert erscheinender Überzug. Die _Neisser_'sche Polkörnchenfärbung nach dem von _Loeffler_ angegebenen Verfahren ließ an der Vermutung, es könne sich um Diphtheriebazillen handeln, große Zweifel aufkommen. Die Färbung fiel wenig charakteristisch aus. Um eine sichere Unterscheidung zwischen diesen Bazillen und den echten Diphtheriebazillen durchzuführen, wurden frische Reinkulturen auf Hammelblutserum angelegt -- sie wuchsen dort wie Diphtheriekulturen --, und von diesen 24 Stunden alten Kolonieen zwei Platinösen subkutan auf Meerschweinchen verimpft. Die Tiere blieben am Leben, von einem Infiltrat an der Impfstelle war nichts zu sehen. Es handelt sich also um irgend eine Art Pseudodiphtheriebazillen. So zahlreich die gefundenen Arten sein mögen, und so schwer es ist, jede von ihnen zu diagnostizieren, die Frage nach der Pathogenität der aufgefundenen Keime, worauf es bei den vorliegenden Untersuchungen in erster Linie ankam, ist jedenfalls zu verneinen. Der Tierversuch ergab, daß kein Tier irgendwelche Krankheitserscheinungen aufwies, wobei zu bedenken ist, daß von allen genannten Keimen reichliches Material zur Verimpfung in Anwendung kam. Wiederholt sind derbe, graue bis weißliche, trockene gerunzelte Kolonieen auf den Kulturplatten angetroffen worden, die einem pergamentartigen Überzug gleichen, auf dem Agarnährboden fest haften und nach längerer Zeit wie mit einem weißen Flaum besetzt sind. Die Kulturplatten, auf denen sie zu finden sind, lassen beim Öffnen einen stark schimmelartigen Geruch entströmen. Im mikroskopischen Bilde sind dichotomisch verzweigte Fäden zu sehen. Wir haben hier _Streptothrixarten_ vor uns, die häufig als Luftverunreinigungen angetroffen werden und als Krankheitserreger nicht in Betracht kommen. Auf einigen Platten treffen wir kleine, rosafarbene Kolonieen mit granulierter Oberfläche an, deren Randzone kugelige Gebilde aufweist. Unter dem Mikroskop sehen wir große, eiförmige Gebilde mit ausgesprochener Sprossung. Zweifellos handelt es sich um die in der Luft häufig nachzuweisende, _nicht pathogene rosa Hefe_. Auf jeder Platte wachsen ferner im Durchschnitt 2 bis 3 Kolonieen von Schimmelpilzen. Sie waren leicht mit schwacher Vergrößerung an ihren Hyphen als _Mukor, Aspergillus, Penizillium und Oidiumarten zu differenzieren_. _Das Ergebnis der Untersuchungen, die angestellt wurden mit den auf den Kulturplatten aufgefundenen Mikroorganismen, ist also in dem Sinne zu bewerten, daß es nicht gelungen ist, krankheitserregende Keime unter ihnen nachzuweisen._ Bei der geringen Menge des zur Aussaat auf Kulturplatten gelangten Materials ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß Keime, die am Telephon vorkommen, garnicht auf die Kulturplatten gelangt sind, andrerseits Keime für ihre Weiterentwickelung ungünstige Bedingungen angetroffen haben könnten, wie dies z. B. für ausschließlich anaerob wachsende Arten und auch für Tuberkelbazillen zutreffen würde, die an sich schon ein sehr langsames Wachstum selbst auf den ihnen zusagenden Nährböden haben und auf den zur Verwendung gelangten Nährböden so gut wie garnicht wachsen. Um deren Vorkommen festzustellen, dienten in erster Linie die oben angeführten Tierversuche, die darin bestanden, daß Meerschweinchen die ganze Bouillon, mit der die Telephone abgerieben waren, subkutan respektive intraperitoneal injiziert wurde. Diese Versuche reihen sich zwanglos an die oben erwähnten Untersuchungen von Dr. _Spitta_-London bezüglich des Vorkommens von Tuberkelbazillen an den Fernsprechern an. Wegen der ungeheueren Menge von Keimen, die diese Bouillon enthielt, habe ich irgend eine stärkere Reaktion des Tierkörpers erwartet. Es überraschte mich also, daß bei sämtlichen Impfungen die Tiere am Leben blieben und abgesehen von einem Falle, keinerlei Krankheitserscheinungen zeigten. Die Injektionsflüssigkeit wurde alsbald resorbiert, von irgend welchen Symptomen einer Entzündung an der Injektionsstelle war nichts zu konstatieren. Bei den meisten Tieren zeigte sich jedoch nach 5 bis 7 Tagen eine Schwellung der der Injektionsstelle entsprechenden Achsel- und Leistendrüsen. Zu einer ausgesprochenen Verhärtung der Drüsen, die den Verdacht auf tuberkulöse Prozesse hätte wachrufen können, kam es jedoch nicht. Durchschnittlich nach weiteren 6 bis 8 Tagen ging die Anschwellung zurück; 14 Tage nach der Injektion, bei einzelnen Tieren erst nach 4 Wochen, war eine Vergrößerung oder Schwellung der Drüsen nicht mehr wahrzunehmen. Sämtliche Tiere wurden 8 Wochen lang beobachtet, sie blieben vollkommen gesund. Diese vorübergehenden Drüsenanschwellungen sind m. E. aufzufassen als die Antwort auf den durch die zugeführten Bakterien, den Staub und Schmutz ausgelösten Reiz. Nur bei einem Tiere kam es lokal zu einer Absceßbildung. Nach 3 Tagen bestand hochgradige Schwellung an der Injektionsstelle, das Tier machte äußerlich einen schwerkranken Eindruck. Am 5. Tage nach der Injektion erfolgte spontan der Aufbruch des Abscesses. Nach 10 Tagen vollkommene Ausheilung mit Hinterlassung einer 1 ½ cm langen Narbe. Als Ursache der Absceßbildung konstatierte ich unter dem Mikroskop runde Kokken. Das Material entstammte einem Telephon, das in dunkler, nicht ventilierbarer Zelle untergebracht war. Die Bouillon verfärbte sich nach der Auswaschung des Wattebausches tiefschwarz. Eine Bedeutung für die Frage, ob das Telephon eine Gefahr in gesundheitlicher Beziehung für die es benutzenden Personen darstellt, kommt indessen diesem Ausnahmefall nicht zu. Es ist doch ein gewaltiger Unterschied, ob, wie in diesem Falle, Millionen von Mikroorganismen einem Meerschweinchen unter die Haut geimpft werden oder zufällig Keime in die Mundhöhle und den Rachen eines Menschen gelangen. Sollte dieser Fall wirklich einmal eintreten, so ist selbst dann noch nicht eine Gefahr darin zu erblicken: einmal kann es sich nur um eine verschwindend geringe Anzahl von Keimen handeln, die während der Benutzung des Fernsprechers auf den Menschen übertragen werden können; dann sind die am Hörer und Schalltrichter nachgewiesenen Mikroorganismen durch das Ergebnis der Tierversuche als harmlose Saprophyten zu betrachten, denen krankheitserregende Eigenschaften nicht anhaften. Speziell ist zusammen mit den Untersuchungen von _Spitta_-London hinsichtlich der Tuberkuloseübertragung auf Grund der zahlreich unternommenen Tierversuche ausdrücklich zu konstatieren, daß Tuberkelbazillen nicht nachgewiesen werden konnten. Endlich stehen für den Fall, daß Mikroorganismen tatsächlich in die Mund-, Nasen- und Rachenhöhle gelangen sollten, dem Organismus eine Reihe von Schutzmaßregeln zur Verfügung, die zum mindesten eine Abschwächung der ohnehin schon recht minimalen Virulenz der Keime, wenn nicht gar deren vollständige Vernichtung bewirken. Die Sekrete der Schleim- und Speicheldrüsen in der Mundhöhle, dem Nasen- und Rachenraum und der tieferen Luftwege haben antibakterielle Eigenschaften und es ist somit in der normalen Schleim- und Speichelproduktion ein natürlicher Schutz des Organismus gegen schädliche Keime zu sehen. Weiterhin sucht sich der Körper rein mechanisch durch die Flimmerbewegungen der Epithelien der in die Luftröhre eingedrungenen Keime zu entledigen. Die Ergebnisse der bevorstehenden Arbeit geben in vollkommen objektiver Weise die Verhältnisse an zahlreichen im alltäglichen Gebrauch befindlichen Telephonen wieder. Pathogene Keime sind nicht gefunden worden. Die Befürchtungen, die im Publikum wiederholt betreffs der Tuberkuloseübertragung durch das Telephon laut geworden sind, entbehren jeder Begründung. _Allan_s Publikationen sind lediglich als Zufallsbeobachtungen zu bewerten. Die im Publikum weitverbreitete Angst vor einer Ansteckungsmöglichkeit durch die Benutzung des Fernsprechers ist demnach als vollkommen unbegründet zurückzuweisen. Die Frage nach einem Bedürfnis, das Telephon zu desinfizieren, möchte ich mit Dr. _Müller_-München verneinen. Den Geboten der Hygiene und der Ästhetik folgend soll indessen ausdrücklich an einer weitgehenden Sauberhaltung des Telephons festgehalten werden. In dem Bestreben, diesen hygienischen und ästhetischen Forderungen in weitgehendster Weise zu entsprechen, ist von jeher nichts unversucht gelassen worden. Das beweist die Unmenge von Apparaten, die mehr oder weniger kompliziert, alle das Ziel verfolgen, der Übertragung ansteckender Krankheiten durch den Gebrauch des Fernsprechers vorzubeugen; das beweisen ferner die zahlreichen Anpreisungen desinfizierender Stoffe, die eigens für das Telephon erdacht sind. Wo indessen Untersuchungen vorgenommen sind, um die desinfizierende Wirkung dieser Stoffe zu erproben, da ist man bald von der Wertlosigkeit dieser Mittel als Desinfizientien überzeugt worden. Von der Unmenge der Apparate, die _Kausch_ in der zusammenfassenden Übersicht über »Verfahren und Apparate zur Desinfektion der Telephone« beschreibt, ist auch keiner zur allgemeinen oder doch nur weiteren Verwendung gelangt, ein Umstand, der ihre praktische Unbrauchbarkeit zur Genüge beweist. Apparate, die selbsttätig beim Abnehmen und Anhängen des Fernhörers funktionieren, die in Verbindung mit dem Mechanismus des Fernsprechers Ozon oder heiße Luft erzeugen, sind in ihrer Konstruktion zu kompliziert und infolgedessen auch zu kostspielig, um weitere Verbreitung zu finden. Es genügt wohl in jedem Falle die Sauberhaltung der Fernsprecher durch einfaches tägliches Abreiben mit oder ohne desinfizierende Lösungen. Aus rein ästhetischen Gründen empfiehlt es sich, mit der Desinfektion eine Desodorierung der Schallbecher zu erzielen -- soll es doch vorkommen, daß die Schallbecher nach Benutzung durch Personen, die mit üblem Mundgeruch behaftet sind, noch lange Zeit einen widerlichen Geruch ausströmen lassen. Gröbliche Unsauberkeiten, wie sie oft von mir beobachtet werden konnten, ließen sich eher vermeiden, wenn man dem Schallbecher einen hellen Anstrich gäbe. Schmutzablagerungen würden eher wahrgenommen, das Publikum selbst würde auf eine Reinhaltung der Fernsprecher dringen und von der erfolgten Sauberhaltung sich leicht überzeugen können. * * * * * Zum Schlusse ist es mir eine angenehme Pflicht, Herrn Geheimen Medizinalrat Professor Dr. _Loeffler_ für die Überweisung der Arbeit und die vielen Anregungen während ihrer Ausführung meinen herzlichsten Dank auszusprechen. Ebenfalls möchte ich nicht verfehlen, Herrn Dr. _Walter_ für seine stets bereitwillige Hilfeleistung bei den bakteriologischen Untersuchungen zu danken. Literaturverzeichnis. _Allan_: Krankheitsübertragung durch das Telephon. Lancet 1908, No. 4426. _Spitta_: Medizinische Klinik 1912, No. 29, S. 1220 (Kleine Mitteilungen). _Tomarkin_: Über die Gefahren der Übertragung von Infektionsstoffen durch das Telephon und ihre Verhütung. Münchener Medizinische Wochenschrift 1906, S. 2435. _Cornet_: Die Tuberkulose. _Müller_: Der Percy-Simundt'sche Telephondesinfektor. Münchener Medizinische Wochenschrift 1905, No. 51, S. 2495. _Rullmann_: Zentralblatt für Bakteriologie Bd. 30, S. 321. _Weichardt_: Inaug.-Dissertation Breslau 1900. _Kolle_: Zeitschrift für Hygiene 1895, Bd. 19, S. 147. _Tjaden_: Archiv für klinische Medizin 1907, Bd. 89, S. 309. _Park_: Baumgartens Jahresbericht 1892, S. 194. _Wright_ und _Emerson_: Zentralblatt für Bakteriologie, Bd. 16, S. 412. _Jäger_: Deutsche Medizinische Wochenschrift 1899, S. 472. _Forbes_: Wiener medizinische Presse 1895, S. 192. _Kausch_: Zentralblatt für Bakteriologie, Bd. 33, S. 585. Ebenda Bd. 23, S. 289. Ebenda Bd. 35, S. 220. Ebenda Bd. 32, Verfahren und Apparate zur Desinfektion der Telephone. Lebenslauf. Ich, _Johannes Carl Hermann Weiß_, bin geboren am 5. Januar 1887 zu Alt-Anhalt im Kreise Pleß, Ober-Schlesien als Sohn des evangelischen Pastors _Carl Weiß_ und seiner Frau _Elisabeth_, geb. _Natorp_. In meinem 12. Lebensjahr, 1898 kam ich auf das Königliche humanistische Gymnasium in Marburg a. Lahn, 1899 auf das Königliche Gymnasium in Bunzlau in Schlesien, 1904 auf das Königliche Gymnasium in Essen a. d. Ruhr, wo ich Ostern 1907 das Reifezeugnis erhielt. Ich wählte das Studium der Medizin und studierte abwechselnd auf den Universitäten Jena und Greifswald. Nach fünf Semestern bestand ich im Jahre 1909 die ärztliche Vorprüfung in Jena, nach weiteren fünf Semestern im Juni 1912 das medizinische Staatsexamen vor der ärztlichen Prüfungskommission in Greifswald. Das praktische Jahr absolvierte ich am Hygienischen Institut in Greifswald, an der Provinzial-Hebammenlehranstalt in Paderborn, dem Städtischen Krankenhaus in Hamm i. Westf. und dem Friedrich Krupp'schen Krankenhaus in Essen-Ruhr. Meine Lehrer, denen ich an dieser Stelle meinen Dank ausspreche, waren _in Jena_: Bennecke, Biedermann, Busse, Dürck, v. Eggeling, Gärtner, Haeckel, Henkel, Kionka, Knorr, Lubosch, Maurer, Riedel, Schultze, Stahl, Stintzing, Winkelmann; _in Greifswald_: Beumer, Bleibtreu, Cohn, Grawitz, Groß, A. Hoffmann, E. Hoffmann, Kallius, Kochmann, König, Kroemer, Lange, Loeffler, Loehlein, Mangold, Peiper, Peter, Römer, Schultze, Schulz, Steyrer, Vorkastner. [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile steht. die ganze Vorrichtung durch 1 bis 24 Stunden sich selbst überlaßen, um die ganze Vorrichtung durch 1 bis 24 Stunden sich selbst überlassen, um längere, oft kollossal lange Stäbchen mit und ohne lebhafte längere, oft kolossal lange Stäbchen mit und ohne lebhafte protokolliert sind, nehmen später z. B. einen gelblichorange Farbenton protokolliert sind, nehmen später z. B. einen gelblichorangen Farbenton Diphteriebaracke unterzogen. Nach den von _Weichardt_, _Kolle_, Diphtheriebaracke unterzogen. Nach den von _Weichardt_, _Kolle_, _Allan_: Krankheitsübertragung durch das Telephon Lancet 1908, No. 4426. _Allan_: Krankheitsübertragung durch das Telephon. Lancet 1908, No. 4426. _Wright_ und _Emerson_: Zentralblatt für Bakteriologie, Bd. 16 S. 412. _Wright_ und _Emerson_: Zentralblatt für Bakteriologie, Bd. 16, S. 412. ] End of the Project Gutenberg EBook of Experimentelle Untersuchungen über die Frage »Ist die Furcht vor Krankheitsübertragung durch das Telephon berechtigt«?, by Carl Weiss *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EXPERIMENTELLE UNTERSUCHUNGEN *** ***** This file should be named 25783-8.txt or 25783-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: https://www.gutenberg.org/2/5/7/8/25783/ Produced by Jana Srna, Alexander Bauer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. They may be modified and printed and given away--you may do practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. *** START: FULL LICENSE *** THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License (available with this file or online at https://gutenberg.org/license). Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works even without complying with the full terms of this agreement. See paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic works. See paragraph 1.E below. 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. If an individual work is in the public domain in the United States and you are located in the United States, we do not claim a right to prevent you from copying, distributing, performing, displaying or creating derivative works based on the work as long as all references to Project Gutenberg are removed. 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The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at https://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: https://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
55770-0
The Project Gutenberg EBook of Semmering 1912, by Peter Altenberg This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Semmering 1912 Author: Peter Altenberg Release Date: October 18, 2017 [EBook #55770] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SEMMERING 1912 *** Produced by Elizabeth Oscanyan and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) Anmerkungen zur Transkription Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht verändert. Gesperrter Text wurde mit _Unterstrichen_ gekennzeichnet. Die Erzählung ‚Plauderei‘ wurde zwei Mal abgedruckt (siehe S. 31 und S. 170). Die nachfolgende Widmung wurde zum Andenken an die Bearbeiterin in dieses Buch aufgenommen. In memoriam „Mama Beth“ in immerwährender Freundschaft und Dankbarkeit. Das schönste Denkmal, das ein Mensch bekommen kann, steht in den Herzen seiner Mitmenschen. The most beautiful monument a person can have is one that is in the hearts of others. (Albert Schweitzer) _Werke von Peter Altenberg_ Wie ich es sehe _Fünfzehnte vermehrte Auflage._ Geh. 6 M. 50 Pf., geb. 9 M. Was der Tag mir zuträgt _Achte vermehrte Auflage._ Geh. 6 M. 50 Pf., geb. 9 M. Prodromos _Fünfte Auflage._ Geh. 3 Mark 50 Pf., geb. 5 Mark 50 Pf. Märchen des Lebens _Sechste vermehrte Auflage._ Geh. 5 M. 50 Pf., geb. 8 M. Neues Altes _Dritte Auflage._ Geheftet 5 Mark, gebunden 7 Mark 50 Pf. „Semmering 1912“ _Sechste vermehrte Auflage._ Geh. 5 M., geb. 7 M. 50 Pf. Fechsung _Sechste Auflage._ Geheftet 5 Mark 50 Pf., gebunden 8 Mark Nachfechsung _Fünfte Auflage._ Geheftet 6 Mark 50 Pf., gebunden 9 Mark Vita ipsa _Zehnte Auflage._ Geheftet 6 Mark, gebunden 8 Mark 50 Pf. Mein Lebensabend _Achte Auflage._ Geheftet 6 Mark 50 Pf., gebunden 9 Mark ------------------------------------------------------------------------ [Illustration: SoFeV mark] ------------------------------------------------------------------------ [Illustration: Peter Altenberg (Signatur)] ------------------------------------------------------------------------ „__Semmering 1912__“ _von_ __Peter Altenberg__ [Illustration: logo] __S. Fischer, Verlag, Berlin__ __1919__ ------------------------------------------------------------------------ _Fünfte und sechste vermehrte Auflage._ Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten. Copyright 1913 S. Fischer, Verlag, Berlin. ------------------------------------------------------------------------ INHALT Bergeswelt 15 Bozen 16 Gartengedanken 17 Moderner Dichter 21 Die Tänzerin 22 Zwei Skizzen 27 Erziehung 29 Plauderei 31 Lied ohne Reime 32 Forellenfang 33 So wurde ich 35 Loca Minoris resistentiae 37 Dolomiten 39 Mama 41 Moderne Annonce 43 Semmering 44 Winter auf dem Semmering 45 Vollkommenheit 46 Nachwinter 47 Heimliche Liebe 49 Das Kino 51 Lebensbild 52 So sind wir 53 Mein grauer Hut 55 Die Kostüme auf dem Semmering in der Silvesternacht 57 Fortschritt 58 Abschied 60 Besuch 61 Buchbesprechung 63 Ein Brief 65 Das Hotel-Stubenmädchen 67 Gespräch 68 Bobby 69 Psychologie 71 Vorfrühling 73 Das Glück 75 Das Duell 76 Stammgäste 77 Sanatorium für Nervenkranke 78 Die Romantikerin I. 83 Erbleichet! Errötet! 85 Ostermontag auf dem Semmering 86 Berghotel-Front 88 Landpartie 89 Psychologie 91 Vor-Vorfrühling 93 Gedenkblatt 95 Oberflächlicher Verkehr 97 Beauté 99 Die Spielereien der reichen Leute 100 Richtige, aber eben deshalb wertlose Betrachtungen 101 Die Probe 102 Ereignis 103 Ende 104 Nach abwärts 105 Abschied 106 Kranken-Toilette 107 Kusine 109 Lied 110 Echt 111 Gespräch 112 Bilanz 113 Sehr geehrtes Fräulein! 115 Herbstlied 116 Ewige Erinnerung 117 Gesang 118 Souper 119 Die Wagenfahrt 120 Wagenpartie 121 Abschiedsbrief des englischen Offiziers 124 Wie ist es?! 125 Vom Rendezvous 126 Examen 127 Les Larmes 128 Testament 129 Aconitum Napellus 130 Manövers 131 Gift 132 Luftveränderung 133 Ein Nachtrag 135 Buchbesprechung 137 An —— 138 Nekrolog (Fritz Strauß) 139 Erster Schnee 140 Der Maler 141 Betrachtungen 143 Ur-Seele 144 Frage 145 Letzte Unterredung 146 Die Niere 147 Krankheit 148 Güte 149 Annonce 150 Plauderei 153 Richtig 154 Reminiszenzen 155 Werte 157 Schlafmittel 159 Fahrt 160 Lied 163 Abschied 164 Gespräch mit einer Baronin, Exzellenz-Frau, über 165 ihren herrlichen zwölfjährigen Sohn Entzweit 166 Gespräch mit der sechsjährigen Sonja Dungyersky 167 Gleich beim Hotel 168 Gespräch mit einer wunderschönen Dame von 30 Jahren 169 Plauderei 170 Gegen 171 Rompe! 172 Waschungen 173 Respekt 174 Falzarego-Paß-Höhe 175 Enterbte des Schicksals 176 Frühling 177 Erlebnis 178 Die Tänzerin 179 Meine Ehrungen 180 Klara 181 Berghotel-Terrasse, Semmering 182 Erkenntnis 183 Klara 184 Ein Komtessen-Brief 185 Märchen des Lebens 186 Worüber man noch immer weint, und ewig weinen wird! 187 Besuch 188 Liebesgedicht 189 Das größte Kompliment 190 Le monde 191 Ein Regentag 192 In 24 Stunden 193 Hotel-Stubenmädchen 194 Moderner Dichter 195 Natur 196 Noch nicht einmal Splitter von Gedanken 197 Zyklus: „Venedig“ 215 ------------------------------------------------------------------------ Dieses Buch ist gewidmet den Damen: _Lilly Steiner_ _Gretl Engländer_ _Kamilla von Nagy_ _Ilci Honus_ _Cäcilia Brandstätter_ _Frieda Frank_ _Lioschka Maliniéwich_ _Mitzi Thumb_ _Frau Machlup_ ✫ ------------------------------------------------------------------------ BERGESWELT Bergesregionen, dort wo „nichts mehr gedeiht“ als Krummholz, sturmgebogen, ist seit jeher meine „Märchenwelt“! Nach 40 Jahren fand ich das wieder auf dem „Falzarego-Passe“, „Tre Croce“, „Pordoijoch-Paß“. Weißgraue Felstrümmer, schwarze triefende Erde, Zirbelkieferwälder bis an die Hotels herankriechend. Von Felsen träufelt, rieselt es, Nebelfetzen überall. Nichts will gedeihen als die _Edel-Einsamkeit_. Vor dem Pordoijoch-Hotel grauschwarze Wälder von dichtem Erlengebüsch, dem der Bergsturm nichts antut. Es braust nur und erschauert. Daß hier nichts mehr gedeiht, ist die _Düster-Romantik_ der Bergeswelt. Keine Farbe einer Blume, kein Schrei eines Vogels, kein Schmetterling, kein Käfer. Diese _tönende Eintönigkeit_! Eine schrieb ins Fremdenbuch ein: „Ohne Jemanden nicht leben können und wollen, selbst wenn man es vorher bestimmt geglaubt hatte, es sei unmöglich, — — — _hier vergißt man darauf_!“ BOZEN Auf dem Hauptplatze in Bozen steht das Walther von der Vogelweide-Denkmal aus Sandstein. Er hat die Stellung des Wolfram von Eschenbach, bevor er das Lied singt an die selbstlos Geliebte. Das ist sehr gut. Denn auch Vogelweide war so Einer. Er besaß die Kraft, zu singen und zu weinen! Nun setzten sich gerade auf seine Kappe zwei Tauben, und pflogen emsig der Liebe! Vogelweide hielt ganz still dabei, in seine Träumereien versunken von Liebesleid, gönnte den Tauben ihr billiges, leicht erreichbares Vergnügen. GARTENGEDANKEN Ich habe nichts hinzugelernt durch das ausgezeichnete Buch „Gartengestaltung der Neuzeit“, und dennoch habe ich das Höchste profitiert — die Festigung meiner Intuitionen! Gärten wirkten seit jeher auf mich wie die Natur selbst; so eine eingefangene und dennoch freigelassene Natur, ein Extrakt derselben! Unser Wiener Rathauspark ist mir ein Muster, nur fehlt ihm die romantische Verwendung von Wasser in Form von unregelmäßigen Bassins und Wiesenbächlein samt Wasser- und Sumpfpflanzen! Ich schrieb schon vor 15 Jahren eine Skizze: „Der Farbengarten“. Zum Beispiel Graufichte, Picea pungens glauca, graue Bodenbedeckungspflanzen, grauer Steinbrunnen und Rosen, Rosen, Rosen. Irgendwo an einem Baumast ein silberner großer Käfig mit einem grauen Papagei, Lori! Zwei-Farben-Gärten! Nun einige Anregungen: weite Rasenflächen sind still-aristokratisch, werden aber durch alte, knorrige, spärlich unregelmäßig hingesetzte Obstbäume sofort bewegt-romantisch! Es dürfte nie heißen: ein Garten, sondern immer nur: sein Garten. Goethe hat einen andern Garten als Victor Hugo. Wasserpflanzen und Steinpflanzen erfordern Bassins und Mauern. Diese können aber nicht diskret bescheiden genug sein. Der Kurpark in Baden bei Wien entspringt gleichsam einer dunklen, echten Waldquelle, die die Wiesenabhänge herabstürzt, sich zerteilend und winzige Tümpel bildend. Hier ist die Natur am allerdiskretesten organisiert! Ein enragierter Feind jedoch bin ich seit jeher der Teppichbeete, die mir wie als Smyrnateppiche mißbrauchte Blumenpracht erscheinen. Man überlasse diese stilisierten Farbensymphonien den Webern und Knüpfern. Ich bin gegen die Riesenlineale, Riesenzirkel, gespannten Stricke der Gartenkunst! Rhabarber erscheint im Gemüsegarten als Nutzpflanze, an Teichen jedoch als Wildstaude, pittoresk. Jeder Platz eine andere Welt! Waldrebe, Klematis, ist, an alten Bäumen, unsre „Liane des Urwalds“. Der Boden ist so reich, daß er auch noch die Schmarotzer in Üppigkeit erhalten kann. Immergrün als Bodenbedeckung ist ein natürlicher Rasen. Rasen braucht doch Schneiden, Spritzen, Walzen und Düngen. Rasen will „gepflegt, gehegt“ werden. Immergrün ist einfach immer grün. Es läßt den Wurzeln aller andern Pflanzen das Regenwasser, das Gießwasser, das Tauwasser, das Schneewasser, während der Rasen sich vollsauft und andre verdursten läßt! Selbst im Winter gibt Sedum spurium noch einen lebendigen bräunlichgrünen Bodenüberzug, während unser Rasen dann nur „Winterlieder zum Cello“ in der Seele hervorbringt. Sedum spurium wirkt körperlicher, plastischer, naturgemäßer, dichter, verworrener als Rasen, der mir stets den Eindruck von geschnittenem Samt und Plüsch hinterläßt. Ich bin sehr für Trockenmauerwerk mit schmiedeeisernen Geländern und dicht bepflanzt mit Kapuzinerkresse. Wie wenn die überstarke Natur auch da noch Stein und Eisen schmücken möchte mit Grün und Dunkelgelb. Zur Schlingpflanze gehört ihre _Stütze_. Man _soll_ sie sehen, sie ist ein naturgemäßer Schmuck. Ihr Holzgitterwerk kann daher sogar aus Edelholz sein, oder in diskreten Ölfarben, Ocker, Ruß, steingrau. Ich weiß nicht, weshalb man nicht an niederen Ästen von exotischen Bäumen, Tulpenbaum, Trompetenbaum, herrliche Käfige mit exotischen Vögeln aufhängt, so als Urwaldstaffage?! Brombeere, Himbeere, Kletterrose sind mir ein sympathisches Dickicht, so Dornröschenwald, undurchdringlich einsam. Weshalb sind Villen nicht dicht bedeckt mit Bauerngärtengeranke?! Ein Überfluß der Reichen und der Armen. Steinplattenwege im Garten, in deren Fugen Blumen sprießen, sind romantisch. Das Haus ströme gleichsam in den Garten aus, erweitere sich, erhöhe sich zum Garten, verliere seine Bedachungen, an deren Stelle der blaue Himmel, die graue Wolke tritt. Ich sah an einem Lindenpark ein dickes rotes Backsteinportal mit eichener Holztür. Da können keine Talmimenschen wohnen, sondern nur gediegene. Grellrote Holzpforte zwischen Granitmauern. Gelbe Eschenholzpforte zwischen weiß-schwarzen Betonmauern. Weiße Rankrosen geben Märchenstimmung. Gartenlaube am Wasser, Nachmittagstraumplatz. Buchenjungwald, wunderbar im Vorfrühling und im Spätherbst. Ein Teppich von raschelnden braunen Blättern darunter. „Warte nur, balde ruhest du auch!“ Weshalb bepflanzt man die Bergwiesen in Berggärten (Semmering) nicht dicht mit Wacholder, Rhododendron, Zirbelkiefer, das, was Rax und Schneeberg von selbst leisten in ihrem künstlerischen Naturgeschmack?! Stauden vor Gebüsch, ein ideales Ausklingen! Birken, Schlehen, Eriken, und schon ahnst du den Sandboden der „Mark“. Mit gewissen Pflanzen kannst du ferne Gegenden herzaubern! Meine Lieblingsbäume: Lärche, Graufichte, Knieholz, Blutbirke, Rotbuche, Weide! Wasser, Wasser, fließend oder stehend, du bist der Dichter in dieser Realität: Landschaft! Du bringst die Romantik, die Musik der Landschaft! Des Teiches Stille singt des Lebens Schwermut. Des Baches Murmeln klingt wie Wiegenkindes Plaudern aus dem Traum. Der Wasserfall singt dir von einer Welt, deren Getöse auch _nicht mehr_ enthält! Springbrunnen’s Melodie bei Tag und Nacht, die sanften Herzen melancholisch macht. Der Sommerregen trommelt auf hunderttausend Blätter, dürstenden Blumen zärtlicher Erretter! Über dem Gartensumpf schwirrt die Libelle, Vom Froschsprung klagt ans Ufer eine Welle! _Gießkannen_ rieseln sanft auf schwarze Erde, damit die Pracht des Sommers baldigst werde! Hörst du dem Brünnlein lange, lange zu, kommt über dich unmerklich Fried’ und Ruh’! Oh Mensch, worauf willst du denn ewig warten?! Such’ deine _kleine große_ Welt in deinem Garten! MODERNER DICHTER In unserm Leben gibt’s so viel Nuancen — — — Die eine sagt: „Arzt meiner kranken Seele!“ Die andre sagt: „Wie schrecklich er nur aussieht!“ Die eine lauscht begierig der Persönlichkeit, die andre sieht pikiert den Gegensatz zu den andern! Die eine schreibt: „Darf ich zu Ihnen kommen?!“ Die andre hält’s bereits für zynisch, wenn er im Gespräch sanft-zärtlich ihre Hand berührt. Die eine sagt: „Ein Romantiker ohne Herz!“ Die andre sagt: „Ein Herzlicher ohne Romantik!“ Und eine jede sieht ein „für“ und „wider“ — — — und keine spürt, daß „für“ und „wider“ _eins_ ist in einem, in dem „für“ und „wider“ _zugleich_ sind! DIE TÄNZERIN Das Kind, allein in der Garderobe der Tänzerin, ordnet liebevollst alles — —. Sie setzt sich dann in eine Ecke auf ein niedriges Stockerl, kauernd in sich versunken. Die Tänzerin kommt, erhitzt, erregt vom Tanzen. Sie setzt sich an den Toilettetisch. Sie wendet sich um, erblickt das kauernde Kind. „Immer, Marie, kauerst du da in der Ecke in meiner Garderobe, stundenlang. Wird dir denn das nicht langweilig?!?“ „Nie, Fräulein! Nur Menschen, die ich nicht lieb habe, langweilen mich. Menschen, die ich lieb habe, langweilen mich nie! Wodurch sollten sie es?!? Alles an ihnen ist mir wert und teuer. Ich könnte ihnen zuschauen von früh bis abends.“ Die Garderobiere blickt herein: „Was ist das, Mizerl, schon wieder da?! Das Fräulein wird sich bedanken. Entschuldigen Sie, Fräulein, der Fratz ist gar so romantisch veranlagt. Der Vater sagt immer: ‚Wie du zu uns ehrsamen Bürgersleuten kommst — — —.‘ Gestern hat sie beim Nachtmahl gesagt: ‚Jetzt verbrenn’ ich alle meine dummen Märchenbücher — — — ich habe eine lebendige Fee gefunden!‘ So ein Fratz, was?! Man sollt’s nicht für möglich halten. Aber bitt’ Sie, 10 Jahre!? Sie wird’s schon billiger geben mit den ‚lebendigen Feen‘! Die Männer tun uns beizeiten die Märchen austreiben — — —.“ Ab. Das Kind: „Meine Mutter blamiert mich vor Ihnen. Sie versteht gar nichts von meiner Andacht. Ich habe eine Andacht für Sie, obwohl Sie nur eine Tänzerin sind!“ Es klopft. „Blumen abzugeben von einem Herrn von Willigsdorf — — —.“ Türe zu. Es klopft. „Ah, Max — — —.“ „Ich bin entzückter von dir als je. Du hast dich, gestatte mir die konventionelle Phrase, selbst übertroffen. Aber das empfinde ich! Gott, daß diese kalten Kerls das mitgenießen dürfen!? Aber Gott sei Dank, sie könnens nicht! Nur ich kann es, nur ich kann es, nur, nur ich! Wenn du mir das wenigstens glauben könntest, Hélèn, nur das wenigstens. Es wäre fast alles! Mehr brauchte man ja eigentlich gar nicht!“ „Ich glaube es dir, Max, sonst könntest du es unbedingt nicht so leidenschaftlich überhaupt vorbringen!“ „Diese schönen Blumen! Irgend jemand versucht es mit 50 Kronen mein Lebensglück zu zerstören!“ „Jawohl, Max, alle versuchen das, andere wollen es sogar noch billiger unternehmen und geschickter. Aber alles hängt bei uns Frauen von unserem guten Willen ab; und den habe ich nur für dich! Es ist vielleicht ein Zufall, aber es ist so, Max!“ Er führt ihre Hand tief gerührt zum Munde. Das Kind steht auf, küßt ihm ehrerbietigst die Hand. „Wer ist dieses Kind?!?“ „Es ist das Töchterchen unserer Garderobiere! Sie kauert immer in der Ecke meiner Garderobe, hält alle meine Sachen in bester peinlichster Ordnung — — —.“ „Hast du die Tänzerin auch so lieb wie ich — —.“ „Das kann ich nicht wisse — — —.“ „Möchtest du ihr alles, alles verzeihen, sogar wenn sie dir ganz ohne Grund eine schreckliche Ohrfeige gäbe?!?“ „Ja, ich möchte es ihr ganz gewiß verzeihen, wegen ihres Tanzens, das ich gesehen habe. Ich möchte mir nur denken: Weshalb tust du das einem Menschen an, der dich so lieb hat?! Wenn du eine Ohrfeige austeilen willst, gib sie doch lieber einem, dem du gleichgiltig bist! Der spürt es doch weniger schmerzlich — — —.“ „Ich glaube, du bist eine gefährlichere Konkurrentin für mich als die Herren, die Blumen schicken — — —.“ Ab. Es klopft. Der Theatermeister. „Herr Theatermeister, Sie haben wieder zu spät hell gemacht, wenn die Sonne bei meinem Tanze endlich sieghaft durchdringen sollte. Es ist schrecklich. Ich glaube, Sie machen es absichtlich — —.“ „Fräulein, so etwas lasse ich mir von niemandem sagen. Das ist eine Gemeinheit, Sie verzeihen schon — — —.“ Die Tänzerin legt ihren Kopf auf den Toilettetisch, beginnt bitterlich zu weinen. Das Kind erhebt sich langsam, macht einen Schritt gegen den Theatermeister, streckt sich, hebt den Arm, sagt: „Hinaus, Sie roher Mensch!“ Der Theatermeister geht langsam ab. Das Kind kauert wieder in seiner Ecke. Die Tänzerin weint wie ein Kind. Dann trocknet sie ihre Tränen. Sie wendet sich nach dem Kinde um. „Niemand hat mich so lieb wie du, niemand — — —.“ Das Kind erhebt sich, steht kerzengerade: „Ich möchte alle töten, die Ihnen etwas Böses antun, Fräulein — — —!“ Ein Diener bringt eine Karte. „Bitte — — —.“ Ein älterer Herr tritt ein. „Mein Sohn hat sich gestern erschossen, Ihretwegen — — —. Konnten Sie ihm wirklich nicht helfen, daß er diese seelische Krankheit besiege?!?“ „Nein, ich konnte es nicht, obzwar ich ihm dezidiert sagte, daß er mir völlig unsympathisch sei!“ „Vielleicht hätten Sie es ihm eben nicht so dezidiert sagen sollen — — —.“ „Pardon, mein Herr, ich mußte es! Ich bin eine arme Tänzerin, ausgesetzt ununterbrochen allen Gefahren, die es überhaupt für eine Frau gibt! Überlassen Sie mir das heilige Recht, gegen Eindringlinge, gegen ‚Buschklepper der Seele‘, ‚Rowdys der Seele‘, mich zu wehren!“ „Ich bitte Sie um Verzeihung, Fräulein. Ich bin aber der unglückselige Vater — — —.“ Ab. Das Kind stürzt zu den Füßen der Tänzerin hin: „Was haben Sie da angestellt, Fräulein?!?“ „Kind, das verstehst du nicht, das verstehst du nicht — — —. Das Leben stellt so viel Schreckliches mit uns an, und wir, wir können es nicht hindern — —.“ Das Kind kauert weinend in seiner Ecke. Der Theatermeister erscheint: „Fräulein, es kommt gleich Ihr Tanz in der Krinoline — — —.“ „So, ich danke Ihnen. Bringen Sie aber die Beleuchtung richtig diesmal.“ „Gewiß Fräulein — — —.“ „Und du, Kind, warte auf mich hier. Ich kann dich nicht mehr entbehren — — —.“ Vorhang. ZWEI SKIZZEN _Das kleine Leben_ Ich sah Arbeiter an einer Telegraphenstange arbeiten, die im Hochwald der Nachtsturm zerbrochen hatte, von 7 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. Es frappierte mich, wie sorgenlos sie waren, keine Spur eines Gedankens darüber, ob es denn dafürstehe, auf die Welt gekommen zu sein, um abgebrochene Telegraphenstangen im Hochwald, der dem Fürsten gehört, wieder praktikabel zu machen. Im Gegenteil, sie schienen es für das Wichtigste von der Welt zu halten, daß die Telegraphenstange sobald als nur irgend möglich wieder hergestellt werde. Es waren Telegraphenstangenärzte. Um sie herum waren Gimpel und Eichkätzchen auf Altfichten, Regen kam, Nebel und wieder Sonne; aber immer war alles konzentriert auf die Errichtung der Telegraphenstange. Ihr gehörte ihre ganze Sorge, sie war ein Teil des Weltgetriebes. Es gab Genies unter diesen Arbeitern, die alles mit einem Schlag erfaßten, was zu tun war; dann waren Bedächtige, Vorsichtige; und dann waren Tagarbeiter nach vorgeschriebener Pflicht. Die ganze Menschheit also war eigentlich um diese Telegraphenstange im fürstlichen Hochwald versammelt. Ich ging vorüber und verteilte Trabukos, a la Kaiser Josef, nur billiger. Weshalb nicht?! Das Prager Tagblatt hatte mir doch gerade für Nachdruckhonorare 9 Kr. geschickt. Nachdrucken ist doch schon Ehre genug. Das Geld setzte ich teilweise in Mäzenatentum und in Menschheitsbeglückung um. Die Arbeiter waren ganz verblüfft. Einer sagte: „Auf der Liechtensteinstraße hat der Sturm einen halben Meter dicke Bäume abgeschlagen!“ Diese Mitteilung war eine Art von Revanche für meine Liebenswürdigkeit. „Ist es möglich?!“ sagte ich freundlich erstaunt, und ging befriedigt von dannen. _Liebesgedicht_ Niemand beachtete dich, edle, verschwiegene Goldrote, in dienender Stellung..... Ich zog dich hervor aus deinem Versteck und segnete dich. Da wurden die anderen aufmerksam, schickten Blumen und Briefe.... Da zog ich mich zurück. „Sind Sie eifersüchtig?!“ sagte sie. „Nein, aber ich hasse die _elende Dummheit_ der Männer, die erst einen alten kranken glatzköpfigen Bettler brauchen.... Wer, wer sagte mir, daß man um Sie sich grämen dürfe...?!?“ „Aber um Gotteswillen, irgend jemand muß einen doch entdecken, wozu sind denn die Dichter da?!?“ ERZIEHUNG Ich habe einen scharfen Blick für Mütter, die die „Persönlichkeit“ ihres geliebten Kindchens achten und berücksichtigen. Es sind das sogenannte _Künstlernaturen des Lebens selbst_! Sie betrachten ihr Kindchen als ein von ihnen geschaffenes „lebendiges Kunstwerk“, apart und vor allem den meisten unverständlich, die mit dem Ausspruche: „ein ganz nettes Kind, nichts weiter“, ihre künstlerische Unfähigkeit klar erweisen. Merkwürdigerweise funktionieren so brutal-verallgemeinernd _fast alle Väter_, die immer nur den Herrn Hofrat wittern, der einst, in der Ferne, erscheinen soll und zu dem Kindchen sagen soll: „Du bist mein alles!“ Daß das gar kein Kompliment sein wird für das Töchterchen, spüren sie nicht! Du bist _mein_ alles, ja, aber _wessen_ alles, darauf kommt es an! Viele Mütter hingegen haben eine künstlerische melancholische Zärtlichkeit. Sie teilen das Leben ihres Kindchens in „interessante, spannende, merkwürdige Lebenskapitel“ ein, sind selbst äußerst gespannt, wie der Roman enden werde, während die Väter ein biblisches Dogma aufstellen, über das das Leben jedoch nur ein flüchtiges Lächeln hat. Mütter wissen, wie ihr Kindchen geht, steht, sitzt, wann es verlegen ist oder düster, Väter wissen höchstens, ob es „Stuhl“ gehabt habe, und das wissen sie nicht einmal. Ein schreckliches Wort leitet sie durchs ganze Leben ihres Kindes, das Wort „_gediegen_“. Alles soll „gediegen“ sein, die Lehrer, die Gouvernanten, der „Zukünftige“, der „Charakter“. Das ganze kommt mir vor, wie das Wort „gediegenes Gold“, das auszusprechen schon eine Art Berauschungsmittel ist! Ich glaube nicht, daß Eleonora Duse, Sarah Bernhardt, Yvette Guilbert, Fanny Elsler, Adelina Patti, Bird Millman, Barbarina Campanini sehr „gediegen“ waren, jedesfalls war es eine _höchst nebensächliche_ Eigenschaft dieser Damen, deren Väter jedesfalls auch nur sich „Gediegenheit“ erwünscht hatten für ihre Töchterchen! Mütter „_beobachten_“ das Leben ihrer Kinder, Väter _schreiben_ es _ihnen vor_! Sie sind selbst durch Beruf, Sorge, Eitelkeit, Ehrgeiz, Konkurrenz, Rücksichten Geknechtete des Daseins, erwünschen dasselbe daher ihren Sprößlingen. Künstlerisch empfindsame Mütter hingegen _trauern_ um ihr eigenes _Lebensgefängnis_, möchten ihren geliebten Töchterchen den weißen Flug gönnen ins „romantische Land“! PLAUDEREI Ausspruch eines fünfjährigen Mädels: „Wenn man alleweil brav ist, wissen die Leut’ dann gar nicht, ob man noch auf der Welt ist!“ Die Eltern tragen mir ununterbrochen Anekdoten über ihre vergötterten Kindchen zu. Sie sind tief überzeugt davon, daß es gerade mich interessiere! Ich interessiere mich auch wirklich _dafür_, daß sie alle _so tief überzeugt davon sind_, daß ich mich dafür _interessiere_! Denn diesen schönen Schein zu erwecken, heißt eben ein Dichter sein! Und als das möchte man doch gerne gelten, wenn man schon weder Beruf noch Geld hat, nicht?!? „Mein Knabe sagte mir gestern“, „mein Mäderl sagte mir vorgestern“, höre ich alle Tage zehnmal. Ob eines dieser kleinen Mistviecherl einmal zu der reichen Mama den genialen Ausspruch täte: „Mama, wenn du mich wirklich lieb hast, dann gibst du diesem entzückenden alten kranken Dichter eine Monatsrate von fünfzig Kronen — — —!“ Ausspruch eines sechsjährigen Mäderls beim Abschied vom Semmering: „Ach, wie werde ich _fürder_ ohne meinen geliebten Pinkenkogel und Sonnwendstein existieren können?!“ Ich hätte gerne geantwortet: „Sehr gut wirst du _fürder_ existieren können, indem ich dir _fürder_ für jeden affektierten, verlogenen, manierierten Ausspruch deinen Hintern aushauen werde — — —!“ LIED OHNE REIME Ihr Reichen, hab’ ihr das Nachtmahl nicht bezahlen können im kleinen lieben Gasthaus — — —; hab’ mein Mädel verlieren müssen — — —; hab’ ihr ein Kleid für den Sonntagausgang nicht schenken können — — —; hab’ ihrem Bruder nicht ewig Zigarren kaufen können — — —; hab’ ihrer Schwester die Krankheit nicht bezahlen können — — —; hab’ ihrem Vater seinen Vierteljahrszins nicht geben können; hab’ mein Mädel nicht in den „Zirkus Schumann“ führen können — — —; und sie schwärmt doch so für edle Pferde — — —; da hat einer zu ihr gesagt: „Ich gebe dreihundert Kronen monatlich und die Kostüme“ — — —; Ihr _Reichen_! Hab’ _mein Mädel_ verlieren müssen — — —; kann nur mehr Kleinigkeiten schenken, zum Namenstag, zum Geburtstag und zu Weihnachten — — —. FORELLENFANG 75 Kilometer lang ist das gesamte Gebirgswasser in Naßwald. Es ist flaschengrün, weiß und graugrün; es steht mäuschenstill in winzigen Felsbuchten, es schäumt bösartig weiß, es zieht gemächlich graugrün über flachen Kiesboden. Hinter _jedem_ Stein eine Forelle! Kein Stein ohne Forelle dahinter, es wäre denn, daß sie gerade weggeangelt wurde. Hinter jedem Stein also lauert der heimtückische Insektenmörder. Plötzlich wird er von der Angelrute herausgeschnellt im Bogen. Man sieht etwas herrliches Silbernes und schon liegt es auf der Wiese. Man schlägt es an dem Fußabsatz ab, wenn es ein Regenwurmfang war, setzt es in den Bottich, wenn es ein Kunstfliegenfang war. Es gibt berühmte Kunstfliegenangler. Ihre Kunst besteht darin, die Kunstfliege so auf das Wasser hinzuwerfen, daß es wie eine echte aussieht. Das ist ja im Leben überhaupt oft so. So wird man berühmt. Man wirft den Köder aus, und — — die Forelle nimmt es für eine echte, und man hat sie! Forellenangeln und Naturfreund sein, ist eines! Denn man muß wandern, wandern von Stein zu Stein. Hinter jedem hockt eben eine. Und diese Wanderung befriedigt nur, wenn man die umgebende Natur herzlich lieb hat. Der Hecht verlangt keine Naturfreude vom Angler. Er steht irgendwo und man hat zu warten. Man wartet, wartet, bis das Ereignis eintritt. Dann beginnt die _Geschicklichkeit_. Aber mit der Natur hat es nichts zu tun. Es ist nur aufregend. Der Forellenfänger liebt das Gebirgswasser leidenschaftlich, er vergißt darüber Weib und Kind, oft sogar das Essen. Er versenkt sich in die _Details_ der Umgebung, ein _einziges_ Zeichen _wirklichen_ Genießens! Denn „in Bausch und Bogen“ ist es brutal und wertlos! Er zieht dahin, von Stein zu Stein, er sieht alles, alles. Und wenn er ermüdet heimkehrt mit seiner reichen Beute, glaubt er etwas geleistet zu haben. Ja, denn er hat sich sogar einen urgesunden tiefen Schlaf verschafft! SO WURDE ICH Ich saß im 34. Jahre meines gottlosen Lebens, Details kann eine Tageszeitung unmöglich bringen, ich saß im Café Central, Wien, Herrengasse, in einem Raume mit gepreßten englischen Goldtapeten. Vor mir hatte ich das „Extrablatt“ mit der Photographie eines auf dem Wege zur Klavierstunde für immer entschwundenen fünfzehnjährigen Mädchens. Sie hieß Johanna W. Ich schrieb auf Quartpapier infolgedessen, tieferschüttert, meine Skizze „Lokale Chronik“. Da traten Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr ein. Arthur Schnitzler sagte zu mir: „Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie dichten!? Sie schreiben da auf Quartpapier, vor sich ein Porträt, das ist verdächtig!“ Und er nahm meine Skizze „Lokale Chronik“ an sich. Richard Beer-Hofmann veranstaltete nächsten Sonntag ein „literarisches Souper“ und las zum Dessert diese Skizze vor. Drei Tage später schrieb mir Hermann Bahr: „Habe bei Herrn Richard Beer-Hofmann Ihre Skizze vorlesen gehört über ein verschwundenes fünfzehnjähriges Mädchen. Ersuche Sie daher dringend um Beiträge für meine neugegründete Wochenschrift ‚Die Zeit‘“ Später sandte Karl Kraus, auch der Fackel-Kraus genannt, weil er in die verderbte Welt die Fackel seines genial-lustigen Zornes schleudert, um sie zu verbrennen oder wenigstens „im Feuer zu läutern“, an meinen jetzigen Verleger S. Fischer, Berlin W., Bülowstraße 90, einen Pack meiner „Skizzen“, mit der Empfehlung, ich sei ein Original, ein Genie, Einer, der anders sei, nebbich. S. Fischer druckte mich, und so wurde ich! Wenn man bedenkt, von welchen Zufälligkeiten das Lebensschicksal eines Menschen abhängt! Nicht?! Hätte ich damals, im Café Central, gerade eine Rechnung geschrieben, über die seit Monaten nicht bezahlten Kaffees, so hätte Arthur Schnitzler sich nicht für mich erwärmt, Beer-Hofmann hätte keine literarische Soiree gegeben, Hermann Bahr hätte mir nicht geschrieben. Karl Kraus freilich hätte meinen Pack Skizzen unter allen Umständen an S. Fischer abgeschickt, denn er ist ein „Eigener“, ein „Unbeeinflußbarer“. Alle zusammen jedoch haben mich „gemacht“. Und was bin ich geworden?! Ein Schnorrer! LOCA MINORIS RESISTENTIAE Jeder Organismus hat seine sogenannte „Achillesferse“, das heißt eine Stelle, an der er besonders leicht und empfindlich verwundbar ist! Ich zum Beispiel habe meine Achillesferse im Gehirn, aber nicht, wie meine boshaften und heimtückischen Freunde (Feinde sind viel milder gestimmt, indem sie einen in Bausch und Bogen ein für allemal verurteilen) glauben werden, in meinen Denkpartien, sondern in jener mysteriösen Partie des Gehirns, wo die _Eifersucht_ ihren Höllensitz aufgeschlagen hat, und zwar die Eifersucht in bezug auf Männer, die mehr Haare, mehr Geld und weniger Intelligenz als ich besitzen, also drei den Frauen besonders wertvoll erscheinende Eigenschaften! Sobald ich nur ein solches Ungetüm irgendwo erblicke, das mehr Haare, mehr Geld und weniger Intelligenz besitzt als ich, bekomme ich sofort, wie der technische Ausdruck lautet, einen sogenannten „roten Kopf“, und ich denke nur mehr an Browningpistolen, Arsenik oder die Hundspeitsche, natürlich für den anderen! Ich betrachte meine mich bisher fanatisch vergötternde Geliebte als bereits endgültig verloren, und treffe Anstalten, sie grundlos durchzuprügeln! Das sind also meine „loca minorum resistentium“, das heißt zu deutsch, jene Partien unseres komplizierten Organismus, die auf Reizungen besonders empfindlich reagieren, und zwar sofort! Solche Partien haben viele Menschen Kellnern gegenüber oder Raseuren, die sie schlecht bedienen; obzwar in solchen weniger gefährlichen Fällen ein erhöhtes Trinkgeld meistens gute Dienste leistet. Die „loca minorum resistentium“ haben in neuester Zeit einen besonderen Wert gewonnen für die Herren Ärzte; denn jede Partie des Körpers, über die ein Patient sich heutzutage beklagt, wird vom Arzt sogleich ernst und verständnisvoll als: „Aha, das sind Ihre loca minorum resistentium, mein Lieber — — —!“ bezeichnet, worauf der Patient sich, zwar nicht geheilt, aber um ein Bedeutendes, vor allem um das ärztliche Honorar erleichtert, entfernt. Viele Damen haben solche loca minorum resistentium in ihrem Organismus, im Augenblick, wo sie an einer Dame einen kostbarern Pelz bemerken, als sie selbst besitzen. Aber hier fange ich bereits an banal zu werden, und deshalb schließe ich hiermit rasch diese immerhin interessante Plauderei. DOLOMITEN Ich hatte mein ganzes Leben lang von den _Dolomiten_ gehört, einem „Märchen der Natur“. Nun kam ich, per Auto, halb 8 Uhr abends, 11. August, in Toblach an. Eine riesige ungepflegte, ja verwahrloste Bergwiese, die ein feenhafter Berggarten leicht hätte sein können. Ich ging ein paar Schritte die Fahrstraße entlang, die ins Gebirge, Monte Cristallo, führt. Ich sah in die weiße Waldstraße hinein, und war ganz ergriffen. Jahrelang im „Café Central“, Ecke Herrengasse—Strauchgasse, und nun am Eingang in die „Dolomiten“! Ich sah Wälder im Abendschatten und in der Ferne einen leuchtenden riesigen Felsen. Ich kehrte zurück und dachte mir die riesige schrecklich ungepflegte Bergwiese vor dem Riesenhotel, bewachsen mit Zirbelkiefer, Rhododendron, Speik, so ein botanischer Berggarten, mit Murmeltieren und Schneehasen. Aber Toblach begnügt sich, ein „Eingang“ zu sein, und selbst die Geschäftsläden erinnern an „Praterbuden“. Nur irgendwo sah ich in einer Ansichtskartenbude eine 14jährige Verkäuferin. Ich blickte sie an: „Du, du allein paßt in diesen Dolomiten-Märchen-Eingang!“ Da ich den schönen grauen Gems-Kaiser-Lodenhut auf hatte und sehr gebräunt war, blickte sie mich freudig-erstaunt an. Ich wollte etwas sagen, das heißt, ich wollte eben gar nichts sagen, aber als die Ansichtskartengeschäfte abgewickelt waren, blickte ich sie noch immer gerührt an. Sie sagte auch nichts, aber sie spürte ihre Wirkung auf mich. Es war nicht sehr lange, und doch vielleicht oder wahrscheinlich eine besondere Welt, die nie nie mehr wiedererstehen wird. Es ging nicht an, sie länger anzublicken. Und infolgedessen ging ich. Ich lüftete nicht den Hut, damit sie nicht sehe, daß ich kahlköpfig sei; denn ich mußte auf ihre Träumereien Rücksicht nehmen, daß ein verhältnismäßig apart aussehender Herr sie beim Ansichtskartenverkaufe liebevollst angeblickt hatte — — —. So wie wenn er ihr Glück wünschte zu ihrem künftigen Schicksale und sie getreulich segnete mit seinen Augen. Sie hat gewiß niemand davon erzählt, was gäb’ es auch darüber zu erzählen?! Und doch blieb es in ihr. Und doch wird sie, unmittelbar vor einem ersten Kuß der Jugendsinne fühlen: „Nein! Ich sehe nicht auf Deinem Antlitz, Mann, den Zug von Rührung, den der fremde Herr mit dem grauen Gemsjagd-Kaiser-Lodenhute damals hatte — — —.“ Am nächsten Morgen ging es nach Cortina. Rotgraue Bergwelt, sei bedankt, gesegnet! Es türmt sich auf, lichtgrau und rosig, es wächst ins Himmelblau hinein und überall ist Friede — — —. MAMA Meine Mama wollte „ein großes Haus“ führen, um ihre wunderschönen Töchter reich zu verheiraten. Das nahm ich ihr übel. Denn, wenn es gelingt, ist es wie ein Haupttreffer auf eine in der Tabaktrafik gekaufte Promesse. Ich bin gegen das „Spiel“ im Leben. Man riskiert zu viel. Das ist es. Also, wie gesagt, ich war sehr dagegen. Aber in meiner Kindheit hatte ich einen vollkommen krankhaften Fanatismus für sie, und meine Liebe zu ihr war keine ruhig-selbstverständliche eines guten anhänglichen Kindes, sondern zehrte an mir, wie wenn ich ein unglücklich Liebender wäre, der an „inneren Zärtlichkeitsgefühlen“ zugrunde geht, während doch Mama mich sehr, sehr, sehr lieb hatte und meinen „kindlichen begeisterten Blick“ zu würdigen verstand. Oft sagte sie: „Du dummer Kerl, was willst du denn, ich hab’ dich ja so wie so riesig gern und außerdem bin ich mit dir sehr zufrieden, der Hofmeister, die Gouvernante, der Violinlehrer und Mr. Palotta, alle, alle loben und lieben dich — — —.“ Aber meine Zärtlichkeit für Mama _zehrte_ an mir. Vor ihr niederknien und den Saum ihres Kleides mit den Lippen berühren, daran dachte ich nicht. Ich sah sie an und war voll übertriebener Zärtlichkeit, als ob ich noch überhaupt bewußtlos in ihrem Schoße läge, von ihren Kräften innerlichst behütet, genährt, gepflegt, so vorzeitig herausgestellt in eine Welt, in die ich _noch nicht_ hineingehörte! Mama! Mama! Als ich mit zehn Jahren, gerade der Primus im Gymnasium, an einer Fußbeinhautentzündung schwer erkrankte, hatte sie ein Jahr lang ihr Bett neben dem meinen und nahm nächtelang meine Seufzer in ihr Herz auf. Nachmittags sang sie im Nebenzimmer Schubertlieder. „Ihre Stimme klingt etwas ermüdet!“ sagte der liebevolle junge Gesangsmeister. „Mein Sohn hat heute Nacht wieder sehr gestöhnt“ erwiderte sie. Eines Tages sagte Professor Dittel: „Es muß geschnitten werden, der Fuß ist ganz in Eiterung.“ Da saß sie nachmittags an meinem Bette und zupfte aus Leinwandfetzen Charpiewolle. „Was machst du da, Mama?!“ — „Daß die Zeit vergeht“ erwiderte sie. Am nächsten Tage sagte Professor Billroth: „Ich pflege in einem solchen Falle noch nicht zu schneiden, es wird sich aufsaugen!“ Da kniete meine Mama vor meinem Bette nieder, aber nur für einen Augenblick. Dann ging sie ins Nebenzimmer und spielte und sang am Klavier die „Forelle“ von Schubert. Der Gesangsmeister sagte: „Heute klingt Ihre Stimme frischer, Sie dürften gestern eine ruhigere Nacht gehabt haben!“ — „Nein,“ sagte sie, „aber ich werde sie heute nacht haben!“ MODERNE ANNONCE Semmering, 1000 Meter Höhe. Page 69: „C’est à Saint-Gervais que je devais faire ce que les Allemands appellent: „Die _Nach_kur“, et à laquelle ils attachent, _non sans raison_, une grande importance.“ Die _Nach_kur ist wichtiger als die Kur! Eine meiner Thesen, auf die ich mir mehr einbilde als auf alle meine Dichtungen zusammen, obzwar alle Ärzte sie seit lange, die These nämlich, kennen. Die Kur ist der melancholische und mühselige Versuch, eine gebrochene Maschinerie zu reparieren. Höchstens bringt man sie da mit Müh’ und Not wieder auf gleich, kleistert sie zusammen. Aber die _Nach_kur ist bereits eine freudige _künstlerische_ Angelegenheit: man ist daran, einer wiederhergerichteten Maschine höchste Energien, Spannkraft, Bewegung, Elastizität, Lebendigkeiten zu verleihen! Aus einem Invaliden einen neuen feurigen Kämpfer zu machen! Die Kur ist eine ernste Notwendigkeit, die _Nach_kur ist ein _heiteres Fest_! Gerade der erst _kürzlich_ gesundete Körper bedarf bei seinen zarten Vernarbungen allerzärtlichster Rücksicht. Geld und Zeit für die _Nach_kur sind wichtiger als für die Kur. Keine Kur ohne _Nach_kur! Die Nachkur ist erst die Kur! Semmering, 1000 Meter Höhe. SEMMERING Es wurde wieder Winter, November 1912. Überflüssig, die Berglandschaft zu schildern. Das können Russen, Schweden, Dänen viel, viel besser. Sie kennen das Gepräge jedes Baumes, und wie der Schnee sich ansetzt, je nachdem. Sie kennen die Eintönigkeit und ihre Poesien, sie kennen die Melodie der Stille, und der Krähen Mißton wird ein schaurig-melancholisches Leitmotiv: _Winter!_ Ich liebte den Sommer, weil ich gesund war, und seinen Symphonien von Farben, Düften lauschen konnte, unbeirrt durch etwas, was mich drückt und niederzwingt. Nun ist es Winter. Ich sehe alles nur so, wie wenn ein gütiges Schicksal den Abschied mir nicht schwer machen wollte. Eine einzige Begeisterung ist geblieben und ringt sich durch, wie wenn mein Bestes mir erhalten bleiben sollte. Ich sah meine kleine Heilige im roten Wintersportkostüm. Der Wintertag leuchtete auf ihrem geliebten Antlitz. Ich sah sie rodeln, ich hörte ihr geliebtes jauchzendes Gekicher, sie flog davon, den scharfen Kurven nach im weißen Fichtenwalde. Ich hatte sie gesehen! Ich ging zurück ins Zimmer und versank in düsteres Sinnen ... Und es ward Winter 1912! WINTER AUF DEM SEMMERING Ich habe zu meinen zahlreichen unglücklichen Lieben noch eine neue hinzubekommen — — — den _Schnee_! Er erfüllt mich mit Enthusiasmus, mit Melancholie. Ich will ihn zu nichts Praktischem benützen, wie Scheerngleiten, Rodeln, Bobfahren; ich will ihn betrachten, betrachten, betrachten, ihn mit meinen Augen stundenlang in meine Seele hineintrinken, mich durch ihn und vermittelst seiner aus der dummen, realen Welt hinwegflüchten in das sogenannte „weiße und enttäuschungslose Zauberreich“! Jeder Baum, jeder Strauch wird durch ihn zu einer selbständigen Persönlichkeit, während im Sommer ein allgemeines Grün entsteht, das die Persönlichkeiten der Bäume und Sträucher verwischt. Ich liebe den Schnee auf den Spitzen der hölzernen Gartenzäune, auf den eisernen Straßengeländern, auf den Rauchfängen, kurz überall da am meisten, wo er für die Menschen unbrauchbar und gleichgültig ist. Ich liebe ihn, wenn die Bäume ihn abschütteln wie eine unerträglich gewordene Last, ich liebe ihn, wenn der graue Sturm ihn mir ins Gesicht nadelt und staubt und spritzt. Ich liebe ihn, wenn er in sonnigen Waldlachen zerrinnt, ich liebe ihn, wenn er pulverig wird vor Kälte wie Streuzucker. Er befriedigt mich nicht, ich will ihn nicht benützen zu Zwecken der süßen Ermüdung und Erlösung, ich will nicht kreischen und jauchzen durch ihn, ich will ihn anstarren in ewiger Liebe, in Melancholie und Begeisterung. Er ist also eine neue letzte „unglückliche Liebe“ meiner Seele! VOLLKOMMENHEIT Vollkommenheit ist ein heutzutage ganz mißverstandenes Wort. Man sagt: Gustav Klimt, der vollkommene moderne Maler; Frau Bahr-Mildenburg, die vollkommene Wagner-Darstellerin; Oberbaurat Otto Wagner, der vollkommene Architekt; Peter Altenberg, der vollkommene Skizzenschreiber, Karl Kraus, der vollkommene „Angreifer, Verhöhner, Vernichter“! Aber vollkommen kann ein jeder sein, in jeglicher Sache! Ein Orangenverkäufer kann vollkommen sein, wenn er den Geschmack, den Saftgehalt, den Zuckergehalt jeder Orange oder Mandarine schon von außen, gleichsam durch die Schale hindurch, erkennt mit unfehlbarer Sicherheit! Ein Kastanienbrater kann vollkommen sein, wenn er das Gefühl dafür hat, wann und unter welchen Umständen seine Kastanien schön gleichmäßig goldgelb gebraten sind, ohne bräunliche schwarze harte Stellen zu bekommen. Ein Bar-Mixer kann vollkommen sein, eine liebende Frau, ein stichelhaariger Foxterrier, eine Hemdenputzerin, ein Kommis, in seiner Art zu bedienen, ein Koch, eine Stenographin, kurz: alle, alle, alle, insofern sie in ihrer Sache das Vollkommenste leisten! Pereant die protokollierten Firmen des allgemeinen succès; es leben hoch die Unbekannten, die göttlich singen beim Waschen und Anziehen, ohne an der Hofoper engagiert zu sein! Es leben die exzeptionellen Weber und Tuchfabrikanten, es lebe die kroatische, bosnische, ungarische, schottische, irländische, dänische, schwedische Hausindustrie! Was vollkommen ist, ist vollkommen, worin immer es sich auch betätige! NACHWINTER 9. März. Mein 53. Geburtstag. Es ist schon wieder Schnee gefallen die ganze Nacht, Hochwinter im März. Man kann noch nicht „rodeln“, denn der Schnee ist noch flaumig wie flaumige Eiderdaunen. Aber das Auge weiß davon nichts. Nur die Fußspuren sind braungrau. Es hat null Grad im Schatten. Es ist ein Winterbild, an das man nicht recht glaubt. So Nachzügler einer Armee „Winter“! Meine Schneeschuhe, ein Geschenk des berühmten Architekten Adolf Loos, vor fünf Jahren, sind mir gestern abhanden gekommen. Der anständige Dieb hat wahrscheinlich nicht mit diesem Winter-_Rückfall_ gerechnet, der mich nun in Verlegenheiten bringt! Sie waren mir teuer, obzwar sie mich nichts gekostet haben. Ich hatte fünf Jahre lang den Ehrgeiz, sie mir weder vertauschen, noch stehlen zu lassen. Der Kellner sagte mir oft: „Lassen Sie Ihre Schneeschuhe ruhig irgendwo stehen, es geschieht ihnen nichts!“ Nun, es ist ihnen wirklich nichts geschehen, sie haben nur ihren Besitzer gewechselt. Möge er sie ebenso zärtlich rücksichtsvoll behandeln wie ich, und möge ich eine neue _Schneeschuh-Wurzen_ baldigst finden! Einer machte schon eine _leise Anspielung_, aber es stellte sich heraus, daß er mir nur mitteilen wollte, dieser Nachwinter könne ja ohnedies nicht mehr von langer Dauer sein, und da genügten dann gewöhnliche Galoschen. Als ich bemerkte, daß ich auch solche nicht besitze, erklärte er, Galoschen seien ungesund und verhinderten die Hautausdünstung. Also, in dieser Winterpracht feiere ich meinen 53. Geburtstag. Es wird kein Geld regnen, da ich keine Danae bin. Aber in die schlechte Bilanz des Jahres 1912 muß ich doch den Plus-Kontoposten meines Lebens einrechnen: „Nachwinter im März auf dem Semmering, und eine romantische ‚_Petrarca-Liebe_!‘“ Hier ist es friedvoll, vertauschte Haselnußbergstöcke, vertauschte Schneeschuhe, vertauschte Frauen sind das einzige bemerkenswerte Ereignis. Aber man findet sich in alles. Eine Dame sagte mir: „Sehen Sie, dieser von Ihnen gestern so gepriesene Herr ist doch kein Gentleman. Er trägt abends zu Lackpantoffeln, pumps, _Wollsocken_!“ — „Pardon,“ erwiderte ich, „ich habe das im Drang meiner Begeisterung übersehen!“ — „Ein so scharfer Beobachter wie gerade Sie, Herr Altenberg?!“ — „Ja, auch wir sind eben nur irrende Menschenkinder!“ HEIMLICHE LIEBE Wir müssen von den Gefühlen _unserer eigenen Seele_ leben können! Das ist die „_neue Religion_“ für unsere, sonst zum Leiden verurteilten impressionablen Nerven. Man kann uns alles _wegnehmen_, alles _rauben_, alles _verhindern_, alles _verbieten_ — — nur nicht _unsere_ Gefühle, die wir für geliebte Menschen haben! Hier beginnt unsere _unbesiegbare Macht_ unserer Seele! Man wünscht es, unsere Tränen nicht zu sehen, nicht zu spüren, nichts darüber in alle Ewigkeit zu vernehmen — — — und sie rinnen dennoch auf den Kopfpolster, zum _Preise der Entfernten_! Könnt Ihr uns verbieten, in dem Bergkirchlein für ihr Heil zu beten?! Könnt Ihr uns es verbieten, im Schnee des „Hochwegs“ ihre Fußspuren zu ahnen?! Vielleicht sind es fremde, gleichgültige. Aber wir, wir träumen sie uns als die _ihrigen_, vermittels der _Kraft unserer_ unzähmbaren, unbesiegbaren Seele! Kann sie zu uns sprechen: „Knie vor meinen Fußspuren nicht in den Schnee hin!?!“ Nein, das kann, das darf niemand zu uns sprechen. In diesen „Gefilden der entrückten Seele“ verliert die _verbietende_ Menschenstimme ihre Macht und Gott sagt: „_Du darfst_!“ Ich habe Dein Glas in mein Zimmer mitgenommen, aus dem Du getrunken hast. Ich habe dem Kellner gesagt: „Ich habe ein Glas zufällig zerbrochen, da haben Sie zwei Kronen dafür!“ Er sagte: „Auf ein Glas mehr oder weniger kommt es, bitte, bei uns nicht an — — —.“ Also besaß ich das „geheiligte Glas“ umsonst. Ich ließ ihm ein Postamentchen machen aus Zirbelholz, ließ eingravieren: „Deine Lippen berührten es.“ Kann mir das irgend jemand _verbieten_?! Niemand kann mir meine _Leiden verbieten_, er kann sie nur steigern, und das ist _gut für meine Seele_ — — —. Wen, wen wollt Ihr schützen vor meinen Tränen, die _niemand_, _niemand_ sieht?! DAS KINO Ich schleudere hiermit meinen Bannfluch gegen _alle jene_, die, in „bestgemeinter Absicht“ oder aus Geschäftsinteresse, sich in neuerer Zeit gegen die _Kinotheater_ wenden! Es ist die beste, einfachste, vom öden _Ich_ ablenkendste Erziehung, besser jedenfalls, tausendmal besser als die bereits als „freche Gaunerei“ entlarvte „Kunstdarbietung“, ausgeheckt in ehrgeizigen, verdrehten Gehirnen und präpariert für den „seelischen Poker-Bluff“; infame Düpierung _einfach-gerader_ Menschenseelen! Im Kino _erlebe ich die Welt_; und selbst die erfundenen Sketches sind schon, der Natur der Sache nach, auf _edel-primitive_ Wirkung hin gearbeitet, Seelenkonflikte a la „_3 und 2 macht 5_“, nicht aber absichtlich 6 oder 7! Das Volk _soll sich erheben für die Kinotheater_ und sich nicht neuerdings in kleinsten und belanglosesten Angelegenheiten _beschwatzen_ und _betören_ lassen von den „_psychologischen Clowns_“ der Literatur! Meine zarte 15jährige Freundin und ich, 52jähriger, haben bei dem Natursketch: „_Unter dem Sternenhimmel_“, in dem ein armer französischer Schiffzieher seine tote Braut flußaufwärts zieht, schwer und langsam, durch blühende Gelände, heiß geweint! Wehe euch, deren „_trockenen Geist_“ wir „_trockenen Herzens_“ angeblich begeistert _genießen_ müssen! Wir _müssen_ und _wollen nicht_! Ein „berühmter Schriftsteller“ sagte zu mir: „Wir sind jetzt unter uns, was finden Sie eigentlich Besonderes an den Kinovorstellungen?!?“ „Nein,“ sagte ich, „_wir_ sind _nicht_ unter uns, sondern _Sie_ sind _unter mir_!“ LEBENSBILD Wesen der Engländerin: „O, mein geliebter Freund, was nützte mir denn deine ganze tiefe Liebe, wenn du mir bei der Tür nicht den Vortritt ließest?!?“ Wesen der Amerikanerin: „_Natürlich_ zu sein, so wie man eben einfach von Natur aus ist!“ Dies schrieb ich einer jungen, edlen Amerikanerin ins Stammbuch. „O,“ sagte sie, „sehr, sehr schön; und vor allem sehr, sehr wahr! Aber, bitte, was würden Sie denn einer jungen Engländerin in ihr Stammbuch hineinschreiben?!?“ „Ich? Natürlich _gerade das Umgekehrte_!“ SO SIND WIR Wir wollen aufrichtig sein, vor allem diesmal ich, Sophie B.; vielleicht für alle meine Mitschwestern. Nichts ist rätselhafter für uns, als es zu sehen, wie jemand uns gar nicht mehr lieb hat! Gar nicht mehr ein bißchen. Wir machen da sozusagen _nachträglich_ alle seine Qualen mit, und alle unsere _vollkommen unnötig gewesenen_ Grausamkeiten, Ungezogenheiten, Rücksichtslosigkeiten usw. usw. Wie ein schreckliches Bild zieht es an uns vorüber, nebelhaft, und dennoch schreckhaft _deutlich_! Ja, wir waren Königinnen, wie Chinas mysteriöse Beherrscherin einst, und nun sind wir entthront! Man bittet uns nicht mehr um Gottes willen um eine Haarlocke, man versucht es nicht mehr, unser Knie unter dem Tisch sanft zu berühren! Wir sind entthront, _entwertet_ und verstoßen! Wir haben uns „Herzen“ entfremdet; und Gott will das nicht. Das heißt, Er hat nichts dagegen, falls es sein muß, aber es soll _in Seiner Milde, in göttlicher Milde_ vor sich gehen, so zart behutsam, daß wir alle Tränen trocknen, die seit Monaten um uns geflossen sind! Mit Kranken schreit man nicht herum! Wir haben nie seine Briefe verstanden, in denen er uns doch _ganz verständlich_ mitteilte, er habe _unseretwegen_ die ganze Nacht geweint. _Jetzt_ verstehen wir diese Briefe, die wir bereits zerrissen haben! Also, da sitzt er nun vor uns, der einst ein Narr in unseren Augen war, und unsere ausgespuckten Traubenschalen liebevollst in seinen Mund nahm! Da sitzt er nun vor uns. Wir sind ihm nichts. Er schaut, und ist selbst verständnislos geworden! Oh — — — oh — — —! Wie schade! Unser Atem ist ihm nicht mehr süß — — — vielleicht ekelt er ihn sogar — — —! MEIN GRAUER HUT Der Märzwind klagt durch die winter-erfrorenen rostroten Gebüsche. Über die grauen Wiesen bürstet er grauen Märzstaub auf, zieht in die Wälder hinauf, um rotes starres Laub zum Rascheln zu bringen, zum Vorfrühling-Tanze! Neben mir liegt mein geliebter grauer Filzhut, Gemsjagd-Kaiser-Hütchen. Er erinnert mich an alles, was ich verloren habe, an _Alles_! Ich habe ihn in Mürzzuschlag gekauft, nach langem Suchen, er ist mein Ideal-Hut. Nun blicke ich ihn an, in tiefster Zärtlichkeit, als ob er noch die hellen scharfen Lüfte und Düfte vom Semmering-Paradiese in seinem Filzgewebe berge. Ja, _für mich_ birgt er sie, alle die Schätze, die mein Auge dort droben in der lichten scharfen Luft in sich hineingetrunken hat, auf der Beton-Terrasse, 6 Uhr morgens, mit sonnigem Wiesennebel und dem Mürz-Nebel-Strom ins Haidbachtal, weiß und leuchtend, ein Märchen-Strom! Und abends die goldenen Wolken im Mürztal; und immer, immer war es _noch_ schöner als am Vortage, und meine Seele war reich durch Begeisterung. Nichts entging mir von Gottes Pracht. Nun denke ich an das Holdeste, Klara und Franziska Panhans, Magda Simon, Eva Leopold, Frau Machlup, ebenfalls Gebilde der gütigen edel-gestaltenden Natur! Für alle hatte ich den Blick fanatisch-zärtlicher Begeisterung! Nun aber bleibt mir nur mein kleiner grauer Filzhut, Gemsjagd-Kaiser-Hut; er liegt vor mir, unscheinbar, nichtssagend. Mir aber scheint die untergegangene Sonnenwelt „Semmering“ daraus entgegen, und sagt mir „adieu“, adieu für immer — — —. Weshalb dieses Schicksal?! Ich weiß es nicht — — —. 8. März 1913. Vortag meines 54. Geburtstages. Für Frau Lilly St. DIE KOSTÜME AUF DEM SEMMERING IN DER SILVESTERNACHT Ich sah ein ockergelbes Musselinkleid-Hemd mit breitem lila Samtband geputzt. An der Brust eine große lila-weiße Kamee. Dann sah ich an dem herrlichen Fräulein Schw... eine weiße seidene Wolke, am Rande bestickt mit grellem Silberschimmer aus großen viereckigen Silberplättchen. Dann sah ich an der braunen Frau S. eine schwarze Tüllrobe, mit schwarzem Hut, mit einer schwarzen samtenen Tulpe an der Brust. Kardinalfarbene Seidenrobe, bestickt mit kardinalfarbigen Glasperlen. Eine staubgraue, nebelgraue Tüllrobe, mit breiten ockergelben Samtbändern. Eine erbsengrüne Tüllrobe, mit hechtgrauen Glasperlen bestickt; braungelbe Orchideen an der Brust. Frauenschuh. Dann sah ich eine — — — da wußte ich gar nicht, was sie anhatte; denn ich sah nur ihr Antlitz, ihr süßes, süßes Antlitz, mit den klaren schimmernden Madonnenaugen — — —. Da sagte eine ältere Dame zu mir: „Nicht wahr, das bemerke ich sofort, die Toilette dieser jungen Dame ist ganz nach Ihrem etwas aparten und übertriebenen Geschmack — — —!?!“ — „Jawohl“, erwiderte ich, „obzwar ich gar nicht sah, was sie anhatte — — —.“ — „Ja, Sie urteilen eben auch nur nach dem Äußeren, mein Lieber, sehen Sie wohl?!?“ — „Ja, leider“, erwiderte ich und starrte die Madonnenaugen an — —. Sie hieß Kl. P. und dennoch kann niemand ahnen, wer es ist — — —. FORTSCHRITT Es gibt Leute, die heutzutage nicht mehr auf den Boden eines Kaffeehauses spucken können, und solche die es _noch ganz gut_ können. Diese Zweiteilung ist ein Zeichen eines wenn auch geringen allgemeinen Fortschrittes. Es gibt Leute, die selbst bei einer automatisch von selbst schließenden Tür ängstlich hinter sich blicken, ob die Maschinerie auch wirklich funktioniere. Das sind bereits „Gentlemen der Entwicklung“. Beim „Sport“ darf man keiner Dame helfen, irgendwie behilflich sein in einer schwierigen Situation. Dadurch gewöhnt man sich allmählich auch das sklavische „Pakettragen“ oder „Schirmaufheben“ oder „Zigarettenanzünden“ ab. Wieder ein kleiner Fortschritt! Jetzt fehlt noch der _hohe englische Fußschemel_ beim Friseur, und die Ventilatoren in _jeder_ Fensterscheibe, wobei niemand rufen darf: „Es zieht!“ Preise an Schriftsteller-Millionäre zu vergeben, ist noch rückschrittlich. Mit Geld kann man nur Künstler ehren, die keines haben! Turbot samt seiner dunklen schuppigen _Haut_ essen und noch dabei behaupten, das gebe dem edlen Fische erst den Geschmack, ist eine mittelalterliche Zurückgebliebenheit, die man eventuell einem eisengepanzerten Recken oder Drachentöter nachsehen könnte! Eine übertrieben deutliche Schrift haben, ist einer der wenigen zu begrüßenden Snobismen. Man schreibt für _den_, der es _lesen_ soll! Eine Frau in der Weise bewundern, daß es dem zugute kommt, dem sie _angehört_, und nicht _dem_, der sie _bewundert_, ist „höchste Kultur“! Mehr als zweimal im Tag mitteilen, man habe im rechten Knie beim Drücken einen Schmerz, ist nicht „fortschrittlich“. „Tamar Indien Grillon“ anpreisen, ist höchste Kultur. Aber auch hierin gibt es zarte Grenzen. Ich hörte einmal an einem herrlichen Herbstmorgen einen jungen Griechen eine junge Serbin fragen: „Oh bonjour, mademoiselle, combien de pilules „Purgén“ est-ce-qu’on ose prendre à la fois?!“ „36“ erwiderte die junge Dame schlagfertig, worauf man den Griechen acht Tage lang nicht mehr erblickte. Leute ins Gespräch ziehen, um ihnen Ansichten herauszulocken, zum Zwecke, sie ihnen _widerlegen_ zu wollen, ist _unkultivirt_. Um „Proselyten“ zu machen, gehört mindestens die Entschuldigung eines „heiligen Fanatismus“. Zwischen Tee und „kleiner Bäckerei“ hat solches _nicht stattzufinden_! „Anonyme Briefe“ sind eine Gemeinheit. „Nicht anonyme Briefe“ sind eine noch größere Gemeinheit. Man hat zu schreiben: „_Ich verehre Sie!_“ Im allgemeinen aber zeigt sich doch in der „vie quotidienne“ ein beträchtlicher Fortschritt. „In der Nase bohren“ findet man sogar bei Kindern verhältnismäßig nur mehr selten, obzwar es noch vor 20 Jahren zu den sogenannten „billigen Freuden des Daseins“ gehörte! Häufiger kommt es vor, daß Liebesleute vor Fremden sich gegenseitig zu blamieren, zu _desavouieren_ suchen, kurz den Anschein eines Täubchenverhältnisses zu bewahren, für Augenblicke außer acht lassen. Den „Dritten“ dabei als Richter anzurufen, ist aber eine der allergrößten Infamien, besonders falls er auf die Frau ein oder mehrere Augen bereits geworfen hat. Es gibt also noch immer eine Anzahl von verbesserungsbedürftigen Dingen — — —! ABSCHIED „Herr Altenberg, ich danke Ihnen noch zuletzt für alles, für alles!“ „Wofür, das verstehe ich nicht — — —.“ „Das kann man nicht so sagen, wofür man Ihnen in einem wochenlangen Verkehr zu danken hat! Man ist gleichsam von sich selbst erst zu sich selbst gekommen, erblickt das Leben einfacher, selbstverständlicher und klarer als bisher. Deshalb muß man zu Ihnen sagen: ‚Ich danke Ihnen für alles, für alles — obzwar man durchaus nicht weiß, worin es besteht!‘“ Es war der tiefste Abschied, eigentlich aber ein ewiges Zusammenbleiben! BESUCH Mein Freund, der Doctor philosophiae aus Heidelberg, schrieb mir, er sei in tief deprimierter Stimmung, wolle in den „Frieden der Berge flüchten“, höchst moderne Ausdrucksweise, und vor allem beim Dichter eine Art von „seelisch-geistigem“ Reinigungsbad nehmen. Als er ankam, begann ich daher von Rax und Schneeberg, Pinkenkogel und Sonnwendstein zu schwärmen. Er erwiderte: „Lasse gefälligst diese Marlittiaden einer überwundenen Epoche und zeige mir lieber eine Dame, mit der man stundenlang über Ibsen, Hofmannsthal, Stephan George und ähnliche Geschöpfe seine endgültigen Ansichten los werden kann.“ Er war glücklich, als ich ihm mitteilte, daß ich zufälligerweise gerade jetzt drei solcher Damen auf Lager habe, leider aber eine jede in einem anderen Berghotel. Er meinte, er wolle gern den Wagen bezahlen, und wir sollten von einer zur anderen fahren. Auf dem Wege könne man ohne weitere Schwierigkeiten die Schönheit, den Frieden der Bergwelt, aber ohne Exaltationen über jeden einzelnen Baum, sondern in Bausch und Bogen genießen. Dieser annehmbare Plan wurde zu allgemeiner Zufriedenheit ausgeführt. Eine vierte Dame, die sich anschloß, konnte wegen Zeitmangels nicht ins Gespräch gezogen werden über die Philosophie in der Musik des Debussy. Der Doktor sagte zu mir: „Ist es also wirklich wahr, daß man nur bis 11 Uhr abends hier Getränke bekommt?!“ — „Nein,“ erwiderte ich, „das ist eine Verleumdung, man erhält bis Mitternacht Limonade und Soda-Himbeer!“ — „Esel,“ sagte er, „ich meine schweren Burgunder!“ Er schlug nun vor, schon um 7 Uhr abends anzufangen, damit man bis zur Schank-Sperrstunde das Nötige absolviert haben könne. Ich erklärte ihm, daß ich seit anderthalb Jahren Antialkoholiker sei und daher vor halb 8 Uhr abends nicht anfangen könne! Er sagte, er sei einverstanden, da er mich von meinen schwer errungenen Grundsätzen nicht abbringen wolle. Im Laufe des Abends gesellten sich einige Herren zu uns, die er in liebenswürdigster Weise anstänkerte, indem er sie fragte, ob sie sich ernstlich von der Bergluft und der Enthaltsamkeit eine Heilung ihrer anscheinend doch unheilbaren Leiden erwarteten?!? Bald waren wir allein, und später erklomm er mit meiner Bergführerhilfe die Treppe. Er sagte noch: Rax, Schnee—berg, Sonn—wend—stein, Pin—ken—ko—gel ..., dann verschwand er hinter der gepolsterten Tür. BUCHBESPRECHUNG Ich lese jetzt Tolstois „Chadschi Murat“, aus dem Nachlaß. Es ist immer dieselbe Art, plastisch-historisch, lebendig gewordene Wachsfigurenkabinette, psychologische Wachsfiguren, z. B. der großartig geschilderte wachsbleiche fette Kaiser mit dem nichtssagenden streng-starrenden Antlitz, der weiß, daß er nichts weiß, und dennoch die Geschicklichkeit besitzt, sich immer, in jeder Situation, es einzureden, daß er „zum Heile und zur Ordnung der Welt“ _unentbehrlich_ sei. Aber auf Seite 161 fand ich ein besonderes und bisher, vor allem mir, unbekanntes Sprichwort: „_Der Hund bewirtet den Maulesel mit Fleisch und der Maulesel den Hund mit Heu — infolgedessen bleiben beide hungrig!_“ Ich finde das wunderbar; es ist ein Bild unseres ganzen tragischen Lebens, besonders dessen _zwischen Mann und Frau_! Ein jeder bewirtet uns mit einer Kost, die für ihn die _beste_, für den Bewirteten meistens jedoch die _allerschlechteste_ ist! Einer meiner sogenannten „Freunde“, andere als „_sogenannte_“ gibt es nämlich hienieden nicht, würde natürlich sagen, daß dieses Sprichwort einen natürlich ganz anderen Sinn habe als den ihm von mir _willkürlich_ unterlegten, ferner, daß es längst allgemeinst, vor allem ihm selbst, bekannt sei; daß es schon im „Sanskrit“ erwähnt werde und _nichts anderes_ bedeuten könne als die „Güte des Schöpfers allen seinen Kreaturen gegenüber“! Du Esel! Trotzdem halte ich das erwähnte Sprichwort für überaus wertvoll und sinnvoll und glaube nicht, daß ich bis Seite 203, Ende, etwas annähernd ebenso Tiefes finden werde. Wenn man einmal so weit ist, die Menschen des übrigens alltäglichen Lebens ebenso scharf aufs Korn zu nehmen, wie Tolstoi es tut in seinen Romangebilden, oder wie Charles Dickens und Thackeray in milderer Form, so verringert sich naturgemäß die Distanz zwischen Künstler und Leser. Der Leser weiß einfach ganz dasselbe, ohne sich _die lächerliche Mühe zu nehmen_, es niederzuschreiben! EIN BRIEF Sehr geehrte gnädige Frau! Sie wollen „glücklich“ sein? Das ist schrecklich! Beethoven, Schiller, Hugo Wolf, Novalis, Lenau waren nicht glücklich. Mit welchem Rechte wollen _Sie_ also glücklich sein? Mit dem Rechte der „Inferiorität?“ Aber darauf haben Sie keinen legitimen Anspruch, da Sie es doch nicht sind! Sie erzählen mir, daß irgend jemand um Sie bange war, um Sie geweint hat? Erzählen Sie mir doch lieber, daß _Sie_ um irgend jemand besorgt waren, geweint haben! Sie sagen mir, was man von Ihnen halte? Sagen Sie mir doch lieber, was Sie von den andern halten! Sagen Sie mir, von wem _Sie_ schwärmen, und sagen Sie mir nicht, wer von Ihnen schwärmt! Ihre eigene Welt ist gerade so wie sie ist, aber die Welt der andern, der „Nicht-Sie-Seienden“, die ist eine Bereicherung _Ihres_ Denkens, _Ihres_ Fühlens! Zeugnisse mit ausgezeichneten Referenzen sich von Nichtverstehern ausstellen lassen, ist eine allzu billige Befriedigung! Sind Sie die Duse, die Yvette Guilbert, die Else Lehmann! Nun also! Sagen Sie stets: „Ich verehre!“ sagen Sie niemals: „Ich werde verehrt!“ Ein „labiles Selbstbewußtsein“ ist an und für sich „unkünstlerisch“! Sei, der du _bist_! Nicht mehr, nicht weniger! Wenn Sie vom „Russischen Ballett“ schwärmen, von Nidjinsky, von der Karsawina, von der Niedermetzelung der Haremswächter, von den russischen Volksmelodien, von den Damen in den Logen und den Silberreifen um ihre süßen Lockenköpfe, von Samthemden in Violett und Grasgrün, die alles verbergen wie edel-verschwiegene schwere Portieren — dann, dann sind Sie Sie selbst! Eine Aufsaugerin der Schönheiten der Welt, eine _Bereicherte_! Aber wenn Sie von sich selbst sprechen, werden Sie armselig! Eine, die erzählt, man habe ihr ein Almosen gegeben; eine Bettlerin an der Brücke, die hinüberführt ins „Versorgungshaus des Lebens“! DAS HOTEL-STUBENMÄDCHEN Sie saß nachts, ganz zerpatscht von Stiegensteigen, Sorgsamsein für fremde Menschen, Aufmerken auf fremde Wünsche, in der Portiersloge, zählte einen Haufen Trinkgelder in ihre Schürze. Ich wußte, daß sie ein entzückendes dreijähriges Mäderl habe, und der Gatte war verschollen. Ich sagte: „Woher sind Sie, Marie?!“ „Aus Kärnten.“ „Sie müssen ja die Dorfschönheit gewesen sein — — —.“ „Das war ich!“ „Und alle Jünglinge müssen sich um Sie beworben haben — — —.“ „Das haben sie getan.“ „Und da haben Sie sich _den_ gerade aussuchen müssen?!“ „_Er mich!_“ „Und Sie sind so ruhig, so gesichert — — —.“ „Da kann man nicht aufbegehren. Es ist das Schicksal!“ „Nein, die Dummheit war es, die Borniertheit — — —.“ „_Das ist ja unser Schicksal!_“ Später sagte sie: „Rühren Sie mich nicht an, es passt mir nicht. Weshalb streicheln Sie meine Haare?! An mir ist nichts mehr zum Streicheln — — —.“ Ich schenkte ihr eine Krone. „Wofür geben Sie mir das?!“ „Gewesene Dorfschönheit!“ erwiderte ich. Da begann sie zu weinen. GESPRÄCH „Sie, sagen Sie, mein lieber Peter Altenberg, wie lang sind Sie eigentlich schon da, auf diesem Semmering?!?“ „Elf Wochen?!“ „So? No, und das können Sie so aushalten, so ganz ohne Weiber?!?“ „Nur _ohne_ Weiber! Mit Weibern könnt’ ich’s gar nicht aushalten!“ „Komischer Mensch, was Sie sind!“ „Weshalb komisch?!?“ „No, Sie sind doch der größte Troubadour für die Weiber, was wir haben heutzutage?!?“ „No, könnt’ ich denn ihr größter Troubadour sein, wenn ich alleweil mit ihnen beisammen wär’?!?“ BOBBY Ich habe sowieso nichts mehr zu verlieren, nichts mehr zu gewinnen, ich stehe vor der „großen Abrechnung“ meines Lebens. Jetzt erkläre ich, daß ich die weiße, hellbraungefleckte echtrassige Foxterrierhündin Bobby, mit ihren acht rosigen Brust- und Bauchwarzen (selbst die edelsten Damen haben nur deren zwei), für schöner, graziöser, liebenswürdiger, herzlicher, menschenfreundlicher halte als die meisten Frauen. Sie erregt nie in mir Eifersuchtsqualen und Verzweiflung, hat eine unbeschreibliche Freude, wenn ich nett zu ihr bin, sagt nie bei einer solchen feinfühligen Gelegenheit: „Zahl’ lieber an Kaviar und laß die billigen Faxen — — —.“ Denn erstens frißt sie Gott sei Dank gar nicht Kaviar, und zweitens „fliegt sie“ grad auf meine „billigen Faxen“, d. h. meine seelische Verehrung, Anerkennung und Liebe! Ich ziehe also Bobby allen Frauen vor, freilich sage ich das erst öffentlich am Ende meiner sogenannten „Liebeslaufbahn“, mit einem Wort: nach meiner Schlacht von Sedan. Bobby hat um mich geweint, gewinselt, sich gekränkt, den Appetit verloren. Die übrigen Weibchen hatten gerade in meiner Gesellschaft stets einen riesigen Appetit, während ich kaum die Absicht hatte, ihnen ein „Kalbsgulasch“ zu bezahlen. Und dann, Bobby hat noch einen großen Vorteil, sie gehört nämlich gar nicht einmal mir, sondern einer reizenden bekannten Dame, der die Fürsorge für sie obliegt. Ich selbst schmeichle mich nur bei Bobby ein, um ihre zärtliche Freundschaft zu genießen. Ich will keine Spesen haben, und „äußerln“ führe ich auch nicht. Frauen haben immer irgendwelche Bedürfnisse! Aber ich bin nicht in der Lage, sie zu befriedigen — — —. Das nimmt zu viel Kräfte weg und Zeit! Liebe ohne alle Spesen ist meine letzte Erkenntnis auf Erden. PSYCHOLOGIE Mich interessiert an einer Frau _meine_ Beziehung zu ihr, nicht _ihre_ Beziehung zu mir! ✶ Daß _ich_ ihr eine exzeptionelle Achatbrosche schenken darf, macht mich glücklich, nicht daß _sie_ es gerührt annimmt! ✶ _Ich_ küsse ihre Haarlocke in meinem Zimmer anbetend, aber ihre braunroten Haarsträhne mögen im Winde flattern _für alle Welt_! ✶ Sie hat Migräne, und _ich_ renne nachts in die Apotheke. _Für mich_ hat sie Kopfweh, da _ich_ besorgt bin, es ihr zu lindern! ✶ Wenn sie „Wintersport“ treibt, zittere _ich_ um ihre zarten geliebten Gazellenglieder! Für _mich allein_ betreibt sie daher „Wintersport“! ✶ Ein Hut, der ihr _schlecht steht_, macht _mich_ unglücklich, ein Hut, der ihr _zu fesch-kokett_ steht, macht _mich_ ebenfalls unglücklich! _Für mich allein_ also trägt sie alle, alle ihre Hüte! ✶ Die Speise, die ihr nicht schmeckt, macht _mich_ unglücklich, die Speise, die ihr schmeckt, macht _mich_ glücklich. _Für mich, für mich_ allein daher ißt sie! ✶ Der Blick, mit dem sie einen anderen liebenswürdig anschaut, macht _mich, mich allein_ unglücklich! Daher gehört dieser Blick _mir, mir_, und nicht ihm, dem eitlen Laffen! ✶ _Mir, mir_ allein gehört alles, was von ihr kommt, Böses und Gutes, denn _ich, ich_ allein empfinde es! VORFRÜHLING Von den braunroten Dachschindeln rieseln grauglänzende Bäche. Man muß diesen harten Winter wegschwemmen, auflösen. Die Blumen und Gräser wollen auch schon heraus, nicht nur die genialen Schneerosen und Eriken, die der Nachwinter nicht geniert. Aber es gibt diskretere Kräuter, die erst auf den ernsten „Ruf des Frühlings“ Folge leisten und nicht gewillt sind, mit Schnee und Kälte zu „paktieren“. Das Berg-Schneeglöckchen zum Beispiel, das Leberblümchen und der Frühlings-Enzian. Die lassen mit sich kein Geschäft machen; ein paar sonnige Tage können sie nicht _verführen_, ihre Pracht zu entfalten. Sie wollen Numero Sicher gehen, also eigentlich „Philister der Blumenwelt“. _Nicht vorzeitig verwelken wollen_, ist immer eine Art von „philiströser Tätigkeit“! Franz Schubert, Hugo Wolf usw. usw. hatten sie nicht. Leute, die „Eau de Vichy“ trinken statt „Enzian-Schnaps“, sind zu _verwerfen_! Sie legen zuviel Wichtigkeit ihrem _absolut unwichtigen_ Organismus bei. Ich bin gewiß für Gesundheit. Aber sie muß auch _für andere_ wertvoll sein. Die Gesundheit der _Wertlosen_ ist _wertlos_! Der „_Hypochonder_“ hat irrige Ideen vom Werte seiner Erhaltung! _Wir verzichten gerne_ auf seine Lebenskräfte, die uns _doch nichts bieten_ können! Ein „_reeller Kranker_“ ist uns lieber als ein „_falscher Gesunder_“! Das merkt euch, ihr „_Wucherer mit der Gesundheit_“! Früchte, die fallen wollen, soll man abreißen! Aber statt dessen läßt man sie oben, und sie schreiben fünfaktige Dramen, oder malen, oder bildhauern, jedenfalls treiben sie irgendeinen schädlichen Unfug! DAS GLÜCK Ich erwartete das Glück vergeblich Jahre und Jahre lang. Endlich kam es und setzte sich zutraulich an mein Bett. Es hatte gelbbraunen Teint wie die Javanerinnen, schmale, lange Hände und Finger, Gazellenbeine und bewegliche lange Zehen. Ich sagte: „O, bist du wirklich, wirklich endlich das Glück, das lang ersehnte, tief entbehrte?!?“ — „Ich werde es dir morgen schreiben, ob ich es wirklich bin oder nicht. Du wirst selbst urteilen — — —.“ Am nächsten Morgen fand ich einen Zettel, auf dem geschrieben stand: „Adieu, auf Nimmerwiedersehen — — —.“ Ja, es war also wirklich und wahrhaftig „das Glück“ gewesen! DAS DUELL Ich, als „Outsider“ der Gesellschaft, die sich anmaßend und fälschlich die „gute“ nennt, begreife überhaupt naturgemäß nur eine einzige Art, zum Duell seine Zuflucht zu nehmen. Das ist, wenn man in bezug auf eine Frau in seinem Lebensglücke so sehr geschädigt wurde, daß man unbedingt zum Mörder und nachher zum Selbstmörder werden will! Da hat man im „Duell“ die Chance, den Kerl umzubringen und nach „vollendeter Sühne“ sogar ganz fröhlich am Leben zu bleiben und zu sagen: „Sixst’ es, Annerl, Mauserl, Herzerl, jetzt wirst net so bald wieder dich einlassen, einer von die Herren Kavaliere is schon kalt geworden trotz deiner heißen Liebe!“ STAMMGÄSTE Die „Stammgäste“ eines Hotels haben eine eigentümliche Art von Sicherheit, die ein wenig an „Größenwahn“ erinnert. Sie haben die Ansicht, daß alles glücklich sei, daß sie wieder da sind, und daß bisher in dem gesamten Hotelbetrieb eine Art von empfindlicher Stockung eingetreten sei, die nun glücklicherweise schwinden werde! Sie haben eine „falsche Liebenswürdigkeit“ mit dem Bedienungspersonal, erkundigen sich nicht ungern nach Dingen, die sie nichts angehen. Auch ihre eventuellen „Beschwerden“ gegen die Hotelusancen bringen sie in einem gütig-väterlich-wohlwollenden Tone an, als wollten sie das ganze Etablissement vor dem Ruine schützen! In J. war ein reicher Stammgast, der jeden „Eingeborenen“ mit der Frage beglückte: „Nun, wie war der Winter bei Euch heuer?!“ Obzwar ein jeder darauf mit Freuden geantwortet hatte: „Schmecks!“, so sagten doch alle, mit Rücksicht auf Trinkgelder, die niemals stattfanden: „Heuer besonders hart, gnä’ Herr —.“ Worauf der Stammgast leutselig erwiderte, daß dafür der Sommer zur Erholung, nämlich für ihn, diene! Trotz aller dieser Eigenheiten möchte dennoch keine Gegend ihre Stammgäste missen, denn sie gehören dazu und machen das Ganze sogar heimlich, wie die Schwalben, die Störche und anderes stets wiederkehrendes Getier! SANATORIUM FÜR NERVENKRANKE (aber nicht die, in denen ich mich befand!) _Morgenvisite._ Der Doktor sitzt, wie ein Staatsanwalt ernst blickend und forschend, an einem riesigen Schreibtische. Der Delinquent (Patient) tritt ein. „Bitte, nehmen Sie Platz — — —.“ Pause, in der der Staatsanwalt (Arzt) den Verbrecher mustert, ob Paralyse oder Simulation vorhanden sei — — —. „Also, mein lieber Peter Altenberg, ich kenne Sie nämlich schon seit langem aus Ihren interessanten Büchern, und erlaube mir daher den konventionellen Titel „Herr“ bei einem berühmten Manne wie Sie wegzulassen. Ihre Verehrerinnen apropos sollen Sie ja direkt mit ‚P. A.‘ titulieren!? Diese _Ehrenabkürzung_ wage ich bisher noch nicht — — —. Aber zur Sache! Also, mein lieber Peter Altenberg, was werden wir denn zum Frühstück nehmen?!?“ „_Wir?!_ Das weiß ich nicht. Aber ich selbst nehme Kaffee, hellen Milchkaffee — — —.“ „Kaffee?! So?! Also Kaffee, hellen Milchkaffee — — —?!? Also schön, Kaffee — — —!“ „Ja, bitte, es ist mein gewöhnliches Getränk, an das ich seit dreißig Jahren gewöhnt bin — — —.“ „Ganz gut. Aber Sie sind eigentlich hier, um sich von Ihrer bisherigen Lebensweise, die Ihnen anscheinend bisher nicht besonders genützt hat, zu _entwöhnen_, vielmehr die _nötige Energie_ zu akquirieren, solche _Veränderungen_ Ihrer gewohnten, ja vielleicht _allzu gewohnten_ Lebensweise allmählich wenigstens vorzunehmen!?! Nun, bleiben wir also vorläufig beim Milchkaffee. Aber weshalb diese dezidierte Aversion gegen Tee?! Man kann auch Tee mit Milch verdünnt trinken — — —?!“ „Ja, aber ich pflege Milchkaffee zu trinken — —.“ „Haben Sie, Herr Altenberg, einen bestimmten Grund, den Genuß von Tee des Morgens für Ihre Nerven für unzukömmlich zu halten?!?“ „Ja; weil er mir nicht schmeckt — — —.“ „Aha, das wollte ich eben nur wissen. Also, mein lieber Herr, was nehmen Sie denn zu Ihrem so geliebten und _anscheinend unentbehrlichen_ Milchkaffee dazu?!?“ „Dazu?! Nichts!“ „Nun, irgend etwas _Konsistentes_ müssen Sie doch dazu nehmen! Ein leerer Kaffee schmeckt einem ja gar nicht — — —.“ „Nein, ich nehme nichts dazu; mir schmeckt nur ein _leerer_ Milchkaffee — — —.“ „Nun, mein sehr geehrter Herr, bei uns geht das eben nicht. Sie werden mir freundlichst die _Konzession_ machen müssen von zwei Buttersemmeln — — —.“ „Ich hasse Butter, ich hasse Semmeln, aber noch mehr hasse ich Buttersemmeln!“ „Nun, diesen Haß werden wir schon noch _besiegen_! Ich habe schon _schwierigere Kunststücke_ fertiggebracht, mein Lieber — — —. So, und jetzt begeben Sie sich stillvergnügt zu Ihrem Frühstück in der Veranda. Noch eins: Pflegen Sie nach dem Frühstück auszuruhen?!?“ „Je nachdem — — —.“ „Je nachdem gibt es nicht. Entweder Sie ruhen oder Sie machen Bewegung — — —.“ „Also dann werde ich ruhen — — —.“ „Nein, dann werden Sie eine halbe Stunde lang gehen — — —!“ Der Delinquent verläßt wankend das Amtszimmer und begibt sich zum _Strafantritte_ auf die Veranda zum Frühstücke, verschärft durch zwei Buttersemmeln. Einige Tage später. Der Staatsanwalt: „Nun, sehen Sie, mein lieber berühmter Dichter, Ihr Gesichtsausdruck ist schon ein viel freierer, ich möchte sagen, ein menschlicherer, nicht so präokkupiert von fixen Ideen — — —. Haben Ihnen die zwei Buttersemmeln geschadet?! Na also!“ Nein, sie hatten ihm nicht geschadet, denn er hatte sie täglich im Hühnerhofe verteilt — — —. _Nachmittagsvisite._ „Herr Peter Altenberg möchten sogleich zum Herrn Direktor komme — — —.“ „Setzen Sie sich, bitte. Ich habe Ihnen den Alkoholgenuß strengstens untersagt — — —.“ „Jawohl, Herr Direktor — — —.“ „Kennen Sie diese ganze Batterie von leeren Sliwowitz-Flaschen?!?“ „Jawohl, es sind die meinen — — —.“ „Man hat sie heute unter Ihrem Bette aufgefunden — — —.“ „Ja, wo sollte man sie denn sonst auffinden?! Ich habe sie ja dort deponiert — — —.“ „Wie haben Sie sich das Gift in meiner Anstalt verschafft?!“ „Ich bestach jemanden. Sein ehrliches Gewissen ließ es bei zwei Kronen nicht zu. Da offerierte ich ihm drei Kronen.“ „Sie sind also unschuldig an der ganzen Sache, sondern der ungetreue Diener ist der Schuldige! Ich werde ihn zur Rechenschaft ziehen, obzwar er bereits fünfundzwanzig Jahre im Hause ist und er sich, _soweit ich es übersehen konnte_, stets einer tadellosen Konduite erfreut hat — — —.“ „Herr Direktor, Sie haben mir doch noch gestern gesagt, daß ich in Ihrer Anstalt und durch das regelmäßige solide Leben hier mich um zwanzig Jahre direkt verjüngt hätte und fast gar nicht mehr wiederzuerkennen sei?!?“ „Das sagte ich _aus pädagogischen Gründen_, um Ihr Selbstbewußtsein zu stärken — — —.“ „Herr Direktor, darf ich mir die leeren Sliwowitz-Flaschen bei Ihnen später abholen lassen ?!? Ich bekomme nämlich für jede sechs Heller retour — —.“ Direktor zu dem unredlichen Angestellten: „Sie Anton, wie konnten Sie sich unterstehen, nach fünfundzwanzig tadellosen Dienstjahren, einem Patienten, und sei es auch ein berühmter Dichter mit Eigenheiten, solche Mengen Branntwein gegen Bestechung zu verschaffen?!?“ „Aber Herr Direktor, wenn ich das nicht schon seit Jahren bei hundert Alkoholikern getan hätte, wäre uns ja ein jeder schon am dritten Tag davongegangen, und wir hätten unsere Anstalt leer stehen gehabt!“ „Nun gut, Anton, aber sorgen Sie wenigstens dafür von nun an, daß die leeren Flaschen nicht gefunden werden — — —.“ „Herr Direktor, das hat mir der Diener Franz angetan, aus Rache, weil ich mir soviel nebenbei verdiene — — —.“ Direktor zum Diener Franz: „Sie, Franz, kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten! Sie verdienen genug, indem Sie unsere Alkoholiker mit unseren Hysterikerinnen ein wenig ‚_anbandeln_‘ lassen — — —. Ein jeder hat sein Ressort. In einer Anstalt muß Ordnung herrschen!“ DIE ROMANTIKERIN I. Ich hielt diese Fünfzehnjährige wirklich für ein Ideal slawischer Schönheit, Stumpfnase natürlich, aschblondes Haar, hechtgraue oder taubengraue Augen. Alles an ihr gefiel mir, und nichts an ihr mißfiel mir. Ihr Schweigen war düster-merkwürdig, ihre Interesselosigkeit an den Dingen des Lebens erschien mir wie die versteckte Weisheit eines vorausahnenden, gleichsam seherischen jungen Geschöpfes, an das doch heutzutage, wie die Dinge einmal stehen und liegen, sich in jedem Augenblick _irgendeine Niederträchtigkeit_ heranschleichen könnte! Aber vorläufig war sie geborgen, beschützt, geborgen! Nun, trotz alledem war ich nur ein kühler Beobachter, den das alles absolut gar nichts anging, und der sich höchstens einmal zu einem Veilchensträußchen für 60 Heller aufschwang. Ich sagte zwar, es habe eine Krone gekostet, aber mit gutem Recht, da die Prozente, die mir die Blumenhändlerin als einem Dichter gab, eine Privatangelegenheit bilden für sämtliche Beteiligte. Nun, eines Tages bat mich die Süße, ob sie für ein Stündchen in meinem Zimmerchen ausruhen dürfe, während ich auf dem Spaziergang befindlich wäre. Ich erlaubte es ihr. Als ich abends mein Zimmer betrat, lagen, nett angeordnet im Kreise, sieben Haarnadeln auf der weißen Marmorplatte meines Nachtkästchens, als stiller Dank für die Beherbergung. Seitdem bin ich ein anderer Mensch geworden. Diese kindlich-zarte, spielerisch-nette Romantik hat mich gerührt. Diese sieben Haarnadeln sind etwas Positives von ihr, sie befanden sich vordem in ihren aschblonden seidenweichen Haaren. Ich empfand es als eine kolossale Belohnung, ich bewahrte die Haarnadeln in Seidenpapier und schrieb das Datum darauf. Ich nehme sie oft heraus und betrachte sie. Ich bin kein objektiver Beurteiler mehr seitdem. Ich denke immer, wie nett sie diese sieben Haarnadeln im Kreise angeordnet hatte, wie eine Zeichnung für Anfänger, strahlender Stern. Ich werde mich schon wieder „zur Objektivität“ durchringen, denn es ist das Einzige, was man hat, wenn man gar nichts hat! ERBLEICHET! ERRÖTET! Ich kann es immer nur wiederholen und wiederholen: „Suchet _Zugluft_ auf!“ Es gibt eine ganz einfache Art für reiche Leute, 150 Jahre alt zu werden, das ist, neben dem Chauffeur, bei jeglichem Wetter, mit freiem Halse und ohne Hut durch die Welt zu fahren, und nur nachts in ruhigen Zimmern, bei _weit geöffneten_ Fenstern, zu rasten. Zugluft ist das Heilmittel! Alles daran zu setzen, sie _vertragen_ zu können, ist das Wesen des modernen „Höchstkultivierten“! Angst vor Rheumatismus oder Bronchialkatarrh ist das _absolut untrügliche_ Zeichen eines tief rückständigen _unaristokratischen_ Organismus! Da helfen weder Ahnen, noch sogenannte _künstlerische Qualitäten_! Der betreffende Organismus ist in jeglicher Beziehung „geschnapst“. Ein Sänger, der seinen Kragen hochstellt, ist kein Sänger. Seine Kunst kann ihn in jedem Augenblick im Stiche lassen! Regen, Sturm müssen dem echten Sänger Labsal, ja Erquickung sein! Er setze sich auf dem herrlichen Plateau der Rax tagelang dem Gebrause aus! Was die Legföhre aushält und das Rhododendron, gerade eben dasselbe muß _auch er aushalten_! Abgehärtete Frauen sind bereits _dadurch allein_ schon in einer „höheren Rangsklasse“! Verwöhnte sind Gänse, _in jeder Beziehung_! Ich kenne alle Seelen und Gehirne der nicht absolut abgehärteten Menschen. _Es ist Talmi und Pofel!_ _Schein_-Existenzen! OSTERMONTAG AUF DEM SEMMERING Die Lärchenbäume haben sich jedenfalls noch nicht verändert. Sie sind gelb-grau geblieben wie im Winter. Sie lassen keine Hoffnung zu. Bis alles geschehen sein wird, der _geordnete sichere_ Frühling, dann erst werden sie ernstlich „ergrünen“. Sie sind „voraussichtige Genies“ unter den Gewächsen, so Bismarcks, Moltkes der Pflanzenwelt. Andere sind allzu hoffnungsvoll, stecken den Kopf heraus, glauben, es wird sich schon machen, zum Teufel!, und, hast du nicht gesehen, sie verwelken! Aber die Lärchenbäume sagen: „Wenn wir einmal anfangen, grün zu werden, dann, dann gibt es _kein Zurück mehr_, verstanden?! Und dann bis in den Spätherbst hinein, hurra!“ Der rote Vogelbeerbaum macht etwas Ähnliches, erhält sich sogar mit weißen Schneehütchen seine grellroten Vogelbeeren, die letzte Nahrungsstätte der gedrungenen farbigen Gimpel! Ostermontag. Ein Arbeiter spielt auf der Harmonika, und eine Frau ruft: „Zum Essen!“ Irgend etwas Besonderes gibt es heute, etwas, was die „gewöhnlichen Ausgaben“ übersteigt! Romantik des Feiertagsessens! So hatten wir in unserer Kindheit Sonntags stets „Juliennesuppe“, Poulard mit Erdäpfelsalat, und Karamelpudding mit Himbeersaft. Der Himbeersaft war nie gewässert, verdünnt, wie stets in anderen Bürgerhäusern; denn meine Mama hatte die Absicht, eine jede Hausfrau zu demütigen, zu blamieren, indem sie erklärte, in ihrem Hause werde der Himbeersaft, direkt aus der Originalflasche, _unverdünnt_ serviert! Viele Damen hielten sie infolgedessen für verschwenderisch, ja sogar in gewisser Hinsicht für exzentrisch. Andere aber bewunderten sie als eine Art von zwar unverständlichem, aber dennoch höherem Wesen; Himbeersaft direkt aus der Originalflasche!? Vor meinem Fenster ist ein Reh in einem Holzverschlage. Es ist so ein Plakat für „Wildreichtum der umliegenden Waldungen“! Es schnuppert wie eine Ziege, es denkt: „Die Freiheit habe ich eingebüßt, da will ich wenigstens kulinarisch genießen!“ Im „Kino“ schießt ein kleiner Knabe alles aus einer von einem Onkel geschenkten Büchse zusammen. Zuletzt schießt er den schweren Lüster vom Plafond herunter. Da sagte ein dreijähriges Mäderl neben mir: „Ist der Lüster jetzt gestorben?!“ „Nein,“ erwiderte ich, „er hat sich nur ein bißchen weh getan!“ Es ist Ostermontag. Ein jeder glaubt es zu spüren direkt, weil er es nach dem Kalender weiß! Morgen, 9. April, ist ihr zwölfjähriger Geburtstag. Aber ich darf ihr nicht gratulieren; erstens, weil die Herren Eltern es nicht erlauben, zweitens, weil ich weder ihren Namen noch ihre Adresse weiß! Aber ich habe sie gehen gesehen, das genügt für meinen _Turmfalkenblick_! Ich würde ihr schreiben: „Dante Alighieris Beatrice, 1912“! Aber wozu?! Bin ich Dante?! Nach 500 Jahren soll man sie mit mir in Beziehung bringen! Siehe, meine Seele hat _Zeit_, über ihren eigenen Tod hinaus zu _warten_! — BERGHOTEL-FRONT Sechs Uhr morgens. Ein nebeliger Julimorgen. Alles duftet nach feuchtigkeitsdurchsogenem Waldboden. Alle Fenster sind geschlossen, bis auf die der jungen Schönheit, die vor den Toren der Lungentuberkulose angelangt ist. An diesem Fenster hängt, vom gestrigen Abendprunke, ein tiefblau seidenes Gewand, bewegt sich im Morgenwinde. Irgendwo singt eine Kinderfrau ein Kindchen wieder in den unterbrochenen Morgenschlaf ein. Ein Hund kriecht vorüber, als käme er von einer Sündennacht außer Hause. Ich denke: „Klara, Franziska, Sonja — — —“, und belausche ihre geliebten Kinderatemzüge, die ich nicht höre! LANDPARTIE Ich bin „radikal“ geworden. Ich mache mit einer mir sympathischen Dame eine Eisenbahnfahrt von 25 Minuten nach M. Wenn sie nicht am Fenster lehnt und in die Landschaft hinausstarrt, bin ich bereits enttäuscht, nicht mehr ganz „à mon aise“. Sie erwartet also „anregende Konversation“, pfui! Wenn sie sagt: „Es zieht, machen Sie, bitte, das vis-a-vis-Fenster zu“, bin ich mit ihr fertig. Rheumatismus zieht nicht bei mir, das ist schlechtrassig, so 1870, zur Krachzeit. Wenn ich ihr in M. das herzige, brausende, dunkle Flüßchen zeige, muß sie entzückt sein, ja sie muß, sie muß, sie muß! Wenn ich ihr den Frieden der langen Dorfstraße zeige, muß sie selbst „friedevoll“ werden! Wenn ich ihr das niedere, schneeweiße Haus zeige mit den schwarzen Eisengittern und den vergoldeten Schleifen und sage: „Hier hatten die Generäle Napoleons des Ersten Quartier!“, so muß es ihr wie heiliger Schauer über ihren rosigen Rücken laufen! Billiger gebe ich es nicht. Es sind schlechte Zeiten angebrochen für wirklich zarte Seelen, und daher muß man prüfen, ehe man ewig Landpartien macht! Wenn sie in dem kleinen, traulichen Dorf-Kaffeehaus ihren Tee selbst bezahlt, ist es gut. Wenn nicht, ist es bedenklich. Wenn sie den Sonnenuntergang nicht beachtet, sondern lieber von einem erzählt, der sie einst sehr, sehr geliebt hat, ist es vollkommen verfehlt. Auch der Rauch der Lokomotiven sogar hat sie zu interessieren. Wenn sie sagt: „Ich möchte nicht gar zu spät nach Hause kommen“, so ist es falsch. Mit mir kommt man immer _zu früh_, und nie zu spät nach Hause. Auf der Rückfahrt hat sie eine andere zu sein wie auf der Hinfahrt! Wie sie das macht, ist _ihre_ Sache! In dem „langen Tunnel“ hat _nichts_ zu geschehen! Aber sie hat es innerlich zu bedauern, _daß_ es so war! Ich bin „radikal“ geworden. Eine Fahrt von 25 Minuten; Aufenthalt; retour — und ich weiß alles! PSYCHOLOGIE Ich beurteile schon seit längerer Zeit die Menschen nach den _Gegenständen_, die sie tragen, lieb haben und für hübsch finden. Das ist ein „biografical essay“ über ihr eigenes Wesen! Zum Beispiel sind mir Männer höchst suspekt, die Stöcke tragen mit oxydierten Silbergriffen, die irgend etwas vorstellen, wie Hundekopf, Schlange oder gar ein reizendes Frauenköpfchen mit Lockengewirr. Freilich haben die Kerls dann die Ausrede, sie hätten es von einem lieben Freund geschenkt erhalten; aber erstens hat man keine solchen geschmacklosen Freunde eben nicht zu haben (_zwei_ Verneinungen geben leider eine Bejaung), und zweitens kann man das Geschenk einem guten Freund auch über den Schädel hauen. Überhaupt bin ich unter _kultivierten Menschen_ nur für „_Bons_“ in einem bestimmten Geschäft! Suspekt ist mir auch rosa, hellblaue und grellrote Seide, während Atlas, Samt oder Damast bereits zu den „leichten Vergehen wider die Sittlichkeit“ zu zählen sind. Bedruckte, nicht gewebte Krawatten, erregen ziemliches Bedenken, obzwar hier die „Natur-Bauernmuster“ noch zu _pardonnieren_ sind. In „einer einzigen Farbe“ gekleidet sein, vom Hut bis zu den Schuhen, ist „letzte Aristokratie“ 1913! Schirme haben nur _Naturgriffe_ zu haben. Ein _freier Hals ist edelrassig_. _Hohe_ Krägen sind ein _Nonsens_, außer für Störche. In einem Kleidungsstücke nicht _sämtliche_ Bewegungen eines erstklassigen Parterreakrobaten im „Apollotheater“ machen zu können, ist _schlechtrassig_! Hosen können nie breit genug sein, und sind _immer_ noch viel zu eng! Letzte Knöpfe am Gilet _offen zu lassen_, ist eine miserable Vergeßlichkeit. Jemandem, der sagt, er wolle nicht auffallen, dem erwidere ich, daß auch Beethovens Adagios auffallend waren, nämlich _auffallend schön_! „Die Herde ist _das_, wovon man sich _in allem_ zu unterscheiden hat!“ „Man trägt jetzt — — —“ ist ein _hundsordinärer_ Blödsinn. „Guten Morgen, mein Herr, wie steht Ihr wertes Befinden?!“ sagte ich zu einem Fremden, der auf dem „Semmeringer Hochweg“ mit _Zylinder_ spazieren ging. „O sehr gut, in dieser herrlichen Gebirgswelt; aber woher kennen Sie mich denn?!“ „Ich kenne Sie seit Ihrer Geburt wie meine eigene Tasche, da ich sehe, daß Sie hier einen Zylinder tragen — — —“ „Ich bin das meiner Stellung in der Welt schuldig, mein Herr — — —“ „Auch das habe ich sogleich bemerkt, daß Sie irgendjemandem irgend etwas schuldig sind — — — !“ VOR-VORFRÜHLING 11. Februar. Semmering. Ich versuchte es, nach drei Wochen Krankheit auszugehen. Alles schwamm in Nebel und Nässe. Die Rodelwege waren nicht mehr vorhanden, ein grauer Schlamm mit ein wenig Glatteis waren an ihrer Stelle. Alles war schmutzig, ungepflegt, bereitete sich vor für sonnige Frühlingstage, die trocknen, fegen und beleben sollten, vor allem aber mit der Winterwirtschaft ein Ende machen. Denn weshalb noch hinziehen, was ohnedies vergehen soll?! Um jedes Gebüsch herum waren tiefe Schneelöcher, die Dächer trieften vor glänzender Nässe, ebenso die eisernen Straßengeländer. Schneerosenknospen wuchsen überall, man stellte sie in Gefäße, aber sie erblühten nicht, aus irgendeinem versteckten Grund. Man bedauerte die Vögel nicht mehr, Krähen und Gimpel, obzwar sie jetzt ebensowenig zu fressen hatten wie im starren Winter. Die, die das überstehen hatten können, würden auch das noch überstehen. „Ein miserables Wetter“, sagen alle, obzwar es in seiner Miserablität gerade _rührend schön_ ist. Die Menschen ziehen sich zurück, wie vor einem Menschen, der nicht mehr „sein Bestes“ leistet. Es ist nicht Fisch, nicht Fleisch, sagen sie einfach. Nein, aber es ist _rührendes Patschwetter_. Ich finde es nicht, daß es weniger anziehend ist als der starre Winter und der helle, klingende Frühling. Der zerrinnende Schnee ergreift mich. Er war einst so herrschsüchtig, so unerbittlich, so zäh-fest. Die „Champions“ liebten ihn, nun sind sie von ihm abgefallen. Sie können ihre überschüssigen Lebenskräfte nicht mehr an ihm erproben, schwächlich geworden, sucht er, gleichsam verlegen, in Bächlein abzurinnen, zu verschwinden. Und man hatte ihn doch so sehr geliebt, direkt verhätschelt, als er noch _brauchbar_ war. Jetzt könnte man singen: „Schnee, du wirst grau und schmutzig — — — was ist mit dir?! Zu nichts mehr bist du nütze — — —. Willst du vielleicht sogar meinem geliebten Kinde einen Schnupfen bringen?!? Du Schnee, dann, dann mag ich dich auch nicht mehr, verschwinde!“ Und im Gelände werden bald Primeln und Veilchen stehn, und ich werde sie pflücken und sie dir nicht geben, das heißt _äußerlich_, vor den Menschen. Aber _vor Gott_! GEDENKBLATT Es ist merkwürdig in meinem Leben. Immer dasselbe. Als ob ich nicht älter, nicht reifer würde. Und ich bin doch schon uralt und todeskrank. In meinem 35. Lebensjahr, an meinem heißgeliebten Gmundener See, schlossen sich zwei Kinder, von 9 und 11 Jahren, mit ihren zarten Seelen leidenschaftlich an mich an. Dadurch entstand meine überhaupt erste Skizze, die ich je geschrieben habe, in der Nacht nach dem Abschied der Kinder von mir, „9 _und_ 11“. Eines Abends erklärte die 9jährige unter Tränen, indem sie das Nachtessen verweigerte, sie würde nichts mehr essen, bis ich nicht zu ihnen ins Haus zöge. Daraufhin schrieb mir der Vater, er verbitte sich von nun an jeglichen mündlichen und brieflichen Verkehr, ja sogar den Gruß auf der Straße, da er meinetwegen doch nicht auswandern wolle. Und so geschah es, strikte nach seinem Befehl. Acht Jahre später erschien nach einer Burgtheaterpremiere der Vater mit seinen, zu herrlichen Geschöpfen erblühten Töchtern an meinem Stammtisch im „Löwenbräu“. „Ich komme zu Ihnen, denn mein Töchterchen A. hat sich gerade so, von selbst, entwickelt, als ob Sie wirklich, ihrem heißen Wunsch gemäß, damals zu uns gezogen wären; eine weltenferne Träumerin!“ Drei Tage später traf sie in der Kärntnerstraße, bei „Schwarz und Steiner“, der Gehirnschlag. Sie hatte gerade vorher gesagt: „Da geht mein Loge-Sänger „Schmedes“, mit seinem gazellenfüßigen, herrlichen Töchterchen...!“ Sie wankte und war tot. Ich fuhr mit den Eltern im Trauerwagen. Da sagte der weinende Vater, der nun auch schon tot ist: „Wenn ich das hätte ahnen können, hätten Sie vor acht Jahren unbedingt zu uns ziehen müssen — — —!“ „Nein“, erwiderte ich, „auch wenn Sie das hätten ahnen können, wäre Ihnen eine _tote Tochter_ lieber gewesen als eine, die den _Dichter verehrt_!“ OBERFLÄCHLICHER VERKEHR Ein Herr, den ich zehn Jahre lang nicht gesehen hatte, kam im Berghotel per Automobil an und sagte zu mir: „Gut, daß ich gerade Sie hier begrüßen kann. Sie kennen sich doch auf dem Semmering gewiß gut aus. Wo ist hier der _Raseur_?!“ — „Gleich im Hause daneben“, erwiderte ich. — „Ich wußte es ja,“ sagte er beglückt, „daß ich mich an die richtige Adresse gewendet habe; adieu — — —.“ Ein Herr schreibt mir aus Prag: „Teurer verehrter Meister, in Ihrem Buche „Prodromos“ ist ein englischer Reibhandschuh angepriesen. Kann ihn in ganz Prag nicht finden. Bitte auch um genaue Angabe des Preises!“ Ich schrieb zurück: „Bürsten sind nur in Eisenhandlungen zu finden, Preis 1 Krone und 10000, je nach der Qualität!“ Eine Dame, die mir ausnehmend gut gefiel, sagte mir: „Ich habe ein diskretes Anliegen an Sie. Können Sie mich nicht mit Ihrem reizenden Freunde bekannt machen?!“ — „_Nein!_“ erwiderte ich schlagfertig. Ein Herr aus Berlin schrieb mir: „Wie lange wollen Sie noch uns Leser mit Ihren Brocken von angeblicher Seelentiefe _anöden_?!“ Ich erwiderte, ich sei zwar schon ziemlich abbröckelnd, aber den genauen Zeitpunkt des _definitiven Endes_ könne ich nicht angeben, er möge sich noch ein wenig gedulden — — —. Jemand fragte mich, wo denn eigentlich meine Bücher zu haben seien?! Worauf ich erwiderte: „Ich glaube, der Bäckermeister oder der Schuster dürfte noch einige Exemplare auf Lager haben — — —.“ Jemand schrieb mir aus Klein-Höflein, wo ich nie gewesen war und auch _niemanden_ kenne: „Falls Sie nicht innerhalb acht Tagen Ihre Schuld von 11 Kronen 60 Heller bezahlen, werde ich die Sache meinem Advokaten übergeben!“ Infolgedessen bezahlte ich 11 Kronen 60 Heller nach Klein-Höflein. Wenn ich nur wüßte, wo dieser Ort liegt?! Jemand sagte zu mir: „Ah, Sie sind der berühmte Herr Paul Altenberger, über den so viele gute Witze kursieren?!“ Ich sagte, ich hätte noch andere Qualitäten, und entfernte mich hoheitsvoll-gelassen. Eine junge Dame sagte zu mir: „Einmal und nicht wieder!“ Ich hatte sie nämlich ihr Nachtmahl selbst bezahlen lassen. Freilich hatte ich die vergebliche Hoffnung gehabt, sie würde auch meines gleich mitbezahlen — — —. Eine reiche Familie, der ich es mitteilte, daß heute, 9. März, mein Geburtstag sei, sagte im Chore, daß man es mir wirklich gar nicht ansehe, ich schaute aus wie ein guterhaltener Fünfziger. Mir wäre es lieber gewesen, ich hätte den „Fünfziger“ gut erhalten! Das sind lauter oberflächliche Bekanntschaften, nichts Solides dahinter, kein Gemüt und kein Geld. Es ist sehr, sehr schwer, Menschen zu finden, die sich wirklich und ernstlich an einen anschließen — — —. BEAUTÉ _So wenig_ also hältst du von der Schönheit deines nackten weißen oder braunen Edelleibes, daß du dich verpflichtet fühlest, ihn zu schmücken, sagen wir „behängen“ und „belasten“ mit hundert Edelfellchen wertvoller Tierchen?! Stolz nennst du die _Summe_, die es _gekostet_ hat — — —. Erhöht es deinen Wert, daß man _für dich bezahlte_?! Du weißt, die Besten gehen _in geflickten Kitteln_, ihr Pelz ist Demut und Bescheidenheit. Oder sie tragen das _heilig-einfache_ Gewand der Pflegeschwestern. Schwarz weiß und eine große Brosche in Email mit einem Kreuz zierten euch mehr! Von _innen_ strahlt der Wert nach außen aus, mit Mardermänteln bleibst du roh und _nichtig_! Ich _hasse_ jene Männer, die euch lieben, in eurem stinkenden Prunke! Nein, ich hass’ sie _nicht_, denn ihre _Liebe_ ist _derselbe_ Schein wie Eure Fetzen, sie lieben nicht — — — sie _hassen_ und _verachten_ Euch vielleicht _noch mehr_, berechtigter als ich!!! Jedoch, sie _müssen_! DIE SPIELEREIEN DER REICHEN LEUTE In einem ersten „Cercle“ der Residenz kam man auf die Idee, einen Preis von 10 Flaschen Champagner auszuschreiben für die allerstupideste Frage. Ein Graf gewann den Preis mit der Frage: „Comment un homme de tacte et de goût doit-il se comporter, lorsqu’il rencontre la nuit dans une forêt un _accent circonflexe_?!“ RICHTIGE, ABER EBEN DESHALB WERTLOSE BETRACHTUNGEN Es ist eigentlich ganz widersinnig, auf eine Frau eifersüchtig zu sein, die einem noch gar keine Konzessionen gemacht hat. Denn _je mehr_ Konzessionen sie _den anderen_ macht, _desto größer_ ist die Chance, daß sie einem dieselben mache, und _eventuell_ noch größere! Es ist die falsche _ewige_ Hoffnung, sie für _sich allein_ erlangen zu können! Aber das _kann man nicht_. Denn es hängt nicht von dem ab, was sie gewähren, oder _nicht_ gewähren will, sondern von der ewigen Reizung ihres Nervensystems, daß tausend Männer das und das _von ihr_ sich _ersehnen_! _Das_ allein läßt sie nicht „zur Treue“ kommen. Es wäre denn, daß man alle anderen überbiete! Aber solche „Coups“ gelingen selten auf der _Lebensbörse_! DIE PROBE Es gibt eine sichere Probe für Sympathie. Ich denke mir alle schönen Mädchen hier in dem Berghotel, die mir gefallen, der Reihe nach quer über eine breite weiße Landstraße aufgestellt. Plötzlich rast von einer scharfen Kurve her ein riesiges Automobil. Welche wirst du instinktiv zurückreißen, erretten?!? Von allen nur Klara, Franziska und die blonde 13jährige süße Ungarin! EREIGNIS Am 24. Juli haben sie die Bergwiesen gemäht — — — hingeschnitten die diskreten Farben eines alten Perserteppichs — — — die Duft-Symphonien abgebrochen unserer „musikalischen Nasen“! Wie ein Kapellmeister „abklopft“. Frischer einfacher Heuduft wurde sogleich, und schon ahnte man feiste Kühe mit den Stampfmühlen ihrer feuchten Mäuler für die rosigen Euter es vorbereiten! Wie _Urkraftrausch_ waret ihr, Bergwiesen, bis zum 24. Juli. Es dröhnte von Hummeln; es schimmerte braunwolkig, distellila, schafgarbenweiß , königskerzengelb, arnikagold; es roch wie „Menagerie“, „Apotheke“; wie Bienenhonig schmeckt, so roch es im vorhinein. Es betäubte süß und belebte. Es vermittelte: sanft einschlummern, frisch erwachen! Nun ist es nicht mehr. ENDE Vom 17. September 1911 bis 19. Oktober 1912 war sie seine kleine Heilige. Sie war geboren 9. April 1900. Dann erzählte ihr eine Dame der sogenannten „guten Gesellschaft“, daß er ein Säufer sei, und schon zwei Jahre im Irrenhaus interniert gewesen sei. Hatte er sie seitdem weniger lieb?! Das war ja unmöglich. Aber sie schämte sich _seitdem_ seiner Verehrung — — —. Die Liebe eines besoffenen Tollhäuslers?! Pfui Teufel! Da wollte er ihr das ersparen, und mied sie von nun an. Hie und da hörte er in den Korridoren des Hotels ihre geliebte jauchzende Kinderstimme. Da schloß er denn die beiden Türen seines Zimmers und warf sich, in unmeßlichen körperlichen und seelischen Qualen, auf sein Sofa hin. So endete eines seiner schönsten, seiner tiefsten _Lebensgedichte_, das viel Leid, viel Begeisterung und viel, viel Liebe in sich ein Jahr lang geborgen hatte! NACH ABWÄRTS Niemand beschrieb noch körperliche Qualen — — weißt du, wie Brandwunden sind am zarten Fingerballen?! So brennt es dir im ganzen Leibe, und keine Linderung durch aufgelegtes Leinöl; es brennt Tag und Nacht. Wie eine mittelalterliche Folter, der du unterliegst; die Folterknechte aber sind im Innern; und unsichtbar ereignet sich das Schreckliche. Scheinbar friedlich sitzest du in deinem Zimmerchen, und draußen ist der braune Bergwald. Er kann dir nicht mehr helfen, er, der dir einst half zu den Begeisterungen, dem besten Mittel, jung und stark zu sein! Und nachmittags irr’ ich in den langen, schmalen, düsteren Korridoren, das Antlitz meiner kleinen Heiligen zu sehn. Wenn ich sie erschaue, ergreift mich der Gram. „Wie geht es Ihnen heute?!“ sagt sie sanft, und blickt erstaunt auf diese menschliche Ruine, die ihr fast täglich tiefe Hymnen singt — — —. ABSCHIED Mein geliebter Pinkenkogel, hart an meinem Fenster aufsteigend, ich sage dir _Adieu_! Ich muß nun wieder ins Exil hinter vier Mauern; die Menschen wollen „langsam Sterbende“ nicht sehn. Und diese wieder nicht die Menschen! Dazu sind diese „Institute“ da, daß nur der weite Park die Klagen höre. Der „Pfleger“ sieht die Träne ungerührt. Wo käm’ er hin, wenn er sich rühren ließe?! Geliebter Pinkenkogel, lebewohl — — —. Und sag’ auch ihr — — — wie liebt sie deine Bäume und deine Pfade aufwärts zu der Alm — — — und sag’ auch ihr — — — nein, sag’ ihr nichts! Sie weiß, daß unter allen Abschiedstränen die qualvollste _für sie_ vergossen ist — — —. KRANKEN-TOILETTE Wenn die Anverwandten zu Besuch kommen, wird der Kranke „herausstaffiert“. Das geschieht nicht etwa aus irgendeinem Versuche, die Verwandten über den Zustand des Kranken irrezuführen, sondern aus einem ganz einfachen Grunde: Man läßt den Kranken eben solange als möglich in seinem ihm notwendigen, ja zuträglichen Zustande von Apathie. Man zwingt ihn zu nichts, wartet es geduldig ab, bis er von selbst wieder zum gewöhnlichen Leben erwache. Aber gerade den Anverwandten darf man diesen Zustand von organischer und infolgedessen nützlicher Apathie des Kranken nicht vor Augen führen. Denn hierin ersehen sie nur eine traurige _Stagnation_ des Leidens, was ihnen in Anbetracht ihrer Sorge und ihrer eventuellen Geldopfer, auch Zeit ist Geld, sagt der Engländer, nicht erwünscht sein kann. Auch erhofft sich der Pfleger ein größeres Trinkgeld, falls der Patient den Eindruck von „rücksichtsvollster Pflege“ macht. Das ist doch ganz natürlich und selbstverständlich. Es ihm zu verübeln, wäre albern. Infolgedessen wird der apathische Kranke aus seiner wohltuenden Ruhe plötzlich aufgescheucht, gesäubert, rasiert und nimmt sich in seinem frisch überzogenen Bette aus, wie ein krankes Geburtstagskind. Alle Besucher sind einig darüber, daß er sich fabelhaft erholt habe, und schauen voll Bewunderung und Rührung einmal auf den bescheidenen Arzt, und einmal auf den stolzen Pfleger. Nach dem Besuchstage _verfällt_ der Kranke wieder. Gesundheit, Lebensfähigkeit, Energie hängen leider nicht von Besuchstagen ab der Anverwandten. Man schleppt sich hin, eine zerbrochene Maschine, und eines Tages steht man auf und ist gesund. Oder — — — man steht nicht mehr auf. Dann ist auch wieder Besuchstag. Man ist gewaschen, rasiert, liegt in einem frisch überzogenen Bette wie ein Geburtstagskind, aber wie ein totes. Nein, das sind Utopien. Bei Nacht wird man insgeheim weggeführt, denn niemand in der Anstalt soll wissen, daß „etwas sich ereignet“ hat, was keine Hoffnung zuläßt — — —. KUSINE Mit 52 Jahren stürzte meine Kusine ab vom Seekofel, beim Blumenpflücken. Mit 16 erhielt sie ihr erstes Ballkleid von „Maison Marisson“. „Sie muß die Schönste sein!“ sagte die Direktrice des Ateliers zuversichtlich. Zum ersten Male dichte Rüschen in gelbem Musselin. Bis dahin trug man nur weiße Ballkleider. Sie war die Schönste. Sie erregte Neid. Sie glaubte, ein Prinz werde kommen oder etwas Ähnliches, z. B. ein Bankdirektor. Was hätte sie anderes sich erträumen können, in gelben Musselin-Rüschen von der „Marisson“, und entouriert von allen?! Zum Souper meldeten sich 14 Herren. „Ich hab’ nur eine rechte Seite und eine linke“, sagte sie glückstrahlend. Mit 52 Jahren stürzte sie vom Seekofel ab, beim Blumenpflücken. Was sie erlebt, von 16 bis 52, ich weiß es nicht. Ich kenne nur ihren ersten Triumph und ihren letzten Absturz — — —. _Dazwischen_ dürfte so eine Melange gewesen sein von beiden! LIED Was nützt des Herbstes braune Symphonie?! Ich bin zu krank. Sonst sah ich alles mit dem Blick der Liebe, dem Blicke einer namenlosen Zärtlichkeit. Ich wußte wie die Buche sich verfärbt im frühen Froste, und wie ihre Röte allmählich erbräunt. Die Amsel raschelte im dürren Laub, die schwarze Schnecke zog über die Wege. Du sagtest mir, holdestes Kind, du müßtest nun in ein Institut, für 2, 3 Jahre — — —. Ja, es ist Herbst geworden, und ich bin zu krank. ECHT Ich bin sehr _skeptisch_ in bezug auf _Empfindungen_. Festliche Stimmung bei Geburtstagsjausen, bedenkliche Gesichter bei schweren Krankheitsfällen können mir noch lange nicht imponieren. Ich kenne diese „Rolle“ wohlerzogener Leute. Darüber mehr zu sagen, wäre eine Banalität, obzwar auch dieses wenige schon eine beträchtliche ist. Aber _eine_ Empfindung gibt es, die _nicht_ unecht ist, das ist das klägliche Aufheulen, ähnlich wie Hunde beim Klavierspielen, der allernächsten Angehörigen, in _dem_ Augenblicke, da der Sarg aus dem Schlafzimmer hinausgetragen wird. Da gibt es kein Schluchzen, kein adieu, kein Lebewohl, kein _oh_ und kein _ach_. Da gibt es nur ein klägliches erschreckendes Aufheulen, ein Winseln, wie wenn man den liebevollen Hund aussperrt, ihm die Türe vor der Nase zuschlägt. Freilich „derfangt“ man sich sogleich wieder, von den „nicht allernächsten“ Verwandten liebevoll gestützt, und wankt zu Hut, Handschuhen und Schirm. Der Leichenwagen wartet nämlich. Aber dieser _eine_ kurze Augenblick ist _echt_, da der Tote sein Schlafzimmer verläßt, getragen von vier fremden Männern. Da sagt man nämlich wirklich Adieu und heult auf, und winselt und spürt es daß eigentlich alles, alles auf der Welt nicht dafürsteht — — —. GESPRÄCH „Wie ist das also, Peter, mit dem ›Geben‹, wie Sie immer behaupten, das seliger sein soll als das ›Nehmen‹?! Wie ist das?!“ „Das ist also so: wenn du an einem Bettler vorbeigehest, und du bist nur erfüllt, gehoben, durchwärmt von dem Gefühle, eine exzeptionelle Freude jemandem bereiten zu wollen, die in deiner Macht steht, sie zu spenden, und du schenkst ihm da eine Krone, während er dich ansieht, anstarrt, als hättest du dich nur in der Münzsorte vergriffen, du aber gehest, ihm zunickend, hinweg — — — das ist: _Geben_ ist seliger denn _nehmen_! Wenn du aber denkst: „Pfui, diese Belästigung! Dieser alte zerfetzte, demütige Hund!“ Und du gibst ihm dennoch 20 Heller, so hochnäsig-widerwillig, dann, dann ist: Geben _unseliger_ denn nehmen!“ „Peter, also da hast du — — — 20 Heller! Nein, ich habe nur Spaß gemacht. Ich will dir eine Krone schenken, hole sie dir heute nacht von meinem Nachtkästchen ab — — —.“ BILANZ Es gibt Dinge, die _unvergeßlich_ sind. Mit _diesen_ hat man seine Seele zu beschäftigen und alle anderen Dinge zurücktreten, verblassen, verschwinden, also allmählich _absterben_ zu lassen. Unvergeßlich ist das Vöslauer laue Schwimmbassin mit Lindengeruch. Dann der „Lackaboden“, Alm vor dem Schneeberg; die Bodenwiese mit den Kolröserln; Austern à discrétion, also sechs Dutzend; die kleine „Veilchenfeld“, die kleine Magda S., Evelyn H., Klara und Frantzi P. und Eva Leopold und Sonja Dunjersky. Dann Richard Wagner, Beethoven, Mozart, Bach, Grieg, Hugo Wolf, Richard Strauß, Johannes Brahms, Puccini, Massenet. Dann die „Topfen-Pastete“ und „Filet de Sole à la Morny“ und „Poires bonne femme“ und „pommes concierge“. Dann „Hamsun“, „Strindberg“, „Maeterlinck“, „Gerhart Hauptmann“. Dann „Van Dyck“ als „Des Grieux“ in „Manon“, „Maria Renard“ als „Lotte“ in „Werther“, „Hermann Winkelmann“, in _allen_ seinen Rollen. Dann der „Semmering“, zu _allen_ Jahreszeiten. Man muß „Buch führen“ über „reelle Werte“, im sonst leicht „passiv werdenden“ Dasein! Frauen haben eine perfide Geschicklichkeit, „unreelle Werte“, wie Schmuck, Pelz, Kleider, in ihr „Plus-Konto“ des Lebens frech einzutragen. Da müssen sie halt die ganze Bilanz plötzlich durch einen „feschen Offizier“ wieder ins Gleichgewicht bringen! Auch „unglückliche Spieler“ legen sich plötzlich eine „Geliebte“ zu, um sich es in ihrem _falschen Buch-Konto_ zu verrechnen, daß sie „_an ihr_“ zugrunde gegangen sind! Eine richtige, anständige, ehrliche „Bilanz des Daseins“ führen nur die Selbstmörder. Aber wie wenige, hélas, gibt es noch heutzutage?! SEHR GEEHRTES FRÄULEIN! Sie lieben also Albert!? Sie suchen also eigentlich einen Mann, dem Sie „sein Alles“ sind; der durch Sie es vergißt, daß die Welt _erfüllt_ ist von herrlichen, merkwürdigen, anmutigen und originellen Geschöpfen!? Sie suchen also einen _Idioten_! Einen, dem Sie _die Schmach_ antun, ihn in einen Zustand zu versetzen, wie der Auerhahn auf der Morgenbalze. Einen, der vor Gefühl _nichts anderes_ mehr sieht und hört um ihn herum! Um ihm etwas _bieten_ zu können, rauben, stehlen Sie ihm seine Weltenseele, und für eine Haarnadel aus Ihren Haaren gibt er das Glück von Tausenden eventuell hin! Und diese Scheuklappenpolitik nennt Ihr dann „Liebe“! Ein _verdoppelter_ Egoismus, dem zum „heiligen _Dreibund_“ nur noch der miserable Köter „Putz“ fehlt, an den Ihr Euch gemeinsam attaschiert! HERBSTLIED Die Ahornblätter sind wieder goldgelb, man kann die einzelnen goldenen Bäume zählen im dunklen Forste. _Also_ ist es Herbst. Gerade vor einem Jahre sah ich sie, 25. September 1911. Sie war 11 Jahre alt. 11! Was macht es?!? Der Wald bot damals alles, was er heute bietet, und immer bieten wird — — —. Nur ich bin düsterer geworden, weil ich _zuviel_ an ihre Zukunft denke. Als ich sie damals sah, da ging ich in den Wald, um mir es einfach jauchzend mitzuteilen: „Du hast das Herrlichste erschaut!“ Jetzt aber, tieferfüllt von ihr, seh’ ich im düsteren Herbstwald dunkle Schatten kommender Eroberer! Oh, Gnade, Gnade, Ihr Herren, für mein geliebtes Kindchen! Tut ihr nichts! Die Ahornblätter sind wieder goldgelb geworden, man kann die goldenen Bäume einzeln zählen im dunklen Forste. _Also_ ist es Herbst. EWIGE ERINNERUNG Von Kortina brachen wir auf, Automobil, 9 Uhr morgens, und schlängelten uns hinauf, auf den Falzaregopaß, 2117 Meter. Hinter dem Hotel pflückte ich „Speik“, diese weiße duftende Bergblume, Kindheitserinnerung. Der Boden war schwarz, weich und feucht; und überall rieselte Schneewasser. Und dann hinab ins Tal. Und von da aus sogleich wieder auf den Pordoihjochpaß, Kristomanos-Schutzhaus, 2250 Meter. Da gab es gar keine Blumen mehr, wie herrlich. Der starre Sturm verbat sich alles Blühen. Er stöhnte und beherrschte! Wie wenn man als Kind eine große Seemuschel ans Ohr dicht anlegt, so brauste es. Nur sagt man in jenem Falle, das Tosen des Meeres sei in der Muschel eingefangen. Hier aber ist nichts eingefangen; man sieht das Brausen über die kahlen gelb-braunen Wiesen; ganz aus erster Hand vernimmt man den Sturm. Im wunderbar warmen geschützten Speisezimmererker nahm ich ihr Bild heraus (Kl. P.), betrachtete es lange. Ich dachte: „Mit dir hier zu sein!“ Aber es wird nie, nie, nie, nie sein — — —. Wie schade. GESANG In allem hatte sie treffsicheres Urteil. In allem. Nur sein Gesang gefiel ihr, obzwar die Töne wie laues Regenwasser seinem geziert ovalen Mund enttropften. Er sang mit ihr, sie spielte das Klavier, er sang _für sie_! Und deshalb fand sie seine Stimme lieblich, obzwar sie selbst das C-moll-Adagio Beethovens unaussprechlich zärtlich spielen konnte, und für alles _sonst_ aristokratisch-feine Ohren hatte. Und einmal sagte sie zu mir: „Ist es Ihr Ernst, daß Sie seine Stimme für tonlos halten, oder steckt da etwas dahinter, Lieber?!“ „Es steckt etwas dahinter!“ sagte ich, „das Vorurteil des dummen Weibchens!“ SOUPER Es war ein Nichts — — —. Immer ist es ein _Nichts_, aus dem zuletzt ein _Etwas_ wird! Törichte Frauen, die ihr mit dem Leben _tändelt_, mit _uns_ und mit _euch selbst_! Er sagte einen dummen Scherz, so um den Bann zu brechen öder Stimmung. Da gossest du aus deinem Glase ein wenig Wasser ihm auf sein Gewand — — —. „Zur Strafe!“ sagtest du lächelnd. Koketter Kerkermeister! Jede Intimität ist eine _perfide_ Brücke zu einer Seele oder zu unedleren Teilen. Er fühlte sich geehrt durch das Begießen, und seine Augen sagten gleichsam: „Es kam von dir!“ Es war ein _Nichts_ — — — immer ist es ein _Nichts_, wie Frauen nämlich denken, ein Nichts, das uns tief _unglückselig_ macht! DIE WAGENFAHRT Alle sagten zu ihm sehr bald „Herr Peter“ oder „Peter“. Aber sie sagte nach langer Bekanntschaft „Herr Altenberg“. Er schrieb ihr das. Sie sagte weiter wie bisher: „Herr Altenberg“, obzwar er eine zärtliche Freundschaft für sie hatte. Eines Tages fuhren sie im Wagen durch seine geliebte Berggegend. Da erzählte sie von der Krankheit ihres Kindchens, erzählte, weinte, erzählte, weinte, verstummte. Er sagte: „Ich liebe hier jeden Strauch, ich kenne jeden Acker, jeden Wiesenzaun — — —.“ Beim Abschied sagte sie: „Adieu, Peter — — —.“ WAGENPARTIE Herr Dr. P. sagte vormittags zu mir: „Darf ich Sie für den Nachmittag zu einer Wagenpartie einladen in Ihren geliebten Ort ‚Mürzzuschlag‘?!“ „Bitte sehr,“ erwiderte ich. Nachmittags sagte der Hotelportier: „Soll ich Ihren Jagdhund in den Wagen bringen, Herr Doktor?!?“ „Selbstverständlich, wegen dem Hund mach’ ich ja überhaupt nur den Ausflug — — —.“ Ich hatte bisher gedacht, er mache den Ausflug „wegen dem anderen Hund“. Im Wagen sagte ich: „Sie, Ihr fetter Hund nimmt mir zuviel Platz ein,“ worauf ich demselben mit der vernickelten Spitze meines Bergstockes einen Stich in die Brust gab. Der Herr sagte: „Was tun Sie meinem armen Hunde?! Es ist ein echter englischer Pointer!“ Ich erwiderte, daß er zuviel Platz einnehme trotz alledem. Wir kamen an einem braunen Felde vorbei, begrenzt von kahlen grauen Buchenbäumen. Hier grasten fünf herrlich schillernde Fasanhähne. „Willy,“ sagte der Herr zu seiner Jagdhündin, eine Abkürzung für Wilhelmine, „Willy, da schau hin, Fasane!“ Willy schaute überall hin, nur nicht auf die vor ihm grasenden Fasanhähne. Wahrscheinlich sagt man von diesen Viechern nicht „grasen“, sondern irgend einen manirierten Jägerausdruck. „Dieser Willy ist ein so feuriger Jagdhund,“ sagte sein Herr entschuldigend, „daß ihn alles ablenkt. Sehen Sie dort in der Ferne die Krähe?! Die lenkt seine ganze Aufmerksamkeit auf sich, weg von den Fasanen!“ Ich dachte: „Er zahlt den Wagen, er zahlt den Wagen, er zahlt den Wagen — —.“ Wir fuhren an einsamen Schmiedewerken vorüber, in welchen geschmiedet wurde, an Holzsägewerken, in denen Holz zersägt wurde, an Mühlen, in denen gemühlt, pardon gemahlen wurde. Ich fühlte: „Hier sollte ein _Landerziehungsheim_ erstehen für die _moderne reifere Jugend_, Koedukation, wo man in der Natur selbst Anschauungsunterricht genießen könnte während einer Spazierfahrt. Zum Beispiel eine feuchte Wiese mit einem Graben lehrt uns das so wichtige „Drainage-System“ spielend leicht kennen. Denn wenn die Feuchtigkeit der Wiese sich in dem Graben ansammelt, so wird die Wiese selbst trocken. Eine Art von Wiesen-pot de chambre.“ Ich sagte dem Herrn Doktor, daß er, auch ohne ein echter englischer Pointer zu sein, im Wagen mir viel zu viel Platz einnehme, und ich ein nächstes Mal eine Einladung zu einer Wagenfahrt nur annehmen könne, falls er und sein Hund zuhause blieben. Er sagte, ich hätte reizende Einfälle und ich sei ein großer Künstler und Menschenkenner. Dies bestätigte ich. In Mürzzuschlag angelangt, fragte uns der alte Kutscher, der schon 50 Jahre lang hier fuhr und die Gegend nicht kannte, oder sich in Beantwortung nichtiger Fragen über Bergnamen usw. usw. nicht einlassen wollte, ob er „den Rosserln“ eine Jause verabreichen dürfe. Merkwürdigerweise figurierte die Jause dann bei der Verrechnung im „Café Semmering“ als Kaffee mit drei Stück Gugelhupf. Abends bei der Rückfahrt war es natürlich finsterer als bei der Hinfahrt nachmittags, was der Landschaft einen „eigenen, neuartigen, undefinierbaren“ Reiz verlieh, den zu schildern ich aber modernen Dichtern überlassen muß. Indem alles im Nebel verschwamm, wurde es zusehends undeutlicher. Wir sprachen nun über das Wesen der „Frauenseele“, und ich behauptete, daß mir eine noch so sehr geliebte und verehrte Frau durch die Bezahlung bereits eines Kalbsgullasch mit Reis momentan unsympathisch werde. Er nannte mich infolgedessen „exzentrisch“, während ich es mehr auf „Lebenskunst“ zurückführen möchte. Beim Anlangen in unserem heiligen Berghotel sagte ich: „Also, es bleibt dabei, morgen einen Wagen ohne Sie und Ihren echten englischen Pointer — — —.“ „Nein!“ erwiderte er kurz und bündig. ABSCHIEDSBRIEF DES ENGLISCHEN OFFIZIERS PAUL AUS LONDON: „Ich kann es mir nicht vorstellen, daß Du, geliebteste Frau, irgendwo anders glücklich werden könntest als in England und bei englischen Freunden. Allein _Dein_ Wunsch ist für mich over all! Du bist eine _Engländerin_. Deine Seele, Dein Denken, ja _Dein Glück_ ist _englischer Natur_. Du begibst Dich in eine _strange world_. Man wird Dich gut behandeln, and but you will bekome ill and newer knowing from what. Wenn Du also einmal eine Stütze brauchst — — — nun, du weißt ja übrigens alles. Paul.“ WIE IST ES?! Wie ist es?! Soll man ein besonderes schönes Mädel, in strenger, grauer Härte halten!? „Immer zu früh noch wird man sie verwöhnen“, fühlen die Eltern. Siehe, eines Tages strömt plötzlich das Licht herein der Bewunderung, das ihre ungewohnten Augen blendet, schädigt! Wäre sie gewohnt, seit ihrem zehnten Lebensjahr, an dieses Licht des Lebens, ertrüge sie nun das gesteigerte blendende, in edler Fassung und dankbar gerührt! So aber?! VOM RENDEZVOUS Sie ging den steilen Wiesenpfad hinab, zum Rendezvous. Ich sah braune Stauden ihre Röcke streifen. Ich sah ihr nach. Bald kam Himbeergebüsch, das sie begrub. Um 1/4-1 sollte ich sie erwarten. Sie kam zurück, von Küssen ganz bedeckt. Wie wenn die rechte Hand geheiligt wäre, reichte sie mir die linke, die ich an die Lippen hielt, solang bis Wehmut kam und übertropfte — — —. EXAMEN Ich unterwarf sie einer strengen Prüfung: Die Hände?! Vollkommen Die Augen?! „ Die Stirne?! „ Die Schultern?! „ Die Füße?! „ Die Zehen?! „ Die Stimme?! „ Die Bewegung?! „ Der Teint?! „ Die Seele?! „ Die Intelligenz?! „ Die Brüste?! Nicht vorhanden. Endresultat: Vollkommen! LES LARMES Also, nach vielen Jahren, habe ich wieder geweint. Freilich war es bei dem Liede von Johannes Brahms: „Sapphische Ode“. Aber ich hätte nicht geweint, wenn ich sie nicht kennen gelernt hätte — — —. Ich wäre entzückt gewesen, gerührt, ergriffen. Aber geweint hätte ich nicht — — —. Also weinte ich dennoch _ihretwegen_! TESTAMENT Er hatte in sein Testament (der Ertrag seiner neun Bücher nach seinem Tode) die 12jährige Schönheit mit der jauchzenden, klingenden, bezaubernden Stimme eingesetzt. Aber da sie Millionärstöchterlein war, hatte er bestimmt, daß von dem Gelde sogenannte „Geschenke eines Verstorbenen“ zu kaufen seien, _außergewöhnliche_ Dinge, z. B. eine besondere Bergkristalldruse, oder ein besonderes holzgeschnitztes Christuskreuz. Da erfuhr er, daß man eine Kollekte gemacht hatte im intimen Kreise für einen Winterrock seines Bruders, eines modernen Diogenes. Da stieß er das Testament um, bestimmte nur, daß der Bruder an jedem 9. April, dem Geburtstage seiner kleinen Heiligen, derselben eine exzeptionelle Sache als „Geschenk eines Verstorbenen“ zu senden habe! Der Bruder dachte Tag und Nacht über solch ein Geschenk nach. Da schrieb die Heilige: „Ich will Ihnen Ihre Mission erleichtern. Schenken Sie mir nur das Manuskript des „Ein schweres Herz“. Er nahm es aus dem Schreine von gelbem Eibenholz, küßte es innig, und schickte es fort. Er fühlte: „Ich bin der Vermittler eines _letzten Willens_. Sie hat mir meine Aufgabe _erleichtert_, indem sie sie erschwert hat! Nur _Opfer belohnen_ sich! Ich hatte schon eine herrliche Bergkristalldruse aus den Tauern erstanden, mit Kristallen wie geschliffenes, gefrorenes Bergwasser. Aber das ist nun also für den nächsten 9. April!“ Sie schrieb: „Nun habe ich das Herz Ihres Bruders!“ „Nein“, fühlte er, „ich habe es, indem ich es _weggegeben_ habe!“ ACONITUM NAPELLUS In meiner letzten Verzweiflung körperlicher Qualen nahm ich _Aconitum Napellus_. Ich hatte ihn vor acht Wochen blühen gesehen, auf dem Wege von Schluderbach nach Misurinasee, von dort nach „Tre croce“, von Kortina auf den Falzaregopaß. Überall hatte ich diese giftige Bergblüte gesehen, oft in Mengen wie kleine Felder. Und eigentümlich haftete mein Auge auf diesen Blüten, als ahnte ich, daß ich sie bald in meinem Zimmerchen als winzige durchscheinende Kügelchen, als letzte Hoffnung sterbender Nerven schlucken würde! Damals erlebte ich sie als Zeichen der Bergflora, neben Rhododendron und Legföhre. Wie romantisch kam mir die Blüte vor in ihrer mysteriösen Giftigkeit. Nun aber schlucke ich zwei Pillen, viertelstündlich. Wird es nützen?! Ich gedenke der herrlichen Tage, da ich die Blüte bewundern durfte, in Höhen, wo es karg ist und der Nachtsturm braust — — —. MANÖVERS Die Herren „_Verehrer_“, die wie Toreros aussehen oder wie kühne Cowboys oder wie französische Ritter aus dem 18. Jahrhundert, sei es von des Buges ihrer Nase Gnaden oder von Schneiders; die treten selbstsicher-nonchalant auf, sitzen oft mit dem Rücken gegen die Dame und sagen sogar, daß dieser oder jener Spaziergang ihnen _nicht_ konveniere und sie es daher _vorzögen_, sich _nicht_ anzuschließen und lieber in Ruhe ein gutes Buch zu lesen! Wenn man eine schöne Nase hat, kann man das allerdings wagen. Aber die Mißgewachsenen müssen eine andere Taktik einschlagen. Pakete tragen, Schirme aufheben und zu allem „Amen“ sagen, ist ihre kleine, süße Aufgabe. Auch damit kann man nette Erfolge einheimsen, und Opfer sind für „Opferfähige“ nicht allzu groß. Im ganzen genommen sind die armen Damen von einer wohlberechneten „Routine“ umgarnt, wie die italienischen Singvögel von den feinmaschigen Netzen. Selten schlüpft eines der herzigen Vögelchen durch, durch die engen Maschen, die ihrer Eitelkeit gelegt sind. In dieser Gesellschaft von Eroberern sticht besonders hervor der immerhin seltenere „_Salonplattenbruder_“, der „seelische“ Messerstecher. Er sticht gleich in die _Ehre_, in den _Ruf_, in das _Glück_ hinein, macht sich nichts aus drei Monaten Kerker, wollte sagen, aus Frauenverachtung. Diese „Verachtung“ sind seine „Geschäftsspesen“. Dafür hat er sie „gehabt“! Einer drang um 1 Uhr nachts in das Zimmer ein: „Ich sage in jedem Falle morgen, Fräulein, daß Sie mich bestellt haben! Also ist es schon ganz egal für Sie!“ Das leuchtete ihr ein — — —. GIFT Es gibt ein Gift, das ewig wirkt, ja sich vertausendfacht in seiner Wirkung durch unablässiges Erinnern. Das sind die deplaziert liebenswürdigen Worte der Geliebten zu fremden Männern. Es ist ja richtig, sie hat sich nichts Besonderes dabei gedacht. Doch weshalb hat sie nicht an das Besondere gedacht, uns tief zu quälen?! Ihre gekränkte Miene bei unserm Vorwurf kann uns nicht eines Besseren belehren, so daß wir tief zerknirscht von hinnen schleichen. Ein jeder Apotheker _ist verpflichtet_, das Gift zu kennen, das er uns reicht! Und so die Frau. _Will_ sie uns vergiften?! Vielleicht, für Augenblicke, um uns dann, in ihrer Gnade, Gegenmittel zu verabreichen! Erinnern ist ein Gift, das ewig wirkt, und sich vertausendfacht in seiner Wirkung, durch unablässige Erinnerung! LUFTVERÄNDERUNG Es ist merkwürdig, wie sich Familienangehörige in Kurorten begrüßen, die vielleicht kaum acht Tage lang getrennt waren voneinander. Als ob sie von einer _monatelangen_ Weltreise gekommen wären! Ein ganz neuer Ton von zärtlicher Freude, von intensivstem Interesse wird angeschlagen. „Findest du unser Püppchen besser aussehend, Papa?“ — „Na, ich bin noch nicht so ganz zufrieden, sie ist halt ein ‚Zarterl‘, was, Minnerl?“ — „Kinder, laßt euch in euren Gewohnheiten (von _acht_ Tagen) ja nicht stören, ich werde mich allem akkommodieren (alter Jesuit!).“ „Baby will hier das zweite Ei zum Frühstück nicht essen, ich habe ihr gedroht, ich würde es Papa melden (haste wichtige Meldung!), wenn er kommt!“ — „Nun, das macht wahrscheinlich die Luftveränderung!“ In besserer Luft kann man also kein zweites Ei essen? Auch die Bonne wird netter, rücksichtsvoller behandelt als zu Hause. „Was, Marie, hier ist es schön?“ — „Bitt’, gnä’ Herr, ja — — —.“ Eine ewige Sorge um Paletots, Jacken, Schals, als ob alle plötzlich tuberkulös geworden wären. „Annie häkelt hier (weshalb plötzlich hier?) schon so nett, sogar ohne Aufforderung (sie scheint also hier zu verblöden!).“ — „Schlaft ihr hier nach dem Speisen?“ Auf einmal weiß er nicht, ob seine Familienmitglieder schlafen oder nicht. Die Luftveränderung scheint ihm nicht gut zu tun, dem Erhalter und Ernährer. Man verkehrt miteinander wie Fremde bei einer Jour-Jause. „Angenehme Nachrichten?“ fragt man bei der Morgenpost. Der Kassier ist ihm durchgegangen. „Alles in schönster Ordnung zu Hause, mein Täubchen!“ Der Arzt hat nämlich gesagt: „Zwanzig Bäder kosten zweihundert Kronen. Aber vor allem keinerlei Aufregung, darauf muß ich strengstens bestehen!“ Nämlich auf den zweihundert Kronen. EIN NACHTRAG Ich habe letztes Mal, wahrscheinlich vor einigen Jahren, etwas geschrieben zur „Psychologie der bürgerlichen Liebe“. Es war ein „Torso“. Wenn ich nur wüßte, was ein Torso ist. Aber viele einsichtsvolle Menschen sagten es mir direkt ins Gesicht hinein, daß es ein „Torso“, wenn auch ein sehr wertvoller, gewesen sei. Nun, infolgedessen muß ich die Nachtragsbemerkung machen, daß „jemanden wirklich zärtlich lieb haben“, unmöglich eine _fortdauernde_ Sache sein könne, sondern eine durch _Haß_-, _Verachtungs_- und vor allem _Gleichgültigkeits_-Stadien (Stadien ist gut!) unterbrochene, sagen wir, sogar angenehm unterbrochene Angelegenheit der Seele und der übrigen verfügbaren Sinne sein müsse! _Man kann niemanden auf die Dauer gleichmäßig gern haben_! Das sollte in goldenen Lettern auf der Fassade eines Venustempels prangen, in deutlicher Adolf-Loos-Schrift, so wie von Vorzugsschülerinnen in Schreibheften! Die bürgerliche Gesellschaft will etwas äußerlich, à tout prix (das ist französisch!) erzwingen, was es in der Welt aber tatsächlich nicht gibt! Nämlich eine _anständige Stetigkeit und Verläßlichkeit_ der _Gefühlswelt_, ja sogar der Sinnenwelt, was eine _noch entsetzlichere Stupidität_ ist! Die „Mehrheit“ will uns eben _blöde machen_! Strindberg ist tot, Ibsen, Björnson, Tolstoi. Ja, da müssen _wir Flöhe_ uns halt aufraffen, und stechen und Blut saugen, wo und wie wir nur es können! Wir können auch _verwunden_, _ohne_ Genies zu sein! Wir haben den _gesunden_ _Menschenverstand_! Das ist auch eine Waffe, wenn auch eine zartere, liebenswürdigere als die Maximkanonen der Genies, die meistens doch nur Idioten waren! Und ich sage euch daher, ihr _Glücklichen_, ihr wart niemals auch nur eine _Stunde lang_ wirklich glücklich! _Geschäfte_ habt ihr gemacht und _Bilanzen_ berechnet! Ihr „_Aktiven_“ seid ewig „_passiv_“ gewesen! BUCHBESPRECHUNG Ich habe mir das Buch schenken lassen vom Verlag J. J. Weber, Leipzig: „_Rosen und Sommerblumen_“. Ich lese es, ich betrachte die 160 Photographien, wie ein Werk von Maeterlinck! Jede Rose erblüht mir, als wandelte ich in einem Märchengarten. Alles wird Wirklichkeit. Ich sehe die Kletterrosen über alle Mauern, Wände, Gitter sich hinaufschwingen, blühend rosigweiße Pracht verbreitend über kahle, harte, notwendige Dinge! Ich sehe das Kletterröschen: „Maidens blush, Mädchens Erröten“, ich sehe die Immergrünrose: „Félicité et perpétuité“. Ich sehe „soleil d’or“, goldgelb mit rosigen Rändern. Ich sehe „Memorialrose“, für Grabdenkmäler, „Minnehaha“, die mich an Wedekinds herrliches Buch erinnert, das von der Nackterziehung erlesener Geschöpfe handelt, ich sehe die Rose „Katharina Zeimet“, mit _Wildrosencharakter_, wie manche scheinbar zarte Frauen, die Rose „Konrad Ferdinand Meyer“, die „Beauty of the Prairies“, die weiße Rose „Frau Karl Druschki“, die Bourbonrose „Souvenir de la Malmaison“ (in der Todesstunde getauft der Kaiserin Josefine). Ich sehe Rankrosen in düsterem Hohlweg glühen; Crimson Ramblerrose in riesigen rostrot lasierten ausgebauchten Töpfen, Japan vorzaubernd und seine Gärten; _vergeblich_ suche ich eine Rose „Kronprinzessin Cecilie“! Rosenzüchter, _dichtet mir_ in der ganzen weiten Welt eine Rose, die dieser _Herrlichsten_ wert wäre! „Kronprinzessin Cecilie“, du müßtest einen Platz erhalten im Garten, daß man schon von weitem deine deutsche und dennoch _internationale_ Pracht verspürte! AN — Ich liebe dich — — —. ’s ist keine Frage mehr. Solange ich dich sah und sah und sah, und sah, _wußt_’ ich es nicht, _konnt_’ ich es nicht wissen! Nun, da ich dich den ganzen Vormittag nicht sah, zum _ersten Male_, und ich auch nicht weiß, ob ich des Abends dich _wiedersehen_ werde, _nun_ ist die Bangigkeit in mir! Mit wem bist du?! Wer nützt die Pause aus?! Kommst du vielleicht jetzt eben zur Besinnung, daß es noch heißere Leidenschaften gibt als die meiner Bewunderungsblicke?! Oh, wärst du hier, ich sänke dir zu Füßen, du würdest spüren, was ich bisher nicht wußte, und was doch war, vom ersten Tage an — — —! Und was du vielleicht wußtest, eh’ es war! Was liegt dir dran, vielleicht freut es dich doch! NEKROLOG (FRITZ STRAUSS) Siehe, es sind schon Leute gestorben, denen ich hätte nachtrauern sollen, und ich tat es nicht. Andere wieder sind noch am Leben und ich wünsche ihnen — — — nur nicht gleich fluchen! Aber um einen mir verhältnismäßig ganz Fremden trauere ich jetzt. Erstens sehe ich gar nicht ein, weshalb gerade ein 24jähriger Millionärssohn weggerafft werden soll, der genug Kultur hatte, Geld in _wirkliche_ Werte, ohne Pflanz, umzuwandeln. Zweitens besaß er Humor, obzwar er wußte, daß es mit ihm schief gehen könne bei einer zweiten Operation. Er war ein „_Gentleman-Musical-Clown_“, so benannte ich ihn sogleich. Jeden Abend nach dem Souper erfreuten er und Herr H., der es auch „nicht nötig“ hatte, das elegante Publikum des Sanatoriums „Wolfsbergkogel“ mit ihren unübertrefflichen Knock-about-Einfällen, bei Klavier und Violine. Sie ersetzten eine ganze Varietévorstellung. Die reichen Damen vergaßen ihrer Leiden, was ihnen umso leichter fiel, als sie gar keine hatten; die kranken Herren vergaßen, den kranken Damen den Hof zu machen. Das Lachen war da, das Lachen, in diesen heiligen, ernsten Gesundheitsräumen, und die Langeweile der _Liegekuren_, dieser neuen Art, sich noch mehr auf sein armes Ich zu konzentrieren, war vergessen, gelöscht! Ich bat den jungen Mann, doch ja als „Gentleman-Champion“ in großen Varietés, ohne Gage, aufzutreten, und er sagte es mir lächelnd zu. Nun ist er tot. Um den trauere ich. 24 Jahre alt, unabhängig, mit Humor gesegnet, begnadet, gutmütig, bescheiden. Der hätte _bleiben_ dürfen! Nur der! ERSTER SCHNEE 12. September 1912. Es regnete und es schneite zugleich. Der Sonnwendstein war bedeckt mit Schnee. Das war ein Lokalereignis. Jedermann besprach es eifrig. Die herrliche 14jährige, wie eine Venetianerin aus dem 18. Jahrhundert, stellte sich an die Fensterscheibe und sah hinaus. Alles andere ward sogleich dagegen lächerlich und gleichgültig. Für sie war Schnee gefallen auf dem Sonnwendstein, denn sie interessierte sich dafür. Ich hätte ihr zwei Meter hohen Schnee gewünscht, ganze weiße Hügel und Abgründe, damit sie sich besser amüsiere bei dem Anblick! Sie sah hinaus, und ich beneidete die Fensterscheibe um den Hauch ihres unbeschreiblich schön modellierten Mundes. Überall zogen Nebelfetzen dahin, dorthin, zerfetzten, verwischten die Landschaft, ertränkten sie in Grau. Das junge Mädchen begann sich zu langweilen. Es wird ein öder Tag werden in diesem Berg-Hotel. Mir erschien er licht und wertvoll! Sie setzte sich hin, um mit einem Kinde ein Spiel mit gelben, grünen, lila Würfelchen zu spielen. Sie ließ das Kind absichtlich gewinnen. Das Kind sagte: „Mit dir spiele ich nicht mehr, du spielst zu schlecht, immer verlierst du, du Ungeschickte!“ DER MALER Die kleine 6jährige Tatarenkönigin Sonja D. sagte zu dem Dichter, der sie anbetete: „Mein Bruder Bogdan und ich, wir schlafen immer mit einem geöffneten Jagdmesser, einem Kindergewehre für Schrot und einer Pistole mit echten Kapseln, unter dem Kopfpolster! Aber die Banditen wollen nicht kommen, sich abschlachten zu lassen! Die Feiglinge!“ Der Dichter nahm das vergötterte Königinchen in seine zärtlichen Arme — — —. Der Maler kam. Da sagten die Damen: „Was finden Sie denn so Besonderes an dieser 6jährigen Sonja Dungyersky, die Sie jetzt malen für 500 Kronen? Sie ist doch viel unliebenswürdiger, eigenwilliger, unsanfter als die meisten anderen reizenden Kindchen hier?“ Der Maler: „Ich male sie von heute an _umsonst_, verstehen Sie mich, _umsonst_! Für mich und für _die Welt_! Also ausnahmsweise diesmal _nicht_ umsonst! Ich werde sie malen auf einem niedrigen, schmiedeeisernen, schweren Throne, mit ihren braunen Gazellenbeinen und ihren braungoldenen Locken! Umgeben von gebleichten Tatarenschädeln! Einer muß an einer goldenen Kette herabbaumeln und in einer Ecke muß ein Jüngling den grünen Giftbecher trinken und sie anblicken. Das Ganze heißt: ‚Kleine winzige Tatarenkönigin, Wildkatze, Besiegerin!‘ Wie aus einer entschwundenen Zeit von Kraft, Trotz, Schönheit, Unbesiegbarkeit stammt sie, und dennoch könnte man über ihre Anmut, über ihre Stimme, ja über ihre zarten Handbewegungen allein schon tagelang weinen und sich momentan hinopfern!“ So sprach der Maler; und die Mütter der wohlerzogenen, folgsamen Kinder erbleichten und schlichen fast krank von dannen! Am nächsten Tage schrieben sie: „Wollen Sie unser Kindchen für 2000 Kronen malen?“ Und er schrieb zurück: „Nein!“ Aber am dritten Tage schrieb er zurück: „Ja!“ Und er malte die Kindchen und alle Tanten und Kusinen, und die Großeltern waren entzückt!: „Ja, ja, so ist unser Schätzchen, unser liebes, goldiges Geschöpfchen! Die Sanftmut schaut ihr aus den Augen heraus — — —!“ Ja, es waren _sanfte Kälber von dummen Kühen_, richtig porträtiert! Und ein jedes Kälbchen kostete 2000 Kronen, billigst berechnet! Aber das Tataren—Königinchen Sonja Dungyersky, auf schmiedeeisernem breitem kurzem Throne, hatte er „umsonst“ gemalt. Und die Damen sagten: „Il s’est moqué de vous, Madame Dungyersky!“ Aber die Großmama stand lange lange vor dem Bilde. Nie sprach sie ein Urteil aus. Aber oft stand sie vor dem Bilde und starrte es an, an, an. Und eines Tages sagte sie: „Pour les étrennes, donnez moi l’image! Ce n’est rien pour vous. Vous êtes trop jeunes et trop vieux! Il faut pouvoir songer tout à la fois dans le passé et dans l’avenir!“ BETRACHTUNGEN Der Schlitten war leicht wie eine Nußschale, aus braunem Stroh; die Landschaft prangte weiß in weiß, die roten Ebereschen und die bunten Gimpel, die schwarzen Krähen bemalten sie diskret und vornehm, fast nach japanischem Geschmacke. Ich sprach mit der edlen Dame über zarte Dinge des Lebens. Die edlen rehbraunen gedrungenen Pferde gaben die bekannten Verdauungsgeräusche von sich, schienen also nicht nach „Prodromos“ sich zu ernähren, sondern viel Unnötiges, Beschwerliches zu sich genommen zu haben, wie Hafer samt den Spelzen, fi donc! Wir überhörten gleichsam diese Geräusche, und dennoch kam es wie „_allgemeine Unzulänglichkeit_“ der Lebewesen über uns, eventuell sogar fanatisch geliebter Damen. Ich liebte einst ein wunderbar schönes 13jähriges Schlossergesellentöchterchen, die mir einst sagte: „Behalten’s Ihre Briefe, es steht ja eh immer nur dasselbe drin, ich weiß schon, Sie haben wieder wegen mir die ganze Nacht geweint! Hab’ i Ihnen was angetan?! Na also, nur g’scheit sein! Kaufens mir lieber 1/2 Kilo Ringlotten, wann’s mich schon so gern haben!“ Bei einer solchen Gelegenheit ließ sie dann in der herzlichsten Weise kleine kurze fast piepsende Geräusche hören, infolge des Ringlottengenusses. Ich sagte: „No, no, was sind denn das für Liebeserklärungen?!“ Sie erwiderte: „Ah da schau’ her, wär’s Ihnen lieber, i sollt’s in mein Baucherl behalten, daß’s mich druckt?! A schöne Lieb’ is das!“ UR-SEELE „Herr Peter“, sagte die herrliche 5jährige zu mir, „weshalb beschenken Sie Stella immer?! Stella gehört mir, ich bin eifersüchtig.“ „Auf wen?!“ „Auf überhaupt — — —.“ „Du solltest dich doch darüber freuen, wenn Stella beschenkt wird?!“ sagte ich. „Ja, ich sollte. Aber ich freue mich eben nicht, sondern ich bin nur eifersüchtig!“ „Würdest du Stella dieselben Geschenke nicht geben, wenn du Geld hättest?!“ „Nein, Stella soll mich von selbst lieb haben. Ich habe sie auch von selbst lieb, sie braucht mir gar nichts zu schenken!“ „Aber Kind“, sagte die Großmutter, „du bist sehr herzlos und ungezogen!“ „Aber was braucht der Herr Peter meine Stella zu beschenken?! Meine Stella gehört mir, sie braucht nichts geschenkt, ich habe sie lieb!“ „Du solltest dich freuen, wenn — — —.“ „Ich sollte mich freuen, ich sollte mich freuen, aber ich kränke mich!“ Sie weint. Worüber?! Niemand weint umsonst — — —. FRAGE Was ist ein Dichter?! Einer, der _schon w_einen kann, wenn _noch_ die andern trockenen Herzens sind — — —. Einer, der die sechsjährige Prinzessin Sonja Dungyersky so zärtlich lieb hat wie die eigene Großmama sie lieb hat! Einer, der abends im Gebirge den eingefangenen Oleanderschwärmer auf das einzige Oleanderbäumchen setzt im Garten, das ihn aus ferner Ebene hierherverlockt hat! Einer, der die braune Nacktschnecke behutsam vom Waldweg ins Gebüsch trägt — — —. Einer, der Rosen schenkt und sie bezahlt mit seinem Nachtmahlgelde — — —. Einer, der die geliebte Hand berührt und dabei Hochzeitnächte spürt von Seligkeiten! Einer, der leidet, leidet — — — und alle sagen: „Was fehlt ihm denn zu seinem Glücke?!“ Einer, der die Schale kauft, aus der sie Kakao getrunken hat. Einer, der ein „innerer Bombenwerfer“ ist, und dabei doch so sanft, so mild _verständnisvoll_ für alles! Einer, den alle _verlachen_, und um den sie trauern, wenn er _nicht mehr_ ist! LETZTE UNTERREDUNG „Peter, was ist Ihnen?! Sie schauen so verzweifelt aus, und vor allem so bleich — — —.“ Er schweigt. „Peter, ist es wegen des jungen Architekten?!“ Er schweigt. „Peter, Sie lieben mich seit meinem 12. Lebensjahre. Von Eltern, von Gouvernanten, vernahm ich nur: ‚Du mußt, du sollst!‘ In _Ihren_ Augen lag von jeher eine unermeßliche Zärtlichkeit. Das darf ich Ihnen nicht vergessen, Peter. Es war der Lichtblick meiner düsteren Kindheit. Und oft wenn ich dachte: Wozu bist du?! da dachte ich sogleich: Er hat mich lieb! Von Ihrem Blicke lebte ich, das sag’ ich Ihnen nun.“ Er senkt das Haupt — — —. „Peter, ich kann erst ganz glücklich sein, bis Sie mich wieder anschaun, lichten, liebevollen Antlitzes, wie eh und je — — —.“ Da schaute er sie an, an, an, lichten, liebevollsten Antlitzes, wie eh und je, so wie sie es brauchte und verlangte — — —. Ihr, Ihr zuliebe, damit sie wieder schimmere, leuchte, in ihren schlimmen Koketterien! DIE NIERE Zu den wahrhaftigsten und mich aufrichtig rührenden Opfern, die ein Mann einem geliebten Weibe bringt, rechne ich es immer, wenn er beim Nierenbraten die Niere _ihr_ überläßt, vorausgesetzt natürlich, daß er sie selbst gern ißt. Aber wer äße die Niere nicht gern?! Diese Niere ist überhaupt so ein sicherer Thermometer in Liebessachen. Zum Beispiel: „Otto, weshalb ißt du denn die Niere nicht?!“ — „Ich esse sie, und noch dazu am liebsten, deshalb lasse ich sie mir für zuletzt!“ — „Ach so,“ erwidert Hermine enttäuscht. Oder: „Max, du ißt ja die Niere doch nicht!“, und hat sie schon in ihr Mündchen gesteckt, während Max nichts im Halse stecken bleibt als das Wörtchen: „O doch!“ Oder: „A schöne Lieb’, frißt die Niere selber auf, da schau’ der an da!“ Diejenigen Herren jedoch, die „das Opfer der Niere“ bringen, tun es auch meist ziemlich _geschmacklos_, indem sie innerlich sich anstellen, als hätten sie jetzt Anspruch auf Dankbarkeit und Treue ihr ganzes Leben lang! Nein, dem ist _nicht_ so. Die Damen nehmen gern die Leckerbissen an, die man ihnen spendet, aber sie haben die richtige Idee, daß solche Selbstlosigkeiten sich durch das Gefühl eines höheren Wertes, das man von sich selbst bekommt, reichlich belohnen! Wozu also die Sache überzahlen?! KRANKHEIT Wenn man körperlich sehr, sehr leidend ist, so zerquetscht, dann wird man erst wie der „_Normalmensch_“! Man wird reduziert auf das „_allgemeine Maß_“! Da sieht man erst, wie schrecklich dieses ist! Pfui Teufel! Man könnte keiner ideal schönen Frau mehr, selbstlos exaltiert, zu Füßen sinken — — —. Man erwünscht sich eine „Gefährtin“, „Pflegerin“, „Teilnehmerin“. Für „_Seelen-Luxus_“ ist keine Kraft vorhanden — — —. Die Wiesen sind schneefrei und sogenannte „Palmkatzerln“, wie graue Seidenflocken, blühen an den noch blätterlosen Weidenbäumen. Das alles übt keinen Reiz mehr aus. Man sagt: „No, schon wieder ein Frühling; die 30 Lichtbäder im Sanatorium haben mir einen Schmarrn geholfen.“ Jetzt kommt der Frühling daher, und er geniert mich direkt — — —. Früher hab ich ihn angedichtet, mit der Kraft meiner unendlichen Seele — — —; jetzt kann ich nicht einmal mehr „heurige Radieschen“ vertragen. Was geht mich da der Frühling an?!? GÜTE Jeder Mensch, der irgend etwas begeht, und weiß es selbst nicht, daß er es falsch getan hat — — — siehe, an ihm geht es _dennoch_ schlimm aus! Er kann sich nicht entschuldigen mit seinem „_guten Willen_“, denn Gott berücksichtigt diesen _nicht_, sondern nur die „_edle Weisheit_“ einer jeglichen Betätigung! Der sogenannte „gute Wille“ ist eine schmachvolle _feige_ Entschuldigung, die in dem „Buche Gottes“ in das Minus-Konto eingetragen wird! „_Ich habe es gut gemeint_“, ist ein Zeugnis für „Selbstverurteilung“. _Meine es schlecht_, mein Lieber, aber _denke_ das _Richtige_! „_Güte_ ist Stupidität; es gibt nur eine einzige wahrhaftige Güte: _Weisheit_! Rate mir nicht, helfe mir nicht aus _Güte_; da kann ich leicht _dein Opfer_ werden. Rate, hilf mir aus eiskalter kristallklarer, unerbittlicher, adeliger _Weisheit_! Alle Menschen, die angeblich „zusammengehören“, machen es sich gegenseitig leicht, indem sie „gut“ sind. „Weise sein“, in bezug auf einen geliebten Menschen, das fällt ihnen zu schwer, das können, ja, das _wollen sie nicht_. Da könnten sie „in Konflikte kommen“, „mißverstanden“ werden; aber die dumme alberne leichtfaßliche Güte, die versteht ein jeder, erkennt sogar ein jeder Gleichgültige an. _Güte_ ist ein feiges _Seelenmanöver_, um _Idioten zu bluffen_! Die Idylle des Familienlebens, das Ehelebens, des Lebens zwischen Geliebten, besteht zu 70 Prozent daraus. „_Bin ich nicht gut zu dir, du Undankbarer?!?_“ ist die Phrase der „geschickten Kühe“, die damit die „ungeschickten Ochsen“ an sich fesseln! Mögen es auch noch so sehr in anderer Beziehung „Stiere“ sein — — —. ANNONCE Ich lese im „N. W. T.“ eine Annonce, die mit dick gesperrten Lettern beginnt: „_Bei Behandlung von Herzkrankheiten_ — — — — —“, und dann folgt die Anpreisung des berühmten „_Franz Josef-Bitterwasser_“, vor dem Frühstück (1/8 Liter) in _kleinen Schlucken_, _ganz langsam_, _absatzweise_, zu trinken! Nun meinen natürlich alle Leser, daß diese zu Anfang gesperrt gedruckten 4 Worte nur dazu dienen, den Leser „einzufangen“ und zu „verlocken“. Jawohl — — — nämlich zu seinem eigenen Heile! Denn die _vitale Nervenkraft des Herzens_ hängt von der minütiösen Sorgfalt, die man dem gesamten Verdauungsapparate angedeihen läßt, ab! Überhaupt, die Verachtung der „Annonce“ in einem großen Tageblatte, bloß weil der Fabrikant dabei verdienen will, ist kindisch! Man nehme nur diese täglichen Annoncen: Menthol-Franzbranntwein, Salz-Cakes, Sanatogen, Biocithin, Vegetabilische Nährsalze, Eau de Cologne 4711, Chocolat Suchard, Califig, Pears soap. Ewiges Mißtrauen ist schädlicher als ewige Gläubigkeit. Es muß erst ein Arzt in schwarzem Gehrock und funkelnder Brille dir ernst und gemessen sagen: „Nun, versuchen wir es einmal mit Sanatogen und Tamarinde,“ damit du, Ochs, Vertrauen schöpfest zu Dingen, die dir doch täglich morgens mit lauter Druckerschwärze gepredigt werden! Nur der, der _nicht_ annonciert, kann mir nicht nützen, denn ich weiß von ihm nichts! PLAUDEREI Es kommt der Augenblick träge herangeschlichen, da man nichts mehr wird schreiben können. Man hatte doch etwas zu sagen, was dem anderen nützte. Und wäre es nur: „Schlafet bei weit geöffneten Fenstern!“ Man hatte unbedingt eine Mission, eine winzige, eine nichtige Mission, aber eine Mission! Das hält einen in Zusammenhang mit allen Menschen, die man nicht kennt. Den Bekannten gegenüber hat man ja keine Mission. Für die ist man ein Narr oder ein Schwindler. Manche sagen sogar: „Nein, diese Ehre tun wir ihm ja doch nicht an!“ Wofür also halten sie uns?! Ich könnte meine Sachen widerrufen, aber Tausende würden sie als Wahrheiten in sich aufnehmen. Ich könnte es verkünden: „Nein, die Frauenseele ist doch nicht so, _wie ich sie sehe_!“ Aber Tausende würden jammern: „O, bitte, wir sind _doch_ so!“ Mein Talent war klein, aber mein Fühlen war groß. Die meisten haben kein Talent und kein Gefühl, nämlich für allgemeine Dinge, obzwar sie im besonderen, in ihrem trauten Nestchen, beträchtliche Gefühle aufbringen, die irgend jemandem mit Vor- und Zunamen recht sehr zugute kommen. Jemand schwärmte mir immer und immer von seinem Garten vor, schilderte ihn mit wirklicher Liebe und Begeisterung. „Ja,“ sagte ich, „aber auf der Strecke so und so der Bahn so und so habe ich einen noch viel schöneren Garten geseh’n.“ — „Und was haben S’ davon?!“ — „Nichts“, erwiderte ich. Es gibt Menschen, die schöne Gärten lieben, und es gibt solche, die _ihre_ schönen Gärten lieben! Das ist der ganze Unterschied. Na, und was haben s’ davon?! Nichts! RICHTIG Ich verkehrte mit einer sehr intelligenten, gebildeten Dame, die viel mit Aristokraten beisammen war. Da sagte mir eine andere Dame, mit der die Aristokraten _nicht_ verkehrten: „Peter, wenn Sie nicht der _Peter_ wären, würde die Dame auch _Sie_ nicht so oft in ihrer wunderbaren Equipage abholen!“ Ich erzählte das meiner Freundin. Sie erwiderte: „Sicherlich; weshalb sollte ich nicht lieber mit einem feinfühligen Dichter als mit einem Kommis beisammen sein wollen? Der Kommis kann gewiß ebenso intelligent und wertvoll sein, aber ich lerne ihn nur kennen als den, der mir Seide anpreist. Den Dichter kenne ich im voraus aus seinen Werken. Beide könnten mich im Nahverkehre _gleichmäßig_ enttäuschen. Aber von dem einen habe ich dann wenigstens seine _Werte_ noch in meinem Bücherschranke und kann bei der Lektüre vergessen, daß er ein gemeiner Kerl ist!“ REMINISZENZEN Eine angenehme Abwechslung während des Lernens war das Anzünden der Öllampe am Winternachmittage. Draußen sah man undeutlich graue Häuser wie fremde Welten. Da kam das Stubenmädchen und zündete die Öllampe an. Vorsichtig nahm sie die Milchglaskugel ab, den glänzenden Zylinder aus Glas. Sie drehte den bereits vormittags richtig abgeschnittenen Docht hoch mit der Messingschraube, legte zwei fadendünne harz-imprägnierte Hölzchen (eine ganz neue Erfindung der Technik) im Kreuz über den gelben Docht und zündete jene an den Enden an. Oft brannte der Docht, oft brannte er nicht. Endlich brannte er. Da stülpte das Stubenmädchen vorsichtig den Glaszylinder auf und dann die Milchglaskugel. Nun wurde noch ein wenig an der Messingschraube, auf welcher der Name „Ditmar“ und zwei Merkurflügel waren, hin und her gedreht, damit die Lampe nicht rauche. Endlich brannte sie mit einem dottergelben matten Schein. Da saß man denn, und schrieb die Einleitung zu dem Aufsatze: „Charakter des Wallenstein“: „Wenn wir die großen Helden vergangener Zeiten an unserem geistigen Auge vorüberziehen lassen — — —“ „Sie, Marie, der Docht raucht auf der linken Seite — — —“ „Aber junger Herr, das ist eine Sekkatur. Ich habe ihn heute vormittags ganz gerade abgeschnitten.“ Charakter des Wallenstein: „Auf der Höhe seiner Macht angelangt, überfiel ihn wie die meisten Sterblichen die Sehnsucht nach noch Höherem, Unerreichbarem — — —“ Die Lampe brannte mit dottergelbem, mattem Schein, und richtig, links rauchte sie ein wenig und schwärzte sogar den Glaszylinder an. WERTE Ich finde, daß die Dichter so „ästhetisch-sentimentale“ und übertrieben eingebildete, und von ihrer sogenannten Aufgabe, rekte „idée fixe“, besessene „Erzieher der Menschheit“ sind, die doch bis heute durch sie nicht um ein Stückchen _vorwärtsgekommen_, das heißt, _von irgendeinem Leid befreit_ worden ist! Die wirklichen großen Wohltaten jedoch übersieht man, hält sie für nichts und ist vor allem nicht dankbar. Als mein geliebter Vater 69 Jahre alt geworden war, gaben ihn sämtliche Professoren infolge von unheilbaren Alterserscheinungen für verloren, und meine Mama, die seit zehn Jahren tot ist, weinte sich die Augen aus. Da sandte ich meinem Vater zwei Schachteln „Tamar Indien Grillon“, mit der Aufforderung, _jeden Morgen_ vor dem Frühstück _unbedingt_ eine Pastille zu nehmen. Seitdem ist er ein _Jüngling_ geworden, ist 83 Jahre alt, hat nicht eine einzige Beschwerde des Alters. Verdauung jünglingshaft, ewiger Appetit, rosige Laune, Schlaf zehn Stunden ohne Unterbrechung. Er fühlt nicht, daß er alt ist. Sein einziger Kummer ist, daß er nicht mittags und abends, aus ökonomischen Gründen, besondere Leckerbissen haben kann, wie Rebhühner, Rehrücken kalt, kalte Poularden, Straßburger Gänseleberpastete, Kaviar, Krebse usw. usw. Er liest von morgens bis abends französische Romane (deutsche versteht er nicht, sie sind ihm zu „vertrackt“), ohne Augenglas, geht _nie_ aus seinem Zimmer, und bedarf _absolut keiner Bewegung_. Schmerzen, Melancholie, Schwächegefühle und Langeweile kennt er nicht. Jetzt schrieb er mir kurz: „Du, ich nehme noch immer pünktlich Dein berühmtes „Tamar“. Es ist besser als Deine Dichtungen; die sind für mich ganz unverdaulich. Du hättest doch vielleicht Mediziner werden sollen!“ SCHLAFMITTEL Paraldehyd, _Dir_ gilt mein Lied! Der Tag ist lang, mir ist so bang vor’m _nächsten_! Paraldehyd, _Dir_ gilt mein Lied! Ich glaubte stets, mein letztes Lied sollt’ einem Frauennamen gelten — — — versunken sind nun diese Welten! Mit _Medinal_ hätt’ ich die Wahl — — — indessen Paraldehyd bringt _tieferes_ Glück — — — ein längeres _Vergessen_! FAHRT Ich bin nicht gereist, ich weiß bis heute es nicht, wie ein Schlafwagen ausschaut, verstehe nichts davon, daß man nachts in seinem Bett, auf einem Kopfpolster, unter einer Decke und mit anderen nützlichen und bequemen Utensilien, durch die Welt getragen wird und morgens, ganz ausgeruht, irgendwo sich befindet, wo man, mit Respekt zu melden, noch niemals auch nur annähernd gewesen ist. Nun brachte man mich an einem frischen Julimorgen, per Automobil, 70 Kilometer die Stunde, nach _Wiener-Neustadt_. Alle Wiesen begossen uns fortwährend mit ihren Parfüms. Wind und Duft, das allein spürte man. Lioschka sagte nur einmal: „Wenn etwas geschieht, gehen die Splitter der Autobrille vorerst in die Augen und zerreißen sie!“ Dann nahm sie langsam die Autobrille ab. Dann sagte sie: „Ihre geliebten weißen Kartoffelblütenfelder! Früher habe ich mich nicht getraut, sie schön zu finden! Es hätte sich auch nicht für mich geschickt!“ Dann sagte sie: „Haben Sie auch den roten Mohn in den Wiesen gern, obzwar es ein Unkraut ist und schädlich für die armen Kühe?!“ Ich berührte leise ihre Hand in den hellbraunen Rehlederhandschuhen. In Wiener-Neustadt setzte man mich ab. Gerade fiel einer von einem Gerüste, brach sich das Genick. Ich kaufte mir Bergblumenansichtskarten und fünffarbige Hülsen für Bleistifte. Ich ließ mir ein Zimmer aufsperren im Hotel neben dem Bahnhof, um zu schlafen. Alle Bediensteten waren wie besorgte Kindermädchen, obzwar ich nicht nach „reichlichem Trinkgeld“ aussah. Aber der Schein trügt. Das ist vielleicht die letzte Philosophie dieser dienenden Menschen. Er ist vielleicht doch ein reicher Narr! Das letztere stimmte. Man brachte mir alles, das heißt zehn Flaschen Pilsner Bier. Das _ist_ doch alles! Ja und einen Roßhaarpolster. Wenn ich nur wüßte, weshalb man noch nicht auf polierten Granitsteinen schläft?! Diese Eiderdaunen aus zusammengedrückter Watte sind doch nur für die „Prinzessinnen in den Kindermärchen“! Wir Erwachsenen wollen hart schlafen, wie die Kaiser in ihren einfachen Feldbetten im Kriege. Amen. Ich erwachte und fuhr sogleich auf den Semmering zurück. Aus dem Dunst ins Gebirge. In _Pottschach_ stieg eine ein, in einem braungrün schillernden seidenen Bauernkostüme. Die hatte ein Gesicht wie eine 14jährige Eleonora Duse. Aber in Payerbach stieg sie wieder aus. Sie sah meinen Blick nicht voll Trauer und Verzweiflung. Besser für sie und mich. Vielleicht hätte sie gedacht: „Alter Hund!“ Die Lokomotive „pustete“, wie man zu sagen pflegt, in die Bergweltkurven hinauf. Man glaubt immer, daß sie es nicht überwältigen wird. Aber das ist ein laienhafter Irrtum. Sie ist dazu geschaffen, konstruiert und ausprobiert. Gerade so ist es wie mit der „unglücklichen Liebe“. Unser Herz ist dazu konstruiert. Manchmal zerbricht es. Das sind „unvorhergesehene Fälle“, die auch der genialste Maschinentechniker nicht vorausberechnen kann. Die Luft wurde immer frischer, und ich gedachte des genialen Erbauers dieser Bahn, Ritter von Ghega, der sie in die Felsen mit Gewalt hineinbohrte, damit der Naturfreund alles genieße, Abgründe, Urwälder, Ausblicke, kurz die Dekoration der Bergeswelten! Auf dem Semmering dachte ich: „In Pottschach ist eine eingestiegen, in einem braungrün schillernden seidenen Bauernkostüme. Weshalb hat sie meinen Blick nicht gesehen von namenloser Begeisterung?! Vielleicht hätte er sie geschützt vor dem Herrn so und so, dem sie jetzt unbefangen die Hand reichen wird zum „ewigen Bunde“?! Unsere Blicke sind nicht da, um zu „zünden“, sondern um zu „schützen“, vor Blicken, die „seelisch stargrau“ sind! Wir sind nicht da, um zu „erobern“, sondern um zu „schützen“! Ein jeder hat _seine_ Aufgabe im Leben! Er erfülle sie! LIED Die 15jährige Anna war sein Ideal. Strohgelbe leuchtende Weizenwogen ihre Haare! Franziska hieß die jüngere Schwester. Annas Lachen war wie tausend jubilierende Herzen — — —. Franziska hieß die jüngere Schwester. Immer war Anna vorhanden, in seiner Seele, _noch_ mehr, wenn sie _abwesend_ war — — —. Franziska hieß die jüngere Schwester. Anna bekam den „Scharlach“. Er wurde _bleich_. Franziska bekam auch den Scharlach. Anna genas — — —. Doch er blieb bleich. ABSCHIED Nun bist du fort — — —. Nun _wirst_, nun _kannst_ du mich nicht mehr _quälen_. Ich sehe deinen Blick nicht mehr, der ins Leere starrt, das heißt, auf _alle_ Männer, die _sich gerade finden_! Ich sehe nicht mehr, daß du frech „schachern“ willst, mit dem immerhin geringen Kapitale, das dir mitgegeben! Und daß du „Wucherzinsen“ begehrst für einen annehmbaren Leib! Ich bin _erlöst_, weil ich dich nicht mehr _sehe_. Was du _mir_ bist, kannst du _niemandem_ sein! Das aber kannst du erst verstehen, bis du _allen_, _allen nichts mehr_ sein wirst! ’s ist eine Frage nur der Zeit, der Monate, der Stunden — — —. Und ich kann warten. Ich habe die _Tränenkraft_, zu warten. Und wenn du _weinend_ zu mir flüchten wirst, werde ich, trocknen Auges, deine zerstörte Seele schützen, schirmen! Denn irgend etwas bleibt stets unzerstört — — —. GESPRÄCH MIT EINER BARONIN, EXZELLENZ-FRAU, ÜBER IHREN HERRLICHEN ZWÖLFJÄHRIGEN SOHN „Je crains déjà maintenant nuit et jour les femmes qui viendront _plus tard_ — — —!“ „Eh, madame, craignez donc les hommes qui viendront _plutôt_!“ ENTZWEIT Oft sagte ich ihr, was mir an ihr nicht recht war — — — ganz verzweifelt starrte sie mich mit bösem Blicke an. Ein Abgrund öffnete sich, meine Liebe und ihre Freundschaft aufzunehmen. Dunkel ward’s und kalt. Hilflos ist die Frau in solchen Augenblicken, glaubt stets sich etwas zu vergeben, falls sie milde wird, ergeben, fällt der bangen Stunde hilflos stumm anheim. Ich sagte: „Hörst du die Holzfäller, den Schwarzspecht, riechst du der feuchten Wurzelstämme braunen Moder, siehst du die Bläue des letzten Enzians, fühlst du meinen Schmerz?“ Sie sagte: „Mit solchen Reden wollen Sie mich versöhnen?!“ „Mit solchen Reden nicht, doch überhaupt. Und irgendetwas muß gesprochen werden, sei’s dies, sei’s jenes. Vielleicht findet sich ein Wort — — —. Es _muß_ ein Wort einfach _gefunden_ werden, das sich wie eine Notbrücke von meiner Seele zu der deinen spannt!“ Und sie: „Siehst du, du bereust — — —.“ „Ja, ich _bereue, daß meine Liebe_ größer als meine Sehnsucht, dich zu _bessern_, ist!“ GESPRÄCH MIT DER SECHSJÄHRIGEN SONJA DUNGYERSKY „Das ist ein Pastellstift zum Malen. Oh, ich weiß alles, sehen Sie!?“ „Alles, alles weißt du, angebetetes Kindchen, aber wie sehr ich dich lieb habe, das, das weißt du doch nicht — — —!“ „Und gerade das weiß ich. Sie haben mich sogar lieber als meine Großmama mich lieb hat — — —.“ GLEICH BEIM HOTEL Gleich beim Hotel, links von der weißen Straße ist eine abschüssige Wiese, die niemand betritt. Im Urzustande ist das vielfarbige Fleckchen. Auf roten Disteln wiegte sich der Distelfink, und graue Brennesseln bargen gelbe Schnecken. Es war ein Gewirr von braun und grau und weiß, mannshoch und dicht. Im Mondlicht lag es düster. Hier erschaute ich der holden Jahreszeiten holden Wechsel. Oberhalb wurde gebaut mit hunderttausend weißen Betonwürfeln, und unten war das Bahngeleise nach Triest. Hier aber, auf dem abschüssigen unzugänglichen Wiesenfleckchen, gab ein Monat dem anderen die Tür. Ein jeder kam in _seinem_ Prachtgewande. Und jeden grüßte ich dankbaren Blicks. Es war mein Kalender. Ich erkannte jeden Monat, jede Woche, ja jeden Tag an den Veränderungen. Als alles blühen _wollte_, sah ich es voraus; ich sah voraus, als alles sterben _mußte_! Wer wird dich nun betrachten, da ich fort bin?! Es _ist_, und ist dennoch _nicht mehr_ — — —. L’âme, c’est la nature, devenue _consciente_ de soi-même! Et puis: La nature _n’existe_ que lorsqu’on l’aime! GESPRÄCH MIT EINER WUNDERSCHÖNEN DAME VON 30 JAHREN „Nach kaum 14 Tagen wollen Sie schon wieder vom heiligen Semmering abreisen, Sie mit Ihren empfindlichen Nerven?“ „Ja, ich spüre es, daß der Semmering mir nicht hilft — — —.“ „Ein berühmter Homöopath hat gesagt: „O, Mensch, die Heilprozesse deiner Krankheit dauern _immer gerade so lange_, als du Zeit gebraucht hast, sie _durch deine Sünden zu akquirieren_ — — —!“ „Mein lieber Herr Altenberg, 16 Jahre lang kann ich nicht auf dem Semmering bleiben!“ PLAUDEREI Ausspruch eines fünfjährigen Mäderls: „Wenn man alleweil brav ist, wissen die Leut’ dann gar nicht mehr, ob man noch auf der Welt ist!“ Die Eltern tragen mir ununterbrochen Anekdoten über ihre vergötterten Kindchen zu. Sie sind tief überzeugt davon, daß es gerade mich interessiere! Ich interessiere mich auch wirklich _dafür_, daß sie alle _so tief überzeugt davon sind_, daß ich mich dafür _interessiere_! Denn diesen schönen Schein zu erwecken, heißt eben ein Dichter sein! Und als das möchte man doch gerne gelten, wenn man schon weder Beruf noch Geld hat, nicht?!? „Mein Knabe sagte mir gestern“, „mein Mäderl sagte mir vorgestern“, höre ich alle Tage zehnmal. Ob eines dieser kleinen Mistviecherl einmal zu der reichen Mama den genialen Ausspruch täte: „Mama, wenn du mich wirklich lieb hast, dann gibst du diesem entzückenden alten kranken Dichter eine Monatsrate von fünfzig Kronen — — —!“ Ausspruch eines sechsjährigen Mäderls beim Abschied vom Semmering: „Ach, wie werde ich _fürder_ ohne meinen geliebten Pinkenkogel und Sonnwendstein existieren können?!“ Ich hätte gerne geantwortet: „Sehr gut wirst du _fürder_ existieren können, indem ich dir _fürder_ für jeden affektierten, verlogenen, manierierten Ausspruch deinen Hintern aushauen werde — — —!“ GEGEN Es ist eine der _infamsten Lügen_ der „Modernen“, daß es „ewigen Fortschritt“ gäbe! Wenn _ich_ das schon sage, will es etwas heißen! Die Kremoneser Geigen, die Amati, Guarneri, sind _nicht_ zu übertreffen, ja nicht einmal ihr „Spiegel-Lack“ und ihre „Schnecke“. Der Seiltänzer Blondin, der vor 40 Jahren über den Niagara tanzte und mitten über dem Katarakte auf einem zusammenlegbaren Sparherde sich eine Eierspeise kochte und aß, auf einem Klappsessel sitzend, ist _nicht_ zu übertreffen. Ebenso _nicht_ die Koloratur der Adelina Patti, die Lackarbeiten, Seidenstickereien der Japaner und Goethes Gedichte. Aber diese Herren, nomina sunt bekannt, wollen in Malerei, Musik und Dichtkunst „ewige Fortschritte“ uns einreden? Und gerade ausgerechnet sie? Bei dem nicht zu übertreffenden „Vollkommenen“ demütig haltmachen können, ist _Fort_schritt! Nach Mozart hat man _keine Quartette mehr zu schreiben_! ROMPE! Bevor nicht jeder deiner einstigen Kavaliere von dir sagt: „Was ist an ihr? Sie ist gewöhnlich, dumm und ohne Anmut, ohne Reiz“, glaub’ ich dir deine absolute innere Treue _nicht_! Zu deinen _Feinden_ mußt du sie erst machen _wollen_, um mir zu zeigen, daß du _mir_ gehörst! Solange sie _siegreich Besiegte_ sind, die Waffe senkend schwärmerischen Blickes, bin ich _besiegter Sieger_! Treibe sie zum Hasse, zur Verachtung! _Dann_ erst — — — liebst du mich! Und so geschah’s. Nur einer von den Rittern sagte zu mir, nach langem Schweigen, eines Abends: „Und wissen Sie, was ihre größte Tugend ist? Daß sie Sie liebgewonnen hat, und uns den Laufpaß gab!“ Ich sagt’ ihr das. Und sie erwiderte: „Der Arme, Gute. Ich hab’ ihn vorgemerkt. Nach Ihnen kommt er dran!“ WASCHUNGEN „Ich wasche mich täglich unmittelbar nach dem Aufstehen vom Kopfe bis zu den Zehen, zuerst lau und dann kalt,“ sagte das wertvolle moderne Mädchen zu mir. „Sehr gut,“ erwiderte ich, „aber ich glaube nicht, daß Jeanne d’Arc dazu immer Zeit hatte, als sie in die Schlacht mußte, um Frankreich zu erretten!“ Als ich sehr krank lag, nahm es mich immer „Wunder“, daß meine Geliebte, nach einer durchwachten und durchsorgten Nacht, noch immer die Energie fand, sich morgens vom Kopf bis zu den Zehen einzuseifen und abzuspülen. Sie sagte zwar: „Das tue ich, um mich _für dich_ frisch zu erhalten!“ Aber, siehe, ich glaubte ihr das nicht. Es war das „gottlose Weibchen“ in ihr, das trotz allem und _unter allen Umständen_, sich appetitlich erhalten wollte! Für wen?! Nun — — — _für alle_! RESPEKT Er war immer, immer gerührt, ergriffen durch ihre „Persönlichkeit“, die auch die lange Krankheit nicht in ihr vernichten konnte. Er hatte immer die Idee, sie würde mit dem letzten Atemzuge noch einen überaus herzigen und aparten Clowntrick machen, und z. B. sagen: „O, Peter, ich werde also, wenn ich hinkomme morgen, den Petrus bitten, er soll, wenn du ankommst, dir deine vielen Sünden verzeihen, schon weil du sein Namensvetter bist!“ Infolgedessen konnte er sich nicht enthalten, sie im Gespräche hie und da zärtlichst bei der Hand, am Arme, am Haupte, anzurühren. Wie ein süßes Kindchen. Da sagte sie eines Tages: „Frau Lilly rührst du _nie_ an, obzwar du sie _auch_ sehr gern hast! Du hast aber mehr _Respekt_ vor ihr! Siehst du?“ Seitdem habe ich die süße kindliche Frau nie mehr angerührt. Einmal sagte sie zu mir: „Hast du mich also nicht mehr so gern wie früher, Peter?“ „O ja, aber ich habe Respekt vor dir bekommen!“ „Du dummer Mensch!“ sagte sie und lächelte — FALZAREGO-PASS-HÖHE 2250 Meter. Also zum erstenmal seit meiner jauchzenden Kindheit wieder auf steinbesäter Bergalm mit dunklen Latschenkiefern, weißem Speik und Geruch von Ziegen. Irgendein Wässerlein tropfte, sickerte von ausgelaugten Felsenplatten. Meine Hand berührte zärtlich die polierten Nadeln des Zirbelholzes. Ich lauschte dem Rauschen im Legföhrenwalde. Das Knieholz schwankt nicht im Bergföhnstöhnen. Die Stämme sind wie Kautschuk. Der schwarze Weg ist feucht und klebrig. Ich gedachte des „Ochsenbodens“ auf dem Schneeberg, Märchen meiner Kindheit. Wie liebte ich diese fahlen blumenlosen Matten mit Geruch von weidenden Tieren! Wie wenn der Kreis sich schlösse meines Daseins. Auf Bergmatten begann es mit unbewußtem Jauchzen, auf Bergmatten endet es mit ernster Wehmut. Falzarego! ENTERBTE DES SCHICKSALS Sie hatte eine kleine reizende Blumenhandlung im Berghotel. Das heißt, sie hatte sie nicht, sondern sie war nur Verkäuferin. Die Besitzer waren in Wien, reiche Leute. Sie liebte die Blumen, die man ihr von den ungangbaren Felsgraten brachte, sie liebte die Blumen, die man ihr aus Ziergärten schickte in Watte und Holzbaumwolle. Alles, alles mußte sie aber doch verkaufen. Ihre besten Kunden waren die „Hotel-Don Juans“ und die „Neuvermählten“. Und sogenannte notwendige Abschiedsbuketts, von denen man dachte: „Ich will _nicht_, aber ich _muß_!“ Diese verkaufte sie am liebsten, schlug, so weit es ging, mit dem Preise auf, unerbittlich. _Abschied ohne Abschiedstränen_ muß teuer bezahlt werden! Einmal kam ein Dichter, bestellte für die sechsjährige Sonja Dungyersky einen Strauß von hellrosigen „Rosa Crimson Rambler“. Diesen ließ sie sich nicht bezahlen. „Weshalb denn nicht?!“ fragte der Dichter. „Wir wollen doch auch um Gottes willen einmal eine Freude haben! Etwas miterleben!“ erwiderte die Verkäuferin. FRÜHLING Also jetzt weiß ich alles — — — zuerst kommen die Kätzchen der Haselstaude, dann kommt primula acaulis, dann gentiana brachyphylla, dann kommt ein grüner Schimmer über die Birken, dann kommt Leontodon taraxacum, dann kommt ein weißer Schimmer über die Birnbäume, dann erwachen die Kastanienbäume, und zuletzt die Lärchen. Jetzt weiß ich alles, so _wird_ es! Hotels werden gebaut aus weißen Betonziegeln, und man projektiert ein Tontaubenschießen. Gleichsam ein lebendiger Protest gegen das Massakrieren von lebenden Tauben. Freilich der Turmfalke, der Sperber, der Wanderfalke, die Eule?!? Aber die tun es aus Instinkt, den wir Gott sei Dank verloren haben. So viele Leute jedoch ersehnen sich ihn wieder. Sie haben aber leider noch genug davon! ERLEBNIS Ich kaufte mir für eine Krone eine Porzellankaffeeschale mit gemalter Ansicht: „Semmering, Hotel Panhans“, steckte eine große Rolle Papier hinein, auf dem geschrieben stand: „_Das_ sind die „Andenken“, die die reichen Damen ihren unglücklichen Dienstboten vom Semmering mitzubringen pflegen!“ Und das Dienstmädchen sagt gerührt: „Aber gnä’ Frau, nein so was — — —!“ Aber sie meint: „Nein, so was Billiges, Scheußliches!“ Kaum hatte ich die Sache auf meinem Tische aufgestellt, besuchte mich ein reicher Gutsbesitzer. „Großartig,“ sagte er, „wir fahren heute weg. Meine Frau hat drei solcher Kaffeeschalen für unsere Dienstboten gekauft! Und ich sag’ Ihnen doch, mein lieber Altenberg, solche Leut’ freut das am meisten!“ „Ja, Schnecken!“ wollte ich sagen, aber ich sagte: „Selbstverständlich, sicherlich.“ Dann sagte er: „Zeigen Sie’s jedesfalls meiner Frau, vielleicht gift’ sie sich.“ DIE TÄNZERIN Ja, gut, ich war von meinem achten Jahre an bis zu meinem siebzehnten eine englische Tänzerin in Varietés. Aber ich darf es nur denen sagen, die es als meine Ehre betrachten, daß ich schön tanzte und mir mein Geld verdiente und meiner Mutter davon gab, nämlich Geschenke. Sonst nahm sie nichts. Aber den Damen darf man es nicht sagen, die kalt und bös im dummen Leben stehn! Sie wissen nichts von unserer hohen Ehre, daß wir der Kunst _gedient_ und dennoch stets _Herrinnen_ geblieben sind über uns selbst! Sie glauben, man müsse im Kampfe unterliegen, denn siehe, sie unterlägen im ersten _Vorpostengefecht_! MEINE EHRUNGEN Die Frau eines berühmten Operettenkomponisten sagte zu mir: „Herr Altenberg, Sie wissen doch alles von den wichtigen Sachen im Leben, ich bitte, soll man Rhabarber in einem Garten anpflanzen?“ „Nein, unter keiner Bedingung! Rhabarber verbraucht alle Bodenkraft ringsumher, er ist, gleich dem Rasen, der Egoist in der Pflanzenwelt!“ Die Frau eines berühmten Schriftstellers sagte zu mir: „Ich bitte sehr, soll man den Reis schon die Nacht vorher einweichen in einem Wasserwandel?“ „Jedenfalls! Reis bedarf der Vorbereitung, wie jede zarte Sache!“ Eine dritte Dame sagte: „Alles was in Ihren Büchern ist, ist _längst vorher_ in unseren Herzen! Aber wir sind _feig_, behalten es bei uns. Es ist gut, daß jemand den Mut habe! Und dann: Uns glaubt man nicht. Den Dichtern zwar auch nicht. Man sagt: _Ein Dichter_! Uns aber sagt man: Gans!“ KLARA Es gibt Mädchen, deren _ewige Verehrer_ wir bereits sind durch die Art wie sie ihre Haare zurückstreichen an den Schläfen. Eine unermeßliche Anmut ist es, eine kindlich-lässige, _nichts_ bedeutend und für uns ein _Schicksal_! Hätte ich nicht gesehen, wie sie ihre Haare zurückstreicht — — — aber ich _habe_ es gesehn und bin _verloren_! Von nun an für sie beten und weinen — — —. Wie hob sie die Arme, wie hielt sie die Schultern, wie waren ihre Hände, ihre Finger, wie stand sie da, und wie besiegte sie alle Nixenreigen im Mondlichte am Waldsee der Märchen?! Sie strich die aschblonden Haare zurecht, eine Bewegung, die so natürlich, selbstverständlich ist wie Atmen, Gehen, Sprechen. Ich aber beugte mein Knie vor Gottes _Weltenanmut_, die er mich Armseligen in seiner unerschöpflichen Gnade, an einem Julivormittag erschauen ließ! BERGHOTEL-TERRASSE, SEMMERING Daß ich da bin, ist mir ein ewiges Rätsel — — —. Ich war schon in der Gruft, durch Schuld der Ärzte! Heimtückische Mörder ihr, nein, schrecklicher, _Idioten_! Nun hab’ ich den Bergwald vor meinem Fenster, und die Stimme der K. P. jauchzt und singt und spricht Gesänge; bloß wenn sie nur sagt, was alle Menschen sagen; Gewöhnlichstes wird zum _ewigen Ereignis_. Wie man es sagt, ist alles, _was_, ist nichts! Und die Komtesse schreitet, fliegt, schwebt, schlängelt sich über die Terrasse — — —. Das süße Kindchen Sonja Dungyersky steht da in braunen Locken und ihre Beine sind dünn und braun wie von Gazellen — — —. Daß ich noch bin, ist mir ein ewiges Rätsel. Gott, schütze mir die, deren Schönheit mich berauscht! An denen ich krank werde und gesund zugleich! Berghotelterrasse aus Beton, mit deinen grellroten Tischen, Sesseln, ich war dein erster Morgengast, und ich begrüßte dich zärtlichst, du feuchte noch vom Morgentau! Im äußersten Ecke saß ich, oberhalb der Baumwipfel, und starrte in den weißen Mürztalnebel! Ich sah dich erstehen aus grauen nassen weichen Betonhaufen; ich wartete 21 Tage auf deine Marmorhärte; ich war dein erster Gast! ERKENNTNIS Alle Frauen rächen sich am Manne für irgendeine Unzulänglichkeit, die sie besitzen! Häßliche Fingernägel machen sie bereits boshaft und gereizt. Von einem „unidealen Busen“ gar nicht zu sprechen! Da begehren sie Tag und Nacht auf mit dem grausamen Schicksal, verzehren sich in Leid, und _lassen sich’s nicht merken_! Deshalb muß eigentlich jeder Mann _milde_ sein, _gerührt_, gestimmt zum _Verzeihen_! Wenn eine die Genialität hätte, es zu sagen: „Ich bin unglücklich _über mich selbst_!“ Aber das wagen sie nicht, es sich selbst einzugestehen. Sie verlassen sich auf die Güte des Mannes, der sich „sekkieren, quälen, ungerecht behandeln“ läßt! Sie haben aber recht, denn _seine_ Liebe ist von Gott eingegeben, und _ihr_ Schicksal ist irdisch und ein bißchen vom Teufel! Er hat die _göttliche Kraft_ zu _leiden_ mitbekommen, sie die _irdische Schwäche_, _glücklich_ sein zu wollen! KLARA 13. Juli, vormittag. Sie ging, in weißem Kleide, langsam den Wiesenweg hinauf. Ich sah sie; und sah sie wieder nicht. Sie grüßte, und ein Gebüsch verdeckte sie. Dann sah ich sie wieder. Langsam sah ich ihr weißes Kleid und ihre blonden Haare dem Wald zuschweben. Ich stand gebannt und grüßte nicht. Sie wußte, wie mir zumut war. Sie grüßte noch einmal. Wie wenn man sagte: „Du bist der erste, der gebannt steht und es vergißt, zu grüßen — — —!“ Sie wußte dennoch nichts von ihrer heiligen, schrecklich-süßen Macht. Ich aber warf mich aufs Bett und weinte — — —. Dann kam sie zurück. Ich sah ihr weißes Kleid und ihre blonden Haare. Gebüsch verbarg sie, mochte sie entschwinden. Dann sah ich sie wieder. Ich verneigte mich. Sie ging vorüber; und wie eine Regenwolke kam es über die lichte Landschaft — — —. EIN KOMTESSEN-BRIEF Lieber Peter Altenberg, weshalb sagen Sie mir das über die „göttliche Vollkommenheit meines Leibes“, den _Sie_ unbedingt unter allen Hüllen _nackt_ sehen?! Ich habe doch schon _alle Untugenden_, die unser Stand, unsere Sorgenlosigkeit, unsere Verwöhnung von früh bis abends, mit sich bringen ohne unser Hinzutun!? Jetzt kommt noch die Begeisterung eines Dichters hinzu, also eines Menschen, der nichts will als begeistert, berauscht, gerührt sein?! So ein Beschenker! Sie werden mich nicht eitel machen, Edler, ich werde nur denken: „Vielleicht verhilft es ihm zu einem Gedichte, das wieder anderen hilft, wenn sie es lesen!?“ Und dennoch habe ich mich abends in dem Stehspiegel angeschaut und gedacht: „Dichter wissen doch alles!“ MÄRCHEN DES LEBENS Der größte Beweis von _Kultur_ und _Takt_ einer Frau ist es, sich die ihr immerhin ganz angenehme Verehrung eines ungeliebten Mannes gefallen zu lassen, ohne ihn je zu kränken! Eine Dame ließ sich durch sechs Wochen meine schwärmerische Begeisterung sanft lächelnd gefallen. Beim Abschied bat ich sie, doch den Rehlederhandschuh abzustreifen, damit ich zum ersten- und zum letztenmal ihre geliebte Hand küssen könne — — —. „Schau’ns, Peter, was haben’s davon, nix. Das hat gar keinen Zweck. Hab’ ich recht?!“ „Vollkommen“, erwiderte ich. „Leicht sind Sie getröstet, mein Herr!“ erwiderte sie. „Im Gegenteil, ich bin _untröstlich_ darüber, daß Sie in Ihrer Kindheit zu wenig französische und englische Gouvernanten gehabt haben!“ WORÜBER MAN NOCH IMMER WEINT, UND EWIG WEINEN WIRD! Die Frau verließ den Mann — — —. Hundert Millionäre lagen ihr zu Füßen. Da bekam ihr Kindchen Scharlach. Ihr Mann schrieb ihr: „Marie schreit auf aus tiefem Schlaf, ruft Deinen Namen!“ Da kam sie. Und blieb! BESUCH Nun gut, ich bin ewig begeistert, trotz meiner 53 Jahre und meiner Krankheit, die doch schließlich unmerklich die Kräfte wegfrißt wie ein irrsinniger Jaguar, der nie genug hat und im Blute wühlt und trinkt ganz ohne Durst! Mir gegenüber, auf Zimmer 142, 143, wohnt seit gestern ein kleines Mädchen, Ungarin, Bulgarin oder Serbin; im Nationalkostüm mit ganz nackten, herrlichsten Beinen geht sie. Als ich sie heute auf der Stiege traf, lächelte ihre Mama über mein begeistertes Gesicht. Ich stand und schaute. Weshalb reisen, wenn die fremden Länder in ihrer Märchenpracht sich zu uns bemühen?! Das Hotelstubenmädchen ließ mich in das unaufgeräumte Zimmer. Ich kniete an dem Bett des Kindes nieder, küßte das Linnen, auf dem ihr heiliger Leib geruht! Das Stubenmädchen sagte: „Wann sollen denn die Menschen schön sein als so lang sie klein sind?! Später „wachsen sie sich aus“, da wird eine wie die andere — —.“ Ich schenkte ihr zwei Kronen, denn sie war meine Mitarbeiterin geworden an dieser Skizze, die zwar noch nicht angenommen und bezahlt ist. Aber man muß etwas riskieren — — —. LIEBESGEDICHT Ich wußte es, sie hatte mich betrogen — — —. Betrogen? Nein. Sie hatte nur vergessen, es mir zu sagen, es mir mitzuteilen — — —. Denn ich hätte es ihr gestattet; wie einem Kindchen Kugler-Gerbeaud-Bonbons, von denen man nicht wissen kann, wie zart sie schmecken — — —. Das Stubenmädchen brachte mir ihren, meinen armseligen Ring, zehn Kronen, den sie auf Zimmer 109, im Bett gefunden hatte. Dann ging ich in die Bergwiesen, in den Wald, zu unserem heiligen Ruheplätzchen. Hochgelbe Arnika wuchs, weißer Klee, braune Schuppenwurz, lila Orchideen, ein Liebesteppich. Sie hatte mich betrogen. Nein. Dort, siehe, war es ein weißes Bett gewesen wie tausend Betten — — —. Ein weißes, weißes, nichtssagendes Bett. Hier aber war Bergwiesen-Liebesteppich, in Gottes bunter Pracht! Hier blieb sie mir treu! DAS GRÖSSTE KOMPLIMENT (Der Komtesse T. W. geweiht.) Einige Herren saßen beim Frühstück auf der herrlichen Bergterrasse, sprachen über die junge Gräfin. Der erste: „Sie ist so liebreizend, daß man krank und gesund zugleich wird bei ihrem Anblick!“ Der Zweite: „Ich habe ein Gedicht gemacht, es ist das erste in meinem Leben. Puccini will es mir in Musik setzen.“ Der Dritte: „Ich schrieb an meine geliebte alte Mutter nur über sie, acht Quartseiten — — —.“ Der Vierte: „Sie ist da, und selbst der Bergwald ist seitdem schöner, melancholischer, düster-verhängnisvoll geworden!“ Der Fünfte: „Wenn sie abends 8 Uhr, beim Konzerte, in den Speisesaal treten würde, _splitternackt_, sich hinsetzen, essen, trinken, sprechen würde, so würde der ganze Saal es für natürlich, selbstverständlich finden, als ob man längst darauf gewartet hätte! Man spürte es direkt als etwas Unschickliches, daß sie früher angekleidet gekommen war!“ LE MONDE Die Schaukel war weitausgebaucht und braunrot. Im Winter sah sie nach nichts aus, im Sommer wurde sie mir eine lichte Welt! Klara, Franziska schaukelten darin, vormittags, nachmittags bis zum Abend, in weißen Batistgewändern, mit blondgoldenen, wehenden Seidenhaaren. Im Winter sah die braunrote Schaukel nach nichts aus, im Sommer wurde sie mir eine lichte Welt — —. Dann kam der Herbst und dann der erste Schnee. Da blickte ich denn oft dankbar hinaus zur Schaukel, tief dankbar für das einst Gebotene. EIN REGENTAG Es regnet. 9. Juli 1912, nachmittag 5 Uhr. Ganz dichte graue Schleier ziehen über den Bergwald vor meinen Fenstern. Alles trieft, ist untergetaucht in Nebel. Die Blumen haben ihre Farbe verloren, die Blechdächer glänzen, sind von Staub gereinigt, naß-poliert. Die Schaukel, die Schaukel. Vormittags schaukelte noch die sonnigste Frau, die blondgelichtete, die _musiksprechende_, in der Sonne! Ich sah sie schweben und weinte. Mir ist nichts anderes gegeben als zu weinen. Ich kann keine Lieder komponieren zum Preise, wie Brahms, Hugo Wolf, Grieg. Ich kann nur eine Melodie — — — weinen. Klara, Klara. Es regnet. Graue Schleier ziehen über den Bergwald vor meinem Fenster. Es duftet nach nassem Wald natürlich. Alles ist wie ertränkt. Klara, Klara, du sitzest in deinem Zimmer, lernst wichtige Dinge, fürs nächste Jahr, für die Prüfung, für das Leben. Deine blonden Lockenwolken streifen das weiße Papier, auf dem du schreibst — — —. Du sagst: „An einem solchen faden Nachmittag ist’s noch am besten zu lernen — — —!“ IN 24 STUNDEN „Ich bitte, nehmen Sie mich um Gotteswillen heute nacht in Ihr Zimmer!“ „Was interessiert Sie an meinem Zimmer?! Sie haben es doch schon oft bei Tag besichtigt?!“ „Bei Nacht muß es viel schöner sein!“ „Mein Mann wird Sie erschießen!“ „Das macht nichts!“ „Mein Mann wird mich erschießen!“ Infolgedessen sah er nie ihr Zimmer bei Nacht. Nun werdet ihr mich fragen: „Und bei Tage?!“ Frauen sind so kindlich, das Tageslicht als _neutralisierend_ zu betrachten; die Sonne kann mit ihrem lichten Strahl die dunklen Sünden bleichen! Sie läßt sich erzählen und beichten! Und verzeiht! Nur die Finsternis ist heimtückisch, macht zur Verbrecherin und verrät! „Kommen Sie, mein Herr, bei Tageslicht!“ HOTEL-STUBENMÄDCHEN Ich sagte zu meinem Hotel-Stubenmädchen: „Johanna, Sie werden von Tag zu Tag unaufmerksamer gegen mich. Gestern waren sogar keine Zündhölzer vorhanden.“ Sie sagte: „Jetzt wird es schon wieder besser werden. Ich habe nämlich meine Schwester, 27 Jahre alt, verloren, man hat ihr zum Schluß das ganze linke Bein abgenommen. Sie hat gesagt: „Ich möchte auch mit _einem_ Bein leben!“ Aber es ist doch nicht gegangen.“ Sie brachte mir zehn Pakete Zündhölzchen. Sie sagte: „Wenn man nur wüßte, wofür man so schwer bestraft wird!? Die Dame auf Nr. 32 hat sicherlich mehr gesündigt als wir, und wie fein lebt sie?!“ Ich sagte: „Johanna, wenn es auf Erden richtig zuginge, brauchten wir ja nicht die Hoffnung aufs Himmelreich — — —“ Sie sagte: „Entschuldigen Sie vielmals die zahlreichen Versäumnisse der letzten Tage. Meine arme Schwester hat ausgerungen. Jetzt kann ich wieder meine Pflicht erfüllen!“ MODERNER DICHTER In unserm Leben gibt’s so viel Nuancen — — — Die eine sagt: „Arzt meiner kranken Seele!“ Die andre sagt: „Wie schrecklich er nur aussieht!“ Die eine lauscht begierig der Persönlichkeit, die andre sieht pikiert den Gegensatz zu den andern! Die eine schreibt: „Darf ich zu Ihnen kommen?!“ Die andre hält’s für zynisch, wenn er im Gespräch sanft-zärtlich ihre Hand berührt. Die eine sagt: „Ein Romantiker _ohne_ Herz!“ Die andre sagt: „Ein Herzlicher _ohne_ Romantik!“ Und eine jede sieht ein „für“ und „wider“ — — — und keine spürt, daß „für“ und „wider“ _eins_ ist in einem, in dem „für“ und „wider“ _zugleich_ sind! NATUR Naturempfinden ist wie die _Mutterliebe_ eine ewige rastlose Emotion. Man kann nicht sagen: Hier ist es schön! Man muß erfüllt sein, krank, von allem anderen losgelöst, begeistert, gerührt, dankbar und erstaunt! Man muß sich sagen: Wie komme ich dazu, das zu erleben, zu erschauen?! Es muß ein „Nervenrausch“ sein, sonst ist es nichts, nichts! Es darf keinerlei Zweck haben für die werte Gesundheit, es muß von selbst wirken und beglücken, wie das Antlitz der jungen Mutter, die sich über die Wiege des soeben erwachten Kindchens beugt. Ein Glücksschimmer ist da über seinem Antlitz, weshalb, das weiß niemand. So muß die Natur wirken! Sie ist kein hygienisches Heilmittel, pfui, sie ist ein _Mysterium_. Nimm gewisse Vögel aus dem Wald, und sie sterben vor Gram. Gib sie zurück, und sie zwitschern Dankgebete. So ist das Naturempfinden. Eine heiße, süße, zehrende Leidenschaft der Seele! _Sport_ und _Hygiene_ sind Börsenmanöver, die die modernen Menschen mit dieser Kirche „Natur“ effektuieren! NOCH NICHT EINMAL SPLITTER VON GEDANKEN _Dialog_ „Sie haben erklärt, ich hätte die feinstmodellierten Nasenlöcher, die es gäbe?! Das ist nicht sehr viel — — —.“ „Nein, es ist _nur_ Edelrassigkeit!“ _Extrakt eines Königinnenlebens_: „Die Königin fühlte sich am wohlsten, wenn sie bei einer edlen Zigarette, mit Gräfin P. A. über ihr Lieblingsthema, die Krankenpflege, _plaudern_ konnte.“ _Die Philosophie_: Sie war die Lieblingsschülerin des berühmten alten Professors E. in Pr. Und _dennoch_ sagte sie: „Zu braunem Musselinkleide gehören eben unbedingt braune Strümpfe, braune Schuhe, brauner Schirm!“ _Dennoch?!_ Nein, _deshalb_! _Leben des Alternden_ Immer bissiger und innerlich immer voller Tränen! _Leben des reichen Mädchens_ „Ohne Beschäftigung könnte ich es nicht aushalten. Man muß es sich doch beweisen, daß man _auch_ ein Mensch ist!“ Es gibt Frauen, die von der Natur so _luxuriös_ ausgestattet wurden, daß sie sich den _Luxus_ der _Luxuslosigkeit_ erlauben dürfen! (Komtesse T...... W. E.). Aus dem „Englischen“: „Man sieht, wie wenig Gott von Geld hält, an den Leuten, die er damit ausstattet!“ Aus dem „Wienerischen“: „Sö haben gar ka Idee, wie unangenehm i werd’n kann, wann i will!“ „Versuchen Sie es einmal, es _nicht_ zu wollen!“ Aus dem „Französischen“: Um ganz Pariserisch zu sprechen, braucht man es nur _ununterbrochen_ ganz einfach innezuhaben, daß es _vier_ e gibt, das e muet, das e grave, das e égu, das e circonflexe, und sich danach zu richten! Aber das kann nur der geborene Pariser! ✶ Als ich dem jungen Offizier mitteilte, ich hielte ihn für den Typus des „Eroberers“ und beneidete ihn um sein Glück bei Frauen, erwiderte er: „Schau’ns Peter, schau’ns, Glück gibt’s nicht! Die, bei denen man Glück hat, da ist es doch kein Glück. Die hat man von selbst. Dort erst wäre es erst ein Glück, wo man _kein_ Glück hat. Und _grad’ da_ hat man kein Glück!“ Das Geständnis auf dem Sterbebett. 28./8. 1912. Aus Nyiregyhaza wird gemeldet: Das Mitglied des Munizipalrates und Direktor der Volksbank Anton F. wurde verhaftet. Seine Frau hat auf ihrem Sterbebette gestanden, daß er vor vier Jahren ein Haus in Brand gesteckt habe, um die Versicherungssumme zu erhalten für ihren Sommeraufenthalt! Konklusion: Weihe deine Frau in nichts ein, sie könnte aus _Rache_ oder _religiösem Bedenken_ oder aus allgemeiner Stupidität dich verraten! ✶ Moderne Gemäldegalerie der Armen: Farbiger Kunstdruck der „Jugend“, 50-25 Zentimeter, Emil Hoess: _Rehe_. Text von P. A.: „Es gibt Menschen, die sich an der _Anmut_ dieser edlen Tiere _berauschen_! Es gibt Menschen, die der _Leidenschaft der Jagd_ ergeben sind! Es gibt Menschen, die, _ohne_ Rausch und Leidenschaft, gern Rehrücken mit Sauce Cumberland _fressen_! Es gibt _Dichter_, _Don Juans_ und _normale Männer_!“ ✶ Nur mit dir, Geliebte, hat das Leben für mich noch einen Reiz, aber _ohne dich_ hat es noch mehr Reiz! ✶ Sie bewunderten sich gegenseitig — — — da war es ein Mißton! Sie bewunderten gemeinsam einen Schildkröt-Schirmgriff — — — da war es ein Akkord! ✶ „Haben Sie mich noch gern?!“ fragt sie immer innerlich nach der ersten Umarmung. Weshalb fragt der _herrliche Idiot_ nie: „Haben _Sie mich_ noch gern?!“ ✶ _Schamgefühl_ ist „_ein Schutz für Unzulänglichkeiten_“. Man verbirgt, was _zu verbergen_ ist! Treue ist auch ein Schutz. Wenn ich nur wüßte, wogegen?! Ah, ja, gegen die _Gefahren_ der Treulosigkeit! ✶ _Essen_, um das Vergnügen zu haben, zu _essen_! _Hungern_, um das Vergnügen zu haben, zu _essen_! _Hungern_, um das Vergnügen zu haben, zu _hungern_! _Philister_, _Lebenskünstler_, _Dichter_! ✶ Es gibt kein laues Bad von 27 Grad und keine gute Kernseife, die nicht jede Sünde der Frau hinwegwüschen! ✶ Eine Frau, der _ich_ ihr _Alles_ bin — — — pfui Teufel! ✶ Sie sagte: „Nie, nie, nie, werde ich Ihnen genug dankbar sein können!“ „Oh ja, Fräulein, wenn Sie mich Ihre Achselhöhlen küssen lassen!“ ✶ Das Schrecklichste ist, irgendeinen pathologischen Zustand, wie Rausch oder Eifersucht, nicht „_ausschlafen_“ zu können! Denn dazu ist ja der Schlaf da, daß man wieder „zur Besinnung“ komme, daß man „ein Vieh war“! ✶ _Schlaf_ ist der Verzeiher aller Sünden, die man dem armen Körper antut! Man darf daher nicht _mehr_ Sünden begehen als man Schlaf hat! Einige Sünden jedoch lassen sich nicht „ausschlafen“, z. B. zähes Fleisch mit Kohl. Auch die „Sünde der Faulheit“ läßt sich schwer ausschlafen. Je mehr man begeht, desto schläfriger wird man! ✶ Es gibt zwei Sorten moderner Musiker — — — die _Ehrlichen_, das sind die, die den Richard Wagner _bestehlen_! Und die _Unehrlichen_, das sind die, die _originell_ sind! ✶ Es gibt Dinge, die man nicht „modernisieren“ kann, z. B. den Kuckuckruf. Oh ja, man macht ein Rabengekrächze und nennt es „Kuckuckruf“! ✶ „Der gute alte Richard Wagner“, sagen schon manche Vorge-trottelten! ✶ Mit 82 Jahren ist man mit dem Tode schon so _befreundet_, daß er einem die unangenehmsten Wahrheiten ungeniert ins Gesicht sagt! ✶ Ein Gymnasialdirektor sagte zu jedem Abiturienten beim Abschiede: „Werden Sie General!“ Er meinte, in jedem Berufe könne man es zum General bringen! ✶ Es war direkt interessant, wie völlig uninteressant die Dame war! ✶ Es gibt keinen größeren Idealismus als den einer zärtlich liebevollen Mama. Selbst eine unangenehme Erkenntnis hat bei ihr noch die Gloriole von roten Herzbluttropfen! ✶ Millionäre trösten uns immer damit, man könne sich auch an Austern „überessen“. Aber in _diesen Zustand_ eben einmal zu gelangen, ist ja das Glück! ✶ Ich fahre lieber in einem gefährlichen Automobil als in einem ungefährlichen Omnibus. ✶ Man ist häufig genötigt, in der guten Gesellschaft das Wort „entzückend“ auszusprechen. Ich habe daher im Tonfall dabei bereits so viele Nuancen mir zurechtgelegt, daß eine Dame mir einmal, als ich etwas „entzückend“ fand, sagte: „Sie grober unverschämter Kerl! So ekelhaft ist es ja doch nicht, wie Sie es finden!“ ✶ Als der Kutscher uns liebenswürdig die Gegend erklärte, notierte ich bei jedem Bergnamen zehn Heller Trinkgeld. Als er die „Hohe Veitsch“ nannte, waren es bereits theoretisch 3 Kronen 70. Wir rundeten es auf 1 Krone 50 ab! ✶ Die Art deines Gehens, o Fraue, wenn du eine Hoteltreppe langsam hinauf-, langsam heruntersteigst, ist bereits dein „Biografical essay“, eine Offenbarung deiner wirklichen untrüglichen Werte! ✶ Ich sah sie im Speisesaal eine Zigarette rauchen und war entzückt. Ich wußte noch gar nicht, was und wie sie sprechen würde. Sie hätte ewig schweigen dürfen, sitzen, rauchen, blicken — — —. ✶ Das, was die Menschen uns nicht vortäuschen _können_, nicht vortäuschen _wollen_, _das_ sind sie! Ich habe Kinder gesehen, bei denen das „_Nießen_“ sogar entzückend war! ✶ Man kann auch elegant zanken, elegant verzweifelt sein, man kann elegant langweilig sein, und sogar elegant ungezogen! Aber das ist das schwerste! ✶ _Sie_ bezahlte Champagner und _beleidigte_ mich durch die Art, wie sie es tat! _Ich_ zahlte Champagner, und sie _versöhnte_ mich durch die Art, wie sie es annahm! ✶ Eine Dame sagte: „Ich bitte, Herr Peter, welches ist das idealste Mundwasser?!“ „Ein idealer Zahnarzt! Denn dann braucht man _gar kein_ Mundwasser, ja _nicht einmal_ eine Zahnbürste!“ ✶ Der Luxus der Frauen steht theoretisch _im umgekehrten Verhältnis_ zur _Vollkommenheit_ ihres Leibes! Dem _Leinenkleide_ für 25 Kronen entspricht der Leib der _Pauline Bonaparte_! Eine Dame sagte zu mir: „Diese blöden teuren Fetzen! Mich müssen’s nackert sehen! Dö Sachen verschandeln einen ja nur!“ ✶ Wenn ein Blumenmädchen in einem Vergnügungslokale an deinen Tisch tritt, dir für deine Dame eine Rose anzubieten, so muß die Dame _sofort_ erklären, daß sie keine wünsche. Sonst macht sie sich _ebenfalls_ einer Erpressung schuldig! ✶ Wenn in einem Geschäfte eine Kundschaft nach einer Ware sich erkundigt, die nicht vorhanden ist, so haben die Verkäufer nicht _stolz-abweisend_ zu erklären: „Nein, das führen wir nicht — — —!“, sondern _zerknirscht-reuevoll_. ✶ Weshalb erhält man bei uns hölzerne _Fußschemel_ nur in den _Spielereihandlungen_, während die Geschäfte für _Kücheneinrichtungen_ sich beharrlich sträuben, dieselben zu führen?! Fußschemel sind keine Spielerei, und in der Küche braucht man Schemel — — —. Das sind unergründliche Geheimnisse der Geschäftswelt! ✶ In Berlin kann man von März bis Oktober die riesigen Spiegelscheibenfenster in die Keller hinablassen, und man sitzt im Lokal gleichsam im Freien in guter Luft. Bei uns kann man das nicht. Wundert Sie das?! Mich nicht! ✶ Unsere Auslage-Arrangeure wollen immer so viel als möglich vom Lager hinauszwängen, während gerade _ein einzelnes, besonderes Stück_ die _ganze Führung_ des Geschäftes, seinen _Geist_ bereits dokumentierte! ✶ Die Klosettfrauen sollten gezwungen werden, lose, einzelne Seifenblätter zu verkaufen. Die _gemeinsame_ Seife erinnert fast an ein „gemeinsames Zahnbürstchen“! ✶ Alle Menschen leben „über ihre Verhältnisse“, über ihre ökonomischen, sexuellen und vor allem über die ihres Verdauungsapparates! Daher ihre ewige Reizbarkeit und Unduldsamkeit. Irgend etwas bedrückt sie! ✶ Ich sagte einst einem befreundeten jungen Restaurateur in G.: „Vor allem nimm jede nicht konvenierende Speise _zurück_, selbst im Falle einer krassen Ungerechtigkeit. Du machst immer noch das _bessere_ Geschäft, wenn du dieses eine Mal bei dem Hundskerl draufzahlst. Sonst redet er dir noch Hunderte ab!“ ✶ In den gutgehenden Geschäften sind die Bedienenden nervös, weil _zu viel_ zu tun ist, und in den schlechtgehenden, weil _zu wenig_ zu tun ist! ✶ Wenn ein Zyniker in der Gesellschaft von Damen zynisch ist, so ist er es _nur_, weil alle diese Damen ihm _keinerlei Hochachtung_ einflößen. Ich kann mir einen jeden Zyniker denken, der vor einer „innerlichen Kaiserin des Daseins“ _verstummte_! Tut er es aber auch in diesem Falle nicht, dann ist er ein Zyniker! ✶ „Ich verehre Euch, Meister Altenberg, seit Jahren. Aber wozu die Worte?! Ich möchte Euer letztes Werk erstehen. Was kostet es?!“ „Fünf Kronen.“ „Für drei Kronen würde ich es nehmen — — —. Aber eine schöne „persönliche Widmung“ erbitte ich mir natürlich!“ Ich schrieb eine persönliche Widmung: „_Sie_ haben mir zwei Kronen abgehandelt, _ich_ habe es mir abhandeln lassen; jetzt wissen Sie, was an _Ihnen_ und an _mir_ ist!“ ✶ 3jähriger Wahrheitsfanatiker, aus dem noch was werden kann: „Wen hast du denn besonders lieb, Bubi?! Die Mama?!“ „Nicht besonders — — —.“ „Dein Schwesterchen?!“ „Nicht besonders — — —.“ „Wen also hast du besonders lieb?!“ „Die Schokolade!“ ✶ Liebesbrief: „Oh, ich habe ein so grenzenloses Vertrauen zu Ihnen, daß ich es auch dann nicht verlieren könnte, wenn Sie es mißbrauchen würden!“ ✶ Höchstes Lob (Frau Dr. Eugenie Schw.): „Mein lieber Peter Altenberg, mit keinem der sogenannten „Modernen“ könnten Sie sich vertragen! Mit _Gottfried Keller_ hätten Sie sich _vertragen_, obzwar Ihr von früh bis abend _erbittert gestritten_ hättet!“ Ausspruch: „Wissen’s, bei uns in der Hofoper, ich mein’ beim Ballet, teilen wir die Künstlerinnen, Sängerinnen, natürlich nicht ein nach dem, was sie können, das is uns Tänzerinnen doch ganz egal, sondern nach dem, ob sie „_betamt_“ (liebenswürdig-menschenfreundlich) oder „_unbetamt_“ sind! Die Jüdinnen also sind alle _unbetamt_ natürlich, aber es gibt sogar unbetamte _Christinnen_ bei uns! Und die sind noch ärger!“ ✶ Für 500 Kronen Honorar erklären dir die Ärzte, du habest „eine leichte Blutzirkulationsstörung“. Es sei nichts von Bedeutung. Für drei Kronen erklären sie dir, es sei ein leichter Schlaganfall. Die Hauptsache wäre, er solle sich ja nicht wiederholen! ✶ Ein genialer Arzt verlor seine Stelle und erschoß sich, weil er sich jungen Patientinnen gegenüber schamlos benommen hatte. Sie fragen mich, was ich über den Fall dächte?! Ich rechne mir es aus: 57 Patientinnen in ihrer „Ehre“ gekränkt, 57 Tausend durch den Verlust des genialen Arztes _effektiv_ geschädigt! ✶ „O, Herr von Altenberg, wie geht es Ihnen?! Noch immer nicht verheiratet?! Woran arbeiten Sie jetzt momentan?! Schwärmen Sie noch immer für schöne schlanke 15-Jährige?! Und überhaupt, was gibt es Neues in Ihrem reichbewegten Leben?!“ „_Genehmigt!_“ erwiderte ich gelassen und entfernte mich. ✶ Jemand sagte zu mir (jeden Tag ist es ein anderer): „Sie sind der glücklichste Mensch! Sie haben keine Bedürfnisse!“ „Nein, ich habe keinerlei Bedürfnis, Bedürfnisse zu haben, die ich ja doch nicht befriedigen kann!“ ✶ Die Forelle, der Hecht sind gefährliche, ewig auf der _Raublauer_ liegende Tiere. Aber man fängt sie geschickt mit irgendeinem Köder. Bei Frauen macht man es aber ungeschickt. Meistens reißen sie sich los und verspeisen nur den Köder! ✶ Die Prinzessin sagte: „Man macht dem Sudermann immer den Vorwurf, daß er theatralisch sei. Das finde ich ungerecht. Wenn man das meinem Cousin, dem Louis Liechtenstein, nachsagen dürfte, so wäre es gerecht. Denn der hat’s nicht nötig. Aber der arme Sudermann, der ist doch dazu da, theatralisch zu sein!“ ✶ Ich sandte dem herrlichen 11jährigen Kinde Margit Kr. einen selbstgebundenen Strauß von hellblauen Skabiosen und gelben Teerosen. Die Mama sandte den Strauß zurück mit dem Bemerken, ihr Töchterchen sei noch _minderjährig_. Ich schrieb: „Gnädige Frau, wann erfolgt die Volljährigkeitserklärung für _Schönheit und Anmut_?! Gott, Jesus Christus und die Dichter verstehen nichts von Kalenderberechnung!“ ✶ Das mystisch schöne Kind hatte eine unschöne Mama. Alle Damen sagten zu mir: „Sie wird der Mutter nachgeraten!“ Endlich kam der wunderbare Vater an, wie ein Sieger-Torero. „Für einen Mann ist er viel, viel zu schön!“ sagten alle Damen. „Nun und das Kind?!“ sagte ich. „Weshalb soll es gerade ihm nachgeraten?! Weil Sie es sich erwünschen?!?“ Bestien! ✶ Je lustiger, je übermütiger die Geliebte, desto verstimmter der Geliebte. Alles geht auf seine Kosten, Unkosten. Aber manche Männer nehmen regen Anteil — — — an diesem Diebstahl vor ihren Augen! Amüsement ist „Ablenkung des Herzens!“ _Gutmütigkeit_ des _Mannes_ — — — _verbrecherischer Idiotismus_! ✶ Was nützt es dir, o Jüngling, daß du mit Sorgfalt und Geschmack ein Bukett zusammenstellest aus herrlichen Bergblumen und Gartenrosen?! Die Dame fühlt: „Die Bergblumen kosten nichts, und die sieben Rosen je eine Krone!“ ✶ Nur Juden haben die Ungezogenheit, mich zu fragen, weshalb ich stets an dickem, grünem, seidenem Kordon zwei herrliche Automobilpfeifen, Sirenen, trage!? Christen fragen das nie. Sie denken gleich: „Weil er ein Narr ist!“ Die Juden lassen sich durch die Frage noch wenigstens die Hoffnung offen! ✶ Mein Gehirn hat Wichtigeres zu leisten als darüber nachzudenken, was Bernard Shaw mir zu _verbergen_ wünscht, indem er mir es _mitteilt_! ✶ Die modernen Damen verlängern sich die Fingernägel statt des Gehirnes. Das erstere scheint leichter zu sein! ✶ Die Männer suchen ihre Damen von 8 Uhr morgens bis 11 Uhr nachts bei guter Laune zu erhalten! Wahrscheinlich wegen der übrigen Stunden! ✶ Körperliche Vollkommenheit verpflichtet zu jeder anderen, geistig-seelischen Vollkommenheit! Aber glücklich die, die zu dieser Verpflichtung _verpflichtet_ sind! ✶ Ein runder Rücken ist nicht nur ein _runder Rücken_. Es bedeutet auch einen _flachen_ Brustkasten! ✶ Weshalb dieses unintelligente Sträuben gegen Nährmittelpräparate wie „Sanatogen“?! Jedenfalls wird es euch mehr nützen als Rostbratl mit Erdäpfelsalat! Ihr fürchtet euch vor zu viel Kräften?! Na ja, ihr müßt es ja wissen, wofür ihr sie dann doch nur verwendet! ✶ Nährmittel haben zur Voraussetzung „eine ganze verfeinerte Kultur“. Sonst bleibe man bei dem a la Hunnen auf dem Sattel weichgerittenen Roastbeef! ✶ Ich habe gelesen: Den Engländern fehlen leider zwei Sachen: Sinn für „feine zarte Küche“ und Sinn für „feine zarte Musik“. Jetzt weiß ich, weshalb sie die Welt unterjocht, viel Geld und viel Ehre gemacht haben! ✶ „Ich habe meinen Gatten lieb, weil er mich reich ausstattet! Ich habe meinen Geliebten lieb, _obwohl_ er mich nicht reich ausstattet! Wie lieb hätte ich erst einen Geliebten, der mich reich ausstattet! Aber das gibt es ja gar nicht; der hat das doch nicht nötig, das wäre ja ein idiotischer Verschwender, den man unter Kuratel setzen müßte!“ ✶ „Ich denk’ über so viele Sachen nach, Gustav, und da werd’ ich ganz blöd. Wann ich einmal gar nicht nachdenk’, und was ganz Blödes sag’, dann sagen die Leut’, daß es riesig g’scheit is. Aber unbewußt sagen sie. Das heißt also, daß es doch blöd is, nicht, Gustav?!“ „Dummerl!“ sagte Gustav, das heißt: „Gscheidterl!“ ✶ Die 5jährige Edith sagte abends beim Abschiede zu mir: „Also wann, wann, wann — — —?!“ Da ergänzte die Mutter: „werden Sie morgen wiederkommen?!“ „Aber geh’, Mutti, das weiß er ja, was ich gemeint hab’!“ ✶ Je tiefer die _seelische_ Liebe der Frau, desto _geringer_ ihre „physiologische“ Erregbarkeit. Das scheint schauerlich paradox zu sein! Die „Liebe“ verteilt ihre Erregung auf den _Gesamtorganismus_, während minderwertige Gefühle nicht diese Kraft haben, sondern sich _lokalisieren_! ✶ In jeder schönen Frau, in jeder wohlgestalteten, steckt die „Hure“. Sie kann nicht anders als Tag und Nacht von dem Gefühle gereizt, gekitzelt, erregt zu werden als dem: „Ich könnte _jeden_ Mann selig machen, ihn in die letzten Räusche bringen!“ Eine Frau von diesem _Weltenempfinden_ weg auf _sich_ konzentrieren wollen und können, ist das Wesen der _glücklichen Liebe_! Ich bezweifle, daß es bei einer wirklich _vollkommen schönen_ Frau gelinge! Aber wie viel solcher gibt es?! Also gibt es doch viele „glückliche Liebende“. Und dann: die Frau rechnet mit ihrem allmählichen „schäbig-werden“. Das vermehrt die Chancen der — — — Idioten! Übrigens gibt es noch die sogenannte „gute Erziehung“. Ja, die Idioten haben Chancen! ✶ „Ich bin _gewitzigt_“, heißt: „Ich bin gewitzigt über die Dinge, über die ich _gewitzigt_ bin. Aber über die Dinge, über die ich _noch nicht_ gewitzigt bin, über die bin ich noch nicht gewitzigt!“ ✶ Kinder rupfen zarten Insekten ihre überzarten Flügel aus. So machen es _Erwachsene_ den _Dichtern_! ✶ „Sie reizen uns _unnötig_ auf mit Ihren anarchistischen Theorien!“ sagte eine junge Dame zu mir. Wie würde ich es erst tun, wenn ich es _für nötig_ hielte! ✶ „Woher nehmen Sie ununterbrochen Ihre Begeisterung für Frauen, Kinder, die Natur?!“ sagte jemand zu mir. „Von Abführmitteln! Tamar Indien Grillon! Von meiner ‚_inneren Unbeschwertheit_‘!“ „Sie scherzen!“ „Gewiß. Denn Sie würden davon nur _Diarrhöen_ kriegen!“ ✶ „Wir sind eben noch keine „chemischen Retorten!“ Schauen Sie doch die „Roßknödel“ an auf der Straße, woraus das Pferd seine ganze riesige Kraft gezogen hat!?“ „Ja, es ist eine wahre _Roßnatur_!“ ✶ „Was verstehen Sie eigentlich unter „Kunst“?!“ sagte ein Herr um Mitternacht, bei Champagner, zu mir. „Da müssen Sie noch ein bisserl was _bar_ draufzahlen, wenn ich Ihnen die Frag’ jetzt beantworten soll!“ ✶ Wenn jemand magenkrank ist, so muß ein moderner Arzt ihn sogar fragen: „Haben Sie mit Ihrer Wäscherin nie so „leichte Konflikte“, oder verkehren Sie nicht mit _ärmeren_ Leuten als _Sie_ sind, oder schläft Ihre Geliebte nicht gern bei anderen?!“ _Solche_ Kleinigkeiten schon können einen überempfindlichen Organismus aus dem sogenannten physiologischen Gleichgewichte bringen. ✶ Was _du_ nicht willst, daß _man_ dir tut, das _tu’_ geschwind den _andern_ an, denn _sie_ tun dir’s _jedenfalls_ an! ✶ Jeder „Sport“ macht aus der _romantischen_ Natur eine Zirkusmanege! ✶ Musik ist: wie wenn die Seele plötzlich in einer _fremden Sprache_ ihre _eigene_ spräche! ✶ ZYKLUS: „VENEDIG“ EINDRÜCKE In Triest hatte ich im _Hotel Excelsior_ ganz hoch oben ein Kabinett, das eine kleine eiserne Balustrade hatte, von der aus man das Meer sah und rechts die braungrünen Hügel. So sah ich also zum erstenmal das Meer, in meinem 55. Lebensjahr. Abends trat ich an die eiserne Balustrade und betrachtete die weite graue Fläche Wasser. Ich durfte also auch noch ein Meer sehen, und morgen sogar ein Schiff mit Frühstückszimmer, Speisesaal, Kajüten und Deck zum Spazierengehen. Das gütige strenge Schicksal hatte mir das alles aufgespart, gleichsam als _Schlußbelohnung_ eines ereignislosen Daseins. Diese schwebende Stiege an der schneeweißen Wand des Schiffes! Man frühstückt: Teeschale Kaffee, licht, gut passiert, mit Schlagsahne, und fährt zugleich mit Turbine auf dem Adriatischen Meer. Dabei liest man in Intervallen Zeitung und schreibt Ansichtskarten an Annie W. Man zeigt mir freundschaftlich die „italienische Küste“ im fernen weißen Nebel, und ich selbst erblicke braune Segel von Fischerbarken. Das alles ist wundervoll. Meine englische Freundin sagt: „Ich habe es gewußt, daß es Ihnen viel Spaß machen wird!“ Aber es macht mir viel Ernst! Venedig ... also das ist dieses Venedig, mit einem Palazzo Vendramin, in dem mein Gott, Richard Wagner, den letzten Seufzer aushauchte. Hier also ist der große weite, palastumrankte Platz, auf dem sechs reizende Kaffeehäuser sind, mit 1000 Tischen und Stühlen, und wo abends in der Mitte auf eisernem, elektrisch beleuchtetem Gerüste die _Banda Municipale_ spielt. Und gegenüber der Lido, wo die Menschen in Licht, Salzluft und Wasser sich verjüngen und die schönen Frauen wenigstens ihre herrlichen zarten weißen Füße, Zehen, Beine, Knie zeigen. Wenn man dann abends auf dem Markusplatz so eine viertelnackte Nymphe en grande toilette sieht, denkt man: „Bitte sehr, die Schneiderinnen wollen auch leben!“ Bei „Salviati“ sah ich Gläser von der Farbenpracht von exotischen Schmetterlingen, Vögeln und Orchideen. Andere wieder waren düster wie der Himmel vor dem Gewitter und die Seele eines Eifersüchtigen. Viele schienen herausgewachsen zu sein, wie aus Erdreich und Sonnenlicht und Tau und Regen. Aber dazu muß man in den Kanal Grande fahren, in die Ausstellung, da ist die „Glas-Aristokratie“, während sonst überall die schreiende Marktware ist. Parmesan und Paradeis sind die Lieblingsdinge. Man ißt fast alles mit diesen beiden Dingen. Fast zu allem offeriert man dir eine Glasbüchse mit Silberdeckel, in der geriebener Parmesan sich befindet. Die neue Oper von Wolf-Ferrari: „Die neugierigen Frauen“ von Goldoni, Lustspiel, wurde im Goldoni-Theater, hellblau und gold, unübertrefflich dargestellt; Kapellmeister, Orchester, Stimmen, Spiel einfach _vollkommen_. Wolf-Ferrari ist ein feiner, nobler, geschickter, diskreter — — — jetzt weiß man _alles_! _Gott_, daß ihm _nichts_ einfällt, das macht er _absichtlich_, er ist zu nobel, zu kompliziert dazu, er _will nicht_ melodiös sein, wie alle Modernen, die es nicht _können_! Was die Mode betrifft, bin ich leider nur für die englisch-amerikanische, während die französische überladen und unnötig ist. „Ich habe Geld, ich habe Geld, es zu bezahlen!“ schreien alle diese Modelle von Hüten und Kleidern, während die englischen und amerikanischen flüstern: „Wir haben so viel Geld, daß wir gar nicht brauchen, es erst zu zeigen!“ Der Meeressand ist wundervoll, ihn durch die Finger gleiten lassen ist eine „ästhetische Wollust“. Rührend ist die ärmliche Vegetation der Küste: Grasbüschel, Akazien, Birken. Bilder habe ich noch keine gesehen. Die Historie versucht es wie ein altes, Opfer heischendes Ungeheuer, hier überall uns von der einfachen Natur abzulenken. Aber bei mir gelingt es ihr nicht, ich bin der „heilige Georg“, obzwar ich Richard heiße, pardon, Peter. Ich weiß, daß man Giotto „Dschotto“ auszusprechen hat, und damit habe ich mich losgekauft. Deckengemälde interessieren mich nicht, man bekommt einen steifen Hals davon. Von Berühmtheiten der modernen Zeiten waren hier außer mir: Heinrich Mann, Jakob Wassermann, Max Oppenheimer, Tilla Durieux, Adolf Loos, Eduard Stucken. „No, und ich bin nix?!“ sagte die Neunzehnjährige, die sich von mir die Hotelrechnung bezahlen ließ. „Welche kann das noch von sich behaupten, daß ein solcher Schmutzian wie du für sie hat bezahlen müssen?!“ VENEDIG Und plötzlich _fiel es ihm ein_, ein trauriges Erschrecken — — — ja, sie wollte _nicht_ mit ihm verkehren! Es wurde ihm _sogleich_ zur Gewißheit! Mit untrüglicher Klarheit war es in seinem armen Gehirn, in seinem armen Herzen, plötzlich, lähmend, vernichtend, untergrabend! ja, er hatte es sogar _gewußt_, gewußt, das heißt geahnt, schon nach den ersten Stunden des Beisammenseins. Sie wollte ihn gleichsam sogleich beschützen vor seiner Erkrankung an ihr, vor seiner Torheit, vor seinen kommenden Kränkungen, vor seiner Sehnsucht am lauten Tage und in stiller Nacht, ja, vor seiner Sehnsucht wollte sie ihn beschützen, kurz vor allem und allem und allem, und zwar _sogleich_, prompt, radikal, hilfreich, unerbittlich, wie ein Arzt, wie eine Mama, wie eine Schwester, wie eine Heilige. Eine _schöne Idee_, eine _Aufgabe_, eine _Mission_! Gestern war er um 7 morgens in ihrer Kabane, hatte ihr schwarz-weißes noch feuchtes Schwimmkleid geküßt, das an einem Haken hing. Und ihre Bastpantoffeln und den Rand ihres Trinkglases. Das Meer war schön, ja, das Meer war schön. Er hatte ihr dann, um 11, von seinem Morgengruß erzählt. Aber _heute_ morgens war der Vorhang irgendwie verschlossen. Auch fragte sie ihn um 1 nicht, weshalb er keinen Kabanenbesuch gemacht habe, weshalb er nicht gebadet habe, ob er nicht wohl sei, oder sonst irgend etwas Menschenfreundliches. Sie fragte nach _nichts_. Wißt ihr was das heißt?! Nein, das wißt ihr nicht, Gott sei Dank! Todesurteile für die wehrlose Seele! Was war los?! Ihr Gatte?! Ihr Liebhaber?! Komplikationen?! War sie unglücklich verliebt in irgendwen, absorbiert, betäubt, angenagelt?! War sie krank, körperlich, Magen, Darm oder noch heiklicher?! War sie müde?! Hatte sie vielleicht überhaupt _genug_ oder _zuviel_?! Wollte sie sich freihalten für Konvenierenderes?! War er nicht nach ihrer Fasson?! War er zu unheimlich ungestüm mit seiner Seele?! Wollte sie ihn wirklich schützen vor sich selbst?! Aber das wäre ja schrecklich. Denn er hatte die feste unerschütterliche Absicht gehabt, _an ihr_, _an ihr_ zugrunde zu gehen! Aber vielleicht war es besser _so_! Am nächsten Morgen sagte sie: „O, Sie haben schon genug von mir, ich bitte, antworten Sie nichts, so etwas fühlt man ganz genau, schade — — —.“ Er stand da, und lauschte den Worten, die bereits verklungen waren. Das Meer war schön, schön, wie niemand es schildern könnte — — —. VERSCHIEDENES Neurasthenie ist so lange eine Krankheit, bis es ein Stadium einer _neuen Gesundheit_ wird! ✶ Warte, bis man von deinem geliebten Kindchen _dir_ Anekdoten und Aussprüche zuträgt. Deine eigenen enthalten keine Pointe, sondern nur Mutterliebe! ✶ Frauen haben eine kolossale _Überschätzung_ ihrer Macht. Man ist nur zu wohlerzogen und mitleidsvoll, es ihnen jedesmal zu beweisen! ✶ So lange ich ihr schrieb, was ich durch sie leide, verstand sie es nicht. Als ich es nicht mehr schrieb, sagte sie: „So gefallen Sie mir viel besser!“ ✶ Am besten dran sind die _ganz vollkommen_ gebauten Badenden und die _ganz Unvollkommenen_. Beide sind schicksalergeben. Am schlechtesten dran sind die _Halb_zulänglichen. Die möchten es immer durch irgendetwas _ausgleichen_, und bringen es _nicht_ zustande! ✶ Es gibt Frauen, die schlecht schwimmen, und man fühlt: „Ungeschickte Gans!“ Bei der anderen fühlt man nur zartestes Mitleid! ✶ Es gibt „physiologische Matadore“; das sind die Frauen, die _Trikot_ tragen im Meeresbade. Die anderen haben allerlei Ausreden, vor allem das herzige Wörtchen „_indezent_“! ✶ Für die meisten ist das Wasser ein „fremdes Element“. Ihre Tempi erinnern an „Schwimmlehrer“ und „1 ... 2, 3!“ ✶ Sie sind ein „gefährlicher Beobachter“, sagte eine Dame schelmisch zu mir. „Wieso?!“ erwiderte ich, „ich bin doch weder reich noch in angesehener Stellung!?“ ✶ „Womit habe ich Sie gekränkt, Peter?! Ich tue doch mein Möglichstes!“ „Tun Sie einmal ihr _Unmöglichstes_!“ ✶ Eine junge Frau sagte zu mir: „O, wenn ich so _gebildet_ wäre wie die Frau Sch., dann wäre ich _noch gebildeter_ als sie!“ ✶ Die meisten Menschen verstehen die _ganz tiefen Dinge nicht_! Sie suchen sie _ganz unten_, und sie sind _ganz oben_! Aber sie _dort_ zu finden, dazu muß man _ganz tief_ sein! ✶ Das größte Kompliment: Frau Vallière, Schauspielerin in Hamburg: „Peter, im Mittelalter wären Sie _heilig_ gesprochen worden! Heute hält man Sie für einen perversen Narren!“ „Ich bin _zu spät_ auf die Welt gekommen!“ „Nein, _zu früh_!“ ✶ Märchen des Lebens! In meiner Kindheit las ich von den großen, dicken, glasartigen, weißen, durchscheinenden Quallen mit lila durchscheinenden Füßen, die im Meere schwimmen und leuchten! Nun spülte mir das Adriatische Meer eine an den Sandstrand. Ich untergrub sie mit einer hölzernen Sandschaufel, warf sie ins Meer zurück, um sie zu retten. Aber die Brandung brachte sie wieder. Ein Kind sagte: „Kann man sie essen?!“ „Nein, sie leuchtet nur, nachts, im Meere!“ „Weshalb also willst du sie retten?!“ „Eben _deshalb_, weil sie zu nichts anderem zu _gebrauchen_ ist, als nachts im Meere zu _leuchten_!“ ✶ Ein Tintenfisch wurde vormittags an den Strand geworfen. Allen grauste vor dieser unkenntlichen Masse. Zu Mittag stand er auf der Speisekarte. Eine Dame ließ sich ihn servieren, fand ihn recht schmackhaft und eigentümlich. „Wie können Sie das gut finden?!“ sagten alle empört-überrascht. „Ich habe ihn, Gott sei Dank, nie gesehen, wie er _wirklich_ im Leben aussieht!“ sagte die Dame. ✶ „Sie sammeln schöne Muscheln?!“ „Ja, es ist das unmodernste und das _modernste_ Kunstgewerbe der Natur!“ ✶ „Was finden Sie an mir Besonderes, mein Herr?!“ „Ich liebe Ihren Geist und den Duft Ihrer Achselhöhlen, Ihres Atems, Ihres Schwimmkleides!“ „Und wenn ich _nur_ den _Geist_ hätte?!“ „Dann wären Sie eine tragische und lächerliche Persönlichkeit!“ ✶ „Sie _durch_schauen uns, mein Herr!“ „Ja, aber auf der anderen Seite ist es _doch wieder dasselbe_ anziehende Mysterium!“ DIALOG „Peter, Sie hören _das Gras wachsen_, Sie _ersticken_ alles im _Keime_, _zerstören_ die Frucht im Mutterleibe, seelisch!“ „Ich kenne die Gefahr, ehe sie _Gefahr_ ist! _Später_ ist _zu spät_!“ „Wenn ich ihn mir aber wünsche, diesen ungesäten Keim einer Gefahr?! Wenn ich gerade das mir erwünschte?!“ Er schweigt, wendet den Kopf ab. „Peter, ich wünsche es mir nicht, nein, bei Gott, ich wünsche es mir nicht!“ „Lassen Sie Gott aus dem Spiele, Teufeline!“ „Peter, ich wünsche mir nichts, nichts als Ihre Freundschaft, Ihre milde Stimmung zu mir nicht zu verlieren!“ „Sie irren sich! Sie haben gewählt, entschieden, und gerichtet!“ „O, Peter — — —.“ FAUNA UND FLORA An dem adriatischen Meeresufer findest du morgens um sieben viele kleine Bündel von angeschwemmtem zähen Grase vom Meeresgrund, und kleine Muscheln in ganz modernen Farbennuancen, von grau in schwarz, von braun in lila, von gelb in braun. Die Japaner scheinen von da ihre diskreten, fast mysteriösen Farbentöne her zu haben. Die großen teuren Muscheln stammen aus dem Indischen Ozean und sind wertvolle _wertlose_ Prunkstücke. Aber die kleinen Muscheln, hier umsonst, sind kleine moderne erlesene Kunstwerkchen der Natur! Eine Dame sagte zu mir: „Eine ist doch so wie die andere!“ — „Für _mich_ nicht!“ erwiderte ich. Die kleinen, nach seitwärts gehenden Krabben sind entzückend. Sie suchen herzig und ungeschickt das Weite, aber wenn sie es nicht mehr können, so zwicken sie sanft mit ihren Miniaturscheren. Am Meeresufer ist ein bewegtes Leben und Treiben; aber die Büschel von geheimnisvollen dunkelgrünen zähen Gräsern, die herrlichen Muscheln und die Krabben sind wie von tausend Jahren her, wo Menschen noch nicht das _Strandbad_ kannten. Auch du wirst einst nicht mehr sein, die du mich nun in _jugendlich-lächerlichem_ Stolz abweisend mit den Blicken mißt, und deine Brüste werden die Spannkraft eingebüßt haben, so oder so; und ewig wird das Meer noch Grasbüschel auswerfen, Muscheln und Krabben. Und mein _Leid_ wird vielleicht _leben_, denn sterblich ist das _Jauchzen_, es verhallt; der _Seufzer_ aber ist unsterblich. Er dringt zu Gottes feinem Ohr. Der schenkt ihn wieder der Welle, die ans Ufer klagend fällt. Gott liebt das Leid; wieso es kommt, ich weiß es nicht; es muß wohl „göttlich“ sein. Gott liebt das Leid, es _reinigt_! Die satte Freude liebt er _nicht_! QUO VADIS?! Du hältst mich für anspruchsvoll und ungezogen — — — ich bin es nicht. Du _hörst_ einfach das Ächzen meiner Seele nicht — — — Das ist es. Du bist taub! Wieviel Rücksicht hingegen nimmst du für die alte Frau, die einen reichen Mann hat, wohlgeratene Kinder, und der du _nichts_ bist, nichts, in alle Ewigkeit! Wieviel Rücksicht für Herrn v. G., Frau Z., und den Professor!?! Und, siehe, alle sind _frei_ von dir. Das heißt, sie schlürfen deine Gnade, wie ein Spaziergänger den Duft der Linden und des Jasmins! Es _ist_, und ist _nicht mehr_. Mir aber ist der Duft deiner Bluse, deiner Haare, deines Atems, _ewiges Verhängnis_! Noch bin ich tapfer, kann in mich hineinweinen. _Noch!_ Bringe nicht grausam um _dein Kind_, das du _in mir_ erzeugt hast, meine _Liebe_! Oder bring’ es um und wandle in Frieden die Pfade der Gewöhnlichkeiten! Man wird dich _haben_ wollen, oder nicht! Jedoch das Mittelding ist nur des _Dichters_! _Er will_ dich haben, und vom _Nichthaben_ lebt er! Lass’ ihn _neben dich_ setzen im Kaffeehaus, im Restaurant, und geh’ _an seiner Seite_! Im Dampfschiff lass’ ihm Platz, und überall, ganz neben dir! _Lass’ ihm_ seine ewigen Hochzeitstage, die _dich_ kaum sehr genieren! _Du_ gibst so wenig, und er nimmt _so viel_! _Das_ soll dich freuen, Frau! Ich sag’ es nicht zu meinem Besten, sondern zu dem _deinen_! Ein besseres _Himmelsgeschäft_ auf _Erden_ kannst du nicht machen als _mit mir_! Einer spendet dir den Reichtum seiner Seele für einen Blick auf deine Kinderschultern, die noch dazu von einem Stoff bedeckt sind! Du gibst ein _Nichts_, und spendest _eine Welt_! Ich rede dir zum letzten Male zu — — — verschütte nicht die Schätze, die du schenkst! Bald bist du arm, du weißt es nicht — — — Dein müdes erstaunt-verlegenes Lächeln trifft dann meine tote Seele, um deren Feuergeist du dir nie Mühe gabst! Adieu — — —. DREISSIG Weißt du, daß du einmal alt wirst?! Und daß die Männer sich nicht mehr es vorstellen werden können, daß du gefallen hast, ja, _begehrenswert_ warst?! Diese fatale _Umwandlung_ deiner Person, die doch eigentlich _dieselbe_ geblieben ist!? Das wirst du alles erleben _müssen_, geliebteste Frau, und in Ruhe und in Würde, und in _scheinbarer_ Selbstverständlichkeit! Und siehe, noch ist einer da, der dein Kopfkissen beneidet um dein Haupt, und alle Düfte dieser schönen Erde hergibt für den Duft deiner braunblonden Haare! _Noch_ ist einer da, der die Weintraubenbeere _beneidet_, in deinem Mund zu sein! Und alles, alles, alles ist ihm _heilig_, was mit dir _irgendwie_ zusammenhängt! Auch dieser Zauber wird gebrochen werden, so oder so! Was brauchst du, eigenwillig, eigensinnig, es zu beschleunigen?! Lass’ es der Zeit! Sie hilft dir sowieso! LA ROCHE FOUCAULD Ich habe in _La-Roche-Foucauld_ einen Satz gefunden: „Man sollte nur _jenen_ Frauen die _Ehre_ erweisen, _eifersüchtig zu sein_, die uns die Gnade erweisen, uns _nie_ eifersüchtig zu _machen_!“ VERSÄUMTES RENDEZVOUS Ein dunstiger schwüler Tag — — — Ich schlief bis 7 Uhr abends, Verschlief das Rendezvous. Und dennoch war es mir, als ob _sie_ es nicht eingehalten hätte! Wie hat sie mein Versäumnis ausgenützt?! Hat sie gekränkt _gewartet_, nein!? Sie absolvierte ihr Programm, Was ging sie’s an, daß ich verschlief?! Sie führte ihr Söhnchen zur Taubenfütterung nach Venedig. Dann „Cavaletto“ und „Café Lawena“. Es war _meine_ Schuld, daß ich nicht kam — — —. Und _meine_ Schuld war es, daß ich mich kränkte. Was konnte sie dafür?! Und doch! Was _immer_ in uns vorgeht in bezug auf die geliebte Frau, _an Leid und Bangen_ — — — sie trägt zum Teil die _Schuld_! Weshalb, wieso, das kann ich euch nicht sagen! Doch es ist! Wie du es anstellst, Frau, daß wir _nicht_ gekränkt sind, das sei die _Genialität_ deiner zarten Seele! JALOUSIE Eifersucht?! Fraue, du steckst mir meine _Grenzen_?! Bis _dahin_ und nicht weiter?! _Kindische_ Törin! Bin ich nicht eifersüchtig auf die Luft, die du in deinen geliebten warmen, feuchten Mund einatmest?! Wie darf sie, ganz gefühllos, die weichen Innenwände deines Mundes spüren?! Bin ich nicht eifersüchtig auf den Bissen, den du mit dem geliebten Speichel sanft umnässest?! Von da zum Blick von Sympathie und Freude, zu einem lebendigen Mann, ist noch eine Welt! Du _wunderst_ dich, daß ich _verzweifelt_ bin, da ich dem _Löffel_ doch schon deine Zunge _nicht_ gönne! Ich trauere um alle Schätze, die du so vergeudest; dem Bette deine Ausdünstung, dem Glase deine Lippen! Aber beim „lebendigen Mann“ ergreift mich der Irrsinn. Weshalb stirbt er nicht momentan vor Glück, der feige Hund?! An seiner Leiche würde ich weinen, ihn beneidend um seinen schönen Tod. Jedoch, er geht _lebend_ hinweg, und denkt: „Die könnt’ ich haben!“ Fluch ihm, nein, _dir_! KLAGE Du nennst mich einen _Komödianten_!? Weil du die _Fassungskraft_ nicht hast für _mein Gefühl_; oder weil du dir selbst _zu nichtig_ vorkommst — — —. Oder weil Frauen, die eifersüchtig sind auf meine Anbetung für dich, dir sagen, ich sei ein Komödiant! Oder Männer, die es nicht wünschen, daß du meinem Fanatismus _menschenfreundlich zart_ begegnest! Oder weil _dir selbst_ nichts daran liegt, daß ich dich _lieb habe_! _Ja, das ist es!_ Denn _gläubig_ seid ihr _dort_, stupiden Ohres lauschend, wo ihr es _hören wollt_! _Dort_ wird euch der _Trug_ als _tiefste Wahrheit_ klingen! Uns aber laßt ihr _sterben_, denn wir sind nicht wichtig für euren _schamlosen Egoismus_! Ihr wißt, _wer_ euch von Wichtigkeit hienieden! _Vertrödelt_ keine Zeit mit _an euch kranken_ Seelen! Die Gesunden _tun mehr_ für euch! Glaubt, o glaubt denen, die euch für eine Stunde nur besitzen wollen! Sie meinen’s ernst und gut mit euch! Sie ahnen, daß ihr vielleicht zu anderem _nicht taugt_! Ihr fürchtet euch, uns zu _enttäuschen_, die wir _Ideale_ träumen! Wie recht habt ihr, euch da nicht einzulassen! Schon bei den _Fingernägeln_ fängt die _Tragödie_ an! VERHÄNGNIS Dein Atem, wenn du sprichst — — — ich saug’ ihn ein in mich. wie durstige Kindchen Milch aus Mutterbrüsten! Er duftet auch wie Milch; und im Theater duftete deine seidene weiße Bluse wie süße Milch! Willst du der dunklen, düsteren Pinie sagen, was sie dir ist?! Vergeblich! Der weißen Magnolie, dem Jasmin, der Agave, der Hortensie?! Und so die Frau! Sie glaubt dir nicht — — —. Weil es ihr _gleichgültig_, _deshalb_ glaubt sie nicht! Sie würde jedem Leeren, _Unwerten_ glauben, glauben, glauben, glauben, wenn’s ihr _darum zu tun wäre_, ihm zu glauben! Das _blödeste_ Wort erhielte seinen Klang und seine Süße! Und Macht und Wert! Sie läßt sich nur betören, wo sie bereits betört ist, _ehe_ er betörte! Und dennoch sag’ ich dir, dein Atem, wenn du mit mir sprichst, er duftet mir wie süße Milch, wie Milch aus Mutterbrüsten dürstendem Kindchen! Du wirst mir sagen, ich sei ein Narr — — —. Gerade _diese_ Narrheit aber nähmest du ernst, bei _dem_, wo es dir _paßt_, sie _ernst_ zu nehmen! Ich bin ein Narr, das _nicht_ zu wissen! Ich _weiß_ es! Und dennoch ändert’s nichts. Ich bin also ein tausendfacher Narr! Der eine sagt: „Wie geht es, gnädige Frau?!“ Sie fühlt: „Wie lieb, wie zart besorgt er ist!“ Der andere kann vor Rührung gar nicht sprechen, da sagt sie: „Heute sind Sie nicht sehr amüsant!“ Ein Kindchen aus der Schwarzwald-Schule schrieb in ihr Heft: „Wieso kommt es, daß _immer_ einen gerade die am wenigsten mögen, die man am meisten lieb hat?!“ DIE BROSCHE Sie ließ durch eine Freundin nachforschen, wieviel die Amethystbrosche gekostet habe, die ich ihr geschenkt hatte. „15 Lire!“ sagte sie dann zu mir. „Ich weiß, was das _bei Ihnen_ bedeutet!“ „Es bedeutet ‚_Liebe_‘!“ „Hätten Sie es auch noch für mich gekauft, wenn es 25 gekostet hätte?!“ „Auch!“ „Und bei 40?!“ „Nicht!“ „Weshalb?!“ „Weil es meine Verhältnisse überstiegen hätte!“ „Aber da fängt gerade die echte Liebe erst an!“ „Bei mir nicht! Bei mir hört sie da auf!“ VERSÖHNUNG Und _etwas_ bleibt zurück — — —. ’s ist _nicht_ wie nach dem Ungewitter der Natur, wo alles wirklich reiner wird und blinkender — —. _So_ ist es _nicht_! Man hat Konzessionen gemacht, beiderseits, um der Sache willen des dummen Lebens, die wichtiger erschien zuletzt als klare Wahrheit! Und dennoch ist die klare Wahrheit das _Wichtigste_! Man kann ihr nicht entrinnen! Sie sickert durch, sie gräbt sich durch, und sie bestimmt den Lauf des Lebensstromes! Sie hatten sich versöhnt — — —. Das _gibt_ es _nicht_. Versöhnt muß man sein, eh’ man sich trifft! _Geboren_ einer für den anderen! Versöhnung heißt: „Ich will _ein_ Aug’ zudrücken!“ Wie machst du es, wenn _beide_ offen sehn?!? AUSEINANDERSETZUNG Sie sah ihn wieder. „Wen verehren Sie jetzt, wen beglücken Sie jetzt mit Ihrer exaltierten Anbetung?!“ „Mitzi Thumb!“ „Diese?! Nun, und erwidert sie Ihre Zuneigung?!“ „Ja; sie sagt, daß sie meine Schwärmerei _verstehe_!“ „Das ist alles?!?“ „Ja, das ist _alles_! Unsere Begeisterung gerührt, erstaunt, milde, sanftmütig, ein wenig dankbar, annehmen können! Das ist _viel_. Das ist _alles_! Sie verstanden das nicht!“ „Nein, aufrichtig gesagt, ich verstand es damals nicht. _Jetzt_ verstehe ich es — — —.“ „Nein, jetzt _ebensowenig_! Dichterseelen verstehen — — — dazu muß man etwas von dieser zarten Seele selbst besitzen!“ LEGENDE Man spricht so viel von Gottes schöner Welt — — — und doch ist es um diese schlecht bestellt! Gott und die Künstler erträumen sich die Frau vollkommen, vom Haupt bis zu den Zehen. Doch keine ist es. Da kam ein Dichter traurig zu Gott und klagte: „Herr, wir widmen unser Herz der Frauenschönheit, und keine ist wirklich vollkommen! Zeige uns doch einmal eine, wie du dir’s gedacht hast!“ Da hatte Gott Mitleid mit dem enttäuschten Dichter, und schuf _Mitzi Thumb_! DER ANFANG Der Anfang, der Anfang ist immer das Interessanteste, Wahrhaftigste, wirklich Merkwürdigste und eigentlich noch niemals Dagewesene, trotz hunderttausend Beispielen derselben Art. Später haspelt sich alles ab, wie es muß, und das Ende ist immer, immer verlogen und komödiantenhaft. Aber der Anfang, der Anfang, da ist noch keinerlei Routine, und da ist der schöne merkwürdige Zufall, daß man überhaupt in diesem Ozean des Lebens sich kennen lernte! Man sagte mir immer: „Gehe doch hin zu ihr ins Sekretariat, sie fragt immer nach dir — — —.“ Endlich ging ich hin. Sie saß bei der elektrischen Lampe und las „Pasqual“. Ich dachte: „Da du es nicht wissen konntest, daß ich kommen würde, ist es eine bedeutsame Lektüre für eine Siebzehnjährige.“ Da ich aber nur den Namen des Autors kannte, sprach ich wie immer über Verdauungshygiene. Plötzlich entstand Kurzschluß und es wurde im ganzen kleinen Palais finster. Ich sprach weiter und erklärte, daß der „obstipierte“ Mensch unmöglich irgendwelche besondere geistige und seelische Qualitäten besitzen könne und daß Pasqual, der da aufgeschlagen vor ihr läge, jedenfalls und unbedingt, seinen Geist, falls er einen besonderen und hervorragenden gehabt habe, nur durch „Tamar Indien Grillon“ sich habe erwerben können, es wäre denn, daß ein gütiges Schicksal ihm von Natur aus unter die Arme gegriffen hätte! Der Kurzschluß wurde repariert; es wurde wieder licht, und die junge Dame sagte: „Ich habe schon längst bemerkt gehabt, daß Sie tadellose Frauenhände besäßen, so verklärte. Gestatten Sie, daß ich dieselben berühre?!“ „Bitte sehr — — —“ erwiderte ich. Das war der Anfang. SANATORIUM FÜR NERVENKRANKE Daß die „Nervenärzte“ nichts verstehen, wäre eine _natürliche menschliche Eigenschaft_ der meisten _Berufsmenschen_, wenige Genies ausgenommen. Aber daß sie ihre _schändliche Ignoranz_ ausnützen auf „suggestivem Wege“, indem sie die selbstverständlich viel mehr „über ihre eigenen Zustände“ verstehenden Kranken durch ihren schmählichen Doktortitel, zu ihren „folgsamen kuschenden Hundesklaven“ machen wollen, das ist eine _bodenlose feige Gemeinheit_! Eine Dame z. B. liebt ihre Schwester fanatisch, und ihr sich für sie aufopfernder Gatte kann gerade diese Schwester und den _Fanatismus seiner Frau_ für dieselbe nicht ausstehen! Wenn _sie_ ins Zimmer tritt, geht er aus dem Zimmer. Das erzeugt naturgemäß allmählich _Nervenzerstörung_. Der liebevolle Gatte schickt sie in ein „erstes“, d. h. teuerstes Sanatorium. Dort sagt man nicht dem Esel von Gatten (gibt es überhaupt andere Tiersorten dieser Gattung?!): „Sie müssen mit der Schwester Ihrer Frau liebenswürdiger umgehen!“ Sondern man verordnet „Lichtbäder“ mit nachfolgenden kalten Duschen! Die arme junge Frau klagt dem Arzte: „Mein Mann behandelt meine zärtlichst und fanatisch geliebte Schwester roh, verständnislos, lieblos vor allem gegen mich, die angeblich Geliebteste, Verehrteste!?! Ist das seine Opferfähigkeit?!?“ Der Arzt erwidert: „Nach zwanzig Lichtbädern mit nachfolgenden kalten Duschen wird sich das alles, alles geben! Sie werden dann die Dinge mit ganz anderen Augen anschauen — — —!“ „Aber Herr Doktor, die Liebe zu meiner Schwester — — —!“ „Auch das sind nur _vorübergehende Exaltationszustände_! Glauben Sie es mir, meine Gnädige, Ihr Fall ist ›_typisch_‹. Sechs Wochen bei uns, und Ihre Schwester wird Ihnen gleichgültig werden!“ LE LIDO As-tu vu le sable brun de la mer?! Non, je n’ai _rien_ vu — — — j’ai vu _Maria_! As-tu vu l’eau sans fins et les écumes blanches?! Non, je n’ai rien vu — — — j’ai vu _Maria_! As-tu entendu le bruit de la mer?! Non, je n’ai rien entendu — — — j’ai entendu la voix de Maria! N’as-tu pas senti venir la _santé_ du corps, par le soleil?! Non, j’ai senti venir la _maladie_ de l’âme, par Maria! ✶ Erfüllte Bitte um ein Autogramm, an Herrn Platon de Naxel, Venise: „Il y a un _mystère_, qui nous fait _vivre_ — — — la femme! Il y a une _réalité_, qui nous fait _mourir_ — — — la femme!“ ✶ „Ich habe kein Herz für Kleider,“ sagte sie. „Weil Sie ein Herz haben!“ erwiderte er. „Nein, weil ich keine Kleider habe!“ ✶ „Eine Frau kann gar nicht genug Canaille sein!“ sagte die Schöne. „Das halte ich für übertrieben,“ erwiderte er. „Nein, er kommt ja doch _jedesfalls_ einmal darauf, daß wir seiner Liebe _unwürdig_ sind!“ „Und wenn er nicht darauf kommt?!“ „Dann müssen wir ihn für diese _Stupidität_ bestrafen!“ Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig * * * * * End of the Project Gutenberg EBook of Semmering 1912, by Peter Altenberg *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SEMMERING 1912 *** ***** This file should be named 55770-0.txt or 55770-0.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/5/7/7/55770/ Produced by Elizabeth Oscanyan and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. 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Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. 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The Project Gutenberg EBook of Die Cellularpathologie, by Rudolf Virchow This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org/license Title: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre Author: Rudolf Virchow Release Date: February 15, 2014 [EBook #44921] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE CELLULARPATHOLOGIE *** Produced by Constanze Hofmann, Jens Nordmann and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (BioLib (www.biolib.de)) Vorlesungen über PATHOLOGIE von RUDOLF VIRCHOW. $Erster Band:$ Die Cellular-Pathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Vierte Auflage. Berlin, 1871. =Verlag von August Hirschwald=. Unter den Linden No. 68. * * * * * Die CELLULARPATHOLOGIE in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, dargestellt von RUDOLF VIRCHOW, ord. öff. Professor der pathologischen Anatomie, der allgemeinen Pathologie und Therapie an der Universität, Director des pathologischen Instituts und dirigirendem Arzte an der Charité zu Berlin. $Vierte, neu bearbeitete und stark vermehrte Auflage.$ Mit 157 Holzschnitten. Berlin, 1871. =Verlag von August Hirschwald=. Unter den Linden No. 68. Der Verfasser behält sich das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen, besonders in's Englische und Französische vor. * * * * * Vorrede zur ersten Auflage. Die Vorlesungen, welche ich hiermit dem weiteren ärztlichen Publikum vorlege, wurden im Anfange dieses Jahres vor einem grösseren Kreise von Collegen, zumeist praktischen Aerzten Berlin's, in dem neuen pathologischen Institute der Universität gehalten. Sie verfolgten hauptsächlich den Zweck, im Anschlusse an eine möglichst ausgedehnte Reihe von mikroskopischen Demonstrationen eine zusammenhängende Erläuterung derjenigen Erfahrungen zu geben, auf welchen gegenwärtig nach meiner Auffassung die biologische Doctrin zu begründen und aus welchen auch die pathologische Theorie zu gestalten ist. Sie sollten insbesondere in einer mehr geordneten Weise, als dies bisher geschehen war, eine Anschauung von der cellularen Natur aller Lebensvorgänge, der physiologischen und pathologischen, der thierischen und pflanzlichen zu liefern versuchen, um gegenüber den einseitigen humoralen und neuristischen (solidaren) Neigungen, welche sich aus den Mythen des Alterthums bis in unsere Zeit fortgepflanzt haben, die Einheit des Lebens in allem Organischen wieder dem Bewusstsein näher zu bringen, und zugleich den ebenso einseitigen Deutungen einer grob mechanischen und chemischen Richtung die feinere Mechanik und Chemie der Zelle entgegen zu halten. Bei den grossen Fortschritten des Einzelwissens ist es für die Mehrzahl der praktischen Aerzte immer schwieriger geworden, sich dasjenige Maass der eigenen Anschauung zu gewinnen, welches allein eine gewisse Sicherheit des Urtheils verbürgt. Täglich entschwindet die Möglichkeit nicht bloss einer Prüfung, sondern selbst eines Verständnisses der neueren Schriften denjenigen mehr, welche in den oft so mühseligen und erschöpfenden Wegen der Praxis ihre beste Kraft verbrauchen müssen. Denn selbst die Sprache der Medicin nimmt nach und nach ein anderes Aussehen an. Bekannte Vorgänge, welche das herrschende System seinem Gedankenkreise an einem bestimmten Orte eingereiht hatte, wechseln mit der Auflösung des Systems die Stellung und die Bezeichnung. Indem eine gewisse Thätigkeit von dem Nerven, dem Blute oder dem Gefässe auf das Gewebe verlegt, ein passiver Vorgang als ein activer, ein Exsudat als eine Wucherung erkannt wird, ist auch die Sprache genöthigt, andere Ausdrücke für diese Thätigkeiten, Vorgänge und Erzeugnisse zu wählen, und je vollkommener die Kenntniss des feineren Geschehens der Lebensvorgänge wird, um so mehr müssen sich auch die neueren Bezeichnungen an diese feineren Grundlagen der Erkenntniss anschliessen. Nicht leicht kann Jemand mit mehr Schonung des Ueberlieferten die nothwendige Reform der Anschauungen durchzuführen versuchen, als ich es mir zur Aufgabe gestellt habe. Allein die eigene Erfahrung hat mich gelehrt, dass es hier eine gewisse Grenze gibt. Zu grosse Schonung ist ein wirklicher Fehler, denn sie begünstigt die Verwirrung: ein neuer, zweckmässig gewählter Ausdruck macht dem allgemeinen Verständnisse etwas sofort zugänglich, was ohne ihn jahrelange Bemühungen höchstens für Einzelne aufzuklären vermochten. Ich erinnere an die parenchymatöse Entzündung, an Thrombose und Embolie, an Leukämie und Ichorrhämie, an osteoides und Schleimgewebe, an käsige und amyloide Metamorphose, an die Substitution der Gewebe. Neue Namen sind nicht zu vermeiden, wo es sich um thatsächliche Bereicherungen des erfahrungsmässigen Wissens handelt. Auf der anderen Seite hat man es mir schon öfters zum Vorwurfe gemacht, dass ich die moderne Anschauung auf veraltete Standpunkte zurückzuschrauben bemüht sei. Hier kann ich wohl mit gutem Gewissen sagen, dass ich eben so wenig die Tendenz habe, den =Galen= oder den =Paracelsus= zu rehabilitiren, als ich mich davor scheue, das, was in ihren Anschauungen und Erfahrungen wahr ist, offen anzuerkennen. In der That finde ich nicht bloss, dass im Alterthum und im Mittelalter die Sinne der Aerzte nicht überall durch überlieferte Vorurtheile gefesselt wurden, sondern noch mehr, dass der gesunde Menschenverstand im Volke an gewissen Wahrheiten festgehalten hat, trotzdem dass die gelehrte Kritik sie für überwunden erklärte. Was sollte mich abhalten, zu gestehen, dass die gelehrte Kritik nicht immer wahr, das System nicht immer Natur gewesen ist, dass die falsche Deutung nicht die Richtigkeit der Beobachtung beeinträchtigt? Warum sollte ich nicht gute Ausdrücke erhalten oder wiederherstellen, trotzdem dass man falsche Vorstellungen daran geknüpft hat? Meine Erfahrungen nöthigen mich, die Bezeichnung der Wallung (Fluxion) für besser zu halten, als die der Congestion; ich kann nicht umhin, die Entzündung als eine bestimmte Erscheinungsform pathologischer Vorgänge zuzulassen, obwohl ich sie als ontologischen Begriff auflöse; ich muss trotz des entschiedenen Widerspruchs vieler Forscher den Tuberkel als miliares Korn, das Epitheliom als heteroplastische, maligne Neubildung (Cancroid) festhalten. Vielleicht ist es in heutiger Zeit ein Verdienst, das historische Recht anzuerkennen, denn es ist in der That erstaunlich, mit welchem Leichtsinn gerade diejenigen, welche jede Kleinigkeit, die sie gefunden haben, als eine Entdeckung preisen, über die Vorfahren aburtheilen. Ich halte auf mein Recht, und darum erkenne ich auch das Recht der Anderen an. Das ist mein Standpunkt im Leben, in der Politik, in der Wissenschaft. Wir sind es uns schuldig, unser Recht zu vertheidigen, denn es ist die einzige Bürgschaft unserer individuellen Entwickelung und unseres Einflusses auf das Allgemeine. Eine solche Vertheidigung ist keine That eitlen Ehrgeizes, kein Aufgeben des rein wissenschaftlichen Strebens. Denn wenn wir der Wissenschaft dienen wollen, so müssen wir sie auch ausbreiten, nicht bloss in unserem eigenen Wissen, sondern auch in der Schätzung der Anderen. Diese Schätzung aber beruht zum grossen Theile auf der Anerkennung, die unser Recht, auf dem Vertrauen, das unsere Forschung bei den Anderen findet, und das ist der Grund, warum ich auf mein Recht halte. In einer so unmittelbar praktischen Wissenschaft, wie die Medicin, in einer Zeit so schnellen Wachsens der Erfahrungen, wie die unsrige, haben wir doppelt die Verpflichtung, unsere Kenntniss der Gesammtheit der Fachgenossen zugänglich zu machen. Wir wollen die Reform, und nicht die Revolution. Wir wollen das Alte conserviren und das Neue hinzufügen. Aber den Zeitgenossen trübt sich das Bild dieser Thätigkeit. Denn nur zu leicht gewinnt es den Anschein, als würde eben nur ein buntes Durcheinander von Altem und Neuem gewonnen, und die Nothwendigkeit, die falschen oder ausschliessenden Lehren der Neueren mehr als die der Alten zu bekämpfen, erzeugt den Eindruck einer mehr revolutionären, als reformatorischen Einwirkung. Es ist freilich bequemer, sich auf die Forschung und die Wiedergabe des Gefundenen zu beschränken und Anderen die »Verwerthung« zu überlassen, aber die Erfahrung lehrt, dass dies überaus gefährlich ist und zuletzt nur denjenigen zum Vortheil ausschlägt, deren Gewissen am wenigsten zartfühlend ist. Uebernehmen wir daher jeder selbst die Vermittelung zwischen der Erfahrung und der Lehre. Die Vorlesungen, welche ich hier mit der Absicht einer solchen Vermittelung veröffentliche, haben so ausdauernde Zuhörer gefunden, dass sie vielleicht auch nachsichtige Leser erwarten dürfen. Wie sehr sie der Nachsicht bedürfen, fühle ich selbst sehr lebhaft. Jede Art von freiem Vortrage kann nur dem wirklichen Zuhörer genügen. Zumal dann, wenn der Vortrag wesentlich darauf berechnet ist, als Erläuterung für Tafel-Zeichnungen und Demonstrationen zu dienen, muss er nothwendig dem Leser ungleichmässig und lückenhaft erscheinen. Die Absicht, eine gedrängte Uebersicht zu liefern, schliesst an sich eine speciellere, durch ausreichende Citate unterstützte Beweisführung mehr oder weniger aus und die Person des Vortragenden wird mehr in den Vordergrund treten, da er die Aufgabe hat, gerade seinen Standpunkt deutlich zu machen. Möge man daher das Gegebene für nicht mehr nehmen, als es sein soll. Diejenigen, welche Musse genug gefunden haben, sich in der laufenden Kenntniss der neueren Arbeiten zu erhalten, werden wenig Neues darin finden. Die Anderen werden durch das Lesen nicht der Mühe überhoben sein, in den histologischen, physiologischen und pathologischen Specialwerken die hier nur ganz kurz behandelten Gegenstände genauer studiren zu müssen. Aber sie werden wenigstens eine Uebersicht der für die cellulare Theorie wichtigsten Entdeckungen gewinnen und mit Leichtigkeit das genauere Studium des Einzelnen an die hier im Zusammenhange gegebene Darstellung anknüpfen können. Vielleicht wird gerade diese Darstellung einen unmittelbaren Anreiz für ein solches genaueres Studium abgeben, und schon dann wird sie genug geleistet haben. Meine Zeit reicht nicht aus, um mir die schriftliche Ausarbeitung eines solchen Werkes möglich zu machen. Ich habe mich deshalb genöthigt gesehen, die Vorlesungen, wie sie gehalten wurden, stenographiren zu lassen und mit leichten Aenderungen zu redigiren. Herr Cand. med. =Langenhaun= hat mit grosser Sorgfalt die stenographische Arbeit besorgt. Soweit es sich bei der Kürze der Zeit thun liess, und soweit der Text ohne dieselben für Ungeübte nicht verständlich sein würde, habe ich nach den Tafel-Zeichnungen und besonders nach den vorgelegten Präparaten Holzschnitte anfertigen lassen. Vollständigkeit liess sich in dieser Beziehung nicht erreichen, da schon so die Veröffentlichung durch die Anfertigung der Holzschnitte um Monate verzögert worden ist. =Misdroy=, am 20. August 1858. Vorrede zur zweiten Auflage. Der vorliegende Versuch, meine von den hergebrachten abweichenden Erfahrungen dem grösseren Kreise der Aerzte im Zusammenhange vorzuführen, hat einen unerwarteten Erfolg gehabt: er hat viele Freunde und lebhafte Gegner gefunden. Beides ist gewiss sehr erwünscht, denn die Freunde werden in diesem Buche keinen Abschluss, kein System, kein Dogma finden, und die Gegner werden genöthigt sein, endlich einmal die Phrasen aufzugeben und sich an die Sachen selbst zu machen. Beides kann nur zur Bewegung, zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen. Allein Beides hat doch auch seine niederschlagende Seite. Wenn man ein Decennium hindurch mit allem Eifer gearbeitet und die Ergebnisse seiner Forschungen dem Urtheile der Mitwelt vorgelegt hat, so stellt man sich nur zu leicht vor, dass mehr davon, dass vielleicht der grössere und wesentliche Theil allgemeiner bekannt sein könne. Dies war, wie die Erfahrung gelehrt hat, bei meinen Arbeiten nicht der Fall. Einer meiner Kritiker erklärt es aus der Breite meiner Beweisführungen. Mag es sein, allein dann hätte ich vielleicht erwarten dürfen, dass andere Kritiker die Beweise, welche sie hier nicht in ausreichender Weise fanden, in den Originalarbeiten aufgesucht hätten. Denn ausdrücklich hatte ich schon das erste Mal hervorgehoben, dass diejenigen, welche sich in der laufenden Kenntniss der neueren Arbeiten erhalten hätten, hier wenig Neues finden würden. In der neuen Ausgabe habe ich mich darauf beschränkt, den Ausdruck zu verbessern, Missverständliches schärfer zu fassen, Wiederholungen zu unterdrücken. Gewiss bleibt auch so noch sehr Vieles der Verbesserung bedürftig, aber es schien mir, dass dem Ganzen der frischere Eindruck der mündlichen Rede und des freien Gedankenganges möglichst erhalten bleiben müsse, wenn es noch weiterhin als ein wirksames Ferment für die an sich so verschiedenartigen Richtungen des medicinischen Lebens und Wirkens dienen sollte. Denn das Buch wird seinen Zweck erfüllt haben, wenn es Propaganda, nicht für die Cellular-Pathologie, sondern nur überhaupt für unabhängiges Denken und Forschen in grossen Kreisen machen hilft. =Berlin=, am 7. Juni 1859. Vorrede zur dritten Auflage. Die neue Auflage, welche hiermit vor das Publikum tritt, hat wesentliche Umgestaltungen erfahren müssen. Der Verfasser hat sich genöthigt gesehen, die Form der Vorlesungen ganz aufzugeben, weil sie ihn hinderte, wesentliche Veränderungen, insbesondere Neuerungen in den Text zu bringen. Solche Aenderungen waren aber vielfach nothwendig. Denn die Wissenschaft, insbesondere die deutsche, ist in den drei Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage rüstig vorwärts geschritten, und wenn sie auch an den Grundanschauungen und Hauptlehrsätzen, welche hier dargelegt wurden, nichts geändert hat, so gestattete sie doch an vielen Punkten ein ungleich tieferes Eingehen. Aber die weitere Entfernung von dem Ausgangspunkte gestattet auch eine freiere Uebersicht. Vieles hatte, wie es bei freien Vorträgen nur zu leicht geschieht, nur losen Zusammenhang; Anderes war, wie es die Demonstration bestimmter Präparate mit sich brachte, geradezu zerrissen. Dies ist dem Verfasser insbesondere bei der Durchsicht der inzwischen erschienenen englischen und französischen Uebersetzungen entgegen getreten, und er hat sich daher bemüht, durch schärferen Ausdruck, durch Umstellung des alten und Hinzufügung neuen Stoffes das Verständniss zu sichern. Deswegen sind auch noch einige neue Holzschnitte beigegeben. Freilich war es nicht möglich, überall das Einzelne der Beweisführung zu liefern. Früher hatte der Verfasser darauf hingewiesen, dass diese Beweisführung in seinen Specialarbeiten zu suchen sei, aber Wenige haben darauf gehört, im Gegentheil haben Manche Prioritäts-Anklagen gegen den Verfasser erhoben, gleich als ob er seine Lehrsätze in diesem Werke zum ersten Male aufgestellt hätte. Es ist daher nöthig geworden, an den betreffenden Stellen die Citate der früheren Arbeiten anzugeben. Wenn der Verfasser sich dabei darauf beschränkt hat, fast nur seine eigenen Arbeiten zu citiren, so glaubt er sich damit verantworten zu können, dass es ganz unmöglich gewesen sein würde, alle Belegstellen oder Werke zu citiren, auf welche sich seine Anschauungen stützen, dass aber diejenigen Leser, welche die citirten Stellen nachsehen wollen, an denselben in der Regel die einschlagenden Leistungen auch der anderen Untersucher gewissenhaft vorgetragen finden werden. Bei dem Zusammenstellen dieser Citate ist der Verfasser noch mehr, als er dies schon früher hervorhob, von der Thatsache durchdrungen worden, dass der grosse Erfolg des vorliegenden Werkes nur der leichten Form und nicht dem Inhalte zu danken ist. Denn in der That findet sich alles Wesentliche schon in seinen früheren Arbeiten ausgesprochen, ja es ist dort zum Theil weit klarer und schärfer ausgedrückt. Aber nur Wenige haben davon Kenntniss genommen, und Mancher nur zu dem Zweck, um es als sein Eigenthum zu verwerthen. Das kurzgefasste Büchlein aber ist in der kürzesten Frist in fünf Sprachen übersetzt worden; es hat einer grossen Zahl von Lesern, wie ich aus dem Munde Vieler weiss, eine dauernde Anregung gegeben, und so möge in der Freude darüber der Schmerz vergessen sein, dass eine strengere Form der Darstellung noch jetzt eine so geringe Theilnahme findet. Hoffentlich wird dieser Mangel durch die jetzige Auflage nicht befördert werden. =Dürkheim=, am 26. September 1861. $Rud. Virchow.$ Uebersicht der Holzschnitte. Seite Fig. 1. Pflanzenzellen aus einem jungen Triebe von Solanum tuberosum 5 " 2. Rindenschicht eines Knollens von Solanum tuberosum 7 " 3. Knorpelzellen vom Ossificationsrande wachsender Knorpel 8 " 4. Verschiedene Arten von Zellen und Zellgebilden. _a_ Leberzellen, _b_ Bindegewebskörperchen, _c_ Capillargefäss, _d_ Sternzelle aus einer Lymphdrüse, _e_ Ganglienzellen aus dem Kleinhirn 10 " 5. Freie Pflanzenzellenbildung nach =Schleiden= 11 " 6. Pigmentzelle (Auge), glatte Muskelzelle (Darm), Stück einer doppeltcontourirten Nervenfaser 14 " 7. Junge Eierstockseier vom Frosch 15 " 8. Zellen aus katarrhalischem Sputum (Eiter- und Schleimkörperchen, Pigmentzelle) 15 " 9. Epiphysenknorpel vom Oberarm eines Kindes 18 " 10. Zellenterritorien 19 " 11. Schema der Globulartheorie 23 " 12. Schema der Umhüllungs- (Klümpchen-) Theorie 23 " 13. Längsschnitt durch einen jungen Trieb von Syringa 25 " 14. Pathologische Knorpelwucherung aus Rippenknorpel 26 " 15. Cylinderepithel der Gallenblase 30 " 16. Uebergangsepithel der Harnblase 30 " 17. Senkrechter Schnitt durch die Oberfläche der Haut der Zehe (Epidermis, Rete Malpighii, Papillen) 32 " 18. Schematische Darstellung eines Längsdurchschnittes vom Nagel unter normalen und pathologischen Verhältnissen 35 " 19. _A_ Entwickelung der Schweissdrüsen. _B_ Stück eines Schweissdrüsenkanals 38 " 20. _A_ Bündel des gewöhnlichen Bindegewebes, _B_ Bindegewebs-Entwickelung nach dem Schema von =Schwann=. _C_ Bindegewebs-Entwickelung nach dem Schema von =Henle= 40 " 21. Junges Bindegewebe vom Schweinsembryo 42 " 22. Schema der Bindegewebs-Entwickelung 43 " 23. Durchschnitt durch den wachsenden Knorpel der Patella 45 " 24. Knochenkörperchen aus einem pathologischen Knochen der Dura mater cerebralis 48 " 25. Muskelprimitivbündel unter verschiedenen Verhältnissen 51 " 26. Muskelelemente aus dem Herzfleische einer Puerpera 54 " 27. Glatte Muskeln aus der Harnblase 56 " 28. Kleinere Arterie aus der Basis des Grosshirns 60 " 29. Schematische Darstellung von Leberzellen. _A_ Physiologische Anordnung. _B_ Hypertrophie. _C_ Hyperplasie. 90 " 30. Grosse Spindelzellen (fibroplastische Körper) aus einem Sarcoma fusocellulare der Rückenmarkshäute 94 " 31. Durchschnitt aus einer Epulis sarcomatosa des Unterkiefers 95 " 32. Stück von der Peripherie der Leber eines Kaninchens, die Gefässe injicirt 103 " 33. Injection der Capillaren der Rinde der Niere nach =Beer= 105 " 34. Injection der Gefässe der Rinde des Kleinhirns 106 " 35. Natürliche Injection der Gefässe des Corpus striatum eines Geisteskranken 107 " 36. Injectionspräparat von der Muskelhaut des Magens 108 " 37. Gefässe des Calcaneus-Knorpels vom Neugebornen 109 " 38. Knochenschliff aus der compacten Substanz des Femur 110 " 39. Knochenschliff (Querschnitt) 111 " 40. Knochenschliff (Längsschnitt) aus der Rinde einer sklerotischen Tibia 113 " 41. Schliff aus einem neugebildeten Knochen (Osteom) der Arachnoides cerebralis 116 " 42. Zahnschliff mit Dentin und Schmelz 117 " 43. Längs- und Querschnitt aus der halbmondförmigen Bandscheibe des Kniegelenkes vom Kinde 119 " 44. Querschnitt aus der Achillessehne des Erwachsenen 121 " 45. Querschnitt aus dem Innern der Achillessehne eines Neugebornen 122 " 46. Längsschnitt aus dem Innern der Achillessehne eines Neugebornen 123 " 47. Senkrechter Durchschnitt der Hornhaut des Ochsen nach =His= 126 " 48. Flächenschnitt der Hornhaut parallel der Oberfläche nach =His= 127 " 49. Das abdominale Ende des Nabelstranges eines fast ausgetragenen Kindes, injicirt 128 " 50. Querdurchschnitt durch einen Theil des Nabelstranges 129 " 51. Querdurchschnitt vom Schleimgewebe des Nabelstranges 131 " 52. Elastische Netze und Fasern aus dem Unterhautgewebe des Bauches 133 " 53. Injection der Hautgefässe, senkrechter Durchschnitt 137 " 54. Schnitt aus der Tunica dartos 138 " 55. _A_ Epithel von der Cruralarterie. _B_ Epithel von grösseren Venen 144 " 56. Kleinere Arterie aus der Sehnenscheide der Extensoren 145 " 57. Epithel der Nierengefässe. _A_ Flache Spindelzellen vom Neugebornen. _B_ Bandartige Epithelplatte vom Erwachsenen 148 " 58. Ungleichmässige Zusammenziehung kleiner Gefässe aus der Schwimmhaut des Frosches nach Reizung (Copie nach =Wharton Jones=) 152 " 59. Geronnenes Fibrin aus menschlichem Blute 168 " 60. Kernhaltige rothe Blutkörperchen von einem sechs Wochen alten menschlichen Fötus 171 " 61. Rothe Blutkörperchen des Erwachsenen 172 " 62. Hämatoidin-Krystalle 177 " 63. Pigment aus einer apoplectischen Narbe des Gehirns 178 " 64. Häminkrystalle aus menschlichem Blute 179 " 65. Farblose Blutkörperchen 182 " 66. Farblose Blutkörperchen bei variolöser Leukocytose 183 " 67. Fibringerinnsel aus der Lungenarterie und ein Korn, aus dichtgedrängten farblosen Blutkörperchen bestehend, bei Leukocytose 184 " 68. Capillarstrom in der Froschschwimmhaut 185 " 69. Schema eines Aderlassgefässes mit geronnenem hyperinotischem Blute 187 " 70. Durchschnitte durch die Rinde menschlicher Gekrösdrüsen 208 " 71. Lymphkörperchen aus dem Innern der Lymphdrüsen-Follikel 211 " 72. Eiterkörperchen und Kerne derselben bei Gonorrhoe 219 " 73. Eingedickter käsiger Eiter 220 " 74. Eingedickter, zum Theil in Auflösung begriffener, hämorrhagischer Eiter aus Empyem 221 " 75. In der Fettmetamorphose begriffener Eiter 222 " 76. Durchschnitt durch die Rinde einer Axillardrüse bei Tättowirung der Haut des Arms 224 " 77. Das mit Zinnober, nach Tättowirung des Arms, gefüllte Reticulum aus einer Axillardrüse 225 " 78. Valvuläre Thrombose der Vena saphena 236 " 79. Puriforme Detritusmassen aus erweichten Thromben. _A_ Körner des zerfallenden Fibrins. _B_ Die freiwerdenden, zum Theil in der Rückbildung begriffenen Blutkörperchen. _C_ In der Entfärbung begriffene und zerfallende Blutkörperchen 238 " 80. Autochthone und fortgesetzte Thromben der Cruralvenen-Aeste 243 " 81. Embolie der Lungenarterie 245 " 82. Ulceröse Endocarditis mitralis von einer Puerpera 246 " 83-84. Capillarembolie in den Penicilli der Milzarterie nach Endocarditis 247 " 85. Melanämie. Blut aus dem rechten Herzen 264 " 86. Querschnitt durch einen Nervenstamm des Plexus brachialis 273 " 87. Graue und weisse Nervenfasern 274 " 88. Markige Hypertrophie des Opticus innerhalb des Auges 276 " 89. Tropfen von Markstoff: _A_ aus der Markscheide von Hirnnerven nach Aufquellung durch Wasser, _B_ aus zerfallendem Epithel der Gallenblase 277 " 90. Breite und schmale Nervenfasern mit unregelmässiger Aufquellung des Markstoffes 279 " 91. Vater'sches oder Pacini'sches Körperchen aus dem Unterhautgewebe der Fingerspitze 281 " 92. Nerven- und Gefässpapillen der Haut der Fingerspitze. Tastkörperchen 283 " 93. Grundstock eines spitzen Condyloms vom Penis mit Papillarwucherung 287 " 94. _A_ Verticaldurchschnitt durch die ganze Dicke der Retina. _B_, _C_ (nach H. =Müller=) Isolirte Radiärfasern 290 " 95. Theilung einer Primitiv-Nervenfaser 295 " 96. Nervenplexus aus der Submucosa des Darmes vom Kinde 297 " 97. Elemente (Ganglienzellen und Nervenfasern) aus dem Ganglion Gasseri 301 " 98. Ganglienzellen aus den Centralorganen. _A_, _B_, _C_ Aus dem Rückenmarke. _D_ Aus der Gehirnrinde 304 " 99. Die Hälfte eines Querschnittes aus dem Halstheile des Rückenmarkes 310 " 100. Schematische Darstellung des Nervenverhaltens in der Rinde des Kleinhirns nach =Gerlach= 312 " 101. Querdurchschnitt durch das Rückenmark von Petromyzon fluviatilis 314 " 102. Blasse Fasern aus dem Rückenmarke des Petromyzon fluviatilis 315 " 103. Ependyma ventriculorum mit Neuroglia. _ca_ Corpora amylacea. 318 " 104. Zellige Elemente der Neuroglia 321 " 105. Schematischer Durchschnitt des Rückenmarkes bei partieller grauer Atrophie 324 " 106. Schema des Zustandes der Nerven-Molekeln, _A_ im ruhenden, _B_ im elektrotonischen Zustande nach =Ludwig= 339 " 107, I. Automatische Zellen aus der Flüssigkeit einer Hydrocele lymphatica 354 " 107, II. Automatische Zellen aus Enchondrom 355 " 107, III. Dieselben Zellen mit stärkerer Verästelung der Fortsätze 356 " 107, IV. Bewegliche Eiterkörperchen des Frosches nach v. =Recklinghausen= 357 " 107. Gewundenes Harnkanälchen aus der Rinde der Niere bei Morbus Brightii 372 " 108. Parenchymatöse Keratitis 377 " 109. Parenchymatöse Keratitis 379 " 110. Kerntheilung in den Elementen einer melanotischen Geschwulst der Parotis 382 " 111. Markzellen des Knochens nach =Kölliker= 383 " 112. Kerntheilung in Muskelprimitivbündeln im Umfange einer Krebsgeschwulst 385 " 113, I. Wucherung (Proliferation) des wachsenden Diaphysenknorpels von der Tibia eines Kindes (Längsschnitt) 387 " 113, II. Proliferation eines Myxosarkoms des Oberkiefers 389 " 114. Fettzellgewebe aus dem Panniculus. _A_ Das gewöhnliche Unterhautgewebe mit Fettzellen, _B_ Atrophisches Fett 406 " 115. Interstitielle Fettwucherung der Muskeln 407 " 116. Darmzotten und Fettresorption. _A_ Normale Darmzotten, _B_ Zotten im Zustande der Contraction. _C_ Menschliche Darmzotten während der Chylusresorption, _D_ bei Chylusretention 410 " 117. Die aneinanderstossenden Hälften zweier Leberacini (Zonen der Fett-, Amyloid- und Pigmentinfiltration) 415 " 118. Haarbalg mit Talgdrüsen von der äusseren Haut 418 " 119. Milchdrüse in der Lactation, Milch, Colostrum 419 " 120. Corpus luteum aus dem menschlichen Eierstock 424 " 121. Fettmetamorphose des Herzfleisches in verschiedenen Stadien 427 " 122. Fettige Degeneration an Hirnarterien. _A_ Fettmetamorphose der Muskelzellen in der Ringfaserhaut. _B_ Bildung von Fettkörnchenzellen in den Bindegewebskörperchen der Intima 429 " 123. Geschichtete amylacische Körper der Prostata (Concretionen) 436 " 124. Amyloide Degeneration einer kleinen Arterie aus der Submucosa des Dünndarms 441 " 125. Amyloide Degeneration einer Lymphdrüse 448 " 126. Corpora amyloidea aus einer erkrankten Lymphdrüse 448 " 127. Verkalkung der Gelenkknorpel alter Leute 454 " 128. Verticalschnitt durch die Aortenwand an einer sklerotischen, zur Bildung eines Atheroms fortschreitenden Stelle 464 " 129. Der atheromatöse Brei aus einem Aortenheerde. _aa_' Flüssiges Fett, _b_ Amorphe körnig-faltige Schollen, _cc_' Cholestearinkrystalle 466 " 130. Verticaler Durchschnitt aus einer sklerotischen, sich fettig metamorphosirenden Platte der Aorta (innere Haut) 467 " 131. Condylomatöse Excrescenzen der Valvula mitralis 471 " 132. Intracapsuläre Zellenvermehrung in der mittleren Substanz der Intervertebralknorpel 487 " 133. Endogene Neubildung, blasentragende Zellen (Physaliphoren). _A_ Aus der Thymusdrüse eines Neugebornen. _B C_ Krebszellen 489 " 134. Verticalschnitt durch den Ossificationsrand eines wachsenden Astragalus (pathologische Reizung) 501 " 135-36. Horizontalschnitte durch den wachsenden Diaphysenknorpel der Tibia, menschlicher Fötus von 7 Monaten 504 " 137-38. Rachitische Diaphysenknorpel: markige und osteoide Umbildung, Verkalkung und Verknöcherung 507-9 " 139. Periostwachsthum der Schädelknochen (Os parietale, Kind) 513 " 140-41. Osteoidchondrom vom Kiefer einer Ziege 515-16 " 142. In der Heilung begriffene Fractur des Oberarms, Callusbildung 519 " 143. Demarkationsrand eines nekrotischen Knochenstückes bei Paedarthrocace, Knochenterritorien 521 " 144. Interstitielle Eiterbildung bei puerperaler Muskelentzündung 530 " 145. Eiterige Granulation aus dem Unterhautgewebe des Kaninchens, im Umfange eines Ligaturfadens 536 " 146. Entwickelung von Krebs aus Bindegewebe bei Carcinoma mammae 539 " 147. Beginnendes Blumenkohlgewächs (Cancroid) des Collum uteri 554 " 148. Entwickelung von Tuberkel aus Bindegewebe in der Pleura 559 " 149. Krebszellen 566 " 150. Cancroidzapfen aus einer Geschwulst der Unterlippe mit Epidermis-Perlen 568 " 151. Cancroid der Orbita 569 " 152. Sarcoma mammae 572 Erstes Capitel. Die Zelle und die cellulare Theorie. Einleitung und Aufgabe. Bedeutung der anatomischen Entdeckungen in der Geschichte der Medicin. Geringer Einfluss der Zellentheorie auf die Pathologie. Die Zelle als letztes wirkendes Element des lebenden Körpers. Genauere Bestimmung der Zelle. Die Pflanzenzelle: Membran, Inhalt (Protoplasma), Kern. Die thierische Zelle: die eingekapselte (Knorpel) und die einfache. Der Zellenkern (Nucleus). Das Kernkörperchen (Nucleolus). Die Theorie der Zellenbildung aus freiem Cytoblastem. Constanz des Kerns und Bedeutung desselben für die Erhaltung der lebenden Elemente. Der Zellkörper und das Protoplasma. Verschiedenartigkeit des Zelleninhalts und Bedeutung desselben für die Function der Theile. Die Zellen als vitale Einheiten (Elementarorganismen). Der Körper als sociale Einrichtung. Die Intercellularsubstanz und die Zellenterritorien. Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Solidarpathologie. Falsche Elementartheile: Fasern, Kügelchen (Elementarkörnchen). Entstehung der Zellen. Umhüllungstheorie. Generatio aequivoca der Zellen. Das Gesetz von der continuirlichen Entwickelung (Omnis cellula e cellula). Pflanzen- und Knorpelwachsthum. Wir befinden uns inmitten einer grossen Reform der Medicin. Zum ersten Male seit Jahrtausenden ist in unserer Zeit das gesammte Gebiet dieser so umfangreichen Wissenschaft der naturwissenschaftlichen Forschung unterworfen worden. Lehrsätze, welche zu den ältesten Ueberlieferungen der Menschheit gehören, werden der Feuerprobe nicht bloss der Erfahrung, sondern noch mehr des Versuches ausgesetzt. Für die Erfahrung werden Beweise, für den Versuch zuverlässige Methoden gefordert. Ueberall dringt die Forschung auf die feinsten, den menschlichen Sinnen zugänglichen Verhältnisse; die Erkenntniss geht in zahllose Einzelheiten aus einander, welche das Bewusstsein von der einheitlichen Natur des menschlichen Wesens stören und welche Vielen mehr geeignet zu sein scheinen, einen Schmuck des Wissens, als eine Handhabe des Handelns darzustellen. Am meisten wird der ausübende Arzt bedrängt. Er, dem die Praxis kaum die Musse des Lesens vergönnt, dem sowohl die ausreichenden literarischen Hülfsmittel, als die Anschauung der neueren Erfahrungen nur zu oft abgehen, er findet sich verwirrt in einem Chaos, in welchem die Trümmer des Alten mit den Bausteinen des Neuen bunt durch einander geworfen zu sein scheinen. Und doch ist das Chaos nur scheinbar. Es besteht nur für den, welcher die Thatsachen nicht beherrscht, auf welchen die neue Anschauung sich begründet. Für den Eingeweihten lässt sich wohl eine Ordnung herstellen, welche sowohl dem praktischen, als dem wissenschaftlichen Bedürfnisse genügt, eine Ordnung, welche freilich weit davon entfernt ist, ein in sich abgeschlossenes System zu bilden, welche aber von einem allgemeinen biologischen Principe aus die Einzelerfahrungen nach ihrem besonderen Werthe und nach ihren Beziehungen unter einander in einen wissenschaftlichen Zusammenhang zu setzen vermag. Diess ist das =cellulare Princip=, welches in seiner Anwendung auf den zusammengesetzten, lebenden Körper uns zu einer =Cellular-Physiologie= und zu einer =Cellular-Pathologie= führt, welches aber in jeder dieser beiden Richtungen zunächst auf einer Anatomie des feinsten Einzelnen, auf der Histologie beruht. In der That ist die gegenwärtige Reform wesentlich ausgegangen von neuen anatomischen Erfahrungen. Freilich waren es zumeist Erfahrungen der pathologischen Anatomie, welche die alten Lehrgebäude erschütterten, und noch jetzt scheint es Vielen, als sei damit genug gethan und als habe die Histologie nur die Bedeutung einer Luxuswissenschaft. Jeder Blick in die Vergangenheit zeigt uns aber, wie unrichtig es ist, wenn man glauben kann, der Einfluss der Anatomie auf die Medicin sei nur ein äußerlicher, ihr Werth ein mehr relativer. Die Geschichte der Medicin lehrt uns ja, wenn wir nur einen einigermaassen grösseren Ueberblick nehmen, dass zu allen Zeiten die bleibenden Fortschritte bezeichnet worden sind durch anatomische Neuerungen, dass jede grössere Epoche zunächst eingeleitet wurde durch eine Reihe bedeutender Entdeckungen über den Bau und die Einrichtung des Körpers. So ist es in der alten Zeit gewesen, als die Erfahrungen der Alexandriner, zum ersten Male von der Anatomie des Menschen ausgehend, das galenische System vorbereiteten; so im Mittelalter, als =Vesal= die moderne Anatomie begründete und damit die Reform der Medicin begann; so endlich im Anfange unseres Jahrhunderts, als =Bichat= die Grundsätze der allgemeinen Anatomie entwickelte. Wenn man den ausserordentlichen Einfluss erwägt, welchen seiner Zeit =Bichat= auf die Gestaltung der ärztlichen Anschauungen ausgeübt hat, so ist es in der That erstaunlich zu sehen, dass eine verhältnissmässig so lange Zeit vergangen ist, seitdem =Schwann= seine grossen Entdeckungen in der Histologie machte, ohne dass man die eigentliche Breite der neuen Thatsachen würdigte. Es hat dies allerdings zum Theil trotz dieser Entdeckungen daran gelegen, dass immer noch eine grosse Unsicherheit unserer Kenntnisse über die feinere Einrichtung vieler Gewebe fortbestanden hat, ja, wie wir leider zugestehen müssen, in manchen Theilen der Histologie selbst jetzt noch in solchem Maasse herrscht, dass Mancher kaum weiss, für welche Ansicht er sich entscheiden soll. Jeder Tag bringt neue Aufschlüsse, aber auch neue Zweifel über die Zuverlässigkeit eben erst veröffentlichter Entdeckungen. Ist denn überhaupt, fragt Mancher, in der Histologie etwas sicher? Giebt es einen Punkt, in dem Alle übereinstimmen? Vielleicht nicht. Aber gerade um deswegen habe ich in den Vorträgen im Anfange des Jahres 1858, welche vor einem grossen Kreise von Collegen, zunächst als Erläuterung unmittelbarer Demonstrationen, als Erklärung bestimmter, für die Ueberzeugung der Einzelnen durch eigene Anschauung und Prüfung eingerichteter Beweisstücke gehalten wurden und welche der gegenwärtigen Darstellung zu Grunde liegen, mich für verpflichtet erachtet, eine kurze und leicht fassliche Uebersicht desjenigen, was ich durch langjährige, gewissenhafte Untersuchung für wahr zu halten mich berechtigt glaubte, auch dem weiteren Kreise der Aerzte zugänglich zu machen. Manches Einzelne ist seitdem berichtigt, manches Andere neu entdeckt worden; die gegenwärtige Bearbeitung wird davon Zeugniss ablegen. Aber das Princip der Anschauung, welches ich für das gesammte Gebiet der Physiologie und Pathologie zu benutzen gelehrt habe und dessen erste schüchterne Ausführung in einer Arbeit des Jahres 1852[1] niedergelegt ist, darf gegenwärtig als gesichert angesehen werden, und für denjenigen, welcher daran festhält, wird es auch künftig nicht schwer werden, neue Ergebnisse des Forschens an der richtigen Stelle aufzunehmen, ohne dass er deshalb genöthigt wäre, die obersten Sätze aufzugeben, welche hier über die allgemeinen Grundlagen der Lebensthätigkeiten aufgestellt werden. [1] Ernährungseinheiten und Krankheitsheerde. Archiv für pathol. Anatomie, Phys. u. klin. Med. Bd. IV. S. 375. Alle Versuche der früheren Zeit, ein solches einheitliches Princip zu finden, sind daran gescheitert, dass man zu keiner Klarheit darüber zu gelangen wusste, von welchen Theilen des lebenden Körpers eigentlich die Action ausgehe und was das Thätige sei. Dieses ist die Cardinalfrage aller Physiologie und Pathologie. Ich habe sie beantwortet durch den Hinweis auf =die Zelle als auf die wahrhafte organische Einheit=. Indem ich daher die Histologie, als die Lehre von der Zelle und den daraus hervorgehenden Geweben, in eine unauflösliche Verbindung mit der Physiologie und Pathologie setzte, forderte ich vor Allem die Anerkennung, dass =die Zelle wirklich das letzte Form-Element aller lebendigen Erscheinung sowohl im Gesunden, als im Kranken sei, von welcher alle Thätigkeit des Lebens ausgehe=. Manchem erscheint es vielleicht nicht gerechtfertigt, wenn in dieser Weise das Leben als etwas ganz Besonderes anerkannt wird, ja, es wird vielleicht Vielen wie eine Art biologischer Mystik vorkommen, wenn das Leben überhaupt aus dem grossen Ganzen der Naturvorgänge getrennt und nicht sofort ganz und gar in Chemie und Physik aufgelöst wird. In der Folge dieser Vorträge wird sich jedermann davon überzeugen, dass man kaum mehr mechanisch denken kann, als ich es zu thun pflege, wo es sich darum handelt, die Vorgänge innerhalb der letzten Formelemente zu deuten. Aber wie viel auch von dem Stoffverkehr, der innerhalb der Zelle geschieht, nur an einzelne Bestandtheile derselben geknüpft sein mag, immerhin ist die Zelle =der Sitz der Thätigkeit=, das Elementargebiet, von welchem die Art der Thätigkeit abhängt, und sie behält nur so lange ihre Bedeutung als lebendes Element, als sie wirklich ein unversehrtes Ganzes darstellt. Nicht am seltensten ist gegen diese Auffassung der Einwand erhoben worden, man sei nicht einmal einig darüber, was eigentlich unter einer Zelle zu verstehen sei. Dieser Einwand ist insofern unerheblich, als der Streit nicht um die Existenz der Zellen, sondern nur um ihre Deutung geführt wird. Im Wesentlichen weiss jedermann, welche thatsächlich existirenden Körper gemeint sind; ob der Eine sie so, der Andere sie anders interpretirt, ist eine Frage zweiter Ordnung, deren Beantwortung den Werth des Princips nicht berührt. Um so grössere Bedeutung hat sie für die Erörterung der Einzelvorgänge, und es ist gewiss zu bedauern, dass nicht schon lange eine Einigung erzielt ist. Die Schwierigkeiten, auf welche wir hier stossen, datiren unmittelbar von der ersten Begründung der Zellenlehre. =Schwann=, der auf den Schultern des Botanikers =Schleiden= stand, deutete seine Beobachtungen nach botanischen Mustern, und so kam es, dass alle Lehrsätze der Pflanzen-Physiologie mehr oder weniger entscheidend wurden für die Physiologie der thierischen Körper. Die Pflanzenzelle in dem Sinne, wie man sie zu jener Zeit ganz allgemein fasste und wie sie auch gegenwärtig häufig noch gefasst wird, ist aber ein Gebilde, dessen Identität mit dem, was wir thierische Zelle nennen, nicht ohne weiteres zugestanden werden kann. [Illustration: =Fig=. 1. Pflanzenzellen aus dem Centrum des jungen Triebes eines Knollens von Solanum tuberosum. _a_. Die gewöhnliche Erscheinung des regelmässig polygonalen, dickwandigen Zellengewebes. _b_. Eine isolirte Zelle mit feinkörnigem Aussehen der Höhlung, in der ein Kern mit Kernkörperchen zu sehen ist. _c_. Dieselbe Zelle, nach Einwirkung von Wasser; der Inhalt (Protoplasma) hat sich von der Wand (Membran, Capsel) zurückgezogen. An seinem Umfange ist eine besondere feine Haut (Primordialschlauch) zum Vorschein gekommen. _d_. Dieselbe Zelle bei längerer Einwirkung von Wasser; die innere Zelle (Protoplasma mit Primordialschlauch und Kern) hat sich ganz zusammengezogen und ist nur durch feine, zum Theil ästige Fäden mit der Zellhaut (Capsel) in Verbindung geblieben.] Wenn man von gewöhnlichem Pflanzenzellgewebe spricht, so meint man in der Regel damit ein Gewebe, das in seiner einfachsten und regelmässigsten Form auf einem Durchschnitt aus lauter vier- oder sechseckigen, wenn es etwas loser ist, aus rundlichen oder polygonalen Körpern zusammengesetzt erscheint. An jedem dieser Körper (Fig. 1, _a_.) unterscheidet man eine ziemlich dicke und derbe Wand (=Membran=) und eine innere Höhlung. In der Höhlung können je nach Umständen, insbesondere je nach der Natur der einzelnen Zellen, sehr verschiedene Stoffe abgelagert sein, z. B. Fett, Stärke, Pigment, Eiweiss (=Zelleninhalt=). Aber auch ganz abgesehen von diesen örtlichen Verschiedenheiten des Inhaltes, ist die chemische Untersuchung im Stande, an jeder Pflanzenzelle mehrere verschiedene Stoffe nachzuweisen. Die Substanz, welche die äussere Membran bildet, die sogenannte =Cellulose=, ist stickstofflos, und characterisirt sich durch die eigenthümliche, schön blaue Färbung, welche sie bei Einwirkung von Jod und Schwefelsäure annimmt. (Jod allein giebt keine Färbung, Schwefelsäure für sich verkohlt.) Dasjenige, was in der von der Cellulose-Haut umschlossenen Höhle liegt, wird nicht blau, es müsste denn zufällig Stärke (Amylon) vorhanden sein, welche schon durch Jod allein blau gefärbt wird. Ist die Pflanzenzelle recht einfach, so erscheint vielmehr nach der Einwirkung von Jod und Schwefelsäure eine bräunliche oder gelbliche Masse, die sich als besonderer Körper im Innern des Zellenraumes isolirt und an der sich häufig eine besondere faltige, häufig geschrumpfte Umhüllungs-Haut erkennen lässt (Fig. 1, _c_.). =Hugo= v. =Mohl=, der zuerst (1844-46) diese innere Einrichtung genauer beschrieben hat, nannte jene Masse das =Protoplasma=, die Umhüllungs-Haut den =Primordialschlauch= (Utriculus primordialis). Auch die gröbere chemische Analyse zeigt an den einfachsten Zellen neben der stickstofflosen äusseren Substanz eine stickstoffhaltige innere Masse, und es lag daher nahe, zu schliessen, dass das eigentliche Wesen einer Pflanzenzelle darin beruhe, dass innerhalb einer stickstofflosen Membran ein von ihr differenter stickstoffhaltiger Inhalt vorhanden sei. Man wusste freilich schon seit längerer Zeit, dass noch andere Dinge sich im Innern der Zellen befinden. Insbesondere war es eine der am meisten folgenreichen Entdeckungen, als =Rob=. =Brown= den =Kern= (Nucleus) innerhalb der Pflanzenzelle entdeckte (Fig. 1, _b_ u. _c_.). Unglücklicherweise legte man diesem Gebilde eine grössere Bedeutung für die Bildung, als für die Erhaltung der Zellen bei, weil in sehr vielen älteren Pflanzenzellen der Kern äusserst undeutlich wird, in vielen ganz verschwindet, während die Form der Zelle doch erhalten bleibt. Objecte zu gewinnen, welche das vollkommene Bild der Pflanzenzelle darbieten, ist nicht schwierig. Man nehme z. B. einen Kartoffelknollen und untersuche ihn da, wo er anfängt, einen neuen Schoss zu treiben, wo also die Wahrscheinlichkeit besteht, dass man junge Zellen finden wird, vorausgesetzt, dass Knospung überhaupt in der Bildung neuer Zellen besteht. Im Innern des Knollens sind alle Zellen mit Amylonkörnern vollgestopft; an dem jungen Schoss dagegen wird in dem Maasse, als er wächst, das Amylon aufgelöst und verbraucht, und die Zelle zeigt sich wieder in ihrer einfacheren Gestalt. Auf einem Querschnitte durch einen jungen Schössling nahe an seinem Austritte aus dem Knollen unterscheidet man etwa vier verschiedene Lagen: die Rindenschicht, dann eine Schicht grösserer Zellen, dann eine Schicht kleinerer Zellen, und zu innerst wieder eine Lage von grösseren. In dieser letzteren sieht man lauter regelmässige Gebilde; dicke Kapseln von sechseckiger Gestalt und im Innern derselben einen oder ein Paar Kerne (Fig. 1). Gegen die Rinde (Korkschicht) und ihre Matrix (Cambium) hin sind die Zellen viereckig und je weiter nach aussen, um so platter, aber auch in ihnen erkennt man bestimmt Kerne (Fig. 2, _a_.). Ueberall, wo die sogenannten Zellen zusammenstossen, ist zwischen ihnen eine Grenze zu erkennen; dann kommt die dicke Celluloseschicht, in welcher häufig feine Streifen (Ablagerungsschichten) zu bemerken sind, und im Innern der Höhle eine zusammengesetzte Masse, in welcher leicht ein Kern mit Kernkörperchen zu unterscheiden ist, und an der nach Anwendung von Reagentien auch der Primordialschlauch (Utriculus) als eine gefaltete, runzlige Haut zum Vorschein kommt. Es ist dies die vollendete, aber einfache Form der Pflanzenzelle. In den benachbarten Zellen liegen einzelne grössere, matt glänzende, geschichtete Körper: die Reste von Stärkemehl (Fig. 2, _c_.). [Illustration: =Fig=. 2. Aus der Rindenschicht eines Knollens von Solanum tuberosum nach Behandlung mit Jod und Schwefelsäure. _a_. Platte Rindenzellen, umgeben von der Kapsel (Zellhaut, Membran). _b_. Grössere, viereckige Zellen derselben Art aus dem Cambium; die geschrumpfte und gerunzelte eigentliche Zelle mit dem Primordialschlauch innerhalb der Kapsel. _c_. Zelle mit Amylonkörnern, welche innerhalb des Primordialschlauches liegen.] Mit solchen Erfahrungen kam man an die thierischen Gewebe, deren Uebereinstimmung mit den pflanzlichen =Schwann= nachzuweisen suchte. Die eben besprochene Deutung der gewöhnlichen pflanzlichen Zellenformen, wobei man jedoch den von Vielen geleugneten Primordialschlauch ganz unberücksichtigt zu lassen pflegte, diente als Ausgangspunkt. Dies ist aber, wie die Erfahrung gezeigt hat, in gewissem Sinne irrig gewesen. Man kann die pflanzliche Zelle in ihrer Totalität nicht mit jeder thierischen zusammenstellen. Wir kennen an thierischen Zellen keine solchen Unterschiede zwischen stickstoffhaltigen und stickstofflosen Schichten; in allen wesentlichen, die Zelle constituirenden Theilen kommen auch stickstoffhaltige Stoffe vor. Aber es giebt allerdings gewisse Formelemente im thierischen Leibe, welche an diese pflanzlichen Zellen unmittelbar erinnern; die am meisten charakteristischen unter ihnen sind die Zellen im =Knorpel=, der seiner ganzen Erscheinung nach von den übrigen Geweben des thierischen Leibes so sehr abweicht, und der schon durch seine Gefässlosigkeit eine ganz besondere Stellung einnimmt. Der Knorpel schliesst sich in jeder Beziehung am nächsten an die Gewebe der Pflanze an. An einer recht entwickelten Knorpelzelle erkennen wir eine verhältnissmässig dicke äussere Schicht, innerhalb welcher, wenn wir recht genau zusehen, wiederum eine zarte Haut, ein Inhalt und ein Kern zu finden sind. Hier haben wir also ein Gebilde, das der Pflanzenzelle durchaus entspricht. [Illustration: =Fig=. 3. Knorpelzellen, wie sie am Ossificationsrande wachsender Knorpel vorkommen, ganz den Pflanzenzellen analog (vgl. die Erklärung zu Fig. 1). _a_-_c_. entwickeltere, _d_. jüngere Form.] Man hat daher auch lange Zeit hindurch, wenn man den Knorpel schilderte, das ganze eben beschriebene Gebilde (Fig. 3, _a_-_d_.) ein Knorpelkörperchen genannt. Indem man dasselbe aber den Zellen anderer thierischer Theile coordinirte, stiess man auf Schwierigkeiten, welche die Kenntniss des wahren Sachverhältnisses ungemein störten. Das Knorpelkörperchen ist nehmlich nicht als Ganzes eine Zelle, sondern die äussere Schicht, die von mir sogenannte =Capsel=[2], ist das Produkt einer späteren Entwickelung (Absonderung, Ausscheidung). Im jungen oder wenig entwickelten Knorpel ist sie sehr dünn, während auch die Zelle kleiner zu sein pflegt. Gehen wir noch weiter in der Entwickelung zurück, so treffen wir auch im Knorpel nichts als eine einfache Zelle, welche jene äussere Absonderungsschicht noch nicht besitzt, dasselbe Gebilde, welches auch sonst in thierischen Geweben vorkommt. [2] Archiv f. path. Anat. u. Physiol. 1853. Bd. V. S. 419, Note. Die Vergleichung zwischen thierischen und pflanzlichen Zellen, die wir allerdings machen müssen, ist demnach insofern zu beschränken, als in den meisten thierischen Geweben keine Formelemente gefunden werden, die als Aequivalente der Pflanzenzelle in der alten Bedeutung dieses Wortes betrachtet werden können. Insbesondere entspricht die Cellulose-Membran der Pflanzenzelle nicht der thierischen Zellhaut. Aber bei einer anderen Deutung der Pflanzenzelle trifft die Vergleichung allerdings zu, nur muss man sofort davon abgehen, dass die thierische Zellhaut als stickstoffhaltig eine typische Verschiedenheit von der pflanzlichen als stickstoffloser darbiete. Vielmehr treffen wir in beiden Fällen eine stickstoffhaltige Bildung von im Grossen übereinstimmender Zusammensetzung. Wenn auch die sogenannte Membran (Capsel) der Pflanzenzelle in der Capsel der Knorpelzellen ein Analogon findet, so =entspricht doch vielmehr die gewöhnliche Membran der Thierzelle dem Primordialschlauch der (inneren) Pflanzenzelle=, wie ich schon 1847 hervorgehoben habe[3]. Erst wenn man diesen Standpunkt festhält, wenn man von der Zelle Alles ablöst, was durch eine spätere Entwickelung äusserlich hinzugekommen ist, so gewinnt man das einfache, gleichartige, scheinbar monotone Gebilde, welches sich in allen lebendigen Organismen wiederholt. Aber gerade diese Constanz ist das beste Kriterium dafür, das wir in ihm das wirklich Elementare haben, dasjenige Gebilde, welches alles Lebendige charakterisirt, ohne dessen Präexistenz keine neuen lebendigen Formen entstehen und an welches Fortgang und Erhaltung des Lebens gebunden sind. Erst seitdem der Begriff der Zelle diese strenge Form bekommen hat, und ich bilde mir etwas darauf ein, trotz des Vorwurfes der Pedanterie stets daran festgehalten zu haben, erst seit dieser Zeit kann man sagen, dass eine einfache Form gewonnen ist, die wir überall wieder aufsuchen können, und die, wenn auch in Grösse, Gestalt und Ausstattung verschieden, doch in ihren wesentlichen Bestandtheilen immer gleichartig angelegt ist. [3] Archiv 1847. Bd. I. S. 218. Es liegt auf der Hand, dass der Ausdruck »Zelle«, welcher von den Cellulose-Capseln der Pflanzenzellen hergenommen ist, ein beträchtliches Stück seiner wirklichen Bedeutung verloren hat, seitdem er auf die mit zarten Primordialschläuchen oder Membranen umkleideten =Körper= übertragen ist, welche die neue Wissenschaft im Auge hat. Denn hier handelt es sich nicht sowohl um hohle Bläschen, bei denen die Membran gewissermassen die Hauptsache ist, sondern um, wenn auch weiche, so doch solide Körper, deren äussere Begrenzungsschicht eine grössere Dichtigkeit besitzt, als das Innere, ja bei denen es fraglich ist, ob überhaupt diese Begrenzungsschicht ein notwendiges Zubehör ist. Bevor wir jedoch diese Frage erörtern, wird es zweckmässig sein, die anderen Bestandtheile der Zelle zu betrachten. Zuerst erwarten wir, dass innerhalb der Zelle ein =Kern= sei. Von diesem Kerne, der in der Regel eine ovale oder runde Gestalt hat, wissen wir, dass er, zumal in jungen Elementen, eine grössere Resistenz gegen chemische Einwirkungen besitzt, als die äussereren Theile der Zelle, und dass er trotz der grössten Variabilität in der äusseren Gestalt der Zelle seine Gestalt im Allgemeinen behauptet. Der Kern ist demnach derjenige Theil der Zelle, der mit grösster Constanz in allen Formen fast unverändert wiederkehrt. Freilich giebt es einzelne Fälle, sowohl in der vergleichenden, als auch in der pathologischen Anatomie, wo auch der Kern zackig oder eckig erscheint, aber dies sind ganz seltene Ausnahmen, gebunden an besondere Veränderungen, welche das Element eingegangen ist. Im Allgemeinen kann man sagen, dass, so lange es noch zu keinem Abschlusse des Zellenlebens gekommen ist, so lange die Zellen sich als lebenskräftige Elemente verhalten, die Kerne eine nahezu constante Form besitzen. Nur in den niedersten Pflanzen z. B. in den niedersten Pilzformen, ist es nicht möglich, einen Kern nachzuweisen. [Illustration: =Fig=. 4. _a_. Leberzelle. _b_. Spindelzelle des Bindegewebes. _c_. Capillargefäss. _d_. Grössere Sternzelle aus einer Lymphdrüse. _e_. Ganglienzelle aus dem Kleinhirn. Die Kerne überall gleichartig.] Der Kern seinerseits enthält bei entwickelten Elementen wiederum mit grosser Beständigkeit ein anderes Gebilde in sich, das sogenannte =Kernkörperchen= (Nucleolus). Man kann jedoch von demselben nicht sagen, dass es als ein notwendiges Desiderat der vitalen Form erscheine; in einer erheblichen Zahl von jungen Elementen ist es noch nicht gelungen, es zu sehen. Dagegen treffen wir es bei gut entwickelten, älteren Formen regelmässig, und es scheint daher eine höhere Ausbildung des Elementes anzuzeigen. Nach der Aufstellung, welche ursprünglich von =Schleiden= gemacht und von =Schwann= acceptirt wurde, dachte man sich lange Zeit das Verhältniss der drei genannten Zellentheile (Membran, Kern und Kernkörperchen) so, dass der Nucleolus bei der Bildung der Gewebe als das Erste aufträte, indem er sich aus einer Bildungsflüssigkeit (=Blastem=, =Cytoblastem=) ausscheide, dass er schnell eine gewisse Grösse erreiche, und dass sich dann um ihn kleine Körnchen aus dem Blastem niederschlügen, um die sich wiederum eine Membran verdichte. Damit wäre ein Nucleus fertig, um den sich allmählich wiederum neue Masse ansammele und, zuerst an einer Seite des Nucleus, eine feine Membran erzeuge (die berühmte Uhrglasform der Zellenmembran. Fig. 5, _d_'). Diese Darstellung der Bildung von Zellen aus freiem Blastem, wonach der Kern der Zelle voraufgehen und als eigentlicher Zellenbildner (=Cytoblast=) auftreten sollte, ist es, welche man gewöhnlich unter dem Namen der =Zellentheorie= (genauer Theorie der =freien= Zellenbildung) zusammenzufassen pflegte, -- eine Theorie, welche gegenwärtig vollständig verlassen ist, und für deren Richtigkeit keine Thatsache beigebracht werden kann. [Illustration: =Fig=. 5. Freie Zellenbildung nach =Schleiden=, Grundzüge der wiss. Botanik. I. Fig. 1. »Inhalt des Embryosackes von Vicia faba bald nach der Befruchtung. In der hellen, aus Gummi und Zucker bestehenden Flüssigkeit schwimmen Körnchen von Proteinverbindungen (_a_.), unter denen sich einzelne grössere auffallend auszeichnen. Um diese letzteren sieht man dann die ersteren zu einer kleinen Scheibe zusammengeballt (_b_. _c_.) Um andere Scheiben erkennt man einen hellen, scharf begrenzten Saum, der sich allmählich weiter von der Scheibe (dem Cytoblasten) entfernt und endlich deutlich als junge Zelle (_d_. _e_.) erkannt wird.«] Wir werden späterhin eine Reihe von Thatsachen der physiologischen und pathologischen Entwickelungsgeschichte besprechen, welche es in hohem Grade wahrscheinlich machen, dass der Kern allerdings eine außerordentlich wichtige Rolle innerhalb der Zelle spielt, eine Rolle, die, wie ich gleich hervorheben will, weniger auf die Function, die specifische Leistung der Elemente sich bezieht, als vielmehr auf die Erhaltung und Vermehrung der Elemente als lebendiger Theile. Die specifische (im engeren Sinne animalische) Function zeigt sich am deutlichsten am Muskel, am Nerven, an der Drüsenzelle, aber die besonderen Thätigkeiten der Contraction, der Sensation, der Secretion scheinen in keiner Weise unmittelbar mit den Kernen etwas zu thun zu haben. Dass dagegen inmitten aller Function das Element ein Element bleibt, dass es nicht vernichtet wird und zu Grunde geht unter der fortdauernden Thätigkeit, dies scheint wesentlich an die Existenz des Kerns gebunden zu sein. Alle diejenigen zelligen Bildungen, welche ihren Kern verlieren, sind hinfällig, sie gehen zu Grunde, sie verschwinden, sterben ab, lösen sich auf. Ein menschliches Blutkörperchen z. B. ist eine Zelle ohne Kern; es besitzt höchstens eine äussere Membran und einen rothen Inhalt, aber damit ist seine Zusammensetzung, soweit man sie erkennen kann, erschöpft, und was man vom Blutkörperchen-Kern beim Menschen erzählt hat, bezieht sich auf Täuschungen, welche allerdings sehr leicht und häufig hervorgebracht werden dadurch, dass kleine Unebenheiten an der Oberfläche entstehen (Fig. 61). Man würde daher nicht einmal behaupten können, dass Blutkörperchen Zellen seien, wenn man nicht wüsste, dass eine gewisse Zeit existirt, wo auch die menschlichen Blutkörperchen Kerne haben, nehmlich die Zeit innerhalb der ersten Monate des intrauterinen Lebens. Hier circuliren auch beim Menschen kernhaltige Blutkörperchen, wie man sie bei Fröschen, Vögeln, Fischen das ganze Leben hindurch sieht. Das ist bei Säugethieren auf eine gewisse Zeit der Entwickelung beschränkt; in der späteren Zeit besitzen die rothen Blutkörperchen nicht mehr die volle Zellennatur, vielmehr haben sie einen wichtigen Bestandtheil ihrer Zusammensetzung eingebüsst. Aber Alle sind auch darüber einig, dass gerade das Blut einer von jenen wechselnden Bestandtheilen des Körpers ist, deren Elemente keine Dauerhaftigkeit besitzen, vielmehr fort und fort zu Grunde gehen und ersetzt werden durch neue, die wiederum der Vernichtung bestimmt sind. Wie die obersten Epidermiszellen, in welchen wir auch keine Kerne finden, sobald sie sich abschilfern, haben die ersten Blutkörperchen schon ein Stadium ihrer Entwickelung erreicht, wo sie nicht mehr jener Dauerhaftigkeit der inneren Zusammensetzung bedürfen, als deren Bürgen wir den Kern betrachten müssen. Dagegen kennen wir, so vielfach auch gegenwärtig die Gewebe untersucht sind, keinen Theil, der wächst, der sich vermehrt, sei es physiologisch, sei es pathologisch, wo nicht kernhaltige Elemente als die Ausgangspunkte der inneren Veränderung nachweisbar wären, und wo nicht die ersten erkennbaren Veränderungen, welche auftreten, den Kern selbst betreffen, so dass wir aus seinem Verhalten oft bestimmen können, was möglicher Weise aus den Elementen geworden sein würde, wenn der Vorgang weiter fortgeschritten wäre. [Illustration: =Fig=. 6. _a_. Pigmentzelle aus der Chorioides oculi. _b_. Glatte Muskelzelle aus dem Darm. _c_. Stück einer doppeltcontourirten Nervenfaser mit Axencylinder, Markscheide und wandständigem, nucleolirtem Kern in der äusseren Scheide.] Längere Zeit hindurch verlangte man für die Definition einer Zelle nicht viel mehr, als die Membran, mochte sie nun rund oder zackig oder sternförmig sein, und den Kern, welcher von vorn herein eine andere chemische Beschaffenheit besitzt, als die Membran. Es ist indess damit lange nicht alles Wesentliche erschöpft. Denn die Zelle ist ausser dem Kern gefüllt mit einer verhältnissmässig grösseren oder kleineren Menge von =Inhaltsmasse=, und ebenso in der Regel der Kern seinerseits, in der Art, dass der Inhalt des Kerns wieder verschieden zu sein pflegt von dem Inhalte der Zelle. Innerhalb mancher Zellen sehen wir Pigment, ohne dass der Kern davon etwas enthielte (Fig. 6, _a_.). Innerhalb einer Muskelzelle wird contractile Substanz abgelagert, die Trägerin der Contractions-Kraft; der Kern bleibt Kern (Fig. 6, _b_.). Eine Nervenfaser kann um den Axencylinder Mark ausscheiden, aber der Kern bleibt ausserhalb, der Axencylinder innerhalb des Markes unversehrt (Fig. 6, _c_.). In der Mehrzahl der thierischen Zellen nimmt der sogenannte Inhalt den verhältnissmässig grössten Raum ein; er ist wenigstens quantitativ unzweifelhaft der Hauptbestandtheil dessen, was ich den =Zellkörper= nenne. Allein schon =Mohl= schrieb dem Inhalte der Pflanzenzellen auch qualitativ eine bedeutende Rolle zu, indem er darin eine besondere, eiweisshaltige Flüssigkeit von grossem functionellen Werthe, das von ihm sogenannte =Protoplasma=, annahm. In neuerer Zeit hat diese Auffassung auch bei den Untersuchern der thierischen Zellen immer mehr Anklang gefunden, so dass gegenwärtig von Vielen das Protoplasma oder was man früher allgemein den Zelleninhalt nannte, als der wichtigste und gewissermaassen essentielle Theil des ganzen Gebietes angesehen wird. Es stellt nach dieser Auffassung eine in allen Zellen, wenigstens allen noch lebenskräftigen, vorkommende Grundsubstanz dar, in welcher ausser dem Kern je nach besonderen Entwickelungsverhältnissen noch eine grössere Menge meist in körniger Form abgeschiedener Stoffe (Fett, Pigment, Glykogen u. s. w.) eingeschlossen sein können. Sieht man davon ab, dass nicht wenige Zellen um sich herum allerlei äussere Stoffe (=Intercellular=- oder =Extracellularsubstanz=) anhäufen, beziehungsweise abscheiden, so wird man nicht bezweifeln können, dass die besonderen (=specifischen=) Eigenthümlichkeiten, welche einzelne Zellen oder Zellengruppen an bestimmten Orten und unter besonderen Bedingungen erreichen, zu einem grossen Theile gebunden sind an wechselnde Eigenschaften des Zelleninhalts (=Intracellularsubstanz=) und dass hauptsächlich von diesen die functionelle (physiologische) Verschiedenheit der Gewebe abhängig ist. Diess darf uns jedoch nicht abhalten, daran festzuhalten, dass innerhalb der verschiedensten Gewebe jene Bestandtheile, welche die Zelle gewissermaassen in ihrer abstracten Form darstellen, Kern und Zellkörper, mit grosser Regelmässigkeit wiederkehren, und dass durch ihre Zusammenfügung ein einfaches Element gewonnen wird, welches durch die grosse Reihe der lebendigen pflanzlichen und thierischen Gestaltungen, so äusserlich verschieden sie auch sein mögen, so sehr die innere Zusammensetzung dem Wechsel unterworfen sein mag, eine ganz besondere Formbildung als bestimmte Grundlage der Lebenserscheinungen erkennen lässt. Betrachtet man z. B. die jüngsten Eierstockseier des Frosches, bevor die Abscheidung der Dotterkörner begonnen hat, so wird man nicht daran zweifeln können, dass man es mit wirklichen Zellen zu thun hat, wenngleich sie durch allmähliches Wachsthum eine colossale Grösse zu erreichen vermögen. [Illustration: =Fig=. 7. Junge Eierstockseier vom Frosch. _A_. Eine ganz junge Eizelle. _B_. Eine grössere. _C_. Eine noch grössere mit beginnender Abscheidung brauner Körnchen an dem einen Pol (_e_.) und mit äusserer Einfaltung der Zellmembran durch Eindringen von Wasser. _a_. Membran des Graaf'schen Follikels. _b_. Zellmembran. _c_. Kernmembran. _d_. Kernkörperchen. _S_. Eierstock. Vergröss. 150.] [Illustration: =Fig=. 8. Zellen aus frischem katarrhalischem Sputum. _A_. Eiterkörperchen. _a_. ganz frisch. _b_. nach Behandlung mit Essigsäure: innerhalb der Membran ist der Inhalt aufgeklärt und man sieht drei kleine Kerne. _B_. Schleimkörperchen. _a_. einfaches. _b_. mit Pigmentkörnchen. Vergr. 300.] Im Gegensatze dazu nehme man ein gewöhnliches klinisches Object: Zellen von einem frischen katarrhalischen Sputum. Es sind hier im Verhältniss sehr kleine Elemente, die sich bei stärkerer Vergrösserung als vollkommen kugelige Gebilde darstellen, und an denen man erst nach Einwirkung von Wasser und anderen Reagentien deutlich eine Membran, Kerne und einen im frischen Zustande trüben Inhalt unterscheidet. Die meisten von den kleinen Elementen gehören nach der gebräuchlichen Terminologie in die Reihe der Eiterkörperchen; die grösseren, als Schleimkörperchen oder katarrhalische Zellen zu bezeichnen, enthalten zum Theil Fett oder grauschwarzes Pigment in Form von Körnern. Aber so klein sie sind, so besitzen sie doch die ganze typische Eigenthümlichkeit der grossen Zellen; alle wesentlichen Charaktere der grossen finden sich an ihnen wieder. Das ist aber meines Erachtens das Entscheidende, dass, wir mögen nun die grossen oder die kleinen, die pathologischen oder die physiologischen Zellen zusammenhalten, dies Uebereinstimmende sich immer wiederfindet. Es darf nicht überraschen, dass der Werth der einzelnen, die vollendete Zelle zusammensetzenden Theile vielfacher Deutung ausgesetzt ist und dass die Definition der Zelle immer neue Formulirungen erhält, trotzdem dass man immer dasselbe Gebilde oder wenigstens denselben Körper meint. Seitdem die sogenannte Membran der Pflanzenzelle als ein secundäres Abscheidungsproduct, als blosse Capsel erkannt ist, hat natürlich der frühere Zelleninhalt, das Protoplasma, eine grössere Bedeutung erlangt. Der Kern ist mehr in den Hintergrund getreten, nachdem man ihm nicht mehr die Präexistenz und die Rolle des Cytoblasten beilegt. Noch ungünstiger liegt die Frage, ob die Membran ein notwendiges Erforderniss der Zelle ist, und nicht bloss unter den Botanikern, sondern auch unter den Zoologen (=Max Schultze=) giebt es nicht wenige und ausgezeichnete Forscher, welche die Zelle als vollkommen constituirt betrachten, sobald ein Kern mit dem dazu gehörigen Protoplasma vorhanden ist. Erst auf einer gewissen Entwickelungshöhe würde sich dieses Protoplasma mit einer Membran bekleiden und zum Zelleninhalt werden, wie man es bei der Furchung des Eies und der Bildung der Primordialzellen so lange angenommen hat. Glücklicherweise hat diese schwierige Frage für die Pathologie keine principielle Bedeutung. Abgesehen davon, dass bei fast allen physiologischen und pathologischen Zellen von einiger Bedeutung Membranen isolirbar sind, wird doch auch vom Standpunkte derjenigen, welche die Membranlosigkeit vieler Zellen behaupten, weder die Existenz, noch der entscheidende Werth der Zellen in Frage gestellt. Ob eine Zelle im alten Sinne des Wortes ein Bläschen oder im neuen ein solides Körperchen ist, ist daher eine Detailfrage, welche das cellulare Princip nicht berührt. Dieses Princip aber ist meiner Auffassung nach der einzigmögliche Ausgangspunkt aller biologischen Doctrin. Wenn eine wirkliche Uebereinstimmung der elementaren Formen durch die ganze Reihe alles Lebendigen hindurchgeht, wenn man vergeblich in dieser grossen Reihe nach irgend etwas Anderem sucht, was als =organisches Element= an die Stelle der Zelle gesetzt werden könnte, so muss man nothwendig auch jede höhere Ausbildung, sei es einer Pflanze, sei es eines Thieres, betrachten als eine fortschreitende Summirung grösserer oder kleinerer Zahlen von Zellen. Wie ein Baum eine in einer bestimmten Weise zusammengeordnete Masse darstellt, in welcher als letzte Elemente an jedem einzelnen Theile, am Blatt wie an der Wurzel, am Stamm wie an der Blüthe, zellige Elemente erscheinen, so ist es auch mit den thierischen Gestalten. =Jedes Thier erscheint als eine Summe vitaler Einheiten=, von denen jede den vollen Charakter des Lebens an sich trägt. Der Charakter und die Einheit des Lebens kann nicht an einem bestimmten einzelnen Punkte einer höheren Organisation gefunden werden, z. B. im Gehirn des Menschen, sondern nur in der bestimmten, constant wiederkehrenden Einrichtung, welche jedes einzelne Element an sich trägt. Daraus geht hervor, dass die Zusammensetzung eines grösseren Körpers, des sogenannten Individuums, immer auf eine Art von gesellschaftlicher Einrichtung herauskommt, =einen Organismus socialer Art= darstellt, wo eine Masse von einzelnen Existenzen auf einander angewiesen ist, jedoch so, dass jedes Element (Zelle oder, wie =Brücke= sehr gut sagt, =Elementar-Organismus=) für sich eine besondere Thätigkeit hat, und dass jedes, wenn es auch die Anregung zu seiner Thätigkeit von anderen Theilen her empfängt, doch die eigentliche Leistung von sich selbst ausgehen lässt. Ich habe es deshalb für nothwendig erachtet, den Gesammt-Organismus oder das Individuum nicht bloss in seine Organe und diese in ihre Gewebe, sondern auch noch die Gewebe zu zerlegen in =Zellenterritorien=. Ich habe gesagt Territorien, weil wir in der thierischen Organisation eine Eigenthümlichkeit finden, welche in der Pflanze fast gar nicht oder doch nur in sehr unvollkommener Weise zur Anschauung kommt, nehmlich die Entwickelung grosser Massen sogenannten =intercellularen Stoffes=. Während die Pflanzenzellen in der Regel mit ihren äusseren Absonderungsschichten, den vorher erwähnten Capseln, unmittelbar aneinander stossen, so jedoch, dass man immer noch die alten Grenzen unterscheiden kann, so finden wir bei den thierischen Geweben, dass diese Art der Anordnung die seltnere ist. In der oft sehr reichlichen Masse, welche zwischen den Zellen liegt (=Zwischen=- oder =Grundsubstanz=, =Intercellularsubstanz=), können wir selten von vornherein übersehen, inwieweit ein bestimmter Theil davon der einen, ein anderer der anderen Zelle angehöre; sie erscheint als ein gleichmässiger Zwischenstoff. [Illustration: =Fig=. 9. Epiphysenknorpel vom Oberarme eines Kindes, an der Ellenbeuge. Das Object war zuerst mit chromsaurem Kali und dann mit Essigsäure behandelt. In der homogenen Grundsubstanz (Intercellularsubstanz) sieht man bei _a_. Knorpelhöhlen mit noch dünner Wand (Capsel), in welchen die Knorpelzellen, mit Kern und Kernkörperchen versehen, sich deutlich abgrenzen. _b_. Capseln (Höhlen) mit zwei, durch Theilung der früher einfachen entstandenen Zellen. _c_. Theilung der Capseln nach Theilung der Zellen. _d_. Auseinanderrücken der getheilten Capseln durch Zwischenlagerung von Intercellularsubstanz. -- Knorpelwachsthum.] Nach der Ansicht =Schwann='s war die Intercellularsubstanz Cytoblastem, für die Entwickelung neuer Zellen bestimmt. Dies halte ich nicht für richtig, vielmehr bin ich durch eine Reihe von Erfahrungen zu dem Schlusse gekommen, dass die Intercellularsubstanz, wie sie von den Zellen gebildet (abgeschieden) wird, so auch in einer bestimmten Abhängigkeit von ihnen bleibt, in der Art, dass man auch in ihr Grenzen ziehen kann, und das gewisse Bezirke von ihr der einen, gewisse der anderen Zelle angehören. Durch pathologische Vorgänge werden diese Grenzen scharf bezeichnet, und es lässt sich direct zeigen, wie jedesmal ein bestimmtes Gebiet von Zwischensubstanz beherrscht wird von dem zelligen Elemente, welches in seiner Mitte gelegen ist. Es wird jetzt deutlich sein, wie ich mir die Zellen-Territorien denke: Es gibt einfache Gewebe, welche ganz aus Zellen bestehen, Zelle an Zelle gelagert (Fig. 10, _A_.). Hier kann über die Grenze der einzelnen Zelle keine Meinungsverschiedenheit bestehen, aber es ist nöthig, hervorzuheben, dass auch in diesem Falle jede einzelne Zelle ihre besonderen Wege gehen, ihre besonderen Veränderungen erfahren kann, ohne dass mit Nothwendigkeit das Geschick der zunächst liegenden Zellen daran geknüpft ist. In andern Geweben dagegen, wo wir Zwischenmassen haben (Fig. 10, _B_.), versorgt die Zelle ausser ihrem eigenen Inhalt noch eine gewisse Menge von äusserer Substanz, die an ihren Veränderungen Theil nimmt, ja sogar häufig frühzeitiger afficirt wird, als das Innere der Zelle, welches durch seine Lagerung mehr gesichert ist, als die äussere Zwischenmasse. Endlich gibt es eine dritte Reihe von Geweben (Fig. 10, _C_.), deren Elemente unter einander in engeren Verbindungen stehen. Es kann z. B. eine Zelle mit anderen zusammenhängen und dadurch eine reihen- oder flächenförmige Anordnung entstehen, ähnlich der bei den Capillaren und anderen analogen Gebilden. In diesem Falle könnte man glauben, dass die ganze Reihe beherrscht werde von irgend Etwas, was wer weiss wie weit entfernt liegt, indessen bei genauerem Studium ergibt sich, dass selbst in diesen ketten- oder hautartigen Einrichtungen eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Glieder besteht, und dass diese Unabhängigkeit sich äussert, indem unter gewissen äusseren oder inneren Einwirkungen das Element nur innerhalb seiner Grenzen gewisse Veränderungen erfährt, ohne dass die nächsten Elemente dabei betheiligt sind.[4] [4] Lange, nachdem dieses geschrieben war, haben die Untersuchungen von =Heidenhain= für die Knorpel, von =Auerbach= und =Eberth= für die Capillaren auch die physiologische Realität der Zellenterritorien erwiesen. [Illustration: =Fig=. 10. Schematische Darstellung der Zellenterritorien. _A_. Einfaches Zellengewebe (Epidermis). _B_. Gewebe mit Intercellularsubstanz (Knorpel), in welchem nach unten hin die Zellenterritorien abgegrenzt sind. _C_. Kernhaltiges, scheinbar homogenes Gewebe (Capillargefäss), in welchem die Territorien durch punktirte Linien angedeutet sind.] Das Angeführte wird zunächst genügen, um zu zeigen, in welcher Weise ich es für nothwendig erachte, die pathologischen Vorgänge zu localisiren, sie auf bekannte histologische Elemente zurückzuführen, warum es mir z. B. nicht genügt, von einer Thätigkeit der Gefässe oder von einer Thätigkeit der Nerven zu sprechen, sondern warum ich es für nothwendig erachte, neben Gefässen und Nerven die grosse Zahl von kleinen Theilen ins Auge zu fassen, welche thatsächlich die Hauptmasse der Körpersubstanz ausmachen. Es ist nicht genug, dass man, wie es seit langer Zeit geschieht, die Muskeln als thätige Elemente daraus ablöst; innerhalb des grossen Restes, der gewöhnlich als =träge Masse= betrachtet wird, findet sich noch eine ungeheure Zahl wirksamer Theile. In der Entwickelung, welche die Medicin bis in die letzten Tage genommen hat, finden wir den Streit zwischen den humoralen und solidaren Schulen der alten Zeit immer noch erhalten. Die humoralen Schulen haben im Allgemeinen das meiste Glück gehabt, weil sie die bequemste Erklärung und in der That die plausibelste Deutung der Krankheitsvorgänge gebracht haben. Man kann sagen, dass fast alle glücklichen Praktiker und bedeutenden Kliniker mehr oder weniger humoralpathologische Tendenzen gehabt haben; ja diese sind so populär geworden, dass es jedem Arzte äusserst schwer wird, sich aus ihnen zu befreien. Die solidarpathologischen Ansichten sind mehr eine Liebhaberei speculativer Forscher gewesen; sie sind nicht sowohl aus dem unmittelbaren pathologischen Bedürfnisse, als vielmehr aus physiologischen und philosophischen, selbst aus religiösen Erwägungen hervorgegangen. Sie haben den Thatsachen Gewalt anthun müssen, sowohl in der Anatomie, als in der Physiologie, und haben daher niemals eine ausgedehnte Verbreitung gefunden. Meiner Auffassung nach ist der Standpunkt beider ein unvollständiger; ich sage nicht ein falscher, weil er eben nur falsch ist in seiner Exclusivität; er muss zurückgeführt werden auf gewisse Grenzen, und man muss sich erinnern, dass neben Gefässen und Blut, neben Nerven und Centralapparaten noch andere Dinge existiren, die nicht ein blosses Substrat der Einwirkung von Nerven und Blut sind, auf welchem diese ihr Wesen treiben. Wenn man nun fordert, dass die medicinischen Anschauungen auch auf dieses Gebiet sich übertragen sollen, wenn man andererseits verlangt, dass auch innerhalb der humoral- und neuropathologischen Vorstellungen man sich schliesslich erinnern soll, dass das Blut aus vielen einzelnen für sich bestehenden und wirkenden Theilen besteht, dass das Nervensystem aus vielen thätigen Sonder-Bestandtheilen zusammengesetzt ist, so ist dies eine Forderung, die freilich auf den ersten Blick manche Schwierigkeiten bietet. Aber wenn man sich erinnert, dass man Jahre lang nicht bloss in den Vorlesungen, sondern auch am Krankenbette von der Thätigkeit der Capillaren gesprochen hat, einer Thätigkeit, die Niemand gesehen hat, die eben nur auf bestimmte Doctrinen hin angenommen worden ist, so wird man es nicht unbillig finden, dass Dinge, die wirklich zu sehen sind, ja die, wenn man sich übt, selbst dem unbewaffneten Auge nicht selten zugängig sind, gleichfalls in den Kreis des ärztlichen Wissens und Denkens aufgenommen werden. Von Nerven hat man nicht nur gesprochen, wo sie nicht dargestellt waren; man hat sie einfach supponirt, selbst in Theilen, wo bei den sorgfältigsten Untersuchungen sich nichts von ihnen hat nachweisen lassen; man hat sie wirksam sein lassen an Punkten, wohin sie überhaupt gar nicht vordringen. So ist es denn gewiss keine unbillige Forderung, dass dem grösseren, wirklich existirenden Theile des Körpers, dem »dritten Stande«, auch eine gewisse Anerkennung werde, und wenn diese Anerkennung zugestanden wird, dass man sich nicht mehr mit der blossen Ansicht der Nerven als ganzer Theile, als eines zusammenhängenden einfachen Apparates, oder des Blutes als eines bloss flüssigen Stoffes begnüge, sondern dass man auch innerhalb des Blutes und des Nervenapparates die ungeheure Masse kleiner wirksamer Centren zulasse. Dann wird sich nicht nur ein neues, grosses Gebiet, das der zelligen Gewebselemente, in die ärztliche Betrachtung einfügen, sondern es wird möglich sein, auch Blut und Nerven von dem Standpunkte der Cellularphysiologie aus zu würdigen, und so den alten Streit der Humoral- und Solidarpathologie in einer einigen Cellularpathologie zu versöhnen. Die wesentlichen Hindernisse, welche bis in die letzte Zeit in dieser Richtung bestanden, waren nicht so sehr pathologische. Ich bin überzeugt, man würde mit den pathologischen Verhältnissen ungleich leichter fertig geworden sein, wenn es nicht bis vor Kurzem unter die Unmöglichkeiten gehört hätte, die wirklichen =Elementartheile= des thierischen Leibes zu ermitteln und eine einfache Uebersicht der physiologischen Gewebe zu liefern. Die alten Anschauungen, welche zum Theil noch aus dem vorigen Jahrhundert überkommen waren, haben gerade in demjenigen Gebiete, welches pathologisch am häufigsten in Betracht kommt, nämlich in dem des Bindegewebes, so sehr vorgewaltet, dass noch jetzt eine allgemeine Einigung nicht gewonnen ist, und dass jedermann genöthigt ist, sich durch die Anschauung der Objecte selbst ein Urtheil darüber zu bilden. Noch in den Elementa physiologiae von =Haller= findet man an die Spitze des ganzen Werkes, wo von den Elementen des Körpers gehandelt wird, die =Faser= gestellt. =Haller= gebraucht dabei den sehr characteristischen Ausdruck, dass die Faser (fibra) für den Physiologen sei, was die Linie für den Geometer. Diese Auffassung ist bald weiter ausgedehnt worden, und die Lehre, dass für fast alle Theile des Körpers die Faser als Grundlage diene, dass die Zusammensetzung der allermannichfachsten Gewebe in letzter Instanz auf die Faser zurückführe, ist namentlich bei dem Gewebe, welches, wie sich ergeben hat, pathologisch die grösste Wichtigkeit hat, bei dem sogenannten Zellgewebe am längsten festgehalten worden. Im Laufe des letzten Jahrzehnts vom vorigen Jahrhundert begann indess schon eine gewisse Reaction gegen diese Faserlehre, und in der Schule der Naturphilosophen kam frühzeitig ein anderes Element zu Ehren, das aber in einer viel mehr speculativen Weise begründet wurde, nämlich das =Kügelchen=. Während die Einen immer noch an der Faser festhielten, so glaubten Andere, wie in der späteren Zeit noch =Milne Edwards=, so weit gehen zu dürfen, auch die Faser wieder aus linear aufgereihten Kügelchen zusammengesetzt zu denken. Diese Auffassung ist zum Theil hervorgegangen aus optischen Täuschungen bei der mikroskopischen Beobachtung. Die schlechte Methode, welche während des ganzen vorigen Jahrhunderts und eines Theiles des gegenwärtigen bestand, dass man mit mässigen Instrumenten im vollen Sonnenlicht beobachtete, brachte fast in alle mikroskopischen Objecte eine gewisse Dispersion des Lichtes, und der Beobachter bekam den Eindruck, als sähe er weiter nichts, als Kügelchen. Andererseits entsprach aber auch diese Anschauung den naturphilosophischen Vorstellungen von der ersten Entstehung alles Geformten. Diese Kügelchen (Körnchen, Granula, Moleküle) haben sich sonderbarer Weise bis in die moderne Histologie hinein erhalten, und es gab bis vor Kurzem wenige histologische Werke, welche nicht mit den Elementarkörnchen anfingen. Hier und da sind noch vor nicht langer Zeit diese Ansichten von der Kugelnatur der Elementartheile so überwiegend gewesen, dass auf sie die Zusammensetzung, sowohl der ersten Gewebe im Embryo, als auch der späteren begründet wurde. Man dachte sich, dass eine Zelle in der Weise entstände, dass die Kügelchen sich sphärisch zur Membran ordneten, innerhalb deren sich andere Kügelchen als Inhalt erhielten. Noch von =Baumgärtner= und =Arnold= ist in diesem Sinne gegen die Zellentheorie gekämpft worden. [Illustration: =Fig=. 11. Schema der Globulartheorie. _a_. Faser aus linear aufgereihten Elementarkörnchen (Molekularkörnchen). _b_. Zelle mit Kern und sphärisch geordneten Körnchen.] In einer gewissen Weise hat diese Auffassung in der Entwickelungsgeschichte eine Stütze gefunden; in der sogenannten =Umhüllungstheorie=, -- einer Lehre, die eine Zeit lang stark in den Vordergrund getreten war (=Henle=). Danach dachte man sich, dass, während ursprünglich eine Menge von Elementarkügelchen zerstreut vorhanden wäre, diese sich unter bestimmten Verhältnissen zusammenlagerten, nicht in Form sphärischer Membranen, sondern zu einem compacten Haufen, einer Kugel (Klümpchen), und dass diese Kugel der Ausgangspunkt der weiteren Bildung werde, indem durch Differenzirung der Masse, durch Apposition oder Intussusception aussen eine Membran, innen ein Kern entstehe. [Illustration: =Fig=. 12. Schema der Umhüllungs- (Klümpchen-) Theorie. _a_. Getrennte Elementarkörnchen. _b_. Körnchenhaufen (Klümpchen). _c_. Körnchenzelle mit Membran und Kern.] Gegenwärtig kann man weder die Faser noch das Kügelchen oder das Elementarkörnchen als einen histologischen Ausgangspunkt betrachten. So lange als man sich die Entstehung von lebendigen Elementen aus vorher nicht geformten Theilen, also aus Bildungsflüssigkeiten oder Bildungsstoffen (=plastischer Materie=, =Blastem=, =Cytoblastem=) hervorgehend dachte, so lange konnte irgend eine dieser Auffassungen allerdings Platz finden, aber gerade hier ist der Umschwung, welchen die allerletzten Jahre gebracht haben, am meisten durchgreifend gewesen. Die Bildungsstoffe finden sich wesentlich innerhalb der Zellen (=Endoblastem=). Auch in der Pathologie können wir gegenwärtig so weit gehen, als allgemeines Princip hinzustellen, =dass überhaupt keine Entwickelung de novo beginnt, dass wir also auch in der Entwickelungsgeschichte der einzelnen Theile, gerade wie in der Entwickelung ganzer Organismen, die Generatio aequivoca zurückweisen=[5]. So wenig wir noch annehmen, dass aus saburralem Schleim ein Spulwurm entsteht, dass aus den Resten einer thierischen oder pflanzlichen Zersetzung ein Infusorium oder ein Pilz oder eine Alge sich bilde, so wenig lassen wir in der physiologischen oder pathologischen Gewebelehre es zu, dass sich aus irgend einer unzelligen Substanz eine neue Zelle aufbauen könne. Wo eine Zelle entsteht, da muss eine Zelle vorausgegangen sein (=Omnis cellula e cellula=), ebenso wie das Thier nur aus dem Thiere, die Pflanze nur aus der Pflanze entstehen kann. Auf diese Weise ist, wenngleich es einzelne Punkte im Körper giebt, wo der strenge Nachweis noch nicht geliefert ist, doch das Princip gesichert, dass in der ganzen Reihen alles Lebendigen, dies mögen nun ganze Pflanzen oder ganze thierische Organismen oder integrirende Theile derselben sein, ein ewiges Gesetz der =continuirlichen Entwickelung= besteht. Die Erfahrung lehrt keine Discontinuität der Entwickelung in der Art, dass eine neue Generation von sich aus eine neue Reihe von Entwickelungen begründete. Alle entwickelten Gewebe können weder auf ein kleines noch auf ein grosses einfaches Element zurückgeführt werden, es sei denn auf die Zelle selbst. In welcher Weise diese continuirliche =Zellenwucherung= (=Proliferation=), denn so kann man den Vorgang bezeichnen, in der Regel vor sich geht, das lässt sich an wachsenden Theilen sowohl von Pflanzen, als von Thieren sehr leicht sehen. [5] Der neueste Versuch von =Pouchet=, die Lehre von der Urzeugung wenigstens für Pilze und Infusorien wieder einzusetzen, darf wohl durch die vortrefflichen Experimente von =Pasteur= als zurückgeschlagen angesehen werden. Trotzdem wird das theoretische Bedürfniss, eine natürliche Schöpfungsgeschichte zu construiren, begreiflicherweise immer von Neuem zu der Annahme einer Urzeugung führen, wenn man sie auch allmählich auf die allerkleinsten Micrococci oder auf gestaltlose Protisten beschränkt. Das Bedürfniss erkenne ich an, aber die Thatsachen streiten dagegen, und am allerwenigsten gestatten sie für die Pathologie eine Ausnahme. [Illustration: =Fig=. 13. Längsschnitt durch ein junges Februar-Blatt vom Aste einer Syringa. _A_. Die Rinden- und Cambium-Schicht: unter einer sehr platten Zellenlage sieht man grössere, viereckige, kernhaltige Zellen, aus denen durch fortgehende Quertheilung kleine Haare (_a_) hervorwachsen, die immer länger werden (_b_) und durch Längstheilung sich verdicken (_c_). _B_. Die Gefässschicht mit Spiralfasern. _C_. Einfache, viereckige, längliche Rinden-Zellen. -- Pflanzenwachsthum.] Betrachten wir z. B. einen Längsschnitt aus der jungen Knospe eines Flieder-Strauches, wie sie die warmen Tage des Februar entwickelt haben. In der Knospe ist schon eine Menge von jungen Blättern angelegt, jedes aus zahlreichen Zellen zusammengesetzt. In diesen jüngsten Theilen bestehen die äusseren Schichten aus ziemlich regelmässigen Zellenlagen, die mehr platt viereckig erscheinen, während in den inneren Lagen die Zellen mehr gestreckt sind, und in einzelnen Abschnitten die Spiralfasern auftreten. Kleine Auswüchse (Blatthaare) treten überall am Rande hervor, ganz ähnlich gewissen thierischen Excrescenzen, z. B. an den Zotten des Chorions, wo sie die Orte bezeichnen, an welchen junge Zotten hervorwachsen werden. An unserem Objecte (Fig. 13) sehen wir die kleinen kolbigen Zapfen, die sich in gewissen Abständen wiederholen, nach Innen mit den Zellenreihen des Cambiums zusammenhängend. An diesen zarten Bildungen kann man am besten die feineren Formen der Zelle unterscheiden und zugleich die eigenthümliche Art ihres Wachsthums entdecken. Das Wachsthum geht so vor sich, dass an einzelnen zelligen Elementen eine Theilung eintritt und sich eine quere Scheidewand bildet; die Hälften wachsen als selbständige Elemente fort und vergrössern sich nach und nach. Nicht selten treten auch Längstheilungen ein, wodurch das ganze Gebilde dicker wird (Fig. 13, _c_). Jeder Zapfen, jedes Pflanzenhaar ist also ursprünglich eine einzige Zelle; indem sie sich quertheilt und immer wieder quertheilt (Fig. 13, _a_, _b_), schiebt sie ihre Glieder vorwärts und breitet sich dann bei Gelegenheit auch seitlich durch Längstheilung aus. In dieser Weise wachsen die Haare hervor, und dies ist im Allgemeinen der Modus des Wachsthums nicht nur in der Pflanze, sondern auch in den physiologischen und pathologischen Bildungen des thierischen Leibes. [Illustration: =Fig=. 14. Knorpelwucherung aus dem Rippenknorpel eines Erwachsenen. Grössere Gruppen von Knorpelzellen innerhalb einer gemeinschaftlichen Umgrenzung (fälschlich sogenannte Mutterzellen), durch successive Theilungen aus einzelnen Zellen hervorgegangen. Am Rande oben ist eine solche Gruppe durchschnitten, in der man eine Knorpelzelle mit mehrfacher Umlagerung von Kapselschichten (äusserer Absonderungsmasse) sieht. Vergröss. 300.] Nimmt man ein Stück Rippenknorpel im Stadium des pathologischen Wachsthums, so erscheinen schon für das blosse Auge Veränderungen: man sieht kleine Buckel der Oberfläche des Knorpels. Dem entsprechend zeigt das Mikroskop Wucherungen der Knorpelzellen. Hier finden sich dieselben Formen wie bei den Pflanzenzellen: grössere Gruppen von zelligen Elementen, welche je aus einer früheren Zelle hervorgegangen sind, in mehrfachen Reihen angeordnet, mit dem einzigen Unterschiede von den wuchernden Pflanzenzellen, dass zwischen den einzelnen Gruppen Intercellularsubstanz vorhanden ist. An den Zellen unterscheidet man wieder die äussere Kapsel, die sogar an einzelnen Zellen mehrfach geschichtet ist, in zwei-, drei- und mehrfacher Lage, und darin erst kommt die eigentliche Zelle mit Körper, Kern und Kernkörperchen. Nirgends gibt es hier eine andere Art der Neubildung, als die =fissipare=; ein Element nach dem andern theilt sich: Generation geht aus Generation hervor. Zweites Capitel. Die physiologischen Gewebe. Anatomische Classification der Gewebe. Die drei allgemein-histologischen Kategorien. Die speciellen Gewebe. Die Organe und Systeme oder Apparate. Die =Epithelialgewebe=. Platten-, Cylinder- und Uebergangsepithel. Epidermis und Rete Malpighii. Nagel und Nagelkrankheiten. Haare. Linse. Pigment. Drüsenzellen. Die =Gewebe der Bindesubstanz=. Das Binde- oder Zellgewebe. Die Theorien von =Schwann=, =Henle= und =Reichert=. Meine Theorie. Die Bindegewebskörperchen. Die Fibrillen des Bindegewebes als Intercellularsubstanz. Secretion derselben. Der Knorpel (hyaliner, Faser- und Netzknorpel). Incapsulirte und freie Knorpelkörperchen (Knochenknorpel). Schleimgewebe. Pigmentirtes Bindegewebe. Fettgewebe. Anastomose der Elemente: saftführendes Röhren- oder Kanalsystem. Die =höheren Thiergewebe=: Muskeln, Nerven, Gefässe, Blut, Lymphdrüsen. Vorkommen dieser Gewebe in Verbindung mit Interstitialgewebe. Muskeln. Quergestreifte. Faserzellen. Herzmuskulatur. Muskelkörperchen. Fibrillen. Disdiaklasten. Glatte Muskelfasern. Muskelatrophie. Die contractile Substanz (Syntonin) und die Contractilität überhaupt. Cutis anserina und Arrectores pilorum. Gefässe. Capillaren. Contractile Gefässe. Die normalen Gewebe lassen sich ohne Zwang in drei Kategorien eintheilen: Entweder man hat Gewebe, welche einzig und allein aus Zellen bestehen, in welchen Zelle an Zelle liegt, also =in dem modernen Sinne Zellengewebe=. Oder es sind Gewebe, in welchen regelmässig eine Zelle von der andern getrennt ist durch eine gewisse Zwischenmasse (Intercellularsubstanz), in welchen also eine Art von Bindemittel existirt, das die einzelnen Elemente in sichtbarer Weise aneinander, aber auch auseinander hält. Hierher gehören die Gewebe, welche man heut zu Tage gewöhnlich unter dem Namen der =Gewebe der Bindesubstanz= zusammenfasst, und in welche als Hauptmasse dasjenige eintritt, was man früherhin allgemein Zellgewebe nannte. Endlich gibt es eine dritte Gruppe von Geweben, in welchen specifische Ausbildungen der Zellen Statt gefunden haben, vermöge deren sie eine ganz eigenthümliche Einrichtung erlangt haben, zum Theil so eigenthümlich, wie sie einzig und allein der thierischen Oekonomie zukommt. Diese Gewebe höherer Ordnung sind es, welche =eigentlich den Character des Thieres ausmachen=, wenngleich einzelne unter ihnen Uebergänge zu Pflanzenformen darbieten. Hierher gehören die Nerven- und Muskelapparate, die Gefässe und das Blut. Damit ist die Reihe der Gewebe abgeschlossen. Eine solche Gruppirung der histologischen Erfahrungen unterscheidet sich sehr wesentlich von derjenigen, welche nach dem Vorgange von =Bichat= so lange die allgemeine Anatomie beherrscht hat. Die Gewebe der älteren Schule stellten zu einem grossen Theile nicht so sehr dasjenige dar, was wir heute als die Gegenstände der allgemeinen Histologie betrachten, sondern vielmehr das, was wir als den Inhalt der speciellen Histologie bezeichnen müssen. Wenn man die Sehnen, die Knochen, die Fascien als besondere Gewebe nimmt, so giebt dies eine ausserordentliche Mannichfaltigkeit von Kategorien (=Bichat= hatte deren 21), aber es entsprechen ihnen nicht eben so viele einfache Gewebsformen. In unserem Sinne lässt das ganze anatomische Gebiet sich zunächst zerlegen nach allgemein-histologischen Kategorien (eigentliche =Gewebe=). Die specielle Histologie beschäftigt sich sodann mit dem Falle, wo eine Zusammenfügung von zum Theil sehr verschiedenartigen Geweben zu einem einzigen Ganzen (=Organ=) Statt findet. Wir sprechen z. B. mit Recht von Knochengewebe, allein dieses Gewebe, die Tela ossea im allgemein-histologischen Sinne, bildet für sich keinen Knochen, denn kein Knochen besteht durch und durch, einzig und allein aus Tela ossea, sondern es gehören dazu mit einer gewissen Nothwendigkeit mindestens Periost und Gefässe. Ja, von dieser einfachen Vorstellung eines Knochens unterscheidet sich die jedes grösseren, z. B. eines Röhrenknochens: dies ist ein wirkliches Organ, in dem wir wenigstens vier verschiedene Gewebe unterscheiden. Wir haben da die eigentliche Tela ossea, die Knorpellage am Gelenk, die Bindegewebsschicht des Periosts, das eigenthümliche Mark. Jeder dieser einzelnen Theile kann wieder eine innere Verschiedenartigkeit der zusammensetzenden Bestandtheile darbieten; es gehen z. B. Gefässe und Nerven mit in die Zusammensetzung des Markes, der Beinhaut u. s. f. ein. Alles dies zusammengenommen, giebt erst den vollen Organismus eines Knochens. Bevor man also zu den eigentlichen =Systemen= oder =Apparaten=, dem speciellen Vorwurfe der descriptiven Anatomie kommt, hat man eine ganze Stufenfolge zu durchlaufen. Man muss sich daher bei Diskussionen mit Anderen immer erst klar werden, was in Frage ist. Wenn man Knochen und Knochengewebe zusammenwirft, so gibt dies eine eben so grosse Verwirrung, als wenn man Nerven- und Gehirnmasse einfach identificiren wollte. Das Gehirn enthält viele Dinge, die nicht nervös sind, und seine physiologischen und pathologischen Zustände lassen sich nicht begreifen, wenn man sie auf eine Zusammenordnung rein nervöser Theile bezieht, wenn man nicht neben den Nerven auf die Häute, das Zwischengewebe, die Gefässe Rücksicht nimmt. Betrachten wir nun die erste allgemein-histologische Gruppe etwas genauer, nämlich die einfachen Zellengewebe, so ist unzweifelhaft am leichtesten übersichtlich die =Horn=- oder =Epithelialformation=, wie wir sie in der Epidermis und dem Rete Malpighii an der äussern Oberfläche, im Cylinder- und Plattenepithelium auf den Schleim- und serösen Häuten antreffen. Der Name Epithelium stammt von =Ruysch=, der zuerst an der Brustwarze ([Griechisch: thêlê]) ein ablösbares Häutchen auffand, welches er weiterhin in ähnlicher Weise auch an Schleimhäuten nachwies. =Heusinger= hat das Verdienst, den Zusammenhang aller Horngebilde dargelegt zu haben, indem er die chemische und physikalische Uebereinstimmung derselben lehrte. Das allgemeine Schema ist hier, dass Zelle an Zelle stösst, so dass in dem günstigsten Falle, wie bei der Pflanze, vier- oder sechseckige Zellen unmittelbar sich an einander schliessen und zwischen ihnen nichts Anderes weiter, als höchstens eine geringe Kittsubstanz, gefunden wird. So ist es an manchen Orten mit dem Platten- oder Pflasterepithel (Fig. 17). Die besonderen Formen der Epithelialzellen sind offenbar grossentheils Druckwirkungen. Wenn alle Elemente eines Zellengewebes eine vollkommene Regelmässigkeit haben sollen, so setzt dies voraus, dass sich alle Elemente völlig gleichmässig entwickeln und gleichzeitig vergrössern. Geschieht ihre Entwickelung dagegen unter Verhältnissen, wo nach einer Seite hin ein geringerer Widerstand besteht, so kann es sein, dass die Elemente, wie bei den Säulen- oder Cylinderepithelien, nur in einer Richtung auswachsen und sehr lang werden, während sie in den andern Richtungen sehr dünn bleiben. Aber auch ein solches Element wird, auf einem Querschnitt angesehen, sich als ein sechseckiges darstellen: wenn wir Cylinder-Epithel von der freien Fläche her betrachten, so sehen wir auch bei ihm ganz regelmässig polygonale Formen (Fig. 15, _b_). [Illustration: =Fig=. 15. Säulen- oder Cylinderepithel der Gallenblase. _a_. Vier zusammenhängende Zellen, von der Seite gesehen, mit Kern und Kernkörperchen, der Inhalt leicht längs gestreift, am freien Rande (oben) ein dickerer, fein radiär gestreifter Saum. _b_. Aehnliche Zellen, halb von der freien Fläche (oben, aussen) gesehen, um die sechseckige Gestalt des Querschnittes und den dicken Randsaum zu zeigen. _c_. Durch Imbibition veränderte, etwas aufgequollene und am oberen Saum aufgefaserte Zellen.] [Illustration: =Fig=. 16. Uebergangsepithel der Harnblase. _a_. Eine grössere, am Rande ausgebuchtete Zelle mit keulen- und spindelförmigen, feineren Zellen besetzt, _b_. dasselbe: die grössere Zelle mit zwei Kernen. _c_. Eine grössere, unregelmässig eckige Zelle mit vier Kernen. _d_. Eine ähnliche mit zwei Kernen und 9 von der Fläche aus gesehenen Gruben, den Randausbuchtungen entsprechend (vgl. Archiv f. path. Anat. u. Phys. Bd. III. Taf. I. Fig 8.)] Im Gegensatze dazu finden sich ausserordentlich unregelmässige Formen an solchen Orten, wo die Zellen in unregelmässiger Weise hervorwachsen, so besonders constant an der Oberfläche der Harnwege (Fig. 16), in der ganzen Ausdehnung der Schleimhaut von den Nierenkelchen bis zur Urethra. An allen diesen Stellen trifft man sehr gewöhnlich Anordnungen, wo einzelne Zellen an dem einen Ende rund sind, während sie an dem anderen in eine Spitze auslaufen, andere Zellen ziemlich grobe Spindeln darstellen, andere wieder an einer Seite platt abgerundet, an der anderen ausgebuchtet sind, oder wo eine Zelle sich so zwischen andere einschiebt, dass sie eine kolbige oder zackige Form annimmt. Immer entspricht hier die eine Zelle der Form der Lücke zwischen den anderen, und es ist nicht die Eigenthümlichkeit der Zelle, welche die Form bedingt, sondern die Art ihrer Lagerung, das Nachbarverhältniss, die Abhängigkeit von der Anordnung der nächsten Theile. In der Richtung des geringeren Widerstandes bekommen die Zellen Spitzen, Zacken und Fortsätze der mannichfaltigsten Art. Diese Art von Epithel nannte man, da sie sich nicht recht unterbringen liess, mit =Henle= Uebergangs-Epithel, weil sie schliesslich gewöhnlich in deutliches Platten- oder Cylinderepithel übergeht. Zuweilen ist dies aber nicht der Fall und man könnte ebenso gut einen anderen Namen dafür einführen. Sie stellt das Vorbild zu der vielbesprochenen =Polymorphie= gewisser pathologischer Epithelialzellen, z. B. der Krebszellen dar. An der Oberhaut (Epidermis) haben wir den günstigen Fall, dass eine Reihe von Zellenlagen über einander liegt, was an vielen Schleimhäuten nicht der Fall ist. Es lassen sich daher die jungen Lagen (das =Rete Malpighii= oder die =Schleimschicht= der früheren Autoren) von den älteren (der =eigentlichen Epidermis=) bequem trennen. Wenn man einen senkrechten Durchschnitt der Hautoberfläche betrachtet, so erblickt man zumeist nach aussen ein sehr dichtes, verschieden dickes Stratum, welches aus lauter platten Elementen besteht, die von der Seite her wie einfache Linien aussehen. Man könnte sie bei dieser Betrachtung für Fasern halten, welche übereinander geschichtet mit leichten Niveau-Verschiedenheiten die ganze Oberhaut zusammensetzen. Von der Fläche aus gesehen, erweisen sie sich jedoch als rundlich-ovale Plättchen, die bei Einwirkung von Alkalien sich zu dickeren, linsenförmigen Körpern aufblähen. Unterhalb dieser Lagen folgt in verschiedener Mächtigkeit das sogenannte Rete Malpighii, welches unmittelbar bis an die Papillen der Haut (Lederhaut, Cutis, Corium) reicht. Untersuchen wir nun die Grenze zwischen Epidermis und Rete, so ergibt sich fast bei allen Arten der Betrachtung, dass fast plötzlich an die innerste Lage der Epidermis sich Elemente anschliessen, die zunächst noch immer platt sind, aber doch schon einen grösseren Dickendurchmesser haben, innerhalb deren man sehr deutlich Kerne erkennt, welche in den Plättchen der Epidermis fehlen. Diese ziemlich grossen Elemente stellen den Uebergang dar von den ältesten Schichten des Rete Malpighii zu den jüngsten der Epidermis. Hier ist der Punkt, von wo aus sich die Epidermis regenerirt, welche ihrerseits eine träge Masse darstellt die an der Oberfläche durch Reibung und Abblätterung allmählich entfernt wird. Und hier ist im Allgemeinen auch die Grenze, wo die pathologischen Processe einsetzen. Je weiter wir gegen die Tiefe hin untersuchen, um so kleiner werden die Elemente; die letzten stehen als kleine Cylinder auf der Oberfläche der Hautpapillen (Fig. 17, _r_, _r_). [Illustration: =Fig=. 17. Senkrechter Schnitt durch die Oberfläche der Haut von der Zehe, mit Essigsäure behandelt. _P_. _P_. Spitzen durchschnittener Papillen, in denen man je eine Gefässschlinge und daneben kleine spindelförmige und an der Basis netzförmige Bindegewebselemente bemerkt: links eine Ausbiegung der Papille, entsprechend einem nicht mehr dargestellten, tiefer gelegenen Tastkörperchen. _R_. _R_. Das Rete Malpighii, zunächst an der Papille eine sehr dichte Lage kleiner cylinderförmiger Zellen (_r_, _r_), nach aussen immer grösser werdende polygonale Zellen. _E_. Epidermis, aus platten, dichteren Zellenlagen bestehend. _S_. _S_. Ein durchtretender Schweisskanal. -- Vergröss. 300.] Im Grossen ist das Verhältniss der verschiedenen Schichten an der ganzen Hautoberfläche überall dasselbe, so mannichfaltig auch im Einzelnen die Besonderheiten sein mögen, welche sie in Beziehung auf Dicke, Lagerung, Festigkeit und Zusammenfügung darbieten. Ein Durchschnitt z. B. des Nagels, der seiner äusseren Erscheinung nach gewiss weit von der gewöhnlichen Oberhaut abweicht, zeigt doch im Allgemeinen dasselbe Bild, wie diese; er unterscheidet sich nur in einem Punkte wesentlich, nehmlich dadurch, dass sich an ihm zwei verschiedene epidermoidale Gebilde übereinanderschieben. Dadurch entsteht eine Complication, die, wenn man sie nicht erkennt, zu der Annahme gewisser specifischer Verschiedenheiten des Nagels von anderen Theilen der Epidermis führen kann, während sie doch nur durch eine eigenthümliche Verschiebung gewisser Epidermislagen gegen andere bedingt ist. Die äusserst dichten und festen Plättchen, welche den frei zu Tage liegenden Theil, das sogenannte =Nagelblatt=, zusammensetzen, lassen sich auf verschiedene Weise wieder in Formen zurückführen, in denen sie das gewöhnliche Bild von Zellen darbieten; am deutlichsten durch Behandlung mit einem Alkali, wo ein jedes Plättchen zu einer grossen, rundlich-ovalen Blase anschwillt. In den oberen Schichten der Oberhaut werden die Zellen überall platter, und in den äussersten findet man, wie gesagt, gar keine Kerne mehr. Trotzdem besteht kein ursprünglicher Unterschied zwischen der Epidermis und dem Rete Malpighii; das letztere ist vielmehr die Bildungsstätte (Matrix) der Epidermis oder die jüngste Epidermislage selbst, insofern von hieraus immer neue Theile sich ansetzen, sich abplatten und in die Höhe rücken, in dem Maasse, als aussen durch Waschen, Reiben u. s. w. Theile verloren gehen. Auch zwischen der untersten Schicht des Rete und der Oberfläche der Cutis gibt es keine weitere Zwischenlage mehr, keine amorphe Flüssigkeit, kein Blastem, das in sich Zellen bilden könnte; die Zellen sitzen direct auf der Bindegewebspapille der Cutis auf. Es ist hier nirgends ein Raum, wie man noch vor Kurzem dachte, in welchen aus den Papillen und den in ihnen enthaltenen Gefässen Flüssigkeit transsudirte, damit aus und in derselben neue Elemente durch freie Urzeugung entständen und hervorwüchsen. Eine blosse Schleimschicht, welche als Cytoblastem für die neuen Zellen diente, ist absolut nicht wahrnehmbar. Durch die ganze Reihe der Zellenlagen des Rete und der Epidermis besteht dasselbe Continuitätsverhältniss, wie man es an der Rinde eines Baumes kennt. Die Rindenschicht einer Kartoffel (Fig. 2) zeigt in gleicher Weise aussen korkhaltige epidermoidale Elemente und darunter, wie im Rete Malpighii, eine Lage kernhaltiger Zellen, das Cambium, welches die Matrix des Nachwuchses für die Rinde darstellt. Sehr ähnlich verhält es sich am Nagel. Betrachtet man den Durchschnitt eines Nagels, quer auf die Längsrichtung des Fingers, so sieht man dieselbe Anordnung, wie an der gewöhnlichen Haut, nur entspricht jede einzelne Ausbuchtung der unteren Fläche nicht einer zapfenförmigen Verlängerung der Cutis, einer Papille, sondern einer Leiste, welche über die ganze Länge des Nagelbettes hinläuft und welche mit den Leisten zu vergleichen ist, die an der Volarseite der Finger zu sehen sind. Auf diesen Leisten des Nagelbettes befinden sich sehr niedrige und verkommene Papillen, an deren Oberfläche das mehr cylindrisch gestaltete jüngste Lager des Rete Malpighii aufsitzt; daran schliessen sich immer grössere Elemente an, und endlich folgt eine hornig-blätterige Schicht, welche der Epidermis entspricht. Es ist jedoch, um dies gleich vorweg zu nehmen, da wir auf den Nagel nicht wieder zu sprechen kommen werden, seine Zusammensetzung deshalb schwierig zu ermitteln gewesen, weil man sich ihn als einheitliches Gebilde gedacht hat. Daher hat sich der Streit hauptsächlich um die Frage gedreht, wo die Matrix des Nagels sei, ob er von der ganzen Fläche wachse, oder nur von dem kleinen Falz, in welchem er hinten steckt. Die eigentliche feste Masse, das compacte =Nagelblatt=, wächst allerdings nur von hinten her und schiebt sich über die Fläche des sogenannten =Nagelbettes= hinweg, aber das Nagelbett erzeugt seinerseits eine bestimmte Masse von Zellen, die als Aequivalente einer Epidermislage zu betrachten sind. Macht man einen Durchschnitt durch die Mitte eines Nagels, so kommt man zu äusserst auf das von hinten gewachsene Nagelblatt, dann auf die losere Substanz, welche von dem Nagelbett abgesondert ist, dann auf das Rete Malpighii, und endlich auf die Leisten, auf welchen der Nagel ruht[6]. Es combiniren sich also in der Nagelbildung zwei Epidermoidalstrata: ein äusseres oder oberes, dessen Matrix das Rete im Falz ist, und ein inneres oder unteres, dessen Matrix das Rete des Bettes ist. [6] Vgl. meine Abhandlung zur normalen und pathologischen Anatomie der Nagel und der Oberhaut, insbesondere über hornige Entartung und Pilzbildung an den Nägeln. Vgl. Würzb. Verhandl. 1854. V. 83. So begreift man, dass das Nagelblatt bis zu einem gewissen Maasse locker liegt und sich leicht vorwärts bewegen kann, indem es sich auf einer beweglichen Unterlage vorschiebt. Aber es ist auch sofort zu verstehen, wie leicht man sich in der Deutung des Bildes, welches senkrechte Durchschnitte durch den Nagel gewähren, täuschen kann, und wie nahe es liegt, anzunehmen, auch das Nagelblatt beziehe seine Elemente wenigstens zum Theil aus der Matrix des Bettes. Es fügen sich jedoch die von letzterer gelieferten Elemente nur lose der unteren Fläche des Nagelblattes an. Diese Fläche besitzt daher, entsprechend den erwähnten Leisten, seichte Ausbuchtungen, so dass der wachsende Nagel, indem er über die Leisten fortgleitet, seitliche Bewegungen nur innerhalb beschränkter Grenzen machen kann. Man kann daher sagen: es bewegt sich das von hinten wachsende Nagelblatt über ein =Polster= von lockerer Epidermismasse nach vorn (Fig. 18, _a_) in Rinnen, welche zwischen den längslaufenden Leisten oder Falten des Nagelbettes gelegen sind. Das Nagelblatt selbst, frisch untersucht, besteht dagegen aus einer so dichten Masse, dass man einzelne Zellen daran kaum zu unterscheiden im Stande ist, ja, dass man ein Bild bekommt, wie an manchen Stellen im Knorpel. Aber durch Behandlung mit Kali, welches die Zellen aufquellen macht und von einander trennt, kann man sich überzeugen, dass er überall nur aus Epidermiszellen besteht. [Illustration: =Fig=. 18. Schematische Darstellung des Längsdurchschnittes vom Nagel. _a_. Das normale Verhältniss: leicht gekrümmtes, horizontales Nagelblatt, in seinem Falze steckend und durch ein schwaches Polster von dem Nagelbette getrennt. _b_. Stärker gekrümmtes und etwas dickeres Nagelblatt mit stark verdicktem Polster und stärker gewölbtem Nagelbette, der Falz kürzer und weiter. _c_. Onychogryphosis: das kurze und dicke Nagelblatt steil aufgerichtet, der Falz kurz und weit, das Nagelbett auf der Fläche eingebogen, das Polster sehr dick und aus übereinander geschichteten Lagen von lockeren Zellen bestehend.] Kennt man diese Entwickelung, so lassen sich die Krankheiten des Nagels in leicht fasslicher Weise von einander scheiden. Es gibt nehmlich Krankheiten des Nagelbettes, welche das Wachsthum des Nagelblattes nicht ändern, aber Dislocationen desselben bedingen. Wenn auf dem Nagelbette eine sehr reichliche Entwickelung von Polstermasse stattfindet, so kann das Nagelblatt in die Höhe gehoben werden (Fig. 18, _b_), ja es kommt, namentlich an den Zehen, nicht selten vor, dass es, statt horizontal, senkrecht in die Höhe wächst und der Raum unter ihm von dicken Anhäufungen des blätterigen Polsters erfüllt wird (Fig. 18, _c_). Selbst Eiterungen können auf dem Nagelbette stattfinden, ohne dass die Entwickelung des Nagelblattes dadurch gehindert wird. Die sonderbarsten Veränderungen zeigen sich bei den Pocken. Wenn eine Blatter auf dem Nagelbett sich bildet, so bekommt der Nagel nur eine gelbliche, etwas unebene Stelle; entwickelt sich dagegen die Pocke im Nagelfalze, so sieht man Wochen nachher das Bild der Pocke in einer kreisförmig vertieften, wie ausgeschnittenen Stelle des sich allmählich vorschiebenden Nagelblattes, als einen Beweis des Ausfalls von Elementen, gerade wie auf der Epidermis. Denn jede Krankheit, welche den Nagelfalz (die Matrix) trifft, ändert auch das Nagelblatt, und wenn der Falz zerstört wird, so kann ein wirkliches Blatt nicht mehr nachgebildet werden; das Bett bedeckt sich dann nur mit einer hornigen, unregelmässig geschichteten Masse, wie sie sich zuweilen auch auf grossen Narben anderer Hautstellen, namentlich nach partiellen Amputationen des Fusses, erzeugt. -- Wie am Nagel, so erfahren auch an anderen Orten unter besonderen Verhältnissen die epidermoidalen Elemente besondere Umwandlungen, wodurch sie ihrem ursprünglichen Habitus ausserordentlich unähnlich werden und allmählich Erscheinungsformen annehmen, die es jedem, welcher die Entwickelungsgeschichte nicht kennt, unmöglich machen, ihre ursprüngliche Epidermis-Natur auch nur zu ahnen. So ist es mit den =Haaren=. Die am meisten abweichende Entwickelung findet sich jedoch an der =Krystallinse= des Auges, welche ursprünglich eine reine Epidermis-Anhäufung ist. Sie entsteht bekanntlich dadurch, dass sich ein Theil der Haut von aussen sackförmig einstülpt. Anfangs bleibt durch eine leichte Membran die Verbindung mit den äusseren Theilen erhalten, durch die Membrana capsulo-pupillaris; später atrophirt diese und lässt die abgeschlossene Linse im Innern des Auges liegen. Die sogenannten Linsenfasern sind also weiter nichts, wie schon =Carl Vogt= zeigte, als epidermoidale Elemente mit eigenthümlicher Entwickelung, und die Regeneration derselben z. B. nach Extraction der Cataract, ist nur so lange möglich, als noch Epithel an der Capsel vorhanden ist, welches den Neubau übernimmt und gleichsam ein dünnes Lager von Rete Malpighii darstellt. Dieses reproducirt in derselben Weise die Linse, wie das gewöhnliche Rete Malpighii der Haut die Epidermis; nur ist die Regeneration der Linse gewöhnlich unvollständig, da die sich vermehrenden Rete-Zellen hauptsächlich am Umfange der Linsenkapsel liegen. Die neu gebildete Linse ist daher in der Regel ein Ring, der in der Mitte nicht ausgefüllt ist. Unter den sonstigen Modificationen epithelialer Gebilde werden wir noch gelegentlich die eigenthümlichen =Pigmentzellen= zu erwähnen haben, die an den verschiedensten Punkten aus der Umwandlung von Rete- oder Epithelial-Elementen hervorgehen, indem sich der Inhalt der Zellen entweder durch Imbibition färbt oder in sich durch (metabolische) Umsetzung des Inhalts Pigment erzeugt. So entstehen Pigmentzellen in dem Rete gefärbter Hautstellen oder gefärbter Racen, bei Naevi und Bronzekrankheit; so bilden sich die dunkle Zellenschicht der Chorioides oculi (Fig. 6), gewisse pigmentirte Zellen in den Alveolen der Lunge (Fig. 8). -- [Illustration: =Fig=. 19. _A_. Entwickelung der Schweissdrüsen durch Wucherung der Zellen des Rete Malpighii nach innen. _e_. Epidermis, _r_. Rete Malpighii, _g g_ solider Zapfen, der ersten Drüsenanlage entsprechend. Nach =Kölliker=. _B_. Stück eines Schweissdrüsenkanals im entwickelten Zustande, _t t_ Tunica propria. _e e_ Epithellagen.] Zu den Epithelien gehört noch eine andere, ganz besondere Art von Elementen, die bei dem Zustandekommen gewisser höherer Functionen des Thiers eine sehr bedeutende Rolle spielen, nehmlich die =Drüsenzellen=. Die eigentlich activen Elemente der gewöhnlichen, mit Ausführungsgängen versehenen Drüsen sind wesentlich epitheliale. Es ist eines der grössten Verdienste von =Remak=, gezeigt zu haben, dass in der normalen Entwickelung des Embryo von den bekannten drei Keimblättern das äussere und innere hauptsächlich epitheliale Gebilde hervorbringen, von denen unter Anderem durch allmähliche Wucherung die Drüsengestaltung ausgeht. Schon andere Forscher hatten ähnliche Beobachtungen gemacht, insbesondere =Kölliker=. Gegenwärtig kann man es als allgemeine Doctrin hinstellen, dass die Drüsenbildung überhaupt als ein directer Wucherungsprocess von Epithelial-Gebilden zu betrachten ist. Früher dachte man sich Cytoblastem-Haufen, in denen unabhängig Drüsenmasse entstände; allein mit Ausnahme der Lymphdrüsen, welche in ein ganz anderes Gebiet gehören, entstehen sämmtliche Drüsen in der Weise, dass an einem gewissen Punkte in ähnlicher Art, wie ich von den Auswüchsen der Pflanzen angegeben habe (S. 25), epitheliale Zellen anfangen sich zu theilen, sich wieder und wieder theilen, bis allmählich ein kleiner Zapfen von zelligen Elementen entstanden ist (Fig. 19, _A_). Dieser wächst nach innen und bildet, indem er sich seitlich ausbreitet und im Innern aushöhlt, einen Drüsengang (Fig. 19, _B_), welcher demnach sofort ein Continuum mit äusseren Zellenlagen darstellt. So entstehen die Drüsen der Oberfläche (die Schweiss- und Talgdrüsen der Haut, die Milchdrüse), so entstehen aber auch die inneren Drüsen des Digestionstractus (Magendrüsen, Lieberkühnsche Darmdrüsen, Leber), der Eierstock u. s. w. Die einfachsten Formen, welche eine Drüse darbieten kann, kommen beim Menschen nicht vor. Es sind dies =einzellige Drüsen=, wie sie in neuerer Zeit bei niederen Thieren vielfach gefunden sind. Die menschlichen Drüsen sind stets Anhäufungen von vielen Elementen, die jedoch genetisch auf ziemlich einfache Anlagen zurückführen. Freilich gehen ausser den epithelialen Elementen in unsern zusammengesetzten Drüsen noch andere nothwendige Bestandtheile (Bindegewebe, Gefässe, Nerven) in die Zusammensetzung ein, und man kann nicht sagen, dass die Drüse, als Organ betrachtet, bloss aus Drüsenzellen bestehe. Jedoch ist man darüber gegenwärtig ziemlich einig, dass das bestimmende Element in der Zusammensetzung die Drüsenzelle ist, ebenso wie bei den Muskeln das Muskelprimitivbündel, und dass die specifische Thätigkeit der Drüse hauptsächlich in der Natur und eigenthümlichen Einrichtung dieser Elemente begründet ist. Im Allgemeinen bestehen also die Drüsen aus Anhäufungen von Zellen, welche in der Regel offene Kanäle bilden. Wenn man von den Drüsen mit zweifelhafter Function (Schilddrüse, Nebennieren) absieht, so gibt es beim Menschen nur die Eierstöcke, welche eine Ausnahme machen, indem ihre Follikel nur zu Zeiten offen sind; aber auch sie müssen offen sein, wenn die specifische Secretion der Eier stattfinden soll. Bei den meisten Drüsen kommt freilich bei der Secretion noch eine gewisse Menge transsudirter Flüssigkeit hinzu, allein diese Flüssigkeit stellt nur das Vehikel dar, welches die Elemente selbst oder ihre specifischen Produkte wegschwemmt. Wenn sich in den Hodenkanälen eine Zelle ablöst, in welcher Samenfäden entstehen, so transsudirt zugleich eine gewisse Menge von Flüssigkeit, welche dieselben fortträgt, aber das, was den Samen zum Samen macht, was das Specifische der Thätigkeit gibt, ist die Zellenfunction. Die blosse Transsudation von den Gefässen aus ist wohl ein Mittel zur Fortbewegung, gibt aber nicht das specifische Produkt der Drüse, das Secret im engeren Sinne des Worts. Wie am Hoden, so geht im Wesentlichen an allen Drüsen, an denen wir mit Bestimmtheit das Einzelne ihrer Thätigkeit übersehen können, die wesentliche Eigenthümlichkeit ihrer Energie von der Entwickelung, Umgestaltung und Thätigkeit epithelialer Elemente aus. -- * * * * * Die zweite histologische Gruppe bilden die Gewebe der =Bindesubstanz=. Es ist dies diejenige Gruppe, welche gerade für mich das meiste Interesse hat, weil von hier aus meine allgemein-physiologischen Anschauungen zu dem Abschlusse gekommen sind, den ich im Eingange kurz darstellte. Die Aenderungen, welche es mir gelungen ist, in der histologischen Auffassung der ganzen Gruppe herbeizuführen, haben mir zugleich die Möglichkeit gegeben, die Cellulardoctrin zu einer gewissen Abrundung zu bringen. Die Hauptglieder dieser Gruppe sind das =Bindegewebe=, das =Schleimgewebe=, der =Knorpel=, das =Knochengewebe=, das =Zahnbein=, die =Neuroglia= und das =Fettgewebe=. Betrachten wir zuerst das Bindegewebe als das für die Auffassung der übrigen mehr oder weniger bestimmende. Bis in die neueste Zeit hiess es fast allgemein Zellgewebe (tela cellulosa), weil man annahm, dass es regelmässig kleinere Räume (cellulae, areolae) enthalte. Erst =Johannes Müller= führte den Ausdruck Bindegewebe (tela conjunctoria s. connectiva), freilich nur für eine gewisse Art, ein; er meinte damit, was wir gegenwärtig =interstitielles Gewebe= zu nennen pflegen, nehmlich dasjenige »Zellgewebe«, welches Organe oder Organtheile mit einander verbindet. Sehr langsam, zum Theil aus blossem Widerwillen gegen den schlechten Namen Zellgewebe, ist die Bezeichnung Bindegewebe auf alles Zellgewebe und auf alle daraus zusammengesetzten Theile (Lederhaut, Sehnen, Fascien) ausgedehnt worden. Gegenwärtig muss man sich fast in Acht nehmen, nicht noch weiterzugehen und auch die übrigen Glieder dieser Gruppe dem Bindegewebe zuzurechnen. »Bindesubstanz« soll diesem weiteren Klassenbegriff entsprechen. [Illustration: =Fig=. 20. _A_. Bündel von gewöhnlichem lockigem Bindegewebe (Intercellularsubstanz), am Ende in feine Fibrillen zersplitternd. _B_. Schema der Bindegewebs-Entwickelung nach =Schwann=. _a_. Spindelzelle (geschwänztes Körperchen, fibroplastisches Körperchen =Lebert=) mit Kern und Kernkörperchen. _b_. Zerklüftung des Zellkörpers in Fibrillen. _C_. Schema der Bindegewebs-Entwickelung nach =Henle=. _a_. Hyaline Grundsubstanz (Blastem) mit regelmässig eingestreuten, nucleolirten Kernen. _b_. Zerfaserung des Blastems (directe Fibrillenbildung) und Umwandlung der Kerne in Kernfasern.] Seit =Haller= betrachtete man das Zellgewebe oder, wie man auch wohl sagte, das =Fasergewebe= (tela fibrosa) als wesentlich aus Fasern (fibrae, fibrillae) zusammengesetzt und sah in diesen Fasern, wie im ersten Capitel (S. 22.) hervorgehoben ist, die eigentlich elementare Form des Organischen. In der That, wenn man Bindegewebe an verschiedenen Regionen, z. B. an den Sehnen und Bändern, der Pia mater, dem subserösen und submucösen Zellgewebe untersucht, so findet man überall wellige Faserbündel (Fascikel), sogenanntes =lockiges Bindegewebe= (Fig. 20, _A_). Die Zusammensetzung dieser Bündel glaubte man um so bestimmter auf einzelne Fasern zurückführen zu können, als wirklich nicht selten an dem Ende der Bündel isolirte Fädchen herausstehen. Trotzdem ist gerade auf diesen Punkt vor etwa 25 Jahren ein ernsthafter Angriff gemacht worden, der, wenngleich in einer anderen, als der beabsichtigten Richtung, eine sehr grosse Bedeutung gewonnen hat. =Reichert= suchte nehmlich zu zeigen, dass die Fasern nur der optische Ausdruck von Falten seien, und dass das Bindegewebe vielmehr an allen Orten eine homogene, jedoch mit grosser Neigung zur Faltenbildung versehene Masse darstelle. =Schwann= hatte die Bildung des Bindegewebes so dargestellt, dass ursprünglich zellige Elemente von spindelförmiger Gestalt vorhanden wären, die nachher so berühmt gewordenen =geschwänzten Körperchen, Spindel- oder Faserzellen= (fibroplastischen Körper =Lebert='s, Fig. 4, _b_), und dass aus solchen Zellen unmittelbar Fascikel von Bindegewebe in der Weise hervorgingen, dass der Körper der Zelle in einzelne Fibrillen sich zerspalte, während der Kern als solcher liegen bliebe (Fig. 20, _B_). Jede Spindelzelle würde also für sich oder in Verbindung mit anderen, an sie anstossenden und mit ihr verschmelzenden Spindelzellen ein Bündel von Fasern liefern. =Henle= dagegen glaubte aus der Entwickelungsgeschichte schliessen zu müssen, dass ursprünglich gar keine Zellen vorhanden seien, sondern nur einfaches Blastem, in welchem Kerne in gewissen Abständen sich bildeten; die späteren Fasern sollten durch eine directe Zerklüftung des Blastems entstehen. Während so die Zwischenmasse sich differenzire zu Fasern, sollten die Kerne sich allmählich verlängern und endlich zusammenwachsen, so dass daraus eigenthümliche feine Längsfasern entständen, die sogenannten =Kernfasern= (Fig. 20, _C_, _b_). =Reichert= hat gegenüber diesen Ansichten einen ausserordentlich wichtigen Schritt gethan. Er bewies nehmlich, dass ursprünglich nur Zellen in grosser Masse vorhanden sind, zwischen welche erst später homogene Intercellularmasse abgelagert wird. Zu einer gewissen Zeit verschmölzen dann, wie er glaubte, die Membranen der Zellen mit der Intercellularsubstanz, und es komme nun ein Stadium, dem von =Henle= beschriebenen analog, wo keine Grenze zwischen den alten Zellen und der Zwischenmasse mehr existire. Endlich sollten auch die Kerne in einigen Formen gänzlich verschwinden, während sie in anderen sich erhielten. Dagegen leugnete =Reichert= entschieden, dass die spindelförmigen Elemente von =Schwann= überhaupt vorkämen. Alle spindelförmigen, geschwänzten oder gezackten Elemente wären Kunstproducte, gleich wie die Fasern, welche man in der Zwischenmasse sähe und welche nur scheinbar etwas für sich Existirendes darstellten, da sie in Wahrheit eine falsche Deutung des optischen Bildes, der Ausdruck blosser Falten und Streifungen einer an sich durchaus gleichmässigen Substanz seien. [Illustration: =Fig=. 21. Bindegewebe vom Schweinsembryo nach längerem Kochen. Grosse zum Theil isolierte, zum Theil noch in der Grundsubstanz eingeschlossene und anastomisirende Spindelzellen (Bindegewebskörperchen). Grosse Kerne mit abgelöster Membran; zum Theil geschrumpfter Zelleninhalt. Vergr. 350.] Meine Untersuchungen haben gelehrt, dass die Auffassung sowohl von =Schwann=, als von =Reichert= bis zu einem gewissen Grade auf richtigen Anschauungen beruht. Erstlich mit =Schwann= und gegen =Reichert=, dass in der That spindelförmige (Fig. 21) und sternförmige Elemente mit vollkommener Sicherheit existiren, dann aber gegen =Schwann= und mit =Henle= und =Reichert=, dass eine directe Zerklüftung der Zellen zu Fasern nicht geschieht, dass vielmehr dasjenige, was wir nachher als Bindegewebe vor uns sehen, an die Stelle der früher gleichmässigen Intercellular-Substanz tritt. Ich fand ferner, dass =Reichert= sowohl, als =Schwann= und =Henle= darin Unrecht hatten, wenn sie zuletzt im besten Falle Kerne oder Kernfasern bestehen liessen; dass vielmehr in den meisten Fällen auch die Zellen selbst sich erhalten. Das Bindegewebe der späteren Zeit unterscheidet sich der allgemeinen Structur und Anlage nach in gar nichts von dem Bindegewebe der früheren Zeit. Es gibt nicht ein embryonales oder unreifes Bindegewebe mit Spindeln und ein ausgebildetes oder reifes ohne diese, sondern die Elemente bleiben dieselben, wenngleich sie oft nicht sofort zu sehen sind[7]. [7] Vergl. meine Abhandlung über das Bindegewebe in den Würzburger Verhandl. 1851. II. 150. [Illustration: =Fig=. 22. Schema der Bindegewebs-Entwickelung nach meinen Untersuchungen. _A_. Jüngstes Stadium. Hyaline Grundsubstanz (Intercellularsubstanz) mit grösseren Zellen (Bindegewebskörperchen); letztere in regelmässigen Abständen, reihenweise gestellt, Anfangs getrennt, spindelförmig und einfach, späterhin anastomosirend und verästelt. _B_. Aelteres Stadium: bei _a_. streifig gewordene (fibrilläre) Grundsubstanz, durch die reihenweise Einlagerung von Zellen fasciculär erscheinend; die Zellen schmäler und feiner werdend; bei _b_. nach Einwirkung von Essigsäure ist das streifige Aussehen der Grundsubstanz wieder verschwunden, und man sieht die noch kernhaltigen, feinen und langen anastomosirenden Faserzellen (Bindegewebskörperchen).] Mit dem Nachweise von der Persistenz der Zellen im Bindegewebe gelangte ich zu einer gänzlich verschiedenen Betrachtungsweise der physiologischen und pathologischen Bedeutung der einzelnen Bestandtheile. Während bis dahin die Fasern als die eigentlich constituirenden Elemente des Bindegewebes angesehen waren, wie es =Robin= und die französische Schule noch heute thun, so rückten sie in meiner Vorstellung als Bestandtheile der Intercellularsubstanz in eine durchaus untergeordnete Stellung. Sie verhalten sich zu den Bindegewebszellen, oder, wie ich sie gewöhnlich nenne, den =Bindegewebskörperchen=, wie die Fasern des Fibrins in einem Blutgerinnsel zu den Blutkörperchen. Sie geben dem Gewebe Consistenz, Dehnbarkeit, Widerstandsfähigkeit, Ausdehnungsfähigkeit, Farbe und Aussehen, aber sie sind nicht die Sitze der Lebensthätigkeit, nicht die lebenden Mittelpunkte des Gewebes. Da die Substanz, welche sich zwischen den Bindegewebskörperchen befindet, ursprünglich homogen ist und erst später fibrillär wird, so muss man sich vorstellen, dass die Fibrillation in ähnlicher Weise vor sich geht, wie in dem Fibringerinnsel, welches zuerst auch homogen und gallertartig ist. Und da ferner die Substanz zwischen den Zellen später auftritt, als die Zellen, so kann man sie nicht im Sinne =Henle='s als Cytoblastem betrachten, sondern sie lässt sich nur als ein von den Zellen geliefertes =Secret= ansehen. In der letzten Zeit haben Manche mit =Max Schultze= Werth darauf gelegt, die Intercellularsubstanz nicht als ein Secret aufzufassen, sondern als die äussere, metamorphosirte Schicht der Zellen oder, um in der Schulsprache zu reden, als das veränderte Protoplasma selbst. Dieser Streit ist ein rein doctrinärer. Denn auch die Vorstellung von der Secretion der Intercellularsubstanz geht davon aus, dass das Secret einmal innerhalb der Zellen befindlich gewesen sei, und es versteht sich von selbst, dass eine Zelle nach geschehener Secretion der Intercellularsubstanz um so viel kleiner sein muss, als Secret aus ihr hervorgetreten ist (vorausgesetzt, dass sie nicht wieder neue Substanz von aussen her in sich aufgenommen hat). Dass aber wirklich die Corticalschicht der Bindegewebskörperchen in Intercellularsubstanz verwandelt werde, hat noch Niemand dargethan. Demnach ist das Bindegewebe aufzufassen als zusammengesetzt aus Zellenterritorien (S. 17), von denen jedes eine Zelle mit dem ihr zugehörigen Antheil von Intercellularsubstanz enthält, und deren Grenzen gänzlich verschmolzen sind. Man kann diess auch so ausdrücken, dass man sagt: das Bindegewebe besteht aus einer im Wesentlichen faserigen Intercellularsubstanz und Zellen, welche in regelmässigen Abständen in dieselbe eingeschlossen sind. Diese Formel gilt übrigens für sämmtliche Gewebe der Bindesubstanz, nur dass die Beschaffenheit der Intercellularsubstanz verschieden und keineswegs überall faserig ist. Im ausgebildeten Zustande besteht wenigstens scheinbar fast überall der grösste Theil des Gewebes aus Intercellularsubstanz, und deshalb ist diese letztere in hohem Maasse für die äussere Erscheinung des Gewebes bestimmend. Die Zellen sind der Masse nach meist unbedeutend und sie können die mannichfachsten Formen haben. Daher lassen die Gewebe sich nicht darnach unterscheiden, dass das eine nur runde, das andere dagegen geschwänzte oder sternförmige Zellen enthält; vielmehr können in allen Geweben der Bindesubstanz runde, lange, eckige oder verästelte Elemente vorkommen. [Illustration: =Fig=. 23. Senkrechter Durchschnitt durch den wachsenden Knorpel der Patella. _a_. Die Gelenkfläche mit parallel gelagerten Spindelzellen (Knorpelkörperchen). _b_. Beginnende Wucherung der Zellen. _c_. Vorgeschrittene Wucherung; grosse, rundliche Gruppen; innerhalb der ausgedehnten Capseln immer zahlreichere runde Zellen. -- Vergröss. 50.] Der einfachste Fall ist der, dass runde Zellen in gewissen Abständen liegen, durch Intercellularsubstanz getrennt. Das ist diejenige Form, welche wir am schönsten in den =Knorpeln= finden, z. B. in den Gelenküberzügen, wo die Zwischenmasse vollkommen homogen und an ihr nichts zu sehen ist, als eine vielleicht hier und da schwach gekörnte, im Ganzen jedoch völlig wasserklare Substanz, so homogen, dass, wenn man nicht die Grenze des Objectes vor sich hat, man in Zweifel sein kann, ob überhaupt etwas zwischen den Zellen vorhanden ist. Diese Substanz characterisirt den =hyalinen Knorpel=. Unter gewissen Verhältnissen wandeln aber die runden Elemente sich auch im Knorpel in längliche, spindelförmige um, z. B. ganz regelmässig gegen die Gelenkoberflächen hin. Je näher man bei der Durchforschung des Gelenkknorpels der freien Oberfläche kommt (Fig. 23, _a_), um so platter werden die Zellen; zuletzt sieht man nur kleine, flach linsenförmige, auf einem Längsdurchschnitt spindelförmig erscheinende Körper, zwischen denen die Intercellularsubstanz zuweilen ein leicht streifiges Aussehen zeigt. Hier tritt also, ohne dass das Gewebe aufhört, Knorpel zu sein, ein Typus auf, den wir viel regelmässiger im Bindegewebe antreffen, und es kann leicht daraus die Vorstellung erwachsen, als sei der Gelenkknorpel noch mit einer besonderen Membran überzogen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Es legt sich keine Synovialhaut über den Knorpel; die Grenze des Knorpels gegen das Gelenk hin ist überall vom Knorpel selbst gebildet. Die Synovialhaut fängt erst da an, wo der Knorpel aufhört, am Knochenrande. An anderen Stellen geht der Knorpel über in ein Gewebe, wo die Zellen nach mehreren Richtungen Fortsätze aussenden, dadurch sternförmig werden, und wo die endliche Anastamose der Elemente sich vorbereitet; endlich trifft man Stellen, wo man nicht mehr sagen kann, wo das eine Element aufhört und das andere anfängt: sie hängen durch ihre Fortsätze direct mit einander zusammen, sie anastomosiren, ohne dass eine Grenze zwischen ihnen zu erkennen wäre. Wenn ein solcher Fall eintritt, so wird die bis dahin gleichmässige hyaline Intercellularsubstanz ungleichmässig, streifig, faserig. Solchen Knorpel hat man schon seit langer Zeit =Faserknorpel= genannt. Von diesen beiden Arten unterscheidet man eine dritte, den sogenannten =Netzknorpel=, so an Ohr und Nase, wo die Elemente rund sind, aber eine eigenthümliche Art von dicken, steifen Fasern um sie herum liegt, deren Entstehung noch nicht ganz erforscht ist, die aber offenbar durch eine Metamorphose der Intercellularsubstanz entstehen. Wir haben schon früher (S. 8) gesehen, dass der ausgebildete Knorpel =incapsulirte= Zellen hat. Hier ist also die Zelle von der Intercellularsubstanz noch durch eine besondere, oft sehr dicke Wand getrennt. Wenn nun nicht bezweifelt werden kann, dass auch diese Wand ein Secretionsproduct der Zelle ist, so folgt, dass, genau genommen, die =Capsel der Intercellularsubstanz angehört, deren jüngster Theil sie ist=. In allen Rippenknorpeln ist es gewöhnlich, um einzelne Zellen sogar zwei und mehr Capselschichten zu sehen (Fig. 14), unter deren Ausbildung die Zelle immer kleiner und kleiner wird, so dass sie manchmal nur noch als ein granulirtes Kügelchen im Innern der Capselhöhle erscheint. Durch Jodzusatz lässt sie sich jedoch leicht erkennen, indem sie sich roth färbt, während Capsel- und Intercellularsubstanz nur gelb werden. Die Existenz der Capsel ist in hohem Maasse characteristisch für den Knorpel. Aber sie ist nicht entscheidend, denn in jungem und unentwickeltem Knorpel, sowie in dem von mir als =Knochenknorpel= (osteoidem Gewebe) benannten Gewebe fehlt sie und die Intercellularsubstanz stösst unmittelbar an die Oberfläche der Zelle. Mit diesen verschiedenen Typen, welche der Knorpel an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten seiner Entwickelung darbietet, sind auch alle die Verschiedenheiten gegeben, welche die übrigen Gewebe der Bindesubstanz darbieten. Es gibt auch wahres Bindegewebe mit runden, mit langen und sternförmigen Zellen. Ebenso finden sich innerhalb des eigenthümlichen Gewebes, welches ich =Schleimgewebe= genannt habe, runde Zellen in einer hyalinen, spindelförmige in einer streifigen, netzförmige in einer maschigen Grundsubstanz. Das Haupt-Kriterium für die Scheidung der Gewebe beruht daher auf der Bestimmung der chemischen Qualität der Intercellularsubstanz. Bindegewebe wird ein Gewebe genannt, dessen Grundsubstanz beim Kochen Leim (Colla, Gluten) gibt; Knorpel liefert aus seiner Zwischenmasse Chondrin, Schleimgewebe einen durch Alkohol in Fäden fällbaren und in Wasser wieder aufquellenden, durch Essigsäure fällbaren und im Ueberschuss sich nicht lösenden, dagegen in Salz- und Salpetersäure löslichen Stoff, das Mucin (Schleimstoff). Weitere Verschiedenheiten des Gewebes können sich späterhin einstellen durch die besondere Gestaltung und Füllung der einzelnen Zellen. Auch die Knorpel- und Bindegewebszellen führen zuweilen =Farbstoffe=, wie die epithelialen: es gibt also auch pigmentirte Bindesubstanz. Was wir kurzweg =Fett= nennen, ist ein Gewebe, welches sich hier unmittelbar anschliesst und welches sich wesentlich dadurch unterscheidet, dass die einzelnen Zellen sich haufenweise vermehren, vergrössern und mit Fett vollstopfen, wobei der Kern zur Seite gedrängt wird. An sich ist die Structur des Fettgewebes aber dieselbe wie die des Bindegewebes, und unter Umständen kann das Fett so vollständig schwinden, dass das Fettgewebe wieder auf einfaches gallertartiges Bindegewebe oder Schleimgewebe zurückgeführt wird[8]. Und umgekehrt kann nicht bloss Schleim- und Bindegewebe sich direct in Fettgewebe umwandeln, sondern es kann auch ganz direct fetthaltiges Mark aus Knorpel- oder Knochengewebe entstehen. [8] Archiv f. path. Anatomie und Physiol. 1859. XVI. 15. [Illustration: =Fig=. 24. Knochenkörperchen aus einem pathologischen Knochen von der Dura mater cerebralis. Man sieht die verästelten und anastomosirenden Fortsätze derselben (Knochenkanälchen) und innerhalb der Knochenkörperchen kleine Punkte, welche den trichterförmigen Anfang der Kanälchen bezeichnen. Vergröss. 600.] Unter den Geweben der Bindesubstanz besitzen diejenigen für die pathologische Anschauung die grösste Wichtigkeit, in welchen eine netzförmige Anordnung der Elemente besteht, oder anders ausgedrückt, in welchen die Elemente durch Ausläufer oder Fortsätze untereinander anastomosiren (Fig. 21; 22, _A_; 24). Ueberall, wo solche Anastomosen Statt finden, wo ein Element mit dem anderen zusammenhängt, da lässt sich mit einer gewissen Sicherheit darthun, dass diese Anastomosen eine Art von Röhren- oder Kanalsystem darstellen, welches den grossen Kanalsystemen des Körpers angereiht, welches namentlich neben den Blut- und Lymphkanälen als eine neue Erwerbung unserer Anschauungen betrachtet werden muss, also eine Art von Ersatz für die alten Vasa serosa bietet, die in der früher angenommenen Weise nicht existiren. Eine solche Einrichtung kommt vor im Faserknorpel, Bindegewebe, Knochen, Schleimgewebe an den verschiedensten Theilen und jedesmal unterscheiden sich die Gewebe, welche solche Anastomosen besitzen, von denen mit isolirten Elementen durch ihre grössere Fähigkeit, krankhafte Processe zu leiten. -- * * * * * Nachdem wir die Gruppe der Epithelial- oder Epidermoidalformation und die der Bindesubstanzen betrachtet haben, so bleibt uns noch eine ebenso grosse, als wichtige Gruppe, deren einzelne Glieder freilich nicht in der Weise, wie dies bei der Epithelial-und Bindegewebs-Formation der Fall ist, eine wirkliche Verwandtschaft untereinander haben. Ihre Uebereinstimmung ist vielmehr eine physiologische, indem sie =die höheren animalischen Gebilde= darstellen, welche sich durch die specifische Art ihrer Einrichtung und Leistung von den mehr indifferenten Epithelial- und Bindegeweben unterscheiden. Hierhin zähle ich das =Muskelgewebe=, das =Nervengewebe=, die =feineren Gefässe mit Blut=, =Lymphe= und =Lymphdrüsen=. Allerdings sind diese Gewebe unter sich so verschieden, dass man aus jedem derselben eine besondere Gruppe bilden könnte. Ich will darüber nicht streiten. Indess spricht die praktische Bequemlichkeit, sämmtliche Gewebe höherer Dignität in eine einzige Gruppe zusammenzufassen, für meinen Vorschlag. Ein anderer Umstand scheint auf den ersten Anblick die Nothwendigkeit einer solchen Vereinigung darzuthun. Gerade die Elemente der Hauptglieder dieser Gruppe stellen sich uns dar in der Form von zusammenhängenden, weithin durch den Körper verbreiteten, mehr oder weniger röhrenartigen Gebilden. Wenn man Muskeln, Nerven und Capillaren mit einander vergleicht, so kann man sehr leicht zu der Vorstellung kommen, es handle sich bei allen dreien um wirkliche Röhren, welche mit einem bald mehr, bald weniger beweglichen Inhalt gefüllt seien. Diese Vorstellung, so bequem sie für eine oberflächliche Anschauung ist, genügt jedoch deshalb nicht, weil wir den Inhalt der verschiedenen Röhren nicht einfach vergleichen können. Das Blut, welches in den Gefässen enthalten ist, lässt sich nicht als ein Analogen des Axencylinders oder des Markes einer Nervenröhre, oder der contractilen Substanz eines Muskelprimitivbündels betrachten. Allerdings ist die Entwickelung mancher Gebilde, welche ich in dieser Gruppe zusammenfasse, noch ein Gegenstand grosser Differenzen, und die Ansicht über die zellige Natur vieler der hier einschlagenden Elemente findet noch Widersacher. So viel ist indess sicher, wenn wir die fötale Entwickelung ins Auge fassen, dass die Blutkörperchen ebenso gut Zellen sind, wie die einzelnen Elemente der Gefässwand, innerhalb deren das Blut strömt, und dass man das Gefäss nicht als eine einfache Röhre bezeichnen kann, welche die Blutkörperchen umfasst, wie eine Zellmembran ihren Inhalt. Deshalb ist es nothwendig, dass man bei den Gefässen den Inhalt von der Wand, dem eigentlichen Gefässe trennt und dass man die Aehnlichkeit der Gefässe mit den Nervenröhren und Muskelbündeln nicht zu stark hervorhebt. Von entschiedener Bedeutung ist auch hier die Entwickelungsgeschichte. Nur was genetisch zusammengehört, muss zusammengehalten werden. Es ist aus diesem Grunde berechtigt, zum Blute die Lymphdrüsen hinzuzunehmen, insofern das Verhältniss beider zu einander ein gleiches ist, wie wir es bei den Epithelialformationen zwischen Epidermis und Rete angetroffen haben. Die Lymphdrüsen unterscheiden sich von den eigentlichen Drüsen nicht allein dadurch, dass sie keinen Ausführungsgang im gewöhnlichen Sinne des Wortes besitzen, sondern sie stehen auch ihrer Entwickelung nach keineswegs den gewöhnlichen Drüsen gleich; in ihrer ganzen Geschichte schliessen sie sich so eng an die Gewebe der Bindesubstanz, dass man eher versucht sein kann, anzunehmen, dass sie aus einer Umwandlung von Bindegewebe hervorgehen. Bei der Mehrzahl der höheren Gewebe tritt noch eine eigenthümliche Schwierigkeit hervor, welche wir schon bei den Drüsen (S. 38) kennen gelernt haben. Manche dieser Gewebe kommen überhaupt nirgends ganz rein vor. Sie sind vielmehr gemischt und zusammengehalten durch =interstitielles Gewebe=, welches von den specifischen Elementen ganz verschieden ist und ausnahmslos irgend einer Art von Bindesubstanz angehört. Es entsteht daher in der Regel ein zusammengesetzter, organartiger Bau, dessen Erforschung grosse Vorsicht erfordert, da sehr leicht die mehr indifferenten Elemente des interstitiellen =Gewebes= (welches wohl von Intercellular=substanz= zu unterscheiden ist) mit den eigentlich functionellen Elementen verwechselt werden können. Ein Muskel besteht aus wirklich muskulösen Elementen und Interstitialgewebe mit Bindegewebskörperchen, zu welchen noch Gefässe und Nerven hinzukommen. Das Gehirn enthält Nervenzellen, Nervenfasern und Interstitialgewebe mit einfachen Zellen, Gefässe u. s. w. Gehirnzellen im strengen Sinne des Wortes sind Nerven- oder Ganglienzellen, im weiteren können auch Gliazellen ebenso genannt werden. [Illustration: =Fig=. 25. Eine Gruppe von Muskelprimitivbündeln (Muskelfasern). _a_. Die natürliche Erscheinung eines frischen Primitivbündels mit seinen Querstreifen (Bändern oder Scheiben). _b_. Ein Bündel nach leichter Einwirkung von Essigsäure; die Kerne treten deutlich hervor und man sieht in dem einen zwei Kernkörperchen, den anderen völlig getheilt. _c_. Stärkere Einwirkung der Essigsäure: der Inhalt quillt am Ende aus der Scheide (Sarcolemm) hervor. _d_. Fettige Atrophie. Vergröss. 300.] Unter den Gliedern der hier in Rede stehenden Gruppe hat man gewöhnlich die =muskulösen Elemente= als die einfachsten betrachtet. Untersucht man einen gewöhnlichen rothen Muskel, so findet man ihn wesentlich zusammengesetzt aus einer Menge von meistentheils gleich dicken Cylindern (den =Primitivbündeln= oder =Muskelfasern=), die auf einem Querschnitte sich als runde Körper darstellen. An ihnen nimmt man alsbald die bekannten Querstreifen wahr, das heisst breite Linien, welche sich gewöhnlich etwas zackig über die Oberfläche des Bündels erstrecken, und welche nahezu so breit sind, wie die Zwischenräume, welche sie trennen (Fig. 25, _a_). Neben dieser Querstreifung sieht man weiterhin, namentlich nach gewissen Präparationsmethoden, eine der Länge nach verlaufende Streifung, die sogar in manchen Präparaten so überwiegend wird, dass das Muskelbündel fast nur längsgestreift erscheint. Wendet man nun Essigsäure an, so zeigen sich, während die Streifen erblassen, an der Wand, hier und da auch mehr gegen die Mitte des Cylinders hin, in gewissen Abständen grosse, rundlich-ovale Kerne mit glänzenden, ziemlich grossen Kernkörperchen, bald in grösserer, bald in kleinerer Zahl. Auf diese Weise gewinnen wir, nachdem wir durch die Einwirkung der Essigsäure die innere Substanz geklärt haben, ein Bild, welches an Zellenformen erinnert, und man ist daher um so mehr geneigt gewesen, das ganze Primitivbündel als aus einer einzigen Zelle hervorgegangen anzusehen, als nach der älteren Ansicht innerhalb eines jeden Muskels die einzelnen Primitivbündel von dem einen Insertionspunkte bis zu dem andern reichen sollten, also so lang gedacht wurden, als der Muskel selbst. Letztere Annahme ist freilich durch Untersuchungen, welche unter =Brücke='s Leitung in Wien durch =Rollett= angestellt wurden, erschüttert worden, indem dieser nachwies, dass im Verlaufe vieler Muskeln sich Enden der Primitivbündel mit zulaufenden Spitzen finden. Diese Enden schieben sich ineinander, und es entspricht demnach keineswegs die Länge aller Primitivbündel der ganzen Ausdehnung des Muskels. Allein diese Entdeckung, statt die Ansicht von der zelligen Natur der Primitivbündel zu erschüttern, hat sie vielmehr befestigt; sie zeigt, dass auch das fertige Muskelprimitivbündel sich verhält, wie eine Faserzelle (Fig. 105, _A_). Die einzige bekannte Ausnahme von dieser Einrichtung findet sich, wie =Eberth= gefunden hat, an der Herzmuskulatur, welche durch das Bestehen verzweigter und anastomosirender Bündel schon seit =Leeuwenhoek= die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, und welche auch durch den Mangel eines ausgebildeten Sarcolemma eine so eigenthümliche Stellung einnimmt. Hier gibt es statt der Faserzellen kürzere, mit platten Enden oder eckigen Grenzen aneinanderstossende und so mit einander verschmelzende Abtheilungen, von denen jede für sich einer Zelle entspricht. Auf der anderen Seite sind gerade in der letzten Zeit von verschiedenen Seiten Beobachtungen gemacht worden, welche eher geeignet schienen, die einzellige Natur der Primitivbündel in Zweifel zu ziehen. =Leydig= hat zuerst die Ansicht aufgestellt, dass in jedem Cylinder (Primitivbündel) eine Reihe von zelligen Elementen kleinerer Art enthalten sei. In der That liegt jeder Kern in einer besonderen, langgestreckten Lücke, welche durch das Auseinanderrücken der quergestreiften (contractilen) Substanz des Bündels gebildet wird. Die Lücke ist nach =Leydig= von einer besondern Membran umschlossen und sie stellt nach seiner Ansicht eine intramusculäre Zelle vor. Es handelt sich, sobald diese letzte Zusammensetzung discutirt wird, um äusserst schwierige Verhältnisse, und ich bekenne, dass, so sehr ich von der ursprünglich einzelligen Natur der Primitivbündel überzeugt bin, ich doch die sonderbaren Erscheinungen im Innern derselben zu gut kenne, als dass ich nicht zugestehen müsste, dass eine andere Ansicht aufgestellt werden könne. An jedem Cylinder (Primitivbündel) kann man leicht eine membranöse äussere Hülle (=Sarcolemma=) und einen Inhalt unterscheiden. In letzterem liegen die Kerne und an ihm kann man im natürlichen Zustande die eigenthümliche Quer- und Längsstreifung erkennen. Diese Streifung ist durchaus eine innere und nicht eine äussere. Die Membran an sich ist vollkommen glatt und eben; die Querstreifung gehört dem Inhalt an, welcher im Grossen die eigentliche rothe Muskelmasse, das Fleisch darstellt. Jedes Primitivbündel ist daher ein nach beiden Seiten hin zugespitzt endigender, meist sehr langer Cylinder, der eine Membran, einen Inhalt und Kerne besitzt, also die Eigenschaften einer sehr verlängerten Zelle darbietet. Damit stimmt die Entwickelungsgeschichte überein, insofern jedes Primitivbündel in der That durch doppelseitiges Wachsthum aus einer einzigen, ursprünglich ganz einfachen Bildungszelle hervorgeht, in welcher sich erst allmählich der specifische Inhalt, die Fleischsubstanz ablagert. Nun sieht man aber von Anfang an, dass die Ablagerung dieses specifischen Inhalts nicht an allen Punkten der Zellen erfolgt, sondern dass die nächste Umgebung des Kerns frei davon bleibt. Auch für pathologisch neugebildete Muskelzellen habe ich dies nachgewiesen[9]. Je grösser die Muskelzellen werden, um so mehr tritt diese von specifischem Inhalt freie Lücke um den Kern hervor, und zwar so, dass sie, wenn man den Cylinder von der Fläche aus betrachtet, als ein spindelförmiger Raum erscheint, während er auf einem Querdurchschnitt meist eckig oder sternförmig aussieht und nicht selten sich in verästelte und anastomosirende Fortsätze verfolgen lässt. Letztere nimmt man zuweilen, namentlich am Herzmuskel des Menschen, auch bei der Betrachtung von der Fläche her als feine interfibrilläre Linien oder Striche wahr (Fig. 26, _C_). Wie mir scheint, erstrecken sich diese Fortsätze ununterbrochen in das von =Cohnheim= entdeckte intermusculäre Gitterwerk, welches die Fleischsubstanz durchsetzt. Aber die Ansichten über die Natur der um die Kerne gelegenen Zeichnungen gehen noch weit auseinander. Während =Leydig=, wie erwähnt, sie als eine Art von Bindegewebskörperchen und die specifische Inhaltsmasse des Primitivbündels als ein Analogon der Bindegewebs-Intercellularsubstanz betrachtet, nimmt =Rollett= sie mit den dazu gehörigen Fortsätzen als ein intramusculäres Lacunensystem. =Max Schultze= endlich denkt sich diese von ihm als =Muskelkörperchen= bezeichneten Gebilde als membranlose Körper, nur aus Kern und Protoplasma bestehend, so jedoch, dass das Protoplasma derselben mit dem in der übrigen Fleischsubstanz vorhandenen und hier durch die Einlagerung anderer Bestandtheile zum Theil verdeckten Protoplasma continuirlich zusammenhänge. [9] Würzb. Verhandl. 1850. I. 189. Archiv f. path. Anat. 1854. VII. 137. Taf. II. Fig. 4. [Illustration: =Fig=. 26. Muskelelemente aus dem Herzfleische einer Puerpera. _A_. Eigenthümliche, den Faserzellen der Milzpulpe ganz ähnliche Spindelzellen, vielleicht dem Sarcolemma angehörig, bei dem Zerzupfen des Präparates frei geworden. _a_. halbmondförmig gekrümmte, an einem Ende etwas platte Zelle, von der Fläche gesehen, _b_. eine ähnliche, von der Seite gesehen, der Kern platt, _c_. _d_. Zellen, deren Kerne in einer herniösen Ausbuchtung der Membran liegen; _e_. eine ähnliche Zelle, von der Fläche gesehen, der Kern wie aufgelagert. _B_. Ein Primitivbündel ohne Hülle (Sarcolemma) mit deutlichen Längsfibrillen und grossen rundlichen Kernen, von denen einer zwei Kernkörperchen enthält (beginnende Theilung). _C_. Ein Primitivbündel, zerzupft und leicht durch Essigsäure gelichtet; ausser einem getheilten Kerne sieht man zwischen den Längsfibrillen feine pfriemenförmige Striche, die Andeutung von Ausläufern der intramuskulären Körper (Lücken, Zellen). -- Vergröss. 300.] Zunächst fragt es sich hier also, ob die Gebilde von Membranen begrenzt sind, wie vollständige Zellen, oder nicht; sodann, ob sie nur Lacunen und feinste Kanäle darstellen, oder Körper mit Fortsätzen. Beides ist sehr schwer zu entscheiden, und es ist mir nicht gelungen, constante Resultate zu erlangen. An Froschmuskeln, wie es =Sczelkow= ganz richtig dargelegt hat[10], findet sich eine so deutlich durch scharfe, dunkle Contouren begrenzte Zeichnung, dass man an der Existenz von Membranen kaum zweifeln möchte; am Herzmuskel des Menschen habe ich häufig, jedoch nicht in der Mehrzahl der Fälle, dasselbe gesehen. Unter pathologischen Verhältnissen, wie von A. =Böttcher=, namentlich aber von C. O. =Weber= gezeigt ist, und wie ich bestätigen kann, findet man um die Kerne blasige, durchaus zellenähnliche Gebilde, oder doch sehr deutliche, differente Absätze, z. B. Pigmentkörnchen (in der braunen Atrophie). In der grossen Mehrzahl der Muskeln kann ich von Membranen nichts erkennen und noch weniger Körper oder Fortsätze isoliren. Es ist daher wohl möglich, dass die Beschaffenheit dieser Gebilde eine wechselnde ist; jedenfalls können wir von der Entscheidung dieser Frage unser Urtheil nicht abhängig machen, da wir aus der Entwickelungsgeschichte ganz bestimmt wissen, dass die fraglichen Gebilde im Innern von Zellen entstehen. [10] Archiv f. path. Anat. 1860. XIX. 215. Taf. V. Wir müssen daher das Primitivbündel (die Muskelfaser) als eine ursprünglich einfache, jedoch späterhin zusammengesetzte Zelle betrachten, welche im entwickelten Zustande sowohl kernhaltige Muskelkörperchen, als eine specifische Inhaltsmasse umschliesst. Letztere ist es, an der unzweifelhaft die Eigenschaft der Contractilität haftet, und die je nach dem Zustande der Contraction selbst in ihren Erscheinungen variirt, indem sie bei der Contraction kürzer und breiter wird, während die Zwischenräume zwischen den einzelnen Querbändern oder Streifen sich etwas verschmälern. Es erfolgt also bei der Contraction eine Umordnung der kleinsten Bestandtheile, und zwar, wie aus den Untersuchungen von =Brücke= hervorgeht, nicht bloss der physikalischen Molecüle, sondern auch der sichtbaren anatomischen Bestandtheile. =Brücke= hat nehmlich, indem er den Muskel im polarisirten Lichte untersuchte, verschiedene optische Eigenschaften der einzelnen Substanzlagen gefunden, derer, welche die Querstreifen und derer, welche die Zwischenmasse darstellen. Jene bestehen aus Theilchen, welche das Licht doppelt brechen (Disdiaklasten), diese nicht. Bei gewissen Methoden der Präparation kann man den Inhalt eines jeden Muskel-Primitivbündels in Platten oder Scheiben (=Bowman='s discs) zerlegen, welche ihrerseits wieder aus lauter kleinen Körnchen (=Bowman='s sarcous elements) zusammengesetzt sind. In Wirklichkeit besteht jedoch der Inhalt des Primitivbündels aus einer grossen Menge feiner Längsfibrillen, von denen jede, entsprechend der Lage der Querstreifen oder scheinbaren Scheiben des Primitivbündels, kleine Körner enthält, welche durch eine blasse Zwischenmasse zusammengehalten werden. Indem nun viele Primitivfibrillen zusammenliegen, so entsteht durch die symmetrische Lage der kleinen Körnchen eben der Anschein von Scheiben, die eigentlich nicht vorhanden sind. Je nach der Thätigkeit des Muskels nehmen diese Theile eine veränderte Stellung zu einander an: bei der Contraction nähern sich die Körner einander, während die Zwischensubstanz kürzer und zugleich breiter wird. [Illustration: =Fig=. 27. Glatte Muskeln aus der Wand der Harnblase. _A_. Zusammenhängendes Bündel, aus dem bei _a_, _a_ einzelne, isolirte Faserzellen hervortreten, während bei _b_ die einfachen Durchschnitte derselben erscheinen. _B_. Ein solches Bündel nach Behandlung mit Essigsäure, wo die langen und schmalen Kerne deutlich werden; _a_ und _b_ wie oben. -- Vergr. 300.] Verhältnissmässig sehr viel einfacher erscheint die Zusammensetzung der =glatten, organischen= oder, obgleich weniger bezeichnend, =unwillkürlichen Muskelfasern=. Wenn man irgend einen Theil derjenigen Organe, worin glatte Muskelfasern enthalten sind, untersucht, so findet man in der Mehrzahl der Fälle zunächst in ähnlicher Weise, wie bei den quergestreiften Muskeln, kleine Bündel, z. B. in der Muskelhaut der Harnblase. Innerhalb dieser Fascikel unterscheidet man bei weiterer Untersuchung eine Reihe von einzelnen Elementen, von denen eine gewisse Zahl, 6, 10, 20 und mehr durch eine gemeinschaftliche Bindemasse zusammengehalten wird. Nach der Vorstellung, welche bis in die letzten Tage allgemein gültig war, würde jedes einzelne dieser Elemente ein Analogon des Primitivbündels der quergestreiften Muskeln darstellen. Denn sobald es gelingt, diese Fascikel in ihre feineren Bestandtheile zu zerlegen, so bekommt man als letzte Elemente lange spindelförmige Zellen, die in der Regel in der Mitte einen Kern besitzen (Fig. 6, _b_). Nach derjenigen Anschauung dagegen, welche in den letzten Tagen von verschiedenen Seiten anfängt bewegt zu werden, namentlich angeregt durch =Leydig='s Untersuchungen, würde man vielmehr ein Fascikel, worin eine ganze Reihe von Faserzellen enthalten ist, als Analogon eines quergestreiften Primitivbündels betrachten müssen. Berücksichtige ich jedoch die Entwickelungsgeschichte, so erscheint es mir zweckmässig und den bekannten Thatsachen am meisten entsprechend, die einzelne Faserzelle als Aequivalent des Primitivbündels festzuhalten. An einer solchen spindelförmigen oder Faser-Zelle ist es schwer, ausser dem Kern und dem Zellkörper etwas Besonderes zu unterscheiden. Bei recht grossen Zellen und bei starker Vergrösserung unterscheidet man allerdings häufig eine feine Längsstreifung (Fig. 6, _b_), so dass es aussieht, als ob auch hier im Innern eine Art von Fibrillen der Länge nach geordnet wäre, während von einer Querstreifung nur bei der Contraction (=Meissner=) etwas wahrzunehmen ist. Trotzdem haben die blassen, glatten Muskeln chemisch eine ziemlich grosse Uebereinstimmung mit den quergestreiften, indem man eine ähnliche Substanz (das sogenannte Syntonin =Lehmann='s) aus beiden ausziehen kann durch verdünnte Salzsäure, und indem gerade einer der am meisten characteristischen Bestandtheile, das Kreatin, welches in dem Muskelfleisch der rothen Theile gefunden wird, nach der Untersuchung von G. =Siegmund= auch in den glatten Muskeln des Uterus vorkommt. =Brücke= hat neuerlich auch in glatten Muskeln eine doppeltbrechende Substanz nachgewiesen. Ausserordentlich häufig findet man bei der Untersuchung von rothen Muskeln pathologisch interessante Stellen, insbesondere Bündel, welche das Bild des Muskels in der sogenannten =progressiven= (fettigen) =Atrophie= darbieten. Ein solches degenerirtes Bündel ist meist kleiner und schmäler, und zugleich zeigen sich zwischen den Längsfibrillen kleine Fettkörnchen aufgereiht (Fig. 25, _d_). Was an den Muskeln die Atrophie überhaupt macht, ist die Verkleinerung des Durchmessers der Primitivbündel, also die Abnahme der Fleischsubstanz; bei der fettigen Atrophie kommt dazu noch die gröbere Veränderung, dass im Innern des Primitivbündels kleine Reihen von Fettkörnchen auftreten, unter deren Vermehrung die eigentliche contractile Substanz an Masse abnimmt. Je mehr Fett, desto weniger contractile Substanz, oder mit anderen Worten: der Muskel wird weniger leistungsfähig, je geringer der normale Inhalt seiner Primitivbündel wird. Auch die pathologische Erfahrung bezeichnet daher als die Trägerin der Contractilität eine bestimmte Substanz. Sehen wir hier zunächst ab von der Contractilität kleiner Zellen, welche für die Beurtheilung der sogenannten motorischen Vorgänge ohne Bedeutung sind, und halten wir uns an jene Erscheinungen, welche Ortsveränderungen zusammengesetzter Theile bedingen, so finden wir als Grund derselben überall muskulöse Elemente. Während man früher neben der Muskelsubstanz noch manche andere Dinge, z. B. das Bindegewebe (als Ganzes, nicht bloss in seinen Zellen) als contractil annahm, so hat sich, namentlich seit den wichtigen Entdeckungen von =Kölliker=, die Lehre von den Bewegungen im menschlichen Körper eigentlich auf jene Substanz zurückgezogen, und es ist gelungen, fast alle die so mannichfaltigen und zum Theil so sonderbaren motorischen Phänomene auf die Existenz von grösseren oder kleineren Theilen wirklich muskulöser Natur zurückzuführen. So liegen in der Haut des Menschen kleine Muskeln, ungefähr so gross, wie die kleinsten Fascikel von der Harnblasenwand, aus ganz kleinen Faserzellen bestehende Bündel, welche vom Grunde der Haarfollikel gegen die Haut verlaufen, und welche, wenn sie sich zusammenziehen, die Oberfläche der Haut gegen die Wurzel des Haarbalges nähern. Das Resultat davon ist natürlich, dass die Haut uneben wird und man, wie man sagt, eine Gänsehaut bekommt. Dies sonderbare Phänomen, welches nach den früheren Anschauungen unerklärlich war, wurde sofort und einfach erklärt durch den Nachweis jener rein mikroskopischen Muskeln, der =Arrectores pilorum=. [Illustration: =Fig=. 28. Kleine Arterie aus der Basis des Grosshirns nach Behandlung mit Essigsäure. _A_ kleiner Stamm, _B_ und _C_ gröbere Aeste, _D_ und _D_ feinste Aeste (capillare Arterien). _a_, _a_ Adventitia mit Kernen, welche, der Längenausdehnung entsprechend, anfangs in doppelter, später in einfacher Lage sich finden, mit streifiger Grundsubstanz, bei _D_ und _E_ einfache Lage mit Längskernen, hier und da durch Fettkörnchenhaufen ersetzt (fettige Degeneration). _b_, _b_ Media (Ringfaser-oder Muskelhaut) mit langen, walzenförmigen Kernen, welche quer um das Gefäss verlaufen und am Rande (auf dem scheinbaren Querschnitt) als runde Körper erscheinen; bei _D_ und _E_ immer seltener werdende Querkerne der Media. _c_, _c_ Intima, bei _D_ und _E_ mit Längskernen. Vergr. 300.] So wissen wir gegenwärtig, dass die mittlere Haut grösserer Gefässe grossentheils aus Elementen dieser Art besteht, und dass die Contractionsphänomene der Gefässe einzig und allein auf die Wirkung von Muskeln zurückbezogen werden müssen, welche in ihnen in Form von Ring- oder Längsmuskeln enthalten sind. Eine kleine Vene oder eine kleine Arterie kann sich nur soweit zusammenziehen, als sie mit Muskeln versehen ist; sie unterscheiden sich hauptsächlich durch den Umstand, dass entweder mehr die Längs- oder mehr die Quermuskulatur entwickelt ist. Diese Beispiele sind besonders geeignet zu zeigen, wie eine einfache anatomische Entdeckung die wichtigsten Aufschlüsse über zum Theil ganz weit auseinanderliegende physiologische Erfahrungen gibt, und wie an den Nachweis bestimmter morphologischer Elemente sofort die wichtigsten Verdeutlichungen von Funktionen geknüpft werden können, die ohne eine solche thatsächliche Voraussetzung ganz unbegreiflich sein würden oder eine ganz willkürliche Erklärung finden müssten. Ich übergehe es hier, über die feineren Einrichtungen des Nervenapparates zu sprechen, weil ich später im Zusammenhange darauf zurückkommen werde; sonst würde dies der Gegenstand sein, welcher hier zunächst anzuschliessen wäre, weil zwischen Muskel- und Nervenfasern in der Einrichtung vielfache Aehnlichkeiten bestehen. Zu den Nerven gehören aber nothwendig die Ganglienzellen, welche die einzelnen Fasern untereinander verbinden, und welche als die wichtigsten Sammelpunkte des ganzen Nervenlebens betrachtet werden müssen, und ich verspare mir daher die Betrachtung dieser Gebilde für spätere Capitel. Auch über die Einrichtung des Gefässapparates will ich hier nicht im Zusammenhange handeln, und nur so viel sagen, als nöthig ist, um eine vorläufige Anschauung zu geben. Das Capillar-Gefäss ist eine einfache Röhre (Fig. 4, _c_.), welche bei der mikroskopischen Betrachtung aus einer einfachen Haut zu bestehen scheint, an welcher nichts wahrzunehmen ist, als von Strecke zu Strecke platte Kernen, welche, wenn das Gefäss von der Fläche angesehen wird, dasselbe Bild darbieten, wie an den Muskelelementen, welche aber gewöhnlich mehr am Rande bemerkbar werden und hier pfriemenförmig oder oval erscheinen, indem man nur ihre scharfe Kante oder einen kleineren Theil ihrer Fläche wahrnimmt. In der Nähe ihres Ursprunges aus den Arterien schliesst sich äusserlich noch eine feine, aus Bindegewebe bestehende Adventitia an. Bis vor Kurzem war man allgemein der Meinung, dass die Capillar-Membran ganz continuirlich sei und nur aus pathologischen Erscheinungen schloss ich (S. 19. Fig. 10, _c_.), dass sie in einzelne Zellenterritorien zu zerlegen sei. Mein damaliges Schema ist durch Untersuchungen von =Auerbach=, =Eberth= und =Hoyer= im Jahre 1865 als der Ausdruck einer thatsächlichen Zusammensetzung aus platten Zellen bestätigt worden, deren Grenzen sich durch Anwendung von Reagentien, namentlich von Silbernitrat deutlich nachweisen lassen. Ob man diese Zellen als blosse Epithelien und die Capillaren dem entsprechend als blosse Intercellulargänge zu betrachten habe, ist mir jedoch zweifelhaft, da die Entwickelungsgeschichte der Capillaren mit der sonst bekannten Entstehung der epithelialen Gebilde nicht ganz übereinstimmt. Diese einfachsten Gefässe sind es, welche wir heut zu Tage einzig und allein Capillaren nennen. Von ihnen können wir nicht sagen, dass sie sich durch eigene Thätigkeit erweitern oder verengern, höchstens dass ihre Elasticität eine Verengung möglich macht. Mit Ausnahme von =Stricker= hat niemand in neuerer Zeit an ihnen eigentliche Vorgänge der Contraction oder des Nachlasses derselben bemerkt. Die früheren Discussionen über die Contractilität der Capillaren sind wesentlich auf kleine Arterien und Venen zu beziehen, deren Lumen sich durch Contraction ihrer Muskelwand verengt oder sich bei Nachlass der Contraction unter dem Blutdrucke erweitert. Es war dies eine überaus wichtige Thatsache, welche sofort aus der genaueren histologischen Kenntniss der feineren und grösseren Gefässe hervorging; sie lehrte, dass man überhaupt nicht von allgemeinen Eigenschaften, am wenigsten von einer überall in gleicher Weise vorhandenen Thätigkeit der Gefässe sprechen kann, insofern der capillare Theil wesentlich anders gebaut ist, als die kleinen Arterien und Venen. Diese sind höchst zusammengesetzte Organe, während das Capillargefäss eine einfache Röhre von fest elementarem Bau darstellt. Drittes Capitel. Physiologische Eintheilung der Gewebe. Ungenügende Ausbildung der anatomischen Kenntniss der Gewebe. Verschiedenartige Lebenserscheinungen an scheinbar gleichartigen Elementen. Praktisches Bedürfniss einer physiologischen Gruppirung: 1) Nach der Function. Motorische Elemente: muskulöse, epitheliale (Flimmerzellen, Samenfäden), bindegewebige (Pigment). Schleimabsonderung: Schleimhäute, Schleimdrüsen, Schleimgewebe. 2) Nach der Lebensdauer der Elemente. Dauer- und Zeitgewebe. Pathologische Aenderung der natürlichen Verhältnisse (Heterochronie). Lehre von der Allveränderlichkeit des Körpers durch Stoffwechsel (Mauserung). Unterscheidung von Dauer- und Verbrauchsstoffen in den Elementen. Wechselgewebe (Metaplasie). Abfällige Gewebe: Epidermis (Desquamation), Decidua uterina. Einfache Zeitgewebe. Oertliche Verschiedenheit der Lebensdauer desselben Gewebes. Nothwendigkeit einer Localgeschichte der Gewebe. 3) Nach der Zeit der Entstehung und des Absterbens der Gewebe (genetische Eintheilung). Jugendliche und senescirende Gewebe. Allgemeine und locale Chronologie der Gewebe. Embryonale Gewebe; unfertige oder unreife: Matricular- und Uebergangsgewebe. Chorda dorsualis. Schleimgewebe. Bildungsgewebe und Vorgewebe (Anlagen, Keimgewebe). Bildungs- oder Primordialzellen. Allgemeine Gültigkeit der Entwickelungsgesetze. 4) Nach der Verwandtschaft und Abstammung. Continuitäts-Gesetz. Heterologe Verbindungen von Gewebselementen. Die histologische Substitution und die histologischen Aequivalente. Abstammung der Elemente (Descendenz). Die anatomische Eintheilung der Gewebe ist eine wichtige und unerlässliche Vorbedingung für die physiologische Betrachtung derselben, und es ergeben sich, wie wir gesehen haben, aus der Kenntniss des Baus der Theile ohne Weiteres sehr wichtige Aufschlüsse über ihre Thätigkeit. Allein damit allein ist es nicht gethan. Vielmehr ist eine selbständige physiologische Untersuchung nothwendig, um die besondere Bedeutung der einzelnen Gewebe zu ermitteln und für jeden Ort im Körper festzustellen, welche Thätigkeiten von seinen Elementen ausgehen. Ganglienzellen finden sich an den verschiedensten Orten des Körpers. Niemand zweifelt daran, dass sie im Gehirn eine andere Bedeutung haben, als am Sympathicus, an der Hirnrinde eine andere als im Streifenhügel. Manche Verschiedenheiten der Grösse und Gestalt, der Verbindung und inneren Einrichtung derselben lassen sich an diesen verschiedenen Orten wahrnehmen. Nichtsdestoweniger genügen diese anatomischen Verschiedenheiten nicht, um die physiologisch so verschiedene Energie der einzelnen Gruppen zu erklären. Epitheliale Zellen kommen unter den mannichfaltigsten Verhältnissen vor. Höchst auffallende Verschiedenheiten ihres Baues finden sich an den einzelnen Orten. Wir begreifen, dass eine Flimmerzelle andere Wirkungen hervorbringt, als ein Epidermisplättchen. Aber wir sind nicht im Stande zu erkennen, warum die Epithelien der Milchdrüse so wesentlich andere Leistungen hervorbringen, als die Epithelien der Speicheldrüsen, oder warum die Flimmerzellen der Hirnventrikel nicht dieselbe physiologische Stellung einnehmen, wie die Flimmerzellen des Uterus. Wenn wir aus der physiologischen Forschung Verschiedenheiten scheinbar gleichartiger Elemente erkennen, so gelangen wir damit allerdings sofort zu neuen Fragestellungen und Vermuthungen in Beziehung auf die weitere anatomische Untersuchung, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass man auf dem Wege einer derartigen Untersuchung allmählich zu einer ungleich grösseren Erkenntniss =der localen Verschiedenheiten in dem Bau und der Einrichtung histologisch gleichwerthiger Elemente= kommen wird, als wir sie gegenwärtig besitzen. Nur darf man bei einer solchen Hoffnung nicht übersehen, dass diese Histologie der Zukunft noch nicht existirt und dass man sich daher vorläufig mindestens noch damit begnügen muss, neben einer anatomischen Ordnung der Gewebe auch noch eine physiologische oder genauer gesagt, mehrere physiologische zuzulassen. In der That gibt es mehr als ein Principium dividendi für die physiologische Gruppirung der Gewebe. Je nach der Richtung, in welcher die Fragestellung geschieht, fällt auch die Antwort verschieden aus. Der specifische Physiolog wird zuerst immer nach der =Function= fragen. Welche Thätigkeit übt ein Gewebe aus? Diese Richtung der Untersuchung führt zu einer Eintheilung der Gewebe nach ihrer Function. Eine kurze Umschau ergibt sofort, dass Gewebe, welche ganz verschiedenen anatomischen Gruppen angehören, bei dieser Art der Betrachtung einander genähert werden. Frage ich nach den Geweben, deren Function Bewegung ist, so werde ich zunächst an die Muskeln gewiesen. Aber unzweifelhaft ist auch die Flimmerbewegung Bewegung, unzweifelhaft haben die Samenfäden Bewegung. Und doch knüpft sich hier die Bewegung an epitheliale Erzeugnisse, welche von den eigentlichen Muskeln anatomisch weit entfernt sind. Sollen wir desswegen die Samenfäden zu den muskulösen Elementen oder die letzteren zu den epithelialen rechnen? Gewiss liegt hier ebenso wenig ein Grund zu einer solchen Vereinigung vor, als wenn wir Schwärmsporen und Infusorien vereinigen wollten. Allerdings hat es eine Zeit gegeben, wo man sämmtliche Schwärmsporen zu den Infusorien rechnete, wo sogar die Mehrzahl der beweglichen Algen eben dahin gezählt wurde, aber mit Recht betrachtet man diesen Standpunkt als einen überwundenen. Die Bewegung »sitzt« jedoch nicht bloss in muskulösen und epithelialen Elementen; sie findet sich auch an bindegewebigen. Nehmen wir ein zugleich pathologisch interessantes Beispiel. =Axmann= hatte bei Fröschen gesehen, dass nach Durchschneidung der gangliospinalen Nerven die in der Haut zahlreich verbreiteten Pigmentzellen ihre Strahlen verlieren. Er nannte dies eine Atrophie und schloss daraus auf einen nutritiven Einfluss der gangliospinalen Nerven. Die in Frage stehenden Pigmentzellen sind grosse, sternförmige Bindegewebskörperchen. Bei der Wichtigkeit dieser Angabe beschloss ich eine experimentelle Prüfung derselben und veranlasste Herrn =Lothar Meyer= zu einer solchen. Alsbald ergab sich, dass es sich um keine Atrophie, sondern um eine Contraction handelte[11]. Die Zellen ziehen ihre Fortsätze ein, ihr Körper vergrössert sich in demselben Maasse, und das früher über eine grössere Fläche vertheilte Pigment häuft sich an einzelnen Stellen an. Das grobe Ergebniss dieser unzweifelhaften Bewegung ist eine Farbenveränderung der Froschhaut. [11] Mein Archiv 1854. Bd. VI. S. 266. Wir finden also, dass in allen drei Gruppen der Gewebe motorische Thätigkeit nachweisbar ist, und jeder Denkende wird daher auch veranlasst werden, seine etwaigen Betrachtungen über =motorische Elemente= oder noch allgemeiner über motorische Gewebe auf alle drei Gruppen auszudehnen. Von diesem Gesichtspunkte aus ergibt sich eine Eintheilung aller Gewebe in zwei Abtheilungen: motorische und nicht motorische. Dagegen lässt sich nicht das Mindeste sagen. Aber man darf auch nicht übersehen, dass diese Eintheilung eine wesentlich =praktische= ist. Sie mag durchaus wissenschaftlich durchgeführt werden, aber sie greift eine einzige Seite der Betrachtung auf, sie wählt ein einziges Merkmal, eine einzige Eigenschaft aus der ganzen Summe der Merkmale und Eigenschaften dieser Gewebe oder Elemente. Sie kann daher keinesweges als eine eigentlich wissenschaftliche Eintheilung gelten, wenngleich sie für die wissenschaftliche Betrachtung und Untersuchung von dem grössten =Nutzen= ist. Unter den Absonderungen hat seit den ältesten Zeiten eine das Interesse der Aerzte ganz besonders auf sich gezogen, die des =Schleims=. Schon in der koischen Priesterschule wird das Phlegma als einer der vier Cardinalsäfte des Körpers aufgeführt, und noch heute hat sich eine freilich sehr verwischte Erinnerung daran in der Bezeichnung des phlegmatischen Temperamentes erhalten. In der That war die glasige, gallertartige, gequollene Beschaffenheit des Schleims wohl geeignet, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und die Häufigkeit seines Hervortretens unter krankhaften Verhältnissen, die nicht selten bedenkliche Heftigkeit der dadurch bedingten Zufälle berechtigte dazu, den phlegmatischen Krankheiten eine hervorragende Stelle in dem Systeme anzuweisen. Mehr und mehr knüpfte sich jedoch die Forschung über die Schleimabsonderung an die =Schleimhäute=, und als =Bichat= sein System der allgemeinen Anatomie aufstellte, hatte er nur eine allseitig anerkannte Ueberzeugung zu fixiren, indem er aus den Schleimhäuten eine besondere Gewebsgruppe machte. Es hat ziemlich lange gedauert, ehe man erkannte, dass glasige Schleimabsonderungen nicht an allen Schleimhäuten vorkommen. Man weiss jetzt, dass wohl die Schleimhaut des Collum uteri ein solches Secret liefert, aber dass dies keineswegs an der »Schleimhaut« der Vagina oder an der des Corpus uteri der Fall ist. Das Ileum und die Speiseröhre sondern keine zähen Schleimmassen ab, wie sie so reichlich an der Schleimhaut der Luftröhre zu Tage treten. Man ist so von den Schleimhäuten zu den =Schleimdrüsen= gekommen, und Mancher hilft sich damit, dass er alle Schleimabsonderung auf diese zurückführt. Aber sonderbarerweise sind gerade manche Schleimhäute, an deren Oberfläche wir die zähesten und klebrigsten Schleimbeschläge finden, wie die der Harnblase und des Collum uteri, ungemein arm an Drüsen, und diese an sich ziemlich unvollkommenen Drüsen sind durchaus nicht als die Specialsitze der Secretion zu erkennen. Wären sie es jedoch, so würde man auf ihre Epithelien als auf die activen Factoren der Absonderung zurückkommen müssen, da bekanntlich der Schleim nicht im Blute präexistirt, also nicht einfach transsudiren kann. Muss man, wie es meiner Meinung nach nothwendig ist, auch eine Schleimabsonderung von der Fläche =gewisser= Schleimhäute anerkennen, so gelangt man zu demselben Gedanken, dass die Epithelien die Schleimabsonderer seien. Darf man nun sagen, die Schleimabsonderung sei überall die Function gewisser Epithelialzellen, die man =Schleimzellen= nennen kann? Die Erfahrung hat gelehrt, dass diese Auffassung irrthümlich ist. Ich habe für eine grosse Reihe physiologischer und pathologischer Gewebe den Nachweis geliefert, dass der Schleim in derselben glasigen, gallertartigen, gequollenen Weise, wie er frei an der Oberfläche der Schleimhäute erscheint, auch im Innern von Geweben und zwar wesentlich als ein =intercellularer= Stoff vorkommt. Ich sah mich deshalb veranlasst, ein Schleimgewebe aufzustellen, welches weder mit dem Schleimhautgewebe =Bichat='s, noch mit dem Schleimdrüsengewebe identisch ist. Es ist kein epitheliales Gewebe, sondern ein Glied in der Gruppe der Bindesubstanz. Nichts desto weniger wird man auch an ihm nicht umhin können, den intercellularen Schleim als ein Absonderungsprodukt der Zellen zu betrachten. Nur handelt es sich hier um eine =parenchymatöse= (innere) und nicht um eine oberflächliche (äusserliche) Absonderung. Aeusserlich kann sie erst werden, wenn an dem Schleimgewebe eine Ulceration eintritt, wie es bei dem Carcinoma mucosum (colloides) vorkommt. Es finden sich demnach Schleimzellen in zwei verschiedenen Gruppen vor: epitheliale und bindegewebige. Für eine Untersuchung über Schleimentstehung und Schleimabsonderung ist es gewiss nützlich, sich an die Gruppen nicht zu kehren und nur die besonderen Gewebe zusammenzustellen und zu vergleichen, in welchen dieser Vorgang vorkommt. So ist der physiologische Botaniker berechtigt, alle diejenigen Pflanzengewebe zusammenzustellen, in welchen Pflanzenschleim oder Gummi oder Amylon vorkommen, und eine solche Zusammenstellung ist von hohem praktischen Werthe für den Landwirth, den Kaufmann, die Hausfrau. Aber nichts berechtigt, eine solche praktische Eintheilung als die erste Aufgabe des wissenschaftlichen Forschers hinzustellen. Wenn der physiologische Specialist zuerst nach der Function fragt, so fragt der Patholog, auch wenn er ganz physiologisch zu Werke geht, zuerst nach der =Existenz= der Theile. Es erklärt sich diese Differenz aus dem Umstande, dass der Physiolog gesunde Verhältnisse voraussetzt und den Bestand des Körpers an Geweben unter solchen Verhältnissen als einen gegebenen und constanten betrachtet, der Patholog dagegen, durch traurige Erfahrungen belehrt, das Zugrundegehen und den Verlust von Theilen als ein nur zu häufiges Ergebniss des kranken Lebens kennt. Für den Arzt handelt es sich vor Allem um die =Erhaltung= der Theile. Wissenschaftlich analysirt, ist dies die Frage von der =Lebensdauer= und der =Ernährung= der Theile. Nun ist es bekannt, dass die verschiedenen Elemente des Körpers auch im gesunden Leibe eine sehr verschieden lange Lebensdauer besitzen und aus diesem Grunde auch manche Gewebe, ja selbst manche Organe nicht die gleiche Lebensdauer haben, wie der gesammte Körper. Die Pupillarmembran schwindet schon vor der Geburt, die Eihüllen werden mit der Geburt abgeworfen, der Nabelstrang folgt alsbald, das Wollhaar, die Thymusdrüse, die männliche Brustdrüse, die Milchzähne kommen nach und nach an die Reihe, die Eifollikel, die weibliche Brust, die Zähne und das Kopfhaar schwinden bald früher, bald später. Man kommt so ganz natürlich zu einer grossen Zweitheilung in =bleibende= (=permanente=) und =nicht bleibende= (=temporäre=) Gewebe, oder, wie man kurz sagen kann, in =Dauergewebe= und =Zeitgewebe=. Unter letzteren bilden die =abfälligen= (telae caducae s. deciduae) eine besondere Unterabtheilung. Zwischen den Dauer- und Zeitgeweben stehen in einer höchst eigenthümlichen Stellung die =Wechselgewebe= (telae mutabiles s. mutantes). Man muss jedoch sehr vorsichtig sein in der Anwendung dieser Ausdrücke. Unter pathologischen Verhältnissen kann ein Zeitgewebe =persistiren= und ein Dauergewebe =hinfällig= werden. Die Thymusdrüse kann sich bis nach der Pubertät erhalten, während sie sonst bald nach der Geburt schwindet. Die männliche Brust kann nicht bloss persistiren, sondern sich auch stärker entwickeln. Und umgekehrt kann bald dieses, bald jenes Gewebe oder Organ schwinden, »phthisisch« werden, das sonst zu den permanenten gehört. Ein Kind kann ohne Arme und Beine, ohne Herz und Gehirn geboren werden, weil schon die Anlagen im Mutterleibe verkümmerten. Ein ganzer Muskel, eine ganze Niere kann bis auf einen kümmerlichen Rest von Interstitialgewebe »atrophiren«. Ein Fuss kann durch Brand absterben und, wie der Nabelstrang, abgeworfen werden. An dieser Stelle, wo es sich um physiologische Verhältnisse handelt, berühren uns diese, der Lehre von der =Heterochronie= angehörigen Fragen nicht. Wir haben es hier nur mit der =natürlichen= Verschiedenheit der Lebensdauer einzelner Körpertheile, welche der typischen Entwickelung angehören, zu thun. Ein einziges, freilich sehr verbreitetes Vorurtheil tritt uns jedoch entgegen: ich möchte es das Vorurtheil von der =Allveränderlichkeit= der Körpertheile nennen. In einer bedauerlichen Uebertreibung wohlberechtigter Erfahrungssätze über den Stoffwechsel ist man dahin gekommen, zu berechnen, wie viele Jahre gewisse Theile, wie viele der ganze Körper gebrauche, um gänzlich erneuert zu sein. Die in ihrer Ausschliesslichkeit unannehmbare Lehre von der Mauserung (C. H. =Schultz=) hatte ein grosses Stück ihrer Popularität dieser Auffassung zu verdanken. Wie es möglich gewesen ist, die auffälligsten Thatsachen so sehr zu übersehen, ist schwer zu begreifen. Selbst ausgezeichnet hinfällige Theile lassen doch deutlich erkennen, dass, so lange sie existiren, ihre Substanz dauerhaft ist. Man mag den Zahnwechsel, wie den Haarwechsel, eine Mauser nennen, aber nichts berechtigt, die =Elemente= des Zahns oder des Haares als in fortdauernder Erneuerung begriffen anzusehen. Der Zahnschmelz besteht aus verkalkten Epithelien, welche, soweit wir wahrnehmen können, weder in ihrem Kalk, noch in ihrer organischen Grundsubstanz einer Erneuerung unterliegen. Das Zahnbein kann durch Ersatz aus der Pulpe neuen Zuwachs bekommen, aber weder seine Röhrchen, noch seine Intercellularsubstanz lassen erkennen, dass ihre Molekeln durch neue Molekeln ersetzt werden. Das Bindegewebe, diese so weit verbreitete und so massenhaft im Körper vorhandene Substanz, ist gewiss in allen seinen wesentlichen Bestandtheilen in hohem Maasse dauerhaft. Die Elemente der Linse, trotz ihrer Zartheit, bestehen häufig ohne Veränderung bis zum höchsten Alter. Diese Beständigkeit der =wesentlichen= Bestandtheile der Gewebselemente schliesst den Wechsel unwesentlicher nicht aus. Eine Drüsenzelle kann immerfort Stoffe in sich aufnehmen, sie umsetzen und die Umsetzungsprodukte als Secrete wieder ausscheiden, ohne dass ihr histologischer Bestand dadurch unmittelbar betroffen wird. Eine Leberzelle zeigt in der auffälligsten Weise, wie durch die Nahrung allerlei Stoffe in sie eingeführt und eine Zeitlang in ihr abgelagert werden: Fett und Glykogen sind Stoffe, die eine Zeit lang vorhanden sind, um später wieder zu verschwinden. Aber niemand hat dargethan, dass der Kern oder die Körpersubstanz der Leberzellen einem gleichen Wechsel unterliegt. Wir haben vielmehr allen Grund anzunehmen, dass eine Leberzelle von der Zeit der vollendeten Ausbildung des Organs bis zum höchsten Alter persistiren kann, ohne dass sie in allen ihren Bestandtheilen einer Erneuerung unterlegen hat. Auch in dem einzelnen Gewebs-Element (wenngleich keineswegs in jedem) muss man daher =Dauerstoffe= und =Wechselstoffe= (=Verbrauchsstoffe=) unterscheiden. Das Verhältniss dieser Stoffe zu einander kann zu verschiedenen Zeiten in demselben Elemente sehr verschieden sein. Die grossen glatten Muskelfasern des schwangeren Uterus enthalten offenbar ungleich mehr Verbrauchsstoffe, als die überaus kleinen und gleichsam verkümmerten des ruhenden Uterus. Eine prall gefüllte Fettzelle besteht dem Volumen nach fast ganz aus Wechselstoff; eine atrophische kann beinahe vollständig auf ihre Dauerstoffe zurückgeführt sein. Was wir Stoffwechsel nennen, ist eben keine einfache Umschreibung für Ernährung, wenigstens nicht für Ernährung im strengeren Sinne des Wortes, wo es die auf =Erhaltung des Elementes gerichtete Thätigkeit= bezeichnet. Mit dieser letzteren haben wir es im Augenblicke allein zu thun. Denn Dauergewebe in unserem Sinne sind solche Gewebe, welche der Regel nach während des ganzen entwickelten Lebens sich erhalten; Zeitgewebe solche, welche sich nur für eine gewisse Zeit erhalten und dann »auf natürliche Weise sterben«. Auch hier müssen wir vor einer Verwechselung warnen. Ein Gewebe kann aufhören zu existiren, ohne dass es stirbt oder hinfällig wird. Das subcutane Schleimgewebe des Fötus findet sich nicht mehr im Erwachsenen und doch ist es weder geschwunden, noch gestorben. Im Gegentheil, es lebt fort in einer anderen Gestalt, nehmlich als Fettgewebe. Seine Zellen existiren noch, sie erhalten sich durch fortdauernde Ernährung, obwohl sie mit Fett gefüllt sind. Hier handelt es sich also um eine =Gewebsumwandelung= (Metamorphose, Metaplasie). So hört der Zeitknorpel auf zu existiren, aber seine Elemente bestehen fort, obwohl sie nicht mehr Knorpel-, sondern Mark- oder Knochenkörperchen sind. Der Zeitknorpel verknöchert und wenngleich keineswegs, wie man früher annahm, seine organische Grundlage ganz und gar in dem Knochen als sogenannter Knochenknorpel fortbesteht, so sind doch seine Zellen in die neue Bildung eingegangen. In diesen =Wechselgeweben= finden wir also =Persistenz der Zellen bei Veränderung des Gewebscharakters=. Manche abfälligen Gewebe (telae caducae) bieten gerade das umgekehrte Bild dar. Die Zellen fallen ab, ohne dass der Charakter des Gewebes überhaupt aufhört zu existiren. Das beste Beispiel dafür bietet uns die Epidermis. Die obersten Schichten derselben bestehen eigentlich nicht mehr aus lebenden Elementen. Es sind kernlose, verhornte, zusammengetrocknete Schüppchen, welche noch eine Zeit lang der Unterlage einen Schutz gewähren, aber welche ausser Stande sind, selbst die niederste Leistung des Lebens, die Selbsterhaltung, auszuführen. Sie werden endlich lose und blättern ab, wie die Rinde eines Baumes. Aber schon ist neuer =Nachwuchs= da, der an ihre Stelle tritt. Immer neue epidermoidale Theile gehen aus dem Rete hervor und trotz aller Verluste an der Oberfläche erhält sich die Oberhaut als Gewebe. Aehnlich ist es mit den Epithelien mancher Drüsen (Milchdrüse), mit dem Blute und der Lymphe. Unter pathologischen Verhältnissen erreichen die hier erwähnten Verhältnisse ein ungleich höheres Maass und sie werden in demselben Grade auffälliger. An der Oberhaut sind es die =desquamativen= Prozesse, welche in der allergröbsten Form die allmähliche Abblätterung der oberflächlichen Epidermisschichten erkennen lassen. Eine ähnliche Abblätterung zeigt der Nagel, während die Haare zerklüften und »zerfasern«. Aber auch an Schleimhäuten geschieht Aehnliches: die desquamativen Katarrhe des Darms, der Niere und Harnblase, der Scheide (Fluor albus) bringen die abgelösten Epithelien bald in Form zusammenhängender Lamellen und Fetzen, bald als isolirte Zellen zu Tage. Aber wir würden das Hauptbeispiel übergehen, wenn wir nicht jener eigenthümlichen Erscheinung gedächten, von welcher ich den Namen für diese Gruppe hergenommen habe: ich meine die Ablösung der =Decidua uterina= bei der Geburt und während des Wochenbettes, sowie in den selteneren Fällen des Abortus und der Dysmenorrhoea membranacea. Auch diese Haut galt bis in die neuere Zeit als eine Exsudathaut, als eine Pseudomembran von mehr oder weniger strukturloser Beschaffenheit (membrane anhiste =Robin=). Erst das genauere Studium ihrer Entwickelung hat gelehrt, dass die Decidua keine Pseudomembran, kein Exsudat ist, sondern ein durch Wucherung vergrösserter Theil der Uterinschleimhaut selbst[12]. Sie ist dem entsprechend auch nichts weniger als strukturlos, sondern sie besteht durch und durch aus deutlich geformten Geweben. Aber zum Unterschiede von den bloss desquamativen Prozessen, welche nur das Epithel betreffen, greift die Decidua-Bildung tief in das eigentliche Gewebe der Uterinschleimhaut, denn dasjenige, was sich als puerperale Decidua löst, besteht zum grösseren Theile aus stark vergrösserten Zellen des Bindegewebes. Selbst Gefässe sind durchaus keine Seltenheit in der Decidua, wie sie sich von den Eihäuten des Neugebornen ablösen lässt. Aber, wie bei der Desquamation, so bleibt auch hier ein Theil des Gewebes sitzen, und dieser dient später als Matrix für die regenerative Neubildung. [12] =Froriep='s Neue Notizen 1847. März. No. 20. Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftl. Medicin Frankf. 1856. S. 775. Sowohl von den Wechselgeweben, als von den hinfälligen Geweben unterscheiden sich die =einfachen Zeitgewebe= (telae temporariae) dadurch, dass ihre Elemente zu Grunde gehen (absterben), aber nicht durch neue ersetzt werden. Der =Meckel='sche Knorpel, ein langer und starker Faden, der sich beim Fötus von dem mittleren Ohr aus an der inneren Seite des Unterkiefers bis zur Symphyse des Kinns erstreckt, schwindet schon mit dem 8. Fötalmonat bis auf die daraus gebildeten Hammer und Ambos. Die Thymusdrüse, eine der grössten Lymphdrüsen des Körpers, »atrophirt« nach der Geburt gänzlich; alle ihre unzähligen Zellen (Lymphkörperchen) verschwinden; jede Erinnerung ihres lymphatischen Baus geht verloren; an ihrer Stelle findet sich später nur ein kümmerlicher Rest losen Fett- und Bindegewebes. Unter der Ausbildung der Keilbeinhöhlen verschwindet fast alles vorhandene Knochengewebe und Mark aus den sphenoidalen Wirbelkörpern, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Die Nabelarterien obliteriren nach der Geburt, d. h. sie verstreichen, ohne dass in den Ligamenta vesicae lateralia, welche an ihre Stelle treten, ein erkennbarer Rest ihrer meist so mächtigen Muscularis übrig bleibt. Unter Umständen kann das grosse Endergebniss bei den abfälligen Geweben demjenigen bei den einfachen Zeitgeweben sehr ähnlich sein. Wenn epidermoidale Theile immerfort abfallen, so ist die Persistenz des Gewebes, wie wir gesehen haben, nur durch Nachwuchs möglich. Hört jedoch der Nachwuchs gänzlich auf, so wird auch der Defect ein vollständiger und dauernder. Dies kommt allerdings bei der eigentlichen Epidermis nur unter erschwerenden pathologischen Verhältnissen vor, z. B. bei gewissen nässenden Exanthemen; auch beim Nagel nur bei wirklichen Krankheiten des Falzes. Aber es ist ein sehr gewöhnliches Ereigniss bei den Haaren, wenn ihre Matrix, die Haarzwiebel verödet. Es tritt dann dauernde Alopecie ein. Die Dauerhaftigkeit eines Gewebes ist in keiner Weise abhängig von seiner Festigkeit. Im Gegentheil zeigt sich bei genauerer Untersuchung, dass gerade die Weichtheile (Gehirn und Nerven, Muskeln, manche Drüsen) sich einer grossen Beständigkeit ihrer Elemente erfreuen, während das Knochengewebe, nächst dem elastischen das festeste des ganzen Körpers, durchaus nicht jene Starrheit und Unveränderlichkeit zeigt, welche sprüchwörtlich geworden ist. Die Verknöcherung schützt nicht vor dem Wechsel. Mit verhältnissmässiger Leichtigkeit wird das Knochengewebe wieder weich und verwandelt sich durch Metaplasie in Mark. Wir stossen hier auf eine neue und nicht wenig verwirrende Eigenschaft der thierischen Gewebe. =Dasselbe Gewebe kann je nach dem Orte, an dem es vorkommt, ein Dauer-, ein Wechsel- und ein Zeitgewebe sein=. Unzweifelhaft bestehen gewisse Theile der Knochen mindestens von der Pubertät an, manche schon länger, bis zum Tode, sind also ausgezeichnetes Dauergewebe. Andere dagegen tragen in ebenso ausgezeichnetem Sinne den Charakter des Wechselgewebes, indem sie mit fortschreitendem Alter sich in Mark verwandeln. Andere endlich, wie das Keilbein, gewisse Theile des Felsenbeins schwinden schon bald nach der Pubertät und an ihre Stellen treten, wie bei den Vögeln, luftführende Räume. Es gibt also eine tela ossea permanens, eine t. o. mutans und eine t. o. temporaria s. transitoria. Von den Knorpeln ist es längst anerkannt, dass es Dauerknorpel (cartilagines permanentes) und Zeitknorpel (cartilagines temporariae) gibt. Man kann demnach auf Grund der Lebensstatistik der Gewebe keine allgemeingültige Eintheilung derselben machen, sondern man kann nur für =die einzelnen Orte= im Körper statistisch feststellen, ob ein bestimmtes Gewebe an =dieser= Stelle permanent oder nur temporär vorkommt. Eine solche Kenntniss ist aber unentbehrlich für die Uebersicht der Lebensvorgänge. Indem wir ersehen, dass die Thymusdrüse im ersten Lebensjahre schon hinschwindet, während die übrigen Lymphdrüsen bis zum Greisenalter und zum Tode aushalten, indem wir lernen, dass die Gefässe des Glaskörpers schon vor der Geburt obliteriren, während die der Retina fortbestehen, indem wir erkennen, dass der =Müller='sche Faden beim Manne früh obliterirt, während der =Wolff='sche Gang sich zum Vas deferens entwickelt, so erschliesst sich uns sofort der Einblick in eine Reihe bemerkenswerter Eigenthümlichkeiten der Entwickelung. Dass die Schädel-Synchondrosen früh verknöchern, während die Wirbel-Synchondrosen knorpelig blieben, dass das Schleimgewebe um die Niere in Fettgewebe übergeht, während dasjenige im Glaskörper seine Beschaffenheit bewahrt, ist auf den ersten Blick schwer verständlich, aber nothwendig zu wissen, um die Local-Geschichte und örtliche Bedeutung der Gewebe zu würdigen. Die Local-Geschichte der Gewebe erhält jedoch ihre Vervollständigung erst durch eine genaue =Zeitbestimmung=, bei der sowohl Anfang, als Ende des Gewebes festzustellen ist. Wir kommen damit auf die ebenso schwierige, als wichtige =genetische= Untersuchung, deren Einführung in die moderne Pathologie ich seit einer langen Reihe von Jahren mit besonderem Eifer zu fördern bestrebt gewesen bin. Nicht alle Gewebe des Körpers entstehen zu derselben Zeit und nicht alle sterben zu gleicher Zeit. Auch in dieser Beziehung stellt der Organismus keine Einheit dar, sondern nur eine Gemeinschaft, und die Bezeichnungen, welche wir für die Entwickelungsperioden des Gesammt-Organismus mit Recht wählen, passen keineswegs für die einzelnen Theile und Gewebe. =Es gibt jugendliche Gewebe im hohen Greisenalter und senescirende[13] Gewebe im Fötus=. Selbst der Bulbus des ergrauten Haares erzeugt doch immer noch neue Elemente und bis zum Tode hin strömen immer wieder junge Blutkörperchen in die Gefässe ein. Andererseits sieht schon das fötale Leben zahlreiche Elemente zu Grunde gehen. Der =Meckel=sche Knorpel und der =Wolff='sche Körper sind grösstentheils verschwunden, wenn das Kind zur Welt kommt; die Pupillarmembran, die Vasa omphalomesaraica haben um dieselbe Zeit aufgehört zu existiren. Manche Gewebe lassen sich in eine =allgemein-chronologische Reihenfolge= bringen. Schleimgewebe ist im Allgemeinen früher da, als Fettgewebe; Knorpel früher, als Knochen. Rothe Blutkörperchen sind jünger, als farblose. Aber dies gilt nicht allgemein. Denn die Bildung des Schleimgewebes ist nicht überhaupt abgeschlossen, wenn die des Fettgewebes beginnt; sie ist nur abgeschlossen an der Stelle, wo Schleimgewebe in Fettgewebe übergeht. An anderen Orten kann neues Schleimgewebe entstehen, während das früher vorhanden gewesene seine Metaplasie längst gemacht hat. Farblose Blutkörperchen bilden sich von Neuem, nachdem unzählige rothe zu Grunde gegangen sind. =Dieselbe Art von Gewebe kann also an einem Orte jünger, an einem anderen Orte älter sein=. An der Epiphyse eines Röhrenknochens beginnt die Knochenbildung zu einer Zeit, wo die Diaphyse schon seit Monaten zum grossen Theil verknöchert ist. An den Lippen erreicht die Haarbildung zur Zeit der Pubertät die Stärke, welche sie an der Schädelhaube schon in dem ersten Lebensjahre zu zeigen pflegt. [13] Mein Handbuch der spec. Path. u. Ther. 1854. Bd. I. S. 310. Manche sonst verdiente Forscher haben den Sinn solcher Erscheinungen gänzlich verkannt. Sie sprechen z. B. von =embryonalen= oder =fötalen= Geweben im Erwachsenen. Dies ist ein blosses Spiel mit Worten. Ein Gewebe, welches schon im Embryo vorhanden ist und sich als solches extrauterin erhält, ist darum kein embryonales. Permanenter Knorpel, permanentes Schleimgewebe sind eben so wenig embryonal, als die Krystalllinse oder die Hornhaut. Wenn jedes Gewebe, das sich im Erwachsenen so vorfindet, wie es im Fötus besteht, fötal genannt werden sollte, so könnte man auch die Epidermis des inneren Präputialblattes fötal nennen, weil sie feucht zu sein pflegt und eine Vernix caseosa liefert. Embryonal im strengeren Sinne des Wortes (d. h. dem Embryo angehörig) ist nur ein =unfertiges=, =unreifes= oder =Uebergangs=-Gewebe aus der früheren Zeit des intrauterinen Lebens. Embryonale Muskeln sind schmale und verhältnissmässig kurze Cylinder oder Faserzellen mit schmalen Lagen von Fleischsubstanz im Innern. Embryonale Nerven haben noch keine Markscheide. Embryonales Bindegewebe hat noch runde Zellen und eine nicht-faserige Zwischensubstanz. Aber nicht jedes unfertige Gewebe ist darum embryonal. Das Rete Malpighii, die Haarzwiebel, die Zahnpulpe sind und bleiben unfertige Gewebe, denn es soll aus ihnen Epidermis, Haar, Zahnbein entstehen. Sie werden überhaupt niemals fertig, denn sie sind eben zum Nachwuchs bestimmt, sie sind =Matricular-Gewebe=, welche nicht bloss den Mutterboden für die =Ersatzzellen= darstellen, sondern welche aus sich selbst durch =Proliferation= diese Ersatzzellen hervorbringen. Die Mehrzahl der gewöhnlichen Matricular-Gewebe findet sich daher in Verbindung mit abfälligen Geweben; eine kleinere Zahl besorgt gelegentlich das Ersatz-Geschäft für die Wechselgewebe, z. B. Knorpel und Beinhaut für den Knochen. Zwischen der Matrix und dem daraus hervorgegangenen Tochtergewebe ist die Stelle, wo man das =Uebergangsgewebe= (tela transitoria) zu suchen hat, und nur in dem Falle, dass die ganze Matrix durch die Proliferation aufgezehrt wird, wie es im Ovulum geschieht, welches in seiner Totalität in Bildungszellen aufgeht, tritt das Uebergangsgewebe als eigentlich embryonales für eine gewisse Zeit hindurch scheinbar ganz selbständig auf. Wirklich embryonal sind eben nur Gewebe des Embryo. Der Nabelstrang z. B. besteht seinem grössten Theile nach aus embryonalem Schleimgewebe; der Glaskörper des Embryo desgleichen. Aber man hat kein Recht, auch den Glaskörper des Erwachsenen aus embryonalem Schleimgewebe bestehen zu lassen, bloss deshalb, weil das Schleimgewebe in ihm persistirt. Hier liegt vielmehr ein Dauergewebe vor, welches mit dem Augenblicke der Geburt aufgehört hat, embryonal zu sein. Es giebt vielleicht kein Gewebe, welches in einem so hohen Maasse den Charakter eines embryonalen Zeitgewebes an sich trägt, als die =Chorda dorsualis= (Notochorde R. =Owen=). Es ist dies ein aus grossen, blasigen Zellen zusammengesetzter Strang, welcher ursprünglich durch die ganze Ausdehnung der später von den Wirbelkörpern und den Zwischenwirbelscheiben eingenommenen Region vom Keilbein bis zum Steissbein hindurchläuft. Er stellt ein fast reines Zellengewebe dar, welches man versucht sein könnte, den Epithelialformationen anzureihen, wenn er nicht seiner ganzen Stellung nach den Geweben der Bindesubstanz angehörte. Indes bleibt die Intercellular-Secretion an ihm auf ein Minimum beschränkt. Früher nahm man allgemein an, dass nur bei den niedrigsten Fischen die Chorda persistire, dass sie dagegen bei allen höheren Wirbelthieren und namentlich beim Menschen ein rein embryonales oder fötales Gewebe sei, welches schon vor der Geburt gänzlich verkümmere. Erst =Heinrich Müller= hat dargethan, dass ein Theil der Chorda sich noch nach der Geburt erhält. Daraus folgt, dass genau genommen selbst dieses Gewebe den Namen eines embryonalen nur während einer gewissen Zeitdauer verdient; der laxere Gebrauch, auch die nach der Geburt noch fortbestehenden Theile fötal zu nennen, rechtfertigt sich nur dadurch, dass dieselben in der That nur einen für das spätere Leben bedeutungslosen Rückstand einer fötalen Bildung darstellen. Eine derartige Concession darf jedoch nicht zu immer weiteren Forderungen gemissbraucht werden. Was soll man davon sagen, wenn im Ernst von einigen Schriftstellern erklärt wird, das Schleimgewebe sei embryonales oder fötales Bindegewebe? Sieht man nicht, dass man mit gleichem Rechte das Knorpelgewebe aus der Reihe der selbständigen Gewebe streichen und dasselbe einfach als embryonales Knochengewebe bezeichnen könnte? Ich will gar nicht davon sprechen, dass nicht einmal die vorausgesetzte Thatsache richtig ist, indem das Schleimgewebe gewöhnlich in Fettgewebe, aber nicht in eigentliches Bindegewebe übergeht. Aber gesetzt, es wäre richtig, dass Schleimgewebe das Bildungsgewebe für Bindegewebe sei, so muss man sich doch darüber klar werden, dass nicht jedes =Bildungsgewebe= (tela formativa s. formans) embryonal genannt werden kann, gleichviel zu welcher Zeit des Lebens es sich findet. Es gibt dreierlei Arten von Bildungsgewebe: =Matriculargewebe= (Matrices) im engeren Sinne des Wortes, welche durch Proliferation, also durch Hervorbringung neuer Elemente, ein Tochtergewebe erzeugen, neben welchem sie fortbestehen, =blosse Vorgewebe= (telae praecursoriae), welche durch die Proliferation verzehrt werden und nach der Erzeugung der neuen Gewebe nicht mehr vorhanden sind, und endlich =Uebergangsgewebe= (telae transitoriae), welche sich durch Metaplasie, ohne wesentliche Veränderung in der Zahl ihrer Elemente, in andere Gewebe umbilden. Im Embryo kommen alle drei Arten vor, und man fasst sie gelegentlich wohl unter dem Sammtnamen der =Anlagen= oder =Keimgewebe= (telae germinativae) zusammen. Die Eizelle ist gewissermaassen der Prototyp eines Vorgewebes, denn obwohl durch fortschreitende Proliferation aus ihr die späteren Gewebe des Embryo hervorgehen, so hört sie selbst doch auf zu existiren. Sie verhält sich in dieser Beziehung, wie jene Epithelialzellen, aus deren Wucherung die von ihnen selbst ganz verschiedenen Drüsenzellen hervorgehen. So erklärt es sich, dass auch die Drüsenbildung eine einmalige ist, die sich nicht fortsetzt oder wiederholt, wie die Bildung der Haare oder des Nagels oder der Epidermis, bei denen ein gewisser Theil der germinativen Zellen als Matrix persistirt. Die Haarzwiebel, die Falzzellen des Nagels, das Rete Malpighii wuchern ebenfalls, aber nicht alle ihre Elemente gehen gleichzeitig oder kurz nach einander in das neue Gewebe auf. So ist der Knorpel eine wahre Matrix, die trotz reichlichster Wucherung an den meisten Orten noch einen gewissen Rest unversehrter Substanz übrig behält, aus welcher immer wieder von Neuem Mark und Knochengewebe erzeugt werden können. Allerdings besteht, wie leicht ersichtlich, zwischen den Vorgeweben und den Matriculargeweben keine scharfe Grenze. Die Bildung der Krystallinse wird frühzeitig abgeschlossen, und, wie wir gesehen haben, niemals später wird nach dem Verlust derselben eine neue vollständige Linse regenerirt. Nichtsdestoweniger persistirt ein gewisser Theil der germinativen Zellen und eine unvollständige Reproduction der Linse ist daher allerdings möglich. Das Kapsel-Epithel ist demnach mehr als Matrix und nicht als blosses Vorgewebe aufzufassen. Manche embryonale Gewebe erscheinen unter Verhältnissen, wo man versucht wird, sie entweder für Matriculargewebe oder wenigstens für Vorgewebe zu halten. Die Chorda dorsualis liegt inmitten der späteren Wirbelkörper und ihr knorpelartiger Charakter legte es nahe, in ihr die erste Anlage der späteren Wirbelkörper und zwar namentlich der knorpeligen Matrices derselben zu sehen. In der That hat man geglaubt, dass aus ihr oder doch aus ihrer Scheide die Vertebralknorpel hervorgingen. Erst die neuere Forschung hat gelehrt, dass dies ein Irrthum war, indem die Knorpel ausserhalb der Chorda und ihrer Scheide entstehen. Aehnlich war es mit dem sogenannten Meckel'schen Knorpel, dessen Lage in unmittelbarer Verbindung mit dem Unterkiefer es wahrscheinlich machte, dass er wirklich die Matrix des Unterkiefers sei. Aber auch hier erweist sich der Knochen als eine äussere Belagsmasse des Knorpels. Während der letztere daher sich hier als ein rein fötales Zeitgewebe darstellt, so gehen aus seinem hinteren Ende allerdings der Hammer und Ambos, namentlich in sehr deutlicher Weise der Hammerfortsatz hervor, und es erweist sich daher dasselbe Gebilde, welches an seinem vorderen Ende eine bloss temporäre Bedeutung hat, in seinem hintersten Abschnitte als ein wirkliches Vorgewebe. Was die Uebergangsgewebe betrifft, so entstehen sie entweder aus den Vorgeweben oder aus Matriculargeweben. Die aus der Furchung der Eizelle entstehenden Ur- oder Bildungszellen (cellulae primordiales s. formativae) bieten ein schönes Beispiel dafür. Die farblosen Blutkörperchen stehen ihnen nahe. Manche Uebergangselemente zeichnen sich durch ganz besondere, sonst fast gar nicht normal vorkommende Formen aus. Ich erinnere in dieser Beziehung an die vielkernigen Riesenzellen des Knochenmarks. Andere Uebergangselemente wiederum haben so indifferente und gleichmässige Formen, sie stellen so sehr die einfachste Erscheinung =nicht differenzirter= Zellen dar, dass man gerade deshalb vielfach geneigt ist, sie sämmtlich zu identificiren, und, wie früher unter dem Namen von =Primordial=- oder =Exsudatzellen=, so jetzt unter dem der farblosen Blutkörperchen zusammenzufassen. Gerade im Knochenmark, wie in der Milz, kommen neben grossen und vielkernigen Elementen solche kleine, runde, einfache Zellen sehr häufig vor. Der entwickelte Organismus zeigt in allen diesen Beziehungen keine durchgreifenden Verschiedenheiten von dem fötalen. Die blosse Form der Elemente oder Gewebe genügt daher keineswegs, dieselben für fötal oder embryonal auszugeben. =Die Gesetze der Entwickelung gelten für alle Zeiten des Lebens=, und wenn dieselben nicht zu allen Zeiten in gleicher Ausdehnung und Häufigkeit zur Geltung kommen, so darf man darüber nicht vergessen, dass die Bedingungen nicht zu allen Zeiten gleiche sind. Eine correcte Terminologie ist aber nur zu gewinnen, wenn wir jedem Lebensalter seine besondere Beziehung lassen. Gerade die Pathologie muss in dieser Beziehung besonders streng sein, da ihr Erfahrungsgebiet eine grosse Reihe von Erscheinungen umfasst, welche im gewöhnlichen Leben auf gewisse Zeiten der Entwickelung, z. B. auf das embryonale Leben beschränkt sind, welche aber unter krankhaften Verhältnissen zu ganz ungehörigen Zeiten auftreten. Muskel- und Nervenfasern von ganz embryonalem Charakter können im Zeitalter der Pubertät oder noch später entstehen, aber wenn man sie ihres Charakters wegen embryonal nennen wollte, so würde man Gefahr laufen, die grösste Verwirrung hervorzurufen. Es erhellt aus diesen Erörterungen, dass wir trotz der Wichtigkeit der physiologischen Gesichtspunkte doch einer rein anatomischen Classification der Gewebe nicht entbehren können. Sie bildet für die Physiologie und Pathologie eine ebenso nothwendige Grundlage, wie die anatomische Classifikation der Pflanzen und Thiere für die Botanik und die Zoologie. Gleichwie jedoch der Botaniker und der Zoolog jede einzelne Species und Varietät, ja wie der Gärtner und der Viehzüchter jedes Individuum von Baum und Thier besonders in seinen Eigenschaften und Eigenthümlichkeiten studiren muss, so wird auch der Physiolog und noch mehr der Patholog auf eine gleiche Individualisirung und Localisirung seiner Forschungen hingewiesen. Bevor ich jedoch diese Betrachtungen schliesse, muss ich noch ein Paar Augenblicke bei der Erörterung einiger wichtiger principieller Punkte verweilen, welche die thierischen Gewebe in ihrer Verwandtschaft unter einander und Abstammung von einander betreffen, und welche wiederholt zu allgemeinen, mehr physiologischen Formulirungen Veranlassung gegeben haben. Als =Reichert= es unternahm, die Gewebe der Bindesubstanz zu einer grösseren Gruppe zusammenzufassen, ging er hauptsächlich von dem philosophischen Satze aus, dass der Nachweis =der Continuität der Gewebe= über ihre innere Verwandtschaft entscheiden müsse. Sobald man erkennen könne, dass irgend ein Theil mit einem andern continuirlich (durch inneren Zusammenhang, nicht durch blosses Zusammenstossen) verbunden sei, so müsse man auch beide als Theile eines gemeinschaftlichen Ganzen betrachten. Auf diese Weise suchte er zu beweisen, dass Knorpel, Beinhaut, Knochen, Sehnen u. s. f. wirklich ein Continuum, eine Art von Grundgewebe des Körpers bildeten, die =Bindesubstanz=, welche an den verschiedenen Orten gewisse Differenzirungen erfahre, ohne dass jedoch der Charakter des Gewebes als solchen dadurch aufgehoben würde. Dieses sogenannte =Continuitäts-Gesetz= hat bald die grössten Erschütterungen erfahren, und gerade in der jüngsten Zeit sind so gefährliche Einbrüche in dasselbe geschehen, dass es kaum noch möglich sein dürfte, daraus ein allgemeines Kriterium für die Bestimmung der Art eines Gewebes herzunehmen. Man hat immer neue Thatsachen für die Continuität solcher Gewebs-Elemente beigebracht, welche nach =Reichert= toto coelo auseinander gehalten werden müssten, z. B. von Epithelial- und Bindegewebe; insbesondere haben sich die Angaben gehäuft, dass cylindrische Epithelzellen in fadenförmige Fasern auslaufen, welche direct in Zusammenhang treten mit Bindegewebs-Elementen, z. B. am Darm. Ja, man hat sogar in der neuesten Zeit eine Reihe von Angaben gemacht, nach denen solche Zellen der Oberfläche nach Innen fortgehen und dort mit Nervenfasern in unmittelbarem Zusammenhang stehen sollten, z. B. am Gehirn. Was das letztere betrifft, so muss ich bekennen, dass ich noch nicht von der Richtigkeit der Darstellung überzeugt bin, allein was den ersteren Fall anbelangt, so besteht ein wirkliches Continuitäts-Verhältniss der Elemente. Man ist also nicht mehr im Stande, scharfe Grenzen zwischen jeder Art von Epithel und jeder Art von Bindegewebe zu ziehen; es ist dies nur da möglich, wo Plattenepithel sich findet, und auch hier nicht überall, während die Grenzen zweifelhaft sind überall, wo Cylinder-Epithel existirt. Ebenso verwischen sich die Grenzen auch anderswo. Während man früher zwischen Muskel- und Sehnen-Elementen eine scharfe Grenze annahm, so hat sich auch hier, zuerst durch =Hyde Salter= und =Huxley=, ergeben, dass an die Elemente des Bindegewebes direct Faserzellen sich anschliessen, welche nach und nach den Charakter quergestreifter Muskeln annehmen. Auf diese Art ergeben sich in dem Bindegewebe sowohl mit den Elementen der Oberfläche, als mit den edleren Elementen der Tiefe continuirliche Verbindungen. Erwägt man nun andererseits, dass die Elemente des Bindegewebes aller Wahrscheinlichkeit nach bestimmte Beziehungen zu dem Gefässapparat, insbesondere zu den Lymphgefässen haben, so liegt es sehr nahe, in dem Bindegewebe eine Art von =indifferentem Sammelpunkt=, eine eigenthümliche Einrichtung für die innere Verbindung der Theile zu sehen, eine Einrichtung, die allerdings nicht für die höheren Funktionen des Thieres, aber wohl für die Ernährung und Entwickelung von der allergrössten Bedeutung ist. Noch viel auffälliger sind die Beziehungen zwischen den letzten Verzweigungen der peripherischen Nerven und den Elementen anderer Gewebe. Seit =Doyère= hat sich die Aufmerksamkeit hauptsächlich der Verbindung zwischen den letzten Ausläufern der motorischen Nerven und den Muskelprimitivbündeln zugewendet, und es ist nicht mehr zweifelhaft, dass die ersteren das Sarkolemm durchbohren und in direkten Contakt mit der Fleischsubstanz treten. Noch weiter gehen die Verbindungen zwischen den terminalen Nerven und den Epithelien. =Hensen= hat in Froschlarven die Nervenfädchen bis zu den Kernkörperchen der Hautepithelien verfolgt; =Lipmann= hat Aehnliches an dem hinteren Epithel der Hornhaut und selbst an den Körperchen der Hornhaut wahrgenommen. =Pflüger= sah die letzten Nervenausläufer an die Zellen der Speicheldrüsen treten. An die Stelle des Continuitätsgesetzes muss man daher nothwendig etwas Anderes setzen. Nicht der Zusammenhang zwischen den Theilen, welcher möglicherweise erst einer späteren Entwickelungszeit angehört, und welcher Verbindungen zwischen Theilen sehr verschiedener Natur herbeiführen kann, sondern die Entstehung ist entscheidend. Die Verwandtschaft der Gewebe führt zurück auf eine =gemeinsame Abstammung= (Descendenz). Allerdings lehrt die Geschichte des befruchteten Ei's, dass in letzter Abstammung die verschiedenartigsten Gewebe von einem gemeinschaftlichen Anfange ausgehen, aber in dem Fortgange der Proliferation kommen wir an gewisse Stadien, wo die einzelnen Zellen oder Zellengruppen ihre Differenzirung beginnen, und von hier aus kehrt jede Zelle oder Zellengruppe ihre besondere Eigenthümlichkeit heraus. Eine gewisse Familienähnlichkeit kann ihnen allen anhaften; nichtsdestoweniger geht eine jede Gruppe ihren eigenen Weg, der von dem der anderen verschieden ist. Bei Menschen einer bestimmten Race finden sich gewisse Eigenschaften der Haare und der Haut, des Schädel- und Zahnbaus, der Grösse und des Umfanges der verschiedensten Skelettheile mit so grosser Beständigkeit wieder, dass wir aus einzelnen Merkmalen auf die Anwesenheit der anderen schliessen können. Der gemeinsame Ursprung aller Gewebe von dem einen befruchteten Ei gibt die allerdings nur grobe Erklärung dieser Erfahrung. Von Zelle zu Zelle pflanzt sich wenigstens etwas aus dem ursprünglichen Vorgewebe fort. Je mehr sich die Matriculargewebe ausbilden, um so sichtbarer wird die Verwandtschaft ihrer Derivate unter einander. Wenn aus dem Rete Malpighii des Embryo einerseits Haarzwiebeln, andererseits Schweiss- und Talgdrüsen entstehen, so lässt sich vermuthen, dass eine gewisse Beziehung zwischen Haarbildung und Absonderung von Schweiss und Talg bestehen muss, und es begreift sich, dass Beides bei einem Neger anders ist, als bei einem Weissen. Eine genauere Kenntniss der =Stammbäume= der Gewebe wird manches noch jetzt bestehende Räthsel lösen. Leider sind die embryologischen Erfahrungen noch keineswegs sicher genug, um auch nur eine Uebersicht zu geben. Hat doch erst in neuerer Zeit =His= alle früheren Vorstellungen angegriffen, indem er das embryonale Bindegewebe gar nicht von der Eizelle, sondern von dem Dotter ausgehen lässt, der sich ausserhalb derselben befindet. Schon die früheren Embryologen waren darin einig, dass eine andere Quelle für das Bindegewebe, als für die Epithelialformation besteht, dass besondere Heerde für Muskel- und Nervenbildung existiren. Je weiter die Forschung schreitet, um so sicherer wird sich von diesem Felde aus die =genetische Topographie= des Körpers gestalten lassen. Für den erwachsenen Körper, ja schon für die späteren Zeiten der fötalen Entwickelung ist von entscheidender Wichtigkeit das Gesetz der =histologischen Substitution=. Bei allen Geweben derselben Gruppe besteht die Möglichkeit, dass sie gegenseitig für einander eintreten. Zu verschiedenen Zeiten des Lebens finden sich an derselben Stelle verschiedene Glieder einer Gewebsgruppe. Bei verschiedenen Thierklassen wird an einem bestimmten Orte des Körpers das eine Gewebe ersetzt durch ein analoges Gewebe derselben Gruppe, mit anderen Worten, durch ein =histologisches Aequivalent=. Eine Stelle, welche Cylinderepithel trägt, kann Plattenepithel bekommen; eine Fläche, die anfänglich flimmerte, kann später gewöhnliches Epithel haben. So treffen wir an der Oberfläche der Hirnventrikel zuerst Flimmer-, späterhin einfaches Plattenepithel. Die Schleimhaut des Uterus flimmert für gewöhnlich, aber in der Gravidität wird die Schicht der Flimmercylinder an der Decidua ersetzt durch eine Lage von Plattenepithel. An Stellen, wo weiches Epithel vorkommt, entsteht unter Umständen Epidermis, z. B. an der vorgefallenen Scheide, an den Stimmbändern. In der Sclerotica der Fische findet sich Knorpel, während sie beim Menschen aus dichtem Bindegewebe besteht; bei manchen Thieren kommen an Stellen der Haut Knochen vor, wo beim Menschen nur Bindegewebe liegt, aber auch beim Menschen wird an vielen Stellen, wo gewöhnlich Knorpel liegt, zuweilen Knochengewebe gefunden, z. B. an den Rippenknorpeln. Knorpel kann sich in Schleimgewebe, dieses in Fettgewebe oder in Knochengewebe umwandeln, wie es bei der gewöhnlichen Knochen-Entwickelung der Fall ist. Am auffälligsten sind diese Substitutionen im Gebiete der Muskeln. Der Oesophagus besitzt in seinem oberen Abschnitte quergestreifte, im unteren glatte Muskelfasern. Bei einigen Fischen findet sich quergestreifte Muskulatur an Theilen des Nahrungskanals, wo die anderen glatte haben, z. B. am Magen des Schlammpeitzgers (Cobitis) und am Darm der Schleie (Tinca). Nicht alle diese Substitutionen sind gleichwerthig. Ein Theil derselben führt direkt auf Metaplasie (S. 70) zurück, indem die Elemente persistiren und entweder ihren Charakter ändern, oder eine andere Art von Intercellularsubstanz abscheiden. Wenn Knorpel in Schleimgewebe übergeht, so bleiben seine Zellen bestehen und die Intercellularsubstanz wird weich. Ein anderer Theil der Substitutionen, nehmlich alle diejenigen, bei welchen es sich um verschiedene Arten von Thieren handelt, also alle diejenigen, welche der vergleichenden Anatomie angehören, zeigt uns =parallele=, aber nicht continuirliche Reihen. Haare und Federn sind parallele, Knorpel und Knochen continuirliche Aequivalente. Viertes Capitel. Die pathologischen Gewebe. Die pathologischen Gewebe (Neoplasmen) und ihre Classification. Bedeutung der Vascularisation. Die Doctrin von den specifischen Elementen: Krebs, Tuberkel. Die physiologischen Vorbilder (Reproduction). Einfache (histioide) und zusammengesetzte (organoide und teratoide) Neubildungen. Homologie und Heterologie (Heterotopie, Heterochronie, Heterometrie). Malignität. Hypertrophie und Hyperplasie. Kriterien der Homologie. Degeneration. Prognostische Gesichtspunkte. Ungewöhnliche Analogien der pathologischen Gewebe: Krebs, Sarkom (Spindelzellen, Riesenzellen). Abstammung der pathologischen Gewebe: Continuität der Entwickelung, Discontinuität des Typus. Pathologische Substitutionen und Aequivalente. Homologe und heterologe Substitution. Bildung per primam aut secundam intentionem. Verschiedenartige Entstehung derselben Gewebe unter verschiedenen Bedingungen: Knochen, Bindegewebe. Organisation fibrinöser Blasteme. Metaplasie. Verschiedenartige Abstammung derselben Gewebsart. Wenn man von pathologischen Geweben spricht, so kann man natürlich damit nur die pathologisch neu entstandenen meinen, und nicht etwa die durch irgend eine pathologische Störung veränderten physiologischen Theile. Es handelt sich also hier um eigentliche Neubildungen, =Neoplasmen=, um das, was im Laufe pathologischer Processe an neuen Geweben zuwächst, und es fragt sich: lässt sich das, was wir physiologisch als allgemeine Typen der Gewebe hingestellt haben, auch pathologisch festhalten? Darauf antworte ich ohne Rückhalt: ja, und so sehr ich auch darin abweiche von vielen der lebenden Zeitgenossen, so bestimmt man auch noch in den letzten Jahren die ganz besondere (=specifische=) Natur der Elemente vieler pathologischen Gewebe hervorgehoben hat, so bin ich doch überzeugt, dass jedes pathologische Gebilde ein physiologisches Vorbild hat, und dass keine pathologische Form entsteht, deren Elemente nicht zurückgeführt werden könnten auf ein in der thierischen Oekonomie gegebenes Vorbild. Die Classification der pathologischen Neubildungen ist früherhin meistentheils versucht worden vom Standpunkte der =Vascularisation= aus. Bis zur Zeit der Zellentheorie hat man die Frage von der Organisation bestimmter Theile entschieden durch den Nachweis ihrer Vascularisation oder Nicht-Vascularisation. Man nahm jeden Theil als organisirt, der Gefässe enthielt, jeden als nicht organisirt, der keine Gefässe führte. Dies ist für den heutigen Standpunkt an sich schon eine Unrichtigkeit, insofern wir auch physiologische Gewebe ohne Gefässe, wie die Knorpel, das Epithel haben. So lange als man, entsprechend dem niedrigen Stande der mikroskopischen Technik, die zelligen Elemente höchstens als Kügelchen kannte und diesen Kügelchen sehr verschiedene Bedeutung beilegte, war es zu verzeihen, dass man sich an die Gefässe hielt, insbesondere seit =John Hunter= die Vergleichung der pathologischen Neubildung mit der Entwickelung des Hühnchens im Ei in die allgemeine Vorstellung eingeführt und zu zeigen versucht hatte, dass ähnlich, wie das Punctum saliens im Hühnerei die erste Lebenserscheinung darstelle, so auch in pathologischen Bildungen Blut und Gefäss das Erste sei. Nach diesem Vorbilde beschrieben noch =Rust= und =Kluge= manche »parasitischen« Neubildungen als versehen mit einem unabhängigen Gefässsystem, welches, ohne Wurzel in den alten Gefässen, sich, wie im Hühnchen, ganz selbständig bilden sollte. Freilich hatte man schon vor dieser Zeit vielfach versucht, die scheinbar so abweichenden Formen der Neubildungen auf physiologische Paradigmen zurückzuführen; namentlich ist dies ein wesentliches Verdienst der Naturphilosophen gewesen. In jener Zeit, wo die Theromorphie eine grosse Rolle spielte und man in den pathologischen Dingen vielfache Analogien mit den Zuständen niederer Thiere fand, hat man auch angefangen, Vergleichungen zwischen den krankhaften Neubildungen und bekannten Theilen des gesunden Körpers zu machen. So sprach der alte J. F. =Meckel= von dem brustdrüsenartigen, dem pancreasartigen Sarkom. Die Heteradenie, die heterologe Bildung von Drüsensubstanz, welche in der neuesten Zeit von Paris aus als eine Neuigkeit beschrieben worden ist, war in der deutschen naturphilosophischen Schule vor einem halben Jahrhundert eine ziemlich allgemein angenommene Thatsache. Erst seitdem man die histologische Seite der Entwickelungsgeschichte zu bebauen begonnen hat, hat man sich mehr und mehr davon überzeugt, dass die meisten Neubildungen Theile enthalten, welche irgend einem physiologischen Gewebe entsprechen. Selbst in den mikrographischen Schulen des Westens hat man sich theilweise begnügt anzunehmen, dass es in der ganzen Reihe der Neubildungen nur ein besonderes Gebilde gäbe, welches specifisch abweichend sei von allen natürlichen Bildungen, nämlich den Krebs. Von ihm nahm man an, dass er ganz und gar von den physiologischen Geweben abweiche, Elemente sui generis enthalte, während man eigenthümlicher Weise das zweite Gebilde, das die Aelteren dem Krebsgewebe anzunähern pflegten, nämlich den Tuberkel, vielfach bei Seite liess, obwohl man doch auch für ihn kein Analogon fand. Aber man deutete ihn als ein unvollständiges, mehr rohes (=crudes=) Product, als ein nicht recht zur Organisation gekommenes, gewissermaassen unfertiges Gebilde, und glaubte ihn daher mehr den blossen Exsudationen anreihen zu dürfen. Wenn man jedoch den Krebs oder den Tuberkel sorgfältiger betrachtet, so kommt es auch bei ihnen nur darauf an, dasjenige Stadium ihrer Entwickelung aufzusuchen, in welchem sie die Höhe ihrer Gestaltung erreicht haben. Man darf weder zu früh untersuchen, wo die Entwickelung unvollendet, noch zu spät, wo sie über ihr Höhenstadium hinausgerückt ist. Hält man sich an die Zeit der Entwickelungshöhe (Acme, Florescenz), so lässt sich für jedes pathologische Gewebe auch ein physiologisches Vorbild finden, und es ist eben so gut möglich, für die Elemente des Krebses solche Vorbilder zu entdecken, wie es möglich ist, dieselben für den Eiter zu finden, der, wenn man einmal specifische Gesichtspunkte festhalten will, ebenso im Rechte ist, als etwas Besonderes betrachtet zu werden, wie der Krebs. Beide stehen sich darin vollkommen parallel, und wenn die Alten von Krebseiter gesprochen haben, so haben sie in gewissem Sinne Recht gehabt, da der Eiter vom Krebssafte sich nur durch die Entwickelungshöhe der einzelnen Elemente unterscheidet. Eine Classification auch der pathologischen Gebilde lässt sich ganz in der Weise aufstellen, die wir vorher für die physiologischen Gewebe versucht haben. Zunächst gibt es auch hier Gebilde, welche, wie die epithelialen, wesentlich aus zelligen Theilen zusammengesetzt sind, ohne dass zu diesen etwas Erhebliches hinzukommt (=epitheliale Neubildungen=). In zweiter Linie treffen wir Gewebe, welche sich denen der Bindesubstanz anschliessen, indem regelmässig neben zelligen Theilen eine gewisse Menge von Zwischensubstanz vorhanden ist (=bindegewebige Neubildungen=). Endlich in dritter Linie kommen diejenigen Bildungen, welche sich den höher organisirten Theilen, Blut, Muskeln, Nerven u. s. w. anschliessen. Es ist jedoch von vorn herein hervorzuheben, dass in den pathologischen Bildungen diejenigen Elemente häufiger vorhanden sind, ja entschieden vorwalten, welche nur den niederen Graden der eigentlich thierischen Entwickelung entsprechen, dass dagegen im Ganzen diejenigen Elemente am seltensten nachgebildet werden, welche den höher organisirten, namentlich den Muskel- und Nervenapparaten angehören. Ausgeschlossen sind jedoch auch diese Bildungen keineswegs; vielmehr kennen wir jede Art von pathologischer Neubildung, sie mag auf ein Gewebe bezüglich sein, auf welches sie will, wenn es nur überhaupt einen erkennbaren Habitus hat. Nur in Beziehung auf die Häufigkeit und die Wichtigkeit der einzelnen neu gebildeten Gewebe besteht eine Verschiedenheit in der Art, dass die grösste Mehrzahl der pathologischen Producte überwiegend epitheliale oder Elemente der Bindesubstanz führen, und dass von denjenigen Gebilden, welche wir in der letzten Klasse der normalen Gewebe zusammenfassten, am häufigsten Gefässe und Theile, welche mit der Lymphe und den Lymphdrüsen verglichen werden können, neu entstehen, am seltensten aber wirkliches Blut, Muskeln und Nerven. Dass man diesen so einfachen Standpunkt noch jetzt vielfach leugnet, erklärt sich nicht bloss daraus, dass das Verständniss der pathologischen Histologie überall die genaueste Kenntniss der physiologischen voraussetzt und ohne diese ganz und gar in die Irre geht, sondern vielleicht noch mehr daraus, dass es sich hier nicht bloss um einfache Gewebe, sondern häufig um besondere und grössere Zusammenordnungen von Geweben handelt, welche sich zu einer =Art von pathologischen Organen= zusammenfügen. Ein Dermoid besteht nicht bloss aus Epidermis oder aus Bindegewebe, sondern es stellt eine pathologische Reproduction des Derma in seiner ganzen Zusammensetzung als =Hautorgan= dar, in welche Zusammensetzung Epidermis und Bindegewebe, Haare, Talg- und Schweissdrüsen, Fettgewebe und glatte Muskeln, Gefässe und Nerven eintreten können. Ein Osteom besteht nicht bloss aus Knochengewebe (tela ossea), sondern es kann ausserdem Mark, Knorpel und Bindegewebe enthalten. Und so entspricht auch der Krebs nicht einem einzigen physiologischen Gewebe, sondern er enthält, ähnlich wie eine Drüse, zellige Elemente in besonderen Hohlräumen oder Kanälen, welche getragen werden durch ein Stroma von Bindegewebe mit Gefässen. Alle diese Arten von Neubildungen entsprechen also den Gegenständen der speciellen Histologie, der Organenlehre, und ihre gesammte Lebensgeschichte, ihre Entwickelung und Rückbildung lässt sich nicht nach dem Maassstabe einfacher Gewebe beurtheilen, sondern nur nach dem Vorbilde zusammengesetzter Organe des Körpers, grösserer anatomischer Gruppen von Theilen des Organismus, welche bekanntlich gerade durch ihre Zusammenlegung aus verschiedenen Geweben eine weit grössere Mannichfaltigkeit des Lebens und Erkrankens darbieten, als dies an einfachen Geweben möglich ist. Es zerfällt daher die ganze Reihe der Neoplasmen in zwei grössere Kategorien; einfache (=histioide=) und =zusammengesetzte (organoide)=. Die einfachen finden sich in den zusammengesetzten wieder. Epithel und Bindegewebe können jedes für sich eine Neubildung aufbauen: sie können aber auch zusammentreten und eine Art von pathologischem Organ erzeugen. Kommen dazu immer mehr und mehr Gewebe, so kann endlich ein so complicirtes Gefüge entstehen, dass es nur mit grösseren =Systemen= des Körpers zu vergleichen ist. Indess ist dies selten und auch dann gewöhnlich so unordentlich, dass man diese Kategorie als einen blossen Anhang zu der Lehre der Neubildungen zu betrachten hat. Manche dieser systematoiden Neubildungen gleichen so sehr gewissen Monstrositäten, ja ihre Grenze gegen die eigentlich fötalen Missbildungen ist so schwer zu ziehen, dass ich sie mit dem allgemeinen Namen der =teratoiden= belegt habe[14]. [14] Geschwülste. Bd. I. S. 96. Wenn man diesen rein physiologischen Gesichtspunkt festhält, so wirft sich sofort die Frage auf, was aus der Lehre von der =Heterologie= der krankhaften Producte wird, einer Lehre, welche aufrecht zu erhalten man sich seit langer Zeit bemüht hat, und auf welche die natürliche Anschauung scheinbar mit einer gewissen Nothwendigkeit hinführt. Hierauf kann ich nicht anders antworten, als dass es keine andere Art von Heterologie in den krankhaften Gebilden gibt, als die =ungehörige Art ihrer Entstehung oder ihres Vorkommens=, und dass diese Ungehörigkeit sich entweder darauf bezieht, dass ein Gebilde erzeugt wird an einem Punkte, wo es nicht hingehört, oder zu einer Zeit, wo es nicht erzeugt werden soll, oder in einem Grade, welcher von der typischen Norm des Körpers abweicht. Jede Heterologie ist also, genauer bezeichnet, entweder eine =Heterotopie=, eine Aberratio loci, oder eine Aberratio temporis, eine =Heterochronie=, oder endlich eine bloss quantitative Abweichung, =Heterometrie=. Schleimgewebe, welches im Gehirn entsteht, findet sich am unrechten Orte; eine Schleimgewebsgeschwulst, welche am Nabel eines Erwachsenen wächst, zeigt eine Gewebsbildung zur unrechten Zeit; die Mola hydatidosa stellt eine excessive Neubildung von Schleimgewebe an den Zotten des Chorion dar, also eine Neubildung in ungehöriger Menge. Man muss sich aber wohl in Acht nehmen, diese Heterologie im weiteren Sinne des Wortes nicht zu verwechseln mit der =Malignität=. Die Heterologie im histologischen Sinne bezieht sich auf einen grossen Theil von pathologischen Neubildungen, die von dem Standpunkte der Prognose durchaus gutartig genannt werden müssen. Nicht selten geschieht eine Neubildung an einem Punkte, wo sie freilich durchaus nicht hingehört, wo sie aber auch keinen erheblichen Schaden anrichtet, oder wo der Schaden, den sie anrichtet, nicht aus dem Wesen, der Art der Geschwulst als solcher, sondern aus ihrer Lage, ihren Nachbarverhältnissen zu anderen Theilen, also aus den Zufälligkeiten des Sitzes und der Entwickelung zu erklären ist. Es kann ein Fettklumpen sich sehr wohl an einem Orte erzeugen, wo wir kein Fett erwarten, z. B. in der Submucosa des Dünndarms, aber im besten Falle entsteht dadurch ein Polyp, der auf der inneren Fläche des Darms hervorhängt und der ziemlich gross werden kann, ehe er Krankheitserscheinungen hervorruft. Tritt dieser Fall aber ein, so folgen daraus Erscheinungen der Zerrung, des Druckes, der Hemmung, also Erscheinungen mechanischer Art, aber keine einzige Erscheinung wirklich maligner Art. Denn wir können nur das bösartig nennen, was seiner Natur nach schädlich ist, nicht das, was nur durch besondere Verhältnisse, per accidens, schädlich wirkt. [Illustration: =Fig=. 29. Schematische Darstellungen von Leberzellen. _A_. Einfache physiologische Anordnung derselben. _B_. Hypertrophie, _a_ einfache, _b_ mit Fettaufnahme (fettige Degeneration, Fettleber). _C_. Hyperplasie (numerische oder adjunctive Hypertrophie), _a_ Zelle mit Kern und getheiltem Kernkörperchen. _b_ getheilte Kerne. _c_, _c_ getheilte und daher kleinere Zellen.] Betrachtet man die im engeren Sinne heterolog zu nennenden Gebilde in Beziehung zu den Orten, wo sie entstehen, so ergibt sich ihre Trennung von den homologen durch den Nachweis, dass sie von dem Typus desjenigen Theils, in welchem sie entstehen, abweichen. Wenn im Fettgewebe eine Fettgeschwulst oder im Bindegewebe eine Bindegewebs-Geschwulst sich bildet, so ist der Typus der Bildung des Neuen homolog dem Typus der Bildung des Alten. Alle solche Bildungen fallen der gewöhnlichen Bezeichnung nach unter den Begriff der Hypertrophie, oder, wie ich zur genaueren Unterscheidung vorgeschlagen habe zu sagen, der =Hyperplasie=[15]. Hypertrophie in meinem Sinne bezeichnet den Fall, wo die einzelnen Elemente eine beträchtliche Masse von Stoff in sich aufnehmen und dadurch grösser werden, und wo durch die gleichzeitige Vergrösserung vieler Elemente endlich ein ganzes Organ anschwillt. Bei einem dicker werdenden Muskel werden alle Primitivbündel dicker. Eine Leber kann einfach dadurch hypertrophisch werden, dass die einzelnen Leberzellen sich bedeutend vergrössern. In diesem Falle gibt es eine wirkliche Hypertrophie ohne eigentliche Neubildung. Von diesem Vorgange ist wesentlich verschieden der Fall, wo eine Vergrösserung erfolgt durch eine =Vermehrung der Zahl der Elemente=. Eine Leber kann nehmlich auch grösser werden dadurch, dass an der Stelle der gewöhnlichen Zellen sich eine Reihe von kleineren entwickelt. Ebenso sehen wir durch einfache Hypertrophie das Fettpolster der Haut anschwellen, indem jede einzelne Fettzelle eine grössere Masse von Fett aufnimmt; wenn dies an Tausenden und aber Tausenden, ja man kann sagen, an Hunderttausenden und Millionen von Zellen geschieht, so ist das Resultat ein sehr grobes und augenfälliges (Polysarcie). Allein es kann eben so gut sein, dass sich im Fettgewebe neben den alten Zellen neue hinzubilden und eine Vergrösserung der Gewebsmasse erfolgt, ohne dass die Elemente für sich eine Vergrösserung erfahren. Es handelt sich hier um wesentlich verschiedene Processe: =um einfache und um numerische Hypertrophie=. [15] Handbuch der spec. Pathol. u. Therapie. 1854. I. 327-28. Hyperplastische Processe (numerische oder adjunctive Hypertrophie) bringen in allen Fällen Gewebe hervor, welche dem Gewebe des alten Theiles gleichartig sind. Eine Hyperplasie der Leber bringt wieder Leberzellen, die des Nerven wieder Nerven, die der Haut wieder die Elemente der Haut hervor. Ein heteroplastischer Process dagegen erzeugt Gewebselemente, welche freilich natürlichen Formen entsprechen, z. B. Elemente von drüsenartiger Natur, Nervenmasse, Theile von Bindegewebs- oder epithelialer Structur, aber diese Elemente entstehen nicht durch einfache Zunahme der vorher vorhanden gewesenen, sondern durch eine Neubildung mit Umwandlung des ursprünglichen Typus des Muttergewebes. Wenn sich Gehirnmasse im Eierstock bildet, so entsteht dieselbe nicht aus präexistirender Gehirnmasse, nicht durch irgend einen Akt einfacher Vermehrung; wenn Epidermis im Muskelfleische des Herzens entsteht, so mag sie noch so sehr übereinstimmen mit der auf der äusseren Haut, sie ist doch ein heteroplastisches Gebilde. Wenn sich Haare von ganz natürlichem Bau in der Hirnsubstanz finden, so mag man die grösste Uebereinstimmung finden zwischen ihnen und Haaren der Körper-Oberfläche; es werden dies immer heteroplastische Haare sein. So sehen wir Knorpelsubstanz entstehen, ohne dass ein wesentlicher Unterschied zwischen ihr und der gewöhnlichen, bekannten Knorpelsubstanz besteht, z. B. in Enchondromen. Dennoch erscheint das eigentliche Enchondrom als eine heteroplastische Geschwulst, selbst am Knochen. Denn der fertige Knochen hat an den Theilen, wo das Enchondrom sich bildet, keinen Knorpel mehr, und die Phrase von dem Knochenknorpel, als der organischen Grundlage des Knochens, ist eben nur eine Phrase. Es ist entweder die Tela ossea oder die Tela medullaris, in welcher das Enchondrom sitzt, und gerade da, wo eigentlicher Knorpel liegt, z. B. am Gelenkende, entstehen keine Enchondrome in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes. Dagegen finden wir sehr ausgezeichnete Enchondrome in Drüsen, z. B. in den Speicheldrüsen, im Hoden. Es handelt sich hier also nicht um eine Hypertrophie oder Hyperplasie, die ein normaler Knorpel eingeht, sondern es ist eine vollständige Neubildung, welche eine Veränderung des localen Gewebstypus darstellt. In meinem Sinne kann daher =dasselbe Gewebe das eine Mal homolog, das andere Mal heterolog sein=. Fettgewebe in der Nierenkapsel ist homolog, in der Nierensubstanz heterolog. Epithel in Drüsenkanälen ist homolog, im Knochen heterolog. Dieselbe Geschwulst kann an einer Stelle homolog, an einer anderen heterolog sein. Eine Knochengeschwulst (Osteom) am Knochen ist hyperplastisch, im Gehirn heteroplastisch. Diese Auffassung ist wesentlich verschieden von der früher gangbaren, wie sie z. B. =Lobstein= vertrat, als er die Neubildungen in homöoplastische und heteroplastische eintheilte. Denn bei ihm, wie noch in der neuesten französischen Schule, gilt als homöoplastisch jede Neubildung, welche eine den physiologischen Geweben oder Organen des Körpers entsprechende Zusammensetzung zeigt; eine jede solche wurde zugleich als gutartig angesehen. Ich dagegen nehme in Beziehung auf die Frage von der Heterologie und Homologie keine Rücksicht auf die Zusammensetzung des Neugebildes als solchen, sondern nur auf das Verhältniss desselben zu dem Mutterboden, aus dem es hervorgeht. Heterologie in diesem Sinne bezeichnet die Verschiedenartigkeit in dem Typus der Entwickelung des Neuen gegenüber dem Alten, oder, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, die =Entartung= (=Degeneration=), die Abweichung von der =Eigenart= des typischen Gewebes. Hiermit ist zugleich der entscheidende prognostische Anhaltspunkt gegeben. Wir kennen Geschwülste, welche den allergrössten Einklang ihrer Elemente darbieten mit den bekanntesten physiologischen Geweben. Eine Epidermis-Geschwulst kann, wie ich schon hervorgehoben habe, in ihren Elementen vollständig übereinstimmen mit gewöhnlicher Oberhaut, aber sie ist trotzdem nicht immer eine gutartige Geschwulst von bloss localer Bedeutung, welche abgeleitet werden dürfte von einer einfach hyperplastischen Vermehrung präexistirender Gewebe, denn sie entsteht zuweilen mitten in Theilen, welche fern davon sind, Epidermis oder Epithel zu besitzen, z. B. beim Kankroid im Innern von Lymphdrüsen, in dicken Bindegewebslagen, welche von allen Oberflächen entfernt liegen, ja sogar im Knochen. In diesen Fällen ist gewiss die Bildung von Epidermis so heterolog, als sich überhaupt etwas heterolog denken lässt. Auch hat die praktische Erfahrung gelehrt, dass es durchaus unrichtig war, aus der blossen Uebereinstimmung der pathologischen Epidermis mit physiologischer auf den gutartigen Verlauf des Falles zu schliessen. Vielmehr zeigt uns die Beobachtung der Kranken, dass jeder Fall verdächtig ist und uns zur Vorsicht mahnen muss, wo wir eine heterologe Neubildung antreffen. Gerade das ist, wie ich mit besonderer Betonung bemerken muss, nahezu der schwerste und am meisten begründete Vorwurf gewesen, welcher den mikrographischen Schilderungen der jüngst verflossenen Zeit gemacht wurde, dass sie, in dem Sinne =Lobstein='s von dem allerdings verzeihlichen Gesichtspunkte der histologischen Uebereinstimmung mancher normalen und abnormen Bildungen ausgehend, jedes pathologische Neugebilde für unschädlich ausgaben, welches eine Reproduction von präexistirenden und bekannten Körpergeweben darstellte. Wenn meine Ansicht richtig ist, dass überhaupt innerhalb der pathologischen Entwickelung keine absolut neuen Formen gefunden werden, dass es überall nur Bildungen gibt, die in der einen oder anderen Weise als =Reproductionen physiologischer Gewebe= betrachtet werden müssen, so fällt jener Gesichtspunkt in sich selbst zusammen. Für die Richtigkeit meiner Ansicht kann ich aber die Thatsache beibringen, dass ich bis jetzt in den Streitigkeiten über die Gut- oder Bösartigkeit bestimmter Geschwulstformen bis auf einen Fall immer noch Recht behalten habe, und dass ich in diesem Falle, wo ich der Erfahrung mehr Recht einräumte, als meiner Theorie, gerade durch eine neue Erfahrung von der Zuverlässigkeit dieser Theorie überzeugt wurde. Es handelte sich dabei um die Malignität einer Art des Dermoids. -- [Illustration: =Fig=. 30. Grosse Spindelzellen (fibroplastische Körper) in ihrer natürlichen Anordnung aus einem Sarcoma fusocellulare der Rückenmarkshäute. Vergröss. 350. (Geschwülste II. S. 197. Fig. 136).] Dass es einer so langen Zeit bedurft hat, diese so einfachen Gesichtspunkte zu gewinnen, erklärt sich zum grossen Theile aus der ungenauen Kenntniss der selteneren histologischen Formen, zum kleineren aus der allerdings ungewöhnlichen Entwickelung mancher pathologischen Elemente. Die Krebszelle entspricht, wie ich gezeigt habe[16], ihrer ganzen Erscheinung nach den Zellen der Epithelialformation. Aber in der Mehrzahl der Krebse haben die Zellen eine Grösse, Gestalt, Kernentwickelung, wie sie an dem gewöhnlichen Epithel selten vorkommt. Dagegen zeigt das früher (S. 30, Fig. 16.) erwähnte Epithel der Harnwege die grösste Uebereinstimmung damit, und man würde gewiss viel früher auf die richtige Deutung gekommen sein, wenn man dieses eigenthümliche Epithel früher richtig gewürdigt hätte. In den sogenannten Epidermiskrebsen oder Kankroiden dagegen finden sich so entschieden epidermoidale Formen, dass man glaubte, diese Geschwulstart ganz von den Krebsen trennen und zu den einfach hypertrophischen und daher gutartigen Bildungen stellen zu müssen. In den Spindelsarkomen finden sich so grosse und eigenthümliche Zellen, dass noch jetzt Mancher sich weigert, sie den gewöhnlich so kleinen Spindelzellen des Bindegewebes (Fig. 4, _b_; 21.) parallel zu stellen; hat man sich von der kolossalen Entwickelung dieser Spindelzellen in der Decidua uterina überzeugt, so verschwindet das Auffällige. In den Riesenzellensarkomen wiederum trifft man überaus grosse, stellenweise fast ungeheuerliche Zellen mit zahlreichen Kernen, für die jede Analogie zu fehlen scheint. Allein das Studium des jungen Knochenmarkes oder der Rindenschicht der Nebennieren lehrt uns analoge Formen auch im normalen Entwickelungsgange kennen. [16] Archiv 1847. Bd. I. S. 105. [Illustration: =Fig=. 31. Durchschnitt aus einer Epulis sarcomatosa des Unterkiefers. Zahlreiche, dicht gedrängte Spindelzellen (fibroplastische Körper) bilden eine Art von maschigem Gerüst, in dessen Räumen vielkernige, mit feineren und gröberen Fortsätzen versehene Riesenzellen (myeloide Zellen, Myeloplaxen) liegen. Vergr. 300. (Geschwülste II. S. 317. Fig. 158).] Auf dieser Stufe der Erkenntniss angelangt, stossen wir auf eine neue Schwierigkeit. Jedesmal, wo eine pathologische Bildung auf physiologische Vorbilder zurückgeführt wird, erhebt sich die Frage, ob sie nicht direct von einem solchen physiologischen Gebilde abstamme. In der That liegt es nahe, an eine =continuirliche= Entwickelung zu denken, und wir haben die ernstliche Verpflichtung, in jedem solchen Falle zu prüfen, ob nicht wirklich ein entsprechend zusammengesetzter oder gebauter Theil Matrix des pathologischen sei. Wenn man weiss, dass vielkernige Riesenzellen im Knochenmark vorkommen, so wird man geneigt sein, mit =Nélaton= jedes Riesenzellensarcom (tumeur à myéloplaxes) vom Knochenmark abzuleiten. Sieht man, dass das Kankroid in der Regel aus Epidermiszellen besteht, so liegt nichts näher, als dasselbe auf eine örtliche Wucherung präexistirender Epidermis zurückzuführen. Allein die Erfahrung mahnt hier zu grosser Vorsicht. Sonst kommt man leicht zu Schlüssen, wie sie früher oft genug gemacht sind, dass z. B. ein Teratom des Eierstocks, weil es Knochen und Zähne, Haut und Haare, ja selbst Muskeln und Hirnmasse enthält, ein degenerirter Fötus sei oder aus einer aberrirten Embryobildung herstamme. Man darf den blossen Wahrscheinlichkeiten nicht zu sehr nachgeben, sonst macht man blosse Conjectural-Pathologie. Eine unbefangene Prüfung lehrt allerdings, dass alle pathologischen Gewebe continuirlich aus physiologischen hervorgehen, aber keinesweges so, dass ihr Typus immer unverändert der ihrer physiologischen Matrix bleibt. =Die Entwickelung selbst ist stets continuirlich, der Typus aber kann discontinuirlich sein=, und gerade diese Aenderung des Typus ergibt für mich das entscheidende Kriterium der Heterologie. Wenn die Neuroglia des Gehirns gewöhnliches Bindegewebe oder ausgezeichnetes Schleimgewebe hervorbringt, so geschieht dies durch continuirliche Vorgänge, aber der Typus der Neuroglia geht dabei verloren. Ein Enchondrom des Hodens entsteht continuirlich aus dem schwachen Interstitialgewebe der Drüse, aber ein bis dahin ganz unerhörtes Gewebe tritt im Hoden auf. Das eine Gewebe wird hier durch ein anderes, das aus ihm hervorgegangen, aber von ihm verschieden ist, substituirt. Wir finden demnach auch hier, wie im physiologischen Leben, gewisse =Substitutionen und Aequivalente von Geweben=, und gleichwie im Physiologischen die Grenze dieser Substitionen durch das ein für allemal gegebene Entwickelungsgeschäft der Species bezeichnet ist, so geschieht auch pathologische Substitution stets durch Gewebe, deren Vorkommen in der Species physiologisch nachweisbar ist. In krankhaften Zuständen gibt es =heterologe Substitutionen=, wo ein bestimmtes Gewebe ersetzt wird durch ein Gewebe anderer Art, aber nie durch ein der menschlichen Organisation fremdes Gewebe. Selbst dann, wenn der Ersatz von dem alten Gewebe des Ortes ausgeht, kann die Neubildung mehr oder weniger abweichen von dem ursprünglichen Typus der Matrix. So tritt an die Stelle der Haut, welche durch Verschwärung verloren gegangen ist, eine Narbe, die nicht bloss Bindewebe, sondern auch Epidermis enthält, obwohl die Matrix dieser Epidermis das Bindegewebe der Cutis und nicht das (verloren gegangene) Rete Malpighii sein kann. Es geschieht also die Substitution entweder durch Ersetzung vermittelst eines Gewebes aus derselben Gruppe (=Homologie=) oder durch ein Gewebe aus einer anderen Gruppe (=Heterologie=). Auf letztere muss die ganze Doctrin von den specifischen Elementen der Pathologie zurückgeführt werden, welche in den letzten Decennien eine so grosse Rolle gespielt haben. Denn diese Gewebe sui generis sind nicht insofern specifisch, als sie im natürlichen Entwickelungsgange des Körpers kein Analogon finden, sondern nur insofern, als sie unter gewöhnlichen Umständen nicht zu den constituirenden Theilen derjenigen Organe gehören, in welchen sie unter krankhaften Verhältnissen erzeugt werden. Deshalb erscheinen sie nicht sowohl als Bestandtheile des Organs, welches sie erzeugt, als vielmehr als Bestandtheile der Neubildung (gewissermaassen des pathologischen Organs), welches aus ihnen zusammengesetzt ist, und wir vergessen nur zu leicht, dass auch diese Neubildung, wenngleich kein an sich nothwendiger, doch ein continuirlich zusammenhängender Theil jenes physiologischen Organs, und somit des ganzen Organismus ist. Diese Erkenntniss ist um so schwieriger, als in der Regel die heterologe Substitution nicht direct, sondern auf einem Umwege erfolgt. Denn nicht immer entsprechen sofort die ersten Anlagen der Neubildung dem endlichen Producte; selbst die Hyperplasie geschieht nicht immer durch sofortige Erzeugung homologer Elemente (=per primam intentionem=). Sehr häufig schiebt sich zuerst ein Stadium indifferenter Bildungen ein, aus denen sich erst langsam die besonderen Formen der späteren Zeit differenziren (=per secundam intentionem=). =Dasselbe Gewebe kann auf die eine und auf die andere Weise entstehen=. Aus dieser Erfahrung, die ich nicht genug betonen kann, erklären sich zahlreiche Widersprüche der Mikrographen, welche das Meiste dazu beigetragen haben, die Mikrographie überhaupt in Misskredit zu bringen. Jeder Forscher betrachtet seine Beobachtungen als die maassgebenden, und statt zu fragen, ob nicht vielleicht auch der andere Forscher richtig gesehen habe, erklärt er die fremden Angaben, welche mit den seinigen nicht übereinstimmen, sofort für falsch. Wie immer, führt die Exclusivität zur Einseitigkeit und damit zum Irrthum. So hat lange der Streit darüber geschwebt, ob Knochen immer aus Knorpel entstehe. Schon die älteren Beobachter behaupteten, er könne auch aus Membranen entstehen. Ich habe dargethan, dass er aus Bindegewebe und aus Mark hervorgehen kann[17]. Spätere Beobachter haben dann geradezu geleugnet, dass Knorpel direct in Knochengewebe übergehe, und in diesem Augenblicke hat diese Meinung das Uebergewicht. Meiner Ueberzeugung nach ist dieselbe einseitig und daher irrthümlich. Vielmehr entsteht Knochengewebe aus Knorpel in doppelter Weise: gewöhnlich per secundam intentionem aus Mark, welches aus Knorpel durch Metaplasie hervorgegangen ist, aber in geringerem Umfange auch per primam intentionem aus Knorpel. In ähnlicher Weise verhält es sich mit dem Bindegewebe. Lange Zeit liess man alles pathologisch neugebildete Bindegewebe aus fibrinösem Blastem (plastischer Lymphe) entstehen, welches auf dem Wege der Exsudation aus dem Blute austreten sollte. Von diesem ganz exclusiven Standpunkte aus bestritt man sogar die Möglichkeit einer Organisation des Thrombus innerhalb der Gefässe, obwohl doch in demselben derselbe Faserstoff vorhanden ist, der die eigentlich plastische Substanz des Exsudates darstellen sollte. Ich habe nicht bloss die Entstehung von Bindegewebe aus dem Thrombus, sogar die Vascularisation des letzteren nachgewiesen[18], sondern auch die Entstehung von Bindegewebe an Orten, wo niemals ein fibrinöses Blastem erkennbar ist. Bindegewebe entsteht direct aus Knorpel, aus Knochengewebe, aus Neuroglia. =Die eine Art der Entstehung schliesst die andere nicht aus=. Sogar an derselben Stelle kann Bindegewebe auf verschiedene Art sich bilden, z. B. an der inneren Oberfläche einer Arterie kann es entstehen durch Wucherung der Intima und durch Organisation von Thrombusmasse. Zuweilen verwandelt sich ein anderes Gewebe, wie wir sahen, durch Metaplasie unmittelbar in Bindegewebe; andermal erzeugt präexistirendes Bindegewebe neues durch directe Hyperplasie, ohne dass der Charakter des Gewebes sich während dieser Zeit im Wesentlichen ändert; andermal wiederum entsteht aus präexistirendem Bindegewebe zuerst ein indifferentes Granulationsgewebe und erst dieses geht durch Metaplasie wieder in Bindegewebe über. Es entsteht also nicht nur dasselbe Gewebe unter verschiedenen Bedingungen auf verschiedene Weise, sondern es kann sogar =dieselbe Matrix dasselbe Gewebe auf verschiedene Weise hervorbringen=. Ich bemerke jedoch ausdrücklich, dass, soweit unsere bisherigen Erfahrungen reichen, dieser Satz nicht auf alle pathologischen Gewebe und nicht auf alle Matrices Anwendung findet. [17] Mein Archiv 1847. I. 135. 1853. V. 438, 444, 455. [18] Gesammelte Abhandl. 1856. S. 323. Fünftes Capitel. Die Ernährung und ihre Wege. Selbsterhaltung als Grundlage der Lehre vom Leben. Ernährung und Stoffwechsel. Ernährung im Sinne des Gesammt-Organismus: Nahrungsstoffe, Verdauung, Circulation. Ernährung im cellularen Sinne. Endosmose und Exosmose, todter Stoffwechsel. Intermediärer Stoffwechsel (Transito-Verkehr). Eigentlich nutritiver Stoffwechsel. Ernährungseinheiten und Krankheitsheerde. Thätigkeit der Gefässe bei der Ernährung. Verhältniss von Gefäss und Gewebe. Leber. Niere. Gehirn. Muskelhaut des Magens. Knorpel. Knochen. Abhängigkeit der Gewebe von den Gefässen. Metastasen. Gefässterritorien (vasculäre Einheiten). Die Ernährungsleitung in den Saftkanälen der Gewebe. Knochen. Zahn. Faserknorpel. Hornhaut. Bandscheiben. Die Grundlage aller Vorstellungen über das Leben bildet die Erfahrung von der allem Lebendigen zukommenden Fähigkeit der =Selbsterhaltung=. Sowohl das organische Gesammt-Individuum, als die einzelne Zelle sind vermöge ihrer inneren Einrichtung (Organisation) befähigt, sich unter den mannichfaltigsten äusseren Verhältnissen zu erhalten, Störungen, die sie erlitten haben, auszugleichen (zu reguliren), und eine Reihe von Thätigkeiten zu äussern, deren einfachstes Ergebniss die Erhaltung des Status quo ist. Die Gesammtheit der Vorgänge, durch welche dieses Ergebniss erzielt wird, pflegt man mit einem allerdings sehr dehnbaren und daher auch häufig nur wenig zutreffenden Ausdrucke =Ernährung= (=Nutrition=) zu nennen[19]. Als das eigentliche Wesen der Ernährung gilt wiederum sehr allgemein der =Stoffwechsel=, d. h. die Aufnahme, Assimilation, Zersetzung (Desintegration) und Wiederausscheidung gewisser Stoffe, welche dieser Anschauung entsprechend =Nahrungsstoffe= genannt werden. [19] Vgl. meinen Vortrag über Nahrungs- und Genussmittel. Berlin 1868. S. 23. Es ist leicht verständlich, dass in der Meinung vieler Physiologen und Pathologen, namentlich vieler praktischen Aerzte die Lehre von der Ernährung als der Ausgangspunkt aller weiteren Erörterungen erscheint, und wir wollen daher diesen Punkt sofort besprechen, um so mehr, als ich die überlieferten Vorstellungen in mehrfacher Beziehung nicht als berechtigt anerkenne. Selbst die Physiologie hat erst in den letzten Jahren angefangen, sich derjenigen Betrachtungsweise anzunähern, welche ich seit langer Zeit als die entscheidende vertheidigt habe. Zwei Umstände namentlich sind es gewesen, welche die Vereinbarung erschwert haben. Einerseits die hervorragende Stellung, welche den =Vorgängen der Ernährung im Gesammt-Organismus= angewiesen wurde. Die Folge davon war, dass man die Forschung wesentlich auf die Geschichte der Nahrungsstoffe in den »ersten Wegen«, d. h. die Verdauung, und im Blute beschränkte, dass man also gewissermaassen da Halt machte, wo in der cellularen Anschauung die Ernährung im engeren Sinne eigentlich erst beginnt, nehmlich an den Geweben. Denn begreiflicherweise sind für denjenigen, welcher die Ernährung der einzelnen Theile als das Wesentliche ansieht, alle anderen Vorgänge nur =Vorbereitungen=, und so wichtig Verdauung und Circulation auch sein mögen, so können sie doch nur als Akte gelten, welche die Bestimmung haben, den Elementartheilen geeignetes Material für ihre Ernährung zu liefern. -- Andererseits war der Umstand für die Einigung der verschiedenen Forscher hinderlich, dass man glaubte, mit dem blossen =äusserlichen= Stoffwechsel, der sogenannten Endosmose und Exosmose, das Hauptsächliche der Ernährung abgethan zu haben. Man übersah dabei, dass es auch im Todten einen Stoffwechsel gibt, wie die Geschichte der im menschlichen Körper selbst eingeschlossenen mortificirten Theile deutlich erkennen lässt[20], und dass es viel mehr auf den =inneren= Stoffwechsel ankommt, der sich durch blosse Endosmose und Exosmose nur unvollständig erkennen lässt. Aufnahme und Abgabe von Stoffen können erfolgen, ohne dass damit eine Ernährung bewirkt wird. Gleichwie ein Infusorium ein Indigokorn oder den Kieselpanzer einer Diatomee »frisst«, möglicherweise ohne Mund und Magen in sein Inneres aufnimmt, und diese Körper nachher wieder, möglicherweise ohne After, auswirft, so »fressen« viele Zellen Fett, ohne es zu assimiliren oder zu verbrauchen, und sie werfen es später wieder aus, ohne es »verdaut« zu haben. Dieser, wie ich ihn genannt habe[21], nur =intermediäre= Stoffwechsel (Transito-Verkehr) ist von dem eigentlich nutritiven wohl zu trennen. [20] Verhandlungen der Berliner medic. Gesellschaft 1867. S. 254. [21] Archiv 1857. XI. 574. Ich bin von Anfang an[22] davon ausgegangen, dass die Zellen die eigentlichen =Ernährungseinheiten= seien und dass sie gerade aus diesem Grunde auch als die eigentlichen =Krankheitseinheiten= (=Krankheitsheerde=) aufgefasst werden müssten. Meine eigenen Vorstellungen haben sich insofern erweitert, als ich später in schärferer Weise, als es mir ursprünglich erschien, die formativen und functionellen Vorgänge von den nutritiven getrennt habe. Trotzdem muss ich noch gegenwärtig daran festhalten, dass die =cellulare Nutrition= in der That die erste Grundlage für die Betrachtung der vitalen Vorgänge bildet. In diesem Sinne wollen wir uns auch zunächst mit ihr beschäftigen. [22] Ebendas. 1852. IV. 387. 1855. VIII. 15. 1856. XI. 40. Gesammelte Abhandl. 1856. S. 50. Gewöhnlich betrachtet man in der Lehre von der Ernährung =die Gefässe= als diejenigen Kanäle, welche nicht nur den Stoffverkehr vermitteln, sondern auch durch bald active, bald passive Hülfe den einzelnen Theil in seinem Stoffverkehr überwachen. Seit lange hat man daher das Bestimmende bei dem Ernährungsvorgange mit einem Ausdrucke, der sich auch in die heutige Sprache hinübergeschlichen hat, in der Thätigkeit der Gefässe gesucht, wie wenn die Gefässe ein unmittelbares Regiment über die ihnen benachbarten oder von ihnen versorgten Gewebstheile ausübten. Wie ich schon früher bei Gelegenheit der Muskelfasern hervorhob (S. 61), so können wir heut zu Tage von einer Action der Gefässe nur in so weit sprechen, als Muskelfasern in denselben vorhanden sind, und als sich demnach die Gefässe durch Zusammenziehung ihrer Muskeln verengern oder verkürzen können. Die Verengerung hat das Resultat, dass der Durchtritt der Flüssigkeiten gehemmt wird, während umgekehrt bei Erschlaffung oder Lähmung der Muskeln das durch den Blutdruck erweiterte Gefäss den Durchtritt der Flüssigkeiten begünstigen kann. Gestehen wir dies zu, aber vergessen wir auch nicht, die Gewebsmasse, welche neben den Gefässen liegt, und welche man sich gewöhnlich als eine sehr einfache und träge Masse vorstellt, mit in Betracht zu ziehen. [Illustration: =Fig=. 32. Stück von der Peripherie der Leber eines Kaninchens; die Gefässe vollkommen injicirt. Vergr. 11.] Wenn wir Theile wählen, in welchen die Gefässe recht dicht liegen, in welchen vielleicht fast eben so viel an Gefässen vorhanden ist, als an Gewebe, so sehen wir, dass jedes einzelne Spatium, welches zwischen den Gefässen übrig bleibt, durch eine ganz kleine Zahl von Elementen erfüllt wird. Ein solches Organ ist die Leber, bei der in der That dieses Verhältniss ganz zutrifft. Denn eine Leber im gefüllten Zustande der Gefässe hat nahezu so viel Volumen Gefäss, als eigentliche Lebersubstanz. Betrachten wir einen einzelnen Acinus der Leber für sich, so finden wir in dem glücklichsten Falle des Querschnittes in seiner Mitte die Vena centralis oder intralobularis, die zur Lebervene geht, im Umfange Aeste der Pfortader, welche in das Innere des Acinus capillare Zweige senden. Letztere bilden sofort ein Anfangs langmaschiges, später kürzeres Netz, welches sich in der Richtung gegen die Vena centralis (hepatica) fortsetzt und zuletzt in dieselbe einmündet. Das Blut strömt also, indem es von der V. interlobularis (portalis) eintritt, durch das Capillarnetz hindurch zur Vena intralobularis, von wo es durch die Venae hepaticae wieder zum Herzen zurückgeführt wird. Hat man nun eine injicirte Leber vor sich, so sieht man dieses Netz so dicht, dass dasjenige Gewebe, welches die Maschen des Netzes erfüllt, fast geringer an Masse erscheint, als der Raum, welcher von den Gefässen eingenommen wird. So kann man sich leicht vorstellen, wie die älteren Autoren, vor Allen =Ruysch=, durch ihre Injectionen auf die Vermuthung kommen konnten, dass fast Alles im Körper aus Gefässen bestände und dass die verschiedenen Organe nur durch Differenzen in der Anordnung ihrer Gefässe sich unterschieden. Gerade umgekehrt, wie an einem Injectionspräparat, erscheint jedoch das Verhältniss an einem gewöhnlichen Präparat aus einer blutleeren Leber. Hier nimmt man die Gefässe fast gar nicht wahr. Man sieht wohl ein ähnliches Netz, aber dies ist das Netz der Leberzellen (Fig. 29), welche, dicht an einander gedrängt, allein vorhanden zu sein scheinen. Es ergiebt sich also, dass Gefässnetz und Zellennetz sich auf das Innigste durchflechten, so dass überall fast unmittelbar an der Gefässwand Zellen des Leberparenchyms liegen. Zwischen den Zellen und der Gefässwand bemerkt man nur sehr schwer noch eine feine Lage, von der es unter den Histologen immer noch streitig ist, ob sie einer besonderen und continuirlichen Wand zuzuschreiben ist, welche die feinsten Gallengänge zusammensetzt, oder ob nur eine minimale Menge von Bindegewebszellen die Zellennetze umgreift. In diesem Falle kann man allerdings ein sehr einfaches Verhältniss zwischen den Gefässen und den Zellen annehmen; man kann sich vorstellen, dass das Blut, welches in den Gefässen strömt, je nach den Erweiterungszuständen der letzteren und je nach seiner Menge unmittelbar auf die anstossenden Elemente einwirkt und unmittelbar Ernährungsstoffe an sie abgiebt, sowie Zersetzungsstoffe aus ihnen aufnimmt. Freilich kann man in Beziehung auf die Ernährungsverhältnisse entgegenhalten, dass es sich hier um eine ganz eigenthümliche Gefäss-Einrichtung handelt, die wesentlich venöser Natur ist, zusammengesetzt aus Pfortader- und Lebervenenästen, allein in dasselbe Capillarnetz geht auch die Arteria hepatica hinein, und das Blut lässt sich in dem Netz nicht mehr in seine einzelnen arteriellen und venösen Theile zerlegen. Die Injectionen gelangen von jedem der Gefässe zuletzt in dasselbe Capillarnetz hinein. Nichts desto weniger halte ich es für berechtigt, gerade bei einem Organe, wie die Leber, welches einen so ausgezeichnet intermediären Stoffverkehr hat, die grosse Nähe der Capillaren für wichtiger in Beziehung auf diesen Stoffverkehr, als in Beziehung auf die eigentliche Ernährung zu halten. Jedenfalls begreift man leicht, dass alle Produkte des Transito-Verkehrs zuerst und am stärksten in denjenigen Zellen erscheinen, welche von dem einströmenden Blute zuerst berührt werden. Es sind dies die peripherischen Zellen der einzelnen Acini. Etwas anders ist das Verhältniss schon in der =Niere=. Macht man einen feinen Durchschnitt durch die Rindensubstanz, nachdem man vorher die Gefässe sorgfältig injicirt hat, so bemerkt man, dass letztere die Harnkanälchen ziemlich dicht umspinnen (Fig. 33, _c_, _e_). Diese sind ihrerseits zusammengesetzt aus einer strukturlosen Haut, der sogenannten Tunica propria (Fig. 33, _b_), und einem zusammenhängenden Epithel, welches das freie Kanallumen (_d_) umgiebt. Hier bleibt zwischen den Gefässen und der Tunica propria noch ein kleiner Raum, in welchem bei genauester Untersuchung ein fast strukturloses, feinstreifiges Bindegewebe mit Zellen, Bindegewebskörperchen (_a_), gelagert ist. Die Epithelialzellen sind demnach von den Capillaren getrennt durch die Tunica propria und diese Bindegewebslage, und die Blutflüssigkeit muss, um zu den Epithelzellen Säfte abgeben zu können, nicht nur die Capillarwand, sondern auch die genannten zwei Septa durchdringen, deren Zustände natürlich nicht ohne Bedeutung für die Möglichkeit dieser Durchdringung sein können. Ueberdies bemerkt man leicht, dass eine grössere Zahl von Zellen stets einer einzigen Capillarschlinge anliegt, und es bedarf wohl nur dieser Erinnerung, um darauf aufmerksam zu machen, dass es schwer erklärlich sein würde, wie, was zuweilen vorkommt, nur einzelne Zellen besondere nutritive Abweichungen zeigen, wenn in der That die Gefässe das allein Bestimmende bei der Ernährung wären. [Illustration: =Fig=. 33. Durchschnitt durch die Rindensubstanz einer künstlich injicirten menschlichen Niere. _a_. Bindegewebskörperchen des Stromas oder des interstitiellen Gewebes, dessen Masse in der Zeichnung etwas zu gross ausgefallen ist. _b_. Tunica propria des Harnkanälchens. _c_, _c_ Capillargefässe. _d_. Das Harnkanälchen mit seinem Epithellager. Vergr. 300. (Nach A. =Beer=, Die Bindesubstanz der menschlichen Niere. Berlin 1859. Fig. 3.)] So einfach, wie in der Leber und in der Niere, gestalten sich aber die Verhältnisse in den meisten anderen Theilen nicht; gewöhnlich liegen ziemlich bedeutende Zwischenräume zwischen den einzelnen Gefässen, und nicht unbeträchtliche Mengen von Elementen sind in jeder einzelnen Capillar-Masche enthalten. Ja, in demselben Organe sind diese Verhältnisse sehr verschieden, je nachdem die Function der einzelnen Theile einen rascheren Wechsel der Stoffe erfordert. Nirgends tritt dies so auffällig hervor, als im =Gehirn=. Hier ist die Gefässverbreitung in der weissen Substanz, die hauptsächlich Nervenfasern enthält, ziemlich spärlich, während sie in der grauen Substanz, welche die Ganglienzellen führt, überaus reichlich ist. Das eine hier abgebildete Object (Fig. 34) zeigt eine künstliche Injection der Rinde des Kleinhirns, das zweite (Fig. 35) die natürliche Gefässfülle in dem sehr rothen Corpus striatum eines Geisteskranken, der unter einer starken Hyperämie des Gehirns gestorben war. Der Schnitt ist quer durch das Corpus striatum gelegt, und man erkennt von Strecke zu Strecke grössere, bei durchfallendem Lichte dunkel erscheinende Stellen, rundliche Flecke (Fig. 35, _a_, _a_, _a_), die bei auffallendem Lichte und für das blosse Auge weiss aussehen und Querdurchschnitte jener Bündel von Nervenfasern darstellen, welche in langen Zügen gegen das Rückenmark hinziehen. Gefässe treten in diese Bündel fast gar nicht ein. Die übrige Masse dagegen besteht aus der eigentlichen grauen Substanz des Corpus striatum; innerhalb derselben verbreitet sich ein sehr feinmaschiges Gefässnetz, wie denn überhaupt die graue Substanz der Nervencentren sich sowohl im Innern, als an der Rinde durch ihren grossen Gefässreichthum vor der weissen Substanz auszeichnet. In dem Object sieht man einzelne grössere Gefässe, von welchen Aeste ausgehen, die sich immer feiner verzweigen, bis sie endlich in ganz feinmaschige Capillarnetze übergehen. Allein so eng dieses Netz in der grauen Substanz auch sein mag, so stösst doch keinesweges jedes einzelne Element der Hirnsubstanz unmittelbar an ein Capillargefäss. [Illustration: =Fig=. 34. Künstliche Injection der Rinde des menschlichen Kleinhirns, _a a_. Weisse Substanz der Arbor vitae, _g g_. graue Substanz, _s s_. Sulci zwischen den Gyri, in welche die Arterien mit der Pia mater eintreten und von da Aeste in die Hirnsubstanz senden, welche in der grauen Substanz ein ganz feines Netz bilden, zum Theil aber in grösseren Stämmen zur weissen Substanz durchtreten, wo sie sehr spärliche Netze bilden. Nach einer Injection des Herrn =Gerlach=. Ganz schwache Vergrösserung.] [Illustration: =Fig=. 35. Natürliche Injection des Corpus striatum eines Geisteskranken. _a a_. Gefässlose Lücken, entsprechend den Zügen von Nervenfasern, welche das Ganglion durchsetzen. Vergröss. 80.] Gleichmässiger ist die Gefässvertheilung an der =Muskelhaut des Magens=: hier bilden die Gefässe ziemlich regelmässige, unter einander durch Queranastomosen in Verbindung stehende Netze, von denen aus sich immer kleinere Gefässe verästeln, die zuletzt feinste Netze bilden, so dass dadurch das Ganze in eine Reihe von unregelmässig viereckigen Abtheilungen zerlegt wird. Auf jeden letzten Zwischenraum fällt eine grössere Zahl von Muskelelementen, so dass die Gefässe an einigen Stellen die Muskelfasern berühren, an anderen Stellen entfernter davon liegen. [Illustration: =Fig=. 36. Injectionspräparat von der Muskelhaut des Magens eines Kaninchens, 11 mal vergrössert.] [Illustration: =Fig=. 37. Durchschnitt des Calcaneus-Knorpels vom Neugebornen. _C_. der Knorpel, dessen Zellen durch feine Punkte angedeutet sind. _P_. Perichondrium und anstossendes Fasergewebe. _a_. die Ansatzzelle am Knochen, mit den von der Arteria nutritia aufsteigenden Gefässschlingen. _b b_. Gefässe, die durch das Perichondrium gegen den Knorpel andringen. Vergröss. 11.] Verfolgt man in dieser Weise die Einrichtung der verschiedenen Organe und Gewebe, so kommt man von solchen, welche nach der Injection fast nur aus Gefässen zu bestehen scheinen, mit der Zeit zu denjenigen, welche fast gar keine Gefässe enthalten und endlich zu solchen, welche wirklich keine mehr führen. Dieses Verhältniss trifft man am meisten ausgesprochen in den Epithelialformationen, welche auch da, wo sie am mächtigsten ausgebildet sind, keine Gefässe besitzen; nächstdem in den Geweben der Bindesubstanz, und hier wieder am reinsten am Knorpel, weniger rein am Knochengewebe. Der entwickelte normale Knorpel hat überhaupt gar keine Gefässe; der entwickelte Knochen enthält allerdings Gefässe, aber in einem sehr wechselnden Maasse und zum Theil recht spärlich. Dass der entwickelte =Knorpel= keine Gefässe enthält, davon gibt fast jedes Knorpelpräparat Zeugniss (Fig. 9, 14, 23). Eine fast beständige Ausnahme davon macht der wachsende Knorpel, der sich zur Verknöcherung anschickt, gleichviel ob im physiologischen oder pathologischen Wege. Besonders interessant ist das Verhältniss an jungem, wachsendem Knorpel. Fig. 37 zeigt einen Schnitt aus dem Caleaneus eines neugebornen Kindes, wo von der schon gebildeten centralen Knochenmasse, dem sogenannten Knochenkern aus Gefässe in den noch sehr reichlichen peripherischen Knorpel hineingehen. Das Präparat zeigt an seiner äussersten Oberfläche die Uebergänge zu dem Perichondrium, während der untere Theil des Schnittes bis nahe an die Grenze des schon gebildeten Knochenkerns reicht. Von hier aus steigen grosse Gefässe auf, welche von der Arteria nutritia herstammen; sie endigen mitten im Knorpel, indem sie Schlingen und Netze bilden und gleichsam Zottenbäume inmitten des Knorpels darstellen, welche sehr ähnlich sind den Chorion-Zotten am Ei. In der That wachsen von der Arteria nutritia her die Gefässe in den Knorpel hinein, aber nur bis zu einer gewissen Höhe. Hier lösen sie sich in wirkliche Schlingen oder in ein feines Netzwerk von Capillaren auf, aus dem sich Venen zusammensetzen, die in derselben Richtung, in welcher die Arterien herkamen, zurückgehen. Die ganze übrige Masse besteht aus gefässlosem Knorpel, dessen Körperchen bei schwacher Vergrösserung als feine Punkte erscheinen. Es liegt also ein ganzes Heer von Knorpelkörperchen zwischen den letzten Schlingen und der äusseren Oberfläche, die meisten sehr entfernt von den äussersten Gefässenden. Diese ganze Lage ist in ihrer Ernährung allerdings abhängig von dem Safte, der aus den Endschlingen austritt, zum Theil auch von den Stoffen, welche die spärlichen Gefässe des Perichondriums zuführen, jedoch nicht so, dass jedes Körperchen eine besondere Beziehung zu einzelnen Gefässen oder Gefässtheilen hätte. Die von der Arteria nutritia stammenden Gefässe bezeichnen an allen Knorpeln schon ziemlich frühzeitig ungefähr die Grenze, bis zu welcher späterhin die Ossification fortschreiten wird, während derjenige Theil, welcher als Knorpelrest am Gelenk liegen bleibt, niemals Gefässe enthält. [Illustration: =Fig=. 38. Knochenschliff aus der compacten Rindensubstanz eines Os femoris. _P P_. die dem Periost zugewendete Oberfläche, an welcher parallele Züge von Knochenkörperchen liegen, _v v_. grössere Gefässe, die aus dem Periost in den Knochen eindringen und sich bald verästeln, _v_' _v_' kleinere Gefässe derselben Art. Alle dunklen Züge und Flecke bezeichnen angeschliffene Gefässkanäle. Sie sind von parallelen und concentrischen Lagen von Knochenkörperchen begleitet. Vergröss. 120.] Was die =Knochen= selbst anbetrifft, so ist bei ihnen das Gefäss-Verhältniss ein ziemlich einfaches, aber auch zugleich ein sehr charakteristisches. Wenn man die äussere Oberfläche der Knochenrinde betrachtet, so sieht man schon mit dem blossen Auge kleine Löcher (Poren). Es sind dies die Oeffnungen von Kanälen, durch welche Gefässe aus dem Periost in die Knochenrinde eintreten. Bei einer mässigen Vergrösserung erkennt man, dass diese Kanäle (Fig. 38, _v_, _v_') alsbald unter der Oberfläche sich verästeln. So entsteht ein System unter einander anastomosirender Röhren, die zuweilen mehr schräg nach Innen gehen, aber im Wesentlichen eine Längsrichtung einhalten. Zwischen diesen Maschen bleiben verhältnissmässig breite Zwischenräume, welche von dem eigentlichen Knochengewebe erfüllt sind. In dem letzteren liegen die Knochenkörperchen, grade so, wie in dem vorigen Beispiele die Knorpelkörperchen, und zwar im Allgemeinen in Reihen parallel den Gefässen. Nur die am meisten peripherischen Lagen der Rinde zeigen Knochenkörperchen, welche der Oberfläche parallel sind und deren Längsrichtung an langen Knochen (Röhrenknochen) der Längsaxe entspricht. Untersucht man dagegen Querschnitte, so bekommt man natürlich an den Stellen, wo vorher Längskanäle zu sehen waren, einfache runde Löcher, Durchschnitte (Fig. 39, _a_) zu Gesicht, hier und da durch eine schräge Verbindung vereinigt. Zwischen ihnen befindet sich die eigentliche Tela ossea mit den Knochenkörperchen, in lamellösen Schichten gelagert, und zwar concentrisch um die Gefässe. Im Allgemeinen kann man daher sagen, dass die compakte Substanz der Knochen durchweg aus einer Zusammenordnung paralleler Lagen von Knochengewebe besteht, welche zu mehreren die einzelnen Gefässe umgeben. Nur da, wo diese Systeme von concentrischen Lamellen endigen, gewissermaassen in den Räumen, welche zwischen diesen Systemen übrig bleiben, findet sich eine geringe Masse von Knochengewebe (Fig. 39, _i_), welche nicht dieselbe Anordnung zeigt, sondern sich mehr unabhängig verhält; bei genauer Analyse zeigt sich, dass sie aus kleinen Säulen gebildet ist, welche meist senkrecht auf der Längsaxe des Knochens stehen und in eine Art von Bogen übergehen, die der Längsaxe parallel sind. Dies sind die Ueberreste der bei dem Dickenwachsthum des Knochens zuerst gebildeten, also ältesten Balken der Tela ossea. [Illustration: =Fig=. 39. Knochenschliff, _a_ querdurchschnittener Mark- (Gefäss-) Kanal, um welchen die concentrischen Lamellen _l_ mit Knochenkörperchen und anastomosirenden Knochenkanälchen liegen. _r_ längsdurchschnittene, parallele Lamellen. _i_ unregelmässige Lagerung in den ältesten Knochenschichten, _v_ Gefässkanal. Vergröss. 280.] Da man meistentheils in den Kanal-Durchschnitten, die man in Schliffen des Knochens gewinnt, die Gefässe selbst nicht mehr erkennt, so nannte man die Höhlungen (Fig. 38, _v_, _v_'; 39, _a_, _v_), in denen die Gefässe verlaufen, Markkanäle, insofern uneigentlich, als in diesen engen Kanälen meist kein Mark enthalten ist; man sollte eigentlich sagen: Gefässkanäle, doch ist jener Ausdruck so allgemein angenommen, dass man ihn auch da gebraucht, wo die Gefässwand sich unmittelbar an die innere Oberfläche der Höhlung anlegt. Häufig bezeichnet man die Kanäle auch nach ihrem Entdecker =Havers=. Im nächsten Umfange dieser Kanäle liegt stets eine Reihe von eigenthümlichen Gebilden: längliche oder rundliche, bei durchfallendem Lichte gewöhnlich schwarz erscheinende Körper, die mit Zacken oder Ausläufern versehen sind. Man nannte sie Knochenkörperchen (Fig. 24) und ihre Ausläufer Knochenkanälchen (Canaliculi ossei). =Johannes Müller=, welcher die Ansicht hegte, dass die Kalksubstanz in ihnen abgelagert sei und das dunklere Aussehen, welches sie bei durchfallendem Lichte darzubieten pflegen, eben von ihrem Kalkgehalte herrühre, bezeichnete die Kanälchen als Canaliculi chalicophori, ein Name, der heut zu Tage ganz gestrichen ist, weil man sich überzeugt hat, dass der Kalk gerade in ihnen nicht, sondern überall in der homogenen Grundsubstanz enthalten ist, welche zwischen ihnen liegt. [Illustration: =Fig=. 40. Knochenschliff (Längsschnitt) aus der Rinde einer sklerotischen Tibia. _a a_ Mark- (Gefäss-) Kanäle, zwischen ihnen die grossentheils parallel, bei _b_ concentrisch (Querschnitt) geordneten Knochenkörperchen. Vergr. 80.] Als man erkannte, dass der Absatz des Kalkes in dem Knochengewebe gerade umgekehrt, wie man geglaubt hatte, stattfindet, so ging man alsbald in das andere Extrem über, indem man den Namen der Knochenkörperchen durch den der Knochenlücken (Lacunen) ersetzte und annahm, der Knochen enthalte nur eine Reihe von leeren Höhlen und Kanälen, in welche allenfalls Flüssigkeit oder Gas gelange, welche aber eigentlich doch nur Spalten des Knochens darstellten. Einzelne nannten sie auch geradezu Knochenspältchen (=Bruch=). Ich habe mich bemüht, auf verschiedene Weise den Nachweis zu führen, dass es wirkliche Körperchen sind und nicht bloss Höhlen in einem Grundgewebe, mit einem Wort, dass es Gebilde sind, mit besonderen Wandungen und eigenen Grenzen versehen, welche sich aus der Grundsubstanz auslösen lassen. Durch chemische Einwirkung, insbesondere durch Maceration in concentrirter Salz- oder Salpetersäure, kann man es dahin bringen, dass die Grundsubstanz sich auflöst und die Körperchen frei werden. Dadurch ist wohl am sichersten der Nachweis geliefert, dass es körperliche, wirklich für sich bestehende Gebilde sind. Ueberdies erkennt man in ihnen Kerne, und, auch ohne auf die Entwickelungsgeschichte einzugehen, findet man, dass man es auch hier wieder mit zelligen Elementen sternförmiger Art zu thun hat. Die Zusammensetzung des Knochens ergiebt demnach ein Gewebe, welches in einer scheinbar ganz homogenen, verkalkten Grundmasse (Intercellularsubstanz) sehr regelmässig vertheilt die eigentlichen, sternförmigen Knochenzellen enthält. Die Entfernung zwischen je zwei Knochengefässen ist oft sehr bedeutend; ganze Lamellensysteme schieben sich zwischen die Markkanäle ein, mit zahlreichen Knochenkörperchen durchsetzt. Hier ist es gewiss schwierig, sich die Ernährung eines so complicirten Apparates als abhängig von der Thätigkeit der zum Theil so weit entfernten Gefässe zu denken, namentlich sich vorzustellen, wie jedes einzelne Körperchen in dieser grossen Zusammensetzung immer noch in einem Specialverhältniss der Ernährung zu den Gefässen stehen soll. Ueberdies lehrt die Erfahrung, dass wirklich jedes einzelne Knochenkörperchen für sich ein besonderes Ernährungs-Verhältniss besitzt. -- Ich habe diese Einzelheiten vorgeführt, um die lange Stufenleiter zu zeigen, die von =den gefässreichen und den gefässhaltigen zu den gefässarmen und den gefässlosen= Theilen stattfindet. Will man eine einfache und zugleich befriedigende Anschauung der Ernährungs-Verhältnisse haben, so glaube ich es als logische Forderung aufstellen zu müssen, dass Alles, was von der Ernährung der gefässreichen Theile ausgesagt wird, auch für die gefässarmen und für die gefässlosen Gültigkeit haben muss, und dass, wenn man die Ernährung der einzelnen Theile in eine direkte Abhängigkeit von den Gefässen oder dem Blute stellt, man wenigstens darthun muss, dass alle Elemente, welche in nächster Beziehung zu einem und demselben Gefässe stehen, welche also in ihrer Ernährung auf ein einziges Gefäss angewiesen sind, auch wesentlich gleichartige Lebensverhältnisse darbieten. In dem Falle vom Knochen müsste jedes System von Lamellen, welches nur ein Gefäss für seine Ernährung hat, auch immer gleichartige Zustände der Ernährung darbieten. Denn wenn das Gefäss oder das Blut, welches in demselben circulirt, das Thätige bei der Ernährung ist, so könnte man höchstens zulassen, dass ein Theil der Elemente, nehmlich der zunächst an den Gefässkanal anstossende, ihrer Einwirkung mehr, ein anderer, nehmlich der entferntere, weniger ausgesetzt sei; im Wesentlichen müssten sie aber doch eine gemeinschaftliche und gleichartige, höchstens quantitativ verschiedene Einwirkung erfahren. Dass dies keine unbillige Anforderung ist, dass man eine gewisse Abhängigkeit bestimmter Gewebs-Territorien von bestimmten Gefässen allerdings zugestehen muss, davon haben wir die schönsten Beispiele in der Lehre von den Metastasen, namentlich in dem Studium der Veränderungen, welche durch die Verschliessung einzelner Capillargefässe zu Stande kommen, wie wir sie aus der Geschichte der Capillar-Embolie kennen. In solchen Fällen sehen wir in der That, dass ein ganzes Gewebsstück, so weit es in einer unmittelbaren Beziehung zu einem Gefässe steht, auch in seinen pathologischen Verhältnissen ein Ganzes vorstellt, =ein vasculäres Territorium, eine Gefässeinheit=. Allein diese Gefässeinheit erscheint vor einer feineren Auffassung immer noch als ein Vielfaches, als eine mehr oder weniger grosse Summe von Ernährungseinheiten (Zellenterritorien) und es genügt nicht, den Körper etwa in lauter Gefässterritorien zu zerlegen, sondern man muss noch innerhalb derselben weiter auf die Zellenterritorien zurückgehen. In dieser Auffassung ist es, wie ich glaube, ein wesentlicher Fortschritt gewesen, dass durch meine Untersuchungen innerhalb der Gewebe der Bindesubstanz, wie ich früher hervorgehoben habe (S. 48), ein besonderes System anastomosirender Elemente nachgewiesen ist, und dass wir auf diese Weise anstatt der Vasa serosa, welche sich die Früheren für diese nächsten Zwecke der Ernährung zu den Capillaren hinzudachten, eine thatsächliche Ergänzung bekommen haben, durch welche die Möglichkeit von Saftströmungen an Orten gegeben ist, die an sich arm an Gefässen sind. Wenn wir beim =Knochen= stehen bleiben, so wären Vasa serosa eine nicht zu rechtfertigende Annahme. Die harte Grundsubstanz ist durch und durch ganz gleichmässig mit Kalksalzen erfüllt, so gleichmässig, dass man gar keine Grenze zwischen den einzelnen Kalktheilchen wahrnimmt. Wenn Einzelne angenommen haben, dass man kleine Körner daran unterscheiden könne, so ist dies ein Irrthum. Das Einzige, was man in der Grundsubstanz sieht, sind die Canaliculi, welche zuletzt alle zurückführen auf die Körper der Knochenzellen (Knochenkörperchen), und welche ihrerseits wieder verästelt sind. Die inneren Enden dieser Aeste, dieser kleinen Fortsätze reichen unmittelbar bis an die Oberfläche des Gefässkanals (Markkanals). Sie setzen also unmittelbar da ein, wo die Gefässmembran anliegt (Fig. 41), denn man kann sie deutlich auf der Wand des Kanals als kleine Löcherchen wahrnehmen. Da nun die verschiedenen Knochenkörperchen wieder unter sich in offener Verbindung stehen, so ist dadurch die Möglichkeit gegeben, dass eine gewisse Quantität von Saft, welcher an der inneren Fläche des Gefässkanals aufgenommen ist, durch die ganze Gewebsmasse hindurch dringt, nicht diffus, sondern innerhalb dieser feinen prädestinirten und continuirlichen Wege, welche der Injection vom Gefässe aus nicht mehr zugänglich sind. Eine Zeitlang hat man geglaubt dass die Kanälchen vom Gefässe aus zu injiciren seien, allein dies ist nur vom leeren (macerirten) Gefäss- oder Markkanal aus möglich. [Illustration: =Fig=. 41. Schliff aus einem neugebildeten Knochen der Arachnoides cerebralis, der übrigens ganz normale Verhältnisse des Baues zeigt. Man sieht einen verästelten Gefäss- (Mark-) Kanal mit den in ihn einmündenden und zu den Knochenkörperchen führenden Knochenkanälchen. Vergröss. 350.] Es ist dies ein ganz ähnliches Verhältniss, wie am =Zahn=, wo man von der leeren Zahnhöhle aus die Zahnkanälchen oder Zahnröhrchen (Fig. 42) injiciren kann. Spritzt man Carminlösung in eine leere Zahnhöhle, so sieht man die Zahnkanälchen zahlreich neben einander als nahezu parallel, nur wenig strahlig auseinander gehende Röhren zu der Oberfläche aufsteigen. Die Zahnsubstanz bildet eben auch eine breite Lage von gefässloser Substanz. Gefässe finden sich nur in der Markhöhle des Zahns; von da nach aussen haben wir weiter nichts, als die eigentliche Zahnsubstauz (Dentin) mit ihrem Röhrensystem, welches an der Krone bis nahe an den Schmelz (Fig. 42, _S_) reicht, an der Zahnwurzel dagegen unmittelbar übergeht in eine Lage von wirklicher Knochensubstanz (Cement). Hier sitzen die Knochenkörperchen am Ende dieser Röhren auf. Eine ähnliche Einrichtung für die Saftströmung, wie vom Marke der Knochen, geht hier von der Zahnpulpe aus; der Ernährungssaft kann durch Röhren bis zum Schmelz und zum Cement geleitet werden. [Illustration: =Fig=. 42. Zahnschliff von der Krone. _a_ äussere Oberfläche des Zahns, _i_ innere Grenze gegen die Markhöhle hin. _S_ Schmelz, _D_ Dentin. Vergr. 150.] Diese Art von Röhrensystemen, die im Knochen und Zahn in einer so ausgesprochenen Weise sich findet, ist in den weichen Gebilden mit einer ungleich geringeren Klarheit zu erkennen. Das ist wohl der hauptsächliche Grund gewesen, weshalb die Analogie, welche zwischen den weichen Geweben der Bindesubstanz und den harten der Knochen besteht, nicht recht zur Anschauung gelangt ist. Am deutlichsten sieht man solche Einrichtungen an Punkten, die eine mehr knorpelige Beschaffenheit haben, namentlich im Faserknorpel. Aber es ist noch viel mehr bezeichnend, dass wir von dem Knorpel eine Reihe von Uebergängen zu anderen Geweben der Bindesubstanz finden, in welchen sich stets dasselbe Verhältniss wiederholt. Zuerst Theile, die chemisch noch zum Knorpel gehören, z. B. die Hornhaut, welche beim Kochen Chondrin gibt, obgleich sie Niemand als wirklichen Knorpel ansieht. Viel auffälliger ist die Einrichtung bei solchen Theilen, bei denen die äussere Erscheinung für Knorpel spricht, ohne dass die chemischen Eigenschaften übereinstimmen, z. B. bei den Cartilagines semilunares im Kniegelenk, jenen Bandscheiben zwischen Femur und Tibia, welche die Gelenkknorpel vor zu starken Berührungen schützen. Diese Theile, welche bis vor Kurzem allgemein als Knorpel beschrieben wurden, geben beim Kochen nicht Chondrin, sondern Leim. In diesem harten Bindegewebe treffen wir, wie in der Hornhaut und dem Faserknorpel, dasselbe System von anastomosirenden Elementen mit einer ungewöhnlichen Schärfe und Klarheit. Gefässe fehlen darin fast gänzlich; dagegen enthalten diese Bandscheiben ein Röhrensystem von seltener Schönheit. Auf dem Durchschnitte sieht man, dass das Ganze sich zunächst zerlegt in grosse Abschnitte, ganz ähnlich wie eine Sehne; diese zerfallen wieder in kleinere, und die kleinen endlich sind durchsetzt von einem feinen, sternförmigen System von Röhren, oder wenn man will, von Zellen, insofern der Begriff einer Röhre und der einer Zelle hier zusammenfallen. Die Zellennetze, welche das Röhrensystem bilden, gehen nach aussen hin in die Grenzlager der einzelnen Abschnitte über, und hier sehen wir nebeneinander beträchtliche Anhäufungen von Spindelzellen. Auch in den Bandscheiben hängt dieses Netz von Röhrchen nur äusserlich zusammen mit dem Circulationsapparat: Alles, was in das Innere des Gewebes gelangen soll, muss auf grossen Umwegen ein Kanalsystem mit zahlreichen Anastomosen passiren, und die innere Ernährung ist ganz und gar abhängig von dieser Art der Leitung. Die Bandscheiben sind Gebilde von beträchtlichem Umfange und grosser Dichtigkeit; und da hier alle Ernährung auf das letzte feine System von Zellen zurückzuführen ist, so haben wir es noch viel mehr, als beim Knorpel, mit einer Art der Saftzufuhr zu thun, welche nicht mehr direkt von den Gefässen bestimmt werden kann. [Illustration: =Fig=. 43. Durchschnitt aus der halbmondförmigen Bandscheibe (Cartilago semilunaris) des Kniegelenks vom Kinde. _a_. Faserzüge mit spindelförmigen, parallel liegenden und anastomosirenden Zellen (Längsschnitt). _b_. Netzzellen mit breiten verzweigten und anastomosirenden Kanälchen (Querschnitt). Mit Essigsäure behandelt. Vergr. 350.] Für das Verständniss der Abbildung (Fig. 43) füge ich noch hinzu, dass die letzten Elemente der Bandscheiben als sehr kleine Zellkörper erscheinen, die in lange, feine Fäden ausgehen, welche sich verästeln. Durchschnitte dieser Fäden stellen sich als kleine Punkte mit einem hellen Centrum dar. Alle Fäden lassen sich mit grosser Bestimmtheit bis an gemeinschaftliche Zellkörper verfolgen, ganz wie im Knochen. Es sind feinste Röhren, die in innigem Zusammenhang unter einander stehen, nur dass sie sich an gewissen Punkten zu grösseren Haufen sammeln, durch welche die Hauptleitung erfolgt, und dass die Zwischensubstanz in keinem Falle Kalk aufnimmt, sondern stets ihre Bindegewebsnatur beibehält. Sechstes Capitel. Weiteres über Ernährung und Saftleitung. Sehnen, Hornhaut, Nabelstrang. Weiches Bindegewebe (Zellgewebe). Elastisches Gewebe. Strukturlose Häute: Tunicae propriae, Cuticula. Elastische Membranen: Sarkolemm. Lederhaut (Derma). Papillarkörper: vasculäre Bezirke. Unterhaut (subcutanes, subseröses, submucöses Gewebe). Tunica dartos. Das feinere Kanalsystem des Bindegewebes: Körperchen, Lacunen. Bedeutung der Zellen für die Specialvertheilung der Ernährungssäfte innerhalb der Gewebe. Vegetativer Charakter der Ernährung. Elective Eigenschaften der Zellen. Die Bandscheiben, wie wir sie in der am meisten ausgesprochenen Form im Kniegelenke an den sogenannten Semilunar-Knorpeln, die eben keine Knorpel sind, kennen gelernt haben, besitzen eigentlich die Eigenschaften platter Sehnen. Die einzelnen Structurverhältnisse, die wir in ihnen gefunden haben, wiederholen sich im Querschnitte der =Sehnen=. Betrachten wir daher zunächst diese oft so vernachlässigten Gebilde. Ich wähle dazu eine Reihe von Objecten aus der Achilles-Sehne sowohl des Erwachsenen, als des Kindes, welche verschiedene Entwickelungs-Stadien zeigen. Es ist dies überdem eine Sehne, die manche Bedeutung für operative Zwecke hat, die also schon aus praktischen Gründen wohl einen kleinen Aufenthalt entschuldigt. An der Oberfläche einer Sehne sieht man bekanntlich mit blossem Auge eine Reihe von parallelen weisslichen Streifen ziemlich dicht der Länge nach verlaufen, welche das atlasglänzende Aussehen bedingen. Bei mikroskopischer Betrachtung erscheinen die Streifen natürlich mehr getrennt: die Sehne sieht deutlich fasciculirt aus. Noch viel deutlicher ist dies auf einem Querschnitte, wo man schon mit blossem Auge eine Reihe von kleineren und grösseren Abtheilungen (Bündeln, Fascikeln) wahrnimmt. Vergrössert man das Object, so zeigt sich eine innere Einrichtung, welche fast ganz derjenigen entspricht, welche bei den Semilunar-Knorpeln geschildert ist. Am äusseren Umfange der Sehne liegt ringsumher eine faserige Masse, eine Art von lockerer =Scheide=, in der die Gefässe enthalten sind, welche die Sehne ernähren. Die grösseren Gefässe bilden in der Scheide ein Geflecht, welches die Sehne äusserlich umspinnt. Aus diesem Geflechte treten an einzelnen Stellen mit Fortsetzungen der Scheide Gefässe in das Innere, indem sie sich in den Zwischenlagen oder Scheiden der Fascikel (Fig. 44 _a_, _b_) verästeln. In das Innere der Fascikel selbst geht dagegen ebensowenig etwas von Gefässen hinein, als in das Innere der Bandscheiben; hier finden wir vielmehr wieder das mehrfach besprochene Zellennetz, oder anders ausgedrückt, das eigenthümliche saftführende Kanalsystem, dessen Bedeutung wir beim Knochen kennen gelernt haben. [Illustration: =Fig=. 44. Querschnitt aus der Achilles-Sehne eines Erwachsenen. Von der Sehnenscheide aus sieht man bei _a_, _b_ und _c_ Scheidewände nach innen laufen, welche maschenförmig zusammenhängen und die primären und secundären Fascikel abgrenzen. Die grösseren (_a_ und _b_) pflegen Gefässe zu führen die kleineren (_c_) nicht mehr. Innerhalb der secundären Fascikel sieht man das feine Maschennetz der Sehnenkörperchen (Netzzellen) oder das intermediäre Saftkanalsystem. -- Vergröss. 80.] [Illustration: =Fig=. 45. Querschnitt aus dem Innern der Achilles-Sehne eines Neugebornen. _a_ die Zwischenmasse, welche die secundären Fascikel scheidet (entsprechend Fig. 44, _c_), ganz und gar aus dichtgedrängten Spindelzellen bestehend. Mit diesen in direkter Anastomose sieht man seitlich bei _b_, _b_ netz- und spindelförmige Zellen in das Innere der Fascikel verlaufen. Die Zellen sind deutlich kernhaltig. Vergröss. 300.] Man kann demnach die Sehne zunächst in eine Reihe von grösseren (primären) Bündeln zerlegen, diese aber wieder in eine gewisse Summe von kleineren (secundären) Fascikeln theilen. Sowohl jene, als diese sind durch Züge einer faserigen, Gefässe und Faserzellen enthaltenden Bindesubstanz getrennt, so dass der Querschnitt der Sehne ein maschiges Aussehen darbietet. Von diesem interstitiellen oder interfasciculären Gewebe, das sich von der eigenthümlichen Sehnensubstanz nur durch seine Lockerheit, sowie durch die dichtere Anhäufung zelliger Elemente und durch die Anwesenheit der Gefässe unterscheidet, beginnt ein zusammenhängendes Netz sternförmiger Elemente (=Sehnenkörperchen=), welche in das Innere der Fascikel hineingehen, unter sich anastomosiren und die Verbindung zwischen den äusseren gefässhaltigen und den inneren gefässlosen Theilen der Fascikel herstellen. Dies Verhältniss ist in einer kindlichen Sehne sehr viel deutlicher, als in einer erwachsenen. Je älter nehmlich die Theile werden, um so länger und feiner werden im Allgemeinen die Ausläufer der Zellen, so dass man an vielen Schnitten die eigentlichen Zellenkörper gar nicht trifft, sondern nur feine, in Fäden zu verfolgende Punkte oder punktförmige Oeffnungen erblickt. Die einzelnen Zellkörper rücken also mit fortschreitendem Wachsthum weiter auseinander und es wird immer schwieriger, die Zellen in ihrer ganzen Ausdehnung mit ihren Fortsätzen auf einmal zu übersehen. Auch muss man sich erst über das Verhältniss von Längs- und Querschnitt in's Klare setzen, um die vorkommenden Bilder richtig zu verstehen. Wo nehmlich auf einem Längsschnitte spindelförmige Elemente liegen, da treffen wir auf einem Querschnitte sternförmige, und umgekehrt entspricht dem Zellennetze des Querschnittes die regelmässige Abwechselung von reihenweise gestellten spindelförmigen Elementen des Längsschnittes ganz nach dem Schema, wie wir es für das Bindegewebe überhaupt aufgestellt haben. Die Elemente sind also auch hier nur scheinbar einfach spindelförmig, wenn man einen reinen Längsschnitt betrachtet: ist dieser etwas schräg gefallen, so sieht man die seitlichen Ausläufer, durch welche die Zellen einer Reihe mit denen der anderen communiciren. [Illustration: =Fig=. 46. Längsschnitt aus dem Innern der Achilles-Sehne eines Neugebornen. _a_, _a_, _a_ Scheiden (interstitielles Gewebe). _b_, _b_ Fascikel. In beiden sieht man spindelförmige Kernzellen, zum Theil anastomosirend mit leicht längsstreifiger Grundsubstanz, die Zellen in den Scheiden dichter, in den Fascikeln spärlicher, bei _c_ der Durchschnitt eines interstitiellen Blut-Gefässes. Vergr. 250.] Bis jetzt hat man das fortgehende Wachsthum der Sehnen nach der Geburt noch nicht zum Gegenstande einer regelmässigen Untersuchung gemacht, und es ist nicht bekannt, ob dabei noch eine weitere Vermehrung der Zellen stattfindet; so viel ist jedoch sicher, dass die Zellen später sehr lang und die Abstände zwischen den einzelnen Kernstellen ausserordentlich gross werden. Das Structurverhältniss an sich erleidet dadurch jedoch keine Veränderung; die ursprünglichen Zellen erhalten sich, ohne in ihrer Form und ihren Lagerungs-Verhältnissen wesentliche Veränderungen zu erfahren, auch in dem grossen Röhrensystem, welches in der ausgewachsenen Sehne das ganze Gewebe durchzieht. Daraus erklärt sich die Möglichkeit, dass, obwohl die Sehne in ihren innersten Theilen keine Gefässe enthält und, wie man bei jeder Tenotomie sehen kann, nur wenig Blut in den äusseren Gefässen der Sehnenscheide und den inneren Gefässen der Interstitien der grösseren Bündel empfängt, doch eine gleichmässige Ernährung der Theile stattfinden kann. Diese lässt sich in der That nur so denken, dass auf besonderen, von den Gefässen unterscheidbaren Wegen Säfte durch die ganze Substanz der Sehne in regelmässiger Weise vertheilt werden. Nun sind aber die natürlichen Abtheilungen der Sehne fast ganz regelmässig, so dass ungefähr auf jedes einzelne zellige Element eine gleich grosse Menge von Zwischensubstanz kommt, und da die Zellenmaschen des Innern sich direkt in die dichten Zellenbündel der Interstitien und diese bis an die Gefässe verfolgen lassen (Fig. 44, 45), so darf man wohl unzweifelhaft in diesen Zellen die Wege einer intermediären Saftströmung sehen, welche nicht mehr durch freie Ostien mit den Wegen der allgemeinen Blutströmung zusammenhängen. Es ist dies ein neues Beispiel für meine Ansicht von den Zellenterritorien. Ich zerlege die ganze Sehne, abgesehen von primären und secundären Fascikeln, in eine gewisse Zahl von Reihen linear und maschenförmig verbundener Zellen; jeder Reihe rechne ich ein gewisses Gewebsgebiet zu, so dass z. B. auf einem Längsschnitte etwa die Hälfte der Zwischenmasse der einen, die andere Hälfte derselben der anderen Zellenreihe zugehören würde. Das, was man als die eigentlichen Bündel der Sehne betrachtet, wird hier also noch weiter zerspalten, indem die Sehne in eine grosse Zahl von besonderen Ernährungs-Territorien auseinander gelegt wird. Ein solches Verhältniss finden wir überall bei den Geweben dieser Gruppe wieder. Aus ihm leitet sich, wie man sich durch direkte Anschauung überzeugen kann, zugleich die Grösse der Krankheitsgebiete ab: =jede Krankheit, welche wesentlich auf einer nutritiven Störung der inneren Gewebs-Einrichtung beruht, stellt immer eine Summe aus den Einzelveränderungen solcher Territorien dar=. Die Bilder, welche man bei diesen Untersuchungen gewinnt, gewähren durch die Zierlichkeit der inneren Anordnung zugleich einen wirklich ästhetischen Genuss, und ich kann nicht leugnen, dass, so oft ich einen Sehnenschnitt ansehe, ich mit immer erneutem Wohlgefallen diese netzförmigen Einrichtungen betrachte, welche in so zweckmässiger Weise die Verbindung des Aeusseren mit dem Inneren herstellen, und welche, ausser in dem Knochen, kaum in irgend einem anderen Gebilde mit so grosser Schärfe und Klarheit sich darlegen lassen, wie in der Sehne. -- Dem Bau und den Einrichtungen nach schliesst sich hier am leichtesten die =Hornhaut= an. Denn in ähnlicher Weise, wie die Sehne ihr peripherisches Gefässsystem hat und ihre inneren Theile durch das feine saftführende Röhrensystem ernährt werden, so reichen auch an der Hornhaut nur die feinsten Gefässe, und auch diese kaum eine Linie weit, über den Rand herüber, so dass nicht bloss der centrale Abschnitt, sondern der grösste Theil der Cornea vollkommen gefässlos ist, was schon wegen der Durchsichtigkeit des Gewebes sich als nothwendig ergibt. Der grösste Theil der Hornhaut ist daher in seinen Ernährungs-Einrichtungen so gestellt, dass er vom Umfange und von den Flächen her Stoffe aufnehmen und leiten kann, ohne dass es dazu direkter Gefässverbindung bedürfte. Die Substanz der Hornhaut besteht nach der älteren Ansicht aus über einander geschichteten Lamellen (Platten oder Blättern), welche mehr oder weniger parallel durch die ganze Ausdehnung der Hornhaut gehen. Eine genauere Untersuchung zeigt jedoch, dass die Lamellen, wie beim Knochen, nicht vollkommen getrennt sind, dass vielmehr die einzelnen Gewebs-Schichten, welche allerdings im Grossen lamellös über einander gelagert sind, unter einander vielfach zusammenhängen; sie liegen nicht in irgend welcher Art lose oder fest auf einander, sondern sie haben unter sich direkte Verbindungen. Es ist daher die Cornea vielmehr als eine überall zusammenhängende Masse anzusehen, deren fast homogene Grundsubstanz in gewissen Richtungen oder Zügen unterbrochen wird durch zellige Elemente (=Hornhautkörperchen=), ganz in derselben Weise, wie dies bei den anderen verwandten Geweben, welche wir schon besprochen haben, gesehen wird. Ein Verticalschnitt zeigt uns spindelförmige Elemente, welche unter einander anastomosiren, zugleich aber auch seitliche Ausläufer haben. Betrachtet man sie von der Fläche, im Horizontalschnitte, so erweisen sie sich als vielstrahlige, sternförmige, aber sehr platte Zellen, den Knochenkörperchen vergleichbar. [Illustration: =Fig=. 47. Senkrechter Durchschnitt der Hornhaut des Ochsen, um die Gestalt und Anastomose der Hornhautzellen (Körperchen) zu zeigen. Hie und da sieht man durchschnittene, als Fasern oder Punkte erscheinende Zellenfortsätze. Vergr. 500. Nach His Würzb. Verhandl. IV. Taf. IV. Fig. I.] Indem nun diese Zellen in regelmässiger Weise, nehmlich in mehrfachen, parallelen Ebenen, in die Grundsubstanz eingelagert sind, so entsteht eben jene lamellöse, blätterige oder plattenartige Beschaffenheit des ganzen Gewebes. Die Blätter der Hornhaut sind die Analoga der Bündel der Sehne. -- [Illustration: =Fig=. 48. Flächenschnitt der Hornhaut, parallel der Oberfläche; die sternförmigen, platten Körperchen mit ihren anastomosirenden Fortsätzen. Nach =His=, ebendas. Fig. II.] Ich schliesse ein anderes Gewebe hier an, das sonst in der Histologie nicht besonders bevorzugt ist, das aber gewiss kein geringes Interesse hat, nehmlich das =Schleimgewebe=. Wir finden dasselbe in besonders reichlicher Anhäufung in dem Nabelstrang, wo es die sogenannte =Wharton='sche Sulze darstellt[23]. Diese gehört auch zu den Geweben, welche allerdings Gefässe führen, aber doch eigentlich keine Gefässe besitzen. Denn die Gefässe, welche durch den Nabelstrang hindurchgeleitet werden, sind nicht Ernährungsgefässe für die Nabelstrangsubstanz, wenigstens nicht in dem Sinne, wie wir von Ernährungsgefässen an anderen Theilen sprechen. [23] =Thom=. =Wharton= (Adenographia. Amstelod. 1659. pag. 233) sagt sehr charakteristisch: Lymphaeductus vel gelatina, quae eorum vices gerit, alterum succum albumini ovorum similiorem abducit (a placenta) ad funiculum umbilicalem. =Wenn man nehmlich von nutritiven Gefässen spricht, so meint man damit stets solche Gefässe, welche in die Theile, die ernährt werden sollen, Capillaren senden=. Die Aorta thoracica ist nicht das nutritive Gefäss des Thorax, eben so wenig als die Aorta abdominalis oder die Vena cava das für den Bauch. Man sollte also, wenn es sich um den Nabelstrang handelt, erwarten, dass ausser den beiden Nabel-Arterien und der Nabel-Vene noch Nabelstrang-Capillaren existiren. Allein Arterien und Vene verlaufen, ohne auch nur das Mindeste von Aesten abzugeben, vom Nabel bis zur Placenta hin; erst hier beginnen die Verästelungen. Die einzigen capillaren Gefässe, die überhaupt in dem Nabelstrange eines etwas entwickelten Fötus gefunden werden, reichen nur etwa 4-5 Linien, selten ein wenig mehr von der Bauchhaut aus in denjenigen Theil des Nabelstranges hinein, welcher nach der Geburt persistirt. Je nachdem dieser gefässhaltige Theil höher oder niedriger heraufreicht, wird auch der spätere Nabel verschieden entwickelt. Bei sehr niedriger Gefässschicht wird der Nabel sehr tief, bei sehr grosser gibt es einen prominirenden Nabel. Die Capillaren bezeichnen die Grenze, bis zu welcher das permanente Gewebe reicht; die Portio caduca des Nabelstranges hat keine eigenen Gefässe mehr. [Illustration: =Fig=. 49. Das abdominale Ende des Nabelstranges eines fast ausgetragenen Kindes, injicirt. _A_ die Bauchwand. _B_ der persistirende Theil mit dichter Gefäss-Injection am Rande. _C_ Portio caduca mit den Windungen der Nabelgefässe. _v_ die Capillargrenze.] Dieses Verhältniss, welches mir für die Theorie der Ernährung sehr wichtig zu sein scheint, übersieht man sehr leicht mit blossem Auge an injicirten Früchten vom fünften Monate an, sowie an Neugebornen. Die gefässhaltige Schicht setzt sich zuweilen fast geradlinig ab. Freilich ist ein solches Object nicht absolut beweisend, denn es könnten immerhin einzelne feine Gefässe noch weiter gehen, welche nicht mit blossem Auge erkennbar wären. Aber ich habe gerade diesen Punkt zum Gegenstande einer speziellen Untersuchung gemacht[24], und obwohl ich eine Reihe von menschlichen Nabelsträngen bald von den Arterien, bald von den Venen aus injicirt habe, so ist es mir doch nie gelungen, auch nur das kleinste collaterale Gefäss zu sehen, welches über die Grenze der Portio persistens hinausging. Der ganze hinfällige Theil des Nabelstranges, das lange Stück, welches zwischen dem cutanen Ansatz und der Placentar-Auflösung liegt, ist vollständig capillarlos, und es ist in ihm nichts weiter von Gefässen vorhanden, als die drei grossen Stämme. Diese zeichnen sich aber sämmtlich durch sehr dicke Wandungen aus, welche, wie wir erst durch =Kölliker='s Untersuchung wissen, ausserordentlich reich an glatten Muskelfasern sind. [24] Archiv f. path. Anatomie und Physiol. 1851. III. 459. [Illustration: =Fig=. 50. Querdurchschnitt durch einen Theil des Nabelstranges. Links sieht man den Durchschnitt einer Nabelarterie mit sehr starker Muskelhaut, daran schliesst sich das allmählich immer weiter werdende Zellennetz des Schleimgewebes. Vergr. 80.] Auf einem Querschnitte durch den Nabelstrang bemerkt man, wie die dicke mittlere Haut der Gefässe ganz und gar aus diesen Muskelfasern besteht, eine unmittelbar an der anderen, so reichlich, wie es sonst kaum an irgend einem vollständig entwickelten Gefässe gefunden wird. Diese Eigenthümlichkeit erklärt die auffallend grosse Contractilität der Nabelgefässe, welche bei Einwirkung mechanischer Reize, beim Abschneiden mit der Scheere, beim Kneifen oder auf elektrische Reize im Grossen so leicht in Wirkung tritt. Zuweilen verengern sich die Gefässe auf äussere Reize selbst bis zum Verschlusse ihres Lumens, so dass nach der Geburt auch ohne Ligatur, z. B. nach Abreissen des Nabelstranges, die Blutung von selbst stehen kann. Die Dicke der Wandungen dieser Gefässe ist daher leicht begreiflich, denn zu der an sich so dicken Muscularis kommt noch eine innere und eine, wenn auch nicht gerade sehr stark entwickelte, äussere Haut; daran erst schliesst sich das sulzige Gallert-Gewebe (=Schleimgewebe=). Durch diese Lagen hindurch würde also die Ernährung geschehen müssen. Ich kann nun allerdings nicht mit Sicherheit sagen, von wo aus das Gewebe des Nabelstranges sich ernährt; vielleicht nimmt es aus dem Liquor Amnios Ernährungsstoffe auf; auch will ich nicht in Abrede stellen, dass durch die Wand der Gefässe Ernährungsstoffe hindurchtreten mögen, oder dass sich von den kleinen Capillaren des persistirenden Theils aus nutritives Material fortbewegt. Aber in jedem Falle liegt eine grosse Masse des Gewebes fern von allen Gefässen und von der Oberfläche; sie ernährt und erhält sich, ohne dass eine feinere Circulation von Blut in ihr vorhanden ist. Man hat nun allerdings lange Zeit hindurch sich mit diesem Gewebe nicht weiter beschäftigt, weil man es mit dem Namen der Sulze (Gallerte) belegte und es damit überhaupt aus der Reihe der Gewebe in die vieldeutige Gruppe der blossen Anhäufungen oder Ausschwitzungen von organischer Masse warf. Ich habe erst gezeigt[25], dass es wirklich ein gut gebildetes Gewebe von typischer Einrichtung ist, und dass dasjenige, was im engeren Sinne die Sulze darstellt, der ausdrückbare Theil der Intercellularsubstanz ist, nach dessen Entfernung ein leicht faseriges Gewebe zurück bleibt, welches ein feines, anastomotisches Netz von zelligen Elementen in derselben Weise enthält, wie wir es eben an der Sehne und an anderen Theilen kennen gelernt haben. Ein Durchschnitt durch die äusseren Schichten des Nabelstranges zeigt eine Bildung, welche viel Aehnlichkeit mit dem Habitus der äusseren Haut hat: ein Epidermoidal-Stratum, darunter eine etwas dichtere cutisartige Lage, dann die =Wharton=sche Sulze, welche der Textur nach dem Unterhautgewebe entspricht und eine Art von Tela subcutanea darstellt. Dies hat insofern für die Deutung einiger Gewebe der späteren Zeit ein besonderes Interesse, als die Sulze des Nabelstranges dadurch ihre nächste Verwandtschaft documentirt mit dem Panniculus adiposus, der aus ursprünglichem Schleimgewebe hervorgeht, sowie mit dem =Glaskörper=, welcher der einzige Gewebs-Rest ist, der, soweit ich bis jetzt ermitteln konnte[26], beim Menschen während des ganzen Lebens in dem Zustande einer zitternden Gallerte oder Sulze verharrt. Er ist der letzte Rest des embryonalen Unterhautgewebes, welches bei der Entwickelung des Auges mit der Linse (der früheren Epidermis, S. 36) von aussen eingestülpt wird. [25] Würzb. Verhandl. 1851. II. 160. [26] Würzb. Verhandl. II. 317. Archiv f. path. Anat. IV. 486. V. 278. Die Haupt-Masse des Nabelstranges besteht aus einem maschigen Gewebe, dessen Maschenräume Schleim (Mucin) und einzelne rundliche Zellen enthalten und dessen Balken aus einer streifig-faserigen Substanz bestehen. Innerhalb dieser letzteren liegen sternförmige Elemente. Stellt man durch Behandlung mit Essigsäure ein gutes Präparat her, so bekommt man ein regelrechtes Netz von Zellen zu Gesicht, welches die Masse in so regelmässige Abtheilungen zerlegt, dass durch die Anastomosen, welche diese Zellen durch den ganzen Nabelstrang haben, eben auch eine gleichmässige Vertheilung der Säfte durch die ganze Substanz möglich wird. -- [Illustration: =Fig=. 51. Querdurchschnitt vom Schleimgewebe des Nabelstranges, das Maschennetz der sternförmigen Körper nach Behandlung mit Essigsäure und Glycerin darstellend. Vergr. 300.] Ich habe bis jetzt eine Reihe von Geweben vorgeführt, die alle darin übereinkamen, dass sie entweder sehr wenig Capillargefässe oder gar keine besitzen. In allen diesen Fällen erscheint der Schluss sehr einfach, dass die besondere zellige Kanal-Einrichtung, welche sie besitzen, für die Saftströmung diene. Man könnte aber, zumal wenn man das Schleimgewebe nicht anerkennt, meinen, es sei dies eine Ausnahms-Eigenschaft, die nur den gefässlosen oder gefässarmen, im Allgemeinen harten Theilen zukäme, und ich muss daher noch ein Paar Worte über die Weichtheile hinzufügen, welche einen ähnlichen Bau haben. Alle Gewebe, welche wir bisher betrachtet haben, gehören nach der Classification, welche ich im Eingange gegeben habe, in die Reihe der Bindesubstanzen: der Faser-Knorpel, das fibröse oder Sehnengewebe, das Schleim-, Knochen- und Zahngewebe müssen sämmtlich derselben Klasse zugerechnet werden. In dieselbe Kategorie gehört aber auch die ganze Masse dessen, was man gewöhnlich unter dem Namen des eigentlichen =Zellgewebes= begriffen hat und worauf zumeist der von =Joh=. =Müller=[27] vorgeschlagene Name des =Bindegewebes= passt; jene Substanz, welche die Zwischenräume der verschiedenen Organe in bald mehr, bald weniger grosser Menge erfüllt, welche die Verschiebung der Theile gegen einander ermöglicht, und von der man sich früher dachte, dass sie grössere oder kleinere, mit einem gasförmigen Dunst (Halitus serosus) oder Feuchtigkeit gefüllte Räume (Zellen im groben Sinne, Areolen) enthielte (S. 40). [27] =Müller=, Handb. der Physiol. I. 2. 1834. S. 410: »Das Zellgewebe, welches durch seine Eigenschaft, andere Gewebe mit einander zu vereinigen, auch Bindegewebe genannt werden könnte.« An den meisten Orten liegen darin zahlreiche Arterien, Venen und Capillaren, und die Einrichtung für die Ernährung ist die allergünstigste von der Welt. Trotzdem besteht auch hier neben den Blutgefässen überall eine feinere Einrichtung der Ernährungswege genau in derselben Art, wie wir sie eben kennen gelernt haben, nur dass, je nach dem besonderen Bedürfnisse, an einzelnen Theilen eine eigenthümliche Veränderung der Zellen stattfindet, indem nach und nach an die Stelle der einfachen Zellennetze und Zellenfasern eine compactere Bildung tritt, welche durch eine direkte Umwandlung daraus hervorgeht, das sogenannte =elastische Gewebe=. [Illustration: =Fig=. 52. Elastische Netze und Fasern aus dem Unterhautgewebe vom Bauche einer Frau. _a_, _a_ grosse, elastische Körper (Zellkörper) mit zahlreichen anastomosirenden Ausläufern. _b_, _b_ dichte elastische Faserzüge, an der Grenze grösserer Maschenräume. _c_, _c_ mittelstarke Fasern, am Ende spiralig retrahirt. _d_, _d_ feinere elastische Fasern, bei _e_ feinspiralig zurückgezogen. Vergr. 300.] Wenige Monate, nachdem ich meine ersten Beobachtungen über die Zellen und Röhrensysteme der Bindesubstanzen mitgetheilt hatte, veröffentlichte =Donders= seine Beobachtungen über die Umbildung der Bindegewebszellen in elastische Elemente, -- eine Erfahrung, welche für die Vervollständigung der Geschichte des Bindegewebes von grosser Bedeutung geworden ist. Wenn man nehmlich an solchen Punkten untersucht, wo das Bindegewebe grossen Dehnungen ausgesetzt ist, wo es also eine grosse Widerstandsfähigkeit besitzen muss, so findet man in derselben Anordnung und Verbreitung, welche sonst die Zellen und Zellenröhren des Bindegewebes darbieten, elastische Fasern, und man kann nach und nach die Umbildung der einen in die anderen so verfolgen, dass es nicht zweifelhaft bleibt, dass nicht bloss die feineren (=Henle='s sogenannte Kernfasern, Fig. 20 und 22), sondern auch die gröberen elastischen Fasern direkt durch eine chemische Veränderung und Verdichtung der Wand von Bindegewebskörperchen hervorgehen. Da, wo ursprünglich eine einfache, mit langen Fortsätzen versehene Zelle lag, da sehen wir nach und nach die Membran nach innen hin an Dicke zunehmen und das Licht stärker brechen, während der eigentliche Zelleninhalt sich immer mehr reducirt und endlich verschwindet. Das ganze Gebilde wird dabei gleichmässiger, gewissermaassen sklerotisch und erlangt gegen Reagentien eine unglaubliche Widerstandsfähigkeit, so dass nur die stärksten Caustica nach längerer Einwirkung dasselbe zu zerstören im Stande sind, während es den kaustischen Alkalien und Säuren in der bei mikroskopischen Untersuchungen gebräuchlichen Concentration vollkommen widersteht. Je weiter diese Umwandlung fortschreitet, um so mehr nimmt die Elasticität der Theile zu, und wir finden in den Schnitten diese Fasern gewöhnlich nicht gerade oder gestreckt, sondern gewunden, aufgerollt, spiralig gedreht oder kleine Zikzaks bildend (Fig. 52, _c_, _e_). Dies sind die Elemente, welche vermöge ihrer grossen Elasticität Retractionen derjenigen Theile bedingen, an welchen sie in grösserer Masse vorkommen, z. B. der Arterien, der elastischen Bänder. Man unterscheidet gewöhnlich feine elastische Fasern, welche eben die grosse Verschiebbarkeit besitzen, von den breiteren, welche keine gewundenen Formen annehmen. Der Entstehung nach scheint indess zwischen beiden Arten kein Unterschied zu sein; meiner Meinung nach gehen beide aus Bindegewebszellen hervor und die spätere Anordnung wiederholt die ursprüngliche Anlage. An die Stelle eines Gewebes, welches aus Grundsubstanz und einem maschigen, anastomosirenden Zellengewebe besteht, tritt nachher ein Gewebe, dessen Grundsubstanz durch grosse elastische Maschennetze mit höchst compacten und derben Fasern abgetheilt wird. Ich will damit jedoch keineswegs behauptet haben, dass alle Dinge, welche man gelegentlich elastische Fasern nennt, auf dieselbe Weise entstehen. Im Netzknorpel wird die Intercellularsubstanz von sehr starken, rauhen Fasern durchsetzt, welche die gewöhnlich runden Zellen umziehen, aber weder einen Zusammenhang mit ihnen haben, noch aus ihnen hervorgehen. Manche neuere Beobachter sind der Meinung, dass in ähnlicher Weise auch die elastischen Fasern des Bindegewebes Producte der Intercellularsubstanz seien. Dieses scheint mir unrichtig zu sein. Allerdings verdichtet sich auch die Intercellularsubstanz des Bindegewebes an gewissen Orten zu einer homogenen, glasartigen, =strukturlosen Membran= von ganz ähnlichem Aussehen, wie die elastischen Fasern. Dahin gehören namentlich die sogenannten =Tunicae propriae= der Drüsenkanäle, z. B. der Niere, der Schweissdrüsen, für welche die englische Terminologie den Namen der Basement membranes eingeführt hat. Dahin scheint auch das Sarkolemm der Muskelprimitivbündel zu zählen zu sein, welches allerdings den Eindruck einer Zellmembran macht, welches aber erst im Laufe der späteren Entwickelung mehr hervortritt und gelegentlich z. B. in den Trichinen-Kapseln eine kolossale Dicke erreicht. Manche dieser Bildungen hat man, nach Analogie der Chitinhäute niederer Thiere, als eine Ausscheidung der Zellen, als sogenannte =Cuticulae= aufgefasst, indess passt diese Bezeichnung nur für solche Häute, welche nach aussen von den Zellen liegen, nicht für solche, welche, wie die Tunicae propriae der Drüsenkanäle, nach innen von denselben sich befinden. Wenn ich daher für die elastischen Membranen eine Ableitung derselben aus der Intercellularsubstanz zulasse, so halte ich doch daran fest, dass die eigentlichen elastischen Fasern aus den Zellkörpern des Bindegewebes entstehen. Bis jetzt ist nicht mit Sicherheit ermittelt, ob die Verdichtung (Sklerose) der Zellen bei dieser Umwandlung so weit fortgeht, dass ihre Leitungsfähigkeit völlig aufgehoben, ihr Lumen ganz beseitigt wird, oder ob im Innern eine kleine Höhlung übrig bleibt. Auf Querschnitten feiner elastischer Fasern sieht es so aus, als ob das Letztere der Fall sei, und man könnte sich daher vorstellen, dass bei der Umbildung der Bindegewebskörperchen in elastische Fasern eben nur eine Verdichtung und Verdickung mit gleichzeitiger chemischer Umwandlung an ihren äusseren Theilen stattfände, schliesslich jedoch ein Minimum des Zellenraumes übrig bliebe. Was für eine Substanz es ist, welche die elastischen Theile bildet, ist nicht ermittelt, weil sie absolut unlöslich ist; man kennt von der chemischen Natur dieses Gewebes nichts, als einen Theil seiner Zersetzungs-Produkte. Daraus lässt sich aber weder seine Zusammensetzung, noch seine chemische Stellung zu den übrigen Geweben beurtheilen. Elastische Fasern finden sich überaus verbreitet in der äusseren Haut (=Cutis=), namentlich in den tieferen Schichten der eigentlichen Lederhaut; sie bedingen hauptsächlich die ausserordentliche Resistenz dieses Theiles, die sich auch nach dem Tode erhält und von der die Güte der Schuhsohlen und anderer, starker Abnutzung ausgesetzter, aus Leder gefertigter Geräthe abhängt. Die verschiedene Festigkeit der einzelnen Schichten der Haut beruht wesentlich auf ihrem grösseren oder geringeren Gehalt an elastischen Fasern. Den oberflächlichsten Theil der Cutis dicht unter dem Rete Malpighii bildet der Papillarkörper, worunter man nicht nur die Papillen selbst, sondern auch eine Lage von flach fortlaufender Cutissubstanz mit kleinen Bindegewebskörperchen zu verstehen hat. In die Papillen selbst steigen nur feine elastische Fasern und zwar in Bündelform auf. In der Basis der Papillen erscheinen dann zuerst feine und enge Maschennetze (Fig. 17, _P_, _P_), welche nach der Tiefe zu mit dem sehr dicken und groben elastischen Netz zusammenhängen, welches den mittleren, am meisten festen Theil der Haut, die eigentliche =Lederhaut= (Derma) durchsetzt. Darunter folgt endlich ein noch gröberes Maschennetz innerhalb der weniger dichten, aber immerhin noch sehr soliden, unteren Schicht der Cutis, welche endlich in das Fett- oder Unterhautgewebe (die =Unterhaut=) übergeht. Wo eine solche Umwandlung der Bindegewebskörperchen in elastisches Gewebe stattgefunden hat, da trifft man manchmal fast gar keine deutlichen Zellen mehr. So ist es nicht bloss an der Cutis, sondern auch namentlich an gewissen Stellen der mittleren Arterienhaut, namentlich der Aorta. Hier wird das Netz von elastischen Fasern so überwiegend, dass es nur bei grosser Sorgfalt möglich ist, hier und da feine zellige Elemente dazwischen zu entdecken. In der Cutis dagegen findet man neben den elastischen Fasern eine etwas grössere Menge von kleinen Elementen, die ihre zellige Natur noch erhalten haben, allerdings in äusserst minutiöser Grösse, so dass man danach besonders suchen muss. Sie liegen gewöhnlich in den Räumen, welche von den grossmaschigen Netzen der elastischen Fasern umgrenzt werden; sie bilden hier entweder ein vollkommen anastomotisches, kleinmaschiges System, oder sie erscheinen auch wohl als mehr gesonderte, rundlich-ovale Gebilde, indem die einzelnen Zellen nicht deutlich mit einander in Verbindung stehen. Dies ist namentlich in dem Papillarkörper der Haut der Fall, der sowohl in seiner ebenen Schicht, als in den Papillen zahlreiche kernhaltige Zellen führt, im geraden Gegensatze zu der zugleich mehr gefässarmen eigentlichen Lederhaut. Es bedarf der Papillarkörper einer ungleich zahlreicheren Menge von Gefässen, da diese zugleich das Ernährungsmaterial für das ganze, über der Papille liegende und für sich gefässlose Oberhautstratum liefern müssen. Trotz der verhältnissmässigen Grösse dieser Gefässe bleibt doch nur eine kleine Menge Ernährungssaft der Papille als solcher zur Disposition. Jeder Papille entspricht daher ein gewisser Abschnitt der darüber liegenden Oberhaut, welcher mit der Papille zusammen einen einzigen =vasculären oder Ernährungsbezirk= darstellt. Innerhalb dieses Bezirkes zerfällt sowohl die Oberhaut, als auch die Papille als solche wieder in so viele Elementar- (histologische) Territorien, als überhaupt Elemente (Zellen) darin vorhanden sind. [Illustration: =Fig=. 53. Injectionspräparat von der Haut, senkrechter Durchschnitt. _E_ Epidermis, _R_ Rete Malpighii, _P_ die Hautpapillen mit den auf- und absteigenden Gefässen (Schlingen). _C_ Cutis. Vergr. 11.] Die =Unterhaut= (tela subcutanea) besteht an den meisten Stellen des Körpers keineswegs, wie man noch jetzt so häufig hört, aus Zellgewebe, sondern aus Fettgewebe (panniculus adiposus). Sie verhält sich in dieser Beziehung ganz ähnlich, wie an sehr vielen Orten das =subseröse= Gewebe, welches gleichfalls eine vorwiegende Neigung zur Fettabsetzung erkennen lässt. Die subpericardialen, subpleuralen, subperitonäalen, subsynovialen Schichten sind bei gut genährten Personen mehr oder weniger vollständig aus Fettgewebe gebildet. Wesentlich verschieden verhält sich das =submucöse= Gewebe, welches wohl gelegentlich wahres Fettgewebe ist, jedoch meist aus loserem Bindegewebe, seltener aus Schleimgewebe besteht. Ihnen am nächsten steht unter den subcutanen Lagern die Unterhaut des Scrotum (=Tunica dartos=), welche überdies noch dadurch ein besonderes Interesse darbietet, dass sie ausnehmend reich an Gefässen und Nerven ist, ganz entsprechend der besonderen Bedeutung dieses Theiles, und dass sie ausserdem eine grosse Masse von organischen Muskeln und zwar von jenen kleinen Hautmuskeln besitzt, die ich früher erwähnt habe (S. 58). Letztere sind die eigentlich wirksamen Elemente der contractilen Tunica dartos. Gerade hier, wo man früher auf contractiles Zellgewebe zurückgegangen war, ist die Menge der kleinen Hautmuskeln überaus reichlich; die kräftigen Runzelungen des Hodensackes entstehen einzig und allein durch die Contraction dieser feinen Bündel, welche man namentlich nach Carminfärbung sehr leicht von dem Bindegewebe unterscheiden kann. Es sind Fascikel von ziemlich gleicher Breite, meist breiter, als die Bindegewebsbündel; die einzelnen Elemente sind in ihnen in Form von langen glatten Faserzellen zusammengeordnet. Jedes Muskel-Fascikel zeigt, wenn man es mit Essigsäure behandelt, in regelmässigen Abständen jene eigenthümlichen, langen, häufig stäbchenartigen Kerne der glatten Muskulatur, und zwischen denselben eine streifige Abtheilung nach den einzelnen Zellen, deren Inhalt ein leicht körniges Aussehen hat. Das sind die Runzler des Hodensackes (=Corrugatores scroti=). Daneben finden sich in der überaus weichen Haut auch noch eine gewisse Zahl von feinen elastischen Elementen und in grösserer Menge das gewöhnliche weiche, lockige Bindegewebe mit einer grossen Zahl verhältnissmässig umfangreicher, spindel- und netzförmiger, schwach granulirter Kernzellen. [Illustration: =Fig=. 54. Schnitt aus der Tunica dartos des Scrotums. Man sieht nebeneinander parallel eine Arterie (_a_), eine Vene (_v_) und einen Nerven (_n_); erstere beide mit kleinen Aesten. Rechts und links davon organische Muskelbündel (_m_, _m_) und dazwischen weiches Bindegewebe (_c_, _c_) mit grossen anastomosirenden Zellen und feinen elastischen Fasern. Vergr. 300.] Das weiche Bindegewebe verhält sich daher, abgesehen von den in dasselbe eingelagerten, dem Bindegewebe als solchem nicht angehörigen Theilen (Gefässen, Nerven, Muskeln, Drüsen), wie das harte: überall ein Netz verzweigter und unter einander anastomosirender Zellen in einer, grossen Schwankungen der Consistenz und der inneren Zusammensetzung unterworfenen Grundsubstanz. Um jedoch die grosse Verschiedenheit der Ansichten, die noch immer über diesen schwierigen Gegenstand besteht, nicht zu verschweigen, so wollen wir hier erwähnen, dass eine grosse Zahl auch der neuesten Beobachter nicht bloss die zellige, sondern sogar die körperliche Natur der von mir beschriebenen Bindegewebszellen oder Bindegewebskörperchen, sowie aller der ihnen aequivalenten Gebilde (Knochen-, Hornhaut-, Sehnen-Körperchen) geradezu in Abrede stellt, und an die Stelle derselben blosse Zwischenräume, Aushöhlungen oder Lücken (Lacunen) setzt, welche sich zwischen den Bündeln oder Lamellen des Gewebes an den Punkten finden sollen, wo die Bündel oder Lamellen nicht vollständig mit einander in Berührung kommen. Die Erfahrung, dass die Bindegewebsmassen, welche an die Oberfläche treten, an verschiedenen Orten mit einer derberen, mehr homogenen, zuweilen elastischen oder glasartigen Haut oder Schicht (Tunica propria S. 134) bedeckt sind, ist zu Hülfe genommen worden, um zu erklären, dass auch jene Zwischenräume, Aushöhlungen oder Lücken von wirklichen Membranen umgrenzt sein könnten, ohne dass diese Membranen einem Zellkörper zugehörten. Selbst der Umstand, dass ich auf verschiedene Weise sowohl aus dem Binde- und Schleimgewebe, als auch aus Knochen und anderen Hartgebilden verästelte Körper isolirt habe, eine Erfahrung, welche durch zahlreiche andere Untersucher, wie =Fel=. =Hoppe=, =His=, =Kölliker=, H. =Müller=, =Leydig=, v. =Hessling=, A. =Förster= bestätigt ist, hat den Kritikern nicht genügt; man hat dagegen erklärt, dass auch eine blosse Lücke, die von Membranen umgrenzt sei, sich durch Auflösen der umliegenden Substanz isoliren lasse. Man übersah dabei, dass aus frischen Geweben die Isolations-Methode nicht bloss Membranen, sondern wirkliche Körper mit solidem Inhalt liefert. Solche Widersprüche lassen sich durch blosse Debatten und Reden überhaupt nicht zum Schweigen bringen. Hier kann nur die eigene Erfahrung genügen, sobald sie mit philosophischem Sinne, mit genauer Berücksichtigung der Histogenie und in möglich grösster Ausdehnung über das gesammte Gebiet der thierischen Organisation ausgeführt wird. Sicherlich gibt es Bindegewebslager und Bindegewebsbündel, deren oberflächlichste Schicht durch spätere Differenzirung eine hautartige Verdichtung erfahren hat, und welche also eine Art von Hülle oder Scheide besitzen, aber eben so sicher ist es, dass dies keine allgemein-gültige Erfahrung ist, und dass, selbst wenn sie allgemein wäre und wenn sie auch für die inneren Einrichtungen des weichen und harten Bindegewebes, der Knochen und Sehnen Gültigkeit hätte, daraus doch weiter nichts folgen würde, als dass auch die Bindegewebs-, Knochen- und Sehnenkörperchen sich, wie die Knorpelkörperchen, mit einer besondern =Kapselmembran= umgeben könnten. Nachdem selbst so hartnäckige Opponenten, wie =Henle=, zugestanden haben, dass im Innern jener sogenannten Lücken sehr häufig Kerne, Inhalt (Protoplasma), ja wirkliche Zellen zu finden seien, so bewegt sich der Streit nur noch um die Formel, nicht mehr um die Thatsachen. Meiner Anschauung genügt das Zugeständniss, dass in diesen Geweben, namentlich im Bindegewebe, verzweigte und zusammenhängende Röhrchen und Canälchen existiren, welche sich an gewissen Knotenpunkten zu grösseren Lacunen sammeln, und dass diese Röhrchen, Canälchen und Lacunen von zelligen Theilen erfüllt sind, welche sowohl bei der ersten Anlage des Gewebes vorhanden sind, als sich durch das ganze Leben des Individuums erhalten können[28]. [28] Archiv f. path. Anat. u. Phys. XVI. 1. Diese persistirenden Zellen des Bindegewebes hat man früher völlig übersehen, indem man als die eigentlichen Elemente des Bindegewebes die Fibrillen desselben betrachtete. Wie wir schon früher (S. 41) gesehen haben, so liegen diese Fibrillen in der Regel in Bündeln zusammen. Trennt man die einzelnen Theile des Bindegewebes von einander, so erscheinen kleine Bündel von welliger Form und streifigem, fibrillärem Aussehen. Die Vorstellung von =Reichert=, dass dieses Aussehen nur durch Faltenbildung bedingt würde, darf in der Ausdehnung, wie sie aufgestellt wurde, nicht angenommen werden; man muss vielmehr neben den Fibrillen eine gleichmässige Grundmasse, eine Art von Kittsubstanz zulassen, welche die Fibrillen innerhalb des Bündels zusammenhält. Nach den Untersuchungen von =Rollett= scheint dies nicht selten auch im wahren Bindegewebe Mucin zu sein. Indess ist dies eine Frage von untergeordneter Bedeutung, in so fern es ganz und gar unzulässig ist, die der Intercellularsubstanz angehörenden Fibrillen des Bindegewebes als eigentliche organische Elemente zu betrachten. Dagegen ist es äusserst wichtig, zu wissen, dass überall, wo lockeres Bindegewebe sich findet, in der Unterhaut, im Zwischenmuskel-Gewebe, in den serösen Häuten, dasselbe durchzogen ist von meist anastomosirenden Zellen, welche auf Längsschnitten parallele Reihen, auf Querschnitten Netze bilden und welche in ähnlicher Weise die Bündel des Bindegewebes von einander scheiden, wie die Knochenkörperchen die Lamellen der Knochen, oder wie die Hornhautkörperchen die Blätter der Hornhaut. Neben ihnen finden sich überall die mannichfachsten Gefässverästelungen, und zwar namentlich so viele Capillaren, dass eine besondere Leitungs-Einrichtung des Gewebes selbst geradezu unnöthig erscheinen könnte. Allein dieser Schluss ist nur bei oberflächlicher Betrachtung richtig. Eine genauere Erwägung ergiebt, dass auch diese Gewebe, so günstig ihre Capillarbahnen liegen, einer Einrichtung bedürfen, welche die Möglichkeit darbietet, dass =eine Special-Vertheilung der ernährenden Säfte auf die einzelnen zelligen Bezirke in gleichmässiger und dem jeweiligen Bedürfnisse entsprechender Weise stattfinde=. Erst wenn man die Aufnahme des Ernährungsmaterials als eine Folge der Thätigkeit (Anziehung) der Gewebs-Elemente selbst auffasst, begreift man, dass die einzelnen Bezirke nicht jeden Augenblick der Ueberschwemmung vom Blute aus preisgegeben sind, dass vielmehr das in dem Blute dargebotene Material nur nach dem wirklichen Bedarf in die Theile aufgenommen und den einzelnen Bezirken in verschiedenem Maasse zugeführt wird. So erklärt es sich auch, dass unter normalen Verhältnissen der eine Theil nicht durch die anderen in seinem Bestande wesentlich benachtheiligt wird. Auf diese Weise erscheint die Ernährung in einer unmittelbaren Beziehung zu dem Leben der einzelnen Theile, dessen Fortdauer trotz der durch die Thätigkeit und die Verrichtungen des Theiles eintretenden Veränderungen ja eben nur möglich ist durch eine mit Wechsel der Stoffe verbundene Erhaltung und Ernährung der natürlichen Zusammensetzung. Diese Erhaltung setzt aber ihrerseits bleibende regulatorische Einrichtungen in jedem einzelnen Theile voraus, in der Art, dass der Theil für sich eine bestimmende Einwirkung auf Abgabe und Aufnahme von Stoffen ausübt, in ähnlicher Weise, wie dies auch bei den Theilen der Pflanze stattfindet. Denn der Begriff der =Vegetation= beherrscht dieses ganze Gebiet des thierischen Lebens. Schon die erste Darstellung, welche ich von den Ernährungseinheiten und Krankheitsheerden des menschlichen Körpers gegeben habe[29], stützte sich wesentlich auf den Parallelismus, der durch das ganze Gebiet des Organischen geht, und jede weitere Forschung hat diese Anschauung nur bestärkt. Die einzelne Zelle innerhalb eines Gewebes wird nicht ernährt, sondern =sie ernährt sich=, d. h. sie entnimmt den Ernährungsflüssigkeiten, welche sich in ihrer Umgebung befinden, den für sie erforderlichen Theil. Sowohl quantitativ, als qualitativ ist die Ernährung daher ein Ergebniss der Thätigkeit der Zelle, wobei sie natürlich abhängig ist von Quantität und Qualität des ihr erreichbaren Ernährungsmaterials, aber keineswegs in der Art, dass sie genöthigt wäre, aufzunehmen, was und wie viel ihr zufliesst. Gleichwie die einzelne Zelle eines Pilzes oder einer Alge aus der Flüssigkeit, in der sie lebt, sich so viel und so beschaffenes Material nimmt, als sie für ihre Lebenszwecke braucht, so hat auch die Gewebszelle inmitten eines zusammengesetzten Organismus =elective= Fähigkeiten, vermöge welcher sie gewisse Stoffe verschmäht, andere aufnimmt und in sich verwendet. Das ist die eigentliche Nutrition im cellularen Sinne. [29] Archiv f. path. Anat. u. Physiol. 1852. IV. 375. Siebentes Capitel. Circulation und Blutmischung. Arterien. Ihre Zusammensetzung: Epithel, Intima, Media (Muscularis), Adventitia. Capillaren. Capillare Arterien und Venen. Continuität der Gefässwand. Porosität derselben. Hæmorrhagia per diapedesin. Venen. Gefässe in der Schwangerschaft. Eigenschaften der Gefässwand: 1) Contractilität. Rhythmische Bewegung. Active oder Reizungs-Hyperämie. Ischämie. Gegenreize. Collaterale Fluxion. 2) Elasticität und Bedeutung derselben für die Schnelligkeit und Gleichmässigkeit des Blutstromes. Erweiterung der Gefässe. 3) Permeabilität. Diffusion. Specifische Affinitäten. Verhältniss von Blutzufuhr und Ernährung. Die Drüsensecretion (Leber). Specifische Thätigkeit der Gewebselemente. Dyskrasie. Transitorischer Charakter und localer Ursprung derselben. Säuferdyskrasie. Hämorrhagische Diathese. Syphilis. In den letzten Capiteln habe ich in eingehender Weise versucht, ein Bild von den feineren Einrichtungen für die Saftströmungen innerhalb der Gewebe zu liefern, und zwar namentlich von denjenigen, wo die Säfte selbst sich der Beobachtung mehr entziehen. Wenden wir uns nunmehr zu den gröberen Wegen und den edleren Säften, welche in der gangbaren Anschauung bis jetzt eigentlich allein Berücksichtigung fanden. [Illustration: =Fig=. 55. _A_. Epithel von der Cruralarterie (Archiv f. path. Anat. Bd. III. Fig. 9 und 12. S. 569). _a_ Kerntheilung. _B_. Epithel von grösseren Venen. _a_, _a_ Grössere, granulirte, runde, einkernige Zellen (farblose Blutkörperchen?). _b_, _b_ Längliche und spindelförmige Zellen mit getheiltem Kern und Kernkörperchen. _c_ Grosse, platte Zellen mit zwei Kernen, von denen jeder drei Kernkörperchen besitzt und in Theilung begriffen ist. _d_ Zusammenhängendes Epithel, die Kerne in progressiver Theilung, eine Zelle mit sechs Kernen. Vergr. 320.] Die Vertheilung des Blutes im Körper ist zunächst abhängig von der Vertheilung der Gefässe innerhalb der einzelnen Organe. Indem die Arterien sich in immer feinere Aeste auflösen, ändert sich allmählich auch der Habitus ihrer Wandungen, so dass endlich feine Kanäle mit einer scheinbar so einfachen Wand, wie sie überhaupt im Körper angetroffen wird, sogenannte Haarröhrchen (Capillaren), daraus hervorgehen. Histologisch ist dabei Folgendes zu bemerken: Jede =Arterie= hat verhältnissmässig dicke Wandungen, und selbst an denjenigen Arterien, die man mit blossem Auge eben noch als feinste Fädchen verfolgen kann, unterscheidet man mit Hülfe des Mikroskopes nicht bloss die bekannten drei Häute, sondern noch ausser diesen eine feine Epithelialschicht, welche die innere Oberfläche bekleidet; sie pflegt gewöhnlich nicht als eine besondere Haut bezeichnet zu werden. Die innere und äussere Haut (Intima und Adventitia) sind wesentlich Bindegewebsbildungen, welche in grösseren Arterien einen zunehmenden Gehalt an elastischen Fasern erkennen lassen; zwischen ihnen liegt die verhältnissmässig dicke, mittlere oder Ringfaserhaut, welche als Sitz der Muskulatur fast den wichtigsten Bestandtheil der Arterienwand ausmacht. Die Muskulatur findet sich am reichlichsten in den mittleren und kleineren Arterien, während in den ganz grossen, namentlich in der Aorta, elastische Blätter den überwiegenden Bestandtheil auch der Ringfaserhaut ausmachen. An kleinen Arterien bemerkt man bei mikroskopischer Untersuchung leicht innerhalb dieser mittleren Haut (vergl. Fig. 28 _b_, _b_. Fig. 54 _a_) kleine Quer-Abtheilungen, entsprechend den einzelnen musculösen Faserzellen, welche so dicht um das Gefäss herumliegen, dass wir Faserzelle neben Faserzelle fast ohne irgend eine Unterbrechung finden. Die Dicke dieser Schicht kann man durch die Begrenzung, welche sie nach innen und aussen durch Längsfaserhäute erfährt, bequem erkennen; das einzige Täuschende sind runde Zeichnungen, welche man hie und da in der Dicke der Ringfaserhaut, aber nur am Rande der Gefässe (Fig. 28 _b_, _b_. Fig. 56 _m_, _m_) erblickt, und welche wie eingestreute runde Zellen oder Kerne aussehen. Dies sind die im scheinbaren Querschnitte gesehenen Faserzellen oder deren Kerne. Am deutlichsten aber erkennt man die Lage der Media nach Behandlung mit Essigsäure, welche in der Flächenansicht des Gefässes längliche, quergelagerte Kerne in grosser Zahl hervortreten lässt. [Illustration: =Fig=. 56. Kleinere Arterie aus der Sehnenscheide der Extensoren einer frisch amputirten Hand. _a_, _a_ Adventitia. _m_, _m_ Media mit starker Muskelhaut, _i_, _i_ Intima, theils mit Längsfalten, theils mit Längskernen, an dem Seitenaste aus den durchrissenen äusseren Häuten hervorstehend. Vergr. 300.] Diese Schicht ist es, welche im Allgemeinen der Arterie ihre Besonderheit gibt, und welche sie am deutlichsten unterscheidet von den Venen. Freilich gibt es zahlreiche Venen im Körper, die bedeutende Muskelschichten besitzen, z. B. die oberflächlichen Hautvenen, besonders an den Extremitäten, indess tritt doch bei keiner derselben die Muskelschicht als eine so deutlich abgegrenzte, gleichsam selbständige Haut hervor, wie die Media der Arterien. Bei den kleineren Gefässen beschränkt sich dieses Vorkommen einer deutlich ausgesprochenen Ringfaserhaut wesentlich auf arterielle Gefässe, so dass man sofort geneigt ist, wo man mikroskopisch einen solchen Bau findet, auch die arterielle Natur des Gefässes anzunehmen. Diese auch bei mikroskopischer Betrachtung immer noch grösseren Arterien, die freilich selbst im gefüllten Zustande für das blosse Auge nur als rothe Fäden erscheinen, gehen nach und nach in kleinere über. Bei dreihundertmaliger Vergrösserung sehen wir sie sich in Aeste auflösen, und auch auf diese setzen sich, selbst wenn sie sehr klein (im vulgären Sinne schon capillar) sind, zunächst die drei Häute noch fort, Erst an den kleinsten Aesten verschwindet endlich die Muskelhaut, indem die Abstände zwischen den einzelnen Querfasern immer grösser werden und zugleich immer deutlicher die innere Haut durch sie hindurchscheint, deren längsliegende Kerne sich mit denen der mittleren unter einem rechten Winkel kreuzen (Fig. 28 _D_, _E_). Auch die Adventitia oder äussere Haut lässt sich noch eine Strecke weit verfolgen (an manchen Stellen, wie am Gehirn, häufig durch Einstreuung von Fett oder Pigment deutlicher bezeichnet, Fig. 28 _D_, _E_), bis endlich auch sie sich verliert und nur die einfache Haar-Röhre übrig bleibt (Fig. 4, _c_). Die Vermuthung würde also dafür sprechen, dass die eigentlichen Capillar-Membranen mit der Intima der grösseren Gefässe zu vergleichen wären, indess haben die neueren Erfahrungen (S. 60) vielmehr die Anschauung genährt, dass auch die Intima der Arterien in den Capillaren verschwinde und dass die Epithelialschicht zuletzt allein übrig bleibe. Ich bemerke dabei ausdrücklich, dass die gewöhnliche Sprache der Pathologen und noch mehr die der Aerzte den Ausdruck der Capillaren in einer sehr willkürlichen Weise verwendet, und dass namentlich sehr häufig Gefässe, die mit blossem Auge noch als Linien, Striche oder Netze erkannt werden, Capillaren genannt werden. Dies sind jedoch in der Regel wirkliche Arterien oder Venen: Capillaren im strengen Sinne des Wortes sind makroskopisch unsichtbar. Man mag nun immerhin auch von =capillaren Arterien= und =capillaren Venen= sprechen, indess folgen aus einem solchen Sprachgebrauch leicht grosse Irrthümer, und derselbe ist daher keineswegs empfehlenswerth. Man muss aber wissen, dass selbst in der mikrographischen Sprache bis in die neueste Zeit hinein ähnliche Verwechselungen sehr gewöhnlich waren und dass daraus manche Missverständnisse sich erklären, welche bei einer strengeren Terminologie leicht hätten vermieden werden können. Innerhalb der eigentlich =capillären= Auflösung ist an den Gefässen weiter nichts bemerkbar, als die früher schon erwähnten Kerne, deren Längsausdehnung der Längsaxe des Gefässes entspricht, und welche so in die Gefässwand eingesetzt sind, dass man eine zellige Abtheilung um sie herum ohne besondere chemische Hülfsmittel nicht weiter zu erkennen vermag. Die Gefässhaut erscheint hier ganz gleichmässig, absolut homogen und absolut continuirlich (Fig. 4, _c_). Während man noch vor 20 Jahren darüber discutirte, ob es nicht Gefässe gäbe, welche keine eigentlichen Wandungen hätten und nur Aushöhlungen, Ausgrabungen des Parenchyms[30] der Organe seien, sowie darüber, ob Gefässe dadurch entstehen könnten, dass von den alten Lichtungen aus sich neue Bahnen durch Auseinanderdrängen des benachbarten Parenchyms eröffneten, so ist heut zu Tage kein Zweifel mehr, dass das menschliche Gefässsystem, mit Ausnahme der Milz und der mütterlichen Placenta, überall continuirlich durch Membranen geschlossen ist. An diesen Membranen ist es nicht mehr möglich, eine Porosität zu sehen. Selbst die feinen Poren, welche man in der letzten Zeit an verschiedenen anderen Theilen wahrgenommen, haben bis jetzt an der Gefässhaut kein Analogon gefunden; wenn man von der Porosität der Gefässwand spricht, so kann dies nur in physikalischem Sinne von unsichtbaren, eigentlich molekularen Interstitien oder in grob mechanischem Sinne von wirklichen Continuitätstrennungen geschehen. Eine Collodiumhaut erscheint nicht homogener, nicht continuirlicher, als die Capillarhaut. Eine Reihe von Möglichkeiten, die man früher zuliess, z. B. dass an gewissen Punkten die Continuität der Capillarmembran nicht bestände, fallen einfach weg. Von einer »Transsudation« oder Diapedese des Blutes durch die Gefässhaut, ohne Ruptur oder Hiatus derselben, kann gar nicht weiter die Rede sein. Denn obwohl wir die Rupturstelle oder Spalte nicht in jedem einzelnen Falle anatomisch nachweisen können, so ist es doch ganz undenkbar, dass das Blut mit seinen Körperchen anders, als durch ein Loch in der Gefässwand austreten könne. Dies versteht sich nach histologischen Erfahrungen so sehr von selbst, dass darüber keine Discussion zulässig ist. [30] Um vielfachen, an mich ergangenen Anfragen über die Bedeutung des Wortes Parenchym zu genügen, verweise ich auf =Galenus= de temperamentis Lib. II. cap. 3. viscerum propriam substantiam Erasistratus parenchyma vocat. Nachdem die Capillaren eine Zeit lang fortgegangen sind, so setzen sich nach und nach aus ihnen kleine =Venen= zusammen, welche gewöhnlich in nächster Nähe der Arterien zurücklaufen (Fig. 54, _v_). Nicht ganz selten wird eine Arterie von zwei Venen begleitet, die zu beiden Seiten derselben liegen. An den Venen fehlt im Allgemeinen die charakteristische Ringfaserhaut der Arterien, oder sie ist wenigstens sehr viel weniger ausgebildet. Dafür trifft man in der Media der stärkeren Venen derbere Lagen, die sich nicht so sehr durch die Abwesenheit von Muskel-Elementen, als durch das reichlichere Vorkommen longitudinell verlaufender elastischer Fasern charakterisiren; je nach den verschiedenen Localitäten zeigen sie verschiedene Mächtigkeit. Nach innen folgen dann die weicheren und feineren Bindegewebslagen der Intima, und auf dieser findet sich wieder zuletzt ein plattes, ausserordentlich durchscheinendes Epitheliallager, das am Schnittende sehr leicht aus dem Gefässe hervortritt und oft den Eindruck von Spindelzellen macht, so dass es leicht verwechselt werden kann mit spindelförmigen Muskelzellen (Fig. 57). Die kleinsten Venen besitzen ein ähnliches Epithel, bestehen aber ausserdem eigentlich ganz aus einem mit Längskernen versehenen Bindegewebe (Fig. 54, _v_). [Illustration: =Fig=. 57. Epithel der Nierengefässe. _A_. Flache, längs gefaltete Spindelzellen mit grossen Kernen vom Neugebornen. _B_. Bandartige, fast homogene Epithelplatte mit Längskernen vom Erwachsenen. Vergr. 350.] Diese Verhältnisse erleiden keine wesentliche Aenderung, wenn auch die einzelnen Theile des Gefässapparates die äusserste Vergrösserung erfahren. Am besten sieht man dies bei der =Schwangerschaft=, wo nicht bloss am Uterus, sondern auch an der Scheide, an den Tuben und Eierstöcken, sowie an den Mutterbändern sowohl die grossen und kleinen Arterien und Venen, als auch die Capillaren eine so beträchtliche Erweiterung zeigen, dass das übrige Gewebe, trotzdem dass es sich gleichfalls nicht unerheblich vergrössert, dadurch wesentlich in den Hintergrund gedrängt wird. Indess eignen sich doch gerade Theile des puerperalen Geschlechtsapparates vortrefflich dazu, das Verhältniss der Gewebs-Elemente zu den Gefässbezirken zu übersehen. An den Fimbrien der Tuben sieht man innerhalb der Schlingennetze, welche die sehr weiten Capillaren gegen den Rand hin bilden, immer noch eine grössere Zahl von grossen Bindegewebszellen zerstreut, von denen nur einzelne den Gefässen unmittelbar anliegen. In den Eierstöcken, besonders aber an den Alae vespertilionum findet man ausserdem sehr schön ein Verhältniss, welches sich an den Anhängen des Generations-Apparates öfter wiederholt, ähnlich dem, wie wir es beim Scrotum betrachtet haben (S. 137); die Gefässe werden nehmlich von ziemlich beträchtlichen Zügen glatter Muskeln begleitet, welche nicht ihnen angehören, sondern nur dem Gefässverlaufe folgen und zum Theil die Gefässe in sich aufnehmen. Es ist dies ein äusserst wichtiges Element, insofern die Contractionsverhältnisse jener Ligamente, welche man gewöhnlich nicht als muskulös betrachtet, keinesweges bloss den Blutgefässen zuzuschreiben sind, wie erst neuerlich =James Traer= nachzuweisen gesucht hat; vielmehr gehen reichliche Züge von Muskeln mitten durch die Ligamente fort, welche in Folge davon bei der menstrualen Erregung in gleicher Weise die Möglichkeit zu Zusammenziehungen darbieten, wie wir sie an den äusseren Abschnitten der Geschlechtswege mit so grosser Deutlichkeit wahrnehmen können. An der weiblichen Scheide habe ich im Prolapsus auf mechanische oder psychische Erregungen eben so starke Querrunzelungen auftreten und bei Nachlass derselben wieder verschwinden sehen, wie es am männlichen Scrotum bekannt ist. -- Wenn man nun die Frage aufwirft, welche Bedeutung die einzelnen Elemente der Gefässe in dem Körper haben, so versteht es sich von selbst, dass für die gröberen Vorgänge der Circulation die contractilen Elemente die grösste Bedeutung haben, dass aber auch die elastischen Theile und die einfach permeablen homogenen Häute auf viele Vorgänge einen bestimmenden Einfluss ausüben[31]. Betrachten wir zunächst die Bedeutung der =muskulösen Elemente= und zwar an denjenigen Gefässen, welche hauptsächlich damit versehen sind, an den Arterien. [31] Man vergleiche für die Special-Behandlung der hierher gehörigen Fragen den Abschnitt über die örtlichen Störungen des Kreislaufes in dem von mir herausgegebenen Handbuche der speciellen Pathologie und Therapie. Erlangen, 1854. I. 95 ff. Wenn eine Arterie irgend eine Einwirkung erfährt, welche eine Zusammenziehung ihrer Muskeln hervorruft, so wird natürlich das Gefäss sich verengern müssen, da die contractilen Zellen der Media ringförmig um das Gefäss herumliegen; die Verengerung kann erfahrungsgemäss unter Umständen bis fast zum Verschwinden des Lumens gehen. Die natürliche Folge wird dann sein, dass in den betreffenden Körpertheil weniger Blut gelangt. Wenn also eine Arterie auf irgend eine Weise einem pathologischen Irritans zugänglich, oder wenn sie auf physiologischem Wege excitirt und zur Thätigkeit angeregt wird, so kann diese Thätigkeit nur darin bestehen, dass ihre Lichtung enger und die Blutzufuhr erschwert wird. Man könnte freilich, nachdem man die Muskel-Elemente der Gefässwandungen erkannt hat, den alten Satz wieder aufnehmen, dass die Gefässe, wie das Herz, eine Art von rhythmischer, pulsirender, oder gar peristaltischer Bewegung erzeugten, welche im Stande wäre, die Fortbewegung des Blutes direct zu fördern, so dass eine arterielle Hyperämie durch eine vermehrte selbständige Pulsation (Propulsion) der Gefässe hervorgebracht würde. Es ist allerdings eine einzige Thatsache bekannt, welche eine wirkliche rhythmische Bewegung der Arterienwandungen beweist; =Schiff= hat dieselbe zuerst an dem Ohre der Kaninchen beobachtet. Allein sie entspricht keineswegs dem Rhythmus der bekannten Arterien-Pulsation; ihr einziges Analogen findet sich in den Bewegungen, welche schon früher von =Wharton Jones= an den Venen der Flughäute von Fledermäusen entdeckt worden waren, aber diese gehen in einer äusserst langsamen und ruhigen Weise vor sich. Ich habe diese Erscheinung an Fledermäusen studirt und mich überzeugt, dass der Rhythmus weder mit der Herzbewegung, noch mit der respiratorischen Bewegung zusammenfällt; es ist eine ganz eigenthümliche, verhältnissmässig nicht sehr ausgiebige Contraction, welche in ziemlich langen Pausen, in längeren als die Circulation, in kürzeren als die Respiration, erfolgt[32]. Auch die Zusammenziehungen der Arterien am Kaninchenohr sind ungleich langsamer, als die Herz- und Respirations-Bewegungen. [32] Mein Archiv XXVII. S. 224. Unzweifelhaft sind dies selbständige Pulsationen der Gefässe, aber sie lassen sich nicht in der Weise verwerthen, dass die frühere Ansicht von dem localen Zustandekommen der mit den Herzbewegungen isochronischen Pulsation dadurch gestützt werden könnte. Die Beobachtung ergiebt vielmehr, dass die Muskulatur eines Gefässes auf jeden Reiz, der sie in Action setzt, sich zusammenzieht, dass aber diese Zusammenziehung sich nicht in peristaltischer Weise fortpflanzt, sondern sich auf die gereizte Stelle beschränkt, höchstens sich ein wenig nach beiden Seiten darüber hinaus erstreckt, und an dieser Stelle eine gewisse Zeit lang anhält. Je muskulöser das Gefäss und je direkter der Reiz ist, um so dauerhafter und ergiebiger wird die Contraction, um so stärker die Hemmung, welche die Strömung des Blutes dadurch erfährt. Je kleiner die Gefässe sind, je mehr vorübergehend der Reiz war, um so schneller sieht man dagegen auf die Contraction eine Erweiterung folgen, welche aber nicht wiederum von einer Contraction gefolgt ist, wie es für das Zustandekommen einer Pulsation nothwendig wäre, sondern welche mehr oder weniger lange fortbesteht. Diese Erweiterung ist nicht eine active, sondern eine passive, hervorgebracht durch den Druck des Blutes auf die (durch die erste Contraction) ermüdete, weniger Widerstand leistende Gefässwand. Untersucht man nun die Erscheinungen, welche man gewöhnlich unter dem Namen der =activen Hyperämien oder Congestionen= zusammenfasst[33], so kann kein Zweifel darüber sein, dass die Muskulatur der Arterien wesentlich dabei betheiligt ist. Sehr gewöhnlich handelt es sich dabei um Vorgänge, wo die Gefässmuskeln gereizt wurden, wo aber der Contraction alsbald ein Zustand der Relaxation folgt, wie er in gleich ausgesprochener Weise sich an den übrigen Muskeln selten vorfindet, ein Zustand, der offenbar eine Art von Ermüdung oder Erschöpfung ausdrückt, und der um so anhaltender zu sein pflegt, je energischer der Reiz war, welcher einwirkte. An kleinen Gefässen mit wenig Muskelfasern sieht es daher öfters so aus, als ob die Reize keine eigentliche Verengerung hervorriefen, da man überaus schnell eine Erschlaffung und Erweiterung eintreten sieht, welche längere Zeit andauert und ein vermehrtes Einströmen des Blutes möglich macht. [33] Handbuch der spec. Path. I. 141. Diese selben Vorgänge der Relaxation können wir experimentell am leichtesten herstellen dadurch, dass wir die Gefässnerven eines Theiles durchschneiden, während wir die Verengerung (abgesehen von den Methoden der direkten Reizung) in sehr grosser Ausdehnung erzeugen, indem wir die Gefässnerven einem sehr energischen Reiz unterwerfen. Dass man diese Art von Verengerung so spät kennen gelernt hat, erklärt sich daraus, dass die Nervenreize sehr gross sein müssen, indem, wie =Claude Bernard= gezeigt hat, nur starke elektrische Ströme dazu ausreichen. Andererseits sind die Verhältnisse nach Durchschneidung der Nerven an den meisten Theilen so complicirt, dass die Erweiterung und Durchschneidung der Gefässnerven der Beobachtung sich entzogen hat, bis gleichfalls durch =Bernard= der glückliche Punkt entdeckt und in der Durchschneidung der sympathischen Nerven am Halse der Experimentation ein zuverlässiger und bequemer Beobachtungsort erschlossen wurde. [Illustration: =Fig=. 58. Ungleichmässige Zusammenziehung kleiner Gefässe aus der Schwimmhaut des Frosches. Copie nach =Wharton Jones=.] Mag die Erweiterung des Gefässes, oder, mit anderen Worten, die Relaxation der Gefässmuskeln unmittelbar durch eine Lähmung der Nerven, durch eine Unterbrechung oder Hemmung des Nerveneinflusses hervorgebracht sein, oder mag sie die mittelbare Folge einer vorausgegangenen Reizung sein, welche eine Ermüdung setzte, in jedem Falle ist sie bedingt durch eine Art von Paralyse der Gefässwand. Active Hyperämie ist daher insofern eine falsche Bezeichnung, als der Zustand der Gefässe dabei ein vollständig passiver ist. Alles, was man auf die dabei vorausgesetzte Activität der Gefässe gebaut hat, ist, wenn nicht gerade auf Sand gebaut, doch äusserst unsicher; alle weiteren Schlüsse, die man daraus gezogen hat in Beziehung auf die Bedeutung, welche die Thätigkeit der Gefässe für die Ernährungs-Verhältnisse der Theile selbst haben sollte, fallen in sich selbst zusammen. Wenn eine Arterie wirklich in Action ist, so macht sie keine Hyperämie; im Gegentheil, je kräftiger sie agirt, um so mehr bedingt sie Anämie des Theils, oder, wie ich es bezeichnet habe, Ischämie[34]. Die geringere oder grössere Thätigkeit der Arterie bestimmt das Mehr oder Weniger von Blut, welches in der Zeiteinheit in einen gegebenen Theil einströmen kann. =Je thätiger das Gefäss, um so geringer die Zufuhr=. Haben wir aber eine Reizungs-Hyperämie, d. h. eine vermehrte Zufuhr durch ermüdete und daher passiv erweiterte Arterien, so kommt es therapeutisch gerade darauf an, die Gefässe in einen Zustand von Thätigkeit zu versetzen, in welchem sie im Stande sind, dem andrängenden Blutstrome Widerstand entgegenzusetzen. Das leistet uns der sogenannte =Gegenreiz=, ein höherer Reiz an einem schon gereizten Theile, welcher die erschlaffte Gefässmuskulatur zu dauernder Verengerung anregt, dadurch die Blutzufuhr verkleinert und die Regulation der Störung vorbereitet. Gerade da, wo am meisten die Reaction, d. h. die regulatorische Thätigkeit in Anspruch genommen wird, da handelt es sich darum, jene Passivität zu überwinden, welche die (sogenannte active) Hyperämie unterhält. [34] Handbuch der spec. Pathol. u. Therapie. I. 122. Längere Zeit hindurch betrachtete man es als unmöglich, dass die Strömung in erweiterten Gefässen eine beschleunigte sei. Man bezog sich auf die bekannte hydraulische Erfahrung, dass die Stromschnelligkeit in einer erweiterten Röhre ab-, in einer verengerten zunehme. Allein man übersah dabei, dass es sich am Gefässapparat nicht um einfache Röhren, sondern um ein System communicirender Röhren handelt, und dass keineswegs gleiche Mengen von Blut in der Zeiteinheit in jeden einzelnen Theil dieses Systems einströmen. Die hydraulischen Verhältnisse sind ganz verschieden, je nachdem wir den Stamm sei es der Aorta, sei es der Lungenarterie oder irgend einen mehr peripherischen Arterienast ins Auge fassen. Eine Verengerung des Stammes der Aorta oder der Lungenarterie wird sicherlich die Beschleunigung des Blutstroms an der verengten Stelle, eine Erweiterung die Verlangsamung desselben zur Folge haben. Wenn aber ein arterieller Ast im Bein oder in der Lunge sich verengert, so wird das an der Verengerungsstelle in seiner Fortbewegung beeinträchtigte Blut mit grösserer Kraft den collateralen Aesten zuströmen und hier sich einen leichteren Abfluss eröffnen. Wir finden dann neben der Ischämie das, was ich die =collaterale Fluxion= genannt habe[35]. -- [35] Handb. der spec. Pathol. u. Ther. I. 122, 129, 142, 173. * * * * * Gehen wir nun von den muskulösen Theilen der Gefässe über auf die =elastischen=, so treffen wir da eine Eigenschaft, welche eine sehr grosse Bedeutung hat, einerseits für die Venen, deren Thätigkeit an vielen Stellen nur auf elastische Elemente beschränkt ist, andererseits für die Arterien, insbesondere die Aorta und ihre grösseren Aeste. Bei diesen hat die Elasticität der Wandungen den Effect, die Verluste, welche der Blutdruck durch die systolische Erweiterung der Gefässe erfährt, auszugleichen und den ungleichmässigen Strom, welchen die stossweisen Bewegungen des Herzens erzeugen, in einen gleichmässigen umzuwandeln. Wäre die Gefässhaut nicht elastisch, so würde unzweifelhaft der Blutstrom sehr verlangsamt werden und zugleich durch die ganze Ausdehnung des Gefässapparates bis in die Capillaren Pulsation bestehen; es würde dieselbe stossweise Bewegung, welche im Anfange des Aortensystems dem Blute mitgetheilt wird, sich bis in die kleinsten Verästelungen erhalten. Allein jede Beobachtung, welche wir am lebenden Thiere machen, lehrt uns, dass innerhalb der Capillaren der Strom ein continuirlicher ist. Diese gleichmässige Fortbewegung wird dadurch hervorgebracht, dass die Arterien in Folge der Elasticität ihrer Wandungen den Stoss, welchen sie durch das eindringende Blut empfangen, mit derselben Gewalt dem Blute zurückgeben, sonach während der Zeit der folgenden Herz-Diastole einen regelmässigen Fortschritt des Blutes in der Richtung zur Peripherie hin unterhalten. Lässt die Elasticität des Gefässes erheblich nach, ohne dass zugleich das Gefäss starr und unbeweglich wird (Verkalkung, Amyloidentartung), so wird die Erweiterung, welche das Gefäss unter dem Drange des Blutes empfängt, nicht wieder ausgeglichen; das Gefäss bleibt im Zustande der Erweiterung, und es entstehen allmählich die bekannten Formen der =Ektasie=, wie wir sie an den Arterien als Aneurysmen, an den Venen als Varicen kennen. Es handelt sich bei diesen Zuständen nicht so sehr, wie man in neuerer Zeit geschildert hat, um primäre Erkrankungen der innern Haut, sondern um Veränderungen, welche in der elastischen und muskulären mittleren Haut vor sich gehen. -- * * * * * Wenn demnach die muskulösen Elemente der Arterien den gewichtigsten Einfluss auf das Maass und die Art der Blutvertheilung in den einzelnen Organen, die elastischen Elemente die grösste Bedeutung für die Herstellung eines schnellen und gleichmässigen Stromes haben, so üben sie doch nur eine mittelbare Wirkung auf die Ernährung der ausserhalb der Gefässe selbst liegenden Theile aus, und wir werden für diese Frage in letzter Instanz hingewiesen auf die mit =einfacher Membran versehenen Capillaren=, ohne welche ja nicht einmal die Wandbestandtheile der grösseren, mit Vasa vasorum versehenen Gefässe sich auf die Dauer zu ernähren und zu erhalten vermöchten. In den letzten Decennien hat man sich meist damit beholfen, dass man zwischen dem flüssigen Inhalte des Gefässes und dem Safte (Parenchymflüssigkeit) der Gewebe =Diffusionsströmungen= annahm: Endosmose und Exosmose. Die Gefässhaut galt dabei als eine mehr oder weniger indifferente Membran, welche eben nur eine Scheidewand zwischen zwei Flüssigkeiten bilde, die mit einander in ein Wechselverhältniss treten. In diesem Verhältnisse aber würden die zwei Flüssigkeiten wesentlich bestimmt durch ihre Concentration und ihre chemische Mischung, so dass, je nachdem die innere oder äussere Flüssigkeit concentrirter wäre, der Strom der Diffusion bald nach aussen, bald nach innen ginge, und dass ausserdem je nach den chemischen Eigenthümlichkeiten der einzelnen Säfte gewisse Modificationen in diesen Strömen entständen. Im Allgemeinen ist jedoch gerade diese letztere, mehr chemische Seite der Frage wenig berücksichtigt worden. Nun lässt sieh nicht in Abrede stellen, dass es gewisse Thatsachen giebt, welche auf eine andere Weise nicht wohl erklärt werden können, namentlich wo es sich um sehr grobe Abänderungen in den Concentrationszuständen der Säfte handelt. Dahin gehört jene Form von Cataract, welche =Kunde= bei Fröschen künstlich durch Einbringung von Salz in den Darmkanal oder in das Unterhautgewebe erzeugt hat. Dahin gehören insbesondere jene Stasen im Gefässapparat, welche =Schuler=[36] an amputirten Froschschenkeln durch Einwirkung von Salzlösungen hervorbrachte. Allein in dem Maasse, als man sich beim physikalischen Studium der Diffusions-Phänomene überzeugt hat, dass die Membran, welche die Flüssigkeiten trennt, kein gleichgültiges Ding ist, sondern dass die Natur derselben unmittelbar bestimmend wirkt auf die Fähigkeit des Durchtritts der Flüssigkeiten, so wird man auch bei der Gefässhaut einen solchen Einfluss nicht leugnen können. Indess darf man deshalb nicht so weit gehen, dass man etwa der Gefässhaut die ganze Eigenthümlichkeit des vasculären Stoffwechsels zuschriebe; am wenigsten darf man daraus erklären wollen, warum gewisse Stoffe, welche in der Blutflüssigkeit vertheilt sind, nicht allen Theilen gleichmässig zukommen, sondern an einzelnen Stellen in grösserer, an anderen in kleinerer Masse, an anderen gar nicht austreten. Diese Eigenthümlichkeiten hängen offenbar ab einerseits von den Verschiedenheiten des Druckes, welcher auf der Blutsäule einzelner Theile lastet, andererseits von den Besonderheiten der Gewebe; namentlich wird man sowohl durch das Studium der pathologischen, als besonders durch das Studium der pharmakodynamischen Erscheinungen mit Nothwendigkeit dazu getrieben, gewisse =Affinitäten= zuzulassen, welche zwischen bestimmten Geweben und bestimmten Stoffen existiren, Beziehungen, welche auf chemische Eigenthümlichkeiten zurückgeführt werden müssen, in Folge deren gewisse Theile mehr befähigt sind, aus der Nachbarschaft und somit auch aus dem Blute gewisse Substanzen anzuziehen, als andere. [36] Würzburger Verhandl. 1854. IV. 248. Betrachten wir die Möglichkeit solcher Anziehungen etwas genauer, so ist es von einem besonderen Interesse, zu sehen, wie sich solche Theile verhalten, die sich in einer gewissen Entfernung vom Gefässe befinden. Lassen wir auf irgend einen Theil direkt einen bestimmten Reiz einwirken, z. B. eine chemische Substanz, ich will annehmen, eine kleine Quantität eines Alkali, so bemerken wir, dass kurze Zeit nachher der Theil mehr »Ernährungsmaterial« aufnimmt, dass er schon in einigen Stunden um ein Beträchtliches grösser wird, anschwillt und trübe wird. Eine feinere Untersuchung ergiebt, dass die Elemente selbst solcher Gewebe, welche in hohem Grade durchsichtig sind, wie die Hornhaut, reichlich eine körnige, verhältnissmässig trübe Substanz enthalten, die nicht etwa aus eingedrungenem Alkali, sondern ihrem wesentlichen Theile nach aus Stoffen besteht, welche den Eiweisskörpern verwandt sind. Die Beobachtung ergiebt, dass ein solcher Vorgang in allen gefässhaltigen Theilen mit einer Hyperämie beginnt, so dass der Gedanke nahe liegt, die Hyperämie oder Congestion sei das Wesentliche und Bestimmende. Wenn wir aber die feineren Verhältnisse studiren, so ist es schwer zu verstehen, wie das Blut, welches in den hyperämischen Gefässen ist, es machen soll, um gerade nur auf den gereizten Theil einzuwirken, während andere Theile, welche in viel grösserer Nähe an denselben Gefässen liegen, nicht in derselben Weise getroffen werden. In allen Fällen, in welchen die Gefässe der Ausgangspunkt von Störungen sind, welche im Gewebe eintreten, finden sich auch die Störungen am meisten ausgesprochen in der nächsten Umgebung der Gefässe und in dem Gebiete, welches diese Gefässe versorgen (=Gefässterritorium=). Wenn wir einen reizenden, z. B. einen faulenden Körper in ein Blutgefäss stecken, wie dies von mir in der Geschichte der Embolie in grösserer Ausdehnung festgestellt ist, so werden nicht etwa die vom Gefässe entfernten Theile der Hauptsitz der activen Veränderung, sondern diese zeigt sich zunächst an der Wand des Gefässes selbst und dann an den anstossenden Gewebs-Elementen[37]. Wenden wir aber den Reiz direkt auf das Gewebe an, so bleibt der Mittelpunkt der Störung auch immer da, wo der Angriffspunkt des Reizes liegt, gleichviel, ob Gefässe in der Nähe sind oder nicht. [37] Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin. 1856. S. 294, 337, 456. Wir werden darauf später noch zurückkommen; hier war es mir nur darum zu thun, die Thatsache in ihrer Allgemeinheit vorzuführen, um den gewöhnlichen, eben so bequemen als trügerischen Schluss zurückzuweisen, dass die (an sich passive) Hyperämie bestimmend sei für die Ernährung des Gewebes. Bedürfte es noch eines weiteren Beweises, um diesen, vom anatomischen Standpunkte aus vollständig unhaltbaren Schluss zu widerlegen, so haben wir in dem vorher erwähnten Experiment mit der Durchschneidung des Sympathicus die allerbequemste Handhabe. Wenn man bei einem Thiere den Sympathicus am Halse durchschneidet, so bildet sich eine Hyperämie in der ganzen entsprechenden Kopfhälfte aus: die Gefässe sind stark erweitert, das Ohr wird dunkelroth und heiss, die Conjunctiva und Nasenschleimhaut strotzend injicirt. Diese Hyperämie kann Tage, Wochen, Monate lang bestehen, ohne dass auch nur die mindeste gröbere nutritive Störung daraus folgt; die Theile sind, obwohl mit Blut überfüllt, so weit wir dies wenigstens bis jetzt übersehen können, in demselben Ernährungs-Zustande wie vorher. Wenn wir Entzündungsreize auf diese Theile appliciren, so ist das Einzige, was wir feststellen können, dass die Entzündung schneller verläuft, ohne dass sie jedoch an sich oder in der Art ihrer Producte wesentlich anders wäre als sonst[38]. [38] Handbuch der speciellen Pathologie. I. 151, 247. Gesammelte Abhandl. S. 319. Die grössere oder geringere Masse von Blut, welche einen Theil durchströmt, ist also nicht als die einfache Ursache der Veränderung seiner Ernährung zu betrachten. Es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass ein Theil, der sich in Reizung befindet und gleichzeitig mehr Blut empfängt als sonst, auch mit grösserer Leichtigkeit mehr Material aus dem Blute anziehen kann, als er sonst gekonnt haben würde oder als er können würde, wenn sich die Gefässe in einem Zustande von Verengerung und verminderter Blutfülle befänden. Wollte man gegen meine Auffassung einwenden, dass bei hyperämischen Zuständen locale Blutentziehungen oft die günstigsten Effecte hervorbringen, so ist das kein Gegenbeweis. Denn es versteht sich von selbst, dass wir es einem Theile, dem wir das Ernährungsmaterial abschneiden oder verringern, schwerer machen, Material aufzunehmen, aber wir können ihn nicht umgekehrt dadurch, dass wir ihm mehr Ernährungsmaterial darbieten, sofort veranlassen, mehr in sich aufzunehmen; das sind zwei ganz verschiedene und auseinander zu haltende Dinge. So nahe es auch liegt, und so gerne ich auch zugestehe, dass es auf den ersten Blick etwas sehr Ueberzeugendes hat, aus der günstigen Wirkung, welche die Abschneidung der Blutzufuhr auf die Hemmung eines Vorganges hat, der unter einer Steigerung derselben entsteht, auf die Abhängigkeit jenes Vorganges von dieser Steigerung der Zufuhr zu schliessen, so meine ich doch, dass die praktische Erfahrung nicht in dieser Weise gedeutet werden darf. Es kommt nicht so sehr darauf an, dass, sei es in dem Blute als Ganzem, sei es in dem Blutgehalte des einzelnen Theiles, eine quantitative Zunahme erfolgt, um ohne Weiteres in der Ernährung des Theiles eine gleiche Zunahme zu setzen, sondern es kommt meines Erachtens darauf an, dass entweder besondere Zustände des Gewebes (Reizung) bestehen, welche die Anziehungsverhältnisse desselben zu bestimmten Stoffen ändern, oder dass besondere Stoffe (=specifische Substanzen=) in das Blut gelangen, auf welche bestimmte Gewebe oder Theile von Geweben eine besondere Anziehung ausüben. Prüft man diesen Satz in Beziehung auf die humoralpathologische Auffassung der Krankheiten, so ergiebt sich sofort, wie weit ich davon entfernt bin, die Richtigkeit der humoralen Deutungen im Allgemeinen zu bestreiten. Vielmehr hege ich die feste Ueberzeugung, dass besondere Stoffe, welche in das Blut gelangen, einzelne Theile des Körpers zu besonderen Veränderungen induciren können, indem sie in dieselben aufgenommen werden vermöge der =specifischen Anziehung der einzelnen Gewebe zu einzelnen Stoffen=[39]. Wir wissen, dass eine Reihe von Substanzen existirt, welche, wenn sie in den Körper gebracht werden, ganz besondere Anziehungen zum Nervenapparate darbieten, ja dass es innerhalb dieser Reihe wieder Substanzen gibt, welche zu ganz bestimmten Theilen des Nervenapparates nähere Beziehungen haben, einige zum Gehirn, andere zum Rückenmark, zu den sympathischen Ganglien, einzelne wieder zu besonderen Theilen des Gehirns, Rückenmarks u. s. w. Ich erinnere hier an Morphium, Atropin, Worara, Strychnin, Digitalin. Andererseits nehmen wir wahr, dass gewisse Stoffe eine nähere Beziehung haben zu bestimmten Secretionsorganen, dass sie diese Secretionsorgane mit einer gewissen Wahlverwandtschaft durchdringen, dass sie in ihnen abgeschieden werden, und dass bei einer reichlicheren Zufuhr solcher Stoffe ein Zustand der Reizung in diesen Organen stattfindet. Dahin gehören Harnstoff, Kochsalz, Canthariden, Cubeben. Allein nothwendig setzt diese Annahme voraus, dass die Gewebe, welche eine besondere Wahlverwandtschaft zu besonderen Stoffen haben sollen, überhaupt existiren: eine Niere, die ihr Epithel verliert, büsst damit auch ihre Secretionsfähigkeit für die specifischen Stoffe ein. Jene Annahme setzt ferner voraus, dass die Gewebe sich in ihrem natürlichen Zustande befinden: weder die kranke, noch die todte Niere hat mehr die Affinität zu besonderen Stoffen, welche die lebende und gesunde Drüse besass. Die Fähigkeit, bestimmte Stoffe anzuziehen und umzusetzen, kann höchstens für eine kurze Zeit in einem Organe erhalten, welches nicht mehr in einer eigentlich lebenden Verfassung bleibt. Wir werden daher am Ende immer genöthigt, die einzelnen Elemente als die wirksamen Factoren bei diesen Anziehungen zu betrachten. Eine Leberzelle kann aus dem Blute, welches durch das nächste Capillargefäss strömt, bestimmte Substanzen anziehen, aber sie muss eben zunächst vorhanden und sodann ihrer ganz besonderen Eigenthümlichkeit mächtig sein, um diese Anziehung ausüben zu können. Wird das vitale Element verändert, tritt eine Krankheit ein, welche in der molekularen, physikalischen oder chemischen Eigenthümlichkeit desselben Veränderungen setzt, so wird damit auch seine Fähigkeit geändert, diese besonderen Anziehungen auszuüben. [39] Handb. der spec. Path. und Ther. I. 276. Betrachten wir dies Beispiel noch genauer. Die Leberzellen stossen fast unmittelbar an die Wand der Capillaren, nur geschieden durch eine dünne und vielleicht nicht einmal continuirliche Schicht einer feinen Bindegewebslage. Wollten wir uns nun denken, dass die Eigenthümlichkeit der Leber, Galle abzusondern, bloss darin beruhte, dass hier eine besondere Art der Gefäss-Einrichtung wäre, so würde dies in der That nicht zu rechtfertigen sein. Aehnliche Netze von Gefässen, welche zu einem grossen Theile venöser Natur sind, finden sich an manchen anderen Orten z. B. an den Lungen. Die Eigenthümlichkeit der Gallenabsonderung hängt offenbar ab von den Leberzellen, und nur so lange als das Blut in nächster Nähe an Leberzellen vorüberströmt, besteht die besondere Stoffanziehung, welche die Thätigkeit der Leber charakterisirt. Enthält das Blut freies Fett, so nehmen nach einiger Zeit die Leberzellen Fett in kleinen Partikelchen auf; wenn der Zufluss fortgeht, so wird auch das Fett in den Zellen reichlicher und es scheidet sich nach und nach in grösseren Tropfen innerhalb derselben ab (Fig. 29, _B_, _b_). Was wir beim Fett wirklich sehen, das müssen wir uns bei vielen anderen Substanzen, die sich in gelöstem Zustande befinden, denken, z. B. bei vielen metallischen Giften, die wir auf chemischem Wege aus dem Gewebe darstellen können. Immer aber wird es für die Aufnahme solcher Stoffe wesentlich sein, dass in der Leber Zellen in einem ganz bestimmten Zustande vorhanden sind; werden sie krank, entwickelt sich in ihnen ein Zustand, welcher mit einer wesentlichen Veränderung ihres Inhaltes verbunden ist, z. B. eine Atrophie, welche endlich das Zugrundegehen der Theile bedingt, dann wird damit auch die Fähigkeit des Organs, Stoffe aufzunehmen und abzuscheiden, insbesondere Galle zu bilden, immer mehr beschränkt werden. Wir können uns keine Leber denken ohne Leberzellen; diese sind, soviel wir wissen, das eigentlich Wirksame, da selbst in Fällen, wo der Blutzufluss durch Verstopfung der Pfortader beschränkt ist[40], Galle, wenn auch vielleicht nicht in derselben Menge, abgesondert wird. [40] Würzb. Verhandl. (1855). VII. 21. Diese Erfahrung hat gerade an der Leber einen besonderen Werth, weil die Stoffe, welche die Galle zusammensetzen, bekanntlich nicht im Blute präformirt sind, wir also nicht einen Vorgang der einfachen Abscheidung, sondern einen Vorgang der wirklichen Bildung für die Bestandtheile der Galle in der Leber voraussetzen müssen. Diese Frage hat noch an Interesse gewonnen durch die bekannte Beobachtung von =Bernard=, dass an dieselben zelligen Elemente auch die Eigenschaft der Zuckerbildung gebunden ist, welche in so colossalem Maassstabe dem Blute einen Stoff zuführt, der auf die inneren Umsetzungs-Prozesse und auf die Wärmebildung den entschiedensten Einfluss hat. Sprechen wir also von Leberthätigkeit, so kann man in Beziehung sowohl auf die Zucker-, als auf die Gallenbildung darunter nichts anderes meinen, als die Thätigkeit der einzelnen Elemente (Zellen), und zwar eine Thätigkeit, die darin besteht, dass sie aus dem vorüberströmenden Blute Stoffe anziehen, diese Stoffe in sich umsetzen und dieselben in dieser umgesetzten Form entweder an das Blut wieder zurückgeben, oder in Form von Galle den Gallengängen überliefern. Ich verlange nun für die Cellularpathologie nichts weiter, als dass diese Auffassung, welche für die grossen Secretions-Organe nicht vermieden werden kann, auch auf die kleineren Organe und auf die Elemente angewendet werde, dass also einer Epithelzelle, einer Linsenfaser, einer Knorpelzelle bis zu einem gewissen Maasse gleichfalls die Möglichkeit zugestanden werde, aus den nächsten Gefässen, wenn auch nicht immer direkt, sondern oft durch eine weite Transmission, je nach ihrem besonderen Bedürfnisse, gewisse Quantitäten von Material zu beziehen, und nachdem sie dasselbe in sich aufgenommen haben, es in sich weiter umzusetzen, so zwar, dass entweder die Zelle für ihre eigene Entwickelung daraus neues Material schöpft (=Assimilation=), oder dass die Substanzen im Innern sich aufhäufen, ohne dass die Zelle davon unmittelbar Nutzen hat (=Retention=), oder endlich, dass nach der Aufnahme selbst ein Zerfallen der Zelleneinrichtung geschehen, ein Untergang der Zelle eintreten kann (=Necrobiose=). Auf alle Fälle scheint es mir nothwendig zu sein, dieser =specifischen Action der Elemente=, gegenüber der specifischen Action der Gefässe, eine überwiegende Bedeutung beizulegen, und das Studium der localen Prozesse seinem wesentlichen Theile nach auf die Erforschung dieser Art von Vorgängen zu richten. -- * * * * * Mit diesen Ergebnissen können wir uns zu einer Kritik der humoralpathologischen Systeme wenden, welche seit langer Zeit auf das Studium der sogenannten =edleren Säfte=, gewissermaassen auf die Lehre von der Ernährung im Grossen begründet wurden. Fasst man zunächst das Blut in seiner normalen Wirkung auf die Ernährung ins Auge, so handelt es sich dabei nicht so wesentlich um seine Bewegung, um das Mehr oder Weniger von Zuströmen, sondern um seine innere Zusammensetzung. Bei einer grossen Masse von Blut kann die Ernährung leiden, wenn die Zusammensetzung desselben nicht dem natürlichen Bedürfnisse der Theile entspricht; bei einer kleinen Masse von Blut kann die Ernährung verhältnissmässig sehr günstig vor sich gehen, wenn jedes einzelne Partikelchen des Blutes das günstigste Verhältniss der Mischung besitzt. Betrachtet man das Blut als Ganzes gegenüber den anderen Theilen, so ist es das Gefährlichste, was man thun kann, das, was zu allen Zeiten die meiste Verwirrung geschaffen hat, anzunehmen, dass man es hier mit einem constanten, in sich unabhängigen Fluidum zu thun habe, von dem die grosse Masse der übrigen Gewebe mehr oder weniger direkt abhängig sei. Die meisten humoralpathologischen Sätze stützen sich auf die Voraussetzung, dass gewisse Veränderungen, welche im Blute eingetreten sind, mehr oder weniger dauerhaft seien, und gerade da, wo diese Sätze praktisch am einflussreichsten gewesen sind, in der Lehre von den =chronischen Dyscrasien=, pflegt man sich vorzustellen, dass die Veränderung des Blutes eine continuirliche sei, ja, dass durch Vererbung von Generation zu Generation eigenthümliche Veränderungen in dem Blute übertragen werden und sich erhalten können. Das ist meiner Meinung nach der Grundfehler, der eigentliche Angelpunkt der Irrthümer. Nicht etwa, dass ich bezweifelte, dass eine veränderte Mischung des Blutes anhaltend bestehen, oder dass sie sich von Generation zu Generation fortpflanzen könnte, aber es scheint mir unlogisch, zu glauben, dass sie sich =im Blute selbst= fortpflanzen und dort erhalten kann, dass das Blut als solches der Träger der Dyscrasie ist. Meine cellularpathologischen Anschauungen unterscheiden sich darin von den humoralpathologischen wesentlich, dass ich das Blut nicht als einen dauerhaften und in sich unabhängigen, aus sich selbst sich regenerirenden und sich fortpflanzenden Saft, sondern als ein in einer constanten Abhängigkeit von anderen Theilen befindliches flüssiges Gewebe betrachte. Man braucht nur dieselben Schlüsse, die man für die Abhängigkeit des Blutes von der Aufnahme neuer Ernährungsstoffe vom Magen her allgemein zulässt, auch auf die Untersuchung der Abhängigkeit desselben von den Geweben des Körpers selbst anzuwenden. Wenn man von einer Säuferdyscrasie spricht, so wird Niemand die Vorstellung haben, dass Jeder, der einmal betrunken gewesen ist, eine permanente Alkoholdyscrasie besitzt, sondern man denkt sich, dass, wenn immer neue Mengen von Alkohol eingeführt werden, auch immer neue Veränderungen des Blutes eintreten, so dass die Veränderung am Blute so lange bestehen muss, als die Zufuhr von neuen schädlichen Stoffen geschieht, oder als in Folge früherer Zufuhr einzelne Organe in einem krankhaften Zustande verharren. Wird kein Alkohol mehr zugeführt, werden die Organe, welche durch den früheren Alkoholgenuss beschädigt waren, zu einem normalen Verhalten zurückgeführt, so ist kein Zweifel, dass damit die Säuferdyscrasie zu Ende ist. Dieses Beispiel, angewendet auf die Geschichte der übrigen Dyscrasien, erläutert ganz einfach den Satz, =dass jede dauernde Dyscrasie abhängig ist von einer dauerhaften Zufuhr schädlicher Bestandtheile von gewissen Punkten (Atrien oder Heerden) her=. Wie eine fortwährende Zufuhr von schädlichen Nahrungsstoffen eine dauerhafte Entmischung des Blutes setzen kann, eben so vermag die dauerhafte Erkrankung eines bestimmten Organs dem Blute fort und fort kranke Stoffe zuzuführen. Es handelt sich dann also wesentlich darum, für die einzelnen Dyscrasien Ausgangspunkte, =Localisationen= zu suchen, die bestimmten Gewebe oder Organe zu finden, von denen aus das Blut die besondere Störung erfährt. Ich will gern gestehen, dass es in vielen Dyscrasien bis jetzt nicht möglich gewesen ist, diese Gewebe oder Organe aufzufinden. In vielen anderen ist es aber gelungen, wenn man auch nicht bei jedem derselben erklären kann, in welcher Weise das Blut dabei verändert wird. Jedermann kennt jenen merkwürdigen Zustand, welchen man ungezwungen auf eine Dyscrasie beziehen kann, den scorbutischen Zustand, die Purpura, die Petechial-Dyscrasie. Vergeblich sieht man sich jedoch nach entscheidenden Erfahrungen darüber um, welcher Art die Dyscrasie, die Blutveränderung ist, wenn Scorbut oder Purpura sich zeigt. Das, was der Eine gefunden hat, hat der Andere widerlegt, ja es hat sich ergeben, dass zuweilen in der Mischung der gröberen Bestandtheile des Blutes gar keine Veränderung eingetreten war. Es bleibt hier also ein Quid ignotum, und man wird es gewiss verzeihlich finden, wenn wir nicht sagen können, woher eine Dyscrasie kommt, deren Wesen wir überhaupt nicht kennen. Auch schliesst die Erkenntniss der Art der Blutveränderung nicht die Einsicht in die Bedingungen der Dyscrasie in sich, und eben so wenig findet das Umgekehrte Statt. Bei der hämorrhagischen Diathese wird man es immerhin als einen wesentlichen Vortheil betrachten müssen, dass wir in einer Reihe von Fällen auf ihren Ausgangspunkt in einem bestimmten Organe hinweisen können, z. B. auf die Milz oder die Leber[41]. Es handelt sich jetzt zunächst darum, zu ermitteln, welchen Einfluss die Milz oder die Leber auf die besondere Mischung des Blutes ausüben. Wüssten wir genau, wie das Blut durch die Einwirkung dieser Organe verändert wird, so wäre es vielleicht nicht schwer, aus der Kenntniss des kranken Organs auch sofort abzuleiten, wie das Blut beschaffen sein wird. Aber es ist doch schon wesentlich, dass wir über das blosse Studium der Blutveränderungen hinausgekommen und auf bestimmte Organe geführt worden sind, in welchen die Dyscrasie wurzelt. [41] Handb. der spec. Path. und Ther. I. 246. So muss man consequent schliessen, dass, wenn es eine syphilitische Dyscrasie gibt, in welcher das Blut eine virulente Substanz führt, diese Substanz nicht dauerhaft in dem Blute enthalten sein kann, sondern dass ihre Existenz im Blute gebunden sein muss an das Bestehen localer Heerde, von wo aus immer wieder neue Massen von schädlicher Substanz eingeführt werden in das Blut[42]. Folgt man dieser Bahn, so gelangt man zu dem schon erwähnten und gerade für die praktische Medicin äusserst wichtigen Gesichtspunkte, dass jede dauerhafte Veränderung in dem Zustande der circulirenden Säfte, welche nicht unmittelbar durch äussere, von bestimmten Atrien aus in den Körper eindringende Schädlichkeiten bedingt wird, von einzelnen Organen oder Geweben abgeleitet werden muss; es ergibt sich weiter die Thatsache, dass gewisse Gewebe und Organe eine grössere Bedeutung für die Blutmischung haben, als andere, dass einzelne eine nothwendige Beziehung zu dem Blute besitzen, andere nur eine zufällige. [42] Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie. 1858. XV. 217. Geschwülste II. 476. Ich komme also mit den Alten darin überein, dass ich eine Verunreinigung (=Infection=) des Blutes durch verschiedene Substanzen (=Miasmen=) zulasse, und dass ich einem grossen Theile dieser Substanzen (=Schärfen=, =Acrimonien=) eine reizende Einwirkung auf einzelne Gewebe zuschreibe. Ich gestehe auch zu, dass bei acuten Dyscrasien diese Stoffe im Blute selbst eine fortschreitende Zersetzung (=Fermentation=, =Zymosis=) erzeugen können, obwohl ich nicht weiss, ob dies in allen Fällen, die man so deutet, richtig ist. Aber sicher ist es, dass diese Zymosis ohne neue Zufuhr sich nicht =dauerhaft= erhält, und dass jede anhaltende Dyscrasie eine erneuerte Zufuhr schädlicher Stoffe in das Blut voraussetzt. Achtes Capitel. Das Blut. Morphologische (anatomische) und chemische Veränderungen des Blutes (Dyscrasien). Faserstoff. Fibrillen desselben. Vergleich mit Schleim und Bindegewebe. Homogener gallertiger Zustand. Rothe Blutkörperchen. Kern, Membran und Inhalt derselben. Gestalt bei den verschiedenen Wirbelthieren: diagnostische Schwierigkeiten. Zusammensetzung des Zellkörpers: Hämatin, Hämoglobin. Stroma. Veränderungen der Farbe und der Gestalt. Blutkrystalle (Hämatoidin, Hämin, Hämatokrystallin). Farblose Blutkörperchen. Numerisches Verhältniss. Struktur. Vergleich mit Eiterkörperchen. Klebrigkeit und Agglutination derselben. Specifisches Gewicht. Crusta granulosa. Diagnose von Eiter- und farblosen Blutkörperchen. Die Lehren von der Eiterresorption und von der Lymphexsudation. Lebenseigenschaften der farblosen Körperchen: Bewegung, Aufnahme anderer Körper, Auswanderung. Bedeutung dieser Erfahrungen für die cellulare Doctrin. Wenn man die verschiedenen krankhaften Veränderungen des Blutes (=Dyscrasien=) in Beziehung auf Werth und Quelle ansieht, so lassen sich von vornherein zwei grosse Kategorien von dyscrasischen Zuständen unterscheiden, je nachdem nehmlich abweichende morphologische Bestandtheile im Blute enthalten sind, oder die Abweichung eine mehr chemische ist und an den flüssigen Bestandtheilen sich findet. Dabei versteht es sich aber wohl von selbst, dass in der Regel die morphologischen (anatomischen) Dyscrasien nicht ohne chemische Dyscrasie verlaufen und umgekehrt: unsere Methoden der Blutuntersuchung sind aber noch so unvollkommen, dass wir uns in der Regel an die eine oder andere Möglichkeit halten müssen. Ebenso ist es klar, dass die morphologischen Veränderungen der Blutmischung entweder durch Veränderungen der natürlichen Elemente (Blutkörperchen) oder durch Hinzufügung fremder, der Blutmischung normal nicht zukommender Theile bedingt sein können. Einer der flüssigen Stoffe des Blutes, der Faserstoff (=Fibrin=), hat häufig als ein morphologischer oder doch als ein fester Bestandtheil des Blutes gegolten, weil er vermöge seiner Gerinnbarkeit sehr bald, nachdem das Blut aus dem lebenden Körper entfernt ist, eine sichtbare Form annimmt. Diese Auffassung ist auch in der neueren Zeit noch vielfach in der Praxis festgehalten worden, wie sie denn traditionell in der Medicin seit langer Zeit bestanden hat, insofern man fibrinarmes Blut als =dissolutes= zu bezeichnen und die Qualität des Blutes viel weniger nach den Blutkörperchen, als nach dem Fibringehalt zu schätzen pflegte. Eine solche Trennung des Faserstoffes von den flüssigen Bestandtheilen des Blutes hat insofern einen wirklichen Werth, als derselbe eben so, wie die Blutkörperchen, eine ganz eigenthümliche Erscheinung ist, so einzig und allein in dem Blute und den ihm zunächst stehenden Säften sich findet, dass man ihn in der That mehr mit den Blutkörperchen in Zusammenhang bringen kann, als mit dem Blutwasser (Serum). Betrachtet man das Blut in Beziehung auf seine eigentlich specifischen Theile, durch welche es Blut ist und durch welche es sich von anderen Flüssigkeiten unterscheidet, so kann man nicht umhin anzuerkennen, dass auf der einen Seite die rothen, hämatinhaltigen Körperchen, auf der anderen Seite das Fibrin der Intercellular-Flüssigkeit (Liquor sanguinis, Plasma) es sind, in welchen die Unterschiede am meisten hervortreten. [Illustration: =Fig=. 59. Geronnenes Fibrin aus menschlichem Blute. _a_ Feine, _b_ gröbere und breitere Fibrillen; _c_ in das Gerinnsel eingeschlossene rothe und farblose Blutkörperchen. Vergr. 280.] Betrachten wir daher zunächst diese specifischen Bestandtheile etwas näher. Die morphologische Schilderung des Faserstoffes ist verhältnissmässig schnell gemacht. Untersuchen wir ihn, wie er im Blutgerinnsel vorkommt, so finden wir ihn fast immer in der Form, wie ihn =Malpighi= beschrieben hat und von welcher er den Namen trägt, der fibrillären. Die geronnene Substanz zeigt wirkliche Fasern von etwas zackiger Gestalt, welche sich vielfach durchsetzen und dadurch äusserst feine Geflechte, zarte Maschennetze bilden. Die Fasern sind in den einzelnen Fällen von sehr verschiedener Breite. Gewöhnlich sind sie sehr fein; zuweilen finden sich aber ungleich breitere, fast bandartige, welche viel glatter sind, sich aber im Uebrigen ziemlich auf dieselbe Weise durchsetzen und verschlingen. Es sind dies Eigenthümlichkeiten, über deren Bedeutung bis jetzt ein sicheres Urtheil noch nicht gewonnen ist. Ich finde solche Verschiedenheiten ziemlich häufig, bin jedoch nicht im Stande, die Bedingungen dafür anzugeben. Betrachtet man einen Blutstropfen während der Gerinnung, so sieht man überall, wie zwischen den Blutkörperchen feine Fibrin-Fäden anschiessen. In dem Coagulum finden sich daher die morphologischen Elemente in den Maschenräumen des entstandenen Netzwerkes (Fig. 59, _c_), rings umschlossen und zuweilen nicht wenig verdrückt durch die Fasern desselben. In Beziehung auf die Natur dieser Fasern können wir hervorheben, dass es histologisch nur noch zweierlei Arten von Fasern gibt, welche mit ihnen eine nähere Aehnlichkeit darbieten[43]. Die eine Art kommt in einer Substanz vor, welche sonderbarer Weise eine gewisse Verbindung zwischen den ältesten kraseologischen Vorstellungen und den modernen bildet, nehmlich im Schleim (S. 65). In der hippokratischen Medicin fällt der Blutfaserstoff noch unter den Begriff des =Phlegma= (=Mucus=), und die antike Lehre von dem phlegmatischen Temperament würde in moderner Formel ganz wohl als fibrinöse Krase übersetzt werden können. In der That, wenn wir den Schleim mit dem Faserstoff vergleichen, so müssen wir zugestehen, dass eine grosse formelle Uebereinstimmung in ihrer Gerinnung besteht. Wie das Fibrin, bildet auch der Schleim, zumal bei Zusatz von Wasser oder organischen Säuren, Fasern und Häute, welche unter einander zu oft sehr sonderbaren Figuren zusammentreten. Dass auch in der Absonderung von Schleim und Faserstoff gewisse Beziehungen bestehen, werden wir später darlegen. -- Die andere Substanz, welche hierher gehört, ist die Intercellularsubstauz des Bindegewebes, der leimgebende Stoff, das Collagen (Gluten der Früheren), und es ist gewiss interessant, sich daran zu erinnern, dass noch im vorigen Jahrhundert, ja hier und da noch in dem gegenwärtigen, die Speckhaut des Blutes als Gluten bezeichnet wurde. Die Fibrillen des Bindegewebes verhalten sich nur insofern anders, als die des Faserstoffes, als sie in der Regel nicht netzförmig, sondern parallel verlaufen; im Uebrigen sind sie den Fibrin-Fasern in hohem Maasse ähnlich. Die Intercellularsubstanz des Bindegewebes stimmt auch darin mit dem Faserstoff überein, dass ihr Verhalten gegen Reagentien sehr analog ist. Wenn wir diluirte Säuren, namentlich die gewöhnlichen Pflanzensäuren oder auch schwache Mineralsäuren darauf einwirken lassen, so quellen sie auf und unter den Augen verschwinden die Fasern, so dass wir nicht mehr sagen können, wo sie bleiben. Die Masse schwillt auf, es verschwindet jeder Zwischenraum, und es sieht aus, als ob die ganze Masse ein continuirliches, vollkommen homogenes Gewebsstück bildete. Waschen wir dasselbe langsam aus, entfernen wir die Säure wieder, so lässt sich, wenn die Einwirkung keine zu concentrirte war, wieder der faserige Zustand herstellen. Es ist dies Verhalten bis jetzt noch unerklärt, und gerade deshalb hatte die Ansicht =Reichert='s, welche ich früher (S. 41, 141) erwähnte, etwas Bestechendes, dass die Substanz des Bindegewebes eigentlich homogen und die Fasern nur eine künstliche Bildung oder eine optische Täuschung seien, indessen isoliren sich beim Faserstoff noch viel deutlicher als beim Bindegewebe die einzelnen Fibrillen so vollständig, dass ich nicht umhin kann, zu sagen, dass ich die Trennung in einzelne Fäserchen für wirklich bestehend und nicht bloss für künstlich und eben so wenig für eine Täuschung des Beobachters halte. [43] Gesammelte Abhandl. S. 137. Eine fernere Uebereinstimmung ist die, dass sowohl beim Fibrin, als beim Bindegewebe jedesmal vor dem Stadium des Fibrillären ein Stadium des Homogenen oder Gallertigen liegt. Betrachtet man die Gerinnung fibrinöser Flüssigkeiten, so sieht man nicht etwa von vornherein Fasern entstehen, sondern die ganze Flüssigkeit »gesteht« zuerst zu einer ganz gleichmässigen Masse, welche zuweilen so fest ist, dass man sie in einem Stücke aufheben kann. Erst aus dieser homogenen Gallerte scheiden sich die Fasern aus, mit deren Bildung die Zusammenziehung des Gerinnsels, die eigentliche Coagulation auftritt[44]. In ähnlicher Weise erscheint auch die Intercellularsubstanz des Bindegewebes zuerst bei ihrer Bildung als homogene Intercellularsubstanz (Schleim); erst nach und nach sieht man sich Fibrillen, wenn ich mich so ausdrücken darf, ausscheiden oder, wie man gewöhnlich sagt, differenziren. Die Bildung der Fasern, die =Fibrillation= lässt sich daher recht wohl mit der Krystallisation vergleichen, und in der That gibt es auch unter den anorganischen Stoffen gewisse Analogien. Manche Niederschläge von Kalksalzen oder Kieselsäure sind ursprünglich vollkommen gelatinös und amorph; nach und nach scheiden sich aus ihnen solide Körner und Krystalle aus. [44] =Froriep='s Neue Notizen 1845. Sept. No. 769. Gesammelte Abhandlungen. S. 59, 65. Man kann also immerhin den Namen der Fibrillen für die gewöhnliche Erscheinungsform des Faserstoffes beibehalten, aber man muss sich dabei erinnern, dass diese Substanz ursprünglich in einem homogenen, amorphen, gallertartigen Zustande existirte, und wieder in denselben übergeführt werden kann. Diese Ueberführung geschieht nicht nur künstlich, sondern sie macht sich auch auf natürlichem Wege im Körper selbst, so dass an Stellen, wo vorher Fibrillen vorhanden waren, später der Faserstoff wieder homogen angetroffen wird. Die Coagula der Aneurysmen, manche Thromben der Venen werden allmählich in homogene, knorpelartig dichte Massen verwandelt. -- [Illustration: =Fig=. 60. Kernhaltige Blutkörperchen von einem menschlichen, sechs Wochen alten Fötus. _a_ Verschieden grosse, homogene Zellen mit einfachen, relativ grossen Kernen, von denen einzelne leicht granulirt, die meisten mehr gleichmässig sind, bei * ein farbloses Körperchen. _b_ Zellen mit äusserst kleinen, aber scharfen Kernen und deutlich rothem Inhalte. _c_ Nach Behandlung mit Essigsäure sieht man die Kerne zum Theil geschrumpft und zackig, bei mehreren doppelt; bei * ein granulirtes Körperchen. Vergr. 280.] * * * * * Was nun den zweiten specifischen Antheil des Blutes betrifft, die =Blutkörperchen=, so habe ich schon hervorgehoben (S. 12), dass gegenwärtig ziemlich alle Histologen darüber einig sind, dass die farbigen Blutkörperchen des Menschen und der Säugethiere im erwachsenen Zustande keine Kerne besitzen. Ihre zellige Natur könnte daher in Zweifel gezogen werden, wenn wir nicht wüssten, dass sie zu gewissen Zeiten der embryonalen Entwickelung (Fig. 60) je einen Kern besitzen. Mehrere neuere Beobachter, namentlich =Brücke=, leugnen jedoch auch die Existenz einer Membran an ihnen, so dass man versucht ist, auf jene ältere Bezeichnung der Blutkörner zurückzukommen, welche auch auf blosse Concretionen chemischer oder mechanischer Art anwendbar ist. Indess erscheint im Bewusstsein der heutigen Zeit, wie wir sahen (S. 16), die Membranlosigkeit an sich als kein Grund, die zellige Natur eines organischen Elements in Abrede zu stellen, und da in den früheren Monaten des Embryolebens die rothen Blutkörperchen nicht nur genetisch aus unzweifelhaften Bildungszellen durch fortschreitende Umbildung hervorgehen, sondern auch unter Umständen eben solche Membranen zeigen (Fig. 60, _a_ u. _c_), wie sie an anderen Zellen nachweisbar sind, so wird man unbedenklich aussagen können, dass die rothen Blutkörperchen des Menschen sowohl in der späteren Zeit der fötalen Entwickelung, als namentlich in der Zeit nach der Geburt einfache kernlose Zellen sind. [Illustration: =Fig=. 61. Menschliche Blutkörperchen vom Erwachsenen. _a_ das gewöhnliche, scheibenförmige rothe, _b_ das farblose Blutkörperchen, _c_ rothe Körperchen, von der Seite und auf dem Rande stehend gesehen. _d_ rothe Körperchen in Geldrollenform zusammengeordnet. _e_ zackige, durch Wasserverlust (Exosmose) geschrumpfte rothe Körper. _f_ geschrumpfte rothe Körper mit hügeligem Rand und einer kernartigen Erhebung auf der Fläche der Scheibe. _g_ noch dichtere Schrumpfung. _h_ höchster Grad der Schrumpfung (melanöse Körperchen). Vergr. 280.] Ganz abweichend von allen anderen Zellen ist die Gestalt derselben beim Menschen und den Säugethieren. Sie stellen nehmlich platte, scheiben- oder tellerförmige Bildungen mit zweiseitiger centraler Depression dar. Der dickere Rand erscheint daher als ein dunkler gefärbter Ring, die dünnere Mitte als eine ganz schwach gefärbte Fläche. Bei Vögeln, Amphibien und Fischen, bei welchen sich der kernhaltige Zustand während des ganzen Lebens erhält, findet sich zugleich eine ovale Gestalt, die übrigens merkwürdigerweise auch bei dem Lama und Kameel vorkommt. Der allerniederste Fisch, der Amphioxus, hat überhaupt keine Blutkörperchen und beim Leptocephalus bleiben sie ungefärbt. Bei keinem anderen Gewebe sind die Verschiedenheiten der Elemente bei verschiedenen Thieren so gross, wie gerade bei den rothen Blutkörperchen, und man sollte daher ungemein vorsichtig sein, aus Erfahrungen, welche nur für die Blutkörperchen einer Gattung Gültigkeit haben, allgemeine Formeln abzuleiten. Andererseits sind nur ausnahmsweise die Blutkörperchen einer Gattung mit so charakteristischen Eigenthümlichkeiten ausgestattet, dass man daraus diagnostische Unterschiede abzuleiten vermöchte. Namentlich vom gerichtsärztlichen Standpunkte aus wäre es im höchsten Grade erwünscht, wenn ein sicheres Merkmal nachgewiesen würde, wodurch die Blutkörperchen des Menschen von denen der Säugethiere unterschieden werden könnten. Allein alle Versuche, ein solches zu finden, sind bis jetzt fruchtlos gewesen. Das einzige, an sich nicht einmal durchgreifende Merkmal, dass die Blutkörperchen des Menschen etwas grösser sind, als die der meisten Säugethiere, ist in der Regel nicht verwerthbar, da man es in forensischen Fällen meist mit altem und häufig sogar mit getrocknetem Blute zu thun hat. Der eigentliche Zellkörper der rothen Blutkörperchen besteht aus einer ziemlich zähen Masse, an welcher die Farbe haftet. Letztere erscheint unter dem Mikroskope bei den einzelnen Körperchen als eine mehr gelbliche, sogar leicht ins Grünliche spielende. Gewöhnlich bezeichnet man in der Kürze die gefärbte Substanz als =Hämatin=, Blutfarbstoff. Allein der rothe Zellkörper ist keine einfache chemische Substanz, und das, was man Hämatin nennt, bildet eben nur einen Theil davon; einen wie grossen Theil, lässt sich bis jetzt noch gar nicht ermitteln. Was sonst noch innerhalb des Blutkörperchens enthalten ist, das gehört wesentlich der chemischen Untersuchung an, und diese ergiebt in den verschiedenen Wirbelthierklassen und Gattungen ebenso gut chemische, wie morphologische Verschiedenheiten. Beim Menschen nahm man früher neben dem Hämatin gewöhnlich noch eine besondere Substanz, das Globulin an; gegenwärtig betrachtet man als die Hauptmasse des rothen Zellkörpers das =Hämoglobin=, aus welchem erst durch Zersetzung das Hämatin selbst und verschiedene andere, namentlich eiweissartige Stoffe entstehen. Dieses Hämoglobin ist nach der Annahme =Rollett='s in einem schwammigen =Stroma= enthalten, welches möglicherweise noch wieder aus verschiedenen stickstoffhaltigen Stoffen besteht. Man beobachtet dasselbe an gefrorenem Blute, bei welchem das Hämoglobin die Blutkörperchen verlässt und an das Serum tritt. Ob wirkliches Protoplasma und damit eine wahre Contraktilität an den rothen Körperchen vorhanden ist, lässt sich nach den heutigen Erfahrungen noch nicht mit Sicherheit aussagen. Was wir direkt beobachten können, sind gewisse =Veränderungen der Farbe und Gestalt=, welche durch äussere Agentien hervorgerufen werden. Da das Hämoglobin Sauerstoff, Kohlenoxyd und Stickoxyd absorbirt, wahrscheinlich auch Kohlensäure aufnimmt, so ist es leicht begreiflich, dass dadurch die Farbe der Blutkörperchen und damit die des Blutes im Ganzen geändert wird. Noch viel auffälliger ist die Farbenveränderung durch stärkere chemische Körper, namentlich die intensiv grüne durch Schwefelwasserstoff und die schwärzliche oder bräunliche (atrabiläre) durch organische und mineralische Säuren und Alkalien. Manche dieser Farbenveränderungen erfolgen ohne erhebliche Gestaltveränderungen; andere, wie die der stärkeren chemischen Körper, unter schneller Zerstörung der Blutkörperchen. Dabei ist es jedoch, namentlich auch für forensische Untersuchungen, von grosser Wichtigkeit, dass gerade kaustische Alkalien (Natron, Kali), =concentrirt= angewendet, die Blutkörperchen erhalten, während, diluirt angewendet, sie dieselben schnell zerstören. -- Die meisten Gestaltveränderungen erfolgen unter der Einwirkung von chemischen Lösungen, welche den Blutkörperchen Wasser entziehen; in Folge davon schrumpfen sie und erleiden sie eigenthümliche Gestaltsveränderungen, die sehr leicht Irrthümer herbeiführen können. Dies sind nicht unwichtige Verhältnisse, auf die ich deshalb noch mit ein paar Worten eingehen will. Wenn ein rothes Blutkörperchen dadurch einem Wasserverluste ausgesetzt ist, dass eine stärker concentrirte Flüssigkeit auf dasselbe einwirkt, so bemerkt man zuerst, dass in dem Maasse, als Flüssigkeit exosmotisch austritt, an der Oberfläche des Körperchens kleine Hervorragungen entstehen, welche anfangs sehr zerstreut liegen, sich bald an dem Rande, bald auf der Fläche finden und im letzteren Falle zuweilen täuschend einem Kerne ähnlich sehen (Fig. 61, _e_, _f_). Dies ist die Quelle für die irrthümliche Annahme von Kernen, welche man so viel beschrieben hat. Beobachtet man ein Blutkörperchen unter Einwirkung concentrirter Medien längere Zeit, so treten immer mehr Höcker hervor und das Körperchen wird in seinem Flächendurchmesser kleiner. Dabei bilden sich immer deutlicher kleine Falten und Höcker an der Oberfläche: das Körperchen wird zackig, sternförmig, eckig (Fig. 61, _g_). Solche zackigen Körper sieht man jeden Augenblick, wenn man Blut untersucht, welches eine Zeit lang an der Luft gewesen ist. Denn schon die blosse Verdunstung erzeugt diese Veränderung. Sehr schnell können wir sie hervorbringen, wenn wir die Mischung des Serums durch Zusatz von Salz oder Zucker ändern. Dauert die Wasser-Entziehung fort, so verkleinert sich das Körperchen noch mehr; endlich wird es wieder rund und glatt (Fig. 61, _h_), vollkommen sphärisch, und zugleich erscheint seine Farbe viel saturirter; der Inhalt sieht ganz dunkel schwarzroth aus. Es lässt sich daraus eine nicht uninteressante Thatsache erschliessen, nehmlich die, dass die Exosmose wesentlich eine Wasser-Entziehung ist, wobei vielleicht dieser oder jener andere Stoff, z. B. Salz, mit austritt, wobei aber die wesentlichen Bestandtheile zurückbleiben können. Das Hämoglobin insbesondere folgt dem Wasser nicht; das Blutkörperchen hält dasselbe zurück, so dass in dem Maasse, als viel Flüssigkeit verloren geht, natürlich das Hämoglobin im Innern dichter werden muss. Umgekehrt verhält es sich, wenn wir diluirte Flüssigkeiten anwenden. Je mehr die Flüssigkeit verdünnt wird, um so mehr vergrössert sich das Blutkörperchen: es quillt auf und wird blasser. Behandeln wir die unter der Einwirkung concentrirter Flüssigkeiten verkleinerten Blutkörperchen mit gewöhnlichem Wasser, so sehen wir, wie die kuglige Form wieder in die eckige und diese in die scheibenförmige zurückgeht, wie das Blutkörperchen sich sodann immer mehr wölbt, sich oft ganz sonderbar gestaltet, und wieder blasser wird. Diese Einwirkung kann man, wenn man die Verdünnung des Blutes recht vorsichtig eintreten lässt, so weit treiben, dass die Blutkörperchen kaum noch gefärbt erscheinen, während sie doch noch sichtbar bleiben. In den gewöhnlichen Fällen, wo man viel Flüssigkeit auf einmal zusetzt, wird in der Einrichtung des Blutkörperchens eine so grosse Revolution hervorgebracht, dass alsbald ein Entweichen des Hämoglobins aus dem Körperchen stattfindet. Wir bekommen dann ausserhalb der Blutkörperchen eine rothe Lösung, in welcher die Farbe frei an der Flüssigkeit haftet. Ich hebe diese Eigenthümlichkeit deshalb hervor, weil sie bei mikroskopischen Untersuchungen immerfort vorkommt, und weil sie eine der merkwürdigsten Erscheinungen bei der Bildung pathologischer Pigmentirungen erklärt, wo wir ein ganz ähnliches Entweichen des gefärbten Inhaltes aus den Blutkörperchen antreffen (Fig. 63, _a_). Gewöhnlich drückt man sich so aus, das Blutkörperchen werde aufgelöst, allein es ist eine schon längst bekannte Thatsache, welche zuerst von =Carl Heinrich Schultz= erkannt wurde, dass, wenn auch scheinbar gar keine Blutkörperchen mehr in der Flüssigkeit vorhanden sind, man durch Zufügen von Jodwasser die Membranen wieder deutlich machen kann. Aus dieser Erfahrung geht hervor, dass nur der Grad der Aufblähung und die ausserordentliche Verdünnung der Häute das Sichtbarwerden der Blutkörperchen gehindert hat. Es bedarf schon sehr stürmischer Einwirkungen durch chemisch differente Stoffe, um ein wirkliches Zugrundegehen der Blutkörperchen zu Stande zu bringen. Setzt man unmittelbar, nachdem man die Blutkörperchen mit ganz concentrirter Salzlösung behandelt hat, Wasser in grosser Menge hinzu, so kann man es dahin bringen, dass man den Blutkörperchen, ohne dass sie aufquellen, den Inhalt entzieht, und dass die Membranen oder die Stromata sichtbar zurückbleiben. Dies ist der Grund gewesen, weshalb =Denis= und =Lecanu= davon gesprochen haben, dass die Blutkörper Fibrin enthielten; sie haben geglaubt, indem sie die Körper erst mit Salz und dann mit Wasser behandelten, Fibrin aus ihnen darstellen zu können. Dieses sogenannte Fibrin ist aber, wie ich gezeigt habe[45], nichts Anderes, als eine Zusammenhäufung von Membranen oder, wie man jetzt sagen würde, von Stromata der Blutkörperchen, aber allerdings bestehen dieselben aus einer Substanz, die den eiweissartigen Stoffen verwandt ist und daher, wenn sie in grossen Haufen gewonnen wird, Erscheinungen darbieten kann, die an Fibrin erinnern. Ob im Uebrigen die rothen Blutkörperchen, wie neuerlich wieder =Heynsius= gefunden zu haben glaubt, wirkliches coagulables Fibrin enthalten, ist eine andere Frage, da sie sich nicht an die Rückstände zersetzter Blutkörperchen anknüpft. [45] Zeitschrift für rationelle Medicin. 1846. Bd. IV. S. 281. Gesammelte Abhandl. S. 88. Was nun die Inhaltssubstanzen der Blutkörperchen anbetrifft, so haben gerade sie in der neueren Zeit ein erhöhtes Interesse gewonnen durch die mehr morphologischen Produkte, welche aus ihnen hervorgehen, und welche in die ganze Anschauung von der Natur der organischen Stoffe eine Art von Umwälzung gebracht haben. Es handelt sich hier namentlich um eigenthümliche gefärbte Krystalle, die unter gewissen Verhältnissen aus dem Blutfarbstoffe entstehen, und durch deren Beobachtung zuerst die Ansicht von der Nichtkrystallisirbarkeit der eiweissartigen Stoffe widerlegt worden ist. Sie besitzen übrigens nicht bloss ein grosses chemisches, sondern auch ein sehr erhebliches praktisches Interesse. Wir kennen bis jetzt schon drei verschiedene Arten von gefärbten =Krystallen=, für welche das Hämoglobin gemeinschaftliche Quelle ist. [Illustration: =Fig=. 62. Hämatoidin-Krystalle in verschiedenen Formen (Archiv f. path. Anat. Bd. I. Taf. III. Fig. 11). Vergr. 300.] Der ersten Form, welche ich zuerst genauer kennen lehrte, habe ich den Namen =Hämatoidin= gegeben[46]. Es ist dies eins der häufigsten Umwandlungs-Produkte, welches innerhalb des Körpers spontan aus Hämatin entsteht, und zwar oft so massenhaft, dass man es mit blossem Auge wahrnehmen kann. Seine Krystalle erscheinen in ihrer ausgebildeten Form als schiefe rhombische Säulen von schön gelbrother, bei dickeren Stücken von intensiv rubinrother Farbe; sie stellen eine der schönsten Krystallformen dar, die wir überhaupt kennen. Auch in kleinen Tafeln finden sie sich nicht selten, manchmal ziemlich ähnlich den Formen der Harnsäure. In der Mehrzahl der Fälle sind die Krystalle sehr klein, nicht bloss makroskopisch unerkennbar, sondern selbst für die mikroskopische Betrachtung etwas difficil. Man muss ein scharfer Beobachter oder speciell darauf vorbereitet sein, sonst bemerkt man häufig nichts weiter an den Stellen, wo dieses feine Hämatoidin liegt, als eckige Körner oder kleine Striche oder scheinbar gestaltlose Klümpchen. Erst wenn man genauer zusieht, lösen sich die Körner oder Striche in kurze rhombische Säulen, die Klümpchen in Aggregate von Krystallen auf. [46] Archiv f. path. Anatomie und Physiol. 1847. I. 391. Das Hämatoidin kann als das regelmässige typische Endglied der Umbildungen des Hämatins an Stellen des Körpers betrachtet werden, wo grössere Mengen von Blut liegen bleiben (stagniren). Ein apoplectischer Heerd des Gehirns heilt in der Regel so, dass ein grosser Theil des Blutes in diese Krystallisation übergeht, und wenn wir vielleicht 10 Jahre nachher bei der Autopsie eine gefärbte Narbe an dieser Stelle finden, so können wir fast mit Gewissheit darauf rechnen, dass die Farbe von Hämatoidin abhängt. Wenn eine junge Dame menstruirt und die Höhle des Graafschen Follikels, aus welchem das Ei ausgetreten ist, sich mit coagulirtem Blute füllt, so geht das Hämatin allmählich in Hämatoidin über, und wir treffen später an der Stelle, wo das Ei gelegen war, einen mennig- oder zinnoberfarbenen Fleck, als letztes Denkmal des Ereignisses. Auf diese Weise können wir rückwärts die Zahl der apoplectischen Anfälle zählen, oder berechnen, wie oft ein junges Mädchen menstruirt war. Jede Extravasation kann ihr kleines Contingent von Hämatoidin-Krystallen zurücklassen, und diese, wenn sie einmal gebildet sind, bleiben als vollständig widerstandsfähige, compacte Körper im Innern der Organe beliebig lange Zeit liegen. [Illustration: =Fig=. 63. Pigment aus einer apoplectischen Narbe des Gehirns (Archiv Bd. I. S. 401. 454. Taf. III. Fig. 7). _a_ in der Entfärbung begriffene, körnig gewordene Blutkörperchen. _b_ Zellen der Neuroglia, zum Theil mit körnigem und krystallinischem Pigment versehen. _c_ Pigmentkörner. _d_ Hämatoidin-Krystalle. _f_ verödetes Gefäss, sein altes Lumen mit körnigem und krystallinischem rothen Pigment erfüllt. Vergr. 300.] Theoretisch besitzt das Hämatoidin noch ein besonderes Interesse dadurch, dass es eine Reihe von Eigenschaften darbietet, welche es als den einzigen, bis jetzt bekannten, mit dem Gallenfarbstoffe (Cholepyrrhin, Bilirubin) verwandten Stoff im Körper erscheinen lassen. Durch direkte Behandlung mit Mineralsäuren oder nach vorherigem Behandeln und Aufschliessen desselben vermittelst Alkalien bekommt man dieselbe oder eine ganz ähnliche Reihe der schönsten Farben-Veränderungen, wie man sie durch Behandlung mit Salpetersäure an dem Gallenfarbstoff erzielt. Andererseits lässt sich durch Chloroform aus der Galle ein krystallisirbarer Farbstoff extrahiren, welcher die grösste Uebereinstimmung mit dem Hämatoidin darbietet. Man kann daher nicht zweifeln, dass das letztere mit Gallenfarbstoff sehr nahe verwandt ist. Da man auch aus anderen Gründen vermuthen muss, dass die gefärbten Theile der Galle Umsetzungsprodukte des Blutroths sind, so ist mit dem von mir nachgewiesenen pathologischen Vorgange zugleich eine wichtige Aufklärung für einen der bedeutendsten Secretionsvorgänge des Körpers geliefert, und manche dunkle Beobachtung der Vorzeit in ein neues Licht gestellt. Wenn im Innern von Extravasaten eine gelblich-rothe Substanz entsteht, welche man wirklich als eine neugebildete Art von Gallenfarbstoff bezeichnen kann, so versteht man leicht jene sonderbaren Farbenhöfe um gequetschte und ekchymotische Stellen, jene eigenthümlichen gelblichen und bräunlichen Färbungen alter Blutmassen, welche den Grund zu der antiken Lehre von der =Atra bilis= und den =melancholischen= Processen abgegeben haben. [Illustration: =Fig=. 64. Hämin-Krystalle, künstlich aus menschlichem Blute dargestellt. Vergr. 300.] Die zweite Art von Krystallen, welche aus Hämoglobin hervorgehen, wurde später entdeckt; sie sind denen des Hämatoidins sehr ähnlich, unterscheiden sich aber dadurch, dass sie nicht als spontanes Produkt im Körper vorkommen, sondern künstlich dargestellt werden müssen. Sie haben eine mehr dunkel bräunliche Farbe, stellen gewöhnlich platte rhombische Tafeln mit spitzeren Winkeln dar, sind gegen Reagentien ausserordentlich widerstandsfähig und zeigen bei der Einwirkung der Mineralsäuren den eigenthümlichen Farbenwechsel nicht, welcher das Hämatoidin charakterisirt. Sie haben von ihrem Entdecker, =Teichmann=, den Namen des =Hämin='s bekommen, doch ist er in der neuesten Zeit selbst darüber zweifelhaft geworden, ob es nicht eine Art von Hämatin selbst (salzsaures Hämatin) sei. Pathologisch hat das Hämin bis jetzt gar kein Interesse, dagegen hat es eine sehr grosse Bedeutung gewonnen für die gerichtliche Medicin dadurch, dass die Herstellung seiner Krystalle in der letzten Zeit als eines der sichersten Mittel für die Erkennung von Blutflecken angewendet worden ist. Ich selbst bin in forensischen Fällen in der Lage gewesen, solche Proben mit sehr entscheidendem Erfolge zu machen. Zu diesem Zwecke mengt man am besten getrocknetes Blut in möglichst dichtem Zustande mit trockenem, krystallisirtem und gepulvertem Kochsalz, bringt dann auf diese trockene Mischung Eisessig (Acetum glaciale) und dampft bei Kochhitze ab. Ist dies geschehen, so findet man da, wo vorher die Blutreste oder die zweifelhafte hämatinhaltige Substanz waren, die Häminkrystalle. Es ist dies eine Reaction, die mit zu den sichersten und zuverlässigsten gehört, die wir überhaupt kennen. Denn es ist keine andere Substanz bekannt, welche eine solche Umbildung erleidet, als das Hämatin. Diese Probe ist ferner deshalb ausserordentlich wichtig, weil sie auch auf ganz minimale Mengen anwendbar ist; nur darf die Menge nicht über eine zu grosse Fläche verbreitet sein. Die Probe würde also nur schwer anwendbar sein, wenn es sich um ein Tuch handelte, welches in eine dünne, wässerige, mit Blut gefärbte Flüssigkeit getaucht war. Aber ich habe an dem Rocke eines Ermordeten, an dessen Aermel Blut gespritzt war, und wo einzelne Blutstropfen nur eine Linie im Durchmesser hatten, aus solchen Flecken noch zahllose Häminkrystalle darstellen können, natürlich mikroskopische[47]. In Fällen, wo die gewöhnliche chemische Probe wegen der geringen Menge absolut fehlschlagen müsste, sind wir noch im Stande, Hämin zu gewinnen. Bei so wenig Masse ist die Grösse der Krystalle freilich auch nur sehr geringfügig; wir finden dann, wie beim Hämatoidin, kleine, mit spitzen Winkeln versehene, intensiv braun gefärbte Nadeln. [47] Archiv f. path. Anat. u. Physiol. 1857. XII. 337. Die dritte Substanz, welche in diese Reihe hineingehört, ist das früher sogenannte =Hämatokrystallin=, über dessen Entdeckung die Gelehrten streiten, weil es eben stückweis gefunden worden ist. Die erste Beobachtung darüber ist von =Reichert= an Extravasaten im Uterus des Meerschweinchens gemacht, in einem Präparate, das, wie ich denke, schon in Spiritus gelegen hatte. Seine Beobachtung wurde besonders dadurch bedeutungsvoll, dass er an diesen Krystallen nachwies, dass sie sich in gewisser Beziehung wie gewöhnliche eiweissartige Substanzen verhielten, indem sie unter der Wirkung gewisser Agentien grösser, unter der anderer kleiner würden, ohne dabei ihre Form zu verändern, -- eine Erscheinung, welche man bis dahin an Krystallen noch nicht kannte. Später sind diese Krystalle wieder entdeckt worden von =Kölliker=; =Funke=, =Kunde= und namentlich =Lehmann= haben sie genauer untersucht. Es hat sich herausgestellt, dass bei verschiedenen Thierklassen dieselben sehr verschieden sind, indessen hat sich bis jetzt ein bestimmter Grund dafür und eine Ansicht über die Constanz ihrer Zusammensetzung nicht gewinnen lassen. Beim Menschen sind es ziemlich grosse Krystalle. Man hat anfangs geglaubt, sie kämen nur an dem Blute gewisser Organe, namentlich der Milz, vor, allein es hat sich ergeben, dass sie aus jedem Blute, nur in gewissen Krankheits-Prozessen leichter, gewonnen werden können. In einzelnen sehr seltenen Fällen kommt es vor, dass man sie im Blut von Thier-Leichen schon gebildet findet. Diese Krystalle sind sehr leicht zerstörbar; sowohl wenn sie eintrocknen, als wenn sie feucht oder durch irgend ein flüssiges Medium berührt werden, gehen sie zu Grunde; man beobachtet sie daher nur in gewissen Uebergangsstadien, welche gerade getroffen werden müssen, bei der Zerstörung von Blutkörperchen. Die gut ausgebildeten Formen beim Menschen bilden vollkommen rechtwinklige Tafeln oder Säulen; aber sehr oft sind sie äusserst klein und man sieht nur einfache Spiesse, welche in grossen Massen an gewissen Stellen in das Object hineinschiessen. Dabei haben sie die Eigenthümlichkeit, dass sie sich immer noch verhalten, wie das Hämatin selbst, indem sie durch Sauerstoff hellroth, durch Kohlensäure dunkelroth werden. Lange stritt man darüber, ob die ganze Masse der Krystalle aus Farbstoff bestehe, oder ob der Farbstoff nur eine Tränkung an sich farbloser Krystalle bilde; gegenwärtig ist man darin übereingekommen, das Hämatokrystallin als identisch mit dem Hämoglobin anzuerkennen. Es versteht sich demnach für die Beurtheilung der Krystalle von selbst, dass die Farbe durchaus charakteristisch ist, und dass sie mit der gewöhnlichen Blutfarbe unmittelbar zusammenfällt. [Illustration: =Fig=. 65. Farblose Blutkörperchen aus einer Vena arachnoidealis eines Geisteskranken. _A_. Frisch, _a_ in ihrer natürlichen Flüssigkeit, _b_ in Wasser untersucht. _B_. Nach Behandlung mit Essigsäure: _a_-_c_ einkernige, mit immer grösserem, granulirtem und schliesslich nucleolirtem Kern. _d_ einfache Kerntheilung. _e_ weitere Kerntheilung. _f_-_h_ Dreitheilung des Kerns in allmähligem Fortschreiten. _i_-_k_ vier und mehr Kerne. Vergr. 280.] Kehren wir jetzt zu den natürlichen morphologischen Elementen des Blutes zurück, so treffen wir als ferneren Bestandtheil die =farblosen Körperchen= [Lymphkörperchen des Blutes, Leukocyten =Robin='s][48]. Sie kommen im Blute des gesunden Menschen in verhältnissmässig kleiner Zahl vor. Man rechnet ungefähr auf 300 rothe Körperchen 1 farbloses. Wie sie sich gewöhnlich im Blute finden, stellen sie sphärische Körperchen dar, welche in der Regel etwas grösser, zuweilen etwas kleiner oder auch eben so gross, wie die rothen Blutkörperchen sind, von denen sie sich aber auffallend durch den Mangel jeder Färbung und durch ihre vollkommen kugelige Gestalt unterscheiden. In einem Blutstropfen, der zur Ruhe gelangt, pflegen sich die rothen Körperchen in Reihen von der bekannten Form der Geldrollen, mit ihren flachen Scheiben an einander, zusammenzulegen (Fig. 61, _d_); in den Zwischenräumen derselben bemerkt man hier und da ein blasses sphärisches Gebilde, an dem man zunächst, wenn das Blut ganz frisch ist, nichts weiter erkennen kann, als eine leicht höckerig oder uneben aussehende Oberfläche. Lässt man Wasser hinzutreten, so sieht man, dass das Körperchen aufquillt; in dem Maasse, als es mehr Wasser aufnimmt, erscheint zuerst deutlich eine Membran, dann sieht man einen allmählich klarer hervortretenden körnigen Inhalt und zuletzt einen oder mehrere Kerne. Die scheinbar homogene Kugel verwandelt sich auf diese Art nach und nach in ein zartwandiges, oft so brüchiges Gebilde, dass bei unvorsichtiger Einwirkung des Wassers die äusseren Theile anfangen zu zerfallen oder geradezu bersten und im Innern ein leicht körniger Inhalt erkennbar wird, welcher sich mehr und mehr lockert und innerhalb dessen ein einziger, gewöhnlich in der Theilung begriffener oder mehrere Kerne erscheinen. Das Sichtbarwerden der letzteren ist viel schneller zu erlangen, wenn man das Object mit Essigsäure behandelt, welche die Membran durchscheinend macht, den trüben Inhalt klärt und den Kern gerinnen und schrumpfen lässt. Die Kerne erscheinen dann als scharf und dunkel contourirte Körper, seltener einfach, meist mehrfach, je nach den Umständen. Kurz, wir bekommen in der Mehrzahl der Fälle auf diese Weise ein Object zu sehen, wie es =Güterbock= zuerst als die gewöhnliche Erscheinung der Eiterkörperchen kennen gelehrt hat. [48] Gesammelte Abhandlungen. S. 212. Die Frage von der Aehnlichkeit oder Unähnlichkeit der farblosen Blutkörperchen mit den Eiterkörperchen beschäftigt noch immerfort die Beobachter, und die Ansichten über die Beziehung der farblosen Blutkörperchen zu der Pyämie und zu der Pyogenesis werden wahrscheinlich noch eine Reihe von Jahren gebrauchen, ehe sie so weit geklärt sind, dass nicht immer wieder einseitige Rückfälle eintreten. Es ist nehmlich allerdings sehr trügerisch, dass man in manchem Blut Körperchen findet, welche nur einen einzigen, und zwar grossen, nicht selten mit einem Kernkörperchen versehenen Kern haben, während man in anderem Blut nur mehrkernige Körperchen antrifft. Da nun diese letzteren die grösste Aehnlichkeit mit Eiterkörperchen haben, so ist es solchen Beobachtern, welche durch Zufall früher im normalen Blut nur einkernige Körperchen getroffen hatten, nicht zu verdenken, wenn sie in einem neuen Falle, wo sie mehrkernige sehen, glauben, sie hätten etwas wesentlich Anderes vor sich, nehmlich Eiterkörperchen im Blute, und es handle sich um Pyämie. Allein sonderbarer Weise bilden die einkernigen die Ausnahme und man kann lange suchen, ehe man ein Blut findet, wo alle Körperchen nur einen Kern besitzen. Das nebenstehende Object (Fig. 66) ist von einem Blute, in welchem fast lauter einkernige Elemente und zwar in überaus grosser Menge existirten; es fand sich bei einem Manne, welcher an den Blattern gestorben war, und bei welchem zugleich eine höchst auffällige acute Hyperplasie der Bronchialdrüsen bestand. [Illustration: =Fig=. 66. Farblose Blutkörperchen bei variolöser Leukocytose. _a_ freie oder nackte Kerne. _b_, _b_ farblose Zellen mit kleinen, einfachen Kernen. _c_ grössere, farblose Zellen mit grossen Kernen und Kernkörperchen. Vergr. 300.] Nun könnte man glauben, dass dies wesentlich verschiedene Qualitäten von Blut seien. Dagegen muss bemerkt werden, dass allerdings in den Fällen, wo die eine oder andere Art von farblosen Zellen massenhaft existirt, man eine pathologische Erscheinung vor sich hat, während bei geringer Zahl derselben nur ein früheres oder späteres Entwickelungsstadium der Elemente vorliegt. Denn ein und dasselbe Blutkörperchen kann im Verlaufe seiner Lebensgeschichte einen und mehrere Kerne haben, indem der einfache in ein früheres, die mehrfachen in ein späteres Lebensstadium fallen. Bei demselben Individuum sieht man in kurzer Zeit, oft schon in Stunden den Wechsel eintreten, so dass in einem Blute, welches vorher nur einkernige Körperchen hatte, sich später mehrkernige finden, -- ein Beweis von der raschen Veränderung, welcher diese Gebilde unterworfen sind[49]. -- [49] Med. Zeitung des Vereins für Heilkunde in Preussen. 1846. No. 35. Gesammelte Abhandl. S. 162, sowie 650. [Illustration: =Fig=. 67. _A_. Fibringerinnsel aus der Lungenarterie, den Endästen derselben entsprechend, bei _a_, _a_ mit grösseren Platten von leukocytotischen Haufen besetzt, bei _b_, _b_, _b_ mit analogen Körnern. Natürliche Grösse. _B_. Ein Stück eines solchen Korns oder Haufens, aus dichtgedrängten farblosen Blutkörperchen bestehend. Vergr. 280.] Nachdem wir so die verschiedenen festen Bestandtheile kurz gemustert haben, welche sich in dem geronnenen Blute finden, haben wir noch einige Worte hinzuzufügen in Beziehung auf die gröberen Verhältnisse, welche sie unter einander darbieten. Gewöhnlich nimmt man an, dass von den morphotischen Bestandtheilen nur zwei der groben Beobachtung mit blossem Auge zugänglich werden, nehmlich die rothen Blutkörperchen, als Hauptbestandtheil des Cruors, und das Fibrin, welches bei Gelegenheit eine Speckhaut bilden kann, dass dagegen die farblosen Elemente ohne besondere Hülfsmittel in keiner Weise wahrzunehmen seien. Dies ist eine Vorstellung, welche nothwendig berichtigt werden muss. Die farblosen Körper machen sich, wo sie in grösserer Menge vorhanden sind, für das geübtere Auge bei der Trennung der Blutbestandtheile, namentlich wenn während der Gerinnung Bewegung vorhanden ist, sehr deutlich geltend; sie zeigen eine Eigenthümlichkeit, die man insbesondere kennen muss, wenn es sich um die Kritik des Leichenbefundes handelt, und deren Nichtkenntniss zu grossen Irrthümern geführt hat. Sie besitzen nehmlich, wie dies schon in den älteren Discussionen zu Tage getreten ist, welche =Ascherson= mit E. H. =Weber= gehabt hat, eine besondere Klebrigkeit (Viscosität), so dass sie mit Leichtigkeit an einander haften, sich auch unter Umständen an anderen Theilen festsetzen, wo die rothen Körperchen diese Erscheinung nicht darbieten. Die Neigung, an anderen Theilen anzukleben, ist besonders dann sehr deutlich, wenn zugleich ihrer mehrere unter einander in die Lage kommen, gegenseitig mit einander zu verkleben. So geschieht es ausserordentlich leicht, dass in einem Blute, in welchem an sich eine Vermehrung an farblosen Körpern besteht, Agglutinationen derselben vor sich gehen, sobald der Druck, unter welchem das Blut fliesst, nachlässt; in jedem Gefässe, wo sich die Strömung verlangsamt, wo eine Abschwächung des Druckes stattfindet, kann eine solche Agglutination der Körperchen geschehen[50]. [50] Med. Zeitung des Vereins für Heilkunde in Preussen. 1847. No. 4. Gesammelte Abhandl. S. 183. [Illustration: =Fig=. 68. Capillargefäss aus der Froschschwimmhaut. _r_ der centrale Strom der rothen Körperchen. _l_, _l_, _l_ die träge, peripherische Schicht des Blutstromes mit den farblosen Blutkörperchen. Vergr. 300.] Die Klebrigkeit der farblosen Blutkörperchen hat überdies den Effect, dass, wie =Ascherson= dargethan hat, bei der gewöhnlichen Strömung des Blutes durch die Capillargefässe die farblosen Körperchen sich gewöhnlich etwas langsamer fortbewegen, als die rothen, und dass, während die rothen mehr im Centrum des Capillargefässes in einem continuirlichen Strome schwimmen, am Umfange ein verhältnissmässig grosser Raum bleibt, innerhalb dessen sich die farblosen Körperchen, und zwar oft so ausschliesslich, bewegen, dass =Weber= zu dem Schlusse kam, es stecke jedes Capillargefäss in einem Lymphgefässe, innerhalb dessen die farblosen Blut- oder Lymphkörperchen schwömmen. Allein es kann darüber gar kein Zweifel sein, dass es sich meist um einfache Kanäle handelt, in welchen die farblosen Körperchen den Wandungen näher liegen, als die rothen. Hier ist es, wo man, während die Hauptmasse der Körperchen sich fortbewegt, einzelne für einen Augenblick festsitzen, dann sich losreissen und wieder langsam fortgehen sieht, so dass der Name der =trägen Schicht= für diesen Theil des Blutstromes ein vollkommen recipirter geworden ist. Diese beiden Eigenthümlichkeiten, dass bei einer Abschwächung des Blutstromes die Körperchen an den Wandungen des Gefässes stellenweise haften bleiben, gewissermaassen an ihnen ankleben, und dass sie unter einander zu grösseren Klumpen sich zusammenballen, haben zusammen die Wirkung, dass, wenn im Blute viele farblose Körper vorhanden sind und der Tod, wie in den gewöhnlichen Fällen, unter einer allmählichen Abschwächung der Triebkraft erfolgt, in den verschiedensten Gefässen die farblosen Körper sich zu kleinen Haufen zusammenballen und in der Regel am Umfange des späteren Blutgerinnsels liegen bleiben. Ziehen wir z. B. aus der Lungenarterie den gewöhnlich sehr derben Blutstrang heraus, welcher ihr Anfangsstück erfüllt, so kann es sein, dass an seiner Oberfläche kleine Körner (Fig. 67, _A_) sitzen, Knöpfchen von weisser Farbe, welche aussehen, wie einzelne Eiterpunkte, oder welche gar zu mehreren perlschnurartig zusammenhängen. Dieses Vorkommen ist am häufigsten an denjenigen Orten des Gefässsystems, wo die Zahl der Körper an sich am grössten ist, daher insbesondere in der Strecke zwischen der Einmündung des Ductus thoracicus und den Lungencapillaren. Ziemlich leicht vermag das blosse Auge an dem Abscheiden dieser Massen das mehr oder weniger reichliche Vorkommen der farblosen Körperchen zu erkennen. Unter Umständen, wo die Zahl derselben sehr gross wird, sieht man auch wohl ganze Häufchen, die wie eine Scheide einzelne Abschnitte des Gerinnsels umlagern. Bringt man ein solches Häufchen unter das Mikroskop, so sieht man viele Tausende von farblosen Körpern zusammen. Erfolgt die Gerinnung des Blutes, während dasselbe in Ruhe ist, so tritt eine andere Erscheinung sehr deutlich hervor, wie man sie in Aderlass-Gefässen sehen kann. Gerinnt der Faserstoff nicht sehr schnell oder geradezu langsam, wie bei entzündlichem Blute, so fangen innerhalb der ruhenden Blutflüssigkeit die Blutkörperchen an, sich vermöge ihrer Schwere zu senken. Diese Sedimentirung geht bekanntlich so weit, dass, wenn man frisch gelassenes Blut durch Quirlen seines Faserstoffes beraubt (defibrinirt), oder durch Zusatz von Mittelsalzen die Gerinnung hindert oder wenigstens sehr verlangsamt, die Flüssigkeit nach und nach vollkommen klar wird, indem die Körperchen zu Boden fallen. Wenn wir ein an farblosen Blutkörperchen reiches Blut defibriniren und stehen lassen, so bildet sich ein doppeltes Sediment, ein rothes und ein weisses. Das rothe bildet das tiefste, das weisse das höhere Stratum; letzteres sieht vollständig so aus, wie wenn eine Lage von Eiter über dem Blute läge. Wird das Blut nicht defibrinirt, gerinnt es aber langsam, dann kommt die Senkung nicht vollständig zu Stande, sondern es wird nur der höchste Theil der Blutflüssigkeit von Körperchen frei; wenn dann späterhin der Faserstoff gerinnt, so zeigt sich die bekannte Crusta phlogistica, die =Speckhaut=, und wenn wir nach den farblosen Blutkörperchen suchen, so finden wir sie als eine besondere Schicht an der unteren Grenze der Speckhaut. Diese Besonderheit erklärt sich einfach aus dem verschiedenen specifischen Gewichte, welches die beiden Arten von Blutkörperchen haben. Die farblosen sind immer leichte, an fester Substanz arme, sehr zarte Gebilde, während die rothen ein relativ bleiernes Gewicht haben durch ihren grossen Gehalt an Hämoglobin. Sie erreichen daher verhältnissmässig sehr schnell den Boden, während die farblosen noch im Fallen begriffen sind. Wenn man zwei verschieden schwere Substanzen frei in der Luft herunterfallen lässt, so kommen ja auch bei genügender Höhe wegen des Widerstandes der Luft die leichteren Körper später am Boden an. [Illustration: =Fig=. 69. Schema eines Aderlassgefässes mit geronnenem hyperinotischem Blute. _a_ das Niveau der Blutflüssigkeit; _c_ die becherförmige Speckhaut, _l_ die Lymphschicht (Cruor lymphaticus, Crusta granulosa) mit den körnigen und maulbeerartigen Anhäufungen der farblosen Körperchen, _r_ der rothe Cruor.] In der Regel bildet bei der Gerinnung im Aderlassblute der weisse Cruor nicht eine continuirliche, sondern eine unterbrochene Lage, in der Weise, dass an der unteren Seite der Speckhaut kleine Häufchen oder Knötchen haften[51]. Daher hat =Piorry=, welcher zuerst diese Beobachtung machte, aber sie ganz falsch deutete, indem er sie auf eine Entzündung des Blutes selbst (Haemitis) bezog und darauf die Doctrin der Pyämie begründete, diese Form von Speckhaut als =Crusta granulosa s. tuberculosa= bezeichnet. Sie bedeutet nichts weiter, als eine massenhafte und gruppenweise Anhäufung der farblosen Blutkörperchen (=Crusta lymphatica=). [51] Gesammelte Abhandlungen S. 183. Unter allen Verhältnissen gleicht diese Schicht dem Aussehen nach dem Eiter, und da nun, wie wir vorher gesehen haben, auch die einzelnen farblosen Blutkörperchen die Beschaffenheit von Eiterkörperchen haben[52], so ist es leicht begreiflich, dass man nicht bloss bei einem gesunden Menschen in die Lage kommen kann, seine farblosen Blutkörperchen für Eiterkörperchen zu halten, sondern noch mehr bei Kranken, wo das Blut oder andere Theile voll von diesen Elementen sind. Die Frage, wie sie wiederholt aufgeworfen ist, liegt sehr nahe, ob die Eiterkörperchen nicht einfach extravasirte farblose Blutkörperchen seien, oder umgekehrt, ob die innerhalb der Gefässe gefundenen farblosen Blutkörperchen nicht von aussen her aufgenommene Eiterkörperchen seien. Bejaht man diese letztere Frage, so gelangt man auf dem hauptsächlich durch die französischen Autoren (=Ribes=, =Velpeau=, =Maréchal=) verfolgten Wege zu der Lehre von der =Eiterresorption=[53]. Nimmt man dagegen die erstere Auffassung an, so kommt man auf eine Anschauung, wie sie schon seit Hewson in der englischen Literatur sehr verbreitet ist: mit der »plastischen Lymphe« treten auch »Lymphkörperchen« aus. Diese Lehre von der =Lymphexsudation= ist namentlich durch W. =Addison= und =Paget= vertreten worden, und sie hat neuerlich in Beziehung auf die farblosen Körperchen sichere thatsächliche Unterlagen erhalten. So sehr schwanken die herrschenden Lehrsätze. Während vor kaum zwei Decennien jede auffällige Vermehrung der farblosen Blutkörperchen im Blute den Verdacht, ja die zuversichtliche Annahme einer purulenten Infection erregte, so gilt jetzt jede ungewöhnliche Rundzelle an beliebiger Stelle des Körpers für ein farbloses Blutkörperchen, und wie es damals nöthig war, der unberechtigten Ausdehnung der Pyämie-Lehre entgegen zu treten, so muss man jetzt der ungemessenen Erweiterung der Lehre von der Lymphexsudation Schranken setzen. [52] Gesammelte Abhandlungen S. 653. [53] Ebendas. S. 462, 640, 645. Allein die neuere Forschung hat auf diesem Felde überaus glückliche Erfolge gehabt, indem sie zu einer genaueren Beobachtung der =Lebenserscheinungen der farblosen Blutkörperchen= geführt hat. Schon =Wharton Jones= hatte spontane Gestaltveränderungen dieser Gebilde beschrieben, wobei sie nach Art gewisser niederer pflanzlicher und thierischer Organismen Fortsätze aus sich hervortreiben und wieder zurückziehen. Weitere Untersuchungen haben bestätigt, dass in der That sehr lebhafte =Bewegungen= an den Körpersubstanz der farblosen Blutkörperchen vorkommen, die man in gewissem Sinne als Contractionen bezeichnen kann, wenngleich dieser Ausdruck, den wir bisher gewohnt waren, nur auf die in ganz bestimmter Richtung geschehende Zusammenziehung muskulöser Theile zu beziehen, leicht zu Missverständnissen Veranlassung geben kann. =Häckel= sah sodann die farblosen Blutkörperchen niederer Thiere Farbstoffkörperchen in sich aufnehmen; v. =Recklinghausen= wies dasselbe für die Wirbelthiere nach und lehrte damit ein wichtiges Mittel kennen, die Zellen durch Aufnahme von gefärbten Theilen gleichsam zu markiren. Endlich beobachteten =Waller= und =Cohnheim= die =Auswanderung= der farblosen Blutkörperchen aus den Gefässen lebender Thiere auf die Oberflächen und in die Gewebe der Umgebung bei anhaltender Fixirung bestimmter Stellen unter dem Mikroskope. Auf diese Weise ist gerade an einer Art von Elementen, welche früher kaum der Aufmerksamkeit des Arztes werth erschienen, eine Fülle der wichtigsten Lebensthätigkeiten, ja eine Freiheit und Selbständigkeit dieser Thätigkeiten dargethan worden, welche die farblosen Blutkörperchen zu einem der günstigsten Objecte für die Demonstration vitaler Vorgänge und zugleich zu einem der bedeutungsvollsten Ausgangspunkte pathologischer Studien erheben. Als ich vor nunmehr 25 Jahren den Satz aussprach: »Ich vindicire für die farblosen Blutkörperchen eine Stelle in der Pathologie«[54], da hatte ich freilich noch keine Ahnung von den weitaussehenden Consequenzen, welche sich an diesen Versuch geknüpft haben. Denn man kann schon jetzt sagen, dass die cellulare Doctrin nirgends eine so unzweifelhafte Bedeutung erlangt hat, als durch die immer zahlreicheren Erfahrungen über diese früher so vernachlässigten Gebilde. [54] Med. Zeitung des Vereins für Heilkunde in Preussen. 1846. September. No. 36. Neuntes Capitel. Blutbildung und Lymphe. Wechsel und Ersatz der Blutbestandtheile. =Die rothen Körperchen=. Hinfälligkeit derselben. Theilung derselben bei Embryonen. Zerbröckelung bei ungünstigen Einwirkungen. Ersatz aus der Lymphe. Das =Fibrin=. Die Lymphe und ihre Gerinnung. Nichtgerinnung des Capillarblutes in der Leiche. Das lymphatische Exsudat. Fibrinogene Substanz. Speckhautbildung. Lymphatisches Blut, Hyperinose, phlogistische Krase. Locale Fibrinbildung. Fibrintranssudation. Fibrinbildung im Blute. Die =farblosen Blutkörperchen= (Lymphkörperchen). Ihre Vermehrung bei Hyperinose und Hypinose (Erysipel, Pseudoerysipel, Typhus). Leukocytose und Leukämie. Die lienale und lymphatische Leukämie. =Milz=- =und Lymphdrüsen= als hämatopoëtische Organe. Structur der Lymphdrüsen. Rinden- und Marksubstanz. Das eigentliche Parenchym derselben: Follikel (Markstränge), Reticulum, Lymphsinus. Parenchymzellen (Lymphdrüsenkörperchen) und ihr Verhältniss zu Lymph- und farblosen Blutkörperchen. Diagnose und Abstammung der letzteren. -- Bau der Milz. Siebförmige Einrichtung der Gefässwände in der Pulpa. -- Umbildung farbloser Blutkörperchen in farbige. Ort derselben. Das rothe Knochenmark. =Lymphgefässe=. Zusammenhang mit dem Röhrensystem des Bindegewebes. Bau der grösseren Lymphgefässe: Contraktilität und Klappen derselben. Lymphcapillaren (Lymphgefäss-Wurzeln): einfache Epithel-Wand. Bedeutung der Bindegewebskörperchen und der Lymphe überhaupt. Recrementitielle und plastische Natur der Lymphe. Hat man sich mit den einzelnen morphologischen Elementen des Blutes und den besonderen Eigenthümlichkeiten derselben bekannt gemacht, so ist das Nächste die Frage nach der Entstehung derselben. Aus den Erfahrungen über die erste Entwickelung der Blutelemente lassen sich wesentliche Rückschlüsse machen auf die Natur der Veränderungen, welche unter krankhaften Verhältnissen in der Blutmasse stattfinden. Früher betrachtete man das Blut mehr als einen in sich abgeschlossenen Saft, welcher allerdings gewisse Beziehungen nach aussen habe, aber doch in sich selbst eine wirkliche Dauer besitze; man nahm deshalb an, dass sich auch besondere Eigenschaften dauerhaft daran erhalten, ja viele Jahre hindurch fortbestehen könnten. Natürlich durfte man dabei den Gedanken nicht zulassen, dass die Bestandtheile des Blutes vergänglicher Natur seien, und dass neue Elemente hinzukämen, welche alte, verloren gegangene ersetzten. Denn die Dauerhaftigkeit eines Theiles als solchen setzt entweder voraus, dass er in seinen Elementen dauerhaft ist, oder dass die Elemente innerhalb des Theiles immerfort neue erzeugen, welche alle Eigenthümlichkeiten der alten erben. Für das Blut müsste man also entweder annehmen, seine Bestandtheile wären wirklich durch Jahre fortbestehend und könnten Jahre lang dieselben Veränderungen bewahren, oder man müsste sich denken, dass das Blut von einem Theilchen auf das andere etwas übertrüge, in der Art, dass von einem mütterlichen Bluttheilchen auf ein töchterliches etwas Hereditäres fortgepflanzt würde. Von diesen Möglichkeiten ist die erstere gegenwärtig gänzlich unhaltbar. Es denkt im Augenblick wohl Niemand daran, dass die einzelnen Bestandtheile des Blutes eine Dauer von vielen Jahren haben. Dagegen lässt sich die Möglichkeit nicht von vorn herein zurückweisen, dass innerhalb des Blutes die Elemente eine Fortpflanzung erfahren, und dass sich von Element zu Element gewisse erbliche Eigenthümlichkeiten übertragen, welche zu einer gewissen Zeit im Blute eingeleitet sind. Allein mit einer gewissen Zuverlässigkeit kennen wir solche Erscheinungen der Fortpflanzung des Blutes nur aus einer früheren Zeit des embryonalen Lebens. Hier scheint es nach Beobachtungen, die erst in der neuesten Zeit von =Remak= und =Metschnikow= wiederum bestätigt sind, dass die vorhandenen Blutkörperchen sich direkt theilen, in der Art, dass in einem Körperchen, welches in der ersten Zeit der Entwickelung sich als kernhaltige Zelle darstellt, zuerst eine Theilung des Kernes eintritt (Fig. 60, _c_), dass dann die ganze Zelle sich einkerbt und nach und nach wirkliche Uebergänge zu einer vollständigen Theilung erkennen lässt. In dieser frühen Zeit ist es daher allerdings zulässig, das Blutkörperchen als den Träger von Eigenschaften zu betrachten, welche sich von der ersten Reihe von Zellen auf die zweite, von dieser auf die dritte u. s. f. fortpflanzen. Allein in dem Blute des entwickelten Menschen, ja selbst im Blute des Fötus der späteren Schwangerschaftsmonate sind solche Theilungs-Erscheinungen nicht mehr bekannt, und keine einzige von den Thatsachen, welche man aus der Entwickelungsgeschichte beizubringen vermag, spricht dafür, dass in dem entwickelten Blute eine Vermehrung der zelligen Elemente durch direkte Theilung oder irgend eine andere im Blute selbst gelegene Neubildung stattfinde. Man weiss wohl, dass unter gewissen Verhältnissen, z. B. bei Einwirkung von Harnstoff und manchen Salzen, die rothen Blutkörperchen sich einschnüren und endlich in Stücke zerfallen oder einzelne, meist rundliche Stückchen (Körnchen) von sich abschnüren, allein diese Stückchen, welche noch G. =Zimmermann= als die ersten Anfänge neuer Blutkörperchen betrachtete, sind nichts anderes, als Trümmer. So lange man die Möglichkeit als erwiesen betrachtete, dass aus einem einfachen Cytoblastem durch direkte Ausscheidung differenter Materien Zellen entständen, so lange konnte man auch in der Blutflüssigkeit sich neue Niederschläge bilden lassen, aus denen Zellen hervorgingen. Allein auch davon ist man zurückgekommen. Alle morphologischen Elemente des Blutes, wie sie auch beschaffen sein mögen, leitet man gegenwärtig von Orten ab, welche ausserhalb des Blutes liegen. Ueberall geht man zurück auf Organe, welche mit dem Blute nicht direkt, sondern vielmehr durch Zwischenbahnen in Verbindung stehen. Die Hauptorgane, welche in dieser Beziehung in Frage kommen, sind die lymphatischen. Die =Lymphe= ist die Flüssigkeit, welche, während sie dem Blute gewisse Stoffe zuführt, die von den Geweben kommen, zugleich die körperlichen Elemente mit sich bringt, aus welchen die Zellen des Blutes sich fort und fort ergänzen. In Beziehung auf zwei Bestandtheile des Blutes dürfte es kaum zweifelhaft sein, dass diese Anschauung eine vollkommen berechtigte ist, nehmlich in Beziehung auf den Faserstoff und die farblosen Blutkörperchen. Was den =Faserstoff= anbetrifft, dessen morphologische Eigenschaften ich im vorigen Capitel besprach, so ist es eine sehr wesentliche und wichtige Thatsache, dass derjenige Faserstoff, welcher in der Lymphe circulirt[55], gewisse Verschiedenheiten darbietet von dem Faserstoffe des Blutes, welchen wir zu Gesicht bekommen, wenn wir Extravasate oder aus der Ader gelassenes Blut betrachten. Der Faserstoff der Lymphe hat die besondere Eigenthümlichkeit, dass er unter den gewöhnlichen Verhältnissen innerhalb der Lymphgefässe weder im Leben noch nach dem Tode gerinnt, während das Blut in manchen Fällen schon während des Lebens, regelmässig aber nach dem Tode gerinnt, so dass die Gerinnungsfähigkeit dem Blute als eine regelmässige Eigenschaft zugeschrieben wird. In den Lymphgefässen eines todten Thieres oder einer menschlichen Leiche findet man keine geronnene Lymphe, dagegen tritt die Gerinnung alsbald ein, sobald die Lymphe mit der äusseren Luft in Contact gebracht oder von einem erkrankten Organe her verändert wird. [55] Gesammelte Abhandl. S. 105. Allerdings zeigt sich auch innerhalb der Gefässe einer Leiche am Blute eine sehr auffällige und schwer zu erklärende Verschiedenheit. Während das Blut des Herzens und der grösseren Gefässe nach dem Tode gerinnt, so =bleibt das Capillarblut flüssig=. Sonderbarerweise übersieht man diese wichtige Erscheinung fast immer, so wichtig sie auch für die Deutung des örtlichen Verhaltens der Färbung der Gefässe, insbesondere der postmortalen Ortsveränderungen, Senkungen u. s. w. des Blutes ist. Aber das Capillarblut der Leiche unterscheidet sich dadurch von der Lymphe, dass es auch nicht mehr gerinnt, wenn es aus den Capillaren entleert und der Luft ausgesetzt wird. Was nun die Lymphe anbetrifft, so muss ich noch immer an der Anschauung festhalten, dass in derselben kein fertiges Fibrin enthalten ist, sondern dass dies erst fertig wird, sei es durch den Contact mit der atmosphärischen Luft, sei es unter abnormen Verhältnissen durch die Zuführung veränderter Stoffe, oder durch den Contact mit besonderen Substanzen. Die normale Lymphe führt eine Substanz, welche sehr leicht in Fibrin übergeht, und, wenn sie geronnen ist, sich vom Fibrin kaum unterscheidet, welche aber, so lange sie im gewöhnlichen Laufe des Lymphstromes sich befindet, nicht als eigentlich fertiges Fibrin betrachtet werden kann. Es ist dies eine Substanz, welche ich lange, bevor ich auf ihr Vorkommen in der Lymphe aufmerksam geworden war, in verschiedenen Exsudaten constatirt hatte, namentlich in pleuritischen Flüssigkeiten[56]. [56] Archiv 1847. I. 572. Gesammelte Abhandl. 104, 516. In manchen Formen der Pleuritis bleibt das Exsudat lange flüssig, und da kam mir vor einer Reihe von Jahren der besondere Fall vor, dass durch eine Punction des Thorax eine Flüssigkeit entleert wurde, welche vollkommen klar und flüssig war, aber kurze Zeit, nachdem sie entleert war, in ihrer ganzen Masse mit einem Coagulum sich durchsetzte, wie es oft genug in Flüssigkeiten aus der Bauchhöhle gesehen wird. Nachdem ich dieses Gerinnsel durch Quirlen aus der Flüssigkeit entfernt und mich von der Identität desselben mit dem gewöhnlichen Faserstoff überzeugt hatte, zeigte sich am nächsten Tage ein neues Coagulum, und so auch in den folgenden Tagen. Diese Gerinnungsfähigkeit dauerte 14 Tage lang, obwohl die Entleerung mitten im heissen Sommer stattgefunden hatte. Es war dies also eine von der gewöhnlichen Gerinnung des Blutes wesentlich abweichende Erscheinung, welche sich nicht wohl begreifen liess, wenn wirkliches Fibrin als fertige Substanz darin enthalten war, und welche darauf hinzuweisen schien, dass erst unter Einwirkung der atmosphärischen Luft Fibrin entstünde aus einer Substanz, welche dem Fibrin allerdings nahe verwandt sein musste, aber doch nicht wirkliches Fibrin sei. Ich schlug darum vor, dieselbe als =fibrinogene= Substanz zu trennen, und nachdem ich später darauf gekommen war, dass es dieselbe Substanz ist, welche wir in der Lymphe finden, so konnte ich meine Ansicht dahin erweitern, dass auch in der Lymphe der Faserstoff nicht fertig enthalten sei. Dieselbe Substanz, welche sich von dem gewöhnlichen Fibrin dadurch unterscheidet, dass sie eines mehr oder weniger langen Contactes mit der atmosphärischen Luft bedarf, um coagulabel zu werden, findet sich unter gewissen Verhältnissen auch im Blute der peripherischen Venen vor, so dass man auch durch eine gewöhnliche Venaesection am Arme Blut bekommen kann, welches sich vom gewöhnlichen Blute durch die Langsamkeit seiner Gerinnung unterscheidet. =Polli= hat die so gerinnende Substanz =Bradyfibrin= (langsames Fibrin) genannt. Solche Fälle kommen besonders vor bei entzündlichen Erkrankungen der Respirationsorgane und geben am Häufigsten Veranlassung zur Bildung einer =Speckhaut= (Crusta phlogistica). Es ist bekannt, dass die gewöhnliche Crusta phlogistica bei pneumonischem oder pleuritischem Blut um so leichter eintritt, je wässeriger die Blutflüssigkeit ist, je mehr die Blutmasse an festen Bestandtheilen verarmt ist, aber es ist wesentlich dabei, dass auch das Fibrin langsam gerinnt. Wenn man mit der Uhr in der Hand den Vorgang controlirt, so überzeugt man sich, dass bei der Crustenbildung eine sehr viel längere Zeit vergeht, als bei der gewöhnlichen Gerinnung. Von dieser häufigen Erscheinung, wie sie sich bei der gewöhnlichen Crustenbildung der entzündlichen Blutmasse findet, zeigen sich nun allmähliche Uebergänge zu einer immer längeren Dauer des Flüssigbleibens. Das Aeusserste dieser Art, was bis jetzt bekannt ist, geschah in einem Falle, den =Polli= beobachtete. Bei einem an Pneumonie leidenden, rüstigen Manne, welcher im Sommer, zu einer Zeit, welche gerade nicht die äusseren Bedingungen für die Verlangsamung der Gerinnung darbietet, in die Behandlung kam, gebrauchte das Blut, welches aus der geöffneten Ader floss, acht Tage, ehe es anfing zu gerinnen, und erst nach 14 Tagen war die Coagulation vollständig. Es fand sich dabei auch die andere, von mir am pleuritischen Exsudat beobachtete Erscheinung, dass im Verhältniss zu dieser späten Gerinnung eine ungewöhnlich späte Zersetzung (Fäulniss) des Blutes stattfand. Da nun Erscheinungen dieser Art überwiegend häufig bei Brustaffectionen beobachtet werden, so überwiegend, dass man seit langer Zeit die Speckhaut als Corium pleuriticum bezeichnet hat, so scheint daraus mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hervorzugehen, dass das Respirationsgeschäft einen bestimmenden Einfluss hat auf das Vorkommen oder Nichtvorkommen der fibrinogenen Substanz im Blute. Jedenfalls setzt sich die Eigenthümlichkeit, welche die Lymphe besitzt, unter Umständen auf das Blut fort, so dass entweder das ganze Blut daran Antheil nimmt, und zwar um so mehr, je grössere Störungen die Respiration erleidet, oder dass neben dem gewöhnlichen, schnell gerinnenden Stoffe ein langsamer gerinnender gefunden wird. Oft bestehen nehmlich zwei Arten von Gerinnung in demselben Blute neben einander, eine frühe und eine späte, namentlich in den Fällen, wo die direkte Analyse eine Vermehrung des Faserstoffes, eine =Hyperinose= (=Franz Simon=) ergibt. Diese hyperinotischen Zustände führen also darauf hin, dass bei ihnen eine vermehrte Zufuhr von Lymphflüssigkeit zum Blute stattfindet, und dass die Stoffe, welche sich nachher im Blute finden, nicht ein Product innerer Umsetzung desselben sind, dass also die letzte Quelle des Fibrins nicht im Blute selbst gesucht werden darf, sondern an jenen Punkten, von welchen die Lymphgefässe die vermehrte Fibrinmasse zuführen. Zur Erklärung dieser Erscheinungen habe ich eine etwas kühne Hypothese gewagt, welche ich jedoch für vollkommen discussionsfähig erachte, nehmlich die, =dass das Fibrin, wenn es im Körper ausserhalb des Blutes vorkommt, nicht immer als eine Abscheidung aus dem Blute zu betrachten ist, sondern häufig als ein Local-Erzeugniss=, und ich habe versucht, eine wesentliche Veränderung in der Auffassung der sogenannten phlogistischen Krase in Beziehung auf die Localisation derselben einzuführen[57]. Während man früher gewöhnt war, die veränderte Mischung des Blutes bei der Entzündung als ein von vorn herein bestehendes und namentlich durch primäre Vermehrung des Faserstoffes bezeichnetes Moment zu betrachten, so habe ich vielmehr die Krase als ein von der localen Entzündung abhängiges Ereigniss entwickelt. Gewisse Organe und Gewebe besitzen an sich in höherem Grade die Eigenschaft, Fibrin zu erzeugen und das Vorkommen von grossen Massen von Fibrin im Blute zu begünstigen, während andere Organe ungleich weniger dazu geeignet sind. [57] Handbuch der spec. Pathologie u. Therapie. 1854. I. 75. Gesammelte Abhandlungen. 135. Ich habe ferner darauf hingewiesen, dass diejenigen Organe, welche diesen eigenthümlichen Zusammenhang eines sogenannten phlogistischen Blutes mit einer localen Entzündung besonders häufig darbieten, im Allgemeinen mit Lymphgefässen reichlich versehen sind und mit grossen Massen von Lymphdrüsen in Verbindung stehen, während alle diejenigen Organe, welche entweder sehr wenige Lymphgefässe enthalten, oder in welchen wir kaum Lymphgefässe kennen, auch einen nicht nennenswerthen Einfluss auf die fibrinöse Mischung des Blutes ausüben. Es haben schon frühere Beobachter bemerkt, dass es Entzündungen sehr wichtiger Organe gibt, z. B. des Gehirns, bei denen man die phlogistische Krase eigentlich gar nicht findet. Aber gerade im Gehirn kennen wir nur wenige Lymphgefässe. Wo dagegen die Mischung des Blutes am frühesten verändert wird, bei den Erkrankungen der Respirationsorgane, da findet sich auch ein ungewöhnlich reichliches Lymphnetz. Nicht bloss die Lungen sind davon durchsetzt und überzogen, sondern auch die Pleura hat ausserordentlich reiche Verbindungen mit dem Lymphsystem, und die Bronchialdrüsen stellen fast die grössten Anhäufungen von Lymphdrüsen-Masse dar, die irgend ein Organ des Körpers überhaupt besitzt. Andererseits kennen wir keine Thatsache, welche die Möglichkeit zeigte, dass unter einfacher Steigerung des Blutdruckes, oder unter einfacher Veränderung der Bedingungen, unter denen das Blut strömt, in diesen Organen ein Durchtreten spontan gerinnender Flüssigkeiten von den Capillaren her in das Parenchym oder auf die Oberfläche derselben erfolgen könnte. Man denkt sich allerdings in der Regel, dass im Verhältniss zur Stromstärke des Blutes auch eine fibrinöse Zumischung zum Exsudate stattfinde, aber dies ist nie durch ein Experiment bewiesen worden. Niemals ist Jemand im Stande gewesen, durch blosse Veränderung in der Strömung des Blutes im lebenden Körper das Fibrin zu einer direkten Transsudation aus den Capillaren in Form eines entzündlichen Processes zu vermögen; dazu bedürfen wir immer eines Reizes. Man kann die beträchtlichsten Hemmungen im Circulationsgeschäft herbeiführen, die colossalsten Austretungen von serösen Flüssigkeiten experimentell erzeugen, aber nie erfolgt dabei jene eigenthümliche fibrinöse Exsudation, welche die Reizung gewisser Gewebe mit so grosser Leichtigkeit hervorruft. Dass das Fibrin in der Blutflüssigkeit selbst durch eine Umsetzung des Eiweisses entstünde, ist eine chemische Theorie, die weiter keine Stütze für sich hat, als die, dass Eiweiss und Fibrin grosse chemische Aehnlichkeit haben, und dass man sich, wenn man die zweifelhafte chemische Formel des Fibrins mit der ebenso zweifelhaften Formel des Eiweisses vergleicht, durch das Ausscheiden von ein paar Atomen den Uebergang von Albumin in Fibrin sehr leicht denken kann. Allein diese Möglichkeit der Formelüberführung beweist nicht das Geringste dafür, dass eine analoge Umsetzung in der Blutmasse geschehe. Sie kann möglicherweise im Körper erfolgen, aber auch dann ist es jedenfalls wahrscheinlicher, dass sie in den Geweben erfolgt, und dass erst von da aus eine Fortführung durch die Lymphe geschieht. Indess ist dies um so mehr zweifelhaft, als die rationelle Formel für die chemische Zusammensetzung des Eiweisses und des Faserstoffes bis jetzt noch nicht ermittelt ist, und die unglaublich hohen Atomzahlen der empirischen Formel auf eine sehr zusammengesetzte Gruppirung der Atome hindeuten. Halten wir daher an der Erfahrung fest, dass das Fibrin nur dadurch zum Austritt auf irgend eine Oberfläche gebracht werden kann, dass wir ausser der Störung der Circulation auch noch einen Reiz, d. h. eine locale Veränderung des Gewebes setzen. Diese locale Veränderung genügt aber erfahrungsgemäss für sich, um den Austritt von Fibrin zu bedingen, wenn auch keine Hemmung der Circulation eintritt. Es bedarf dieser Hemmung gar nicht, um die Erzeugung von Fibrin an einem bestimmten Punkte einzuleiten. Im Gegentheil sehen wir, dass in der besonderen Beschaffenheit der gereizten Theile die Ursache der grössten Verschiedenheiten gegeben ist. Wenn wir einfach eine reizende Substanz auf die Hautoberfläche bringen, so gibt es bei geringeren Graden der Reizung, mag sie nun chemischer oder mechanischer Natur sein, eine Blase, ein seröses Exsudat. Ist die Reizung stärker, so tritt eine Flüssigkeit aus, welche in der Blase vollkommen flüssig erscheint, aber nach ihrer Entleerung coagulirt. Fängt man die Flüssigkeit einer Vesicatorblase in einem Uhrschälchen auf und lässt sie an der Luft stehen, so bildet sich ein Coagulum; es ist also fibrinogene Substanz in der Flüssigkeit. Nun gibt es aber zuweilen Zustände des Körpers, wo ein äusserlicher Reiz genügt, um Blasen mit direkt coagulirender Flüssigkeit hervorzurufen. Im Winter von 1857-58 hatte ich einen Kranken auf meiner Abtheilung, welcher von einer Erfrierung der Füsse eine Anästhesie zurückbehielt, wogegen ich unter Anderem locale Bäder mit Königswasser anwendete. Nach einer gewissen Zahl solcher Bäder bildeten sich jedesmal an den anästhetischen Stellen der Fusssohle Blasen bis zu einem Durchmesser von zwei Zoll, welche bei ihrer Eröffnung sich mit grossen gallertigen Massen von fibrinösem Coagulum (nicht etwa mit Eiweiss-Niederschlägen) erfüllt zeigten. Bei anderen Menschen hätten sich wahrscheinlich einfache Blasen gebildet, mit einer Flüssigkeit, die erst nach dem Herauslassen erstarrt wäre. Diese Verschiedenheit liegt offenbar in der Verschiedenheit nicht der Blutmischung, sondern der örtlichen Disposition. Die Differenz zwischen der Form von Pleuritis, welche von Anfang an coagulable und spontan coagulirende Substanzen abscheidet, und derjenigen, wo coagulable, aber nicht spontan coagulirende Flüssigkeiten austreten, weist gewiss auf Besonderheiten der localen Reizung hin. Ich glaube also nicht, dass man berechtigt ist zu schliessen, dass Jemand, der mehr Fibrin im Blute hat, damit auch eine grössere Neigung zu fibrinöser Transsudation besitze; vielmehr erwarte ich, dass bei einem Kranken, der an einem bestimmten Orte sehr viel fibrinbildende Substanz producirt, von diesem Orte aus viel von dieser Substanz in die Lymphe und endlich in das Blut übergehen wird. Man kann also das Exsudat in solchen Fällen betrachten als den Ueberschuss des in loco gebildeten Fibrins, für dessen Entfernung die Lymphcirculation nicht genügte. So lange der Lymphstrom ausreicht, wird Alles, was in dem gereizten Theile an Stoffen gebildet wird, auch dem Blute zugeführt; sobald die örtliche Production über dieses Maass hinausschreitet, häufen sich die Producte an, und neben der Hyperinose wird auch eine örtliche Ansammlung oder Ausscheidung von fibrinösem Exsudat stattfinden. Ist diese Deutung richtig, und ich denke, dass sie es ist, so würde sich auch hier wieder jene Abhängigkeit der Dyscrasie von der örtlichen Krankheit ergeben, welche ich schon früher als den wesentlichsten Gewinn aller unserer Untersuchungen über das Blut hingestellt habe. Es ist nun eine sehr bemerkenswerthe Thatsache, welche gerade für diese Auffassung von Bedeutung ist, dass =sehr selten eine erhebliche Vermehrung des Fibrins Statt findet ohne gleichzeitige Vermehrung der farblosen Blutkörperchen=, dass also die beiden wesentlichen Bestandtheile, welche wir in der Lymphflüssigkeit finden, auch im Blute wiederkehren. In jedem Falle einer Hyperinose kann man auf eine Vermehrung der farblosen Körperchen rechnen, oder, anders ausgedrückt, jede Reizung eines Theiles, welcher mit Lymphgefässen reichlich versehen ist und mit Lymphdrüsen in einer ausgiebigen Verbindung steht, bedingt auch die Einfuhr grosser Massen farbloser Zellen (Lymphkörperchen) ins Blut. Diese Thatsache ist besonders interessant insofern, als man daraus begreifen kann, wie nicht bloss gewisse Organe, welche reich versehen sind mit Lymphgefässen, eine solche Vermehrung bedingen können, sondern wie auch gewisse Processe eine grössere Fähigkeit besitzen, beträchtliche Mengen von diesen Elementen in das Blut zu führen. Es sind dies alle diejenigen, welche früh mit bedeutender Erkrankung des Lymphgefäss-Systems verbunden sind. Vergleicht man eine erysipelatöse oder eine diffuse phlegmonöse (nach =Rust= pseudoerysipelatöse) Entzündung in ihrer Wirkung auf das Blut mit einer einfachen oberflächlichen Hautentzündung, wie sie im Verlauf der gewöhnlichen acuten Exantheme, nach traumatischen oder chemischen Einwirkungen auftritt, so ersieht man alsbald, wie gross die Differenz ist. Jede erysipelatöse oder diffuse phlegmonöse Entzündung hat die Eigenthümlichkeit, frühzeitig die Lymphgefässe zu afficiren und Schwellungen der lymphatischen Drüsen hervorzubringen. In jedem solchen Falle aber kann man darauf rechnen, dass eine Zunahme in der Zahl der farblosen Blutkörperchen stattfindet. Weiterhin ergibt sich die bezeichnende Thatsache, dass es gewisse Processe gibt, welche gleichzeitig Fibrin und farblose Blutkörperchen vermehren, andere dagegen, welche nur die Zunahme der letzteren bewirken. In diese Kategorie gehört gerade die ganze Reihe der einfachen diffusen Hautentzündungen, wo auch an den Erkrankungsorten keine erhebliche Fibrinbildung erfolgt. Andererseits gehört dahin eine Menge von Zuständen, welche vom Gesichtspunkt der Faserstoff-Menge als =hypinotische= (=Franz Simon=) bezeichnet werden, alle die Processe, welche in die Reihe der typhösen zählen, und die darin übereinkommen, dass sie bald diese, bald jene Art von bedeutender Anschwellung der Lymphdrüsen, aber keine locale Faserstoff-Exsudation hervorbringen. So setzt der Typhus diese Veränderungen nicht nur an der Milz, sondern auch an den Mesenterial-Drüsen. Den einfachen Zustand von Vermehrung der farblosen Körperchen im Blute, welcher abhängig erscheint von einer Reizung der Blutbereitenden Drüsen, habe ich mit dem Namen der =Leukocytose= belegt[58]. Nun weiss man, dass eine andere Angelegenheit lange der Gegenstand meiner Studien gewesen ist, die von mir[59] sogenannte =Leukämie=, und es handelt sich zunächst darum, festzustellen, wie weit sich die eigentliche Leukämie von den leukocytotischen Zuständen unterscheidet. [58] Gesammelte Abhandlungen 1856. S. 703. [59] Archiv. 1847. I. 563. Schon in den ersten Fällen der Leukämie, welche mir vorkamen, stellte sich eine sehr wesentliche Eigenschaft heraus, nehmlich die, dass in dem Gehalt des Faserstoffes im Blute keine wesentliche Abweichung bestand[60]. Späterhin hat sich gezeigt, dass der Faserstoff-Gehalt je nach der Besonderheit des Falles vermehrt oder vermindert oder unverändert sein kann, dass aber constant eine immerfort steigende Zunahme der farblosen Blutkörperchen stattfindet, und dass diese Zunahme immer deutlicher zusammenfällt mit einer Verminderung der Zahl der gefärbten (rothen) Blutkörperchen, so dass als endliches Resultat ein Zustand herauskommt, in welchem die Zahl der farblosen Blutkörperchen der Zahl der rothen beinahe gleichkommt, und selbst für die gröbere Betrachtung auffallende Phänomene hervortreten. Während wir im gewöhnlichen Blute immer nur auf etwa 300 gefärbte ein farbloses Körperchen rechnen können, so gibt es Fälle von Leukämie, wo die Vermehrung der farblosen in der Weise steigt, dass auf 3 rothe Körperchen schon ein farbloses oder gar 3 rothe auf 2 farblose kommen, ja wo die Zahlen für die farblosen Körperchen die grösseren werden[61]. [60] =Froriep='s Neue Notizen. 1845. No. 780. Gesammelte Abhandl. 149. [61] Archiv 1853. IV. 43 ff. In Leichen erscheint die Vermehrung der farblosen Körperchen meist beträchtlicher, als sie wirklich ist, aus Gründen, die ich schon früher hervorhob (S. 185); diese Körperchen sind ausserordentlich klebrig und häufen sich bei Verlangsamung des Blutstromes in grösseren Massen an, so dass in Leichen die grösste Menge stets im rechten Herzen gefunden wird. Es ist mir einmal, ehe ich Berlin verliess, der besondere Fall passirt, dass ich das rechte Atrium anstach, und der Arzt, welcher den Fall behandelt hatte, überrascht ausrief: »Ah, da ist ein Abscess!« So eiterähnlich sah das Blut aus. Diese eiterartige Beschaffenheit des Blutes ist allerdings nicht in dem ganzen Circulationsstrome vorhanden; nie sieht das Blut im Ganzen wie Eiter aus, weil immer noch eine verhältnissmässig grosse Zahl von rothen Elementen existirt; aber es kommt doch vor, dass das aus der Ader fliessende Blut schon bei Lebzeiten weissliche Streifen zeigt, und dass, wenn man den Faserstoff durch Quirlen entfernt und das defibrinirte Blut stehen lässt, sich alsbald eine freiwillige Scheidung macht, in der Art, dass sich sämmtliche Blutkörperchen, rothe und farblose, allmählich auf den Boden des Gefässes senken, und hier ein doppeltes Sediment entsteht: ein unteres rothes, das von einem oberen, weissen, puriformen überlagert wird. Es erklärt sich dies aus dem ungleichen specifischen Gewicht und den verschiedenen Fallzeiten beider Arten von Körperchen (S. 187). Zugleich giebt dies eine sehr leichte Scheidung des leukämischen Blutes von dem chylösen (lipämischen), wo ein milchiges Aussehen des Serums durch Fettbeimischung entsteht; defibrinirt man solches Blut, so bildet sich nach einiger Zeit nicht ein weisses Sediment, sondern eine rahmartige Schicht an der Oberfläche[62]. [62] Würzburger Verhandl. 1856. VII. 119. Gesammelte Abhandl. S. 138. Es existiren bis jetzt in der Literatur nur vereinzelte Fälle von Leukämie, wo die Kranken, nachdem sie eine Zeit lang Gegenstand ärztlicher Behandlung gewesen waren, als wesentlich gebessert das Hospital verliessen. In der Regel erfolgt der Tod. Ich will daraus keineswegs den Schluss ziehen, dass es sich um eine absolut unheilbare Krankheit handle; ich hoffe im Gegentheil, dass man endlich auch hier wirksame Heilmittel finden wird, aber es ist gewiss eine sehr wichtige Thatsache, dass es sich dabei, ähnlich wie bei der progressiven Muskelatrophie, um Zustände handelt, welche in einem gewissen Stadium, sich selbst überlassen, oder wenn sie unter einer der bis jetzt bekannten Behandlungen stehen, sich fortwährend verschlimmern und endlich zum Tode führen. Es haben diese Fälle noch ausserdem die besondere Merkwürdigkeit, dass sich gewöhnlich in der letzten Zeit des Lebens eine eigentliche =hämorrhagische Diathese= ausbildet und Blutungen entstehen, die besonders häufig in der Nasenhöhle stattfinden (unter der Form von erschöpfender Epistaxis), die aber unter Umständen auch an anderen Punkten auftreten können, so in colossaler Weise als apoplectische Formen im Gehirn oder als melänaartige in der Darmhöhle. Wenn man nun untersucht, von woher diese sonderbare Veränderung des Blutes stammt, so zeigt sich, dass in der grossen Mehrzahl der Fälle ein bestimmtes Organ als das wesentlich erkrankte erscheint, und häufig schon im Anfange der Krankheit den Hauptgegenstand der Klagen und Beschwerden der Kranken bildet, nehmlich die =Milz=. Daneben leidet sehr häufig auch ein Bezirk von =Lymphdrüsen=, aber das Milzleiden steht in der Regel im Vordergrunde. Nur in einer kleinen Zahl von Fällen fand ich die Milz wenig oder gar nicht, die Lymphdrüsen überwiegend verändert, und zwar in solchem Grade, dass Lymphdrüsen, die man sonst kaum bemerkt, zu wallnussgrossen Knoten sich entwickelt hatten, ja, dass an einzelnen Stellen fast nichts weiter als Lymphdrüsen-Substanz zu bestehen schien[63]. Von den Drüsen, welche zwischen den Inguinal- und Lumbal-Drüsen gelegen sind, pflegt man nicht viel zu sprechen; sie haben nicht einmal einen bequemen Namen. Einzelne von ihnen liegen längs der Vasa iliaca, einzelne im kleinen Becken. Im Laufe solcher Leukämien traf ich sie zweimal so vergrössert, dass der ganze Raum des kleinen Beckens wie ausgestopft war mit Drüsenmasse, in welche Rectum und Blase nur eben hineintauchten. [63] Archiv 1847. I. 567. Ich habe deshalb zwei Formen der Leukämie unterschieden, die gewöhnliche =lienale= und die seltenere =lymphatische=. Beide combiniren sich allerdings nicht selten mit einander, jedoch herrscht auch in diesem Falle die eine von beiden so sehr vor, dass man über die Wahl des Namens kaum in Verlegenheit kommen wird. Die Unterscheidung stützt sich nicht allein darauf, dass in dem einen Falle die Milz, im anderen die Lymphdrüsen als Ausgangspunkt der Erkrankung erscheinen, sondern noch mehr darauf, dass die farblosen Elemente, welche im Blute vorkommen, in beiden Fällen verschieden sind. Während nehmlich bei der lienalen Form in der Regel verhältnissmässig grosse, entwickelte Zellen mit mehrfachen, seltener einfachen Kernen im Blute circuliren, die in manchen Fällen überwiegend viel Aehnlichkeit mit Milzzellen haben, so sieht man bei der ausgemacht lymphatischen Form die Zellen klein, die Kerne im Verhältniss zu den Zellen gross und einfach, in der Regel scharf begrenzt, sehr dunkel contourirt und etwas körnig, die Membran häufig so eng anliegend, dass man kaum den Zwischenraum constatiren kann. Oefter sieht es aus, als ob vollkommen freie Kerne im Blute enthalten wären. In jenen gemischten Fällen, wo sowohl die Milz, als die Lymphdrüsen leiden, bieten auch die im Blute vorkommenden Gebilde beiderlei Gestalt dar. Nimmt man die Erfahrungen zusammen, so wird man zu der Schlussfolgerung geführt, dass die Vergrösserung der lymphatischen Drüsen, die in einer wirklichen Vermehrung ihrer Elemente (Hyperplasie) beruht, auch eine grössere Zahl zelliger Theile in die Lymphe und durch diese in das Blut führt, und dass in dem Maasse, als diese Elemente überwiegen, die Bildung der rothen Elemente Hemmungen erfährt. =Die Leukämie ist demnach eine Art von dauerhafter, progressiver Leukocytose; diese dagegen in ihren einfachen Formen stellt einen vorübergehenden, an zeitweilige Zustände gewisser Organe geknüpften Vorgang dar=[64]. [64] Geschwülste. II. 566. Ob damit der ganze Unterschied zwischen Leukämie und Leukocytose erschöpft ist, steht dahin. Ich möchte jedoch darauf aufmerksam machen, dass bei der Leukocytose neben den rothen Körperchen eine vorübergehende Zumischung von zahlreichen farblosen Körperchen stattfindet, ohne dass wir deshalb berechtigt wären, jedesmal eine Abnahme der ersteren zu statuiren. Bei der Leukämie dagegen findet sich eine wirkliche Verminderung der rothen Körperchen; sie stellt, wie ich früher sagte, einen wirklichen =Albinismus= des Blutes dar. Offenbar erleidet also die Bildung der rothen Körperchen eine Hemmung, und es ist gewiss sehr charakteristisch, dass in einem Falle von lienaler Leukämie, der bei uns vorkam, =Klebs= die embryonale Form der kernhaltigen rothen Körperchen bei einem Kinde von 1-1/4 Jahr antraf. Es ist ersichtlich, dass die drei von uns besprochenen dyscrasischen Zustände, welche in einer näheren Beziehung zu der Lymphflüssigkeit stehen, nehmlich die Hyperinose, die Leukocytose und die Leukämie sich mehrfach berühren. Der erstere, der durch Vermehrung des Fibrins ausgezeichnet ist (Hyperinose), bezieht sich mehr auf die veränderte Beschaffenheit der Organe, von wo die Lymphflüssigkeit herkommt, während die durch Vermehrung der farblosen Zellen bedingten Zustände (Leukocytose und Leukämie) mehr von der Beschaffenheit der Drüsen, durch welche die Lymphflüssigkeit strömte, abhängig sind. Diese Thatsachen lassen sich nun wohl nicht anders deuten, als dass man in der That die Milz und die Lymphdrüsen in eine nähere Beziehung zur Entwickelung des Blutes bringt. Dies ist noch wahrscheinlicher geworden, seitdem es gelungen ist, auch chemische Anhaltspunkte zu gewinnen. =Scherer= hat zweimal leukämisches Blut untersucht, das ich ihm übergeben hatte, um dasselbe mit den von ihm gefundenen Milzstoffen zu vergleichen; es ergab sich, dass darin Hypoxanthin, Leucin, Harnsäure, Milch- und Ameisensäure vorkamen. In einem Falle überzog sich eine Leber, die ich einige Tage liegen liess, ganz mit Tyrosinkörnern; in einem anderen krystallisirte aus dem Darminhalte Leucin und Tyrosin in grossen Massen aus. Die grosse Häufigkeit harnsaurer Sedimente im Harn und harnsaurer Concretionen in den Nieren der Leukämischen habe ich wiederholt erwähnt[65]. Kurz, Alles deutet auf eine vermehrte Thätigkeit der Milz, welche normal diese Stoffe in grösserer Menge enthält. [65] Mein Archiv 1853. Bd. V. S. 408. vgl. 1849. Bd. II. S. 590. Es ist eine ziemlich lange Reihe von Jahren (seit 1845) vergangen, während deren ich mich mit meiner Auffassung ziemlich vereinsamt fand. Erst nach und nach ist man, und zwar, wie ich leider gestehen muss, zuerst mehr von physiologischer, als von pathologischer Seite auf diese Gedanken eingegangen, und erst spät hat man sich der Vorstellung zugänglich erwiesen, dass im gewöhnlichen Gange der Dinge die Lymphdrüsen und die Milz in der That eine unmittelbare Bedeutung für die Formelemente des Blutes haben, dass im Besonderen die körperlichen Bestandtheile des letzteren wirkliche Abkömmlinge sind von den Zellen der Lymphdrüsen und der Milz, welche in denselben entstehen, aus ihrem Innern losgelöst und dem Blutstrom zugeführt werden. Kommen wir damit auf die Frage von der Herkunft der Blutkörperchen selbst. Seit dem vorigen Jahrhundert war man gewöhnt, die Lymphdrüsen als blosse Convolute von Lymphgefässen zu betrachten. Bekanntlich sieht man schon vom blossen Auge die zuführenden Lymphgefässe sich in Aeste auflösen, welche in die Lymphdrüse eintreten, innerhalb derselben verschwinden und am Ende aus derselben wieder hervorkommen. Aus den Resultaten der Quecksilber-Injectionen, welche man schon vor einem Jahrhundert mit grosser Sorgfalt unternommen hat, glaubte man schliessen zu müssen, dass das eingetretene Lymphgefäss vielfache Windungen mache, welche sich durchschlängen und endlich in das ausführende Gefäss fortgingen, so dass die Drüse nichts weiter als eine Zusammendrängung von Windungen der einführenden Gefässe, eine Art von Wundernetz, darstelle. Die ganze Sorgfalt der modernen Histologie hat sich daher darauf gerichtet, ein solches einfaches Durchtreten von Lymphgefässen durch die Drüse zu constatiren; nachdem man sich Jahre lang vergebens darum bemüht hatte, hat man es endlich aufgegeben. Im Augenblick dürfte es kaum einen Histologen geben, welcher an eine vollkommene Continuität der Lymphgefässe innerhalb einer Lymphdrüse dächte; meist ist die Anschauung von =Kölliker= acceptirt, dass die Lymphdrüsen den Strom der Lymphe unterbrechen, indem das Lymphgefäss, während es seine Wandungen verliert, sich in das Parenchym der Drüse auflöst und erst aus demselben sich wieder zusammensetzt. Man kann dieses Verhältniss nicht wohl anders vergleichen, als mit einer Art von Filtrirapparat, etwa wie wir ihn im Kohlen- oder Sandfiltrum besitzen. Wenn man eine menschliche Lymphdrüse durchschneidet, so bekommt man häufig eine Bildung zu Gesicht, wie von einer Niere. Da, wo die zuführenden Lymphgefässe sich auflösen und in die Drüse eintauchen, also an dem der Peripherie des Körpers oder des betreffenden Organs zugewendeten Umfange liegt eine derbere Substanz; halb umschlossen von derselben findet sich auf der inneren oder centralen Seite der Drüse eine Art von Hilus, an dem die Lymphgefässe die Drüse wieder verlassen. Derselbe ist erfüllt durch ein maschiges Gewebe von oft deutlich areolärem oder cavernösem Bau, in welches neben den Vasa lymphatica efferentia Blutgefässe eingehen, um von da weiter in die eigentliche Substanz einzudringen. =Kölliker= hat darnach eine Rinden- und Marksubstanz unterschieden; indess ist die sogenannte Marksubstanz häufig kaum noch drüsiger Natur. Letztere findet sich wesentlich an der Rinde, welche bald mehr, bald weniger dick ist. Man thut daher am besten, wenn man jenen Theil einfach den Hilus nennt, da aus- und einführende Gefässe dicht zusammenliegen, gerade so, wie im Hilus der Niere einerseits die Ureteren und Venen abführen, die Arterien zuleiten. Das eigentliche Parenchym der Drüse, die Substantia propria derselben (adenoide Substanz =His=) ist hauptsächlich in dem peripherischen Theile (der Rindensubstanz) enthalten. An diesem unterscheidet man, falls die Drüse einigermaassen gut entwickelt ist (und in einzelnen Fällen pathologischer Vergrösserung wird dies besonders deutlich), schon mit blossem Auge kleine, neben einander gelegene, rundliche, weisse oder graue Körner (Fig. 70, _A_, _F F_). Ist eine mässige Blutfülle vorhanden, so erkennt man ziemlich regelmässig um jedes Korn einen rothen Kranz von Gefässen. Diese Körner hat man seit langer Zeit =Follikel= genannt, aber es war zweifelhaft, ob es besondere Bildungen seien, oder blosse Windungen des Lymphgefässes, welche an die Oberfläche treten. Bei einer feineren mikroskopischen Untersuchung unterscheidet man leicht die eigentliche (drüsige) Substanz der Follikel von dem faserigen Maschen- oder Balkenwerk (Stroma, Trabekeln), welches dieselben umgrenzt und welches nach aussen continuirlich mit dem Bindegewebe der Capsel zusammenhängt. Die innere Substanz besteht überwiegend aus Haufen kleiner Rundzellen (=Lymphdrüsenkörperchen=), die ziemlich lose liegen, eingeschlossen in ein feines Netzwerk von sternförmigen, oft kernhaltigen Balken (=Reticulum=). Letzteres ist zuerst von =Kölliker= nachgewiesen und unter meiner Leitung von G. =Eckard=[66] genauer verfolgt worden, der den Anschluss desselben an die Blutcapillaren dargelegt hat. Von den Lymphgefässen kommt innerhalb des Stroma's nur wenig zu Tage; injicirt man eine Drüse, so geht die Injectionsmasse in die sogenannten Follikel selbst hinein. Untersucht man eine Gekrösdrüse während der Chylification, also vielleicht 4-5 Stunden nach einer fettreichen Mahlzeit, so erscheint ihre ganze Substanz weiss, vollständig milchig; das Mikroskop zeigt feinkörniges Chylusfett überall zwischen den zelligen Elementen der Follikel. Der Strom der Lymphe muss sich also zwischen den Drüsenzellen durchdrängen; eine freie offene Bahn existirt eigentlich gar nicht. Die Drüsenzellen sind in den Maschenräumen zusammengedrängt, im Umfange loser, im Innern dichter, wie die Theilchen in einem Kohlenfiltrum, so dass die Lymphe gleichsam filtrirt und gereinigt auf der anderen Seite wieder hervorquillt. Die Follikel sind demnach als Räume zu betrachten, die mit zelligen Elementen erfüllt, aber von einem vielbalkigen Reticulum durchsetzt sind. Sie können nicht als Windungen oder Erweiterungen der Lymphgefässe gelten; im Gegentheil, sie unterbrechen die offenen Lymphbahnen, und zwar um so vollständiger, je stärker sie entwickelt sind. Aber sie haben keineswegs, wie der äussere Anschein vermuthen lässt, eine kugelige Gestalt, sondern sie bilden längere, strangartige, unter einander zusammenhängende Züge, welche gegen die Rinde hin dicker werden und rundlich endigen. Das sind die sogenannten =Markschläuche= (=His=), =Markstränge= (=Kölliker=) oder =Follicularstränge= (v. =Recklinghausen=). [66] G. =Eckard=: De glandularum lymphaticarum structura. Diss. inaug. Berol. 1858 p. 12. Fig. I-III. [Illustration: =Fig=. 70. Durchschnitte durch die Rinde menschlicher Gekrös-Drüsen. _A_. Schwache Vergrösserung der ganzen Rinde: _P_ Umgebendes Fettgewebe und Capsel, durch welche Blutgefässe _v_, _v_, _v_ eintreten. _F_, _F_, _F_ Follikel der Drüse, in welche sich die Blutgefässe zum Theil einsenken, bei _i_, _i_ das die Follikel trennende Zwischengewebe (Stroma). _B_. Stärkere Vergrösserung (280 mal). _C_ das parallel-fibrilläre Gewebe der Capsel. _a_, _a_ das Reticulum, zum Theil leer, zum Theil mit dem kernigen Inhalt erfüllt. Das Ganze stellt den äusseren Abschnitt eines Follikels dar.] Durch die sorgfältigen Untersuchungen von =His= und =Frey= ist neuerlich der Nachweis geführt, dass die eintretenden Lymphgefässe sich nicht ganz und gar in die Follikel auflösen, sondern dass sie, indem sie ihre besonderen Wandungen einbüssen, sich in sinuöse oder lacunäre Räume (Spalten) verlieren, welche im Umfange der Follikel gelegen, aber gegen das Innere derselben nicht abgeschlossen sind. Auch besteht nach =Frey= durch Vermittelung dieser Sinus oder Lacunen eine offene Verbindung zwischen eintretenden und austretenden Lymphgefässen. Indess muss man gerade bei den Lymphdrüsen sehr vorsichtig sein, die comparativ-anatomischen Erfahrungen ohne Weiteres in die menschliche Anatomie zu übertragen. Bei manchen Säugethieren, namentlich beim Rind, sind die Randsinus allerdings ziemlich gross, und obwohl auch sie durch ein Reticulum durchzogen und keineswegs frei von Zellen sind, so mag immerhin ein freierer Durchgang durch die Drüse bestehen. Beim Menschen dagegen sind die Randsinus viel enger und nicht einmal constant vorhanden, so dass eine so scharfe Grenze zwischen den sogenannten Marksträngen und den Lymphbahnen, wie bei manchen Säugethieren, nicht zu erkennen ist. Jedenfalls kann darüber kein Zweifel bestehen, dass die Lymphe, indem sie sich durch die engen Spalten des Drüsengewebes hindurchzwängt, aus demselben einen Theil der Parenchymzellen ablöst und mit sich fortschwemmt. Die eintretende Lymphe ist verhältnissmässig arm an Zellen[67], die austretende dagegen sehr reich. Diese Zellen erscheinen zunächst in der Lymphe als =Lymphkörperchen=, im Chylus als =Chyluskörperchen=, später im Blute als =farblose Blutkörperchen=. Ueber diesen Zusammenhang besteht kaum noch ein Streit. Aber man darf die Identificirung nicht übertreiben, wie es jetzt so häufig geschieht. Auch die einzelne Epidermiszelle war einmal eine Zelle des Rete Malpighii; nichtsdestoweniger ist sie so sehr verändert, dass man sie nicht mehr eine Rete-Zelle nennen darf. Genau so verhält es sich auch hier. Wenn eine Lymphdrüsenzelle (Parenchymzelle) zu einem Lymphkörperchen (Flüssigkeitszelle) wird, so verändert sie sich, und wenn ein Lymphkörperchen zu einem farblosen Blutkörperchen wird, so verändert es sich wiederum, so dass ein Lymphdrüsenkörperchen von einem Lymphkörperchen und beide von einem farblosen Blutkörperchen regelmässig verschieden sind. [67] Gesammelte Abhandl. S. 214. Freilich gibt es Fälle, wo die Körperchen fast unverändert bleiben, trotzdem dass sie die Drüsen verlassen und in Lymphe und Blut übergehen. Schon bei einfacheren Reizungsvorgängen finden sich zuweilen Elemente in grosser Zahl im Blute (Fig. 66), welche viel mehr den Lymphkörperchen oder den Lymphdrüsenzellen gleichen, als den gewöhnlichen farblosen Blutkörperchen. Noch viel auffälliger ist dies bei der lymphatischen Leukämie (=Lymphämie=), und gerade deshalb ist diese so ausserordentlich lehrreich. Aber aus diesen Ausnahmefällen darf man nicht die Regel machen. Regel ist vielmehr, dass die Drüsenzelle, welche fortgeführt wird (auswandert?), ihre Eigenschaften ändert, und zwar um so mehr, je weiter sie im Strome der Lymphe und des Blutes fortgeführt wird. Daher ist es höchst bedenklich, die farblosen Blutkörperchen einfach Lymphkörperchen zu nennen; mit eben so viel Recht könnte man die Lymphdrüsenzellen farblose Blutkörperchen heissen. Die Parenchymzellen der Lymphdrüsen sind unter sich ziemlich verschieden. Sie kommen jedoch sämmtlich darin überein, dass sie verhältnissmässig grosse, granulirte, mit einem oder mehreren Kernkörperchen versehene Kerne haben. Diese Kerne sind ganz überwiegend einfach. Man sieht sie in den Zellen schon ohne besondere Zusätze, doch macht Essigsäure sie noch deutlicher. Ueberaus häufig findet man sie »nackt« (Fig. 71, _A_, _a_), ohne Zellkörper, denn der letztere ist sehr gebrechlicher Natur und wird bei der Präparation leicht zerdrückt oder aufgelöst. Bei vorsichtiger Behandlung findet man die Kerne von Zellkörpern umhüllt, doch sind diese oft so klein, dass sie nur schmale Säume um die Kerne darstellen (Fig. 71, _A_, _b_). Der Kern, wenngleich klein, erscheint dann =unverhältnissmässig gross= in der kleinen Zelle. -- Diese Art von Elementen ist die vorherrschende. Daneben finden sich jedoch in allen Lymphdrüsen auch grössere, mit stärker entwickeltem Leibe, aber immer bleibt der Kern verhältnissmässig gross: =er wächst mit der Zelle= (Fig. 71, _B_, _c_). [Illustration: =Fig=. 71. Lymphkörperchen aus dem Innern der Lymphdrüsen-Follikel. _A_. Die gewöhnlichen Elemente: _a_ nackte Kerne, mit und ohne Kernkörperchen, einfach und getheilt. _b_ Zellen mit kleineren und grösseren Kernen, die Membran dem Kern sehr eng anliegend. _B_. Vergrösserte Elemente aus einer hyperplastischen Bronchialdrüse bei variolöser Pneumonie (vgl. bei Fig. 64. die zugehörigen farblosen Blutkörperchen). _a_ grössere Zellen mit Körnern und einfachen Kernen. _b_ keulenförmige Zellen. _c_ grössere Zellen mit grösserem Kern und Kernkörperchen. _d_ Kerntheilung. _e_ keulenförmige Zellen in dichter Aneinanderlagerung (Zellentheilung?). _C_ Zellen mit endogener Brut. Vergr. 300.] Nur diese letztere Form stimmt einigermaassen mit den Zellen der Lymphe überein. Denn auch diese sind verhältnissmässig grosse, überwiegend einkernige Zellen, deren grosser körniger Kern einen oder mehrere Nucleoli zeigt. Aber der Zellkörper ist meist umfangreicher, und er hat so sehr an Dichtigkeit gewonnen, dass die Kerne undeutlicher werden. Noch viel mehr ist dies der Fall bei den farblosen Blutkörperchen, deren dichter, stark granulirter Körper die Kerne ganz verhüllt, so dass erst durch Reagentien oder durch Wasserimbibition dieselben sichtbar gemacht werden müssen. Werden sie aber sichtbar, so sind sie =mehrfach=, in der Regel 3-7 an der Zahl, =glatt= und =gänzlich ohne Kernkörperchen=. Was nach Einwirkung von Essigsäure zuweilen als ein Kernkörperchen erscheint, das erweist sich bei stärkerer Vergrösserung als eine =kleine Delle an der Kernoberfläche= (Fig. 72, _A c_ u. _e_, _B b_ u. _c_). Ich verstehe daher in der That nicht, wie selbst sehr geübte Beobachter in der neueren Zeit alle diese Zellen einfach »identificiren«. Wie sollte man denn Eiter in einer Lymphdrüse erkennen, wenn die Parenchymzellen derselben mit farblosen Blutkörperchen identisch wären? Das farblose Blutkörperchen war einmal eine Lymphdrüsenzelle, aber es hat vollständig aufgehört, dies zu sein, nachdem es sich eben zu einem Blutkörperchen =entwickelt= hat, nachdem sein Kern sich getheilt und wesentlich verändert, sein Körper sich vergrössert und verdichtet hat. Ja, ich finde es so sehr verändert, dass ich leichter begreife, wenn jemand seine Abstammung aus der Drüse bezweifelt. Wenn ich trotzdem daran festhalte, dass das Drüsenparenchym die Matrix der farblosen Blutkörperchen ist, so geschieht es im Hinblick auf die Erscheinungen, welche eine gereizte Drüse darbietet. Hier zeigen sich auch im Drüsenparenchym nicht nur vergrösserte Zellen, sondern man sieht auch fortschreitende Kern- und Zellentheilungen (Fig. 71, _B_, _d_, _e_). Zuweilen kommen vielkernige Zellen vor und einzelne Erscheinungen scheinen für endogene Neubildung (Fig. 71, _C_) zu sprechen. Mit zunehmender Reizung werden diese Vorgänge immer deutlicher. Je mehr die Drüsen sich vergrössern, um so zahlreicher werden die zelligen Elemente, welche in das Blut übergehen, um so grösser und um so mehr entwickelt pflegen auch die einzelnen farblosen Zellen des Blutes selbst zu sein. Dasselbe Verhältniss scheint bei der =Milz= obzuwalten. Ursprünglich haben wir uns Alle gedacht, dass die Venen die Wege darstellten, auf welchen die farblosen Körper die Milz verlassen, allein die Verhältnisse sind hier so schwierig, dass eine bestimmte Aussage kaum gemacht werden kann. Nach den Untersuchungen von =Wilhelm Müller= scheint es, dass ähnliche Unterbrechungen, wie man sie von der Wand der Milzvenen mancher Säugethiere schon länger kennt, auch in den Milzcapillaren vorkommen, und dass die Wand der letzteren ebenfalls eine siebförmige Beschaffenheit annimmt, welche den Zugang zu einem wandungslosen Systeme von Capillarspalten innerhalb der Pulpa gestattet. Hier würde demnach das Blut in einen unmittelbaren Contakt mit den Zellen der Pulpa kommen, und erst, nachdem es dieses »intermediäre« Kanalnetz passirt hat, in die gleichfalls siebförmigen Anfänge der Venen übertreten. Unter solchen Verhältnissen, wie ich sie schon vor Jahren eingehend erörtert habe[68], würde allerdings auch der Uebergang von Pulpazellen in den Blutstrom keine Schwierigkeit haben. Andererseits kennt man sowohl an der Capsel der Milz, als an den Gefässscheiden im Innern derselben Lymphgefässe, und es ist daher die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass auch auf diesem Wege Milzelemente den circulirenden Säften zugeführt werden. Indess lässt sich nicht verkennen, dass die Beschaffenheit der Zellen in der lienalen Leukämie (=Splenämie=) mehr für die Abstammung derselben aus der Pulpa und demnach für ihre Einwanderung in die Blutgefässe spricht. Denn in der Pulpa selbst sind überhaupt keine Lymphgefässe bekannt. [68] Archiv 1848. II. 595. 1853. V. 122. Dabei ist jedoch eine erhebliche Schwierigkeit nicht zu verschweigen. Die Pulpazellen sind überwiegend grössere, mit einem einfachen, granulirten Kern und Kernkörperchen versehene Elemente, wie sie selbst in der Milzvene nicht die Mehrheit bilden. Wenngleich diese Zellen den Lymphkörperchen näher stehen, so fehlt ihnen doch die Zeit, sich in farblose Blutkörperchen umzubilden, da sie direkt in das Blut übergehen müssten, während die Lymphkörperchen einen verhältnissmässig langen Weg bis zum Blute zu durchlaufen haben. Es müsste also die Umbildung schon in der Milz selbst geschehen. Vorläufig lässt sich darüber ebenso wenig ein sicheres Urtheil abgeben, wie über die Frage, =wo für gewöhnlich die Umbildung der farblosen Körperchen in rothe geschehe=? Dass eine solche geschieht, wissen wir aus der Geschichte des Blutes bei niederen Wirbelthieren und beim menschlichen Embryo, sowie aus einzelnen Beobachtungen beim erwachsenen Menschen. Der Zellkörper (Zelleninhalt) farbloser Kernzellen wandelt sich nach und nach in die rothe Hämoglobinsubstanz um, und der Kern verschwindet. Aber dies geschieht regelmässig an einkernigen Elementen, und daher habe ich von Anfang an den Satz vertheidigt, dass die mehrkernigen farblosen Blutkörperchen zu einer solchen Umwandlung nicht bestimmt seien, dass sie vielmehr indifferente Gebilde darstellen, welche zum Untergange bestimmt sind[69]. In der That habe ich schon in meinem ersten Falle von Leukämie an ihnen Fettmetamorphose deutlich beobachtet[70], und =Reinhardt= hat diesen Vorgang bestätigt[71]. Die eigenthümlich rothe Farbe der Milzpulpa und die Eigenschaft des Lymphdrüsenparenchyms, an der Luft eine bräunlichrothe Farbe anzunehmen, sind mir als Anzeichen dafür erschienen, dass diese Organe auch zu der Erzeugung des Blutfarbstoffes in einem näheren Verhältnisse stehen müssten. [69] Gesammelte Abhandlungen. S. 217. [70] =Froriep='s Neue Notizen. 1845. Nov. No. 780. [71] Archiv 1847. I. 65. Durch die neueren Untersuchungen von =Neumann=, =Bizzozero= und =Waldeyer= ist die Aufmerksamkeit noch auf einen dritten Ort, das =Knochenmark=, gelenkt worden, welchem ähnliche Beziehungen zur Blutbildung zugeschrieben wurden. In der That zeigt das rothe Knochenmark neben ungewöhnlich grossen venösen Gefässen zahlreiche Rundzellen, unter denen neben überwiegend einkernigen auch nicht selten mehrkernige gesehen werden. Dass unter gewissen Umständen auch von hier aus eine Zufuhr zum Blute geschehen mag, ist nicht unwahrscheinlich. Indess scheint mir eine regelmässige Beziehung um so weniger wahrscheinlich, als beim Erwachsenen, wo gerade am meisten ein Bedürfniss zu solcher Einfuhr vorliegt, das Mark der meisten Knochen in Fettgewebe übergeht, und nur gewisse Abschnitte der Spongiosa sich in dem früheren, kleinzelligen Zustande erhalten. Ungleich bedeutungsvoller dagegen könnte das Verhältniss der =Lymphgefässe= zu den Geweben auch für diese Frage werden. Bei manchen Thieren, und gerade bei unserem gewöhnlichen Versuchsthiere, dem Frosche, fehlen Lymphdrüsen eigentlich gänzlich, und wenn man forscht, woher hier die farblosen Blutkörperchen stammen, so kommt man leicht auf dieselbe Antwort, die wir für das Fibrin gegeben haben, nehmlich dass das Gewebe selbst und zwar vorwiegend das Bindegewebe und seine Aequivalente die Quelle enthalte. Alsbald, nachdem ich die Bindegewebskörperchen nachgewiesen hatte, sprach ich die Meinung aus, dass dieselben mit den Anfängen der Lymphgefässe in ähnlicher Weise zusammenhängen, wie die Lymphdrüsen[72], und bald nachher wies ich in einem Falle von congenitaler Makroglossie[73] unmittelbare Uebergänge von Wucherungsheerden der Bindegewebskörperchen zu grossen Lymphgefässen nach. Die schönen Untersuchungen v. =Recklinghausen='s haben diesen Zusammenhang für zahlreiche Orte des Körpers dargethan, nur dass nach der Ansicht dieses Forschers nicht die Bindegewebskörperchen selbst, sondern nur die von ihnen eingenommenen Räume und Kanälchen in offener Verbindung mit den Lymphgefässen stehen, -- eine Differenz, welche mit der früher erörterten Frage zusammenhängt, ob die Wandungen der Höhlen, in welchen sich die Bindegewebskörperchen befinden, zu den in ihnen enthaltenen Zellen gehören, oder nicht (S. 139). Die Beobachtungen =Chrzonszczewski='s über die Füllung der Bindegewebskörperchen und der Lymphgefässe von Hühnern, denen die Ureteren unterbunden sind, mit harnsauren Salzen, selbst die Erfahrungen von =Köster= über den Nabelstrang sprechen sehr zu Gunsten meiner Auffassung, indess will ich dieselbe hier nicht betonen, da es für die Untersuchung über den Ursprung der Lymphe nicht von entscheidender Bedeutung ist, zu welcher von beiden Meinungen man sich bekennt. Besteht überhaupt ein unmittelbarer Zusammenhang, so ist auch eine Ueberwanderung der Bindegewebskörperchen oder ihrer Tochterzellen in den Lymphstrom zulässig. [72] Würzb. Verhandl. 1855. II. 150, 314. Gesammelte Abhandl. S. 136. [73] Archiv VII. 132. Die grösseren Lymphgefässe, welche eigentlich so genannt werden, bestehen, wie die Blutgefässe, aus mehreren Häuten, einer bindegewebigen, mit elastischen Theilen stark durchsetzten Intima, einer muskulösen Media und einer gleichfalls bindegewebigen Adventitia. Die innere Oberfläche ist von einem feinen Plattenepithel überzogen. Die Lymphgefässe sind daher in hohem Maasse contraktil. Bei Versuchen an dem Körper eines Hingerichteten, die ich mit =Kölliker= anstellte[74], fanden wir, dass sich auf elektrische Reizung peripherische Lymphgefässe bis zum Verschwinden ihres Lumens, und zwar auf lange Zeit zusammenzogen. Bei dem Reichthum dieser Lymphgefässe an Klappen kann solchen Contractionen, wie denen gewisser Venen, allerdings ein propulsorischer Einfluss auf den Flüssigkeitsstrom zugesprochen werden. [74] Zeitschrift für wiss. Zoologie. 1851. III. 40. Verfolgt man die Lymphgefässe gegen die Peripherie, so kommt man zu Verästelungen, welche immer enger werden und schliesslich nur noch mikroskopisch erkannt werden können. Von ihnen sind am längsten das centrale Chylusgefäss der Darmzotten und die kleinen Lymphwurzeln im Schwanze der Froschlarve bekannt. Erst durch v. =Recklinghausen= ist in zahlreichen Theilen ein reiches Netz von Lymphbahnen entdeckt worden, welches gar keine andere Wand mehr hat, als ein überaus dünnes und durchsichtiges Plattenepithel, das nur durch künstliche Färbungen, am besten durch Silbernitrat, sichtbar gemacht werden kann. Gerade in bindegewebigen Theilen, und zwar sowohl im weichen, namentlich interstitiellen Bindegewebe, als auch in harten, sehnigen und aponeurotischen Theilen bildet dasselbe zum Theil sehr weite und zahlreiche Canäle von grosser Unregelmässigkeit und Veränderlichkeit der Wandungen. Diese =lymphatischen Capillaren= sind es, welche mit dem Röhrensystem des Bindegewebes und seiner Aequivalente in offener Verbindung stehen und daher für die Abfuhr der Produkte des Bindegewebes die natürlichen Wege darstellen. Gewiss ist es daher unrichtig, wenn man in der Lymphe nur den für die Ernährung der Gewebe unbrauchbaren oder wenigstens unbenutzten Rest der aus den Blutcapillaren transsudirenden Ernährungssäfte sieht. Lymphgefässe sind an manchen Theilen, welche sehr arm an Blutgefässen sind, überaus reichlich, und umgekehrt an manchen Theilen, welche dicht voll von Blutgefässen stecken, sehr spärlich. Ist die Lymphe, wie der Chylus, der ja doch nur eine modificirte Lymphe darstellt, eine zur Bildung und zur Regeneration des Blutes dienende Flüssigkeit, so lässt sich auch erwarten, dass gerade das Bindegewebe, welches überwiegend die Wurzeln der Lymphgefässe und daher die Quellen der Lymphe enthält, einen entscheidenden Einfluss darauf ausübt, und man darf in dem Bestreben, das blosse Communications-Verhältniss der verschiedenen Röhrensysteme festzustellen, nicht übersehen, dass ohne die in demselben befindlichen Zellen diese Röhrensysteme keine Bedeutung mehr haben würden. In den letzten Jahren hat man in der Lymphe immer mehr eine =recrementitielle= Flüssigkeit gesehen, welche die verbrauchten Stoffe in die allgemeine Blutbahn überführt, damit sie von da durch die Secretionsorgane ausgeschieden werden; es ist Zeit, dass wir wenigstens zum Theil zu der Auffassung =Hewson='s von der =plastischen= Natur der Lymphe zurückkehren. Zehntes Capitel. Pyämie und Leukocytose. Vergleich der farblosen Blut- und Eiterkörperchen. Die physiologische Eiterresorption: die unvollständige (Inspissation, käsige Umwandlung) und die vollständige (Fettmetamorphose, milchige Umwandlung). Intravasation von Eiter. Eiter in Lymphgefässen. Die Hemmung der Stoffe in den Lymphdrüsen. Mechanische Trennung (Filtration): Tättowirungsfarben. Mögliches Durchkriechen der Eiterkörperchen. Chemische Trennung (Attraction): Krebs, Syphilis. Die Heizung der Lymphdrüsen und ihre Bedeutung für die Leukocytose. Die (physiologische) digestive und puerperale Leukocytose. Die pathologische Leukocytose (Scrofulose, Typhus, Krebs, Erysipel). Die lymphoiden Apparate: solitäre und Peyersche Follikel des Darms. Tonsillen und Zungenfollikel. Thymus. Milz. Völlige Zurückweisung der Pyämie als morphologisch nachweisbarer Dyscrasie. An die Erwägungen des vorigen Capitels schliesst sich mit eindringlicher Nothwendigkeit die Frage von der =Pyämie= an, und da dies nicht bloss ein Gegenstand von der grössten praktischen Bedeutung ist, sondern derselbe auch zu den wissenschaftlich am meisten streitigen zu rechnen ist, so dürfte es wohl gerechtfertigt sein, näher auf seine Besprechung einzugehen. Was soll man unter Pyämie verstehen? In der Regel hat man sich gedacht, es sei dies ein Zustand, wo das Blut Eiter enthalte. Man hat ihn daher auch geradezu =purulente Infection= oder =Eitervergiftung= genannt. Da aber der Eiter wesentlich durch seine morphologischen Bestandtheile charakterisirt wird, so handelte es sich natürlich darum, im Blute die Eiterkörperchen zu zeigen. Das hat man denn auch redlich versucht, und mancher Beobachter glaubte es geleistet zu haben. Nachdem wir jedoch erfahren haben, dass die farblosen Blutkörperchen in ihrer gewöhnlichen Erscheinung, bei Leuten im besten Gesundheitszustande, den Eiterkörperchen ganz ähnlich sind (S. 183), so fällt damit von vornherein eine wesentliche Voraussetzung dieser Nachweise weg. Um indess einigermaassen Klarheit in den Gegenstand zu bringen, ist es nothwendig, auf die verschiedenen Gesichtspunkte, welche hierbei in Betracht kommen, im Einzelnen einzugehen. Die farblosen Blutkörperchen sind zum Verwechseln den Eiterkörperchen ähnlich, so dass, wenn man in einem mikroskopischen Objecte solche Elemente antrifft, man nie ohne Weiteres mit Sicherheit angeben kann, ob man es mit farblosen Blutkörperchen oder mit Eiterkörperchen zu thun hat[75]. Früherhin hatte man vielfach die Ansicht, dass die Bestandtheile des Eiters im Blute präexistirten, dass der Eiter nur eine Art von Secret aus dem Blute sei, wie etwa der Harn, und dass er auch, wie eine einfache Flüssigkeit, in das Blut zurückkehren könne. Diese Ansicht erklärt die Auffassung, welche in der Lehre von der sogenannten =physiologischen Eiterresorption=, d. h. der Resorption von Eiter zum Zwecke der Heilung, sich so lange erhalten hat. [75] Archiv I. 242. Gesammelte Abhandl. 161, 223, 645. Man stellte sich vor, dass der Eiter von einzelnen Punkten her, an welchen er abgelagert war, wieder in das Blut aufgenommen werden könne, und dass dadurch eine günstige Wendung in der Krankheit eintrete, insofern der aufgenommene Eiter endlich aus dem Körper entfernt werde. Man erzählte, dass bei Kranken mit Eiter im Pleurasacke die Krankheit sich durch eiterigen Harn oder eiterigen Stuhlgang entscheiden könne, ohne dass ein Durchbruch des Eiters von der Pleura her in den Darm oder die Harnwege vorhergegangen sei. Man liess also die Möglichkeit zu, dass durch die circulirenden Flüssigkeiten Eiter in Substanz aufgenommen und weggeführt werden könnte. Späterhin, als die Lehre von der purulenten Infection mehr und mehr aufkam, hat man diesen (vorausgesetzten) Fall unter dem Namen der physiologischen Eiterresorption von der pathologischen unterschieden, und es blieb nur fraglich, wie man die erstere in ihrem günstigen und die letztere in ihrem malignen Verlaufe sich erklären sollte. Diese Angelegenheit erledigt sich einfach dadurch, dass =Eiter als Eiter nie resorbirt wird=. Es gibt keine Form, in der Eiter in Substanz auf dem Wege der Resorption verschwinden könnte; immer sind es die flüssigen Theile des Eiters, welche aufgenommen werden, und daher lässt sich dasjenige, was man Eiterresorption nennt, auf folgende zwei Möglichkeiten zurückführen: Im einen Falle ist der Eiter mit seinen Körperchen zur Zeit der Resorption mehr oder weniger intact vorhanden. Dann wird natürlich in dem Maasse, als Flüssigkeit verschwindet, der Eiter dicker werden. Es ist dies die allbekannte =Eindickung= (=Inspissation=) des Eiters, wodurch dasjenige erzeugt wird, was die Franzosen »pus concret« nennen[76]. Dieses stellt eine dicke Masse dar, welche die Eiterkörperchen in einem geschrumpften Zustande enthält, nachdem nicht bloss die Flüssigkeit zwischen den Eiterkörperchen (das Eiterserum), sondern auch ein Theil der Flüssigkeit, die sich in den Eiterkörperchen befand, verschwunden ist. [76] Archiv I. 175, 181. [Illustration: =Fig=. 72. Eiter. _A_. Eiterkörperchen, _a_ frisch, _b_ mit etwas Wasserzusatz, _c_-_e_ nach Essigsäure-Behandlung, der Inhalt klar geworden, die in der Theilung begriffenen oder schon getheilten Kerne sichtbar, bei _e_ mit leichter Depression der Oberfläche. _B_. Kerne der Eiterkörperchen bei Gonorrhoe: _a_ einfacher Kern mit Kernkörperchen, _b_ beginnende Theilung, Depression des Kerns, _c_ fortschreitende Zweitheilung, _d_ Dreitheilung. _C_. Eiterkörperchen in dem natürlichen Lagerungsverhältniss zu einander. Vergr. 500.] Der Eiter besteht seinem Haupttheile nach aus kleinen, farblosen Rundzellen, welche im gewöhnlichen Zustande eine dicht an der anderen liegen (Fig. 72, _C_.) und zwischen welchen sich eine geringe Masse von Intercellularflüssigkeit (=Eiterserum=) befindet. Die Eiterkörperchen selbst enthalten gleichfalls eine grosse Menge von Wasser und sind deshalb von sehr geringem, specifischem Gewichte; fast jeder Eiter, mag er auch im frischen Zustande sehr dick aussehen, hat doch einen so grossen Antheil von Wasser, dass er bei der Eindampfung viel mehr verliert, als eine entsprechende Quantität von Blut. Letzteres macht nur deshalb den Eindruck der grösseren Wässrigkeit, weil es sehr viel freie intercellulare, aber relativ wenig intracellulare Flüssigkeit besitzt, während umgekehrt beim Eiter mehr Wasser innerhalb der Zellen, weniger ausserhalb derselben befindlich ist. Wenn nun eine Resorption stattfindet, so verschwindet zunächst der grösste Theil der intercellularen Flüssigkeit und die Eiterkörperchen rücken näher aneinander; bald verschwindet aber auch ein Theil der Flüssigkeit aus den Zellen selbst, und in demselben Maasse werden diese kleiner, unregelmässiger, eckiger, höckriger, bekommen die allersonderbarsten Formen, liegen dicht aneinander gedrängt, brechen das Licht stärker, weil sie mehr feste Substanz enthalten, und sehen gleichmässiger aus (Fig. 73). [Illustration: =Fig=. 73. Eingedickter, käsiger Eiter. _a_ die geschrumpften, verkleinerten, etwas verzerrten und mehr homogen und solid aussehenden Körperchen. _b_ ähnliche mit Fettkörnchen. _c_ natürliches Lagerungsverhältniss zu einander. Vergröss. 300.] Diese Art der Eindickung ist keineswegs ein so seltener Vorgang, wie man oft annimmt, sondern im Gegentheil ausserordentlich häufig, und fast noch mehr wichtig als häufig. Es ist dies nehmlich einer von den Vorgängen, die man in der neueren Zeit alle unter den Begriff des Tuberkels subsumirt hat, und von denen namentlich durch =Reinhardt= gezeigt ist, dass sie zu einem sehr beträchtlichen Theile wirklich auf Eiter, also auf Entzündungsproduct zurückzuführen sind. Späterhin werden wir sehen, dass diese Erfahrungen zu falschen Schlüssen über den Tuberkel selbst verwerthet worden sind; aber dass durch Inspissation Entzündungsproducte in Dinge, die man, wenn auch fälschlich, Tuberkel nennt, umgewandelt werden können, ist unzweifelhaft. Gerade in der Geschichte der Lungentuberculose spielt dieser Act eine sehr grosse Rolle. Man denke sich die Lungenalveolen mit Eiter vollgestopft und lasse nun Alveole für Alveole die Inspissation ihres Inhaltes eingehen, so bekommt man jene käsigen Hepatisationen, welche man gewöhnlich unter dem Namen der =Tuberkel-Infiltration= schildert. Diese unvollständige Resorption, wo nur die flüssigen Bestandtheile resorbirt werden, lässt die Masse der festen Bestandtheile als Caput mortuum, als abgestorbene, nicht mehr lebensfähige Masse in dem Theile liegen[77]. Ich habe daher dem Vorgange den Namen der =käsigen Metamorphose= (Tyrosis) beigelegt. Eine solche Art von Eindickung ist es, welche in grossem Maassstabe bei der unvollständigen Resorption pleuritischer Exsudate eintritt, wo sehr grosse Lager von bröckliger Substanz im Pleurasacke zurückbleiben; ebenso im Umfange der Wirbelsäule bei Spondylarthrocace, in kalten, zumal parostealen Abscessen u. s. w. In allen diesen Fällen ist die Resorption, sobald die Flüssigkeit verschwunden ist, zu Ende. Darin beruht die schlimme Bedeutung dieser Vorgänge. Die festen Theile, welche nicht resorbirt werden, bleiben entweder als solche liegen, oder sie können später erweichen, werden aber dann gewöhnlich nicht mehr Object der Resorption, sondern es geht meist aus ihnen eine Ulceration hervor. Auf alle Fälle ist das, was resorbirt wurde, kein Eiter, sondern eine einfache Flüssigkeit, welche überwiegend viel Wasser, etwas Salze und sehr wenig eiweissartige Bestandtheile enthalten mag, und es kann kein Zweifel sein, dass hier eine der unvollständigsten Formen der Resorption vorliegt. [77] Handb. der spec. Pathol. u. Ther. I. 282-284. Archiv XXXIV. 69. Geschwülste II. 593. [Illustration: =Fig=. 74. Eingedickter, zum Theil in der Auflösung begriffener, hämorrhagischer Eiter aus Empyem. _a_ die natürliche Masse, körnigen Detritus, geschrumpfte Eiter- und Blutkörperchen enthaltend. _b_ dieselbe Masse, mit Wasser behandelt; einzelne körnige, entfärbte Blutkörperchen sind deutlich geworden. _c_ und _d_ nach Zusatz von Essigsäure. Vergr. 300, bei _d_ 520.] Die zweite Form von Eiterresorption ist diejenige, welche den günstigsten Fall constituirt, wo der Eiter wirklich verschwindet und nichts Wesentliches von ihm übrig bleibt. Aber auch hier wird der Eiter nicht als Eiter resorbirt, sondern er macht vorher eine fettige Metamorphose durch; jede einzelne Zelle lässt fettige Theile in sich frei werden, zerfällt, und zuletzt bleibt nichts weiter übrig, als die Fettkörner und die Zwischenflüssigkeit. Dann ist also überhaupt keine Zelle und kein Eiter mehr vorhanden; an ihre Stelle ist eine emulsive Masse, eine Art von Milch getreten, welche aus Wasser, etwas eiweissartigen Stoffen und Fett besteht, und in welcher man sogar mehrfach Zucker nachgewiesen hat, so dass dadurch eine noch grössere Analogie mit wirklicher Milch entsteht. Diese =pathologische Milch= ist es, welche nachher zur Resorption gelangt, also wieder kein Eiter, sondern Fett, Wasser oder Salze[78]. [78] Archiv I. 182. [Illustration: =Fig=. 75. In der fettigen Rückbildung (Fettmetamorphose) begriffener Eiter. _a_ beginnende Metamorphose. _b_ Fettkörnchenzellen mit noch deutlichen Kernen. _c_ Körnchenkugel (Entzündungskugel). _d_ Zerfall der Kugel. _e_ Emulsion, milchiger Detritus. Vergr. 350.] Das sind die Vorgänge, welche man »physiologische Eiterresorption« nennen kann, eine Resorption, wo nicht Eiter als solcher resorbirt wird, sondern entweder nur seine flüssigen Bestandtheile, oder die durch eine innere Umwandlung bedeutend veränderte Substanz. Es gibt nun allerdings einen Fall, wo Eiter in Substanz das Object nicht gerade einer Resorption, aber wenigstens einer =Intravasation= werden und wo dieser intravasirte Eiter innerhalb der Gefässe fortbewegt werden kann, der nehmlich, wo ein Blutgefäss verletzt oder durchbrochen wird, und durch die Oeffnung Eiter in sein Inneres gelangt. Es kann ein Abscess an einer Vene liegen, die Wand derselben durchbrechen, und seinen Inhalt in ihre Lichtung entleeren[79]. Noch leichter geschieht ein solcher Uebergang an Lymphgefässen, welche in offene Abscesse münden. Es fragt sich also nur, in wieweit man berechtigt ist, diesen Fall als einen häufigen zu setzen. Für die Venen hat man seit Decennien diese Möglichkeit ziemlich beschränkt; von einer Resorption des Eiters in Substanz durch dieselben ist man mehr und mehr zurückgekommen, aber von der Resorption durch Lymphgefässe spricht man noch ziemlich häufig, und man hat in der That manche Veranlassung dazu. [79] Gesammelte Abhandl. 666. Es ist dabei ziemlich gleichgültig, ob der Eiter in Lymphgefässe wirklich von aussen hereinkommt, oder, was Andere annehmen, ob er durch Entzündung in den Lymphgefässen entsteht; schliesslich ist die Frage immer die, in wie weit ein mit Eiter gefülltes Lymphgefäss im Stande ist, eine Entleerung seines Inhaltes in den circulirenden Blutstrom zu Stande zu bringen und die eigentliche Pyämie zu setzen. Eine solche Möglichkeit muss in der Regel geleugnet werden, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde. Alle Lymphgefässe, welche in der Lage sind, eine solche Aufnahme zu erfahren, sind peripherische, mögen sie von äusserlichen oder innerlichen Theilen entspringen, und sie gelangen erst nach einem längeren Laufe allmählich zu den Blutgefässen. Bei allen finden sich Unterbrechungen durch Lymphdrüsen; und seitdem man weiss, dass die Lymphgefässe durch die Drüsen nicht als weite, gewundene und verschlungene Kanäle hindurchgehen (S. 208), sondern, nachdem sie sich in feine Aeste aufgelöst haben, in Räume eintreten, welche zum grossen Theil mit zelligen Elementen gefüllt sind, so ist es an sich fraglich, ob Eiterkörperchen eine Lymphdrüse passiren können. Es ist dies ein sehr wesentlicher Punkt, und doch übersieht man ihn sonderbarer Weise gewöhnlich, obwohl die tägliche Erfahrung des praktischen Arztes Material genug zu seiner Erledigung bietet. =Frey= glaubt neuerlichst nach den Resultaten künstlicher Injectionen schliessen zu können, dass auch Zellen durch die Lymphdrüsen hindurch fliessen könnten. Indess stimmt dies wenig mit der Erfahrung am Lebenden, welche vielmehr eine Hemmung körperlicher Partikeln in den Lymphdrüsen lehrt. Wir haben ein sehr hübsches Experiment in der Sitte unserer niederen Bevölkerung, sich die Arme oder auch wohl andere Theile tättowiren zu lassen. Wenn ein Handwerker oder ein Soldat auf seinen Arm eine Reihe von Einstichen machen lässt, die zu Buchstaben, Zeichen oder Figuren geordnet werden, so wird fast jedesmal bei der grossen Zahl der Stiche ein Theil der oberflächlichen Lymphgefässe verletzt. Es ist ja gar nicht anders möglich, als dass, wenn man durch Nadelstiche ganze Hautbezirke umgrenzt, wenigstens einzelne Lymphgefässe getroffen werden. Darauf wird eine Substanz eingeschmiert, welche in der Körperflüssigkeit unlöslich ist, Zinnober, Kohlenpulver oder dergl., und welche, indem sie in den Theilen liegen bleibt, eine dauerhafte Färbung derselben bedingt. Allein bei dem Einstreichen gelangt ein gewisser Theil der Partikelchen in Lymphgefässe, wird trotz seiner Schwere vom Lymphstrome fortbewegt und gelangt bis zu den nächsten Lymphdrüsen wo er abfiltrirt wird. Man sieht nie, dass sich Partikeln bis über die Lymphdrüsen hinaus bewegen und an entferntere Punkte gelangen, dass sie sich etwa im Parenchym innerer Organe ablagern. Immer in der nächsten Drüsenreihe und zwar in der den eintretenden Lymphgefässen zugewendeten Rindenschicht derselben bleibt die Masse stecken. Untersucht man die infiltrirten Drüsen, so überzeugt man sich leicht, dass die Grösse vieler der abgelagerten Partikelchen geringer ist, als die Grösse auch des kleinsten Eiterkörperchens. [Illustration: =Fig=. 76. Durchschnitt durch die Rinde einer Axillardrüse bei Tättowirung der Haut des Arms. Man sieht von der Rinde her ein grosses eintretendes Gefäss, das sich leicht schlängelt und in feine Aeste auflöst. Ringsumher Follikel, die grossentheils mit Bindegewebe gefüllt sind. Die dunkle feinkörnige Masse stellt den abgelagerten Zinnober dar. Vergr. 80.] In dem Object, nach welchem die beigegebene Zeichnung (Fig. 76) angefertigt wurde, ist zufälliger Weise der Punkt getroffen, wo das Lymphgefäss in die Drüse eintritt, und von wo es zunächst innerhalb der Bindegewebsbalken, welche sich von der Capsel aus zwischen die Follikel erstrecken, schraubenförmig fortgeht, um sich in seine Aeste aufzulösen. Da, wo diese in die benachbarten, hier freilich zum grossen Theile mit Bindegewebe erfüllten (indurirten) Follikel übergehen, haben sie die ganze Masse des Zinnobers ausgeschüttet, so dass dieser noch zum Theil innerhalb der Zwischenbalken (Trabekel) liegt, zum Theil jedoch in die Follikel selbst eingedrungen ist. Das Präparat stammt von dem Arme eines Soldaten, der sich 1809 die Figuren hatte einreiben lassen, und dessen Tod fast 50 Jahre später erfolgt ist. Weiter als bis in die äussersten Rindenschichten ist nichts gekommen; schon die nächste Follikelreihe enthält nichts mehr. Die Partikelchen sind aber so klein und der Mehrzahl nach im Verhältnisse zu den Zellen der Drüse so fein, dass sie mit Eiterkörperchen gar nicht verglichen werden können. Wo solche Körnchen nicht durchgehen, wo so minimale Partikelchen eine Verstopfung machen, da würde es etwas kühn sein, zu denken, dass die relativ grossen Eiterkörperchen durchkommen könnten. [Illustration: =Fig=. 77. Das mit Zinnober, nach Tättowirung des Armes, gefüllte Reticulum aus einer Axillardrüse (Fig. 76). _a_ ein Theil eines interfolliculären Balkens mit einem Lymphgefässe; _b_, ein in den Follikel tretender stärkerer Ast; _c_, _c_ die anastomosirenden, kernhaltigen Netze; die dunklen Körner sind Zinnoberpartikelchen. Vergr. 300.] Allerdings kann man sich noch auf eine Eigenschaft der Eiterkörperchen berufen, auf welche zuerst v. =Recklinghausen= die allgemeine Aufmerksamkeit gerichtet hat; ich meine ihre Fähigkeit zu Gestalt- und Ortsveränderungen. Man kann die Möglichkeit nicht bestreiten, dass eine Zelle, welche feine Fortsätze aussenden und allmählich ihren ganzen Körper in diese Fortsätze nachziehen kann, sich durch so feine Oeffnungen hindurchzwängen mag, dass sie in ihrer gewöhnlichen Gestalt, bei ihrem gewöhnlichen Durchmesser immer von denselben angehalten werden würde. Und so könnte ein »contraktiles« Eiterkörperchen aus dem Gewebe in ein Lymphgefäss kriechen, mit der Lymphe in eine Lymphdrüse geflösst werden und hier durch die engen Spalten hindurchkriechen, um in dem austretenden Lymphgefässe wieder zum Vorschein zu kommen. Das ist denkbar, aber die Erfahrung spricht dagegen. Die Lymphdrüsen filtriren die Eiterkörperchen ab. Eine Einrichtung dieser Art, wodurch in den Lymphdrüsen der offene Strom der Flüssigkeit unterbrochen und die gröberen Partikelchen in einer ganz mechanischen Weise zurückgehalten werden, lässt begreiflicher Weise nicht leicht eine andere Form der Lymphresorption von der Peripherie her zu, als die von einfachen Flüssigkeiten. Freilich würde man falsch gehen, wenn man die Thätigkeit der Lymphdrüsen darauf beschränken wollte, dass sie, wie Filtren, zwischen die Abschnitte der Lymphgefässe eingeschoben sind. Offenbar haben sie noch eine andere Bedeutung, indem die Drüsensubstanz unzweifelhaft von der flüssigen Masse der Lymphe gewisse Bestandtheile anzieht, in sich aufnimmt, zurückhält und dadurch auch die chemische Beschaffenheit der Flüssigkeit alterirt, so dass diese um so mehr verändert aus der Drüse hervortritt, als zugleich angenommen werden muss, dass die Drüse gewisse Bestandtheile an die Lymphe abgibt, welche vorher in derselben nicht vorhanden waren. Ich will hier nicht auf minutiöse Verhältnisse eingehen, da die Geschichte jeder =bösartigen Geschwulst= die besten Beispiele für diesen Satz liefert. Wenn eine Achseldrüse krebsig wird, nachdem die Milchdrüse vorher krebsig erkrankt war, und wenn längere Zeit hindurch bloss die Achseldrüse krank bleibt, ohne dass die folgende Drüsenreihe oder irgend ein anderes Organ vom Krebs befallen wird, so können wir uns dies nicht anders vorstellen, als dass die Achseldrüse die schädlichen, von der Milchdrüse her aufgenommenen Bestandtheile sammelt, dadurch eine Zeit lang dem Körper einen Schutz gewährt, am Ende aber insufficient wird, ja vielleicht späterhin selbst eine neue Quelle selbständiger Infection für den Körper darstellt, indem von den kranken Theilen der Drüse aus die weitere Verbreitung des giftigen Stoffes stattfinden kann. Ebenso lehrreiche Beispiele liefert die Geschichte der =Syphilis=, wo der Bubo eine Zeit lang eine Ablagerungsstätte des Giftes werden kann, so dass die übrige Oekonomie in einer verhältnissmässig geringen Weise afficirt wird. Wie =Ricord= zeigte, findet sich die virulente Substanz gerade im Innern der eigentlichen Drüsensubstanz, während der Eiter im Umfange des Bubo frei davon ist; nur so weit als die Theile mit der zugeführten Lymphe in Contact kommen, nehmen sie den virulenten Stoff in sich auf. Wenden wir diese Erfahrungen auf die Eiterresorption an, so kann man selbst in dem Falle, dass wirklich Eiter in Lymphgefässe gelangt, durchaus nicht als nächste und nothwendige Folge davon eine Inficirung des Blutes durch eiterige Bestandtheile erschliessen; vielmehr wird wahrscheinlich innerhalb der Drüse eine Retention der Eiterkörperchen stattfinden, und auch die Flüssigkeiten, welche durch die Drüse hindurch gelangen, werden während des Durchganges einen grossen Theil ihrer schädlichen Eigenschaften verlieren. Secundäre Drüsen-Anschwellungen treten in verschiedenen Formen nach peripherischen Infectionen auf. Wie will man sie anders erklären, als dadurch, dass jede inficirende (miasmatische) Substanz, welche als eine wesentlich fremdartige oder, wenn ich mich so ausdrücken soll, feindselige für den Körper zu betrachten ist, indem sie in die Substanz der Drüse eindringt, von den Zellen der Drüse angesogen wird und daran jenen Zustand von mehr oder weniger ausgesprochener Reizung hervorbringt, der sehr häufig bis zur wirklichen Entzündung der Drüse sich steigert? Wir werden noch später auf den Begriff der Reizung etwas genauer zurückkommen, und ich will hier nur so viel hervorheben, dass nach meinen Untersuchungen =die Reizung der Lymphdrüsen darin besteht, dass dieselben in eine vermehrte Zellenbildung gerathen, dass ihre Follikel sich vergrössern und nach einiger Zeit viel mehr Zellen enthalten als vorher=. Im Verhältnisse zu diesen Vorgängen geschieht dann auch eine Vermehrung der farblosen Elemente im Blute. Jede bedeutende acute Drüsenreizung hat eine schnelle Zunahme der Lymphkörperchen im Blute zur Folge; jede Krankheit, welche Drüsenreizung mit sich bringt, wird daher auch den Effect haben, das Blut mit grösseren Mengen von farblosen Blutkörperchen zu versehen, mit anderen Worten, einen leukocytotischen Zustand zu setzen. Hat man nun schon im Voraus die Ansicht, es sei Eiter resorbirt worden, und der Eiter sei die Ursache der eingetretenen Störungen, so ist nichts leichter, als Zellen im Blute nachzuweisen, welche wie Eiterkörperchen aussehen, oft in so grosser Menge, dass man ihre Zusammenhäufungen (Fig. 67) in der Leiche wie kleine Eiterpunkte mit blossem Auge sehen kann, oder dass sie grosse, zusammenhängende oder körnige Lager an der unteren Seite der Speckhaut des Aderlassblutes bilden (Fig. 69). Scheinbar ist dieser Beweis so überzeugend als möglich. Man hat die Voraussetzung, dass Eiter in's Blut gelangt sei; man untersucht das Blut und findet wirklich Elemente, die vollkommen aussehen wie Eiterkörperchen, und zwar in sehr grosser Zahl. Selbst wenn man zugesteht, dass farblose Blutkörperchen wie Eiterkörperchen aussehen können, ist doch der Schluss sehr verführerisch, wie man ihn zu wiederholten Malen in der Geschichte der Pyämie gemacht hat, dass die im Blute aufgefundenen Zellen ihrer grossen Menge wegen doch nicht als farblose Blutkörperchen angesehen werden könnten, sondern Eiterkörperchen sein müssten. Diesen Schluss machte vor Jahren =Bouchut= bei Gelegenheit einer Pariser Epidemie von Puerperal-Fieber, welches er damals für eine Pyämie hielt, neuerlichst aber auf Grund derselben Beobachtung für eine acute Leukämie erklärte. Das ist ferner derselbe Schluss, den =Bennett= in der zwischen uns viel discutirten Prioritätssache gemacht hat, da er einen Fall von unzweifelhafter Leukämie einige Monate früher beobachtete, ehe ich meinen ersten Fall sah, und da er aus der »unerhört« grossen Zahl der farblosen Körperchen den Schluss zog, es handele sich um eine »Suppuration des Blutes«[80]. Freilich war dieser Schluss nicht originell, sondern basirte sich auf die früher (S. 188) erwähnte Hämitis von =Piorry=, der sich dachte, dass das Blut selbst sich entzünde und in sich Eiter erzeuge, was man nachher in der Wiener Schule =spontane= Pyämie oder =Eitergährung= genannt hat. [80] Vergl. über die Prioritätsfrage mein Archiv V. 45, 77. VII. 174, 565. Alle diese Irrthümer sind hervorgegangen aus dem Umstande, dass man eine so ungeheuer grosse Zahl von farblosen Blutkörperchen fand. Heutzutage ist dieser Befund eben so einfach vom Standpunkte der Hämatopoëse aus zu erklären, wie er früher allein erklärlich schien vom Standpunkte der Pyämie aus. Die Reizung der Lymphdrüsen erklärt ohne alle Schwierigkeit die Vermehrung der farblosen, eiterähnlichen Zellen im Blute, und zwar in allen Fällen, nicht bloss in denen, wo man eine Pyämie erwartete, sondern auch in denen, wo man sie nicht erwartete, wo jedoch das Blut dieselbe Masse von farblosen Körperchen zeigt, wie in der eigentlichen, dem klinischen Begriffe entsprechenden Pyämie. So ergibt sich, dass jede Mahlzeit einen gewissen Reizungszustand in den Gekrösdrüsen setzt, indem die Chylus-Bestandtheile, die denselben zugeführt werden, einen physiologischen Reiz für dieselben darstellen. Die Milch, welche wir trinken, das Fett unserer Suppen, die verschiedenen, feiner vertheilten Fette und Oele in unseren festeren Speisen gelangen als kleinste Kügelchen in die Chylusgefässe und verbreiten sich eben so, wie der Zinnober, in den Drüsen; aber die kleinsten Fettkörnchen dringen nach einiger Zeit durch die Drüse hindurch. Für solche Körper besteht also noch eine wirkliche Permeabilität der Drüsengänge, aber auch sie werden eine Zeit lang zurückgehalten. Immer dauert es lange, ehe nach einer Mahlzeit die Gekrösdrüsen das Fett wieder völlig los werden, und es geschieht das Hindurchschieben der Massen offenbar unter einem verhältnissmässig grossen Drucke. Dabei beobachtet man zugleich eine Vergrösserung der Lymphdrüse, und ebenso nach jeder Mahlzeit eine Zunahme in der Zahl der farblosen Körperchen im Blute, eine =physiologische Leukocytose=, aber keine Pyämie. In dem Maasse, als eine =Schwangerschaft= vorrückt, als die Lymphgefässe am Uterus sich erweitern, als der Stoffwechsel in der Gebärmutter mit der Entwickelung des Fötus zunimmt, vergrössern sich die Lymphdrüsen der Inguinal- und Lumbalgegend erheblich, zuweilen so beträchtlich, dass, wenn wir sie zu einer anderen Zeit fänden, wir sie als entzündet betrachten würden. Diese Vergrösserung führt dem Blute auch mehr neue Partikelchen zelliger Art zu, und so steigt von Monat zu Monat die Zahl der farblosen Körperchen. Zur Zeit der Geburt kann man fast bei jeder Puerpera, mag sie pyämisch sein oder nicht, in dem defibrinirten Blute die farblosen Körperchen ein eiterartiges Sediment bilden sehen. Auch dies ist eine physiologische Form, welche fern davon ist, eine pyämische zu sein. Wenn man sich aber gerade eine Puerpera aussucht, welche Krankheits-Erscheinungen darbietet, die mit dem Bilde der Pyämie übereinstimmen, dann ist nichts leichter, als diese vielen farblosen, mehrkernigen Zellen zu finden, und sie für jene Eiterkörperchen auszugeben, welche nach der Voraussetzung gerade die Pyämie constatiren sollen. Dies sind Trugschlüsse, welche aus unvollständiger Kenntniss des normalen Lebens und der Entwickelung resultiren. So lange man sich bloss an die pyämischen Erfahrungen hält, so lange kann dies Alles erscheinen wie ein grosses und neues Ereigniss, und man kann sich berechtigt halten, wenn man das Blut einer Wöchnerin untersucht, zu schliessen, sie habe schon die Pyämie, bevor die pyämischen Symptome auftreten. Aber man mag untersuchen, wann man will, so wird man stets etwas von Leukocytose finden, gerade so, wie es schon seit langer Zeit bekannt ist, dass sich bei Schwangeren sehr gewöhnlich eine Speckhaut bildet, weil das Blut gewöhnlich mehr von einem langsamer gerinnenden Fibrin zugeführt bekommt (Hyperinose). Es erklärt sich dies durch den vermehrten Stoffwechsel und die, entzündlichen Vorgängen so nahe stehenden Veränderungen im Uterinsystem, welche mit einer gewissen Reizung der zunächst damit in Verbindung stehenden Lymphdrüsen vergesellschaftet sind[81]. [81] Verhandl. der Gesellschaft für Geburtshülfe in Berlin. 1848. III. 174. Gesammelte Abhandl. 760, 777. Gehen wir einen kleinen Schritt weiter in dies pathologische Gebiet hinein, so treffen wir leukocytotische Zustände in der ganzen Reihe aller der Erkrankungen, welche mit Drüsenreizung complicirt sind, und bei welchen die Reizung nicht zu einer Zerstörung der Drüsensubstanz führt. Im Verlaufe einer Scrofulosis, bei deren einigermaassen ungünstigem Verlaufe die Drüsen zu Grunde gehen, sei es durch Ulceration, sei es durch käsige Eindickung, Verkalkung u. s. f., kann eine vermehrte Aufnahme von Elementen in das Blut nur so lange stattfinden, als die gereizte Drüse überhaupt noch leistungsfähig ist oder existirt; sobald aber die Drüse abgestorben, käsig geworden oder zerstört ist, so hört auch die Bildung von Lymphzellen und damit die Leukocytose auf. Jedesmal dagegen, wo eine mehr acute Form von Störung besteht, welche mit entzündlicher Schwellung der Drüsen verbunden ist, findet eine Vermehrung der farblosen Körperchen im Blute Statt. So im Typhus, wo so ausgedehnte markige Schwellungen der Unterleibsdrüsen auftreten, so bei Krebskranken, wenn Reizung der Lymphdrüsen eintritt, so im Verlaufe jener Prozesse, welche man als Eruptionen des malignen Erysipels bezeichnet, und welche so frühzeitig schon mit Drüsenanschwellung verbunden zu sein pflegen. Das ist der Sinn dieser Vermehrung der farblosen Elemente, die zuletzt immer zurückführt auf die vermehrte Entwickelung lymphatischer Gebilde innerhalb der gereizten Drüsen. Es ist nun von Wichtigkeit, darauf hinzuweisen, dass man gegenwärtig den Begriff der Lymphdrüsen ungleich weiter ausdehnt, als es bis vor Kurzem geschehen ist. Erst die neueren histologischen Untersuchungen haben gezeigt, dass ausser den gewöhnlichen bekannten Lymphdrüsen, die eine gewisse Grösse und Selbständigkeit haben, eine grosse Menge von kleineren Einrichtungen im Körper vorhanden ist, welche ganz denselben Bau besitzen, welche aber nicht so massenhafte Zusammenordnungen von lymphatischen Theilen darstellen, wie wir sie in einer Lymphdrüse finden. Dahin gehören im Besonderen die =Follikel des Darms=, sowohl die solitären, als die Peyerschen. Ein Peyerscher Haufen ist nichts weiter, als die flächenartige Ausbreitung einer Lymphdrüse; die einzelnen Follikel des Haufens entsprechen, ebenso wie die Solitärfollikel des Digestionstractus, den einzelnen Follikeln einer Lymphdrüse, nur dass die Darmfollikel, wenigstens beim Menschen, in einfacher, die Lymphdrüsenfollikel in mehrfacher Lage über einander angeordnet sind. Die solitären und Peyerschen Drüsen haben also gar nichts gemein mit den gewöhnlichen (Lieberkühnschen) Drüsen, welche durch offene Mündungen nach dem Darm hin secerniren; sie haben vielmehr die Stellung und offenbar auch die Funktion der Lymphdrüsen. Gegen die Darmhöhle hin sind sie völlig geschlossen, und wenn sie secerniren, so thun sie es nur in der Richtung der Lymphgefässe, welche aus ihnen hervorgehen. Diese sind ihre Ausführungsgänge. In dieselbe Kategorie gehören die analogen Apparate, die wir im oberen Theile des Digestionstractus in so grossen Haufen zusammengeordnet finden, wo sie die =Tonsillen=, die =Follikel der Zungenwurzel= und die grosse =Pharynxdrüse= bilden. Während im Darm die Follikel in einer ebenen Fläche liegen, findet sich hier die Fläche eingefaltet und die einzelnen Follikel um die Einfaltung oder Einstülpung herumliegend. Früher nannte man gerade die Einfaltungen oder Taschen, wie sie an den meisten Zungenfollikeln einfach, an den Tonsillen mehrfach und verästelt vorkommen, Follikel (Bälge), und sah dem entsprechend die Oeffnungen der Taschen als Drüsenmündungen an. Allein die Taschen sind von einer Fortsetzung der benachbarten Schleimhaut und deren Epithel continuirlich ausgekleidet; auch hier haben die eigentlichen, lymphatischen Follikel keine nach aussen mündenden Ausführungsgänge. Sie liegen unter der geschlossenen Oberfläche. In dieselbe Kategorie gehört weiterhin die =Thymusdrüse=, bei welcher die Anhäufung der Follikel einen noch höheren Grad erreicht, als in den Lymphdrüsen. Während viele Lymphdrüsen noch einen Hilus haben, wo keine Follikel liegen, so hört dies in der Thymusdrüse auf. Mit diesem Mangel eines Hilus hängt zusammen, dass man an der Brustdrüse keine erheblichen Verbindungen mit Lymphgefässen kennt. Dahin gehört endlich ein sehr wesentlicher Bestandtheil der Milz, nehmlich die =Malpighischen oder weissen Körper= (=Follikel=), die bei verschiedenen Leuten in ebenso verschiedener Menge durch das Milzparenchym zerstreut sind, wie die solitären und Peyerschen Follikel im Darm. Auf einem Durchschnitte durch die Milz sehen wir vom Hilus her die Trabekeln mit den Gefässen gegen die Capsel ausstrahlen, in langen Zügen von der rothen Milzpulpe umlagert, welche hier und da unterbrochen wird durch bald mehr bald weniger zahlreiche weisse Körper von grösserem oder kleinerem Umfange, einzeln oder zusammengesetzt, zuweilen fast traubenförmig. Der Bau dieser Milzfollikel, welche an den Scheiden der Arterien sitzen, stimmt in der Hauptsache mit dem der Lymphdrüsen-Follikel. Wir können daher diese ganze Reihe von Apparaten als mehr oder weniger gleichwerthig mit den eigentlichen Lymphdrüsen betrachten; eine Anschwellung der Milz oder der Darmfollikel wird unter Umständen eine ebenso reichliche Zufuhr von farblosen Blutkörperchen liefern können, wie dies bei einer Anschwellung einer Lymphdrüse der Fall ist. Diese Möglichkeit erklärt es, dass in der Cholera, wo die Veränderung der solitären und Peyerschen Follikel im Darm besonders hervortritt, während die Schwellung der übrigen Lymphdrüsen viel weniger ausgebildet ist, ausserordentlich frühzeitig eine bedeutende Vermehrung der farblosen Blutkörperchen eintritt[82]. Dies erklärt es ferner, warum bei solchen Pneumonien, die mit grossen Schwellungen der Bronchialdrüsen verbunden sind, gleichfalls eine Vermehrung der farblosen Blutkörperchen stattfindet, welche in anderen Formen der Pneumonie, die nicht mit einer solchen Schwellung verbunden sind, fehlt. Je mehr die Reizung von der Lunge auf die Lymphdrüsen übergreift, je reichlicher von der Lunge schädliche Flüssigkeiten den Drüsen zugeführt werden, um so deutlicher erleidet das Blut diese besondere Veränderung. [82] Medic. Reform. 1848. No. 12. u. 15. Gaz. méd. de Paris. 1849. No. 3. Wenn man auf diese Weise die verschiedenen Krankheiten durchmustert, so lässt sich in der That vom morphologischen Standpunkte aus gar nichts auffinden, was auch nur entfernt die Annahme eines Zustandes, der Pyämie zu nennen wäre, rechtfertigte. In den überaus seltenen Fällen, wo Eiter in Venen durchbricht, können unzweifelhaft dem Blute eiterige Bestandtheile zugeführt werden, allein hier ist die Einfuhr von Eiter meist eine einmalige. Der Abscess entleert sich, und ist er gross, so geschieht eher eine Extravasation von Blut, als dass eine anhaltende Pyämie zu Stande käme. Vielleicht wird es einmal gelingen, im Verlaufe eines solchen Vorganges Eiterkörperchen mit bestimmten Charakteren im Blute aufzufinden; bis jetzt steht aber die Sache so, dass man mit grösster Bestimmtheit behaupten kann, es sei Niemandem gelungen, mit Gründen, die auch nur einer milden Beurtheilung genügen könnten, die Anwesenheit einer morphologischen Pyämie darzuthun. Es muss daher dieser Name als Bezeichnung für eine durch die Beimischung bestimmter sichtbarer Gebilde hervorgebrachte Blutveränderung gänzlich aufgegeben werden. Eilftes Capitel. Infection und Metastase. Pyämie und Phlebitis. Capillar-Phlebitis und Stase. Thrombosis: parietale und obstruirende; adhäsive und suppurative. Puriforme Erweichung der Thromben: Detritus des Fibrins, Auflösung der rothen Körperchen. Die wahre und falsche Phlebitis. Eitercysten des Herzens. Embolie. Bedeutung der fortgesetzten Thromben. Lungenmetastasen. Zertrümmerung der Emboli. Verschiedener Charakter der Metastasen. Endocarditis und capilläre Embolie. Latente Pyämie. Inficirende Flüssigkeiten. Infectiöse Erkrankung der lymphatischen Apparate und der Milz, der Secretionsorgane und der Muskeln. Chemische Substanzen im Blute: Silbersalze, Arthritis, Kalkmetastasen. Ichorrhämie. Fremde Körperchen in der Blutmischung: Zellen, Hämatozoen, Pilze, Körner. Pyämie als Sammelname. Ich habe in dem vorangehenden Capitel die Lehre von der Pyämie in Beziehung auf die im Blute vorkommenden zelligen Gebilde einer genaueren Betrachtung unterworfen, weil sich gerade daran die Quelle mancher, auch für andere Gebiete der Pathologie lehrreicher Irrthümer und eine richtigere Methode der Beobachtung und Beurtheilung besonders gut darlegen lässt. Wenn ich nochmals darauf zurückkomme, um die geschichtliche Entwickelung dieser Lehre und ihre thatsächlichen Grundlagen zu erörtern, so geschieht es nicht bloss der entscheidenden Wichtigkeit wegen, welche diese Lehre für die Auffassung der Metastasen und aller metastasirenden Dyscrasien hat, sondern auch, weil ich mich berechtigt erachte, gerade in einem Gebiete, in welchem ich viele Jahre lang mit eigenen Untersuchungen beschäftigt war, ein beglaubigtes Urtheil aussprechen zu können. Bis in die neueste Zeit hat man ganz besondere Beziehungen der Pyämie zu Gefässaffectionen und namentlich zu Gefässentzündungen[83] angenommen. Namentlich seitdem man sich genöthigt sah, die Ansicht aufzugeben, wonach die Eitermasse, welche man in der Vene zu sehen glaubte, durch eine Oeffnung der Wand oder eine klaffende Lichtung in dieselbe eingedrungen (absorbirt) sein sollte, kehrte man zu der von =John Hunter= begründeten Lehre von der Phlebitis[84] zurück. Viele betrachteten dem entsprechend den Eiter als ein Absonderungsproduct der Gefässwand. Die Beweise für diese Ansicht waren aber schwer zu liefern, nachdem man durch die Erfahrung belehrt war, dass eine primär eiterige Venenentzündung nicht vorkomme, sondern dass, wie zuerst von =Cruveilhier= mit Bestimmtheit nachgewiesen ist, im Anfange jeder sogenannten Phlebitis oder Arteriitis immer ein Blutgerinnsel innerhalb des Gefässes gebildet wird. Aber =Cruveilhier= selbst war durch diese Erfahrung so sehr überrascht worden, dass er eine Theorie daran knüpfte, welche gegenwärtig kaum noch begreiflich ist. Er schloss nämlich aus der Unmöglichkeit, in der er sich befand, zu erklären, warum die Entzündung der Venen mit Gerinnung des Blutes anfange, dass überhaupt jede Entzündung in einer Gerinnung von Blut bestände. Die Unmöglichkeit, die Phlebitis zu erklären, schien beseitigt dadurch, dass die Gerinnung des Blutes innerhalb der Gefässe zu einem allgemeinen Gesetze der Entzündungslehre erhoben und auch die gewöhnliche Entzündung auf eine Phlebitis im Kleinen, die von ihm sogenannte Capillarphlebitis, bezogen wurde. Diese Capillarphlebitis war nahezu identisch mit der in der deutschen Pathologie gebräuchlichen Stase; der abweichende Ausdruck des französischen Forschers erklärt sich nur dadurch, dass er sich eine eigenthümliche Ansicht über die Existenz besonderer, kleinster Venen in den Theilen gebildet hatte, auf welche er nicht bloss die Ernährung, sondern auch die Bildung von Cysten, Tuberkeln, Krebs, kurz aller wichtigeren anatomischen Prozesse zurückführte. Diese Art zu denken blieb aber der grossen Mehrzahl der gelehrten und noch mehr der ungelehrten Aerzte so vollständig fremd, dass die einzelnen Schlussthesen von =Cruveilhier=, die man in seiner Formulirung in die Wissenschaft aufnahm, ganz und gar missverstanden wurden. [83] Gesammelte Abhandlungen S. 636. [84] Ebendas. S. 458. Freilich hatte er in dem einen Punkte Recht, der auch seitdem mehr und mehr anerkannt worden ist, dass der sogenannte Eiter in den Venen nie zuerst an der Wand liegt, sondern immer zuerst in der Mitte eines schon vor ihm vorhandenen Blutgerinnsels auftritt, welches den Anfang des Prozesses überhaupt bezeichnet. Aber er fand für diese vortreffliche Beobachtung keine richtige Erklärung. Er stellte sich vor, dass die Eitersecretion von den Wandungen des Gefässes aus stattfinde, dass aber der Eiter nicht an der Wand liegen bleibe, sondern vermöge der »Capillarität« sofort bis in die Mitte des Coagulums wandere. Es war das eine sehr sonderbare Theorie, die sich auch dann nur annähernd begreift, wenn man erwägt, dass in jener Zeit der Eiter noch für eine einfache Flüssigkeit (Solution) gehalten wurde. Erkennt man in dem Eiter ein flüssiges oder, genauer gesagt, ein =bewegliches Gewebe=, dessen wesentlicher Bestandtheil Zellen, also feste Theile sind, so fällt jene Deutung in sich selbst zusammen. Allein trotz der falschen Deutung bleiben doch die Thatsachen stehen, gegen die sich auch heute nichts vorbringen lässt, dass als erste Erscheinung des örtlichen Vorganges, bevor etwas von Entzündung an der Gefässwand zu sehen ist, sich ein Blutgerinnsel findet, und dass etwas später inmitten dieses Gerinnsels sich eine Masse zeigt, welche ihrem Aussehen und ihrer Consistenz nach von dem Gerinnsel verschieden ist, dagegen mehr oder weniger Aehnlichkeit mit Eiter darbietet. [Illustration: =Fig=. 78. Thrombose der Vena saphena. _S_ Vena saphena, _T_ Thrombus: _v_, _v_' klappenständige (valvuläre) Thromben, in der Erweichung begriffen und durch frischere und dünnere Gerinnselstücke verbunden; _C_, der fortgesetzte über die Mündung des Gefässes in die Vena curalis _C_' hineinragende Pfropf.] Von diesen Erfahrungen ausgehend, habe ich mich bemüht, die Lehre von der Phlebitis ihrem grössten Theile nach überhaupt aufzulösen, indem ich für das Mystische, welches in =Cruveilhier='s Deutung lag, einfach den Ausdruck der Thatsachen einsetzte. Die Entzündung als solche ist nicht an Gerinnung gebunden; im Gegentheil hat sich herausgestellt, dass die Lehre von der Stase auf vielfachen Missverständnissen beruhe[85]. Es kann Entzündung bestehen bei vollkommen offenem Strome des Blutes innerhalb der Gefässe des afficirten Theiles. Lassen wir also die Entzündung überhaupt bei Seite, und halten wir uns einfach an die Gerinnung des Blutes, an die Bildung des Gerinnsels (Thrombus). Alsdann scheint es am meisten entsprechend, den ganzen Vorgang in dem Ausdrucke der =Thrombose= zusammenzufassen. Ich habe vorgeschlagen[86], diesen Ausdruck zu substituiren für die verschiedenen Namen von Phlebitis, Arteriitis u. s. w., insoweit es sich nehmlich wirklich um eine an =Ort und Stelle= geschehende Gerinnung des Blutes handelt. [85] Handb. der spec. Pathol. und Ther. I. 53. J. H. Boner Die Stase nach Experimenten an der Froschschwimmhaut. Würzburg 1856. [86] Handbuch der spec. Path. I. 159. Untersucht man die Geschichte dieser Thromben, so ergibt sich, dass dieselben in den Capillaren fast gar nicht vorkommen, sondern sich auf die Venen, die Arterien und das Herz beschränken, so zwar, dass auch die kleinsten Venen und Arterien davon beinahe ganz frei bleiben. Die Mehrzahl der Thromben entsteht ursprünglich als =wandständige= ( =parietale=), während neben ihnen der Strom des Blutes noch fortgeht; sie sind sämmtlich zu erklären aus örtlichen Veränderungen der Gefässwand und des Blutstromes, jedoch können zu dieser Erklärung auch allgemeine Veränderungen des Blutes oder der Blutströmung herangezogen werden, insofern sie auf das örtliche Verhalten des Blutstromes Einfluss ausüben. Selten finden sich gleich von vornherein =total verstopfende= (=obstruirende=) Thromben, bei denen der Blutstrom gänzlich unterbrochen ist; wo sie vorkommen, ohne dass besondere chemische Stoffe durch Einspritzung, Aetzung u. s. f. eingewirkt haben, da ist gewöhnlich schon vor der Thrombose ein Stillstand des Blutes (durch Ligatur, Compression) eingetreten und die Gerinnung ist als die natürliche Folge der Stagnation anzusehen. In vielen Thromben kommt es überhaupt niemals zu der sogenannten Eiterbildung. Im Gegentheil, es entsteht aus dem Gerinnsel ein Bindegewebs-Pfropf, gewöhnlich mit Pigment (Hämatoidin), zuweilen mit Gefässen. Dies hat man die =adhäsive= Phlebitis oder Arteriitis genannt. Bei der sogenannten =suppurativen= Phlebitis, der eigentlich gefürchteten Form, findet sich allerdings eine eiterartige Masse, allein diese stammt nicht von der Wand, sondern sie entsteht direkt durch eine Umwandlung zuerst der centralen Gerinnselschichten selbst, und zwar durch eine Umwandlung chemischer Art, wobei in ähnlicher Weise, wie man dies durch langsame Digestion von geronnenem Fibrin künstlich erzeugen kann, das Fibrin in eine feinkörnige Substanz zerfällt, und die ganze Masse in =Detritus= übergeht[87]. Es ist dies eine wirkliche Erweichung und Rückbildung der organischen Substanz: die Fäden des Fibrins zertrümmern in Stücke, diese wieder in kleinere und so fort, bis man nach einer gewissen Zeit fast die ganze Masse zusammengesetzt findet aus kleinen, feinen, blassen Körnern (Fig. 79 _A_). In Fällen, wo das Gerinnsel aus verhältnissmässig reinem Fibrin bestand, z. B. in parietalen Herzthromben, sieht man manchmal fast gar nichts weiter, als diese Körnchen. [87] Zeitschrift für rationelle Medicin. 1846. V. 226. Gesammelte Abhandlungen S. 95, 104, 328, 524. [Illustration: =Fig=. 79. Puriforme Detritus-Masse aus erweichten Thromben. _A_ die verschieden grossen, blassen Körner des zerfallenden Fibrins. _B_ Die bei der Erweichung freiwerdenden, zum Theil in der Rückbildung begriffenen farblosen Blutkörperchen, _a_ mit mehrfachen Kernen, _b_ mit einfachen, eckigen Kernen und einzelnen Fettkörnchen, _c_ kernlose (pyoide) in der Fettmetamorphose. _C_ In der Entfärbung begriffene und zerfallende Blutkörperchen. Vergr. 350.] Das Mikroskop löst also die Schwierigkeiten sehr einfach auf, indem es nachweist, dass diese Masse, welche wie Eiter aussieht, kein Eiter ist. Denn wir verstehen unter Eiter eine wesentlich mit zelligen Elementen versehene Flüssigkeit. Ebenso wenig wie wir uns Blut ohne Blutkörperchen denken können, ebenso wenig existirt Eiter ohne Eiterkörperchen. Wenn wir hier aber eine Flüssigkeit finden, welche nichts weiter als eine mit Körnern durchsetzte Masse darstellt, so mag diese ihrem äusseren Habitus nach immerhin wie Eiter aussehen; nie darf man sie aber als wirklichen Eiter deuten. =Es ist eine puriforme Substanz, aber keine purulente=. Meistentheils aber erscheint neben diesen Körnern eine gewisse Zahl von anderen Bildungen, z. B. wirklich zellige Elemente (Fig. 79, _B_). Diese sind meist rund (sphärisch), seltener eckig, und enthalten in einer fein granulirten Substanz einen, zwei und mehr Kerne. Sie besitzen demnach in der That eine grosse Uebereinstimmung mit Eiterkörperchen, und wenn sehr oft in ihnen Fettkörnchen vorkommen, welche darauf hindeuten, dass es sich hier um ein Zerfallen (Necrobiose) handelt, so kommt, wie wir gesehen haben (S. 222), dasselbe ja auch an Eiterkörperchen vor. Wenn daher in solchen Fällen, wo die Menge des Detritus ganz überwiegend ist, kein Zweifel sein kann über das, was vorliegt, so können in anderen erhebliche Bedenken bestehen, ob nicht doch wirklicher Eiter vorhanden sei. Diese Bedenken lassen sich auf keine andere Weise lösen, als durch die Geschichte des Thrombus. Nachdem wir früher schon gesehen haben, dass farblose Blutkörperchen und Eiterkörperchen formell völlig mit einander übereinstimmen, so dass wirkliche Scheidungen zwischen ihnen unmöglich sind, so kann natürlich an einem Punkte, wo wir in einem Blutgerinnsel runde, farblose Zellen finden, die Frage, ob diese Zellen farblose Blutkörperchen sind, nur dadurch gelöst werden, dass ermittelt wird, ob die Körperchen schon in dem Thrombus vor der Erweichung vorhanden waren, oder ob sie erst bei derselben darin entstanden oder sonst wie hineingelangt sind. Es ergibt aber die Verfolgung der Vorgänge mit grosser Bestimmtheit, dass die Körperchen vor der Erweichung präexistiren, und wenn auch die Möglichkeit zugelassen werden muss, dass noch nach der Bildung des Thrombus farblose Blutkörperchen in denselben hineinkriechen, so ist dies doch nicht die Ursache der Erweichung, und noch weniger liegt ein Grund vor, anzunehmen, dass dieselben erst mit dem Eintritte der Erweichung entstehen oder in das Gerinnsel hineingelangen. Schon bei Untersuchung ganz frischer Thromben[88] findet man an manchen Stellen farblose Blutkörperchen in grossen Massen angehäuft; wenn später der Faserstoff zerfällt, so werden sie in solcher Zahl frei, dass der Detritus fast so zellenreich wie Eiter ist. Es verhält sich mit diesem Vorgange, wie wenn ein mit körperlichen Theilen ganz durchsetztes Wasser gefroren ist und dann einer höheren Temperatur ausgesetzt wird; beim Schmelzen des Eises müssen natürlich die eingeschlossenen Körper wieder zum Vorschein kommen. [88] Gesammelte Abhandlungen 515. * * * * * Gegen diese Darstellung kann ein Umstand eingewendet werden, nehmlich der, dass man nicht in der gleichen Weise die rothen Blutkörperchen frei werden sieht. Die rothen Körperchen gehen indess gewöhnlich sehr frühzeitig zu Grunde. Sie verlieren zuerst ihren Farbstoff, verkleinern sich dabei, indem dunkle Körnchen an ihrem Umfange hervortreten (Fig. 63, _a_; 79, _C_), und verschwinden endlich ganz, indem nur diese Körnchen übrig bleiben[89], welche später resorbirt werden. Der aus den Körperchen ausgetretene Farbstoff zersetzt sich und verliert nach und nach sein rothes Colorit. Nur sehr selten erhalten sich die rothen Körperchen noch in der Erweichungsmasse. In der Regel gehen sie zu Grunde, und gerade dadurch erklärt sich die auffällige Eigenthümlichkeit, dass aus dem rothen Thrombus eine gelbweisse Flüssigkeit entsteht, die das Ansehen und die Farbe, ja sogar zum Theil die histologische Zusammensetzung von Eiter hat. Auch dafür kann man ohne besondere Schwierigkeiten die Deutung finden; man muss sich nur erinnern, wie gering die Widerstandsfähigkeit der rothen Blutkörperchen gegen die verschiedensten Agentien ist. Wenn man zu einem Blutstropfen unter dem Mikroskope einen Tropfen Wasser setzt, so sieht man die rothen Körperchen vor den Augen verschwinden, während die farblosen zurückbleiben. [89] Beiträge zur experimentellen Pathologie. II. 12. Archiv I. 245, 383. Das, was man im gewöhnlichen Sinne eine suppurative Phlebitis nennt, ist also weder suppurativ, noch Phlebitis, sondern es ist ein Process, der mit einer Gerinnung, einer Thrombusbildung aus dem Blute beginnt, und der später die Thromben erweichen macht; die Geschichte des Processes beschränkt sich zunächst auf die Geschichte des Thrombus. Ich muss aber gerade hier hervorheben, dass ich nicht, wie man mir hier und da nachgesagt hat, die Möglichkeit einer wirklichen Phlebitis (oder Arteriitis) in Abrede stelle, oder dass ich irgend wie gefunden hätte, es gäbe keine Phlebitis. =Allerdings gibt es eine Phlebitis=[90]. Aber diese ist eine Entzündung, die wirklich die Wand und nicht den Inhalt des Gefässes betrifft. An grösseren Gefässen können sich die verschiedensten Wandschichten (Intima, Media, Adventitia) entzünden und alle möglichen Formen der Entzündung eingehen, wobei aber das Lumen ganz intakt bleiben mag. Nach der früheren Auffassung betrachtete man die innere Gefässhaut wie eine seröse Haut, und wie eine solche leicht fibrinöse Exsudate oder eiterige Massen hervorbringt, so setzte man dasselbe bei der inneren Gefässhaut voraus. Ueber diesen Punkt ist seit Jahren eine Reihe von Untersuchungen angestellt, und ich selbst habe mich vielfach damit beschäftigt, aber es ist bis jetzt noch keinem Experimentator, welcher vorsichtig das Blut von dem Einströmen in die Gefässe abhielt, gelungen, ein Exsudat zu erzeugen, welches in das Lumen abgesetzt wurde. Vielmehr geht, wenn die Wand sich entzündet, das »Exsudat« in die Wand selbst; diese verdickt sich, trübt sich, und fängt möglicherweise späterhin an zu eitern. Ja, es können sich Abscesse bilden, welche die Wand nach beiden Seiten hin wie eine Pockenpustel hervordrängen, ohne dass eine Gerinnung des Blutes im Lumen erfolgt. Andere Male freilich wird die eigentliche Phlebitis (und ebenso die Arteriitis und Endocarditis) die Bedingung für Thrombose, indem sich auf der inneren Wand Unebenheiten, Höcker, Vertiefungen und selbst Ulcerationen bilden, welche für die Entstehung eines Thrombus Anhaltspunkte bieten. Allein da, wo eine Phlebitis in dem gebräuchlichen Sinne des Wortes stattfindet, ist die Veränderung der Gefässwand fast immer eine secundäre, welche sogar verhältnissmässig spät zu Stande kommt. [90] Gesammelte Abhandlungen 484. Die jüngsten Theile des Thrombus bestehen immer aus frischerem Gerinnsel. Die Erweichung, das Schmelzen (=Colliquatio=) beginnt in der Regel an den ältesten Schichten, so dass also, wenn der Thrombus eine gewisse Grösse erreicht hat, sich in seiner Mitte oder an seiner Basis eine mehr oder weniger grosse Höhle findet, die allmählich sich vergrössert und der Gefässwand näher rückt. Aber in der Regel ist dieselbe nach oben und häufig auch nach unten durch einen frischeren, derberen Theil des Gerinnsels wie durch eine Kappe abgeschlossen; dadurch wird, wie =Cruveilhier= sich ausdrückte, der »Eiter« sequestrirt und die Berührung des Detritus mit dem circulirenden Blute gehindert. Nur seitlich oder im Grunde erreicht die Erweichung endlich die Wand des Gefässes selbst; diese verändert sich, es beginnt eine Verdickung und zugleich Trübung derselben, und endlich erfolgt selbst eine Eiterung innerhalb der Wandungen. Dasselbe, was wir bis jetzt an den Venen betrachtet haben, kommt auch am Herzen vor. Namentlich am rechten Ventrikel sieht man nicht selten sogenannte Eitercysten zwischen den Trabekeln der Herzwand. Sie ragen gegen die Höhle mit rundlichen Knöpfchen hervor und stellen kleine Beutel dar, welche beim Anschneiden einen weichen Brei enthalten, der ein vollkommen eiterartiges Ansehen haben kann. Mit diesen Eitercysten, welche übrigens zuerst die Veranlassung gewesen sind, dass =Piorry= seine Lehre von der Hämitis und der damit zusammenhängenden Pyämie aufstellte, hat man sich unendlich viel geplagt und alle nur möglichen Theorien darüber gemacht, bis endlich die einfache Thatsache herauskam, dass ihr Inhalt häufig weiter nichts als ein feinkörniger Brei von eiweissartigen Theilchen ist, der auch nicht die mindeste feinere Uebereinstimmung mit dem Eiter darbietet. Dies war insofern beruhigend, als noch keine Beobachtung vorliegt, dass ein Kranker, der solche Säcke in grösserer Zahl hatte, durch Pyämie zu Grunde gegangen wäre, aber es hätte denjenigen auffallen sollen, welche so leicht geneigt sind, die Pyämie mit peripherischen Thrombosen, die doch ganz dasselbe sind, in Verbindung zu setzen. Denn natürlich entsteht die Frage, in wie weit durch die Erweichung der Thromben besondere Störungen im Körper hervorgerufen werden können, welche man mit dem Namen Pyämie bezeichnen dürfte. Hierauf ist zunächst zu erwidern, dass allerdings sehr häufig secundäre Störungen veranlasst werden, aber nicht so sehr dadurch, dass die flüssigen Erweichungsmassen unmittelbar in das Blut gelangen, als vielmehr dadurch, dass grössere oder kleinere Stücke von dem centralen Ende des erweichenden Thrombus abgelöst, mit dem Blutstrom fortgeführt und in entfernte Gefässe eingetrieben werden. Dies gibt den sehr häufigen Vorgang der von mir so genannten =Embolie=[91], die gröbste Form der im lebenden Körper vorkommenden =Metastase=. [91] Handb. der spec. Path. und Ther. I. 167. Gesammelte Abhandl. 640. [Illustration: =Fig=. 80. Autochthone und fortgesetzte Thromben. _c_, _c_' kleinere, varicöse Seitenäste (Venae circumflexae femoris), mit autochthonen Thromben erfüllt, welche über die Ostien hinaus in den Stamm der Cruralvene reichen. _t_, fortgesetzter Thrombus, durch concentrische Apposition aus dem Blute, entstanden. _t_' Aussehen eines fortgesetzten Thrombus, nachdem eine Ablösung von Stücken (Embolis) erfolgt ist.] Es ist dies ein Ereigniss, welches wir hier nur kurz berühren können. An den peripherischen Venen geht die Gefahr hauptsächlich von den kleinen Aesten aus. Gar nicht selten werden diese mit Gerinnselmasse ganz erfüllt. So lange indess der Thrombus sich nur in dem Aste selbst befindet, so lange ist für den Körper keine besondere Gefahr vorhanden: das Schlimmste ist, dass sich ein Abscess bildet, in Folge einer Peri- oder Mesophlebitis, der sich nach aussen öffnet. Allein die meisten Thromben der kleinen Aeste beschränken sich nicht darauf, bis an die Mündung derselben in den nächsten Stamm vorzudringen; gewöhnlich lagert sich an das Ende des Thrombus immer neue Gerinnselmasse Schicht um Schicht aus dem Blute ab, der Thrombus setzt sich über das Ostium des Astes hinaus in den nächsten Stamm in der Richtung des Blutstromes fort, wächst in Form eines dicken Cylinders weiter und wird immer grösser und grösser. Bald steht dieser =fortgesetzte= Thrombus (Fig. 80, _t_) in gar keinem Verhältnisse mehr zu dem ursprünglichen (=autochthonen=) Thrombus (Fig. 80, _c_), von dem er ausgegangen ist[92]. Der fortgesetzte Thrombus kann die Dicke eines Daumens haben, der ursprüngliche die einer Stricknadel. Von dem ganz kleinen Pfropf einer Vena lumbalis kann z. B. ein Gerinnsel, so dick, wie die letzte Phalanx des Daumens, sich in die Cava fortsetzen. [92] =Froriep='s Notizen. 1846. Januar. No. 794. Gesammelte Abhandlungen 225, 232. Diese fortgesetzten Pfröpfe bringen die eigentliche Gefahr mit sich; an ihnen erfolgt die Abbröckelung, welche zu secundären Verschliessungen entfernter Gefässe führt. Hier ist der Ort, wo durch das vorüberströmende Blut grössere und kleinere Partikeln abgerissen werden (Fig. 80, _t_'). Durch das ursprünglich verstopfte Gefäss strömt überhaupt kein Blut, da ist die Circulation gänzlich unterbrochen; aber in dem grösseren Stamme, durch welchen das Blut immer noch fortgeht, und in welchen die fortgesetzten Thrombuszapfen hineinragen, kann der Blutstrom kleinere oder grössere Bruchstücke lostrennen, mitschleppen und in das nächste Arterien- oder Capillarsystem festkeilen. So erklärt es sich, dass in der Regel alle Thromben in der Peripherie des Körpers, wenn überhaupt eine Embolie von ihnen ausgeht, secundäre Verstopfungen und Metastasen in der Lunge erzeugen. Ich habe lange Zweifel getragen, die metastatischen Entzündungen der Lunge sämmtlich als embolische zu betrachten, weil es sehr schwer ist, die Gefässe in den kleinen metastatischen Heerden zu untersuchen, aber ich überzeuge mich immer mehr von der Nothwendigkeit, diese Art der Entstehung als die Regel zu betrachten. Wenn man eine grössere Zahl von Fällen statistisch vergleicht, so zeigt sich, dass jedesmal, wo Metastasen in den Lungen vorkommen, auch Thrombose gewisser peripherischer Gefässe besteht. Wir hatten z. B. vom Herbst 1850 bis zum März 1858 eine ziemlich grosse Puerperalfieber-Epidemie in der Charité. Dabei stellte sich heraus, dass, so mannichfaltig die Formen der Erkrankung auch waren, doch alle diejenigen Fälle, in welchen Metastasen in den Lungen gefunden wurden, auch mit Thrombose im Bereiche des Beckens oder der unteren Extremitäten verlaufen waren. Bei den Lymphgefäss-Entzündungen fehlten die Lungenmetastasen[93]. Solche statistischen Resultate haben eine gewisse zwingende Nothwendigkeit, selbst wo der strenge anatomische Nachweis fehlt. [93] Monatsschrift für Geburtskunde. XI. 413. [Illustration: =Fig=. 81. Embolie der Lungenarterie. _P_ Mittelstarker Ast der Lungenarterie. _E_ der Embolus, auf dem Sporn der sich theilenden Arterie reitend. _t_, _t_' der einkapselnde (secundäre) Thrombus: _t_ das Stück vor dem Embolus, bis zu dem nächst höheren Collateralgefäss _c_ reichend; _t_' das Stück hinter dem Embolus, die abgehenden Aeste _r_, _r_' grossentheils füllend und zuletzt konisch endigend.] In die Lungen-Arterie dringen die eingeführten Thrombusstücke je nach ihrer Grösse verschieden weit ein. Gewöhnlich setzt sich ein solches Stück da fest, wo eine Theilung des Gefässes stattfindet (Fig. 81, _E_), weil die abgehenden Gefässe zu klein sind, um das Stück noch einzulassen. Bei sehr grossen Stücken werden schon die Hauptäste der Lungen-Arterie verstopft, und es tritt augenblickliche Asphyxie ein; ganz kleine Stücke gehen bis in die feinsten Arterien hinein und erzeugen von da aus die kleinsten, zuweilen miliaren Entzündungen des Parenchyms[94]. Für die Deutung dieser kleinen, oft sehr zahlreichen Heerde muss ich eine Vermuthung erwähnen, welche mir erst bei meinen späteren Untersuchungen gekommen ist, von welcher ich aber kein Bedenken trage, sie für eine unabweisliche auszugeben. Ich glaube nehmlich, dass, wenn ein grösseres Thrombusstück an einem bestimmten Punkte einer Arterie eingekeilt ist, hier noch eine weitere Zertrümmerung durch den andringenden Blutstrom stattfinden kann, so dass die Partikelchen, welche durch die Zertrümmerung des grossen Pfropfes entstehen, in die kleinen Aeste geführt werden, in welche sich das Gefäss auflöst. So allein scheint sich die Thatsache zu erklären, dass man oft im Bezirke einer und derselben grösseren Arterie eine grosse Menge von kleinen Heerden derselben Art und desselben Alters findet. [94] Gesammelte Abhandlungen 285 ff. Alles das hat mit der Frage, ob im Blute Eiter ist oder nicht, gar nicht das Mindeste zu thun. Es handelt sich dabei um ganz andere Körper, um Theile von Gerinnseln in einem mehr oder weniger veränderten Zustande; je nachdem diese Veränderung den einen oder den anderen Charakter angenommen hat, kann auch die Natur der Prozesse, welche sich in Folge der Verstopfung bilden, sehr verschieden sein. Ist z. B. an dem ursprünglichen Orte eine faulige oder brandige Erweichung des Gerinnsels eingetreten, so wird auch die Metastase einen fauligen oder brandigen Charakter annehmen, gerade so, wie dies bei einer Inoculation des fauligen oder brandigen Stoffes der Fall sein würde. Umgekehrt kommt es vor, dass die secundären Störungen, ähnlich denen am Orte der Lostrennung, sehr günstig verlaufen, indem der Embolus, wie der Thrombus, sich organisirt und Bindegewebe bildet. [Illustration: =Fig=. 82. Ulceröse Endocarditis mitralis. _a_ die freie, glatte Oberfläche der Mitralklappe, unter welcher die Bindegewebs-Elemente vergrössert und getrübt, das Zwischengewebe dichter sind. _b_ eine stärkere hügelige Schwellung, bedingt durch zunehmende Vergrösserung und Trübung des Gewebes. _c_ eine schon in Erweichung und Zertrümmerung übergegangene Schwellungsstelle. _d_, _d_ das noch wenig veränderte Klappengewebe in der Tiefe, mit zahlreichen, gewucherten Körperchen. _e_, _e_ der Beginn der Vergrösserung, Trübung und Wucherung der Elemente. Vergr. 80.] [Illustration: =Fig=. 83-84. Capillarembolie in den Penicilli der Milzarterie nach Endocarditis (Vgl. Gesammelte Abhandlungen zur wiss. Medicin 1856. S. 716). 83. Gefässe eines Penicillus bei 10maliger Vergrösserung, um die Lage der verstopfenden Emboli in dem Arteriengebiete zu zeigen. 84. Eine kurz vor ihrer Theilung und in den nächst abgehenden Aesten mit Bruchstücken der feinkörnigen Embolusmasse (vergl. Fig. 82, _c_) gefüllte Arterie. Vergr. 300.] Diese Gruppe von Prozessen muss um so mehr losgelöst werden von der gewöhnlichen Geschichte der Pyämie, als dieselben Vorgänge sich jenseits der Lunge, auf der linken Seite des Stromgebietes wiederfinden; oft mit demselben Verlaufe, mit demselben Resultate, nur noch weniger abhängig von einer ursprünglichen Phlebitis. So bildet die =Endocarditis= nicht selten den Ausgangspunkt ähnlicher Metastasen[95]. Auf einer Herzklappe geschieht eine Ulceration, nicht durch Eiterbildung, sondern durch acute oder chronische Erweichung; zertrümmerte Partikeln der Klappenoberfläche oder der auf dieser Oberfläche abgesetzten Parietalthromben werden vom Blutstrome fortgerissen und gelangen mit ihm an entfernte Punkte. Die Art der Verstopfung, welche diese Trümmer erzeugen, ist ganz ähnlich der, welche die Bruchstücke von Venenthromben machen, aber beide haben nicht genau dieselbe chemische Beschaffenheit. Auch begünstigt ihre Kleinheit und Mürbigkeit das Eindringen in die kleinsten Gefässe in hohem Maasse. Daher findet man nicht ganz selten in kleinen mikroskopischen Gefässen, welche mit blossem Auge gar nicht mehr zu verfolgen sind, die Verstopfungsmasse, gewöhnlich bis zu einer Theilungsstelle und noch etwas darüber hinaus. Diese Masse zeigt häufig eine körnige Beschaffenheit, jedoch nicht den groben Detritus, wie an der Vene, sondern eine ganz feine und zugleich sehr dichte Körnermasse; chemisch hat sie die für die Untersuchung überaus bequeme Eigenschaft, dass sie gegen die gewöhnlichen Reagentien sehr widerstandsfähig ist und sich dadurch von anderen Dingen leicht unterscheidet. Dies gibt die =Capillarembolie=[96], eine der wichtigsten Formen der Metastase, welche häufig kleine Heerde in der Niere, in der Milz und im Herzfleische selbst hervorbringt, unter Umständen plötzliche Verschliessungen von Gefässen im Auge oder Gehirn bedingt und je nach Umständen zu metastatischen Heerden oder zu schnellen Functionsstörungen (Amaurose, Apoplexie) Veranlassung gibt. Auch hier kann man sich deutlich überzeugen, dass in frischen Fällen die Gefässwand an der embolischen Stelle ganz intakt ist; ja es würde hier die Lehre von der Phlebitis nicht mehr zureichen, indem dies überhaupt keine Venen, ja nicht einmal Gefässe sind, welche noch Vasa vasorum besitzen, und von welchen man annehmen könnte, dass von der Wand her eine Secretion nach innen ginge. Hier bleibt nichts übrig, als die Verstopfungsmasse als eine primär innen befindliche, die von den Zuständen der Wand in keiner Weise abhängig ist, anzuerkennen. [95] Archiv 1847. I. 338 ff. [96] Gesammelte Abhandl. 711. Archiv IX. 307. X. 179. Diese Darstellung wird hoffentlich dargethan haben, dass die Doctrin der Pyämie von zwei wesentlichen Irrthümern ausgegangen ist: einmal, dass man Eiterkörperchen im Blute zu finden glaubte, wo man nur die farblosen Elemente des Blutes selbst vor sich hatte; andermal, dass man Eiter in Gefässen zu sehen glaubte, wo nichts weiter als Erweichungsprodukte des Fibrins und der Blutkörperchen vorhanden waren. Wir haben gefunden, dass allerdings diese letztere Reihe die wichtigste Quelle für Metastasen abgibt. Nun ist aber nach meiner Meinung die Geschichte derjenigen Prozesse, die man unter dem Namen der Pyämie zusammengefasst hat, mit der Darstellung dieser Vorgänge (Leukocytose, Thrombose, Embolie) nicht zu Ende. Freilich, wenn der Prozess ganz rein verläuft, so dass sich von dem ersten Orte der Störung (Venenthrombose, Endocarditis u. s. w.) nur gröbere Massen ablösen und Verstopfung machen, so kommt in vielen Fällen der eigentliche Prozess nur durch die Metastase zur Beobachtung. Es gibt Fälle, welche so latent verlaufen, dass die ursprünglichen Ausgänge vollkommen übersehen werden, und dass der erste Schüttelfrost, dessen Eintritt den Kranken und den Arzt aufmerksam macht, schon die beginnende Entwickelung der metastatischen Prozesse anzeigt. Für gewöhnlich muss man aber noch ein anderes Moment in Betracht ziehen, welches weder für die gröbere, noch für die feinere anatomische Untersuchung direkt zugänglich ist; das sind gewisse =Flüssigkeiten=, welche an sich gleichfalls keine unmittelbare und nothwendige Beziehung zum Eiter als solchem, sondern offenbar sehr verschiedene Beschaffenheit und Ableitung haben. Schon bei der Betrachtung der Lymphveränderungen habe ich hervorgehoben (S. 226), dass Flüssigkeiten, welche von Lymphgefässen aufgenommen wurden, innerhalb der Lymphdrüsen-Filtren nicht nur von körperlichen Theilen befreit, sondern auch von der Substanz der Drüse zum Theil angezogen und zurückgehalten werden, so dass sie in derselben eine Wirksamkeit entfalten können. Aehnliche Einwirkungen scheinen auch über die Drüsen hinaus stattzufinden. Wo primär durch Venen die Resorption erfolgt[97], wo also überhaupt keine Drüsen zu passiren sind, da muss natürlich jedesmal eine Wirkung in die Ferne (eine =Metastase=) eintreten. Hierher gehört vor Allem eine Reihe von eigenthümlichen Erscheinungen, welche sich als constantes Element durch alle infectiösen Prozesse hindurchziehen. Das sind einerseits die Veränderungen, welche die lymphatischen und lymphoiden Drüsen, nicht sowohl am Orte der primären Affection, als vielmehr im Körper überhaupt erleiden können, andererseits die Veränderungen, welche die Secretionsorgane darbieten, durch welche die Stoffe ausgeschieden werden sollen[98]. [97] Handbuch der speciellen Pathologie. I. 297. Gesammelte Abhandl. 698. [98] Gesammelte Abhandlungen 701. Man hat eine Zeit lang geglaubt, dass der =Milztumor= für den Typhus pathognomonisch sei, indem er den Drüsenanschwellungen im Mesenterium parallel gehe. Allein eine genauere Beobachtung lehrt, dass eine grosse Reihe von fieberhaften Zuständen, welche einen mehr oder weniger typhoiden Verlauf machen und den Nervenapparat so afficiren, dass ein Zustand der Depression an den wichtigsten Centralorganen zu Stande kommt, mit Milzschwellungen auftreten. Die Milz ist ein ausserordentlich empfindliches Organ, das nicht nur beim Wechselfieber und Typhus, sondern auch (mit Ausnahme der eigentlichen Vergiftungen) bei den meisten anderen Prozessen schwillt, in denen eine reichliche Aufnahme von schädlichen, inficirenden Stoffen in das Blut erfolgte. Allerdings muss die Milz immer in ihrer nahen Verwandtschaft zum Lymphapparate betrachtet werden, aber ihre Erkrankungen stehen ausserdem gewöhnlich in einem sehr direkten Verhältnisse zu analogen Erkrankungen der wichtigen Nachbardrüsen, insbesondere der =Leber= und der =Nieren=. Bei den meisten Infectionszuständen zeigen diese drei Apparate correspondirende Vergrösserungen, welche mit wirklichen Veränderungen im Innern verbunden sind, die jedoch selbst bei der mikroskopischen Untersuchung scheinbar nichts Bemerkenswertes darbieten, so dass das grobe Resultat für das blosse Auge, die starke Schwellung, für den Beobachter viel mehr auffällig ist. Bei umsichtiger Vergleichung findet sich indess ziemlich viel, so dass wir mit Bestimmtheit sagen können, dass die Drüsenzellen schnell verändert werden und frühzeitig an den Elementen, durch welche die Secretion geschehen soll, eine Störung sich einstellt. Aehnlich verhält es sich mit den =quergestreiften Muskeln= und namentlich mit dem =Herzen=, dessen Veränderungen für die Erklärung der Symptome von höchster Bedeutung sind. Ich werde darauf zurückkommen, da es mir nützlicher erscheint, zunächst auf ein Paar gröbere Beispiele einzugehen, welche die Möglichkeit einer unmittelbaren Anschauung solcher, aus dem Blute in die Theile eindringender und sich darin absetzender Stoffe gewähren. Wenn Jemand =Silbersalze= gebraucht, so erfolgt ein Eindringen derselben in die Gewebe; wenden wir sie nicht in eigentlich ätzender, zerstörender Weise an, so gelangt das Silber in einer Verbindung, deren Natur bis jetzt nicht hinreichend bekannt ist, in die Gewebstheile und erzeugt an der Applicationsstelle, wenn es lange genug angewendet wird, eine Farbenveränderung. Ein Kranker, welchem in der Klinik des verstorbenen v. =Gräfe= eine Lösung von Argentum nitricum zu Umschlägen auf das Auge verordnet war, gebrauchte als gewissenhafter Patient das Mittel vier Monate lang; das Resultat davon war, dass seine Conjunctiva ein intensiv bräunliches, fast schwarzes Aussehen annahm. Bei Untersuchung eines ausgeschnittenen Stückes derselben fand ich, dass eine Aufnahme des Silbers in die Substanz erfolgt war, so zwar, dass an der Oberfläche das ganze Bindegewebe eine leicht gelbbraune Farbe besass, in der Tiefe aber nur in den feinen elastischen Fasern oder Körperchen des Bindegewebes die Ablagerung stattgefunden hatte; die eigentliche Grund- oder Intercellularsubstanz war vollkommen frei geblieben. -- Ganz ähnliche Ablagerungen geschehen auch in entfernteren Organen bei innerem Gebrauche des Mittels. Die anatomische Sammlung des pathologischen Instituts enthält das sehr seltene Präparat von den Nieren eines Menschen, welcher wegen Epilepsie lange Argentum nitricum innerlich genommen hatte. Da zeigt sich an den Malpighischen Knäulen der Niere, wo die Transsudation der Flüssigkeiten geschieht, eine schwarzblaue Färbung der ganzen Gefässhaut, welche sich auf diesen Punkt der Rinde beschränkt und in ähnlicher, obwohl schwächerer Weise nur wieder auftritt in der Zwischensubstanz der Markkanälchen. In der ganzen Niere sind also ausser denjenigen Theilen, welche den eigentlichen Ort der Absonderung ausmachen, nur die verändert, welche der letzten Capillarauflösung in der Marksubstanz entsprechen. -- Von der bekannten Silberfärbung der äusseren Haut brauche ich hier nicht zu sprechen. Ein anderes Beispiel bietet uns die =Gicht=. Untersuchen wir den Gelenktophus eines Arthritikers, so finden wir ihn zusammengesetzt aus sehr feinen, nadelförmigen, krystallinischen Abscheidungen, aus harnsaurem Natron bestehend, zwischen denen höchstens hier und da ein Eiter- oder Blutkörperchen liegt. Hier handelt es sich also, wie bei dem Silbergebrauch, um eine körperliche Substanz, welche in der Regel durch die Nieren abgeschieden wird, und zwar nicht selten so massenhaft, dass schon innerhalb der Nieren selbst Niederschläge sich bilden, und namentlich in den Harnkanälchen der Marksubstanz grosse Krystalle von harnsaurem Natron sich anhäufen, zuweilen bis zu einer Verstopfung der Harnkanälchen. Wenn jedoch diese Secretion nicht regelmässig vor sich geht, so erfolgt zunächst eine Anhäufung der harnsauren Salze im Blute, wie dies durch eine sehr bequeme Methode von =Garrod= nachgewiesen worden ist. Dann beginnen Ablagerungen an anderen Punkten, nicht durch den ganzen Körper, nicht an allen Theilen gleichmässig, sondern an bestimmten Punkten und nach gewissen Regeln. Ganz ähnliche Ablagerungen von harnsauren Salzen, und zwar in den Bindegewebskörperchen und den Lymphgefässen des Bauchfells kann man nach den experimentellen Untersuchungen von =Zalesky= und =Chrzonszczewski= erzeugen, wenn man bei Vögeln die Ureteren unterbindet. Dies sind ganz andere Formen der Metastase, als die, welche wir bei der Embolie kennen gelernt haben. Dass die Veränderungen, welche in der Nierensubstanz durch die Aufnahme von Silber vom Magen her erfolgen, mit dem übereinstimmen, was man von Alters her in der Pathologie Metastase genannt hat, ist nicht zweifelhaft. Es ist dies ein materieller Transport von einem Orte zum andern (vom Magen zur Niere), wo an diesem zweiten Orte dieselbe Substanz, wenn auch etwas verändert, liegen bleibt, welche vorher an dem anderen vorhanden war, und wo das Secretionsorgan in sein Gewebe Partikelchen des Stoffes aufnimmt. Dasselbe wiederholt sich in der Geschichte aller jener Metastasen, bei denen im Blute selbst nur gelöste Stoffe und nicht Partikelchen von sichtbarer, mechanischer Art (Körner, Körperchen) sich finden. Denn auch das harnsaure Natron im Blute des Arthritikers kann man so wenig direkt sehen, als die Silbersalze; man müsste sie denn erst durch chemische Prozesse sammeln. In dieselbe Kategorie gehört eine neue, freilich sehr seltene Art von Metastase, welche ich beschrieben habe. Bei massenhafter Resorption von Kalksalzen aus den Knochen, insbesondere bei ausgedehnter Geschwulstbildung (Knochenkrebs), wird in der Regel die Knochenerde massenhaft durch die Nieren ausgeschieden, so dass sich Sedimente im Harne bilden. Die Kenntniss dieser Erscheinung hat sich von der berühmten Frau =Supiot= her aus dem vorigen Jahrhundert in der Geschichte der Osteomalacie erhalten. Aber diese regelrechte Abscheidung der Kalksalze wird nicht selten durch Störungen der Nierenfunction in derselben Weise alterirt, wie bei Arthritis die Abscheidung des harnsauren Natrons; dann entstehen ebenso Metastasen von Knochenerde, aber an anderen Punkten, namentlich den Lungen und dem Magen. Die Lungen verkalken bisweilen in grossen Bezirken, ohne dass die Permeabilität der Respirationswege leidet; die erkrankten Theile sehen wie feiner Badeschwamm aus. Die Magenschleimhaut erfüllt sich in ähnlicher Weise mit Kalksalzen, so dass sie sich wie ein Reibeisen anfühlt und unter dem Messer knirscht, ohne dass die Magendrüsen unmittelbar daran betheiligt werden; sie stecken nur in einer starren Masse, und es mag sogar noch eine Secretion aus ihnen erfolgen[99]. [99] Archiv VIII. 103. IX. 618. Diese Art von Metastasen, wo bestimmte Substanzen, aber nicht in einer palpablen Form, sondern in Lösung in die Blutmasse gelangen, muss jedenfalls für die Deutung des Complexes von Zuständen, welche man in den Begriff der Pyämie zusammenfasst, wohl berücksichtigt werden. Ich sehe wenigstens keine andere Möglichkeit der Erklärung für gewisse mehr diffuse Prozesse, die nicht in der Form der gewöhnlichen umschriebenen Metastasen auftreten. Dahin gehört die allerdings seltene metastatische Pleuritis, welche ohne metastatischen Abscess in der Lunge sich entwickelt, die scheinbar rheumatische Gelenkaffection, bei der man an den Gelenken keinen bestimmten Heerd findet, die diffuse gangränöse Entzündung des Unterhautgewebes, welche nicht wohl gedacht werden kann, ohne dass man auf eine mehr chemische Art der Infection zurückgeht. Hier handelt es sich, wie man bei der Pocken- und der Leicheninfection sieht, um eine Uebertragung von =verdorbenen, ichorösen Säften= auf den Körper, und man muss eine Dyscrasie (=ichoröse Infection=, =Ichorrhämie=) zulassen, wo in acuter Weise diese in den Körper gelangte ichoröse Substanz an den Organen, welche eine besondere Prädilection oder Affinität dazu haben, ihre Wirkung entfaltet[100]. [100] Gesammelte Abhandl. 702. Verh. der Ges. für Geburtsh. 1865. XVII. 23. Allerdings ist es sehr schwer, gegenwärtig genau anzugeben, welcher Natur die sogenannten ichorösen Säfte sind. Insbesondere lässt sich die Möglichkeit nicht verkennen, dass mit den Flüssigkeiten allerlei feste Theile in die Circulation gelangen, und es mag sein, dass in vielen Fällen diese festen Theile eine grössere Bedeutung haben, als die blosse Flüssigkeit. Diese, der =Blutmischung fremden Körperchen= können wiederum sehr verschiedener Natur sein. In manchen Fällen liegt es nahe, an =wirkliche Zellen= zu denken, welche von einem Orte des Körpers aus in die Gefässe aufgenommen werden. Nachdem =Saviotti= selbst eine Pigmentzelle aus dem Bindegewebe der Froschschwimmhaut in ein Gefäss hat einwandern sehen, lassen sich ähnliche Vorgänge leicht in grosser Zahl denken. Daran schliesst sich das Vorkommen =fremder Organismen= im Blute. Bei verschiedenen Wirbelthieren kennt man =Hämatozoen=, welche offenbar von aussen her in die Gefässe dringen und im Blute circuliren. Beim Menschen ist ausser dem in Aegypten vorkommenden Distomum haematobium wenig Genaueres bekannt, und es ist namentlich zu erwähnen, dass die Einwanderung der Trichinen, soweit sich übersehen lässt, in der Regel nicht durch die Gefässe, sondern direkt durch die Gewebe und Höhlen des Körpers erfolgt[101]. Anders verhält es sich dagegen mit einer Reihe jener kleinsten Organismen, die unter den Namen von Vibrionen, Bakterien, Micrococcus aufgeführt werden, und die in der neueren Literatur überwiegend als =pflanzliche= Organismen betrachtet werden. Sie haben eine um so grössere Bedeutung, als sie eine grosse Zahl maligner Prozesse am Menschenleibe, namentlich die fauligen und brandigen, bewirken und sich den ichorösen Säften vielfach zumischen. Auch finden sie sich bei Leichen sehr häufig in inneren Gefässen des Körpers, und man hat sie im Blute lebender Menschen und Thiere nachgewiesen. Direkte Injectionen von Sporen eines grösseren Fadenpilzes, des Aspergillus, welche =Grohe= in die Gefässe lebender Thiere veranstaltete, haben überdies gelehrt, dass in den verschiedensten Theilen die Sporen keimten und »metastatische Heerde« hervorbrachten. -- Erinnert man sich endlich daran, dass nach den Untersuchungen v. =Recklinghausen='s, welche seitdem vielfach wiederholt worden sind, unlösliche Körnchen von Farbstoff, welche in die Höhlen oder Gefässe von Thieren eingespritzt werden, von den farblosen Blutkörperchen und anderen Gewebselementen aufgenommen und von ihnen auf ihren Wanderungen mit fortgetragen werden, so erschliesst sich hier noch ein reiches Gebiet möglicher Veränderungen des menschlichen Körpers, deren genauere Analyse uns erst gestatten wird, zu entscheiden, wie viel von der schädlichen Eigenschaft der ichorösen Säfte körperlichen Beimischungen, wie viel chemischen Stoffen zuzuschreiben ist. Immerhin können wir vor der Hand die ichoröse Infection als ein besonderes Glied neben der Leukocytose und Embolie festhalten. [101] Archiv XVIII. S. 535. Die Lehre von den Trichinen. 3. Aufl. Berlin 1866. S. 32. Bevor wir jedoch dieses Capitel schliessen, müssen wir noch eine wichtige Bemerkung in Beziehung auf die sogenannte Pyämie hinzufügen. Es kommt nicht selten vor, dass im Laufe desselben Krankheitsfalles die drei verschiedenen, von uns betrachteten Veränderungen oder wenigstens zwei derselben neben einander bestehen. Es kann eine Vermehrung der farblosen Körperchen (Leukocytose) der Art stattfinden, dass man an die morphologische Pyämie glauben möchte. Dies wird jedenfalls immer stattfinden, wenn der Prozess mit ausgedehnter Reizung von Lymphdrüsen verbunden war. Man kann ferner Thrombenbildung und Embolie mit metastatischen Heerden finden. Es kann endlich zugleich eine Aufnahme von ichorösen oder fauligen Säften statthaben (Ichorrhämie, Septhämie). Diese in sich verschiedenen Zustände können sich compliciren, fallen aber darum nicht nothwendig zusammen. Will man daher den Begriff der Pyämie festhalten, so kann man es am Besten für solche Complicationen thun; nur muss =man nicht einen einheitlichen Mittelpunkt in einer eiterigen Infection des Blutes suchen=, sondern die Bezeichnung als einen Sammelnamen für mehrere, ihrem Wesen und ihrem Ausgangspunkte nach verschiedenartige Vorgänge betrachten. Zwölftes Capitel. Theorie der Dyscrasien. Abhängigkeit der Dyscrasien und ihrer Dauer von der Zufuhr der Stoffe. Bösartige Geschwülste: Krebs-Dyscrasie. Locale und allgemeine Contagion durch infectiöse Parenchym-Säfte. Bedeutung der Zellen für die Dissemination und Metastase. Natur der virulenten Substanzen. Regressive Stoffe als Mittel der Infection: Rotz, Syphilis, Tuberkel. Impfungen. Wanderung infectiöser Elemente. Homologe und heterologe Infection. Melanämie. Beziehung zu melanotischen Geschwülsten und Intermittens. Abhängigkeit von Milzfärbung. Die rothen Blutkörperchen. Entstehung. Die melanösen Formen. Chlorose. Lähmung der respiratorischen Substanz: Kohlenoxyd. Blutgifte, Toxicämie. Verschiedene Entstehung der Dyscrasien. Im Vorhergehenden haben wir nicht nur körperliche Theile, sondern auch chemische Stoffe als Vermittler von Dyscrasien kennen gelernt und gefunden, dass diese Dyscrasien eine bald längere, bald kürzere Dauer haben, je nachdem die Zufuhr jener Theile oder Stoffe kürzere oder längere Zeit andauert. Kommen wir nunmehr kurz zu der Frage zurück, ob neben diesen Formen noch irgend eine Art von Dyscrasie nachweisbar ist, bei der =das Blut als der dauerhafte Träger= bestimmter Veränderungen erscheint, so müssen wir diese Frage entschieden verneinen. Je deutlicher nachweisbar eine wirkliche Verunreinigung des Blutes mit bestimmten, seiner Mischung fremdartigen Stoffen ist, um so regelmässiger pflegt der Verlauf der dadurch hervorgerufenen Krankheitsprozesse ein relativ acuter zu sein. Man denke an Vergiftungen und acute Exantheme. Dagegen dürften gerade jene Krankheits-Formen, bei denen man sich am liebsten, namentlich über die Mangelhaftigkeit der therapeutischen Erfolge, damit tröstet, dass es sich um eine tiefe und unheilbare, chronische Dyscrasie handele, wohl am wenigsten in einer zugleich ursprünglichen und anhaltenden Veränderung des Blutes beruhen; gerade bei ihnen handelt es sich in der Mehrzahl der Fälle um ausgedehnte und dauerhafte Veränderungen gewisser Organe oder einzelner Theile. So ist es mit Krebs, Tuberculose, Aussatz, Hämorrhaphilie. Ich kann nicht behaupten, dass ein völliger Abschluss der Untersuchungen in Beziehung auf eine dieser Krankheiten vorläge; ich kann nur sagen, dass jedes Mittel der mikroskopischen und chemischen Analyse bis jetzt fruchtlos angewendet worden ist auf die hämatologische Erforschung des Wesens dieser Prozesse, dass wir dagegen bei allen wesentliche Veränderungen kleinerer oder grösserer Complexe von Organen oder Organtheilen nachweisen können, und dass die Wahrscheinlichkeit, auch hier die dauerhafte Dyscrasie als eine secundäre, abhängig von bestimmten organischen Punkten, zu erkennen, mit jedem Tage zunimmt. Diese Frage ist namentlich genauer zu discutiren bei der Lehre von der Verbreitung der bösartigen Geschwülste[102], bei denen man sich ja auch so häufig damit hilft, die Bösartigkeit als im Blute wurzelnd zu denken, so dass das Blut die Localaffectionen hervorbringe. Und doch ist es gerade im Verlaufe dieser Bildungen verhältnissmässig am leichtesten, einen anderen Modus der Verbreitung zu zeigen, sowohl in der nächsten Nachbarschaft der Erkrankungsstelle, als auch an entfernten Organen. Es ergibt sich, dass ein Umstand die Möglichkeit der Ausbreitung solcher Prozesse besonders begünstigt, nehmlich =der Reichthum an Parenchym-Säften= in dem pathologischen Gebilde[103]. Je trockener eine Neubildung ist, um so weniger besitzt sie im Allgemeinen die Fähigkeit der Infection, sei es näherer, sei es entfernterer Orte. Das Cancroid, die Perlgeschwulst, selbst der Tuberkel stecken die Nachbarschaft leicht an, während die entfernten Organe häufig gar nicht erkranken: das Carcinom, das Sarcom, der Rotz, selbst specifischer Eiter machen sehr leicht örtliche und zugleich allgemeine Ansteckung. [102] Geschwülste I. 41, 70, 126. [103] Handb. der spec. Pathologie und Ther. I. 340. Der Modus der Verbreitung selbst entspricht bei dem Krebs in der Regel ganz dem, was wir früher betrachteten. Am leichtesten findet eine Leitung innerhalb der Lymphbahnen und ein Ergreifen der Lymphdrüsen statt; erst nach und nach treten an entfernteren Stellen Prozesse ähnlicher Art auf. Oder der Prozess greift auch hier zunächst auf die Venenwandungen über, diese werden wirklich krebsig, und nach einer gewissen Zeit wächst entweder der Krebs direkt durch die Wand hindurch in das Gefäss hinein und schreitet hier fort, oder es bildet sich an diesem Punkte ein Thrombus, welcher den Krebspfropf mehr oder weniger umhüllt, und in welchen die krebsige Masse hineinwächst[104]. Wir haben also hier in zwei Richtungen die Möglichkeit für eine Verbreitung, aber nur in einer Richtung die Möglichkeit eines sofortigen Ueberganges körperlicher Theile in das Blut, nehmlich nur in dem Falle, dass Venen durchbrochen werden. Eine Resorption von Krebszellen durch Lymphgefässe gehört keineswegs unter die Unmöglichkeiten, aber jedenfalls ist so viel sicher, dass nicht eher eine allgemeine Verbreitung derselben stattfinden kann, ehe die Lymphdrüsen nicht ihrerseits durch und durch krebsig umgewandelt sind, und dieselben krebsigen Massen von ihnen aus in abgehende Gefässe hineinwuchern. Nie kann ein peripherisches Lymphgefäss einfach, wie die Flüssigkeit, so auch die Zellen des Krebses bis zum Blute fortschwemmen; das ist nur denkbar und möglich an den Venen. Allein auch hier verhält es sich so, dass eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass häufige Verbreitungen durch losgelöste Krebszellen stattfinden, durchaus nicht vorliegt, aus dem einfachen Grunde, weil die Metastasen des Krebses den Metastasen, die wir bei der Embolie kennen gelernt haben, sehr häufig nicht entsprechen. Die gewöhnliche Form der metastatischen Verbreitung beim Krebs entspricht vielmehr der Richtung zu den Secretionsorganen. Die Lunge erkrankt bekanntlich viel seltener durch Krebs, als die Leber, nicht nur nach Magen- und Uteruskrebs, sondern auch nach Brustkrebs, welcher doch zunächst Lungenkrebs erzeugen müsste, wenn es etwas Körperliches wäre, welches fortgeleitet würde, stagnirte und die neue Eruption bedingte. [104] Archiv I. 112. Gesammelte. Abhandl. 551. Geschwülste I. 43. Die Art der metastatischen Verbreitung macht es vielmehr wahrscheinlich, dass die Uebertragung häufig durch Flüssigkeiten erfolgt, und dass diese die Fähigkeit besitzen, eine Ansteckung zu erzeugen, welche die einzelnen Theile zur Reproduction derselben Masse bestimmt, die ursprünglich vorhanden war. Man denke sich nur einen ähnlichen Prozess, wie wir ihn bei den Pocken im Grossen haben. Der Pockeneiter, direkt übertragen, leitet allerdings den Prozess ein, aber das Contagium ist auch flüchtig, und es kann Jemand eiterige Pusteln auf der Haut bekommen, nachdem er nur infecte Luft geathmet hat. Einigermaassen ähnlich scheint es sich auch in den Fällen zu verhalten, wo im Laufe heteroplastischer Prozesse Dyscrasien zu Stande kommen, welche ihre neuen Eruptionen nicht an Punkten machen, welche nach der Richtung des Lymph- oder Blutstromes ihnen zunächst ausgesetzt sein würden, sondern an entfernten Punkten. Wie sich das Silbersalz nicht in den Lungen ablagert, sondern hindurchgeht, um sich erst in den Nieren oder der Haut niederzuschlagen, so kann ein contagiöser Saft von einer Krebsgeschwulst durch die Lungen gehen, ohne diese zu verändern, während er doch an einem entfernteren Punkte, z. B. in den Knochen eines weit abgelegenen Theiles, bösartige Veränderungen erweckt. Damit ist natürlich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass auch zellige Elemente als Träger der contagiösen Stoffe auftreten. Wenn man die eigenthümlichen Eruptionen betrachtet, welche bei Magenkrebs am Netz, am Gekröse und an anderen Orten des Bauchfells auftreten, so wird es allerdings sehr viel leichter, dieselben durch das zufällige Ablösen, Heruntergleiten, Liegenbleiben und so zu sagen Keimen von krebsigen Zellen von der Oberfläche des Magens zu erklären, als sie auf abgesonderte Flüssigkeiten zu beziehen[105]. Denn diese secundären Peritonäal-Krebse bieten in Beziehung auf Vielfachheit, Form und Sitz der Heerde die grösste Aehnlichkeit mit den contagiösen Schimmelkrankheiten (Mykosen) der Haut dar, wo, z. B. bei Porrigo (Favus, Tinea), bei Pityriasis versicolor, die sich ablösenden und heruntergleitenden Sporen zuweilen am Rumpfe eine lange Reihe von Eruptionen bilden. Aber auch bei dieser =Dissemination= von Krebs ist es noch nicht erwiesen, dass es die etwa losgelösten Zellen selbst sind, welche aus sich, durch neue Proliferation, die secundären Knoten erzeugen; vielmehr dürfte auch ihnen nur eine contagiöse, katalytische Einwirkung auf die Gewebe zuzuschreiben sein, etwa wie dem Samen (Sperma) in Beziehung auf das Ei[106]. Soweit meine Beobachtung reicht, gehen die jungen Geschwulst-Elemente in allen solchen Secundär-Eruptionen aus dem Gewebe des angesteckten Ortes hervor. Deshalb habe ich geschlossen[107], dass die =locale Contagion=, welche sich von der ersten Erkrankungsstelle zunächst in der Nachbarschaft ausbreitet, durch Säfte erfolgen müsse, welche in die gesunden Gewebe eindringen, sie katalytisch erregen und zu neuer selbständiger Wucherung antreiben. Dies wäre eine =humorale Infection=, die doch nichts mit dem Blute zu thun hat, sondern, wie bei einem Erysipelas migrans, von einem Elemente direkt auf das andere fortschreitet, übertragen wird. [105] Geschwülste I. 54. [106] Gesammelte Abhandl. 41, 51, 53. Handb. der spec. Pathol. II. 411. [107] Archiv 1853. V. 245. Allerdings ist die Frage, welches die eigentlich infectiöse (=virulente=) Substanz sei, und namentlich, ob sie an zellige Elemente oder besondere Organismen gebunden oder als ein bloss chemischer Stoff anzusehen sei, eine überaus schwierige, und nichts berechtigt uns, sie für alle infectiösen Prozesse in gleicher Weise zu behandeln. Denn es ist durchaus nicht nöthig, dass dieselbe Erklärung für Pocken gilt, wie für Scharlach oder wie für Rotz oder wie für Syphilis. Würde dargethan, dass der Krebs sich nur durch Zellen fortpflanzte, so folgte daraus noch nicht, dass es bei Tuberkel ebenso sein müsse. Nirgends ist die Generalisation bedenklicher, als gerade hier. Auch muss ich darauf aufmerksam machen, dass selbst da, wo die Infection an Zellen oder Organismen geknüpft ist, noch nicht dargethan ist, dass diese Zellen oder Organismen selbst das Schädliche sind; es kann sehr wohl sein, dass die Zellen erst die schädliche Substanz absondern, etwa wie die Gährungspilze den Alkohol[108]. [108] Berliner Klinische Wochenschrift 1871. No. 10. In der That hat das genauere Studium der infectiösen Krankheiten gelehrt, dass selbst =zerfallende, regressive Substanzen= (Detritus) der Träger der Ansteckung sein können[109]. Ich habe dies zuerst für den Rotz[110] nachgewiesen. Für die Syphilis hat =Michaelis= einen ähnlichen Nachweis versucht, und die neueren Experimentatoren sind wenigstens sehr getheilter Ansicht[111]. In grosser Ausdehnung hat sich eine ähnliche, zuerst von =Dittrich= vermutungsweise aufgestellte Ansicht in der Lehre von der Tuberkulose Anerkennung verschafft, seitdem man dieselbe im Wege der =Impfung= (Inoculation) bei Thieren studirt hat. Nachdem zuerst =Villemin= positive Resultate erlangt hatte, indem er Tuberkelsubstanz auf Thiere übertrug, und damit die Ansteckungsfähigkeit des Tuberkels erwiesen schien, hat eine Reihe späterer Experimentatoren, insbesondere =Cohnheim= und =Fränkel= dargethan, dass die Fähigkeit, Tuberkel hervorzurufen, nicht an Tuberkelstoff geknüpft ist, sondern dass die Inoculation von zerfallendem Eiter, ja die blosse Einbringung von reizenden Körpern, welche chronische Eiterung mit nekrobiotischem Zerfall hervorrufen, genügt, um eine bald örtliche, bald allgemeine Tuberkulose zu erzeugen. Ja, Versuche von =Carl Ruge=[112] an Meerschweinchen haben gelehrt, dass die Einbringung fremder Körper, z. B. von Korkstückchen in die Bauchhöhle, auch dann Tuberkulose hervorbringen kann, wenn weder Eiter, noch Käse, sondern nur chronische Entzündung entsteht. Nichtsdestoweniger wird man kaum fehlgehen, wenn man den käsigen Stoffen, mögen sie nun aus Eiter oder aus Tuberkel entstanden sein, eine höhere Fähigkeit, die tuberkulöse Infection hervorzubringen, zuschreibt. [109] Geschwülste I. 111. [110] Spec. Pathologie und Therapie 1855. II. 411. [111] Geschwülste I. 112. II. 474. [112] C. =Ruge= Einige Beiträge zur Lehre von der Tuberkulose. Inaug. Diss. Berlin 1869. S. 26. Muss man daher zugestehen, dass selbst der Detritus organisirter Gewebe oder zelliger Theile infectiöse Eigenschaften besitzen kann, so wird man sich der Erwägung nicht verschliessen können, dass auch Secretstoffe, mögen sie nun, wie die Samenfäden, durch den Untergang von Zellen freigeworden sein, oder mögen sie, als recrementitielle Stoffe von den noch fortbestehenden Zellen ausgeschieden sein, infectiös werden können. Wenn eine Krebszelle in eine Lymphdrüse geführt wird, so könnte durch die von ihr gelieferten Stoffe auch den Drüsenzellen ein specifischer Reiz übertragen werden, welcher dieselben bestimmt, nicht bloss zu wachsen und sich zu vermehren, wie bei einer gewöhnlichen Reizung, sondern auch wirklich krebsig zu werden. In der That lassen sich bei secundärem Krebs der Lymphdrüsen Uebergänge zwischen Drüsen- und Krebszellen vielfach wahrnehmen. Auch auf dem Wege der Impfung ist es mehreren neueren Experimentatoren gelungen, Krebs auf Thiere zu übertragen[113]. Aber noch ist nicht genau festgestellt, ob in diesen, verhältnissmässig seltenen und daher noch nicht über allen Zweifel erhabenen Versuchen die geimpften Krebszellen selbst weitere Brut aus sich hervorgebracht haben, oder ob sie nur katalytisch-erregend auf die Gewebstheile einwirkten. Dieses ist erst durch weitere Untersuchungen festzustellen. [113] Geschwülste I. 87. Die neueren Erfahrungen über die =Wanderungen= zelliger Elemente (S. 189) haben überdies eine neue Möglichkeit der Erklärung mancher Erscheinungen gebracht, welche früher nur durch die Annahme contagiöser Säfte gedeutet werden konnten. Es ist damit nicht bloss die Auswanderung von =infectiösen Elementen= in die Nachbarschaft, sondern auch deren Uebergang in die Circulation und ihre Einwanderung in entfernte Organe in den Kreis der zulässigen Interpretation eingetreten. Die Bildung von Metastasen in entfernten Punkten des Körpers, sowie die durch reichlichere Anwesenheit von Parenchymsäften begünstigte Neigung zur Infection lässt sich dadurch sehr bequem erklären. Aber man darf um der Bequemlichkeit der Erklärung willen nicht übersehen, dass der thatsächliche Nachweis allein eine Entscheidung bringt. Wenn sich im Umfange eines Tuberkels wieder Tuberkel bilden, welche in einer gewissen Entfernung von dem ersten liegen, so lässt sich dies so erklären, dass von dem ersten Heerde Tuberkelzellen ausgewandert seien, welche an den accessorischen Knoten gekeimt sind. Aber dieselbe Erklärung passt nicht mehr auf den Fall, den ich mehrmals gesehen habe, dass sich in der Nähe eines kankroiden Geschwürs des Oesophagus eine multiple Eruption miliarer Tuberkel auf der Pleura bildet. Hier kommt man nothwendig auf blosse Stoffe zurück, und man überzeugt sich, dass es eine =doppelte Art der Infection= gibt: eine =homologe=, wo die Secundärprodukte den ursprünglichen gleich oder ähnlich, und eine =heterologe=, wo sie davon verschieden sind. Auch darf man nicht übersehen, dass ein wirklicher Uebergang geformter Theile in das Blut nicht nothwendig in denjenigen Organen, zu welchen diese Theile gelangen, analoge Erkrankungen erzeugen muss, wie an dem Orte ihrer Bildung bestanden. In dieser Beziehung will ich einen Zustand erwähnen, welcher in der neueren Zeit mehrfach besprochen worden ist, die von mir sogenannte =Melanämie=[114]. Es ist dies ein Zustand, welcher sich am nächsten an die Geschichte der Leukämie anlehnt, insofern es sich dabei um Elemente des Blutes handelt, welche, wie die farblosen Körperchen bei der Leukämie, von bestimmten Organen aus in das Blut gelangen und mit dem Blute circuliren[115]. Die Zahl der bekannten Beobachtungen darüber ist schon ziemlich gross, man möchte fast sagen, grösser als vielleicht nothwendig wäre, denn es scheint in der That, dass hier und da Verwechselungen von Pigment mit cadaverösen Producten[116] mit untergelaufen sind, welche aus der Geschichte der Affection wieder hinauszubringen sein dürften. Unzweifelhaft gibt es aber einen Zustand, in welchem farbige Elemente im Blute vorkommen, welche in dasselbe nicht hineingehören. Einzelne Beobachtungen solcher Art finden sich schon seit längerer Zeit[117] und zwar zuerst in der Geschichte der melanotischen Geschwülste, wo man öfter angegeben hat, dass in ihrer Nähe schwarze Partikelchen in den Gefässen vorkommen, und wo man sich dachte, dass hieraus die melanotische Dyscrasie entstände[118]. Dies ist aber gerade der Fall nicht, den man meint, wenn man heut zu Tage von Melanämie redet. In den letzten Jahren ist keine einzige Beobachtung bekannt geworden, welche in Beziehung auf den Uebergang melanotischer Geschwulsttheile in das Blut einen Fortschritt darböte. [114] Gesammelte Abhandlungen 201. [115] Archiv 1853. V. 85. [116] Gesammelte Abhandl. 730. Note. [117] Herr Dr. =Stiebel= sen. in Frankfurt a. M. macht mich darauf aufmerksam, dass er schon in einer Recension von =Schönlein='s klinischen Vorträgen (in =Häser='s Archiv) das Vorkommen von Pigmentzellen im Blute besprochen habe. Anm. der zweiten Aufl. [118] Geschwülste II. 285. Die erste Beobachtung derjenigen Reihe, welche ich im engeren Sinne als Melanämie bezeichne, ist von =Heinrich Meckel= bei einer Geisteskranken gemacht worden, kurze Zeit, nachdem ich die Leukämie beschrieben hatte. Er fand, dass auch hier die Milz in einem sehr erheblichen Maasse vergrössert, aber zugleich mit schwarzem Pigment durchsetzt war, und er leitete daher die Veränderung im Blute von einer Aufnahme farbiger Partikelchen aus der Milz ab. Die nächste Beobachtung habe ich selbst gemacht[119], und zwar in einer Richtung, die nachher sehr fruchtbar geworden ist, bei einem Intermittenskranken, welcher lange Zeit mit einem beträchtlichen Milztumor behaftet war; ich fand in seinem Herzblute =pigmentirte Zellen= (Fig. 85). =Meckel= hatte nur freie Pigmentkörner und Schollen gesehen. Die von mir gefundenen Zellen hatten vielfache Aehnlichkeit mit farblosen Blutkörperchen; es waren sphärische, manchmal aber auch mehr längliche, kernhaltige Elemente, innerhalb deren sich mehr oder weniger grosse, schwarze Körner fanden. Auch in diesem Falle bestätigte sich das Vorkommen einer grossen schwarzen Milz. Seit jener Zeit ist durch =Meckel= selbst, sowie durch eine Reihe von anderen Beobachtern in Deutschland, zuletzt durch =Frerichs=, in Italien durch =Tigri=, die Aufmerksamkeit auf diese Zustände immer mehr gelenkt worden. =Tigri= hat die Krankheit geradezu nach der schwarzen Milz als Milza nera bezeichnet, während nach der Ansicht von =Meckel=, welche durch =Frerichs= an Ausdehnung gewonnen hat, es vielmehr eine Form der schwereren Intermittenten wäre, welche auf diese Weise zu erklären sein sollte. [119] Archiv 1848. II. 594. [Illustration: =Fig=. 85. Melanämie. Blut aus dem rechten Herzen (vgl. Archiv für pathol. Anatomie und Physiologie. Bd. II. Fig. 8). Farblose Zellen von verschiedener Gestalt, mit schwarzen, zum Theil eckigen Pigmentkörnern erfüllt. Vergr. 300.] =Meckel= suchte den Grund der schweren Zufälle darin, dass die Elemente, welche in's Blut gelangen, sich an gewissen Orten in den feineren Capillarbezirken anhäuften und hier Stagnation und Obstruction erzeugten. So namentlich in den Capillaren des Gehirns, wo sie sich nach Art der Emboli an den Theilungsstellen festsetzen und bald Capillarapoplexien, bald die comatösen und apoplektischen Formen der schweren Wechselfieber bedingen sollten. =Frerichs= hat noch eine andere Art der Verstopfung hinzugefügt, die der feinen Lebergefässe, welche endlich zur Atrophie des Leberparenchyms Veranlassung geben soll. Es würde demnach hier eine ausserordentlich wichtige Reihe von Secundärzufällen existiren, die direkt von der Dyscrasie abhängig wären. Leider kann ich selbst wenig darüber sagen, da ich seit meinem ersten Falle nicht wieder in der Lage war, etwas Aehnliches zu beobachten. Ich habe wohl schwarze Milzen, sowie Lebern mit schwarzem Pigment im interstitiellen Gewebe gefunden, aber keine Melanämie und keine melanämische Embolie. Ich kann also auch nicht mit Sicherheit über den Werth der Beziehungen urtheilen, welche man aufgestellt hat über den Zusammenhang der secundären Veränderungen mit der Blutverunreinigung. Nur das möchte ich hervorheben, dass alle Thatsachen, welche man in Bezug auf diese Zustände kennt, darauf hinweisen, dass die Verunreinigung des Blutes von einem bestimmten Organe ausgeht, dass dies Organ, wie bei den farblosen Blutkörperchen, gewöhnlich die Milz ist, dass aber selbst diejenigen Beobachter, welche das im Blute enthaltene Pigment an entfernten Punkten in den Gefässen stocken lassen, daraus nur mechanische Störungen ableiten, aber nicht melanotische Secundärgeschwülste. Dass die schwere Intermittens, wie =Griesinger= meinte, an die Melanämie geknüpft sei, ist entschieden unrichtig, und wenn, wie ich finde, das schwarze Pigment in den melanämischen Lebern constant in den Bindegewebskörperchen der portalen Scheiden liegt, so ist damit noch lange nicht dargethan, dass diese Körperchen selbst eingewandert sind. -- * * * * * Ich habe im Verlaufe meiner Darstellung bis jetzt kaum etwas von den Veränderungen der =rothen Körperchen= des Blutes erwähnt, nicht etwa, weil ich sie für unwesentliche Bestandtheile hielte, sondern weil bis jetzt über ihre Veränderungen ausserordentlich wenig bekannt ist. Die Geschichte der rothen Blutkörperchen ist immer noch mit einem geheimnissvollen Dunkel umgeben, da eine völlige Sicherheit über die Entstehung dieser Elemente auch gegenwärtig noch nicht gewonnen ist. Ihre Entstehung aus farblosen Zellen, so bestimmt wir sie auch voraussetzen müssen, ist beim geborenen Menschen nicht regelmässig zu verfolgen. Dass die gewöhnlichen farblosen Blutkörperchen über das Stadium hinaus zu sein scheinen, wo ihre Neubildung zu rothen Körperchen noch eintritt, habe ich schon erwähnt (S. 213); ob jedoch im Chylus oder in der Lymphe selbst, in der Milz oder im Knochenmark schon solche Umbildungen geschehen, ist erst genauer festzustellen. Nur bei Froschblut ist es v. =Recklinghausen= in seiner »Zuchtkammer« auch ausserhalb des Körpers gelungen, eine allmähliche Umbildung farbloser Blutkörperchen in rothe zu beobachten. Für den Menschen ist diese Erfahrung nicht ohne Weiteres zu verwerthen. Wir wissen von ihm nur so viel mit Bestimmtheit, wie ich schon früher (S. 172) hervorhob, dass die ersten rothen Blutkörperchen aus embryonalen Bildungszellen des Eies ebenso direkt hervorgehen, wie alle übrigen Gewebe sich aus denselben aufbauen. Wir wissen ferner, dass in den ersten Lebensmonaten auch des menschlichen Embryo Theilungen der rothen Blutkörperchen stattfinden, wodurch eine Vermehrung derselben im Blute selbst hervorgebracht wird. Allein nach dieser Zeit ist, ganz vereinzelte Beobachtungen über das Vorkommen kernhaltiger Blutkörperchen (S. 205) abgerechnet, Alles dunkel, und zwar fällt dieses Dunkel ziemlich genau zusammen mit der Periode, wo die Blutkörperchen im menschlichen und Säugethier-Blute aufhören, Kerne zu zeigen. Wir können nur sagen, dass gar keine Thatsache bekannt ist, welche für eine fernere selbständige Entwickelung oder für eine Theilung der rothen Körperchen im Blute selbst spräche; Alles deutet mit Wahrscheinlichkeit auf eine Zufuhr hin. Selbst G. =Zimmermann=, welcher annahm, dass kleine bläschenförmige Körperchen im Blute vorkämen, welche in demselben nach und nach durch Intussusception wüchsen und endlich zu rothen Blutkörperchen würden, leitete jene bläschenförmigen Körperchen aus dem Chylus ab. Indess scheint mir diese Beobachtung nicht richtig gedeutet zu sein. Die von =Zimmermann= beschriebenen Gebilde sind offenbar Bruchstücke alter Blutkörperchen (S. 193), wie sie =Wertheim= neuerlich nach Verbrennungen gesehen haben will. Ausserdem finden sich nicht selten ungewöhnlich kleine Blutkörperchen auch im frischen Blute (Fig. 61, _h_), allein wenn man sie genauer untersucht, so ergibt sich an ihnen eine Eigenthümlichkeit, welche an jungen (embryonalen) Formen nicht bekannt ist, nehmlich dass sie ausserordentlich resistent gegen die verschiedensten Einwirkungen sind. An sich sehen sie schön dunkelroth aus, sie haben eine gesättigte, manchmal fast schwarze Farbe; behandelt man sie mit Wasser oder Säuren, welche die gewöhnlichen rothen Körperchen mit Leichtigkeit auflösen, so sieht man, dass eine ungleich längere Zeit vergeht, bevor sie verschwinden. Setzt man zu einem Tropfen Blut viel Wasser hinzu, so sieht man sie nach dem Verschwinden der übrigen Blutkörperchen noch längere Zeit übrig bleiben. Diese Eigenthümlichkeit stimmt am meisten überein mit Veränderungen, welche in solchem Blute eintreten, welches in Extravasaten oder innerhalb der Gefässe lange Zeit in Stase sich befunden hat. Hier führt diese Veränderung unzweifelhaft zu einem Untergang der Körper, und es kann daher mit grosser Wahrscheinlichkeit auch für das circulirende Blut geschlossen werden, dass diese kleinen Körperchen nicht junge, in der Entwickelung begriffene, sondern im Gegentheil alte, im Untergang begriffene Formen darstellen. Ich stimme daher im Wesentlichen mit der Auffassung von =Karl Heinrich Schultz= überein, welcher diese Körper unter dem Namen von =melanösen= Blutkörperchen beschrieben hat und sie für die Vorläufer der »Blutmauserung« ansieht, für Körperchen, welche sich vorbereiteten zu den eigentlich excrementiellen Umsetzungen. In manchen Zuständen wird die Zahl dieser Elemente ungeheuer gross. Bei recht gesunden Individuen findet man sehr wenig davon, nur im Pfortaderblut glaubt =Schultz= immer viele dieser Körperchen gesehen zu haben. Sicher ist es aber, dass es krankhafte Zustände gibt, wo ihre Menge so gross wird, dass man fast in jedem Blutstropfen eine kleinere oder grössere Zahl davon antrifft. Diese Zustände lassen sich jedoch bis jetzt nicht in bestimmte Kategorien bringen, weil die Aufmerksamkeit darauf wenig rege gewesen ist. Man findet sie in leichten Formen von Intermittens, bei Cyanose nach Herzkrankheiten, bei Typhösen, bei den Infectionsfiebern der Operirten und im Laufe epidemischer Erkrankungen, immer jedoch in solchen Krankheiten, welche mit einer schnellen Erschöpfung der Blutmasse einhergehen und zu kachectischen und anämischen Zuständen führen. In der Regel sieht solches Blut sehr dunkel aus und nimmt selbst beim Stehen an der Luft oder beim Zusatze von Neutralsalzen nicht jene hochrothe Farbe an, welche das normale Blut so sehr auszeichnet. Auch vom klinischen Gesichtspunkte aus besteht für die Mehrzahl dieser Krankheitszustände die Wahrscheinlichkeit eines reichlichen Zugrundegehens von Blutbestandtheilen innerhalb der Blutbahn. -- * * * * * Ausser diesen Veränderungen kennen wir mit Bestimmtheit noch eine andere Reihe, wo es sich um quantitative Veränderungen in der Zahl der Körper handelt. Diese Zustände, deren Hauptrepräsentant die =Chlorose= ist, zeigen eine gewisse Aehnlichkeit mit jenen, welche mit Vermehrung der farblosen Blutkörperchen einhergehen, mit der Leukämie im engeren Sinne und den bloss leukocytotischen Zuständen. Die Chlorose unterscheidet sich aber dadurch von ihnen, dass die Zahl der zelligen Körperchen im Blute überhaupt geringer ist. Während in der Leukämie gewissermaassen an die Stelle der rothen Körperchen farblose treten und eine Verminderung der Zahl der zelligen Elemente im Blute nicht zu Stande kommt, ja zuweilen sogar eine Art von Plethora lymphatica dadurch bedingt wird, so vermindern sich bei der Chlorose die Elemente beider Gattungen, ohne dass das gegenseitige Verhältniss der farbigen zu den farblosen in einer bestimmten Weise gestört würde. Es setzt dies eine verminderte Bildung überhaupt voraus, und wenn man schliessen darf (wie ich allerdings glaube, dass man kaum anders kann), dass auch die rothen Körperchen von Elementen der Milz und der Lymphdrüsen herstammen, so würde Alles darauf hindeuten, dass in der Chlorose eine verminderte Bildung von Zellen innerhalb der Blutdrüsen stattfinde. Die Leukämie erklärt sich natürlich viel einfacher, insofern wir hier Repräsentanten der zelligen Elemente im Blute finden, und wir uns denken können, dass ein Theil der Elemente, anstatt in rothe umgewandelt zu werden, seine Entwickelung ganz als farblose fortsetzt. In der Geschichte der Chlorose dagegen waltet noch viel Dunkel, da wir ein primäres Leiden der Blutdrüsen mit Bestimmtheit nicht nachweisen können. Die anatomischen Erfahrungen deuten darauf hin, dass die chlorotische Störung schon sehr frühzeitig angelegt wird. Man findet gewöhnlich die Aorta und die grösseren Arterien, häufig das Herz und den Sexualapparat mangelhaft gebildet, was auf eine congenitale oder doch in früher Jugend erworbene Disposition schliessen lässt. Wenn diese Disposition in der Regel erst zur Pubertätszeit wirkliche Störungen von pathologischem Werthe hervorbringt, so würde es doch irrig sein, wenn man deshalb die Disposition leugnen wollte. Meine Ansicht geht sogar dahin, dass diese Disposition unheilbar ist, wenngleich sie durch zweckmässige Behandlung, insbesondere diätetische Pflege latent gemacht werden kann. -- * * * * * Endlich muss hier noch eine dritte Reihe von Zuständen erwähnt werden, diejenige nehmlich, wo die innere Beschaffenheit der Blutkörperchen Veränderungen erfahren hat, ohne dass dadurch ein bestimmter morphologischer Effect hervorgebracht würde. Hier handelt es sich wesentlich um Functionsstörungen, welche wahrscheinlich mit feineren Veränderungen der Mischung zusammenhängen, also Veränderungen der eigentlichen =respiratorischen Substanz=. So gut nehmlich, wie wir bei den Muskeln die Substanz des Primitivbündels, die compacte Masse des Syntonins oder Myosins als contractile Substanz erfinden, so erkennen wir im Inhalte des rothen Blutkörperchens die eigentlich functionirende, respiratorische Substanz. Sie erfährt unter gewissen Verhältnissen Veränderungen, welche sie ausser Stand setzen, ihre Function fortzuführen, eine Art von Lähmung, wenn man will. Dass etwas der Art vorgegangen ist, ersieht man daraus, dass die Körperchen nicht mehr im Stande sind, Sauerstoff aufzunehmen, wie man dieses experimentell unmittelbar erhärten kann. Dass es sich dabei aber um molekulare Veränderungen in der Mischung handelt, dafür haben wir bequeme Anhaltspunkte in der Wirkung solcher giftiger Substanzen, welche schon in minimaler Menge das Hämoglobin so verändern, dass es in eine Art von Paralyse versetzt wird. Es sind dies die =Blutgifte= im engeren Sinne des Wortes, bei denen nicht bloss, wie bei den meisten Giften, die schädliche Substanz durch das Blut hindurchgeht, um zu anderen Theilen z. B. zu Ganglienzellen, Drüsenzellen, zu gelangen, sondern bei denen das Blut selbst in seinen specifischen Elementen den Hauptangriff zu erfahren hat. Hierher gehört ein Theil der flüchtigen Wasserstoffverbindungen, z. B. Arsenikwasserstoff, Cyanwasserstoff; ferner nach =Hoppe-Seyler='s und =Bernard='s Untersuchungen das Kohlenoxydgas, von dem verhältnissmässig kleine Mengen ausreichend sind, um die respiratorische Fähigkeit der Körperchen zu vernichten. Analoge Zustände sind schon früherhin vielfach beobachtet worden im Verlaufe anderer Infectionskrankheiten, z. B. der typhoiden Fieber, wo die Fähigkeit, Sauerstoff aufzunehmen, in dem Maasse abnimmt, als die Krankheit einen schweren acuten Verlauf gewinnt. Mikroskopisch sieht man aber ausser einzelnen melanösen Körperchen fast gar nichts, nur das chemische Experiment und die grobe Wahrnehmung vom blossen Auge zeigen die veränderte Beschaffenheit an. Man kann daher sagen, dass in diesem Gebiete der =Toxicämie= das Meiste noch zu machen ist. Wir haben mehr Anhaltspunkte, als Thatsachen. Fassen wir nun das, was wir über das Blut vorgeführt haben, kurz zusammen, so ergiebt sich in Beziehung auf =die Theorie der Dyscrasien=, dass entweder Substanzen in das Blut gelangen, welche auf die zelligen Elemente desselben schädlich einwirken und dieselben ausser Stand setzen, ihre Function zu verrichten, oder dass von einem bestimmten Punkte aus, sei es von aussen, sei es von einem Organe aus, Stoffe dem Blute zugeführt werden, welche von dem Blute aus auf andere Organe nachtheilig einwirken, oder endlich dass die Bestandtheile des Blutes selbst nicht in regelmässiger Weise ersetzt und nachgebildet werden. Nirgends in dieser ganzen Reihe finden wir irgend einen Zustand, welcher darauf hindeutete, dass eine =dauerhafte= Fortsetzung von bestimmten, einmal eingeleiteten Veränderungen =im Blute selbst= sich erhalten könnte, dass also eine permanente Dyscrasie möglich wäre, ohne dass neue Einwirkungen von einem bestimmten Atrium oder Organe aus auf das Blut stattfinden. In jeder Beziehung stellt sich uns das Blut dar als ein abhängiges und nicht als ein unabhängiges oder selbständiges Fluidum; die Quellen seines Bestandes und Ersatzes, die Anregungen zu seinen Veränderungen liegen nicht in ihm, sondern ausser ihm. Daraus folgt consequent der auch für die Praxis ausserordentlich wichtige Gesichtspunkt, dass es sich bei allen Formen der Dyscrasie darum handelt, ihren örtlichen Ursprung, ihre (in Beziehung auf das Blut selbst) äussere Veranlassung aufzusuchen. -- Dreizehntes Capitel. Das peripherische Nervensystem. Der Nervenapparat. Seine prätendirte Einheit. Die Nervenfasern. Peripherische Nerven. Fascikel, Primitivfaser. Perineurium und Neurilem. Schwann'sche Scheide. Axencylinder (electrische Substanz). Markstoff (Myelin), Protagon, Phosphor der Nervensubstanz. Marklose und markhaltige Fasern. Uebergang der einen in die anderen: Hypertrophie des Opticus. Verschiedene Breite der Fasern. Die peripherischen Nervenendigungen. Vater'sche (Pacini'sche) und Tastkörper. Marklose Fasern der Haut mit Endigung im Rete. Unterscheidung von Gefäss-, Nerven- und Zellenterritorien in der Haut. Endkolben der Schleimhautnerven. Höhere Sinnesorgane: Riech-, Geschmacks- und Hörzellen. Retina: nervöse und bindegewebige Theile. Arbeitsnerven: Muskel-Endplatten, Verbindung der Nerven mit Drüsen- und anderen Zellen. Die Theilung der Nervenfasern. Das electrische Organ der Fische. Die Muskelnerven. Weitere Betrachtung über Nerventerritorien. Nervenplexus mit ganglioformen Knoten. Darmschleimhaut. Gefässe. Plexus myentericus. Irrthümer der Neuropathologen. Nachdem wir die humoralpathologischen Gesichtspunkte in der Betrachtung der Dyscrasien erörtert haben, so dürfte es nicht bloss dem historischen Rechte nach, sondern auch der Wichtigkeit des Gegenstandes nach gerathen sein, nunmehr die Grundlagen der solidarpathologischen Doctrin in ihrer modernen Gestalt als Neuropathologie zu prüfen. Wenden wir uns daher jetzt zu der =Einrichtung des Nervenapparates=. Die überwiegende Masse des Nervenapparates besteht aus =faserigen Bestandtheilen=. Diese sind es auch, auf welche sich fast alle die feineren, physiologischen Entdeckungen beziehen, welche die letzten Jahrzehnte gebracht haben, während der andere, der Masse nach viel kleinere Theil des Nerven-Apparates, die =graue= oder =gangliöse= Substanz, bis jetzt selbst der histologischen Untersuchung Schwierigkeiten entgegengestellt hat, welche noch lange nicht überwunden sind, so dass die experimentelle Erforschung dieser Substanz kaum in Angriff genommen werden konnte. Es wird freilich oft behauptet, man wisse gegenwärtig viel von dem Nervensystem, aber unsere Kenntniss beschränkt sich grossentheils auf die weisse Substanz, den faserigen Antheil, während wir leider eingestehen müssen, dass wir über die, ihrer functionellen Bedeutung nach offenbar viel höher stehende, graue Substanz in vielen Beziehungen immer noch sowohl anatomisch, als namentlich physiologisch in grosser Unsicherheit uns bewegen. Sobald man die Frage von der Bedeutung des Nervensystems innerhalb der Lebensvorgänge anatomisch betrachtet, so ergibt ein einziger Blick, dass der Standpunkt, von welchem die Neuro-Pathologie auszugehen pflegt, ein sehr verfehlter ist. Denn sie betrachtet das Nervensystem wie ein ungewöhnlich Einfaches, das durch seine Einheit zugleich die Einheit des ganzen Organismus, des Körpers überhaupt bedinge. Wer aber auch nur ganz grobe anatomische Vorstellungen über die Nerven hat, der sollte es sich doch nicht verhehlen, dass es mit dieser Einheit sehr misslich bestellt ist. Schon das Scalpell legt den Nervenapparat als ein aus ausserordentlich vielen, relativ gleichwerthigen Theilen zusammengeordnetes System ohne erkennbaren einfachen Mittelpunkt dar. Je genauer wir histologisch untersuchen, um so mehr vervielfältigen sich die Elemente, und die letzte Zusammensetzung des Nervensystems zeigt sich nach einem ganz analogen Plane angelegt, wie die aller übrigen Theile des Körpers. Eine unendliche Menge zelliger Elemente von mehr oder weniger grosser Selbständigkeit tritt neben und grossentheils unabhängig von einander auch in dem Nervensystem in die Erscheinung. Schliessen wir zunächst die gangliöse Substanz aus und halten wir uns einfach an die faserige Masse, so haben wir einerseits die eigentlichen (peripherischen) =Nerven= im engeren Sinne des Wortes, andererseits die grossen Anhäufungen =weisser Markmasse=, wie sie den grössten Theil des kleinen und grossen Gehirns und der Stränge des Rückenmarks zusammensetzt. Die Fasern dieser verschiedenen Abschnitte sind im Grossen ähnlich gebaut, zeigen aber im Feineren vielfache und zum Theil so erhebliche Verschiedenheiten, dass es Punkte gibt, wo man noch in diesem Augenblick nicht mit Sicherheit sagen kann, ob die Elemente, welche man vor sich hat, wirklich Nerven sind, oder ob sie einer ganz anderen Art von Fasern angehören. Am sichersten ist man über die Zusammensetzung der gewöhnlichen peripherischen Nerven; hier unterscheidet man im Allgemeinen mit ziemlicher Leichtigkeit Folgendes: Alle mit blossem Auge zu verfolgenden Nerven enthalten eine gewisse Summe von Unterabtheilungen, Bündeln oder Fascikeln, welche sich nachher als Aeste oder Zweige auseinanderlösen. Verfolgen wir diese einzelnen, sich weiter und weiter vertheilenden Zweige, so behält der Nerv fast unter allen Verhältnissen bis nahe zu seinen letzten Theilungen eine fascikuläre Einrichtung, so dass jedes Bündel wieder eine kleinere oder grössere Zahl von sogenannten Primitivfasern umschliesst. Der Ausdruck Primitivfaser, welchen man hier gebraucht, ist ursprünglich gewählt worden, weil man den Nervenfascikel für ein Analogon der Primitivbündel des Muskels hielt. Späterhin ist die Vorstellung von einem besonderen Bindemittel zwischen den einzelnen Nervenfasern fast verloren gegangen, und erst durch =Robin= ist in neuerer Zeit die Aufmerksamkeit wieder auf die Substanz hingelenkt worden, welche das Bündel zusammenhält; er nannte dieselbe =Perineurium=. Es ist dies ein sehr dichtes, fast aponeurotisches und daher leicht durchscheinendes Bindegewebe, in welchem sich bei Zusatz von Essigsäure kleine Kerne zeigen. Verschieden davon ist das mehr lockere Bindegewebe, welches die Fascikel zusammenhält und eine Scheide für den ganzen Nerven bildet, das sogenannte =Neurilem=. [Illustration: =Fig=. 86. Querschnitt durch einen Nervenstamm des Plexus brachialis. _l_, _l_ Neurilem, von dem eine grössere Scheide _l_' und feinere durch helle Linien bezeichnete Fortsätze durch den Nerven verlaufen und ihn in kleine Fascikel scheiden. Letztere zeigen die dunklen, punktförmigen Durchschnitte der Primitivfasern und dazwischen das Perineurium. Vergr. 80.] Wenn wir kurzweg von Nervenfasern im histologischen Sinne sprechen, so meinen wir immer die Primitivfaser, nicht den Fascikel, welcher vom blossen Auge als Faser erscheint und daher in der Vulgärsprache oft so genannt wird. Jene feinsten, mikroskopischen Fasern besitzen wiederum jede für sich eine äussere Membran, die sogenannte =Schwann'sche Scheide=; an ihr sieht man, wenn man sie vollkommen frei macht vom Inhalte, was allerdings sehr schwierig ist, was aber zuweilen unter pathologischen Verhältnissen spontan auftritt, z. B. bei gewissen Zuständen der Atrophie, wandständige Kerne (Fig. 6, _c_). Innerhalb dieser membranösen Röhren liegt die eigentliche =Nerven-Substanz=, welche sich bei den gewöhnlichen Nerven nochmals in zweierlei Bestandtheile scheidet. Diese sind bei dem ganz frischen Nerven kaum als zwei zu erkennen, treten aber kurze Zeit nach dem Absterben oder Herausschneiden des Nerven oder nach Einwirkung irgend eines Mediums auf den Nerven sofort ganz deutlich aus einander, indem der eine dieser Bestandtheile eine schnelle, gewöhnlich als Gerinnung bezeichnete Veränderung erfährt, durch welche er sich von dem anderen Bestandtheile absetzt (Fig. 87). Ist dies geschehen, so sieht man im Innern der Nervenfaser deutlich den sogenannten =Axencylinder= (das Primitivband von =Remak=), ein sehr feines, zartes, blasses Gebilde, und um ihn herum eine ziemlich derbe, dunkle, hier und da zusammenfliessende Masse, das =Nervenmark= oder die =Markscheide=; letztere füllt den Raum zwischen Axencylinder und der äusseren Membran aus. Meist ist aber die Nervenröhre so stark gefüllt mit dem Inhalte, dass man bei der gewöhnlichen Betrachtung von den einzelnen Bestandtheilen fast gar nichts sieht, wie denn überhaupt der Axencylinder innerhalb der Markmasse schwer erkennbar ist. Daraus erklärt es sich, dass man Jahre lang über seine Existenz gestritten und vielfach die Ansicht ausgesprochen hat, er sei gleichfalls eine Gerinnungs-Erscheinung, indem eine Trennung des ursprünglich gleichmässigen Inhaltes in eine innere und äussere Masse stattfinde. Dies ist aber unzweifelhaft unrichtig: alle Methoden der Untersuchung geben zuletzt dies Primitivband zu erkennen; selbst auf Querschnitten der Nerven sieht man ganz deutlich im Innern den Axencylinder und um ihn herum das Mark. [Illustration: =Fig=. 87. Graue und weisse Nervenfasern. _A_ Ein grauer, gelatinöser Nervenfascikel aus der Wurzel des Mesenteriums, nach Behandlung mit Essigsäure. _B_ Eine breite, weisse Primitivfaser aus dem N. cruralis: _a_ der freigelegte Axencylinder _v_, _v_ die variköse Faser mit der Markscheide, am Ende bei _m_, _m_ der Markstoff (Myelin) in geschlängelten Figuren hervortretend. _C_ Feine, weisse Primitivfaser aus dem Gehirn, mit frei hervortretendem Axencylinder. Vergr. 300.] Das sogenannte Nervenmark ist es, was den Nervenfasern überhaupt das weisse Ansehen verleiht; überall, wo die Nerven diesen Bestandtheil enthalten, erscheinen sie weiss, überall, wo er ihnen fehlt, haben sie ein durchscheinendes, graues Aussehen. Daher gibt es Nerven, welche der Farbe nach der gangliösen Substanz sich anschliessen, verhältnissmässig durchsichtig sind, ein mehr helles, gelatinöses Aussehen besitzen; man hat sie deshalb =graue= oder =gelatinöse Nerven= genannt (Fig. 87, _A_). Zwischen grauer und weisser Nervenmasse überhaupt besteht also nicht der Unterschied, dass die eine gangliös, die andere faserig ist, sondern nur der, dass die eine Mark enthält, die andere nicht; indess gebraucht man den Ausdruck »graue Substanz« gewöhnlich nur von der wirklich gangliösen Masse, nicht von den grauen, marklosen Nerven. Den Zustand der Marklosigkeit bei den Nervenfasern kann man im Allgemeinen als den niederen, unvollständigeren bezeichnen; die Markhaltigkeit zeigt eine reichere Ernährung und höhere Entwickelung an. Nichts lehrt vielleicht die unmittelbar praktische Bedeutung dieser beiden Zustände so auffallend, als eine zuerst von mir gemachte Beobachtung an der Retina, an welcher in einer sehr unerwarteten Weise die sonst durchscheinende graue Nervenmasse in undurchsichtige weisse verwandelt war. Ich fand[120] nehmlich ganz zufällig eines Tages in den Augen eines Mannes, bei dem ich ganz andere Veränderungen vermuthete, im Umfange der Papilla optici, wo man sonst die gleichmässig durchscheinende Retina sieht, eine weissliche, radiäre Streifung, wie man sie an derselben Stelle im Kleinen zuweilen bei Hunden und ziemlich constant in einzelnen Richtungen bei Kaninchen trifft. Die mikroskopische Untersuchung ergab, dass in ähnlicher Weise, wie bei diesen Thieren, in der Retina markhaltige Fasern sich entwickelt hatten, und dass die Faserlage der Retina durch die Aufnahme von Markmasse dicker und undurchsichtig geworden war. Die einzelnen Fasern verhielten sich dabei so, dass, wenn man sie von den vorderen und mittleren Theilen der Retina aus nach hinten gegen die Papille hin verfolgte, sie allmählich an Breite zunahmen, und zugleich in einer zuerst fast unmerklichen, später sehr auffälligen Weise eine Abscheidung von Mark in ihrem Inneren erkennen liessen. Das ist also eine Art von Hypertrophie, aber sie beschränkt die Function der Retina wesentlich, denn das Mark lässt die Lichtstrahlen nicht durch und die zarte Haut wird daher mehr und mehr getrübt. [120] Archiv 1856. X. 190. [Illustration: =Fig=. 88. Markige Hypertrophie des Opticus innerhalb des Auges. _A_ Die hintere Hälfte des Bulbus, von vorn gesehen; von der Papilla optici gehen nach vier Seiten radiäre Ausstrahlungen von weissen Fasern aus. _B_ Die Opticusfasern aus der Retina bei 300 maliger Vergrösserung: _a_ eine blasse, gewöhnliche, leicht variköse Faser, _b_ eine mit allmählich zunehmender Markscheide, _c_ eine solche mit frei hervorstehendem Axencylinder.] Dieselbe Veränderung geschieht am Nerven, während er sich entwickelt. Der junge Nerv ist eine feine Röhre, welche in gewissen Abständen mit Kernen besetzt ist und einen blassgrauen Inhalt besitzt. Erst später erscheint das Mark, der Nerv wird damit breiter, und der Axencylinder setzt sich deutlich ab. Man kann daher sagen, dass die Markscheide ein nicht absolut nothwendiger Bestandtheil des Nerven ist, sondern ihm erst auf einer gewissen Höhe seiner Entwickelung zukommt. [Illustration: =Fig=. 89. Tropfen von Markstoff (Myelin, nach =Gobley= Lecithin). _A_ Verschieden gestaltete Tropfen aus der Markscheide von Hirnnerven, nach Aufquellung durch Wasser. _B_ Tropfen aus zerfallendem Epithel der Gallenblase in der natürlichen Flüssigkeit. Vergr. 300.] Es folgt daraus, dass diese Substanz, welche man früher als das Wesentliche im Nerven betrachtete, nach der jetzigen Anschauung eine mehr untergeordnete Rolle spielen muss. Nur diejenigen, welche auch jetzt noch keinen Axencylinder zulassen, sehen sie natürlich nicht bloss als den bei Weitem überwiegenden Bestandtheil, sondern auch als den eigentlich functionirenden Nerveninhalt an. Sehr merkwürdig ist es aber, dass dieselbe Substanz eine der am meisten verbreiteten ist, welche überhaupt im thierischen Körper vorkommen. Ich war sonderbarer Weise zuerst bei der Untersuchung von Lungen auf Gebilde gestossen, welche ganz ähnliche Eigenschaften darboten, wie man sie am Nervenmark wahrnimmt. So auffallend dies auch war, so dachte ich in der That nicht an eine Uebereinstimmung, bis nach und nach durch eine Reihe weiterer Beobachtungen, welche im Laufe mehrerer Jahre hinzukamen, ich darauf geführt wurde, viele Gewebe chemisch darauf zu untersuchen[121]. Dabei stellte es sich heraus, dass fast gar kein zellenreiches Gewebe vorkommt, in dem jene Substanz sich nicht in grosser Masse vorfände; allein nur die Nervenfaser hat die Eigenthümlichkeit, dass die Substanz als solche sich abscheidet, während sie in allen anderen zelligen Theilen in einer fein vertheilten Weise im Inneren der Elemente enthalten ist und erst bei chemischer Veränderung des Inhaltes oder bei chemischen Einwirkungen auf denselben frei wird. Wir können aus den Blutkörperchen, aus den Eiterkörperchen, aus den epithelialen Elementen der verschiedensten drüsigen Theile, aus dem Inneren der Milz und ähnlicher Drüsen ohne Ausführungsgänge überall durch Extraction mit heissem Alkohol diesen Stoff gewinnen. Es ist dieselbe Substanz, welche den grössten Bestandtheil der gelben Dottermasse im Hühnerei bildet, von wo ihr Geschmack und ihre Eigenthümlichkeit, namentlich ihre eigenthümliche Zähigkeit und Klebrigkeit, welche den höheren technischen Zwecken der Küche so vortrefflich dient, jedermann hinlänglich bekannt ist. Ich schlug für diese Substanz den Namen =Markstoff= oder =Myelin= vor. Später hat O. =Liebreich= diesen Körper genauer studirt und nachgewiesen, dass das gewöhnliche Myelin keine ganz reine chemische Substanz ist; ihren wesentlichen Antheil bildet eine Stickstoff und Phosphor enthaltende Substanz, welcher er den Namen =Protagon= beigelegt hat. Andere Untersucher haben denn auch aus den anderen von mir angegebenen Theilen, wie aus Blutkörperchen und Eiter, Protagon dargestellt. [121] Archiv. 1845. VI. 562. Für die Lehre von den Nervenfunctionen hat diese Substanz das besondere Interesse, dass sie die Veranlassung zu der oft besprochenen Auffassung von der Bedeutung des Phosphors für die eigentliche Nerventhätigkeit, namentlich auch für die Denkthätigkeit gegeben hat. Auch hat man pathologisch geglaubt, aus vermehrter Abscheidung von Phosphorverbindungen durch die Secretionsorgane, namentlich durch die Nieren, auf einen vermehrten Verbrauch von Nervensubstanz schliessen zu können. Wenn es nun auch richtig ist, dass Phosphorsäure (in Verbindung mit Glycerin) ein gewöhnliches Zersetzungsproduct des Protagons ist, und wenn daher bei vollständiger Zerstörung von Nerven- oder Gehirntheilen Phosphorsäure in grösserer Menge in's Blut und in die Secrete gelangen kann, so ist doch leicht ersichtlich, dass dieselbe in keiner Weise der eigentlich fungirenden Substanz des Nerven oder des Gehirns entstammt, und dass sie am allerwenigsten da erwartet werden kann, wo bei Erhaltung des Nerven als solchen nur ein durch seine Thätigkeit vermehrter Umsatz seiner Substanz vorausgesetzt wird. Das »Phosphoresciren der Gedanken« kann also zu den Träumen der Wissenschaft gerechnet werden. Wird die Ernährung des Nerven erheblich gestört, so nimmt die Markscheide an Masse ab, ja sie kann unter Umständen gänzlich verschwinden, so dass der weisse Nerv wieder auf einen grauen oder gelatinösen Zustand zurückgeführt wird. Das gibt eine =graue Atrophie=, =gelatinöse Degeneration=, wobei die Nervenfaser an sich existirt und nur die besondere Anfüllung mit Markmasse leidet. Daraus erklärt es sich, dass man an vielen Punkten, wo man früher nach der anatomischen Erfahrung einen vollständig functionsunfähigen Theil erwarten zu dürfen glaubte, durch die klinische Beobachtung mit Hülfe der Electricität den Nachweis liefern konnte, dass der Nerv noch functionsfähig sei, wenn auch in einem geringeren Maassstabe, als normal, und so ist auch diese Erfahrung wieder ein Beweis geworden, dass das Mark nicht derjenige Bestandtheil sein kann, an welchen die Function des Nerven als solche gebunden ist. Zu demselben Schluss haben auch die physikalischen Untersuchungen geführt, und man betrachtet daher gegenwärtig ziemlich allgemein den Axencylinder als den wesentlichen Theil des Nerven. Derselbe ist auch im blassen Nerven vorhanden, aber nur im weissen Nerven hebt er sich durch seine Ablösung von der umgebenden Markscheide deutlicher hervor. Der Axencylinder würde also die eigentliche =electrische Substanz= der Physiker sein, und man kann allerdings die Hypothese zulassen, dass die Markscheide mehr als eine isolirende Masse dient, welche die Electricität in dem Nerven selbst zusammenhält und deren Entladung eben nur an den marklosen Enden der Fasern zu Stande kommen lässt. Die Besonderheit des Markstoffes äussert sich am häufigsten darin, dass, wenn man einen Nerven zerreisst oder zerschneidet, das Mark gewöhnlich aus demselben hervortritt (Fig. 87, _m_, _m_) und zugleich, namentlich bei Einwirkung von Wasser, eine eigenthümliche Runzelung oder Streifung annimmt (Fig. 89, _A_). Es saugt nehmlich Wasser auf, was allein beweist, dass es keine neutrale fettige Substanz in dem früher angenommenen Sinne ist, sondern höchstens wegen seines grossen Quellungsvermögens mit gewissen seifenartigen Verbindungen verglichen werden kann. Je länger die Einwirkung des Wassers dauert, um so längere Massen von Markstoff schieben sich aus den Nerven heraus. Diese haben ein eigenthümlich bandartiges Aussehen, bekommen immer neue Runzeln, Streifen und Schichtungen, und führen zu den sonderbarsten Figuren. Häufig lösen sich auch einzelne Stücke los und schwimmen als besondere, geschichtete Körper herum, welche in neuerer Zeit zu Verwechselungen mit den Corpora amylacea Veranlassung gegeben haben, von denen sie sich jedoch durch ihre chemischen Reactionen auf das Bestimmteste unterscheiden. -- [Illustration: =Fig=. 90. Breite und schmale Nervenfasern aus dem N. cruralis mit unregelmässiger Aufquellung des Markstoffes. Vergr. 300.] In Beziehung auf die histologische Verschiedenheit der Nerven unter sich ergibt die Untersuchung, dass an manchen Orten die eine oder andere Art ihrer Ausbildung ausserordentlich vorwaltet. Einerseits nehmlich unterscheiden sich die Nerven wesentlich durch die Breite ihrer Primitivfasern, andererseits durch die Markhaltigkeit derselben. Es gibt sehr breite, mittlere und kleine weisse, und ebenso breite und feine graue Fasern. Eine sehr beträchtliche Grösse erreichen die grauen überhaupt selten, weil die Grösse eben abhängig ist von der Zunahme des Inhaltes, allein überall zeigt sich doch wieder eine Verschiedenheit, so dass gewisse Nerven feiner, andere gröber sind. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass in den Endstücken die Nervenfasern in der Regel feiner werden, und dass die letzte Verästelung verhältnissmässig die feinsten zu enthalten pflegt; jedoch ist das keine absolute Regel. Beim Opticus finden wir schon vom Augenblicke seines Eintrittes in das Auge an gewöhnlich nur ganz schmale, blasse Faser (Fig. 88, _a_), während die Nerven der Tastkörperchen der Haut bis ans Ende verhältnissmässig breite und dunkel contourirte Fasern zeigen (Fig. 92). Eine sichere Ansicht über die Bedeutung der verschiedenen Faserarten je nach ihrer Breite und Markhaltigkeit hat sich bis jetzt noch nicht gewinnen lassen. Eine Zeit lang hat man geglaubt, Unterschiede der Art aufstellen zu können, dass die breiten Fasern als Abkömmlinge des Cerebrospinal-Centrums, die feinen als Theile des Sympathicus betrachtet werden müssten, allein dies ist nicht durchzuführen, und man kann nur so viel sagen, dass die gewöhnlichen peripherischen Nerven allerdings einen grossen Gehalt an breiten, die sympathischen einen verhältnissmässig grösseren Antheil von feineren Fasern enthalten. An vielen Orten, wie z. B. im Unterleibe, überwiegen graue, breite Fasern (Fig. 87, _A_), deren nervöse Natur von Einigen noch bezweifelt wird. Es ist also vorläufig ein sicherer Schluss über die etwaige Verschiedenheit der Functionen aus dem blossen Bau noch nicht zu ziehen, obwohl kaum bezweifelt werden kann, dass solche Verschiedenheiten vorhanden sein müssen, und dass eine breite Faser an sich andere Fähigkeiten, sei es auch nur quantitativ verschiedene, darbieten muss, als eine feine, eine markhaltige andere, als eine marklose. Allein über alles das ist bis jetzt mit Sicherheit nichts ermittelt; und seitdem durch die feinere physikalische Untersuchung nachgewiesen ist, dass alle Nerven, nicht wie man früher annahm, nur nach der einen oder der anderen Seite hin leiten, sondern die Leitungsfähigkeit nach beiden Seiten hin besitzen, so scheint es nicht gerechtfertigt, Hypothesen über die centripetale oder centrifugale Leitung an diese Erfahrung von der verschiedenen Breite der Fasern unmittelbar anzuknüpfen. Die grosse Verschiedenheit, welche in Beziehung auf die Function der einzelnen Nerven zu bemerken ist, lässt sich bis jetzt nicht so sehr auf die Verschiedenartigkeit des Baues derselben beziehen, als vielmehr auf die Besonderheit der Einrichtungen, mit welchen der Nerv verbunden ist. Es ist einerseits die besondere Bedeutung des Centralorgans, von welchem der Nerv ausgeht, andererseits die besondere Beschaffenheit des Endes, in welches er gegen die Peripherie hin verläuft, welche seine specifische Leistung erklären. In der Verfolgung der Endigungen, welche die Nerven gegen die Peripherie hin darbieten, hat die Histologie gerade in den letzten Jahren wohl ihre glänzendsten Triumphe gefeiert. Früherhin stritt man sich bekanntlich darum, ob die Nerven in Schlingen ausgingen oder in Plexus oder frei endigten, und man war gleich exclusiv nach der einen, wie nach der anderen Richtung hin. Heutzutage haben wir Beispiele für die meisten dieser Endigungen, am wenigsten aber für die Form, welche eine Zeit lang als die regelrechte betrachtet wurde, nehmlich für die Schlingenbildung. [Illustration: =Fig=. 91. Vater'scher oder Pacini'scher Körper aus dem Unterhautfettgewebe der Fingerspitze. _S_ Der aus einer dunkelrandigen, markhaltigen Primitiv-Nervenfaser _n_ und dem dicken, mit Längskernen versehenen Perineurium _p_, _p_ bestehende Stiel. _C_ Der eigentliche Körper mit concentrischen Lagen des kolbig angeschwollenen Perineurium und der centralen Höhle, in welcher der blasse Axencylinder fortläuft und frei endigt. Vergr. 150.] Die deutlichste, aber sonderbarer Weise functionell bis jetzt am wenigsten bekannte Endigungsform ist die in den sogenannten =Vater'schen= oder =Pacini'schen Körpern=, -- Organen, über deren Bedeutung man immer noch nichts anzugeben weiss. Man findet sie beim Menschen verhältnissmässig am meisten ausgebildet im Fettgewebe der Fingerspitzen, aber auch in ziemlich grosser Anzahl im Gekröse, am deutlichsten und bequemsten aber im Mesenterium der Katzen, in welches sie ziemlich weit hinaufreichen, während sie beim Menschen gewöhnlich bloss an der Wurzel des Gekröses liegen, wo das Duodenum mit dem Pancreas zusammenstösst, in der Nähe des Plexus solaris. Ueberdies zeigt sich eine sehr grosse Variabilität bei verschiedenen Individuen. Einige haben sehr wenig, andere sehr viel davon, und es ist sehr leicht möglich, dass daraus gewisse individuelle Eigenthümlichkeiten resultiren. So habe ich z. B. mehrmals bei Geisteskranken sehr viele solche Körper gefunden, worauf ich indessen vorläufig kein grosses Gewicht legen will. Ein Pacini'scher Körper stellt, mit blossem Auge gesehen, ein weissliches, gewöhnlich ovales und an dem einen Ende etwas zugespitztes, 1-1-1/2''' langes Gebilde dar, das an einem Nerven festhängt, und zwar so, dass in einen jeden Körper nur eine einzelne Primitivfaser übergeht. Der Körper zeigt eine verhältnissmässig grosse Reihe von elliptischen und concentrischen Lagen oder Blättern, welche am oberen Ende ziemlich nahe an einander stossen, am unteren weiter von einander abweichen und im Inneren einen länglichen, gewöhnlich gegen das obere Ende spitzeren, von einer feinkörnigen Substanz erfüllten Raum umschliessen. Zwischen diesen Blättern erkennt man deutlich eine regelmässige Einlagerung von Kernen. Wenn man die Blätter gegen den nervösen Stiel hin verfolgt, so sieht man sie zuletzt in das hier sehr dicke Perineurium übergehen. Man kann sie daher als colossale Entfaltungen des Perineuriums betrachten, welche aber nur eine einzige Nervenfaser umschliessen. Verfolgt man nun die Nervenfaser selbst, so bemerkt man, dass der markhaltige Theil gewöhnlich nur bis in den Anfang des Körperchens reicht; dann verschwindet das Mark, und man sieht den Axencylinder allein fortgehen. Dieser verläuft nun in der centralen Höhle, um gewöhnlich in der Nähe des oberen Endes einfach, oft mit einer kleinen kolbigen Anschwellung, im Gekröse sehr häufig in einer spiralförmigen Windung zu enden. In seltenen Fällen kommt es vor, dass die Primitivfaser innerhalb des Körperchens sich in zwei oder mehrere Aeste theilt. Aber jedesmal scheint hier eine Art von Endigung vorzuliegen. Was die Körper zu besagen haben, welche Verrichtung sie ausüben, ob sie irgend etwas mit sensitiven Functionen zu thun haben, oder ob sie irgend eine Leistung des Centrums anzuregen berufen sind, darüber wissen wir bis jetzt nichts. -- Eine gewisse Aehnlichkeit mit diesen Gebilden zeigen die in der letzten Zeit so viel discutirten =Tastkörper=. Wenn man die Haut und namentlich den empfindenden Theil derselben mikroskopisch untersucht, so unterscheidet man, wie dies von =Meissner= und =Rud=. =Wagner= zuerst gefunden ist, zweierlei Arten von Papillen oder Wärzchen, mehr schmale und mehr breite, zwischen denen freilich Uebergänge vorkommen (Fig. 92). In den schmalen findet man constant eine einfache, zuweilen eine verästelte Gefässschlinge, aber keinen Nerven. Es ist diese Beobachtung insofern wichtig, als wir durch sie zur Kenntniss eines neuen nervenlosen Theiles gekommen sind. In der anderen Art von Papillen findet man dagegen sehr häufig gar keine Gefässe, sondern Nerven und jene eigenthümlichen Bildungen, welche man als Tastkörper bezeichnet hat. [Illustration: =Fig=. 92. Nerven- und Gefässpapillen von der Haut der Fingerspitze, nach Ablösung der Oberhaut und des Rete Malpighii. _A_ Nervenpapille mit dem Tastkörper, zu dem zwei Primitivfasern _n_ treten: im Grunde der Papille feine elastische Netze _e_, von denen feine Fasern ausstrahlen, zwischen und an denen Bindegewebskörperchen zu sehen sind. _B_, _C_, _D_ Gefässpapillen, bei _C_ einfache, bei _B_ und _D_ verästelte Gefässschlingen, daneben feine elastische Fasern und Bindegewebskörperchen; _p_ der horizontal fortlaufende Papillarkörper, bei _c_ feine sternförmige Elemente der eigentlichen Cutis. Vergr. 300.] Der Tastkörper erscheint als ein von der übrigen Substanz der Papille ziemlich deutlich abgesetztes, länglich ovales Gebilde, das =Wagner=, freilich etwas kühn, mit einem Tannenzapfen verglichen hat. Es sind meistens nach oben und unten abgerundete Knoten, an denen man nicht, wie an den Pacini'schen Körpern, eine längliche Streifung sieht, sondern vielmehr eine Querstreifung mit querliegenden Kernen. Zu jedem solchen Körper tritt nun ein Nerv und von jedem kehrt ein Nerv zurück, oder richtiger, man sieht gewöhnlich an jeden Körper zwei Nervenfäden treten, meistentheils ziemlich nahe an einander, die sich bequem bis an die Seite oder die Basis des Körpers verfolgen lassen. Von da ab ist der Verlauf sehr zweifelhaft, und in einzelnen Fällen variiren die Zustände so sehr, dass es noch nicht gelungen ist, mit Bestimmtheit das gesetzmässige Verhalten der Nerven zu diesen Körpern zu ermitteln. In manchen Fällen sieht man nehmlich ganz deutlich den Nerven hinaufgehen und auch wohl sich um den Körper herumlegen. Zuweilen scheint es, als ob wirklich der Tastkörper in einer Nervenschlinge liege und auf diese Weise die Möglichkeit einer intensiveren Einwirkung äusserer Anstösse auf den Nerven gegeben sei. Andere Male sieht es wieder aus, als ob der Nerv viel früher schon aufhörte und sich in den Körper selbst einsenkte. Einige haben angenommen, wie =Meissner=, dass der Körper selbst dem Nerven angehöre, welcher an seinem Ende anschwölle. Dies halte ich nicht für richtig; nur das scheint mir zweifelhaft zu sein, ob der Nerv im Innern des Körpers endigt oder im Umfange desselben eine Schlinge bildet. Neuere Untersuchungen von P. =Langerhans= haben jedoch gelehrt, dass die Nervenpapillen ausser den zu den Tastkörpern gehenden markhaltigen Fasern noch ein sehr reiches Geflecht markloser Fasern enthalten, welche von Strecke zu Strecke kernhaltige, ganglienartige Anschwellungen besitzen. Von diesen gehen feine Fortsätze aus, welche über die Grenze der Papillen hinaus in das Rete Malpighii eindringen und zwischen den Zellen desselben birnförmige Anschwellungen bilden, von welchen wiederum feine Fortsätze ausgehen. Letztere dringen bis zwischen die oberen Lager der Rete-Zellen und endigen hier mit feinen, knopfartigen Anschwellungen. Dieses marklose Geflecht findet sich übrigens auch an Stellen der Haut, wo keine Papillen und Tastkörper vorkommen. Abgesehen von der anatomischen und physiologischen Frage, hat das Beispiel der Hautpapillen einen grossen Werth für die Deutung pathologischer Erscheinungen, weil wir hier in an sich ganz ähnlichen Theilen zwei vollkommene Gegensätze finden: =einerseits nervenlose und gefässreiche, andererseits gefässlose, nur mit Nerven versehene Papillen=. Die besonderen Beziehungen, welche die Lager des Rete und der Epidermis zu den beiden Arten von Papillen haben, scheinen, abgesehen von den marklosen Fasern, keine wesentlichen Verschiedenheiten darzubieten. Die Zellen der Oberhaut ernähren sich über den einen, wie über den anderen, und sie scheinen über den einen so wenig innervirt zu werden, wie über den anderen. Dies sind Thatsachen, welche auf eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Theile hindeuten und welche bestimmte Gesichtspunkte liefern, dass grosse, selbst nervenreiche Theile ohne Gefässe bestehen, sich erhalten und functioniren können, und dass andererseits Theile, die verhältnissmässig viele Gefässe enthalten, absolut der Nerven entbehren können, ohne in Unordnung ihrer Ernährungszustände zu gerathen. Freilich ist dies an keinem Orte augenfälliger, als an der Haut und gerade deshalb scheint mir die Verschiedenheit der einzelnen Hautwärzchen untereinander theoretisch so wichtig zu sein, dass ich die Aufmerksamkeit dafür besonders in Anspruch nehmen zu müssen glaube. Denkt man sich an einer Hautpapille die Gefässe, Nerven und Tastkörper hinweg, so bleibt nur noch eine geringe Masse von Gewebe übrig, aber auch innerhalb dieses geringen Restes gibt es noch wieder zellige Elemente mit Intercellularsubstanz (Bindegewebe). Die Sache ist demnach so, dass unmittelbar an die (epidermoidalen) Zellen des Rete Malpighii Bindegewebe mit Bindegewebskörperchen (Fig. 17) stösst, welche sich nach der Injection sehr deutlich von den Gefässen unterscheiden (Fig. 92). Besonders günstig für eine Untersuchung ist der Fall, wenn durch irgend eine Erkrankung, z. B. den Pockenprocess, eine leichte Schwellung der ganzen Haut stattgefunden hat und die Elemente ein wenig grösser sind, als normal. In gewöhnlichen Papillen ist es etwas schwieriger, die Bindegewebselemente wahrzunehmen, doch sieht man sie bei genauerer Betrachtung überall, auch neben den Tastkörpern. Demnach findet sich auch in den feinsten Ausläufern der Haut gegen die Oberfläche hin nicht eine amorphe Masse, welche in einem constanten Ernährungs-Verhältnisse zu Gefässen und Nerven steht; vielmehr erscheint als einheitliche Einrichtung, als eigentlich constituirende Grundmasse der verschiedenen (Gefäss- und Nerven-) Papillen immer nur die Bindegewebssubstanz. Erst dadurch gewinnen die einzelnen Papillen eine verschiedene Bedeutung, dass zu dieser Grundmasse in dem einen Falle Gefässe, in dem anderen Nerven hinzukommen. Wir wissen allerdings wenig über die besonderen Beziehungen, welche die gefässhaltigen Papillen zu den Functionen der Haut haben, indessen lässt sich kaum bezweifeln, dass, wenn man erst mehr im Stande sein wird, die verschiedenen Hautthätigkeiten zu sondern, auch den Gefässpapillen eine grössere Wichtigkeit zugesprochen werden wird. So viel können wir aber jetzt schon sagen, dass es falsch ist, sich zu denken, dass in einem jeden anatomischen Theile der Haut eine besondere Nervenverbreitung existire. Gleichwie physiologische Versuche zeigen, dass relativ grosse Empfindungskreise in der Haut vorhanden sind, so lehrt auch die feinere histologische Untersuchung, dass die Zahl der zur Oberfläche aufsteigenden Nerven eine relativ spärliche ist. Die Gefässe sind zahlreicher, als die ankommenden Nerven. Will man also die Haut in bestimmte Territorien eintheilen, so versteht es sich von selbst, dass die Nerven-Territorien grösser ausfallen müssen, als die Gefäss-Territorien. Aber auch jedes durch eine einzige Capillarschlinge bezeichnete Gefäss-Territorium (Papille) zerfällt wieder in eine Reihe von kleineren (Zellen-) Territorien, welche freilich alle an dem Ufer des einen Capillargefässes liegen, aber in sich begrenzt sind, indem jedes durch ein besonderes zelliges Element beherrscht wird[122]. [122] Archiv 1852. IV. 389. Auf diese Weise kann man es sich sehr wohl erklären, wie innerhalb einer Papille einzelne (Zellen-) Territorien erkranken können. Gesetzt z. B., ein solches Territorium schwillt an, vergrössert sich und wächst mehr und mehr hervor, so kann eine baumförmige Verästelung entstehen (spitzes Condylom, Fig. 93), ohne dass die ganze Papille in gleicher Weise afficirt wäre. Das Gefäss wächst erst späterhin nach und schiebt sich in die schon grösser gewordenen Aeste hinein. Nicht das Gefäss ist es, welches durch seine Entwickelung die Theile hinausschiebt, sondern die erste Entwickelung geht immer vom Bindegewebe des Grundstockes aus. Es hat daher das Studium der Hautzustände ein besonderes Interesse für die Kritik der allgemein-pathologischen Doctrinen. Was zunächst den neuropathologischen Standpunkt betrifft, so ist es ganz unbegreiflich, wie ein Nerv, der inmitten einer ganzen Gruppe von nervenlosen Theilen liegt, es machen soll, um innerhalb dieser Gruppe eine einzelne Papille, zu welcher er gar nicht hinkommt, zu einer pathologischen Thätigkeit zu vermögen, an welcher die übrigen Papillen desselben Nerven-Territoriums keinen Theil nehmen. Eben so schwierig ist die Deutung dieses Verhältnisses vom Standpunkte eines Humoralpathologen da, wo es sich um Erkrankungen von gefässlosen Papillen handelt. Selbst wo innerhalb einer Gefäss-Papille die verschiedenen Zellen-Territorien in verschiedene Zustände gerathen, würde diese Verschiedenheit der Zustände nicht wohl begreiflich sein, wenn man den ganzen Ernährungsvorgang einer Papille als einen einheitlichen und als direct abhängig von dem Generalzustande des Gefässes ansehen wollte, welches sie versorgt. [Illustration: =Fig=. 93. Der Grundstock eines spitzen Condyloms vom Penis mit stark knospenden und verästelten Papillen, nach völliger Ablösung der Epidermis und des Rete Malpighii. Vergr. 11.] Aehnliche Betrachtungen kann man freilich an allen Punkten des Körpers anstellen, indess bietet die Haut doch ein besonders günstiges Beispiel dafür, wie verkehrt es war, wenn man alle Gefässe unter einen particularen Nerveneinfluss stellte. Bleiben wir bei der Haut stehen, so beschränkt sich die Einwirkung, welche ein Nerv auszuüben im Stande ist, darauf, dass die zuführende Arterie, welche eine ganze Reihe von Papillen zusammen versorgt (Fig. 53), in einen Zustand der Verengerung oder Erweiterung versetzt wird, und dass dem entsprechend eine verminderte oder vermehrte Zufuhr zu einem grösseren Bezirke, einer Gruppe von Papillen stattfindet. W. =Krause= hat in der letzten Zeit an verschiedenen Schleimhäuten, wie an der Conjunctiva bulbi, in der Mundschleimhaut unter der Zunge und am weichen Gaumen, an den Papillen der Zunge, sowie an gewissen Uebergangsstellen von der äusseren Haut zur Schleimhaut, namentlich an den Lippen und der Eichel, =Endkolben= an den Nerven gefunden, welche sich den Tastkörperchen oder eigentlich noch mehr den Vater'schen Körperchen anschliessen. Es dringt nehmlich die schliesslich marklos gewordene Nervenfaser, zuweilen unter eigenthümlichen Windungen und Knäuelbildung, in eine sehr feinkörnige, von einer Bindegewebshülle umgebene Anschwellung ein. -- Betrachten wir nun andere Beispiele der Nerven-Endigungen, so zeigt sich nirgends eine Wahrscheinlichkeit für eigentliche Schlingenbildung. Ueberall, wo man sichere Kenntnisse gewinnt, ergibt sich, dass die Nerven entweder übergehen in einen grossen Plexus, in eine netzförmige Ausbreitung, oder dass sie direct endigen in besonderen Apparaten. Bei der Mehrzahl der letzteren verlieren sich die Nerven zuletzt in eigenthümliche, besonders gestaltete Ausläufer oder Fortsätze, welche theils neben den anderen Gewebselementen zerstreut liegen, theils zu besonderen Massen zusammengefügt sind. Eine solche Art der Endigung findet sich an allen =höheren Sinnesorganen=. Indess bietet die Untersuchung hier so grosse Schwierigkeiten, dass noch an keinem einzigen Punkte eine allgemein angenommene Auffassung gesichert ist. So viele Untersuchungen man auch über Retina und Cochlea, über Nasen- und Mundschleimhaut in den letzten Jahren gemacht hat, so sind doch die letzten Fragen über das histologische Detail, namentlich über den Zusammenhang der Nerven mit den Endapparaten, noch nicht ganz erledigt. Fast überall bleiben zwei Möglichkeiten für die Endigung der Nerven: entweder sie laufen gegen die Oberfläche hin in eigenthümliche, von den gewöhnlichen Nervenfasern abweichende Gebilde aus, welche aber doch den Nerven als solchen angehören, also selbst nervös sind, oder sie verbinden sich an ihrem Ende mit Elementen eines anderen Gewebstypus, z. B. mit Epithelialzellen. Die ersten Untersuchungen der =Nasen- und Mundschleimhaut= schienen mehr für das letztere Verhältniss zu sprechen. Man fand hier gewisse Stellen, welche sich durch die Beschaffenheit ihres Epithels wesentlich von der übrigen Schleimhaut unterscheiden: an der Nasenschleimhaut die sogenannte Regio olfactoria, an der Zunge die Papillae fungiformes (wenigstens beim Frosch). Während das Epithel an der gewöhnlichen Schleimhaut meist dicker und aus mehrfachen, über einander geschobenen Reihen an der Oberfläche flimmernder Cylinderzellen zusammengesetzt ist, bildet es an den genannten Orten eine einfache Lage von bald mehr, bald weniger gefärbten, nicht flimmernden Zellen. Letztere gehen nach unten (innen) in längere Fortsätze über, welche in das Bindegewebe eindringen. Als zuerst =Eckhardt= und dann =Ecker= an der Nasenschleimhaut diese Beobachtung machten, glaubten sie annehmen zu dürfen, dass diese Fortsätze sich mit den in dem Bindegewebe eingeschlossenen Nervenfasern unmittelbar verbänden. Allein mehr und mehr ist man von dieser Ansicht zurückgekommen, und es ist namentlich das Verdienst von =Max Schultze=, dargethan zu haben, dass die Nervenenden sich neben und zwischen jenen eigenthümlichen Epithelialzellen finden. Die Nervenfasern theilen sich an ihrem Ende in zahlreiche, kleine Fädchen, welche über das Bindegewebe hinaus zwischen die Epithelialzellen eintreten und sich hier zu besonderen zellenartigen, mit Kernen versehenen, jedoch sehr feinen Gebilden ausweiten, aus denen zuweilen noch wieder feinere Endfädchen über die freie Oberfläche hervorstehen. Damit ist die Frage nach der Bedeutung jener eigenthümlichen Epithelialzellen und ihrer Verbindungen nach innen hin noch immer nicht gelöst, aber so viel doch sichergestellt, dass die Geruchs- und Geschmacksobjecte =unmittelbar= mit den letzten Endgebilden der Nerven (=Riech=- =und Geschmackszellen=) in Berührung kommen. Ganz ähnliche Verhältnisse fand =Max Schultze= im inneren =Ohr=, namentlich in dem Vorhofe und den Ampullen, wo die letzten Nervenendigungen durch das Epithel hindurchtreten und in frei hervorstehende, steife Haare (=Hörhaare=) auslaufen. Die seit =Corti= so vielfach untersuchte Endigungsweise des Hörnerven in der Schnecke ist dagegen immer noch nicht ganz aufgeklärt. Hier findet sich ein überaus zusammengesetzter, sehr zarter Apparat, an welchem eine Reihe von Fasern mit gestielten Zellen etwa so in Verbindung steht, wie die Tasten eines Fortepiano's mit den Saiten desselben. Was hier nervös ist, was nicht, ist sehr schwer zu scheiden. Erst in der letzten Zeit hat A. =Böttcher= einen Zusammenhang der Endfasern des Nervus cochleae mit inneren und äusseren =Hörzellen= beschrieben, welche an der Seite der Bogenfasern im Canalis cochleae gelegen sind. Ungleich besser, obwohl immer noch nicht ganz vollständig, sind wir über die empfindenden Theile des =Auges= unterrichtet, und ich will daher, bei der grossen praktischen Bedeutung dieser, durch die Ophthalmoskopie der direkten Untersuchung bei Lebzeiten zugänglich gemachten Theile, etwas specieller darauf eingehen. [Illustration: =Fig=. 94. _A_ Verticalschnitt durch die ganze Dicke der Retina, nach Härtung in Chromsäure, _l_ Membrana limitans (anterior) mit den aufsteigenden Stützfasern. _f_ Faserschicht des Opticus. _g_ Ganglienschicht. _n_ graue feinkörnige Schicht mit durchtretenden Radiärfasern. _k_ Innere (vordere) Körnerschicht. _i_ Intermediäre oder Zwischenkörnerschicht. _k_' Aeussere (hintere) Körnerschicht. _s_ Stäbchenschicht mit Zapfen. Vergr. 300. _B_, _C_ (nach H. Müller) Isolirte Radiärfasern.] Alsbald nach seinem Eintritte in das Innere des Bulbus breitet sich der Opticus von der sogenannten Papille her nach allen Seiten so aus, dass seine völlig marklosen Fasern an der vorderen, dem Glaskörper zugewendeten Seite der Retina verlaufen (Fig. 94, _f_). Nach hinten schliesst sich daran eine verschieden dicke Lage, welche den Haupttheil der Retina ausmacht, aber in keiner Weise aus einer einfachen Ausstrahlung des Opticus hervorgeht. Diese Lage, welche man sehr uneigentlich eine Haut (Netzhaut) nennt, zeigt zu äusserst, der Pigmentzellenschicht der Aderhaut (Chorioides) unmittelbar anliegend, ein eigenthümliches Stratum, über welchem ein sonderbares Geschick geschwebt hat, indem man dasselbe längere Zeit an die vordere Seite der Retina verlegte; es ist dies die berühmte =Stäbchenschicht= (Fig. 94, _s_). Diese Schicht, welche zu den verletzbarsten Theilen des Auges gehört und deshalb den früheren Untersuchern vielfach entgangen war, besteht, wenn man sie von der Seite her betrachtet, aus einer sehr grossen Menge dicht gedrängter, radiär gestellter Stäbchen, zwischen denen in gewissen Abständen breitere zapfenförmige Körper erscheinen. Betrachtet man die Retina von der hinteren Oberfläche her, d. h. von der Seite der Chorioides aus, so sieht man in regelmässigen Abständen die Zapfen, umgeben von den Enden der Stäbchen, welche als feine Punkte erscheinen. Was nun zwischen der Stäbchenschicht und der eigentlichen Ausbreitung des Sehnerven liegt, das ist wieder ein sehr zusammengesetztes Ding, an welchem man eine Reihe regelmässig auf einander folgender Schichten unterscheiden kann. Zunächst vor der Stäbchenschicht und von derselben durch ein zartes Häutchen (Membrana limitans posterior s. externa M. =Schultze=) getrennt, folgt eine verhältnissmässig dicke Lage, welche fast ganz aus groben, runden Körnern zusammengesetzt erscheint: die sogenannte äussere Körnerschicht (Fig. 94, _k_'). Dann kommt eine verschieden starke, jedoch im Ganzen dünnere Lage von mehr amorphem Aussehen: die Zwischenkörnerschicht (Fig. 94, _i_). Dann kommen wieder gröbere Körner (die innere Körnerschicht), welche, wie die Körner der äusseren Lage, Kerne besitzen (Fig. 94, _k_). Darauf folgt nochmals eine feinkörnige oder vielmehr feinstreifige Lage von mehr grauem Aussehen (Fig. 94, _n_) und dann erst die ziemlich dicke Lage der Opticusfasern, welche ihrerseits nach vorne von einer Membran begrenzt wird, der Membrana limitans anterior s. interna (Fig. 94, _l_), welche dem Glaskörper dicht anliegt. Innerhalb der grauen Schicht sieht man, zum Theil noch in die Faserschicht des Opticus eingesenkt, eine Reihe von grösseren Zellen, die sich als Ganglienzellen ausweisen (Fig. 94, _g_). Sie hängen mit den Opticusfasern unmittelbar zusammen. Diese ausserordentlich zusammengesetzte Beschaffenheit einer auf den ersten Blick so einfachen, so zarten Membran macht es leicht erklärlich, dass es lange gedauert hat, ehe das Verhältniss ihrer einzelnen Theile auch nur annähernd ermittelt wurde. Einer der ersten Schritte, der in der Erkenntniss dieses Verhältnisses gemacht wurde, war die Entdeckung von =Heinrich Müller=, dass man von der Limitans interna aus bis tief in die Körnerschichten hinein eine Reihe von feinen parallelen Faserzügen verfolgen kann, =radiäre Fasern=, auch Müller'sche Fasern[123] genannt, welche an gewissen Stellen Kerne tragen (Fig. 94, _B_, _C_). Die Radiärfasern sind im Wesentlichen senkrecht auf den Verlauf der Opticusfasern gestellt, aber das Verhältniss beider zu einander ist schwer zu ergründen. Die grösste Schwierigkeit bestand darin, zu ermitteln, ob die radiäre Faser, sei es durch direkte Umbiegung, sei es durch seitliche Anastomose, in Opticus-oder Ganglienfasern übergehe, also selbst nervös sei, oder ob es sich nur um eine dichte Aneinanderlegung handle, so dass die Nerven nur in einem innigen Nachbarverhältnisse zu den Radiärfasern stehen. Auch den Tastkörper konnte man ja als eine körperliche Anschwellung des Nerven selbst oder als ein besonderes Gebilde ansehen, an welches der Nerv nur heran- oder hereintritt. Diese Frage ist lange streitig gewesen. Bald ist die Wahrscheinlichkeit etwas grösser geworden, dass es sich um direkte Verbindungen, bald dass es sich nur um Aneinanderlagerung handle. Zuerst verständigte man sich über die gröberen Faserzüge, welche von der Membrana limitans anterior mit breiter, fast dreieckiger Basis anheben (Fig. 94, _l_) und in regelmässigen Abständen durch die Retina nach hinten verlaufen; sie sind sicher bindegewebiger Natur und bilden ein =interstitielles Gewebe=, welches dem Ganzen eine Art von Halt oder Stütze bietet (=Stützfasern=). Ich habe zuerst durch die pathologische Beobachtung den Unterschied dieses Zwischengewebes von dem nervösen Antheil dargelegt[124]. =Max Schultze= hat sodann gezeigt, dass die vorderen Enden der Zapfen und Stäbchen mit den äusseren Körnern (Zapfen-und Stäbchenkörnern) zusammenhängen und diese wiederum in feine Fasern übergehen, welche die Zwischenkörnerschicht durchsetzen. An der Grenze der inneren Körnerschicht angelangt, bildet jede Faser eine kleine dreieckige Anschwellung, aus welcher nach =Hasse= je drei Fädchen ausgehen, die in die äussere Körnerschicht eintreten. Hier wird vermuthet, dass sie mit den Körnern selbst zusammenhängen, und dass andererseits diese wieder mit Fortsätzen der Ganglienzellen in direkter Verbindung stehen. Indess ist es noch nicht gelungen, diese überaus zarten und verwickelten Verhältnisse ganz zu entwirren. Noch weniger ist es klar, in welcher Ausdehnung das interstitielle Gewebe dieser Schichten mit eigenen zelligen Elementen ausgestattet ist; nur das scheint festzustehen, dass auch die gröberen Radiärfasern dem Bindegewebe angehören. [123] Neuerlich nennt =Kölliker= nur diejenigen Fasern, welche mit den nervösen Theilen zusammenhängen, Müller'sche. [124] Archiv 1856. X. 177. Taf. II. Fig. 4-5. Trotz dieser Mängel kann schon jetzt nicht mehr bezweifelt werden, dass für die Licht-Empfindung der ganze Apparat wesentlich ist, und dass der Opticus an sich mit allen seinen Fasern und Ganglienzellen existiren könnte, ohne irgendwie die Fähigkeit zu haben, Lichteindrücke zu empfangen; diese erlangt er erst durch seine Verbindung mit der Stäbchenschicht und den Körnerlagen. Gerade die Papilla optici, d. h. die Stelle des Augen-Hintergrundes, wo bloss Opticusfasern liegen und nicht ein solcher Apparat, ist zugleich die einzige, welche nicht sieht (blinder Fleck). Damit das Licht also überhaupt in die Lage komme, auf den Sehnerven einwirken zu können, bedarf es der Berührung mit jenem Endapparat, und, nachdem M. =Schultze= gefunden hat, dass die letzten Ausläufer der Nerven in Form feinster Fäserchen die Limitans externa durchbohren und sich den Stäbchen und Zapfen äusserlich anlegen, so ist es auch physikalisch nicht zweifelhaft, dass der Nerv nicht selbst die Vibrationen der Lichtwellen empfängt, sondern dass die Schwingungen der Zapfen und Stäbchen auf die Enden des Sehnerven einwirken und in denselben die eigenthümliche Licht-Erregung erzeugen. Bei Erwägung dieser Verhältnisse wird man sich der Ueberzeugung nicht entziehen können, dass die specifische Energie der einzelnen Nerven nicht sowohl in der Besonderheit des inneren Baues ihrer Fasern als solcher beruht, sondern dass es wesentlich auf die besondere Art der Endeinrichtung ankommt, mit welcher der Nerv, sei es durch Continuität, sei es durch Contact, in Verbindung steht. Nur darin beruht die besondere Fähigkeit der einzelnen Sinnesnerven. Betrachtet man einen Querschnitt des Opticus ausserhalb des Auges, so bietet er keine solchen Besonderheiten anderen Nerven gegenüber dar, dass sie erklären könnten, warum gerade dieser Nerv für Licht mehr leitungsfähig ist, als die anderen Nerven; erwägt man dagegen die besonderen Verhältnisse, unter welchen sich seine letzten Enden verbreiten, so wird die ungewöhnlich grosse Empfindlichkeit der Retina gegen das Licht vollständig begreiflich. -- Aehnlich verhält es sich mit den übrigen Sinnesnerven. -- Die bisherige Erörterung bezog sich wesentlich auf Empfindungs-und Sinnesnerven, bei denen es sich darum handelte, ihre peripherischen Enden durch besondere Anordnung oder Ausstattung für die Aufnahme der Sinneseindrücke zu befähigen. Anders verhält es sich mit derjenigen Klasse von Nerven, welche von den Centralorganen aus die Anregung zu besonderen Thätigkeiten der Peripherie zuleiten sollen. Ich will sie kurzweg als =Arbeitsnerven= bezeichnen. Dahin gehören vor Allen die Muskel- und Drüsennerven. Auch sie erlangen ihre eigentliche Bedeutung erst durch ihre Verbindung mit besonderen Apparaten, aber sie unterscheiden sich dadurch von den Empfindungsnerven, dass diese Apparate nicht mehr Bestandtheile der Nerven, sondern selbständige Einrichtungen sind, welche nur der Anregung der Nerven bedürfen, um in Thätigkeit zu gerathen. Auch hier haben erst die letzten Jahre Aufklärung gebracht. Zuerst zeigte =Doyère= bei Wirbellosen einen nahen Zusammenhang der motorischen Nerven mit den Muskeln. Er fand, dass eine feine Nervenfaser an das Primitivbündel selbst herantritt und hier mit einer eigenthümlichen Anschwellung, dem =Nervenhügel=, endigt (S. 81). Später hat W. =Kühne= diese Verhältnisse in grosser Ausdehnung bei den Wirbelthieren und dem Menschen verfolgt. Es hat sich ergeben, dass eine einzelne markhaltige Nervenfaser bis zu dem einzelnen Primitivbündel (Muskelfaser) herantritt, das Sarkolemm desselben durchbohrt, marklos wird und sich schnell zu einer, mit Kernen reichlich versehenen Endplatte (=elektrische Platte=) ausbreitet, welche sich unmittelbar auf die muskulöse Substanz auflegt. An organischen Muskelfasern hat =Frankenhäuser= unmittelbare Verbindungen der Nervenenden mit den Kernkörperchen bemerkt. In ähnlicher Weise haben sich Verbindungen der Nervenenden mit Drüsenzellen ergeben. =Pflüger= hat an der Speicheldrüse gesehen, wie die Nerven die Tunica propria durchbrechen und sich mit den Drüsenzellen selbst, ja sogar mit den Kernen derselben verbinden, -- eine Art der Vereinigung, die er später auch von der Leber beschrieben hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sich diese Erfahrungen schnell vermehren, und damit für das Studium der Innervationsvorgänge ein ganz neues Gebiet der Erfahrungen sich erschliessen. Zahlreiche zerstreute Beobachtungen der früheren Zeit deuten darauf hin, und schon jetzt haben sie jede Möglichkeit, das sogenannte Continuitätsgesetz wieder aufzurichten, von vorn herein beseitigt (S. 80). -- [Illustration: =Fig=. 95. Theilung einer Primitiv-Nervenfaser bei _t_, wo sich eine Einschnürung findet; _b_', _b_'' Aeste. _a_ eine andere Faser, welche die vorige kreuzt. Vergröss. 300.] Bevor wir jedoch die Betrachtung über die Nerven-Endigungen abschliessen, müssen wir noch eine kurze Zeit bei der Untersuchung verweilen, wie sich die Nerven verhalten, bevor sie in diese Endausbreitungen übergehen. Hier kommen noch zwei Punkte in Betracht: nehmlich ihre =Verästelung= und ihre =plexusartige Ausbreitung=. Es sind dies Punkte, auf welche die neueren Untersucher hauptsächlich durch =Rudolf Wagner= geleitet worden sind. Die Untersuchungen, welche dieser Forscher über die Verbreitung der Nerven im elektrischen Organ der Fische anstellte, gaben den wesentlichen Anstoss zu der Begründung der Lehre von der Verästelung der Nervenfasern. Bis dahin hatte man die Nervenfasern als zusammenhängende, einfache Röhren betrachtet, welche vom Centrum bis ans Ende einfach neben einander fortliefen. Gegenwärtig weiss man, dass sich die Nerven wie Gefässe verbreiten. Indem sich eine Nervenfaser direkt, gewöhnlich dichotomisch theilt, ihre Aeste sich wieder theilen und so fort, so entsteht zuweilen eine überaus reiche Verästelung. Die Bedeutung derselben ist natürlich höchst verschieden, je nachdem der Nerv sensitiv oder motorisch ist, je nachdem er also entweder von einer grösseren Fläche her die Eindrücke sammelt, oder auf eine grössere Fläche hin die motorische Erregung ausstrahlt. Ein wahrhaft miraculöses Beispiel haben wir in der neueren Zeit kennen gelernt in dem Nerven des durch die interessanten Experimente du =Bois-Reymond='s so berühmt gewordenen elektrischen Welses (Malapterurus). Hier hat =Bilharz= gezeigt, dass der Nerv, welcher das elektrische Organ versorgt, ursprünglich nur eine einzige mikroskopische Primitivfaser ist, welche sich immer wieder und wieder theilt und sich schliesslich in eine enorm grosse Masse feinster Aeste auflöst, welche sich an das elektrische Organ verbreiten. In diesem Falle muss also die Wirkung mit einem Male von einem Punkte aus sich über die ganze Ausbreitung der elektrischen Platten äussern. Beim Menschen fehlen uns für diese Frage noch bestimmte Anhaltspunkte, weil die colossalen Entfernungen, über welche die einzelnen Nerven sich verbreiten, es fast unmöglich machen, einzelne bestimmte Primitivfasern vom Centrum bis in die letzte Peripherie zu verfolgen. Aber es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass auch beim Menschen in einzelnen Organen analoge Einrichtungen existiren, wenn auch vielleicht nicht so frappante. Vergleicht man die Grösse der Nervenstämme an gewissen Punkten mit der Summe von Wirkungen, die in einem Organe, z. B. in einer Drüse stattfinden, so kann es kaum zweifelhaft erscheinen, dass analoge Einrichtungen auch hier vorhanden sind. Diese Art der Verbreitung hat insofern ein besonderes Interesse, als viele räumlich getrennte Theile dadurch unter einander verbunden werden. Das elektrische Organ der Fische besteht aus einer Menge von Platten, aber nicht jede Platte wird auf einem nur für sie bestimmten Wege vom Centrum aus innervirt. Der Wels setzt nicht diese oder jene Platte in Bewegung, sondern er muss das Ganze in Bewegung setzen; ja er ist ausser Stande, die Wirkung zu zerlegen. Er kann die Wirkung stärker oder schwächer einrichten, aber er muss jedesmal das Ganze in Anspruch nehmen. Denken wir uns dem entsprechend gewisse Muskeleinrichtungen, so haben wir auch da keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass jedes Element des Muskels besondere, ungetheilt vom Centrum ausgehende und somit unabhängige Nervenfasern empfange. Im Gegentheil findet in der Regel eine besondere Zerlegung der Nerven-Wirkung in den Muskeln nur in sehr beschränktem Maasse statt, wie wir ja aus eigener Erfahrung an uns selbst wissen, und wenn, wie wir sehen, auch die einzelnen Muskelfasern in unmittelbarer Verbindung mit einzelnen Nervenfasern stehen, welche in sie eingehen, so sind dies doch nicht Fasern, welche als einfache, ungetheilte Bahnen vom Centrum ausgehen, sondern eben nur Endäste einfacherer Stämme. Vom neuristischen Standpunkte aus schliesst man, dass =der Wille= oder =die Seele= oder =das Gehirn= im Stande sei, durch besondere Fasern auf jeden einzelnen Theil zu wirken; in der That ist dies aber gar nicht der Fall, sondern es bleibt den Centren meist nur ein einziger Weg zu einer Summe gleichartiger Elementar-Apparate. [Illustration: =Fig=. 96. Nervenplexus aus der Submucosa des Darmes vom Kinde, nach einem Präparate von Hrn. =Billroth=. _n_, _n_, _n_ Nerven, welche sich zu einem Netze verbinden, in dessen Knotenpunkten kernreiche, ganglioforme Anschwellungen liegen. _v_, _v_ Gefässe, dazwischen Kerne des Bindegewebes. Vergr. 180.] Was nun die =Nervenplexus= anbetrifft, so kennen wir gegenwärtig beim Menschen die ausgedehntesten Einrichtungen der Art in der Submucosa des Darmes, wo zuerst durch =Meissner=, dann durch =Billroth= und =Manz= die Verhältnisse genauer erörtert worden sind. Die Submucosa des Darms ist darnach, wie schon =Willis= sagte, eine Tunica nervea. Wenn man den eintretenden Nerven nachgeht, so sieht man, dass sie, nachdem sie sich getheilt haben, zuletzt in wirkliche Netze übergehen, welche bei Neugebornen an gewissen Stellen sehr grosse kernreiche Knotenpunkte haben, von denen aus sie in Geflechte ausstrahlen, so dass dadurch eine so grosse Aehnlichkeit mit dem Capillarnetz entsteht, dass einzelne Beobachter beide verwechselt haben. Wie weit sich solche Einrichtungen im Körper überhaupt erstrecken, ist noch nicht ergründet, denn auch hier handelt es sich um fast ganz neue Thatsachen, welche erst in letzter Zeit die Aufmerksamkeit der Untersucher mehr in Anspruch nahmen. Wahrscheinlich wird sich die Zahl solcher Nervenhäute erheblich vergrössern lassen. =His= hat gezeigt, dass die Gefässnerven sich zum Theil in grossen plexiformen Auflösungen an den Gefässhäuten verbreiten, und L. =Auerbach= hat in der Muscularis des Darmes ein eben so ausgedehntes, als in seinen einzelnen Einrichtungen merkwürdiges Geflecht, den von ihm sogenannten =Plexus myentericus= nachgewiesen. Um jedoch etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, muss ich sogleich hinzusetzen, dass manche dieser plexusartigen Ausbreitungen keineswegs einfach sind. Am Darm tragen die erwähnten grösseren Knotenpunkte den Habitus von Ganglien an sich, so dass gewissermaassen neue Sammelpunkte des Nervenapparates mit der Möglichkeit einer Verstärkung oder Hemmung der Wirkungen eintreten. Für die Function ist diese Einrichtung offenbar von grosser Bedeutung, denn wir würden uns am Darm die peristaltische Bewegung nicht wohl erklären können, wenn nicht eine Einrichtung existirte, welche von Netz zu Netz, von Theil zu Theil Reize übertrüge, die nur an einem Punkte dem Darme zugekommen sind. Die bis vor Kurzem bekannten Verhältnisse der Nervenverbreitung genügten nicht, um den Modus der peristaltischen Bewegung einigermaassen zu erklären, während sich hier die bequemsten Anhaltspunkte der Deutung bieten. -- So viel im Wesentlichen über die allgemeinen Formen, welche man bis jetzt für die peripherischen Endigungen der Nerven kennt. Im Ganzen entsprechen diese Erfahrungen wenig dem, was man sich früher gedacht hat, und was noch jetzt die Neuropathologen annehmen. Die Vorstellung eines Neuropathologen von reinem Wasser geht bekanntlich dahin, dass ein Nervencentrum im Stande sei, vermittelst der Nervenfasern auf jeden kleinsten Theil seines Territoriums eine besondere Wirkung auszuüben. Soll an einem kleinen Punkte des Körpers Krebsmasse oder Eiter entstehen oder eine einfache Ernährungsstörung erfolgen, so bedarf der Neuropatholog einer Einrichtung, vermöge welcher das Centralorgan im Stande ist, der Peripherie innerhalb ihrer kleinsten Bezirke seine Einwirkung =gesondert= zukommen zu lassen, irgend eines Weges, auf welchem die Boten gehen können, welche nun einmal die Ordre jedem einzelnen der entferntesten Punkte des Organismus zu überbringen bestimmt sind. Die wirkliche Erfahrung lehrt nichts der Art. Gerade an den Stellen, wo wir eine so ausserordentlich vervielfältigte Einrichtung der Endapparate kennen, wie ich sie bei den Sinnesorganen schilderte, haben die Nerven keine Beziehung auf die Ernährung und insbesondere keine nachweisbare Einwirkung auf elementare Theile. Fast an allen anderen Orten werden entweder ganze Flächen oder Organ-Abschnitte in einer gleichmässigen Weise innervirt, oder es werden von diesen Flächen oder Organ-Abschnitten aus Sammel-Erregungen zu den Centren geführt. An vielen Theilen, von denen wir allerdings nachweisen können, dass ein Nerven-Einfluss auf sie stattfindet, z. B. an den kleinen Gefässen, wissen wir bis jetzt noch nicht einmal, wie weit einzelne Abschnitte derselben besondere Nervenfasern enthalten. So schlecht sind die anatomischen Grundlagen der neuropathologischen Doctrin. Vierzehntes Capitel. Rückenmark und Gehirn. Die nervösen Centralorgane. Graue Substanz. Pigmentirte Ganglienzellen. Fortsätze der Ganglienzellen: apolare, unipolare und bipolare Zellen. Verschiedene Bedeutung der Fortsätze: Nerven- oder Axencylinderfortsätze, Ganglien- und Reiserfortsätze. Rückenmark: motorische und sensitive Ganglienzellen. Multipolare (polyklone) Formen. Kernkörperchenfäden und Kernröhren. Innere Verschiedenheit der Ganglienzellen. Schwierigkeit der Untersuchung. Die Nerven des elektrischen Organs der Fische. Das Gross- und Kleinhirn des Menschen. Das Rückenmark. Weisse und graue Substanz. Centralkanal. Gangliöse Gruppen. Weisse Stränge und Commissuren. Medulla oblongata. Rinde des Kleinhirns: Körner- und Stäbchenschicht. Psychische Ganglienzellen des Gehirns. Das Rückenmark des Petromyzon und die marklosen Fasern desselben. Die Zwischensubstanz (interstitielles Gewebe). Ependyma ventriculorum. Neuroglia. Corpora amylacea. Graue oder gelatinöse Atrophie des Rückenmarks. Sandkörper (corpora arenacea) der Häute des Gehirns und Rückenmarks. Nachdem wir die peripherischen Einrichtungen des Nervenapparates besprochen haben, so erübrigt uns, um die Uebersicht der Nerveneinrichtungen zu vervollständigen, noch die wichtige Reihe der =centralen Theile=, oder im engeren Sinne der =Ganglien-Apparate=. Wie ich schon früher hervorhob, so finden wir diese überwiegend in denjenigen Theilen der Centralorgane, wo graue Substanz lagert. Nur ist das bloss graue Aussehen nicht entscheidend für die gangliöse Beschaffenheit eines Theiles; insbesondere darf man nicht glauben, dass etwa die Ganglienzellen es seien, welche die graue Farbe wesentlich bedingen. An manchen Stellen befindet sich graue Masse, ohne dass Ganglienzellen vorhanden sind. So enthält die äusserste Schicht der Grosshirnrinde keine deutlichen Ganglienzellen mehr, obwohl sie grau aussieht; hier findet sich eine durchscheinende Bindesubstanz, welche mit vielen feineren Gefässen durchsetzt ist und je nach der Füllung derselben bald mehr grauroth, bald mehr weissgrau erscheint. Andererseits kommt es häufig vor, dass, wo Ganglienzellen liegen, die Substanz gerade nicht grau aussieht, sondern eine positive Farbe hat, die zwischen bräunlichgelb und schwarzbraun schwankt. So haben wir an dem Gehirne kleinere Abschnitte, welche schon seit langer Zeit unter dem Namen der Substantia nigra, fusca, ferruginea bekannt sind; hier haftet die schwarze oder braune Farbe, die wir mit blossem Auge wahrnehmen, an den Ganglienzellen als den eigentlich gefärbten Punkten. [Illustration: =Fig=. 97. Elemente aus dem Ganglion Gasseri. _a_ Ganglienzelle mit kernreicher (bindegewebiger und epithelialer) Scheide, die sich um den abgehenden Nervenfortsatz erstreckt; im Innern der grosse, klare Kern mit Kernkörperchen und um ihn Pigmentanhäufung. _b_ Isolirte Ganglienzelle mit dem an sie herantretenden blassen Fortsatz. _c_ Feinere Nervenfaser mit blassem Axencylinder. Vergr. 300.] Diese Färbung stellt sich erst im Laufe der Jahre ein. Je älter ein Individuum wird, um so lebhafter werden die Farben; jedoch scheinen unter Umständen auch pathologische Prozesse den Eintritt und die Stärke derselben zu beschleunigen. So ist es an den Ganglien des Sympathicus eine auffallende Erscheinung, dass gewisse Krankheitsprozesse, z. B. der typhöse, einen wirksamen Einfluss auf die frühe Pigmentirung zu üben scheinen. Da aber das Pigment etwas relativ Fremdartiges in der inneren Zusammensetzung der Zelle darstellt, insofern als es, soviel wir wissen, nicht der eigentlichen Function dienstbar ist, sondern als träge Masse hinzutritt, so dürfte es in der That wohl möglich sein, dass man diese Zustände als eine Art von vorzeitigem Altern (Senium praecox) der Ganglienzellen zu betrachten hat. An diesen Zellen unterscheidet man (Fig. 97, _a_) ausser dem sehr deutlichen, grossen Kerne mit seinem grossen, glänzenden Kernkörperchen den eigentlichen Zellkörper, welcher aus einer feinkörnigen Grundsubstanz (Protoplasma) besteht und das an einer gewissen Stelle, gewöhnlich excentrisch neben dem Kern, zuweilen rings um denselben gelagerte Pigment umschliesst. Unter Umständen nimmt das letztere an Masse so sehr zu, dass ein grosser Theil der Zelle damit ausgefüllt wird. Je reicher diese Ablagerung wird, um so dunkler erscheint die ganze Stelle schon für das blosse Auge. Früher hat man sich die Ganglienzellen in der Regel als einfach runde, kugelige Gebilde (Ganglienkugeln) gedacht. Allein man hat sich mehr und mehr überzeugt, dass diese Form eine künstliche, erst durch das Abreissen der Fortsätze bei der Präparation entstandene ist, dass vielmehr von jeder Ganglienzelle nach gewissen Richtungen Fortsätze ausgehen, welche sich endlich mit Nerven oder mit anderen Ganglienzellen in Verbindung setzen oder in eigenthümlicher Weise verästeln. Viele Ganglienzellen besitzen gleichzeitig mehrere Fortsätze, von denen jedoch nur einer mit einer wirklichen Nervenfaser direkt in Verbindung steht: der =Nerve=- =oder Axencylinder=-=Fortsatz=. Hier und da scheint durch =Ganglienfortsätze= eine direkte Verbindung zwischen zwei Ganglienzellen hergestellt zu werden. Verhältnissmässig häufig, namentlich in den Centralorganen, sind Fortsätze mit mehrfacher und zuletzt sehr feiner Verästelung, die ich =Reiserfortsätze= nennen will. Die Nervenfaser-Fortsätze sind bei ihrem Ursprunge aus den Ganglienzellen blass, und auch da, wo sich endlich ihr Uebergang in gewöhnliche, dunkelconturirte Nervenfasern verfolgen lässt, sieht man sie erst in einer gewissen Entfernung von der Ganglienzelle dicker werden, indem sie sich allmählich mit einer Markscheide versehen. Dieser Umstand, welchen man früher nicht gekannt hat, erklärt es, dass man so lange Zeit über das wahre Verhältniss im Unklaren geblieben ist. Die unmittelbaren Fortsätze der Ganglienzellen, namentlich im Gehirn und Rückenmark, sind daher nicht Nerven im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern blasse und oft so feine Fasern, dass sie kaum noch eine Aehnlichkeit mit den früher geschilderten marklosen Fasern haben, sondern wie blasse Axencylinder erscheinen (Fig. 97, _a_, _b_). Lange hat man erwartet, wesentliche Verschiedenheiten unter den Ganglienzellen, je nach den groben Abschnitten des Nerven-Apparates, also namentlich Verschiedenheiten zwischen den Zellen des Sympathicus und denen des Hirns und Rückenmarks zu finden. Allein auch in diesem Punkte hat sich das Gegentheil als richtig ergeben, namentlich seitdem =Jacubowitsch= die Thatsache kennen gelehrt hat, dass zweistrahlige Zellen, welche den gewöhnlichen Zellen der sympathischen Ganglien vollkommen analog sind, auch in der Mitte des Rückenmarks und mancher Theile, welche wir schon dem Gehirne zurechnen, vorkommen[125]. Dass der Sympathicus mit einem grossen Theile seiner Fasern im Rückenmarke wurzelt, weiss man schon lange; wenn nun auch, wie ich mich überzeugt habe, zweistrahlige Elemente im Rückenmarke und andererseits vielstrahlige Elemente in sympathischen Ganglien, z. B. im G. coeliacum, vorkommen, so kann man sagen, dass auch in histologischer Beziehung das Rückenmark nicht einen einfachen und nothwendigen Gegensatz zu dem Grenzstrange darstellt. [125] Ich habe übrigens solche Zellen schon vor langer Zeit aus dem menschlichen Rückenmark beschrieben (Archiv 1847. I. 459 Anm.). Will man die Formen der Ganglienzellen genauer kennen lernen, so geschieht dies am leichtesten an dem Rückenmark, welches überhaupt für die Zusammenordnung eines wirklichen Centralorgans im engsten Sinne des Wortes den klarsten Ausdruck darstellt. In der grauen Substanz (den Hörnern) desselben finden sich überall und zwar fast auf jedem Querschnitte verschiedenartige Ganglienzellen. =Jacubowitsch= hat drei verschiedene Formen davon unterschieden: die eine nannte er motorisch, die andere sensitiv, die dritte sympathisch. Ich werde auf ihre Anordnung bei weiterer Besprechung des Rückenmarkes zurückkommen; hier will ich zunächst nur ihre Formen im Allgemeinen besprechen. Nachdem es feststeht, dass es Ganglienzellen ohne Fortsätze (apolare) überhaupt nicht gibt, ist die Frage über die Zahl der Fortsätze sehr viel discutirt worden. Man beschrieb zunächst hauptsächlich uni- und bipolare (besser =monoklone= und =diklone=) Zellen. Allein auch die sogenannten unipolaren (Fig. 97) werden, je genauer man untersucht, immer seltener. Die meisten Zellen besitzen mindestens zwei Fortsätze, sehr viele sind multipolar oder genauer vielästig (=polyklon=). [Illustration: =Fig=. 98. Ganglienzellen aus den Centralorganen: _A_, _B_, _C_ aus dem Rückenmarke, nach Präparaten des Hrn. =Gerlach=, _D_ aus der Gehirnrinde. _A_ Grosse, vielstrahlige (multipolare, polyklone) Zellen aus den Vorderhörnern (Bewegungszellen). _B_ Kleinere Zellen mit drei grösseren Fortsätzen aus den Hinterhörnern (Empfindungszellen). _C_ Zweistrahlige (bipolare, diklone), mehr rundliche Zelle aus der Nähe der hinteren Commissur (sympathische Zelle). Vergr. 300.] Eine multipolare Zelle besitzt einen grossen Kern mit Kernkörperchen, einen körnigen Inhalt (Protoplasma) und, wenn sie besonders gross und alt ist, einen Pigmentfleck; sie entsendet nach verschiedenen Richtungen hin Ausläufer oder Fortsätze. Mindestens einer dieser Ausläufer, der sich durch seine festere Beschaffenheit auszeichnet, geht, wie zuerst =Deiters= gezeigt hat, in eine Nervenfaser über. Dieses ist der schon vorher (S. 302) erwähnte Axencylinder-Fortsatz. Die übrigen Ausläufer, nicht sehr glücklich als =Protoplasmafortsätze= bezeichnet, theilen sich nach kürzerem oder längerem Verlaufe in zahlreiche, kleine Reiserchen, welche die graue Substanz durchziehen. Was aus ihnen weiterhin wird, ist noch unbekannt; nur glaubt =Deiters= gefunden zu haben, dass gewisse feine Aestchen, welche unter rechten Winkeln von diesen Fortsätzen ausgehen, gleichfalls mit Nervenfasern zusammenhängen. Jedenfalls beginnt schon hier das physiologisch wichtige Verhältniss, welches ich vorher besprach (S. 296, 299), dass von einzelnen Punkten des Nervensystems aus ganze Massen von Fäden oder Fasern ausgehen, ein Verhältniss, welches darauf hindeutet, dass bei der Thätigkeit (Reizung) der Nerven zwar von Anfang an je nach Umständen diese oder jene Bahn benutzt werden kann, dass aber innerhalb gewisser Bahnen die Wirkung auf die ganze Verästelung sich relativ gleichmässig fortsetzen kann. Die multipolaren Zellen des Rückenmarks sind meist verhältnissmässig gross. Die stärksten derselben (Fig. 98, _A_.) liegen an denjenigen Stellen der grauen Substanz angehäuft, welche dem Eintritte der motorischen (vorderen) Wurzeln entsprechen; man kann sie deshalb kurzweg als motorische oder =Bewegungszellen= bezeichnen. Diejenigen Ganglienzellen, welche die Fasern der sensitiven (hinteren) Wurzeln aufnehmen (Fig. 98, _B_.), und welche man in Kürze sensitive oder =Empfindungszellen= nennen mag, sind in der Regel kleiner und zeigen nicht eine so vielfache und weitreichende Verästelung, wie die Bewegungszellen. Ein grosser Theil von ihnen besitzt nur 3, vielleicht 4 Aeste. Die von =Jacubowitsch= sympathisch genannten Zellen (Fig. 98, _C_.) sind wiederum grösser, haben aber gewöhnlich nur 2 Aeste und zeichnen sich durch eine mehr rundliche Form aus. Es sind dies Verschiedenheiten, welche allerdings nicht so durchgreifend sind, dass man schon jetzt im Stande wäre, einer isolirten Ganglienzelle in jedem einzelnen Falle sofort anzusehen, welcher Kategorie sie angehört, aber sie sind doch, wenn man die einzelnen Gruppen ins Auge fasst, so auffallend, dass man zu Betrachtungen über die verschiedene Bedeutung derselben angeregt wird. Wahrscheinlich wird man im Laufe der Zeit noch weitere Verschiedenheiten, auch vielleicht in der inneren Einrichtung der Zellen, erkennen; bis jetzt lässt sich darüber nichts weiter aussagen, als dass verschiedene Beobachter, zuerst =Harless=, feinere Fasern bis zu dem Kern und Kernkörperchen verfolgt haben (=Kernkörperchenfäden= und =Kernröhren=). Am genauesten hat in der letzten Zeit =Frommann= diese merkwürdigen Verhältnisse studirt, deren Eigenthümlichkeit noch dadurch erhöht wird, dass einzelne Ganglienzellen einen mehr faserigen Bau ihres Leibes zeigen, während bei der grossen Mehrzahl der Zellkörper eine feinkörnige Beschaffenheit darbietet. Indess liegen alle diese Verhältnisse noch so im Dunkeln, dass sich irgend welche gesetzmässigen Aufstellungen daraus noch nicht ableiten lassen. Es ist dies eine sehr grosse und beklagenswerthe Lücke unserer Kenntnisse, weil gerade hier der Punkt ist, wo die specifische Action der wichtigsten Elemente des Körpers zu erklären wäre. Aber man darf auch nicht übersehen, dass diese Verhältnisse mit zu den schwierigsten gehören, welche überhaupt der anatomischen Untersuchung unterworfen werden, und dass die Herstellung von Objecten, welche auch nur das eigene Auge überzeugen, fast immer daran scheitert, dass eine wirkliche Isolirung der Elemente mit allen ihren Fortsätzen und Verbindungen kaum jemals gelingt und dass man wegen ihrer ausserordentlichen Gebrechlichkeit fast immer genöthigt ist, sie auf gehärteten Durchschnitten zu verfolgen. Wenn man Schnitte macht in Theilen, welche zu einem grossen Theile aus Fasern bestehen und in welchen die Fasern theils longitudinal, theils transversal, theils schräg verlaufen, wo also überall ein Geflecht besteht, so hängt es ja ganz und gar von einem glücklichen Zufalle ab, ob man in einem und demselben Schnitte den Verlauf einer einzelnen Faser über grössere Strecken hinaus mit einer gewissen Bestimmtheit verfolgen kann. Diese Schwierigkeit lässt sich allerdings dadurch ausgleichen, dass man die Schnitte in allen möglichen Richtungen führt und so die Wahrscheinlichkeit steigert, dass man endlich einmal auf diejenige Richtung stossen wird, in welcher sich ein Ast vollständig auflöst, aber erfahrungsgemäss bleibt auch dann noch die Schwierigkeit so gross, dass man niemals die ganze Verbreitung und Verbindung einer irgendwie vielästigen Zelle in den Centralorganen auf einmal hat übersehen können. Auch in dieser Beziehung ist das =elektrische Organ= ein besonders glücklicher Ausgang der Untersuchung geworden. Hier gelang es =Bilharz=, die eine Faser, welche das ganze peripherische Organ versieht (innervirt), in eine einzige, centrale Ganglienzelle zurück zu verfolgen. Auch diese Zelle, welche so gross ist, dass man sie mit blossem Auge bequem wahrnehmen kann, hat nach anderen Richtungen hin feinere Ausstrahlungen. Die weiteren Beziehungen dieser letzteren zu ermitteln, ist bis jetzt eben so wenig gelungen, wie wir im Stande gewesen sind, von der feineren Anatomie des menschlichen Gehirns ein nach allen Seiten hin befriedigendes Bild zu gewinnen, namentlich zu entdecken, in welchem Maasse darin Verbindungen von Zellen unter einander vorkommen. Bei den Untersuchungen des Rückenmarks hat es sich herausgestellt, dass nicht alle Fortsätze der Ganglienzellen in Nervenfasern übergehen, sondern dass ein Theil derselben wieder zu Ganglienzellen geht und Verbindungen zwischen Ganglienzellen herstellt. Einzelne Beobachter geben bestimmt an, direkte Anastomosen von Ganglienzellen unter einander gesehen zu haben, und es lässt sich ein solcher Zusammenhang wohl nicht bezweifeln. Indess scheint dies doch ein sehr seltener Fall zu sein. Die Regel ist, dass die nicht direkt in Axencylinder übergehenden Fortsätze sich mehr und mehr verästeln und erst, nachdem sie ganz feine Fäserchen oder Reiserchen gebildet haben, mit den von anderen Ganglienzellen ausgehenden Fäserchen anastomosiren. Auf diese Art entsteht z. B. in der grauen Substanz des Rückenmarks ein =zusammenhängendes Reiserwerk=, welches bis zum Gehirn aufsteigt. Es lässt sich denken, dass dadurch die grösste Mannichfaltigkeit der Leitung und Strömung ermöglicht wird. Auch im =Gehirn=, zumal in der grauen Rindensubstanz, haben die Ganglienzellen ganz ähnliche Beschaffenheit (Fig. 98, _D_). An der Oberfläche des Grosshirns, wo die Ganglienzellen in mehrfachen Schichten über einander stehen, sind die Reiserfortsätze nach innen gerichtet, während gewöhnlich ein stärkerer Fortsatz zur Oberfläche aufsteigt und hier umbiegt. Schon =Valentin= hat diese »Schlingenbildung« gesehen. Ob jedoch dieser Fortsatz in einen Axencylinder fortgeht, ist immer noch zweifelhaft. Noch complicirter sind die Verhältnisse an der Rinde des Kleinhirns, wo mehrere, stärkere Fortsätze gegen die Oberfläche ausstrahlen und in Reiser übergehen, während nach innen nur ein einziger Fortsatz gerichtet ist, der ziemlich sicher zu Nerven verfolgt ist. In dieser Gegend, wo schon äusserlich erkennbar eine rostfarbene Schicht sich der grauen Substanz anschliesst und sie von der weissen Centralmasse trennt, findet sich eine mächtige Körnerlage; die ganze Einrichtung gewinnt so eine gewisse Aehnlichkeit mit jenen ganz feinen Einrichtungen der radiären Fasern der Retina (S. 292). So schwierig es ist, über die Natur und Verbindung der nervösen Elemente ins Klare zu kommen, so häufen sich die Schwierigkeiten doch noch mehr, wenn es sich um die Zusammensetzung der nervösen Centralorgane im Ganzen handelt. Hier hat es sich immer als das Vortheilhafteste erwiesen, sich zunächst an dasjenige Centralorgan zu halten, welches als Grundlage der Wirbelthier-Entwickelung überhaupt dient, nehmlich an das =Rückenmark=; es ist dies dasjenige, dessen Struktur wir am besten übersehen können. Das Rückenmark ist bekanntlich, wie man auf jedem Querschnitte vom blossen Auge mit Leichtigkeit sehen kann, an verschiedenen Stellen seines Verlaufes verschieden reich an weisser Substanz, so jedoch, dass fast überall die weisse Substanz über die graue das Uebergewicht hat. Letztere tritt auf Querschnitten unter der Form der bekannten Hörner hervor, die sich durch ihre bald blassgraue, bald grauröthliche Färbung von dem reinen Weiss der übrigen Masse deutlich absetzen. So weit nun, als die Substanz vom blossen Auge weiss erscheint, besteht sie wesentlich aus wirklichen markhaltigen Nervenfasern, welche durch schwache Züge eines weichen Interstitialgewebes in grössere und kleinere Bündel abgetheilt sind (Fig. 99). Ein grosser Theil dieser Fasern ist von so beträchtlicher Breite, dass die Masse des Markstoffes (Myelins) an gewissen Punkten eine ausserordentlich reichliche ist. Die graue Substanz der Hörner dagegen ist die eigentliche Trägerin der Ganglienzellen, aber auch hier ist das graue Aussehen keineswegs der Anwesenheit der Ganglienzellen zuzuschreiben; vielmehr bilden, wie wir nachher sehen werden, die Ganglienzellen immer nur einen kleinen Theil dieser Substanz, und das graue Aussehen ist hauptsächlich dadurch bedingt, dass hier jener undurchsichtige, stark lichtbrechende Stoff (der Markstoff) nicht abgeschieden ist, welcher die weissen Nerven erfüllt. Inmitten der grauen Substanz befindet sich, wie =Stilling= zuerst bestimmt gezeigt hat, jener =centrale Kanal= (Canalis spinalis), den man früher so vielfach vermuthet, häufig auch als regelmässigen Befund bezeichnet hat, der aber doch niemals früher regelmässig demonstrirt werden konnte. Bei den älteren Beobachtern, z. B. =Portal=, handelte es sich immer um vereinzelte pathologische Befunde, von welchen sie ihre Kenntnisse über diese Einrichtung hernahmen, und von welchen aus sie ziemlich willkürlich schlossen, dass das Vorhandensein eines Kanals die Regel sei. Der Centralkanal ist so fein, dass besonders glückliche Durchschnitte dazu gehören, um ihn mit blossem Auge deutlich wahrnehmen zu können. Gewöhnlich erkennt man nichts weiter als einen rundlichen, grauen Fleck, der sich von der Nachbarschaft durch eine etwas grössere Dichtigkeit unterscheidet. Erst die mikroskopische Untersuchung zeigt innerhalb des Fleckes den Querschnitt des Kanals als ein feines Loch (Fig. 99, _c c_). Wie fast alle freien Oberflächen des Körpers, ist er mit einem Epitheliallager überkleidet. Es ist ein wirklich regelmässiger, constanter und persistenter Kanal in aller Form Rechtens. Derselbe setzt sich durch die ganze Ausdehnung des Rückenmarkes fort vom Filum terminale[126], wo er nicht immer ganz deutlich herzustellen ist, bis zum vierten Ventrikel hinauf, wo seine Einmündungsstelle in dem sogenannten Sinus rhomboidalis an der gelatinösen Substanz des Calarnus scriptorius liegt. Hier kann man ihn als eine direkte Fortsetzung vom Boden des vierten Ventrikels aus zunächst in eine feine trichterförmige Spalte oder Linie verfolgen. [126] Untersuchungen über die Entwickelung des Schädelgrundes. Berlin 1857. S. 92. Die =Ganglien-Zellen= des Rückenmarkes finden sich in der grössten Masse in den vorderen und seitlichen Theilen der Vorderhörner. Und zwar sind es hauptsächlich die grossen vielstrahligen Elemente, welche ich früher (S. 305) besprochen habe. Ihre Fortsätze sind zum Theil verfolgt worden in austretende Nerven der vorderen Wurzeln; sie geben also motorischen Nerven ihren Ursprung. [Illustration: =Fig=. 99. Die Hälfte eines Querschnittes aus dem Halstheile des Rückenmarkes. _fa_ Fissura anterior, _fp_ Fissura posterior. _cc_ Centralkanal mit dem centralen Ependymfaden. _ca_ Commissura anterior mit sich kreuzenden Nervenfasern, _cp_ Commissura posterior. _ra_ Vordere Wurzeln, _rp_ hintere. _gm_ Anhäufung der Bewegungszellen in den Vorderhörnern, _gs_ Empfindungszellen der Hinterhörner, _gs_' sympathische Zellen. Die schwarzpunktirte Masse stellt die Querschnitte der weissen Substanz (Nervenfasern der Vorder-, Seiten- und Hinterstränge) des Rückenmarkes mit ihren lobulären Abtheilungen dar. Vergr. 12.] Eine analoge, jedoch weniger deutlich gruppirte Anhäufung findet sich gegen die Basis der hinteren Hörner hin; es sind kleinere, mehrstrahlige Zellen, wie ich sie gleichfalls beschrieben habe. Sie hängen mit den Fasern zusammen, welche in die hinteren Wurzeln eintreten, dienen also wahrscheinlich der sensitiven Function. Ausserdem zeigt sich gewöhnlich noch eine dritte, bald mehr zusammengefaßte, bald mehr zerstreute Gruppe von Zellen, welche ihrem Baue nach an die bekannten Formen der Zellen in den Ganglien erinnern (Fig. 98, _C_. 99, _gs_'). Ihre besondere Stellung innerhalb des Rückenmarks ist allerdings nicht so klar bezeichnet, wie die der anderen Theile; vielleicht sind sie als die Quelle der sympathischen Wurzeln zu betrachten, welche vom Rückenmarke sich zum Grenzstrang begeben, indess ist dies noch lange nicht ausgemacht. Innerhalb der weissen Substanz der Vorder-, Seiten- und Hinterstränge finden sich die markhaltigen Nervenfasern, welche im Allgemeinen einen auf- oder absteigenden Verlauf nehmen, so dass wir auf Querschnitten dieser Theile des Rückenmarkes fast nur Querschnitte von Nervenfasern zu Gesicht bekommen. Unter dem Mikroskope sieht man hier zahllose, dunkle Punkte oder bei stärkerer Vergrösserung Ringe, von denen jeder einer Nervenfaser entspricht und gewöhnlich noch einen dritten, bei Carminfärbung stärker hervortretenden Kern oder Fleck, den Querschnitt des Axencylinders, enthält. Die ganze Fasermasse der Rückenmarksstränge ist von innen nach aussen in eine Reihe von Gruppen oder Segmenten von im Ganzen radiärer Anordnung, gewissermaassen in keilförmige Lappen zerlegt, indem sich zwischen die einzelnen, auch hier fasciculären Abtheilungen eine bald kleinere, bald grössere Masse von Bindegewebe mit Gefässen einschiebt. Letzteres hängt nach innen mit der reichlicheren Bindegewebsmasse der grauen Substanz, nach aussen mit dem Bindegewebe der Pia mater, welche die ernährenden Gefässe zuführt, zusammen. Was nun die =Nervenfasern= der Rückenmarksstränge betrifft, so dürfte ein gewisser Theil von ihnen der ganzen Länge des Rückenmarkes nach fortgehen, aber sicherlich darf man nicht annehmen, dass sie alle vom Gehirne herkommen; ein wahrscheinlich viel beträchtlicherer Theil stammt wohl von den Ganglienzellen des Rückenmarkes selbst und biegt alsbald in die vorderen oder hinteren Stränge um. Ausserdem bestehen zwischen den beiden Hälften des Rückenmarkes direkte Verbindungen, =Commissuren=, indem Fasern von einer Seite zur anderen hinübertreten, theils in der Weise, dass sie mit denen der entgegengesetzten Seite sich kreuzen (vordere Commissur, Fig. 99, _ca_), theils so, dass sie gestreckt und parallel verlaufen (hintere Commissur, Fig. 99, _cp_). Mit diesen anatomischen Erfahrungen kann man sich ein freilich noch immer sehr ungenügendes Bild machen von den Wegen, auf welchen die Vorgänge innerhalb der Centraltheile passiren. =Jede besondere Thätigkeit hat ihre besonderen elementaren zelligen Organe; jede Art der Leitung findet ihre bestimmt vorgezeichneten Bahnen=. Auch im Grossen entsprechen den functionellen Verschiedenheiten ganz bestimmte Eigenthümlichkeiten in der Struktur der einzelnen Centraltheile, namentlich entwickeln sich nach oben hin die hinteren Hörner allmählich immer kräftiger, und in dem Maasse, als diese Entwickelung vorschreitet, macht sich die Entfaltung der Medulla oblongata, des grossen und kleinen Gehirns, wobei mehr und mehr die motorischen Theile in den Hintergrund treten, um zuletzt fast ganz zu verschwinden. Der Anlage nach und im Grossen bestehen in allen diesen Theilen analoge Verhältnisse; das Einzige, was bis jetzt wenigstens als eine besonders charakteristische Eigenthümlichkeit der cerebralen Apparate betrachtet werden kann, ist die schon früher hervorgehobene Erscheinung, dass am Kleinhirn an der inneren Seite der hier überall einfachen Lage der Ganglienzellen eine besondere Schicht vorkommt, die am meisten Aehnlichkeit hat mit den Körnerschichten der Retina (Fig. 100, _B_). Denn auch hier finden sich verästelte, fast baumförmige Fäden, welche kleine Körnchen in oft mehrfacher Reihe in sich schliessen, und welche sich an die Ganglienzellen in einer wesentlich anderen, namentlich sehr viel feineren Weise anfügen, als das bei den eigentlichen Nervenfortsätzen der Fall ist. Nach aussen von der Ganglienschicht zeigt die graue Substanz eine so auffällig radiäre Streifung, dass man früher dieselbe gleichfalls mit der Stäbchenschicht der Retina parallelisirte. Indess ist dies eine ziemlich grobe Aehnlichkeit, für die irgend ein histologischer Nachweis nicht geliefert werden kann. Es ist vielmehr die Interstitialsubstanz, welche diese streifigen Abtheilungen besitzt; wie kürzlich =Herm=. =Hadlich= gefunden hat, ist sie von langen parallelen Stützfasern durchzogen, welche mit dreieckigen Enden gegen die Oberfläche ansetzen. [Illustration: =Fig=. 100. Schematische Darstellung des Nervenverhaltens in der Rinde des Kleinhirns nach =Gerlach=. (Mikroskopische Studien Taf. I. Fig. 3) _A_ weisse Substanz, _B_, _C_ graue Substanz. _B_ Körnerschicht, _C_ Zellenschicht mit den grossen (Purkinje'schen) Ganglienzellen.] Die Rindenschichten des Gross- und Kleinhirns enthalten einen solchen Reichthum von Ganglienzellen, dass =Meynert= nach einer ganz wahrscheinlichen Schätzung ihre Zahl auf eine Milliarde berechnet. Wenn nicht bezweifelt werden kann, dass diese Zellen zu einem grossen Theile der eigentlichen =psychischen Thätigkeit= dienen, so ist es gewiss bemerkenswerth, dass ihre Anhäufungen sich durch ein allmähliches Anwachsen und Vermehren aus den hinteren Abschnitten des Rückenmarkes entfalten, dass sie also genetisch dem empfindenden Antheile desselben angehören. Unzweifelhaft bieten diese =psychischen Ganglienzellen= manches Besondere und Eigenthümliche auch in ihrer Gestalt dar; nichtsdestoweniger ist es unmöglich, bis jetzt aus ihren Besonderheiten und Eigenthümlichkeiten irgend einen Grund für die Vollkommenheit ihrer Function abzuleiten. Wir müssen uns vor der Hand damit begnügen, ihre Existenz und ihre äusseren Eigenschaften kennen gelernt zu haben. -- * * * * * [Illustration: =Fig=. 101. Durchschnitt durch das Rückenmark des Petromyzon fluviatilis. _F_ Fissura (oder genauer Commissura) anterior, _F_' Fissura posterior, _c_ Centralkanal mit Epithel. _gm_ grosse, vielstrahlige Ganglienzellen mit Fortsätzen in der Richtung der vorderen Wurzeln. _gp_ kleinere, mehrstrahlige Zellen mit Fortsätzen zu den hinteren Wurzeln, _gs_ grosse, rundliche Zellen in der Nähe der hinteren Commissur (sympathische Zellen). _n_, _n_ Querdurchschnitte der grossen, blassen Nervenfasern (=Müller='sche Fasern), _n_' leere Lücken, aus welchen die grossen Nerven ausgefallen sind, _n_'' Lücke für kleinere Fasern. Ausserdem zahlreiche Querschnitte feinerer und gröberer Fasern.] Der Typus der Rückenmarksbildung, welchen wir beim Menschen kennen gelernt haben, ist im Wesentlichen derselbe durch die ganze Reihe der Wirbelthiere oder, wie man sie besser nennen würde, Markthiere[127], nur dass beim Menschen im Allgemeinen eine grössere Complication und ein grösserer Reichthum sowohl an Nervenfasern, als an Gangliensubstanz hervortritt. Es ist gewiss sehr interessant, in dieser Beziehung den Durchschnitt vom Rückenmarke eines der niedrigsten Wirbelthiere zu vergleichen. Ich wähle dazu das Neunauge (Petromyzon). Bei diesem Thiere, welches bekanntlich nahe an der untersten Grenze der Wirbelthiere überhaupt steht, stellt das Rückenmark ein sehr kleines plattes Band dar, welches in der Fläche etwas eingebogen ist und auf den ersten Anblick wie ein wirkliches Ligament aussieht. Macht man einen Querschnitt davon, so enthält dieser an sich dieselben Theile, die wir beim Menschen sehen, aber Alles nur in der Anlage. Was wir bei uns graue Substanz nennen, das findet sich auch hier wieder zu beiden Seiten in der Gestalt je eines plattlänglichen Lappens, welcher einzelne Ganglienzellen, aber nur sehr wenige enthält, so dass man auf jeder Seite des Querschnittes vielleicht 4-5 davon findet. In der Mitte befindet sich der Centralkanal, und zwar mit derselben Epithelialschicht, wie beim Menschen. Nach unten und vorn davon sieht man gewöhnlich eine Reihe von grösseren runden Lücken, welche ganz ungewöhnlich dicken, zuerst von =Johannes Müller= gesehenen, marklosen Nervenfasern (Fig. 102, _a_) entsprechen. Weiter nach aussen liegen noch einzelne dickere, überwiegend jedoch eine grosse Menge ganz feiner Fasern, welche dem Querschnitte ein sehr buntes, regelmässig getüpfeltes Aussehen geben. Unter den Ganglienzellen kann man auch hier verschiedene Arten unterscheiden. Nach aussen in der grauen Substanz liegen vielstrahlige, nach vorn grössere, nach hinten kleinere und einfachere Zellen. Mehr nach innen und hinten dagegen finden sich grössere, mehr rundliche, wie es scheint, diklone (bipolare) Zellen, den sympathischen Formen vergleichbar. Diese Zellen communiciren über die Mitte durch wirkliche Faser-Verbindungen, und ausserdem findet man Fortsätze zu den Nerven, welche nach vorne und rückwärts aus dem Rückenmarke hervortreten und die vordere und hintere Wurzel bilden. Das ist das einfachste Schema, welches wir für diese Verhältnisse besitzen, der allgemeine Typus für die anatomische Einrichtung dieser Theile. [127] Vergl. meinen Vortrag über das Rückenmark in der von mir und v. =Holtzendorff= herausgegebenen Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge. 1871. Serie V. Heft 120. [Illustration: =Fig=. 102. Blasse Fasern aus dem Rückenmarke des Petromyzon fluviatilis. _A_ Breite, schmale und feinste Fasern. _B_ Querschnitte von breiten Fasern mit deutlicher Membran und körnigem Centrum. Vergr. 300.] Besonders zu bemerken ist hier, dass beim Petromyzon in der ganzen Substanz des Rückenmarkes kein Markstoff in isolirter Ausscheidung vorhanden ist, wie wir ihn beim Menschen haben; man findet nur einfache, blasse Fasern, welche =Stannius= geradezu als nackte Axencylinder angesprochen hat. Abgesehen davon, dass sie zum Theil einen colossalen Durchmesser haben, so findet man bei genauerer Untersuchung, wie bei den gelatinösen, grauen Fasern des Menschen, eine auf Querschnitten, besonders nach Färbung mit Carmin sehr deutliche Membran und im Centrum eine feinkörnige Substanz, ähnlich einem Axencylinder, so dass man versucht wird, sie mit gewöhnlichen weissen Nervenfasern zu vergleichen. =Reissner= hat neuerlich eine ähnliche Ansicht vertreten. -- * * * * * Gewinnt man so eine allgemeine Uebersicht über die Einrichtung eines centralen Nervenapparates, so darf man doch nicht vergessen, dass dies nur die eigentlich nervösen Theile desselben sind. Will man das Nervensystem in seinem wirklichen Verhalten im Körper, die nervösen Elemente in ihrem Zusammenhalte studiren, so ist es unumgänglich nöthig, auch diejenige Masse zu kennen, welche =zwischen den Nerventheilen= vorhanden ist, welche diese Theile umfasst und den ganzen Organen Festigkeit und Gestalt gibt: das =Interstitialgewebe= des Gehirns und Rückenmarks[128]. [128] Geschwülste II. 125 ff. Es ist gar nicht so lange her, dass man das Vorhandensein einer solchen Zwischenmasse eigentlich nur bei den peripherischen Nerven zuliess und sich begnügte, das Neurilem bis auf die Häute des Rückenmarkes und Gehirnes zurück zu verfolgen, höchstens dass man noch innerhalb der Ganglien und im Sympathicus ein besonderes Umhüllungsgewebe anerkannte. Allerdings hatte schon 1810 =Keuffel= die Existenz eines »fibrösen Gewebes« im Rückenmarke vertheidigt, aber bis auf wenige Ausnahmen (=Fr=. =Arnold=) hatten alle Anatomen sich gegen diese Auffassung erklärt. Namentlich im Gehirne deutete man die Zwischensubstanz gerade als eine wesentlich nervöse Masse. Eine solche erschien in der That so lange als ein natürliches Desiderat, als man eine directe Uebertragung der Erregungen von Faser zu Faser zuliess, als man also die Nothwendigkeit einer wirklichen Continuität der Leitung innerhalb der Nerven selbst nicht anerkannte. So sprach man beim Gehirne von einer feinkörnigen, zwischen die Fasern eingeschobenen Masse, welche freilich keine vollständige Verbindung zwischen den Fasern herstelle, indem sie eine gewisse Schwierigkeit in der Uebertragung der Erregungen von einer Faser zur anderen bedinge, welche aber doch eine Leitung zwischen denselben ermögliche, indem bei einer beträchtlichen Höhe der Erregung eben auch eine direkte (seitliche) Uebertragung von Faser zu Faser stattfinden könne. Diese Masse ist jedoch unzweifelhaft nicht nervöser Natur, und wenn man ihre Beziehung zu den bekannten Gruppen der physiologischen Gewebe aufsucht, so kann man darüber nicht im Unsicheren bleiben, dass es sich um eine Art des Bindegewebes handelt, also um ein Aequivalent desjenigen Gewebes, welches wir bei den Nerven als Perineurium kennen gelernt haben (S. 273). Allein der Habitus dieser Substanz ist allerdings sehr weit verschieden von dem, was wir Perineurium oder Neurilem nennen. Letztere sind verhältnissmässig derbe, zum Theil sogar harte und zähe Gewebe, während das Interstitialgewebe der Centren ausserordentlich weich und gebrechlich ist, so dass man nur mit grosser Schwierigkeit überhaupt dahin kommt, seinen Bau kennen zu lernen. [Illustration: =Fig=. 103. Ependyma ventriculorum und Neuroglia vom Boden des vierten Hirnventrikels. _E_ Epithel, _N_ Nervenfasern. Dazwischen der freie Theil der Neuroglia mit zahlreichen Bindegewebszellen und Kernen, bei _v_ ein Gefäss, im Uebrigen zahlreiche Corpora amylacea, welche bei _ca_ noch isolirt dargestellt sind. Vergr. 300.] Ich wurde zuerst auf seine Eigenthümlichkeit aufmerksam bei Untersuchungen, die ich vor 25 Jahren über die sogenannte =innere Haut der Hirnventrikel= (Ependyma) anstellte[129]. Damals bestand die Ansicht, welche zuerst durch =Purkinje= und =Valentin=, später namentlich durch =Henle= geltend geworden war, dass eine eigentliche Haut in den Hirnventrikeln gar nicht existire, sondern nur ein Epithelial-Ueberzug, indem die Epithelial-Zellen unmittelbar auf der Fläche horizontal gelagerter Nervenfasern aufsässen. Diese Epithelialschicht war es, welche =Purkinje= Ependyma ventriculorum nannte. Seine Annahme ist freilich von den Pathologen nie getheilt worden. Die pathologische Anschauung ging ziemlich unbekümmert neben den histologischen Angaben einher. Indess erschien es doch wünschenswerth, eine Verständigung zu gewinnen, da in einem bloss epithelialen Ependyma nicht wohl eine Entzündung vorkommen konnte, wie man sie einer serösen Haut zuzuschreiben pflegt. Bei meinen Untersuchungen ergab sich nun, dass allerdings unter dem Epithel der Ventrikel eine Schicht vorhanden ist, welche an manchen Stellen ganz den Habitus von Bindegewebe, an anderen jedoch eine so weiche Beschaffenheit besitzt, dass es überaus schwierig ist, eine Beschreibung von ihrem Aussehen zu liefern. Jede kleinste Zerrung ändert ihre Erscheinung: man sieht bald körnige, bald streifige, bald netzförmige oder wie sonst geartete Substanz. Anfangs glaubte ich mich beruhigen zu dürfen bei dem Nachweise, dass hier überhaupt ein dem Bindegewebe analoges Gewebe existire und eine Haut zu constatiren sei. Allein, je mehr ich mich mit der Untersuchung derselben beschäftigte, um so mehr überzeugte ich mich, dass keine eigentliche Grenze zwischen dieser Haut und den tieferen Gewebslagen bestehe, und dass man nur in uneigentlichem Sinne von einer Haut sprechen könne, da man doch bei einer Haut voraussetzt, dass sie von der Unterlage mehr oder weniger verschieden und trennbar sei. Im Groben lässt sich freilich nicht selten eine solche Trennung auch hier vornehmen, aber im Feineren ist es durchaus nicht möglich. Man sieht, wenn man die Oberfläche irgend eines Durchschnittes der Ventrikelwand bei stärkerer Vergrösserung einstellt, zunächst an der Oberfläche ein bald mehr, bald weniger gut erhaltenes Epithel (Fig. 103, _E_). Im günstigsten Falle trifft man Cylinder-Epithel mit Cilien, welches sich wenigstens ursprünglich durch die ganze Ausdehnung der Höhle des Rückenmarkes (Centralkanal) und des Hirnes (Ventrikel) erstreckt. Unter dieser Lage folgt eine bald mehr, bald weniger reine Schicht von bindegewebsartiger Structur, welche auf den ersten Blick gegen die Tiefe hin allerdings scharf abgesetzt erscheint, denn schon mit blossem Auge, namentlich nach Behandlung mit Essigsäure, erkennt man sehr deutlich eine äussere, graue und durchscheinende Lage, während die tiefere Schicht weiss aussieht. Dieses weisse Aussehen rührt daher, dass hier markhaltige Nervenfasern liegen, zunächst der Oberfläche einzelne, dann immer mehrere und dichter gedrängte, in der Regel der Oberfläche parallel (Fig. 103, _N_). So kann es allerdings scheinen, als sei hier eine besondere Haut, die man von den letzten Nervenfasern abtrennen könnte. Vergleicht man nun aber damit die Masse, welche zwischen den Nervenfasern selbst liegt, so zeigt sich keine wesentliche Verschiedenheit; es ergibt sich vielmehr, dass die oberflächliche Schicht weiter nichts ist, als der über die Nervenelemente hinaus zu Tage gehende Theil des Zwischengewebes, welches überall zwischen den Elementen vorhanden ist, und welches nur hier in seiner Reinheit zur Erscheinung kommt[130]. Es ist also das Verhältniss ein continuirliches. [129] Zeitschrift für Psychiatrie. 1846. Heft 2. 242. Gesammelte Abhandlungen 885. [130] Archiv 1854. VI. 138. Es erhellt aus dieser Darstellung, dass es ein ganz müssiger Streit war, wenn man Jahre lang darüber discutirte, ob die Haut, welche die Ventrikel auskleide, eine Fortsetzung der Arachnoides oder der Pia mater oder ob sie eine eigene Haut sei. Es ist, streng genommen, gar keine Haut vorhanden, sondern es ist die Oberfläche des Organs selbst, welche unmittelbar zu Tage geht. Auch an dem Gelenkknorpel müssen wir es als einen müssigen Streit bezeichnen, welche Art von Haut den Knorpel überzieht, da der Knorpel selbst bis an die Oberfläche des Gelenkes herantritt. In gleicher Weise geht auch nichts von der Arachnoides, nichts von der Pia mater auf die Oberfläche der Ventrikel: die letzte Ausbreitung, welche diese Häute nach innen aussenden, ist die Tela (Velum) chorioides mit den Plexus chorioides. Ueber diese hinaus findet sich kein seröser Ueberzug mehr, welcher die innere Fläche der Hirnhöhlen auskleidet. Aus diesem Grunde kann man die Zustände der Hirnhöhlen nicht vollkommen vergleichen mit den Zuständen der gewöhnlichen serösen Säcke. Es kann allerdings an der Tela chorioides oder den Plexus eine Reihe von Erscheinungen auftreten, welche parallel stehen den Störungen anderer seröser Häute, aber nie findet dies ganz in derselben Art an der Ventrikeloberfläche des Gehirns selbst statt. Das interstitielle Gewebe der Centralorgane des Nervensystems bildet demnach an der Oberfläche der Hirnhöhlen, und, wie ich sofort hinzufüge, auch des Centralkanals des Rückenmarks eine hautartige Schicht, welche continuirlich in die Zwischenmasse, den eigentlichen Kitt, welcher die Nervenmasse zusammenhält, übergeht. Obwohl zu der grossen Klasse der Gewebe der Bindesubstanz gehörig (S. 40), zeigt es doch so wesentliche Eigenthümlichkeiten, dass ich mich veranlasst sah, ihm den neuen Namen der =Neuroglia= (Nervenkitt) beizulegen[131]. Die Ansicht, dass es sich um ein Aequivalent des Bindegewebes handele, ist in der neueren Zeit fast von allen Seiten recipirt worden, allein über die Art seiner Zusammensetzung und über die Ausdehnung, in welcher man die einzelnen im Gehirn und Rückenmark vorkommenden Elemente dieser Substanz zuzurechnen hat, sind die Meinungen noch getheilt. Schon als ich meine ersten weitergehenden Untersuchungen über diese Theile anstellte, ergab es sich, dass gewisse sternförmige Elemente, welche in der Mitte des Rückenmarks, im Umfange des nachher genauer constatirten Centralkanals, in dem von mir so genannten =centralen Ependymfaden=[132] vorkommen, und welche bis dahin als Nervenzellen betrachtet worden waren, unzweifelhaft der Neuroglia angehörten. Es ist späterhin, namentlich durch die Dorpater Schule unter =Bidder=, eine Reihe von Untersuchungen publicirt worden, in denen man die Mehrzahl aller Zellen des Rückenmarks diesem Bindegewebe zugerechnet hat. =Bidder= selbst fasste zuletzt alle Zellen, welche in der hinteren Hälfte des Rückenmarkes vorkommen, also auch wirkliche Ganglienzellen, als Bindegewebskörper auf. Auf der anderen Seite leugnete =Jacubowitsch= früher, dass überhaupt im Hirn oder Rückenmark irgendwo zellige Theile des Bindegewebes vorkommen; das freilich auch von ihm als Bindesubstanz aufgefasste Zwischengewebe schilderte er als eine ganz amorphe, fein granulirte oder netzartige Masse, welche durchaus nirgend geformte Theile mit sich führe. Zwischen diesen Extremen, so glaube ich, ist es empirisch vollkommen gerechtfertigt, die Mitte zu halten. Es kann meiner Ueberzeugung nach nicht bezweifelt werden, dass die grossen Elemente, welche in den hinteren Körnern des Rückenmarks enthalten sind, Nervenzellen sind, allein auf der anderen Seite muss ebenso bestimmt behauptet werden, dass, wo Neuroglia vorkommt, dieselbe stets eine gewisse Zahl von zelligen, ihr gehörigen Elementen enthält. An der Oberfläche der Hirnventrikel kommen gewöhnlich der Oberfläche parallel liegende Spindelzellen vor, ähnlich, wie man sie in anderen Bindegewebsarten findet, bald kleinere, bald grössere; macht man schräge Schritte, so geben sie sich oft als sternförmige Elemente zu erkennen (Fig. 103). [131] Gesammelte Abhandl. 890 [132] Archiv VI. 137. [Illustration: =Fig=. 104. Elemente der Neuroglia aus der weissen Substanz der Grosshirnhemisphäre des Menschen. _a_ freie Kerne mit Kernkörperchen, _b_ Kerne mit körnigen Resten des bei der Präparation zertrümmerten Zellenparenchyms, _c_ vollständige Zellen. Vergr. 300.] Ein ganz ähnlicher Bau, wie wir ihn früher vom Bindegewebe kennen gelernt haben, insbesondere ähnliche Elemente mit einer weichen, feinfaserigen oder netzförmigen Intercellularsubstanz finden sich auch zwischen den Nervenfasern des Hirns und Rückenmarks vor, aber sie sind so weich und gebrechlich, dass man meist nur Kerne wahrnimmt, die in gewissen Abständen in der Masse zerstreut sind. Wenn man aber genau sucht, so kann man selbst an frischen Objecten regelmässig einzelne weiche, zellige Körper erkennen, welche einen feinkörnigen Leib und grosse, granulirte Kerne mit Kernkörperchen besitzen und als rundliche oder linsenförmige, häufig mit feinen Fortsätzen versehene Gebilde in einer allerdings nicht sehr beträchtlichen Menge zwischen den Nervenelementen liegen. An gewissen Stellen ist es freilich bis jetzt unmöglich gewesen, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen beiden Geweben, so namentlich an der Oberfläche des kleinen Gehirns zwischen den Körnern, welche ich vorher (S. 313) schilderte, und welche mit grossen Ganglienzellen zusammenhängen, einerseits und den Elementen des Bindegewebes andererseits. Namentlich wenn man die Theile aus dem Zusammenhange gerissen sieht, so kann man nicht leicht einen Unterschied machen; eine bestimmte Deutung ist nur so lange möglich, als man sie in ihrer natürlichen Lage übersieht. Wie in allen Geweben der Bindesubstanz, so liegen auch hier die Elemente (Glia-Zellen) in einer Intercellularsubstanz, welche je nach den einzelnen Orten in sehr verschiedener Mächtigkeit auftritt. Im Allgemeinen ist die gliöse Intercellularsubstanz weich, aber, wie wir schon bei der Betrachtung des Ependyms sahen (S. 317), sie bietet sehr verschiedene Grade der Festigkeit und der inneren Zusammensetzung dar. Obwohl sie frisch fast überall eine mehr gleichmässige, mit feinen Pünktchen oder Körnchen versehene, weiche und gebrechliche Masse darstellt, die deshalb von Einigen geradezu als eine Art von Protoplasma angesprochen wird, so zeigt sie doch auch ohne besondere Vorbereitung an manchen Stellen eine faserige, mehr oder weniger der Intercellularsubstanz des Bindegewebes analoge Beschaffenheit. Erhärtet man sie vorsichtig durch chemische Mittel, so tritt überall eine feinfaserige Einrichtung hervor. Diese Fäserchen sind von äusserster Zartheit, so dass es in der grauen Substanz noch nicht gelungen ist, sie überall von den reiserförmigen Fortsätzen der Ganglienzellen (S. 307) zu unterscheiden, ja dass Einzelne sogar einen Zusammenhang zwischen beiden angenommen haben. Diese Schwierigkeit ist namentlich dadurch bedingt, dass die gliösen Fäserchen an zahlreichen Stellen ein feines Netzwerk bilden, welches sich den Hirnzellen so eng anschliesst, dass man Mühe hat, die Ausläufer dieser Zellen, welche gleichfalls fibrillär sind, von den intercellularen Fibrillen zu trennen. Verhältnissmässig am nächsten unter den Geweben der Bindesubstanz steht das Schleimgewebe. Gewiss ist es von erheblicher Wichtigkeit zu wissen, dass in allen nervösen Theilen, sowohl den centralen, als den peripherischen, ausser den eigentlichen Nervenelementen noch ein zweites Gewebe vorhanden ist, welches sich anschliesst an die grosse Gruppe von Bildungen, welche den ganzen Körper durchziehen, und welche wir in den früheren Capiteln als Gewebe der Bindesubstanz kennen gelernt haben. Spricht man von pathologischen oder physiologischen Zuständen des Hirns oder Rückenmarks, so handelt es sich zunächst immer darum, zu erkennen, in wieweit dasjenige Gewebe, welches getroffen ist, welches leidet oder erregt ist, nervöser (parenchymatöser, specifischer) oder gliöser (interstitieller) Art ist. Für die Deutung krankhafter Processe gewinnen wir so von vornherein die wichtige Scheidung der Affectionen der Nerven, des Hirns und Rückenmarks in interstitielle und parenchymatöse [nervöse][133], und die Erfahrung lehrt, dass gerade das interstitielle Gewebe einer der häufigsten Sitze krankhafter Veränderung, z. B. fettiger Degeneration, Induration, Proliferation ist. Es versteht sich von selbst, dass die Erkrankungen dieses interstitiellen Gewebes ganz denen anderer Bindegewebsmassen gleichen, dass also auch Gehirn, Rückenmark und Nerven dieselben Arten von Veränderung erfahren können, die an der Haut, der Cornea, dem interstitiellen Gewebe der Leber oder Nieren vorkommen. [133] Entwickelung des Schädelgrundes 96, 100. Innerhalb der Neuroglia verlaufen die Gefässe, welche daher von der Nervenmasse fast überall ausser ihrer Adventitia (Lymphscheide) noch durch ein leichtes Zwischenlager getrennt sind und nicht in unmittelbarem Contact mit derselben sich befinden. Die Neuroglia erstreckt sich in der besonders weichen Form, welche sie an den Central-Organen, besonders am Gehirne hat, nur noch auf diejenigen Theile, welche als direkte Verlängerungen der Hirnsubstanz betrachtet werden müssen, nehmlich auf einige höhere Sinnesnerven. Der Olfactorius und Acusticus zeigen noch dieselbe Beschaffenheit der Zwischenmasse, während in den übrigen Theilen, selbst schon im Opticus, eine zunehmende Masse eines derberen Gewebes auftritt, welches den Charakter des Perineuriums annimmt. Perineurium und Neuroglia sind also äquivalente Theile, nur dass die letztere eine weiche, markige, gebrechliche, fast schleimige Beschaffenheit hat, während das erstere sich den fibrösen Theilen anschliesst. Das Neurilem aber verhält sich zum Perineurium, wie die Hirn- und Rückenmarkshäute zu der Neuroglia. Ueberall, wo Neuroglia vorhanden ist, zeigt sich noch eine ganz besondere Eigenthümlichkeit, welche sich bis jetzt weder chemisch noch physikalisch deuten lässt; überall da können nehmlich jene eigenthümlichen Körper vorkommen, welche schon durch ihren Bau an die Körner der Pflanzenstärke erinnern und deshalb von ihrem Entdecker, =Purkinje=, den Namen der =Corpora amylacea= (Fig. 103, _a_) erhielten. Durch ihre chemische Reaction stellen sie sich den pflanzlichen vollständig an die Seite. Am meisten ausgedehnt und am mächtigsten liegen sie im Ependyma der Hirnventrikel und des Spinalkanals, und zwar um so reichlicher, je grösser die Dicke der Ependymaschicht ist. Man findet sie gewöhnlich an manchen Stellen nur vereinzelt, an anderen dagegen nimmt ihre Zahl so sehr zu, dass die ganze Dicke des Ependyms davon in einer solchen Weise eingenommen ist, dass es aussieht, als wenn man ein Pflaster vor sich hätte. Die Corpora amylacea treten aber merkwürdiger Weise auch unter pathologischen Verhältnissen häufig in grösser Menge auf, wenn durch eine krankhafte Störung die Masse der Neuroglia im Verhältnisse zur Nervensubstanz zunimmt, z. B. nach Processen der Atrophie (S. 278). Bei der Tabes dorsualis, wie man früher sagte, der gelatinösen oder grauen Atrophie einzelner Rückenmarksstränge, wie ich den Zustand genannt habe[134], findet man in dem Maasse, als die Atrophie fortschreitet, als die Nerven untergehen, in gewissen Richtungen, z. B. in den hinteren Strängen, meist zunächst an der hinteren Spalte keilförmige Züge, in welchen die bis dahin weisse Substanz von aussen her grau und durchscheinend wird. Es sieht dann aus, als entstände neue graue Substanz. Diese Umwandlung kann fortschreiten und geht gewöhnlich in der Weise fort, dass der Keil immer höher und höher steigt und zugleich an Breite zunimmt. In seinen Grenzen schwindet nun allmählich die ganze markhaltige Substanz; man findet keine deutlichen Nerven an diesen Stellen mehr; dagegen durchsetzt sich die Neuroglia sehr häufig mit einer massenhaften Anhäufung von Corpora amylacea. [134] Archiv VIII. 143, 540. X. 102. XLVIII. 520. [Illustration: =Fig=. 105. Durchschnitt des Rückenmarkes bei partieller (lobulärer) grauer oder gelatinöser Atrophie (Degeneration). _f_ Fissura longitudinalis posterior, _s_, _s_ hintere, _m_, _m_ vordere Nervenwurzeln, in Verbindung mit der grauen Substanz der Hörner. In _A_ geringere, in _B_ ausgedehnte Atrophie, die sich in den Hintersträngen um die Mittelspalte _f_, und bei _l_ in den Seitensträngen zeigt. Natürliche Grösse.] Trotz dieser Massenhaftigkeit ist es für die Betrachtung mit dem blossen Auge ganz unmöglich, irgend etwas von der Anwesenheit der Corpora amylacea wahrzunehmen. Man sieht weder die einzelnen Körper, welche niemals zu einer makroskopischen Grösse anwachsen, noch ihre Haufen. Denn die Körper sind so wenig lichtbrechend, dass ihre Anwesenheit sich durch keine gröbere Eigenschaft oder Wirkung bemerkbar macht. Sie lassen sich daher nur durch das Mikroskop diagnosticiren. Nirgends im Körper hat man bis jetzt ein vollständiges Analogon dieser Art von Bildungen gefunden. Nur in denjenigen Theilen, welche bei der embryonalen Entwickelung als direkte Ausstülpungen aus der Hirnsubstanz hervorgehen, nehmlich in den höheren Sinnesorganen, wo ursprünglich eine gewisse Quantität von Centralnervenmasse in Sinneskapseln eintrat, namentlich in dem Acusticus, Olfactorius, Opticus, in der Cochlea und Retina kommen zuweilen Corpora amylacea vor, doch ist bis jetzt die chemische Reaction an denen der Retina nicht gelungen. Auch bei Thieren fehlt es bis jetzt fast ganz an analogen Beobachtungen, und erst in der letzten Zeit hat =Bütschli= bei der Gregarine, einer entozoischen Monere, ähnliche Körper aufgefunden. Sehr bemerkenswerth ist der Umstand, dass auch der Neugeborne noch nirgends Corpora amylacea besitzt, ja dass sie selbst bei der so häufigen congenitalen grauen Atrophie der Rückenmarksstränge fehlen. Ihre Entwickelung beginnt erst in einer späteren Zeit des Lebens, und man wird daher um so eher geneigt, sie für ein pathologisches Produkt zu halten, als ihre Zahl und selbst ihr zeitliches Erscheinen sehr wesentlich durch das Auftreten pathologischer Prozesse bestimmt wird. Nichtsdestoweniger sind sie bei Erwachsenen so constant, dass man sie als einen typischen Bestandtheil der Neuroglia betrachten muss. Isolirt man solche Körper, so zeigen sie in jeder Beziehung eine so vollständige Analogie mit pflanzlicher Stärke, dass schon lange, bevor es mir gelang[135], die Analogie der chemischen Reaction zu finden, wegen der morphologischen Aehnlichkeit die Bezeichnung der Corpora amylacea eingeführt war. Freilich hat man von manchen Seiten die chemische Uebereinstimmung der thierischen und pflanzlichen Amyloidkörper bezweifelt; namentlich hatte =Heinrich Meckel= grosse Bedenken dagegen, indem er vielmehr eine Beziehung der ersteren zu Cholestearin annahm. In der neueren Zeit ist aber selbst von Botanikern vom Fach die Sache untersucht worden, und jeder, der sich genauer damit beschäftigte, hat bis jetzt dieselbe Ueberzeugung gewonnen, welche ich aussprach. =Nägeli= erklärt die Körper des Gehirns für ganz veritable Stärke. [135] Archiv VI. 135, 416. VIII. 142. Morphologisch erscheinen sie entweder als ganz runde, regelmässig geschichtete Körper, oder das Centrum sitzt etwas seitlich, oder es sind Zwillingskörper; meist sehen sie mehr homogen, blass, mattglänzend, wie fettartig aus. Behandelt man sie mit Jod, so färben sie sich blassbläulich oder graublau, wobei freilich die richtige Concentration des Reagens sehr viel ausmacht. Setzt man hinterher Schwefelsäure zu, so bekommt man bei regelrechter Einwirkung, am besten bei sehr langsamer Einwirkung des Reagens ein schönes Blau. Wirkt Schwefelsäure stark ein, so erhält man eine violette, schnell braunroth oder schwärzlich werdende Färbung, welche von der Färbung der Nachbartheile sich auf das Entschiedenste absetzt, denn diese werden gelb oder höchstens gelbbraun. Mit den Corpora amylacea darf eine in ihrer Nachbarschaft häufig vorkommende und in morphologischer Beziehung ihnen sehr nahe stehende Art von Bildungen nicht verwechselt werden, nehmlich die Körner des =Gehirnsandes=. Am längsten kennt man dieselben aus der Basis der Zirbel (Conarium, Glandula pinealis), wo sie in einem grösseren Häufchen, dem von den Gebrüdern =Wenzel= sogenannten Acervulus zu liegen pflegen. Jedoch sind sie manchmal durch einen grossen Theil der Substanz der Zirbel zerstreut. Nächstdem fand man sie in den Plexus choroides, namentlich in dem sogenannten Glomus, wo sie pathologisch zuweilen gleichfalls grosse Haufen bilden. Ich habe indess gezeigt, dass sie auch an zahlreichen anderen Stellen der Hirnhäute, und zwar sowohl der Pia, als der Dura mater, unter pathologischen Verhältnissen in Lymphdrüsen und an serösen Häuten vorkommen[136]. Jedenfalls finden sie sich physiologisch niemals im Innern der nervösen Theile; ihr Vorkommen ist streng gebunden an die Häute. Diese =Sandkörper= (Corpora arenacea) bestehen, wie die Corpora amylacea, aus concentrischen Schichten, aber sie werden sehr schnell der Sitz einer Kalkablagerung, welche sie allmählich ganz und gar durchdringt. Löst man die Kalksalze durch Säuren, so bleibt ein streifiges Gerüst einer lamellären organischen Substanz, welche niemals Jod- oder Jod-Schwefelsäure-Reaction gibt. Auch ihre beträchtliche Grösse, welche schnell makroskopisch wird, gestattet leicht ihre Unterscheidung von den Corpora amylacea. Dagegen kommen sie darin mit den letzteren überein, dass sie beim Neugebornen noch nicht vorhanden sind, sondern sich erst im Laufe des extrauterinen Lebens entwickeln. [136] Würzburger Verhandl. I. 144. II. 53. VII. 228. Geschwülste II. 107. Fünfzehntes Capitel. Leben der Elemente. Thätigkeit und Reizbarkeit. Das Leben der einzelnen Theile. Die Einheit der Neuristen. Einwände dagegen. Mythologische Natur der neuristischen Lehren. Animismus: Archaeus, Zellenseele. Das Bewusstsein. Die Thätigkeit der einzelnen Theile. Begriff der Reizung: Passion und Action. Die Erregbarkeit (Reizbarkeit) als allgemeines Kriterium des Lebens. Partieller Tod: Nekrobiose und Nekrose. Nichterregbarkeit der Intercellularsubstanz. Verrichtung, Ernährung und Bildung als allgemeine Formen der Lebensthätigkeit. Verschiedenheit der Reizbarkeit je nach diesen Formen. Functionelle Reizbarkeit. Nerv, Muskel, Flimmerepithel, Drüsen. Ermüdung und functionelle Restitution. Reizmittel. Specifische Beziehung derselben. Muskelirritabilität. Geringer praktischer Werth derselben. Nervenirritabilität. Grosse Bedeutung derselben. Falsche Deutung derselben als Empfindlichkeit oder als Contractilität. Innervation. Bewusste und unbewusste Empfindungen. Nervenkraft (Nervenseele, Neurilität). Specifische Unterschiede der constituirenden Theile des Nervensystems. Die Leitung der Electricität als Zubehör der Nervenfasern, die Sammlung (Hemmung, Verstärkung) und Lenkung als Zubehör der Ganglienzellen. Moderations-Einrichtungen. Instinctives und intellectuelles Leben. Bewusstsein. Nothwendigkeit einer histologischen Localisation der nervösen Functionen. Erregung der Ganglienzellen: verschiedene Energie und verschiedene Combination (Synergie) derselben. Spannung und Entladung von Ganglienzellen. Psychologische Auffassung der Affecte und Triebe. Die pathologische Nervenfunction: quantitative Abweichung (Krampf, Lähmung) und combinatorische Abweichung (Epilepsie). Drüsen-Irritabililät. Verschiedene Gruppen von Drüsen je nach dem Typus der Secretion. Die Drüsen mit persistenten Zellen: Leber, Nieren. Glykogenie. Automatische Elemente. Geschichtliches. Sarkode, Protoplasma. Amöboide Erscheinungen. Bewegliche Zellen. Verwechselungen des Automatismus mit den Wirkungen physikalischer Osmose (Schrumpfung und Schwellung). Aeussere Gestaltveränderungen mit Aussenden und Einziehen von Fortsätzen (Polymorphismus); innere Molecularbewegung, Vacuolenbildung, Abschnürung von Theilen des Zellkörpers. Befestigte (fixe) und bewegliche (mobile) Zellen. Wanderung und Mobilisirung der Zellen. Voracität: Blutkörperchenhaltige Zellen. Mechanisches Eindringen von fremden Körpern in Zellen. Der Automatismus als Merkmal der Irritabilität. Die pathologischen Abweichungen der Function: Mangel (Defect), Schwächung und Steigerung. Absolute Zurückweisung der Annahme qualitativer Heterologie. Wenn man, wie es in den vorhergehenden Capiteln versucht worden ist, die gesammte histologische Einrichtung des Körpers überblickt, so scheint es mir, man müsse mit Nothwendigkeit zu demjenigen Schlusse geführt werden, der, meiner Ansicht nach, als Ausgangspunkt für alle weiteren Betrachtungen zu dienen hat, welche über Leben und Lebensthätigkeit angestellt werden, zu dem Schlusse nehmlich, dass jeder Theil des Körpers eine Mehrheit von kleinen wirkungsfähigen Centren oder Elementen darstellt, und dass nirgends, soweit unsere Erfahrung reicht, ein einfacher anatomischer Mittelpunkt existirt, von dem aus die Thätigkeiten des Körpers in einer erkennbaren Weise geleitet werden[137]. Schon nach den Erfahrungen des täglichen Lebens, die einem Jeden fast von selbst zufliessen, ist dies die einzige Deutung, welche zugleich ein Leben der einzelnen Theile und ein Leben der Pflanze anzunehmen gestattet. Sie allein setzt uns in den Stand, eine Vergleichung anzustellen sowohl zwischen dem Gesammtleben des entwickelten Thieres und dem Einzelleben seiner kleinsten Theile, als auch zwischen dem Ganzen des Pflanzenlebens und dem Leben der einzelnen Pflanzentheile. Sie macht es endlich möglich, die Entwickelungsgeschichte des Eies und des Fötus auf dieselben Grundgesetze zurückzuführen, welche für das spätere Leben und die krankhafte Störung Gültigkeit haben. =Und das ist das Hauptkriterium, nach welchem wir den Werth einer biologischen Theorie beurtheilen müssen=. [137] Archiv IV. 376. VIII. 15. IX. 34. Gesammelte Abhandl. 50. Die entgegenstehende Auffassung, welche noch vor Kurzem mit einer gewissen Energie heraustrat, diejenige, welche im Nervensystem den eigentlichen Mittelpunkt des Lebens sieht, hat die überaus grosse Schwierigkeit vor sich, dass sie in demselben Apparate, in welchen sie die Einheit verlegt, die gleiche Zerspaltung in unzählige, einzelne Centren wiederfindet, welche der übrige Körper darbietet, und dass sie an keinem Punkte des Nervensystems den wirklichen Mittelpunkt aufzuweisen vermag, von welchem, als von einem bestimmenden, alle Theile derselben beherrscht würden. Man hat gut reden, dass das Nervensystem die Einheit des Körpers bewirke, insofern allerdings kein anderes System vorhanden ist, welches sich einer so vollkommenen Verbreitung durch die verschiedensten peripherischen und inneren Organe erfreut. Allein selbst diese weite Verbreitung, selbst die vielfachen Verbindungen, die zwischen den einzelnen Theilen des Nervenapparates bestehen, sind keinesweges geeignet, um ihn als einfaches Centrum aller organischen Thätigkeiten erscheinen zu lassen. Wir haben im Nervenapparate bestimmte kleine, zellige Elemente gefunden, welche als Mittelpunkte der Bewegung dienen, aber wir finden nicht Eine einzelne Ganglienzelle, von welcher alle Bewegung in letzter Instanz ausginge; die verschiedensten einzelnen motorischen Apparate stehen auch mit den verschiedensten einzelnen motorischen Ganglienzellen in Beziehung. Allerdings sammeln sich die Empfindungen an bestimmten Ganglienzellen, allein auch hier finden wir keine einzelne Zelle, welche etwa als Centrum aller Empfindung bezeichnet werden könnte, sondern wieder sehr viele kleinste Centren. Die Neuristen (ich wähle diese Bezeichnung der Kürze wegen für die Anhänger der, am meisten in gewissen neuropathologischen Werken niedergelegten Ansicht von der dominirenden Bedeutung des Nervensystems) haben sich ihre Sache dadurch leicht gemacht, dass sie nachzuweisen versuchten, wie alle Lebensthätigkeit vom Nervensystem aus angeregt, alle einzelnen Lebensverrichtungen durch Nerveneinfluss (=Innervation=) hervorgerufen würden. Dass von diesem Standpunkte aus die Geschichte der Eizelle und aller ihrer Tochterelemente bis zu dem Zeitpunkte hin, wo Nerven existiren, einfach bei Seite geschoben werden muss, liegt auf der Hand. Dass auch im entwickelten Individuum die Lebensvorgänge aller derjenigen Theile, in denen wir bis jetzt noch keine Nerven kennen, -- ich erwähne nur die Knorpel, die Linse, den Glaskörper, -- als nicht vorhanden betrachtet werden müssen, bedarf keines Beweises. Aber wenn man auch annehmen wollte, wozu die ungeahnten Entdeckungen der letzten Jahre im Gebiete der feinsten Anatomie der Nerven einen scheinbaren Grund darbieten, dass es bei weiterer Forschung gelingen werde, in allen Theilen des ausgewachsenen Körpers Nerven aufzufinden, so sind wir doch noch fern davon, beweisen zu können, dass jeder einzelne Theil von diesen Nerven beeinflusst wird. Die blosse Existenz eines Nerven beweist doch noch nicht, dass er eine Einwirkung auf seine Nachbarschaft ausübt. Die Enden des Geruchsnerven treten, wie wir sahen (S. 289), bis zwischen die Epithelzellen der Regio olfactoria, aber sie »riechen« eben, und es wäre kühn, wenn man sofort annehmen wollte, dass sie ausserdem das benachbarte Epithel innerviren. Wir können aber noch mehr zugestehen. Selbst wenn dargethan würde, dass jeder einzelne, noch so kleine Theil des Körpers innervirt wird, so folgt daraus noch keineswegs, dass in dieser Innervation das ganze Leben der Theile enthalten ist. Die Blutkörperchen sind gewiss ohne irgend eine direkte Verbindung mit Nervenfasern, sowohl die rothen, als die farblosen; nichtsdestoweniger kann man sich vorstellen, dass von den Nerven aus auf sie eine Einwirkung, etwa eine elektrische, ausgeübt werde. Allein hören die Blutkörperchen auf zu leben, wenn wir sie diesen Einwirkungen entziehen? Respiriren nicht die rothen Blutkörperchen auch ausserhalb des Körpers? Fahren die farblosen nicht unter dem Mikroskope fort sich zu bewegen? =Der Gedankengang der Neuristen ist ein vollständig mythologischer=. Wie sie heute die Gewebe des Körpers im Verhältnisse zu dem Nervensystem betrachten, so betrachteten die Naturvölker die lebenden Individuen im Verhältnisse zu der Sonne, und gewiss mit eben so viel Recht. Wärme und Licht sind die »belebenden« Faktoren der Welt. Leben ist ohne Licht und Wärme unmöglich. Das Calidum innatum der altgriechischen Philosophen führte ganz consequent zu der Sonne hin. Sollen wir nun aber dabei stehen bleiben, dass jede unserer Lebensverrichtungen von der Sonne abhängig sei? Dass, weil die Sonne eine nothwendige Vorbedingung alles Lebens ist, auch das ganze Leben nichts als Sonnenwirkung sei? Ein solcher Sonnendienst wäre jedenfalls dem Nervendienste noch vorzuziehen, denn wir gewinnen hier wenigstens eine andere Einheit, als in dem Nerven=system=. Denn das Nervensystem ist eben ein System, d. h. ein aus vielen wirkenden Theilen zusammengesetztes Ganzes. Wenn wir zunächst aus ihm das Rückenmark als den für die gewöhnlichen Lebensvorgänge des Wirbelthierkörpers am meisten bestimmenden Theil auslösen, so wird niemand leugnen können, dass wir hier eine Art von Mittelpunkt (genauer Mittelglied) finden, zu dem zahllose Ströme hingehen und von dem eben so zahllose Ströme ausgehen. Aber sicherlich ist dieser Mittelpunkt kein einheitlicher im philosophischen Sinne, und unsere Neuristen übersehen nur zu leicht, dass selbst materiell hier jene Einheit nicht zu finden ist, welche sie suchen. Man kann das Rückenmark in eine gewisse Zahl von Abschnitten zerlegen, von denen jeder einzelne gewisse peripherische Theile innervirt und auch noch nach der Zerlegung zu innerviren fortfährt. Aber mit jedem Schnitte durch das Rückenmark schaffen wir uns ein getrenntes »System«, eine immer grössere Zahl gesonderter »Mittelpunkte«. Mit dem Gehirn ist es nicht anders. Die Anatomie »zerlegt« es in eine grosse Zahl besonderer Provinzen mit specifischer Thätigkeit, von denen jede ihr eigenes Leben lebt, und in diesen Provinzen kommen wir endlich auf jene Milliarde kleinster Heerde oder Elemente, welche wir vor Kurzem zum Gegenstande unserer Betrachtung gemacht haben. Nirgends in der körperlichen Einrichtung ist hier eine wirkliche Einheit, und selbst der Lebensknoten (noeud vital) von =Flourens= hilft uns nicht über die materielle Schwierigkeit hinweg. Denn er beweist nur, dass gewisse, für das Collectivleben des Körpers unentbehrliche Functionen, namentlich die Thätigkeit des Vagus, auf eine gewisse =Gruppe= von Ganglienzellen zurückgeführt werden kann. Der Neurismus führt daher zu dem ersehnten Ziele nicht. Man muss alsdann über das Körperliche hinaus gehen und mit dem alten =Georg Ernst Stahl= in den Hafen des =Animismus= einlaufen. Nur die immaterielle Seele bietet die Möglichkeit einer wirklichen Einheit. Aber diese Wirklichkeit ist nur eine gedachte. Sie ist nicht mehr Gegenstand der naturwissenschaftlichen Beobachtung, der Messung, des Experiments. Auch genügt die Eine Seele nicht zur Erklärung des Lebens der einzelnen Theile. Man muss dann noch einen Schritt weiter rückwärts machen und mit =Paracelsus= und =van Helmont= jedem einzelnen Theile seine besondere Seele, seinen =Archaeus= sichern. Wie man von der Gehirnseele zu der Rückenmarksseele gelangt ist, so kommt man bei der heutigen Kenntniss der Dinge nothwendig zu einer oder eigentlich zu zahllosen =Zellenseelen=. Die Eizelle nimmt diese Seele von der Mutter mit und überträgt sie auf die unendliche Brut von neuen Zellen, welche sie ihrerseits hervorbringt, bis dieselbe sich in den Ganglienzellen des neuen Gehirns wieder zu einer Gehirnseele entfaltet. Man bewegt sich hier in einem Kreise. Wie man es auch anfängt, um zur Einheit zu gelangen, immer langt man wieder bei der Vielheit an. Sind das Lebensprincip und die Seele identisch, so ist auch die Seele in jedem einzelnen Theile. Die Erfahrungen des Nervenlebens gestatten es am allerwenigsten, das Lebensprincip auf eine einzelne Stelle zu localisiren. Alle Thätigkeiten, welche vom Nervensystem ausgehen, und gewiss sind es sehr viele, lassen uns nirgends anders eine Einheit erkennen, als in unserem eigenen Bewusstsein[138]; eine anatomische oder physiologische Einheit ist wenigstens bis jetzt nirgends nachweisbar. Und, wie gesagt, könnte man wirklich in dem Nervensystem mit seinen zahlreichen einzelnen Centren den Mittelpunkt aller organischen Thätigkeit nachweisen, so würde man damit nicht gewonnen haben, was man sucht, die einfache Einheit. Macht man sich die Gründe klar, die uns zu dem Aufsuchen einer solchen Einheit veranlassen, so kann es nicht zweifelhaft sein, dass wir durch die geistigen Phänomene unseres Ichs immerfort irre geführt werden in der Deutung der organischen Vorgänge. Da wir uns selbst als etwas Einfaches und Einheitliches fühlen, so folgern wir, dass von diesem selben Einheitlichen alles Andere bestimmt werden müsse. [138] Gesammelte Abhandl. 14, 16. Archiv VII. 18. Man verfolge aber doch einmal die Entwickelung einer bestimmten Pflanze von ihrem ersten Keime bis zu ihrer höchsten Entfaltung; hier trifft man eine ganz analoge Reihe von organischen Vorgängen, wie bei der Entwickelung eines Thieres, ohne dass man auch nur vermuthen könnte, es bestände eine solche Einheit, wie wir sie unserem Bewusstsein nach in uns voraussetzen. Niemand ist im Stande gewesen, ein Nervensystem bei den Pflanzen zu zeigen; nirgend hat man gefunden, dass von einem einzigen Punkte aus die ganze entwickelte Pflanze beherrscht werde. Alle heutige Pflanzenphysiologie beruht auf der Erforschung der Zellenthätigkeit, und wenn man sich immer noch sträubt, dasselbe Princip auch in die thierische Oekonomie einzuführen, so ist, wie ich glaube, gar keine andere Schwierigkeit da, als die, dass man die ästhetischen und moralischen Bedenken nicht zu überwinden vermag. Es kann natürlich an diesem Orte unsere Sache nicht sein, diese Bedenken zu widerlegen oder zu zeigen, wie sie sich vermitteln liessen; ich hatte nur zu zeigen, wie sowohl die Physiologie, als die Pathologie, die uns zunächst interessirt, überall auf dasselbe cellulare Princip zurückführt, und wie dieses Princip überall den einheitlichen Auffassungen widerstreitet, welche man vom neuristischen Standpunkte aus behauptet. Es ist dies im Grunde kein neuer und ungewöhnlicher Gedanke. Wenn man seit Jahrtausenden von einem Leben der einzelnen Theile spricht, wenn man den Satz zulässt, dass unter krankhaften Verhältnissen ein Absterben einzelner Theile, eine Nekrose, ein Brand eintreten kann, während das Ganze noch fortexistirt, so geht daraus hervor, dass etwas von unserer Art zu denken in der allgemeinen Auffassung längst gegeben war. Nur ist man sich darüber nicht vollkommen klar geworden. Spricht man von einem Leben und Sterben der einzelnen Theile, so muss man auch wissen, worin das Leben und Sterben sich äussert, wodurch sie wesentlich charakterisirt sind. Das Charakteristicum des Lebens finden wir in der =Thätigkeit=, und zwar einer Thätigkeit, zu der jeder einzelne Theil je nach seiner Eigenthümlichkeit etwas Besonderes beiträgt, innerhalb deren er aber auch immer etwas besitzen muss, welches mit dem Leben der übrigen Theile übereinstimmt. Wäre dies nicht der Fall, so würden wir keine Berechtigung haben, das Leben als etwas Gleichartiges, als eine gemeinsame Eigenschaft alles Organischen zu betrachten. Diese Thätigkeit (Action) des Lebens geht, so viel wir wenigstens beurtheilen können, nirgends, an keinem einzigen Theile durch eine ihm etwa von Anfang an zukommende und ganz in ihm abgeschlossene Ursache vor sich, sondern überall sehen wir, dass eine gewisse =Erregung= dazu nothwendig ist. Jede Lebensthätigkeit setzt eine Erregung, wenn man will, eine =Reizung= voraus. Diese besteht in einer =passiven= Veränderung (passio, pathos), welche das lebende Element durch eine äussere Einwirkung erfährt, welche aber nicht so gross ist, dass die wesentliche Einrichtung des Elementes dadurch gestört wird. Auf diese passive Veränderung (Irritamentum) folgt ein =activer Vorgang=, eine =positive Leistung= des Elementes selbst, von der wir annehmen, dass sie aus den lebendigen Eigenschaften des Elementes als ein selbständiges Ereigniss folge. Daher erscheint uns die =Erregbarkeit= der einzelnen Theile als das Kriterium, wonach wir beurtheilen, ob der Theil lebe oder nicht lebe[139]. [139] Archiv IV. 285. VIII. 37. IX. 51. XIV. 1. Ein abgestorbener Theil zeigt allerdings auch anatomisch häufig grosse Veränderungen. Ich habe in dieser Beziehung zwei grössere Gruppen unterschieden. In der einen Gruppe, welche die =Nekrobiose=[140] umfasst, gehen dem Absterben schon gewisse Veränderungen der organischen Einrichtung voraus, welche zu einer Zerstörung, häufig zu einer wirklichen Zertrümmerung (=Detritus=) der Elemente führen. Am Schlusse des Processes findet sich der organische Theil gar nicht mehr vor: es ist ein Defect vorhanden. In der anderen Gruppe, welche die eigentliche =Nekrose= liefert, stirbt der Theil ab, ohne dass seine äussere Erscheinung eingreifende Veränderungen erfährt; relative Integrität der Form ist das unterscheidende Merkmal. Freilich kann der nekrotische Theil nachher wesentliche Veränderungen erfahren, aber dieses sind =cadaveröse= Veränderungen, und ihr Eintritt kann sich verhältnissmässig sehr lange verzögern. An Hartgebilden, namentlich Knochen, ist dies hinreichend bekannt; dasselbe gilt aber auch für Weichgebilde und selbst für ganz zarte, mindestens für die erste Zeit nach ihrem Absterben. Ob ein Nerv lebe oder todt sei, das können wir unmittelbar, durch seine anatomische Betrachtung, keineswegs mit Sicherheit erkennen, wir mögen ihn nun mikroskopisch oder makroskopisch untersuchen. In der äusseren Erscheinung, in den gröberen Einrichtungen, die wir mit unseren Hülfsmitteln entziffern können, ist, wenn wir frisch abgestorbene Nerven in Betracht ziehen, keine Möglichkeit gegeben, eine solche Unterscheidung zu machen. Ob ein Muskel lebt oder abgestorben ist, können wir anatomisch kaum beurtheilen, da wir die Muskelstructur noch erhalten finden an Theilen, welche schon seit Jahren abgestorben sind. Ich habe in einem Kinde, welches bei einer Extrauterinschwangerschaft 30 Jahre im Leibe seiner Mutter gelegen hatte, die Structur der Muskeln so intact gefunden, wie wenn das Kind eben erst ausgetragen gewesen wäre[141]. =Czermak= hat Theile von Mumien untersucht und an ihnen eine Reihe von Geweben gefunden, welche so vollständig erhalten waren, dass man sehr wohl hätte auf den Schluss kommen können, diese Theile wären aus einem lebenden Körper hergenommen. Der Begriff des Todten, des Abgestorbenen, Nekrotischen beruht ja eben darauf, dass wir bei und trotz der Erhaltung der Form nicht mehr die Erregbarkeit finden[142]. Am deutlichsten hat sich diese Erfahrung gerade in der neueren Zeit bei den Untersuchungen über die feineren Eigenschaften der Nerven gezeigt. Erst nachdem man auch am sogenannten ruhenden Nerven durch die Untersuchungen du =Bois-Reymond='s eine Thätigkeit kennen gelernt, nachdem man eingesehen hat, dass auch in dem ruhenden Nerven fortwährend elektrische Vorgänge stattfinden, dass er fortwährend eine Wirkung auf die Magnetnadel ausübt, kann man mit Sicherheit durch das physikalische Experiment beurtheilen, wann der Nerv todt ist. Denn sowie der Tod eingetreten ist, hören jene Eigenschaften auf, welche untrennbar mit dem Leben des Nerven verbunden sind. [140] Handb. der spec. Pathologie und Ther. I. 273, 279, 306. [141] Würzb. Verhandl. I. 104. Gesammelte Abhandl. 791. [142] Spec. Pathologie und Therapie. I. 279 Diese Eigenschaft der Erregbarkeit, welche wir an einzelnen Theilen in einer so ausgesprochenen und so evident nachweisbaren Weise finden, tritt immer mehr zurück, je niedriger organisirt der Theil ist, und am wenigsten sicher sind unsere Kriterien an den Geweben, welche die Bindegewebsformation umfasst. Hier sind wir in der That häufig in grosser Verlegenheit, zu entscheiden, ob ein Theil lebt oder ob er schon abgestorben ist. Es erklärt sich diese Schwierigkeit aus dem Umstande, dass diese Gewebe in der Regel ihrer Hauptmasse nach aus Intercellularsubstanz bestehen, und dass, wenn wir sie auf ihre Erregbarkeit prüfen wollen, nur die verhältnissmässig kleinen und spärlichen Zellen in Betracht kommen. =Nirgends ist Intercellularsubstanz erregbar=. Es ist dies eine überaus wichtige Erfahrung, welche sowohl für die physiologische Deutung der Gewebe, als auch für die Lehre =von dem Leben der einzelnen Theile als einer ausschliesslich cellularen= Eigenschaft von grösster Bedeutung ist. Früher hat man immer mit dem ganzen Gewebe experimentirt; erst in der neuesten Zeit hat man angefangen, auch die experimentelle Forschung auf die mikroskopischen Elemente zu richten, und es hat sich auch bei den Geweben der Bindesubstanz ergeben, dass ihre Zellen, z. B. auf elektrische Reizung erregbar sind. Wenn man nun weiter analysirt, was man unter Erregbarkeit verstehen soll, so ergibt sich alsbald, dass damit die Eigenschaft der lebenden Theile gemeint ist, vermöge welcher sie auf äussere Einwirkung in Thätigkeit gerathen. Es sind aber die verschiedenen Thätigkeiten, welche auf irgend eine äussere Einwirkung hervorgerufen werden können, wesentlich dreierlei Art[143]; und ich halte es für sehr wichtig, dass man diesen Punkt für die Gruppirung physiologischer und pathologischer Vorgänge bestimmt ins Auge fasse, um so mehr, als er gewöhnlich nicht mit besonderer Deutlichkeit hervorgehoben zu werden pflegt. [143] Archiv XIV. 13. Entweder nehmlich handelt es sich bei dem Hervorrufen einer bestimmten Thätigkeit um die Verrichtung, oder um die Erhaltung, oder um die Bildung eines Theiles: =Function=, =Nutrition=, =Formation=. Darnach lassen sich sämmtliche physiologischen und pathologischen Elementar-Vorgänge in drei grosse Gruppen zerlegen: functionelle, nutritive (trophische) und formative (plastische). Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass an gewissen Punkten die Grenzen zwischen diesen verschiedenen Vorgängen verschwinden, dass insbesondere zwischen den nutritiven und den formativen Vorgängen, und ebenso zwischen den functionellen und den nutritiven Uebergänge bestehen, allein in dem eigentlichen Akt unterscheiden sie sich doch ganz wesentlich, und die inneren Veränderungen, welche der einzelne erregte Theil erleidet, je nachdem er nur fungirt, oder sich ernährt, oder der Sitz besonderer Bildungsvorgänge wird, sind erheblich verschieden[144]. Das Resultat der Erregung, oder wenn man will, der Reizung eines lebenden Theiles kann also je nach Umständen ein bloss functioneller Vorgang sein, oder es kann eine mehr oder weniger starke Ernährung des Theiles eingeleitet werden, ohne dass nothwendig die Function gleichzeitig erregt wird, oder es kann endlich ein Bildungsvorgang einsetzen, welcher mehr oder weniger viele neue Elemente schafft. Diese Verschiedenheiten werden in dem Maasse deutlicher, als die einzelnen Gewebe des Körpers mehr geeignet sind, dem einen oder dem anderen Erregungszustande zu entsprechen. [144] Spec. Pathol. und Ther. I. 272. Archiv VIII. 27. Wenn wir von =Verrichtungen= der Theile sprechen, so reducirt sich bei einer guten Zahl von Geweben die wahre Function auf ein Minimum. Wir wissen im Ganzen sehr wenig zu sagen von der eigentlichen Function (im höheren Sinne des Wortes) bei fast allen Geweben der Bindesubstanz, bei der grössten Zahl der Epithelial-Elemente. Wir können wohl sagen, was sie für einen Nutzen haben, aber sie erschienen bis vor Kurzem immer mehr als relativ träge Massen, welche weniger der eigentlichen Function dienen, sondern vielmehr als Stützen für den Körper, als Decken für die Oberflächen, unter Umständen verbindend oder vermittelnd oder trennend, aber wesentlich =passiv= wirkend. Anders dagegen verhält es sich mit denjenigen Theilen, welche durch die Eigenthümlichkeit ihrer inneren Einrichtung einer schnelleren Veränderung zugänglich sind: den Nerven, den Muskeln und einzelnen anderen Gebilden, z. B. unter den epithelialen den Drüsenzellen, dem Flimmer-Epithel. Am frühesten hat begreiflicherweise die Erregbarkeit der Nerven die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und so ist es gekommen, dass viele Jahre hindurch der Begriff der Irritabilität sich ausschliesslich an die Nerven knüpfte, ein Umstand, der das Aufkommen des Neurismus in hohem Maasse begünstigt hat. Bei allen Geweben, welche erheblichen Functionen dienstbar sind, finden wir die Function hauptsächlich begründet in der feineren Umordnung, oder, wenn man es schärfer ausdrückt, in feinen räumlichen Veränderungen der inneren Masse, des Zelleninhaltes oder des Protoplasma. Es ist also hier der eigentliche Zellkörper in seiner specifischen, inneren Ausstattung, welcher entscheidet; es handelt sich dabei wenig um die Membran und, wenigstens in den meisten Fällen, wohl wenig um den Kern. Das Protoplasma verändert sich unter gewissen Einwirkungen verhältnissmässig schnell, ohne dass wir jedoch jedesmal von der Umordnung der einzelnen Inhaltspartikeln morphologisch etwas wahrnehmen könnten. Höchstens sehen wir als grobes Resultat eine wirkliche Locomotion einzelner Theile, aber der Hergang lässt sich nicht so weit für das Verständniss auflösen, dass man daraus einfach beurtheilen könnte, in welcher Weise diese Locomotion durch die kleinsten Partikelchen, welche den Zelleninhalt zusammensetzen, bedingt wird. Wenn in einem Nerven eine Erregung stattfindet, so wissen wir jetzt, dass damit eine Veränderung seines elektrischen Zustandes verbunden ist, eine Veränderung, welche nach Allem, was uns über die Erregung der Elektricität in anderen Körpern bekannt ist, mit Nothwendigkeit bezogen werden muss auf eine veränderte Stellung, welche die einzelnen Molekeln zu einander annehmen. Denken wir uns den Axencylinder aus elektrischen Molekeln zusammengesetzt, so können wir uns vorstellen, dass je zwei dieser Molekeln in dem Momente der Erregung eine veränderte Stellung zu einander einnehmen. Von diesen Stellungen der Molekeln sehen wir jedoch nichts, denn Molekeln sind überhaupt nicht sichtbar. Der Axencylinder sieht während der Function nicht anders aus, als sonst. Wenn wir einen Muskel während der Action betrachten, so bemerken wir allerdings, dass die Zwischenräume, welche zwischen den einzelnen sogenannten Scheiben liegen (S. 56), kürzer werden, und da wir nun wissen, dass die Substanz des Muskels aus einer Reihe von kleinen Fibrillen besteht, welche ihrerseits von Strecke zu Strecke, entsprechend diesen Scheiben, kleinste Körnchen enthalten, so schliessen wir daraus mit einer gewissen Sicherheit, dass wirkliche örtliche Verschiebungen der Körnchen gegen einander stattfinden. Aber diese Verschiebungen können nicht mehr zurückgeführt werden auf einen sichtbaren oder unmittelbar erkennbaren Grund. Wir können keine bestimmte chemische Veränderung, keine Umwandlung der Ernährungszustände der Theile wahrnehmen; wir sehen nur eine Verrückung, eine Dislocation der Partikeln, von der es freilich wahrscheinlich ist, dass sie auf einer geringen chemischen Veränderung der Molekeln beruht. [Illustration: =Fig=. 106. Bildliches Schema des Zustandes der Nerven-Molekeln im ruhenden (peripolaren, _A_) und im elektrotonischen (dipolaren _B_) Zustande des Nerven. Nach =Ludwig= Physiol. I. 103.] Bei dem Flimmer-Epithel sitzen feine Cilien an der Oberfläche der Zellen; diese bewegen sich in einer gewissen Richtung und üben in dieser Richtung auf kleine Theile, welche ihnen nahe kommen, einen locomotorischen Effect aus. Isoliren wir die einzelnen Zellen, so zeigt sich, dass eine jede oben einen Saum (Deckel) von einer gewissen Dicke hat, an welchem kleine haarförmige Verlängerungen hervortreten. Diese bewegen sich alle in der Art, dass eine Cilie, welche im ruhigen Zustande ganz gerade steht, sich einbiegt und wieder zurückschlägt. Aber wir sind ausser Stande, innerhalb der einzelnen Cilien weitere Veränderungen wahrzunehmen, durch welche die Bewegung vermittelt würde. Gerade so verhält es sich mit den Drüsenzellen, von welchen wir gar nicht zweifelhaft sein können, dass sie einen bestimmten locomotorischen Effect haben. Denn nachdem =Ludwig= durch die Untersuchung der Speicheldrüsen gezeigt hat, dass der Druck des ausströmenden Speichels grösser ist, als der Druck des zuströmenden Blutes, so bleibt nichts anderes übrig, als zu schliessen, dass die Drüsenzellen einen bestimmten motorischen Effect auf die Flüssigkeit ausüben; die Secret-Masse wird mit einer bestimmten Gewalt hervorgetrieben, welche nicht von dem Blutdruck oder einer besonderen Muskel-Action, sondern von der specifischen Energie der Zellen als solcher ausgeht. =Engelmann= glaubt neuerlich sogar an den Hautdrüsen des Frosches eine selbständige, von den Muskeln unabhängige Zusammenziehung beobachtet zu haben. Allein an einer Drüsenzelle, während sie fungirt, können wir eben so wenig einen eigenthümlichen, materiellen Vorgang innerhalb der constituirenden Theilchen wahrnehmen, wie an den Nerven, den Muskeln oder dem Flimmer-Epithel. Diese Thatsachen werden wesentlich verstärkt dadurch, dass wir wahrnehmen, wie gerade die functionellen Fähigkeiten der einzelnen Theile eine gewisse Störung erfahren durch eine längere Dauer der Verrichtung. An allen Theilen treten gewisse Zustände der =Ermüdung= auf, Zustände, wo der Theil nicht mehr im Stande ist, dasjenige Maass von Bewegung von sich ausgehen zu lassen, welches bis dahin an ihm zu bemerken war. Allein um wiederum in den leistungsfähigen Zustand zu kommen, bedürfen diese Theile keineswegs immer einer Ernährung, einer Aufnahme von Nahrungsstoff: die blosse Ruhe reicht aus, um innerhalb einer gewissen Zeit die Möglichkeit einer neuen Thätigkeit herbeizuführen. Ein Nerv, den wir aus dem Körper herausgeschnitten haben und zum Experiment verwenden, wird nach einer gewissen Zeit leistungsunfähig; wenn man ihn unter günstigen Verhältnissen, welche seine Austrocknung hindern, liegen lässt, so wird er allmählich wieder leistungsfähig. Diese =functionelle Restitution=, welche ohne eigentliche Ernährung stattfindet und aller Wahrscheinlichkeit nach darauf beruht, dass die Molekeln, welche aus ihrer gewöhnlichen Lagerung herausgetreten sind, allmählich wieder in dieselbe zurückkehren, können wir an verschiedenen Theilen hervorrufen durch gewisse Reizmittel. Nach der Auffassung der Neuristen würden diese Mittel nur auf die Nerven und erst vermittelst der Nerven auf die anderen Theile einwirken; allein gerade hier haben wir einige Thatsachen, welche sich nicht wohl anders deuten lassen, als dass in der That eine Wirkung auf die Theile selbst stattfindet. Wenn wir eine einzelne Flimmerzelle nehmen, sie, ganz vom Körper isolirt, frei schwimmen lassen und abwarten, bis vollkommene Ruhe eingetreten ist, so können wir die eigenthümliche Bewegung ihrer Cilien wieder hervorrufen, wenn wir eine kleine Quantität von Kali oder Natron der Flüssigkeit zufügen, eine Quantität, welche nicht so gross ist, dass ätzende Effecte auf die Zelle hervorgebracht werden, welche aber genügt, um, indem ein Theil davon in die Zelle eindringt, eine gewisse Veränderung an ihr zu erzeugen. Es ist aber besonders interessant, dass die Zahl der fixen Substanzen, durch welche wir das Flimmer-Epithel reizen können, sich auf diese beiden beschränkt. Daraus erklärt es sich, dass =Purkinje= und =Valentin=, welche zuerst und zwar sogleich in sehr ausgedehnter Weise Experimente über die Flimmerbewegung anstellten, nachdem sie mit einer sehr grossen Zahl von Substanzen experimentirt und, wer weiss was Alles versucht hatten, mechanische, chemische und elektrische Reize, zuletzt zu dem Schlusse kamen, es gebe überhaupt kein Reizmittel für die Flimmerbewegung. Ich hatte das Glück, zufällig auf die eigenthümliche Thatsache zu stossen, dass Kali und Natron solche Reizmittel seien[145]. Neuerlich hat W. =Kühne= entdeckt, dass unter den gasförmigen Substanzen sich noch ein mächtiger Erreger der Flimmerbewegung findet, nehmlich der Sauerstoff, während Kohlensäure und Wasserstoff dieselbe hemmen. Gewiss können wir hier keinen Nerveneinfluss mehr zu Hülfe rufen; derselbe erscheint um so weniger zulässig, als nach bekannten Erfahrungen die Flimmerbewegung im todten Körper sich noch zu einer Zeit erhält, wo andere Theile schon zu faulen angefangen haben. Ich sah die Flimmer-Epithelien der Stirnhöhlen und der Trachea in menschlichen Leichen noch 36 bis 48 Stunden post mortem in vollständiger Thätigkeit, zu einer Zeit, wo jede Spur von Erregbarkeit in den übrigen Theilen längst verschwunden war. [145] Archiv VI. 133. Aehnlich verhält es sich mit den übrigen erregbaren Theilen, insbesondere mit den Muskeln, an denen W. =Kühne= diese Verhältnisse mit so grosser Umsicht untersucht hat. Fast überall zeigt sich, dass gewisse Erregungsmittel leichter als andere wirken, und dass manche gar nicht im Stande sind, einen erheblichen Effect hervorzubringen. Fast überall ergeben sich =specifische Beziehungen=. Wenn wir die Drüsen ins Auge fassen, so ist es eine bekannte Thatsache, dass es specifische Substanzen gibt, wodurch wir im Stande sind, auf die eine Drüse zu wirken, nicht auf die anderen, die specifische Energie einer Drüse zu treffen, während die übrigen unbetheiligt bleiben. Bei den Drüsen lässt sich freilich ungleich schwieriger die Wirkung der Nerven ausschliessen, als beim Flimmer-Epithel, allein wir haben gewisse Versuche, wo man nach Durchschneidung aller Nerven, z. B. an der Leber, durch Injection reizender Substanzen in das Blut im Stande gewesen ist, eine vermehrte Absonderung des Organes hervorzurufen, indem man Stoffe anwandte, welche erfahrungsmässig zu dem Organe eine nähere Beziehung haben. Am meisten hat sich, wie bekannt, diese Discussion in neuerer Zeit concentrirt auf die Frage von der Muskel-Irritabilität, eine Frage, welche gerade deshalb so schwierig gewesen ist, weil sie von =Haller= mit einer grossen Exclusion eben auf dieses einzelne Gebiet beschränkt wurde. =Haller= kämpfte aufs Aeusserste dagegen, dass irgend ein anderer Theil ausser den Muskeln irritabel sei; sonderbarer Weise kämpfte er sogar gegen die Irritabilität von solchen Theilen, welche, wie die feinere Untersuchung der Späteren gezeigt hat, Muskel-Elemente enthalten, z. B. die mittlere Haut der Gefässe. Ja, er gebrauchte ziemlich energische Ausdrücke, wo er die von Anderen schon damals behauptete Erregbarkeit der Gefässe zurückwies. Ich habe schon angeführt (S. 129), dass wir gerade in dem Gefäss-Apparate grosse Abschnitte finden, z. B. am meisten ausgesucht an den Nabelgefässen des Neugebornen, in denen massenhafte Anhäufungen von Musculatur, aber keine Spur von Nerven erkennbar sind. Trotzdem besteht daran Irritabilität in einem hohen Maasse; wir können Zusammenziehungen der Muscularis mechanisch, chemisch und elektrisch herbeiführen. Ebenso verhält es sich mit vielen anderen kleinen Gefässen, welche keineswegs in der Weise, wie dies die Neuropathologen annehmen müssen, in allen Abschnitten Nervenfasern zeigen. Auch hier können wir an jedem einzelnen Punkte, wo Muskeln existiren, unmittelbar die Contraction hervorrufen. Die Erledigung der Frage von der Muskel-Irritabilität ist in der neueren Zeit besonders dadurch gefördert worden, dass man durch die Anwendung bestimmter Gifte, namentlich des Worara-(Curare-)Giftes dahin gelangt ist, die Nerven bis in ihre letzten, dem Versuche zugänglichen Endigungen zu lähmen, und zwar so, dass nicht wohl noch der Einwand erhoben werden kann, dass die Erregbarkeit der letzten Endigungen der Nerven in dem Muskel erhalten sei. Die Lähmung des Worara-Giftes beschränkt sich vollständig auf die Nerven, während die Muskeln ebenso vollständig reizbar bleiben. Während man die stärksten elektrischen Ströme auf den Nerven vergebens einwirken lässt, ohne irgend etwas von Bewegung hervorzubringen, so genügen die kleinsten mechanischen, chemischen oder elektrischen Reize, um den betreffenden Muskel in Erregung zu versetzen. Wenn daher die so lange streitige Frage dahin entschieden ist, dass es wirklich eine eigenthümliche Muskel-Irritabilität gibt, welche an der Muskelsubstanz als solcher haftet, so ist das Ergebniss doch praktisch nicht von so grosser Bedeutung, wie man hätte erwarten können. Denn thatsächlich sind fast alle Muskelbewegungen, welche die Physiologie und die Pathologie kennen, durch Nerveneinwirkung hervorgerufen: eine wirkliche =Selbstbewegung= der Muskeln findet nur in ganz anomalen Fällen statt. Nichtsdestoweniger ist es für das Urtheil von höchster Wichtigkeit zu wissen, dass die Bewegung als solche eine Function des Muskels ist, und dass der Nerv nichts anderes thut, als den Anstoss zu dem in der Muskelsubstanz schon vorbereiteten Vorgange zu geben. Die Natur dieses Vorganges ist nicht abhängig von der Eigenthümlichkeit der Nerveneinwirkung, sondern einzig und allein von der Eigenthümlichkeit der Muskelsubstanz. Die Neuristen haben jedoch aus derartigen Thatsachen, wie sie auch in der Reihe der secretorischen Vorgänge in ähnlicher Weise vorkommen, weitgehende Schlüsse in Beziehung auf die absolute Abhängigkeit der vitalen Vorgänge von Innervation gezogen. Dies ist in keiner Weise anzuerkennen. Man kann die Nerven eines Muskels oder einer Drüse zerschneiden und den Zusammenhang der Organe mit den Centren aufheben, ohne dass deshalb die Fähigkeit des Muskels zur Contraction oder die der Drüse zur Secretion aufhört. Ja man kann den Muskel oder die Drüse aus dem Körper herausschneiden, sie definitiv dem Organismus entfremden, ohne dass zunächst die Eigenschaften der Contraction oder Secretion dadurch geändert werden. Wollte man sich hier selbst darauf beziehen, dass in den ausgeschnittenen Muskeln oder Drüsen noch Nerven-Enden vorhanden seien, so hat dieses an sich hinfällige Argument schon deshalb keine Bedeutung, weil die neuristische Doctrin nur dann einen theoretischen Werth besitzt, wenn sie den Nervenapparat in seinem Zusammenhange, in seiner sogenannten Einheit in Rechnung stellen kann, keineswegs aber, wenn sie mit einzelnen peripherischen Abschnitten von Nerven arbeitet. Denn diese letzteren sind vielmehr als vorzügliche Beispiele für das Leben der einzelnen Theile, also für die cellulare Anschauung zu betrachten. Ich gestehe demnach die hohe Dignität des Nervenapparates und der an ihm geschehenden Vorgänge vollständig zu; ja ich gehe so weit, zu sagen, dass in dem gewöhnlichen Gange des menschlichen Lebens die Mehrzahl der Einzelvorgänge im Körper durch Nerveneinwirkung hervorgerufen oder geleitet wird. Wenn daraus jedoch in keiner Weise gefolgert werden darf, dass diese Einzelvorgänge selbst bloss passive Veränderungen der innervirten Theile sind, so darf noch weniger die Meinung zugelassen werden, als sei die Nerventhätigkeit keine cellulare, und als müsse die =Nerven-Irritabilität= als das eigentliche Wesen des Lebens angesehen werden. Betrachten wir diese viel besprochene Eigenschaft daher etwas näher: Die Lehre von der Irritabilität der Nerven beruht zunächst auf der Erfahrung, dass irgend eine Verletzung oder Reizung derselben Schmerz erzeugt oder wenigstens empfindlich ist. Genau genommen ist diese =Empfindlichkeit= eben das, was man die Irritabilität genannt hat; man reizte die verschiedensten Gewebe, um zu sehen, ob sie irritabel seien, und beurtheilte ihre Irritabilität wesentlich danach, ob auf die Reizung Schmerzempfindung eintrete oder nicht. In diesem beschränkten Sinne würde Nerven-Irritabilität die Eigenschaft bedeuten, zu den Centralorganen gehende und dort zum Bewusstsein kommende, durch äussere Reize hervorgerufene Vorgänge zu bewirken. Allein diese Vorgänge stellen nur die eine, nehmlich die =recipirende= Seite der Nerventhätigkeit dar; die andere, die im gewöhnlichen Sinne =active= oder =motorische= Seite, wird dabei gar nicht berührt. Die Anhänger der Nerven-Irritabilität haben daher nicht gezögert, auch diese Seite mit in ihre Betrachtungen hineinzuziehen; ja, es hat nicht lange gedauert, bis man daraus geradezu die Hauptsache gemacht hat. So kam es, dass schon =Haller= Irritabilität und Contractilität verwechselte, und dass er die Irritabilität gewisser Theile leugnete, weil sie sich auf Reize nicht contrahiren wollten. Der Grundfehler in dieser Betrachtungsweise liegt darin, dass man von ganz falschen Einheiten ausging. Man hatte keine einheitlichen Elemente und demgemäss auch keine einheitlichen Vorgänge. Man verwechselte zuerst Nerventhätigkeit und =Innervation=. Es liegt auf der Hand, dass Innervation nur diejenige Nerventhätigkeit bezeichnen kann, welche auf andere, =nicht nervöse= Theile gerichtet ist, also z. B. die Erregung der Muskel-oder Drüsenelemente zur Thätigkeit. Nun ist es freilich möglich, dass diese Thätigkeit ihrem Wesen nach identisch ist mit derjenigen, welche im Nerven selbst stattfindet, also etwa elektrisch ist, und man kann sich vorstellen, dass von den Nervenenden die elektrische Bewegung sich wirklich direkt auf die Muskel- oder Drüsensubstanz überträgt. Aber selbst wenn dies allgemein richtig wäre, was erst zu beweisen ist, so würde daraus doch nicht hervorgehen, dass die Thätigkeit des Nerven, insofern sie Elektricität hervorbringt, in irgend einer Weise gebunden ist an die Möglichkeit, dieselbe an bestimmte andere Theile des Körpers abzugeben und in diesen besondere Thätigkeitsäusserungen hervorzurufen. Ein ganz isolirter und aus dem Körper entfernter Nerv kann gereizt und in Thätigkeit gesetzt werden. Ueberdiess passt die Formel der Innervation nur für diejenigen Nerven, welche ich (S. 294) Arbeitsnerven genannt habe; sie ist ganz unbrauchbar für die Empfindungsnerven, welche zu Ganglienzellen gehen und gerade in der Erregung dieser letzteren ihre hauptsächliche »Thätigkeit« entfalten. Hier stossen wir auf ein neues Hinderniss. Die Neuristen knüpften die (wenn ich so sagen darf, =rückläufige=) Irritabilität an =bewusste= Empfindungen, namentlich an Schmerzäusserungen. Allein wir wissen, dass das Bewusstsein nur einem Theile derjenigen Empfindungen zukommt, welche dem Gehirn zuströmen, dass es dagegen an sich gänzlich fremd ist allen denjenigen Empfindungen, welche dem Rückenmark und dem spinalen Abschnitte des Gehirns angehören, und noch mehr jenen Perceptionen, um nicht zu sagen, Empfindungen, welche nur die Ganglien des Sympathicus berühren. Erst seitdem das Gebiet der Reflexvorgänge genauer studirt ist, hat man begriffen, dass nicht alle Bewegungserscheinungen, welche auf Reizung von Empfindungsnerven eintreten, Schmerzäusserungen sind, man müsste denn auch einen unbewussten Schmerz annehmen. Wollte man dies aber thun, was in einer gewissen Weise berechtigt wäre, so würde man doch sofort in einen Wirbel gerathen, der schliesslich zur Aufstellung eines =unbewussten Bewusstseins= führen müsste. Ein solches ist freilich in der sogenannten Rückenmarksseele gleichsam personificirt schon geschaffen worden; indess müsste man noch einen Schritt weiter gehen, und eine besondere Nervenseele wählen, wenn man einmal für alle Theile sich die spiritualistische Erklärungsform sichern wollte. Diese Nervenseele oder, wie die mehr naturphilosophischen Neuristen sagten, diese =Nervenkraft= (Neurilität =Lewes=) müsste nothwendigerweise jedem nervösen Theile oder Elemente zugeschrieben werden, und Irritabilität würde alsdann bedeuten die Fähigkeit des Theiles oder Elementes, diese Seele oder Kraft in Thätigkeit zu setzen. Aber gewiss ist es ein gewagter und nichts weniger als berechtigter Schritt, allen nervösen Theilen die gleiche Kraft zuzuschreiben. In der That ist noch niemand so weit gegangen, neben der Gehirnseele und der Rückenmarksseele auch noch besondere Ganglien- und Nervenseelen aufzustellen. Das allgemeine Zugeständniss, dass es nervöse Theile gibt, die nicht einmal das »unbewusste Bewusstsein« besitzen, dass also =innerhalb des Nervensystems specifische Unterschiede zwischen den constituirenden Elementen vorhanden sind=, reicht aus, um es verständlich zu machen, warum man mit der Annahme einer einfachen Nervenkraft nicht ausreicht. Man mag dieselbe nun spiritualistisch oder materialistisch construiren, man mag sie Anima oder Elektricität nennen, man ist ausser Stande, nach dem Stande unserer Kenntnisse damit alle functionellen Erscheinungen zu erklären. Daher muss man sich dazu verstehen, die Nervenfasern und die Nervenzellen nicht einfach zu identificiren. Alles, was wir über elektrische Vorgänge an Nerven wissen, bezieht sich auf Nervenfasern und zwar wesentlich auf =Leitung= (Conduction) der Elektricität in denselben. Indess darf man deshalb nicht so weit gehen, die Nervenfasern nur als Conduktoren der Elektricität aufzufassen, denn es ist leicht ersichtlich, dass, wenn von dem peripherischen Ende eines durchschnittenen Nerven aus durch direkte Reizung Bewegungen inducirt werden können, dies nur geschieht, indem der gereizte Nerv in sich Elektricität =hervorbringt=. Auch die Nervenfasern sind also functionell reizbar. Aber ich gestehe hier, wie bei der Muskel-Irritabilität zu, dass dies ein anomaler Fall ist, der im gewöhnlichen Leben selten vorkommt, und dass man daher als die eigentlichen =Erreger= der elektrischen Strömungen die Ganglienzellen anzusehen hat. Ob jedoch die Vorgänge im Innern dieser Zellen selbst elektrische sind, das ist bis jetzt nicht bekannt. Gewiss liegt es nahe, zu vermuthen, dass auch in den Ganglienzellen selbst elektrische Vorgänge stattfinden, ja Manches spricht dafür, dass diese Zellen die Fähigkeit besitzen, diese Vorgänge zu modificiren, d. h. abzulenken, zu verstärken und zu schwächen. Die empfindenden Nervenfasern sind fast durchgehends an ihren peripherischen Enden mit Nervenzellen in Verbindung, so dass jede von aussen eintretende Veränderung (Reizung) erst die Nervenzelle passiren muss, ehe sie in die eigentliche Nervenfaser übergeht und zu den centralen Ganglienzellen geleitet wird. Auch die motorischen Nervenfasern laufen kurz vor ihrem Ende vielfach in besondere gangliöse Apparate aus, gleichwie sie an ihrem Ursprunge aus Ganglienzellen hervorgehen. Welche andere Bedeutung können diese Zellen haben, als die einer =Sammlung= der in den Nerven geschehenden Bewegung, welche einerseits die Möglichkeit einer verschiedenen =Ablenkung= des Nervenstromes (Direction, Derivation), andererseits die Möglichkeit einer zeitweisen =Abschwächung= und =Hemmung= desselben und dann einer nachfolgenden =Verstärkung= mit vielleicht explosiver Wirkung gewährt? Gleichwie früher das Studium der Reflexvorgänge, so führt gegenwärtig die sich immer mehr ausdehnende Kenntniss der von mir so genannten =Moderations-Einrichtungen= im Nervensystem[146], wofür zuerst der Vagus, dann der Splanchnicus, schliesslich selbst das Gehirn so ausgezeichnete experimentelle Beispiele geliefert haben, mit Nothwendigkeit auf Ganglienzellen und nicht auf Nervenfasern zurück. Erscheinungen, wie die des Elektrotonus, sind im lebenden Organismus nicht bekannt. Trotzdem lassen die Vorgänge der Reflexion und Derivation, der Hemmung und Verstärkung eine Interpretation im Sinne der elektrischen Theorie zu. [146] Handb. der spec. Pathol. u. Ther. 1854. I. 19. Aber eine solche Interpretation ist nicht mehr möglich bei jenen verwickelten Vorgängen des =instinktiven= und =intellektuellen= Lebens, welche überhaupt die höchste Entwickelung der thierischen Function darstellen. Wer ist im Stande, den Instinkt oder gar den Verstand elektrisch zu construiren? oder gar das Bewusstsein als ein Analogon eines mechanischen Vorganges nachzuweisen? Wie so oft, hat man sich auch in diesem Falle über die Schwierigkeiten des Einzelnen hinwegzusetzen gesucht, indem man die Einzelerfahrung verallgemeinerte. So hat noch neuerlich E. =Hering= das Gedächtniss als eine allgemeine Function der organisirten Materie dargestellt, und =Wallace= hat den noch weiteren Schritt gethan, das Bewusstsein als eine allgemeine Eigenschaft der Substanz anzusprechen. Er ist auf diese Weise, ohne es zu ahnen, nahezu auf denselben Standpunkt der Naturanschauung gelangt, den vor fast zweihundert Jahren sein grosser Landsmann =Glisson=, der Erfinder des Wortes Irritabilität, einnahm, indem er der Substanz überhaupt drei Functionen beilegte, welche er als perceptiva, appetitiva und motiva bezeichnete. Leider ist es mit der Generalisation allein nicht gethan; man muss auch Beweise beibringen. Sonst bedeutet die Generalisation nichts als das Bestreben, eine Schwierigkeit möglich weit von sich zu entfernen und dadurch unmerklich zu machen. Eine Erklärung der organischen Vorgänge lässt sich am wenigsten auf dem Wege der speculativen Verallgemeinerung gewinnen. Jeder Schritt auf diesem Wege führt von der Forschung ab. Was uns in der organischen Welt noththut, ist nicht die Generalisation, sondern vielmehr die =Localisation=. Das Bewusstsein, das Gedächtniss, das Denken und Vorstellen überhaupt sind nicht einmal allgemeine Functionen aller Theile des Körpers. Wie sollten wir zu der Vermuthung kommen, dass auch die unorganische Substanz daran Antheil hat? Im Laufe von Jahrtausenden ist man allmählich dahin gekommen, den Nervenapparat als Träger dieser Functionen zu bestimmen. Nachdem sich zuletzt mehr und mehr die Aufmerksamkeit auf das Gehirn concentrirt hat, ist ganz folgerichtig die Frage aufgeworfen worden, welche Theile des Gehirns der »Sitz« der psychischen Functionen seien, und nachdem auch diese Frage zunächst nur im groben Sinne behandelt war, ist man endlich im Wege der Histologie zu den Ganglienzellen gelangt. Hier freilich lassen uns sowohl die Histologie als das Experiment und die pathologische Beobachtung im Stiche. Wir können noch nicht sagen, welche Ganglienzellen es sind, die so merkwürdige Functionen haben, und in welchen ihrer Bestandtheile dieselben ihre Erklärung finden. Aber dass an gewisse Gruppen von Hirnelementen die psychische Thätigkeit geknüpft ist, dass innerhalb dieser Gruppen Ganglienzellen die eigentlich wirksamen Elemente sind, und dass diese Ganglienzellen gewisse specifische Eigenthümlichkeiten haben müssen, wodurch sie sich von anderen unterscheiden, daran können wir nicht wohl zweifeln. Jedoch nur die immer mehr =localisirende= Untersuchung wird uns dahin führen, diese Eigenthümlichkeiten wirklich zu ergründen. Sprechen wir nun von Nerven-Irritabilität im Sinne der Centraleinrichtungen, so ist damit offenbar etwas anderes gemeint, als wenn wir nur an die Nervenfasern denken. Es ist die =Erregung= der =Ganglienzellen=, um welche es sich handelt. Diese Erregung kann eine willkürliche oder unwillkürliche, eine bewusste oder unbewusste, eine perceptive (sensitive) oder motorische sein, je nachdem diese oder jene Art von Ganglienzellen dabei betheiligt ist. Manche Verschiedenheiten der eintretenden Thätigkeiten erklären sich offenbar durch die =verschiedene Energie= der einzelnen Ganglienzellen: wie wir Bewegungs- und Empfindungszellen unterscheiden, so können wir auch innerhalb der Bewegungszellen die den einzelnen muskulösen Apparaten zugehörigen von einander trennen, und ebenso innerhalb der Empfindungszellen die gewöhnlichen spinalen Ganglienzellen von den Riech-, Seh- und Hörzellen u. s. w. des Gehirns sondern. Andere Verschiedenheiten dagegen resultiren aus der combinirten Erregung und Zusammenwirkung (=Synergie=) mehrerer, in sich verschiedener Ganglienzellen oder Ganglienzellen-Gruppen. Jede Reflex-Erregung, jede bewusste und willkürliche Erregung setzt die gleichzeitige oder doch innerhalb kurzer Zeiträume auf einander folgende Thätigkeit verschiedener Ganglienzellen voraus. Für viele Fälle sind wir im Stande, durch eine genaue Analyse des Vorganges diejenigen Gruppen zu bezeichnen, welche in Wirksamkeit treten. Aber das eigentliche Wesen der Erregung der einzelnen Zellen selbst zu erklären, sind wir bis jetzt nicht befähigt. Bei einer früheren Gelegenheit[147] habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass allerdings auch bei den Erregungsvorgängen der Centren sich Zustände der =Spannung= und der =Entladung= unterscheiden lassen. »Man schliesst sich«, sagte ich damals, »mit diesem bildlichen Ausdrucke sowohl an die Terminologie der Psychologen, als auch an die der Physiker und Praktiker an, und man gewinnt wenigstens einen, die Thatsachen kurz bezeichnenden Ausdruck, welcher die Möglichkeit zulässt, ohne sie jedoch nothwendig zu machen, dass auch die Zustände der Ganglien sich den bekannten Zuständen elektrischer Theile unterordnen«. Die kleinste peripherische oder centrale Erregung setzt zunächst eine gewisse Störung oder Veränderung in dem inneren Zustande einer Ganglienzelle. Diese kann sich fast unmittelbar auf die Fortsätze derselben fortsetzen und damit abgeleitet werden. Es kann aber auch eine Hemmung in der Fortleitung des Stromes eintreten und die Störung für eine gewisse Zeit innerhalb der Zelle beschränkt bleiben, indem die in ihrer Anordnung oder ihrem chemischen Verhalten veränderten Theilchen der weiteren Fortsetzung der Bewegung Hindernisse entgegenstellen. Kommt endlich die Ableitung, vielleicht in stürmischer Weise, zu Stande, so erscheint die dadurch hervorgebrachte Leistung als =befreiende That=, welche das leidende Organ entlastet, Erleichterung und Ausgleichung bringt. Im psychologischen Sinne entspricht die Störung dem =Affect=, der, indem er zur Motion drängt, zum =Triebe= wird, und der in der zur Befriedigung des Triebes führenden =Handlung= seine Lösung findet. [147] Handb. der spec. Pathologie und Therapie. 1854. I. 17. Diese Erfahrungen gelten in gleicher Weise für das gewöhnliche Nervenleben, wie für das Geistesleben, für die Physiologie, wie für die Pathologie. Allerdings nehmen die Erscheinungen der Erregung, der Spannung und der Entladung unter krankhaften Verhältnissen nicht selten überaus seltsame und selbst wunderbare Formen an. Aber als Regel muss überall festgehalten werden, dass auch die Erscheinungen des kranken Nervenlebens =nicht qualitativ verschieden= sind von denen des gesunden. Kein Nerv, keine Ganglienzelle kann, soviel wir wissen, unter pathologischen Bedingungen etwas Anderes thun oder leisten, als sie nach ihren, ein für allemal gegebenen Einrichtungen überhaupt zu thun oder zu leisten im Stande sind. Ein Tastnerv kann nicht sehen, ein Sehnerv nicht hören, eine Empfindungszelle nicht bewegen. Zuweilen macht sich freilich eine starke Neigung der Menschen geltend, den Nerven qualitativ verschiedene Leistungen zuzuschreiben. Der Mesmerismus hat Manchem den Glauben beigebracht, man könne mit den Hautnerven, z. B. der Oberbauchgegend, lesen. Die Tischrücker meinten, mit Empfindungsnerven Holz bewegen zu können. Alles das sind entweder Betrügereien, oder Selbsttäuschungen. Die pathologische Nervenfunction ist von der physiologischen nur dadurch verschieden, dass sie entweder =quantitative Abweichungen=, oder =ungewöhnliche Combinationen= erfährt. Die quantitativen Abweichungen ergeben ein Mehr oder Weniger an Leistung: =Krampf= oder =Lähmung=. Die combinatorischen (synergischen) Abweichungen zeigen eine Verbindung von nervösen, sei es an sich physiologischen, sei es quantitativ von den physiologischen verschiedenen Erscheinungen mit einander. Solcher Art ist die Epilepsie, bei welcher starke unwillkürliche Contractionen von willkürlichen Muskeln (Krämpfe) mit Lähmung des Bewusstseins sich combiniren. Diese Combination ist so auffällig, dass man sich in früheren Zeiten nicht anders zu helfen wusste, als dass man die Epileptiker Besessene nannte und irgend einen bösen Geist in sie hineinfahren liess, der mit ihren Gliedern arbeitete. Eine solche Heterologie der Kräfte existirt nicht. Was im Epileptiker arbeitet, sind seine eigenen Nerven, und trotz aller Absonderlichkeit der Leistung ist dieselbe doch in jedem ihrer Theile eine vorgezeichnete und in diesem Sinne eine physiologische. -- * * * * * Wenn sowohl bei den Muskeln, als bei den Nerven die Irritabilität eine so sehr in die Augen springende Eigenschaft ist, dass sie seit langen Jahren ein Gegenstand anhaltender Untersuchungen gewesen ist, so verhält es sich wesentlich anders mit der =Drüsen-Irritabilität=. Begreiflicherweise kann es sich hier nur um die Erregbarkeit der Drüsenzellen, des specifischen Parenchyms, und nicht um die an sich unzweifelhafte und gewiss in vielen Fällen sehr wirksame Erregbarkeit der Muskulatur der Gefässe und Ausführungsgänge der Drüsen handeln. Aber gerade deshalb ist die Frage eine sehr complicirte, die nur unter grossen Schwierigkeiten gelöst werden kann. Es kommt hinzu, dass man die Drüsenfunction noch weniger unter einheitlichen Gesichtspunkten behandeln kann, wie die Muskel- und Nervenfunction. Denn der Typus der Drüsenfunction ist in sich ganz verschieden. Eine Reihe sehr wichtiger Drüsen, insbesondere alle dem Generationssysteme angehörigen, arbeiten mehr nach dem nutritiven oder formativen Typus; sie müssen, bei der gegenwärtigen Betrachtung ausgeschieden werden. Wir können hier nur diejenigen Drüsen besprechen, deren Elemente eine grössere Dauer haben und demgemäss den Act der Function überleben. Dahin gehören, soweit sich bis jetzt erkennen lässt, die beiden wichtigsten Drüsen: die =Leber= und die =Nieren=. Aber auch an ihnen ist es schwer, die Function von der Nutrition zu scheiden, insofern ihre Function auf Stoffwechsel beruht. Es werden Stoffe in die Drüsenzellen aufgenommen, in denselben verändert und von denselben in diesem veränderten Zustande ausgeschieden. Nichts ist in dieser Beziehung so charakteristisch, wie die =Glykogenie= in der Leber. Aus differenten Stoffen, wie aus den Arbeiten =Bernard='s hervorgeht, selbst aus stickstoffhaltigen, entsteht in den Leberzellen eine stickstofflose Substanz, das Glykogen; dieses wird in Zucker übergeführt und letzterer in die Blutgefässe ausgeschieden und durch die Lebervenen dem allgemeinen Kreislaufe zugeleitet. Mannichfache Reize, mögen sie nun durch Innervation oder durch den Contact scharfer, durch das Blut zugeführter Stoffe hergestellt werden, erregen diese Thätigkeit der Leberzellen und steigern die Zuckerzufuhr zum Blute. Auch in dieser Form hat die Drüsenthätigkeit Manches an sich, wodurch sie den Ernährungsvorgängen nahe tritt, und es lässt sich begreifen, dass die Lehre von der functionellen Reizbarkeit nach dieser Seite hin wenig ausgebildet ist. Wahrscheinlich würde sie auch jetzt noch wesentlich auf muskulöse und nervöse Theile beschränkt geblieben sein, wenn nicht in ziemlich unerwarteter Weise ihr aus dem Gebiete der scheinbar trägen Einzelzellen eine sehr reiche Verstärkung an positiven Erfahrungen zugeflossen wäre. Diese war von um so grösserer Bedeutung, als hier zuerst =automatische= Vorgänge bekannt wurden, welche in der augenfälligsten Weise von allem Nerveneinflusse frei sind. Die Reihe dieser Entdeckungen wurde eingeleitet durch eine schnell steigende Zahl von Beobachtungen auf dem Felde der Botanik und der Zoologie, welche zum Theil jenes Grenzgebiet betrafen, welches =Häckel= seitdem unter der Bezeichnung des =Protistenreiches= abgeschieden hat. Indess lieferten auch unzweifelhaft einzellige Pflanzen, zumal Algen, welche frei im Wasser leben, und isolirte Pflanzentheile, wie die Sporen, sehr wichtige Anhaltspunkte. Daran schlossen sich neue Erfahrungen über die automatische Substanz niederer Wasserthiere, namentlich über die sogenannte =Sarkode= der Süsswasserpolypen durch =Ecker=, sowie über die contractile Substanz der Polythalamien durch M. =Schultze= und der Radiolarien durch =Häckel=. Seit diesen Autoren ist allmählich der Name =Protoplasma= in einer solchen Ausdehnung für diese Substanzen gebräuchlich geworden, dass man sich des Bedenkens allerdings nicht entschlagen kann, dass derselbe weit über das Maass eines wissenschaftlichen Verständnisses hinaus in Anwendung gebracht wird. Immerhin kann man zugestehen, dass er bei diesen niederen Organismen eine höhere Berechtigung hat. Wenn bei den durch =de Bary= und W. =Kühne= genauer bekannt gewordenen Myxomyceten diese Substanz nicht bloss der Bewegung dient, sondern auch in sich neue Gewebselemente erzeugt, so trifft die Bezeichnung gewiss in hohem Maasse zu. Noch mehr würde dies der Fall sein, wenn jener neu entdeckte Organismus, welcher den Boden des atlantischen Oceans überzieht, der Bathybius, in der That keine zellige Organisation erreichte, sondern, wie =Huxley= beschreibt, auf einer niederen Stufe der Differenzirung stehen bliebe. Für die vergleichende Physiologie ist jedoch am meisten entscheidend gewesen die Kenntniss eines bis in die neueste Zeit hinein den Infusorien zugerechneten Wesens, der Amoebe, deren sehr einfache Organisation und eben so einfache Lebensthätigkeit sie gewissermaassen als den Prototyp des Automatismus erscheinen liess. So ist es gekommen, dass die Gesammtheit der hier in Betracht kommenden Erscheinungen den Namen der =amöboiden= erhalten hat. Auch die eigentlich cellulare Erforschung der automatischen Vorgänge begann bei niederen Thieren. In immer steigender Zahl wurden =bewegliche Elemente= im Innern des Körpers bei Cephalopoden, Crustaceen, Würmern u. s. f. aufgefunden. Bei den Wirbelthieren begannen, wie ich schon früher (S. 64, 189) erwähnt habe, die Beobachtungen mit dem Studium der Flimmerzellen, der Pigmentzellen und der farblosen Blutkörperchen, denen sich endlich durch die Entdeckung =von Recklinghausen='s die, trotz aller meiner Anstrengungen bis dahin von Vielen kaum noch als Elemente anerkannten Bindegewebskörperchen, sowie die Eiterkörperchen anschlossen. [Illustration: =Fig=. 107, I. Automatische Zellen aus Hydrocele lymphatica, durch Punction entleert. Man sieht theils einzelne haarförmige, theils gedrängte büschelige Fortsätze. Der Zelleninhalt (Protoplasma) feinkörnig; in einzelnen Zellen kleine (schwärzliche) Fettkörnchen, in zweien Vacuolen. Vergr. 300.] Manche der hier in Frage kommenden Erscheinungen waren allerdings schon länger bekannt, aber anderen Reihen von Vorgängen angeschlossen. Ich selbst hatte sie in höchst charakteristischer Weise an zwei verschiedenen Arten von Elementen gesehen und gezeichnet, nehmlich an Exsudatzellen und an Knorpelkörperchen[148]. Indess war damals die Neigung, alle Veränderungen der Zellen auf Exosmose und Endosmose zurückzuführen, so vorherrschend, dass ich im Zweifel geblieben war, ob ich nicht Erscheinungen der =Schwellung= und =Schrumpfung= vor mir hätte, welche durch bloss mechanische Einwirkung von Flüssigkeiten verschiedener Concentration herbeigeführt wurden. Die zum Theil sehr auffälligen osmotischen Veränderungen[149] der Zellen entsprechen zum Theil dem, was ich an einer anderen Stelle (S. 174, Fig. 61, _e_-_h_) von den rothen Blutkörperchen beschrieben habe, gehen jedoch noch darüber hinaus und sie konnten wohl als Grund der grössten Formveränderungen angesehen werden. Die neueren Beobachter sind gerade im Gegentheil so sehr von der Allgegenwart und Allwirkung des Protoplasma überzeugt, dass manche von ihnen auch alle diese, der wahren Osmose angehörigen Erscheinungen mit zu den Wirkungen des Protoplasma rechnen. Wie mir scheint, wird noch manche Arbeit dazu gehören, diese zwei Reihen, die active und die passive, auseinanderzulösen. [148] Archiv 1863. Bd. XXVIII. S. 237. [149] Zeitschrift für rationelle Medicin 1846. Bd. IV. S. 278. Gesammelte Abhandl. S. 86. Archiv 1847. I. 105. III. 237. [Illustration: =Fig=. 107, II. Automatische Zellen aus frisch exstirpirtem Enchondrom: körniger Zellkörper, grosser Kern mit je zwei Nucleoli. _a_ Zelle mit homogenen verzweigten Ausläufern nach zwei Richtungen, _b_ mehrfache feine Reiser neben den grossen, zum Theil körnigen Ausläufern. Vergr. 300.] Unter den automatischen Veränderungen der Zellen sind folgende vier zu nennen: 1) Die =äussere Gestaltveränderung=, insbesondere das =Aussenden= und =Einziehen von Fortsätzen=. Nirgends habe ich dies in so grosser, ja, ich kann wohl sagen, ungeheurer Ausdehnung gesehen, wie an jungen Knorpelzellen, namentlich an Enchondromzellen. =Grohe= hat es in gleicher Weise constatirt. Hier sah ich (Fig. 107, II.) von Zellen, welche, so lange sie in ihren Capsein enthalten waren, eine rundlich-kugelige Gestalt besassen, allmählich Fortsätze ausgehen, die als ganz feine Reiserchen begannen. Nach und nach verlängerten sie sich, sendeten neue Reiser und Aeste aus, schoben sich immer weiter und weiter hinaus und wurden so lang, dass man sie nicht auf einmal im Gesichtsfelde des Mikroskopes übersehen konnte. Aus einer kugeligen oder linsenförmigen Zelle wurde so ein Gebilde, welches einer vielstrahligen Ganglienzelle glich. Auch darin zeigt sich eine gewisse Uebereinstimmung mit den Bewegungen niederster Organismen, dass die ausstrahlende Substanz anfangs homogen, später in dem Maasse, als der Zellkörper sich mehr in die Fortsätze hineinschiebt, körnig ist. An kleineren Rundzellen (Fig. 107, I.) treten die Ausläufer bald in feinen Büscheln, bald in Form einzelner Haare oder Cilien zu Tage. Bei weiterer Beobachtung habe ich an pathologischen Knorpelzellen auch wahrgenommen, wie der Zellkörper mehr und mehr in Fortsätze sich auflöste und dem entsprechend sich, fast bis zur Unkenntlichkeit, verschmächtigte (Fig. 107, III. _a_ u. _c_). Ja, ich sah schliesslich die einzelnen Fortsätze sich einander nähern, in einander fliessen und sich gleichsam organisch mit einander verbinden, wie es ganz ähnlich an den sogenannten Pseudopodien der Polythalamien und Radiolarien beobachtet wird. [Illustration: =Fig=. 107, III. Aus derselben Geschwulst, wie Fig. 107, II. Die automatischen Zellen noch mehr in Fortsätze aufgelöst, letztere viel mehr verästelt. Der Zellkörper fast verschwunden. Vergr. 300.] In ähnlicher Weise, wie dieses Ausstrahlen der Fortsätze geschieht, erfolgt auch das Einziehen derselben. Einer nach dem andern verkürzt sich, zieht sich allmählich in den Zellkörper zurück und verschwindet. Die Zelle nimmt schliesslich wieder ihre rundliche Form an, ja nicht selten wird diese so auffällig kugelig und zugleich die Dichtigkeit des Gebildes so gross, dass schon daran der »Contractions«-Zustand erkannt werden kann. So auffällig diese Vorgänge sind, so muss ich doch betonen, dass ganz ähnliche durch abwechselnde Einwirkung concentrirter und diluirter Flüssigkeiten hervorgebracht werden können, zumal wenn ungleich dichte Mischungen auf die Zellen einwirken. Durch concentrirte Salz- oder Zuckerlösungen kann man das Zurückgehen der Fortsätze leicht bewirken, wie man umgekehrt durch verdünnte alkalische Lösungen zuweilen recht ausgezeichnete Fortsatzbildungen hervorrufen kann. 2) =Das Auftreten von Molecularbewegung= im Innern des Zellkörpers (Protoplasma's). Diese Erscheinung ist zuerst (1845) von =Reinhardt= an Eiterkörperchen, sodann von =Remak= an Schleimkörperchen gesehen und von mir genauer beschrieben worden[150]. Sie lässt sich durch einen Wechsel in den Concentrationszuständen mit Leichtigkeit herbeiführen. Erst sehr viel später ist die allgemeine Aufmerksamkeit für dieses Phänomen durch =Brücke= erregt worden, der darin einen besonderen vitalen Act sieht. Es lässt sich dies nicht ganz in Abrede stellen, insofern manche automatischen Vorgänge, z. B. die Aussendung von Fortsätzen mit einer moleculären Vibration beginnen, indess darf man doch nicht so weit gehen, jede Art der intracellularen Molecularbewegung als vital anzusehen. [150] Zeitschrift für rationelle Medicin 1846. IV. 278. Ges. Abh. S. 86. [Illustration: =Fig=. 107, IV. Eiterkörperchen des Frosches im Humor aqueus nach v. Recklinghausen. (Mein Archiv 1863. Bd. XXVIII. Taf. II. Fig. 1.). Vergr. 350. Fig. 1-7. Formen, welche dasselbe Körperchen der Reihe nach innerhalb fünf Minuten annahm. Fig. 17-18. Dasselbe Körperchen, mit Vacuolen besetzt.] 3) =Die Bildung von Vacuolen= im Protoplasma. Schon seit langer Zeit sind aus Pflanzenzellen und aus niederen Thieren inmitten der körnigen Substanz ihres Körpers helle, blasenförmige Räume bekannt. Aehnliche kommen auch in Zellen der höheren Thiere und des Menschen vor. Jedoch scheide ich diejenigen, welche von einer besonderen Haut umkleidet sind (Physaliden), ausdrücklich aus. Die genauere Beobachtung Vacuolen tragender Rundzellen (Fig. 107, I. Fig. 107, IV. 17 u. 18) ergibt, dass die hellen Räume manchmal einfach leere oder eigentlich von Wasser eingenommene Stellen, Wassertropfen innerhalb des sogenannten Protoplasmas sind, andermal dagegen von einer zähen, in Wasser schwerer löslichen und zuweilen in Form hyaliner Tropfen aus den Zellen austretenden Substanz erfüllt sind. In beiden Fällen wird durch concentrirtere Medien, namentlich Salzlösungen die Erscheinung aufgehoben. Ebenso kann man sie jedoch auch durch Maceration der Zellen in verdünnten alkalischen Salzlösungen künstlich erzeugen. Auch hier muss man daher sehr vorsichtig sein in der Deutung. 4) =Die Abschnürung einzelner Theile des Zellkörpers=. Es ist dies eine ähnliche Erscheinung, wie wir sie bei den rothen Blutkörperchen besprochen haben (S. 193, 266). Im Zusammenhange mit automatischen Bewegungen hat sie schon Boner[151] beobachtet; später ist sie von =Beale=, =Stricker= und Anderen als ein häufigeres Phänomen nachgewiesen worden. [151] J. H. =Boner= Die Stase. Inaug. Diss. Würzburg 1856. S. 7. Diese verschiedenen Erscheinungen, welche nicht selten neben, sehr oft kurz nach einander an einer und derselben Zelle auftreten, verändern das Aussehen derselben so auffällig, dass es häufig unmöglich ist, ohne unmittelbare Beobachtung des Vorganges sich von der Identität der Zellindividuen zu überzeugen. Es sind in der That proteusartige Metamorphosen. Allerdings kann man sie sämmtlich, wie es jetzt gewöhnlich geschieht, auf Contraction beziehen. Indess haben sie doch fast durchweg gewisse Eigenthümlichkeiten, welche ihre Veränderungen von den eigentlichen Contractionsveränderungen unterscheiden: diese Veränderungen erfolgen nehmlich mit =grosser Langsamkeit=, man kann fast sagen, Trägheit, aber zugleich nicht in einer vorgezeichneten Form oder Ordnung, wie die Bewegung muskulöser oder flimmernder Elemente, sondern mit dem =Anscheine der Freiheit und Willkür= und daher zuweilen auch der =Absichtlichkeit=. Erwägt man andererseits, dass in nicht wenigen Fällen es überaus schwer ist, die Grenzen zwischen den automatischen und den osmotischen Veränderungen zu ziehen, so wird man begreifen, mit welchen Schwierigkeiten das Studium dieser Phänomene umgeben ist. Auch eine blosse =Schrumpfung durch Exosmose= oder =Schwellung durch Endosmose=, also ganz physikalische Acte ohne alle Beziehung zum Leben, kann unter Umständen vorkommen, wo sie den Eindruck der Freiwilligkeit und selbst der Absichtlichkeit macht. Umgekehrt wieder sind wir bei vielen automatischen Acten in der That ganz ausser Stande, zu erkennen, ob eine Absicht bestand, ob der Vorgang auf einer Erregung beruhte, ob demnach das Element selbst ein reizbares ist und ob der automatische Vorgang als ein Beweis der Irritabilität der Zelle angesehen werden darf. In dieser Beziehung haben wir jedoch zwei bestimmte Anhaltspunkte: zunächst den Nachweis, der zuerst bei den automatischen Pigmentzellen der Froschhaut geführt wurde, dass die Veränderungen unter dem Nerveneinflusse stehen; sodann die Thatsache, dass wir durch stärkere Reizmittel, wie Elektricität, Wärme, Licht, chemische Substanzen automatische Vorgänge hervorzurufen vermögen. So hat noch kürzlich wieder =Rollett= die Beobachtung W. =Kühne='s bestätigt, dass die Hornhautkörperchen sich auf elektrische Schläge zusammenziehen. Handelte es sich bei diesen Vorgängen nur um befestigte (fixe) Elemente der Gewebe, so könnte man vielleicht glauben, es werde bei weiterer Forschung gelingen, überall einen Zusammenhang derselben mit Nerven aufzufinden. Aber das Vorhandensein automatischer Eigenschaften an losen und in Flüssigkeiten befindlichen (infusoriellen) Zellen überhebt uns in dieser Beziehung einer jeden Sorge. Wie schon erwähnt (S. 189), hat =Wharton Jones= zuerst an den farblosen Blutkörperchen solche Vorgänge beobachtet. Damit war für Jedermann, der lernen wollte, der Beweis geliefert, dass es sich um einfache Zellen-Eigenschaften handelte. Später hat dann v. =Recklinghausen= in der Hornhaut und im Bindegewebe neben den fixen Elementen auch bewegliche wahrgenommen und zuerst festgestellt, dass dieselben wirkliche Ortsveränderungen vornehmen, also wahre =Wanderzellen= sind. Die von =Waller= und =Cohnheim= gefundene (S. 189) Thatsache, dass die farblosen Blutkörperchen nicht bloss ihre Gestalt verändern, sondern auch die Fähigkeit der Ortsveränderung besitzen, so dass sie selbst die Gefässe verlassen und auf Oberflächen und in Gewebe des Körpers auswandern, hat es in hohem Maasse erschwert zu erkennen, ob gewisse mobile Elemente, welche sich im Inneren von Geweben finden, in dieselben eingedrungene farblose Blutkörperchen oder =mobilisirte= Elemente des Gewebes selbst sind. So ist eine grosse Verwirrung in der Interpretation der Thatsachen entstanden, und es ist in der That in vielen Fällen noch jetzt ganz unmöglich, genau festzustellen, wofür man sich entscheiden soll. Jeder Einzelne urtheilt unter solchen Verhältnissen mehr nach der von ihm angenommenen Formel, als nach der wirklichen Beobachtung. Meiner Erfahrung nach ist es irrig, eine einzige Formel als richtig anzunehmen. Sowohl im Bindegewebe, als in jungen Epitheliallagen können vorher befestigte Zellen mobilisirt und ebenso vorher mobile Zellen fixirt werden. Die Mobilisirung geschieht in Folge von Reizung, und insofern hat man ein Recht, auch diesen Act als eine Wirkung der Reizbarkeit der Zellen anzusehen. Die Gewebselemente des menschlichen Körpers, welche einer Mobilisirung unterliegen, gehören, abgesehen von den lymphatischen und Blutzellen, ausschliesslich der Gruppe der bindegewebigen und epithelialen Formationen an. Für viele dieser Elemente ist mit dieser Erkenntniss erst die Möglichkeit gegeben, ihnen überhaupt eine Function in dem strengen Sinne des Wortes zuzuschreiben. Nach ihrer Mobilisirung verhalten sie sich, wie die Amoebe und andere ähnliche Sonderorganismen, die =Häckel= in der Klasse der =Moneren= vereinigt hat. Sie erscheinen als vollständig individualisirte, wenigstens zeitweise gänzlich freie und abgesonderte Körper, welche den Gedanken der Zellen-Individualität im höchsten Maasse veranschaulichen. Es ist endlich noch eine besondere Eigenschaft zu besprechen, welche aus dem bisher mitgetheilten als eine einfache Consequenz folgt; das ist die =Voracität= dieser Elemente (S. 101, 189). Sie »fressen« allerlei Dinge, auch vollständig unverdauliche und nicht assimilirbare. Auch in dieser Beziehung gleichen sie vielen niederen Organismen. Namentlich durch =Ehrenberg= waren die sogenannten Färbungen der Infusorien mit Farbstofftheilchen, namentlich mit Indigo und Carmin in Gebrauch gekommen; es sollte damit gezeigt werden, dass diese »Thiere« Mund, Magen und After besässen, also eine vollkommene Organisation hätten. Genauere Beobachtungen haben auch für die Infusorien gelehrt, dass diese Argumentation falsch war; sie haben im Gegentheil gezeigt, dass manche Wesen an jeder beliebigen Stelle ihrer Oberfläche andere Körper aufnehmen, in ihr Inneres pressen und, in verschiedener Weise verändert, wieder auswerfen können, ohne dass sie Mund, Magen oder After besitzen. Für die Lehre vom Menschen trat diese Frage zuerst in einer entscheidenden Weise in den Vordergrund bei Gelegenheit der sogenannten =blutkörperchenhaltigen= Zellen. Schon als ich meine ersten Beobachtungen über die Entstehung der pathologischen Pigmente veröffentlichte[152], musste ich mich gegen die damals von =Kölliker= und =Ecker= vertheidigte Hypothese erklären, welche dahin ging, dass unter gewissen Verhältnissen Haufen von Blutkörperchen sich zusammenballten und daraus Zellen entständen. Andererseits hatten =Rokitansky= und =Engel= für pathologische, =Gerlach= und =Schaffner= für physiologische Verhältnisse die Möglichkeit aufgestellt, dass in gewöhnlichen Zellen nachträglich eine Neubildung von rothen Blutkörperchen stattfinde, dass also diese Zellen Mutterzellen für Blut darstellten. Ich wies nach[153], dass es sich hier um das Eindringen präexistirender Blutkörperchen in präexistirende Zellen, also um keinerlei Art von Neubildung, sondern nur um die Incorporirung von Blutkörperchen in andere Zellen handle, und da diese Zellen, wenigstens zum Theil, persistiren und aus den Blutkörperchen Pigment hervorgeht, um eine secundäre Pigmentbildung in Gewebselementen. Obwohl ich schon damals auf die Analogie dieser Vorgänge mit dem »Fressen« der mundlosen Infusorien hinwies, so hielt ich doch das Eindringen der Blutkörperchen in die Zellen für einen mechanischen Act, welcher durch die Gewalt des extravasirenden Blutes hervorgebracht werde. Ich dachte mir, dass das aus Gefässrupturen austretende Blut durch Rupturen der Wand in Zellen eindringe und hier liegen bleibe. [152] Archiv 1847. I. 381, 451. [153] Archiv 1852. IV. 515. 1853 V. 405. Erst =Preyer= hat bei direkter Beobachtung unter dem Mikroskop gefunden, dass manche bewegliche Zellen, z. B. farblose Blutkörperchen, unter Umständen rothe Blutkörperchen umfassen, in ihr Inneres hineinpressen und in sich aufnehmen. In besonders ausgezeichneter Weise ist später dargethan worden, dass dieselben Farbstoffkörner, welche die Infusorien »fressen«, von farblosen Blutkörperchen und anderen Zellen gleichfalls aufgenommen werden: Indigo, Carmin, Zinnober werden auf diese Weise incorporirt, und manche Zellen zeigen eine ungemein grosse Gefrässigkeit für derartige fremde, gleichviel ob verdauliche und veränderliche oder unverdauliche und unveränderliche Körper. Kohlenstückchen werden auf diese Weise von Schleimkörperchen der Luftwege mit grosser Leichtigkeit aufgenommen (S. 15, Fig. 8, _B b_). Dass es sich bei diesem »Fressen« nicht einfach um Ernährung handelt, habe ich schon früher bemerkt (S. 101). Aber ich muss auch davor warnen, jedes Eindringen von fremden Körpern in das Innere von Zellen als das Resultat automatischer Bewegungen anzusehen. Unzweifelhaft gibt es auch Incorporirungen fremder Körper, wobei das incorporirende Element sich ganz passiv verhält. Ein mikroskopisches Kohlensplitterchen kann vermöge der Schärfe und Spitzigkeit seiner Ecken gewiss ebenso gut in eine Zelle hineindringen, wie ein scharfes Instrument in den Körper. Kleine Entozoen und Pilze dringen vermöge ihrer eigenen Thätigkeit, mag diese nun in selbständigen Bewegungen, oder in fortschreitendem Wachsthum und Absorption entgegenstehender Widerstände beruhen, in das Innere von Gewebselementen ein; ja sie können dieselben gänzlich erfüllen und die specifische Substanz verdrängen oder aufzehren. Wir wissen dies nicht nur von den Trichinen, welche in Muskelfasern einwandern, sondern auch von Pilzen und Vibrionen, die in pflanzliche und thierische Zellen eindringen und sich darin vermehren. Diese Anführungen werden genügen, um zur Vorsicht in der Deutung der Beobachtungen aufzufordern. Veränderungen, welche dem Anscheine nach vollständig unter einander übereinstimmen, kommen auf ganz verschiedene Weise zu Stande. Trotzdem kann kein Zweifel darüber bleiben, dass die Voracität der Elemente, gleich der Migration und dem Polymorphismus derselben, als Ergebniss ihrer Thätigkeit und als Merkmal ihrer Irritabilität wirklich existirt. Alle diese Erscheinungen gehören demselben Gebiete an, -- einem Gebiete, welches ich mit dem Namen des =Automatismus= bezeichne, und dessen Kenntniss vielleicht als das wichtigste Ergebniss der auf das Einzelleben bezüglichen Forschungen der Neuzeit bezeichnet werden darf. Die Zahl der functionell activen Elemente des Körpers ist dadurch auf das Aeusserste vermehrt worden. Auch auf diesem Gebiete, wie auf dem aller anderen functionellen Theile, beschränkt sich die pathologische Störung auf das Quantitative. Nirgends gibt es qualitative Abweichungen. Die Function ist da oder sie ist nicht da; ist sie da, so ist sie entweder verstärkt oder geschwächt. Das gibt die drei Grundformen der Störung: =Mangel= (=Defect=), =Schwächung= und =Verstärkung der Function=. Eine andere Function, als die physiologische, wohnt auch unter den grössten pathologischen Störungen keinem Elemente des Körpers bei. Der Muskel empfindet nicht, der Nerv bewegt keinen Knochen, der Knorpel denkt nicht. Auch hier ist es nur die oft höchst sonderbare und complicirte Synergie verschiedener Theile oder gar die Combination activer und passiver Zustände, welche eine scheinbar quantitative Abweichung ergeben. Aber eine wissenschaftliche Analyse wird und muss jedesmal ergeben, dass auch die ungewöhnlichste Krankheit keine neue Form, keine eigentliche Heterologie der Function mit sich bringt. Sechzehntes Capitel. Nutritive und formative Reizung. Neubildung und Entzündung. Nutritive Reizbarkeit. Genauere Definition der Ernährung. Hypertrophie und Hyperplasie. Atrophie, Aplasie und Nekrobiose als Formen des Schwundes (Phthisis): regressive Processe. Wesen der Ernährung: Aufnahme und Aneignung der Stoffe durch eigene Thätigkeit. Crudität und Assimilation. Fixirung der Stoffe: Gegensatz zu todten und schlecht ernährten Theilen; Resorption und Kachexie. Gute Ernährung. Strictum et laxum, Tonus und Atonie, Kraft und Schwäche. Turgor vitalis. Nutritive Reize: trophische Nerven. Krankhafte Hypertrophie: parenchymatöse Entzündung; trübe Schwellung. Niere, Knorpel, Haut, Hornhaut. Die neuropathologische und die humoralpathologische Doctrin. Parenchymatöse Schwellung. Nutritive Restitution und Nekrobiose. Stadien der parenchymatösen Entzündung. Active Natur dieses Processes. Formative Reizbarkeit. Theilung der Kernkörperchen und Kerne (Nucleation): vielkernige Elemente, Riesenzellen (Knochenmark, Myeloidgeschwulst, lymphatische Neubildungen). Formative Muskelreizung im Vergleich zum Muskelwachsthum. Neubildung der Zellen durch Theilung (fissipare Cellulation): Knorpel, epitheliale und bindegewebige Neubildung. Wucherung (Proliferation). Auswanderung der farblosen Blutkörperchen und aus ihnen hervorgehende Organisation. Die plastischen (histogenetischen) Stoffe; der Bildungstrieb. Negation der extracellulären Neubildung und der Bildungsstoffe. Die Neubildung als Thätigkeit der Zellen. Formative Reize. Die humoralpathologische und neuropathologische Doctrin. Entzündliche Reizung, Entzündung. Neuroparalytische Entzündung (Vagus, Trigeminus); Lepra anaesthetica. Prädisposition und neurotische Atrophie. Die Entzündung als Collectivvorgang. Während die functionelle Reizbarkeit, deren Wirkungen wir im vorigen Capitel besprochen haben, den Lieblingsgegenstand der Studien unserer Physiologen darstellt und daher im Laufe der letzten Jahrzehnte fast ausschliesslich von ihnen verfolgt worden ist, so ist das Gebiet der =nutritiven Reizbarkeit= noch gegenwärtig vielmehr der pathologischen Untersuchung vorbehalten geblieben, und manche sehr wichtige Seite der Betrachtung hat sich deshalb lange der allgemeinen Aufmerksamkeit entzogen. Es war dies der Grund, weshalb ich schon früher, im fünften und sechsten Capitel, die Ernährung zum Gegenstande einer besonderen Erörterung gemacht habe. Auf diese Erörterung kann ich mich hier beziehen. Man wird danach leicht ersehen, dass ich unter der Bezeichnung der nutritiven Reizbarkeit die Fähigkeit der einzelnen Theile verstehe, auf bestimmte Erregungen mehr oder weniger viel Stoff in sich aufzunehmen und festzuhalten. Ich kann sogleich hinzusetzen, dass mit einer solchen vermehrten Aufnahme in das Innere der Elemente die wichtigsten jener Prozesse beginnen, welche das Gebiet der pathologischen Anatomie ausmachen. Ein Theil, der sich ernährt, kann sich dabei entweder beschränken auf die einfache Erhaltung seiner Masse, oder er kann, wie wir besonders in pathologischen Fällen sehen, eine grössere oder geringere Masse von Material in sich aufnehmen, als im gewöhnlichen Laufe der Dinge geschehen wäre. In welcher Weise oder in welcher Masse aber auch die Aufnahme erfolgen mag, so bleibt doch die Zahl der histologischen Elemente vor und nach einer bloss nutritiven Erregung sich gleich. Dadurch unterscheidet sich die einfache Hypertrophie von der Hyperplasie (numerischen oder adjunctiven Hypertrophie), mit welcher sie im äusseren Effect oft eine so grosse Aehnlichkeit hat (S. 90, Fig. 29, _B_). Solche einfache Hypertrophien beobachten wir an den Muskeln, den Nerven (S. 275), den Epithelien, insbesondere den Drüsenzellen, den Zellen des Bindegewebes, am häufigsten des Fettgewebes. Eine Steigerung der natürlichen, =adäquaten= Reize bedingt sehr leicht eine derartige Vergrösserung der Elemente. Ein Muskel, der gegen grössere Widerstände zu arbeiten hat, bekommt dickere Primitivbündel; das Epithel einer Niere, welche mehr Harnstoff abzusondern hat, vergrössert sich. Daher haben diese Hypertrophien häufig eine =compensatorische= Bedeutung. Das Herz wird hypertrophisch, wenn die arterielle Blutbahn kleiner wird; die eine Niere wird hypertrophisch, wenn die andere schrumpft. Ebenso unterscheidet sich die einfache =Atrophie= sowohl von der Aplasie, der ursprünglichen Mangelhaftigkeit in der Bildung einzelner Theile, als auch von der Nekrobiose (numerischen oder degenerativen Atrophie), welche eine wirkliche Zerstörung und Detritusbildung bedingt (S. 335). Seit alter Zeit hat man diese drei, in sich verschiedenen Zustände ganz gewöhnlich unter demselben Namen zusammengefasst: die Bezeichnung des =Schwundes= oder der =Schwindsucht= (Phthisis, Phthoe, Tabes), obwohl häufiger in dem Sinne eines allgemeinen, den ganzen Körper betreffenden Prozesses angewendet, hat doch bis in die neueste Zeit auch als Ausdruck für locale Prozesse gedient, z. B. Phthisis bulbi, testiculi. Will man sich jedoch das Verständniss der krankhaften Vorgänge sichern, so muss man nothwendig die drei Vorgänge aus einander halten[154]. Denn es liegt auf der Hand, dass eine mangelhafte Bildung und Entwickelung ganz andere Bedingungen und ein ganz anderes Wesen hat, als eine mangelhafte Erhaltung eines im Uebrigen regelmässig gebildeten und entwickelten Theiles. Letztere stellt immer einen =Rückgang= (regressiven Prozess) dar. Insofern stimmt sie überein mit der Nekrobiose, welche den Rückgang in seiner schlimmsten Form ausdrückt. Aber die Nekrobiose ist eine Art des örtlichen Sterbens; der davon befallene Theil stirbt definitiv ab, und er kann nur wieder ersetzt werden durch einen regenerativen Prozess der Neubildung, während der atrophische Theil trotz seines verschlechterten Zustandes persistirt, sich erhält und bei Verbesserung dieses Zustandes im Wege der einfachen Ernährung reparirt oder =restaurirt= wird. Derselbe Theil, oder sagen wir noch genauer, dasselbe Element kann im Laufe der Zeit in immer wechselnder Weise bald normal ernährt werden, bald atrophisch und hypertrophisch werden, wie das Beispiel der Muskeln vortrefflich lehrt. Grundbedingung ist jedoch, dass das Element überhaupt vorhanden ist und dass trotz alles Wechsels die erhaltende Thätigkeit nicht aufhört. [154] Handb. der spec. Pathologie und Ther. I. 304. Die wahre Ernährung ist also unter allen Verhältnissen auf die Erhaltung des Theils gerichtet, und begreiflicherweise kann sie nur ein Mehr oder Weniger normaler Vorgänge darstellen. Sie besteht nicht etwa in einer blossen Aufnahme, auch nicht in einem blossen Stoffwechsel, der sich aus Aufnahme und Abgabe zusammensetzt, sondern ganz wesentlich in der =Aneignung= der Stoffe. Bei letzterer ist wiederum zweierlei zu unterscheiden. Zunächst die Umwandlung der aufgenommenen Stoffe in die besondere Substanz des Parenchyms, die sogenannte =Assimilation=. Wenn wir in der Nahrung auch die mannichfaltigsten Stoffe, selbst Parenchymsubstanz geniessen, so gelangen doch höchstens das Wasser und einige Stoffe von mehr indifferenter Art, niemals die specifische Parenchymsubstanz als solche vollständig präparirt vom Magen oder vom Blute aus in die Gewebe[155]. Es genügt nicht, Blutwurst zu essen, um Blutkörperchen zu erzeugen, oder Hühnereier, um Markstoff in die Nerven absetzen zu lassen; ehe aus Fleisch wieder Fleisch, aus genossener Leber wieder Leber wird, müssen die daraus entstandenen Verdauungsstoffe (Peptone) erst wieder einer chemischen Umsetzung unterliegen, und die Ernährungs-=Thätigkeit= besteht gerade zu einem wesentlichen Theile darin, dass die in noch =crudem= Zustande aufgenommene Substanz in wirkliche Gewebssubstanz umgewandelt wird. Dies kann ganz und gar innerhalb der Zellen geschehen; sehr häufig, insbesondere bei allen mit Intercellularsubstanz versehenen Geweben, ist die Assimilation erst vollendet, wenn die neu entstandene Substanz in die Umgebung der Zellen =abgesondert= ist. Bindegewebe (leimgebendes Gewebe) kann nicht einfach dadurch restaurirt werden, dass wir Leim, etwa in Form einer Brühe, geniessen. Dieser Leim geht, wie das genossene Eiweiss, zum grösseren Theile in Harnstoff über, ohne wieder zu eigentlichem Gewebsmaterial verwendet zu sein. Die Ernährung der Bindegewebs-Intercellularsubstanz haben wir uns vielmehr so zu denken, dass aus einem Theile der Peptone neues Bluteiweiss gebildet wird, dass sodann von diesem ein Theil in die Bindegewebskörperchen aufgenommen und umgesetzt wird, und dass endlich dieser umgesetzte, leimartige Stoff aus den Körperchen in die Intercellularsubstanz ausgeschieden wird. Die assimilirende Thätigkeit ist daher keineswegs eine so einfache, wie man sie sich häufig denkt. [155] Vgl. meinen Vortrag über Nahrung- und Genussmittel (Sammlung gemeinverst. wiss. Vorträge Serie II. Heft 48. S. 22. Berlin 1868.) Zweitens gehört jedoch zu der Ernährung die =Fixirung= der aufgenommenen und assimilirten Stoffe. Ich verstehe darunter die Fähigkeit, diese Stoffe an dem Orte, wohin sie zur Bewahrung des Status quo gehören, auch festzuhalten, sie dem Spiele des Stoffwechsels, insbesondere der Exosmose zu entziehen. Hämoglobin ist eine in Wasser lösliche Substanz. Es genügt, Blutkörperchen in eine grosse Menge von Wasser zu versetzen, um sie auf dem Wege der Exosmose gänzlich »auszulaugen«. Dass eine ähnliche Auslaugung nicht schon durch das Blutwasser (Liquor sanguinis) geschehe, wird nicht bloss durch die concentrirtere Mischung desselben gehindert, sondern auch durch die Constitution der lebenden Blutkörperchen selbst. =Rollett= hat gezeigt, dass man durch Frost in kürzester Zeit die Blutkörperchen in dem gewöhnlichen Blutwasser zur vollständigsten Auslaugung bringen kann. Dasselbe geschieht auch im Körper überall, wo die Blutkörperchen absterben; die todten Körperchen lassen das Blutroth fahren, und dieses vertheilt sich alsbald mit dem Blutwasser in die umgebenden Theile. So entstehen die cadaverösen Färbungen der Leichen und die eigenthümlichen Farben des Brandes beim Lebenden; so kommen jene sonderbaren Entfärbungen der Blutkörperchen in Extravasaten und Thromben zu Stande, welche wir früher besprochen haben (S. 240, Fig. 79, _C_). Wenn der Blutfarbstoff eben seiner Farbe wegen ein besonders günstiges Object für diese Betrachtung ist, so haben wir ein anderes, welches wegen der grossen Häufigkeit und der bedeutenden Wirkungen seiner Exosmose der Aufmerksamkeit in noch weit höherem Maasse würdig ist. Das ist das Wasser. Bei Gelegenheit einer Erörterung der käsigen Metamorphose habe ich die Frage des Stoffwechsels im Todten des Weiteren besprochen[156] und namentlich auch den schnellen Wasserverlust hervorgehoben, von welchem todte Theile im Körper betroffen werden (S. 220). Das Welken der Blätter, die Krustenbildung und Mumification äusserer, die Schrumpfung, der Collapsus innerer thierischer Theile, welche abgestorben sind, stehen auf einer Linie. Dürres Laub, geschrumpfte Zellen sind vollkommene Analoga. [156] Verhandl. der Berliner med. Gesellschaft. 1865-66. S. 245. Der Umstand, dass die aus den Zellen austretenden Stoffe oft nach kurzer Zeit gänzlich verschwinden, hat zu der in früherer Zeit ganz allgemeinen Annahme geführt, es handle sich hier wesentlich um =Resorption=. Allein das Dürrwerden der Blätter, die Mumification brandiger Glieder beruhen auf Wasserverdunstung und nicht auf Resorption. Ueberdiess ist die Resorption, wo sie eintritt, z. B. bei den käsigen Umwandlungen, nur ein secundärer Act. Es war daher allerdings richtiger, als man das Wesen des Vorganges in einer vermehrten =Exosmose= suchte. Aber die Exosmose setzt einen Austausch von Stoffen voraus; überdiess erfolgt sie durch die Force majeure der ausserhalb der Zelle befindlichen Stoffe. Davon ist hier gar nicht die Rede. Der Wasseraustritt aus todten Theilen geschieht auch da, wo gar kein Austausch vorhanden ist, wo gar keine durch Concentration oder Mischung ausgezeichnete Intercellularflüssigkeit vorhanden ist. Der eigentliche Grund liegt in der Unfähigkeit der todten Elemente, ihre Bestandtheile noch festzuhalten. Das, was an todten Theilen im Extrem hervortritt, findet sich bei der Atrophie in geringerem Grade. Wenn ein atrophirender Nerv sein Myelin verliert, wenn eine Pigmentzelle ihr Pigment einbüsst, so braucht sie noch nicht todt zu sein oder zu sterben. Aber ihre innere Festigkeit ist erschüttert, die Solidität des inneren Baues ist beeinträchtigt, und die Folge ist eine =Verkleinerung mit Verschlechterung der Constitution=. Das ist das, was die Alten zum Theil mit dem Ausdrucke der =Kachexie= (Habitus malus) bezeichneten, und was in der antiken solidarpathologischen Lehre vom =Laxum et strictum= einen verständlichen Ausdruck gefunden hat. Denn es liegt auf der Hand, dass dem welken und schlaffen Zustande der Atrophie der derbe und straffe Zustand der guten Ernährung und noch mehr der wahren Hypertrophie gegenübersteht. Hier ist nicht bloss eine reichlichere Aufhäufung wohl assimilirten Stoffes, sondern auch eine stärkere Fixirung desselben vorhanden. Nirgends ist dies deutlicher erkennbar, als an den Muskeln, an welche sich daher auch die technische Sprache lange angeschlossen hat. Die =straffe Faser= der früheren Autoren ist zunächst die gut genährte Muskelfaser (das Primitivbündel) und erst weiterhin jede andere Faser. Dem Strictum et laxum der Methodiker entspricht zum Theil der =Tonus= und die =Atonie= der Neueren. Auch hier hat man in den letzten Jahren fast ausschliesslich den neuristischen Standpunkt eingenommen und den Tonus als die Folge einer dauernden Innervation gedeutet. Für einzelne Theile mag dies zutreffen. Aber allgemein betrachtet entsprechen diese Bezeichnungen den Ernährungszuständen der Gewebe; wie ich ausgeführt habe[157], bedeutet Tonus in diesem allgemeinen Sinne die nutritive Spannung (Tension). Daher galt der Tonus als Merkmal eines gesunden, normalen Zustandes der Theile, wo der günstigen Ernährung auch eine grosse Leistungsfähigkeit (Kraft) entspricht, während Atonie ausser der schlechteren Ernährung zugleich die Erschlaffung (Relaxatio) und Schwäche (Debilitas) bedeutet. Insofern schiebt sich in die Vorstellung neben dem nutritiven Moment zugleich die Voraussetzung eines functionellen mit hinein. [157] Archiv VI. 139. VIII. 27. XIV. 27. Ungleich dehnbarer ist der zu gewissen Zeiten viel gebrauchte Ausdruck des =Turgor vitalis=. Obwohl derselbe in vielen Fällen auch nichts anderes, als die nutritive Fülle eines Theiles bedeutet, so knüpfte sich doch meistentheils zugleich die Vorstellung von einer stärkeren Füllung der Gefässe (Hyperämie) daran. Wie bei dem Tonus die Nerven, so traten bei dem Turgor die Blutgefässe mit in die Betrachtung ein. Auch diese Betrachtung hat ihre Berechtigung. Denn offenbar ist eine gewisse Freiheit der Circulation Vorbedingung für eine reichlichere Zufuhr von Ernährungsmaterial und insofern auch für eine kräftigere Ernährung. Aber wir haben schon früher gesehen, dass die Gefässfüllung und der reichere Zustrom von Blut die Ernährung nicht nothwendig bestimmt (S. 158). Auch in gefässlosen Geweben ernähren sich die Elemente; ja sie leben und erhalten sich in vollständiger Trennung von den Geweben und von den Gefässen. Nach der alten Vorstellung =wird der Theil ernährt= und verhält sich dabei mehr oder weniger passiv; die Thätigkeit der Gefässe bestimmt seine Ernährung. Nach meiner Auffassung =ernährt er sich=: er verhält sich durchaus activ, und die Thätigkeit der Gefässe kann nur seine eigene Thätigkeit fördern oder unterstützen. Jede einzelne Zelle verhält sich, wie eine kleinste Pflanze; sie =wählt= ihr Ernährungsmaterial aus ihrer Umgebung[158]. Jedes Gewebsstück ernährt sich, wie die Frucht im Mutterleibe, die wohl an die Gefässe der Mutter grenzt, aber keinen Zusammenhang mit ihnen hat. Kann man eine grössere Uebereinstimmung denken, als die blosse Juxtaposition der Frucht im Mutterleibe mit einer oculirten Knospe? Die Geschichte der Transplantation von Körpertheilen, wie sie in den jüngsten Tagen bei der Behandlung von Wunden in immer grösserer Ausdehnung mit dem grössten Erfolge geübt wird, gibt die schönsten Beispiele für diese Selbsternährung bloss juxtaponirter Theile. [158] Archiv IV. 381. Aber freilich bedarf auch die Ernährungsthätigkeit bestimmter Erregungsmittel. Ohne diese bleibt ein lebender Theil inmitten der grössten Fülle von Ernährungsstoffen träge und unthätig. Die =nutritiven Reize= sind keineswegs immer Nahrungsstoffe: ein grosser Theil derjenigen Substanzen, welche wir Genussmittel nennen, reizt die Gewebe zu stärkerer Ernährung. Vermehrte Function, mechanische und chemische Einwirkungen der verschiedensten Art haben vermehrte Aufnahme von Nahrungsstoffen im Gefolge[159]. Wie das Licht auf die Pflanzengewebe, so wirkt mechanische Bewegung auf viele Thiergewebe reizend ein. Auch der Nerveneinfluss darf hier nicht ausgeschlossen werden, aber man soll nur nicht im Sinne der Neuristen die gesammte Ernährung als eine Wirkung =trophischer Nerven= betrachten. Ein grosser Theil der Ernährungsvorgänge hat mit Nerven nicht das Mindeste zu thun. Wo aber die Ernährung durch Innervation bestimmt wird, da hat die letztere nur einen modificirenden Einfluss auf die auch ohne sie vorhandene Ernährung. Wie die Muskelirritabilität allein es erklärt, dass die Innervation des Muskels eine Contraction zum Gefolge hat, so erklärt die nutritive Erregbarkeit der einzelnen Theile, dass der Einfluss trophischer Nerven die Aufnahme und Assimilation der Nahrungsstoffe anregen kann. [159] Handb. der spec. Pathol. und Ther. I. 338. Es ist aber für die pathologische Auffassung äusserst wichtig zu wissen, dass ein Theil, der in Folge seiner Energie und in Folge einer Reizung eine grosse Quantität von Material in sich aufnimmt, deshalb nicht nothwendiger Weise in einen dauerhaften Zustand der Vergrösserung zu gerathen braucht, sondern dass im Gegentheile gerade unter solchen Verhältnissen oft eine nachträgliche Störung in der inneren Einrichtung hervortritt, welche den Bestand des Theiles in Frage stellt und welche der nächste Grund wird für den Untergang desselben. Jedes Gewebe besitzt erfahrungsgemäss nur gewisse Möglichkeiten und Grade der Vergrösserung, innerhalb deren es im Stande ist, sich regelmässig zu conserviren; wird dieser Grad, und namentlich schnell, überschritten, so sehen wir immer, dass für das weitere Leben des Theiles Hindernisse erwachsen, und dass, wenn der Prozess besonders acut von Statten geht, eine Schwächung des Theiles bis zu vollständigem Vergehen desselben eintritt. Vorgänge dieser Art bilden schon einen Theil jenes Gebietes, das man in der gewöhnlichen Sprache der =Entzündung= zurechnet[160]. Eine Reihe von entzündlichen Vorgängen stellt in ihrem ersten Anfange gar nichts weiter dar, als eine vermehrte Aufnahme von Material in das Innere der Zellen, welche ganz derjenigen ähnlich sieht, welche bei einer einfachen Hypertrophie stattfindet. Wenn wir z. B. die Geschichte der Bright'schen Krankheit in ihrem gewöhnlichen Verlaufe betrachten, so ergibt sich, dass das Erste, was man überhaupt in einer solchen Niere wahrnehmen kann, darin besteht, dass im Innern der gewundenen und im Uebrigen noch ganz intacten Harnkanälchen der Rinde die einzelnen Epithelialzellen, welche schon normal ziemlich gross sind, sich weiter vergrössern. Aber sie werden nicht bloss sehr gross, sondern sie erscheinen auch zugleich sehr trübe, indem in das Innere der Zellen überall eine reichlichere Masse von eiweissartigem, körnigem Material eintritt. Das ganze Harnkanälchen wird durch diese Schwellung der Zellen breiter, und es erscheint schon für das blosse Auge als ein gewundener, weisslicher, opaker Zug. Isoliren wir die einzelnen Zellen, was ziemlich schwierig ist, da die Cohäsion derselben schon zu leiden pflegt, so sehen wir sie erfüllt mit einer körnigen Masse, welche scheinbar nichts anderes enthält, als dieselben Körnchen, die auch normal im Inneren der Drüsenzellen vorhanden sind. Ihre Anhäufung wird um so dichter, je energischer und acuter der Prozess vor sich geht; ja, allmählich wird selbst der Kern undeutlich. Dieser Zustand von =trüber Schwellung=, wie ich ihn genannt habe, ist an vielen gereizten Theilen der Ausdruck der nutritiven Irritation. Er begleitet eine gewisse Form der sogenannten Entzündung, und macht einen nicht geringen Theil desjenigen aus, was man seit alten Zeiten als =Entzündungsgeschwulst= (Tumor inflammatorius) bezeichnete. [160] Archiv IV. 277, 314, 316. [Illustration: =Fig=. 107. Abschnitt eines gewundenen Harnkanälchens aus der Rinde der Niere bei Morbus Brightii. _a_ die ziemlich normalen Epithelien, _b_ Zustand trüber Schwellung, _c_ beginnende fettige Metamorphose und Zerfall. Bei _b_ und _c_ grössere Breite des Kanals. Vergr. 300.] Zwischen diesen schon degenerativen Vorgängen und der einfachen Hypertrophie finden sich gar keine erkennbaren Grenzen. Wir können von vornherein nicht sagen, wenn wir einen solchen vergrösserten, mit reichlicherem Inhalte versehenen Theil antreffen, ob er sich noch erhalten oder ob er zu Grunde gehen wird, und daher ist es für den Anatomen, wenn er gar nichts über den Prozess weiss, durch den etwa eine solche Veränderung eingetreten ist, in vielen Fällen ausserordentlich schwierig, die einfache Hypertrophie von derjenigen Form der entzündlichen Prozesse zu scheiden, welche wesentlich mit einer Steigerung der Ernährungs-Aufnahme beginnt[161]. [161] Archiv 1852. IV. 263. (Aus einer Vorlesung von 1847). Auch bei diesen Vorgängen ist es nicht wohl möglich, den einzelnen Elementen die Fähigkeit abzustreiten, von sich aus auf eine Anregung, die ihnen direct zukommt, eine vermehrte Stoff-Aufnahme stattfinden zu lassen; mindestens widerstreitet es allen Erfahrungen, anzunehmen, dass eine solche Aufnahme das Resultat einer besonderen Innervation sein müsse. Nehmen wir einen nach allen Beobachtungen ganz nervenlosen Theil, z. B. die Oberfläche eines Gelenkknorpels. Hier können wir, wie dies schon vor einer Reihe von Jahren durch die schönen Experimente von =Redfern= dargethan ist, durch direkte Reize Vergrösserungen der Zellen hervorbringen. Dasselbe beobachtet man im spontanen Ablaufe pathologischer Vorgänge. So zeigen sich nicht selten hügelartige Erhebungen der Knorpel-Oberfläche; wenn wir solche Stellen mikroskopisch untersuchen, so finden wir, wie ich in einem früheren Capitel an einem Rippenknorpel zeigte (S. 26, Fig. 14), dass die Zellen, welche sonst ganz feine, kleine, linsenförmige Körper darstellen, zu grossen, runden Elementen anschwellen, und in dem Maasse, als sie mehr Material in sich aufnehmen, ihre Grenzen hinausschieben, so dass endlich die ganze Stelle sich höckerig über die Oberfläche erhebt. Nun gibt es aber in dem Gelenkknorpel gar keine Nerven; die letzten Ausstrahlungen derselben liegen in dem Marke des zunächst anstossenden Knochens, welches von der gereizten Stelle der Oberfläche durch eine 1/2-1 Linie dicke, intacte Zwischenlage von Knorpelgewebe getrennt sein kann. Es wäre nun gewiss ausser aller Erfahrung, wenn man sich vorstellen sollte, dass ein Nerv von dem Knochenmarke aus eine specielle Action auf diejenigen Zellen der Oberfläche ausüben könne, welche der Punkt der Reizung gewesen sind, ohne dass die zwischen dem Nerven und der gereizten Stelle gelegenen Knochen- und Knorpelzellen gleichzeitig getroffen würden. Wenn wir durch einen Knorpel einen Faden ziehen, so dass weiter nichts, als ein traumatischer Reiz stattfindet, so sehen wir, wie alle Zellen, welche dem Faden anliegen, sich vergrössern durch Aufnahme von mehr Material. Die Reizung, welche der Faden hervorbringt, erstreckt sich nur bis auf eine gewisse Entfernung in den Knorpel hinein, während die weiter abliegenden Zellen durchaus unberührt bleiben. Solche Erfahrungen können nicht anders gedeutet werden, als dass der Reiz in der That auf die Theile einwirkt, welche er trifft; es ist unmöglich, zu schliessen, dass er auf irgend einem, der Doctrin vielleicht mehr entsprechenden Wege durch einen sensitiven Nerven zum Rückenmark geleitet und dann erst wieder durch Reflex auf die Theile zurückgeleitet werde. Freilich sind wenige Gewebe im Körper so vollständig nervenlos, wie der Knorpel; allein auch dann, wenn man die nervenreichsten Theile verfolgt, zeigt es sich überall, dass die Ausdehnung der Reizung oder, genauer gesagt, die Ausdehnung des Reizungsheerdes keinesweges der Grösse eines bestimmten Nerventerritoriums entspricht, sondern dass in einem sonst normalen Gewebe die Grösse des Heerdes wesentlich correspondirt mit der Ausdehnung der localen Reizung. Wenn wir das Experiment mit dem Faden an der =Haut= machen, so wird durch denselben eine ganze Reihe von Nerventerritorien durchschnitten. Es werden aber keinesweges die ganzen Territorien der Nerven, welche an dem Faden liegen, in denselben krankhaften Zustand versetzt, sondern die nutritive Reizung beschränkt sich auf die nächste Umgebung des Fadens. Kein Chirurg erwartet bei solchen Operationen, dass etwa alle Nerventerritorien, welche der Faden kreuzt, in ihrer ganzen Ausdehnung erkranken. Ja, man würde sich in hohem Grade über die Natur beklagen müssen, wenn jede Ligatur, jedes Setaceum über die Grenzen, welche es zunächst berührt, hinaus auf die ganze Ausbreitung der Nervenbezirke, welche es durchsetzt, einen Entzündung erregenden Einfluss ausübte. An der =Hornhaut= lässt sich dies Verhältniss sehr klar verfolgen: an Stellen, wo keine Gefässe mehr hinreichen, liegen noch Nerven; sie besitzen eine netzförmige Anordnung und lassen kleinere Gewebsbezirke zwischen sich, welche frei von Nerven sind. Wenden wir nun irgend ein Reizmittel direkt auf die Hornhaut an, z. B. eine glühende Nadel oder Lapis infernalis, so entspricht der Bezirk, welcher dadurch in krankhafte Thätigkeit versetzt wird, keinesweges einer Nervenausbreitung. Es kam einmal vor, als Hr. =Friedr=. =Strube= unter meiner Anleitung seine Untersuchungen über die Hornhaut machte[162], dass die Aetzung bei einem Kaninchen gerade einen stärkeren Nervenfaden traf, allein die Erkrankung fand sich nur in der nächsten Umgebung dieser Stelle, keinesweges im ganzen Gebiete des Nerven. [162] =Fr=. =Strube.= Der normale Bau der Cornea und die pathologischen Abweichungen in demselben. Inaug. Diss. Würzb. 1851. S. 23. Man kann also, auch wenn man Erfahrungen, wie ich sie vom Knorpel angeführt habe, nicht gelten lassen will, durchaus nicht umhin, zuzugeben, dass die Erscheinungen der Reizung an nervenhaltigen Theilen keine anderen sind, als an nervenlosen, und dass der nächste Effect wesentlich darauf beruht, dass die umliegenden Elemente sich vergrössern, anschwellen, und wenn es ihrer viele sind, dadurch eine Geschwulst des ganzen Theiles entsteht. Das ist es, was man beobachtet, wenn man irgendwo einen Ligaturfaden durch die Haut hindurchzieht. Untersucht man am folgenden Tage die nächste Umgebung des Fadens, so sieht man die active Vergrösserung der zelligen Elemente, ganz unbeschadet der Gefäss- oder Nervenverbreitungen, welche vorhanden sind. Es liegt hier, wie man sieht, ein wesentlicher Unterschied vor von denjenigen Ansichten, welche man gewöhnlich über die nächsten Bedingungen dieser Schwellungen aufgestellt hatte. Nach dem alten Satze: Ubi stimulus, ibi affluxus, dachte man sich gewöhnlich, dass das Nächste, welches einträte, die vermehrte Zuströmung des Blutes sei, welche von den Neuropathologen wieder zurückgeführt wurde auf die Erregung sensitiver Nerven, und dass dann die unmittelbare Folge der vermehrten Zuströmung eine vermehrte Ausscheidung von Flüssigkeit sei, welche das Exsudat constituire, das den Theil erfüllt. In den ersten schüchternen Versuchen, welche ich machte, diese Auffassung zu ändern, habe ich deshalb auch noch den Ausdruck des =parenchymatösen Exsudates= gebraucht[163]. Ich hatte mich nehmlich überzeugt, dass an vielen Stellen, wo eine Schwellung erfolgt war, absolut nichts weiter zu sehen war, als die bekannten Theile des Gewebes (Parenchym). An einem Gewebe, welches aus Zellen besteht, sah ich auch nach der Schwellung (Exsudation) nur Zellen, an Geweben mit Zellen und Intercellularsubstanz nur Zellen und Intercellularsubstanz, -- die einzelnen Elemente allerdings grösser, voller, mit einer Menge von Stoff erfüllt, mit welcher sie nicht hätten erfüllt sein sollen, aber kein Exsudat in der Weise, wie man sich dasselbe bis dahin dachte, frei oder in den Zwischenräumen des Gewebes. Alle Masse war innerhalb der Elemente, im eigentlichen Parenchym des Organes enthalten. Das war es, was ich mit dem Ausdrucke des parenchymatösen Exsudates sagen wollte, und wovon ich den Namen der parenchymatösen Entzündung ableitete. Allerdings ist dieser Name schon vor mir gebraucht worden, aber in einem anderen Sinne, als der war, den ich meinte, und der seitdem gangbarer geworden ist, als es nothwendig war. Ich sprach von Exsudat, insofern damals (1846) alle im Laufe krankhafter Vorgänge an die Oberfläche oder in das Innere der Theile tretenden Stoffe unter diesem Namen zusammengefasst wurden. Indess schon sehr frühzeitig führte ich diese Art der Exsudate auf Abweichungen der Ernährungsströme (Osmose) zurück. Nachdem ich später die nutritive Activität der organischen Elemente, die Ansaugung der Flüssigkeiten durch die Zellen als das Entscheidende kennen gelernt hatte, erschien der Ausdruck Exsudat allerdings ganz ungenau, und ich habe längst aufgehört, ihn für diese Zustände zu gebrauchen. =Parenchymatöse Schwellung= drückt das Besondere derselben vollständig aus. Dieser Ausdruck besagt, dass eine besondere Form der Reizung besteht, welche von anderen Formen bestimmt unterschieden werden muss, insofern hier die einmal gegebenen constituirenden Elemente des Gewebes eine grössere Masse von Stoff in sich aufnehmen, sich dadurch vergrössern und anschwellen, während ausserhalb dieser vergrösserten Elemente weiter nichts vorhanden ist. Es handelt sich dabei also um eine Art von =acuter Hypertrophie mit Neigung zur Degeneration=. [163] Archiv IV. 261, 274. Ein besonderes charakteristisches Beispiel solcher Entzündung mag folgender Fall zeigen. Es war dies eines der auffälligsten Beispiele, welche mir vorgekommen sind. Es handelte sich dabei um eine sogenannte Keratitis. Bei einem Kranken des Herrn =von Gräfe= fand nach heftiger diffuser phlegmonöser Entzündung der Extremitäten eine äusserst schnelle entzündliche Trübung der Hornhaut statt. Als mir die Hornhaut übergeben wurde, schien es mir, als ob sie in ihrer ganzen Dicke undurchsichtig und geschwollen wäre. Die Gefässe des Randes waren stark mit Blut gefüllt. Als ich aber die Hornhaut durch einen senkrechten Schnitt in zwei Hälften zerlegte, und parallel der Schnittfläche verticale Durchschnitte führte, so ergab sich alsbald, schon bei schwacher Vergrösserung, dass die Trübung keinesweges gleichmässig durch die ganze Ausdehnung der Hornhautschnitte ging, sondern sich auf eine bestimmte Zone beschränkte. Diese Zone ist so charakteristisch in Beziehung auf die verschiedenen möglichen Deutungen, dass der Fall, wie ich glaube, ein ganz besonderes Interesse für die Prüfung der Theorie darbietet. [Illustration: =Fig=. 108. Parenchymatöse Keratitis. Durchschnitt durch die Hälfte der Cornea. _A_, _A_ vordere (äussere), _B_, _B_ hintere (innere) Seite der Hornhaut. _C_, _C_ die getrübte Zone mit vergrösserten Hornhautkörperchen. Vergr. 18.] Es zeigte sich nämlich, dass die Trübung unmittelbar vom Rande der Hornhaut begann, und zwar nur an der hinteren (inneren) Seite, dicht an der Descemetschen Haut, da wo sich die Iris anschliesst. Von da stieg die Trübung fast treppenförmig in dem Hornhautschnitt nach vorne hinauf bis in einige Entfernung von der äusseren Oberfläche. Ohne letztere zu erreichen, ging sie gleichmässig bis zur Mitte der Hornhaut fort, um auf der anderen Seite in ähnlicher Weise wieder herunterzugehen. So bildete sich ein trüber Bogen durch die ganze Ausdehnung des Hornhautschnittes hindurch, welcher die äussere (vordere) Oberfläche nirgends erreichte und auch die mittleren Theile der hinteren Fläche frei liess. Denkt man sich die Ernährung der Hornhaut ausgehend vom Humor aqueus, so passt diese Form der Trübung nicht, denn man müsste vielmehr erwarten, dass dann zunächst die (innerste) hinterste Schicht in ihrer ganzen Ausdehnung verändert würde.[164] Handelte es sich umgekehrt um eine Einwirkung von aussen, so müsste die Trübung in den äussersten Schichten liegen. Hinge die Trübung wesentlich ab von den Gefässen, so würden wir, da die Gefässe nur am Rande und mehr an der vorderen Fläche liegen, hier die Haupt-Erkrankung haben erwarten können. Gingen endlich die Veränderungen von den Nerven aus, so würden wir eine netzförmige Verbreitung, aber nicht einen Bogen in dem Durchschnitt finden. [164] Archiv IV. 285. XIV. 53. Den Bau der Hornhaut habe ich schon früher (S. 125) besprochen. Ich führte an, dass er im Allgemeinen blätterig (lamellös) sei, dass aber die Blätter nicht wirklich getrennt seien, sondern vielmehr unter einander zusammenhingen, indem eine überall continuirliche Grund- oder Intercellularsubstanz durch regelmässige Lagen von Zellen (Hornhautkörperchen) in parallele Schichten abgetheilt würde. Der vorliegende Fall zeigt also auch darin eine Besonderheit, dass die Trübung nicht in denselben Schichten (Blättern, Lamellen) blieb, sondern dass sie, indem sie sich von einem Blatte zum anderen fortsetzte, eines nach dem anderen wieder verliess, um in das nächst höhere oder tiefere fortzugehen. Woraus bestand nun aber die, zugleich mit Anschwellung der Hornhaut verbundene Trübung oder kurzweg, die =trübe Schwellung=? Etwa in der Art, wie man sich dies früher meist vorstellte, aus einem zwischen die Hornhautblätter ergossenen, einem sogenannten interstitiellen Exsudate? Im Gegentheil, bei stärkerer Vergrösserung zeigte sich sofort, was man übrigens bei jeder Form von Keratitis constatiren kann, dass die Veränderung wesentlich an den Körpern oder Zellen der Hornhaut bestand. In dem Maasse, als man sich von aussen oder innen her der getrübten Stelle näherte, sah man die kleinen und schmalen Elemente der normalen Theile immer grösser und trüber werden. Zuletzt fanden sich an ihrer Stelle starke, fast kanalartige Züge oder Schläuche. Während diese Vergrösserung der Elemente, diese, wie gesagt, =acute Hypertrophie= erfolgt, wird zugleich der Inhalt der Zellen trüber, und diese Opacität des Inhaltes ist es, welche wiederum die Trübung der ganzen Haut bedingt. Die eigentliche Grund- oder Intercellularsubstanz kann dabei vollkommen frei sein. Die Trübung hinwiederum war durch die Anwesenheit feiner Körnchen bedingt, welche zum Theil fettiger Natur waren, so dass der Prozess schon einen degenerativen Charakter anzunehmen schien. Ich würde auch gar kein Bedenken getragen haben, zu glauben, dass hier eine Zerstörung der Hornhaut wirklich eingeleitet war, allein Herr =von Gräfe=[165] versicherte mich, dass nach seiner Erfahrung eine solche Keratitis sich bei glücklichem Verlaufe wieder zurückbilden könne. In der Sache liegt auch durchaus nichts, was dieser Möglichkeit widerstreitet; da die Zellen noch existiren und nur ihr veränderter Inhalt durch Resolution und Resorption weggeschafft werden muss, so kann ja eine vollständige Restitution eintreten. [165] A. v. =Gräfe= gehörte im Jahre 1858, als ich diese Vorträge hielt, zu meinen fleissigsten Zuhörern. Ich war ebenso überrascht, als gerührt, als ich in diesen Tagen in einem Exemplare der Cellular-Pathologie aus seinem Nachlasse noch die von seiner Hand geschriebenen Notizen fand, in denen er den Gang der Vorträge für sich verzeichnet hatte. [Illustration: =Fig=. 109. Parenchymatöse Keratitis (vergl. Fig. 108) bei stärkerer Vergrösserung. Bei _A_ die Hornhautkörperchen in fast normaler Weise, bei _B_ vergrössert, bei _C_ und _D_ noch stärker vergrössert und zugleich getrübt. Vergröss. 350.] Gerade dieser Gesichtspunkt der =einfach nutritiven Restitutionsfähigkeit= so veränderter Gewebe ist es, der für die praktische Auffassung eine sehr grosse Bedeutung hat. Hier, wo weiter nichts vorgegangen ist, als dass die Elemente vermöge ihrer Activität eine grössere Masse von Stoff in sich aufgehäuft haben, hier kann möglicher Weise auch der Ueberschuss von Stoff wieder entfernt werden, ohne dass die Elemente angegriffen werden. Die Elemente können einen Theil dieses Inhaltes umsetzen, in lösliche Stoffe verwandeln (Resolution), und das Material kann in dieser löslichen Form auf demselben Wege, auf dem es gekommen, wieder verschwinden (Resorption). Die Structur des Gewebes im Grossen bleibt dabei dieselbe; es ist nichts Neues oder Fremdartiges zwischen die Theile eingeschoben; das Gewebe bleibt in seiner natürlichen Anlage und in seiner ursprünglichen Zusammensetzung unverändert. Das ist die parenchymatöse Entzündung, der höchste Grad der nutritiven Reizung, ein Vorgang, der sich unmittelbar an die Hypertrophie anschliesst und der nur dadurch, dass in sehr kurzen Zeiträumen die beträchtlichste Aufnahme von neuem Stoff in die Elemente des Gewebes stattfindet, die Gefahr des inneren Zerfalls, der nachfolgenden Degeneration mit sich bringt. Denn obwohl die Elemente als die eigentlich thätigen, activen Theile die Stoffe an sich ziehen und in sich aufnehmen, so kann es doch sein, dass sie dieselben nicht =assimiliren=, dass dieselben keine dem natürlichen Mischungsverhältnisse des Zellenkörpers homologe Beschaffenheit erreichen und so die Constitution desselben zerrütten[166]. Der gewöhnliche Ausgang des Prozesses ist daher die Nekrobiose, wobei entweder eine direkte Erweichung, oder, was noch häufiger und bei subacutem und chronischem Verlaufe die Regel ist, Fettmetamorphose eintritt. Auf den activen Anfang folgt demnach ein passives Ende. Wenn man den ersteren eine Entzündung nennt, so kann man sagen, es gehe die parenchymatöse Entzündung in Erweichung oder Fettmetamorphose aus. Letztere sind spätere Stadien oder Ausgänge der Entzündung. [166] Archiv XIV. 35. Die parenchymatösen Entzündungen gehören mit zu den allerhäufigsten und zugleich schwersten Erkrankungen des Menschen. Sie begleiten[167] insbesondere die Mehrzahl der von mir so genannten Infectionskrankheiten: die acuten Exantheme (Scharlach, Pocken), den Typhus, die Puerperal- und Wundfieber, die phlegmonösen und erysipelatösen Prozesse, viele Intoxicationen. Nicht selten findet man sie gleichzeitig an zahlreichen Organen des Körpers, namentlich an den Nieren und der Leber, dem Herzen und den willkürlichen Muskeln, so jedoch, dass bei einzelnen Infectionskrankheiten dieses, bei anderen jenes Organ stärker und häufiger ergriffen zu sein pflegt. [167] Gesammelte Abhandlungen 701, 703. Manche haben bezweifelt, ob man in der That ein Recht habe, diese Vorgänge als Entzündungen und als unmittelbare Wirkungen der Entzündungsursache anzusehen. Insbesondere ist die Meinung aufgestellt, die parenchymatösen Veränderungen seien nur die Folge primärer Veränderungen in dem Interstitialgewebe. An den Nieren z. B. erkranke das Epithel nur deshalb, weil das umgebende Bindegewebe verändert sei. Ich muss dies bestimmt in Abrede stellen. Es gibt sehr ausgedehnte interstitielle Nephritiden, bei denen das Epithel wenig oder gar nicht verändert wird, und ebenso die allerstärksten parenchymatösen Formen, bei welchen, wenigstens von Anfang an, das Interstitialgewebe ganz intact ist. Ich möchte aber rathen, diese Frage überhaupt nicht an den zusammengesetzten Organen zu studiren. Wählt man ein Organ, wie die Niere, in welchem ausser dem specifischen Parenchym (den mit Zellen besetzten Kanälchen) noch interstitielles Gewebe vorhanden ist, so geräth man in eine eigenthümliche Schwierigkeit, an welcher die von mir gewählte, in dieser Beziehung nicht ganz glückliche Terminologie die Schuld trägt. Der von =Erasistratus= herstammende Name des Parenchyms, als Ausdruck für die Substantia propria, schafft hier einen Gegensatz zwischen dem epithelialen und dem bindegewebigen Antheil, der an anderen Organen nicht vorhanden ist. An der Hornhaut nennen wir gerade den bindegewebigen Antheil Parenchym und trennen von demselben das vordere und hintere Epithel als besondere Häute. Parenchymatöse Keratitis hat daher in Beziehung auf das befallene Gewebe einen ganz anderen Sinn, als parenchymatöse Nephritis. In Beziehung auf den Prozess aber, und darauf kam es mir für die Terminologie allein an, besteht die vollständigste Uebereinstimmung, denn es sind in beiden Fällen die Gewebselemente selbst, welche die Veränderung und zwar eine acute, irritative Ernährungsstörung erfahren. Zweifelt jemand daran, ob diese wirklich irritativ sei, so möge er doch die Untersuchung an einfachen Theilen, wie die Hornhaut, das Bindegewebe, die Knorpel, beginnen. Hier lassen sich durch mechanische, thermische, chemische Reizung die vollkommensten Formen der parenchymatösen Entzündung hervorrufen. -- [Illustration: =Fig=. 110. Elemente aus einer von Herrn =Textor= 1851 exstirpirten melanotischen Geschwulst an der Parotis. _A_ Freie Zellen mit Theilung der Kernkörperchen und Kerne. _B_ Netz der Bindegewebskörperchen mit Kerntheilung. Vergr. 300.] * * * * * An die Vorgänge der nutritiven Reizung schliessen sich sehr oft unmittelbar die Anfänge =formativer Veränderungen= an. Wenn man nehmlich an bestimmten Theilen die fortschreitende, sich steigernde Reizung verfolgt, so sieht man, dass die Elemente oft kurze Zeit, nachdem sie eine nutritive Vergrösserung erfahren haben, weitere Veränderungen zeigen, welche nicht mehr der Ernährung angehören. Meist beginnen die letzteren im Inneren der Kerne[168]. Gewöhnlich ist das Erste, was man wahrnimmt, dass das Kernkörperchen (Nucleolus) ungewöhnlich gross, in vielen Fällen etwas länglich, zuweilen stäbchenförmig wird. Dann folgt als nächstes Stadium, dass das Kernkörperchen eine Einschnürung bekommt, bisquitförmig wird; etwas später findet man zwei Kernkörperchen. Diese =Theilung= der Kernkörperchen bezeichnet das bevorstehende Theilen des Kernes selber. Das folgende Stadium ist dann, dass um einen solchen getheilten Kernkörper auch eine bisquitförmige Einschnürung und später eine wirkliche Theilung des Kernes zu Stande kommt, wie wir sie schon früher bei den farblosen Blut-und Eiterkörperchen gesehen haben (Fig. 8, _A b_. 65. 72). Hier handelt es sich offenbar um etwas wesentlich Anderes, als vorhin bei der nutritiven Reizung. Bei der einfachen oder degenerativen Hypertrophie bleibt, zunächst wenigstens, der Kern ganz intact; hier dagegen, bei der formativen Reizung, wird der Kern häufig sehr früh verändert, während der Zellkörper eine relativ geringe Abweichung erfährt, höchstens dass er grösser wird, woraus wir schliessen, dass eine gewisse Menge von neuem Inhalt aufgenommen ist. [168] Ueber die Theilung der Zellenkerne. Archiv XI. 89. [Illustration: =Fig=. 111. Markzellen des Knochens, _a_ Kleine Zellen mit einfachen und getheilten Kernen. _b_, _b_ Grosse, vielkernige Elemente. Vergr. 350. Nach =Kölliker= Mikr. Anat. I. 364. Fig. 113.] In manchen Fällen beschränken sich die Veränderungen auf diese Reihe von Umbildungen, als deren Schluss die Theilung des Kernes zu betrachten ist. Diese kann sich wiederholen, so dass 3, 4 Kerne und mehr entstehen (Fig. 16, _b_, _c_, _d_). So kommt es, dass wir zuweilen Zellen finden, nicht bloss unter pathologischen Verhältnissen, sondern auch nicht selten bei ganz normaler Entwickelung, welche 20-30 Kerne und noch mehr besitzen. Im Marke der Knochen, namentlich bei jungen Kindern, finden sich umfangreiche Gebilde, welche ganz voller Kerne stecken, und in welchen die Kerne zuweilen so gross werden, wie die ganze ursprüngliche Zelle. =Robin=, der sie zuerst auffand, aber ihre zellige Natur nicht erkannte, nannte sie aus letzterem Grunde vielkernige Platten (plaques à plusieurs noyaux) und neuerlichst Markplatten (myéloplaxes). Indess sind es wirkliche, vergrösserte Zellen. Aber sie sind nicht auf das Knochenmark beschränkt, sondern sie finden sich, besonders unter pathologischen Verhältnissen, an den verschiedensten Orten. Eine Reihe solcher Beispiele habe ich früher[169] zusammengestellt und durch Abbildungen erläutert, darunter auch das von =Frey= hervorgehobene, jedoch nicht ganz richtig gedeutete Vorkommen solcher Gebilde in Lymphdrüsen. Dieselben Bildungen kommen besonders in manchen Geschwülsten so massenhaft vor, dass man in England danach eine besondere Geschwulst-Species unterscheidet, welche nach dem Vorschlage von =Paget= als =Myeloid-Tumor= (Markgeschwulst) in die Classification aufgenommen ist. Der jüngere =Nélaton= hat sie später als Tumeur à myéloplaxes wieder beschrieben. Ich kann eine besondere Species von Geschwulst darin nicht erkennen; es sind in der Regel sarcomatöse Formen[170]. Jede ausschliessliche Beziehung zum Knochenmark muss diesen Zellen abgesprochen werden. Denn sie finden sich auch in Geschwülsten der Weichtheile, die gar nichts mit Knochen zu thun haben, und, wenngleich weniger gross, in lymphatischen Neubildungen, z. B. beim Typhus, bei Tuberkulose, bei der Perlsucht des Rindviehs[171]. Ich habe daher denselben den allgemeinen Namen der =Riesenzellen= (cellulae giganteae) beigelegt (S. 95, Fig. 31). [169] Archiv XIV. 46. [170] Geschwülste II. 209, 316, 337. [171] Ebendas. II. S. 618, 637, 638, 672, 746. Der gereizte Muskel zeigt ganz ähnliche Formen[172]. Während für gewöhnlich die quergestreiften Muskeln in gewissen Abständen mit Kernen, jedoch nicht sehr reichlich, versehen sind, so finden wir, wenn wir einen Muskel in der Nähe einer gereizten Stelle, z. B. einer Wunde, einer Aetzungs- oder Geschwürsfläche, einer Trichine untersuchen, dass in den Primitivbündeln eine Vermehrung der Kerne vor sich geht. Zuerst bemerkt man Kerne mit zwei Kernkörperchen; dann kommen eingeschnürte, dann getheilte Kerne (vgl. Fig. 25, _b_, _c_. 26, _B_, _C_), und so geht es fort, bis wir an einzelnen Stellen, wo die Theilungen massenhaft geschehen sind, ganze Gruppen von Kernen neben einander, oder ganze Reihen derselben hinter einander finden (Fig. 112). In den ausgesprochenen Fällen dieser Art nimmt die Zahl der Kerne so sehr zu, dass man auf den ersten Blick kaum noch Muskeln zu sehen glaubt, und dass Bruchstücke der Primitivbündel die grösste Aehnlichkeit darbieten mit jenen Plaques à plusieurs noyaux im Knochenmark. Diese excessive Vermehrung der Kerne, =Nucleation=[173] ist etwas ganz Eigenthümliches, welches schon an den Anfang einer wirklichen Neubildung anstreift, obwohl die Neubildung im gewöhnlichen Sinne sich nicht auf einzelne Theile der Zellen beschränkt. Aber gerade für die Muskeln ist es sehr wichtig, dass genau dieselbe Beschränkung bei der ersten embryonalen Bildung, im Laufe des ersten Wachsthums der Muskelprimitivbündel stattfindet. Denn dies ist der Modus, wie der Muskel ursprünglich wächst. Wenn man einen wachsenden Muskel verfolgt, so sieht man dieselbe Theilung der Kerne; nachdem Gruppen und Reihen von Kernen in ihm entstanden sind, so schieben sich diese beim Wachsen durch immer reichlichere Zwischenmasse allmählich aus einander. Obwohl nun ein Längenwachsthum an dem pathologisch gereizten Muskel nur dann mit Sicherheit demonstrirt werden kann, wenn der Muskel zugleich ausgedehnt wird, wie dies durch die Spannung unterliegender Geschwülste, am Herzen durch Widerstände der Circulation geschieht, so müssen wir doch die vollkommene Analogie mancher krankhaften Reizungsvorgänge am Muskel mit den natürlichen Wachsthumsvorgängen als eine sichere Thatsache festhalten. Denn der bildende Akt des wirklichen Wachsthums beginnt mit einer Vermehrung der Centren, und als solche müssen, wie schon vor langer Zeit =John Goodsir= gezeigt hat, die Kerne in Beziehung auf die Zellen betrachtet werden[174]. [172] Archiv IV. 313. XIV. 51. Taf. I. Fig. 3 _c_. [173] Archiv XIV. 62. [174] Archiv IV. 383. IX. 43. XIV. 32. [Illustration: =Fig=. 112. Kerntheilung in Muskelprimitivbündeln des Oberschenkels im Umfange einer Krebsgeschwulst. Bei _A_ ein Primitivbündel, dessen Querstreifung nicht überall ausgeführt worden ist, mit seinem natürlichen, spindelförmigen Ende _f_, und mit beginnender Kernvermehrung. _B_ Starke Kernwucherung. Vergröss. 300.] Geht man nun einen Schritt weiter in der Betrachtung dieser Vorgänge, so kommen wir an die =Neubildung der Zellen selbst (Cellulation)=. Nachdem die Wucherung der Kerne stattgefunden hat, so kann allerdings, wie wir gesehen haben, die Zelle als zusammenhängendes Gebilde sich noch erhalten, allein die Regel ist doch, dass schon nach der ersten Kerntheilung die Zellen selbst der Theilung verfallen, und dass nach einiger Zeit zwei, dicht neben einander liegende, durch eine mehr oder weniger gerade Scheidewand getrennte, je mit einem besonderen Kern versehene Zellen gefunden werden (Fig. 9, _b_, _b_). =Fissipare= Bildung ist der regelmässige Modus der Vermehrung organischer Elemente. Die beiden durch die Theilung entstandenen Zellen können später auseinander rücken, wenn es ein Gewebe ist, welches Intercellularsubstanz erzeugt (Fig. 9, _c_, _d_), oder dicht aneinander liegen bleiben, wenn es sich um ein bloss aus Zellen bestehendes Gewebe handelt (Fig. 29, _C_). Bei weiterem Verlaufe kann eine immer fortgehende Theilung der Zellen stattfinden und zu dem Entstehen grosser Zellengruppen aus ursprünglich einfachen Elementen führen (Fig. 14. 23). Am bequemsten übersieht man dies am wachsenden oder gereizten Knorpel. Durch die fortgesetzte Theilung der ursprünglich einfachen Knorpelzellen entstehen anfangs kleine Häufchen verhältnissmässig kleiner Zellen. Letztere vermehren sich von Neuem fissipar, die Häufchen werden grösser. Endlich wachsen auch die neugebildeten Zellen durch Intussusception neuer Stoffe und zuletzt werden sie grösser, als die ursprünglichen Zellen, von denen sie ausgegangen sind. Es war dies der Punkt, wo ich zuerst auf die Uebereinstimmung des thierischen Wachsthums mit dem pflanzlichen aufmerksam wurde[175], und von wo aus ich allmählich das Gesetz der continuirlichen Entwickelung (S. 24) durch immer mehr ausgedehnte Untersuchungen aufbauen konnte. [175] Archiv (1849) III. 220. Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin. Berlin 1849 S. 35. Gesammelte Abhandl. 43. Archiv XIV. 38. [Illustration: =Fig=. 113, I. Wucherung (Proliferation) des wachsenden Diaphysenknorpels von der Tibia eines Kindes. Längsschnitt. _a_ Die zum Theil einfachen, zum Theil in die Wucherung eintretenden Knorpelelemente an der Epiphysengrenze. _b_ Die durch wiederholte Theilung einfacher Zellen entstandenen Zellengruppen. _c_ Die durch Wachsthum und Vergrösserung der einzelnen Zellen bedeutend entwickelten Zellengruppen gegen den Verkalkungsrand der Diaphyse hin; die Intercellularsubstanz immer spärlicher. _d_ Durchschnitt eines Blutgefässes. Vergröss. 150.] Der plastische Vorgang ist natürlich am einfachsten zu übersehen in Geweben, welche ganz und gar aus Zellen bestehen, daher am besten am Epithel. Er ist hier um so mehr charakteristisch, als wenigstens die geschichteten Epithelien fort und fort in der Neubildung begriffen sind und in ausgezeichnetem Sinne abfällige Gewebe (S. 70) darstellen. Das Haar wächst, indem immer neue Elemente an seiner Zwiebel gebildet werden, welche die älteren vor sich her schieben; das Nagelblatt wird durch immer neuen Nachwuchs vom Falze her über das Nagelbett fortgedrängt (S. 34); die Epidermis selbst regenerirt sich fortwährend aus den oberen Lagen des Rete Malpighii. Aehnlich verhält es sich mit den lymphatischen Drüsen, deren Zellen immer neu entstehen und als vollständig getrennte Elemente sich von einander scheiden. Ungleich verwickelter sind die Verhältnisse in bindegewebigen Theilen, wo die neuen Zellen um sich wieder Intercellularsubstanz ausscheiden und diese oft so reichlich wird, dass die Zellen dadurch ganz in den Hintergrund der Betrachtung gedrängt werden. Bis zu dem Augenblicke, wo ich die Struktur des Bindegewebes kennen lehrte, richtete sich daher auch die Aufmerksamkeit fast ausschliesslich auf die Intercellularsubstanz oder, wie man oft sagte, auf die Fasern, und die wunderbarsten Theorien der Neubildung bauten sich auf dieser missverstandenen Interpretation der Gewebsstruktur auf. In Wahrheit geht die Bildung des Bindegewebes ebenso durch Vermehrung der Zellen vor sich, wie die der epithelialen Formationen, und in günstigen Objecten kann man sogar die Reihen der jungen Elemente weit sicherer wahrnehmen, da sie durch die Intercellularsubstanz festgehalten und gleichsam eingemauert sind. An der Stelle einzelner Spindelzellen sieht man dann zuweilen lange Reihen semmelförmig an einander gereihter Rundzellen; ja in einzelnen Fällen findet man im Anschlusse an einen Grundstock von Spindelzellen zahlreiche ausstrahlende Reihen von jungen, theils länglichen, theils rundlichen Zellen, welche die junge Brut des durch die Reizung veränderten Nachbargewebes darstellen (Fig. 113, II.). Je langsamer und anhaltender die Vermehrung erfolgt, um so mehr überzeugend sind die Objecte, und daher eignen sich Geschwulsttheile dazu im Ganzen mehr, als entzündliche Neubildungen. [Illustration: =Fig=. 113, II. Mikroskopischer Schnitt aus einem Myxosarcom des Oberkiefers. Reihenweise Proliferation der Zellen mit Ausscheidung hyaliner Intercellularsubstanz. Vergr. 350.] Den Vorgang der Zellenvermehrung nenne ich =Wucherung=, =Proliferation=[176]. Was im wachsenden Körper als Ausdruck eines unbekannten, von der Befruchtung her fortdauernden, =immanenten= Reizes, den ich den =Wachsthumsreiz= nennen will, erfolgt, das tritt im erwachsenen Körper als das Resultat einer direkten Reizung der Gewebe ein. Kehren wir z. B. auf den Fall zurück, welchen wir vorhin betrachteten, dass ein einfach mechanischer Reiz durch das Einziehen eines Fadens in die Theile gesetzt wird, so beschränkt sich in der Regel die eintretende Schwellung nicht einfach auf die Vergrösserung der bestehenden Elemente (nutritive Reizung), sondern es finden Theilungen und Vermehrungen derselben statt (formative Reizung). Im Umfange eines Fadens, welchen wir durch die Haut ziehen, zeigt sich gewöhnlich schon am zweiten Tage eine Reihe von jungen Elementen[177]. Dieselbe Veränderung kann man durch einen chemischen Reiz hervorbringen. Wenn man z. B. ein Kauter an die Oberfläche eines Theiles applicirt, so ist das Nächste, dass die Zellen anschwellen, aber alsbald beginnen bei regelmässigem Fortgange der Reizung die Elemente sich zu theilen und es tritt eine mehr oder weniger reichliche Wucherung der Zellen ein. [176] Spec. Pathol. und Ther. I. 330. [177] Archiv XIV. 61. Ein Umstand erschwert das Studium dieser Neubildungs-Vorgänge in hohem Maasse. Es ist dies die =Auswanderung der farblosen Blutkörperchen=, welche selbst in das Innere von Geweben in grösserer Zahl eindringen und sich hier mit den Elementen der Gewebe mischen. In manchen Fällen ist es unmöglich zu erkennen, was ausgewandert und was neugebildet ist. Viele der neueren Beobachter, welche sich nur vorübergehend mit Forschungen dieser Art beschäftigt haben, sind daher auf den schon von G. =Zimmermann= aufgestellten Satz zurückgekommen, dass alle Neubildung von den farblosen Blutkörperchen ausgehe. Einige haben das Wachsthum der epithelialen Gewebe auf Wanderzellen zurückgeführt; andere haben das Bindegewebe, die Muskeln und Nerven daraus hervorgehen lassen. Diese Einseitigkeit ist, wie zum Theil schon durch umständliche, unter allen Cautelen vorgenommene Untersuchungen festgestellt ist, durchaus irrthümlich. Sie ist weder für die epitheliale, noch für die bindegewebigen Theile zulässig. Wie im Knorpel, bei dem meines Wissens noch niemand die jungen Elemente auf farblose Blutkörperchen gedeutet hat, die alten Zellen (=Mutterzellen=) sich theilen und neue Zellen (=Tochterzellen=) hervorbringen, unter deren Erzeugung sie selbst aufhören zu existiren, so bringen auch die Bindegewebskörperchen durch progressive Theilung neue Brut hervor. Die epithelialen Zellen erleiden, wie =Eberth=, F. =Hoffmann= und =Heiberg= gezeigt haben, nicht selten eigenthümliche Gestaltveränderungen, partielle Verlängerungen und Auswüchse, ehe sich ihre Theile von einander trennen. An Hornhautzellen hat =Stricker= vor der Theilung mancherlei amöboide Erscheinungen wahrgenommen, welche der Mobilisirung dieser Elemente entsprechen. Von den Blutcapillaren weiss man schon seit langer Zeit, namentlich durch =Kölliker= und =Joseph Meyer=, dass von ihnen zunächst Fortsätze aussprossen, welche Kerne erhalten, zellig werden und endlich neue Capillaren herstellen. Die Erfahrungen von der Auswanderung der farblosen Blutkörperchen, weit entfernt, die von mir vertretene Grundanschauung von der cellularen Ableitung der neuen Zellen, den Grundsatz: Omnis cellula e cellula (S. 24) zu erschüttern, haben vielmehr denselben nur gestützt. Manche irrthümliche Deutung ist dadurch corrigirt worden, aber das cellulare Princip hat eine wesentliche Verstärkung erfahren. Mag ein grosser Theil der Exsudatzellen direkt aus dem Blute stammen, mögen sich diese Zellen, wie =Stricker= angiebt, im Exsudate weiter theilen und vermehren, immerhin stammt die junge Brut von früheren Zellen ab. Die plastischen Exsudate sind nicht mehr im alten Sinne plastisch (S. 23), und es ist nicht das freie Plasma oder Fibrin, welches durch organische Krystallisation neue Zellen liefert, nicht die Intercellularsubstanz, welche, wie noch =Schwann= vom Knorpel lehrte, als Cytoblastem die jungen Elemente aus sich hervorbringt, sondern es ist die Zellsubstanz selbst, das Protoplasma der Neueren, woraus im Wege der fortschreitenden Proliferation die organischen Einheiten neu geschaffen werden. Der =Bildungstrieb= (nisus formativus), die =plastische Kraft= (vis plastica) haftet an den schon existirenden Elementen, nicht an dem freien Blastem, dem Succus nutritius. Sonderbarerweise behaupten Einzelne, meine ganze Theorie der Neubildung sei auf das Bindegewebe gebaut; nur aus ihm hätte ich die neuen Elemente hervorgehen lassen. Zu keiner Zeit habe ich solche Vorstellungen gehegt. Ich habe zu allen Zeiten die formativen Eigenschaften der Epithelialformationen anerkannt; ich habe zuerst die mit Kernvermehrung einhergehenden Reizungsprocesse an den Muskelprimitivbündeln und den Capillaren beschrieben[178]; ja ich habe zu einer Zeit, wo die farblosen Blutkörperchen noch sehr missachtet waren, die Organisation des Thrombus auf sie bezogen[179]. Es liegt mir daher sehr fern, in irgend einer Weise den erfreulichen Fortschritten unseres positiven Wissens mich neidisch entgegenstellen zu wollen; im Gegentheil, ich begrüsse jede neue Entdeckung auf diesem Gebiete als eine neue Waffe zur Vertheidigung meiner Grundanschauung. [178] Archiv XIV. 51. [179] Gesammelte Abhandlungen 327. Um nicht missverstanden zu werden, will ich sogleich hinzusetzen, dass diese Grundanschauung durchaus verträglich ist mit der Aufstellung verschiedener Arten von Zellenbildung (Cytogenesis), vorausgesetzt, dass es Zellsubstanz ist, welche das Material dazu liefert. Es ist keineswegs nöthig, dass jede Neubildung mit Theilung anhebt; wir werden später sehen, dass auch die endogene Zellbildung innerhalb gewisser Grenzen zulässig erscheint. Ein wirklicher Gegensatz würde erst entstehen, wenn =extracelluläre Neubildung= irgendwo vorkäme. Da dies für den menschlichen Körper von niemand mehr behauptet wird, so liegt wenigstens für jetzt kein Grund zur Unruhe vor. Ueber die durch die Neubildung (Neoplasie) entstehenden Gewebe, insbesondere über die pathologischen, habe ich früher, namentlich im vierten Capitel, weitläufiger gehandelt; auch werden wir später darauf noch weiter zurückkommen. Hier genügt es festgestellt zu haben, dass die im strengsten Sinne =productive und positive Leistung der Neubildung von der formativen oder plastischen Thätigkeit der Elemente ausgeht=, nicht von beliebigen, mit den Ernährungsstoffen mehr oder weniger identischen Substanzen, die man noch vor Kurzem als =histogenetische= bezeichnete. Dass auch im Innern der Gewebselemente gewisse Substanzen die Träger der formativen Reizbarkeit seien, soll damit natürlich nicht ausgeschlossen sein; der chemischen Forschung ist hier ein gewiss sehr lohnendes Feld noch vorbehalten. Wir, als Biologen, haben zunächst den Gewinn festzuhalten, dass es eine =Lebensthätigkeit= der geformten Elemente ist, neue Elemente hervorzubringen, und zwar eine Thätigkeit, welche an den Elementen selbst haftet, wenngleich äussere Reize dazu gehören, um sie in Wirksamkeit zu setzen. Diese =formativen Reize= können sehr mannichfaltiger Art sein: mechanische, chemische, physikalische. Wie die Spermatozoiden die Eizelle zu ihrer plastischen Thätigkeit reizen, so sind es andere Stoffe katalytischer Art, welche andere Zellen zu oft ebenso wunderbaren Leistungen anregen. Immer handelt es sich dabei um Akte, welche durchaus gar keine Verschiedenheit in ihrem Geschehen erkennen lassen, mag der Theil nervenhaltig oder nervenlos sein, Gefässe führen oder nicht. Demnach können wir also auch nicht sagen, dass irgend etwas von diesen Vorgängen mit Nothwendigkeit gebunden erschiene an Nerven- und Gefässthätigkeit; im Gegentheil, wir werden hier auf die Theile selbst gewiesen. Die Beziehung der Gefässe ist durchaus nicht in dem Sinne zu deuten, wie man dies gewöhnlich thut, dass die Zufuhr reichlicheren Materials, die Exsudation von Plasma das Bestimmende ist; die Aufnahme von Material in das Innere der Elemente, aus welchem die Vergrösserung und die späteren Theile hervorgehen sollen, ist vielmehr unzweifelhaft ein Akt der Elemente selbst. Denn wir haben bis jetzt gar keinen Modus, auf irgend einem Wege der Experimentation durch eine primär die Gefässe treffende Einwirkung eine Wucherung der Zellen in dem =gesunden= Körper hervorzurufen. Man kann die Circulation in den Theilen steigern, so weit sie zu steigern ist, ohne dass daraus eine Schwellung oder Vermehrung der Elemente unmittelbar folgte. Gerade die schon früher erwähnten Experimente mit der Durchschneidung des Sympathicus haben bekanntlich ergeben, -- ich selbst habe diese Experimente sehr häufig angestellt und in diesem Sinne verfolgt[180], -- dass ein vermehrter Zustrom von Blut (Fluxion, Congestion, Hyperämie) Wochen lang bestehen kann, ein Zustrom von Blut, welcher mit starker Steigerung der Temperatur und entsprechender Röthung verbunden ist, so gross, wie wir sie irgend in Entzündungen antreffen, ohne dass dadurch die Zellen des Theiles im Mindesten vergrössert oder gar an ihnen Vorgänge der Wucherung herbeigeführt werden (S. 158). Wenn man nicht die Gewebe selbst reizt, die Irritation in die Theile selbst einbringt, sei es, dass man die reizenden Stoffe von aussen oder von dem Blute aus wirken lässt, so kann man nicht auf den Eintritt dieser Veränderungen rechnen. Das ist der wesentliche Grund, aus welchem ich folgere, dass diese unzweifelhaft aktiven Vorgänge in der besonderen Thätigkeit der Elementartheile begründet sind, -- einer Thätigkeit, welche nicht an vermehrten Zustrom von Blut gebunden ist, welche freilich dadurch begünstigt wird, aber auch vollständig unabhängig davon vor sich gehen kann, und =welche sich ebenso deutlich an gefässlosen Theilen darstellt=[181]. [180] Spec. Pathologie und Ther. I. 274. [181] Ebendaselbst I. 62, 152. Schon bei einer früheren Gelegenheit[182] habe ich darauf hingewiesen, dass Zunahme der Ernährung in dem Sinne, dass damit eine Vergrösserung und Vermehrung der Elementartheile des Körpers bezeichnet wird, nicht identisch sei mit Steigerung des Stoffwechsels, welche in einem bloss vermehrten Umsatz der Gewebstheile bestehen könne. Ein solcher vermehrter Umsatz mag immerhin in einem Theile stattfinden, zu dem mehr Ernährungsmaterial strömt, eben so wie in der Regel ein Mensch, der viel isst, auch mehr umsetzt und ausscheidet, als einer, der wenig Nahrung zu sich nimmt. Das blosse Vielessen macht aber noch nicht dick und stark. Ein Organ, welches in Folge einer vermehrten Zuströmung von Blut (Fluxion) mehr Stoff in sich aufnehmen und =festhalten= (fixiren, assimiliren) soll, muss in einen gewissen Zustand der Erregung (Reizung) versetzt werden. Diese Erregung kann durch das zuströmende Blut gesetzt werden. Entweder enthält dieses Blut besondere Stoffe, welche auf den Theil erregend einwirken, wie Excretstoffe auf die Excretionsorgane, oder der Theil befindet sich in einem solchen Zustande von Reizbarkeit, dass auch das gewöhnliche Blut genügt, um die Erregung wirklich hervorzurufen. Letzterer Fall führt auf die wichtige, wenngleich in neuerer Zeit so sehr vernachlässigte Lehre von den =Prädispositionen=, also auf präexistirende krankhafte oder wenigstens mangelhafte Zustände der Organe[183]. Diese können uns aber um so weniger bestimmen, für gesunde Organe eine gleiche Einwirkung zuzulassen, als ja gerade der krankhafte Zustand der prädisponirten Theile (loci minoris resistentiae) uns wiederum auf die Frage von der Bedeutung der Theile selbst hinleitet. [182] Spec. Pathologie und Ther. I. 327. [183] Ebendaselbst I. 21, 23, 78, 152, 281, 289, 340. Ganz ähnlich, wie mit der Einwirkung der Gefässe, verhält es sich mit der Einwirkung der Nerven, auf welche man früher so grossen Werth legte. Zunächst muss man erwägen, dass die neueren Erfahrungen allmählich die Lehre von den sogenannten =neuroparalytischen Entzündungen= gänzlich verändert haben[184]. Die beiden Nerven, um die es sich bei der Discussion der entzündlichen Phänomene fast ausschliesslich gehandelt hat, sind der Vagus und der Trigeminus, nach deren Durchschneidung man in dem einen Falle Pneumonie, in dem anderen die berühmten Veränderungen des Augapfels, namentlich der Cornea, eintreten sah. Diese Erfahrungen haben sich dahin aufgelöst, dass allerdings nach dem Durchschneiden Entzündungen eintreten können, dass diese aber so gedeutet werden müssen, dass sie =trotz der Durchschneidung auftraten=. Vom Vagus ist es bekanntlich schon vor längerer Zeit durch =Traube= dargethan worden, dass die Lähmung der Stimmritze, welche das Eintreten von Mundflüssigkeiten in die Luftwege erleichtert, ein Hauptmittel für die Entstehung der Entzündung ist. Die genauere Deutung der pathologisch-anatomischen Befunde hat überdies herausgestellt, dass sehr Vieles von dem, was man Pneumonie genannt hatte, eben nichts weiter als Atelectase mit Hyperämie der Theile war; die wirkliche Pneumonie ist sicher zu vermeiden, wenn die Möglichkeit des Hineingelangens fremder Körper in die Bronchien abgeschnitten wird. Dasselbe ist für die Trigeminus-Entzündungen erreicht worden, und zwar durch ein sehr einfaches Experiment. Nachdem man sich früher auf die mannichfachste Weise bemüht hatte, die verschiedenen störenden Einwirkungen auf das seiner Empfindung beraubte Auge zu beseitigen, so ist es endlich in Utrecht gelungen, ein sehr einfaches Mittel zu finden, um dem Auge wieder einen empfindlichen Apparat zu substituiren; =Snellen= nähte bei Thieren, welchen er den Trigeminus durchschnitten hatte, das empfindende Ohr vor das Auge. Von der Zeit an bekamen die Thiere keine Entzündungen mehr, indem einerseits ein directer Schutz gegeben, andererseits die Thiere durch die Anwesenheit einer empfindenden Decke vor traumatischen Einwirkungen auf das Auge bewahrt wurden. So wie man die Empfindung, nicht am Auge selbst, sondern nur vor dem Auge herstellte, so war damit auch die an sich rein traumatische Entzündung beseitigt. [184] Archiv VIII. 33. Vergl. Spec. Pathol. I. 51. =Bernard= hat gegen dieses Experiment eingewendet, dass es nicht constante Resultate ergebe, und dass überhaupt die Nervendurchschneidung bei =geschwächten= Thieren sehr leicht Ernährungsstörungen und selbst Entzündungen erzeuge. Dieses kann gewiss nicht geleugnet werden und ist wenigstens von mir nie geleugnet worden. Im Gegentheil habe ich immer auf diese =asthenischen Entzündungen=, die ja in der Pathologie stets anerkannt worden sind und sich der täglichen Beobachtung des Arztes wie in natürlichen Experimenten darbieten, hingewiesen. »=Die asthenischen Entzündungen sind als reine Entzündungen in geschwächten Theilen oder Körpern zu betrachten=«, so habe ich vor 17 Jahren meine Anschauung formulirt[185]; den Unterschied sthenischer und asthenischer Formen aber fand ich darin, dass bei den ersteren ein grösserer Bruchtheil der constituirenden Gewebspartikeln unverändert, noch kräftig bleibe, und dass damit eine grössere Möglichkeit der Ausgleichung der Störungen gegeben sei, indem von demjenigen Bruchtheile aus, der seine Integrität bewahrt hat, die Regulation ausgehen könne. [185] Spec. Pathologie und Ther. I. 80. Weiter hin habe ich, wie schon früher =Valentin=, hervorgehoben, dass »=mit dem Nachlasse der Innervation ein Nachlass der Widerstandsfähigkeit der Theile oder kurz, eine grössere Prädisposition zu Erkrankungen hervortrete=«[186]. Ich habe ferner in einer Vollständigkeit, wie vor mir kein anderer Autor, eine ganze Klasse von Störungen unter der Bezeichnung der =neurotischen Atrophien= gesammelt und dadurch den Schluss befestigt, dass unzweifelhaft eine Einwirkung des Nervensystems auf die Gewebe bestehe[187]. Aber ich muss noch heute, wie damals, aussagen, dass diese Thatsachen in keiner Weise darthun, dass es bestimmte Nerven giebt, welche der Ernährung vorstehen, und dass die Einwirkung dieser Nerven eine directe ist. Jedenfalls ist in allen Fällen von Neuroparalyse der Mangel an Innervation nur ein Grund der Schwächung, aber nicht ein Grund der Reizung. Diese geht von anderen Einwirkungen aus, welche das Gewebe erfährt, aber sie steigert sich leicht zur Entzündung, weil das Gewebe weniger befähigt zur Regulation ist und weil also jede Störung dauerhafter und energischer wirkt, als an einem gesunden Theile. In welcher Ausdehnung diese Entzündung, welche man immerhin eine neuroparalytische nennen kann, sich ausdehnen und zerstörend wirken kann, habe ich in der Geschichte der Lepra anaesthetica dargethan[188]. [186] Ebendaselbst I. 276. Vergl. Archiv IV. 275. [187] Ebendaselbst I. 319, 323. Gesammelte Abhandl. 689. Entwickelung des Schädelgrundes 109. [188] Geschwülste II. 528. Eine ganz andere Gestaltung hat jedoch diese Frage angenommen, seitdem =Samuel= den Nachweis trophischer Nerven durch Versuche darzuthun gesucht hat, in denen entzündliche Reizung der Theile durch starke Erregung der Nerven hervorgebracht werden sollte. Dies wäre also gerade das umgekehrte der neuroparalytischen Entzündungen, und es ist nur das Auffällige dabei, dass der Verlauf der Localprozesse genau derselbe sein soll, wie der früher bei Durchschneidung, also Lähmung der Nerven beobachtete. Eine genauere Prüfung dieser Versuche ist dringend nothwendig; sollte sich dabei ihre Richtigkeit herausstellen, so würde doch daraus nur folgen, wie =Samuel= selbst sehr richtig dargelegt hat, dass auch von den Nerven aus den Theilen wirkliche Entzündungsreize zugeführt werden können. Die Frage von der selbständigen Thätigkeit (Autonomie) der Elemente des Gewebes wird davon nicht im Geringsten berührt. Denn wir können sowohl an gelähmten, als an ganz und gar =nervenlosen= Theilen durch directe Irritamente dieselben Reizungsvorgänge hervorrufen, welche wir an unveränderten und nervenreichen Theilen erzeugen. Schnelligkeit, Grad und Ausdehnung der Prozesse mögen verschieden sein, die Prozesse selbst sind es nicht. Mindestens dürfen wir auch jetzt noch sagen: es ist gar keine Form von irritativen Störungen bekannt, welche aus der aufgehobenen Action eines Nerven direct hergeleitet werden könnte. Ein Theil kann gelähmt sein, ohne dass er sich entzündet; er kann anästhetisch sein, ohne dieser Gefahr unmittelbar ausgesetzt zu sein. Es bedarf immer noch eines besonderen Reizes, sei es mechanischer oder chemischer Art, sei es von aussen oder vom Blute her, um die eigenthümliche Erregung der an sich autonomen Gewebselemente zu Stande zu bringen. Auf diese Weise gewinnen wir eine Reihe von Verbindungen zwischen eminent pathologischen Thatsachen und den nächsten Vorgängen des physiologischen Lebens, Thatsachen, welche aber nur dann in ihrer besonderen Bedeutung sich erkennen und definiren lassen, wenn man eben die Scheidungen macht, welche ich im Anfange dieses Capitels hervorhob, das heisst, wenn man die Erregungen je nach ihrem functionellen, nutritiven oder formativen Werthe trennt. Wirft man sie zusammen, wie es in der Lehre von der Innervation fast immer geschehen ist, sondert man namentlich nicht die formativen und nutritiven Vorgänge, dann kommt man auch zu keiner einfachen Erklärung der Erscheinungen. Dies gilt namentlich für die eigentlich =entzündlichen Reizungen=. Sie lassen überhaupt nie eine einfache Deutung zu, weil es sich dabei um keine einfachen (elementaren) Prozesse handelt[189]. In der Entzündung finden wir neben einander alle möglichen Formen der Reizung. Ja wir sehen sehr häufig, dass, wenn das Organ selbst aus verschiedenen Theilen zusammengesetzt ist, der eine Theil des Gewebes sich functionell oder nutritiv, der andere dagegen sich formativ verändert. Wenn man einen Muskel ins Auge fasst, so wird ein chemischer oder traumatischer Reiz an den Primitivbündeln desselben vielleicht in dem ersten Moment eine functionelle Reizung setzen: der Muskel zieht sich zusammen; dann aber stellen sich nutritive Störungen (trübe Schwellung) oder formative Veränderungen (Kernvermehrung) ein. Im Zwischen-Bindegewebe, welches die einzelnen Muskelbündel zusammenhält, gibt es meist sofort wirkliche Neubildungen, sehr leicht Eiter. Hier handelt es sich also um eine wesentlich formative Reizung, während das entzündete Primitivbündel in sich weder Eiter, noch neue Muskelsubstanz zu erzeugen pflegt; vielmehr treten hier bei einer gewissen Höhe der Reizung am häufigsten degenerative nutritive Prozesse ein. Auf diese Weise kann man die drei Formen der Reizung an einem und demselben Organ von einander trennen. Natürlich kann dabei auch gleichzeitig noch eine Exsudation und eine Reizung der Nerven bestehen, aber letztere hat (zumal wenn man von der Function des Organs absieht) mit den Prozessen im eigentlichen Gewebe keinen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, sondern sie ist ein Collateraleffect der ursprünglichen Störung. Für den Krankheitsprozess im Ganzen mag sie eine grosse Bedeutung erlangen, sei es, dass der Schmerz als ein hervorstechendes Symptom sich fühlbar macht, sei es, dass directe oder reflektorische Veränderungen an den Gefässen dadurch herbeigeführt werden. Letztere können einen grossen Einfluss auf die eintretenden Transsudationen ausüben und so eine neue Complication darstellen. Aber es ist leicht ersichtlich, dass mit jeder neuen Complication das Krankheitsbild eben auch ein mehr zusammengesetztes wird, und dass man sich nicht einem einheitlichen Prozesse, sondern vielmehr einem Collektivprozesse gegenüber sieht. Die Entzündung als solche aber bedarf weder der Nerven, noch der Gefässe, weder des Schmerzes, noch der Exsudation: sie kann als einfach nutritiver oder formativer Vorgang bestehen, von anderen ähnlichen nur ausgezeichnet durch den Charakter der Acuität und namentlich der Gefahr[190]. [189] Archiv IV. 279. [190] Handb. der spec. Pathologie und Therapie. I. 76. Diese Erfahrung ist meines Erachtens als der für die ärztliche Anschauung wichtigste Erwerb meiner speciellen histologischen Untersuchungen anzusehen, und er ist um so sicherer, als man ihn sowohl durch das Experiment, als durch physiologische und pathologische Erfahrung controliren kann. Später werde ich zeigen, wie das Studium der entzündlichen Prozesse dadurch eine klarere Auffassung gewinnt. Siebzehntes Capitel. Passive Vorgänge. Fettige Degeneration. Die passiven Vorgänge in ihren beiden Hauptrichtungen zur Degeneration: Nekrobiose (Erweichung und Zerfall) und Induration. Die fettige Degeneration. Histologische Geschichte des Fettes im Thierkörper: das Fett als Gewebsbestandtheil, als transitorische Infiltration und als nekrobiotischer Stoff. Das Fettgewebe. Polysarcie. Fettgeschwülste. Die interstitielle Fettbildung. Fettige Degeneration der Muskeln. Die Fettinfiltration und Fettretention. Darm: Structur und Function der Zotten. Resorption und Retention des Chylus. Leber: intermediärer Stoffwechsel durch die Gallengänge. Fettleber. Die Fettmetamorphose. Drüsen: Secretion des Hautschmeers und der Milch (Colostrum). Körnchenzellen und Körnchenkugeln. Entzündungskugeln. Fettmetamorphose des Lungenepithels. Gelbe Hirnerweichung. Corpus Inteum des Eierstocks. Arcus senilis der Hornhaut. Morbus Brightii. Optisches Verhalten der fettig metamorphosirten Gewebe. -- Muskeln: Fettmetamorphose des Herzfleisches. Fettbildung in den Muskeln bei Verkrümmungen. -- Arterie: fettige Usur und Atherom. Fettiger Detritus. Bis jetzt habe ich fast nur von den Thätigkeiten der Zellen gehandelt und von den Vorgängen, welche an ihnen eintreten, wenn sie ihre Lebendigkeit auf irgend eine äussere Einwirkung hin zu erkennen geben. Es gibt aber im Körper auch eine ziemlich grosse Reihe von =passiven Vorgängen=[191], welche verlaufen, ohne dass dabei eine besondere Thätigkeit der Elemente nachweisbar wäre, ja welche häufig unmittelbar durch eine Hemmung der Thätigkeit bedingt werden. Es wird nützlich sein, bevor wir in der Darstellung der activen Prozesse weiter gehen, diese passiven Vorgänge etwas genauer zu besprechen. Denn die Leidensgeschichte der Zellen, von welcher die Pathologie den Namen trägt, ist zusammengesetzt aus Vorgängen, welche der activen, und solchen, welche der passiven Reihe angehören; ja, das grobe Resultat, der sogenannte Krankheitsausgang, hat trotz des verschiedenen Charakters der Prozesse in vielen Fällen eine so grosse Uebereinstimmung, dass die endlichen Veränderungen, welche wir nach einer gewissen Zeitdauer des Prozesses antreffen, in beiden Reihen nahezu dieselben sein können. Aus diesem Grunde ist es eine Zeit lang sehr schwer gewesen, Grenzen zwischen den zwei Reihen zu ziehen, und ein grosser Theil der Verwirrung, welche die Anfangsperiode der mikroskopischen Bestrebungen bezeichnete, ist bedingt gewesen durch die ausserordentliche Schwierigkeit, die activen und passiven Störungen auseinander zu bringen. [191] Archiv IX. 51. XIV. 8. Spec. Pathol. u. Ther. I. 10. Passive Störungen nenne ich diejenigen Veränderungen der Elemente, wobei sie in Folge äusserer ungünstiger Bedingungen sofort entweder bloss Einbusse an Wirkungsfähigkeit erleiden, oder vollständig zu Grunde gehen, in welchem Falle natürlich ein Substanzverlust, ein Defect, eine Verminderung der Summe der Körperbestandtheile entsteht. Beide Reihen von passiven Vorgängen zusammengenommen, diejenigen, welche sich durch Schwächung zu erkennen geben, und diejenigen, welche mit vollständigem Untergange der Theile endigen, bilden das Hauptgebiet der sogenannten =Degenerationen=, obwohl, wie wir späterhin noch genauer betrachten müssen, auch in der Reihe der activen Prozesse ein grosser Theil desjenigen unterzubringen ist, was man degenerativ nennt. Es ist natürlich ein wesentlicher Unterschied, ob ein Element überhaupt als solches bestehen bleibt, oder ob es ganz und gar untergeht, ob es am Ende des Prozesses, wenn auch in einem Zustande sehr verminderter Leistungsfähigkeit, noch vorhanden ist, oder ob es überhaupt ganz zerstört ist. Darin liegt für die praktische, namentlich für die prognostische Auffassung die grosse Scheidung, dass für die eine Reihe von Prozessen die Möglichkeit einer Reparation der Zellen besteht (=nutritive Restitution=), während in der anderen eine direkte Reparation unmöglich ist und eine Herstellung nur geschehen kann durch einen Ersatz vermittelst neuer Elemente von der Nachbarschaft her (=regenerative= oder =formative Restitution=). Denn wenn ein Element zu Grunde gegangen ist, so ist natürlich von ihm aus keine weitere Entwickelung oder Neubildung möglich[192]. [192] Spec. Pathologie und Therapie. I. 21. Diese letztere Kategorie, wo die Elemente unter dem Ablaufe des Prozesses zu Grunde gehen, habe ich vorgeschlagen (S. 335) mit einem Ausdrucke zu bezeichnen, welcher von K. H. =Schultz= für die Krankheit überhaupt gebraucht worden ist, mit dem der =Nekrobiose=[193]. Immer nehmlich handelt es sich hier um ein Absterben, um ein Zugrundegehen, man möchte fast sagen, um eine Nekrose. Aber der gangbare Begriff der Nekrose bietet doch gar keine Analogie mit diesen Vorgängen, insofern wir uns bei der Nekrose den mortificirten Theil als in seiner äusseren Form mehr oder weniger erhalten denken. Hier dagegen verschwindet der Theil, so dass wir ihn in seiner Form nicht mehr zu erkennen vermögen. Wir haben am Ende des Prozesses kein nekrotisches Gewebe, keine Art von gewöhnlichem Brand, sondern eine Masse, in welcher von den früheren Geweben absolut gar nichts mehr wahrnehmbar ist. Die nekrobiotischen Prozesse, welche von der Nekrose völlig getrennt werden müssen, haben im Allgemeinen als Endresultat eine =Erweichung= im Gefolge. Dieselbe beginnt mit Brüchigwerden der Theile; diese verlieren ihre Cohäsion, zerfliessen endlich wirklich, und mehr oder weniger bewegliche, breiige oder flüssige Producte treten an ihre Stelle. Man könnte daher geradezu diese ganze Reihe von nekrobiotischen Prozessen Erweichungen nennen, wenn viele von ihnen nicht verliefen, ohne dass für die grobe Anschauung, d. h. für das unbewaffnete Auge, die Malacie jemals zur Erscheinung kommt. Wenn nehmlich innerhalb eines zusammengesetzten Organs, z. B. eines Muskels, ein solcher Vorgang eintritt, so entsteht allerdings jedesmal eine grobe Myomalacie, sobald an einem bestimmten Punkte alle Muskelelemente auf einmal getroffen werden, aber weit häufiger geschieht es, dass innerhalb eines Muskels nur eine gewisse Zahl von Primitivbündeln getroffen wird, während die anderen unversehrt bleiben. Freilich tritt dann auch eine Malacie ein, aber eine so feine, dass sie für die grobe Betrachtung gar nicht zugänglich wird und nur mikroskopisch nachzuweisen ist. In diesem Falle spricht man fälschlich von einer Muskelatrophie, obgleich der Vorgang, welcher die einzelnen Primitivbündel getroffen hat, sich seiner Natur nach gar nicht von den Vorgängen unterscheidet, welche man ein anderes Mal Muskelerweichung nennt. [193] Ebendaselbst I. 273, 279. Das ist der Grund, warum man nicht einfach den Ausdruck der Erweichung, der für die grobe pathologische Anatomie vorbehalten werden muss, auf die histologischen Vorgänge anwenden kann, und warum es besser ist, Nekrobiose zu sagen, wo es sich um diese feineren Vorgänge handelt. Das Gemeinschaftliche aller Arten von nekrobiotischen Prozessen besteht aber darin, dass der getroffene Theil am Ende des Prozesses und durch den Prozess zersetzt, untergegangen, vernichtet ist. Eine zweite Reihe von passiven Prozessen bilden die =einfach degenerativen Formen=, wo am Ende des Vorganges der getroffene Theil zwar vorhanden ist, aber sich in irgend einem weniger oder gar nicht mehr actionsfähigen Zustande befindet, wo er in der Regel starrer geworden ist. Man könnte daher diese Gruppe im Gegensatze zu der vorher erwähnten als =Verhärtungen= (=Indurationen=) bezeichnen, und damit eine schon äusserlich von den nekrobiotischen Prozessen trennbare Gruppe bilden. Allein auch der Ausdruck der Induration würde leicht missverständlich sein, insofern auch hier wieder viele Zustände vorkommen, wo wenigstens die Härte des Organes im Ganzen nicht bedeutender ist, sondern wo nur einzelne kleinste Theile sich verändern, so dass für das Tastgefühl keine auffallenden Veränderungen bemerkbar werden. Ich hebe aus der Reihe der passiven Prozesse einige als Typen hervor, und zwar diejenigen, welche die grösste Wichtigkeit für die praktische Anschauung haben. * * * * * Unter den nekrobiotischen Prozessen ist der unzweifelhaft am weitesten verbreitete und fast der wichtigste unter allen bekannten cellularen Störungen die =Fettmetamorphose=[194], oder wie man von Alters her gewohnt ist zu sagen, die =fettige Degeneration=. Dieser Prozess bringt eine zunehmende Anhäufung von Fett in den Organen mit sich. Der alte Begriff der fettigen Degeneration hatte den Sinn, dass man dabei an eine immer steigende Veränderung der Art dachte, dass zuletzt an die Stelle ganzer Organtheile reines Fett träte. Es hat sich aber ergeben, dass dieser alte Begriff, wie er noch jetzt in der pathologischen Sprache sich vielfach erhalten hat, eine grosse Reihe unter sich vollkommen verschiedener Vorgänge zusammenfasst, und dass man nothwendig irre gehen musste, wenn man vom Standpunkte der Pathogenie aus die ganze Gruppe auf einfache Weise deuten wollte. [194] Archiv I. 141, 144. Die Geschichte des Fettes in Beziehung zu den Geweben lässt sich im Allgemeinen in einer dreifachen Richtung betrachten. Wir finden erstlich eine Reihe von Geweben im Körper vor, welche als physiologische Behälter für Fett dienen, und in welchen das Fett als eine Art von nothwendigem Zubehör enthalten ist, ohne dass jedoch ihr eigener Bestand durch die Anwesenheit des Fettes irgendwie gefährdet wäre. Im Gegentheil, wir sind sogar gewöhnt, nach dem Fettgehalt gewisser Gewebe das Wohlsein eines Individuums zu schätzen und den Grad der andauernden =Füllung der einzelnen Fettzellen= als Kriterium für den glücklichen Fortgang des Stoffwechsels überhaupt anzusehen. Dies ist also der gerade Gegensatz zu den nekrobiotischen Vorgängen, wo der Theil unter der Anhäufung des Fettes wirklich ganz und gar aufhört zu existiren. In einer zweiten Reihe stellen die Gewebe keine regelmässigen Behälter für Fett dar, aber wohl treffen wir in ihnen zu gewissen Zeiten vorübergehend Fett an, welches nach einiger Zeit wieder aus ihnen verschwindet, ohne den Theil deshalb in einem veränderten Zustande zurückzulassen. Das ist der Fall bei der gewöhnlichen Resorption des Fettes aus dem Darme. Wenn wir Milch trinken, so erwarten wir nach alter Erfahrung, dass dieselbe vom Darme allmählich in die Milchgefässe übergehe und von da aus dem Blute zugeführt werde; wir wissen, dass der Uebergang des Verdauten vom Darm in die Milchgefässe durch das Darmepithel und die Zotten hindurch erfolgt, und dass das Epithel und die Zotten einige Stunden nach der Mahlzeit voll von Fett stecken. Von einer solchen fetthaltigen Zotte oder Epithelzelle setzen wir aber voraus, dass sie unter natürlichen Verhältnissen endlich ihr Fett abgeben und nach einiger Zeit wieder vollkommen frei sein werde. Das ist eine =Fett-Infiltration= von rein transitorischem Charakter. Verzögert sich die Entleerung des Fettes, bleibt die an sich nur für vorübergehende Zwecke vorhandene Fettfüllung bestehen, so gibt das eine =Fett-Retention=. Endlich in einer dritten Reihe werden die Gewebe von Prozessen getroffen, welche zur =fettigen Nekrobiose= führen. Diese hat man in neuerer Zeit häufig als eigenthümlich pathologische betrachtet. Allein, wie sich überall gezeigt hat, dass die pathologischen Prozesse keine specifischen sind, dass vielmehr für sie Analogien in dem normalen Leben bestehen, so kann man sich auch überzeugen, dass die nekrobiotische Entwickelung von Fett ein ganz regelmässiger, typischer Vorgang an gewissen Theilen des gesunden Körpers ist, ja, dass wir sie sogar in sehr grobem Style im physiologischen Leben antreffen. Die wichtigsten Typen für dieses Verhältniss haben wir einerseits in der Secretion der Milch, des Hautschmeeres, des Ohrenschmalzes u. s. w., andererseits in der Bildung des Corpus luteum im Eierstocke. An allen diesen Theilen geht eine Fettentwickelung genau in der Weise vor sich, wie wir sie bei der nekrobiotischen Fettmetamorphose unter krankhaften Bedingungen antreffen; was wir Hautschmeer, Milch oder Colostrum nennen, das sind die Analoga für die pathologischen Fettmassen, welche aus der fettigen Erweichung hervorgehen. Wenn Jemand statt in der Milchdrüse im Gehirn Milch fabricirt, so gibt dies eine Form der Hirnerweichung; das Product kann morphologisch vollständig übereinstimmen mit dem, was in der Milchdrüse ganz normal gewesen wäre. Hier ist aber der grosse Unterschied, dass, während in der Milchdrüse die zu Grunde gehenden Zellen sich ersetzen durch neue nachrückende Elemente, der Zerfall der Elemente in einem Organe, welches nicht zum Nachrücken eingerichtet ist, zu einem dauerhaften Verluste führt. Derselbe Prozess, welcher an einem Orte die glücklichsten, ja die süssesten Resultate liefert, bringt an einem anderen einen schmerzlichen und bitteren Schaden mit sich. Betrachten wir diese drei verschiedenen physiologischen Typen nach einander. Im ersten Falle finden wir die Anfüllung der Zellen mit Fett in der Weise, dass am Ende jede einzelne Zelle ganz und gar voll von Fett steckt. Das gibt den Typus des sogenannten =Fettzellgewebes= oder kurzweg =Fettgewebes=, wie es namentlich in der Unterhaut (Tela subcutanea) in so grosser Masse vorkommt, wo es einerseits die Schönheit, namentlich der weiblichen Form, andererseits die pathologischen Zustände der Obesität oder Polysarcie bedingt. Ebenso bildet das Fettgewebe das gewöhnliche, schon seit mythologischen Zeiten so berühmte gelbe Knochenmark (Medulla ossium). Ueberall besteht das Fettgewebe aus einer meist geringen Menge von Intercellularsubstanz und aus Fettzellen. Letztere besitzen immer eine Membran und einen fettigen oder öligen Inhalt. Das Fett erfüllt den inneren Raum so vollständig, die Membran ist so ausserordentlich dünn, zart und gespannt, dass man gewöhnlich gar nichts weiter sieht, als den Fetttropfen, und dass bis in die neueste Zeit noch immer darüber discutirt worden ist, ob die Fettzellen wirkliche Zellen seien. Es ist in der That sehr schwer, sich davon deutlich zu überzeugen, allein wir haben sehr schöne Hülfsmittel in dem Verlaufe der natürlichen Prozesse. Wenn Jemand magerer wird, so schwindet das Fett allmählich, die Membran verliert von ihrer Spannung, sie erscheint nicht mehr so dünn und zart und tritt um so schärfer hervor, je kleiner die innere Fettmasse wird. Sie ist dann deutlich vom Fetttropfen abgesetzt. Innerhalb der Zelle liegt ein erkennbarer Kern (Fig. 114, _A_, _a_). Es ist hier also eine wirkliche, vollständige Zelle mit Kern und Membran vorhanden, an welcher aber der eiweissartige Inhalt fast ganz und gar durch das aufgenommene Fett verdrängt worden ist. Dieses sogenannte Fettzellgewebe ist eine Form des Bindegewebes (S. 47), und wenn es sich zurückbildet, so sieht man sehr deutlich, dass es metaplastisch in Binde- oder Schleimgewebe[195] übergeht, indem zwischen den Zellen wieder eine grössere Menge von faserig-schleimiger Intercellularsubstanz zum Vorscheine kommt (Fig. 114, _A_, _b_, _B_). [195] Archiv XVI. 15. Geschwülste I. 399. [Illustration: =Fig=. 114. Fettzellgewebe aus dem Panniculus. _A_ Das gewöhnliche Unterhautgewebe, mit Fettzellen, etwas Zwischengewebe und bei _b_ Gefässschlingen; _a_ eine isolirte Fettzelle mit Membran, Kern und Kernkörperchen. _B_ Atrophisches Fett bei Phthisis. Vergröss. 300.] [Illustration: =Fig=. 115. Interstitielle Fettwucherung (Mästung) der Muskeln. _f_, _f_ Reihen von interstitiellen Fettzellen; _m_, _m_, _m_ Muskelprimitivbündel. Vergr. 300.] Fettgewebe ist es, welches nicht bloss unter Umständen Polysarcie und Obesität hervorbringt, indem immer grössere Massen von Bindegewebe in die Fettfüllung hineingezogen werden, sondern welches auch die Grundlage aller anomalen Fettgebilde ist. Die einzelnen Formen dieser Gebilde, namentlich die wirklichen Fettgeschwülste (Lipome), unterscheiden sich unter einander nur durch die grössere oder geringere Masse von interstitiellem, zwischen den Läppchen der Fettzellen gelegenen Bindegewebe, von welchem ihre grössere oder geringere Consistenz abhängt[196]. -- Dasselbe Fettgewebe ist es auch, welches unter krankhaften Verhältnissen in einer Reihe von solchen Fällen auftritt, welche man nach alter Tradition fettige Degeneration nennt. Namentlich die =fettige Degeneration der Muskeln= stellt in vielen Fällen nichts weiter dar, als eine mehr oder weniger weit fortgeschrittene Entwickelung von Fettzellgewebe zwischen den Muskelprimitivbündeln. Es ist dies ein ähnlicher Vorgang, wie wir ihn bei der Mästung von Thieren finden, wie ihn z. B. jede Ochsenzunge sehr schön zeigt, und wie manche einfach gemästete Muskeln auch beim Menschen ihn darbieten. Zwischen die einzelnen Muskelprimitivbündel schieben sich Fettzellen ein, welche natürlich streifenweise nach dem Verlauf der Muskelfasern liegen; letztere können sich dabei erhalten. Die Grundlage der Entwickelung ist hier das interstitielle Bindegewebe, an welchem es mir zuerst mit Bestimmtheit gelang, den Uebergang der Bindegewebskörperchen in Fettzellen zu beobachten[197]. Bei dieser sogenannten Fettdegeneration der Muskeln kann es, namentlich im Anfange der Entwickelung und bei grosser Regelmässigkeit derselben, vorkommen, dass ganz einfache Reihen hinter einander liegender Fettzellen mit den Reihen der Muskel-Elemente abwechseln (Fig. 115). In diesem Falle, wo die Primitivbündel durch die Fettzellen auseinander gedrängt werden und gewöhnlich in Folge ihrer Anhäufung die Circulation im Muskel beeinträchtigt, das Fleisch also blass wird, sieht es für das blosse Auge oft so aus, als sei gar kein Muskelfleisch mehr vorhanden. Untersucht man z. B. an einer Unterextremität, welche in Folge einer Ankylose des Knie's lange unbewegt geblieben ist, die Gastroenemii, so findet man zuweilen nur eine gelbliche, kaum streifig aussehende Masse ohne jedes fleischige Ansehen, allein bei feinerer Untersuchung zeigt sich, dass die an sich erhaltenen Primitivbündel noch immer durch das Fett hindurchgehen. Selbst in diesem Falle, wo das Fett eine bedeutende Erschwerung für den Muskelgebrauch bildet, sind die Muskelprimitivbündel doch noch vorhanden und in gewisser Weise wirkungsfähig. Es unterscheidet sich daher dieser Prozess wesentlich von der Nekrobiose, wo das Primitivbündel als solches zu Grunde geht. Denn er stellt eine rein interstitielle Fettgewebsbildung dar, wobei gewöhnliches Bindegewebe in Fett übergeht, und man sollte daher lieber den Ausdruck der fettigen Degeneration vermeiden, welcher so leicht missverstanden werden kann. [196] Geschwülste I. 368. [197] Archiv VIII. 538. Ueber die Bildung der Fettzellen im Knochenmark und im Unterhautgewebe vergl. meine Untersuchungen über die Entwickelung des Schädelgrundes 49. Diese Form kommt besonders am Herzen ziemlich häufig vor und kann, wenn sie eine grosse Ausdehnung erreicht, erhebliche Störungen der Bewegungsfähigkeit des Herzfleisches hervorbringen. Aber ihrem pathologischen Werthe nach steht sie tief unter der eigentlichen Fettmetamorphose, obwohl diese hinwiederum im äusserlich sichtbaren Resultat nicht entfernt ihr gleichkommt. Das, was die alten Anatomen als Fettherzen beschrieben haben, waren meistentheils nur fettig durchwachsene Herzen; was man dagegen heut zu Tage meint, wenn man von einer eigentlichen fettigen Degeneration (Metamorphose) des Herzens spricht, das ist nicht dieses Fettwerden des Herzens, dieses Durchwachsen seines Fleisches mit Fettzellen, sondern es ist vielmehr die wirkliche im Innern des Fleisches vor sich gehende Umsetzung der Substanz (Fig. 25, _d_. 121), auf welche ich noch zurückkommen werde. In dem letzteren Falle liegt das Fett in, im ersteren zwischen den Primitivbündeln. -- * * * * * Die zweite Reihe von Vorgängen, welche ich aufstellte, ist die =transitorische Anfüllung= gewisser Organe mit Fett, wie wir sie im Wesentlichen bei der Digestion antreffen. Hat Jemand eine fettige Substanz genossen, und ist diese in den Zustand der Emulgirung übergeführt, so finden wir, dass, wenn sie in das obere Ende des Jejunum gelangt, zum Theil schon im Duodenum, die Zotten der Schleimhaut weisslich, trübe und dicker werden. Die feinere Untersuchung ergibt, dass sie mit sehr feinen, kleinsten Fettkörnchen erfüllt werden, welche viel feiner sind, als wir sie in irgend einer künstlichen Emulsion herstellen können. Diese Körnchen, welche sich schon im Chymus finden, berühren zuerst das Cylinderepithel, mit welchem jede einzelne Darmzotte umgeben ist. An der Oberfläche jeder Epithelzelle findet sich aber, wie von =Kölliker= zuerst bemerkt ist, ein eigenthümlicher Saum, welcher, wenn man die Zelle von der Seite her betrachtet, feine, senkrechte Strichelchen erkennen lässt; von der Oberfläche aus gesehen, erscheint die Zelle sechseckig und mit vielen kleinen Punkten besetzt, wie getüpfelt (Vergl. das Epithel der Gallenblase Fig. 15, sowie Fig. 116, _A_). =Kölliker= hat die Vermuthung aufgestellt, dass diese kleinen Striche und Punkte feinen Porenkanälchen entsprächen, und dass die Resorption so vor sich ginge, dass die kleinen Partikelchen des Fettes durch diese feinen Poren an der Oberfläche der Epithelzellen aufgenommen würden. Der Gegenstand liegt indess so sehr an der Grenze unserer optischen Apparate, dass es bis jetzt nicht möglich gewesen ist, eine vollkommene Klarheit darüber zu gewinnen, ob die Striche wirklich feinen Kanälen entsprechen, oder ob es sich vielmehr, wie =Brücke= annimmt, um eine Zusammensetzung des ganzen oberen Saumes aus Stäbchen oder Säulchen, ähnlich den Flimmerhaaren, handelt. Ich bin durch meine Untersuchungen auch mehr zu letzterer Ansicht disponirt worden, zumal da an denselben Orten die vergleichende Histologie wirkliches Flimmerepithel als Aequivalent nachweist. Jedenfalls ist soviel sicher, dass einige Zeit nach der Digestion das Fett nicht mehr aussen an den Zellen liegt, sondern sich innen in ihnen findet, und zwar zuerst am äusseren (freien) Ende derselben; dann rücken seine Körnchen nach und nach weiter und gehen in den Zellen nach innen, und zwar so deutlich reihenweise, dass es den Eindruck macht, als gingen feine Kanäle durch die ganze Länge der Zellen selbst hindurch (Fig. 116, _C_, _a_). Allein auch das ist eine Frage, welche mit unseren optischen Apparaten nicht so bald gelöst werden dürfte. Genug, die grobe Thatsache bleibt stehen, dass das Fett durch die Zellen geht und zwar in der Weise, dass anfänglich nur der äussere Theil derselben damit erfüllt ist, dann eine Zeit kommt, wo sie ganz voll von Fett sind, etwas später die äussere Partie wieder ganz frei wird, während die innere noch etwas enthält, bis endlich alles Fett spurlos aus den Zellen verschwindet. Auf diese Weise kann man den allmählichen Fortgang von Stunde zu Stunde verfolgen. Nachdem das Fett bis in die innere Spitze der Zellen hineingerückt ist, so beginnt es, in das sogenannte Parenchym der Zotte überzugehen (Fig. 116, _C_). Ob die Epithelzellen, wie zuerst von =Heidenhain= behauptet worden ist, an ihrem unteren (centralen) Ende unmittelbar mit feinsten Ausläufern der Bindegewebskörperchen der Zotte zusammenhängen, ist noch streitig, jedoch durch =Eimer='s sorgsame Untersuchung zu höchster Wahrscheinlichkeit geführt. [Illustration: =Fig=. 116. Darmzotten und Fettresorption. _A_ Normale Darmzotten des Menschen aus dem Jejunum, bei _a_ das zum Theil noch ansitzende Cylinderepithel mit dem feinen Saum und Kernen; _c_ das centrale Chylusgefäss, _v_, _v_ Blutgefässe; im übrigen Parenchym die Kerne des Bindegewebes und der Muskeln. -- _B_ Zotten im Zustande der Contraction vom Hund. -- _C_ Menschliche Darmzotte während der Chylus-Resorption, _D_ bei Chylus-Retention: an der Spitze ein grosser, aus einer krystallinischen Hülle austretender Fetttropfen. Vergr. 280.] Es ist höchst schwierig, mit Sicherheit über diese feinsten Einrichtungen der Gewebssubstanz zu urtheilen. In der Regel finden wir innerhalb der Zotten das Netz der Blutgefässe etwas unter der Oberfläche (Fig. 116, _A_, _v_, _v_), dagegen in der Axe eine ziemlich weite, stumpf endigende Höhlung, den Anfang des Chylusgefässes, soweit es bis jetzt mit Sicherheit erkennbar ist (Fig. 116, _A_, _c_). An der Peripherie der Zotten hat =Brücke= eine Lage von Muskeln entdeckt, welche für die Digestion von grosser Bedeutung ist, insofern dadurch ein Heranziehen der Zottenspitze gegen ihre Basis, eine Verkürzung möglich ist, wie man sehr leicht sehen kann. Wenn man Zotten vom Darme eines eben getödteten Thieres abschneidet, so sieht man unter dem Mikroskop, dass sie sich zusammenziehen, sich runzeln, dicker und kürzer werden (Fig. 116, _B_). Offenbar erfolgt dadurch ein Druck in der Richtung von aussen nach innen, welcher die Fortbewegung der aufgenommenen Säfte befördert. So weit wäre die Sache ziemlich klar, allein was das noch übrig bleibende Parenchym für einen Bau hat, ist äusserst schwer zu sehen. Ausser der Muskellage bemerkt man noch kleinere Kerne, welche, wie ich schon vor Jahren hervorhob, hin und wieder ziemlich deutlich in feinen zelligen Elementen eingeschlossen sind. Diese Parenchymzellen anastomosiren unter sich und mit dem centralen Chylusgefässe. Bei der Resorption sieht es aus, als ob das Fett, welches in den Zotten immer weiter nach innen dringt, das ganze Parenchym erfüllte, jedoch ergibt eine feinere Untersuchung, zumal an weniger stark gefüllten Zotten, dass das Fett auf prädestinirten Strassen, nehmlich durch die Bindegewebskörperchen, seinen Weg verfolgt[198]. So gelangt es endlich in das centrale Chylusgefäss. Von hier beginnt der regelmässige Strom des Chylus. [198] Ich habe mich neuerlichst durch die Untersuchung von Querschnitten chylusgefüllter Zotten beim Menschen überzeugt, dass das Fett nicht discret im Parenchym, sondern heerdweise im Innern besonderer kleiner (Zellen?) Räume liegt. Anm. zur zweiten Auflage (1859). Am wenigsten verständlich ist in diesem Hergange die Aufnahme des Fettes in die Epithelialzellen. Zu wiederholten Malen ist daher die Meinung aufgetaucht, dass hier gröbere Oeffnungen, wirkliche Stomata existiren. Insbesondere hat diese Frage in der neueren Zeit durch =Letzerich= eine besondere Bedeutung erlangt. Er richtete die Aufmerksamkeit auf gewisse, schon längere Zeit bekannte Elemente, die sogenannten =Becherzellen=. Es sind dies offene Zellen von fast trichterförmiger Gestalt, welche gewöhnlich in gewissen Entfernungen von einander zwischen den gewöhnlichen Cylinderzellen des Darmepithels zerstreut vorkommen. Ich sah sie am Darm eines Hingerichteten, der ganz frisch untersucht wurde. =Letzerich= glaubt in ihnen die eigentlichen Aufnahme-Organe des Fettes zu erkennen. Diese Meinung ist unzweifelhaft irrig. Das von mir vorher Angeführte ist mit grösster Bestimmtheit zu sehen: =jede Epithelzelle ist fähig, Fett aufzunehmen=, und ich möchte eher sagen, die Becherzellen seien es am wenigsten. Das mechanische Problem ist damit wenig gefördert, indess wird man schwerlich bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse noch auf blosse Druckverhältnisse zurückgehen können. Aller Wahrscheinlichkeit »fressen« die Zellen das Fett, und es handelt sich um einen der an die Thätigkeit der Elemente geknüpften automatischen Vorgänge (S. 360), bei welchen das Protoplasma betheiligt ist. Jedenfalls setzt der Vorgang eine emulsive Beschaffenheit des Fettes voraus, welches überall in feinster Zertheilung durch die Gewebstheile hindurchdringt. In dem regelmässigen Gange sind es so ausserordentlich zarte Partikeln, dass, wenn man frischen, noch warmen Chylus untersucht, man fast nichts von körperlichen Theilen darin erkennen kann[199]. Allein jede Störung, welche in dem Resorptionsgeschäfte stattfindet und längere Zeit hindurch das Fortrücken hindert, bedingt ein Zusammenfliessen der Fettpartikeln; innerhalb der Gewebe, in welchen die Fett-=Retention= erfolgt, scheiden sich alsdann immer grössere Fettkörner ab, und diese fliessen endlich zu ganz grossen Tropfen zusammen. Solche finden wir sowohl in den Epithelialzellen, als auch innerhalb des Zottengewebes, namentlich in dem centralen Chylusgefässe, und es kommt vor, dass das Ende des letzteren sich erweitert, kolbig ausgedehnt wird, und dass die Anhäufung von Fett darin so beträchtlich wird, dass man sie schon mit blossem Auge erkennt[200]. =Lieberkühn= hielt diesen Zustand für den Ausdruck eines normalen Verhältnisses, und nannte die Ausweitungen Ampullen. Ich habe gezeigt, dass dieselben eine rein pathologische Bedeutung haben, und dass auch die von E. H. =Weber= bemerkte Scheidung in einen dunklen und hellen Theil (Fig. 116, _D_) nur auf einer Trennung des Fetttropfens in eine feste Rinde und einen flüssigen und nach Berstung der Rinde austretenden Inhalt beruht. Nirgends sieht man diese Zustände auffälliger und häufiger, wie in der Cholera, wo schon 1837 durch =Böhm= gute Schilderungen davon geliefert worden sind. Sie bedeuten im Allgemeinen die Hemmung des Lymphstromes durch die Respirations- und Circulationsstörungen. Da bekanntlich die Cholera-Anfälle überwiegend häufig in der Digestionsperiode eintreten und mit grossen Hemmungen des Respirationsgeschäftes verlaufen, welche sich durch den ganzen Venenapparat geltend machen, so müssen sie natürlich auch auf den Chylusstrom zurückwirken. So erklärt sich die colossale Anstauung (Retention) von Fett in den Zotten. Dies ist also, wenn man will, schon ein pathologischer Zustand, aber derselbe beruht nur auf einer vorübergehenden Hemmung und wir haben allen Grund anzunehmen, dass, wenn der Chylusstrom wieder frei wird, auch diese grösseren Fetttropfen allmählich wieder beseitigt werden. Damit kommen wir auf andere Gebiete, wo die Grenze zwischen Physiologie und Pathologie sich sehr schwer ziehen lässt. Ein solcher Fall findet sich namentlich an der Leber. [199] Archiv I. 152, 162, 262. Beiträge zur exper. Pathologie. Heft II. 72. Gesammelte Abhandl. 139. [200] Würzb. Verhandl. IV. 354. Gesammelte Abhandlungen 732. Seit alter Zeit weiss man, dass die =Leber= dasjenige Organ ist, welches überwiegend leicht in einen Zustand sogenannter fettiger Degeneration geräth, und schon lange hat man gerade die Kenntniss dieses Zustandes auf dem Wege populärer Experimentation verwerthet. Die Geschichte der Gänseleberpasteten beweist dies in der angenehmsten Weise. Obgleich =Lereboullet= in Strassburg behauptete, dass die Fettlebern der gemästeten Gänse physiologische seien, die sich von den pathologischen, welche man nicht isst, sondern nur beobachtet, wesentlich unterschieden, so muss ich doch bekennen, dass ich bis jetzt ausser Stande gewesen bin, einen Unterschied zwischen physiologischen und pathologischen Fettlebern zu entdecken; ich meine vielmehr, dass gerade, indem man die Identität beider zulässt, der einzig richtige Gesichtspunkt auch für die pathologische Fettleber gewonnen wird. Wir kennen nehmlich eine Thatsache, welche gleichfalls zuerst von =Kölliker= beobachtet worden ist, dass nehmlich bei saugenden Thieren regelmässig einige Stunden nach der Digestion eine Art von Fettleber physiologisch vorkommt. Wenn man von demselben Wurfe von Thieren die einen hungern, die andern saugen lässt, so haben diejenigen, welche gesogen haben, ein Paar Stunden nachher eine Fettleber, die anderen nicht. Diese erscheint ganz blass, wenn auch nicht so weiss, wie eine Gänseleber. Diese Erfahrung hat mir Gelegenheit gegeben, die Frage von der Beziehung des Fettes zur Leber etwas weiter zu verfolgen, und ich glaube danach allerdings mit Bestimmtheit schliessen zu können, dass ein naher Zusammenhang der physiologischen und pathologischen Formen besteht. Ich fand nehmlich[201], dass einige Zeit nach der Digestion, und zwar etwas später, als die Leberzellen die Fettfüllung zeigen, man einen ähnlichen Zustand im Laufe der Gallenwege findet, und dass sowohl in den Gallengängen, als in der Gallenblase das Epithel dieselben Erscheinungen der Fett-Resorption wahrnehmen lässt, die wir vom Darmepithel kennen. Man braucht, um sich eine Vorstellung davon zu machen, das Bild von vorher (Fig. 116) nur umzukehren: anstatt einer Zotte, an welche das Epithel aussen angelagert ist, denke man sich einen Kanal, welcher innen mit Epithel ausgekleidet ist. Das feine Cylinderepithel in der Gallenblase hat denselben streifigen Saum, wie das im Darm (Fig. 15), und man sieht daran in derselben Weise, dass das Fett von aussen eindringt, gegen die Tiefe weitergeht und nach einiger Zeit in die Wand der Gallenwege übergeht. Ich habe diesen Vorgang bei jungen saugenden Thieren nach der Digestion verfolgt; man kann sich da leicht überzeugen, dass offenbar das Fett, welches eine Zeit lang in den Leberzellen enthalten ist, von ihnen in die Gallenwege secernirt, hier aber allmählich wieder resorbirt wird und so zum zweiten Male in die Circulation zurückkehrt. [201] Archiv XI. 574. Ein solcher =intermediärer Stoffwechsel=, wo das Fett vom Darme in das Blut, vom Blute in die Leber, von der Leber in die Galle und von da wieder in Lymph- und Blutgefässe gelangt, welche zum rechten Herzen zurückführen, setzt natürlich auch, wie die Resorption im Darme, für die Rückfuhr günstige Verhältnisse voraus; tritt irgend eine Störung ein, so wird es eben auch hier eine Retention geben und es werden nach und nach an die Stelle der feinen Körner innerhalb der Zellen grosse Tropfen treten. Das ist aber der Hergang, wie wir ihn in der Fettleber wirklich antreffen. [Illustration: =Fig=. 117. Die aneinander stossenden Hälften zweier Leber-Acini. _p_ Ein Ast der Pfortader (von Bindegewebe umgeben), mit Aesten _p_' _p_'', den Venae interlobulares entsprechend. _h_, _h_ Querschnitt der Vena intralobularis s. hepatica. _a_ die Zone des Pigmentes, _b_ die des Amyloids, _c_ die des Fettes. Vergr. 20.] In der Regel bemerkt man, wenn man eine Fettleber studirt, dass das Fett hauptsächlich in derjenigen Zone der Acini abgelagert ist, welche zunächst an die capillare Auflösung der Pfortaderäste anstösst (Fig. 117, _c_, _c_). Wenn man Durchschnitte des Organes mit blossem Auge sorgfältig betrachtet, so bemerkt man an vielen Stellen Zeichnungen, wie wenn man ein Eichenblatt mit seinen Rippen und Buchten vor sich hätte; hier entspricht die Verbreitung der Pfortaderäste den Rippen, die Fettzone der Substanz des Blattes. Je stärker die Infiltration wird, um so breiter wird die Fettzone. Es gibt Fälle, wo das Fett die ganzen Acini bis zur centralen (intralobulären) Leber-Vene (Fig. 117, _h_) hin erfüllt, und wo jede einzelne Zelle mit Fett vollgestopft ist. In seltenen Fällen kommt es freilich vor, dass wir gerade das Umgekehrte finden, dass das Fett nehmlich in den Leberzellen um die Vena centralis liegt; wahrscheinlich sind diese Fälle so zu deuten, dass das Fett schon in der Ausscheidung begriffen ist und nur die letzten Zellen noch etwas davon zurückhalten. Jedoch muss man sich hüten, eine Art von fettiger, nekrobiotischer Atrophie, wie sie namentlich bei chronischer Cyanose (Muskatnussleber) vorkommt, damit zu verwechseln. Betrachten wir nun den Vorgang bei der Bildung der Fettleber im Einzelnen, so zeigt sich, dass die Art, wie die Leberzellen sich füllen, genau derjenigen entspricht, wie sich die Epithelzellen im Darme mit Fett erfüllen. Zuerst finden wir in ihnen zerstreut ganz kleine Fettkörnchen. Diese werden reichlicher, dichter und nach einiger Zeit grösser; zugleich werden die Zellen grösser, schwellen an und zeigen grössere und kleinere Tropfen von Fett (Fig. 29, _B_, _b_). Im höchsten Grade der Anfüllung bieten sie denselben Habitus dar, wie die Zellen des Fettgewebes: man sieht fast gar keine Membran und fast nie einen Kern, doch sind beide immer noch vorhanden. Das ist der Zustand, welchen man Fettleber im eigentlichen Sinne des Wortes nennt. Auch hier haben wir, wie bei dem Fettgewebe, die =Persistenz der Zellen=. Es ist irrig, zu meinen, dass in der gewöhnlichen Fettleber die Zellen zu existiren aufhörten. Immer sind die Elemente des Organes vorhanden, nur statt mit gewöhnlicher Inhaltssubstanz, fast ganz mit Fetttropfen erfüllt. Auch kann es kaum zweifelhaft sein, dass sie in diesem Zustande immer noch eine gewisse Masse functionsfähiger Substanz enthalten. Denn bei manchen Thieren, z. B. den Fischen, von denen man den Leberthran gewinnt, geht die Function des Organs vor sich, wenn auch noch so viel Thran in den Zellen enthalten ist[202]. Auch beim Menschen findet man, selbst in dem höchsten Grade der Fettleber, in der Gallenblase noch Galle. Insofern kann man diese Zustände in Nichts vergleichen mit den nekrobiotischen Zuständen, wie sie im Laufe der fettigen Degeneration (Metamorphose) an so vielen Theilen erscheinen, wo die Elemente zu Grunde gehen. Bei einer fettigen Degeneration im strengeren Sinne des Wortes treffen wir nachher irgendwo mürbe, erweichte Stellen, wo Fett in freien Tropfen vorkommt, gewissermaassen fettige Abscesse. Davon ist hier nichts zu sehen. Es ist daher äusserst wichtig, und ich halte es für die Auffassung dieser Form in hohem Maasse entscheidend, dass in der Fettleber immer eine Persistenz der histologischen Bestandtheile statthat, und dass, wenn ihre Zellen auch noch so sehr mit Fett erfüllt sind, sie doch immer noch als Elemente existiren. Daraus folgt, dass eine Fettleber heilbar ist, ohne dass es dazu besonderer Regenerationsprozesse bedarf. Es gehört dazu nur, dass die Bedingungen der Retention beseitigt und die Leberzellen wieder frei von Fett werden. Freilich wissen wir weder das Eine, noch das Andere mit Sicherheit. Wir kennen die Zustände nicht, welche das Fett festhalten, noch die Bedingungen, unter welchen es wieder ausgetrieben werden kann. Indess, nachdem man einmal so weit in der Erkenntniss des Mechanismus der Fettfüllung ist, so wird es auch wahrscheinlich möglich sein, die weiteren Thatsachen zu finden. Es wäre denkbar, dass einfach die Elasticität der Gewebselemente von Bedeutung wäre, in der Art, dass wenn die Zellmembranen erschlaffen, sie mit Leichtigkeit mehr Inhalt einlassen und in sich dulden, während bei einer grossen Elasticität der Membranen (Tonus) eher ein Entfernen, ein Auspressen des Inhaltes erfolgen könnte. Auch ist gewiss der Zustand der Circulation von Bedeutung: die verhältnissmässige Häufigkeit der Fettleber bei chronischen Lungen- und Herzaffectionen ist gewiss nicht wenig dem vergrösserten Drucke zuzuschreiben, unter dem das Venenblut steht. [202] Archiv VII. 563. Doch das sind für unsere jetzige Betrachtung Nebenfragen; worauf es mir hauptsächlich ankam, das ist, den grossen Unterschied zu zeigen zwischen dieser Art von fettiger Degeneration und derjenigen, welche wir vorher bei den Muskeln erörtert haben. Während wir dort zwischen den eigentlichen, specifischen Organbestandtheilen Fettzellen entstehen sahen, welche dem Bindegewebe angehören, so sind es hier die specifischen Drüsenzellen selbst, welche der Sitz des Fettes sind. Auf der anderen Seite liegt der nicht minder grosse Unterschied von den nekrobiotischen Prozessen der fettigen Degeneration, wobei die Elemente als solche verschwinden, auf der Hand. -- Wenden wir uns nun zu der dritten Reihe von fettigen Zuständen, nehmlich zu der mit Auflösung der Elemente zusammenfallenden nekrobiotischen, so finden wir für sie, wie schon erwähnt, in der Secretion der Milch und des Hauttalges die physiologischen Paradigmen. Dass diese beiden Secrete sich einander analog verhalten, erklärt sich einfach daraus, dass die Milchdrüse eigentlich nichts weiter ist, als eine colossal entwickelte und eigenthümlich gestaltete Anhäufung von Hautdrüsen (Schmeer- oder Talgdrüsen). Der Entwickelung nach stehen sich beide Reihen vollständig gleich. Beide gehen durch eine progressive Wucherung aus den äusseren Epidermisschichten hervor (S. 37. Fig. 19, _A_). Ebendahin gehören auch die Ohrenschmalzdrüsen und die grossen Achseldrüsen. In allen diesen Fällen entsteht das Fett, welches den Hauptbestandtheil der Milch, wenigstens für die äussere Erscheinung, darstellt, sowie dasjenige, welches den Schmeer liefert, zuerst im Innern von Epithelzellen, welche allmählich zu Grunde gehen und das Fett frei werden lassen, während von ihnen selbst kaum etwas erhalten bleibt. [Illustration: =Fig=. 118. Haarbalg mit Talgdrüsen von der äusseren Haut. _c_ das Haar, _b_ die Haarzwiebel, _e_, _e_ die von der Epidermis sich in den Haarbalg einsenkenden Zellenschichten. _g_, _g_ Talgdrüsen im Act der Schmeerabsonderung: das Secret bei _f_ neben dem Haar heraufsteigend und sich ansammelnd. Vergr. 280.] Die =Talgdrüsen= liegen im Allgemeinen seitlich an den Haarbälgen in einiger Tiefe unter der Oberfläche; sie bestehen aus einer gewissen Zahl von kleinen Läppchen, in welche eine Epithellage als Fortsetzung des Rete Malpighii continuirlich hineingeht. Die Zellen dieser Epithellage sind jedoch grösser, als die des Rete, so dass sie eine fast solide Erfüllung der Drüsensäcke bilden. In dem Innern der ältesten (am meisten nach innen gelegenen) Zellen scheidet sich das Fett zuerst in kleinen Körnchen aus, diese werden bald grösser, und nach kurzer Zeit sieht man schon nicht mehr deutlich die einzelnen Zellen, sondern nur Zusammenhäufungen grosser Tropfen, welche aus der Drüse in den Haarbalg hervortreten und endlich das an die Hautoberfläche hervortretende Secret liefern (Fig. 118). Denken wir uns die Drüse in eine Fläche ausgebreitet, so würde sich ihr Zellenlager darstellen, wie Rete Malpighii und Epidermis, nur dass die ältesten, der Epidermis vergleichbaren Zellen nicht verhornen, sondern durch fettige Metamorphose zu Grunde gehen. Die jüngeren, dem Rete entsprechenden Zellen vermehren sich inzwischen durch immer neue Wucherung. Die Secretion ist also eine rein epitheliale, wie die Samen-Secretion (S. 39). [Illustration: =Fig=. 119. Milchdrüse in der Lactation und Milch. _A_ Drüsenläppchen der Milchdrüse mit der hervorquellenden Milch. _B_ Milchkügelchen. _C_ Colostrum, _a_ deutliche Fettkörnchenzelle, _b_ dieselbe mit verschwindendem Kern. Vergr. 280.] Dieser Hergang liefert uns zugleich ein genaues Schema für die =Milchbildung=[203]. Man braucht sich nur die Gänge mehr verlängert, die End-Acini mehr entwickelt zu denken; der Prozess bleibt im Wesentlichen derselbe: die Zellen vermehren sich durch Wucherung, die gewucherten Zellen gehen die fettige Metamorphose ein, zerfallen endlich und zuletzt bleibt fast nichts Körperliches von ihnen übrig, als Fetttropfen. Am meisten stimmt mit der gewöhnlichen Art der Schmeersecretion die früheste Zeit der Lactation überein, welche das sogenannte =Colostrum= liefert. Das Colostrumkörperchen (Fig. 119, _C_) ist die noch zusammenhaltende Kugel[204], welche aus der fettigen Degeneration einer Epithelialzelle hervorgeht. Die Colostrum- und die Schmeerbildung unterscheiden sich nur dadurch, dass die Fettkörner bei der ersteren kleiner bleiben. Während beim Schmeer sehr bald grosse Tropfen auftreten, enthalten beim Colostrum die letzten Zellen, welche noch bemerkt werden, gewöhnlich nur feine Fettkörnchen, ganz dicht gedrängt. Hierdurch bekommt das ganze Element ein etwas bräunliches Aussehen, obwohl das Fett selbst nur wenig gefärbt ist. Das ist das körnige Körperchen (Corps granuleux) von =Donné=, die =Fettkörnchenkugel=. [203] Archiv I. 182. [204] Archiv I. 165 Note. Die Entdeckung der allmählichen Umbildung von Zellen zu Fettkörnchenkugeln haben wir =Benno Reinhardt= zu verdanken. Allein er scheute sich noch, die wichtige Erfahrung von der Colostrumbildung auf die Geschichte der Milch überhaupt auszudehnen, weil in der späteren Zeit der eigentlichen Lactation granulirte Körperchen nicht mehr vorkommen. Es ist aber unzweifelhaft, dass zwischen der früheren Bildung der Colostrumkörper und der späteren Milchbildung kein anderer Unterschied besteht, als der, dass bei der Colostrumbildung der Prozess langsamer erfolgt und die Zellen länger zusammenhalten, während bei der Milchsecretion der Prozess acut ist und die Zellen eher zu Grunde gehen. Recht vollkommenes Colostrum enthält eine überaus grosse Masse von granulirten Körpern, die Milch dagegen nichts weiter, als verhältnissmässig grosse und kleine, durcheinander gemengte Tröpfchen von Fett, die sogenannten =Milchkörperchen= (Fig. 119, _B_). Letztere sind nichts als Fetttropfen, die, wie die meisten Fetttropfen, welche in dem thierischen Körper vorkommen, von einer feinen Eiweisshaut, der von =Ascherson= benannten Haptogenmembran, umschlossen sind. Die einzelnen Tropfen (Milchkörperchen) entsprechen den Tropfen, welche wir bei der Schmeerabsonderung antreffen; sie entstehen aus der Confluenz der feinen Körnchen, welche bei der Colostrumabsonderung durch eine caseinöse Zwischenmasse getrennt erscheinen. Nachdem wir die physiologischen Typen der Fettmetamorphose besprochen haben, so hat die Darstellung der pathologischen Vorgänge keine Schwierigkeit mehr. Mit Ausnahme ganz weniger Gebilde, wie der rothen Blutkörperchen, der Ganglienzellen und Nervenfasern in den Central-Organen[205], können fast alle übrigen zelligen Theile unter gewissen Verhältnissen eine ähnliche Umwandlung erfahren. Diese stellt sich genau in derselben Weise dar: in dem Zelleninhalte erscheinen einzelne feinste Fettkörnchen, werden reichlicher und erfüllen allmählich den Zellenraum, ohne jedoch zu so grossen Tropfen zusammenzufliessen, wie dies bei der Fettinfiltration und der Fettgewebsbildung der Fall ist. Gewöhnlich tritt die Entwickelung von Fettkörnchen zuerst in einiger Entfernung vom Kerne auf; sehr selten beginnt sie vom Kerne aus. Das ist die Zelle, welche man seit längerer Zeit =Körnchenzelle= genannt hat. Dann kommt ein Stadium, wo allerdings noch Kern und Membran zu sehen sind, wo aber die Fettkörnchen so dicht angehäuft sind, wie bei den Colostrumkörperchen; nur an der Stelle, wo der Kern lag, findet sich noch eine kleine Lücke (Fig. 75, _b_). Von diesem Stadium ist nur noch ein kleiner Schritt bis zum vollkommenen Untergange der Zelle. Denn in dem Zustande der Körnchenzelle erhält sich eine Zelle niemals längere Zeit; wenn sie einmal in dieses Stadium eingetreten ist, so verschwinden gewöhnlich alsbald der Kern und die Membran, soweit ersichtlich, durch Auflösung oder Erweichung. Dann haben wir die einfache =Körnchenkugel=, oder wie man früher nach =Gluge= zu sagen pflegte, die =Entzündungskugel= (Fig. 75, _c_). [205] Archiv X. 407. =Gluge= verfiel bei dieser Gelegenheit in einen der Irrthümer, wie sie die Anfangsperiode der Mikrographie mehrfach gebracht hat. Er sah solche Kugeln zuerst bei Untersuchung einer Niere im Innern eines Kanals, den er für ein Blutgefäss hielt. Damals, wo die Lehre von der Stase die Grundlage der Entzündungstheorie bildete, schien es ihm unzweifelhaft, dass er ein Gefäss mit stagnirendem Inhalt vor sich habe, in welchem der Inhalt (das Blut) zerfallen sei und die Entzündungskugeln erzeugt habe. Leider war, wie wir jetzt bestimmt behaupten können, das Gefäss ein Harnkanälchen, das, was er für Theile zerfallender Blutkörperchen ansah, Fett, das, was er Entzündungskugeln nannte, fettig degenerirtes Nierenepithel. Man hätte sich diesen Irrweg leicht ersparen können, allein es gab damals wenige Leute, welche wussten, wie Harnkanälchen aussehen, und wie sie sich von Gefässen unterscheiden, und so hat es etwas lange gedauert, ehe jene Entzündungstheorie überwunden worden ist. Gegenwärtig nennen wir das Ding eine Körnchenkugel und betrachten es als das Product der vollendeten Degeneration, wo die Zelle nicht mehr als Zelle erhalten ist, sondern wo bloss noch die rohe Form übrig ist, nach vollständigem Verlust der die eigentliche Zelle constituirenden Theile, der Membran und des Kernes. Von diesem Zeitpunkte an tritt je nach den äusseren Verhältnissen entweder ein vollständiger Zerfall ein, oder die Theile können sich noch im Zusammenhange erhalten. In weichen Theilen, in denen von Anfang an viel Flüssigkeit (Saft) vorhanden ist, fallen die Körnchen bald aus einander. Der Zusammenhang, in dem sie sich ursprünglich befanden und Kugeln bildeten, welche durch einen Rest des alten Zelleninhaltes zusammenklebten, löst sich allmählich; die Kugel zerfällt in eine bröcklige Masse, welche oft noch an einzelnen Stellen etwas zusammenhält, aus welcher sich aber ein Fetttropfen nach dem andern ablöst. Der pathologische =Detritus= zeigt daher eine grosse Uebereinstimmung mit der Milch. Sehr schön sieht man diese Vorgänge am =Lungenepithel=[206] in den späteren Stadien catarrhalischer Pneumonie, wo zuweilen die Fettmetamorphose so reichlich ist, dass man die Lungen von weisslichen Punkten oder Figuren, einer Art von fettigem Reticulum, durchsetzt findet. Diese Stellen bieten eine besonders günstige Gelegenheit dar, den Unterschied der Fettkörnchenzellen (Fig. 75) von anderen Formen der Körnchenzellen kennen zu lernen. Gerade unter den Zellen, welche die Alveolen solcher Lungen erfüllen, findet man sehr oft Pigmentzellen; auch werden letztere bei solchen Leuten durch den Auswurf zuweilen in so grosser Menge zu Tage gefördert, dass derselbe dadurch die bekannten rauchgrauen Flecke bekommt (Fig. 8, _b_). Auf den ersten Blick ist es ziemlich schwierig, einen Unterschied zwischen Fettkörnchen- und Pigment-Zellen zu machen. In beiden Fällen liegt scheinbar dasselbe Bild vor. Man sieht runde, mit kleinen dunklen Körnchen gefüllte und auch im Ganzen dunkel (schwärzlich) erscheinende Kugeln. Denn auch bei feinkörniger Fettmetamorphose erscheinen die veränderten Zellen im durchfallenden Lichte als gelbbraune oder schwärzliche Körperchen, aber ihre einzelnen Theilchen besitzen keine positive Farbe und das farbige Aussehen ist nur ein Interferenzphänomen. Die Pigmentkörnchenzellen dagegen enthalten unzweifelhaften braunen, grauen oder schwarzen Farbstoff, der an den einzelnen Körnern haftet. [206] Beiträge zur experim. Pathologie. 1846. Heft II. 83. Gesammelte Abhandl. 280. Archiv I. 145, 461. Die Unterscheidung der gewöhnlichen Körnchenzellen, womit man nach dem angenommenen Sprachgebrauche die Fettkörnchenzellen meint, ist aber sehr wesentlich, da wir auch an anderen Punkten, z. B. am =Gehirn=, beide Arten von Körnchenzellen, Fett haltende und Pigment haltende, nebeneinander finden, und, wenn es sich um die Veränderung kleinerer Stellen handelt, es für die Deutung des Fundes entscheidend ist, zu wissen, ob es sich um Fett oder um Pigment handelt. Auch am Gehirn kann die Anhäufung vieler kleiner Fetttheilchen durch die Vervielfältigung der lichtbrechenden Punkte für das blosse Auge eine intensiv gelbe Farbe bedingen, und so eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Aussehen apoplektischer Stellen erzeugen, bei denen die Farbe von verändertem Blutpigment abhängt (S. 177). Der verschiedene Gehalt an Fett und der Grad der Zertheilung desselben erzeugt eine überaus grosse Reihe von Farben-Verschiedenheiten, welche sich auch für die gröbere Anschauung sehr deutlich zu erkennen geben. Je feiner und dichter gelagert die fettigen Theile sind, um so mehr entsteht auch für das blosse Auge ein rein gelbes oder bräunlich-gelbes Aussehen. Was wir gelbe Hirnerweichung nennen, ist nichts weiter, als eine Form der Fettmetamorphose, wo das gelbe Aussehen der Heerde durch die Anhäufung feinkörnigen Fettes bedingt ist[207]. Sobald dieses entfernt wird, so verschwindet auch die Farbe, obgleich das extrahirte Fett gar nicht so gefärbt ist, wie die Stelle, von welcher es herstammt. Die Lichtbrechung zwischen den kleinsten Partikeln ist die Hauptbedingung für dieses Farbenphänomen. [207] Archiv I. 147, 323, 355, 358, 454. X. 407. Besonders ausgezeichnet ist diese Färbung an dem =Corpus luteum= des Eierstocks[208]. Ich führe letzteres hauptsächlich deshalb an, weil man daran ersehen kann, wie grobe Resultate die Fettmetamorphose für die grobe Anschauung darbieten kann. Macht man einen Schnitt in das Ovarium senkrecht von der Oberfläche hinein an der Stelle, wo eine kleine Prominenz und eine kleine Lücke der Albuginea den Ort bezeichnen, wo der Follikel geborsten und das Ovulum ausgetreten ist (Fig. 120, _B_), so sieht man, wenn das Corpus luteum frisch ist, um einen rothen Klumpen die sehr breite, gelbweisse Schicht (Fig. 120, _A_, _a_), von welcher der Körper seinen Namen hat. Bei einem puerperalen Corpus luteum hat diese Schicht eine sehr grosse Dicke und eine mehr gelbröthliche Farbe; bei dem menstrualen ist sie schmäler und nach innen sehr scharf abgesetzt gegen den frisch extravasirten Inhalt, welcher das durch den Austritt des Eichens entleerte Bläschen gefüllt hat. Diese innere rothe Masse ist ganz und gar Thrombus, Blutgerinnsel. Die äussere Schicht dagegen besteht wesentlich aus fettig degenerirten Zellen, und die gelbe Farbe, welche sie besitzt, ist bedingt durch die Brechung des Lichtes, welche die vielen kleinen Partikelchen des Fettes hervorbringen. Auch dies ist kein eigentliches Pigment, sondern eine Interferenzfarbe. [208] Archiv I. 411, 446. [Illustration: =Fig=. 120. Bildung des Corpus luteum im menschlichen Eierstock. _A_ Durchschnitt des Eierstockes: _a_ frisch geplatzter und mit geronnenem Blut (Extravasat, Thrombus) gefüllter Follikel, an dessen Umfange die dünne gelbe Schicht liegt; _b_ ein schon gefalteter, mit verkleinertem Thrombus und verdickter Wand versehener, früher geborstener Follikel; _c_, _d_ noch weiter vorgerückte Rückbildung. _B_ Aeussere Oberfläche des Eierstockes mit der frischen Rupturstelle des Follikels, aus dessen Höhle der Thrombus hervorsieht. Natürliche Grösse.] Es versteht sich von selbst, dass an jedem Punkte, wo die fettige Degeneration einen hohen Grad erreicht, zugleich eine grosse Opacität sich einstellt. Durchsichtige Theile werden ganz undurchsichtig, wenn sie fettig entarten; das sieht man am besten an der =Hornhaut=, deren fettige Trübung im Arcus senilis (Gerontoxon) so stark werden kann, dass eine ganz undurchsichtige Zone entsteht[209]. Selbst an solchen Organen, wo die Theile von vornherein nicht durchsichtig, sondern nur durchscheinend waren, tritt in dem Maasse, als der Prozess der fettigen Degeneration vorrückt, eine vollkommene Trübung ein. [209] Archiv IV. 288. Betrachtet man eine =Niere= im Stadium der fettigen Degeneration, z. B. im Beginne der Atrophie, welche im Laufe eines der unter dem Namen des Morbus Brightii zusammengefassten Prozesse eintritt, so findet man die gewundenen Harnkanälchen der Rinde sehr vergrössert und ihr Epithel insgesammt fettig degenerirt, so dass man innerhalb der Kanälchen oft gar nichts weiter erkennt, als eine dicht gedrängte Masse von Fettkörnern. Wenn man jedoch sehr vorsichtig mikroskopische Schnitte anfertigt, so sieht man im Anfange die Fettkörnchen noch in einzelnen Gruppen (als Körnchenzellen oder Körnchenkugeln, Fig. 107); unter geringem Drucke zerstreut sich aber die Masse so, dass das ganze Harnkanälchcn mit einem fein emulsiven Inhalte gleichmässig erfüllt wird. Schon vom blossen Auge vermag man ganz bestimmt die Veränderung zu erkennen; wenn man einmal gewöhnt ist, solche feineren Zustände genauer zu sondern, so hat es gar keine Schwierigkeit, einer Niere anzusehen, ob eine Veränderung ihres Epithels und zwar in dieser bestimmten Art vorhanden ist. Denn es giebt gar keine Form der Veränderung, welche damit verglichen werden könnte. Betrachtet man die Oberfläche der Niere, so wird man wahrnehmen, dass in dem mehr grau durchscheinenden Grundgewebe, aus welchem die Stellulae Verheyeni (die corticalen Venen) hervortreten, kleine trübe gelbliche Flecke in der verschiedensten Weise zerstreut sind, meist nicht als eigentliche Punkte, sondern mehr als kurze Bogenabschnitte. Das sind immer Theile von Harnkanälchenwindungen, welche an die Oberfläche treten. Diese gelblichen, opak erscheinenden Windungen entsprechen fettig degenerirten Harnkanälchen, oder genauer gesagt, mit fettig degenerirtem Epithel erfüllten Harnkanälchen. Vergleicht man den Durchschnitt mit der Oberfläche, so sieht man auch an ihm sehr bestimmt, wie durch die ganze Rinde dieselbe Zeichnung in der Richtung von der Peripherie bis zur Marksubstanz fortgeht und in ziemlich regelmässigen Abständen von einander die einzelnen Kegel der Rindensubstanz umsäumt. Unter dem Mikroskope unterscheidet man in Schnitten, aus der Nähe der Oberfläche und parallel mit derselben genommen, sehr leicht die fettig degenerirten Kanäle von den mehr normalen Kanälen und von den oft unversehrten Glomerulis. Bei schwächerer Vergrösserung und bei durchfallendem Lichte erscheinen die Malpighischen Knäuel (Glomeruli) als grosse, helle, kuglige Gebilde, während die degenerirten gewundenen Harnkanälchen, welche sich mannichfaltig verschlingen, sich durch ihr trübes, schattiges Aussehen sowohl vor ihnen, als vor den gestreckten, mehr hellen und durchscheinenden Kanälchen auszeichnen. Zugleich ist an einem solchen Objecte sehr schön zu sehen, was übrigens an allen fettig degenerirten Theilen vorkommt, dass an allen Stellen, wo wir bei auffallendem Lichte und bei der gewöhnlichen Betrachtung mit blossem Auge weissliche, gelbliche, oder bräunliche Theile sehen, bei durchfallendem Lichte, wie wir es meistens bei den Mikroskopen und besonders bei stärkerer Vergrösserung anwenden, entweder schwarze oder schwarz-bräunliche, oder wenigstens sehr dunkle, von scharfen Schatten umgebene Theile erscheinen. Eine Körnchenkugel, die, wenn sie mit mehreren anderen zusammenliegt, für das blosse Auge eine weisse Trübung bedingt, wird bei durchfallendem Lichte ein fast schwarzes oder doch bräunliches Aussehen darbieten. -- Das ist der gewöhnliche Modus, in welchem der Zerfall fast aller der Theile stattfindet, welche wesentlich aus Zellen bestehen und welche von Natur viel Flüssigkeit enthalten, z. B. unter den bekannten pathologischen Producten der Eiter (S. 221, Fig. 75). Es entstehen zuerst Körnchenkugeln, sodann durch deren Erweichung ein milchiger Detritus, der resorptionsfähig ist. Sind die Theile mehr trocken und starr, so dass eine Resorption der Fettmasse weniger leicht vor sich gehen kann, so bleibt das Fett zuweilen lange in der Form des früheren Elementes liegen. So verhält es sich bei der Fettmetamorphose der =Muskeln=. Betrachtet man ein von derselben betroffenes Herz, so bemerkt man schon vom blossen Auge gewisse Veränderungen, nehmlich eine Erschlaffung und Verfärbung der Substanz. Letztere verliert die rothe Fleischfarbe und wird mehr und mehr blassgelb. Diese Verfärbung erstreckt sich manchmal über das gesammte Myocardium. Andermal ist sie jedoch mehr partiell. Sie betrifft z. B. überwiegend den linken Ventrikel und hier vielleicht besonders die inneren Lagen. Oder sie findet sich, wie bei maligner Pericarditis[210], in diffuser Verbreitung in den peripherischen Muskelschichten. Sehr häufig erkennt man, namentlich an den Papillarmuskeln, kurze, gelbliche, fast geflechtartig aneinander stossende, die Richtung der Muskelbündel kreuzende Flecke oder Striche, die gegen die röthliche Farbe des eigentlichen Muskelfleisches stark abstechen. [210] Archiv XIII. 266. Untersucht man die verfärbten Theile mikroskopisch, so zeigen sich im Innern der Primitivbündel zuerst ganz vereinzelt feine, schwärzlich aussehende Punkte; diese vermehren und vergrössern sich. Bei einer gewissen Menge sieht man sie sehr deutlich in Reihen geordnet (Fig. 121), jede Reihe perlschnurförmig. Diese Reihen entstehen dadurch, dass die Fettkörnchen sich zwischen die Primitivfibrillen einlagern, welche noch lange neben ihnen fortexistiren. Erst in den höheren Graden der Veränderung verschwinden die Primitivfibrillen durch Erweichung. [Illustration: =Fig=. 121. Fettmetamorphose des Herzfleisches in ihren verschiedenen Stadien. Vergr. 300.] Das ist die eigentliche Fettmetamorphose der Muskelsubstanz des Herzens, die sich ganz wesentlich von der Obesität (Polysarcie) des Herzens unterscheidet, wo dasselbe mit epicardialem und interstitiellem Fettgewebe überladen wird und letzteres an einzelnen Stellen die Wand so durchsetzt, dass man kaum noch Muskelmasse wahrnimmt. Zwischen beiden Zuständen besteht der erhebliche Unterschied, dass bei der Fettmetamorphose die Züge von wirksamer Substanz (Muskelfasern) durch Stellen unterbrochen werden, welche für die Action nicht mehr brauchbar sind, während bei der Obesität die träge Masse des Fettes sich zwischen die wirksamen Bestandtheile einschiebt und sie, wenigstens zunächst, nur mechanisch hindert. Bei längerer Dauer dieses Zustandes kommt es freilich nicht selten vor, dass sich zugleich Fettmetamorphose des Herzfleisches entwickelt, dass also beide Zustände, der parenchymatöse und der interstitielle, sich mit einander combiniren. Diese höheren Grade sind es besonders, welche man, ohne auf das Einzelne Rücksicht zu nehmen, in früherer Zeit unter dem Namen der =fettigen Degeneration= zusammenfasste. Aehnlich gestaltet sich das Verhältniss bei Verkrümmungen. Ich wähle ein bestimmtes Beispiel: die Muskelverhältnisse eines Mannes mit Kypho-Skoliose. Hier fand sich der Longissimus dorsi an der Stelle, wo er über die Biegung hinweglief, in eine platte, dünne, blassgelbliche Masse umgewandelt. An einer Stelle war er bis auf eine membranöse Lage geschwunden und das rothe Aussehen fehlte ganz und gar; nach unten hin dagegen war der Muskel vielmehr aus abwechselnden rothen und gelben Längsstreifen zusammengesetzt. Letzteres Aussehen zeigen die meisten fettig degenerirten Muskeln, welche sich bei Verkrümmungen der Glieder, z. B. bei Klumpbildungen an den unteren Extremitäten, finden. Hier ergibt sich in der Regel, dass, entsprechend den gelben Streifen, nicht so sehr eine wirkliche Umänderung der Muskelsubstanz besteht, sondern dass vielmehr eine interstitielle Entwickelung von Fettgewebe eintritt. Dieses liegt in Reihen zwischen den Primitivbündeln; dadurch wird eine für das blosse Auge gelbliche Färbung erzeugt, welche der rothen Streifung des eigentlichen Muskelfleisches sehr ähnlich ist. Es verhält sich dabei genau so, wie in dem früheren Falle (S. 407, Fig. 115), wo wir zwischen je zwei Primitivbündeln eine Reihe von Fettzellen trafen; das Gelbe, was man dort sehen konnte, war nicht veränderte Muskelsubstanz, sondern das Fett, welches zwischen der Muskelsubstanz gewachsen war. Bei unserem Skoliotischen besteht aber neben der interstitiellen Fettgewebsbildung eine parenchymatöse Degeneration der eigentlichen Substanz: auch das Muskelfleisch selbst ist fettig entartet. Diese Combination ist jedoch nur an den unteren Theilen des Muskels zu sehen, während der Abschnitt, welcher unmittelbar an der stärksten Ausbiegung des Brustkorbes lag und die grösste Spannung erduldet hatte, vom blossen Auge gar kein Muskelfleisch mehr erkennen lässt. Mikroskopisch findet man hier dicht neben einzelnen Muskelfasern, welche noch deutlich quergestreift sind, zahlreiche andere, welche stark mit Fett durchsetzt sind. Die partielle Fettmetamorphose des Muskelfleisches erscheint also unter zwei Formen, der =fleckigen= und der =streifigen=: in der ersten Form wird der Muskel in seinem Verlaufe durch degenerirte Stellen unterbrochen, so dass dasselbe Bündel theils degenerirt, theils sich in seiner Integrität erhält; in der anderen Form dagegen folgt die Veränderung den Bündeln, welche in ihrer ganzen Ausdehnung die Veränderung eingehen. Hier können demnach normale und degenerirte Bündel neben einander liegen, miteinander abwechseln. Dieser partiellen Fettmetamorphose steht die allgemeine gegenüber, welche sich gerade am Herzen nicht selten vorfindet, und welche einen der schwersten Krankheitszustände begründet. Gerade hier ist unsere Kenntniss im Laufe der letzten Jahre sehr vorgerückt, indem nicht nur die acuten Fettmetamorphosen nach manchen Vergiftungen, z. B. Phosphor, sondern auch die sehr ähnlichen Formen nach Infectionskrankheiten, namentlich Typhus, Puerperalfieber, Ichorrhaemie zu den häufigeren Vorkommnissen gehören. Die peripherischen Muskeln nehmen bald mehr, bald weniger an diesen Veränderungen Theil, jedoch ist ihre Betheiligung selten eine so starke, wie die des Herzfleisches. -- [Illustration: =Fig=. 122. Fettige Degeneration an Hirnarterien. _A_ Fettmetamorphose der Muskelzellen in der Ringfaserhaut. _B_ Bildung von Fettkörnchenzellen in den Bindegewebskörperchen der Intima. Vergröss. 300.] Auch an der Wand der =Arterien= kommt Fettmetamorphose vor. Zuweilen geschieht sie an den Faserzellen der Muskelhaut (Fig. 122, _A_); in diesem Falle hat sie eine grosse Bedeutung für die Bildung von Erweiterungen und Zerreissungen der Gefässe. Noch häufiger ist sie an der Intima (Fig. 122, _B_). An der Aorta, der Carotis, den Hirnarterien sieht man oft mit blossem Auge ganz oberflächliche Veränderungen der inneren Haut in der Art, dass kleine weissliche oder gelbliche Flecke von rundlicher oder eckiger Gestalt, manchmal mehr zusammenhängend, über die Fläche etwas hervortreten. Schneidet man an solchen Stellen ein, so findet man, dass die Veränderung in der innersten (oberflächlichsten) Schicht der Intima liegt. Sie darf mit dem eigentlichen atheromatösen Zustande nicht verwechselt werden. Nimmt man eine solche Stelle unter das Mikroskop, so ergibt sich, dass eine Fettmetamorphose der Bindegewebs-Elemente der Intima stattgefunden hat. Da diese Bindegewebs-Elemente sternförmige, ästige Zellen sind, so zeigt sich begreiflicherweise nicht die gewöhnliche Form der Körnchenzellen, sondern man sieht feine, oft sehr lange, an einzelnen Stellen spindel- oder sternförmig anschwellende Körper, welche ganz mit Fettkörnchen erfüllt sind, während dazwischen noch intacte Intercellularsubstanz sich befindet. Die zelligen Elemente des Bindegewebes gehen hier in ihrer Totalität die Veränderung ein. Selbst die feinsten Ausläufer der Zellen zeigen noch perlschnurförmig angeordnete Fettkörnchen. Später erweicht die Zwischenmasse, die zelligen Theile fallen auseinander, der Blutstrom reisst die Fettpartikelchen mit sich. So entstehen an der Oberfläche des Gefässes unebene Stellen, welche so lange, als der Prozess fortschreitet, anschwellen, später usurirt werden und leicht sammetartig aussehen, ohne dass es ein Geschwür im eigentlichen Sinne des Wortes gibt. Es ist dies eine besondere Form der =fettigen Usur=[211]. Sie kommt auch an vielen anderen Theilen vor, so an den Gelenkknorpeln, selbst an der Oberfläche von Schleimhäuten, z. B. des Magens (=Fox=). [211] Gesammelte Abhandlungen 494, 503. Diese oberflächliche, zur einfachen Usur führende Veränderung unterscheidet sich wesentlich von der sogenannten atheromatösen Degeneration. Denn bei dieser tritt ein ähnlicher Vorgang der Fettmetamorphose in der Tiefe ein: die tiefsten Lagen der Intima gerathen zuerst in die Fettmetamorphose, und erst zuletzt wird die Oberfläche erreicht. Mit eintretender Erweichung der Grundsubstanz entsteht der =atheromatöse Heerd=, der eine breiige Masse enthält, ähnlich dem Atherom der äusseren Haut, wo die Vermischung von Schmeer mit Epidermis einen Brei abgibt. Was wir an dem Atherom der Arterie finden, ist die Mischung des fettigen Detritus der Zellen mit erweichter Gewebssubstanz, und da diese Masse abgeschlossen unter der Oberfläche liegt, so gibt es eine Art von Heerd, gleichsam einen Abscess. Erst bei vorgeschrittener Erweichung reisst die Oberfläche ein, es treten Theile aus der Höhle in das Gefäss, und hinwieder Theile aus dem Blute gehen aus dem Lumen des Gefässes in die Atheromhöhle hinein. Auf diese Weise entstehen =Zerstörungen=, =Destructionen=, in letzter Instanz das =atheromatöse Geschwür=: ein Geschwür, welches den gewöhnlichen Arten von Ulceration sehr nahe steht, aber eben nur der fettigen Metamorphose seine Entstehung verdankt. Es ist ein Product des Heerdes, allein es enthält nichts mehr von geformten Elementartheilen, höchstens etwas krystallinisches Cholestearin (Fig. 129). Wir haben es dann recht eigentlich mit einem zerstörenden und ulcerirenden Vorgang zu thun. Nur in solchen Theilen, wo, wie in der Milchdrüse, in den Schmeerdrüsen, neue Elemente nachwachsen, kann der Prozess der Fettmetamorphose längere Zeit bestehen, ohne zu einem vernichtenden Gesammtresultate zu führen. Die einzelnen Zellen gehen aber auch da unter, sie lösen sich in derselben Weise zu einem Detritus, wie bei der pathologischen Fettmetamorphose. Diese stellt daher unter allen Verhältnissen, sowohl physiologisch, wie pathologisch, eine Nekrobiose dar. Wenn die Milch- und Schmeersekretion, die ihrem Wesen nach nekrobiotische Absonderungen sind, trotz dieses Charakters Monate lang, ja die letztere das ganze Leben lang fortbestehen können, so ist dies eben nur möglich, weil sie an Drüsen mit stetigem Nachwuchse neuer Elemente sich vollstrecken. Hört an der Milchdrüse, wie es nicht selten geschieht, die Bildung neuer Zellen in den Terminalbläschen auf, so atrophirt die Drüse und sie wird dauernd unbrauchbar für die Secretion. Achtzehntes Capitel. Amyloide Degeneration. Verkalkung. Die amyloide (speckige oder wächserne) Degeneration. Regionäres Auftreten derselben. Verschiedene Natur der Amyloidsubstanzen: Glykogen (Leber), Corpora amylacea (Hirn, Lungen, Prostata) und eigentliche Amyloid-Entartung. Verlauf der letzteren. Beginn der Erkrankung an den feinen Arterien. Wachsleber. Knorpel. Dyscrasischer (constitutioneller) Charakter der Krankheit: functionelle Störungen. Darm. Niere: die drei Formen der Bright'schen Krankheit (amyloide Degeneration, parenchymatöse und interstitielle Nephritis). Lymphdrüsen: consecutive Anämie. Gang der Erkrankung. Beziehung zu Knochenkrankheiten und Syphilis. Amyloide Erkrankung der Schilddrüse und der Nebennieren. Verkalkung (Versteinerung, Petrification). Unterschied von Verknöcherung. Verkalkung der Arterien, des Bindegewebes, der Knorpel. Haut- oder Knochenknorpel (osteoides Bindegewebe). Concentrisch geschichtete Kalkkörper (Concretionen). Versteinerung: Lithopädion. Verkalkung todter Theile: Eingeweidewürmer, Ganglienzellen des Gehirns bei Commotion, käsige und thrombotische Massen. Unter den passiven Prozessen, welche zur Degeneration und damit zur Verminderung oder Vernichtung der Functionsfähigkeit führen, stehen, wie wir oben hervorhoben, die nekrobiotischen, mehr oder weniger erweichenden, bei welchen ein Theil der Gewebselemente ganz verschwindet und aufgelöst wird, denjenigen gegenüber, bei welchen bald für das blosse Auge und das Tastgefühl, bald bloss für das bewaffnete Auge eine Verdichtung, eine Vermehrung der festen Substanz des leidenden Organs stattfindet. Ich meine damit jedoch nicht jene eigentliche Induration, welche vielmehr auf einer Vermehrung der constituirenden Bestandtheile des Gewebes beruht, sondern eine wirklich degenerative Veränderung, bei welcher die zunehmende Dichtigkeit durch ungehörige, der Zusammensetzung des Gewebes fremdartige Bestandtheile erfolgt. Unsere Kenntniss in dieser Richtung ist in neuerer Zeit sehr wesentlich gefördert worden, insofern ein Prozess, dessen Natur früher theils ganz unklar, theils nur wenig untersucht war, mehr und mehr unseren Untersuchungen zugänglich geworden ist, so dass er schon jetzt ein wichtiges Gebiet der Pathologie der kachektischen Zustände ausmacht. Es ist dies der von Einigen als =speckig=, von Anderen als =wächsern= bezeichnete Zustand, dem ich den Namen des =amyloiden= beigelegt habe. Der Name der speckigen Veränderung ist hauptsächlich durch die Wiener Schule wieder mehr in Gebrauch gekommen. Denn er ist nicht erst in neuerer Zeit erfunden worden; im Gegentheil, er ist als Bezeichnung für ein festes, derbes, gleichmässiges Aussehen der Theile in der Medicin ziemlich alt. Wir finden ihn seit Jahrhunderten, und Speckgeschwülste (Steatome, Tumores lardacei) haben noch in der Neuzeit ihre Rolle gespielt[212]. Allein der Ausdruck der speckigen Veränderung, wie er jetzt gebraucht wird, hat weder mit dem Alterthum, noch mit der Geschwulstlehre, noch überhaupt mit Neubildung von Gewebsbestandtheilen etwas zu thun; er bezieht sich vielmehr auf gewisse Veränderungen oder Degenerationen von Organen, welche die Alten, die, wie ich glaube, bessere Speckkenner waren, als die jetzigen Wiener, schwerlich mit einem solchen Namen belegt haben würden. Das Aussehen solcher Organe nehmlich, welche nach Wiener Anschauungen speckig aussehen sollen, gleicht nach nördlichen Begriffen vielmehr dem Wachs. Daher habe ich schon seit langer Zeit, wie die Edinburger Schule, den Ausdruck der wächsernen Veränderung dafür gebraucht. Sieht man eine Leber oder eine Lymphdrüse in recht ausgeprägten Zuständen dieser Art an, so ist das, was am meisten für das blosse Auge auffällt, das blasse, durchscheinende, aber zugleich matte Aussehen, welches die Schnittflächen darbieten: die natürliche Farbe der Theile ist mehr oder weniger verloren, so dass ein Anfangs mehr graues, später vollkommen farbloses Material die Theile zu erfüllen scheint. Die durchscheinende Beschaffenheit, welche das Gewebe hat, lässt indess das Roth der Gefässe und die natürliche Färbung der Nachbartheile durchschimmern, so dass die veränderten Stellen in einzelnen Organen mehr gelblich, röthlich oder bräunlich aussehen. Die sogenannte Speckmilz sieht geradezu schinkenartig aus. Es ist dies aber nicht eine der abgelagerten Substanz zukommende, sondern nur eine durch sie hindurchschimmernde Farbe. Zugleich pflegen sich die betroffenen Organe zu vergrössern und sowohl absolut, als specifisch schwerer zu werden. Auf Durchschnitten sehen manche von ihnen so matt aus und zugleich sind sie so dicht, dass ihr Aussehen an dasjenige von gekochten oder geräucherten Theilen erinnert. [212] Geschwülste I. 13, 325, 365. Die ersten Anhaltspunkte für die genauere Deutung der Substanz, welche man früher bald für eine eigenthümliche Fettmasse, bald für Eiweiss oder Fibrin, bald endlich für Colloid nahm, wurden durch die Anwendung des Jods auf die thierischen Gewebe gewonnen. Noch in demselben Jahre (1853), in dem ich die eigenthümliche Jodreaction an den Corpora amylacea der Nervenapparate, welche ich früher schilderte (S. 325), entdeckt hatte, stiess ich auf ein anderes Organ, nehmlich die Milz und zwar auf einen Zustand derselben, in welchem ihre Follikel (Malpighischen Körper) in ihrer Totalität in eine blasse, durchscheinende, wachsartige Masse umgewandelt waren. Ich nannte diesen Zustand wegen des eigenthümlichen, an gekochten Sago erinnernden Aussehens der entarteten Follikel =Sagomilz=. Auch hier fand sich eine Substanz, welche sowohl durch Jod für sich, als durch Jod und Schwefelsäure eine pflanzlichen Stärke- und Cellulose-Bildungen ähnliche Reaction ergab. Und hier war dieses Vorkommen noch viel mehr interessant, da es sich um eine unzweifelhaft krankhafte Erscheinung handelte, von der ich schon durch frühere Erfahrungen wusste, dass sie mit Zuständen der Kachexie, mit Erkrankungen der Leber und Nieren verbunden war[213]. [213] Archiv VI. 268. Gaz. hebdom. de méd. et de chirurg. 1853. p. 161. (Sitzung der Acad. des sc. vom 5. Dec. 1853). Bald nachher hat =Heinr=. =Meckel= Untersuchungen über die »Speckkrankheit« veröffentlicht, welche das Vorkommen dieser Substanz namentlich in der Niere, der Leber und dem Darme schilderten. Ja, es stellte sich bald heraus, dass ein solcher Stoff bei der Erkrankung der verschiedensten thierischen Theile, in den Lymphdrüsen, in der ganzen Ausdehnung des Digestionstractus, an den Schleimhäuten der Harnorgane, endlich sogar in der Substanz der Muskelapparate, im Herzen, im Uterus, in der Schilddrüse und Nebenniere, sowie im Inneren von Knorpeln vorkommen kann[214]. Merkwürdigerweise begrenzt sich jedoch das Gebiet der amyloiden Veränderung ganz überwiegend auf ein gewisses Feld, nehmlich auf die Organe des Unterleibes. Am Gehirne und den sonstigen Organen des Kopfes ist sie nie beobachtet worden; am Halse sind es nur die Schilddrüse und der Oesophagus, welche daran leiden; in der Brust sind in ganz seltenen Fällen das Herz, etwas häufiger die Speiseröhre, niemals die Lungen betheiligt. Die Krankheit hat daher einen so auffallend =regionären= Charakter, dass wir kaum irgend eine Analogie dafür in der Pathologie anführen können. [214] Archiv VI. 416. VIII. 140, 364. XI. 188. XIV. 187. Würzb. Verhandl. VII. 222. Betrachtet man die Substanzen im Thierkörper, welche Jodreaction geben, genauer, so ergiebt sich, dass mehrere ähnliche, aber nicht identische Körper unterschieden werden müssen. Zuerst nehmlich der von =Bernard= in der Leber und anderen, namentlich embryonalen Geweben aufgefundene Stoff, welcher so leicht in Zucker übergeht und welcher den Namen =Glykogen= oder =Zoamylon= erhalten hat. Dieser gibt mit Jodlösungen eine eigenthümliche weinrothe Färbung, die durch Schwefelsäure dunkelt, aber nicht in Blau übergeht. Beim Erwachsenen finde ich eine solche Substanz nur selten, z. B. in dem Epithel des Urogenital-Apparates und in den Knorpelzellen. Ganz verschieden davon ist die Substanz, welche mehr der eigentlichen Stärke (Amylon) der Pflanzen analog ist und auch in der Form ihrer Abscheidungen mit den pflanzlichen Stärkekörnern eine überraschende Aehnlichkeit darbietet, denn ganz regelmässig erscheint sie in mehr oder weniger rundlichen oder ovalen, concentrisch geschichteten Bildungen. In diese Reihe gehören vor Allen die =Corpora amylacea= des Nervenapparates (Fig. 103, _c a_). Diese bleiben immer mikroskopische Gebilde. In anderen Organen kommen jedoch geschichtete Amylacea von sehr beträchtlicher Grösse vor; ihr Durchmesser kann so erheblich werden, dass man sie vom blossen Auge leicht erkennt. Dahin gehört namentlich ein Theil der geschichteten Körper, wie sie fast bei jedem erwachsenen Manne in der Prostata sich finden, wo sie unter Umständen so sehr anwachsen, dass sie die sogenannten Prostata-Concretionen bilden. Ebenso sind hierher zu zählen die seltenen, ähnlich gebildeten Körper, welche zuerst =Friedreich= in manchen Zuständen der Lunge nachgewiesen hat. [Illustration: =Fig=. 123. Geschichtete Prostata-Amylacea (Concretionen): _a_ längliches, blasses, homogenes Körperchen mit einem kernartigen Körper. _b_ Grösseres, geschichtetes Körperchen mit blassem Centrum. _c_ Noch grösseres, mehrfach geschichtetes Gebilde mit gefärbtem Centrum. _d_, _e_ Körper mit zwei und drei Centren. _d_ stärker gefärbt. _f_ Grosse Concretion mit schwarzbraunem, grossem Centrum. Vergr. 300.] In der Prostata wechseln diese Körper von ganz kleinen, einfachen, gleichmässig aussehenden Gebilden bis zu hanfkorngrossen Klumpen, an denen wir stets eine successive Reihe sehr zahlreicher Schichtungen sehen. Wie die kleinen amylacischen Körperchen des Nervenapparates häufig zu zweien zusammengesetzt sind, Zwillingsbildungen darstellen, so kommt es auch in der Prostata sehr häufig vor, dass um getrennte Centren eine gemeinschaftliche Umhüllung stattfindet (Fig. 123, _d_, _e_). Ja, in einzelnen Fällen geht das so weit, dass ganze Haufen von kleineren Körpern von grossen, gemeinschaftlichen Lagen umhüllt und zusammengehalten werden. Diese ganz grossen, freilich selteneren Formen können einen Durchmesser von ein Paar Linien erreichen, so dass man sie leicht aus dem Gewebe isoliren und selbst grober Untersuchung unterwerfen kann. Es scheint kaum zweifelhaft, dass in diesen Fällen eine Substanz abgeschieden wird, welche sich nach und nach aussen um präexistirende Körper ansetzt, dass es sich hier also nicht um die Degeneration eines bestimmten Gewebes handelt, sondern um eine Art von Ausscheidung und Sedimentbildung, wie wir sie bei anderen Concretionen aus Flüssigkeiten erfolgen sehen. Man kann mit Wahrscheinlichkeit schliessen, dass die Prostata, indem ihre Elemente sich auflösen, eine Flüssigkeit liefert, welche nach und nach Niederschläge bildet und dadurch diese besonderen Formen hervorbringt. Diese Gebilde haben nun das Eigenthümliche, dass sie schon unter der einfachen Wirkung von Jod (ohne Zusatz von Schwefelsäure) sehr häufig eine eben solche blaue Farbe annehmen, wie die Pflanzenstärke. Je nachdem die Substanz reiner oder unreiner ist, ändert sich die Farbe, so dass sie z. B., wenn viel eiweissartige Masse beigemengt ist, statt blau grün erscheint, indem die albuminöse Substanz durch Jod gelb, die amylacische blau wird; was den Totaleffect des Grünen gibt. Je mehr albuminöse Substanz, um so mehr wird die Farbe braun, und nicht selten hat man in der Prostata Concretionen, welche nach der Jodeinwirkung die verschiedensten Farben darbieten. Insofern unterscheiden sich diese Körper von jenen kleinen Amylonkörperchen des Nervenapparates, welche sämmtlich eine bläuliche oder blaugraue Färbung durch Jod annehmen. Auch ist zu bemerken, dass viele im Baue ganz analoge Körper der Prostata durch Jod nur gelb oder braun werden, sich also chemisch anders verhalten. Daraus folgt, dass man sich bei der Anwendung von Reagentien leicht täuschen kann, dass jedoch ohne die Anwendung derselben eine Entscheidung überhaupt nicht möglich ist. Ich selbst habe früher (1851) alle morphologisch der Pflanzenstärke analogen Gebilde im menschlichen Körper unter dem Namen der Corpora amylacea zusammengestellt[215]; erst seitdem ich die Jodreaction gefunden habe, war ich in der Lage, nur diejenigen in diese Bezeichnung einzuschliessen, welche die Reaction geben. Dabei ist es sehr wohl möglich, dass die amylacische Substanz in einem geschichteten Körper, der ursprünglich nichts davon enthielt, nachträglich durch chemische Umwandlung entsteht. [215] Würzb. Verhandl. II. 51. Wesentlich verschieden sowohl von dem Glykogen, als noch mehr von diesen Ausscheidungen stärkeartiger Substanz sind die =amyloiden Degenerationen der Gewebe selbst=, wobei Gewebs-Elemente als solche sich direct mit einer auf Jod reagirenden Substanz erfüllen und nach und nach so davon durchdrungen werden, wie etwa die Durchdringung der Gewebe mit Kalk bei der Verkalkung erfolgt. Man kann nicht füglich zwei Dinge besser vergleichen, als die Verkalkung und die amyloide Entartung. -- Die Substanz, welche diese eigentliche Degeneration der Gewebe bedingt, hat die Eigenthümlichkeit, dass sie unter der Einwirkung von blossem Jod für sich nie blau wird. Bis jetzt ist wenigstens kein Fall bekannt, wo verändertes Parenchym der Gewebe diese Farbe angenommen hätte. Vielmehr sieht man eine eigenthümlich gelbrothe Farbe entstehen, welche allerdings in manchen Fällen einen leichten Stich ins Rothviolette (Weinrothe) hat, so dass wenigstens eine Annäherung an das Blau der Stärke-Masse hervortritt. Dagegen bekommt die Substanz häufig eine wirkliche, sei es vollkommen blaue, sei es violette Farbe, wenn man =recht vorsichtig= Schwefelsäure oder Chlorzink zufügt. Es gehört dazu allerdings eine gewisse Uebung; man muss das Verhältniss gut treffen, da die Schwefelsäure die Substanz gewöhnlich sehr schnell zerstört, und man entweder sehr undeutliche Färbungen bekommt, oder die Farbe nur momentan hervortritt und alsbald wieder verschwindet. Es ist also nöthig, das Jod zuerst und zwar in =diluirten=, wässerigen Lösungen recht vollständig einwirken zu lassen, was am besten geschieht, wenn man das Object mit einer Präparirnadel sanft klopft, so dass man gleichsam das Jod in dasselbe hineinpresst. Sodann entferne man die überflüssige Flüssigkeit und setze einen ganz kleinen Tropfen =concentrirter= Schwefelsäure zu und zwar so, dass er ganz langsam eindringt. Man muss zuweilen Stunden lang warten, ehe die gute blaue Farbe eintritt. Somit steht diese Substanz der eigentlichen Stärke weniger nahe, sondern nähert sich vielmehr der Cellulose, die wir früher besprochen haben (S. 6). Allein sie unterscheidet sich auch wiederum von der Cellulose dadurch, dass sie durch die Einwirkung von Jod für sich schon eine Färbung erfährt, während die eigentliche Cellulose durch blosses Jod überhaupt nicht gefärbt wird. Denn die Cellulose verhält sich darin ganz wie Cholestearin[216]. Wenn man nehmlich nur Jod zu dem Cholestearin hinzusetzt, so sieht man keine Veränderung, ebensowenig wie an der Cellulose; wenn man dagegen zu der jodhaltigen Cholestearinmasse Schwefelsäure bringt, so färben sich die Cholestearintafeln und nehmen, im Anfange namentlich, eine brillant indigoblaue Farbe an, welche allmählich in ein Gelblichbraun übergeht, während die Cholestearintafel zu einem bräunlichen Tropfen umgewandelt wird. Die Schwefelsäure für sich verwandelt das Cholestearin in einen fettartig aussehenden Körper, welcher weder Cholestearin noch eine Verbindung von Cholestearin und Schwefelsäure, sondern ein Zersetzungsproduct des ersteren ist[217]. Auch die Schwefelsäure für sich gibt sehr schöne Farbenerscheinungen an dem Cholestearin. [216] Archiv IV. 418-21. VIII. 141. Würzb. Verhandl. VII. 228. [217] Würzburger Verhandl. I. 314. Archiv XII. 103. Bei dieser Mannichfaltigkeit der Reactionen ist es allerdings immer noch sehr schwer mit Sicherheit zu sagen, wohin die Substanz gehört. =Meckel= hat mit grosser Sorgfalt den Gedanken verfolgt, dass es sich um eine Art von Fett handle, welches mit Cholestearin mehr oder weniger identisch sei, allein wir kennen bis jetzt keinerlei Art von Fett, welches die drei Eigenschaften, durch Jod für sich gefärbt zu werden, bei Einwirkung von Schwefelsäure für sich farblos zu bleiben, und durch die combinirte Einwirkung von Jod und Schwefelsäure eine blaue Farbe anzunehmen, in sich vereinigte. Ausserdem verhält sich die Substanz selbst keinesweges wie eine fettige Masse; sie besitzt nicht die Löslichkeit, welche das Fett charakterisirt, insbesondere kann man bei der Extraction mit Alkohol und Aether aus diesen Theilen keine Substanz gewinnen, welche die Eigenthümlichkeiten der früheren besitzt. Nach Allem liegt also vielmehr eine Uebereinstimmung mit pflanzlichen Formen vor (Verholzung), und man kann immerhin die Ansicht festhalten, dass es sich hier um einen Prozess handle, vergleichbar demjenigen, welchen wir bei der Entwickelung einer Pflanze eintreten sehen, wenn die einfache Zelle sich mit holzigen Capselschichten (Cellulose) umhüllt, -- ein Vorgang, bei dem wahrscheinlich stickstoffhaltige Lagen in stickstofflose verwandelt werden. Dass das thierische Amyloid aus einer stickstoffhaltigen, möglicherweise eiweissartigen Substanz hervorgehe, ist kaum zu bezweifeln. Nachdem schon =Kekule= und =Carl Schmidt= bei unserer Substanz einen Stickstoffgehalt gefunden zu haben glaubten, ist durch W. =Kühne= und =Rudnew= derselbe sicher nachgewiesen worden. Ausgehend von der Erfahrung, dass das Amyloid gegen die verschiedenartigsten Lösungsmittel sich fast ebenso resistent verhält, wie Cellulose, wendeten sie Verdauungsflüssigkeiten auf amyloid entartete Gewebe an, und es gelang ihnen so, die veränderten Theile zu isoliren und rein darzustellen. Am schönsten kann man diese Veränderungen verfolgen an denjenigen Theilen, welche überhaupt als der häufigste und früheste Sitz derselben betrachtet werden müssen, nehmlich an den =kleinsten Arterien=. Diese erfahren überall zuerst die Umwandlung; erst, nachdem die Umänderung ihrer Wandungen bis zu einem hohen Grade vorgerückt ist, kann die Infiltration auf das umliegende Parenchym fortschreiten. Jedoch geschieht dies keineswegs häufig; im Gegentheil atrophirt nicht selten das Parenchym der Organe, während die Erkrankung sich von den Arterien auf die Capillaren ausbreitet. Wenn wir in einer amyloiden Milz eine kleine Arterie verfolgen, während sie sich in einen sogenannten Penicillus auflöst, so sehen wir, wie ihre an sich schon starke Wand in dem Maasse, als die Veränderung fortschreitet, noch dicker wird, und wie dabei die Lichtung des Gefässes um ein Bedeutendes sich verkleinert. Hieraus erklärt es sich, dass alle Organe, welche in einem bedeutenderen Grade die amyloide Veränderung eingehen, überaus blass aussehen; es entsteht eine Ischämie (S. 153) durch die Hemmung, welche die verengerten Gefässe dem Einströmen des Blutes entgegensetzen und wahrscheinlich in Folge davon die erwähnte Atrophie. Jedoch ist die Verdickung der Gefässe so gross und so verbreitet, dass die befallenen Organe trotz der Atrophie ihres Parenchyms grösser und schwerer werden. Untersucht man nun, an welchen Gewebselementen der Gefässe der amyloide Zustand sich zuerst findet, so scheinen es ziemlich constant die kleinen Muskeln der Ringfaserhaut zu sein. Dabei tritt an die Stelle einer jeden contractilen Faserzelle ein compactes, homogenes Gebilde, an welchem man Anfangs die Stelle des Kernes noch wie eine Lücke erkennt, welches aber nach und nach jede Spur von zelliger Structur einbüsst, so dass zuletzt eine Art von spindelförmiger Scholle übrig bleibt, an welcher man weder Membran, noch Kern, noch Inhalt unterscheiden kann. Bei der Verkalkung kleiner Arterien findet genau derselbe Vorgang statt; die einzelne Faserzelle der Muskelhaut nimmt Kalksalze auf, anfangs in körniger, später in homogener Weise, bis sie endlich in eine gleichmässig erscheinende Kalkspindel umgewandelt ist. So durchdringt auch die amyloide Substanz ganze Partien des Gewebes, und die Wand der Arterie verwandelt sich in einen zuletzt fast vollkommen gleichmässigen, compacten, bei auffallendem Lichte glänzenden, farblosen Cylinder, welcher nur nicht die Härte der verkalkten Theile, im Gegentheil einen hohen Grad von Brüchigkeit besitzt. Die Venen leiden, mit Ausnahme der mesenterialen und der in der Leber, selten und niemals in solchem Grade, wie die Arterien. Dagegen kann die Veränderung der Capillaren einen überaus hohen Grad erreichen. [Illustration: =Fig=. 124. Amyloide Degeneration einer kleinen Arterie aus der Submucosa des Darmes, bei noch intactem Stamm. Vergr. 300.] Ist nun eine solche Veränderung bis zu einem gewissen Grade vorgeschritten, so kann eine analoge Veränderung auch in dem Parenchym der Organe eintreten. Diese Stadien kann man nirgend so deutlich verfolgen, wie in der =Leber=. Hier geschieht es zuweilen, dass man ein Stadium trifft, wo in dem ganzen Organe nichts weiter verändert ist, als nur die kleineren Aeste der Arteria hepatica. Macht man feine Durchschnitte durch die Leber, wäscht sie sorgfältig aus und bringt Jod darauf, so bemerkt man zuweilen schon vom blossen Auge die kleinen jodrothen Züge und Punkte, welche den durchschnittenen Aesten der Arteria hepatica entsprechen. Von da kann sich der Prozess auf das Capillarnetz der Acini fortsetzen und die Atrophie der Leberzellen herbeiführen. Dabei leidet, was wiederum sehr charakteristisch ist, gerade derjenige Theil der Acini zuerst, der am weitesten sowohl von den interlobulären als von den intralobulären Venen entfernt ist. Man kann nehmlich den pathologischen Veränderungen nach, die oft schon vom blossen Auge zu erkennen sind, innerhalb eines jeden Acinus drei verschiedene Zonen der Prädilection unterscheiden (Fig. 117). Die äusserste Zone, welche zunächst den portalen (interlobulären) Aesten liegt, ist der Hauptsitz der fettigen Infiltration; der intermediäre Theil, welcher unmittelbar daran stösst, gehört der amyloiden Degeneration an, und der centrale Theil des Acinus um die Vena hepatica (intralobularis) ist der gewöhnlichste Sitz für Pigmentablagerung. Jede dieser Veränderungen kann für sich bestehen, jedoch können sie auch alle drei gleichzeitig vorhanden sein. In diesem Falle erkennt man schon mit blossem Auge zwischen der äussersten gelbweissen und der innersten gelbbraunen oder graubraunen Schicht die blasse, farblose, durchscheinende und resistente Zone der wächsernen oder amyloiden Veränderung. Werden die Leberzellen selbst von dieser letzteren Veränderung betroffen, so sieht man, dass der früher körnige Inhalt derselben, der jeder Leberzelle ein leicht trübes Aussehen gibt, allmählich homogen wird; Kern und Membran verschwinden, und endlich tritt ein Stadium ein, wo man gar nichts weiter wahrnimmt, als einen absolut gleichmässigen, leicht glänzenden Körper, so zu sagen, eine einfache Scholle. Auf diese Weise gehen zuweilen in der beschriebenen Zone sämmtliche Leberzellen in amyloide Schollen über. Erreicht der Prozess einen sehr hohen Grad, so überschreitet endlich sogar die Veränderung diese Zone, und es kann sein, dass fast die ganze Substanz der Acini in Amyloidmasse verwandelt wird. Es entsteht hier endlich auch eine Art von Amyloidkörpern, nur dass sie nicht geschichtet sind, wie die vorher besprochenen Corpora amylacea; sie bilden gleichmässige homogene Körper, an welchen keine innere Abtheilung, keine Andeutung ihrer eigenthümlichen Bildungsgeschichte mehr zu erkennen ist. Wenn man diese Thatsachen zusammennimmt, so erscheint es ziemlich wahrscheinlich, dass es sich hier um eine allmähliche Durchdringung der Theile mit einer Substanz handelt, die ihnen, wenn auch nicht fertig, von aussen her zugeführt wird. Es ist dies eine Auffassung, welche wesentlich durch die Thatsache unterstützt wird, dass fast immer, wenn die amyloide Degeneration auftritt, der Prozess sich nicht auf eine einzige Stelle beschränkt, sondern dass viele Orte und Organe gleichzeitig im Körper ergriffen werden. Dadurch gewinnt in der That der ganze Vorgang ein wesentlich dyscrasisches Aussehen. Der einzige Ort, wo bis jetzt wenigstens eine ganz unabhängige Entwickelung dieser Veränderung von mir bemerkt worden ist, und wo mit einiger Wahrscheinlichkeit ein ursprünglicher Sitz der Bildung angenommen werden kann, ist der =permanente Knorpel=[218]. Namentlich bei älteren Leuten nehmen die Knorpel an verschiedenen Stellen, z. B. an den Sternoclavicular-Gelenken, an den Symphysen des Beckens, an den Intervertebral-Knorpeln, eine eigenthümlich blassgelbliche Beschaffenheit an; dann kann man ziemlich sicher sein, dass, wenn man die Jodreaction mit ihnen versucht, man auch die eigenthümliche Färbung erlangen wird. Diese Farben kommen an den Knorpelzellen, jedoch noch viel mehr an der Intercellularsubstanz vor, und da solche Fälle nicht etwa mit Erkrankungen grosser innerer Organe zusammentreffen, sondern ganz unabhängig bei Individuen eintreten, welche übrigens am Körper nichts der Art zu erkennen geben, so scheint es, dass hier in der That eine unmittelbare Transformation vorliegt, und dass es sich beim Knorpel nicht um eine Einfuhr von aussen her handelt. [218] Würzb. Verhandl. VII. 277. Archiv VIII. 364. Alle anderen Formen der amyloiden Entartung haben ein constitutionelles, mehr oder weniger dyscrasisches Ansehen. Allein vergeblich habe ich mich bis jetzt bemüht, eine bestimmte Veränderung im Blute zu erkennen, aus welcher man etwa schliessen könnte, dass das Blut wirklich der Ausgangspunkt der Ablagerungen sei. Es existirt bis jetzt nur eine einzige Beobachtung, welche auf die Anwesenheit analoger Elemente im Blute hindeutet, und diese ist so sonderbar, dass man von ihr aus nicht wohl eine Erklärung versuchen kann. Ein Arzt zu Toronto in Canada hatte nehmlich auf den Wunsch eines Kranken, welcher an Epilepsie litt, das Blut desselben untersucht und eigenthümliche blasse Körper im Blute gesehen. Als er nun von meinen Beobachtungen über die Jodfärbung der Corpora amylacea im Gehirne las, kam ihm der Kranke wieder in den Sinn, und, ich glaube nach Verlauf von fünf Jahren, nahm er wieder Blut von ihm und fand auch wieder die Körper, welche in der That Stärke-Reaction gegeben haben sollen. Dieser Beobachtung gegenüber ist es sonderbar, dass Niemand sonst jemals etwas der Art gesehen hat, und da es sich hier um eine überaus dauerhafte Dyscrasie handeln müsste, so würde am wenigsten aus dieser Beobachtung ein Schluss auf unsere Fälle gezogen werden können, wo die Erkrankung offenbar in viel kürzerer Zeit sich ausbildet und wo wir wenigstens im Blute nichts der Art haben entdecken können. Ueberdies ist es mit jener Beobachtung eine missliche Sache. Stärkekörner können sehr leicht in verschiedene Objecte hineinkommen, so dass man (bei allem Respect gegen den Beobachter), so lange es sich um eine ganz solitäre Beobachtung handelt, noch die Möglichkeit zulassen muss, dass vielleicht eine Täuschung obgewaltet habe. Ist doch neuerlich eine ähnliche Täuschung vorgekommen, als =Carter= und =Luys= Stärkekörner als normalen Bestandtheil der menschlichen Hautabsonderung gefunden zu haben glaubten. =Rouget= hat dargethan, dass es sich hier immer um äussere Verunreinigung durch wirkliche pflanzliche Stärke handelt. Und so bin ich bis jetzt viel mehr geneigt, anzunehmen, dass das Blut in dieser Krankheit eine einfach chemische Veränderung in seinen gelösten Bestandtheilen erfährt, als dass es die pathologischen Substanzen in körniger Form enthält. Jedenfalls ist es unzweifelhaft, dass die amyloide Veränderung für die Pathologie einen ausserordentlich hohen Werth beansprucht. Es kann gar nicht anders sein, als dass diejenigen Theile, welche der Sitz derselben werden, ihre specielle Function einbüssen, dass z. B. Drüsenzellen, welche auf diese Weise verändert werden, nicht mehr im Stande sind, ihre besondere Drüsenfunction zu versehen, dass Gefässe nicht mehr der Ernährung der Gewebe oder der Absonderung der Flüssigkeiten, für welche sie sonst bestimmt sind, dienen können. Aus solchen Erwägungen erklärt es sich leicht, dass physiologische (klinische) Störungen so regelmässig mit diesen anatomischen Veränderungen zusammentreffen. Wir finden einerseits ausgesprochene Zustände der Kachexie, andererseits die überaus häufige Erscheinung von Hydropsie mit der ganzen Complication von Veränderungen, wie sie gewöhnlich unter dem Bilde der Brightschen Krankheit zusammengefasst wird. Fast jedesmal, wo eine solche Erkrankung eine gewisse Höhe erreicht, befinden sich die Kranken in einem hohen Grade von Marasmus und Anämie. Es gibt Fälle, wo die ganze Ausdehnung des Digestionstractus von der Mundhöhle bis zum After keine einzige feinere Arterie besitzt, welche nicht in dieser Erkrankung sich befände, wo jeder Theil des Oesophagus, des Magens, des Dünn- und Dickdarmes die kleinen Arterien der Schleimhaut und der Submucosa in dieser Weise verändert zeigt. Es ist dies gerade in sofern eine äusserst bemerkenswerthe Thatsache, als diese Art von Umwandelung am Darm, die für die Function so entscheidend ist (Mangel an Resorption, Neigung zu Diarrhoe), für das blosse Auge fast gar nicht erkennbar ist. Die Theile sind blass (anämisch) und haben ein graues durchscheinendes, zuweilen leicht wachsartiges Aussehen; allein dies ist doch so wenig charakteristisch, dass man daraus nicht mit Sicherheit einen Rückschluss auf die inneren Veränderungen machen kann, und dass die einzige Möglichkeit einer Erkenntniss, wenn man kein Mikroskop zur Hand hat, in der directen Application des Reagens besteht. Man braucht nur etwas Jod auf die Fläche aufzutupfen, so sieht man schon vom blossen Auge sehr bald eine Reihe von dicht stehenden, gelbrothen oder braunrothen Punkten entstehen, während die zwischenliegende Schleimhaut einfach gelb erscheint. Diese rothen Punkte sind die Zotten des Darmes; nimmt man eine davon unter das Mikroskop, so sieht man die Wand der kleinen Arterien und selbst der Capillaren, welche sich in ihr verbreiten, zuweilen auch das Parenchym jodroth gefärbt. Ganz ähnlich lässt sich auch an anderen Organen die Veränderung für dass blosse Auge durch Jod sichtbar machen, sobald sie einmal einen höheren Grad erreicht hat. Wendet man bloss Jodlösung an, so verschwindet die Färbung gewöhnlich sehr bald oder sie tritt sehr schwer ein. Es scheint dies von der so häufigen ammoniakalischen Zersetzung herzurühren, welche Leichentheile so leicht eingehen. Daher empfiehlt es sich, nach der Jodanwendung etwas Säure zuzusetzen, um die Alkalescenz des Gewebes aufzuheben. Dazu genügt schon Essigsäure. Nahezu die wichtigste Art der Amyloid-Erkrankung, welche wir bis jetzt kennen, ist diejenige, welche in der Niere entsteht. Ein grosser Theil, namentlich der chronischen Fälle von Brightscher Krankheit, gehört dieser Veränderung an, muss also von vielen anderen ähnlichen Formen als eine besondere, ganz und gar eigenthümliche Form abgelöst werden. Auch diese Nieren hat man in Wien zu einer Zeit, wo die chemische Reaction noch nicht bekannt war, Specknieren genannt. Ich muss aber wiederum bemerken, dass es unmöglich ist, mit blossem Auge unmittelbar zu erkennen, ob gerade diese Veränderung stattgefunden hat oder eine andere, und dass ein Theil der sogenannten Specknieren nichts anderes als indurirte Nieren waren. Von dieser Verwechselung einfach indurativer Zustände (fibröser Degeneration) mit amyloiden schreibt sich nicht bloss für die Nieren, sondern auch für Milz und Leber manche Verwirrung in den Angaben der Schriftsteller her. Gerade an der Niere kann man eine sichere Diagnose erst nach Jodanwendung machen, und auch da muss man sich sorgfältig bemühen, zuerst so viel als möglich das Blut aus den Gefässen auszuwaschen. Denn ein mit Blut gefülltes Gefäss zeigt nach Anwendung des Jods genau dieselbe Farbe, welche ein mit Jod behandeltes, amyloid degenerirtes Gefäss darbietet. Bringt man Jodlösung auf eine ganz anämische Rindensubstanz, so erscheinen gewöhnlich zuerst rothe Punkte, welche den Glomerulis entsprechen, auch wohl feine Striche, den Arteriae afferentes angehörig. Nächstdem, wenn die Erkrankung recht stark ist, sieht man auch innerhalb der Markkegel rothe, parallele Linien, welche sehr dicht liegen. Das sind die Arteriolae rectae[219]. Die Erkrankung der Arterien wird zuweilen so stark, dass man nach Anwendung des Reagens eine deutliche Uebersicht des Gefässverlaufes bekommt, wie wenn man eine sehr vollständige künstliche Injection vor sich hätte. Allein gerade bei diesen Nieren ist eine Injection nicht ganz ausführbar. Auch die feineren Mittel, welche wir für Injectionen anwenden, sind viel zu grob, um durch die verengten Gefässe hindurch zu gelangen. Untersucht man einen solchen Glomerulus mikroskopisch, so sieht man, dass von da, wo sich die zuführende Arterie auflöst, die Schlinge nicht mehr die feine, zarte Röhre ist, wie sonst; vielmehr erscheinen alle einzelnen Schlingen innerhalb der Capsel als compacte, fast solide Bildungen. Da nun gerade diese Theile es sind, welche offenbar die eigentlichen Secretionspunkte der Harnflüssigkeit darstellen, so begreift es sich, dass in solchen Fällen Störungen in der Ausscheidung des Harnes stattfinden müssen. Wir haben leider bis jetzt keine vollständig ausreichenden Analysen, allein es scheint, dass viele Fälle von Albuminurie, welche mit erheblicher Verminderung der Harnstoff-Ausscheidung verbunden sind, gerade mit diesen Zuständen zusammenhängen, und dass die Abscheidung um so mehr sinkt, je intensiver die Erkrankung wird. Diese Fälle compliciren sich sehr häufig mit Anasarka und Höhlenwassersucht und können im vollsten Maasse die Symptome der Brightschen Erkrankung liefern. Sie unterscheiden sich aber wesentlich von der einfach entzündlichen Form der Brightschen Krankheit, welche ich als =parenchymatöse Nephritis= bezeichne, dadurch, dass bei letzterer die Erkrankung nicht so sehr an den Glomerulis oder den Arterien, als an dem Epithel der Niere haftet, und dass die Veränderung oft lange Zeit an dem Epithel verläuft, während die Glomeruli selbst in solchen Fällen noch intact erscheinen können, wo kaum noch Epithel in den Kanälchen vorhanden ist. Hiervon ist wieder eine dritte, =indurative= Form zu unterscheiden, wo überwiegend das =interstitielle Gewebe= sich verändert, wo Verdickungen um die Capseln und die Harnkanälchen entstehen, Abschnürungen, Verschrumpfungen zu Stande kommen und dadurch mechanische Hemmungen des Blutstromes hervorgebracht werden, welche natürlich mit Secretionsveränderungen zusammenfallen müssen. [219] Archiv XII. 318. Es ist sehr wichtig, dass man diese Verschiedenheiten, welche in dem Bilde einer scheinbar einzigen Krankheit zusammengefasst werden, auseinanderlöse, weil sich daraus erklärt, dass die Erfahrungen der einen Reihe sich nicht ohne weiteres auf die anderen Reihen anwenden lassen, und dass weder die physiologischen Consequenzen, noch die therapeutischen Maximen in diesen Zuständen gleich sein können. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass jene drei verschiedenen Formen keinesweges immer rein vorkommen, dass vielmehr häufig zwei von ihnen, zuweilen alle drei in derselben Niere gleichzeitig bestehen, und dass die eine Erkrankungsform lange bestehen kann, um sich endlich mit einer der anderen oder beiden zu compliciren. Dies kommt offenbar am häufigsten in der Reihenfolge vor, dass die amyloide Degeneration sich zu einer längere Zeit bestehenden einfach-parenchymatösen oder interstitiellen Nephritis im Stadium des Marasmus hinzugesellt. [Illustration: =Fig=. 125. Amyloide Degeneration einer Lymphdrüse. _a_, _b_, _b_ Gefässe mit stark verdickter, glänzender, infiltrirter Wand. _c_ Eine Lage von Fettzellen im Umfange der Drüse. _d_, _d_ Follikel mit dem feinen Reticulum und Corpora amylacea. Vergr. 200. Vergl. Würzb. Verhandl. Bd. VII. Taf. III.] [Illustration: =Fig=. 126. Einzelne Corpora amylacea in verschiedenen Grössen und zum Theil eingebrochen, aus der Drüse in Fig. 125. Vergr. 350.] Unter den vielen Organen, welche der Amyloid-Erkrankung unterliegen, sind ferner die =Lymphdrüsen= zu erwähnen[220]. Sie verhalten sich ähnlich wie die Milz. Es verändern sich einerseits die kleinen Arterien, andererseits die wesentliche Drüsensubstanz, das Parenchym, d. h. die feinzellige Masse, welche die Follikel erfüllt. Wie wir früher erwähnten (S. 207, Fig. 70), so liegen unter der Capsel der Drüse folliculäre Bildungen, und diese setzen sich wieder aus einem feinen Maschennetz zusammen, in welchem jene kleinen Zellen der Drüse aufgehäuft sind, von denen wir vermuthen, dass sie die Ausgangspunkte für die Entwickelung der Blutkörperchen darstellen. Die Arterien verlaufen zunächst in den Septa der Follikel und lösen sich hier in Capillaren auf, welche die Follikel umspinnen und von da in das Innere der Follikel selbst eindringen. Die amyloide Erkrankung der Lymphdrüsen besteht nun einerseits darin, dass diese Arterien dicker und enger werden und weniger Blut zuleiten, andererseits darin, dass die kleinen Zellen innerhalb der einzelnen Maschenräume der Follikel in Corpora amyloidea übergehen, und dass nachher anstatt vieler Zellen in jeder Masche des Follikels eine einzige grosse blasse Scholle angetroffen wird. Dadurch gewinnt die Drüse schon für das blosse Auge das Aussehen, als wenn sie mit kleinen Wachspunkten durchsprengt wäre, und bei der mikroskopischen Untersuchung erscheint es wie ein dichtes Strassenpflaster, welches die ganze Inhaltmasse zusammensetzt. [220] Würzb. Verhandl. VII. 222. Ueber die Bedeutung dieser Veränderungen lässt sich empirisch nicht viel aussagen, allein, wenn gerade der Follikel-Inhalt das Wesentliche bei einer Lymphdrüse ist, wenn von hier aus die Entwickelung der neuen Bestandtheile des Blutes erfolgt, so muss man wohl schliessen, dass die Erkrankung der Lymphdrüsen und der Milz, wo nicht selten gleichfalls die Follikel getroffen werden, für die Blutbildung direct einen nachtheiligen Einfluss haben müsse, dass es sich also nicht um weitliegende Wirkungen handele, sondern dass direct die Blutbildung eine Abänderung erleiden und Zustände der Anämie (Anaemia lymphatica =Wilks=) nachfolgen müssen. Auch kann für den Lymphstrom eine Hemmung und dadurch wieder Mangel an Resorption, Neigung zu Hydrops u. s. w. entstehen. Wenden wir auf die Durchschnitte solcher Drüsen Jod an, so färben sich alle erkrankten Theile roth, während alles Uebrige, was der normalen Struktur entspricht, einfach gelb wird. Die Kapsel, welche aus Bindegewebe besteht, die fibrösen Balken oder Scheidewände zwischen den Follikeln, das feine Netz, welches die einzelnen Corpora amyloidea auseinanderhält, endlich diejenigen Follikel, welche normale Zellen enthalten, bleiben gelb. Alle anderen Theile nehmen schon für das blosse Auge das jodrothe Aussehen an. Bringen wir unter dem Mikroskop Schwefelsäure dazu, so werden diese Stellen dunkel röthlichbraun, violettroth und, trifft man es glücklich, rein blau; sind noch albuminöse Partikelchen dazwischen, so erscheint eine grüne oder braunrothe Farbe. In allen Fällen beginnt die Erkrankung der Lymphdrüsen in den cortikalen Follikeln auf derjenigen Seite, wo die zuführenden Lymphgefässe in die Drüse eintreten; von da schreitet sie nach und nach gegen die Marksubstanz fort, ohne diese jedoch für gewöhnlich zu erreichen. In dieser Weise verändert sich eine Drüse nach der anderen und zwar in der Reihenfolge, dass zuerst die mehr peripherischen leiden und dann eine nach der anderen der in der Richtung des Lymphstromes auf einander folgenden Drüsen. Aber besonders bemerkenswerth ist es, dass diese Art der Veränderung sich nicht allgemein an allen peripherischen Lymphdrüsen findet, sondern nur an gewissen Stellen oder in gewissen Provinzen des lymphatischen Systemes. Sucht man dafür einen Grund, so ergibt sich als Regel, dass in der Gegend, wo die Wurzeln der zu den erkrankten Lymphdrüsen hingehenden Lymphgefässe liegen, eine chronische Erkrankung, meist eine alte Eiterung stattfindet. Meine Erfahrungen betreffen überwiegend Fälle von langdauernder Caries und Nekrose der Wirbel- und Schenkelknochen, wo die Lumbal- und Inguinaldrüsen die hauptsächlich leidenden waren. Der Gang der amyloiden Erkrankung[221] entspricht demnach in vielen Stücken demjenigen, welchen wir bei den secundären Lymphdrüsen-Anschwellungen der Skrofulösen, Krebsigen, Typhösen beobachten. Drüse nach Drüse wird getroffen, und in der einzelnen Drüse Follikel nach Follikel, jedoch immer so, dass die Richtung des Lymphstromes die Priorität der Erkrankung bestimmt. Hier lässt sich der Schluss kaum ablehnen, dass die Lymphgefässe die Conductoren des Prozesses sind. Ihre Wandungen sind nicht erkrankt; ist der Inhalt, den sie führen, ein veränderter? Vergeblich habe ich mich bemüht, in den erkrankten Knochen selbst amyloide Substanz zu finden. Es bleibt also unentschieden, ob eine solche Substanz den Drüsen zugeführt und in sie abgesetzt wird, oder ob irgend ein anderer Stoff zugeleitet wird, welcher das Drüsengewebe erst zu der selbständigen Erzeugung der Substanz oder zu ihrer Aufnahme aus dem Blute veranlasst. Vorläufig ist es wahrscheinlicher, dass der Drüse durch die Lymphe nur eine Anregung in dem letzteren Sinne zukommt, zumal da die Erkrankung der in die Drüse eingehenden Arterien im Sinne der ersteren Möglichkeit nicht leicht zu erklären sein würde. [221] Archiv VIII. 364. Unter den übrigen Prozessen sind es namentlich die =Tuberkulose= und die =Syphilis=, welche sich in ihren späteren Stadien sehr häufig mit weit ausgedehnter Amyloid-Erkrankung compliciren. Am meisten ist dies bei der constitutionellen Lues der Fall, so dass einzelne Beobachter zu der Vorstellung gekommen waren, die Produkte der secundären Syphilis seien jederzeit »speckige«. Zu einer solchen Auffassung konnte schon der Sprachgebrauch verführen, indem bekanntlich seit langer Zeit die speckigen Infiltrationen, der speckige Geschwürsgrund als besondere Eigenthümlichkeiten secundär-syphilitischer Prozesse angegeben wurden. Allein ich habe dargelegt[222], dass ein wesentlicher Unterschied zwischen den gummösen, im alten Sinne speckigen Producten der Syphilis und den amyloiden, im neueren Sinne speckigen Entartungen besteht, dass die letzteren erst in der Tertiär-oder genauer Quaternärperiode aufzutreten pflegen, und dass sie überhaupt nicht der Syphilis als solcher, sondern vielmehr der Kachexie angehören. Aber gerade für die Geschichte der syphilitischen Kachexie sind sie von der allergrössten Bedeutung, da nur durch ihre Kenntniss manche Eigenthümlichkeiten dieses Zustandes verständlich geworden sind. [222] Archiv XV. 232. Geschwülste II. 417, 471. Ueberaus merkwürdig ist es, dass gerade zwei Organe, von deren Bedeutung man überaus wenig weiss, die aber gewissermaassen instinctiv der Gruppe der sogenannten Blutdrüsen zugerechnet worden sind, nehmlich die =Schilddrüse= (Glandula thyreoidea) und die =Nebennieren= verhältnissmässig häufig an der Amyloid-Erkrankung theilnehmen. Auch ist es gewiss merkwürdig, dass an den letzteren gerade die sogenannte Rinde, welche in der Struktur mit der Schilddrüse in so vielen Stücken übereinstimmt, ausgesetzt ist, während die Marksubstanz, welche einen mehr gliösen Bau hat, fast ganz verschont bleibt, -- ein Umstand, der insofern bemerkenswerth ist, als selbst bei der stärksten Amyloiderkrankung der Rindensubstanz keine Broncefärbung der Haut eintritt. An beiden Organen sind es gleichfalls die kleinen Arterien, von welchen die Veränderung ausgeht; später setzt sie sich auf die Capillaren fort, und nicht selten wird sie so stark, dass die ganze Substanz schon für das blosse Auge ein wächsernes Aussehen annimmt. -- * * * * * Schon früher (S. 438, 440) erwähnte ich, dass die amyloide Erkrankung in mehrfacher Beziehung Aehnlichkeit mit der einfachen =Verkalkung= (kalkigen Degeneration) habe. Man muss sich aber wohl hüten, in den Fehler zu verfallen, der so häufig begangen ist, dass man Verkalkung und Verknöcherung identificirt. Verknöcherung ist ein activer, progressiver Prozess; Verkalkung dagegen kann ein im hohen Grade passiver, regressiver Prozess sein und eine wirkliche Atrophie[223] oder eine blosse Versteinerung todter Theile[224] darstellen. Will man zwischen Ossification und Verkalkung unterscheiden, so genügt es nicht, das endliche Resultat im Auge zu behalten. Ein Theil wird nicht regelmässiger Knochen dadurch, dass ein Gewebe, in welchem sternförmige Zellen vorhanden sind, in seine Grundmasse Kalk aufnimmt; es kann trotzdem nichts weiter als verkalktes Bindegewebe sein. Wenn wir von Ossification reden, so setzen wir immer voraus, dass dieselbe durch einen activen Vorgang, eine Reizung hervorgerufen ist. Diese wirkt aber nicht so, dass ein schon existirendes Gewebe einfach dadurch, dass es Kalksalze aufnimmt, die Knochenform anzieht. Vielmehr wird das Gewebe selbst durch die Reizung verändert, noch bevor es die Kalksalze aufnimmt, entweder so, dass nur seine Grundsubstanz dichter und homogener wird (=sklerosirt=, =cartilaginescirt=), oder so, dass eine Proliferation der Zellen voraufgeht und die Verkalkung an wirklich neugebildetem Gewebe geschieht. =Dasselbe Gewebe kann daher einfach verkalken und wirklich verknöchern=. [223] Spec. Pathologie und Ther. I. 307. [224] Verh. der Berliner med. Gesellschaft. I. 253. So gibt es an den =Gefässen= Verkalkungen und Ossificationen. In alter Zeit hat man, namentlich an den Arterien, Alles Ossificationen genannt. Viele der Neueren dagegen haben geleugnet, dass dieselbe überhaupt an den Gefässen vorkomme. Faktisch kommt sowohl Ossification vor, als auch blosse Verkalkung, oder, wie ich nach Art der Paläontologen sagen will, =Petrification=. Letztere ist an den peripherischen Arterien verhältnissmässig am häufigsten und wird hier gewöhnlich als ein Merkmal des atheromatösen Prozesses betrachtet. Dies ist jedoch nicht richtig, denn der atheromatöse Prozess hat seinen Sitz in der Intima der Arterien. Fühlt man dagegen die Radialarterie hart und höckerig, erkennt man an der Cruralis oder Poplitaea starre Wandungen, so kann man ziemlich sicher schliessen, dass diese Verhärtung ihren Sitz in der Media hat. In diesem Falle trifft die Verkalkung wirklich die Muskelelemente; die Faserzellen der Ringfaserhaut werden in Kalkspindeln verwandelt. Die Kalkmasse kann allerdings auch noch die Nachbartheile überziehen; die innere Haut aber bleibt dabei möglicherweise ganz intact. Dieser Prozess ist daher mehr verschieden von dem, welchen man atheromatös nennt, als eine Periostitis von einer Erkrankung des Knochengewebes. Die einfache Verkalkung hat gar keinen nothwendigen Zusammenhang mit einer Entzündung der Arterie; sie kommt am gewöhnlichsten unter Verhältnissen vor, wo überhaupt eine Neigung zu Verkalkungen eintritt, daher namentlich im höheren Lebensalter. Das ist wenigstens mit Sicherheit zu sagen, dass noch kein Stadium dieser Veränderungen bekannt ist, welches der Entzündung parallel stände. Schon vor langer Zeit habe ich gezeigt[225], dass an Stellen, wo kein wirklicher Knorpel präexistirt, bei der wahren Ossification schon vor der Ablagerung der Kalksalze ein Gewebe vorhanden zu sein pflegt, welches im Wesentlichen alle Bestandtheile des späteren Knochens, sowohl die Körperchen, als die Intercellularsubstanz enthält, nehmlich ein =osteoides Bindegewebe=[226], und dass dieses dadurch zu Knochengewebe wird, dass es Kalksalze in seine Intercellularsubstanz aufnimmt. Aber, wie erwähnt, entweder ist dieses Bindegewebe neugebildetes, oder es erfährt vor der Verkalkung eine besondere, progressive Veränderung, indem seine Grundsubstanz sich verdichtet und verdickt, =sclerosirt=[227]. Dieses veränderte Bindegewebe, der Hautknorpel der früheren Autoren, besser =Knochenknorpel= genannt, gibt zum Theil Chondrin, zum Theil wirklichen Leim. Man kann daher sagen, dass erst das metamorphosirte Bindegewebe wirklich zu Knochen verkalkt, während eine einfache Verkalkung des gewöhnlichen Bindegewebes nie Knochen liefert, sondern immer nur verkalktes Bindegewebe. Solche Zustände kommen an der Dura mater nicht selten vor, wo sie jedoch nicht mit den noch weit häufigeren Osteomen[228] zu verwechseln sind; sie finden sich an den Lungen, der Schleimhaut des Magens, der Keilbeinhöhlen[229]. [225] Archiv I. 136. Würzb. Verhandl. II. 158. [226] Archiv V. 439. Geschwülste I. 463, 472. [227] Archiv V. 443, 455. [228] Geschwülste II. 92. [229] Archiv VIII. 103. IX. 618. Entwickelung des Schädelgr. 41. Taf. IV. Fig. 19. [Illustration: =Fig=. 127. Verkalkung des Gelenkknorpels am unteren Ende des Femur von einem alten Manne. Anfangs körnige, später homogene Erfüllung der Capsularsubstanz mit Kalksalzen bei Erhaltung der Knorpelkörperchen. Vergr. 300.] In noch viel auffälligerer Weise, als am Bindegewebe, zeigt sieh die Verschiedenheit zwischen Verkalkung und Verknöcherung an den =Knorpeln=. Die blosse Ablagerung von Kalksalzen in die Substanz des Knorpels ist nichts weniger als eine Verknöcherung[230], obwohl man noch heutigen Tages diese zwei Dinge immerfort mit einander verwechselt. Die einfache Verkalkung erfolgt bei der gewöhnlichen Bildung wachsender und sich entwickelnder Knochen =vor= der wirklichen Verknöcherung, worauf wir später zurückkommen werden. Aber sie findet sich nicht bloss an solchem Knorpel, der in der typischen Entwickelung des Skeletts dazu bestimmt ist, in Knochen aufzugehen, sondern auch an den sogenannten permanenten Knorpeln. Man trifft sie in dem Gelenkknorpel älterer Leute, also an Theilen, welche normal nicht zur Ossification bestimmt sind, gar nicht selten, und zwar am gewöhnlichsten in der tiefen Zone derselben, welche unmittelbar der Terminallamelle des Knochens aufliegt. Hier lagern sich die Kalksalze häufig zuerst in die dicke Kapselsubstanz ab, welche die Knorpelzellen umgibt, und durchdringen erst später die eigentliche Intercellularsubstanz, lassen aber die Knorpelzellen selbst frei. Wie überall, so geschieht die Ablagerung auch hier Anfangs in der Art, dass die Kalktheilchen als feinste Körnchen in der noch erkennbaren organischen Grundsubstanz erscheinen. Nach und nach werden sie dichter, das Grundgewebe verschwindet endlich vor den Augen und eine ganz homogene, krystallartige Masse tritt an seine Stelle. Beschränkt sich der Prozess auf die Kapseln der Knorpelkörperchen, so sieht es aus, als wenn Nüsse mit dicker Schale und rundlicher oder rundlich eckiger Höhle in der Grundsubstanz zerstreut lägen (Fig. 127). Nimmt auch die Grund-oder Intercellular-Substanz an der Verkalkung Antheil, so verschwindet die Grenze zwischen ihr und der Kapselsubstanz; es entsteht eine ganz gleichmässige, harte Masse, in welcher, entsprechend den früheren Knorpelzellen, rundliche oder leicht eckige Höhlen liegen. Löst man die Kalksalze mit Säuren auf, so hat man wieder den Knorpel in seiner gewöhnlichen Form. Dabei ist zu bemerken, dass es ein, freilich sehr lange Zeit hindurch geglaubter Irrthum war, als man annahm, dass auch aus fertigem Knochengewebe, wenn es durch Säuren seiner Salze beraubt würde, wieder Knorpel dargestellt werden könne. [230] Archiv V. 420, 429. Diese einfache Knorpel-Verkalkung hat die grösste Uebereinstimmung mit der Infiltration von harnsaurem Natron, wie sie bei der Gicht (S. 251) vorkommt. Nur erscheint das harnsaure Natron stets in fein-krystallinischen Formen und seine Theilchen vereinigen sich nicht zu dichten, glas- oder elfenbeinartigen Massen, wie kohlensaurer und phosphorsaurer Kalk, sondern bilden eine bröckelige, losere, tuffartige Masse (Tophus). Das ist aber unzweifelhaft, dass sowohl die Kalk- als die Natronsalze aus dem Blute abgelagert werden, dass es sich also um eine Infiltration oder Incrustation handelt. Diese kann, wie wir sahen (S. 252), eine metastatische sein. Die Ablagerung der Kalksalze geschieht aber auch häufig in Form besonderer =Kalkkörper= oder =Concretionen=, welche einen geschichteten Bau haben, den Stärkekörnern ähnlich sind und sich zwischen den Gewebselementen oder in den Cavitäten oder den Kanälen des Körpers, z. B. in den Harnkanälchen, im Gehirne finden. In der Prostata kommen amylacische und verkalkte, lamellöse Concretionen nicht selten in einer und derselben Drüse neben einander vor. Hier scheint es sogar, dass amylacische Körper verkalken. Ganz bestimmt habe ich dies bei Amyloidsubstanz der Leber beobachtet[231]. Indess sind dies seltene Verbindungen; in der Regel besteht die amyloide Entartung, so viele Vergleichungen mit der Verkalkung sie auch zulässt, für sich. [231] Geschwülste II. 430. Dass die Theile, welche verkalken, eine besondere Anziehung auf die im Blute oder in den Säften vorhandenen Kalksalze ausüben müssen, lässt sich nicht abweisen. Es ist dies aber kein besonderer Lebensact, denn die Verkalkung erfolgt überall auf dieselbe Art. Die geologische Versteinerung ist der pathologischen ganz gleich. Todte Theile verkalken und versteinern im menschlichen Körper, wie in den Schichten des Erdkörpers; ja es ist dies sogar eine der gewöhnlichsten Arten der Veränderung, welche abgestorbene Theile von geringerem Umfange im Körper erfahren[232]. Am auffälligsten zeigt dies die Geschichte der sogenannten Lithopädien, sowie die Petrification abgestorbener Eingeweidewürmer, am häufigsten der Cysticerken. Bei den Trichinen trifft die Verkalkung gewöhnlich nur die Kapsel, während das Thier innerhalb derselben noch lebendig bleibt; doch gibt es auch Fälle, wo die Thiere in der noch unverkalkten Kapsel absterben und versteinern. Bei abgestorbenen Leber-Echinokokken habe ich sämmtliche jungen Thiere versteinert gesehen, während die Kapseln und die Mutterblasen unversehrt waren. Ganz besonders interessant ist die isolirte Verkalkung von Ganglienzellen des Gehirnes nach Commotion, die ich vor einiger Zeit nachgewiesen habe[233]. Auch blosse organische Massen, z. B. alte Thromben, nekrobiotische Gewebstheile, z. B. die käsigen, tuberkelartigen Residuen, verkalken auf dieselbe Weise. [232] Verhandl. der Berliner med. Gesellschaft. I. 253. [233] Archiv L. 304. Aus diesen Beispielen geht hervor, dass nicht jeder Theil beliebig verkalkt, sondern dass er sich dazu in besonderen Verhältnissen befinden muss. Ist er nicht abgestorben, so geht doch eine chemische Veränderung, häufig eine physiologische Schwächung voraus. Dies gilt namentlich für den Fall, wo die Zellen eines Theiles, und nicht etwa, wie bei dem Knochen, nur die Intercellularsubstanz, verkalken. Sind die zelligen Elemente eines Gewebes verkalkt, so ist es eine träge Masse geworden, welche für die Zwecke, denen es eigentlich dienen sollte, unbrauchbar ist. Es ist gleichsam zur Ruhe gebracht, beigesetzt. Und so ist die einfache Verkalkung ein im hohen Maasse passiver Vorgang, der das Wesen und die Bedeutung der indurirenden passiven Prozesse besonders gut erläutert. -- Neunzehntes Capitel. Gemischte, activ-passive Prozesse. Entzündung. Fettmetamorphose als Entzündungs-Ausgang. Unterschied zwischen primärer (einfacher) und secundärer (entzündlicher) Fettmetamorphose. Nieren, Muskeln. Atheromatöser Prozess der Arterien. Atheromatie und Ossification als Folgen der Arteriosklerose. Entzündlicher Charakter der letzteren: Endoarteriitis chronica deformans s. nodosa. Bildung der Atheromheerde. Cholestearin-Abscheidung. Ossification. Ulceration. Analogie mit der Endocarditis. Die Entzündung. Die vier Cardinalsymptome und deren Vorherrschen in den einzelnen Schulen. Die thermische und vasculäre Theorie, die neuropathologische, die Exsudatlehre. Entzündungsreiz. Functio laesa. Die Entzündung in gefässlosen und in gefässhaltigen Theilen. Das Exsudat als Folge der Gewebsthätigkeit: Schleim und Fibrin. Die Entzündung als zusammengesetzter Reizungsvorgang. Parenchymatöse und exsudative (secretorische) Form. Klinische und anatomische Bedeutung der Entzündung. Irrthum von der einheitlichen Natur der Entzündungs-Vorgänge. Multiplicität der entzündlichen Prozesse. Die Betrachtung der passiven Prozesse hatte uns zu einer Darstellung der Vorgänge bei der =Fettmetamorphose= geführt. Ich sage Fettmetamorphose, einmal weil unter der Bezeichnung der fettigen Degeneration im Laufe der Zeit zu vielerlei Vorgänge zusammengeworfen sind, andermal weil ich in der That die Ansicht hege, dass das Fett hier durch eine chemische Metamorphose aus dem früheren Zelleninhalt, also vielleicht aus eiweissartiger Substanz erzeugt wird. Jedenfalls geht nicht nur die normale Struktur der Theile dabei zu Grunde, sondern es tritt auch an die Stelle der histologischen Elemente, welche zerfallen und sich auflösen, eine nicht mehr organische, rein emulsive Masse, es bildet sich, kurz gesagt, ein =fettiger Detritus=. Es macht dabei nichts aus, ob eine Eiterzelle, ein Bindegewebskörperchen, eine Nerven- oder Muskelfaser, ein Gefäss die Veränderung erfährt; das Resultat ist immer dasselbe: ein milchiger Detritus, eine amorphe Anhäufung von Fett- oder Oeltheilchen in einer mehr oder weniger eiweissreichen Flüssigkeit. Wenn wir für alle Fälle der Fettmetamorphose diese Uebereinstimmung festhalten, so folgt daraus doch keinesweges, dass der Werth dieser Veränderung in Beziehung auf die Krankheitsvorgänge, im Laufe welcher sie eintritt, jedesmal gleich sei. Man kann das schon daraus abnehmen, dass, während ich diese Metamorphose unter der Kategorie der rein passiven Störungen vorgeführt habe, gerade eines der Gebilde, welches dabei am häufigsten auftritt, die Körnchenkugel, lange Zeit hindurch als das specifische Element der Entzündung betrachtet worden ist. Jahrelang sah man die Entzündungskugel für eine wesentliche, pathognomonische und daher diagnostische Erscheinung des Entzündungsprozesses an, und in der That, die Häufigkeit, mit welcher man in entzündeten Theilen fettig degenerirte Zellen findet, beweist genügend, dass im Laufe der entzündlichen Prozesse, welche wir nimmermehr als einfach passive Vorgänge betrachten können, solche Umwandlungen geschehen. Es handelt sich also darum, eine Unterscheidung beider Reihen, der einfach passiven und der entzündlichen, zu finden. Freilich hat diese Unterscheidung in einzelnen Fällen ihre sehr grossen Schwierigkeiten. Meiner Ueberzeugung nach besteht die einzige Möglichkeit einer Orientirung darin, dass man untersucht, ob der Zustand der fettigen Degeneration ein primärer oder ein secundärer ist, ob er eintritt, sobald überhaupt eine Störung bemerkbar wird, oder ob er erst erfolgt, nachdem eine andere bemerkbare Störung vorangegangen ist. Die secundäre Fettmetamorphose, bei welcher erst in zweiter Linie diese eigenthümliche Umwandelung zu Stande kommt, folgt in der Regel auf ein erstes actives oder irritatives Stadium; eine ganze Reihe derjenigen Prozesse, welche wir ohne Umstände Entzündungen nennen, verläuft in der Weise, dass als zweites oder drittes anatomisches Stadium eine fettige Metamorphose der Gewebe auftritt. Diese entsteht also hier nicht als das unmittelbare Resultat der Reizung des Theiles, sondern wo wir Gelegenheit haben, die Geschichte der Veränderung genauer zu verfolgen, da zeigt sich fast immer, dass dem Stadium der fettigen Degeneration ein anderes Stadium voraufgeht[234], nehmlich das der =trüben Schwellung=, in welchem die Theile sich vergrössern, an Umfang und zugleich an Dichte zunehmen, indem sie eine grosse Menge von neuem Material in sich aufsaugen. Absichtlich sage ich aufsaugen[235], weil ich es für falsch halte, dass der Theil etwa von aussen genöthigt worden ist, dieses Material aufzunehmen, dass er etwa durch Exsudat von den Gefässen aus überschwemmt worden ist. Dieselben Erscheinungen treten auch an Theilen auf, die keine Gefässe haben. Aber erst dann, wenn die Ansammlung ein solches Maass erreicht hat, dass die Constitution in Frage gestellt wird, leitet sich ein fettiger Zerfall im Inneren der Elemente ein. So können wir die fettige Degeneration des Nierenepithels als ein späteres Stadium der Bright'schen Krankheit, oder, wie ich sage, der parenchymatösen Nephritis bezeichnen; ihr geht ein Stadium der Hyperämie und Schwellung voraus, wo jede Epithelzelle eine grosse Quantität von opaker Masse in sich ansammelt, ohne dass im Anfange auch nur eine Spur von Fetttröpfchen zu bemerken ist[236]. So schwillt der Muskel unter Einwirkungen, welche nach dem allgemeinen Zugeständniss eine Entzündung machen, z. B. nach Verwundungen, nach chemischen Aetzungen; seine Primitivbündel werden breiter und trüber, und in einem zweiten Stadium beginnt in ihnen dieselbe fettige Degeneration, welche wir andere Male, z. B. bei Lähmungen, direct auftreten sehen[237]. [234] Archiv I. 149. 165. [235] Archiv I. 276. III. 460. IV. 379. [236] Archiv I. 165. IV. 264, 319. [237] Archiv IV. 266. Man kann also, wenn man ganz allgemein spricht, allerdings sagen, dass es eine entzündliche Form der fettigen Degeneration gibt. Allein, genau genommen, ist diese entzündliche Form nur ein späteres Stadium, ein Ausgang, welcher den eintretenden Zerfall der Gewebsstruktur anzeigt, wo der Theil nicht mehr im Stande ist, seine Sonderexistenz fortzuführen, sondern wo er so weit dem Spiele der chemischen Kräfte seiner constituirenden Theile verfällt, dass das nächste Resultat seine vollständige Auflösung ist. Gerade diese Art von Entzündungszuständen hat eine sehr grosse Bedeutung, weil an allen Theilen, wo die wesentlichen Elemente in dieser Weise verändert werden, überhaupt keine unmittelbare, nutritive oder einfach regenerative Restitution möglich ist. Wenn eine Muskelentzündung besteht, bei welcher die Muskelprimitivbündel der fettigen Degeneration verfallen, so gehen sie auch regelmässig zu Grunde, und wir finden nachher an der Stelle, wo die Degeneration stattgefunden hatte, eine, wenn auch nicht offene, Lücke (einen Defect) im Muskelfleisch. Die Niere, deren Epithel in fettige Degeneration übergeht, schrumpft fast immer zusammen; das Resultat ist eine bleibende Atrophie. Ausnahmsweise kommt vielleicht etwas zu Stande, was als Regeneration des Epithels gedeutet werden könnte, aber gewöhnlich ist ein Zusammensinken der ganzen Struktur die Folge. Dasselbe sehen wir am Gehirne bei der gelben Erweichung, gleichviel, wie sie bedingt sein mag. Ob Entzündung oder nicht vorherging, es bildet sich ein Heerd, welcher sich nie wieder mit Nervenmasse ausfüllt. Vielleicht, dass eine einfache Flüssigkeit die fehlenden Gewebe ersetzt; von irgend einer Herstellung eines neuen, functionell wirksamen Theiles kann niemals die Rede sein. So muss man es sich erklären, dass scheinbar sehr ähnliche Zustände, welche man vom pathologisch-anatomischen Standpunkte aus als identisch erklären möchte, vom klinischen Standpunkte aus weit auseinander liegen, ja dass man an denselben Theilen dieselben Veränderungen trifft, ohne dass doch der Gesammtprozess, welchem sie angehören, derselbe war. Wenn ein Muskel einfach fettig degenerirt, so kann das Primitivbündel ebenso aussehen, als wenn eine Entzündung darauf eingewirkt hat. Die Myocarditis erzeugt ganz analoge Formen der fettigen Degeneration innerhalb des Herzfleisches, wie die übermässige Dilatation der Herzhöhlen. Wenn eine der letzteren z. B. durch Hemmung des Blutstromes oder Incontinenz der Klappen dauernd sehr ausgespannt wird, so tritt an dem am meisten gespannten Theile sehr häufig eine fettige Degeneration des Muskelfleisches ein. Diese gleicht morphologisch so vollständig einem Stadium der Myocarditis, dass in vielen Fällen überhaupt gar nicht mit Sicherheit zu sagen ist, auf welche Weise der Prozess entstanden sein mag. Versuchen wir, die Methode der Lösung solcher Schwierigkeiten an einer wichtigen, häufigen und zugleich vielfach missverstandenen Krankheit darzulegen, nehmlich an dem sogenannten =atheromatösen Prozesse der Arterien=[238]. Gerade bei ihm ist die Confusion in der Deutung der Veränderungen vielleicht am grössten gewesen. [238] Gesammelte Abhandlungen 492 ff. Zu keiner Zeit im Laufe dieses Jahrhunderts hat man sich vollständig über das geeinigt, was man unter dem Ausdrucke der atheromatösen Veränderung an einem Gefässe verstehen wollte. Der Eine hat den Begriff weiter, der Andere hat ihn enger gefasst, und doch ist er vielleicht von Allen zu weit gefasst worden. Als nehmlich die Anatomen des vorigen Jahrhunderts den Namen des Atheroms auf eine bestimmte Veränderung der Arterienhäute anwandten, hatten sie natürlich einen ähnlichen Zustand im Sinne, wie derjenige ist, welchen man schon seit dem griechischen Alterthume an der Haut mit dem Namen des Atheroms, des Grützbalges belegt hatte[239]. Es versteht sich danach von selbst, dass der Begriff des Atheroms sich auf einen geschlossenen Heerd, eine Art von Balggeschwulst (Tumor cysticus) bezieht. Niemand hat etwas an der Haut Atherom genannt, was offen und frei zu Tage lag. Es war daher ein sonderbares Missverständniss, als man neuerlich anfing, an den Gefässen auch solche Veränderungen Atherome zu nennen, welche nicht abgeschlossen in der Tiefe liegen, sondern ganz und gar der Oberfläche angehören. Anstatt, wie es ursprünglich gemeint war, einen geschlossenen Heerd atheromatös zu nennen, hat man damit häufig eine Veränderung bezeichnet, welche in der innersten Arterienhaut ganz oberflächlich bestand. Als man anfing, die Sache feiner zu untersuchen, und als man an sehr verschiedenen Punkten der Gefässwand, sowohl bei Atherom, als ohne dasselbe, fettige Partikeln fand (Fig. 122), als man sich endlich überzeugte, dass der Prozess der fettigen Degeneration immer derselbe und mit der atheromatösen Veränderung nahezu identisch sei, so wurde es Sitte, alle Formen der fettigen Degeneration an den Arterien in der Bezeichnung des Atheroms oder der Atherose zu vereinigen. Nach und nach kam man sogar dahin, von einer atheromatösen Veränderung solcher Gefässe zu sprechen, welche nur eine einfache Haut haben, denn auch an den Capillaren stösst man auf fettige Processe. [239] Geschwülste I. 224. Seit Langem hat es ferner Beobachter gegeben, welche die Ossification der Gefässe als eine mit dem Atherom zusammengehörige Veränderung betrachteten. =Haller= und =Crell= glaubten, dass die Ossification aus der atheromatösen Masse hervorginge, und dass die letztere ein Saft sei, welcher ähnlich, wie man es von dem unter dem Periost des Knochens ausschwitzenden Safte annahm, fähig sei, aus sich Knochenplatten zu erzeugen. Später erkannte man freilich, dass Atheromatie und Ossification zwei parallele Vorgänge seien, welche aber auf einen gemeinschaftlichen Anfang hinwiesen. Es wäre nun wohl logisch gewesen, wenn man sich zunächst darüber geeinigt hätte, welches dieser gemeinschaftliche Anfang wäre, von dem die atheromatöse Veränderung und die Ossification ausgingen. Statt dessen gerieth man in die Bahn der fettigen Entartungen und dehnte den atheromatösen Prozess über eine Reihe von kleinen Gefässen aus, an denen die Bildung irgend eines wirklich dem atheromatösen Heerde der Haut vergleichbaren geschlossenen Sackes oder Balges überhaupt unmöglich ist. Nun liegt aber die Sache auch hier sehr einfach so, dass man an den Gefässen zwei, ihrem endlichen Resultate nach sehr analoge Prozesse trennen muss: zuerst die =einfache= (=passive=) =Fettmetamorphose=, welche ohne ein weiter erkennbares Vorstadium eintritt, wo die vorhandenen Elemente unmittelbar in fettige Degeneration übergehen und zerstört werden, und wodurch eben nur ein mehr oder weniger ausgedehnter Verlust (Usur) von Bestandtheilen der Gefässwand zu Stande kommt; sodann eine zweite Reihe von Vorgängen, wo wir vor der Fettmetamorphose =ein Stadium der Reizung= unterscheiden können, welches übereinstimmt mit dem Stadium der Schwellung, Vergrösserung, Trübung, das wir an anderen entzündeten Stellen sehen. Ich habe daher kein Bedenken getragen, in dieser Frage mich ganz auf die Seite der alten Anschauung zu stellen, und als den Ausgangspunkt der sogenannten atheromatösen Degeneration eine Entzündung der Gefässwand zuzulassen (Endoarteriitis); und ich habe mich weiterhin bemüht zu zeigen, dass diese Art von entzündlicher Erkrankung der Gefässwand in der That genau dasselbe ist, was man allgemein an den Herzwandungen eine Endocarditis nennt. Zwischen beiden Prozessen besteht kein anderer Unterschied, als dass die Endocarditis häufiger acut, die Endoarteriitis häufiger chronisch verläuft. Mit einer solchen Scheidung der Prozesse an den Arterien in einfach degenerative (passive) und entzündliche (active) erklärt sich sofort der verschiedene Verlauf. Trügerisch ist nur der Umstand, dass beide Prozesse sich gelegentlich in demselben Falle gleichzeitig finden. Neben den charakteristischen Umwandlungen der chronisch entzündlichen Theile in der Tiefe finden sich an der Oberfläche nicht selten einfach fettige Veränderungen. [Illustration: =Fig=. 128. Verticalschnitt durch die Aortenwand an einer sklerotischen, zur Bildung eines Atheroms fortschreitenden Stelle. _mm_' Tunica media, _i_ _i_' _i_'' Tunica intima. Bei _S_ die Höhe der sklerotischen Stelle gegen die Gefässlichtung, _i_ die innerste, über den ganzen Heerd fortlaufende Lage der Intima, _i_' die wuchernde, sklerosirende und schon zur Fettmetamorphose sich anschickende Schicht, _i_'' die schon fettig metamorphosirte, bei _e_, _e_ direkt erweichende, zunächst an die Media anstossende Lage. Vergr. 20.] Betrachten wir nun die Atheromatie etwas genauer, z. B. an der Aorta, wo der Prozess am gewöhnlichsten ist. Im Anfange (d. h. eigentlich zu einer Zeit, wo noch nichts Atheromatöses vorhanden ist) entsteht an der Stelle, wo die Reizung stattgefunden hat, eine Anschwellung, kleiner oder grösser, nicht selten so gross, dass sie als wirklicher Buckel über das Niveau der inneren Oberfläche hervorragt. Diese Hervorragungen unterscheiden sich von der Nachbarschaft durch ihr durchscheinendes, hornhautartiges Aussehen. In der Tiefe sehen sie mehr trübe aus. Hat die Veränderung eine gewisse Dauer gehabt, so zeigen sich die weiteren Umwandelungen nicht an der Oberfläche, sondern unmittelbar da, wo die Intima die Media berührt, wie das die Alten sehr gut beschrieben haben. Wie oft haben sie mit Bestimmtheit behauptet, dass man die innere Haut über die veränderte Stelle hinweg abziehen könne! Daraus ging die Schilderung von =Haller= hervor, dass die breiartige, atheromatöse Masse in einer geschlossenen Höhle, wie eine kleine Balggeschwulst, zwischen Intima und Media läge. Nur das war falsch, dass man die Geschwulst als einen besonderen, von den Gefässhäuten trennbaren Körper betrachtete, über welchen die sonst unveränderte Intima einfach hinwegliefe. Es ist vielmehr die stark verdickte Intima selbst, welche ohne Grenze in die Geschwulst übergeht. Je weiter der Prozess fortschreitet, um so mehr bildet sich aus der Erweichung und dem Zerfalle der tiefsten Lagen der Intima ein geschlossener Heerd, während die oberflächlichen Schichten sich noch unversehrt erhalten; zuletzt kann es sein, dass der Heerd fluctuirt und beim Einschnitte eine breiige Materie sich entleert, wie der Eiter beim Einschnitte in einen Abscess. Untersucht man nun die Masse, welche am Ende des Prozesses vorhanden ist, so sieht man zahlreiche Cholestearinplatten, welche oft schon für das blosse Auge als glitzernde Scheibchen hervortreten: grosse rhombische Tafeln, welche meist zu vielen nebeneinanderliegen, sich decken und im Ganzen einen Glimmerreflex erzeugen. Neben diesen Platten finden sich die unter dem Mikroskope bei durchfallendem Lichte schwarz erscheinenden Körnchenkugeln, innerhalb derer die einzelnen Fettkörnchen zuerst ganz fein sind. Die Kugeln sind gewöhnlich in grosser Masse vorhanden; einzelne sieht man zerfallen, sich auseinander lösen und Partikelchen davon, wie in der Milch, umherschwimmen. Daneben mehr oder weniger grosse amorphe Gewebsfragmente, welche noch zusammenhalten und durch die Erweichung der übrigen, nicht fettig veränderten Gewebssubstanz entstehen; in sie sind hie und da Körnerhaufen eingesetzt. =Diese drei Bestandtheile zusammen, das Cholestearin, die Körnchenzellen und die Fettkörnchen, endlich grössere Klumpen von halberweichter Substanz, sind es, welche den breiigen Habitus des atheromatösen Heerdes bedingen=, und welche zusammengenommen in der That eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Inhalte eines Grützbeutels der äusseren Haut erzeugen. [Illustration: =Fig=. 129. Der atheromatöse Brei aus einem Aortenheerde. _a a_' Flüssiges Fett, entstanden durch Fettmetamorphose der Zellen der Intima (_a_), welche sich in Körnchenkugeln (_a_' _a_') umbilden, dann zerfallen und kleine und grosse Oeltropfen frei werden lassen (fettiger Detritus). _b_ Amorphe körnig-faltige Schollen erweichten und gequollenen Gewebes. _c c_' Cholestearinkrystalle: _c_ die grossen rhombischen Tafeln, _c_' _c'_ feine, rhombische Nadeln. Vergr. 300.] Was das Cholestearin anbetrifft, so ist es keineswegs ein specifisches Product, welches dieser Art von fettiger Umwandelung für sich zugehörte. Vielmehr sehen wir überall, wo fettige Producte innerhalb einer abgeschlossenen Höhle, welche dem Stoffwechsel wenig zugänglich ist, längere Zeit stagniren, dass das Fett Cholestearin abscheidet, z. B. in der Flüssigkeit alter Hydrocelen, Strumen, Eierstockscysten. Fast alle Fettmassen, die wir im Körper antreffen, enthalten eine gewisse Quantität von Cholestearin gebunden. Ob das freiwerdende Cholestearin vorher schon vorhanden war, oder ob an den Stellen eine wirkliche Neubildung desselben erfolgt, darüber kann man bis jetzt nichts sagen, da bekanntlich noch gar keine chemische Thatsache ermittelt ist, welche über den Hergang bei der Bildung des Cholestearins und über die Stoffe, aus welchen Cholestearin sich bilden mag, irgend einen Aufschluss gäbe. Soviel muss man festhalten, dass das Cholestearin ein spätes Abscheidungsproduct stagnirender, namentlich fetthaltiger Theile ist. Wenn man nun die erste Entwickelung der atheromatösen Stellen der Arterien histologisch erforscht, so stösst man vor der Zeit, wo breiige Substanz in dem Heerde des Atheroms liegt, auf ein Stadium, wo man nichts weiter findet, als eine Fettmetamorphose, durch welche Körnchenzellen in der gewöhnlichen Weise aus den Elementen des Gewebes hervorgehen, und man überzeugt sich deutlich, dass der Vorgang in diesem Stadium absolut nicht verschieden ist von dem, welchen wir bei dem Herzen und bei der Niere in dem Stadium der fettigen Metamorphose vorfanden (S. 425, 427). In dieser Zeit, unmittelbar vor der Bildung des Heerdes, stellt sich das Verhältniss bei starker Vergrösserung so dar: Auf einem Durchschnitte (Fig. 130, _a_, _a_') sehen wir die eingestreuten fettig degenerirenden Elemente gegen die Mitte hin grösser werden und dichter liegen, aber im Allgemeinen noch die Form von Zellen bewahren; gegen den Umfang des Heerdes hin sind sie kleiner und spärlicher. Alle diese Zellen sind mit kleinen, das Licht stark reflectirenden, fettigen oder öligen Körnchen gefüllt. Dadurch entsteht für das blosse Auge auf einem Durchschnitte ein weisslicher oder weissgelblicher Fleck. Zwischen diesen Körnchenzellen befindet sich eine maschige Grundsubstanz, die eigentlich faserige Intercellularsubstanz der Intima, welche wir deutlich nach aussen in die normale Intima sich fortsetzen sehen. [Illustration: =Fig=. 130. Verticaler Durchschnitt aus einer sklerotischen, sich fettig metamorphosirenden Platte der Aorta (Tunica intima, nahe der Oberfläche): _i_ der innerste Theil der Haut mit einzelnen und zu mehreren gruppirten (getheilten), runden Kernen. _h_ die Schicht der sich vergrössernden Zellen: man sieht Maschennetze mit spindelförmigen Zellen, welche durchschnittene knorpelartige Körperchen umschliessen. _p_ Wucherungsschicht; Theilung der Kerne und Zellen. _a a_' die atheromatös werdende Schicht: _a_ der Beginn des Prozesses, _a_' der vorgerückte Zustand der Fettmetamorphose. Vergr. 300.] Für die Deutung der Vorgänge ist es aber ganz besonders wichtig, dass man sich unmittelbar davon überzeugen kann, dass die Faserlage, welche über dem Heerde liegt, ebenso in die oberflächliche Faserlage der benachbarten normalen Intima übergeht, wie die Faserlage der degenerirten Stelle in die tieferen Faserlagen der normalen Intima. Auf diese Weise wird die, auch von =Rokitansky= längere Zeit vertheidigte Ansicht widerlegt, dass es sich ursprünglich um eine Auflagerung auf die Fläche der inneren Haut handele. Man sieht auf einem Durchschnitte ganz evident, wie die äussersten Schichten in einem Bogen über die ganze Schwellung hinweglaufen, aus der Intima hervorkommen und in sie zurückkehren. Die Alten hatten also ganz Recht, wenn sie in dem Stadium, wo die Bildung des Atherom-Heerdes schon vorgerückt ist, sagten, man könne die Intima über den Heerd herüber im Zusammenhange abziehen. Nur ist das nicht die ganze Intima, vielmehr überzeugt man sich, dass die unteren Schichten des Heerdes jenseits der Grenze desselben ebenfalls in die tieferen Schichten der normalen Intima fortgehen, dass also hier nicht, wie die Alten annahmen, eine Zwischenlagerung zwischen Intima und Media stattfindet, sondern das Ganze, was wir vor uns haben, degenerirte Intima ist. In einzelnen besonders heftigen Fällen erscheint auch an den Arterien die nekrobiotische Erweichung nicht als Folge einer rein fettigen Metamorphose, sondern als directes Entzündungsproduct. Während im Umfange ein fettiger Zerfall stattfindet, tritt im Centrum der Veränderungsstelle ein gelbliches, trübes Wesen auf, unter welchem die Substanz fast unmittelbar in ein Gemisch grober Bröckel (Fig. 128, _e_, _e_. Fig. 129, _b_) erweicht und zerfällt. Es fragt sich in letzter Instanz, wo eigentlich der Sitz der fettigen Degeneration ist. Man kann sich auch hier wieder denken, dass das Fett in Zwischenräume (Interstitien) zwischen den Lamellen der Intima abgelagert werde; und es gibt noch heute einen kleineren Theil von Histologen, welche nicht anerkennen, dass das Bindegewebe nur Zellen, aber keine einfachen Lücken enthält. Untersucht man die veränderten Stellen nach der Oberfläche hin, so sieht man, dass dasselbe Gefüge, welches an den fettigen Theilen hervortritt, sich auch an den bloss hornigen oder halbknorpeligen Lagen erkennen lässt. Faserzüge, zwischen welchen von Strecke zu Strecke kleine linsenförmige Lücken erscheinen, finden sich hier, wie auch an der normalen Intima; in den Lücken und in den Faserzügen liegen aber zellige Theile (Fig. 130, _h_, _p_). Die Vergrösserung, welche die Stelle erfahren hat, und welche wir =Sklerose= nennen, beruht darauf, dass, während die faserige Intercellularsubstanz dicker und dichter wird, die zelligen Elemente sich vergrössern und eine Vermehrung ihrer Kerne eintritt, so dass man nicht selten Räume findet, in denen ganze Haufen von Kernen liegen. Damit leitet sich der Prozess ein. Weiterhin kommen Theilungen der Zellen vor, und man trifft eine grosse Masse von jungen Elementen. Diese sind es, welche nachher der Sitz der fettigen Degeneration werden (Fig. 130, _a_, _a_') und dann wirklich zu Grunde gehen. Demnach haben wir auch hier wieder einen activen Prozess, der wirklich neues Gewebe hervorbringt, dann aber durch seine eigene Entwickelung dem Zerfalle entgegeneilt. Kennt man diese Entwickelung, so begreift es sich, dass eine zweite Möglichkeit des Ausganges neben der fettigen Degeneration besteht, nehmlich die =Ossification=. Denn es handelt sich hier wirklich um eine Ossification, und nicht, wie man in neuerer Zeit behauptet hat, um eine blosse Verkalkung: die Platten, welche die innere Wand des Gefässes durchsetzen, sind wirkliche, wenn auch etwas rohe Knochenplatten. Da sie aus derselben sklerotischen Substanz sich bilden, aus der in anderen Fällen die fettige Masse wird, und da ein wirkliches Gewebe nur aus einem früheren Gewebe hervorgehen kann, so folgt von selbst, dass wir auch beim Ausgange in Fettmetamorphose nicht eine einfache Ausstreuung von Fett annehmen können, welche in beliebige Zwischenräume erfolgte. Die Ossification geschieht hier gerade so, wie wenn sich unter Entzündungs-Erscheinungen an der Oberfläche des Knochens eine (periostitische) Knochenlage bildete. Die Osteophyten der inneren Schädeldecke und der Hirnhäute zeigen dieselbe Entwickelung, wie die ossificirenden Platten der inneren Haut der Aorta und selbst der Venen. Ihr erstes Stadium besteht immer in der vermehrten Bildung von bindegewebigen, sklerosirenden Verdickungen, in welche erst spät die Ablagerung der Kalksalze erfolgt. Sobald diese wirkliche Ossification besteht, so können wir gar nicht umhin, den Vorgang als einen aus einer Reizung der Theile zu neuen, formativen Actionen hervorgegangenen zu betrachten; er fällt also in den Begriff der Entzündung oder wenigstens derjenigen irritativen Prozesse, welche einer Entzündung ausserordentlich nahe stehen. Gelangt man demnach von beiden Endpunkten des Prozesses aus, sowohl von der Atheromatie, als von der Ossification, zu demselben Resultate, dass die Knoten und Buckel, welche im Stadium der Sklerose die innere Fläche der Gefässe verunstalten, auf einen activen Prozess, auf wirkliche formative Reizung zurückführen, so kann man den Prozess gewiss nicht besser bezeichnen, als mit dem Namen der =Endoarteriitis chronica deformans s. nodosa=. Der an sich passive Charakter des fettigen Endstadiums (Ausganges) ändert nichts an dem activen, irritativen Anfangsstadium. Nur muss man sich stets erinnern, dass eine wesentliche Verschiedenheit zwischen diesem Prozesse und der einfachen fettigen Degeneration besteht, welche am besten an einem grossen Gefässe, z. B. der Aorta, zu erkennen ist. Bei der letzteren entsteht an der Oberfläche der Intima eine ganz leichte Anschwellung, welche sofort mit weggenommen wird, sobald man einen oberflächlichen Schnitt abträgt; darunter liegt noch eine starke Lage intacter Intima. Bei der Endoarteriitis dagegen haben wir im letzten Stadium einen tief unter der oft normalen Oberfläche liegenden Heerd, welcher später aufbricht, seinen Inhalt entleert und das =atheromatöse Geschwür= bildet. Dieses entsteht zuerst als ein feines Loch der Intima, durch welches der dicke, zähe Inhalt des Atheromheerdes in Form eines Pfropfes an die Oberfläche drängt; nach und nach entleert sich immer mehr von diesem Inhalte, wird vom Blutstrome fortgerissen, und zuletzt behalten wir ein mehr oder weniger grosses Geschwür zurück, welches bis auf die Media gehen kann, ja nicht selten diese mit betheiligt. Immer handelt es sich also um eine schwere Erkrankung des Gefässes, welche zu einer eben solchen Destruction führt, wie sie bei anderen heftigen entzündlichen Prozessen vorkommt. Wendet man diese Erfahrung auf die Geschichte der =Endocarditis=[240] an, so findet man die ganze Angelegenheit auch da. Auch an den Herzklappen gibt es einfach fettige Degenerationen, sowohl an der Oberfläche, als auch in der Tiefe. Diese verlaufen gewöhnlich so, dass bei Lebzeiten keine Störung erkennbar wird, und dass wir von unserem gegenwärtigen Erfahrungs-Standpunkte aus keine gröbere anatomische Störung angeben könnten, welche die weitere Folge davon wäre. Dagegen das, was wir Endocarditis nennen, was nachweisbar im Verlaufe des Rheumatismus entsteht und unzweifelhaft als eine Art von Aequivalent (Metastase) für den Rheumatismus der peripherischen Theile auftreten kann, beginnt mit einer Schwellung der erkrankten Stelle selbst. Die zelligen Elemente nehmen mehr Material auf, die Stelle wird uneben, höckerig. Verläuft der Prozess mehr langsam, so entsteht entweder eine Excrescenz (Condylom), oder die Verdickung breitet sich mehr hügelig aus und wird später der Sitz einer Verkalkung oder wirklichen Verknöcherung. Hat der Prozess einen acuteren Verlauf, so kommt es zu fettiger Degeneration oder Erweichung, wo die Klappen durch den Blutstrom zertrümmert werden, Bruchstücke sich ablösen und embolische Heerde an entfernteren Punkten entstehen (Fig. 82, S. 246). [240] Wiener medic. Wochenschrift 1858. No. 14. [Illustration: =Fig=. 131. Condylomatöse Excrescenzen der Valvula mitralis: einfache körnige Anschwellungen (Granulationen), grössere Hervorragungen (Vegetationen), einzelne zottig, einzelne ästig und wieder knospend; in allen elastischen Fasern aufsteigend. Vergr. 70.] Nur auf diese Weise, indem man die Anfänge der Veränderungen beobachtet, ist es möglich, sichere und für die Praxis brauchbare Urtheile über die pathologischen Prozesse zu gewinnen. Niemals darf man sich bestimmen lassen, von der Differenz der klinischen Prozesse ausgehend, die endlichen Producte derselben als nothwendig verschieden zu betrachten. Die heftigsten Entzündungsprozesse, welche in ganz kurzer Zeit verlaufen, können dieselben Ausgänge machen, welche in anderen Fällen langsamer und ohne Entzündung entstehen. Ich habe nicht die Absicht, die Reihe der verschiedenen passiven Störungen, welche möglicherweise im späteren Verlaufe von Reizungszuständen auftreten können, im Einzelnen zu verfolgen. Wir würden sonst in der Geschichte fast aller degenerativen Atrophien analoge Beispiele finden können. Ueberall muss man die Zustände, in denen ein Theil direkt der Sitz einer solchen Rückbildung wird, von denjenigen unterscheiden, wo er vorher eine active Veränderung erfuhr. Das ist die erste Vorbedingung zur vorurtheilsfreien, wirklich gegenständlichen Erkenntniss der =Entzündung= überhaupt, zu deren Besprechung wir uns gegenwärtig wenden wollen. Der Begriff der Entzündung hat sich unter der Einwirkung der Erfahrungen, von welchen ich schon in dem Vorhergehenden einen gewissen Theil besprochen habe, wesentlich verändert. Während man noch bis vor kurzer Zeit gewohnt war, die Entzündung ontologisch, als einen =seinem Wesen nach= überall gleichartigen Vorgang zu betrachten, so ist nach meinen Untersuchungen nichts übrig geblieben, als alles Ontologische von dem Entzündungs-Begriffe abzustreifen, und die Entzündung nicht mehr als einen seinem Wesen nach von den übrigen verschiedenen Prozess, sondern nur als eine =dem Verlaufe nach eigenthümliche Form verschiedener Prozesse= anzusehen[241]. [241] Archiv IV. 280. Spec. Pathol. und Ther. I. 46, 72, 76. In der Aufstellung der Alten, wie sie uns in den dogmatischen Schriften =Galen='s erhalten ist, steht bekanntlich unter den vier Cardinal-Symptomen (calor, rubor, tumor, dolor) die Hitze als das dominirende da, denn sie ist das Symptom, von welchem der Prozess seinen Namen bekommen hat. Späterhin ist in dem Maasse, als die Frage von der thierischen Wärme überhaupt und von der Wärme in pathologischen Zuständen insbesondere in den Hintergrund trat, immer mehr Gewicht gelegt worden auf die Röthung, und so ist es geschehen, dass schon im vorigen Jahrhundert, in der Zeit der mechanischen Theorien, wo namentlich =Boerhaave= die Entzündung ableitete von der Obstruction der Gefässe und der damit verbundenen Stasis des Blutes, der Begriff der Entzündung sich mehr oder weniger an die Gefässe band. Seitdem die pathologisch-anatomischen Erfahrungen sich ausdehnten, wurde insbesondere in Frankreich durch =Andral= die Hyperämie als der nothwendige und regelmässige Ausgangspunkt der Entzündung hingestellt. Die Einseitigkeit, mit welcher diese Ansicht noch bis in unsere Zeit festgehalten ist, war zum grossen Theile eine Nachwirkung der =Broussais='schen Anschauung, welche in der pathologisch-anatomischen Richtung zur Geltung gekommen ist. Die Hyperämie trat allmählich an die Stelle aller übrigen wesentlichen Symptome. Eine Aenderung der Doctrin im grossen Style hat eigentlich nur die Wiener Schule versucht, indem sie, wiederum vom anatomischen Standpunkte aus, an die Stelle der Entzündungs-Symptome das Entzündungsproduct setzte. Das, was sie ihren Erfahrungen gemäss zunächst im Auge hatte, und worin sie das Wesen der Entzündung suchte, war das Product, welches man, allerdings entsprechend den überlieferten Vorstellungen, als ein nothwendig aus den Gefässen hervorgegangenes, als Exsudat bezeichnete. In der alten Classification der Symptome entsprach dem Exsudate der Wiener ungefähr das Symptom des Tumors, und man könnte daher sagen, dass, wie früher der Calor und dann der Rubor, so hier der Tumor in den Vordergrund getreten sei. -- Nur in der mehr speculativen Anschauung der Neuropathologen wird bekanntlich der Dolor als die wesentliche und ursprüngliche Veränderung in dem Entzündungsacte betrachtet. Es kann kein Zweifel sein, dass von diesen verschiedenen Aufstellungen die anatomische Lehre der Wiener Schule die richtigste sein würde, wenn sich nachweisen liesse, dass bei jeder Entzündung, wie es gegenwärtig in die Sprache der meisten Aerzte übergegangen ist, ein Exsudat stattfände, dass der Tumor wesentlich durch dieses Exsudat bedingt sei, und namentlich, dass dieses Exsudat als ein constantes, typisches, und der Fibrin-Gehalt desselben als ein Kriterium der entzündlichen Natur desselben betrachtet werden dürfe. Schon in den früheren Capiteln habe ich zu zeigen gesucht, wie erheblich der Begriff des Exsudates geschmälert werden muss, und wie wesentlich bei dem Auftreten von Stoffen, welche wir allerdings als aus den Gefässen hervorgegangen und zu den früheren Gewebstheilen hinzugekommen betrachten müssen, die activen Beziehungen der Gewebselemente selbst in Frage kommen. Vieles ist, wie wir sahen, nicht ein aus den Gefässen durch den Blutdruck hervorgepresstes, also passives Exsudat, sondern vielmehr, wenn ich mich so ausdrücken soll, ein Educt oder Extract aus den Gefässen in Folge der Thätigkeit, der activen Anziehung der Gewebselemente selbst. Dasjenige, von dem, wie ich glaube, ausgegangen werden muss bei der Betrachtung der Entzündung, der Punkt, in dem ich auch die Aufstellung von =Broussais= und =Andral= für am meisten berechtigt erachte, ist der Begriff des =Reizes=. Wir können uns keine Entzündung denken ohne Entzündungsreiz, und es fragt sich zunächst, in welcher Weise man sich diesen Reiz vorzustellen habe? Wir haben schon gesehen, dass im Allgemeinen eine Reizung in drei verschiedenen Richtungen eintreten kann, dass sie nehmlich entweder eine functionelle, oder eine nutritive, oder eine formative sein kann. Dass bei der Entzündung functionelle Reize in Betracht kommen, dafür spricht schon der Umstand, dass alle neueren Schulen wenigstens darin übereingekommen sind, dass zu den vier charakteristischen Symptomen der Alten noch die =Functio laesa= hinzugefügt werden müsse. Ist bei der Entzündung die Function wirklich gestört, so setzt dies eben voraus, dass der Entzündungsreiz in der Zusammensetzung des Theiles Veränderungen bedingt haben muss, welche die zur Function verwendbaren Theile der Gewebselemente getroffen haben, dass also die functionsfähige Substanz nicht mehr unversehrt ist. Niemand wird erwarten, dass ein Muskel, der entzündet ist, sich normal contrahirt; jeder setzt voraus, dass die contractile Substanz des Muskels durch die Entzündung gewisse Veränderungen erfahren hat. Niemand wird erwarten, dass eine entzündete Drüsenzelle normal secerniren könne, sondern man betrachtet eine Störung (Hemmung und Aenderung) der Secretion als nothwendige Folge der Entzündung. Niemand wird annehmen, dass eine entzündete Ganglienzelle oder ein entzündeter Nerv seine Verrichtungen ausüben, wie sonst, dass sie auf Reize normal reagiren können. Unseren allgemeinsten Erfahrungen nach schliessen wir in solchen Fällen mit Nothwendigkeit, dass Veränderungen in der Zusammensetzung der zelligen Theile eingetreten sein müssen, welche die natürliche Functionsfähigkeit derselben alteriren. Solche Veränderungen können die Folgen einer übermässigen Function sein; treten sie aber auf Reize ein, die nicht gross genug sind, um die Theile sofort zu zerstören oder ihre Functionsfähigkeit zu erschöpfen, so müssen es nothwendiger Weise entweder nutritive oder formative Reize gewesen sein. Und in der That bestätigt sich dieser Schluss bei der Entzündung. Man findet heut zu Tage die Ansicht schon ziemlich verbreitet, dass es sich bei der Entzündung im Grossen um eine Veränderung in dem Ernährungsacte handle, wobei man die Ernährung freilich als das die formativen und nutritiven Vorgänge gemeinschaftlich Umfassende nimmt, oder, wie ich es früher[242] ausdrückte: So lange auf ein Irritament nur functionelle Störungen zu beobachten sind, so lange spricht man von Irritation; werden neben den functionellen Störungen nutritive bemerkbar, so nennt man es Entzündung. [242] Spec. Pathologie und Ther. I. 72. Will man also von einem Entzündungsreize sprechen, so kann man sich darunter füglich nichts Anderes denken, als dass durch irgend eine für den Theil, welcher in Reizung geräth, äussere Veranlassung, entweder direkt von aussen, oder vom Blute, oder möglicher Weise von einem Nerven her, die Mischung oder Zusammensetzung des Theiles Aenderungen erleidet, welche zugleich seine Beziehungen zur Nachbarschaft ändern und ihn in die Lage setzen, aus dieser Nachbarschaft, sei es ein Blutgefäss oder ein anderer Körpertheil[243], eine grössere Quantität von Stoffen an sich zu ziehen, aufzusaugen und je nach Umständen umzusetzen. Jede Form von Entzündung, welche wir kennen, findet darin ihre natürliche Erklärung. Jede kommt darauf hinaus, dass sie als Entzündung beginnt von dem Augenblicke an, wo diese vermehrte Aufnahme von Stoffen in das Gewebe erfolgt und die weitere Umsetzung dieser Stoffe eingeleitet wird. [243] Archiv XIV. 29. Diese Auffassung nähert sich bis zu einem gewissen Maasse, wie man leicht sieht, derjenigen, welche man vom Standpunkte der vasculären Theorie aus behauptet hat, wonach man als unmittelbare Folge der Hyperämie das Exsudat betrachtet und annimmt, dass die Entzündung, wenn sie declarirt sei, durch die Anwesenheit eines der natürlichen Mischung des Theiles mehr oder weniger fremdartigen Stoffes sich charakterisire. Es fragt sich nur, ob wirklich die Hyperämie die Einleitung und zwar die nothwendige Einleitung zu diesen Vorgängen bilde. Wäre die Entzündung nothwendig gebunden an die Hyperämie, so würde es begreiflicher Weise unmöglich sein, von Entzündungen in Theilen zu sprechen, welche nicht überall in einer unmittelbaren Beziehung zu Gefässen stehen. Wir könnten uns nicht vorstellen, dass eine Entzündung in einer gewissen Entfernung von einem Gefässe geschähe. Es würde vollständig unmöglich sein, von einer Hornhautentzündung zu sprechen (abgesehen vom Rande der Hornhaut), von einer Knorpelentzündung (abgesehen von den zunächst an den Knochen stossenden Theilen), von einer Entzündung der inneren Sehnensubstanz. Vergleichen wir aber die Vorgänge in solchen Theilen mit den gewöhnlichen, so stellt sich unzweifelhaft heraus, dass dieselben Vorgänge der Entzündung in allen diesen Theilen vorkommen können, und dass die Veränderungen der gefässhaltigen sich in keiner Weise nothwendig von denen der gefässlosen unterscheiden. Man darf aber deshalb nicht behaupten, dass die Entzündung an allen Theilen gleich, dass sie demnach als ein einheitlicher Vorgang aufzufassen sei. Allerdings bedingt die Existenz von Gefässen und der Reichthum an Gefässen grosse Verschiedenheiten in den auf gewisse Reize eintretenden Veränderungen. Das Auftreten von Exsudaten ist in hohem Maasse abhängig von der Art der Vascularisation eines Theiles. Die gefässlose Intima einer Arterie oder Vene liefert kein Exsudat, obwohl sie einer Serosa so ähnlich ist, dass die Schule =Bichat='s sie nicht bloss für eine Serosa erklärte, sondern ihr auch dieselben Erkrankungsmöglichkeiten zuschrieb, wie sie an den serösen Häuten bekannt sind. Ebenso wenig exsudirt der Gelenkknorpel an seiner Oberfläche; findet sich ein Exsudat in einer Gelenkhöhle, so stammt es von der Synovialis, welche reichlich Gefässe führt. Wie bekannt, hat man aber auch in der Auffassung der entzündlichen Exsudate insofern Concessionen machen müssen, als man manchen Prozess Entzündung genannt hat, welcher durch die Art des sogenannten Exsudates sich wesentlich von anderen unterscheidet. Wenn man von Schleimhaut-Entzündungen spricht, so denkt man in der Regel doch nicht daran, dass die Schleimhaut ein fibrinöses Exsudat liefern wird. Wir kennen wohl Schleimhäute, wo fibrinöse Exsudate häufig sind, z. B. die Schleimhaut der Respirationsorgane. Aber wir wissen auch, dass auf der Schleimhaut des Digestionstractus freie fibrinöse Exsudate fast gar nicht vorkommen, dass sie höchstens die schlimmeren, namentlich die brandigen und specifischen Formen begleiten. Wenn man von einer Laryngitis spricht, so setzt man nicht sogleich einen Croup voraus. Bei einer Cystitis erwartet man nicht, die innere Fläche der Blase von einer fibrinösen Schicht überzogen zu finden. In der ganzen Reihe der sogenannten gastrischen Entzündungen finden wir namentlich im Anfange des Prozesses fast nichts weiter, als eine reichliche Absonderung von Schleim. Wenn wir also diese catarrhalischen Entzündungen noch Entzündungen nennen, wenn wir sie nicht ganz aus der Reihe der Entzündungen herauswerfen wollen, wozu kein Grund vorliegt, so müssen wir zugestehen, dass ausser dem fibrinösen Exsudate in Entzündungen ein schleimiges Exsudat bestehen kann, und dass die Entzündungen mit schleimigem Exsudate eine eigene, gewissen Organen zukommende Kategorie bilden. Denn bekanntlich finden wir sie nicht an allen Geweben des Körpers, sondern fast nur an Schleimhäuten. Sieht man sich nun die fibrinösen Exsudate etwas genauer an, so kann gar kein Zweifel sein, dass sie in diesem Punkte von den schleimigen nicht verschieden sind. Wir kennen nehmlich keinesweges an allen Punkten des Körpers fibrinöse Exsudate; wir kennen z. B. keine Form von exsudativer Encephalitis, welche fibrinöses Exsudat liefert. Eben so wenig ist eine Form von Hepatitis bekannt, wobei fibrinöse Exsudate in der Leber vorkämen. Es gibt wohl eine Entzündung des Leberüberzuges (Perihepatitis), so gut wie eine Entzündung des Gehirnüberzuges (Arachnitis), wobei Fibrin frei hervortreten kann, aber nie hat Jemand bei einer eigentlichen Hepatitis oder Encephalitis Fibrin angetroffen. Ebensowenig gibt es bei den gewöhnlichen Entzündungen des Herzfleisches (Myocarditis) Fibrin. Andererseits ist es sicher, dass man, von bestimmten Voraussetzungen ausgehend, Fibrin-Exsudate an vielen Punkten vermuthet hat, wo sie in der That gar nicht zu sehen sind. Wenn man den Eiter aus einem fibrinösen Exsudat hat hervorgehen lassen, und wenn man demnach an allen Stellen, wo Eiter auftritt, ein fibrinöses Exsudat als den Ausgangspunkt betrachtet hat, so gehört doch eben keine grosse Beobachtungsgabe dazu, um sich zu überzeugen, dass dies ein Irrthum ist. Man nehme eine beliebige Ulcerationsfläche, wische den Eiter ab und fange das auf, was nun »ausschwitzt«, so wird man entweder seröse Flüssigkeit oder Eiter haben, aber man wird nicht sehen, dass sich die abgewischte Fläche mit einem Fibrin-Gerinnsel überzieht. Beschränkt man sich auf diejenigen Theile, wo Entzündungen mit wirklichem, unzweifelhaftem fibrinösen Exsudate vorkommen, so ist dies eine nahezu ebenso beschränkte Kategorie, wie die der schleimigen Entzündungen. Hier stehen in erster Linie die eigentlichen serösen Häute, welche gewöhnlich schon bei leichtem Entzündungsreiz Fibrin hervorbringen, in zweiter Linie gewisse Schleimhäute, an welchen die fibrinösen Entzündungen in einer grossen Zahl von Fällen unverkennbar als eine Steigerung aus schleimigen hervorgehen. Ein gewöhnlicher Croup tritt in der Regel nicht von vornherein als fibrinöser Croup auf; anfangs, zu einer Zeit, wo die Gefahr schon eine sehr beträchtliche sein kann, findet sich oft nichts weiter, als eine schleimige oder schleimig-eiterige Pseudomembran. Erst nach einer gewissen Zeit setzt die fibrinöse Exsudation in der Weise ein, dass wir an derselben Pseudomembran die Uebergänge verfolgen können, so dass eine gewisse Stelle deutlich Schleim, eine andere deutlich Fibrin enthält, während an einer dritten Stelle nicht mehr zu sagen ist, ob der eine oder das andere vorhanden ist. Hier treten also beide Stoffe wiederum als Substitute für einander auf. Wo der entzündliche Reiz grösser ist, sehen wir Fibrin, wo er geringer ist, Schleim vorkommen. Vom Schleime wissen wir aber, dass er im Blute nicht präexistirt, wie das Fibrin. Wenn auch eine Schleimhaut unglaublich grosse Massen von Schleim in kurzer Zeit hervorbringen kann, so sind dieselben doch Producte der Schleimhaut selbst; sie wird nicht vom Blute aus mit Schleim durchdrungen, sondern das Mucin, der eigenthümliche Schleimstoff ist ein Erzeugniss der Haut (S. 66), und dieses wird durch die vom Blute aus durchquellende (trans- und exsudirende) Flüssigkeit mit an die Oberfläche geführt. Im Anschlusse an diese Erfahrung habe ich, wie ich früher andeutete (S. 197), auch versucht, die Ansicht umzukehren, welche man über die Entstehung des Fibrins zu haben pflegt[244]. Während man bis jetzt die Fibrinausscheidung als eine eigentliche Transsudation aus der Blutflüssigkeit, das Exsudat als das hervortretende Plasma betrachtete, so habe ich die Deutung aufgestellt, dass auch das Fibrin häufig ein Localproduct derjenigen Gewebe sei, an welchen und in welchen es sich findet, und dass es in derselben Weise an die Oberfläche gebracht werde, wie der Schleim der Schleimhaut. Ich habe damals schon gezeigt, wie man auf diese Weise am besten begreift, dass in dem Maasse, als an einem bestimmten Gewebe die Fibrinproduction steigt, auch dem Blute mehr Fibrin zugeführt wird, und dass die fibrinöse Krase eben so gut ein Product der localen Erkrankung ist, wie die fibrinöse Exsudation das Product der localen Stoffmetamorphose. Nie ist man im Stande gewesen, so wenig als man direct durch Druckveränderung aus dem Blute Schleim an einem Orte hervorbringen kann, welcher nicht selbst Schleim producirt, durch Veränderung im Blutdrucke aus den Capillaren des lebenden Thieres Fibrin hervorzupressen; was durchdringt, sind immer nur die serösen Flüssigkeiten. [244] Spec. Pathologie und Ther. I. 75. Gesammelte Abhandlungen 135-37. Archiv XIV. 36. Ich halte demnach dafür, =dass es in dem gewöhnlichen Sinne überhaupt kein entzündliches Exsudat gibt=, sondern dass das Exsudat, welches wir im Laufe entzündlicher Reizungen antreffen, sich zusammensetzt einerseits aus dem Material, welches durch die veränderte Haltung in dem entzündeten Theile selbst erzeugt wurde, andererseits aus der transsudirten Flüssigkeit, welche aus den Gefässen stammt. Diese kann ihrerseits sehr verschieden sein. Manchmal ist sie rein serös (hydropisch), andermal enthält sie zahlreiche rothe Blutkörperchen und muss daher geradezu als hämorrhagisch bezeichnet werden, andermal endlich finden sich in ihr grössere oder kleinere Mengen von farblosen Blutkörperchen. Besitzt daher ein Theil eine grosse Menge besonders oberflächlicher Gefässe, so wird er auch ein reichliches Exsudat geben können, wobei die vom Blute transsudirende Flüssigkeit ausser den aus dem Blute selbst gelieferten Bestandtheilen die besonderen Producte des Gewebes (Mucin, Fibrin, Paralbumin, zellige Elemente u. s. w.) mit an die Oberfläche führen kann. Hat dagegen der Theil keine Gefässe oder keine freie Oberfläche, so wird es auch kein Exsudat geben, sondern der ganze Vorgang beschränkt sich darauf, dass im Gewebe selbst die besonderen Veränderungen vor sich gehen, die durch den entzündlichen Reiz angeregt worden sind. Demnach gibt es wohl exsudative Entzündungen der äusseren Haut, der Schleim-, serösen und synovialen Häute, der Lungen, aber wir kennen nichts, was damit vergleichbar wäre an Hirn und Rückenmark, an Nerven und Muskeln, an Milz, Leber, Hoden, Knochen u. s. w. Man muss demnach zwei ganz und gar ihrer Leistung nach verschiedene Formen von Entzündungen von einander trennen[245]: nehmlich erstens die =rein parenchymatöse Entzündung=, wo der Prozess im Inneren des Gewebes und zwar mit Veränderungen der Gewebselemente selbst verläuft, ohne dass eine frei hervortretende Ausschwitzung wahrzunehmen ist; zweitens die =secretorische= (=exsudative=) =Entzündung=, welche mehr den oberflächlichen Organen angehört, wo vom Blute aus ein vermehrtes Austreten von wässerigen (serösen) Flüssigkeiten erfolgt, welche die eigenthümlichen, in Folge der Gewebsreizung gebildeten parenchymatösen Stoffe mit an die Oberfläche der Organe führen. Allerdings sind diese beiden Formen hauptsächlich nach den Organen unterschieden, an welchen die Entzündung vorkommt. Es gibt, wie gesagt, gewisse Organe, welche unter allen Verhältnissen nur parenchymatös erkranken, andere, welche fast jedesmal eine oberflächliche exsudative Entzündung erkennen lassen. Aber die Geschichte der mit freien Oberflächen versehenen Organe lehrt doch auch, dass dasselbe Gewebe, z. B. eine Schleimhaut, exsudativ und parenchymatös erkranken kann. [245] Spec. Pathologie und Therapie. I. 66. Die Scheidung der Entzündungsformen, welche man gewöhnlich nach dem Vorgange von =John Hunter= gemacht hat, die in adhäsive und eiterige Formen, liegt ungleich weiter entfernt. Zunächst handelt es sich immer darum, zu untersuchen, in wie weit die Gewebe selbst sich verändern und ihr Product einen degenerativen Character annimmt, oder in wie weit durch das Durchströmen der Flüssigkeiten der Theil wieder von dem befreit wird, was er in sich erzeugt hat, wodurch die Degeneration des Theiles vermieden wird. =Jede parenchymatöse Entzündung hat von vornherein eine Neigung, den histologischen und functionellen Habitus eines Organes zu verändern. Jede Exsudation bringt dem Gewebe eine gewisse Befreiung=: sie entführt ihm einen grossen Theil der Schädlichkeiten, und das Gewebe erscheint daher verhältnissmässig viel weniger leidend, viel weniger einer dauerhaften Degeneration ausgesetzt, als dasjenige, welches der Sitz einer parenchymatösen Erkrankung ist. Daher ist schon seit alten Zeiten die therapeutische Aufgabe des Arztes dahin festgestellt worden, bei Entzündungen oberflächlicher Organe die Secretion (Transsudation, Exsudation) zu befördern, und es kann trotz der gerade in der neuesten Zeit wieder in größerer Heftigkeit aufgetauchten Bedenken nicht bezweifelt werden, dass die Secretion nicht bloss für tiefere Theile, sondern auch für die erkrankte Oberfläche selbst eine =derivatorische= oder =depuratorische= Bedeutung hat. Die beiden Grundformen der Entzündung, die parenchymatöse und die exsudative, können sich mit einander vergesellschaften und eine combinirte Störung hervorbringen. Allein beide sind ihrem Wesen nach verschieden. Sagt man statt parenchymatöse Entzündung »entzündliche Degeneration« und statt exsudativer Entzündung »entzündliche Secretion«, so stellt sich die Verschiedenheit alsbald in deutlicher Weise dar. Niemand würde so verschiedene Prozesse zusammenwerfen, wenn nicht die klinische Beobachtung ergäbe, dass beide auf Reize entstehen, also einen irritativen Anfang haben, dass ferner derselbe Reiz hier eine Degeneration, dort eine Exsudation hervorruft, und dass endlich in beiden Fällen, wenn der Theil reichlichere Gefässe und Nerven hat, Röthe, Hitze und Spannung bemerkbar werden. Erwägt man nun aber weiterhin, dass weder die eintretende Degeneration, noch die Exsudation in allen Entzündungen denselben Charakter haben, dass die Degeneration nutritiv oder formativ, die Exsudation schleimig, serös, fibrinös, synovial sein kann, so wird leicht ersichtlich, dass in der That die Bezeichnung der Entzündung eine rein symptomatologische und prognostische, also klinische ist, und dass es eine ganz falsche und darum gefährliche Concession ist, im anatomischen Sinne überhaupt von einer Entzündung kurzweg zu sprechen. Denn mit dieser Concession geräth man sofort auf den Abweg, eine einheitliche anatomische Definition zu suchen, und bis jetzt ist noch jeder Versuch, eine solche zu finden, gescheitert. Zwanzigstes Capitel. Die normale und pathologische Neubildung. Geschichte des Knochens. Die Theorie der continuirlichen Entwickelung im Gegensatze zu der Blastem- und Exsudattheorie. Das Bindegewebe, seine Aequivalente und seine Adnexen als gemeinster Keimstock der Neubildungen. Die Uebereinstimmung der embryonalen und pathologischen Neubildung. Die Bedeutung der farblosen Blutkörperchen. Die Zellentheilung als gewöhnlicher Anfang der Neubildungen. Endogene Bildung. Physaliden. Bruträume. Furchung. Wachsthumähnliche und zeugungsähnliche Neubildung. Pflanzliche Analogie. Verschiedene Richtung der Neubildung. Hyperplasie, directe und indirecte. Heteroplasie. Die pathologischen Bildungszellen: Granulation. Verschiedene Grösse und Bildungsdauer derselben. Darstellung der Knochenentwickelung als einer Musterbildung. Unterschied von Formation, Transformation und Wachsthum. Das appositionelle und das interstitielle Wachsthum. Die Blastemtheorie. Der frische und wachsende Knochen im Gegensatze zu dem macerirten. Natur des Markes. -- Längenwachsthum der Röhrenknochen: Knorpelwucherung. Markbildung als Gewebstransformation: rothes, gelbes und gallertiges, normales, entzündliches und atrophisches Mark. Tela ossea, verkalkter Knorpel, osteoides Gewebe. Rachitis. Ossification des Markes. -- Dickenwachsthum der Röhrenknochen. Struktur und Wucherung der Periostes. Weiches Osteom der Kiefer. Callusbildung nach Fractur. Knochenterritorien: Caries, degenerative Ostitis. Knochengranulation. Knocheneiterung. Maturation des Eiters. Die Granulation als Analogon des Knochenmarkes und als Ausgangspunkt heteroplastischer Entwickelung. Es wird nunmehr nothwendig sein, zur genaueren Erläuterung der =formativen Reizung= zu schreiten und die wesentlichsten Züge aus der Geschichte der pathologischen Neubildungen zu schildern. Denn schon aus dem Früheren wird hervorgegangen sein, dass formative Vorgänge nicht etwa bloss die Grundlage für Geschwulstbildungen im engeren Sinne des Wortes, sondern auch für viele einfach entzündliche Reizungsprozesse bilden. Dass ich die Doctrin vom Blastem in ihren ursprünglichen Grundzügen gegenwärtig vollständig zurückweise, habe ich wiederholt ausgesprochen. An ihre Stelle tritt die sehr einfache Lehre von der =continuirlichen Entwickelung der Gewebselemente aus einander=. Es handelt sich also für die einzelnen Fälle vielmehr darum, den besonderen Modus zu erkennen, nach welchem die verschiedenartigen Gewebe entstehen, und an bestimmten Beispielen die einzelnen Möglichkeiten kennen zu lernen, welche in Beziehung auf die Richtung dieser Entwickelung überhaupt bestehen. Meine ersten Erfahrungen, auf Grund deren ich anfing, die herrschende Doctrin vom Blastem und Exsudat in Beziehung auf daraus hervorgehende Neubildungen zu bezweifeln, datiren von Untersuchungen über die =Tuberkeln=[246]. Ich fand nehmlich, dass die jungen Tuberkel in verschiedenen Organen, insbesondere in Lymphdrüsen, in den Hirnhäuten und in den Lungen zu keiner Zeit ein erkennbares Exsudat, sondern zu jeder Zeit während ihrer Bildung organisirte Elemente enthalten, ohne dass je an ihnen oder vor ihnen ein Stadium des Amorphen, Gestaltlosen zu beobachten ist. Insbesondere erkannte ich, dass die Entwickelung in den Lymphdrüsen bei den bekannten scrofulösen Anschwellungen mit einer Neubildung beginnt und dass die ersten Zustände, welche man antrifft, vollkommen mit denjenigen übereinstimmen, welche man sonst mit dem Namen der Hypertrophie bezeichnete: Kerne und Zellen finden sich in reicher Masse, zerfallen späterhin und geben das Material zu der endlichen Anhäufung käsiger Substanz. Eine solche Erfahrung, wonach ein hypertrophirendes (genauer gesagt: hyperplastisches) Gewebe in seiner späteren Zeit ein vollkommen abweichendes, krankhaftes Product liefert, erschien um so bedeutungsvoller, als ich eine ganz ähnliche Reihe von Entwickelungen gleichzeitig bei der Untersuchung einer ganz differenten Bildung erkannte, nehmlich bei der sogenannten =Typhusmasse=[247]. Damals herrschte ganz allgemein die Ansicht der Wiener Schule, dass bei den Abdominaltyphen ein eiweissartiges Exsudat von weicher Beschaffenheit in die Darmwand abgesetzt würde, und dass dadurch Schwellungen von markigem, medullärem Aussehen entständen. Ich fand dagegen, dass, gleichviel ob ich die Typhusmasse in den Lymphdrüsen des Gekröses oder an den Follikeln der Peyerschen Haufen untersuchte, zu keiner Zeit irgend ein bildungsfähiges Exsudat vorhanden war, sondern stets eine unmittelbare Fortbildung von den präexistirenden zelligen Elementen der Drüsen, der Follikel und des Bindegewebes zu der typhösen Substanz stattfinde. [246] Würzb. Verhandl. 1850. I. 80. II. 70. III. 98. [247] Ebendas. I. 86. Diese Erfahrungen berechtigten natürlich noch nicht, eine allgemeine Umänderung der bestehenden Doctrin vorzunehmen, denn organische Elemente entstehen an zahllosen Punkten, an denen damals wenigstens zellige Elemente als normale Bestandtheile überhaupt ganz unbekannt waren, und es schien daher kaum eine andere Möglichkeit übrig zu bleiben, als die, dass durch eine Art von Generatio aequivoca aus Blastemmasse neue Keime gebildet würden. Die einzigen Orte, wo mit einiger Wahrscheinlichkeit ausser den Drüsen eine Entwickelung neuer Elemente von den alten Elementen aus hätte erschlossen werden können, waren die Oberflächen des Körpers mit ihren Epithelial-Formationen. So geschah es, dass meine Untersuchung über die Natur der Bindegewebs-Substanzen, auf welche ich früher wiederholt eingegangen bin, eine entscheidende wurde. Von dem Augenblicke an, wo ich behaupten konnte, dass es fast keinen Theil des Körpers gibt, welcher nicht zellige Elemente besitzt, wo ich zeigen konnte, dass die Knochenkörperchen wirkliche Zellen sind, dass das Bindegewebe an verschiedenen Orten eine bald grössere, bald geringere Zahl wirklich zelliger Elemente führe[248], da waren auch überall Keime erkannt für eine mögliche Entwickelung neuer Gewebe. Thatsächliche Nachweise für eine solche Entwickelung brachte ich alsbald in meinen Arbeiten über parenchymatöse Entzündung[249] und über ein cystoides Enchondrom[250], denen später eine ganze Reihe weiterer Special-Untersuchungen sich angeschlossen hat. Je mehr die Zahl der Beobachter wuchs, um so häufiger hat es sich bestätigt, dass eine grosse Zahl der verschiedensten Neubildungen, welche im Körper entstehen, aus dem Bindegewebe und seinen Aequivalenten hervorgeht. Daran schloss sich unmittelbar das Gebiet der lymphatischen Gebilde und der mit ihnen zusammenhängenden farblosen Blutkörperchen, deren Bedeutung für die Neubildung von Manchen sehr hoch veranschlagt wird. Endlich sind zu erwähnen jene pathologischen Neubildungen, welche den Epithelformationen angehören, sowie diejenigen, welche mit den höher organisirten thierischen Geweben, z. B. den Gefässen, den Nerven, zusammenhängen. Erwägt man, dass die lymphatischen Einrichtungen ihrerseits mit dem Bindegewebe nahe Beziehungen haben, so wird man noch jetzt nicht fehlgehen, wenn man mit geringen Einschränkungen =an die Stelle der plastischen Lymphe, des Blastems der Früheren, des Exsudates der Späteren das Bindegewebe mit seinen Aequivalenten und Adnexen als den hauptsächlichen Keimstock des Körpers setzt=, und davon die Entwickelung der meisten neugebildeten Theile ableitet[251]. [248] Würzb. Verhandl. II. 150, 154. [249] Archiv IV. 284, 304, 312. [250] Archiv V. 216, 239. [251] Spec. Pathologie und Ther. I. 330, 333. Archiv VIII. 415. Wenn wir ein bestimmtes inneres Organ nehmen, z. B. das Gehirn oder die Leber, so konnte, so lange als man innerhalb des Gehirnes nichts weiter als Nervenmasse sah, in der Leber nichts weiter als Gefässe und Leberzellen zuliess, eine Neubildung ohne Dazwischenkommen eines besonderen Bildungsstoffes kaum gedacht werden. Denn davon war es ja leicht, sich zu überzeugen, dass in der Regel in der Leber die Neubildungen nicht von den Leberzellen oder den Gefässen ausgehen. Dass in der Hirnsubstanz die Nerven nicht als solche die Neubildungen hervorbringen, und dass die Markschwämme nicht wuchernde Nervenmasse sind, sondern aus zelligen Elementen anderer Art bestehen, das hätte man wissen sollen seit dem Augenblicke, wo das Mikroskop auf die Untersuchung der Gewebe angewendet worden ist. Aber ich habe erst nachweisen müssen, dass es Bindegewebszellen in der Leber und interstitielle Gliazellen im Gehirne gibt, welche Aequivalente der gewöhnlichen Bindegewebskörperchen sind. In der That erscheint uns, wie zuerst =Reichert= hervorgehoben hat, der Grundstock des Körpers zusammengesetzt aus einer mehr oder weniger continuirlichen Masse von bindegewebsartigen Bestandtheilen, an und in welche an gewissen Punkten andere Dinge, wie Epithel, Muskeln, Gefässe und Nerven, eingesetzt sind. Innerhalb dieses mehr oder weniger zusammenhängenden Gerüstes ist es, wo nach meinen Untersuchungen die Mehrzahl der Neubildungen vor sich geht, und zwar nach demselben Gesetze, nach welchem die embryonale Entwickelung geschieht. Das Gesetz von der Uebereinstimmung der embryonalen und pathologischen Entwickelung ist, wie bekannt, schon von =Johannes Müller=, der auf den Untersuchungen von =Schwann= fortbaute, formulirt worden. Allein damals setzte man den Inhalt eines Ovulums (Fig. 7) dem Blasteme gleich; man dachte nicht daran, dass alle Entwickelung im Ei innerhalb der gegebenen Grenzen der Zelle geschieht, sondern man schloss einfach, dass im Eichen eine gewisse Menge von bildungsfähigem Stoffe gegeben sei, welcher vermöge einer ihm innewohnenden Eigenthümlichkeit, vermöge einer organisatorischen Kraft oder, vom Standpunkte der »höheren« Anschauung aus, durch eine organisatorische Idee getrieben, sich in diese oder jene besondere Form umgestalte. Wenn es auch nicht richtig ist, was am schärfsten von =Remak= behauptet worden ist, dass auch die Dotterfurchung und die daraus hervorgehende Bildung der Primordialzellen auf dem Hineinwachsen und Verschmelzen von Membranscheidewänden in das Innere des Eies beruht, so handelt es sich doch auch innerhalb der Dottermasse nicht um eine freie organisatorische Bewegung, sondern um fortgehende Theilungsacte eines ursprünglich einfachen Elementes. Es folgt daraus, dass eine Vergleichung der freien plastischen Exsudate oder des pathologischen Blastems mit den Inhalts- oder Protoplasmamassen des Eies an sich unzulässig ist. Wo wir beim Embryo wirklich geformte Elemente, Zellen, finden, da sind diese auch von einem präexistirenden Elemente, einer Zelle ausgegangen. Eine Uebereinstimmung der embryonalen und der pathologischen Neubildung kann daher nur dann behauptet werden, wenn auch in der Pathologie jede neue Entwickelung auf vorhandene Zellen als Ausgangspunkte zurückgeführt werden kann. Der in der neuesten Zeit vielfach behauptete Punkt, in wie weit ausgewanderte farblose Blutkörperchen oder Lymphkörperchen die Keime für allerlei Neubildungen werden können, ändert in diesen Anschauungen nichts Wesentliches. Beim Frosche, an welchem die Mehrzahl der diese Auswanderung betreffenden Untersuchungen angestellt worden sind, müssen die Lymphkörperchen bei dem Fehlen der Lymphdrüsen direkt aus dem Bindegewebe abgeleitet werden, und wenn sie später der Ausgangspunkt für Neubildungen werden, so unterscheidet sich diese Neubildung von der früher von mir gelehrten nur dadurch, dass sie nicht an Ort und Stelle, sondern an einer mehr oder weniger von dem Entstehungsorte dieser Keimzellen entfernten Orte stattfindet. Beim Menschen und den höheren Wirbelthieren, welche ausgebildete Lymphdrüsen besitzen, wäre in diesen eine permanente Brutstätte neuer Keimzellen anzunehmen, indess gehen auch die Lymphdrüsen, so weit wir wissen, embryologisch aus proliferirendem Bindegewebe hervor. Es kann sich daher im Principe nur darum handeln, festzustellen, auf welche Weise die Bildung der neuen Elemente in dem Keimgewebe stattfindet. [Illustration: =Fig=. 132. Zellen aus der mittleren Substanz des Intervertebralknorpels eines Erwachsenen. Intracapsuläre Zellenvermehrung. Vergr. 300.] Der Modus dieser Neubildung ist, so viel bekannt, ein doppelter. In der Regel handelt es sich um =einfache Theilung=, wie wir sie schon bei Gelegenheit der Reizung besprochen haben (S. 386). Wir sehen dann die ganze Reihe von Veränderungen von der Theilung des Kernkörperchens und des Kernes bis zur endlichen Theilung der ganzen Zelle. Wenn ein epitheliales Element zwei Kerne bekommt, sich darauf theilt, und dieses sich wiederholt, so kann daraus durch fortgehende Wiederholung eine grosse Zahl neuer Elemente hervorgehen. Bekommt Jemand durch fortgesetzte Reibung der Haut eine Reizung, und wird der Reiz bis zu einem gewissen Grade gesteigert, so wird sich das Epithel verdicken, und wenn die Wucherung sehr stark ist, so kann sie zu grossen, geschwulstartigen Bildungen sich erheben. Dies geschieht durch fortschreitende Zelltheilung. Denselben Modus der Entwickelung, welchen Epithelialschichten darbieten, treffen wir auch im Inneren der Organe. Im Knorpel, wo das einfache zellige Element in eine Kapsel eingeschlossen ist, tritt endlich an die Stelle desselben eine Anhäufung zahlreicher Elemente, von denen jedes wiederum eingeschlossen wird in eine besondere, neugebildete Kapsel, während die ganze Gruppe von der vergrösserten, ursprünglichen Kapsel (der früher fälschlich sogenannten Mutterzelle) umgeben ist. Am Bindegewebe kann jede neue Zelle, welche aus der Theilung hervorgegangen ist, sofort eine neue Schicht Intercellularsubstanz bilden. Das ist also ein an sich sehr einfacher Modus, der jedoch, da er an verschiedenartigen Geweben vorkommt, sehr verschiedene Resultate bringen kann. Es gibt aber noch eine andere Reihe von Neubildungen im Körper, welche freilich viel weniger gut gekannt sind, und deren Vorgang sich bis jetzt nicht mit eben so grosser Sicherheit übersehen lässt. Es sind das Vorgänge, wo im Inneren von präexistirenden Zellen =endogene= Neubildungen eintreten. Eine dieser Veränderungen ist folgende: In einer einfachen Zelle bildet sich ein blasiger Raum, der gegenüber dem etwas trüben, gewöhnlich leicht körnigen Inhalte der Zelle ein sehr klares, helles, homogenes Aussehen darbietet. Derselbe unterscheidet sich von einer blossen Vacuole (S. 357) dadurch, dass er eine besondere Hülle besitzt und nicht einen einfachen Tropfen darstellt[252]. Auf welche Weise diese Räume, welche ich unter dem Namen der =Physaliden=[253] zusammenfasse, entstehen, ist noch nicht ganz sicher. Die grösste Wahrscheinlichkeit ist dafür, dass bei gewissen Formen gleichfalls Kerne der Ausgangspunkt dieser Bildungen sind. Man sieht nehmlich neben den physaliphoren Zellen andere mit 2 Kernen, manche, wo der eine Kern schon etwas grösser und heller erscheint, aber doch immer noch mit kernartiger Beschaffenheit. Weiterhin wird dieser helle Kern zu einer Blase von solcher Grösse, dass die Zelle allmählich fast ganz davon erfüllt wird und ihr alter Inhalt mit dem andern Kerne nur noch wie ein kleiner Anhang an der Blase erscheint[254]. So weit ist der Vorgang ziemlich einfach. Allein neben diesen zunehmenden und die Zelle erfüllenden Blasen trifft man andere, wo im Inneren der Blasen wieder Elemente zelliger Art eingeschlossen sind. So ist es ziemlich häufig in Krebsgeschwülsten, aber auch in normalen Theilen, z. B. in der Thymusdrüse[255]. Diese Form scheint nur so gedeutet werden zu können, dass in besonderen blasigen Räumen, die ich deshalb =Bruträume= genannt habe[256], im Inneren von zelligen Elementen neue Elemente ähnlicher Art sich entwickeln. Obwohl ich ähnliche Formen auch bei entzündlichen Zuständen z. B. in dem Epithel des Herzbeutels bei Pericarditis gesehen habe[257], und obwohl manche neuere Beobachtungen sich dem anzureihen scheinen, so ist dies doch ein für die Gesammtfrage der Neubildung untergeordnetes Verhältniss, welches mehr für einzelne Fälle Werth hat. [252] Archiv III. 199. [253] Entwickelung des Schädelgrundes 58. [254] Archiv I. 130. [255] Archiv III. 197, 222. [256] Ebendas. III. 217. [257] Archiv III. 223. [Illustration: =Fig=. 133. Endogene Neubildung: blasentragende Zellen (Physaliphoren). _A_ Aus der Thymusdrüse eines Neugebornen neben epithelioiden Zellen: im Innern einer Blase mit doppeltem Contour, die ihrerseits noch von einem zellenartigen Saume umgeben ist, liegt eine vollständige Kernzelle. _B C_ Krebszellen (vergl. Archiv f. path. Anat. Bd. I. Taf. II. und Bd. III. Taf. II.) _B_ eine mit doppeltem Kerne, eine zweite mit Kern und kleiner Physalide; _C_ eine mit einer fast die ganze Zelle füllenden Physalide und eine andere, wo die Physalide (der Brutraum) noch wieder eine vollständige Kernzelle umschliesst. Vergr. 300.] Ausser dieser endogenen Neubildung in besonderen, physaliphoren Zellen finden sich nicht selten Erscheinungen, welche sich mehr den gewöhnlichen Furchungserscheinungen des Eies anzuschliessen scheinen[258], deren Grenzen aber gegen die aus blosser Theilung oder aus Physaliden hervorgegangenen Neubildungen sich nur schwer feststellen lassen. Denn sehr häufig sieht man in demselben Objecte diese verschiedenen Dinge neben einander. Am deutlichsten erkennt man solche Neubildungen an sehr vergrösserten Zellen, deren Kerne sich zuerst in prodigiöser Weise vermehren (S. 383), und an denen sich später um jeden Kern eine besondere Abtheilung des Zelleninhaltes besonders abgegrenzt zeigt. Namentlich geschieht das an der Oberfläche von Riesenzellen, während im Inneren manchmal keine Zellenbildung, manchmal wieder solide oder blasige Gebilde zu bemerken sind. Bei den Krebsen sind Beobachtungen der Art schon ziemlich alt[259], indess waren sie wenig genau. Bestimmtere Untersuchungen über den Gang der Neubildung habe ich zuerst an den Perlgeschwülsten (Cholesteatomen) des Menschen[260] und an der Franzosenkrankheit (Perlsucht) des Rindviehes[261] gemacht. Hier erhält sich in der That die alte Zellmembran noch längere Zeit, so dass die Bildung als eine wirklich endogene erscheint. Andermal dagegen geht die äussere Membran des Muttergebildes früh verloren, und es entsteht sofort eine grosse Gruppe einfach zusammenliegender, noch die Form der Mutterzelle bewahrender Tochterzellen, wo also die ursprüngliche Membran entweder sich auflösen oder zur Bildung der secundären Membranen der Tochterzellen verbraucht werden muss. In diesen Fällen ist es schwer, eine Grenze zwischen endogener Neubildung und Theilung zu ziehen, und man kann eben so wohl den ursprünglich endogenen Anfang des Prozesses, als die =verspätete= Theilung für die Bezeichnung massgebend sein lassen. Unzweifelhaft endogen ist der Vorgang nur dann, wenn das schon fertige neue Element (Tochterzelle) in die Substanz des alten (Mutterzelle) eingeschlossen ist. [258] Archiv XIV. 46. [259] Archiv I. 107. [260] Archiv VIII. 410. Taf. IX. Fig. 2-11. [261] Würzb. Verhandl. VII. 143. Archiv XIV 47. Geschwülste II. 745. Dieser Fall ist in der neueren Zeit von einer Reihe von Beobachtern beschrieben worden, insbesondere hat man im Inneren kernhaltiger Zellen neben dem Kerne das Vorkommen neuer Furchungselemente und wirklicher Zellen angeführt. So ist namentlich die Bildung von Schleim- und Eiterkörperchen im Inneren von noch existirenden Epithelialzellen von =Remak=, =Buhl=, =Eberth= und =Rindfleisch= geschildert worden. Hier würde also nicht die ganze Mutterzelle in Tochterzellen übergehen, sondern nur ein Theil ihres Inhaltes, und zwar nach Einigen, nachdem eine Kerntheilung voraufgegangen, nach Anderen ohne dieselbe, unmittelbar. Die so gebildeten Zellen würden dann durch Eröffnung der Mutterzelle (=Dehiscenz=) austreten und frei werden können. Auch hier ist die Entscheidung sehr schwer, da manche Beobachtungen zugleich die Bildung von Bruträumen schildern, andere an die Geschichte der sogenannten Blutkörperchen-haltenden Zellen (S. 361) erinnern, von denen man auch früher annahm, dass die Blutkörperchen in ihnen entständen, während ich vielmehr ein späteres Eintreten der Blutkörperchen in präexistirende Zellen nachgewiesen habe[262]. [262] Archiv IV. 515. V. 405. Ist es demnach nothwendig, vor Feststellung bestimmterer Formeln noch weitere und mehr ausgedehnte Beobachtungen abzuwarten, so kann es doch nicht zweifelhaft sein, dass neue Elemente aus alten nur auf zwei Weisen entstehen können: entweder =fissipar=, oder =endogen=. Auch in dieser Beziehung ist es erfreulich, dass sich die pathologische Entwickelungsgeschichte sowohl mit der physiologischen, als auch mit der botanischen in Einklang befindet. Gerade in der Botanik sind diese zwei Weisen längst anerkannt. =Theilung entspricht bei den Pflanzen am gewöhnlichsten dem Wachsthume, endogene Bildung oder Neubildung im engsten Sinne entspricht der Zeugung, der geschlechtlichen Fortpflanzung=. Und so liessen sich auch in der Pathologie sehr wohl zwei gesonderte Typen der Neoplasie unterscheiden: der =Wachsthumstypus= und der =Zeugungstypus=. Der wesentliche Unterschied in den einzelnen zelligen Entwickelungen in Beziehung auf das Resultat ist der, dass in einer Reihe von Neubildungen die Theilungen mit einer gewissen Regelmässigkeit vor sich gehen, so dass die Producte der Theilung von Anfang an eine völlige Uebereinstimmung mit den Muttergebilden zeigen und die jungen Gebilde zu keiner Zeit erheblich von den Mutterelementen abweichen. Solche Vorgänge bezeichnet man im gewöhnlichen Leben meistentheils als Hypertrophien; ich hatte zur genaueren Bezeichnung den Namen der =Hyperplasien= dafür vorgeschlagen, da es sich dabei nicht um eine Zunahme der Ernährung bestehender Theile, sondern um die Bildung wirklich neuer Elemente handelt (S. 90), demnach kein trophischer (nutritiver), sondern ein plastischer (formativer) Vorgang vorliegt. In einer anderen Reihe macht sich die Entwickelung so, dass allerdings auch Theilungen stattfinden, dass aber diese sich sehr schnell wiederholen und immer kleinerere Elemente hervorbringen. Diese werden zuweilen am Ende so klein, dass sie an die Grenze der Zellen überhaupt herangehen (=Granulation=). Die Vermehrung der Zellen kann an diesem Punkte aufhören. Die einzelnen neuen Elemente fangen dann an, wieder zu wachsen, sich zu vergrössern, und unter Umständen kann auch hier wieder ein analoges Gebilde erzeugt werden, wie das, von welchem die Entwickelung ausgegangen war. Dies ist eine Hyperplasie, die auf einem Umwege, =per secundam intentionem=, zu Stande kommt (S. 98). In diese Kategorie würden auch diejenigen Neubildungen zu setzen sein, welche aus ausgewanderten farblosen Blutkörperchen oder mobilisirten Bindegewebskörperchen (S. 359) hervorgehen. Sehr häufig schlagen jedoch die jungen, kleinen Elemente einen anderen Gang der Entwickelung ein und es beginnt eine =heterologe Entwickelung=[263]. [263] Würzburger Verhandl. I. 136. An den jungen Elementen können dabei wiederum Theilungen eintreten, doch ist es sehr gewöhnlich, dass zunächst, während die Zellen wachsen, nur die Kerne sich sehr vermehren, immer zahlreicher und mit fortschreitender Theilung immer kleiner werden. Das sieht man am besten bei farblosen Blut- und Eiterkörperchen, wo sehr schnell eine Theilung der Kerne stattfindet, gewöhnlich so, dass die ursprünglich einfachen Kerne sofort in eine grössere Zahl kleinerer zerlegt werden, welche Anfangs noch zusammenhalten. Bei den farblosen Blutkörperchen innerhalb des Blutes ist es sehr unwahrscheinlich, beim Eiter nach den Untersuchungen von =Stricker= allerdings wahrscheinlich, dass der Kerntheilung eine wirkliche Zellentheilung folgt; in anderen Neubildungen tritt dieser Fall gewöhnlich ein. Nur lässt, wie schon erwähnt, die vollständige Theilung, oder wenn man will, die Furchung der Elemente oft lange auf sich warten, und das Zwischenstadium der blossen Kerntheilung besteht daher häufig überwiegend lange und mit einer gewissen Selbständigkeit. Bei der endogenen Neubildung endlich tritt die =Heterologie= meist von Anfang an hervor, indem die in der Mutterzelle erzeugten Elemente in der Regel klein, scheinbar indifferent und zu abweichender Entwickelung geneigt sind. Bei den Perlgeschwülsten habe ich besonders dargethan, wie aus Bindegewebskörperchen Perlen und Zapfen von epidermoidalen Zellen entstehen[264]. [264] Archiv VIII. 409. Taf. IX. Fig. 3-4. Abgesehen von denjenigen Neubildungen, welche durch regelmässige Theilung der Elemente =unmittelbar= zur Hyperplasie führen, wird also der normale Zustand zunächst unterbrochen durch einen Zwischenzustand, wo das Gewebe wesentlich verändert erscheint, ohne dass man sofort im Anfange des Prozesses erkennen kann, ob daraus eine gut- oder bösartige, eine homologe oder heterologe Entwickelung hervorgehen wird. Es ist dies ein Stadium scheinbar absoluter Indifferenz[265], welches ich als =Granulationsstadium= bezeichne. In demselben kann man es den einzelnen Elementen durchaus nicht ansehen, welcher Bedeutung sie eigentlich sind; sie verhalten sich, wie die sogenannten Bildungszellen des Embryo, welche auch im Anfange ganz gleich aussehen, gleichviel ob ein Muskel- oder ein Nervenelement oder was sonst daraus hervorgehen wird. Nichtsdestoweniger halte ich es für wahrscheinlich, dass feinere innere Verschiedenheiten wirklich bestehen, die schon im Voraus die späteren Umbildungen bis zu einem gewissen Maasse bedingen, nicht Verschiedenheiten, welche bloss Potentia in der Bildungszelle vorhanden wären, sondern wirklich materielle Verschiedenheiten, welche aber so fein sind, dass wir sie bis jetzt nicht darthun können. [265] Spec. Pathol. u. Ther. I. 331. Geschwülste I. 89. Nur bei der embryonalen Entwickelung kennt man seit Jahren eine Erscheinung, welche bestimmt darauf hindeutet, dass solche Verschiedenheiten der Bildungszellen bestehen: die verschiedenen Abtheilungen des Eies machen verschieden schnell ihre Bildung durch, und namentlich diejenigen Theile, welche zu den höheren Organen bestimmt sind, durchlaufen mit viel grösserer Schnelligkeit die einzelnen Stadien, als diejenigen, welche für die niedrigeren Gewebe angelegt werden. Auch in der Grösse der Elemente scheinen Verschiedenheiten zu bestehen. In ähnlicher Weise sieht man häufig auch bei pathologischen Bildungen Verschiedenheiten in Beziehung auf die Zeitdauer. Jedesmal, wenn die Entwickelung der Elemente schnell erfolgt, muss man eine mehr oder weniger heterologe Entwickelung fürchten. Eine homologe, direct-hyperplastische Bildung setzt immer eine gewisse Langsamkeit der Vorgänge voraus; in der Regel bleiben die Elemente dabei grösser, und die Theilungen schreiten nicht bis zur Entstehung ganz kleiner Formen vor. So überaus einfach ist diese Entwickelungsgeschichte in der Natur und in der Doctrin, aber allerdings schwierig ist sie in der Demonstration an den einzelnen Orten. Diejenigen Theile, welche scheinbar für die Untersuchung am allerbequemsten liegen sollten, und bei denen in der That schon vor ein Paar Decennien =Henle= ganz nahe an die Entdeckung einer solchen Entwickelung herangestreift war, sind die Epithelien. Hier, wo an der Oberfläche einer Haut eine oft so reichliche Entwickelung stattfindet, sollte man meinen, müsste es überaus leicht sein, dieselbe an den einzelnen Elementen genau zu verfolgen. =Henle= hat bekanntlich zu zeigen gesucht, dass die Schleimkörperchen, ja manche Formen, welche schon dem Eiter angehören, an der Oberfläche der Schleimhäute neben dem Epithel in der Art producirt werden, dass zwischen den Anlagen beider Reihen keine eigentliche Differenz zu erkennen ist, dass also gewissermaassen die Schleimkörperchen als verirrte oder nicht zu Stande gekommene Epithelialzellen, als missrathene Söhne erscheinen, welche durch eine frühe Störung in ihrer weiteren Entwickelung gehindert wurden, aber eigentlich angelegt waren, um Epithelialelemente zu werden. Unglücklicherweise hatte man damals und noch lange nachher die Vorstellung, dass die normale Entwickelung des Epithels eben auch aus einem Blastem erfolge. Man stellte sich vor, dass an der Oberfläche jeder Schleimhaut, ja an der Oberfläche der Cutis aus den Gefässen, die an die Oberfläche treten, zuerst eine plastische Substanz transsudire, in und aus welcher sich die Elemente bildeten. Man blieb nach dem Vorgange von =Schwann= bei dem Schema von =Schleiden= (S. 11) stehen, dass sich zuerst Kerne (Cytoblasten) in einer Flüssigkeit bilden und erst später Membranen an dieselben sich anlegen. Gegenwärtig, so viel auch die verschiedenen Oberflächen der Haut, der Schleimhäute und der serösen Häute untersucht sind, hat man sich überall unzweifelhaft überzeugt, dass die epithelialen Elemente mindestens bis unmittelbar an die Oberfläche des Bindegewebes reichen und nirgends eine Stelle ist, wo zwischen Bindegewebe und Epithel freie Kerne, Blastem oder Flüssigkeit existirte, dass vielmehr an vielen Orten gerade die tiefsten Schichten diejenigen sind, welche die am dichtesten gedrängten Zellen enthalten. Hätte man damals, als =Henle= seine Untersuchungen machte, gewusst, dass hier normal kein Blastem existirt, keine Entwickelung de novo geschieht, sondern dass die vorhandenen Epithelzellen von alten Epithelialzellen oder vom Bindegewebe darunter oder von ausgewanderten Zellen sich entwickeln müssen, so würde er gewiss zu dem Schlusse gekommen sein, dass die Schleim- und Eiterkörperchen, welche nicht von einer ulcerirenden Oberfläche abgesondert werden, aus präexistirenden Elementen hergeleitet werden müssen. So nahe war man damals schon der richtigen Erfahrung. Allein die Blastemtheorie beherrschte die Geister, und wir Alle standen unter ihrer Einwirkung. Auch erschien es unmöglich, überall im Inneren der Gewebe die erforderlichen Vorgebilde aufzuweisen. Erst durch den Nachweis zelliger Elemente im Bindegewebe wurde ein überall vorhandenes Keimgewebe aufgewiesen, von dem an den verschiedensten Organen gleichartige Entwickelungen ausgehen können. Jetzt, wo wir wissen, dass Bindegewebe oder demselben äquivalente Gewebe im Gehirne, in der Leber, in den Nieren, im Muskelfleische, im Knorpel, der Haut u. s. f. existiren, jetzt hat es natürlich keine Schwierigkeit mehr, zu begreifen, dass in allen diesen scheinbar so verschiedenartigen Organen dasselbe pathologische Product entstehen kann. Man braucht dazu keineswegs irgend ein specifisches Blastem, welches in alle diese Theile abgelagert wird, sondern nur einen gleichartigen Reiz für das Bindegewebe verschiedener Orte. Was nun das Specielle dieser Lehre anbetrifft, so will ich zunächst ein concretes Beispiel der normalen Entwickelung vorführen, welches vielleicht am besten geeignet sein wird, ein Bild der oft so verwickelten Vorgänge zu geben, um welche es sich bei dieser =Gewebs-Formation und Transformation= handelt. Ich wähle dasjenige, an welchem an sich der Gang der Entwickelung am besten bekannt ist, und welches zugleich seiner besonderen Einrichtung wegen am wenigsten Missdeutungen zulässt, nehmlich die Bildung und das Wachsthum der =Knochen=. Diese Organe sind zu hart und dicht, als dass man noch von Blastem und Exsudat in ihrem eigentlichen Parenchyme oder, wie man nach dem Vorgange von =Clopton Havers= lange Zeit gethan hat, von einer Zwischenlagerung des Ernährungssaftes zwischen die Theilchen des Knochens reden könnte. Das Wachsthum der Knochen bietet uns zugleich unmittelbar Vergleichungen für alle die verschiedenen Neubildungen, welche innerhalb der Knochen unter krankhaften Verhältnissen vor sich gehen können, denn jede Art von Neubildung findet in der normalen Entwickelung des Knochens gewisse Paradigmen vor. Bekanntlich wächst jeder grössere Knochen in zwei Richtungen. Am einfachsten ist dies bei den Röhrenknochen, welche allmählich sowohl länger als dicker werden. Das Längenwachsthum erfolgt hier zu einem grossen Theile aus Knorpel, das Dickenwachsthum aus Periost (Bindegewebe). Allein auch ein platter Knochen z. B. am Schädel ist einerseits durch knorpelartige Theile (Synchondrosen) oder deren Aequivalente (Nähte), andererseits durch Häute, welche mit dem Perioste übereinstimmen (Pericranium, Dura mater oder Endocranium), bekleidet. Man kann daher Knorpel-und Periost-Wachsthum an jedem Knochen unterscheiden. Danach ergibt sich das Schema der Entwickelung des Röhrenknochens, wie es schon bei =Havers= sich findet, dass die neuen Knochenschichten die alten incapsuliren, und dass jede jüngere Schicht nicht bloss weiter, sondern auch länger ist, als die nächst ältere. Denn das Periostwachsthum rückt immer mehr gegen die Enden vor, insofern sich immer neue Abschnitte von Perichondrium in Periost verwandeln, je weiter die Ossification gegen die Enden fortschreitet; der mittlere Theil des Diaphysenknorpels wird schon sehr frühzeitig ganz in Knochen umgewandelt, und hört damit im Allgemeinen auf, aus sich selbst fortzuwachsen. Die Enden des Diaphysenknorpels und die noch ganz knorpelige Epiphyse dagegen wachsen immer noch in die Dicke. Während hier Theile, welche vorher entweder Bindegewebe oder Knorpel waren, in Knochen umgesetzt werden, geht innerhalb des Knochens die Entwickelung des Markes vor sich. Der ursprüngliche Knochen ist ganz dicht, eine sehr feste, relativ compacte Masse. Späterhin schwindet die Knochenmasse immer mehr, ein Theil nach dem anderen von ihr löst sich in Mark auf, und es entsteht endlich die Markhöhle, welche sich nicht etwa darauf beschränkt, so gross zu werden, wie die ursprüngliche Knochen-Anlage war, sondern welche diese Anlage bedeutend überschreitet und in die später apponirten, aus Knorpel und Periost entstandenen Schichten übergreift. Demnach besteht die Bildung des Knochens, ganz im Groben aufgefasst, nicht bloss in der allmählichen Apposition von immer neuen Knochenlagen vom Perioste und Knorpel her, sondern auch in der fortwährenden Ersetzung der innersten Lagen des Knochengewebes durch Markmassen. Es ist für die vorliegende Darstellung gleichgültig, ob die Bildungsvorgänge am Knochen auch zugleich für das Wachsthum desselben entscheidend sind oder nicht. Indess verknüpfen sich beide Fragen in sehr inniger Weise und gerade in diesem Augenblicke hat die Verknüpfung beider eine erhebliche praktische Bedeutung gewonnen durch den Streit über das sogenannte =interstitielle Wachsthum=. Dieser Streit ist hauptsächlich hervorgerufen worden durch die einseitige Formulirung, welche namentlich =Flourens= der Lehre von der Knochenbildung gegeben hatte, wonach ausser durch Apposition und Juxtaposition nirgends eine Zunahme an Knochen stattfinden sollte. So sehr ich in der Hauptsache mit dieser Formulirung übereinstimmte, so habe ich doch vor der Einseitigkeit gewarnt und darauf hingewiesen, dass man damit nicht auskomme, und dass namentlich für gewisse Knochen, z. B. für den Unterkiefer, die Appositionslehre ausser Stande sei, eine ausreichende Erklärung zu bieten[266]. Hier wird man im Gegensatze zu der bloss äusserlichen Anbildung der neuen Substanz zu der Annahme eines inneren Wachsthumes des alten Gewebes genöthigt. Seitdem hat diese Auffassung durch =Strassmann=, =Rich=. =Volkmann= und =Hüter= weitere thatsächliche Unterlagen gewonnen, und =Julius Wolff= hat sie allmählich bis zu einer vollständigen Negation der Appositionsdoctrin ausgebildet. [266] Archiv XIII. 350. Meiner Meinung nach ist dies eine eben so grosse Einseitigkeit, wie die frühere, und namentlich für die pathologische Auffassung der Knochenbildung hat sie schon jetzt zu wirklichen Irrungen geführt. Aber auch für die physiologische Bildungsgeschichte hat die neue Lehre nicht einen so grossen Werth, wie ihr =Wolff= zuschreibt. Nichtsdestoweniger sind wichtige Theile des Knochenwachsthumes ohne sie gänzlich unverständlich. Es war dies die Veranlassung, weshalb die Berliner medicinische Fakultät im Jahre 1868 die Preisfrage stellte, auf welche Weise das interstitielle Wachsthum sich vollziehe und namentlich, ob dasselbe mehr von der Zunahme der Knochenkörperchen oder mehr von der Zunahme der Intercellularsubstanz oder beider abhängig sei. =Carl Ruge=[267] hat diese Frage durch sehr mühsame Versuche mit Zählung und Messung der Knochenkörperchen und ihrer Entfernungen von einander dahin entschieden, dass es sich hauptsächlich um Zunahme der Intercellularsubstanz handelt, welche allerdings im Laufe des Lebens eine merkliche Grösse erreicht, dass dagegen Form und Grösse der Knochenkörperchen sich nur wenig ändert, und dass nur in den ersten Zeiten des Lebens mit Wahrscheinlichkeit eine Vermehrung der Knochenkörperchen durch Theilung angenommen werden könne. Es wird nunmehr erst für jeden einzelnen Knochen empirisch festgestellt werden müssen, wie viel zu seiner Gesammtausbildung das appositionelle und wie viel das interstitielle Wachsthum beiträgt. Jedenfalls schafft das erstere die eigentlichen Grundlagen des Knochens, innerhalb deren sich erst die weiteren Prozesse vollziehen. Diese letzteren werden jedoch durch das interstitielle Wachsthum keinesweges gedeckt; vielmehr bilden die von mir in bestimmter Weise dargelegten Vorgänge der Metaplasie oder Transformation ein ebenso grosses als wichtiges Gebiet. [267] Archiv XLIX. 237. Bei der Deutung der Knochengeschichte war lange Zeit die Blastemtheorie entscheidend. Schon =Havers= und =Duhamel=, welche im 17. und 18. Jahrhunderte vortreffliche Untersuchungen über die Knochenbildung gemacht haben, gingen von der Voraussetzung aus, dass ein eigenthümlicher Succus nutritius abgesondert werde, aus welchem die neuen Massen entständen. Die Mark-Entwickelung dachte man sich als eine durch Resorption erfolgende Bildung von Höhlen, in welche erst ein klebriger Saft und dann eine fettige Masse secernirt werde, Höhlen, welche von der Markhaut umkleidet würden, und deren Inhalt dem Alter des Individuums nach verschiedenartig sei. Wie ich indess schon früher hervorgehoben habe, so finden sich in den Räumen des Knochens keine Säcke, sondern ein continuirliches Gewebe, das =Mark= (Medulla), welches die Markräume und Markhöhlen ganz und gar ausfüllt, wie der Glaskörper die Höhle des Augapfels, und welches zur Bindesubstanz gehört, obwohl es vom gewöhnlichen Bindegewebe erheblich verschieden ist. Es handelt sich also, wie man aus dieser einfachen Thatsache ersieht, in der ganzen Bildungsgeschiche des Knochens um =Substitutionen von Geweben=. Wie Knochengewebe aus Periost und Knorpel gebildet wird, so entsteht Mark aus Knochengewebe und Knorpel, und die Entwickelung eines Knochens besteht nicht bloss in der Bildung von Knochengewebe, sondern sie setzt voraus, dass die Reihe der Transformationen über das Stadium des Knöchernen hinausgehe, und dass Mark entstehe. Das Mark würde also als das physiologische Ende der Knochenorgan-Bildung zu betrachten sein, wenn nicht auch der Fall vorkäme, dass aus Mark wieder Knochengewebe erzeugt wird. So einfach diese Auffassung ist, so gibt sie doch ein anderes Bild für das Wachsthum und die Geschichte des Knochens, als das hergebrachte. Früher ist man fast immer auf dem Standpunkte des reinen Osteologen stehen geblieben; man hat den =macerirten= Knochen genommen, ihn frei von allen Weichtheilen betrachtet und danach die Prozesse construirt. Es ist aber nothwendig, dass man diese an dem feuchten, lebendigen, sei es gesunden, sei es kranken Knochen verfolge, und dass man das Knochengewebe nicht bloss aussen aus den wuchernden Schichten des Knorpels und Periostes, sondern auch innerhalb der Marksubstanz sich gestalten lässt, als das äussere Entwickelungsprodukt in dieser Reihe, wenn auch nicht als das edelste. Als den wichtigsten und eigentlich entscheidenden Gesichtspunkt, durch den die ganze Knochenangelegenheit eine andere Gestaltung annimmt, betrachte ich dabei eben den, dass das Knochengewebe bei der Markbildung nicht einfach aufgelöst wird und an seine Stelle ein beliebiges Exsudat oder Blastem tritt, sondern dass auch die Auflösung der Knochensubstanz eine Transformation von Gewebe (Metaplasie S. 70) ist und dadurch erfolgt, dass Knochengewebe sich in eine Gewebsmasse (Mark) umbildet, die nicht mehr im Stande ist, die Kalksalze zurückzuhalten[268]. [268] Archiv V. 428, 440, 445, 453. XIII. 332. Entwickelung des Schädelgrundes 26-38. Fragt man nun, wo kommen die neuen Gewebs-Elemente her, welche mitten in der Tela ossea entstehen? wie kann in der Mitte der compacten Rinde des Knochens ein Krebsknoten sich bilden oder ein Eiterheerd? so antworte ich ganz einfach: sie entstehen ebenso, wie in der natürlichen, normalen Entwickelung des Knochens das Mark entsteht. Es gibt keine Stelle, wo zuerst Knochengewebe sich auflöst, dann ein Exsudat erfolgt, dann eine Neubildung geschieht, sondern es geht das vorhandene Gewebe unmittelbar in das kommende über. Das vorhandene Knochen- oder Markgewebe ist die Matrix für das nachfolgende Krebsgewebe, die Zellen des Krebses sind unmittelbare Abkömmlinge von den Zellen des Knochens oder des Markes. Betrachten wir den Gang der Knochenbildung etwas specieller, so zeigt sich, dass, wie wir dies zum Theil schon früher erörtert haben, der Knorpel sich in der Weise zur Ossification anschickt, dass die Knorpelelemente anfangs grösser werden, dass sie sich dann theilen, und zwar zuerst die Kerne, nachher die Zellen selbst, dass diese Theilungen sehr schnell weiter gehen, so dass immer grössere Gruppen von Zellen entstehen, und dass in einer verhältnissmässig kurzen Zeit an die Stelle jeder einzelnen Zelle eine im Verhältnisse sehr grosse Zellengruppe (Fig. 113, I.) tritt. Schon im ersten Capitel (S. 8) hatte ich erwähnt, wie die Knorpelzelle sich von den meisten anderen Zellen dadurch unterscheidet, dass sie eine besondere Kapselmembran erzeugt, in welcher sie eingeschlossen ist. Diese Kapselmembran bildet bei der Theilung ihrer Inhaltszellen innere Scheidewände zwischen denselben[269], neue Umhüllungen der jungen Elemente, so jedoch, dass auch die colossalen Gruppen von Zellen, welche aus je einer ursprünglichen Zelle hervorgehen, noch von der sehr vergrösserten Mutterkapsel eingeschlossen sind (Fig. 132). [269] Archiv III. 221. Es versteht sich von selbst, dass, je mehr Zellen diese Umwandelung durchmachen, um so mehr der Knorpel sich vergrössern wird, und dass das Maass von Längenwachsthum, welches das einzelne Individuum erreicht, abgesehen von dem schon erwähnten interstitiellen Wachsthume, wesentlich von der Massenzunahme abhängt, welche in den einzelnen Knorpelgruppen stattfindet. Ob wir gross oder klein bleiben, ist so zu sagen in die Willkür dieser Elemente gestellt. -- Hat die Knorpelwucherung dieses Stadium erreicht, so stehen die zelligen Theile ganz dicht zusammen; zwischen ihnen liegt nur eine verhältnissmässig geringe Quantität von Zwischensubstanz (Fig. 113, I.). Je weiter die Entwickelung fortschreitet, um so mehr ändert sich der Habitus des Knorpels: er sieht fast aus, wie dichtzelliges Pflanzengewebe. Die Zellen selbst sind aber äusserst empfindlich, sie schrumpfen unter der Einwirkung der mildesten Flüssigkeiten leicht zusammen und erscheinen dann wie eckige und zackige Körperchen, fast den Knochenkörperchen analog, mit denen sie jedoch zunächst nichts zu schaffen haben. [Illustration: =Fig=. 134. Verticaldurchschnitt durch den Ossificationsrand eines wachsenden Astragalus. _c_ Der Knorpel mit kleineren Zellengruppen, _p_ die Schicht der stärksten Wucherung und Vergrößerung an der Verkalkungslinie. In den Knorpelhöhlen sieht man theils vollständige Kernzellen, theils geschrumpfte, eckige und körnig erscheinende Körper (künstlich veränderte Zellen). Die dunkle, in die Zwischensubstanz vorrückende Masse stellt die Kalkablagerung dar, hinter welcher hier ungewöhnlich schnell die Bildung von Markräumen (_m_, _m_, _m_) und Knochenbalken beginnt. Das Mark ist entfernt; an den am meisten zurückliegenden Räumen sind die Balken von einem helleren Saume jungen Knochengewebes (aus Mark entstanden) umgeben. Vergr. 300.] Die Zellen, welche aus diesen Wucherungen der ursprünglich einfachen Knorpelzellen hervorgegangen sind, bilden die Muttergebilde für Alles, was nachher in der Längsaxe des Knochens entsteht, insbesondere für Knochen- und Markgewebe. Es kann sein, dass durch eine unmittelbare Umwandelung Knorpelzellen in Markzellen übergehen und als solche fortbestehen; es kann sein, dass sie zunächst in Knochenkörperchen und dann in Markzellen übergehen, und es kann sein, dass sie zuerst in Mark- und dann in Knochenkörperchen übergehen. So wechselvoll sind die Permutationen dieser an sich so verwandten und doch ihrer äusseren Erscheinung nach so vollständig aus einander gehenden Gewebe. Geschieht eine directe Umänderung des Knorpels in Mark[270], so fängt zunächst die alte Zwischensubstanz des Knorpels an der Grenze gegen den Knochen an, weich zu werden; gewöhnlich geht dann auch sehr bald ein Theil der anstossenden Kapseln dieselbe Veränderung ein, so dass die zelligen Elemente mehr oder weniger frei in eine weichere Grundsubstanz zu liegen kommen. Mit dem Eintritte einer solchen Erweichung ist auch schon die chemische Reaction des Gewebes verändert: es zeigt immer deutliche Mucinreaction. Zugleich beginnen die zelligen Elemente sich zu theilen, und zwar nicht, wie sie das bisher gethan hatten, indem sie sich gleich in zwei analoge Zellen zerlegen (Hyperplasie), sondern vielmehr so, dass in ihnen eine Reihe von kleinen Kernen entsteht (physiologische Heteroplasie, Granulation). Weiterhin, in dem Maasse als dieser Umbildungsprozess immer höher und höher in den Knorpel hinein fortschreitet, als immer neue Theile der Intercellularsubstanz in weiche schleimige Masse verwandelt werden, theilen sich in der Regel die Zellen, und es entsteht eine Reihe von kleineren Elementen, die, im Verhältnisse zu den grossen Knorpelzellen, aus denen sie hervorgegangen sind, sehr geringfügige Bildungen darstellen. Sie besitzen entweder einen einzigen Kern mit Kernkörperchen oder auch wohl, wie Eiterkörperchen, mehrere Kerne[271]. So entsteht nach und nach ein äusserst zellenreiches Schleimgewebe, =das junge, rothe Mark=, wie wir es in der Regel in den Knochen der Neugebornen finden. Steht der Prozess hier still, so bezeichnet die Grösse der transformirten Stelle zugleich die Stelle des späteren Markraumes. Später können diese kleinen Zellen Fett in sich aufnehmen, anfangs in feinen Körnern, allmählich in grossen Tropfen, endlich so, dass sie ganz und gar davon erfüllt werden. Dadurch verwandelt sich das ursprüngliche Schleimgewebe in Fettgewebe[272]; das Fett ist aber immer im Inneren der Zellen enthalten, wie in den Zellen des Panniculus. Allein dies =gelbe, fetthaltige Mark= kommt nicht in allen Knochen vor. In den Wirbelkörpern finden wir fast immer die kleinen Elemente. In den Röhrenknochen des Erwachsenen dagegen kommt normal immer fetthaltiges Mark vor. Allein dies kann unter pathologischen Verhältnissen sehr schnell sein Fett abgeben, die Elemente können sich theilen, und dann bekommen wir wieder =rothes, aber entzündliches Mark=. Bei allgemeiner Atrophie und Osteomalacie wird das Fett resorbirt und das gesammte Mark geht in =gallertartiges Schleimgewebe= über, welches die grösste Aehnlichkeit, auch in der Consistenz, mit dem Glaskörper besitzt, aber sich von ihm dadurch unterscheidet, dass es stets Gefässe enthält. [270] Archiv V. 424, 427. [271] Archiv I. 122. XIV. 60. [272] Entwickelung des Schädelgrundes 49. In dieser ganzen Reihe von der ersten Entwickelung des Markes aus Knorpel bis zu der entzündlichen Störung, wie wir sie bei einer Amputation entstehen sehen (Osteomyelitis), und bis zu dem Gallertzustande bei Osteomalacie existirt zu keiner Zeit eine amorphe Substanz, ein Blastem oder Exsudat; immer können wir eine Zelle von der anderen ableiten: jede hat eine unmittelbare Entwickelung aus einer früheren und, so lange der Wucherungsgang fortschreitet, eine unmittelbare Nachkommenschaft von Zellen. Dabei kann gleichzeitig die Intercellularsubstanz bald reichlich, bald spärlich, bald fester, bald weicher sein, und auch darnach ist die äussere Beschaffenheit des Gewebes sehr veränderlich. -- Die zweite Reihe von Umbildungen in der Längsaxe des Röhrenknochens betrifft das eigentliche Knochengewebe, die Tela ossea, welche hier hervorgehen kann aus Mark oder aus Knorpel. In dem einen Falle werden die Mark-, in dem anderen die Knorpelzellen zu Knochenzellen (Knochenkörperchen). Dieser Act der eigentlichen Ossification, die Entstehung der Tela ossea ist überaus schwierig zu beobachten, hauptsächlich aus dem Grunde, weil das Erste, was bei diesen Vorgängen erfolgt, nicht die Erzeugung von wirklicher Tela ossea ist, sondern nur die Ablagerung von Kalksalzen. In der Regel nehmlich geschieht zuerst in der nächsten Nähe des Knochenrandes eine Verkalkung des Knorpels[273], welche allmählich höher hinauf schreitet, zuerst an den Rändern der grösseren Zellengruppen, sodann um die einzelnen Zellen, immer der Substanz der Kapseln folgend so dass jede einzelne Knorpelzelle von einem Ringe von Kalksubstanz umgeben wird. Aber das ist noch kein Knochen, sondern nichts weiter als verkalkter Knorpel, denn wenn wir die Kalksalze auflösen, so ist wieder der alte Knorpel da, der in keiner anderen Beziehung eine Analogie mit dem Knochen darbietet, als durch die Anwesenheit der Kalksalze (S. 454). [273] Archiv V. 421. [Illustration: =Fig=. 135. Horizontalschnitt durch den wachsenden Diaphysenknorpel der Tibia von einem 7monatlichen Fötus. _C c_ der Knorpel mit den Gruppen der gewucherten und vergrösserten Zellen, _p p_ Perichondrium. _k_ Der verkalkte Knorpel, wo die einzelnen Zellgruppen und Zellen in Kalkringe eingeschlossen sind; bei _k_' grössere Ringe, bei _k_'' Fortschreiten der Verkalkung am Perichondrium. Vergr. 150.] [Illustration: =Fig=. 136. Stärkere Vergrößerung der rechten Ecke von Fig. 135. _co_ verkalkter Knorpel, _co_' Beginn der Verkalkung, _p_ Perichondrium. Vergr. 350.] Damit nun aus diesem verkalkten Knorpel wirklicher Knochen werde, ist es nöthig, dass die Höhle, in welcher je eine Knorpelzelle lag, sich in die bekannte strahlige, zackige Höhle des Knochenkörperchens verwandele. Dieser Vorgang ist deshalb so überaus schwierig zu beobachten, weil beim Schneiden die Kalkmassen allerlei kleine Einbrüche bekommen und Trümmer liefern, innerhalb deren man nicht mehr ersehen kann, was eigentlich vorhanden war. Aus diesem Umstände ist es zu erklären, dass bis jetzt immer noch über die Entstehung der Knochenkörper gestritten ist und wahrscheinlich auch noch ferner gestritten werden wird. Ich halte die Ansicht für richtig, dass Knochenkörperchen an gewissen Stellen direct aus den Knorpelkörperchen entstehen[274], und zwar auf die Weise, dass zunächst die Kapsel, welche die Knorpelzelle einschliesst, enger wird, offenbar indem neue Kapselmasse innen abgelagert wird. Allein in dem Maasse als dies geschieht, beginnt die innere Begrenzung der Kapselhöhlung ein deutlich gekerbtes Aussehen anzunehmen (Fig. 137, _c_'); der Raum für die ursprüngliche Zelle wird dadurch bedeutend verkleinert. In seltenen Fällen gelingt es noch, Gebilde anzutreffen, wo die spätere Form des Knochenkörperchens als letzter Rest der Höhle erscheint, in welcher das zellige Element mit dem Kerne steckt. Dann aber verschwindet die Grenze, welche ursprünglich zwischen den Knorpelkapseln und der Grundsubstanz bestand; die Kapselsubstanz wird selbst Intercellularsubstanz und wir treffen in einer scheinbar ganz gleichmässigen Grundmasse zackige Elemente, mit anderen Worten, ein noch weiches Gewebe mit knochenartigem Bau (osteoides Gewebe Fig. 137, _o_). Gewöhnlich wird dieser Vorgang durch die frühzeitige Verkalkung des Knorpels verdeckt und nur gewisse Prozesse geben uns Gelegenheit, die osteoide Umbildung auch innerhalb der schon verkalkenden Theile noch in derselben Weise zu übersehen. [274] Archiv V. 431. Würzb. Verhandl. I. 137. Eine besonders günstige Gelegenheit, manche Vorgänge des Knochen-Wachsthumes zu sehen, die sonst durch die Anwesenheit von Kalksalzen verdeckt werden, gewährt uns die =Rachitis=[275], auf deren Besprechung ich um so lieber einen Augenblick eingehe, weil diese merkwürdige Krankheit noch jetzt meist missverstanden wird. [275] Archiv V. 409. Die rachitische Störung erweist sich bei genauerer Untersuchung nicht als ein Erweichungsprozess des Knochengewebes, wie man sie früher gewöhnlich betrachtete, sondern als ein Nichtfestwerden neuwuchernder Schichten, welche erst zu Knochengewebe werden sollten, also genau genommen, als eine Krankheit der Knorpel und des Periostes. Indem die alten Schichten von Knochengewebe durch die normal fortschreitende Markraumbildung verzehrt werden, die neuen aber weich bleiben, wird der Knochen brüchig. -- Neben diesem wesentlichen Acte der nicht geschehenden Verkalkung der Theile ergibt sich aber zugleich eine gewisse Unregelmässigkeit im Wachsthume, so dass Stadien der Knochenentwickelung, welche in der normalen Bildung spät eintreten sollten, schon sehr frühzeitig eintreten. Bei dem normalen Wachsthume bilden an der Verkalkungsgrenze (Fig. 134) die Zacken, mit welchen die Kalksalze in den Knorpel hinaufgreifen, eine so vollständig gerade Linie oder genauer gesagt, eine so vollständige Ebene, dass sie fast als mathematisch regelmässig zu bezeichnen ist. Dieses Verhältniss hört bei der Rachitis auf, um so mehr, je intensiver der Fall ist; es finden Unterbrechungen der Verkalkungsebene statt in der Weise, dass an einzelnen Stellen der Knorpel noch tief herunterreicht, während die Verkalkung schon hoch hinaufschreitet. Jene einzelnen Stellen werden bisweilen so vollständig von den übrigen isolirt, dass sie als Knorpelinseln, mitten in dem Knochen, ringsum von demselben umgeben, liegen bleiben, dass also Knorpel noch an Punkten sich findet, wo der Knochen schon längst in Markgewebe umgewandelt sein sollte. Je weiter der rachitische Prozess vorschreitet, um so mehr finden sich aber auch isolirte, zersprengte Kalkmassen in dem Knorpel, manchmal so, dass der ganze Knorpel auf dem Durchschnitte weiss punktirt erscheint. -- Weiter zeigt sich die Unregelmässigkeit darin, dass, während im normalen Gange der Dinge die Markräume erst eine kleine Strecke hinter dem Verkalkungsrande (Fig. 134) beginnen, dieselben hier darüber hinaustreten und manchmal bis weit über die Verkalkungsgrenze hinaus eine Reihe von zusammenhängenden Höhlen sich fortzieht, welche mit einem weicheren, leicht faserigen Gewebe erfüllt sind und in welche auch Gefässe aufsteigen (Fig. 137, _m_). Markräume und Gefässe liegen also da, wo normal eigentlich keine einzige Markzelle, kaum ein einziges Gefäss sich befinden sollte. [Illustration: =Fig=. 137. Verticalschnitt aus dem Diaphysenknorpel einer rachitischen wachsenden Tibia vom 2jährigen Kinde. Ein grosser, nach links einen Seitenast absendender Markzapfen erstreckt sich von _m_ aus in den Knorpel herauf: er besteht aus faseriger Grundsubstanz mit spindelförmigen Zellen. Im Umfange bei _c_, _c_, _c_ der gewucherte Knorpel mit grossen Zellen und Zellengruppen; bei _c_', _c_' beginnende Verdickung und innere Einkerbung der Knorpelkapseln, welche bei _o_, _o_ verschmelzen und osteoides Gewebe bilden. Vergr. 300.] Auf diese Weise kann an den Stellen, wo der Prozess seine Höhe erreicht hat, in derselben Ebene neben einander eine ganze Reihe von verschiedenartigen Gewebszuständen gefunden werden. Während wir sonst in einer bestimmten Zone Knorpel, in einer anderen Verkalkung, in einer dritten Knochengewebe und Mark finden, so liegt hier Alles durcheinander: Vorsprünge von Mark, darüber osteoides Gewebe oder wirklicher Knochen, daneben verkalkter Knorpel, darunter vielleicht noch erhaltener Knorpel. Die ganze rachitische Schicht des Diaphysenknorpels, welche sich beträchtlich weit erstrecken kann, gewinnt natürlich keine rechte Festigkeit, und das ist einer der Hauptgründe für die Verschiebbarkeit, welche die rachitischen Knochen zeigen, nicht innerhalb der Continuität der Diaphysen, sondern an den Enden. Diese ist in manchen Fällen überaus bedeutend, und bedingt manche Difformität, z. B. am Thorax (Pectus carinatum) einzig und allein. Die stärkeren Biegungen in der Continuität der Knochen sind immer Infractionen, die der Epiphysen gehören der Knorpelwucherung an und stellen einfache Inflexionen dar; hier ist es leicht zu begreifen, wie ein seiner regelmässigen Entwickelung so vollkommen beraubter Theil, welcher eigentlich dicht mit Kalksalzen erfüllt sein sollte, eine grosse Beweglichkeit bewahren muss. Die Vergrösserung und Vermehrung der einzelnen Zellen geschieht bei der Rachitis in derselben Weise, wie wir sie früher beschrieben haben; indem aber weiterhin in dem Knorpel einzelne Theile nicht verkalken, die eigentlich schon Knochen sein sollten, indem namentlich die Markraumbildung oft weit bis über die Verkalkungsgrenze herauf erfolgt, so liegt an manchen solchen Stellen häufig die ganze Entwickelungsgeschichte des Knochens im Zusammenhange klar zu Tage. Man sieht grosse, oft sehr gefässreiche Zapfen von faserigem Mark (Fig. 137, _m_) sich vom Knochen her in den Knorpel herauferstrecken und kann sehr deutlich erkennen, dass nicht etwa diese Zapfen sich in den Knorpel hineinschieben, sondern dass sie durch eine strichweise Umbildung der Knorpelsubstanz selbst und Sprossenbildung der Gefässe entstehen. Hauptsächlich in ihrem Umfange ist es, wo sich auch die osteoide Umbildung der Knorpel am besten sehen lässt, wo man insbesondere sehr deutlich wahrnehmen kann, wie ein Knorpelkörperchen sich nach und nach in ein Knochenkörperchen umwandelt. Aus dem Knorpelkörperchen, dass eine mässig dicke Kapselmembran hat, geht nehmlich ein mit immer dickerer Kapsel versehenes Gebilde hervor, innerhalb dessen der Raum für die Zelle immer kleiner wird, und das auf einer gewissen Höhe der Ausbildung nach innen hin Einkerbungen bekommt, ähnlich den sogenannten Tüpfelkanälen der Pflanzenzellen. So ist schon die erste Erscheinung des Knochenkörperchens angelegt, worauf sehr gewöhnlich eine Verschmelzung der Kapseln mit der Grundsubstanz erfolgt und mit der Herstellung anastomosirender Höhlenfortsätze die Bildung des Knochenkörperchens abgeschlossen wird. Zuweilen verkalken einzelne osteoide Knorpelkörper für sich, ohne dass die Verschmelzung erfolgt ist; während ringsum noch die gewöhnliche Knorpel-Intercellularsubstanz liegt, erfüllt sich die Kapsel des osteoiden Körperchens schon vollständig mit Kalksalzen. An anderen Stellen dagegen erfolgt die Verschmelzung der Kapseln mit der Grundsubstanz sehr frühzeitig (Fig. 137, _o_), und man sieht innerhalb einer glänzend erscheinenden Masse, welche sich um manche Zellgruppen anhäuft, schon überall die zackigen Knochenkörperchen. Da ist aber keine scharfe Grenze im Gewebe, sondern die verdichtete und glänzende Substanz, welche die zackigen Körper umgibt, geht unmittelbar in die durchscheinende Substanz über, welche den gewöhnlichen Knorpel zusammenhält. Im Wesentlichen ist es derselbe Bau. [Illustration: =Fig=. 138. Inselförmige Ossification in rachitischem Diaphysenknorpel. _c_, _c_ der gewöhnliche wachsende (wuchernde) Knorpel, _c_' zunehmende Verdickung der Kapseln mit Bildung zackiger Höhlen (osteoide Knorpelzellen), _co_' Verkalkung solcher, noch isolirter Knorpelzellen, _co_ beginnende Verschmelzung der Kapseln verkalkter Knorpelzellen, _o_ Knochensubstanz. Vergr. 300. (Vergl. Archiv für pathologische Anatomie. Bd. XIV. Taf. I.)] Am wichtigsten für die cellulare Theorie überhaupt ist offenbar die isolirte Umbildung einzelner Knorpelzellen zu Knochenkörperchen. In einem Objecte (Fig. 138) übersieht man bei der Rachitis zuweilen die ganze Reihe dieser Vorgänge. Da, wo das vollständig knöcherne Stück, in welchem die Knochenkörperchen ganz regelmässig entwickelt sind, an den Knorpel stösst, findet sich eine Zone, wo man den Uebergang der Knorpelkörperchen in vollkommene Knochenkörperchen in ganz kurzen Strecken überblickt. An der Uebergangsstelle findet sich eine Reihe von Körperchen dicht an einander gelagert, wie Haselnüsse, die durch ihre dunkeln Contouren, ihr hartes Aussehen, ihren ungewöhnlich starken Glanz sich von den gewöhnlichen Knorpelkörperchen unterscheiden, und die in einer kleinen zackigen Höhle eine kleine Zelle umschliessen: das sind die noch isolirten Knochenkörperchen mit verkalkten Kapseln, welche ihnen noch von ihrer früheren Zeit als Knorpelkörperchen anhaften. Es ist desshalb besonders wichtig, diese Körper in ihrer Isolirung in loco zu sehen, weil man ohne ihre Kenntniss jene anderen Prozesse nicht begreift, bei welchen innerhalb des Knochens diese Territorien wieder ausfallen (Fig. 143). Auf alle Fälle, wenn man ein Object dieser Art einmal genau verfolgt hat, kann man darüber nicht mehr in Zweifel kommen, dass aus Knorpelkörperchen Knochenkörperchen werden können, und ich begreife nicht, wie noch bis in die allerletzte Zeit sorgfältige Untersucher die Frage aufwerfen konnten, ob nicht das Knochenkörperchen =jedesmal= eine auf Umwegen gewonnene Bildung sei, welche mit dem Knorpelkörperchen keinen unmittelbaren Zusammenhang habe. Allerdings ist es richtig, dass bei dem normalen Längenwachsthum der Knochen die meisten Knochenkörperchen nicht direct aus Knorpelzellen, sondern zunächst aus Markzellen hervorgehen und nur mittelbar von Knorpelzellen abstammen, aber ebenso richtig ist es, dass auch die Knorpelzelle geraden Weges in ein Knochenkörperchen sich umbilden kann. Schon vor langer Zeit habe ich auf einen Punkt besonders aufmerksam gemacht, wo man die Umbildung des Knorpels zu osteoidem Gewebe sehr deutlich übersehen kann, nehmlich die Uebergangsstellen vom Knorpel zum Perichondrium in der Nähe der Verkalkungsgrenze. Hier verwischen sich die Grenzen der Gewebsformen vollständig, und man sieht alle Uebergänge zwischen runden (knorpeligen), spindel- oder linsenförmigen (bindegewebigen) und zackigen (osteoiden) Zellen[276]. [276] Archiv V. 453. XVI. 11. Gerade so, wie aus dem Knorpelkörperchen ein Knochenkörperchen werden kann, so kann auch aus der Markzelle ein Knochenkörperchen werden. In den Markräumen des Knochens nehmen in der Regel diejenigen Markzellen, welche am Umfange liegen, späterhin eine mehr längliche Beschaffenheit an, richten sich parallel der inneren Oberfläche der Markräume, und das Mark selbst erlangt hier eine mehr faserige Intercellularsubstanz, weshalb man es eben als Markhaut betrachtet hat. Aber diese sogenannte Haut ist nicht von den centralen Theilen zu trennen; sie stellt nur die festeste und zugleich äusserste Schicht des Markgewebes dar. Sobald nun Tela ossea entstehen soll, so ändert sich die Beschaffenheit der Grundsubstanz. Dieselbe wird fester, sklerotisch, knorpelartig, die einzelnen Zellen scheinen in Lücken der Grund- oder Intercellularsubstanz zu liegen. Schon früh werden sie zackig, indem sie kleine Ausläufer treiben, und nun ist weiter nichts mehr nöthig, als dass sich in die dichte Grundsubstanz Kalksalze ablagern; dann ist der Knochen schon fertig. So bildet sich auch hier wieder durch eine ganz directe Transformation (Metaplasie) das Knochengewebe, und indem sich eine solche osteoide Schicht nach der anderen aus dem Marke ablagert, so entsteht dadurch compacte Knochensubstanz, welche jedesmal bezeichnet ist durch die lamellöse Ablagerung von Tela ossea im früheren Markraume (Fig. 38 u. 39). Der ursprüngliche Knochen ist immer bimsteinartig, porös; seine Höhlungen erfüllen sich, indem aus Marklamellen Lagen von Knochensubstanz bis zu dem Punkte nachwachsen, wo das Gefäss allein übrig bleibt, welches die Ossification nicht zulässt. -- Was nun die Entwickelung der Knochen =in der Dicke= d. h. aus dem Perioste[277] anbetrifft, so ist diese an sich viel einfacher, aber sie ist auch viel schwieriger zu sehen, weil die Ossification hier sehr schnell vor sich geht und die wuchernde Periostschicht so dünn und so zart ist, dass eine überaus grosse Sorgfalt dazu gehört, sie überhaupt nur wahrzunehmen. Im Pathologischen haben wir für ihr Studium ungleich bessere Gelegenheit, als im Physiologischen. Denn es ist ganz gleich, ob der Knochen in der Dicke physiologisch oder (durch eine Periostitis) pathologisch wächst; dies ist nur eine quantitative und zeitliche Differenz (Heterometrie, Heterochronie). [277] Archiv V. 437. Im entwickelten Zustande besteht das Periost dem grössten Theile nach aus sehr dichtem Bindegewebe mit einer überaus grossen Masse von elastischen Fasern, innerhalb dessen sich Gefässe ausbreiten, um von da in die Rinde des Knochens selbst hineinzugehen. Wenn nun das Wachsthum des Knochens in der Dicke beginnt, so nimmt die innerste, gefässreiche Schicht des Periostes an Dicke zu und schwillt an; dann sagt man, es sei ein Exsudat geschehen, indem man als ausgemacht annimmt, dass die Schwellung ein Exsudat voraussetze, und dass hier das Exsudat zwischen Periost und Knochen liege. Nimmt man aber die Masse vor und analysirt sie, so zeigt sie keinerlei Aehnlichkeit mit irgend einer bekannten Art von einfachem Exsudate; die geschwollene Stelle erscheint vielmehr durch ihre ganze Dicke von aussen bis nach innen organisirt und zwar am deutlichsten gerade am Knochen, während man nach aussen gegen die Periost-Oberfläche hin die Structurverhältnisse weniger leicht entwirren kann. Diese Verdickungen können unter Umständen sehr bedeutend zunehmen. Bei einer Periostitis sehen wir ja, dass förmliche Knoten gebildet werden. Man denke nur an die mehr physiologische Geschichte des Callus nach Fractur. Nach einem Exsudate sucht man hier vergeblich. Verfolgt man die verdickten Lagen in der Richtung zu dem noch unverdickten Perioste hin, so kann man sehr deutlich sehen, was =Duhamel= schon sehr schön zeigte, was aber immer wieder vergessen wird, dass die Verdickungsschichten endlich alle in die Schichten des Periostes continuirlich sich fortsetzen. So wenig als das Periost unorganisirt ist, so wenig sind die Verdickungsschichten ohne Organisation. Die mikroskopische Untersuchung zeigt in der Nähe der Knochenoberfläche eine leicht streifige Grundsubstanz und darin kleine zellige Elemente; je weiter man sich vom Knochen entfernt, um so mehr finden sich Theilungen der Elemente und endlich die einfachen, aber sehr kleinen Bindegewebskörperchen des Periostes. Der Gang der Theilung ist derselbe, wie am Knorpel, nur dass der Wucherungsact an sehr feinen Elementen geschieht. Je grösser der Reiz, um so grösser wird auch die Wucherung, um so stärker die Anschwellung der wachsenden Stelle. Diese aus der wuchernden Vermehrung der Periostkörperchen hervorgegangenen Elemente geben die Knochenkörperchen genau in derselben Weise, wie ich es beim Marke beschrieben habe. In der Nähe der Knochenoberfläche verdichtet sich die Grundsubstanz und wird fast knorpelartig, die Elemente wachsen aus, werden sternförmig und endlich erfolgt die Verkalkung der Grundsubstanz. Ist der Reiz sehr gross, wachsen die Elemente sehr bedeutend, dann entsteht hier wirklicher Knorpel; die Elemente vergrössern sich so, dass sie bis zu grossen, ovalen oder runden Zellen anwachsen und die einzelnen Zellen um sich herum eine kapsuläre Abscheidung bilden. Auf diese Weise kann auch im Periost durch eine directe Umbildung des wuchernden Periostes Knorpel entstehen, aber es ist keinesweges nothwendig, dass wirklicher, eigentlicher Knorpel entsteht; in der Regel erfolgt nur die osteoide Umbildung, wobei die Grundsubstanz sklerotisch wird und sofort verkalkt. [Illustration: =Fig=. 139. Verticaldurchschnitt durch die Periostfläche eines Os parietale vom Kinde. _A_ Die Wucherungsschicht des Periostes mit anastomosirenden Zellennetzen und Kerntheilung. _B_ Bildung der osteoiden Schicht durch Sklerose der Intercellularsubstanz. Vergr. 300.] So geschieht es, dass an der Oberfläche jedes wachsenden Knochens, wie insbesondere =Flourens= nachgewiesen hat, der neue Knochen sich immer Schicht auf Schicht ansetzt, und dass die neuen Schichten den alten Knochen so umwachsen, dass ein Ring, den man um den Knochen legt, nach einiger Zeit innerhalb desselben liegt, umschlossen von jungen Schichten, welche sich aussen herum gebildet haben. Letztere stehen mit dem alten Knochen durch kleine Säulchen in Verbindung, welche dem Ganzen ein bimsteinartiges Aussehen geben, und auch hier erfolgt die spätere Verdichtung zu Rindensubstanz dadurch, dass sich in den einzelnen, durch die Säulchen umgrenzten Räumen concentrische Lamellen von Knochensubstanz aus dem periostealen Marke bilden[278]. [278] Archiv V. 444. Nirgends jedoch sieht man die Uebergänge des periostealen Bindegewebes in die eigentlich osteoide Substanz mit einer so überzeugenden Deutlichkeit, als an manchen Knochengeschwülsten, namentlich den =Osteoidchondromen=. Solche finden sich besonders an den Kiefern von Ziegen[279], und da auch hier die Verkalkung der schon Knochenstructur besitzenden Theile in grossen Abschnitten nicht erfolgt, so leisten sie für die Darstellung der Uebergänge des Bindegewebes in osteoide Substanz etwa dasselbe, was uns für die Umbildung der Knorpel die Geschichte der Rachitis gelehrt hat. Wobei ich übrigens bemerke, dass die Thierärzte, ich weiss nicht mit wie viel Recht, solche Zustände auch als Rachitis bezeichnen. Die Geschwulst, welche oft Ober- und Unterkiefer, aber jeden für sich befällt, ist so wenig dicht, dass man sie ganz bequem schneiden kann; nur an einzelnen Stellen findet das Messer einen stärkeren Widerstand. Macht man feinere Durchschnitte, so sieht man schon vom blossen Auge, dass dichtere und weniger dichte Stellen mit einander abwechseln, dass das Ganze ein maschiges Aussehen hat. Bringt man es bei schwacher Vergrößerung unter das Mikroskop, so bemerkt man sofort, dass die ganze Anlage vollkommen die eines neugebildeten Knochens ist; eine Art von Markhöhlen und ein Balkennetz wechseln mit einander ab, genau so, wie wenn man die Markhöhlen und Balken eines spongiösen Knochens vor sich hätte. Die Substanz, welche das Balkennetz bildet, ist im Ganzen dicht und erscheint dadurch schon bei schwacher Vergrösserung leicht von der zarteren Substanz, welche dazwischen liegt und die Maschenräume füllt, verschieden. Letztere bietet, wenn man sie stärker vergrössert, ein fein streifiges, faseriges Aussehen dar. Die Faserzüge laufen zum Theil parallel den Rändern der Balken. Innerhalb der letzteren sieht man bei starker Vergrösserung ähnliche Gebilde, wie sie das Knochengewebe darbietet, zackige Körperchen, ganz regelmässig verbreitet. [279] Geschwülste I. 532. [Illustration: =Fig=. 140. Schnitt aus einem Osteoidchondrom vom Kiefer einer Ziege: Habitus der Periost-Ossification. Osteoide Balkennetze mit zackigen Zellen umschliessen primäre Markräume, mit faserigem Bindegewebe gefüllt. Die dunkeln Stellen verkalkt und fertiges Knochengewebe darstellend. Vergr. 150.] Dieser Habitus entspricht vollständig dem, was bei der Entwickelung des Knochens vom Periost aus geschieht[280]; es ist, kurz gesagt, das Schema des Dickenwachsthums des Knochens. Ueberall, wo man junge Periost-Auflagerungen untersucht, findet man innerhalb des maschigen Netzes, welches die osteoide Substanz bildet, faseriges Mark, nicht zelliges, wie in der späteren Zeit. Es sind die Reste des gewucherten Periostes selbst, welche noch nicht einer weiteren Metaplasie unterlegen haben. Die osteoide Umbildung erfolgt in die Periostwucherung hinein ursprünglich immer in der Weise, dass sich von der Knochenoberfläche aus das Fasergewebe in gewissen Richtungen verdichtet; dadurch entstehen härtere, zuerst senkrecht und säulenartig auf dem Knochen aufsitzende Zapfen, welche sich durch quere, der Knochenoberfläche parallele Züge oder Bogen verbinden und so jenes Maschenwerk herstellen. Lässt man Essigsäure auf diese Theile einwirken, so sieht man alsbald, dass die ganze fibröse Masse, welche die Alveolen erfüllt, die wundervollsten Bindegewebs-Elemente enthält, und zwar in der Anordnung, dass dieselben am Umfange der Balken mehr spindel- oder linsenförmig sind und in concentrischen Streifen liegen, während sie in der Mitte der Maschenräume sternförmig sind und unter einander anastomosiren. Dass um die Alveolen herum aber wirklich schon Knochenbalken vorhanden sind, davon kann man sich an den Stellen sehr schön überzeugen, wo Kalksalze darin abgelagert sind. Während die Peripherie solcher verkalkten Balken (Fig. 140) ein glänzendes, fast knorpelartiges Aussehen hat, tritt mehr nach innen in denselben schon eine trübe, feinkörnige, in Säuren lösliche Masse auf, welche die Intercellularsubstanz durchsetzt und gegen die Mitte der Balken hin in eine fast gleichmässige, kalkige Schicht übergeht, in der von Strecke zu Strecke die Knochenkörperchen hervortreten. Hier haben wir also schon ein vollständiges Knochennetz, zugleich das regelrechte Bild für das Dickenwachsthum des Knochens. [280] Archiv V. 454. [Illustration: =Fig=. 141. Ein Stück aus Fig. 140, stärker vergrössert, nach Einwirkung von Essigsäure. _o_, _o_ die osteoiden Balken; _m_, _m_, _m_ die primären Markräume mit Spindel- und Netzzellen. Vergröss. 300.] Betrachtet man aber recht sorgfältig die Stellen, wo der Rand dieser Balken und Knochenzüge mit der fibrösen Substanz der Maschenräume zusammenstösst, so sieht man hier keine vollkommen scharfe Grenze; im Gegentheil, die osteoide Substanz verstreicht nach und nach in das fibröse Gewebe, so dass hier und da einzelne der Bindegewebselemente des fibrösen Gewebes schon in die sklerotische Substanz der Balken miteingeschlossen werden. Daraus kann man abnehmen, dass die Bildung der eigentlichen Knochensubstanz wesentlich erfolgt durch die allmähliche Veränderung von Intercellularsubstanz, und zwar so, dass diese aus ihrem ursprünglich faserigen Bindegewebs-Zustande in eine dichte, glänzende, sklerotische, knorpelartige Masse übergeht, welche sich jedoch sowohl durch Structur, als durch Mischung von Knorpel unterscheidet. Hier ist nie ein Stadium, welches den bekannten Formen des gewöhnlichen Knorpels entspräche, sondern es geht direkt aus Bindegewebe die osteoide Form hervor, dieselbe Form, welche auch im Knorpel und Mark erst entsteht, wenn aus ihnen Knochen wird. Es ist diese Erfahrung insofern sehr wesentlich, als man durch sie die Ueberzeugung gewinnt, dass es falsch ist, von Knochenknorpel in dem Sinne zu sprechen, als ob gewöhnlicher Knorpel die organische Grundlage des Knochengewebes bilde. Der Knorpel als solcher kann nur verkalken; wenn er Knochen werden soll, so muss eine Umsetzung seines Gewebes stattfinden: es muss sich die chondrinhaltige Grundsubstanz verdichten und, wenigstens zum grössten Theile, in eine leimgebende Intercellular-Masse umwandeln (S. 453). Die Ossification aus Bindegewebe ist die Regel für die =pathologische Neubildung von Knochen=, insbesondere für die =Callusbildung= nach Fractur, über welche ich noch ein Paar Worte hinzufügen will, da es ein viel discutirter und chirurgisch sehr wichtiger Prozess ist. Schon aus meiner bisherigen Darstellung ist leicht ersichtlich, dass der Wege der Neubildung von Knochengewebe mehrere sind, und dass die alte Voraussetzung, als müsse ein Modus als der allein gültige betrachtet werden, nicht richtig ist. Eine Präexistenz von eigentlichem Knorpel vor der Knochenbildung ist durchaus nicht nothwendig, vielmehr bildet sich viel häufiger durch eine direkte Sklerose der Intercellularsubstanz aus Bindegewebe osteoides Gewebe und aus diesem Knochengewebe; ja die Ossification kommt so eigentlich leichter und einfacher zu Stande, als aus gewöhnlichem Knorpel. Gerade in der Geschichte der Callustheorien hat es sich auf das Deutlichste gezeigt, dass das Bestreben, eine einfache Formel aufzufinden, das grösste Hinderniss für die Erkenntniss der Callusbildung gewesen ist, und dass, trotz der grossen Verschiedenheit der Meinungen, eigentlich Alle Recht gehabt haben, indem in der That der neue Knochen sich aus dem verschiedensten Material aufbaut. Unzweifelhaft werden, wenn der Fall günstig ist, die bequemsten Wege für die Neubildung betreten, und der allerbequemste Weg ist der, dass das Periost den übergrossen Theil des Callus hervorbringt. Es geschieht dies in der Weise, dass das Periost gegen den Rand des Bruches hin sich verdickt und hier unter fortschreitender Proliferation nach und nach anschwillt, so zwar, dass man nachher ziemlich deutlich einzelne sich übereinander schiebende Lagen oder Schichten (Lamellen) daran unterscheiden kann. Diese werden immer dicker und zahlreicher, indem fortwährend die innersten Theile des Periostes wuchern und durch Vermehrung ihrer Elemente neue Lagen bilden, welche sich zwischen dem Knochen und den noch relativ normalen äusseren Theilen des Periostes aufhäufen. Diese Lagen können zu wirklichem Knorpel werden, aber es ist dies nicht nothwendig und nicht die Regel. Ja es findet sich sogar, dass bei den meisten Fracturen, wo Knorpel entsteht, nicht die ganze Masse des Periostcallus aus Knorpel hervorgeht, sondern ein mehr oder weniger grosser Theil sich immer aus Bindegewebe bildet. Die Knorpelschichten liegen gewöhnlich dem Knochen zunächst; je weiter man nach aussen kommt, um so mehr herrscht die direkte Umbildung des Bindegewebes vor. Die Neubildung von Knochengewebe beschränkt sich aber bei Fracturen keineswegs auf das Periost; sehr häufig geht sie nach aussen über dasselbe hinaus, und nicht selten reicht sie in Form von Stacheln, Knoten und Höckern sehr weit in die benachbarten Weichtheile hinein. Es versteht sich von selbst, dass hier keinesweges eine nach aussen gehende Wucherung des Periostes stattfindet, sondern dass aus dem Bindegewebe der benachbarten Theile ossificationsfähiges Gewebe hervorgeht. Man kann sich davon leicht überzeugen, da man in solche Massen die Ansätze von Muskeln verfolgen kann. Ja, nicht selten findet man an den äusseren Theilen Stellen, wo subcutanes Fettgewebe mit in die Ossification eingeschlossen worden ist. Man kann also nicht sagen, dass die Callusbildung im Umfange der Fracturstücke nur eine periosteale Bildung sei; jedesmal, wenn sie eine gewisse Reichlichkeit gewinnt, überschreitet sie die Grenzen des Periostes und geht in das Bindegewebe der umliegenden Weichtheile hinein. Diesen Theil des äusseren Callus nenne ich =parosteal=. Vollständig verschieden von dieser äusseren Callusbildung ist diejenige, welche mitten im Knochen aus dem Mark erfolgt: die =medulläre= oder besser =myelogene=. [Illustration: =Fig=. 142. Querbruch des Humerus mit Callusbildung, etwa 14 Tage alt. Man sieht aussen die poröse Kapsel des aus Periost und Weichtheilen hervorgegangenen Callus, dessen innerste Lage rechts noch knorpelig ist. Links liegt frei ein abgesplittertes Stück der Knochenrinde. Die beiden Bruchenden sind durch eine (dunkelrothe) hämorrhagisch-fibröse Schicht verbunden, das Mark beiderseits (durch Hyperämie und Extravasat) sehr dunkel, im unteren Bruchstücke mehrere poröse Callusinseln, aus der Ossification des Markes hervorgegangen.] In dem Augenblicke, wo der Knochen bei dem Bruche zertrümmert wird, werden natürlich viele kleine Markräume oder gar die grosse centrale Markhöhle eröffnet. In der Nähe der Bruchstelle füllen sich nun fast constant bei regelmässigem Verlaufe die noch unversehrten Markräume mit Callus, indem sich an die innere Fläche der sie umgrenzenden Knochenbalken neue Knochenlamellen aus dem Marke ansetzen, wie bei dem gewöhnlichen Dickenwachsthum des Knochens die ursprünglich bimsteinartigen äusseren Lagen durch die Einlagerung concentrischer Lamellen compact werden. Auf diese Weise geschieht es, dass nach einiger Zeit eine mehr oder weniger grosse neue Knochen-Schichte sich findet, welche continuirlich durch die Markhöhle hindurchzieht und eine Abschliessung derselben zu Stande bringt. Diese innere Callusbildung hat mit der äusseren in Beziehung auf die Ausgangspunkte gar nichts gemeinschaftlich; sie geht von einem ganz anderen Gewebe aus und liefert auch im Groben ein anderes Resultat, insofern sie innerhalb der Grenzen des alten Knochens eine Verdichtung desselben an der Bruchstelle hervorbringt. Selbst in dem Falle, dass die Knochenenden vollständig aufeinander passen, gestaltet sich in beiden Markhöhlen eine solche innere Knochenbildung, welche für eine gewisse Zeit eine Unterbrechung der Markhöhle erzeugt. Diese beiden Arten der Callusbildung sind die gewöhnlichen und normalen. Im Umfange der beiden Bruchenden geschieht die Anschwellung, im Innern die Verdichtung. Allmählich treten die neugebildeten Massen sich näher, ringsherum bildet sich aus der Ossification der Weichtheile eine brücken- oder capselartige Verbindung. Die übrige Vereinigung der getrennten Knochentheile geschieht endlich aus dem alten Knochengewebe selbst, welches an gewissen Theilen in weiches Gewebe übergeht, proliferirt, verschmilzt und von Neuem ossificirt. Es ist also wenig Grund zu fragen, ob der Callus aus einer freien Exsudat- oder Extravasatmasse hervorgehe. Allerdings erfolgt anfänglich eine Extravasation in den Raum zwischen die Bruchenden, allein das ausgetretene Blut wird in der Regel ziemlich vollständig absorbirt, und es trägt für die Constituirung der Verbindungsmassen verhältnissmässig sehr wenig bei. Ist viel Blut zwischen den Bruchenden, so bildet es eher ein Hinderniss, als eine Begünstigung für die Consolidation. -- Ergibt sich demnach die Ossification aus Knorpel als ein verhältnissmässig seltener Fall, so bleibt doch die Erfahrung von der Umwandlung einzelner Knorpelkörperchen in Knochenkörperchen überaus lehrreich. Denn das Knorpelkörperchen steht dem Bindegewebskörperchen parallel und seine Kapsel repräsentirt die zuletzt von ihm hervorgebrachte Intercellularsubstanz, deren Grenze sich in dem Bindegewebe sofort verwischt. Aber sicherlich ist sie vorhanden und für die Ernährungsverhältnisse von bestimmender Wichtigkeit. Ja wir müssen sagen, dass die alte Grenze immerfort den Bezirk bezeichnet, welcher von dem Knochenkörperchen beherrscht wird, und, wie ich das schon am Eingange (S. 18) gerade für diesen Punkt hervorgehoben habe, unter pathologischen Verhältnissen tritt dieser Bezirk (Territorium) nicht nur wieder in Kraft, sondern auch in's Gesicht. In diesem Kreise macht das Knochenkörperchen seine besonderen Schicksale durch. Wird ein Knochen auf irgend eine Weise zu neuen Transformationen oder Productionen bestimmt, so geht ein Knochenkörperchen nach dem anderen innerhalb seiner Gebietsgrenzen in die Veränderung ein. Bildet sich im Umfange nekrotischer Stücke eine Demarcationslinie (reactive Entzündung), so bekommt die Oberfläche des Knochens, vom Rande her gesehen, Ausbuchtungen, deren Umfang den alten Zellterritorien entspricht[281]. Auf der Fläche bemerkt man Lücken, welche hier und da zusammenfliessen und Gruben darstellen. Das Knochenkörperchen, welches früher an der Stelle der Grube lag, hat in dem Maasse, als es sich selbst veränderte, auch die umgebende Intercellularsubstanz bestimmt, in die Veränderung einzugehen. [281] Archiv IV. 301. XIV. 33. [Illustration: =Fig=. 143. Demarkationsrand eines nekrotischen Knochenstückes bei Paedarthrocace. _a_, _a_, _a_ der nekrotische Knochen mit sehr vergrösserten Knochenkörperchen und Knochenkanälchen; hier und da Andeutungen von Gruben auf der Fläche. _b_, _b_ die Lacunen, welche an die Stelle der Zellenterritorien des Knochens (vgl. Fig. 138) getreten sind, im seitlichen Abfalle des etwas dicken Präparates gesehen; hier und da noch vergrößerte Knochenkörperchen durchscheinend. _c_, _c_ die vollständig leeren Lücken. Vergr. 300.] Von dieser, den lebenden Knochen treffenden Veränderung ist eine andere, der äusseren Erscheinung nach oft sehr ähnliche wohl zu unterscheiden, welche auch an todten (nekrotischen) Knochen vorkommt. Viele Jahre hindurch ist es streitig gewesen, ob todte Knochen durch den Eiter angegriffen werden. Zahlreiche Versuche mit fast regelmässig negativem Ergebniss hatten zuletzt die Ueberzeugung allgemein gemacht, dass der todte Knochen inmitten des Eiters unverändert bleibe. Erst Erfahrungen, welche Herr =von Langenbeck= an Elfenbeinstücken machte, die in lebende menschliche Knochen eingesenkt wurden, haben dargethan, dass, wenn auch nicht der Eiter als solcher, so doch die Granulationen das todte Gewebe »anfressen«. Ich habe mich durch eigene Untersuchung an solchen Stiften überzeugt, dass sowohl kleine, als ganz grosse Gruben an der Oberfläche früher ganz glatter Stifte entstehen, und es kann hier um so weniger zweifelhaft sein, dass diese Gruben mit Zellenterritorien nichts zu thun haben, als das Elfenbein solche Territorien gar nicht besitzt. Nicht alle Gruben und Löcher am Knochen sind also durch Einschmelzung von Zellenterritorien entstanden; das Gesagte gilt nur von solchen Gruben, welche wirklich der Form und Grösse nach den Zellenterritorien entsprechen. Solche kann man sowohl an der compacten Knochenrinde, als auch an den Bälkchen des Markes wahrnehmen. Das sind Vorgänge, ohne deren Verständniss man die Geschichte der Caries gar nicht begreifen kann. Die Caries beruht eben darin, dass der Knochen sich in seine Territorien auflöst, dass die einzelnen Elemente, und zwar sowohl die des Knochengewebes, als auch die des Markes, in neue Entwickelung gerathen, und dass die Reste von alter Grundsubstanz als kleine, dünne Scherben in der weichen Substanz liegen bleiben. Ich habe dies wiederholt an Amputationsstümpfen verfolgt, an denen sich bald nach der Operation eine Periostitis mit leichter Eiterung, der Anfang von Caries peripherica, fand. Wenn man in einem solchen Falle das verdickte Periost abzieht, so sieht man in dem Moment, wo das Periost sich von der Oberfläche entfernt und die Gefässe sich aus der Knochenrinde hervorziehen, nicht, wie bei einem normalen Knochen, einfache Fäden, sondern einen kleinen Zapfen, eine dickere Masse; hat man sie ganz herausgezogen, so bleibt ein unverhältnissmässig grosses Loch zurück, viel umfangreicher, als unter normalen Verhältnissen. Untersucht man den Zapfen, so findet man, dass um das Gefäss herum eine gewisse Quantität von weichem Gewebe liegt, dessen zellige Elemente sich in fettiger Degeneration oder in zelliger Wucherung befinden. An den Stellen, wo das Gefäss herausgezogen ist, erscheint die Oberfläche nicht eben, wie beim normalen Knochen, sondern rauh und porös, und wenn man dieselben unter das Mikroskop bringt, so bemerkt man jene Ausbuchtungen, jene eigenthümlichen Löcher, welche den einschmelzenden Zellenterritorien zugehören. Fragt man also, auf welche Weise der Knochen im Anfange der Caries porös wird, so kann man sagen, dass es sicherlich nicht so geschieht, dass sich Exsudate bilden, denn dazu ist kein Raum vorhanden, da die Gefässe innerhalb der Markkanäle (Fig. 38, 39, 41) unmittelbar die Tela ossea berühren. Vielmehr bilden sich Lücken, welche sofort gefüllt sind mit einer weichen Substanz, die ein leicht streifiges Bindegewebe mit fettig degenerirten oder gewucherten Zellen darstellt. Schmilzt im Umfange eines Markkanals ein Knochenkörperchen nach dem anderen ein, so wird man nach einiger Zeit den Markkanal von einer lacunären Bildung umgrenzt finden. Mitten darin steckt immer noch das Gefäss, welches das Blut führt, aber die Substanz herum ist nicht Knochen oder Exsudat, sondern degenerirtes Gewebe, in welches möglicherweise aus den Gefässen ausgewanderte farblose Blutkörperchen eindringen. Der ganze Vorgang ist eine =degenerative Ostitis=, wobei die Tela ossea ihre chemische und morphologische Haltung einbüsst, und an ihre Stelle ein weiches, nicht mehr kalkführendes Gewebe tritt. Dieses kann je nach Umständen sehr verschieden sein, einmal eine fettig degenerirende, zerfallende Masse, in einem anderen Falle ein zellenreiches Gewebe mit zahlreichen jungen Elementen. Die neu entstehende Substanz verhält sich wieder, wie Mark. Unter Umständen kann sie so wachsen, dass, wenn wir das Beispiel wiederum von der Oberfläche des Knochens nehmen, wo sich ein Gefäss hineinsenkt, die junge Markmasse neben dem Gefässe herauswuchert und als ein Knöpfchen erscheint, welches eine Grube der Oberfläche erfüllt und unter Umständen sogar über sie hervorragt. Das nennen wir eine =Granulation=. Untersucht man Granulationen im Vergleiche mit rothem Mark, so ergibt sich, dass keine zwei Arten von Gewebe mehr mit einander übereinstimmen. Das Knochenmark eines Neugebornen könnte man jeden Augenblick chemisch und mikroskopisch für eine Granulation ausgeben. Die Granulation ist nichts weiter, als junges, weiches, schleimhaltiges Gewebe, analog dem Mark. Es gibt eine entzündliche Osteoporose, welche nur darin beruht, dass eine vermehrte Markraumbildung eintritt und der Prozess, welcher an der Markhöhle ganz normal ist, sich auch aussen in der compacten Rinde findet. Diese Osteoporose (Osteomalacie) unterscheidet sich von der granulirenden Caries peripherica nur durch ihren Sitz. Geht man einen Schritt weiter und lässt man die Zellen, welche bei der Osteoporose in mässiger Menge vorhanden sind, reichlicher und reichlicher werden, während die Grundsubstanz dazwischen immer weicher und spärlicher wird, so haben wir =Eiter=. Dieser entsteht nicht aus einem Blastem durch einen besonderen Act, nicht durch eine Schöpfung de novo, sondern er entwickelt sich regelrecht von Generation zu Generation nach vollkommen legitimer Art, gleichviel, ob seine Elemente aus den Elementen des früheren Gewebes hervorgehen[282], oder ob sie direkt aus dem Blute in das Gewebe einwandern. [282] Archiv XIV. 60. Es liegt also in der Geschichte des kranken Knochens eine ganze Reihe von Gewebs-Umbildungen vor uns: der zuerst entstandene, aus Knorpel oder Bindegewebe hervorgehende Knochen kann Umbildungen erfahren zu Mark, dann zu Granulations-Gewebe, und endlich zu fast reinem Eiter. Die Uebergänge sind hier so allmählich, dass bekanntlich derjenige Eiter, welcher zunächst auf die Granulation folgt, eine mehr schleimige, fadenziehende, zähe, cohärente Masse darstellt, welche auch wirklich Schleimstoff enthält, analog dem Granulations-Gewebe, und welche erst, je weiter man nach aussen kommt, die Eigenschaften des vollendeten Eiters zeigt. Der fertige rahmige Eiter der Oberfläche geht gegen die Tiefe hin nach und nach über in das Pus crudum, den schleimigen, zähen, nicht maturirten Eiter der tieferen Lagen, und was wir =Maturation= nennen, beruht nur darauf, dass die schleimige Grundsubstanz des ursprünglich zähen Eiters, welcher sich seiner Structur nach der Granulation anschliesst, allmählich in die vollkommen flüssige, albuminöse Zwischensubstanz des reinen Eiters übergeht. Der Schleim löst sich auf und die rahmige Flüssigkeit entsteht. =Die Reifung ist also im Wesentlichen eine Erweichung und Verflüssigung der Intercellularsubstanz=. So unmittelbar hängen Entwickelung und Rückbildung, physiologische und pathologische Zustände zusammen. Das ist ein Theil der normalen und pathologischen Vorgänge, welche wir bei der Bildung und Umbildung von Knochen erkennen. Man muss daraus entnehmen, dass es sich hier um eine Reihe von Permutationen oder Transformationen oder Substitutionen handelt, welche ein Fortschreiten bald zu einer höheren, bald zu einer niederen Form der Bildung darstellen, welche aber immerfort continuirlich mit einander zusammenhängen und welche je nach den Bedingungen, welche auf die Theile wirken, sich bald so, bald anders gestalten. Wir haben es in der Hand, ob wir einzelne Theile des Knorpels oder des Periostes bestimmen wollen, zu ossificiren oder sich in ein weiches Gewebe umzubilden. In dieser ganzen Reihe steht allein das rothe Mark als der Typus der heterologen Formen dar, indem es die kleinsten und am wenigsten charakteristischen Zellen enthält. Das junge Markgewebe entspricht seiner Erscheinung nach am meisten jenen jungen Entwickelungen, mit welchen alle heterologen, per secundam intentionem entstehenden Gewebe beginnen, und da es, wie ich vorhin schon berührte, zugleich den eigentlichen Typus für alle Granulationen darstellt[283], so kann man sagen, dass, =wo immer Neubildungen in massenhafter Weise entstehen sollen, auch eine dem Typus des jungen Markes analoge Substitution (Granulation) erfolgt=, und dass, gleichviel, welche Festigkeit das alte Gewebe haben mag, =doch immer eine Proliferation stattfinden kann, welche die Keime für die späteren Elemente legt=. [283] Archiv XIV. 59. Geschwülste II. 387. Einundzwanzigstes Capitel. Die pathologische, besonders die heterologe Neubildung. Theorie der substitutiven Neubildung im Gegensatze zu der exsudativen. Zerstörende Natur der Neubildungen. Homologie und Heterologie (Malignität). Ulceration. Osteomalacie. Knochenmark und Eiter. Proliferation und Luxuriation. Die Eiterung. Verschiedene Formen derselben: oberflächliche aus Epithel und tiefe aus Bindegewebe, Auswanderung der farblosen Blutkörperchen. Erodirende Eiterung (Haut, Schleimhaut): Eiter- und Schleimkörperchen im Verhältniss zum Epithel. Ulcerirende Eiterung. Lösende Eigenschaften des Eiters. Zusammenhang der Destruction mit pathologischem Wachsthum und Wucherung. Uebereinstimmung des Anfanges bei Eiter, Krebs, Sarkom u. s. w. Mögliche Lebensdauer der pathologisch neugebildeten Elemente und der pathologischen Neubildungen als ganzer Theile (Geschwülste). Zusammengesetzte Natur der grösseren Geschwulstknoten und miliarer Charakter der eigentlichen Heerde. Bedingungen des Wachsthums und der Recidive: Contagiosität der Neubildungen, Bedeutung der Elementar-Anastomosen und der Wanderzellen. Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Neuropathologie. Allgemeine Infection des Körpers. Parasitismus und Autonomie der Neubildungen. Im vorigen Capitel habe ich die Hauptpunkte in der Geschichte der Neubildungen erörtert. Es erhellt daraus, dass nach meiner Auffassung jede Art von Neubildung, insofern sie präexistirende zellige Elemente als ihren Ausgangspunkt voraussetzt und an die Stelle derselben tritt, auch nothwendig mit einer völligen Veränderung (Alteration) des gegebenen Körpertheiles verbunden sein muss. Es lässt sich nicht mehr eine Hypothese der Art vertheidigen, wie man sie früher vom Gesichtspunkte der plastischen Stoffe aus festhielt, dass sich =neben= die vorhandenen Elemente des Körpers ein Rohstoff lagere, welcher aus sich durch eine Art von Urzeugung ein neues Gewebe erzeugt und so einen reinen Zuwachs für den Körper liefern würde. Wenn es richtig ist, dass jede Neubildung aus bestimmten Elementen hervorgeht und dass in der Regel Theilungen der Zellen das Mittel der Neubildung sind, so versteht es sich natürlich von selbst, dass, =wo eine Neubildung stattfindet, in der Regel auch gewisse Gewebselemente des Körpers aufhören müssen zu existiren=. Selbst ein Element, das sich einfach theilt und aus sich zwei neue, ihm gleiche Elemente erzeugt, hört damit auf zu sein, wenngleich das Gesammtresultat nur die scheinbare Apposition eines Elementes ist. Dies gilt für alle Formen von Neubildungen, so für die gutartigen, wie für die bösartigen, und man kann daher in einem gewissen Sinne sagen, dass =überhaupt jede Art von Neubildung destructiv ist, dass sie etwas vom Alten zerstört=. Allein wir sind bekanntlich gewöhnt, die Zerstörungen nach dem Effect zu beurtheilen, der für die gröbere Anschauung hervortritt, und wenn man von destruirenden Bildungen spricht, so meint man zunächst nicht diejenigen, wobei das Resultat der Neubildung ein Analogon der alten Bildung darstellt, sondern irgend ein mehr oder weniger von dem ursprünglichen Typus des Theiles abweichendes Erzeugniss. Dieser Gesichtspunkt ist es, den ich früher schon (S. 92) bei der Classification der pathologischen Neubildungen hervorgehoben habe. Aus ihm ergibt sich ein vernünftiger, den Thatsachen entsprechender Scheidungsgrund aller =Neubildungen in homologe und heterologe=. Heterolog dürfen wir nicht nur die malignen, degenerativen Neoplasmen nennen, sondern wir müssen jedes Gewebe so bezeichnen, welches von dem anerkannten Typus des Ortes abweicht, während wir homolog alles das nennen werden, was, obwohl neu gebildet, doch den Typus seines Mutterbodens reproducirt. Wir finden z. B., dass die so überaus häufige Art der Uterus-Geschwülste, welche man als fibröse oder fibroide bezeichnet, ihrer ganzen Zusammensetzung nach denselben Bau hat, wie die Wand des »hypertrophischen« Uterus, indem sie nicht nur aus fibrösem Bindegewebe mit Gefässen, sondern auch aus Muskelfasern besteht. Ich habe sie daher Myom oder Fibromyom genannt[284]. Die Geschwulst kann bekanntlich so gross werden, dass sie nicht bloss den Uterus in allen seinen Functionen auf das Aeusserste beeinträchtigt, sondern auch durch Druck auf die Nachbartheile den allerübelsten Einfluss ausübt. Trotzdem wird sie immer als ein homologes Gebilde gelten müssen. Dagegen können wir nicht umhin, von einer heterologen Bildung zu sprechen, sobald durch einen Vorgang, der vielleicht in seinem Anfange eine einfache Vermehrung der Theile auszudrücken scheint, ein Resultat gewonnen wird, welches von dem ursprünglichen Zustande des Ortes wesentlich verschieden ist. Ein Katarrh z. B. in seiner einfachen Form kann eine Vermehrung der zelligen Elemente an der Oberfläche mit sich bringen, ohne dass die neuen Zellen wesentlich verschieden sind von den präexistirenden. Untersucht man eine Vagina mit ausgesprochenem Fluor albus (Leukorrhoe), so ist kein Zweifel, dass die Zellen des Fluor albus den Zellen des Vaginalepithels sehr nahe stehen, obgleich sie nicht mehr ganz die typische Gestalt des Pflasterepithels bewahren. Je weniger sie sich aber zu den typischen Formen des Ortes entwickeln, um so mehr werden sie functionsunfähig. Sie sind beweglich auf einer Oberfläche, wo sie eigentlich festhaften sollten; sie fliessen herunter (Katarrh) und erzeugen Resultate, welche mit der Integrität der Theile unverträglich sind. [284] Archiv VI. 553. Geschwülste III. 97. Im engeren Sinne des Wortes destruirend sind allerdings nur heterologe Neubildungen. Die homologen können per accidens sehr nachtheilig werden, aber sie haben doch nicht den eigentlichen, im groben und traditionellen Sinne destruirenden oder malignen Charakter. Dagegen haftet jeder Art von Heterologie, zumal wenn sie sich nicht auf die alleroberflächlichsten Theile bezieht, eine gewisse Malignität an. Trotzdem sollte man nicht übersehen, dass selbst die Oberflächen-Affectionen, auch wenn sie sich nur auf die äusserste Epithelial-Lage beschränken, allmählich einen sehr nachtheiligen Einfluss ausüben können. Man denke nur an den Fall, dass eine grosse Schleimhautfläche immerfort secernirt, dass auf ihr fortwährend heterologe Producte erzeugt werden, die nicht zu bleibendem Epithel werden, sondern immerfort von der Schleimhaut herunter fliessen. Die durch die Ablösung der deckenden Elemente entstehende Erosion verbindet sich hier mit der Blennorrhoe, der Anämie, der Neuralgie u. s. f. Viel klarer stellt sich dieser nachtheilige Einfluss heraus, sobald man jene gröbere Destruction ins Auge fasst, welche das Motiv für Ulceration und Höhlenbildung im Innern der Theile wird. Es sieht wie ein Widerspruch aus, dass ein Prozess, der neue Elemente hervorbringt, zerstöre, allein dieser Widerspruch ist doch eben nur ein oberflächlicher. Wenn man sich denkt, dass in einem Theile, der vorher fest war, ein Gewebe neu gebildet wird, welches beweglich, in seinen einzelnen Theilen verschiebbar ist, so wird das natürlich immer eine wesentliche Aenderung in der Brauchbarkeit des Theiles mit sich bringen. Die einfache Umwandlung des Knochens in Mark (S. 502) kann die Ursache werden für eine grosse Fragilität der Knochen, und die =Osteomalacie= beruht ihrem Wesen nach auf gar nichts Anderem, als darauf, dass compacte Knochensubstanz in Mark umgewandelt wird[285]. Eine excessive Markraumbildung rückt allmählich vom Innern des Knochens an die Oberfläche vor, beraubt den Knochen seiner Festigkeit, erzeugt ein an sich ganz normales, aber für die nothwendige Festigkeit der Theile unbrauchbares Gewebe und bereitet so die Zerstörung des Zusammenhanges mit einer gewissen Nothwendigkeit vor. Das Mark ist ein ausserordentlich weiches Gewebe, das in jenen Zuständen, wo es roth und zellenreich oder atrophisch und gallertig ist, fast flüssig wird. Die Thierärzte sprechen daher geradezu von einer »Markflüssigkeit« als einer besonderen Krankheitsform. Von dem Mark zu den vollkommen flüssigen Geweben ist ein kleiner Schritt, und die Grenzen zwischen Mark und Eiter lassen sich manchmal mit Sicherheit überhaupt gar nicht feststellen. Eiter ist für uns ein junges Gewebe, welches allmählich unter rapider Vermehrung der Zellen alle feste Intercellularsubstanz auflöst. Eine einzige Bindegewebszelle mag in kürzester Zeit einige Dutzend Eiterzellen produciren, denn der Eiter hat einen reissend schnellen Entwickelungsgang[286]. Aber das Resultat ist für den Körper nutzlos, die =Proliferation wird Luxuriation=[287]. Die Eiterung ist ein Consumtions-Vorgang, durch welchen überflüssige Theile erzeugt werden, welche nicht die Consolidation, die dauerhafte Beziehung zu einander und zur Nachbarschaft gewinnen, welche für das Bestehen des Körpers nothwendig ist. [285] Archiv IV. 307. V. 491. [286] Archiv I. 240. [287] Spec. Pathologie und Ther. I. 331. Untersuchen wir nun zunächst eben die =Geschichte der Eiterung=, so ergibt sich sofort, dass wir verschiedene Wege der Eiterbildung unterscheiden müssen, je nachdem nehmlich die Elemente des Eiters mit den farblosen Blutkörperchen identisch sind und unmittelbar aus dem Blute auswandern, oder von den Elementen der örtlichen Gewebe neu erzeugt werden. Als solche Matrices des Eiters können bezeichnet werden sowohl die erste von uns betrachtete Art von Geweben, die =der Epithelformation=, als auch die zweite, die =der Bindesubstanz=[288]. Ob es auch eine Eiterung gibt, die aus einem Gewebe der dritten Reihe hervorgeht, aus Muskeln, Nerven, Gefässen u. s. f., das ist insofern zweifelhaft, als man natürlich die Bindegewebs-Elemente, welche in die Zusammensetzung der grösseren Gefässe, Muskel-und Nervenmassen eingehen, von den eigentlich muskulösen, nervösen und vasculösen (capillären) Elementen ausscheiden muss. Nun haben freilich zuverlässige Beobachter, wie C. O. =Weber=, auch für diese Gewebe das Bestehen einer aus ihrem Parenchym hervorgehenden Eiterung beschrieben, indess kann ich darüber nichts Bestimmtes aussagen. Die Regel ist jedenfalls auch für diese Gewebe die =interstitielle Eiterung= (Fig. 144). [288] Archiv XIV. 58. XV. 530. [Illustration: =Fig=. 144. Interstitielle eiterige Muskelentzündung bei einer Puerpera _m m_ Muskelprimitivfasern, _i i_ Entwickelung von Eiterkörperchen aus der Wucherung der Körperchen des Zwischen-Bindegewebes. Vergr. 280.] Die Frage von der Eiterbildung ist im Laufe der Zeit ziemlich complicirt geworden. Während die neueren Beobachter viele Jahre lang es als selbstverständlich ansahen, dass die Eiterkörperchen aus dem Exsudate durch Urzeugung hervorgingen, stellten zuerst einzelne Untersucher, wie =William Addison= und =Gustav Zimmermann=, die Meinung auf, dass der Eiter wesentlich auf ausgetretene farblose Blutkörperchen (Lymphkörperchen) zurückzuführen sei. =Benno Reinhardt= zeigte dagegen, dass in dem Wundsecrete allerdings während der ersten Stunden die vorkommenden Zellen mit den gleichzeitig im Blute vorkommenden farblosen Blutkörperchen übereinstimmen, dass diess jedoch später nicht mehr der Fall sei. Allein auch er liess diese späteren Eiterkörperchen aus dem Exsudate entstehen. Nachdem ich jedoch dasjenige, was er für die Anfänge der jungen Eiterkörperchen ansah, vielmehr für spätere Producte, welche innerhalb alter Körperchen entstanden sind, erklären musste[289], und allmählich die Entstehung von Eiterkörperchen aus anderen Gewebselementen erkannte, so muss ich daran festhalten, dass nicht alle Elemente, welche sich irgendwo im Eiter finden, aus dem Blute stammen. Ich meinerseits habe nie daran gezweifelt, dass farblose Blutkörperchen in Exsudate übergehen[290]. Indess haben erst die Untersuchungen von =Waller= und namentlich von =Cohnheim= gezeigt, in wie grossem Maasse dies der Fall ist. Letzterer hat ausserdem durch direkte Beobachtung am Mesenterium des Frosches gefunden, dass das Austreten der farblosen Blutkörperchen nicht durch passive Exsudation, sondern durch active Auswanderung, und zwar überwiegend durch die Wandungen kleinerer Venen erfolgt, und wenngleich diese Thatsache von manchen Gegnern geradezu in Abrede gestellt ist, so kann doch über ihre Richtigkeit nach dem, was ich selbst gesehen habe, nicht der mindeste Zweifel sein. [289] Archiv X. 183. [290] Archiv I. 246. So bereitwillig ich diese Thatsache anerkenne, so sehr muss ich doch davor warnen, alle Rundzellen, welche im Eiter oder überhaupt in Exsudaten oder Secreten vorkommen, für ausgewanderte farblose Körperchen oder gar für Lymphkörperchen zu halten. Schon früher (S. 211) habe ich auf die Unterschiede aufmerksam gemacht, welche zwischen den Rundzellen der Lymphdrüsen, der Lymphflüssigkeit und des Blutes bestehen; hier muss ich hinzufügen, dass eine vorurtheilsfreie Untersuchung der Exsudat-und Secretzellen fernere und erhebliche Unterschiede vieler derselben von den Lymph- und farblosen Blutkörperchen ergibt. Auch haben sich andere Untersucher der neuesten Zeit in immer grösserer Zahl davon überzeugt, dass Eiterkörperchen durch Proliferation von Gewebselementen entstehen können. Die Grenzen zwischen diesen verschiedenen Arten von Zellen zu ziehen, ist gegenwärtig um so weniger möglich, als sich nicht leugnen lässt, dass auch die ausgewanderten farblosen Blutkörperchen weitere Veränderungen erfahren, wodurch sie von den gewöhnlichen, im Blute selbst enthaltenen farblosen Rundzellen verschieden werden. So lange die Eiterung eine blosse oberflächliche ist, so erfolgt sie natürlich auch ohne erheblichen Substanzverlust, mit einfacher Erosion, ohne Geschwürsbildung. Dies ist aber jedesmal der Fall, wo der Eiter in der Tiefe, namentlich im Bindegewebe entsteht. Die Sache gestaltet sich dabei gerade umgekehrt, wie man früher annahm, wo man dem Eiter direkt schmelzende Eigenschaften zuschrieb. =Der Eiter ist nicht das Schmelzende, sondern das Geschmolzene, d. h. das transformirte Gewebe=. Ein Theil wird weich, er schmilzt ein, indem er eitert, aber es ist nicht der fertige Eiter, welcher diese Erweichung bedingt, sondern umgekehrt, er ist es, welcher durch die Umwandlung des Gewebes hervorgebracht wird. Oberflächliche Eiterung sehen wir alle Tage sowohl an der =äusseren Haut=, als an manchen Schleim- und serösen Häuten. Am besten kann man sie da beobachten, wo im normalen Zustande geschichtetes Epithel vorhanden ist. Verfolgt man die Eiterung auf der äusseren Haut, wenn sie ohne Geschwürsbildung geschieht, so findet man regelmässig, dass sie an dem Rete Malpighii geschieht. Sie besteht theils in der Auswanderung farbloser Blutkörperchen, theils in einer Wucherung der Zellen mit Entwickelung neuer Elemente. In dem Maasse, als die Eiterung fortschreitet, bildet sich eine Ablösung der härteren Epidermislage, welche in Form einer Blase, einer Pustel erhoben wird. Der Ort, wo die Eiterung hauptsächlich erfolgt, entspricht den oberflächlichen Schichten des Rete, welche schon im Uebergange zur Epithelbildung begriffen sind; zieht man die Haut der Blase ab, so bleiben diese auch gewöhnlich an der Oberhaut sitzen. Gegen die tieferen Lagen hin kann man bemerken, wie die zelligen Elemente, welche ursprünglich einfache Kerne haben, sich theilen, die Kerne reichlicher werden, an die Stelle einzelner Zellen mehrere treten, deren Kerne sich ihrerseits wieder theilen. Gewöhnlich hat man sich auch hier damit geholfen, dass man angenommen hat, es würde zuerst ein amorphes Exsudat gesetzt, welches den Eiter in sich erzeuge, und bekanntlich sind viele von den Untersuchungen über die Entwickelung des Eiters gerade an solchen Flüssigkeiten gemacht worden. Es war sehr begreiflich, dass so lange, als man die discontinuirliche Zellenbildung überhaupt nicht bezweifelte, man ohne Weiteres die jungen Zellen als freie Neubildungen ansah und sich dachte, dass in der Flüssigkeit Keime entständen, welche, allmählich zahlreicher werdend, den Eiter lieferten. Aber die Sache ist die, dass je länger die Eiterung dauert, um so zuverlässiger eine Reihe von Zellen des Rete nach der anderen in den Prozess hineingezogen wird, und dass, während die Blase sich abhebt, die Masse der in die Höhle hineingelangenden Zellen immer grösser wird. Wenn eine Pockenpustel sich bildet, so ist zuerst ein Tröpfchen klarer Flüssigkeit vorhanden, aber darin entsteht nichts; die Flüssigkeit lockert nur die Nachbartheile auf. Ganz ebenso verhält es sich an den =Schleimhäuten=. Wir haben keine einzige Schleimhaut, die nicht unter Umständen puriforme Elemente liefern könnte. Allein auch hier zeigt sich eine grosse Verschiedenheit. Eine Schleimhaut ist um so weniger im Stande, ohne Ulceration Eiter zu produciren, je einfacher, je weniger geschichtet ihr Epithel ist. Alle Schleimhäute mit Cylinderepithel sind weniger geeignet, nicht ulcerativen Eiter zu erzeugen, als solche mit Pflasterepithel; das, was an ihnen erzeugt wird, ergibt sich, auch wenn es ein ganz eiteriges Aussehen hat, bei genauer Untersuchung häufig nur als hyperplastisches Epithel. Die Darmschleimhaut, namentlich die des Dünndarms, erzeugt fast nie Eiter ohne Geschwürsbildung. Die Schleimhaut des Uterus, der Tuben, die manchmal mit einer dicken Masse von ganz puriformem Aussehen überzogen ist, sondert fast immer nur Epithelelemente ab, während wir an anderen Schleimhäuten, wie an der Urethra, massenhafte Absonderungen von Eiter sehen, z. B. in Gonorrhöen (Fig. 72), ohne dass auch nur die mindeste Geschwürsbildung an der Oberfläche vorhanden wäre. Sind mehrfach geschichtete Zellen-Lagen da, so können die oberen eine Art von Schutz für die tieferen bilden, deren Wucherung eine Zeit lang gesichert wird. Der Eiter wird entweder durch nachdrängende Eitermasse endlich weggeschoben, oder es erfolgt, wie es gewöhnlich der Fall ist, gleichzeitig eine Transsudation von Flüssigkeit, welche die Eiterzellen von der Oberfläche entfernt, gerade so, wie bei der Samensecretion die Epithelial-Elemente der Samenkanälchen die Spermatozoen liefern, und ausserdem eine Flüssigkeit transsudirt, welche dieselben fortträgt. Aber die Spermatozoen entstehen nicht in der Flüssigkeit, sondern diese ist nur das Vehikel ihrer Fortbewegung (S. 39). Auf ähnliche Weise sehen wir häufig Flüssigkeiten an der Körperoberfläche exsudiren, ohne dass dieselben als Bildungsorte für Zellen betrachtet werden könnten. Findet gleichzeitig eine vermehrte Epithelbildung an der Oberfläche statt, so werden auch die durch das Transsudat losgelösten Bestandtheile nur wucherndes Epithel darstellen; wurde Eiter gebildet, so wird auch die Flüssigkeit Eiterkörperchen enthalten. Wenn man =Eiter=-, =Schleim=- und =Epithelialzellen= mit einander vergleicht, so ergibt sich, dass allerdings zwischen Eiterkörperchen und Epithelialzellen eine Reihe von Uebergängen oder Zwischenstufen besteht. Neben ausgebildeten, mit mehrfachen glatten, nicht nucleolirten Kernen versehenen Eiterkörperchen (Fig. 8, _A_. 72) finden sich sehr gewöhnlich etwas grössere, runde, granulirte Zellen mit einfachen gleichfalls granulirten Kernen und sehr deutlichen Kernkörperchen, die sogenannten =Schleimkörperchen= (Fig. 8, _B_); etwas weiter sehen wir vielleicht noch grössere Elemente von typischer Gestalt und mit einfachen grossen Kernen: diese nennen wir Epithelialzellen. Letztere sind platt oder eckig oder cylindrisch, je nach dem Orte von bestimmter typischer Beschaffenheit, während Schleim- und Eiterkörperchen durchweg ausgezeichnete =Rundzellen= (Kugeln, Globuli) sind. Schon aus diesem Umstande erklärt es sich, dass, während die Epithelzellen, die sich gegenseitig decken und aneinander schliessen, eine nicht unbeträchtliche Festigkeit des Zusammenhanges besitzen, die lose aneinander gelagerten, sphärisch gestalteten Schleim- und Eiterkörperchen eine sehr grosse Verschiebbarkeit haben und leicht vom Orte gerückt werden, was natürlich um so leichter geschieht, wenn gleichzeitig mit ihrer Anhäufung eine reichlichere Transsudation von Flüssigkeit erfolgt. Man hat schon früher gesagt, es seien die Schleimkörperchen weiter nichts, als junges Epithel. Einen Schritt weiter und man könnte sagen, die Eiterkörperchen wären weiter nichts, als junge Schleimkörperchen. Das ist etwas irrthümlich. Man kann nicht behaupten, dass eine Zelle, die bis zu dem Punkte eines sogenannten Schleimkörperchens als sphärisches Gebilde sich erhalten hat, noch im Stande wäre, die typische Form des Epithels anzunehmen, welches an der Stelle existiren sollte; eben so wenig ist es sicher, dass ein Eiterkörperchen, nachdem es sich regelmässig ausgebildet hat und lose geworden ist, sich wieder in einen Entwickelungsgang hineinzubegeben vermöchte, der ein relativ bleibendes Element des Körpers herzustellen im Stande wäre. Die Elemente, aus denen die Entwickelung neuer Gewebe überhaupt erfolgt, sind junge Formen, indifferente Bildungszellen (S. 493), aber sie sind keine eigentlichen Eiterkörperchen. Im Eiter beginnt jede neue Zelle sehr früh ihren Kern zu theilen; nach kurzer Zeit erreicht die Kerntheilung einen hohen Grad, ohne dass die Zelle selbst weiter wächst. Im Schleim pflegen die Zellen einfach zu wachsen und zum Theil sehr gross zu werden, ohne ihre Kerne zu theilen, aber sie überschreiten nicht gewisse Grenzen, und namentlich nehmen sie keine typische Gestalt an. Im Epithel dagegen fangen die Elemente schon sehr früh an, ihre besondere Gestalt zu zeigen, denn, »was ein Haken werden soll, das krümmt sich beizeiten.« Die allerjüngsten Elemente, welche unter pathologischen Verhältnissen gebildet werden, kann man aber nicht Epithelzellen nennen, wenigstens sind sie noch keine typischen Epithelzellen, sondern auch sie sind indifferente Bildungszellen, welche auch zu Schleim- oder Eiterkörperchen werden könnten. Eiter-, Schleim- und Epithelialzellen sind also pathologisch äquivalente Theile, welche einander wohl substituiren, aber nicht für einander functioniren können. Schon hieraus folgt, dass der gesuchte Unterschied zwischen Schleim und Eiter, für dessen Auffindung man im vorigen Jahrhunderte Preise aussetzte, eigentlich nicht gefunden werden konnte, und dass die »Proben« immer unzureichend sein mussten, insofern die Entwickelungen auf der Schleimhaut nicht, immer den rein purulenten, den rein mucösen oder den rein epithelialen Charakter haben, vielmehr in der grossen Mehrzahl der Fälle ein gemischter Zustand existirt. Fast jedesmal, wenn auf einer grossen Schleimhaut, wie auf den Harn- oder Geschlechtswegen, ein katarrhalischer Prozess sich entwickelt, erscheinen Eiterkörperchen, aber die Secretion derselben findet irgendwo ihre Grenze, von wo an nur Schleimkörperchen abgesondert werden, und auch die Absonderung der Schleimkörperchen geht irgendwo wieder in vermehrte Epithelbildung über. Diese Art von Eiterung wird natürlich immer das Resultat haben, dass an Stellen, wo sie eine gewisse Höhe erreicht, die natürlichen Decken der Oberfläche nicht zu Stande kommen, oder wo diese eine gewisse Festigkeit haben, dass sie abgehoben und zerstört werden. Eine Pustel an der Haut zerstört die Epidermis, und insofern können wir auch diesen Formen der Eiterung einen degenerativen Charakter beimessen. [Illustration: =Fig=. 145. Eiterige Granulation aus dem Unterhautgewebe des Kaninchens, im Umfange eines Ligaturfadens, _a_ Bindegewebskörperchen, _b_ Vergrösserung der Körperchen mit Theilung der Kerne, _c_ Theilung der Zellen (Granulation), d Entwickelung der Eiterkörperchen. Vergr. 300.] Degeneration im gewöhnlichen Sinne tritt jedoch erst dann ein, wenn tiefere Theile befallen werden. Diese tiefere, eigentlich ulcerative Eiterbildung geschieht regelmässig im =Bindegewebe= oder seinen Aequivalenten[291]. An ihm erfolgt zuerst eine Vergrösserung der Zellen (Bindegewebskörperchen), die Kerne theilen sich und wuchern eine Zeit lang excessiv. Auf dieses erste Stadium folgen dann sehr bald Theilungen der Elemente selbst. Im Umfange der gereizten Stellen, wo vorher einzelne Zellen lagen, findet man späterhin doppelte und mehrfache, aus denen sich gewöhnlich eine Neubildung homologer Art (hyperplastisches Bindegewebe) gestaltet. Nach innen hin dagegen, wo schon vorher die Elemente stark mit Kernen gefüllt werden, treten bald Haufen von kleinen Zellen auf, welche anfangs noch in den Richtungen und Formen liegen, wie die früheren Bindegewebskörperchen. Etwas später findet man hier rundliche Heerde oder diffuse »Infiltrationen«, innerhalb deren das Zwischengewebe äusserst spärlich ist und in dem Maasse, als die Zellenanhäufung sich weiter ausbreitet, immer mehr verzehrt oder erweicht wird. Einen wie grossen Antheil an diesen Vorgängen die Einwanderung farbloser Blutkörperchen aus den Gefässen hat, muss noch genauer festgestellt werden. Manche neueren, ziemlich einseitigen Auffassungen haben von offenbar falschen Voraussetzungen aus das Ergebniss der experimentellen Untersuchungen irrthümlich gedeutet. Indess ist dies um so mehr verzeihlich, da auch wir, indem wir nur der Proliferation gedachten, früher eben so einseitig waren. Für die spätere Geschichte der suppurativen Prozesse kommt übrigens wenig darauf an, ob man die neuen Zellen der Wucherung oder der Wanderung zuschreibt. [291] Archiv IV. 312. VIII. 415. XIV. 58. Spec. Pathol. u. Ther. I. 330, 337. Finden diese Prozesse an einer unversehrten Oberfläche statt, so sieht man zuweilen das Epithellager noch ganz zusammenhängend über die gereizte und etwas geschwollene Stelle hinweglaufen. Auch die äusserste Lage der Intercellularsubstanz erhält sich oft noch lange Zeit, während alle tieferen Theile des Bindegewebes schon mit Eiterkörperchen erfüllt, »infiltrirt« oder »abscedirt« sind. Endlich berstet die Oberfläche oder sie wird auch ohne Berstung direkt transformirt in eine weiche, zerfliessende Masse. Diese Formen geben nach und nach die sogenannten =Granulationen=, welche immer aus einem Gewebe bestehen, wo in eine schwache Quantität von weicher Intercellularsubstanz mehr oder weniger zahlreiche, wenigstens in dem eigentlich wuchernden Stadium der Granulationen runde Elemente eingesetzt sind. Je weiter wir gegen die Oberfläche kommen, um so mehr zeigen die Zellen, welche in der Tiefe mehr einkernig sind, Theilungen der Kerne und an der letzten Grenze kann man sie nicht mehr von Eiterkörperchen unterscheiden. Es pflegt dann eine Ablösung des Epithels stattzufinden, und endlich kann es sein, dass die Grundsubstanz zerfliesst und die einzelnen Elemente sich frei ablösen. Bleibt die Wucherung oder Auswanderung der Zellen reichlich, so bricht die Masse fortwährend auf, die Elemente schütten sich auf der Oberfläche aus, und es findet eine Zerstörung statt, welche immer tiefer in das Gewebe eingreift und immer mehr Elemente auf die Oberfläche wirft. Das ist das eigentliche =Geschwür=. Nach der gewöhnlichen Vorstellung, wo man den Eiter aus einem beliebigen Exsudat ableitete, war diese Art von Ulceration gar nicht recht begreiflich; man sah sich immer genöthigt, eine besondere Art der Umwandlung des Gewebes neben der Eiterung anzunehmen, und man kam endlich dahin, dem Eiter eine Fähigkeit der chemischen Lösung zuzuschreiben. Aber auf chirurgischem Wege hat man sich schon lange auf das Mannichfachste überzeugt, dass flüssiger Eiter nicht schmelzend einwirkt. Man hat in Eiterhöhlen Knochen hineingesteckt, sie wochenlang darin liegen lassen, und wenn man sie nachher hervorlangte und wog, so waren sie eher schwerer geworden durch Aufnahme flüssiger Substanz; es hatte sich aber kein Erweichungszustand gebildet, ausser dem durch Fäulniss bedingten. Nur die Granulationen und ähnliche wuchernde Gewebe »fressen« wirklich den Knochen an (S. 521). In wie weit bei der Eiterung das Gewebe durch eine wirkliche Auflösung zerstört wird, das hängt hauptsächlich davon ab, ob die Grundsubstanz, welche die jungen Elemente umgibt, vollkommen flüssig wird. Behält sie eine gewisse Consistenz, so beschränkt sich der Prozess auf die Hervorbringung von Granulationen, und diese können eben so gut hervorgehen aus einer intacten, wie aus einer vorher verletzten Oberfläche. In der Chirurgie nimmt man häufig an, dass die Granulationen sich stets auf der Oberfläche eines Substanzverlustes bilden, allein sie gehen jedesmal direkt aus dem Gewebe hervor. Sie entstehen unmittelbar in dem Knochen, ohne dass an demselben ein Substanzverlust vorherging. Ebenso direkt in der Cutis unter intacter Epidermis, ebenso an Schleimhäuten. Erst in dem Maasse, als sie sich entwickeln, verliert die Oberfläche ihren normalen Charakter. Jede solche Entwickelung, gleichviel ob sie am Epithel oder am Bindegewebe erfolgt, geschieht heerdweise[292], und zwar genau so, wie an der Grenze des Ossificationsrandes des Knochens, wo jene mächtigen Gruppen von Knorpelzellen liegen (Fig. 113, I. 134, _p_), welche einer einzigen früheren Knorpelzelle entsprechen. Es handelt sich dabei in der That um Vorgänge, welche in gewöhnlichen Erscheinungen des Wachsthums ihr Analogen finden. Wie ein Knorpel, wenn er nicht verkalkt, z. B. in der Rachitis, endlich so beweglich wird, dass er seine Function als Stützgebilde nicht mehr erfüllen kann, so schwindet überall unter der Entwickelung der Granulation und Eiterung allmählich die Festigkeit des Gewebes. Damit verbindet sich sehr gewöhnlich eine Lockerung des Zusammenhanges, eine Erweichung, endlich eine Schmelzung des Gewebes. So verschieden also scheinbar diese Vorgänge der Destruction von den Vorgängen des Wachsthums sind, so fallen sie doch an einem gewissen Punkte vollständig damit zusammen. =Es gibt ein Stadium, wo man nicht mit Sicherheit entscheiden kann, ob es sich an einem Theile um einfache Vorgänge des Wachsthums oder um die Entwickelung einer heteroplastischen, zerstörenden Form handelt=. [292] Spec. Pathologie und Therapie. I. 337. [Illustration: =Fig=. 146. Entwickelung von Krebs aus Bindegewebe bei Carcinoma mammae. _a_ Bindegewebskörperchen, _b_ Theilung der Kerne, _c_ Theilung der Zellen, _d_ reihenweise Anhäufung der Zellen, _e_ Vergrösserung der jungen Zellen und Bildung der Krebsheerde (Alveolen), _f_ weitere Vergrösserung der Zellen und der Heerde. _g_ Dieselbe Entwickelung auf dem Querschnitt. Vergr. 300.] Die eben geschilderte Art der Entwickelung ist aber nicht etwa dem Eiter als solchem eigenthümlich, sondern sie findet sich in ähnlicher Weise bei jeder heteroplastischen Entwickelung; die ersten Veränderungen, welche wir bei der Eiterung durch Proliferation constatiren, finden sich genau ebenso bei jeder Art von Heteroplasmen bis zu den äussersten malignen Formen hin[293]. Die erste Entwickelung des Sarkoms, des Krebses und Cancroids zeigt dieselben Stadien: man muss nur weit genug in der Entwickelungs-Geschichte zurückgehen, dann stösst man auch zuletzt immer auf ein Stadium, wo man in den tieferen und jüngeren Schichten indifferente Zellen antrifft, welche erst durch spätere Differenzirung je nach den Besonderheiten der Reizung den einen oder den anderen Typus annehmen. Man kann daher auch im Grossen die Geschichte der meisten Neubildungen, die ihrem Haupttheile nach aus Zellen bestehen, gleichviel welches Muttergewebe sie haben, unter einen ganz gleichen Gesichtspunkt bringen. Die Form, unter welcher der Krebs schliesslich ulcerirt, hat mit der eiterigen Ulceration eine so grosse Aehnlichkeit, dass man seit langer Zeit beide Dinge als gleichartige betrachtet hat; schon im Alterthum stellte man die fressende Form der Eiterung, die sogenannten Schanker (Cancer) in Parallele mit der krebsigen »Eiterung« oder Verjauchung. [293] Geschwülste I. 74, 89. Wesentlich verschieden gestalten sich aber die einzelnen Neubildungen in einer späteren Epoche ihrer Ausbildung dadurch, dass ihre Elemente eine sehr verschiedene Entwickelungshöhe erreichen, oder anders ausgedrückt, dass die Zeitdauer, für welche ihre Elemente angelegt werden, =das mittlere Lebensalter der einzelnen Elemente=[294], ausserordentlich verschieden ist. Im dritten Capitel (S. 67) habe ich diese Art der Betrachtung eingehend dargelegt und namentlich den Unterschied der Dauer- und Zeitgewebe ausführlich erörtert. Aber auch die Zeitgewebe (Telae temporariae) haben Elemente von sehr verschiedener Lebensdauer. Wenn wir an einem Punkte, wo Eiterung stattgefunden hat, einen Monat später untersuchen, so können wir, auch wenn der Eiter scheinbar immer noch vorhanden ist, nicht mehr darauf rechnen, in dem Heerde unversehrte Eiterkörperchen zu finden. Eiter, der Wochen und Monate lang irgendwo gesteckt hat ist genau genommen kein Eiter mehr; es ist zerfallene Masse, Detritus, aufgelöste Bestandtheile, welche durch fettige Metamorphose, faulige Umsetzung, Kalkablagerung und dergleichen mehr verändert sind. Dagegen kann ein Krebsknoten Monate lang bestehen und dann noch sämmtliche Elemente unversehrt enthalten. Wir können also mit Bestimmtheit sagen, dass ein krebsiges Element längere Zeit zu existiren vermag, als ein eiteriges, gerade so, wie die Schilddrüse länger existirt, als die Thymusdrüse, oder wie einzelne Theile des Sexualapparates auch im Laufe des gesunden Lebens frühzeitig zu Grunde gehen, während andere sich das ganze Leben hindurch erhalten (S. 73). So ist es auch bei pathologischen Neubildungen. Zu einer Zeit, wo gewisse Arten von Elementen schon lange ihren Rückbildungsgang angetreten haben, fangen andere erst an, ihre volle Entwickelung zu machen. Bei manchen Neubildungen beginnt die Rückbildung verhältnissmässig so frühzeitig, ja sie stellt so sehr den gewöhnlichen Befund dar, dass die besten Untersucher die Rückbildungsstadien für die eigentlich charakteristischen angesehen haben. Bei dem Tuberkel hatten bis zu meinen Untersuchungen eigentlich alle neueren Beobachter, welche sich ex professo mit dem Studium desselben befasst haben, sein Rückbildungsstadium für das eigentlich typische, das Ende für den Anfang genommen und daraus Schlüsse auf die Natur des ganzen Vorganges gezogen, welche man mit demselben Rechte auch auf die Rückbildungsstufen von Eiter und von Krebs hätte anwenden können[295]. [294] Archiv I. 194, 222. Spec. Pathol. u. Ther. I. 332. [295] Würzb. Verhandl. I. 84. II. 72. Archiv XXXIV. 69. Wir vermögen bis jetzt mit vollkommener Sicherheit für wenige Elemente in Zahlen anzugeben, welche mittlere Lebensdauer ihnen zukommt. Offenbar existiren hier ähnliche Schwankungen, wie bei den normalen Organen. Allein unter allen pathologischen Neubildungen mit flüssiger Intercellularsubstanz gibt es keine einzige, welche sich dauerhaft zu erhalten vermöchte, keine einzige, deren Elemente zu bleibenden Bestandtheilen des Körpers werden und so lange existiren könnten, wie das Individuum. Es könnte dies allerdings insofern zweifelhaft erscheinen, als manche Arten von malignen Geschwülsten viele Jahre hindurch bestehen und das Individuum sie von dem Zeitpunkte an, wo sie sich entwickeln, bis zu seinem vielleicht sehr spät erfolgenden Tode behält. =Allein man muss die Geschwulst als Ganzes von den einzelnen Theilen derselben unterscheiden=. Innerhalb einer Krebsgeschwulst, die viele Jahre lang besteht, sind es nicht dieselben Elemente, welche so lange bestehen; vielmehr erfolgt eine oft sehr zahlreiche Succession immer neuer Bildungen. Diese Bildungen können innerhalb der Grenzen des Gesammtgebildes liegen, so dass dieses gleichsam von innen heraus immer mehr »auswächst« und anschwillt. Am besten sieht man dies bei Polypen, welche daher auch schon seit alten Zeiten als ein Mustergebilde für die eigentlich parasitischen Gewächse angesehen worden sind. Aber für die Mehrzahl der Neubildungen, namentlich der im Inneren der Organe auftretenden, gilt diese Erfahrung nur im geringen Umfange. Die erste Entwickelung einer Geschwulst oder eines Abscesses geschieht hier an einem bestimmten Punkte, aber ihr weiteres Wachsthum besteht in der Regel nicht darin, dass aus diesem Punkte heraus immer neue Entwickelungen geschehen, oder dass hier eine Intussusception von Stoffen stattfindet, welche zu einer dauerhaften Entfaltung des Ganzen nach ausserhalb verarbeitet werden. Vielmehr bilden sich im Umfange des ersten Heerdes neue kleine, accessorische Heerde, welche, indem sie sich vergrössern, sich dem ersten anschliessen und so nach und nach eine immer weiter gehende Vergrösserung des einmal bestehenden Knotens setzen[296]. Liegt die Geschwulst an der Oberfläche eines Organs, so zeigt sich auf dem Durchschnitte eine halbkreisförmige Zone jüngster Substanz an der Peripherie des Knotens; liegt sie inmitten eines Organs, so bilden die neuen Appositionen eine sphärische Schale um das ältere Centrum. Untersuchen wir eine Geschwulst, nachdem sie vielleicht ein Jahr lang bestanden, so ergibt sich gewöhnlich, dass in der Mitte die zuerst gebildeten Elemente gar nicht mehr vorhanden sind. Hier finden wir die Elemente zerfallen, durch fettige Prozesse aufgelöst. Liegt die Geschwulst an einer Oberfläche, so besitzt sie, oft in der Mitte ihrer Hervorragung eine nabelförmige Einziehung, und das nächste Stück darunter stellt eine dichte Narbe dar, welche nicht mehr den ursprünglichen Charakter der Neubildung an sich trägt. Diese rückgängigen Formen habe ich zuerst beim Krebs beschrieben, besonders an der Leber, der Lunge und dem Darm, wo sie leicht zu constatiren sind[297]. [296] Archiv V. 238. Geschwülste I. 50, 98. [297] Archiv I. 184-92. Immer kann man sich überzeugen, dass, =was man eine Geschwulst nennt und als eine Einheit betrachtet, vielmehr eine Vielheit, eine oft unzählbar grosse Summe von vielen kleinen miliaren Heerden ist=, von denen jeder einzelne zurückgeführt werden muss auf einzelne oder wenige Mutter-Elemente. Indem in dieser Weise die Bildungen fortschreiten, gleichviel ob Eiter oder Tuberkel oder Krebs, so setzen sich immer neue Zonen von jungen Heerden an die alten an, und wir werden, wenn wir überhaupt die Entwickelungsgeschichte solcher Neoplasmen verfolgen wollen, mit grosser Sicherheit darauf rechnen können, dass in der äussersten Umgebung die jungen, im Centrum die alten Theile liegen. =Nun erstreckt sich aber die Zone der letzten Erkrankung gewöhnlich um ein Bedeutendes über die mit blossem Auge erkennbare Zone der Veränderung hinaus=. Wenn man irgend eine wuchernde Geschwulst von zelligem Charakter untersucht, so findet man oft 3-5 Linien weit über die scheinbare Grenze der Geschwulst hinaus die Gewebe schon erkrankt und die Anlage einer neuen Zone gegeben. Liegt die Neubildung in einem Theile, dessen Gewebe in gewissen Richtungen der Erkrankung sehr viel leichter zugänglich sind, so wird begreiflich die junge Masse keine eigentliche Zone oder Schale um den alten Heerd bilden, sondern sich vielleicht strangförmig in jenen Richtungen fortsetzen. Das ist die Hauptquelle für die örtlichen Recidive nach der Exstirpation, denn diese kommen dadurch zu Stande, dass die für das blosse Auge nicht erkennbare Zone, sowie die nächsten hinderlichen Momente weggefallen sind, zu wachsen anfängt. Es geschieht hier keine neue Ablagerung vom Blut aus, sondern es sind die schon in dem benachbarten Gewebe vorhandenen, neugebildeten Keime, welche in derselben Weise, wie das sonst geschehen sein würde, oder auch wohl noch schneller ihre weitere Entwickelung durchmachen[298]. [298] Geschwülste I. 46. Diese Erfahrung halte ich deshalb für ausserordentlich wichtig, weil sie uns zeigt, dass alle diese Bildungen einen =contagiösen Habitus= an sich haben. Solange, als man sich dachte, dass die einmal gegebene Masse nur von sich aus wuchere, so lange konnte es natürlich scheinen, als habe man weiter keine andere Aufgabe, als der Geschwulst die weitere Zufuhr abzuschneiden. Aber es wird offenbar in dem Heerde selbst ein contagiöser Stoff gebildet, und wenn die zunächst an den Erkrankungsheerd anstossenden Elemente, welche durch Anastomosen mit den erkrankten Elementen in Verbindung stehen, gleichfalls die heterologe Wucherung eingehen, so kann man sich die Sache wohl nicht anders denken, als dass die Erkrankung genau ebenso erfolgt, wie die Erkrankung der nächsten Lymphdrüsen, welche in der Richtung des von der erkrankten Stelle ausgehenden Lymphstromes liegen. Je mehr Anastomosen die Theile besitzen, um so leichter erkranken sie, und umgekehrt. An dem Knorpel sind die malignen Erkrankungen so selten, dass man in der Regel annimmt, er sei ganz und gar unfähig dazu. So findet man zuweilen an einem Gelenke über sarkomatösen oder carcinomatösen Geschwülsten nur noch den Knorpelüberzug erhalten, während alles andere zerstört ist. So sehen wir, dass die fibrösen Theile, welche reich sind an elastischen Elementen, z. B. die Fascien, sehr wenig Disposition zu contagiöser Erkrankung haben, ja lange Zeit als Isolatoren krankhafter Prozesse dienen. Dagegen, je weicher ein Grundgewebe ist, je besser die Leitung stattfinden kann, um so sicherer können wir erwarten, dass bei Gelegenheit in dem Theile neue Erkrankungsheerde auftreten werden. Ich habe deshalb geschlossen, dass die Infection von dem bestehenden Heerde auf die anastomosirenden Nachbarelemente unmittelbar durch kranke Säfte übertragen wird, =ohne Dazwischenkunft von Gefässen und Nerven=[299]. Freilich sind die Nerven oft die besten Leiter für die Fortpflanzung von contagiösen Neubildungen, aber nicht als Nerven, sondern als Theile mit weichem Zwischengewebe (Perineurium). [299] Archiv V. 246. Spec. Pathol. u. Ther. I. 339. Geschwülste I. 51. Hier ergibt sich die Bedeutung der anastomosirenden Elemente des Gewebes, der Werth der Cellular-Theorie für die Deutung der Prozesse auf das Augenscheinlichste. Man kann, wenn man einmal diese Art der Leitung kennen gelernt hat, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersehen, wohin in gewissen Theilen mit bekannter Art der Leitung die Richtung der Erkrankung gehen werde, und wo die grössere oder geringere Gefahr liegt. Auch wird es begreiflich, dass die Gefahr nicht bloss nach der Natur des Krankheitsprozesses, sondern auch nach der anatomischen Einrichtung des befallenen Organes verschieden gross ist, und dass derselbe Prozess an verschiedenen Organen, ganz abgesehen von der functionellen Bedeutung der letzteren, einen ganz verschiedenen Werth hat. Es ist bis jetzt unerweislich, ob in derselben Weise, wie die Infection der Nachbartheile wahrscheinlich geschieht, nehmlich durch Saftleitung, auch die Infection entfernter Theile zu Stande kommt, ob namentlich das Blut von dem Heerde aus etwas Schädliches aufnimmt und einem entfernten Orte zuleitet. Ich muss bekennen, dass ich in Beziehung auf die Einzelheiten dieses Vorganges keine hinreichend beweisenden Thatsachen kenne, und dass ich die Möglichkeit zugeben muss, dass die Verbreitung durch Gefässe möglicher Weise auf einer Zerstreuung von Zellen aus den Geschwülsten selbst beruhen mag. Indessen gibt es auch hier viele Thatsachen, welche für die Infection durch wirklich losgelöste Zellen sehr wenig sprechen, z. B. den Umstand, dass gewisse Prozesse gegen den Lauf der Lymphströmung fortschreiten, dass nach einem Brustkrebs eine Erkrankung der Leber stattfindet, während die Lunge frei bleibt. Hier scheint es ziemlich wahrscheinlich zu sein, dass Säfte aufgenommen werden, welche die weitere Verbreitung bedingen (S. 257). Natürlich schliesst die Contagion durch inficirende Säfte die Möglichkeit einer Contagion durch =Seminien= im zelligen Sinne nicht aus. Ich habe schon früher Thatsachen mitgetheilt[300], welche für eine =Dissemination= durch Zellen sprechen, und seitdem wir die automatischen Bewegungen vieler thierischer Elemente kennen gelernt haben (S. 353), ist diese Möglichkeit noch näher getreten. Indess muss man sich ja hüten, nicht exclusiv zu sein. Gerade die neuesten Erfahrungen über die Impfbarkeit des Tuberkels haben gelehrt, dass es zur Hervorrufung neuer Tuberkel keiner wirklich tuberkulösen und selbst keiner lebenden Zellen bedarf, sondern dass allerlei regressive Stoffe diese Fähigkeit in hohem Maasse an sich haben. [300] Geschwülste I. 54. Mit diesen Vorkenntnissen ist es nicht schwierig, eine andere Frage zu beantworten, welche sowohl praktisch, als theoretisch sehr wichtig ist, nehmlich die über den sogenannten =Parasitismus= der Neubildungen[301]. [301] Archiv IV. 390. Spec. Pathol. u. Ther. I. 334. Geschwülste I. 19, 105. Nach meiner Meinung ist der Gesichtspunkt des Parasitismus, den die Alten für einen grossen Theil der Neubildungen festhielten, vollkommen gerechtfertigt. In der That muss jede Neubildung, welche dem Körper keine brauchbaren Gebilde zuführt, als ein parasitisches Wesen am Körper betrachtet werden. Erinnere man sich nur, dass der Begriff des Parasitismus nur graduell etwas Anderes bedeutet, als der Begriff der Autonomie jedes Theiles des Körpers. Jede einzelne Epithelial- und Muskelzelle, jedes Knorpel- und Bindegewebskörperchen führt im Verhältniss zu dem übrigen Körper eine Art von Parasitenexistenz, so gut wie jede einzelne Zelle eines Baumes im Verhältniss zu den anderen Zellen desselben Baumes eine besondere, ihr allein zugehörende Existenz hat und den übrigen Elementen für ihre Bedürfnisse (Zwecke) gewisse Stoffe entzieht. Der Begriff des Parasitismus, im engeren Sinne des Wortes, entwickelt sich unmittelbar aus dem Begriffe der Selbständigkeit der einzelnen Theile. Der Grad der Selbständigkeit der einzelnen Theile ist aber überaus verschieden. Während gewisse Elemente, z. B. die Ganglienzellen, sich nur im stetigen Zusammenhange mit dem Körper erhalten, können andere, wie die Flimmerzellen, die farblosen Blutkörperchen lange Zeit davon getrennt sein und doch ihre Eigenschaften bewahren. Wandert ein mobilisirtes Bindegewebskörperchen aus und siedelt es sich an einem anderen Orte an, so verhält es sich nahezu, wie ein Entozoon, welches in den Körper eingewandert ist, und es kann seine neue Existenz, wie das Entozoon, nur begründen, indem es sich parasitisch von der Nachbarschaft ernährt. Aus dieser Analogie erklärt es sich, dass ein Entozoon, wie ein Theil des Körpers selbst, sich einem fremden Organismus einfügen kann, und dass die mehr heterologen Neubildungen, deren scheinbare Fremdartigkeit so viele Beobachter irregeführt hat, von Vielen als entozoische Wesen angesprochen worden sind. So lange das Bedürfniss der übrigen Theile die Existenz eines Theiles voraussetzt, so lange dieser Theil in irgend einer Weise den anderen Theilen nützlich ist, so lange spricht man nicht von einem Parasiten; man thut dies aber von dem Augenblicke an, wo der Theil dem übrigen Körper fremd oder schädlich wird. Der Begriff des Parasiten ist daher nicht zu beschränken auf eine einzelne Reihe von Geschwülsten, sondern er gehört allen plastischen (formativen) Erzeugnissen an, vor Allem den heteroplastischen, welche in ihrer weiteren Entwickelung nicht homologe Producte, sondern Neubildungen hervorbringen, welche für die Zusammensetzung des Körpers mehr oder weniger ungehörig sind. Ein jedes ihrer Elemente entzieht dem Körper Stoffe, welche zu anderen Zwecken gebraucht werden könnten, und da das Neoplasma schon von vornherein durch seine Bildung (S. 527) normale Theile zerstört hat, da schon seine erste Entwickelung den Untergang seiner Muttergebilde voraussetzt, so wirkt es sowohl destructiv im Beginne, als auch räuberisch im Verlaufe. Zweiundzwanzigstes Capitel. Form und Wesen der pathologischen Neubildungen. Terminologie und Classification der pathologischen Neubildungen. Die Consistenz als Eintheilungsprinzip. Vergleich mit einzelnen Körpertheilen. Histologische Eintheilung. Die scheinbare Heterologie des Tuberkels, Colloids u. s. f. Verschiedenheit von Form und Wesen: Colloid, Epitheliom, Papillargeschwulst, Tuberkel. Die Papillargeschwülste: einfache (Condylome, Papillome) und specifische (Zottenkrebs, Blumenkohlgeschwulst). Der Tuberkel: Infiltration und Granulation. Tuberkelkörperchen. Der entzündliche Ursprung der Tuberkel. Käsige Pneumonie und Osteomyelitis. Die Granulie. Entstehung der Tuberkel aus Bindegewebe. Das miliare Korn und der solitäre Knoten. Die käsige Metamorphose. Das Colloid: Myxom. Collonema. Schleim- oder Gallertkrebs. Die physiologischen Typen der heterologen Neubildungen: lymphoide Natur des Tuberkels, hämatoide des Eiters, epithelioide des Krebses, des Cancroids, der Perlgeschwulst und des Dermoids, bindegewebige des Sarkoms. Heterotopie der Bildung. Der Streit über die Entstehung des Cancroids und Carcinoms. Infectionsfähigkeit, nach dem Saftgehalt der specifischen Beschaffenheit und der Wanderfähigkeit der Elemente. Erregung der Tuberculose durch regressive Stoffe. Vergleich der pathologischen Neubildung bei Thieren und Pflanzen. Schluss. Der praktische Arzt, welcher mit pathologischen Neubildungen zu thun hat und dieselben diagnosticiren soll, stellt zunächst die Frage an die Pathologen, an welchem Punkte eigentlich die Differenzirung der Neubildungen und damit die Möglichkeit ihrer Diagnose beginne. Mit Recht genügt es ihm nicht, zu wissen, dass die grosse Mehrzahl der Neubildungen aus Bindegewebe oder aus Theilen, welche dem Bindegewebe aequivalent sind, eine kleinere Zahl aus Epithel und lymphatischen Gebilden hervorgeht, dass die ersten Anlagen für viele Neubildungen nahezu gleichartig sind, dass im Besonderen die Theilung der Kerne, ihre Vermehrung, die endliche Theilung der Zellen in fast allen Neubildungen, in den gut- wie bösartigen, in den hyperplastischen wie heteroplastischen sich auf dieselbe Weise darstellt. Glücklicherweise ist aber diese Gleichartigkeit eine vorübergehende; es dauert nicht lange, bis an jedem einzelnen Gebilde irgend eine charakteristische Erscheinung hervortritt, wodurch wir in die Lage gesetzt werden, seine Natur deutlich zu erkennen. In diesem Punkte, wo es sich um die Kriterien der Neubildungen handelt, ist freilich auch gegenwärtig eine Einigkeit der Ansichten keinesweges gewonnen, und auch hier ist es daher meine Aufgabe, zu zeigen, wie ich zu meinen, zum Theil so abweichenden Ansichten gelangt bin, und aus welchen Gründen ich mich von dem ausgetretenen Wege entfernen zu müssen geglaubt habe. Die Namen, mit denen man die einzelnen Neubildungen zu belegen pflegt, haben sich, wie man weiss, oft ziemlich zufällig, zum Theil in sehr willkürlicher Weise gestaltet[302]. Der Versuch, eine regelmässige Terminologie herzustellen, ist in älterer Zeit eigentlich nur in Beziehung auf die Consistenz der Geschwülste gemacht worden, indem man Eintheilungsgründe davon hernahm, dass die Substanz der Neubildung bald hart, bald weich, flüssig, breiig, gallertartig u. s. f. ist, und danach die Steatome, die Skirrhen, die Meliceriden, die Atherome u. s. w. von einander trennte. Es versteht sich von selbst, dass die Begriffe, welche man jetzt an manche dieser Dinge knüpft, abgethan werden müssen, wenn man die ursprüngliche Bedeutung jener Bezeichnungen verstehen will. Wenn man heut zu Tage einen atheromatösen Prozess statuirt, so ist das etwas, was den Alten ganz fern gelegen hat. Wenn die heutigen Geschwulstanatomen sich bemühen, ein Steatom zu entdecken, welches eine feste Fettgeschwulst sein soll, so muss man sich erinnern, dass die Stearin-Fabrikation zur Zeit, als das Steatom aufkam, noch nicht bekannt war, und dass die Alten niemals den Gedanken gehabt haben, welcher den heutigen Geschwulstlehrern nicht aus dem Kopfe will, dass das Steatom eine Stearin- oder überhaupt eine Fettgewebsgeschwulst sei. Gewöhnlich meinte man nur eine etwas derbere, »speckige« Geschwulst (S. 433). In diesem Sinne sprach noch =Bichat= von einem steatomatösen Zustande der skrofulösen Lymphdrüsen, womit er offenbar dasselbe meinte, was ich den käsigen Zustand genannt habe. [302] Geschwülste I. 9. Die besseren Bezeichnungen, welche man im Anfange dieses Jahrhunderts einzuführen begann, stützten sich mehr auf Vergleichungen, welche man zwischen den Neubildungen und einzelnen normalen Theilen oder Geweben des Körpers machte. Der Ausdruck »Markschwamm« ging ja ursprünglich aus der Vorstellung hervor, dass die Markschwämme von den Nerven entständen und sich in ihrer Zusammensetzung wie Nervenmasse verhielten. Diese Vergleiche sind aber bis in die Neuzeit immer sehr willkürlich gewesen, weil man sich auf mehr oder weniger grobe Aehnlichkeiten in der äusseren Erscheinung stützte, ohne die feineren Besonderheiten des Baues und namentlich die wirklich histologische Zusammensetzung zu würdigen. Neuerlich hat man, hier und da sogar mit einer grossen Affectation, angefangen, die normalen Gebilde für eine gewisse Reihe von Neubildungen als terminologische Anhaltspunkte zu benutzen. Manche legen einen gewissen Werth darauf und halten es für mehr wissenschaftlich, Epitheliom zu sagen, wo Andere Cancroid oder Epithelialkrebs sagen. So hat man in Frankreich bekanntlich sehr viel Gewicht darauf gelegt, die Sarkome fibroplastische Geschwülste zu nennen, weil man mit =Schwann= das geschwänzte Körperchen für den Ausgang der Faserbildung im Bindegewebe hielt, was meiner Ansicht nach (S. 41) ein Irrthum ist. Allein trotz dieser Verirrungen ist es nothwendig, den histologischen Gesichtspunkt als den entscheidenden zu betrachten; nur, glaube ich, ist es von vorn herein nicht anzurathen, dass man von diesem Gesichtspunkte aus sofort dazu schreitet, für alle Dinge neue Namen zu machen, und Dinge, welche man seit langer Zeit kennt, durch neue Namen dem allgemeinen Bewusstsein zu entfremden. Selbst Neubildungen, welche ganz evident dem Typus irgend eines bestimmten normalen Gewebes folgen, haben doch meistentheils Eigenthümlichkeiten, wodurch man sie von diesem Gewebe mehr oder weniger unterscheiden kann, so dass man keinesweges, wenigstens bei der Mehrzahl, die ganze Neubildung zu sehen braucht, um zu wissen, dass dies nicht die normale, regelmässige Entwickelung des Gewebes ist, dass vielmehr in derselben, trotzdem dass sie den Typus nicht verliert, doch etwas von dem gewöhnlichen Gange homologer Entwickelung Abweichendes liegt. Auch blieb in der Regel eine gewisse Zahl von Neubildungen übrig, bei denen man, zum Theil aus Mangel an bekannten physiologischen Typen, die äussere Erscheinung oder den klinischen Charakter als Grund der Terminologie beibehielt. Man spricht immer noch von einem Tuberkel, und der altgriechische Name, den =Fuchs= dafür wieder einzuführen versucht hat, Phyma, ist ein so unbestimmter, so leicht auf jedes »Gewächs« anwendbarer[303], dass er keine grosse Zustimmung gefunden hat. Manche andere Namen hat man in der letzten Zeit in einer immer grösseren Ausdehnung gebraucht, welche auch nichts weiter als Lückenbüsser sind, z. B. den des =Colloids=. Dieser Name ist im Anfange unseres Jahrhunderts von =Laennec= erfunden worden für eine Form von Geschwulst, welche er der Consistenz nach als analog dem halberstarrten Tischlerleim (Colla) bezeichnete; in ihrer recht entwickelten Form stellt sie eine halb zitternde Gelatine von farblosem oder leicht gelblichem Aussehen dar, welche im Ganzen den Eindruck einer fast strukturlosen Beschaffenheit macht. Während man sich früherhin vollkommen befriedigt erklärte, wenn man Zustände dieser Art als gallertartige, gelatinöse bezeichnete, so ist es manchen Neueren als ein Beweis höherer Einsicht erschienen, wenn sie statt Gallertgeschwulst oder Gallertmasse Colloidgeschwulst oder Colloidmasse sagten. Aber man muss ja nicht glauben, dass diejenigen, welche diese Bezeichnungen am meisten im Munde führen, damit etwas anderes ausdrücken wollen, als was die meisten Anderen einfach Gallertgeschwulst oder Gallerte oder Sulze kurzweg nennen. Es ist damit gerade wie zu den Zeiten =Homer='s mit dem Kraut [Griechisch: Môly], welches in der Sprache der Götter so genannt ward, anders aber von den Menschen[304]. Es ist daher sehr rathsam, dass man diese eigentlich nichtssagenden und nur hochtönenden Ausdrücke nicht unnöthiger Weise ausbreite, und dass man sich daran gewöhne, mit jedem Ausdrucke etwas Präcises zu sagen. Wenn man also wirklich prätendirt, histologische Eintheilungen zu machen, so darf man nicht mehr für jede Gallertgeschwulst den Ausdruck Colloid in Anwendung bringen, der überhaupt keinen histologischen Werth hat, sondern eben nur ein äusseres Aussehen ausdrückt, welches die allerverschiedenartigsten Gewebe unter Umständen annehmen können. =Laennec= selbst hat in einer etwas verderblichen Weise die Bahn gebrochen, indem er von einer colloiden Umwandlung fibrinöser Exsudate der Pleura gesprochen hat. [303] Archiv XXXIV. 21. Geschwülste I. 9. II. 560. [304] Odyss. X. 305. Anmerkung des Stenographen. Die Hauptschwierigkeit, welche sich hier ergibt, beruht darin, dass man keinen Unterschied zwischen =der blossen Form und dem Wesen= zu finden weiss. Man darf die Form nur da als entscheidendes Kriterium für die Diagnose verschiedener Neubildungen zulassen, wo sie eben auch mit einer wirklichen Eigenartigkeit des Gewebes zusammenhängt und nicht bloss aus zufälligen Eigenthümlichkeiten des Ortes oder der Lagerung resultirt. Will man z. B. den Namen des Colloids anwenden, so kann man zwei Wege einschlagen. Man kann entweder damit nichts weiter als eine besondere Art des Aussehens bezeichnen, und dann wird man allerdings verschiedene Geschwülste bekommen können, welche durch den adjectivischen Zusatz »colloid« von anderen Geschwülsten derselben Art unterschieden werden mögen. Man kann also sagen: Colloidkrebs, Colloidsarkom, Colloidfibrom. Hier bezeichnet colloid weiter nichts, als gallertig oder sulzig. Will man dagegen einen bestimmten Begriff von dem Wesen, der chemischen oder physicalischen Besonderheit der Colloidsubstanz oder der morphologischen Natur des Colloidgewebes haben, so kann man nicht zwei genetisch, chemisch und morphologisch ganz verschiedene Producte, wie das Schilddrüsen-Colloid[305] und den Colloidkrebs, zusammen bringen. [305] Geschwülste III. 27. Eine grosse Menge von Geschwülsten bringt, wenn sie an der Oberfläche sitzen, Wucherungen der Oberfläche mit sich, welche, je nach der Natur der Oberfläche, in Form von Zotten, Papillen oder Warzen hervortreten (Fig. 93, 131). Man kann alle diese Geschwülste unter einem Namen zusammenfassen und sie Papillome nennen, allein die Geschwülste, welche diese Form haben, sind oft toto coelo von einander verschieden[306]. Während der eine Fall eine wahre hyperplastische Entwickelung darstellt[307], so finden wir in einem anderen im Grunde dieser Zotten, da, wo sie auf der Haut oder Schleimhaut aufsitzen, irgend eine besondere Art von Geschwulst. In manchen Fällen sind selbst die Zotten mit dieser Geschwulstmasse gefüllt. Dies ist ein sehr wesentlicher Unterschied. An einem =breiten Condylom= (Schleimtuberkel oder Plaque muqueuse von =Ricord=) findet man unter der an sich noch glatten Oberhaut die Papillen sich vergrössernd und endlich in ästige Figuren auswachsend, so dass sie förmliche Bäume darstellen. Diese Form des Condyloms kann aber verbunden sein mit einer =krebsigen= Entwickelung. An der Haut geschieht das verhältnissmässig weniger häufig, als an manchen Schleimhäuten. Hier kann es kommen, dass wirklicher Krebs in den Zotten sitzt. Es ist dies ja an sich nicht auffällig. Die Papille besteht aus Bindegewebe, wie die Haut, auf welcher sie sitzt; es kann also innerhalb der Papillen vom Bindegewebe (Stroma) aus eine Entwickelung von Krebsmasse stattfinden, wie von dem Bindegewebe der Haut. Nun lässt sich andererseits nicht leugnen, dass diese Besonderheit der Oberflächen-Bildung sehr häufig gewisse Eigenthümlichkeiten des Verlaufes erklärt, wodurch eine Papillärgeschwulst von derselben Art von Geschwulst, welche nicht papillär ist, sich auffallend unterscheidet. Jemand kann einen Blasenkrebs, wenn derselbe einfach in der Wand sitzt, sehr lange tragen, ohne dass in der Art der Absonderung, welche mit dem Harn entleert werden muss, andere Veränderungen zu bestehen brauchen, als die eines einfachen Katarrhs. Sobald dagegen eine Zottenbildung an der Oberfläche stattfindet, so ist nichts gewöhnlicher, als dass sich Hämaturie damit complicirt, aus dem einfachen Grunde, weil jede Zotte auf der Harnblasenwand nicht mit einem festen Epidermisstratum überzogen wird, sondern unter einem losen Epithel fast frei zu Tage liegt. In das Innere der Zotten treten grosse Gefässschlingen ein, welche bis an die äusserste Oberfläche reichen; jede erhebliche mechanische Einwirkung gibt daher ein Moment für Hyperämie und Berstung der Zotten ab. Eine krampfhafte Zusammenziehung der Harnblase treibt, indem die Fläche, auf welcher die Zotten aufsitzen, sich verkürzt, das Blut in die Zottenspitzen, und wenn nun noch die mechanische Friction der Flächen hinzukommt, so ist nichts leichter, als dass eine bald mehr bald weniger beträchtliche Blutung erfolgt. Damit aber eine solche Blutaustretung zu Stande komme, ist es durchaus unnöthig, dass die Papillargeschwulst krebsig ist. Ich habe Fälle gesehen, wo Jahre lang von Zeit zu Zeit heftige und schliesslich unstillbare Blutungen eintraten, unter denen die Kranken endlich anämisch zu Grunde gingen, und wo nicht die Spur von einer krebsigen Infiltration des Grundes oder der Zotten existirte, sondern wo es eine ganz einfache Papillargeschwulst war, eine gutartige Bildung, welche an der Oberfläche der Haut mit Leichtigkeit hätte abgeschnitten oder abgebunden werden können, welche aber bei der Verborgenheit des Sitzes hier eine Reihe von Erscheinungen mit sich brachte, die man bei Lebzeiten nicht anders, als auf eine wirklich bösartige Neubildung zu beziehen wusste. [306] Würzburger Verhandl. I. 107. [307] Geschwülste I. 334. Ganz ähnlich verhält es sich mit den viel besprochenen =Blumenkohl-Geschwülsten=[308], wie sie sowohl an der Oberfläche der Genitalien des Mannes, als auch der Frau vorkommen. Bei dem Manne, wo diese Papillärgeschwülste, ausgehend vom Praeputium, die Corona glandis umkränzen, sind sie meistentheils von einer sehr dicken Epidermis-Lage überzogen, so dass sie auch bei der Ulceration kaum eine erhebliche Absonderung liefern. Bei der Frau dagegen, wo die Geschwulst am Collum uteri, einem sehr gefässreichen, mit einem schwachen Epithelstratum überzogenen, von Natur mit einem reichen Papillarlager versehenen Theile sich findet, bedingt sie meistentheils sehr frühzeitig starke Transsudationen und bei Gelegenheit hämorrhagiscbe Austretungen von fleischwasserartiger oder wirklich rother, cruenter Flüssigkeit. Bei diesen Formen ist man häufig im Zweifel gewesen, um was es sich handelt. Ich habe es erlebt, dass ein renommirter Chirurg in die Klinik von =Dieffenbach= kam, welcher eben einen Penis wegen »Carcinom« amputirte, und dass der fremde Chirurg nachher erklärte, es sei ein einfaches Condylom gewesen. Hinwiederum habe ich Fälle untersucht, wo man Jahre lang an diesen Dingen herumkurirt hat, als ob es syphilitische Condylome wären, weil die äussere Erscheinung so überaus analog und es so überaus schwierig ist, das Kriterium zu ermitteln, welches genau die Entscheidung gibt, ob die Bildung nur der Oberfläche angehört, oder ob sie complicirt ist mit der Erkrankung des unterliegenden Gewebes. Es gibt allerdings heute sehr viele Anatomen und Chirurgen, welche die Vorstellung haben, dass auch an der Oberfläche ähnliche Bildungen wachsen könnten, wie sie im Innern vorkommen, dass z. B. eine Zottengeschwulst krebsig genannt werden müsse, wenn sie von Krebszellen wie von einem Epithel überzogen sei, ohne dass im Innern der Zotten irgend eine Entwickelung von Krebsmasse sich zeigte. In der That findet man zuweilen Zotten, welche ganz dünn sind und kaum so viel Bindegewebe enthalten, dass die in ihnen aufsteigenden Gefässe noch eingehüllt sind, in ein dickes Lager von Zellen eingeschlossen, welche durch die Unregelmässigkeit ihrer Gestalt, die Grösse ihrer Kerne, die Entwickelung der einzelnen Elemente mehr den Habitus des Krebses, als den des Epithels darbieten. Aber ich muss bekennen, dass ich mich bis jetzt nicht habe überzeugen können, dass Krebszellen an der freien Oberfläche von Häuten entstehen könnten, dass sie einfach aus Epithel hervorgingen; vielmehr glaube ich nach Allem, was ich gesehen habe, dass man eine ganz strenge Scheidung machen muss zwischen den Fällen, wo Zellenmassen, sie mögen noch so reichlich und sonderbar gestaltet sein, frei auf einer an sich intacten Grundsubstanz aufsitzen, und denjenigen, wo die Zellen im Parenchym der Theile selbst sich bildeten. [308] Würzb. Verhandl. I. 109. Gesammelte Abhandlungen 1020. [Illustration: =Fig=. 147. Senkrechter Durchschnitt durch ein beginnendes Blumenkohlgewächs des Collum uteri (Cancroid). An der noch intacten Oberfläche sieht man die ziemlich grossen Papillen des Os uteri von einem gleichmässigen geschichteten Epitheliallager umhüllt. Die Erkrankung beginnt erst jenseits der Schleimhaut in dem eigentlichen Parenchym des Cervix, wo grosse, rundliche oder unregelmässige Zelleneinsprengungen (Alveolen) das Gewebe durchsetzen. Vergr. 150.] Immer entscheidet sich, so viel ich wenigstens weiss, der Werth einer Bildung nach dem Verhältnisse des unterliegenden Gewebes oder des Zottengewebes selbst; und nur dann kann man eine Bildung als Cancroid oder Carcinom ansprechen, wenn neben der Entwickelung an der Oberfläche auch in der Tiefe oder in den Zotten selbst die besonderen Veränderungen vorhanden sind, welche eben diese Art von Bildung charakterisiren. Ich glaube daher, dass alle jene äusserlichen Formverschiedenheiten eben nur dazu dienen können, einzelne Arten derselben Geschwulst, aber keinesweges verschiedene Geschwülste von einander zu sondern. Es gibt Bindegewebsgeschwülste (Fibrome) der Oberfläche, die in Form von einfachen Knoten auftreten, andere welche in Form von Warzen und Papillargeschwülsten sich zeigen[309]. Ebenso gibt es Krebs- und Cancroidbildungen, welche die Blumenkohlform annehmen, und andere, die es nicht thun. [309] Geschwülste I. 320, 340. In Beziehung auf das Verhältniss von Form und Wesen gibt es eine andere, ganz cardinale Frage, die im Interesse der Menschheit bald zu einer gewissen Einmüthigkeit geführt werden sollte, nehmlich die: was man eigentlich unter einem =Tuberkel= zu verstehen habe. Dieselben Schwierigkeiten, welche ich eben bei den Papillargeschwülsten schilderte, finden sich beim Tuberkel in noch verstärktem Maasse wieder[310]. Die Alten haben den Namen Tuberkel eingeführt einfach nach der äusseren Form des Gebildes. Man hat jedes Ding Tuberkel genannt, welches in Form eines Knötchens hervortrat. Wie bekannt, ist es gar nicht so lange her, dass man nicht im Mindesten sorgfältig in der Anwendung dieses Ausdruckes war. Man sprach von Tubercula carcinomatosa, scirrhosa, man unterschied Tubercula scrofulosa und syphilitica, eine Sprechweise, welche zum Theil noch jetzt in Frankreich erhalten ist. Es war mit dem Tuberkel, wie mit dem Krebs, bei dem man sich von Alters her ja auch nicht etwa auf die eigentliche Geschwulst beschränkte; vielmehr rechnete man Noma (Cancer aquaticus) eben so gut dahin, wie Schanker (Cancer syphiliticus). [310] Geschwülste II. 621. Von dieser etwas oberflächlichen Anschauung ist man im Laufe unseres Jahrhunderts nach und nach zu tieferen Forschungen fortgeschritten, und es ist auch hier hauptsächlich das Verdienst von =Laennec= gewesen, die Lehre von der Einheit des Tuberkels aufgestellt zu haben. Allein er selbst hat wiederum die Schuld zu tragen, dass auch diese Angelegenheit in eine fast unheilbare Verwirrung gerathen ist. Indem er nehmlich zwei verschiedene Formen von Tuberkeln der Lunge, die sogenannte =Tuberkel-Infiltration= und die =Tuberkel-Granulation= annahm, so war er genöthigt, in Beziehung auf die Infiltration vollständig von dem alten Begriffe des Tuberkels abzuweichen. Denn hier war gar nicht mehr die Rede von Knötchen, sondern es handelte sich um eine gleichmässige Durchdringung des ganzen Parenchyms mit der krankhaften Masse. Damit war die Bahn gebrochen, auf der man sich immer weiter von dem alten Begriffe des Tuberkels entfernte. Nachdem einmal die Tuberkel-Infiltration geschaffen und die Form des Gebildes als diagnostisches Kriterium damit aufgegeben war, so nahm man auch die weitere Schilderung gewöhnlich von der Infiltration als dem Umfangreicheren her und suchte nach den Merkmalen, worin eigentlich die Infiltration mit der früher bekannten Form des Tuberkels übereinstimme. So ist es gekommen, dass allmählich, und zwar eigentlich schon durch =Bayle=, die käsige Beschaffenheit als der gemeinschaftliche Gattungscharakter aller Tuberkelproducte, nicht bloss als nächster Anhaltspunkt für die Unterscheidung, sondern auch als Ausgangspunkt für die Deutung des Vorganges überhaupt gebraucht worden ist. So ist es im Besonderen geschehen, dass man sich vorgestellt hat, der Tuberkel könne einfach in der Weise entstehen, dass ein beliebiges Exsudat seine wässerigen Bestandtheile verliere, sich eindicke, trübe, undurchsichtig, käsig werde, und in diesem Zustande liegen bleibe. Der Ausdruck der Tuberkelkörperchen, der bis vor Kurzem noch recht häufig in Anwendung kam, bezieht sich gerade auf das Stadium des Käsigen, und die genaue Schilderung, welche =Lebert= davon geliefert hat, läuft darauf hinaus, dass es Bildungen seien, welche mit keiner der bekannten organischen Formen übereinstimmen, welche weder Zellen, noch Kerne, noch sonst etwas Analoges seien, sondern kleine, rundliche oder eckige, solide Körperchen, häufig von Fettpartikelchen durchsetzt, darstellten (Fig. 73). Untersucht man aber die Entwickelung dieser Körper, so kann man sich an allen Punkten, wo sie vorkommen, überzeugen, dass sie aus früheren organischen Formelementen hervorgehen, dass sie nicht etwa die ersten missrathenen Producte, gleichsam ein verunglückter Versuch der Organisation sind, sondern dass sie einmal ganz wohlgerathene Elemente waren, die aber durch ein unglückliches Geschick frühzeitig in ihrem weiteren Fortkommen gehindert wurden und einer schnellen Verschrumpfung unterlagen. Immer kann man mit Sicherheit voraussetzen, dass, wo ein grösseres Körperchen dieser Art sich findet, vorher eine Zelle dagewesen ist, wo ein kleineres, vorher ein Kern, vielleicht innerhalb einer Zelle eingeschlossen, existirt hat[311]. Eiterzellen, Lymphdrüsenkörperchen, Krebs- und Sarkomzellen können in solche »Tuberkelkörperchen« ebenso umgewandelt werden, wie wahre Tuberkelzellen. [311] Würzb. Verhandlungen I. 83. Untersucht man denjenigen Punkt, der für die neuere Lehre von der Tuberkulose der maassgebende gewesen ist, nehmlich die Tuberkel-Infiltration der Lunge, so kommt man leicht zu dem Resultate, welches =Reinhardt= als das letzte hingestellt hat, dass die Tuberkulose nichts weiter sei, als eine Form der Umbildung von Entzündungsproducten, und dass eigentlich alle Tuberkelmasse eingedickter Eiter sei. In der That ist das, was man Tuberkel-Infiltration genannt hat, mit wenigen Ausnahmen auf eine ursprünglich entzündliche, eiterige oder katarrhalische Masse zu beziehen, welche nach und nach durch eine unvollständige Resorption in den Verschrumpfungszustand gerathen ist, in welchem sie nachher liegen bleibt[312]. Allein =Reinhardt= hat sich darin getäuscht, dass er glaubte, Tuberkel zu untersuchen. Er ist irre geführt worden durch die grosse Complication der in der Lunge vorkommenden Prozesse[313], besonders aber durch die falsche Richtung, welche die ganze Doctrin von der Tuberkulose von =Laennec= bis auf ihn namentlich durch die Schuld der Wiener genommen hat. Hätte er sich daran gehalten, den alten Begriff des Knötchens zu verfolgen, hätte er die Knotensubstanz in ihren verschiedenen Stadien untersucht, und hätte er die verschiedenen Organe, in welchen der knotige Tuberkel vorkommt, darauf verglichen, so würde er unzweifelhaft zu einem anderen Resultate gekommen sein[314]. Er würde dann zu der Ueberzeugung gelangt sein, welche meinen späteren Darstellungen zu Grunde liegt, dass die Tuberkel-Infiltration in der Lunge eine Form der Hepatisation, hervorgegangen aus dem von mir als =käsige Pneumonie= (skrofulöse Pneumonie) bezeichneten Prozesse[315] und ganz verschieden von der eigentlichen Tuberkelgranulation sei. Nirgends ist diese Verschiedenheit besser zu erkennen, als am Knochenmark, wo es einerseits eine ursprünglich eiterige, später käsige Osteomyelitis, andererseits wahre Tuberkel gibt[316]. [312] Spec. Pathol. u. Ther. I. 337, 341, 346. [313] Wiener Med. Wochenschrift 1856. 396. [314] Würzb. Verhandl. III. 100. [315] Geschwülste II. 600. [316] Ebendas. II. 702. Man kann allerdings sagen, dass der grösste Theil desjenigen, was im Laufe der Tuberkulose nicht in Knotenform erscheint, eingedicktes Entzündungsproduct sei. Allein neben diesem Producte und bis zu einem gewissen Grade unabhängig von demselben gibt es ein Gebilde, welches in die gewöhnliche Classification der Neoplasmen nicht mehr hineinpassen würde, wenn man jene Entzündungs-Producte Tuberkel nennte. In der That ist in Frankreich, wo die Terminologie von =Lebert= die maassgebende geblieben ist, und wo man die Corpuscules tuberculeux als die nothwendigen Begleiter der Tuberkulose anzusehen pflegt, in der neuesten Zeit der Gedanke wirklich ausgesprochen, dass unter den Körnern, die man bisher Tuberkel nannte, noch ein ganz besonderes und bis jetzt noch gar nicht bezeichnetes Gebilde vorkomme. Einer der besten, ja vielleicht der beste Mikrograph, den Frankreich besitzt, =Robin= hat bei Untersuchung der Meningitis tuberculosa die kleinen Knoten in der Pia mater, die alle Welt für Tuberkeln hält, nicht dafür halten zu können geglaubt, weil einmal das Dogma in Frankreich herrscht, dass der Tuberkel aus soliden, unzelligen Körpern bestehe, und weil in den Tuberkeln der Hirnhaut vollständig erhaltene Zellen vorkommen. Ja, einer seiner Schüler, =Empis= hat sich vor der Consequenz nicht gescheut, neben der Tuberkulose noch eine neue Krankheit, die Granulie, in die medicinische Sprache einzuführen[317]. Zu so sonderbaren Verirrungen führt dieser Weg, dass man am Ende den eigentlichen Tuberkel gar nicht mehr bezeichnen kann, weil man so viel zufällige Dinge mit ihm zusammengeworfen hat, dass man über lauter Zufälligem das Gesuchte oder selbst das Gefundene, was man schon besessen, wieder aus der Hand verliert. [317] Archiv XXXIV. 12. [Illustration: =Fig=. 148. Entwickelung von Tuberkel aus Bindegewebe in der Pleura. Man übersieht die ganze Reihenfolge von dem einfachen Bindegewebskörperchen, der Theilung der Kerne und Zellen bis zu der Entstehung des Tuberkelkorns, dessen Zellen in der Mitte wieder zu einem fettig-körnigen Detritus zerfallen. Vergröss. 300.] Ich halte dafür, dass der Tuberkel ein Korn, ein Knötchen sei, und dass dieses Knötchen eine Neubildung darstellt, und zwar eine Neubildung, welche von ihrer ersten Entwickelung an nothwendig zelliger Natur ist, welche in der Regel gerade so, wie viele anderen Neubildungen, aus Bindegewebe hervorgeht, und welche, wenn sie zu einer gewissen Entwickelung gekommen ist, innerhalb dieses Gewebes einen kleinen, wenn er an der Oberfläche sich befindet, in Form eines kugeligen Höckers hervorragenden Knoten darstellt, der in seiner ganzen Masse aus kleinen, ein- oder mehrkernigen Zellen besteht. Das, was diese Bildung charakterisirt, ist der Umstand, dass sie überaus kernreich ist, so dass, wenn man sie im Zusammenhange innerhalb der Fläche des Gewebes betrachtet, auf den ersten Blick fast nichts als Kerne vorhanden zu sein scheinen. Isolirt man die constituirenden Theile, so bekommt man entweder ganz kleine, mit einem Kerne versehene Elemente, oft so klein, dass die Membran sich dicht um den Kern herumlegt, oder grössere Zellen mit vielfacher Theilung der Kerne, so dass 12 bis 24 und 30 Kerne in einer Zelle enthalten sind, wo aber immer die Kerne klein, gleichmässig und etwas glänzend aussehen. Der Tuberkel steht allerdings in seiner Entwickelung dem Eiter am nächsten, insofern er die kleinsten Kerne und die verhältnissmässig kleinsten Zellen hat, und er unterscheidet sich dadurch von allen höher organisirten Formen (Krebs, Sarkom), dass die Elemente dieser letzteren grosse, mächtige, oft colossale Bildungen mit stark entwickelten Kernen und Kernkörperchen darstellen. Er ist immer nur eine ärmliche Production, eine von vornherein kümmerliche Neubildung. Anfangs ist er, wie andere Neubildungen, nicht selten mit Gefässen versehen, allein, wenn er sich vergrössert, so drängen sich seine vielen kleinen Zellen, -- diese wie eine Kinderschaar, immer dichter an einander gehende Masse, -- so eng zusammen, dass nach und nach die feineren Gefässe vollständig unzugänglich werden und sich nur die grösseren, durch den Tuberkel bloss hindurch gehenden noch erhalten. Gewöhnlich tritt im Centrum des Knotens, wo die alten Elemente liegen, sehr bald eine fettige Metamorphose ein (Fig. 148), welche aber in der Regel nicht vollständig wird. Dann verschwindet jede Spur von Flüssigkeit, die Elemente fangen an zu verschrumpfen, das Centrum wird gelb und undurchsichtig, man sieht einen gelblichen Fleck inmitten des grau durchscheinenden Korns. Damit ist die =käsige Metamorphose=[318] angelegt, welche später den Tuberkel charakterisirt. Diese Veränderung schreitet nach aussen immer weiter vorwärts von Zelle zu Zelle, und nicht selten geschieht es, dass der ganze Knoten nach und nach in die Veränderung eingeht. [318] Würzb. Verhandlungen III. 98. Warum ich nun meine, dass man für dieses Gebilde speciell den Namen des Tuberkels als einen äusserst charakteristischen festhalten muss, das ist der Umstand, dass nie ein Tuber daraus wird. Was man als grosse Tuberkeln zu bezeichnen pflegt, was die Grösse einer Wallnuss, eines Borsdorfer Apfels erreicht, z. B. im Gehirn, das sind keine einfachen Tuberkel. Freilich steht gewöhnlich in den Handbüchern, dass der Hirntuberkel solitär sei, aber das ist kein einzelner Knoten; eine solche apfel- oder nur wallnussgrosse Masse enthält viele Tausende von Tuberkeln; das ist ein ganzes Nest, das sich vergrössert, nicht dadurch, dass der ursprüngliche Heerd wächst, sondern vielmehr dadurch, dass an seinem Umfange immer neue Heerde ausgebildet werden[319]. Betrachtet man den vollkommen gelbweissen, trockenen, käsigen Knoten, so erkennt man in seiner nächsten Umgebung eine weiche, gefässreiche Schicht, welche ihn gegen die benachbarte Hirnsubstanz abgrenzt, eine dichte Areola von Bindegewebe und Gefässen. Innerhalb dieser Schicht liegen die kleinen, jungen Knötchen bald in grösserer, bald in kleinerer Zahl. Sie lagern sich aussen an, und der grosse Knoten wächst durch Apposition von immer neuen Heerden, von welchen jeder einzelne käsig wird. Daher kann der ganze Knoten in seinem Zusammenhange nicht als einfacher Tuberkel betrachtet werden. Der eigentliche Tuberkel bleibt wirklich minimal, wie man zu sagen pflegt, =miliar=, genauer ausgedrückt, submiliar. Selbst wenn sich an der Pleura neben ganz kleinen Knoten grosse, wie aufgelagerte gelbe Platten finden, so sind auch diese keine einfachen Tuberkel, sondern Zusammensetzungen aus einer grossen Summe gesonderter Knötchen. Die gewöhnlich als miliare Tuberkel bezeichneten Knoten in der Lunge aber sind entweder miliare Hepatisationen, oder bronchitische oder peribronchitische Heerde, möglicherweise mit Tuberkulose der Bronchialwand verbunden. [319] Geschwülste II. 656. Wie man sieht, hängt bei dem Tuberkel in der That Form und Wesen untrennbar zusammen. Die Form ist bedingt dadurch, dass der Tuberkel von einzelnen Elementen des Bindegewebes aus, durch die degenerative Entwickelung kleinerer Gruppen von Bindegewebskörperchen wächst. So kommt er ohne alles Weitere als Korn hervor. Wenn er einmal eine gewisse Grösse erreicht hat, wenn die Generationen von neuen Elementen, die sich durch immer fortgehende Theilung aus den alten Gewebselementen entwickeln, endlich so dicht liegen, dass sie sich gegenseitig hemmen, die Gefässe des Tuberkels allmählich zum Schwinden bringen und sich dadurch selbst die Zufuhr abschneiden, so zerfallen sie eben, sie sterben ab, und es bleibt nichts weiter zurück, als Detritus, verschrumpftes, zerfallenes, käsiges Material. Die käsige Umbildung ist der regelrechte Ausgang der Tuberkel, aber sie ist einerseits nicht der nothwendige Ausgang, denn es gibt seltene Fälle, wo die Tuberkel durch vollständige fettige Metamorphose resorptionsfähig werden; andererseits kommt dieselbe käsige Metamorphose anderen Formen von zelligen Neubildungen zu: der Eiter kann käsig werden, ebenso der Krebs und das Sarkom, die syphilitische Gummigeschwulst, die Typhusmasse. Diese allgemeine Möglichkeit[320] kann man daher nicht wohl als das Kriterium für die Beurtheilung eines bestimmten Gebildes, wie des Tuberkels hinstellen; vielmehr gibt es gewisse Stadien der Rückbildung desselben, wo man sich sagen muss, dass es nicht immer möglich ist, ein Urtheil zu fällen. Legt einem jemand eine Lunge, mit käsigen Massen durchsprengt, vor, und fragt: ist das Tuberkel oder nicht? so wird man häufig nicht genau sagen können, was die einzelnen Massen ursprünglich gewesen sind. Es gibt Zeiten in der Entwickelung, wo man mit Bestimmtheit das Entzündliche und das Tuberkulöse von einander trennen kann; endlich aber kommt eine Zeit, wo sich beide Producte mit einander vermischen, und wo, wenn man nicht weiss, wie das Ganze entstanden ist, man kein Urtheil mehr abgeben kann über das, was es bedeutet. Auch mitten in Krebsknoten können käsige Stellen vorkommen, welche gerade so aussehen, wie Tuberkel. Noch =Lebert= beschrieb dies als ein Vorkommen von Tuberkel in Krebs. Ich habe dargethan, dass es die Krebs-Elemente sind, welche in diese käsige Masse übergehen[321]. Wenn wir aber nicht mit Bestimmtheit aus der Entwickelungsgeschichte wüssten, dass die Zellen des Krebses sich Schritt für Schritt verändern, und dass in der Mitte des Krebses sich keine Tuberkeln bilden, so würden wir aus dem blossen Befunde in vielen Fällen durchaus nicht ein Urtheil fällen können. [320] Würzb. Verhandl. I. 84. II. 72. III. 99. Spec. Pathologie und Therapie. I. 282, 284. Geschwülste II. 624. [321] Archiv I. 172. Ueberwindet man diese Schwierigkeiten, welche in der äusseren Erscheinung der Bildung liegen, und welche den Beobachter nicht bloss irre führen gegenüber der groben Erscheinung, sondern auch gegenüber der feineren Zusammensetzung, so bleibt für die Orientirung kein anderer Anhaltspunkt, als dass man nachsucht, welchen Typus der Entwickelung die einzelnen Neubildungen während der Stadien ihrer wirklichen Bildung, nicht während der Stadien ihrer Rückbildung zeigen. Man kann das Wesen des Tuberkels nicht studiren von dem Zeitpunkte an, wo er käsig geworden ist, denn von da an gleicht seine Geschichte vollkommen der Geschichte des käsig werdenden Eiters; man muss dies vorher thun, wo er wirklich wuchert. So müssen wir auch für die anderen Neubildungen die Zeit von ihrer ersten Entstehung bis zu ihrer Akme studiren und zusehen, mit welchen normalen physiologischen Typen sie übereinstimmen. Mit anderen Worten, =man muss sie genetisch erforschen=. Dann ist es allerdings möglich, mit den einfachen Principien der histologischen Classification auszukommen, welche ich früher ausgeführt habe (S. 86). =Auch die heterologen Gewebe haben physiologische Typen=[322]. [322] Spec. Pathologie und Therapie. I. 9, 334. Ein Colloid, wenn man wirklich darunter versteht, was =Laennec= gemeint hat, eine gallertartige organisirte Neubildung, muss nothwendig irgend einen Typus der Bildung besitzen, welcher irgendwo oder irgend einmal im gewöhnlichen Körper vorkommt. In der That gibt es eine Reihe von Geschwülsten, die man zum Colloid gerechnet hat, welche vollkommen die Structur des Nabelstranges haben, und welche, wie dieser Theil, in ihrer Intercellularsubstanz wesentlich Schleim enthalten. Nachdem ich das Gewebe des Nabelstranges und der analogen Theile Schleimgewebe genannt hatte, so war es für mich ein sehr einfacher Schritt, diese Geschwülste =Schleimgeschwülste=, Myxome zu nennen[323]. Eine der am meisten ausgezeichneten Myxomformen stellt die sogenannte Blasen- oder Hydatidenmole (Mola vesiculosa s. hydatidosa) dar. Aber das Vorkommen des Myxoms beschränkt sich nicht auf die Zeit der intrauterinen Entwickelung. Indem wir Geschwülste mit dem Gewebstypus des Nabelstranges mitten im erwachsenen Körper nachweisen, so ist das Auffallende der Erscheinung nicht vermindert, aber es ist für dieselben ein im Körper normaler Typus gewonnen. Ein kopfgrosses Myxom des Oberschenkels bleibt immerhin eine sehr merkwürdige Erscheinung. Eine andere Form von Colloid, oder wie unser =Müller= gesagt hat, =Collonema=, stellt sich dar als ödematöses Bindegewebe. Wir finden nichts weiter, als ein sehr weiches Gewebe, welches von einer eiweisshaltigen Flüssigkeit durchtränkt ist. Eine solche Geschwulst können wir nicht von den Bindegewebsgeschwülsten im Ganzen trennen; wir mögen sie als gallertartiges oder ödematöses oder sklerematöses Fibrom bezeichnen, aber es besteht kein Grund, sie unter dem Namen von Collonema für das Denken ganz fremdartig zu gestalten. So finden wir ferner gewisse Formen von Krebs, wo das Stroma, statt einfach aus Bindegewebe zu bestehen, aus demselben Schleimgewebe besteht, welches wir in einer einfachen Schleimgeschwulst antreffen[324]. Dies können wir einfach einen =Schleimkrebs= (Gallert- oder Colloidkrebs) nennen. Damit wissen wir genau, was wir vor uns haben. Wir wissen, es ist ein Krebs, aber sein Grundgewebe ist verschieden durch seinen Schleimgehalt und seine gallertige Beschaffenheit von dem gewöhnlichen Fasergewebe des Krebsgerüstes. [323] Archiv XI. 281. Geschwülste I. 396. [324] Würzb. Verhandlungen II. 318. Fassen wir nun nochmals den Tuberkel in's Auge, so würde derselbe allerdings etwas vollständig Abnormes sein, wenn die Corpuscules tuberculeux ihn ursprünglich und wesentlich constituirten; vergleicht man aber die Zellen, welche, wie ich nachgewiesen habe, die eigentlichen Constituentien des Kornes sind, mit normalen Geweben des Körpers, so ergibt sich die vollständigste Uebereinstimmung zwischen ihnen und den Elementen der =Lymphdrüsen= (S. 210, Fig. 71). Diese Analogie ist nicht zufällig und gleichgültig, denn seit alter Zeit weiss man ja, dass die Lymphdrüsen besonders dazu geneigt sind, eine käsige Veränderung einzugehen, und schon lange hat man davon gesprochen, dass eine lymphatische Constitution zu Prozessen dieser Art disponire[325]. Aus allen diesen Gründen habe ich den Tuberkel nicht als eine, seiner Entwickelung nach dem Körper gänzlich fremdartige Bildung sui generis betrachten können, sondern ihn als eine wesentlich =lymphoide= Neubildung der grösseren Gruppe der Lymphome[326] angereiht. Wenn wir den Eiter betrachten, so brauche ich nur an das zu erinnern, womit ich mich mehrere Capitel hindurch beschäftigt habe, nehmlich an die Frage von der Trennbarkeit der Pyämie von der Leukocytose. In den farblosen Blutkörperchen haben wir so vollständig den Eiterkörperchen analoge Bildungen erkannt, dass Viele geglaubt haben, wenn sie farblose Blutkörperchen im Blute fanden, Eiterkörperchen zu sehen, während Andere vielmehr in den Elementen des Eiters durchweg farblose Blutkörperchen wiederzufinden meinten. Beide Reihen haben den gleichen Typus der Bildung. Man kann daher sagen, dass der Eiter eine =hämatoide= Form habe, ja man kann den alten Satz aufwärmen, dass der Eiter das Blut der Pathologie sei. Will man aber einen Unterschied suchen, will man in den einzelnen Fällen sagen, was Eiter- und was Blutkörperchen sei, so hat man kein anderes Kriterium, als zu entscheiden, ob die Zelle in der gewöhnlichen Weise und an dem natürlichen Orte des farblosen Blutkörperchens entstanden ist, oder auf andere Weise, an einem anderen Orte, wo sie nicht zu entstehen hat. [325] Würzb. Verhandlungen III. 102. Spec. Pathol. und Ther. I. 346. [326] Geschwülste II. 557. Innerhalb der pathologischen Neubildungen gibt es eine grosse Kategorie, deren natürliches Paradigma das Epithel ist, wenn man will, =Epitheliome=. Allein der Ausdruck des Epithelioms, welcher von =Hannover= für einen kleinen Theil dieser Epithel führenden Geschwülste, für die sogenannten Cancroide vorgeschlagen wurde, ist deshalb für die besondere Art von Geschwulst, welche er damit bezeichnen wollte, vollständig unzulässig, weil sie nicht die einzige Geschwulst ist, deren Elemente den epithelialen Habitus an sich tragen. Man kann das Epitheliom =Hannover='s von anderen Geschwülsten nicht dadurch unterscheiden, dass seine Elemente den Habitus von Epithel hätten und andere nicht. Ich will gar nicht davon sprechen, dass es eine grosse Reihe unzweifelhaft epithelialer Geschwulstbildungen gibt, welche nichts als örtliche Wucherungen des präexistirenden Epithels darstellen. Dahin gehören das Atherom, die drüsigen Hyperplasien der Brust, des Magens. Aber auch scheinbar ganz fremdartige Neubildungen besitzen denselben Typus der Elemente. Die Geschwulst, welche =Müller= Cholesteatom, =Cruveilhier= Tumeur perlée genannt hat, was ich durch Perlgeschwulst (Margaritoma) übersetzt habe, diese Geschwulst hat genau denselben epithelialen Bau, wie das Cancroid, welches =Hannover= Epitheliom genannt hat, ja das gewöhnliche Cancroid erzeugt in sich sehr gewöhnlich kleine Perlknoten in oft erstaunlich grosser Menge[327]. Allein beide unterscheiden sich sehr wesentlich. Nie hat man bis jetzt Perlgeschwülste gesehen, welche, nachdem sie an einem Orte bestanden hatten, an entfernten Orten Recidive gemacht und sich wie bösartige Geschwülste verhalten hätten; immer fand nur im nächsten Umfange der Geschwulst eine weitere, aber überaus langsame Entwickelung statt. Das Epitheliom dagegen, oder wie man besser sagt, der Epithelialkrebs oder das Cancroid, besitzt eine sehr ausgesprochene Malignität, nicht nur die Recidivfähigkeit in loco, sondern auch die Vervielfältigung in distans. In manchen Fällen werden fast alle Organe des Körpers metastatisch mit Cancroidmassen erfüllt[328]. [327] Med. Reform 1849. No. 51. S. 271. Archiv III. 221. VIII. 397. [328] Gaz. méd. de Paris. 1855. Avril. No. 14. p. 208. [Illustration: =Fig=. 149. Verschiedene Krebszellen, zum Theil in fettiger Metamorphose, polymorph, mit Kernvermehrung. Vergr. 300.] Versucht man das Cancroid durch den epithelialen Bau seiner Elemente von dem eigentlichen Krebs zu unterscheiden, so wird man sich auch da vergeblich bemühen. Der eigentliche Krebs hat gleichfalls Elemente von epithelialem Habitus (Fig. 149), und man braucht nur solche Punkte im Körper zu suchen, wo sich die Epithelzellen unregelmässig entwickeln, z. B. an den Harnwegen (Fig. 16), so wird man in dem normalen Epithel dieselben sonderbaren, mit grossen Kernen und Kernkörperchen versehenen Bildungen antreffen, welche als die specifischen, polymorphen Krebszellen geschildert werden. Der Krebs, das Cancroid oder Epitheliom, die Perlgeschwulst oder das Cholesteatom, ja auch das Dermoid, welches Haare, Zähne, Talgdrüsen producirt und im Eierstock so häufig vorkommt, alle diese sind Bildungen, welche pathologisch Epithelformen erzeugen; aber sie stellen eine Gradation von verschiedenen Arten vor, die von den ganz örtlichen, dem gewöhnlichen Sinne nach vollkommen gutartigen bis zu solchen von der äussersten Malignität reichen[329]. Die blosse Form der Elemente, welche die Zusammensetzung des Gebildes machen, ist ohne entscheidenden Werth. Es hat sich gezeigt, dass es falsch war, als man annahm, der Krebs habe heterologe (specifische) Elemente und darum sei er bösartig, und das Cancroid habe homologe (hyperplastische) Elemente und darum sei es gutartig. Vielmehr enthält keine von beiden Geschwülsten absolut heterologe Elemente und keine ist gutartig, sondern es besteht zwischen ihnen eine Stufenfolge. [329] Archiv VIII. 414. Man könnte nun leicht in die Furcht gerathen, es sei überhaupt unmöglich, Krebs, Cancroid, Perlgeschwulst, kurz die epithelioiden Neubildungen, sei es von gewöhnlichem Epithel, sei es unter sich zu unterscheiden. Dies wäre ein grosser Irrthum. Sie alle unterscheiden sich durch die Heterologie ihrer Bildung von dem gewöhnlichen Epithel und der gewöhnlichen Epidermis, denn sie entstehen nicht an Oberflächen, sondern im Inneren der Organe aus dem Bindegewebe. Freilich kann es sein, dass die Anhäufungen ihrer Zellen dabei eine überraschende Aehnlichkeit mit bestimmten Oberhautgebilden erlangen, dass sie z. B. wie Drüsen oder Haare aussehen. Aber ein Cancroid erzeugt keine wirklichen Drüsen mit Höhlungen, sondern nur drüsenähnliche, solide Zapfen; in ihm wachsen keine wirklichen Haare, sondern haarähnliche Gebilde, die mehr kranken als gesunden Haaren entsprechen. Häufen sich diese Zapfen und Cylinder in grossen Mengen an, so entsteht dadurch eine breiige Masse von sehr bunter Zusammenordnung, in der jedoch an jedem Punkte immer wieder epidermoidale Gebilde isolirt werden können, so dass die Gesammtbildung die grösste Aehnlichkeit mit dem Atherom zeigen mag. Aber das Atherom ist eine hyperplastische Wucherung normaler Epidermis in einem erweiterten Hautsacke, das Cancroid und die Perlgeschwulst sind heteroplastische Bildungen einer aus Bindegewebe entstandenen Epidermis. Hier entscheidet also die Heterotopie (error loci). [Illustration: =Fig=. 150. Cancroidzapfen aus einer Geschwulst der Unterlippe. Dichtgedrängte Zellenlager mit dem Charakter des Rete Malpighii im Umfange: in dem einen Fortsatze fettartig glänzende Kugeln, in der Mitte des grossen Zapfens eine hornig-epidermoidale, haarartige Abscheidung mit zwiebelartigen Kugeln (Perlen, globes épidermiques). Vergr. 300.] [Illustration: =Fig=. 151. Durchschnitt durch ein Cancroid der Orbita. Grosse Epidermiskugeln (Perlen), zwiebelartig geschichtet, in einer dichtgedrängten Zellenmasse, die theils den Charakter der Epidermis, theils den des Rete Malpighii hat. Vergr. 150.] Dieser Auffassung steht freilich eine andere gegenüber, welche in Beziehung auf das Cancroid schon von =Mayor=, =Ecker= und Anderen ausgesprochen war, nehmlich dass dasselbe aus einer progressiven, nach innen gerichteten Wucherung gewöhnlichen Epithels oder oberflächlicher Epidermis entstehe. Ich habe dem gegenüber immer hervorgehoben, dass genetisch ein Unterschied zwischen Cancroid und eigentlichem Krebs (Carcinom) nicht zu entdecken sei, und dass, wenn das Cancroid als eine nur hyperplastische Neubildung gelten dürfe, auch das Carcinom in gleicher Weise gedeutet werden müsse. Mehrere neuere Beobachter haben kein Bedenken getragen, diesen Satz zu acceptiren und auch das Carcinom als eine Epithelialwucherung darzustellen. Freilich hat sich sehr bald die Schwierigkeit gezeigt, dass das Carcinom primär an Orten vorkommt, wie in Lymphdrüsen, in Knochen und im Gehirn, wo es kein Epithel gewöhnlicher Art gibt. Einige haben sich aus diesem Grunde nicht gescheut, die offenkundige Thatsache primärer Krebse dieser Organe einfach zu leugnen. Andere haben sich damit geholfen, auf das Epithel der Lymphgefässe zurückzugehen. Für diejenigen, welche auch die Bindegewebskörperchen zu den Lymphgefässen rechnen, ist dann freilich der Schritt nicht gross, um auch sie zu den möglichen Matrices der Krebszellen zuzulassen. Ich meinerseits bin durch diese Ausführungen nicht überzeugt; ich halte an der primären Heteroplasie aller Krebse fest. Dagegen erkenne ich vollständig die Schwierigkeit an, zwischen den einzelnen heteroplastischen Gebilden dieser Gruppe beständige Unterschiede zu finden; ja ich hege die Ueberzeugung, dass hier überhaupt keine scharfen Grenzen bestehen, sondern Uebergänge vorkommen. Man könnte daher leicht in Versuchung gerathen, alle diese Arten von Geschwülsten, wie es so oft vorgeschlagen ist, unter dem Collectivnamen der Krebse zusammen zu fassen. Dem wiederstreitet zunächst die praktische (klinische) Erfahrung, welche ergibt, dass die Perlgeschwulst sich nie generalisirt, das Cancroid selten, der Krebs gewöhnlich. Sodann zeigen sich aber auch Verschiedenheiten im Bau, und ich will hier in Beziehung auf den Krebs nur das hervorheben, dass bei dem Krebs im engeren Sinne des Wortes (Carcinoma) die epithelioiden Zellen in den Maschenräumen eines neugebildeten, gefässhaltigen Bindegewebs-Gerüstes (Stroma) enthalten sind[330]. Der Krebs erscheint daher nicht als blosses Gewebe (histioid), sondern als organartige Neubildung (S. 88). [330] Archiv I. 96. Die physiologische Bedeutung der einzelnen Arten aber richtet sich zunächst nach ihrem Saftreichthum[331]. Die Formen, welche trockene, saftarme Massen hervorbringen, sind relativ gutartig. Diejenigen, welche saftreiche Gewebe setzen, haben immer mehr oder weniger einen malignen Habitus (S. 257). Die Perlgeschwulst z. B. liefert vollkommen trockene Epithelmassen, fast ohne eine Spur von Feuchtigkeit: sie steckt nur örtlich an. Das Cancroid bleibt sehr lange örtlich, so dass oft erst nach Jahren die nächsten Lymphdrüsen erkranken, dass dann lange Zeit wiederum der Prozess sich auf diese Erkrankung der Lymphdrüsen beschränkt, und dass erst spät und selten die allgemeine Eruption durch den ganzen Körper erfolgt. Bei dem eigentlichen Krebs ist der örtliche Verlauf oft sehr schnell, und die Krankheit wird früh allgemein; Heilungen, selbst für kurze Zeit, sind so selten, dass man in Frankreich geradezu die vollkommene Unheilbarkeit des eigentlichen Krebses aufgestellt und mit Glück vertheidigt hat. [331] Gesammelte Abhandlungen 53. Archiv XIV. 40. Geschwülste I. 126. Die einzige scheinbare Ausnahme von dieser Regel macht der Tuberkel. Denn gerade bei ihm geschieht die Infection nicht selten in dem käsigen Stadium, welches sich im Allgemeinen durch seine Trockenheit von dem feuchten Zustande des grauen miliaren Korns unterscheidet. Aber die experimentellen Untersuchungen der neuesten Zeit haben, wie ich schon früher (S. 261) erwähnte, die glückliche Lösung gebracht, dass es nicht bloss der aus Tuberkel entstehende Käse ist, welcher wieder Tuberkel erzeugt, sondern dass regressive Substanzen der verschiedensten Art den gleichen Effect hervorbringen. So habe ich schon angeführt (S. 262), dass selbst rückgängiges Carcinom Tuberkel erregen kann. Diese Erfahrungen haben jedoch, soweit bis jetzt bekannt, keinen Werth für die Mehrzahl der infectiösen Neubildungen, welche vielmehr in ihrer Florescenz-Periode die grösste Virulenz besitzen, und hier sind wir entweder auf Wanderzellen, oder auf flüssige Stoffe hingewiesen. Auch unter den Bildungen, welche =den gewöhnlichen Bindegewebssubstanzen analog=, also scheinbar vollkommen homolog und gutartig sind, erweisen sich die saftreichen als viel mehr ansteckungsfähig als die trockenen. Die einfache Fettgeschwulst (=Lipom=) ist immer gutartig. Das =Myxom= (Schleimgeschwulst), welches immer viel Flüssigkeit mit sich führt, ist jedesmal eine verdächtige Geschwulst; in dem Maasse seines Saftreichthums recidivirt es oft[332]. Die Knorpelgeschwulst (=Enchondrom=), welche früher als unzweifelhaft gutartige Geschwulst geschildert wurde, kommt zuweilen in weichen, mehr gallertartigen Formen vor, welche eben solche inneren Metastasen bedingen können, wie der eigentliche Krebs[333]. In noch viel höherem Maasse zeigt das Osteoidchondrom bösartige Eigenschaften[334]. Selbst die Bindegewebsgeschwülste (=Fibrome=) werden unter Umständen reicher an Zellen, vergrössern sich, ihre Zwischensubstanz wird saftreicher, ja in manchen Fällen schwindet sie so vollständig, dass zuletzt fast nur zellige Elemente übrig bleiben. So entstehen Formen, welche meiner Ansicht nach sehr unzweckmässig fibroplastische Geschwülste genannt worden sind und viel besser mit dem alten Namen der =Sarkome= bezeichnet werden[335]. Sie unterscheiden sich von den blossen Fibromen, Myxomen, Chondromen u. s. w. durch die grosse Zahl und die beträchtliche Entwickelungshöhe ihrer Elemente, welche zuweilen geradezu Riesengrösse erreichen (Fig. 30, 31). Genetisch zeigen sie dieselbe Herkunft aus proliferirendem Bindegewebe, wie die gewöhnlichen Fibrome (Fig. 113, II.); sehr bald aber beginnen ihre Zellen einen progressiven Entwickelungsgang, welcher den Fibromen fehlt (Fig. 152). Sie sind zunächst allerdings gutartig, aber nicht selten recidiviren sie, wie die Epithelialkrebse, in loco; unter gewissen Verhältnissen recurriren sie in den Lymphdrüsen, und in manchen Fällen kommen sie in so ausgedehnten Metastasen durch den ganzen Körper vor, dass fast kein Organ davon verschont bleibt. [332] Archiv XI. 281. Geschwülste I. 430. [333] Archiv V. 244. Würzb. Verhandl. I. 137. Geschwülste I. 523. [334] Geschwülste I. 527. [335] Archiv I. 196, 200, 224. Geschwülste II. 175. [Illustration: =Fig=. 152. Schematische Darstellung der Sarkom-Entwickelung, wie sie bei Sarcoma mammae sehr gut zu übersehen ist. Vergr. 350.] In der ganzen Reihe der Neubildungen, von denen jede einem normalen Gewebe mehr oder weniger vollständig entspricht, darf es gar nicht in Frage kommen, ob sie einen physiologischen Typus haben, oder ob sie ein specifisches Gepräge an sich tragen; schliesslich entscheidet vielmehr die Frage, =ob sie an einem Orte entstehen, wo sie hingehören oder nicht, und ob sie Stoffe in sich erzeugen, welche auf Nachbartheile gebracht, dort einen ungünstigen, contagiösen oder reizenden Einfluss ausüben=. Es verhält sich mit ihnen, wie mit pflanzlichen Bildungen. Die Nerven und Gefässe haben gar keinen unmittelbaren Einfluss auf ihre Entwickelung. Nur insofern haben sie Werth, als sie das Mehr oder Weniger von Zufuhr bestimmen können; aber sie sind ganz ausser Stande, die Geschwulst-Entwickelung anzuregen, hervorzubringen oder in einer direkten Weise zu modificiren. Eine pathologische Geschwulst des Menschen bildet sich genau in derselben Weise, wie eine Geschwulst an einem Baume, an der Rinde, an der Oberfläche des Stammes oder des Blattes, wo ein pathologischer Reiz stattgefunden hat. Der Gallapfel, der in Folge des Stiches eines Insectes entsteht, die knolligen Anschwellungen, welche die Stellen eines Baumes zeigen, wo ein Ast abgeschnitten ist, die Umwallung, welche die Wunde eines abgehauenen Baumstammes erfährt, beruhen auf einer ebenso reichlichen, oft ebenso raschen Zellenwucherung, wie die, welche wir an der Geschwulst eines wuchernden Theiles des menschlichen Leibes wahrnehmen. Der pathologische Reiz wirkt in beiden Fällen genau auf dieselbe Art; die Vegetationsverhältnisse gestalten sich vollständig nach demselben Typus, und so wenig als ein Baum an seiner Rinde oder seinem Blatte eine Art von Zellen hervorbringt, welche er sonst nicht hervorbringen könnte, so wenig thut dies der thierische Körper. Aber wenn man die Geschichte einer pflanzlichen Geschwulst betrachtet, so wird man auch da sehen, dass gerade die kranken Stellen es sind, welche ungewöhnlich reich an specifischen Bestandtheilen werden, welche die besonderen Stoffe, die der Baum producirt, in grösserer Menge in sich aufnehmen und ablagern. Die Pflanzenzellen, welche sich an einem Eichenblatt im Umfange des Insectensitzes bilden, haben viel mehr Gerbsäure, als irgend ein anderer Theil des Baumes. Die Geschwulstzellen, welche sich in wuchernder Menge an einer Kiefer da bilden, wo ein Insect sich in den jungen Stamm eingräbt, werden ganz vollgestopft mit Harz. Die besondere Energie der Bildung, welche an diesen Stellen entwickelt wird, bedingt auch eine ungewöhnlich reiche Anhäufung von Säften. Es bedarf keiner Nerven oder Gefässe, um die Zellen zu einer vermehrten Stoff-Aufnahme zu instigiren. Es ist die eigene Action der Zellen, die Anziehung, welche sie auf die benachbarten Flüssigkeiten ausüben, vermöge deren sie die brauchbaren Stoffe an sich reissen und fixiren. Und so sind wir am Schlusse wiederum bei derselben Vergleichung angelangt, von der wir im Anfange ausgingen, bei der Vergleichung des thierischen und besonders des menschlichen Körpers mit dem pflanzlichen. Auch der Patholog gewinnt durch die Kenntniss der botanischen Vorgänge die werthvollsten Anknüpfungspunkte für das Verständniss der Krankheiten; er vor Allen muss sich durch ein solches Verständniss immer mehr von der Wahrheit der cellularen Theorie überzeugen. Es besteht eine innere Uebereinstimmung in der ganzen Reihe der lebendigen Erscheinungen und gerade die niedrigsten Bildungen dienen uns oft als die Erklärungsmittel für die vollkommensten und am meisten zusammengesetzten Theile. Denn gerade in dem Einfachen und Kleinen offenbart sich am deutlichsten das =Gesetz=. Inhalt. Seite Vorreden V Uebersicht der Holzschnitte XIII $Erstes Capitel.$ Die Zelle und die cellulare Theorie 1 Einleitung und Aufgabe. Bedeutung der anatomischen Entdeckungen in der Geschichte der Medicin. Geringer Einfluss der Zellentheorie auf die Pathologie. -- Die Zelle als letztes wirkendes Element des lebenden Körpers. Genauere Bestimmung der Zelle. Die Pflanzenzelle: Membran, Inhalt (Protoplasma), Kern. Die thierische Zelle: die eingekapselte (Knorpel) und die einfache. Der Zellenkern (Nucleus). Das Kernkörperchen (Nucleolus). Die Theorie der Zellenbildung aus freiem Cytoblastem. Constanz des Kerns und Bedeutung desselben für die Erhaltung der lebenden Elemente. Der Zellkörper und das Protoplasma. Verschiedenartigkeit des Zelleninhalts und Bedeutung desselben für die Function der Theile. Die Zellen als vitale Einheiten (Elementarorganismen). Der Körper als sociale Einrichtung. Die Intercellularsubstanz und die Zellenterritorien. -- Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Solidarpathologie. -- Falsche Elementartheile: Fasern, Kügelchen (Elementarkörnchen). Entstehung der Zellen. Umhüllungstheorie. Generatio aequivoca der Zellen. Das Gesetz von der continuirlichen Entwickelung (Omnis cellula e cellula). Pflanzen- und Knorpelwachsthum. $Zweites Capitel.$ Die physiologischen Gewebe 27 Anatomische Classification der Gewebe. Die drei allgemein-histologischen Kategorien. Die speciellen Gewebe. Die Organe und Systeme oder Apparate. -- Die =Epithelialgewebe=. Platten-, Cylinder- und Uebergangsepithel. Epidermis und Rete Malpighii. Nagel und Nagelkrankheiten. Haare. Linse. Pigment. Drüsenzellen. -- Die =Gewebe der Bindesubstanz=. Das Binde- oder Zellgewebe. Die Theorien von =Schwann=, =Henle= und =Reichert=. Meine Theorie. Die Bindegewebskörperchen. Die Fibrillen des Bindegewebes als Intercellularsubstanz. Secretion derselben. Der Knorpel (hyaliner, Faser- und Netzknorpel). Incapsulirte und freie Knorpelkörperchen (Knochenknorpel). Schleimgewebe. Pigmentirtes Bindegewebe. Fettgewebe. Anastomose der Elemente: saftführendes Röhren- oder Kanalsystem. -- Die =höheren Thiergewebe=: Muskeln, Nerven, Gefässe, Blut, Lymphdrüsen. Vorkommen dieser Gewebe in Verbindung mit Interstitialgewebe. -- Muskeln. Quergestreifte. Faserzellen. Herzmuskulatur. Muskelkörperchen. Fibrillen. Disdiaklasten. Glatte Muskelfasern. Muskelatrophie. Die contractile Substanz (Syntonin) und die Contractilität überhaupt. Cutis anserina und Arrectores pilorum. -- Gefässe. Capillaren. Contractile Gefässe. $Drittes Capitel.$ Physiologische Eintheilung der Gewebe 62 Ungenügende Ausbildung der anatomischen Kenntniss der Gewebe. Verschiedenartige Lebenserscheinungen an scheinbar gleichartigen Elementen. Praktisches Bedürfniss einer physiologischen Gruppirung: -- 1) Nach der Function. Motorische Elemente: muskulöse, epitheliale (Flimmerzellen, Samenfäden), bindegewebige (Pigment). Schleimabsonderung: Schleimhäute, Schleimdrüsen, Schleimgewebe. -- 2) Nach der Lebensdauer der Elemente. Dauer- und Zeitgewebe. Pathologische Aenderung der natürlichen Verhältnisse (Heterochronie). Lehre von der Allveränderlichkeit des Körpers durch Stoffwechsel (Mauserung). Unterscheidung von Dauer- und Verbrauchsstoffen in den Elementen. Wechselgewebe (Metaplasie). Abfällige Gewebe: Epidermis (Desquamation), Decidua uterina. Einfache Zeitgewebe. Oertliche Verschiedenheit der Lebensdauer desselben Gewebes. Nothwendigkeit einer Localgeschichte der Gewebe. -- 3) Nach der Zeit der Entstehung und des Absterbens der Gewebe (genetische Eintheilung). Jugendliche und senescirende Gewebe. Allgemeine und locale Chronologie der Gewebe. Embryonale Gewebe; unfertige oder unreife: Matricular- und Uebergangsgewebe. Chorda dorsualis. Schleimgewebe. Bildungsgewebe und Vorgewebe (Anlagen, Keimgewebe) Bildungs- oder Primordialzellen. Allgemeine Gültigkeit der Entwickelungsgesetze. -- 4) Nach der Verwandtschaft und Abstammung. Continuitäts-Gesetz. Heterologe Verbindungen von Gewebselementen. Die histologische Substitution und die histologischen Aequivalente. Abstammung der Elemente (Descendenz). $Viertes Capitel.$ Die pathologischen Gewebe 84 Die pathologischen Gewebe (Neoplasmen) und ihre Classification. Bedeutung der Vascularisation. Die Doctrin von den specifischen Elementen: Krebs, Tuberkel. Die physiologischen Vorbilder (Reproduction). Einfache (histioide) und zusammengesetzte (organoide und teratoide) Neubildungen. Homologie und Heterologie (Heterotopie Heterochronie, Heterometrie). Malignität. Hypertrophie und Hyperplasie. Kriterien der Homologie. Degeneration. Prognostische Gesichtspunkte. -- Ungewöhnliche Analogien der pathologischen Gewebe: Krebs, Sarkom (Spindelzellen. Riesenzellen). Abstammung der pathologischen Gewebe: Continuität der Entwickelung, Discontinuität des Typus. Pathologische Substitutionen und Aequivalente. Homologe und heterologe Substitution. Bildung per primam aut secundam intentionem. Verschiedenartige Entstehung derselben Gewebe unter verschiedenen Bedingungen: Knochen, Bindegewebe. Organisation fibrinöser Blasteme. Metaplasie. Verschiedenartige Abstammung derselben Gewebsart. $Fünftes Capitel.$ Die Ernährung und ihre Wege 100 Selbsterhaltung als Grundlage der Lehre vom Leben. Ernährung und Stoffwechsel. Ernährung im Sinne des Gesammt-Organismus: Nahrungsstoffe. Verdauung. Circulation. Ernährung im cellularen Sinne. Endosmose und Exosmose, todter Stoffwechsel. Intermediärer Stoffwechsel (Transito-Verkehr). Eigentlich nutritiver Stoffwechsel. Ernährungseinheiten und Krankheitsheerde. -- Thätigkeit der Gefässe bei der Ernährung. Verhältniss von Gefäss und Gewebe. Leber. Niere. Gehirn. Muskelhaut des Magens. Knorpel. Knochen. -- Abhängigkeit der Gewebe von den Gefässen. Metastasen. Gefässterritorien (vasculäre Einheiten). -- Die Ernährungsleitung in den Saftkanälen der Gewebe. Knochen. Zahn. Faserknorpel. Hornhaut. Bandscheiben. $Sechstes Capitel.$ Weiteres über Ernährung und Saftleitung 120 Sehnen, Hornhaut, Nabelstrang. -- Weiches Bindegewebe (Zellgewebe). Elastisches Gewebe. Strukturlose Häute: Tunicae propriae, Culicula. Elastische Membranen: Sarkolemm. -- Lederhaut (Derma). Papillarkörper: vasculäre Bezirke. Unterhaut (subcutanes, subseröses, submucöses Gewebe). Tunica dartos. -- Das feinere Kanalsystem des Bindegewebes: Körperchen, Lacunen. Bedeutung der Zellen für die Specialvertheilung der Ernährungssäfte innerhalb der Gewebe. Vegetativer Charakter der Ernährung. Elective Eigenschaften der Zellen. $Siebentes Capitel.$ Circulation und Dyscrasie 143 Arterien. Ihre Zusammensetzung: Epithel, Intima, Media (Muscularis), Adventitia. Capillaren. Capillare Arterien und Venen. Continuität der Gefässwand. Porosität derselben. Hæmorrhagia per diapedesin. Venen. Gefässe in der Schwangerschaft. -- Eigenschaften der Gefässwand: 1. Contractilität. Rhythmische Bewegung. Active oder Reizungs-Hyperämie. Ischämie. Gegenreize. Collaterale Fluxion. 2. Elasticität und Bedeutung derselben für die Schnelligkeit und Gleichmässigkeit des Blutstromes. Erweiterung der Gefässe. 3. Permeabilität. Diffusion. Specifische Affinitäten. Verhältniss von Blutzufuhr und Ernährung. Die Drüsensecretion (Leber). Specifische Thätigkeit der Gewebselemente. -- Dyskrasie. Transitorischer Charakter und localer Ursprung derselben. Säuferdyskrasie. Hämorrhagische Diathese. Syphilis. $Achtes Capitel.$ Das Blut 167 Morphologische (anatomische) und chemische Veränderungen des Blutes (Dyskrasien). -- Faserstoff. Fibrillen desselben. Vergleich mit Schleim und Bindegewebe. Homogener gallertiger Zustand. -- Rothe Blutkörperchen. Kern, Membran und Inhalt derselben. Gestalt bei den verschiedenen Wirbelthieren; diagnostische Schwierigkeiten. Zusammensetzung des Zellkörpers: Hämatin, Hämoglobin. Stroma. Veränderungen der Farbe und der Gestalt. Blutkrystalle (Hämatoidin, Hämin, Hämatokrystallin). -- Farblose Blutkörperchen. Numerisches Verhältniss. Struktur. Vergleich mit Eiterkörperchen. Klebrigkeit und Agglutination derselben. Specifisches Gewicht. Crusta granulosa. Diagnose von Eiter- und farblosen Blutkörperchen. Die Lehren von der Eiterresorption und von der Lymphexsudation. Lebenseigenschaften der farblosen Körperchen: Bewegung, Aufnahme anderer Körper, Auswanderung. Bedeutung dieser Erfahrungen für die cellulare Doctrin. $Neuntes Capitel.$ Blutbildung und Lymphe 191 Wechsel und Ersatz der Blutbestandtheile. =Die rothen Körperchen=. Hinfälligkeit derselben. Theilung derselben bei Embryonen. Zerbröckelung bei ungünstigen Einwirkungen. Ersatz aus der Lymphe. -- Das =Fibrin=. Die Lymphe und ihre Gerinnung. Nichtgerinnung des Capillarblutes in der Leiche. Das lymphatische Exsudat. Fibrinogene Substanz. Speckhautbildung. Lymphatisches Blut, Hyperinose, phlogistische Krase. Locale Fibrinbildung. Fibrintranssudation. Fibrinbildung im Blute. -- Die =farblosen Blutkörperchen= (Lymphkörperchen). Ihre Vermehrung bei Hyperinose und Hypinose (Erysipel, Pseudoerysipel, Typhus). Leukocytose und Leukämie. Die lienale und lymphatische Leukämie. =Milz=- =und Lymphdrüsen= als hämatopoëtische Organe. Structur der Lymphdrüsen. Rinden- und Marksubstanz. Das eigentliche Parenchym derselben: Follikel (Markstränge). Reticulum, Lymphsinus. Parenchymzellen (Lymphdrüsenkörperchen) und ihr Verhältniss zu Lymph- und farblosen Blutkörperchen. Diagnose und Abstammung der letzteren. -- Bau der Milz. Siebförmige Einrichtung der Gefässwände in der Pulpa. -- Umbildung farbloser Blutkörperchen in farbige. Ort derselben. Das rothe Knochenmark. -- =Lymphgefässe=. Zusammenhang mit dem Röhrensysteme des Bindegewebes. Bau der grösseren Lymphgefässe: Contractilität und Klappen derselben. Lymphcapillaren (Lymphgefäss-Wurzeln): einfache Epithel-Wand. Bedeutung der Bindegewebskörperchen und der Lymphe überhaupt. Recrementitielle und plastische Natur der Lymphe. $Zehntes Capitel.$ Pyämie und Leukocytose 217 Vergleich der farblosen Blut- und Eiterkörperchen. Die physiologische Eiterresorption: die unvollständige (Inspissation, käsige Umwandlung) und die vollständige (Fettmetamorphose, milchige Umwandlung). Intravasation von Eiter. -- Eiter in Lymphgefässen. Die Hemmung der Stoffe in den Lymphdrüsen. Mechanische Trennung (Filtration): Tätowirungsfarben. Mögliches Durchkriechen der Eiterkörperchen. Chemische Trennung (Attraction): Krebs, Syphilis. Die Reizung der Lymphdrüsen und ihre Bedeutung für die Leukocytose. Die (physiologische) digestive und puerperale Leukocytose. Die pathologische Leukocytose (Scrofulose. Typhus. Krebs. Erysipel). -- Die lymphoiden Apparate; solitäre und Peyer'sche Follikel des Darms. Tonsillen und Zungenfollikel. Thymus. Milz. -- Völlige Zurückweisung der Pyämie als morphologisch nachweisbarer Dyskrasie. $Eilftes Capitel.$ Infection und Metastase 234 Pyämie und Phlebitis. Capillar-Phlebitis und Stase. Thrombosis: parietale und obstruirende; adhäsive und suppurative. Puriforme Erweichung der Thromben: Detritus des Fibrins. Auflösung der rothen Körperchen. Die wahre und falsche Phlebitis. Eitercysten des Herzens. -- Embolie. Bedeutung der fortgesetzten Thromben. Lungenmetastasen. Zertrümmerung der Emboli. Verschiedener Charakter der Metastasen. Endocarditis und capilläre Embolie. Latente Pyämie. -- Inficirende Flüssigkeiten. Infectiöse Erkrankung der lymphatischen Apparate und der Milz, der Secretionsorgane und der Muskeln. Chemische Substanzen im Blute: Silbersalze, Arthritis, Kalkmetastasen. Ichorrhämie. Fremde Körperchen in der Blutmischung: Zellen, Hämatozoen, Pilze. Körner. Pyämie als Sammelname. $Zwölftes Capitel.$ Theorie der Dyscrasien 256 Abhängigkeit der Dyscrasien und ihrer Dauer von der Zufuhr der Stoffe. Bösartige Geschwülste: Krebs-Dyscrasie. Locale und allgemeine Contagion durch infectiöse Parenchym-Säfte. Bedeutung der Zellen für die Dissemination und Metastase. Natur der virulenten Substanzen. Regressive Stoffe als Mittel der Infection: Rotz, Syphilis, Tuberkel. Impfungen. Wanderung infectiöser Elemente, Homologe und heterologe Infection. -- Melanämie. Beziehung zu melanotischen Geschwülsten und Intermittens. Abhängigkeit von Milzfärbung. -- Die rothen Blutkörperchen. Entstehung. Die melanösen Formen. Chlorose. Lähmung der respiratorischen Substanz: Kohlenoxyd. Blutgifte. Toxicämie. -- Verschiedene Entstehung der Dyscrasien. $Dreizehntes Capitel.$ Das peripherische Nervensystem 271 Der Nervenapparat. Seine prätendirte Einheit. -- Die Nervenfasern. Peripherische Nerven. Fascikel, Primitivfaser. Perineurium und Neurilem. Schwann'sche Scheide. Axencylinder (electrische Substanz). Markstoff (Myelin), Protagon, Phosphor der Nervensubstanz. Marklose und markhaltige Fasern. Uebergang der einen in die anderen: Hypertrophie des Opticus. Verschiedene Breite der Fasern. -- Die peripherischen Nervenendigungen. Vater'sche (Pacini'sche) und Tastkörper. Marklose Fasern der Haut mit Endigung im Rete. Unterscheidung von Gefäss-, Nerven- und Zellenterritorien in der Haut. Endkolben der Schleimhautnerven. Höhere Sinnesorgane: Riech-, Geschmacks- und Hörzellen. Retina: nervöse und bindegewebige Theile. Arbeitsnerven: Muskel-Endplatten, Verbindung der Nerven mit Drüsen- und anderen Zellen. -- Die Theilung der Nervenfasern. Das electrische Organ der Fische. Die Muskelnerven. Weitere Betrachtung über Nerventerritorien. -- Nervenplexus mit ganglioformen Knoten. Darmschleimhaut. Gefässe. Plexus myentericus. -- Irrthümer der Neuropathologen. $Vierzehntes Capitel.$ Rückenmark und Gehirn 300 Die nervösen Centralorgane. Graue Substanz. Pigmentirte Ganglienzellen. Fortsätze der Ganglienzellen: apolare, unipolare und bipolare Zellen. Verschiedene Bedeutung der Fortsätze: Nerven- oder Axencylinderfortsätze. Ganglien- und Reiserfortsätze. Rückenmark: motorische und sensitive Ganglienzellen. Multipolare (polyklone) Formen. Kernkörperchenfäden =und= Kernröhren. Innere Verschiedenheit der Ganglienzellen. Schwierigkeit der Untersuchung. Die Nerven des elektrischen Organs der Fische. Das Gross- und Kleinhirn des Menschen. -- Das Rückenmark. Weisse und graue Substanz. Centralkanal. Gangliöse Gruppen. Weisse Stränge und Commissuren. Medulla oblongata. Rinde des Kleinhirns: Körner- und Stäbchenschicht. Psychische Ganglienzellen des Gehirns. Das Rückenmark des Petromyzon und die marklosen Fasern desselben. -- Die Zwischensubstanz (interstitielles Gewebe). Ependyma ventriculorum. Neuroglia. Corpora amylacea. Graue und gelatinöse Atrophie des Rückenmarks. Sandkörper (corpora arenacea) der Häute des Gehirns und Rückenmarks. $Fünfzehntes Capitel.$ Leben der Elemente. Thätigkeit und 328 Reizbarkeit Das Leben der einzelnen Theile. Die Einheit der Neuristen. Einwände dagegen. Mythologische Natur der neuristischen Lehren. Animismus: Archaeus, Zellenseele. Das Bewusstsein. Die Thätigkeit der einzelnen Theile. Begriff der Reizung: Passion und Action. Die Erregbarkeit (Reizbarkeit) als allgemeines Kriterium des Lebens. Partieller Tod: Nekrobiose und Nekrose. Nichterregbarkeit der Intercellularsubstanz. -- Verrichtung, Ernährung und Bildung als allgemeine Formen der Lebensthätigkeit. Verschiedenheit der Reizbarkeit je nach diesen Formen. -- Functionelle Reizbarkeit. Nerv, Muskel, Flimmerepithel, Drüsen. Ermüdung und functionelle Restitution. Reizmittel. Specifische Beziehung derselben. Muskelirritabilität. Geringer praktischer Werth derselben. -- Nervenirritabilität. Grosse Bedeutung derselben. Falsche Deutung derselben als Empfindlichkeit oder als Contractilität. Innervation. Bewusste und unbewusste Empfindungen. Nervenkraft (Nervenseele, Neurilität). Specifische Unterschiede der constituirenden Theile des Nervensystems. Die Leitung der Electricität als Zubehör der Nervenfasern, die Sammlung (Hemmung, Verstärkung) und Lenkung als Zubehör der Ganglienzellen. Moderations-Einrichtungen. Instinctives und intellectuelles Leben. Bewusstsein. Nothwendigkeit einer histologischen Localisation der nervösen Functionen. Erregung der Ganglienzellen: verschiedene Energie und verschiedene Combination (Synergie) derselben. Spannung und Entladung von Ganglienzellen. Psychologische Auffassung der Affecte und Triebe. Die pathologische Nervenfunction: quantitative Abweichung (Krampf, Lähmung) und combinatorische Abweichung (Epilepsie). -- Drüsen-Irritabilität. Verschiedene Gruppen von Drüsen je nach dem Typus der Secretion. Die Drüsen mit persistenten Zellen: Leber, Nieren. Glykogenie. -- Automatische Elemente. Geschichtliches. Sarkode, Protoplasma. Amöboide Erscheinungen. Bewegliche Zellen. Verwechselungen des Automatismus mit den Wirkungen physikalischer Osmose (Schrumpfung und Schwellung). Aeussere Gestaltveränderungen mit Aussenden und Einziehen von Fortsätzen (Polymorphismus); innere Molecularbewegung, Vacuolenbildung. Abschnürung von Theilen des Zellkörpers. Befestigte (fixe) und bewegliche (mobile) Zellen. Wanderung und Mobilisirung der Zellen. Voracität: Blutkörperchenhaltige Zellen. Mechanisches Eindringen von fremden Körpern in Zellen. Der Automatismus als Merkmal der Irritabilität -- Die pathologischen Abweichungen der Function: Mangel (Defect), Schwächung und Steigerung. Absolute Zurückweisung der Annahme qualitativer Heterologie. $Sechzehntes Capitel.$ Nutritive und formative Reizung. Neubildung und Entzündung 364 Nutritive Reizbarkeit. Genauere Definition der Ernährung. Hypertrophie und Hyperplasie. Atrophie, Aplasie und Nekrobiose als Formen des Schwundes (Phthisis): regressive Prozesse. Wesen der Ernährung: Aufnahme und Aneignung der Stoffe durch eigene Thätigkeit. Crudität und Assimilation. Fixirung der Stoffe: Gegensatz zu todten und schlecht ernährten Theilen: Resorption und Kachexie. Gute Ernährung. Strictum et laxum, Tonus und Atonie, Kraft und Schwäche. Turgor vitalis. Nutritive Reize: trophische Nerven. Krankhafte Hypertrophie: parenchymatöse Entzündung; trübe Schwellung. Niere, Knorpel, Haut. Hornhaut. Die neuropathologische und die humoralpathologische Doctrin. Parenchymatöse Schwellung. Nutritive Restitution und Nekrobiose. Stadien der parenchymatösen Entzündung. Active Natur dieses Prozesses. -- Formative Reizbarkeit. Theilung der Kernkörperchen und Kerne (Nucleation): vielkernige Elemente, Riesenzellen (Knochenmark, Myeloidgeschwulst, lymphatische Neubildungen). Formative Muskelreizung im Vergleich zum Muskelwachsthum. Neubildung der Zellen durch Theilung (fissipare Cellulation): Knorpel, epitheliale und bindegewebige Neubildung. Wucherung (Proliferation). Auswanderung der farblosen Blutkörperchen und aus ihnen hervorgehende Organisation. Die plastischen (histogenetischen) Stoffe; der Bildungstrieb. Negation der extracellulären Neubildung und der Bildungsstoffe. Die Neubildung als Thätigkeit der Zellen. Formative Reize. Die humoralpathologische und neuropathologische Doctrin. -- Entzündliche Reizung, Entzündung. Neuroparalytische Entzündung (Vagus, Trigeminus); Lepra anaesthetica. Prädisposition und neurotische Atrophie. Die Entzündung als Collectivvorgang. $Siebzehntes Capitel.$ Passive Vorgänge. Fettige Degeneration 400 Die passiven Vorgänge in ihren beiden Hauptrichtungen zur Degeneration: Nekrobiose (Erweichung und Zerfall) und Induration. -- Die fettige Degeneration. Histologische Geschichte des Fettes im Thierkörper: das Fett als Gewebsbestandtheil, als transitorische Infiltration und als nekrobiotischer Stoff. -- Das Fettgewebe. Poly-arcie. Fettgeschwülste. Die interstitielle Fettbildung. Fettige Degeneration der Muskeln. -- Die Fettinfiltration und Fettretention. Darm: Structur und Function der Zotten. Resorption und Retention des Chylus. Leber: intermediärer Stoffwechsel durch die Gallengänge. Fettleber. -- Die Fettmetamorphose. Drüsen: Secretion des Hautschmeers und der Milch (Colostrum). Körnchenzellen und Körnchenkugeln. Entzündungskugeln. Fettmetamorphose des Lungenepithels. Gelbe Hirnerweichung. Corpus luteum des Eierstocks. Arcus senilis der Hornhaut. Morbus Brightii. Optisches Verhalten der fettig metamorphosirten Gewebe. -- Muskeln: Fettmetamorphose des Herzfleisches. Fettbildung in den Muskeln bei Verkrümmungen. -- Arterie: fettige Usur und Atherom. Fettiger Detritus. $Achtzehntes Capitel.$ Amyloide Degeneration. Verkalkung 432 Die amyloide (speckige oder wächserne) Degeneration. Regionäres Auftreten derselben. Verschiedene Natur der Amyloidsubstanzen: Glykogen (Leber), Corpora amylacea (Hirn, Lungen, Prostata) und eigentliche Amyloid-Entartung. Verlauf der letzteren. Beginn der Erkrankung an den feinen Arterien. Wachsleber. Knorpel. Dyscrasischer (constitutioneller) Charakter der Krankheit: functionelle Störungen. Darm. Niere: die drei Formen der Bright'schen Krankheit (amyloide Degeneration, parenchymatöse und interstitielle Nephritis). Lymphdrüsen: consecutive Anämie. Gang der Erkrankung. Beziehung zu Knochenkrankheiten und Syphilis. Amyloide Erkrankung der Schilddrüse und der Nebennieren. -- Verkalkung (Versteinerung, Petrification). Unterschied von Verknöcherung, Verkalkung der Arterien, des Bindegewebes, der Knorpel. Haut- oder Knochenknorpel (osteoides Bindegewebe). Concentrisch geschichtete Kalkkörper (Concretionen). Versteinerung: Lithopädion. Verkalkung todter Theile: Eingeweidewürmer, Ganglienzellen des Gehirns bei Commotion, käsige und thrombotische Massen. $Neunzehntes Capitel.$ Gemischte, activ-passive Prozesse. Entzündung 458 Fettmetamorphose als Entzündungs-Ausgang. Unterschied zwischen primärer (einfacher) und secundärer (entzündlicher) Fettmetamorphose. Nieren, Muskeln. -- Atheromatöser Prozess der Arterien. Atheromatie und Ossification als Folgen der Arteriosklerose. Entzündlicher Charakter der letzteren: Endoarteriitis chronica deformans s. nodosa. Bildung der Atheromheerde. Cholestearin-Abscheidung. Ossification. Ulceration. Analogie mit der Endocarditis. -- Die Entzündung. Die vier Cardinalsymptome und deren Vorherrschen in den einzelnen Schulen. Die thermische und vasculäre Theorie, die neuropathologische, die Exsudatlehre. Entzündungsreiz. Functio laesa. Die Entzündung in gefässlosen und in gefässhaltigen Theilen. Das Exsudat als Folge der Gewebsthätigkeit: Schleim und Fibrin. Die Entzündung als zusammengesetzter Reizungsvorgang. Parenchymatöse und exsudative (secretorische) Form. Klinische und anatomische Bedeutung der Entzündung. Irrthum von der einheitlichen Natur der Entzündungs-Vorgänge. Multiplicität der entzündlichen Prozesse. $Zwanzigstes Capitel.$ Die normale und pathologische Neubildung. Geschichte des Knochens 482 Die Theorie der continuirlichen Entwickelung im Gegensatze zu der Blastem- und Exsudattheorie. Das Bindegewebe, seine Aequivalente und seine Adnexen als gemeinster Keimstock der Neubildungen. Die Uebereinstimmung der embryonalen und pathologischen Neubildung. Die Bedeutung der farblosen Blutkörperchen. Die Zellentheilung als gewöhnlicher Anfang der Neubildungen. -- Endogene Bildung. Physaliden. Bruträume. Furchung. -- Wachsthumähnliche und zeugungähnliche Neubildungen. Pflanzliche Analogie. -- Verschiedene Richtung der Neubildung. Hyperplasie, directe und indirecte. Heteroplasie. Die pathologischen Bildungszellen; Granulation. Verschiedene Grösse und Bildungsdauer derselben. -- Darstellung der Knochenentwickelung als einer Musterbildung. Unterschied von Formation, Transformation und Wachsthum. Das appositionelle und das interstitielle Wachsthum. Die Blastemtheorie. Der frische und wachsende Knochen im Gegensatze zu dem macerirten. Natur des Markes. -- Längenwachsthum der Röhrenknochen: Knorpelwucherung. Markbildung als Gewebstransformation: rothes, gelbes und gallertiges, normales, entzündliches und atrophisches Mark. Tela ossea, verkalkter Knorpel, osteoides Gewebe. Rachitis. Ossification des Markes. -- Dickenwachsthum der Röhrenknochen. Struktur und Wucherung des Periostes. Weiches Osteom der Kiefer. Callusbildung nach Fractur. Knochenterritorien: Caries, degenerative Ostitis. Knochengranulation. Knocheneiterung. Maturation des Eiters. -- Die Granulation als Analogon des Knochenmarkes und als Ausgangspunkt heteroplastischer Entwickelung. $Einundzwanzigstes Capitel.$ Die pathologische, besonders die heterologe Neubildung 526 Theorie der substitutiven Neubildung im Gegensatze zu der exsudativen. Zerstörende Natur der Neubildungen. Homologie und Heterologie (Malignität). Ulceration. Osteomalacie. Knochenmark und Eiter. Proliferation und Luxuriation. -- Die Eiterung. Verschiedene Formen derselben: oberflächliche aus Epithel und tiefe aus Bindegewebe, Auswanderung der farblosen Blutkörperchen. Erodirende Eiterung (Haut, Schleimhaut): Eiter- und Schleimkörperchen im Verhältniss zum Epithel. Ulcerirende Eiterung. Lösende Eigenschaften des Eiters. -- Zusammenhang der Destruction mit pathologischem Wachsthum und Wucherung. Uebereinstimmung des Anfanges bei Eiter, Krebs, Sarkom u. s. w. Mögliche Lebensdauer der pathologisch neugebildeten Elemente und der pathologischen Neubildungen als ganzer Theile (Geschwülste). -- Zusammengesetzte Natur der grösseren Geschwulstknoten und miliarer Charakter der eigentlichen Heerde. Bedingungen des Wachsthums und der Recidive: Contagiosität der Neubildungen, Bedeutung der Elementar-Anastomosen und der Wanderzellen. Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Neuropathologie. Allgemeine Infection des Körpers. Parasitismus und Autonomie der Neubildungen. $Zweiundzwanzigstes Capitel.$ Form und Wesen der pathologischen Neubildungen 547 Terminologie und Classification der pathologischen Neubildungen. Die Consistenz als Eintheilungsprincip. Vergleich mit einzelnen Körpertheilen. Histologische Eintheilung. Die scheinbare Hetorologie des Tuberkels, Colloids u. s. f. -- Verschiedenheit von Form und Wesen: Colloid, Epitheliom, Papillargeschwulst, Tuberkel. -- Die Papillargeschwülste: einfache (Condylome, Papillome) und specifische (Zottenkrebs, Blumenkohlgeschwulst). -- Der Tuberkel: Infiltration und Granulation. Tuberkelkörperchen. Der entzündliche Ursprung der Tuberkel. Käsige Pneumonie und Osteomyelitis. Die Granulie. Entstehung der Tuberkel aus Bindegewebe. Das miliare Korn und der solitäre Knoten. Die käsige Metamorphose. -- Das Colloid: Myxom. Collonema. Schleim- oder Gallertkrebs. -- Die physiologischen Typen der heterologen Neubildungen: lymphoide Natur des Tuberkels, hämatoide des Eiters, epithelioide des Krebses, des Cancroids, der Perlgeschwulst und des Dermoids, bindegewebige des Sarkoms. Heterotopie der Bildung. Der Streit über die Entstehung des Cancroids und Carcinoms. Infectionsfähigkeit, nach dem Saftgehalt der specifischen Beschaffenheit und der Wanderfähigkeit der Elemente. Erregung der Tuberculose durch regressive Stoffe. -- Vergleich der pathologischen Neubildung bei Thieren und Pflanzen. Schluss. * * * * * Gedruckt bei Julius Sittenfeld in Berlin. * * * * * Anmerkungen zur Transkription: Die Originalschreibweise und kleinere Inkonsistenzen in der Schreibweise und Formatierung wurden prinzipiell beibehalten. Gesperrter Text wurde mit Gleichheitszeichen (=Text=), kursiver Text mit Unterstrichen (_Text_) und fett gedruckter Text mit Dollarzeichen ($Text$) markiert. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen. S. VII: beeinträchtigt? warum -> Warum S. XIV: 46 -> 46. S. XV: 86 -> 86. S. XVI: 113. -> 113, I. S. XVII: 125 -> 125. S. 1: Bestimmung der Zelle -> Zelle. S. 5: Fig. 1. a. -> Fig. 1, _a_. S. 11: Fig. 5. _d'_ -> Fig. 5, _d_' S. 19: äussere Zwissenmasse -> Zwischenmasse S. 19: was wer weis -> weiss S. 22: characteristischen Ausdruk -> Ausdruck S. 30: regelmässig polygnonale -> polygonale S. 36: an der =Krystalllinse= -> =Krystallinse= S. 40: daraus eigenthümthümliche -> eigenthümliche S. 46: =Faserknorpel= genannt -> genannt. S. 56: Verhätnissmässig -> Verhältnissmässig S. 59: Arterien). _a_, a -> _a_, _a_ S. 94: Fig. 4 _b_, 21. -> Fig. 4, _b_; 21. S. 98: entsteht Bindegewebe -> Knochengewebe S. 104: Fig. 29. -> Fig. 29 S. 109: Fig. 37. -> Fig. 37 S. 112: dass die compakte -> compacte S. 112: Fig. 38 _v_, _v_', -> Fig. 38, _v_, _v_'; S. 112: 39 _a_, _v_ -> 39, _a_, _v_ S. 146: Fig. 4 _c_ -> Fig. 4, _c_ S. 148: Fig. 54 _v_ -> Fig. 54, _v_ S. 150: Mein Archiv. XXVII. -> Mein Archiv XXVII. S. 154: so treffen wie -> wir S. 155: einmal die Wandbebestandtheile -> Wandbestandtheile S. 156: Einfluss nicht läugnen -> leugnen S. 177: Klümpchen in Aggegrate -> Aggregate S. 182: Fig. 61, d. -> Fig. 61, _d_ S. 183: oder Unähnlickeit -> Unähnlichkeit S. 184: 67. _A_ -> 67. _A_. S. 187: =Fig=. 67 -> 69 S. 192: er in senien -> seinen S. 192: lässt sich die Möglickeit -> Möglichkeit S. 198: und des Easerstoffes -> Faserstoffes S. 201: Archiv. 1847. I. 563. -> Archiv 1847. I. 563. S. 202: Archiv. 1853. IV. 43 ff. -> Archiv 1853. IV. 43 ff. S. 204: Archiv. 1847. I. 567. -> Archiv 1847. I. 567. S. 206: Mein Archiv. 1853. Bd. V. -> Mein Archiv 1853. Bd. V. S. 209: bei den Lympdrüsen -> Lymphdrüsen S. 211: (Fig. 71, _B_, _c_) -> (Fig. 71, _B_, _c_). S. 218: Archiv. I. 242. -> Archiv I. 242. S. 222: Archiv. I. 182. -> Archiv I. 182. S. 227: Fig. 67. -> Fig. 67 S. 227: Fig. 69. -> Fig. 69 S. 239: (Fig. 79, B) -> (Fig. 79, _B_) S. 239: hineingelangen -> hineingelangen. S. 240: Fig. 63. _a_, 79. _C_ -> Fig. 63, _a_; 79, _C_ S. 240: Archiv. I. 245, -> Archiv I. 245, S. 247: Fig. 82. _c_ -> Fig. 82, _c_ S. 258: Archiv. I. 112. -> Archiv I. 112. S. 261: Inaug. Diss, Berlin 1869. -> Inaug. Diss. Berlin 1869. S. 263: Archiv. 1853. V. 85. -> Archiv 1853. V. 85. S. 264: =Fig= 85. -> =Fig=. 85. S. 264: Melanämie -> Melanämie. S. 266: Fig. 61 _h_ -> Fig. 61, _h_ S. 273: grössere Scheide _v_ -> _l_' S. 275: Fig. 87 _A_ -> Fig. 87, _A_ S. 278: Archiv. 1845. VI. 562. -> Archiv 1845. VI. 562. S. 280: oder contrifugale -> centrifugale S. 285: Fig. 92. -> Fig. 92 S. 297: liegen. _c_, _v_ -> _v_, _v_ S. 302: Fig. 97, _a_, _b_. -> Fig. 97, _a_, _b_ S. 308: Fig. 99. -> Fig. 99 S. 323: sich noch enie -> eine S. 353: bloss der Bewewegung -> Bewegung S. 354: Fig. 61 _e_-_h_ -> Fig. 61, _e_-_h_ S. 358: mit groser -> grosser S. 367: Berlin 1868. -> Berlin 1868.) S. 368: Fig. 79 _C_ -> Fig. 79, _C_ S. 398: der andere degegen -> dagegen S. 419: =Fig=. 117. -> =Fig=. 119. S. 420: die meisten Fettropfen -> Fetttropfen S. 427: der Stelle, we -> wo S. 428: Veränderung eingehen -> eingehen. S. 435: Fig. 103 _c a_ -> Fig. 103, _c a_ S. 454: des Skelets -> Skeletts S. 456: Verkalkung gewönlich -> gewöhnlich S. 460: Stadium der Brightischen -> Bright'schen S. 461: der Lösung socher -> solcher S. 470: so, dass dei -> bei S. 471: Theile aufteten -> auftreten S. 484: wiederholt eingangen -> eingegangen S. 487: permanente Bruststätte -> Brutstätte S. 490: Achiv VIII. -> Archiv VIII. S. 493: Archiv VIII -> Archiv VIII. S. 495: Blastem und Exudat -> Exsudat S. 497: Veranlassung, wesshalb -> weshalb S. 501: stellt die Kalbablagerung -> Kalkablagerung S. 502: in dem Maase -> Maasse S. 503: Blastem oder Exudat -> Exsudat S. 508: welche die rachtischen -> rachitischen S. 508: Fig. 137 _m_ -> Fig. 137, _m_ S. 519: =Fig= 142. -> =Fig=. 142. S. 522: an der compakten -> compacten S. 523: in der compakten -> compacten S. 530: =Pig=. 144. -> =Fig=. 144. S. 536: =Fig= 145. -> =Fig=. 145. S. 543: wachsen anfängt.. -> anfängt. S. 545: tuberkulösen und sebst -> selbst S. 555: sind, wslche -> welche S. 558: Spec. Pathol. u -> u. S. 569: gezeigt, dass -> dass das S. 577: Haemorrhagia -> Hæmorrhagia S. 580: und Induration -> Induration. End of Project Gutenberg's Die Cellularpathologie, by Rudolf Virchow *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE CELLULARPATHOLOGIE *** ***** This file should be named 44921-8.txt or 44921-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/4/9/2/44921/ Produced by Constanze Hofmann, Jens Nordmann and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (BioLib (www.biolib.de)) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. 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Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. *** START: FULL LICENSE *** THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License (available with this file or online at http://gutenberg.org/license). Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. 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Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
44921-8
The Project Gutenberg EBook of Die Cellularpathologie, by Rudolf Virchow This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org/license Title: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre Author: Rudolf Virchow Release Date: February 15, 2014 [EBook #44921] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE CELLULARPATHOLOGIE *** Produced by Constanze Hofmann, Jens Nordmann and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (BioLib (www.biolib.de)) Vorlesungen über PATHOLOGIE von RUDOLF VIRCHOW. $Erster Band:$ Die Cellular-Pathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Vierte Auflage. Berlin, 1871. =Verlag von August Hirschwald=. Unter den Linden No. 68. * * * * * Die CELLULARPATHOLOGIE in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, dargestellt von RUDOLF VIRCHOW, ord. öff. Professor der pathologischen Anatomie, der allgemeinen Pathologie und Therapie an der Universität, Director des pathologischen Instituts und dirigirendem Arzte an der Charité zu Berlin. $Vierte, neu bearbeitete und stark vermehrte Auflage.$ Mit 157 Holzschnitten. Berlin, 1871. =Verlag von August Hirschwald=. Unter den Linden No. 68. Der Verfasser behält sich das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen, besonders in's Englische und Französische vor. * * * * * Vorrede zur ersten Auflage. Die Vorlesungen, welche ich hiermit dem weiteren ärztlichen Publikum vorlege, wurden im Anfange dieses Jahres vor einem grösseren Kreise von Collegen, zumeist praktischen Aerzten Berlin's, in dem neuen pathologischen Institute der Universität gehalten. Sie verfolgten hauptsächlich den Zweck, im Anschlusse an eine möglichst ausgedehnte Reihe von mikroskopischen Demonstrationen eine zusammenhängende Erläuterung derjenigen Erfahrungen zu geben, auf welchen gegenwärtig nach meiner Auffassung die biologische Doctrin zu begründen und aus welchen auch die pathologische Theorie zu gestalten ist. Sie sollten insbesondere in einer mehr geordneten Weise, als dies bisher geschehen war, eine Anschauung von der cellularen Natur aller Lebensvorgänge, der physiologischen und pathologischen, der thierischen und pflanzlichen zu liefern versuchen, um gegenüber den einseitigen humoralen und neuristischen (solidaren) Neigungen, welche sich aus den Mythen des Alterthums bis in unsere Zeit fortgepflanzt haben, die Einheit des Lebens in allem Organischen wieder dem Bewusstsein näher zu bringen, und zugleich den ebenso einseitigen Deutungen einer grob mechanischen und chemischen Richtung die feinere Mechanik und Chemie der Zelle entgegen zu halten. Bei den grossen Fortschritten des Einzelwissens ist es für die Mehrzahl der praktischen Aerzte immer schwieriger geworden, sich dasjenige Maass der eigenen Anschauung zu gewinnen, welches allein eine gewisse Sicherheit des Urtheils verbürgt. Täglich entschwindet die Möglichkeit nicht bloss einer Prüfung, sondern selbst eines Verständnisses der neueren Schriften denjenigen mehr, welche in den oft so mühseligen und erschöpfenden Wegen der Praxis ihre beste Kraft verbrauchen müssen. Denn selbst die Sprache der Medicin nimmt nach und nach ein anderes Aussehen an. Bekannte Vorgänge, welche das herrschende System seinem Gedankenkreise an einem bestimmten Orte eingereiht hatte, wechseln mit der Auflösung des Systems die Stellung und die Bezeichnung. Indem eine gewisse Thätigkeit von dem Nerven, dem Blute oder dem Gefässe auf das Gewebe verlegt, ein passiver Vorgang als ein activer, ein Exsudat als eine Wucherung erkannt wird, ist auch die Sprache genöthigt, andere Ausdrücke für diese Thätigkeiten, Vorgänge und Erzeugnisse zu wählen, und je vollkommener die Kenntniss des feineren Geschehens der Lebensvorgänge wird, um so mehr müssen sich auch die neueren Bezeichnungen an diese feineren Grundlagen der Erkenntniss anschliessen. Nicht leicht kann Jemand mit mehr Schonung des Ueberlieferten die nothwendige Reform der Anschauungen durchzuführen versuchen, als ich es mir zur Aufgabe gestellt habe. Allein die eigene Erfahrung hat mich gelehrt, dass es hier eine gewisse Grenze gibt. Zu grosse Schonung ist ein wirklicher Fehler, denn sie begünstigt die Verwirrung: ein neuer, zweckmässig gewählter Ausdruck macht dem allgemeinen Verständnisse etwas sofort zugänglich, was ohne ihn jahrelange Bemühungen höchstens für Einzelne aufzuklären vermochten. Ich erinnere an die parenchymatöse Entzündung, an Thrombose und Embolie, an Leukämie und Ichorrhämie, an osteoides und Schleimgewebe, an käsige und amyloide Metamorphose, an die Substitution der Gewebe. Neue Namen sind nicht zu vermeiden, wo es sich um thatsächliche Bereicherungen des erfahrungsmässigen Wissens handelt. Auf der anderen Seite hat man es mir schon öfters zum Vorwurfe gemacht, dass ich die moderne Anschauung auf veraltete Standpunkte zurückzuschrauben bemüht sei. Hier kann ich wohl mit gutem Gewissen sagen, dass ich eben so wenig die Tendenz habe, den =Galen= oder den =Paracelsus= zu rehabilitiren, als ich mich davor scheue, das, was in ihren Anschauungen und Erfahrungen wahr ist, offen anzuerkennen. In der That finde ich nicht bloss, dass im Alterthum und im Mittelalter die Sinne der Aerzte nicht überall durch überlieferte Vorurtheile gefesselt wurden, sondern noch mehr, dass der gesunde Menschenverstand im Volke an gewissen Wahrheiten festgehalten hat, trotzdem dass die gelehrte Kritik sie für überwunden erklärte. Was sollte mich abhalten, zu gestehen, dass die gelehrte Kritik nicht immer wahr, das System nicht immer Natur gewesen ist, dass die falsche Deutung nicht die Richtigkeit der Beobachtung beeinträchtigt? Warum sollte ich nicht gute Ausdrücke erhalten oder wiederherstellen, trotzdem dass man falsche Vorstellungen daran geknüpft hat? Meine Erfahrungen nöthigen mich, die Bezeichnung der Wallung (Fluxion) für besser zu halten, als die der Congestion; ich kann nicht umhin, die Entzündung als eine bestimmte Erscheinungsform pathologischer Vorgänge zuzulassen, obwohl ich sie als ontologischen Begriff auflöse; ich muss trotz des entschiedenen Widerspruchs vieler Forscher den Tuberkel als miliares Korn, das Epitheliom als heteroplastische, maligne Neubildung (Cancroid) festhalten. Vielleicht ist es in heutiger Zeit ein Verdienst, das historische Recht anzuerkennen, denn es ist in der That erstaunlich, mit welchem Leichtsinn gerade diejenigen, welche jede Kleinigkeit, die sie gefunden haben, als eine Entdeckung preisen, über die Vorfahren aburtheilen. Ich halte auf mein Recht, und darum erkenne ich auch das Recht der Anderen an. Das ist mein Standpunkt im Leben, in der Politik, in der Wissenschaft. Wir sind es uns schuldig, unser Recht zu vertheidigen, denn es ist die einzige Bürgschaft unserer individuellen Entwickelung und unseres Einflusses auf das Allgemeine. Eine solche Vertheidigung ist keine That eitlen Ehrgeizes, kein Aufgeben des rein wissenschaftlichen Strebens. Denn wenn wir der Wissenschaft dienen wollen, so müssen wir sie auch ausbreiten, nicht bloss in unserem eigenen Wissen, sondern auch in der Schätzung der Anderen. Diese Schätzung aber beruht zum grossen Theile auf der Anerkennung, die unser Recht, auf dem Vertrauen, das unsere Forschung bei den Anderen findet, und das ist der Grund, warum ich auf mein Recht halte. In einer so unmittelbar praktischen Wissenschaft, wie die Medicin, in einer Zeit so schnellen Wachsens der Erfahrungen, wie die unsrige, haben wir doppelt die Verpflichtung, unsere Kenntniss der Gesammtheit der Fachgenossen zugänglich zu machen. Wir wollen die Reform, und nicht die Revolution. Wir wollen das Alte conserviren und das Neue hinzufügen. Aber den Zeitgenossen trübt sich das Bild dieser Thätigkeit. Denn nur zu leicht gewinnt es den Anschein, als würde eben nur ein buntes Durcheinander von Altem und Neuem gewonnen, und die Nothwendigkeit, die falschen oder ausschliessenden Lehren der Neueren mehr als die der Alten zu bekämpfen, erzeugt den Eindruck einer mehr revolutionären, als reformatorischen Einwirkung. Es ist freilich bequemer, sich auf die Forschung und die Wiedergabe des Gefundenen zu beschränken und Anderen die »Verwerthung« zu überlassen, aber die Erfahrung lehrt, dass dies überaus gefährlich ist und zuletzt nur denjenigen zum Vortheil ausschlägt, deren Gewissen am wenigsten zartfühlend ist. Uebernehmen wir daher jeder selbst die Vermittelung zwischen der Erfahrung und der Lehre. Die Vorlesungen, welche ich hier mit der Absicht einer solchen Vermittelung veröffentliche, haben so ausdauernde Zuhörer gefunden, dass sie vielleicht auch nachsichtige Leser erwarten dürfen. Wie sehr sie der Nachsicht bedürfen, fühle ich selbst sehr lebhaft. Jede Art von freiem Vortrage kann nur dem wirklichen Zuhörer genügen. Zumal dann, wenn der Vortrag wesentlich darauf berechnet ist, als Erläuterung für Tafel-Zeichnungen und Demonstrationen zu dienen, muss er nothwendig dem Leser ungleichmässig und lückenhaft erscheinen. Die Absicht, eine gedrängte Uebersicht zu liefern, schliesst an sich eine speciellere, durch ausreichende Citate unterstützte Beweisführung mehr oder weniger aus und die Person des Vortragenden wird mehr in den Vordergrund treten, da er die Aufgabe hat, gerade seinen Standpunkt deutlich zu machen. Möge man daher das Gegebene für nicht mehr nehmen, als es sein soll. Diejenigen, welche Musse genug gefunden haben, sich in der laufenden Kenntniss der neueren Arbeiten zu erhalten, werden wenig Neues darin finden. Die Anderen werden durch das Lesen nicht der Mühe überhoben sein, in den histologischen, physiologischen und pathologischen Specialwerken die hier nur ganz kurz behandelten Gegenstände genauer studiren zu müssen. Aber sie werden wenigstens eine Uebersicht der für die cellulare Theorie wichtigsten Entdeckungen gewinnen und mit Leichtigkeit das genauere Studium des Einzelnen an die hier im Zusammenhange gegebene Darstellung anknüpfen können. Vielleicht wird gerade diese Darstellung einen unmittelbaren Anreiz für ein solches genaueres Studium abgeben, und schon dann wird sie genug geleistet haben. Meine Zeit reicht nicht aus, um mir die schriftliche Ausarbeitung eines solchen Werkes möglich zu machen. Ich habe mich deshalb genöthigt gesehen, die Vorlesungen, wie sie gehalten wurden, stenographiren zu lassen und mit leichten Aenderungen zu redigiren. Herr Cand. med. =Langenhaun= hat mit grosser Sorgfalt die stenographische Arbeit besorgt. Soweit es sich bei der Kürze der Zeit thun liess, und soweit der Text ohne dieselben für Ungeübte nicht verständlich sein würde, habe ich nach den Tafel-Zeichnungen und besonders nach den vorgelegten Präparaten Holzschnitte anfertigen lassen. Vollständigkeit liess sich in dieser Beziehung nicht erreichen, da schon so die Veröffentlichung durch die Anfertigung der Holzschnitte um Monate verzögert worden ist. =Misdroy=, am 20. August 1858. Vorrede zur zweiten Auflage. Der vorliegende Versuch, meine von den hergebrachten abweichenden Erfahrungen dem grösseren Kreise der Aerzte im Zusammenhange vorzuführen, hat einen unerwarteten Erfolg gehabt: er hat viele Freunde und lebhafte Gegner gefunden. Beides ist gewiss sehr erwünscht, denn die Freunde werden in diesem Buche keinen Abschluss, kein System, kein Dogma finden, und die Gegner werden genöthigt sein, endlich einmal die Phrasen aufzugeben und sich an die Sachen selbst zu machen. Beides kann nur zur Bewegung, zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen. Allein Beides hat doch auch seine niederschlagende Seite. Wenn man ein Decennium hindurch mit allem Eifer gearbeitet und die Ergebnisse seiner Forschungen dem Urtheile der Mitwelt vorgelegt hat, so stellt man sich nur zu leicht vor, dass mehr davon, dass vielleicht der grössere und wesentliche Theil allgemeiner bekannt sein könne. Dies war, wie die Erfahrung gelehrt hat, bei meinen Arbeiten nicht der Fall. Einer meiner Kritiker erklärt es aus der Breite meiner Beweisführungen. Mag es sein, allein dann hätte ich vielleicht erwarten dürfen, dass andere Kritiker die Beweise, welche sie hier nicht in ausreichender Weise fanden, in den Originalarbeiten aufgesucht hätten. Denn ausdrücklich hatte ich schon das erste Mal hervorgehoben, dass diejenigen, welche sich in der laufenden Kenntniss der neueren Arbeiten erhalten hätten, hier wenig Neues finden würden. In der neuen Ausgabe habe ich mich darauf beschränkt, den Ausdruck zu verbessern, Missverständliches schärfer zu fassen, Wiederholungen zu unterdrücken. Gewiss bleibt auch so noch sehr Vieles der Verbesserung bedürftig, aber es schien mir, dass dem Ganzen der frischere Eindruck der mündlichen Rede und des freien Gedankenganges möglichst erhalten bleiben müsse, wenn es noch weiterhin als ein wirksames Ferment für die an sich so verschiedenartigen Richtungen des medicinischen Lebens und Wirkens dienen sollte. Denn das Buch wird seinen Zweck erfüllt haben, wenn es Propaganda, nicht für die Cellular-Pathologie, sondern nur überhaupt für unabhängiges Denken und Forschen in grossen Kreisen machen hilft. =Berlin=, am 7. Juni 1859. Vorrede zur dritten Auflage. Die neue Auflage, welche hiermit vor das Publikum tritt, hat wesentliche Umgestaltungen erfahren müssen. Der Verfasser hat sich genöthigt gesehen, die Form der Vorlesungen ganz aufzugeben, weil sie ihn hinderte, wesentliche Veränderungen, insbesondere Neuerungen in den Text zu bringen. Solche Aenderungen waren aber vielfach nothwendig. Denn die Wissenschaft, insbesondere die deutsche, ist in den drei Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage rüstig vorwärts geschritten, und wenn sie auch an den Grundanschauungen und Hauptlehrsätzen, welche hier dargelegt wurden, nichts geändert hat, so gestattete sie doch an vielen Punkten ein ungleich tieferes Eingehen. Aber die weitere Entfernung von dem Ausgangspunkte gestattet auch eine freiere Uebersicht. Vieles hatte, wie es bei freien Vorträgen nur zu leicht geschieht, nur losen Zusammenhang; Anderes war, wie es die Demonstration bestimmter Präparate mit sich brachte, geradezu zerrissen. Dies ist dem Verfasser insbesondere bei der Durchsicht der inzwischen erschienenen englischen und französischen Uebersetzungen entgegen getreten, und er hat sich daher bemüht, durch schärferen Ausdruck, durch Umstellung des alten und Hinzufügung neuen Stoffes das Verständniss zu sichern. Deswegen sind auch noch einige neue Holzschnitte beigegeben. Freilich war es nicht möglich, überall das Einzelne der Beweisführung zu liefern. Früher hatte der Verfasser darauf hingewiesen, dass diese Beweisführung in seinen Specialarbeiten zu suchen sei, aber Wenige haben darauf gehört, im Gegentheil haben Manche Prioritäts-Anklagen gegen den Verfasser erhoben, gleich als ob er seine Lehrsätze in diesem Werke zum ersten Male aufgestellt hätte. Es ist daher nöthig geworden, an den betreffenden Stellen die Citate der früheren Arbeiten anzugeben. Wenn der Verfasser sich dabei darauf beschränkt hat, fast nur seine eigenen Arbeiten zu citiren, so glaubt er sich damit verantworten zu können, dass es ganz unmöglich gewesen sein würde, alle Belegstellen oder Werke zu citiren, auf welche sich seine Anschauungen stützen, dass aber diejenigen Leser, welche die citirten Stellen nachsehen wollen, an denselben in der Regel die einschlagenden Leistungen auch der anderen Untersucher gewissenhaft vorgetragen finden werden. Bei dem Zusammenstellen dieser Citate ist der Verfasser noch mehr, als er dies schon früher hervorhob, von der Thatsache durchdrungen worden, dass der grosse Erfolg des vorliegenden Werkes nur der leichten Form und nicht dem Inhalte zu danken ist. Denn in der That findet sich alles Wesentliche schon in seinen früheren Arbeiten ausgesprochen, ja es ist dort zum Theil weit klarer und schärfer ausgedrückt. Aber nur Wenige haben davon Kenntniss genommen, und Mancher nur zu dem Zweck, um es als sein Eigenthum zu verwerthen. Das kurzgefasste Büchlein aber ist in der kürzesten Frist in fünf Sprachen übersetzt worden; es hat einer grossen Zahl von Lesern, wie ich aus dem Munde Vieler weiss, eine dauernde Anregung gegeben, und so möge in der Freude darüber der Schmerz vergessen sein, dass eine strengere Form der Darstellung noch jetzt eine so geringe Theilnahme findet. Hoffentlich wird dieser Mangel durch die jetzige Auflage nicht befördert werden. =Dürkheim=, am 26. September 1861. $Rud. Virchow.$ Uebersicht der Holzschnitte. Seite Fig. 1. Pflanzenzellen aus einem jungen Triebe von Solanum tuberosum 5 " 2. Rindenschicht eines Knollens von Solanum tuberosum 7 " 3. Knorpelzellen vom Ossificationsrande wachsender Knorpel 8 " 4. Verschiedene Arten von Zellen und Zellgebilden. _a_ Leberzellen, _b_ Bindegewebskörperchen, _c_ Capillargefäss, _d_ Sternzelle aus einer Lymphdrüse, _e_ Ganglienzellen aus dem Kleinhirn 10 " 5. Freie Pflanzenzellenbildung nach =Schleiden= 11 " 6. Pigmentzelle (Auge), glatte Muskelzelle (Darm), Stück einer doppeltcontourirten Nervenfaser 14 " 7. Junge Eierstockseier vom Frosch 15 " 8. Zellen aus katarrhalischem Sputum (Eiter- und Schleimkörperchen, Pigmentzelle) 15 " 9. Epiphysenknorpel vom Oberarm eines Kindes 18 " 10. Zellenterritorien 19 " 11. Schema der Globulartheorie 23 " 12. Schema der Umhüllungs- (Klümpchen-) Theorie 23 " 13. Längsschnitt durch einen jungen Trieb von Syringa 25 " 14. Pathologische Knorpelwucherung aus Rippenknorpel 26 " 15. Cylinderepithel der Gallenblase 30 " 16. Uebergangsepithel der Harnblase 30 " 17. Senkrechter Schnitt durch die Oberfläche der Haut der Zehe (Epidermis, Rete Malpighii, Papillen) 32 " 18. Schematische Darstellung eines Längsdurchschnittes vom Nagel unter normalen und pathologischen Verhältnissen 35 " 19. _A_ Entwickelung der Schweissdrüsen. _B_ Stück eines Schweissdrüsenkanals 38 " 20. _A_ Bündel des gewöhnlichen Bindegewebes, _B_ Bindegewebs-Entwickelung nach dem Schema von =Schwann=. _C_ Bindegewebs-Entwickelung nach dem Schema von =Henle= 40 " 21. Junges Bindegewebe vom Schweinsembryo 42 " 22. Schema der Bindegewebs-Entwickelung 43 " 23. Durchschnitt durch den wachsenden Knorpel der Patella 45 " 24. Knochenkörperchen aus einem pathologischen Knochen der Dura mater cerebralis 48 " 25. Muskelprimitivbündel unter verschiedenen Verhältnissen 51 " 26. Muskelelemente aus dem Herzfleische einer Puerpera 54 " 27. Glatte Muskeln aus der Harnblase 56 " 28. Kleinere Arterie aus der Basis des Grosshirns 60 " 29. Schematische Darstellung von Leberzellen. _A_ Physiologische Anordnung. _B_ Hypertrophie. _C_ Hyperplasie. 90 " 30. Grosse Spindelzellen (fibroplastische Körper) aus einem Sarcoma fusocellulare der Rückenmarkshäute 94 " 31. Durchschnitt aus einer Epulis sarcomatosa des Unterkiefers 95 " 32. Stück von der Peripherie der Leber eines Kaninchens, die Gefässe injicirt 103 " 33. Injection der Capillaren der Rinde der Niere nach =Beer= 105 " 34. Injection der Gefässe der Rinde des Kleinhirns 106 " 35. Natürliche Injection der Gefässe des Corpus striatum eines Geisteskranken 107 " 36. Injectionspräparat von der Muskelhaut des Magens 108 " 37. Gefässe des Calcaneus-Knorpels vom Neugebornen 109 " 38. Knochenschliff aus der compacten Substanz des Femur 110 " 39. Knochenschliff (Querschnitt) 111 " 40. Knochenschliff (Längsschnitt) aus der Rinde einer sklerotischen Tibia 113 " 41. Schliff aus einem neugebildeten Knochen (Osteom) der Arachnoides cerebralis 116 " 42. Zahnschliff mit Dentin und Schmelz 117 " 43. Längs- und Querschnitt aus der halbmondförmigen Bandscheibe des Kniegelenkes vom Kinde 119 " 44. Querschnitt aus der Achillessehne des Erwachsenen 121 " 45. Querschnitt aus dem Innern der Achillessehne eines Neugebornen 122 " 46. Längsschnitt aus dem Innern der Achillessehne eines Neugebornen 123 " 47. Senkrechter Durchschnitt der Hornhaut des Ochsen nach =His= 126 " 48. Flächenschnitt der Hornhaut parallel der Oberfläche nach =His= 127 " 49. Das abdominale Ende des Nabelstranges eines fast ausgetragenen Kindes, injicirt 128 " 50. Querdurchschnitt durch einen Theil des Nabelstranges 129 " 51. Querdurchschnitt vom Schleimgewebe des Nabelstranges 131 " 52. Elastische Netze und Fasern aus dem Unterhautgewebe des Bauches 133 " 53. Injection der Hautgefässe, senkrechter Durchschnitt 137 " 54. Schnitt aus der Tunica dartos 138 " 55. _A_ Epithel von der Cruralarterie. _B_ Epithel von grösseren Venen 144 " 56. Kleinere Arterie aus der Sehnenscheide der Extensoren 145 " 57. Epithel der Nierengefässe. _A_ Flache Spindelzellen vom Neugebornen. _B_ Bandartige Epithelplatte vom Erwachsenen 148 " 58. Ungleichmässige Zusammenziehung kleiner Gefässe aus der Schwimmhaut des Frosches nach Reizung (Copie nach =Wharton Jones=) 152 " 59. Geronnenes Fibrin aus menschlichem Blute 168 " 60. Kernhaltige rothe Blutkörperchen von einem sechs Wochen alten menschlichen Fötus 171 " 61. Rothe Blutkörperchen des Erwachsenen 172 " 62. Hämatoidin-Krystalle 177 " 63. Pigment aus einer apoplectischen Narbe des Gehirns 178 " 64. Häminkrystalle aus menschlichem Blute 179 " 65. Farblose Blutkörperchen 182 " 66. Farblose Blutkörperchen bei variolöser Leukocytose 183 " 67. Fibringerinnsel aus der Lungenarterie und ein Korn, aus dichtgedrängten farblosen Blutkörperchen bestehend, bei Leukocytose 184 " 68. Capillarstrom in der Froschschwimmhaut 185 " 69. Schema eines Aderlassgefässes mit geronnenem hyperinotischem Blute 187 " 70. Durchschnitte durch die Rinde menschlicher Gekrösdrüsen 208 " 71. Lymphkörperchen aus dem Innern der Lymphdrüsen-Follikel 211 " 72. Eiterkörperchen und Kerne derselben bei Gonorrhoe 219 " 73. Eingedickter käsiger Eiter 220 " 74. Eingedickter, zum Theil in Auflösung begriffener, hämorrhagischer Eiter aus Empyem 221 " 75. In der Fettmetamorphose begriffener Eiter 222 " 76. Durchschnitt durch die Rinde einer Axillardrüse bei Tättowirung der Haut des Arms 224 " 77. Das mit Zinnober, nach Tättowirung des Arms, gefüllte Reticulum aus einer Axillardrüse 225 " 78. Valvuläre Thrombose der Vena saphena 236 " 79. Puriforme Detritusmassen aus erweichten Thromben. _A_ Körner des zerfallenden Fibrins. _B_ Die freiwerdenden, zum Theil in der Rückbildung begriffenen Blutkörperchen. _C_ In der Entfärbung begriffene und zerfallende Blutkörperchen 238 " 80. Autochthone und fortgesetzte Thromben der Cruralvenen-Aeste 243 " 81. Embolie der Lungenarterie 245 " 82. Ulceröse Endocarditis mitralis von einer Puerpera 246 " 83-84. Capillarembolie in den Penicilli der Milzarterie nach Endocarditis 247 " 85. Melanämie. Blut aus dem rechten Herzen 264 " 86. Querschnitt durch einen Nervenstamm des Plexus brachialis 273 " 87. Graue und weisse Nervenfasern 274 " 88. Markige Hypertrophie des Opticus innerhalb des Auges 276 " 89. Tropfen von Markstoff: _A_ aus der Markscheide von Hirnnerven nach Aufquellung durch Wasser, _B_ aus zerfallendem Epithel der Gallenblase 277 " 90. Breite und schmale Nervenfasern mit unregelmässiger Aufquellung des Markstoffes 279 " 91. Vater'sches oder Pacini'sches Körperchen aus dem Unterhautgewebe der Fingerspitze 281 " 92. Nerven- und Gefässpapillen der Haut der Fingerspitze. Tastkörperchen 283 " 93. Grundstock eines spitzen Condyloms vom Penis mit Papillarwucherung 287 " 94. _A_ Verticaldurchschnitt durch die ganze Dicke der Retina. _B_, _C_ (nach H. =Müller=) Isolirte Radiärfasern 290 " 95. Theilung einer Primitiv-Nervenfaser 295 " 96. Nervenplexus aus der Submucosa des Darmes vom Kinde 297 " 97. Elemente (Ganglienzellen und Nervenfasern) aus dem Ganglion Gasseri 301 " 98. Ganglienzellen aus den Centralorganen. _A_, _B_, _C_ Aus dem Rückenmarke. _D_ Aus der Gehirnrinde 304 " 99. Die Hälfte eines Querschnittes aus dem Halstheile des Rückenmarkes 310 " 100. Schematische Darstellung des Nervenverhaltens in der Rinde des Kleinhirns nach =Gerlach= 312 " 101. Querdurchschnitt durch das Rückenmark von Petromyzon fluviatilis 314 " 102. Blasse Fasern aus dem Rückenmarke des Petromyzon fluviatilis 315 " 103. Ependyma ventriculorum mit Neuroglia. _ca_ Corpora amylacea. 318 " 104. Zellige Elemente der Neuroglia 321 " 105. Schematischer Durchschnitt des Rückenmarkes bei partieller grauer Atrophie 324 " 106. Schema des Zustandes der Nerven-Molekeln, _A_ im ruhenden, _B_ im elektrotonischen Zustande nach =Ludwig= 339 " 107, I. Automatische Zellen aus der Flüssigkeit einer Hydrocele lymphatica 354 " 107, II. Automatische Zellen aus Enchondrom 355 " 107, III. Dieselben Zellen mit stärkerer Verästelung der Fortsätze 356 " 107, IV. Bewegliche Eiterkörperchen des Frosches nach v. =Recklinghausen= 357 " 107. Gewundenes Harnkanälchen aus der Rinde der Niere bei Morbus Brightii 372 " 108. Parenchymatöse Keratitis 377 " 109. Parenchymatöse Keratitis 379 " 110. Kerntheilung in den Elementen einer melanotischen Geschwulst der Parotis 382 " 111. Markzellen des Knochens nach =Kölliker= 383 " 112. Kerntheilung in Muskelprimitivbündeln im Umfange einer Krebsgeschwulst 385 " 113, I. Wucherung (Proliferation) des wachsenden Diaphysenknorpels von der Tibia eines Kindes (Längsschnitt) 387 " 113, II. Proliferation eines Myxosarkoms des Oberkiefers 389 " 114. Fettzellgewebe aus dem Panniculus. _A_ Das gewöhnliche Unterhautgewebe mit Fettzellen, _B_ Atrophisches Fett 406 " 115. Interstitielle Fettwucherung der Muskeln 407 " 116. Darmzotten und Fettresorption. _A_ Normale Darmzotten, _B_ Zotten im Zustande der Contraction. _C_ Menschliche Darmzotten während der Chylusresorption, _D_ bei Chylusretention 410 " 117. Die aneinanderstossenden Hälften zweier Leberacini (Zonen der Fett-, Amyloid- und Pigmentinfiltration) 415 " 118. Haarbalg mit Talgdrüsen von der äusseren Haut 418 " 119. Milchdrüse in der Lactation, Milch, Colostrum 419 " 120. Corpus luteum aus dem menschlichen Eierstock 424 " 121. Fettmetamorphose des Herzfleisches in verschiedenen Stadien 427 " 122. Fettige Degeneration an Hirnarterien. _A_ Fettmetamorphose der Muskelzellen in der Ringfaserhaut. _B_ Bildung von Fettkörnchenzellen in den Bindegewebskörperchen der Intima 429 " 123. Geschichtete amylacische Körper der Prostata (Concretionen) 436 " 124. Amyloide Degeneration einer kleinen Arterie aus der Submucosa des Dünndarms 441 " 125. Amyloide Degeneration einer Lymphdrüse 448 " 126. Corpora amyloidea aus einer erkrankten Lymphdrüse 448 " 127. Verkalkung der Gelenkknorpel alter Leute 454 " 128. Verticalschnitt durch die Aortenwand an einer sklerotischen, zur Bildung eines Atheroms fortschreitenden Stelle 464 " 129. Der atheromatöse Brei aus einem Aortenheerde. _aa_' Flüssiges Fett, _b_ Amorphe körnig-faltige Schollen, _cc_' Cholestearinkrystalle 466 " 130. Verticaler Durchschnitt aus einer sklerotischen, sich fettig metamorphosirenden Platte der Aorta (innere Haut) 467 " 131. Condylomatöse Excrescenzen der Valvula mitralis 471 " 132. Intracapsuläre Zellenvermehrung in der mittleren Substanz der Intervertebralknorpel 487 " 133. Endogene Neubildung, blasentragende Zellen (Physaliphoren). _A_ Aus der Thymusdrüse eines Neugebornen. _B C_ Krebszellen 489 " 134. Verticalschnitt durch den Ossificationsrand eines wachsenden Astragalus (pathologische Reizung) 501 " 135-36. Horizontalschnitte durch den wachsenden Diaphysenknorpel der Tibia, menschlicher Fötus von 7 Monaten 504 " 137-38. Rachitische Diaphysenknorpel: markige und osteoide Umbildung, Verkalkung und Verknöcherung 507-9 " 139. Periostwachsthum der Schädelknochen (Os parietale, Kind) 513 " 140-41. Osteoidchondrom vom Kiefer einer Ziege 515-16 " 142. In der Heilung begriffene Fractur des Oberarms, Callusbildung 519 " 143. Demarkationsrand eines nekrotischen Knochenstückes bei Paedarthrocace, Knochenterritorien 521 " 144. Interstitielle Eiterbildung bei puerperaler Muskelentzündung 530 " 145. Eiterige Granulation aus dem Unterhautgewebe des Kaninchens, im Umfange eines Ligaturfadens 536 " 146. Entwickelung von Krebs aus Bindegewebe bei Carcinoma mammae 539 " 147. Beginnendes Blumenkohlgewächs (Cancroid) des Collum uteri 554 " 148. Entwickelung von Tuberkel aus Bindegewebe in der Pleura 559 " 149. Krebszellen 566 " 150. Cancroidzapfen aus einer Geschwulst der Unterlippe mit Epidermis-Perlen 568 " 151. Cancroid der Orbita 569 " 152. Sarcoma mammae 572 Erstes Capitel. Die Zelle und die cellulare Theorie. Einleitung und Aufgabe. Bedeutung der anatomischen Entdeckungen in der Geschichte der Medicin. Geringer Einfluss der Zellentheorie auf die Pathologie. Die Zelle als letztes wirkendes Element des lebenden Körpers. Genauere Bestimmung der Zelle. Die Pflanzenzelle: Membran, Inhalt (Protoplasma), Kern. Die thierische Zelle: die eingekapselte (Knorpel) und die einfache. Der Zellenkern (Nucleus). Das Kernkörperchen (Nucleolus). Die Theorie der Zellenbildung aus freiem Cytoblastem. Constanz des Kerns und Bedeutung desselben für die Erhaltung der lebenden Elemente. Der Zellkörper und das Protoplasma. Verschiedenartigkeit des Zelleninhalts und Bedeutung desselben für die Function der Theile. Die Zellen als vitale Einheiten (Elementarorganismen). Der Körper als sociale Einrichtung. Die Intercellularsubstanz und die Zellenterritorien. Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Solidarpathologie. Falsche Elementartheile: Fasern, Kügelchen (Elementarkörnchen). Entstehung der Zellen. Umhüllungstheorie. Generatio aequivoca der Zellen. Das Gesetz von der continuirlichen Entwickelung (Omnis cellula e cellula). Pflanzen- und Knorpelwachsthum. Wir befinden uns inmitten einer grossen Reform der Medicin. Zum ersten Male seit Jahrtausenden ist in unserer Zeit das gesammte Gebiet dieser so umfangreichen Wissenschaft der naturwissenschaftlichen Forschung unterworfen worden. Lehrsätze, welche zu den ältesten Ueberlieferungen der Menschheit gehören, werden der Feuerprobe nicht bloss der Erfahrung, sondern noch mehr des Versuches ausgesetzt. Für die Erfahrung werden Beweise, für den Versuch zuverlässige Methoden gefordert. Ueberall dringt die Forschung auf die feinsten, den menschlichen Sinnen zugänglichen Verhältnisse; die Erkenntniss geht in zahllose Einzelheiten aus einander, welche das Bewusstsein von der einheitlichen Natur des menschlichen Wesens stören und welche Vielen mehr geeignet zu sein scheinen, einen Schmuck des Wissens, als eine Handhabe des Handelns darzustellen. Am meisten wird der ausübende Arzt bedrängt. Er, dem die Praxis kaum die Musse des Lesens vergönnt, dem sowohl die ausreichenden literarischen Hülfsmittel, als die Anschauung der neueren Erfahrungen nur zu oft abgehen, er findet sich verwirrt in einem Chaos, in welchem die Trümmer des Alten mit den Bausteinen des Neuen bunt durch einander geworfen zu sein scheinen. Und doch ist das Chaos nur scheinbar. Es besteht nur für den, welcher die Thatsachen nicht beherrscht, auf welchen die neue Anschauung sich begründet. Für den Eingeweihten lässt sich wohl eine Ordnung herstellen, welche sowohl dem praktischen, als dem wissenschaftlichen Bedürfnisse genügt, eine Ordnung, welche freilich weit davon entfernt ist, ein in sich abgeschlossenes System zu bilden, welche aber von einem allgemeinen biologischen Principe aus die Einzelerfahrungen nach ihrem besonderen Werthe und nach ihren Beziehungen unter einander in einen wissenschaftlichen Zusammenhang zu setzen vermag. Diess ist das =cellulare Princip=, welches in seiner Anwendung auf den zusammengesetzten, lebenden Körper uns zu einer =Cellular-Physiologie= und zu einer =Cellular-Pathologie= führt, welches aber in jeder dieser beiden Richtungen zunächst auf einer Anatomie des feinsten Einzelnen, auf der Histologie beruht. In der That ist die gegenwärtige Reform wesentlich ausgegangen von neuen anatomischen Erfahrungen. Freilich waren es zumeist Erfahrungen der pathologischen Anatomie, welche die alten Lehrgebäude erschütterten, und noch jetzt scheint es Vielen, als sei damit genug gethan und als habe die Histologie nur die Bedeutung einer Luxuswissenschaft. Jeder Blick in die Vergangenheit zeigt uns aber, wie unrichtig es ist, wenn man glauben kann, der Einfluss der Anatomie auf die Medicin sei nur ein äußerlicher, ihr Werth ein mehr relativer. Die Geschichte der Medicin lehrt uns ja, wenn wir nur einen einigermaassen grösseren Ueberblick nehmen, dass zu allen Zeiten die bleibenden Fortschritte bezeichnet worden sind durch anatomische Neuerungen, dass jede grössere Epoche zunächst eingeleitet wurde durch eine Reihe bedeutender Entdeckungen über den Bau und die Einrichtung des Körpers. So ist es in der alten Zeit gewesen, als die Erfahrungen der Alexandriner, zum ersten Male von der Anatomie des Menschen ausgehend, das galenische System vorbereiteten; so im Mittelalter, als =Vesal= die moderne Anatomie begründete und damit die Reform der Medicin begann; so endlich im Anfange unseres Jahrhunderts, als =Bichat= die Grundsätze der allgemeinen Anatomie entwickelte. Wenn man den ausserordentlichen Einfluss erwägt, welchen seiner Zeit =Bichat= auf die Gestaltung der ärztlichen Anschauungen ausgeübt hat, so ist es in der That erstaunlich zu sehen, dass eine verhältnissmässig so lange Zeit vergangen ist, seitdem =Schwann= seine grossen Entdeckungen in der Histologie machte, ohne dass man die eigentliche Breite der neuen Thatsachen würdigte. Es hat dies allerdings zum Theil trotz dieser Entdeckungen daran gelegen, dass immer noch eine grosse Unsicherheit unserer Kenntnisse über die feinere Einrichtung vieler Gewebe fortbestanden hat, ja, wie wir leider zugestehen müssen, in manchen Theilen der Histologie selbst jetzt noch in solchem Maasse herrscht, dass Mancher kaum weiss, für welche Ansicht er sich entscheiden soll. Jeder Tag bringt neue Aufschlüsse, aber auch neue Zweifel über die Zuverlässigkeit eben erst veröffentlichter Entdeckungen. Ist denn überhaupt, fragt Mancher, in der Histologie etwas sicher? Giebt es einen Punkt, in dem Alle übereinstimmen? Vielleicht nicht. Aber gerade um deswegen habe ich in den Vorträgen im Anfange des Jahres 1858, welche vor einem grossen Kreise von Collegen, zunächst als Erläuterung unmittelbarer Demonstrationen, als Erklärung bestimmter, für die Ueberzeugung der Einzelnen durch eigene Anschauung und Prüfung eingerichteter Beweisstücke gehalten wurden und welche der gegenwärtigen Darstellung zu Grunde liegen, mich für verpflichtet erachtet, eine kurze und leicht fassliche Uebersicht desjenigen, was ich durch langjährige, gewissenhafte Untersuchung für wahr zu halten mich berechtigt glaubte, auch dem weiteren Kreise der Aerzte zugänglich zu machen. Manches Einzelne ist seitdem berichtigt, manches Andere neu entdeckt worden; die gegenwärtige Bearbeitung wird davon Zeugniss ablegen. Aber das Princip der Anschauung, welches ich für das gesammte Gebiet der Physiologie und Pathologie zu benutzen gelehrt habe und dessen erste schüchterne Ausführung in einer Arbeit des Jahres 1852[1] niedergelegt ist, darf gegenwärtig als gesichert angesehen werden, und für denjenigen, welcher daran festhält, wird es auch künftig nicht schwer werden, neue Ergebnisse des Forschens an der richtigen Stelle aufzunehmen, ohne dass er deshalb genöthigt wäre, die obersten Sätze aufzugeben, welche hier über die allgemeinen Grundlagen der Lebensthätigkeiten aufgestellt werden. [1] Ernährungseinheiten und Krankheitsheerde. Archiv für pathol. Anatomie, Phys. u. klin. Med. Bd. IV. S. 375. Alle Versuche der früheren Zeit, ein solches einheitliches Princip zu finden, sind daran gescheitert, dass man zu keiner Klarheit darüber zu gelangen wusste, von welchen Theilen des lebenden Körpers eigentlich die Action ausgehe und was das Thätige sei. Dieses ist die Cardinalfrage aller Physiologie und Pathologie. Ich habe sie beantwortet durch den Hinweis auf =die Zelle als auf die wahrhafte organische Einheit=. Indem ich daher die Histologie, als die Lehre von der Zelle und den daraus hervorgehenden Geweben, in eine unauflösliche Verbindung mit der Physiologie und Pathologie setzte, forderte ich vor Allem die Anerkennung, dass =die Zelle wirklich das letzte Form-Element aller lebendigen Erscheinung sowohl im Gesunden, als im Kranken sei, von welcher alle Thätigkeit des Lebens ausgehe=. Manchem erscheint es vielleicht nicht gerechtfertigt, wenn in dieser Weise das Leben als etwas ganz Besonderes anerkannt wird, ja, es wird vielleicht Vielen wie eine Art biologischer Mystik vorkommen, wenn das Leben überhaupt aus dem grossen Ganzen der Naturvorgänge getrennt und nicht sofort ganz und gar in Chemie und Physik aufgelöst wird. In der Folge dieser Vorträge wird sich jedermann davon überzeugen, dass man kaum mehr mechanisch denken kann, als ich es zu thun pflege, wo es sich darum handelt, die Vorgänge innerhalb der letzten Formelemente zu deuten. Aber wie viel auch von dem Stoffverkehr, der innerhalb der Zelle geschieht, nur an einzelne Bestandtheile derselben geknüpft sein mag, immerhin ist die Zelle =der Sitz der Thätigkeit=, das Elementargebiet, von welchem die Art der Thätigkeit abhängt, und sie behält nur so lange ihre Bedeutung als lebendes Element, als sie wirklich ein unversehrtes Ganzes darstellt. Nicht am seltensten ist gegen diese Auffassung der Einwand erhoben worden, man sei nicht einmal einig darüber, was eigentlich unter einer Zelle zu verstehen sei. Dieser Einwand ist insofern unerheblich, als der Streit nicht um die Existenz der Zellen, sondern nur um ihre Deutung geführt wird. Im Wesentlichen weiss jedermann, welche thatsächlich existirenden Körper gemeint sind; ob der Eine sie so, der Andere sie anders interpretirt, ist eine Frage zweiter Ordnung, deren Beantwortung den Werth des Princips nicht berührt. Um so grössere Bedeutung hat sie für die Erörterung der Einzelvorgänge, und es ist gewiss zu bedauern, dass nicht schon lange eine Einigung erzielt ist. Die Schwierigkeiten, auf welche wir hier stossen, datiren unmittelbar von der ersten Begründung der Zellenlehre. =Schwann=, der auf den Schultern des Botanikers =Schleiden= stand, deutete seine Beobachtungen nach botanischen Mustern, und so kam es, dass alle Lehrsätze der Pflanzen-Physiologie mehr oder weniger entscheidend wurden für die Physiologie der thierischen Körper. Die Pflanzenzelle in dem Sinne, wie man sie zu jener Zeit ganz allgemein fasste und wie sie auch gegenwärtig häufig noch gefasst wird, ist aber ein Gebilde, dessen Identität mit dem, was wir thierische Zelle nennen, nicht ohne weiteres zugestanden werden kann. [Illustration: =Fig=. 1. Pflanzenzellen aus dem Centrum des jungen Triebes eines Knollens von Solanum tuberosum. _a_. Die gewöhnliche Erscheinung des regelmässig polygonalen, dickwandigen Zellengewebes. _b_. Eine isolirte Zelle mit feinkörnigem Aussehen der Höhlung, in der ein Kern mit Kernkörperchen zu sehen ist. _c_. Dieselbe Zelle, nach Einwirkung von Wasser; der Inhalt (Protoplasma) hat sich von der Wand (Membran, Capsel) zurückgezogen. An seinem Umfange ist eine besondere feine Haut (Primordialschlauch) zum Vorschein gekommen. _d_. Dieselbe Zelle bei längerer Einwirkung von Wasser; die innere Zelle (Protoplasma mit Primordialschlauch und Kern) hat sich ganz zusammengezogen und ist nur durch feine, zum Theil ästige Fäden mit der Zellhaut (Capsel) in Verbindung geblieben.] Wenn man von gewöhnlichem Pflanzenzellgewebe spricht, so meint man in der Regel damit ein Gewebe, das in seiner einfachsten und regelmässigsten Form auf einem Durchschnitt aus lauter vier- oder sechseckigen, wenn es etwas loser ist, aus rundlichen oder polygonalen Körpern zusammengesetzt erscheint. An jedem dieser Körper (Fig. 1, _a_.) unterscheidet man eine ziemlich dicke und derbe Wand (=Membran=) und eine innere Höhlung. In der Höhlung können je nach Umständen, insbesondere je nach der Natur der einzelnen Zellen, sehr verschiedene Stoffe abgelagert sein, z. B. Fett, Stärke, Pigment, Eiweiss (=Zelleninhalt=). Aber auch ganz abgesehen von diesen örtlichen Verschiedenheiten des Inhaltes, ist die chemische Untersuchung im Stande, an jeder Pflanzenzelle mehrere verschiedene Stoffe nachzuweisen. Die Substanz, welche die äussere Membran bildet, die sogenannte =Cellulose=, ist stickstofflos, und characterisirt sich durch die eigenthümliche, schön blaue Färbung, welche sie bei Einwirkung von Jod und Schwefelsäure annimmt. (Jod allein giebt keine Färbung, Schwefelsäure für sich verkohlt.) Dasjenige, was in der von der Cellulose-Haut umschlossenen Höhle liegt, wird nicht blau, es müsste denn zufällig Stärke (Amylon) vorhanden sein, welche schon durch Jod allein blau gefärbt wird. Ist die Pflanzenzelle recht einfach, so erscheint vielmehr nach der Einwirkung von Jod und Schwefelsäure eine bräunliche oder gelbliche Masse, die sich als besonderer Körper im Innern des Zellenraumes isolirt und an der sich häufig eine besondere faltige, häufig geschrumpfte Umhüllungs-Haut erkennen lässt (Fig. 1, _c_.). =Hugo= v. =Mohl=, der zuerst (1844-46) diese innere Einrichtung genauer beschrieben hat, nannte jene Masse das =Protoplasma=, die Umhüllungs-Haut den =Primordialschlauch= (Utriculus primordialis). Auch die gröbere chemische Analyse zeigt an den einfachsten Zellen neben der stickstofflosen äusseren Substanz eine stickstoffhaltige innere Masse, und es lag daher nahe, zu schliessen, dass das eigentliche Wesen einer Pflanzenzelle darin beruhe, dass innerhalb einer stickstofflosen Membran ein von ihr differenter stickstoffhaltiger Inhalt vorhanden sei. Man wusste freilich schon seit längerer Zeit, dass noch andere Dinge sich im Innern der Zellen befinden. Insbesondere war es eine der am meisten folgenreichen Entdeckungen, als =Rob=. =Brown= den =Kern= (Nucleus) innerhalb der Pflanzenzelle entdeckte (Fig. 1, _b_ u. _c_.). Unglücklicherweise legte man diesem Gebilde eine grössere Bedeutung für die Bildung, als für die Erhaltung der Zellen bei, weil in sehr vielen älteren Pflanzenzellen der Kern äusserst undeutlich wird, in vielen ganz verschwindet, während die Form der Zelle doch erhalten bleibt. Objecte zu gewinnen, welche das vollkommene Bild der Pflanzenzelle darbieten, ist nicht schwierig. Man nehme z. B. einen Kartoffelknollen und untersuche ihn da, wo er anfängt, einen neuen Schoss zu treiben, wo also die Wahrscheinlichkeit besteht, dass man junge Zellen finden wird, vorausgesetzt, dass Knospung überhaupt in der Bildung neuer Zellen besteht. Im Innern des Knollens sind alle Zellen mit Amylonkörnern vollgestopft; an dem jungen Schoss dagegen wird in dem Maasse, als er wächst, das Amylon aufgelöst und verbraucht, und die Zelle zeigt sich wieder in ihrer einfacheren Gestalt. Auf einem Querschnitte durch einen jungen Schössling nahe an seinem Austritte aus dem Knollen unterscheidet man etwa vier verschiedene Lagen: die Rindenschicht, dann eine Schicht grösserer Zellen, dann eine Schicht kleinerer Zellen, und zu innerst wieder eine Lage von grösseren. In dieser letzteren sieht man lauter regelmässige Gebilde; dicke Kapseln von sechseckiger Gestalt und im Innern derselben einen oder ein Paar Kerne (Fig. 1). Gegen die Rinde (Korkschicht) und ihre Matrix (Cambium) hin sind die Zellen viereckig und je weiter nach aussen, um so platter, aber auch in ihnen erkennt man bestimmt Kerne (Fig. 2, _a_.). Ueberall, wo die sogenannten Zellen zusammenstossen, ist zwischen ihnen eine Grenze zu erkennen; dann kommt die dicke Celluloseschicht, in welcher häufig feine Streifen (Ablagerungsschichten) zu bemerken sind, und im Innern der Höhle eine zusammengesetzte Masse, in welcher leicht ein Kern mit Kernkörperchen zu unterscheiden ist, und an der nach Anwendung von Reagentien auch der Primordialschlauch (Utriculus) als eine gefaltete, runzlige Haut zum Vorschein kommt. Es ist dies die vollendete, aber einfache Form der Pflanzenzelle. In den benachbarten Zellen liegen einzelne grössere, matt glänzende, geschichtete Körper: die Reste von Stärkemehl (Fig. 2, _c_.). [Illustration: =Fig=. 2. Aus der Rindenschicht eines Knollens von Solanum tuberosum nach Behandlung mit Jod und Schwefelsäure. _a_. Platte Rindenzellen, umgeben von der Kapsel (Zellhaut, Membran). _b_. Grössere, viereckige Zellen derselben Art aus dem Cambium; die geschrumpfte und gerunzelte eigentliche Zelle mit dem Primordialschlauch innerhalb der Kapsel. _c_. Zelle mit Amylonkörnern, welche innerhalb des Primordialschlauches liegen.] Mit solchen Erfahrungen kam man an die thierischen Gewebe, deren Uebereinstimmung mit den pflanzlichen =Schwann= nachzuweisen suchte. Die eben besprochene Deutung der gewöhnlichen pflanzlichen Zellenformen, wobei man jedoch den von Vielen geleugneten Primordialschlauch ganz unberücksichtigt zu lassen pflegte, diente als Ausgangspunkt. Dies ist aber, wie die Erfahrung gezeigt hat, in gewissem Sinne irrig gewesen. Man kann die pflanzliche Zelle in ihrer Totalität nicht mit jeder thierischen zusammenstellen. Wir kennen an thierischen Zellen keine solchen Unterschiede zwischen stickstoffhaltigen und stickstofflosen Schichten; in allen wesentlichen, die Zelle constituirenden Theilen kommen auch stickstoffhaltige Stoffe vor. Aber es giebt allerdings gewisse Formelemente im thierischen Leibe, welche an diese pflanzlichen Zellen unmittelbar erinnern; die am meisten charakteristischen unter ihnen sind die Zellen im =Knorpel=, der seiner ganzen Erscheinung nach von den übrigen Geweben des thierischen Leibes so sehr abweicht, und der schon durch seine Gefässlosigkeit eine ganz besondere Stellung einnimmt. Der Knorpel schliesst sich in jeder Beziehung am nächsten an die Gewebe der Pflanze an. An einer recht entwickelten Knorpelzelle erkennen wir eine verhältnissmässig dicke äussere Schicht, innerhalb welcher, wenn wir recht genau zusehen, wiederum eine zarte Haut, ein Inhalt und ein Kern zu finden sind. Hier haben wir also ein Gebilde, das der Pflanzenzelle durchaus entspricht. [Illustration: =Fig=. 3. Knorpelzellen, wie sie am Ossificationsrande wachsender Knorpel vorkommen, ganz den Pflanzenzellen analog (vgl. die Erklärung zu Fig. 1). _a_-_c_. entwickeltere, _d_. jüngere Form.] Man hat daher auch lange Zeit hindurch, wenn man den Knorpel schilderte, das ganze eben beschriebene Gebilde (Fig. 3, _a_-_d_.) ein Knorpelkörperchen genannt. Indem man dasselbe aber den Zellen anderer thierischer Theile coordinirte, stiess man auf Schwierigkeiten, welche die Kenntniss des wahren Sachverhältnisses ungemein störten. Das Knorpelkörperchen ist nehmlich nicht als Ganzes eine Zelle, sondern die äussere Schicht, die von mir sogenannte =Capsel=[2], ist das Produkt einer späteren Entwickelung (Absonderung, Ausscheidung). Im jungen oder wenig entwickelten Knorpel ist sie sehr dünn, während auch die Zelle kleiner zu sein pflegt. Gehen wir noch weiter in der Entwickelung zurück, so treffen wir auch im Knorpel nichts als eine einfache Zelle, welche jene äussere Absonderungsschicht noch nicht besitzt, dasselbe Gebilde, welches auch sonst in thierischen Geweben vorkommt. [2] Archiv f. path. Anat. u. Physiol. 1853. Bd. V. S. 419, Note. Die Vergleichung zwischen thierischen und pflanzlichen Zellen, die wir allerdings machen müssen, ist demnach insofern zu beschränken, als in den meisten thierischen Geweben keine Formelemente gefunden werden, die als Aequivalente der Pflanzenzelle in der alten Bedeutung dieses Wortes betrachtet werden können. Insbesondere entspricht die Cellulose-Membran der Pflanzenzelle nicht der thierischen Zellhaut. Aber bei einer anderen Deutung der Pflanzenzelle trifft die Vergleichung allerdings zu, nur muss man sofort davon abgehen, dass die thierische Zellhaut als stickstoffhaltig eine typische Verschiedenheit von der pflanzlichen als stickstoffloser darbiete. Vielmehr treffen wir in beiden Fällen eine stickstoffhaltige Bildung von im Grossen übereinstimmender Zusammensetzung. Wenn auch die sogenannte Membran (Capsel) der Pflanzenzelle in der Capsel der Knorpelzellen ein Analogon findet, so =entspricht doch vielmehr die gewöhnliche Membran der Thierzelle dem Primordialschlauch der (inneren) Pflanzenzelle=, wie ich schon 1847 hervorgehoben habe[3]. Erst wenn man diesen Standpunkt festhält, wenn man von der Zelle Alles ablöst, was durch eine spätere Entwickelung äusserlich hinzugekommen ist, so gewinnt man das einfache, gleichartige, scheinbar monotone Gebilde, welches sich in allen lebendigen Organismen wiederholt. Aber gerade diese Constanz ist das beste Kriterium dafür, das wir in ihm das wirklich Elementare haben, dasjenige Gebilde, welches alles Lebendige charakterisirt, ohne dessen Präexistenz keine neuen lebendigen Formen entstehen und an welches Fortgang und Erhaltung des Lebens gebunden sind. Erst seitdem der Begriff der Zelle diese strenge Form bekommen hat, und ich bilde mir etwas darauf ein, trotz des Vorwurfes der Pedanterie stets daran festgehalten zu haben, erst seit dieser Zeit kann man sagen, dass eine einfache Form gewonnen ist, die wir überall wieder aufsuchen können, und die, wenn auch in Grösse, Gestalt und Ausstattung verschieden, doch in ihren wesentlichen Bestandtheilen immer gleichartig angelegt ist. [3] Archiv 1847. Bd. I. S. 218. Es liegt auf der Hand, dass der Ausdruck »Zelle«, welcher von den Cellulose-Capseln der Pflanzenzellen hergenommen ist, ein beträchtliches Stück seiner wirklichen Bedeutung verloren hat, seitdem er auf die mit zarten Primordialschläuchen oder Membranen umkleideten =Körper= übertragen ist, welche die neue Wissenschaft im Auge hat. Denn hier handelt es sich nicht sowohl um hohle Bläschen, bei denen die Membran gewissermassen die Hauptsache ist, sondern um, wenn auch weiche, so doch solide Körper, deren äussere Begrenzungsschicht eine grössere Dichtigkeit besitzt, als das Innere, ja bei denen es fraglich ist, ob überhaupt diese Begrenzungsschicht ein notwendiges Zubehör ist. Bevor wir jedoch diese Frage erörtern, wird es zweckmässig sein, die anderen Bestandtheile der Zelle zu betrachten. Zuerst erwarten wir, dass innerhalb der Zelle ein =Kern= sei. Von diesem Kerne, der in der Regel eine ovale oder runde Gestalt hat, wissen wir, dass er, zumal in jungen Elementen, eine grössere Resistenz gegen chemische Einwirkungen besitzt, als die äussereren Theile der Zelle, und dass er trotz der grössten Variabilität in der äusseren Gestalt der Zelle seine Gestalt im Allgemeinen behauptet. Der Kern ist demnach derjenige Theil der Zelle, der mit grösster Constanz in allen Formen fast unverändert wiederkehrt. Freilich giebt es einzelne Fälle, sowohl in der vergleichenden, als auch in der pathologischen Anatomie, wo auch der Kern zackig oder eckig erscheint, aber dies sind ganz seltene Ausnahmen, gebunden an besondere Veränderungen, welche das Element eingegangen ist. Im Allgemeinen kann man sagen, dass, so lange es noch zu keinem Abschlusse des Zellenlebens gekommen ist, so lange die Zellen sich als lebenskräftige Elemente verhalten, die Kerne eine nahezu constante Form besitzen. Nur in den niedersten Pflanzen z. B. in den niedersten Pilzformen, ist es nicht möglich, einen Kern nachzuweisen. [Illustration: =Fig=. 4. _a_. Leberzelle. _b_. Spindelzelle des Bindegewebes. _c_. Capillargefäss. _d_. Grössere Sternzelle aus einer Lymphdrüse. _e_. Ganglienzelle aus dem Kleinhirn. Die Kerne überall gleichartig.] Der Kern seinerseits enthält bei entwickelten Elementen wiederum mit grosser Beständigkeit ein anderes Gebilde in sich, das sogenannte =Kernkörperchen= (Nucleolus). Man kann jedoch von demselben nicht sagen, dass es als ein notwendiges Desiderat der vitalen Form erscheine; in einer erheblichen Zahl von jungen Elementen ist es noch nicht gelungen, es zu sehen. Dagegen treffen wir es bei gut entwickelten, älteren Formen regelmässig, und es scheint daher eine höhere Ausbildung des Elementes anzuzeigen. Nach der Aufstellung, welche ursprünglich von =Schleiden= gemacht und von =Schwann= acceptirt wurde, dachte man sich lange Zeit das Verhältniss der drei genannten Zellentheile (Membran, Kern und Kernkörperchen) so, dass der Nucleolus bei der Bildung der Gewebe als das Erste aufträte, indem er sich aus einer Bildungsflüssigkeit (=Blastem=, =Cytoblastem=) ausscheide, dass er schnell eine gewisse Grösse erreiche, und dass sich dann um ihn kleine Körnchen aus dem Blastem niederschlügen, um die sich wiederum eine Membran verdichte. Damit wäre ein Nucleus fertig, um den sich allmählich wiederum neue Masse ansammele und, zuerst an einer Seite des Nucleus, eine feine Membran erzeuge (die berühmte Uhrglasform der Zellenmembran. Fig. 5, _d_'). Diese Darstellung der Bildung von Zellen aus freiem Blastem, wonach der Kern der Zelle voraufgehen und als eigentlicher Zellenbildner (=Cytoblast=) auftreten sollte, ist es, welche man gewöhnlich unter dem Namen der =Zellentheorie= (genauer Theorie der =freien= Zellenbildung) zusammenzufassen pflegte, -- eine Theorie, welche gegenwärtig vollständig verlassen ist, und für deren Richtigkeit keine Thatsache beigebracht werden kann. [Illustration: =Fig=. 5. Freie Zellenbildung nach =Schleiden=, Grundzüge der wiss. Botanik. I. Fig. 1. »Inhalt des Embryosackes von Vicia faba bald nach der Befruchtung. In der hellen, aus Gummi und Zucker bestehenden Flüssigkeit schwimmen Körnchen von Proteinverbindungen (_a_.), unter denen sich einzelne grössere auffallend auszeichnen. Um diese letzteren sieht man dann die ersteren zu einer kleinen Scheibe zusammengeballt (_b_. _c_.) Um andere Scheiben erkennt man einen hellen, scharf begrenzten Saum, der sich allmählich weiter von der Scheibe (dem Cytoblasten) entfernt und endlich deutlich als junge Zelle (_d_. _e_.) erkannt wird.«] Wir werden späterhin eine Reihe von Thatsachen der physiologischen und pathologischen Entwickelungsgeschichte besprechen, welche es in hohem Grade wahrscheinlich machen, dass der Kern allerdings eine außerordentlich wichtige Rolle innerhalb der Zelle spielt, eine Rolle, die, wie ich gleich hervorheben will, weniger auf die Function, die specifische Leistung der Elemente sich bezieht, als vielmehr auf die Erhaltung und Vermehrung der Elemente als lebendiger Theile. Die specifische (im engeren Sinne animalische) Function zeigt sich am deutlichsten am Muskel, am Nerven, an der Drüsenzelle, aber die besonderen Thätigkeiten der Contraction, der Sensation, der Secretion scheinen in keiner Weise unmittelbar mit den Kernen etwas zu thun zu haben. Dass dagegen inmitten aller Function das Element ein Element bleibt, dass es nicht vernichtet wird und zu Grunde geht unter der fortdauernden Thätigkeit, dies scheint wesentlich an die Existenz des Kerns gebunden zu sein. Alle diejenigen zelligen Bildungen, welche ihren Kern verlieren, sind hinfällig, sie gehen zu Grunde, sie verschwinden, sterben ab, lösen sich auf. Ein menschliches Blutkörperchen z. B. ist eine Zelle ohne Kern; es besitzt höchstens eine äussere Membran und einen rothen Inhalt, aber damit ist seine Zusammensetzung, soweit man sie erkennen kann, erschöpft, und was man vom Blutkörperchen-Kern beim Menschen erzählt hat, bezieht sich auf Täuschungen, welche allerdings sehr leicht und häufig hervorgebracht werden dadurch, dass kleine Unebenheiten an der Oberfläche entstehen (Fig. 61). Man würde daher nicht einmal behaupten können, dass Blutkörperchen Zellen seien, wenn man nicht wüsste, dass eine gewisse Zeit existirt, wo auch die menschlichen Blutkörperchen Kerne haben, nehmlich die Zeit innerhalb der ersten Monate des intrauterinen Lebens. Hier circuliren auch beim Menschen kernhaltige Blutkörperchen, wie man sie bei Fröschen, Vögeln, Fischen das ganze Leben hindurch sieht. Das ist bei Säugethieren auf eine gewisse Zeit der Entwickelung beschränkt; in der späteren Zeit besitzen die rothen Blutkörperchen nicht mehr die volle Zellennatur, vielmehr haben sie einen wichtigen Bestandtheil ihrer Zusammensetzung eingebüsst. Aber Alle sind auch darüber einig, dass gerade das Blut einer von jenen wechselnden Bestandtheilen des Körpers ist, deren Elemente keine Dauerhaftigkeit besitzen, vielmehr fort und fort zu Grunde gehen und ersetzt werden durch neue, die wiederum der Vernichtung bestimmt sind. Wie die obersten Epidermiszellen, in welchen wir auch keine Kerne finden, sobald sie sich abschilfern, haben die ersten Blutkörperchen schon ein Stadium ihrer Entwickelung erreicht, wo sie nicht mehr jener Dauerhaftigkeit der inneren Zusammensetzung bedürfen, als deren Bürgen wir den Kern betrachten müssen. Dagegen kennen wir, so vielfach auch gegenwärtig die Gewebe untersucht sind, keinen Theil, der wächst, der sich vermehrt, sei es physiologisch, sei es pathologisch, wo nicht kernhaltige Elemente als die Ausgangspunkte der inneren Veränderung nachweisbar wären, und wo nicht die ersten erkennbaren Veränderungen, welche auftreten, den Kern selbst betreffen, so dass wir aus seinem Verhalten oft bestimmen können, was möglicher Weise aus den Elementen geworden sein würde, wenn der Vorgang weiter fortgeschritten wäre. [Illustration: =Fig=. 6. _a_. Pigmentzelle aus der Chorioides oculi. _b_. Glatte Muskelzelle aus dem Darm. _c_. Stück einer doppeltcontourirten Nervenfaser mit Axencylinder, Markscheide und wandständigem, nucleolirtem Kern in der äusseren Scheide.] Längere Zeit hindurch verlangte man für die Definition einer Zelle nicht viel mehr, als die Membran, mochte sie nun rund oder zackig oder sternförmig sein, und den Kern, welcher von vorn herein eine andere chemische Beschaffenheit besitzt, als die Membran. Es ist indess damit lange nicht alles Wesentliche erschöpft. Denn die Zelle ist ausser dem Kern gefüllt mit einer verhältnissmässig grösseren oder kleineren Menge von =Inhaltsmasse=, und ebenso in der Regel der Kern seinerseits, in der Art, dass der Inhalt des Kerns wieder verschieden zu sein pflegt von dem Inhalte der Zelle. Innerhalb mancher Zellen sehen wir Pigment, ohne dass der Kern davon etwas enthielte (Fig. 6, _a_.). Innerhalb einer Muskelzelle wird contractile Substanz abgelagert, die Trägerin der Contractions-Kraft; der Kern bleibt Kern (Fig. 6, _b_.). Eine Nervenfaser kann um den Axencylinder Mark ausscheiden, aber der Kern bleibt ausserhalb, der Axencylinder innerhalb des Markes unversehrt (Fig. 6, _c_.). In der Mehrzahl der thierischen Zellen nimmt der sogenannte Inhalt den verhältnissmässig grössten Raum ein; er ist wenigstens quantitativ unzweifelhaft der Hauptbestandtheil dessen, was ich den =Zellkörper= nenne. Allein schon =Mohl= schrieb dem Inhalte der Pflanzenzellen auch qualitativ eine bedeutende Rolle zu, indem er darin eine besondere, eiweisshaltige Flüssigkeit von grossem functionellen Werthe, das von ihm sogenannte =Protoplasma=, annahm. In neuerer Zeit hat diese Auffassung auch bei den Untersuchern der thierischen Zellen immer mehr Anklang gefunden, so dass gegenwärtig von Vielen das Protoplasma oder was man früher allgemein den Zelleninhalt nannte, als der wichtigste und gewissermaassen essentielle Theil des ganzen Gebietes angesehen wird. Es stellt nach dieser Auffassung eine in allen Zellen, wenigstens allen noch lebenskräftigen, vorkommende Grundsubstanz dar, in welcher ausser dem Kern je nach besonderen Entwickelungsverhältnissen noch eine grössere Menge meist in körniger Form abgeschiedener Stoffe (Fett, Pigment, Glykogen u. s. w.) eingeschlossen sein können. Sieht man davon ab, dass nicht wenige Zellen um sich herum allerlei äussere Stoffe (=Intercellular=- oder =Extracellularsubstanz=) anhäufen, beziehungsweise abscheiden, so wird man nicht bezweifeln können, dass die besonderen (=specifischen=) Eigenthümlichkeiten, welche einzelne Zellen oder Zellengruppen an bestimmten Orten und unter besonderen Bedingungen erreichen, zu einem grossen Theile gebunden sind an wechselnde Eigenschaften des Zelleninhalts (=Intracellularsubstanz=) und dass hauptsächlich von diesen die functionelle (physiologische) Verschiedenheit der Gewebe abhängig ist. Diess darf uns jedoch nicht abhalten, daran festzuhalten, dass innerhalb der verschiedensten Gewebe jene Bestandtheile, welche die Zelle gewissermaassen in ihrer abstracten Form darstellen, Kern und Zellkörper, mit grosser Regelmässigkeit wiederkehren, und dass durch ihre Zusammenfügung ein einfaches Element gewonnen wird, welches durch die grosse Reihe der lebendigen pflanzlichen und thierischen Gestaltungen, so äusserlich verschieden sie auch sein mögen, so sehr die innere Zusammensetzung dem Wechsel unterworfen sein mag, eine ganz besondere Formbildung als bestimmte Grundlage der Lebenserscheinungen erkennen lässt. Betrachtet man z. B. die jüngsten Eierstockseier des Frosches, bevor die Abscheidung der Dotterkörner begonnen hat, so wird man nicht daran zweifeln können, dass man es mit wirklichen Zellen zu thun hat, wenngleich sie durch allmähliches Wachsthum eine colossale Grösse zu erreichen vermögen. [Illustration: =Fig=. 7. Junge Eierstockseier vom Frosch. _A_. Eine ganz junge Eizelle. _B_. Eine grössere. _C_. Eine noch grössere mit beginnender Abscheidung brauner Körnchen an dem einen Pol (_e_.) und mit äusserer Einfaltung der Zellmembran durch Eindringen von Wasser. _a_. Membran des Graaf'schen Follikels. _b_. Zellmembran. _c_. Kernmembran. _d_. Kernkörperchen. _S_. Eierstock. Vergröss. 150.] [Illustration: =Fig=. 8. Zellen aus frischem katarrhalischem Sputum. _A_. Eiterkörperchen. _a_. ganz frisch. _b_. nach Behandlung mit Essigsäure: innerhalb der Membran ist der Inhalt aufgeklärt und man sieht drei kleine Kerne. _B_. Schleimkörperchen. _a_. einfaches. _b_. mit Pigmentkörnchen. Vergr. 300.] Im Gegensatze dazu nehme man ein gewöhnliches klinisches Object: Zellen von einem frischen katarrhalischen Sputum. Es sind hier im Verhältniss sehr kleine Elemente, die sich bei stärkerer Vergrösserung als vollkommen kugelige Gebilde darstellen, und an denen man erst nach Einwirkung von Wasser und anderen Reagentien deutlich eine Membran, Kerne und einen im frischen Zustande trüben Inhalt unterscheidet. Die meisten von den kleinen Elementen gehören nach der gebräuchlichen Terminologie in die Reihe der Eiterkörperchen; die grösseren, als Schleimkörperchen oder katarrhalische Zellen zu bezeichnen, enthalten zum Theil Fett oder grauschwarzes Pigment in Form von Körnern. Aber so klein sie sind, so besitzen sie doch die ganze typische Eigenthümlichkeit der grossen Zellen; alle wesentlichen Charaktere der grossen finden sich an ihnen wieder. Das ist aber meines Erachtens das Entscheidende, dass, wir mögen nun die grossen oder die kleinen, die pathologischen oder die physiologischen Zellen zusammenhalten, dies Uebereinstimmende sich immer wiederfindet. Es darf nicht überraschen, dass der Werth der einzelnen, die vollendete Zelle zusammensetzenden Theile vielfacher Deutung ausgesetzt ist und dass die Definition der Zelle immer neue Formulirungen erhält, trotzdem dass man immer dasselbe Gebilde oder wenigstens denselben Körper meint. Seitdem die sogenannte Membran der Pflanzenzelle als ein secundäres Abscheidungsproduct, als blosse Capsel erkannt ist, hat natürlich der frühere Zelleninhalt, das Protoplasma, eine grössere Bedeutung erlangt. Der Kern ist mehr in den Hintergrund getreten, nachdem man ihm nicht mehr die Präexistenz und die Rolle des Cytoblasten beilegt. Noch ungünstiger liegt die Frage, ob die Membran ein notwendiges Erforderniss der Zelle ist, und nicht bloss unter den Botanikern, sondern auch unter den Zoologen (=Max Schultze=) giebt es nicht wenige und ausgezeichnete Forscher, welche die Zelle als vollkommen constituirt betrachten, sobald ein Kern mit dem dazu gehörigen Protoplasma vorhanden ist. Erst auf einer gewissen Entwickelungshöhe würde sich dieses Protoplasma mit einer Membran bekleiden und zum Zelleninhalt werden, wie man es bei der Furchung des Eies und der Bildung der Primordialzellen so lange angenommen hat. Glücklicherweise hat diese schwierige Frage für die Pathologie keine principielle Bedeutung. Abgesehen davon, dass bei fast allen physiologischen und pathologischen Zellen von einiger Bedeutung Membranen isolirbar sind, wird doch auch vom Standpunkte derjenigen, welche die Membranlosigkeit vieler Zellen behaupten, weder die Existenz, noch der entscheidende Werth der Zellen in Frage gestellt. Ob eine Zelle im alten Sinne des Wortes ein Bläschen oder im neuen ein solides Körperchen ist, ist daher eine Detailfrage, welche das cellulare Princip nicht berührt. Dieses Princip aber ist meiner Auffassung nach der einzigmögliche Ausgangspunkt aller biologischen Doctrin. Wenn eine wirkliche Uebereinstimmung der elementaren Formen durch die ganze Reihe alles Lebendigen hindurchgeht, wenn man vergeblich in dieser grossen Reihe nach irgend etwas Anderem sucht, was als =organisches Element= an die Stelle der Zelle gesetzt werden könnte, so muss man nothwendig auch jede höhere Ausbildung, sei es einer Pflanze, sei es eines Thieres, betrachten als eine fortschreitende Summirung grösserer oder kleinerer Zahlen von Zellen. Wie ein Baum eine in einer bestimmten Weise zusammengeordnete Masse darstellt, in welcher als letzte Elemente an jedem einzelnen Theile, am Blatt wie an der Wurzel, am Stamm wie an der Blüthe, zellige Elemente erscheinen, so ist es auch mit den thierischen Gestalten. =Jedes Thier erscheint als eine Summe vitaler Einheiten=, von denen jede den vollen Charakter des Lebens an sich trägt. Der Charakter und die Einheit des Lebens kann nicht an einem bestimmten einzelnen Punkte einer höheren Organisation gefunden werden, z. B. im Gehirn des Menschen, sondern nur in der bestimmten, constant wiederkehrenden Einrichtung, welche jedes einzelne Element an sich trägt. Daraus geht hervor, dass die Zusammensetzung eines grösseren Körpers, des sogenannten Individuums, immer auf eine Art von gesellschaftlicher Einrichtung herauskommt, =einen Organismus socialer Art= darstellt, wo eine Masse von einzelnen Existenzen auf einander angewiesen ist, jedoch so, dass jedes Element (Zelle oder, wie =Brücke= sehr gut sagt, =Elementar-Organismus=) für sich eine besondere Thätigkeit hat, und dass jedes, wenn es auch die Anregung zu seiner Thätigkeit von anderen Theilen her empfängt, doch die eigentliche Leistung von sich selbst ausgehen lässt. Ich habe es deshalb für nothwendig erachtet, den Gesammt-Organismus oder das Individuum nicht bloss in seine Organe und diese in ihre Gewebe, sondern auch noch die Gewebe zu zerlegen in =Zellenterritorien=. Ich habe gesagt Territorien, weil wir in der thierischen Organisation eine Eigenthümlichkeit finden, welche in der Pflanze fast gar nicht oder doch nur in sehr unvollkommener Weise zur Anschauung kommt, nehmlich die Entwickelung grosser Massen sogenannten =intercellularen Stoffes=. Während die Pflanzenzellen in der Regel mit ihren äusseren Absonderungsschichten, den vorher erwähnten Capseln, unmittelbar aneinander stossen, so jedoch, dass man immer noch die alten Grenzen unterscheiden kann, so finden wir bei den thierischen Geweben, dass diese Art der Anordnung die seltnere ist. In der oft sehr reichlichen Masse, welche zwischen den Zellen liegt (=Zwischen=- oder =Grundsubstanz=, =Intercellularsubstanz=), können wir selten von vornherein übersehen, inwieweit ein bestimmter Theil davon der einen, ein anderer der anderen Zelle angehöre; sie erscheint als ein gleichmässiger Zwischenstoff. [Illustration: =Fig=. 9. Epiphysenknorpel vom Oberarme eines Kindes, an der Ellenbeuge. Das Object war zuerst mit chromsaurem Kali und dann mit Essigsäure behandelt. In der homogenen Grundsubstanz (Intercellularsubstanz) sieht man bei _a_. Knorpelhöhlen mit noch dünner Wand (Capsel), in welchen die Knorpelzellen, mit Kern und Kernkörperchen versehen, sich deutlich abgrenzen. _b_. Capseln (Höhlen) mit zwei, durch Theilung der früher einfachen entstandenen Zellen. _c_. Theilung der Capseln nach Theilung der Zellen. _d_. Auseinanderrücken der getheilten Capseln durch Zwischenlagerung von Intercellularsubstanz. -- Knorpelwachsthum.] Nach der Ansicht =Schwann='s war die Intercellularsubstanz Cytoblastem, für die Entwickelung neuer Zellen bestimmt. Dies halte ich nicht für richtig, vielmehr bin ich durch eine Reihe von Erfahrungen zu dem Schlusse gekommen, dass die Intercellularsubstanz, wie sie von den Zellen gebildet (abgeschieden) wird, so auch in einer bestimmten Abhängigkeit von ihnen bleibt, in der Art, dass man auch in ihr Grenzen ziehen kann, und das gewisse Bezirke von ihr der einen, gewisse der anderen Zelle angehören. Durch pathologische Vorgänge werden diese Grenzen scharf bezeichnet, und es lässt sich direct zeigen, wie jedesmal ein bestimmtes Gebiet von Zwischensubstanz beherrscht wird von dem zelligen Elemente, welches in seiner Mitte gelegen ist. Es wird jetzt deutlich sein, wie ich mir die Zellen-Territorien denke: Es gibt einfache Gewebe, welche ganz aus Zellen bestehen, Zelle an Zelle gelagert (Fig. 10, _A_.). Hier kann über die Grenze der einzelnen Zelle keine Meinungsverschiedenheit bestehen, aber es ist nöthig, hervorzuheben, dass auch in diesem Falle jede einzelne Zelle ihre besonderen Wege gehen, ihre besonderen Veränderungen erfahren kann, ohne dass mit Nothwendigkeit das Geschick der zunächst liegenden Zellen daran geknüpft ist. In andern Geweben dagegen, wo wir Zwischenmassen haben (Fig. 10, _B_.), versorgt die Zelle ausser ihrem eigenen Inhalt noch eine gewisse Menge von äusserer Substanz, die an ihren Veränderungen Theil nimmt, ja sogar häufig frühzeitiger afficirt wird, als das Innere der Zelle, welches durch seine Lagerung mehr gesichert ist, als die äussere Zwischenmasse. Endlich gibt es eine dritte Reihe von Geweben (Fig. 10, _C_.), deren Elemente unter einander in engeren Verbindungen stehen. Es kann z. B. eine Zelle mit anderen zusammenhängen und dadurch eine reihen- oder flächenförmige Anordnung entstehen, ähnlich der bei den Capillaren und anderen analogen Gebilden. In diesem Falle könnte man glauben, dass die ganze Reihe beherrscht werde von irgend Etwas, was wer weiss wie weit entfernt liegt, indessen bei genauerem Studium ergibt sich, dass selbst in diesen ketten- oder hautartigen Einrichtungen eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Glieder besteht, und dass diese Unabhängigkeit sich äussert, indem unter gewissen äusseren oder inneren Einwirkungen das Element nur innerhalb seiner Grenzen gewisse Veränderungen erfährt, ohne dass die nächsten Elemente dabei betheiligt sind.[4] [4] Lange, nachdem dieses geschrieben war, haben die Untersuchungen von =Heidenhain= für die Knorpel, von =Auerbach= und =Eberth= für die Capillaren auch die physiologische Realität der Zellenterritorien erwiesen. [Illustration: =Fig=. 10. Schematische Darstellung der Zellenterritorien. _A_. Einfaches Zellengewebe (Epidermis). _B_. Gewebe mit Intercellularsubstanz (Knorpel), in welchem nach unten hin die Zellenterritorien abgegrenzt sind. _C_. Kernhaltiges, scheinbar homogenes Gewebe (Capillargefäss), in welchem die Territorien durch punktirte Linien angedeutet sind.] Das Angeführte wird zunächst genügen, um zu zeigen, in welcher Weise ich es für nothwendig erachte, die pathologischen Vorgänge zu localisiren, sie auf bekannte histologische Elemente zurückzuführen, warum es mir z. B. nicht genügt, von einer Thätigkeit der Gefässe oder von einer Thätigkeit der Nerven zu sprechen, sondern warum ich es für nothwendig erachte, neben Gefässen und Nerven die grosse Zahl von kleinen Theilen ins Auge zu fassen, welche thatsächlich die Hauptmasse der Körpersubstanz ausmachen. Es ist nicht genug, dass man, wie es seit langer Zeit geschieht, die Muskeln als thätige Elemente daraus ablöst; innerhalb des grossen Restes, der gewöhnlich als =träge Masse= betrachtet wird, findet sich noch eine ungeheure Zahl wirksamer Theile. In der Entwickelung, welche die Medicin bis in die letzten Tage genommen hat, finden wir den Streit zwischen den humoralen und solidaren Schulen der alten Zeit immer noch erhalten. Die humoralen Schulen haben im Allgemeinen das meiste Glück gehabt, weil sie die bequemste Erklärung und in der That die plausibelste Deutung der Krankheitsvorgänge gebracht haben. Man kann sagen, dass fast alle glücklichen Praktiker und bedeutenden Kliniker mehr oder weniger humoralpathologische Tendenzen gehabt haben; ja diese sind so populär geworden, dass es jedem Arzte äusserst schwer wird, sich aus ihnen zu befreien. Die solidarpathologischen Ansichten sind mehr eine Liebhaberei speculativer Forscher gewesen; sie sind nicht sowohl aus dem unmittelbaren pathologischen Bedürfnisse, als vielmehr aus physiologischen und philosophischen, selbst aus religiösen Erwägungen hervorgegangen. Sie haben den Thatsachen Gewalt anthun müssen, sowohl in der Anatomie, als in der Physiologie, und haben daher niemals eine ausgedehnte Verbreitung gefunden. Meiner Auffassung nach ist der Standpunkt beider ein unvollständiger; ich sage nicht ein falscher, weil er eben nur falsch ist in seiner Exclusivität; er muss zurückgeführt werden auf gewisse Grenzen, und man muss sich erinnern, dass neben Gefässen und Blut, neben Nerven und Centralapparaten noch andere Dinge existiren, die nicht ein blosses Substrat der Einwirkung von Nerven und Blut sind, auf welchem diese ihr Wesen treiben. Wenn man nun fordert, dass die medicinischen Anschauungen auch auf dieses Gebiet sich übertragen sollen, wenn man andererseits verlangt, dass auch innerhalb der humoral- und neuropathologischen Vorstellungen man sich schliesslich erinnern soll, dass das Blut aus vielen einzelnen für sich bestehenden und wirkenden Theilen besteht, dass das Nervensystem aus vielen thätigen Sonder-Bestandtheilen zusammengesetzt ist, so ist dies eine Forderung, die freilich auf den ersten Blick manche Schwierigkeiten bietet. Aber wenn man sich erinnert, dass man Jahre lang nicht bloss in den Vorlesungen, sondern auch am Krankenbette von der Thätigkeit der Capillaren gesprochen hat, einer Thätigkeit, die Niemand gesehen hat, die eben nur auf bestimmte Doctrinen hin angenommen worden ist, so wird man es nicht unbillig finden, dass Dinge, die wirklich zu sehen sind, ja die, wenn man sich übt, selbst dem unbewaffneten Auge nicht selten zugängig sind, gleichfalls in den Kreis des ärztlichen Wissens und Denkens aufgenommen werden. Von Nerven hat man nicht nur gesprochen, wo sie nicht dargestellt waren; man hat sie einfach supponirt, selbst in Theilen, wo bei den sorgfältigsten Untersuchungen sich nichts von ihnen hat nachweisen lassen; man hat sie wirksam sein lassen an Punkten, wohin sie überhaupt gar nicht vordringen. So ist es denn gewiss keine unbillige Forderung, dass dem grösseren, wirklich existirenden Theile des Körpers, dem »dritten Stande«, auch eine gewisse Anerkennung werde, und wenn diese Anerkennung zugestanden wird, dass man sich nicht mehr mit der blossen Ansicht der Nerven als ganzer Theile, als eines zusammenhängenden einfachen Apparates, oder des Blutes als eines bloss flüssigen Stoffes begnüge, sondern dass man auch innerhalb des Blutes und des Nervenapparates die ungeheure Masse kleiner wirksamer Centren zulasse. Dann wird sich nicht nur ein neues, grosses Gebiet, das der zelligen Gewebselemente, in die ärztliche Betrachtung einfügen, sondern es wird möglich sein, auch Blut und Nerven von dem Standpunkte der Cellularphysiologie aus zu würdigen, und so den alten Streit der Humoral- und Solidarpathologie in einer einigen Cellularpathologie zu versöhnen. Die wesentlichen Hindernisse, welche bis in die letzte Zeit in dieser Richtung bestanden, waren nicht so sehr pathologische. Ich bin überzeugt, man würde mit den pathologischen Verhältnissen ungleich leichter fertig geworden sein, wenn es nicht bis vor Kurzem unter die Unmöglichkeiten gehört hätte, die wirklichen =Elementartheile= des thierischen Leibes zu ermitteln und eine einfache Uebersicht der physiologischen Gewebe zu liefern. Die alten Anschauungen, welche zum Theil noch aus dem vorigen Jahrhundert überkommen waren, haben gerade in demjenigen Gebiete, welches pathologisch am häufigsten in Betracht kommt, nämlich in dem des Bindegewebes, so sehr vorgewaltet, dass noch jetzt eine allgemeine Einigung nicht gewonnen ist, und dass jedermann genöthigt ist, sich durch die Anschauung der Objecte selbst ein Urtheil darüber zu bilden. Noch in den Elementa physiologiae von =Haller= findet man an die Spitze des ganzen Werkes, wo von den Elementen des Körpers gehandelt wird, die =Faser= gestellt. =Haller= gebraucht dabei den sehr characteristischen Ausdruck, dass die Faser (fibra) für den Physiologen sei, was die Linie für den Geometer. Diese Auffassung ist bald weiter ausgedehnt worden, und die Lehre, dass für fast alle Theile des Körpers die Faser als Grundlage diene, dass die Zusammensetzung der allermannichfachsten Gewebe in letzter Instanz auf die Faser zurückführe, ist namentlich bei dem Gewebe, welches, wie sich ergeben hat, pathologisch die grösste Wichtigkeit hat, bei dem sogenannten Zellgewebe am längsten festgehalten worden. Im Laufe des letzten Jahrzehnts vom vorigen Jahrhundert begann indess schon eine gewisse Reaction gegen diese Faserlehre, und in der Schule der Naturphilosophen kam frühzeitig ein anderes Element zu Ehren, das aber in einer viel mehr speculativen Weise begründet wurde, nämlich das =Kügelchen=. Während die Einen immer noch an der Faser festhielten, so glaubten Andere, wie in der späteren Zeit noch =Milne Edwards=, so weit gehen zu dürfen, auch die Faser wieder aus linear aufgereihten Kügelchen zusammengesetzt zu denken. Diese Auffassung ist zum Theil hervorgegangen aus optischen Täuschungen bei der mikroskopischen Beobachtung. Die schlechte Methode, welche während des ganzen vorigen Jahrhunderts und eines Theiles des gegenwärtigen bestand, dass man mit mässigen Instrumenten im vollen Sonnenlicht beobachtete, brachte fast in alle mikroskopischen Objecte eine gewisse Dispersion des Lichtes, und der Beobachter bekam den Eindruck, als sähe er weiter nichts, als Kügelchen. Andererseits entsprach aber auch diese Anschauung den naturphilosophischen Vorstellungen von der ersten Entstehung alles Geformten. Diese Kügelchen (Körnchen, Granula, Moleküle) haben sich sonderbarer Weise bis in die moderne Histologie hinein erhalten, und es gab bis vor Kurzem wenige histologische Werke, welche nicht mit den Elementarkörnchen anfingen. Hier und da sind noch vor nicht langer Zeit diese Ansichten von der Kugelnatur der Elementartheile so überwiegend gewesen, dass auf sie die Zusammensetzung, sowohl der ersten Gewebe im Embryo, als auch der späteren begründet wurde. Man dachte sich, dass eine Zelle in der Weise entstände, dass die Kügelchen sich sphärisch zur Membran ordneten, innerhalb deren sich andere Kügelchen als Inhalt erhielten. Noch von =Baumgärtner= und =Arnold= ist in diesem Sinne gegen die Zellentheorie gekämpft worden. [Illustration: =Fig=. 11. Schema der Globulartheorie. _a_. Faser aus linear aufgereihten Elementarkörnchen (Molekularkörnchen). _b_. Zelle mit Kern und sphärisch geordneten Körnchen.] In einer gewissen Weise hat diese Auffassung in der Entwickelungsgeschichte eine Stütze gefunden; in der sogenannten =Umhüllungstheorie=, -- einer Lehre, die eine Zeit lang stark in den Vordergrund getreten war (=Henle=). Danach dachte man sich, dass, während ursprünglich eine Menge von Elementarkügelchen zerstreut vorhanden wäre, diese sich unter bestimmten Verhältnissen zusammenlagerten, nicht in Form sphärischer Membranen, sondern zu einem compacten Haufen, einer Kugel (Klümpchen), und dass diese Kugel der Ausgangspunkt der weiteren Bildung werde, indem durch Differenzirung der Masse, durch Apposition oder Intussusception aussen eine Membran, innen ein Kern entstehe. [Illustration: =Fig=. 12. Schema der Umhüllungs- (Klümpchen-) Theorie. _a_. Getrennte Elementarkörnchen. _b_. Körnchenhaufen (Klümpchen). _c_. Körnchenzelle mit Membran und Kern.] Gegenwärtig kann man weder die Faser noch das Kügelchen oder das Elementarkörnchen als einen histologischen Ausgangspunkt betrachten. So lange als man sich die Entstehung von lebendigen Elementen aus vorher nicht geformten Theilen, also aus Bildungsflüssigkeiten oder Bildungsstoffen (=plastischer Materie=, =Blastem=, =Cytoblastem=) hervorgehend dachte, so lange konnte irgend eine dieser Auffassungen allerdings Platz finden, aber gerade hier ist der Umschwung, welchen die allerletzten Jahre gebracht haben, am meisten durchgreifend gewesen. Die Bildungsstoffe finden sich wesentlich innerhalb der Zellen (=Endoblastem=). Auch in der Pathologie können wir gegenwärtig so weit gehen, als allgemeines Princip hinzustellen, =dass überhaupt keine Entwickelung de novo beginnt, dass wir also auch in der Entwickelungsgeschichte der einzelnen Theile, gerade wie in der Entwickelung ganzer Organismen, die Generatio aequivoca zurückweisen=[5]. So wenig wir noch annehmen, dass aus saburralem Schleim ein Spulwurm entsteht, dass aus den Resten einer thierischen oder pflanzlichen Zersetzung ein Infusorium oder ein Pilz oder eine Alge sich bilde, so wenig lassen wir in der physiologischen oder pathologischen Gewebelehre es zu, dass sich aus irgend einer unzelligen Substanz eine neue Zelle aufbauen könne. Wo eine Zelle entsteht, da muss eine Zelle vorausgegangen sein (=Omnis cellula e cellula=), ebenso wie das Thier nur aus dem Thiere, die Pflanze nur aus der Pflanze entstehen kann. Auf diese Weise ist, wenngleich es einzelne Punkte im Körper giebt, wo der strenge Nachweis noch nicht geliefert ist, doch das Princip gesichert, dass in der ganzen Reihen alles Lebendigen, dies mögen nun ganze Pflanzen oder ganze thierische Organismen oder integrirende Theile derselben sein, ein ewiges Gesetz der =continuirlichen Entwickelung= besteht. Die Erfahrung lehrt keine Discontinuität der Entwickelung in der Art, dass eine neue Generation von sich aus eine neue Reihe von Entwickelungen begründete. Alle entwickelten Gewebe können weder auf ein kleines noch auf ein grosses einfaches Element zurückgeführt werden, es sei denn auf die Zelle selbst. In welcher Weise diese continuirliche =Zellenwucherung= (=Proliferation=), denn so kann man den Vorgang bezeichnen, in der Regel vor sich geht, das lässt sich an wachsenden Theilen sowohl von Pflanzen, als von Thieren sehr leicht sehen. [5] Der neueste Versuch von =Pouchet=, die Lehre von der Urzeugung wenigstens für Pilze und Infusorien wieder einzusetzen, darf wohl durch die vortrefflichen Experimente von =Pasteur= als zurückgeschlagen angesehen werden. Trotzdem wird das theoretische Bedürfniss, eine natürliche Schöpfungsgeschichte zu construiren, begreiflicherweise immer von Neuem zu der Annahme einer Urzeugung führen, wenn man sie auch allmählich auf die allerkleinsten Micrococci oder auf gestaltlose Protisten beschränkt. Das Bedürfniss erkenne ich an, aber die Thatsachen streiten dagegen, und am allerwenigsten gestatten sie für die Pathologie eine Ausnahme. [Illustration: =Fig=. 13. Längsschnitt durch ein junges Februar-Blatt vom Aste einer Syringa. _A_. Die Rinden- und Cambium-Schicht: unter einer sehr platten Zellenlage sieht man grössere, viereckige, kernhaltige Zellen, aus denen durch fortgehende Quertheilung kleine Haare (_a_) hervorwachsen, die immer länger werden (_b_) und durch Längstheilung sich verdicken (_c_). _B_. Die Gefässschicht mit Spiralfasern. _C_. Einfache, viereckige, längliche Rinden-Zellen. -- Pflanzenwachsthum.] Betrachten wir z. B. einen Längsschnitt aus der jungen Knospe eines Flieder-Strauches, wie sie die warmen Tage des Februar entwickelt haben. In der Knospe ist schon eine Menge von jungen Blättern angelegt, jedes aus zahlreichen Zellen zusammengesetzt. In diesen jüngsten Theilen bestehen die äusseren Schichten aus ziemlich regelmässigen Zellenlagen, die mehr platt viereckig erscheinen, während in den inneren Lagen die Zellen mehr gestreckt sind, und in einzelnen Abschnitten die Spiralfasern auftreten. Kleine Auswüchse (Blatthaare) treten überall am Rande hervor, ganz ähnlich gewissen thierischen Excrescenzen, z. B. an den Zotten des Chorions, wo sie die Orte bezeichnen, an welchen junge Zotten hervorwachsen werden. An unserem Objecte (Fig. 13) sehen wir die kleinen kolbigen Zapfen, die sich in gewissen Abständen wiederholen, nach Innen mit den Zellenreihen des Cambiums zusammenhängend. An diesen zarten Bildungen kann man am besten die feineren Formen der Zelle unterscheiden und zugleich die eigenthümliche Art ihres Wachsthums entdecken. Das Wachsthum geht so vor sich, dass an einzelnen zelligen Elementen eine Theilung eintritt und sich eine quere Scheidewand bildet; die Hälften wachsen als selbständige Elemente fort und vergrössern sich nach und nach. Nicht selten treten auch Längstheilungen ein, wodurch das ganze Gebilde dicker wird (Fig. 13, _c_). Jeder Zapfen, jedes Pflanzenhaar ist also ursprünglich eine einzige Zelle; indem sie sich quertheilt und immer wieder quertheilt (Fig. 13, _a_, _b_), schiebt sie ihre Glieder vorwärts und breitet sich dann bei Gelegenheit auch seitlich durch Längstheilung aus. In dieser Weise wachsen die Haare hervor, und dies ist im Allgemeinen der Modus des Wachsthums nicht nur in der Pflanze, sondern auch in den physiologischen und pathologischen Bildungen des thierischen Leibes. [Illustration: =Fig=. 14. Knorpelwucherung aus dem Rippenknorpel eines Erwachsenen. Grössere Gruppen von Knorpelzellen innerhalb einer gemeinschaftlichen Umgrenzung (fälschlich sogenannte Mutterzellen), durch successive Theilungen aus einzelnen Zellen hervorgegangen. Am Rande oben ist eine solche Gruppe durchschnitten, in der man eine Knorpelzelle mit mehrfacher Umlagerung von Kapselschichten (äusserer Absonderungsmasse) sieht. Vergröss. 300.] Nimmt man ein Stück Rippenknorpel im Stadium des pathologischen Wachsthums, so erscheinen schon für das blosse Auge Veränderungen: man sieht kleine Buckel der Oberfläche des Knorpels. Dem entsprechend zeigt das Mikroskop Wucherungen der Knorpelzellen. Hier finden sich dieselben Formen wie bei den Pflanzenzellen: grössere Gruppen von zelligen Elementen, welche je aus einer früheren Zelle hervorgegangen sind, in mehrfachen Reihen angeordnet, mit dem einzigen Unterschiede von den wuchernden Pflanzenzellen, dass zwischen den einzelnen Gruppen Intercellularsubstanz vorhanden ist. An den Zellen unterscheidet man wieder die äussere Kapsel, die sogar an einzelnen Zellen mehrfach geschichtet ist, in zwei-, drei- und mehrfacher Lage, und darin erst kommt die eigentliche Zelle mit Körper, Kern und Kernkörperchen. Nirgends gibt es hier eine andere Art der Neubildung, als die =fissipare=; ein Element nach dem andern theilt sich: Generation geht aus Generation hervor. Zweites Capitel. Die physiologischen Gewebe. Anatomische Classification der Gewebe. Die drei allgemein-histologischen Kategorien. Die speciellen Gewebe. Die Organe und Systeme oder Apparate. Die =Epithelialgewebe=. Platten-, Cylinder- und Uebergangsepithel. Epidermis und Rete Malpighii. Nagel und Nagelkrankheiten. Haare. Linse. Pigment. Drüsenzellen. Die =Gewebe der Bindesubstanz=. Das Binde- oder Zellgewebe. Die Theorien von =Schwann=, =Henle= und =Reichert=. Meine Theorie. Die Bindegewebskörperchen. Die Fibrillen des Bindegewebes als Intercellularsubstanz. Secretion derselben. Der Knorpel (hyaliner, Faser- und Netzknorpel). Incapsulirte und freie Knorpelkörperchen (Knochenknorpel). Schleimgewebe. Pigmentirtes Bindegewebe. Fettgewebe. Anastomose der Elemente: saftführendes Röhren- oder Kanalsystem. Die =höheren Thiergewebe=: Muskeln, Nerven, Gefässe, Blut, Lymphdrüsen. Vorkommen dieser Gewebe in Verbindung mit Interstitialgewebe. Muskeln. Quergestreifte. Faserzellen. Herzmuskulatur. Muskelkörperchen. Fibrillen. Disdiaklasten. Glatte Muskelfasern. Muskelatrophie. Die contractile Substanz (Syntonin) und die Contractilität überhaupt. Cutis anserina und Arrectores pilorum. Gefässe. Capillaren. Contractile Gefässe. Die normalen Gewebe lassen sich ohne Zwang in drei Kategorien eintheilen: Entweder man hat Gewebe, welche einzig und allein aus Zellen bestehen, in welchen Zelle an Zelle liegt, also =in dem modernen Sinne Zellengewebe=. Oder es sind Gewebe, in welchen regelmässig eine Zelle von der andern getrennt ist durch eine gewisse Zwischenmasse (Intercellularsubstanz), in welchen also eine Art von Bindemittel existirt, das die einzelnen Elemente in sichtbarer Weise aneinander, aber auch auseinander hält. Hierher gehören die Gewebe, welche man heut zu Tage gewöhnlich unter dem Namen der =Gewebe der Bindesubstanz= zusammenfasst, und in welche als Hauptmasse dasjenige eintritt, was man früherhin allgemein Zellgewebe nannte. Endlich gibt es eine dritte Gruppe von Geweben, in welchen specifische Ausbildungen der Zellen Statt gefunden haben, vermöge deren sie eine ganz eigenthümliche Einrichtung erlangt haben, zum Theil so eigenthümlich, wie sie einzig und allein der thierischen Oekonomie zukommt. Diese Gewebe höherer Ordnung sind es, welche =eigentlich den Character des Thieres ausmachen=, wenngleich einzelne unter ihnen Uebergänge zu Pflanzenformen darbieten. Hierher gehören die Nerven- und Muskelapparate, die Gefässe und das Blut. Damit ist die Reihe der Gewebe abgeschlossen. Eine solche Gruppirung der histologischen Erfahrungen unterscheidet sich sehr wesentlich von derjenigen, welche nach dem Vorgange von =Bichat= so lange die allgemeine Anatomie beherrscht hat. Die Gewebe der älteren Schule stellten zu einem grossen Theile nicht so sehr dasjenige dar, was wir heute als die Gegenstände der allgemeinen Histologie betrachten, sondern vielmehr das, was wir als den Inhalt der speciellen Histologie bezeichnen müssen. Wenn man die Sehnen, die Knochen, die Fascien als besondere Gewebe nimmt, so giebt dies eine ausserordentliche Mannichfaltigkeit von Kategorien (=Bichat= hatte deren 21), aber es entsprechen ihnen nicht eben so viele einfache Gewebsformen. In unserem Sinne lässt das ganze anatomische Gebiet sich zunächst zerlegen nach allgemein-histologischen Kategorien (eigentliche =Gewebe=). Die specielle Histologie beschäftigt sich sodann mit dem Falle, wo eine Zusammenfügung von zum Theil sehr verschiedenartigen Geweben zu einem einzigen Ganzen (=Organ=) Statt findet. Wir sprechen z. B. mit Recht von Knochengewebe, allein dieses Gewebe, die Tela ossea im allgemein-histologischen Sinne, bildet für sich keinen Knochen, denn kein Knochen besteht durch und durch, einzig und allein aus Tela ossea, sondern es gehören dazu mit einer gewissen Nothwendigkeit mindestens Periost und Gefässe. Ja, von dieser einfachen Vorstellung eines Knochens unterscheidet sich die jedes grösseren, z. B. eines Röhrenknochens: dies ist ein wirkliches Organ, in dem wir wenigstens vier verschiedene Gewebe unterscheiden. Wir haben da die eigentliche Tela ossea, die Knorpellage am Gelenk, die Bindegewebsschicht des Periosts, das eigenthümliche Mark. Jeder dieser einzelnen Theile kann wieder eine innere Verschiedenartigkeit der zusammensetzenden Bestandtheile darbieten; es gehen z. B. Gefässe und Nerven mit in die Zusammensetzung des Markes, der Beinhaut u. s. f. ein. Alles dies zusammengenommen, giebt erst den vollen Organismus eines Knochens. Bevor man also zu den eigentlichen =Systemen= oder =Apparaten=, dem speciellen Vorwurfe der descriptiven Anatomie kommt, hat man eine ganze Stufenfolge zu durchlaufen. Man muss sich daher bei Diskussionen mit Anderen immer erst klar werden, was in Frage ist. Wenn man Knochen und Knochengewebe zusammenwirft, so gibt dies eine eben so grosse Verwirrung, als wenn man Nerven- und Gehirnmasse einfach identificiren wollte. Das Gehirn enthält viele Dinge, die nicht nervös sind, und seine physiologischen und pathologischen Zustände lassen sich nicht begreifen, wenn man sie auf eine Zusammenordnung rein nervöser Theile bezieht, wenn man nicht neben den Nerven auf die Häute, das Zwischengewebe, die Gefässe Rücksicht nimmt. Betrachten wir nun die erste allgemein-histologische Gruppe etwas genauer, nämlich die einfachen Zellengewebe, so ist unzweifelhaft am leichtesten übersichtlich die =Horn=- oder =Epithelialformation=, wie wir sie in der Epidermis und dem Rete Malpighii an der äussern Oberfläche, im Cylinder- und Plattenepithelium auf den Schleim- und serösen Häuten antreffen. Der Name Epithelium stammt von =Ruysch=, der zuerst an der Brustwarze ([Griechisch: thêlê]) ein ablösbares Häutchen auffand, welches er weiterhin in ähnlicher Weise auch an Schleimhäuten nachwies. =Heusinger= hat das Verdienst, den Zusammenhang aller Horngebilde dargelegt zu haben, indem er die chemische und physikalische Uebereinstimmung derselben lehrte. Das allgemeine Schema ist hier, dass Zelle an Zelle stösst, so dass in dem günstigsten Falle, wie bei der Pflanze, vier- oder sechseckige Zellen unmittelbar sich an einander schliessen und zwischen ihnen nichts Anderes weiter, als höchstens eine geringe Kittsubstanz, gefunden wird. So ist es an manchen Orten mit dem Platten- oder Pflasterepithel (Fig. 17). Die besonderen Formen der Epithelialzellen sind offenbar grossentheils Druckwirkungen. Wenn alle Elemente eines Zellengewebes eine vollkommene Regelmässigkeit haben sollen, so setzt dies voraus, dass sich alle Elemente völlig gleichmässig entwickeln und gleichzeitig vergrössern. Geschieht ihre Entwickelung dagegen unter Verhältnissen, wo nach einer Seite hin ein geringerer Widerstand besteht, so kann es sein, dass die Elemente, wie bei den Säulen- oder Cylinderepithelien, nur in einer Richtung auswachsen und sehr lang werden, während sie in den andern Richtungen sehr dünn bleiben. Aber auch ein solches Element wird, auf einem Querschnitt angesehen, sich als ein sechseckiges darstellen: wenn wir Cylinder-Epithel von der freien Fläche her betrachten, so sehen wir auch bei ihm ganz regelmässig polygonale Formen (Fig. 15, _b_). [Illustration: =Fig=. 15. Säulen- oder Cylinderepithel der Gallenblase. _a_. Vier zusammenhängende Zellen, von der Seite gesehen, mit Kern und Kernkörperchen, der Inhalt leicht längs gestreift, am freien Rande (oben) ein dickerer, fein radiär gestreifter Saum. _b_. Aehnliche Zellen, halb von der freien Fläche (oben, aussen) gesehen, um die sechseckige Gestalt des Querschnittes und den dicken Randsaum zu zeigen. _c_. Durch Imbibition veränderte, etwas aufgequollene und am oberen Saum aufgefaserte Zellen.] [Illustration: =Fig=. 16. Uebergangsepithel der Harnblase. _a_. Eine grössere, am Rande ausgebuchtete Zelle mit keulen- und spindelförmigen, feineren Zellen besetzt, _b_. dasselbe: die grössere Zelle mit zwei Kernen. _c_. Eine grössere, unregelmässig eckige Zelle mit vier Kernen. _d_. Eine ähnliche mit zwei Kernen und 9 von der Fläche aus gesehenen Gruben, den Randausbuchtungen entsprechend (vgl. Archiv f. path. Anat. u. Phys. Bd. III. Taf. I. Fig 8.)] Im Gegensatze dazu finden sich ausserordentlich unregelmässige Formen an solchen Orten, wo die Zellen in unregelmässiger Weise hervorwachsen, so besonders constant an der Oberfläche der Harnwege (Fig. 16), in der ganzen Ausdehnung der Schleimhaut von den Nierenkelchen bis zur Urethra. An allen diesen Stellen trifft man sehr gewöhnlich Anordnungen, wo einzelne Zellen an dem einen Ende rund sind, während sie an dem anderen in eine Spitze auslaufen, andere Zellen ziemlich grobe Spindeln darstellen, andere wieder an einer Seite platt abgerundet, an der anderen ausgebuchtet sind, oder wo eine Zelle sich so zwischen andere einschiebt, dass sie eine kolbige oder zackige Form annimmt. Immer entspricht hier die eine Zelle der Form der Lücke zwischen den anderen, und es ist nicht die Eigenthümlichkeit der Zelle, welche die Form bedingt, sondern die Art ihrer Lagerung, das Nachbarverhältniss, die Abhängigkeit von der Anordnung der nächsten Theile. In der Richtung des geringeren Widerstandes bekommen die Zellen Spitzen, Zacken und Fortsätze der mannichfaltigsten Art. Diese Art von Epithel nannte man, da sie sich nicht recht unterbringen liess, mit =Henle= Uebergangs-Epithel, weil sie schliesslich gewöhnlich in deutliches Platten- oder Cylinderepithel übergeht. Zuweilen ist dies aber nicht der Fall und man könnte ebenso gut einen anderen Namen dafür einführen. Sie stellt das Vorbild zu der vielbesprochenen =Polymorphie= gewisser pathologischer Epithelialzellen, z. B. der Krebszellen dar. An der Oberhaut (Epidermis) haben wir den günstigen Fall, dass eine Reihe von Zellenlagen über einander liegt, was an vielen Schleimhäuten nicht der Fall ist. Es lassen sich daher die jungen Lagen (das =Rete Malpighii= oder die =Schleimschicht= der früheren Autoren) von den älteren (der =eigentlichen Epidermis=) bequem trennen. Wenn man einen senkrechten Durchschnitt der Hautoberfläche betrachtet, so erblickt man zumeist nach aussen ein sehr dichtes, verschieden dickes Stratum, welches aus lauter platten Elementen besteht, die von der Seite her wie einfache Linien aussehen. Man könnte sie bei dieser Betrachtung für Fasern halten, welche übereinander geschichtet mit leichten Niveau-Verschiedenheiten die ganze Oberhaut zusammensetzen. Von der Fläche aus gesehen, erweisen sie sich jedoch als rundlich-ovale Plättchen, die bei Einwirkung von Alkalien sich zu dickeren, linsenförmigen Körpern aufblähen. Unterhalb dieser Lagen folgt in verschiedener Mächtigkeit das sogenannte Rete Malpighii, welches unmittelbar bis an die Papillen der Haut (Lederhaut, Cutis, Corium) reicht. Untersuchen wir nun die Grenze zwischen Epidermis und Rete, so ergibt sich fast bei allen Arten der Betrachtung, dass fast plötzlich an die innerste Lage der Epidermis sich Elemente anschliessen, die zunächst noch immer platt sind, aber doch schon einen grösseren Dickendurchmesser haben, innerhalb deren man sehr deutlich Kerne erkennt, welche in den Plättchen der Epidermis fehlen. Diese ziemlich grossen Elemente stellen den Uebergang dar von den ältesten Schichten des Rete Malpighii zu den jüngsten der Epidermis. Hier ist der Punkt, von wo aus sich die Epidermis regenerirt, welche ihrerseits eine träge Masse darstellt die an der Oberfläche durch Reibung und Abblätterung allmählich entfernt wird. Und hier ist im Allgemeinen auch die Grenze, wo die pathologischen Processe einsetzen. Je weiter wir gegen die Tiefe hin untersuchen, um so kleiner werden die Elemente; die letzten stehen als kleine Cylinder auf der Oberfläche der Hautpapillen (Fig. 17, _r_, _r_). [Illustration: =Fig=. 17. Senkrechter Schnitt durch die Oberfläche der Haut von der Zehe, mit Essigsäure behandelt. _P_. _P_. Spitzen durchschnittener Papillen, in denen man je eine Gefässschlinge und daneben kleine spindelförmige und an der Basis netzförmige Bindegewebselemente bemerkt: links eine Ausbiegung der Papille, entsprechend einem nicht mehr dargestellten, tiefer gelegenen Tastkörperchen. _R_. _R_. Das Rete Malpighii, zunächst an der Papille eine sehr dichte Lage kleiner cylinderförmiger Zellen (_r_, _r_), nach aussen immer grösser werdende polygonale Zellen. _E_. Epidermis, aus platten, dichteren Zellenlagen bestehend. _S_. _S_. Ein durchtretender Schweisskanal. -- Vergröss. 300.] Im Grossen ist das Verhältniss der verschiedenen Schichten an der ganzen Hautoberfläche überall dasselbe, so mannichfaltig auch im Einzelnen die Besonderheiten sein mögen, welche sie in Beziehung auf Dicke, Lagerung, Festigkeit und Zusammenfügung darbieten. Ein Durchschnitt z. B. des Nagels, der seiner äusseren Erscheinung nach gewiss weit von der gewöhnlichen Oberhaut abweicht, zeigt doch im Allgemeinen dasselbe Bild, wie diese; er unterscheidet sich nur in einem Punkte wesentlich, nehmlich dadurch, dass sich an ihm zwei verschiedene epidermoidale Gebilde übereinanderschieben. Dadurch entsteht eine Complication, die, wenn man sie nicht erkennt, zu der Annahme gewisser specifischer Verschiedenheiten des Nagels von anderen Theilen der Epidermis führen kann, während sie doch nur durch eine eigenthümliche Verschiebung gewisser Epidermislagen gegen andere bedingt ist. Die äusserst dichten und festen Plättchen, welche den frei zu Tage liegenden Theil, das sogenannte =Nagelblatt=, zusammensetzen, lassen sich auf verschiedene Weise wieder in Formen zurückführen, in denen sie das gewöhnliche Bild von Zellen darbieten; am deutlichsten durch Behandlung mit einem Alkali, wo ein jedes Plättchen zu einer grossen, rundlich-ovalen Blase anschwillt. In den oberen Schichten der Oberhaut werden die Zellen überall platter, und in den äussersten findet man, wie gesagt, gar keine Kerne mehr. Trotzdem besteht kein ursprünglicher Unterschied zwischen der Epidermis und dem Rete Malpighii; das letztere ist vielmehr die Bildungsstätte (Matrix) der Epidermis oder die jüngste Epidermislage selbst, insofern von hieraus immer neue Theile sich ansetzen, sich abplatten und in die Höhe rücken, in dem Maasse, als aussen durch Waschen, Reiben u. s. w. Theile verloren gehen. Auch zwischen der untersten Schicht des Rete und der Oberfläche der Cutis gibt es keine weitere Zwischenlage mehr, keine amorphe Flüssigkeit, kein Blastem, das in sich Zellen bilden könnte; die Zellen sitzen direct auf der Bindegewebspapille der Cutis auf. Es ist hier nirgends ein Raum, wie man noch vor Kurzem dachte, in welchen aus den Papillen und den in ihnen enthaltenen Gefässen Flüssigkeit transsudirte, damit aus und in derselben neue Elemente durch freie Urzeugung entständen und hervorwüchsen. Eine blosse Schleimschicht, welche als Cytoblastem für die neuen Zellen diente, ist absolut nicht wahrnehmbar. Durch die ganze Reihe der Zellenlagen des Rete und der Epidermis besteht dasselbe Continuitätsverhältniss, wie man es an der Rinde eines Baumes kennt. Die Rindenschicht einer Kartoffel (Fig. 2) zeigt in gleicher Weise aussen korkhaltige epidermoidale Elemente und darunter, wie im Rete Malpighii, eine Lage kernhaltiger Zellen, das Cambium, welches die Matrix des Nachwuchses für die Rinde darstellt. Sehr ähnlich verhält es sich am Nagel. Betrachtet man den Durchschnitt eines Nagels, quer auf die Längsrichtung des Fingers, so sieht man dieselbe Anordnung, wie an der gewöhnlichen Haut, nur entspricht jede einzelne Ausbuchtung der unteren Fläche nicht einer zapfenförmigen Verlängerung der Cutis, einer Papille, sondern einer Leiste, welche über die ganze Länge des Nagelbettes hinläuft und welche mit den Leisten zu vergleichen ist, die an der Volarseite der Finger zu sehen sind. Auf diesen Leisten des Nagelbettes befinden sich sehr niedrige und verkommene Papillen, an deren Oberfläche das mehr cylindrisch gestaltete jüngste Lager des Rete Malpighii aufsitzt; daran schliessen sich immer grössere Elemente an, und endlich folgt eine hornig-blätterige Schicht, welche der Epidermis entspricht. Es ist jedoch, um dies gleich vorweg zu nehmen, da wir auf den Nagel nicht wieder zu sprechen kommen werden, seine Zusammensetzung deshalb schwierig zu ermitteln gewesen, weil man sich ihn als einheitliches Gebilde gedacht hat. Daher hat sich der Streit hauptsächlich um die Frage gedreht, wo die Matrix des Nagels sei, ob er von der ganzen Fläche wachse, oder nur von dem kleinen Falz, in welchem er hinten steckt. Die eigentliche feste Masse, das compacte =Nagelblatt=, wächst allerdings nur von hinten her und schiebt sich über die Fläche des sogenannten =Nagelbettes= hinweg, aber das Nagelbett erzeugt seinerseits eine bestimmte Masse von Zellen, die als Aequivalente einer Epidermislage zu betrachten sind. Macht man einen Durchschnitt durch die Mitte eines Nagels, so kommt man zu äusserst auf das von hinten gewachsene Nagelblatt, dann auf die losere Substanz, welche von dem Nagelbett abgesondert ist, dann auf das Rete Malpighii, und endlich auf die Leisten, auf welchen der Nagel ruht[6]. Es combiniren sich also in der Nagelbildung zwei Epidermoidalstrata: ein äusseres oder oberes, dessen Matrix das Rete im Falz ist, und ein inneres oder unteres, dessen Matrix das Rete des Bettes ist. [6] Vgl. meine Abhandlung zur normalen und pathologischen Anatomie der Nagel und der Oberhaut, insbesondere über hornige Entartung und Pilzbildung an den Nägeln. Vgl. Würzb. Verhandl. 1854. V. 83. So begreift man, dass das Nagelblatt bis zu einem gewissen Maasse locker liegt und sich leicht vorwärts bewegen kann, indem es sich auf einer beweglichen Unterlage vorschiebt. Aber es ist auch sofort zu verstehen, wie leicht man sich in der Deutung des Bildes, welches senkrechte Durchschnitte durch den Nagel gewähren, täuschen kann, und wie nahe es liegt, anzunehmen, auch das Nagelblatt beziehe seine Elemente wenigstens zum Theil aus der Matrix des Bettes. Es fügen sich jedoch die von letzterer gelieferten Elemente nur lose der unteren Fläche des Nagelblattes an. Diese Fläche besitzt daher, entsprechend den erwähnten Leisten, seichte Ausbuchtungen, so dass der wachsende Nagel, indem er über die Leisten fortgleitet, seitliche Bewegungen nur innerhalb beschränkter Grenzen machen kann. Man kann daher sagen: es bewegt sich das von hinten wachsende Nagelblatt über ein =Polster= von lockerer Epidermismasse nach vorn (Fig. 18, _a_) in Rinnen, welche zwischen den längslaufenden Leisten oder Falten des Nagelbettes gelegen sind. Das Nagelblatt selbst, frisch untersucht, besteht dagegen aus einer so dichten Masse, dass man einzelne Zellen daran kaum zu unterscheiden im Stande ist, ja, dass man ein Bild bekommt, wie an manchen Stellen im Knorpel. Aber durch Behandlung mit Kali, welches die Zellen aufquellen macht und von einander trennt, kann man sich überzeugen, dass er überall nur aus Epidermiszellen besteht. [Illustration: =Fig=. 18. Schematische Darstellung des Längsdurchschnittes vom Nagel. _a_. Das normale Verhältniss: leicht gekrümmtes, horizontales Nagelblatt, in seinem Falze steckend und durch ein schwaches Polster von dem Nagelbette getrennt. _b_. Stärker gekrümmtes und etwas dickeres Nagelblatt mit stark verdicktem Polster und stärker gewölbtem Nagelbette, der Falz kürzer und weiter. _c_. Onychogryphosis: das kurze und dicke Nagelblatt steil aufgerichtet, der Falz kurz und weit, das Nagelbett auf der Fläche eingebogen, das Polster sehr dick und aus übereinander geschichteten Lagen von lockeren Zellen bestehend.] Kennt man diese Entwickelung, so lassen sich die Krankheiten des Nagels in leicht fasslicher Weise von einander scheiden. Es gibt nehmlich Krankheiten des Nagelbettes, welche das Wachsthum des Nagelblattes nicht ändern, aber Dislocationen desselben bedingen. Wenn auf dem Nagelbette eine sehr reichliche Entwickelung von Polstermasse stattfindet, so kann das Nagelblatt in die Höhe gehoben werden (Fig. 18, _b_), ja es kommt, namentlich an den Zehen, nicht selten vor, dass es, statt horizontal, senkrecht in die Höhe wächst und der Raum unter ihm von dicken Anhäufungen des blätterigen Polsters erfüllt wird (Fig. 18, _c_). Selbst Eiterungen können auf dem Nagelbette stattfinden, ohne dass die Entwickelung des Nagelblattes dadurch gehindert wird. Die sonderbarsten Veränderungen zeigen sich bei den Pocken. Wenn eine Blatter auf dem Nagelbett sich bildet, so bekommt der Nagel nur eine gelbliche, etwas unebene Stelle; entwickelt sich dagegen die Pocke im Nagelfalze, so sieht man Wochen nachher das Bild der Pocke in einer kreisförmig vertieften, wie ausgeschnittenen Stelle des sich allmählich vorschiebenden Nagelblattes, als einen Beweis des Ausfalls von Elementen, gerade wie auf der Epidermis. Denn jede Krankheit, welche den Nagelfalz (die Matrix) trifft, ändert auch das Nagelblatt, und wenn der Falz zerstört wird, so kann ein wirkliches Blatt nicht mehr nachgebildet werden; das Bett bedeckt sich dann nur mit einer hornigen, unregelmässig geschichteten Masse, wie sie sich zuweilen auch auf grossen Narben anderer Hautstellen, namentlich nach partiellen Amputationen des Fusses, erzeugt. -- Wie am Nagel, so erfahren auch an anderen Orten unter besonderen Verhältnissen die epidermoidalen Elemente besondere Umwandlungen, wodurch sie ihrem ursprünglichen Habitus ausserordentlich unähnlich werden und allmählich Erscheinungsformen annehmen, die es jedem, welcher die Entwickelungsgeschichte nicht kennt, unmöglich machen, ihre ursprüngliche Epidermis-Natur auch nur zu ahnen. So ist es mit den =Haaren=. Die am meisten abweichende Entwickelung findet sich jedoch an der =Krystallinse= des Auges, welche ursprünglich eine reine Epidermis-Anhäufung ist. Sie entsteht bekanntlich dadurch, dass sich ein Theil der Haut von aussen sackförmig einstülpt. Anfangs bleibt durch eine leichte Membran die Verbindung mit den äusseren Theilen erhalten, durch die Membrana capsulo-pupillaris; später atrophirt diese und lässt die abgeschlossene Linse im Innern des Auges liegen. Die sogenannten Linsenfasern sind also weiter nichts, wie schon =Carl Vogt= zeigte, als epidermoidale Elemente mit eigenthümlicher Entwickelung, und die Regeneration derselben z. B. nach Extraction der Cataract, ist nur so lange möglich, als noch Epithel an der Capsel vorhanden ist, welches den Neubau übernimmt und gleichsam ein dünnes Lager von Rete Malpighii darstellt. Dieses reproducirt in derselben Weise die Linse, wie das gewöhnliche Rete Malpighii der Haut die Epidermis; nur ist die Regeneration der Linse gewöhnlich unvollständig, da die sich vermehrenden Rete-Zellen hauptsächlich am Umfange der Linsenkapsel liegen. Die neu gebildete Linse ist daher in der Regel ein Ring, der in der Mitte nicht ausgefüllt ist. Unter den sonstigen Modificationen epithelialer Gebilde werden wir noch gelegentlich die eigenthümlichen =Pigmentzellen= zu erwähnen haben, die an den verschiedensten Punkten aus der Umwandlung von Rete- oder Epithelial-Elementen hervorgehen, indem sich der Inhalt der Zellen entweder durch Imbibition färbt oder in sich durch (metabolische) Umsetzung des Inhalts Pigment erzeugt. So entstehen Pigmentzellen in dem Rete gefärbter Hautstellen oder gefärbter Racen, bei Naevi und Bronzekrankheit; so bilden sich die dunkle Zellenschicht der Chorioides oculi (Fig. 6), gewisse pigmentirte Zellen in den Alveolen der Lunge (Fig. 8). -- [Illustration: =Fig=. 19. _A_. Entwickelung der Schweissdrüsen durch Wucherung der Zellen des Rete Malpighii nach innen. _e_. Epidermis, _r_. Rete Malpighii, _g g_ solider Zapfen, der ersten Drüsenanlage entsprechend. Nach =Kölliker=. _B_. Stück eines Schweissdrüsenkanals im entwickelten Zustande, _t t_ Tunica propria. _e e_ Epithellagen.] Zu den Epithelien gehört noch eine andere, ganz besondere Art von Elementen, die bei dem Zustandekommen gewisser höherer Functionen des Thiers eine sehr bedeutende Rolle spielen, nehmlich die =Drüsenzellen=. Die eigentlich activen Elemente der gewöhnlichen, mit Ausführungsgängen versehenen Drüsen sind wesentlich epitheliale. Es ist eines der grössten Verdienste von =Remak=, gezeigt zu haben, dass in der normalen Entwickelung des Embryo von den bekannten drei Keimblättern das äussere und innere hauptsächlich epitheliale Gebilde hervorbringen, von denen unter Anderem durch allmähliche Wucherung die Drüsengestaltung ausgeht. Schon andere Forscher hatten ähnliche Beobachtungen gemacht, insbesondere =Kölliker=. Gegenwärtig kann man es als allgemeine Doctrin hinstellen, dass die Drüsenbildung überhaupt als ein directer Wucherungsprocess von Epithelial-Gebilden zu betrachten ist. Früher dachte man sich Cytoblastem-Haufen, in denen unabhängig Drüsenmasse entstände; allein mit Ausnahme der Lymphdrüsen, welche in ein ganz anderes Gebiet gehören, entstehen sämmtliche Drüsen in der Weise, dass an einem gewissen Punkte in ähnlicher Art, wie ich von den Auswüchsen der Pflanzen angegeben habe (S. 25), epitheliale Zellen anfangen sich zu theilen, sich wieder und wieder theilen, bis allmählich ein kleiner Zapfen von zelligen Elementen entstanden ist (Fig. 19, _A_). Dieser wächst nach innen und bildet, indem er sich seitlich ausbreitet und im Innern aushöhlt, einen Drüsengang (Fig. 19, _B_), welcher demnach sofort ein Continuum mit äusseren Zellenlagen darstellt. So entstehen die Drüsen der Oberfläche (die Schweiss- und Talgdrüsen der Haut, die Milchdrüse), so entstehen aber auch die inneren Drüsen des Digestionstractus (Magendrüsen, Lieberkühnsche Darmdrüsen, Leber), der Eierstock u. s. w. Die einfachsten Formen, welche eine Drüse darbieten kann, kommen beim Menschen nicht vor. Es sind dies =einzellige Drüsen=, wie sie in neuerer Zeit bei niederen Thieren vielfach gefunden sind. Die menschlichen Drüsen sind stets Anhäufungen von vielen Elementen, die jedoch genetisch auf ziemlich einfache Anlagen zurückführen. Freilich gehen ausser den epithelialen Elementen in unsern zusammengesetzten Drüsen noch andere nothwendige Bestandtheile (Bindegewebe, Gefässe, Nerven) in die Zusammensetzung ein, und man kann nicht sagen, dass die Drüse, als Organ betrachtet, bloss aus Drüsenzellen bestehe. Jedoch ist man darüber gegenwärtig ziemlich einig, dass das bestimmende Element in der Zusammensetzung die Drüsenzelle ist, ebenso wie bei den Muskeln das Muskelprimitivbündel, und dass die specifische Thätigkeit der Drüse hauptsächlich in der Natur und eigenthümlichen Einrichtung dieser Elemente begründet ist. Im Allgemeinen bestehen also die Drüsen aus Anhäufungen von Zellen, welche in der Regel offene Kanäle bilden. Wenn man von den Drüsen mit zweifelhafter Function (Schilddrüse, Nebennieren) absieht, so gibt es beim Menschen nur die Eierstöcke, welche eine Ausnahme machen, indem ihre Follikel nur zu Zeiten offen sind; aber auch sie müssen offen sein, wenn die specifische Secretion der Eier stattfinden soll. Bei den meisten Drüsen kommt freilich bei der Secretion noch eine gewisse Menge transsudirter Flüssigkeit hinzu, allein diese Flüssigkeit stellt nur das Vehikel dar, welches die Elemente selbst oder ihre specifischen Produkte wegschwemmt. Wenn sich in den Hodenkanälen eine Zelle ablöst, in welcher Samenfäden entstehen, so transsudirt zugleich eine gewisse Menge von Flüssigkeit, welche dieselben fortträgt, aber das, was den Samen zum Samen macht, was das Specifische der Thätigkeit gibt, ist die Zellenfunction. Die blosse Transsudation von den Gefässen aus ist wohl ein Mittel zur Fortbewegung, gibt aber nicht das specifische Produkt der Drüse, das Secret im engeren Sinne des Worts. Wie am Hoden, so geht im Wesentlichen an allen Drüsen, an denen wir mit Bestimmtheit das Einzelne ihrer Thätigkeit übersehen können, die wesentliche Eigenthümlichkeit ihrer Energie von der Entwickelung, Umgestaltung und Thätigkeit epithelialer Elemente aus. -- * * * * * Die zweite histologische Gruppe bilden die Gewebe der =Bindesubstanz=. Es ist dies diejenige Gruppe, welche gerade für mich das meiste Interesse hat, weil von hier aus meine allgemein-physiologischen Anschauungen zu dem Abschlusse gekommen sind, den ich im Eingange kurz darstellte. Die Aenderungen, welche es mir gelungen ist, in der histologischen Auffassung der ganzen Gruppe herbeizuführen, haben mir zugleich die Möglichkeit gegeben, die Cellulardoctrin zu einer gewissen Abrundung zu bringen. Die Hauptglieder dieser Gruppe sind das =Bindegewebe=, das =Schleimgewebe=, der =Knorpel=, das =Knochengewebe=, das =Zahnbein=, die =Neuroglia= und das =Fettgewebe=. Betrachten wir zuerst das Bindegewebe als das für die Auffassung der übrigen mehr oder weniger bestimmende. Bis in die neueste Zeit hiess es fast allgemein Zellgewebe (tela cellulosa), weil man annahm, dass es regelmässig kleinere Räume (cellulae, areolae) enthalte. Erst =Johannes Müller= führte den Ausdruck Bindegewebe (tela conjunctoria s. connectiva), freilich nur für eine gewisse Art, ein; er meinte damit, was wir gegenwärtig =interstitielles Gewebe= zu nennen pflegen, nehmlich dasjenige »Zellgewebe«, welches Organe oder Organtheile mit einander verbindet. Sehr langsam, zum Theil aus blossem Widerwillen gegen den schlechten Namen Zellgewebe, ist die Bezeichnung Bindegewebe auf alles Zellgewebe und auf alle daraus zusammengesetzten Theile (Lederhaut, Sehnen, Fascien) ausgedehnt worden. Gegenwärtig muss man sich fast in Acht nehmen, nicht noch weiterzugehen und auch die übrigen Glieder dieser Gruppe dem Bindegewebe zuzurechnen. »Bindesubstanz« soll diesem weiteren Klassenbegriff entsprechen. [Illustration: =Fig=. 20. _A_. Bündel von gewöhnlichem lockigem Bindegewebe (Intercellularsubstanz), am Ende in feine Fibrillen zersplitternd. _B_. Schema der Bindegewebs-Entwickelung nach =Schwann=. _a_. Spindelzelle (geschwänztes Körperchen, fibroplastisches Körperchen =Lebert=) mit Kern und Kernkörperchen. _b_. Zerklüftung des Zellkörpers in Fibrillen. _C_. Schema der Bindegewebs-Entwickelung nach =Henle=. _a_. Hyaline Grundsubstanz (Blastem) mit regelmässig eingestreuten, nucleolirten Kernen. _b_. Zerfaserung des Blastems (directe Fibrillenbildung) und Umwandlung der Kerne in Kernfasern.] Seit =Haller= betrachtete man das Zellgewebe oder, wie man auch wohl sagte, das =Fasergewebe= (tela fibrosa) als wesentlich aus Fasern (fibrae, fibrillae) zusammengesetzt und sah in diesen Fasern, wie im ersten Capitel (S. 22.) hervorgehoben ist, die eigentlich elementare Form des Organischen. In der That, wenn man Bindegewebe an verschiedenen Regionen, z. B. an den Sehnen und Bändern, der Pia mater, dem subserösen und submucösen Zellgewebe untersucht, so findet man überall wellige Faserbündel (Fascikel), sogenanntes =lockiges Bindegewebe= (Fig. 20, _A_). Die Zusammensetzung dieser Bündel glaubte man um so bestimmter auf einzelne Fasern zurückführen zu können, als wirklich nicht selten an dem Ende der Bündel isolirte Fädchen herausstehen. Trotzdem ist gerade auf diesen Punkt vor etwa 25 Jahren ein ernsthafter Angriff gemacht worden, der, wenngleich in einer anderen, als der beabsichtigten Richtung, eine sehr grosse Bedeutung gewonnen hat. =Reichert= suchte nehmlich zu zeigen, dass die Fasern nur der optische Ausdruck von Falten seien, und dass das Bindegewebe vielmehr an allen Orten eine homogene, jedoch mit grosser Neigung zur Faltenbildung versehene Masse darstelle. =Schwann= hatte die Bildung des Bindegewebes so dargestellt, dass ursprünglich zellige Elemente von spindelförmiger Gestalt vorhanden wären, die nachher so berühmt gewordenen =geschwänzten Körperchen, Spindel- oder Faserzellen= (fibroplastischen Körper =Lebert='s, Fig. 4, _b_), und dass aus solchen Zellen unmittelbar Fascikel von Bindegewebe in der Weise hervorgingen, dass der Körper der Zelle in einzelne Fibrillen sich zerspalte, während der Kern als solcher liegen bliebe (Fig. 20, _B_). Jede Spindelzelle würde also für sich oder in Verbindung mit anderen, an sie anstossenden und mit ihr verschmelzenden Spindelzellen ein Bündel von Fasern liefern. =Henle= dagegen glaubte aus der Entwickelungsgeschichte schliessen zu müssen, dass ursprünglich gar keine Zellen vorhanden seien, sondern nur einfaches Blastem, in welchem Kerne in gewissen Abständen sich bildeten; die späteren Fasern sollten durch eine directe Zerklüftung des Blastems entstehen. Während so die Zwischenmasse sich differenzire zu Fasern, sollten die Kerne sich allmählich verlängern und endlich zusammenwachsen, so dass daraus eigenthümliche feine Längsfasern entständen, die sogenannten =Kernfasern= (Fig. 20, _C_, _b_). =Reichert= hat gegenüber diesen Ansichten einen ausserordentlich wichtigen Schritt gethan. Er bewies nehmlich, dass ursprünglich nur Zellen in grosser Masse vorhanden sind, zwischen welche erst später homogene Intercellularmasse abgelagert wird. Zu einer gewissen Zeit verschmölzen dann, wie er glaubte, die Membranen der Zellen mit der Intercellularsubstanz, und es komme nun ein Stadium, dem von =Henle= beschriebenen analog, wo keine Grenze zwischen den alten Zellen und der Zwischenmasse mehr existire. Endlich sollten auch die Kerne in einigen Formen gänzlich verschwinden, während sie in anderen sich erhielten. Dagegen leugnete =Reichert= entschieden, dass die spindelförmigen Elemente von =Schwann= überhaupt vorkämen. Alle spindelförmigen, geschwänzten oder gezackten Elemente wären Kunstproducte, gleich wie die Fasern, welche man in der Zwischenmasse sähe und welche nur scheinbar etwas für sich Existirendes darstellten, da sie in Wahrheit eine falsche Deutung des optischen Bildes, der Ausdruck blosser Falten und Streifungen einer an sich durchaus gleichmässigen Substanz seien. [Illustration: =Fig=. 21. Bindegewebe vom Schweinsembryo nach längerem Kochen. Grosse zum Theil isolierte, zum Theil noch in der Grundsubstanz eingeschlossene und anastomisirende Spindelzellen (Bindegewebskörperchen). Grosse Kerne mit abgelöster Membran; zum Theil geschrumpfter Zelleninhalt. Vergr. 350.] Meine Untersuchungen haben gelehrt, dass die Auffassung sowohl von =Schwann=, als von =Reichert= bis zu einem gewissen Grade auf richtigen Anschauungen beruht. Erstlich mit =Schwann= und gegen =Reichert=, dass in der That spindelförmige (Fig. 21) und sternförmige Elemente mit vollkommener Sicherheit existiren, dann aber gegen =Schwann= und mit =Henle= und =Reichert=, dass eine directe Zerklüftung der Zellen zu Fasern nicht geschieht, dass vielmehr dasjenige, was wir nachher als Bindegewebe vor uns sehen, an die Stelle der früher gleichmässigen Intercellular-Substanz tritt. Ich fand ferner, dass =Reichert= sowohl, als =Schwann= und =Henle= darin Unrecht hatten, wenn sie zuletzt im besten Falle Kerne oder Kernfasern bestehen liessen; dass vielmehr in den meisten Fällen auch die Zellen selbst sich erhalten. Das Bindegewebe der späteren Zeit unterscheidet sich der allgemeinen Structur und Anlage nach in gar nichts von dem Bindegewebe der früheren Zeit. Es gibt nicht ein embryonales oder unreifes Bindegewebe mit Spindeln und ein ausgebildetes oder reifes ohne diese, sondern die Elemente bleiben dieselben, wenngleich sie oft nicht sofort zu sehen sind[7]. [7] Vergl. meine Abhandlung über das Bindegewebe in den Würzburger Verhandl. 1851. II. 150. [Illustration: =Fig=. 22. Schema der Bindegewebs-Entwickelung nach meinen Untersuchungen. _A_. Jüngstes Stadium. Hyaline Grundsubstanz (Intercellularsubstanz) mit grösseren Zellen (Bindegewebskörperchen); letztere in regelmässigen Abständen, reihenweise gestellt, Anfangs getrennt, spindelförmig und einfach, späterhin anastomosirend und verästelt. _B_. Aelteres Stadium: bei _a_. streifig gewordene (fibrilläre) Grundsubstanz, durch die reihenweise Einlagerung von Zellen fasciculär erscheinend; die Zellen schmäler und feiner werdend; bei _b_. nach Einwirkung von Essigsäure ist das streifige Aussehen der Grundsubstanz wieder verschwunden, und man sieht die noch kernhaltigen, feinen und langen anastomosirenden Faserzellen (Bindegewebskörperchen).] Mit dem Nachweise von der Persistenz der Zellen im Bindegewebe gelangte ich zu einer gänzlich verschiedenen Betrachtungsweise der physiologischen und pathologischen Bedeutung der einzelnen Bestandtheile. Während bis dahin die Fasern als die eigentlich constituirenden Elemente des Bindegewebes angesehen waren, wie es =Robin= und die französische Schule noch heute thun, so rückten sie in meiner Vorstellung als Bestandtheile der Intercellularsubstanz in eine durchaus untergeordnete Stellung. Sie verhalten sich zu den Bindegewebszellen, oder, wie ich sie gewöhnlich nenne, den =Bindegewebskörperchen=, wie die Fasern des Fibrins in einem Blutgerinnsel zu den Blutkörperchen. Sie geben dem Gewebe Consistenz, Dehnbarkeit, Widerstandsfähigkeit, Ausdehnungsfähigkeit, Farbe und Aussehen, aber sie sind nicht die Sitze der Lebensthätigkeit, nicht die lebenden Mittelpunkte des Gewebes. Da die Substanz, welche sich zwischen den Bindegewebskörperchen befindet, ursprünglich homogen ist und erst später fibrillär wird, so muss man sich vorstellen, dass die Fibrillation in ähnlicher Weise vor sich geht, wie in dem Fibringerinnsel, welches zuerst auch homogen und gallertartig ist. Und da ferner die Substanz zwischen den Zellen später auftritt, als die Zellen, so kann man sie nicht im Sinne =Henle='s als Cytoblastem betrachten, sondern sie lässt sich nur als ein von den Zellen geliefertes =Secret= ansehen. In der letzten Zeit haben Manche mit =Max Schultze= Werth darauf gelegt, die Intercellularsubstanz nicht als ein Secret aufzufassen, sondern als die äussere, metamorphosirte Schicht der Zellen oder, um in der Schulsprache zu reden, als das veränderte Protoplasma selbst. Dieser Streit ist ein rein doctrinärer. Denn auch die Vorstellung von der Secretion der Intercellularsubstanz geht davon aus, dass das Secret einmal innerhalb der Zellen befindlich gewesen sei, und es versteht sich von selbst, dass eine Zelle nach geschehener Secretion der Intercellularsubstanz um so viel kleiner sein muss, als Secret aus ihr hervorgetreten ist (vorausgesetzt, dass sie nicht wieder neue Substanz von aussen her in sich aufgenommen hat). Dass aber wirklich die Corticalschicht der Bindegewebskörperchen in Intercellularsubstanz verwandelt werde, hat noch Niemand dargethan. Demnach ist das Bindegewebe aufzufassen als zusammengesetzt aus Zellenterritorien (S. 17), von denen jedes eine Zelle mit dem ihr zugehörigen Antheil von Intercellularsubstanz enthält, und deren Grenzen gänzlich verschmolzen sind. Man kann diess auch so ausdrücken, dass man sagt: das Bindegewebe besteht aus einer im Wesentlichen faserigen Intercellularsubstanz und Zellen, welche in regelmässigen Abständen in dieselbe eingeschlossen sind. Diese Formel gilt übrigens für sämmtliche Gewebe der Bindesubstanz, nur dass die Beschaffenheit der Intercellularsubstanz verschieden und keineswegs überall faserig ist. Im ausgebildeten Zustande besteht wenigstens scheinbar fast überall der grösste Theil des Gewebes aus Intercellularsubstanz, und deshalb ist diese letztere in hohem Maasse für die äussere Erscheinung des Gewebes bestimmend. Die Zellen sind der Masse nach meist unbedeutend und sie können die mannichfachsten Formen haben. Daher lassen die Gewebe sich nicht darnach unterscheiden, dass das eine nur runde, das andere dagegen geschwänzte oder sternförmige Zellen enthält; vielmehr können in allen Geweben der Bindesubstanz runde, lange, eckige oder verästelte Elemente vorkommen. [Illustration: =Fig=. 23. Senkrechter Durchschnitt durch den wachsenden Knorpel der Patella. _a_. Die Gelenkfläche mit parallel gelagerten Spindelzellen (Knorpelkörperchen). _b_. Beginnende Wucherung der Zellen. _c_. Vorgeschrittene Wucherung; grosse, rundliche Gruppen; innerhalb der ausgedehnten Capseln immer zahlreichere runde Zellen. -- Vergröss. 50.] Der einfachste Fall ist der, dass runde Zellen in gewissen Abständen liegen, durch Intercellularsubstanz getrennt. Das ist diejenige Form, welche wir am schönsten in den =Knorpeln= finden, z. B. in den Gelenküberzügen, wo die Zwischenmasse vollkommen homogen und an ihr nichts zu sehen ist, als eine vielleicht hier und da schwach gekörnte, im Ganzen jedoch völlig wasserklare Substanz, so homogen, dass, wenn man nicht die Grenze des Objectes vor sich hat, man in Zweifel sein kann, ob überhaupt etwas zwischen den Zellen vorhanden ist. Diese Substanz characterisirt den =hyalinen Knorpel=. Unter gewissen Verhältnissen wandeln aber die runden Elemente sich auch im Knorpel in längliche, spindelförmige um, z. B. ganz regelmässig gegen die Gelenkoberflächen hin. Je näher man bei der Durchforschung des Gelenkknorpels der freien Oberfläche kommt (Fig. 23, _a_), um so platter werden die Zellen; zuletzt sieht man nur kleine, flach linsenförmige, auf einem Längsdurchschnitt spindelförmig erscheinende Körper, zwischen denen die Intercellularsubstanz zuweilen ein leicht streifiges Aussehen zeigt. Hier tritt also, ohne dass das Gewebe aufhört, Knorpel zu sein, ein Typus auf, den wir viel regelmässiger im Bindegewebe antreffen, und es kann leicht daraus die Vorstellung erwachsen, als sei der Gelenkknorpel noch mit einer besonderen Membran überzogen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Es legt sich keine Synovialhaut über den Knorpel; die Grenze des Knorpels gegen das Gelenk hin ist überall vom Knorpel selbst gebildet. Die Synovialhaut fängt erst da an, wo der Knorpel aufhört, am Knochenrande. An anderen Stellen geht der Knorpel über in ein Gewebe, wo die Zellen nach mehreren Richtungen Fortsätze aussenden, dadurch sternförmig werden, und wo die endliche Anastamose der Elemente sich vorbereitet; endlich trifft man Stellen, wo man nicht mehr sagen kann, wo das eine Element aufhört und das andere anfängt: sie hängen durch ihre Fortsätze direct mit einander zusammen, sie anastomosiren, ohne dass eine Grenze zwischen ihnen zu erkennen wäre. Wenn ein solcher Fall eintritt, so wird die bis dahin gleichmässige hyaline Intercellularsubstanz ungleichmässig, streifig, faserig. Solchen Knorpel hat man schon seit langer Zeit =Faserknorpel= genannt. Von diesen beiden Arten unterscheidet man eine dritte, den sogenannten =Netzknorpel=, so an Ohr und Nase, wo die Elemente rund sind, aber eine eigenthümliche Art von dicken, steifen Fasern um sie herum liegt, deren Entstehung noch nicht ganz erforscht ist, die aber offenbar durch eine Metamorphose der Intercellularsubstanz entstehen. Wir haben schon früher (S. 8) gesehen, dass der ausgebildete Knorpel =incapsulirte= Zellen hat. Hier ist also die Zelle von der Intercellularsubstanz noch durch eine besondere, oft sehr dicke Wand getrennt. Wenn nun nicht bezweifelt werden kann, dass auch diese Wand ein Secretionsproduct der Zelle ist, so folgt, dass, genau genommen, die =Capsel der Intercellularsubstanz angehört, deren jüngster Theil sie ist=. In allen Rippenknorpeln ist es gewöhnlich, um einzelne Zellen sogar zwei und mehr Capselschichten zu sehen (Fig. 14), unter deren Ausbildung die Zelle immer kleiner und kleiner wird, so dass sie manchmal nur noch als ein granulirtes Kügelchen im Innern der Capselhöhle erscheint. Durch Jodzusatz lässt sie sich jedoch leicht erkennen, indem sie sich roth färbt, während Capsel- und Intercellularsubstanz nur gelb werden. Die Existenz der Capsel ist in hohem Maasse characteristisch für den Knorpel. Aber sie ist nicht entscheidend, denn in jungem und unentwickeltem Knorpel, sowie in dem von mir als =Knochenknorpel= (osteoidem Gewebe) benannten Gewebe fehlt sie und die Intercellularsubstanz stösst unmittelbar an die Oberfläche der Zelle. Mit diesen verschiedenen Typen, welche der Knorpel an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten seiner Entwickelung darbietet, sind auch alle die Verschiedenheiten gegeben, welche die übrigen Gewebe der Bindesubstanz darbieten. Es gibt auch wahres Bindegewebe mit runden, mit langen und sternförmigen Zellen. Ebenso finden sich innerhalb des eigenthümlichen Gewebes, welches ich =Schleimgewebe= genannt habe, runde Zellen in einer hyalinen, spindelförmige in einer streifigen, netzförmige in einer maschigen Grundsubstanz. Das Haupt-Kriterium für die Scheidung der Gewebe beruht daher auf der Bestimmung der chemischen Qualität der Intercellularsubstanz. Bindegewebe wird ein Gewebe genannt, dessen Grundsubstanz beim Kochen Leim (Colla, Gluten) gibt; Knorpel liefert aus seiner Zwischenmasse Chondrin, Schleimgewebe einen durch Alkohol in Fäden fällbaren und in Wasser wieder aufquellenden, durch Essigsäure fällbaren und im Ueberschuss sich nicht lösenden, dagegen in Salz- und Salpetersäure löslichen Stoff, das Mucin (Schleimstoff). Weitere Verschiedenheiten des Gewebes können sich späterhin einstellen durch die besondere Gestaltung und Füllung der einzelnen Zellen. Auch die Knorpel- und Bindegewebszellen führen zuweilen =Farbstoffe=, wie die epithelialen: es gibt also auch pigmentirte Bindesubstanz. Was wir kurzweg =Fett= nennen, ist ein Gewebe, welches sich hier unmittelbar anschliesst und welches sich wesentlich dadurch unterscheidet, dass die einzelnen Zellen sich haufenweise vermehren, vergrössern und mit Fett vollstopfen, wobei der Kern zur Seite gedrängt wird. An sich ist die Structur des Fettgewebes aber dieselbe wie die des Bindegewebes, und unter Umständen kann das Fett so vollständig schwinden, dass das Fettgewebe wieder auf einfaches gallertartiges Bindegewebe oder Schleimgewebe zurückgeführt wird[8]. Und umgekehrt kann nicht bloss Schleim- und Bindegewebe sich direct in Fettgewebe umwandeln, sondern es kann auch ganz direct fetthaltiges Mark aus Knorpel- oder Knochengewebe entstehen. [8] Archiv f. path. Anatomie und Physiol. 1859. XVI. 15. [Illustration: =Fig=. 24. Knochenkörperchen aus einem pathologischen Knochen von der Dura mater cerebralis. Man sieht die verästelten und anastomosirenden Fortsätze derselben (Knochenkanälchen) und innerhalb der Knochenkörperchen kleine Punkte, welche den trichterförmigen Anfang der Kanälchen bezeichnen. Vergröss. 600.] Unter den Geweben der Bindesubstanz besitzen diejenigen für die pathologische Anschauung die grösste Wichtigkeit, in welchen eine netzförmige Anordnung der Elemente besteht, oder anders ausgedrückt, in welchen die Elemente durch Ausläufer oder Fortsätze untereinander anastomosiren (Fig. 21; 22, _A_; 24). Ueberall, wo solche Anastomosen Statt finden, wo ein Element mit dem anderen zusammenhängt, da lässt sich mit einer gewissen Sicherheit darthun, dass diese Anastomosen eine Art von Röhren- oder Kanalsystem darstellen, welches den grossen Kanalsystemen des Körpers angereiht, welches namentlich neben den Blut- und Lymphkanälen als eine neue Erwerbung unserer Anschauungen betrachtet werden muss, also eine Art von Ersatz für die alten Vasa serosa bietet, die in der früher angenommenen Weise nicht existiren. Eine solche Einrichtung kommt vor im Faserknorpel, Bindegewebe, Knochen, Schleimgewebe an den verschiedensten Theilen und jedesmal unterscheiden sich die Gewebe, welche solche Anastomosen besitzen, von denen mit isolirten Elementen durch ihre grössere Fähigkeit, krankhafte Processe zu leiten. -- * * * * * Nachdem wir die Gruppe der Epithelial- oder Epidermoidalformation und die der Bindesubstanzen betrachtet haben, so bleibt uns noch eine ebenso grosse, als wichtige Gruppe, deren einzelne Glieder freilich nicht in der Weise, wie dies bei der Epithelial-und Bindegewebs-Formation der Fall ist, eine wirkliche Verwandtschaft untereinander haben. Ihre Uebereinstimmung ist vielmehr eine physiologische, indem sie =die höheren animalischen Gebilde= darstellen, welche sich durch die specifische Art ihrer Einrichtung und Leistung von den mehr indifferenten Epithelial- und Bindegeweben unterscheiden. Hierhin zähle ich das =Muskelgewebe=, das =Nervengewebe=, die =feineren Gefässe mit Blut=, =Lymphe= und =Lymphdrüsen=. Allerdings sind diese Gewebe unter sich so verschieden, dass man aus jedem derselben eine besondere Gruppe bilden könnte. Ich will darüber nicht streiten. Indess spricht die praktische Bequemlichkeit, sämmtliche Gewebe höherer Dignität in eine einzige Gruppe zusammenzufassen, für meinen Vorschlag. Ein anderer Umstand scheint auf den ersten Anblick die Nothwendigkeit einer solchen Vereinigung darzuthun. Gerade die Elemente der Hauptglieder dieser Gruppe stellen sich uns dar in der Form von zusammenhängenden, weithin durch den Körper verbreiteten, mehr oder weniger röhrenartigen Gebilden. Wenn man Muskeln, Nerven und Capillaren mit einander vergleicht, so kann man sehr leicht zu der Vorstellung kommen, es handle sich bei allen dreien um wirkliche Röhren, welche mit einem bald mehr, bald weniger beweglichen Inhalt gefüllt seien. Diese Vorstellung, so bequem sie für eine oberflächliche Anschauung ist, genügt jedoch deshalb nicht, weil wir den Inhalt der verschiedenen Röhren nicht einfach vergleichen können. Das Blut, welches in den Gefässen enthalten ist, lässt sich nicht als ein Analogen des Axencylinders oder des Markes einer Nervenröhre, oder der contractilen Substanz eines Muskelprimitivbündels betrachten. Allerdings ist die Entwickelung mancher Gebilde, welche ich in dieser Gruppe zusammenfasse, noch ein Gegenstand grosser Differenzen, und die Ansicht über die zellige Natur vieler der hier einschlagenden Elemente findet noch Widersacher. So viel ist indess sicher, wenn wir die fötale Entwickelung ins Auge fassen, dass die Blutkörperchen ebenso gut Zellen sind, wie die einzelnen Elemente der Gefässwand, innerhalb deren das Blut strömt, und dass man das Gefäss nicht als eine einfache Röhre bezeichnen kann, welche die Blutkörperchen umfasst, wie eine Zellmembran ihren Inhalt. Deshalb ist es nothwendig, dass man bei den Gefässen den Inhalt von der Wand, dem eigentlichen Gefässe trennt und dass man die Aehnlichkeit der Gefässe mit den Nervenröhren und Muskelbündeln nicht zu stark hervorhebt. Von entschiedener Bedeutung ist auch hier die Entwickelungsgeschichte. Nur was genetisch zusammengehört, muss zusammengehalten werden. Es ist aus diesem Grunde berechtigt, zum Blute die Lymphdrüsen hinzuzunehmen, insofern das Verhältniss beider zu einander ein gleiches ist, wie wir es bei den Epithelialformationen zwischen Epidermis und Rete angetroffen haben. Die Lymphdrüsen unterscheiden sich von den eigentlichen Drüsen nicht allein dadurch, dass sie keinen Ausführungsgang im gewöhnlichen Sinne des Wortes besitzen, sondern sie stehen auch ihrer Entwickelung nach keineswegs den gewöhnlichen Drüsen gleich; in ihrer ganzen Geschichte schliessen sie sich so eng an die Gewebe der Bindesubstanz, dass man eher versucht sein kann, anzunehmen, dass sie aus einer Umwandlung von Bindegewebe hervorgehen. Bei der Mehrzahl der höheren Gewebe tritt noch eine eigenthümliche Schwierigkeit hervor, welche wir schon bei den Drüsen (S. 38) kennen gelernt haben. Manche dieser Gewebe kommen überhaupt nirgends ganz rein vor. Sie sind vielmehr gemischt und zusammengehalten durch =interstitielles Gewebe=, welches von den specifischen Elementen ganz verschieden ist und ausnahmslos irgend einer Art von Bindesubstanz angehört. Es entsteht daher in der Regel ein zusammengesetzter, organartiger Bau, dessen Erforschung grosse Vorsicht erfordert, da sehr leicht die mehr indifferenten Elemente des interstitiellen =Gewebes= (welches wohl von Intercellular=substanz= zu unterscheiden ist) mit den eigentlich functionellen Elementen verwechselt werden können. Ein Muskel besteht aus wirklich muskulösen Elementen und Interstitialgewebe mit Bindegewebskörperchen, zu welchen noch Gefässe und Nerven hinzukommen. Das Gehirn enthält Nervenzellen, Nervenfasern und Interstitialgewebe mit einfachen Zellen, Gefässe u. s. w. Gehirnzellen im strengen Sinne des Wortes sind Nerven- oder Ganglienzellen, im weiteren können auch Gliazellen ebenso genannt werden. [Illustration: =Fig=. 25. Eine Gruppe von Muskelprimitivbündeln (Muskelfasern). _a_. Die natürliche Erscheinung eines frischen Primitivbündels mit seinen Querstreifen (Bändern oder Scheiben). _b_. Ein Bündel nach leichter Einwirkung von Essigsäure; die Kerne treten deutlich hervor und man sieht in dem einen zwei Kernkörperchen, den anderen völlig getheilt. _c_. Stärkere Einwirkung der Essigsäure: der Inhalt quillt am Ende aus der Scheide (Sarcolemm) hervor. _d_. Fettige Atrophie. Vergröss. 300.] Unter den Gliedern der hier in Rede stehenden Gruppe hat man gewöhnlich die =muskulösen Elemente= als die einfachsten betrachtet. Untersucht man einen gewöhnlichen rothen Muskel, so findet man ihn wesentlich zusammengesetzt aus einer Menge von meistentheils gleich dicken Cylindern (den =Primitivbündeln= oder =Muskelfasern=), die auf einem Querschnitte sich als runde Körper darstellen. An ihnen nimmt man alsbald die bekannten Querstreifen wahr, das heisst breite Linien, welche sich gewöhnlich etwas zackig über die Oberfläche des Bündels erstrecken, und welche nahezu so breit sind, wie die Zwischenräume, welche sie trennen (Fig. 25, _a_). Neben dieser Querstreifung sieht man weiterhin, namentlich nach gewissen Präparationsmethoden, eine der Länge nach verlaufende Streifung, die sogar in manchen Präparaten so überwiegend wird, dass das Muskelbündel fast nur längsgestreift erscheint. Wendet man nun Essigsäure an, so zeigen sich, während die Streifen erblassen, an der Wand, hier und da auch mehr gegen die Mitte des Cylinders hin, in gewissen Abständen grosse, rundlich-ovale Kerne mit glänzenden, ziemlich grossen Kernkörperchen, bald in grösserer, bald in kleinerer Zahl. Auf diese Weise gewinnen wir, nachdem wir durch die Einwirkung der Essigsäure die innere Substanz geklärt haben, ein Bild, welches an Zellenformen erinnert, und man ist daher um so mehr geneigt gewesen, das ganze Primitivbündel als aus einer einzigen Zelle hervorgegangen anzusehen, als nach der älteren Ansicht innerhalb eines jeden Muskels die einzelnen Primitivbündel von dem einen Insertionspunkte bis zu dem andern reichen sollten, also so lang gedacht wurden, als der Muskel selbst. Letztere Annahme ist freilich durch Untersuchungen, welche unter =Brücke='s Leitung in Wien durch =Rollett= angestellt wurden, erschüttert worden, indem dieser nachwies, dass im Verlaufe vieler Muskeln sich Enden der Primitivbündel mit zulaufenden Spitzen finden. Diese Enden schieben sich ineinander, und es entspricht demnach keineswegs die Länge aller Primitivbündel der ganzen Ausdehnung des Muskels. Allein diese Entdeckung, statt die Ansicht von der zelligen Natur der Primitivbündel zu erschüttern, hat sie vielmehr befestigt; sie zeigt, dass auch das fertige Muskelprimitivbündel sich verhält, wie eine Faserzelle (Fig. 105, _A_). Die einzige bekannte Ausnahme von dieser Einrichtung findet sich, wie =Eberth= gefunden hat, an der Herzmuskulatur, welche durch das Bestehen verzweigter und anastomosirender Bündel schon seit =Leeuwenhoek= die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, und welche auch durch den Mangel eines ausgebildeten Sarcolemma eine so eigenthümliche Stellung einnimmt. Hier gibt es statt der Faserzellen kürzere, mit platten Enden oder eckigen Grenzen aneinanderstossende und so mit einander verschmelzende Abtheilungen, von denen jede für sich einer Zelle entspricht. Auf der anderen Seite sind gerade in der letzten Zeit von verschiedenen Seiten Beobachtungen gemacht worden, welche eher geeignet schienen, die einzellige Natur der Primitivbündel in Zweifel zu ziehen. =Leydig= hat zuerst die Ansicht aufgestellt, dass in jedem Cylinder (Primitivbündel) eine Reihe von zelligen Elementen kleinerer Art enthalten sei. In der That liegt jeder Kern in einer besonderen, langgestreckten Lücke, welche durch das Auseinanderrücken der quergestreiften (contractilen) Substanz des Bündels gebildet wird. Die Lücke ist nach =Leydig= von einer besondern Membran umschlossen und sie stellt nach seiner Ansicht eine intramusculäre Zelle vor. Es handelt sich, sobald diese letzte Zusammensetzung discutirt wird, um äusserst schwierige Verhältnisse, und ich bekenne, dass, so sehr ich von der ursprünglich einzelligen Natur der Primitivbündel überzeugt bin, ich doch die sonderbaren Erscheinungen im Innern derselben zu gut kenne, als dass ich nicht zugestehen müsste, dass eine andere Ansicht aufgestellt werden könne. An jedem Cylinder (Primitivbündel) kann man leicht eine membranöse äussere Hülle (=Sarcolemma=) und einen Inhalt unterscheiden. In letzterem liegen die Kerne und an ihm kann man im natürlichen Zustande die eigenthümliche Quer- und Längsstreifung erkennen. Diese Streifung ist durchaus eine innere und nicht eine äussere. Die Membran an sich ist vollkommen glatt und eben; die Querstreifung gehört dem Inhalt an, welcher im Grossen die eigentliche rothe Muskelmasse, das Fleisch darstellt. Jedes Primitivbündel ist daher ein nach beiden Seiten hin zugespitzt endigender, meist sehr langer Cylinder, der eine Membran, einen Inhalt und Kerne besitzt, also die Eigenschaften einer sehr verlängerten Zelle darbietet. Damit stimmt die Entwickelungsgeschichte überein, insofern jedes Primitivbündel in der That durch doppelseitiges Wachsthum aus einer einzigen, ursprünglich ganz einfachen Bildungszelle hervorgeht, in welcher sich erst allmählich der specifische Inhalt, die Fleischsubstanz ablagert. Nun sieht man aber von Anfang an, dass die Ablagerung dieses specifischen Inhalts nicht an allen Punkten der Zellen erfolgt, sondern dass die nächste Umgebung des Kerns frei davon bleibt. Auch für pathologisch neugebildete Muskelzellen habe ich dies nachgewiesen[9]. Je grösser die Muskelzellen werden, um so mehr tritt diese von specifischem Inhalt freie Lücke um den Kern hervor, und zwar so, dass sie, wenn man den Cylinder von der Fläche aus betrachtet, als ein spindelförmiger Raum erscheint, während er auf einem Querdurchschnitt meist eckig oder sternförmig aussieht und nicht selten sich in verästelte und anastomosirende Fortsätze verfolgen lässt. Letztere nimmt man zuweilen, namentlich am Herzmuskel des Menschen, auch bei der Betrachtung von der Fläche her als feine interfibrilläre Linien oder Striche wahr (Fig. 26, _C_). Wie mir scheint, erstrecken sich diese Fortsätze ununterbrochen in das von =Cohnheim= entdeckte intermusculäre Gitterwerk, welches die Fleischsubstanz durchsetzt. Aber die Ansichten über die Natur der um die Kerne gelegenen Zeichnungen gehen noch weit auseinander. Während =Leydig=, wie erwähnt, sie als eine Art von Bindegewebskörperchen und die specifische Inhaltsmasse des Primitivbündels als ein Analogon der Bindegewebs-Intercellularsubstanz betrachtet, nimmt =Rollett= sie mit den dazu gehörigen Fortsätzen als ein intramusculäres Lacunensystem. =Max Schultze= endlich denkt sich diese von ihm als =Muskelkörperchen= bezeichneten Gebilde als membranlose Körper, nur aus Kern und Protoplasma bestehend, so jedoch, dass das Protoplasma derselben mit dem in der übrigen Fleischsubstanz vorhandenen und hier durch die Einlagerung anderer Bestandtheile zum Theil verdeckten Protoplasma continuirlich zusammenhänge. [9] Würzb. Verhandl. 1850. I. 189. Archiv f. path. Anat. 1854. VII. 137. Taf. II. Fig. 4. [Illustration: =Fig=. 26. Muskelelemente aus dem Herzfleische einer Puerpera. _A_. Eigenthümliche, den Faserzellen der Milzpulpe ganz ähnliche Spindelzellen, vielleicht dem Sarcolemma angehörig, bei dem Zerzupfen des Präparates frei geworden. _a_. halbmondförmig gekrümmte, an einem Ende etwas platte Zelle, von der Fläche gesehen, _b_. eine ähnliche, von der Seite gesehen, der Kern platt, _c_. _d_. Zellen, deren Kerne in einer herniösen Ausbuchtung der Membran liegen; _e_. eine ähnliche Zelle, von der Fläche gesehen, der Kern wie aufgelagert. _B_. Ein Primitivbündel ohne Hülle (Sarcolemma) mit deutlichen Längsfibrillen und grossen rundlichen Kernen, von denen einer zwei Kernkörperchen enthält (beginnende Theilung). _C_. Ein Primitivbündel, zerzupft und leicht durch Essigsäure gelichtet; ausser einem getheilten Kerne sieht man zwischen den Längsfibrillen feine pfriemenförmige Striche, die Andeutung von Ausläufern der intramuskulären Körper (Lücken, Zellen). -- Vergröss. 300.] Zunächst fragt es sich hier also, ob die Gebilde von Membranen begrenzt sind, wie vollständige Zellen, oder nicht; sodann, ob sie nur Lacunen und feinste Kanäle darstellen, oder Körper mit Fortsätzen. Beides ist sehr schwer zu entscheiden, und es ist mir nicht gelungen, constante Resultate zu erlangen. An Froschmuskeln, wie es =Sczelkow= ganz richtig dargelegt hat[10], findet sich eine so deutlich durch scharfe, dunkle Contouren begrenzte Zeichnung, dass man an der Existenz von Membranen kaum zweifeln möchte; am Herzmuskel des Menschen habe ich häufig, jedoch nicht in der Mehrzahl der Fälle, dasselbe gesehen. Unter pathologischen Verhältnissen, wie von A. =Böttcher=, namentlich aber von C. O. =Weber= gezeigt ist, und wie ich bestätigen kann, findet man um die Kerne blasige, durchaus zellenähnliche Gebilde, oder doch sehr deutliche, differente Absätze, z. B. Pigmentkörnchen (in der braunen Atrophie). In der grossen Mehrzahl der Muskeln kann ich von Membranen nichts erkennen und noch weniger Körper oder Fortsätze isoliren. Es ist daher wohl möglich, dass die Beschaffenheit dieser Gebilde eine wechselnde ist; jedenfalls können wir von der Entscheidung dieser Frage unser Urtheil nicht abhängig machen, da wir aus der Entwickelungsgeschichte ganz bestimmt wissen, dass die fraglichen Gebilde im Innern von Zellen entstehen. [10] Archiv f. path. Anat. 1860. XIX. 215. Taf. V. Wir müssen daher das Primitivbündel (die Muskelfaser) als eine ursprünglich einfache, jedoch späterhin zusammengesetzte Zelle betrachten, welche im entwickelten Zustande sowohl kernhaltige Muskelkörperchen, als eine specifische Inhaltsmasse umschliesst. Letztere ist es, an der unzweifelhaft die Eigenschaft der Contractilität haftet, und die je nach dem Zustande der Contraction selbst in ihren Erscheinungen variirt, indem sie bei der Contraction kürzer und breiter wird, während die Zwischenräume zwischen den einzelnen Querbändern oder Streifen sich etwas verschmälern. Es erfolgt also bei der Contraction eine Umordnung der kleinsten Bestandtheile, und zwar, wie aus den Untersuchungen von =Brücke= hervorgeht, nicht bloss der physikalischen Molecüle, sondern auch der sichtbaren anatomischen Bestandtheile. =Brücke= hat nehmlich, indem er den Muskel im polarisirten Lichte untersuchte, verschiedene optische Eigenschaften der einzelnen Substanzlagen gefunden, derer, welche die Querstreifen und derer, welche die Zwischenmasse darstellen. Jene bestehen aus Theilchen, welche das Licht doppelt brechen (Disdiaklasten), diese nicht. Bei gewissen Methoden der Präparation kann man den Inhalt eines jeden Muskel-Primitivbündels in Platten oder Scheiben (=Bowman='s discs) zerlegen, welche ihrerseits wieder aus lauter kleinen Körnchen (=Bowman='s sarcous elements) zusammengesetzt sind. In Wirklichkeit besteht jedoch der Inhalt des Primitivbündels aus einer grossen Menge feiner Längsfibrillen, von denen jede, entsprechend der Lage der Querstreifen oder scheinbaren Scheiben des Primitivbündels, kleine Körner enthält, welche durch eine blasse Zwischenmasse zusammengehalten werden. Indem nun viele Primitivfibrillen zusammenliegen, so entsteht durch die symmetrische Lage der kleinen Körnchen eben der Anschein von Scheiben, die eigentlich nicht vorhanden sind. Je nach der Thätigkeit des Muskels nehmen diese Theile eine veränderte Stellung zu einander an: bei der Contraction nähern sich die Körner einander, während die Zwischensubstanz kürzer und zugleich breiter wird. [Illustration: =Fig=. 27. Glatte Muskeln aus der Wand der Harnblase. _A_. Zusammenhängendes Bündel, aus dem bei _a_, _a_ einzelne, isolirte Faserzellen hervortreten, während bei _b_ die einfachen Durchschnitte derselben erscheinen. _B_. Ein solches Bündel nach Behandlung mit Essigsäure, wo die langen und schmalen Kerne deutlich werden; _a_ und _b_ wie oben. -- Vergr. 300.] Verhältnissmässig sehr viel einfacher erscheint die Zusammensetzung der =glatten, organischen= oder, obgleich weniger bezeichnend, =unwillkürlichen Muskelfasern=. Wenn man irgend einen Theil derjenigen Organe, worin glatte Muskelfasern enthalten sind, untersucht, so findet man in der Mehrzahl der Fälle zunächst in ähnlicher Weise, wie bei den quergestreiften Muskeln, kleine Bündel, z. B. in der Muskelhaut der Harnblase. Innerhalb dieser Fascikel unterscheidet man bei weiterer Untersuchung eine Reihe von einzelnen Elementen, von denen eine gewisse Zahl, 6, 10, 20 und mehr durch eine gemeinschaftliche Bindemasse zusammengehalten wird. Nach der Vorstellung, welche bis in die letzten Tage allgemein gültig war, würde jedes einzelne dieser Elemente ein Analogon des Primitivbündels der quergestreiften Muskeln darstellen. Denn sobald es gelingt, diese Fascikel in ihre feineren Bestandtheile zu zerlegen, so bekommt man als letzte Elemente lange spindelförmige Zellen, die in der Regel in der Mitte einen Kern besitzen (Fig. 6, _b_). Nach derjenigen Anschauung dagegen, welche in den letzten Tagen von verschiedenen Seiten anfängt bewegt zu werden, namentlich angeregt durch =Leydig='s Untersuchungen, würde man vielmehr ein Fascikel, worin eine ganze Reihe von Faserzellen enthalten ist, als Analogon eines quergestreiften Primitivbündels betrachten müssen. Berücksichtige ich jedoch die Entwickelungsgeschichte, so erscheint es mir zweckmässig und den bekannten Thatsachen am meisten entsprechend, die einzelne Faserzelle als Aequivalent des Primitivbündels festzuhalten. An einer solchen spindelförmigen oder Faser-Zelle ist es schwer, ausser dem Kern und dem Zellkörper etwas Besonderes zu unterscheiden. Bei recht grossen Zellen und bei starker Vergrösserung unterscheidet man allerdings häufig eine feine Längsstreifung (Fig. 6, _b_), so dass es aussieht, als ob auch hier im Innern eine Art von Fibrillen der Länge nach geordnet wäre, während von einer Querstreifung nur bei der Contraction (=Meissner=) etwas wahrzunehmen ist. Trotzdem haben die blassen, glatten Muskeln chemisch eine ziemlich grosse Uebereinstimmung mit den quergestreiften, indem man eine ähnliche Substanz (das sogenannte Syntonin =Lehmann='s) aus beiden ausziehen kann durch verdünnte Salzsäure, und indem gerade einer der am meisten characteristischen Bestandtheile, das Kreatin, welches in dem Muskelfleisch der rothen Theile gefunden wird, nach der Untersuchung von G. =Siegmund= auch in den glatten Muskeln des Uterus vorkommt. =Brücke= hat neuerlich auch in glatten Muskeln eine doppeltbrechende Substanz nachgewiesen. Ausserordentlich häufig findet man bei der Untersuchung von rothen Muskeln pathologisch interessante Stellen, insbesondere Bündel, welche das Bild des Muskels in der sogenannten =progressiven= (fettigen) =Atrophie= darbieten. Ein solches degenerirtes Bündel ist meist kleiner und schmäler, und zugleich zeigen sich zwischen den Längsfibrillen kleine Fettkörnchen aufgereiht (Fig. 25, _d_). Was an den Muskeln die Atrophie überhaupt macht, ist die Verkleinerung des Durchmessers der Primitivbündel, also die Abnahme der Fleischsubstanz; bei der fettigen Atrophie kommt dazu noch die gröbere Veränderung, dass im Innern des Primitivbündels kleine Reihen von Fettkörnchen auftreten, unter deren Vermehrung die eigentliche contractile Substanz an Masse abnimmt. Je mehr Fett, desto weniger contractile Substanz, oder mit anderen Worten: der Muskel wird weniger leistungsfähig, je geringer der normale Inhalt seiner Primitivbündel wird. Auch die pathologische Erfahrung bezeichnet daher als die Trägerin der Contractilität eine bestimmte Substanz. Sehen wir hier zunächst ab von der Contractilität kleiner Zellen, welche für die Beurtheilung der sogenannten motorischen Vorgänge ohne Bedeutung sind, und halten wir uns an jene Erscheinungen, welche Ortsveränderungen zusammengesetzter Theile bedingen, so finden wir als Grund derselben überall muskulöse Elemente. Während man früher neben der Muskelsubstanz noch manche andere Dinge, z. B. das Bindegewebe (als Ganzes, nicht bloss in seinen Zellen) als contractil annahm, so hat sich, namentlich seit den wichtigen Entdeckungen von =Kölliker=, die Lehre von den Bewegungen im menschlichen Körper eigentlich auf jene Substanz zurückgezogen, und es ist gelungen, fast alle die so mannichfaltigen und zum Theil so sonderbaren motorischen Phänomene auf die Existenz von grösseren oder kleineren Theilen wirklich muskulöser Natur zurückzuführen. So liegen in der Haut des Menschen kleine Muskeln, ungefähr so gross, wie die kleinsten Fascikel von der Harnblasenwand, aus ganz kleinen Faserzellen bestehende Bündel, welche vom Grunde der Haarfollikel gegen die Haut verlaufen, und welche, wenn sie sich zusammenziehen, die Oberfläche der Haut gegen die Wurzel des Haarbalges nähern. Das Resultat davon ist natürlich, dass die Haut uneben wird und man, wie man sagt, eine Gänsehaut bekommt. Dies sonderbare Phänomen, welches nach den früheren Anschauungen unerklärlich war, wurde sofort und einfach erklärt durch den Nachweis jener rein mikroskopischen Muskeln, der =Arrectores pilorum=. [Illustration: =Fig=. 28. Kleine Arterie aus der Basis des Grosshirns nach Behandlung mit Essigsäure. _A_ kleiner Stamm, _B_ und _C_ gröbere Aeste, _D_ und _D_ feinste Aeste (capillare Arterien). _a_, _a_ Adventitia mit Kernen, welche, der Längenausdehnung entsprechend, anfangs in doppelter, später in einfacher Lage sich finden, mit streifiger Grundsubstanz, bei _D_ und _E_ einfache Lage mit Längskernen, hier und da durch Fettkörnchenhaufen ersetzt (fettige Degeneration). _b_, _b_ Media (Ringfaser-oder Muskelhaut) mit langen, walzenförmigen Kernen, welche quer um das Gefäss verlaufen und am Rande (auf dem scheinbaren Querschnitt) als runde Körper erscheinen; bei _D_ und _E_ immer seltener werdende Querkerne der Media. _c_, _c_ Intima, bei _D_ und _E_ mit Längskernen. Vergr. 300.] So wissen wir gegenwärtig, dass die mittlere Haut grösserer Gefässe grossentheils aus Elementen dieser Art besteht, und dass die Contractionsphänomene der Gefässe einzig und allein auf die Wirkung von Muskeln zurückbezogen werden müssen, welche in ihnen in Form von Ring- oder Längsmuskeln enthalten sind. Eine kleine Vene oder eine kleine Arterie kann sich nur soweit zusammenziehen, als sie mit Muskeln versehen ist; sie unterscheiden sich hauptsächlich durch den Umstand, dass entweder mehr die Längs- oder mehr die Quermuskulatur entwickelt ist. Diese Beispiele sind besonders geeignet zu zeigen, wie eine einfache anatomische Entdeckung die wichtigsten Aufschlüsse über zum Theil ganz weit auseinanderliegende physiologische Erfahrungen gibt, und wie an den Nachweis bestimmter morphologischer Elemente sofort die wichtigsten Verdeutlichungen von Funktionen geknüpft werden können, die ohne eine solche thatsächliche Voraussetzung ganz unbegreiflich sein würden oder eine ganz willkürliche Erklärung finden müssten. Ich übergehe es hier, über die feineren Einrichtungen des Nervenapparates zu sprechen, weil ich später im Zusammenhange darauf zurückkommen werde; sonst würde dies der Gegenstand sein, welcher hier zunächst anzuschliessen wäre, weil zwischen Muskel- und Nervenfasern in der Einrichtung vielfache Aehnlichkeiten bestehen. Zu den Nerven gehören aber nothwendig die Ganglienzellen, welche die einzelnen Fasern untereinander verbinden, und welche als die wichtigsten Sammelpunkte des ganzen Nervenlebens betrachtet werden müssen, und ich verspare mir daher die Betrachtung dieser Gebilde für spätere Capitel. Auch über die Einrichtung des Gefässapparates will ich hier nicht im Zusammenhange handeln, und nur so viel sagen, als nöthig ist, um eine vorläufige Anschauung zu geben. Das Capillar-Gefäss ist eine einfache Röhre (Fig. 4, _c_.), welche bei der mikroskopischen Betrachtung aus einer einfachen Haut zu bestehen scheint, an welcher nichts wahrzunehmen ist, als von Strecke zu Strecke platte Kernen, welche, wenn das Gefäss von der Fläche angesehen wird, dasselbe Bild darbieten, wie an den Muskelelementen, welche aber gewöhnlich mehr am Rande bemerkbar werden und hier pfriemenförmig oder oval erscheinen, indem man nur ihre scharfe Kante oder einen kleineren Theil ihrer Fläche wahrnimmt. In der Nähe ihres Ursprunges aus den Arterien schliesst sich äusserlich noch eine feine, aus Bindegewebe bestehende Adventitia an. Bis vor Kurzem war man allgemein der Meinung, dass die Capillar-Membran ganz continuirlich sei und nur aus pathologischen Erscheinungen schloss ich (S. 19. Fig. 10, _c_.), dass sie in einzelne Zellenterritorien zu zerlegen sei. Mein damaliges Schema ist durch Untersuchungen von =Auerbach=, =Eberth= und =Hoyer= im Jahre 1865 als der Ausdruck einer thatsächlichen Zusammensetzung aus platten Zellen bestätigt worden, deren Grenzen sich durch Anwendung von Reagentien, namentlich von Silbernitrat deutlich nachweisen lassen. Ob man diese Zellen als blosse Epithelien und die Capillaren dem entsprechend als blosse Intercellulargänge zu betrachten habe, ist mir jedoch zweifelhaft, da die Entwickelungsgeschichte der Capillaren mit der sonst bekannten Entstehung der epithelialen Gebilde nicht ganz übereinstimmt. Diese einfachsten Gefässe sind es, welche wir heut zu Tage einzig und allein Capillaren nennen. Von ihnen können wir nicht sagen, dass sie sich durch eigene Thätigkeit erweitern oder verengern, höchstens dass ihre Elasticität eine Verengung möglich macht. Mit Ausnahme von =Stricker= hat niemand in neuerer Zeit an ihnen eigentliche Vorgänge der Contraction oder des Nachlasses derselben bemerkt. Die früheren Discussionen über die Contractilität der Capillaren sind wesentlich auf kleine Arterien und Venen zu beziehen, deren Lumen sich durch Contraction ihrer Muskelwand verengt oder sich bei Nachlass der Contraction unter dem Blutdrucke erweitert. Es war dies eine überaus wichtige Thatsache, welche sofort aus der genaueren histologischen Kenntniss der feineren und grösseren Gefässe hervorging; sie lehrte, dass man überhaupt nicht von allgemeinen Eigenschaften, am wenigsten von einer überall in gleicher Weise vorhandenen Thätigkeit der Gefässe sprechen kann, insofern der capillare Theil wesentlich anders gebaut ist, als die kleinen Arterien und Venen. Diese sind höchst zusammengesetzte Organe, während das Capillargefäss eine einfache Röhre von fest elementarem Bau darstellt. Drittes Capitel. Physiologische Eintheilung der Gewebe. Ungenügende Ausbildung der anatomischen Kenntniss der Gewebe. Verschiedenartige Lebenserscheinungen an scheinbar gleichartigen Elementen. Praktisches Bedürfniss einer physiologischen Gruppirung: 1) Nach der Function. Motorische Elemente: muskulöse, epitheliale (Flimmerzellen, Samenfäden), bindegewebige (Pigment). Schleimabsonderung: Schleimhäute, Schleimdrüsen, Schleimgewebe. 2) Nach der Lebensdauer der Elemente. Dauer- und Zeitgewebe. Pathologische Aenderung der natürlichen Verhältnisse (Heterochronie). Lehre von der Allveränderlichkeit des Körpers durch Stoffwechsel (Mauserung). Unterscheidung von Dauer- und Verbrauchsstoffen in den Elementen. Wechselgewebe (Metaplasie). Abfällige Gewebe: Epidermis (Desquamation), Decidua uterina. Einfache Zeitgewebe. Oertliche Verschiedenheit der Lebensdauer desselben Gewebes. Nothwendigkeit einer Localgeschichte der Gewebe. 3) Nach der Zeit der Entstehung und des Absterbens der Gewebe (genetische Eintheilung). Jugendliche und senescirende Gewebe. Allgemeine und locale Chronologie der Gewebe. Embryonale Gewebe; unfertige oder unreife: Matricular- und Uebergangsgewebe. Chorda dorsualis. Schleimgewebe. Bildungsgewebe und Vorgewebe (Anlagen, Keimgewebe). Bildungs- oder Primordialzellen. Allgemeine Gültigkeit der Entwickelungsgesetze. 4) Nach der Verwandtschaft und Abstammung. Continuitäts-Gesetz. Heterologe Verbindungen von Gewebselementen. Die histologische Substitution und die histologischen Aequivalente. Abstammung der Elemente (Descendenz). Die anatomische Eintheilung der Gewebe ist eine wichtige und unerlässliche Vorbedingung für die physiologische Betrachtung derselben, und es ergeben sich, wie wir gesehen haben, aus der Kenntniss des Baus der Theile ohne Weiteres sehr wichtige Aufschlüsse über ihre Thätigkeit. Allein damit allein ist es nicht gethan. Vielmehr ist eine selbständige physiologische Untersuchung nothwendig, um die besondere Bedeutung der einzelnen Gewebe zu ermitteln und für jeden Ort im Körper festzustellen, welche Thätigkeiten von seinen Elementen ausgehen. Ganglienzellen finden sich an den verschiedensten Orten des Körpers. Niemand zweifelt daran, dass sie im Gehirn eine andere Bedeutung haben, als am Sympathicus, an der Hirnrinde eine andere als im Streifenhügel. Manche Verschiedenheiten der Grösse und Gestalt, der Verbindung und inneren Einrichtung derselben lassen sich an diesen verschiedenen Orten wahrnehmen. Nichtsdestoweniger genügen diese anatomischen Verschiedenheiten nicht, um die physiologisch so verschiedene Energie der einzelnen Gruppen zu erklären. Epitheliale Zellen kommen unter den mannichfaltigsten Verhältnissen vor. Höchst auffallende Verschiedenheiten ihres Baues finden sich an den einzelnen Orten. Wir begreifen, dass eine Flimmerzelle andere Wirkungen hervorbringt, als ein Epidermisplättchen. Aber wir sind nicht im Stande zu erkennen, warum die Epithelien der Milchdrüse so wesentlich andere Leistungen hervorbringen, als die Epithelien der Speicheldrüsen, oder warum die Flimmerzellen der Hirnventrikel nicht dieselbe physiologische Stellung einnehmen, wie die Flimmerzellen des Uterus. Wenn wir aus der physiologischen Forschung Verschiedenheiten scheinbar gleichartiger Elemente erkennen, so gelangen wir damit allerdings sofort zu neuen Fragestellungen und Vermuthungen in Beziehung auf die weitere anatomische Untersuchung, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass man auf dem Wege einer derartigen Untersuchung allmählich zu einer ungleich grösseren Erkenntniss =der localen Verschiedenheiten in dem Bau und der Einrichtung histologisch gleichwerthiger Elemente= kommen wird, als wir sie gegenwärtig besitzen. Nur darf man bei einer solchen Hoffnung nicht übersehen, dass diese Histologie der Zukunft noch nicht existirt und dass man sich daher vorläufig mindestens noch damit begnügen muss, neben einer anatomischen Ordnung der Gewebe auch noch eine physiologische oder genauer gesagt, mehrere physiologische zuzulassen. In der That gibt es mehr als ein Principium dividendi für die physiologische Gruppirung der Gewebe. Je nach der Richtung, in welcher die Fragestellung geschieht, fällt auch die Antwort verschieden aus. Der specifische Physiolog wird zuerst immer nach der =Function= fragen. Welche Thätigkeit übt ein Gewebe aus? Diese Richtung der Untersuchung führt zu einer Eintheilung der Gewebe nach ihrer Function. Eine kurze Umschau ergibt sofort, dass Gewebe, welche ganz verschiedenen anatomischen Gruppen angehören, bei dieser Art der Betrachtung einander genähert werden. Frage ich nach den Geweben, deren Function Bewegung ist, so werde ich zunächst an die Muskeln gewiesen. Aber unzweifelhaft ist auch die Flimmerbewegung Bewegung, unzweifelhaft haben die Samenfäden Bewegung. Und doch knüpft sich hier die Bewegung an epitheliale Erzeugnisse, welche von den eigentlichen Muskeln anatomisch weit entfernt sind. Sollen wir desswegen die Samenfäden zu den muskulösen Elementen oder die letzteren zu den epithelialen rechnen? Gewiss liegt hier ebenso wenig ein Grund zu einer solchen Vereinigung vor, als wenn wir Schwärmsporen und Infusorien vereinigen wollten. Allerdings hat es eine Zeit gegeben, wo man sämmtliche Schwärmsporen zu den Infusorien rechnete, wo sogar die Mehrzahl der beweglichen Algen eben dahin gezählt wurde, aber mit Recht betrachtet man diesen Standpunkt als einen überwundenen. Die Bewegung »sitzt« jedoch nicht bloss in muskulösen und epithelialen Elementen; sie findet sich auch an bindegewebigen. Nehmen wir ein zugleich pathologisch interessantes Beispiel. =Axmann= hatte bei Fröschen gesehen, dass nach Durchschneidung der gangliospinalen Nerven die in der Haut zahlreich verbreiteten Pigmentzellen ihre Strahlen verlieren. Er nannte dies eine Atrophie und schloss daraus auf einen nutritiven Einfluss der gangliospinalen Nerven. Die in Frage stehenden Pigmentzellen sind grosse, sternförmige Bindegewebskörperchen. Bei der Wichtigkeit dieser Angabe beschloss ich eine experimentelle Prüfung derselben und veranlasste Herrn =Lothar Meyer= zu einer solchen. Alsbald ergab sich, dass es sich um keine Atrophie, sondern um eine Contraction handelte[11]. Die Zellen ziehen ihre Fortsätze ein, ihr Körper vergrössert sich in demselben Maasse, und das früher über eine grössere Fläche vertheilte Pigment häuft sich an einzelnen Stellen an. Das grobe Ergebniss dieser unzweifelhaften Bewegung ist eine Farbenveränderung der Froschhaut. [11] Mein Archiv 1854. Bd. VI. S. 266. Wir finden also, dass in allen drei Gruppen der Gewebe motorische Thätigkeit nachweisbar ist, und jeder Denkende wird daher auch veranlasst werden, seine etwaigen Betrachtungen über =motorische Elemente= oder noch allgemeiner über motorische Gewebe auf alle drei Gruppen auszudehnen. Von diesem Gesichtspunkte aus ergibt sich eine Eintheilung aller Gewebe in zwei Abtheilungen: motorische und nicht motorische. Dagegen lässt sich nicht das Mindeste sagen. Aber man darf auch nicht übersehen, dass diese Eintheilung eine wesentlich =praktische= ist. Sie mag durchaus wissenschaftlich durchgeführt werden, aber sie greift eine einzige Seite der Betrachtung auf, sie wählt ein einziges Merkmal, eine einzige Eigenschaft aus der ganzen Summe der Merkmale und Eigenschaften dieser Gewebe oder Elemente. Sie kann daher keinesweges als eine eigentlich wissenschaftliche Eintheilung gelten, wenngleich sie für die wissenschaftliche Betrachtung und Untersuchung von dem grössten =Nutzen= ist. Unter den Absonderungen hat seit den ältesten Zeiten eine das Interesse der Aerzte ganz besonders auf sich gezogen, die des =Schleims=. Schon in der koischen Priesterschule wird das Phlegma als einer der vier Cardinalsäfte des Körpers aufgeführt, und noch heute hat sich eine freilich sehr verwischte Erinnerung daran in der Bezeichnung des phlegmatischen Temperamentes erhalten. In der That war die glasige, gallertartige, gequollene Beschaffenheit des Schleims wohl geeignet, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und die Häufigkeit seines Hervortretens unter krankhaften Verhältnissen, die nicht selten bedenkliche Heftigkeit der dadurch bedingten Zufälle berechtigte dazu, den phlegmatischen Krankheiten eine hervorragende Stelle in dem Systeme anzuweisen. Mehr und mehr knüpfte sich jedoch die Forschung über die Schleimabsonderung an die =Schleimhäute=, und als =Bichat= sein System der allgemeinen Anatomie aufstellte, hatte er nur eine allseitig anerkannte Ueberzeugung zu fixiren, indem er aus den Schleimhäuten eine besondere Gewebsgruppe machte. Es hat ziemlich lange gedauert, ehe man erkannte, dass glasige Schleimabsonderungen nicht an allen Schleimhäuten vorkommen. Man weiss jetzt, dass wohl die Schleimhaut des Collum uteri ein solches Secret liefert, aber dass dies keineswegs an der »Schleimhaut« der Vagina oder an der des Corpus uteri der Fall ist. Das Ileum und die Speiseröhre sondern keine zähen Schleimmassen ab, wie sie so reichlich an der Schleimhaut der Luftröhre zu Tage treten. Man ist so von den Schleimhäuten zu den =Schleimdrüsen= gekommen, und Mancher hilft sich damit, dass er alle Schleimabsonderung auf diese zurückführt. Aber sonderbarerweise sind gerade manche Schleimhäute, an deren Oberfläche wir die zähesten und klebrigsten Schleimbeschläge finden, wie die der Harnblase und des Collum uteri, ungemein arm an Drüsen, und diese an sich ziemlich unvollkommenen Drüsen sind durchaus nicht als die Specialsitze der Secretion zu erkennen. Wären sie es jedoch, so würde man auf ihre Epithelien als auf die activen Factoren der Absonderung zurückkommen müssen, da bekanntlich der Schleim nicht im Blute präexistirt, also nicht einfach transsudiren kann. Muss man, wie es meiner Meinung nach nothwendig ist, auch eine Schleimabsonderung von der Fläche =gewisser= Schleimhäute anerkennen, so gelangt man zu demselben Gedanken, dass die Epithelien die Schleimabsonderer seien. Darf man nun sagen, die Schleimabsonderung sei überall die Function gewisser Epithelialzellen, die man =Schleimzellen= nennen kann? Die Erfahrung hat gelehrt, dass diese Auffassung irrthümlich ist. Ich habe für eine grosse Reihe physiologischer und pathologischer Gewebe den Nachweis geliefert, dass der Schleim in derselben glasigen, gallertartigen, gequollenen Weise, wie er frei an der Oberfläche der Schleimhäute erscheint, auch im Innern von Geweben und zwar wesentlich als ein =intercellularer= Stoff vorkommt. Ich sah mich deshalb veranlasst, ein Schleimgewebe aufzustellen, welches weder mit dem Schleimhautgewebe =Bichat='s, noch mit dem Schleimdrüsengewebe identisch ist. Es ist kein epitheliales Gewebe, sondern ein Glied in der Gruppe der Bindesubstanz. Nichts desto weniger wird man auch an ihm nicht umhin können, den intercellularen Schleim als ein Absonderungsprodukt der Zellen zu betrachten. Nur handelt es sich hier um eine =parenchymatöse= (innere) und nicht um eine oberflächliche (äusserliche) Absonderung. Aeusserlich kann sie erst werden, wenn an dem Schleimgewebe eine Ulceration eintritt, wie es bei dem Carcinoma mucosum (colloides) vorkommt. Es finden sich demnach Schleimzellen in zwei verschiedenen Gruppen vor: epitheliale und bindegewebige. Für eine Untersuchung über Schleimentstehung und Schleimabsonderung ist es gewiss nützlich, sich an die Gruppen nicht zu kehren und nur die besonderen Gewebe zusammenzustellen und zu vergleichen, in welchen dieser Vorgang vorkommt. So ist der physiologische Botaniker berechtigt, alle diejenigen Pflanzengewebe zusammenzustellen, in welchen Pflanzenschleim oder Gummi oder Amylon vorkommen, und eine solche Zusammenstellung ist von hohem praktischen Werthe für den Landwirth, den Kaufmann, die Hausfrau. Aber nichts berechtigt, eine solche praktische Eintheilung als die erste Aufgabe des wissenschaftlichen Forschers hinzustellen. Wenn der physiologische Specialist zuerst nach der Function fragt, so fragt der Patholog, auch wenn er ganz physiologisch zu Werke geht, zuerst nach der =Existenz= der Theile. Es erklärt sich diese Differenz aus dem Umstande, dass der Physiolog gesunde Verhältnisse voraussetzt und den Bestand des Körpers an Geweben unter solchen Verhältnissen als einen gegebenen und constanten betrachtet, der Patholog dagegen, durch traurige Erfahrungen belehrt, das Zugrundegehen und den Verlust von Theilen als ein nur zu häufiges Ergebniss des kranken Lebens kennt. Für den Arzt handelt es sich vor Allem um die =Erhaltung= der Theile. Wissenschaftlich analysirt, ist dies die Frage von der =Lebensdauer= und der =Ernährung= der Theile. Nun ist es bekannt, dass die verschiedenen Elemente des Körpers auch im gesunden Leibe eine sehr verschieden lange Lebensdauer besitzen und aus diesem Grunde auch manche Gewebe, ja selbst manche Organe nicht die gleiche Lebensdauer haben, wie der gesammte Körper. Die Pupillarmembran schwindet schon vor der Geburt, die Eihüllen werden mit der Geburt abgeworfen, der Nabelstrang folgt alsbald, das Wollhaar, die Thymusdrüse, die männliche Brustdrüse, die Milchzähne kommen nach und nach an die Reihe, die Eifollikel, die weibliche Brust, die Zähne und das Kopfhaar schwinden bald früher, bald später. Man kommt so ganz natürlich zu einer grossen Zweitheilung in =bleibende= (=permanente=) und =nicht bleibende= (=temporäre=) Gewebe, oder, wie man kurz sagen kann, in =Dauergewebe= und =Zeitgewebe=. Unter letzteren bilden die =abfälligen= (telae caducae s. deciduae) eine besondere Unterabtheilung. Zwischen den Dauer- und Zeitgeweben stehen in einer höchst eigenthümlichen Stellung die =Wechselgewebe= (telae mutabiles s. mutantes). Man muss jedoch sehr vorsichtig sein in der Anwendung dieser Ausdrücke. Unter pathologischen Verhältnissen kann ein Zeitgewebe =persistiren= und ein Dauergewebe =hinfällig= werden. Die Thymusdrüse kann sich bis nach der Pubertät erhalten, während sie sonst bald nach der Geburt schwindet. Die männliche Brust kann nicht bloss persistiren, sondern sich auch stärker entwickeln. Und umgekehrt kann bald dieses, bald jenes Gewebe oder Organ schwinden, »phthisisch« werden, das sonst zu den permanenten gehört. Ein Kind kann ohne Arme und Beine, ohne Herz und Gehirn geboren werden, weil schon die Anlagen im Mutterleibe verkümmerten. Ein ganzer Muskel, eine ganze Niere kann bis auf einen kümmerlichen Rest von Interstitialgewebe »atrophiren«. Ein Fuss kann durch Brand absterben und, wie der Nabelstrang, abgeworfen werden. An dieser Stelle, wo es sich um physiologische Verhältnisse handelt, berühren uns diese, der Lehre von der =Heterochronie= angehörigen Fragen nicht. Wir haben es hier nur mit der =natürlichen= Verschiedenheit der Lebensdauer einzelner Körpertheile, welche der typischen Entwickelung angehören, zu thun. Ein einziges, freilich sehr verbreitetes Vorurtheil tritt uns jedoch entgegen: ich möchte es das Vorurtheil von der =Allveränderlichkeit= der Körpertheile nennen. In einer bedauerlichen Uebertreibung wohlberechtigter Erfahrungssätze über den Stoffwechsel ist man dahin gekommen, zu berechnen, wie viele Jahre gewisse Theile, wie viele der ganze Körper gebrauche, um gänzlich erneuert zu sein. Die in ihrer Ausschliesslichkeit unannehmbare Lehre von der Mauserung (C. H. =Schultz=) hatte ein grosses Stück ihrer Popularität dieser Auffassung zu verdanken. Wie es möglich gewesen ist, die auffälligsten Thatsachen so sehr zu übersehen, ist schwer zu begreifen. Selbst ausgezeichnet hinfällige Theile lassen doch deutlich erkennen, dass, so lange sie existiren, ihre Substanz dauerhaft ist. Man mag den Zahnwechsel, wie den Haarwechsel, eine Mauser nennen, aber nichts berechtigt, die =Elemente= des Zahns oder des Haares als in fortdauernder Erneuerung begriffen anzusehen. Der Zahnschmelz besteht aus verkalkten Epithelien, welche, soweit wir wahrnehmen können, weder in ihrem Kalk, noch in ihrer organischen Grundsubstanz einer Erneuerung unterliegen. Das Zahnbein kann durch Ersatz aus der Pulpe neuen Zuwachs bekommen, aber weder seine Röhrchen, noch seine Intercellularsubstanz lassen erkennen, dass ihre Molekeln durch neue Molekeln ersetzt werden. Das Bindegewebe, diese so weit verbreitete und so massenhaft im Körper vorhandene Substanz, ist gewiss in allen seinen wesentlichen Bestandtheilen in hohem Maasse dauerhaft. Die Elemente der Linse, trotz ihrer Zartheit, bestehen häufig ohne Veränderung bis zum höchsten Alter. Diese Beständigkeit der =wesentlichen= Bestandtheile der Gewebselemente schliesst den Wechsel unwesentlicher nicht aus. Eine Drüsenzelle kann immerfort Stoffe in sich aufnehmen, sie umsetzen und die Umsetzungsprodukte als Secrete wieder ausscheiden, ohne dass ihr histologischer Bestand dadurch unmittelbar betroffen wird. Eine Leberzelle zeigt in der auffälligsten Weise, wie durch die Nahrung allerlei Stoffe in sie eingeführt und eine Zeitlang in ihr abgelagert werden: Fett und Glykogen sind Stoffe, die eine Zeit lang vorhanden sind, um später wieder zu verschwinden. Aber niemand hat dargethan, dass der Kern oder die Körpersubstanz der Leberzellen einem gleichen Wechsel unterliegt. Wir haben vielmehr allen Grund anzunehmen, dass eine Leberzelle von der Zeit der vollendeten Ausbildung des Organs bis zum höchsten Alter persistiren kann, ohne dass sie in allen ihren Bestandtheilen einer Erneuerung unterlegen hat. Auch in dem einzelnen Gewebs-Element (wenngleich keineswegs in jedem) muss man daher =Dauerstoffe= und =Wechselstoffe= (=Verbrauchsstoffe=) unterscheiden. Das Verhältniss dieser Stoffe zu einander kann zu verschiedenen Zeiten in demselben Elemente sehr verschieden sein. Die grossen glatten Muskelfasern des schwangeren Uterus enthalten offenbar ungleich mehr Verbrauchsstoffe, als die überaus kleinen und gleichsam verkümmerten des ruhenden Uterus. Eine prall gefüllte Fettzelle besteht dem Volumen nach fast ganz aus Wechselstoff; eine atrophische kann beinahe vollständig auf ihre Dauerstoffe zurückgeführt sein. Was wir Stoffwechsel nennen, ist eben keine einfache Umschreibung für Ernährung, wenigstens nicht für Ernährung im strengeren Sinne des Wortes, wo es die auf =Erhaltung des Elementes gerichtete Thätigkeit= bezeichnet. Mit dieser letzteren haben wir es im Augenblicke allein zu thun. Denn Dauergewebe in unserem Sinne sind solche Gewebe, welche der Regel nach während des ganzen entwickelten Lebens sich erhalten; Zeitgewebe solche, welche sich nur für eine gewisse Zeit erhalten und dann »auf natürliche Weise sterben«. Auch hier müssen wir vor einer Verwechselung warnen. Ein Gewebe kann aufhören zu existiren, ohne dass es stirbt oder hinfällig wird. Das subcutane Schleimgewebe des Fötus findet sich nicht mehr im Erwachsenen und doch ist es weder geschwunden, noch gestorben. Im Gegentheil, es lebt fort in einer anderen Gestalt, nehmlich als Fettgewebe. Seine Zellen existiren noch, sie erhalten sich durch fortdauernde Ernährung, obwohl sie mit Fett gefüllt sind. Hier handelt es sich also um eine =Gewebsumwandelung= (Metamorphose, Metaplasie). So hört der Zeitknorpel auf zu existiren, aber seine Elemente bestehen fort, obwohl sie nicht mehr Knorpel-, sondern Mark- oder Knochenkörperchen sind. Der Zeitknorpel verknöchert und wenngleich keineswegs, wie man früher annahm, seine organische Grundlage ganz und gar in dem Knochen als sogenannter Knochenknorpel fortbesteht, so sind doch seine Zellen in die neue Bildung eingegangen. In diesen =Wechselgeweben= finden wir also =Persistenz der Zellen bei Veränderung des Gewebscharakters=. Manche abfälligen Gewebe (telae caducae) bieten gerade das umgekehrte Bild dar. Die Zellen fallen ab, ohne dass der Charakter des Gewebes überhaupt aufhört zu existiren. Das beste Beispiel dafür bietet uns die Epidermis. Die obersten Schichten derselben bestehen eigentlich nicht mehr aus lebenden Elementen. Es sind kernlose, verhornte, zusammengetrocknete Schüppchen, welche noch eine Zeit lang der Unterlage einen Schutz gewähren, aber welche ausser Stande sind, selbst die niederste Leistung des Lebens, die Selbsterhaltung, auszuführen. Sie werden endlich lose und blättern ab, wie die Rinde eines Baumes. Aber schon ist neuer =Nachwuchs= da, der an ihre Stelle tritt. Immer neue epidermoidale Theile gehen aus dem Rete hervor und trotz aller Verluste an der Oberfläche erhält sich die Oberhaut als Gewebe. Aehnlich ist es mit den Epithelien mancher Drüsen (Milchdrüse), mit dem Blute und der Lymphe. Unter pathologischen Verhältnissen erreichen die hier erwähnten Verhältnisse ein ungleich höheres Maass und sie werden in demselben Grade auffälliger. An der Oberhaut sind es die =desquamativen= Prozesse, welche in der allergröbsten Form die allmähliche Abblätterung der oberflächlichen Epidermisschichten erkennen lassen. Eine ähnliche Abblätterung zeigt der Nagel, während die Haare zerklüften und »zerfasern«. Aber auch an Schleimhäuten geschieht Aehnliches: die desquamativen Katarrhe des Darms, der Niere und Harnblase, der Scheide (Fluor albus) bringen die abgelösten Epithelien bald in Form zusammenhängender Lamellen und Fetzen, bald als isolirte Zellen zu Tage. Aber wir würden das Hauptbeispiel übergehen, wenn wir nicht jener eigenthümlichen Erscheinung gedächten, von welcher ich den Namen für diese Gruppe hergenommen habe: ich meine die Ablösung der =Decidua uterina= bei der Geburt und während des Wochenbettes, sowie in den selteneren Fällen des Abortus und der Dysmenorrhoea membranacea. Auch diese Haut galt bis in die neuere Zeit als eine Exsudathaut, als eine Pseudomembran von mehr oder weniger strukturloser Beschaffenheit (membrane anhiste =Robin=). Erst das genauere Studium ihrer Entwickelung hat gelehrt, dass die Decidua keine Pseudomembran, kein Exsudat ist, sondern ein durch Wucherung vergrösserter Theil der Uterinschleimhaut selbst[12]. Sie ist dem entsprechend auch nichts weniger als strukturlos, sondern sie besteht durch und durch aus deutlich geformten Geweben. Aber zum Unterschiede von den bloss desquamativen Prozessen, welche nur das Epithel betreffen, greift die Decidua-Bildung tief in das eigentliche Gewebe der Uterinschleimhaut, denn dasjenige, was sich als puerperale Decidua löst, besteht zum grösseren Theile aus stark vergrösserten Zellen des Bindegewebes. Selbst Gefässe sind durchaus keine Seltenheit in der Decidua, wie sie sich von den Eihäuten des Neugebornen ablösen lässt. Aber, wie bei der Desquamation, so bleibt auch hier ein Theil des Gewebes sitzen, und dieser dient später als Matrix für die regenerative Neubildung. [12] =Froriep='s Neue Notizen 1847. März. No. 20. Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftl. Medicin Frankf. 1856. S. 775. Sowohl von den Wechselgeweben, als von den hinfälligen Geweben unterscheiden sich die =einfachen Zeitgewebe= (telae temporariae) dadurch, dass ihre Elemente zu Grunde gehen (absterben), aber nicht durch neue ersetzt werden. Der =Meckel='sche Knorpel, ein langer und starker Faden, der sich beim Fötus von dem mittleren Ohr aus an der inneren Seite des Unterkiefers bis zur Symphyse des Kinns erstreckt, schwindet schon mit dem 8. Fötalmonat bis auf die daraus gebildeten Hammer und Ambos. Die Thymusdrüse, eine der grössten Lymphdrüsen des Körpers, »atrophirt« nach der Geburt gänzlich; alle ihre unzähligen Zellen (Lymphkörperchen) verschwinden; jede Erinnerung ihres lymphatischen Baus geht verloren; an ihrer Stelle findet sich später nur ein kümmerlicher Rest losen Fett- und Bindegewebes. Unter der Ausbildung der Keilbeinhöhlen verschwindet fast alles vorhandene Knochengewebe und Mark aus den sphenoidalen Wirbelkörpern, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Die Nabelarterien obliteriren nach der Geburt, d. h. sie verstreichen, ohne dass in den Ligamenta vesicae lateralia, welche an ihre Stelle treten, ein erkennbarer Rest ihrer meist so mächtigen Muscularis übrig bleibt. Unter Umständen kann das grosse Endergebniss bei den abfälligen Geweben demjenigen bei den einfachen Zeitgeweben sehr ähnlich sein. Wenn epidermoidale Theile immerfort abfallen, so ist die Persistenz des Gewebes, wie wir gesehen haben, nur durch Nachwuchs möglich. Hört jedoch der Nachwuchs gänzlich auf, so wird auch der Defect ein vollständiger und dauernder. Dies kommt allerdings bei der eigentlichen Epidermis nur unter erschwerenden pathologischen Verhältnissen vor, z. B. bei gewissen nässenden Exanthemen; auch beim Nagel nur bei wirklichen Krankheiten des Falzes. Aber es ist ein sehr gewöhnliches Ereigniss bei den Haaren, wenn ihre Matrix, die Haarzwiebel verödet. Es tritt dann dauernde Alopecie ein. Die Dauerhaftigkeit eines Gewebes ist in keiner Weise abhängig von seiner Festigkeit. Im Gegentheil zeigt sich bei genauerer Untersuchung, dass gerade die Weichtheile (Gehirn und Nerven, Muskeln, manche Drüsen) sich einer grossen Beständigkeit ihrer Elemente erfreuen, während das Knochengewebe, nächst dem elastischen das festeste des ganzen Körpers, durchaus nicht jene Starrheit und Unveränderlichkeit zeigt, welche sprüchwörtlich geworden ist. Die Verknöcherung schützt nicht vor dem Wechsel. Mit verhältnissmässiger Leichtigkeit wird das Knochengewebe wieder weich und verwandelt sich durch Metaplasie in Mark. Wir stossen hier auf eine neue und nicht wenig verwirrende Eigenschaft der thierischen Gewebe. =Dasselbe Gewebe kann je nach dem Orte, an dem es vorkommt, ein Dauer-, ein Wechsel- und ein Zeitgewebe sein=. Unzweifelhaft bestehen gewisse Theile der Knochen mindestens von der Pubertät an, manche schon länger, bis zum Tode, sind also ausgezeichnetes Dauergewebe. Andere dagegen tragen in ebenso ausgezeichnetem Sinne den Charakter des Wechselgewebes, indem sie mit fortschreitendem Alter sich in Mark verwandeln. Andere endlich, wie das Keilbein, gewisse Theile des Felsenbeins schwinden schon bald nach der Pubertät und an ihre Stellen treten, wie bei den Vögeln, luftführende Räume. Es gibt also eine tela ossea permanens, eine t. o. mutans und eine t. o. temporaria s. transitoria. Von den Knorpeln ist es längst anerkannt, dass es Dauerknorpel (cartilagines permanentes) und Zeitknorpel (cartilagines temporariae) gibt. Man kann demnach auf Grund der Lebensstatistik der Gewebe keine allgemeingültige Eintheilung derselben machen, sondern man kann nur für =die einzelnen Orte= im Körper statistisch feststellen, ob ein bestimmtes Gewebe an =dieser= Stelle permanent oder nur temporär vorkommt. Eine solche Kenntniss ist aber unentbehrlich für die Uebersicht der Lebensvorgänge. Indem wir ersehen, dass die Thymusdrüse im ersten Lebensjahre schon hinschwindet, während die übrigen Lymphdrüsen bis zum Greisenalter und zum Tode aushalten, indem wir lernen, dass die Gefässe des Glaskörpers schon vor der Geburt obliteriren, während die der Retina fortbestehen, indem wir erkennen, dass der =Müller='sche Faden beim Manne früh obliterirt, während der =Wolff='sche Gang sich zum Vas deferens entwickelt, so erschliesst sich uns sofort der Einblick in eine Reihe bemerkenswerter Eigenthümlichkeiten der Entwickelung. Dass die Schädel-Synchondrosen früh verknöchern, während die Wirbel-Synchondrosen knorpelig blieben, dass das Schleimgewebe um die Niere in Fettgewebe übergeht, während dasjenige im Glaskörper seine Beschaffenheit bewahrt, ist auf den ersten Blick schwer verständlich, aber nothwendig zu wissen, um die Local-Geschichte und örtliche Bedeutung der Gewebe zu würdigen. Die Local-Geschichte der Gewebe erhält jedoch ihre Vervollständigung erst durch eine genaue =Zeitbestimmung=, bei der sowohl Anfang, als Ende des Gewebes festzustellen ist. Wir kommen damit auf die ebenso schwierige, als wichtige =genetische= Untersuchung, deren Einführung in die moderne Pathologie ich seit einer langen Reihe von Jahren mit besonderem Eifer zu fördern bestrebt gewesen bin. Nicht alle Gewebe des Körpers entstehen zu derselben Zeit und nicht alle sterben zu gleicher Zeit. Auch in dieser Beziehung stellt der Organismus keine Einheit dar, sondern nur eine Gemeinschaft, und die Bezeichnungen, welche wir für die Entwickelungsperioden des Gesammt-Organismus mit Recht wählen, passen keineswegs für die einzelnen Theile und Gewebe. =Es gibt jugendliche Gewebe im hohen Greisenalter und senescirende[13] Gewebe im Fötus=. Selbst der Bulbus des ergrauten Haares erzeugt doch immer noch neue Elemente und bis zum Tode hin strömen immer wieder junge Blutkörperchen in die Gefässe ein. Andererseits sieht schon das fötale Leben zahlreiche Elemente zu Grunde gehen. Der =Meckel=sche Knorpel und der =Wolff='sche Körper sind grösstentheils verschwunden, wenn das Kind zur Welt kommt; die Pupillarmembran, die Vasa omphalomesaraica haben um dieselbe Zeit aufgehört zu existiren. Manche Gewebe lassen sich in eine =allgemein-chronologische Reihenfolge= bringen. Schleimgewebe ist im Allgemeinen früher da, als Fettgewebe; Knorpel früher, als Knochen. Rothe Blutkörperchen sind jünger, als farblose. Aber dies gilt nicht allgemein. Denn die Bildung des Schleimgewebes ist nicht überhaupt abgeschlossen, wenn die des Fettgewebes beginnt; sie ist nur abgeschlossen an der Stelle, wo Schleimgewebe in Fettgewebe übergeht. An anderen Orten kann neues Schleimgewebe entstehen, während das früher vorhanden gewesene seine Metaplasie längst gemacht hat. Farblose Blutkörperchen bilden sich von Neuem, nachdem unzählige rothe zu Grunde gegangen sind. =Dieselbe Art von Gewebe kann also an einem Orte jünger, an einem anderen Orte älter sein=. An der Epiphyse eines Röhrenknochens beginnt die Knochenbildung zu einer Zeit, wo die Diaphyse schon seit Monaten zum grossen Theil verknöchert ist. An den Lippen erreicht die Haarbildung zur Zeit der Pubertät die Stärke, welche sie an der Schädelhaube schon in dem ersten Lebensjahre zu zeigen pflegt. [13] Mein Handbuch der spec. Path. u. Ther. 1854. Bd. I. S. 310. Manche sonst verdiente Forscher haben den Sinn solcher Erscheinungen gänzlich verkannt. Sie sprechen z. B. von =embryonalen= oder =fötalen= Geweben im Erwachsenen. Dies ist ein blosses Spiel mit Worten. Ein Gewebe, welches schon im Embryo vorhanden ist und sich als solches extrauterin erhält, ist darum kein embryonales. Permanenter Knorpel, permanentes Schleimgewebe sind eben so wenig embryonal, als die Krystalllinse oder die Hornhaut. Wenn jedes Gewebe, das sich im Erwachsenen so vorfindet, wie es im Fötus besteht, fötal genannt werden sollte, so könnte man auch die Epidermis des inneren Präputialblattes fötal nennen, weil sie feucht zu sein pflegt und eine Vernix caseosa liefert. Embryonal im strengeren Sinne des Wortes (d. h. dem Embryo angehörig) ist nur ein =unfertiges=, =unreifes= oder =Uebergangs=-Gewebe aus der früheren Zeit des intrauterinen Lebens. Embryonale Muskeln sind schmale und verhältnissmässig kurze Cylinder oder Faserzellen mit schmalen Lagen von Fleischsubstanz im Innern. Embryonale Nerven haben noch keine Markscheide. Embryonales Bindegewebe hat noch runde Zellen und eine nicht-faserige Zwischensubstanz. Aber nicht jedes unfertige Gewebe ist darum embryonal. Das Rete Malpighii, die Haarzwiebel, die Zahnpulpe sind und bleiben unfertige Gewebe, denn es soll aus ihnen Epidermis, Haar, Zahnbein entstehen. Sie werden überhaupt niemals fertig, denn sie sind eben zum Nachwuchs bestimmt, sie sind =Matricular-Gewebe=, welche nicht bloss den Mutterboden für die =Ersatzzellen= darstellen, sondern welche aus sich selbst durch =Proliferation= diese Ersatzzellen hervorbringen. Die Mehrzahl der gewöhnlichen Matricular-Gewebe findet sich daher in Verbindung mit abfälligen Geweben; eine kleinere Zahl besorgt gelegentlich das Ersatz-Geschäft für die Wechselgewebe, z. B. Knorpel und Beinhaut für den Knochen. Zwischen der Matrix und dem daraus hervorgegangenen Tochtergewebe ist die Stelle, wo man das =Uebergangsgewebe= (tela transitoria) zu suchen hat, und nur in dem Falle, dass die ganze Matrix durch die Proliferation aufgezehrt wird, wie es im Ovulum geschieht, welches in seiner Totalität in Bildungszellen aufgeht, tritt das Uebergangsgewebe als eigentlich embryonales für eine gewisse Zeit hindurch scheinbar ganz selbständig auf. Wirklich embryonal sind eben nur Gewebe des Embryo. Der Nabelstrang z. B. besteht seinem grössten Theile nach aus embryonalem Schleimgewebe; der Glaskörper des Embryo desgleichen. Aber man hat kein Recht, auch den Glaskörper des Erwachsenen aus embryonalem Schleimgewebe bestehen zu lassen, bloss deshalb, weil das Schleimgewebe in ihm persistirt. Hier liegt vielmehr ein Dauergewebe vor, welches mit dem Augenblicke der Geburt aufgehört hat, embryonal zu sein. Es giebt vielleicht kein Gewebe, welches in einem so hohen Maasse den Charakter eines embryonalen Zeitgewebes an sich trägt, als die =Chorda dorsualis= (Notochorde R. =Owen=). Es ist dies ein aus grossen, blasigen Zellen zusammengesetzter Strang, welcher ursprünglich durch die ganze Ausdehnung der später von den Wirbelkörpern und den Zwischenwirbelscheiben eingenommenen Region vom Keilbein bis zum Steissbein hindurchläuft. Er stellt ein fast reines Zellengewebe dar, welches man versucht sein könnte, den Epithelialformationen anzureihen, wenn er nicht seiner ganzen Stellung nach den Geweben der Bindesubstanz angehörte. Indes bleibt die Intercellular-Secretion an ihm auf ein Minimum beschränkt. Früher nahm man allgemein an, dass nur bei den niedrigsten Fischen die Chorda persistire, dass sie dagegen bei allen höheren Wirbelthieren und namentlich beim Menschen ein rein embryonales oder fötales Gewebe sei, welches schon vor der Geburt gänzlich verkümmere. Erst =Heinrich Müller= hat dargethan, dass ein Theil der Chorda sich noch nach der Geburt erhält. Daraus folgt, dass genau genommen selbst dieses Gewebe den Namen eines embryonalen nur während einer gewissen Zeitdauer verdient; der laxere Gebrauch, auch die nach der Geburt noch fortbestehenden Theile fötal zu nennen, rechtfertigt sich nur dadurch, dass dieselben in der That nur einen für das spätere Leben bedeutungslosen Rückstand einer fötalen Bildung darstellen. Eine derartige Concession darf jedoch nicht zu immer weiteren Forderungen gemissbraucht werden. Was soll man davon sagen, wenn im Ernst von einigen Schriftstellern erklärt wird, das Schleimgewebe sei embryonales oder fötales Bindegewebe? Sieht man nicht, dass man mit gleichem Rechte das Knorpelgewebe aus der Reihe der selbständigen Gewebe streichen und dasselbe einfach als embryonales Knochengewebe bezeichnen könnte? Ich will gar nicht davon sprechen, dass nicht einmal die vorausgesetzte Thatsache richtig ist, indem das Schleimgewebe gewöhnlich in Fettgewebe, aber nicht in eigentliches Bindegewebe übergeht. Aber gesetzt, es wäre richtig, dass Schleimgewebe das Bildungsgewebe für Bindegewebe sei, so muss man sich doch darüber klar werden, dass nicht jedes =Bildungsgewebe= (tela formativa s. formans) embryonal genannt werden kann, gleichviel zu welcher Zeit des Lebens es sich findet. Es gibt dreierlei Arten von Bildungsgewebe: =Matriculargewebe= (Matrices) im engeren Sinne des Wortes, welche durch Proliferation, also durch Hervorbringung neuer Elemente, ein Tochtergewebe erzeugen, neben welchem sie fortbestehen, =blosse Vorgewebe= (telae praecursoriae), welche durch die Proliferation verzehrt werden und nach der Erzeugung der neuen Gewebe nicht mehr vorhanden sind, und endlich =Uebergangsgewebe= (telae transitoriae), welche sich durch Metaplasie, ohne wesentliche Veränderung in der Zahl ihrer Elemente, in andere Gewebe umbilden. Im Embryo kommen alle drei Arten vor, und man fasst sie gelegentlich wohl unter dem Sammtnamen der =Anlagen= oder =Keimgewebe= (telae germinativae) zusammen. Die Eizelle ist gewissermaassen der Prototyp eines Vorgewebes, denn obwohl durch fortschreitende Proliferation aus ihr die späteren Gewebe des Embryo hervorgehen, so hört sie selbst doch auf zu existiren. Sie verhält sich in dieser Beziehung, wie jene Epithelialzellen, aus deren Wucherung die von ihnen selbst ganz verschiedenen Drüsenzellen hervorgehen. So erklärt es sich, dass auch die Drüsenbildung eine einmalige ist, die sich nicht fortsetzt oder wiederholt, wie die Bildung der Haare oder des Nagels oder der Epidermis, bei denen ein gewisser Theil der germinativen Zellen als Matrix persistirt. Die Haarzwiebel, die Falzzellen des Nagels, das Rete Malpighii wuchern ebenfalls, aber nicht alle ihre Elemente gehen gleichzeitig oder kurz nach einander in das neue Gewebe auf. So ist der Knorpel eine wahre Matrix, die trotz reichlichster Wucherung an den meisten Orten noch einen gewissen Rest unversehrter Substanz übrig behält, aus welcher immer wieder von Neuem Mark und Knochengewebe erzeugt werden können. Allerdings besteht, wie leicht ersichtlich, zwischen den Vorgeweben und den Matriculargeweben keine scharfe Grenze. Die Bildung der Krystallinse wird frühzeitig abgeschlossen, und, wie wir gesehen haben, niemals später wird nach dem Verlust derselben eine neue vollständige Linse regenerirt. Nichtsdestoweniger persistirt ein gewisser Theil der germinativen Zellen und eine unvollständige Reproduction der Linse ist daher allerdings möglich. Das Kapsel-Epithel ist demnach mehr als Matrix und nicht als blosses Vorgewebe aufzufassen. Manche embryonale Gewebe erscheinen unter Verhältnissen, wo man versucht wird, sie entweder für Matriculargewebe oder wenigstens für Vorgewebe zu halten. Die Chorda dorsualis liegt inmitten der späteren Wirbelkörper und ihr knorpelartiger Charakter legte es nahe, in ihr die erste Anlage der späteren Wirbelkörper und zwar namentlich der knorpeligen Matrices derselben zu sehen. In der That hat man geglaubt, dass aus ihr oder doch aus ihrer Scheide die Vertebralknorpel hervorgingen. Erst die neuere Forschung hat gelehrt, dass dies ein Irrthum war, indem die Knorpel ausserhalb der Chorda und ihrer Scheide entstehen. Aehnlich war es mit dem sogenannten Meckel'schen Knorpel, dessen Lage in unmittelbarer Verbindung mit dem Unterkiefer es wahrscheinlich machte, dass er wirklich die Matrix des Unterkiefers sei. Aber auch hier erweist sich der Knochen als eine äussere Belagsmasse des Knorpels. Während der letztere daher sich hier als ein rein fötales Zeitgewebe darstellt, so gehen aus seinem hinteren Ende allerdings der Hammer und Ambos, namentlich in sehr deutlicher Weise der Hammerfortsatz hervor, und es erweist sich daher dasselbe Gebilde, welches an seinem vorderen Ende eine bloss temporäre Bedeutung hat, in seinem hintersten Abschnitte als ein wirkliches Vorgewebe. Was die Uebergangsgewebe betrifft, so entstehen sie entweder aus den Vorgeweben oder aus Matriculargeweben. Die aus der Furchung der Eizelle entstehenden Ur- oder Bildungszellen (cellulae primordiales s. formativae) bieten ein schönes Beispiel dafür. Die farblosen Blutkörperchen stehen ihnen nahe. Manche Uebergangselemente zeichnen sich durch ganz besondere, sonst fast gar nicht normal vorkommende Formen aus. Ich erinnere in dieser Beziehung an die vielkernigen Riesenzellen des Knochenmarks. Andere Uebergangselemente wiederum haben so indifferente und gleichmässige Formen, sie stellen so sehr die einfachste Erscheinung =nicht differenzirter= Zellen dar, dass man gerade deshalb vielfach geneigt ist, sie sämmtlich zu identificiren, und, wie früher unter dem Namen von =Primordial=- oder =Exsudatzellen=, so jetzt unter dem der farblosen Blutkörperchen zusammenzufassen. Gerade im Knochenmark, wie in der Milz, kommen neben grossen und vielkernigen Elementen solche kleine, runde, einfache Zellen sehr häufig vor. Der entwickelte Organismus zeigt in allen diesen Beziehungen keine durchgreifenden Verschiedenheiten von dem fötalen. Die blosse Form der Elemente oder Gewebe genügt daher keineswegs, dieselben für fötal oder embryonal auszugeben. =Die Gesetze der Entwickelung gelten für alle Zeiten des Lebens=, und wenn dieselben nicht zu allen Zeiten in gleicher Ausdehnung und Häufigkeit zur Geltung kommen, so darf man darüber nicht vergessen, dass die Bedingungen nicht zu allen Zeiten gleiche sind. Eine correcte Terminologie ist aber nur zu gewinnen, wenn wir jedem Lebensalter seine besondere Beziehung lassen. Gerade die Pathologie muss in dieser Beziehung besonders streng sein, da ihr Erfahrungsgebiet eine grosse Reihe von Erscheinungen umfasst, welche im gewöhnlichen Leben auf gewisse Zeiten der Entwickelung, z. B. auf das embryonale Leben beschränkt sind, welche aber unter krankhaften Verhältnissen zu ganz ungehörigen Zeiten auftreten. Muskel- und Nervenfasern von ganz embryonalem Charakter können im Zeitalter der Pubertät oder noch später entstehen, aber wenn man sie ihres Charakters wegen embryonal nennen wollte, so würde man Gefahr laufen, die grösste Verwirrung hervorzurufen. Es erhellt aus diesen Erörterungen, dass wir trotz der Wichtigkeit der physiologischen Gesichtspunkte doch einer rein anatomischen Classification der Gewebe nicht entbehren können. Sie bildet für die Physiologie und Pathologie eine ebenso nothwendige Grundlage, wie die anatomische Classifikation der Pflanzen und Thiere für die Botanik und die Zoologie. Gleichwie jedoch der Botaniker und der Zoolog jede einzelne Species und Varietät, ja wie der Gärtner und der Viehzüchter jedes Individuum von Baum und Thier besonders in seinen Eigenschaften und Eigenthümlichkeiten studiren muss, so wird auch der Physiolog und noch mehr der Patholog auf eine gleiche Individualisirung und Localisirung seiner Forschungen hingewiesen. Bevor ich jedoch diese Betrachtungen schliesse, muss ich noch ein Paar Augenblicke bei der Erörterung einiger wichtiger principieller Punkte verweilen, welche die thierischen Gewebe in ihrer Verwandtschaft unter einander und Abstammung von einander betreffen, und welche wiederholt zu allgemeinen, mehr physiologischen Formulirungen Veranlassung gegeben haben. Als =Reichert= es unternahm, die Gewebe der Bindesubstanz zu einer grösseren Gruppe zusammenzufassen, ging er hauptsächlich von dem philosophischen Satze aus, dass der Nachweis =der Continuität der Gewebe= über ihre innere Verwandtschaft entscheiden müsse. Sobald man erkennen könne, dass irgend ein Theil mit einem andern continuirlich (durch inneren Zusammenhang, nicht durch blosses Zusammenstossen) verbunden sei, so müsse man auch beide als Theile eines gemeinschaftlichen Ganzen betrachten. Auf diese Weise suchte er zu beweisen, dass Knorpel, Beinhaut, Knochen, Sehnen u. s. f. wirklich ein Continuum, eine Art von Grundgewebe des Körpers bildeten, die =Bindesubstanz=, welche an den verschiedenen Orten gewisse Differenzirungen erfahre, ohne dass jedoch der Charakter des Gewebes als solchen dadurch aufgehoben würde. Dieses sogenannte =Continuitäts-Gesetz= hat bald die grössten Erschütterungen erfahren, und gerade in der jüngsten Zeit sind so gefährliche Einbrüche in dasselbe geschehen, dass es kaum noch möglich sein dürfte, daraus ein allgemeines Kriterium für die Bestimmung der Art eines Gewebes herzunehmen. Man hat immer neue Thatsachen für die Continuität solcher Gewebs-Elemente beigebracht, welche nach =Reichert= toto coelo auseinander gehalten werden müssten, z. B. von Epithelial- und Bindegewebe; insbesondere haben sich die Angaben gehäuft, dass cylindrische Epithelzellen in fadenförmige Fasern auslaufen, welche direct in Zusammenhang treten mit Bindegewebs-Elementen, z. B. am Darm. Ja, man hat sogar in der neuesten Zeit eine Reihe von Angaben gemacht, nach denen solche Zellen der Oberfläche nach Innen fortgehen und dort mit Nervenfasern in unmittelbarem Zusammenhang stehen sollten, z. B. am Gehirn. Was das letztere betrifft, so muss ich bekennen, dass ich noch nicht von der Richtigkeit der Darstellung überzeugt bin, allein was den ersteren Fall anbelangt, so besteht ein wirkliches Continuitäts-Verhältniss der Elemente. Man ist also nicht mehr im Stande, scharfe Grenzen zwischen jeder Art von Epithel und jeder Art von Bindegewebe zu ziehen; es ist dies nur da möglich, wo Plattenepithel sich findet, und auch hier nicht überall, während die Grenzen zweifelhaft sind überall, wo Cylinder-Epithel existirt. Ebenso verwischen sich die Grenzen auch anderswo. Während man früher zwischen Muskel- und Sehnen-Elementen eine scharfe Grenze annahm, so hat sich auch hier, zuerst durch =Hyde Salter= und =Huxley=, ergeben, dass an die Elemente des Bindegewebes direct Faserzellen sich anschliessen, welche nach und nach den Charakter quergestreifter Muskeln annehmen. Auf diese Art ergeben sich in dem Bindegewebe sowohl mit den Elementen der Oberfläche, als mit den edleren Elementen der Tiefe continuirliche Verbindungen. Erwägt man nun andererseits, dass die Elemente des Bindegewebes aller Wahrscheinlichkeit nach bestimmte Beziehungen zu dem Gefässapparat, insbesondere zu den Lymphgefässen haben, so liegt es sehr nahe, in dem Bindegewebe eine Art von =indifferentem Sammelpunkt=, eine eigenthümliche Einrichtung für die innere Verbindung der Theile zu sehen, eine Einrichtung, die allerdings nicht für die höheren Funktionen des Thieres, aber wohl für die Ernährung und Entwickelung von der allergrössten Bedeutung ist. Noch viel auffälliger sind die Beziehungen zwischen den letzten Verzweigungen der peripherischen Nerven und den Elementen anderer Gewebe. Seit =Doyère= hat sich die Aufmerksamkeit hauptsächlich der Verbindung zwischen den letzten Ausläufern der motorischen Nerven und den Muskelprimitivbündeln zugewendet, und es ist nicht mehr zweifelhaft, dass die ersteren das Sarkolemm durchbohren und in direkten Contakt mit der Fleischsubstanz treten. Noch weiter gehen die Verbindungen zwischen den terminalen Nerven und den Epithelien. =Hensen= hat in Froschlarven die Nervenfädchen bis zu den Kernkörperchen der Hautepithelien verfolgt; =Lipmann= hat Aehnliches an dem hinteren Epithel der Hornhaut und selbst an den Körperchen der Hornhaut wahrgenommen. =Pflüger= sah die letzten Nervenausläufer an die Zellen der Speicheldrüsen treten. An die Stelle des Continuitätsgesetzes muss man daher nothwendig etwas Anderes setzen. Nicht der Zusammenhang zwischen den Theilen, welcher möglicherweise erst einer späteren Entwickelungszeit angehört, und welcher Verbindungen zwischen Theilen sehr verschiedener Natur herbeiführen kann, sondern die Entstehung ist entscheidend. Die Verwandtschaft der Gewebe führt zurück auf eine =gemeinsame Abstammung= (Descendenz). Allerdings lehrt die Geschichte des befruchteten Ei's, dass in letzter Abstammung die verschiedenartigsten Gewebe von einem gemeinschaftlichen Anfange ausgehen, aber in dem Fortgange der Proliferation kommen wir an gewisse Stadien, wo die einzelnen Zellen oder Zellengruppen ihre Differenzirung beginnen, und von hier aus kehrt jede Zelle oder Zellengruppe ihre besondere Eigenthümlichkeit heraus. Eine gewisse Familienähnlichkeit kann ihnen allen anhaften; nichtsdestoweniger geht eine jede Gruppe ihren eigenen Weg, der von dem der anderen verschieden ist. Bei Menschen einer bestimmten Race finden sich gewisse Eigenschaften der Haare und der Haut, des Schädel- und Zahnbaus, der Grösse und des Umfanges der verschiedensten Skelettheile mit so grosser Beständigkeit wieder, dass wir aus einzelnen Merkmalen auf die Anwesenheit der anderen schliessen können. Der gemeinsame Ursprung aller Gewebe von dem einen befruchteten Ei gibt die allerdings nur grobe Erklärung dieser Erfahrung. Von Zelle zu Zelle pflanzt sich wenigstens etwas aus dem ursprünglichen Vorgewebe fort. Je mehr sich die Matriculargewebe ausbilden, um so sichtbarer wird die Verwandtschaft ihrer Derivate unter einander. Wenn aus dem Rete Malpighii des Embryo einerseits Haarzwiebeln, andererseits Schweiss- und Talgdrüsen entstehen, so lässt sich vermuthen, dass eine gewisse Beziehung zwischen Haarbildung und Absonderung von Schweiss und Talg bestehen muss, und es begreift sich, dass Beides bei einem Neger anders ist, als bei einem Weissen. Eine genauere Kenntniss der =Stammbäume= der Gewebe wird manches noch jetzt bestehende Räthsel lösen. Leider sind die embryologischen Erfahrungen noch keineswegs sicher genug, um auch nur eine Uebersicht zu geben. Hat doch erst in neuerer Zeit =His= alle früheren Vorstellungen angegriffen, indem er das embryonale Bindegewebe gar nicht von der Eizelle, sondern von dem Dotter ausgehen lässt, der sich ausserhalb derselben befindet. Schon die früheren Embryologen waren darin einig, dass eine andere Quelle für das Bindegewebe, als für die Epithelialformation besteht, dass besondere Heerde für Muskel- und Nervenbildung existiren. Je weiter die Forschung schreitet, um so sicherer wird sich von diesem Felde aus die =genetische Topographie= des Körpers gestalten lassen. Für den erwachsenen Körper, ja schon für die späteren Zeiten der fötalen Entwickelung ist von entscheidender Wichtigkeit das Gesetz der =histologischen Substitution=. Bei allen Geweben derselben Gruppe besteht die Möglichkeit, dass sie gegenseitig für einander eintreten. Zu verschiedenen Zeiten des Lebens finden sich an derselben Stelle verschiedene Glieder einer Gewebsgruppe. Bei verschiedenen Thierklassen wird an einem bestimmten Orte des Körpers das eine Gewebe ersetzt durch ein analoges Gewebe derselben Gruppe, mit anderen Worten, durch ein =histologisches Aequivalent=. Eine Stelle, welche Cylinderepithel trägt, kann Plattenepithel bekommen; eine Fläche, die anfänglich flimmerte, kann später gewöhnliches Epithel haben. So treffen wir an der Oberfläche der Hirnventrikel zuerst Flimmer-, späterhin einfaches Plattenepithel. Die Schleimhaut des Uterus flimmert für gewöhnlich, aber in der Gravidität wird die Schicht der Flimmercylinder an der Decidua ersetzt durch eine Lage von Plattenepithel. An Stellen, wo weiches Epithel vorkommt, entsteht unter Umständen Epidermis, z. B. an der vorgefallenen Scheide, an den Stimmbändern. In der Sclerotica der Fische findet sich Knorpel, während sie beim Menschen aus dichtem Bindegewebe besteht; bei manchen Thieren kommen an Stellen der Haut Knochen vor, wo beim Menschen nur Bindegewebe liegt, aber auch beim Menschen wird an vielen Stellen, wo gewöhnlich Knorpel liegt, zuweilen Knochengewebe gefunden, z. B. an den Rippenknorpeln. Knorpel kann sich in Schleimgewebe, dieses in Fettgewebe oder in Knochengewebe umwandeln, wie es bei der gewöhnlichen Knochen-Entwickelung der Fall ist. Am auffälligsten sind diese Substitutionen im Gebiete der Muskeln. Der Oesophagus besitzt in seinem oberen Abschnitte quergestreifte, im unteren glatte Muskelfasern. Bei einigen Fischen findet sich quergestreifte Muskulatur an Theilen des Nahrungskanals, wo die anderen glatte haben, z. B. am Magen des Schlammpeitzgers (Cobitis) und am Darm der Schleie (Tinca). Nicht alle diese Substitutionen sind gleichwerthig. Ein Theil derselben führt direkt auf Metaplasie (S. 70) zurück, indem die Elemente persistiren und entweder ihren Charakter ändern, oder eine andere Art von Intercellularsubstanz abscheiden. Wenn Knorpel in Schleimgewebe übergeht, so bleiben seine Zellen bestehen und die Intercellularsubstanz wird weich. Ein anderer Theil der Substitutionen, nehmlich alle diejenigen, bei welchen es sich um verschiedene Arten von Thieren handelt, also alle diejenigen, welche der vergleichenden Anatomie angehören, zeigt uns =parallele=, aber nicht continuirliche Reihen. Haare und Federn sind parallele, Knorpel und Knochen continuirliche Aequivalente. Viertes Capitel. Die pathologischen Gewebe. Die pathologischen Gewebe (Neoplasmen) und ihre Classification. Bedeutung der Vascularisation. Die Doctrin von den specifischen Elementen: Krebs, Tuberkel. Die physiologischen Vorbilder (Reproduction). Einfache (histioide) und zusammengesetzte (organoide und teratoide) Neubildungen. Homologie und Heterologie (Heterotopie, Heterochronie, Heterometrie). Malignität. Hypertrophie und Hyperplasie. Kriterien der Homologie. Degeneration. Prognostische Gesichtspunkte. Ungewöhnliche Analogien der pathologischen Gewebe: Krebs, Sarkom (Spindelzellen, Riesenzellen). Abstammung der pathologischen Gewebe: Continuität der Entwickelung, Discontinuität des Typus. Pathologische Substitutionen und Aequivalente. Homologe und heterologe Substitution. Bildung per primam aut secundam intentionem. Verschiedenartige Entstehung derselben Gewebe unter verschiedenen Bedingungen: Knochen, Bindegewebe. Organisation fibrinöser Blasteme. Metaplasie. Verschiedenartige Abstammung derselben Gewebsart. Wenn man von pathologischen Geweben spricht, so kann man natürlich damit nur die pathologisch neu entstandenen meinen, und nicht etwa die durch irgend eine pathologische Störung veränderten physiologischen Theile. Es handelt sich also hier um eigentliche Neubildungen, =Neoplasmen=, um das, was im Laufe pathologischer Processe an neuen Geweben zuwächst, und es fragt sich: lässt sich das, was wir physiologisch als allgemeine Typen der Gewebe hingestellt haben, auch pathologisch festhalten? Darauf antworte ich ohne Rückhalt: ja, und so sehr ich auch darin abweiche von vielen der lebenden Zeitgenossen, so bestimmt man auch noch in den letzten Jahren die ganz besondere (=specifische=) Natur der Elemente vieler pathologischen Gewebe hervorgehoben hat, so bin ich doch überzeugt, dass jedes pathologische Gebilde ein physiologisches Vorbild hat, und dass keine pathologische Form entsteht, deren Elemente nicht zurückgeführt werden könnten auf ein in der thierischen Oekonomie gegebenes Vorbild. Die Classification der pathologischen Neubildungen ist früherhin meistentheils versucht worden vom Standpunkte der =Vascularisation= aus. Bis zur Zeit der Zellentheorie hat man die Frage von der Organisation bestimmter Theile entschieden durch den Nachweis ihrer Vascularisation oder Nicht-Vascularisation. Man nahm jeden Theil als organisirt, der Gefässe enthielt, jeden als nicht organisirt, der keine Gefässe führte. Dies ist für den heutigen Standpunkt an sich schon eine Unrichtigkeit, insofern wir auch physiologische Gewebe ohne Gefässe, wie die Knorpel, das Epithel haben. So lange als man, entsprechend dem niedrigen Stande der mikroskopischen Technik, die zelligen Elemente höchstens als Kügelchen kannte und diesen Kügelchen sehr verschiedene Bedeutung beilegte, war es zu verzeihen, dass man sich an die Gefässe hielt, insbesondere seit =John Hunter= die Vergleichung der pathologischen Neubildung mit der Entwickelung des Hühnchens im Ei in die allgemeine Vorstellung eingeführt und zu zeigen versucht hatte, dass ähnlich, wie das Punctum saliens im Hühnerei die erste Lebenserscheinung darstelle, so auch in pathologischen Bildungen Blut und Gefäss das Erste sei. Nach diesem Vorbilde beschrieben noch =Rust= und =Kluge= manche »parasitischen« Neubildungen als versehen mit einem unabhängigen Gefässsystem, welches, ohne Wurzel in den alten Gefässen, sich, wie im Hühnchen, ganz selbständig bilden sollte. Freilich hatte man schon vor dieser Zeit vielfach versucht, die scheinbar so abweichenden Formen der Neubildungen auf physiologische Paradigmen zurückzuführen; namentlich ist dies ein wesentliches Verdienst der Naturphilosophen gewesen. In jener Zeit, wo die Theromorphie eine grosse Rolle spielte und man in den pathologischen Dingen vielfache Analogien mit den Zuständen niederer Thiere fand, hat man auch angefangen, Vergleichungen zwischen den krankhaften Neubildungen und bekannten Theilen des gesunden Körpers zu machen. So sprach der alte J. F. =Meckel= von dem brustdrüsenartigen, dem pancreasartigen Sarkom. Die Heteradenie, die heterologe Bildung von Drüsensubstanz, welche in der neuesten Zeit von Paris aus als eine Neuigkeit beschrieben worden ist, war in der deutschen naturphilosophischen Schule vor einem halben Jahrhundert eine ziemlich allgemein angenommene Thatsache. Erst seitdem man die histologische Seite der Entwickelungsgeschichte zu bebauen begonnen hat, hat man sich mehr und mehr davon überzeugt, dass die meisten Neubildungen Theile enthalten, welche irgend einem physiologischen Gewebe entsprechen. Selbst in den mikrographischen Schulen des Westens hat man sich theilweise begnügt anzunehmen, dass es in der ganzen Reihe der Neubildungen nur ein besonderes Gebilde gäbe, welches specifisch abweichend sei von allen natürlichen Bildungen, nämlich den Krebs. Von ihm nahm man an, dass er ganz und gar von den physiologischen Geweben abweiche, Elemente sui generis enthalte, während man eigenthümlicher Weise das zweite Gebilde, das die Aelteren dem Krebsgewebe anzunähern pflegten, nämlich den Tuberkel, vielfach bei Seite liess, obwohl man doch auch für ihn kein Analogon fand. Aber man deutete ihn als ein unvollständiges, mehr rohes (=crudes=) Product, als ein nicht recht zur Organisation gekommenes, gewissermaassen unfertiges Gebilde, und glaubte ihn daher mehr den blossen Exsudationen anreihen zu dürfen. Wenn man jedoch den Krebs oder den Tuberkel sorgfältiger betrachtet, so kommt es auch bei ihnen nur darauf an, dasjenige Stadium ihrer Entwickelung aufzusuchen, in welchem sie die Höhe ihrer Gestaltung erreicht haben. Man darf weder zu früh untersuchen, wo die Entwickelung unvollendet, noch zu spät, wo sie über ihr Höhenstadium hinausgerückt ist. Hält man sich an die Zeit der Entwickelungshöhe (Acme, Florescenz), so lässt sich für jedes pathologische Gewebe auch ein physiologisches Vorbild finden, und es ist eben so gut möglich, für die Elemente des Krebses solche Vorbilder zu entdecken, wie es möglich ist, dieselben für den Eiter zu finden, der, wenn man einmal specifische Gesichtspunkte festhalten will, ebenso im Rechte ist, als etwas Besonderes betrachtet zu werden, wie der Krebs. Beide stehen sich darin vollkommen parallel, und wenn die Alten von Krebseiter gesprochen haben, so haben sie in gewissem Sinne Recht gehabt, da der Eiter vom Krebssafte sich nur durch die Entwickelungshöhe der einzelnen Elemente unterscheidet. Eine Classification auch der pathologischen Gebilde lässt sich ganz in der Weise aufstellen, die wir vorher für die physiologischen Gewebe versucht haben. Zunächst gibt es auch hier Gebilde, welche, wie die epithelialen, wesentlich aus zelligen Theilen zusammengesetzt sind, ohne dass zu diesen etwas Erhebliches hinzukommt (=epitheliale Neubildungen=). In zweiter Linie treffen wir Gewebe, welche sich denen der Bindesubstanz anschliessen, indem regelmässig neben zelligen Theilen eine gewisse Menge von Zwischensubstanz vorhanden ist (=bindegewebige Neubildungen=). Endlich in dritter Linie kommen diejenigen Bildungen, welche sich den höher organisirten Theilen, Blut, Muskeln, Nerven u. s. w. anschliessen. Es ist jedoch von vorn herein hervorzuheben, dass in den pathologischen Bildungen diejenigen Elemente häufiger vorhanden sind, ja entschieden vorwalten, welche nur den niederen Graden der eigentlich thierischen Entwickelung entsprechen, dass dagegen im Ganzen diejenigen Elemente am seltensten nachgebildet werden, welche den höher organisirten, namentlich den Muskel- und Nervenapparaten angehören. Ausgeschlossen sind jedoch auch diese Bildungen keineswegs; vielmehr kennen wir jede Art von pathologischer Neubildung, sie mag auf ein Gewebe bezüglich sein, auf welches sie will, wenn es nur überhaupt einen erkennbaren Habitus hat. Nur in Beziehung auf die Häufigkeit und die Wichtigkeit der einzelnen neu gebildeten Gewebe besteht eine Verschiedenheit in der Art, dass die grösste Mehrzahl der pathologischen Producte überwiegend epitheliale oder Elemente der Bindesubstanz führen, und dass von denjenigen Gebilden, welche wir in der letzten Klasse der normalen Gewebe zusammenfassten, am häufigsten Gefässe und Theile, welche mit der Lymphe und den Lymphdrüsen verglichen werden können, neu entstehen, am seltensten aber wirkliches Blut, Muskeln und Nerven. Dass man diesen so einfachen Standpunkt noch jetzt vielfach leugnet, erklärt sich nicht bloss daraus, dass das Verständniss der pathologischen Histologie überall die genaueste Kenntniss der physiologischen voraussetzt und ohne diese ganz und gar in die Irre geht, sondern vielleicht noch mehr daraus, dass es sich hier nicht bloss um einfache Gewebe, sondern häufig um besondere und grössere Zusammenordnungen von Geweben handelt, welche sich zu einer =Art von pathologischen Organen= zusammenfügen. Ein Dermoid besteht nicht bloss aus Epidermis oder aus Bindegewebe, sondern es stellt eine pathologische Reproduction des Derma in seiner ganzen Zusammensetzung als =Hautorgan= dar, in welche Zusammensetzung Epidermis und Bindegewebe, Haare, Talg- und Schweissdrüsen, Fettgewebe und glatte Muskeln, Gefässe und Nerven eintreten können. Ein Osteom besteht nicht bloss aus Knochengewebe (tela ossea), sondern es kann ausserdem Mark, Knorpel und Bindegewebe enthalten. Und so entspricht auch der Krebs nicht einem einzigen physiologischen Gewebe, sondern er enthält, ähnlich wie eine Drüse, zellige Elemente in besonderen Hohlräumen oder Kanälen, welche getragen werden durch ein Stroma von Bindegewebe mit Gefässen. Alle diese Arten von Neubildungen entsprechen also den Gegenständen der speciellen Histologie, der Organenlehre, und ihre gesammte Lebensgeschichte, ihre Entwickelung und Rückbildung lässt sich nicht nach dem Maassstabe einfacher Gewebe beurtheilen, sondern nur nach dem Vorbilde zusammengesetzter Organe des Körpers, grösserer anatomischer Gruppen von Theilen des Organismus, welche bekanntlich gerade durch ihre Zusammenlegung aus verschiedenen Geweben eine weit grössere Mannichfaltigkeit des Lebens und Erkrankens darbieten, als dies an einfachen Geweben möglich ist. Es zerfällt daher die ganze Reihe der Neoplasmen in zwei grössere Kategorien; einfache (=histioide=) und =zusammengesetzte (organoide)=. Die einfachen finden sich in den zusammengesetzten wieder. Epithel und Bindegewebe können jedes für sich eine Neubildung aufbauen: sie können aber auch zusammentreten und eine Art von pathologischem Organ erzeugen. Kommen dazu immer mehr und mehr Gewebe, so kann endlich ein so complicirtes Gefüge entstehen, dass es nur mit grösseren =Systemen= des Körpers zu vergleichen ist. Indess ist dies selten und auch dann gewöhnlich so unordentlich, dass man diese Kategorie als einen blossen Anhang zu der Lehre der Neubildungen zu betrachten hat. Manche dieser systematoiden Neubildungen gleichen so sehr gewissen Monstrositäten, ja ihre Grenze gegen die eigentlich fötalen Missbildungen ist so schwer zu ziehen, dass ich sie mit dem allgemeinen Namen der =teratoiden= belegt habe[14]. [14] Geschwülste. Bd. I. S. 96. Wenn man diesen rein physiologischen Gesichtspunkt festhält, so wirft sich sofort die Frage auf, was aus der Lehre von der =Heterologie= der krankhaften Producte wird, einer Lehre, welche aufrecht zu erhalten man sich seit langer Zeit bemüht hat, und auf welche die natürliche Anschauung scheinbar mit einer gewissen Nothwendigkeit hinführt. Hierauf kann ich nicht anders antworten, als dass es keine andere Art von Heterologie in den krankhaften Gebilden gibt, als die =ungehörige Art ihrer Entstehung oder ihres Vorkommens=, und dass diese Ungehörigkeit sich entweder darauf bezieht, dass ein Gebilde erzeugt wird an einem Punkte, wo es nicht hingehört, oder zu einer Zeit, wo es nicht erzeugt werden soll, oder in einem Grade, welcher von der typischen Norm des Körpers abweicht. Jede Heterologie ist also, genauer bezeichnet, entweder eine =Heterotopie=, eine Aberratio loci, oder eine Aberratio temporis, eine =Heterochronie=, oder endlich eine bloss quantitative Abweichung, =Heterometrie=. Schleimgewebe, welches im Gehirn entsteht, findet sich am unrechten Orte; eine Schleimgewebsgeschwulst, welche am Nabel eines Erwachsenen wächst, zeigt eine Gewebsbildung zur unrechten Zeit; die Mola hydatidosa stellt eine excessive Neubildung von Schleimgewebe an den Zotten des Chorion dar, also eine Neubildung in ungehöriger Menge. Man muss sich aber wohl in Acht nehmen, diese Heterologie im weiteren Sinne des Wortes nicht zu verwechseln mit der =Malignität=. Die Heterologie im histologischen Sinne bezieht sich auf einen grossen Theil von pathologischen Neubildungen, die von dem Standpunkte der Prognose durchaus gutartig genannt werden müssen. Nicht selten geschieht eine Neubildung an einem Punkte, wo sie freilich durchaus nicht hingehört, wo sie aber auch keinen erheblichen Schaden anrichtet, oder wo der Schaden, den sie anrichtet, nicht aus dem Wesen, der Art der Geschwulst als solcher, sondern aus ihrer Lage, ihren Nachbarverhältnissen zu anderen Theilen, also aus den Zufälligkeiten des Sitzes und der Entwickelung zu erklären ist. Es kann ein Fettklumpen sich sehr wohl an einem Orte erzeugen, wo wir kein Fett erwarten, z. B. in der Submucosa des Dünndarms, aber im besten Falle entsteht dadurch ein Polyp, der auf der inneren Fläche des Darms hervorhängt und der ziemlich gross werden kann, ehe er Krankheitserscheinungen hervorruft. Tritt dieser Fall aber ein, so folgen daraus Erscheinungen der Zerrung, des Druckes, der Hemmung, also Erscheinungen mechanischer Art, aber keine einzige Erscheinung wirklich maligner Art. Denn wir können nur das bösartig nennen, was seiner Natur nach schädlich ist, nicht das, was nur durch besondere Verhältnisse, per accidens, schädlich wirkt. [Illustration: =Fig=. 29. Schematische Darstellungen von Leberzellen. _A_. Einfache physiologische Anordnung derselben. _B_. Hypertrophie, _a_ einfache, _b_ mit Fettaufnahme (fettige Degeneration, Fettleber). _C_. Hyperplasie (numerische oder adjunctive Hypertrophie), _a_ Zelle mit Kern und getheiltem Kernkörperchen. _b_ getheilte Kerne. _c_, _c_ getheilte und daher kleinere Zellen.] Betrachtet man die im engeren Sinne heterolog zu nennenden Gebilde in Beziehung zu den Orten, wo sie entstehen, so ergibt sich ihre Trennung von den homologen durch den Nachweis, dass sie von dem Typus desjenigen Theils, in welchem sie entstehen, abweichen. Wenn im Fettgewebe eine Fettgeschwulst oder im Bindegewebe eine Bindegewebs-Geschwulst sich bildet, so ist der Typus der Bildung des Neuen homolog dem Typus der Bildung des Alten. Alle solche Bildungen fallen der gewöhnlichen Bezeichnung nach unter den Begriff der Hypertrophie, oder, wie ich zur genaueren Unterscheidung vorgeschlagen habe zu sagen, der =Hyperplasie=[15]. Hypertrophie in meinem Sinne bezeichnet den Fall, wo die einzelnen Elemente eine beträchtliche Masse von Stoff in sich aufnehmen und dadurch grösser werden, und wo durch die gleichzeitige Vergrösserung vieler Elemente endlich ein ganzes Organ anschwillt. Bei einem dicker werdenden Muskel werden alle Primitivbündel dicker. Eine Leber kann einfach dadurch hypertrophisch werden, dass die einzelnen Leberzellen sich bedeutend vergrössern. In diesem Falle gibt es eine wirkliche Hypertrophie ohne eigentliche Neubildung. Von diesem Vorgange ist wesentlich verschieden der Fall, wo eine Vergrösserung erfolgt durch eine =Vermehrung der Zahl der Elemente=. Eine Leber kann nehmlich auch grösser werden dadurch, dass an der Stelle der gewöhnlichen Zellen sich eine Reihe von kleineren entwickelt. Ebenso sehen wir durch einfache Hypertrophie das Fettpolster der Haut anschwellen, indem jede einzelne Fettzelle eine grössere Masse von Fett aufnimmt; wenn dies an Tausenden und aber Tausenden, ja man kann sagen, an Hunderttausenden und Millionen von Zellen geschieht, so ist das Resultat ein sehr grobes und augenfälliges (Polysarcie). Allein es kann eben so gut sein, dass sich im Fettgewebe neben den alten Zellen neue hinzubilden und eine Vergrösserung der Gewebsmasse erfolgt, ohne dass die Elemente für sich eine Vergrösserung erfahren. Es handelt sich hier um wesentlich verschiedene Processe: =um einfache und um numerische Hypertrophie=. [15] Handbuch der spec. Pathol. u. Therapie. 1854. I. 327-28. Hyperplastische Processe (numerische oder adjunctive Hypertrophie) bringen in allen Fällen Gewebe hervor, welche dem Gewebe des alten Theiles gleichartig sind. Eine Hyperplasie der Leber bringt wieder Leberzellen, die des Nerven wieder Nerven, die der Haut wieder die Elemente der Haut hervor. Ein heteroplastischer Process dagegen erzeugt Gewebselemente, welche freilich natürlichen Formen entsprechen, z. B. Elemente von drüsenartiger Natur, Nervenmasse, Theile von Bindegewebs- oder epithelialer Structur, aber diese Elemente entstehen nicht durch einfache Zunahme der vorher vorhanden gewesenen, sondern durch eine Neubildung mit Umwandlung des ursprünglichen Typus des Muttergewebes. Wenn sich Gehirnmasse im Eierstock bildet, so entsteht dieselbe nicht aus präexistirender Gehirnmasse, nicht durch irgend einen Akt einfacher Vermehrung; wenn Epidermis im Muskelfleische des Herzens entsteht, so mag sie noch so sehr übereinstimmen mit der auf der äusseren Haut, sie ist doch ein heteroplastisches Gebilde. Wenn sich Haare von ganz natürlichem Bau in der Hirnsubstanz finden, so mag man die grösste Uebereinstimmung finden zwischen ihnen und Haaren der Körper-Oberfläche; es werden dies immer heteroplastische Haare sein. So sehen wir Knorpelsubstanz entstehen, ohne dass ein wesentlicher Unterschied zwischen ihr und der gewöhnlichen, bekannten Knorpelsubstanz besteht, z. B. in Enchondromen. Dennoch erscheint das eigentliche Enchondrom als eine heteroplastische Geschwulst, selbst am Knochen. Denn der fertige Knochen hat an den Theilen, wo das Enchondrom sich bildet, keinen Knorpel mehr, und die Phrase von dem Knochenknorpel, als der organischen Grundlage des Knochens, ist eben nur eine Phrase. Es ist entweder die Tela ossea oder die Tela medullaris, in welcher das Enchondrom sitzt, und gerade da, wo eigentlicher Knorpel liegt, z. B. am Gelenkende, entstehen keine Enchondrome in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes. Dagegen finden wir sehr ausgezeichnete Enchondrome in Drüsen, z. B. in den Speicheldrüsen, im Hoden. Es handelt sich hier also nicht um eine Hypertrophie oder Hyperplasie, die ein normaler Knorpel eingeht, sondern es ist eine vollständige Neubildung, welche eine Veränderung des localen Gewebstypus darstellt. In meinem Sinne kann daher =dasselbe Gewebe das eine Mal homolog, das andere Mal heterolog sein=. Fettgewebe in der Nierenkapsel ist homolog, in der Nierensubstanz heterolog. Epithel in Drüsenkanälen ist homolog, im Knochen heterolog. Dieselbe Geschwulst kann an einer Stelle homolog, an einer anderen heterolog sein. Eine Knochengeschwulst (Osteom) am Knochen ist hyperplastisch, im Gehirn heteroplastisch. Diese Auffassung ist wesentlich verschieden von der früher gangbaren, wie sie z. B. =Lobstein= vertrat, als er die Neubildungen in homöoplastische und heteroplastische eintheilte. Denn bei ihm, wie noch in der neuesten französischen Schule, gilt als homöoplastisch jede Neubildung, welche eine den physiologischen Geweben oder Organen des Körpers entsprechende Zusammensetzung zeigt; eine jede solche wurde zugleich als gutartig angesehen. Ich dagegen nehme in Beziehung auf die Frage von der Heterologie und Homologie keine Rücksicht auf die Zusammensetzung des Neugebildes als solchen, sondern nur auf das Verhältniss desselben zu dem Mutterboden, aus dem es hervorgeht. Heterologie in diesem Sinne bezeichnet die Verschiedenartigkeit in dem Typus der Entwickelung des Neuen gegenüber dem Alten, oder, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, die =Entartung= (=Degeneration=), die Abweichung von der =Eigenart= des typischen Gewebes. Hiermit ist zugleich der entscheidende prognostische Anhaltspunkt gegeben. Wir kennen Geschwülste, welche den allergrössten Einklang ihrer Elemente darbieten mit den bekanntesten physiologischen Geweben. Eine Epidermis-Geschwulst kann, wie ich schon hervorgehoben habe, in ihren Elementen vollständig übereinstimmen mit gewöhnlicher Oberhaut, aber sie ist trotzdem nicht immer eine gutartige Geschwulst von bloss localer Bedeutung, welche abgeleitet werden dürfte von einer einfach hyperplastischen Vermehrung präexistirender Gewebe, denn sie entsteht zuweilen mitten in Theilen, welche fern davon sind, Epidermis oder Epithel zu besitzen, z. B. beim Kankroid im Innern von Lymphdrüsen, in dicken Bindegewebslagen, welche von allen Oberflächen entfernt liegen, ja sogar im Knochen. In diesen Fällen ist gewiss die Bildung von Epidermis so heterolog, als sich überhaupt etwas heterolog denken lässt. Auch hat die praktische Erfahrung gelehrt, dass es durchaus unrichtig war, aus der blossen Uebereinstimmung der pathologischen Epidermis mit physiologischer auf den gutartigen Verlauf des Falles zu schliessen. Vielmehr zeigt uns die Beobachtung der Kranken, dass jeder Fall verdächtig ist und uns zur Vorsicht mahnen muss, wo wir eine heterologe Neubildung antreffen. Gerade das ist, wie ich mit besonderer Betonung bemerken muss, nahezu der schwerste und am meisten begründete Vorwurf gewesen, welcher den mikrographischen Schilderungen der jüngst verflossenen Zeit gemacht wurde, dass sie, in dem Sinne =Lobstein='s von dem allerdings verzeihlichen Gesichtspunkte der histologischen Uebereinstimmung mancher normalen und abnormen Bildungen ausgehend, jedes pathologische Neugebilde für unschädlich ausgaben, welches eine Reproduction von präexistirenden und bekannten Körpergeweben darstellte. Wenn meine Ansicht richtig ist, dass überhaupt innerhalb der pathologischen Entwickelung keine absolut neuen Formen gefunden werden, dass es überall nur Bildungen gibt, die in der einen oder anderen Weise als =Reproductionen physiologischer Gewebe= betrachtet werden müssen, so fällt jener Gesichtspunkt in sich selbst zusammen. Für die Richtigkeit meiner Ansicht kann ich aber die Thatsache beibringen, dass ich bis jetzt in den Streitigkeiten über die Gut- oder Bösartigkeit bestimmter Geschwulstformen bis auf einen Fall immer noch Recht behalten habe, und dass ich in diesem Falle, wo ich der Erfahrung mehr Recht einräumte, als meiner Theorie, gerade durch eine neue Erfahrung von der Zuverlässigkeit dieser Theorie überzeugt wurde. Es handelte sich dabei um die Malignität einer Art des Dermoids. -- [Illustration: =Fig=. 30. Grosse Spindelzellen (fibroplastische Körper) in ihrer natürlichen Anordnung aus einem Sarcoma fusocellulare der Rückenmarkshäute. Vergröss. 350. (Geschwülste II. S. 197. Fig. 136).] Dass es einer so langen Zeit bedurft hat, diese so einfachen Gesichtspunkte zu gewinnen, erklärt sich zum grossen Theile aus der ungenauen Kenntniss der selteneren histologischen Formen, zum kleineren aus der allerdings ungewöhnlichen Entwickelung mancher pathologischen Elemente. Die Krebszelle entspricht, wie ich gezeigt habe[16], ihrer ganzen Erscheinung nach den Zellen der Epithelialformation. Aber in der Mehrzahl der Krebse haben die Zellen eine Grösse, Gestalt, Kernentwickelung, wie sie an dem gewöhnlichen Epithel selten vorkommt. Dagegen zeigt das früher (S. 30, Fig. 16.) erwähnte Epithel der Harnwege die grösste Uebereinstimmung damit, und man würde gewiss viel früher auf die richtige Deutung gekommen sein, wenn man dieses eigenthümliche Epithel früher richtig gewürdigt hätte. In den sogenannten Epidermiskrebsen oder Kankroiden dagegen finden sich so entschieden epidermoidale Formen, dass man glaubte, diese Geschwulstart ganz von den Krebsen trennen und zu den einfach hypertrophischen und daher gutartigen Bildungen stellen zu müssen. In den Spindelsarkomen finden sich so grosse und eigenthümliche Zellen, dass noch jetzt Mancher sich weigert, sie den gewöhnlich so kleinen Spindelzellen des Bindegewebes (Fig. 4, _b_; 21.) parallel zu stellen; hat man sich von der kolossalen Entwickelung dieser Spindelzellen in der Decidua uterina überzeugt, so verschwindet das Auffällige. In den Riesenzellensarkomen wiederum trifft man überaus grosse, stellenweise fast ungeheuerliche Zellen mit zahlreichen Kernen, für die jede Analogie zu fehlen scheint. Allein das Studium des jungen Knochenmarkes oder der Rindenschicht der Nebennieren lehrt uns analoge Formen auch im normalen Entwickelungsgange kennen. [16] Archiv 1847. Bd. I. S. 105. [Illustration: =Fig=. 31. Durchschnitt aus einer Epulis sarcomatosa des Unterkiefers. Zahlreiche, dicht gedrängte Spindelzellen (fibroplastische Körper) bilden eine Art von maschigem Gerüst, in dessen Räumen vielkernige, mit feineren und gröberen Fortsätzen versehene Riesenzellen (myeloide Zellen, Myeloplaxen) liegen. Vergr. 300. (Geschwülste II. S. 317. Fig. 158).] Auf dieser Stufe der Erkenntniss angelangt, stossen wir auf eine neue Schwierigkeit. Jedesmal, wo eine pathologische Bildung auf physiologische Vorbilder zurückgeführt wird, erhebt sich die Frage, ob sie nicht direct von einem solchen physiologischen Gebilde abstamme. In der That liegt es nahe, an eine =continuirliche= Entwickelung zu denken, und wir haben die ernstliche Verpflichtung, in jedem solchen Falle zu prüfen, ob nicht wirklich ein entsprechend zusammengesetzter oder gebauter Theil Matrix des pathologischen sei. Wenn man weiss, dass vielkernige Riesenzellen im Knochenmark vorkommen, so wird man geneigt sein, mit =Nélaton= jedes Riesenzellensarcom (tumeur à myéloplaxes) vom Knochenmark abzuleiten. Sieht man, dass das Kankroid in der Regel aus Epidermiszellen besteht, so liegt nichts näher, als dasselbe auf eine örtliche Wucherung präexistirender Epidermis zurückzuführen. Allein die Erfahrung mahnt hier zu grosser Vorsicht. Sonst kommt man leicht zu Schlüssen, wie sie früher oft genug gemacht sind, dass z. B. ein Teratom des Eierstocks, weil es Knochen und Zähne, Haut und Haare, ja selbst Muskeln und Hirnmasse enthält, ein degenerirter Fötus sei oder aus einer aberrirten Embryobildung herstamme. Man darf den blossen Wahrscheinlichkeiten nicht zu sehr nachgeben, sonst macht man blosse Conjectural-Pathologie. Eine unbefangene Prüfung lehrt allerdings, dass alle pathologischen Gewebe continuirlich aus physiologischen hervorgehen, aber keinesweges so, dass ihr Typus immer unverändert der ihrer physiologischen Matrix bleibt. =Die Entwickelung selbst ist stets continuirlich, der Typus aber kann discontinuirlich sein=, und gerade diese Aenderung des Typus ergibt für mich das entscheidende Kriterium der Heterologie. Wenn die Neuroglia des Gehirns gewöhnliches Bindegewebe oder ausgezeichnetes Schleimgewebe hervorbringt, so geschieht dies durch continuirliche Vorgänge, aber der Typus der Neuroglia geht dabei verloren. Ein Enchondrom des Hodens entsteht continuirlich aus dem schwachen Interstitialgewebe der Drüse, aber ein bis dahin ganz unerhörtes Gewebe tritt im Hoden auf. Das eine Gewebe wird hier durch ein anderes, das aus ihm hervorgegangen, aber von ihm verschieden ist, substituirt. Wir finden demnach auch hier, wie im physiologischen Leben, gewisse =Substitutionen und Aequivalente von Geweben=, und gleichwie im Physiologischen die Grenze dieser Substitionen durch das ein für allemal gegebene Entwickelungsgeschäft der Species bezeichnet ist, so geschieht auch pathologische Substitution stets durch Gewebe, deren Vorkommen in der Species physiologisch nachweisbar ist. In krankhaften Zuständen gibt es =heterologe Substitutionen=, wo ein bestimmtes Gewebe ersetzt wird durch ein Gewebe anderer Art, aber nie durch ein der menschlichen Organisation fremdes Gewebe. Selbst dann, wenn der Ersatz von dem alten Gewebe des Ortes ausgeht, kann die Neubildung mehr oder weniger abweichen von dem ursprünglichen Typus der Matrix. So tritt an die Stelle der Haut, welche durch Verschwärung verloren gegangen ist, eine Narbe, die nicht bloss Bindewebe, sondern auch Epidermis enthält, obwohl die Matrix dieser Epidermis das Bindegewebe der Cutis und nicht das (verloren gegangene) Rete Malpighii sein kann. Es geschieht also die Substitution entweder durch Ersetzung vermittelst eines Gewebes aus derselben Gruppe (=Homologie=) oder durch ein Gewebe aus einer anderen Gruppe (=Heterologie=). Auf letztere muss die ganze Doctrin von den specifischen Elementen der Pathologie zurückgeführt werden, welche in den letzten Decennien eine so grosse Rolle gespielt haben. Denn diese Gewebe sui generis sind nicht insofern specifisch, als sie im natürlichen Entwickelungsgange des Körpers kein Analogon finden, sondern nur insofern, als sie unter gewöhnlichen Umständen nicht zu den constituirenden Theilen derjenigen Organe gehören, in welchen sie unter krankhaften Verhältnissen erzeugt werden. Deshalb erscheinen sie nicht sowohl als Bestandtheile des Organs, welches sie erzeugt, als vielmehr als Bestandtheile der Neubildung (gewissermaassen des pathologischen Organs), welches aus ihnen zusammengesetzt ist, und wir vergessen nur zu leicht, dass auch diese Neubildung, wenngleich kein an sich nothwendiger, doch ein continuirlich zusammenhängender Theil jenes physiologischen Organs, und somit des ganzen Organismus ist. Diese Erkenntniss ist um so schwieriger, als in der Regel die heterologe Substitution nicht direct, sondern auf einem Umwege erfolgt. Denn nicht immer entsprechen sofort die ersten Anlagen der Neubildung dem endlichen Producte; selbst die Hyperplasie geschieht nicht immer durch sofortige Erzeugung homologer Elemente (=per primam intentionem=). Sehr häufig schiebt sich zuerst ein Stadium indifferenter Bildungen ein, aus denen sich erst langsam die besonderen Formen der späteren Zeit differenziren (=per secundam intentionem=). =Dasselbe Gewebe kann auf die eine und auf die andere Weise entstehen=. Aus dieser Erfahrung, die ich nicht genug betonen kann, erklären sich zahlreiche Widersprüche der Mikrographen, welche das Meiste dazu beigetragen haben, die Mikrographie überhaupt in Misskredit zu bringen. Jeder Forscher betrachtet seine Beobachtungen als die maassgebenden, und statt zu fragen, ob nicht vielleicht auch der andere Forscher richtig gesehen habe, erklärt er die fremden Angaben, welche mit den seinigen nicht übereinstimmen, sofort für falsch. Wie immer, führt die Exclusivität zur Einseitigkeit und damit zum Irrthum. So hat lange der Streit darüber geschwebt, ob Knochen immer aus Knorpel entstehe. Schon die älteren Beobachter behaupteten, er könne auch aus Membranen entstehen. Ich habe dargethan, dass er aus Bindegewebe und aus Mark hervorgehen kann[17]. Spätere Beobachter haben dann geradezu geleugnet, dass Knorpel direct in Knochengewebe übergehe, und in diesem Augenblicke hat diese Meinung das Uebergewicht. Meiner Ueberzeugung nach ist dieselbe einseitig und daher irrthümlich. Vielmehr entsteht Knochengewebe aus Knorpel in doppelter Weise: gewöhnlich per secundam intentionem aus Mark, welches aus Knorpel durch Metaplasie hervorgegangen ist, aber in geringerem Umfange auch per primam intentionem aus Knorpel. In ähnlicher Weise verhält es sich mit dem Bindegewebe. Lange Zeit liess man alles pathologisch neugebildete Bindegewebe aus fibrinösem Blastem (plastischer Lymphe) entstehen, welches auf dem Wege der Exsudation aus dem Blute austreten sollte. Von diesem ganz exclusiven Standpunkte aus bestritt man sogar die Möglichkeit einer Organisation des Thrombus innerhalb der Gefässe, obwohl doch in demselben derselbe Faserstoff vorhanden ist, der die eigentlich plastische Substanz des Exsudates darstellen sollte. Ich habe nicht bloss die Entstehung von Bindegewebe aus dem Thrombus, sogar die Vascularisation des letzteren nachgewiesen[18], sondern auch die Entstehung von Bindegewebe an Orten, wo niemals ein fibrinöses Blastem erkennbar ist. Bindegewebe entsteht direct aus Knorpel, aus Knochengewebe, aus Neuroglia. =Die eine Art der Entstehung schliesst die andere nicht aus=. Sogar an derselben Stelle kann Bindegewebe auf verschiedene Art sich bilden, z. B. an der inneren Oberfläche einer Arterie kann es entstehen durch Wucherung der Intima und durch Organisation von Thrombusmasse. Zuweilen verwandelt sich ein anderes Gewebe, wie wir sahen, durch Metaplasie unmittelbar in Bindegewebe; andermal erzeugt präexistirendes Bindegewebe neues durch directe Hyperplasie, ohne dass der Charakter des Gewebes sich während dieser Zeit im Wesentlichen ändert; andermal wiederum entsteht aus präexistirendem Bindegewebe zuerst ein indifferentes Granulationsgewebe und erst dieses geht durch Metaplasie wieder in Bindegewebe über. Es entsteht also nicht nur dasselbe Gewebe unter verschiedenen Bedingungen auf verschiedene Weise, sondern es kann sogar =dieselbe Matrix dasselbe Gewebe auf verschiedene Weise hervorbringen=. Ich bemerke jedoch ausdrücklich, dass, soweit unsere bisherigen Erfahrungen reichen, dieser Satz nicht auf alle pathologischen Gewebe und nicht auf alle Matrices Anwendung findet. [17] Mein Archiv 1847. I. 135. 1853. V. 438, 444, 455. [18] Gesammelte Abhandl. 1856. S. 323. Fünftes Capitel. Die Ernährung und ihre Wege. Selbsterhaltung als Grundlage der Lehre vom Leben. Ernährung und Stoffwechsel. Ernährung im Sinne des Gesammt-Organismus: Nahrungsstoffe, Verdauung, Circulation. Ernährung im cellularen Sinne. Endosmose und Exosmose, todter Stoffwechsel. Intermediärer Stoffwechsel (Transito-Verkehr). Eigentlich nutritiver Stoffwechsel. Ernährungseinheiten und Krankheitsheerde. Thätigkeit der Gefässe bei der Ernährung. Verhältniss von Gefäss und Gewebe. Leber. Niere. Gehirn. Muskelhaut des Magens. Knorpel. Knochen. Abhängigkeit der Gewebe von den Gefässen. Metastasen. Gefässterritorien (vasculäre Einheiten). Die Ernährungsleitung in den Saftkanälen der Gewebe. Knochen. Zahn. Faserknorpel. Hornhaut. Bandscheiben. Die Grundlage aller Vorstellungen über das Leben bildet die Erfahrung von der allem Lebendigen zukommenden Fähigkeit der =Selbsterhaltung=. Sowohl das organische Gesammt-Individuum, als die einzelne Zelle sind vermöge ihrer inneren Einrichtung (Organisation) befähigt, sich unter den mannichfaltigsten äusseren Verhältnissen zu erhalten, Störungen, die sie erlitten haben, auszugleichen (zu reguliren), und eine Reihe von Thätigkeiten zu äussern, deren einfachstes Ergebniss die Erhaltung des Status quo ist. Die Gesammtheit der Vorgänge, durch welche dieses Ergebniss erzielt wird, pflegt man mit einem allerdings sehr dehnbaren und daher auch häufig nur wenig zutreffenden Ausdrucke =Ernährung= (=Nutrition=) zu nennen[19]. Als das eigentliche Wesen der Ernährung gilt wiederum sehr allgemein der =Stoffwechsel=, d. h. die Aufnahme, Assimilation, Zersetzung (Desintegration) und Wiederausscheidung gewisser Stoffe, welche dieser Anschauung entsprechend =Nahrungsstoffe= genannt werden. [19] Vgl. meinen Vortrag über Nahrungs- und Genussmittel. Berlin 1868. S. 23. Es ist leicht verständlich, dass in der Meinung vieler Physiologen und Pathologen, namentlich vieler praktischen Aerzte die Lehre von der Ernährung als der Ausgangspunkt aller weiteren Erörterungen erscheint, und wir wollen daher diesen Punkt sofort besprechen, um so mehr, als ich die überlieferten Vorstellungen in mehrfacher Beziehung nicht als berechtigt anerkenne. Selbst die Physiologie hat erst in den letzten Jahren angefangen, sich derjenigen Betrachtungsweise anzunähern, welche ich seit langer Zeit als die entscheidende vertheidigt habe. Zwei Umstände namentlich sind es gewesen, welche die Vereinbarung erschwert haben. Einerseits die hervorragende Stellung, welche den =Vorgängen der Ernährung im Gesammt-Organismus= angewiesen wurde. Die Folge davon war, dass man die Forschung wesentlich auf die Geschichte der Nahrungsstoffe in den »ersten Wegen«, d. h. die Verdauung, und im Blute beschränkte, dass man also gewissermaassen da Halt machte, wo in der cellularen Anschauung die Ernährung im engeren Sinne eigentlich erst beginnt, nehmlich an den Geweben. Denn begreiflicherweise sind für denjenigen, welcher die Ernährung der einzelnen Theile als das Wesentliche ansieht, alle anderen Vorgänge nur =Vorbereitungen=, und so wichtig Verdauung und Circulation auch sein mögen, so können sie doch nur als Akte gelten, welche die Bestimmung haben, den Elementartheilen geeignetes Material für ihre Ernährung zu liefern. -- Andererseits war der Umstand für die Einigung der verschiedenen Forscher hinderlich, dass man glaubte, mit dem blossen =äusserlichen= Stoffwechsel, der sogenannten Endosmose und Exosmose, das Hauptsächliche der Ernährung abgethan zu haben. Man übersah dabei, dass es auch im Todten einen Stoffwechsel gibt, wie die Geschichte der im menschlichen Körper selbst eingeschlossenen mortificirten Theile deutlich erkennen lässt[20], und dass es viel mehr auf den =inneren= Stoffwechsel ankommt, der sich durch blosse Endosmose und Exosmose nur unvollständig erkennen lässt. Aufnahme und Abgabe von Stoffen können erfolgen, ohne dass damit eine Ernährung bewirkt wird. Gleichwie ein Infusorium ein Indigokorn oder den Kieselpanzer einer Diatomee »frisst«, möglicherweise ohne Mund und Magen in sein Inneres aufnimmt, und diese Körper nachher wieder, möglicherweise ohne After, auswirft, so »fressen« viele Zellen Fett, ohne es zu assimiliren oder zu verbrauchen, und sie werfen es später wieder aus, ohne es »verdaut« zu haben. Dieser, wie ich ihn genannt habe[21], nur =intermediäre= Stoffwechsel (Transito-Verkehr) ist von dem eigentlich nutritiven wohl zu trennen. [20] Verhandlungen der Berliner medic. Gesellschaft 1867. S. 254. [21] Archiv 1857. XI. 574. Ich bin von Anfang an[22] davon ausgegangen, dass die Zellen die eigentlichen =Ernährungseinheiten= seien und dass sie gerade aus diesem Grunde auch als die eigentlichen =Krankheitseinheiten= (=Krankheitsheerde=) aufgefasst werden müssten. Meine eigenen Vorstellungen haben sich insofern erweitert, als ich später in schärferer Weise, als es mir ursprünglich erschien, die formativen und functionellen Vorgänge von den nutritiven getrennt habe. Trotzdem muss ich noch gegenwärtig daran festhalten, dass die =cellulare Nutrition= in der That die erste Grundlage für die Betrachtung der vitalen Vorgänge bildet. In diesem Sinne wollen wir uns auch zunächst mit ihr beschäftigen. [22] Ebendas. 1852. IV. 387. 1855. VIII. 15. 1856. XI. 40. Gesammelte Abhandl. 1856. S. 50. Gewöhnlich betrachtet man in der Lehre von der Ernährung =die Gefässe= als diejenigen Kanäle, welche nicht nur den Stoffverkehr vermitteln, sondern auch durch bald active, bald passive Hülfe den einzelnen Theil in seinem Stoffverkehr überwachen. Seit lange hat man daher das Bestimmende bei dem Ernährungsvorgange mit einem Ausdrucke, der sich auch in die heutige Sprache hinübergeschlichen hat, in der Thätigkeit der Gefässe gesucht, wie wenn die Gefässe ein unmittelbares Regiment über die ihnen benachbarten oder von ihnen versorgten Gewebstheile ausübten. Wie ich schon früher bei Gelegenheit der Muskelfasern hervorhob (S. 61), so können wir heut zu Tage von einer Action der Gefässe nur in so weit sprechen, als Muskelfasern in denselben vorhanden sind, und als sich demnach die Gefässe durch Zusammenziehung ihrer Muskeln verengern oder verkürzen können. Die Verengerung hat das Resultat, dass der Durchtritt der Flüssigkeiten gehemmt wird, während umgekehrt bei Erschlaffung oder Lähmung der Muskeln das durch den Blutdruck erweiterte Gefäss den Durchtritt der Flüssigkeiten begünstigen kann. Gestehen wir dies zu, aber vergessen wir auch nicht, die Gewebsmasse, welche neben den Gefässen liegt, und welche man sich gewöhnlich als eine sehr einfache und träge Masse vorstellt, mit in Betracht zu ziehen. [Illustration: =Fig=. 32. Stück von der Peripherie der Leber eines Kaninchens; die Gefässe vollkommen injicirt. Vergr. 11.] Wenn wir Theile wählen, in welchen die Gefässe recht dicht liegen, in welchen vielleicht fast eben so viel an Gefässen vorhanden ist, als an Gewebe, so sehen wir, dass jedes einzelne Spatium, welches zwischen den Gefässen übrig bleibt, durch eine ganz kleine Zahl von Elementen erfüllt wird. Ein solches Organ ist die Leber, bei der in der That dieses Verhältniss ganz zutrifft. Denn eine Leber im gefüllten Zustande der Gefässe hat nahezu so viel Volumen Gefäss, als eigentliche Lebersubstanz. Betrachten wir einen einzelnen Acinus der Leber für sich, so finden wir in dem glücklichsten Falle des Querschnittes in seiner Mitte die Vena centralis oder intralobularis, die zur Lebervene geht, im Umfange Aeste der Pfortader, welche in das Innere des Acinus capillare Zweige senden. Letztere bilden sofort ein Anfangs langmaschiges, später kürzeres Netz, welches sich in der Richtung gegen die Vena centralis (hepatica) fortsetzt und zuletzt in dieselbe einmündet. Das Blut strömt also, indem es von der V. interlobularis (portalis) eintritt, durch das Capillarnetz hindurch zur Vena intralobularis, von wo es durch die Venae hepaticae wieder zum Herzen zurückgeführt wird. Hat man nun eine injicirte Leber vor sich, so sieht man dieses Netz so dicht, dass dasjenige Gewebe, welches die Maschen des Netzes erfüllt, fast geringer an Masse erscheint, als der Raum, welcher von den Gefässen eingenommen wird. So kann man sich leicht vorstellen, wie die älteren Autoren, vor Allen =Ruysch=, durch ihre Injectionen auf die Vermuthung kommen konnten, dass fast Alles im Körper aus Gefässen bestände und dass die verschiedenen Organe nur durch Differenzen in der Anordnung ihrer Gefässe sich unterschieden. Gerade umgekehrt, wie an einem Injectionspräparat, erscheint jedoch das Verhältniss an einem gewöhnlichen Präparat aus einer blutleeren Leber. Hier nimmt man die Gefässe fast gar nicht wahr. Man sieht wohl ein ähnliches Netz, aber dies ist das Netz der Leberzellen (Fig. 29), welche, dicht an einander gedrängt, allein vorhanden zu sein scheinen. Es ergiebt sich also, dass Gefässnetz und Zellennetz sich auf das Innigste durchflechten, so dass überall fast unmittelbar an der Gefässwand Zellen des Leberparenchyms liegen. Zwischen den Zellen und der Gefässwand bemerkt man nur sehr schwer noch eine feine Lage, von der es unter den Histologen immer noch streitig ist, ob sie einer besonderen und continuirlichen Wand zuzuschreiben ist, welche die feinsten Gallengänge zusammensetzt, oder ob nur eine minimale Menge von Bindegewebszellen die Zellennetze umgreift. In diesem Falle kann man allerdings ein sehr einfaches Verhältniss zwischen den Gefässen und den Zellen annehmen; man kann sich vorstellen, dass das Blut, welches in den Gefässen strömt, je nach den Erweiterungszuständen der letzteren und je nach seiner Menge unmittelbar auf die anstossenden Elemente einwirkt und unmittelbar Ernährungsstoffe an sie abgiebt, sowie Zersetzungsstoffe aus ihnen aufnimmt. Freilich kann man in Beziehung auf die Ernährungsverhältnisse entgegenhalten, dass es sich hier um eine ganz eigenthümliche Gefäss-Einrichtung handelt, die wesentlich venöser Natur ist, zusammengesetzt aus Pfortader- und Lebervenenästen, allein in dasselbe Capillarnetz geht auch die Arteria hepatica hinein, und das Blut lässt sich in dem Netz nicht mehr in seine einzelnen arteriellen und venösen Theile zerlegen. Die Injectionen gelangen von jedem der Gefässe zuletzt in dasselbe Capillarnetz hinein. Nichts desto weniger halte ich es für berechtigt, gerade bei einem Organe, wie die Leber, welches einen so ausgezeichnet intermediären Stoffverkehr hat, die grosse Nähe der Capillaren für wichtiger in Beziehung auf diesen Stoffverkehr, als in Beziehung auf die eigentliche Ernährung zu halten. Jedenfalls begreift man leicht, dass alle Produkte des Transito-Verkehrs zuerst und am stärksten in denjenigen Zellen erscheinen, welche von dem einströmenden Blute zuerst berührt werden. Es sind dies die peripherischen Zellen der einzelnen Acini. Etwas anders ist das Verhältniss schon in der =Niere=. Macht man einen feinen Durchschnitt durch die Rindensubstanz, nachdem man vorher die Gefässe sorgfältig injicirt hat, so bemerkt man, dass letztere die Harnkanälchen ziemlich dicht umspinnen (Fig. 33, _c_, _e_). Diese sind ihrerseits zusammengesetzt aus einer strukturlosen Haut, der sogenannten Tunica propria (Fig. 33, _b_), und einem zusammenhängenden Epithel, welches das freie Kanallumen (_d_) umgiebt. Hier bleibt zwischen den Gefässen und der Tunica propria noch ein kleiner Raum, in welchem bei genauester Untersuchung ein fast strukturloses, feinstreifiges Bindegewebe mit Zellen, Bindegewebskörperchen (_a_), gelagert ist. Die Epithelialzellen sind demnach von den Capillaren getrennt durch die Tunica propria und diese Bindegewebslage, und die Blutflüssigkeit muss, um zu den Epithelzellen Säfte abgeben zu können, nicht nur die Capillarwand, sondern auch die genannten zwei Septa durchdringen, deren Zustände natürlich nicht ohne Bedeutung für die Möglichkeit dieser Durchdringung sein können. Ueberdies bemerkt man leicht, dass eine grössere Zahl von Zellen stets einer einzigen Capillarschlinge anliegt, und es bedarf wohl nur dieser Erinnerung, um darauf aufmerksam zu machen, dass es schwer erklärlich sein würde, wie, was zuweilen vorkommt, nur einzelne Zellen besondere nutritive Abweichungen zeigen, wenn in der That die Gefässe das allein Bestimmende bei der Ernährung wären. [Illustration: =Fig=. 33. Durchschnitt durch die Rindensubstanz einer künstlich injicirten menschlichen Niere. _a_. Bindegewebskörperchen des Stromas oder des interstitiellen Gewebes, dessen Masse in der Zeichnung etwas zu gross ausgefallen ist. _b_. Tunica propria des Harnkanälchens. _c_, _c_ Capillargefässe. _d_. Das Harnkanälchen mit seinem Epithellager. Vergr. 300. (Nach A. =Beer=, Die Bindesubstanz der menschlichen Niere. Berlin 1859. Fig. 3.)] So einfach, wie in der Leber und in der Niere, gestalten sich aber die Verhältnisse in den meisten anderen Theilen nicht; gewöhnlich liegen ziemlich bedeutende Zwischenräume zwischen den einzelnen Gefässen, und nicht unbeträchtliche Mengen von Elementen sind in jeder einzelnen Capillar-Masche enthalten. Ja, in demselben Organe sind diese Verhältnisse sehr verschieden, je nachdem die Function der einzelnen Theile einen rascheren Wechsel der Stoffe erfordert. Nirgends tritt dies so auffällig hervor, als im =Gehirn=. Hier ist die Gefässverbreitung in der weissen Substanz, die hauptsächlich Nervenfasern enthält, ziemlich spärlich, während sie in der grauen Substanz, welche die Ganglienzellen führt, überaus reichlich ist. Das eine hier abgebildete Object (Fig. 34) zeigt eine künstliche Injection der Rinde des Kleinhirns, das zweite (Fig. 35) die natürliche Gefässfülle in dem sehr rothen Corpus striatum eines Geisteskranken, der unter einer starken Hyperämie des Gehirns gestorben war. Der Schnitt ist quer durch das Corpus striatum gelegt, und man erkennt von Strecke zu Strecke grössere, bei durchfallendem Lichte dunkel erscheinende Stellen, rundliche Flecke (Fig. 35, _a_, _a_, _a_), die bei auffallendem Lichte und für das blosse Auge weiss aussehen und Querdurchschnitte jener Bündel von Nervenfasern darstellen, welche in langen Zügen gegen das Rückenmark hinziehen. Gefässe treten in diese Bündel fast gar nicht ein. Die übrige Masse dagegen besteht aus der eigentlichen grauen Substanz des Corpus striatum; innerhalb derselben verbreitet sich ein sehr feinmaschiges Gefässnetz, wie denn überhaupt die graue Substanz der Nervencentren sich sowohl im Innern, als an der Rinde durch ihren grossen Gefässreichthum vor der weissen Substanz auszeichnet. In dem Object sieht man einzelne grössere Gefässe, von welchen Aeste ausgehen, die sich immer feiner verzweigen, bis sie endlich in ganz feinmaschige Capillarnetze übergehen. Allein so eng dieses Netz in der grauen Substanz auch sein mag, so stösst doch keinesweges jedes einzelne Element der Hirnsubstanz unmittelbar an ein Capillargefäss. [Illustration: =Fig=. 34. Künstliche Injection der Rinde des menschlichen Kleinhirns, _a a_. Weisse Substanz der Arbor vitae, _g g_. graue Substanz, _s s_. Sulci zwischen den Gyri, in welche die Arterien mit der Pia mater eintreten und von da Aeste in die Hirnsubstanz senden, welche in der grauen Substanz ein ganz feines Netz bilden, zum Theil aber in grösseren Stämmen zur weissen Substanz durchtreten, wo sie sehr spärliche Netze bilden. Nach einer Injection des Herrn =Gerlach=. Ganz schwache Vergrösserung.] [Illustration: =Fig=. 35. Natürliche Injection des Corpus striatum eines Geisteskranken. _a a_. Gefässlose Lücken, entsprechend den Zügen von Nervenfasern, welche das Ganglion durchsetzen. Vergröss. 80.] Gleichmässiger ist die Gefässvertheilung an der =Muskelhaut des Magens=: hier bilden die Gefässe ziemlich regelmässige, unter einander durch Queranastomosen in Verbindung stehende Netze, von denen aus sich immer kleinere Gefässe verästeln, die zuletzt feinste Netze bilden, so dass dadurch das Ganze in eine Reihe von unregelmässig viereckigen Abtheilungen zerlegt wird. Auf jeden letzten Zwischenraum fällt eine grössere Zahl von Muskelelementen, so dass die Gefässe an einigen Stellen die Muskelfasern berühren, an anderen Stellen entfernter davon liegen. [Illustration: =Fig=. 36. Injectionspräparat von der Muskelhaut des Magens eines Kaninchens, 11 mal vergrössert.] [Illustration: =Fig=. 37. Durchschnitt des Calcaneus-Knorpels vom Neugebornen. _C_. der Knorpel, dessen Zellen durch feine Punkte angedeutet sind. _P_. Perichondrium und anstossendes Fasergewebe. _a_. die Ansatzzelle am Knochen, mit den von der Arteria nutritia aufsteigenden Gefässschlingen. _b b_. Gefässe, die durch das Perichondrium gegen den Knorpel andringen. Vergröss. 11.] Verfolgt man in dieser Weise die Einrichtung der verschiedenen Organe und Gewebe, so kommt man von solchen, welche nach der Injection fast nur aus Gefässen zu bestehen scheinen, mit der Zeit zu denjenigen, welche fast gar keine Gefässe enthalten und endlich zu solchen, welche wirklich keine mehr führen. Dieses Verhältniss trifft man am meisten ausgesprochen in den Epithelialformationen, welche auch da, wo sie am mächtigsten ausgebildet sind, keine Gefässe besitzen; nächstdem in den Geweben der Bindesubstanz, und hier wieder am reinsten am Knorpel, weniger rein am Knochengewebe. Der entwickelte normale Knorpel hat überhaupt gar keine Gefässe; der entwickelte Knochen enthält allerdings Gefässe, aber in einem sehr wechselnden Maasse und zum Theil recht spärlich. Dass der entwickelte =Knorpel= keine Gefässe enthält, davon gibt fast jedes Knorpelpräparat Zeugniss (Fig. 9, 14, 23). Eine fast beständige Ausnahme davon macht der wachsende Knorpel, der sich zur Verknöcherung anschickt, gleichviel ob im physiologischen oder pathologischen Wege. Besonders interessant ist das Verhältniss an jungem, wachsendem Knorpel. Fig. 37 zeigt einen Schnitt aus dem Caleaneus eines neugebornen Kindes, wo von der schon gebildeten centralen Knochenmasse, dem sogenannten Knochenkern aus Gefässe in den noch sehr reichlichen peripherischen Knorpel hineingehen. Das Präparat zeigt an seiner äussersten Oberfläche die Uebergänge zu dem Perichondrium, während der untere Theil des Schnittes bis nahe an die Grenze des schon gebildeten Knochenkerns reicht. Von hier aus steigen grosse Gefässe auf, welche von der Arteria nutritia herstammen; sie endigen mitten im Knorpel, indem sie Schlingen und Netze bilden und gleichsam Zottenbäume inmitten des Knorpels darstellen, welche sehr ähnlich sind den Chorion-Zotten am Ei. In der That wachsen von der Arteria nutritia her die Gefässe in den Knorpel hinein, aber nur bis zu einer gewissen Höhe. Hier lösen sie sich in wirkliche Schlingen oder in ein feines Netzwerk von Capillaren auf, aus dem sich Venen zusammensetzen, die in derselben Richtung, in welcher die Arterien herkamen, zurückgehen. Die ganze übrige Masse besteht aus gefässlosem Knorpel, dessen Körperchen bei schwacher Vergrösserung als feine Punkte erscheinen. Es liegt also ein ganzes Heer von Knorpelkörperchen zwischen den letzten Schlingen und der äusseren Oberfläche, die meisten sehr entfernt von den äussersten Gefässenden. Diese ganze Lage ist in ihrer Ernährung allerdings abhängig von dem Safte, der aus den Endschlingen austritt, zum Theil auch von den Stoffen, welche die spärlichen Gefässe des Perichondriums zuführen, jedoch nicht so, dass jedes Körperchen eine besondere Beziehung zu einzelnen Gefässen oder Gefässtheilen hätte. Die von der Arteria nutritia stammenden Gefässe bezeichnen an allen Knorpeln schon ziemlich frühzeitig ungefähr die Grenze, bis zu welcher späterhin die Ossification fortschreiten wird, während derjenige Theil, welcher als Knorpelrest am Gelenk liegen bleibt, niemals Gefässe enthält. [Illustration: =Fig=. 38. Knochenschliff aus der compacten Rindensubstanz eines Os femoris. _P P_. die dem Periost zugewendete Oberfläche, an welcher parallele Züge von Knochenkörperchen liegen, _v v_. grössere Gefässe, die aus dem Periost in den Knochen eindringen und sich bald verästeln, _v_' _v_' kleinere Gefässe derselben Art. Alle dunklen Züge und Flecke bezeichnen angeschliffene Gefässkanäle. Sie sind von parallelen und concentrischen Lagen von Knochenkörperchen begleitet. Vergröss. 120.] Was die =Knochen= selbst anbetrifft, so ist bei ihnen das Gefäss-Verhältniss ein ziemlich einfaches, aber auch zugleich ein sehr charakteristisches. Wenn man die äussere Oberfläche der Knochenrinde betrachtet, so sieht man schon mit dem blossen Auge kleine Löcher (Poren). Es sind dies die Oeffnungen von Kanälen, durch welche Gefässe aus dem Periost in die Knochenrinde eintreten. Bei einer mässigen Vergrösserung erkennt man, dass diese Kanäle (Fig. 38, _v_, _v_') alsbald unter der Oberfläche sich verästeln. So entsteht ein System unter einander anastomosirender Röhren, die zuweilen mehr schräg nach Innen gehen, aber im Wesentlichen eine Längsrichtung einhalten. Zwischen diesen Maschen bleiben verhältnissmässig breite Zwischenräume, welche von dem eigentlichen Knochengewebe erfüllt sind. In dem letzteren liegen die Knochenkörperchen, grade so, wie in dem vorigen Beispiele die Knorpelkörperchen, und zwar im Allgemeinen in Reihen parallel den Gefässen. Nur die am meisten peripherischen Lagen der Rinde zeigen Knochenkörperchen, welche der Oberfläche parallel sind und deren Längsrichtung an langen Knochen (Röhrenknochen) der Längsaxe entspricht. Untersucht man dagegen Querschnitte, so bekommt man natürlich an den Stellen, wo vorher Längskanäle zu sehen waren, einfache runde Löcher, Durchschnitte (Fig. 39, _a_) zu Gesicht, hier und da durch eine schräge Verbindung vereinigt. Zwischen ihnen befindet sich die eigentliche Tela ossea mit den Knochenkörperchen, in lamellösen Schichten gelagert, und zwar concentrisch um die Gefässe. Im Allgemeinen kann man daher sagen, dass die compakte Substanz der Knochen durchweg aus einer Zusammenordnung paralleler Lagen von Knochengewebe besteht, welche zu mehreren die einzelnen Gefässe umgeben. Nur da, wo diese Systeme von concentrischen Lamellen endigen, gewissermaassen in den Räumen, welche zwischen diesen Systemen übrig bleiben, findet sich eine geringe Masse von Knochengewebe (Fig. 39, _i_), welche nicht dieselbe Anordnung zeigt, sondern sich mehr unabhängig verhält; bei genauer Analyse zeigt sich, dass sie aus kleinen Säulen gebildet ist, welche meist senkrecht auf der Längsaxe des Knochens stehen und in eine Art von Bogen übergehen, die der Längsaxe parallel sind. Dies sind die Ueberreste der bei dem Dickenwachsthum des Knochens zuerst gebildeten, also ältesten Balken der Tela ossea. [Illustration: =Fig=. 39. Knochenschliff, _a_ querdurchschnittener Mark- (Gefäss-) Kanal, um welchen die concentrischen Lamellen _l_ mit Knochenkörperchen und anastomosirenden Knochenkanälchen liegen. _r_ längsdurchschnittene, parallele Lamellen. _i_ unregelmässige Lagerung in den ältesten Knochenschichten, _v_ Gefässkanal. Vergröss. 280.] Da man meistentheils in den Kanal-Durchschnitten, die man in Schliffen des Knochens gewinnt, die Gefässe selbst nicht mehr erkennt, so nannte man die Höhlungen (Fig. 38, _v_, _v_'; 39, _a_, _v_), in denen die Gefässe verlaufen, Markkanäle, insofern uneigentlich, als in diesen engen Kanälen meist kein Mark enthalten ist; man sollte eigentlich sagen: Gefässkanäle, doch ist jener Ausdruck so allgemein angenommen, dass man ihn auch da gebraucht, wo die Gefässwand sich unmittelbar an die innere Oberfläche der Höhlung anlegt. Häufig bezeichnet man die Kanäle auch nach ihrem Entdecker =Havers=. Im nächsten Umfange dieser Kanäle liegt stets eine Reihe von eigenthümlichen Gebilden: längliche oder rundliche, bei durchfallendem Lichte gewöhnlich schwarz erscheinende Körper, die mit Zacken oder Ausläufern versehen sind. Man nannte sie Knochenkörperchen (Fig. 24) und ihre Ausläufer Knochenkanälchen (Canaliculi ossei). =Johannes Müller=, welcher die Ansicht hegte, dass die Kalksubstanz in ihnen abgelagert sei und das dunklere Aussehen, welches sie bei durchfallendem Lichte darzubieten pflegen, eben von ihrem Kalkgehalte herrühre, bezeichnete die Kanälchen als Canaliculi chalicophori, ein Name, der heut zu Tage ganz gestrichen ist, weil man sich überzeugt hat, dass der Kalk gerade in ihnen nicht, sondern überall in der homogenen Grundsubstanz enthalten ist, welche zwischen ihnen liegt. [Illustration: =Fig=. 40. Knochenschliff (Längsschnitt) aus der Rinde einer sklerotischen Tibia. _a a_ Mark- (Gefäss-) Kanäle, zwischen ihnen die grossentheils parallel, bei _b_ concentrisch (Querschnitt) geordneten Knochenkörperchen. Vergr. 80.] Als man erkannte, dass der Absatz des Kalkes in dem Knochengewebe gerade umgekehrt, wie man geglaubt hatte, stattfindet, so ging man alsbald in das andere Extrem über, indem man den Namen der Knochenkörperchen durch den der Knochenlücken (Lacunen) ersetzte und annahm, der Knochen enthalte nur eine Reihe von leeren Höhlen und Kanälen, in welche allenfalls Flüssigkeit oder Gas gelange, welche aber eigentlich doch nur Spalten des Knochens darstellten. Einzelne nannten sie auch geradezu Knochenspältchen (=Bruch=). Ich habe mich bemüht, auf verschiedene Weise den Nachweis zu führen, dass es wirkliche Körperchen sind und nicht bloss Höhlen in einem Grundgewebe, mit einem Wort, dass es Gebilde sind, mit besonderen Wandungen und eigenen Grenzen versehen, welche sich aus der Grundsubstanz auslösen lassen. Durch chemische Einwirkung, insbesondere durch Maceration in concentrirter Salz- oder Salpetersäure, kann man es dahin bringen, dass die Grundsubstanz sich auflöst und die Körperchen frei werden. Dadurch ist wohl am sichersten der Nachweis geliefert, dass es körperliche, wirklich für sich bestehende Gebilde sind. Ueberdies erkennt man in ihnen Kerne, und, auch ohne auf die Entwickelungsgeschichte einzugehen, findet man, dass man es auch hier wieder mit zelligen Elementen sternförmiger Art zu thun hat. Die Zusammensetzung des Knochens ergiebt demnach ein Gewebe, welches in einer scheinbar ganz homogenen, verkalkten Grundmasse (Intercellularsubstanz) sehr regelmässig vertheilt die eigentlichen, sternförmigen Knochenzellen enthält. Die Entfernung zwischen je zwei Knochengefässen ist oft sehr bedeutend; ganze Lamellensysteme schieben sich zwischen die Markkanäle ein, mit zahlreichen Knochenkörperchen durchsetzt. Hier ist es gewiss schwierig, sich die Ernährung eines so complicirten Apparates als abhängig von der Thätigkeit der zum Theil so weit entfernten Gefässe zu denken, namentlich sich vorzustellen, wie jedes einzelne Körperchen in dieser grossen Zusammensetzung immer noch in einem Specialverhältniss der Ernährung zu den Gefässen stehen soll. Ueberdies lehrt die Erfahrung, dass wirklich jedes einzelne Knochenkörperchen für sich ein besonderes Ernährungs-Verhältniss besitzt. -- Ich habe diese Einzelheiten vorgeführt, um die lange Stufenleiter zu zeigen, die von =den gefässreichen und den gefässhaltigen zu den gefässarmen und den gefässlosen= Theilen stattfindet. Will man eine einfache und zugleich befriedigende Anschauung der Ernährungs-Verhältnisse haben, so glaube ich es als logische Forderung aufstellen zu müssen, dass Alles, was von der Ernährung der gefässreichen Theile ausgesagt wird, auch für die gefässarmen und für die gefässlosen Gültigkeit haben muss, und dass, wenn man die Ernährung der einzelnen Theile in eine direkte Abhängigkeit von den Gefässen oder dem Blute stellt, man wenigstens darthun muss, dass alle Elemente, welche in nächster Beziehung zu einem und demselben Gefässe stehen, welche also in ihrer Ernährung auf ein einziges Gefäss angewiesen sind, auch wesentlich gleichartige Lebensverhältnisse darbieten. In dem Falle vom Knochen müsste jedes System von Lamellen, welches nur ein Gefäss für seine Ernährung hat, auch immer gleichartige Zustände der Ernährung darbieten. Denn wenn das Gefäss oder das Blut, welches in demselben circulirt, das Thätige bei der Ernährung ist, so könnte man höchstens zulassen, dass ein Theil der Elemente, nehmlich der zunächst an den Gefässkanal anstossende, ihrer Einwirkung mehr, ein anderer, nehmlich der entferntere, weniger ausgesetzt sei; im Wesentlichen müssten sie aber doch eine gemeinschaftliche und gleichartige, höchstens quantitativ verschiedene Einwirkung erfahren. Dass dies keine unbillige Anforderung ist, dass man eine gewisse Abhängigkeit bestimmter Gewebs-Territorien von bestimmten Gefässen allerdings zugestehen muss, davon haben wir die schönsten Beispiele in der Lehre von den Metastasen, namentlich in dem Studium der Veränderungen, welche durch die Verschliessung einzelner Capillargefässe zu Stande kommen, wie wir sie aus der Geschichte der Capillar-Embolie kennen. In solchen Fällen sehen wir in der That, dass ein ganzes Gewebsstück, so weit es in einer unmittelbaren Beziehung zu einem Gefässe steht, auch in seinen pathologischen Verhältnissen ein Ganzes vorstellt, =ein vasculäres Territorium, eine Gefässeinheit=. Allein diese Gefässeinheit erscheint vor einer feineren Auffassung immer noch als ein Vielfaches, als eine mehr oder weniger grosse Summe von Ernährungseinheiten (Zellenterritorien) und es genügt nicht, den Körper etwa in lauter Gefässterritorien zu zerlegen, sondern man muss noch innerhalb derselben weiter auf die Zellenterritorien zurückgehen. In dieser Auffassung ist es, wie ich glaube, ein wesentlicher Fortschritt gewesen, dass durch meine Untersuchungen innerhalb der Gewebe der Bindesubstanz, wie ich früher hervorgehoben habe (S. 48), ein besonderes System anastomosirender Elemente nachgewiesen ist, und dass wir auf diese Weise anstatt der Vasa serosa, welche sich die Früheren für diese nächsten Zwecke der Ernährung zu den Capillaren hinzudachten, eine thatsächliche Ergänzung bekommen haben, durch welche die Möglichkeit von Saftströmungen an Orten gegeben ist, die an sich arm an Gefässen sind. Wenn wir beim =Knochen= stehen bleiben, so wären Vasa serosa eine nicht zu rechtfertigende Annahme. Die harte Grundsubstanz ist durch und durch ganz gleichmässig mit Kalksalzen erfüllt, so gleichmässig, dass man gar keine Grenze zwischen den einzelnen Kalktheilchen wahrnimmt. Wenn Einzelne angenommen haben, dass man kleine Körner daran unterscheiden könne, so ist dies ein Irrthum. Das Einzige, was man in der Grundsubstanz sieht, sind die Canaliculi, welche zuletzt alle zurückführen auf die Körper der Knochenzellen (Knochenkörperchen), und welche ihrerseits wieder verästelt sind. Die inneren Enden dieser Aeste, dieser kleinen Fortsätze reichen unmittelbar bis an die Oberfläche des Gefässkanals (Markkanals). Sie setzen also unmittelbar da ein, wo die Gefässmembran anliegt (Fig. 41), denn man kann sie deutlich auf der Wand des Kanals als kleine Löcherchen wahrnehmen. Da nun die verschiedenen Knochenkörperchen wieder unter sich in offener Verbindung stehen, so ist dadurch die Möglichkeit gegeben, dass eine gewisse Quantität von Saft, welcher an der inneren Fläche des Gefässkanals aufgenommen ist, durch die ganze Gewebsmasse hindurch dringt, nicht diffus, sondern innerhalb dieser feinen prädestinirten und continuirlichen Wege, welche der Injection vom Gefässe aus nicht mehr zugänglich sind. Eine Zeitlang hat man geglaubt dass die Kanälchen vom Gefässe aus zu injiciren seien, allein dies ist nur vom leeren (macerirten) Gefäss- oder Markkanal aus möglich. [Illustration: =Fig=. 41. Schliff aus einem neugebildeten Knochen der Arachnoides cerebralis, der übrigens ganz normale Verhältnisse des Baues zeigt. Man sieht einen verästelten Gefäss- (Mark-) Kanal mit den in ihn einmündenden und zu den Knochenkörperchen führenden Knochenkanälchen. Vergröss. 350.] Es ist dies ein ganz ähnliches Verhältniss, wie am =Zahn=, wo man von der leeren Zahnhöhle aus die Zahnkanälchen oder Zahnröhrchen (Fig. 42) injiciren kann. Spritzt man Carminlösung in eine leere Zahnhöhle, so sieht man die Zahnkanälchen zahlreich neben einander als nahezu parallel, nur wenig strahlig auseinander gehende Röhren zu der Oberfläche aufsteigen. Die Zahnsubstanz bildet eben auch eine breite Lage von gefässloser Substanz. Gefässe finden sich nur in der Markhöhle des Zahns; von da nach aussen haben wir weiter nichts, als die eigentliche Zahnsubstauz (Dentin) mit ihrem Röhrensystem, welches an der Krone bis nahe an den Schmelz (Fig. 42, _S_) reicht, an der Zahnwurzel dagegen unmittelbar übergeht in eine Lage von wirklicher Knochensubstanz (Cement). Hier sitzen die Knochenkörperchen am Ende dieser Röhren auf. Eine ähnliche Einrichtung für die Saftströmung, wie vom Marke der Knochen, geht hier von der Zahnpulpe aus; der Ernährungssaft kann durch Röhren bis zum Schmelz und zum Cement geleitet werden. [Illustration: =Fig=. 42. Zahnschliff von der Krone. _a_ äussere Oberfläche des Zahns, _i_ innere Grenze gegen die Markhöhle hin. _S_ Schmelz, _D_ Dentin. Vergr. 150.] Diese Art von Röhrensystemen, die im Knochen und Zahn in einer so ausgesprochenen Weise sich findet, ist in den weichen Gebilden mit einer ungleich geringeren Klarheit zu erkennen. Das ist wohl der hauptsächliche Grund gewesen, weshalb die Analogie, welche zwischen den weichen Geweben der Bindesubstanz und den harten der Knochen besteht, nicht recht zur Anschauung gelangt ist. Am deutlichsten sieht man solche Einrichtungen an Punkten, die eine mehr knorpelige Beschaffenheit haben, namentlich im Faserknorpel. Aber es ist noch viel mehr bezeichnend, dass wir von dem Knorpel eine Reihe von Uebergängen zu anderen Geweben der Bindesubstanz finden, in welchen sich stets dasselbe Verhältniss wiederholt. Zuerst Theile, die chemisch noch zum Knorpel gehören, z. B. die Hornhaut, welche beim Kochen Chondrin gibt, obgleich sie Niemand als wirklichen Knorpel ansieht. Viel auffälliger ist die Einrichtung bei solchen Theilen, bei denen die äussere Erscheinung für Knorpel spricht, ohne dass die chemischen Eigenschaften übereinstimmen, z. B. bei den Cartilagines semilunares im Kniegelenk, jenen Bandscheiben zwischen Femur und Tibia, welche die Gelenkknorpel vor zu starken Berührungen schützen. Diese Theile, welche bis vor Kurzem allgemein als Knorpel beschrieben wurden, geben beim Kochen nicht Chondrin, sondern Leim. In diesem harten Bindegewebe treffen wir, wie in der Hornhaut und dem Faserknorpel, dasselbe System von anastomosirenden Elementen mit einer ungewöhnlichen Schärfe und Klarheit. Gefässe fehlen darin fast gänzlich; dagegen enthalten diese Bandscheiben ein Röhrensystem von seltener Schönheit. Auf dem Durchschnitte sieht man, dass das Ganze sich zunächst zerlegt in grosse Abschnitte, ganz ähnlich wie eine Sehne; diese zerfallen wieder in kleinere, und die kleinen endlich sind durchsetzt von einem feinen, sternförmigen System von Röhren, oder wenn man will, von Zellen, insofern der Begriff einer Röhre und der einer Zelle hier zusammenfallen. Die Zellennetze, welche das Röhrensystem bilden, gehen nach aussen hin in die Grenzlager der einzelnen Abschnitte über, und hier sehen wir nebeneinander beträchtliche Anhäufungen von Spindelzellen. Auch in den Bandscheiben hängt dieses Netz von Röhrchen nur äusserlich zusammen mit dem Circulationsapparat: Alles, was in das Innere des Gewebes gelangen soll, muss auf grossen Umwegen ein Kanalsystem mit zahlreichen Anastomosen passiren, und die innere Ernährung ist ganz und gar abhängig von dieser Art der Leitung. Die Bandscheiben sind Gebilde von beträchtlichem Umfange und grosser Dichtigkeit; und da hier alle Ernährung auf das letzte feine System von Zellen zurückzuführen ist, so haben wir es noch viel mehr, als beim Knorpel, mit einer Art der Saftzufuhr zu thun, welche nicht mehr direkt von den Gefässen bestimmt werden kann. [Illustration: =Fig=. 43. Durchschnitt aus der halbmondförmigen Bandscheibe (Cartilago semilunaris) des Kniegelenks vom Kinde. _a_. Faserzüge mit spindelförmigen, parallel liegenden und anastomosirenden Zellen (Längsschnitt). _b_. Netzzellen mit breiten verzweigten und anastomosirenden Kanälchen (Querschnitt). Mit Essigsäure behandelt. Vergr. 350.] Für das Verständniss der Abbildung (Fig. 43) füge ich noch hinzu, dass die letzten Elemente der Bandscheiben als sehr kleine Zellkörper erscheinen, die in lange, feine Fäden ausgehen, welche sich verästeln. Durchschnitte dieser Fäden stellen sich als kleine Punkte mit einem hellen Centrum dar. Alle Fäden lassen sich mit grosser Bestimmtheit bis an gemeinschaftliche Zellkörper verfolgen, ganz wie im Knochen. Es sind feinste Röhren, die in innigem Zusammenhang unter einander stehen, nur dass sie sich an gewissen Punkten zu grösseren Haufen sammeln, durch welche die Hauptleitung erfolgt, und dass die Zwischensubstanz in keinem Falle Kalk aufnimmt, sondern stets ihre Bindegewebsnatur beibehält. Sechstes Capitel. Weiteres über Ernährung und Saftleitung. Sehnen, Hornhaut, Nabelstrang. Weiches Bindegewebe (Zellgewebe). Elastisches Gewebe. Strukturlose Häute: Tunicae propriae, Cuticula. Elastische Membranen: Sarkolemm. Lederhaut (Derma). Papillarkörper: vasculäre Bezirke. Unterhaut (subcutanes, subseröses, submucöses Gewebe). Tunica dartos. Das feinere Kanalsystem des Bindegewebes: Körperchen, Lacunen. Bedeutung der Zellen für die Specialvertheilung der Ernährungssäfte innerhalb der Gewebe. Vegetativer Charakter der Ernährung. Elective Eigenschaften der Zellen. Die Bandscheiben, wie wir sie in der am meisten ausgesprochenen Form im Kniegelenke an den sogenannten Semilunar-Knorpeln, die eben keine Knorpel sind, kennen gelernt haben, besitzen eigentlich die Eigenschaften platter Sehnen. Die einzelnen Structurverhältnisse, die wir in ihnen gefunden haben, wiederholen sich im Querschnitte der =Sehnen=. Betrachten wir daher zunächst diese oft so vernachlässigten Gebilde. Ich wähle dazu eine Reihe von Objecten aus der Achilles-Sehne sowohl des Erwachsenen, als des Kindes, welche verschiedene Entwickelungs-Stadien zeigen. Es ist dies überdem eine Sehne, die manche Bedeutung für operative Zwecke hat, die also schon aus praktischen Gründen wohl einen kleinen Aufenthalt entschuldigt. An der Oberfläche einer Sehne sieht man bekanntlich mit blossem Auge eine Reihe von parallelen weisslichen Streifen ziemlich dicht der Länge nach verlaufen, welche das atlasglänzende Aussehen bedingen. Bei mikroskopischer Betrachtung erscheinen die Streifen natürlich mehr getrennt: die Sehne sieht deutlich fasciculirt aus. Noch viel deutlicher ist dies auf einem Querschnitte, wo man schon mit blossem Auge eine Reihe von kleineren und grösseren Abtheilungen (Bündeln, Fascikeln) wahrnimmt. Vergrössert man das Object, so zeigt sich eine innere Einrichtung, welche fast ganz derjenigen entspricht, welche bei den Semilunar-Knorpeln geschildert ist. Am äusseren Umfange der Sehne liegt ringsumher eine faserige Masse, eine Art von lockerer =Scheide=, in der die Gefässe enthalten sind, welche die Sehne ernähren. Die grösseren Gefässe bilden in der Scheide ein Geflecht, welches die Sehne äusserlich umspinnt. Aus diesem Geflechte treten an einzelnen Stellen mit Fortsetzungen der Scheide Gefässe in das Innere, indem sie sich in den Zwischenlagen oder Scheiden der Fascikel (Fig. 44 _a_, _b_) verästeln. In das Innere der Fascikel selbst geht dagegen ebensowenig etwas von Gefässen hinein, als in das Innere der Bandscheiben; hier finden wir vielmehr wieder das mehrfach besprochene Zellennetz, oder anders ausgedrückt, das eigenthümliche saftführende Kanalsystem, dessen Bedeutung wir beim Knochen kennen gelernt haben. [Illustration: =Fig=. 44. Querschnitt aus der Achilles-Sehne eines Erwachsenen. Von der Sehnenscheide aus sieht man bei _a_, _b_ und _c_ Scheidewände nach innen laufen, welche maschenförmig zusammenhängen und die primären und secundären Fascikel abgrenzen. Die grösseren (_a_ und _b_) pflegen Gefässe zu führen die kleineren (_c_) nicht mehr. Innerhalb der secundären Fascikel sieht man das feine Maschennetz der Sehnenkörperchen (Netzzellen) oder das intermediäre Saftkanalsystem. -- Vergröss. 80.] [Illustration: =Fig=. 45. Querschnitt aus dem Innern der Achilles-Sehne eines Neugebornen. _a_ die Zwischenmasse, welche die secundären Fascikel scheidet (entsprechend Fig. 44, _c_), ganz und gar aus dichtgedrängten Spindelzellen bestehend. Mit diesen in direkter Anastomose sieht man seitlich bei _b_, _b_ netz- und spindelförmige Zellen in das Innere der Fascikel verlaufen. Die Zellen sind deutlich kernhaltig. Vergröss. 300.] Man kann demnach die Sehne zunächst in eine Reihe von grösseren (primären) Bündeln zerlegen, diese aber wieder in eine gewisse Summe von kleineren (secundären) Fascikeln theilen. Sowohl jene, als diese sind durch Züge einer faserigen, Gefässe und Faserzellen enthaltenden Bindesubstanz getrennt, so dass der Querschnitt der Sehne ein maschiges Aussehen darbietet. Von diesem interstitiellen oder interfasciculären Gewebe, das sich von der eigenthümlichen Sehnensubstanz nur durch seine Lockerheit, sowie durch die dichtere Anhäufung zelliger Elemente und durch die Anwesenheit der Gefässe unterscheidet, beginnt ein zusammenhängendes Netz sternförmiger Elemente (=Sehnenkörperchen=), welche in das Innere der Fascikel hineingehen, unter sich anastomosiren und die Verbindung zwischen den äusseren gefässhaltigen und den inneren gefässlosen Theilen der Fascikel herstellen. Dies Verhältniss ist in einer kindlichen Sehne sehr viel deutlicher, als in einer erwachsenen. Je älter nehmlich die Theile werden, um so länger und feiner werden im Allgemeinen die Ausläufer der Zellen, so dass man an vielen Schnitten die eigentlichen Zellenkörper gar nicht trifft, sondern nur feine, in Fäden zu verfolgende Punkte oder punktförmige Oeffnungen erblickt. Die einzelnen Zellkörper rücken also mit fortschreitendem Wachsthum weiter auseinander und es wird immer schwieriger, die Zellen in ihrer ganzen Ausdehnung mit ihren Fortsätzen auf einmal zu übersehen. Auch muss man sich erst über das Verhältniss von Längs- und Querschnitt in's Klare setzen, um die vorkommenden Bilder richtig zu verstehen. Wo nehmlich auf einem Längsschnitte spindelförmige Elemente liegen, da treffen wir auf einem Querschnitte sternförmige, und umgekehrt entspricht dem Zellennetze des Querschnittes die regelmässige Abwechselung von reihenweise gestellten spindelförmigen Elementen des Längsschnittes ganz nach dem Schema, wie wir es für das Bindegewebe überhaupt aufgestellt haben. Die Elemente sind also auch hier nur scheinbar einfach spindelförmig, wenn man einen reinen Längsschnitt betrachtet: ist dieser etwas schräg gefallen, so sieht man die seitlichen Ausläufer, durch welche die Zellen einer Reihe mit denen der anderen communiciren. [Illustration: =Fig=. 46. Längsschnitt aus dem Innern der Achilles-Sehne eines Neugebornen. _a_, _a_, _a_ Scheiden (interstitielles Gewebe). _b_, _b_ Fascikel. In beiden sieht man spindelförmige Kernzellen, zum Theil anastomosirend mit leicht längsstreifiger Grundsubstanz, die Zellen in den Scheiden dichter, in den Fascikeln spärlicher, bei _c_ der Durchschnitt eines interstitiellen Blut-Gefässes. Vergr. 250.] Bis jetzt hat man das fortgehende Wachsthum der Sehnen nach der Geburt noch nicht zum Gegenstande einer regelmässigen Untersuchung gemacht, und es ist nicht bekannt, ob dabei noch eine weitere Vermehrung der Zellen stattfindet; so viel ist jedoch sicher, dass die Zellen später sehr lang und die Abstände zwischen den einzelnen Kernstellen ausserordentlich gross werden. Das Structurverhältniss an sich erleidet dadurch jedoch keine Veränderung; die ursprünglichen Zellen erhalten sich, ohne in ihrer Form und ihren Lagerungs-Verhältnissen wesentliche Veränderungen zu erfahren, auch in dem grossen Röhrensystem, welches in der ausgewachsenen Sehne das ganze Gewebe durchzieht. Daraus erklärt sich die Möglichkeit, dass, obwohl die Sehne in ihren innersten Theilen keine Gefässe enthält und, wie man bei jeder Tenotomie sehen kann, nur wenig Blut in den äusseren Gefässen der Sehnenscheide und den inneren Gefässen der Interstitien der grösseren Bündel empfängt, doch eine gleichmässige Ernährung der Theile stattfinden kann. Diese lässt sich in der That nur so denken, dass auf besonderen, von den Gefässen unterscheidbaren Wegen Säfte durch die ganze Substanz der Sehne in regelmässiger Weise vertheilt werden. Nun sind aber die natürlichen Abtheilungen der Sehne fast ganz regelmässig, so dass ungefähr auf jedes einzelne zellige Element eine gleich grosse Menge von Zwischensubstanz kommt, und da die Zellenmaschen des Innern sich direkt in die dichten Zellenbündel der Interstitien und diese bis an die Gefässe verfolgen lassen (Fig. 44, 45), so darf man wohl unzweifelhaft in diesen Zellen die Wege einer intermediären Saftströmung sehen, welche nicht mehr durch freie Ostien mit den Wegen der allgemeinen Blutströmung zusammenhängen. Es ist dies ein neues Beispiel für meine Ansicht von den Zellenterritorien. Ich zerlege die ganze Sehne, abgesehen von primären und secundären Fascikeln, in eine gewisse Zahl von Reihen linear und maschenförmig verbundener Zellen; jeder Reihe rechne ich ein gewisses Gewebsgebiet zu, so dass z. B. auf einem Längsschnitte etwa die Hälfte der Zwischenmasse der einen, die andere Hälfte derselben der anderen Zellenreihe zugehören würde. Das, was man als die eigentlichen Bündel der Sehne betrachtet, wird hier also noch weiter zerspalten, indem die Sehne in eine grosse Zahl von besonderen Ernährungs-Territorien auseinander gelegt wird. Ein solches Verhältniss finden wir überall bei den Geweben dieser Gruppe wieder. Aus ihm leitet sich, wie man sich durch direkte Anschauung überzeugen kann, zugleich die Grösse der Krankheitsgebiete ab: =jede Krankheit, welche wesentlich auf einer nutritiven Störung der inneren Gewebs-Einrichtung beruht, stellt immer eine Summe aus den Einzelveränderungen solcher Territorien dar=. Die Bilder, welche man bei diesen Untersuchungen gewinnt, gewähren durch die Zierlichkeit der inneren Anordnung zugleich einen wirklich ästhetischen Genuss, und ich kann nicht leugnen, dass, so oft ich einen Sehnenschnitt ansehe, ich mit immer erneutem Wohlgefallen diese netzförmigen Einrichtungen betrachte, welche in so zweckmässiger Weise die Verbindung des Aeusseren mit dem Inneren herstellen, und welche, ausser in dem Knochen, kaum in irgend einem anderen Gebilde mit so grosser Schärfe und Klarheit sich darlegen lassen, wie in der Sehne. -- Dem Bau und den Einrichtungen nach schliesst sich hier am leichtesten die =Hornhaut= an. Denn in ähnlicher Weise, wie die Sehne ihr peripherisches Gefässsystem hat und ihre inneren Theile durch das feine saftführende Röhrensystem ernährt werden, so reichen auch an der Hornhaut nur die feinsten Gefässe, und auch diese kaum eine Linie weit, über den Rand herüber, so dass nicht bloss der centrale Abschnitt, sondern der grösste Theil der Cornea vollkommen gefässlos ist, was schon wegen der Durchsichtigkeit des Gewebes sich als nothwendig ergibt. Der grösste Theil der Hornhaut ist daher in seinen Ernährungs-Einrichtungen so gestellt, dass er vom Umfange und von den Flächen her Stoffe aufnehmen und leiten kann, ohne dass es dazu direkter Gefässverbindung bedürfte. Die Substanz der Hornhaut besteht nach der älteren Ansicht aus über einander geschichteten Lamellen (Platten oder Blättern), welche mehr oder weniger parallel durch die ganze Ausdehnung der Hornhaut gehen. Eine genauere Untersuchung zeigt jedoch, dass die Lamellen, wie beim Knochen, nicht vollkommen getrennt sind, dass vielmehr die einzelnen Gewebs-Schichten, welche allerdings im Grossen lamellös über einander gelagert sind, unter einander vielfach zusammenhängen; sie liegen nicht in irgend welcher Art lose oder fest auf einander, sondern sie haben unter sich direkte Verbindungen. Es ist daher die Cornea vielmehr als eine überall zusammenhängende Masse anzusehen, deren fast homogene Grundsubstanz in gewissen Richtungen oder Zügen unterbrochen wird durch zellige Elemente (=Hornhautkörperchen=), ganz in derselben Weise, wie dies bei den anderen verwandten Geweben, welche wir schon besprochen haben, gesehen wird. Ein Verticalschnitt zeigt uns spindelförmige Elemente, welche unter einander anastomosiren, zugleich aber auch seitliche Ausläufer haben. Betrachtet man sie von der Fläche, im Horizontalschnitte, so erweisen sie sich als vielstrahlige, sternförmige, aber sehr platte Zellen, den Knochenkörperchen vergleichbar. [Illustration: =Fig=. 47. Senkrechter Durchschnitt der Hornhaut des Ochsen, um die Gestalt und Anastomose der Hornhautzellen (Körperchen) zu zeigen. Hie und da sieht man durchschnittene, als Fasern oder Punkte erscheinende Zellenfortsätze. Vergr. 500. Nach His Würzb. Verhandl. IV. Taf. IV. Fig. I.] Indem nun diese Zellen in regelmässiger Weise, nehmlich in mehrfachen, parallelen Ebenen, in die Grundsubstanz eingelagert sind, so entsteht eben jene lamellöse, blätterige oder plattenartige Beschaffenheit des ganzen Gewebes. Die Blätter der Hornhaut sind die Analoga der Bündel der Sehne. -- [Illustration: =Fig=. 48. Flächenschnitt der Hornhaut, parallel der Oberfläche; die sternförmigen, platten Körperchen mit ihren anastomosirenden Fortsätzen. Nach =His=, ebendas. Fig. II.] Ich schliesse ein anderes Gewebe hier an, das sonst in der Histologie nicht besonders bevorzugt ist, das aber gewiss kein geringes Interesse hat, nehmlich das =Schleimgewebe=. Wir finden dasselbe in besonders reichlicher Anhäufung in dem Nabelstrang, wo es die sogenannte =Wharton='sche Sulze darstellt[23]. Diese gehört auch zu den Geweben, welche allerdings Gefässe führen, aber doch eigentlich keine Gefässe besitzen. Denn die Gefässe, welche durch den Nabelstrang hindurchgeleitet werden, sind nicht Ernährungsgefässe für die Nabelstrangsubstanz, wenigstens nicht in dem Sinne, wie wir von Ernährungsgefässen an anderen Theilen sprechen. [23] =Thom=. =Wharton= (Adenographia. Amstelod. 1659. pag. 233) sagt sehr charakteristisch: Lymphaeductus vel gelatina, quae eorum vices gerit, alterum succum albumini ovorum similiorem abducit (a placenta) ad funiculum umbilicalem. =Wenn man nehmlich von nutritiven Gefässen spricht, so meint man damit stets solche Gefässe, welche in die Theile, die ernährt werden sollen, Capillaren senden=. Die Aorta thoracica ist nicht das nutritive Gefäss des Thorax, eben so wenig als die Aorta abdominalis oder die Vena cava das für den Bauch. Man sollte also, wenn es sich um den Nabelstrang handelt, erwarten, dass ausser den beiden Nabel-Arterien und der Nabel-Vene noch Nabelstrang-Capillaren existiren. Allein Arterien und Vene verlaufen, ohne auch nur das Mindeste von Aesten abzugeben, vom Nabel bis zur Placenta hin; erst hier beginnen die Verästelungen. Die einzigen capillaren Gefässe, die überhaupt in dem Nabelstrange eines etwas entwickelten Fötus gefunden werden, reichen nur etwa 4-5 Linien, selten ein wenig mehr von der Bauchhaut aus in denjenigen Theil des Nabelstranges hinein, welcher nach der Geburt persistirt. Je nachdem dieser gefässhaltige Theil höher oder niedriger heraufreicht, wird auch der spätere Nabel verschieden entwickelt. Bei sehr niedriger Gefässschicht wird der Nabel sehr tief, bei sehr grosser gibt es einen prominirenden Nabel. Die Capillaren bezeichnen die Grenze, bis zu welcher das permanente Gewebe reicht; die Portio caduca des Nabelstranges hat keine eigenen Gefässe mehr. [Illustration: =Fig=. 49. Das abdominale Ende des Nabelstranges eines fast ausgetragenen Kindes, injicirt. _A_ die Bauchwand. _B_ der persistirende Theil mit dichter Gefäss-Injection am Rande. _C_ Portio caduca mit den Windungen der Nabelgefässe. _v_ die Capillargrenze.] Dieses Verhältniss, welches mir für die Theorie der Ernährung sehr wichtig zu sein scheint, übersieht man sehr leicht mit blossem Auge an injicirten Früchten vom fünften Monate an, sowie an Neugebornen. Die gefässhaltige Schicht setzt sich zuweilen fast geradlinig ab. Freilich ist ein solches Object nicht absolut beweisend, denn es könnten immerhin einzelne feine Gefässe noch weiter gehen, welche nicht mit blossem Auge erkennbar wären. Aber ich habe gerade diesen Punkt zum Gegenstande einer speziellen Untersuchung gemacht[24], und obwohl ich eine Reihe von menschlichen Nabelsträngen bald von den Arterien, bald von den Venen aus injicirt habe, so ist es mir doch nie gelungen, auch nur das kleinste collaterale Gefäss zu sehen, welches über die Grenze der Portio persistens hinausging. Der ganze hinfällige Theil des Nabelstranges, das lange Stück, welches zwischen dem cutanen Ansatz und der Placentar-Auflösung liegt, ist vollständig capillarlos, und es ist in ihm nichts weiter von Gefässen vorhanden, als die drei grossen Stämme. Diese zeichnen sich aber sämmtlich durch sehr dicke Wandungen aus, welche, wie wir erst durch =Kölliker='s Untersuchung wissen, ausserordentlich reich an glatten Muskelfasern sind. [24] Archiv f. path. Anatomie und Physiol. 1851. III. 459. [Illustration: =Fig=. 50. Querdurchschnitt durch einen Theil des Nabelstranges. Links sieht man den Durchschnitt einer Nabelarterie mit sehr starker Muskelhaut, daran schliesst sich das allmählich immer weiter werdende Zellennetz des Schleimgewebes. Vergr. 80.] Auf einem Querschnitte durch den Nabelstrang bemerkt man, wie die dicke mittlere Haut der Gefässe ganz und gar aus diesen Muskelfasern besteht, eine unmittelbar an der anderen, so reichlich, wie es sonst kaum an irgend einem vollständig entwickelten Gefässe gefunden wird. Diese Eigenthümlichkeit erklärt die auffallend grosse Contractilität der Nabelgefässe, welche bei Einwirkung mechanischer Reize, beim Abschneiden mit der Scheere, beim Kneifen oder auf elektrische Reize im Grossen so leicht in Wirkung tritt. Zuweilen verengern sich die Gefässe auf äussere Reize selbst bis zum Verschlusse ihres Lumens, so dass nach der Geburt auch ohne Ligatur, z. B. nach Abreissen des Nabelstranges, die Blutung von selbst stehen kann. Die Dicke der Wandungen dieser Gefässe ist daher leicht begreiflich, denn zu der an sich so dicken Muscularis kommt noch eine innere und eine, wenn auch nicht gerade sehr stark entwickelte, äussere Haut; daran erst schliesst sich das sulzige Gallert-Gewebe (=Schleimgewebe=). Durch diese Lagen hindurch würde also die Ernährung geschehen müssen. Ich kann nun allerdings nicht mit Sicherheit sagen, von wo aus das Gewebe des Nabelstranges sich ernährt; vielleicht nimmt es aus dem Liquor Amnios Ernährungsstoffe auf; auch will ich nicht in Abrede stellen, dass durch die Wand der Gefässe Ernährungsstoffe hindurchtreten mögen, oder dass sich von den kleinen Capillaren des persistirenden Theils aus nutritives Material fortbewegt. Aber in jedem Falle liegt eine grosse Masse des Gewebes fern von allen Gefässen und von der Oberfläche; sie ernährt und erhält sich, ohne dass eine feinere Circulation von Blut in ihr vorhanden ist. Man hat nun allerdings lange Zeit hindurch sich mit diesem Gewebe nicht weiter beschäftigt, weil man es mit dem Namen der Sulze (Gallerte) belegte und es damit überhaupt aus der Reihe der Gewebe in die vieldeutige Gruppe der blossen Anhäufungen oder Ausschwitzungen von organischer Masse warf. Ich habe erst gezeigt[25], dass es wirklich ein gut gebildetes Gewebe von typischer Einrichtung ist, und dass dasjenige, was im engeren Sinne die Sulze darstellt, der ausdrückbare Theil der Intercellularsubstanz ist, nach dessen Entfernung ein leicht faseriges Gewebe zurück bleibt, welches ein feines, anastomotisches Netz von zelligen Elementen in derselben Weise enthält, wie wir es eben an der Sehne und an anderen Theilen kennen gelernt haben. Ein Durchschnitt durch die äusseren Schichten des Nabelstranges zeigt eine Bildung, welche viel Aehnlichkeit mit dem Habitus der äusseren Haut hat: ein Epidermoidal-Stratum, darunter eine etwas dichtere cutisartige Lage, dann die =Wharton=sche Sulze, welche der Textur nach dem Unterhautgewebe entspricht und eine Art von Tela subcutanea darstellt. Dies hat insofern für die Deutung einiger Gewebe der späteren Zeit ein besonderes Interesse, als die Sulze des Nabelstranges dadurch ihre nächste Verwandtschaft documentirt mit dem Panniculus adiposus, der aus ursprünglichem Schleimgewebe hervorgeht, sowie mit dem =Glaskörper=, welcher der einzige Gewebs-Rest ist, der, soweit ich bis jetzt ermitteln konnte[26], beim Menschen während des ganzen Lebens in dem Zustande einer zitternden Gallerte oder Sulze verharrt. Er ist der letzte Rest des embryonalen Unterhautgewebes, welches bei der Entwickelung des Auges mit der Linse (der früheren Epidermis, S. 36) von aussen eingestülpt wird. [25] Würzb. Verhandl. 1851. II. 160. [26] Würzb. Verhandl. II. 317. Archiv f. path. Anat. IV. 486. V. 278. Die Haupt-Masse des Nabelstranges besteht aus einem maschigen Gewebe, dessen Maschenräume Schleim (Mucin) und einzelne rundliche Zellen enthalten und dessen Balken aus einer streifig-faserigen Substanz bestehen. Innerhalb dieser letzteren liegen sternförmige Elemente. Stellt man durch Behandlung mit Essigsäure ein gutes Präparat her, so bekommt man ein regelrechtes Netz von Zellen zu Gesicht, welches die Masse in so regelmässige Abtheilungen zerlegt, dass durch die Anastomosen, welche diese Zellen durch den ganzen Nabelstrang haben, eben auch eine gleichmässige Vertheilung der Säfte durch die ganze Substanz möglich wird. -- [Illustration: =Fig=. 51. Querdurchschnitt vom Schleimgewebe des Nabelstranges, das Maschennetz der sternförmigen Körper nach Behandlung mit Essigsäure und Glycerin darstellend. Vergr. 300.] Ich habe bis jetzt eine Reihe von Geweben vorgeführt, die alle darin übereinkamen, dass sie entweder sehr wenig Capillargefässe oder gar keine besitzen. In allen diesen Fällen erscheint der Schluss sehr einfach, dass die besondere zellige Kanal-Einrichtung, welche sie besitzen, für die Saftströmung diene. Man könnte aber, zumal wenn man das Schleimgewebe nicht anerkennt, meinen, es sei dies eine Ausnahms-Eigenschaft, die nur den gefässlosen oder gefässarmen, im Allgemeinen harten Theilen zukäme, und ich muss daher noch ein Paar Worte über die Weichtheile hinzufügen, welche einen ähnlichen Bau haben. Alle Gewebe, welche wir bisher betrachtet haben, gehören nach der Classification, welche ich im Eingange gegeben habe, in die Reihe der Bindesubstanzen: der Faser-Knorpel, das fibröse oder Sehnengewebe, das Schleim-, Knochen- und Zahngewebe müssen sämmtlich derselben Klasse zugerechnet werden. In dieselbe Kategorie gehört aber auch die ganze Masse dessen, was man gewöhnlich unter dem Namen des eigentlichen =Zellgewebes= begriffen hat und worauf zumeist der von =Joh=. =Müller=[27] vorgeschlagene Name des =Bindegewebes= passt; jene Substanz, welche die Zwischenräume der verschiedenen Organe in bald mehr, bald weniger grosser Menge erfüllt, welche die Verschiebung der Theile gegen einander ermöglicht, und von der man sich früher dachte, dass sie grössere oder kleinere, mit einem gasförmigen Dunst (Halitus serosus) oder Feuchtigkeit gefüllte Räume (Zellen im groben Sinne, Areolen) enthielte (S. 40). [27] =Müller=, Handb. der Physiol. I. 2. 1834. S. 410: »Das Zellgewebe, welches durch seine Eigenschaft, andere Gewebe mit einander zu vereinigen, auch Bindegewebe genannt werden könnte.« An den meisten Orten liegen darin zahlreiche Arterien, Venen und Capillaren, und die Einrichtung für die Ernährung ist die allergünstigste von der Welt. Trotzdem besteht auch hier neben den Blutgefässen überall eine feinere Einrichtung der Ernährungswege genau in derselben Art, wie wir sie eben kennen gelernt haben, nur dass, je nach dem besonderen Bedürfnisse, an einzelnen Theilen eine eigenthümliche Veränderung der Zellen stattfindet, indem nach und nach an die Stelle der einfachen Zellennetze und Zellenfasern eine compactere Bildung tritt, welche durch eine direkte Umwandlung daraus hervorgeht, das sogenannte =elastische Gewebe=. [Illustration: =Fig=. 52. Elastische Netze und Fasern aus dem Unterhautgewebe vom Bauche einer Frau. _a_, _a_ grosse, elastische Körper (Zellkörper) mit zahlreichen anastomosirenden Ausläufern. _b_, _b_ dichte elastische Faserzüge, an der Grenze grösserer Maschenräume. _c_, _c_ mittelstarke Fasern, am Ende spiralig retrahirt. _d_, _d_ feinere elastische Fasern, bei _e_ feinspiralig zurückgezogen. Vergr. 300.] Wenige Monate, nachdem ich meine ersten Beobachtungen über die Zellen und Röhrensysteme der Bindesubstanzen mitgetheilt hatte, veröffentlichte =Donders= seine Beobachtungen über die Umbildung der Bindegewebszellen in elastische Elemente, -- eine Erfahrung, welche für die Vervollständigung der Geschichte des Bindegewebes von grosser Bedeutung geworden ist. Wenn man nehmlich an solchen Punkten untersucht, wo das Bindegewebe grossen Dehnungen ausgesetzt ist, wo es also eine grosse Widerstandsfähigkeit besitzen muss, so findet man in derselben Anordnung und Verbreitung, welche sonst die Zellen und Zellenröhren des Bindegewebes darbieten, elastische Fasern, und man kann nach und nach die Umbildung der einen in die anderen so verfolgen, dass es nicht zweifelhaft bleibt, dass nicht bloss die feineren (=Henle='s sogenannte Kernfasern, Fig. 20 und 22), sondern auch die gröberen elastischen Fasern direkt durch eine chemische Veränderung und Verdichtung der Wand von Bindegewebskörperchen hervorgehen. Da, wo ursprünglich eine einfache, mit langen Fortsätzen versehene Zelle lag, da sehen wir nach und nach die Membran nach innen hin an Dicke zunehmen und das Licht stärker brechen, während der eigentliche Zelleninhalt sich immer mehr reducirt und endlich verschwindet. Das ganze Gebilde wird dabei gleichmässiger, gewissermaassen sklerotisch und erlangt gegen Reagentien eine unglaubliche Widerstandsfähigkeit, so dass nur die stärksten Caustica nach längerer Einwirkung dasselbe zu zerstören im Stande sind, während es den kaustischen Alkalien und Säuren in der bei mikroskopischen Untersuchungen gebräuchlichen Concentration vollkommen widersteht. Je weiter diese Umwandlung fortschreitet, um so mehr nimmt die Elasticität der Theile zu, und wir finden in den Schnitten diese Fasern gewöhnlich nicht gerade oder gestreckt, sondern gewunden, aufgerollt, spiralig gedreht oder kleine Zikzaks bildend (Fig. 52, _c_, _e_). Dies sind die Elemente, welche vermöge ihrer grossen Elasticität Retractionen derjenigen Theile bedingen, an welchen sie in grösserer Masse vorkommen, z. B. der Arterien, der elastischen Bänder. Man unterscheidet gewöhnlich feine elastische Fasern, welche eben die grosse Verschiebbarkeit besitzen, von den breiteren, welche keine gewundenen Formen annehmen. Der Entstehung nach scheint indess zwischen beiden Arten kein Unterschied zu sein; meiner Meinung nach gehen beide aus Bindegewebszellen hervor und die spätere Anordnung wiederholt die ursprüngliche Anlage. An die Stelle eines Gewebes, welches aus Grundsubstanz und einem maschigen, anastomosirenden Zellengewebe besteht, tritt nachher ein Gewebe, dessen Grundsubstanz durch grosse elastische Maschennetze mit höchst compacten und derben Fasern abgetheilt wird. Ich will damit jedoch keineswegs behauptet haben, dass alle Dinge, welche man gelegentlich elastische Fasern nennt, auf dieselbe Weise entstehen. Im Netzknorpel wird die Intercellularsubstanz von sehr starken, rauhen Fasern durchsetzt, welche die gewöhnlich runden Zellen umziehen, aber weder einen Zusammenhang mit ihnen haben, noch aus ihnen hervorgehen. Manche neuere Beobachter sind der Meinung, dass in ähnlicher Weise auch die elastischen Fasern des Bindegewebes Producte der Intercellularsubstanz seien. Dieses scheint mir unrichtig zu sein. Allerdings verdichtet sich auch die Intercellularsubstanz des Bindegewebes an gewissen Orten zu einer homogenen, glasartigen, =strukturlosen Membran= von ganz ähnlichem Aussehen, wie die elastischen Fasern. Dahin gehören namentlich die sogenannten =Tunicae propriae= der Drüsenkanäle, z. B. der Niere, der Schweissdrüsen, für welche die englische Terminologie den Namen der Basement membranes eingeführt hat. Dahin scheint auch das Sarkolemm der Muskelprimitivbündel zu zählen zu sein, welches allerdings den Eindruck einer Zellmembran macht, welches aber erst im Laufe der späteren Entwickelung mehr hervortritt und gelegentlich z. B. in den Trichinen-Kapseln eine kolossale Dicke erreicht. Manche dieser Bildungen hat man, nach Analogie der Chitinhäute niederer Thiere, als eine Ausscheidung der Zellen, als sogenannte =Cuticulae= aufgefasst, indess passt diese Bezeichnung nur für solche Häute, welche nach aussen von den Zellen liegen, nicht für solche, welche, wie die Tunicae propriae der Drüsenkanäle, nach innen von denselben sich befinden. Wenn ich daher für die elastischen Membranen eine Ableitung derselben aus der Intercellularsubstanz zulasse, so halte ich doch daran fest, dass die eigentlichen elastischen Fasern aus den Zellkörpern des Bindegewebes entstehen. Bis jetzt ist nicht mit Sicherheit ermittelt, ob die Verdichtung (Sklerose) der Zellen bei dieser Umwandlung so weit fortgeht, dass ihre Leitungsfähigkeit völlig aufgehoben, ihr Lumen ganz beseitigt wird, oder ob im Innern eine kleine Höhlung übrig bleibt. Auf Querschnitten feiner elastischer Fasern sieht es so aus, als ob das Letztere der Fall sei, und man könnte sich daher vorstellen, dass bei der Umbildung der Bindegewebskörperchen in elastische Fasern eben nur eine Verdichtung und Verdickung mit gleichzeitiger chemischer Umwandlung an ihren äusseren Theilen stattfände, schliesslich jedoch ein Minimum des Zellenraumes übrig bliebe. Was für eine Substanz es ist, welche die elastischen Theile bildet, ist nicht ermittelt, weil sie absolut unlöslich ist; man kennt von der chemischen Natur dieses Gewebes nichts, als einen Theil seiner Zersetzungs-Produkte. Daraus lässt sich aber weder seine Zusammensetzung, noch seine chemische Stellung zu den übrigen Geweben beurtheilen. Elastische Fasern finden sich überaus verbreitet in der äusseren Haut (=Cutis=), namentlich in den tieferen Schichten der eigentlichen Lederhaut; sie bedingen hauptsächlich die ausserordentliche Resistenz dieses Theiles, die sich auch nach dem Tode erhält und von der die Güte der Schuhsohlen und anderer, starker Abnutzung ausgesetzter, aus Leder gefertigter Geräthe abhängt. Die verschiedene Festigkeit der einzelnen Schichten der Haut beruht wesentlich auf ihrem grösseren oder geringeren Gehalt an elastischen Fasern. Den oberflächlichsten Theil der Cutis dicht unter dem Rete Malpighii bildet der Papillarkörper, worunter man nicht nur die Papillen selbst, sondern auch eine Lage von flach fortlaufender Cutissubstanz mit kleinen Bindegewebskörperchen zu verstehen hat. In die Papillen selbst steigen nur feine elastische Fasern und zwar in Bündelform auf. In der Basis der Papillen erscheinen dann zuerst feine und enge Maschennetze (Fig. 17, _P_, _P_), welche nach der Tiefe zu mit dem sehr dicken und groben elastischen Netz zusammenhängen, welches den mittleren, am meisten festen Theil der Haut, die eigentliche =Lederhaut= (Derma) durchsetzt. Darunter folgt endlich ein noch gröberes Maschennetz innerhalb der weniger dichten, aber immerhin noch sehr soliden, unteren Schicht der Cutis, welche endlich in das Fett- oder Unterhautgewebe (die =Unterhaut=) übergeht. Wo eine solche Umwandlung der Bindegewebskörperchen in elastisches Gewebe stattgefunden hat, da trifft man manchmal fast gar keine deutlichen Zellen mehr. So ist es nicht bloss an der Cutis, sondern auch namentlich an gewissen Stellen der mittleren Arterienhaut, namentlich der Aorta. Hier wird das Netz von elastischen Fasern so überwiegend, dass es nur bei grosser Sorgfalt möglich ist, hier und da feine zellige Elemente dazwischen zu entdecken. In der Cutis dagegen findet man neben den elastischen Fasern eine etwas grössere Menge von kleinen Elementen, die ihre zellige Natur noch erhalten haben, allerdings in äusserst minutiöser Grösse, so dass man danach besonders suchen muss. Sie liegen gewöhnlich in den Räumen, welche von den grossmaschigen Netzen der elastischen Fasern umgrenzt werden; sie bilden hier entweder ein vollkommen anastomotisches, kleinmaschiges System, oder sie erscheinen auch wohl als mehr gesonderte, rundlich-ovale Gebilde, indem die einzelnen Zellen nicht deutlich mit einander in Verbindung stehen. Dies ist namentlich in dem Papillarkörper der Haut der Fall, der sowohl in seiner ebenen Schicht, als in den Papillen zahlreiche kernhaltige Zellen führt, im geraden Gegensatze zu der zugleich mehr gefässarmen eigentlichen Lederhaut. Es bedarf der Papillarkörper einer ungleich zahlreicheren Menge von Gefässen, da diese zugleich das Ernährungsmaterial für das ganze, über der Papille liegende und für sich gefässlose Oberhautstratum liefern müssen. Trotz der verhältnissmässigen Grösse dieser Gefässe bleibt doch nur eine kleine Menge Ernährungssaft der Papille als solcher zur Disposition. Jeder Papille entspricht daher ein gewisser Abschnitt der darüber liegenden Oberhaut, welcher mit der Papille zusammen einen einzigen =vasculären oder Ernährungsbezirk= darstellt. Innerhalb dieses Bezirkes zerfällt sowohl die Oberhaut, als auch die Papille als solche wieder in so viele Elementar- (histologische) Territorien, als überhaupt Elemente (Zellen) darin vorhanden sind. [Illustration: =Fig=. 53. Injectionspräparat von der Haut, senkrechter Durchschnitt. _E_ Epidermis, _R_ Rete Malpighii, _P_ die Hautpapillen mit den auf- und absteigenden Gefässen (Schlingen). _C_ Cutis. Vergr. 11.] Die =Unterhaut= (tela subcutanea) besteht an den meisten Stellen des Körpers keineswegs, wie man noch jetzt so häufig hört, aus Zellgewebe, sondern aus Fettgewebe (panniculus adiposus). Sie verhält sich in dieser Beziehung ganz ähnlich, wie an sehr vielen Orten das =subseröse= Gewebe, welches gleichfalls eine vorwiegende Neigung zur Fettabsetzung erkennen lässt. Die subpericardialen, subpleuralen, subperitonäalen, subsynovialen Schichten sind bei gut genährten Personen mehr oder weniger vollständig aus Fettgewebe gebildet. Wesentlich verschieden verhält sich das =submucöse= Gewebe, welches wohl gelegentlich wahres Fettgewebe ist, jedoch meist aus loserem Bindegewebe, seltener aus Schleimgewebe besteht. Ihnen am nächsten steht unter den subcutanen Lagern die Unterhaut des Scrotum (=Tunica dartos=), welche überdies noch dadurch ein besonderes Interesse darbietet, dass sie ausnehmend reich an Gefässen und Nerven ist, ganz entsprechend der besonderen Bedeutung dieses Theiles, und dass sie ausserdem eine grosse Masse von organischen Muskeln und zwar von jenen kleinen Hautmuskeln besitzt, die ich früher erwähnt habe (S. 58). Letztere sind die eigentlich wirksamen Elemente der contractilen Tunica dartos. Gerade hier, wo man früher auf contractiles Zellgewebe zurückgegangen war, ist die Menge der kleinen Hautmuskeln überaus reichlich; die kräftigen Runzelungen des Hodensackes entstehen einzig und allein durch die Contraction dieser feinen Bündel, welche man namentlich nach Carminfärbung sehr leicht von dem Bindegewebe unterscheiden kann. Es sind Fascikel von ziemlich gleicher Breite, meist breiter, als die Bindegewebsbündel; die einzelnen Elemente sind in ihnen in Form von langen glatten Faserzellen zusammengeordnet. Jedes Muskel-Fascikel zeigt, wenn man es mit Essigsäure behandelt, in regelmässigen Abständen jene eigenthümlichen, langen, häufig stäbchenartigen Kerne der glatten Muskulatur, und zwischen denselben eine streifige Abtheilung nach den einzelnen Zellen, deren Inhalt ein leicht körniges Aussehen hat. Das sind die Runzler des Hodensackes (=Corrugatores scroti=). Daneben finden sich in der überaus weichen Haut auch noch eine gewisse Zahl von feinen elastischen Elementen und in grösserer Menge das gewöhnliche weiche, lockige Bindegewebe mit einer grossen Zahl verhältnissmässig umfangreicher, spindel- und netzförmiger, schwach granulirter Kernzellen. [Illustration: =Fig=. 54. Schnitt aus der Tunica dartos des Scrotums. Man sieht nebeneinander parallel eine Arterie (_a_), eine Vene (_v_) und einen Nerven (_n_); erstere beide mit kleinen Aesten. Rechts und links davon organische Muskelbündel (_m_, _m_) und dazwischen weiches Bindegewebe (_c_, _c_) mit grossen anastomosirenden Zellen und feinen elastischen Fasern. Vergr. 300.] Das weiche Bindegewebe verhält sich daher, abgesehen von den in dasselbe eingelagerten, dem Bindegewebe als solchem nicht angehörigen Theilen (Gefässen, Nerven, Muskeln, Drüsen), wie das harte: überall ein Netz verzweigter und unter einander anastomosirender Zellen in einer, grossen Schwankungen der Consistenz und der inneren Zusammensetzung unterworfenen Grundsubstanz. Um jedoch die grosse Verschiedenheit der Ansichten, die noch immer über diesen schwierigen Gegenstand besteht, nicht zu verschweigen, so wollen wir hier erwähnen, dass eine grosse Zahl auch der neuesten Beobachter nicht bloss die zellige, sondern sogar die körperliche Natur der von mir beschriebenen Bindegewebszellen oder Bindegewebskörperchen, sowie aller der ihnen aequivalenten Gebilde (Knochen-, Hornhaut-, Sehnen-Körperchen) geradezu in Abrede stellt, und an die Stelle derselben blosse Zwischenräume, Aushöhlungen oder Lücken (Lacunen) setzt, welche sich zwischen den Bündeln oder Lamellen des Gewebes an den Punkten finden sollen, wo die Bündel oder Lamellen nicht vollständig mit einander in Berührung kommen. Die Erfahrung, dass die Bindegewebsmassen, welche an die Oberfläche treten, an verschiedenen Orten mit einer derberen, mehr homogenen, zuweilen elastischen oder glasartigen Haut oder Schicht (Tunica propria S. 134) bedeckt sind, ist zu Hülfe genommen worden, um zu erklären, dass auch jene Zwischenräume, Aushöhlungen oder Lücken von wirklichen Membranen umgrenzt sein könnten, ohne dass diese Membranen einem Zellkörper zugehörten. Selbst der Umstand, dass ich auf verschiedene Weise sowohl aus dem Binde- und Schleimgewebe, als auch aus Knochen und anderen Hartgebilden verästelte Körper isolirt habe, eine Erfahrung, welche durch zahlreiche andere Untersucher, wie =Fel=. =Hoppe=, =His=, =Kölliker=, H. =Müller=, =Leydig=, v. =Hessling=, A. =Förster= bestätigt ist, hat den Kritikern nicht genügt; man hat dagegen erklärt, dass auch eine blosse Lücke, die von Membranen umgrenzt sei, sich durch Auflösen der umliegenden Substanz isoliren lasse. Man übersah dabei, dass aus frischen Geweben die Isolations-Methode nicht bloss Membranen, sondern wirkliche Körper mit solidem Inhalt liefert. Solche Widersprüche lassen sich durch blosse Debatten und Reden überhaupt nicht zum Schweigen bringen. Hier kann nur die eigene Erfahrung genügen, sobald sie mit philosophischem Sinne, mit genauer Berücksichtigung der Histogenie und in möglich grösster Ausdehnung über das gesammte Gebiet der thierischen Organisation ausgeführt wird. Sicherlich gibt es Bindegewebslager und Bindegewebsbündel, deren oberflächlichste Schicht durch spätere Differenzirung eine hautartige Verdichtung erfahren hat, und welche also eine Art von Hülle oder Scheide besitzen, aber eben so sicher ist es, dass dies keine allgemein-gültige Erfahrung ist, und dass, selbst wenn sie allgemein wäre und wenn sie auch für die inneren Einrichtungen des weichen und harten Bindegewebes, der Knochen und Sehnen Gültigkeit hätte, daraus doch weiter nichts folgen würde, als dass auch die Bindegewebs-, Knochen- und Sehnenkörperchen sich, wie die Knorpelkörperchen, mit einer besondern =Kapselmembran= umgeben könnten. Nachdem selbst so hartnäckige Opponenten, wie =Henle=, zugestanden haben, dass im Innern jener sogenannten Lücken sehr häufig Kerne, Inhalt (Protoplasma), ja wirkliche Zellen zu finden seien, so bewegt sich der Streit nur noch um die Formel, nicht mehr um die Thatsachen. Meiner Anschauung genügt das Zugeständniss, dass in diesen Geweben, namentlich im Bindegewebe, verzweigte und zusammenhängende Röhrchen und Canälchen existiren, welche sich an gewissen Knotenpunkten zu grösseren Lacunen sammeln, und dass diese Röhrchen, Canälchen und Lacunen von zelligen Theilen erfüllt sind, welche sowohl bei der ersten Anlage des Gewebes vorhanden sind, als sich durch das ganze Leben des Individuums erhalten können[28]. [28] Archiv f. path. Anat. u. Phys. XVI. 1. Diese persistirenden Zellen des Bindegewebes hat man früher völlig übersehen, indem man als die eigentlichen Elemente des Bindegewebes die Fibrillen desselben betrachtete. Wie wir schon früher (S. 41) gesehen haben, so liegen diese Fibrillen in der Regel in Bündeln zusammen. Trennt man die einzelnen Theile des Bindegewebes von einander, so erscheinen kleine Bündel von welliger Form und streifigem, fibrillärem Aussehen. Die Vorstellung von =Reichert=, dass dieses Aussehen nur durch Faltenbildung bedingt würde, darf in der Ausdehnung, wie sie aufgestellt wurde, nicht angenommen werden; man muss vielmehr neben den Fibrillen eine gleichmässige Grundmasse, eine Art von Kittsubstanz zulassen, welche die Fibrillen innerhalb des Bündels zusammenhält. Nach den Untersuchungen von =Rollett= scheint dies nicht selten auch im wahren Bindegewebe Mucin zu sein. Indess ist dies eine Frage von untergeordneter Bedeutung, in so fern es ganz und gar unzulässig ist, die der Intercellularsubstanz angehörenden Fibrillen des Bindegewebes als eigentliche organische Elemente zu betrachten. Dagegen ist es äusserst wichtig, zu wissen, dass überall, wo lockeres Bindegewebe sich findet, in der Unterhaut, im Zwischenmuskel-Gewebe, in den serösen Häuten, dasselbe durchzogen ist von meist anastomosirenden Zellen, welche auf Längsschnitten parallele Reihen, auf Querschnitten Netze bilden und welche in ähnlicher Weise die Bündel des Bindegewebes von einander scheiden, wie die Knochenkörperchen die Lamellen der Knochen, oder wie die Hornhautkörperchen die Blätter der Hornhaut. Neben ihnen finden sich überall die mannichfachsten Gefässverästelungen, und zwar namentlich so viele Capillaren, dass eine besondere Leitungs-Einrichtung des Gewebes selbst geradezu unnöthig erscheinen könnte. Allein dieser Schluss ist nur bei oberflächlicher Betrachtung richtig. Eine genauere Erwägung ergiebt, dass auch diese Gewebe, so günstig ihre Capillarbahnen liegen, einer Einrichtung bedürfen, welche die Möglichkeit darbietet, dass =eine Special-Vertheilung der ernährenden Säfte auf die einzelnen zelligen Bezirke in gleichmässiger und dem jeweiligen Bedürfnisse entsprechender Weise stattfinde=. Erst wenn man die Aufnahme des Ernährungsmaterials als eine Folge der Thätigkeit (Anziehung) der Gewebs-Elemente selbst auffasst, begreift man, dass die einzelnen Bezirke nicht jeden Augenblick der Ueberschwemmung vom Blute aus preisgegeben sind, dass vielmehr das in dem Blute dargebotene Material nur nach dem wirklichen Bedarf in die Theile aufgenommen und den einzelnen Bezirken in verschiedenem Maasse zugeführt wird. So erklärt es sich auch, dass unter normalen Verhältnissen der eine Theil nicht durch die anderen in seinem Bestande wesentlich benachtheiligt wird. Auf diese Weise erscheint die Ernährung in einer unmittelbaren Beziehung zu dem Leben der einzelnen Theile, dessen Fortdauer trotz der durch die Thätigkeit und die Verrichtungen des Theiles eintretenden Veränderungen ja eben nur möglich ist durch eine mit Wechsel der Stoffe verbundene Erhaltung und Ernährung der natürlichen Zusammensetzung. Diese Erhaltung setzt aber ihrerseits bleibende regulatorische Einrichtungen in jedem einzelnen Theile voraus, in der Art, dass der Theil für sich eine bestimmende Einwirkung auf Abgabe und Aufnahme von Stoffen ausübt, in ähnlicher Weise, wie dies auch bei den Theilen der Pflanze stattfindet. Denn der Begriff der =Vegetation= beherrscht dieses ganze Gebiet des thierischen Lebens. Schon die erste Darstellung, welche ich von den Ernährungseinheiten und Krankheitsheerden des menschlichen Körpers gegeben habe[29], stützte sich wesentlich auf den Parallelismus, der durch das ganze Gebiet des Organischen geht, und jede weitere Forschung hat diese Anschauung nur bestärkt. Die einzelne Zelle innerhalb eines Gewebes wird nicht ernährt, sondern =sie ernährt sich=, d. h. sie entnimmt den Ernährungsflüssigkeiten, welche sich in ihrer Umgebung befinden, den für sie erforderlichen Theil. Sowohl quantitativ, als qualitativ ist die Ernährung daher ein Ergebniss der Thätigkeit der Zelle, wobei sie natürlich abhängig ist von Quantität und Qualität des ihr erreichbaren Ernährungsmaterials, aber keineswegs in der Art, dass sie genöthigt wäre, aufzunehmen, was und wie viel ihr zufliesst. Gleichwie die einzelne Zelle eines Pilzes oder einer Alge aus der Flüssigkeit, in der sie lebt, sich so viel und so beschaffenes Material nimmt, als sie für ihre Lebenszwecke braucht, so hat auch die Gewebszelle inmitten eines zusammengesetzten Organismus =elective= Fähigkeiten, vermöge welcher sie gewisse Stoffe verschmäht, andere aufnimmt und in sich verwendet. Das ist die eigentliche Nutrition im cellularen Sinne. [29] Archiv f. path. Anat. u. Physiol. 1852. IV. 375. Siebentes Capitel. Circulation und Blutmischung. Arterien. Ihre Zusammensetzung: Epithel, Intima, Media (Muscularis), Adventitia. Capillaren. Capillare Arterien und Venen. Continuität der Gefässwand. Porosität derselben. Hæmorrhagia per diapedesin. Venen. Gefässe in der Schwangerschaft. Eigenschaften der Gefässwand: 1) Contractilität. Rhythmische Bewegung. Active oder Reizungs-Hyperämie. Ischämie. Gegenreize. Collaterale Fluxion. 2) Elasticität und Bedeutung derselben für die Schnelligkeit und Gleichmässigkeit des Blutstromes. Erweiterung der Gefässe. 3) Permeabilität. Diffusion. Specifische Affinitäten. Verhältniss von Blutzufuhr und Ernährung. Die Drüsensecretion (Leber). Specifische Thätigkeit der Gewebselemente. Dyskrasie. Transitorischer Charakter und localer Ursprung derselben. Säuferdyskrasie. Hämorrhagische Diathese. Syphilis. In den letzten Capiteln habe ich in eingehender Weise versucht, ein Bild von den feineren Einrichtungen für die Saftströmungen innerhalb der Gewebe zu liefern, und zwar namentlich von denjenigen, wo die Säfte selbst sich der Beobachtung mehr entziehen. Wenden wir uns nunmehr zu den gröberen Wegen und den edleren Säften, welche in der gangbaren Anschauung bis jetzt eigentlich allein Berücksichtigung fanden. [Illustration: =Fig=. 55. _A_. Epithel von der Cruralarterie (Archiv f. path. Anat. Bd. III. Fig. 9 und 12. S. 569). _a_ Kerntheilung. _B_. Epithel von grösseren Venen. _a_, _a_ Grössere, granulirte, runde, einkernige Zellen (farblose Blutkörperchen?). _b_, _b_ Längliche und spindelförmige Zellen mit getheiltem Kern und Kernkörperchen. _c_ Grosse, platte Zellen mit zwei Kernen, von denen jeder drei Kernkörperchen besitzt und in Theilung begriffen ist. _d_ Zusammenhängendes Epithel, die Kerne in progressiver Theilung, eine Zelle mit sechs Kernen. Vergr. 320.] Die Vertheilung des Blutes im Körper ist zunächst abhängig von der Vertheilung der Gefässe innerhalb der einzelnen Organe. Indem die Arterien sich in immer feinere Aeste auflösen, ändert sich allmählich auch der Habitus ihrer Wandungen, so dass endlich feine Kanäle mit einer scheinbar so einfachen Wand, wie sie überhaupt im Körper angetroffen wird, sogenannte Haarröhrchen (Capillaren), daraus hervorgehen. Histologisch ist dabei Folgendes zu bemerken: Jede =Arterie= hat verhältnissmässig dicke Wandungen, und selbst an denjenigen Arterien, die man mit blossem Auge eben noch als feinste Fädchen verfolgen kann, unterscheidet man mit Hülfe des Mikroskopes nicht bloss die bekannten drei Häute, sondern noch ausser diesen eine feine Epithelialschicht, welche die innere Oberfläche bekleidet; sie pflegt gewöhnlich nicht als eine besondere Haut bezeichnet zu werden. Die innere und äussere Haut (Intima und Adventitia) sind wesentlich Bindegewebsbildungen, welche in grösseren Arterien einen zunehmenden Gehalt an elastischen Fasern erkennen lassen; zwischen ihnen liegt die verhältnissmässig dicke, mittlere oder Ringfaserhaut, welche als Sitz der Muskulatur fast den wichtigsten Bestandtheil der Arterienwand ausmacht. Die Muskulatur findet sich am reichlichsten in den mittleren und kleineren Arterien, während in den ganz grossen, namentlich in der Aorta, elastische Blätter den überwiegenden Bestandtheil auch der Ringfaserhaut ausmachen. An kleinen Arterien bemerkt man bei mikroskopischer Untersuchung leicht innerhalb dieser mittleren Haut (vergl. Fig. 28 _b_, _b_. Fig. 54 _a_) kleine Quer-Abtheilungen, entsprechend den einzelnen musculösen Faserzellen, welche so dicht um das Gefäss herumliegen, dass wir Faserzelle neben Faserzelle fast ohne irgend eine Unterbrechung finden. Die Dicke dieser Schicht kann man durch die Begrenzung, welche sie nach innen und aussen durch Längsfaserhäute erfährt, bequem erkennen; das einzige Täuschende sind runde Zeichnungen, welche man hie und da in der Dicke der Ringfaserhaut, aber nur am Rande der Gefässe (Fig. 28 _b_, _b_. Fig. 56 _m_, _m_) erblickt, und welche wie eingestreute runde Zellen oder Kerne aussehen. Dies sind die im scheinbaren Querschnitte gesehenen Faserzellen oder deren Kerne. Am deutlichsten aber erkennt man die Lage der Media nach Behandlung mit Essigsäure, welche in der Flächenansicht des Gefässes längliche, quergelagerte Kerne in grosser Zahl hervortreten lässt. [Illustration: =Fig=. 56. Kleinere Arterie aus der Sehnenscheide der Extensoren einer frisch amputirten Hand. _a_, _a_ Adventitia. _m_, _m_ Media mit starker Muskelhaut, _i_, _i_ Intima, theils mit Längsfalten, theils mit Längskernen, an dem Seitenaste aus den durchrissenen äusseren Häuten hervorstehend. Vergr. 300.] Diese Schicht ist es, welche im Allgemeinen der Arterie ihre Besonderheit gibt, und welche sie am deutlichsten unterscheidet von den Venen. Freilich gibt es zahlreiche Venen im Körper, die bedeutende Muskelschichten besitzen, z. B. die oberflächlichen Hautvenen, besonders an den Extremitäten, indess tritt doch bei keiner derselben die Muskelschicht als eine so deutlich abgegrenzte, gleichsam selbständige Haut hervor, wie die Media der Arterien. Bei den kleineren Gefässen beschränkt sich dieses Vorkommen einer deutlich ausgesprochenen Ringfaserhaut wesentlich auf arterielle Gefässe, so dass man sofort geneigt ist, wo man mikroskopisch einen solchen Bau findet, auch die arterielle Natur des Gefässes anzunehmen. Diese auch bei mikroskopischer Betrachtung immer noch grösseren Arterien, die freilich selbst im gefüllten Zustande für das blosse Auge nur als rothe Fäden erscheinen, gehen nach und nach in kleinere über. Bei dreihundertmaliger Vergrösserung sehen wir sie sich in Aeste auflösen, und auch auf diese setzen sich, selbst wenn sie sehr klein (im vulgären Sinne schon capillar) sind, zunächst die drei Häute noch fort, Erst an den kleinsten Aesten verschwindet endlich die Muskelhaut, indem die Abstände zwischen den einzelnen Querfasern immer grösser werden und zugleich immer deutlicher die innere Haut durch sie hindurchscheint, deren längsliegende Kerne sich mit denen der mittleren unter einem rechten Winkel kreuzen (Fig. 28 _D_, _E_). Auch die Adventitia oder äussere Haut lässt sich noch eine Strecke weit verfolgen (an manchen Stellen, wie am Gehirn, häufig durch Einstreuung von Fett oder Pigment deutlicher bezeichnet, Fig. 28 _D_, _E_), bis endlich auch sie sich verliert und nur die einfache Haar-Röhre übrig bleibt (Fig. 4, _c_). Die Vermuthung würde also dafür sprechen, dass die eigentlichen Capillar-Membranen mit der Intima der grösseren Gefässe zu vergleichen wären, indess haben die neueren Erfahrungen (S. 60) vielmehr die Anschauung genährt, dass auch die Intima der Arterien in den Capillaren verschwinde und dass die Epithelialschicht zuletzt allein übrig bleibe. Ich bemerke dabei ausdrücklich, dass die gewöhnliche Sprache der Pathologen und noch mehr die der Aerzte den Ausdruck der Capillaren in einer sehr willkürlichen Weise verwendet, und dass namentlich sehr häufig Gefässe, die mit blossem Auge noch als Linien, Striche oder Netze erkannt werden, Capillaren genannt werden. Dies sind jedoch in der Regel wirkliche Arterien oder Venen: Capillaren im strengen Sinne des Wortes sind makroskopisch unsichtbar. Man mag nun immerhin auch von =capillaren Arterien= und =capillaren Venen= sprechen, indess folgen aus einem solchen Sprachgebrauch leicht grosse Irrthümer, und derselbe ist daher keineswegs empfehlenswerth. Man muss aber wissen, dass selbst in der mikrographischen Sprache bis in die neueste Zeit hinein ähnliche Verwechselungen sehr gewöhnlich waren und dass daraus manche Missverständnisse sich erklären, welche bei einer strengeren Terminologie leicht hätten vermieden werden können. Innerhalb der eigentlich =capillären= Auflösung ist an den Gefässen weiter nichts bemerkbar, als die früher schon erwähnten Kerne, deren Längsausdehnung der Längsaxe des Gefässes entspricht, und welche so in die Gefässwand eingesetzt sind, dass man eine zellige Abtheilung um sie herum ohne besondere chemische Hülfsmittel nicht weiter zu erkennen vermag. Die Gefässhaut erscheint hier ganz gleichmässig, absolut homogen und absolut continuirlich (Fig. 4, _c_). Während man noch vor 20 Jahren darüber discutirte, ob es nicht Gefässe gäbe, welche keine eigentlichen Wandungen hätten und nur Aushöhlungen, Ausgrabungen des Parenchyms[30] der Organe seien, sowie darüber, ob Gefässe dadurch entstehen könnten, dass von den alten Lichtungen aus sich neue Bahnen durch Auseinanderdrängen des benachbarten Parenchyms eröffneten, so ist heut zu Tage kein Zweifel mehr, dass das menschliche Gefässsystem, mit Ausnahme der Milz und der mütterlichen Placenta, überall continuirlich durch Membranen geschlossen ist. An diesen Membranen ist es nicht mehr möglich, eine Porosität zu sehen. Selbst die feinen Poren, welche man in der letzten Zeit an verschiedenen anderen Theilen wahrgenommen, haben bis jetzt an der Gefässhaut kein Analogon gefunden; wenn man von der Porosität der Gefässwand spricht, so kann dies nur in physikalischem Sinne von unsichtbaren, eigentlich molekularen Interstitien oder in grob mechanischem Sinne von wirklichen Continuitätstrennungen geschehen. Eine Collodiumhaut erscheint nicht homogener, nicht continuirlicher, als die Capillarhaut. Eine Reihe von Möglichkeiten, die man früher zuliess, z. B. dass an gewissen Punkten die Continuität der Capillarmembran nicht bestände, fallen einfach weg. Von einer »Transsudation« oder Diapedese des Blutes durch die Gefässhaut, ohne Ruptur oder Hiatus derselben, kann gar nicht weiter die Rede sein. Denn obwohl wir die Rupturstelle oder Spalte nicht in jedem einzelnen Falle anatomisch nachweisen können, so ist es doch ganz undenkbar, dass das Blut mit seinen Körperchen anders, als durch ein Loch in der Gefässwand austreten könne. Dies versteht sich nach histologischen Erfahrungen so sehr von selbst, dass darüber keine Discussion zulässig ist. [30] Um vielfachen, an mich ergangenen Anfragen über die Bedeutung des Wortes Parenchym zu genügen, verweise ich auf =Galenus= de temperamentis Lib. II. cap. 3. viscerum propriam substantiam Erasistratus parenchyma vocat. Nachdem die Capillaren eine Zeit lang fortgegangen sind, so setzen sich nach und nach aus ihnen kleine =Venen= zusammen, welche gewöhnlich in nächster Nähe der Arterien zurücklaufen (Fig. 54, _v_). Nicht ganz selten wird eine Arterie von zwei Venen begleitet, die zu beiden Seiten derselben liegen. An den Venen fehlt im Allgemeinen die charakteristische Ringfaserhaut der Arterien, oder sie ist wenigstens sehr viel weniger ausgebildet. Dafür trifft man in der Media der stärkeren Venen derbere Lagen, die sich nicht so sehr durch die Abwesenheit von Muskel-Elementen, als durch das reichlichere Vorkommen longitudinell verlaufender elastischer Fasern charakterisiren; je nach den verschiedenen Localitäten zeigen sie verschiedene Mächtigkeit. Nach innen folgen dann die weicheren und feineren Bindegewebslagen der Intima, und auf dieser findet sich wieder zuletzt ein plattes, ausserordentlich durchscheinendes Epitheliallager, das am Schnittende sehr leicht aus dem Gefässe hervortritt und oft den Eindruck von Spindelzellen macht, so dass es leicht verwechselt werden kann mit spindelförmigen Muskelzellen (Fig. 57). Die kleinsten Venen besitzen ein ähnliches Epithel, bestehen aber ausserdem eigentlich ganz aus einem mit Längskernen versehenen Bindegewebe (Fig. 54, _v_). [Illustration: =Fig=. 57. Epithel der Nierengefässe. _A_. Flache, längs gefaltete Spindelzellen mit grossen Kernen vom Neugebornen. _B_. Bandartige, fast homogene Epithelplatte mit Längskernen vom Erwachsenen. Vergr. 350.] Diese Verhältnisse erleiden keine wesentliche Aenderung, wenn auch die einzelnen Theile des Gefässapparates die äusserste Vergrösserung erfahren. Am besten sieht man dies bei der =Schwangerschaft=, wo nicht bloss am Uterus, sondern auch an der Scheide, an den Tuben und Eierstöcken, sowie an den Mutterbändern sowohl die grossen und kleinen Arterien und Venen, als auch die Capillaren eine so beträchtliche Erweiterung zeigen, dass das übrige Gewebe, trotzdem dass es sich gleichfalls nicht unerheblich vergrössert, dadurch wesentlich in den Hintergrund gedrängt wird. Indess eignen sich doch gerade Theile des puerperalen Geschlechtsapparates vortrefflich dazu, das Verhältniss der Gewebs-Elemente zu den Gefässbezirken zu übersehen. An den Fimbrien der Tuben sieht man innerhalb der Schlingennetze, welche die sehr weiten Capillaren gegen den Rand hin bilden, immer noch eine grössere Zahl von grossen Bindegewebszellen zerstreut, von denen nur einzelne den Gefässen unmittelbar anliegen. In den Eierstöcken, besonders aber an den Alae vespertilionum findet man ausserdem sehr schön ein Verhältniss, welches sich an den Anhängen des Generations-Apparates öfter wiederholt, ähnlich dem, wie wir es beim Scrotum betrachtet haben (S. 137); die Gefässe werden nehmlich von ziemlich beträchtlichen Zügen glatter Muskeln begleitet, welche nicht ihnen angehören, sondern nur dem Gefässverlaufe folgen und zum Theil die Gefässe in sich aufnehmen. Es ist dies ein äusserst wichtiges Element, insofern die Contractionsverhältnisse jener Ligamente, welche man gewöhnlich nicht als muskulös betrachtet, keinesweges bloss den Blutgefässen zuzuschreiben sind, wie erst neuerlich =James Traer= nachzuweisen gesucht hat; vielmehr gehen reichliche Züge von Muskeln mitten durch die Ligamente fort, welche in Folge davon bei der menstrualen Erregung in gleicher Weise die Möglichkeit zu Zusammenziehungen darbieten, wie wir sie an den äusseren Abschnitten der Geschlechtswege mit so grosser Deutlichkeit wahrnehmen können. An der weiblichen Scheide habe ich im Prolapsus auf mechanische oder psychische Erregungen eben so starke Querrunzelungen auftreten und bei Nachlass derselben wieder verschwinden sehen, wie es am männlichen Scrotum bekannt ist. -- Wenn man nun die Frage aufwirft, welche Bedeutung die einzelnen Elemente der Gefässe in dem Körper haben, so versteht es sich von selbst, dass für die gröberen Vorgänge der Circulation die contractilen Elemente die grösste Bedeutung haben, dass aber auch die elastischen Theile und die einfach permeablen homogenen Häute auf viele Vorgänge einen bestimmenden Einfluss ausüben[31]. Betrachten wir zunächst die Bedeutung der =muskulösen Elemente= und zwar an denjenigen Gefässen, welche hauptsächlich damit versehen sind, an den Arterien. [31] Man vergleiche für die Special-Behandlung der hierher gehörigen Fragen den Abschnitt über die örtlichen Störungen des Kreislaufes in dem von mir herausgegebenen Handbuche der speciellen Pathologie und Therapie. Erlangen, 1854. I. 95 ff. Wenn eine Arterie irgend eine Einwirkung erfährt, welche eine Zusammenziehung ihrer Muskeln hervorruft, so wird natürlich das Gefäss sich verengern müssen, da die contractilen Zellen der Media ringförmig um das Gefäss herumliegen; die Verengerung kann erfahrungsgemäss unter Umständen bis fast zum Verschwinden des Lumens gehen. Die natürliche Folge wird dann sein, dass in den betreffenden Körpertheil weniger Blut gelangt. Wenn also eine Arterie auf irgend eine Weise einem pathologischen Irritans zugänglich, oder wenn sie auf physiologischem Wege excitirt und zur Thätigkeit angeregt wird, so kann diese Thätigkeit nur darin bestehen, dass ihre Lichtung enger und die Blutzufuhr erschwert wird. Man könnte freilich, nachdem man die Muskel-Elemente der Gefässwandungen erkannt hat, den alten Satz wieder aufnehmen, dass die Gefässe, wie das Herz, eine Art von rhythmischer, pulsirender, oder gar peristaltischer Bewegung erzeugten, welche im Stande wäre, die Fortbewegung des Blutes direct zu fördern, so dass eine arterielle Hyperämie durch eine vermehrte selbständige Pulsation (Propulsion) der Gefässe hervorgebracht würde. Es ist allerdings eine einzige Thatsache bekannt, welche eine wirkliche rhythmische Bewegung der Arterienwandungen beweist; =Schiff= hat dieselbe zuerst an dem Ohre der Kaninchen beobachtet. Allein sie entspricht keineswegs dem Rhythmus der bekannten Arterien-Pulsation; ihr einziges Analogen findet sich in den Bewegungen, welche schon früher von =Wharton Jones= an den Venen der Flughäute von Fledermäusen entdeckt worden waren, aber diese gehen in einer äusserst langsamen und ruhigen Weise vor sich. Ich habe diese Erscheinung an Fledermäusen studirt und mich überzeugt, dass der Rhythmus weder mit der Herzbewegung, noch mit der respiratorischen Bewegung zusammenfällt; es ist eine ganz eigenthümliche, verhältnissmässig nicht sehr ausgiebige Contraction, welche in ziemlich langen Pausen, in längeren als die Circulation, in kürzeren als die Respiration, erfolgt[32]. Auch die Zusammenziehungen der Arterien am Kaninchenohr sind ungleich langsamer, als die Herz- und Respirations-Bewegungen. [32] Mein Archiv XXVII. S. 224. Unzweifelhaft sind dies selbständige Pulsationen der Gefässe, aber sie lassen sich nicht in der Weise verwerthen, dass die frühere Ansicht von dem localen Zustandekommen der mit den Herzbewegungen isochronischen Pulsation dadurch gestützt werden könnte. Die Beobachtung ergiebt vielmehr, dass die Muskulatur eines Gefässes auf jeden Reiz, der sie in Action setzt, sich zusammenzieht, dass aber diese Zusammenziehung sich nicht in peristaltischer Weise fortpflanzt, sondern sich auf die gereizte Stelle beschränkt, höchstens sich ein wenig nach beiden Seiten darüber hinaus erstreckt, und an dieser Stelle eine gewisse Zeit lang anhält. Je muskulöser das Gefäss und je direkter der Reiz ist, um so dauerhafter und ergiebiger wird die Contraction, um so stärker die Hemmung, welche die Strömung des Blutes dadurch erfährt. Je kleiner die Gefässe sind, je mehr vorübergehend der Reiz war, um so schneller sieht man dagegen auf die Contraction eine Erweiterung folgen, welche aber nicht wiederum von einer Contraction gefolgt ist, wie es für das Zustandekommen einer Pulsation nothwendig wäre, sondern welche mehr oder weniger lange fortbesteht. Diese Erweiterung ist nicht eine active, sondern eine passive, hervorgebracht durch den Druck des Blutes auf die (durch die erste Contraction) ermüdete, weniger Widerstand leistende Gefässwand. Untersucht man nun die Erscheinungen, welche man gewöhnlich unter dem Namen der =activen Hyperämien oder Congestionen= zusammenfasst[33], so kann kein Zweifel darüber sein, dass die Muskulatur der Arterien wesentlich dabei betheiligt ist. Sehr gewöhnlich handelt es sich dabei um Vorgänge, wo die Gefässmuskeln gereizt wurden, wo aber der Contraction alsbald ein Zustand der Relaxation folgt, wie er in gleich ausgesprochener Weise sich an den übrigen Muskeln selten vorfindet, ein Zustand, der offenbar eine Art von Ermüdung oder Erschöpfung ausdrückt, und der um so anhaltender zu sein pflegt, je energischer der Reiz war, welcher einwirkte. An kleinen Gefässen mit wenig Muskelfasern sieht es daher öfters so aus, als ob die Reize keine eigentliche Verengerung hervorriefen, da man überaus schnell eine Erschlaffung und Erweiterung eintreten sieht, welche längere Zeit andauert und ein vermehrtes Einströmen des Blutes möglich macht. [33] Handbuch der spec. Path. I. 141. Diese selben Vorgänge der Relaxation können wir experimentell am leichtesten herstellen dadurch, dass wir die Gefässnerven eines Theiles durchschneiden, während wir die Verengerung (abgesehen von den Methoden der direkten Reizung) in sehr grosser Ausdehnung erzeugen, indem wir die Gefässnerven einem sehr energischen Reiz unterwerfen. Dass man diese Art von Verengerung so spät kennen gelernt hat, erklärt sich daraus, dass die Nervenreize sehr gross sein müssen, indem, wie =Claude Bernard= gezeigt hat, nur starke elektrische Ströme dazu ausreichen. Andererseits sind die Verhältnisse nach Durchschneidung der Nerven an den meisten Theilen so complicirt, dass die Erweiterung und Durchschneidung der Gefässnerven der Beobachtung sich entzogen hat, bis gleichfalls durch =Bernard= der glückliche Punkt entdeckt und in der Durchschneidung der sympathischen Nerven am Halse der Experimentation ein zuverlässiger und bequemer Beobachtungsort erschlossen wurde. [Illustration: =Fig=. 58. Ungleichmässige Zusammenziehung kleiner Gefässe aus der Schwimmhaut des Frosches. Copie nach =Wharton Jones=.] Mag die Erweiterung des Gefässes, oder, mit anderen Worten, die Relaxation der Gefässmuskeln unmittelbar durch eine Lähmung der Nerven, durch eine Unterbrechung oder Hemmung des Nerveneinflusses hervorgebracht sein, oder mag sie die mittelbare Folge einer vorausgegangenen Reizung sein, welche eine Ermüdung setzte, in jedem Falle ist sie bedingt durch eine Art von Paralyse der Gefässwand. Active Hyperämie ist daher insofern eine falsche Bezeichnung, als der Zustand der Gefässe dabei ein vollständig passiver ist. Alles, was man auf die dabei vorausgesetzte Activität der Gefässe gebaut hat, ist, wenn nicht gerade auf Sand gebaut, doch äusserst unsicher; alle weiteren Schlüsse, die man daraus gezogen hat in Beziehung auf die Bedeutung, welche die Thätigkeit der Gefässe für die Ernährungs-Verhältnisse der Theile selbst haben sollte, fallen in sich selbst zusammen. Wenn eine Arterie wirklich in Action ist, so macht sie keine Hyperämie; im Gegentheil, je kräftiger sie agirt, um so mehr bedingt sie Anämie des Theils, oder, wie ich es bezeichnet habe, Ischämie[34]. Die geringere oder grössere Thätigkeit der Arterie bestimmt das Mehr oder Weniger von Blut, welches in der Zeiteinheit in einen gegebenen Theil einströmen kann. =Je thätiger das Gefäss, um so geringer die Zufuhr=. Haben wir aber eine Reizungs-Hyperämie, d. h. eine vermehrte Zufuhr durch ermüdete und daher passiv erweiterte Arterien, so kommt es therapeutisch gerade darauf an, die Gefässe in einen Zustand von Thätigkeit zu versetzen, in welchem sie im Stande sind, dem andrängenden Blutstrome Widerstand entgegenzusetzen. Das leistet uns der sogenannte =Gegenreiz=, ein höherer Reiz an einem schon gereizten Theile, welcher die erschlaffte Gefässmuskulatur zu dauernder Verengerung anregt, dadurch die Blutzufuhr verkleinert und die Regulation der Störung vorbereitet. Gerade da, wo am meisten die Reaction, d. h. die regulatorische Thätigkeit in Anspruch genommen wird, da handelt es sich darum, jene Passivität zu überwinden, welche die (sogenannte active) Hyperämie unterhält. [34] Handbuch der spec. Pathol. u. Therapie. I. 122. Längere Zeit hindurch betrachtete man es als unmöglich, dass die Strömung in erweiterten Gefässen eine beschleunigte sei. Man bezog sich auf die bekannte hydraulische Erfahrung, dass die Stromschnelligkeit in einer erweiterten Röhre ab-, in einer verengerten zunehme. Allein man übersah dabei, dass es sich am Gefässapparat nicht um einfache Röhren, sondern um ein System communicirender Röhren handelt, und dass keineswegs gleiche Mengen von Blut in der Zeiteinheit in jeden einzelnen Theil dieses Systems einströmen. Die hydraulischen Verhältnisse sind ganz verschieden, je nachdem wir den Stamm sei es der Aorta, sei es der Lungenarterie oder irgend einen mehr peripherischen Arterienast ins Auge fassen. Eine Verengerung des Stammes der Aorta oder der Lungenarterie wird sicherlich die Beschleunigung des Blutstroms an der verengten Stelle, eine Erweiterung die Verlangsamung desselben zur Folge haben. Wenn aber ein arterieller Ast im Bein oder in der Lunge sich verengert, so wird das an der Verengerungsstelle in seiner Fortbewegung beeinträchtigte Blut mit grösserer Kraft den collateralen Aesten zuströmen und hier sich einen leichteren Abfluss eröffnen. Wir finden dann neben der Ischämie das, was ich die =collaterale Fluxion= genannt habe[35]. -- [35] Handb. der spec. Pathol. u. Ther. I. 122, 129, 142, 173. * * * * * Gehen wir nun von den muskulösen Theilen der Gefässe über auf die =elastischen=, so treffen wir da eine Eigenschaft, welche eine sehr grosse Bedeutung hat, einerseits für die Venen, deren Thätigkeit an vielen Stellen nur auf elastische Elemente beschränkt ist, andererseits für die Arterien, insbesondere die Aorta und ihre grösseren Aeste. Bei diesen hat die Elasticität der Wandungen den Effect, die Verluste, welche der Blutdruck durch die systolische Erweiterung der Gefässe erfährt, auszugleichen und den ungleichmässigen Strom, welchen die stossweisen Bewegungen des Herzens erzeugen, in einen gleichmässigen umzuwandeln. Wäre die Gefässhaut nicht elastisch, so würde unzweifelhaft der Blutstrom sehr verlangsamt werden und zugleich durch die ganze Ausdehnung des Gefässapparates bis in die Capillaren Pulsation bestehen; es würde dieselbe stossweise Bewegung, welche im Anfange des Aortensystems dem Blute mitgetheilt wird, sich bis in die kleinsten Verästelungen erhalten. Allein jede Beobachtung, welche wir am lebenden Thiere machen, lehrt uns, dass innerhalb der Capillaren der Strom ein continuirlicher ist. Diese gleichmässige Fortbewegung wird dadurch hervorgebracht, dass die Arterien in Folge der Elasticität ihrer Wandungen den Stoss, welchen sie durch das eindringende Blut empfangen, mit derselben Gewalt dem Blute zurückgeben, sonach während der Zeit der folgenden Herz-Diastole einen regelmässigen Fortschritt des Blutes in der Richtung zur Peripherie hin unterhalten. Lässt die Elasticität des Gefässes erheblich nach, ohne dass zugleich das Gefäss starr und unbeweglich wird (Verkalkung, Amyloidentartung), so wird die Erweiterung, welche das Gefäss unter dem Drange des Blutes empfängt, nicht wieder ausgeglichen; das Gefäss bleibt im Zustande der Erweiterung, und es entstehen allmählich die bekannten Formen der =Ektasie=, wie wir sie an den Arterien als Aneurysmen, an den Venen als Varicen kennen. Es handelt sich bei diesen Zuständen nicht so sehr, wie man in neuerer Zeit geschildert hat, um primäre Erkrankungen der innern Haut, sondern um Veränderungen, welche in der elastischen und muskulären mittleren Haut vor sich gehen. -- * * * * * Wenn demnach die muskulösen Elemente der Arterien den gewichtigsten Einfluss auf das Maass und die Art der Blutvertheilung in den einzelnen Organen, die elastischen Elemente die grösste Bedeutung für die Herstellung eines schnellen und gleichmässigen Stromes haben, so üben sie doch nur eine mittelbare Wirkung auf die Ernährung der ausserhalb der Gefässe selbst liegenden Theile aus, und wir werden für diese Frage in letzter Instanz hingewiesen auf die mit =einfacher Membran versehenen Capillaren=, ohne welche ja nicht einmal die Wandbestandtheile der grösseren, mit Vasa vasorum versehenen Gefässe sich auf die Dauer zu ernähren und zu erhalten vermöchten. In den letzten Decennien hat man sich meist damit beholfen, dass man zwischen dem flüssigen Inhalte des Gefässes und dem Safte (Parenchymflüssigkeit) der Gewebe =Diffusionsströmungen= annahm: Endosmose und Exosmose. Die Gefässhaut galt dabei als eine mehr oder weniger indifferente Membran, welche eben nur eine Scheidewand zwischen zwei Flüssigkeiten bilde, die mit einander in ein Wechselverhältniss treten. In diesem Verhältnisse aber würden die zwei Flüssigkeiten wesentlich bestimmt durch ihre Concentration und ihre chemische Mischung, so dass, je nachdem die innere oder äussere Flüssigkeit concentrirter wäre, der Strom der Diffusion bald nach aussen, bald nach innen ginge, und dass ausserdem je nach den chemischen Eigenthümlichkeiten der einzelnen Säfte gewisse Modificationen in diesen Strömen entständen. Im Allgemeinen ist jedoch gerade diese letztere, mehr chemische Seite der Frage wenig berücksichtigt worden. Nun lässt sieh nicht in Abrede stellen, dass es gewisse Thatsachen giebt, welche auf eine andere Weise nicht wohl erklärt werden können, namentlich wo es sich um sehr grobe Abänderungen in den Concentrationszuständen der Säfte handelt. Dahin gehört jene Form von Cataract, welche =Kunde= bei Fröschen künstlich durch Einbringung von Salz in den Darmkanal oder in das Unterhautgewebe erzeugt hat. Dahin gehören insbesondere jene Stasen im Gefässapparat, welche =Schuler=[36] an amputirten Froschschenkeln durch Einwirkung von Salzlösungen hervorbrachte. Allein in dem Maasse, als man sich beim physikalischen Studium der Diffusions-Phänomene überzeugt hat, dass die Membran, welche die Flüssigkeiten trennt, kein gleichgültiges Ding ist, sondern dass die Natur derselben unmittelbar bestimmend wirkt auf die Fähigkeit des Durchtritts der Flüssigkeiten, so wird man auch bei der Gefässhaut einen solchen Einfluss nicht leugnen können. Indess darf man deshalb nicht so weit gehen, dass man etwa der Gefässhaut die ganze Eigenthümlichkeit des vasculären Stoffwechsels zuschriebe; am wenigsten darf man daraus erklären wollen, warum gewisse Stoffe, welche in der Blutflüssigkeit vertheilt sind, nicht allen Theilen gleichmässig zukommen, sondern an einzelnen Stellen in grösserer, an anderen in kleinerer Masse, an anderen gar nicht austreten. Diese Eigenthümlichkeiten hängen offenbar ab einerseits von den Verschiedenheiten des Druckes, welcher auf der Blutsäule einzelner Theile lastet, andererseits von den Besonderheiten der Gewebe; namentlich wird man sowohl durch das Studium der pathologischen, als besonders durch das Studium der pharmakodynamischen Erscheinungen mit Nothwendigkeit dazu getrieben, gewisse =Affinitäten= zuzulassen, welche zwischen bestimmten Geweben und bestimmten Stoffen existiren, Beziehungen, welche auf chemische Eigenthümlichkeiten zurückgeführt werden müssen, in Folge deren gewisse Theile mehr befähigt sind, aus der Nachbarschaft und somit auch aus dem Blute gewisse Substanzen anzuziehen, als andere. [36] Würzburger Verhandl. 1854. IV. 248. Betrachten wir die Möglichkeit solcher Anziehungen etwas genauer, so ist es von einem besonderen Interesse, zu sehen, wie sich solche Theile verhalten, die sich in einer gewissen Entfernung vom Gefässe befinden. Lassen wir auf irgend einen Theil direkt einen bestimmten Reiz einwirken, z. B. eine chemische Substanz, ich will annehmen, eine kleine Quantität eines Alkali, so bemerken wir, dass kurze Zeit nachher der Theil mehr »Ernährungsmaterial« aufnimmt, dass er schon in einigen Stunden um ein Beträchtliches grösser wird, anschwillt und trübe wird. Eine feinere Untersuchung ergiebt, dass die Elemente selbst solcher Gewebe, welche in hohem Grade durchsichtig sind, wie die Hornhaut, reichlich eine körnige, verhältnissmässig trübe Substanz enthalten, die nicht etwa aus eingedrungenem Alkali, sondern ihrem wesentlichen Theile nach aus Stoffen besteht, welche den Eiweisskörpern verwandt sind. Die Beobachtung ergiebt, dass ein solcher Vorgang in allen gefässhaltigen Theilen mit einer Hyperämie beginnt, so dass der Gedanke nahe liegt, die Hyperämie oder Congestion sei das Wesentliche und Bestimmende. Wenn wir aber die feineren Verhältnisse studiren, so ist es schwer zu verstehen, wie das Blut, welches in den hyperämischen Gefässen ist, es machen soll, um gerade nur auf den gereizten Theil einzuwirken, während andere Theile, welche in viel grösserer Nähe an denselben Gefässen liegen, nicht in derselben Weise getroffen werden. In allen Fällen, in welchen die Gefässe der Ausgangspunkt von Störungen sind, welche im Gewebe eintreten, finden sich auch die Störungen am meisten ausgesprochen in der nächsten Umgebung der Gefässe und in dem Gebiete, welches diese Gefässe versorgen (=Gefässterritorium=). Wenn wir einen reizenden, z. B. einen faulenden Körper in ein Blutgefäss stecken, wie dies von mir in der Geschichte der Embolie in grösserer Ausdehnung festgestellt ist, so werden nicht etwa die vom Gefässe entfernten Theile der Hauptsitz der activen Veränderung, sondern diese zeigt sich zunächst an der Wand des Gefässes selbst und dann an den anstossenden Gewebs-Elementen[37]. Wenden wir aber den Reiz direkt auf das Gewebe an, so bleibt der Mittelpunkt der Störung auch immer da, wo der Angriffspunkt des Reizes liegt, gleichviel, ob Gefässe in der Nähe sind oder nicht. [37] Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin. 1856. S. 294, 337, 456. Wir werden darauf später noch zurückkommen; hier war es mir nur darum zu thun, die Thatsache in ihrer Allgemeinheit vorzuführen, um den gewöhnlichen, eben so bequemen als trügerischen Schluss zurückzuweisen, dass die (an sich passive) Hyperämie bestimmend sei für die Ernährung des Gewebes. Bedürfte es noch eines weiteren Beweises, um diesen, vom anatomischen Standpunkte aus vollständig unhaltbaren Schluss zu widerlegen, so haben wir in dem vorher erwähnten Experiment mit der Durchschneidung des Sympathicus die allerbequemste Handhabe. Wenn man bei einem Thiere den Sympathicus am Halse durchschneidet, so bildet sich eine Hyperämie in der ganzen entsprechenden Kopfhälfte aus: die Gefässe sind stark erweitert, das Ohr wird dunkelroth und heiss, die Conjunctiva und Nasenschleimhaut strotzend injicirt. Diese Hyperämie kann Tage, Wochen, Monate lang bestehen, ohne dass auch nur die mindeste gröbere nutritive Störung daraus folgt; die Theile sind, obwohl mit Blut überfüllt, so weit wir dies wenigstens bis jetzt übersehen können, in demselben Ernährungs-Zustande wie vorher. Wenn wir Entzündungsreize auf diese Theile appliciren, so ist das Einzige, was wir feststellen können, dass die Entzündung schneller verläuft, ohne dass sie jedoch an sich oder in der Art ihrer Producte wesentlich anders wäre als sonst[38]. [38] Handbuch der speciellen Pathologie. I. 151, 247. Gesammelte Abhandl. S. 319. Die grössere oder geringere Masse von Blut, welche einen Theil durchströmt, ist also nicht als die einfache Ursache der Veränderung seiner Ernährung zu betrachten. Es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass ein Theil, der sich in Reizung befindet und gleichzeitig mehr Blut empfängt als sonst, auch mit grösserer Leichtigkeit mehr Material aus dem Blute anziehen kann, als er sonst gekonnt haben würde oder als er können würde, wenn sich die Gefässe in einem Zustande von Verengerung und verminderter Blutfülle befänden. Wollte man gegen meine Auffassung einwenden, dass bei hyperämischen Zuständen locale Blutentziehungen oft die günstigsten Effecte hervorbringen, so ist das kein Gegenbeweis. Denn es versteht sich von selbst, dass wir es einem Theile, dem wir das Ernährungsmaterial abschneiden oder verringern, schwerer machen, Material aufzunehmen, aber wir können ihn nicht umgekehrt dadurch, dass wir ihm mehr Ernährungsmaterial darbieten, sofort veranlassen, mehr in sich aufzunehmen; das sind zwei ganz verschiedene und auseinander zu haltende Dinge. So nahe es auch liegt, und so gerne ich auch zugestehe, dass es auf den ersten Blick etwas sehr Ueberzeugendes hat, aus der günstigen Wirkung, welche die Abschneidung der Blutzufuhr auf die Hemmung eines Vorganges hat, der unter einer Steigerung derselben entsteht, auf die Abhängigkeit jenes Vorganges von dieser Steigerung der Zufuhr zu schliessen, so meine ich doch, dass die praktische Erfahrung nicht in dieser Weise gedeutet werden darf. Es kommt nicht so sehr darauf an, dass, sei es in dem Blute als Ganzem, sei es in dem Blutgehalte des einzelnen Theiles, eine quantitative Zunahme erfolgt, um ohne Weiteres in der Ernährung des Theiles eine gleiche Zunahme zu setzen, sondern es kommt meines Erachtens darauf an, dass entweder besondere Zustände des Gewebes (Reizung) bestehen, welche die Anziehungsverhältnisse desselben zu bestimmten Stoffen ändern, oder dass besondere Stoffe (=specifische Substanzen=) in das Blut gelangen, auf welche bestimmte Gewebe oder Theile von Geweben eine besondere Anziehung ausüben. Prüft man diesen Satz in Beziehung auf die humoralpathologische Auffassung der Krankheiten, so ergiebt sich sofort, wie weit ich davon entfernt bin, die Richtigkeit der humoralen Deutungen im Allgemeinen zu bestreiten. Vielmehr hege ich die feste Ueberzeugung, dass besondere Stoffe, welche in das Blut gelangen, einzelne Theile des Körpers zu besonderen Veränderungen induciren können, indem sie in dieselben aufgenommen werden vermöge der =specifischen Anziehung der einzelnen Gewebe zu einzelnen Stoffen=[39]. Wir wissen, dass eine Reihe von Substanzen existirt, welche, wenn sie in den Körper gebracht werden, ganz besondere Anziehungen zum Nervenapparate darbieten, ja dass es innerhalb dieser Reihe wieder Substanzen gibt, welche zu ganz bestimmten Theilen des Nervenapparates nähere Beziehungen haben, einige zum Gehirn, andere zum Rückenmark, zu den sympathischen Ganglien, einzelne wieder zu besonderen Theilen des Gehirns, Rückenmarks u. s. w. Ich erinnere hier an Morphium, Atropin, Worara, Strychnin, Digitalin. Andererseits nehmen wir wahr, dass gewisse Stoffe eine nähere Beziehung haben zu bestimmten Secretionsorganen, dass sie diese Secretionsorgane mit einer gewissen Wahlverwandtschaft durchdringen, dass sie in ihnen abgeschieden werden, und dass bei einer reichlicheren Zufuhr solcher Stoffe ein Zustand der Reizung in diesen Organen stattfindet. Dahin gehören Harnstoff, Kochsalz, Canthariden, Cubeben. Allein nothwendig setzt diese Annahme voraus, dass die Gewebe, welche eine besondere Wahlverwandtschaft zu besonderen Stoffen haben sollen, überhaupt existiren: eine Niere, die ihr Epithel verliert, büsst damit auch ihre Secretionsfähigkeit für die specifischen Stoffe ein. Jene Annahme setzt ferner voraus, dass die Gewebe sich in ihrem natürlichen Zustande befinden: weder die kranke, noch die todte Niere hat mehr die Affinität zu besonderen Stoffen, welche die lebende und gesunde Drüse besass. Die Fähigkeit, bestimmte Stoffe anzuziehen und umzusetzen, kann höchstens für eine kurze Zeit in einem Organe erhalten, welches nicht mehr in einer eigentlich lebenden Verfassung bleibt. Wir werden daher am Ende immer genöthigt, die einzelnen Elemente als die wirksamen Factoren bei diesen Anziehungen zu betrachten. Eine Leberzelle kann aus dem Blute, welches durch das nächste Capillargefäss strömt, bestimmte Substanzen anziehen, aber sie muss eben zunächst vorhanden und sodann ihrer ganz besonderen Eigenthümlichkeit mächtig sein, um diese Anziehung ausüben zu können. Wird das vitale Element verändert, tritt eine Krankheit ein, welche in der molekularen, physikalischen oder chemischen Eigenthümlichkeit desselben Veränderungen setzt, so wird damit auch seine Fähigkeit geändert, diese besonderen Anziehungen auszuüben. [39] Handb. der spec. Path. und Ther. I. 276. Betrachten wir dies Beispiel noch genauer. Die Leberzellen stossen fast unmittelbar an die Wand der Capillaren, nur geschieden durch eine dünne und vielleicht nicht einmal continuirliche Schicht einer feinen Bindegewebslage. Wollten wir uns nun denken, dass die Eigenthümlichkeit der Leber, Galle abzusondern, bloss darin beruhte, dass hier eine besondere Art der Gefäss-Einrichtung wäre, so würde dies in der That nicht zu rechtfertigen sein. Aehnliche Netze von Gefässen, welche zu einem grossen Theile venöser Natur sind, finden sich an manchen anderen Orten z. B. an den Lungen. Die Eigenthümlichkeit der Gallenabsonderung hängt offenbar ab von den Leberzellen, und nur so lange als das Blut in nächster Nähe an Leberzellen vorüberströmt, besteht die besondere Stoffanziehung, welche die Thätigkeit der Leber charakterisirt. Enthält das Blut freies Fett, so nehmen nach einiger Zeit die Leberzellen Fett in kleinen Partikelchen auf; wenn der Zufluss fortgeht, so wird auch das Fett in den Zellen reichlicher und es scheidet sich nach und nach in grösseren Tropfen innerhalb derselben ab (Fig. 29, _B_, _b_). Was wir beim Fett wirklich sehen, das müssen wir uns bei vielen anderen Substanzen, die sich in gelöstem Zustande befinden, denken, z. B. bei vielen metallischen Giften, die wir auf chemischem Wege aus dem Gewebe darstellen können. Immer aber wird es für die Aufnahme solcher Stoffe wesentlich sein, dass in der Leber Zellen in einem ganz bestimmten Zustande vorhanden sind; werden sie krank, entwickelt sich in ihnen ein Zustand, welcher mit einer wesentlichen Veränderung ihres Inhaltes verbunden ist, z. B. eine Atrophie, welche endlich das Zugrundegehen der Theile bedingt, dann wird damit auch die Fähigkeit des Organs, Stoffe aufzunehmen und abzuscheiden, insbesondere Galle zu bilden, immer mehr beschränkt werden. Wir können uns keine Leber denken ohne Leberzellen; diese sind, soviel wir wissen, das eigentlich Wirksame, da selbst in Fällen, wo der Blutzufluss durch Verstopfung der Pfortader beschränkt ist[40], Galle, wenn auch vielleicht nicht in derselben Menge, abgesondert wird. [40] Würzb. Verhandl. (1855). VII. 21. Diese Erfahrung hat gerade an der Leber einen besonderen Werth, weil die Stoffe, welche die Galle zusammensetzen, bekanntlich nicht im Blute präformirt sind, wir also nicht einen Vorgang der einfachen Abscheidung, sondern einen Vorgang der wirklichen Bildung für die Bestandtheile der Galle in der Leber voraussetzen müssen. Diese Frage hat noch an Interesse gewonnen durch die bekannte Beobachtung von =Bernard=, dass an dieselben zelligen Elemente auch die Eigenschaft der Zuckerbildung gebunden ist, welche in so colossalem Maassstabe dem Blute einen Stoff zuführt, der auf die inneren Umsetzungs-Prozesse und auf die Wärmebildung den entschiedensten Einfluss hat. Sprechen wir also von Leberthätigkeit, so kann man in Beziehung sowohl auf die Zucker-, als auf die Gallenbildung darunter nichts anderes meinen, als die Thätigkeit der einzelnen Elemente (Zellen), und zwar eine Thätigkeit, die darin besteht, dass sie aus dem vorüberströmenden Blute Stoffe anziehen, diese Stoffe in sich umsetzen und dieselben in dieser umgesetzten Form entweder an das Blut wieder zurückgeben, oder in Form von Galle den Gallengängen überliefern. Ich verlange nun für die Cellularpathologie nichts weiter, als dass diese Auffassung, welche für die grossen Secretions-Organe nicht vermieden werden kann, auch auf die kleineren Organe und auf die Elemente angewendet werde, dass also einer Epithelzelle, einer Linsenfaser, einer Knorpelzelle bis zu einem gewissen Maasse gleichfalls die Möglichkeit zugestanden werde, aus den nächsten Gefässen, wenn auch nicht immer direkt, sondern oft durch eine weite Transmission, je nach ihrem besonderen Bedürfnisse, gewisse Quantitäten von Material zu beziehen, und nachdem sie dasselbe in sich aufgenommen haben, es in sich weiter umzusetzen, so zwar, dass entweder die Zelle für ihre eigene Entwickelung daraus neues Material schöpft (=Assimilation=), oder dass die Substanzen im Innern sich aufhäufen, ohne dass die Zelle davon unmittelbar Nutzen hat (=Retention=), oder endlich, dass nach der Aufnahme selbst ein Zerfallen der Zelleneinrichtung geschehen, ein Untergang der Zelle eintreten kann (=Necrobiose=). Auf alle Fälle scheint es mir nothwendig zu sein, dieser =specifischen Action der Elemente=, gegenüber der specifischen Action der Gefässe, eine überwiegende Bedeutung beizulegen, und das Studium der localen Prozesse seinem wesentlichen Theile nach auf die Erforschung dieser Art von Vorgängen zu richten. -- * * * * * Mit diesen Ergebnissen können wir uns zu einer Kritik der humoralpathologischen Systeme wenden, welche seit langer Zeit auf das Studium der sogenannten =edleren Säfte=, gewissermaassen auf die Lehre von der Ernährung im Grossen begründet wurden. Fasst man zunächst das Blut in seiner normalen Wirkung auf die Ernährung ins Auge, so handelt es sich dabei nicht so wesentlich um seine Bewegung, um das Mehr oder Weniger von Zuströmen, sondern um seine innere Zusammensetzung. Bei einer grossen Masse von Blut kann die Ernährung leiden, wenn die Zusammensetzung desselben nicht dem natürlichen Bedürfnisse der Theile entspricht; bei einer kleinen Masse von Blut kann die Ernährung verhältnissmässig sehr günstig vor sich gehen, wenn jedes einzelne Partikelchen des Blutes das günstigste Verhältniss der Mischung besitzt. Betrachtet man das Blut als Ganzes gegenüber den anderen Theilen, so ist es das Gefährlichste, was man thun kann, das, was zu allen Zeiten die meiste Verwirrung geschaffen hat, anzunehmen, dass man es hier mit einem constanten, in sich unabhängigen Fluidum zu thun habe, von dem die grosse Masse der übrigen Gewebe mehr oder weniger direkt abhängig sei. Die meisten humoralpathologischen Sätze stützen sich auf die Voraussetzung, dass gewisse Veränderungen, welche im Blute eingetreten sind, mehr oder weniger dauerhaft seien, und gerade da, wo diese Sätze praktisch am einflussreichsten gewesen sind, in der Lehre von den =chronischen Dyscrasien=, pflegt man sich vorzustellen, dass die Veränderung des Blutes eine continuirliche sei, ja, dass durch Vererbung von Generation zu Generation eigenthümliche Veränderungen in dem Blute übertragen werden und sich erhalten können. Das ist meiner Meinung nach der Grundfehler, der eigentliche Angelpunkt der Irrthümer. Nicht etwa, dass ich bezweifelte, dass eine veränderte Mischung des Blutes anhaltend bestehen, oder dass sie sich von Generation zu Generation fortpflanzen könnte, aber es scheint mir unlogisch, zu glauben, dass sie sich =im Blute selbst= fortpflanzen und dort erhalten kann, dass das Blut als solches der Träger der Dyscrasie ist. Meine cellularpathologischen Anschauungen unterscheiden sich darin von den humoralpathologischen wesentlich, dass ich das Blut nicht als einen dauerhaften und in sich unabhängigen, aus sich selbst sich regenerirenden und sich fortpflanzenden Saft, sondern als ein in einer constanten Abhängigkeit von anderen Theilen befindliches flüssiges Gewebe betrachte. Man braucht nur dieselben Schlüsse, die man für die Abhängigkeit des Blutes von der Aufnahme neuer Ernährungsstoffe vom Magen her allgemein zulässt, auch auf die Untersuchung der Abhängigkeit desselben von den Geweben des Körpers selbst anzuwenden. Wenn man von einer Säuferdyscrasie spricht, so wird Niemand die Vorstellung haben, dass Jeder, der einmal betrunken gewesen ist, eine permanente Alkoholdyscrasie besitzt, sondern man denkt sich, dass, wenn immer neue Mengen von Alkohol eingeführt werden, auch immer neue Veränderungen des Blutes eintreten, so dass die Veränderung am Blute so lange bestehen muss, als die Zufuhr von neuen schädlichen Stoffen geschieht, oder als in Folge früherer Zufuhr einzelne Organe in einem krankhaften Zustande verharren. Wird kein Alkohol mehr zugeführt, werden die Organe, welche durch den früheren Alkoholgenuss beschädigt waren, zu einem normalen Verhalten zurückgeführt, so ist kein Zweifel, dass damit die Säuferdyscrasie zu Ende ist. Dieses Beispiel, angewendet auf die Geschichte der übrigen Dyscrasien, erläutert ganz einfach den Satz, =dass jede dauernde Dyscrasie abhängig ist von einer dauerhaften Zufuhr schädlicher Bestandtheile von gewissen Punkten (Atrien oder Heerden) her=. Wie eine fortwährende Zufuhr von schädlichen Nahrungsstoffen eine dauerhafte Entmischung des Blutes setzen kann, eben so vermag die dauerhafte Erkrankung eines bestimmten Organs dem Blute fort und fort kranke Stoffe zuzuführen. Es handelt sich dann also wesentlich darum, für die einzelnen Dyscrasien Ausgangspunkte, =Localisationen= zu suchen, die bestimmten Gewebe oder Organe zu finden, von denen aus das Blut die besondere Störung erfährt. Ich will gern gestehen, dass es in vielen Dyscrasien bis jetzt nicht möglich gewesen ist, diese Gewebe oder Organe aufzufinden. In vielen anderen ist es aber gelungen, wenn man auch nicht bei jedem derselben erklären kann, in welcher Weise das Blut dabei verändert wird. Jedermann kennt jenen merkwürdigen Zustand, welchen man ungezwungen auf eine Dyscrasie beziehen kann, den scorbutischen Zustand, die Purpura, die Petechial-Dyscrasie. Vergeblich sieht man sich jedoch nach entscheidenden Erfahrungen darüber um, welcher Art die Dyscrasie, die Blutveränderung ist, wenn Scorbut oder Purpura sich zeigt. Das, was der Eine gefunden hat, hat der Andere widerlegt, ja es hat sich ergeben, dass zuweilen in der Mischung der gröberen Bestandtheile des Blutes gar keine Veränderung eingetreten war. Es bleibt hier also ein Quid ignotum, und man wird es gewiss verzeihlich finden, wenn wir nicht sagen können, woher eine Dyscrasie kommt, deren Wesen wir überhaupt nicht kennen. Auch schliesst die Erkenntniss der Art der Blutveränderung nicht die Einsicht in die Bedingungen der Dyscrasie in sich, und eben so wenig findet das Umgekehrte Statt. Bei der hämorrhagischen Diathese wird man es immerhin als einen wesentlichen Vortheil betrachten müssen, dass wir in einer Reihe von Fällen auf ihren Ausgangspunkt in einem bestimmten Organe hinweisen können, z. B. auf die Milz oder die Leber[41]. Es handelt sich jetzt zunächst darum, zu ermitteln, welchen Einfluss die Milz oder die Leber auf die besondere Mischung des Blutes ausüben. Wüssten wir genau, wie das Blut durch die Einwirkung dieser Organe verändert wird, so wäre es vielleicht nicht schwer, aus der Kenntniss des kranken Organs auch sofort abzuleiten, wie das Blut beschaffen sein wird. Aber es ist doch schon wesentlich, dass wir über das blosse Studium der Blutveränderungen hinausgekommen und auf bestimmte Organe geführt worden sind, in welchen die Dyscrasie wurzelt. [41] Handb. der spec. Path. und Ther. I. 246. So muss man consequent schliessen, dass, wenn es eine syphilitische Dyscrasie gibt, in welcher das Blut eine virulente Substanz führt, diese Substanz nicht dauerhaft in dem Blute enthalten sein kann, sondern dass ihre Existenz im Blute gebunden sein muss an das Bestehen localer Heerde, von wo aus immer wieder neue Massen von schädlicher Substanz eingeführt werden in das Blut[42]. Folgt man dieser Bahn, so gelangt man zu dem schon erwähnten und gerade für die praktische Medicin äusserst wichtigen Gesichtspunkte, dass jede dauerhafte Veränderung in dem Zustande der circulirenden Säfte, welche nicht unmittelbar durch äussere, von bestimmten Atrien aus in den Körper eindringende Schädlichkeiten bedingt wird, von einzelnen Organen oder Geweben abgeleitet werden muss; es ergibt sich weiter die Thatsache, dass gewisse Gewebe und Organe eine grössere Bedeutung für die Blutmischung haben, als andere, dass einzelne eine nothwendige Beziehung zu dem Blute besitzen, andere nur eine zufällige. [42] Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie. 1858. XV. 217. Geschwülste II. 476. Ich komme also mit den Alten darin überein, dass ich eine Verunreinigung (=Infection=) des Blutes durch verschiedene Substanzen (=Miasmen=) zulasse, und dass ich einem grossen Theile dieser Substanzen (=Schärfen=, =Acrimonien=) eine reizende Einwirkung auf einzelne Gewebe zuschreibe. Ich gestehe auch zu, dass bei acuten Dyscrasien diese Stoffe im Blute selbst eine fortschreitende Zersetzung (=Fermentation=, =Zymosis=) erzeugen können, obwohl ich nicht weiss, ob dies in allen Fällen, die man so deutet, richtig ist. Aber sicher ist es, dass diese Zymosis ohne neue Zufuhr sich nicht =dauerhaft= erhält, und dass jede anhaltende Dyscrasie eine erneuerte Zufuhr schädlicher Stoffe in das Blut voraussetzt. Achtes Capitel. Das Blut. Morphologische (anatomische) und chemische Veränderungen des Blutes (Dyscrasien). Faserstoff. Fibrillen desselben. Vergleich mit Schleim und Bindegewebe. Homogener gallertiger Zustand. Rothe Blutkörperchen. Kern, Membran und Inhalt derselben. Gestalt bei den verschiedenen Wirbelthieren: diagnostische Schwierigkeiten. Zusammensetzung des Zellkörpers: Hämatin, Hämoglobin. Stroma. Veränderungen der Farbe und der Gestalt. Blutkrystalle (Hämatoidin, Hämin, Hämatokrystallin). Farblose Blutkörperchen. Numerisches Verhältniss. Struktur. Vergleich mit Eiterkörperchen. Klebrigkeit und Agglutination derselben. Specifisches Gewicht. Crusta granulosa. Diagnose von Eiter- und farblosen Blutkörperchen. Die Lehren von der Eiterresorption und von der Lymphexsudation. Lebenseigenschaften der farblosen Körperchen: Bewegung, Aufnahme anderer Körper, Auswanderung. Bedeutung dieser Erfahrungen für die cellulare Doctrin. Wenn man die verschiedenen krankhaften Veränderungen des Blutes (=Dyscrasien=) in Beziehung auf Werth und Quelle ansieht, so lassen sich von vornherein zwei grosse Kategorien von dyscrasischen Zuständen unterscheiden, je nachdem nehmlich abweichende morphologische Bestandtheile im Blute enthalten sind, oder die Abweichung eine mehr chemische ist und an den flüssigen Bestandtheilen sich findet. Dabei versteht es sich aber wohl von selbst, dass in der Regel die morphologischen (anatomischen) Dyscrasien nicht ohne chemische Dyscrasie verlaufen und umgekehrt: unsere Methoden der Blutuntersuchung sind aber noch so unvollkommen, dass wir uns in der Regel an die eine oder andere Möglichkeit halten müssen. Ebenso ist es klar, dass die morphologischen Veränderungen der Blutmischung entweder durch Veränderungen der natürlichen Elemente (Blutkörperchen) oder durch Hinzufügung fremder, der Blutmischung normal nicht zukommender Theile bedingt sein können. Einer der flüssigen Stoffe des Blutes, der Faserstoff (=Fibrin=), hat häufig als ein morphologischer oder doch als ein fester Bestandtheil des Blutes gegolten, weil er vermöge seiner Gerinnbarkeit sehr bald, nachdem das Blut aus dem lebenden Körper entfernt ist, eine sichtbare Form annimmt. Diese Auffassung ist auch in der neueren Zeit noch vielfach in der Praxis festgehalten worden, wie sie denn traditionell in der Medicin seit langer Zeit bestanden hat, insofern man fibrinarmes Blut als =dissolutes= zu bezeichnen und die Qualität des Blutes viel weniger nach den Blutkörperchen, als nach dem Fibringehalt zu schätzen pflegte. Eine solche Trennung des Faserstoffes von den flüssigen Bestandtheilen des Blutes hat insofern einen wirklichen Werth, als derselbe eben so, wie die Blutkörperchen, eine ganz eigenthümliche Erscheinung ist, so einzig und allein in dem Blute und den ihm zunächst stehenden Säften sich findet, dass man ihn in der That mehr mit den Blutkörperchen in Zusammenhang bringen kann, als mit dem Blutwasser (Serum). Betrachtet man das Blut in Beziehung auf seine eigentlich specifischen Theile, durch welche es Blut ist und durch welche es sich von anderen Flüssigkeiten unterscheidet, so kann man nicht umhin anzuerkennen, dass auf der einen Seite die rothen, hämatinhaltigen Körperchen, auf der anderen Seite das Fibrin der Intercellular-Flüssigkeit (Liquor sanguinis, Plasma) es sind, in welchen die Unterschiede am meisten hervortreten. [Illustration: =Fig=. 59. Geronnenes Fibrin aus menschlichem Blute. _a_ Feine, _b_ gröbere und breitere Fibrillen; _c_ in das Gerinnsel eingeschlossene rothe und farblose Blutkörperchen. Vergr. 280.] Betrachten wir daher zunächst diese specifischen Bestandtheile etwas näher. Die morphologische Schilderung des Faserstoffes ist verhältnissmässig schnell gemacht. Untersuchen wir ihn, wie er im Blutgerinnsel vorkommt, so finden wir ihn fast immer in der Form, wie ihn =Malpighi= beschrieben hat und von welcher er den Namen trägt, der fibrillären. Die geronnene Substanz zeigt wirkliche Fasern von etwas zackiger Gestalt, welche sich vielfach durchsetzen und dadurch äusserst feine Geflechte, zarte Maschennetze bilden. Die Fasern sind in den einzelnen Fällen von sehr verschiedener Breite. Gewöhnlich sind sie sehr fein; zuweilen finden sich aber ungleich breitere, fast bandartige, welche viel glatter sind, sich aber im Uebrigen ziemlich auf dieselbe Weise durchsetzen und verschlingen. Es sind dies Eigenthümlichkeiten, über deren Bedeutung bis jetzt ein sicheres Urtheil noch nicht gewonnen ist. Ich finde solche Verschiedenheiten ziemlich häufig, bin jedoch nicht im Stande, die Bedingungen dafür anzugeben. Betrachtet man einen Blutstropfen während der Gerinnung, so sieht man überall, wie zwischen den Blutkörperchen feine Fibrin-Fäden anschiessen. In dem Coagulum finden sich daher die morphologischen Elemente in den Maschenräumen des entstandenen Netzwerkes (Fig. 59, _c_), rings umschlossen und zuweilen nicht wenig verdrückt durch die Fasern desselben. In Beziehung auf die Natur dieser Fasern können wir hervorheben, dass es histologisch nur noch zweierlei Arten von Fasern gibt, welche mit ihnen eine nähere Aehnlichkeit darbieten[43]. Die eine Art kommt in einer Substanz vor, welche sonderbarer Weise eine gewisse Verbindung zwischen den ältesten kraseologischen Vorstellungen und den modernen bildet, nehmlich im Schleim (S. 65). In der hippokratischen Medicin fällt der Blutfaserstoff noch unter den Begriff des =Phlegma= (=Mucus=), und die antike Lehre von dem phlegmatischen Temperament würde in moderner Formel ganz wohl als fibrinöse Krase übersetzt werden können. In der That, wenn wir den Schleim mit dem Faserstoff vergleichen, so müssen wir zugestehen, dass eine grosse formelle Uebereinstimmung in ihrer Gerinnung besteht. Wie das Fibrin, bildet auch der Schleim, zumal bei Zusatz von Wasser oder organischen Säuren, Fasern und Häute, welche unter einander zu oft sehr sonderbaren Figuren zusammentreten. Dass auch in der Absonderung von Schleim und Faserstoff gewisse Beziehungen bestehen, werden wir später darlegen. -- Die andere Substanz, welche hierher gehört, ist die Intercellularsubstauz des Bindegewebes, der leimgebende Stoff, das Collagen (Gluten der Früheren), und es ist gewiss interessant, sich daran zu erinnern, dass noch im vorigen Jahrhundert, ja hier und da noch in dem gegenwärtigen, die Speckhaut des Blutes als Gluten bezeichnet wurde. Die Fibrillen des Bindegewebes verhalten sich nur insofern anders, als die des Faserstoffes, als sie in der Regel nicht netzförmig, sondern parallel verlaufen; im Uebrigen sind sie den Fibrin-Fasern in hohem Maasse ähnlich. Die Intercellularsubstanz des Bindegewebes stimmt auch darin mit dem Faserstoff überein, dass ihr Verhalten gegen Reagentien sehr analog ist. Wenn wir diluirte Säuren, namentlich die gewöhnlichen Pflanzensäuren oder auch schwache Mineralsäuren darauf einwirken lassen, so quellen sie auf und unter den Augen verschwinden die Fasern, so dass wir nicht mehr sagen können, wo sie bleiben. Die Masse schwillt auf, es verschwindet jeder Zwischenraum, und es sieht aus, als ob die ganze Masse ein continuirliches, vollkommen homogenes Gewebsstück bildete. Waschen wir dasselbe langsam aus, entfernen wir die Säure wieder, so lässt sich, wenn die Einwirkung keine zu concentrirte war, wieder der faserige Zustand herstellen. Es ist dies Verhalten bis jetzt noch unerklärt, und gerade deshalb hatte die Ansicht =Reichert='s, welche ich früher (S. 41, 141) erwähnte, etwas Bestechendes, dass die Substanz des Bindegewebes eigentlich homogen und die Fasern nur eine künstliche Bildung oder eine optische Täuschung seien, indessen isoliren sich beim Faserstoff noch viel deutlicher als beim Bindegewebe die einzelnen Fibrillen so vollständig, dass ich nicht umhin kann, zu sagen, dass ich die Trennung in einzelne Fäserchen für wirklich bestehend und nicht bloss für künstlich und eben so wenig für eine Täuschung des Beobachters halte. [43] Gesammelte Abhandl. S. 137. Eine fernere Uebereinstimmung ist die, dass sowohl beim Fibrin, als beim Bindegewebe jedesmal vor dem Stadium des Fibrillären ein Stadium des Homogenen oder Gallertigen liegt. Betrachtet man die Gerinnung fibrinöser Flüssigkeiten, so sieht man nicht etwa von vornherein Fasern entstehen, sondern die ganze Flüssigkeit »gesteht« zuerst zu einer ganz gleichmässigen Masse, welche zuweilen so fest ist, dass man sie in einem Stücke aufheben kann. Erst aus dieser homogenen Gallerte scheiden sich die Fasern aus, mit deren Bildung die Zusammenziehung des Gerinnsels, die eigentliche Coagulation auftritt[44]. In ähnlicher Weise erscheint auch die Intercellularsubstanz des Bindegewebes zuerst bei ihrer Bildung als homogene Intercellularsubstanz (Schleim); erst nach und nach sieht man sich Fibrillen, wenn ich mich so ausdrücken darf, ausscheiden oder, wie man gewöhnlich sagt, differenziren. Die Bildung der Fasern, die =Fibrillation= lässt sich daher recht wohl mit der Krystallisation vergleichen, und in der That gibt es auch unter den anorganischen Stoffen gewisse Analogien. Manche Niederschläge von Kalksalzen oder Kieselsäure sind ursprünglich vollkommen gelatinös und amorph; nach und nach scheiden sich aus ihnen solide Körner und Krystalle aus. [44] =Froriep='s Neue Notizen 1845. Sept. No. 769. Gesammelte Abhandlungen. S. 59, 65. Man kann also immerhin den Namen der Fibrillen für die gewöhnliche Erscheinungsform des Faserstoffes beibehalten, aber man muss sich dabei erinnern, dass diese Substanz ursprünglich in einem homogenen, amorphen, gallertartigen Zustande existirte, und wieder in denselben übergeführt werden kann. Diese Ueberführung geschieht nicht nur künstlich, sondern sie macht sich auch auf natürlichem Wege im Körper selbst, so dass an Stellen, wo vorher Fibrillen vorhanden waren, später der Faserstoff wieder homogen angetroffen wird. Die Coagula der Aneurysmen, manche Thromben der Venen werden allmählich in homogene, knorpelartig dichte Massen verwandelt. -- [Illustration: =Fig=. 60. Kernhaltige Blutkörperchen von einem menschlichen, sechs Wochen alten Fötus. _a_ Verschieden grosse, homogene Zellen mit einfachen, relativ grossen Kernen, von denen einzelne leicht granulirt, die meisten mehr gleichmässig sind, bei * ein farbloses Körperchen. _b_ Zellen mit äusserst kleinen, aber scharfen Kernen und deutlich rothem Inhalte. _c_ Nach Behandlung mit Essigsäure sieht man die Kerne zum Theil geschrumpft und zackig, bei mehreren doppelt; bei * ein granulirtes Körperchen. Vergr. 280.] * * * * * Was nun den zweiten specifischen Antheil des Blutes betrifft, die =Blutkörperchen=, so habe ich schon hervorgehoben (S. 12), dass gegenwärtig ziemlich alle Histologen darüber einig sind, dass die farbigen Blutkörperchen des Menschen und der Säugethiere im erwachsenen Zustande keine Kerne besitzen. Ihre zellige Natur könnte daher in Zweifel gezogen werden, wenn wir nicht wüssten, dass sie zu gewissen Zeiten der embryonalen Entwickelung (Fig. 60) je einen Kern besitzen. Mehrere neuere Beobachter, namentlich =Brücke=, leugnen jedoch auch die Existenz einer Membran an ihnen, so dass man versucht ist, auf jene ältere Bezeichnung der Blutkörner zurückzukommen, welche auch auf blosse Concretionen chemischer oder mechanischer Art anwendbar ist. Indess erscheint im Bewusstsein der heutigen Zeit, wie wir sahen (S. 16), die Membranlosigkeit an sich als kein Grund, die zellige Natur eines organischen Elements in Abrede zu stellen, und da in den früheren Monaten des Embryolebens die rothen Blutkörperchen nicht nur genetisch aus unzweifelhaften Bildungszellen durch fortschreitende Umbildung hervorgehen, sondern auch unter Umständen eben solche Membranen zeigen (Fig. 60, _a_ u. _c_), wie sie an anderen Zellen nachweisbar sind, so wird man unbedenklich aussagen können, dass die rothen Blutkörperchen des Menschen sowohl in der späteren Zeit der fötalen Entwickelung, als namentlich in der Zeit nach der Geburt einfache kernlose Zellen sind. [Illustration: =Fig=. 61. Menschliche Blutkörperchen vom Erwachsenen. _a_ das gewöhnliche, scheibenförmige rothe, _b_ das farblose Blutkörperchen, _c_ rothe Körperchen, von der Seite und auf dem Rande stehend gesehen. _d_ rothe Körperchen in Geldrollenform zusammengeordnet. _e_ zackige, durch Wasserverlust (Exosmose) geschrumpfte rothe Körper. _f_ geschrumpfte rothe Körper mit hügeligem Rand und einer kernartigen Erhebung auf der Fläche der Scheibe. _g_ noch dichtere Schrumpfung. _h_ höchster Grad der Schrumpfung (melanöse Körperchen). Vergr. 280.] Ganz abweichend von allen anderen Zellen ist die Gestalt derselben beim Menschen und den Säugethieren. Sie stellen nehmlich platte, scheiben- oder tellerförmige Bildungen mit zweiseitiger centraler Depression dar. Der dickere Rand erscheint daher als ein dunkler gefärbter Ring, die dünnere Mitte als eine ganz schwach gefärbte Fläche. Bei Vögeln, Amphibien und Fischen, bei welchen sich der kernhaltige Zustand während des ganzen Lebens erhält, findet sich zugleich eine ovale Gestalt, die übrigens merkwürdigerweise auch bei dem Lama und Kameel vorkommt. Der allerniederste Fisch, der Amphioxus, hat überhaupt keine Blutkörperchen und beim Leptocephalus bleiben sie ungefärbt. Bei keinem anderen Gewebe sind die Verschiedenheiten der Elemente bei verschiedenen Thieren so gross, wie gerade bei den rothen Blutkörperchen, und man sollte daher ungemein vorsichtig sein, aus Erfahrungen, welche nur für die Blutkörperchen einer Gattung Gültigkeit haben, allgemeine Formeln abzuleiten. Andererseits sind nur ausnahmsweise die Blutkörperchen einer Gattung mit so charakteristischen Eigenthümlichkeiten ausgestattet, dass man daraus diagnostische Unterschiede abzuleiten vermöchte. Namentlich vom gerichtsärztlichen Standpunkte aus wäre es im höchsten Grade erwünscht, wenn ein sicheres Merkmal nachgewiesen würde, wodurch die Blutkörperchen des Menschen von denen der Säugethiere unterschieden werden könnten. Allein alle Versuche, ein solches zu finden, sind bis jetzt fruchtlos gewesen. Das einzige, an sich nicht einmal durchgreifende Merkmal, dass die Blutkörperchen des Menschen etwas grösser sind, als die der meisten Säugethiere, ist in der Regel nicht verwerthbar, da man es in forensischen Fällen meist mit altem und häufig sogar mit getrocknetem Blute zu thun hat. Der eigentliche Zellkörper der rothen Blutkörperchen besteht aus einer ziemlich zähen Masse, an welcher die Farbe haftet. Letztere erscheint unter dem Mikroskope bei den einzelnen Körperchen als eine mehr gelbliche, sogar leicht ins Grünliche spielende. Gewöhnlich bezeichnet man in der Kürze die gefärbte Substanz als =Hämatin=, Blutfarbstoff. Allein der rothe Zellkörper ist keine einfache chemische Substanz, und das, was man Hämatin nennt, bildet eben nur einen Theil davon; einen wie grossen Theil, lässt sich bis jetzt noch gar nicht ermitteln. Was sonst noch innerhalb des Blutkörperchens enthalten ist, das gehört wesentlich der chemischen Untersuchung an, und diese ergiebt in den verschiedenen Wirbelthierklassen und Gattungen ebenso gut chemische, wie morphologische Verschiedenheiten. Beim Menschen nahm man früher neben dem Hämatin gewöhnlich noch eine besondere Substanz, das Globulin an; gegenwärtig betrachtet man als die Hauptmasse des rothen Zellkörpers das =Hämoglobin=, aus welchem erst durch Zersetzung das Hämatin selbst und verschiedene andere, namentlich eiweissartige Stoffe entstehen. Dieses Hämoglobin ist nach der Annahme =Rollett='s in einem schwammigen =Stroma= enthalten, welches möglicherweise noch wieder aus verschiedenen stickstoffhaltigen Stoffen besteht. Man beobachtet dasselbe an gefrorenem Blute, bei welchem das Hämoglobin die Blutkörperchen verlässt und an das Serum tritt. Ob wirkliches Protoplasma und damit eine wahre Contraktilität an den rothen Körperchen vorhanden ist, lässt sich nach den heutigen Erfahrungen noch nicht mit Sicherheit aussagen. Was wir direkt beobachten können, sind gewisse =Veränderungen der Farbe und Gestalt=, welche durch äussere Agentien hervorgerufen werden. Da das Hämoglobin Sauerstoff, Kohlenoxyd und Stickoxyd absorbirt, wahrscheinlich auch Kohlensäure aufnimmt, so ist es leicht begreiflich, dass dadurch die Farbe der Blutkörperchen und damit die des Blutes im Ganzen geändert wird. Noch viel auffälliger ist die Farbenveränderung durch stärkere chemische Körper, namentlich die intensiv grüne durch Schwefelwasserstoff und die schwärzliche oder bräunliche (atrabiläre) durch organische und mineralische Säuren und Alkalien. Manche dieser Farbenveränderungen erfolgen ohne erhebliche Gestaltveränderungen; andere, wie die der stärkeren chemischen Körper, unter schneller Zerstörung der Blutkörperchen. Dabei ist es jedoch, namentlich auch für forensische Untersuchungen, von grosser Wichtigkeit, dass gerade kaustische Alkalien (Natron, Kali), =concentrirt= angewendet, die Blutkörperchen erhalten, während, diluirt angewendet, sie dieselben schnell zerstören. -- Die meisten Gestaltveränderungen erfolgen unter der Einwirkung von chemischen Lösungen, welche den Blutkörperchen Wasser entziehen; in Folge davon schrumpfen sie und erleiden sie eigenthümliche Gestaltsveränderungen, die sehr leicht Irrthümer herbeiführen können. Dies sind nicht unwichtige Verhältnisse, auf die ich deshalb noch mit ein paar Worten eingehen will. Wenn ein rothes Blutkörperchen dadurch einem Wasserverluste ausgesetzt ist, dass eine stärker concentrirte Flüssigkeit auf dasselbe einwirkt, so bemerkt man zuerst, dass in dem Maasse, als Flüssigkeit exosmotisch austritt, an der Oberfläche des Körperchens kleine Hervorragungen entstehen, welche anfangs sehr zerstreut liegen, sich bald an dem Rande, bald auf der Fläche finden und im letzteren Falle zuweilen täuschend einem Kerne ähnlich sehen (Fig. 61, _e_, _f_). Dies ist die Quelle für die irrthümliche Annahme von Kernen, welche man so viel beschrieben hat. Beobachtet man ein Blutkörperchen unter Einwirkung concentrirter Medien längere Zeit, so treten immer mehr Höcker hervor und das Körperchen wird in seinem Flächendurchmesser kleiner. Dabei bilden sich immer deutlicher kleine Falten und Höcker an der Oberfläche: das Körperchen wird zackig, sternförmig, eckig (Fig. 61, _g_). Solche zackigen Körper sieht man jeden Augenblick, wenn man Blut untersucht, welches eine Zeit lang an der Luft gewesen ist. Denn schon die blosse Verdunstung erzeugt diese Veränderung. Sehr schnell können wir sie hervorbringen, wenn wir die Mischung des Serums durch Zusatz von Salz oder Zucker ändern. Dauert die Wasser-Entziehung fort, so verkleinert sich das Körperchen noch mehr; endlich wird es wieder rund und glatt (Fig. 61, _h_), vollkommen sphärisch, und zugleich erscheint seine Farbe viel saturirter; der Inhalt sieht ganz dunkel schwarzroth aus. Es lässt sich daraus eine nicht uninteressante Thatsache erschliessen, nehmlich die, dass die Exosmose wesentlich eine Wasser-Entziehung ist, wobei vielleicht dieser oder jener andere Stoff, z. B. Salz, mit austritt, wobei aber die wesentlichen Bestandtheile zurückbleiben können. Das Hämoglobin insbesondere folgt dem Wasser nicht; das Blutkörperchen hält dasselbe zurück, so dass in dem Maasse, als viel Flüssigkeit verloren geht, natürlich das Hämoglobin im Innern dichter werden muss. Umgekehrt verhält es sich, wenn wir diluirte Flüssigkeiten anwenden. Je mehr die Flüssigkeit verdünnt wird, um so mehr vergrössert sich das Blutkörperchen: es quillt auf und wird blasser. Behandeln wir die unter der Einwirkung concentrirter Flüssigkeiten verkleinerten Blutkörperchen mit gewöhnlichem Wasser, so sehen wir, wie die kuglige Form wieder in die eckige und diese in die scheibenförmige zurückgeht, wie das Blutkörperchen sich sodann immer mehr wölbt, sich oft ganz sonderbar gestaltet, und wieder blasser wird. Diese Einwirkung kann man, wenn man die Verdünnung des Blutes recht vorsichtig eintreten lässt, so weit treiben, dass die Blutkörperchen kaum noch gefärbt erscheinen, während sie doch noch sichtbar bleiben. In den gewöhnlichen Fällen, wo man viel Flüssigkeit auf einmal zusetzt, wird in der Einrichtung des Blutkörperchens eine so grosse Revolution hervorgebracht, dass alsbald ein Entweichen des Hämoglobins aus dem Körperchen stattfindet. Wir bekommen dann ausserhalb der Blutkörperchen eine rothe Lösung, in welcher die Farbe frei an der Flüssigkeit haftet. Ich hebe diese Eigenthümlichkeit deshalb hervor, weil sie bei mikroskopischen Untersuchungen immerfort vorkommt, und weil sie eine der merkwürdigsten Erscheinungen bei der Bildung pathologischer Pigmentirungen erklärt, wo wir ein ganz ähnliches Entweichen des gefärbten Inhaltes aus den Blutkörperchen antreffen (Fig. 63, _a_). Gewöhnlich drückt man sich so aus, das Blutkörperchen werde aufgelöst, allein es ist eine schon längst bekannte Thatsache, welche zuerst von =Carl Heinrich Schultz= erkannt wurde, dass, wenn auch scheinbar gar keine Blutkörperchen mehr in der Flüssigkeit vorhanden sind, man durch Zufügen von Jodwasser die Membranen wieder deutlich machen kann. Aus dieser Erfahrung geht hervor, dass nur der Grad der Aufblähung und die ausserordentliche Verdünnung der Häute das Sichtbarwerden der Blutkörperchen gehindert hat. Es bedarf schon sehr stürmischer Einwirkungen durch chemisch differente Stoffe, um ein wirkliches Zugrundegehen der Blutkörperchen zu Stande zu bringen. Setzt man unmittelbar, nachdem man die Blutkörperchen mit ganz concentrirter Salzlösung behandelt hat, Wasser in grosser Menge hinzu, so kann man es dahin bringen, dass man den Blutkörperchen, ohne dass sie aufquellen, den Inhalt entzieht, und dass die Membranen oder die Stromata sichtbar zurückbleiben. Dies ist der Grund gewesen, weshalb =Denis= und =Lecanu= davon gesprochen haben, dass die Blutkörper Fibrin enthielten; sie haben geglaubt, indem sie die Körper erst mit Salz und dann mit Wasser behandelten, Fibrin aus ihnen darstellen zu können. Dieses sogenannte Fibrin ist aber, wie ich gezeigt habe[45], nichts Anderes, als eine Zusammenhäufung von Membranen oder, wie man jetzt sagen würde, von Stromata der Blutkörperchen, aber allerdings bestehen dieselben aus einer Substanz, die den eiweissartigen Stoffen verwandt ist und daher, wenn sie in grossen Haufen gewonnen wird, Erscheinungen darbieten kann, die an Fibrin erinnern. Ob im Uebrigen die rothen Blutkörperchen, wie neuerlich wieder =Heynsius= gefunden zu haben glaubt, wirkliches coagulables Fibrin enthalten, ist eine andere Frage, da sie sich nicht an die Rückstände zersetzter Blutkörperchen anknüpft. [45] Zeitschrift für rationelle Medicin. 1846. Bd. IV. S. 281. Gesammelte Abhandl. S. 88. Was nun die Inhaltssubstanzen der Blutkörperchen anbetrifft, so haben gerade sie in der neueren Zeit ein erhöhtes Interesse gewonnen durch die mehr morphologischen Produkte, welche aus ihnen hervorgehen, und welche in die ganze Anschauung von der Natur der organischen Stoffe eine Art von Umwälzung gebracht haben. Es handelt sich hier namentlich um eigenthümliche gefärbte Krystalle, die unter gewissen Verhältnissen aus dem Blutfarbstoffe entstehen, und durch deren Beobachtung zuerst die Ansicht von der Nichtkrystallisirbarkeit der eiweissartigen Stoffe widerlegt worden ist. Sie besitzen übrigens nicht bloss ein grosses chemisches, sondern auch ein sehr erhebliches praktisches Interesse. Wir kennen bis jetzt schon drei verschiedene Arten von gefärbten =Krystallen=, für welche das Hämoglobin gemeinschaftliche Quelle ist. [Illustration: =Fig=. 62. Hämatoidin-Krystalle in verschiedenen Formen (Archiv f. path. Anat. Bd. I. Taf. III. Fig. 11). Vergr. 300.] Der ersten Form, welche ich zuerst genauer kennen lehrte, habe ich den Namen =Hämatoidin= gegeben[46]. Es ist dies eins der häufigsten Umwandlungs-Produkte, welches innerhalb des Körpers spontan aus Hämatin entsteht, und zwar oft so massenhaft, dass man es mit blossem Auge wahrnehmen kann. Seine Krystalle erscheinen in ihrer ausgebildeten Form als schiefe rhombische Säulen von schön gelbrother, bei dickeren Stücken von intensiv rubinrother Farbe; sie stellen eine der schönsten Krystallformen dar, die wir überhaupt kennen. Auch in kleinen Tafeln finden sie sich nicht selten, manchmal ziemlich ähnlich den Formen der Harnsäure. In der Mehrzahl der Fälle sind die Krystalle sehr klein, nicht bloss makroskopisch unerkennbar, sondern selbst für die mikroskopische Betrachtung etwas difficil. Man muss ein scharfer Beobachter oder speciell darauf vorbereitet sein, sonst bemerkt man häufig nichts weiter an den Stellen, wo dieses feine Hämatoidin liegt, als eckige Körner oder kleine Striche oder scheinbar gestaltlose Klümpchen. Erst wenn man genauer zusieht, lösen sich die Körner oder Striche in kurze rhombische Säulen, die Klümpchen in Aggregate von Krystallen auf. [46] Archiv f. path. Anatomie und Physiol. 1847. I. 391. Das Hämatoidin kann als das regelmässige typische Endglied der Umbildungen des Hämatins an Stellen des Körpers betrachtet werden, wo grössere Mengen von Blut liegen bleiben (stagniren). Ein apoplectischer Heerd des Gehirns heilt in der Regel so, dass ein grosser Theil des Blutes in diese Krystallisation übergeht, und wenn wir vielleicht 10 Jahre nachher bei der Autopsie eine gefärbte Narbe an dieser Stelle finden, so können wir fast mit Gewissheit darauf rechnen, dass die Farbe von Hämatoidin abhängt. Wenn eine junge Dame menstruirt und die Höhle des Graafschen Follikels, aus welchem das Ei ausgetreten ist, sich mit coagulirtem Blute füllt, so geht das Hämatin allmählich in Hämatoidin über, und wir treffen später an der Stelle, wo das Ei gelegen war, einen mennig- oder zinnoberfarbenen Fleck, als letztes Denkmal des Ereignisses. Auf diese Weise können wir rückwärts die Zahl der apoplectischen Anfälle zählen, oder berechnen, wie oft ein junges Mädchen menstruirt war. Jede Extravasation kann ihr kleines Contingent von Hämatoidin-Krystallen zurücklassen, und diese, wenn sie einmal gebildet sind, bleiben als vollständig widerstandsfähige, compacte Körper im Innern der Organe beliebig lange Zeit liegen. [Illustration: =Fig=. 63. Pigment aus einer apoplectischen Narbe des Gehirns (Archiv Bd. I. S. 401. 454. Taf. III. Fig. 7). _a_ in der Entfärbung begriffene, körnig gewordene Blutkörperchen. _b_ Zellen der Neuroglia, zum Theil mit körnigem und krystallinischem Pigment versehen. _c_ Pigmentkörner. _d_ Hämatoidin-Krystalle. _f_ verödetes Gefäss, sein altes Lumen mit körnigem und krystallinischem rothen Pigment erfüllt. Vergr. 300.] Theoretisch besitzt das Hämatoidin noch ein besonderes Interesse dadurch, dass es eine Reihe von Eigenschaften darbietet, welche es als den einzigen, bis jetzt bekannten, mit dem Gallenfarbstoffe (Cholepyrrhin, Bilirubin) verwandten Stoff im Körper erscheinen lassen. Durch direkte Behandlung mit Mineralsäuren oder nach vorherigem Behandeln und Aufschliessen desselben vermittelst Alkalien bekommt man dieselbe oder eine ganz ähnliche Reihe der schönsten Farben-Veränderungen, wie man sie durch Behandlung mit Salpetersäure an dem Gallenfarbstoff erzielt. Andererseits lässt sich durch Chloroform aus der Galle ein krystallisirbarer Farbstoff extrahiren, welcher die grösste Uebereinstimmung mit dem Hämatoidin darbietet. Man kann daher nicht zweifeln, dass das letztere mit Gallenfarbstoff sehr nahe verwandt ist. Da man auch aus anderen Gründen vermuthen muss, dass die gefärbten Theile der Galle Umsetzungsprodukte des Blutroths sind, so ist mit dem von mir nachgewiesenen pathologischen Vorgange zugleich eine wichtige Aufklärung für einen der bedeutendsten Secretionsvorgänge des Körpers geliefert, und manche dunkle Beobachtung der Vorzeit in ein neues Licht gestellt. Wenn im Innern von Extravasaten eine gelblich-rothe Substanz entsteht, welche man wirklich als eine neugebildete Art von Gallenfarbstoff bezeichnen kann, so versteht man leicht jene sonderbaren Farbenhöfe um gequetschte und ekchymotische Stellen, jene eigenthümlichen gelblichen und bräunlichen Färbungen alter Blutmassen, welche den Grund zu der antiken Lehre von der =Atra bilis= und den =melancholischen= Processen abgegeben haben. [Illustration: =Fig=. 64. Hämin-Krystalle, künstlich aus menschlichem Blute dargestellt. Vergr. 300.] Die zweite Art von Krystallen, welche aus Hämoglobin hervorgehen, wurde später entdeckt; sie sind denen des Hämatoidins sehr ähnlich, unterscheiden sich aber dadurch, dass sie nicht als spontanes Produkt im Körper vorkommen, sondern künstlich dargestellt werden müssen. Sie haben eine mehr dunkel bräunliche Farbe, stellen gewöhnlich platte rhombische Tafeln mit spitzeren Winkeln dar, sind gegen Reagentien ausserordentlich widerstandsfähig und zeigen bei der Einwirkung der Mineralsäuren den eigenthümlichen Farbenwechsel nicht, welcher das Hämatoidin charakterisirt. Sie haben von ihrem Entdecker, =Teichmann=, den Namen des =Hämin='s bekommen, doch ist er in der neuesten Zeit selbst darüber zweifelhaft geworden, ob es nicht eine Art von Hämatin selbst (salzsaures Hämatin) sei. Pathologisch hat das Hämin bis jetzt gar kein Interesse, dagegen hat es eine sehr grosse Bedeutung gewonnen für die gerichtliche Medicin dadurch, dass die Herstellung seiner Krystalle in der letzten Zeit als eines der sichersten Mittel für die Erkennung von Blutflecken angewendet worden ist. Ich selbst bin in forensischen Fällen in der Lage gewesen, solche Proben mit sehr entscheidendem Erfolge zu machen. Zu diesem Zwecke mengt man am besten getrocknetes Blut in möglichst dichtem Zustande mit trockenem, krystallisirtem und gepulvertem Kochsalz, bringt dann auf diese trockene Mischung Eisessig (Acetum glaciale) und dampft bei Kochhitze ab. Ist dies geschehen, so findet man da, wo vorher die Blutreste oder die zweifelhafte hämatinhaltige Substanz waren, die Häminkrystalle. Es ist dies eine Reaction, die mit zu den sichersten und zuverlässigsten gehört, die wir überhaupt kennen. Denn es ist keine andere Substanz bekannt, welche eine solche Umbildung erleidet, als das Hämatin. Diese Probe ist ferner deshalb ausserordentlich wichtig, weil sie auch auf ganz minimale Mengen anwendbar ist; nur darf die Menge nicht über eine zu grosse Fläche verbreitet sein. Die Probe würde also nur schwer anwendbar sein, wenn es sich um ein Tuch handelte, welches in eine dünne, wässerige, mit Blut gefärbte Flüssigkeit getaucht war. Aber ich habe an dem Rocke eines Ermordeten, an dessen Aermel Blut gespritzt war, und wo einzelne Blutstropfen nur eine Linie im Durchmesser hatten, aus solchen Flecken noch zahllose Häminkrystalle darstellen können, natürlich mikroskopische[47]. In Fällen, wo die gewöhnliche chemische Probe wegen der geringen Menge absolut fehlschlagen müsste, sind wir noch im Stande, Hämin zu gewinnen. Bei so wenig Masse ist die Grösse der Krystalle freilich auch nur sehr geringfügig; wir finden dann, wie beim Hämatoidin, kleine, mit spitzen Winkeln versehene, intensiv braun gefärbte Nadeln. [47] Archiv f. path. Anat. u. Physiol. 1857. XII. 337. Die dritte Substanz, welche in diese Reihe hineingehört, ist das früher sogenannte =Hämatokrystallin=, über dessen Entdeckung die Gelehrten streiten, weil es eben stückweis gefunden worden ist. Die erste Beobachtung darüber ist von =Reichert= an Extravasaten im Uterus des Meerschweinchens gemacht, in einem Präparate, das, wie ich denke, schon in Spiritus gelegen hatte. Seine Beobachtung wurde besonders dadurch bedeutungsvoll, dass er an diesen Krystallen nachwies, dass sie sich in gewisser Beziehung wie gewöhnliche eiweissartige Substanzen verhielten, indem sie unter der Wirkung gewisser Agentien grösser, unter der anderer kleiner würden, ohne dabei ihre Form zu verändern, -- eine Erscheinung, welche man bis dahin an Krystallen noch nicht kannte. Später sind diese Krystalle wieder entdeckt worden von =Kölliker=; =Funke=, =Kunde= und namentlich =Lehmann= haben sie genauer untersucht. Es hat sich herausgestellt, dass bei verschiedenen Thierklassen dieselben sehr verschieden sind, indessen hat sich bis jetzt ein bestimmter Grund dafür und eine Ansicht über die Constanz ihrer Zusammensetzung nicht gewinnen lassen. Beim Menschen sind es ziemlich grosse Krystalle. Man hat anfangs geglaubt, sie kämen nur an dem Blute gewisser Organe, namentlich der Milz, vor, allein es hat sich ergeben, dass sie aus jedem Blute, nur in gewissen Krankheits-Prozessen leichter, gewonnen werden können. In einzelnen sehr seltenen Fällen kommt es vor, dass man sie im Blut von Thier-Leichen schon gebildet findet. Diese Krystalle sind sehr leicht zerstörbar; sowohl wenn sie eintrocknen, als wenn sie feucht oder durch irgend ein flüssiges Medium berührt werden, gehen sie zu Grunde; man beobachtet sie daher nur in gewissen Uebergangsstadien, welche gerade getroffen werden müssen, bei der Zerstörung von Blutkörperchen. Die gut ausgebildeten Formen beim Menschen bilden vollkommen rechtwinklige Tafeln oder Säulen; aber sehr oft sind sie äusserst klein und man sieht nur einfache Spiesse, welche in grossen Massen an gewissen Stellen in das Object hineinschiessen. Dabei haben sie die Eigenthümlichkeit, dass sie sich immer noch verhalten, wie das Hämatin selbst, indem sie durch Sauerstoff hellroth, durch Kohlensäure dunkelroth werden. Lange stritt man darüber, ob die ganze Masse der Krystalle aus Farbstoff bestehe, oder ob der Farbstoff nur eine Tränkung an sich farbloser Krystalle bilde; gegenwärtig ist man darin übereingekommen, das Hämatokrystallin als identisch mit dem Hämoglobin anzuerkennen. Es versteht sich demnach für die Beurtheilung der Krystalle von selbst, dass die Farbe durchaus charakteristisch ist, und dass sie mit der gewöhnlichen Blutfarbe unmittelbar zusammenfällt. [Illustration: =Fig=. 65. Farblose Blutkörperchen aus einer Vena arachnoidealis eines Geisteskranken. _A_. Frisch, _a_ in ihrer natürlichen Flüssigkeit, _b_ in Wasser untersucht. _B_. Nach Behandlung mit Essigsäure: _a_-_c_ einkernige, mit immer grösserem, granulirtem und schliesslich nucleolirtem Kern. _d_ einfache Kerntheilung. _e_ weitere Kerntheilung. _f_-_h_ Dreitheilung des Kerns in allmähligem Fortschreiten. _i_-_k_ vier und mehr Kerne. Vergr. 280.] Kehren wir jetzt zu den natürlichen morphologischen Elementen des Blutes zurück, so treffen wir als ferneren Bestandtheil die =farblosen Körperchen= [Lymphkörperchen des Blutes, Leukocyten =Robin='s][48]. Sie kommen im Blute des gesunden Menschen in verhältnissmässig kleiner Zahl vor. Man rechnet ungefähr auf 300 rothe Körperchen 1 farbloses. Wie sie sich gewöhnlich im Blute finden, stellen sie sphärische Körperchen dar, welche in der Regel etwas grösser, zuweilen etwas kleiner oder auch eben so gross, wie die rothen Blutkörperchen sind, von denen sie sich aber auffallend durch den Mangel jeder Färbung und durch ihre vollkommen kugelige Gestalt unterscheiden. In einem Blutstropfen, der zur Ruhe gelangt, pflegen sich die rothen Körperchen in Reihen von der bekannten Form der Geldrollen, mit ihren flachen Scheiben an einander, zusammenzulegen (Fig. 61, _d_); in den Zwischenräumen derselben bemerkt man hier und da ein blasses sphärisches Gebilde, an dem man zunächst, wenn das Blut ganz frisch ist, nichts weiter erkennen kann, als eine leicht höckerig oder uneben aussehende Oberfläche. Lässt man Wasser hinzutreten, so sieht man, dass das Körperchen aufquillt; in dem Maasse, als es mehr Wasser aufnimmt, erscheint zuerst deutlich eine Membran, dann sieht man einen allmählich klarer hervortretenden körnigen Inhalt und zuletzt einen oder mehrere Kerne. Die scheinbar homogene Kugel verwandelt sich auf diese Art nach und nach in ein zartwandiges, oft so brüchiges Gebilde, dass bei unvorsichtiger Einwirkung des Wassers die äusseren Theile anfangen zu zerfallen oder geradezu bersten und im Innern ein leicht körniger Inhalt erkennbar wird, welcher sich mehr und mehr lockert und innerhalb dessen ein einziger, gewöhnlich in der Theilung begriffener oder mehrere Kerne erscheinen. Das Sichtbarwerden der letzteren ist viel schneller zu erlangen, wenn man das Object mit Essigsäure behandelt, welche die Membran durchscheinend macht, den trüben Inhalt klärt und den Kern gerinnen und schrumpfen lässt. Die Kerne erscheinen dann als scharf und dunkel contourirte Körper, seltener einfach, meist mehrfach, je nach den Umständen. Kurz, wir bekommen in der Mehrzahl der Fälle auf diese Weise ein Object zu sehen, wie es =Güterbock= zuerst als die gewöhnliche Erscheinung der Eiterkörperchen kennen gelehrt hat. [48] Gesammelte Abhandlungen. S. 212. Die Frage von der Aehnlichkeit oder Unähnlichkeit der farblosen Blutkörperchen mit den Eiterkörperchen beschäftigt noch immerfort die Beobachter, und die Ansichten über die Beziehung der farblosen Blutkörperchen zu der Pyämie und zu der Pyogenesis werden wahrscheinlich noch eine Reihe von Jahren gebrauchen, ehe sie so weit geklärt sind, dass nicht immer wieder einseitige Rückfälle eintreten. Es ist nehmlich allerdings sehr trügerisch, dass man in manchem Blut Körperchen findet, welche nur einen einzigen, und zwar grossen, nicht selten mit einem Kernkörperchen versehenen Kern haben, während man in anderem Blut nur mehrkernige Körperchen antrifft. Da nun diese letzteren die grösste Aehnlichkeit mit Eiterkörperchen haben, so ist es solchen Beobachtern, welche durch Zufall früher im normalen Blut nur einkernige Körperchen getroffen hatten, nicht zu verdenken, wenn sie in einem neuen Falle, wo sie mehrkernige sehen, glauben, sie hätten etwas wesentlich Anderes vor sich, nehmlich Eiterkörperchen im Blute, und es handle sich um Pyämie. Allein sonderbarer Weise bilden die einkernigen die Ausnahme und man kann lange suchen, ehe man ein Blut findet, wo alle Körperchen nur einen Kern besitzen. Das nebenstehende Object (Fig. 66) ist von einem Blute, in welchem fast lauter einkernige Elemente und zwar in überaus grosser Menge existirten; es fand sich bei einem Manne, welcher an den Blattern gestorben war, und bei welchem zugleich eine höchst auffällige acute Hyperplasie der Bronchialdrüsen bestand. [Illustration: =Fig=. 66. Farblose Blutkörperchen bei variolöser Leukocytose. _a_ freie oder nackte Kerne. _b_, _b_ farblose Zellen mit kleinen, einfachen Kernen. _c_ grössere, farblose Zellen mit grossen Kernen und Kernkörperchen. Vergr. 300.] Nun könnte man glauben, dass dies wesentlich verschiedene Qualitäten von Blut seien. Dagegen muss bemerkt werden, dass allerdings in den Fällen, wo die eine oder andere Art von farblosen Zellen massenhaft existirt, man eine pathologische Erscheinung vor sich hat, während bei geringer Zahl derselben nur ein früheres oder späteres Entwickelungsstadium der Elemente vorliegt. Denn ein und dasselbe Blutkörperchen kann im Verlaufe seiner Lebensgeschichte einen und mehrere Kerne haben, indem der einfache in ein früheres, die mehrfachen in ein späteres Lebensstadium fallen. Bei demselben Individuum sieht man in kurzer Zeit, oft schon in Stunden den Wechsel eintreten, so dass in einem Blute, welches vorher nur einkernige Körperchen hatte, sich später mehrkernige finden, -- ein Beweis von der raschen Veränderung, welcher diese Gebilde unterworfen sind[49]. -- [49] Med. Zeitung des Vereins für Heilkunde in Preussen. 1846. No. 35. Gesammelte Abhandl. S. 162, sowie 650. [Illustration: =Fig=. 67. _A_. Fibringerinnsel aus der Lungenarterie, den Endästen derselben entsprechend, bei _a_, _a_ mit grösseren Platten von leukocytotischen Haufen besetzt, bei _b_, _b_, _b_ mit analogen Körnern. Natürliche Grösse. _B_. Ein Stück eines solchen Korns oder Haufens, aus dichtgedrängten farblosen Blutkörperchen bestehend. Vergr. 280.] Nachdem wir so die verschiedenen festen Bestandtheile kurz gemustert haben, welche sich in dem geronnenen Blute finden, haben wir noch einige Worte hinzuzufügen in Beziehung auf die gröberen Verhältnisse, welche sie unter einander darbieten. Gewöhnlich nimmt man an, dass von den morphotischen Bestandtheilen nur zwei der groben Beobachtung mit blossem Auge zugänglich werden, nehmlich die rothen Blutkörperchen, als Hauptbestandtheil des Cruors, und das Fibrin, welches bei Gelegenheit eine Speckhaut bilden kann, dass dagegen die farblosen Elemente ohne besondere Hülfsmittel in keiner Weise wahrzunehmen seien. Dies ist eine Vorstellung, welche nothwendig berichtigt werden muss. Die farblosen Körper machen sich, wo sie in grösserer Menge vorhanden sind, für das geübtere Auge bei der Trennung der Blutbestandtheile, namentlich wenn während der Gerinnung Bewegung vorhanden ist, sehr deutlich geltend; sie zeigen eine Eigenthümlichkeit, die man insbesondere kennen muss, wenn es sich um die Kritik des Leichenbefundes handelt, und deren Nichtkenntniss zu grossen Irrthümern geführt hat. Sie besitzen nehmlich, wie dies schon in den älteren Discussionen zu Tage getreten ist, welche =Ascherson= mit E. H. =Weber= gehabt hat, eine besondere Klebrigkeit (Viscosität), so dass sie mit Leichtigkeit an einander haften, sich auch unter Umständen an anderen Theilen festsetzen, wo die rothen Körperchen diese Erscheinung nicht darbieten. Die Neigung, an anderen Theilen anzukleben, ist besonders dann sehr deutlich, wenn zugleich ihrer mehrere unter einander in die Lage kommen, gegenseitig mit einander zu verkleben. So geschieht es ausserordentlich leicht, dass in einem Blute, in welchem an sich eine Vermehrung an farblosen Körpern besteht, Agglutinationen derselben vor sich gehen, sobald der Druck, unter welchem das Blut fliesst, nachlässt; in jedem Gefässe, wo sich die Strömung verlangsamt, wo eine Abschwächung des Druckes stattfindet, kann eine solche Agglutination der Körperchen geschehen[50]. [50] Med. Zeitung des Vereins für Heilkunde in Preussen. 1847. No. 4. Gesammelte Abhandl. S. 183. [Illustration: =Fig=. 68. Capillargefäss aus der Froschschwimmhaut. _r_ der centrale Strom der rothen Körperchen. _l_, _l_, _l_ die träge, peripherische Schicht des Blutstromes mit den farblosen Blutkörperchen. Vergr. 300.] Die Klebrigkeit der farblosen Blutkörperchen hat überdies den Effect, dass, wie =Ascherson= dargethan hat, bei der gewöhnlichen Strömung des Blutes durch die Capillargefässe die farblosen Körperchen sich gewöhnlich etwas langsamer fortbewegen, als die rothen, und dass, während die rothen mehr im Centrum des Capillargefässes in einem continuirlichen Strome schwimmen, am Umfange ein verhältnissmässig grosser Raum bleibt, innerhalb dessen sich die farblosen Körperchen, und zwar oft so ausschliesslich, bewegen, dass =Weber= zu dem Schlusse kam, es stecke jedes Capillargefäss in einem Lymphgefässe, innerhalb dessen die farblosen Blut- oder Lymphkörperchen schwömmen. Allein es kann darüber gar kein Zweifel sein, dass es sich meist um einfache Kanäle handelt, in welchen die farblosen Körperchen den Wandungen näher liegen, als die rothen. Hier ist es, wo man, während die Hauptmasse der Körperchen sich fortbewegt, einzelne für einen Augenblick festsitzen, dann sich losreissen und wieder langsam fortgehen sieht, so dass der Name der =trägen Schicht= für diesen Theil des Blutstromes ein vollkommen recipirter geworden ist. Diese beiden Eigenthümlichkeiten, dass bei einer Abschwächung des Blutstromes die Körperchen an den Wandungen des Gefässes stellenweise haften bleiben, gewissermaassen an ihnen ankleben, und dass sie unter einander zu grösseren Klumpen sich zusammenballen, haben zusammen die Wirkung, dass, wenn im Blute viele farblose Körper vorhanden sind und der Tod, wie in den gewöhnlichen Fällen, unter einer allmählichen Abschwächung der Triebkraft erfolgt, in den verschiedensten Gefässen die farblosen Körper sich zu kleinen Haufen zusammenballen und in der Regel am Umfange des späteren Blutgerinnsels liegen bleiben. Ziehen wir z. B. aus der Lungenarterie den gewöhnlich sehr derben Blutstrang heraus, welcher ihr Anfangsstück erfüllt, so kann es sein, dass an seiner Oberfläche kleine Körner (Fig. 67, _A_) sitzen, Knöpfchen von weisser Farbe, welche aussehen, wie einzelne Eiterpunkte, oder welche gar zu mehreren perlschnurartig zusammenhängen. Dieses Vorkommen ist am häufigsten an denjenigen Orten des Gefässsystems, wo die Zahl der Körper an sich am grössten ist, daher insbesondere in der Strecke zwischen der Einmündung des Ductus thoracicus und den Lungencapillaren. Ziemlich leicht vermag das blosse Auge an dem Abscheiden dieser Massen das mehr oder weniger reichliche Vorkommen der farblosen Körperchen zu erkennen. Unter Umständen, wo die Zahl derselben sehr gross wird, sieht man auch wohl ganze Häufchen, die wie eine Scheide einzelne Abschnitte des Gerinnsels umlagern. Bringt man ein solches Häufchen unter das Mikroskop, so sieht man viele Tausende von farblosen Körpern zusammen. Erfolgt die Gerinnung des Blutes, während dasselbe in Ruhe ist, so tritt eine andere Erscheinung sehr deutlich hervor, wie man sie in Aderlass-Gefässen sehen kann. Gerinnt der Faserstoff nicht sehr schnell oder geradezu langsam, wie bei entzündlichem Blute, so fangen innerhalb der ruhenden Blutflüssigkeit die Blutkörperchen an, sich vermöge ihrer Schwere zu senken. Diese Sedimentirung geht bekanntlich so weit, dass, wenn man frisch gelassenes Blut durch Quirlen seines Faserstoffes beraubt (defibrinirt), oder durch Zusatz von Mittelsalzen die Gerinnung hindert oder wenigstens sehr verlangsamt, die Flüssigkeit nach und nach vollkommen klar wird, indem die Körperchen zu Boden fallen. Wenn wir ein an farblosen Blutkörperchen reiches Blut defibriniren und stehen lassen, so bildet sich ein doppeltes Sediment, ein rothes und ein weisses. Das rothe bildet das tiefste, das weisse das höhere Stratum; letzteres sieht vollständig so aus, wie wenn eine Lage von Eiter über dem Blute läge. Wird das Blut nicht defibrinirt, gerinnt es aber langsam, dann kommt die Senkung nicht vollständig zu Stande, sondern es wird nur der höchste Theil der Blutflüssigkeit von Körperchen frei; wenn dann späterhin der Faserstoff gerinnt, so zeigt sich die bekannte Crusta phlogistica, die =Speckhaut=, und wenn wir nach den farblosen Blutkörperchen suchen, so finden wir sie als eine besondere Schicht an der unteren Grenze der Speckhaut. Diese Besonderheit erklärt sich einfach aus dem verschiedenen specifischen Gewichte, welches die beiden Arten von Blutkörperchen haben. Die farblosen sind immer leichte, an fester Substanz arme, sehr zarte Gebilde, während die rothen ein relativ bleiernes Gewicht haben durch ihren grossen Gehalt an Hämoglobin. Sie erreichen daher verhältnissmässig sehr schnell den Boden, während die farblosen noch im Fallen begriffen sind. Wenn man zwei verschieden schwere Substanzen frei in der Luft herunterfallen lässt, so kommen ja auch bei genügender Höhe wegen des Widerstandes der Luft die leichteren Körper später am Boden an. [Illustration: =Fig=. 69. Schema eines Aderlassgefässes mit geronnenem hyperinotischem Blute. _a_ das Niveau der Blutflüssigkeit; _c_ die becherförmige Speckhaut, _l_ die Lymphschicht (Cruor lymphaticus, Crusta granulosa) mit den körnigen und maulbeerartigen Anhäufungen der farblosen Körperchen, _r_ der rothe Cruor.] In der Regel bildet bei der Gerinnung im Aderlassblute der weisse Cruor nicht eine continuirliche, sondern eine unterbrochene Lage, in der Weise, dass an der unteren Seite der Speckhaut kleine Häufchen oder Knötchen haften[51]. Daher hat =Piorry=, welcher zuerst diese Beobachtung machte, aber sie ganz falsch deutete, indem er sie auf eine Entzündung des Blutes selbst (Haemitis) bezog und darauf die Doctrin der Pyämie begründete, diese Form von Speckhaut als =Crusta granulosa s. tuberculosa= bezeichnet. Sie bedeutet nichts weiter, als eine massenhafte und gruppenweise Anhäufung der farblosen Blutkörperchen (=Crusta lymphatica=). [51] Gesammelte Abhandlungen S. 183. Unter allen Verhältnissen gleicht diese Schicht dem Aussehen nach dem Eiter, und da nun, wie wir vorher gesehen haben, auch die einzelnen farblosen Blutkörperchen die Beschaffenheit von Eiterkörperchen haben[52], so ist es leicht begreiflich, dass man nicht bloss bei einem gesunden Menschen in die Lage kommen kann, seine farblosen Blutkörperchen für Eiterkörperchen zu halten, sondern noch mehr bei Kranken, wo das Blut oder andere Theile voll von diesen Elementen sind. Die Frage, wie sie wiederholt aufgeworfen ist, liegt sehr nahe, ob die Eiterkörperchen nicht einfach extravasirte farblose Blutkörperchen seien, oder umgekehrt, ob die innerhalb der Gefässe gefundenen farblosen Blutkörperchen nicht von aussen her aufgenommene Eiterkörperchen seien. Bejaht man diese letztere Frage, so gelangt man auf dem hauptsächlich durch die französischen Autoren (=Ribes=, =Velpeau=, =Maréchal=) verfolgten Wege zu der Lehre von der =Eiterresorption=[53]. Nimmt man dagegen die erstere Auffassung an, so kommt man auf eine Anschauung, wie sie schon seit Hewson in der englischen Literatur sehr verbreitet ist: mit der »plastischen Lymphe« treten auch »Lymphkörperchen« aus. Diese Lehre von der =Lymphexsudation= ist namentlich durch W. =Addison= und =Paget= vertreten worden, und sie hat neuerlich in Beziehung auf die farblosen Körperchen sichere thatsächliche Unterlagen erhalten. So sehr schwanken die herrschenden Lehrsätze. Während vor kaum zwei Decennien jede auffällige Vermehrung der farblosen Blutkörperchen im Blute den Verdacht, ja die zuversichtliche Annahme einer purulenten Infection erregte, so gilt jetzt jede ungewöhnliche Rundzelle an beliebiger Stelle des Körpers für ein farbloses Blutkörperchen, und wie es damals nöthig war, der unberechtigten Ausdehnung der Pyämie-Lehre entgegen zu treten, so muss man jetzt der ungemessenen Erweiterung der Lehre von der Lymphexsudation Schranken setzen. [52] Gesammelte Abhandlungen S. 653. [53] Ebendas. S. 462, 640, 645. Allein die neuere Forschung hat auf diesem Felde überaus glückliche Erfolge gehabt, indem sie zu einer genaueren Beobachtung der =Lebenserscheinungen der farblosen Blutkörperchen= geführt hat. Schon =Wharton Jones= hatte spontane Gestaltveränderungen dieser Gebilde beschrieben, wobei sie nach Art gewisser niederer pflanzlicher und thierischer Organismen Fortsätze aus sich hervortreiben und wieder zurückziehen. Weitere Untersuchungen haben bestätigt, dass in der That sehr lebhafte =Bewegungen= an den Körpersubstanz der farblosen Blutkörperchen vorkommen, die man in gewissem Sinne als Contractionen bezeichnen kann, wenngleich dieser Ausdruck, den wir bisher gewohnt waren, nur auf die in ganz bestimmter Richtung geschehende Zusammenziehung muskulöser Theile zu beziehen, leicht zu Missverständnissen Veranlassung geben kann. =Häckel= sah sodann die farblosen Blutkörperchen niederer Thiere Farbstoffkörperchen in sich aufnehmen; v. =Recklinghausen= wies dasselbe für die Wirbelthiere nach und lehrte damit ein wichtiges Mittel kennen, die Zellen durch Aufnahme von gefärbten Theilen gleichsam zu markiren. Endlich beobachteten =Waller= und =Cohnheim= die =Auswanderung= der farblosen Blutkörperchen aus den Gefässen lebender Thiere auf die Oberflächen und in die Gewebe der Umgebung bei anhaltender Fixirung bestimmter Stellen unter dem Mikroskope. Auf diese Weise ist gerade an einer Art von Elementen, welche früher kaum der Aufmerksamkeit des Arztes werth erschienen, eine Fülle der wichtigsten Lebensthätigkeiten, ja eine Freiheit und Selbständigkeit dieser Thätigkeiten dargethan worden, welche die farblosen Blutkörperchen zu einem der günstigsten Objecte für die Demonstration vitaler Vorgänge und zugleich zu einem der bedeutungsvollsten Ausgangspunkte pathologischer Studien erheben. Als ich vor nunmehr 25 Jahren den Satz aussprach: »Ich vindicire für die farblosen Blutkörperchen eine Stelle in der Pathologie«[54], da hatte ich freilich noch keine Ahnung von den weitaussehenden Consequenzen, welche sich an diesen Versuch geknüpft haben. Denn man kann schon jetzt sagen, dass die cellulare Doctrin nirgends eine so unzweifelhafte Bedeutung erlangt hat, als durch die immer zahlreicheren Erfahrungen über diese früher so vernachlässigten Gebilde. [54] Med. Zeitung des Vereins für Heilkunde in Preussen. 1846. September. No. 36. Neuntes Capitel. Blutbildung und Lymphe. Wechsel und Ersatz der Blutbestandtheile. =Die rothen Körperchen=. Hinfälligkeit derselben. Theilung derselben bei Embryonen. Zerbröckelung bei ungünstigen Einwirkungen. Ersatz aus der Lymphe. Das =Fibrin=. Die Lymphe und ihre Gerinnung. Nichtgerinnung des Capillarblutes in der Leiche. Das lymphatische Exsudat. Fibrinogene Substanz. Speckhautbildung. Lymphatisches Blut, Hyperinose, phlogistische Krase. Locale Fibrinbildung. Fibrintranssudation. Fibrinbildung im Blute. Die =farblosen Blutkörperchen= (Lymphkörperchen). Ihre Vermehrung bei Hyperinose und Hypinose (Erysipel, Pseudoerysipel, Typhus). Leukocytose und Leukämie. Die lienale und lymphatische Leukämie. =Milz=- =und Lymphdrüsen= als hämatopoëtische Organe. Structur der Lymphdrüsen. Rinden- und Marksubstanz. Das eigentliche Parenchym derselben: Follikel (Markstränge), Reticulum, Lymphsinus. Parenchymzellen (Lymphdrüsenkörperchen) und ihr Verhältniss zu Lymph- und farblosen Blutkörperchen. Diagnose und Abstammung der letzteren. -- Bau der Milz. Siebförmige Einrichtung der Gefässwände in der Pulpa. -- Umbildung farbloser Blutkörperchen in farbige. Ort derselben. Das rothe Knochenmark. =Lymphgefässe=. Zusammenhang mit dem Röhrensystem des Bindegewebes. Bau der grösseren Lymphgefässe: Contraktilität und Klappen derselben. Lymphcapillaren (Lymphgefäss-Wurzeln): einfache Epithel-Wand. Bedeutung der Bindegewebskörperchen und der Lymphe überhaupt. Recrementitielle und plastische Natur der Lymphe. Hat man sich mit den einzelnen morphologischen Elementen des Blutes und den besonderen Eigenthümlichkeiten derselben bekannt gemacht, so ist das Nächste die Frage nach der Entstehung derselben. Aus den Erfahrungen über die erste Entwickelung der Blutelemente lassen sich wesentliche Rückschlüsse machen auf die Natur der Veränderungen, welche unter krankhaften Verhältnissen in der Blutmasse stattfinden. Früher betrachtete man das Blut mehr als einen in sich abgeschlossenen Saft, welcher allerdings gewisse Beziehungen nach aussen habe, aber doch in sich selbst eine wirkliche Dauer besitze; man nahm deshalb an, dass sich auch besondere Eigenschaften dauerhaft daran erhalten, ja viele Jahre hindurch fortbestehen könnten. Natürlich durfte man dabei den Gedanken nicht zulassen, dass die Bestandtheile des Blutes vergänglicher Natur seien, und dass neue Elemente hinzukämen, welche alte, verloren gegangene ersetzten. Denn die Dauerhaftigkeit eines Theiles als solchen setzt entweder voraus, dass er in seinen Elementen dauerhaft ist, oder dass die Elemente innerhalb des Theiles immerfort neue erzeugen, welche alle Eigenthümlichkeiten der alten erben. Für das Blut müsste man also entweder annehmen, seine Bestandtheile wären wirklich durch Jahre fortbestehend und könnten Jahre lang dieselben Veränderungen bewahren, oder man müsste sich denken, dass das Blut von einem Theilchen auf das andere etwas übertrüge, in der Art, dass von einem mütterlichen Bluttheilchen auf ein töchterliches etwas Hereditäres fortgepflanzt würde. Von diesen Möglichkeiten ist die erstere gegenwärtig gänzlich unhaltbar. Es denkt im Augenblick wohl Niemand daran, dass die einzelnen Bestandtheile des Blutes eine Dauer von vielen Jahren haben. Dagegen lässt sich die Möglichkeit nicht von vorn herein zurückweisen, dass innerhalb des Blutes die Elemente eine Fortpflanzung erfahren, und dass sich von Element zu Element gewisse erbliche Eigenthümlichkeiten übertragen, welche zu einer gewissen Zeit im Blute eingeleitet sind. Allein mit einer gewissen Zuverlässigkeit kennen wir solche Erscheinungen der Fortpflanzung des Blutes nur aus einer früheren Zeit des embryonalen Lebens. Hier scheint es nach Beobachtungen, die erst in der neuesten Zeit von =Remak= und =Metschnikow= wiederum bestätigt sind, dass die vorhandenen Blutkörperchen sich direkt theilen, in der Art, dass in einem Körperchen, welches in der ersten Zeit der Entwickelung sich als kernhaltige Zelle darstellt, zuerst eine Theilung des Kernes eintritt (Fig. 60, _c_), dass dann die ganze Zelle sich einkerbt und nach und nach wirkliche Uebergänge zu einer vollständigen Theilung erkennen lässt. In dieser frühen Zeit ist es daher allerdings zulässig, das Blutkörperchen als den Träger von Eigenschaften zu betrachten, welche sich von der ersten Reihe von Zellen auf die zweite, von dieser auf die dritte u. s. f. fortpflanzen. Allein in dem Blute des entwickelten Menschen, ja selbst im Blute des Fötus der späteren Schwangerschaftsmonate sind solche Theilungs-Erscheinungen nicht mehr bekannt, und keine einzige von den Thatsachen, welche man aus der Entwickelungsgeschichte beizubringen vermag, spricht dafür, dass in dem entwickelten Blute eine Vermehrung der zelligen Elemente durch direkte Theilung oder irgend eine andere im Blute selbst gelegene Neubildung stattfinde. Man weiss wohl, dass unter gewissen Verhältnissen, z. B. bei Einwirkung von Harnstoff und manchen Salzen, die rothen Blutkörperchen sich einschnüren und endlich in Stücke zerfallen oder einzelne, meist rundliche Stückchen (Körnchen) von sich abschnüren, allein diese Stückchen, welche noch G. =Zimmermann= als die ersten Anfänge neuer Blutkörperchen betrachtete, sind nichts anderes, als Trümmer. So lange man die Möglichkeit als erwiesen betrachtete, dass aus einem einfachen Cytoblastem durch direkte Ausscheidung differenter Materien Zellen entständen, so lange konnte man auch in der Blutflüssigkeit sich neue Niederschläge bilden lassen, aus denen Zellen hervorgingen. Allein auch davon ist man zurückgekommen. Alle morphologischen Elemente des Blutes, wie sie auch beschaffen sein mögen, leitet man gegenwärtig von Orten ab, welche ausserhalb des Blutes liegen. Ueberall geht man zurück auf Organe, welche mit dem Blute nicht direkt, sondern vielmehr durch Zwischenbahnen in Verbindung stehen. Die Hauptorgane, welche in dieser Beziehung in Frage kommen, sind die lymphatischen. Die =Lymphe= ist die Flüssigkeit, welche, während sie dem Blute gewisse Stoffe zuführt, die von den Geweben kommen, zugleich die körperlichen Elemente mit sich bringt, aus welchen die Zellen des Blutes sich fort und fort ergänzen. In Beziehung auf zwei Bestandtheile des Blutes dürfte es kaum zweifelhaft sein, dass diese Anschauung eine vollkommen berechtigte ist, nehmlich in Beziehung auf den Faserstoff und die farblosen Blutkörperchen. Was den =Faserstoff= anbetrifft, dessen morphologische Eigenschaften ich im vorigen Capitel besprach, so ist es eine sehr wesentliche und wichtige Thatsache, dass derjenige Faserstoff, welcher in der Lymphe circulirt[55], gewisse Verschiedenheiten darbietet von dem Faserstoffe des Blutes, welchen wir zu Gesicht bekommen, wenn wir Extravasate oder aus der Ader gelassenes Blut betrachten. Der Faserstoff der Lymphe hat die besondere Eigenthümlichkeit, dass er unter den gewöhnlichen Verhältnissen innerhalb der Lymphgefässe weder im Leben noch nach dem Tode gerinnt, während das Blut in manchen Fällen schon während des Lebens, regelmässig aber nach dem Tode gerinnt, so dass die Gerinnungsfähigkeit dem Blute als eine regelmässige Eigenschaft zugeschrieben wird. In den Lymphgefässen eines todten Thieres oder einer menschlichen Leiche findet man keine geronnene Lymphe, dagegen tritt die Gerinnung alsbald ein, sobald die Lymphe mit der äusseren Luft in Contact gebracht oder von einem erkrankten Organe her verändert wird. [55] Gesammelte Abhandl. S. 105. Allerdings zeigt sich auch innerhalb der Gefässe einer Leiche am Blute eine sehr auffällige und schwer zu erklärende Verschiedenheit. Während das Blut des Herzens und der grösseren Gefässe nach dem Tode gerinnt, so =bleibt das Capillarblut flüssig=. Sonderbarerweise übersieht man diese wichtige Erscheinung fast immer, so wichtig sie auch für die Deutung des örtlichen Verhaltens der Färbung der Gefässe, insbesondere der postmortalen Ortsveränderungen, Senkungen u. s. w. des Blutes ist. Aber das Capillarblut der Leiche unterscheidet sich dadurch von der Lymphe, dass es auch nicht mehr gerinnt, wenn es aus den Capillaren entleert und der Luft ausgesetzt wird. Was nun die Lymphe anbetrifft, so muss ich noch immer an der Anschauung festhalten, dass in derselben kein fertiges Fibrin enthalten ist, sondern dass dies erst fertig wird, sei es durch den Contact mit der atmosphärischen Luft, sei es unter abnormen Verhältnissen durch die Zuführung veränderter Stoffe, oder durch den Contact mit besonderen Substanzen. Die normale Lymphe führt eine Substanz, welche sehr leicht in Fibrin übergeht, und, wenn sie geronnen ist, sich vom Fibrin kaum unterscheidet, welche aber, so lange sie im gewöhnlichen Laufe des Lymphstromes sich befindet, nicht als eigentlich fertiges Fibrin betrachtet werden kann. Es ist dies eine Substanz, welche ich lange, bevor ich auf ihr Vorkommen in der Lymphe aufmerksam geworden war, in verschiedenen Exsudaten constatirt hatte, namentlich in pleuritischen Flüssigkeiten[56]. [56] Archiv 1847. I. 572. Gesammelte Abhandl. 104, 516. In manchen Formen der Pleuritis bleibt das Exsudat lange flüssig, und da kam mir vor einer Reihe von Jahren der besondere Fall vor, dass durch eine Punction des Thorax eine Flüssigkeit entleert wurde, welche vollkommen klar und flüssig war, aber kurze Zeit, nachdem sie entleert war, in ihrer ganzen Masse mit einem Coagulum sich durchsetzte, wie es oft genug in Flüssigkeiten aus der Bauchhöhle gesehen wird. Nachdem ich dieses Gerinnsel durch Quirlen aus der Flüssigkeit entfernt und mich von der Identität desselben mit dem gewöhnlichen Faserstoff überzeugt hatte, zeigte sich am nächsten Tage ein neues Coagulum, und so auch in den folgenden Tagen. Diese Gerinnungsfähigkeit dauerte 14 Tage lang, obwohl die Entleerung mitten im heissen Sommer stattgefunden hatte. Es war dies also eine von der gewöhnlichen Gerinnung des Blutes wesentlich abweichende Erscheinung, welche sich nicht wohl begreifen liess, wenn wirkliches Fibrin als fertige Substanz darin enthalten war, und welche darauf hinzuweisen schien, dass erst unter Einwirkung der atmosphärischen Luft Fibrin entstünde aus einer Substanz, welche dem Fibrin allerdings nahe verwandt sein musste, aber doch nicht wirkliches Fibrin sei. Ich schlug darum vor, dieselbe als =fibrinogene= Substanz zu trennen, und nachdem ich später darauf gekommen war, dass es dieselbe Substanz ist, welche wir in der Lymphe finden, so konnte ich meine Ansicht dahin erweitern, dass auch in der Lymphe der Faserstoff nicht fertig enthalten sei. Dieselbe Substanz, welche sich von dem gewöhnlichen Fibrin dadurch unterscheidet, dass sie eines mehr oder weniger langen Contactes mit der atmosphärischen Luft bedarf, um coagulabel zu werden, findet sich unter gewissen Verhältnissen auch im Blute der peripherischen Venen vor, so dass man auch durch eine gewöhnliche Venaesection am Arme Blut bekommen kann, welches sich vom gewöhnlichen Blute durch die Langsamkeit seiner Gerinnung unterscheidet. =Polli= hat die so gerinnende Substanz =Bradyfibrin= (langsames Fibrin) genannt. Solche Fälle kommen besonders vor bei entzündlichen Erkrankungen der Respirationsorgane und geben am Häufigsten Veranlassung zur Bildung einer =Speckhaut= (Crusta phlogistica). Es ist bekannt, dass die gewöhnliche Crusta phlogistica bei pneumonischem oder pleuritischem Blut um so leichter eintritt, je wässeriger die Blutflüssigkeit ist, je mehr die Blutmasse an festen Bestandtheilen verarmt ist, aber es ist wesentlich dabei, dass auch das Fibrin langsam gerinnt. Wenn man mit der Uhr in der Hand den Vorgang controlirt, so überzeugt man sich, dass bei der Crustenbildung eine sehr viel längere Zeit vergeht, als bei der gewöhnlichen Gerinnung. Von dieser häufigen Erscheinung, wie sie sich bei der gewöhnlichen Crustenbildung der entzündlichen Blutmasse findet, zeigen sich nun allmähliche Uebergänge zu einer immer längeren Dauer des Flüssigbleibens. Das Aeusserste dieser Art, was bis jetzt bekannt ist, geschah in einem Falle, den =Polli= beobachtete. Bei einem an Pneumonie leidenden, rüstigen Manne, welcher im Sommer, zu einer Zeit, welche gerade nicht die äusseren Bedingungen für die Verlangsamung der Gerinnung darbietet, in die Behandlung kam, gebrauchte das Blut, welches aus der geöffneten Ader floss, acht Tage, ehe es anfing zu gerinnen, und erst nach 14 Tagen war die Coagulation vollständig. Es fand sich dabei auch die andere, von mir am pleuritischen Exsudat beobachtete Erscheinung, dass im Verhältniss zu dieser späten Gerinnung eine ungewöhnlich späte Zersetzung (Fäulniss) des Blutes stattfand. Da nun Erscheinungen dieser Art überwiegend häufig bei Brustaffectionen beobachtet werden, so überwiegend, dass man seit langer Zeit die Speckhaut als Corium pleuriticum bezeichnet hat, so scheint daraus mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hervorzugehen, dass das Respirationsgeschäft einen bestimmenden Einfluss hat auf das Vorkommen oder Nichtvorkommen der fibrinogenen Substanz im Blute. Jedenfalls setzt sich die Eigenthümlichkeit, welche die Lymphe besitzt, unter Umständen auf das Blut fort, so dass entweder das ganze Blut daran Antheil nimmt, und zwar um so mehr, je grössere Störungen die Respiration erleidet, oder dass neben dem gewöhnlichen, schnell gerinnenden Stoffe ein langsamer gerinnender gefunden wird. Oft bestehen nehmlich zwei Arten von Gerinnung in demselben Blute neben einander, eine frühe und eine späte, namentlich in den Fällen, wo die direkte Analyse eine Vermehrung des Faserstoffes, eine =Hyperinose= (=Franz Simon=) ergibt. Diese hyperinotischen Zustände führen also darauf hin, dass bei ihnen eine vermehrte Zufuhr von Lymphflüssigkeit zum Blute stattfindet, und dass die Stoffe, welche sich nachher im Blute finden, nicht ein Product innerer Umsetzung desselben sind, dass also die letzte Quelle des Fibrins nicht im Blute selbst gesucht werden darf, sondern an jenen Punkten, von welchen die Lymphgefässe die vermehrte Fibrinmasse zuführen. Zur Erklärung dieser Erscheinungen habe ich eine etwas kühne Hypothese gewagt, welche ich jedoch für vollkommen discussionsfähig erachte, nehmlich die, =dass das Fibrin, wenn es im Körper ausserhalb des Blutes vorkommt, nicht immer als eine Abscheidung aus dem Blute zu betrachten ist, sondern häufig als ein Local-Erzeugniss=, und ich habe versucht, eine wesentliche Veränderung in der Auffassung der sogenannten phlogistischen Krase in Beziehung auf die Localisation derselben einzuführen[57]. Während man früher gewöhnt war, die veränderte Mischung des Blutes bei der Entzündung als ein von vorn herein bestehendes und namentlich durch primäre Vermehrung des Faserstoffes bezeichnetes Moment zu betrachten, so habe ich vielmehr die Krase als ein von der localen Entzündung abhängiges Ereigniss entwickelt. Gewisse Organe und Gewebe besitzen an sich in höherem Grade die Eigenschaft, Fibrin zu erzeugen und das Vorkommen von grossen Massen von Fibrin im Blute zu begünstigen, während andere Organe ungleich weniger dazu geeignet sind. [57] Handbuch der spec. Pathologie u. Therapie. 1854. I. 75. Gesammelte Abhandlungen. 135. Ich habe ferner darauf hingewiesen, dass diejenigen Organe, welche diesen eigenthümlichen Zusammenhang eines sogenannten phlogistischen Blutes mit einer localen Entzündung besonders häufig darbieten, im Allgemeinen mit Lymphgefässen reichlich versehen sind und mit grossen Massen von Lymphdrüsen in Verbindung stehen, während alle diejenigen Organe, welche entweder sehr wenige Lymphgefässe enthalten, oder in welchen wir kaum Lymphgefässe kennen, auch einen nicht nennenswerthen Einfluss auf die fibrinöse Mischung des Blutes ausüben. Es haben schon frühere Beobachter bemerkt, dass es Entzündungen sehr wichtiger Organe gibt, z. B. des Gehirns, bei denen man die phlogistische Krase eigentlich gar nicht findet. Aber gerade im Gehirn kennen wir nur wenige Lymphgefässe. Wo dagegen die Mischung des Blutes am frühesten verändert wird, bei den Erkrankungen der Respirationsorgane, da findet sich auch ein ungewöhnlich reichliches Lymphnetz. Nicht bloss die Lungen sind davon durchsetzt und überzogen, sondern auch die Pleura hat ausserordentlich reiche Verbindungen mit dem Lymphsystem, und die Bronchialdrüsen stellen fast die grössten Anhäufungen von Lymphdrüsen-Masse dar, die irgend ein Organ des Körpers überhaupt besitzt. Andererseits kennen wir keine Thatsache, welche die Möglichkeit zeigte, dass unter einfacher Steigerung des Blutdruckes, oder unter einfacher Veränderung der Bedingungen, unter denen das Blut strömt, in diesen Organen ein Durchtreten spontan gerinnender Flüssigkeiten von den Capillaren her in das Parenchym oder auf die Oberfläche derselben erfolgen könnte. Man denkt sich allerdings in der Regel, dass im Verhältniss zur Stromstärke des Blutes auch eine fibrinöse Zumischung zum Exsudate stattfinde, aber dies ist nie durch ein Experiment bewiesen worden. Niemals ist Jemand im Stande gewesen, durch blosse Veränderung in der Strömung des Blutes im lebenden Körper das Fibrin zu einer direkten Transsudation aus den Capillaren in Form eines entzündlichen Processes zu vermögen; dazu bedürfen wir immer eines Reizes. Man kann die beträchtlichsten Hemmungen im Circulationsgeschäft herbeiführen, die colossalsten Austretungen von serösen Flüssigkeiten experimentell erzeugen, aber nie erfolgt dabei jene eigenthümliche fibrinöse Exsudation, welche die Reizung gewisser Gewebe mit so grosser Leichtigkeit hervorruft. Dass das Fibrin in der Blutflüssigkeit selbst durch eine Umsetzung des Eiweisses entstünde, ist eine chemische Theorie, die weiter keine Stütze für sich hat, als die, dass Eiweiss und Fibrin grosse chemische Aehnlichkeit haben, und dass man sich, wenn man die zweifelhafte chemische Formel des Fibrins mit der ebenso zweifelhaften Formel des Eiweisses vergleicht, durch das Ausscheiden von ein paar Atomen den Uebergang von Albumin in Fibrin sehr leicht denken kann. Allein diese Möglichkeit der Formelüberführung beweist nicht das Geringste dafür, dass eine analoge Umsetzung in der Blutmasse geschehe. Sie kann möglicherweise im Körper erfolgen, aber auch dann ist es jedenfalls wahrscheinlicher, dass sie in den Geweben erfolgt, und dass erst von da aus eine Fortführung durch die Lymphe geschieht. Indess ist dies um so mehr zweifelhaft, als die rationelle Formel für die chemische Zusammensetzung des Eiweisses und des Faserstoffes bis jetzt noch nicht ermittelt ist, und die unglaublich hohen Atomzahlen der empirischen Formel auf eine sehr zusammengesetzte Gruppirung der Atome hindeuten. Halten wir daher an der Erfahrung fest, dass das Fibrin nur dadurch zum Austritt auf irgend eine Oberfläche gebracht werden kann, dass wir ausser der Störung der Circulation auch noch einen Reiz, d. h. eine locale Veränderung des Gewebes setzen. Diese locale Veränderung genügt aber erfahrungsgemäss für sich, um den Austritt von Fibrin zu bedingen, wenn auch keine Hemmung der Circulation eintritt. Es bedarf dieser Hemmung gar nicht, um die Erzeugung von Fibrin an einem bestimmten Punkte einzuleiten. Im Gegentheil sehen wir, dass in der besonderen Beschaffenheit der gereizten Theile die Ursache der grössten Verschiedenheiten gegeben ist. Wenn wir einfach eine reizende Substanz auf die Hautoberfläche bringen, so gibt es bei geringeren Graden der Reizung, mag sie nun chemischer oder mechanischer Natur sein, eine Blase, ein seröses Exsudat. Ist die Reizung stärker, so tritt eine Flüssigkeit aus, welche in der Blase vollkommen flüssig erscheint, aber nach ihrer Entleerung coagulirt. Fängt man die Flüssigkeit einer Vesicatorblase in einem Uhrschälchen auf und lässt sie an der Luft stehen, so bildet sich ein Coagulum; es ist also fibrinogene Substanz in der Flüssigkeit. Nun gibt es aber zuweilen Zustände des Körpers, wo ein äusserlicher Reiz genügt, um Blasen mit direkt coagulirender Flüssigkeit hervorzurufen. Im Winter von 1857-58 hatte ich einen Kranken auf meiner Abtheilung, welcher von einer Erfrierung der Füsse eine Anästhesie zurückbehielt, wogegen ich unter Anderem locale Bäder mit Königswasser anwendete. Nach einer gewissen Zahl solcher Bäder bildeten sich jedesmal an den anästhetischen Stellen der Fusssohle Blasen bis zu einem Durchmesser von zwei Zoll, welche bei ihrer Eröffnung sich mit grossen gallertigen Massen von fibrinösem Coagulum (nicht etwa mit Eiweiss-Niederschlägen) erfüllt zeigten. Bei anderen Menschen hätten sich wahrscheinlich einfache Blasen gebildet, mit einer Flüssigkeit, die erst nach dem Herauslassen erstarrt wäre. Diese Verschiedenheit liegt offenbar in der Verschiedenheit nicht der Blutmischung, sondern der örtlichen Disposition. Die Differenz zwischen der Form von Pleuritis, welche von Anfang an coagulable und spontan coagulirende Substanzen abscheidet, und derjenigen, wo coagulable, aber nicht spontan coagulirende Flüssigkeiten austreten, weist gewiss auf Besonderheiten der localen Reizung hin. Ich glaube also nicht, dass man berechtigt ist zu schliessen, dass Jemand, der mehr Fibrin im Blute hat, damit auch eine grössere Neigung zu fibrinöser Transsudation besitze; vielmehr erwarte ich, dass bei einem Kranken, der an einem bestimmten Orte sehr viel fibrinbildende Substanz producirt, von diesem Orte aus viel von dieser Substanz in die Lymphe und endlich in das Blut übergehen wird. Man kann also das Exsudat in solchen Fällen betrachten als den Ueberschuss des in loco gebildeten Fibrins, für dessen Entfernung die Lymphcirculation nicht genügte. So lange der Lymphstrom ausreicht, wird Alles, was in dem gereizten Theile an Stoffen gebildet wird, auch dem Blute zugeführt; sobald die örtliche Production über dieses Maass hinausschreitet, häufen sich die Producte an, und neben der Hyperinose wird auch eine örtliche Ansammlung oder Ausscheidung von fibrinösem Exsudat stattfinden. Ist diese Deutung richtig, und ich denke, dass sie es ist, so würde sich auch hier wieder jene Abhängigkeit der Dyscrasie von der örtlichen Krankheit ergeben, welche ich schon früher als den wesentlichsten Gewinn aller unserer Untersuchungen über das Blut hingestellt habe. Es ist nun eine sehr bemerkenswerthe Thatsache, welche gerade für diese Auffassung von Bedeutung ist, dass =sehr selten eine erhebliche Vermehrung des Fibrins Statt findet ohne gleichzeitige Vermehrung der farblosen Blutkörperchen=, dass also die beiden wesentlichen Bestandtheile, welche wir in der Lymphflüssigkeit finden, auch im Blute wiederkehren. In jedem Falle einer Hyperinose kann man auf eine Vermehrung der farblosen Körperchen rechnen, oder, anders ausgedrückt, jede Reizung eines Theiles, welcher mit Lymphgefässen reichlich versehen ist und mit Lymphdrüsen in einer ausgiebigen Verbindung steht, bedingt auch die Einfuhr grosser Massen farbloser Zellen (Lymphkörperchen) ins Blut. Diese Thatsache ist besonders interessant insofern, als man daraus begreifen kann, wie nicht bloss gewisse Organe, welche reich versehen sind mit Lymphgefässen, eine solche Vermehrung bedingen können, sondern wie auch gewisse Processe eine grössere Fähigkeit besitzen, beträchtliche Mengen von diesen Elementen in das Blut zu führen. Es sind dies alle diejenigen, welche früh mit bedeutender Erkrankung des Lymphgefäss-Systems verbunden sind. Vergleicht man eine erysipelatöse oder eine diffuse phlegmonöse (nach =Rust= pseudoerysipelatöse) Entzündung in ihrer Wirkung auf das Blut mit einer einfachen oberflächlichen Hautentzündung, wie sie im Verlauf der gewöhnlichen acuten Exantheme, nach traumatischen oder chemischen Einwirkungen auftritt, so ersieht man alsbald, wie gross die Differenz ist. Jede erysipelatöse oder diffuse phlegmonöse Entzündung hat die Eigenthümlichkeit, frühzeitig die Lymphgefässe zu afficiren und Schwellungen der lymphatischen Drüsen hervorzubringen. In jedem solchen Falle aber kann man darauf rechnen, dass eine Zunahme in der Zahl der farblosen Blutkörperchen stattfindet. Weiterhin ergibt sich die bezeichnende Thatsache, dass es gewisse Processe gibt, welche gleichzeitig Fibrin und farblose Blutkörperchen vermehren, andere dagegen, welche nur die Zunahme der letzteren bewirken. In diese Kategorie gehört gerade die ganze Reihe der einfachen diffusen Hautentzündungen, wo auch an den Erkrankungsorten keine erhebliche Fibrinbildung erfolgt. Andererseits gehört dahin eine Menge von Zuständen, welche vom Gesichtspunkt der Faserstoff-Menge als =hypinotische= (=Franz Simon=) bezeichnet werden, alle die Processe, welche in die Reihe der typhösen zählen, und die darin übereinkommen, dass sie bald diese, bald jene Art von bedeutender Anschwellung der Lymphdrüsen, aber keine locale Faserstoff-Exsudation hervorbringen. So setzt der Typhus diese Veränderungen nicht nur an der Milz, sondern auch an den Mesenterial-Drüsen. Den einfachen Zustand von Vermehrung der farblosen Körperchen im Blute, welcher abhängig erscheint von einer Reizung der Blutbereitenden Drüsen, habe ich mit dem Namen der =Leukocytose= belegt[58]. Nun weiss man, dass eine andere Angelegenheit lange der Gegenstand meiner Studien gewesen ist, die von mir[59] sogenannte =Leukämie=, und es handelt sich zunächst darum, festzustellen, wie weit sich die eigentliche Leukämie von den leukocytotischen Zuständen unterscheidet. [58] Gesammelte Abhandlungen 1856. S. 703. [59] Archiv. 1847. I. 563. Schon in den ersten Fällen der Leukämie, welche mir vorkamen, stellte sich eine sehr wesentliche Eigenschaft heraus, nehmlich die, dass in dem Gehalt des Faserstoffes im Blute keine wesentliche Abweichung bestand[60]. Späterhin hat sich gezeigt, dass der Faserstoff-Gehalt je nach der Besonderheit des Falles vermehrt oder vermindert oder unverändert sein kann, dass aber constant eine immerfort steigende Zunahme der farblosen Blutkörperchen stattfindet, und dass diese Zunahme immer deutlicher zusammenfällt mit einer Verminderung der Zahl der gefärbten (rothen) Blutkörperchen, so dass als endliches Resultat ein Zustand herauskommt, in welchem die Zahl der farblosen Blutkörperchen der Zahl der rothen beinahe gleichkommt, und selbst für die gröbere Betrachtung auffallende Phänomene hervortreten. Während wir im gewöhnlichen Blute immer nur auf etwa 300 gefärbte ein farbloses Körperchen rechnen können, so gibt es Fälle von Leukämie, wo die Vermehrung der farblosen in der Weise steigt, dass auf 3 rothe Körperchen schon ein farbloses oder gar 3 rothe auf 2 farblose kommen, ja wo die Zahlen für die farblosen Körperchen die grösseren werden[61]. [60] =Froriep='s Neue Notizen. 1845. No. 780. Gesammelte Abhandl. 149. [61] Archiv 1853. IV. 43 ff. In Leichen erscheint die Vermehrung der farblosen Körperchen meist beträchtlicher, als sie wirklich ist, aus Gründen, die ich schon früher hervorhob (S. 185); diese Körperchen sind ausserordentlich klebrig und häufen sich bei Verlangsamung des Blutstromes in grösseren Massen an, so dass in Leichen die grösste Menge stets im rechten Herzen gefunden wird. Es ist mir einmal, ehe ich Berlin verliess, der besondere Fall passirt, dass ich das rechte Atrium anstach, und der Arzt, welcher den Fall behandelt hatte, überrascht ausrief: »Ah, da ist ein Abscess!« So eiterähnlich sah das Blut aus. Diese eiterartige Beschaffenheit des Blutes ist allerdings nicht in dem ganzen Circulationsstrome vorhanden; nie sieht das Blut im Ganzen wie Eiter aus, weil immer noch eine verhältnissmässig grosse Zahl von rothen Elementen existirt; aber es kommt doch vor, dass das aus der Ader fliessende Blut schon bei Lebzeiten weissliche Streifen zeigt, und dass, wenn man den Faserstoff durch Quirlen entfernt und das defibrinirte Blut stehen lässt, sich alsbald eine freiwillige Scheidung macht, in der Art, dass sich sämmtliche Blutkörperchen, rothe und farblose, allmählich auf den Boden des Gefässes senken, und hier ein doppeltes Sediment entsteht: ein unteres rothes, das von einem oberen, weissen, puriformen überlagert wird. Es erklärt sich dies aus dem ungleichen specifischen Gewicht und den verschiedenen Fallzeiten beider Arten von Körperchen (S. 187). Zugleich giebt dies eine sehr leichte Scheidung des leukämischen Blutes von dem chylösen (lipämischen), wo ein milchiges Aussehen des Serums durch Fettbeimischung entsteht; defibrinirt man solches Blut, so bildet sich nach einiger Zeit nicht ein weisses Sediment, sondern eine rahmartige Schicht an der Oberfläche[62]. [62] Würzburger Verhandl. 1856. VII. 119. Gesammelte Abhandl. S. 138. Es existiren bis jetzt in der Literatur nur vereinzelte Fälle von Leukämie, wo die Kranken, nachdem sie eine Zeit lang Gegenstand ärztlicher Behandlung gewesen waren, als wesentlich gebessert das Hospital verliessen. In der Regel erfolgt der Tod. Ich will daraus keineswegs den Schluss ziehen, dass es sich um eine absolut unheilbare Krankheit handle; ich hoffe im Gegentheil, dass man endlich auch hier wirksame Heilmittel finden wird, aber es ist gewiss eine sehr wichtige Thatsache, dass es sich dabei, ähnlich wie bei der progressiven Muskelatrophie, um Zustände handelt, welche in einem gewissen Stadium, sich selbst überlassen, oder wenn sie unter einer der bis jetzt bekannten Behandlungen stehen, sich fortwährend verschlimmern und endlich zum Tode führen. Es haben diese Fälle noch ausserdem die besondere Merkwürdigkeit, dass sich gewöhnlich in der letzten Zeit des Lebens eine eigentliche =hämorrhagische Diathese= ausbildet und Blutungen entstehen, die besonders häufig in der Nasenhöhle stattfinden (unter der Form von erschöpfender Epistaxis), die aber unter Umständen auch an anderen Punkten auftreten können, so in colossaler Weise als apoplectische Formen im Gehirn oder als melänaartige in der Darmhöhle. Wenn man nun untersucht, von woher diese sonderbare Veränderung des Blutes stammt, so zeigt sich, dass in der grossen Mehrzahl der Fälle ein bestimmtes Organ als das wesentlich erkrankte erscheint, und häufig schon im Anfange der Krankheit den Hauptgegenstand der Klagen und Beschwerden der Kranken bildet, nehmlich die =Milz=. Daneben leidet sehr häufig auch ein Bezirk von =Lymphdrüsen=, aber das Milzleiden steht in der Regel im Vordergrunde. Nur in einer kleinen Zahl von Fällen fand ich die Milz wenig oder gar nicht, die Lymphdrüsen überwiegend verändert, und zwar in solchem Grade, dass Lymphdrüsen, die man sonst kaum bemerkt, zu wallnussgrossen Knoten sich entwickelt hatten, ja, dass an einzelnen Stellen fast nichts weiter als Lymphdrüsen-Substanz zu bestehen schien[63]. Von den Drüsen, welche zwischen den Inguinal- und Lumbal-Drüsen gelegen sind, pflegt man nicht viel zu sprechen; sie haben nicht einmal einen bequemen Namen. Einzelne von ihnen liegen längs der Vasa iliaca, einzelne im kleinen Becken. Im Laufe solcher Leukämien traf ich sie zweimal so vergrössert, dass der ganze Raum des kleinen Beckens wie ausgestopft war mit Drüsenmasse, in welche Rectum und Blase nur eben hineintauchten. [63] Archiv 1847. I. 567. Ich habe deshalb zwei Formen der Leukämie unterschieden, die gewöhnliche =lienale= und die seltenere =lymphatische=. Beide combiniren sich allerdings nicht selten mit einander, jedoch herrscht auch in diesem Falle die eine von beiden so sehr vor, dass man über die Wahl des Namens kaum in Verlegenheit kommen wird. Die Unterscheidung stützt sich nicht allein darauf, dass in dem einen Falle die Milz, im anderen die Lymphdrüsen als Ausgangspunkt der Erkrankung erscheinen, sondern noch mehr darauf, dass die farblosen Elemente, welche im Blute vorkommen, in beiden Fällen verschieden sind. Während nehmlich bei der lienalen Form in der Regel verhältnissmässig grosse, entwickelte Zellen mit mehrfachen, seltener einfachen Kernen im Blute circuliren, die in manchen Fällen überwiegend viel Aehnlichkeit mit Milzzellen haben, so sieht man bei der ausgemacht lymphatischen Form die Zellen klein, die Kerne im Verhältniss zu den Zellen gross und einfach, in der Regel scharf begrenzt, sehr dunkel contourirt und etwas körnig, die Membran häufig so eng anliegend, dass man kaum den Zwischenraum constatiren kann. Oefter sieht es aus, als ob vollkommen freie Kerne im Blute enthalten wären. In jenen gemischten Fällen, wo sowohl die Milz, als die Lymphdrüsen leiden, bieten auch die im Blute vorkommenden Gebilde beiderlei Gestalt dar. Nimmt man die Erfahrungen zusammen, so wird man zu der Schlussfolgerung geführt, dass die Vergrösserung der lymphatischen Drüsen, die in einer wirklichen Vermehrung ihrer Elemente (Hyperplasie) beruht, auch eine grössere Zahl zelliger Theile in die Lymphe und durch diese in das Blut führt, und dass in dem Maasse, als diese Elemente überwiegen, die Bildung der rothen Elemente Hemmungen erfährt. =Die Leukämie ist demnach eine Art von dauerhafter, progressiver Leukocytose; diese dagegen in ihren einfachen Formen stellt einen vorübergehenden, an zeitweilige Zustände gewisser Organe geknüpften Vorgang dar=[64]. [64] Geschwülste. II. 566. Ob damit der ganze Unterschied zwischen Leukämie und Leukocytose erschöpft ist, steht dahin. Ich möchte jedoch darauf aufmerksam machen, dass bei der Leukocytose neben den rothen Körperchen eine vorübergehende Zumischung von zahlreichen farblosen Körperchen stattfindet, ohne dass wir deshalb berechtigt wären, jedesmal eine Abnahme der ersteren zu statuiren. Bei der Leukämie dagegen findet sich eine wirkliche Verminderung der rothen Körperchen; sie stellt, wie ich früher sagte, einen wirklichen =Albinismus= des Blutes dar. Offenbar erleidet also die Bildung der rothen Körperchen eine Hemmung, und es ist gewiss sehr charakteristisch, dass in einem Falle von lienaler Leukämie, der bei uns vorkam, =Klebs= die embryonale Form der kernhaltigen rothen Körperchen bei einem Kinde von 1-1/4 Jahr antraf. Es ist ersichtlich, dass die drei von uns besprochenen dyscrasischen Zustände, welche in einer näheren Beziehung zu der Lymphflüssigkeit stehen, nehmlich die Hyperinose, die Leukocytose und die Leukämie sich mehrfach berühren. Der erstere, der durch Vermehrung des Fibrins ausgezeichnet ist (Hyperinose), bezieht sich mehr auf die veränderte Beschaffenheit der Organe, von wo die Lymphflüssigkeit herkommt, während die durch Vermehrung der farblosen Zellen bedingten Zustände (Leukocytose und Leukämie) mehr von der Beschaffenheit der Drüsen, durch welche die Lymphflüssigkeit strömte, abhängig sind. Diese Thatsachen lassen sich nun wohl nicht anders deuten, als dass man in der That die Milz und die Lymphdrüsen in eine nähere Beziehung zur Entwickelung des Blutes bringt. Dies ist noch wahrscheinlicher geworden, seitdem es gelungen ist, auch chemische Anhaltspunkte zu gewinnen. =Scherer= hat zweimal leukämisches Blut untersucht, das ich ihm übergeben hatte, um dasselbe mit den von ihm gefundenen Milzstoffen zu vergleichen; es ergab sich, dass darin Hypoxanthin, Leucin, Harnsäure, Milch- und Ameisensäure vorkamen. In einem Falle überzog sich eine Leber, die ich einige Tage liegen liess, ganz mit Tyrosinkörnern; in einem anderen krystallisirte aus dem Darminhalte Leucin und Tyrosin in grossen Massen aus. Die grosse Häufigkeit harnsaurer Sedimente im Harn und harnsaurer Concretionen in den Nieren der Leukämischen habe ich wiederholt erwähnt[65]. Kurz, Alles deutet auf eine vermehrte Thätigkeit der Milz, welche normal diese Stoffe in grösserer Menge enthält. [65] Mein Archiv 1853. Bd. V. S. 408. vgl. 1849. Bd. II. S. 590. Es ist eine ziemlich lange Reihe von Jahren (seit 1845) vergangen, während deren ich mich mit meiner Auffassung ziemlich vereinsamt fand. Erst nach und nach ist man, und zwar, wie ich leider gestehen muss, zuerst mehr von physiologischer, als von pathologischer Seite auf diese Gedanken eingegangen, und erst spät hat man sich der Vorstellung zugänglich erwiesen, dass im gewöhnlichen Gange der Dinge die Lymphdrüsen und die Milz in der That eine unmittelbare Bedeutung für die Formelemente des Blutes haben, dass im Besonderen die körperlichen Bestandtheile des letzteren wirkliche Abkömmlinge sind von den Zellen der Lymphdrüsen und der Milz, welche in denselben entstehen, aus ihrem Innern losgelöst und dem Blutstrom zugeführt werden. Kommen wir damit auf die Frage von der Herkunft der Blutkörperchen selbst. Seit dem vorigen Jahrhundert war man gewöhnt, die Lymphdrüsen als blosse Convolute von Lymphgefässen zu betrachten. Bekanntlich sieht man schon vom blossen Auge die zuführenden Lymphgefässe sich in Aeste auflösen, welche in die Lymphdrüse eintreten, innerhalb derselben verschwinden und am Ende aus derselben wieder hervorkommen. Aus den Resultaten der Quecksilber-Injectionen, welche man schon vor einem Jahrhundert mit grosser Sorgfalt unternommen hat, glaubte man schliessen zu müssen, dass das eingetretene Lymphgefäss vielfache Windungen mache, welche sich durchschlängen und endlich in das ausführende Gefäss fortgingen, so dass die Drüse nichts weiter als eine Zusammendrängung von Windungen der einführenden Gefässe, eine Art von Wundernetz, darstelle. Die ganze Sorgfalt der modernen Histologie hat sich daher darauf gerichtet, ein solches einfaches Durchtreten von Lymphgefässen durch die Drüse zu constatiren; nachdem man sich Jahre lang vergebens darum bemüht hatte, hat man es endlich aufgegeben. Im Augenblick dürfte es kaum einen Histologen geben, welcher an eine vollkommene Continuität der Lymphgefässe innerhalb einer Lymphdrüse dächte; meist ist die Anschauung von =Kölliker= acceptirt, dass die Lymphdrüsen den Strom der Lymphe unterbrechen, indem das Lymphgefäss, während es seine Wandungen verliert, sich in das Parenchym der Drüse auflöst und erst aus demselben sich wieder zusammensetzt. Man kann dieses Verhältniss nicht wohl anders vergleichen, als mit einer Art von Filtrirapparat, etwa wie wir ihn im Kohlen- oder Sandfiltrum besitzen. Wenn man eine menschliche Lymphdrüse durchschneidet, so bekommt man häufig eine Bildung zu Gesicht, wie von einer Niere. Da, wo die zuführenden Lymphgefässe sich auflösen und in die Drüse eintauchen, also an dem der Peripherie des Körpers oder des betreffenden Organs zugewendeten Umfange liegt eine derbere Substanz; halb umschlossen von derselben findet sich auf der inneren oder centralen Seite der Drüse eine Art von Hilus, an dem die Lymphgefässe die Drüse wieder verlassen. Derselbe ist erfüllt durch ein maschiges Gewebe von oft deutlich areolärem oder cavernösem Bau, in welches neben den Vasa lymphatica efferentia Blutgefässe eingehen, um von da weiter in die eigentliche Substanz einzudringen. =Kölliker= hat darnach eine Rinden- und Marksubstanz unterschieden; indess ist die sogenannte Marksubstanz häufig kaum noch drüsiger Natur. Letztere findet sich wesentlich an der Rinde, welche bald mehr, bald weniger dick ist. Man thut daher am besten, wenn man jenen Theil einfach den Hilus nennt, da aus- und einführende Gefässe dicht zusammenliegen, gerade so, wie im Hilus der Niere einerseits die Ureteren und Venen abführen, die Arterien zuleiten. Das eigentliche Parenchym der Drüse, die Substantia propria derselben (adenoide Substanz =His=) ist hauptsächlich in dem peripherischen Theile (der Rindensubstanz) enthalten. An diesem unterscheidet man, falls die Drüse einigermaassen gut entwickelt ist (und in einzelnen Fällen pathologischer Vergrösserung wird dies besonders deutlich), schon mit blossem Auge kleine, neben einander gelegene, rundliche, weisse oder graue Körner (Fig. 70, _A_, _F F_). Ist eine mässige Blutfülle vorhanden, so erkennt man ziemlich regelmässig um jedes Korn einen rothen Kranz von Gefässen. Diese Körner hat man seit langer Zeit =Follikel= genannt, aber es war zweifelhaft, ob es besondere Bildungen seien, oder blosse Windungen des Lymphgefässes, welche an die Oberfläche treten. Bei einer feineren mikroskopischen Untersuchung unterscheidet man leicht die eigentliche (drüsige) Substanz der Follikel von dem faserigen Maschen- oder Balkenwerk (Stroma, Trabekeln), welches dieselben umgrenzt und welches nach aussen continuirlich mit dem Bindegewebe der Capsel zusammenhängt. Die innere Substanz besteht überwiegend aus Haufen kleiner Rundzellen (=Lymphdrüsenkörperchen=), die ziemlich lose liegen, eingeschlossen in ein feines Netzwerk von sternförmigen, oft kernhaltigen Balken (=Reticulum=). Letzteres ist zuerst von =Kölliker= nachgewiesen und unter meiner Leitung von G. =Eckard=[66] genauer verfolgt worden, der den Anschluss desselben an die Blutcapillaren dargelegt hat. Von den Lymphgefässen kommt innerhalb des Stroma's nur wenig zu Tage; injicirt man eine Drüse, so geht die Injectionsmasse in die sogenannten Follikel selbst hinein. Untersucht man eine Gekrösdrüse während der Chylification, also vielleicht 4-5 Stunden nach einer fettreichen Mahlzeit, so erscheint ihre ganze Substanz weiss, vollständig milchig; das Mikroskop zeigt feinkörniges Chylusfett überall zwischen den zelligen Elementen der Follikel. Der Strom der Lymphe muss sich also zwischen den Drüsenzellen durchdrängen; eine freie offene Bahn existirt eigentlich gar nicht. Die Drüsenzellen sind in den Maschenräumen zusammengedrängt, im Umfange loser, im Innern dichter, wie die Theilchen in einem Kohlenfiltrum, so dass die Lymphe gleichsam filtrirt und gereinigt auf der anderen Seite wieder hervorquillt. Die Follikel sind demnach als Räume zu betrachten, die mit zelligen Elementen erfüllt, aber von einem vielbalkigen Reticulum durchsetzt sind. Sie können nicht als Windungen oder Erweiterungen der Lymphgefässe gelten; im Gegentheil, sie unterbrechen die offenen Lymphbahnen, und zwar um so vollständiger, je stärker sie entwickelt sind. Aber sie haben keineswegs, wie der äussere Anschein vermuthen lässt, eine kugelige Gestalt, sondern sie bilden längere, strangartige, unter einander zusammenhängende Züge, welche gegen die Rinde hin dicker werden und rundlich endigen. Das sind die sogenannten =Markschläuche= (=His=), =Markstränge= (=Kölliker=) oder =Follicularstränge= (v. =Recklinghausen=). [66] G. =Eckard=: De glandularum lymphaticarum structura. Diss. inaug. Berol. 1858 p. 12. Fig. I-III. [Illustration: =Fig=. 70. Durchschnitte durch die Rinde menschlicher Gekrös-Drüsen. _A_. Schwache Vergrösserung der ganzen Rinde: _P_ Umgebendes Fettgewebe und Capsel, durch welche Blutgefässe _v_, _v_, _v_ eintreten. _F_, _F_, _F_ Follikel der Drüse, in welche sich die Blutgefässe zum Theil einsenken, bei _i_, _i_ das die Follikel trennende Zwischengewebe (Stroma). _B_. Stärkere Vergrösserung (280 mal). _C_ das parallel-fibrilläre Gewebe der Capsel. _a_, _a_ das Reticulum, zum Theil leer, zum Theil mit dem kernigen Inhalt erfüllt. Das Ganze stellt den äusseren Abschnitt eines Follikels dar.] Durch die sorgfältigen Untersuchungen von =His= und =Frey= ist neuerlich der Nachweis geführt, dass die eintretenden Lymphgefässe sich nicht ganz und gar in die Follikel auflösen, sondern dass sie, indem sie ihre besonderen Wandungen einbüssen, sich in sinuöse oder lacunäre Räume (Spalten) verlieren, welche im Umfange der Follikel gelegen, aber gegen das Innere derselben nicht abgeschlossen sind. Auch besteht nach =Frey= durch Vermittelung dieser Sinus oder Lacunen eine offene Verbindung zwischen eintretenden und austretenden Lymphgefässen. Indess muss man gerade bei den Lymphdrüsen sehr vorsichtig sein, die comparativ-anatomischen Erfahrungen ohne Weiteres in die menschliche Anatomie zu übertragen. Bei manchen Säugethieren, namentlich beim Rind, sind die Randsinus allerdings ziemlich gross, und obwohl auch sie durch ein Reticulum durchzogen und keineswegs frei von Zellen sind, so mag immerhin ein freierer Durchgang durch die Drüse bestehen. Beim Menschen dagegen sind die Randsinus viel enger und nicht einmal constant vorhanden, so dass eine so scharfe Grenze zwischen den sogenannten Marksträngen und den Lymphbahnen, wie bei manchen Säugethieren, nicht zu erkennen ist. Jedenfalls kann darüber kein Zweifel bestehen, dass die Lymphe, indem sie sich durch die engen Spalten des Drüsengewebes hindurchzwängt, aus demselben einen Theil der Parenchymzellen ablöst und mit sich fortschwemmt. Die eintretende Lymphe ist verhältnissmässig arm an Zellen[67], die austretende dagegen sehr reich. Diese Zellen erscheinen zunächst in der Lymphe als =Lymphkörperchen=, im Chylus als =Chyluskörperchen=, später im Blute als =farblose Blutkörperchen=. Ueber diesen Zusammenhang besteht kaum noch ein Streit. Aber man darf die Identificirung nicht übertreiben, wie es jetzt so häufig geschieht. Auch die einzelne Epidermiszelle war einmal eine Zelle des Rete Malpighii; nichtsdestoweniger ist sie so sehr verändert, dass man sie nicht mehr eine Rete-Zelle nennen darf. Genau so verhält es sich auch hier. Wenn eine Lymphdrüsenzelle (Parenchymzelle) zu einem Lymphkörperchen (Flüssigkeitszelle) wird, so verändert sie sich, und wenn ein Lymphkörperchen zu einem farblosen Blutkörperchen wird, so verändert es sich wiederum, so dass ein Lymphdrüsenkörperchen von einem Lymphkörperchen und beide von einem farblosen Blutkörperchen regelmässig verschieden sind. [67] Gesammelte Abhandl. S. 214. Freilich gibt es Fälle, wo die Körperchen fast unverändert bleiben, trotzdem dass sie die Drüsen verlassen und in Lymphe und Blut übergehen. Schon bei einfacheren Reizungsvorgängen finden sich zuweilen Elemente in grosser Zahl im Blute (Fig. 66), welche viel mehr den Lymphkörperchen oder den Lymphdrüsenzellen gleichen, als den gewöhnlichen farblosen Blutkörperchen. Noch viel auffälliger ist dies bei der lymphatischen Leukämie (=Lymphämie=), und gerade deshalb ist diese so ausserordentlich lehrreich. Aber aus diesen Ausnahmefällen darf man nicht die Regel machen. Regel ist vielmehr, dass die Drüsenzelle, welche fortgeführt wird (auswandert?), ihre Eigenschaften ändert, und zwar um so mehr, je weiter sie im Strome der Lymphe und des Blutes fortgeführt wird. Daher ist es höchst bedenklich, die farblosen Blutkörperchen einfach Lymphkörperchen zu nennen; mit eben so viel Recht könnte man die Lymphdrüsenzellen farblose Blutkörperchen heissen. Die Parenchymzellen der Lymphdrüsen sind unter sich ziemlich verschieden. Sie kommen jedoch sämmtlich darin überein, dass sie verhältnissmässig grosse, granulirte, mit einem oder mehreren Kernkörperchen versehene Kerne haben. Diese Kerne sind ganz überwiegend einfach. Man sieht sie in den Zellen schon ohne besondere Zusätze, doch macht Essigsäure sie noch deutlicher. Ueberaus häufig findet man sie »nackt« (Fig. 71, _A_, _a_), ohne Zellkörper, denn der letztere ist sehr gebrechlicher Natur und wird bei der Präparation leicht zerdrückt oder aufgelöst. Bei vorsichtiger Behandlung findet man die Kerne von Zellkörpern umhüllt, doch sind diese oft so klein, dass sie nur schmale Säume um die Kerne darstellen (Fig. 71, _A_, _b_). Der Kern, wenngleich klein, erscheint dann =unverhältnissmässig gross= in der kleinen Zelle. -- Diese Art von Elementen ist die vorherrschende. Daneben finden sich jedoch in allen Lymphdrüsen auch grössere, mit stärker entwickeltem Leibe, aber immer bleibt der Kern verhältnissmässig gross: =er wächst mit der Zelle= (Fig. 71, _B_, _c_). [Illustration: =Fig=. 71. Lymphkörperchen aus dem Innern der Lymphdrüsen-Follikel. _A_. Die gewöhnlichen Elemente: _a_ nackte Kerne, mit und ohne Kernkörperchen, einfach und getheilt. _b_ Zellen mit kleineren und grösseren Kernen, die Membran dem Kern sehr eng anliegend. _B_. Vergrösserte Elemente aus einer hyperplastischen Bronchialdrüse bei variolöser Pneumonie (vgl. bei Fig. 64. die zugehörigen farblosen Blutkörperchen). _a_ grössere Zellen mit Körnern und einfachen Kernen. _b_ keulenförmige Zellen. _c_ grössere Zellen mit grösserem Kern und Kernkörperchen. _d_ Kerntheilung. _e_ keulenförmige Zellen in dichter Aneinanderlagerung (Zellentheilung?). _C_ Zellen mit endogener Brut. Vergr. 300.] Nur diese letztere Form stimmt einigermaassen mit den Zellen der Lymphe überein. Denn auch diese sind verhältnissmässig grosse, überwiegend einkernige Zellen, deren grosser körniger Kern einen oder mehrere Nucleoli zeigt. Aber der Zellkörper ist meist umfangreicher, und er hat so sehr an Dichtigkeit gewonnen, dass die Kerne undeutlicher werden. Noch viel mehr ist dies der Fall bei den farblosen Blutkörperchen, deren dichter, stark granulirter Körper die Kerne ganz verhüllt, so dass erst durch Reagentien oder durch Wasserimbibition dieselben sichtbar gemacht werden müssen. Werden sie aber sichtbar, so sind sie =mehrfach=, in der Regel 3-7 an der Zahl, =glatt= und =gänzlich ohne Kernkörperchen=. Was nach Einwirkung von Essigsäure zuweilen als ein Kernkörperchen erscheint, das erweist sich bei stärkerer Vergrösserung als eine =kleine Delle an der Kernoberfläche= (Fig. 72, _A c_ u. _e_, _B b_ u. _c_). Ich verstehe daher in der That nicht, wie selbst sehr geübte Beobachter in der neueren Zeit alle diese Zellen einfach »identificiren«. Wie sollte man denn Eiter in einer Lymphdrüse erkennen, wenn die Parenchymzellen derselben mit farblosen Blutkörperchen identisch wären? Das farblose Blutkörperchen war einmal eine Lymphdrüsenzelle, aber es hat vollständig aufgehört, dies zu sein, nachdem es sich eben zu einem Blutkörperchen =entwickelt= hat, nachdem sein Kern sich getheilt und wesentlich verändert, sein Körper sich vergrössert und verdichtet hat. Ja, ich finde es so sehr verändert, dass ich leichter begreife, wenn jemand seine Abstammung aus der Drüse bezweifelt. Wenn ich trotzdem daran festhalte, dass das Drüsenparenchym die Matrix der farblosen Blutkörperchen ist, so geschieht es im Hinblick auf die Erscheinungen, welche eine gereizte Drüse darbietet. Hier zeigen sich auch im Drüsenparenchym nicht nur vergrösserte Zellen, sondern man sieht auch fortschreitende Kern- und Zellentheilungen (Fig. 71, _B_, _d_, _e_). Zuweilen kommen vielkernige Zellen vor und einzelne Erscheinungen scheinen für endogene Neubildung (Fig. 71, _C_) zu sprechen. Mit zunehmender Reizung werden diese Vorgänge immer deutlicher. Je mehr die Drüsen sich vergrössern, um so zahlreicher werden die zelligen Elemente, welche in das Blut übergehen, um so grösser und um so mehr entwickelt pflegen auch die einzelnen farblosen Zellen des Blutes selbst zu sein. Dasselbe Verhältniss scheint bei der =Milz= obzuwalten. Ursprünglich haben wir uns Alle gedacht, dass die Venen die Wege darstellten, auf welchen die farblosen Körper die Milz verlassen, allein die Verhältnisse sind hier so schwierig, dass eine bestimmte Aussage kaum gemacht werden kann. Nach den Untersuchungen von =Wilhelm Müller= scheint es, dass ähnliche Unterbrechungen, wie man sie von der Wand der Milzvenen mancher Säugethiere schon länger kennt, auch in den Milzcapillaren vorkommen, und dass die Wand der letzteren ebenfalls eine siebförmige Beschaffenheit annimmt, welche den Zugang zu einem wandungslosen Systeme von Capillarspalten innerhalb der Pulpa gestattet. Hier würde demnach das Blut in einen unmittelbaren Contakt mit den Zellen der Pulpa kommen, und erst, nachdem es dieses »intermediäre« Kanalnetz passirt hat, in die gleichfalls siebförmigen Anfänge der Venen übertreten. Unter solchen Verhältnissen, wie ich sie schon vor Jahren eingehend erörtert habe[68], würde allerdings auch der Uebergang von Pulpazellen in den Blutstrom keine Schwierigkeit haben. Andererseits kennt man sowohl an der Capsel der Milz, als an den Gefässscheiden im Innern derselben Lymphgefässe, und es ist daher die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass auch auf diesem Wege Milzelemente den circulirenden Säften zugeführt werden. Indess lässt sich nicht verkennen, dass die Beschaffenheit der Zellen in der lienalen Leukämie (=Splenämie=) mehr für die Abstammung derselben aus der Pulpa und demnach für ihre Einwanderung in die Blutgefässe spricht. Denn in der Pulpa selbst sind überhaupt keine Lymphgefässe bekannt. [68] Archiv 1848. II. 595. 1853. V. 122. Dabei ist jedoch eine erhebliche Schwierigkeit nicht zu verschweigen. Die Pulpazellen sind überwiegend grössere, mit einem einfachen, granulirten Kern und Kernkörperchen versehene Elemente, wie sie selbst in der Milzvene nicht die Mehrheit bilden. Wenngleich diese Zellen den Lymphkörperchen näher stehen, so fehlt ihnen doch die Zeit, sich in farblose Blutkörperchen umzubilden, da sie direkt in das Blut übergehen müssten, während die Lymphkörperchen einen verhältnissmässig langen Weg bis zum Blute zu durchlaufen haben. Es müsste also die Umbildung schon in der Milz selbst geschehen. Vorläufig lässt sich darüber ebenso wenig ein sicheres Urtheil abgeben, wie über die Frage, =wo für gewöhnlich die Umbildung der farblosen Körperchen in rothe geschehe=? Dass eine solche geschieht, wissen wir aus der Geschichte des Blutes bei niederen Wirbelthieren und beim menschlichen Embryo, sowie aus einzelnen Beobachtungen beim erwachsenen Menschen. Der Zellkörper (Zelleninhalt) farbloser Kernzellen wandelt sich nach und nach in die rothe Hämoglobinsubstanz um, und der Kern verschwindet. Aber dies geschieht regelmässig an einkernigen Elementen, und daher habe ich von Anfang an den Satz vertheidigt, dass die mehrkernigen farblosen Blutkörperchen zu einer solchen Umwandlung nicht bestimmt seien, dass sie vielmehr indifferente Gebilde darstellen, welche zum Untergange bestimmt sind[69]. In der That habe ich schon in meinem ersten Falle von Leukämie an ihnen Fettmetamorphose deutlich beobachtet[70], und =Reinhardt= hat diesen Vorgang bestätigt[71]. Die eigenthümlich rothe Farbe der Milzpulpa und die Eigenschaft des Lymphdrüsenparenchyms, an der Luft eine bräunlichrothe Farbe anzunehmen, sind mir als Anzeichen dafür erschienen, dass diese Organe auch zu der Erzeugung des Blutfarbstoffes in einem näheren Verhältnisse stehen müssten. [69] Gesammelte Abhandlungen. S. 217. [70] =Froriep='s Neue Notizen. 1845. Nov. No. 780. [71] Archiv 1847. I. 65. Durch die neueren Untersuchungen von =Neumann=, =Bizzozero= und =Waldeyer= ist die Aufmerksamkeit noch auf einen dritten Ort, das =Knochenmark=, gelenkt worden, welchem ähnliche Beziehungen zur Blutbildung zugeschrieben wurden. In der That zeigt das rothe Knochenmark neben ungewöhnlich grossen venösen Gefässen zahlreiche Rundzellen, unter denen neben überwiegend einkernigen auch nicht selten mehrkernige gesehen werden. Dass unter gewissen Umständen auch von hier aus eine Zufuhr zum Blute geschehen mag, ist nicht unwahrscheinlich. Indess scheint mir eine regelmässige Beziehung um so weniger wahrscheinlich, als beim Erwachsenen, wo gerade am meisten ein Bedürfniss zu solcher Einfuhr vorliegt, das Mark der meisten Knochen in Fettgewebe übergeht, und nur gewisse Abschnitte der Spongiosa sich in dem früheren, kleinzelligen Zustande erhalten. Ungleich bedeutungsvoller dagegen könnte das Verhältniss der =Lymphgefässe= zu den Geweben auch für diese Frage werden. Bei manchen Thieren, und gerade bei unserem gewöhnlichen Versuchsthiere, dem Frosche, fehlen Lymphdrüsen eigentlich gänzlich, und wenn man forscht, woher hier die farblosen Blutkörperchen stammen, so kommt man leicht auf dieselbe Antwort, die wir für das Fibrin gegeben haben, nehmlich dass das Gewebe selbst und zwar vorwiegend das Bindegewebe und seine Aequivalente die Quelle enthalte. Alsbald, nachdem ich die Bindegewebskörperchen nachgewiesen hatte, sprach ich die Meinung aus, dass dieselben mit den Anfängen der Lymphgefässe in ähnlicher Weise zusammenhängen, wie die Lymphdrüsen[72], und bald nachher wies ich in einem Falle von congenitaler Makroglossie[73] unmittelbare Uebergänge von Wucherungsheerden der Bindegewebskörperchen zu grossen Lymphgefässen nach. Die schönen Untersuchungen v. =Recklinghausen='s haben diesen Zusammenhang für zahlreiche Orte des Körpers dargethan, nur dass nach der Ansicht dieses Forschers nicht die Bindegewebskörperchen selbst, sondern nur die von ihnen eingenommenen Räume und Kanälchen in offener Verbindung mit den Lymphgefässen stehen, -- eine Differenz, welche mit der früher erörterten Frage zusammenhängt, ob die Wandungen der Höhlen, in welchen sich die Bindegewebskörperchen befinden, zu den in ihnen enthaltenen Zellen gehören, oder nicht (S. 139). Die Beobachtungen =Chrzonszczewski='s über die Füllung der Bindegewebskörperchen und der Lymphgefässe von Hühnern, denen die Ureteren unterbunden sind, mit harnsauren Salzen, selbst die Erfahrungen von =Köster= über den Nabelstrang sprechen sehr zu Gunsten meiner Auffassung, indess will ich dieselbe hier nicht betonen, da es für die Untersuchung über den Ursprung der Lymphe nicht von entscheidender Bedeutung ist, zu welcher von beiden Meinungen man sich bekennt. Besteht überhaupt ein unmittelbarer Zusammenhang, so ist auch eine Ueberwanderung der Bindegewebskörperchen oder ihrer Tochterzellen in den Lymphstrom zulässig. [72] Würzb. Verhandl. 1855. II. 150, 314. Gesammelte Abhandl. S. 136. [73] Archiv VII. 132. Die grösseren Lymphgefässe, welche eigentlich so genannt werden, bestehen, wie die Blutgefässe, aus mehreren Häuten, einer bindegewebigen, mit elastischen Theilen stark durchsetzten Intima, einer muskulösen Media und einer gleichfalls bindegewebigen Adventitia. Die innere Oberfläche ist von einem feinen Plattenepithel überzogen. Die Lymphgefässe sind daher in hohem Maasse contraktil. Bei Versuchen an dem Körper eines Hingerichteten, die ich mit =Kölliker= anstellte[74], fanden wir, dass sich auf elektrische Reizung peripherische Lymphgefässe bis zum Verschwinden ihres Lumens, und zwar auf lange Zeit zusammenzogen. Bei dem Reichthum dieser Lymphgefässe an Klappen kann solchen Contractionen, wie denen gewisser Venen, allerdings ein propulsorischer Einfluss auf den Flüssigkeitsstrom zugesprochen werden. [74] Zeitschrift für wiss. Zoologie. 1851. III. 40. Verfolgt man die Lymphgefässe gegen die Peripherie, so kommt man zu Verästelungen, welche immer enger werden und schliesslich nur noch mikroskopisch erkannt werden können. Von ihnen sind am längsten das centrale Chylusgefäss der Darmzotten und die kleinen Lymphwurzeln im Schwanze der Froschlarve bekannt. Erst durch v. =Recklinghausen= ist in zahlreichen Theilen ein reiches Netz von Lymphbahnen entdeckt worden, welches gar keine andere Wand mehr hat, als ein überaus dünnes und durchsichtiges Plattenepithel, das nur durch künstliche Färbungen, am besten durch Silbernitrat, sichtbar gemacht werden kann. Gerade in bindegewebigen Theilen, und zwar sowohl im weichen, namentlich interstitiellen Bindegewebe, als auch in harten, sehnigen und aponeurotischen Theilen bildet dasselbe zum Theil sehr weite und zahlreiche Canäle von grosser Unregelmässigkeit und Veränderlichkeit der Wandungen. Diese =lymphatischen Capillaren= sind es, welche mit dem Röhrensystem des Bindegewebes und seiner Aequivalente in offener Verbindung stehen und daher für die Abfuhr der Produkte des Bindegewebes die natürlichen Wege darstellen. Gewiss ist es daher unrichtig, wenn man in der Lymphe nur den für die Ernährung der Gewebe unbrauchbaren oder wenigstens unbenutzten Rest der aus den Blutcapillaren transsudirenden Ernährungssäfte sieht. Lymphgefässe sind an manchen Theilen, welche sehr arm an Blutgefässen sind, überaus reichlich, und umgekehrt an manchen Theilen, welche dicht voll von Blutgefässen stecken, sehr spärlich. Ist die Lymphe, wie der Chylus, der ja doch nur eine modificirte Lymphe darstellt, eine zur Bildung und zur Regeneration des Blutes dienende Flüssigkeit, so lässt sich auch erwarten, dass gerade das Bindegewebe, welches überwiegend die Wurzeln der Lymphgefässe und daher die Quellen der Lymphe enthält, einen entscheidenden Einfluss darauf ausübt, und man darf in dem Bestreben, das blosse Communications-Verhältniss der verschiedenen Röhrensysteme festzustellen, nicht übersehen, dass ohne die in demselben befindlichen Zellen diese Röhrensysteme keine Bedeutung mehr haben würden. In den letzten Jahren hat man in der Lymphe immer mehr eine =recrementitielle= Flüssigkeit gesehen, welche die verbrauchten Stoffe in die allgemeine Blutbahn überführt, damit sie von da durch die Secretionsorgane ausgeschieden werden; es ist Zeit, dass wir wenigstens zum Theil zu der Auffassung =Hewson='s von der =plastischen= Natur der Lymphe zurückkehren. Zehntes Capitel. Pyämie und Leukocytose. Vergleich der farblosen Blut- und Eiterkörperchen. Die physiologische Eiterresorption: die unvollständige (Inspissation, käsige Umwandlung) und die vollständige (Fettmetamorphose, milchige Umwandlung). Intravasation von Eiter. Eiter in Lymphgefässen. Die Hemmung der Stoffe in den Lymphdrüsen. Mechanische Trennung (Filtration): Tättowirungsfarben. Mögliches Durchkriechen der Eiterkörperchen. Chemische Trennung (Attraction): Krebs, Syphilis. Die Heizung der Lymphdrüsen und ihre Bedeutung für die Leukocytose. Die (physiologische) digestive und puerperale Leukocytose. Die pathologische Leukocytose (Scrofulose, Typhus, Krebs, Erysipel). Die lymphoiden Apparate: solitäre und Peyersche Follikel des Darms. Tonsillen und Zungenfollikel. Thymus. Milz. Völlige Zurückweisung der Pyämie als morphologisch nachweisbarer Dyscrasie. An die Erwägungen des vorigen Capitels schliesst sich mit eindringlicher Nothwendigkeit die Frage von der =Pyämie= an, und da dies nicht bloss ein Gegenstand von der grössten praktischen Bedeutung ist, sondern derselbe auch zu den wissenschaftlich am meisten streitigen zu rechnen ist, so dürfte es wohl gerechtfertigt sein, näher auf seine Besprechung einzugehen. Was soll man unter Pyämie verstehen? In der Regel hat man sich gedacht, es sei dies ein Zustand, wo das Blut Eiter enthalte. Man hat ihn daher auch geradezu =purulente Infection= oder =Eitervergiftung= genannt. Da aber der Eiter wesentlich durch seine morphologischen Bestandtheile charakterisirt wird, so handelte es sich natürlich darum, im Blute die Eiterkörperchen zu zeigen. Das hat man denn auch redlich versucht, und mancher Beobachter glaubte es geleistet zu haben. Nachdem wir jedoch erfahren haben, dass die farblosen Blutkörperchen in ihrer gewöhnlichen Erscheinung, bei Leuten im besten Gesundheitszustande, den Eiterkörperchen ganz ähnlich sind (S. 183), so fällt damit von vornherein eine wesentliche Voraussetzung dieser Nachweise weg. Um indess einigermaassen Klarheit in den Gegenstand zu bringen, ist es nothwendig, auf die verschiedenen Gesichtspunkte, welche hierbei in Betracht kommen, im Einzelnen einzugehen. Die farblosen Blutkörperchen sind zum Verwechseln den Eiterkörperchen ähnlich, so dass, wenn man in einem mikroskopischen Objecte solche Elemente antrifft, man nie ohne Weiteres mit Sicherheit angeben kann, ob man es mit farblosen Blutkörperchen oder mit Eiterkörperchen zu thun hat[75]. Früherhin hatte man vielfach die Ansicht, dass die Bestandtheile des Eiters im Blute präexistirten, dass der Eiter nur eine Art von Secret aus dem Blute sei, wie etwa der Harn, und dass er auch, wie eine einfache Flüssigkeit, in das Blut zurückkehren könne. Diese Ansicht erklärt die Auffassung, welche in der Lehre von der sogenannten =physiologischen Eiterresorption=, d. h. der Resorption von Eiter zum Zwecke der Heilung, sich so lange erhalten hat. [75] Archiv I. 242. Gesammelte Abhandl. 161, 223, 645. Man stellte sich vor, dass der Eiter von einzelnen Punkten her, an welchen er abgelagert war, wieder in das Blut aufgenommen werden könne, und dass dadurch eine günstige Wendung in der Krankheit eintrete, insofern der aufgenommene Eiter endlich aus dem Körper entfernt werde. Man erzählte, dass bei Kranken mit Eiter im Pleurasacke die Krankheit sich durch eiterigen Harn oder eiterigen Stuhlgang entscheiden könne, ohne dass ein Durchbruch des Eiters von der Pleura her in den Darm oder die Harnwege vorhergegangen sei. Man liess also die Möglichkeit zu, dass durch die circulirenden Flüssigkeiten Eiter in Substanz aufgenommen und weggeführt werden könnte. Späterhin, als die Lehre von der purulenten Infection mehr und mehr aufkam, hat man diesen (vorausgesetzten) Fall unter dem Namen der physiologischen Eiterresorption von der pathologischen unterschieden, und es blieb nur fraglich, wie man die erstere in ihrem günstigen und die letztere in ihrem malignen Verlaufe sich erklären sollte. Diese Angelegenheit erledigt sich einfach dadurch, dass =Eiter als Eiter nie resorbirt wird=. Es gibt keine Form, in der Eiter in Substanz auf dem Wege der Resorption verschwinden könnte; immer sind es die flüssigen Theile des Eiters, welche aufgenommen werden, und daher lässt sich dasjenige, was man Eiterresorption nennt, auf folgende zwei Möglichkeiten zurückführen: Im einen Falle ist der Eiter mit seinen Körperchen zur Zeit der Resorption mehr oder weniger intact vorhanden. Dann wird natürlich in dem Maasse, als Flüssigkeit verschwindet, der Eiter dicker werden. Es ist dies die allbekannte =Eindickung= (=Inspissation=) des Eiters, wodurch dasjenige erzeugt wird, was die Franzosen »pus concret« nennen[76]. Dieses stellt eine dicke Masse dar, welche die Eiterkörperchen in einem geschrumpften Zustande enthält, nachdem nicht bloss die Flüssigkeit zwischen den Eiterkörperchen (das Eiterserum), sondern auch ein Theil der Flüssigkeit, die sich in den Eiterkörperchen befand, verschwunden ist. [76] Archiv I. 175, 181. [Illustration: =Fig=. 72. Eiter. _A_. Eiterkörperchen, _a_ frisch, _b_ mit etwas Wasserzusatz, _c_-_e_ nach Essigsäure-Behandlung, der Inhalt klar geworden, die in der Theilung begriffenen oder schon getheilten Kerne sichtbar, bei _e_ mit leichter Depression der Oberfläche. _B_. Kerne der Eiterkörperchen bei Gonorrhoe: _a_ einfacher Kern mit Kernkörperchen, _b_ beginnende Theilung, Depression des Kerns, _c_ fortschreitende Zweitheilung, _d_ Dreitheilung. _C_. Eiterkörperchen in dem natürlichen Lagerungsverhältniss zu einander. Vergr. 500.] Der Eiter besteht seinem Haupttheile nach aus kleinen, farblosen Rundzellen, welche im gewöhnlichen Zustande eine dicht an der anderen liegen (Fig. 72, _C_.) und zwischen welchen sich eine geringe Masse von Intercellularflüssigkeit (=Eiterserum=) befindet. Die Eiterkörperchen selbst enthalten gleichfalls eine grosse Menge von Wasser und sind deshalb von sehr geringem, specifischem Gewichte; fast jeder Eiter, mag er auch im frischen Zustande sehr dick aussehen, hat doch einen so grossen Antheil von Wasser, dass er bei der Eindampfung viel mehr verliert, als eine entsprechende Quantität von Blut. Letzteres macht nur deshalb den Eindruck der grösseren Wässrigkeit, weil es sehr viel freie intercellulare, aber relativ wenig intracellulare Flüssigkeit besitzt, während umgekehrt beim Eiter mehr Wasser innerhalb der Zellen, weniger ausserhalb derselben befindlich ist. Wenn nun eine Resorption stattfindet, so verschwindet zunächst der grösste Theil der intercellularen Flüssigkeit und die Eiterkörperchen rücken näher aneinander; bald verschwindet aber auch ein Theil der Flüssigkeit aus den Zellen selbst, und in demselben Maasse werden diese kleiner, unregelmässiger, eckiger, höckriger, bekommen die allersonderbarsten Formen, liegen dicht aneinander gedrängt, brechen das Licht stärker, weil sie mehr feste Substanz enthalten, und sehen gleichmässiger aus (Fig. 73). [Illustration: =Fig=. 73. Eingedickter, käsiger Eiter. _a_ die geschrumpften, verkleinerten, etwas verzerrten und mehr homogen und solid aussehenden Körperchen. _b_ ähnliche mit Fettkörnchen. _c_ natürliches Lagerungsverhältniss zu einander. Vergröss. 300.] Diese Art der Eindickung ist keineswegs ein so seltener Vorgang, wie man oft annimmt, sondern im Gegentheil ausserordentlich häufig, und fast noch mehr wichtig als häufig. Es ist dies nehmlich einer von den Vorgängen, die man in der neueren Zeit alle unter den Begriff des Tuberkels subsumirt hat, und von denen namentlich durch =Reinhardt= gezeigt ist, dass sie zu einem sehr beträchtlichen Theile wirklich auf Eiter, also auf Entzündungsproduct zurückzuführen sind. Späterhin werden wir sehen, dass diese Erfahrungen zu falschen Schlüssen über den Tuberkel selbst verwerthet worden sind; aber dass durch Inspissation Entzündungsproducte in Dinge, die man, wenn auch fälschlich, Tuberkel nennt, umgewandelt werden können, ist unzweifelhaft. Gerade in der Geschichte der Lungentuberculose spielt dieser Act eine sehr grosse Rolle. Man denke sich die Lungenalveolen mit Eiter vollgestopft und lasse nun Alveole für Alveole die Inspissation ihres Inhaltes eingehen, so bekommt man jene käsigen Hepatisationen, welche man gewöhnlich unter dem Namen der =Tuberkel-Infiltration= schildert. Diese unvollständige Resorption, wo nur die flüssigen Bestandtheile resorbirt werden, lässt die Masse der festen Bestandtheile als Caput mortuum, als abgestorbene, nicht mehr lebensfähige Masse in dem Theile liegen[77]. Ich habe daher dem Vorgange den Namen der =käsigen Metamorphose= (Tyrosis) beigelegt. Eine solche Art von Eindickung ist es, welche in grossem Maassstabe bei der unvollständigen Resorption pleuritischer Exsudate eintritt, wo sehr grosse Lager von bröckliger Substanz im Pleurasacke zurückbleiben; ebenso im Umfange der Wirbelsäule bei Spondylarthrocace, in kalten, zumal parostealen Abscessen u. s. w. In allen diesen Fällen ist die Resorption, sobald die Flüssigkeit verschwunden ist, zu Ende. Darin beruht die schlimme Bedeutung dieser Vorgänge. Die festen Theile, welche nicht resorbirt werden, bleiben entweder als solche liegen, oder sie können später erweichen, werden aber dann gewöhnlich nicht mehr Object der Resorption, sondern es geht meist aus ihnen eine Ulceration hervor. Auf alle Fälle ist das, was resorbirt wurde, kein Eiter, sondern eine einfache Flüssigkeit, welche überwiegend viel Wasser, etwas Salze und sehr wenig eiweissartige Bestandtheile enthalten mag, und es kann kein Zweifel sein, dass hier eine der unvollständigsten Formen der Resorption vorliegt. [77] Handb. der spec. Pathol. u. Ther. I. 282-284. Archiv XXXIV. 69. Geschwülste II. 593. [Illustration: =Fig=. 74. Eingedickter, zum Theil in der Auflösung begriffener, hämorrhagischer Eiter aus Empyem. _a_ die natürliche Masse, körnigen Detritus, geschrumpfte Eiter- und Blutkörperchen enthaltend. _b_ dieselbe Masse, mit Wasser behandelt; einzelne körnige, entfärbte Blutkörperchen sind deutlich geworden. _c_ und _d_ nach Zusatz von Essigsäure. Vergr. 300, bei _d_ 520.] Die zweite Form von Eiterresorption ist diejenige, welche den günstigsten Fall constituirt, wo der Eiter wirklich verschwindet und nichts Wesentliches von ihm übrig bleibt. Aber auch hier wird der Eiter nicht als Eiter resorbirt, sondern er macht vorher eine fettige Metamorphose durch; jede einzelne Zelle lässt fettige Theile in sich frei werden, zerfällt, und zuletzt bleibt nichts weiter übrig, als die Fettkörner und die Zwischenflüssigkeit. Dann ist also überhaupt keine Zelle und kein Eiter mehr vorhanden; an ihre Stelle ist eine emulsive Masse, eine Art von Milch getreten, welche aus Wasser, etwas eiweissartigen Stoffen und Fett besteht, und in welcher man sogar mehrfach Zucker nachgewiesen hat, so dass dadurch eine noch grössere Analogie mit wirklicher Milch entsteht. Diese =pathologische Milch= ist es, welche nachher zur Resorption gelangt, also wieder kein Eiter, sondern Fett, Wasser oder Salze[78]. [78] Archiv I. 182. [Illustration: =Fig=. 75. In der fettigen Rückbildung (Fettmetamorphose) begriffener Eiter. _a_ beginnende Metamorphose. _b_ Fettkörnchenzellen mit noch deutlichen Kernen. _c_ Körnchenkugel (Entzündungskugel). _d_ Zerfall der Kugel. _e_ Emulsion, milchiger Detritus. Vergr. 350.] Das sind die Vorgänge, welche man »physiologische Eiterresorption« nennen kann, eine Resorption, wo nicht Eiter als solcher resorbirt wird, sondern entweder nur seine flüssigen Bestandtheile, oder die durch eine innere Umwandlung bedeutend veränderte Substanz. Es gibt nun allerdings einen Fall, wo Eiter in Substanz das Object nicht gerade einer Resorption, aber wenigstens einer =Intravasation= werden und wo dieser intravasirte Eiter innerhalb der Gefässe fortbewegt werden kann, der nehmlich, wo ein Blutgefäss verletzt oder durchbrochen wird, und durch die Oeffnung Eiter in sein Inneres gelangt. Es kann ein Abscess an einer Vene liegen, die Wand derselben durchbrechen, und seinen Inhalt in ihre Lichtung entleeren[79]. Noch leichter geschieht ein solcher Uebergang an Lymphgefässen, welche in offene Abscesse münden. Es fragt sich also nur, in wieweit man berechtigt ist, diesen Fall als einen häufigen zu setzen. Für die Venen hat man seit Decennien diese Möglichkeit ziemlich beschränkt; von einer Resorption des Eiters in Substanz durch dieselben ist man mehr und mehr zurückgekommen, aber von der Resorption durch Lymphgefässe spricht man noch ziemlich häufig, und man hat in der That manche Veranlassung dazu. [79] Gesammelte Abhandl. 666. Es ist dabei ziemlich gleichgültig, ob der Eiter in Lymphgefässe wirklich von aussen hereinkommt, oder, was Andere annehmen, ob er durch Entzündung in den Lymphgefässen entsteht; schliesslich ist die Frage immer die, in wie weit ein mit Eiter gefülltes Lymphgefäss im Stande ist, eine Entleerung seines Inhaltes in den circulirenden Blutstrom zu Stande zu bringen und die eigentliche Pyämie zu setzen. Eine solche Möglichkeit muss in der Regel geleugnet werden, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde. Alle Lymphgefässe, welche in der Lage sind, eine solche Aufnahme zu erfahren, sind peripherische, mögen sie von äusserlichen oder innerlichen Theilen entspringen, und sie gelangen erst nach einem längeren Laufe allmählich zu den Blutgefässen. Bei allen finden sich Unterbrechungen durch Lymphdrüsen; und seitdem man weiss, dass die Lymphgefässe durch die Drüsen nicht als weite, gewundene und verschlungene Kanäle hindurchgehen (S. 208), sondern, nachdem sie sich in feine Aeste aufgelöst haben, in Räume eintreten, welche zum grossen Theil mit zelligen Elementen gefüllt sind, so ist es an sich fraglich, ob Eiterkörperchen eine Lymphdrüse passiren können. Es ist dies ein sehr wesentlicher Punkt, und doch übersieht man ihn sonderbarer Weise gewöhnlich, obwohl die tägliche Erfahrung des praktischen Arztes Material genug zu seiner Erledigung bietet. =Frey= glaubt neuerlichst nach den Resultaten künstlicher Injectionen schliessen zu können, dass auch Zellen durch die Lymphdrüsen hindurch fliessen könnten. Indess stimmt dies wenig mit der Erfahrung am Lebenden, welche vielmehr eine Hemmung körperlicher Partikeln in den Lymphdrüsen lehrt. Wir haben ein sehr hübsches Experiment in der Sitte unserer niederen Bevölkerung, sich die Arme oder auch wohl andere Theile tättowiren zu lassen. Wenn ein Handwerker oder ein Soldat auf seinen Arm eine Reihe von Einstichen machen lässt, die zu Buchstaben, Zeichen oder Figuren geordnet werden, so wird fast jedesmal bei der grossen Zahl der Stiche ein Theil der oberflächlichen Lymphgefässe verletzt. Es ist ja gar nicht anders möglich, als dass, wenn man durch Nadelstiche ganze Hautbezirke umgrenzt, wenigstens einzelne Lymphgefässe getroffen werden. Darauf wird eine Substanz eingeschmiert, welche in der Körperflüssigkeit unlöslich ist, Zinnober, Kohlenpulver oder dergl., und welche, indem sie in den Theilen liegen bleibt, eine dauerhafte Färbung derselben bedingt. Allein bei dem Einstreichen gelangt ein gewisser Theil der Partikelchen in Lymphgefässe, wird trotz seiner Schwere vom Lymphstrome fortbewegt und gelangt bis zu den nächsten Lymphdrüsen wo er abfiltrirt wird. Man sieht nie, dass sich Partikeln bis über die Lymphdrüsen hinaus bewegen und an entferntere Punkte gelangen, dass sie sich etwa im Parenchym innerer Organe ablagern. Immer in der nächsten Drüsenreihe und zwar in der den eintretenden Lymphgefässen zugewendeten Rindenschicht derselben bleibt die Masse stecken. Untersucht man die infiltrirten Drüsen, so überzeugt man sich leicht, dass die Grösse vieler der abgelagerten Partikelchen geringer ist, als die Grösse auch des kleinsten Eiterkörperchens. [Illustration: =Fig=. 76. Durchschnitt durch die Rinde einer Axillardrüse bei Tättowirung der Haut des Arms. Man sieht von der Rinde her ein grosses eintretendes Gefäss, das sich leicht schlängelt und in feine Aeste auflöst. Ringsumher Follikel, die grossentheils mit Bindegewebe gefüllt sind. Die dunkle feinkörnige Masse stellt den abgelagerten Zinnober dar. Vergr. 80.] In dem Object, nach welchem die beigegebene Zeichnung (Fig. 76) angefertigt wurde, ist zufälliger Weise der Punkt getroffen, wo das Lymphgefäss in die Drüse eintritt, und von wo es zunächst innerhalb der Bindegewebsbalken, welche sich von der Capsel aus zwischen die Follikel erstrecken, schraubenförmig fortgeht, um sich in seine Aeste aufzulösen. Da, wo diese in die benachbarten, hier freilich zum grossen Theile mit Bindegewebe erfüllten (indurirten) Follikel übergehen, haben sie die ganze Masse des Zinnobers ausgeschüttet, so dass dieser noch zum Theil innerhalb der Zwischenbalken (Trabekel) liegt, zum Theil jedoch in die Follikel selbst eingedrungen ist. Das Präparat stammt von dem Arme eines Soldaten, der sich 1809 die Figuren hatte einreiben lassen, und dessen Tod fast 50 Jahre später erfolgt ist. Weiter als bis in die äussersten Rindenschichten ist nichts gekommen; schon die nächste Follikelreihe enthält nichts mehr. Die Partikelchen sind aber so klein und der Mehrzahl nach im Verhältnisse zu den Zellen der Drüse so fein, dass sie mit Eiterkörperchen gar nicht verglichen werden können. Wo solche Körnchen nicht durchgehen, wo so minimale Partikelchen eine Verstopfung machen, da würde es etwas kühn sein, zu denken, dass die relativ grossen Eiterkörperchen durchkommen könnten. [Illustration: =Fig=. 77. Das mit Zinnober, nach Tättowirung des Armes, gefüllte Reticulum aus einer Axillardrüse (Fig. 76). _a_ ein Theil eines interfolliculären Balkens mit einem Lymphgefässe; _b_, ein in den Follikel tretender stärkerer Ast; _c_, _c_ die anastomosirenden, kernhaltigen Netze; die dunklen Körner sind Zinnoberpartikelchen. Vergr. 300.] Allerdings kann man sich noch auf eine Eigenschaft der Eiterkörperchen berufen, auf welche zuerst v. =Recklinghausen= die allgemeine Aufmerksamkeit gerichtet hat; ich meine ihre Fähigkeit zu Gestalt- und Ortsveränderungen. Man kann die Möglichkeit nicht bestreiten, dass eine Zelle, welche feine Fortsätze aussenden und allmählich ihren ganzen Körper in diese Fortsätze nachziehen kann, sich durch so feine Oeffnungen hindurchzwängen mag, dass sie in ihrer gewöhnlichen Gestalt, bei ihrem gewöhnlichen Durchmesser immer von denselben angehalten werden würde. Und so könnte ein »contraktiles« Eiterkörperchen aus dem Gewebe in ein Lymphgefäss kriechen, mit der Lymphe in eine Lymphdrüse geflösst werden und hier durch die engen Spalten hindurchkriechen, um in dem austretenden Lymphgefässe wieder zum Vorschein zu kommen. Das ist denkbar, aber die Erfahrung spricht dagegen. Die Lymphdrüsen filtriren die Eiterkörperchen ab. Eine Einrichtung dieser Art, wodurch in den Lymphdrüsen der offene Strom der Flüssigkeit unterbrochen und die gröberen Partikelchen in einer ganz mechanischen Weise zurückgehalten werden, lässt begreiflicher Weise nicht leicht eine andere Form der Lymphresorption von der Peripherie her zu, als die von einfachen Flüssigkeiten. Freilich würde man falsch gehen, wenn man die Thätigkeit der Lymphdrüsen darauf beschränken wollte, dass sie, wie Filtren, zwischen die Abschnitte der Lymphgefässe eingeschoben sind. Offenbar haben sie noch eine andere Bedeutung, indem die Drüsensubstanz unzweifelhaft von der flüssigen Masse der Lymphe gewisse Bestandtheile anzieht, in sich aufnimmt, zurückhält und dadurch auch die chemische Beschaffenheit der Flüssigkeit alterirt, so dass diese um so mehr verändert aus der Drüse hervortritt, als zugleich angenommen werden muss, dass die Drüse gewisse Bestandtheile an die Lymphe abgibt, welche vorher in derselben nicht vorhanden waren. Ich will hier nicht auf minutiöse Verhältnisse eingehen, da die Geschichte jeder =bösartigen Geschwulst= die besten Beispiele für diesen Satz liefert. Wenn eine Achseldrüse krebsig wird, nachdem die Milchdrüse vorher krebsig erkrankt war, und wenn längere Zeit hindurch bloss die Achseldrüse krank bleibt, ohne dass die folgende Drüsenreihe oder irgend ein anderes Organ vom Krebs befallen wird, so können wir uns dies nicht anders vorstellen, als dass die Achseldrüse die schädlichen, von der Milchdrüse her aufgenommenen Bestandtheile sammelt, dadurch eine Zeit lang dem Körper einen Schutz gewährt, am Ende aber insufficient wird, ja vielleicht späterhin selbst eine neue Quelle selbständiger Infection für den Körper darstellt, indem von den kranken Theilen der Drüse aus die weitere Verbreitung des giftigen Stoffes stattfinden kann. Ebenso lehrreiche Beispiele liefert die Geschichte der =Syphilis=, wo der Bubo eine Zeit lang eine Ablagerungsstätte des Giftes werden kann, so dass die übrige Oekonomie in einer verhältnissmässig geringen Weise afficirt wird. Wie =Ricord= zeigte, findet sich die virulente Substanz gerade im Innern der eigentlichen Drüsensubstanz, während der Eiter im Umfange des Bubo frei davon ist; nur so weit als die Theile mit der zugeführten Lymphe in Contact kommen, nehmen sie den virulenten Stoff in sich auf. Wenden wir diese Erfahrungen auf die Eiterresorption an, so kann man selbst in dem Falle, dass wirklich Eiter in Lymphgefässe gelangt, durchaus nicht als nächste und nothwendige Folge davon eine Inficirung des Blutes durch eiterige Bestandtheile erschliessen; vielmehr wird wahrscheinlich innerhalb der Drüse eine Retention der Eiterkörperchen stattfinden, und auch die Flüssigkeiten, welche durch die Drüse hindurch gelangen, werden während des Durchganges einen grossen Theil ihrer schädlichen Eigenschaften verlieren. Secundäre Drüsen-Anschwellungen treten in verschiedenen Formen nach peripherischen Infectionen auf. Wie will man sie anders erklären, als dadurch, dass jede inficirende (miasmatische) Substanz, welche als eine wesentlich fremdartige oder, wenn ich mich so ausdrücken soll, feindselige für den Körper zu betrachten ist, indem sie in die Substanz der Drüse eindringt, von den Zellen der Drüse angesogen wird und daran jenen Zustand von mehr oder weniger ausgesprochener Reizung hervorbringt, der sehr häufig bis zur wirklichen Entzündung der Drüse sich steigert? Wir werden noch später auf den Begriff der Reizung etwas genauer zurückkommen, und ich will hier nur so viel hervorheben, dass nach meinen Untersuchungen =die Reizung der Lymphdrüsen darin besteht, dass dieselben in eine vermehrte Zellenbildung gerathen, dass ihre Follikel sich vergrössern und nach einiger Zeit viel mehr Zellen enthalten als vorher=. Im Verhältnisse zu diesen Vorgängen geschieht dann auch eine Vermehrung der farblosen Elemente im Blute. Jede bedeutende acute Drüsenreizung hat eine schnelle Zunahme der Lymphkörperchen im Blute zur Folge; jede Krankheit, welche Drüsenreizung mit sich bringt, wird daher auch den Effect haben, das Blut mit grösseren Mengen von farblosen Blutkörperchen zu versehen, mit anderen Worten, einen leukocytotischen Zustand zu setzen. Hat man nun schon im Voraus die Ansicht, es sei Eiter resorbirt worden, und der Eiter sei die Ursache der eingetretenen Störungen, so ist nichts leichter, als Zellen im Blute nachzuweisen, welche wie Eiterkörperchen aussehen, oft in so grosser Menge, dass man ihre Zusammenhäufungen (Fig. 67) in der Leiche wie kleine Eiterpunkte mit blossem Auge sehen kann, oder dass sie grosse, zusammenhängende oder körnige Lager an der unteren Seite der Speckhaut des Aderlassblutes bilden (Fig. 69). Scheinbar ist dieser Beweis so überzeugend als möglich. Man hat die Voraussetzung, dass Eiter in's Blut gelangt sei; man untersucht das Blut und findet wirklich Elemente, die vollkommen aussehen wie Eiterkörperchen, und zwar in sehr grosser Zahl. Selbst wenn man zugesteht, dass farblose Blutkörperchen wie Eiterkörperchen aussehen können, ist doch der Schluss sehr verführerisch, wie man ihn zu wiederholten Malen in der Geschichte der Pyämie gemacht hat, dass die im Blute aufgefundenen Zellen ihrer grossen Menge wegen doch nicht als farblose Blutkörperchen angesehen werden könnten, sondern Eiterkörperchen sein müssten. Diesen Schluss machte vor Jahren =Bouchut= bei Gelegenheit einer Pariser Epidemie von Puerperal-Fieber, welches er damals für eine Pyämie hielt, neuerlichst aber auf Grund derselben Beobachtung für eine acute Leukämie erklärte. Das ist ferner derselbe Schluss, den =Bennett= in der zwischen uns viel discutirten Prioritätssache gemacht hat, da er einen Fall von unzweifelhafter Leukämie einige Monate früher beobachtete, ehe ich meinen ersten Fall sah, und da er aus der »unerhört« grossen Zahl der farblosen Körperchen den Schluss zog, es handele sich um eine »Suppuration des Blutes«[80]. Freilich war dieser Schluss nicht originell, sondern basirte sich auf die früher (S. 188) erwähnte Hämitis von =Piorry=, der sich dachte, dass das Blut selbst sich entzünde und in sich Eiter erzeuge, was man nachher in der Wiener Schule =spontane= Pyämie oder =Eitergährung= genannt hat. [80] Vergl. über die Prioritätsfrage mein Archiv V. 45, 77. VII. 174, 565. Alle diese Irrthümer sind hervorgegangen aus dem Umstande, dass man eine so ungeheuer grosse Zahl von farblosen Blutkörperchen fand. Heutzutage ist dieser Befund eben so einfach vom Standpunkte der Hämatopoëse aus zu erklären, wie er früher allein erklärlich schien vom Standpunkte der Pyämie aus. Die Reizung der Lymphdrüsen erklärt ohne alle Schwierigkeit die Vermehrung der farblosen, eiterähnlichen Zellen im Blute, und zwar in allen Fällen, nicht bloss in denen, wo man eine Pyämie erwartete, sondern auch in denen, wo man sie nicht erwartete, wo jedoch das Blut dieselbe Masse von farblosen Körperchen zeigt, wie in der eigentlichen, dem klinischen Begriffe entsprechenden Pyämie. So ergibt sich, dass jede Mahlzeit einen gewissen Reizungszustand in den Gekrösdrüsen setzt, indem die Chylus-Bestandtheile, die denselben zugeführt werden, einen physiologischen Reiz für dieselben darstellen. Die Milch, welche wir trinken, das Fett unserer Suppen, die verschiedenen, feiner vertheilten Fette und Oele in unseren festeren Speisen gelangen als kleinste Kügelchen in die Chylusgefässe und verbreiten sich eben so, wie der Zinnober, in den Drüsen; aber die kleinsten Fettkörnchen dringen nach einiger Zeit durch die Drüse hindurch. Für solche Körper besteht also noch eine wirkliche Permeabilität der Drüsengänge, aber auch sie werden eine Zeit lang zurückgehalten. Immer dauert es lange, ehe nach einer Mahlzeit die Gekrösdrüsen das Fett wieder völlig los werden, und es geschieht das Hindurchschieben der Massen offenbar unter einem verhältnissmässig grossen Drucke. Dabei beobachtet man zugleich eine Vergrösserung der Lymphdrüse, und ebenso nach jeder Mahlzeit eine Zunahme in der Zahl der farblosen Körperchen im Blute, eine =physiologische Leukocytose=, aber keine Pyämie. In dem Maasse, als eine =Schwangerschaft= vorrückt, als die Lymphgefässe am Uterus sich erweitern, als der Stoffwechsel in der Gebärmutter mit der Entwickelung des Fötus zunimmt, vergrössern sich die Lymphdrüsen der Inguinal- und Lumbalgegend erheblich, zuweilen so beträchtlich, dass, wenn wir sie zu einer anderen Zeit fänden, wir sie als entzündet betrachten würden. Diese Vergrösserung führt dem Blute auch mehr neue Partikelchen zelliger Art zu, und so steigt von Monat zu Monat die Zahl der farblosen Körperchen. Zur Zeit der Geburt kann man fast bei jeder Puerpera, mag sie pyämisch sein oder nicht, in dem defibrinirten Blute die farblosen Körperchen ein eiterartiges Sediment bilden sehen. Auch dies ist eine physiologische Form, welche fern davon ist, eine pyämische zu sein. Wenn man sich aber gerade eine Puerpera aussucht, welche Krankheits-Erscheinungen darbietet, die mit dem Bilde der Pyämie übereinstimmen, dann ist nichts leichter, als diese vielen farblosen, mehrkernigen Zellen zu finden, und sie für jene Eiterkörperchen auszugeben, welche nach der Voraussetzung gerade die Pyämie constatiren sollen. Dies sind Trugschlüsse, welche aus unvollständiger Kenntniss des normalen Lebens und der Entwickelung resultiren. So lange man sich bloss an die pyämischen Erfahrungen hält, so lange kann dies Alles erscheinen wie ein grosses und neues Ereigniss, und man kann sich berechtigt halten, wenn man das Blut einer Wöchnerin untersucht, zu schliessen, sie habe schon die Pyämie, bevor die pyämischen Symptome auftreten. Aber man mag untersuchen, wann man will, so wird man stets etwas von Leukocytose finden, gerade so, wie es schon seit langer Zeit bekannt ist, dass sich bei Schwangeren sehr gewöhnlich eine Speckhaut bildet, weil das Blut gewöhnlich mehr von einem langsamer gerinnenden Fibrin zugeführt bekommt (Hyperinose). Es erklärt sich dies durch den vermehrten Stoffwechsel und die, entzündlichen Vorgängen so nahe stehenden Veränderungen im Uterinsystem, welche mit einer gewissen Reizung der zunächst damit in Verbindung stehenden Lymphdrüsen vergesellschaftet sind[81]. [81] Verhandl. der Gesellschaft für Geburtshülfe in Berlin. 1848. III. 174. Gesammelte Abhandl. 760, 777. Gehen wir einen kleinen Schritt weiter in dies pathologische Gebiet hinein, so treffen wir leukocytotische Zustände in der ganzen Reihe aller der Erkrankungen, welche mit Drüsenreizung complicirt sind, und bei welchen die Reizung nicht zu einer Zerstörung der Drüsensubstanz führt. Im Verlaufe einer Scrofulosis, bei deren einigermaassen ungünstigem Verlaufe die Drüsen zu Grunde gehen, sei es durch Ulceration, sei es durch käsige Eindickung, Verkalkung u. s. f., kann eine vermehrte Aufnahme von Elementen in das Blut nur so lange stattfinden, als die gereizte Drüse überhaupt noch leistungsfähig ist oder existirt; sobald aber die Drüse abgestorben, käsig geworden oder zerstört ist, so hört auch die Bildung von Lymphzellen und damit die Leukocytose auf. Jedesmal dagegen, wo eine mehr acute Form von Störung besteht, welche mit entzündlicher Schwellung der Drüsen verbunden ist, findet eine Vermehrung der farblosen Körperchen im Blute Statt. So im Typhus, wo so ausgedehnte markige Schwellungen der Unterleibsdrüsen auftreten, so bei Krebskranken, wenn Reizung der Lymphdrüsen eintritt, so im Verlaufe jener Prozesse, welche man als Eruptionen des malignen Erysipels bezeichnet, und welche so frühzeitig schon mit Drüsenanschwellung verbunden zu sein pflegen. Das ist der Sinn dieser Vermehrung der farblosen Elemente, die zuletzt immer zurückführt auf die vermehrte Entwickelung lymphatischer Gebilde innerhalb der gereizten Drüsen. Es ist nun von Wichtigkeit, darauf hinzuweisen, dass man gegenwärtig den Begriff der Lymphdrüsen ungleich weiter ausdehnt, als es bis vor Kurzem geschehen ist. Erst die neueren histologischen Untersuchungen haben gezeigt, dass ausser den gewöhnlichen bekannten Lymphdrüsen, die eine gewisse Grösse und Selbständigkeit haben, eine grosse Menge von kleineren Einrichtungen im Körper vorhanden ist, welche ganz denselben Bau besitzen, welche aber nicht so massenhafte Zusammenordnungen von lymphatischen Theilen darstellen, wie wir sie in einer Lymphdrüse finden. Dahin gehören im Besonderen die =Follikel des Darms=, sowohl die solitären, als die Peyerschen. Ein Peyerscher Haufen ist nichts weiter, als die flächenartige Ausbreitung einer Lymphdrüse; die einzelnen Follikel des Haufens entsprechen, ebenso wie die Solitärfollikel des Digestionstractus, den einzelnen Follikeln einer Lymphdrüse, nur dass die Darmfollikel, wenigstens beim Menschen, in einfacher, die Lymphdrüsenfollikel in mehrfacher Lage über einander angeordnet sind. Die solitären und Peyerschen Drüsen haben also gar nichts gemein mit den gewöhnlichen (Lieberkühnschen) Drüsen, welche durch offene Mündungen nach dem Darm hin secerniren; sie haben vielmehr die Stellung und offenbar auch die Funktion der Lymphdrüsen. Gegen die Darmhöhle hin sind sie völlig geschlossen, und wenn sie secerniren, so thun sie es nur in der Richtung der Lymphgefässe, welche aus ihnen hervorgehen. Diese sind ihre Ausführungsgänge. In dieselbe Kategorie gehören die analogen Apparate, die wir im oberen Theile des Digestionstractus in so grossen Haufen zusammengeordnet finden, wo sie die =Tonsillen=, die =Follikel der Zungenwurzel= und die grosse =Pharynxdrüse= bilden. Während im Darm die Follikel in einer ebenen Fläche liegen, findet sich hier die Fläche eingefaltet und die einzelnen Follikel um die Einfaltung oder Einstülpung herumliegend. Früher nannte man gerade die Einfaltungen oder Taschen, wie sie an den meisten Zungenfollikeln einfach, an den Tonsillen mehrfach und verästelt vorkommen, Follikel (Bälge), und sah dem entsprechend die Oeffnungen der Taschen als Drüsenmündungen an. Allein die Taschen sind von einer Fortsetzung der benachbarten Schleimhaut und deren Epithel continuirlich ausgekleidet; auch hier haben die eigentlichen, lymphatischen Follikel keine nach aussen mündenden Ausführungsgänge. Sie liegen unter der geschlossenen Oberfläche. In dieselbe Kategorie gehört weiterhin die =Thymusdrüse=, bei welcher die Anhäufung der Follikel einen noch höheren Grad erreicht, als in den Lymphdrüsen. Während viele Lymphdrüsen noch einen Hilus haben, wo keine Follikel liegen, so hört dies in der Thymusdrüse auf. Mit diesem Mangel eines Hilus hängt zusammen, dass man an der Brustdrüse keine erheblichen Verbindungen mit Lymphgefässen kennt. Dahin gehört endlich ein sehr wesentlicher Bestandtheil der Milz, nehmlich die =Malpighischen oder weissen Körper= (=Follikel=), die bei verschiedenen Leuten in ebenso verschiedener Menge durch das Milzparenchym zerstreut sind, wie die solitären und Peyerschen Follikel im Darm. Auf einem Durchschnitte durch die Milz sehen wir vom Hilus her die Trabekeln mit den Gefässen gegen die Capsel ausstrahlen, in langen Zügen von der rothen Milzpulpe umlagert, welche hier und da unterbrochen wird durch bald mehr bald weniger zahlreiche weisse Körper von grösserem oder kleinerem Umfange, einzeln oder zusammengesetzt, zuweilen fast traubenförmig. Der Bau dieser Milzfollikel, welche an den Scheiden der Arterien sitzen, stimmt in der Hauptsache mit dem der Lymphdrüsen-Follikel. Wir können daher diese ganze Reihe von Apparaten als mehr oder weniger gleichwerthig mit den eigentlichen Lymphdrüsen betrachten; eine Anschwellung der Milz oder der Darmfollikel wird unter Umständen eine ebenso reichliche Zufuhr von farblosen Blutkörperchen liefern können, wie dies bei einer Anschwellung einer Lymphdrüse der Fall ist. Diese Möglichkeit erklärt es, dass in der Cholera, wo die Veränderung der solitären und Peyerschen Follikel im Darm besonders hervortritt, während die Schwellung der übrigen Lymphdrüsen viel weniger ausgebildet ist, ausserordentlich frühzeitig eine bedeutende Vermehrung der farblosen Blutkörperchen eintritt[82]. Dies erklärt es ferner, warum bei solchen Pneumonien, die mit grossen Schwellungen der Bronchialdrüsen verbunden sind, gleichfalls eine Vermehrung der farblosen Blutkörperchen stattfindet, welche in anderen Formen der Pneumonie, die nicht mit einer solchen Schwellung verbunden sind, fehlt. Je mehr die Reizung von der Lunge auf die Lymphdrüsen übergreift, je reichlicher von der Lunge schädliche Flüssigkeiten den Drüsen zugeführt werden, um so deutlicher erleidet das Blut diese besondere Veränderung. [82] Medic. Reform. 1848. No. 12. u. 15. Gaz. méd. de Paris. 1849. No. 3. Wenn man auf diese Weise die verschiedenen Krankheiten durchmustert, so lässt sich in der That vom morphologischen Standpunkte aus gar nichts auffinden, was auch nur entfernt die Annahme eines Zustandes, der Pyämie zu nennen wäre, rechtfertigte. In den überaus seltenen Fällen, wo Eiter in Venen durchbricht, können unzweifelhaft dem Blute eiterige Bestandtheile zugeführt werden, allein hier ist die Einfuhr von Eiter meist eine einmalige. Der Abscess entleert sich, und ist er gross, so geschieht eher eine Extravasation von Blut, als dass eine anhaltende Pyämie zu Stande käme. Vielleicht wird es einmal gelingen, im Verlaufe eines solchen Vorganges Eiterkörperchen mit bestimmten Charakteren im Blute aufzufinden; bis jetzt steht aber die Sache so, dass man mit grösster Bestimmtheit behaupten kann, es sei Niemandem gelungen, mit Gründen, die auch nur einer milden Beurtheilung genügen könnten, die Anwesenheit einer morphologischen Pyämie darzuthun. Es muss daher dieser Name als Bezeichnung für eine durch die Beimischung bestimmter sichtbarer Gebilde hervorgebrachte Blutveränderung gänzlich aufgegeben werden. Eilftes Capitel. Infection und Metastase. Pyämie und Phlebitis. Capillar-Phlebitis und Stase. Thrombosis: parietale und obstruirende; adhäsive und suppurative. Puriforme Erweichung der Thromben: Detritus des Fibrins, Auflösung der rothen Körperchen. Die wahre und falsche Phlebitis. Eitercysten des Herzens. Embolie. Bedeutung der fortgesetzten Thromben. Lungenmetastasen. Zertrümmerung der Emboli. Verschiedener Charakter der Metastasen. Endocarditis und capilläre Embolie. Latente Pyämie. Inficirende Flüssigkeiten. Infectiöse Erkrankung der lymphatischen Apparate und der Milz, der Secretionsorgane und der Muskeln. Chemische Substanzen im Blute: Silbersalze, Arthritis, Kalkmetastasen. Ichorrhämie. Fremde Körperchen in der Blutmischung: Zellen, Hämatozoen, Pilze, Körner. Pyämie als Sammelname. Ich habe in dem vorangehenden Capitel die Lehre von der Pyämie in Beziehung auf die im Blute vorkommenden zelligen Gebilde einer genaueren Betrachtung unterworfen, weil sich gerade daran die Quelle mancher, auch für andere Gebiete der Pathologie lehrreicher Irrthümer und eine richtigere Methode der Beobachtung und Beurtheilung besonders gut darlegen lässt. Wenn ich nochmals darauf zurückkomme, um die geschichtliche Entwickelung dieser Lehre und ihre thatsächlichen Grundlagen zu erörtern, so geschieht es nicht bloss der entscheidenden Wichtigkeit wegen, welche diese Lehre für die Auffassung der Metastasen und aller metastasirenden Dyscrasien hat, sondern auch, weil ich mich berechtigt erachte, gerade in einem Gebiete, in welchem ich viele Jahre lang mit eigenen Untersuchungen beschäftigt war, ein beglaubigtes Urtheil aussprechen zu können. Bis in die neueste Zeit hat man ganz besondere Beziehungen der Pyämie zu Gefässaffectionen und namentlich zu Gefässentzündungen[83] angenommen. Namentlich seitdem man sich genöthigt sah, die Ansicht aufzugeben, wonach die Eitermasse, welche man in der Vene zu sehen glaubte, durch eine Oeffnung der Wand oder eine klaffende Lichtung in dieselbe eingedrungen (absorbirt) sein sollte, kehrte man zu der von =John Hunter= begründeten Lehre von der Phlebitis[84] zurück. Viele betrachteten dem entsprechend den Eiter als ein Absonderungsproduct der Gefässwand. Die Beweise für diese Ansicht waren aber schwer zu liefern, nachdem man durch die Erfahrung belehrt war, dass eine primär eiterige Venenentzündung nicht vorkomme, sondern dass, wie zuerst von =Cruveilhier= mit Bestimmtheit nachgewiesen ist, im Anfange jeder sogenannten Phlebitis oder Arteriitis immer ein Blutgerinnsel innerhalb des Gefässes gebildet wird. Aber =Cruveilhier= selbst war durch diese Erfahrung so sehr überrascht worden, dass er eine Theorie daran knüpfte, welche gegenwärtig kaum noch begreiflich ist. Er schloss nämlich aus der Unmöglichkeit, in der er sich befand, zu erklären, warum die Entzündung der Venen mit Gerinnung des Blutes anfange, dass überhaupt jede Entzündung in einer Gerinnung von Blut bestände. Die Unmöglichkeit, die Phlebitis zu erklären, schien beseitigt dadurch, dass die Gerinnung des Blutes innerhalb der Gefässe zu einem allgemeinen Gesetze der Entzündungslehre erhoben und auch die gewöhnliche Entzündung auf eine Phlebitis im Kleinen, die von ihm sogenannte Capillarphlebitis, bezogen wurde. Diese Capillarphlebitis war nahezu identisch mit der in der deutschen Pathologie gebräuchlichen Stase; der abweichende Ausdruck des französischen Forschers erklärt sich nur dadurch, dass er sich eine eigenthümliche Ansicht über die Existenz besonderer, kleinster Venen in den Theilen gebildet hatte, auf welche er nicht bloss die Ernährung, sondern auch die Bildung von Cysten, Tuberkeln, Krebs, kurz aller wichtigeren anatomischen Prozesse zurückführte. Diese Art zu denken blieb aber der grossen Mehrzahl der gelehrten und noch mehr der ungelehrten Aerzte so vollständig fremd, dass die einzelnen Schlussthesen von =Cruveilhier=, die man in seiner Formulirung in die Wissenschaft aufnahm, ganz und gar missverstanden wurden. [83] Gesammelte Abhandlungen S. 636. [84] Ebendas. S. 458. Freilich hatte er in dem einen Punkte Recht, der auch seitdem mehr und mehr anerkannt worden ist, dass der sogenannte Eiter in den Venen nie zuerst an der Wand liegt, sondern immer zuerst in der Mitte eines schon vor ihm vorhandenen Blutgerinnsels auftritt, welches den Anfang des Prozesses überhaupt bezeichnet. Aber er fand für diese vortreffliche Beobachtung keine richtige Erklärung. Er stellte sich vor, dass die Eitersecretion von den Wandungen des Gefässes aus stattfinde, dass aber der Eiter nicht an der Wand liegen bleibe, sondern vermöge der »Capillarität« sofort bis in die Mitte des Coagulums wandere. Es war das eine sehr sonderbare Theorie, die sich auch dann nur annähernd begreift, wenn man erwägt, dass in jener Zeit der Eiter noch für eine einfache Flüssigkeit (Solution) gehalten wurde. Erkennt man in dem Eiter ein flüssiges oder, genauer gesagt, ein =bewegliches Gewebe=, dessen wesentlicher Bestandtheil Zellen, also feste Theile sind, so fällt jene Deutung in sich selbst zusammen. Allein trotz der falschen Deutung bleiben doch die Thatsachen stehen, gegen die sich auch heute nichts vorbringen lässt, dass als erste Erscheinung des örtlichen Vorganges, bevor etwas von Entzündung an der Gefässwand zu sehen ist, sich ein Blutgerinnsel findet, und dass etwas später inmitten dieses Gerinnsels sich eine Masse zeigt, welche ihrem Aussehen und ihrer Consistenz nach von dem Gerinnsel verschieden ist, dagegen mehr oder weniger Aehnlichkeit mit Eiter darbietet. [Illustration: =Fig=. 78. Thrombose der Vena saphena. _S_ Vena saphena, _T_ Thrombus: _v_, _v_' klappenständige (valvuläre) Thromben, in der Erweichung begriffen und durch frischere und dünnere Gerinnselstücke verbunden; _C_, der fortgesetzte über die Mündung des Gefässes in die Vena curalis _C_' hineinragende Pfropf.] Von diesen Erfahrungen ausgehend, habe ich mich bemüht, die Lehre von der Phlebitis ihrem grössten Theile nach überhaupt aufzulösen, indem ich für das Mystische, welches in =Cruveilhier='s Deutung lag, einfach den Ausdruck der Thatsachen einsetzte. Die Entzündung als solche ist nicht an Gerinnung gebunden; im Gegentheil hat sich herausgestellt, dass die Lehre von der Stase auf vielfachen Missverständnissen beruhe[85]. Es kann Entzündung bestehen bei vollkommen offenem Strome des Blutes innerhalb der Gefässe des afficirten Theiles. Lassen wir also die Entzündung überhaupt bei Seite, und halten wir uns einfach an die Gerinnung des Blutes, an die Bildung des Gerinnsels (Thrombus). Alsdann scheint es am meisten entsprechend, den ganzen Vorgang in dem Ausdrucke der =Thrombose= zusammenzufassen. Ich habe vorgeschlagen[86], diesen Ausdruck zu substituiren für die verschiedenen Namen von Phlebitis, Arteriitis u. s. w., insoweit es sich nehmlich wirklich um eine an =Ort und Stelle= geschehende Gerinnung des Blutes handelt. [85] Handb. der spec. Pathol. und Ther. I. 53. J. H. Boner Die Stase nach Experimenten an der Froschschwimmhaut. Würzburg 1856. [86] Handbuch der spec. Path. I. 159. Untersucht man die Geschichte dieser Thromben, so ergibt sich, dass dieselben in den Capillaren fast gar nicht vorkommen, sondern sich auf die Venen, die Arterien und das Herz beschränken, so zwar, dass auch die kleinsten Venen und Arterien davon beinahe ganz frei bleiben. Die Mehrzahl der Thromben entsteht ursprünglich als =wandständige= ( =parietale=), während neben ihnen der Strom des Blutes noch fortgeht; sie sind sämmtlich zu erklären aus örtlichen Veränderungen der Gefässwand und des Blutstromes, jedoch können zu dieser Erklärung auch allgemeine Veränderungen des Blutes oder der Blutströmung herangezogen werden, insofern sie auf das örtliche Verhalten des Blutstromes Einfluss ausüben. Selten finden sich gleich von vornherein =total verstopfende= (=obstruirende=) Thromben, bei denen der Blutstrom gänzlich unterbrochen ist; wo sie vorkommen, ohne dass besondere chemische Stoffe durch Einspritzung, Aetzung u. s. f. eingewirkt haben, da ist gewöhnlich schon vor der Thrombose ein Stillstand des Blutes (durch Ligatur, Compression) eingetreten und die Gerinnung ist als die natürliche Folge der Stagnation anzusehen. In vielen Thromben kommt es überhaupt niemals zu der sogenannten Eiterbildung. Im Gegentheil, es entsteht aus dem Gerinnsel ein Bindegewebs-Pfropf, gewöhnlich mit Pigment (Hämatoidin), zuweilen mit Gefässen. Dies hat man die =adhäsive= Phlebitis oder Arteriitis genannt. Bei der sogenannten =suppurativen= Phlebitis, der eigentlich gefürchteten Form, findet sich allerdings eine eiterartige Masse, allein diese stammt nicht von der Wand, sondern sie entsteht direkt durch eine Umwandlung zuerst der centralen Gerinnselschichten selbst, und zwar durch eine Umwandlung chemischer Art, wobei in ähnlicher Weise, wie man dies durch langsame Digestion von geronnenem Fibrin künstlich erzeugen kann, das Fibrin in eine feinkörnige Substanz zerfällt, und die ganze Masse in =Detritus= übergeht[87]. Es ist dies eine wirkliche Erweichung und Rückbildung der organischen Substanz: die Fäden des Fibrins zertrümmern in Stücke, diese wieder in kleinere und so fort, bis man nach einer gewissen Zeit fast die ganze Masse zusammengesetzt findet aus kleinen, feinen, blassen Körnern (Fig. 79 _A_). In Fällen, wo das Gerinnsel aus verhältnissmässig reinem Fibrin bestand, z. B. in parietalen Herzthromben, sieht man manchmal fast gar nichts weiter, als diese Körnchen. [87] Zeitschrift für rationelle Medicin. 1846. V. 226. Gesammelte Abhandlungen S. 95, 104, 328, 524. [Illustration: =Fig=. 79. Puriforme Detritus-Masse aus erweichten Thromben. _A_ die verschieden grossen, blassen Körner des zerfallenden Fibrins. _B_ Die bei der Erweichung freiwerdenden, zum Theil in der Rückbildung begriffenen farblosen Blutkörperchen, _a_ mit mehrfachen Kernen, _b_ mit einfachen, eckigen Kernen und einzelnen Fettkörnchen, _c_ kernlose (pyoide) in der Fettmetamorphose. _C_ In der Entfärbung begriffene und zerfallende Blutkörperchen. Vergr. 350.] Das Mikroskop löst also die Schwierigkeiten sehr einfach auf, indem es nachweist, dass diese Masse, welche wie Eiter aussieht, kein Eiter ist. Denn wir verstehen unter Eiter eine wesentlich mit zelligen Elementen versehene Flüssigkeit. Ebenso wenig wie wir uns Blut ohne Blutkörperchen denken können, ebenso wenig existirt Eiter ohne Eiterkörperchen. Wenn wir hier aber eine Flüssigkeit finden, welche nichts weiter als eine mit Körnern durchsetzte Masse darstellt, so mag diese ihrem äusseren Habitus nach immerhin wie Eiter aussehen; nie darf man sie aber als wirklichen Eiter deuten. =Es ist eine puriforme Substanz, aber keine purulente=. Meistentheils aber erscheint neben diesen Körnern eine gewisse Zahl von anderen Bildungen, z. B. wirklich zellige Elemente (Fig. 79, _B_). Diese sind meist rund (sphärisch), seltener eckig, und enthalten in einer fein granulirten Substanz einen, zwei und mehr Kerne. Sie besitzen demnach in der That eine grosse Uebereinstimmung mit Eiterkörperchen, und wenn sehr oft in ihnen Fettkörnchen vorkommen, welche darauf hindeuten, dass es sich hier um ein Zerfallen (Necrobiose) handelt, so kommt, wie wir gesehen haben (S. 222), dasselbe ja auch an Eiterkörperchen vor. Wenn daher in solchen Fällen, wo die Menge des Detritus ganz überwiegend ist, kein Zweifel sein kann über das, was vorliegt, so können in anderen erhebliche Bedenken bestehen, ob nicht doch wirklicher Eiter vorhanden sei. Diese Bedenken lassen sich auf keine andere Weise lösen, als durch die Geschichte des Thrombus. Nachdem wir früher schon gesehen haben, dass farblose Blutkörperchen und Eiterkörperchen formell völlig mit einander übereinstimmen, so dass wirkliche Scheidungen zwischen ihnen unmöglich sind, so kann natürlich an einem Punkte, wo wir in einem Blutgerinnsel runde, farblose Zellen finden, die Frage, ob diese Zellen farblose Blutkörperchen sind, nur dadurch gelöst werden, dass ermittelt wird, ob die Körperchen schon in dem Thrombus vor der Erweichung vorhanden waren, oder ob sie erst bei derselben darin entstanden oder sonst wie hineingelangt sind. Es ergibt aber die Verfolgung der Vorgänge mit grosser Bestimmtheit, dass die Körperchen vor der Erweichung präexistiren, und wenn auch die Möglichkeit zugelassen werden muss, dass noch nach der Bildung des Thrombus farblose Blutkörperchen in denselben hineinkriechen, so ist dies doch nicht die Ursache der Erweichung, und noch weniger liegt ein Grund vor, anzunehmen, dass dieselben erst mit dem Eintritte der Erweichung entstehen oder in das Gerinnsel hineingelangen. Schon bei Untersuchung ganz frischer Thromben[88] findet man an manchen Stellen farblose Blutkörperchen in grossen Massen angehäuft; wenn später der Faserstoff zerfällt, so werden sie in solcher Zahl frei, dass der Detritus fast so zellenreich wie Eiter ist. Es verhält sich mit diesem Vorgange, wie wenn ein mit körperlichen Theilen ganz durchsetztes Wasser gefroren ist und dann einer höheren Temperatur ausgesetzt wird; beim Schmelzen des Eises müssen natürlich die eingeschlossenen Körper wieder zum Vorschein kommen. [88] Gesammelte Abhandlungen 515. * * * * * Gegen diese Darstellung kann ein Umstand eingewendet werden, nehmlich der, dass man nicht in der gleichen Weise die rothen Blutkörperchen frei werden sieht. Die rothen Körperchen gehen indess gewöhnlich sehr frühzeitig zu Grunde. Sie verlieren zuerst ihren Farbstoff, verkleinern sich dabei, indem dunkle Körnchen an ihrem Umfange hervortreten (Fig. 63, _a_; 79, _C_), und verschwinden endlich ganz, indem nur diese Körnchen übrig bleiben[89], welche später resorbirt werden. Der aus den Körperchen ausgetretene Farbstoff zersetzt sich und verliert nach und nach sein rothes Colorit. Nur sehr selten erhalten sich die rothen Körperchen noch in der Erweichungsmasse. In der Regel gehen sie zu Grunde, und gerade dadurch erklärt sich die auffällige Eigenthümlichkeit, dass aus dem rothen Thrombus eine gelbweisse Flüssigkeit entsteht, die das Ansehen und die Farbe, ja sogar zum Theil die histologische Zusammensetzung von Eiter hat. Auch dafür kann man ohne besondere Schwierigkeiten die Deutung finden; man muss sich nur erinnern, wie gering die Widerstandsfähigkeit der rothen Blutkörperchen gegen die verschiedensten Agentien ist. Wenn man zu einem Blutstropfen unter dem Mikroskope einen Tropfen Wasser setzt, so sieht man die rothen Körperchen vor den Augen verschwinden, während die farblosen zurückbleiben. [89] Beiträge zur experimentellen Pathologie. II. 12. Archiv I. 245, 383. Das, was man im gewöhnlichen Sinne eine suppurative Phlebitis nennt, ist also weder suppurativ, noch Phlebitis, sondern es ist ein Process, der mit einer Gerinnung, einer Thrombusbildung aus dem Blute beginnt, und der später die Thromben erweichen macht; die Geschichte des Processes beschränkt sich zunächst auf die Geschichte des Thrombus. Ich muss aber gerade hier hervorheben, dass ich nicht, wie man mir hier und da nachgesagt hat, die Möglichkeit einer wirklichen Phlebitis (oder Arteriitis) in Abrede stelle, oder dass ich irgend wie gefunden hätte, es gäbe keine Phlebitis. =Allerdings gibt es eine Phlebitis=[90]. Aber diese ist eine Entzündung, die wirklich die Wand und nicht den Inhalt des Gefässes betrifft. An grösseren Gefässen können sich die verschiedensten Wandschichten (Intima, Media, Adventitia) entzünden und alle möglichen Formen der Entzündung eingehen, wobei aber das Lumen ganz intakt bleiben mag. Nach der früheren Auffassung betrachtete man die innere Gefässhaut wie eine seröse Haut, und wie eine solche leicht fibrinöse Exsudate oder eiterige Massen hervorbringt, so setzte man dasselbe bei der inneren Gefässhaut voraus. Ueber diesen Punkt ist seit Jahren eine Reihe von Untersuchungen angestellt, und ich selbst habe mich vielfach damit beschäftigt, aber es ist bis jetzt noch keinem Experimentator, welcher vorsichtig das Blut von dem Einströmen in die Gefässe abhielt, gelungen, ein Exsudat zu erzeugen, welches in das Lumen abgesetzt wurde. Vielmehr geht, wenn die Wand sich entzündet, das »Exsudat« in die Wand selbst; diese verdickt sich, trübt sich, und fängt möglicherweise späterhin an zu eitern. Ja, es können sich Abscesse bilden, welche die Wand nach beiden Seiten hin wie eine Pockenpustel hervordrängen, ohne dass eine Gerinnung des Blutes im Lumen erfolgt. Andere Male freilich wird die eigentliche Phlebitis (und ebenso die Arteriitis und Endocarditis) die Bedingung für Thrombose, indem sich auf der inneren Wand Unebenheiten, Höcker, Vertiefungen und selbst Ulcerationen bilden, welche für die Entstehung eines Thrombus Anhaltspunkte bieten. Allein da, wo eine Phlebitis in dem gebräuchlichen Sinne des Wortes stattfindet, ist die Veränderung der Gefässwand fast immer eine secundäre, welche sogar verhältnissmässig spät zu Stande kommt. [90] Gesammelte Abhandlungen 484. Die jüngsten Theile des Thrombus bestehen immer aus frischerem Gerinnsel. Die Erweichung, das Schmelzen (=Colliquatio=) beginnt in der Regel an den ältesten Schichten, so dass also, wenn der Thrombus eine gewisse Grösse erreicht hat, sich in seiner Mitte oder an seiner Basis eine mehr oder weniger grosse Höhle findet, die allmählich sich vergrössert und der Gefässwand näher rückt. Aber in der Regel ist dieselbe nach oben und häufig auch nach unten durch einen frischeren, derberen Theil des Gerinnsels wie durch eine Kappe abgeschlossen; dadurch wird, wie =Cruveilhier= sich ausdrückte, der »Eiter« sequestrirt und die Berührung des Detritus mit dem circulirenden Blute gehindert. Nur seitlich oder im Grunde erreicht die Erweichung endlich die Wand des Gefässes selbst; diese verändert sich, es beginnt eine Verdickung und zugleich Trübung derselben, und endlich erfolgt selbst eine Eiterung innerhalb der Wandungen. Dasselbe, was wir bis jetzt an den Venen betrachtet haben, kommt auch am Herzen vor. Namentlich am rechten Ventrikel sieht man nicht selten sogenannte Eitercysten zwischen den Trabekeln der Herzwand. Sie ragen gegen die Höhle mit rundlichen Knöpfchen hervor und stellen kleine Beutel dar, welche beim Anschneiden einen weichen Brei enthalten, der ein vollkommen eiterartiges Ansehen haben kann. Mit diesen Eitercysten, welche übrigens zuerst die Veranlassung gewesen sind, dass =Piorry= seine Lehre von der Hämitis und der damit zusammenhängenden Pyämie aufstellte, hat man sich unendlich viel geplagt und alle nur möglichen Theorien darüber gemacht, bis endlich die einfache Thatsache herauskam, dass ihr Inhalt häufig weiter nichts als ein feinkörniger Brei von eiweissartigen Theilchen ist, der auch nicht die mindeste feinere Uebereinstimmung mit dem Eiter darbietet. Dies war insofern beruhigend, als noch keine Beobachtung vorliegt, dass ein Kranker, der solche Säcke in grösserer Zahl hatte, durch Pyämie zu Grunde gegangen wäre, aber es hätte denjenigen auffallen sollen, welche so leicht geneigt sind, die Pyämie mit peripherischen Thrombosen, die doch ganz dasselbe sind, in Verbindung zu setzen. Denn natürlich entsteht die Frage, in wie weit durch die Erweichung der Thromben besondere Störungen im Körper hervorgerufen werden können, welche man mit dem Namen Pyämie bezeichnen dürfte. Hierauf ist zunächst zu erwidern, dass allerdings sehr häufig secundäre Störungen veranlasst werden, aber nicht so sehr dadurch, dass die flüssigen Erweichungsmassen unmittelbar in das Blut gelangen, als vielmehr dadurch, dass grössere oder kleinere Stücke von dem centralen Ende des erweichenden Thrombus abgelöst, mit dem Blutstrom fortgeführt und in entfernte Gefässe eingetrieben werden. Dies gibt den sehr häufigen Vorgang der von mir so genannten =Embolie=[91], die gröbste Form der im lebenden Körper vorkommenden =Metastase=. [91] Handb. der spec. Path. und Ther. I. 167. Gesammelte Abhandl. 640. [Illustration: =Fig=. 80. Autochthone und fortgesetzte Thromben. _c_, _c_' kleinere, varicöse Seitenäste (Venae circumflexae femoris), mit autochthonen Thromben erfüllt, welche über die Ostien hinaus in den Stamm der Cruralvene reichen. _t_, fortgesetzter Thrombus, durch concentrische Apposition aus dem Blute, entstanden. _t_' Aussehen eines fortgesetzten Thrombus, nachdem eine Ablösung von Stücken (Embolis) erfolgt ist.] Es ist dies ein Ereigniss, welches wir hier nur kurz berühren können. An den peripherischen Venen geht die Gefahr hauptsächlich von den kleinen Aesten aus. Gar nicht selten werden diese mit Gerinnselmasse ganz erfüllt. So lange indess der Thrombus sich nur in dem Aste selbst befindet, so lange ist für den Körper keine besondere Gefahr vorhanden: das Schlimmste ist, dass sich ein Abscess bildet, in Folge einer Peri- oder Mesophlebitis, der sich nach aussen öffnet. Allein die meisten Thromben der kleinen Aeste beschränken sich nicht darauf, bis an die Mündung derselben in den nächsten Stamm vorzudringen; gewöhnlich lagert sich an das Ende des Thrombus immer neue Gerinnselmasse Schicht um Schicht aus dem Blute ab, der Thrombus setzt sich über das Ostium des Astes hinaus in den nächsten Stamm in der Richtung des Blutstromes fort, wächst in Form eines dicken Cylinders weiter und wird immer grösser und grösser. Bald steht dieser =fortgesetzte= Thrombus (Fig. 80, _t_) in gar keinem Verhältnisse mehr zu dem ursprünglichen (=autochthonen=) Thrombus (Fig. 80, _c_), von dem er ausgegangen ist[92]. Der fortgesetzte Thrombus kann die Dicke eines Daumens haben, der ursprüngliche die einer Stricknadel. Von dem ganz kleinen Pfropf einer Vena lumbalis kann z. B. ein Gerinnsel, so dick, wie die letzte Phalanx des Daumens, sich in die Cava fortsetzen. [92] =Froriep='s Notizen. 1846. Januar. No. 794. Gesammelte Abhandlungen 225, 232. Diese fortgesetzten Pfröpfe bringen die eigentliche Gefahr mit sich; an ihnen erfolgt die Abbröckelung, welche zu secundären Verschliessungen entfernter Gefässe führt. Hier ist der Ort, wo durch das vorüberströmende Blut grössere und kleinere Partikeln abgerissen werden (Fig. 80, _t_'). Durch das ursprünglich verstopfte Gefäss strömt überhaupt kein Blut, da ist die Circulation gänzlich unterbrochen; aber in dem grösseren Stamme, durch welchen das Blut immer noch fortgeht, und in welchen die fortgesetzten Thrombuszapfen hineinragen, kann der Blutstrom kleinere oder grössere Bruchstücke lostrennen, mitschleppen und in das nächste Arterien- oder Capillarsystem festkeilen. So erklärt es sich, dass in der Regel alle Thromben in der Peripherie des Körpers, wenn überhaupt eine Embolie von ihnen ausgeht, secundäre Verstopfungen und Metastasen in der Lunge erzeugen. Ich habe lange Zweifel getragen, die metastatischen Entzündungen der Lunge sämmtlich als embolische zu betrachten, weil es sehr schwer ist, die Gefässe in den kleinen metastatischen Heerden zu untersuchen, aber ich überzeuge mich immer mehr von der Nothwendigkeit, diese Art der Entstehung als die Regel zu betrachten. Wenn man eine grössere Zahl von Fällen statistisch vergleicht, so zeigt sich, dass jedesmal, wo Metastasen in den Lungen vorkommen, auch Thrombose gewisser peripherischer Gefässe besteht. Wir hatten z. B. vom Herbst 1850 bis zum März 1858 eine ziemlich grosse Puerperalfieber-Epidemie in der Charité. Dabei stellte sich heraus, dass, so mannichfaltig die Formen der Erkrankung auch waren, doch alle diejenigen Fälle, in welchen Metastasen in den Lungen gefunden wurden, auch mit Thrombose im Bereiche des Beckens oder der unteren Extremitäten verlaufen waren. Bei den Lymphgefäss-Entzündungen fehlten die Lungenmetastasen[93]. Solche statistischen Resultate haben eine gewisse zwingende Nothwendigkeit, selbst wo der strenge anatomische Nachweis fehlt. [93] Monatsschrift für Geburtskunde. XI. 413. [Illustration: =Fig=. 81. Embolie der Lungenarterie. _P_ Mittelstarker Ast der Lungenarterie. _E_ der Embolus, auf dem Sporn der sich theilenden Arterie reitend. _t_, _t_' der einkapselnde (secundäre) Thrombus: _t_ das Stück vor dem Embolus, bis zu dem nächst höheren Collateralgefäss _c_ reichend; _t_' das Stück hinter dem Embolus, die abgehenden Aeste _r_, _r_' grossentheils füllend und zuletzt konisch endigend.] In die Lungen-Arterie dringen die eingeführten Thrombusstücke je nach ihrer Grösse verschieden weit ein. Gewöhnlich setzt sich ein solches Stück da fest, wo eine Theilung des Gefässes stattfindet (Fig. 81, _E_), weil die abgehenden Gefässe zu klein sind, um das Stück noch einzulassen. Bei sehr grossen Stücken werden schon die Hauptäste der Lungen-Arterie verstopft, und es tritt augenblickliche Asphyxie ein; ganz kleine Stücke gehen bis in die feinsten Arterien hinein und erzeugen von da aus die kleinsten, zuweilen miliaren Entzündungen des Parenchyms[94]. Für die Deutung dieser kleinen, oft sehr zahlreichen Heerde muss ich eine Vermuthung erwähnen, welche mir erst bei meinen späteren Untersuchungen gekommen ist, von welcher ich aber kein Bedenken trage, sie für eine unabweisliche auszugeben. Ich glaube nehmlich, dass, wenn ein grösseres Thrombusstück an einem bestimmten Punkte einer Arterie eingekeilt ist, hier noch eine weitere Zertrümmerung durch den andringenden Blutstrom stattfinden kann, so dass die Partikelchen, welche durch die Zertrümmerung des grossen Pfropfes entstehen, in die kleinen Aeste geführt werden, in welche sich das Gefäss auflöst. So allein scheint sich die Thatsache zu erklären, dass man oft im Bezirke einer und derselben grösseren Arterie eine grosse Menge von kleinen Heerden derselben Art und desselben Alters findet. [94] Gesammelte Abhandlungen 285 ff. Alles das hat mit der Frage, ob im Blute Eiter ist oder nicht, gar nicht das Mindeste zu thun. Es handelt sich dabei um ganz andere Körper, um Theile von Gerinnseln in einem mehr oder weniger veränderten Zustande; je nachdem diese Veränderung den einen oder den anderen Charakter angenommen hat, kann auch die Natur der Prozesse, welche sich in Folge der Verstopfung bilden, sehr verschieden sein. Ist z. B. an dem ursprünglichen Orte eine faulige oder brandige Erweichung des Gerinnsels eingetreten, so wird auch die Metastase einen fauligen oder brandigen Charakter annehmen, gerade so, wie dies bei einer Inoculation des fauligen oder brandigen Stoffes der Fall sein würde. Umgekehrt kommt es vor, dass die secundären Störungen, ähnlich denen am Orte der Lostrennung, sehr günstig verlaufen, indem der Embolus, wie der Thrombus, sich organisirt und Bindegewebe bildet. [Illustration: =Fig=. 82. Ulceröse Endocarditis mitralis. _a_ die freie, glatte Oberfläche der Mitralklappe, unter welcher die Bindegewebs-Elemente vergrössert und getrübt, das Zwischengewebe dichter sind. _b_ eine stärkere hügelige Schwellung, bedingt durch zunehmende Vergrösserung und Trübung des Gewebes. _c_ eine schon in Erweichung und Zertrümmerung übergegangene Schwellungsstelle. _d_, _d_ das noch wenig veränderte Klappengewebe in der Tiefe, mit zahlreichen, gewucherten Körperchen. _e_, _e_ der Beginn der Vergrösserung, Trübung und Wucherung der Elemente. Vergr. 80.] [Illustration: =Fig=. 83-84. Capillarembolie in den Penicilli der Milzarterie nach Endocarditis (Vgl. Gesammelte Abhandlungen zur wiss. Medicin 1856. S. 716). 83. Gefässe eines Penicillus bei 10maliger Vergrösserung, um die Lage der verstopfenden Emboli in dem Arteriengebiete zu zeigen. 84. Eine kurz vor ihrer Theilung und in den nächst abgehenden Aesten mit Bruchstücken der feinkörnigen Embolusmasse (vergl. Fig. 82, _c_) gefüllte Arterie. Vergr. 300.] Diese Gruppe von Prozessen muss um so mehr losgelöst werden von der gewöhnlichen Geschichte der Pyämie, als dieselben Vorgänge sich jenseits der Lunge, auf der linken Seite des Stromgebietes wiederfinden; oft mit demselben Verlaufe, mit demselben Resultate, nur noch weniger abhängig von einer ursprünglichen Phlebitis. So bildet die =Endocarditis= nicht selten den Ausgangspunkt ähnlicher Metastasen[95]. Auf einer Herzklappe geschieht eine Ulceration, nicht durch Eiterbildung, sondern durch acute oder chronische Erweichung; zertrümmerte Partikeln der Klappenoberfläche oder der auf dieser Oberfläche abgesetzten Parietalthromben werden vom Blutstrome fortgerissen und gelangen mit ihm an entfernte Punkte. Die Art der Verstopfung, welche diese Trümmer erzeugen, ist ganz ähnlich der, welche die Bruchstücke von Venenthromben machen, aber beide haben nicht genau dieselbe chemische Beschaffenheit. Auch begünstigt ihre Kleinheit und Mürbigkeit das Eindringen in die kleinsten Gefässe in hohem Maasse. Daher findet man nicht ganz selten in kleinen mikroskopischen Gefässen, welche mit blossem Auge gar nicht mehr zu verfolgen sind, die Verstopfungsmasse, gewöhnlich bis zu einer Theilungsstelle und noch etwas darüber hinaus. Diese Masse zeigt häufig eine körnige Beschaffenheit, jedoch nicht den groben Detritus, wie an der Vene, sondern eine ganz feine und zugleich sehr dichte Körnermasse; chemisch hat sie die für die Untersuchung überaus bequeme Eigenschaft, dass sie gegen die gewöhnlichen Reagentien sehr widerstandsfähig ist und sich dadurch von anderen Dingen leicht unterscheidet. Dies gibt die =Capillarembolie=[96], eine der wichtigsten Formen der Metastase, welche häufig kleine Heerde in der Niere, in der Milz und im Herzfleische selbst hervorbringt, unter Umständen plötzliche Verschliessungen von Gefässen im Auge oder Gehirn bedingt und je nach Umständen zu metastatischen Heerden oder zu schnellen Functionsstörungen (Amaurose, Apoplexie) Veranlassung gibt. Auch hier kann man sich deutlich überzeugen, dass in frischen Fällen die Gefässwand an der embolischen Stelle ganz intakt ist; ja es würde hier die Lehre von der Phlebitis nicht mehr zureichen, indem dies überhaupt keine Venen, ja nicht einmal Gefässe sind, welche noch Vasa vasorum besitzen, und von welchen man annehmen könnte, dass von der Wand her eine Secretion nach innen ginge. Hier bleibt nichts übrig, als die Verstopfungsmasse als eine primär innen befindliche, die von den Zuständen der Wand in keiner Weise abhängig ist, anzuerkennen. [95] Archiv 1847. I. 338 ff. [96] Gesammelte Abhandl. 711. Archiv IX. 307. X. 179. Diese Darstellung wird hoffentlich dargethan haben, dass die Doctrin der Pyämie von zwei wesentlichen Irrthümern ausgegangen ist: einmal, dass man Eiterkörperchen im Blute zu finden glaubte, wo man nur die farblosen Elemente des Blutes selbst vor sich hatte; andermal, dass man Eiter in Gefässen zu sehen glaubte, wo nichts weiter als Erweichungsprodukte des Fibrins und der Blutkörperchen vorhanden waren. Wir haben gefunden, dass allerdings diese letztere Reihe die wichtigste Quelle für Metastasen abgibt. Nun ist aber nach meiner Meinung die Geschichte derjenigen Prozesse, die man unter dem Namen der Pyämie zusammengefasst hat, mit der Darstellung dieser Vorgänge (Leukocytose, Thrombose, Embolie) nicht zu Ende. Freilich, wenn der Prozess ganz rein verläuft, so dass sich von dem ersten Orte der Störung (Venenthrombose, Endocarditis u. s. w.) nur gröbere Massen ablösen und Verstopfung machen, so kommt in vielen Fällen der eigentliche Prozess nur durch die Metastase zur Beobachtung. Es gibt Fälle, welche so latent verlaufen, dass die ursprünglichen Ausgänge vollkommen übersehen werden, und dass der erste Schüttelfrost, dessen Eintritt den Kranken und den Arzt aufmerksam macht, schon die beginnende Entwickelung der metastatischen Prozesse anzeigt. Für gewöhnlich muss man aber noch ein anderes Moment in Betracht ziehen, welches weder für die gröbere, noch für die feinere anatomische Untersuchung direkt zugänglich ist; das sind gewisse =Flüssigkeiten=, welche an sich gleichfalls keine unmittelbare und nothwendige Beziehung zum Eiter als solchem, sondern offenbar sehr verschiedene Beschaffenheit und Ableitung haben. Schon bei der Betrachtung der Lymphveränderungen habe ich hervorgehoben (S. 226), dass Flüssigkeiten, welche von Lymphgefässen aufgenommen wurden, innerhalb der Lymphdrüsen-Filtren nicht nur von körperlichen Theilen befreit, sondern auch von der Substanz der Drüse zum Theil angezogen und zurückgehalten werden, so dass sie in derselben eine Wirksamkeit entfalten können. Aehnliche Einwirkungen scheinen auch über die Drüsen hinaus stattzufinden. Wo primär durch Venen die Resorption erfolgt[97], wo also überhaupt keine Drüsen zu passiren sind, da muss natürlich jedesmal eine Wirkung in die Ferne (eine =Metastase=) eintreten. Hierher gehört vor Allem eine Reihe von eigenthümlichen Erscheinungen, welche sich als constantes Element durch alle infectiösen Prozesse hindurchziehen. Das sind einerseits die Veränderungen, welche die lymphatischen und lymphoiden Drüsen, nicht sowohl am Orte der primären Affection, als vielmehr im Körper überhaupt erleiden können, andererseits die Veränderungen, welche die Secretionsorgane darbieten, durch welche die Stoffe ausgeschieden werden sollen[98]. [97] Handbuch der speciellen Pathologie. I. 297. Gesammelte Abhandl. 698. [98] Gesammelte Abhandlungen 701. Man hat eine Zeit lang geglaubt, dass der =Milztumor= für den Typhus pathognomonisch sei, indem er den Drüsenanschwellungen im Mesenterium parallel gehe. Allein eine genauere Beobachtung lehrt, dass eine grosse Reihe von fieberhaften Zuständen, welche einen mehr oder weniger typhoiden Verlauf machen und den Nervenapparat so afficiren, dass ein Zustand der Depression an den wichtigsten Centralorganen zu Stande kommt, mit Milzschwellungen auftreten. Die Milz ist ein ausserordentlich empfindliches Organ, das nicht nur beim Wechselfieber und Typhus, sondern auch (mit Ausnahme der eigentlichen Vergiftungen) bei den meisten anderen Prozessen schwillt, in denen eine reichliche Aufnahme von schädlichen, inficirenden Stoffen in das Blut erfolgte. Allerdings muss die Milz immer in ihrer nahen Verwandtschaft zum Lymphapparate betrachtet werden, aber ihre Erkrankungen stehen ausserdem gewöhnlich in einem sehr direkten Verhältnisse zu analogen Erkrankungen der wichtigen Nachbardrüsen, insbesondere der =Leber= und der =Nieren=. Bei den meisten Infectionszuständen zeigen diese drei Apparate correspondirende Vergrösserungen, welche mit wirklichen Veränderungen im Innern verbunden sind, die jedoch selbst bei der mikroskopischen Untersuchung scheinbar nichts Bemerkenswertes darbieten, so dass das grobe Resultat für das blosse Auge, die starke Schwellung, für den Beobachter viel mehr auffällig ist. Bei umsichtiger Vergleichung findet sich indess ziemlich viel, so dass wir mit Bestimmtheit sagen können, dass die Drüsenzellen schnell verändert werden und frühzeitig an den Elementen, durch welche die Secretion geschehen soll, eine Störung sich einstellt. Aehnlich verhält es sich mit den =quergestreiften Muskeln= und namentlich mit dem =Herzen=, dessen Veränderungen für die Erklärung der Symptome von höchster Bedeutung sind. Ich werde darauf zurückkommen, da es mir nützlicher erscheint, zunächst auf ein Paar gröbere Beispiele einzugehen, welche die Möglichkeit einer unmittelbaren Anschauung solcher, aus dem Blute in die Theile eindringender und sich darin absetzender Stoffe gewähren. Wenn Jemand =Silbersalze= gebraucht, so erfolgt ein Eindringen derselben in die Gewebe; wenden wir sie nicht in eigentlich ätzender, zerstörender Weise an, so gelangt das Silber in einer Verbindung, deren Natur bis jetzt nicht hinreichend bekannt ist, in die Gewebstheile und erzeugt an der Applicationsstelle, wenn es lange genug angewendet wird, eine Farbenveränderung. Ein Kranker, welchem in der Klinik des verstorbenen v. =Gräfe= eine Lösung von Argentum nitricum zu Umschlägen auf das Auge verordnet war, gebrauchte als gewissenhafter Patient das Mittel vier Monate lang; das Resultat davon war, dass seine Conjunctiva ein intensiv bräunliches, fast schwarzes Aussehen annahm. Bei Untersuchung eines ausgeschnittenen Stückes derselben fand ich, dass eine Aufnahme des Silbers in die Substanz erfolgt war, so zwar, dass an der Oberfläche das ganze Bindegewebe eine leicht gelbbraune Farbe besass, in der Tiefe aber nur in den feinen elastischen Fasern oder Körperchen des Bindegewebes die Ablagerung stattgefunden hatte; die eigentliche Grund- oder Intercellularsubstanz war vollkommen frei geblieben. -- Ganz ähnliche Ablagerungen geschehen auch in entfernteren Organen bei innerem Gebrauche des Mittels. Die anatomische Sammlung des pathologischen Instituts enthält das sehr seltene Präparat von den Nieren eines Menschen, welcher wegen Epilepsie lange Argentum nitricum innerlich genommen hatte. Da zeigt sich an den Malpighischen Knäulen der Niere, wo die Transsudation der Flüssigkeiten geschieht, eine schwarzblaue Färbung der ganzen Gefässhaut, welche sich auf diesen Punkt der Rinde beschränkt und in ähnlicher, obwohl schwächerer Weise nur wieder auftritt in der Zwischensubstanz der Markkanälchen. In der ganzen Niere sind also ausser denjenigen Theilen, welche den eigentlichen Ort der Absonderung ausmachen, nur die verändert, welche der letzten Capillarauflösung in der Marksubstanz entsprechen. -- Von der bekannten Silberfärbung der äusseren Haut brauche ich hier nicht zu sprechen. Ein anderes Beispiel bietet uns die =Gicht=. Untersuchen wir den Gelenktophus eines Arthritikers, so finden wir ihn zusammengesetzt aus sehr feinen, nadelförmigen, krystallinischen Abscheidungen, aus harnsaurem Natron bestehend, zwischen denen höchstens hier und da ein Eiter- oder Blutkörperchen liegt. Hier handelt es sich also, wie bei dem Silbergebrauch, um eine körperliche Substanz, welche in der Regel durch die Nieren abgeschieden wird, und zwar nicht selten so massenhaft, dass schon innerhalb der Nieren selbst Niederschläge sich bilden, und namentlich in den Harnkanälchen der Marksubstanz grosse Krystalle von harnsaurem Natron sich anhäufen, zuweilen bis zu einer Verstopfung der Harnkanälchen. Wenn jedoch diese Secretion nicht regelmässig vor sich geht, so erfolgt zunächst eine Anhäufung der harnsauren Salze im Blute, wie dies durch eine sehr bequeme Methode von =Garrod= nachgewiesen worden ist. Dann beginnen Ablagerungen an anderen Punkten, nicht durch den ganzen Körper, nicht an allen Theilen gleichmässig, sondern an bestimmten Punkten und nach gewissen Regeln. Ganz ähnliche Ablagerungen von harnsauren Salzen, und zwar in den Bindegewebskörperchen und den Lymphgefässen des Bauchfells kann man nach den experimentellen Untersuchungen von =Zalesky= und =Chrzonszczewski= erzeugen, wenn man bei Vögeln die Ureteren unterbindet. Dies sind ganz andere Formen der Metastase, als die, welche wir bei der Embolie kennen gelernt haben. Dass die Veränderungen, welche in der Nierensubstanz durch die Aufnahme von Silber vom Magen her erfolgen, mit dem übereinstimmen, was man von Alters her in der Pathologie Metastase genannt hat, ist nicht zweifelhaft. Es ist dies ein materieller Transport von einem Orte zum andern (vom Magen zur Niere), wo an diesem zweiten Orte dieselbe Substanz, wenn auch etwas verändert, liegen bleibt, welche vorher an dem anderen vorhanden war, und wo das Secretionsorgan in sein Gewebe Partikelchen des Stoffes aufnimmt. Dasselbe wiederholt sich in der Geschichte aller jener Metastasen, bei denen im Blute selbst nur gelöste Stoffe und nicht Partikelchen von sichtbarer, mechanischer Art (Körner, Körperchen) sich finden. Denn auch das harnsaure Natron im Blute des Arthritikers kann man so wenig direkt sehen, als die Silbersalze; man müsste sie denn erst durch chemische Prozesse sammeln. In dieselbe Kategorie gehört eine neue, freilich sehr seltene Art von Metastase, welche ich beschrieben habe. Bei massenhafter Resorption von Kalksalzen aus den Knochen, insbesondere bei ausgedehnter Geschwulstbildung (Knochenkrebs), wird in der Regel die Knochenerde massenhaft durch die Nieren ausgeschieden, so dass sich Sedimente im Harne bilden. Die Kenntniss dieser Erscheinung hat sich von der berühmten Frau =Supiot= her aus dem vorigen Jahrhundert in der Geschichte der Osteomalacie erhalten. Aber diese regelrechte Abscheidung der Kalksalze wird nicht selten durch Störungen der Nierenfunction in derselben Weise alterirt, wie bei Arthritis die Abscheidung des harnsauren Natrons; dann entstehen ebenso Metastasen von Knochenerde, aber an anderen Punkten, namentlich den Lungen und dem Magen. Die Lungen verkalken bisweilen in grossen Bezirken, ohne dass die Permeabilität der Respirationswege leidet; die erkrankten Theile sehen wie feiner Badeschwamm aus. Die Magenschleimhaut erfüllt sich in ähnlicher Weise mit Kalksalzen, so dass sie sich wie ein Reibeisen anfühlt und unter dem Messer knirscht, ohne dass die Magendrüsen unmittelbar daran betheiligt werden; sie stecken nur in einer starren Masse, und es mag sogar noch eine Secretion aus ihnen erfolgen[99]. [99] Archiv VIII. 103. IX. 618. Diese Art von Metastasen, wo bestimmte Substanzen, aber nicht in einer palpablen Form, sondern in Lösung in die Blutmasse gelangen, muss jedenfalls für die Deutung des Complexes von Zuständen, welche man in den Begriff der Pyämie zusammenfasst, wohl berücksichtigt werden. Ich sehe wenigstens keine andere Möglichkeit der Erklärung für gewisse mehr diffuse Prozesse, die nicht in der Form der gewöhnlichen umschriebenen Metastasen auftreten. Dahin gehört die allerdings seltene metastatische Pleuritis, welche ohne metastatischen Abscess in der Lunge sich entwickelt, die scheinbar rheumatische Gelenkaffection, bei der man an den Gelenken keinen bestimmten Heerd findet, die diffuse gangränöse Entzündung des Unterhautgewebes, welche nicht wohl gedacht werden kann, ohne dass man auf eine mehr chemische Art der Infection zurückgeht. Hier handelt es sich, wie man bei der Pocken- und der Leicheninfection sieht, um eine Uebertragung von =verdorbenen, ichorösen Säften= auf den Körper, und man muss eine Dyscrasie (=ichoröse Infection=, =Ichorrhämie=) zulassen, wo in acuter Weise diese in den Körper gelangte ichoröse Substanz an den Organen, welche eine besondere Prädilection oder Affinität dazu haben, ihre Wirkung entfaltet[100]. [100] Gesammelte Abhandl. 702. Verh. der Ges. für Geburtsh. 1865. XVII. 23. Allerdings ist es sehr schwer, gegenwärtig genau anzugeben, welcher Natur die sogenannten ichorösen Säfte sind. Insbesondere lässt sich die Möglichkeit nicht verkennen, dass mit den Flüssigkeiten allerlei feste Theile in die Circulation gelangen, und es mag sein, dass in vielen Fällen diese festen Theile eine grössere Bedeutung haben, als die blosse Flüssigkeit. Diese, der =Blutmischung fremden Körperchen= können wiederum sehr verschiedener Natur sein. In manchen Fällen liegt es nahe, an =wirkliche Zellen= zu denken, welche von einem Orte des Körpers aus in die Gefässe aufgenommen werden. Nachdem =Saviotti= selbst eine Pigmentzelle aus dem Bindegewebe der Froschschwimmhaut in ein Gefäss hat einwandern sehen, lassen sich ähnliche Vorgänge leicht in grosser Zahl denken. Daran schliesst sich das Vorkommen =fremder Organismen= im Blute. Bei verschiedenen Wirbelthieren kennt man =Hämatozoen=, welche offenbar von aussen her in die Gefässe dringen und im Blute circuliren. Beim Menschen ist ausser dem in Aegypten vorkommenden Distomum haematobium wenig Genaueres bekannt, und es ist namentlich zu erwähnen, dass die Einwanderung der Trichinen, soweit sich übersehen lässt, in der Regel nicht durch die Gefässe, sondern direkt durch die Gewebe und Höhlen des Körpers erfolgt[101]. Anders verhält es sich dagegen mit einer Reihe jener kleinsten Organismen, die unter den Namen von Vibrionen, Bakterien, Micrococcus aufgeführt werden, und die in der neueren Literatur überwiegend als =pflanzliche= Organismen betrachtet werden. Sie haben eine um so grössere Bedeutung, als sie eine grosse Zahl maligner Prozesse am Menschenleibe, namentlich die fauligen und brandigen, bewirken und sich den ichorösen Säften vielfach zumischen. Auch finden sie sich bei Leichen sehr häufig in inneren Gefässen des Körpers, und man hat sie im Blute lebender Menschen und Thiere nachgewiesen. Direkte Injectionen von Sporen eines grösseren Fadenpilzes, des Aspergillus, welche =Grohe= in die Gefässe lebender Thiere veranstaltete, haben überdies gelehrt, dass in den verschiedensten Theilen die Sporen keimten und »metastatische Heerde« hervorbrachten. -- Erinnert man sich endlich daran, dass nach den Untersuchungen v. =Recklinghausen='s, welche seitdem vielfach wiederholt worden sind, unlösliche Körnchen von Farbstoff, welche in die Höhlen oder Gefässe von Thieren eingespritzt werden, von den farblosen Blutkörperchen und anderen Gewebselementen aufgenommen und von ihnen auf ihren Wanderungen mit fortgetragen werden, so erschliesst sich hier noch ein reiches Gebiet möglicher Veränderungen des menschlichen Körpers, deren genauere Analyse uns erst gestatten wird, zu entscheiden, wie viel von der schädlichen Eigenschaft der ichorösen Säfte körperlichen Beimischungen, wie viel chemischen Stoffen zuzuschreiben ist. Immerhin können wir vor der Hand die ichoröse Infection als ein besonderes Glied neben der Leukocytose und Embolie festhalten. [101] Archiv XVIII. S. 535. Die Lehre von den Trichinen. 3. Aufl. Berlin 1866. S. 32. Bevor wir jedoch dieses Capitel schliessen, müssen wir noch eine wichtige Bemerkung in Beziehung auf die sogenannte Pyämie hinzufügen. Es kommt nicht selten vor, dass im Laufe desselben Krankheitsfalles die drei verschiedenen, von uns betrachteten Veränderungen oder wenigstens zwei derselben neben einander bestehen. Es kann eine Vermehrung der farblosen Körperchen (Leukocytose) der Art stattfinden, dass man an die morphologische Pyämie glauben möchte. Dies wird jedenfalls immer stattfinden, wenn der Prozess mit ausgedehnter Reizung von Lymphdrüsen verbunden war. Man kann ferner Thrombenbildung und Embolie mit metastatischen Heerden finden. Es kann endlich zugleich eine Aufnahme von ichorösen oder fauligen Säften statthaben (Ichorrhämie, Septhämie). Diese in sich verschiedenen Zustände können sich compliciren, fallen aber darum nicht nothwendig zusammen. Will man daher den Begriff der Pyämie festhalten, so kann man es am Besten für solche Complicationen thun; nur muss =man nicht einen einheitlichen Mittelpunkt in einer eiterigen Infection des Blutes suchen=, sondern die Bezeichnung als einen Sammelnamen für mehrere, ihrem Wesen und ihrem Ausgangspunkte nach verschiedenartige Vorgänge betrachten. Zwölftes Capitel. Theorie der Dyscrasien. Abhängigkeit der Dyscrasien und ihrer Dauer von der Zufuhr der Stoffe. Bösartige Geschwülste: Krebs-Dyscrasie. Locale und allgemeine Contagion durch infectiöse Parenchym-Säfte. Bedeutung der Zellen für die Dissemination und Metastase. Natur der virulenten Substanzen. Regressive Stoffe als Mittel der Infection: Rotz, Syphilis, Tuberkel. Impfungen. Wanderung infectiöser Elemente. Homologe und heterologe Infection. Melanämie. Beziehung zu melanotischen Geschwülsten und Intermittens. Abhängigkeit von Milzfärbung. Die rothen Blutkörperchen. Entstehung. Die melanösen Formen. Chlorose. Lähmung der respiratorischen Substanz: Kohlenoxyd. Blutgifte, Toxicämie. Verschiedene Entstehung der Dyscrasien. Im Vorhergehenden haben wir nicht nur körperliche Theile, sondern auch chemische Stoffe als Vermittler von Dyscrasien kennen gelernt und gefunden, dass diese Dyscrasien eine bald längere, bald kürzere Dauer haben, je nachdem die Zufuhr jener Theile oder Stoffe kürzere oder längere Zeit andauert. Kommen wir nunmehr kurz zu der Frage zurück, ob neben diesen Formen noch irgend eine Art von Dyscrasie nachweisbar ist, bei der =das Blut als der dauerhafte Träger= bestimmter Veränderungen erscheint, so müssen wir diese Frage entschieden verneinen. Je deutlicher nachweisbar eine wirkliche Verunreinigung des Blutes mit bestimmten, seiner Mischung fremdartigen Stoffen ist, um so regelmässiger pflegt der Verlauf der dadurch hervorgerufenen Krankheitsprozesse ein relativ acuter zu sein. Man denke an Vergiftungen und acute Exantheme. Dagegen dürften gerade jene Krankheits-Formen, bei denen man sich am liebsten, namentlich über die Mangelhaftigkeit der therapeutischen Erfolge, damit tröstet, dass es sich um eine tiefe und unheilbare, chronische Dyscrasie handele, wohl am wenigsten in einer zugleich ursprünglichen und anhaltenden Veränderung des Blutes beruhen; gerade bei ihnen handelt es sich in der Mehrzahl der Fälle um ausgedehnte und dauerhafte Veränderungen gewisser Organe oder einzelner Theile. So ist es mit Krebs, Tuberculose, Aussatz, Hämorrhaphilie. Ich kann nicht behaupten, dass ein völliger Abschluss der Untersuchungen in Beziehung auf eine dieser Krankheiten vorläge; ich kann nur sagen, dass jedes Mittel der mikroskopischen und chemischen Analyse bis jetzt fruchtlos angewendet worden ist auf die hämatologische Erforschung des Wesens dieser Prozesse, dass wir dagegen bei allen wesentliche Veränderungen kleinerer oder grösserer Complexe von Organen oder Organtheilen nachweisen können, und dass die Wahrscheinlichkeit, auch hier die dauerhafte Dyscrasie als eine secundäre, abhängig von bestimmten organischen Punkten, zu erkennen, mit jedem Tage zunimmt. Diese Frage ist namentlich genauer zu discutiren bei der Lehre von der Verbreitung der bösartigen Geschwülste[102], bei denen man sich ja auch so häufig damit hilft, die Bösartigkeit als im Blute wurzelnd zu denken, so dass das Blut die Localaffectionen hervorbringe. Und doch ist es gerade im Verlaufe dieser Bildungen verhältnissmässig am leichtesten, einen anderen Modus der Verbreitung zu zeigen, sowohl in der nächsten Nachbarschaft der Erkrankungsstelle, als auch an entfernten Organen. Es ergibt sich, dass ein Umstand die Möglichkeit der Ausbreitung solcher Prozesse besonders begünstigt, nehmlich =der Reichthum an Parenchym-Säften= in dem pathologischen Gebilde[103]. Je trockener eine Neubildung ist, um so weniger besitzt sie im Allgemeinen die Fähigkeit der Infection, sei es näherer, sei es entfernterer Orte. Das Cancroid, die Perlgeschwulst, selbst der Tuberkel stecken die Nachbarschaft leicht an, während die entfernten Organe häufig gar nicht erkranken: das Carcinom, das Sarcom, der Rotz, selbst specifischer Eiter machen sehr leicht örtliche und zugleich allgemeine Ansteckung. [102] Geschwülste I. 41, 70, 126. [103] Handb. der spec. Pathologie und Ther. I. 340. Der Modus der Verbreitung selbst entspricht bei dem Krebs in der Regel ganz dem, was wir früher betrachteten. Am leichtesten findet eine Leitung innerhalb der Lymphbahnen und ein Ergreifen der Lymphdrüsen statt; erst nach und nach treten an entfernteren Stellen Prozesse ähnlicher Art auf. Oder der Prozess greift auch hier zunächst auf die Venenwandungen über, diese werden wirklich krebsig, und nach einer gewissen Zeit wächst entweder der Krebs direkt durch die Wand hindurch in das Gefäss hinein und schreitet hier fort, oder es bildet sich an diesem Punkte ein Thrombus, welcher den Krebspfropf mehr oder weniger umhüllt, und in welchen die krebsige Masse hineinwächst[104]. Wir haben also hier in zwei Richtungen die Möglichkeit für eine Verbreitung, aber nur in einer Richtung die Möglichkeit eines sofortigen Ueberganges körperlicher Theile in das Blut, nehmlich nur in dem Falle, dass Venen durchbrochen werden. Eine Resorption von Krebszellen durch Lymphgefässe gehört keineswegs unter die Unmöglichkeiten, aber jedenfalls ist so viel sicher, dass nicht eher eine allgemeine Verbreitung derselben stattfinden kann, ehe die Lymphdrüsen nicht ihrerseits durch und durch krebsig umgewandelt sind, und dieselben krebsigen Massen von ihnen aus in abgehende Gefässe hineinwuchern. Nie kann ein peripherisches Lymphgefäss einfach, wie die Flüssigkeit, so auch die Zellen des Krebses bis zum Blute fortschwemmen; das ist nur denkbar und möglich an den Venen. Allein auch hier verhält es sich so, dass eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass häufige Verbreitungen durch losgelöste Krebszellen stattfinden, durchaus nicht vorliegt, aus dem einfachen Grunde, weil die Metastasen des Krebses den Metastasen, die wir bei der Embolie kennen gelernt haben, sehr häufig nicht entsprechen. Die gewöhnliche Form der metastatischen Verbreitung beim Krebs entspricht vielmehr der Richtung zu den Secretionsorganen. Die Lunge erkrankt bekanntlich viel seltener durch Krebs, als die Leber, nicht nur nach Magen- und Uteruskrebs, sondern auch nach Brustkrebs, welcher doch zunächst Lungenkrebs erzeugen müsste, wenn es etwas Körperliches wäre, welches fortgeleitet würde, stagnirte und die neue Eruption bedingte. [104] Archiv I. 112. Gesammelte. Abhandl. 551. Geschwülste I. 43. Die Art der metastatischen Verbreitung macht es vielmehr wahrscheinlich, dass die Uebertragung häufig durch Flüssigkeiten erfolgt, und dass diese die Fähigkeit besitzen, eine Ansteckung zu erzeugen, welche die einzelnen Theile zur Reproduction derselben Masse bestimmt, die ursprünglich vorhanden war. Man denke sich nur einen ähnlichen Prozess, wie wir ihn bei den Pocken im Grossen haben. Der Pockeneiter, direkt übertragen, leitet allerdings den Prozess ein, aber das Contagium ist auch flüchtig, und es kann Jemand eiterige Pusteln auf der Haut bekommen, nachdem er nur infecte Luft geathmet hat. Einigermaassen ähnlich scheint es sich auch in den Fällen zu verhalten, wo im Laufe heteroplastischer Prozesse Dyscrasien zu Stande kommen, welche ihre neuen Eruptionen nicht an Punkten machen, welche nach der Richtung des Lymph- oder Blutstromes ihnen zunächst ausgesetzt sein würden, sondern an entfernten Punkten. Wie sich das Silbersalz nicht in den Lungen ablagert, sondern hindurchgeht, um sich erst in den Nieren oder der Haut niederzuschlagen, so kann ein contagiöser Saft von einer Krebsgeschwulst durch die Lungen gehen, ohne diese zu verändern, während er doch an einem entfernteren Punkte, z. B. in den Knochen eines weit abgelegenen Theiles, bösartige Veränderungen erweckt. Damit ist natürlich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass auch zellige Elemente als Träger der contagiösen Stoffe auftreten. Wenn man die eigenthümlichen Eruptionen betrachtet, welche bei Magenkrebs am Netz, am Gekröse und an anderen Orten des Bauchfells auftreten, so wird es allerdings sehr viel leichter, dieselben durch das zufällige Ablösen, Heruntergleiten, Liegenbleiben und so zu sagen Keimen von krebsigen Zellen von der Oberfläche des Magens zu erklären, als sie auf abgesonderte Flüssigkeiten zu beziehen[105]. Denn diese secundären Peritonäal-Krebse bieten in Beziehung auf Vielfachheit, Form und Sitz der Heerde die grösste Aehnlichkeit mit den contagiösen Schimmelkrankheiten (Mykosen) der Haut dar, wo, z. B. bei Porrigo (Favus, Tinea), bei Pityriasis versicolor, die sich ablösenden und heruntergleitenden Sporen zuweilen am Rumpfe eine lange Reihe von Eruptionen bilden. Aber auch bei dieser =Dissemination= von Krebs ist es noch nicht erwiesen, dass es die etwa losgelösten Zellen selbst sind, welche aus sich, durch neue Proliferation, die secundären Knoten erzeugen; vielmehr dürfte auch ihnen nur eine contagiöse, katalytische Einwirkung auf die Gewebe zuzuschreiben sein, etwa wie dem Samen (Sperma) in Beziehung auf das Ei[106]. Soweit meine Beobachtung reicht, gehen die jungen Geschwulst-Elemente in allen solchen Secundär-Eruptionen aus dem Gewebe des angesteckten Ortes hervor. Deshalb habe ich geschlossen[107], dass die =locale Contagion=, welche sich von der ersten Erkrankungsstelle zunächst in der Nachbarschaft ausbreitet, durch Säfte erfolgen müsse, welche in die gesunden Gewebe eindringen, sie katalytisch erregen und zu neuer selbständiger Wucherung antreiben. Dies wäre eine =humorale Infection=, die doch nichts mit dem Blute zu thun hat, sondern, wie bei einem Erysipelas migrans, von einem Elemente direkt auf das andere fortschreitet, übertragen wird. [105] Geschwülste I. 54. [106] Gesammelte Abhandl. 41, 51, 53. Handb. der spec. Pathol. II. 411. [107] Archiv 1853. V. 245. Allerdings ist die Frage, welches die eigentlich infectiöse (=virulente=) Substanz sei, und namentlich, ob sie an zellige Elemente oder besondere Organismen gebunden oder als ein bloss chemischer Stoff anzusehen sei, eine überaus schwierige, und nichts berechtigt uns, sie für alle infectiösen Prozesse in gleicher Weise zu behandeln. Denn es ist durchaus nicht nöthig, dass dieselbe Erklärung für Pocken gilt, wie für Scharlach oder wie für Rotz oder wie für Syphilis. Würde dargethan, dass der Krebs sich nur durch Zellen fortpflanzte, so folgte daraus noch nicht, dass es bei Tuberkel ebenso sein müsse. Nirgends ist die Generalisation bedenklicher, als gerade hier. Auch muss ich darauf aufmerksam machen, dass selbst da, wo die Infection an Zellen oder Organismen geknüpft ist, noch nicht dargethan ist, dass diese Zellen oder Organismen selbst das Schädliche sind; es kann sehr wohl sein, dass die Zellen erst die schädliche Substanz absondern, etwa wie die Gährungspilze den Alkohol[108]. [108] Berliner Klinische Wochenschrift 1871. No. 10. In der That hat das genauere Studium der infectiösen Krankheiten gelehrt, dass selbst =zerfallende, regressive Substanzen= (Detritus) der Träger der Ansteckung sein können[109]. Ich habe dies zuerst für den Rotz[110] nachgewiesen. Für die Syphilis hat =Michaelis= einen ähnlichen Nachweis versucht, und die neueren Experimentatoren sind wenigstens sehr getheilter Ansicht[111]. In grosser Ausdehnung hat sich eine ähnliche, zuerst von =Dittrich= vermutungsweise aufgestellte Ansicht in der Lehre von der Tuberkulose Anerkennung verschafft, seitdem man dieselbe im Wege der =Impfung= (Inoculation) bei Thieren studirt hat. Nachdem zuerst =Villemin= positive Resultate erlangt hatte, indem er Tuberkelsubstanz auf Thiere übertrug, und damit die Ansteckungsfähigkeit des Tuberkels erwiesen schien, hat eine Reihe späterer Experimentatoren, insbesondere =Cohnheim= und =Fränkel= dargethan, dass die Fähigkeit, Tuberkel hervorzurufen, nicht an Tuberkelstoff geknüpft ist, sondern dass die Inoculation von zerfallendem Eiter, ja die blosse Einbringung von reizenden Körpern, welche chronische Eiterung mit nekrobiotischem Zerfall hervorrufen, genügt, um eine bald örtliche, bald allgemeine Tuberkulose zu erzeugen. Ja, Versuche von =Carl Ruge=[112] an Meerschweinchen haben gelehrt, dass die Einbringung fremder Körper, z. B. von Korkstückchen in die Bauchhöhle, auch dann Tuberkulose hervorbringen kann, wenn weder Eiter, noch Käse, sondern nur chronische Entzündung entsteht. Nichtsdestoweniger wird man kaum fehlgehen, wenn man den käsigen Stoffen, mögen sie nun aus Eiter oder aus Tuberkel entstanden sein, eine höhere Fähigkeit, die tuberkulöse Infection hervorzubringen, zuschreibt. [109] Geschwülste I. 111. [110] Spec. Pathologie und Therapie 1855. II. 411. [111] Geschwülste I. 112. II. 474. [112] C. =Ruge= Einige Beiträge zur Lehre von der Tuberkulose. Inaug. Diss. Berlin 1869. S. 26. Muss man daher zugestehen, dass selbst der Detritus organisirter Gewebe oder zelliger Theile infectiöse Eigenschaften besitzen kann, so wird man sich der Erwägung nicht verschliessen können, dass auch Secretstoffe, mögen sie nun, wie die Samenfäden, durch den Untergang von Zellen freigeworden sein, oder mögen sie, als recrementitielle Stoffe von den noch fortbestehenden Zellen ausgeschieden sein, infectiös werden können. Wenn eine Krebszelle in eine Lymphdrüse geführt wird, so könnte durch die von ihr gelieferten Stoffe auch den Drüsenzellen ein specifischer Reiz übertragen werden, welcher dieselben bestimmt, nicht bloss zu wachsen und sich zu vermehren, wie bei einer gewöhnlichen Reizung, sondern auch wirklich krebsig zu werden. In der That lassen sich bei secundärem Krebs der Lymphdrüsen Uebergänge zwischen Drüsen- und Krebszellen vielfach wahrnehmen. Auch auf dem Wege der Impfung ist es mehreren neueren Experimentatoren gelungen, Krebs auf Thiere zu übertragen[113]. Aber noch ist nicht genau festgestellt, ob in diesen, verhältnissmässig seltenen und daher noch nicht über allen Zweifel erhabenen Versuchen die geimpften Krebszellen selbst weitere Brut aus sich hervorgebracht haben, oder ob sie nur katalytisch-erregend auf die Gewebstheile einwirkten. Dieses ist erst durch weitere Untersuchungen festzustellen. [113] Geschwülste I. 87. Die neueren Erfahrungen über die =Wanderungen= zelliger Elemente (S. 189) haben überdies eine neue Möglichkeit der Erklärung mancher Erscheinungen gebracht, welche früher nur durch die Annahme contagiöser Säfte gedeutet werden konnten. Es ist damit nicht bloss die Auswanderung von =infectiösen Elementen= in die Nachbarschaft, sondern auch deren Uebergang in die Circulation und ihre Einwanderung in entfernte Organe in den Kreis der zulässigen Interpretation eingetreten. Die Bildung von Metastasen in entfernten Punkten des Körpers, sowie die durch reichlichere Anwesenheit von Parenchymsäften begünstigte Neigung zur Infection lässt sich dadurch sehr bequem erklären. Aber man darf um der Bequemlichkeit der Erklärung willen nicht übersehen, dass der thatsächliche Nachweis allein eine Entscheidung bringt. Wenn sich im Umfange eines Tuberkels wieder Tuberkel bilden, welche in einer gewissen Entfernung von dem ersten liegen, so lässt sich dies so erklären, dass von dem ersten Heerde Tuberkelzellen ausgewandert seien, welche an den accessorischen Knoten gekeimt sind. Aber dieselbe Erklärung passt nicht mehr auf den Fall, den ich mehrmals gesehen habe, dass sich in der Nähe eines kankroiden Geschwürs des Oesophagus eine multiple Eruption miliarer Tuberkel auf der Pleura bildet. Hier kommt man nothwendig auf blosse Stoffe zurück, und man überzeugt sich, dass es eine =doppelte Art der Infection= gibt: eine =homologe=, wo die Secundärprodukte den ursprünglichen gleich oder ähnlich, und eine =heterologe=, wo sie davon verschieden sind. Auch darf man nicht übersehen, dass ein wirklicher Uebergang geformter Theile in das Blut nicht nothwendig in denjenigen Organen, zu welchen diese Theile gelangen, analoge Erkrankungen erzeugen muss, wie an dem Orte ihrer Bildung bestanden. In dieser Beziehung will ich einen Zustand erwähnen, welcher in der neueren Zeit mehrfach besprochen worden ist, die von mir sogenannte =Melanämie=[114]. Es ist dies ein Zustand, welcher sich am nächsten an die Geschichte der Leukämie anlehnt, insofern es sich dabei um Elemente des Blutes handelt, welche, wie die farblosen Körperchen bei der Leukämie, von bestimmten Organen aus in das Blut gelangen und mit dem Blute circuliren[115]. Die Zahl der bekannten Beobachtungen darüber ist schon ziemlich gross, man möchte fast sagen, grösser als vielleicht nothwendig wäre, denn es scheint in der That, dass hier und da Verwechselungen von Pigment mit cadaverösen Producten[116] mit untergelaufen sind, welche aus der Geschichte der Affection wieder hinauszubringen sein dürften. Unzweifelhaft gibt es aber einen Zustand, in welchem farbige Elemente im Blute vorkommen, welche in dasselbe nicht hineingehören. Einzelne Beobachtungen solcher Art finden sich schon seit längerer Zeit[117] und zwar zuerst in der Geschichte der melanotischen Geschwülste, wo man öfter angegeben hat, dass in ihrer Nähe schwarze Partikelchen in den Gefässen vorkommen, und wo man sich dachte, dass hieraus die melanotische Dyscrasie entstände[118]. Dies ist aber gerade der Fall nicht, den man meint, wenn man heut zu Tage von Melanämie redet. In den letzten Jahren ist keine einzige Beobachtung bekannt geworden, welche in Beziehung auf den Uebergang melanotischer Geschwulsttheile in das Blut einen Fortschritt darböte. [114] Gesammelte Abhandlungen 201. [115] Archiv 1853. V. 85. [116] Gesammelte Abhandl. 730. Note. [117] Herr Dr. =Stiebel= sen. in Frankfurt a. M. macht mich darauf aufmerksam, dass er schon in einer Recension von =Schönlein='s klinischen Vorträgen (in =Häser='s Archiv) das Vorkommen von Pigmentzellen im Blute besprochen habe. Anm. der zweiten Aufl. [118] Geschwülste II. 285. Die erste Beobachtung derjenigen Reihe, welche ich im engeren Sinne als Melanämie bezeichne, ist von =Heinrich Meckel= bei einer Geisteskranken gemacht worden, kurze Zeit, nachdem ich die Leukämie beschrieben hatte. Er fand, dass auch hier die Milz in einem sehr erheblichen Maasse vergrössert, aber zugleich mit schwarzem Pigment durchsetzt war, und er leitete daher die Veränderung im Blute von einer Aufnahme farbiger Partikelchen aus der Milz ab. Die nächste Beobachtung habe ich selbst gemacht[119], und zwar in einer Richtung, die nachher sehr fruchtbar geworden ist, bei einem Intermittenskranken, welcher lange Zeit mit einem beträchtlichen Milztumor behaftet war; ich fand in seinem Herzblute =pigmentirte Zellen= (Fig. 85). =Meckel= hatte nur freie Pigmentkörner und Schollen gesehen. Die von mir gefundenen Zellen hatten vielfache Aehnlichkeit mit farblosen Blutkörperchen; es waren sphärische, manchmal aber auch mehr längliche, kernhaltige Elemente, innerhalb deren sich mehr oder weniger grosse, schwarze Körner fanden. Auch in diesem Falle bestätigte sich das Vorkommen einer grossen schwarzen Milz. Seit jener Zeit ist durch =Meckel= selbst, sowie durch eine Reihe von anderen Beobachtern in Deutschland, zuletzt durch =Frerichs=, in Italien durch =Tigri=, die Aufmerksamkeit auf diese Zustände immer mehr gelenkt worden. =Tigri= hat die Krankheit geradezu nach der schwarzen Milz als Milza nera bezeichnet, während nach der Ansicht von =Meckel=, welche durch =Frerichs= an Ausdehnung gewonnen hat, es vielmehr eine Form der schwereren Intermittenten wäre, welche auf diese Weise zu erklären sein sollte. [119] Archiv 1848. II. 594. [Illustration: =Fig=. 85. Melanämie. Blut aus dem rechten Herzen (vgl. Archiv für pathol. Anatomie und Physiologie. Bd. II. Fig. 8). Farblose Zellen von verschiedener Gestalt, mit schwarzen, zum Theil eckigen Pigmentkörnern erfüllt. Vergr. 300.] =Meckel= suchte den Grund der schweren Zufälle darin, dass die Elemente, welche in's Blut gelangen, sich an gewissen Orten in den feineren Capillarbezirken anhäuften und hier Stagnation und Obstruction erzeugten. So namentlich in den Capillaren des Gehirns, wo sie sich nach Art der Emboli an den Theilungsstellen festsetzen und bald Capillarapoplexien, bald die comatösen und apoplektischen Formen der schweren Wechselfieber bedingen sollten. =Frerichs= hat noch eine andere Art der Verstopfung hinzugefügt, die der feinen Lebergefässe, welche endlich zur Atrophie des Leberparenchyms Veranlassung geben soll. Es würde demnach hier eine ausserordentlich wichtige Reihe von Secundärzufällen existiren, die direkt von der Dyscrasie abhängig wären. Leider kann ich selbst wenig darüber sagen, da ich seit meinem ersten Falle nicht wieder in der Lage war, etwas Aehnliches zu beobachten. Ich habe wohl schwarze Milzen, sowie Lebern mit schwarzem Pigment im interstitiellen Gewebe gefunden, aber keine Melanämie und keine melanämische Embolie. Ich kann also auch nicht mit Sicherheit über den Werth der Beziehungen urtheilen, welche man aufgestellt hat über den Zusammenhang der secundären Veränderungen mit der Blutverunreinigung. Nur das möchte ich hervorheben, dass alle Thatsachen, welche man in Bezug auf diese Zustände kennt, darauf hinweisen, dass die Verunreinigung des Blutes von einem bestimmten Organe ausgeht, dass dies Organ, wie bei den farblosen Blutkörperchen, gewöhnlich die Milz ist, dass aber selbst diejenigen Beobachter, welche das im Blute enthaltene Pigment an entfernten Punkten in den Gefässen stocken lassen, daraus nur mechanische Störungen ableiten, aber nicht melanotische Secundärgeschwülste. Dass die schwere Intermittens, wie =Griesinger= meinte, an die Melanämie geknüpft sei, ist entschieden unrichtig, und wenn, wie ich finde, das schwarze Pigment in den melanämischen Lebern constant in den Bindegewebskörperchen der portalen Scheiden liegt, so ist damit noch lange nicht dargethan, dass diese Körperchen selbst eingewandert sind. -- * * * * * Ich habe im Verlaufe meiner Darstellung bis jetzt kaum etwas von den Veränderungen der =rothen Körperchen= des Blutes erwähnt, nicht etwa, weil ich sie für unwesentliche Bestandtheile hielte, sondern weil bis jetzt über ihre Veränderungen ausserordentlich wenig bekannt ist. Die Geschichte der rothen Blutkörperchen ist immer noch mit einem geheimnissvollen Dunkel umgeben, da eine völlige Sicherheit über die Entstehung dieser Elemente auch gegenwärtig noch nicht gewonnen ist. Ihre Entstehung aus farblosen Zellen, so bestimmt wir sie auch voraussetzen müssen, ist beim geborenen Menschen nicht regelmässig zu verfolgen. Dass die gewöhnlichen farblosen Blutkörperchen über das Stadium hinaus zu sein scheinen, wo ihre Neubildung zu rothen Körperchen noch eintritt, habe ich schon erwähnt (S. 213); ob jedoch im Chylus oder in der Lymphe selbst, in der Milz oder im Knochenmark schon solche Umbildungen geschehen, ist erst genauer festzustellen. Nur bei Froschblut ist es v. =Recklinghausen= in seiner »Zuchtkammer« auch ausserhalb des Körpers gelungen, eine allmähliche Umbildung farbloser Blutkörperchen in rothe zu beobachten. Für den Menschen ist diese Erfahrung nicht ohne Weiteres zu verwerthen. Wir wissen von ihm nur so viel mit Bestimmtheit, wie ich schon früher (S. 172) hervorhob, dass die ersten rothen Blutkörperchen aus embryonalen Bildungszellen des Eies ebenso direkt hervorgehen, wie alle übrigen Gewebe sich aus denselben aufbauen. Wir wissen ferner, dass in den ersten Lebensmonaten auch des menschlichen Embryo Theilungen der rothen Blutkörperchen stattfinden, wodurch eine Vermehrung derselben im Blute selbst hervorgebracht wird. Allein nach dieser Zeit ist, ganz vereinzelte Beobachtungen über das Vorkommen kernhaltiger Blutkörperchen (S. 205) abgerechnet, Alles dunkel, und zwar fällt dieses Dunkel ziemlich genau zusammen mit der Periode, wo die Blutkörperchen im menschlichen und Säugethier-Blute aufhören, Kerne zu zeigen. Wir können nur sagen, dass gar keine Thatsache bekannt ist, welche für eine fernere selbständige Entwickelung oder für eine Theilung der rothen Körperchen im Blute selbst spräche; Alles deutet mit Wahrscheinlichkeit auf eine Zufuhr hin. Selbst G. =Zimmermann=, welcher annahm, dass kleine bläschenförmige Körperchen im Blute vorkämen, welche in demselben nach und nach durch Intussusception wüchsen und endlich zu rothen Blutkörperchen würden, leitete jene bläschenförmigen Körperchen aus dem Chylus ab. Indess scheint mir diese Beobachtung nicht richtig gedeutet zu sein. Die von =Zimmermann= beschriebenen Gebilde sind offenbar Bruchstücke alter Blutkörperchen (S. 193), wie sie =Wertheim= neuerlich nach Verbrennungen gesehen haben will. Ausserdem finden sich nicht selten ungewöhnlich kleine Blutkörperchen auch im frischen Blute (Fig. 61, _h_), allein wenn man sie genauer untersucht, so ergibt sich an ihnen eine Eigenthümlichkeit, welche an jungen (embryonalen) Formen nicht bekannt ist, nehmlich dass sie ausserordentlich resistent gegen die verschiedensten Einwirkungen sind. An sich sehen sie schön dunkelroth aus, sie haben eine gesättigte, manchmal fast schwarze Farbe; behandelt man sie mit Wasser oder Säuren, welche die gewöhnlichen rothen Körperchen mit Leichtigkeit auflösen, so sieht man, dass eine ungleich längere Zeit vergeht, bevor sie verschwinden. Setzt man zu einem Tropfen Blut viel Wasser hinzu, so sieht man sie nach dem Verschwinden der übrigen Blutkörperchen noch längere Zeit übrig bleiben. Diese Eigenthümlichkeit stimmt am meisten überein mit Veränderungen, welche in solchem Blute eintreten, welches in Extravasaten oder innerhalb der Gefässe lange Zeit in Stase sich befunden hat. Hier führt diese Veränderung unzweifelhaft zu einem Untergang der Körper, und es kann daher mit grosser Wahrscheinlichkeit auch für das circulirende Blut geschlossen werden, dass diese kleinen Körperchen nicht junge, in der Entwickelung begriffene, sondern im Gegentheil alte, im Untergang begriffene Formen darstellen. Ich stimme daher im Wesentlichen mit der Auffassung von =Karl Heinrich Schultz= überein, welcher diese Körper unter dem Namen von =melanösen= Blutkörperchen beschrieben hat und sie für die Vorläufer der »Blutmauserung« ansieht, für Körperchen, welche sich vorbereiteten zu den eigentlich excrementiellen Umsetzungen. In manchen Zuständen wird die Zahl dieser Elemente ungeheuer gross. Bei recht gesunden Individuen findet man sehr wenig davon, nur im Pfortaderblut glaubt =Schultz= immer viele dieser Körperchen gesehen zu haben. Sicher ist es aber, dass es krankhafte Zustände gibt, wo ihre Menge so gross wird, dass man fast in jedem Blutstropfen eine kleinere oder grössere Zahl davon antrifft. Diese Zustände lassen sich jedoch bis jetzt nicht in bestimmte Kategorien bringen, weil die Aufmerksamkeit darauf wenig rege gewesen ist. Man findet sie in leichten Formen von Intermittens, bei Cyanose nach Herzkrankheiten, bei Typhösen, bei den Infectionsfiebern der Operirten und im Laufe epidemischer Erkrankungen, immer jedoch in solchen Krankheiten, welche mit einer schnellen Erschöpfung der Blutmasse einhergehen und zu kachectischen und anämischen Zuständen führen. In der Regel sieht solches Blut sehr dunkel aus und nimmt selbst beim Stehen an der Luft oder beim Zusatze von Neutralsalzen nicht jene hochrothe Farbe an, welche das normale Blut so sehr auszeichnet. Auch vom klinischen Gesichtspunkte aus besteht für die Mehrzahl dieser Krankheitszustände die Wahrscheinlichkeit eines reichlichen Zugrundegehens von Blutbestandtheilen innerhalb der Blutbahn. -- * * * * * Ausser diesen Veränderungen kennen wir mit Bestimmtheit noch eine andere Reihe, wo es sich um quantitative Veränderungen in der Zahl der Körper handelt. Diese Zustände, deren Hauptrepräsentant die =Chlorose= ist, zeigen eine gewisse Aehnlichkeit mit jenen, welche mit Vermehrung der farblosen Blutkörperchen einhergehen, mit der Leukämie im engeren Sinne und den bloss leukocytotischen Zuständen. Die Chlorose unterscheidet sich aber dadurch von ihnen, dass die Zahl der zelligen Körperchen im Blute überhaupt geringer ist. Während in der Leukämie gewissermaassen an die Stelle der rothen Körperchen farblose treten und eine Verminderung der Zahl der zelligen Elemente im Blute nicht zu Stande kommt, ja zuweilen sogar eine Art von Plethora lymphatica dadurch bedingt wird, so vermindern sich bei der Chlorose die Elemente beider Gattungen, ohne dass das gegenseitige Verhältniss der farbigen zu den farblosen in einer bestimmten Weise gestört würde. Es setzt dies eine verminderte Bildung überhaupt voraus, und wenn man schliessen darf (wie ich allerdings glaube, dass man kaum anders kann), dass auch die rothen Körperchen von Elementen der Milz und der Lymphdrüsen herstammen, so würde Alles darauf hindeuten, dass in der Chlorose eine verminderte Bildung von Zellen innerhalb der Blutdrüsen stattfinde. Die Leukämie erklärt sich natürlich viel einfacher, insofern wir hier Repräsentanten der zelligen Elemente im Blute finden, und wir uns denken können, dass ein Theil der Elemente, anstatt in rothe umgewandelt zu werden, seine Entwickelung ganz als farblose fortsetzt. In der Geschichte der Chlorose dagegen waltet noch viel Dunkel, da wir ein primäres Leiden der Blutdrüsen mit Bestimmtheit nicht nachweisen können. Die anatomischen Erfahrungen deuten darauf hin, dass die chlorotische Störung schon sehr frühzeitig angelegt wird. Man findet gewöhnlich die Aorta und die grösseren Arterien, häufig das Herz und den Sexualapparat mangelhaft gebildet, was auf eine congenitale oder doch in früher Jugend erworbene Disposition schliessen lässt. Wenn diese Disposition in der Regel erst zur Pubertätszeit wirkliche Störungen von pathologischem Werthe hervorbringt, so würde es doch irrig sein, wenn man deshalb die Disposition leugnen wollte. Meine Ansicht geht sogar dahin, dass diese Disposition unheilbar ist, wenngleich sie durch zweckmässige Behandlung, insbesondere diätetische Pflege latent gemacht werden kann. -- * * * * * Endlich muss hier noch eine dritte Reihe von Zuständen erwähnt werden, diejenige nehmlich, wo die innere Beschaffenheit der Blutkörperchen Veränderungen erfahren hat, ohne dass dadurch ein bestimmter morphologischer Effect hervorgebracht würde. Hier handelt es sich wesentlich um Functionsstörungen, welche wahrscheinlich mit feineren Veränderungen der Mischung zusammenhängen, also Veränderungen der eigentlichen =respiratorischen Substanz=. So gut nehmlich, wie wir bei den Muskeln die Substanz des Primitivbündels, die compacte Masse des Syntonins oder Myosins als contractile Substanz erfinden, so erkennen wir im Inhalte des rothen Blutkörperchens die eigentlich functionirende, respiratorische Substanz. Sie erfährt unter gewissen Verhältnissen Veränderungen, welche sie ausser Stand setzen, ihre Function fortzuführen, eine Art von Lähmung, wenn man will. Dass etwas der Art vorgegangen ist, ersieht man daraus, dass die Körperchen nicht mehr im Stande sind, Sauerstoff aufzunehmen, wie man dieses experimentell unmittelbar erhärten kann. Dass es sich dabei aber um molekulare Veränderungen in der Mischung handelt, dafür haben wir bequeme Anhaltspunkte in der Wirkung solcher giftiger Substanzen, welche schon in minimaler Menge das Hämoglobin so verändern, dass es in eine Art von Paralyse versetzt wird. Es sind dies die =Blutgifte= im engeren Sinne des Wortes, bei denen nicht bloss, wie bei den meisten Giften, die schädliche Substanz durch das Blut hindurchgeht, um zu anderen Theilen z. B. zu Ganglienzellen, Drüsenzellen, zu gelangen, sondern bei denen das Blut selbst in seinen specifischen Elementen den Hauptangriff zu erfahren hat. Hierher gehört ein Theil der flüchtigen Wasserstoffverbindungen, z. B. Arsenikwasserstoff, Cyanwasserstoff; ferner nach =Hoppe-Seyler='s und =Bernard='s Untersuchungen das Kohlenoxydgas, von dem verhältnissmässig kleine Mengen ausreichend sind, um die respiratorische Fähigkeit der Körperchen zu vernichten. Analoge Zustände sind schon früherhin vielfach beobachtet worden im Verlaufe anderer Infectionskrankheiten, z. B. der typhoiden Fieber, wo die Fähigkeit, Sauerstoff aufzunehmen, in dem Maasse abnimmt, als die Krankheit einen schweren acuten Verlauf gewinnt. Mikroskopisch sieht man aber ausser einzelnen melanösen Körperchen fast gar nichts, nur das chemische Experiment und die grobe Wahrnehmung vom blossen Auge zeigen die veränderte Beschaffenheit an. Man kann daher sagen, dass in diesem Gebiete der =Toxicämie= das Meiste noch zu machen ist. Wir haben mehr Anhaltspunkte, als Thatsachen. Fassen wir nun das, was wir über das Blut vorgeführt haben, kurz zusammen, so ergiebt sich in Beziehung auf =die Theorie der Dyscrasien=, dass entweder Substanzen in das Blut gelangen, welche auf die zelligen Elemente desselben schädlich einwirken und dieselben ausser Stand setzen, ihre Function zu verrichten, oder dass von einem bestimmten Punkte aus, sei es von aussen, sei es von einem Organe aus, Stoffe dem Blute zugeführt werden, welche von dem Blute aus auf andere Organe nachtheilig einwirken, oder endlich dass die Bestandtheile des Blutes selbst nicht in regelmässiger Weise ersetzt und nachgebildet werden. Nirgends in dieser ganzen Reihe finden wir irgend einen Zustand, welcher darauf hindeutete, dass eine =dauerhafte= Fortsetzung von bestimmten, einmal eingeleiteten Veränderungen =im Blute selbst= sich erhalten könnte, dass also eine permanente Dyscrasie möglich wäre, ohne dass neue Einwirkungen von einem bestimmten Atrium oder Organe aus auf das Blut stattfinden. In jeder Beziehung stellt sich uns das Blut dar als ein abhängiges und nicht als ein unabhängiges oder selbständiges Fluidum; die Quellen seines Bestandes und Ersatzes, die Anregungen zu seinen Veränderungen liegen nicht in ihm, sondern ausser ihm. Daraus folgt consequent der auch für die Praxis ausserordentlich wichtige Gesichtspunkt, dass es sich bei allen Formen der Dyscrasie darum handelt, ihren örtlichen Ursprung, ihre (in Beziehung auf das Blut selbst) äussere Veranlassung aufzusuchen. -- Dreizehntes Capitel. Das peripherische Nervensystem. Der Nervenapparat. Seine prätendirte Einheit. Die Nervenfasern. Peripherische Nerven. Fascikel, Primitivfaser. Perineurium und Neurilem. Schwann'sche Scheide. Axencylinder (electrische Substanz). Markstoff (Myelin), Protagon, Phosphor der Nervensubstanz. Marklose und markhaltige Fasern. Uebergang der einen in die anderen: Hypertrophie des Opticus. Verschiedene Breite der Fasern. Die peripherischen Nervenendigungen. Vater'sche (Pacini'sche) und Tastkörper. Marklose Fasern der Haut mit Endigung im Rete. Unterscheidung von Gefäss-, Nerven- und Zellenterritorien in der Haut. Endkolben der Schleimhautnerven. Höhere Sinnesorgane: Riech-, Geschmacks- und Hörzellen. Retina: nervöse und bindegewebige Theile. Arbeitsnerven: Muskel-Endplatten, Verbindung der Nerven mit Drüsen- und anderen Zellen. Die Theilung der Nervenfasern. Das electrische Organ der Fische. Die Muskelnerven. Weitere Betrachtung über Nerventerritorien. Nervenplexus mit ganglioformen Knoten. Darmschleimhaut. Gefässe. Plexus myentericus. Irrthümer der Neuropathologen. Nachdem wir die humoralpathologischen Gesichtspunkte in der Betrachtung der Dyscrasien erörtert haben, so dürfte es nicht bloss dem historischen Rechte nach, sondern auch der Wichtigkeit des Gegenstandes nach gerathen sein, nunmehr die Grundlagen der solidarpathologischen Doctrin in ihrer modernen Gestalt als Neuropathologie zu prüfen. Wenden wir uns daher jetzt zu der =Einrichtung des Nervenapparates=. Die überwiegende Masse des Nervenapparates besteht aus =faserigen Bestandtheilen=. Diese sind es auch, auf welche sich fast alle die feineren, physiologischen Entdeckungen beziehen, welche die letzten Jahrzehnte gebracht haben, während der andere, der Masse nach viel kleinere Theil des Nerven-Apparates, die =graue= oder =gangliöse= Substanz, bis jetzt selbst der histologischen Untersuchung Schwierigkeiten entgegengestellt hat, welche noch lange nicht überwunden sind, so dass die experimentelle Erforschung dieser Substanz kaum in Angriff genommen werden konnte. Es wird freilich oft behauptet, man wisse gegenwärtig viel von dem Nervensystem, aber unsere Kenntniss beschränkt sich grossentheils auf die weisse Substanz, den faserigen Antheil, während wir leider eingestehen müssen, dass wir über die, ihrer functionellen Bedeutung nach offenbar viel höher stehende, graue Substanz in vielen Beziehungen immer noch sowohl anatomisch, als namentlich physiologisch in grosser Unsicherheit uns bewegen. Sobald man die Frage von der Bedeutung des Nervensystems innerhalb der Lebensvorgänge anatomisch betrachtet, so ergibt ein einziger Blick, dass der Standpunkt, von welchem die Neuro-Pathologie auszugehen pflegt, ein sehr verfehlter ist. Denn sie betrachtet das Nervensystem wie ein ungewöhnlich Einfaches, das durch seine Einheit zugleich die Einheit des ganzen Organismus, des Körpers überhaupt bedinge. Wer aber auch nur ganz grobe anatomische Vorstellungen über die Nerven hat, der sollte es sich doch nicht verhehlen, dass es mit dieser Einheit sehr misslich bestellt ist. Schon das Scalpell legt den Nervenapparat als ein aus ausserordentlich vielen, relativ gleichwerthigen Theilen zusammengeordnetes System ohne erkennbaren einfachen Mittelpunkt dar. Je genauer wir histologisch untersuchen, um so mehr vervielfältigen sich die Elemente, und die letzte Zusammensetzung des Nervensystems zeigt sich nach einem ganz analogen Plane angelegt, wie die aller übrigen Theile des Körpers. Eine unendliche Menge zelliger Elemente von mehr oder weniger grosser Selbständigkeit tritt neben und grossentheils unabhängig von einander auch in dem Nervensystem in die Erscheinung. Schliessen wir zunächst die gangliöse Substanz aus und halten wir uns einfach an die faserige Masse, so haben wir einerseits die eigentlichen (peripherischen) =Nerven= im engeren Sinne des Wortes, andererseits die grossen Anhäufungen =weisser Markmasse=, wie sie den grössten Theil des kleinen und grossen Gehirns und der Stränge des Rückenmarks zusammensetzt. Die Fasern dieser verschiedenen Abschnitte sind im Grossen ähnlich gebaut, zeigen aber im Feineren vielfache und zum Theil so erhebliche Verschiedenheiten, dass es Punkte gibt, wo man noch in diesem Augenblick nicht mit Sicherheit sagen kann, ob die Elemente, welche man vor sich hat, wirklich Nerven sind, oder ob sie einer ganz anderen Art von Fasern angehören. Am sichersten ist man über die Zusammensetzung der gewöhnlichen peripherischen Nerven; hier unterscheidet man im Allgemeinen mit ziemlicher Leichtigkeit Folgendes: Alle mit blossem Auge zu verfolgenden Nerven enthalten eine gewisse Summe von Unterabtheilungen, Bündeln oder Fascikeln, welche sich nachher als Aeste oder Zweige auseinanderlösen. Verfolgen wir diese einzelnen, sich weiter und weiter vertheilenden Zweige, so behält der Nerv fast unter allen Verhältnissen bis nahe zu seinen letzten Theilungen eine fascikuläre Einrichtung, so dass jedes Bündel wieder eine kleinere oder grössere Zahl von sogenannten Primitivfasern umschliesst. Der Ausdruck Primitivfaser, welchen man hier gebraucht, ist ursprünglich gewählt worden, weil man den Nervenfascikel für ein Analogon der Primitivbündel des Muskels hielt. Späterhin ist die Vorstellung von einem besonderen Bindemittel zwischen den einzelnen Nervenfasern fast verloren gegangen, und erst durch =Robin= ist in neuerer Zeit die Aufmerksamkeit wieder auf die Substanz hingelenkt worden, welche das Bündel zusammenhält; er nannte dieselbe =Perineurium=. Es ist dies ein sehr dichtes, fast aponeurotisches und daher leicht durchscheinendes Bindegewebe, in welchem sich bei Zusatz von Essigsäure kleine Kerne zeigen. Verschieden davon ist das mehr lockere Bindegewebe, welches die Fascikel zusammenhält und eine Scheide für den ganzen Nerven bildet, das sogenannte =Neurilem=. [Illustration: =Fig=. 86. Querschnitt durch einen Nervenstamm des Plexus brachialis. _l_, _l_ Neurilem, von dem eine grössere Scheide _l_' und feinere durch helle Linien bezeichnete Fortsätze durch den Nerven verlaufen und ihn in kleine Fascikel scheiden. Letztere zeigen die dunklen, punktförmigen Durchschnitte der Primitivfasern und dazwischen das Perineurium. Vergr. 80.] Wenn wir kurzweg von Nervenfasern im histologischen Sinne sprechen, so meinen wir immer die Primitivfaser, nicht den Fascikel, welcher vom blossen Auge als Faser erscheint und daher in der Vulgärsprache oft so genannt wird. Jene feinsten, mikroskopischen Fasern besitzen wiederum jede für sich eine äussere Membran, die sogenannte =Schwann'sche Scheide=; an ihr sieht man, wenn man sie vollkommen frei macht vom Inhalte, was allerdings sehr schwierig ist, was aber zuweilen unter pathologischen Verhältnissen spontan auftritt, z. B. bei gewissen Zuständen der Atrophie, wandständige Kerne (Fig. 6, _c_). Innerhalb dieser membranösen Röhren liegt die eigentliche =Nerven-Substanz=, welche sich bei den gewöhnlichen Nerven nochmals in zweierlei Bestandtheile scheidet. Diese sind bei dem ganz frischen Nerven kaum als zwei zu erkennen, treten aber kurze Zeit nach dem Absterben oder Herausschneiden des Nerven oder nach Einwirkung irgend eines Mediums auf den Nerven sofort ganz deutlich aus einander, indem der eine dieser Bestandtheile eine schnelle, gewöhnlich als Gerinnung bezeichnete Veränderung erfährt, durch welche er sich von dem anderen Bestandtheile absetzt (Fig. 87). Ist dies geschehen, so sieht man im Innern der Nervenfaser deutlich den sogenannten =Axencylinder= (das Primitivband von =Remak=), ein sehr feines, zartes, blasses Gebilde, und um ihn herum eine ziemlich derbe, dunkle, hier und da zusammenfliessende Masse, das =Nervenmark= oder die =Markscheide=; letztere füllt den Raum zwischen Axencylinder und der äusseren Membran aus. Meist ist aber die Nervenröhre so stark gefüllt mit dem Inhalte, dass man bei der gewöhnlichen Betrachtung von den einzelnen Bestandtheilen fast gar nichts sieht, wie denn überhaupt der Axencylinder innerhalb der Markmasse schwer erkennbar ist. Daraus erklärt es sich, dass man Jahre lang über seine Existenz gestritten und vielfach die Ansicht ausgesprochen hat, er sei gleichfalls eine Gerinnungs-Erscheinung, indem eine Trennung des ursprünglich gleichmässigen Inhaltes in eine innere und äussere Masse stattfinde. Dies ist aber unzweifelhaft unrichtig: alle Methoden der Untersuchung geben zuletzt dies Primitivband zu erkennen; selbst auf Querschnitten der Nerven sieht man ganz deutlich im Innern den Axencylinder und um ihn herum das Mark. [Illustration: =Fig=. 87. Graue und weisse Nervenfasern. _A_ Ein grauer, gelatinöser Nervenfascikel aus der Wurzel des Mesenteriums, nach Behandlung mit Essigsäure. _B_ Eine breite, weisse Primitivfaser aus dem N. cruralis: _a_ der freigelegte Axencylinder _v_, _v_ die variköse Faser mit der Markscheide, am Ende bei _m_, _m_ der Markstoff (Myelin) in geschlängelten Figuren hervortretend. _C_ Feine, weisse Primitivfaser aus dem Gehirn, mit frei hervortretendem Axencylinder. Vergr. 300.] Das sogenannte Nervenmark ist es, was den Nervenfasern überhaupt das weisse Ansehen verleiht; überall, wo die Nerven diesen Bestandtheil enthalten, erscheinen sie weiss, überall, wo er ihnen fehlt, haben sie ein durchscheinendes, graues Aussehen. Daher gibt es Nerven, welche der Farbe nach der gangliösen Substanz sich anschliessen, verhältnissmässig durchsichtig sind, ein mehr helles, gelatinöses Aussehen besitzen; man hat sie deshalb =graue= oder =gelatinöse Nerven= genannt (Fig. 87, _A_). Zwischen grauer und weisser Nervenmasse überhaupt besteht also nicht der Unterschied, dass die eine gangliös, die andere faserig ist, sondern nur der, dass die eine Mark enthält, die andere nicht; indess gebraucht man den Ausdruck »graue Substanz« gewöhnlich nur von der wirklich gangliösen Masse, nicht von den grauen, marklosen Nerven. Den Zustand der Marklosigkeit bei den Nervenfasern kann man im Allgemeinen als den niederen, unvollständigeren bezeichnen; die Markhaltigkeit zeigt eine reichere Ernährung und höhere Entwickelung an. Nichts lehrt vielleicht die unmittelbar praktische Bedeutung dieser beiden Zustände so auffallend, als eine zuerst von mir gemachte Beobachtung an der Retina, an welcher in einer sehr unerwarteten Weise die sonst durchscheinende graue Nervenmasse in undurchsichtige weisse verwandelt war. Ich fand[120] nehmlich ganz zufällig eines Tages in den Augen eines Mannes, bei dem ich ganz andere Veränderungen vermuthete, im Umfange der Papilla optici, wo man sonst die gleichmässig durchscheinende Retina sieht, eine weissliche, radiäre Streifung, wie man sie an derselben Stelle im Kleinen zuweilen bei Hunden und ziemlich constant in einzelnen Richtungen bei Kaninchen trifft. Die mikroskopische Untersuchung ergab, dass in ähnlicher Weise, wie bei diesen Thieren, in der Retina markhaltige Fasern sich entwickelt hatten, und dass die Faserlage der Retina durch die Aufnahme von Markmasse dicker und undurchsichtig geworden war. Die einzelnen Fasern verhielten sich dabei so, dass, wenn man sie von den vorderen und mittleren Theilen der Retina aus nach hinten gegen die Papille hin verfolgte, sie allmählich an Breite zunahmen, und zugleich in einer zuerst fast unmerklichen, später sehr auffälligen Weise eine Abscheidung von Mark in ihrem Inneren erkennen liessen. Das ist also eine Art von Hypertrophie, aber sie beschränkt die Function der Retina wesentlich, denn das Mark lässt die Lichtstrahlen nicht durch und die zarte Haut wird daher mehr und mehr getrübt. [120] Archiv 1856. X. 190. [Illustration: =Fig=. 88. Markige Hypertrophie des Opticus innerhalb des Auges. _A_ Die hintere Hälfte des Bulbus, von vorn gesehen; von der Papilla optici gehen nach vier Seiten radiäre Ausstrahlungen von weissen Fasern aus. _B_ Die Opticusfasern aus der Retina bei 300 maliger Vergrösserung: _a_ eine blasse, gewöhnliche, leicht variköse Faser, _b_ eine mit allmählich zunehmender Markscheide, _c_ eine solche mit frei hervorstehendem Axencylinder.] Dieselbe Veränderung geschieht am Nerven, während er sich entwickelt. Der junge Nerv ist eine feine Röhre, welche in gewissen Abständen mit Kernen besetzt ist und einen blassgrauen Inhalt besitzt. Erst später erscheint das Mark, der Nerv wird damit breiter, und der Axencylinder setzt sich deutlich ab. Man kann daher sagen, dass die Markscheide ein nicht absolut nothwendiger Bestandtheil des Nerven ist, sondern ihm erst auf einer gewissen Höhe seiner Entwickelung zukommt. [Illustration: =Fig=. 89. Tropfen von Markstoff (Myelin, nach =Gobley= Lecithin). _A_ Verschieden gestaltete Tropfen aus der Markscheide von Hirnnerven, nach Aufquellung durch Wasser. _B_ Tropfen aus zerfallendem Epithel der Gallenblase in der natürlichen Flüssigkeit. Vergr. 300.] Es folgt daraus, dass diese Substanz, welche man früher als das Wesentliche im Nerven betrachtete, nach der jetzigen Anschauung eine mehr untergeordnete Rolle spielen muss. Nur diejenigen, welche auch jetzt noch keinen Axencylinder zulassen, sehen sie natürlich nicht bloss als den bei Weitem überwiegenden Bestandtheil, sondern auch als den eigentlich functionirenden Nerveninhalt an. Sehr merkwürdig ist es aber, dass dieselbe Substanz eine der am meisten verbreiteten ist, welche überhaupt im thierischen Körper vorkommen. Ich war sonderbarer Weise zuerst bei der Untersuchung von Lungen auf Gebilde gestossen, welche ganz ähnliche Eigenschaften darboten, wie man sie am Nervenmark wahrnimmt. So auffallend dies auch war, so dachte ich in der That nicht an eine Uebereinstimmung, bis nach und nach durch eine Reihe weiterer Beobachtungen, welche im Laufe mehrerer Jahre hinzukamen, ich darauf geführt wurde, viele Gewebe chemisch darauf zu untersuchen[121]. Dabei stellte es sich heraus, dass fast gar kein zellenreiches Gewebe vorkommt, in dem jene Substanz sich nicht in grosser Masse vorfände; allein nur die Nervenfaser hat die Eigenthümlichkeit, dass die Substanz als solche sich abscheidet, während sie in allen anderen zelligen Theilen in einer fein vertheilten Weise im Inneren der Elemente enthalten ist und erst bei chemischer Veränderung des Inhaltes oder bei chemischen Einwirkungen auf denselben frei wird. Wir können aus den Blutkörperchen, aus den Eiterkörperchen, aus den epithelialen Elementen der verschiedensten drüsigen Theile, aus dem Inneren der Milz und ähnlicher Drüsen ohne Ausführungsgänge überall durch Extraction mit heissem Alkohol diesen Stoff gewinnen. Es ist dieselbe Substanz, welche den grössten Bestandtheil der gelben Dottermasse im Hühnerei bildet, von wo ihr Geschmack und ihre Eigenthümlichkeit, namentlich ihre eigenthümliche Zähigkeit und Klebrigkeit, welche den höheren technischen Zwecken der Küche so vortrefflich dient, jedermann hinlänglich bekannt ist. Ich schlug für diese Substanz den Namen =Markstoff= oder =Myelin= vor. Später hat O. =Liebreich= diesen Körper genauer studirt und nachgewiesen, dass das gewöhnliche Myelin keine ganz reine chemische Substanz ist; ihren wesentlichen Antheil bildet eine Stickstoff und Phosphor enthaltende Substanz, welcher er den Namen =Protagon= beigelegt hat. Andere Untersucher haben denn auch aus den anderen von mir angegebenen Theilen, wie aus Blutkörperchen und Eiter, Protagon dargestellt. [121] Archiv. 1845. VI. 562. Für die Lehre von den Nervenfunctionen hat diese Substanz das besondere Interesse, dass sie die Veranlassung zu der oft besprochenen Auffassung von der Bedeutung des Phosphors für die eigentliche Nerventhätigkeit, namentlich auch für die Denkthätigkeit gegeben hat. Auch hat man pathologisch geglaubt, aus vermehrter Abscheidung von Phosphorverbindungen durch die Secretionsorgane, namentlich durch die Nieren, auf einen vermehrten Verbrauch von Nervensubstanz schliessen zu können. Wenn es nun auch richtig ist, dass Phosphorsäure (in Verbindung mit Glycerin) ein gewöhnliches Zersetzungsproduct des Protagons ist, und wenn daher bei vollständiger Zerstörung von Nerven- oder Gehirntheilen Phosphorsäure in grösserer Menge in's Blut und in die Secrete gelangen kann, so ist doch leicht ersichtlich, dass dieselbe in keiner Weise der eigentlich fungirenden Substanz des Nerven oder des Gehirns entstammt, und dass sie am allerwenigsten da erwartet werden kann, wo bei Erhaltung des Nerven als solchen nur ein durch seine Thätigkeit vermehrter Umsatz seiner Substanz vorausgesetzt wird. Das »Phosphoresciren der Gedanken« kann also zu den Träumen der Wissenschaft gerechnet werden. Wird die Ernährung des Nerven erheblich gestört, so nimmt die Markscheide an Masse ab, ja sie kann unter Umständen gänzlich verschwinden, so dass der weisse Nerv wieder auf einen grauen oder gelatinösen Zustand zurückgeführt wird. Das gibt eine =graue Atrophie=, =gelatinöse Degeneration=, wobei die Nervenfaser an sich existirt und nur die besondere Anfüllung mit Markmasse leidet. Daraus erklärt es sich, dass man an vielen Punkten, wo man früher nach der anatomischen Erfahrung einen vollständig functionsunfähigen Theil erwarten zu dürfen glaubte, durch die klinische Beobachtung mit Hülfe der Electricität den Nachweis liefern konnte, dass der Nerv noch functionsfähig sei, wenn auch in einem geringeren Maassstabe, als normal, und so ist auch diese Erfahrung wieder ein Beweis geworden, dass das Mark nicht derjenige Bestandtheil sein kann, an welchen die Function des Nerven als solche gebunden ist. Zu demselben Schluss haben auch die physikalischen Untersuchungen geführt, und man betrachtet daher gegenwärtig ziemlich allgemein den Axencylinder als den wesentlichen Theil des Nerven. Derselbe ist auch im blassen Nerven vorhanden, aber nur im weissen Nerven hebt er sich durch seine Ablösung von der umgebenden Markscheide deutlicher hervor. Der Axencylinder würde also die eigentliche =electrische Substanz= der Physiker sein, und man kann allerdings die Hypothese zulassen, dass die Markscheide mehr als eine isolirende Masse dient, welche die Electricität in dem Nerven selbst zusammenhält und deren Entladung eben nur an den marklosen Enden der Fasern zu Stande kommen lässt. Die Besonderheit des Markstoffes äussert sich am häufigsten darin, dass, wenn man einen Nerven zerreisst oder zerschneidet, das Mark gewöhnlich aus demselben hervortritt (Fig. 87, _m_, _m_) und zugleich, namentlich bei Einwirkung von Wasser, eine eigenthümliche Runzelung oder Streifung annimmt (Fig. 89, _A_). Es saugt nehmlich Wasser auf, was allein beweist, dass es keine neutrale fettige Substanz in dem früher angenommenen Sinne ist, sondern höchstens wegen seines grossen Quellungsvermögens mit gewissen seifenartigen Verbindungen verglichen werden kann. Je länger die Einwirkung des Wassers dauert, um so längere Massen von Markstoff schieben sich aus den Nerven heraus. Diese haben ein eigenthümlich bandartiges Aussehen, bekommen immer neue Runzeln, Streifen und Schichtungen, und führen zu den sonderbarsten Figuren. Häufig lösen sich auch einzelne Stücke los und schwimmen als besondere, geschichtete Körper herum, welche in neuerer Zeit zu Verwechselungen mit den Corpora amylacea Veranlassung gegeben haben, von denen sie sich jedoch durch ihre chemischen Reactionen auf das Bestimmteste unterscheiden. -- [Illustration: =Fig=. 90. Breite und schmale Nervenfasern aus dem N. cruralis mit unregelmässiger Aufquellung des Markstoffes. Vergr. 300.] In Beziehung auf die histologische Verschiedenheit der Nerven unter sich ergibt die Untersuchung, dass an manchen Orten die eine oder andere Art ihrer Ausbildung ausserordentlich vorwaltet. Einerseits nehmlich unterscheiden sich die Nerven wesentlich durch die Breite ihrer Primitivfasern, andererseits durch die Markhaltigkeit derselben. Es gibt sehr breite, mittlere und kleine weisse, und ebenso breite und feine graue Fasern. Eine sehr beträchtliche Grösse erreichen die grauen überhaupt selten, weil die Grösse eben abhängig ist von der Zunahme des Inhaltes, allein überall zeigt sich doch wieder eine Verschiedenheit, so dass gewisse Nerven feiner, andere gröber sind. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass in den Endstücken die Nervenfasern in der Regel feiner werden, und dass die letzte Verästelung verhältnissmässig die feinsten zu enthalten pflegt; jedoch ist das keine absolute Regel. Beim Opticus finden wir schon vom Augenblicke seines Eintrittes in das Auge an gewöhnlich nur ganz schmale, blasse Faser (Fig. 88, _a_), während die Nerven der Tastkörperchen der Haut bis ans Ende verhältnissmässig breite und dunkel contourirte Fasern zeigen (Fig. 92). Eine sichere Ansicht über die Bedeutung der verschiedenen Faserarten je nach ihrer Breite und Markhaltigkeit hat sich bis jetzt noch nicht gewinnen lassen. Eine Zeit lang hat man geglaubt, Unterschiede der Art aufstellen zu können, dass die breiten Fasern als Abkömmlinge des Cerebrospinal-Centrums, die feinen als Theile des Sympathicus betrachtet werden müssten, allein dies ist nicht durchzuführen, und man kann nur so viel sagen, dass die gewöhnlichen peripherischen Nerven allerdings einen grossen Gehalt an breiten, die sympathischen einen verhältnissmässig grösseren Antheil von feineren Fasern enthalten. An vielen Orten, wie z. B. im Unterleibe, überwiegen graue, breite Fasern (Fig. 87, _A_), deren nervöse Natur von Einigen noch bezweifelt wird. Es ist also vorläufig ein sicherer Schluss über die etwaige Verschiedenheit der Functionen aus dem blossen Bau noch nicht zu ziehen, obwohl kaum bezweifelt werden kann, dass solche Verschiedenheiten vorhanden sein müssen, und dass eine breite Faser an sich andere Fähigkeiten, sei es auch nur quantitativ verschiedene, darbieten muss, als eine feine, eine markhaltige andere, als eine marklose. Allein über alles das ist bis jetzt mit Sicherheit nichts ermittelt; und seitdem durch die feinere physikalische Untersuchung nachgewiesen ist, dass alle Nerven, nicht wie man früher annahm, nur nach der einen oder der anderen Seite hin leiten, sondern die Leitungsfähigkeit nach beiden Seiten hin besitzen, so scheint es nicht gerechtfertigt, Hypothesen über die centripetale oder centrifugale Leitung an diese Erfahrung von der verschiedenen Breite der Fasern unmittelbar anzuknüpfen. Die grosse Verschiedenheit, welche in Beziehung auf die Function der einzelnen Nerven zu bemerken ist, lässt sich bis jetzt nicht so sehr auf die Verschiedenartigkeit des Baues derselben beziehen, als vielmehr auf die Besonderheit der Einrichtungen, mit welchen der Nerv verbunden ist. Es ist einerseits die besondere Bedeutung des Centralorgans, von welchem der Nerv ausgeht, andererseits die besondere Beschaffenheit des Endes, in welches er gegen die Peripherie hin verläuft, welche seine specifische Leistung erklären. In der Verfolgung der Endigungen, welche die Nerven gegen die Peripherie hin darbieten, hat die Histologie gerade in den letzten Jahren wohl ihre glänzendsten Triumphe gefeiert. Früherhin stritt man sich bekanntlich darum, ob die Nerven in Schlingen ausgingen oder in Plexus oder frei endigten, und man war gleich exclusiv nach der einen, wie nach der anderen Richtung hin. Heutzutage haben wir Beispiele für die meisten dieser Endigungen, am wenigsten aber für die Form, welche eine Zeit lang als die regelrechte betrachtet wurde, nehmlich für die Schlingenbildung. [Illustration: =Fig=. 91. Vater'scher oder Pacini'scher Körper aus dem Unterhautfettgewebe der Fingerspitze. _S_ Der aus einer dunkelrandigen, markhaltigen Primitiv-Nervenfaser _n_ und dem dicken, mit Längskernen versehenen Perineurium _p_, _p_ bestehende Stiel. _C_ Der eigentliche Körper mit concentrischen Lagen des kolbig angeschwollenen Perineurium und der centralen Höhle, in welcher der blasse Axencylinder fortläuft und frei endigt. Vergr. 150.] Die deutlichste, aber sonderbarer Weise functionell bis jetzt am wenigsten bekannte Endigungsform ist die in den sogenannten =Vater'schen= oder =Pacini'schen Körpern=, -- Organen, über deren Bedeutung man immer noch nichts anzugeben weiss. Man findet sie beim Menschen verhältnissmässig am meisten ausgebildet im Fettgewebe der Fingerspitzen, aber auch in ziemlich grosser Anzahl im Gekröse, am deutlichsten und bequemsten aber im Mesenterium der Katzen, in welches sie ziemlich weit hinaufreichen, während sie beim Menschen gewöhnlich bloss an der Wurzel des Gekröses liegen, wo das Duodenum mit dem Pancreas zusammenstösst, in der Nähe des Plexus solaris. Ueberdies zeigt sich eine sehr grosse Variabilität bei verschiedenen Individuen. Einige haben sehr wenig, andere sehr viel davon, und es ist sehr leicht möglich, dass daraus gewisse individuelle Eigenthümlichkeiten resultiren. So habe ich z. B. mehrmals bei Geisteskranken sehr viele solche Körper gefunden, worauf ich indessen vorläufig kein grosses Gewicht legen will. Ein Pacini'scher Körper stellt, mit blossem Auge gesehen, ein weissliches, gewöhnlich ovales und an dem einen Ende etwas zugespitztes, 1-1-1/2''' langes Gebilde dar, das an einem Nerven festhängt, und zwar so, dass in einen jeden Körper nur eine einzelne Primitivfaser übergeht. Der Körper zeigt eine verhältnissmässig grosse Reihe von elliptischen und concentrischen Lagen oder Blättern, welche am oberen Ende ziemlich nahe an einander stossen, am unteren weiter von einander abweichen und im Inneren einen länglichen, gewöhnlich gegen das obere Ende spitzeren, von einer feinkörnigen Substanz erfüllten Raum umschliessen. Zwischen diesen Blättern erkennt man deutlich eine regelmässige Einlagerung von Kernen. Wenn man die Blätter gegen den nervösen Stiel hin verfolgt, so sieht man sie zuletzt in das hier sehr dicke Perineurium übergehen. Man kann sie daher als colossale Entfaltungen des Perineuriums betrachten, welche aber nur eine einzige Nervenfaser umschliessen. Verfolgt man nun die Nervenfaser selbst, so bemerkt man, dass der markhaltige Theil gewöhnlich nur bis in den Anfang des Körperchens reicht; dann verschwindet das Mark, und man sieht den Axencylinder allein fortgehen. Dieser verläuft nun in der centralen Höhle, um gewöhnlich in der Nähe des oberen Endes einfach, oft mit einer kleinen kolbigen Anschwellung, im Gekröse sehr häufig in einer spiralförmigen Windung zu enden. In seltenen Fällen kommt es vor, dass die Primitivfaser innerhalb des Körperchens sich in zwei oder mehrere Aeste theilt. Aber jedesmal scheint hier eine Art von Endigung vorzuliegen. Was die Körper zu besagen haben, welche Verrichtung sie ausüben, ob sie irgend etwas mit sensitiven Functionen zu thun haben, oder ob sie irgend eine Leistung des Centrums anzuregen berufen sind, darüber wissen wir bis jetzt nichts. -- Eine gewisse Aehnlichkeit mit diesen Gebilden zeigen die in der letzten Zeit so viel discutirten =Tastkörper=. Wenn man die Haut und namentlich den empfindenden Theil derselben mikroskopisch untersucht, so unterscheidet man, wie dies von =Meissner= und =Rud=. =Wagner= zuerst gefunden ist, zweierlei Arten von Papillen oder Wärzchen, mehr schmale und mehr breite, zwischen denen freilich Uebergänge vorkommen (Fig. 92). In den schmalen findet man constant eine einfache, zuweilen eine verästelte Gefässschlinge, aber keinen Nerven. Es ist diese Beobachtung insofern wichtig, als wir durch sie zur Kenntniss eines neuen nervenlosen Theiles gekommen sind. In der anderen Art von Papillen findet man dagegen sehr häufig gar keine Gefässe, sondern Nerven und jene eigenthümlichen Bildungen, welche man als Tastkörper bezeichnet hat. [Illustration: =Fig=. 92. Nerven- und Gefässpapillen von der Haut der Fingerspitze, nach Ablösung der Oberhaut und des Rete Malpighii. _A_ Nervenpapille mit dem Tastkörper, zu dem zwei Primitivfasern _n_ treten: im Grunde der Papille feine elastische Netze _e_, von denen feine Fasern ausstrahlen, zwischen und an denen Bindegewebskörperchen zu sehen sind. _B_, _C_, _D_ Gefässpapillen, bei _C_ einfache, bei _B_ und _D_ verästelte Gefässschlingen, daneben feine elastische Fasern und Bindegewebskörperchen; _p_ der horizontal fortlaufende Papillarkörper, bei _c_ feine sternförmige Elemente der eigentlichen Cutis. Vergr. 300.] Der Tastkörper erscheint als ein von der übrigen Substanz der Papille ziemlich deutlich abgesetztes, länglich ovales Gebilde, das =Wagner=, freilich etwas kühn, mit einem Tannenzapfen verglichen hat. Es sind meistens nach oben und unten abgerundete Knoten, an denen man nicht, wie an den Pacini'schen Körpern, eine längliche Streifung sieht, sondern vielmehr eine Querstreifung mit querliegenden Kernen. Zu jedem solchen Körper tritt nun ein Nerv und von jedem kehrt ein Nerv zurück, oder richtiger, man sieht gewöhnlich an jeden Körper zwei Nervenfäden treten, meistentheils ziemlich nahe an einander, die sich bequem bis an die Seite oder die Basis des Körpers verfolgen lassen. Von da ab ist der Verlauf sehr zweifelhaft, und in einzelnen Fällen variiren die Zustände so sehr, dass es noch nicht gelungen ist, mit Bestimmtheit das gesetzmässige Verhalten der Nerven zu diesen Körpern zu ermitteln. In manchen Fällen sieht man nehmlich ganz deutlich den Nerven hinaufgehen und auch wohl sich um den Körper herumlegen. Zuweilen scheint es, als ob wirklich der Tastkörper in einer Nervenschlinge liege und auf diese Weise die Möglichkeit einer intensiveren Einwirkung äusserer Anstösse auf den Nerven gegeben sei. Andere Male sieht es wieder aus, als ob der Nerv viel früher schon aufhörte und sich in den Körper selbst einsenkte. Einige haben angenommen, wie =Meissner=, dass der Körper selbst dem Nerven angehöre, welcher an seinem Ende anschwölle. Dies halte ich nicht für richtig; nur das scheint mir zweifelhaft zu sein, ob der Nerv im Innern des Körpers endigt oder im Umfange desselben eine Schlinge bildet. Neuere Untersuchungen von P. =Langerhans= haben jedoch gelehrt, dass die Nervenpapillen ausser den zu den Tastkörpern gehenden markhaltigen Fasern noch ein sehr reiches Geflecht markloser Fasern enthalten, welche von Strecke zu Strecke kernhaltige, ganglienartige Anschwellungen besitzen. Von diesen gehen feine Fortsätze aus, welche über die Grenze der Papillen hinaus in das Rete Malpighii eindringen und zwischen den Zellen desselben birnförmige Anschwellungen bilden, von welchen wiederum feine Fortsätze ausgehen. Letztere dringen bis zwischen die oberen Lager der Rete-Zellen und endigen hier mit feinen, knopfartigen Anschwellungen. Dieses marklose Geflecht findet sich übrigens auch an Stellen der Haut, wo keine Papillen und Tastkörper vorkommen. Abgesehen von der anatomischen und physiologischen Frage, hat das Beispiel der Hautpapillen einen grossen Werth für die Deutung pathologischer Erscheinungen, weil wir hier in an sich ganz ähnlichen Theilen zwei vollkommene Gegensätze finden: =einerseits nervenlose und gefässreiche, andererseits gefässlose, nur mit Nerven versehene Papillen=. Die besonderen Beziehungen, welche die Lager des Rete und der Epidermis zu den beiden Arten von Papillen haben, scheinen, abgesehen von den marklosen Fasern, keine wesentlichen Verschiedenheiten darzubieten. Die Zellen der Oberhaut ernähren sich über den einen, wie über den anderen, und sie scheinen über den einen so wenig innervirt zu werden, wie über den anderen. Dies sind Thatsachen, welche auf eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Theile hindeuten und welche bestimmte Gesichtspunkte liefern, dass grosse, selbst nervenreiche Theile ohne Gefässe bestehen, sich erhalten und functioniren können, und dass andererseits Theile, die verhältnissmässig viele Gefässe enthalten, absolut der Nerven entbehren können, ohne in Unordnung ihrer Ernährungszustände zu gerathen. Freilich ist dies an keinem Orte augenfälliger, als an der Haut und gerade deshalb scheint mir die Verschiedenheit der einzelnen Hautwärzchen untereinander theoretisch so wichtig zu sein, dass ich die Aufmerksamkeit dafür besonders in Anspruch nehmen zu müssen glaube. Denkt man sich an einer Hautpapille die Gefässe, Nerven und Tastkörper hinweg, so bleibt nur noch eine geringe Masse von Gewebe übrig, aber auch innerhalb dieses geringen Restes gibt es noch wieder zellige Elemente mit Intercellularsubstanz (Bindegewebe). Die Sache ist demnach so, dass unmittelbar an die (epidermoidalen) Zellen des Rete Malpighii Bindegewebe mit Bindegewebskörperchen (Fig. 17) stösst, welche sich nach der Injection sehr deutlich von den Gefässen unterscheiden (Fig. 92). Besonders günstig für eine Untersuchung ist der Fall, wenn durch irgend eine Erkrankung, z. B. den Pockenprocess, eine leichte Schwellung der ganzen Haut stattgefunden hat und die Elemente ein wenig grösser sind, als normal. In gewöhnlichen Papillen ist es etwas schwieriger, die Bindegewebselemente wahrzunehmen, doch sieht man sie bei genauerer Betrachtung überall, auch neben den Tastkörpern. Demnach findet sich auch in den feinsten Ausläufern der Haut gegen die Oberfläche hin nicht eine amorphe Masse, welche in einem constanten Ernährungs-Verhältnisse zu Gefässen und Nerven steht; vielmehr erscheint als einheitliche Einrichtung, als eigentlich constituirende Grundmasse der verschiedenen (Gefäss- und Nerven-) Papillen immer nur die Bindegewebssubstanz. Erst dadurch gewinnen die einzelnen Papillen eine verschiedene Bedeutung, dass zu dieser Grundmasse in dem einen Falle Gefässe, in dem anderen Nerven hinzukommen. Wir wissen allerdings wenig über die besonderen Beziehungen, welche die gefässhaltigen Papillen zu den Functionen der Haut haben, indessen lässt sich kaum bezweifeln, dass, wenn man erst mehr im Stande sein wird, die verschiedenen Hautthätigkeiten zu sondern, auch den Gefässpapillen eine grössere Wichtigkeit zugesprochen werden wird. So viel können wir aber jetzt schon sagen, dass es falsch ist, sich zu denken, dass in einem jeden anatomischen Theile der Haut eine besondere Nervenverbreitung existire. Gleichwie physiologische Versuche zeigen, dass relativ grosse Empfindungskreise in der Haut vorhanden sind, so lehrt auch die feinere histologische Untersuchung, dass die Zahl der zur Oberfläche aufsteigenden Nerven eine relativ spärliche ist. Die Gefässe sind zahlreicher, als die ankommenden Nerven. Will man also die Haut in bestimmte Territorien eintheilen, so versteht es sich von selbst, dass die Nerven-Territorien grösser ausfallen müssen, als die Gefäss-Territorien. Aber auch jedes durch eine einzige Capillarschlinge bezeichnete Gefäss-Territorium (Papille) zerfällt wieder in eine Reihe von kleineren (Zellen-) Territorien, welche freilich alle an dem Ufer des einen Capillargefässes liegen, aber in sich begrenzt sind, indem jedes durch ein besonderes zelliges Element beherrscht wird[122]. [122] Archiv 1852. IV. 389. Auf diese Weise kann man es sich sehr wohl erklären, wie innerhalb einer Papille einzelne (Zellen-) Territorien erkranken können. Gesetzt z. B., ein solches Territorium schwillt an, vergrössert sich und wächst mehr und mehr hervor, so kann eine baumförmige Verästelung entstehen (spitzes Condylom, Fig. 93), ohne dass die ganze Papille in gleicher Weise afficirt wäre. Das Gefäss wächst erst späterhin nach und schiebt sich in die schon grösser gewordenen Aeste hinein. Nicht das Gefäss ist es, welches durch seine Entwickelung die Theile hinausschiebt, sondern die erste Entwickelung geht immer vom Bindegewebe des Grundstockes aus. Es hat daher das Studium der Hautzustände ein besonderes Interesse für die Kritik der allgemein-pathologischen Doctrinen. Was zunächst den neuropathologischen Standpunkt betrifft, so ist es ganz unbegreiflich, wie ein Nerv, der inmitten einer ganzen Gruppe von nervenlosen Theilen liegt, es machen soll, um innerhalb dieser Gruppe eine einzelne Papille, zu welcher er gar nicht hinkommt, zu einer pathologischen Thätigkeit zu vermögen, an welcher die übrigen Papillen desselben Nerven-Territoriums keinen Theil nehmen. Eben so schwierig ist die Deutung dieses Verhältnisses vom Standpunkte eines Humoralpathologen da, wo es sich um Erkrankungen von gefässlosen Papillen handelt. Selbst wo innerhalb einer Gefäss-Papille die verschiedenen Zellen-Territorien in verschiedene Zustände gerathen, würde diese Verschiedenheit der Zustände nicht wohl begreiflich sein, wenn man den ganzen Ernährungsvorgang einer Papille als einen einheitlichen und als direct abhängig von dem Generalzustande des Gefässes ansehen wollte, welches sie versorgt. [Illustration: =Fig=. 93. Der Grundstock eines spitzen Condyloms vom Penis mit stark knospenden und verästelten Papillen, nach völliger Ablösung der Epidermis und des Rete Malpighii. Vergr. 11.] Aehnliche Betrachtungen kann man freilich an allen Punkten des Körpers anstellen, indess bietet die Haut doch ein besonders günstiges Beispiel dafür, wie verkehrt es war, wenn man alle Gefässe unter einen particularen Nerveneinfluss stellte. Bleiben wir bei der Haut stehen, so beschränkt sich die Einwirkung, welche ein Nerv auszuüben im Stande ist, darauf, dass die zuführende Arterie, welche eine ganze Reihe von Papillen zusammen versorgt (Fig. 53), in einen Zustand der Verengerung oder Erweiterung versetzt wird, und dass dem entsprechend eine verminderte oder vermehrte Zufuhr zu einem grösseren Bezirke, einer Gruppe von Papillen stattfindet. W. =Krause= hat in der letzten Zeit an verschiedenen Schleimhäuten, wie an der Conjunctiva bulbi, in der Mundschleimhaut unter der Zunge und am weichen Gaumen, an den Papillen der Zunge, sowie an gewissen Uebergangsstellen von der äusseren Haut zur Schleimhaut, namentlich an den Lippen und der Eichel, =Endkolben= an den Nerven gefunden, welche sich den Tastkörperchen oder eigentlich noch mehr den Vater'schen Körperchen anschliessen. Es dringt nehmlich die schliesslich marklos gewordene Nervenfaser, zuweilen unter eigenthümlichen Windungen und Knäuelbildung, in eine sehr feinkörnige, von einer Bindegewebshülle umgebene Anschwellung ein. -- Betrachten wir nun andere Beispiele der Nerven-Endigungen, so zeigt sich nirgends eine Wahrscheinlichkeit für eigentliche Schlingenbildung. Ueberall, wo man sichere Kenntnisse gewinnt, ergibt sich, dass die Nerven entweder übergehen in einen grossen Plexus, in eine netzförmige Ausbreitung, oder dass sie direct endigen in besonderen Apparaten. Bei der Mehrzahl der letzteren verlieren sich die Nerven zuletzt in eigenthümliche, besonders gestaltete Ausläufer oder Fortsätze, welche theils neben den anderen Gewebselementen zerstreut liegen, theils zu besonderen Massen zusammengefügt sind. Eine solche Art der Endigung findet sich an allen =höheren Sinnesorganen=. Indess bietet die Untersuchung hier so grosse Schwierigkeiten, dass noch an keinem einzigen Punkte eine allgemein angenommene Auffassung gesichert ist. So viele Untersuchungen man auch über Retina und Cochlea, über Nasen- und Mundschleimhaut in den letzten Jahren gemacht hat, so sind doch die letzten Fragen über das histologische Detail, namentlich über den Zusammenhang der Nerven mit den Endapparaten, noch nicht ganz erledigt. Fast überall bleiben zwei Möglichkeiten für die Endigung der Nerven: entweder sie laufen gegen die Oberfläche hin in eigenthümliche, von den gewöhnlichen Nervenfasern abweichende Gebilde aus, welche aber doch den Nerven als solchen angehören, also selbst nervös sind, oder sie verbinden sich an ihrem Ende mit Elementen eines anderen Gewebstypus, z. B. mit Epithelialzellen. Die ersten Untersuchungen der =Nasen- und Mundschleimhaut= schienen mehr für das letztere Verhältniss zu sprechen. Man fand hier gewisse Stellen, welche sich durch die Beschaffenheit ihres Epithels wesentlich von der übrigen Schleimhaut unterscheiden: an der Nasenschleimhaut die sogenannte Regio olfactoria, an der Zunge die Papillae fungiformes (wenigstens beim Frosch). Während das Epithel an der gewöhnlichen Schleimhaut meist dicker und aus mehrfachen, über einander geschobenen Reihen an der Oberfläche flimmernder Cylinderzellen zusammengesetzt ist, bildet es an den genannten Orten eine einfache Lage von bald mehr, bald weniger gefärbten, nicht flimmernden Zellen. Letztere gehen nach unten (innen) in längere Fortsätze über, welche in das Bindegewebe eindringen. Als zuerst =Eckhardt= und dann =Ecker= an der Nasenschleimhaut diese Beobachtung machten, glaubten sie annehmen zu dürfen, dass diese Fortsätze sich mit den in dem Bindegewebe eingeschlossenen Nervenfasern unmittelbar verbänden. Allein mehr und mehr ist man von dieser Ansicht zurückgekommen, und es ist namentlich das Verdienst von =Max Schultze=, dargethan zu haben, dass die Nervenenden sich neben und zwischen jenen eigenthümlichen Epithelialzellen finden. Die Nervenfasern theilen sich an ihrem Ende in zahlreiche, kleine Fädchen, welche über das Bindegewebe hinaus zwischen die Epithelialzellen eintreten und sich hier zu besonderen zellenartigen, mit Kernen versehenen, jedoch sehr feinen Gebilden ausweiten, aus denen zuweilen noch wieder feinere Endfädchen über die freie Oberfläche hervorstehen. Damit ist die Frage nach der Bedeutung jener eigenthümlichen Epithelialzellen und ihrer Verbindungen nach innen hin noch immer nicht gelöst, aber so viel doch sichergestellt, dass die Geruchs- und Geschmacksobjecte =unmittelbar= mit den letzten Endgebilden der Nerven (=Riech=- =und Geschmackszellen=) in Berührung kommen. Ganz ähnliche Verhältnisse fand =Max Schultze= im inneren =Ohr=, namentlich in dem Vorhofe und den Ampullen, wo die letzten Nervenendigungen durch das Epithel hindurchtreten und in frei hervorstehende, steife Haare (=Hörhaare=) auslaufen. Die seit =Corti= so vielfach untersuchte Endigungsweise des Hörnerven in der Schnecke ist dagegen immer noch nicht ganz aufgeklärt. Hier findet sich ein überaus zusammengesetzter, sehr zarter Apparat, an welchem eine Reihe von Fasern mit gestielten Zellen etwa so in Verbindung steht, wie die Tasten eines Fortepiano's mit den Saiten desselben. Was hier nervös ist, was nicht, ist sehr schwer zu scheiden. Erst in der letzten Zeit hat A. =Böttcher= einen Zusammenhang der Endfasern des Nervus cochleae mit inneren und äusseren =Hörzellen= beschrieben, welche an der Seite der Bogenfasern im Canalis cochleae gelegen sind. Ungleich besser, obwohl immer noch nicht ganz vollständig, sind wir über die empfindenden Theile des =Auges= unterrichtet, und ich will daher, bei der grossen praktischen Bedeutung dieser, durch die Ophthalmoskopie der direkten Untersuchung bei Lebzeiten zugänglich gemachten Theile, etwas specieller darauf eingehen. [Illustration: =Fig=. 94. _A_ Verticalschnitt durch die ganze Dicke der Retina, nach Härtung in Chromsäure, _l_ Membrana limitans (anterior) mit den aufsteigenden Stützfasern. _f_ Faserschicht des Opticus. _g_ Ganglienschicht. _n_ graue feinkörnige Schicht mit durchtretenden Radiärfasern. _k_ Innere (vordere) Körnerschicht. _i_ Intermediäre oder Zwischenkörnerschicht. _k_' Aeussere (hintere) Körnerschicht. _s_ Stäbchenschicht mit Zapfen. Vergr. 300. _B_, _C_ (nach H. Müller) Isolirte Radiärfasern.] Alsbald nach seinem Eintritte in das Innere des Bulbus breitet sich der Opticus von der sogenannten Papille her nach allen Seiten so aus, dass seine völlig marklosen Fasern an der vorderen, dem Glaskörper zugewendeten Seite der Retina verlaufen (Fig. 94, _f_). Nach hinten schliesst sich daran eine verschieden dicke Lage, welche den Haupttheil der Retina ausmacht, aber in keiner Weise aus einer einfachen Ausstrahlung des Opticus hervorgeht. Diese Lage, welche man sehr uneigentlich eine Haut (Netzhaut) nennt, zeigt zu äusserst, der Pigmentzellenschicht der Aderhaut (Chorioides) unmittelbar anliegend, ein eigenthümliches Stratum, über welchem ein sonderbares Geschick geschwebt hat, indem man dasselbe längere Zeit an die vordere Seite der Retina verlegte; es ist dies die berühmte =Stäbchenschicht= (Fig. 94, _s_). Diese Schicht, welche zu den verletzbarsten Theilen des Auges gehört und deshalb den früheren Untersuchern vielfach entgangen war, besteht, wenn man sie von der Seite her betrachtet, aus einer sehr grossen Menge dicht gedrängter, radiär gestellter Stäbchen, zwischen denen in gewissen Abständen breitere zapfenförmige Körper erscheinen. Betrachtet man die Retina von der hinteren Oberfläche her, d. h. von der Seite der Chorioides aus, so sieht man in regelmässigen Abständen die Zapfen, umgeben von den Enden der Stäbchen, welche als feine Punkte erscheinen. Was nun zwischen der Stäbchenschicht und der eigentlichen Ausbreitung des Sehnerven liegt, das ist wieder ein sehr zusammengesetztes Ding, an welchem man eine Reihe regelmässig auf einander folgender Schichten unterscheiden kann. Zunächst vor der Stäbchenschicht und von derselben durch ein zartes Häutchen (Membrana limitans posterior s. externa M. =Schultze=) getrennt, folgt eine verhältnissmässig dicke Lage, welche fast ganz aus groben, runden Körnern zusammengesetzt erscheint: die sogenannte äussere Körnerschicht (Fig. 94, _k_'). Dann kommt eine verschieden starke, jedoch im Ganzen dünnere Lage von mehr amorphem Aussehen: die Zwischenkörnerschicht (Fig. 94, _i_). Dann kommen wieder gröbere Körner (die innere Körnerschicht), welche, wie die Körner der äusseren Lage, Kerne besitzen (Fig. 94, _k_). Darauf folgt nochmals eine feinkörnige oder vielmehr feinstreifige Lage von mehr grauem Aussehen (Fig. 94, _n_) und dann erst die ziemlich dicke Lage der Opticusfasern, welche ihrerseits nach vorne von einer Membran begrenzt wird, der Membrana limitans anterior s. interna (Fig. 94, _l_), welche dem Glaskörper dicht anliegt. Innerhalb der grauen Schicht sieht man, zum Theil noch in die Faserschicht des Opticus eingesenkt, eine Reihe von grösseren Zellen, die sich als Ganglienzellen ausweisen (Fig. 94, _g_). Sie hängen mit den Opticusfasern unmittelbar zusammen. Diese ausserordentlich zusammengesetzte Beschaffenheit einer auf den ersten Blick so einfachen, so zarten Membran macht es leicht erklärlich, dass es lange gedauert hat, ehe das Verhältniss ihrer einzelnen Theile auch nur annähernd ermittelt wurde. Einer der ersten Schritte, der in der Erkenntniss dieses Verhältnisses gemacht wurde, war die Entdeckung von =Heinrich Müller=, dass man von der Limitans interna aus bis tief in die Körnerschichten hinein eine Reihe von feinen parallelen Faserzügen verfolgen kann, =radiäre Fasern=, auch Müller'sche Fasern[123] genannt, welche an gewissen Stellen Kerne tragen (Fig. 94, _B_, _C_). Die Radiärfasern sind im Wesentlichen senkrecht auf den Verlauf der Opticusfasern gestellt, aber das Verhältniss beider zu einander ist schwer zu ergründen. Die grösste Schwierigkeit bestand darin, zu ermitteln, ob die radiäre Faser, sei es durch direkte Umbiegung, sei es durch seitliche Anastomose, in Opticus-oder Ganglienfasern übergehe, also selbst nervös sei, oder ob es sich nur um eine dichte Aneinanderlegung handle, so dass die Nerven nur in einem innigen Nachbarverhältnisse zu den Radiärfasern stehen. Auch den Tastkörper konnte man ja als eine körperliche Anschwellung des Nerven selbst oder als ein besonderes Gebilde ansehen, an welches der Nerv nur heran- oder hereintritt. Diese Frage ist lange streitig gewesen. Bald ist die Wahrscheinlichkeit etwas grösser geworden, dass es sich um direkte Verbindungen, bald dass es sich nur um Aneinanderlagerung handle. Zuerst verständigte man sich über die gröberen Faserzüge, welche von der Membrana limitans anterior mit breiter, fast dreieckiger Basis anheben (Fig. 94, _l_) und in regelmässigen Abständen durch die Retina nach hinten verlaufen; sie sind sicher bindegewebiger Natur und bilden ein =interstitielles Gewebe=, welches dem Ganzen eine Art von Halt oder Stütze bietet (=Stützfasern=). Ich habe zuerst durch die pathologische Beobachtung den Unterschied dieses Zwischengewebes von dem nervösen Antheil dargelegt[124]. =Max Schultze= hat sodann gezeigt, dass die vorderen Enden der Zapfen und Stäbchen mit den äusseren Körnern (Zapfen-und Stäbchenkörnern) zusammenhängen und diese wiederum in feine Fasern übergehen, welche die Zwischenkörnerschicht durchsetzen. An der Grenze der inneren Körnerschicht angelangt, bildet jede Faser eine kleine dreieckige Anschwellung, aus welcher nach =Hasse= je drei Fädchen ausgehen, die in die äussere Körnerschicht eintreten. Hier wird vermuthet, dass sie mit den Körnern selbst zusammenhängen, und dass andererseits diese wieder mit Fortsätzen der Ganglienzellen in direkter Verbindung stehen. Indess ist es noch nicht gelungen, diese überaus zarten und verwickelten Verhältnisse ganz zu entwirren. Noch weniger ist es klar, in welcher Ausdehnung das interstitielle Gewebe dieser Schichten mit eigenen zelligen Elementen ausgestattet ist; nur das scheint festzustehen, dass auch die gröberen Radiärfasern dem Bindegewebe angehören. [123] Neuerlich nennt =Kölliker= nur diejenigen Fasern, welche mit den nervösen Theilen zusammenhängen, Müller'sche. [124] Archiv 1856. X. 177. Taf. II. Fig. 4-5. Trotz dieser Mängel kann schon jetzt nicht mehr bezweifelt werden, dass für die Licht-Empfindung der ganze Apparat wesentlich ist, und dass der Opticus an sich mit allen seinen Fasern und Ganglienzellen existiren könnte, ohne irgendwie die Fähigkeit zu haben, Lichteindrücke zu empfangen; diese erlangt er erst durch seine Verbindung mit der Stäbchenschicht und den Körnerlagen. Gerade die Papilla optici, d. h. die Stelle des Augen-Hintergrundes, wo bloss Opticusfasern liegen und nicht ein solcher Apparat, ist zugleich die einzige, welche nicht sieht (blinder Fleck). Damit das Licht also überhaupt in die Lage komme, auf den Sehnerven einwirken zu können, bedarf es der Berührung mit jenem Endapparat, und, nachdem M. =Schultze= gefunden hat, dass die letzten Ausläufer der Nerven in Form feinster Fäserchen die Limitans externa durchbohren und sich den Stäbchen und Zapfen äusserlich anlegen, so ist es auch physikalisch nicht zweifelhaft, dass der Nerv nicht selbst die Vibrationen der Lichtwellen empfängt, sondern dass die Schwingungen der Zapfen und Stäbchen auf die Enden des Sehnerven einwirken und in denselben die eigenthümliche Licht-Erregung erzeugen. Bei Erwägung dieser Verhältnisse wird man sich der Ueberzeugung nicht entziehen können, dass die specifische Energie der einzelnen Nerven nicht sowohl in der Besonderheit des inneren Baues ihrer Fasern als solcher beruht, sondern dass es wesentlich auf die besondere Art der Endeinrichtung ankommt, mit welcher der Nerv, sei es durch Continuität, sei es durch Contact, in Verbindung steht. Nur darin beruht die besondere Fähigkeit der einzelnen Sinnesnerven. Betrachtet man einen Querschnitt des Opticus ausserhalb des Auges, so bietet er keine solchen Besonderheiten anderen Nerven gegenüber dar, dass sie erklären könnten, warum gerade dieser Nerv für Licht mehr leitungsfähig ist, als die anderen Nerven; erwägt man dagegen die besonderen Verhältnisse, unter welchen sich seine letzten Enden verbreiten, so wird die ungewöhnlich grosse Empfindlichkeit der Retina gegen das Licht vollständig begreiflich. -- Aehnlich verhält es sich mit den übrigen Sinnesnerven. -- Die bisherige Erörterung bezog sich wesentlich auf Empfindungs-und Sinnesnerven, bei denen es sich darum handelte, ihre peripherischen Enden durch besondere Anordnung oder Ausstattung für die Aufnahme der Sinneseindrücke zu befähigen. Anders verhält es sich mit derjenigen Klasse von Nerven, welche von den Centralorganen aus die Anregung zu besonderen Thätigkeiten der Peripherie zuleiten sollen. Ich will sie kurzweg als =Arbeitsnerven= bezeichnen. Dahin gehören vor Allen die Muskel- und Drüsennerven. Auch sie erlangen ihre eigentliche Bedeutung erst durch ihre Verbindung mit besonderen Apparaten, aber sie unterscheiden sich dadurch von den Empfindungsnerven, dass diese Apparate nicht mehr Bestandtheile der Nerven, sondern selbständige Einrichtungen sind, welche nur der Anregung der Nerven bedürfen, um in Thätigkeit zu gerathen. Auch hier haben erst die letzten Jahre Aufklärung gebracht. Zuerst zeigte =Doyère= bei Wirbellosen einen nahen Zusammenhang der motorischen Nerven mit den Muskeln. Er fand, dass eine feine Nervenfaser an das Primitivbündel selbst herantritt und hier mit einer eigenthümlichen Anschwellung, dem =Nervenhügel=, endigt (S. 81). Später hat W. =Kühne= diese Verhältnisse in grosser Ausdehnung bei den Wirbelthieren und dem Menschen verfolgt. Es hat sich ergeben, dass eine einzelne markhaltige Nervenfaser bis zu dem einzelnen Primitivbündel (Muskelfaser) herantritt, das Sarkolemm desselben durchbohrt, marklos wird und sich schnell zu einer, mit Kernen reichlich versehenen Endplatte (=elektrische Platte=) ausbreitet, welche sich unmittelbar auf die muskulöse Substanz auflegt. An organischen Muskelfasern hat =Frankenhäuser= unmittelbare Verbindungen der Nervenenden mit den Kernkörperchen bemerkt. In ähnlicher Weise haben sich Verbindungen der Nervenenden mit Drüsenzellen ergeben. =Pflüger= hat an der Speicheldrüse gesehen, wie die Nerven die Tunica propria durchbrechen und sich mit den Drüsenzellen selbst, ja sogar mit den Kernen derselben verbinden, -- eine Art der Vereinigung, die er später auch von der Leber beschrieben hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sich diese Erfahrungen schnell vermehren, und damit für das Studium der Innervationsvorgänge ein ganz neues Gebiet der Erfahrungen sich erschliessen. Zahlreiche zerstreute Beobachtungen der früheren Zeit deuten darauf hin, und schon jetzt haben sie jede Möglichkeit, das sogenannte Continuitätsgesetz wieder aufzurichten, von vorn herein beseitigt (S. 80). -- [Illustration: =Fig=. 95. Theilung einer Primitiv-Nervenfaser bei _t_, wo sich eine Einschnürung findet; _b_', _b_'' Aeste. _a_ eine andere Faser, welche die vorige kreuzt. Vergröss. 300.] Bevor wir jedoch die Betrachtung über die Nerven-Endigungen abschliessen, müssen wir noch eine kurze Zeit bei der Untersuchung verweilen, wie sich die Nerven verhalten, bevor sie in diese Endausbreitungen übergehen. Hier kommen noch zwei Punkte in Betracht: nehmlich ihre =Verästelung= und ihre =plexusartige Ausbreitung=. Es sind dies Punkte, auf welche die neueren Untersucher hauptsächlich durch =Rudolf Wagner= geleitet worden sind. Die Untersuchungen, welche dieser Forscher über die Verbreitung der Nerven im elektrischen Organ der Fische anstellte, gaben den wesentlichen Anstoss zu der Begründung der Lehre von der Verästelung der Nervenfasern. Bis dahin hatte man die Nervenfasern als zusammenhängende, einfache Röhren betrachtet, welche vom Centrum bis ans Ende einfach neben einander fortliefen. Gegenwärtig weiss man, dass sich die Nerven wie Gefässe verbreiten. Indem sich eine Nervenfaser direkt, gewöhnlich dichotomisch theilt, ihre Aeste sich wieder theilen und so fort, so entsteht zuweilen eine überaus reiche Verästelung. Die Bedeutung derselben ist natürlich höchst verschieden, je nachdem der Nerv sensitiv oder motorisch ist, je nachdem er also entweder von einer grösseren Fläche her die Eindrücke sammelt, oder auf eine grössere Fläche hin die motorische Erregung ausstrahlt. Ein wahrhaft miraculöses Beispiel haben wir in der neueren Zeit kennen gelernt in dem Nerven des durch die interessanten Experimente du =Bois-Reymond='s so berühmt gewordenen elektrischen Welses (Malapterurus). Hier hat =Bilharz= gezeigt, dass der Nerv, welcher das elektrische Organ versorgt, ursprünglich nur eine einzige mikroskopische Primitivfaser ist, welche sich immer wieder und wieder theilt und sich schliesslich in eine enorm grosse Masse feinster Aeste auflöst, welche sich an das elektrische Organ verbreiten. In diesem Falle muss also die Wirkung mit einem Male von einem Punkte aus sich über die ganze Ausbreitung der elektrischen Platten äussern. Beim Menschen fehlen uns für diese Frage noch bestimmte Anhaltspunkte, weil die colossalen Entfernungen, über welche die einzelnen Nerven sich verbreiten, es fast unmöglich machen, einzelne bestimmte Primitivfasern vom Centrum bis in die letzte Peripherie zu verfolgen. Aber es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass auch beim Menschen in einzelnen Organen analoge Einrichtungen existiren, wenn auch vielleicht nicht so frappante. Vergleicht man die Grösse der Nervenstämme an gewissen Punkten mit der Summe von Wirkungen, die in einem Organe, z. B. in einer Drüse stattfinden, so kann es kaum zweifelhaft erscheinen, dass analoge Einrichtungen auch hier vorhanden sind. Diese Art der Verbreitung hat insofern ein besonderes Interesse, als viele räumlich getrennte Theile dadurch unter einander verbunden werden. Das elektrische Organ der Fische besteht aus einer Menge von Platten, aber nicht jede Platte wird auf einem nur für sie bestimmten Wege vom Centrum aus innervirt. Der Wels setzt nicht diese oder jene Platte in Bewegung, sondern er muss das Ganze in Bewegung setzen; ja er ist ausser Stande, die Wirkung zu zerlegen. Er kann die Wirkung stärker oder schwächer einrichten, aber er muss jedesmal das Ganze in Anspruch nehmen. Denken wir uns dem entsprechend gewisse Muskeleinrichtungen, so haben wir auch da keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass jedes Element des Muskels besondere, ungetheilt vom Centrum ausgehende und somit unabhängige Nervenfasern empfange. Im Gegentheil findet in der Regel eine besondere Zerlegung der Nerven-Wirkung in den Muskeln nur in sehr beschränktem Maasse statt, wie wir ja aus eigener Erfahrung an uns selbst wissen, und wenn, wie wir sehen, auch die einzelnen Muskelfasern in unmittelbarer Verbindung mit einzelnen Nervenfasern stehen, welche in sie eingehen, so sind dies doch nicht Fasern, welche als einfache, ungetheilte Bahnen vom Centrum ausgehen, sondern eben nur Endäste einfacherer Stämme. Vom neuristischen Standpunkte aus schliesst man, dass =der Wille= oder =die Seele= oder =das Gehirn= im Stande sei, durch besondere Fasern auf jeden einzelnen Theil zu wirken; in der That ist dies aber gar nicht der Fall, sondern es bleibt den Centren meist nur ein einziger Weg zu einer Summe gleichartiger Elementar-Apparate. [Illustration: =Fig=. 96. Nervenplexus aus der Submucosa des Darmes vom Kinde, nach einem Präparate von Hrn. =Billroth=. _n_, _n_, _n_ Nerven, welche sich zu einem Netze verbinden, in dessen Knotenpunkten kernreiche, ganglioforme Anschwellungen liegen. _v_, _v_ Gefässe, dazwischen Kerne des Bindegewebes. Vergr. 180.] Was nun die =Nervenplexus= anbetrifft, so kennen wir gegenwärtig beim Menschen die ausgedehntesten Einrichtungen der Art in der Submucosa des Darmes, wo zuerst durch =Meissner=, dann durch =Billroth= und =Manz= die Verhältnisse genauer erörtert worden sind. Die Submucosa des Darms ist darnach, wie schon =Willis= sagte, eine Tunica nervea. Wenn man den eintretenden Nerven nachgeht, so sieht man, dass sie, nachdem sie sich getheilt haben, zuletzt in wirkliche Netze übergehen, welche bei Neugebornen an gewissen Stellen sehr grosse kernreiche Knotenpunkte haben, von denen aus sie in Geflechte ausstrahlen, so dass dadurch eine so grosse Aehnlichkeit mit dem Capillarnetz entsteht, dass einzelne Beobachter beide verwechselt haben. Wie weit sich solche Einrichtungen im Körper überhaupt erstrecken, ist noch nicht ergründet, denn auch hier handelt es sich um fast ganz neue Thatsachen, welche erst in letzter Zeit die Aufmerksamkeit der Untersucher mehr in Anspruch nahmen. Wahrscheinlich wird sich die Zahl solcher Nervenhäute erheblich vergrössern lassen. =His= hat gezeigt, dass die Gefässnerven sich zum Theil in grossen plexiformen Auflösungen an den Gefässhäuten verbreiten, und L. =Auerbach= hat in der Muscularis des Darmes ein eben so ausgedehntes, als in seinen einzelnen Einrichtungen merkwürdiges Geflecht, den von ihm sogenannten =Plexus myentericus= nachgewiesen. Um jedoch etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, muss ich sogleich hinzusetzen, dass manche dieser plexusartigen Ausbreitungen keineswegs einfach sind. Am Darm tragen die erwähnten grösseren Knotenpunkte den Habitus von Ganglien an sich, so dass gewissermaassen neue Sammelpunkte des Nervenapparates mit der Möglichkeit einer Verstärkung oder Hemmung der Wirkungen eintreten. Für die Function ist diese Einrichtung offenbar von grosser Bedeutung, denn wir würden uns am Darm die peristaltische Bewegung nicht wohl erklären können, wenn nicht eine Einrichtung existirte, welche von Netz zu Netz, von Theil zu Theil Reize übertrüge, die nur an einem Punkte dem Darme zugekommen sind. Die bis vor Kurzem bekannten Verhältnisse der Nervenverbreitung genügten nicht, um den Modus der peristaltischen Bewegung einigermaassen zu erklären, während sich hier die bequemsten Anhaltspunkte der Deutung bieten. -- So viel im Wesentlichen über die allgemeinen Formen, welche man bis jetzt für die peripherischen Endigungen der Nerven kennt. Im Ganzen entsprechen diese Erfahrungen wenig dem, was man sich früher gedacht hat, und was noch jetzt die Neuropathologen annehmen. Die Vorstellung eines Neuropathologen von reinem Wasser geht bekanntlich dahin, dass ein Nervencentrum im Stande sei, vermittelst der Nervenfasern auf jeden kleinsten Theil seines Territoriums eine besondere Wirkung auszuüben. Soll an einem kleinen Punkte des Körpers Krebsmasse oder Eiter entstehen oder eine einfache Ernährungsstörung erfolgen, so bedarf der Neuropatholog einer Einrichtung, vermöge welcher das Centralorgan im Stande ist, der Peripherie innerhalb ihrer kleinsten Bezirke seine Einwirkung =gesondert= zukommen zu lassen, irgend eines Weges, auf welchem die Boten gehen können, welche nun einmal die Ordre jedem einzelnen der entferntesten Punkte des Organismus zu überbringen bestimmt sind. Die wirkliche Erfahrung lehrt nichts der Art. Gerade an den Stellen, wo wir eine so ausserordentlich vervielfältigte Einrichtung der Endapparate kennen, wie ich sie bei den Sinnesorganen schilderte, haben die Nerven keine Beziehung auf die Ernährung und insbesondere keine nachweisbare Einwirkung auf elementare Theile. Fast an allen anderen Orten werden entweder ganze Flächen oder Organ-Abschnitte in einer gleichmässigen Weise innervirt, oder es werden von diesen Flächen oder Organ-Abschnitten aus Sammel-Erregungen zu den Centren geführt. An vielen Theilen, von denen wir allerdings nachweisen können, dass ein Nerven-Einfluss auf sie stattfindet, z. B. an den kleinen Gefässen, wissen wir bis jetzt noch nicht einmal, wie weit einzelne Abschnitte derselben besondere Nervenfasern enthalten. So schlecht sind die anatomischen Grundlagen der neuropathologischen Doctrin. Vierzehntes Capitel. Rückenmark und Gehirn. Die nervösen Centralorgane. Graue Substanz. Pigmentirte Ganglienzellen. Fortsätze der Ganglienzellen: apolare, unipolare und bipolare Zellen. Verschiedene Bedeutung der Fortsätze: Nerven- oder Axencylinderfortsätze, Ganglien- und Reiserfortsätze. Rückenmark: motorische und sensitive Ganglienzellen. Multipolare (polyklone) Formen. Kernkörperchenfäden und Kernröhren. Innere Verschiedenheit der Ganglienzellen. Schwierigkeit der Untersuchung. Die Nerven des elektrischen Organs der Fische. Das Gross- und Kleinhirn des Menschen. Das Rückenmark. Weisse und graue Substanz. Centralkanal. Gangliöse Gruppen. Weisse Stränge und Commissuren. Medulla oblongata. Rinde des Kleinhirns: Körner- und Stäbchenschicht. Psychische Ganglienzellen des Gehirns. Das Rückenmark des Petromyzon und die marklosen Fasern desselben. Die Zwischensubstanz (interstitielles Gewebe). Ependyma ventriculorum. Neuroglia. Corpora amylacea. Graue oder gelatinöse Atrophie des Rückenmarks. Sandkörper (corpora arenacea) der Häute des Gehirns und Rückenmarks. Nachdem wir die peripherischen Einrichtungen des Nervenapparates besprochen haben, so erübrigt uns, um die Uebersicht der Nerveneinrichtungen zu vervollständigen, noch die wichtige Reihe der =centralen Theile=, oder im engeren Sinne der =Ganglien-Apparate=. Wie ich schon früher hervorhob, so finden wir diese überwiegend in denjenigen Theilen der Centralorgane, wo graue Substanz lagert. Nur ist das bloss graue Aussehen nicht entscheidend für die gangliöse Beschaffenheit eines Theiles; insbesondere darf man nicht glauben, dass etwa die Ganglienzellen es seien, welche die graue Farbe wesentlich bedingen. An manchen Stellen befindet sich graue Masse, ohne dass Ganglienzellen vorhanden sind. So enthält die äusserste Schicht der Grosshirnrinde keine deutlichen Ganglienzellen mehr, obwohl sie grau aussieht; hier findet sich eine durchscheinende Bindesubstanz, welche mit vielen feineren Gefässen durchsetzt ist und je nach der Füllung derselben bald mehr grauroth, bald mehr weissgrau erscheint. Andererseits kommt es häufig vor, dass, wo Ganglienzellen liegen, die Substanz gerade nicht grau aussieht, sondern eine positive Farbe hat, die zwischen bräunlichgelb und schwarzbraun schwankt. So haben wir an dem Gehirne kleinere Abschnitte, welche schon seit langer Zeit unter dem Namen der Substantia nigra, fusca, ferruginea bekannt sind; hier haftet die schwarze oder braune Farbe, die wir mit blossem Auge wahrnehmen, an den Ganglienzellen als den eigentlich gefärbten Punkten. [Illustration: =Fig=. 97. Elemente aus dem Ganglion Gasseri. _a_ Ganglienzelle mit kernreicher (bindegewebiger und epithelialer) Scheide, die sich um den abgehenden Nervenfortsatz erstreckt; im Innern der grosse, klare Kern mit Kernkörperchen und um ihn Pigmentanhäufung. _b_ Isolirte Ganglienzelle mit dem an sie herantretenden blassen Fortsatz. _c_ Feinere Nervenfaser mit blassem Axencylinder. Vergr. 300.] Diese Färbung stellt sich erst im Laufe der Jahre ein. Je älter ein Individuum wird, um so lebhafter werden die Farben; jedoch scheinen unter Umständen auch pathologische Prozesse den Eintritt und die Stärke derselben zu beschleunigen. So ist es an den Ganglien des Sympathicus eine auffallende Erscheinung, dass gewisse Krankheitsprozesse, z. B. der typhöse, einen wirksamen Einfluss auf die frühe Pigmentirung zu üben scheinen. Da aber das Pigment etwas relativ Fremdartiges in der inneren Zusammensetzung der Zelle darstellt, insofern als es, soviel wir wissen, nicht der eigentlichen Function dienstbar ist, sondern als träge Masse hinzutritt, so dürfte es in der That wohl möglich sein, dass man diese Zustände als eine Art von vorzeitigem Altern (Senium praecox) der Ganglienzellen zu betrachten hat. An diesen Zellen unterscheidet man (Fig. 97, _a_) ausser dem sehr deutlichen, grossen Kerne mit seinem grossen, glänzenden Kernkörperchen den eigentlichen Zellkörper, welcher aus einer feinkörnigen Grundsubstanz (Protoplasma) besteht und das an einer gewissen Stelle, gewöhnlich excentrisch neben dem Kern, zuweilen rings um denselben gelagerte Pigment umschliesst. Unter Umständen nimmt das letztere an Masse so sehr zu, dass ein grosser Theil der Zelle damit ausgefüllt wird. Je reicher diese Ablagerung wird, um so dunkler erscheint die ganze Stelle schon für das blosse Auge. Früher hat man sich die Ganglienzellen in der Regel als einfach runde, kugelige Gebilde (Ganglienkugeln) gedacht. Allein man hat sich mehr und mehr überzeugt, dass diese Form eine künstliche, erst durch das Abreissen der Fortsätze bei der Präparation entstandene ist, dass vielmehr von jeder Ganglienzelle nach gewissen Richtungen Fortsätze ausgehen, welche sich endlich mit Nerven oder mit anderen Ganglienzellen in Verbindung setzen oder in eigenthümlicher Weise verästeln. Viele Ganglienzellen besitzen gleichzeitig mehrere Fortsätze, von denen jedoch nur einer mit einer wirklichen Nervenfaser direkt in Verbindung steht: der =Nerve=- =oder Axencylinder=-=Fortsatz=. Hier und da scheint durch =Ganglienfortsätze= eine direkte Verbindung zwischen zwei Ganglienzellen hergestellt zu werden. Verhältnissmässig häufig, namentlich in den Centralorganen, sind Fortsätze mit mehrfacher und zuletzt sehr feiner Verästelung, die ich =Reiserfortsätze= nennen will. Die Nervenfaser-Fortsätze sind bei ihrem Ursprunge aus den Ganglienzellen blass, und auch da, wo sich endlich ihr Uebergang in gewöhnliche, dunkelconturirte Nervenfasern verfolgen lässt, sieht man sie erst in einer gewissen Entfernung von der Ganglienzelle dicker werden, indem sie sich allmählich mit einer Markscheide versehen. Dieser Umstand, welchen man früher nicht gekannt hat, erklärt es, dass man so lange Zeit über das wahre Verhältniss im Unklaren geblieben ist. Die unmittelbaren Fortsätze der Ganglienzellen, namentlich im Gehirn und Rückenmark, sind daher nicht Nerven im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern blasse und oft so feine Fasern, dass sie kaum noch eine Aehnlichkeit mit den früher geschilderten marklosen Fasern haben, sondern wie blasse Axencylinder erscheinen (Fig. 97, _a_, _b_). Lange hat man erwartet, wesentliche Verschiedenheiten unter den Ganglienzellen, je nach den groben Abschnitten des Nerven-Apparates, also namentlich Verschiedenheiten zwischen den Zellen des Sympathicus und denen des Hirns und Rückenmarks zu finden. Allein auch in diesem Punkte hat sich das Gegentheil als richtig ergeben, namentlich seitdem =Jacubowitsch= die Thatsache kennen gelehrt hat, dass zweistrahlige Zellen, welche den gewöhnlichen Zellen der sympathischen Ganglien vollkommen analog sind, auch in der Mitte des Rückenmarks und mancher Theile, welche wir schon dem Gehirne zurechnen, vorkommen[125]. Dass der Sympathicus mit einem grossen Theile seiner Fasern im Rückenmarke wurzelt, weiss man schon lange; wenn nun auch, wie ich mich überzeugt habe, zweistrahlige Elemente im Rückenmarke und andererseits vielstrahlige Elemente in sympathischen Ganglien, z. B. im G. coeliacum, vorkommen, so kann man sagen, dass auch in histologischer Beziehung das Rückenmark nicht einen einfachen und nothwendigen Gegensatz zu dem Grenzstrange darstellt. [125] Ich habe übrigens solche Zellen schon vor langer Zeit aus dem menschlichen Rückenmark beschrieben (Archiv 1847. I. 459 Anm.). Will man die Formen der Ganglienzellen genauer kennen lernen, so geschieht dies am leichtesten an dem Rückenmark, welches überhaupt für die Zusammenordnung eines wirklichen Centralorgans im engsten Sinne des Wortes den klarsten Ausdruck darstellt. In der grauen Substanz (den Hörnern) desselben finden sich überall und zwar fast auf jedem Querschnitte verschiedenartige Ganglienzellen. =Jacubowitsch= hat drei verschiedene Formen davon unterschieden: die eine nannte er motorisch, die andere sensitiv, die dritte sympathisch. Ich werde auf ihre Anordnung bei weiterer Besprechung des Rückenmarkes zurückkommen; hier will ich zunächst nur ihre Formen im Allgemeinen besprechen. Nachdem es feststeht, dass es Ganglienzellen ohne Fortsätze (apolare) überhaupt nicht gibt, ist die Frage über die Zahl der Fortsätze sehr viel discutirt worden. Man beschrieb zunächst hauptsächlich uni- und bipolare (besser =monoklone= und =diklone=) Zellen. Allein auch die sogenannten unipolaren (Fig. 97) werden, je genauer man untersucht, immer seltener. Die meisten Zellen besitzen mindestens zwei Fortsätze, sehr viele sind multipolar oder genauer vielästig (=polyklon=). [Illustration: =Fig=. 98. Ganglienzellen aus den Centralorganen: _A_, _B_, _C_ aus dem Rückenmarke, nach Präparaten des Hrn. =Gerlach=, _D_ aus der Gehirnrinde. _A_ Grosse, vielstrahlige (multipolare, polyklone) Zellen aus den Vorderhörnern (Bewegungszellen). _B_ Kleinere Zellen mit drei grösseren Fortsätzen aus den Hinterhörnern (Empfindungszellen). _C_ Zweistrahlige (bipolare, diklone), mehr rundliche Zelle aus der Nähe der hinteren Commissur (sympathische Zelle). Vergr. 300.] Eine multipolare Zelle besitzt einen grossen Kern mit Kernkörperchen, einen körnigen Inhalt (Protoplasma) und, wenn sie besonders gross und alt ist, einen Pigmentfleck; sie entsendet nach verschiedenen Richtungen hin Ausläufer oder Fortsätze. Mindestens einer dieser Ausläufer, der sich durch seine festere Beschaffenheit auszeichnet, geht, wie zuerst =Deiters= gezeigt hat, in eine Nervenfaser über. Dieses ist der schon vorher (S. 302) erwähnte Axencylinder-Fortsatz. Die übrigen Ausläufer, nicht sehr glücklich als =Protoplasmafortsätze= bezeichnet, theilen sich nach kürzerem oder längerem Verlaufe in zahlreiche, kleine Reiserchen, welche die graue Substanz durchziehen. Was aus ihnen weiterhin wird, ist noch unbekannt; nur glaubt =Deiters= gefunden zu haben, dass gewisse feine Aestchen, welche unter rechten Winkeln von diesen Fortsätzen ausgehen, gleichfalls mit Nervenfasern zusammenhängen. Jedenfalls beginnt schon hier das physiologisch wichtige Verhältniss, welches ich vorher besprach (S. 296, 299), dass von einzelnen Punkten des Nervensystems aus ganze Massen von Fäden oder Fasern ausgehen, ein Verhältniss, welches darauf hindeutet, dass bei der Thätigkeit (Reizung) der Nerven zwar von Anfang an je nach Umständen diese oder jene Bahn benutzt werden kann, dass aber innerhalb gewisser Bahnen die Wirkung auf die ganze Verästelung sich relativ gleichmässig fortsetzen kann. Die multipolaren Zellen des Rückenmarks sind meist verhältnissmässig gross. Die stärksten derselben (Fig. 98, _A_.) liegen an denjenigen Stellen der grauen Substanz angehäuft, welche dem Eintritte der motorischen (vorderen) Wurzeln entsprechen; man kann sie deshalb kurzweg als motorische oder =Bewegungszellen= bezeichnen. Diejenigen Ganglienzellen, welche die Fasern der sensitiven (hinteren) Wurzeln aufnehmen (Fig. 98, _B_.), und welche man in Kürze sensitive oder =Empfindungszellen= nennen mag, sind in der Regel kleiner und zeigen nicht eine so vielfache und weitreichende Verästelung, wie die Bewegungszellen. Ein grosser Theil von ihnen besitzt nur 3, vielleicht 4 Aeste. Die von =Jacubowitsch= sympathisch genannten Zellen (Fig. 98, _C_.) sind wiederum grösser, haben aber gewöhnlich nur 2 Aeste und zeichnen sich durch eine mehr rundliche Form aus. Es sind dies Verschiedenheiten, welche allerdings nicht so durchgreifend sind, dass man schon jetzt im Stande wäre, einer isolirten Ganglienzelle in jedem einzelnen Falle sofort anzusehen, welcher Kategorie sie angehört, aber sie sind doch, wenn man die einzelnen Gruppen ins Auge fasst, so auffallend, dass man zu Betrachtungen über die verschiedene Bedeutung derselben angeregt wird. Wahrscheinlich wird man im Laufe der Zeit noch weitere Verschiedenheiten, auch vielleicht in der inneren Einrichtung der Zellen, erkennen; bis jetzt lässt sich darüber nichts weiter aussagen, als dass verschiedene Beobachter, zuerst =Harless=, feinere Fasern bis zu dem Kern und Kernkörperchen verfolgt haben (=Kernkörperchenfäden= und =Kernröhren=). Am genauesten hat in der letzten Zeit =Frommann= diese merkwürdigen Verhältnisse studirt, deren Eigenthümlichkeit noch dadurch erhöht wird, dass einzelne Ganglienzellen einen mehr faserigen Bau ihres Leibes zeigen, während bei der grossen Mehrzahl der Zellkörper eine feinkörnige Beschaffenheit darbietet. Indess liegen alle diese Verhältnisse noch so im Dunkeln, dass sich irgend welche gesetzmässigen Aufstellungen daraus noch nicht ableiten lassen. Es ist dies eine sehr grosse und beklagenswerthe Lücke unserer Kenntnisse, weil gerade hier der Punkt ist, wo die specifische Action der wichtigsten Elemente des Körpers zu erklären wäre. Aber man darf auch nicht übersehen, dass diese Verhältnisse mit zu den schwierigsten gehören, welche überhaupt der anatomischen Untersuchung unterworfen werden, und dass die Herstellung von Objecten, welche auch nur das eigene Auge überzeugen, fast immer daran scheitert, dass eine wirkliche Isolirung der Elemente mit allen ihren Fortsätzen und Verbindungen kaum jemals gelingt und dass man wegen ihrer ausserordentlichen Gebrechlichkeit fast immer genöthigt ist, sie auf gehärteten Durchschnitten zu verfolgen. Wenn man Schnitte macht in Theilen, welche zu einem grossen Theile aus Fasern bestehen und in welchen die Fasern theils longitudinal, theils transversal, theils schräg verlaufen, wo also überall ein Geflecht besteht, so hängt es ja ganz und gar von einem glücklichen Zufalle ab, ob man in einem und demselben Schnitte den Verlauf einer einzelnen Faser über grössere Strecken hinaus mit einer gewissen Bestimmtheit verfolgen kann. Diese Schwierigkeit lässt sich allerdings dadurch ausgleichen, dass man die Schnitte in allen möglichen Richtungen führt und so die Wahrscheinlichkeit steigert, dass man endlich einmal auf diejenige Richtung stossen wird, in welcher sich ein Ast vollständig auflöst, aber erfahrungsgemäss bleibt auch dann noch die Schwierigkeit so gross, dass man niemals die ganze Verbreitung und Verbindung einer irgendwie vielästigen Zelle in den Centralorganen auf einmal hat übersehen können. Auch in dieser Beziehung ist das =elektrische Organ= ein besonders glücklicher Ausgang der Untersuchung geworden. Hier gelang es =Bilharz=, die eine Faser, welche das ganze peripherische Organ versieht (innervirt), in eine einzige, centrale Ganglienzelle zurück zu verfolgen. Auch diese Zelle, welche so gross ist, dass man sie mit blossem Auge bequem wahrnehmen kann, hat nach anderen Richtungen hin feinere Ausstrahlungen. Die weiteren Beziehungen dieser letzteren zu ermitteln, ist bis jetzt eben so wenig gelungen, wie wir im Stande gewesen sind, von der feineren Anatomie des menschlichen Gehirns ein nach allen Seiten hin befriedigendes Bild zu gewinnen, namentlich zu entdecken, in welchem Maasse darin Verbindungen von Zellen unter einander vorkommen. Bei den Untersuchungen des Rückenmarks hat es sich herausgestellt, dass nicht alle Fortsätze der Ganglienzellen in Nervenfasern übergehen, sondern dass ein Theil derselben wieder zu Ganglienzellen geht und Verbindungen zwischen Ganglienzellen herstellt. Einzelne Beobachter geben bestimmt an, direkte Anastomosen von Ganglienzellen unter einander gesehen zu haben, und es lässt sich ein solcher Zusammenhang wohl nicht bezweifeln. Indess scheint dies doch ein sehr seltener Fall zu sein. Die Regel ist, dass die nicht direkt in Axencylinder übergehenden Fortsätze sich mehr und mehr verästeln und erst, nachdem sie ganz feine Fäserchen oder Reiserchen gebildet haben, mit den von anderen Ganglienzellen ausgehenden Fäserchen anastomosiren. Auf diese Art entsteht z. B. in der grauen Substanz des Rückenmarks ein =zusammenhängendes Reiserwerk=, welches bis zum Gehirn aufsteigt. Es lässt sich denken, dass dadurch die grösste Mannichfaltigkeit der Leitung und Strömung ermöglicht wird. Auch im =Gehirn=, zumal in der grauen Rindensubstanz, haben die Ganglienzellen ganz ähnliche Beschaffenheit (Fig. 98, _D_). An der Oberfläche des Grosshirns, wo die Ganglienzellen in mehrfachen Schichten über einander stehen, sind die Reiserfortsätze nach innen gerichtet, während gewöhnlich ein stärkerer Fortsatz zur Oberfläche aufsteigt und hier umbiegt. Schon =Valentin= hat diese »Schlingenbildung« gesehen. Ob jedoch dieser Fortsatz in einen Axencylinder fortgeht, ist immer noch zweifelhaft. Noch complicirter sind die Verhältnisse an der Rinde des Kleinhirns, wo mehrere, stärkere Fortsätze gegen die Oberfläche ausstrahlen und in Reiser übergehen, während nach innen nur ein einziger Fortsatz gerichtet ist, der ziemlich sicher zu Nerven verfolgt ist. In dieser Gegend, wo schon äusserlich erkennbar eine rostfarbene Schicht sich der grauen Substanz anschliesst und sie von der weissen Centralmasse trennt, findet sich eine mächtige Körnerlage; die ganze Einrichtung gewinnt so eine gewisse Aehnlichkeit mit jenen ganz feinen Einrichtungen der radiären Fasern der Retina (S. 292). So schwierig es ist, über die Natur und Verbindung der nervösen Elemente ins Klare zu kommen, so häufen sich die Schwierigkeiten doch noch mehr, wenn es sich um die Zusammensetzung der nervösen Centralorgane im Ganzen handelt. Hier hat es sich immer als das Vortheilhafteste erwiesen, sich zunächst an dasjenige Centralorgan zu halten, welches als Grundlage der Wirbelthier-Entwickelung überhaupt dient, nehmlich an das =Rückenmark=; es ist dies dasjenige, dessen Struktur wir am besten übersehen können. Das Rückenmark ist bekanntlich, wie man auf jedem Querschnitte vom blossen Auge mit Leichtigkeit sehen kann, an verschiedenen Stellen seines Verlaufes verschieden reich an weisser Substanz, so jedoch, dass fast überall die weisse Substanz über die graue das Uebergewicht hat. Letztere tritt auf Querschnitten unter der Form der bekannten Hörner hervor, die sich durch ihre bald blassgraue, bald grauröthliche Färbung von dem reinen Weiss der übrigen Masse deutlich absetzen. So weit nun, als die Substanz vom blossen Auge weiss erscheint, besteht sie wesentlich aus wirklichen markhaltigen Nervenfasern, welche durch schwache Züge eines weichen Interstitialgewebes in grössere und kleinere Bündel abgetheilt sind (Fig. 99). Ein grosser Theil dieser Fasern ist von so beträchtlicher Breite, dass die Masse des Markstoffes (Myelins) an gewissen Punkten eine ausserordentlich reichliche ist. Die graue Substanz der Hörner dagegen ist die eigentliche Trägerin der Ganglienzellen, aber auch hier ist das graue Aussehen keineswegs der Anwesenheit der Ganglienzellen zuzuschreiben; vielmehr bilden, wie wir nachher sehen werden, die Ganglienzellen immer nur einen kleinen Theil dieser Substanz, und das graue Aussehen ist hauptsächlich dadurch bedingt, dass hier jener undurchsichtige, stark lichtbrechende Stoff (der Markstoff) nicht abgeschieden ist, welcher die weissen Nerven erfüllt. Inmitten der grauen Substanz befindet sich, wie =Stilling= zuerst bestimmt gezeigt hat, jener =centrale Kanal= (Canalis spinalis), den man früher so vielfach vermuthet, häufig auch als regelmässigen Befund bezeichnet hat, der aber doch niemals früher regelmässig demonstrirt werden konnte. Bei den älteren Beobachtern, z. B. =Portal=, handelte es sich immer um vereinzelte pathologische Befunde, von welchen sie ihre Kenntnisse über diese Einrichtung hernahmen, und von welchen aus sie ziemlich willkürlich schlossen, dass das Vorhandensein eines Kanals die Regel sei. Der Centralkanal ist so fein, dass besonders glückliche Durchschnitte dazu gehören, um ihn mit blossem Auge deutlich wahrnehmen zu können. Gewöhnlich erkennt man nichts weiter als einen rundlichen, grauen Fleck, der sich von der Nachbarschaft durch eine etwas grössere Dichtigkeit unterscheidet. Erst die mikroskopische Untersuchung zeigt innerhalb des Fleckes den Querschnitt des Kanals als ein feines Loch (Fig. 99, _c c_). Wie fast alle freien Oberflächen des Körpers, ist er mit einem Epitheliallager überkleidet. Es ist ein wirklich regelmässiger, constanter und persistenter Kanal in aller Form Rechtens. Derselbe setzt sich durch die ganze Ausdehnung des Rückenmarkes fort vom Filum terminale[126], wo er nicht immer ganz deutlich herzustellen ist, bis zum vierten Ventrikel hinauf, wo seine Einmündungsstelle in dem sogenannten Sinus rhomboidalis an der gelatinösen Substanz des Calarnus scriptorius liegt. Hier kann man ihn als eine direkte Fortsetzung vom Boden des vierten Ventrikels aus zunächst in eine feine trichterförmige Spalte oder Linie verfolgen. [126] Untersuchungen über die Entwickelung des Schädelgrundes. Berlin 1857. S. 92. Die =Ganglien-Zellen= des Rückenmarkes finden sich in der grössten Masse in den vorderen und seitlichen Theilen der Vorderhörner. Und zwar sind es hauptsächlich die grossen vielstrahligen Elemente, welche ich früher (S. 305) besprochen habe. Ihre Fortsätze sind zum Theil verfolgt worden in austretende Nerven der vorderen Wurzeln; sie geben also motorischen Nerven ihren Ursprung. [Illustration: =Fig=. 99. Die Hälfte eines Querschnittes aus dem Halstheile des Rückenmarkes. _fa_ Fissura anterior, _fp_ Fissura posterior. _cc_ Centralkanal mit dem centralen Ependymfaden. _ca_ Commissura anterior mit sich kreuzenden Nervenfasern, _cp_ Commissura posterior. _ra_ Vordere Wurzeln, _rp_ hintere. _gm_ Anhäufung der Bewegungszellen in den Vorderhörnern, _gs_ Empfindungszellen der Hinterhörner, _gs_' sympathische Zellen. Die schwarzpunktirte Masse stellt die Querschnitte der weissen Substanz (Nervenfasern der Vorder-, Seiten- und Hinterstränge) des Rückenmarkes mit ihren lobulären Abtheilungen dar. Vergr. 12.] Eine analoge, jedoch weniger deutlich gruppirte Anhäufung findet sich gegen die Basis der hinteren Hörner hin; es sind kleinere, mehrstrahlige Zellen, wie ich sie gleichfalls beschrieben habe. Sie hängen mit den Fasern zusammen, welche in die hinteren Wurzeln eintreten, dienen also wahrscheinlich der sensitiven Function. Ausserdem zeigt sich gewöhnlich noch eine dritte, bald mehr zusammengefaßte, bald mehr zerstreute Gruppe von Zellen, welche ihrem Baue nach an die bekannten Formen der Zellen in den Ganglien erinnern (Fig. 98, _C_. 99, _gs_'). Ihre besondere Stellung innerhalb des Rückenmarks ist allerdings nicht so klar bezeichnet, wie die der anderen Theile; vielleicht sind sie als die Quelle der sympathischen Wurzeln zu betrachten, welche vom Rückenmarke sich zum Grenzstrang begeben, indess ist dies noch lange nicht ausgemacht. Innerhalb der weissen Substanz der Vorder-, Seiten- und Hinterstränge finden sich die markhaltigen Nervenfasern, welche im Allgemeinen einen auf- oder absteigenden Verlauf nehmen, so dass wir auf Querschnitten dieser Theile des Rückenmarkes fast nur Querschnitte von Nervenfasern zu Gesicht bekommen. Unter dem Mikroskope sieht man hier zahllose, dunkle Punkte oder bei stärkerer Vergrösserung Ringe, von denen jeder einer Nervenfaser entspricht und gewöhnlich noch einen dritten, bei Carminfärbung stärker hervortretenden Kern oder Fleck, den Querschnitt des Axencylinders, enthält. Die ganze Fasermasse der Rückenmarksstränge ist von innen nach aussen in eine Reihe von Gruppen oder Segmenten von im Ganzen radiärer Anordnung, gewissermaassen in keilförmige Lappen zerlegt, indem sich zwischen die einzelnen, auch hier fasciculären Abtheilungen eine bald kleinere, bald grössere Masse von Bindegewebe mit Gefässen einschiebt. Letzteres hängt nach innen mit der reichlicheren Bindegewebsmasse der grauen Substanz, nach aussen mit dem Bindegewebe der Pia mater, welche die ernährenden Gefässe zuführt, zusammen. Was nun die =Nervenfasern= der Rückenmarksstränge betrifft, so dürfte ein gewisser Theil von ihnen der ganzen Länge des Rückenmarkes nach fortgehen, aber sicherlich darf man nicht annehmen, dass sie alle vom Gehirne herkommen; ein wahrscheinlich viel beträchtlicherer Theil stammt wohl von den Ganglienzellen des Rückenmarkes selbst und biegt alsbald in die vorderen oder hinteren Stränge um. Ausserdem bestehen zwischen den beiden Hälften des Rückenmarkes direkte Verbindungen, =Commissuren=, indem Fasern von einer Seite zur anderen hinübertreten, theils in der Weise, dass sie mit denen der entgegengesetzten Seite sich kreuzen (vordere Commissur, Fig. 99, _ca_), theils so, dass sie gestreckt und parallel verlaufen (hintere Commissur, Fig. 99, _cp_). Mit diesen anatomischen Erfahrungen kann man sich ein freilich noch immer sehr ungenügendes Bild machen von den Wegen, auf welchen die Vorgänge innerhalb der Centraltheile passiren. =Jede besondere Thätigkeit hat ihre besonderen elementaren zelligen Organe; jede Art der Leitung findet ihre bestimmt vorgezeichneten Bahnen=. Auch im Grossen entsprechen den functionellen Verschiedenheiten ganz bestimmte Eigenthümlichkeiten in der Struktur der einzelnen Centraltheile, namentlich entwickeln sich nach oben hin die hinteren Hörner allmählich immer kräftiger, und in dem Maasse, als diese Entwickelung vorschreitet, macht sich die Entfaltung der Medulla oblongata, des grossen und kleinen Gehirns, wobei mehr und mehr die motorischen Theile in den Hintergrund treten, um zuletzt fast ganz zu verschwinden. Der Anlage nach und im Grossen bestehen in allen diesen Theilen analoge Verhältnisse; das Einzige, was bis jetzt wenigstens als eine besonders charakteristische Eigenthümlichkeit der cerebralen Apparate betrachtet werden kann, ist die schon früher hervorgehobene Erscheinung, dass am Kleinhirn an der inneren Seite der hier überall einfachen Lage der Ganglienzellen eine besondere Schicht vorkommt, die am meisten Aehnlichkeit hat mit den Körnerschichten der Retina (Fig. 100, _B_). Denn auch hier finden sich verästelte, fast baumförmige Fäden, welche kleine Körnchen in oft mehrfacher Reihe in sich schliessen, und welche sich an die Ganglienzellen in einer wesentlich anderen, namentlich sehr viel feineren Weise anfügen, als das bei den eigentlichen Nervenfortsätzen der Fall ist. Nach aussen von der Ganglienschicht zeigt die graue Substanz eine so auffällig radiäre Streifung, dass man früher dieselbe gleichfalls mit der Stäbchenschicht der Retina parallelisirte. Indess ist dies eine ziemlich grobe Aehnlichkeit, für die irgend ein histologischer Nachweis nicht geliefert werden kann. Es ist vielmehr die Interstitialsubstanz, welche diese streifigen Abtheilungen besitzt; wie kürzlich =Herm=. =Hadlich= gefunden hat, ist sie von langen parallelen Stützfasern durchzogen, welche mit dreieckigen Enden gegen die Oberfläche ansetzen. [Illustration: =Fig=. 100. Schematische Darstellung des Nervenverhaltens in der Rinde des Kleinhirns nach =Gerlach=. (Mikroskopische Studien Taf. I. Fig. 3) _A_ weisse Substanz, _B_, _C_ graue Substanz. _B_ Körnerschicht, _C_ Zellenschicht mit den grossen (Purkinje'schen) Ganglienzellen.] Die Rindenschichten des Gross- und Kleinhirns enthalten einen solchen Reichthum von Ganglienzellen, dass =Meynert= nach einer ganz wahrscheinlichen Schätzung ihre Zahl auf eine Milliarde berechnet. Wenn nicht bezweifelt werden kann, dass diese Zellen zu einem grossen Theile der eigentlichen =psychischen Thätigkeit= dienen, so ist es gewiss bemerkenswerth, dass ihre Anhäufungen sich durch ein allmähliches Anwachsen und Vermehren aus den hinteren Abschnitten des Rückenmarkes entfalten, dass sie also genetisch dem empfindenden Antheile desselben angehören. Unzweifelhaft bieten diese =psychischen Ganglienzellen= manches Besondere und Eigenthümliche auch in ihrer Gestalt dar; nichtsdestoweniger ist es unmöglich, bis jetzt aus ihren Besonderheiten und Eigenthümlichkeiten irgend einen Grund für die Vollkommenheit ihrer Function abzuleiten. Wir müssen uns vor der Hand damit begnügen, ihre Existenz und ihre äusseren Eigenschaften kennen gelernt zu haben. -- * * * * * [Illustration: =Fig=. 101. Durchschnitt durch das Rückenmark des Petromyzon fluviatilis. _F_ Fissura (oder genauer Commissura) anterior, _F_' Fissura posterior, _c_ Centralkanal mit Epithel. _gm_ grosse, vielstrahlige Ganglienzellen mit Fortsätzen in der Richtung der vorderen Wurzeln. _gp_ kleinere, mehrstrahlige Zellen mit Fortsätzen zu den hinteren Wurzeln, _gs_ grosse, rundliche Zellen in der Nähe der hinteren Commissur (sympathische Zellen). _n_, _n_ Querdurchschnitte der grossen, blassen Nervenfasern (=Müller='sche Fasern), _n_' leere Lücken, aus welchen die grossen Nerven ausgefallen sind, _n_'' Lücke für kleinere Fasern. Ausserdem zahlreiche Querschnitte feinerer und gröberer Fasern.] Der Typus der Rückenmarksbildung, welchen wir beim Menschen kennen gelernt haben, ist im Wesentlichen derselbe durch die ganze Reihe der Wirbelthiere oder, wie man sie besser nennen würde, Markthiere[127], nur dass beim Menschen im Allgemeinen eine grössere Complication und ein grösserer Reichthum sowohl an Nervenfasern, als an Gangliensubstanz hervortritt. Es ist gewiss sehr interessant, in dieser Beziehung den Durchschnitt vom Rückenmarke eines der niedrigsten Wirbelthiere zu vergleichen. Ich wähle dazu das Neunauge (Petromyzon). Bei diesem Thiere, welches bekanntlich nahe an der untersten Grenze der Wirbelthiere überhaupt steht, stellt das Rückenmark ein sehr kleines plattes Band dar, welches in der Fläche etwas eingebogen ist und auf den ersten Anblick wie ein wirkliches Ligament aussieht. Macht man einen Querschnitt davon, so enthält dieser an sich dieselben Theile, die wir beim Menschen sehen, aber Alles nur in der Anlage. Was wir bei uns graue Substanz nennen, das findet sich auch hier wieder zu beiden Seiten in der Gestalt je eines plattlänglichen Lappens, welcher einzelne Ganglienzellen, aber nur sehr wenige enthält, so dass man auf jeder Seite des Querschnittes vielleicht 4-5 davon findet. In der Mitte befindet sich der Centralkanal, und zwar mit derselben Epithelialschicht, wie beim Menschen. Nach unten und vorn davon sieht man gewöhnlich eine Reihe von grösseren runden Lücken, welche ganz ungewöhnlich dicken, zuerst von =Johannes Müller= gesehenen, marklosen Nervenfasern (Fig. 102, _a_) entsprechen. Weiter nach aussen liegen noch einzelne dickere, überwiegend jedoch eine grosse Menge ganz feiner Fasern, welche dem Querschnitte ein sehr buntes, regelmässig getüpfeltes Aussehen geben. Unter den Ganglienzellen kann man auch hier verschiedene Arten unterscheiden. Nach aussen in der grauen Substanz liegen vielstrahlige, nach vorn grössere, nach hinten kleinere und einfachere Zellen. Mehr nach innen und hinten dagegen finden sich grössere, mehr rundliche, wie es scheint, diklone (bipolare) Zellen, den sympathischen Formen vergleichbar. Diese Zellen communiciren über die Mitte durch wirkliche Faser-Verbindungen, und ausserdem findet man Fortsätze zu den Nerven, welche nach vorne und rückwärts aus dem Rückenmarke hervortreten und die vordere und hintere Wurzel bilden. Das ist das einfachste Schema, welches wir für diese Verhältnisse besitzen, der allgemeine Typus für die anatomische Einrichtung dieser Theile. [127] Vergl. meinen Vortrag über das Rückenmark in der von mir und v. =Holtzendorff= herausgegebenen Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge. 1871. Serie V. Heft 120. [Illustration: =Fig=. 102. Blasse Fasern aus dem Rückenmarke des Petromyzon fluviatilis. _A_ Breite, schmale und feinste Fasern. _B_ Querschnitte von breiten Fasern mit deutlicher Membran und körnigem Centrum. Vergr. 300.] Besonders zu bemerken ist hier, dass beim Petromyzon in der ganzen Substanz des Rückenmarkes kein Markstoff in isolirter Ausscheidung vorhanden ist, wie wir ihn beim Menschen haben; man findet nur einfache, blasse Fasern, welche =Stannius= geradezu als nackte Axencylinder angesprochen hat. Abgesehen davon, dass sie zum Theil einen colossalen Durchmesser haben, so findet man bei genauerer Untersuchung, wie bei den gelatinösen, grauen Fasern des Menschen, eine auf Querschnitten, besonders nach Färbung mit Carmin sehr deutliche Membran und im Centrum eine feinkörnige Substanz, ähnlich einem Axencylinder, so dass man versucht wird, sie mit gewöhnlichen weissen Nervenfasern zu vergleichen. =Reissner= hat neuerlich eine ähnliche Ansicht vertreten. -- * * * * * Gewinnt man so eine allgemeine Uebersicht über die Einrichtung eines centralen Nervenapparates, so darf man doch nicht vergessen, dass dies nur die eigentlich nervösen Theile desselben sind. Will man das Nervensystem in seinem wirklichen Verhalten im Körper, die nervösen Elemente in ihrem Zusammenhalte studiren, so ist es unumgänglich nöthig, auch diejenige Masse zu kennen, welche =zwischen den Nerventheilen= vorhanden ist, welche diese Theile umfasst und den ganzen Organen Festigkeit und Gestalt gibt: das =Interstitialgewebe= des Gehirns und Rückenmarks[128]. [128] Geschwülste II. 125 ff. Es ist gar nicht so lange her, dass man das Vorhandensein einer solchen Zwischenmasse eigentlich nur bei den peripherischen Nerven zuliess und sich begnügte, das Neurilem bis auf die Häute des Rückenmarkes und Gehirnes zurück zu verfolgen, höchstens dass man noch innerhalb der Ganglien und im Sympathicus ein besonderes Umhüllungsgewebe anerkannte. Allerdings hatte schon 1810 =Keuffel= die Existenz eines »fibrösen Gewebes« im Rückenmarke vertheidigt, aber bis auf wenige Ausnahmen (=Fr=. =Arnold=) hatten alle Anatomen sich gegen diese Auffassung erklärt. Namentlich im Gehirne deutete man die Zwischensubstanz gerade als eine wesentlich nervöse Masse. Eine solche erschien in der That so lange als ein natürliches Desiderat, als man eine directe Uebertragung der Erregungen von Faser zu Faser zuliess, als man also die Nothwendigkeit einer wirklichen Continuität der Leitung innerhalb der Nerven selbst nicht anerkannte. So sprach man beim Gehirne von einer feinkörnigen, zwischen die Fasern eingeschobenen Masse, welche freilich keine vollständige Verbindung zwischen den Fasern herstelle, indem sie eine gewisse Schwierigkeit in der Uebertragung der Erregungen von einer Faser zur anderen bedinge, welche aber doch eine Leitung zwischen denselben ermögliche, indem bei einer beträchtlichen Höhe der Erregung eben auch eine direkte (seitliche) Uebertragung von Faser zu Faser stattfinden könne. Diese Masse ist jedoch unzweifelhaft nicht nervöser Natur, und wenn man ihre Beziehung zu den bekannten Gruppen der physiologischen Gewebe aufsucht, so kann man darüber nicht im Unsicheren bleiben, dass es sich um eine Art des Bindegewebes handelt, also um ein Aequivalent desjenigen Gewebes, welches wir bei den Nerven als Perineurium kennen gelernt haben (S. 273). Allein der Habitus dieser Substanz ist allerdings sehr weit verschieden von dem, was wir Perineurium oder Neurilem nennen. Letztere sind verhältnissmässig derbe, zum Theil sogar harte und zähe Gewebe, während das Interstitialgewebe der Centren ausserordentlich weich und gebrechlich ist, so dass man nur mit grosser Schwierigkeit überhaupt dahin kommt, seinen Bau kennen zu lernen. [Illustration: =Fig=. 103. Ependyma ventriculorum und Neuroglia vom Boden des vierten Hirnventrikels. _E_ Epithel, _N_ Nervenfasern. Dazwischen der freie Theil der Neuroglia mit zahlreichen Bindegewebszellen und Kernen, bei _v_ ein Gefäss, im Uebrigen zahlreiche Corpora amylacea, welche bei _ca_ noch isolirt dargestellt sind. Vergr. 300.] Ich wurde zuerst auf seine Eigenthümlichkeit aufmerksam bei Untersuchungen, die ich vor 25 Jahren über die sogenannte =innere Haut der Hirnventrikel= (Ependyma) anstellte[129]. Damals bestand die Ansicht, welche zuerst durch =Purkinje= und =Valentin=, später namentlich durch =Henle= geltend geworden war, dass eine eigentliche Haut in den Hirnventrikeln gar nicht existire, sondern nur ein Epithelial-Ueberzug, indem die Epithelial-Zellen unmittelbar auf der Fläche horizontal gelagerter Nervenfasern aufsässen. Diese Epithelialschicht war es, welche =Purkinje= Ependyma ventriculorum nannte. Seine Annahme ist freilich von den Pathologen nie getheilt worden. Die pathologische Anschauung ging ziemlich unbekümmert neben den histologischen Angaben einher. Indess erschien es doch wünschenswerth, eine Verständigung zu gewinnen, da in einem bloss epithelialen Ependyma nicht wohl eine Entzündung vorkommen konnte, wie man sie einer serösen Haut zuzuschreiben pflegt. Bei meinen Untersuchungen ergab sich nun, dass allerdings unter dem Epithel der Ventrikel eine Schicht vorhanden ist, welche an manchen Stellen ganz den Habitus von Bindegewebe, an anderen jedoch eine so weiche Beschaffenheit besitzt, dass es überaus schwierig ist, eine Beschreibung von ihrem Aussehen zu liefern. Jede kleinste Zerrung ändert ihre Erscheinung: man sieht bald körnige, bald streifige, bald netzförmige oder wie sonst geartete Substanz. Anfangs glaubte ich mich beruhigen zu dürfen bei dem Nachweise, dass hier überhaupt ein dem Bindegewebe analoges Gewebe existire und eine Haut zu constatiren sei. Allein, je mehr ich mich mit der Untersuchung derselben beschäftigte, um so mehr überzeugte ich mich, dass keine eigentliche Grenze zwischen dieser Haut und den tieferen Gewebslagen bestehe, und dass man nur in uneigentlichem Sinne von einer Haut sprechen könne, da man doch bei einer Haut voraussetzt, dass sie von der Unterlage mehr oder weniger verschieden und trennbar sei. Im Groben lässt sich freilich nicht selten eine solche Trennung auch hier vornehmen, aber im Feineren ist es durchaus nicht möglich. Man sieht, wenn man die Oberfläche irgend eines Durchschnittes der Ventrikelwand bei stärkerer Vergrösserung einstellt, zunächst an der Oberfläche ein bald mehr, bald weniger gut erhaltenes Epithel (Fig. 103, _E_). Im günstigsten Falle trifft man Cylinder-Epithel mit Cilien, welches sich wenigstens ursprünglich durch die ganze Ausdehnung der Höhle des Rückenmarkes (Centralkanal) und des Hirnes (Ventrikel) erstreckt. Unter dieser Lage folgt eine bald mehr, bald weniger reine Schicht von bindegewebsartiger Structur, welche auf den ersten Blick gegen die Tiefe hin allerdings scharf abgesetzt erscheint, denn schon mit blossem Auge, namentlich nach Behandlung mit Essigsäure, erkennt man sehr deutlich eine äussere, graue und durchscheinende Lage, während die tiefere Schicht weiss aussieht. Dieses weisse Aussehen rührt daher, dass hier markhaltige Nervenfasern liegen, zunächst der Oberfläche einzelne, dann immer mehrere und dichter gedrängte, in der Regel der Oberfläche parallel (Fig. 103, _N_). So kann es allerdings scheinen, als sei hier eine besondere Haut, die man von den letzten Nervenfasern abtrennen könnte. Vergleicht man nun aber damit die Masse, welche zwischen den Nervenfasern selbst liegt, so zeigt sich keine wesentliche Verschiedenheit; es ergibt sich vielmehr, dass die oberflächliche Schicht weiter nichts ist, als der über die Nervenelemente hinaus zu Tage gehende Theil des Zwischengewebes, welches überall zwischen den Elementen vorhanden ist, und welches nur hier in seiner Reinheit zur Erscheinung kommt[130]. Es ist also das Verhältniss ein continuirliches. [129] Zeitschrift für Psychiatrie. 1846. Heft 2. 242. Gesammelte Abhandlungen 885. [130] Archiv 1854. VI. 138. Es erhellt aus dieser Darstellung, dass es ein ganz müssiger Streit war, wenn man Jahre lang darüber discutirte, ob die Haut, welche die Ventrikel auskleide, eine Fortsetzung der Arachnoides oder der Pia mater oder ob sie eine eigene Haut sei. Es ist, streng genommen, gar keine Haut vorhanden, sondern es ist die Oberfläche des Organs selbst, welche unmittelbar zu Tage geht. Auch an dem Gelenkknorpel müssen wir es als einen müssigen Streit bezeichnen, welche Art von Haut den Knorpel überzieht, da der Knorpel selbst bis an die Oberfläche des Gelenkes herantritt. In gleicher Weise geht auch nichts von der Arachnoides, nichts von der Pia mater auf die Oberfläche der Ventrikel: die letzte Ausbreitung, welche diese Häute nach innen aussenden, ist die Tela (Velum) chorioides mit den Plexus chorioides. Ueber diese hinaus findet sich kein seröser Ueberzug mehr, welcher die innere Fläche der Hirnhöhlen auskleidet. Aus diesem Grunde kann man die Zustände der Hirnhöhlen nicht vollkommen vergleichen mit den Zuständen der gewöhnlichen serösen Säcke. Es kann allerdings an der Tela chorioides oder den Plexus eine Reihe von Erscheinungen auftreten, welche parallel stehen den Störungen anderer seröser Häute, aber nie findet dies ganz in derselben Art an der Ventrikeloberfläche des Gehirns selbst statt. Das interstitielle Gewebe der Centralorgane des Nervensystems bildet demnach an der Oberfläche der Hirnhöhlen, und, wie ich sofort hinzufüge, auch des Centralkanals des Rückenmarks eine hautartige Schicht, welche continuirlich in die Zwischenmasse, den eigentlichen Kitt, welcher die Nervenmasse zusammenhält, übergeht. Obwohl zu der grossen Klasse der Gewebe der Bindesubstanz gehörig (S. 40), zeigt es doch so wesentliche Eigenthümlichkeiten, dass ich mich veranlasst sah, ihm den neuen Namen der =Neuroglia= (Nervenkitt) beizulegen[131]. Die Ansicht, dass es sich um ein Aequivalent des Bindegewebes handele, ist in der neueren Zeit fast von allen Seiten recipirt worden, allein über die Art seiner Zusammensetzung und über die Ausdehnung, in welcher man die einzelnen im Gehirn und Rückenmark vorkommenden Elemente dieser Substanz zuzurechnen hat, sind die Meinungen noch getheilt. Schon als ich meine ersten weitergehenden Untersuchungen über diese Theile anstellte, ergab es sich, dass gewisse sternförmige Elemente, welche in der Mitte des Rückenmarks, im Umfange des nachher genauer constatirten Centralkanals, in dem von mir so genannten =centralen Ependymfaden=[132] vorkommen, und welche bis dahin als Nervenzellen betrachtet worden waren, unzweifelhaft der Neuroglia angehörten. Es ist späterhin, namentlich durch die Dorpater Schule unter =Bidder=, eine Reihe von Untersuchungen publicirt worden, in denen man die Mehrzahl aller Zellen des Rückenmarks diesem Bindegewebe zugerechnet hat. =Bidder= selbst fasste zuletzt alle Zellen, welche in der hinteren Hälfte des Rückenmarkes vorkommen, also auch wirkliche Ganglienzellen, als Bindegewebskörper auf. Auf der anderen Seite leugnete =Jacubowitsch= früher, dass überhaupt im Hirn oder Rückenmark irgendwo zellige Theile des Bindegewebes vorkommen; das freilich auch von ihm als Bindesubstanz aufgefasste Zwischengewebe schilderte er als eine ganz amorphe, fein granulirte oder netzartige Masse, welche durchaus nirgend geformte Theile mit sich führe. Zwischen diesen Extremen, so glaube ich, ist es empirisch vollkommen gerechtfertigt, die Mitte zu halten. Es kann meiner Ueberzeugung nach nicht bezweifelt werden, dass die grossen Elemente, welche in den hinteren Körnern des Rückenmarks enthalten sind, Nervenzellen sind, allein auf der anderen Seite muss ebenso bestimmt behauptet werden, dass, wo Neuroglia vorkommt, dieselbe stets eine gewisse Zahl von zelligen, ihr gehörigen Elementen enthält. An der Oberfläche der Hirnventrikel kommen gewöhnlich der Oberfläche parallel liegende Spindelzellen vor, ähnlich, wie man sie in anderen Bindegewebsarten findet, bald kleinere, bald grössere; macht man schräge Schritte, so geben sie sich oft als sternförmige Elemente zu erkennen (Fig. 103). [131] Gesammelte Abhandl. 890 [132] Archiv VI. 137. [Illustration: =Fig=. 104. Elemente der Neuroglia aus der weissen Substanz der Grosshirnhemisphäre des Menschen. _a_ freie Kerne mit Kernkörperchen, _b_ Kerne mit körnigen Resten des bei der Präparation zertrümmerten Zellenparenchyms, _c_ vollständige Zellen. Vergr. 300.] Ein ganz ähnlicher Bau, wie wir ihn früher vom Bindegewebe kennen gelernt haben, insbesondere ähnliche Elemente mit einer weichen, feinfaserigen oder netzförmigen Intercellularsubstanz finden sich auch zwischen den Nervenfasern des Hirns und Rückenmarks vor, aber sie sind so weich und gebrechlich, dass man meist nur Kerne wahrnimmt, die in gewissen Abständen in der Masse zerstreut sind. Wenn man aber genau sucht, so kann man selbst an frischen Objecten regelmässig einzelne weiche, zellige Körper erkennen, welche einen feinkörnigen Leib und grosse, granulirte Kerne mit Kernkörperchen besitzen und als rundliche oder linsenförmige, häufig mit feinen Fortsätzen versehene Gebilde in einer allerdings nicht sehr beträchtlichen Menge zwischen den Nervenelementen liegen. An gewissen Stellen ist es freilich bis jetzt unmöglich gewesen, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen beiden Geweben, so namentlich an der Oberfläche des kleinen Gehirns zwischen den Körnern, welche ich vorher (S. 313) schilderte, und welche mit grossen Ganglienzellen zusammenhängen, einerseits und den Elementen des Bindegewebes andererseits. Namentlich wenn man die Theile aus dem Zusammenhange gerissen sieht, so kann man nicht leicht einen Unterschied machen; eine bestimmte Deutung ist nur so lange möglich, als man sie in ihrer natürlichen Lage übersieht. Wie in allen Geweben der Bindesubstanz, so liegen auch hier die Elemente (Glia-Zellen) in einer Intercellularsubstanz, welche je nach den einzelnen Orten in sehr verschiedener Mächtigkeit auftritt. Im Allgemeinen ist die gliöse Intercellularsubstanz weich, aber, wie wir schon bei der Betrachtung des Ependyms sahen (S. 317), sie bietet sehr verschiedene Grade der Festigkeit und der inneren Zusammensetzung dar. Obwohl sie frisch fast überall eine mehr gleichmässige, mit feinen Pünktchen oder Körnchen versehene, weiche und gebrechliche Masse darstellt, die deshalb von Einigen geradezu als eine Art von Protoplasma angesprochen wird, so zeigt sie doch auch ohne besondere Vorbereitung an manchen Stellen eine faserige, mehr oder weniger der Intercellularsubstanz des Bindegewebes analoge Beschaffenheit. Erhärtet man sie vorsichtig durch chemische Mittel, so tritt überall eine feinfaserige Einrichtung hervor. Diese Fäserchen sind von äusserster Zartheit, so dass es in der grauen Substanz noch nicht gelungen ist, sie überall von den reiserförmigen Fortsätzen der Ganglienzellen (S. 307) zu unterscheiden, ja dass Einzelne sogar einen Zusammenhang zwischen beiden angenommen haben. Diese Schwierigkeit ist namentlich dadurch bedingt, dass die gliösen Fäserchen an zahlreichen Stellen ein feines Netzwerk bilden, welches sich den Hirnzellen so eng anschliesst, dass man Mühe hat, die Ausläufer dieser Zellen, welche gleichfalls fibrillär sind, von den intercellularen Fibrillen zu trennen. Verhältnissmässig am nächsten unter den Geweben der Bindesubstanz steht das Schleimgewebe. Gewiss ist es von erheblicher Wichtigkeit zu wissen, dass in allen nervösen Theilen, sowohl den centralen, als den peripherischen, ausser den eigentlichen Nervenelementen noch ein zweites Gewebe vorhanden ist, welches sich anschliesst an die grosse Gruppe von Bildungen, welche den ganzen Körper durchziehen, und welche wir in den früheren Capiteln als Gewebe der Bindesubstanz kennen gelernt haben. Spricht man von pathologischen oder physiologischen Zuständen des Hirns oder Rückenmarks, so handelt es sich zunächst immer darum, zu erkennen, in wieweit dasjenige Gewebe, welches getroffen ist, welches leidet oder erregt ist, nervöser (parenchymatöser, specifischer) oder gliöser (interstitieller) Art ist. Für die Deutung krankhafter Processe gewinnen wir so von vornherein die wichtige Scheidung der Affectionen der Nerven, des Hirns und Rückenmarks in interstitielle und parenchymatöse [nervöse][133], und die Erfahrung lehrt, dass gerade das interstitielle Gewebe einer der häufigsten Sitze krankhafter Veränderung, z. B. fettiger Degeneration, Induration, Proliferation ist. Es versteht sich von selbst, dass die Erkrankungen dieses interstitiellen Gewebes ganz denen anderer Bindegewebsmassen gleichen, dass also auch Gehirn, Rückenmark und Nerven dieselben Arten von Veränderung erfahren können, die an der Haut, der Cornea, dem interstitiellen Gewebe der Leber oder Nieren vorkommen. [133] Entwickelung des Schädelgrundes 96, 100. Innerhalb der Neuroglia verlaufen die Gefässe, welche daher von der Nervenmasse fast überall ausser ihrer Adventitia (Lymphscheide) noch durch ein leichtes Zwischenlager getrennt sind und nicht in unmittelbarem Contact mit derselben sich befinden. Die Neuroglia erstreckt sich in der besonders weichen Form, welche sie an den Central-Organen, besonders am Gehirne hat, nur noch auf diejenigen Theile, welche als direkte Verlängerungen der Hirnsubstanz betrachtet werden müssen, nehmlich auf einige höhere Sinnesnerven. Der Olfactorius und Acusticus zeigen noch dieselbe Beschaffenheit der Zwischenmasse, während in den übrigen Theilen, selbst schon im Opticus, eine zunehmende Masse eines derberen Gewebes auftritt, welches den Charakter des Perineuriums annimmt. Perineurium und Neuroglia sind also äquivalente Theile, nur dass die letztere eine weiche, markige, gebrechliche, fast schleimige Beschaffenheit hat, während das erstere sich den fibrösen Theilen anschliesst. Das Neurilem aber verhält sich zum Perineurium, wie die Hirn- und Rückenmarkshäute zu der Neuroglia. Ueberall, wo Neuroglia vorhanden ist, zeigt sich noch eine ganz besondere Eigenthümlichkeit, welche sich bis jetzt weder chemisch noch physikalisch deuten lässt; überall da können nehmlich jene eigenthümlichen Körper vorkommen, welche schon durch ihren Bau an die Körner der Pflanzenstärke erinnern und deshalb von ihrem Entdecker, =Purkinje=, den Namen der =Corpora amylacea= (Fig. 103, _a_) erhielten. Durch ihre chemische Reaction stellen sie sich den pflanzlichen vollständig an die Seite. Am meisten ausgedehnt und am mächtigsten liegen sie im Ependyma der Hirnventrikel und des Spinalkanals, und zwar um so reichlicher, je grösser die Dicke der Ependymaschicht ist. Man findet sie gewöhnlich an manchen Stellen nur vereinzelt, an anderen dagegen nimmt ihre Zahl so sehr zu, dass die ganze Dicke des Ependyms davon in einer solchen Weise eingenommen ist, dass es aussieht, als wenn man ein Pflaster vor sich hätte. Die Corpora amylacea treten aber merkwürdiger Weise auch unter pathologischen Verhältnissen häufig in grösser Menge auf, wenn durch eine krankhafte Störung die Masse der Neuroglia im Verhältnisse zur Nervensubstanz zunimmt, z. B. nach Processen der Atrophie (S. 278). Bei der Tabes dorsualis, wie man früher sagte, der gelatinösen oder grauen Atrophie einzelner Rückenmarksstränge, wie ich den Zustand genannt habe[134], findet man in dem Maasse, als die Atrophie fortschreitet, als die Nerven untergehen, in gewissen Richtungen, z. B. in den hinteren Strängen, meist zunächst an der hinteren Spalte keilförmige Züge, in welchen die bis dahin weisse Substanz von aussen her grau und durchscheinend wird. Es sieht dann aus, als entstände neue graue Substanz. Diese Umwandlung kann fortschreiten und geht gewöhnlich in der Weise fort, dass der Keil immer höher und höher steigt und zugleich an Breite zunimmt. In seinen Grenzen schwindet nun allmählich die ganze markhaltige Substanz; man findet keine deutlichen Nerven an diesen Stellen mehr; dagegen durchsetzt sich die Neuroglia sehr häufig mit einer massenhaften Anhäufung von Corpora amylacea. [134] Archiv VIII. 143, 540. X. 102. XLVIII. 520. [Illustration: =Fig=. 105. Durchschnitt des Rückenmarkes bei partieller (lobulärer) grauer oder gelatinöser Atrophie (Degeneration). _f_ Fissura longitudinalis posterior, _s_, _s_ hintere, _m_, _m_ vordere Nervenwurzeln, in Verbindung mit der grauen Substanz der Hörner. In _A_ geringere, in _B_ ausgedehnte Atrophie, die sich in den Hintersträngen um die Mittelspalte _f_, und bei _l_ in den Seitensträngen zeigt. Natürliche Grösse.] Trotz dieser Massenhaftigkeit ist es für die Betrachtung mit dem blossen Auge ganz unmöglich, irgend etwas von der Anwesenheit der Corpora amylacea wahrzunehmen. Man sieht weder die einzelnen Körper, welche niemals zu einer makroskopischen Grösse anwachsen, noch ihre Haufen. Denn die Körper sind so wenig lichtbrechend, dass ihre Anwesenheit sich durch keine gröbere Eigenschaft oder Wirkung bemerkbar macht. Sie lassen sich daher nur durch das Mikroskop diagnosticiren. Nirgends im Körper hat man bis jetzt ein vollständiges Analogon dieser Art von Bildungen gefunden. Nur in denjenigen Theilen, welche bei der embryonalen Entwickelung als direkte Ausstülpungen aus der Hirnsubstanz hervorgehen, nehmlich in den höheren Sinnesorganen, wo ursprünglich eine gewisse Quantität von Centralnervenmasse in Sinneskapseln eintrat, namentlich in dem Acusticus, Olfactorius, Opticus, in der Cochlea und Retina kommen zuweilen Corpora amylacea vor, doch ist bis jetzt die chemische Reaction an denen der Retina nicht gelungen. Auch bei Thieren fehlt es bis jetzt fast ganz an analogen Beobachtungen, und erst in der letzten Zeit hat =Bütschli= bei der Gregarine, einer entozoischen Monere, ähnliche Körper aufgefunden. Sehr bemerkenswerth ist der Umstand, dass auch der Neugeborne noch nirgends Corpora amylacea besitzt, ja dass sie selbst bei der so häufigen congenitalen grauen Atrophie der Rückenmarksstränge fehlen. Ihre Entwickelung beginnt erst in einer späteren Zeit des Lebens, und man wird daher um so eher geneigt, sie für ein pathologisches Produkt zu halten, als ihre Zahl und selbst ihr zeitliches Erscheinen sehr wesentlich durch das Auftreten pathologischer Prozesse bestimmt wird. Nichtsdestoweniger sind sie bei Erwachsenen so constant, dass man sie als einen typischen Bestandtheil der Neuroglia betrachten muss. Isolirt man solche Körper, so zeigen sie in jeder Beziehung eine so vollständige Analogie mit pflanzlicher Stärke, dass schon lange, bevor es mir gelang[135], die Analogie der chemischen Reaction zu finden, wegen der morphologischen Aehnlichkeit die Bezeichnung der Corpora amylacea eingeführt war. Freilich hat man von manchen Seiten die chemische Uebereinstimmung der thierischen und pflanzlichen Amyloidkörper bezweifelt; namentlich hatte =Heinrich Meckel= grosse Bedenken dagegen, indem er vielmehr eine Beziehung der ersteren zu Cholestearin annahm. In der neueren Zeit ist aber selbst von Botanikern vom Fach die Sache untersucht worden, und jeder, der sich genauer damit beschäftigte, hat bis jetzt dieselbe Ueberzeugung gewonnen, welche ich aussprach. =Nägeli= erklärt die Körper des Gehirns für ganz veritable Stärke. [135] Archiv VI. 135, 416. VIII. 142. Morphologisch erscheinen sie entweder als ganz runde, regelmässig geschichtete Körper, oder das Centrum sitzt etwas seitlich, oder es sind Zwillingskörper; meist sehen sie mehr homogen, blass, mattglänzend, wie fettartig aus. Behandelt man sie mit Jod, so färben sie sich blassbläulich oder graublau, wobei freilich die richtige Concentration des Reagens sehr viel ausmacht. Setzt man hinterher Schwefelsäure zu, so bekommt man bei regelrechter Einwirkung, am besten bei sehr langsamer Einwirkung des Reagens ein schönes Blau. Wirkt Schwefelsäure stark ein, so erhält man eine violette, schnell braunroth oder schwärzlich werdende Färbung, welche von der Färbung der Nachbartheile sich auf das Entschiedenste absetzt, denn diese werden gelb oder höchstens gelbbraun. Mit den Corpora amylacea darf eine in ihrer Nachbarschaft häufig vorkommende und in morphologischer Beziehung ihnen sehr nahe stehende Art von Bildungen nicht verwechselt werden, nehmlich die Körner des =Gehirnsandes=. Am längsten kennt man dieselben aus der Basis der Zirbel (Conarium, Glandula pinealis), wo sie in einem grösseren Häufchen, dem von den Gebrüdern =Wenzel= sogenannten Acervulus zu liegen pflegen. Jedoch sind sie manchmal durch einen grossen Theil der Substanz der Zirbel zerstreut. Nächstdem fand man sie in den Plexus choroides, namentlich in dem sogenannten Glomus, wo sie pathologisch zuweilen gleichfalls grosse Haufen bilden. Ich habe indess gezeigt, dass sie auch an zahlreichen anderen Stellen der Hirnhäute, und zwar sowohl der Pia, als der Dura mater, unter pathologischen Verhältnissen in Lymphdrüsen und an serösen Häuten vorkommen[136]. Jedenfalls finden sie sich physiologisch niemals im Innern der nervösen Theile; ihr Vorkommen ist streng gebunden an die Häute. Diese =Sandkörper= (Corpora arenacea) bestehen, wie die Corpora amylacea, aus concentrischen Schichten, aber sie werden sehr schnell der Sitz einer Kalkablagerung, welche sie allmählich ganz und gar durchdringt. Löst man die Kalksalze durch Säuren, so bleibt ein streifiges Gerüst einer lamellären organischen Substanz, welche niemals Jod- oder Jod-Schwefelsäure-Reaction gibt. Auch ihre beträchtliche Grösse, welche schnell makroskopisch wird, gestattet leicht ihre Unterscheidung von den Corpora amylacea. Dagegen kommen sie darin mit den letzteren überein, dass sie beim Neugebornen noch nicht vorhanden sind, sondern sich erst im Laufe des extrauterinen Lebens entwickeln. [136] Würzburger Verhandl. I. 144. II. 53. VII. 228. Geschwülste II. 107. Fünfzehntes Capitel. Leben der Elemente. Thätigkeit und Reizbarkeit. Das Leben der einzelnen Theile. Die Einheit der Neuristen. Einwände dagegen. Mythologische Natur der neuristischen Lehren. Animismus: Archaeus, Zellenseele. Das Bewusstsein. Die Thätigkeit der einzelnen Theile. Begriff der Reizung: Passion und Action. Die Erregbarkeit (Reizbarkeit) als allgemeines Kriterium des Lebens. Partieller Tod: Nekrobiose und Nekrose. Nichterregbarkeit der Intercellularsubstanz. Verrichtung, Ernährung und Bildung als allgemeine Formen der Lebensthätigkeit. Verschiedenheit der Reizbarkeit je nach diesen Formen. Functionelle Reizbarkeit. Nerv, Muskel, Flimmerepithel, Drüsen. Ermüdung und functionelle Restitution. Reizmittel. Specifische Beziehung derselben. Muskelirritabilität. Geringer praktischer Werth derselben. Nervenirritabilität. Grosse Bedeutung derselben. Falsche Deutung derselben als Empfindlichkeit oder als Contractilität. Innervation. Bewusste und unbewusste Empfindungen. Nervenkraft (Nervenseele, Neurilität). Specifische Unterschiede der constituirenden Theile des Nervensystems. Die Leitung der Electricität als Zubehör der Nervenfasern, die Sammlung (Hemmung, Verstärkung) und Lenkung als Zubehör der Ganglienzellen. Moderations-Einrichtungen. Instinctives und intellectuelles Leben. Bewusstsein. Nothwendigkeit einer histologischen Localisation der nervösen Functionen. Erregung der Ganglienzellen: verschiedene Energie und verschiedene Combination (Synergie) derselben. Spannung und Entladung von Ganglienzellen. Psychologische Auffassung der Affecte und Triebe. Die pathologische Nervenfunction: quantitative Abweichung (Krampf, Lähmung) und combinatorische Abweichung (Epilepsie). Drüsen-Irritabililät. Verschiedene Gruppen von Drüsen je nach dem Typus der Secretion. Die Drüsen mit persistenten Zellen: Leber, Nieren. Glykogenie. Automatische Elemente. Geschichtliches. Sarkode, Protoplasma. Amöboide Erscheinungen. Bewegliche Zellen. Verwechselungen des Automatismus mit den Wirkungen physikalischer Osmose (Schrumpfung und Schwellung). Aeussere Gestaltveränderungen mit Aussenden und Einziehen von Fortsätzen (Polymorphismus); innere Molecularbewegung, Vacuolenbildung, Abschnürung von Theilen des Zellkörpers. Befestigte (fixe) und bewegliche (mobile) Zellen. Wanderung und Mobilisirung der Zellen. Voracität: Blutkörperchenhaltige Zellen. Mechanisches Eindringen von fremden Körpern in Zellen. Der Automatismus als Merkmal der Irritabilität. Die pathologischen Abweichungen der Function: Mangel (Defect), Schwächung und Steigerung. Absolute Zurückweisung der Annahme qualitativer Heterologie. Wenn man, wie es in den vorhergehenden Capiteln versucht worden ist, die gesammte histologische Einrichtung des Körpers überblickt, so scheint es mir, man müsse mit Nothwendigkeit zu demjenigen Schlusse geführt werden, der, meiner Ansicht nach, als Ausgangspunkt für alle weiteren Betrachtungen zu dienen hat, welche über Leben und Lebensthätigkeit angestellt werden, zu dem Schlusse nehmlich, dass jeder Theil des Körpers eine Mehrheit von kleinen wirkungsfähigen Centren oder Elementen darstellt, und dass nirgends, soweit unsere Erfahrung reicht, ein einfacher anatomischer Mittelpunkt existirt, von dem aus die Thätigkeiten des Körpers in einer erkennbaren Weise geleitet werden[137]. Schon nach den Erfahrungen des täglichen Lebens, die einem Jeden fast von selbst zufliessen, ist dies die einzige Deutung, welche zugleich ein Leben der einzelnen Theile und ein Leben der Pflanze anzunehmen gestattet. Sie allein setzt uns in den Stand, eine Vergleichung anzustellen sowohl zwischen dem Gesammtleben des entwickelten Thieres und dem Einzelleben seiner kleinsten Theile, als auch zwischen dem Ganzen des Pflanzenlebens und dem Leben der einzelnen Pflanzentheile. Sie macht es endlich möglich, die Entwickelungsgeschichte des Eies und des Fötus auf dieselben Grundgesetze zurückzuführen, welche für das spätere Leben und die krankhafte Störung Gültigkeit haben. =Und das ist das Hauptkriterium, nach welchem wir den Werth einer biologischen Theorie beurtheilen müssen=. [137] Archiv IV. 376. VIII. 15. IX. 34. Gesammelte Abhandl. 50. Die entgegenstehende Auffassung, welche noch vor Kurzem mit einer gewissen Energie heraustrat, diejenige, welche im Nervensystem den eigentlichen Mittelpunkt des Lebens sieht, hat die überaus grosse Schwierigkeit vor sich, dass sie in demselben Apparate, in welchen sie die Einheit verlegt, die gleiche Zerspaltung in unzählige, einzelne Centren wiederfindet, welche der übrige Körper darbietet, und dass sie an keinem Punkte des Nervensystems den wirklichen Mittelpunkt aufzuweisen vermag, von welchem, als von einem bestimmenden, alle Theile derselben beherrscht würden. Man hat gut reden, dass das Nervensystem die Einheit des Körpers bewirke, insofern allerdings kein anderes System vorhanden ist, welches sich einer so vollkommenen Verbreitung durch die verschiedensten peripherischen und inneren Organe erfreut. Allein selbst diese weite Verbreitung, selbst die vielfachen Verbindungen, die zwischen den einzelnen Theilen des Nervenapparates bestehen, sind keinesweges geeignet, um ihn als einfaches Centrum aller organischen Thätigkeiten erscheinen zu lassen. Wir haben im Nervenapparate bestimmte kleine, zellige Elemente gefunden, welche als Mittelpunkte der Bewegung dienen, aber wir finden nicht Eine einzelne Ganglienzelle, von welcher alle Bewegung in letzter Instanz ausginge; die verschiedensten einzelnen motorischen Apparate stehen auch mit den verschiedensten einzelnen motorischen Ganglienzellen in Beziehung. Allerdings sammeln sich die Empfindungen an bestimmten Ganglienzellen, allein auch hier finden wir keine einzelne Zelle, welche etwa als Centrum aller Empfindung bezeichnet werden könnte, sondern wieder sehr viele kleinste Centren. Die Neuristen (ich wähle diese Bezeichnung der Kürze wegen für die Anhänger der, am meisten in gewissen neuropathologischen Werken niedergelegten Ansicht von der dominirenden Bedeutung des Nervensystems) haben sich ihre Sache dadurch leicht gemacht, dass sie nachzuweisen versuchten, wie alle Lebensthätigkeit vom Nervensystem aus angeregt, alle einzelnen Lebensverrichtungen durch Nerveneinfluss (=Innervation=) hervorgerufen würden. Dass von diesem Standpunkte aus die Geschichte der Eizelle und aller ihrer Tochterelemente bis zu dem Zeitpunkte hin, wo Nerven existiren, einfach bei Seite geschoben werden muss, liegt auf der Hand. Dass auch im entwickelten Individuum die Lebensvorgänge aller derjenigen Theile, in denen wir bis jetzt noch keine Nerven kennen, -- ich erwähne nur die Knorpel, die Linse, den Glaskörper, -- als nicht vorhanden betrachtet werden müssen, bedarf keines Beweises. Aber wenn man auch annehmen wollte, wozu die ungeahnten Entdeckungen der letzten Jahre im Gebiete der feinsten Anatomie der Nerven einen scheinbaren Grund darbieten, dass es bei weiterer Forschung gelingen werde, in allen Theilen des ausgewachsenen Körpers Nerven aufzufinden, so sind wir doch noch fern davon, beweisen zu können, dass jeder einzelne Theil von diesen Nerven beeinflusst wird. Die blosse Existenz eines Nerven beweist doch noch nicht, dass er eine Einwirkung auf seine Nachbarschaft ausübt. Die Enden des Geruchsnerven treten, wie wir sahen (S. 289), bis zwischen die Epithelzellen der Regio olfactoria, aber sie »riechen« eben, und es wäre kühn, wenn man sofort annehmen wollte, dass sie ausserdem das benachbarte Epithel innerviren. Wir können aber noch mehr zugestehen. Selbst wenn dargethan würde, dass jeder einzelne, noch so kleine Theil des Körpers innervirt wird, so folgt daraus noch keineswegs, dass in dieser Innervation das ganze Leben der Theile enthalten ist. Die Blutkörperchen sind gewiss ohne irgend eine direkte Verbindung mit Nervenfasern, sowohl die rothen, als die farblosen; nichtsdestoweniger kann man sich vorstellen, dass von den Nerven aus auf sie eine Einwirkung, etwa eine elektrische, ausgeübt werde. Allein hören die Blutkörperchen auf zu leben, wenn wir sie diesen Einwirkungen entziehen? Respiriren nicht die rothen Blutkörperchen auch ausserhalb des Körpers? Fahren die farblosen nicht unter dem Mikroskope fort sich zu bewegen? =Der Gedankengang der Neuristen ist ein vollständig mythologischer=. Wie sie heute die Gewebe des Körpers im Verhältnisse zu dem Nervensystem betrachten, so betrachteten die Naturvölker die lebenden Individuen im Verhältnisse zu der Sonne, und gewiss mit eben so viel Recht. Wärme und Licht sind die »belebenden« Faktoren der Welt. Leben ist ohne Licht und Wärme unmöglich. Das Calidum innatum der altgriechischen Philosophen führte ganz consequent zu der Sonne hin. Sollen wir nun aber dabei stehen bleiben, dass jede unserer Lebensverrichtungen von der Sonne abhängig sei? Dass, weil die Sonne eine nothwendige Vorbedingung alles Lebens ist, auch das ganze Leben nichts als Sonnenwirkung sei? Ein solcher Sonnendienst wäre jedenfalls dem Nervendienste noch vorzuziehen, denn wir gewinnen hier wenigstens eine andere Einheit, als in dem Nerven=system=. Denn das Nervensystem ist eben ein System, d. h. ein aus vielen wirkenden Theilen zusammengesetztes Ganzes. Wenn wir zunächst aus ihm das Rückenmark als den für die gewöhnlichen Lebensvorgänge des Wirbelthierkörpers am meisten bestimmenden Theil auslösen, so wird niemand leugnen können, dass wir hier eine Art von Mittelpunkt (genauer Mittelglied) finden, zu dem zahllose Ströme hingehen und von dem eben so zahllose Ströme ausgehen. Aber sicherlich ist dieser Mittelpunkt kein einheitlicher im philosophischen Sinne, und unsere Neuristen übersehen nur zu leicht, dass selbst materiell hier jene Einheit nicht zu finden ist, welche sie suchen. Man kann das Rückenmark in eine gewisse Zahl von Abschnitten zerlegen, von denen jeder einzelne gewisse peripherische Theile innervirt und auch noch nach der Zerlegung zu innerviren fortfährt. Aber mit jedem Schnitte durch das Rückenmark schaffen wir uns ein getrenntes »System«, eine immer grössere Zahl gesonderter »Mittelpunkte«. Mit dem Gehirn ist es nicht anders. Die Anatomie »zerlegt« es in eine grosse Zahl besonderer Provinzen mit specifischer Thätigkeit, von denen jede ihr eigenes Leben lebt, und in diesen Provinzen kommen wir endlich auf jene Milliarde kleinster Heerde oder Elemente, welche wir vor Kurzem zum Gegenstande unserer Betrachtung gemacht haben. Nirgends in der körperlichen Einrichtung ist hier eine wirkliche Einheit, und selbst der Lebensknoten (noeud vital) von =Flourens= hilft uns nicht über die materielle Schwierigkeit hinweg. Denn er beweist nur, dass gewisse, für das Collectivleben des Körpers unentbehrliche Functionen, namentlich die Thätigkeit des Vagus, auf eine gewisse =Gruppe= von Ganglienzellen zurückgeführt werden kann. Der Neurismus führt daher zu dem ersehnten Ziele nicht. Man muss alsdann über das Körperliche hinaus gehen und mit dem alten =Georg Ernst Stahl= in den Hafen des =Animismus= einlaufen. Nur die immaterielle Seele bietet die Möglichkeit einer wirklichen Einheit. Aber diese Wirklichkeit ist nur eine gedachte. Sie ist nicht mehr Gegenstand der naturwissenschaftlichen Beobachtung, der Messung, des Experiments. Auch genügt die Eine Seele nicht zur Erklärung des Lebens der einzelnen Theile. Man muss dann noch einen Schritt weiter rückwärts machen und mit =Paracelsus= und =van Helmont= jedem einzelnen Theile seine besondere Seele, seinen =Archaeus= sichern. Wie man von der Gehirnseele zu der Rückenmarksseele gelangt ist, so kommt man bei der heutigen Kenntniss der Dinge nothwendig zu einer oder eigentlich zu zahllosen =Zellenseelen=. Die Eizelle nimmt diese Seele von der Mutter mit und überträgt sie auf die unendliche Brut von neuen Zellen, welche sie ihrerseits hervorbringt, bis dieselbe sich in den Ganglienzellen des neuen Gehirns wieder zu einer Gehirnseele entfaltet. Man bewegt sich hier in einem Kreise. Wie man es auch anfängt, um zur Einheit zu gelangen, immer langt man wieder bei der Vielheit an. Sind das Lebensprincip und die Seele identisch, so ist auch die Seele in jedem einzelnen Theile. Die Erfahrungen des Nervenlebens gestatten es am allerwenigsten, das Lebensprincip auf eine einzelne Stelle zu localisiren. Alle Thätigkeiten, welche vom Nervensystem ausgehen, und gewiss sind es sehr viele, lassen uns nirgends anders eine Einheit erkennen, als in unserem eigenen Bewusstsein[138]; eine anatomische oder physiologische Einheit ist wenigstens bis jetzt nirgends nachweisbar. Und, wie gesagt, könnte man wirklich in dem Nervensystem mit seinen zahlreichen einzelnen Centren den Mittelpunkt aller organischen Thätigkeit nachweisen, so würde man damit nicht gewonnen haben, was man sucht, die einfache Einheit. Macht man sich die Gründe klar, die uns zu dem Aufsuchen einer solchen Einheit veranlassen, so kann es nicht zweifelhaft sein, dass wir durch die geistigen Phänomene unseres Ichs immerfort irre geführt werden in der Deutung der organischen Vorgänge. Da wir uns selbst als etwas Einfaches und Einheitliches fühlen, so folgern wir, dass von diesem selben Einheitlichen alles Andere bestimmt werden müsse. [138] Gesammelte Abhandl. 14, 16. Archiv VII. 18. Man verfolge aber doch einmal die Entwickelung einer bestimmten Pflanze von ihrem ersten Keime bis zu ihrer höchsten Entfaltung; hier trifft man eine ganz analoge Reihe von organischen Vorgängen, wie bei der Entwickelung eines Thieres, ohne dass man auch nur vermuthen könnte, es bestände eine solche Einheit, wie wir sie unserem Bewusstsein nach in uns voraussetzen. Niemand ist im Stande gewesen, ein Nervensystem bei den Pflanzen zu zeigen; nirgend hat man gefunden, dass von einem einzigen Punkte aus die ganze entwickelte Pflanze beherrscht werde. Alle heutige Pflanzenphysiologie beruht auf der Erforschung der Zellenthätigkeit, und wenn man sich immer noch sträubt, dasselbe Princip auch in die thierische Oekonomie einzuführen, so ist, wie ich glaube, gar keine andere Schwierigkeit da, als die, dass man die ästhetischen und moralischen Bedenken nicht zu überwinden vermag. Es kann natürlich an diesem Orte unsere Sache nicht sein, diese Bedenken zu widerlegen oder zu zeigen, wie sie sich vermitteln liessen; ich hatte nur zu zeigen, wie sowohl die Physiologie, als die Pathologie, die uns zunächst interessirt, überall auf dasselbe cellulare Princip zurückführt, und wie dieses Princip überall den einheitlichen Auffassungen widerstreitet, welche man vom neuristischen Standpunkte aus behauptet. Es ist dies im Grunde kein neuer und ungewöhnlicher Gedanke. Wenn man seit Jahrtausenden von einem Leben der einzelnen Theile spricht, wenn man den Satz zulässt, dass unter krankhaften Verhältnissen ein Absterben einzelner Theile, eine Nekrose, ein Brand eintreten kann, während das Ganze noch fortexistirt, so geht daraus hervor, dass etwas von unserer Art zu denken in der allgemeinen Auffassung längst gegeben war. Nur ist man sich darüber nicht vollkommen klar geworden. Spricht man von einem Leben und Sterben der einzelnen Theile, so muss man auch wissen, worin das Leben und Sterben sich äussert, wodurch sie wesentlich charakterisirt sind. Das Charakteristicum des Lebens finden wir in der =Thätigkeit=, und zwar einer Thätigkeit, zu der jeder einzelne Theil je nach seiner Eigenthümlichkeit etwas Besonderes beiträgt, innerhalb deren er aber auch immer etwas besitzen muss, welches mit dem Leben der übrigen Theile übereinstimmt. Wäre dies nicht der Fall, so würden wir keine Berechtigung haben, das Leben als etwas Gleichartiges, als eine gemeinsame Eigenschaft alles Organischen zu betrachten. Diese Thätigkeit (Action) des Lebens geht, so viel wir wenigstens beurtheilen können, nirgends, an keinem einzigen Theile durch eine ihm etwa von Anfang an zukommende und ganz in ihm abgeschlossene Ursache vor sich, sondern überall sehen wir, dass eine gewisse =Erregung= dazu nothwendig ist. Jede Lebensthätigkeit setzt eine Erregung, wenn man will, eine =Reizung= voraus. Diese besteht in einer =passiven= Veränderung (passio, pathos), welche das lebende Element durch eine äussere Einwirkung erfährt, welche aber nicht so gross ist, dass die wesentliche Einrichtung des Elementes dadurch gestört wird. Auf diese passive Veränderung (Irritamentum) folgt ein =activer Vorgang=, eine =positive Leistung= des Elementes selbst, von der wir annehmen, dass sie aus den lebendigen Eigenschaften des Elementes als ein selbständiges Ereigniss folge. Daher erscheint uns die =Erregbarkeit= der einzelnen Theile als das Kriterium, wonach wir beurtheilen, ob der Theil lebe oder nicht lebe[139]. [139] Archiv IV. 285. VIII. 37. IX. 51. XIV. 1. Ein abgestorbener Theil zeigt allerdings auch anatomisch häufig grosse Veränderungen. Ich habe in dieser Beziehung zwei grössere Gruppen unterschieden. In der einen Gruppe, welche die =Nekrobiose=[140] umfasst, gehen dem Absterben schon gewisse Veränderungen der organischen Einrichtung voraus, welche zu einer Zerstörung, häufig zu einer wirklichen Zertrümmerung (=Detritus=) der Elemente führen. Am Schlusse des Processes findet sich der organische Theil gar nicht mehr vor: es ist ein Defect vorhanden. In der anderen Gruppe, welche die eigentliche =Nekrose= liefert, stirbt der Theil ab, ohne dass seine äussere Erscheinung eingreifende Veränderungen erfährt; relative Integrität der Form ist das unterscheidende Merkmal. Freilich kann der nekrotische Theil nachher wesentliche Veränderungen erfahren, aber dieses sind =cadaveröse= Veränderungen, und ihr Eintritt kann sich verhältnissmässig sehr lange verzögern. An Hartgebilden, namentlich Knochen, ist dies hinreichend bekannt; dasselbe gilt aber auch für Weichgebilde und selbst für ganz zarte, mindestens für die erste Zeit nach ihrem Absterben. Ob ein Nerv lebe oder todt sei, das können wir unmittelbar, durch seine anatomische Betrachtung, keineswegs mit Sicherheit erkennen, wir mögen ihn nun mikroskopisch oder makroskopisch untersuchen. In der äusseren Erscheinung, in den gröberen Einrichtungen, die wir mit unseren Hülfsmitteln entziffern können, ist, wenn wir frisch abgestorbene Nerven in Betracht ziehen, keine Möglichkeit gegeben, eine solche Unterscheidung zu machen. Ob ein Muskel lebt oder abgestorben ist, können wir anatomisch kaum beurtheilen, da wir die Muskelstructur noch erhalten finden an Theilen, welche schon seit Jahren abgestorben sind. Ich habe in einem Kinde, welches bei einer Extrauterinschwangerschaft 30 Jahre im Leibe seiner Mutter gelegen hatte, die Structur der Muskeln so intact gefunden, wie wenn das Kind eben erst ausgetragen gewesen wäre[141]. =Czermak= hat Theile von Mumien untersucht und an ihnen eine Reihe von Geweben gefunden, welche so vollständig erhalten waren, dass man sehr wohl hätte auf den Schluss kommen können, diese Theile wären aus einem lebenden Körper hergenommen. Der Begriff des Todten, des Abgestorbenen, Nekrotischen beruht ja eben darauf, dass wir bei und trotz der Erhaltung der Form nicht mehr die Erregbarkeit finden[142]. Am deutlichsten hat sich diese Erfahrung gerade in der neueren Zeit bei den Untersuchungen über die feineren Eigenschaften der Nerven gezeigt. Erst nachdem man auch am sogenannten ruhenden Nerven durch die Untersuchungen du =Bois-Reymond='s eine Thätigkeit kennen gelernt, nachdem man eingesehen hat, dass auch in dem ruhenden Nerven fortwährend elektrische Vorgänge stattfinden, dass er fortwährend eine Wirkung auf die Magnetnadel ausübt, kann man mit Sicherheit durch das physikalische Experiment beurtheilen, wann der Nerv todt ist. Denn sowie der Tod eingetreten ist, hören jene Eigenschaften auf, welche untrennbar mit dem Leben des Nerven verbunden sind. [140] Handb. der spec. Pathologie und Ther. I. 273, 279, 306. [141] Würzb. Verhandl. I. 104. Gesammelte Abhandl. 791. [142] Spec. Pathologie und Therapie. I. 279 Diese Eigenschaft der Erregbarkeit, welche wir an einzelnen Theilen in einer so ausgesprochenen und so evident nachweisbaren Weise finden, tritt immer mehr zurück, je niedriger organisirt der Theil ist, und am wenigsten sicher sind unsere Kriterien an den Geweben, welche die Bindegewebsformation umfasst. Hier sind wir in der That häufig in grosser Verlegenheit, zu entscheiden, ob ein Theil lebt oder ob er schon abgestorben ist. Es erklärt sich diese Schwierigkeit aus dem Umstande, dass diese Gewebe in der Regel ihrer Hauptmasse nach aus Intercellularsubstanz bestehen, und dass, wenn wir sie auf ihre Erregbarkeit prüfen wollen, nur die verhältnissmässig kleinen und spärlichen Zellen in Betracht kommen. =Nirgends ist Intercellularsubstanz erregbar=. Es ist dies eine überaus wichtige Erfahrung, welche sowohl für die physiologische Deutung der Gewebe, als auch für die Lehre =von dem Leben der einzelnen Theile als einer ausschliesslich cellularen= Eigenschaft von grösster Bedeutung ist. Früher hat man immer mit dem ganzen Gewebe experimentirt; erst in der neuesten Zeit hat man angefangen, auch die experimentelle Forschung auf die mikroskopischen Elemente zu richten, und es hat sich auch bei den Geweben der Bindesubstanz ergeben, dass ihre Zellen, z. B. auf elektrische Reizung erregbar sind. Wenn man nun weiter analysirt, was man unter Erregbarkeit verstehen soll, so ergibt sich alsbald, dass damit die Eigenschaft der lebenden Theile gemeint ist, vermöge welcher sie auf äussere Einwirkung in Thätigkeit gerathen. Es sind aber die verschiedenen Thätigkeiten, welche auf irgend eine äussere Einwirkung hervorgerufen werden können, wesentlich dreierlei Art[143]; und ich halte es für sehr wichtig, dass man diesen Punkt für die Gruppirung physiologischer und pathologischer Vorgänge bestimmt ins Auge fasse, um so mehr, als er gewöhnlich nicht mit besonderer Deutlichkeit hervorgehoben zu werden pflegt. [143] Archiv XIV. 13. Entweder nehmlich handelt es sich bei dem Hervorrufen einer bestimmten Thätigkeit um die Verrichtung, oder um die Erhaltung, oder um die Bildung eines Theiles: =Function=, =Nutrition=, =Formation=. Darnach lassen sich sämmtliche physiologischen und pathologischen Elementar-Vorgänge in drei grosse Gruppen zerlegen: functionelle, nutritive (trophische) und formative (plastische). Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass an gewissen Punkten die Grenzen zwischen diesen verschiedenen Vorgängen verschwinden, dass insbesondere zwischen den nutritiven und den formativen Vorgängen, und ebenso zwischen den functionellen und den nutritiven Uebergänge bestehen, allein in dem eigentlichen Akt unterscheiden sie sich doch ganz wesentlich, und die inneren Veränderungen, welche der einzelne erregte Theil erleidet, je nachdem er nur fungirt, oder sich ernährt, oder der Sitz besonderer Bildungsvorgänge wird, sind erheblich verschieden[144]. Das Resultat der Erregung, oder wenn man will, der Reizung eines lebenden Theiles kann also je nach Umständen ein bloss functioneller Vorgang sein, oder es kann eine mehr oder weniger starke Ernährung des Theiles eingeleitet werden, ohne dass nothwendig die Function gleichzeitig erregt wird, oder es kann endlich ein Bildungsvorgang einsetzen, welcher mehr oder weniger viele neue Elemente schafft. Diese Verschiedenheiten werden in dem Maasse deutlicher, als die einzelnen Gewebe des Körpers mehr geeignet sind, dem einen oder dem anderen Erregungszustande zu entsprechen. [144] Spec. Pathol. und Ther. I. 272. Archiv VIII. 27. Wenn wir von =Verrichtungen= der Theile sprechen, so reducirt sich bei einer guten Zahl von Geweben die wahre Function auf ein Minimum. Wir wissen im Ganzen sehr wenig zu sagen von der eigentlichen Function (im höheren Sinne des Wortes) bei fast allen Geweben der Bindesubstanz, bei der grössten Zahl der Epithelial-Elemente. Wir können wohl sagen, was sie für einen Nutzen haben, aber sie erschienen bis vor Kurzem immer mehr als relativ träge Massen, welche weniger der eigentlichen Function dienen, sondern vielmehr als Stützen für den Körper, als Decken für die Oberflächen, unter Umständen verbindend oder vermittelnd oder trennend, aber wesentlich =passiv= wirkend. Anders dagegen verhält es sich mit denjenigen Theilen, welche durch die Eigenthümlichkeit ihrer inneren Einrichtung einer schnelleren Veränderung zugänglich sind: den Nerven, den Muskeln und einzelnen anderen Gebilden, z. B. unter den epithelialen den Drüsenzellen, dem Flimmer-Epithel. Am frühesten hat begreiflicherweise die Erregbarkeit der Nerven die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und so ist es gekommen, dass viele Jahre hindurch der Begriff der Irritabilität sich ausschliesslich an die Nerven knüpfte, ein Umstand, der das Aufkommen des Neurismus in hohem Maasse begünstigt hat. Bei allen Geweben, welche erheblichen Functionen dienstbar sind, finden wir die Function hauptsächlich begründet in der feineren Umordnung, oder, wenn man es schärfer ausdrückt, in feinen räumlichen Veränderungen der inneren Masse, des Zelleninhaltes oder des Protoplasma. Es ist also hier der eigentliche Zellkörper in seiner specifischen, inneren Ausstattung, welcher entscheidet; es handelt sich dabei wenig um die Membran und, wenigstens in den meisten Fällen, wohl wenig um den Kern. Das Protoplasma verändert sich unter gewissen Einwirkungen verhältnissmässig schnell, ohne dass wir jedoch jedesmal von der Umordnung der einzelnen Inhaltspartikeln morphologisch etwas wahrnehmen könnten. Höchstens sehen wir als grobes Resultat eine wirkliche Locomotion einzelner Theile, aber der Hergang lässt sich nicht so weit für das Verständniss auflösen, dass man daraus einfach beurtheilen könnte, in welcher Weise diese Locomotion durch die kleinsten Partikelchen, welche den Zelleninhalt zusammensetzen, bedingt wird. Wenn in einem Nerven eine Erregung stattfindet, so wissen wir jetzt, dass damit eine Veränderung seines elektrischen Zustandes verbunden ist, eine Veränderung, welche nach Allem, was uns über die Erregung der Elektricität in anderen Körpern bekannt ist, mit Nothwendigkeit bezogen werden muss auf eine veränderte Stellung, welche die einzelnen Molekeln zu einander annehmen. Denken wir uns den Axencylinder aus elektrischen Molekeln zusammengesetzt, so können wir uns vorstellen, dass je zwei dieser Molekeln in dem Momente der Erregung eine veränderte Stellung zu einander einnehmen. Von diesen Stellungen der Molekeln sehen wir jedoch nichts, denn Molekeln sind überhaupt nicht sichtbar. Der Axencylinder sieht während der Function nicht anders aus, als sonst. Wenn wir einen Muskel während der Action betrachten, so bemerken wir allerdings, dass die Zwischenräume, welche zwischen den einzelnen sogenannten Scheiben liegen (S. 56), kürzer werden, und da wir nun wissen, dass die Substanz des Muskels aus einer Reihe von kleinen Fibrillen besteht, welche ihrerseits von Strecke zu Strecke, entsprechend diesen Scheiben, kleinste Körnchen enthalten, so schliessen wir daraus mit einer gewissen Sicherheit, dass wirkliche örtliche Verschiebungen der Körnchen gegen einander stattfinden. Aber diese Verschiebungen können nicht mehr zurückgeführt werden auf einen sichtbaren oder unmittelbar erkennbaren Grund. Wir können keine bestimmte chemische Veränderung, keine Umwandlung der Ernährungszustände der Theile wahrnehmen; wir sehen nur eine Verrückung, eine Dislocation der Partikeln, von der es freilich wahrscheinlich ist, dass sie auf einer geringen chemischen Veränderung der Molekeln beruht. [Illustration: =Fig=. 106. Bildliches Schema des Zustandes der Nerven-Molekeln im ruhenden (peripolaren, _A_) und im elektrotonischen (dipolaren _B_) Zustande des Nerven. Nach =Ludwig= Physiol. I. 103.] Bei dem Flimmer-Epithel sitzen feine Cilien an der Oberfläche der Zellen; diese bewegen sich in einer gewissen Richtung und üben in dieser Richtung auf kleine Theile, welche ihnen nahe kommen, einen locomotorischen Effect aus. Isoliren wir die einzelnen Zellen, so zeigt sich, dass eine jede oben einen Saum (Deckel) von einer gewissen Dicke hat, an welchem kleine haarförmige Verlängerungen hervortreten. Diese bewegen sich alle in der Art, dass eine Cilie, welche im ruhigen Zustande ganz gerade steht, sich einbiegt und wieder zurückschlägt. Aber wir sind ausser Stande, innerhalb der einzelnen Cilien weitere Veränderungen wahrzunehmen, durch welche die Bewegung vermittelt würde. Gerade so verhält es sich mit den Drüsenzellen, von welchen wir gar nicht zweifelhaft sein können, dass sie einen bestimmten locomotorischen Effect haben. Denn nachdem =Ludwig= durch die Untersuchung der Speicheldrüsen gezeigt hat, dass der Druck des ausströmenden Speichels grösser ist, als der Druck des zuströmenden Blutes, so bleibt nichts anderes übrig, als zu schliessen, dass die Drüsenzellen einen bestimmten motorischen Effect auf die Flüssigkeit ausüben; die Secret-Masse wird mit einer bestimmten Gewalt hervorgetrieben, welche nicht von dem Blutdruck oder einer besonderen Muskel-Action, sondern von der specifischen Energie der Zellen als solcher ausgeht. =Engelmann= glaubt neuerlich sogar an den Hautdrüsen des Frosches eine selbständige, von den Muskeln unabhängige Zusammenziehung beobachtet zu haben. Allein an einer Drüsenzelle, während sie fungirt, können wir eben so wenig einen eigenthümlichen, materiellen Vorgang innerhalb der constituirenden Theilchen wahrnehmen, wie an den Nerven, den Muskeln oder dem Flimmer-Epithel. Diese Thatsachen werden wesentlich verstärkt dadurch, dass wir wahrnehmen, wie gerade die functionellen Fähigkeiten der einzelnen Theile eine gewisse Störung erfahren durch eine längere Dauer der Verrichtung. An allen Theilen treten gewisse Zustände der =Ermüdung= auf, Zustände, wo der Theil nicht mehr im Stande ist, dasjenige Maass von Bewegung von sich ausgehen zu lassen, welches bis dahin an ihm zu bemerken war. Allein um wiederum in den leistungsfähigen Zustand zu kommen, bedürfen diese Theile keineswegs immer einer Ernährung, einer Aufnahme von Nahrungsstoff: die blosse Ruhe reicht aus, um innerhalb einer gewissen Zeit die Möglichkeit einer neuen Thätigkeit herbeizuführen. Ein Nerv, den wir aus dem Körper herausgeschnitten haben und zum Experiment verwenden, wird nach einer gewissen Zeit leistungsunfähig; wenn man ihn unter günstigen Verhältnissen, welche seine Austrocknung hindern, liegen lässt, so wird er allmählich wieder leistungsfähig. Diese =functionelle Restitution=, welche ohne eigentliche Ernährung stattfindet und aller Wahrscheinlichkeit nach darauf beruht, dass die Molekeln, welche aus ihrer gewöhnlichen Lagerung herausgetreten sind, allmählich wieder in dieselbe zurückkehren, können wir an verschiedenen Theilen hervorrufen durch gewisse Reizmittel. Nach der Auffassung der Neuristen würden diese Mittel nur auf die Nerven und erst vermittelst der Nerven auf die anderen Theile einwirken; allein gerade hier haben wir einige Thatsachen, welche sich nicht wohl anders deuten lassen, als dass in der That eine Wirkung auf die Theile selbst stattfindet. Wenn wir eine einzelne Flimmerzelle nehmen, sie, ganz vom Körper isolirt, frei schwimmen lassen und abwarten, bis vollkommene Ruhe eingetreten ist, so können wir die eigenthümliche Bewegung ihrer Cilien wieder hervorrufen, wenn wir eine kleine Quantität von Kali oder Natron der Flüssigkeit zufügen, eine Quantität, welche nicht so gross ist, dass ätzende Effecte auf die Zelle hervorgebracht werden, welche aber genügt, um, indem ein Theil davon in die Zelle eindringt, eine gewisse Veränderung an ihr zu erzeugen. Es ist aber besonders interessant, dass die Zahl der fixen Substanzen, durch welche wir das Flimmer-Epithel reizen können, sich auf diese beiden beschränkt. Daraus erklärt es sich, dass =Purkinje= und =Valentin=, welche zuerst und zwar sogleich in sehr ausgedehnter Weise Experimente über die Flimmerbewegung anstellten, nachdem sie mit einer sehr grossen Zahl von Substanzen experimentirt und, wer weiss was Alles versucht hatten, mechanische, chemische und elektrische Reize, zuletzt zu dem Schlusse kamen, es gebe überhaupt kein Reizmittel für die Flimmerbewegung. Ich hatte das Glück, zufällig auf die eigenthümliche Thatsache zu stossen, dass Kali und Natron solche Reizmittel seien[145]. Neuerlich hat W. =Kühne= entdeckt, dass unter den gasförmigen Substanzen sich noch ein mächtiger Erreger der Flimmerbewegung findet, nehmlich der Sauerstoff, während Kohlensäure und Wasserstoff dieselbe hemmen. Gewiss können wir hier keinen Nerveneinfluss mehr zu Hülfe rufen; derselbe erscheint um so weniger zulässig, als nach bekannten Erfahrungen die Flimmerbewegung im todten Körper sich noch zu einer Zeit erhält, wo andere Theile schon zu faulen angefangen haben. Ich sah die Flimmer-Epithelien der Stirnhöhlen und der Trachea in menschlichen Leichen noch 36 bis 48 Stunden post mortem in vollständiger Thätigkeit, zu einer Zeit, wo jede Spur von Erregbarkeit in den übrigen Theilen längst verschwunden war. [145] Archiv VI. 133. Aehnlich verhält es sich mit den übrigen erregbaren Theilen, insbesondere mit den Muskeln, an denen W. =Kühne= diese Verhältnisse mit so grosser Umsicht untersucht hat. Fast überall zeigt sich, dass gewisse Erregungsmittel leichter als andere wirken, und dass manche gar nicht im Stande sind, einen erheblichen Effect hervorzubringen. Fast überall ergeben sich =specifische Beziehungen=. Wenn wir die Drüsen ins Auge fassen, so ist es eine bekannte Thatsache, dass es specifische Substanzen gibt, wodurch wir im Stande sind, auf die eine Drüse zu wirken, nicht auf die anderen, die specifische Energie einer Drüse zu treffen, während die übrigen unbetheiligt bleiben. Bei den Drüsen lässt sich freilich ungleich schwieriger die Wirkung der Nerven ausschliessen, als beim Flimmer-Epithel, allein wir haben gewisse Versuche, wo man nach Durchschneidung aller Nerven, z. B. an der Leber, durch Injection reizender Substanzen in das Blut im Stande gewesen ist, eine vermehrte Absonderung des Organes hervorzurufen, indem man Stoffe anwandte, welche erfahrungsmässig zu dem Organe eine nähere Beziehung haben. Am meisten hat sich, wie bekannt, diese Discussion in neuerer Zeit concentrirt auf die Frage von der Muskel-Irritabilität, eine Frage, welche gerade deshalb so schwierig gewesen ist, weil sie von =Haller= mit einer grossen Exclusion eben auf dieses einzelne Gebiet beschränkt wurde. =Haller= kämpfte aufs Aeusserste dagegen, dass irgend ein anderer Theil ausser den Muskeln irritabel sei; sonderbarer Weise kämpfte er sogar gegen die Irritabilität von solchen Theilen, welche, wie die feinere Untersuchung der Späteren gezeigt hat, Muskel-Elemente enthalten, z. B. die mittlere Haut der Gefässe. Ja, er gebrauchte ziemlich energische Ausdrücke, wo er die von Anderen schon damals behauptete Erregbarkeit der Gefässe zurückwies. Ich habe schon angeführt (S. 129), dass wir gerade in dem Gefäss-Apparate grosse Abschnitte finden, z. B. am meisten ausgesucht an den Nabelgefässen des Neugebornen, in denen massenhafte Anhäufungen von Musculatur, aber keine Spur von Nerven erkennbar sind. Trotzdem besteht daran Irritabilität in einem hohen Maasse; wir können Zusammenziehungen der Muscularis mechanisch, chemisch und elektrisch herbeiführen. Ebenso verhält es sich mit vielen anderen kleinen Gefässen, welche keineswegs in der Weise, wie dies die Neuropathologen annehmen müssen, in allen Abschnitten Nervenfasern zeigen. Auch hier können wir an jedem einzelnen Punkte, wo Muskeln existiren, unmittelbar die Contraction hervorrufen. Die Erledigung der Frage von der Muskel-Irritabilität ist in der neueren Zeit besonders dadurch gefördert worden, dass man durch die Anwendung bestimmter Gifte, namentlich des Worara-(Curare-)Giftes dahin gelangt ist, die Nerven bis in ihre letzten, dem Versuche zugänglichen Endigungen zu lähmen, und zwar so, dass nicht wohl noch der Einwand erhoben werden kann, dass die Erregbarkeit der letzten Endigungen der Nerven in dem Muskel erhalten sei. Die Lähmung des Worara-Giftes beschränkt sich vollständig auf die Nerven, während die Muskeln ebenso vollständig reizbar bleiben. Während man die stärksten elektrischen Ströme auf den Nerven vergebens einwirken lässt, ohne irgend etwas von Bewegung hervorzubringen, so genügen die kleinsten mechanischen, chemischen oder elektrischen Reize, um den betreffenden Muskel in Erregung zu versetzen. Wenn daher die so lange streitige Frage dahin entschieden ist, dass es wirklich eine eigenthümliche Muskel-Irritabilität gibt, welche an der Muskelsubstanz als solcher haftet, so ist das Ergebniss doch praktisch nicht von so grosser Bedeutung, wie man hätte erwarten können. Denn thatsächlich sind fast alle Muskelbewegungen, welche die Physiologie und die Pathologie kennen, durch Nerveneinwirkung hervorgerufen: eine wirkliche =Selbstbewegung= der Muskeln findet nur in ganz anomalen Fällen statt. Nichtsdestoweniger ist es für das Urtheil von höchster Wichtigkeit zu wissen, dass die Bewegung als solche eine Function des Muskels ist, und dass der Nerv nichts anderes thut, als den Anstoss zu dem in der Muskelsubstanz schon vorbereiteten Vorgange zu geben. Die Natur dieses Vorganges ist nicht abhängig von der Eigenthümlichkeit der Nerveneinwirkung, sondern einzig und allein von der Eigenthümlichkeit der Muskelsubstanz. Die Neuristen haben jedoch aus derartigen Thatsachen, wie sie auch in der Reihe der secretorischen Vorgänge in ähnlicher Weise vorkommen, weitgehende Schlüsse in Beziehung auf die absolute Abhängigkeit der vitalen Vorgänge von Innervation gezogen. Dies ist in keiner Weise anzuerkennen. Man kann die Nerven eines Muskels oder einer Drüse zerschneiden und den Zusammenhang der Organe mit den Centren aufheben, ohne dass deshalb die Fähigkeit des Muskels zur Contraction oder die der Drüse zur Secretion aufhört. Ja man kann den Muskel oder die Drüse aus dem Körper herausschneiden, sie definitiv dem Organismus entfremden, ohne dass zunächst die Eigenschaften der Contraction oder Secretion dadurch geändert werden. Wollte man sich hier selbst darauf beziehen, dass in den ausgeschnittenen Muskeln oder Drüsen noch Nerven-Enden vorhanden seien, so hat dieses an sich hinfällige Argument schon deshalb keine Bedeutung, weil die neuristische Doctrin nur dann einen theoretischen Werth besitzt, wenn sie den Nervenapparat in seinem Zusammenhange, in seiner sogenannten Einheit in Rechnung stellen kann, keineswegs aber, wenn sie mit einzelnen peripherischen Abschnitten von Nerven arbeitet. Denn diese letzteren sind vielmehr als vorzügliche Beispiele für das Leben der einzelnen Theile, also für die cellulare Anschauung zu betrachten. Ich gestehe demnach die hohe Dignität des Nervenapparates und der an ihm geschehenden Vorgänge vollständig zu; ja ich gehe so weit, zu sagen, dass in dem gewöhnlichen Gange des menschlichen Lebens die Mehrzahl der Einzelvorgänge im Körper durch Nerveneinwirkung hervorgerufen oder geleitet wird. Wenn daraus jedoch in keiner Weise gefolgert werden darf, dass diese Einzelvorgänge selbst bloss passive Veränderungen der innervirten Theile sind, so darf noch weniger die Meinung zugelassen werden, als sei die Nerventhätigkeit keine cellulare, und als müsse die =Nerven-Irritabilität= als das eigentliche Wesen des Lebens angesehen werden. Betrachten wir diese viel besprochene Eigenschaft daher etwas näher: Die Lehre von der Irritabilität der Nerven beruht zunächst auf der Erfahrung, dass irgend eine Verletzung oder Reizung derselben Schmerz erzeugt oder wenigstens empfindlich ist. Genau genommen ist diese =Empfindlichkeit= eben das, was man die Irritabilität genannt hat; man reizte die verschiedensten Gewebe, um zu sehen, ob sie irritabel seien, und beurtheilte ihre Irritabilität wesentlich danach, ob auf die Reizung Schmerzempfindung eintrete oder nicht. In diesem beschränkten Sinne würde Nerven-Irritabilität die Eigenschaft bedeuten, zu den Centralorganen gehende und dort zum Bewusstsein kommende, durch äussere Reize hervorgerufene Vorgänge zu bewirken. Allein diese Vorgänge stellen nur die eine, nehmlich die =recipirende= Seite der Nerventhätigkeit dar; die andere, die im gewöhnlichen Sinne =active= oder =motorische= Seite, wird dabei gar nicht berührt. Die Anhänger der Nerven-Irritabilität haben daher nicht gezögert, auch diese Seite mit in ihre Betrachtungen hineinzuziehen; ja, es hat nicht lange gedauert, bis man daraus geradezu die Hauptsache gemacht hat. So kam es, dass schon =Haller= Irritabilität und Contractilität verwechselte, und dass er die Irritabilität gewisser Theile leugnete, weil sie sich auf Reize nicht contrahiren wollten. Der Grundfehler in dieser Betrachtungsweise liegt darin, dass man von ganz falschen Einheiten ausging. Man hatte keine einheitlichen Elemente und demgemäss auch keine einheitlichen Vorgänge. Man verwechselte zuerst Nerventhätigkeit und =Innervation=. Es liegt auf der Hand, dass Innervation nur diejenige Nerventhätigkeit bezeichnen kann, welche auf andere, =nicht nervöse= Theile gerichtet ist, also z. B. die Erregung der Muskel-oder Drüsenelemente zur Thätigkeit. Nun ist es freilich möglich, dass diese Thätigkeit ihrem Wesen nach identisch ist mit derjenigen, welche im Nerven selbst stattfindet, also etwa elektrisch ist, und man kann sich vorstellen, dass von den Nervenenden die elektrische Bewegung sich wirklich direkt auf die Muskel- oder Drüsensubstanz überträgt. Aber selbst wenn dies allgemein richtig wäre, was erst zu beweisen ist, so würde daraus doch nicht hervorgehen, dass die Thätigkeit des Nerven, insofern sie Elektricität hervorbringt, in irgend einer Weise gebunden ist an die Möglichkeit, dieselbe an bestimmte andere Theile des Körpers abzugeben und in diesen besondere Thätigkeitsäusserungen hervorzurufen. Ein ganz isolirter und aus dem Körper entfernter Nerv kann gereizt und in Thätigkeit gesetzt werden. Ueberdiess passt die Formel der Innervation nur für diejenigen Nerven, welche ich (S. 294) Arbeitsnerven genannt habe; sie ist ganz unbrauchbar für die Empfindungsnerven, welche zu Ganglienzellen gehen und gerade in der Erregung dieser letzteren ihre hauptsächliche »Thätigkeit« entfalten. Hier stossen wir auf ein neues Hinderniss. Die Neuristen knüpften die (wenn ich so sagen darf, =rückläufige=) Irritabilität an =bewusste= Empfindungen, namentlich an Schmerzäusserungen. Allein wir wissen, dass das Bewusstsein nur einem Theile derjenigen Empfindungen zukommt, welche dem Gehirn zuströmen, dass es dagegen an sich gänzlich fremd ist allen denjenigen Empfindungen, welche dem Rückenmark und dem spinalen Abschnitte des Gehirns angehören, und noch mehr jenen Perceptionen, um nicht zu sagen, Empfindungen, welche nur die Ganglien des Sympathicus berühren. Erst seitdem das Gebiet der Reflexvorgänge genauer studirt ist, hat man begriffen, dass nicht alle Bewegungserscheinungen, welche auf Reizung von Empfindungsnerven eintreten, Schmerzäusserungen sind, man müsste denn auch einen unbewussten Schmerz annehmen. Wollte man dies aber thun, was in einer gewissen Weise berechtigt wäre, so würde man doch sofort in einen Wirbel gerathen, der schliesslich zur Aufstellung eines =unbewussten Bewusstseins= führen müsste. Ein solches ist freilich in der sogenannten Rückenmarksseele gleichsam personificirt schon geschaffen worden; indess müsste man noch einen Schritt weiter gehen, und eine besondere Nervenseele wählen, wenn man einmal für alle Theile sich die spiritualistische Erklärungsform sichern wollte. Diese Nervenseele oder, wie die mehr naturphilosophischen Neuristen sagten, diese =Nervenkraft= (Neurilität =Lewes=) müsste nothwendigerweise jedem nervösen Theile oder Elemente zugeschrieben werden, und Irritabilität würde alsdann bedeuten die Fähigkeit des Theiles oder Elementes, diese Seele oder Kraft in Thätigkeit zu setzen. Aber gewiss ist es ein gewagter und nichts weniger als berechtigter Schritt, allen nervösen Theilen die gleiche Kraft zuzuschreiben. In der That ist noch niemand so weit gegangen, neben der Gehirnseele und der Rückenmarksseele auch noch besondere Ganglien- und Nervenseelen aufzustellen. Das allgemeine Zugeständniss, dass es nervöse Theile gibt, die nicht einmal das »unbewusste Bewusstsein« besitzen, dass also =innerhalb des Nervensystems specifische Unterschiede zwischen den constituirenden Elementen vorhanden sind=, reicht aus, um es verständlich zu machen, warum man mit der Annahme einer einfachen Nervenkraft nicht ausreicht. Man mag dieselbe nun spiritualistisch oder materialistisch construiren, man mag sie Anima oder Elektricität nennen, man ist ausser Stande, nach dem Stande unserer Kenntnisse damit alle functionellen Erscheinungen zu erklären. Daher muss man sich dazu verstehen, die Nervenfasern und die Nervenzellen nicht einfach zu identificiren. Alles, was wir über elektrische Vorgänge an Nerven wissen, bezieht sich auf Nervenfasern und zwar wesentlich auf =Leitung= (Conduction) der Elektricität in denselben. Indess darf man deshalb nicht so weit gehen, die Nervenfasern nur als Conduktoren der Elektricität aufzufassen, denn es ist leicht ersichtlich, dass, wenn von dem peripherischen Ende eines durchschnittenen Nerven aus durch direkte Reizung Bewegungen inducirt werden können, dies nur geschieht, indem der gereizte Nerv in sich Elektricität =hervorbringt=. Auch die Nervenfasern sind also functionell reizbar. Aber ich gestehe hier, wie bei der Muskel-Irritabilität zu, dass dies ein anomaler Fall ist, der im gewöhnlichen Leben selten vorkommt, und dass man daher als die eigentlichen =Erreger= der elektrischen Strömungen die Ganglienzellen anzusehen hat. Ob jedoch die Vorgänge im Innern dieser Zellen selbst elektrische sind, das ist bis jetzt nicht bekannt. Gewiss liegt es nahe, zu vermuthen, dass auch in den Ganglienzellen selbst elektrische Vorgänge stattfinden, ja Manches spricht dafür, dass diese Zellen die Fähigkeit besitzen, diese Vorgänge zu modificiren, d. h. abzulenken, zu verstärken und zu schwächen. Die empfindenden Nervenfasern sind fast durchgehends an ihren peripherischen Enden mit Nervenzellen in Verbindung, so dass jede von aussen eintretende Veränderung (Reizung) erst die Nervenzelle passiren muss, ehe sie in die eigentliche Nervenfaser übergeht und zu den centralen Ganglienzellen geleitet wird. Auch die motorischen Nervenfasern laufen kurz vor ihrem Ende vielfach in besondere gangliöse Apparate aus, gleichwie sie an ihrem Ursprunge aus Ganglienzellen hervorgehen. Welche andere Bedeutung können diese Zellen haben, als die einer =Sammlung= der in den Nerven geschehenden Bewegung, welche einerseits die Möglichkeit einer verschiedenen =Ablenkung= des Nervenstromes (Direction, Derivation), andererseits die Möglichkeit einer zeitweisen =Abschwächung= und =Hemmung= desselben und dann einer nachfolgenden =Verstärkung= mit vielleicht explosiver Wirkung gewährt? Gleichwie früher das Studium der Reflexvorgänge, so führt gegenwärtig die sich immer mehr ausdehnende Kenntniss der von mir so genannten =Moderations-Einrichtungen= im Nervensystem[146], wofür zuerst der Vagus, dann der Splanchnicus, schliesslich selbst das Gehirn so ausgezeichnete experimentelle Beispiele geliefert haben, mit Nothwendigkeit auf Ganglienzellen und nicht auf Nervenfasern zurück. Erscheinungen, wie die des Elektrotonus, sind im lebenden Organismus nicht bekannt. Trotzdem lassen die Vorgänge der Reflexion und Derivation, der Hemmung und Verstärkung eine Interpretation im Sinne der elektrischen Theorie zu. [146] Handb. der spec. Pathol. u. Ther. 1854. I. 19. Aber eine solche Interpretation ist nicht mehr möglich bei jenen verwickelten Vorgängen des =instinktiven= und =intellektuellen= Lebens, welche überhaupt die höchste Entwickelung der thierischen Function darstellen. Wer ist im Stande, den Instinkt oder gar den Verstand elektrisch zu construiren? oder gar das Bewusstsein als ein Analogon eines mechanischen Vorganges nachzuweisen? Wie so oft, hat man sich auch in diesem Falle über die Schwierigkeiten des Einzelnen hinwegzusetzen gesucht, indem man die Einzelerfahrung verallgemeinerte. So hat noch neuerlich E. =Hering= das Gedächtniss als eine allgemeine Function der organisirten Materie dargestellt, und =Wallace= hat den noch weiteren Schritt gethan, das Bewusstsein als eine allgemeine Eigenschaft der Substanz anzusprechen. Er ist auf diese Weise, ohne es zu ahnen, nahezu auf denselben Standpunkt der Naturanschauung gelangt, den vor fast zweihundert Jahren sein grosser Landsmann =Glisson=, der Erfinder des Wortes Irritabilität, einnahm, indem er der Substanz überhaupt drei Functionen beilegte, welche er als perceptiva, appetitiva und motiva bezeichnete. Leider ist es mit der Generalisation allein nicht gethan; man muss auch Beweise beibringen. Sonst bedeutet die Generalisation nichts als das Bestreben, eine Schwierigkeit möglich weit von sich zu entfernen und dadurch unmerklich zu machen. Eine Erklärung der organischen Vorgänge lässt sich am wenigsten auf dem Wege der speculativen Verallgemeinerung gewinnen. Jeder Schritt auf diesem Wege führt von der Forschung ab. Was uns in der organischen Welt noththut, ist nicht die Generalisation, sondern vielmehr die =Localisation=. Das Bewusstsein, das Gedächtniss, das Denken und Vorstellen überhaupt sind nicht einmal allgemeine Functionen aller Theile des Körpers. Wie sollten wir zu der Vermuthung kommen, dass auch die unorganische Substanz daran Antheil hat? Im Laufe von Jahrtausenden ist man allmählich dahin gekommen, den Nervenapparat als Träger dieser Functionen zu bestimmen. Nachdem sich zuletzt mehr und mehr die Aufmerksamkeit auf das Gehirn concentrirt hat, ist ganz folgerichtig die Frage aufgeworfen worden, welche Theile des Gehirns der »Sitz« der psychischen Functionen seien, und nachdem auch diese Frage zunächst nur im groben Sinne behandelt war, ist man endlich im Wege der Histologie zu den Ganglienzellen gelangt. Hier freilich lassen uns sowohl die Histologie als das Experiment und die pathologische Beobachtung im Stiche. Wir können noch nicht sagen, welche Ganglienzellen es sind, die so merkwürdige Functionen haben, und in welchen ihrer Bestandtheile dieselben ihre Erklärung finden. Aber dass an gewisse Gruppen von Hirnelementen die psychische Thätigkeit geknüpft ist, dass innerhalb dieser Gruppen Ganglienzellen die eigentlich wirksamen Elemente sind, und dass diese Ganglienzellen gewisse specifische Eigenthümlichkeiten haben müssen, wodurch sie sich von anderen unterscheiden, daran können wir nicht wohl zweifeln. Jedoch nur die immer mehr =localisirende= Untersuchung wird uns dahin führen, diese Eigenthümlichkeiten wirklich zu ergründen. Sprechen wir nun von Nerven-Irritabilität im Sinne der Centraleinrichtungen, so ist damit offenbar etwas anderes gemeint, als wenn wir nur an die Nervenfasern denken. Es ist die =Erregung= der =Ganglienzellen=, um welche es sich handelt. Diese Erregung kann eine willkürliche oder unwillkürliche, eine bewusste oder unbewusste, eine perceptive (sensitive) oder motorische sein, je nachdem diese oder jene Art von Ganglienzellen dabei betheiligt ist. Manche Verschiedenheiten der eintretenden Thätigkeiten erklären sich offenbar durch die =verschiedene Energie= der einzelnen Ganglienzellen: wie wir Bewegungs- und Empfindungszellen unterscheiden, so können wir auch innerhalb der Bewegungszellen die den einzelnen muskulösen Apparaten zugehörigen von einander trennen, und ebenso innerhalb der Empfindungszellen die gewöhnlichen spinalen Ganglienzellen von den Riech-, Seh- und Hörzellen u. s. w. des Gehirns sondern. Andere Verschiedenheiten dagegen resultiren aus der combinirten Erregung und Zusammenwirkung (=Synergie=) mehrerer, in sich verschiedener Ganglienzellen oder Ganglienzellen-Gruppen. Jede Reflex-Erregung, jede bewusste und willkürliche Erregung setzt die gleichzeitige oder doch innerhalb kurzer Zeiträume auf einander folgende Thätigkeit verschiedener Ganglienzellen voraus. Für viele Fälle sind wir im Stande, durch eine genaue Analyse des Vorganges diejenigen Gruppen zu bezeichnen, welche in Wirksamkeit treten. Aber das eigentliche Wesen der Erregung der einzelnen Zellen selbst zu erklären, sind wir bis jetzt nicht befähigt. Bei einer früheren Gelegenheit[147] habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass allerdings auch bei den Erregungsvorgängen der Centren sich Zustände der =Spannung= und der =Entladung= unterscheiden lassen. »Man schliesst sich«, sagte ich damals, »mit diesem bildlichen Ausdrucke sowohl an die Terminologie der Psychologen, als auch an die der Physiker und Praktiker an, und man gewinnt wenigstens einen, die Thatsachen kurz bezeichnenden Ausdruck, welcher die Möglichkeit zulässt, ohne sie jedoch nothwendig zu machen, dass auch die Zustände der Ganglien sich den bekannten Zuständen elektrischer Theile unterordnen«. Die kleinste peripherische oder centrale Erregung setzt zunächst eine gewisse Störung oder Veränderung in dem inneren Zustande einer Ganglienzelle. Diese kann sich fast unmittelbar auf die Fortsätze derselben fortsetzen und damit abgeleitet werden. Es kann aber auch eine Hemmung in der Fortleitung des Stromes eintreten und die Störung für eine gewisse Zeit innerhalb der Zelle beschränkt bleiben, indem die in ihrer Anordnung oder ihrem chemischen Verhalten veränderten Theilchen der weiteren Fortsetzung der Bewegung Hindernisse entgegenstellen. Kommt endlich die Ableitung, vielleicht in stürmischer Weise, zu Stande, so erscheint die dadurch hervorgebrachte Leistung als =befreiende That=, welche das leidende Organ entlastet, Erleichterung und Ausgleichung bringt. Im psychologischen Sinne entspricht die Störung dem =Affect=, der, indem er zur Motion drängt, zum =Triebe= wird, und der in der zur Befriedigung des Triebes führenden =Handlung= seine Lösung findet. [147] Handb. der spec. Pathologie und Therapie. 1854. I. 17. Diese Erfahrungen gelten in gleicher Weise für das gewöhnliche Nervenleben, wie für das Geistesleben, für die Physiologie, wie für die Pathologie. Allerdings nehmen die Erscheinungen der Erregung, der Spannung und der Entladung unter krankhaften Verhältnissen nicht selten überaus seltsame und selbst wunderbare Formen an. Aber als Regel muss überall festgehalten werden, dass auch die Erscheinungen des kranken Nervenlebens =nicht qualitativ verschieden= sind von denen des gesunden. Kein Nerv, keine Ganglienzelle kann, soviel wir wissen, unter pathologischen Bedingungen etwas Anderes thun oder leisten, als sie nach ihren, ein für allemal gegebenen Einrichtungen überhaupt zu thun oder zu leisten im Stande sind. Ein Tastnerv kann nicht sehen, ein Sehnerv nicht hören, eine Empfindungszelle nicht bewegen. Zuweilen macht sich freilich eine starke Neigung der Menschen geltend, den Nerven qualitativ verschiedene Leistungen zuzuschreiben. Der Mesmerismus hat Manchem den Glauben beigebracht, man könne mit den Hautnerven, z. B. der Oberbauchgegend, lesen. Die Tischrücker meinten, mit Empfindungsnerven Holz bewegen zu können. Alles das sind entweder Betrügereien, oder Selbsttäuschungen. Die pathologische Nervenfunction ist von der physiologischen nur dadurch verschieden, dass sie entweder =quantitative Abweichungen=, oder =ungewöhnliche Combinationen= erfährt. Die quantitativen Abweichungen ergeben ein Mehr oder Weniger an Leistung: =Krampf= oder =Lähmung=. Die combinatorischen (synergischen) Abweichungen zeigen eine Verbindung von nervösen, sei es an sich physiologischen, sei es quantitativ von den physiologischen verschiedenen Erscheinungen mit einander. Solcher Art ist die Epilepsie, bei welcher starke unwillkürliche Contractionen von willkürlichen Muskeln (Krämpfe) mit Lähmung des Bewusstseins sich combiniren. Diese Combination ist so auffällig, dass man sich in früheren Zeiten nicht anders zu helfen wusste, als dass man die Epileptiker Besessene nannte und irgend einen bösen Geist in sie hineinfahren liess, der mit ihren Gliedern arbeitete. Eine solche Heterologie der Kräfte existirt nicht. Was im Epileptiker arbeitet, sind seine eigenen Nerven, und trotz aller Absonderlichkeit der Leistung ist dieselbe doch in jedem ihrer Theile eine vorgezeichnete und in diesem Sinne eine physiologische. -- * * * * * Wenn sowohl bei den Muskeln, als bei den Nerven die Irritabilität eine so sehr in die Augen springende Eigenschaft ist, dass sie seit langen Jahren ein Gegenstand anhaltender Untersuchungen gewesen ist, so verhält es sich wesentlich anders mit der =Drüsen-Irritabilität=. Begreiflicherweise kann es sich hier nur um die Erregbarkeit der Drüsenzellen, des specifischen Parenchyms, und nicht um die an sich unzweifelhafte und gewiss in vielen Fällen sehr wirksame Erregbarkeit der Muskulatur der Gefässe und Ausführungsgänge der Drüsen handeln. Aber gerade deshalb ist die Frage eine sehr complicirte, die nur unter grossen Schwierigkeiten gelöst werden kann. Es kommt hinzu, dass man die Drüsenfunction noch weniger unter einheitlichen Gesichtspunkten behandeln kann, wie die Muskel- und Nervenfunction. Denn der Typus der Drüsenfunction ist in sich ganz verschieden. Eine Reihe sehr wichtiger Drüsen, insbesondere alle dem Generationssysteme angehörigen, arbeiten mehr nach dem nutritiven oder formativen Typus; sie müssen, bei der gegenwärtigen Betrachtung ausgeschieden werden. Wir können hier nur diejenigen Drüsen besprechen, deren Elemente eine grössere Dauer haben und demgemäss den Act der Function überleben. Dahin gehören, soweit sich bis jetzt erkennen lässt, die beiden wichtigsten Drüsen: die =Leber= und die =Nieren=. Aber auch an ihnen ist es schwer, die Function von der Nutrition zu scheiden, insofern ihre Function auf Stoffwechsel beruht. Es werden Stoffe in die Drüsenzellen aufgenommen, in denselben verändert und von denselben in diesem veränderten Zustande ausgeschieden. Nichts ist in dieser Beziehung so charakteristisch, wie die =Glykogenie= in der Leber. Aus differenten Stoffen, wie aus den Arbeiten =Bernard='s hervorgeht, selbst aus stickstoffhaltigen, entsteht in den Leberzellen eine stickstofflose Substanz, das Glykogen; dieses wird in Zucker übergeführt und letzterer in die Blutgefässe ausgeschieden und durch die Lebervenen dem allgemeinen Kreislaufe zugeleitet. Mannichfache Reize, mögen sie nun durch Innervation oder durch den Contact scharfer, durch das Blut zugeführter Stoffe hergestellt werden, erregen diese Thätigkeit der Leberzellen und steigern die Zuckerzufuhr zum Blute. Auch in dieser Form hat die Drüsenthätigkeit Manches an sich, wodurch sie den Ernährungsvorgängen nahe tritt, und es lässt sich begreifen, dass die Lehre von der functionellen Reizbarkeit nach dieser Seite hin wenig ausgebildet ist. Wahrscheinlich würde sie auch jetzt noch wesentlich auf muskulöse und nervöse Theile beschränkt geblieben sein, wenn nicht in ziemlich unerwarteter Weise ihr aus dem Gebiete der scheinbar trägen Einzelzellen eine sehr reiche Verstärkung an positiven Erfahrungen zugeflossen wäre. Diese war von um so grösserer Bedeutung, als hier zuerst =automatische= Vorgänge bekannt wurden, welche in der augenfälligsten Weise von allem Nerveneinflusse frei sind. Die Reihe dieser Entdeckungen wurde eingeleitet durch eine schnell steigende Zahl von Beobachtungen auf dem Felde der Botanik und der Zoologie, welche zum Theil jenes Grenzgebiet betrafen, welches =Häckel= seitdem unter der Bezeichnung des =Protistenreiches= abgeschieden hat. Indess lieferten auch unzweifelhaft einzellige Pflanzen, zumal Algen, welche frei im Wasser leben, und isolirte Pflanzentheile, wie die Sporen, sehr wichtige Anhaltspunkte. Daran schlossen sich neue Erfahrungen über die automatische Substanz niederer Wasserthiere, namentlich über die sogenannte =Sarkode= der Süsswasserpolypen durch =Ecker=, sowie über die contractile Substanz der Polythalamien durch M. =Schultze= und der Radiolarien durch =Häckel=. Seit diesen Autoren ist allmählich der Name =Protoplasma= in einer solchen Ausdehnung für diese Substanzen gebräuchlich geworden, dass man sich des Bedenkens allerdings nicht entschlagen kann, dass derselbe weit über das Maass eines wissenschaftlichen Verständnisses hinaus in Anwendung gebracht wird. Immerhin kann man zugestehen, dass er bei diesen niederen Organismen eine höhere Berechtigung hat. Wenn bei den durch =de Bary= und W. =Kühne= genauer bekannt gewordenen Myxomyceten diese Substanz nicht bloss der Bewegung dient, sondern auch in sich neue Gewebselemente erzeugt, so trifft die Bezeichnung gewiss in hohem Maasse zu. Noch mehr würde dies der Fall sein, wenn jener neu entdeckte Organismus, welcher den Boden des atlantischen Oceans überzieht, der Bathybius, in der That keine zellige Organisation erreichte, sondern, wie =Huxley= beschreibt, auf einer niederen Stufe der Differenzirung stehen bliebe. Für die vergleichende Physiologie ist jedoch am meisten entscheidend gewesen die Kenntniss eines bis in die neueste Zeit hinein den Infusorien zugerechneten Wesens, der Amoebe, deren sehr einfache Organisation und eben so einfache Lebensthätigkeit sie gewissermaassen als den Prototyp des Automatismus erscheinen liess. So ist es gekommen, dass die Gesammtheit der hier in Betracht kommenden Erscheinungen den Namen der =amöboiden= erhalten hat. Auch die eigentlich cellulare Erforschung der automatischen Vorgänge begann bei niederen Thieren. In immer steigender Zahl wurden =bewegliche Elemente= im Innern des Körpers bei Cephalopoden, Crustaceen, Würmern u. s. f. aufgefunden. Bei den Wirbelthieren begannen, wie ich schon früher (S. 64, 189) erwähnt habe, die Beobachtungen mit dem Studium der Flimmerzellen, der Pigmentzellen und der farblosen Blutkörperchen, denen sich endlich durch die Entdeckung =von Recklinghausen='s die, trotz aller meiner Anstrengungen bis dahin von Vielen kaum noch als Elemente anerkannten Bindegewebskörperchen, sowie die Eiterkörperchen anschlossen. [Illustration: =Fig=. 107, I. Automatische Zellen aus Hydrocele lymphatica, durch Punction entleert. Man sieht theils einzelne haarförmige, theils gedrängte büschelige Fortsätze. Der Zelleninhalt (Protoplasma) feinkörnig; in einzelnen Zellen kleine (schwärzliche) Fettkörnchen, in zweien Vacuolen. Vergr. 300.] Manche der hier in Frage kommenden Erscheinungen waren allerdings schon länger bekannt, aber anderen Reihen von Vorgängen angeschlossen. Ich selbst hatte sie in höchst charakteristischer Weise an zwei verschiedenen Arten von Elementen gesehen und gezeichnet, nehmlich an Exsudatzellen und an Knorpelkörperchen[148]. Indess war damals die Neigung, alle Veränderungen der Zellen auf Exosmose und Endosmose zurückzuführen, so vorherrschend, dass ich im Zweifel geblieben war, ob ich nicht Erscheinungen der =Schwellung= und =Schrumpfung= vor mir hätte, welche durch bloss mechanische Einwirkung von Flüssigkeiten verschiedener Concentration herbeigeführt wurden. Die zum Theil sehr auffälligen osmotischen Veränderungen[149] der Zellen entsprechen zum Theil dem, was ich an einer anderen Stelle (S. 174, Fig. 61, _e_-_h_) von den rothen Blutkörperchen beschrieben habe, gehen jedoch noch darüber hinaus und sie konnten wohl als Grund der grössten Formveränderungen angesehen werden. Die neueren Beobachter sind gerade im Gegentheil so sehr von der Allgegenwart und Allwirkung des Protoplasma überzeugt, dass manche von ihnen auch alle diese, der wahren Osmose angehörigen Erscheinungen mit zu den Wirkungen des Protoplasma rechnen. Wie mir scheint, wird noch manche Arbeit dazu gehören, diese zwei Reihen, die active und die passive, auseinanderzulösen. [148] Archiv 1863. Bd. XXVIII. S. 237. [149] Zeitschrift für rationelle Medicin 1846. Bd. IV. S. 278. Gesammelte Abhandl. S. 86. Archiv 1847. I. 105. III. 237. [Illustration: =Fig=. 107, II. Automatische Zellen aus frisch exstirpirtem Enchondrom: körniger Zellkörper, grosser Kern mit je zwei Nucleoli. _a_ Zelle mit homogenen verzweigten Ausläufern nach zwei Richtungen, _b_ mehrfache feine Reiser neben den grossen, zum Theil körnigen Ausläufern. Vergr. 300.] Unter den automatischen Veränderungen der Zellen sind folgende vier zu nennen: 1) Die =äussere Gestaltveränderung=, insbesondere das =Aussenden= und =Einziehen von Fortsätzen=. Nirgends habe ich dies in so grosser, ja, ich kann wohl sagen, ungeheurer Ausdehnung gesehen, wie an jungen Knorpelzellen, namentlich an Enchondromzellen. =Grohe= hat es in gleicher Weise constatirt. Hier sah ich (Fig. 107, II.) von Zellen, welche, so lange sie in ihren Capsein enthalten waren, eine rundlich-kugelige Gestalt besassen, allmählich Fortsätze ausgehen, die als ganz feine Reiserchen begannen. Nach und nach verlängerten sie sich, sendeten neue Reiser und Aeste aus, schoben sich immer weiter und weiter hinaus und wurden so lang, dass man sie nicht auf einmal im Gesichtsfelde des Mikroskopes übersehen konnte. Aus einer kugeligen oder linsenförmigen Zelle wurde so ein Gebilde, welches einer vielstrahligen Ganglienzelle glich. Auch darin zeigt sich eine gewisse Uebereinstimmung mit den Bewegungen niederster Organismen, dass die ausstrahlende Substanz anfangs homogen, später in dem Maasse, als der Zellkörper sich mehr in die Fortsätze hineinschiebt, körnig ist. An kleineren Rundzellen (Fig. 107, I.) treten die Ausläufer bald in feinen Büscheln, bald in Form einzelner Haare oder Cilien zu Tage. Bei weiterer Beobachtung habe ich an pathologischen Knorpelzellen auch wahrgenommen, wie der Zellkörper mehr und mehr in Fortsätze sich auflöste und dem entsprechend sich, fast bis zur Unkenntlichkeit, verschmächtigte (Fig. 107, III. _a_ u. _c_). Ja, ich sah schliesslich die einzelnen Fortsätze sich einander nähern, in einander fliessen und sich gleichsam organisch mit einander verbinden, wie es ganz ähnlich an den sogenannten Pseudopodien der Polythalamien und Radiolarien beobachtet wird. [Illustration: =Fig=. 107, III. Aus derselben Geschwulst, wie Fig. 107, II. Die automatischen Zellen noch mehr in Fortsätze aufgelöst, letztere viel mehr verästelt. Der Zellkörper fast verschwunden. Vergr. 300.] In ähnlicher Weise, wie dieses Ausstrahlen der Fortsätze geschieht, erfolgt auch das Einziehen derselben. Einer nach dem andern verkürzt sich, zieht sich allmählich in den Zellkörper zurück und verschwindet. Die Zelle nimmt schliesslich wieder ihre rundliche Form an, ja nicht selten wird diese so auffällig kugelig und zugleich die Dichtigkeit des Gebildes so gross, dass schon daran der »Contractions«-Zustand erkannt werden kann. So auffällig diese Vorgänge sind, so muss ich doch betonen, dass ganz ähnliche durch abwechselnde Einwirkung concentrirter und diluirter Flüssigkeiten hervorgebracht werden können, zumal wenn ungleich dichte Mischungen auf die Zellen einwirken. Durch concentrirte Salz- oder Zuckerlösungen kann man das Zurückgehen der Fortsätze leicht bewirken, wie man umgekehrt durch verdünnte alkalische Lösungen zuweilen recht ausgezeichnete Fortsatzbildungen hervorrufen kann. 2) =Das Auftreten von Molecularbewegung= im Innern des Zellkörpers (Protoplasma's). Diese Erscheinung ist zuerst (1845) von =Reinhardt= an Eiterkörperchen, sodann von =Remak= an Schleimkörperchen gesehen und von mir genauer beschrieben worden[150]. Sie lässt sich durch einen Wechsel in den Concentrationszuständen mit Leichtigkeit herbeiführen. Erst sehr viel später ist die allgemeine Aufmerksamkeit für dieses Phänomen durch =Brücke= erregt worden, der darin einen besonderen vitalen Act sieht. Es lässt sich dies nicht ganz in Abrede stellen, insofern manche automatischen Vorgänge, z. B. die Aussendung von Fortsätzen mit einer moleculären Vibration beginnen, indess darf man doch nicht so weit gehen, jede Art der intracellularen Molecularbewegung als vital anzusehen. [150] Zeitschrift für rationelle Medicin 1846. IV. 278. Ges. Abh. S. 86. [Illustration: =Fig=. 107, IV. Eiterkörperchen des Frosches im Humor aqueus nach v. Recklinghausen. (Mein Archiv 1863. Bd. XXVIII. Taf. II. Fig. 1.). Vergr. 350. Fig. 1-7. Formen, welche dasselbe Körperchen der Reihe nach innerhalb fünf Minuten annahm. Fig. 17-18. Dasselbe Körperchen, mit Vacuolen besetzt.] 3) =Die Bildung von Vacuolen= im Protoplasma. Schon seit langer Zeit sind aus Pflanzenzellen und aus niederen Thieren inmitten der körnigen Substanz ihres Körpers helle, blasenförmige Räume bekannt. Aehnliche kommen auch in Zellen der höheren Thiere und des Menschen vor. Jedoch scheide ich diejenigen, welche von einer besonderen Haut umkleidet sind (Physaliden), ausdrücklich aus. Die genauere Beobachtung Vacuolen tragender Rundzellen (Fig. 107, I. Fig. 107, IV. 17 u. 18) ergibt, dass die hellen Räume manchmal einfach leere oder eigentlich von Wasser eingenommene Stellen, Wassertropfen innerhalb des sogenannten Protoplasmas sind, andermal dagegen von einer zähen, in Wasser schwerer löslichen und zuweilen in Form hyaliner Tropfen aus den Zellen austretenden Substanz erfüllt sind. In beiden Fällen wird durch concentrirtere Medien, namentlich Salzlösungen die Erscheinung aufgehoben. Ebenso kann man sie jedoch auch durch Maceration der Zellen in verdünnten alkalischen Salzlösungen künstlich erzeugen. Auch hier muss man daher sehr vorsichtig sein in der Deutung. 4) =Die Abschnürung einzelner Theile des Zellkörpers=. Es ist dies eine ähnliche Erscheinung, wie wir sie bei den rothen Blutkörperchen besprochen haben (S. 193, 266). Im Zusammenhange mit automatischen Bewegungen hat sie schon Boner[151] beobachtet; später ist sie von =Beale=, =Stricker= und Anderen als ein häufigeres Phänomen nachgewiesen worden. [151] J. H. =Boner= Die Stase. Inaug. Diss. Würzburg 1856. S. 7. Diese verschiedenen Erscheinungen, welche nicht selten neben, sehr oft kurz nach einander an einer und derselben Zelle auftreten, verändern das Aussehen derselben so auffällig, dass es häufig unmöglich ist, ohne unmittelbare Beobachtung des Vorganges sich von der Identität der Zellindividuen zu überzeugen. Es sind in der That proteusartige Metamorphosen. Allerdings kann man sie sämmtlich, wie es jetzt gewöhnlich geschieht, auf Contraction beziehen. Indess haben sie doch fast durchweg gewisse Eigenthümlichkeiten, welche ihre Veränderungen von den eigentlichen Contractionsveränderungen unterscheiden: diese Veränderungen erfolgen nehmlich mit =grosser Langsamkeit=, man kann fast sagen, Trägheit, aber zugleich nicht in einer vorgezeichneten Form oder Ordnung, wie die Bewegung muskulöser oder flimmernder Elemente, sondern mit dem =Anscheine der Freiheit und Willkür= und daher zuweilen auch der =Absichtlichkeit=. Erwägt man andererseits, dass in nicht wenigen Fällen es überaus schwer ist, die Grenzen zwischen den automatischen und den osmotischen Veränderungen zu ziehen, so wird man begreifen, mit welchen Schwierigkeiten das Studium dieser Phänomene umgeben ist. Auch eine blosse =Schrumpfung durch Exosmose= oder =Schwellung durch Endosmose=, also ganz physikalische Acte ohne alle Beziehung zum Leben, kann unter Umständen vorkommen, wo sie den Eindruck der Freiwilligkeit und selbst der Absichtlichkeit macht. Umgekehrt wieder sind wir bei vielen automatischen Acten in der That ganz ausser Stande, zu erkennen, ob eine Absicht bestand, ob der Vorgang auf einer Erregung beruhte, ob demnach das Element selbst ein reizbares ist und ob der automatische Vorgang als ein Beweis der Irritabilität der Zelle angesehen werden darf. In dieser Beziehung haben wir jedoch zwei bestimmte Anhaltspunkte: zunächst den Nachweis, der zuerst bei den automatischen Pigmentzellen der Froschhaut geführt wurde, dass die Veränderungen unter dem Nerveneinflusse stehen; sodann die Thatsache, dass wir durch stärkere Reizmittel, wie Elektricität, Wärme, Licht, chemische Substanzen automatische Vorgänge hervorzurufen vermögen. So hat noch kürzlich wieder =Rollett= die Beobachtung W. =Kühne='s bestätigt, dass die Hornhautkörperchen sich auf elektrische Schläge zusammenziehen. Handelte es sich bei diesen Vorgängen nur um befestigte (fixe) Elemente der Gewebe, so könnte man vielleicht glauben, es werde bei weiterer Forschung gelingen, überall einen Zusammenhang derselben mit Nerven aufzufinden. Aber das Vorhandensein automatischer Eigenschaften an losen und in Flüssigkeiten befindlichen (infusoriellen) Zellen überhebt uns in dieser Beziehung einer jeden Sorge. Wie schon erwähnt (S. 189), hat =Wharton Jones= zuerst an den farblosen Blutkörperchen solche Vorgänge beobachtet. Damit war für Jedermann, der lernen wollte, der Beweis geliefert, dass es sich um einfache Zellen-Eigenschaften handelte. Später hat dann v. =Recklinghausen= in der Hornhaut und im Bindegewebe neben den fixen Elementen auch bewegliche wahrgenommen und zuerst festgestellt, dass dieselben wirkliche Ortsveränderungen vornehmen, also wahre =Wanderzellen= sind. Die von =Waller= und =Cohnheim= gefundene (S. 189) Thatsache, dass die farblosen Blutkörperchen nicht bloss ihre Gestalt verändern, sondern auch die Fähigkeit der Ortsveränderung besitzen, so dass sie selbst die Gefässe verlassen und auf Oberflächen und in Gewebe des Körpers auswandern, hat es in hohem Maasse erschwert zu erkennen, ob gewisse mobile Elemente, welche sich im Inneren von Geweben finden, in dieselben eingedrungene farblose Blutkörperchen oder =mobilisirte= Elemente des Gewebes selbst sind. So ist eine grosse Verwirrung in der Interpretation der Thatsachen entstanden, und es ist in der That in vielen Fällen noch jetzt ganz unmöglich, genau festzustellen, wofür man sich entscheiden soll. Jeder Einzelne urtheilt unter solchen Verhältnissen mehr nach der von ihm angenommenen Formel, als nach der wirklichen Beobachtung. Meiner Erfahrung nach ist es irrig, eine einzige Formel als richtig anzunehmen. Sowohl im Bindegewebe, als in jungen Epitheliallagen können vorher befestigte Zellen mobilisirt und ebenso vorher mobile Zellen fixirt werden. Die Mobilisirung geschieht in Folge von Reizung, und insofern hat man ein Recht, auch diesen Act als eine Wirkung der Reizbarkeit der Zellen anzusehen. Die Gewebselemente des menschlichen Körpers, welche einer Mobilisirung unterliegen, gehören, abgesehen von den lymphatischen und Blutzellen, ausschliesslich der Gruppe der bindegewebigen und epithelialen Formationen an. Für viele dieser Elemente ist mit dieser Erkenntniss erst die Möglichkeit gegeben, ihnen überhaupt eine Function in dem strengen Sinne des Wortes zuzuschreiben. Nach ihrer Mobilisirung verhalten sie sich, wie die Amoebe und andere ähnliche Sonderorganismen, die =Häckel= in der Klasse der =Moneren= vereinigt hat. Sie erscheinen als vollständig individualisirte, wenigstens zeitweise gänzlich freie und abgesonderte Körper, welche den Gedanken der Zellen-Individualität im höchsten Maasse veranschaulichen. Es ist endlich noch eine besondere Eigenschaft zu besprechen, welche aus dem bisher mitgetheilten als eine einfache Consequenz folgt; das ist die =Voracität= dieser Elemente (S. 101, 189). Sie »fressen« allerlei Dinge, auch vollständig unverdauliche und nicht assimilirbare. Auch in dieser Beziehung gleichen sie vielen niederen Organismen. Namentlich durch =Ehrenberg= waren die sogenannten Färbungen der Infusorien mit Farbstofftheilchen, namentlich mit Indigo und Carmin in Gebrauch gekommen; es sollte damit gezeigt werden, dass diese »Thiere« Mund, Magen und After besässen, also eine vollkommene Organisation hätten. Genauere Beobachtungen haben auch für die Infusorien gelehrt, dass diese Argumentation falsch war; sie haben im Gegentheil gezeigt, dass manche Wesen an jeder beliebigen Stelle ihrer Oberfläche andere Körper aufnehmen, in ihr Inneres pressen und, in verschiedener Weise verändert, wieder auswerfen können, ohne dass sie Mund, Magen oder After besitzen. Für die Lehre vom Menschen trat diese Frage zuerst in einer entscheidenden Weise in den Vordergrund bei Gelegenheit der sogenannten =blutkörperchenhaltigen= Zellen. Schon als ich meine ersten Beobachtungen über die Entstehung der pathologischen Pigmente veröffentlichte[152], musste ich mich gegen die damals von =Kölliker= und =Ecker= vertheidigte Hypothese erklären, welche dahin ging, dass unter gewissen Verhältnissen Haufen von Blutkörperchen sich zusammenballten und daraus Zellen entständen. Andererseits hatten =Rokitansky= und =Engel= für pathologische, =Gerlach= und =Schaffner= für physiologische Verhältnisse die Möglichkeit aufgestellt, dass in gewöhnlichen Zellen nachträglich eine Neubildung von rothen Blutkörperchen stattfinde, dass also diese Zellen Mutterzellen für Blut darstellten. Ich wies nach[153], dass es sich hier um das Eindringen präexistirender Blutkörperchen in präexistirende Zellen, also um keinerlei Art von Neubildung, sondern nur um die Incorporirung von Blutkörperchen in andere Zellen handle, und da diese Zellen, wenigstens zum Theil, persistiren und aus den Blutkörperchen Pigment hervorgeht, um eine secundäre Pigmentbildung in Gewebselementen. Obwohl ich schon damals auf die Analogie dieser Vorgänge mit dem »Fressen« der mundlosen Infusorien hinwies, so hielt ich doch das Eindringen der Blutkörperchen in die Zellen für einen mechanischen Act, welcher durch die Gewalt des extravasirenden Blutes hervorgebracht werde. Ich dachte mir, dass das aus Gefässrupturen austretende Blut durch Rupturen der Wand in Zellen eindringe und hier liegen bleibe. [152] Archiv 1847. I. 381, 451. [153] Archiv 1852. IV. 515. 1853 V. 405. Erst =Preyer= hat bei direkter Beobachtung unter dem Mikroskop gefunden, dass manche bewegliche Zellen, z. B. farblose Blutkörperchen, unter Umständen rothe Blutkörperchen umfassen, in ihr Inneres hineinpressen und in sich aufnehmen. In besonders ausgezeichneter Weise ist später dargethan worden, dass dieselben Farbstoffkörner, welche die Infusorien »fressen«, von farblosen Blutkörperchen und anderen Zellen gleichfalls aufgenommen werden: Indigo, Carmin, Zinnober werden auf diese Weise incorporirt, und manche Zellen zeigen eine ungemein grosse Gefrässigkeit für derartige fremde, gleichviel ob verdauliche und veränderliche oder unverdauliche und unveränderliche Körper. Kohlenstückchen werden auf diese Weise von Schleimkörperchen der Luftwege mit grosser Leichtigkeit aufgenommen (S. 15, Fig. 8, _B b_). Dass es sich bei diesem »Fressen« nicht einfach um Ernährung handelt, habe ich schon früher bemerkt (S. 101). Aber ich muss auch davor warnen, jedes Eindringen von fremden Körpern in das Innere von Zellen als das Resultat automatischer Bewegungen anzusehen. Unzweifelhaft gibt es auch Incorporirungen fremder Körper, wobei das incorporirende Element sich ganz passiv verhält. Ein mikroskopisches Kohlensplitterchen kann vermöge der Schärfe und Spitzigkeit seiner Ecken gewiss ebenso gut in eine Zelle hineindringen, wie ein scharfes Instrument in den Körper. Kleine Entozoen und Pilze dringen vermöge ihrer eigenen Thätigkeit, mag diese nun in selbständigen Bewegungen, oder in fortschreitendem Wachsthum und Absorption entgegenstehender Widerstände beruhen, in das Innere von Gewebselementen ein; ja sie können dieselben gänzlich erfüllen und die specifische Substanz verdrängen oder aufzehren. Wir wissen dies nicht nur von den Trichinen, welche in Muskelfasern einwandern, sondern auch von Pilzen und Vibrionen, die in pflanzliche und thierische Zellen eindringen und sich darin vermehren. Diese Anführungen werden genügen, um zur Vorsicht in der Deutung der Beobachtungen aufzufordern. Veränderungen, welche dem Anscheine nach vollständig unter einander übereinstimmen, kommen auf ganz verschiedene Weise zu Stande. Trotzdem kann kein Zweifel darüber bleiben, dass die Voracität der Elemente, gleich der Migration und dem Polymorphismus derselben, als Ergebniss ihrer Thätigkeit und als Merkmal ihrer Irritabilität wirklich existirt. Alle diese Erscheinungen gehören demselben Gebiete an, -- einem Gebiete, welches ich mit dem Namen des =Automatismus= bezeichne, und dessen Kenntniss vielleicht als das wichtigste Ergebniss der auf das Einzelleben bezüglichen Forschungen der Neuzeit bezeichnet werden darf. Die Zahl der functionell activen Elemente des Körpers ist dadurch auf das Aeusserste vermehrt worden. Auch auf diesem Gebiete, wie auf dem aller anderen functionellen Theile, beschränkt sich die pathologische Störung auf das Quantitative. Nirgends gibt es qualitative Abweichungen. Die Function ist da oder sie ist nicht da; ist sie da, so ist sie entweder verstärkt oder geschwächt. Das gibt die drei Grundformen der Störung: =Mangel= (=Defect=), =Schwächung= und =Verstärkung der Function=. Eine andere Function, als die physiologische, wohnt auch unter den grössten pathologischen Störungen keinem Elemente des Körpers bei. Der Muskel empfindet nicht, der Nerv bewegt keinen Knochen, der Knorpel denkt nicht. Auch hier ist es nur die oft höchst sonderbare und complicirte Synergie verschiedener Theile oder gar die Combination activer und passiver Zustände, welche eine scheinbar quantitative Abweichung ergeben. Aber eine wissenschaftliche Analyse wird und muss jedesmal ergeben, dass auch die ungewöhnlichste Krankheit keine neue Form, keine eigentliche Heterologie der Function mit sich bringt. Sechzehntes Capitel. Nutritive und formative Reizung. Neubildung und Entzündung. Nutritive Reizbarkeit. Genauere Definition der Ernährung. Hypertrophie und Hyperplasie. Atrophie, Aplasie und Nekrobiose als Formen des Schwundes (Phthisis): regressive Processe. Wesen der Ernährung: Aufnahme und Aneignung der Stoffe durch eigene Thätigkeit. Crudität und Assimilation. Fixirung der Stoffe: Gegensatz zu todten und schlecht ernährten Theilen; Resorption und Kachexie. Gute Ernährung. Strictum et laxum, Tonus und Atonie, Kraft und Schwäche. Turgor vitalis. Nutritive Reize: trophische Nerven. Krankhafte Hypertrophie: parenchymatöse Entzündung; trübe Schwellung. Niere, Knorpel, Haut, Hornhaut. Die neuropathologische und die humoralpathologische Doctrin. Parenchymatöse Schwellung. Nutritive Restitution und Nekrobiose. Stadien der parenchymatösen Entzündung. Active Natur dieses Processes. Formative Reizbarkeit. Theilung der Kernkörperchen und Kerne (Nucleation): vielkernige Elemente, Riesenzellen (Knochenmark, Myeloidgeschwulst, lymphatische Neubildungen). Formative Muskelreizung im Vergleich zum Muskelwachsthum. Neubildung der Zellen durch Theilung (fissipare Cellulation): Knorpel, epitheliale und bindegewebige Neubildung. Wucherung (Proliferation). Auswanderung der farblosen Blutkörperchen und aus ihnen hervorgehende Organisation. Die plastischen (histogenetischen) Stoffe; der Bildungstrieb. Negation der extracellulären Neubildung und der Bildungsstoffe. Die Neubildung als Thätigkeit der Zellen. Formative Reize. Die humoralpathologische und neuropathologische Doctrin. Entzündliche Reizung, Entzündung. Neuroparalytische Entzündung (Vagus, Trigeminus); Lepra anaesthetica. Prädisposition und neurotische Atrophie. Die Entzündung als Collectivvorgang. Während die functionelle Reizbarkeit, deren Wirkungen wir im vorigen Capitel besprochen haben, den Lieblingsgegenstand der Studien unserer Physiologen darstellt und daher im Laufe der letzten Jahrzehnte fast ausschliesslich von ihnen verfolgt worden ist, so ist das Gebiet der =nutritiven Reizbarkeit= noch gegenwärtig vielmehr der pathologischen Untersuchung vorbehalten geblieben, und manche sehr wichtige Seite der Betrachtung hat sich deshalb lange der allgemeinen Aufmerksamkeit entzogen. Es war dies der Grund, weshalb ich schon früher, im fünften und sechsten Capitel, die Ernährung zum Gegenstande einer besonderen Erörterung gemacht habe. Auf diese Erörterung kann ich mich hier beziehen. Man wird danach leicht ersehen, dass ich unter der Bezeichnung der nutritiven Reizbarkeit die Fähigkeit der einzelnen Theile verstehe, auf bestimmte Erregungen mehr oder weniger viel Stoff in sich aufzunehmen und festzuhalten. Ich kann sogleich hinzusetzen, dass mit einer solchen vermehrten Aufnahme in das Innere der Elemente die wichtigsten jener Prozesse beginnen, welche das Gebiet der pathologischen Anatomie ausmachen. Ein Theil, der sich ernährt, kann sich dabei entweder beschränken auf die einfache Erhaltung seiner Masse, oder er kann, wie wir besonders in pathologischen Fällen sehen, eine grössere oder geringere Masse von Material in sich aufnehmen, als im gewöhnlichen Laufe der Dinge geschehen wäre. In welcher Weise oder in welcher Masse aber auch die Aufnahme erfolgen mag, so bleibt doch die Zahl der histologischen Elemente vor und nach einer bloss nutritiven Erregung sich gleich. Dadurch unterscheidet sich die einfache Hypertrophie von der Hyperplasie (numerischen oder adjunctiven Hypertrophie), mit welcher sie im äusseren Effect oft eine so grosse Aehnlichkeit hat (S. 90, Fig. 29, _B_). Solche einfache Hypertrophien beobachten wir an den Muskeln, den Nerven (S. 275), den Epithelien, insbesondere den Drüsenzellen, den Zellen des Bindegewebes, am häufigsten des Fettgewebes. Eine Steigerung der natürlichen, =adäquaten= Reize bedingt sehr leicht eine derartige Vergrösserung der Elemente. Ein Muskel, der gegen grössere Widerstände zu arbeiten hat, bekommt dickere Primitivbündel; das Epithel einer Niere, welche mehr Harnstoff abzusondern hat, vergrössert sich. Daher haben diese Hypertrophien häufig eine =compensatorische= Bedeutung. Das Herz wird hypertrophisch, wenn die arterielle Blutbahn kleiner wird; die eine Niere wird hypertrophisch, wenn die andere schrumpft. Ebenso unterscheidet sich die einfache =Atrophie= sowohl von der Aplasie, der ursprünglichen Mangelhaftigkeit in der Bildung einzelner Theile, als auch von der Nekrobiose (numerischen oder degenerativen Atrophie), welche eine wirkliche Zerstörung und Detritusbildung bedingt (S. 335). Seit alter Zeit hat man diese drei, in sich verschiedenen Zustände ganz gewöhnlich unter demselben Namen zusammengefasst: die Bezeichnung des =Schwundes= oder der =Schwindsucht= (Phthisis, Phthoe, Tabes), obwohl häufiger in dem Sinne eines allgemeinen, den ganzen Körper betreffenden Prozesses angewendet, hat doch bis in die neueste Zeit auch als Ausdruck für locale Prozesse gedient, z. B. Phthisis bulbi, testiculi. Will man sich jedoch das Verständniss der krankhaften Vorgänge sichern, so muss man nothwendig die drei Vorgänge aus einander halten[154]. Denn es liegt auf der Hand, dass eine mangelhafte Bildung und Entwickelung ganz andere Bedingungen und ein ganz anderes Wesen hat, als eine mangelhafte Erhaltung eines im Uebrigen regelmässig gebildeten und entwickelten Theiles. Letztere stellt immer einen =Rückgang= (regressiven Prozess) dar. Insofern stimmt sie überein mit der Nekrobiose, welche den Rückgang in seiner schlimmsten Form ausdrückt. Aber die Nekrobiose ist eine Art des örtlichen Sterbens; der davon befallene Theil stirbt definitiv ab, und er kann nur wieder ersetzt werden durch einen regenerativen Prozess der Neubildung, während der atrophische Theil trotz seines verschlechterten Zustandes persistirt, sich erhält und bei Verbesserung dieses Zustandes im Wege der einfachen Ernährung reparirt oder =restaurirt= wird. Derselbe Theil, oder sagen wir noch genauer, dasselbe Element kann im Laufe der Zeit in immer wechselnder Weise bald normal ernährt werden, bald atrophisch und hypertrophisch werden, wie das Beispiel der Muskeln vortrefflich lehrt. Grundbedingung ist jedoch, dass das Element überhaupt vorhanden ist und dass trotz alles Wechsels die erhaltende Thätigkeit nicht aufhört. [154] Handb. der spec. Pathologie und Ther. I. 304. Die wahre Ernährung ist also unter allen Verhältnissen auf die Erhaltung des Theils gerichtet, und begreiflicherweise kann sie nur ein Mehr oder Weniger normaler Vorgänge darstellen. Sie besteht nicht etwa in einer blossen Aufnahme, auch nicht in einem blossen Stoffwechsel, der sich aus Aufnahme und Abgabe zusammensetzt, sondern ganz wesentlich in der =Aneignung= der Stoffe. Bei letzterer ist wiederum zweierlei zu unterscheiden. Zunächst die Umwandlung der aufgenommenen Stoffe in die besondere Substanz des Parenchyms, die sogenannte =Assimilation=. Wenn wir in der Nahrung auch die mannichfaltigsten Stoffe, selbst Parenchymsubstanz geniessen, so gelangen doch höchstens das Wasser und einige Stoffe von mehr indifferenter Art, niemals die specifische Parenchymsubstanz als solche vollständig präparirt vom Magen oder vom Blute aus in die Gewebe[155]. Es genügt nicht, Blutwurst zu essen, um Blutkörperchen zu erzeugen, oder Hühnereier, um Markstoff in die Nerven absetzen zu lassen; ehe aus Fleisch wieder Fleisch, aus genossener Leber wieder Leber wird, müssen die daraus entstandenen Verdauungsstoffe (Peptone) erst wieder einer chemischen Umsetzung unterliegen, und die Ernährungs-=Thätigkeit= besteht gerade zu einem wesentlichen Theile darin, dass die in noch =crudem= Zustande aufgenommene Substanz in wirkliche Gewebssubstanz umgewandelt wird. Dies kann ganz und gar innerhalb der Zellen geschehen; sehr häufig, insbesondere bei allen mit Intercellularsubstanz versehenen Geweben, ist die Assimilation erst vollendet, wenn die neu entstandene Substanz in die Umgebung der Zellen =abgesondert= ist. Bindegewebe (leimgebendes Gewebe) kann nicht einfach dadurch restaurirt werden, dass wir Leim, etwa in Form einer Brühe, geniessen. Dieser Leim geht, wie das genossene Eiweiss, zum grösseren Theile in Harnstoff über, ohne wieder zu eigentlichem Gewebsmaterial verwendet zu sein. Die Ernährung der Bindegewebs-Intercellularsubstanz haben wir uns vielmehr so zu denken, dass aus einem Theile der Peptone neues Bluteiweiss gebildet wird, dass sodann von diesem ein Theil in die Bindegewebskörperchen aufgenommen und umgesetzt wird, und dass endlich dieser umgesetzte, leimartige Stoff aus den Körperchen in die Intercellularsubstanz ausgeschieden wird. Die assimilirende Thätigkeit ist daher keineswegs eine so einfache, wie man sie sich häufig denkt. [155] Vgl. meinen Vortrag über Nahrung- und Genussmittel (Sammlung gemeinverst. wiss. Vorträge Serie II. Heft 48. S. 22. Berlin 1868.) Zweitens gehört jedoch zu der Ernährung die =Fixirung= der aufgenommenen und assimilirten Stoffe. Ich verstehe darunter die Fähigkeit, diese Stoffe an dem Orte, wohin sie zur Bewahrung des Status quo gehören, auch festzuhalten, sie dem Spiele des Stoffwechsels, insbesondere der Exosmose zu entziehen. Hämoglobin ist eine in Wasser lösliche Substanz. Es genügt, Blutkörperchen in eine grosse Menge von Wasser zu versetzen, um sie auf dem Wege der Exosmose gänzlich »auszulaugen«. Dass eine ähnliche Auslaugung nicht schon durch das Blutwasser (Liquor sanguinis) geschehe, wird nicht bloss durch die concentrirtere Mischung desselben gehindert, sondern auch durch die Constitution der lebenden Blutkörperchen selbst. =Rollett= hat gezeigt, dass man durch Frost in kürzester Zeit die Blutkörperchen in dem gewöhnlichen Blutwasser zur vollständigsten Auslaugung bringen kann. Dasselbe geschieht auch im Körper überall, wo die Blutkörperchen absterben; die todten Körperchen lassen das Blutroth fahren, und dieses vertheilt sich alsbald mit dem Blutwasser in die umgebenden Theile. So entstehen die cadaverösen Färbungen der Leichen und die eigenthümlichen Farben des Brandes beim Lebenden; so kommen jene sonderbaren Entfärbungen der Blutkörperchen in Extravasaten und Thromben zu Stande, welche wir früher besprochen haben (S. 240, Fig. 79, _C_). Wenn der Blutfarbstoff eben seiner Farbe wegen ein besonders günstiges Object für diese Betrachtung ist, so haben wir ein anderes, welches wegen der grossen Häufigkeit und der bedeutenden Wirkungen seiner Exosmose der Aufmerksamkeit in noch weit höherem Maasse würdig ist. Das ist das Wasser. Bei Gelegenheit einer Erörterung der käsigen Metamorphose habe ich die Frage des Stoffwechsels im Todten des Weiteren besprochen[156] und namentlich auch den schnellen Wasserverlust hervorgehoben, von welchem todte Theile im Körper betroffen werden (S. 220). Das Welken der Blätter, die Krustenbildung und Mumification äusserer, die Schrumpfung, der Collapsus innerer thierischer Theile, welche abgestorben sind, stehen auf einer Linie. Dürres Laub, geschrumpfte Zellen sind vollkommene Analoga. [156] Verhandl. der Berliner med. Gesellschaft. 1865-66. S. 245. Der Umstand, dass die aus den Zellen austretenden Stoffe oft nach kurzer Zeit gänzlich verschwinden, hat zu der in früherer Zeit ganz allgemeinen Annahme geführt, es handle sich hier wesentlich um =Resorption=. Allein das Dürrwerden der Blätter, die Mumification brandiger Glieder beruhen auf Wasserverdunstung und nicht auf Resorption. Ueberdiess ist die Resorption, wo sie eintritt, z. B. bei den käsigen Umwandlungen, nur ein secundärer Act. Es war daher allerdings richtiger, als man das Wesen des Vorganges in einer vermehrten =Exosmose= suchte. Aber die Exosmose setzt einen Austausch von Stoffen voraus; überdiess erfolgt sie durch die Force majeure der ausserhalb der Zelle befindlichen Stoffe. Davon ist hier gar nicht die Rede. Der Wasseraustritt aus todten Theilen geschieht auch da, wo gar kein Austausch vorhanden ist, wo gar keine durch Concentration oder Mischung ausgezeichnete Intercellularflüssigkeit vorhanden ist. Der eigentliche Grund liegt in der Unfähigkeit der todten Elemente, ihre Bestandtheile noch festzuhalten. Das, was an todten Theilen im Extrem hervortritt, findet sich bei der Atrophie in geringerem Grade. Wenn ein atrophirender Nerv sein Myelin verliert, wenn eine Pigmentzelle ihr Pigment einbüsst, so braucht sie noch nicht todt zu sein oder zu sterben. Aber ihre innere Festigkeit ist erschüttert, die Solidität des inneren Baues ist beeinträchtigt, und die Folge ist eine =Verkleinerung mit Verschlechterung der Constitution=. Das ist das, was die Alten zum Theil mit dem Ausdrucke der =Kachexie= (Habitus malus) bezeichneten, und was in der antiken solidarpathologischen Lehre vom =Laxum et strictum= einen verständlichen Ausdruck gefunden hat. Denn es liegt auf der Hand, dass dem welken und schlaffen Zustande der Atrophie der derbe und straffe Zustand der guten Ernährung und noch mehr der wahren Hypertrophie gegenübersteht. Hier ist nicht bloss eine reichlichere Aufhäufung wohl assimilirten Stoffes, sondern auch eine stärkere Fixirung desselben vorhanden. Nirgends ist dies deutlicher erkennbar, als an den Muskeln, an welche sich daher auch die technische Sprache lange angeschlossen hat. Die =straffe Faser= der früheren Autoren ist zunächst die gut genährte Muskelfaser (das Primitivbündel) und erst weiterhin jede andere Faser. Dem Strictum et laxum der Methodiker entspricht zum Theil der =Tonus= und die =Atonie= der Neueren. Auch hier hat man in den letzten Jahren fast ausschliesslich den neuristischen Standpunkt eingenommen und den Tonus als die Folge einer dauernden Innervation gedeutet. Für einzelne Theile mag dies zutreffen. Aber allgemein betrachtet entsprechen diese Bezeichnungen den Ernährungszuständen der Gewebe; wie ich ausgeführt habe[157], bedeutet Tonus in diesem allgemeinen Sinne die nutritive Spannung (Tension). Daher galt der Tonus als Merkmal eines gesunden, normalen Zustandes der Theile, wo der günstigen Ernährung auch eine grosse Leistungsfähigkeit (Kraft) entspricht, während Atonie ausser der schlechteren Ernährung zugleich die Erschlaffung (Relaxatio) und Schwäche (Debilitas) bedeutet. Insofern schiebt sich in die Vorstellung neben dem nutritiven Moment zugleich die Voraussetzung eines functionellen mit hinein. [157] Archiv VI. 139. VIII. 27. XIV. 27. Ungleich dehnbarer ist der zu gewissen Zeiten viel gebrauchte Ausdruck des =Turgor vitalis=. Obwohl derselbe in vielen Fällen auch nichts anderes, als die nutritive Fülle eines Theiles bedeutet, so knüpfte sich doch meistentheils zugleich die Vorstellung von einer stärkeren Füllung der Gefässe (Hyperämie) daran. Wie bei dem Tonus die Nerven, so traten bei dem Turgor die Blutgefässe mit in die Betrachtung ein. Auch diese Betrachtung hat ihre Berechtigung. Denn offenbar ist eine gewisse Freiheit der Circulation Vorbedingung für eine reichlichere Zufuhr von Ernährungsmaterial und insofern auch für eine kräftigere Ernährung. Aber wir haben schon früher gesehen, dass die Gefässfüllung und der reichere Zustrom von Blut die Ernährung nicht nothwendig bestimmt (S. 158). Auch in gefässlosen Geweben ernähren sich die Elemente; ja sie leben und erhalten sich in vollständiger Trennung von den Geweben und von den Gefässen. Nach der alten Vorstellung =wird der Theil ernährt= und verhält sich dabei mehr oder weniger passiv; die Thätigkeit der Gefässe bestimmt seine Ernährung. Nach meiner Auffassung =ernährt er sich=: er verhält sich durchaus activ, und die Thätigkeit der Gefässe kann nur seine eigene Thätigkeit fördern oder unterstützen. Jede einzelne Zelle verhält sich, wie eine kleinste Pflanze; sie =wählt= ihr Ernährungsmaterial aus ihrer Umgebung[158]. Jedes Gewebsstück ernährt sich, wie die Frucht im Mutterleibe, die wohl an die Gefässe der Mutter grenzt, aber keinen Zusammenhang mit ihnen hat. Kann man eine grössere Uebereinstimmung denken, als die blosse Juxtaposition der Frucht im Mutterleibe mit einer oculirten Knospe? Die Geschichte der Transplantation von Körpertheilen, wie sie in den jüngsten Tagen bei der Behandlung von Wunden in immer grösserer Ausdehnung mit dem grössten Erfolge geübt wird, gibt die schönsten Beispiele für diese Selbsternährung bloss juxtaponirter Theile. [158] Archiv IV. 381. Aber freilich bedarf auch die Ernährungsthätigkeit bestimmter Erregungsmittel. Ohne diese bleibt ein lebender Theil inmitten der grössten Fülle von Ernährungsstoffen träge und unthätig. Die =nutritiven Reize= sind keineswegs immer Nahrungsstoffe: ein grosser Theil derjenigen Substanzen, welche wir Genussmittel nennen, reizt die Gewebe zu stärkerer Ernährung. Vermehrte Function, mechanische und chemische Einwirkungen der verschiedensten Art haben vermehrte Aufnahme von Nahrungsstoffen im Gefolge[159]. Wie das Licht auf die Pflanzengewebe, so wirkt mechanische Bewegung auf viele Thiergewebe reizend ein. Auch der Nerveneinfluss darf hier nicht ausgeschlossen werden, aber man soll nur nicht im Sinne der Neuristen die gesammte Ernährung als eine Wirkung =trophischer Nerven= betrachten. Ein grosser Theil der Ernährungsvorgänge hat mit Nerven nicht das Mindeste zu thun. Wo aber die Ernährung durch Innervation bestimmt wird, da hat die letztere nur einen modificirenden Einfluss auf die auch ohne sie vorhandene Ernährung. Wie die Muskelirritabilität allein es erklärt, dass die Innervation des Muskels eine Contraction zum Gefolge hat, so erklärt die nutritive Erregbarkeit der einzelnen Theile, dass der Einfluss trophischer Nerven die Aufnahme und Assimilation der Nahrungsstoffe anregen kann. [159] Handb. der spec. Pathol. und Ther. I. 338. Es ist aber für die pathologische Auffassung äusserst wichtig zu wissen, dass ein Theil, der in Folge seiner Energie und in Folge einer Reizung eine grosse Quantität von Material in sich aufnimmt, deshalb nicht nothwendiger Weise in einen dauerhaften Zustand der Vergrösserung zu gerathen braucht, sondern dass im Gegentheile gerade unter solchen Verhältnissen oft eine nachträgliche Störung in der inneren Einrichtung hervortritt, welche den Bestand des Theiles in Frage stellt und welche der nächste Grund wird für den Untergang desselben. Jedes Gewebe besitzt erfahrungsgemäss nur gewisse Möglichkeiten und Grade der Vergrösserung, innerhalb deren es im Stande ist, sich regelmässig zu conserviren; wird dieser Grad, und namentlich schnell, überschritten, so sehen wir immer, dass für das weitere Leben des Theiles Hindernisse erwachsen, und dass, wenn der Prozess besonders acut von Statten geht, eine Schwächung des Theiles bis zu vollständigem Vergehen desselben eintritt. Vorgänge dieser Art bilden schon einen Theil jenes Gebietes, das man in der gewöhnlichen Sprache der =Entzündung= zurechnet[160]. Eine Reihe von entzündlichen Vorgängen stellt in ihrem ersten Anfange gar nichts weiter dar, als eine vermehrte Aufnahme von Material in das Innere der Zellen, welche ganz derjenigen ähnlich sieht, welche bei einer einfachen Hypertrophie stattfindet. Wenn wir z. B. die Geschichte der Bright'schen Krankheit in ihrem gewöhnlichen Verlaufe betrachten, so ergibt sich, dass das Erste, was man überhaupt in einer solchen Niere wahrnehmen kann, darin besteht, dass im Innern der gewundenen und im Uebrigen noch ganz intacten Harnkanälchen der Rinde die einzelnen Epithelialzellen, welche schon normal ziemlich gross sind, sich weiter vergrössern. Aber sie werden nicht bloss sehr gross, sondern sie erscheinen auch zugleich sehr trübe, indem in das Innere der Zellen überall eine reichlichere Masse von eiweissartigem, körnigem Material eintritt. Das ganze Harnkanälchen wird durch diese Schwellung der Zellen breiter, und es erscheint schon für das blosse Auge als ein gewundener, weisslicher, opaker Zug. Isoliren wir die einzelnen Zellen, was ziemlich schwierig ist, da die Cohäsion derselben schon zu leiden pflegt, so sehen wir sie erfüllt mit einer körnigen Masse, welche scheinbar nichts anderes enthält, als dieselben Körnchen, die auch normal im Inneren der Drüsenzellen vorhanden sind. Ihre Anhäufung wird um so dichter, je energischer und acuter der Prozess vor sich geht; ja, allmählich wird selbst der Kern undeutlich. Dieser Zustand von =trüber Schwellung=, wie ich ihn genannt habe, ist an vielen gereizten Theilen der Ausdruck der nutritiven Irritation. Er begleitet eine gewisse Form der sogenannten Entzündung, und macht einen nicht geringen Theil desjenigen aus, was man seit alten Zeiten als =Entzündungsgeschwulst= (Tumor inflammatorius) bezeichnete. [160] Archiv IV. 277, 314, 316. [Illustration: =Fig=. 107. Abschnitt eines gewundenen Harnkanälchens aus der Rinde der Niere bei Morbus Brightii. _a_ die ziemlich normalen Epithelien, _b_ Zustand trüber Schwellung, _c_ beginnende fettige Metamorphose und Zerfall. Bei _b_ und _c_ grössere Breite des Kanals. Vergr. 300.] Zwischen diesen schon degenerativen Vorgängen und der einfachen Hypertrophie finden sich gar keine erkennbaren Grenzen. Wir können von vornherein nicht sagen, wenn wir einen solchen vergrösserten, mit reichlicherem Inhalte versehenen Theil antreffen, ob er sich noch erhalten oder ob er zu Grunde gehen wird, und daher ist es für den Anatomen, wenn er gar nichts über den Prozess weiss, durch den etwa eine solche Veränderung eingetreten ist, in vielen Fällen ausserordentlich schwierig, die einfache Hypertrophie von derjenigen Form der entzündlichen Prozesse zu scheiden, welche wesentlich mit einer Steigerung der Ernährungs-Aufnahme beginnt[161]. [161] Archiv 1852. IV. 263. (Aus einer Vorlesung von 1847). Auch bei diesen Vorgängen ist es nicht wohl möglich, den einzelnen Elementen die Fähigkeit abzustreiten, von sich aus auf eine Anregung, die ihnen direct zukommt, eine vermehrte Stoff-Aufnahme stattfinden zu lassen; mindestens widerstreitet es allen Erfahrungen, anzunehmen, dass eine solche Aufnahme das Resultat einer besonderen Innervation sein müsse. Nehmen wir einen nach allen Beobachtungen ganz nervenlosen Theil, z. B. die Oberfläche eines Gelenkknorpels. Hier können wir, wie dies schon vor einer Reihe von Jahren durch die schönen Experimente von =Redfern= dargethan ist, durch direkte Reize Vergrösserungen der Zellen hervorbringen. Dasselbe beobachtet man im spontanen Ablaufe pathologischer Vorgänge. So zeigen sich nicht selten hügelartige Erhebungen der Knorpel-Oberfläche; wenn wir solche Stellen mikroskopisch untersuchen, so finden wir, wie ich in einem früheren Capitel an einem Rippenknorpel zeigte (S. 26, Fig. 14), dass die Zellen, welche sonst ganz feine, kleine, linsenförmige Körper darstellen, zu grossen, runden Elementen anschwellen, und in dem Maasse, als sie mehr Material in sich aufnehmen, ihre Grenzen hinausschieben, so dass endlich die ganze Stelle sich höckerig über die Oberfläche erhebt. Nun gibt es aber in dem Gelenkknorpel gar keine Nerven; die letzten Ausstrahlungen derselben liegen in dem Marke des zunächst anstossenden Knochens, welches von der gereizten Stelle der Oberfläche durch eine 1/2-1 Linie dicke, intacte Zwischenlage von Knorpelgewebe getrennt sein kann. Es wäre nun gewiss ausser aller Erfahrung, wenn man sich vorstellen sollte, dass ein Nerv von dem Knochenmarke aus eine specielle Action auf diejenigen Zellen der Oberfläche ausüben könne, welche der Punkt der Reizung gewesen sind, ohne dass die zwischen dem Nerven und der gereizten Stelle gelegenen Knochen- und Knorpelzellen gleichzeitig getroffen würden. Wenn wir durch einen Knorpel einen Faden ziehen, so dass weiter nichts, als ein traumatischer Reiz stattfindet, so sehen wir, wie alle Zellen, welche dem Faden anliegen, sich vergrössern durch Aufnahme von mehr Material. Die Reizung, welche der Faden hervorbringt, erstreckt sich nur bis auf eine gewisse Entfernung in den Knorpel hinein, während die weiter abliegenden Zellen durchaus unberührt bleiben. Solche Erfahrungen können nicht anders gedeutet werden, als dass der Reiz in der That auf die Theile einwirkt, welche er trifft; es ist unmöglich, zu schliessen, dass er auf irgend einem, der Doctrin vielleicht mehr entsprechenden Wege durch einen sensitiven Nerven zum Rückenmark geleitet und dann erst wieder durch Reflex auf die Theile zurückgeleitet werde. Freilich sind wenige Gewebe im Körper so vollständig nervenlos, wie der Knorpel; allein auch dann, wenn man die nervenreichsten Theile verfolgt, zeigt es sich überall, dass die Ausdehnung der Reizung oder, genauer gesagt, die Ausdehnung des Reizungsheerdes keinesweges der Grösse eines bestimmten Nerventerritoriums entspricht, sondern dass in einem sonst normalen Gewebe die Grösse des Heerdes wesentlich correspondirt mit der Ausdehnung der localen Reizung. Wenn wir das Experiment mit dem Faden an der =Haut= machen, so wird durch denselben eine ganze Reihe von Nerventerritorien durchschnitten. Es werden aber keinesweges die ganzen Territorien der Nerven, welche an dem Faden liegen, in denselben krankhaften Zustand versetzt, sondern die nutritive Reizung beschränkt sich auf die nächste Umgebung des Fadens. Kein Chirurg erwartet bei solchen Operationen, dass etwa alle Nerventerritorien, welche der Faden kreuzt, in ihrer ganzen Ausdehnung erkranken. Ja, man würde sich in hohem Grade über die Natur beklagen müssen, wenn jede Ligatur, jedes Setaceum über die Grenzen, welche es zunächst berührt, hinaus auf die ganze Ausbreitung der Nervenbezirke, welche es durchsetzt, einen Entzündung erregenden Einfluss ausübte. An der =Hornhaut= lässt sich dies Verhältniss sehr klar verfolgen: an Stellen, wo keine Gefässe mehr hinreichen, liegen noch Nerven; sie besitzen eine netzförmige Anordnung und lassen kleinere Gewebsbezirke zwischen sich, welche frei von Nerven sind. Wenden wir nun irgend ein Reizmittel direkt auf die Hornhaut an, z. B. eine glühende Nadel oder Lapis infernalis, so entspricht der Bezirk, welcher dadurch in krankhafte Thätigkeit versetzt wird, keinesweges einer Nervenausbreitung. Es kam einmal vor, als Hr. =Friedr=. =Strube= unter meiner Anleitung seine Untersuchungen über die Hornhaut machte[162], dass die Aetzung bei einem Kaninchen gerade einen stärkeren Nervenfaden traf, allein die Erkrankung fand sich nur in der nächsten Umgebung dieser Stelle, keinesweges im ganzen Gebiete des Nerven. [162] =Fr=. =Strube.= Der normale Bau der Cornea und die pathologischen Abweichungen in demselben. Inaug. Diss. Würzb. 1851. S. 23. Man kann also, auch wenn man Erfahrungen, wie ich sie vom Knorpel angeführt habe, nicht gelten lassen will, durchaus nicht umhin, zuzugeben, dass die Erscheinungen der Reizung an nervenhaltigen Theilen keine anderen sind, als an nervenlosen, und dass der nächste Effect wesentlich darauf beruht, dass die umliegenden Elemente sich vergrössern, anschwellen, und wenn es ihrer viele sind, dadurch eine Geschwulst des ganzen Theiles entsteht. Das ist es, was man beobachtet, wenn man irgendwo einen Ligaturfaden durch die Haut hindurchzieht. Untersucht man am folgenden Tage die nächste Umgebung des Fadens, so sieht man die active Vergrösserung der zelligen Elemente, ganz unbeschadet der Gefäss- oder Nervenverbreitungen, welche vorhanden sind. Es liegt hier, wie man sieht, ein wesentlicher Unterschied vor von denjenigen Ansichten, welche man gewöhnlich über die nächsten Bedingungen dieser Schwellungen aufgestellt hatte. Nach dem alten Satze: Ubi stimulus, ibi affluxus, dachte man sich gewöhnlich, dass das Nächste, welches einträte, die vermehrte Zuströmung des Blutes sei, welche von den Neuropathologen wieder zurückgeführt wurde auf die Erregung sensitiver Nerven, und dass dann die unmittelbare Folge der vermehrten Zuströmung eine vermehrte Ausscheidung von Flüssigkeit sei, welche das Exsudat constituire, das den Theil erfüllt. In den ersten schüchternen Versuchen, welche ich machte, diese Auffassung zu ändern, habe ich deshalb auch noch den Ausdruck des =parenchymatösen Exsudates= gebraucht[163]. Ich hatte mich nehmlich überzeugt, dass an vielen Stellen, wo eine Schwellung erfolgt war, absolut nichts weiter zu sehen war, als die bekannten Theile des Gewebes (Parenchym). An einem Gewebe, welches aus Zellen besteht, sah ich auch nach der Schwellung (Exsudation) nur Zellen, an Geweben mit Zellen und Intercellularsubstanz nur Zellen und Intercellularsubstanz, -- die einzelnen Elemente allerdings grösser, voller, mit einer Menge von Stoff erfüllt, mit welcher sie nicht hätten erfüllt sein sollen, aber kein Exsudat in der Weise, wie man sich dasselbe bis dahin dachte, frei oder in den Zwischenräumen des Gewebes. Alle Masse war innerhalb der Elemente, im eigentlichen Parenchym des Organes enthalten. Das war es, was ich mit dem Ausdrucke des parenchymatösen Exsudates sagen wollte, und wovon ich den Namen der parenchymatösen Entzündung ableitete. Allerdings ist dieser Name schon vor mir gebraucht worden, aber in einem anderen Sinne, als der war, den ich meinte, und der seitdem gangbarer geworden ist, als es nothwendig war. Ich sprach von Exsudat, insofern damals (1846) alle im Laufe krankhafter Vorgänge an die Oberfläche oder in das Innere der Theile tretenden Stoffe unter diesem Namen zusammengefasst wurden. Indess schon sehr frühzeitig führte ich diese Art der Exsudate auf Abweichungen der Ernährungsströme (Osmose) zurück. Nachdem ich später die nutritive Activität der organischen Elemente, die Ansaugung der Flüssigkeiten durch die Zellen als das Entscheidende kennen gelernt hatte, erschien der Ausdruck Exsudat allerdings ganz ungenau, und ich habe längst aufgehört, ihn für diese Zustände zu gebrauchen. =Parenchymatöse Schwellung= drückt das Besondere derselben vollständig aus. Dieser Ausdruck besagt, dass eine besondere Form der Reizung besteht, welche von anderen Formen bestimmt unterschieden werden muss, insofern hier die einmal gegebenen constituirenden Elemente des Gewebes eine grössere Masse von Stoff in sich aufnehmen, sich dadurch vergrössern und anschwellen, während ausserhalb dieser vergrösserten Elemente weiter nichts vorhanden ist. Es handelt sich dabei also um eine Art von =acuter Hypertrophie mit Neigung zur Degeneration=. [163] Archiv IV. 261, 274. Ein besonderes charakteristisches Beispiel solcher Entzündung mag folgender Fall zeigen. Es war dies eines der auffälligsten Beispiele, welche mir vorgekommen sind. Es handelte sich dabei um eine sogenannte Keratitis. Bei einem Kranken des Herrn =von Gräfe= fand nach heftiger diffuser phlegmonöser Entzündung der Extremitäten eine äusserst schnelle entzündliche Trübung der Hornhaut statt. Als mir die Hornhaut übergeben wurde, schien es mir, als ob sie in ihrer ganzen Dicke undurchsichtig und geschwollen wäre. Die Gefässe des Randes waren stark mit Blut gefüllt. Als ich aber die Hornhaut durch einen senkrechten Schnitt in zwei Hälften zerlegte, und parallel der Schnittfläche verticale Durchschnitte führte, so ergab sich alsbald, schon bei schwacher Vergrösserung, dass die Trübung keinesweges gleichmässig durch die ganze Ausdehnung der Hornhautschnitte ging, sondern sich auf eine bestimmte Zone beschränkte. Diese Zone ist so charakteristisch in Beziehung auf die verschiedenen möglichen Deutungen, dass der Fall, wie ich glaube, ein ganz besonderes Interesse für die Prüfung der Theorie darbietet. [Illustration: =Fig=. 108. Parenchymatöse Keratitis. Durchschnitt durch die Hälfte der Cornea. _A_, _A_ vordere (äussere), _B_, _B_ hintere (innere) Seite der Hornhaut. _C_, _C_ die getrübte Zone mit vergrösserten Hornhautkörperchen. Vergr. 18.] Es zeigte sich nämlich, dass die Trübung unmittelbar vom Rande der Hornhaut begann, und zwar nur an der hinteren (inneren) Seite, dicht an der Descemetschen Haut, da wo sich die Iris anschliesst. Von da stieg die Trübung fast treppenförmig in dem Hornhautschnitt nach vorne hinauf bis in einige Entfernung von der äusseren Oberfläche. Ohne letztere zu erreichen, ging sie gleichmässig bis zur Mitte der Hornhaut fort, um auf der anderen Seite in ähnlicher Weise wieder herunterzugehen. So bildete sich ein trüber Bogen durch die ganze Ausdehnung des Hornhautschnittes hindurch, welcher die äussere (vordere) Oberfläche nirgends erreichte und auch die mittleren Theile der hinteren Fläche frei liess. Denkt man sich die Ernährung der Hornhaut ausgehend vom Humor aqueus, so passt diese Form der Trübung nicht, denn man müsste vielmehr erwarten, dass dann zunächst die (innerste) hinterste Schicht in ihrer ganzen Ausdehnung verändert würde.[164] Handelte es sich umgekehrt um eine Einwirkung von aussen, so müsste die Trübung in den äussersten Schichten liegen. Hinge die Trübung wesentlich ab von den Gefässen, so würden wir, da die Gefässe nur am Rande und mehr an der vorderen Fläche liegen, hier die Haupt-Erkrankung haben erwarten können. Gingen endlich die Veränderungen von den Nerven aus, so würden wir eine netzförmige Verbreitung, aber nicht einen Bogen in dem Durchschnitt finden. [164] Archiv IV. 285. XIV. 53. Den Bau der Hornhaut habe ich schon früher (S. 125) besprochen. Ich führte an, dass er im Allgemeinen blätterig (lamellös) sei, dass aber die Blätter nicht wirklich getrennt seien, sondern vielmehr unter einander zusammenhingen, indem eine überall continuirliche Grund- oder Intercellularsubstanz durch regelmässige Lagen von Zellen (Hornhautkörperchen) in parallele Schichten abgetheilt würde. Der vorliegende Fall zeigt also auch darin eine Besonderheit, dass die Trübung nicht in denselben Schichten (Blättern, Lamellen) blieb, sondern dass sie, indem sie sich von einem Blatte zum anderen fortsetzte, eines nach dem anderen wieder verliess, um in das nächst höhere oder tiefere fortzugehen. Woraus bestand nun aber die, zugleich mit Anschwellung der Hornhaut verbundene Trübung oder kurzweg, die =trübe Schwellung=? Etwa in der Art, wie man sich dies früher meist vorstellte, aus einem zwischen die Hornhautblätter ergossenen, einem sogenannten interstitiellen Exsudate? Im Gegentheil, bei stärkerer Vergrösserung zeigte sich sofort, was man übrigens bei jeder Form von Keratitis constatiren kann, dass die Veränderung wesentlich an den Körpern oder Zellen der Hornhaut bestand. In dem Maasse, als man sich von aussen oder innen her der getrübten Stelle näherte, sah man die kleinen und schmalen Elemente der normalen Theile immer grösser und trüber werden. Zuletzt fanden sich an ihrer Stelle starke, fast kanalartige Züge oder Schläuche. Während diese Vergrösserung der Elemente, diese, wie gesagt, =acute Hypertrophie= erfolgt, wird zugleich der Inhalt der Zellen trüber, und diese Opacität des Inhaltes ist es, welche wiederum die Trübung der ganzen Haut bedingt. Die eigentliche Grund- oder Intercellularsubstanz kann dabei vollkommen frei sein. Die Trübung hinwiederum war durch die Anwesenheit feiner Körnchen bedingt, welche zum Theil fettiger Natur waren, so dass der Prozess schon einen degenerativen Charakter anzunehmen schien. Ich würde auch gar kein Bedenken getragen haben, zu glauben, dass hier eine Zerstörung der Hornhaut wirklich eingeleitet war, allein Herr =von Gräfe=[165] versicherte mich, dass nach seiner Erfahrung eine solche Keratitis sich bei glücklichem Verlaufe wieder zurückbilden könne. In der Sache liegt auch durchaus nichts, was dieser Möglichkeit widerstreitet; da die Zellen noch existiren und nur ihr veränderter Inhalt durch Resolution und Resorption weggeschafft werden muss, so kann ja eine vollständige Restitution eintreten. [165] A. v. =Gräfe= gehörte im Jahre 1858, als ich diese Vorträge hielt, zu meinen fleissigsten Zuhörern. Ich war ebenso überrascht, als gerührt, als ich in diesen Tagen in einem Exemplare der Cellular-Pathologie aus seinem Nachlasse noch die von seiner Hand geschriebenen Notizen fand, in denen er den Gang der Vorträge für sich verzeichnet hatte. [Illustration: =Fig=. 109. Parenchymatöse Keratitis (vergl. Fig. 108) bei stärkerer Vergrösserung. Bei _A_ die Hornhautkörperchen in fast normaler Weise, bei _B_ vergrössert, bei _C_ und _D_ noch stärker vergrössert und zugleich getrübt. Vergröss. 350.] Gerade dieser Gesichtspunkt der =einfach nutritiven Restitutionsfähigkeit= so veränderter Gewebe ist es, der für die praktische Auffassung eine sehr grosse Bedeutung hat. Hier, wo weiter nichts vorgegangen ist, als dass die Elemente vermöge ihrer Activität eine grössere Masse von Stoff in sich aufgehäuft haben, hier kann möglicher Weise auch der Ueberschuss von Stoff wieder entfernt werden, ohne dass die Elemente angegriffen werden. Die Elemente können einen Theil dieses Inhaltes umsetzen, in lösliche Stoffe verwandeln (Resolution), und das Material kann in dieser löslichen Form auf demselben Wege, auf dem es gekommen, wieder verschwinden (Resorption). Die Structur des Gewebes im Grossen bleibt dabei dieselbe; es ist nichts Neues oder Fremdartiges zwischen die Theile eingeschoben; das Gewebe bleibt in seiner natürlichen Anlage und in seiner ursprünglichen Zusammensetzung unverändert. Das ist die parenchymatöse Entzündung, der höchste Grad der nutritiven Reizung, ein Vorgang, der sich unmittelbar an die Hypertrophie anschliesst und der nur dadurch, dass in sehr kurzen Zeiträumen die beträchtlichste Aufnahme von neuem Stoff in die Elemente des Gewebes stattfindet, die Gefahr des inneren Zerfalls, der nachfolgenden Degeneration mit sich bringt. Denn obwohl die Elemente als die eigentlich thätigen, activen Theile die Stoffe an sich ziehen und in sich aufnehmen, so kann es doch sein, dass sie dieselben nicht =assimiliren=, dass dieselben keine dem natürlichen Mischungsverhältnisse des Zellenkörpers homologe Beschaffenheit erreichen und so die Constitution desselben zerrütten[166]. Der gewöhnliche Ausgang des Prozesses ist daher die Nekrobiose, wobei entweder eine direkte Erweichung, oder, was noch häufiger und bei subacutem und chronischem Verlaufe die Regel ist, Fettmetamorphose eintritt. Auf den activen Anfang folgt demnach ein passives Ende. Wenn man den ersteren eine Entzündung nennt, so kann man sagen, es gehe die parenchymatöse Entzündung in Erweichung oder Fettmetamorphose aus. Letztere sind spätere Stadien oder Ausgänge der Entzündung. [166] Archiv XIV. 35. Die parenchymatösen Entzündungen gehören mit zu den allerhäufigsten und zugleich schwersten Erkrankungen des Menschen. Sie begleiten[167] insbesondere die Mehrzahl der von mir so genannten Infectionskrankheiten: die acuten Exantheme (Scharlach, Pocken), den Typhus, die Puerperal- und Wundfieber, die phlegmonösen und erysipelatösen Prozesse, viele Intoxicationen. Nicht selten findet man sie gleichzeitig an zahlreichen Organen des Körpers, namentlich an den Nieren und der Leber, dem Herzen und den willkürlichen Muskeln, so jedoch, dass bei einzelnen Infectionskrankheiten dieses, bei anderen jenes Organ stärker und häufiger ergriffen zu sein pflegt. [167] Gesammelte Abhandlungen 701, 703. Manche haben bezweifelt, ob man in der That ein Recht habe, diese Vorgänge als Entzündungen und als unmittelbare Wirkungen der Entzündungsursache anzusehen. Insbesondere ist die Meinung aufgestellt, die parenchymatösen Veränderungen seien nur die Folge primärer Veränderungen in dem Interstitialgewebe. An den Nieren z. B. erkranke das Epithel nur deshalb, weil das umgebende Bindegewebe verändert sei. Ich muss dies bestimmt in Abrede stellen. Es gibt sehr ausgedehnte interstitielle Nephritiden, bei denen das Epithel wenig oder gar nicht verändert wird, und ebenso die allerstärksten parenchymatösen Formen, bei welchen, wenigstens von Anfang an, das Interstitialgewebe ganz intact ist. Ich möchte aber rathen, diese Frage überhaupt nicht an den zusammengesetzten Organen zu studiren. Wählt man ein Organ, wie die Niere, in welchem ausser dem specifischen Parenchym (den mit Zellen besetzten Kanälchen) noch interstitielles Gewebe vorhanden ist, so geräth man in eine eigenthümliche Schwierigkeit, an welcher die von mir gewählte, in dieser Beziehung nicht ganz glückliche Terminologie die Schuld trägt. Der von =Erasistratus= herstammende Name des Parenchyms, als Ausdruck für die Substantia propria, schafft hier einen Gegensatz zwischen dem epithelialen und dem bindegewebigen Antheil, der an anderen Organen nicht vorhanden ist. An der Hornhaut nennen wir gerade den bindegewebigen Antheil Parenchym und trennen von demselben das vordere und hintere Epithel als besondere Häute. Parenchymatöse Keratitis hat daher in Beziehung auf das befallene Gewebe einen ganz anderen Sinn, als parenchymatöse Nephritis. In Beziehung auf den Prozess aber, und darauf kam es mir für die Terminologie allein an, besteht die vollständigste Uebereinstimmung, denn es sind in beiden Fällen die Gewebselemente selbst, welche die Veränderung und zwar eine acute, irritative Ernährungsstörung erfahren. Zweifelt jemand daran, ob diese wirklich irritativ sei, so möge er doch die Untersuchung an einfachen Theilen, wie die Hornhaut, das Bindegewebe, die Knorpel, beginnen. Hier lassen sich durch mechanische, thermische, chemische Reizung die vollkommensten Formen der parenchymatösen Entzündung hervorrufen. -- [Illustration: =Fig=. 110. Elemente aus einer von Herrn =Textor= 1851 exstirpirten melanotischen Geschwulst an der Parotis. _A_ Freie Zellen mit Theilung der Kernkörperchen und Kerne. _B_ Netz der Bindegewebskörperchen mit Kerntheilung. Vergr. 300.] * * * * * An die Vorgänge der nutritiven Reizung schliessen sich sehr oft unmittelbar die Anfänge =formativer Veränderungen= an. Wenn man nehmlich an bestimmten Theilen die fortschreitende, sich steigernde Reizung verfolgt, so sieht man, dass die Elemente oft kurze Zeit, nachdem sie eine nutritive Vergrösserung erfahren haben, weitere Veränderungen zeigen, welche nicht mehr der Ernährung angehören. Meist beginnen die letzteren im Inneren der Kerne[168]. Gewöhnlich ist das Erste, was man wahrnimmt, dass das Kernkörperchen (Nucleolus) ungewöhnlich gross, in vielen Fällen etwas länglich, zuweilen stäbchenförmig wird. Dann folgt als nächstes Stadium, dass das Kernkörperchen eine Einschnürung bekommt, bisquitförmig wird; etwas später findet man zwei Kernkörperchen. Diese =Theilung= der Kernkörperchen bezeichnet das bevorstehende Theilen des Kernes selber. Das folgende Stadium ist dann, dass um einen solchen getheilten Kernkörper auch eine bisquitförmige Einschnürung und später eine wirkliche Theilung des Kernes zu Stande kommt, wie wir sie schon früher bei den farblosen Blut-und Eiterkörperchen gesehen haben (Fig. 8, _A b_. 65. 72). Hier handelt es sich offenbar um etwas wesentlich Anderes, als vorhin bei der nutritiven Reizung. Bei der einfachen oder degenerativen Hypertrophie bleibt, zunächst wenigstens, der Kern ganz intact; hier dagegen, bei der formativen Reizung, wird der Kern häufig sehr früh verändert, während der Zellkörper eine relativ geringe Abweichung erfährt, höchstens dass er grösser wird, woraus wir schliessen, dass eine gewisse Menge von neuem Inhalt aufgenommen ist. [168] Ueber die Theilung der Zellenkerne. Archiv XI. 89. [Illustration: =Fig=. 111. Markzellen des Knochens, _a_ Kleine Zellen mit einfachen und getheilten Kernen. _b_, _b_ Grosse, vielkernige Elemente. Vergr. 350. Nach =Kölliker= Mikr. Anat. I. 364. Fig. 113.] In manchen Fällen beschränken sich die Veränderungen auf diese Reihe von Umbildungen, als deren Schluss die Theilung des Kernes zu betrachten ist. Diese kann sich wiederholen, so dass 3, 4 Kerne und mehr entstehen (Fig. 16, _b_, _c_, _d_). So kommt es, dass wir zuweilen Zellen finden, nicht bloss unter pathologischen Verhältnissen, sondern auch nicht selten bei ganz normaler Entwickelung, welche 20-30 Kerne und noch mehr besitzen. Im Marke der Knochen, namentlich bei jungen Kindern, finden sich umfangreiche Gebilde, welche ganz voller Kerne stecken, und in welchen die Kerne zuweilen so gross werden, wie die ganze ursprüngliche Zelle. =Robin=, der sie zuerst auffand, aber ihre zellige Natur nicht erkannte, nannte sie aus letzterem Grunde vielkernige Platten (plaques à plusieurs noyaux) und neuerlichst Markplatten (myéloplaxes). Indess sind es wirkliche, vergrösserte Zellen. Aber sie sind nicht auf das Knochenmark beschränkt, sondern sie finden sich, besonders unter pathologischen Verhältnissen, an den verschiedensten Orten. Eine Reihe solcher Beispiele habe ich früher[169] zusammengestellt und durch Abbildungen erläutert, darunter auch das von =Frey= hervorgehobene, jedoch nicht ganz richtig gedeutete Vorkommen solcher Gebilde in Lymphdrüsen. Dieselben Bildungen kommen besonders in manchen Geschwülsten so massenhaft vor, dass man in England danach eine besondere Geschwulst-Species unterscheidet, welche nach dem Vorschlage von =Paget= als =Myeloid-Tumor= (Markgeschwulst) in die Classification aufgenommen ist. Der jüngere =Nélaton= hat sie später als Tumeur à myéloplaxes wieder beschrieben. Ich kann eine besondere Species von Geschwulst darin nicht erkennen; es sind in der Regel sarcomatöse Formen[170]. Jede ausschliessliche Beziehung zum Knochenmark muss diesen Zellen abgesprochen werden. Denn sie finden sich auch in Geschwülsten der Weichtheile, die gar nichts mit Knochen zu thun haben, und, wenngleich weniger gross, in lymphatischen Neubildungen, z. B. beim Typhus, bei Tuberkulose, bei der Perlsucht des Rindviehs[171]. Ich habe daher denselben den allgemeinen Namen der =Riesenzellen= (cellulae giganteae) beigelegt (S. 95, Fig. 31). [169] Archiv XIV. 46. [170] Geschwülste II. 209, 316, 337. [171] Ebendas. II. S. 618, 637, 638, 672, 746. Der gereizte Muskel zeigt ganz ähnliche Formen[172]. Während für gewöhnlich die quergestreiften Muskeln in gewissen Abständen mit Kernen, jedoch nicht sehr reichlich, versehen sind, so finden wir, wenn wir einen Muskel in der Nähe einer gereizten Stelle, z. B. einer Wunde, einer Aetzungs- oder Geschwürsfläche, einer Trichine untersuchen, dass in den Primitivbündeln eine Vermehrung der Kerne vor sich geht. Zuerst bemerkt man Kerne mit zwei Kernkörperchen; dann kommen eingeschnürte, dann getheilte Kerne (vgl. Fig. 25, _b_, _c_. 26, _B_, _C_), und so geht es fort, bis wir an einzelnen Stellen, wo die Theilungen massenhaft geschehen sind, ganze Gruppen von Kernen neben einander, oder ganze Reihen derselben hinter einander finden (Fig. 112). In den ausgesprochenen Fällen dieser Art nimmt die Zahl der Kerne so sehr zu, dass man auf den ersten Blick kaum noch Muskeln zu sehen glaubt, und dass Bruchstücke der Primitivbündel die grösste Aehnlichkeit darbieten mit jenen Plaques à plusieurs noyaux im Knochenmark. Diese excessive Vermehrung der Kerne, =Nucleation=[173] ist etwas ganz Eigenthümliches, welches schon an den Anfang einer wirklichen Neubildung anstreift, obwohl die Neubildung im gewöhnlichen Sinne sich nicht auf einzelne Theile der Zellen beschränkt. Aber gerade für die Muskeln ist es sehr wichtig, dass genau dieselbe Beschränkung bei der ersten embryonalen Bildung, im Laufe des ersten Wachsthums der Muskelprimitivbündel stattfindet. Denn dies ist der Modus, wie der Muskel ursprünglich wächst. Wenn man einen wachsenden Muskel verfolgt, so sieht man dieselbe Theilung der Kerne; nachdem Gruppen und Reihen von Kernen in ihm entstanden sind, so schieben sich diese beim Wachsen durch immer reichlichere Zwischenmasse allmählich aus einander. Obwohl nun ein Längenwachsthum an dem pathologisch gereizten Muskel nur dann mit Sicherheit demonstrirt werden kann, wenn der Muskel zugleich ausgedehnt wird, wie dies durch die Spannung unterliegender Geschwülste, am Herzen durch Widerstände der Circulation geschieht, so müssen wir doch die vollkommene Analogie mancher krankhaften Reizungsvorgänge am Muskel mit den natürlichen Wachsthumsvorgängen als eine sichere Thatsache festhalten. Denn der bildende Akt des wirklichen Wachsthums beginnt mit einer Vermehrung der Centren, und als solche müssen, wie schon vor langer Zeit =John Goodsir= gezeigt hat, die Kerne in Beziehung auf die Zellen betrachtet werden[174]. [172] Archiv IV. 313. XIV. 51. Taf. I. Fig. 3 _c_. [173] Archiv XIV. 62. [174] Archiv IV. 383. IX. 43. XIV. 32. [Illustration: =Fig=. 112. Kerntheilung in Muskelprimitivbündeln des Oberschenkels im Umfange einer Krebsgeschwulst. Bei _A_ ein Primitivbündel, dessen Querstreifung nicht überall ausgeführt worden ist, mit seinem natürlichen, spindelförmigen Ende _f_, und mit beginnender Kernvermehrung. _B_ Starke Kernwucherung. Vergröss. 300.] Geht man nun einen Schritt weiter in der Betrachtung dieser Vorgänge, so kommen wir an die =Neubildung der Zellen selbst (Cellulation)=. Nachdem die Wucherung der Kerne stattgefunden hat, so kann allerdings, wie wir gesehen haben, die Zelle als zusammenhängendes Gebilde sich noch erhalten, allein die Regel ist doch, dass schon nach der ersten Kerntheilung die Zellen selbst der Theilung verfallen, und dass nach einiger Zeit zwei, dicht neben einander liegende, durch eine mehr oder weniger gerade Scheidewand getrennte, je mit einem besonderen Kern versehene Zellen gefunden werden (Fig. 9, _b_, _b_). =Fissipare= Bildung ist der regelmässige Modus der Vermehrung organischer Elemente. Die beiden durch die Theilung entstandenen Zellen können später auseinander rücken, wenn es ein Gewebe ist, welches Intercellularsubstanz erzeugt (Fig. 9, _c_, _d_), oder dicht aneinander liegen bleiben, wenn es sich um ein bloss aus Zellen bestehendes Gewebe handelt (Fig. 29, _C_). Bei weiterem Verlaufe kann eine immer fortgehende Theilung der Zellen stattfinden und zu dem Entstehen grosser Zellengruppen aus ursprünglich einfachen Elementen führen (Fig. 14. 23). Am bequemsten übersieht man dies am wachsenden oder gereizten Knorpel. Durch die fortgesetzte Theilung der ursprünglich einfachen Knorpelzellen entstehen anfangs kleine Häufchen verhältnissmässig kleiner Zellen. Letztere vermehren sich von Neuem fissipar, die Häufchen werden grösser. Endlich wachsen auch die neugebildeten Zellen durch Intussusception neuer Stoffe und zuletzt werden sie grösser, als die ursprünglichen Zellen, von denen sie ausgegangen sind. Es war dies der Punkt, wo ich zuerst auf die Uebereinstimmung des thierischen Wachsthums mit dem pflanzlichen aufmerksam wurde[175], und von wo aus ich allmählich das Gesetz der continuirlichen Entwickelung (S. 24) durch immer mehr ausgedehnte Untersuchungen aufbauen konnte. [175] Archiv (1849) III. 220. Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin. Berlin 1849 S. 35. Gesammelte Abhandl. 43. Archiv XIV. 38. [Illustration: =Fig=. 113, I. Wucherung (Proliferation) des wachsenden Diaphysenknorpels von der Tibia eines Kindes. Längsschnitt. _a_ Die zum Theil einfachen, zum Theil in die Wucherung eintretenden Knorpelelemente an der Epiphysengrenze. _b_ Die durch wiederholte Theilung einfacher Zellen entstandenen Zellengruppen. _c_ Die durch Wachsthum und Vergrösserung der einzelnen Zellen bedeutend entwickelten Zellengruppen gegen den Verkalkungsrand der Diaphyse hin; die Intercellularsubstanz immer spärlicher. _d_ Durchschnitt eines Blutgefässes. Vergröss. 150.] Der plastische Vorgang ist natürlich am einfachsten zu übersehen in Geweben, welche ganz und gar aus Zellen bestehen, daher am besten am Epithel. Er ist hier um so mehr charakteristisch, als wenigstens die geschichteten Epithelien fort und fort in der Neubildung begriffen sind und in ausgezeichnetem Sinne abfällige Gewebe (S. 70) darstellen. Das Haar wächst, indem immer neue Elemente an seiner Zwiebel gebildet werden, welche die älteren vor sich her schieben; das Nagelblatt wird durch immer neuen Nachwuchs vom Falze her über das Nagelbett fortgedrängt (S. 34); die Epidermis selbst regenerirt sich fortwährend aus den oberen Lagen des Rete Malpighii. Aehnlich verhält es sich mit den lymphatischen Drüsen, deren Zellen immer neu entstehen und als vollständig getrennte Elemente sich von einander scheiden. Ungleich verwickelter sind die Verhältnisse in bindegewebigen Theilen, wo die neuen Zellen um sich wieder Intercellularsubstanz ausscheiden und diese oft so reichlich wird, dass die Zellen dadurch ganz in den Hintergrund der Betrachtung gedrängt werden. Bis zu dem Augenblicke, wo ich die Struktur des Bindegewebes kennen lehrte, richtete sich daher auch die Aufmerksamkeit fast ausschliesslich auf die Intercellularsubstanz oder, wie man oft sagte, auf die Fasern, und die wunderbarsten Theorien der Neubildung bauten sich auf dieser missverstandenen Interpretation der Gewebsstruktur auf. In Wahrheit geht die Bildung des Bindegewebes ebenso durch Vermehrung der Zellen vor sich, wie die der epithelialen Formationen, und in günstigen Objecten kann man sogar die Reihen der jungen Elemente weit sicherer wahrnehmen, da sie durch die Intercellularsubstanz festgehalten und gleichsam eingemauert sind. An der Stelle einzelner Spindelzellen sieht man dann zuweilen lange Reihen semmelförmig an einander gereihter Rundzellen; ja in einzelnen Fällen findet man im Anschlusse an einen Grundstock von Spindelzellen zahlreiche ausstrahlende Reihen von jungen, theils länglichen, theils rundlichen Zellen, welche die junge Brut des durch die Reizung veränderten Nachbargewebes darstellen (Fig. 113, II.). Je langsamer und anhaltender die Vermehrung erfolgt, um so mehr überzeugend sind die Objecte, und daher eignen sich Geschwulsttheile dazu im Ganzen mehr, als entzündliche Neubildungen. [Illustration: =Fig=. 113, II. Mikroskopischer Schnitt aus einem Myxosarcom des Oberkiefers. Reihenweise Proliferation der Zellen mit Ausscheidung hyaliner Intercellularsubstanz. Vergr. 350.] Den Vorgang der Zellenvermehrung nenne ich =Wucherung=, =Proliferation=[176]. Was im wachsenden Körper als Ausdruck eines unbekannten, von der Befruchtung her fortdauernden, =immanenten= Reizes, den ich den =Wachsthumsreiz= nennen will, erfolgt, das tritt im erwachsenen Körper als das Resultat einer direkten Reizung der Gewebe ein. Kehren wir z. B. auf den Fall zurück, welchen wir vorhin betrachteten, dass ein einfach mechanischer Reiz durch das Einziehen eines Fadens in die Theile gesetzt wird, so beschränkt sich in der Regel die eintretende Schwellung nicht einfach auf die Vergrösserung der bestehenden Elemente (nutritive Reizung), sondern es finden Theilungen und Vermehrungen derselben statt (formative Reizung). Im Umfange eines Fadens, welchen wir durch die Haut ziehen, zeigt sich gewöhnlich schon am zweiten Tage eine Reihe von jungen Elementen[177]. Dieselbe Veränderung kann man durch einen chemischen Reiz hervorbringen. Wenn man z. B. ein Kauter an die Oberfläche eines Theiles applicirt, so ist das Nächste, dass die Zellen anschwellen, aber alsbald beginnen bei regelmässigem Fortgange der Reizung die Elemente sich zu theilen und es tritt eine mehr oder weniger reichliche Wucherung der Zellen ein. [176] Spec. Pathol. und Ther. I. 330. [177] Archiv XIV. 61. Ein Umstand erschwert das Studium dieser Neubildungs-Vorgänge in hohem Maasse. Es ist dies die =Auswanderung der farblosen Blutkörperchen=, welche selbst in das Innere von Geweben in grösserer Zahl eindringen und sich hier mit den Elementen der Gewebe mischen. In manchen Fällen ist es unmöglich zu erkennen, was ausgewandert und was neugebildet ist. Viele der neueren Beobachter, welche sich nur vorübergehend mit Forschungen dieser Art beschäftigt haben, sind daher auf den schon von G. =Zimmermann= aufgestellten Satz zurückgekommen, dass alle Neubildung von den farblosen Blutkörperchen ausgehe. Einige haben das Wachsthum der epithelialen Gewebe auf Wanderzellen zurückgeführt; andere haben das Bindegewebe, die Muskeln und Nerven daraus hervorgehen lassen. Diese Einseitigkeit ist, wie zum Theil schon durch umständliche, unter allen Cautelen vorgenommene Untersuchungen festgestellt ist, durchaus irrthümlich. Sie ist weder für die epitheliale, noch für die bindegewebigen Theile zulässig. Wie im Knorpel, bei dem meines Wissens noch niemand die jungen Elemente auf farblose Blutkörperchen gedeutet hat, die alten Zellen (=Mutterzellen=) sich theilen und neue Zellen (=Tochterzellen=) hervorbringen, unter deren Erzeugung sie selbst aufhören zu existiren, so bringen auch die Bindegewebskörperchen durch progressive Theilung neue Brut hervor. Die epithelialen Zellen erleiden, wie =Eberth=, F. =Hoffmann= und =Heiberg= gezeigt haben, nicht selten eigenthümliche Gestaltveränderungen, partielle Verlängerungen und Auswüchse, ehe sich ihre Theile von einander trennen. An Hornhautzellen hat =Stricker= vor der Theilung mancherlei amöboide Erscheinungen wahrgenommen, welche der Mobilisirung dieser Elemente entsprechen. Von den Blutcapillaren weiss man schon seit langer Zeit, namentlich durch =Kölliker= und =Joseph Meyer=, dass von ihnen zunächst Fortsätze aussprossen, welche Kerne erhalten, zellig werden und endlich neue Capillaren herstellen. Die Erfahrungen von der Auswanderung der farblosen Blutkörperchen, weit entfernt, die von mir vertretene Grundanschauung von der cellularen Ableitung der neuen Zellen, den Grundsatz: Omnis cellula e cellula (S. 24) zu erschüttern, haben vielmehr denselben nur gestützt. Manche irrthümliche Deutung ist dadurch corrigirt worden, aber das cellulare Princip hat eine wesentliche Verstärkung erfahren. Mag ein grosser Theil der Exsudatzellen direkt aus dem Blute stammen, mögen sich diese Zellen, wie =Stricker= angiebt, im Exsudate weiter theilen und vermehren, immerhin stammt die junge Brut von früheren Zellen ab. Die plastischen Exsudate sind nicht mehr im alten Sinne plastisch (S. 23), und es ist nicht das freie Plasma oder Fibrin, welches durch organische Krystallisation neue Zellen liefert, nicht die Intercellularsubstanz, welche, wie noch =Schwann= vom Knorpel lehrte, als Cytoblastem die jungen Elemente aus sich hervorbringt, sondern es ist die Zellsubstanz selbst, das Protoplasma der Neueren, woraus im Wege der fortschreitenden Proliferation die organischen Einheiten neu geschaffen werden. Der =Bildungstrieb= (nisus formativus), die =plastische Kraft= (vis plastica) haftet an den schon existirenden Elementen, nicht an dem freien Blastem, dem Succus nutritius. Sonderbarerweise behaupten Einzelne, meine ganze Theorie der Neubildung sei auf das Bindegewebe gebaut; nur aus ihm hätte ich die neuen Elemente hervorgehen lassen. Zu keiner Zeit habe ich solche Vorstellungen gehegt. Ich habe zu allen Zeiten die formativen Eigenschaften der Epithelialformationen anerkannt; ich habe zuerst die mit Kernvermehrung einhergehenden Reizungsprocesse an den Muskelprimitivbündeln und den Capillaren beschrieben[178]; ja ich habe zu einer Zeit, wo die farblosen Blutkörperchen noch sehr missachtet waren, die Organisation des Thrombus auf sie bezogen[179]. Es liegt mir daher sehr fern, in irgend einer Weise den erfreulichen Fortschritten unseres positiven Wissens mich neidisch entgegenstellen zu wollen; im Gegentheil, ich begrüsse jede neue Entdeckung auf diesem Gebiete als eine neue Waffe zur Vertheidigung meiner Grundanschauung. [178] Archiv XIV. 51. [179] Gesammelte Abhandlungen 327. Um nicht missverstanden zu werden, will ich sogleich hinzusetzen, dass diese Grundanschauung durchaus verträglich ist mit der Aufstellung verschiedener Arten von Zellenbildung (Cytogenesis), vorausgesetzt, dass es Zellsubstanz ist, welche das Material dazu liefert. Es ist keineswegs nöthig, dass jede Neubildung mit Theilung anhebt; wir werden später sehen, dass auch die endogene Zellbildung innerhalb gewisser Grenzen zulässig erscheint. Ein wirklicher Gegensatz würde erst entstehen, wenn =extracelluläre Neubildung= irgendwo vorkäme. Da dies für den menschlichen Körper von niemand mehr behauptet wird, so liegt wenigstens für jetzt kein Grund zur Unruhe vor. Ueber die durch die Neubildung (Neoplasie) entstehenden Gewebe, insbesondere über die pathologischen, habe ich früher, namentlich im vierten Capitel, weitläufiger gehandelt; auch werden wir später darauf noch weiter zurückkommen. Hier genügt es festgestellt zu haben, dass die im strengsten Sinne =productive und positive Leistung der Neubildung von der formativen oder plastischen Thätigkeit der Elemente ausgeht=, nicht von beliebigen, mit den Ernährungsstoffen mehr oder weniger identischen Substanzen, die man noch vor Kurzem als =histogenetische= bezeichnete. Dass auch im Innern der Gewebselemente gewisse Substanzen die Träger der formativen Reizbarkeit seien, soll damit natürlich nicht ausgeschlossen sein; der chemischen Forschung ist hier ein gewiss sehr lohnendes Feld noch vorbehalten. Wir, als Biologen, haben zunächst den Gewinn festzuhalten, dass es eine =Lebensthätigkeit= der geformten Elemente ist, neue Elemente hervorzubringen, und zwar eine Thätigkeit, welche an den Elementen selbst haftet, wenngleich äussere Reize dazu gehören, um sie in Wirksamkeit zu setzen. Diese =formativen Reize= können sehr mannichfaltiger Art sein: mechanische, chemische, physikalische. Wie die Spermatozoiden die Eizelle zu ihrer plastischen Thätigkeit reizen, so sind es andere Stoffe katalytischer Art, welche andere Zellen zu oft ebenso wunderbaren Leistungen anregen. Immer handelt es sich dabei um Akte, welche durchaus gar keine Verschiedenheit in ihrem Geschehen erkennen lassen, mag der Theil nervenhaltig oder nervenlos sein, Gefässe führen oder nicht. Demnach können wir also auch nicht sagen, dass irgend etwas von diesen Vorgängen mit Nothwendigkeit gebunden erschiene an Nerven- und Gefässthätigkeit; im Gegentheil, wir werden hier auf die Theile selbst gewiesen. Die Beziehung der Gefässe ist durchaus nicht in dem Sinne zu deuten, wie man dies gewöhnlich thut, dass die Zufuhr reichlicheren Materials, die Exsudation von Plasma das Bestimmende ist; die Aufnahme von Material in das Innere der Elemente, aus welchem die Vergrösserung und die späteren Theile hervorgehen sollen, ist vielmehr unzweifelhaft ein Akt der Elemente selbst. Denn wir haben bis jetzt gar keinen Modus, auf irgend einem Wege der Experimentation durch eine primär die Gefässe treffende Einwirkung eine Wucherung der Zellen in dem =gesunden= Körper hervorzurufen. Man kann die Circulation in den Theilen steigern, so weit sie zu steigern ist, ohne dass daraus eine Schwellung oder Vermehrung der Elemente unmittelbar folgte. Gerade die schon früher erwähnten Experimente mit der Durchschneidung des Sympathicus haben bekanntlich ergeben, -- ich selbst habe diese Experimente sehr häufig angestellt und in diesem Sinne verfolgt[180], -- dass ein vermehrter Zustrom von Blut (Fluxion, Congestion, Hyperämie) Wochen lang bestehen kann, ein Zustrom von Blut, welcher mit starker Steigerung der Temperatur und entsprechender Röthung verbunden ist, so gross, wie wir sie irgend in Entzündungen antreffen, ohne dass dadurch die Zellen des Theiles im Mindesten vergrössert oder gar an ihnen Vorgänge der Wucherung herbeigeführt werden (S. 158). Wenn man nicht die Gewebe selbst reizt, die Irritation in die Theile selbst einbringt, sei es, dass man die reizenden Stoffe von aussen oder von dem Blute aus wirken lässt, so kann man nicht auf den Eintritt dieser Veränderungen rechnen. Das ist der wesentliche Grund, aus welchem ich folgere, dass diese unzweifelhaft aktiven Vorgänge in der besonderen Thätigkeit der Elementartheile begründet sind, -- einer Thätigkeit, welche nicht an vermehrten Zustrom von Blut gebunden ist, welche freilich dadurch begünstigt wird, aber auch vollständig unabhängig davon vor sich gehen kann, und =welche sich ebenso deutlich an gefässlosen Theilen darstellt=[181]. [180] Spec. Pathologie und Ther. I. 274. [181] Ebendaselbst I. 62, 152. Schon bei einer früheren Gelegenheit[182] habe ich darauf hingewiesen, dass Zunahme der Ernährung in dem Sinne, dass damit eine Vergrösserung und Vermehrung der Elementartheile des Körpers bezeichnet wird, nicht identisch sei mit Steigerung des Stoffwechsels, welche in einem bloss vermehrten Umsatz der Gewebstheile bestehen könne. Ein solcher vermehrter Umsatz mag immerhin in einem Theile stattfinden, zu dem mehr Ernährungsmaterial strömt, eben so wie in der Regel ein Mensch, der viel isst, auch mehr umsetzt und ausscheidet, als einer, der wenig Nahrung zu sich nimmt. Das blosse Vielessen macht aber noch nicht dick und stark. Ein Organ, welches in Folge einer vermehrten Zuströmung von Blut (Fluxion) mehr Stoff in sich aufnehmen und =festhalten= (fixiren, assimiliren) soll, muss in einen gewissen Zustand der Erregung (Reizung) versetzt werden. Diese Erregung kann durch das zuströmende Blut gesetzt werden. Entweder enthält dieses Blut besondere Stoffe, welche auf den Theil erregend einwirken, wie Excretstoffe auf die Excretionsorgane, oder der Theil befindet sich in einem solchen Zustande von Reizbarkeit, dass auch das gewöhnliche Blut genügt, um die Erregung wirklich hervorzurufen. Letzterer Fall führt auf die wichtige, wenngleich in neuerer Zeit so sehr vernachlässigte Lehre von den =Prädispositionen=, also auf präexistirende krankhafte oder wenigstens mangelhafte Zustände der Organe[183]. Diese können uns aber um so weniger bestimmen, für gesunde Organe eine gleiche Einwirkung zuzulassen, als ja gerade der krankhafte Zustand der prädisponirten Theile (loci minoris resistentiae) uns wiederum auf die Frage von der Bedeutung der Theile selbst hinleitet. [182] Spec. Pathologie und Ther. I. 327. [183] Ebendaselbst I. 21, 23, 78, 152, 281, 289, 340. Ganz ähnlich, wie mit der Einwirkung der Gefässe, verhält es sich mit der Einwirkung der Nerven, auf welche man früher so grossen Werth legte. Zunächst muss man erwägen, dass die neueren Erfahrungen allmählich die Lehre von den sogenannten =neuroparalytischen Entzündungen= gänzlich verändert haben[184]. Die beiden Nerven, um die es sich bei der Discussion der entzündlichen Phänomene fast ausschliesslich gehandelt hat, sind der Vagus und der Trigeminus, nach deren Durchschneidung man in dem einen Falle Pneumonie, in dem anderen die berühmten Veränderungen des Augapfels, namentlich der Cornea, eintreten sah. Diese Erfahrungen haben sich dahin aufgelöst, dass allerdings nach dem Durchschneiden Entzündungen eintreten können, dass diese aber so gedeutet werden müssen, dass sie =trotz der Durchschneidung auftraten=. Vom Vagus ist es bekanntlich schon vor längerer Zeit durch =Traube= dargethan worden, dass die Lähmung der Stimmritze, welche das Eintreten von Mundflüssigkeiten in die Luftwege erleichtert, ein Hauptmittel für die Entstehung der Entzündung ist. Die genauere Deutung der pathologisch-anatomischen Befunde hat überdies herausgestellt, dass sehr Vieles von dem, was man Pneumonie genannt hatte, eben nichts weiter als Atelectase mit Hyperämie der Theile war; die wirkliche Pneumonie ist sicher zu vermeiden, wenn die Möglichkeit des Hineingelangens fremder Körper in die Bronchien abgeschnitten wird. Dasselbe ist für die Trigeminus-Entzündungen erreicht worden, und zwar durch ein sehr einfaches Experiment. Nachdem man sich früher auf die mannichfachste Weise bemüht hatte, die verschiedenen störenden Einwirkungen auf das seiner Empfindung beraubte Auge zu beseitigen, so ist es endlich in Utrecht gelungen, ein sehr einfaches Mittel zu finden, um dem Auge wieder einen empfindlichen Apparat zu substituiren; =Snellen= nähte bei Thieren, welchen er den Trigeminus durchschnitten hatte, das empfindende Ohr vor das Auge. Von der Zeit an bekamen die Thiere keine Entzündungen mehr, indem einerseits ein directer Schutz gegeben, andererseits die Thiere durch die Anwesenheit einer empfindenden Decke vor traumatischen Einwirkungen auf das Auge bewahrt wurden. So wie man die Empfindung, nicht am Auge selbst, sondern nur vor dem Auge herstellte, so war damit auch die an sich rein traumatische Entzündung beseitigt. [184] Archiv VIII. 33. Vergl. Spec. Pathol. I. 51. =Bernard= hat gegen dieses Experiment eingewendet, dass es nicht constante Resultate ergebe, und dass überhaupt die Nervendurchschneidung bei =geschwächten= Thieren sehr leicht Ernährungsstörungen und selbst Entzündungen erzeuge. Dieses kann gewiss nicht geleugnet werden und ist wenigstens von mir nie geleugnet worden. Im Gegentheil habe ich immer auf diese =asthenischen Entzündungen=, die ja in der Pathologie stets anerkannt worden sind und sich der täglichen Beobachtung des Arztes wie in natürlichen Experimenten darbieten, hingewiesen. »=Die asthenischen Entzündungen sind als reine Entzündungen in geschwächten Theilen oder Körpern zu betrachten=«, so habe ich vor 17 Jahren meine Anschauung formulirt[185]; den Unterschied sthenischer und asthenischer Formen aber fand ich darin, dass bei den ersteren ein grösserer Bruchtheil der constituirenden Gewebspartikeln unverändert, noch kräftig bleibe, und dass damit eine grössere Möglichkeit der Ausgleichung der Störungen gegeben sei, indem von demjenigen Bruchtheile aus, der seine Integrität bewahrt hat, die Regulation ausgehen könne. [185] Spec. Pathologie und Ther. I. 80. Weiter hin habe ich, wie schon früher =Valentin=, hervorgehoben, dass »=mit dem Nachlasse der Innervation ein Nachlass der Widerstandsfähigkeit der Theile oder kurz, eine grössere Prädisposition zu Erkrankungen hervortrete=«[186]. Ich habe ferner in einer Vollständigkeit, wie vor mir kein anderer Autor, eine ganze Klasse von Störungen unter der Bezeichnung der =neurotischen Atrophien= gesammelt und dadurch den Schluss befestigt, dass unzweifelhaft eine Einwirkung des Nervensystems auf die Gewebe bestehe[187]. Aber ich muss noch heute, wie damals, aussagen, dass diese Thatsachen in keiner Weise darthun, dass es bestimmte Nerven giebt, welche der Ernährung vorstehen, und dass die Einwirkung dieser Nerven eine directe ist. Jedenfalls ist in allen Fällen von Neuroparalyse der Mangel an Innervation nur ein Grund der Schwächung, aber nicht ein Grund der Reizung. Diese geht von anderen Einwirkungen aus, welche das Gewebe erfährt, aber sie steigert sich leicht zur Entzündung, weil das Gewebe weniger befähigt zur Regulation ist und weil also jede Störung dauerhafter und energischer wirkt, als an einem gesunden Theile. In welcher Ausdehnung diese Entzündung, welche man immerhin eine neuroparalytische nennen kann, sich ausdehnen und zerstörend wirken kann, habe ich in der Geschichte der Lepra anaesthetica dargethan[188]. [186] Ebendaselbst I. 276. Vergl. Archiv IV. 275. [187] Ebendaselbst I. 319, 323. Gesammelte Abhandl. 689. Entwickelung des Schädelgrundes 109. [188] Geschwülste II. 528. Eine ganz andere Gestaltung hat jedoch diese Frage angenommen, seitdem =Samuel= den Nachweis trophischer Nerven durch Versuche darzuthun gesucht hat, in denen entzündliche Reizung der Theile durch starke Erregung der Nerven hervorgebracht werden sollte. Dies wäre also gerade das umgekehrte der neuroparalytischen Entzündungen, und es ist nur das Auffällige dabei, dass der Verlauf der Localprozesse genau derselbe sein soll, wie der früher bei Durchschneidung, also Lähmung der Nerven beobachtete. Eine genauere Prüfung dieser Versuche ist dringend nothwendig; sollte sich dabei ihre Richtigkeit herausstellen, so würde doch daraus nur folgen, wie =Samuel= selbst sehr richtig dargelegt hat, dass auch von den Nerven aus den Theilen wirkliche Entzündungsreize zugeführt werden können. Die Frage von der selbständigen Thätigkeit (Autonomie) der Elemente des Gewebes wird davon nicht im Geringsten berührt. Denn wir können sowohl an gelähmten, als an ganz und gar =nervenlosen= Theilen durch directe Irritamente dieselben Reizungsvorgänge hervorrufen, welche wir an unveränderten und nervenreichen Theilen erzeugen. Schnelligkeit, Grad und Ausdehnung der Prozesse mögen verschieden sein, die Prozesse selbst sind es nicht. Mindestens dürfen wir auch jetzt noch sagen: es ist gar keine Form von irritativen Störungen bekannt, welche aus der aufgehobenen Action eines Nerven direct hergeleitet werden könnte. Ein Theil kann gelähmt sein, ohne dass er sich entzündet; er kann anästhetisch sein, ohne dieser Gefahr unmittelbar ausgesetzt zu sein. Es bedarf immer noch eines besonderen Reizes, sei es mechanischer oder chemischer Art, sei es von aussen oder vom Blute her, um die eigenthümliche Erregung der an sich autonomen Gewebselemente zu Stande zu bringen. Auf diese Weise gewinnen wir eine Reihe von Verbindungen zwischen eminent pathologischen Thatsachen und den nächsten Vorgängen des physiologischen Lebens, Thatsachen, welche aber nur dann in ihrer besonderen Bedeutung sich erkennen und definiren lassen, wenn man eben die Scheidungen macht, welche ich im Anfange dieses Capitels hervorhob, das heisst, wenn man die Erregungen je nach ihrem functionellen, nutritiven oder formativen Werthe trennt. Wirft man sie zusammen, wie es in der Lehre von der Innervation fast immer geschehen ist, sondert man namentlich nicht die formativen und nutritiven Vorgänge, dann kommt man auch zu keiner einfachen Erklärung der Erscheinungen. Dies gilt namentlich für die eigentlich =entzündlichen Reizungen=. Sie lassen überhaupt nie eine einfache Deutung zu, weil es sich dabei um keine einfachen (elementaren) Prozesse handelt[189]. In der Entzündung finden wir neben einander alle möglichen Formen der Reizung. Ja wir sehen sehr häufig, dass, wenn das Organ selbst aus verschiedenen Theilen zusammengesetzt ist, der eine Theil des Gewebes sich functionell oder nutritiv, der andere dagegen sich formativ verändert. Wenn man einen Muskel ins Auge fasst, so wird ein chemischer oder traumatischer Reiz an den Primitivbündeln desselben vielleicht in dem ersten Moment eine functionelle Reizung setzen: der Muskel zieht sich zusammen; dann aber stellen sich nutritive Störungen (trübe Schwellung) oder formative Veränderungen (Kernvermehrung) ein. Im Zwischen-Bindegewebe, welches die einzelnen Muskelbündel zusammenhält, gibt es meist sofort wirkliche Neubildungen, sehr leicht Eiter. Hier handelt es sich also um eine wesentlich formative Reizung, während das entzündete Primitivbündel in sich weder Eiter, noch neue Muskelsubstanz zu erzeugen pflegt; vielmehr treten hier bei einer gewissen Höhe der Reizung am häufigsten degenerative nutritive Prozesse ein. Auf diese Weise kann man die drei Formen der Reizung an einem und demselben Organ von einander trennen. Natürlich kann dabei auch gleichzeitig noch eine Exsudation und eine Reizung der Nerven bestehen, aber letztere hat (zumal wenn man von der Function des Organs absieht) mit den Prozessen im eigentlichen Gewebe keinen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, sondern sie ist ein Collateraleffect der ursprünglichen Störung. Für den Krankheitsprozess im Ganzen mag sie eine grosse Bedeutung erlangen, sei es, dass der Schmerz als ein hervorstechendes Symptom sich fühlbar macht, sei es, dass directe oder reflektorische Veränderungen an den Gefässen dadurch herbeigeführt werden. Letztere können einen grossen Einfluss auf die eintretenden Transsudationen ausüben und so eine neue Complication darstellen. Aber es ist leicht ersichtlich, dass mit jeder neuen Complication das Krankheitsbild eben auch ein mehr zusammengesetztes wird, und dass man sich nicht einem einheitlichen Prozesse, sondern vielmehr einem Collektivprozesse gegenüber sieht. Die Entzündung als solche aber bedarf weder der Nerven, noch der Gefässe, weder des Schmerzes, noch der Exsudation: sie kann als einfach nutritiver oder formativer Vorgang bestehen, von anderen ähnlichen nur ausgezeichnet durch den Charakter der Acuität und namentlich der Gefahr[190]. [189] Archiv IV. 279. [190] Handb. der spec. Pathologie und Therapie. I. 76. Diese Erfahrung ist meines Erachtens als der für die ärztliche Anschauung wichtigste Erwerb meiner speciellen histologischen Untersuchungen anzusehen, und er ist um so sicherer, als man ihn sowohl durch das Experiment, als durch physiologische und pathologische Erfahrung controliren kann. Später werde ich zeigen, wie das Studium der entzündlichen Prozesse dadurch eine klarere Auffassung gewinnt. Siebzehntes Capitel. Passive Vorgänge. Fettige Degeneration. Die passiven Vorgänge in ihren beiden Hauptrichtungen zur Degeneration: Nekrobiose (Erweichung und Zerfall) und Induration. Die fettige Degeneration. Histologische Geschichte des Fettes im Thierkörper: das Fett als Gewebsbestandtheil, als transitorische Infiltration und als nekrobiotischer Stoff. Das Fettgewebe. Polysarcie. Fettgeschwülste. Die interstitielle Fettbildung. Fettige Degeneration der Muskeln. Die Fettinfiltration und Fettretention. Darm: Structur und Function der Zotten. Resorption und Retention des Chylus. Leber: intermediärer Stoffwechsel durch die Gallengänge. Fettleber. Die Fettmetamorphose. Drüsen: Secretion des Hautschmeers und der Milch (Colostrum). Körnchenzellen und Körnchenkugeln. Entzündungskugeln. Fettmetamorphose des Lungenepithels. Gelbe Hirnerweichung. Corpus Inteum des Eierstocks. Arcus senilis der Hornhaut. Morbus Brightii. Optisches Verhalten der fettig metamorphosirten Gewebe. -- Muskeln: Fettmetamorphose des Herzfleisches. Fettbildung in den Muskeln bei Verkrümmungen. -- Arterie: fettige Usur und Atherom. Fettiger Detritus. Bis jetzt habe ich fast nur von den Thätigkeiten der Zellen gehandelt und von den Vorgängen, welche an ihnen eintreten, wenn sie ihre Lebendigkeit auf irgend eine äussere Einwirkung hin zu erkennen geben. Es gibt aber im Körper auch eine ziemlich grosse Reihe von =passiven Vorgängen=[191], welche verlaufen, ohne dass dabei eine besondere Thätigkeit der Elemente nachweisbar wäre, ja welche häufig unmittelbar durch eine Hemmung der Thätigkeit bedingt werden. Es wird nützlich sein, bevor wir in der Darstellung der activen Prozesse weiter gehen, diese passiven Vorgänge etwas genauer zu besprechen. Denn die Leidensgeschichte der Zellen, von welcher die Pathologie den Namen trägt, ist zusammengesetzt aus Vorgängen, welche der activen, und solchen, welche der passiven Reihe angehören; ja, das grobe Resultat, der sogenannte Krankheitsausgang, hat trotz des verschiedenen Charakters der Prozesse in vielen Fällen eine so grosse Uebereinstimmung, dass die endlichen Veränderungen, welche wir nach einer gewissen Zeitdauer des Prozesses antreffen, in beiden Reihen nahezu dieselben sein können. Aus diesem Grunde ist es eine Zeit lang sehr schwer gewesen, Grenzen zwischen den zwei Reihen zu ziehen, und ein grosser Theil der Verwirrung, welche die Anfangsperiode der mikroskopischen Bestrebungen bezeichnete, ist bedingt gewesen durch die ausserordentliche Schwierigkeit, die activen und passiven Störungen auseinander zu bringen. [191] Archiv IX. 51. XIV. 8. Spec. Pathol. u. Ther. I. 10. Passive Störungen nenne ich diejenigen Veränderungen der Elemente, wobei sie in Folge äusserer ungünstiger Bedingungen sofort entweder bloss Einbusse an Wirkungsfähigkeit erleiden, oder vollständig zu Grunde gehen, in welchem Falle natürlich ein Substanzverlust, ein Defect, eine Verminderung der Summe der Körperbestandtheile entsteht. Beide Reihen von passiven Vorgängen zusammengenommen, diejenigen, welche sich durch Schwächung zu erkennen geben, und diejenigen, welche mit vollständigem Untergange der Theile endigen, bilden das Hauptgebiet der sogenannten =Degenerationen=, obwohl, wie wir späterhin noch genauer betrachten müssen, auch in der Reihe der activen Prozesse ein grosser Theil desjenigen unterzubringen ist, was man degenerativ nennt. Es ist natürlich ein wesentlicher Unterschied, ob ein Element überhaupt als solches bestehen bleibt, oder ob es ganz und gar untergeht, ob es am Ende des Prozesses, wenn auch in einem Zustande sehr verminderter Leistungsfähigkeit, noch vorhanden ist, oder ob es überhaupt ganz zerstört ist. Darin liegt für die praktische, namentlich für die prognostische Auffassung die grosse Scheidung, dass für die eine Reihe von Prozessen die Möglichkeit einer Reparation der Zellen besteht (=nutritive Restitution=), während in der anderen eine direkte Reparation unmöglich ist und eine Herstellung nur geschehen kann durch einen Ersatz vermittelst neuer Elemente von der Nachbarschaft her (=regenerative= oder =formative Restitution=). Denn wenn ein Element zu Grunde gegangen ist, so ist natürlich von ihm aus keine weitere Entwickelung oder Neubildung möglich[192]. [192] Spec. Pathologie und Therapie. I. 21. Diese letztere Kategorie, wo die Elemente unter dem Ablaufe des Prozesses zu Grunde gehen, habe ich vorgeschlagen (S. 335) mit einem Ausdrucke zu bezeichnen, welcher von K. H. =Schultz= für die Krankheit überhaupt gebraucht worden ist, mit dem der =Nekrobiose=[193]. Immer nehmlich handelt es sich hier um ein Absterben, um ein Zugrundegehen, man möchte fast sagen, um eine Nekrose. Aber der gangbare Begriff der Nekrose bietet doch gar keine Analogie mit diesen Vorgängen, insofern wir uns bei der Nekrose den mortificirten Theil als in seiner äusseren Form mehr oder weniger erhalten denken. Hier dagegen verschwindet der Theil, so dass wir ihn in seiner Form nicht mehr zu erkennen vermögen. Wir haben am Ende des Prozesses kein nekrotisches Gewebe, keine Art von gewöhnlichem Brand, sondern eine Masse, in welcher von den früheren Geweben absolut gar nichts mehr wahrnehmbar ist. Die nekrobiotischen Prozesse, welche von der Nekrose völlig getrennt werden müssen, haben im Allgemeinen als Endresultat eine =Erweichung= im Gefolge. Dieselbe beginnt mit Brüchigwerden der Theile; diese verlieren ihre Cohäsion, zerfliessen endlich wirklich, und mehr oder weniger bewegliche, breiige oder flüssige Producte treten an ihre Stelle. Man könnte daher geradezu diese ganze Reihe von nekrobiotischen Prozessen Erweichungen nennen, wenn viele von ihnen nicht verliefen, ohne dass für die grobe Anschauung, d. h. für das unbewaffnete Auge, die Malacie jemals zur Erscheinung kommt. Wenn nehmlich innerhalb eines zusammengesetzten Organs, z. B. eines Muskels, ein solcher Vorgang eintritt, so entsteht allerdings jedesmal eine grobe Myomalacie, sobald an einem bestimmten Punkte alle Muskelelemente auf einmal getroffen werden, aber weit häufiger geschieht es, dass innerhalb eines Muskels nur eine gewisse Zahl von Primitivbündeln getroffen wird, während die anderen unversehrt bleiben. Freilich tritt dann auch eine Malacie ein, aber eine so feine, dass sie für die grobe Betrachtung gar nicht zugänglich wird und nur mikroskopisch nachzuweisen ist. In diesem Falle spricht man fälschlich von einer Muskelatrophie, obgleich der Vorgang, welcher die einzelnen Primitivbündel getroffen hat, sich seiner Natur nach gar nicht von den Vorgängen unterscheidet, welche man ein anderes Mal Muskelerweichung nennt. [193] Ebendaselbst I. 273, 279. Das ist der Grund, warum man nicht einfach den Ausdruck der Erweichung, der für die grobe pathologische Anatomie vorbehalten werden muss, auf die histologischen Vorgänge anwenden kann, und warum es besser ist, Nekrobiose zu sagen, wo es sich um diese feineren Vorgänge handelt. Das Gemeinschaftliche aller Arten von nekrobiotischen Prozessen besteht aber darin, dass der getroffene Theil am Ende des Prozesses und durch den Prozess zersetzt, untergegangen, vernichtet ist. Eine zweite Reihe von passiven Prozessen bilden die =einfach degenerativen Formen=, wo am Ende des Vorganges der getroffene Theil zwar vorhanden ist, aber sich in irgend einem weniger oder gar nicht mehr actionsfähigen Zustande befindet, wo er in der Regel starrer geworden ist. Man könnte daher diese Gruppe im Gegensatze zu der vorher erwähnten als =Verhärtungen= (=Indurationen=) bezeichnen, und damit eine schon äusserlich von den nekrobiotischen Prozessen trennbare Gruppe bilden. Allein auch der Ausdruck der Induration würde leicht missverständlich sein, insofern auch hier wieder viele Zustände vorkommen, wo wenigstens die Härte des Organes im Ganzen nicht bedeutender ist, sondern wo nur einzelne kleinste Theile sich verändern, so dass für das Tastgefühl keine auffallenden Veränderungen bemerkbar werden. Ich hebe aus der Reihe der passiven Prozesse einige als Typen hervor, und zwar diejenigen, welche die grösste Wichtigkeit für die praktische Anschauung haben. * * * * * Unter den nekrobiotischen Prozessen ist der unzweifelhaft am weitesten verbreitete und fast der wichtigste unter allen bekannten cellularen Störungen die =Fettmetamorphose=[194], oder wie man von Alters her gewohnt ist zu sagen, die =fettige Degeneration=. Dieser Prozess bringt eine zunehmende Anhäufung von Fett in den Organen mit sich. Der alte Begriff der fettigen Degeneration hatte den Sinn, dass man dabei an eine immer steigende Veränderung der Art dachte, dass zuletzt an die Stelle ganzer Organtheile reines Fett träte. Es hat sich aber ergeben, dass dieser alte Begriff, wie er noch jetzt in der pathologischen Sprache sich vielfach erhalten hat, eine grosse Reihe unter sich vollkommen verschiedener Vorgänge zusammenfasst, und dass man nothwendig irre gehen musste, wenn man vom Standpunkte der Pathogenie aus die ganze Gruppe auf einfache Weise deuten wollte. [194] Archiv I. 141, 144. Die Geschichte des Fettes in Beziehung zu den Geweben lässt sich im Allgemeinen in einer dreifachen Richtung betrachten. Wir finden erstlich eine Reihe von Geweben im Körper vor, welche als physiologische Behälter für Fett dienen, und in welchen das Fett als eine Art von nothwendigem Zubehör enthalten ist, ohne dass jedoch ihr eigener Bestand durch die Anwesenheit des Fettes irgendwie gefährdet wäre. Im Gegentheil, wir sind sogar gewöhnt, nach dem Fettgehalt gewisser Gewebe das Wohlsein eines Individuums zu schätzen und den Grad der andauernden =Füllung der einzelnen Fettzellen= als Kriterium für den glücklichen Fortgang des Stoffwechsels überhaupt anzusehen. Dies ist also der gerade Gegensatz zu den nekrobiotischen Vorgängen, wo der Theil unter der Anhäufung des Fettes wirklich ganz und gar aufhört zu existiren. In einer zweiten Reihe stellen die Gewebe keine regelmässigen Behälter für Fett dar, aber wohl treffen wir in ihnen zu gewissen Zeiten vorübergehend Fett an, welches nach einiger Zeit wieder aus ihnen verschwindet, ohne den Theil deshalb in einem veränderten Zustande zurückzulassen. Das ist der Fall bei der gewöhnlichen Resorption des Fettes aus dem Darme. Wenn wir Milch trinken, so erwarten wir nach alter Erfahrung, dass dieselbe vom Darme allmählich in die Milchgefässe übergehe und von da aus dem Blute zugeführt werde; wir wissen, dass der Uebergang des Verdauten vom Darm in die Milchgefässe durch das Darmepithel und die Zotten hindurch erfolgt, und dass das Epithel und die Zotten einige Stunden nach der Mahlzeit voll von Fett stecken. Von einer solchen fetthaltigen Zotte oder Epithelzelle setzen wir aber voraus, dass sie unter natürlichen Verhältnissen endlich ihr Fett abgeben und nach einiger Zeit wieder vollkommen frei sein werde. Das ist eine =Fett-Infiltration= von rein transitorischem Charakter. Verzögert sich die Entleerung des Fettes, bleibt die an sich nur für vorübergehende Zwecke vorhandene Fettfüllung bestehen, so gibt das eine =Fett-Retention=. Endlich in einer dritten Reihe werden die Gewebe von Prozessen getroffen, welche zur =fettigen Nekrobiose= führen. Diese hat man in neuerer Zeit häufig als eigenthümlich pathologische betrachtet. Allein, wie sich überall gezeigt hat, dass die pathologischen Prozesse keine specifischen sind, dass vielmehr für sie Analogien in dem normalen Leben bestehen, so kann man sich auch überzeugen, dass die nekrobiotische Entwickelung von Fett ein ganz regelmässiger, typischer Vorgang an gewissen Theilen des gesunden Körpers ist, ja, dass wir sie sogar in sehr grobem Style im physiologischen Leben antreffen. Die wichtigsten Typen für dieses Verhältniss haben wir einerseits in der Secretion der Milch, des Hautschmeeres, des Ohrenschmalzes u. s. w., andererseits in der Bildung des Corpus luteum im Eierstocke. An allen diesen Theilen geht eine Fettentwickelung genau in der Weise vor sich, wie wir sie bei der nekrobiotischen Fettmetamorphose unter krankhaften Bedingungen antreffen; was wir Hautschmeer, Milch oder Colostrum nennen, das sind die Analoga für die pathologischen Fettmassen, welche aus der fettigen Erweichung hervorgehen. Wenn Jemand statt in der Milchdrüse im Gehirn Milch fabricirt, so gibt dies eine Form der Hirnerweichung; das Product kann morphologisch vollständig übereinstimmen mit dem, was in der Milchdrüse ganz normal gewesen wäre. Hier ist aber der grosse Unterschied, dass, während in der Milchdrüse die zu Grunde gehenden Zellen sich ersetzen durch neue nachrückende Elemente, der Zerfall der Elemente in einem Organe, welches nicht zum Nachrücken eingerichtet ist, zu einem dauerhaften Verluste führt. Derselbe Prozess, welcher an einem Orte die glücklichsten, ja die süssesten Resultate liefert, bringt an einem anderen einen schmerzlichen und bitteren Schaden mit sich. Betrachten wir diese drei verschiedenen physiologischen Typen nach einander. Im ersten Falle finden wir die Anfüllung der Zellen mit Fett in der Weise, dass am Ende jede einzelne Zelle ganz und gar voll von Fett steckt. Das gibt den Typus des sogenannten =Fettzellgewebes= oder kurzweg =Fettgewebes=, wie es namentlich in der Unterhaut (Tela subcutanea) in so grosser Masse vorkommt, wo es einerseits die Schönheit, namentlich der weiblichen Form, andererseits die pathologischen Zustände der Obesität oder Polysarcie bedingt. Ebenso bildet das Fettgewebe das gewöhnliche, schon seit mythologischen Zeiten so berühmte gelbe Knochenmark (Medulla ossium). Ueberall besteht das Fettgewebe aus einer meist geringen Menge von Intercellularsubstanz und aus Fettzellen. Letztere besitzen immer eine Membran und einen fettigen oder öligen Inhalt. Das Fett erfüllt den inneren Raum so vollständig, die Membran ist so ausserordentlich dünn, zart und gespannt, dass man gewöhnlich gar nichts weiter sieht, als den Fetttropfen, und dass bis in die neueste Zeit noch immer darüber discutirt worden ist, ob die Fettzellen wirkliche Zellen seien. Es ist in der That sehr schwer, sich davon deutlich zu überzeugen, allein wir haben sehr schöne Hülfsmittel in dem Verlaufe der natürlichen Prozesse. Wenn Jemand magerer wird, so schwindet das Fett allmählich, die Membran verliert von ihrer Spannung, sie erscheint nicht mehr so dünn und zart und tritt um so schärfer hervor, je kleiner die innere Fettmasse wird. Sie ist dann deutlich vom Fetttropfen abgesetzt. Innerhalb der Zelle liegt ein erkennbarer Kern (Fig. 114, _A_, _a_). Es ist hier also eine wirkliche, vollständige Zelle mit Kern und Membran vorhanden, an welcher aber der eiweissartige Inhalt fast ganz und gar durch das aufgenommene Fett verdrängt worden ist. Dieses sogenannte Fettzellgewebe ist eine Form des Bindegewebes (S. 47), und wenn es sich zurückbildet, so sieht man sehr deutlich, dass es metaplastisch in Binde- oder Schleimgewebe[195] übergeht, indem zwischen den Zellen wieder eine grössere Menge von faserig-schleimiger Intercellularsubstanz zum Vorscheine kommt (Fig. 114, _A_, _b_, _B_). [195] Archiv XVI. 15. Geschwülste I. 399. [Illustration: =Fig=. 114. Fettzellgewebe aus dem Panniculus. _A_ Das gewöhnliche Unterhautgewebe, mit Fettzellen, etwas Zwischengewebe und bei _b_ Gefässschlingen; _a_ eine isolirte Fettzelle mit Membran, Kern und Kernkörperchen. _B_ Atrophisches Fett bei Phthisis. Vergröss. 300.] [Illustration: =Fig=. 115. Interstitielle Fettwucherung (Mästung) der Muskeln. _f_, _f_ Reihen von interstitiellen Fettzellen; _m_, _m_, _m_ Muskelprimitivbündel. Vergr. 300.] Fettgewebe ist es, welches nicht bloss unter Umständen Polysarcie und Obesität hervorbringt, indem immer grössere Massen von Bindegewebe in die Fettfüllung hineingezogen werden, sondern welches auch die Grundlage aller anomalen Fettgebilde ist. Die einzelnen Formen dieser Gebilde, namentlich die wirklichen Fettgeschwülste (Lipome), unterscheiden sich unter einander nur durch die grössere oder geringere Masse von interstitiellem, zwischen den Läppchen der Fettzellen gelegenen Bindegewebe, von welchem ihre grössere oder geringere Consistenz abhängt[196]. -- Dasselbe Fettgewebe ist es auch, welches unter krankhaften Verhältnissen in einer Reihe von solchen Fällen auftritt, welche man nach alter Tradition fettige Degeneration nennt. Namentlich die =fettige Degeneration der Muskeln= stellt in vielen Fällen nichts weiter dar, als eine mehr oder weniger weit fortgeschrittene Entwickelung von Fettzellgewebe zwischen den Muskelprimitivbündeln. Es ist dies ein ähnlicher Vorgang, wie wir ihn bei der Mästung von Thieren finden, wie ihn z. B. jede Ochsenzunge sehr schön zeigt, und wie manche einfach gemästete Muskeln auch beim Menschen ihn darbieten. Zwischen die einzelnen Muskelprimitivbündel schieben sich Fettzellen ein, welche natürlich streifenweise nach dem Verlauf der Muskelfasern liegen; letztere können sich dabei erhalten. Die Grundlage der Entwickelung ist hier das interstitielle Bindegewebe, an welchem es mir zuerst mit Bestimmtheit gelang, den Uebergang der Bindegewebskörperchen in Fettzellen zu beobachten[197]. Bei dieser sogenannten Fettdegeneration der Muskeln kann es, namentlich im Anfange der Entwickelung und bei grosser Regelmässigkeit derselben, vorkommen, dass ganz einfache Reihen hinter einander liegender Fettzellen mit den Reihen der Muskel-Elemente abwechseln (Fig. 115). In diesem Falle, wo die Primitivbündel durch die Fettzellen auseinander gedrängt werden und gewöhnlich in Folge ihrer Anhäufung die Circulation im Muskel beeinträchtigt, das Fleisch also blass wird, sieht es für das blosse Auge oft so aus, als sei gar kein Muskelfleisch mehr vorhanden. Untersucht man z. B. an einer Unterextremität, welche in Folge einer Ankylose des Knie's lange unbewegt geblieben ist, die Gastroenemii, so findet man zuweilen nur eine gelbliche, kaum streifig aussehende Masse ohne jedes fleischige Ansehen, allein bei feinerer Untersuchung zeigt sich, dass die an sich erhaltenen Primitivbündel noch immer durch das Fett hindurchgehen. Selbst in diesem Falle, wo das Fett eine bedeutende Erschwerung für den Muskelgebrauch bildet, sind die Muskelprimitivbündel doch noch vorhanden und in gewisser Weise wirkungsfähig. Es unterscheidet sich daher dieser Prozess wesentlich von der Nekrobiose, wo das Primitivbündel als solches zu Grunde geht. Denn er stellt eine rein interstitielle Fettgewebsbildung dar, wobei gewöhnliches Bindegewebe in Fett übergeht, und man sollte daher lieber den Ausdruck der fettigen Degeneration vermeiden, welcher so leicht missverstanden werden kann. [196] Geschwülste I. 368. [197] Archiv VIII. 538. Ueber die Bildung der Fettzellen im Knochenmark und im Unterhautgewebe vergl. meine Untersuchungen über die Entwickelung des Schädelgrundes 49. Diese Form kommt besonders am Herzen ziemlich häufig vor und kann, wenn sie eine grosse Ausdehnung erreicht, erhebliche Störungen der Bewegungsfähigkeit des Herzfleisches hervorbringen. Aber ihrem pathologischen Werthe nach steht sie tief unter der eigentlichen Fettmetamorphose, obwohl diese hinwiederum im äusserlich sichtbaren Resultat nicht entfernt ihr gleichkommt. Das, was die alten Anatomen als Fettherzen beschrieben haben, waren meistentheils nur fettig durchwachsene Herzen; was man dagegen heut zu Tage meint, wenn man von einer eigentlichen fettigen Degeneration (Metamorphose) des Herzens spricht, das ist nicht dieses Fettwerden des Herzens, dieses Durchwachsen seines Fleisches mit Fettzellen, sondern es ist vielmehr die wirkliche im Innern des Fleisches vor sich gehende Umsetzung der Substanz (Fig. 25, _d_. 121), auf welche ich noch zurückkommen werde. In dem letzteren Falle liegt das Fett in, im ersteren zwischen den Primitivbündeln. -- * * * * * Die zweite Reihe von Vorgängen, welche ich aufstellte, ist die =transitorische Anfüllung= gewisser Organe mit Fett, wie wir sie im Wesentlichen bei der Digestion antreffen. Hat Jemand eine fettige Substanz genossen, und ist diese in den Zustand der Emulgirung übergeführt, so finden wir, dass, wenn sie in das obere Ende des Jejunum gelangt, zum Theil schon im Duodenum, die Zotten der Schleimhaut weisslich, trübe und dicker werden. Die feinere Untersuchung ergibt, dass sie mit sehr feinen, kleinsten Fettkörnchen erfüllt werden, welche viel feiner sind, als wir sie in irgend einer künstlichen Emulsion herstellen können. Diese Körnchen, welche sich schon im Chymus finden, berühren zuerst das Cylinderepithel, mit welchem jede einzelne Darmzotte umgeben ist. An der Oberfläche jeder Epithelzelle findet sich aber, wie von =Kölliker= zuerst bemerkt ist, ein eigenthümlicher Saum, welcher, wenn man die Zelle von der Seite her betrachtet, feine, senkrechte Strichelchen erkennen lässt; von der Oberfläche aus gesehen, erscheint die Zelle sechseckig und mit vielen kleinen Punkten besetzt, wie getüpfelt (Vergl. das Epithel der Gallenblase Fig. 15, sowie Fig. 116, _A_). =Kölliker= hat die Vermuthung aufgestellt, dass diese kleinen Striche und Punkte feinen Porenkanälchen entsprächen, und dass die Resorption so vor sich ginge, dass die kleinen Partikelchen des Fettes durch diese feinen Poren an der Oberfläche der Epithelzellen aufgenommen würden. Der Gegenstand liegt indess so sehr an der Grenze unserer optischen Apparate, dass es bis jetzt nicht möglich gewesen ist, eine vollkommene Klarheit darüber zu gewinnen, ob die Striche wirklich feinen Kanälen entsprechen, oder ob es sich vielmehr, wie =Brücke= annimmt, um eine Zusammensetzung des ganzen oberen Saumes aus Stäbchen oder Säulchen, ähnlich den Flimmerhaaren, handelt. Ich bin durch meine Untersuchungen auch mehr zu letzterer Ansicht disponirt worden, zumal da an denselben Orten die vergleichende Histologie wirkliches Flimmerepithel als Aequivalent nachweist. Jedenfalls ist soviel sicher, dass einige Zeit nach der Digestion das Fett nicht mehr aussen an den Zellen liegt, sondern sich innen in ihnen findet, und zwar zuerst am äusseren (freien) Ende derselben; dann rücken seine Körnchen nach und nach weiter und gehen in den Zellen nach innen, und zwar so deutlich reihenweise, dass es den Eindruck macht, als gingen feine Kanäle durch die ganze Länge der Zellen selbst hindurch (Fig. 116, _C_, _a_). Allein auch das ist eine Frage, welche mit unseren optischen Apparaten nicht so bald gelöst werden dürfte. Genug, die grobe Thatsache bleibt stehen, dass das Fett durch die Zellen geht und zwar in der Weise, dass anfänglich nur der äussere Theil derselben damit erfüllt ist, dann eine Zeit kommt, wo sie ganz voll von Fett sind, etwas später die äussere Partie wieder ganz frei wird, während die innere noch etwas enthält, bis endlich alles Fett spurlos aus den Zellen verschwindet. Auf diese Weise kann man den allmählichen Fortgang von Stunde zu Stunde verfolgen. Nachdem das Fett bis in die innere Spitze der Zellen hineingerückt ist, so beginnt es, in das sogenannte Parenchym der Zotte überzugehen (Fig. 116, _C_). Ob die Epithelzellen, wie zuerst von =Heidenhain= behauptet worden ist, an ihrem unteren (centralen) Ende unmittelbar mit feinsten Ausläufern der Bindegewebskörperchen der Zotte zusammenhängen, ist noch streitig, jedoch durch =Eimer='s sorgsame Untersuchung zu höchster Wahrscheinlichkeit geführt. [Illustration: =Fig=. 116. Darmzotten und Fettresorption. _A_ Normale Darmzotten des Menschen aus dem Jejunum, bei _a_ das zum Theil noch ansitzende Cylinderepithel mit dem feinen Saum und Kernen; _c_ das centrale Chylusgefäss, _v_, _v_ Blutgefässe; im übrigen Parenchym die Kerne des Bindegewebes und der Muskeln. -- _B_ Zotten im Zustande der Contraction vom Hund. -- _C_ Menschliche Darmzotte während der Chylus-Resorption, _D_ bei Chylus-Retention: an der Spitze ein grosser, aus einer krystallinischen Hülle austretender Fetttropfen. Vergr. 280.] Es ist höchst schwierig, mit Sicherheit über diese feinsten Einrichtungen der Gewebssubstanz zu urtheilen. In der Regel finden wir innerhalb der Zotten das Netz der Blutgefässe etwas unter der Oberfläche (Fig. 116, _A_, _v_, _v_), dagegen in der Axe eine ziemlich weite, stumpf endigende Höhlung, den Anfang des Chylusgefässes, soweit es bis jetzt mit Sicherheit erkennbar ist (Fig. 116, _A_, _c_). An der Peripherie der Zotten hat =Brücke= eine Lage von Muskeln entdeckt, welche für die Digestion von grosser Bedeutung ist, insofern dadurch ein Heranziehen der Zottenspitze gegen ihre Basis, eine Verkürzung möglich ist, wie man sehr leicht sehen kann. Wenn man Zotten vom Darme eines eben getödteten Thieres abschneidet, so sieht man unter dem Mikroskop, dass sie sich zusammenziehen, sich runzeln, dicker und kürzer werden (Fig. 116, _B_). Offenbar erfolgt dadurch ein Druck in der Richtung von aussen nach innen, welcher die Fortbewegung der aufgenommenen Säfte befördert. So weit wäre die Sache ziemlich klar, allein was das noch übrig bleibende Parenchym für einen Bau hat, ist äusserst schwer zu sehen. Ausser der Muskellage bemerkt man noch kleinere Kerne, welche, wie ich schon vor Jahren hervorhob, hin und wieder ziemlich deutlich in feinen zelligen Elementen eingeschlossen sind. Diese Parenchymzellen anastomosiren unter sich und mit dem centralen Chylusgefässe. Bei der Resorption sieht es aus, als ob das Fett, welches in den Zotten immer weiter nach innen dringt, das ganze Parenchym erfüllte, jedoch ergibt eine feinere Untersuchung, zumal an weniger stark gefüllten Zotten, dass das Fett auf prädestinirten Strassen, nehmlich durch die Bindegewebskörperchen, seinen Weg verfolgt[198]. So gelangt es endlich in das centrale Chylusgefäss. Von hier beginnt der regelmässige Strom des Chylus. [198] Ich habe mich neuerlichst durch die Untersuchung von Querschnitten chylusgefüllter Zotten beim Menschen überzeugt, dass das Fett nicht discret im Parenchym, sondern heerdweise im Innern besonderer kleiner (Zellen?) Räume liegt. Anm. zur zweiten Auflage (1859). Am wenigsten verständlich ist in diesem Hergange die Aufnahme des Fettes in die Epithelialzellen. Zu wiederholten Malen ist daher die Meinung aufgetaucht, dass hier gröbere Oeffnungen, wirkliche Stomata existiren. Insbesondere hat diese Frage in der neueren Zeit durch =Letzerich= eine besondere Bedeutung erlangt. Er richtete die Aufmerksamkeit auf gewisse, schon längere Zeit bekannte Elemente, die sogenannten =Becherzellen=. Es sind dies offene Zellen von fast trichterförmiger Gestalt, welche gewöhnlich in gewissen Entfernungen von einander zwischen den gewöhnlichen Cylinderzellen des Darmepithels zerstreut vorkommen. Ich sah sie am Darm eines Hingerichteten, der ganz frisch untersucht wurde. =Letzerich= glaubt in ihnen die eigentlichen Aufnahme-Organe des Fettes zu erkennen. Diese Meinung ist unzweifelhaft irrig. Das von mir vorher Angeführte ist mit grösster Bestimmtheit zu sehen: =jede Epithelzelle ist fähig, Fett aufzunehmen=, und ich möchte eher sagen, die Becherzellen seien es am wenigsten. Das mechanische Problem ist damit wenig gefördert, indess wird man schwerlich bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse noch auf blosse Druckverhältnisse zurückgehen können. Aller Wahrscheinlichkeit »fressen« die Zellen das Fett, und es handelt sich um einen der an die Thätigkeit der Elemente geknüpften automatischen Vorgänge (S. 360), bei welchen das Protoplasma betheiligt ist. Jedenfalls setzt der Vorgang eine emulsive Beschaffenheit des Fettes voraus, welches überall in feinster Zertheilung durch die Gewebstheile hindurchdringt. In dem regelmässigen Gange sind es so ausserordentlich zarte Partikeln, dass, wenn man frischen, noch warmen Chylus untersucht, man fast nichts von körperlichen Theilen darin erkennen kann[199]. Allein jede Störung, welche in dem Resorptionsgeschäfte stattfindet und längere Zeit hindurch das Fortrücken hindert, bedingt ein Zusammenfliessen der Fettpartikeln; innerhalb der Gewebe, in welchen die Fett-=Retention= erfolgt, scheiden sich alsdann immer grössere Fettkörner ab, und diese fliessen endlich zu ganz grossen Tropfen zusammen. Solche finden wir sowohl in den Epithelialzellen, als auch innerhalb des Zottengewebes, namentlich in dem centralen Chylusgefässe, und es kommt vor, dass das Ende des letzteren sich erweitert, kolbig ausgedehnt wird, und dass die Anhäufung von Fett darin so beträchtlich wird, dass man sie schon mit blossem Auge erkennt[200]. =Lieberkühn= hielt diesen Zustand für den Ausdruck eines normalen Verhältnisses, und nannte die Ausweitungen Ampullen. Ich habe gezeigt, dass dieselben eine rein pathologische Bedeutung haben, und dass auch die von E. H. =Weber= bemerkte Scheidung in einen dunklen und hellen Theil (Fig. 116, _D_) nur auf einer Trennung des Fetttropfens in eine feste Rinde und einen flüssigen und nach Berstung der Rinde austretenden Inhalt beruht. Nirgends sieht man diese Zustände auffälliger und häufiger, wie in der Cholera, wo schon 1837 durch =Böhm= gute Schilderungen davon geliefert worden sind. Sie bedeuten im Allgemeinen die Hemmung des Lymphstromes durch die Respirations- und Circulationsstörungen. Da bekanntlich die Cholera-Anfälle überwiegend häufig in der Digestionsperiode eintreten und mit grossen Hemmungen des Respirationsgeschäftes verlaufen, welche sich durch den ganzen Venenapparat geltend machen, so müssen sie natürlich auch auf den Chylusstrom zurückwirken. So erklärt sich die colossale Anstauung (Retention) von Fett in den Zotten. Dies ist also, wenn man will, schon ein pathologischer Zustand, aber derselbe beruht nur auf einer vorübergehenden Hemmung und wir haben allen Grund anzunehmen, dass, wenn der Chylusstrom wieder frei wird, auch diese grösseren Fetttropfen allmählich wieder beseitigt werden. Damit kommen wir auf andere Gebiete, wo die Grenze zwischen Physiologie und Pathologie sich sehr schwer ziehen lässt. Ein solcher Fall findet sich namentlich an der Leber. [199] Archiv I. 152, 162, 262. Beiträge zur exper. Pathologie. Heft II. 72. Gesammelte Abhandl. 139. [200] Würzb. Verhandl. IV. 354. Gesammelte Abhandlungen 732. Seit alter Zeit weiss man, dass die =Leber= dasjenige Organ ist, welches überwiegend leicht in einen Zustand sogenannter fettiger Degeneration geräth, und schon lange hat man gerade die Kenntniss dieses Zustandes auf dem Wege populärer Experimentation verwerthet. Die Geschichte der Gänseleberpasteten beweist dies in der angenehmsten Weise. Obgleich =Lereboullet= in Strassburg behauptete, dass die Fettlebern der gemästeten Gänse physiologische seien, die sich von den pathologischen, welche man nicht isst, sondern nur beobachtet, wesentlich unterschieden, so muss ich doch bekennen, dass ich bis jetzt ausser Stande gewesen bin, einen Unterschied zwischen physiologischen und pathologischen Fettlebern zu entdecken; ich meine vielmehr, dass gerade, indem man die Identität beider zulässt, der einzig richtige Gesichtspunkt auch für die pathologische Fettleber gewonnen wird. Wir kennen nehmlich eine Thatsache, welche gleichfalls zuerst von =Kölliker= beobachtet worden ist, dass nehmlich bei saugenden Thieren regelmässig einige Stunden nach der Digestion eine Art von Fettleber physiologisch vorkommt. Wenn man von demselben Wurfe von Thieren die einen hungern, die andern saugen lässt, so haben diejenigen, welche gesogen haben, ein Paar Stunden nachher eine Fettleber, die anderen nicht. Diese erscheint ganz blass, wenn auch nicht so weiss, wie eine Gänseleber. Diese Erfahrung hat mir Gelegenheit gegeben, die Frage von der Beziehung des Fettes zur Leber etwas weiter zu verfolgen, und ich glaube danach allerdings mit Bestimmtheit schliessen zu können, dass ein naher Zusammenhang der physiologischen und pathologischen Formen besteht. Ich fand nehmlich[201], dass einige Zeit nach der Digestion, und zwar etwas später, als die Leberzellen die Fettfüllung zeigen, man einen ähnlichen Zustand im Laufe der Gallenwege findet, und dass sowohl in den Gallengängen, als in der Gallenblase das Epithel dieselben Erscheinungen der Fett-Resorption wahrnehmen lässt, die wir vom Darmepithel kennen. Man braucht, um sich eine Vorstellung davon zu machen, das Bild von vorher (Fig. 116) nur umzukehren: anstatt einer Zotte, an welche das Epithel aussen angelagert ist, denke man sich einen Kanal, welcher innen mit Epithel ausgekleidet ist. Das feine Cylinderepithel in der Gallenblase hat denselben streifigen Saum, wie das im Darm (Fig. 15), und man sieht daran in derselben Weise, dass das Fett von aussen eindringt, gegen die Tiefe weitergeht und nach einiger Zeit in die Wand der Gallenwege übergeht. Ich habe diesen Vorgang bei jungen saugenden Thieren nach der Digestion verfolgt; man kann sich da leicht überzeugen, dass offenbar das Fett, welches eine Zeit lang in den Leberzellen enthalten ist, von ihnen in die Gallenwege secernirt, hier aber allmählich wieder resorbirt wird und so zum zweiten Male in die Circulation zurückkehrt. [201] Archiv XI. 574. Ein solcher =intermediärer Stoffwechsel=, wo das Fett vom Darme in das Blut, vom Blute in die Leber, von der Leber in die Galle und von da wieder in Lymph- und Blutgefässe gelangt, welche zum rechten Herzen zurückführen, setzt natürlich auch, wie die Resorption im Darme, für die Rückfuhr günstige Verhältnisse voraus; tritt irgend eine Störung ein, so wird es eben auch hier eine Retention geben und es werden nach und nach an die Stelle der feinen Körner innerhalb der Zellen grosse Tropfen treten. Das ist aber der Hergang, wie wir ihn in der Fettleber wirklich antreffen. [Illustration: =Fig=. 117. Die aneinander stossenden Hälften zweier Leber-Acini. _p_ Ein Ast der Pfortader (von Bindegewebe umgeben), mit Aesten _p_' _p_'', den Venae interlobulares entsprechend. _h_, _h_ Querschnitt der Vena intralobularis s. hepatica. _a_ die Zone des Pigmentes, _b_ die des Amyloids, _c_ die des Fettes. Vergr. 20.] In der Regel bemerkt man, wenn man eine Fettleber studirt, dass das Fett hauptsächlich in derjenigen Zone der Acini abgelagert ist, welche zunächst an die capillare Auflösung der Pfortaderäste anstösst (Fig. 117, _c_, _c_). Wenn man Durchschnitte des Organes mit blossem Auge sorgfältig betrachtet, so bemerkt man an vielen Stellen Zeichnungen, wie wenn man ein Eichenblatt mit seinen Rippen und Buchten vor sich hätte; hier entspricht die Verbreitung der Pfortaderäste den Rippen, die Fettzone der Substanz des Blattes. Je stärker die Infiltration wird, um so breiter wird die Fettzone. Es gibt Fälle, wo das Fett die ganzen Acini bis zur centralen (intralobulären) Leber-Vene (Fig. 117, _h_) hin erfüllt, und wo jede einzelne Zelle mit Fett vollgestopft ist. In seltenen Fällen kommt es freilich vor, dass wir gerade das Umgekehrte finden, dass das Fett nehmlich in den Leberzellen um die Vena centralis liegt; wahrscheinlich sind diese Fälle so zu deuten, dass das Fett schon in der Ausscheidung begriffen ist und nur die letzten Zellen noch etwas davon zurückhalten. Jedoch muss man sich hüten, eine Art von fettiger, nekrobiotischer Atrophie, wie sie namentlich bei chronischer Cyanose (Muskatnussleber) vorkommt, damit zu verwechseln. Betrachten wir nun den Vorgang bei der Bildung der Fettleber im Einzelnen, so zeigt sich, dass die Art, wie die Leberzellen sich füllen, genau derjenigen entspricht, wie sich die Epithelzellen im Darme mit Fett erfüllen. Zuerst finden wir in ihnen zerstreut ganz kleine Fettkörnchen. Diese werden reichlicher, dichter und nach einiger Zeit grösser; zugleich werden die Zellen grösser, schwellen an und zeigen grössere und kleinere Tropfen von Fett (Fig. 29, _B_, _b_). Im höchsten Grade der Anfüllung bieten sie denselben Habitus dar, wie die Zellen des Fettgewebes: man sieht fast gar keine Membran und fast nie einen Kern, doch sind beide immer noch vorhanden. Das ist der Zustand, welchen man Fettleber im eigentlichen Sinne des Wortes nennt. Auch hier haben wir, wie bei dem Fettgewebe, die =Persistenz der Zellen=. Es ist irrig, zu meinen, dass in der gewöhnlichen Fettleber die Zellen zu existiren aufhörten. Immer sind die Elemente des Organes vorhanden, nur statt mit gewöhnlicher Inhaltssubstanz, fast ganz mit Fetttropfen erfüllt. Auch kann es kaum zweifelhaft sein, dass sie in diesem Zustande immer noch eine gewisse Masse functionsfähiger Substanz enthalten. Denn bei manchen Thieren, z. B. den Fischen, von denen man den Leberthran gewinnt, geht die Function des Organs vor sich, wenn auch noch so viel Thran in den Zellen enthalten ist[202]. Auch beim Menschen findet man, selbst in dem höchsten Grade der Fettleber, in der Gallenblase noch Galle. Insofern kann man diese Zustände in Nichts vergleichen mit den nekrobiotischen Zuständen, wie sie im Laufe der fettigen Degeneration (Metamorphose) an so vielen Theilen erscheinen, wo die Elemente zu Grunde gehen. Bei einer fettigen Degeneration im strengeren Sinne des Wortes treffen wir nachher irgendwo mürbe, erweichte Stellen, wo Fett in freien Tropfen vorkommt, gewissermaassen fettige Abscesse. Davon ist hier nichts zu sehen. Es ist daher äusserst wichtig, und ich halte es für die Auffassung dieser Form in hohem Maasse entscheidend, dass in der Fettleber immer eine Persistenz der histologischen Bestandtheile statthat, und dass, wenn ihre Zellen auch noch so sehr mit Fett erfüllt sind, sie doch immer noch als Elemente existiren. Daraus folgt, dass eine Fettleber heilbar ist, ohne dass es dazu besonderer Regenerationsprozesse bedarf. Es gehört dazu nur, dass die Bedingungen der Retention beseitigt und die Leberzellen wieder frei von Fett werden. Freilich wissen wir weder das Eine, noch das Andere mit Sicherheit. Wir kennen die Zustände nicht, welche das Fett festhalten, noch die Bedingungen, unter welchen es wieder ausgetrieben werden kann. Indess, nachdem man einmal so weit in der Erkenntniss des Mechanismus der Fettfüllung ist, so wird es auch wahrscheinlich möglich sein, die weiteren Thatsachen zu finden. Es wäre denkbar, dass einfach die Elasticität der Gewebselemente von Bedeutung wäre, in der Art, dass wenn die Zellmembranen erschlaffen, sie mit Leichtigkeit mehr Inhalt einlassen und in sich dulden, während bei einer grossen Elasticität der Membranen (Tonus) eher ein Entfernen, ein Auspressen des Inhaltes erfolgen könnte. Auch ist gewiss der Zustand der Circulation von Bedeutung: die verhältnissmässige Häufigkeit der Fettleber bei chronischen Lungen- und Herzaffectionen ist gewiss nicht wenig dem vergrösserten Drucke zuzuschreiben, unter dem das Venenblut steht. [202] Archiv VII. 563. Doch das sind für unsere jetzige Betrachtung Nebenfragen; worauf es mir hauptsächlich ankam, das ist, den grossen Unterschied zu zeigen zwischen dieser Art von fettiger Degeneration und derjenigen, welche wir vorher bei den Muskeln erörtert haben. Während wir dort zwischen den eigentlichen, specifischen Organbestandtheilen Fettzellen entstehen sahen, welche dem Bindegewebe angehören, so sind es hier die specifischen Drüsenzellen selbst, welche der Sitz des Fettes sind. Auf der anderen Seite liegt der nicht minder grosse Unterschied von den nekrobiotischen Prozessen der fettigen Degeneration, wobei die Elemente als solche verschwinden, auf der Hand. -- Wenden wir uns nun zu der dritten Reihe von fettigen Zuständen, nehmlich zu der mit Auflösung der Elemente zusammenfallenden nekrobiotischen, so finden wir für sie, wie schon erwähnt, in der Secretion der Milch und des Hauttalges die physiologischen Paradigmen. Dass diese beiden Secrete sich einander analog verhalten, erklärt sich einfach daraus, dass die Milchdrüse eigentlich nichts weiter ist, als eine colossal entwickelte und eigenthümlich gestaltete Anhäufung von Hautdrüsen (Schmeer- oder Talgdrüsen). Der Entwickelung nach stehen sich beide Reihen vollständig gleich. Beide gehen durch eine progressive Wucherung aus den äusseren Epidermisschichten hervor (S. 37. Fig. 19, _A_). Ebendahin gehören auch die Ohrenschmalzdrüsen und die grossen Achseldrüsen. In allen diesen Fällen entsteht das Fett, welches den Hauptbestandtheil der Milch, wenigstens für die äussere Erscheinung, darstellt, sowie dasjenige, welches den Schmeer liefert, zuerst im Innern von Epithelzellen, welche allmählich zu Grunde gehen und das Fett frei werden lassen, während von ihnen selbst kaum etwas erhalten bleibt. [Illustration: =Fig=. 118. Haarbalg mit Talgdrüsen von der äusseren Haut. _c_ das Haar, _b_ die Haarzwiebel, _e_, _e_ die von der Epidermis sich in den Haarbalg einsenkenden Zellenschichten. _g_, _g_ Talgdrüsen im Act der Schmeerabsonderung: das Secret bei _f_ neben dem Haar heraufsteigend und sich ansammelnd. Vergr. 280.] Die =Talgdrüsen= liegen im Allgemeinen seitlich an den Haarbälgen in einiger Tiefe unter der Oberfläche; sie bestehen aus einer gewissen Zahl von kleinen Läppchen, in welche eine Epithellage als Fortsetzung des Rete Malpighii continuirlich hineingeht. Die Zellen dieser Epithellage sind jedoch grösser, als die des Rete, so dass sie eine fast solide Erfüllung der Drüsensäcke bilden. In dem Innern der ältesten (am meisten nach innen gelegenen) Zellen scheidet sich das Fett zuerst in kleinen Körnchen aus, diese werden bald grösser, und nach kurzer Zeit sieht man schon nicht mehr deutlich die einzelnen Zellen, sondern nur Zusammenhäufungen grosser Tropfen, welche aus der Drüse in den Haarbalg hervortreten und endlich das an die Hautoberfläche hervortretende Secret liefern (Fig. 118). Denken wir uns die Drüse in eine Fläche ausgebreitet, so würde sich ihr Zellenlager darstellen, wie Rete Malpighii und Epidermis, nur dass die ältesten, der Epidermis vergleichbaren Zellen nicht verhornen, sondern durch fettige Metamorphose zu Grunde gehen. Die jüngeren, dem Rete entsprechenden Zellen vermehren sich inzwischen durch immer neue Wucherung. Die Secretion ist also eine rein epitheliale, wie die Samen-Secretion (S. 39). [Illustration: =Fig=. 119. Milchdrüse in der Lactation und Milch. _A_ Drüsenläppchen der Milchdrüse mit der hervorquellenden Milch. _B_ Milchkügelchen. _C_ Colostrum, _a_ deutliche Fettkörnchenzelle, _b_ dieselbe mit verschwindendem Kern. Vergr. 280.] Dieser Hergang liefert uns zugleich ein genaues Schema für die =Milchbildung=[203]. Man braucht sich nur die Gänge mehr verlängert, die End-Acini mehr entwickelt zu denken; der Prozess bleibt im Wesentlichen derselbe: die Zellen vermehren sich durch Wucherung, die gewucherten Zellen gehen die fettige Metamorphose ein, zerfallen endlich und zuletzt bleibt fast nichts Körperliches von ihnen übrig, als Fetttropfen. Am meisten stimmt mit der gewöhnlichen Art der Schmeersecretion die früheste Zeit der Lactation überein, welche das sogenannte =Colostrum= liefert. Das Colostrumkörperchen (Fig. 119, _C_) ist die noch zusammenhaltende Kugel[204], welche aus der fettigen Degeneration einer Epithelialzelle hervorgeht. Die Colostrum- und die Schmeerbildung unterscheiden sich nur dadurch, dass die Fettkörner bei der ersteren kleiner bleiben. Während beim Schmeer sehr bald grosse Tropfen auftreten, enthalten beim Colostrum die letzten Zellen, welche noch bemerkt werden, gewöhnlich nur feine Fettkörnchen, ganz dicht gedrängt. Hierdurch bekommt das ganze Element ein etwas bräunliches Aussehen, obwohl das Fett selbst nur wenig gefärbt ist. Das ist das körnige Körperchen (Corps granuleux) von =Donné=, die =Fettkörnchenkugel=. [203] Archiv I. 182. [204] Archiv I. 165 Note. Die Entdeckung der allmählichen Umbildung von Zellen zu Fettkörnchenkugeln haben wir =Benno Reinhardt= zu verdanken. Allein er scheute sich noch, die wichtige Erfahrung von der Colostrumbildung auf die Geschichte der Milch überhaupt auszudehnen, weil in der späteren Zeit der eigentlichen Lactation granulirte Körperchen nicht mehr vorkommen. Es ist aber unzweifelhaft, dass zwischen der früheren Bildung der Colostrumkörper und der späteren Milchbildung kein anderer Unterschied besteht, als der, dass bei der Colostrumbildung der Prozess langsamer erfolgt und die Zellen länger zusammenhalten, während bei der Milchsecretion der Prozess acut ist und die Zellen eher zu Grunde gehen. Recht vollkommenes Colostrum enthält eine überaus grosse Masse von granulirten Körpern, die Milch dagegen nichts weiter, als verhältnissmässig grosse und kleine, durcheinander gemengte Tröpfchen von Fett, die sogenannten =Milchkörperchen= (Fig. 119, _B_). Letztere sind nichts als Fetttropfen, die, wie die meisten Fetttropfen, welche in dem thierischen Körper vorkommen, von einer feinen Eiweisshaut, der von =Ascherson= benannten Haptogenmembran, umschlossen sind. Die einzelnen Tropfen (Milchkörperchen) entsprechen den Tropfen, welche wir bei der Schmeerabsonderung antreffen; sie entstehen aus der Confluenz der feinen Körnchen, welche bei der Colostrumabsonderung durch eine caseinöse Zwischenmasse getrennt erscheinen. Nachdem wir die physiologischen Typen der Fettmetamorphose besprochen haben, so hat die Darstellung der pathologischen Vorgänge keine Schwierigkeit mehr. Mit Ausnahme ganz weniger Gebilde, wie der rothen Blutkörperchen, der Ganglienzellen und Nervenfasern in den Central-Organen[205], können fast alle übrigen zelligen Theile unter gewissen Verhältnissen eine ähnliche Umwandlung erfahren. Diese stellt sich genau in derselben Weise dar: in dem Zelleninhalte erscheinen einzelne feinste Fettkörnchen, werden reichlicher und erfüllen allmählich den Zellenraum, ohne jedoch zu so grossen Tropfen zusammenzufliessen, wie dies bei der Fettinfiltration und der Fettgewebsbildung der Fall ist. Gewöhnlich tritt die Entwickelung von Fettkörnchen zuerst in einiger Entfernung vom Kerne auf; sehr selten beginnt sie vom Kerne aus. Das ist die Zelle, welche man seit längerer Zeit =Körnchenzelle= genannt hat. Dann kommt ein Stadium, wo allerdings noch Kern und Membran zu sehen sind, wo aber die Fettkörnchen so dicht angehäuft sind, wie bei den Colostrumkörperchen; nur an der Stelle, wo der Kern lag, findet sich noch eine kleine Lücke (Fig. 75, _b_). Von diesem Stadium ist nur noch ein kleiner Schritt bis zum vollkommenen Untergange der Zelle. Denn in dem Zustande der Körnchenzelle erhält sich eine Zelle niemals längere Zeit; wenn sie einmal in dieses Stadium eingetreten ist, so verschwinden gewöhnlich alsbald der Kern und die Membran, soweit ersichtlich, durch Auflösung oder Erweichung. Dann haben wir die einfache =Körnchenkugel=, oder wie man früher nach =Gluge= zu sagen pflegte, die =Entzündungskugel= (Fig. 75, _c_). [205] Archiv X. 407. =Gluge= verfiel bei dieser Gelegenheit in einen der Irrthümer, wie sie die Anfangsperiode der Mikrographie mehrfach gebracht hat. Er sah solche Kugeln zuerst bei Untersuchung einer Niere im Innern eines Kanals, den er für ein Blutgefäss hielt. Damals, wo die Lehre von der Stase die Grundlage der Entzündungstheorie bildete, schien es ihm unzweifelhaft, dass er ein Gefäss mit stagnirendem Inhalt vor sich habe, in welchem der Inhalt (das Blut) zerfallen sei und die Entzündungskugeln erzeugt habe. Leider war, wie wir jetzt bestimmt behaupten können, das Gefäss ein Harnkanälchen, das, was er für Theile zerfallender Blutkörperchen ansah, Fett, das, was er Entzündungskugeln nannte, fettig degenerirtes Nierenepithel. Man hätte sich diesen Irrweg leicht ersparen können, allein es gab damals wenige Leute, welche wussten, wie Harnkanälchen aussehen, und wie sie sich von Gefässen unterscheiden, und so hat es etwas lange gedauert, ehe jene Entzündungstheorie überwunden worden ist. Gegenwärtig nennen wir das Ding eine Körnchenkugel und betrachten es als das Product der vollendeten Degeneration, wo die Zelle nicht mehr als Zelle erhalten ist, sondern wo bloss noch die rohe Form übrig ist, nach vollständigem Verlust der die eigentliche Zelle constituirenden Theile, der Membran und des Kernes. Von diesem Zeitpunkte an tritt je nach den äusseren Verhältnissen entweder ein vollständiger Zerfall ein, oder die Theile können sich noch im Zusammenhange erhalten. In weichen Theilen, in denen von Anfang an viel Flüssigkeit (Saft) vorhanden ist, fallen die Körnchen bald aus einander. Der Zusammenhang, in dem sie sich ursprünglich befanden und Kugeln bildeten, welche durch einen Rest des alten Zelleninhaltes zusammenklebten, löst sich allmählich; die Kugel zerfällt in eine bröcklige Masse, welche oft noch an einzelnen Stellen etwas zusammenhält, aus welcher sich aber ein Fetttropfen nach dem andern ablöst. Der pathologische =Detritus= zeigt daher eine grosse Uebereinstimmung mit der Milch. Sehr schön sieht man diese Vorgänge am =Lungenepithel=[206] in den späteren Stadien catarrhalischer Pneumonie, wo zuweilen die Fettmetamorphose so reichlich ist, dass man die Lungen von weisslichen Punkten oder Figuren, einer Art von fettigem Reticulum, durchsetzt findet. Diese Stellen bieten eine besonders günstige Gelegenheit dar, den Unterschied der Fettkörnchenzellen (Fig. 75) von anderen Formen der Körnchenzellen kennen zu lernen. Gerade unter den Zellen, welche die Alveolen solcher Lungen erfüllen, findet man sehr oft Pigmentzellen; auch werden letztere bei solchen Leuten durch den Auswurf zuweilen in so grosser Menge zu Tage gefördert, dass derselbe dadurch die bekannten rauchgrauen Flecke bekommt (Fig. 8, _b_). Auf den ersten Blick ist es ziemlich schwierig, einen Unterschied zwischen Fettkörnchen- und Pigment-Zellen zu machen. In beiden Fällen liegt scheinbar dasselbe Bild vor. Man sieht runde, mit kleinen dunklen Körnchen gefüllte und auch im Ganzen dunkel (schwärzlich) erscheinende Kugeln. Denn auch bei feinkörniger Fettmetamorphose erscheinen die veränderten Zellen im durchfallenden Lichte als gelbbraune oder schwärzliche Körperchen, aber ihre einzelnen Theilchen besitzen keine positive Farbe und das farbige Aussehen ist nur ein Interferenzphänomen. Die Pigmentkörnchenzellen dagegen enthalten unzweifelhaften braunen, grauen oder schwarzen Farbstoff, der an den einzelnen Körnern haftet. [206] Beiträge zur experim. Pathologie. 1846. Heft II. 83. Gesammelte Abhandl. 280. Archiv I. 145, 461. Die Unterscheidung der gewöhnlichen Körnchenzellen, womit man nach dem angenommenen Sprachgebrauche die Fettkörnchenzellen meint, ist aber sehr wesentlich, da wir auch an anderen Punkten, z. B. am =Gehirn=, beide Arten von Körnchenzellen, Fett haltende und Pigment haltende, nebeneinander finden, und, wenn es sich um die Veränderung kleinerer Stellen handelt, es für die Deutung des Fundes entscheidend ist, zu wissen, ob es sich um Fett oder um Pigment handelt. Auch am Gehirn kann die Anhäufung vieler kleiner Fetttheilchen durch die Vervielfältigung der lichtbrechenden Punkte für das blosse Auge eine intensiv gelbe Farbe bedingen, und so eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Aussehen apoplektischer Stellen erzeugen, bei denen die Farbe von verändertem Blutpigment abhängt (S. 177). Der verschiedene Gehalt an Fett und der Grad der Zertheilung desselben erzeugt eine überaus grosse Reihe von Farben-Verschiedenheiten, welche sich auch für die gröbere Anschauung sehr deutlich zu erkennen geben. Je feiner und dichter gelagert die fettigen Theile sind, um so mehr entsteht auch für das blosse Auge ein rein gelbes oder bräunlich-gelbes Aussehen. Was wir gelbe Hirnerweichung nennen, ist nichts weiter, als eine Form der Fettmetamorphose, wo das gelbe Aussehen der Heerde durch die Anhäufung feinkörnigen Fettes bedingt ist[207]. Sobald dieses entfernt wird, so verschwindet auch die Farbe, obgleich das extrahirte Fett gar nicht so gefärbt ist, wie die Stelle, von welcher es herstammt. Die Lichtbrechung zwischen den kleinsten Partikeln ist die Hauptbedingung für dieses Farbenphänomen. [207] Archiv I. 147, 323, 355, 358, 454. X. 407. Besonders ausgezeichnet ist diese Färbung an dem =Corpus luteum= des Eierstocks[208]. Ich führe letzteres hauptsächlich deshalb an, weil man daran ersehen kann, wie grobe Resultate die Fettmetamorphose für die grobe Anschauung darbieten kann. Macht man einen Schnitt in das Ovarium senkrecht von der Oberfläche hinein an der Stelle, wo eine kleine Prominenz und eine kleine Lücke der Albuginea den Ort bezeichnen, wo der Follikel geborsten und das Ovulum ausgetreten ist (Fig. 120, _B_), so sieht man, wenn das Corpus luteum frisch ist, um einen rothen Klumpen die sehr breite, gelbweisse Schicht (Fig. 120, _A_, _a_), von welcher der Körper seinen Namen hat. Bei einem puerperalen Corpus luteum hat diese Schicht eine sehr grosse Dicke und eine mehr gelbröthliche Farbe; bei dem menstrualen ist sie schmäler und nach innen sehr scharf abgesetzt gegen den frisch extravasirten Inhalt, welcher das durch den Austritt des Eichens entleerte Bläschen gefüllt hat. Diese innere rothe Masse ist ganz und gar Thrombus, Blutgerinnsel. Die äussere Schicht dagegen besteht wesentlich aus fettig degenerirten Zellen, und die gelbe Farbe, welche sie besitzt, ist bedingt durch die Brechung des Lichtes, welche die vielen kleinen Partikelchen des Fettes hervorbringen. Auch dies ist kein eigentliches Pigment, sondern eine Interferenzfarbe. [208] Archiv I. 411, 446. [Illustration: =Fig=. 120. Bildung des Corpus luteum im menschlichen Eierstock. _A_ Durchschnitt des Eierstockes: _a_ frisch geplatzter und mit geronnenem Blut (Extravasat, Thrombus) gefüllter Follikel, an dessen Umfange die dünne gelbe Schicht liegt; _b_ ein schon gefalteter, mit verkleinertem Thrombus und verdickter Wand versehener, früher geborstener Follikel; _c_, _d_ noch weiter vorgerückte Rückbildung. _B_ Aeussere Oberfläche des Eierstockes mit der frischen Rupturstelle des Follikels, aus dessen Höhle der Thrombus hervorsieht. Natürliche Grösse.] Es versteht sich von selbst, dass an jedem Punkte, wo die fettige Degeneration einen hohen Grad erreicht, zugleich eine grosse Opacität sich einstellt. Durchsichtige Theile werden ganz undurchsichtig, wenn sie fettig entarten; das sieht man am besten an der =Hornhaut=, deren fettige Trübung im Arcus senilis (Gerontoxon) so stark werden kann, dass eine ganz undurchsichtige Zone entsteht[209]. Selbst an solchen Organen, wo die Theile von vornherein nicht durchsichtig, sondern nur durchscheinend waren, tritt in dem Maasse, als der Prozess der fettigen Degeneration vorrückt, eine vollkommene Trübung ein. [209] Archiv IV. 288. Betrachtet man eine =Niere= im Stadium der fettigen Degeneration, z. B. im Beginne der Atrophie, welche im Laufe eines der unter dem Namen des Morbus Brightii zusammengefassten Prozesse eintritt, so findet man die gewundenen Harnkanälchen der Rinde sehr vergrössert und ihr Epithel insgesammt fettig degenerirt, so dass man innerhalb der Kanälchen oft gar nichts weiter erkennt, als eine dicht gedrängte Masse von Fettkörnern. Wenn man jedoch sehr vorsichtig mikroskopische Schnitte anfertigt, so sieht man im Anfange die Fettkörnchen noch in einzelnen Gruppen (als Körnchenzellen oder Körnchenkugeln, Fig. 107); unter geringem Drucke zerstreut sich aber die Masse so, dass das ganze Harnkanälchcn mit einem fein emulsiven Inhalte gleichmässig erfüllt wird. Schon vom blossen Auge vermag man ganz bestimmt die Veränderung zu erkennen; wenn man einmal gewöhnt ist, solche feineren Zustände genauer zu sondern, so hat es gar keine Schwierigkeit, einer Niere anzusehen, ob eine Veränderung ihres Epithels und zwar in dieser bestimmten Art vorhanden ist. Denn es giebt gar keine Form der Veränderung, welche damit verglichen werden könnte. Betrachtet man die Oberfläche der Niere, so wird man wahrnehmen, dass in dem mehr grau durchscheinenden Grundgewebe, aus welchem die Stellulae Verheyeni (die corticalen Venen) hervortreten, kleine trübe gelbliche Flecke in der verschiedensten Weise zerstreut sind, meist nicht als eigentliche Punkte, sondern mehr als kurze Bogenabschnitte. Das sind immer Theile von Harnkanälchenwindungen, welche an die Oberfläche treten. Diese gelblichen, opak erscheinenden Windungen entsprechen fettig degenerirten Harnkanälchen, oder genauer gesagt, mit fettig degenerirtem Epithel erfüllten Harnkanälchen. Vergleicht man den Durchschnitt mit der Oberfläche, so sieht man auch an ihm sehr bestimmt, wie durch die ganze Rinde dieselbe Zeichnung in der Richtung von der Peripherie bis zur Marksubstanz fortgeht und in ziemlich regelmässigen Abständen von einander die einzelnen Kegel der Rindensubstanz umsäumt. Unter dem Mikroskope unterscheidet man in Schnitten, aus der Nähe der Oberfläche und parallel mit derselben genommen, sehr leicht die fettig degenerirten Kanäle von den mehr normalen Kanälen und von den oft unversehrten Glomerulis. Bei schwächerer Vergrösserung und bei durchfallendem Lichte erscheinen die Malpighischen Knäuel (Glomeruli) als grosse, helle, kuglige Gebilde, während die degenerirten gewundenen Harnkanälchen, welche sich mannichfaltig verschlingen, sich durch ihr trübes, schattiges Aussehen sowohl vor ihnen, als vor den gestreckten, mehr hellen und durchscheinenden Kanälchen auszeichnen. Zugleich ist an einem solchen Objecte sehr schön zu sehen, was übrigens an allen fettig degenerirten Theilen vorkommt, dass an allen Stellen, wo wir bei auffallendem Lichte und bei der gewöhnlichen Betrachtung mit blossem Auge weissliche, gelbliche, oder bräunliche Theile sehen, bei durchfallendem Lichte, wie wir es meistens bei den Mikroskopen und besonders bei stärkerer Vergrösserung anwenden, entweder schwarze oder schwarz-bräunliche, oder wenigstens sehr dunkle, von scharfen Schatten umgebene Theile erscheinen. Eine Körnchenkugel, die, wenn sie mit mehreren anderen zusammenliegt, für das blosse Auge eine weisse Trübung bedingt, wird bei durchfallendem Lichte ein fast schwarzes oder doch bräunliches Aussehen darbieten. -- Das ist der gewöhnliche Modus, in welchem der Zerfall fast aller der Theile stattfindet, welche wesentlich aus Zellen bestehen und welche von Natur viel Flüssigkeit enthalten, z. B. unter den bekannten pathologischen Producten der Eiter (S. 221, Fig. 75). Es entstehen zuerst Körnchenkugeln, sodann durch deren Erweichung ein milchiger Detritus, der resorptionsfähig ist. Sind die Theile mehr trocken und starr, so dass eine Resorption der Fettmasse weniger leicht vor sich gehen kann, so bleibt das Fett zuweilen lange in der Form des früheren Elementes liegen. So verhält es sich bei der Fettmetamorphose der =Muskeln=. Betrachtet man ein von derselben betroffenes Herz, so bemerkt man schon vom blossen Auge gewisse Veränderungen, nehmlich eine Erschlaffung und Verfärbung der Substanz. Letztere verliert die rothe Fleischfarbe und wird mehr und mehr blassgelb. Diese Verfärbung erstreckt sich manchmal über das gesammte Myocardium. Andermal ist sie jedoch mehr partiell. Sie betrifft z. B. überwiegend den linken Ventrikel und hier vielleicht besonders die inneren Lagen. Oder sie findet sich, wie bei maligner Pericarditis[210], in diffuser Verbreitung in den peripherischen Muskelschichten. Sehr häufig erkennt man, namentlich an den Papillarmuskeln, kurze, gelbliche, fast geflechtartig aneinander stossende, die Richtung der Muskelbündel kreuzende Flecke oder Striche, die gegen die röthliche Farbe des eigentlichen Muskelfleisches stark abstechen. [210] Archiv XIII. 266. Untersucht man die verfärbten Theile mikroskopisch, so zeigen sich im Innern der Primitivbündel zuerst ganz vereinzelt feine, schwärzlich aussehende Punkte; diese vermehren und vergrössern sich. Bei einer gewissen Menge sieht man sie sehr deutlich in Reihen geordnet (Fig. 121), jede Reihe perlschnurförmig. Diese Reihen entstehen dadurch, dass die Fettkörnchen sich zwischen die Primitivfibrillen einlagern, welche noch lange neben ihnen fortexistiren. Erst in den höheren Graden der Veränderung verschwinden die Primitivfibrillen durch Erweichung. [Illustration: =Fig=. 121. Fettmetamorphose des Herzfleisches in ihren verschiedenen Stadien. Vergr. 300.] Das ist die eigentliche Fettmetamorphose der Muskelsubstanz des Herzens, die sich ganz wesentlich von der Obesität (Polysarcie) des Herzens unterscheidet, wo dasselbe mit epicardialem und interstitiellem Fettgewebe überladen wird und letzteres an einzelnen Stellen die Wand so durchsetzt, dass man kaum noch Muskelmasse wahrnimmt. Zwischen beiden Zuständen besteht der erhebliche Unterschied, dass bei der Fettmetamorphose die Züge von wirksamer Substanz (Muskelfasern) durch Stellen unterbrochen werden, welche für die Action nicht mehr brauchbar sind, während bei der Obesität die träge Masse des Fettes sich zwischen die wirksamen Bestandtheile einschiebt und sie, wenigstens zunächst, nur mechanisch hindert. Bei längerer Dauer dieses Zustandes kommt es freilich nicht selten vor, dass sich zugleich Fettmetamorphose des Herzfleisches entwickelt, dass also beide Zustände, der parenchymatöse und der interstitielle, sich mit einander combiniren. Diese höheren Grade sind es besonders, welche man, ohne auf das Einzelne Rücksicht zu nehmen, in früherer Zeit unter dem Namen der =fettigen Degeneration= zusammenfasste. Aehnlich gestaltet sich das Verhältniss bei Verkrümmungen. Ich wähle ein bestimmtes Beispiel: die Muskelverhältnisse eines Mannes mit Kypho-Skoliose. Hier fand sich der Longissimus dorsi an der Stelle, wo er über die Biegung hinweglief, in eine platte, dünne, blassgelbliche Masse umgewandelt. An einer Stelle war er bis auf eine membranöse Lage geschwunden und das rothe Aussehen fehlte ganz und gar; nach unten hin dagegen war der Muskel vielmehr aus abwechselnden rothen und gelben Längsstreifen zusammengesetzt. Letzteres Aussehen zeigen die meisten fettig degenerirten Muskeln, welche sich bei Verkrümmungen der Glieder, z. B. bei Klumpbildungen an den unteren Extremitäten, finden. Hier ergibt sich in der Regel, dass, entsprechend den gelben Streifen, nicht so sehr eine wirkliche Umänderung der Muskelsubstanz besteht, sondern dass vielmehr eine interstitielle Entwickelung von Fettgewebe eintritt. Dieses liegt in Reihen zwischen den Primitivbündeln; dadurch wird eine für das blosse Auge gelbliche Färbung erzeugt, welche der rothen Streifung des eigentlichen Muskelfleisches sehr ähnlich ist. Es verhält sich dabei genau so, wie in dem früheren Falle (S. 407, Fig. 115), wo wir zwischen je zwei Primitivbündeln eine Reihe von Fettzellen trafen; das Gelbe, was man dort sehen konnte, war nicht veränderte Muskelsubstanz, sondern das Fett, welches zwischen der Muskelsubstanz gewachsen war. Bei unserem Skoliotischen besteht aber neben der interstitiellen Fettgewebsbildung eine parenchymatöse Degeneration der eigentlichen Substanz: auch das Muskelfleisch selbst ist fettig entartet. Diese Combination ist jedoch nur an den unteren Theilen des Muskels zu sehen, während der Abschnitt, welcher unmittelbar an der stärksten Ausbiegung des Brustkorbes lag und die grösste Spannung erduldet hatte, vom blossen Auge gar kein Muskelfleisch mehr erkennen lässt. Mikroskopisch findet man hier dicht neben einzelnen Muskelfasern, welche noch deutlich quergestreift sind, zahlreiche andere, welche stark mit Fett durchsetzt sind. Die partielle Fettmetamorphose des Muskelfleisches erscheint also unter zwei Formen, der =fleckigen= und der =streifigen=: in der ersten Form wird der Muskel in seinem Verlaufe durch degenerirte Stellen unterbrochen, so dass dasselbe Bündel theils degenerirt, theils sich in seiner Integrität erhält; in der anderen Form dagegen folgt die Veränderung den Bündeln, welche in ihrer ganzen Ausdehnung die Veränderung eingehen. Hier können demnach normale und degenerirte Bündel neben einander liegen, miteinander abwechseln. Dieser partiellen Fettmetamorphose steht die allgemeine gegenüber, welche sich gerade am Herzen nicht selten vorfindet, und welche einen der schwersten Krankheitszustände begründet. Gerade hier ist unsere Kenntniss im Laufe der letzten Jahre sehr vorgerückt, indem nicht nur die acuten Fettmetamorphosen nach manchen Vergiftungen, z. B. Phosphor, sondern auch die sehr ähnlichen Formen nach Infectionskrankheiten, namentlich Typhus, Puerperalfieber, Ichorrhaemie zu den häufigeren Vorkommnissen gehören. Die peripherischen Muskeln nehmen bald mehr, bald weniger an diesen Veränderungen Theil, jedoch ist ihre Betheiligung selten eine so starke, wie die des Herzfleisches. -- [Illustration: =Fig=. 122. Fettige Degeneration an Hirnarterien. _A_ Fettmetamorphose der Muskelzellen in der Ringfaserhaut. _B_ Bildung von Fettkörnchenzellen in den Bindegewebskörperchen der Intima. Vergröss. 300.] Auch an der Wand der =Arterien= kommt Fettmetamorphose vor. Zuweilen geschieht sie an den Faserzellen der Muskelhaut (Fig. 122, _A_); in diesem Falle hat sie eine grosse Bedeutung für die Bildung von Erweiterungen und Zerreissungen der Gefässe. Noch häufiger ist sie an der Intima (Fig. 122, _B_). An der Aorta, der Carotis, den Hirnarterien sieht man oft mit blossem Auge ganz oberflächliche Veränderungen der inneren Haut in der Art, dass kleine weissliche oder gelbliche Flecke von rundlicher oder eckiger Gestalt, manchmal mehr zusammenhängend, über die Fläche etwas hervortreten. Schneidet man an solchen Stellen ein, so findet man, dass die Veränderung in der innersten (oberflächlichsten) Schicht der Intima liegt. Sie darf mit dem eigentlichen atheromatösen Zustande nicht verwechselt werden. Nimmt man eine solche Stelle unter das Mikroskop, so ergibt sich, dass eine Fettmetamorphose der Bindegewebs-Elemente der Intima stattgefunden hat. Da diese Bindegewebs-Elemente sternförmige, ästige Zellen sind, so zeigt sich begreiflicherweise nicht die gewöhnliche Form der Körnchenzellen, sondern man sieht feine, oft sehr lange, an einzelnen Stellen spindel- oder sternförmig anschwellende Körper, welche ganz mit Fettkörnchen erfüllt sind, während dazwischen noch intacte Intercellularsubstanz sich befindet. Die zelligen Elemente des Bindegewebes gehen hier in ihrer Totalität die Veränderung ein. Selbst die feinsten Ausläufer der Zellen zeigen noch perlschnurförmig angeordnete Fettkörnchen. Später erweicht die Zwischenmasse, die zelligen Theile fallen auseinander, der Blutstrom reisst die Fettpartikelchen mit sich. So entstehen an der Oberfläche des Gefässes unebene Stellen, welche so lange, als der Prozess fortschreitet, anschwellen, später usurirt werden und leicht sammetartig aussehen, ohne dass es ein Geschwür im eigentlichen Sinne des Wortes gibt. Es ist dies eine besondere Form der =fettigen Usur=[211]. Sie kommt auch an vielen anderen Theilen vor, so an den Gelenkknorpeln, selbst an der Oberfläche von Schleimhäuten, z. B. des Magens (=Fox=). [211] Gesammelte Abhandlungen 494, 503. Diese oberflächliche, zur einfachen Usur führende Veränderung unterscheidet sich wesentlich von der sogenannten atheromatösen Degeneration. Denn bei dieser tritt ein ähnlicher Vorgang der Fettmetamorphose in der Tiefe ein: die tiefsten Lagen der Intima gerathen zuerst in die Fettmetamorphose, und erst zuletzt wird die Oberfläche erreicht. Mit eintretender Erweichung der Grundsubstanz entsteht der =atheromatöse Heerd=, der eine breiige Masse enthält, ähnlich dem Atherom der äusseren Haut, wo die Vermischung von Schmeer mit Epidermis einen Brei abgibt. Was wir an dem Atherom der Arterie finden, ist die Mischung des fettigen Detritus der Zellen mit erweichter Gewebssubstanz, und da diese Masse abgeschlossen unter der Oberfläche liegt, so gibt es eine Art von Heerd, gleichsam einen Abscess. Erst bei vorgeschrittener Erweichung reisst die Oberfläche ein, es treten Theile aus der Höhle in das Gefäss, und hinwieder Theile aus dem Blute gehen aus dem Lumen des Gefässes in die Atheromhöhle hinein. Auf diese Weise entstehen =Zerstörungen=, =Destructionen=, in letzter Instanz das =atheromatöse Geschwür=: ein Geschwür, welches den gewöhnlichen Arten von Ulceration sehr nahe steht, aber eben nur der fettigen Metamorphose seine Entstehung verdankt. Es ist ein Product des Heerdes, allein es enthält nichts mehr von geformten Elementartheilen, höchstens etwas krystallinisches Cholestearin (Fig. 129). Wir haben es dann recht eigentlich mit einem zerstörenden und ulcerirenden Vorgang zu thun. Nur in solchen Theilen, wo, wie in der Milchdrüse, in den Schmeerdrüsen, neue Elemente nachwachsen, kann der Prozess der Fettmetamorphose längere Zeit bestehen, ohne zu einem vernichtenden Gesammtresultate zu führen. Die einzelnen Zellen gehen aber auch da unter, sie lösen sich in derselben Weise zu einem Detritus, wie bei der pathologischen Fettmetamorphose. Diese stellt daher unter allen Verhältnissen, sowohl physiologisch, wie pathologisch, eine Nekrobiose dar. Wenn die Milch- und Schmeersekretion, die ihrem Wesen nach nekrobiotische Absonderungen sind, trotz dieses Charakters Monate lang, ja die letztere das ganze Leben lang fortbestehen können, so ist dies eben nur möglich, weil sie an Drüsen mit stetigem Nachwuchse neuer Elemente sich vollstrecken. Hört an der Milchdrüse, wie es nicht selten geschieht, die Bildung neuer Zellen in den Terminalbläschen auf, so atrophirt die Drüse und sie wird dauernd unbrauchbar für die Secretion. Achtzehntes Capitel. Amyloide Degeneration. Verkalkung. Die amyloide (speckige oder wächserne) Degeneration. Regionäres Auftreten derselben. Verschiedene Natur der Amyloidsubstanzen: Glykogen (Leber), Corpora amylacea (Hirn, Lungen, Prostata) und eigentliche Amyloid-Entartung. Verlauf der letzteren. Beginn der Erkrankung an den feinen Arterien. Wachsleber. Knorpel. Dyscrasischer (constitutioneller) Charakter der Krankheit: functionelle Störungen. Darm. Niere: die drei Formen der Bright'schen Krankheit (amyloide Degeneration, parenchymatöse und interstitielle Nephritis). Lymphdrüsen: consecutive Anämie. Gang der Erkrankung. Beziehung zu Knochenkrankheiten und Syphilis. Amyloide Erkrankung der Schilddrüse und der Nebennieren. Verkalkung (Versteinerung, Petrification). Unterschied von Verknöcherung. Verkalkung der Arterien, des Bindegewebes, der Knorpel. Haut- oder Knochenknorpel (osteoides Bindegewebe). Concentrisch geschichtete Kalkkörper (Concretionen). Versteinerung: Lithopädion. Verkalkung todter Theile: Eingeweidewürmer, Ganglienzellen des Gehirns bei Commotion, käsige und thrombotische Massen. Unter den passiven Prozessen, welche zur Degeneration und damit zur Verminderung oder Vernichtung der Functionsfähigkeit führen, stehen, wie wir oben hervorhoben, die nekrobiotischen, mehr oder weniger erweichenden, bei welchen ein Theil der Gewebselemente ganz verschwindet und aufgelöst wird, denjenigen gegenüber, bei welchen bald für das blosse Auge und das Tastgefühl, bald bloss für das bewaffnete Auge eine Verdichtung, eine Vermehrung der festen Substanz des leidenden Organs stattfindet. Ich meine damit jedoch nicht jene eigentliche Induration, welche vielmehr auf einer Vermehrung der constituirenden Bestandtheile des Gewebes beruht, sondern eine wirklich degenerative Veränderung, bei welcher die zunehmende Dichtigkeit durch ungehörige, der Zusammensetzung des Gewebes fremdartige Bestandtheile erfolgt. Unsere Kenntniss in dieser Richtung ist in neuerer Zeit sehr wesentlich gefördert worden, insofern ein Prozess, dessen Natur früher theils ganz unklar, theils nur wenig untersucht war, mehr und mehr unseren Untersuchungen zugänglich geworden ist, so dass er schon jetzt ein wichtiges Gebiet der Pathologie der kachektischen Zustände ausmacht. Es ist dies der von Einigen als =speckig=, von Anderen als =wächsern= bezeichnete Zustand, dem ich den Namen des =amyloiden= beigelegt habe. Der Name der speckigen Veränderung ist hauptsächlich durch die Wiener Schule wieder mehr in Gebrauch gekommen. Denn er ist nicht erst in neuerer Zeit erfunden worden; im Gegentheil, er ist als Bezeichnung für ein festes, derbes, gleichmässiges Aussehen der Theile in der Medicin ziemlich alt. Wir finden ihn seit Jahrhunderten, und Speckgeschwülste (Steatome, Tumores lardacei) haben noch in der Neuzeit ihre Rolle gespielt[212]. Allein der Ausdruck der speckigen Veränderung, wie er jetzt gebraucht wird, hat weder mit dem Alterthum, noch mit der Geschwulstlehre, noch überhaupt mit Neubildung von Gewebsbestandtheilen etwas zu thun; er bezieht sich vielmehr auf gewisse Veränderungen oder Degenerationen von Organen, welche die Alten, die, wie ich glaube, bessere Speckkenner waren, als die jetzigen Wiener, schwerlich mit einem solchen Namen belegt haben würden. Das Aussehen solcher Organe nehmlich, welche nach Wiener Anschauungen speckig aussehen sollen, gleicht nach nördlichen Begriffen vielmehr dem Wachs. Daher habe ich schon seit langer Zeit, wie die Edinburger Schule, den Ausdruck der wächsernen Veränderung dafür gebraucht. Sieht man eine Leber oder eine Lymphdrüse in recht ausgeprägten Zuständen dieser Art an, so ist das, was am meisten für das blosse Auge auffällt, das blasse, durchscheinende, aber zugleich matte Aussehen, welches die Schnittflächen darbieten: die natürliche Farbe der Theile ist mehr oder weniger verloren, so dass ein Anfangs mehr graues, später vollkommen farbloses Material die Theile zu erfüllen scheint. Die durchscheinende Beschaffenheit, welche das Gewebe hat, lässt indess das Roth der Gefässe und die natürliche Färbung der Nachbartheile durchschimmern, so dass die veränderten Stellen in einzelnen Organen mehr gelblich, röthlich oder bräunlich aussehen. Die sogenannte Speckmilz sieht geradezu schinkenartig aus. Es ist dies aber nicht eine der abgelagerten Substanz zukommende, sondern nur eine durch sie hindurchschimmernde Farbe. Zugleich pflegen sich die betroffenen Organe zu vergrössern und sowohl absolut, als specifisch schwerer zu werden. Auf Durchschnitten sehen manche von ihnen so matt aus und zugleich sind sie so dicht, dass ihr Aussehen an dasjenige von gekochten oder geräucherten Theilen erinnert. [212] Geschwülste I. 13, 325, 365. Die ersten Anhaltspunkte für die genauere Deutung der Substanz, welche man früher bald für eine eigenthümliche Fettmasse, bald für Eiweiss oder Fibrin, bald endlich für Colloid nahm, wurden durch die Anwendung des Jods auf die thierischen Gewebe gewonnen. Noch in demselben Jahre (1853), in dem ich die eigenthümliche Jodreaction an den Corpora amylacea der Nervenapparate, welche ich früher schilderte (S. 325), entdeckt hatte, stiess ich auf ein anderes Organ, nehmlich die Milz und zwar auf einen Zustand derselben, in welchem ihre Follikel (Malpighischen Körper) in ihrer Totalität in eine blasse, durchscheinende, wachsartige Masse umgewandelt waren. Ich nannte diesen Zustand wegen des eigenthümlichen, an gekochten Sago erinnernden Aussehens der entarteten Follikel =Sagomilz=. Auch hier fand sich eine Substanz, welche sowohl durch Jod für sich, als durch Jod und Schwefelsäure eine pflanzlichen Stärke- und Cellulose-Bildungen ähnliche Reaction ergab. Und hier war dieses Vorkommen noch viel mehr interessant, da es sich um eine unzweifelhaft krankhafte Erscheinung handelte, von der ich schon durch frühere Erfahrungen wusste, dass sie mit Zuständen der Kachexie, mit Erkrankungen der Leber und Nieren verbunden war[213]. [213] Archiv VI. 268. Gaz. hebdom. de méd. et de chirurg. 1853. p. 161. (Sitzung der Acad. des sc. vom 5. Dec. 1853). Bald nachher hat =Heinr=. =Meckel= Untersuchungen über die »Speckkrankheit« veröffentlicht, welche das Vorkommen dieser Substanz namentlich in der Niere, der Leber und dem Darme schilderten. Ja, es stellte sich bald heraus, dass ein solcher Stoff bei der Erkrankung der verschiedensten thierischen Theile, in den Lymphdrüsen, in der ganzen Ausdehnung des Digestionstractus, an den Schleimhäuten der Harnorgane, endlich sogar in der Substanz der Muskelapparate, im Herzen, im Uterus, in der Schilddrüse und Nebenniere, sowie im Inneren von Knorpeln vorkommen kann[214]. Merkwürdigerweise begrenzt sich jedoch das Gebiet der amyloiden Veränderung ganz überwiegend auf ein gewisses Feld, nehmlich auf die Organe des Unterleibes. Am Gehirne und den sonstigen Organen des Kopfes ist sie nie beobachtet worden; am Halse sind es nur die Schilddrüse und der Oesophagus, welche daran leiden; in der Brust sind in ganz seltenen Fällen das Herz, etwas häufiger die Speiseröhre, niemals die Lungen betheiligt. Die Krankheit hat daher einen so auffallend =regionären= Charakter, dass wir kaum irgend eine Analogie dafür in der Pathologie anführen können. [214] Archiv VI. 416. VIII. 140, 364. XI. 188. XIV. 187. Würzb. Verhandl. VII. 222. Betrachtet man die Substanzen im Thierkörper, welche Jodreaction geben, genauer, so ergiebt sich, dass mehrere ähnliche, aber nicht identische Körper unterschieden werden müssen. Zuerst nehmlich der von =Bernard= in der Leber und anderen, namentlich embryonalen Geweben aufgefundene Stoff, welcher so leicht in Zucker übergeht und welcher den Namen =Glykogen= oder =Zoamylon= erhalten hat. Dieser gibt mit Jodlösungen eine eigenthümliche weinrothe Färbung, die durch Schwefelsäure dunkelt, aber nicht in Blau übergeht. Beim Erwachsenen finde ich eine solche Substanz nur selten, z. B. in dem Epithel des Urogenital-Apparates und in den Knorpelzellen. Ganz verschieden davon ist die Substanz, welche mehr der eigentlichen Stärke (Amylon) der Pflanzen analog ist und auch in der Form ihrer Abscheidungen mit den pflanzlichen Stärkekörnern eine überraschende Aehnlichkeit darbietet, denn ganz regelmässig erscheint sie in mehr oder weniger rundlichen oder ovalen, concentrisch geschichteten Bildungen. In diese Reihe gehören vor Allen die =Corpora amylacea= des Nervenapparates (Fig. 103, _c a_). Diese bleiben immer mikroskopische Gebilde. In anderen Organen kommen jedoch geschichtete Amylacea von sehr beträchtlicher Grösse vor; ihr Durchmesser kann so erheblich werden, dass man sie vom blossen Auge leicht erkennt. Dahin gehört namentlich ein Theil der geschichteten Körper, wie sie fast bei jedem erwachsenen Manne in der Prostata sich finden, wo sie unter Umständen so sehr anwachsen, dass sie die sogenannten Prostata-Concretionen bilden. Ebenso sind hierher zu zählen die seltenen, ähnlich gebildeten Körper, welche zuerst =Friedreich= in manchen Zuständen der Lunge nachgewiesen hat. [Illustration: =Fig=. 123. Geschichtete Prostata-Amylacea (Concretionen): _a_ längliches, blasses, homogenes Körperchen mit einem kernartigen Körper. _b_ Grösseres, geschichtetes Körperchen mit blassem Centrum. _c_ Noch grösseres, mehrfach geschichtetes Gebilde mit gefärbtem Centrum. _d_, _e_ Körper mit zwei und drei Centren. _d_ stärker gefärbt. _f_ Grosse Concretion mit schwarzbraunem, grossem Centrum. Vergr. 300.] In der Prostata wechseln diese Körper von ganz kleinen, einfachen, gleichmässig aussehenden Gebilden bis zu hanfkorngrossen Klumpen, an denen wir stets eine successive Reihe sehr zahlreicher Schichtungen sehen. Wie die kleinen amylacischen Körperchen des Nervenapparates häufig zu zweien zusammengesetzt sind, Zwillingsbildungen darstellen, so kommt es auch in der Prostata sehr häufig vor, dass um getrennte Centren eine gemeinschaftliche Umhüllung stattfindet (Fig. 123, _d_, _e_). Ja, in einzelnen Fällen geht das so weit, dass ganze Haufen von kleineren Körpern von grossen, gemeinschaftlichen Lagen umhüllt und zusammengehalten werden. Diese ganz grossen, freilich selteneren Formen können einen Durchmesser von ein Paar Linien erreichen, so dass man sie leicht aus dem Gewebe isoliren und selbst grober Untersuchung unterwerfen kann. Es scheint kaum zweifelhaft, dass in diesen Fällen eine Substanz abgeschieden wird, welche sich nach und nach aussen um präexistirende Körper ansetzt, dass es sich hier also nicht um die Degeneration eines bestimmten Gewebes handelt, sondern um eine Art von Ausscheidung und Sedimentbildung, wie wir sie bei anderen Concretionen aus Flüssigkeiten erfolgen sehen. Man kann mit Wahrscheinlichkeit schliessen, dass die Prostata, indem ihre Elemente sich auflösen, eine Flüssigkeit liefert, welche nach und nach Niederschläge bildet und dadurch diese besonderen Formen hervorbringt. Diese Gebilde haben nun das Eigenthümliche, dass sie schon unter der einfachen Wirkung von Jod (ohne Zusatz von Schwefelsäure) sehr häufig eine eben solche blaue Farbe annehmen, wie die Pflanzenstärke. Je nachdem die Substanz reiner oder unreiner ist, ändert sich die Farbe, so dass sie z. B., wenn viel eiweissartige Masse beigemengt ist, statt blau grün erscheint, indem die albuminöse Substanz durch Jod gelb, die amylacische blau wird; was den Totaleffect des Grünen gibt. Je mehr albuminöse Substanz, um so mehr wird die Farbe braun, und nicht selten hat man in der Prostata Concretionen, welche nach der Jodeinwirkung die verschiedensten Farben darbieten. Insofern unterscheiden sich diese Körper von jenen kleinen Amylonkörperchen des Nervenapparates, welche sämmtlich eine bläuliche oder blaugraue Färbung durch Jod annehmen. Auch ist zu bemerken, dass viele im Baue ganz analoge Körper der Prostata durch Jod nur gelb oder braun werden, sich also chemisch anders verhalten. Daraus folgt, dass man sich bei der Anwendung von Reagentien leicht täuschen kann, dass jedoch ohne die Anwendung derselben eine Entscheidung überhaupt nicht möglich ist. Ich selbst habe früher (1851) alle morphologisch der Pflanzenstärke analogen Gebilde im menschlichen Körper unter dem Namen der Corpora amylacea zusammengestellt[215]; erst seitdem ich die Jodreaction gefunden habe, war ich in der Lage, nur diejenigen in diese Bezeichnung einzuschliessen, welche die Reaction geben. Dabei ist es sehr wohl möglich, dass die amylacische Substanz in einem geschichteten Körper, der ursprünglich nichts davon enthielt, nachträglich durch chemische Umwandlung entsteht. [215] Würzb. Verhandl. II. 51. Wesentlich verschieden sowohl von dem Glykogen, als noch mehr von diesen Ausscheidungen stärkeartiger Substanz sind die =amyloiden Degenerationen der Gewebe selbst=, wobei Gewebs-Elemente als solche sich direct mit einer auf Jod reagirenden Substanz erfüllen und nach und nach so davon durchdrungen werden, wie etwa die Durchdringung der Gewebe mit Kalk bei der Verkalkung erfolgt. Man kann nicht füglich zwei Dinge besser vergleichen, als die Verkalkung und die amyloide Entartung. -- Die Substanz, welche diese eigentliche Degeneration der Gewebe bedingt, hat die Eigenthümlichkeit, dass sie unter der Einwirkung von blossem Jod für sich nie blau wird. Bis jetzt ist wenigstens kein Fall bekannt, wo verändertes Parenchym der Gewebe diese Farbe angenommen hätte. Vielmehr sieht man eine eigenthümlich gelbrothe Farbe entstehen, welche allerdings in manchen Fällen einen leichten Stich ins Rothviolette (Weinrothe) hat, so dass wenigstens eine Annäherung an das Blau der Stärke-Masse hervortritt. Dagegen bekommt die Substanz häufig eine wirkliche, sei es vollkommen blaue, sei es violette Farbe, wenn man =recht vorsichtig= Schwefelsäure oder Chlorzink zufügt. Es gehört dazu allerdings eine gewisse Uebung; man muss das Verhältniss gut treffen, da die Schwefelsäure die Substanz gewöhnlich sehr schnell zerstört, und man entweder sehr undeutliche Färbungen bekommt, oder die Farbe nur momentan hervortritt und alsbald wieder verschwindet. Es ist also nöthig, das Jod zuerst und zwar in =diluirten=, wässerigen Lösungen recht vollständig einwirken zu lassen, was am besten geschieht, wenn man das Object mit einer Präparirnadel sanft klopft, so dass man gleichsam das Jod in dasselbe hineinpresst. Sodann entferne man die überflüssige Flüssigkeit und setze einen ganz kleinen Tropfen =concentrirter= Schwefelsäure zu und zwar so, dass er ganz langsam eindringt. Man muss zuweilen Stunden lang warten, ehe die gute blaue Farbe eintritt. Somit steht diese Substanz der eigentlichen Stärke weniger nahe, sondern nähert sich vielmehr der Cellulose, die wir früher besprochen haben (S. 6). Allein sie unterscheidet sich auch wiederum von der Cellulose dadurch, dass sie durch die Einwirkung von Jod für sich schon eine Färbung erfährt, während die eigentliche Cellulose durch blosses Jod überhaupt nicht gefärbt wird. Denn die Cellulose verhält sich darin ganz wie Cholestearin[216]. Wenn man nehmlich nur Jod zu dem Cholestearin hinzusetzt, so sieht man keine Veränderung, ebensowenig wie an der Cellulose; wenn man dagegen zu der jodhaltigen Cholestearinmasse Schwefelsäure bringt, so färben sich die Cholestearintafeln und nehmen, im Anfange namentlich, eine brillant indigoblaue Farbe an, welche allmählich in ein Gelblichbraun übergeht, während die Cholestearintafel zu einem bräunlichen Tropfen umgewandelt wird. Die Schwefelsäure für sich verwandelt das Cholestearin in einen fettartig aussehenden Körper, welcher weder Cholestearin noch eine Verbindung von Cholestearin und Schwefelsäure, sondern ein Zersetzungsproduct des ersteren ist[217]. Auch die Schwefelsäure für sich gibt sehr schöne Farbenerscheinungen an dem Cholestearin. [216] Archiv IV. 418-21. VIII. 141. Würzb. Verhandl. VII. 228. [217] Würzburger Verhandl. I. 314. Archiv XII. 103. Bei dieser Mannichfaltigkeit der Reactionen ist es allerdings immer noch sehr schwer mit Sicherheit zu sagen, wohin die Substanz gehört. =Meckel= hat mit grosser Sorgfalt den Gedanken verfolgt, dass es sich um eine Art von Fett handle, welches mit Cholestearin mehr oder weniger identisch sei, allein wir kennen bis jetzt keinerlei Art von Fett, welches die drei Eigenschaften, durch Jod für sich gefärbt zu werden, bei Einwirkung von Schwefelsäure für sich farblos zu bleiben, und durch die combinirte Einwirkung von Jod und Schwefelsäure eine blaue Farbe anzunehmen, in sich vereinigte. Ausserdem verhält sich die Substanz selbst keinesweges wie eine fettige Masse; sie besitzt nicht die Löslichkeit, welche das Fett charakterisirt, insbesondere kann man bei der Extraction mit Alkohol und Aether aus diesen Theilen keine Substanz gewinnen, welche die Eigenthümlichkeiten der früheren besitzt. Nach Allem liegt also vielmehr eine Uebereinstimmung mit pflanzlichen Formen vor (Verholzung), und man kann immerhin die Ansicht festhalten, dass es sich hier um einen Prozess handle, vergleichbar demjenigen, welchen wir bei der Entwickelung einer Pflanze eintreten sehen, wenn die einfache Zelle sich mit holzigen Capselschichten (Cellulose) umhüllt, -- ein Vorgang, bei dem wahrscheinlich stickstoffhaltige Lagen in stickstofflose verwandelt werden. Dass das thierische Amyloid aus einer stickstoffhaltigen, möglicherweise eiweissartigen Substanz hervorgehe, ist kaum zu bezweifeln. Nachdem schon =Kekule= und =Carl Schmidt= bei unserer Substanz einen Stickstoffgehalt gefunden zu haben glaubten, ist durch W. =Kühne= und =Rudnew= derselbe sicher nachgewiesen worden. Ausgehend von der Erfahrung, dass das Amyloid gegen die verschiedenartigsten Lösungsmittel sich fast ebenso resistent verhält, wie Cellulose, wendeten sie Verdauungsflüssigkeiten auf amyloid entartete Gewebe an, und es gelang ihnen so, die veränderten Theile zu isoliren und rein darzustellen. Am schönsten kann man diese Veränderungen verfolgen an denjenigen Theilen, welche überhaupt als der häufigste und früheste Sitz derselben betrachtet werden müssen, nehmlich an den =kleinsten Arterien=. Diese erfahren überall zuerst die Umwandlung; erst, nachdem die Umänderung ihrer Wandungen bis zu einem hohen Grade vorgerückt ist, kann die Infiltration auf das umliegende Parenchym fortschreiten. Jedoch geschieht dies keineswegs häufig; im Gegentheil atrophirt nicht selten das Parenchym der Organe, während die Erkrankung sich von den Arterien auf die Capillaren ausbreitet. Wenn wir in einer amyloiden Milz eine kleine Arterie verfolgen, während sie sich in einen sogenannten Penicillus auflöst, so sehen wir, wie ihre an sich schon starke Wand in dem Maasse, als die Veränderung fortschreitet, noch dicker wird, und wie dabei die Lichtung des Gefässes um ein Bedeutendes sich verkleinert. Hieraus erklärt es sich, dass alle Organe, welche in einem bedeutenderen Grade die amyloide Veränderung eingehen, überaus blass aussehen; es entsteht eine Ischämie (S. 153) durch die Hemmung, welche die verengerten Gefässe dem Einströmen des Blutes entgegensetzen und wahrscheinlich in Folge davon die erwähnte Atrophie. Jedoch ist die Verdickung der Gefässe so gross und so verbreitet, dass die befallenen Organe trotz der Atrophie ihres Parenchyms grösser und schwerer werden. Untersucht man nun, an welchen Gewebselementen der Gefässe der amyloide Zustand sich zuerst findet, so scheinen es ziemlich constant die kleinen Muskeln der Ringfaserhaut zu sein. Dabei tritt an die Stelle einer jeden contractilen Faserzelle ein compactes, homogenes Gebilde, an welchem man Anfangs die Stelle des Kernes noch wie eine Lücke erkennt, welches aber nach und nach jede Spur von zelliger Structur einbüsst, so dass zuletzt eine Art von spindelförmiger Scholle übrig bleibt, an welcher man weder Membran, noch Kern, noch Inhalt unterscheiden kann. Bei der Verkalkung kleiner Arterien findet genau derselbe Vorgang statt; die einzelne Faserzelle der Muskelhaut nimmt Kalksalze auf, anfangs in körniger, später in homogener Weise, bis sie endlich in eine gleichmässig erscheinende Kalkspindel umgewandelt ist. So durchdringt auch die amyloide Substanz ganze Partien des Gewebes, und die Wand der Arterie verwandelt sich in einen zuletzt fast vollkommen gleichmässigen, compacten, bei auffallendem Lichte glänzenden, farblosen Cylinder, welcher nur nicht die Härte der verkalkten Theile, im Gegentheil einen hohen Grad von Brüchigkeit besitzt. Die Venen leiden, mit Ausnahme der mesenterialen und der in der Leber, selten und niemals in solchem Grade, wie die Arterien. Dagegen kann die Veränderung der Capillaren einen überaus hohen Grad erreichen. [Illustration: =Fig=. 124. Amyloide Degeneration einer kleinen Arterie aus der Submucosa des Darmes, bei noch intactem Stamm. Vergr. 300.] Ist nun eine solche Veränderung bis zu einem gewissen Grade vorgeschritten, so kann eine analoge Veränderung auch in dem Parenchym der Organe eintreten. Diese Stadien kann man nirgend so deutlich verfolgen, wie in der =Leber=. Hier geschieht es zuweilen, dass man ein Stadium trifft, wo in dem ganzen Organe nichts weiter verändert ist, als nur die kleineren Aeste der Arteria hepatica. Macht man feine Durchschnitte durch die Leber, wäscht sie sorgfältig aus und bringt Jod darauf, so bemerkt man zuweilen schon vom blossen Auge die kleinen jodrothen Züge und Punkte, welche den durchschnittenen Aesten der Arteria hepatica entsprechen. Von da kann sich der Prozess auf das Capillarnetz der Acini fortsetzen und die Atrophie der Leberzellen herbeiführen. Dabei leidet, was wiederum sehr charakteristisch ist, gerade derjenige Theil der Acini zuerst, der am weitesten sowohl von den interlobulären als von den intralobulären Venen entfernt ist. Man kann nehmlich den pathologischen Veränderungen nach, die oft schon vom blossen Auge zu erkennen sind, innerhalb eines jeden Acinus drei verschiedene Zonen der Prädilection unterscheiden (Fig. 117). Die äusserste Zone, welche zunächst den portalen (interlobulären) Aesten liegt, ist der Hauptsitz der fettigen Infiltration; der intermediäre Theil, welcher unmittelbar daran stösst, gehört der amyloiden Degeneration an, und der centrale Theil des Acinus um die Vena hepatica (intralobularis) ist der gewöhnlichste Sitz für Pigmentablagerung. Jede dieser Veränderungen kann für sich bestehen, jedoch können sie auch alle drei gleichzeitig vorhanden sein. In diesem Falle erkennt man schon mit blossem Auge zwischen der äussersten gelbweissen und der innersten gelbbraunen oder graubraunen Schicht die blasse, farblose, durchscheinende und resistente Zone der wächsernen oder amyloiden Veränderung. Werden die Leberzellen selbst von dieser letzteren Veränderung betroffen, so sieht man, dass der früher körnige Inhalt derselben, der jeder Leberzelle ein leicht trübes Aussehen gibt, allmählich homogen wird; Kern und Membran verschwinden, und endlich tritt ein Stadium ein, wo man gar nichts weiter wahrnimmt, als einen absolut gleichmässigen, leicht glänzenden Körper, so zu sagen, eine einfache Scholle. Auf diese Weise gehen zuweilen in der beschriebenen Zone sämmtliche Leberzellen in amyloide Schollen über. Erreicht der Prozess einen sehr hohen Grad, so überschreitet endlich sogar die Veränderung diese Zone, und es kann sein, dass fast die ganze Substanz der Acini in Amyloidmasse verwandelt wird. Es entsteht hier endlich auch eine Art von Amyloidkörpern, nur dass sie nicht geschichtet sind, wie die vorher besprochenen Corpora amylacea; sie bilden gleichmässige homogene Körper, an welchen keine innere Abtheilung, keine Andeutung ihrer eigenthümlichen Bildungsgeschichte mehr zu erkennen ist. Wenn man diese Thatsachen zusammennimmt, so erscheint es ziemlich wahrscheinlich, dass es sich hier um eine allmähliche Durchdringung der Theile mit einer Substanz handelt, die ihnen, wenn auch nicht fertig, von aussen her zugeführt wird. Es ist dies eine Auffassung, welche wesentlich durch die Thatsache unterstützt wird, dass fast immer, wenn die amyloide Degeneration auftritt, der Prozess sich nicht auf eine einzige Stelle beschränkt, sondern dass viele Orte und Organe gleichzeitig im Körper ergriffen werden. Dadurch gewinnt in der That der ganze Vorgang ein wesentlich dyscrasisches Aussehen. Der einzige Ort, wo bis jetzt wenigstens eine ganz unabhängige Entwickelung dieser Veränderung von mir bemerkt worden ist, und wo mit einiger Wahrscheinlichkeit ein ursprünglicher Sitz der Bildung angenommen werden kann, ist der =permanente Knorpel=[218]. Namentlich bei älteren Leuten nehmen die Knorpel an verschiedenen Stellen, z. B. an den Sternoclavicular-Gelenken, an den Symphysen des Beckens, an den Intervertebral-Knorpeln, eine eigenthümlich blassgelbliche Beschaffenheit an; dann kann man ziemlich sicher sein, dass, wenn man die Jodreaction mit ihnen versucht, man auch die eigenthümliche Färbung erlangen wird. Diese Farben kommen an den Knorpelzellen, jedoch noch viel mehr an der Intercellularsubstanz vor, und da solche Fälle nicht etwa mit Erkrankungen grosser innerer Organe zusammentreffen, sondern ganz unabhängig bei Individuen eintreten, welche übrigens am Körper nichts der Art zu erkennen geben, so scheint es, dass hier in der That eine unmittelbare Transformation vorliegt, und dass es sich beim Knorpel nicht um eine Einfuhr von aussen her handelt. [218] Würzb. Verhandl. VII. 277. Archiv VIII. 364. Alle anderen Formen der amyloiden Entartung haben ein constitutionelles, mehr oder weniger dyscrasisches Ansehen. Allein vergeblich habe ich mich bis jetzt bemüht, eine bestimmte Veränderung im Blute zu erkennen, aus welcher man etwa schliessen könnte, dass das Blut wirklich der Ausgangspunkt der Ablagerungen sei. Es existirt bis jetzt nur eine einzige Beobachtung, welche auf die Anwesenheit analoger Elemente im Blute hindeutet, und diese ist so sonderbar, dass man von ihr aus nicht wohl eine Erklärung versuchen kann. Ein Arzt zu Toronto in Canada hatte nehmlich auf den Wunsch eines Kranken, welcher an Epilepsie litt, das Blut desselben untersucht und eigenthümliche blasse Körper im Blute gesehen. Als er nun von meinen Beobachtungen über die Jodfärbung der Corpora amylacea im Gehirne las, kam ihm der Kranke wieder in den Sinn, und, ich glaube nach Verlauf von fünf Jahren, nahm er wieder Blut von ihm und fand auch wieder die Körper, welche in der That Stärke-Reaction gegeben haben sollen. Dieser Beobachtung gegenüber ist es sonderbar, dass Niemand sonst jemals etwas der Art gesehen hat, und da es sich hier um eine überaus dauerhafte Dyscrasie handeln müsste, so würde am wenigsten aus dieser Beobachtung ein Schluss auf unsere Fälle gezogen werden können, wo die Erkrankung offenbar in viel kürzerer Zeit sich ausbildet und wo wir wenigstens im Blute nichts der Art haben entdecken können. Ueberdies ist es mit jener Beobachtung eine missliche Sache. Stärkekörner können sehr leicht in verschiedene Objecte hineinkommen, so dass man (bei allem Respect gegen den Beobachter), so lange es sich um eine ganz solitäre Beobachtung handelt, noch die Möglichkeit zulassen muss, dass vielleicht eine Täuschung obgewaltet habe. Ist doch neuerlich eine ähnliche Täuschung vorgekommen, als =Carter= und =Luys= Stärkekörner als normalen Bestandtheil der menschlichen Hautabsonderung gefunden zu haben glaubten. =Rouget= hat dargethan, dass es sich hier immer um äussere Verunreinigung durch wirkliche pflanzliche Stärke handelt. Und so bin ich bis jetzt viel mehr geneigt, anzunehmen, dass das Blut in dieser Krankheit eine einfach chemische Veränderung in seinen gelösten Bestandtheilen erfährt, als dass es die pathologischen Substanzen in körniger Form enthält. Jedenfalls ist es unzweifelhaft, dass die amyloide Veränderung für die Pathologie einen ausserordentlich hohen Werth beansprucht. Es kann gar nicht anders sein, als dass diejenigen Theile, welche der Sitz derselben werden, ihre specielle Function einbüssen, dass z. B. Drüsenzellen, welche auf diese Weise verändert werden, nicht mehr im Stande sind, ihre besondere Drüsenfunction zu versehen, dass Gefässe nicht mehr der Ernährung der Gewebe oder der Absonderung der Flüssigkeiten, für welche sie sonst bestimmt sind, dienen können. Aus solchen Erwägungen erklärt es sich leicht, dass physiologische (klinische) Störungen so regelmässig mit diesen anatomischen Veränderungen zusammentreffen. Wir finden einerseits ausgesprochene Zustände der Kachexie, andererseits die überaus häufige Erscheinung von Hydropsie mit der ganzen Complication von Veränderungen, wie sie gewöhnlich unter dem Bilde der Brightschen Krankheit zusammengefasst wird. Fast jedesmal, wo eine solche Erkrankung eine gewisse Höhe erreicht, befinden sich die Kranken in einem hohen Grade von Marasmus und Anämie. Es gibt Fälle, wo die ganze Ausdehnung des Digestionstractus von der Mundhöhle bis zum After keine einzige feinere Arterie besitzt, welche nicht in dieser Erkrankung sich befände, wo jeder Theil des Oesophagus, des Magens, des Dünn- und Dickdarmes die kleinen Arterien der Schleimhaut und der Submucosa in dieser Weise verändert zeigt. Es ist dies gerade in sofern eine äusserst bemerkenswerthe Thatsache, als diese Art von Umwandelung am Darm, die für die Function so entscheidend ist (Mangel an Resorption, Neigung zu Diarrhoe), für das blosse Auge fast gar nicht erkennbar ist. Die Theile sind blass (anämisch) und haben ein graues durchscheinendes, zuweilen leicht wachsartiges Aussehen; allein dies ist doch so wenig charakteristisch, dass man daraus nicht mit Sicherheit einen Rückschluss auf die inneren Veränderungen machen kann, und dass die einzige Möglichkeit einer Erkenntniss, wenn man kein Mikroskop zur Hand hat, in der directen Application des Reagens besteht. Man braucht nur etwas Jod auf die Fläche aufzutupfen, so sieht man schon vom blossen Auge sehr bald eine Reihe von dicht stehenden, gelbrothen oder braunrothen Punkten entstehen, während die zwischenliegende Schleimhaut einfach gelb erscheint. Diese rothen Punkte sind die Zotten des Darmes; nimmt man eine davon unter das Mikroskop, so sieht man die Wand der kleinen Arterien und selbst der Capillaren, welche sich in ihr verbreiten, zuweilen auch das Parenchym jodroth gefärbt. Ganz ähnlich lässt sich auch an anderen Organen die Veränderung für dass blosse Auge durch Jod sichtbar machen, sobald sie einmal einen höheren Grad erreicht hat. Wendet man bloss Jodlösung an, so verschwindet die Färbung gewöhnlich sehr bald oder sie tritt sehr schwer ein. Es scheint dies von der so häufigen ammoniakalischen Zersetzung herzurühren, welche Leichentheile so leicht eingehen. Daher empfiehlt es sich, nach der Jodanwendung etwas Säure zuzusetzen, um die Alkalescenz des Gewebes aufzuheben. Dazu genügt schon Essigsäure. Nahezu die wichtigste Art der Amyloid-Erkrankung, welche wir bis jetzt kennen, ist diejenige, welche in der Niere entsteht. Ein grosser Theil, namentlich der chronischen Fälle von Brightscher Krankheit, gehört dieser Veränderung an, muss also von vielen anderen ähnlichen Formen als eine besondere, ganz und gar eigenthümliche Form abgelöst werden. Auch diese Nieren hat man in Wien zu einer Zeit, wo die chemische Reaction noch nicht bekannt war, Specknieren genannt. Ich muss aber wiederum bemerken, dass es unmöglich ist, mit blossem Auge unmittelbar zu erkennen, ob gerade diese Veränderung stattgefunden hat oder eine andere, und dass ein Theil der sogenannten Specknieren nichts anderes als indurirte Nieren waren. Von dieser Verwechselung einfach indurativer Zustände (fibröser Degeneration) mit amyloiden schreibt sich nicht bloss für die Nieren, sondern auch für Milz und Leber manche Verwirrung in den Angaben der Schriftsteller her. Gerade an der Niere kann man eine sichere Diagnose erst nach Jodanwendung machen, und auch da muss man sich sorgfältig bemühen, zuerst so viel als möglich das Blut aus den Gefässen auszuwaschen. Denn ein mit Blut gefülltes Gefäss zeigt nach Anwendung des Jods genau dieselbe Farbe, welche ein mit Jod behandeltes, amyloid degenerirtes Gefäss darbietet. Bringt man Jodlösung auf eine ganz anämische Rindensubstanz, so erscheinen gewöhnlich zuerst rothe Punkte, welche den Glomerulis entsprechen, auch wohl feine Striche, den Arteriae afferentes angehörig. Nächstdem, wenn die Erkrankung recht stark ist, sieht man auch innerhalb der Markkegel rothe, parallele Linien, welche sehr dicht liegen. Das sind die Arteriolae rectae[219]. Die Erkrankung der Arterien wird zuweilen so stark, dass man nach Anwendung des Reagens eine deutliche Uebersicht des Gefässverlaufes bekommt, wie wenn man eine sehr vollständige künstliche Injection vor sich hätte. Allein gerade bei diesen Nieren ist eine Injection nicht ganz ausführbar. Auch die feineren Mittel, welche wir für Injectionen anwenden, sind viel zu grob, um durch die verengten Gefässe hindurch zu gelangen. Untersucht man einen solchen Glomerulus mikroskopisch, so sieht man, dass von da, wo sich die zuführende Arterie auflöst, die Schlinge nicht mehr die feine, zarte Röhre ist, wie sonst; vielmehr erscheinen alle einzelnen Schlingen innerhalb der Capsel als compacte, fast solide Bildungen. Da nun gerade diese Theile es sind, welche offenbar die eigentlichen Secretionspunkte der Harnflüssigkeit darstellen, so begreift es sich, dass in solchen Fällen Störungen in der Ausscheidung des Harnes stattfinden müssen. Wir haben leider bis jetzt keine vollständig ausreichenden Analysen, allein es scheint, dass viele Fälle von Albuminurie, welche mit erheblicher Verminderung der Harnstoff-Ausscheidung verbunden sind, gerade mit diesen Zuständen zusammenhängen, und dass die Abscheidung um so mehr sinkt, je intensiver die Erkrankung wird. Diese Fälle compliciren sich sehr häufig mit Anasarka und Höhlenwassersucht und können im vollsten Maasse die Symptome der Brightschen Erkrankung liefern. Sie unterscheiden sich aber wesentlich von der einfach entzündlichen Form der Brightschen Krankheit, welche ich als =parenchymatöse Nephritis= bezeichne, dadurch, dass bei letzterer die Erkrankung nicht so sehr an den Glomerulis oder den Arterien, als an dem Epithel der Niere haftet, und dass die Veränderung oft lange Zeit an dem Epithel verläuft, während die Glomeruli selbst in solchen Fällen noch intact erscheinen können, wo kaum noch Epithel in den Kanälchen vorhanden ist. Hiervon ist wieder eine dritte, =indurative= Form zu unterscheiden, wo überwiegend das =interstitielle Gewebe= sich verändert, wo Verdickungen um die Capseln und die Harnkanälchen entstehen, Abschnürungen, Verschrumpfungen zu Stande kommen und dadurch mechanische Hemmungen des Blutstromes hervorgebracht werden, welche natürlich mit Secretionsveränderungen zusammenfallen müssen. [219] Archiv XII. 318. Es ist sehr wichtig, dass man diese Verschiedenheiten, welche in dem Bilde einer scheinbar einzigen Krankheit zusammengefasst werden, auseinanderlöse, weil sich daraus erklärt, dass die Erfahrungen der einen Reihe sich nicht ohne weiteres auf die anderen Reihen anwenden lassen, und dass weder die physiologischen Consequenzen, noch die therapeutischen Maximen in diesen Zuständen gleich sein können. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass jene drei verschiedenen Formen keinesweges immer rein vorkommen, dass vielmehr häufig zwei von ihnen, zuweilen alle drei in derselben Niere gleichzeitig bestehen, und dass die eine Erkrankungsform lange bestehen kann, um sich endlich mit einer der anderen oder beiden zu compliciren. Dies kommt offenbar am häufigsten in der Reihenfolge vor, dass die amyloide Degeneration sich zu einer längere Zeit bestehenden einfach-parenchymatösen oder interstitiellen Nephritis im Stadium des Marasmus hinzugesellt. [Illustration: =Fig=. 125. Amyloide Degeneration einer Lymphdrüse. _a_, _b_, _b_ Gefässe mit stark verdickter, glänzender, infiltrirter Wand. _c_ Eine Lage von Fettzellen im Umfange der Drüse. _d_, _d_ Follikel mit dem feinen Reticulum und Corpora amylacea. Vergr. 200. Vergl. Würzb. Verhandl. Bd. VII. Taf. III.] [Illustration: =Fig=. 126. Einzelne Corpora amylacea in verschiedenen Grössen und zum Theil eingebrochen, aus der Drüse in Fig. 125. Vergr. 350.] Unter den vielen Organen, welche der Amyloid-Erkrankung unterliegen, sind ferner die =Lymphdrüsen= zu erwähnen[220]. Sie verhalten sich ähnlich wie die Milz. Es verändern sich einerseits die kleinen Arterien, andererseits die wesentliche Drüsensubstanz, das Parenchym, d. h. die feinzellige Masse, welche die Follikel erfüllt. Wie wir früher erwähnten (S. 207, Fig. 70), so liegen unter der Capsel der Drüse folliculäre Bildungen, und diese setzen sich wieder aus einem feinen Maschennetz zusammen, in welchem jene kleinen Zellen der Drüse aufgehäuft sind, von denen wir vermuthen, dass sie die Ausgangspunkte für die Entwickelung der Blutkörperchen darstellen. Die Arterien verlaufen zunächst in den Septa der Follikel und lösen sich hier in Capillaren auf, welche die Follikel umspinnen und von da in das Innere der Follikel selbst eindringen. Die amyloide Erkrankung der Lymphdrüsen besteht nun einerseits darin, dass diese Arterien dicker und enger werden und weniger Blut zuleiten, andererseits darin, dass die kleinen Zellen innerhalb der einzelnen Maschenräume der Follikel in Corpora amyloidea übergehen, und dass nachher anstatt vieler Zellen in jeder Masche des Follikels eine einzige grosse blasse Scholle angetroffen wird. Dadurch gewinnt die Drüse schon für das blosse Auge das Aussehen, als wenn sie mit kleinen Wachspunkten durchsprengt wäre, und bei der mikroskopischen Untersuchung erscheint es wie ein dichtes Strassenpflaster, welches die ganze Inhaltmasse zusammensetzt. [220] Würzb. Verhandl. VII. 222. Ueber die Bedeutung dieser Veränderungen lässt sich empirisch nicht viel aussagen, allein, wenn gerade der Follikel-Inhalt das Wesentliche bei einer Lymphdrüse ist, wenn von hier aus die Entwickelung der neuen Bestandtheile des Blutes erfolgt, so muss man wohl schliessen, dass die Erkrankung der Lymphdrüsen und der Milz, wo nicht selten gleichfalls die Follikel getroffen werden, für die Blutbildung direct einen nachtheiligen Einfluss haben müsse, dass es sich also nicht um weitliegende Wirkungen handele, sondern dass direct die Blutbildung eine Abänderung erleiden und Zustände der Anämie (Anaemia lymphatica =Wilks=) nachfolgen müssen. Auch kann für den Lymphstrom eine Hemmung und dadurch wieder Mangel an Resorption, Neigung zu Hydrops u. s. w. entstehen. Wenden wir auf die Durchschnitte solcher Drüsen Jod an, so färben sich alle erkrankten Theile roth, während alles Uebrige, was der normalen Struktur entspricht, einfach gelb wird. Die Kapsel, welche aus Bindegewebe besteht, die fibrösen Balken oder Scheidewände zwischen den Follikeln, das feine Netz, welches die einzelnen Corpora amyloidea auseinanderhält, endlich diejenigen Follikel, welche normale Zellen enthalten, bleiben gelb. Alle anderen Theile nehmen schon für das blosse Auge das jodrothe Aussehen an. Bringen wir unter dem Mikroskop Schwefelsäure dazu, so werden diese Stellen dunkel röthlichbraun, violettroth und, trifft man es glücklich, rein blau; sind noch albuminöse Partikelchen dazwischen, so erscheint eine grüne oder braunrothe Farbe. In allen Fällen beginnt die Erkrankung der Lymphdrüsen in den cortikalen Follikeln auf derjenigen Seite, wo die zuführenden Lymphgefässe in die Drüse eintreten; von da schreitet sie nach und nach gegen die Marksubstanz fort, ohne diese jedoch für gewöhnlich zu erreichen. In dieser Weise verändert sich eine Drüse nach der anderen und zwar in der Reihenfolge, dass zuerst die mehr peripherischen leiden und dann eine nach der anderen der in der Richtung des Lymphstromes auf einander folgenden Drüsen. Aber besonders bemerkenswerth ist es, dass diese Art der Veränderung sich nicht allgemein an allen peripherischen Lymphdrüsen findet, sondern nur an gewissen Stellen oder in gewissen Provinzen des lymphatischen Systemes. Sucht man dafür einen Grund, so ergibt sich als Regel, dass in der Gegend, wo die Wurzeln der zu den erkrankten Lymphdrüsen hingehenden Lymphgefässe liegen, eine chronische Erkrankung, meist eine alte Eiterung stattfindet. Meine Erfahrungen betreffen überwiegend Fälle von langdauernder Caries und Nekrose der Wirbel- und Schenkelknochen, wo die Lumbal- und Inguinaldrüsen die hauptsächlich leidenden waren. Der Gang der amyloiden Erkrankung[221] entspricht demnach in vielen Stücken demjenigen, welchen wir bei den secundären Lymphdrüsen-Anschwellungen der Skrofulösen, Krebsigen, Typhösen beobachten. Drüse nach Drüse wird getroffen, und in der einzelnen Drüse Follikel nach Follikel, jedoch immer so, dass die Richtung des Lymphstromes die Priorität der Erkrankung bestimmt. Hier lässt sich der Schluss kaum ablehnen, dass die Lymphgefässe die Conductoren des Prozesses sind. Ihre Wandungen sind nicht erkrankt; ist der Inhalt, den sie führen, ein veränderter? Vergeblich habe ich mich bemüht, in den erkrankten Knochen selbst amyloide Substanz zu finden. Es bleibt also unentschieden, ob eine solche Substanz den Drüsen zugeführt und in sie abgesetzt wird, oder ob irgend ein anderer Stoff zugeleitet wird, welcher das Drüsengewebe erst zu der selbständigen Erzeugung der Substanz oder zu ihrer Aufnahme aus dem Blute veranlasst. Vorläufig ist es wahrscheinlicher, dass der Drüse durch die Lymphe nur eine Anregung in dem letzteren Sinne zukommt, zumal da die Erkrankung der in die Drüse eingehenden Arterien im Sinne der ersteren Möglichkeit nicht leicht zu erklären sein würde. [221] Archiv VIII. 364. Unter den übrigen Prozessen sind es namentlich die =Tuberkulose= und die =Syphilis=, welche sich in ihren späteren Stadien sehr häufig mit weit ausgedehnter Amyloid-Erkrankung compliciren. Am meisten ist dies bei der constitutionellen Lues der Fall, so dass einzelne Beobachter zu der Vorstellung gekommen waren, die Produkte der secundären Syphilis seien jederzeit »speckige«. Zu einer solchen Auffassung konnte schon der Sprachgebrauch verführen, indem bekanntlich seit langer Zeit die speckigen Infiltrationen, der speckige Geschwürsgrund als besondere Eigenthümlichkeiten secundär-syphilitischer Prozesse angegeben wurden. Allein ich habe dargelegt[222], dass ein wesentlicher Unterschied zwischen den gummösen, im alten Sinne speckigen Producten der Syphilis und den amyloiden, im neueren Sinne speckigen Entartungen besteht, dass die letzteren erst in der Tertiär-oder genauer Quaternärperiode aufzutreten pflegen, und dass sie überhaupt nicht der Syphilis als solcher, sondern vielmehr der Kachexie angehören. Aber gerade für die Geschichte der syphilitischen Kachexie sind sie von der allergrössten Bedeutung, da nur durch ihre Kenntniss manche Eigenthümlichkeiten dieses Zustandes verständlich geworden sind. [222] Archiv XV. 232. Geschwülste II. 417, 471. Ueberaus merkwürdig ist es, dass gerade zwei Organe, von deren Bedeutung man überaus wenig weiss, die aber gewissermaassen instinctiv der Gruppe der sogenannten Blutdrüsen zugerechnet worden sind, nehmlich die =Schilddrüse= (Glandula thyreoidea) und die =Nebennieren= verhältnissmässig häufig an der Amyloid-Erkrankung theilnehmen. Auch ist es gewiss merkwürdig, dass an den letzteren gerade die sogenannte Rinde, welche in der Struktur mit der Schilddrüse in so vielen Stücken übereinstimmt, ausgesetzt ist, während die Marksubstanz, welche einen mehr gliösen Bau hat, fast ganz verschont bleibt, -- ein Umstand, der insofern bemerkenswerth ist, als selbst bei der stärksten Amyloiderkrankung der Rindensubstanz keine Broncefärbung der Haut eintritt. An beiden Organen sind es gleichfalls die kleinen Arterien, von welchen die Veränderung ausgeht; später setzt sie sich auf die Capillaren fort, und nicht selten wird sie so stark, dass die ganze Substanz schon für das blosse Auge ein wächsernes Aussehen annimmt. -- * * * * * Schon früher (S. 438, 440) erwähnte ich, dass die amyloide Erkrankung in mehrfacher Beziehung Aehnlichkeit mit der einfachen =Verkalkung= (kalkigen Degeneration) habe. Man muss sich aber wohl hüten, in den Fehler zu verfallen, der so häufig begangen ist, dass man Verkalkung und Verknöcherung identificirt. Verknöcherung ist ein activer, progressiver Prozess; Verkalkung dagegen kann ein im hohen Grade passiver, regressiver Prozess sein und eine wirkliche Atrophie[223] oder eine blosse Versteinerung todter Theile[224] darstellen. Will man zwischen Ossification und Verkalkung unterscheiden, so genügt es nicht, das endliche Resultat im Auge zu behalten. Ein Theil wird nicht regelmässiger Knochen dadurch, dass ein Gewebe, in welchem sternförmige Zellen vorhanden sind, in seine Grundmasse Kalk aufnimmt; es kann trotzdem nichts weiter als verkalktes Bindegewebe sein. Wenn wir von Ossification reden, so setzen wir immer voraus, dass dieselbe durch einen activen Vorgang, eine Reizung hervorgerufen ist. Diese wirkt aber nicht so, dass ein schon existirendes Gewebe einfach dadurch, dass es Kalksalze aufnimmt, die Knochenform anzieht. Vielmehr wird das Gewebe selbst durch die Reizung verändert, noch bevor es die Kalksalze aufnimmt, entweder so, dass nur seine Grundsubstanz dichter und homogener wird (=sklerosirt=, =cartilaginescirt=), oder so, dass eine Proliferation der Zellen voraufgeht und die Verkalkung an wirklich neugebildetem Gewebe geschieht. =Dasselbe Gewebe kann daher einfach verkalken und wirklich verknöchern=. [223] Spec. Pathologie und Ther. I. 307. [224] Verh. der Berliner med. Gesellschaft. I. 253. So gibt es an den =Gefässen= Verkalkungen und Ossificationen. In alter Zeit hat man, namentlich an den Arterien, Alles Ossificationen genannt. Viele der Neueren dagegen haben geleugnet, dass dieselbe überhaupt an den Gefässen vorkomme. Faktisch kommt sowohl Ossification vor, als auch blosse Verkalkung, oder, wie ich nach Art der Paläontologen sagen will, =Petrification=. Letztere ist an den peripherischen Arterien verhältnissmässig am häufigsten und wird hier gewöhnlich als ein Merkmal des atheromatösen Prozesses betrachtet. Dies ist jedoch nicht richtig, denn der atheromatöse Prozess hat seinen Sitz in der Intima der Arterien. Fühlt man dagegen die Radialarterie hart und höckerig, erkennt man an der Cruralis oder Poplitaea starre Wandungen, so kann man ziemlich sicher schliessen, dass diese Verhärtung ihren Sitz in der Media hat. In diesem Falle trifft die Verkalkung wirklich die Muskelelemente; die Faserzellen der Ringfaserhaut werden in Kalkspindeln verwandelt. Die Kalkmasse kann allerdings auch noch die Nachbartheile überziehen; die innere Haut aber bleibt dabei möglicherweise ganz intact. Dieser Prozess ist daher mehr verschieden von dem, welchen man atheromatös nennt, als eine Periostitis von einer Erkrankung des Knochengewebes. Die einfache Verkalkung hat gar keinen nothwendigen Zusammenhang mit einer Entzündung der Arterie; sie kommt am gewöhnlichsten unter Verhältnissen vor, wo überhaupt eine Neigung zu Verkalkungen eintritt, daher namentlich im höheren Lebensalter. Das ist wenigstens mit Sicherheit zu sagen, dass noch kein Stadium dieser Veränderungen bekannt ist, welches der Entzündung parallel stände. Schon vor langer Zeit habe ich gezeigt[225], dass an Stellen, wo kein wirklicher Knorpel präexistirt, bei der wahren Ossification schon vor der Ablagerung der Kalksalze ein Gewebe vorhanden zu sein pflegt, welches im Wesentlichen alle Bestandtheile des späteren Knochens, sowohl die Körperchen, als die Intercellularsubstanz enthält, nehmlich ein =osteoides Bindegewebe=[226], und dass dieses dadurch zu Knochengewebe wird, dass es Kalksalze in seine Intercellularsubstanz aufnimmt. Aber, wie erwähnt, entweder ist dieses Bindegewebe neugebildetes, oder es erfährt vor der Verkalkung eine besondere, progressive Veränderung, indem seine Grundsubstanz sich verdichtet und verdickt, =sclerosirt=[227]. Dieses veränderte Bindegewebe, der Hautknorpel der früheren Autoren, besser =Knochenknorpel= genannt, gibt zum Theil Chondrin, zum Theil wirklichen Leim. Man kann daher sagen, dass erst das metamorphosirte Bindegewebe wirklich zu Knochen verkalkt, während eine einfache Verkalkung des gewöhnlichen Bindegewebes nie Knochen liefert, sondern immer nur verkalktes Bindegewebe. Solche Zustände kommen an der Dura mater nicht selten vor, wo sie jedoch nicht mit den noch weit häufigeren Osteomen[228] zu verwechseln sind; sie finden sich an den Lungen, der Schleimhaut des Magens, der Keilbeinhöhlen[229]. [225] Archiv I. 136. Würzb. Verhandl. II. 158. [226] Archiv V. 439. Geschwülste I. 463, 472. [227] Archiv V. 443, 455. [228] Geschwülste II. 92. [229] Archiv VIII. 103. IX. 618. Entwickelung des Schädelgr. 41. Taf. IV. Fig. 19. [Illustration: =Fig=. 127. Verkalkung des Gelenkknorpels am unteren Ende des Femur von einem alten Manne. Anfangs körnige, später homogene Erfüllung der Capsularsubstanz mit Kalksalzen bei Erhaltung der Knorpelkörperchen. Vergr. 300.] In noch viel auffälligerer Weise, als am Bindegewebe, zeigt sieh die Verschiedenheit zwischen Verkalkung und Verknöcherung an den =Knorpeln=. Die blosse Ablagerung von Kalksalzen in die Substanz des Knorpels ist nichts weniger als eine Verknöcherung[230], obwohl man noch heutigen Tages diese zwei Dinge immerfort mit einander verwechselt. Die einfache Verkalkung erfolgt bei der gewöhnlichen Bildung wachsender und sich entwickelnder Knochen =vor= der wirklichen Verknöcherung, worauf wir später zurückkommen werden. Aber sie findet sich nicht bloss an solchem Knorpel, der in der typischen Entwickelung des Skeletts dazu bestimmt ist, in Knochen aufzugehen, sondern auch an den sogenannten permanenten Knorpeln. Man trifft sie in dem Gelenkknorpel älterer Leute, also an Theilen, welche normal nicht zur Ossification bestimmt sind, gar nicht selten, und zwar am gewöhnlichsten in der tiefen Zone derselben, welche unmittelbar der Terminallamelle des Knochens aufliegt. Hier lagern sich die Kalksalze häufig zuerst in die dicke Kapselsubstanz ab, welche die Knorpelzellen umgibt, und durchdringen erst später die eigentliche Intercellularsubstanz, lassen aber die Knorpelzellen selbst frei. Wie überall, so geschieht die Ablagerung auch hier Anfangs in der Art, dass die Kalktheilchen als feinste Körnchen in der noch erkennbaren organischen Grundsubstanz erscheinen. Nach und nach werden sie dichter, das Grundgewebe verschwindet endlich vor den Augen und eine ganz homogene, krystallartige Masse tritt an seine Stelle. Beschränkt sich der Prozess auf die Kapseln der Knorpelkörperchen, so sieht es aus, als wenn Nüsse mit dicker Schale und rundlicher oder rundlich eckiger Höhle in der Grundsubstanz zerstreut lägen (Fig. 127). Nimmt auch die Grund-oder Intercellular-Substanz an der Verkalkung Antheil, so verschwindet die Grenze zwischen ihr und der Kapselsubstanz; es entsteht eine ganz gleichmässige, harte Masse, in welcher, entsprechend den früheren Knorpelzellen, rundliche oder leicht eckige Höhlen liegen. Löst man die Kalksalze mit Säuren auf, so hat man wieder den Knorpel in seiner gewöhnlichen Form. Dabei ist zu bemerken, dass es ein, freilich sehr lange Zeit hindurch geglaubter Irrthum war, als man annahm, dass auch aus fertigem Knochengewebe, wenn es durch Säuren seiner Salze beraubt würde, wieder Knorpel dargestellt werden könne. [230] Archiv V. 420, 429. Diese einfache Knorpel-Verkalkung hat die grösste Uebereinstimmung mit der Infiltration von harnsaurem Natron, wie sie bei der Gicht (S. 251) vorkommt. Nur erscheint das harnsaure Natron stets in fein-krystallinischen Formen und seine Theilchen vereinigen sich nicht zu dichten, glas- oder elfenbeinartigen Massen, wie kohlensaurer und phosphorsaurer Kalk, sondern bilden eine bröckelige, losere, tuffartige Masse (Tophus). Das ist aber unzweifelhaft, dass sowohl die Kalk- als die Natronsalze aus dem Blute abgelagert werden, dass es sich also um eine Infiltration oder Incrustation handelt. Diese kann, wie wir sahen (S. 252), eine metastatische sein. Die Ablagerung der Kalksalze geschieht aber auch häufig in Form besonderer =Kalkkörper= oder =Concretionen=, welche einen geschichteten Bau haben, den Stärkekörnern ähnlich sind und sich zwischen den Gewebselementen oder in den Cavitäten oder den Kanälen des Körpers, z. B. in den Harnkanälchen, im Gehirne finden. In der Prostata kommen amylacische und verkalkte, lamellöse Concretionen nicht selten in einer und derselben Drüse neben einander vor. Hier scheint es sogar, dass amylacische Körper verkalken. Ganz bestimmt habe ich dies bei Amyloidsubstanz der Leber beobachtet[231]. Indess sind dies seltene Verbindungen; in der Regel besteht die amyloide Entartung, so viele Vergleichungen mit der Verkalkung sie auch zulässt, für sich. [231] Geschwülste II. 430. Dass die Theile, welche verkalken, eine besondere Anziehung auf die im Blute oder in den Säften vorhandenen Kalksalze ausüben müssen, lässt sich nicht abweisen. Es ist dies aber kein besonderer Lebensact, denn die Verkalkung erfolgt überall auf dieselbe Art. Die geologische Versteinerung ist der pathologischen ganz gleich. Todte Theile verkalken und versteinern im menschlichen Körper, wie in den Schichten des Erdkörpers; ja es ist dies sogar eine der gewöhnlichsten Arten der Veränderung, welche abgestorbene Theile von geringerem Umfange im Körper erfahren[232]. Am auffälligsten zeigt dies die Geschichte der sogenannten Lithopädien, sowie die Petrification abgestorbener Eingeweidewürmer, am häufigsten der Cysticerken. Bei den Trichinen trifft die Verkalkung gewöhnlich nur die Kapsel, während das Thier innerhalb derselben noch lebendig bleibt; doch gibt es auch Fälle, wo die Thiere in der noch unverkalkten Kapsel absterben und versteinern. Bei abgestorbenen Leber-Echinokokken habe ich sämmtliche jungen Thiere versteinert gesehen, während die Kapseln und die Mutterblasen unversehrt waren. Ganz besonders interessant ist die isolirte Verkalkung von Ganglienzellen des Gehirnes nach Commotion, die ich vor einiger Zeit nachgewiesen habe[233]. Auch blosse organische Massen, z. B. alte Thromben, nekrobiotische Gewebstheile, z. B. die käsigen, tuberkelartigen Residuen, verkalken auf dieselbe Weise. [232] Verhandl. der Berliner med. Gesellschaft. I. 253. [233] Archiv L. 304. Aus diesen Beispielen geht hervor, dass nicht jeder Theil beliebig verkalkt, sondern dass er sich dazu in besonderen Verhältnissen befinden muss. Ist er nicht abgestorben, so geht doch eine chemische Veränderung, häufig eine physiologische Schwächung voraus. Dies gilt namentlich für den Fall, wo die Zellen eines Theiles, und nicht etwa, wie bei dem Knochen, nur die Intercellularsubstanz, verkalken. Sind die zelligen Elemente eines Gewebes verkalkt, so ist es eine träge Masse geworden, welche für die Zwecke, denen es eigentlich dienen sollte, unbrauchbar ist. Es ist gleichsam zur Ruhe gebracht, beigesetzt. Und so ist die einfache Verkalkung ein im hohen Maasse passiver Vorgang, der das Wesen und die Bedeutung der indurirenden passiven Prozesse besonders gut erläutert. -- Neunzehntes Capitel. Gemischte, activ-passive Prozesse. Entzündung. Fettmetamorphose als Entzündungs-Ausgang. Unterschied zwischen primärer (einfacher) und secundärer (entzündlicher) Fettmetamorphose. Nieren, Muskeln. Atheromatöser Prozess der Arterien. Atheromatie und Ossification als Folgen der Arteriosklerose. Entzündlicher Charakter der letzteren: Endoarteriitis chronica deformans s. nodosa. Bildung der Atheromheerde. Cholestearin-Abscheidung. Ossification. Ulceration. Analogie mit der Endocarditis. Die Entzündung. Die vier Cardinalsymptome und deren Vorherrschen in den einzelnen Schulen. Die thermische und vasculäre Theorie, die neuropathologische, die Exsudatlehre. Entzündungsreiz. Functio laesa. Die Entzündung in gefässlosen und in gefässhaltigen Theilen. Das Exsudat als Folge der Gewebsthätigkeit: Schleim und Fibrin. Die Entzündung als zusammengesetzter Reizungsvorgang. Parenchymatöse und exsudative (secretorische) Form. Klinische und anatomische Bedeutung der Entzündung. Irrthum von der einheitlichen Natur der Entzündungs-Vorgänge. Multiplicität der entzündlichen Prozesse. Die Betrachtung der passiven Prozesse hatte uns zu einer Darstellung der Vorgänge bei der =Fettmetamorphose= geführt. Ich sage Fettmetamorphose, einmal weil unter der Bezeichnung der fettigen Degeneration im Laufe der Zeit zu vielerlei Vorgänge zusammengeworfen sind, andermal weil ich in der That die Ansicht hege, dass das Fett hier durch eine chemische Metamorphose aus dem früheren Zelleninhalt, also vielleicht aus eiweissartiger Substanz erzeugt wird. Jedenfalls geht nicht nur die normale Struktur der Theile dabei zu Grunde, sondern es tritt auch an die Stelle der histologischen Elemente, welche zerfallen und sich auflösen, eine nicht mehr organische, rein emulsive Masse, es bildet sich, kurz gesagt, ein =fettiger Detritus=. Es macht dabei nichts aus, ob eine Eiterzelle, ein Bindegewebskörperchen, eine Nerven- oder Muskelfaser, ein Gefäss die Veränderung erfährt; das Resultat ist immer dasselbe: ein milchiger Detritus, eine amorphe Anhäufung von Fett- oder Oeltheilchen in einer mehr oder weniger eiweissreichen Flüssigkeit. Wenn wir für alle Fälle der Fettmetamorphose diese Uebereinstimmung festhalten, so folgt daraus doch keinesweges, dass der Werth dieser Veränderung in Beziehung auf die Krankheitsvorgänge, im Laufe welcher sie eintritt, jedesmal gleich sei. Man kann das schon daraus abnehmen, dass, während ich diese Metamorphose unter der Kategorie der rein passiven Störungen vorgeführt habe, gerade eines der Gebilde, welches dabei am häufigsten auftritt, die Körnchenkugel, lange Zeit hindurch als das specifische Element der Entzündung betrachtet worden ist. Jahrelang sah man die Entzündungskugel für eine wesentliche, pathognomonische und daher diagnostische Erscheinung des Entzündungsprozesses an, und in der That, die Häufigkeit, mit welcher man in entzündeten Theilen fettig degenerirte Zellen findet, beweist genügend, dass im Laufe der entzündlichen Prozesse, welche wir nimmermehr als einfach passive Vorgänge betrachten können, solche Umwandlungen geschehen. Es handelt sich also darum, eine Unterscheidung beider Reihen, der einfach passiven und der entzündlichen, zu finden. Freilich hat diese Unterscheidung in einzelnen Fällen ihre sehr grossen Schwierigkeiten. Meiner Ueberzeugung nach besteht die einzige Möglichkeit einer Orientirung darin, dass man untersucht, ob der Zustand der fettigen Degeneration ein primärer oder ein secundärer ist, ob er eintritt, sobald überhaupt eine Störung bemerkbar wird, oder ob er erst erfolgt, nachdem eine andere bemerkbare Störung vorangegangen ist. Die secundäre Fettmetamorphose, bei welcher erst in zweiter Linie diese eigenthümliche Umwandelung zu Stande kommt, folgt in der Regel auf ein erstes actives oder irritatives Stadium; eine ganze Reihe derjenigen Prozesse, welche wir ohne Umstände Entzündungen nennen, verläuft in der Weise, dass als zweites oder drittes anatomisches Stadium eine fettige Metamorphose der Gewebe auftritt. Diese entsteht also hier nicht als das unmittelbare Resultat der Reizung des Theiles, sondern wo wir Gelegenheit haben, die Geschichte der Veränderung genauer zu verfolgen, da zeigt sich fast immer, dass dem Stadium der fettigen Degeneration ein anderes Stadium voraufgeht[234], nehmlich das der =trüben Schwellung=, in welchem die Theile sich vergrössern, an Umfang und zugleich an Dichte zunehmen, indem sie eine grosse Menge von neuem Material in sich aufsaugen. Absichtlich sage ich aufsaugen[235], weil ich es für falsch halte, dass der Theil etwa von aussen genöthigt worden ist, dieses Material aufzunehmen, dass er etwa durch Exsudat von den Gefässen aus überschwemmt worden ist. Dieselben Erscheinungen treten auch an Theilen auf, die keine Gefässe haben. Aber erst dann, wenn die Ansammlung ein solches Maass erreicht hat, dass die Constitution in Frage gestellt wird, leitet sich ein fettiger Zerfall im Inneren der Elemente ein. So können wir die fettige Degeneration des Nierenepithels als ein späteres Stadium der Bright'schen Krankheit, oder, wie ich sage, der parenchymatösen Nephritis bezeichnen; ihr geht ein Stadium der Hyperämie und Schwellung voraus, wo jede Epithelzelle eine grosse Quantität von opaker Masse in sich ansammelt, ohne dass im Anfange auch nur eine Spur von Fetttröpfchen zu bemerken ist[236]. So schwillt der Muskel unter Einwirkungen, welche nach dem allgemeinen Zugeständniss eine Entzündung machen, z. B. nach Verwundungen, nach chemischen Aetzungen; seine Primitivbündel werden breiter und trüber, und in einem zweiten Stadium beginnt in ihnen dieselbe fettige Degeneration, welche wir andere Male, z. B. bei Lähmungen, direct auftreten sehen[237]. [234] Archiv I. 149. 165. [235] Archiv I. 276. III. 460. IV. 379. [236] Archiv I. 165. IV. 264, 319. [237] Archiv IV. 266. Man kann also, wenn man ganz allgemein spricht, allerdings sagen, dass es eine entzündliche Form der fettigen Degeneration gibt. Allein, genau genommen, ist diese entzündliche Form nur ein späteres Stadium, ein Ausgang, welcher den eintretenden Zerfall der Gewebsstruktur anzeigt, wo der Theil nicht mehr im Stande ist, seine Sonderexistenz fortzuführen, sondern wo er so weit dem Spiele der chemischen Kräfte seiner constituirenden Theile verfällt, dass das nächste Resultat seine vollständige Auflösung ist. Gerade diese Art von Entzündungszuständen hat eine sehr grosse Bedeutung, weil an allen Theilen, wo die wesentlichen Elemente in dieser Weise verändert werden, überhaupt keine unmittelbare, nutritive oder einfach regenerative Restitution möglich ist. Wenn eine Muskelentzündung besteht, bei welcher die Muskelprimitivbündel der fettigen Degeneration verfallen, so gehen sie auch regelmässig zu Grunde, und wir finden nachher an der Stelle, wo die Degeneration stattgefunden hatte, eine, wenn auch nicht offene, Lücke (einen Defect) im Muskelfleisch. Die Niere, deren Epithel in fettige Degeneration übergeht, schrumpft fast immer zusammen; das Resultat ist eine bleibende Atrophie. Ausnahmsweise kommt vielleicht etwas zu Stande, was als Regeneration des Epithels gedeutet werden könnte, aber gewöhnlich ist ein Zusammensinken der ganzen Struktur die Folge. Dasselbe sehen wir am Gehirne bei der gelben Erweichung, gleichviel, wie sie bedingt sein mag. Ob Entzündung oder nicht vorherging, es bildet sich ein Heerd, welcher sich nie wieder mit Nervenmasse ausfüllt. Vielleicht, dass eine einfache Flüssigkeit die fehlenden Gewebe ersetzt; von irgend einer Herstellung eines neuen, functionell wirksamen Theiles kann niemals die Rede sein. So muss man es sich erklären, dass scheinbar sehr ähnliche Zustände, welche man vom pathologisch-anatomischen Standpunkte aus als identisch erklären möchte, vom klinischen Standpunkte aus weit auseinander liegen, ja dass man an denselben Theilen dieselben Veränderungen trifft, ohne dass doch der Gesammtprozess, welchem sie angehören, derselbe war. Wenn ein Muskel einfach fettig degenerirt, so kann das Primitivbündel ebenso aussehen, als wenn eine Entzündung darauf eingewirkt hat. Die Myocarditis erzeugt ganz analoge Formen der fettigen Degeneration innerhalb des Herzfleisches, wie die übermässige Dilatation der Herzhöhlen. Wenn eine der letzteren z. B. durch Hemmung des Blutstromes oder Incontinenz der Klappen dauernd sehr ausgespannt wird, so tritt an dem am meisten gespannten Theile sehr häufig eine fettige Degeneration des Muskelfleisches ein. Diese gleicht morphologisch so vollständig einem Stadium der Myocarditis, dass in vielen Fällen überhaupt gar nicht mit Sicherheit zu sagen ist, auf welche Weise der Prozess entstanden sein mag. Versuchen wir, die Methode der Lösung solcher Schwierigkeiten an einer wichtigen, häufigen und zugleich vielfach missverstandenen Krankheit darzulegen, nehmlich an dem sogenannten =atheromatösen Prozesse der Arterien=[238]. Gerade bei ihm ist die Confusion in der Deutung der Veränderungen vielleicht am grössten gewesen. [238] Gesammelte Abhandlungen 492 ff. Zu keiner Zeit im Laufe dieses Jahrhunderts hat man sich vollständig über das geeinigt, was man unter dem Ausdrucke der atheromatösen Veränderung an einem Gefässe verstehen wollte. Der Eine hat den Begriff weiter, der Andere hat ihn enger gefasst, und doch ist er vielleicht von Allen zu weit gefasst worden. Als nehmlich die Anatomen des vorigen Jahrhunderts den Namen des Atheroms auf eine bestimmte Veränderung der Arterienhäute anwandten, hatten sie natürlich einen ähnlichen Zustand im Sinne, wie derjenige ist, welchen man schon seit dem griechischen Alterthume an der Haut mit dem Namen des Atheroms, des Grützbalges belegt hatte[239]. Es versteht sich danach von selbst, dass der Begriff des Atheroms sich auf einen geschlossenen Heerd, eine Art von Balggeschwulst (Tumor cysticus) bezieht. Niemand hat etwas an der Haut Atherom genannt, was offen und frei zu Tage lag. Es war daher ein sonderbares Missverständniss, als man neuerlich anfing, an den Gefässen auch solche Veränderungen Atherome zu nennen, welche nicht abgeschlossen in der Tiefe liegen, sondern ganz und gar der Oberfläche angehören. Anstatt, wie es ursprünglich gemeint war, einen geschlossenen Heerd atheromatös zu nennen, hat man damit häufig eine Veränderung bezeichnet, welche in der innersten Arterienhaut ganz oberflächlich bestand. Als man anfing, die Sache feiner zu untersuchen, und als man an sehr verschiedenen Punkten der Gefässwand, sowohl bei Atherom, als ohne dasselbe, fettige Partikeln fand (Fig. 122), als man sich endlich überzeugte, dass der Prozess der fettigen Degeneration immer derselbe und mit der atheromatösen Veränderung nahezu identisch sei, so wurde es Sitte, alle Formen der fettigen Degeneration an den Arterien in der Bezeichnung des Atheroms oder der Atherose zu vereinigen. Nach und nach kam man sogar dahin, von einer atheromatösen Veränderung solcher Gefässe zu sprechen, welche nur eine einfache Haut haben, denn auch an den Capillaren stösst man auf fettige Processe. [239] Geschwülste I. 224. Seit Langem hat es ferner Beobachter gegeben, welche die Ossification der Gefässe als eine mit dem Atherom zusammengehörige Veränderung betrachteten. =Haller= und =Crell= glaubten, dass die Ossification aus der atheromatösen Masse hervorginge, und dass die letztere ein Saft sei, welcher ähnlich, wie man es von dem unter dem Periost des Knochens ausschwitzenden Safte annahm, fähig sei, aus sich Knochenplatten zu erzeugen. Später erkannte man freilich, dass Atheromatie und Ossification zwei parallele Vorgänge seien, welche aber auf einen gemeinschaftlichen Anfang hinwiesen. Es wäre nun wohl logisch gewesen, wenn man sich zunächst darüber geeinigt hätte, welches dieser gemeinschaftliche Anfang wäre, von dem die atheromatöse Veränderung und die Ossification ausgingen. Statt dessen gerieth man in die Bahn der fettigen Entartungen und dehnte den atheromatösen Prozess über eine Reihe von kleinen Gefässen aus, an denen die Bildung irgend eines wirklich dem atheromatösen Heerde der Haut vergleichbaren geschlossenen Sackes oder Balges überhaupt unmöglich ist. Nun liegt aber die Sache auch hier sehr einfach so, dass man an den Gefässen zwei, ihrem endlichen Resultate nach sehr analoge Prozesse trennen muss: zuerst die =einfache= (=passive=) =Fettmetamorphose=, welche ohne ein weiter erkennbares Vorstadium eintritt, wo die vorhandenen Elemente unmittelbar in fettige Degeneration übergehen und zerstört werden, und wodurch eben nur ein mehr oder weniger ausgedehnter Verlust (Usur) von Bestandtheilen der Gefässwand zu Stande kommt; sodann eine zweite Reihe von Vorgängen, wo wir vor der Fettmetamorphose =ein Stadium der Reizung= unterscheiden können, welches übereinstimmt mit dem Stadium der Schwellung, Vergrösserung, Trübung, das wir an anderen entzündeten Stellen sehen. Ich habe daher kein Bedenken getragen, in dieser Frage mich ganz auf die Seite der alten Anschauung zu stellen, und als den Ausgangspunkt der sogenannten atheromatösen Degeneration eine Entzündung der Gefässwand zuzulassen (Endoarteriitis); und ich habe mich weiterhin bemüht zu zeigen, dass diese Art von entzündlicher Erkrankung der Gefässwand in der That genau dasselbe ist, was man allgemein an den Herzwandungen eine Endocarditis nennt. Zwischen beiden Prozessen besteht kein anderer Unterschied, als dass die Endocarditis häufiger acut, die Endoarteriitis häufiger chronisch verläuft. Mit einer solchen Scheidung der Prozesse an den Arterien in einfach degenerative (passive) und entzündliche (active) erklärt sich sofort der verschiedene Verlauf. Trügerisch ist nur der Umstand, dass beide Prozesse sich gelegentlich in demselben Falle gleichzeitig finden. Neben den charakteristischen Umwandlungen der chronisch entzündlichen Theile in der Tiefe finden sich an der Oberfläche nicht selten einfach fettige Veränderungen. [Illustration: =Fig=. 128. Verticalschnitt durch die Aortenwand an einer sklerotischen, zur Bildung eines Atheroms fortschreitenden Stelle. _mm_' Tunica media, _i_ _i_' _i_'' Tunica intima. Bei _S_ die Höhe der sklerotischen Stelle gegen die Gefässlichtung, _i_ die innerste, über den ganzen Heerd fortlaufende Lage der Intima, _i_' die wuchernde, sklerosirende und schon zur Fettmetamorphose sich anschickende Schicht, _i_'' die schon fettig metamorphosirte, bei _e_, _e_ direkt erweichende, zunächst an die Media anstossende Lage. Vergr. 20.] Betrachten wir nun die Atheromatie etwas genauer, z. B. an der Aorta, wo der Prozess am gewöhnlichsten ist. Im Anfange (d. h. eigentlich zu einer Zeit, wo noch nichts Atheromatöses vorhanden ist) entsteht an der Stelle, wo die Reizung stattgefunden hat, eine Anschwellung, kleiner oder grösser, nicht selten so gross, dass sie als wirklicher Buckel über das Niveau der inneren Oberfläche hervorragt. Diese Hervorragungen unterscheiden sich von der Nachbarschaft durch ihr durchscheinendes, hornhautartiges Aussehen. In der Tiefe sehen sie mehr trübe aus. Hat die Veränderung eine gewisse Dauer gehabt, so zeigen sich die weiteren Umwandelungen nicht an der Oberfläche, sondern unmittelbar da, wo die Intima die Media berührt, wie das die Alten sehr gut beschrieben haben. Wie oft haben sie mit Bestimmtheit behauptet, dass man die innere Haut über die veränderte Stelle hinweg abziehen könne! Daraus ging die Schilderung von =Haller= hervor, dass die breiartige, atheromatöse Masse in einer geschlossenen Höhle, wie eine kleine Balggeschwulst, zwischen Intima und Media läge. Nur das war falsch, dass man die Geschwulst als einen besonderen, von den Gefässhäuten trennbaren Körper betrachtete, über welchen die sonst unveränderte Intima einfach hinwegliefe. Es ist vielmehr die stark verdickte Intima selbst, welche ohne Grenze in die Geschwulst übergeht. Je weiter der Prozess fortschreitet, um so mehr bildet sich aus der Erweichung und dem Zerfalle der tiefsten Lagen der Intima ein geschlossener Heerd, während die oberflächlichen Schichten sich noch unversehrt erhalten; zuletzt kann es sein, dass der Heerd fluctuirt und beim Einschnitte eine breiige Materie sich entleert, wie der Eiter beim Einschnitte in einen Abscess. Untersucht man nun die Masse, welche am Ende des Prozesses vorhanden ist, so sieht man zahlreiche Cholestearinplatten, welche oft schon für das blosse Auge als glitzernde Scheibchen hervortreten: grosse rhombische Tafeln, welche meist zu vielen nebeneinanderliegen, sich decken und im Ganzen einen Glimmerreflex erzeugen. Neben diesen Platten finden sich die unter dem Mikroskope bei durchfallendem Lichte schwarz erscheinenden Körnchenkugeln, innerhalb derer die einzelnen Fettkörnchen zuerst ganz fein sind. Die Kugeln sind gewöhnlich in grosser Masse vorhanden; einzelne sieht man zerfallen, sich auseinander lösen und Partikelchen davon, wie in der Milch, umherschwimmen. Daneben mehr oder weniger grosse amorphe Gewebsfragmente, welche noch zusammenhalten und durch die Erweichung der übrigen, nicht fettig veränderten Gewebssubstanz entstehen; in sie sind hie und da Körnerhaufen eingesetzt. =Diese drei Bestandtheile zusammen, das Cholestearin, die Körnchenzellen und die Fettkörnchen, endlich grössere Klumpen von halberweichter Substanz, sind es, welche den breiigen Habitus des atheromatösen Heerdes bedingen=, und welche zusammengenommen in der That eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Inhalte eines Grützbeutels der äusseren Haut erzeugen. [Illustration: =Fig=. 129. Der atheromatöse Brei aus einem Aortenheerde. _a a_' Flüssiges Fett, entstanden durch Fettmetamorphose der Zellen der Intima (_a_), welche sich in Körnchenkugeln (_a_' _a_') umbilden, dann zerfallen und kleine und grosse Oeltropfen frei werden lassen (fettiger Detritus). _b_ Amorphe körnig-faltige Schollen erweichten und gequollenen Gewebes. _c c_' Cholestearinkrystalle: _c_ die grossen rhombischen Tafeln, _c_' _c'_ feine, rhombische Nadeln. Vergr. 300.] Was das Cholestearin anbetrifft, so ist es keineswegs ein specifisches Product, welches dieser Art von fettiger Umwandelung für sich zugehörte. Vielmehr sehen wir überall, wo fettige Producte innerhalb einer abgeschlossenen Höhle, welche dem Stoffwechsel wenig zugänglich ist, längere Zeit stagniren, dass das Fett Cholestearin abscheidet, z. B. in der Flüssigkeit alter Hydrocelen, Strumen, Eierstockscysten. Fast alle Fettmassen, die wir im Körper antreffen, enthalten eine gewisse Quantität von Cholestearin gebunden. Ob das freiwerdende Cholestearin vorher schon vorhanden war, oder ob an den Stellen eine wirkliche Neubildung desselben erfolgt, darüber kann man bis jetzt nichts sagen, da bekanntlich noch gar keine chemische Thatsache ermittelt ist, welche über den Hergang bei der Bildung des Cholestearins und über die Stoffe, aus welchen Cholestearin sich bilden mag, irgend einen Aufschluss gäbe. Soviel muss man festhalten, dass das Cholestearin ein spätes Abscheidungsproduct stagnirender, namentlich fetthaltiger Theile ist. Wenn man nun die erste Entwickelung der atheromatösen Stellen der Arterien histologisch erforscht, so stösst man vor der Zeit, wo breiige Substanz in dem Heerde des Atheroms liegt, auf ein Stadium, wo man nichts weiter findet, als eine Fettmetamorphose, durch welche Körnchenzellen in der gewöhnlichen Weise aus den Elementen des Gewebes hervorgehen, und man überzeugt sich deutlich, dass der Vorgang in diesem Stadium absolut nicht verschieden ist von dem, welchen wir bei dem Herzen und bei der Niere in dem Stadium der fettigen Metamorphose vorfanden (S. 425, 427). In dieser Zeit, unmittelbar vor der Bildung des Heerdes, stellt sich das Verhältniss bei starker Vergrösserung so dar: Auf einem Durchschnitte (Fig. 130, _a_, _a_') sehen wir die eingestreuten fettig degenerirenden Elemente gegen die Mitte hin grösser werden und dichter liegen, aber im Allgemeinen noch die Form von Zellen bewahren; gegen den Umfang des Heerdes hin sind sie kleiner und spärlicher. Alle diese Zellen sind mit kleinen, das Licht stark reflectirenden, fettigen oder öligen Körnchen gefüllt. Dadurch entsteht für das blosse Auge auf einem Durchschnitte ein weisslicher oder weissgelblicher Fleck. Zwischen diesen Körnchenzellen befindet sich eine maschige Grundsubstanz, die eigentlich faserige Intercellularsubstanz der Intima, welche wir deutlich nach aussen in die normale Intima sich fortsetzen sehen. [Illustration: =Fig=. 130. Verticaler Durchschnitt aus einer sklerotischen, sich fettig metamorphosirenden Platte der Aorta (Tunica intima, nahe der Oberfläche): _i_ der innerste Theil der Haut mit einzelnen und zu mehreren gruppirten (getheilten), runden Kernen. _h_ die Schicht der sich vergrössernden Zellen: man sieht Maschennetze mit spindelförmigen Zellen, welche durchschnittene knorpelartige Körperchen umschliessen. _p_ Wucherungsschicht; Theilung der Kerne und Zellen. _a a_' die atheromatös werdende Schicht: _a_ der Beginn des Prozesses, _a_' der vorgerückte Zustand der Fettmetamorphose. Vergr. 300.] Für die Deutung der Vorgänge ist es aber ganz besonders wichtig, dass man sich unmittelbar davon überzeugen kann, dass die Faserlage, welche über dem Heerde liegt, ebenso in die oberflächliche Faserlage der benachbarten normalen Intima übergeht, wie die Faserlage der degenerirten Stelle in die tieferen Faserlagen der normalen Intima. Auf diese Weise wird die, auch von =Rokitansky= längere Zeit vertheidigte Ansicht widerlegt, dass es sich ursprünglich um eine Auflagerung auf die Fläche der inneren Haut handele. Man sieht auf einem Durchschnitte ganz evident, wie die äussersten Schichten in einem Bogen über die ganze Schwellung hinweglaufen, aus der Intima hervorkommen und in sie zurückkehren. Die Alten hatten also ganz Recht, wenn sie in dem Stadium, wo die Bildung des Atherom-Heerdes schon vorgerückt ist, sagten, man könne die Intima über den Heerd herüber im Zusammenhange abziehen. Nur ist das nicht die ganze Intima, vielmehr überzeugt man sich, dass die unteren Schichten des Heerdes jenseits der Grenze desselben ebenfalls in die tieferen Schichten der normalen Intima fortgehen, dass also hier nicht, wie die Alten annahmen, eine Zwischenlagerung zwischen Intima und Media stattfindet, sondern das Ganze, was wir vor uns haben, degenerirte Intima ist. In einzelnen besonders heftigen Fällen erscheint auch an den Arterien die nekrobiotische Erweichung nicht als Folge einer rein fettigen Metamorphose, sondern als directes Entzündungsproduct. Während im Umfange ein fettiger Zerfall stattfindet, tritt im Centrum der Veränderungsstelle ein gelbliches, trübes Wesen auf, unter welchem die Substanz fast unmittelbar in ein Gemisch grober Bröckel (Fig. 128, _e_, _e_. Fig. 129, _b_) erweicht und zerfällt. Es fragt sich in letzter Instanz, wo eigentlich der Sitz der fettigen Degeneration ist. Man kann sich auch hier wieder denken, dass das Fett in Zwischenräume (Interstitien) zwischen den Lamellen der Intima abgelagert werde; und es gibt noch heute einen kleineren Theil von Histologen, welche nicht anerkennen, dass das Bindegewebe nur Zellen, aber keine einfachen Lücken enthält. Untersucht man die veränderten Stellen nach der Oberfläche hin, so sieht man, dass dasselbe Gefüge, welches an den fettigen Theilen hervortritt, sich auch an den bloss hornigen oder halbknorpeligen Lagen erkennen lässt. Faserzüge, zwischen welchen von Strecke zu Strecke kleine linsenförmige Lücken erscheinen, finden sich hier, wie auch an der normalen Intima; in den Lücken und in den Faserzügen liegen aber zellige Theile (Fig. 130, _h_, _p_). Die Vergrösserung, welche die Stelle erfahren hat, und welche wir =Sklerose= nennen, beruht darauf, dass, während die faserige Intercellularsubstanz dicker und dichter wird, die zelligen Elemente sich vergrössern und eine Vermehrung ihrer Kerne eintritt, so dass man nicht selten Räume findet, in denen ganze Haufen von Kernen liegen. Damit leitet sich der Prozess ein. Weiterhin kommen Theilungen der Zellen vor, und man trifft eine grosse Masse von jungen Elementen. Diese sind es, welche nachher der Sitz der fettigen Degeneration werden (Fig. 130, _a_, _a_') und dann wirklich zu Grunde gehen. Demnach haben wir auch hier wieder einen activen Prozess, der wirklich neues Gewebe hervorbringt, dann aber durch seine eigene Entwickelung dem Zerfalle entgegeneilt. Kennt man diese Entwickelung, so begreift es sich, dass eine zweite Möglichkeit des Ausganges neben der fettigen Degeneration besteht, nehmlich die =Ossification=. Denn es handelt sich hier wirklich um eine Ossification, und nicht, wie man in neuerer Zeit behauptet hat, um eine blosse Verkalkung: die Platten, welche die innere Wand des Gefässes durchsetzen, sind wirkliche, wenn auch etwas rohe Knochenplatten. Da sie aus derselben sklerotischen Substanz sich bilden, aus der in anderen Fällen die fettige Masse wird, und da ein wirkliches Gewebe nur aus einem früheren Gewebe hervorgehen kann, so folgt von selbst, dass wir auch beim Ausgange in Fettmetamorphose nicht eine einfache Ausstreuung von Fett annehmen können, welche in beliebige Zwischenräume erfolgte. Die Ossification geschieht hier gerade so, wie wenn sich unter Entzündungs-Erscheinungen an der Oberfläche des Knochens eine (periostitische) Knochenlage bildete. Die Osteophyten der inneren Schädeldecke und der Hirnhäute zeigen dieselbe Entwickelung, wie die ossificirenden Platten der inneren Haut der Aorta und selbst der Venen. Ihr erstes Stadium besteht immer in der vermehrten Bildung von bindegewebigen, sklerosirenden Verdickungen, in welche erst spät die Ablagerung der Kalksalze erfolgt. Sobald diese wirkliche Ossification besteht, so können wir gar nicht umhin, den Vorgang als einen aus einer Reizung der Theile zu neuen, formativen Actionen hervorgegangenen zu betrachten; er fällt also in den Begriff der Entzündung oder wenigstens derjenigen irritativen Prozesse, welche einer Entzündung ausserordentlich nahe stehen. Gelangt man demnach von beiden Endpunkten des Prozesses aus, sowohl von der Atheromatie, als von der Ossification, zu demselben Resultate, dass die Knoten und Buckel, welche im Stadium der Sklerose die innere Fläche der Gefässe verunstalten, auf einen activen Prozess, auf wirkliche formative Reizung zurückführen, so kann man den Prozess gewiss nicht besser bezeichnen, als mit dem Namen der =Endoarteriitis chronica deformans s. nodosa=. Der an sich passive Charakter des fettigen Endstadiums (Ausganges) ändert nichts an dem activen, irritativen Anfangsstadium. Nur muss man sich stets erinnern, dass eine wesentliche Verschiedenheit zwischen diesem Prozesse und der einfachen fettigen Degeneration besteht, welche am besten an einem grossen Gefässe, z. B. der Aorta, zu erkennen ist. Bei der letzteren entsteht an der Oberfläche der Intima eine ganz leichte Anschwellung, welche sofort mit weggenommen wird, sobald man einen oberflächlichen Schnitt abträgt; darunter liegt noch eine starke Lage intacter Intima. Bei der Endoarteriitis dagegen haben wir im letzten Stadium einen tief unter der oft normalen Oberfläche liegenden Heerd, welcher später aufbricht, seinen Inhalt entleert und das =atheromatöse Geschwür= bildet. Dieses entsteht zuerst als ein feines Loch der Intima, durch welches der dicke, zähe Inhalt des Atheromheerdes in Form eines Pfropfes an die Oberfläche drängt; nach und nach entleert sich immer mehr von diesem Inhalte, wird vom Blutstrome fortgerissen, und zuletzt behalten wir ein mehr oder weniger grosses Geschwür zurück, welches bis auf die Media gehen kann, ja nicht selten diese mit betheiligt. Immer handelt es sich also um eine schwere Erkrankung des Gefässes, welche zu einer eben solchen Destruction führt, wie sie bei anderen heftigen entzündlichen Prozessen vorkommt. Wendet man diese Erfahrung auf die Geschichte der =Endocarditis=[240] an, so findet man die ganze Angelegenheit auch da. Auch an den Herzklappen gibt es einfach fettige Degenerationen, sowohl an der Oberfläche, als auch in der Tiefe. Diese verlaufen gewöhnlich so, dass bei Lebzeiten keine Störung erkennbar wird, und dass wir von unserem gegenwärtigen Erfahrungs-Standpunkte aus keine gröbere anatomische Störung angeben könnten, welche die weitere Folge davon wäre. Dagegen das, was wir Endocarditis nennen, was nachweisbar im Verlaufe des Rheumatismus entsteht und unzweifelhaft als eine Art von Aequivalent (Metastase) für den Rheumatismus der peripherischen Theile auftreten kann, beginnt mit einer Schwellung der erkrankten Stelle selbst. Die zelligen Elemente nehmen mehr Material auf, die Stelle wird uneben, höckerig. Verläuft der Prozess mehr langsam, so entsteht entweder eine Excrescenz (Condylom), oder die Verdickung breitet sich mehr hügelig aus und wird später der Sitz einer Verkalkung oder wirklichen Verknöcherung. Hat der Prozess einen acuteren Verlauf, so kommt es zu fettiger Degeneration oder Erweichung, wo die Klappen durch den Blutstrom zertrümmert werden, Bruchstücke sich ablösen und embolische Heerde an entfernteren Punkten entstehen (Fig. 82, S. 246). [240] Wiener medic. Wochenschrift 1858. No. 14. [Illustration: =Fig=. 131. Condylomatöse Excrescenzen der Valvula mitralis: einfache körnige Anschwellungen (Granulationen), grössere Hervorragungen (Vegetationen), einzelne zottig, einzelne ästig und wieder knospend; in allen elastischen Fasern aufsteigend. Vergr. 70.] Nur auf diese Weise, indem man die Anfänge der Veränderungen beobachtet, ist es möglich, sichere und für die Praxis brauchbare Urtheile über die pathologischen Prozesse zu gewinnen. Niemals darf man sich bestimmen lassen, von der Differenz der klinischen Prozesse ausgehend, die endlichen Producte derselben als nothwendig verschieden zu betrachten. Die heftigsten Entzündungsprozesse, welche in ganz kurzer Zeit verlaufen, können dieselben Ausgänge machen, welche in anderen Fällen langsamer und ohne Entzündung entstehen. Ich habe nicht die Absicht, die Reihe der verschiedenen passiven Störungen, welche möglicherweise im späteren Verlaufe von Reizungszuständen auftreten können, im Einzelnen zu verfolgen. Wir würden sonst in der Geschichte fast aller degenerativen Atrophien analoge Beispiele finden können. Ueberall muss man die Zustände, in denen ein Theil direkt der Sitz einer solchen Rückbildung wird, von denjenigen unterscheiden, wo er vorher eine active Veränderung erfuhr. Das ist die erste Vorbedingung zur vorurtheilsfreien, wirklich gegenständlichen Erkenntniss der =Entzündung= überhaupt, zu deren Besprechung wir uns gegenwärtig wenden wollen. Der Begriff der Entzündung hat sich unter der Einwirkung der Erfahrungen, von welchen ich schon in dem Vorhergehenden einen gewissen Theil besprochen habe, wesentlich verändert. Während man noch bis vor kurzer Zeit gewohnt war, die Entzündung ontologisch, als einen =seinem Wesen nach= überall gleichartigen Vorgang zu betrachten, so ist nach meinen Untersuchungen nichts übrig geblieben, als alles Ontologische von dem Entzündungs-Begriffe abzustreifen, und die Entzündung nicht mehr als einen seinem Wesen nach von den übrigen verschiedenen Prozess, sondern nur als eine =dem Verlaufe nach eigenthümliche Form verschiedener Prozesse= anzusehen[241]. [241] Archiv IV. 280. Spec. Pathol. und Ther. I. 46, 72, 76. In der Aufstellung der Alten, wie sie uns in den dogmatischen Schriften =Galen='s erhalten ist, steht bekanntlich unter den vier Cardinal-Symptomen (calor, rubor, tumor, dolor) die Hitze als das dominirende da, denn sie ist das Symptom, von welchem der Prozess seinen Namen bekommen hat. Späterhin ist in dem Maasse, als die Frage von der thierischen Wärme überhaupt und von der Wärme in pathologischen Zuständen insbesondere in den Hintergrund trat, immer mehr Gewicht gelegt worden auf die Röthung, und so ist es geschehen, dass schon im vorigen Jahrhundert, in der Zeit der mechanischen Theorien, wo namentlich =Boerhaave= die Entzündung ableitete von der Obstruction der Gefässe und der damit verbundenen Stasis des Blutes, der Begriff der Entzündung sich mehr oder weniger an die Gefässe band. Seitdem die pathologisch-anatomischen Erfahrungen sich ausdehnten, wurde insbesondere in Frankreich durch =Andral= die Hyperämie als der nothwendige und regelmässige Ausgangspunkt der Entzündung hingestellt. Die Einseitigkeit, mit welcher diese Ansicht noch bis in unsere Zeit festgehalten ist, war zum grossen Theile eine Nachwirkung der =Broussais='schen Anschauung, welche in der pathologisch-anatomischen Richtung zur Geltung gekommen ist. Die Hyperämie trat allmählich an die Stelle aller übrigen wesentlichen Symptome. Eine Aenderung der Doctrin im grossen Style hat eigentlich nur die Wiener Schule versucht, indem sie, wiederum vom anatomischen Standpunkte aus, an die Stelle der Entzündungs-Symptome das Entzündungsproduct setzte. Das, was sie ihren Erfahrungen gemäss zunächst im Auge hatte, und worin sie das Wesen der Entzündung suchte, war das Product, welches man, allerdings entsprechend den überlieferten Vorstellungen, als ein nothwendig aus den Gefässen hervorgegangenes, als Exsudat bezeichnete. In der alten Classification der Symptome entsprach dem Exsudate der Wiener ungefähr das Symptom des Tumors, und man könnte daher sagen, dass, wie früher der Calor und dann der Rubor, so hier der Tumor in den Vordergrund getreten sei. -- Nur in der mehr speculativen Anschauung der Neuropathologen wird bekanntlich der Dolor als die wesentliche und ursprüngliche Veränderung in dem Entzündungsacte betrachtet. Es kann kein Zweifel sein, dass von diesen verschiedenen Aufstellungen die anatomische Lehre der Wiener Schule die richtigste sein würde, wenn sich nachweisen liesse, dass bei jeder Entzündung, wie es gegenwärtig in die Sprache der meisten Aerzte übergegangen ist, ein Exsudat stattfände, dass der Tumor wesentlich durch dieses Exsudat bedingt sei, und namentlich, dass dieses Exsudat als ein constantes, typisches, und der Fibrin-Gehalt desselben als ein Kriterium der entzündlichen Natur desselben betrachtet werden dürfe. Schon in den früheren Capiteln habe ich zu zeigen gesucht, wie erheblich der Begriff des Exsudates geschmälert werden muss, und wie wesentlich bei dem Auftreten von Stoffen, welche wir allerdings als aus den Gefässen hervorgegangen und zu den früheren Gewebstheilen hinzugekommen betrachten müssen, die activen Beziehungen der Gewebselemente selbst in Frage kommen. Vieles ist, wie wir sahen, nicht ein aus den Gefässen durch den Blutdruck hervorgepresstes, also passives Exsudat, sondern vielmehr, wenn ich mich so ausdrücken soll, ein Educt oder Extract aus den Gefässen in Folge der Thätigkeit, der activen Anziehung der Gewebselemente selbst. Dasjenige, von dem, wie ich glaube, ausgegangen werden muss bei der Betrachtung der Entzündung, der Punkt, in dem ich auch die Aufstellung von =Broussais= und =Andral= für am meisten berechtigt erachte, ist der Begriff des =Reizes=. Wir können uns keine Entzündung denken ohne Entzündungsreiz, und es fragt sich zunächst, in welcher Weise man sich diesen Reiz vorzustellen habe? Wir haben schon gesehen, dass im Allgemeinen eine Reizung in drei verschiedenen Richtungen eintreten kann, dass sie nehmlich entweder eine functionelle, oder eine nutritive, oder eine formative sein kann. Dass bei der Entzündung functionelle Reize in Betracht kommen, dafür spricht schon der Umstand, dass alle neueren Schulen wenigstens darin übereingekommen sind, dass zu den vier charakteristischen Symptomen der Alten noch die =Functio laesa= hinzugefügt werden müsse. Ist bei der Entzündung die Function wirklich gestört, so setzt dies eben voraus, dass der Entzündungsreiz in der Zusammensetzung des Theiles Veränderungen bedingt haben muss, welche die zur Function verwendbaren Theile der Gewebselemente getroffen haben, dass also die functionsfähige Substanz nicht mehr unversehrt ist. Niemand wird erwarten, dass ein Muskel, der entzündet ist, sich normal contrahirt; jeder setzt voraus, dass die contractile Substanz des Muskels durch die Entzündung gewisse Veränderungen erfahren hat. Niemand wird erwarten, dass eine entzündete Drüsenzelle normal secerniren könne, sondern man betrachtet eine Störung (Hemmung und Aenderung) der Secretion als nothwendige Folge der Entzündung. Niemand wird annehmen, dass eine entzündete Ganglienzelle oder ein entzündeter Nerv seine Verrichtungen ausüben, wie sonst, dass sie auf Reize normal reagiren können. Unseren allgemeinsten Erfahrungen nach schliessen wir in solchen Fällen mit Nothwendigkeit, dass Veränderungen in der Zusammensetzung der zelligen Theile eingetreten sein müssen, welche die natürliche Functionsfähigkeit derselben alteriren. Solche Veränderungen können die Folgen einer übermässigen Function sein; treten sie aber auf Reize ein, die nicht gross genug sind, um die Theile sofort zu zerstören oder ihre Functionsfähigkeit zu erschöpfen, so müssen es nothwendiger Weise entweder nutritive oder formative Reize gewesen sein. Und in der That bestätigt sich dieser Schluss bei der Entzündung. Man findet heut zu Tage die Ansicht schon ziemlich verbreitet, dass es sich bei der Entzündung im Grossen um eine Veränderung in dem Ernährungsacte handle, wobei man die Ernährung freilich als das die formativen und nutritiven Vorgänge gemeinschaftlich Umfassende nimmt, oder, wie ich es früher[242] ausdrückte: So lange auf ein Irritament nur functionelle Störungen zu beobachten sind, so lange spricht man von Irritation; werden neben den functionellen Störungen nutritive bemerkbar, so nennt man es Entzündung. [242] Spec. Pathologie und Ther. I. 72. Will man also von einem Entzündungsreize sprechen, so kann man sich darunter füglich nichts Anderes denken, als dass durch irgend eine für den Theil, welcher in Reizung geräth, äussere Veranlassung, entweder direkt von aussen, oder vom Blute, oder möglicher Weise von einem Nerven her, die Mischung oder Zusammensetzung des Theiles Aenderungen erleidet, welche zugleich seine Beziehungen zur Nachbarschaft ändern und ihn in die Lage setzen, aus dieser Nachbarschaft, sei es ein Blutgefäss oder ein anderer Körpertheil[243], eine grössere Quantität von Stoffen an sich zu ziehen, aufzusaugen und je nach Umständen umzusetzen. Jede Form von Entzündung, welche wir kennen, findet darin ihre natürliche Erklärung. Jede kommt darauf hinaus, dass sie als Entzündung beginnt von dem Augenblicke an, wo diese vermehrte Aufnahme von Stoffen in das Gewebe erfolgt und die weitere Umsetzung dieser Stoffe eingeleitet wird. [243] Archiv XIV. 29. Diese Auffassung nähert sich bis zu einem gewissen Maasse, wie man leicht sieht, derjenigen, welche man vom Standpunkte der vasculären Theorie aus behauptet hat, wonach man als unmittelbare Folge der Hyperämie das Exsudat betrachtet und annimmt, dass die Entzündung, wenn sie declarirt sei, durch die Anwesenheit eines der natürlichen Mischung des Theiles mehr oder weniger fremdartigen Stoffes sich charakterisire. Es fragt sich nur, ob wirklich die Hyperämie die Einleitung und zwar die nothwendige Einleitung zu diesen Vorgängen bilde. Wäre die Entzündung nothwendig gebunden an die Hyperämie, so würde es begreiflicher Weise unmöglich sein, von Entzündungen in Theilen zu sprechen, welche nicht überall in einer unmittelbaren Beziehung zu Gefässen stehen. Wir könnten uns nicht vorstellen, dass eine Entzündung in einer gewissen Entfernung von einem Gefässe geschähe. Es würde vollständig unmöglich sein, von einer Hornhautentzündung zu sprechen (abgesehen vom Rande der Hornhaut), von einer Knorpelentzündung (abgesehen von den zunächst an den Knochen stossenden Theilen), von einer Entzündung der inneren Sehnensubstanz. Vergleichen wir aber die Vorgänge in solchen Theilen mit den gewöhnlichen, so stellt sich unzweifelhaft heraus, dass dieselben Vorgänge der Entzündung in allen diesen Theilen vorkommen können, und dass die Veränderungen der gefässhaltigen sich in keiner Weise nothwendig von denen der gefässlosen unterscheiden. Man darf aber deshalb nicht behaupten, dass die Entzündung an allen Theilen gleich, dass sie demnach als ein einheitlicher Vorgang aufzufassen sei. Allerdings bedingt die Existenz von Gefässen und der Reichthum an Gefässen grosse Verschiedenheiten in den auf gewisse Reize eintretenden Veränderungen. Das Auftreten von Exsudaten ist in hohem Maasse abhängig von der Art der Vascularisation eines Theiles. Die gefässlose Intima einer Arterie oder Vene liefert kein Exsudat, obwohl sie einer Serosa so ähnlich ist, dass die Schule =Bichat='s sie nicht bloss für eine Serosa erklärte, sondern ihr auch dieselben Erkrankungsmöglichkeiten zuschrieb, wie sie an den serösen Häuten bekannt sind. Ebenso wenig exsudirt der Gelenkknorpel an seiner Oberfläche; findet sich ein Exsudat in einer Gelenkhöhle, so stammt es von der Synovialis, welche reichlich Gefässe führt. Wie bekannt, hat man aber auch in der Auffassung der entzündlichen Exsudate insofern Concessionen machen müssen, als man manchen Prozess Entzündung genannt hat, welcher durch die Art des sogenannten Exsudates sich wesentlich von anderen unterscheidet. Wenn man von Schleimhaut-Entzündungen spricht, so denkt man in der Regel doch nicht daran, dass die Schleimhaut ein fibrinöses Exsudat liefern wird. Wir kennen wohl Schleimhäute, wo fibrinöse Exsudate häufig sind, z. B. die Schleimhaut der Respirationsorgane. Aber wir wissen auch, dass auf der Schleimhaut des Digestionstractus freie fibrinöse Exsudate fast gar nicht vorkommen, dass sie höchstens die schlimmeren, namentlich die brandigen und specifischen Formen begleiten. Wenn man von einer Laryngitis spricht, so setzt man nicht sogleich einen Croup voraus. Bei einer Cystitis erwartet man nicht, die innere Fläche der Blase von einer fibrinösen Schicht überzogen zu finden. In der ganzen Reihe der sogenannten gastrischen Entzündungen finden wir namentlich im Anfange des Prozesses fast nichts weiter, als eine reichliche Absonderung von Schleim. Wenn wir also diese catarrhalischen Entzündungen noch Entzündungen nennen, wenn wir sie nicht ganz aus der Reihe der Entzündungen herauswerfen wollen, wozu kein Grund vorliegt, so müssen wir zugestehen, dass ausser dem fibrinösen Exsudate in Entzündungen ein schleimiges Exsudat bestehen kann, und dass die Entzündungen mit schleimigem Exsudate eine eigene, gewissen Organen zukommende Kategorie bilden. Denn bekanntlich finden wir sie nicht an allen Geweben des Körpers, sondern fast nur an Schleimhäuten. Sieht man sich nun die fibrinösen Exsudate etwas genauer an, so kann gar kein Zweifel sein, dass sie in diesem Punkte von den schleimigen nicht verschieden sind. Wir kennen nehmlich keinesweges an allen Punkten des Körpers fibrinöse Exsudate; wir kennen z. B. keine Form von exsudativer Encephalitis, welche fibrinöses Exsudat liefert. Eben so wenig ist eine Form von Hepatitis bekannt, wobei fibrinöse Exsudate in der Leber vorkämen. Es gibt wohl eine Entzündung des Leberüberzuges (Perihepatitis), so gut wie eine Entzündung des Gehirnüberzuges (Arachnitis), wobei Fibrin frei hervortreten kann, aber nie hat Jemand bei einer eigentlichen Hepatitis oder Encephalitis Fibrin angetroffen. Ebensowenig gibt es bei den gewöhnlichen Entzündungen des Herzfleisches (Myocarditis) Fibrin. Andererseits ist es sicher, dass man, von bestimmten Voraussetzungen ausgehend, Fibrin-Exsudate an vielen Punkten vermuthet hat, wo sie in der That gar nicht zu sehen sind. Wenn man den Eiter aus einem fibrinösen Exsudat hat hervorgehen lassen, und wenn man demnach an allen Stellen, wo Eiter auftritt, ein fibrinöses Exsudat als den Ausgangspunkt betrachtet hat, so gehört doch eben keine grosse Beobachtungsgabe dazu, um sich zu überzeugen, dass dies ein Irrthum ist. Man nehme eine beliebige Ulcerationsfläche, wische den Eiter ab und fange das auf, was nun »ausschwitzt«, so wird man entweder seröse Flüssigkeit oder Eiter haben, aber man wird nicht sehen, dass sich die abgewischte Fläche mit einem Fibrin-Gerinnsel überzieht. Beschränkt man sich auf diejenigen Theile, wo Entzündungen mit wirklichem, unzweifelhaftem fibrinösen Exsudate vorkommen, so ist dies eine nahezu ebenso beschränkte Kategorie, wie die der schleimigen Entzündungen. Hier stehen in erster Linie die eigentlichen serösen Häute, welche gewöhnlich schon bei leichtem Entzündungsreiz Fibrin hervorbringen, in zweiter Linie gewisse Schleimhäute, an welchen die fibrinösen Entzündungen in einer grossen Zahl von Fällen unverkennbar als eine Steigerung aus schleimigen hervorgehen. Ein gewöhnlicher Croup tritt in der Regel nicht von vornherein als fibrinöser Croup auf; anfangs, zu einer Zeit, wo die Gefahr schon eine sehr beträchtliche sein kann, findet sich oft nichts weiter, als eine schleimige oder schleimig-eiterige Pseudomembran. Erst nach einer gewissen Zeit setzt die fibrinöse Exsudation in der Weise ein, dass wir an derselben Pseudomembran die Uebergänge verfolgen können, so dass eine gewisse Stelle deutlich Schleim, eine andere deutlich Fibrin enthält, während an einer dritten Stelle nicht mehr zu sagen ist, ob der eine oder das andere vorhanden ist. Hier treten also beide Stoffe wiederum als Substitute für einander auf. Wo der entzündliche Reiz grösser ist, sehen wir Fibrin, wo er geringer ist, Schleim vorkommen. Vom Schleime wissen wir aber, dass er im Blute nicht präexistirt, wie das Fibrin. Wenn auch eine Schleimhaut unglaublich grosse Massen von Schleim in kurzer Zeit hervorbringen kann, so sind dieselben doch Producte der Schleimhaut selbst; sie wird nicht vom Blute aus mit Schleim durchdrungen, sondern das Mucin, der eigenthümliche Schleimstoff ist ein Erzeugniss der Haut (S. 66), und dieses wird durch die vom Blute aus durchquellende (trans- und exsudirende) Flüssigkeit mit an die Oberfläche geführt. Im Anschlusse an diese Erfahrung habe ich, wie ich früher andeutete (S. 197), auch versucht, die Ansicht umzukehren, welche man über die Entstehung des Fibrins zu haben pflegt[244]. Während man bis jetzt die Fibrinausscheidung als eine eigentliche Transsudation aus der Blutflüssigkeit, das Exsudat als das hervortretende Plasma betrachtete, so habe ich die Deutung aufgestellt, dass auch das Fibrin häufig ein Localproduct derjenigen Gewebe sei, an welchen und in welchen es sich findet, und dass es in derselben Weise an die Oberfläche gebracht werde, wie der Schleim der Schleimhaut. Ich habe damals schon gezeigt, wie man auf diese Weise am besten begreift, dass in dem Maasse, als an einem bestimmten Gewebe die Fibrinproduction steigt, auch dem Blute mehr Fibrin zugeführt wird, und dass die fibrinöse Krase eben so gut ein Product der localen Erkrankung ist, wie die fibrinöse Exsudation das Product der localen Stoffmetamorphose. Nie ist man im Stande gewesen, so wenig als man direct durch Druckveränderung aus dem Blute Schleim an einem Orte hervorbringen kann, welcher nicht selbst Schleim producirt, durch Veränderung im Blutdrucke aus den Capillaren des lebenden Thieres Fibrin hervorzupressen; was durchdringt, sind immer nur die serösen Flüssigkeiten. [244] Spec. Pathologie und Ther. I. 75. Gesammelte Abhandlungen 135-37. Archiv XIV. 36. Ich halte demnach dafür, =dass es in dem gewöhnlichen Sinne überhaupt kein entzündliches Exsudat gibt=, sondern dass das Exsudat, welches wir im Laufe entzündlicher Reizungen antreffen, sich zusammensetzt einerseits aus dem Material, welches durch die veränderte Haltung in dem entzündeten Theile selbst erzeugt wurde, andererseits aus der transsudirten Flüssigkeit, welche aus den Gefässen stammt. Diese kann ihrerseits sehr verschieden sein. Manchmal ist sie rein serös (hydropisch), andermal enthält sie zahlreiche rothe Blutkörperchen und muss daher geradezu als hämorrhagisch bezeichnet werden, andermal endlich finden sich in ihr grössere oder kleinere Mengen von farblosen Blutkörperchen. Besitzt daher ein Theil eine grosse Menge besonders oberflächlicher Gefässe, so wird er auch ein reichliches Exsudat geben können, wobei die vom Blute transsudirende Flüssigkeit ausser den aus dem Blute selbst gelieferten Bestandtheilen die besonderen Producte des Gewebes (Mucin, Fibrin, Paralbumin, zellige Elemente u. s. w.) mit an die Oberfläche führen kann. Hat dagegen der Theil keine Gefässe oder keine freie Oberfläche, so wird es auch kein Exsudat geben, sondern der ganze Vorgang beschränkt sich darauf, dass im Gewebe selbst die besonderen Veränderungen vor sich gehen, die durch den entzündlichen Reiz angeregt worden sind. Demnach gibt es wohl exsudative Entzündungen der äusseren Haut, der Schleim-, serösen und synovialen Häute, der Lungen, aber wir kennen nichts, was damit vergleichbar wäre an Hirn und Rückenmark, an Nerven und Muskeln, an Milz, Leber, Hoden, Knochen u. s. w. Man muss demnach zwei ganz und gar ihrer Leistung nach verschiedene Formen von Entzündungen von einander trennen[245]: nehmlich erstens die =rein parenchymatöse Entzündung=, wo der Prozess im Inneren des Gewebes und zwar mit Veränderungen der Gewebselemente selbst verläuft, ohne dass eine frei hervortretende Ausschwitzung wahrzunehmen ist; zweitens die =secretorische= (=exsudative=) =Entzündung=, welche mehr den oberflächlichen Organen angehört, wo vom Blute aus ein vermehrtes Austreten von wässerigen (serösen) Flüssigkeiten erfolgt, welche die eigenthümlichen, in Folge der Gewebsreizung gebildeten parenchymatösen Stoffe mit an die Oberfläche der Organe führen. Allerdings sind diese beiden Formen hauptsächlich nach den Organen unterschieden, an welchen die Entzündung vorkommt. Es gibt, wie gesagt, gewisse Organe, welche unter allen Verhältnissen nur parenchymatös erkranken, andere, welche fast jedesmal eine oberflächliche exsudative Entzündung erkennen lassen. Aber die Geschichte der mit freien Oberflächen versehenen Organe lehrt doch auch, dass dasselbe Gewebe, z. B. eine Schleimhaut, exsudativ und parenchymatös erkranken kann. [245] Spec. Pathologie und Therapie. I. 66. Die Scheidung der Entzündungsformen, welche man gewöhnlich nach dem Vorgange von =John Hunter= gemacht hat, die in adhäsive und eiterige Formen, liegt ungleich weiter entfernt. Zunächst handelt es sich immer darum, zu untersuchen, in wie weit die Gewebe selbst sich verändern und ihr Product einen degenerativen Character annimmt, oder in wie weit durch das Durchströmen der Flüssigkeiten der Theil wieder von dem befreit wird, was er in sich erzeugt hat, wodurch die Degeneration des Theiles vermieden wird. =Jede parenchymatöse Entzündung hat von vornherein eine Neigung, den histologischen und functionellen Habitus eines Organes zu verändern. Jede Exsudation bringt dem Gewebe eine gewisse Befreiung=: sie entführt ihm einen grossen Theil der Schädlichkeiten, und das Gewebe erscheint daher verhältnissmässig viel weniger leidend, viel weniger einer dauerhaften Degeneration ausgesetzt, als dasjenige, welches der Sitz einer parenchymatösen Erkrankung ist. Daher ist schon seit alten Zeiten die therapeutische Aufgabe des Arztes dahin festgestellt worden, bei Entzündungen oberflächlicher Organe die Secretion (Transsudation, Exsudation) zu befördern, und es kann trotz der gerade in der neuesten Zeit wieder in größerer Heftigkeit aufgetauchten Bedenken nicht bezweifelt werden, dass die Secretion nicht bloss für tiefere Theile, sondern auch für die erkrankte Oberfläche selbst eine =derivatorische= oder =depuratorische= Bedeutung hat. Die beiden Grundformen der Entzündung, die parenchymatöse und die exsudative, können sich mit einander vergesellschaften und eine combinirte Störung hervorbringen. Allein beide sind ihrem Wesen nach verschieden. Sagt man statt parenchymatöse Entzündung »entzündliche Degeneration« und statt exsudativer Entzündung »entzündliche Secretion«, so stellt sich die Verschiedenheit alsbald in deutlicher Weise dar. Niemand würde so verschiedene Prozesse zusammenwerfen, wenn nicht die klinische Beobachtung ergäbe, dass beide auf Reize entstehen, also einen irritativen Anfang haben, dass ferner derselbe Reiz hier eine Degeneration, dort eine Exsudation hervorruft, und dass endlich in beiden Fällen, wenn der Theil reichlichere Gefässe und Nerven hat, Röthe, Hitze und Spannung bemerkbar werden. Erwägt man nun aber weiterhin, dass weder die eintretende Degeneration, noch die Exsudation in allen Entzündungen denselben Charakter haben, dass die Degeneration nutritiv oder formativ, die Exsudation schleimig, serös, fibrinös, synovial sein kann, so wird leicht ersichtlich, dass in der That die Bezeichnung der Entzündung eine rein symptomatologische und prognostische, also klinische ist, und dass es eine ganz falsche und darum gefährliche Concession ist, im anatomischen Sinne überhaupt von einer Entzündung kurzweg zu sprechen. Denn mit dieser Concession geräth man sofort auf den Abweg, eine einheitliche anatomische Definition zu suchen, und bis jetzt ist noch jeder Versuch, eine solche zu finden, gescheitert. Zwanzigstes Capitel. Die normale und pathologische Neubildung. Geschichte des Knochens. Die Theorie der continuirlichen Entwickelung im Gegensatze zu der Blastem- und Exsudattheorie. Das Bindegewebe, seine Aequivalente und seine Adnexen als gemeinster Keimstock der Neubildungen. Die Uebereinstimmung der embryonalen und pathologischen Neubildung. Die Bedeutung der farblosen Blutkörperchen. Die Zellentheilung als gewöhnlicher Anfang der Neubildungen. Endogene Bildung. Physaliden. Bruträume. Furchung. Wachsthumähnliche und zeugungsähnliche Neubildung. Pflanzliche Analogie. Verschiedene Richtung der Neubildung. Hyperplasie, directe und indirecte. Heteroplasie. Die pathologischen Bildungszellen: Granulation. Verschiedene Grösse und Bildungsdauer derselben. Darstellung der Knochenentwickelung als einer Musterbildung. Unterschied von Formation, Transformation und Wachsthum. Das appositionelle und das interstitielle Wachsthum. Die Blastemtheorie. Der frische und wachsende Knochen im Gegensatze zu dem macerirten. Natur des Markes. -- Längenwachsthum der Röhrenknochen: Knorpelwucherung. Markbildung als Gewebstransformation: rothes, gelbes und gallertiges, normales, entzündliches und atrophisches Mark. Tela ossea, verkalkter Knorpel, osteoides Gewebe. Rachitis. Ossification des Markes. -- Dickenwachsthum der Röhrenknochen. Struktur und Wucherung der Periostes. Weiches Osteom der Kiefer. Callusbildung nach Fractur. Knochenterritorien: Caries, degenerative Ostitis. Knochengranulation. Knocheneiterung. Maturation des Eiters. Die Granulation als Analogon des Knochenmarkes und als Ausgangspunkt heteroplastischer Entwickelung. Es wird nunmehr nothwendig sein, zur genaueren Erläuterung der =formativen Reizung= zu schreiten und die wesentlichsten Züge aus der Geschichte der pathologischen Neubildungen zu schildern. Denn schon aus dem Früheren wird hervorgegangen sein, dass formative Vorgänge nicht etwa bloss die Grundlage für Geschwulstbildungen im engeren Sinne des Wortes, sondern auch für viele einfach entzündliche Reizungsprozesse bilden. Dass ich die Doctrin vom Blastem in ihren ursprünglichen Grundzügen gegenwärtig vollständig zurückweise, habe ich wiederholt ausgesprochen. An ihre Stelle tritt die sehr einfache Lehre von der =continuirlichen Entwickelung der Gewebselemente aus einander=. Es handelt sich also für die einzelnen Fälle vielmehr darum, den besonderen Modus zu erkennen, nach welchem die verschiedenartigen Gewebe entstehen, und an bestimmten Beispielen die einzelnen Möglichkeiten kennen zu lernen, welche in Beziehung auf die Richtung dieser Entwickelung überhaupt bestehen. Meine ersten Erfahrungen, auf Grund deren ich anfing, die herrschende Doctrin vom Blastem und Exsudat in Beziehung auf daraus hervorgehende Neubildungen zu bezweifeln, datiren von Untersuchungen über die =Tuberkeln=[246]. Ich fand nehmlich, dass die jungen Tuberkel in verschiedenen Organen, insbesondere in Lymphdrüsen, in den Hirnhäuten und in den Lungen zu keiner Zeit ein erkennbares Exsudat, sondern zu jeder Zeit während ihrer Bildung organisirte Elemente enthalten, ohne dass je an ihnen oder vor ihnen ein Stadium des Amorphen, Gestaltlosen zu beobachten ist. Insbesondere erkannte ich, dass die Entwickelung in den Lymphdrüsen bei den bekannten scrofulösen Anschwellungen mit einer Neubildung beginnt und dass die ersten Zustände, welche man antrifft, vollkommen mit denjenigen übereinstimmen, welche man sonst mit dem Namen der Hypertrophie bezeichnete: Kerne und Zellen finden sich in reicher Masse, zerfallen späterhin und geben das Material zu der endlichen Anhäufung käsiger Substanz. Eine solche Erfahrung, wonach ein hypertrophirendes (genauer gesagt: hyperplastisches) Gewebe in seiner späteren Zeit ein vollkommen abweichendes, krankhaftes Product liefert, erschien um so bedeutungsvoller, als ich eine ganz ähnliche Reihe von Entwickelungen gleichzeitig bei der Untersuchung einer ganz differenten Bildung erkannte, nehmlich bei der sogenannten =Typhusmasse=[247]. Damals herrschte ganz allgemein die Ansicht der Wiener Schule, dass bei den Abdominaltyphen ein eiweissartiges Exsudat von weicher Beschaffenheit in die Darmwand abgesetzt würde, und dass dadurch Schwellungen von markigem, medullärem Aussehen entständen. Ich fand dagegen, dass, gleichviel ob ich die Typhusmasse in den Lymphdrüsen des Gekröses oder an den Follikeln der Peyerschen Haufen untersuchte, zu keiner Zeit irgend ein bildungsfähiges Exsudat vorhanden war, sondern stets eine unmittelbare Fortbildung von den präexistirenden zelligen Elementen der Drüsen, der Follikel und des Bindegewebes zu der typhösen Substanz stattfinde. [246] Würzb. Verhandl. 1850. I. 80. II. 70. III. 98. [247] Ebendas. I. 86. Diese Erfahrungen berechtigten natürlich noch nicht, eine allgemeine Umänderung der bestehenden Doctrin vorzunehmen, denn organische Elemente entstehen an zahllosen Punkten, an denen damals wenigstens zellige Elemente als normale Bestandtheile überhaupt ganz unbekannt waren, und es schien daher kaum eine andere Möglichkeit übrig zu bleiben, als die, dass durch eine Art von Generatio aequivoca aus Blastemmasse neue Keime gebildet würden. Die einzigen Orte, wo mit einiger Wahrscheinlichkeit ausser den Drüsen eine Entwickelung neuer Elemente von den alten Elementen aus hätte erschlossen werden können, waren die Oberflächen des Körpers mit ihren Epithelial-Formationen. So geschah es, dass meine Untersuchung über die Natur der Bindegewebs-Substanzen, auf welche ich früher wiederholt eingegangen bin, eine entscheidende wurde. Von dem Augenblicke an, wo ich behaupten konnte, dass es fast keinen Theil des Körpers gibt, welcher nicht zellige Elemente besitzt, wo ich zeigen konnte, dass die Knochenkörperchen wirkliche Zellen sind, dass das Bindegewebe an verschiedenen Orten eine bald grössere, bald geringere Zahl wirklich zelliger Elemente führe[248], da waren auch überall Keime erkannt für eine mögliche Entwickelung neuer Gewebe. Thatsächliche Nachweise für eine solche Entwickelung brachte ich alsbald in meinen Arbeiten über parenchymatöse Entzündung[249] und über ein cystoides Enchondrom[250], denen später eine ganze Reihe weiterer Special-Untersuchungen sich angeschlossen hat. Je mehr die Zahl der Beobachter wuchs, um so häufiger hat es sich bestätigt, dass eine grosse Zahl der verschiedensten Neubildungen, welche im Körper entstehen, aus dem Bindegewebe und seinen Aequivalenten hervorgeht. Daran schloss sich unmittelbar das Gebiet der lymphatischen Gebilde und der mit ihnen zusammenhängenden farblosen Blutkörperchen, deren Bedeutung für die Neubildung von Manchen sehr hoch veranschlagt wird. Endlich sind zu erwähnen jene pathologischen Neubildungen, welche den Epithelformationen angehören, sowie diejenigen, welche mit den höher organisirten thierischen Geweben, z. B. den Gefässen, den Nerven, zusammenhängen. Erwägt man, dass die lymphatischen Einrichtungen ihrerseits mit dem Bindegewebe nahe Beziehungen haben, so wird man noch jetzt nicht fehlgehen, wenn man mit geringen Einschränkungen =an die Stelle der plastischen Lymphe, des Blastems der Früheren, des Exsudates der Späteren das Bindegewebe mit seinen Aequivalenten und Adnexen als den hauptsächlichen Keimstock des Körpers setzt=, und davon die Entwickelung der meisten neugebildeten Theile ableitet[251]. [248] Würzb. Verhandl. II. 150, 154. [249] Archiv IV. 284, 304, 312. [250] Archiv V. 216, 239. [251] Spec. Pathologie und Ther. I. 330, 333. Archiv VIII. 415. Wenn wir ein bestimmtes inneres Organ nehmen, z. B. das Gehirn oder die Leber, so konnte, so lange als man innerhalb des Gehirnes nichts weiter als Nervenmasse sah, in der Leber nichts weiter als Gefässe und Leberzellen zuliess, eine Neubildung ohne Dazwischenkommen eines besonderen Bildungsstoffes kaum gedacht werden. Denn davon war es ja leicht, sich zu überzeugen, dass in der Regel in der Leber die Neubildungen nicht von den Leberzellen oder den Gefässen ausgehen. Dass in der Hirnsubstanz die Nerven nicht als solche die Neubildungen hervorbringen, und dass die Markschwämme nicht wuchernde Nervenmasse sind, sondern aus zelligen Elementen anderer Art bestehen, das hätte man wissen sollen seit dem Augenblicke, wo das Mikroskop auf die Untersuchung der Gewebe angewendet worden ist. Aber ich habe erst nachweisen müssen, dass es Bindegewebszellen in der Leber und interstitielle Gliazellen im Gehirne gibt, welche Aequivalente der gewöhnlichen Bindegewebskörperchen sind. In der That erscheint uns, wie zuerst =Reichert= hervorgehoben hat, der Grundstock des Körpers zusammengesetzt aus einer mehr oder weniger continuirlichen Masse von bindegewebsartigen Bestandtheilen, an und in welche an gewissen Punkten andere Dinge, wie Epithel, Muskeln, Gefässe und Nerven, eingesetzt sind. Innerhalb dieses mehr oder weniger zusammenhängenden Gerüstes ist es, wo nach meinen Untersuchungen die Mehrzahl der Neubildungen vor sich geht, und zwar nach demselben Gesetze, nach welchem die embryonale Entwickelung geschieht. Das Gesetz von der Uebereinstimmung der embryonalen und pathologischen Entwickelung ist, wie bekannt, schon von =Johannes Müller=, der auf den Untersuchungen von =Schwann= fortbaute, formulirt worden. Allein damals setzte man den Inhalt eines Ovulums (Fig. 7) dem Blasteme gleich; man dachte nicht daran, dass alle Entwickelung im Ei innerhalb der gegebenen Grenzen der Zelle geschieht, sondern man schloss einfach, dass im Eichen eine gewisse Menge von bildungsfähigem Stoffe gegeben sei, welcher vermöge einer ihm innewohnenden Eigenthümlichkeit, vermöge einer organisatorischen Kraft oder, vom Standpunkte der »höheren« Anschauung aus, durch eine organisatorische Idee getrieben, sich in diese oder jene besondere Form umgestalte. Wenn es auch nicht richtig ist, was am schärfsten von =Remak= behauptet worden ist, dass auch die Dotterfurchung und die daraus hervorgehende Bildung der Primordialzellen auf dem Hineinwachsen und Verschmelzen von Membranscheidewänden in das Innere des Eies beruht, so handelt es sich doch auch innerhalb der Dottermasse nicht um eine freie organisatorische Bewegung, sondern um fortgehende Theilungsacte eines ursprünglich einfachen Elementes. Es folgt daraus, dass eine Vergleichung der freien plastischen Exsudate oder des pathologischen Blastems mit den Inhalts- oder Protoplasmamassen des Eies an sich unzulässig ist. Wo wir beim Embryo wirklich geformte Elemente, Zellen, finden, da sind diese auch von einem präexistirenden Elemente, einer Zelle ausgegangen. Eine Uebereinstimmung der embryonalen und der pathologischen Neubildung kann daher nur dann behauptet werden, wenn auch in der Pathologie jede neue Entwickelung auf vorhandene Zellen als Ausgangspunkte zurückgeführt werden kann. Der in der neuesten Zeit vielfach behauptete Punkt, in wie weit ausgewanderte farblose Blutkörperchen oder Lymphkörperchen die Keime für allerlei Neubildungen werden können, ändert in diesen Anschauungen nichts Wesentliches. Beim Frosche, an welchem die Mehrzahl der diese Auswanderung betreffenden Untersuchungen angestellt worden sind, müssen die Lymphkörperchen bei dem Fehlen der Lymphdrüsen direkt aus dem Bindegewebe abgeleitet werden, und wenn sie später der Ausgangspunkt für Neubildungen werden, so unterscheidet sich diese Neubildung von der früher von mir gelehrten nur dadurch, dass sie nicht an Ort und Stelle, sondern an einer mehr oder weniger von dem Entstehungsorte dieser Keimzellen entfernten Orte stattfindet. Beim Menschen und den höheren Wirbelthieren, welche ausgebildete Lymphdrüsen besitzen, wäre in diesen eine permanente Brutstätte neuer Keimzellen anzunehmen, indess gehen auch die Lymphdrüsen, so weit wir wissen, embryologisch aus proliferirendem Bindegewebe hervor. Es kann sich daher im Principe nur darum handeln, festzustellen, auf welche Weise die Bildung der neuen Elemente in dem Keimgewebe stattfindet. [Illustration: =Fig=. 132. Zellen aus der mittleren Substanz des Intervertebralknorpels eines Erwachsenen. Intracapsuläre Zellenvermehrung. Vergr. 300.] Der Modus dieser Neubildung ist, so viel bekannt, ein doppelter. In der Regel handelt es sich um =einfache Theilung=, wie wir sie schon bei Gelegenheit der Reizung besprochen haben (S. 386). Wir sehen dann die ganze Reihe von Veränderungen von der Theilung des Kernkörperchens und des Kernes bis zur endlichen Theilung der ganzen Zelle. Wenn ein epitheliales Element zwei Kerne bekommt, sich darauf theilt, und dieses sich wiederholt, so kann daraus durch fortgehende Wiederholung eine grosse Zahl neuer Elemente hervorgehen. Bekommt Jemand durch fortgesetzte Reibung der Haut eine Reizung, und wird der Reiz bis zu einem gewissen Grade gesteigert, so wird sich das Epithel verdicken, und wenn die Wucherung sehr stark ist, so kann sie zu grossen, geschwulstartigen Bildungen sich erheben. Dies geschieht durch fortschreitende Zelltheilung. Denselben Modus der Entwickelung, welchen Epithelialschichten darbieten, treffen wir auch im Inneren der Organe. Im Knorpel, wo das einfache zellige Element in eine Kapsel eingeschlossen ist, tritt endlich an die Stelle desselben eine Anhäufung zahlreicher Elemente, von denen jedes wiederum eingeschlossen wird in eine besondere, neugebildete Kapsel, während die ganze Gruppe von der vergrösserten, ursprünglichen Kapsel (der früher fälschlich sogenannten Mutterzelle) umgeben ist. Am Bindegewebe kann jede neue Zelle, welche aus der Theilung hervorgegangen ist, sofort eine neue Schicht Intercellularsubstanz bilden. Das ist also ein an sich sehr einfacher Modus, der jedoch, da er an verschiedenartigen Geweben vorkommt, sehr verschiedene Resultate bringen kann. Es gibt aber noch eine andere Reihe von Neubildungen im Körper, welche freilich viel weniger gut gekannt sind, und deren Vorgang sich bis jetzt nicht mit eben so grosser Sicherheit übersehen lässt. Es sind das Vorgänge, wo im Inneren von präexistirenden Zellen =endogene= Neubildungen eintreten. Eine dieser Veränderungen ist folgende: In einer einfachen Zelle bildet sich ein blasiger Raum, der gegenüber dem etwas trüben, gewöhnlich leicht körnigen Inhalte der Zelle ein sehr klares, helles, homogenes Aussehen darbietet. Derselbe unterscheidet sich von einer blossen Vacuole (S. 357) dadurch, dass er eine besondere Hülle besitzt und nicht einen einfachen Tropfen darstellt[252]. Auf welche Weise diese Räume, welche ich unter dem Namen der =Physaliden=[253] zusammenfasse, entstehen, ist noch nicht ganz sicher. Die grösste Wahrscheinlichkeit ist dafür, dass bei gewissen Formen gleichfalls Kerne der Ausgangspunkt dieser Bildungen sind. Man sieht nehmlich neben den physaliphoren Zellen andere mit 2 Kernen, manche, wo der eine Kern schon etwas grösser und heller erscheint, aber doch immer noch mit kernartiger Beschaffenheit. Weiterhin wird dieser helle Kern zu einer Blase von solcher Grösse, dass die Zelle allmählich fast ganz davon erfüllt wird und ihr alter Inhalt mit dem andern Kerne nur noch wie ein kleiner Anhang an der Blase erscheint[254]. So weit ist der Vorgang ziemlich einfach. Allein neben diesen zunehmenden und die Zelle erfüllenden Blasen trifft man andere, wo im Inneren der Blasen wieder Elemente zelliger Art eingeschlossen sind. So ist es ziemlich häufig in Krebsgeschwülsten, aber auch in normalen Theilen, z. B. in der Thymusdrüse[255]. Diese Form scheint nur so gedeutet werden zu können, dass in besonderen blasigen Räumen, die ich deshalb =Bruträume= genannt habe[256], im Inneren von zelligen Elementen neue Elemente ähnlicher Art sich entwickeln. Obwohl ich ähnliche Formen auch bei entzündlichen Zuständen z. B. in dem Epithel des Herzbeutels bei Pericarditis gesehen habe[257], und obwohl manche neuere Beobachtungen sich dem anzureihen scheinen, so ist dies doch ein für die Gesammtfrage der Neubildung untergeordnetes Verhältniss, welches mehr für einzelne Fälle Werth hat. [252] Archiv III. 199. [253] Entwickelung des Schädelgrundes 58. [254] Archiv I. 130. [255] Archiv III. 197, 222. [256] Ebendas. III. 217. [257] Archiv III. 223. [Illustration: =Fig=. 133. Endogene Neubildung: blasentragende Zellen (Physaliphoren). _A_ Aus der Thymusdrüse eines Neugebornen neben epithelioiden Zellen: im Innern einer Blase mit doppeltem Contour, die ihrerseits noch von einem zellenartigen Saume umgeben ist, liegt eine vollständige Kernzelle. _B C_ Krebszellen (vergl. Archiv f. path. Anat. Bd. I. Taf. II. und Bd. III. Taf. II.) _B_ eine mit doppeltem Kerne, eine zweite mit Kern und kleiner Physalide; _C_ eine mit einer fast die ganze Zelle füllenden Physalide und eine andere, wo die Physalide (der Brutraum) noch wieder eine vollständige Kernzelle umschliesst. Vergr. 300.] Ausser dieser endogenen Neubildung in besonderen, physaliphoren Zellen finden sich nicht selten Erscheinungen, welche sich mehr den gewöhnlichen Furchungserscheinungen des Eies anzuschliessen scheinen[258], deren Grenzen aber gegen die aus blosser Theilung oder aus Physaliden hervorgegangenen Neubildungen sich nur schwer feststellen lassen. Denn sehr häufig sieht man in demselben Objecte diese verschiedenen Dinge neben einander. Am deutlichsten erkennt man solche Neubildungen an sehr vergrösserten Zellen, deren Kerne sich zuerst in prodigiöser Weise vermehren (S. 383), und an denen sich später um jeden Kern eine besondere Abtheilung des Zelleninhaltes besonders abgegrenzt zeigt. Namentlich geschieht das an der Oberfläche von Riesenzellen, während im Inneren manchmal keine Zellenbildung, manchmal wieder solide oder blasige Gebilde zu bemerken sind. Bei den Krebsen sind Beobachtungen der Art schon ziemlich alt[259], indess waren sie wenig genau. Bestimmtere Untersuchungen über den Gang der Neubildung habe ich zuerst an den Perlgeschwülsten (Cholesteatomen) des Menschen[260] und an der Franzosenkrankheit (Perlsucht) des Rindviehes[261] gemacht. Hier erhält sich in der That die alte Zellmembran noch längere Zeit, so dass die Bildung als eine wirklich endogene erscheint. Andermal dagegen geht die äussere Membran des Muttergebildes früh verloren, und es entsteht sofort eine grosse Gruppe einfach zusammenliegender, noch die Form der Mutterzelle bewahrender Tochterzellen, wo also die ursprüngliche Membran entweder sich auflösen oder zur Bildung der secundären Membranen der Tochterzellen verbraucht werden muss. In diesen Fällen ist es schwer, eine Grenze zwischen endogener Neubildung und Theilung zu ziehen, und man kann eben so wohl den ursprünglich endogenen Anfang des Prozesses, als die =verspätete= Theilung für die Bezeichnung massgebend sein lassen. Unzweifelhaft endogen ist der Vorgang nur dann, wenn das schon fertige neue Element (Tochterzelle) in die Substanz des alten (Mutterzelle) eingeschlossen ist. [258] Archiv XIV. 46. [259] Archiv I. 107. [260] Archiv VIII. 410. Taf. IX. Fig. 2-11. [261] Würzb. Verhandl. VII. 143. Archiv XIV 47. Geschwülste II. 745. Dieser Fall ist in der neueren Zeit von einer Reihe von Beobachtern beschrieben worden, insbesondere hat man im Inneren kernhaltiger Zellen neben dem Kerne das Vorkommen neuer Furchungselemente und wirklicher Zellen angeführt. So ist namentlich die Bildung von Schleim- und Eiterkörperchen im Inneren von noch existirenden Epithelialzellen von =Remak=, =Buhl=, =Eberth= und =Rindfleisch= geschildert worden. Hier würde also nicht die ganze Mutterzelle in Tochterzellen übergehen, sondern nur ein Theil ihres Inhaltes, und zwar nach Einigen, nachdem eine Kerntheilung voraufgegangen, nach Anderen ohne dieselbe, unmittelbar. Die so gebildeten Zellen würden dann durch Eröffnung der Mutterzelle (=Dehiscenz=) austreten und frei werden können. Auch hier ist die Entscheidung sehr schwer, da manche Beobachtungen zugleich die Bildung von Bruträumen schildern, andere an die Geschichte der sogenannten Blutkörperchen-haltenden Zellen (S. 361) erinnern, von denen man auch früher annahm, dass die Blutkörperchen in ihnen entständen, während ich vielmehr ein späteres Eintreten der Blutkörperchen in präexistirende Zellen nachgewiesen habe[262]. [262] Archiv IV. 515. V. 405. Ist es demnach nothwendig, vor Feststellung bestimmterer Formeln noch weitere und mehr ausgedehnte Beobachtungen abzuwarten, so kann es doch nicht zweifelhaft sein, dass neue Elemente aus alten nur auf zwei Weisen entstehen können: entweder =fissipar=, oder =endogen=. Auch in dieser Beziehung ist es erfreulich, dass sich die pathologische Entwickelungsgeschichte sowohl mit der physiologischen, als auch mit der botanischen in Einklang befindet. Gerade in der Botanik sind diese zwei Weisen längst anerkannt. =Theilung entspricht bei den Pflanzen am gewöhnlichsten dem Wachsthume, endogene Bildung oder Neubildung im engsten Sinne entspricht der Zeugung, der geschlechtlichen Fortpflanzung=. Und so liessen sich auch in der Pathologie sehr wohl zwei gesonderte Typen der Neoplasie unterscheiden: der =Wachsthumstypus= und der =Zeugungstypus=. Der wesentliche Unterschied in den einzelnen zelligen Entwickelungen in Beziehung auf das Resultat ist der, dass in einer Reihe von Neubildungen die Theilungen mit einer gewissen Regelmässigkeit vor sich gehen, so dass die Producte der Theilung von Anfang an eine völlige Uebereinstimmung mit den Muttergebilden zeigen und die jungen Gebilde zu keiner Zeit erheblich von den Mutterelementen abweichen. Solche Vorgänge bezeichnet man im gewöhnlichen Leben meistentheils als Hypertrophien; ich hatte zur genaueren Bezeichnung den Namen der =Hyperplasien= dafür vorgeschlagen, da es sich dabei nicht um eine Zunahme der Ernährung bestehender Theile, sondern um die Bildung wirklich neuer Elemente handelt (S. 90), demnach kein trophischer (nutritiver), sondern ein plastischer (formativer) Vorgang vorliegt. In einer anderen Reihe macht sich die Entwickelung so, dass allerdings auch Theilungen stattfinden, dass aber diese sich sehr schnell wiederholen und immer kleinerere Elemente hervorbringen. Diese werden zuweilen am Ende so klein, dass sie an die Grenze der Zellen überhaupt herangehen (=Granulation=). Die Vermehrung der Zellen kann an diesem Punkte aufhören. Die einzelnen neuen Elemente fangen dann an, wieder zu wachsen, sich zu vergrössern, und unter Umständen kann auch hier wieder ein analoges Gebilde erzeugt werden, wie das, von welchem die Entwickelung ausgegangen war. Dies ist eine Hyperplasie, die auf einem Umwege, =per secundam intentionem=, zu Stande kommt (S. 98). In diese Kategorie würden auch diejenigen Neubildungen zu setzen sein, welche aus ausgewanderten farblosen Blutkörperchen oder mobilisirten Bindegewebskörperchen (S. 359) hervorgehen. Sehr häufig schlagen jedoch die jungen, kleinen Elemente einen anderen Gang der Entwickelung ein und es beginnt eine =heterologe Entwickelung=[263]. [263] Würzburger Verhandl. I. 136. An den jungen Elementen können dabei wiederum Theilungen eintreten, doch ist es sehr gewöhnlich, dass zunächst, während die Zellen wachsen, nur die Kerne sich sehr vermehren, immer zahlreicher und mit fortschreitender Theilung immer kleiner werden. Das sieht man am besten bei farblosen Blut- und Eiterkörperchen, wo sehr schnell eine Theilung der Kerne stattfindet, gewöhnlich so, dass die ursprünglich einfachen Kerne sofort in eine grössere Zahl kleinerer zerlegt werden, welche Anfangs noch zusammenhalten. Bei den farblosen Blutkörperchen innerhalb des Blutes ist es sehr unwahrscheinlich, beim Eiter nach den Untersuchungen von =Stricker= allerdings wahrscheinlich, dass der Kerntheilung eine wirkliche Zellentheilung folgt; in anderen Neubildungen tritt dieser Fall gewöhnlich ein. Nur lässt, wie schon erwähnt, die vollständige Theilung, oder wenn man will, die Furchung der Elemente oft lange auf sich warten, und das Zwischenstadium der blossen Kerntheilung besteht daher häufig überwiegend lange und mit einer gewissen Selbständigkeit. Bei der endogenen Neubildung endlich tritt die =Heterologie= meist von Anfang an hervor, indem die in der Mutterzelle erzeugten Elemente in der Regel klein, scheinbar indifferent und zu abweichender Entwickelung geneigt sind. Bei den Perlgeschwülsten habe ich besonders dargethan, wie aus Bindegewebskörperchen Perlen und Zapfen von epidermoidalen Zellen entstehen[264]. [264] Archiv VIII. 409. Taf. IX. Fig. 3-4. Abgesehen von denjenigen Neubildungen, welche durch regelmässige Theilung der Elemente =unmittelbar= zur Hyperplasie führen, wird also der normale Zustand zunächst unterbrochen durch einen Zwischenzustand, wo das Gewebe wesentlich verändert erscheint, ohne dass man sofort im Anfange des Prozesses erkennen kann, ob daraus eine gut- oder bösartige, eine homologe oder heterologe Entwickelung hervorgehen wird. Es ist dies ein Stadium scheinbar absoluter Indifferenz[265], welches ich als =Granulationsstadium= bezeichne. In demselben kann man es den einzelnen Elementen durchaus nicht ansehen, welcher Bedeutung sie eigentlich sind; sie verhalten sich, wie die sogenannten Bildungszellen des Embryo, welche auch im Anfange ganz gleich aussehen, gleichviel ob ein Muskel- oder ein Nervenelement oder was sonst daraus hervorgehen wird. Nichtsdestoweniger halte ich es für wahrscheinlich, dass feinere innere Verschiedenheiten wirklich bestehen, die schon im Voraus die späteren Umbildungen bis zu einem gewissen Maasse bedingen, nicht Verschiedenheiten, welche bloss Potentia in der Bildungszelle vorhanden wären, sondern wirklich materielle Verschiedenheiten, welche aber so fein sind, dass wir sie bis jetzt nicht darthun können. [265] Spec. Pathol. u. Ther. I. 331. Geschwülste I. 89. Nur bei der embryonalen Entwickelung kennt man seit Jahren eine Erscheinung, welche bestimmt darauf hindeutet, dass solche Verschiedenheiten der Bildungszellen bestehen: die verschiedenen Abtheilungen des Eies machen verschieden schnell ihre Bildung durch, und namentlich diejenigen Theile, welche zu den höheren Organen bestimmt sind, durchlaufen mit viel grösserer Schnelligkeit die einzelnen Stadien, als diejenigen, welche für die niedrigeren Gewebe angelegt werden. Auch in der Grösse der Elemente scheinen Verschiedenheiten zu bestehen. In ähnlicher Weise sieht man häufig auch bei pathologischen Bildungen Verschiedenheiten in Beziehung auf die Zeitdauer. Jedesmal, wenn die Entwickelung der Elemente schnell erfolgt, muss man eine mehr oder weniger heterologe Entwickelung fürchten. Eine homologe, direct-hyperplastische Bildung setzt immer eine gewisse Langsamkeit der Vorgänge voraus; in der Regel bleiben die Elemente dabei grösser, und die Theilungen schreiten nicht bis zur Entstehung ganz kleiner Formen vor. So überaus einfach ist diese Entwickelungsgeschichte in der Natur und in der Doctrin, aber allerdings schwierig ist sie in der Demonstration an den einzelnen Orten. Diejenigen Theile, welche scheinbar für die Untersuchung am allerbequemsten liegen sollten, und bei denen in der That schon vor ein Paar Decennien =Henle= ganz nahe an die Entdeckung einer solchen Entwickelung herangestreift war, sind die Epithelien. Hier, wo an der Oberfläche einer Haut eine oft so reichliche Entwickelung stattfindet, sollte man meinen, müsste es überaus leicht sein, dieselbe an den einzelnen Elementen genau zu verfolgen. =Henle= hat bekanntlich zu zeigen gesucht, dass die Schleimkörperchen, ja manche Formen, welche schon dem Eiter angehören, an der Oberfläche der Schleimhäute neben dem Epithel in der Art producirt werden, dass zwischen den Anlagen beider Reihen keine eigentliche Differenz zu erkennen ist, dass also gewissermaassen die Schleimkörperchen als verirrte oder nicht zu Stande gekommene Epithelialzellen, als missrathene Söhne erscheinen, welche durch eine frühe Störung in ihrer weiteren Entwickelung gehindert wurden, aber eigentlich angelegt waren, um Epithelialelemente zu werden. Unglücklicherweise hatte man damals und noch lange nachher die Vorstellung, dass die normale Entwickelung des Epithels eben auch aus einem Blastem erfolge. Man stellte sich vor, dass an der Oberfläche jeder Schleimhaut, ja an der Oberfläche der Cutis aus den Gefässen, die an die Oberfläche treten, zuerst eine plastische Substanz transsudire, in und aus welcher sich die Elemente bildeten. Man blieb nach dem Vorgange von =Schwann= bei dem Schema von =Schleiden= (S. 11) stehen, dass sich zuerst Kerne (Cytoblasten) in einer Flüssigkeit bilden und erst später Membranen an dieselben sich anlegen. Gegenwärtig, so viel auch die verschiedenen Oberflächen der Haut, der Schleimhäute und der serösen Häute untersucht sind, hat man sich überall unzweifelhaft überzeugt, dass die epithelialen Elemente mindestens bis unmittelbar an die Oberfläche des Bindegewebes reichen und nirgends eine Stelle ist, wo zwischen Bindegewebe und Epithel freie Kerne, Blastem oder Flüssigkeit existirte, dass vielmehr an vielen Orten gerade die tiefsten Schichten diejenigen sind, welche die am dichtesten gedrängten Zellen enthalten. Hätte man damals, als =Henle= seine Untersuchungen machte, gewusst, dass hier normal kein Blastem existirt, keine Entwickelung de novo geschieht, sondern dass die vorhandenen Epithelzellen von alten Epithelialzellen oder vom Bindegewebe darunter oder von ausgewanderten Zellen sich entwickeln müssen, so würde er gewiss zu dem Schlusse gekommen sein, dass die Schleim- und Eiterkörperchen, welche nicht von einer ulcerirenden Oberfläche abgesondert werden, aus präexistirenden Elementen hergeleitet werden müssen. So nahe war man damals schon der richtigen Erfahrung. Allein die Blastemtheorie beherrschte die Geister, und wir Alle standen unter ihrer Einwirkung. Auch erschien es unmöglich, überall im Inneren der Gewebe die erforderlichen Vorgebilde aufzuweisen. Erst durch den Nachweis zelliger Elemente im Bindegewebe wurde ein überall vorhandenes Keimgewebe aufgewiesen, von dem an den verschiedensten Organen gleichartige Entwickelungen ausgehen können. Jetzt, wo wir wissen, dass Bindegewebe oder demselben äquivalente Gewebe im Gehirne, in der Leber, in den Nieren, im Muskelfleische, im Knorpel, der Haut u. s. f. existiren, jetzt hat es natürlich keine Schwierigkeit mehr, zu begreifen, dass in allen diesen scheinbar so verschiedenartigen Organen dasselbe pathologische Product entstehen kann. Man braucht dazu keineswegs irgend ein specifisches Blastem, welches in alle diese Theile abgelagert wird, sondern nur einen gleichartigen Reiz für das Bindegewebe verschiedener Orte. Was nun das Specielle dieser Lehre anbetrifft, so will ich zunächst ein concretes Beispiel der normalen Entwickelung vorführen, welches vielleicht am besten geeignet sein wird, ein Bild der oft so verwickelten Vorgänge zu geben, um welche es sich bei dieser =Gewebs-Formation und Transformation= handelt. Ich wähle dasjenige, an welchem an sich der Gang der Entwickelung am besten bekannt ist, und welches zugleich seiner besonderen Einrichtung wegen am wenigsten Missdeutungen zulässt, nehmlich die Bildung und das Wachsthum der =Knochen=. Diese Organe sind zu hart und dicht, als dass man noch von Blastem und Exsudat in ihrem eigentlichen Parenchyme oder, wie man nach dem Vorgange von =Clopton Havers= lange Zeit gethan hat, von einer Zwischenlagerung des Ernährungssaftes zwischen die Theilchen des Knochens reden könnte. Das Wachsthum der Knochen bietet uns zugleich unmittelbar Vergleichungen für alle die verschiedenen Neubildungen, welche innerhalb der Knochen unter krankhaften Verhältnissen vor sich gehen können, denn jede Art von Neubildung findet in der normalen Entwickelung des Knochens gewisse Paradigmen vor. Bekanntlich wächst jeder grössere Knochen in zwei Richtungen. Am einfachsten ist dies bei den Röhrenknochen, welche allmählich sowohl länger als dicker werden. Das Längenwachsthum erfolgt hier zu einem grossen Theile aus Knorpel, das Dickenwachsthum aus Periost (Bindegewebe). Allein auch ein platter Knochen z. B. am Schädel ist einerseits durch knorpelartige Theile (Synchondrosen) oder deren Aequivalente (Nähte), andererseits durch Häute, welche mit dem Perioste übereinstimmen (Pericranium, Dura mater oder Endocranium), bekleidet. Man kann daher Knorpel-und Periost-Wachsthum an jedem Knochen unterscheiden. Danach ergibt sich das Schema der Entwickelung des Röhrenknochens, wie es schon bei =Havers= sich findet, dass die neuen Knochenschichten die alten incapsuliren, und dass jede jüngere Schicht nicht bloss weiter, sondern auch länger ist, als die nächst ältere. Denn das Periostwachsthum rückt immer mehr gegen die Enden vor, insofern sich immer neue Abschnitte von Perichondrium in Periost verwandeln, je weiter die Ossification gegen die Enden fortschreitet; der mittlere Theil des Diaphysenknorpels wird schon sehr frühzeitig ganz in Knochen umgewandelt, und hört damit im Allgemeinen auf, aus sich selbst fortzuwachsen. Die Enden des Diaphysenknorpels und die noch ganz knorpelige Epiphyse dagegen wachsen immer noch in die Dicke. Während hier Theile, welche vorher entweder Bindegewebe oder Knorpel waren, in Knochen umgesetzt werden, geht innerhalb des Knochens die Entwickelung des Markes vor sich. Der ursprüngliche Knochen ist ganz dicht, eine sehr feste, relativ compacte Masse. Späterhin schwindet die Knochenmasse immer mehr, ein Theil nach dem anderen von ihr löst sich in Mark auf, und es entsteht endlich die Markhöhle, welche sich nicht etwa darauf beschränkt, so gross zu werden, wie die ursprüngliche Knochen-Anlage war, sondern welche diese Anlage bedeutend überschreitet und in die später apponirten, aus Knorpel und Periost entstandenen Schichten übergreift. Demnach besteht die Bildung des Knochens, ganz im Groben aufgefasst, nicht bloss in der allmählichen Apposition von immer neuen Knochenlagen vom Perioste und Knorpel her, sondern auch in der fortwährenden Ersetzung der innersten Lagen des Knochengewebes durch Markmassen. Es ist für die vorliegende Darstellung gleichgültig, ob die Bildungsvorgänge am Knochen auch zugleich für das Wachsthum desselben entscheidend sind oder nicht. Indess verknüpfen sich beide Fragen in sehr inniger Weise und gerade in diesem Augenblicke hat die Verknüpfung beider eine erhebliche praktische Bedeutung gewonnen durch den Streit über das sogenannte =interstitielle Wachsthum=. Dieser Streit ist hauptsächlich hervorgerufen worden durch die einseitige Formulirung, welche namentlich =Flourens= der Lehre von der Knochenbildung gegeben hatte, wonach ausser durch Apposition und Juxtaposition nirgends eine Zunahme an Knochen stattfinden sollte. So sehr ich in der Hauptsache mit dieser Formulirung übereinstimmte, so habe ich doch vor der Einseitigkeit gewarnt und darauf hingewiesen, dass man damit nicht auskomme, und dass namentlich für gewisse Knochen, z. B. für den Unterkiefer, die Appositionslehre ausser Stande sei, eine ausreichende Erklärung zu bieten[266]. Hier wird man im Gegensatze zu der bloss äusserlichen Anbildung der neuen Substanz zu der Annahme eines inneren Wachsthumes des alten Gewebes genöthigt. Seitdem hat diese Auffassung durch =Strassmann=, =Rich=. =Volkmann= und =Hüter= weitere thatsächliche Unterlagen gewonnen, und =Julius Wolff= hat sie allmählich bis zu einer vollständigen Negation der Appositionsdoctrin ausgebildet. [266] Archiv XIII. 350. Meiner Meinung nach ist dies eine eben so grosse Einseitigkeit, wie die frühere, und namentlich für die pathologische Auffassung der Knochenbildung hat sie schon jetzt zu wirklichen Irrungen geführt. Aber auch für die physiologische Bildungsgeschichte hat die neue Lehre nicht einen so grossen Werth, wie ihr =Wolff= zuschreibt. Nichtsdestoweniger sind wichtige Theile des Knochenwachsthumes ohne sie gänzlich unverständlich. Es war dies die Veranlassung, weshalb die Berliner medicinische Fakultät im Jahre 1868 die Preisfrage stellte, auf welche Weise das interstitielle Wachsthum sich vollziehe und namentlich, ob dasselbe mehr von der Zunahme der Knochenkörperchen oder mehr von der Zunahme der Intercellularsubstanz oder beider abhängig sei. =Carl Ruge=[267] hat diese Frage durch sehr mühsame Versuche mit Zählung und Messung der Knochenkörperchen und ihrer Entfernungen von einander dahin entschieden, dass es sich hauptsächlich um Zunahme der Intercellularsubstanz handelt, welche allerdings im Laufe des Lebens eine merkliche Grösse erreicht, dass dagegen Form und Grösse der Knochenkörperchen sich nur wenig ändert, und dass nur in den ersten Zeiten des Lebens mit Wahrscheinlichkeit eine Vermehrung der Knochenkörperchen durch Theilung angenommen werden könne. Es wird nunmehr erst für jeden einzelnen Knochen empirisch festgestellt werden müssen, wie viel zu seiner Gesammtausbildung das appositionelle und wie viel das interstitielle Wachsthum beiträgt. Jedenfalls schafft das erstere die eigentlichen Grundlagen des Knochens, innerhalb deren sich erst die weiteren Prozesse vollziehen. Diese letzteren werden jedoch durch das interstitielle Wachsthum keinesweges gedeckt; vielmehr bilden die von mir in bestimmter Weise dargelegten Vorgänge der Metaplasie oder Transformation ein ebenso grosses als wichtiges Gebiet. [267] Archiv XLIX. 237. Bei der Deutung der Knochengeschichte war lange Zeit die Blastemtheorie entscheidend. Schon =Havers= und =Duhamel=, welche im 17. und 18. Jahrhunderte vortreffliche Untersuchungen über die Knochenbildung gemacht haben, gingen von der Voraussetzung aus, dass ein eigenthümlicher Succus nutritius abgesondert werde, aus welchem die neuen Massen entständen. Die Mark-Entwickelung dachte man sich als eine durch Resorption erfolgende Bildung von Höhlen, in welche erst ein klebriger Saft und dann eine fettige Masse secernirt werde, Höhlen, welche von der Markhaut umkleidet würden, und deren Inhalt dem Alter des Individuums nach verschiedenartig sei. Wie ich indess schon früher hervorgehoben habe, so finden sich in den Räumen des Knochens keine Säcke, sondern ein continuirliches Gewebe, das =Mark= (Medulla), welches die Markräume und Markhöhlen ganz und gar ausfüllt, wie der Glaskörper die Höhle des Augapfels, und welches zur Bindesubstanz gehört, obwohl es vom gewöhnlichen Bindegewebe erheblich verschieden ist. Es handelt sich also, wie man aus dieser einfachen Thatsache ersieht, in der ganzen Bildungsgeschiche des Knochens um =Substitutionen von Geweben=. Wie Knochengewebe aus Periost und Knorpel gebildet wird, so entsteht Mark aus Knochengewebe und Knorpel, und die Entwickelung eines Knochens besteht nicht bloss in der Bildung von Knochengewebe, sondern sie setzt voraus, dass die Reihe der Transformationen über das Stadium des Knöchernen hinausgehe, und dass Mark entstehe. Das Mark würde also als das physiologische Ende der Knochenorgan-Bildung zu betrachten sein, wenn nicht auch der Fall vorkäme, dass aus Mark wieder Knochengewebe erzeugt wird. So einfach diese Auffassung ist, so gibt sie doch ein anderes Bild für das Wachsthum und die Geschichte des Knochens, als das hergebrachte. Früher ist man fast immer auf dem Standpunkte des reinen Osteologen stehen geblieben; man hat den =macerirten= Knochen genommen, ihn frei von allen Weichtheilen betrachtet und danach die Prozesse construirt. Es ist aber nothwendig, dass man diese an dem feuchten, lebendigen, sei es gesunden, sei es kranken Knochen verfolge, und dass man das Knochengewebe nicht bloss aussen aus den wuchernden Schichten des Knorpels und Periostes, sondern auch innerhalb der Marksubstanz sich gestalten lässt, als das äussere Entwickelungsprodukt in dieser Reihe, wenn auch nicht als das edelste. Als den wichtigsten und eigentlich entscheidenden Gesichtspunkt, durch den die ganze Knochenangelegenheit eine andere Gestaltung annimmt, betrachte ich dabei eben den, dass das Knochengewebe bei der Markbildung nicht einfach aufgelöst wird und an seine Stelle ein beliebiges Exsudat oder Blastem tritt, sondern dass auch die Auflösung der Knochensubstanz eine Transformation von Gewebe (Metaplasie S. 70) ist und dadurch erfolgt, dass Knochengewebe sich in eine Gewebsmasse (Mark) umbildet, die nicht mehr im Stande ist, die Kalksalze zurückzuhalten[268]. [268] Archiv V. 428, 440, 445, 453. XIII. 332. Entwickelung des Schädelgrundes 26-38. Fragt man nun, wo kommen die neuen Gewebs-Elemente her, welche mitten in der Tela ossea entstehen? wie kann in der Mitte der compacten Rinde des Knochens ein Krebsknoten sich bilden oder ein Eiterheerd? so antworte ich ganz einfach: sie entstehen ebenso, wie in der natürlichen, normalen Entwickelung des Knochens das Mark entsteht. Es gibt keine Stelle, wo zuerst Knochengewebe sich auflöst, dann ein Exsudat erfolgt, dann eine Neubildung geschieht, sondern es geht das vorhandene Gewebe unmittelbar in das kommende über. Das vorhandene Knochen- oder Markgewebe ist die Matrix für das nachfolgende Krebsgewebe, die Zellen des Krebses sind unmittelbare Abkömmlinge von den Zellen des Knochens oder des Markes. Betrachten wir den Gang der Knochenbildung etwas specieller, so zeigt sich, dass, wie wir dies zum Theil schon früher erörtert haben, der Knorpel sich in der Weise zur Ossification anschickt, dass die Knorpelelemente anfangs grösser werden, dass sie sich dann theilen, und zwar zuerst die Kerne, nachher die Zellen selbst, dass diese Theilungen sehr schnell weiter gehen, so dass immer grössere Gruppen von Zellen entstehen, und dass in einer verhältnissmässig kurzen Zeit an die Stelle jeder einzelnen Zelle eine im Verhältnisse sehr grosse Zellengruppe (Fig. 113, I.) tritt. Schon im ersten Capitel (S. 8) hatte ich erwähnt, wie die Knorpelzelle sich von den meisten anderen Zellen dadurch unterscheidet, dass sie eine besondere Kapselmembran erzeugt, in welcher sie eingeschlossen ist. Diese Kapselmembran bildet bei der Theilung ihrer Inhaltszellen innere Scheidewände zwischen denselben[269], neue Umhüllungen der jungen Elemente, so jedoch, dass auch die colossalen Gruppen von Zellen, welche aus je einer ursprünglichen Zelle hervorgehen, noch von der sehr vergrösserten Mutterkapsel eingeschlossen sind (Fig. 132). [269] Archiv III. 221. Es versteht sich von selbst, dass, je mehr Zellen diese Umwandelung durchmachen, um so mehr der Knorpel sich vergrössern wird, und dass das Maass von Längenwachsthum, welches das einzelne Individuum erreicht, abgesehen von dem schon erwähnten interstitiellen Wachsthume, wesentlich von der Massenzunahme abhängt, welche in den einzelnen Knorpelgruppen stattfindet. Ob wir gross oder klein bleiben, ist so zu sagen in die Willkür dieser Elemente gestellt. -- Hat die Knorpelwucherung dieses Stadium erreicht, so stehen die zelligen Theile ganz dicht zusammen; zwischen ihnen liegt nur eine verhältnissmässig geringe Quantität von Zwischensubstanz (Fig. 113, I.). Je weiter die Entwickelung fortschreitet, um so mehr ändert sich der Habitus des Knorpels: er sieht fast aus, wie dichtzelliges Pflanzengewebe. Die Zellen selbst sind aber äusserst empfindlich, sie schrumpfen unter der Einwirkung der mildesten Flüssigkeiten leicht zusammen und erscheinen dann wie eckige und zackige Körperchen, fast den Knochenkörperchen analog, mit denen sie jedoch zunächst nichts zu schaffen haben. [Illustration: =Fig=. 134. Verticaldurchschnitt durch den Ossificationsrand eines wachsenden Astragalus. _c_ Der Knorpel mit kleineren Zellengruppen, _p_ die Schicht der stärksten Wucherung und Vergrößerung an der Verkalkungslinie. In den Knorpelhöhlen sieht man theils vollständige Kernzellen, theils geschrumpfte, eckige und körnig erscheinende Körper (künstlich veränderte Zellen). Die dunkle, in die Zwischensubstanz vorrückende Masse stellt die Kalkablagerung dar, hinter welcher hier ungewöhnlich schnell die Bildung von Markräumen (_m_, _m_, _m_) und Knochenbalken beginnt. Das Mark ist entfernt; an den am meisten zurückliegenden Räumen sind die Balken von einem helleren Saume jungen Knochengewebes (aus Mark entstanden) umgeben. Vergr. 300.] Die Zellen, welche aus diesen Wucherungen der ursprünglich einfachen Knorpelzellen hervorgegangen sind, bilden die Muttergebilde für Alles, was nachher in der Längsaxe des Knochens entsteht, insbesondere für Knochen- und Markgewebe. Es kann sein, dass durch eine unmittelbare Umwandelung Knorpelzellen in Markzellen übergehen und als solche fortbestehen; es kann sein, dass sie zunächst in Knochenkörperchen und dann in Markzellen übergehen, und es kann sein, dass sie zuerst in Mark- und dann in Knochenkörperchen übergehen. So wechselvoll sind die Permutationen dieser an sich so verwandten und doch ihrer äusseren Erscheinung nach so vollständig aus einander gehenden Gewebe. Geschieht eine directe Umänderung des Knorpels in Mark[270], so fängt zunächst die alte Zwischensubstanz des Knorpels an der Grenze gegen den Knochen an, weich zu werden; gewöhnlich geht dann auch sehr bald ein Theil der anstossenden Kapseln dieselbe Veränderung ein, so dass die zelligen Elemente mehr oder weniger frei in eine weichere Grundsubstanz zu liegen kommen. Mit dem Eintritte einer solchen Erweichung ist auch schon die chemische Reaction des Gewebes verändert: es zeigt immer deutliche Mucinreaction. Zugleich beginnen die zelligen Elemente sich zu theilen, und zwar nicht, wie sie das bisher gethan hatten, indem sie sich gleich in zwei analoge Zellen zerlegen (Hyperplasie), sondern vielmehr so, dass in ihnen eine Reihe von kleinen Kernen entsteht (physiologische Heteroplasie, Granulation). Weiterhin, in dem Maasse als dieser Umbildungsprozess immer höher und höher in den Knorpel hinein fortschreitet, als immer neue Theile der Intercellularsubstanz in weiche schleimige Masse verwandelt werden, theilen sich in der Regel die Zellen, und es entsteht eine Reihe von kleineren Elementen, die, im Verhältnisse zu den grossen Knorpelzellen, aus denen sie hervorgegangen sind, sehr geringfügige Bildungen darstellen. Sie besitzen entweder einen einzigen Kern mit Kernkörperchen oder auch wohl, wie Eiterkörperchen, mehrere Kerne[271]. So entsteht nach und nach ein äusserst zellenreiches Schleimgewebe, =das junge, rothe Mark=, wie wir es in der Regel in den Knochen der Neugebornen finden. Steht der Prozess hier still, so bezeichnet die Grösse der transformirten Stelle zugleich die Stelle des späteren Markraumes. Später können diese kleinen Zellen Fett in sich aufnehmen, anfangs in feinen Körnern, allmählich in grossen Tropfen, endlich so, dass sie ganz und gar davon erfüllt werden. Dadurch verwandelt sich das ursprüngliche Schleimgewebe in Fettgewebe[272]; das Fett ist aber immer im Inneren der Zellen enthalten, wie in den Zellen des Panniculus. Allein dies =gelbe, fetthaltige Mark= kommt nicht in allen Knochen vor. In den Wirbelkörpern finden wir fast immer die kleinen Elemente. In den Röhrenknochen des Erwachsenen dagegen kommt normal immer fetthaltiges Mark vor. Allein dies kann unter pathologischen Verhältnissen sehr schnell sein Fett abgeben, die Elemente können sich theilen, und dann bekommen wir wieder =rothes, aber entzündliches Mark=. Bei allgemeiner Atrophie und Osteomalacie wird das Fett resorbirt und das gesammte Mark geht in =gallertartiges Schleimgewebe= über, welches die grösste Aehnlichkeit, auch in der Consistenz, mit dem Glaskörper besitzt, aber sich von ihm dadurch unterscheidet, dass es stets Gefässe enthält. [270] Archiv V. 424, 427. [271] Archiv I. 122. XIV. 60. [272] Entwickelung des Schädelgrundes 49. In dieser ganzen Reihe von der ersten Entwickelung des Markes aus Knorpel bis zu der entzündlichen Störung, wie wir sie bei einer Amputation entstehen sehen (Osteomyelitis), und bis zu dem Gallertzustande bei Osteomalacie existirt zu keiner Zeit eine amorphe Substanz, ein Blastem oder Exsudat; immer können wir eine Zelle von der anderen ableiten: jede hat eine unmittelbare Entwickelung aus einer früheren und, so lange der Wucherungsgang fortschreitet, eine unmittelbare Nachkommenschaft von Zellen. Dabei kann gleichzeitig die Intercellularsubstanz bald reichlich, bald spärlich, bald fester, bald weicher sein, und auch darnach ist die äussere Beschaffenheit des Gewebes sehr veränderlich. -- Die zweite Reihe von Umbildungen in der Längsaxe des Röhrenknochens betrifft das eigentliche Knochengewebe, die Tela ossea, welche hier hervorgehen kann aus Mark oder aus Knorpel. In dem einen Falle werden die Mark-, in dem anderen die Knorpelzellen zu Knochenzellen (Knochenkörperchen). Dieser Act der eigentlichen Ossification, die Entstehung der Tela ossea ist überaus schwierig zu beobachten, hauptsächlich aus dem Grunde, weil das Erste, was bei diesen Vorgängen erfolgt, nicht die Erzeugung von wirklicher Tela ossea ist, sondern nur die Ablagerung von Kalksalzen. In der Regel nehmlich geschieht zuerst in der nächsten Nähe des Knochenrandes eine Verkalkung des Knorpels[273], welche allmählich höher hinauf schreitet, zuerst an den Rändern der grösseren Zellengruppen, sodann um die einzelnen Zellen, immer der Substanz der Kapseln folgend so dass jede einzelne Knorpelzelle von einem Ringe von Kalksubstanz umgeben wird. Aber das ist noch kein Knochen, sondern nichts weiter als verkalkter Knorpel, denn wenn wir die Kalksalze auflösen, so ist wieder der alte Knorpel da, der in keiner anderen Beziehung eine Analogie mit dem Knochen darbietet, als durch die Anwesenheit der Kalksalze (S. 454). [273] Archiv V. 421. [Illustration: =Fig=. 135. Horizontalschnitt durch den wachsenden Diaphysenknorpel der Tibia von einem 7monatlichen Fötus. _C c_ der Knorpel mit den Gruppen der gewucherten und vergrösserten Zellen, _p p_ Perichondrium. _k_ Der verkalkte Knorpel, wo die einzelnen Zellgruppen und Zellen in Kalkringe eingeschlossen sind; bei _k_' grössere Ringe, bei _k_'' Fortschreiten der Verkalkung am Perichondrium. Vergr. 150.] [Illustration: =Fig=. 136. Stärkere Vergrößerung der rechten Ecke von Fig. 135. _co_ verkalkter Knorpel, _co_' Beginn der Verkalkung, _p_ Perichondrium. Vergr. 350.] Damit nun aus diesem verkalkten Knorpel wirklicher Knochen werde, ist es nöthig, dass die Höhle, in welcher je eine Knorpelzelle lag, sich in die bekannte strahlige, zackige Höhle des Knochenkörperchens verwandele. Dieser Vorgang ist deshalb so überaus schwierig zu beobachten, weil beim Schneiden die Kalkmassen allerlei kleine Einbrüche bekommen und Trümmer liefern, innerhalb deren man nicht mehr ersehen kann, was eigentlich vorhanden war. Aus diesem Umstände ist es zu erklären, dass bis jetzt immer noch über die Entstehung der Knochenkörper gestritten ist und wahrscheinlich auch noch ferner gestritten werden wird. Ich halte die Ansicht für richtig, dass Knochenkörperchen an gewissen Stellen direct aus den Knorpelkörperchen entstehen[274], und zwar auf die Weise, dass zunächst die Kapsel, welche die Knorpelzelle einschliesst, enger wird, offenbar indem neue Kapselmasse innen abgelagert wird. Allein in dem Maasse als dies geschieht, beginnt die innere Begrenzung der Kapselhöhlung ein deutlich gekerbtes Aussehen anzunehmen (Fig. 137, _c_'); der Raum für die ursprüngliche Zelle wird dadurch bedeutend verkleinert. In seltenen Fällen gelingt es noch, Gebilde anzutreffen, wo die spätere Form des Knochenkörperchens als letzter Rest der Höhle erscheint, in welcher das zellige Element mit dem Kerne steckt. Dann aber verschwindet die Grenze, welche ursprünglich zwischen den Knorpelkapseln und der Grundsubstanz bestand; die Kapselsubstanz wird selbst Intercellularsubstanz und wir treffen in einer scheinbar ganz gleichmässigen Grundmasse zackige Elemente, mit anderen Worten, ein noch weiches Gewebe mit knochenartigem Bau (osteoides Gewebe Fig. 137, _o_). Gewöhnlich wird dieser Vorgang durch die frühzeitige Verkalkung des Knorpels verdeckt und nur gewisse Prozesse geben uns Gelegenheit, die osteoide Umbildung auch innerhalb der schon verkalkenden Theile noch in derselben Weise zu übersehen. [274] Archiv V. 431. Würzb. Verhandl. I. 137. Eine besonders günstige Gelegenheit, manche Vorgänge des Knochen-Wachsthumes zu sehen, die sonst durch die Anwesenheit von Kalksalzen verdeckt werden, gewährt uns die =Rachitis=[275], auf deren Besprechung ich um so lieber einen Augenblick eingehe, weil diese merkwürdige Krankheit noch jetzt meist missverstanden wird. [275] Archiv V. 409. Die rachitische Störung erweist sich bei genauerer Untersuchung nicht als ein Erweichungsprozess des Knochengewebes, wie man sie früher gewöhnlich betrachtete, sondern als ein Nichtfestwerden neuwuchernder Schichten, welche erst zu Knochengewebe werden sollten, also genau genommen, als eine Krankheit der Knorpel und des Periostes. Indem die alten Schichten von Knochengewebe durch die normal fortschreitende Markraumbildung verzehrt werden, die neuen aber weich bleiben, wird der Knochen brüchig. -- Neben diesem wesentlichen Acte der nicht geschehenden Verkalkung der Theile ergibt sich aber zugleich eine gewisse Unregelmässigkeit im Wachsthume, so dass Stadien der Knochenentwickelung, welche in der normalen Bildung spät eintreten sollten, schon sehr frühzeitig eintreten. Bei dem normalen Wachsthume bilden an der Verkalkungsgrenze (Fig. 134) die Zacken, mit welchen die Kalksalze in den Knorpel hinaufgreifen, eine so vollständig gerade Linie oder genauer gesagt, eine so vollständige Ebene, dass sie fast als mathematisch regelmässig zu bezeichnen ist. Dieses Verhältniss hört bei der Rachitis auf, um so mehr, je intensiver der Fall ist; es finden Unterbrechungen der Verkalkungsebene statt in der Weise, dass an einzelnen Stellen der Knorpel noch tief herunterreicht, während die Verkalkung schon hoch hinaufschreitet. Jene einzelnen Stellen werden bisweilen so vollständig von den übrigen isolirt, dass sie als Knorpelinseln, mitten in dem Knochen, ringsum von demselben umgeben, liegen bleiben, dass also Knorpel noch an Punkten sich findet, wo der Knochen schon längst in Markgewebe umgewandelt sein sollte. Je weiter der rachitische Prozess vorschreitet, um so mehr finden sich aber auch isolirte, zersprengte Kalkmassen in dem Knorpel, manchmal so, dass der ganze Knorpel auf dem Durchschnitte weiss punktirt erscheint. -- Weiter zeigt sich die Unregelmässigkeit darin, dass, während im normalen Gange der Dinge die Markräume erst eine kleine Strecke hinter dem Verkalkungsrande (Fig. 134) beginnen, dieselben hier darüber hinaustreten und manchmal bis weit über die Verkalkungsgrenze hinaus eine Reihe von zusammenhängenden Höhlen sich fortzieht, welche mit einem weicheren, leicht faserigen Gewebe erfüllt sind und in welche auch Gefässe aufsteigen (Fig. 137, _m_). Markräume und Gefässe liegen also da, wo normal eigentlich keine einzige Markzelle, kaum ein einziges Gefäss sich befinden sollte. [Illustration: =Fig=. 137. Verticalschnitt aus dem Diaphysenknorpel einer rachitischen wachsenden Tibia vom 2jährigen Kinde. Ein grosser, nach links einen Seitenast absendender Markzapfen erstreckt sich von _m_ aus in den Knorpel herauf: er besteht aus faseriger Grundsubstanz mit spindelförmigen Zellen. Im Umfange bei _c_, _c_, _c_ der gewucherte Knorpel mit grossen Zellen und Zellengruppen; bei _c_', _c_' beginnende Verdickung und innere Einkerbung der Knorpelkapseln, welche bei _o_, _o_ verschmelzen und osteoides Gewebe bilden. Vergr. 300.] Auf diese Weise kann an den Stellen, wo der Prozess seine Höhe erreicht hat, in derselben Ebene neben einander eine ganze Reihe von verschiedenartigen Gewebszuständen gefunden werden. Während wir sonst in einer bestimmten Zone Knorpel, in einer anderen Verkalkung, in einer dritten Knochengewebe und Mark finden, so liegt hier Alles durcheinander: Vorsprünge von Mark, darüber osteoides Gewebe oder wirklicher Knochen, daneben verkalkter Knorpel, darunter vielleicht noch erhaltener Knorpel. Die ganze rachitische Schicht des Diaphysenknorpels, welche sich beträchtlich weit erstrecken kann, gewinnt natürlich keine rechte Festigkeit, und das ist einer der Hauptgründe für die Verschiebbarkeit, welche die rachitischen Knochen zeigen, nicht innerhalb der Continuität der Diaphysen, sondern an den Enden. Diese ist in manchen Fällen überaus bedeutend, und bedingt manche Difformität, z. B. am Thorax (Pectus carinatum) einzig und allein. Die stärkeren Biegungen in der Continuität der Knochen sind immer Infractionen, die der Epiphysen gehören der Knorpelwucherung an und stellen einfache Inflexionen dar; hier ist es leicht zu begreifen, wie ein seiner regelmässigen Entwickelung so vollkommen beraubter Theil, welcher eigentlich dicht mit Kalksalzen erfüllt sein sollte, eine grosse Beweglichkeit bewahren muss. Die Vergrösserung und Vermehrung der einzelnen Zellen geschieht bei der Rachitis in derselben Weise, wie wir sie früher beschrieben haben; indem aber weiterhin in dem Knorpel einzelne Theile nicht verkalken, die eigentlich schon Knochen sein sollten, indem namentlich die Markraumbildung oft weit bis über die Verkalkungsgrenze herauf erfolgt, so liegt an manchen solchen Stellen häufig die ganze Entwickelungsgeschichte des Knochens im Zusammenhange klar zu Tage. Man sieht grosse, oft sehr gefässreiche Zapfen von faserigem Mark (Fig. 137, _m_) sich vom Knochen her in den Knorpel herauferstrecken und kann sehr deutlich erkennen, dass nicht etwa diese Zapfen sich in den Knorpel hineinschieben, sondern dass sie durch eine strichweise Umbildung der Knorpelsubstanz selbst und Sprossenbildung der Gefässe entstehen. Hauptsächlich in ihrem Umfange ist es, wo sich auch die osteoide Umbildung der Knorpel am besten sehen lässt, wo man insbesondere sehr deutlich wahrnehmen kann, wie ein Knorpelkörperchen sich nach und nach in ein Knochenkörperchen umwandelt. Aus dem Knorpelkörperchen, dass eine mässig dicke Kapselmembran hat, geht nehmlich ein mit immer dickerer Kapsel versehenes Gebilde hervor, innerhalb dessen der Raum für die Zelle immer kleiner wird, und das auf einer gewissen Höhe der Ausbildung nach innen hin Einkerbungen bekommt, ähnlich den sogenannten Tüpfelkanälen der Pflanzenzellen. So ist schon die erste Erscheinung des Knochenkörperchens angelegt, worauf sehr gewöhnlich eine Verschmelzung der Kapseln mit der Grundsubstanz erfolgt und mit der Herstellung anastomosirender Höhlenfortsätze die Bildung des Knochenkörperchens abgeschlossen wird. Zuweilen verkalken einzelne osteoide Knorpelkörper für sich, ohne dass die Verschmelzung erfolgt ist; während ringsum noch die gewöhnliche Knorpel-Intercellularsubstanz liegt, erfüllt sich die Kapsel des osteoiden Körperchens schon vollständig mit Kalksalzen. An anderen Stellen dagegen erfolgt die Verschmelzung der Kapseln mit der Grundsubstanz sehr frühzeitig (Fig. 137, _o_), und man sieht innerhalb einer glänzend erscheinenden Masse, welche sich um manche Zellgruppen anhäuft, schon überall die zackigen Knochenkörperchen. Da ist aber keine scharfe Grenze im Gewebe, sondern die verdichtete und glänzende Substanz, welche die zackigen Körper umgibt, geht unmittelbar in die durchscheinende Substanz über, welche den gewöhnlichen Knorpel zusammenhält. Im Wesentlichen ist es derselbe Bau. [Illustration: =Fig=. 138. Inselförmige Ossification in rachitischem Diaphysenknorpel. _c_, _c_ der gewöhnliche wachsende (wuchernde) Knorpel, _c_' zunehmende Verdickung der Kapseln mit Bildung zackiger Höhlen (osteoide Knorpelzellen), _co_' Verkalkung solcher, noch isolirter Knorpelzellen, _co_ beginnende Verschmelzung der Kapseln verkalkter Knorpelzellen, _o_ Knochensubstanz. Vergr. 300. (Vergl. Archiv für pathologische Anatomie. Bd. XIV. Taf. I.)] Am wichtigsten für die cellulare Theorie überhaupt ist offenbar die isolirte Umbildung einzelner Knorpelzellen zu Knochenkörperchen. In einem Objecte (Fig. 138) übersieht man bei der Rachitis zuweilen die ganze Reihe dieser Vorgänge. Da, wo das vollständig knöcherne Stück, in welchem die Knochenkörperchen ganz regelmässig entwickelt sind, an den Knorpel stösst, findet sich eine Zone, wo man den Uebergang der Knorpelkörperchen in vollkommene Knochenkörperchen in ganz kurzen Strecken überblickt. An der Uebergangsstelle findet sich eine Reihe von Körperchen dicht an einander gelagert, wie Haselnüsse, die durch ihre dunkeln Contouren, ihr hartes Aussehen, ihren ungewöhnlich starken Glanz sich von den gewöhnlichen Knorpelkörperchen unterscheiden, und die in einer kleinen zackigen Höhle eine kleine Zelle umschliessen: das sind die noch isolirten Knochenkörperchen mit verkalkten Kapseln, welche ihnen noch von ihrer früheren Zeit als Knorpelkörperchen anhaften. Es ist desshalb besonders wichtig, diese Körper in ihrer Isolirung in loco zu sehen, weil man ohne ihre Kenntniss jene anderen Prozesse nicht begreift, bei welchen innerhalb des Knochens diese Territorien wieder ausfallen (Fig. 143). Auf alle Fälle, wenn man ein Object dieser Art einmal genau verfolgt hat, kann man darüber nicht mehr in Zweifel kommen, dass aus Knorpelkörperchen Knochenkörperchen werden können, und ich begreife nicht, wie noch bis in die allerletzte Zeit sorgfältige Untersucher die Frage aufwerfen konnten, ob nicht das Knochenkörperchen =jedesmal= eine auf Umwegen gewonnene Bildung sei, welche mit dem Knorpelkörperchen keinen unmittelbaren Zusammenhang habe. Allerdings ist es richtig, dass bei dem normalen Längenwachsthum der Knochen die meisten Knochenkörperchen nicht direct aus Knorpelzellen, sondern zunächst aus Markzellen hervorgehen und nur mittelbar von Knorpelzellen abstammen, aber ebenso richtig ist es, dass auch die Knorpelzelle geraden Weges in ein Knochenkörperchen sich umbilden kann. Schon vor langer Zeit habe ich auf einen Punkt besonders aufmerksam gemacht, wo man die Umbildung des Knorpels zu osteoidem Gewebe sehr deutlich übersehen kann, nehmlich die Uebergangsstellen vom Knorpel zum Perichondrium in der Nähe der Verkalkungsgrenze. Hier verwischen sich die Grenzen der Gewebsformen vollständig, und man sieht alle Uebergänge zwischen runden (knorpeligen), spindel- oder linsenförmigen (bindegewebigen) und zackigen (osteoiden) Zellen[276]. [276] Archiv V. 453. XVI. 11. Gerade so, wie aus dem Knorpelkörperchen ein Knochenkörperchen werden kann, so kann auch aus der Markzelle ein Knochenkörperchen werden. In den Markräumen des Knochens nehmen in der Regel diejenigen Markzellen, welche am Umfange liegen, späterhin eine mehr längliche Beschaffenheit an, richten sich parallel der inneren Oberfläche der Markräume, und das Mark selbst erlangt hier eine mehr faserige Intercellularsubstanz, weshalb man es eben als Markhaut betrachtet hat. Aber diese sogenannte Haut ist nicht von den centralen Theilen zu trennen; sie stellt nur die festeste und zugleich äusserste Schicht des Markgewebes dar. Sobald nun Tela ossea entstehen soll, so ändert sich die Beschaffenheit der Grundsubstanz. Dieselbe wird fester, sklerotisch, knorpelartig, die einzelnen Zellen scheinen in Lücken der Grund- oder Intercellularsubstanz zu liegen. Schon früh werden sie zackig, indem sie kleine Ausläufer treiben, und nun ist weiter nichts mehr nöthig, als dass sich in die dichte Grundsubstanz Kalksalze ablagern; dann ist der Knochen schon fertig. So bildet sich auch hier wieder durch eine ganz directe Transformation (Metaplasie) das Knochengewebe, und indem sich eine solche osteoide Schicht nach der anderen aus dem Marke ablagert, so entsteht dadurch compacte Knochensubstanz, welche jedesmal bezeichnet ist durch die lamellöse Ablagerung von Tela ossea im früheren Markraume (Fig. 38 u. 39). Der ursprüngliche Knochen ist immer bimsteinartig, porös; seine Höhlungen erfüllen sich, indem aus Marklamellen Lagen von Knochensubstanz bis zu dem Punkte nachwachsen, wo das Gefäss allein übrig bleibt, welches die Ossification nicht zulässt. -- Was nun die Entwickelung der Knochen =in der Dicke= d. h. aus dem Perioste[277] anbetrifft, so ist diese an sich viel einfacher, aber sie ist auch viel schwieriger zu sehen, weil die Ossification hier sehr schnell vor sich geht und die wuchernde Periostschicht so dünn und so zart ist, dass eine überaus grosse Sorgfalt dazu gehört, sie überhaupt nur wahrzunehmen. Im Pathologischen haben wir für ihr Studium ungleich bessere Gelegenheit, als im Physiologischen. Denn es ist ganz gleich, ob der Knochen in der Dicke physiologisch oder (durch eine Periostitis) pathologisch wächst; dies ist nur eine quantitative und zeitliche Differenz (Heterometrie, Heterochronie). [277] Archiv V. 437. Im entwickelten Zustande besteht das Periost dem grössten Theile nach aus sehr dichtem Bindegewebe mit einer überaus grossen Masse von elastischen Fasern, innerhalb dessen sich Gefässe ausbreiten, um von da in die Rinde des Knochens selbst hineinzugehen. Wenn nun das Wachsthum des Knochens in der Dicke beginnt, so nimmt die innerste, gefässreiche Schicht des Periostes an Dicke zu und schwillt an; dann sagt man, es sei ein Exsudat geschehen, indem man als ausgemacht annimmt, dass die Schwellung ein Exsudat voraussetze, und dass hier das Exsudat zwischen Periost und Knochen liege. Nimmt man aber die Masse vor und analysirt sie, so zeigt sie keinerlei Aehnlichkeit mit irgend einer bekannten Art von einfachem Exsudate; die geschwollene Stelle erscheint vielmehr durch ihre ganze Dicke von aussen bis nach innen organisirt und zwar am deutlichsten gerade am Knochen, während man nach aussen gegen die Periost-Oberfläche hin die Structurverhältnisse weniger leicht entwirren kann. Diese Verdickungen können unter Umständen sehr bedeutend zunehmen. Bei einer Periostitis sehen wir ja, dass förmliche Knoten gebildet werden. Man denke nur an die mehr physiologische Geschichte des Callus nach Fractur. Nach einem Exsudate sucht man hier vergeblich. Verfolgt man die verdickten Lagen in der Richtung zu dem noch unverdickten Perioste hin, so kann man sehr deutlich sehen, was =Duhamel= schon sehr schön zeigte, was aber immer wieder vergessen wird, dass die Verdickungsschichten endlich alle in die Schichten des Periostes continuirlich sich fortsetzen. So wenig als das Periost unorganisirt ist, so wenig sind die Verdickungsschichten ohne Organisation. Die mikroskopische Untersuchung zeigt in der Nähe der Knochenoberfläche eine leicht streifige Grundsubstanz und darin kleine zellige Elemente; je weiter man sich vom Knochen entfernt, um so mehr finden sich Theilungen der Elemente und endlich die einfachen, aber sehr kleinen Bindegewebskörperchen des Periostes. Der Gang der Theilung ist derselbe, wie am Knorpel, nur dass der Wucherungsact an sehr feinen Elementen geschieht. Je grösser der Reiz, um so grösser wird auch die Wucherung, um so stärker die Anschwellung der wachsenden Stelle. Diese aus der wuchernden Vermehrung der Periostkörperchen hervorgegangenen Elemente geben die Knochenkörperchen genau in derselben Weise, wie ich es beim Marke beschrieben habe. In der Nähe der Knochenoberfläche verdichtet sich die Grundsubstanz und wird fast knorpelartig, die Elemente wachsen aus, werden sternförmig und endlich erfolgt die Verkalkung der Grundsubstanz. Ist der Reiz sehr gross, wachsen die Elemente sehr bedeutend, dann entsteht hier wirklicher Knorpel; die Elemente vergrössern sich so, dass sie bis zu grossen, ovalen oder runden Zellen anwachsen und die einzelnen Zellen um sich herum eine kapsuläre Abscheidung bilden. Auf diese Weise kann auch im Periost durch eine directe Umbildung des wuchernden Periostes Knorpel entstehen, aber es ist keinesweges nothwendig, dass wirklicher, eigentlicher Knorpel entsteht; in der Regel erfolgt nur die osteoide Umbildung, wobei die Grundsubstanz sklerotisch wird und sofort verkalkt. [Illustration: =Fig=. 139. Verticaldurchschnitt durch die Periostfläche eines Os parietale vom Kinde. _A_ Die Wucherungsschicht des Periostes mit anastomosirenden Zellennetzen und Kerntheilung. _B_ Bildung der osteoiden Schicht durch Sklerose der Intercellularsubstanz. Vergr. 300.] So geschieht es, dass an der Oberfläche jedes wachsenden Knochens, wie insbesondere =Flourens= nachgewiesen hat, der neue Knochen sich immer Schicht auf Schicht ansetzt, und dass die neuen Schichten den alten Knochen so umwachsen, dass ein Ring, den man um den Knochen legt, nach einiger Zeit innerhalb desselben liegt, umschlossen von jungen Schichten, welche sich aussen herum gebildet haben. Letztere stehen mit dem alten Knochen durch kleine Säulchen in Verbindung, welche dem Ganzen ein bimsteinartiges Aussehen geben, und auch hier erfolgt die spätere Verdichtung zu Rindensubstanz dadurch, dass sich in den einzelnen, durch die Säulchen umgrenzten Räumen concentrische Lamellen von Knochensubstanz aus dem periostealen Marke bilden[278]. [278] Archiv V. 444. Nirgends jedoch sieht man die Uebergänge des periostealen Bindegewebes in die eigentlich osteoide Substanz mit einer so überzeugenden Deutlichkeit, als an manchen Knochengeschwülsten, namentlich den =Osteoidchondromen=. Solche finden sich besonders an den Kiefern von Ziegen[279], und da auch hier die Verkalkung der schon Knochenstructur besitzenden Theile in grossen Abschnitten nicht erfolgt, so leisten sie für die Darstellung der Uebergänge des Bindegewebes in osteoide Substanz etwa dasselbe, was uns für die Umbildung der Knorpel die Geschichte der Rachitis gelehrt hat. Wobei ich übrigens bemerke, dass die Thierärzte, ich weiss nicht mit wie viel Recht, solche Zustände auch als Rachitis bezeichnen. Die Geschwulst, welche oft Ober- und Unterkiefer, aber jeden für sich befällt, ist so wenig dicht, dass man sie ganz bequem schneiden kann; nur an einzelnen Stellen findet das Messer einen stärkeren Widerstand. Macht man feinere Durchschnitte, so sieht man schon vom blossen Auge, dass dichtere und weniger dichte Stellen mit einander abwechseln, dass das Ganze ein maschiges Aussehen hat. Bringt man es bei schwacher Vergrößerung unter das Mikroskop, so bemerkt man sofort, dass die ganze Anlage vollkommen die eines neugebildeten Knochens ist; eine Art von Markhöhlen und ein Balkennetz wechseln mit einander ab, genau so, wie wenn man die Markhöhlen und Balken eines spongiösen Knochens vor sich hätte. Die Substanz, welche das Balkennetz bildet, ist im Ganzen dicht und erscheint dadurch schon bei schwacher Vergrösserung leicht von der zarteren Substanz, welche dazwischen liegt und die Maschenräume füllt, verschieden. Letztere bietet, wenn man sie stärker vergrössert, ein fein streifiges, faseriges Aussehen dar. Die Faserzüge laufen zum Theil parallel den Rändern der Balken. Innerhalb der letzteren sieht man bei starker Vergrösserung ähnliche Gebilde, wie sie das Knochengewebe darbietet, zackige Körperchen, ganz regelmässig verbreitet. [279] Geschwülste I. 532. [Illustration: =Fig=. 140. Schnitt aus einem Osteoidchondrom vom Kiefer einer Ziege: Habitus der Periost-Ossification. Osteoide Balkennetze mit zackigen Zellen umschliessen primäre Markräume, mit faserigem Bindegewebe gefüllt. Die dunkeln Stellen verkalkt und fertiges Knochengewebe darstellend. Vergr. 150.] Dieser Habitus entspricht vollständig dem, was bei der Entwickelung des Knochens vom Periost aus geschieht[280]; es ist, kurz gesagt, das Schema des Dickenwachsthums des Knochens. Ueberall, wo man junge Periost-Auflagerungen untersucht, findet man innerhalb des maschigen Netzes, welches die osteoide Substanz bildet, faseriges Mark, nicht zelliges, wie in der späteren Zeit. Es sind die Reste des gewucherten Periostes selbst, welche noch nicht einer weiteren Metaplasie unterlegen haben. Die osteoide Umbildung erfolgt in die Periostwucherung hinein ursprünglich immer in der Weise, dass sich von der Knochenoberfläche aus das Fasergewebe in gewissen Richtungen verdichtet; dadurch entstehen härtere, zuerst senkrecht und säulenartig auf dem Knochen aufsitzende Zapfen, welche sich durch quere, der Knochenoberfläche parallele Züge oder Bogen verbinden und so jenes Maschenwerk herstellen. Lässt man Essigsäure auf diese Theile einwirken, so sieht man alsbald, dass die ganze fibröse Masse, welche die Alveolen erfüllt, die wundervollsten Bindegewebs-Elemente enthält, und zwar in der Anordnung, dass dieselben am Umfange der Balken mehr spindel- oder linsenförmig sind und in concentrischen Streifen liegen, während sie in der Mitte der Maschenräume sternförmig sind und unter einander anastomosiren. Dass um die Alveolen herum aber wirklich schon Knochenbalken vorhanden sind, davon kann man sich an den Stellen sehr schön überzeugen, wo Kalksalze darin abgelagert sind. Während die Peripherie solcher verkalkten Balken (Fig. 140) ein glänzendes, fast knorpelartiges Aussehen hat, tritt mehr nach innen in denselben schon eine trübe, feinkörnige, in Säuren lösliche Masse auf, welche die Intercellularsubstanz durchsetzt und gegen die Mitte der Balken hin in eine fast gleichmässige, kalkige Schicht übergeht, in der von Strecke zu Strecke die Knochenkörperchen hervortreten. Hier haben wir also schon ein vollständiges Knochennetz, zugleich das regelrechte Bild für das Dickenwachsthum des Knochens. [280] Archiv V. 454. [Illustration: =Fig=. 141. Ein Stück aus Fig. 140, stärker vergrössert, nach Einwirkung von Essigsäure. _o_, _o_ die osteoiden Balken; _m_, _m_, _m_ die primären Markräume mit Spindel- und Netzzellen. Vergröss. 300.] Betrachtet man aber recht sorgfältig die Stellen, wo der Rand dieser Balken und Knochenzüge mit der fibrösen Substanz der Maschenräume zusammenstösst, so sieht man hier keine vollkommen scharfe Grenze; im Gegentheil, die osteoide Substanz verstreicht nach und nach in das fibröse Gewebe, so dass hier und da einzelne der Bindegewebselemente des fibrösen Gewebes schon in die sklerotische Substanz der Balken miteingeschlossen werden. Daraus kann man abnehmen, dass die Bildung der eigentlichen Knochensubstanz wesentlich erfolgt durch die allmähliche Veränderung von Intercellularsubstanz, und zwar so, dass diese aus ihrem ursprünglich faserigen Bindegewebs-Zustande in eine dichte, glänzende, sklerotische, knorpelartige Masse übergeht, welche sich jedoch sowohl durch Structur, als durch Mischung von Knorpel unterscheidet. Hier ist nie ein Stadium, welches den bekannten Formen des gewöhnlichen Knorpels entspräche, sondern es geht direkt aus Bindegewebe die osteoide Form hervor, dieselbe Form, welche auch im Knorpel und Mark erst entsteht, wenn aus ihnen Knochen wird. Es ist diese Erfahrung insofern sehr wesentlich, als man durch sie die Ueberzeugung gewinnt, dass es falsch ist, von Knochenknorpel in dem Sinne zu sprechen, als ob gewöhnlicher Knorpel die organische Grundlage des Knochengewebes bilde. Der Knorpel als solcher kann nur verkalken; wenn er Knochen werden soll, so muss eine Umsetzung seines Gewebes stattfinden: es muss sich die chondrinhaltige Grundsubstanz verdichten und, wenigstens zum grössten Theile, in eine leimgebende Intercellular-Masse umwandeln (S. 453). Die Ossification aus Bindegewebe ist die Regel für die =pathologische Neubildung von Knochen=, insbesondere für die =Callusbildung= nach Fractur, über welche ich noch ein Paar Worte hinzufügen will, da es ein viel discutirter und chirurgisch sehr wichtiger Prozess ist. Schon aus meiner bisherigen Darstellung ist leicht ersichtlich, dass der Wege der Neubildung von Knochengewebe mehrere sind, und dass die alte Voraussetzung, als müsse ein Modus als der allein gültige betrachtet werden, nicht richtig ist. Eine Präexistenz von eigentlichem Knorpel vor der Knochenbildung ist durchaus nicht nothwendig, vielmehr bildet sich viel häufiger durch eine direkte Sklerose der Intercellularsubstanz aus Bindegewebe osteoides Gewebe und aus diesem Knochengewebe; ja die Ossification kommt so eigentlich leichter und einfacher zu Stande, als aus gewöhnlichem Knorpel. Gerade in der Geschichte der Callustheorien hat es sich auf das Deutlichste gezeigt, dass das Bestreben, eine einfache Formel aufzufinden, das grösste Hinderniss für die Erkenntniss der Callusbildung gewesen ist, und dass, trotz der grossen Verschiedenheit der Meinungen, eigentlich Alle Recht gehabt haben, indem in der That der neue Knochen sich aus dem verschiedensten Material aufbaut. Unzweifelhaft werden, wenn der Fall günstig ist, die bequemsten Wege für die Neubildung betreten, und der allerbequemste Weg ist der, dass das Periost den übergrossen Theil des Callus hervorbringt. Es geschieht dies in der Weise, dass das Periost gegen den Rand des Bruches hin sich verdickt und hier unter fortschreitender Proliferation nach und nach anschwillt, so zwar, dass man nachher ziemlich deutlich einzelne sich übereinander schiebende Lagen oder Schichten (Lamellen) daran unterscheiden kann. Diese werden immer dicker und zahlreicher, indem fortwährend die innersten Theile des Periostes wuchern und durch Vermehrung ihrer Elemente neue Lagen bilden, welche sich zwischen dem Knochen und den noch relativ normalen äusseren Theilen des Periostes aufhäufen. Diese Lagen können zu wirklichem Knorpel werden, aber es ist dies nicht nothwendig und nicht die Regel. Ja es findet sich sogar, dass bei den meisten Fracturen, wo Knorpel entsteht, nicht die ganze Masse des Periostcallus aus Knorpel hervorgeht, sondern ein mehr oder weniger grosser Theil sich immer aus Bindegewebe bildet. Die Knorpelschichten liegen gewöhnlich dem Knochen zunächst; je weiter man nach aussen kommt, um so mehr herrscht die direkte Umbildung des Bindegewebes vor. Die Neubildung von Knochengewebe beschränkt sich aber bei Fracturen keineswegs auf das Periost; sehr häufig geht sie nach aussen über dasselbe hinaus, und nicht selten reicht sie in Form von Stacheln, Knoten und Höckern sehr weit in die benachbarten Weichtheile hinein. Es versteht sich von selbst, dass hier keinesweges eine nach aussen gehende Wucherung des Periostes stattfindet, sondern dass aus dem Bindegewebe der benachbarten Theile ossificationsfähiges Gewebe hervorgeht. Man kann sich davon leicht überzeugen, da man in solche Massen die Ansätze von Muskeln verfolgen kann. Ja, nicht selten findet man an den äusseren Theilen Stellen, wo subcutanes Fettgewebe mit in die Ossification eingeschlossen worden ist. Man kann also nicht sagen, dass die Callusbildung im Umfange der Fracturstücke nur eine periosteale Bildung sei; jedesmal, wenn sie eine gewisse Reichlichkeit gewinnt, überschreitet sie die Grenzen des Periostes und geht in das Bindegewebe der umliegenden Weichtheile hinein. Diesen Theil des äusseren Callus nenne ich =parosteal=. Vollständig verschieden von dieser äusseren Callusbildung ist diejenige, welche mitten im Knochen aus dem Mark erfolgt: die =medulläre= oder besser =myelogene=. [Illustration: =Fig=. 142. Querbruch des Humerus mit Callusbildung, etwa 14 Tage alt. Man sieht aussen die poröse Kapsel des aus Periost und Weichtheilen hervorgegangenen Callus, dessen innerste Lage rechts noch knorpelig ist. Links liegt frei ein abgesplittertes Stück der Knochenrinde. Die beiden Bruchenden sind durch eine (dunkelrothe) hämorrhagisch-fibröse Schicht verbunden, das Mark beiderseits (durch Hyperämie und Extravasat) sehr dunkel, im unteren Bruchstücke mehrere poröse Callusinseln, aus der Ossification des Markes hervorgegangen.] In dem Augenblicke, wo der Knochen bei dem Bruche zertrümmert wird, werden natürlich viele kleine Markräume oder gar die grosse centrale Markhöhle eröffnet. In der Nähe der Bruchstelle füllen sich nun fast constant bei regelmässigem Verlaufe die noch unversehrten Markräume mit Callus, indem sich an die innere Fläche der sie umgrenzenden Knochenbalken neue Knochenlamellen aus dem Marke ansetzen, wie bei dem gewöhnlichen Dickenwachsthum des Knochens die ursprünglich bimsteinartigen äusseren Lagen durch die Einlagerung concentrischer Lamellen compact werden. Auf diese Weise geschieht es, dass nach einiger Zeit eine mehr oder weniger grosse neue Knochen-Schichte sich findet, welche continuirlich durch die Markhöhle hindurchzieht und eine Abschliessung derselben zu Stande bringt. Diese innere Callusbildung hat mit der äusseren in Beziehung auf die Ausgangspunkte gar nichts gemeinschaftlich; sie geht von einem ganz anderen Gewebe aus und liefert auch im Groben ein anderes Resultat, insofern sie innerhalb der Grenzen des alten Knochens eine Verdichtung desselben an der Bruchstelle hervorbringt. Selbst in dem Falle, dass die Knochenenden vollständig aufeinander passen, gestaltet sich in beiden Markhöhlen eine solche innere Knochenbildung, welche für eine gewisse Zeit eine Unterbrechung der Markhöhle erzeugt. Diese beiden Arten der Callusbildung sind die gewöhnlichen und normalen. Im Umfange der beiden Bruchenden geschieht die Anschwellung, im Innern die Verdichtung. Allmählich treten die neugebildeten Massen sich näher, ringsherum bildet sich aus der Ossification der Weichtheile eine brücken- oder capselartige Verbindung. Die übrige Vereinigung der getrennten Knochentheile geschieht endlich aus dem alten Knochengewebe selbst, welches an gewissen Theilen in weiches Gewebe übergeht, proliferirt, verschmilzt und von Neuem ossificirt. Es ist also wenig Grund zu fragen, ob der Callus aus einer freien Exsudat- oder Extravasatmasse hervorgehe. Allerdings erfolgt anfänglich eine Extravasation in den Raum zwischen die Bruchenden, allein das ausgetretene Blut wird in der Regel ziemlich vollständig absorbirt, und es trägt für die Constituirung der Verbindungsmassen verhältnissmässig sehr wenig bei. Ist viel Blut zwischen den Bruchenden, so bildet es eher ein Hinderniss, als eine Begünstigung für die Consolidation. -- Ergibt sich demnach die Ossification aus Knorpel als ein verhältnissmässig seltener Fall, so bleibt doch die Erfahrung von der Umwandlung einzelner Knorpelkörperchen in Knochenkörperchen überaus lehrreich. Denn das Knorpelkörperchen steht dem Bindegewebskörperchen parallel und seine Kapsel repräsentirt die zuletzt von ihm hervorgebrachte Intercellularsubstanz, deren Grenze sich in dem Bindegewebe sofort verwischt. Aber sicherlich ist sie vorhanden und für die Ernährungsverhältnisse von bestimmender Wichtigkeit. Ja wir müssen sagen, dass die alte Grenze immerfort den Bezirk bezeichnet, welcher von dem Knochenkörperchen beherrscht wird, und, wie ich das schon am Eingange (S. 18) gerade für diesen Punkt hervorgehoben habe, unter pathologischen Verhältnissen tritt dieser Bezirk (Territorium) nicht nur wieder in Kraft, sondern auch in's Gesicht. In diesem Kreise macht das Knochenkörperchen seine besonderen Schicksale durch. Wird ein Knochen auf irgend eine Weise zu neuen Transformationen oder Productionen bestimmt, so geht ein Knochenkörperchen nach dem anderen innerhalb seiner Gebietsgrenzen in die Veränderung ein. Bildet sich im Umfange nekrotischer Stücke eine Demarcationslinie (reactive Entzündung), so bekommt die Oberfläche des Knochens, vom Rande her gesehen, Ausbuchtungen, deren Umfang den alten Zellterritorien entspricht[281]. Auf der Fläche bemerkt man Lücken, welche hier und da zusammenfliessen und Gruben darstellen. Das Knochenkörperchen, welches früher an der Stelle der Grube lag, hat in dem Maasse, als es sich selbst veränderte, auch die umgebende Intercellularsubstanz bestimmt, in die Veränderung einzugehen. [281] Archiv IV. 301. XIV. 33. [Illustration: =Fig=. 143. Demarkationsrand eines nekrotischen Knochenstückes bei Paedarthrocace. _a_, _a_, _a_ der nekrotische Knochen mit sehr vergrösserten Knochenkörperchen und Knochenkanälchen; hier und da Andeutungen von Gruben auf der Fläche. _b_, _b_ die Lacunen, welche an die Stelle der Zellenterritorien des Knochens (vgl. Fig. 138) getreten sind, im seitlichen Abfalle des etwas dicken Präparates gesehen; hier und da noch vergrößerte Knochenkörperchen durchscheinend. _c_, _c_ die vollständig leeren Lücken. Vergr. 300.] Von dieser, den lebenden Knochen treffenden Veränderung ist eine andere, der äusseren Erscheinung nach oft sehr ähnliche wohl zu unterscheiden, welche auch an todten (nekrotischen) Knochen vorkommt. Viele Jahre hindurch ist es streitig gewesen, ob todte Knochen durch den Eiter angegriffen werden. Zahlreiche Versuche mit fast regelmässig negativem Ergebniss hatten zuletzt die Ueberzeugung allgemein gemacht, dass der todte Knochen inmitten des Eiters unverändert bleibe. Erst Erfahrungen, welche Herr =von Langenbeck= an Elfenbeinstücken machte, die in lebende menschliche Knochen eingesenkt wurden, haben dargethan, dass, wenn auch nicht der Eiter als solcher, so doch die Granulationen das todte Gewebe »anfressen«. Ich habe mich durch eigene Untersuchung an solchen Stiften überzeugt, dass sowohl kleine, als ganz grosse Gruben an der Oberfläche früher ganz glatter Stifte entstehen, und es kann hier um so weniger zweifelhaft sein, dass diese Gruben mit Zellenterritorien nichts zu thun haben, als das Elfenbein solche Territorien gar nicht besitzt. Nicht alle Gruben und Löcher am Knochen sind also durch Einschmelzung von Zellenterritorien entstanden; das Gesagte gilt nur von solchen Gruben, welche wirklich der Form und Grösse nach den Zellenterritorien entsprechen. Solche kann man sowohl an der compacten Knochenrinde, als auch an den Bälkchen des Markes wahrnehmen. Das sind Vorgänge, ohne deren Verständniss man die Geschichte der Caries gar nicht begreifen kann. Die Caries beruht eben darin, dass der Knochen sich in seine Territorien auflöst, dass die einzelnen Elemente, und zwar sowohl die des Knochengewebes, als auch die des Markes, in neue Entwickelung gerathen, und dass die Reste von alter Grundsubstanz als kleine, dünne Scherben in der weichen Substanz liegen bleiben. Ich habe dies wiederholt an Amputationsstümpfen verfolgt, an denen sich bald nach der Operation eine Periostitis mit leichter Eiterung, der Anfang von Caries peripherica, fand. Wenn man in einem solchen Falle das verdickte Periost abzieht, so sieht man in dem Moment, wo das Periost sich von der Oberfläche entfernt und die Gefässe sich aus der Knochenrinde hervorziehen, nicht, wie bei einem normalen Knochen, einfache Fäden, sondern einen kleinen Zapfen, eine dickere Masse; hat man sie ganz herausgezogen, so bleibt ein unverhältnissmässig grosses Loch zurück, viel umfangreicher, als unter normalen Verhältnissen. Untersucht man den Zapfen, so findet man, dass um das Gefäss herum eine gewisse Quantität von weichem Gewebe liegt, dessen zellige Elemente sich in fettiger Degeneration oder in zelliger Wucherung befinden. An den Stellen, wo das Gefäss herausgezogen ist, erscheint die Oberfläche nicht eben, wie beim normalen Knochen, sondern rauh und porös, und wenn man dieselben unter das Mikroskop bringt, so bemerkt man jene Ausbuchtungen, jene eigenthümlichen Löcher, welche den einschmelzenden Zellenterritorien zugehören. Fragt man also, auf welche Weise der Knochen im Anfange der Caries porös wird, so kann man sagen, dass es sicherlich nicht so geschieht, dass sich Exsudate bilden, denn dazu ist kein Raum vorhanden, da die Gefässe innerhalb der Markkanäle (Fig. 38, 39, 41) unmittelbar die Tela ossea berühren. Vielmehr bilden sich Lücken, welche sofort gefüllt sind mit einer weichen Substanz, die ein leicht streifiges Bindegewebe mit fettig degenerirten oder gewucherten Zellen darstellt. Schmilzt im Umfange eines Markkanals ein Knochenkörperchen nach dem anderen ein, so wird man nach einiger Zeit den Markkanal von einer lacunären Bildung umgrenzt finden. Mitten darin steckt immer noch das Gefäss, welches das Blut führt, aber die Substanz herum ist nicht Knochen oder Exsudat, sondern degenerirtes Gewebe, in welches möglicherweise aus den Gefässen ausgewanderte farblose Blutkörperchen eindringen. Der ganze Vorgang ist eine =degenerative Ostitis=, wobei die Tela ossea ihre chemische und morphologische Haltung einbüsst, und an ihre Stelle ein weiches, nicht mehr kalkführendes Gewebe tritt. Dieses kann je nach Umständen sehr verschieden sein, einmal eine fettig degenerirende, zerfallende Masse, in einem anderen Falle ein zellenreiches Gewebe mit zahlreichen jungen Elementen. Die neu entstehende Substanz verhält sich wieder, wie Mark. Unter Umständen kann sie so wachsen, dass, wenn wir das Beispiel wiederum von der Oberfläche des Knochens nehmen, wo sich ein Gefäss hineinsenkt, die junge Markmasse neben dem Gefässe herauswuchert und als ein Knöpfchen erscheint, welches eine Grube der Oberfläche erfüllt und unter Umständen sogar über sie hervorragt. Das nennen wir eine =Granulation=. Untersucht man Granulationen im Vergleiche mit rothem Mark, so ergibt sich, dass keine zwei Arten von Gewebe mehr mit einander übereinstimmen. Das Knochenmark eines Neugebornen könnte man jeden Augenblick chemisch und mikroskopisch für eine Granulation ausgeben. Die Granulation ist nichts weiter, als junges, weiches, schleimhaltiges Gewebe, analog dem Mark. Es gibt eine entzündliche Osteoporose, welche nur darin beruht, dass eine vermehrte Markraumbildung eintritt und der Prozess, welcher an der Markhöhle ganz normal ist, sich auch aussen in der compacten Rinde findet. Diese Osteoporose (Osteomalacie) unterscheidet sich von der granulirenden Caries peripherica nur durch ihren Sitz. Geht man einen Schritt weiter und lässt man die Zellen, welche bei der Osteoporose in mässiger Menge vorhanden sind, reichlicher und reichlicher werden, während die Grundsubstanz dazwischen immer weicher und spärlicher wird, so haben wir =Eiter=. Dieser entsteht nicht aus einem Blastem durch einen besonderen Act, nicht durch eine Schöpfung de novo, sondern er entwickelt sich regelrecht von Generation zu Generation nach vollkommen legitimer Art, gleichviel, ob seine Elemente aus den Elementen des früheren Gewebes hervorgehen[282], oder ob sie direkt aus dem Blute in das Gewebe einwandern. [282] Archiv XIV. 60. Es liegt also in der Geschichte des kranken Knochens eine ganze Reihe von Gewebs-Umbildungen vor uns: der zuerst entstandene, aus Knorpel oder Bindegewebe hervorgehende Knochen kann Umbildungen erfahren zu Mark, dann zu Granulations-Gewebe, und endlich zu fast reinem Eiter. Die Uebergänge sind hier so allmählich, dass bekanntlich derjenige Eiter, welcher zunächst auf die Granulation folgt, eine mehr schleimige, fadenziehende, zähe, cohärente Masse darstellt, welche auch wirklich Schleimstoff enthält, analog dem Granulations-Gewebe, und welche erst, je weiter man nach aussen kommt, die Eigenschaften des vollendeten Eiters zeigt. Der fertige rahmige Eiter der Oberfläche geht gegen die Tiefe hin nach und nach über in das Pus crudum, den schleimigen, zähen, nicht maturirten Eiter der tieferen Lagen, und was wir =Maturation= nennen, beruht nur darauf, dass die schleimige Grundsubstanz des ursprünglich zähen Eiters, welcher sich seiner Structur nach der Granulation anschliesst, allmählich in die vollkommen flüssige, albuminöse Zwischensubstanz des reinen Eiters übergeht. Der Schleim löst sich auf und die rahmige Flüssigkeit entsteht. =Die Reifung ist also im Wesentlichen eine Erweichung und Verflüssigung der Intercellularsubstanz=. So unmittelbar hängen Entwickelung und Rückbildung, physiologische und pathologische Zustände zusammen. Das ist ein Theil der normalen und pathologischen Vorgänge, welche wir bei der Bildung und Umbildung von Knochen erkennen. Man muss daraus entnehmen, dass es sich hier um eine Reihe von Permutationen oder Transformationen oder Substitutionen handelt, welche ein Fortschreiten bald zu einer höheren, bald zu einer niederen Form der Bildung darstellen, welche aber immerfort continuirlich mit einander zusammenhängen und welche je nach den Bedingungen, welche auf die Theile wirken, sich bald so, bald anders gestalten. Wir haben es in der Hand, ob wir einzelne Theile des Knorpels oder des Periostes bestimmen wollen, zu ossificiren oder sich in ein weiches Gewebe umzubilden. In dieser ganzen Reihe steht allein das rothe Mark als der Typus der heterologen Formen dar, indem es die kleinsten und am wenigsten charakteristischen Zellen enthält. Das junge Markgewebe entspricht seiner Erscheinung nach am meisten jenen jungen Entwickelungen, mit welchen alle heterologen, per secundam intentionem entstehenden Gewebe beginnen, und da es, wie ich vorhin schon berührte, zugleich den eigentlichen Typus für alle Granulationen darstellt[283], so kann man sagen, dass, =wo immer Neubildungen in massenhafter Weise entstehen sollen, auch eine dem Typus des jungen Markes analoge Substitution (Granulation) erfolgt=, und dass, gleichviel, welche Festigkeit das alte Gewebe haben mag, =doch immer eine Proliferation stattfinden kann, welche die Keime für die späteren Elemente legt=. [283] Archiv XIV. 59. Geschwülste II. 387. Einundzwanzigstes Capitel. Die pathologische, besonders die heterologe Neubildung. Theorie der substitutiven Neubildung im Gegensatze zu der exsudativen. Zerstörende Natur der Neubildungen. Homologie und Heterologie (Malignität). Ulceration. Osteomalacie. Knochenmark und Eiter. Proliferation und Luxuriation. Die Eiterung. Verschiedene Formen derselben: oberflächliche aus Epithel und tiefe aus Bindegewebe, Auswanderung der farblosen Blutkörperchen. Erodirende Eiterung (Haut, Schleimhaut): Eiter- und Schleimkörperchen im Verhältniss zum Epithel. Ulcerirende Eiterung. Lösende Eigenschaften des Eiters. Zusammenhang der Destruction mit pathologischem Wachsthum und Wucherung. Uebereinstimmung des Anfanges bei Eiter, Krebs, Sarkom u. s. w. Mögliche Lebensdauer der pathologisch neugebildeten Elemente und der pathologischen Neubildungen als ganzer Theile (Geschwülste). Zusammengesetzte Natur der grösseren Geschwulstknoten und miliarer Charakter der eigentlichen Heerde. Bedingungen des Wachsthums und der Recidive: Contagiosität der Neubildungen, Bedeutung der Elementar-Anastomosen und der Wanderzellen. Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Neuropathologie. Allgemeine Infection des Körpers. Parasitismus und Autonomie der Neubildungen. Im vorigen Capitel habe ich die Hauptpunkte in der Geschichte der Neubildungen erörtert. Es erhellt daraus, dass nach meiner Auffassung jede Art von Neubildung, insofern sie präexistirende zellige Elemente als ihren Ausgangspunkt voraussetzt und an die Stelle derselben tritt, auch nothwendig mit einer völligen Veränderung (Alteration) des gegebenen Körpertheiles verbunden sein muss. Es lässt sich nicht mehr eine Hypothese der Art vertheidigen, wie man sie früher vom Gesichtspunkte der plastischen Stoffe aus festhielt, dass sich =neben= die vorhandenen Elemente des Körpers ein Rohstoff lagere, welcher aus sich durch eine Art von Urzeugung ein neues Gewebe erzeugt und so einen reinen Zuwachs für den Körper liefern würde. Wenn es richtig ist, dass jede Neubildung aus bestimmten Elementen hervorgeht und dass in der Regel Theilungen der Zellen das Mittel der Neubildung sind, so versteht es sich natürlich von selbst, dass, =wo eine Neubildung stattfindet, in der Regel auch gewisse Gewebselemente des Körpers aufhören müssen zu existiren=. Selbst ein Element, das sich einfach theilt und aus sich zwei neue, ihm gleiche Elemente erzeugt, hört damit auf zu sein, wenngleich das Gesammtresultat nur die scheinbare Apposition eines Elementes ist. Dies gilt für alle Formen von Neubildungen, so für die gutartigen, wie für die bösartigen, und man kann daher in einem gewissen Sinne sagen, dass =überhaupt jede Art von Neubildung destructiv ist, dass sie etwas vom Alten zerstört=. Allein wir sind bekanntlich gewöhnt, die Zerstörungen nach dem Effect zu beurtheilen, der für die gröbere Anschauung hervortritt, und wenn man von destruirenden Bildungen spricht, so meint man zunächst nicht diejenigen, wobei das Resultat der Neubildung ein Analogon der alten Bildung darstellt, sondern irgend ein mehr oder weniger von dem ursprünglichen Typus des Theiles abweichendes Erzeugniss. Dieser Gesichtspunkt ist es, den ich früher schon (S. 92) bei der Classification der pathologischen Neubildungen hervorgehoben habe. Aus ihm ergibt sich ein vernünftiger, den Thatsachen entsprechender Scheidungsgrund aller =Neubildungen in homologe und heterologe=. Heterolog dürfen wir nicht nur die malignen, degenerativen Neoplasmen nennen, sondern wir müssen jedes Gewebe so bezeichnen, welches von dem anerkannten Typus des Ortes abweicht, während wir homolog alles das nennen werden, was, obwohl neu gebildet, doch den Typus seines Mutterbodens reproducirt. Wir finden z. B., dass die so überaus häufige Art der Uterus-Geschwülste, welche man als fibröse oder fibroide bezeichnet, ihrer ganzen Zusammensetzung nach denselben Bau hat, wie die Wand des »hypertrophischen« Uterus, indem sie nicht nur aus fibrösem Bindegewebe mit Gefässen, sondern auch aus Muskelfasern besteht. Ich habe sie daher Myom oder Fibromyom genannt[284]. Die Geschwulst kann bekanntlich so gross werden, dass sie nicht bloss den Uterus in allen seinen Functionen auf das Aeusserste beeinträchtigt, sondern auch durch Druck auf die Nachbartheile den allerübelsten Einfluss ausübt. Trotzdem wird sie immer als ein homologes Gebilde gelten müssen. Dagegen können wir nicht umhin, von einer heterologen Bildung zu sprechen, sobald durch einen Vorgang, der vielleicht in seinem Anfange eine einfache Vermehrung der Theile auszudrücken scheint, ein Resultat gewonnen wird, welches von dem ursprünglichen Zustande des Ortes wesentlich verschieden ist. Ein Katarrh z. B. in seiner einfachen Form kann eine Vermehrung der zelligen Elemente an der Oberfläche mit sich bringen, ohne dass die neuen Zellen wesentlich verschieden sind von den präexistirenden. Untersucht man eine Vagina mit ausgesprochenem Fluor albus (Leukorrhoe), so ist kein Zweifel, dass die Zellen des Fluor albus den Zellen des Vaginalepithels sehr nahe stehen, obgleich sie nicht mehr ganz die typische Gestalt des Pflasterepithels bewahren. Je weniger sie sich aber zu den typischen Formen des Ortes entwickeln, um so mehr werden sie functionsunfähig. Sie sind beweglich auf einer Oberfläche, wo sie eigentlich festhaften sollten; sie fliessen herunter (Katarrh) und erzeugen Resultate, welche mit der Integrität der Theile unverträglich sind. [284] Archiv VI. 553. Geschwülste III. 97. Im engeren Sinne des Wortes destruirend sind allerdings nur heterologe Neubildungen. Die homologen können per accidens sehr nachtheilig werden, aber sie haben doch nicht den eigentlichen, im groben und traditionellen Sinne destruirenden oder malignen Charakter. Dagegen haftet jeder Art von Heterologie, zumal wenn sie sich nicht auf die alleroberflächlichsten Theile bezieht, eine gewisse Malignität an. Trotzdem sollte man nicht übersehen, dass selbst die Oberflächen-Affectionen, auch wenn sie sich nur auf die äusserste Epithelial-Lage beschränken, allmählich einen sehr nachtheiligen Einfluss ausüben können. Man denke nur an den Fall, dass eine grosse Schleimhautfläche immerfort secernirt, dass auf ihr fortwährend heterologe Producte erzeugt werden, die nicht zu bleibendem Epithel werden, sondern immerfort von der Schleimhaut herunter fliessen. Die durch die Ablösung der deckenden Elemente entstehende Erosion verbindet sich hier mit der Blennorrhoe, der Anämie, der Neuralgie u. s. f. Viel klarer stellt sich dieser nachtheilige Einfluss heraus, sobald man jene gröbere Destruction ins Auge fasst, welche das Motiv für Ulceration und Höhlenbildung im Innern der Theile wird. Es sieht wie ein Widerspruch aus, dass ein Prozess, der neue Elemente hervorbringt, zerstöre, allein dieser Widerspruch ist doch eben nur ein oberflächlicher. Wenn man sich denkt, dass in einem Theile, der vorher fest war, ein Gewebe neu gebildet wird, welches beweglich, in seinen einzelnen Theilen verschiebbar ist, so wird das natürlich immer eine wesentliche Aenderung in der Brauchbarkeit des Theiles mit sich bringen. Die einfache Umwandlung des Knochens in Mark (S. 502) kann die Ursache werden für eine grosse Fragilität der Knochen, und die =Osteomalacie= beruht ihrem Wesen nach auf gar nichts Anderem, als darauf, dass compacte Knochensubstanz in Mark umgewandelt wird[285]. Eine excessive Markraumbildung rückt allmählich vom Innern des Knochens an die Oberfläche vor, beraubt den Knochen seiner Festigkeit, erzeugt ein an sich ganz normales, aber für die nothwendige Festigkeit der Theile unbrauchbares Gewebe und bereitet so die Zerstörung des Zusammenhanges mit einer gewissen Nothwendigkeit vor. Das Mark ist ein ausserordentlich weiches Gewebe, das in jenen Zuständen, wo es roth und zellenreich oder atrophisch und gallertig ist, fast flüssig wird. Die Thierärzte sprechen daher geradezu von einer »Markflüssigkeit« als einer besonderen Krankheitsform. Von dem Mark zu den vollkommen flüssigen Geweben ist ein kleiner Schritt, und die Grenzen zwischen Mark und Eiter lassen sich manchmal mit Sicherheit überhaupt gar nicht feststellen. Eiter ist für uns ein junges Gewebe, welches allmählich unter rapider Vermehrung der Zellen alle feste Intercellularsubstanz auflöst. Eine einzige Bindegewebszelle mag in kürzester Zeit einige Dutzend Eiterzellen produciren, denn der Eiter hat einen reissend schnellen Entwickelungsgang[286]. Aber das Resultat ist für den Körper nutzlos, die =Proliferation wird Luxuriation=[287]. Die Eiterung ist ein Consumtions-Vorgang, durch welchen überflüssige Theile erzeugt werden, welche nicht die Consolidation, die dauerhafte Beziehung zu einander und zur Nachbarschaft gewinnen, welche für das Bestehen des Körpers nothwendig ist. [285] Archiv IV. 307. V. 491. [286] Archiv I. 240. [287] Spec. Pathologie und Ther. I. 331. Untersuchen wir nun zunächst eben die =Geschichte der Eiterung=, so ergibt sich sofort, dass wir verschiedene Wege der Eiterbildung unterscheiden müssen, je nachdem nehmlich die Elemente des Eiters mit den farblosen Blutkörperchen identisch sind und unmittelbar aus dem Blute auswandern, oder von den Elementen der örtlichen Gewebe neu erzeugt werden. Als solche Matrices des Eiters können bezeichnet werden sowohl die erste von uns betrachtete Art von Geweben, die =der Epithelformation=, als auch die zweite, die =der Bindesubstanz=[288]. Ob es auch eine Eiterung gibt, die aus einem Gewebe der dritten Reihe hervorgeht, aus Muskeln, Nerven, Gefässen u. s. f., das ist insofern zweifelhaft, als man natürlich die Bindegewebs-Elemente, welche in die Zusammensetzung der grösseren Gefässe, Muskel-und Nervenmassen eingehen, von den eigentlich muskulösen, nervösen und vasculösen (capillären) Elementen ausscheiden muss. Nun haben freilich zuverlässige Beobachter, wie C. O. =Weber=, auch für diese Gewebe das Bestehen einer aus ihrem Parenchym hervorgehenden Eiterung beschrieben, indess kann ich darüber nichts Bestimmtes aussagen. Die Regel ist jedenfalls auch für diese Gewebe die =interstitielle Eiterung= (Fig. 144). [288] Archiv XIV. 58. XV. 530. [Illustration: =Fig=. 144. Interstitielle eiterige Muskelentzündung bei einer Puerpera _m m_ Muskelprimitivfasern, _i i_ Entwickelung von Eiterkörperchen aus der Wucherung der Körperchen des Zwischen-Bindegewebes. Vergr. 280.] Die Frage von der Eiterbildung ist im Laufe der Zeit ziemlich complicirt geworden. Während die neueren Beobachter viele Jahre lang es als selbstverständlich ansahen, dass die Eiterkörperchen aus dem Exsudate durch Urzeugung hervorgingen, stellten zuerst einzelne Untersucher, wie =William Addison= und =Gustav Zimmermann=, die Meinung auf, dass der Eiter wesentlich auf ausgetretene farblose Blutkörperchen (Lymphkörperchen) zurückzuführen sei. =Benno Reinhardt= zeigte dagegen, dass in dem Wundsecrete allerdings während der ersten Stunden die vorkommenden Zellen mit den gleichzeitig im Blute vorkommenden farblosen Blutkörperchen übereinstimmen, dass diess jedoch später nicht mehr der Fall sei. Allein auch er liess diese späteren Eiterkörperchen aus dem Exsudate entstehen. Nachdem ich jedoch dasjenige, was er für die Anfänge der jungen Eiterkörperchen ansah, vielmehr für spätere Producte, welche innerhalb alter Körperchen entstanden sind, erklären musste[289], und allmählich die Entstehung von Eiterkörperchen aus anderen Gewebselementen erkannte, so muss ich daran festhalten, dass nicht alle Elemente, welche sich irgendwo im Eiter finden, aus dem Blute stammen. Ich meinerseits habe nie daran gezweifelt, dass farblose Blutkörperchen in Exsudate übergehen[290]. Indess haben erst die Untersuchungen von =Waller= und namentlich von =Cohnheim= gezeigt, in wie grossem Maasse dies der Fall ist. Letzterer hat ausserdem durch direkte Beobachtung am Mesenterium des Frosches gefunden, dass das Austreten der farblosen Blutkörperchen nicht durch passive Exsudation, sondern durch active Auswanderung, und zwar überwiegend durch die Wandungen kleinerer Venen erfolgt, und wenngleich diese Thatsache von manchen Gegnern geradezu in Abrede gestellt ist, so kann doch über ihre Richtigkeit nach dem, was ich selbst gesehen habe, nicht der mindeste Zweifel sein. [289] Archiv X. 183. [290] Archiv I. 246. So bereitwillig ich diese Thatsache anerkenne, so sehr muss ich doch davor warnen, alle Rundzellen, welche im Eiter oder überhaupt in Exsudaten oder Secreten vorkommen, für ausgewanderte farblose Körperchen oder gar für Lymphkörperchen zu halten. Schon früher (S. 211) habe ich auf die Unterschiede aufmerksam gemacht, welche zwischen den Rundzellen der Lymphdrüsen, der Lymphflüssigkeit und des Blutes bestehen; hier muss ich hinzufügen, dass eine vorurtheilsfreie Untersuchung der Exsudat-und Secretzellen fernere und erhebliche Unterschiede vieler derselben von den Lymph- und farblosen Blutkörperchen ergibt. Auch haben sich andere Untersucher der neuesten Zeit in immer grösserer Zahl davon überzeugt, dass Eiterkörperchen durch Proliferation von Gewebselementen entstehen können. Die Grenzen zwischen diesen verschiedenen Arten von Zellen zu ziehen, ist gegenwärtig um so weniger möglich, als sich nicht leugnen lässt, dass auch die ausgewanderten farblosen Blutkörperchen weitere Veränderungen erfahren, wodurch sie von den gewöhnlichen, im Blute selbst enthaltenen farblosen Rundzellen verschieden werden. So lange die Eiterung eine blosse oberflächliche ist, so erfolgt sie natürlich auch ohne erheblichen Substanzverlust, mit einfacher Erosion, ohne Geschwürsbildung. Dies ist aber jedesmal der Fall, wo der Eiter in der Tiefe, namentlich im Bindegewebe entsteht. Die Sache gestaltet sich dabei gerade umgekehrt, wie man früher annahm, wo man dem Eiter direkt schmelzende Eigenschaften zuschrieb. =Der Eiter ist nicht das Schmelzende, sondern das Geschmolzene, d. h. das transformirte Gewebe=. Ein Theil wird weich, er schmilzt ein, indem er eitert, aber es ist nicht der fertige Eiter, welcher diese Erweichung bedingt, sondern umgekehrt, er ist es, welcher durch die Umwandlung des Gewebes hervorgebracht wird. Oberflächliche Eiterung sehen wir alle Tage sowohl an der =äusseren Haut=, als an manchen Schleim- und serösen Häuten. Am besten kann man sie da beobachten, wo im normalen Zustande geschichtetes Epithel vorhanden ist. Verfolgt man die Eiterung auf der äusseren Haut, wenn sie ohne Geschwürsbildung geschieht, so findet man regelmässig, dass sie an dem Rete Malpighii geschieht. Sie besteht theils in der Auswanderung farbloser Blutkörperchen, theils in einer Wucherung der Zellen mit Entwickelung neuer Elemente. In dem Maasse, als die Eiterung fortschreitet, bildet sich eine Ablösung der härteren Epidermislage, welche in Form einer Blase, einer Pustel erhoben wird. Der Ort, wo die Eiterung hauptsächlich erfolgt, entspricht den oberflächlichen Schichten des Rete, welche schon im Uebergange zur Epithelbildung begriffen sind; zieht man die Haut der Blase ab, so bleiben diese auch gewöhnlich an der Oberhaut sitzen. Gegen die tieferen Lagen hin kann man bemerken, wie die zelligen Elemente, welche ursprünglich einfache Kerne haben, sich theilen, die Kerne reichlicher werden, an die Stelle einzelner Zellen mehrere treten, deren Kerne sich ihrerseits wieder theilen. Gewöhnlich hat man sich auch hier damit geholfen, dass man angenommen hat, es würde zuerst ein amorphes Exsudat gesetzt, welches den Eiter in sich erzeuge, und bekanntlich sind viele von den Untersuchungen über die Entwickelung des Eiters gerade an solchen Flüssigkeiten gemacht worden. Es war sehr begreiflich, dass so lange, als man die discontinuirliche Zellenbildung überhaupt nicht bezweifelte, man ohne Weiteres die jungen Zellen als freie Neubildungen ansah und sich dachte, dass in der Flüssigkeit Keime entständen, welche, allmählich zahlreicher werdend, den Eiter lieferten. Aber die Sache ist die, dass je länger die Eiterung dauert, um so zuverlässiger eine Reihe von Zellen des Rete nach der anderen in den Prozess hineingezogen wird, und dass, während die Blase sich abhebt, die Masse der in die Höhle hineingelangenden Zellen immer grösser wird. Wenn eine Pockenpustel sich bildet, so ist zuerst ein Tröpfchen klarer Flüssigkeit vorhanden, aber darin entsteht nichts; die Flüssigkeit lockert nur die Nachbartheile auf. Ganz ebenso verhält es sich an den =Schleimhäuten=. Wir haben keine einzige Schleimhaut, die nicht unter Umständen puriforme Elemente liefern könnte. Allein auch hier zeigt sich eine grosse Verschiedenheit. Eine Schleimhaut ist um so weniger im Stande, ohne Ulceration Eiter zu produciren, je einfacher, je weniger geschichtet ihr Epithel ist. Alle Schleimhäute mit Cylinderepithel sind weniger geeignet, nicht ulcerativen Eiter zu erzeugen, als solche mit Pflasterepithel; das, was an ihnen erzeugt wird, ergibt sich, auch wenn es ein ganz eiteriges Aussehen hat, bei genauer Untersuchung häufig nur als hyperplastisches Epithel. Die Darmschleimhaut, namentlich die des Dünndarms, erzeugt fast nie Eiter ohne Geschwürsbildung. Die Schleimhaut des Uterus, der Tuben, die manchmal mit einer dicken Masse von ganz puriformem Aussehen überzogen ist, sondert fast immer nur Epithelelemente ab, während wir an anderen Schleimhäuten, wie an der Urethra, massenhafte Absonderungen von Eiter sehen, z. B. in Gonorrhöen (Fig. 72), ohne dass auch nur die mindeste Geschwürsbildung an der Oberfläche vorhanden wäre. Sind mehrfach geschichtete Zellen-Lagen da, so können die oberen eine Art von Schutz für die tieferen bilden, deren Wucherung eine Zeit lang gesichert wird. Der Eiter wird entweder durch nachdrängende Eitermasse endlich weggeschoben, oder es erfolgt, wie es gewöhnlich der Fall ist, gleichzeitig eine Transsudation von Flüssigkeit, welche die Eiterzellen von der Oberfläche entfernt, gerade so, wie bei der Samensecretion die Epithelial-Elemente der Samenkanälchen die Spermatozoen liefern, und ausserdem eine Flüssigkeit transsudirt, welche dieselben fortträgt. Aber die Spermatozoen entstehen nicht in der Flüssigkeit, sondern diese ist nur das Vehikel ihrer Fortbewegung (S. 39). Auf ähnliche Weise sehen wir häufig Flüssigkeiten an der Körperoberfläche exsudiren, ohne dass dieselben als Bildungsorte für Zellen betrachtet werden könnten. Findet gleichzeitig eine vermehrte Epithelbildung an der Oberfläche statt, so werden auch die durch das Transsudat losgelösten Bestandtheile nur wucherndes Epithel darstellen; wurde Eiter gebildet, so wird auch die Flüssigkeit Eiterkörperchen enthalten. Wenn man =Eiter=-, =Schleim=- und =Epithelialzellen= mit einander vergleicht, so ergibt sich, dass allerdings zwischen Eiterkörperchen und Epithelialzellen eine Reihe von Uebergängen oder Zwischenstufen besteht. Neben ausgebildeten, mit mehrfachen glatten, nicht nucleolirten Kernen versehenen Eiterkörperchen (Fig. 8, _A_. 72) finden sich sehr gewöhnlich etwas grössere, runde, granulirte Zellen mit einfachen gleichfalls granulirten Kernen und sehr deutlichen Kernkörperchen, die sogenannten =Schleimkörperchen= (Fig. 8, _B_); etwas weiter sehen wir vielleicht noch grössere Elemente von typischer Gestalt und mit einfachen grossen Kernen: diese nennen wir Epithelialzellen. Letztere sind platt oder eckig oder cylindrisch, je nach dem Orte von bestimmter typischer Beschaffenheit, während Schleim- und Eiterkörperchen durchweg ausgezeichnete =Rundzellen= (Kugeln, Globuli) sind. Schon aus diesem Umstande erklärt es sich, dass, während die Epithelzellen, die sich gegenseitig decken und aneinander schliessen, eine nicht unbeträchtliche Festigkeit des Zusammenhanges besitzen, die lose aneinander gelagerten, sphärisch gestalteten Schleim- und Eiterkörperchen eine sehr grosse Verschiebbarkeit haben und leicht vom Orte gerückt werden, was natürlich um so leichter geschieht, wenn gleichzeitig mit ihrer Anhäufung eine reichlichere Transsudation von Flüssigkeit erfolgt. Man hat schon früher gesagt, es seien die Schleimkörperchen weiter nichts, als junges Epithel. Einen Schritt weiter und man könnte sagen, die Eiterkörperchen wären weiter nichts, als junge Schleimkörperchen. Das ist etwas irrthümlich. Man kann nicht behaupten, dass eine Zelle, die bis zu dem Punkte eines sogenannten Schleimkörperchens als sphärisches Gebilde sich erhalten hat, noch im Stande wäre, die typische Form des Epithels anzunehmen, welches an der Stelle existiren sollte; eben so wenig ist es sicher, dass ein Eiterkörperchen, nachdem es sich regelmässig ausgebildet hat und lose geworden ist, sich wieder in einen Entwickelungsgang hineinzubegeben vermöchte, der ein relativ bleibendes Element des Körpers herzustellen im Stande wäre. Die Elemente, aus denen die Entwickelung neuer Gewebe überhaupt erfolgt, sind junge Formen, indifferente Bildungszellen (S. 493), aber sie sind keine eigentlichen Eiterkörperchen. Im Eiter beginnt jede neue Zelle sehr früh ihren Kern zu theilen; nach kurzer Zeit erreicht die Kerntheilung einen hohen Grad, ohne dass die Zelle selbst weiter wächst. Im Schleim pflegen die Zellen einfach zu wachsen und zum Theil sehr gross zu werden, ohne ihre Kerne zu theilen, aber sie überschreiten nicht gewisse Grenzen, und namentlich nehmen sie keine typische Gestalt an. Im Epithel dagegen fangen die Elemente schon sehr früh an, ihre besondere Gestalt zu zeigen, denn, »was ein Haken werden soll, das krümmt sich beizeiten.« Die allerjüngsten Elemente, welche unter pathologischen Verhältnissen gebildet werden, kann man aber nicht Epithelzellen nennen, wenigstens sind sie noch keine typischen Epithelzellen, sondern auch sie sind indifferente Bildungszellen, welche auch zu Schleim- oder Eiterkörperchen werden könnten. Eiter-, Schleim- und Epithelialzellen sind also pathologisch äquivalente Theile, welche einander wohl substituiren, aber nicht für einander functioniren können. Schon hieraus folgt, dass der gesuchte Unterschied zwischen Schleim und Eiter, für dessen Auffindung man im vorigen Jahrhunderte Preise aussetzte, eigentlich nicht gefunden werden konnte, und dass die »Proben« immer unzureichend sein mussten, insofern die Entwickelungen auf der Schleimhaut nicht, immer den rein purulenten, den rein mucösen oder den rein epithelialen Charakter haben, vielmehr in der grossen Mehrzahl der Fälle ein gemischter Zustand existirt. Fast jedesmal, wenn auf einer grossen Schleimhaut, wie auf den Harn- oder Geschlechtswegen, ein katarrhalischer Prozess sich entwickelt, erscheinen Eiterkörperchen, aber die Secretion derselben findet irgendwo ihre Grenze, von wo an nur Schleimkörperchen abgesondert werden, und auch die Absonderung der Schleimkörperchen geht irgendwo wieder in vermehrte Epithelbildung über. Diese Art von Eiterung wird natürlich immer das Resultat haben, dass an Stellen, wo sie eine gewisse Höhe erreicht, die natürlichen Decken der Oberfläche nicht zu Stande kommen, oder wo diese eine gewisse Festigkeit haben, dass sie abgehoben und zerstört werden. Eine Pustel an der Haut zerstört die Epidermis, und insofern können wir auch diesen Formen der Eiterung einen degenerativen Charakter beimessen. [Illustration: =Fig=. 145. Eiterige Granulation aus dem Unterhautgewebe des Kaninchens, im Umfange eines Ligaturfadens, _a_ Bindegewebskörperchen, _b_ Vergrösserung der Körperchen mit Theilung der Kerne, _c_ Theilung der Zellen (Granulation), d Entwickelung der Eiterkörperchen. Vergr. 300.] Degeneration im gewöhnlichen Sinne tritt jedoch erst dann ein, wenn tiefere Theile befallen werden. Diese tiefere, eigentlich ulcerative Eiterbildung geschieht regelmässig im =Bindegewebe= oder seinen Aequivalenten[291]. An ihm erfolgt zuerst eine Vergrösserung der Zellen (Bindegewebskörperchen), die Kerne theilen sich und wuchern eine Zeit lang excessiv. Auf dieses erste Stadium folgen dann sehr bald Theilungen der Elemente selbst. Im Umfange der gereizten Stellen, wo vorher einzelne Zellen lagen, findet man späterhin doppelte und mehrfache, aus denen sich gewöhnlich eine Neubildung homologer Art (hyperplastisches Bindegewebe) gestaltet. Nach innen hin dagegen, wo schon vorher die Elemente stark mit Kernen gefüllt werden, treten bald Haufen von kleinen Zellen auf, welche anfangs noch in den Richtungen und Formen liegen, wie die früheren Bindegewebskörperchen. Etwas später findet man hier rundliche Heerde oder diffuse »Infiltrationen«, innerhalb deren das Zwischengewebe äusserst spärlich ist und in dem Maasse, als die Zellenanhäufung sich weiter ausbreitet, immer mehr verzehrt oder erweicht wird. Einen wie grossen Antheil an diesen Vorgängen die Einwanderung farbloser Blutkörperchen aus den Gefässen hat, muss noch genauer festgestellt werden. Manche neueren, ziemlich einseitigen Auffassungen haben von offenbar falschen Voraussetzungen aus das Ergebniss der experimentellen Untersuchungen irrthümlich gedeutet. Indess ist dies um so mehr verzeihlich, da auch wir, indem wir nur der Proliferation gedachten, früher eben so einseitig waren. Für die spätere Geschichte der suppurativen Prozesse kommt übrigens wenig darauf an, ob man die neuen Zellen der Wucherung oder der Wanderung zuschreibt. [291] Archiv IV. 312. VIII. 415. XIV. 58. Spec. Pathol. u. Ther. I. 330, 337. Finden diese Prozesse an einer unversehrten Oberfläche statt, so sieht man zuweilen das Epithellager noch ganz zusammenhängend über die gereizte und etwas geschwollene Stelle hinweglaufen. Auch die äusserste Lage der Intercellularsubstanz erhält sich oft noch lange Zeit, während alle tieferen Theile des Bindegewebes schon mit Eiterkörperchen erfüllt, »infiltrirt« oder »abscedirt« sind. Endlich berstet die Oberfläche oder sie wird auch ohne Berstung direkt transformirt in eine weiche, zerfliessende Masse. Diese Formen geben nach und nach die sogenannten =Granulationen=, welche immer aus einem Gewebe bestehen, wo in eine schwache Quantität von weicher Intercellularsubstanz mehr oder weniger zahlreiche, wenigstens in dem eigentlich wuchernden Stadium der Granulationen runde Elemente eingesetzt sind. Je weiter wir gegen die Oberfläche kommen, um so mehr zeigen die Zellen, welche in der Tiefe mehr einkernig sind, Theilungen der Kerne und an der letzten Grenze kann man sie nicht mehr von Eiterkörperchen unterscheiden. Es pflegt dann eine Ablösung des Epithels stattzufinden, und endlich kann es sein, dass die Grundsubstanz zerfliesst und die einzelnen Elemente sich frei ablösen. Bleibt die Wucherung oder Auswanderung der Zellen reichlich, so bricht die Masse fortwährend auf, die Elemente schütten sich auf der Oberfläche aus, und es findet eine Zerstörung statt, welche immer tiefer in das Gewebe eingreift und immer mehr Elemente auf die Oberfläche wirft. Das ist das eigentliche =Geschwür=. Nach der gewöhnlichen Vorstellung, wo man den Eiter aus einem beliebigen Exsudat ableitete, war diese Art von Ulceration gar nicht recht begreiflich; man sah sich immer genöthigt, eine besondere Art der Umwandlung des Gewebes neben der Eiterung anzunehmen, und man kam endlich dahin, dem Eiter eine Fähigkeit der chemischen Lösung zuzuschreiben. Aber auf chirurgischem Wege hat man sich schon lange auf das Mannichfachste überzeugt, dass flüssiger Eiter nicht schmelzend einwirkt. Man hat in Eiterhöhlen Knochen hineingesteckt, sie wochenlang darin liegen lassen, und wenn man sie nachher hervorlangte und wog, so waren sie eher schwerer geworden durch Aufnahme flüssiger Substanz; es hatte sich aber kein Erweichungszustand gebildet, ausser dem durch Fäulniss bedingten. Nur die Granulationen und ähnliche wuchernde Gewebe »fressen« wirklich den Knochen an (S. 521). In wie weit bei der Eiterung das Gewebe durch eine wirkliche Auflösung zerstört wird, das hängt hauptsächlich davon ab, ob die Grundsubstanz, welche die jungen Elemente umgibt, vollkommen flüssig wird. Behält sie eine gewisse Consistenz, so beschränkt sich der Prozess auf die Hervorbringung von Granulationen, und diese können eben so gut hervorgehen aus einer intacten, wie aus einer vorher verletzten Oberfläche. In der Chirurgie nimmt man häufig an, dass die Granulationen sich stets auf der Oberfläche eines Substanzverlustes bilden, allein sie gehen jedesmal direkt aus dem Gewebe hervor. Sie entstehen unmittelbar in dem Knochen, ohne dass an demselben ein Substanzverlust vorherging. Ebenso direkt in der Cutis unter intacter Epidermis, ebenso an Schleimhäuten. Erst in dem Maasse, als sie sich entwickeln, verliert die Oberfläche ihren normalen Charakter. Jede solche Entwickelung, gleichviel ob sie am Epithel oder am Bindegewebe erfolgt, geschieht heerdweise[292], und zwar genau so, wie an der Grenze des Ossificationsrandes des Knochens, wo jene mächtigen Gruppen von Knorpelzellen liegen (Fig. 113, I. 134, _p_), welche einer einzigen früheren Knorpelzelle entsprechen. Es handelt sich dabei in der That um Vorgänge, welche in gewöhnlichen Erscheinungen des Wachsthums ihr Analogen finden. Wie ein Knorpel, wenn er nicht verkalkt, z. B. in der Rachitis, endlich so beweglich wird, dass er seine Function als Stützgebilde nicht mehr erfüllen kann, so schwindet überall unter der Entwickelung der Granulation und Eiterung allmählich die Festigkeit des Gewebes. Damit verbindet sich sehr gewöhnlich eine Lockerung des Zusammenhanges, eine Erweichung, endlich eine Schmelzung des Gewebes. So verschieden also scheinbar diese Vorgänge der Destruction von den Vorgängen des Wachsthums sind, so fallen sie doch an einem gewissen Punkte vollständig damit zusammen. =Es gibt ein Stadium, wo man nicht mit Sicherheit entscheiden kann, ob es sich an einem Theile um einfache Vorgänge des Wachsthums oder um die Entwickelung einer heteroplastischen, zerstörenden Form handelt=. [292] Spec. Pathologie und Therapie. I. 337. [Illustration: =Fig=. 146. Entwickelung von Krebs aus Bindegewebe bei Carcinoma mammae. _a_ Bindegewebskörperchen, _b_ Theilung der Kerne, _c_ Theilung der Zellen, _d_ reihenweise Anhäufung der Zellen, _e_ Vergrösserung der jungen Zellen und Bildung der Krebsheerde (Alveolen), _f_ weitere Vergrösserung der Zellen und der Heerde. _g_ Dieselbe Entwickelung auf dem Querschnitt. Vergr. 300.] Die eben geschilderte Art der Entwickelung ist aber nicht etwa dem Eiter als solchem eigenthümlich, sondern sie findet sich in ähnlicher Weise bei jeder heteroplastischen Entwickelung; die ersten Veränderungen, welche wir bei der Eiterung durch Proliferation constatiren, finden sich genau ebenso bei jeder Art von Heteroplasmen bis zu den äussersten malignen Formen hin[293]. Die erste Entwickelung des Sarkoms, des Krebses und Cancroids zeigt dieselben Stadien: man muss nur weit genug in der Entwickelungs-Geschichte zurückgehen, dann stösst man auch zuletzt immer auf ein Stadium, wo man in den tieferen und jüngeren Schichten indifferente Zellen antrifft, welche erst durch spätere Differenzirung je nach den Besonderheiten der Reizung den einen oder den anderen Typus annehmen. Man kann daher auch im Grossen die Geschichte der meisten Neubildungen, die ihrem Haupttheile nach aus Zellen bestehen, gleichviel welches Muttergewebe sie haben, unter einen ganz gleichen Gesichtspunkt bringen. Die Form, unter welcher der Krebs schliesslich ulcerirt, hat mit der eiterigen Ulceration eine so grosse Aehnlichkeit, dass man seit langer Zeit beide Dinge als gleichartige betrachtet hat; schon im Alterthum stellte man die fressende Form der Eiterung, die sogenannten Schanker (Cancer) in Parallele mit der krebsigen »Eiterung« oder Verjauchung. [293] Geschwülste I. 74, 89. Wesentlich verschieden gestalten sich aber die einzelnen Neubildungen in einer späteren Epoche ihrer Ausbildung dadurch, dass ihre Elemente eine sehr verschiedene Entwickelungshöhe erreichen, oder anders ausgedrückt, dass die Zeitdauer, für welche ihre Elemente angelegt werden, =das mittlere Lebensalter der einzelnen Elemente=[294], ausserordentlich verschieden ist. Im dritten Capitel (S. 67) habe ich diese Art der Betrachtung eingehend dargelegt und namentlich den Unterschied der Dauer- und Zeitgewebe ausführlich erörtert. Aber auch die Zeitgewebe (Telae temporariae) haben Elemente von sehr verschiedener Lebensdauer. Wenn wir an einem Punkte, wo Eiterung stattgefunden hat, einen Monat später untersuchen, so können wir, auch wenn der Eiter scheinbar immer noch vorhanden ist, nicht mehr darauf rechnen, in dem Heerde unversehrte Eiterkörperchen zu finden. Eiter, der Wochen und Monate lang irgendwo gesteckt hat ist genau genommen kein Eiter mehr; es ist zerfallene Masse, Detritus, aufgelöste Bestandtheile, welche durch fettige Metamorphose, faulige Umsetzung, Kalkablagerung und dergleichen mehr verändert sind. Dagegen kann ein Krebsknoten Monate lang bestehen und dann noch sämmtliche Elemente unversehrt enthalten. Wir können also mit Bestimmtheit sagen, dass ein krebsiges Element längere Zeit zu existiren vermag, als ein eiteriges, gerade so, wie die Schilddrüse länger existirt, als die Thymusdrüse, oder wie einzelne Theile des Sexualapparates auch im Laufe des gesunden Lebens frühzeitig zu Grunde gehen, während andere sich das ganze Leben hindurch erhalten (S. 73). So ist es auch bei pathologischen Neubildungen. Zu einer Zeit, wo gewisse Arten von Elementen schon lange ihren Rückbildungsgang angetreten haben, fangen andere erst an, ihre volle Entwickelung zu machen. Bei manchen Neubildungen beginnt die Rückbildung verhältnissmässig so frühzeitig, ja sie stellt so sehr den gewöhnlichen Befund dar, dass die besten Untersucher die Rückbildungsstadien für die eigentlich charakteristischen angesehen haben. Bei dem Tuberkel hatten bis zu meinen Untersuchungen eigentlich alle neueren Beobachter, welche sich ex professo mit dem Studium desselben befasst haben, sein Rückbildungsstadium für das eigentlich typische, das Ende für den Anfang genommen und daraus Schlüsse auf die Natur des ganzen Vorganges gezogen, welche man mit demselben Rechte auch auf die Rückbildungsstufen von Eiter und von Krebs hätte anwenden können[295]. [294] Archiv I. 194, 222. Spec. Pathol. u. Ther. I. 332. [295] Würzb. Verhandl. I. 84. II. 72. Archiv XXXIV. 69. Wir vermögen bis jetzt mit vollkommener Sicherheit für wenige Elemente in Zahlen anzugeben, welche mittlere Lebensdauer ihnen zukommt. Offenbar existiren hier ähnliche Schwankungen, wie bei den normalen Organen. Allein unter allen pathologischen Neubildungen mit flüssiger Intercellularsubstanz gibt es keine einzige, welche sich dauerhaft zu erhalten vermöchte, keine einzige, deren Elemente zu bleibenden Bestandtheilen des Körpers werden und so lange existiren könnten, wie das Individuum. Es könnte dies allerdings insofern zweifelhaft erscheinen, als manche Arten von malignen Geschwülsten viele Jahre hindurch bestehen und das Individuum sie von dem Zeitpunkte an, wo sie sich entwickeln, bis zu seinem vielleicht sehr spät erfolgenden Tode behält. =Allein man muss die Geschwulst als Ganzes von den einzelnen Theilen derselben unterscheiden=. Innerhalb einer Krebsgeschwulst, die viele Jahre lang besteht, sind es nicht dieselben Elemente, welche so lange bestehen; vielmehr erfolgt eine oft sehr zahlreiche Succession immer neuer Bildungen. Diese Bildungen können innerhalb der Grenzen des Gesammtgebildes liegen, so dass dieses gleichsam von innen heraus immer mehr »auswächst« und anschwillt. Am besten sieht man dies bei Polypen, welche daher auch schon seit alten Zeiten als ein Mustergebilde für die eigentlich parasitischen Gewächse angesehen worden sind. Aber für die Mehrzahl der Neubildungen, namentlich der im Inneren der Organe auftretenden, gilt diese Erfahrung nur im geringen Umfange. Die erste Entwickelung einer Geschwulst oder eines Abscesses geschieht hier an einem bestimmten Punkte, aber ihr weiteres Wachsthum besteht in der Regel nicht darin, dass aus diesem Punkte heraus immer neue Entwickelungen geschehen, oder dass hier eine Intussusception von Stoffen stattfindet, welche zu einer dauerhaften Entfaltung des Ganzen nach ausserhalb verarbeitet werden. Vielmehr bilden sich im Umfange des ersten Heerdes neue kleine, accessorische Heerde, welche, indem sie sich vergrössern, sich dem ersten anschliessen und so nach und nach eine immer weiter gehende Vergrösserung des einmal bestehenden Knotens setzen[296]. Liegt die Geschwulst an der Oberfläche eines Organs, so zeigt sich auf dem Durchschnitte eine halbkreisförmige Zone jüngster Substanz an der Peripherie des Knotens; liegt sie inmitten eines Organs, so bilden die neuen Appositionen eine sphärische Schale um das ältere Centrum. Untersuchen wir eine Geschwulst, nachdem sie vielleicht ein Jahr lang bestanden, so ergibt sich gewöhnlich, dass in der Mitte die zuerst gebildeten Elemente gar nicht mehr vorhanden sind. Hier finden wir die Elemente zerfallen, durch fettige Prozesse aufgelöst. Liegt die Geschwulst an einer Oberfläche, so besitzt sie, oft in der Mitte ihrer Hervorragung eine nabelförmige Einziehung, und das nächste Stück darunter stellt eine dichte Narbe dar, welche nicht mehr den ursprünglichen Charakter der Neubildung an sich trägt. Diese rückgängigen Formen habe ich zuerst beim Krebs beschrieben, besonders an der Leber, der Lunge und dem Darm, wo sie leicht zu constatiren sind[297]. [296] Archiv V. 238. Geschwülste I. 50, 98. [297] Archiv I. 184-92. Immer kann man sich überzeugen, dass, =was man eine Geschwulst nennt und als eine Einheit betrachtet, vielmehr eine Vielheit, eine oft unzählbar grosse Summe von vielen kleinen miliaren Heerden ist=, von denen jeder einzelne zurückgeführt werden muss auf einzelne oder wenige Mutter-Elemente. Indem in dieser Weise die Bildungen fortschreiten, gleichviel ob Eiter oder Tuberkel oder Krebs, so setzen sich immer neue Zonen von jungen Heerden an die alten an, und wir werden, wenn wir überhaupt die Entwickelungsgeschichte solcher Neoplasmen verfolgen wollen, mit grosser Sicherheit darauf rechnen können, dass in der äussersten Umgebung die jungen, im Centrum die alten Theile liegen. =Nun erstreckt sich aber die Zone der letzten Erkrankung gewöhnlich um ein Bedeutendes über die mit blossem Auge erkennbare Zone der Veränderung hinaus=. Wenn man irgend eine wuchernde Geschwulst von zelligem Charakter untersucht, so findet man oft 3-5 Linien weit über die scheinbare Grenze der Geschwulst hinaus die Gewebe schon erkrankt und die Anlage einer neuen Zone gegeben. Liegt die Neubildung in einem Theile, dessen Gewebe in gewissen Richtungen der Erkrankung sehr viel leichter zugänglich sind, so wird begreiflich die junge Masse keine eigentliche Zone oder Schale um den alten Heerd bilden, sondern sich vielleicht strangförmig in jenen Richtungen fortsetzen. Das ist die Hauptquelle für die örtlichen Recidive nach der Exstirpation, denn diese kommen dadurch zu Stande, dass die für das blosse Auge nicht erkennbare Zone, sowie die nächsten hinderlichen Momente weggefallen sind, zu wachsen anfängt. Es geschieht hier keine neue Ablagerung vom Blut aus, sondern es sind die schon in dem benachbarten Gewebe vorhandenen, neugebildeten Keime, welche in derselben Weise, wie das sonst geschehen sein würde, oder auch wohl noch schneller ihre weitere Entwickelung durchmachen[298]. [298] Geschwülste I. 46. Diese Erfahrung halte ich deshalb für ausserordentlich wichtig, weil sie uns zeigt, dass alle diese Bildungen einen =contagiösen Habitus= an sich haben. Solange, als man sich dachte, dass die einmal gegebene Masse nur von sich aus wuchere, so lange konnte es natürlich scheinen, als habe man weiter keine andere Aufgabe, als der Geschwulst die weitere Zufuhr abzuschneiden. Aber es wird offenbar in dem Heerde selbst ein contagiöser Stoff gebildet, und wenn die zunächst an den Erkrankungsheerd anstossenden Elemente, welche durch Anastomosen mit den erkrankten Elementen in Verbindung stehen, gleichfalls die heterologe Wucherung eingehen, so kann man sich die Sache wohl nicht anders denken, als dass die Erkrankung genau ebenso erfolgt, wie die Erkrankung der nächsten Lymphdrüsen, welche in der Richtung des von der erkrankten Stelle ausgehenden Lymphstromes liegen. Je mehr Anastomosen die Theile besitzen, um so leichter erkranken sie, und umgekehrt. An dem Knorpel sind die malignen Erkrankungen so selten, dass man in der Regel annimmt, er sei ganz und gar unfähig dazu. So findet man zuweilen an einem Gelenke über sarkomatösen oder carcinomatösen Geschwülsten nur noch den Knorpelüberzug erhalten, während alles andere zerstört ist. So sehen wir, dass die fibrösen Theile, welche reich sind an elastischen Elementen, z. B. die Fascien, sehr wenig Disposition zu contagiöser Erkrankung haben, ja lange Zeit als Isolatoren krankhafter Prozesse dienen. Dagegen, je weicher ein Grundgewebe ist, je besser die Leitung stattfinden kann, um so sicherer können wir erwarten, dass bei Gelegenheit in dem Theile neue Erkrankungsheerde auftreten werden. Ich habe deshalb geschlossen, dass die Infection von dem bestehenden Heerde auf die anastomosirenden Nachbarelemente unmittelbar durch kranke Säfte übertragen wird, =ohne Dazwischenkunft von Gefässen und Nerven=[299]. Freilich sind die Nerven oft die besten Leiter für die Fortpflanzung von contagiösen Neubildungen, aber nicht als Nerven, sondern als Theile mit weichem Zwischengewebe (Perineurium). [299] Archiv V. 246. Spec. Pathol. u. Ther. I. 339. Geschwülste I. 51. Hier ergibt sich die Bedeutung der anastomosirenden Elemente des Gewebes, der Werth der Cellular-Theorie für die Deutung der Prozesse auf das Augenscheinlichste. Man kann, wenn man einmal diese Art der Leitung kennen gelernt hat, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersehen, wohin in gewissen Theilen mit bekannter Art der Leitung die Richtung der Erkrankung gehen werde, und wo die grössere oder geringere Gefahr liegt. Auch wird es begreiflich, dass die Gefahr nicht bloss nach der Natur des Krankheitsprozesses, sondern auch nach der anatomischen Einrichtung des befallenen Organes verschieden gross ist, und dass derselbe Prozess an verschiedenen Organen, ganz abgesehen von der functionellen Bedeutung der letzteren, einen ganz verschiedenen Werth hat. Es ist bis jetzt unerweislich, ob in derselben Weise, wie die Infection der Nachbartheile wahrscheinlich geschieht, nehmlich durch Saftleitung, auch die Infection entfernter Theile zu Stande kommt, ob namentlich das Blut von dem Heerde aus etwas Schädliches aufnimmt und einem entfernten Orte zuleitet. Ich muss bekennen, dass ich in Beziehung auf die Einzelheiten dieses Vorganges keine hinreichend beweisenden Thatsachen kenne, und dass ich die Möglichkeit zugeben muss, dass die Verbreitung durch Gefässe möglicher Weise auf einer Zerstreuung von Zellen aus den Geschwülsten selbst beruhen mag. Indessen gibt es auch hier viele Thatsachen, welche für die Infection durch wirklich losgelöste Zellen sehr wenig sprechen, z. B. den Umstand, dass gewisse Prozesse gegen den Lauf der Lymphströmung fortschreiten, dass nach einem Brustkrebs eine Erkrankung der Leber stattfindet, während die Lunge frei bleibt. Hier scheint es ziemlich wahrscheinlich zu sein, dass Säfte aufgenommen werden, welche die weitere Verbreitung bedingen (S. 257). Natürlich schliesst die Contagion durch inficirende Säfte die Möglichkeit einer Contagion durch =Seminien= im zelligen Sinne nicht aus. Ich habe schon früher Thatsachen mitgetheilt[300], welche für eine =Dissemination= durch Zellen sprechen, und seitdem wir die automatischen Bewegungen vieler thierischer Elemente kennen gelernt haben (S. 353), ist diese Möglichkeit noch näher getreten. Indess muss man sich ja hüten, nicht exclusiv zu sein. Gerade die neuesten Erfahrungen über die Impfbarkeit des Tuberkels haben gelehrt, dass es zur Hervorrufung neuer Tuberkel keiner wirklich tuberkulösen und selbst keiner lebenden Zellen bedarf, sondern dass allerlei regressive Stoffe diese Fähigkeit in hohem Maasse an sich haben. [300] Geschwülste I. 54. Mit diesen Vorkenntnissen ist es nicht schwierig, eine andere Frage zu beantworten, welche sowohl praktisch, als theoretisch sehr wichtig ist, nehmlich die über den sogenannten =Parasitismus= der Neubildungen[301]. [301] Archiv IV. 390. Spec. Pathol. u. Ther. I. 334. Geschwülste I. 19, 105. Nach meiner Meinung ist der Gesichtspunkt des Parasitismus, den die Alten für einen grossen Theil der Neubildungen festhielten, vollkommen gerechtfertigt. In der That muss jede Neubildung, welche dem Körper keine brauchbaren Gebilde zuführt, als ein parasitisches Wesen am Körper betrachtet werden. Erinnere man sich nur, dass der Begriff des Parasitismus nur graduell etwas Anderes bedeutet, als der Begriff der Autonomie jedes Theiles des Körpers. Jede einzelne Epithelial- und Muskelzelle, jedes Knorpel- und Bindegewebskörperchen führt im Verhältniss zu dem übrigen Körper eine Art von Parasitenexistenz, so gut wie jede einzelne Zelle eines Baumes im Verhältniss zu den anderen Zellen desselben Baumes eine besondere, ihr allein zugehörende Existenz hat und den übrigen Elementen für ihre Bedürfnisse (Zwecke) gewisse Stoffe entzieht. Der Begriff des Parasitismus, im engeren Sinne des Wortes, entwickelt sich unmittelbar aus dem Begriffe der Selbständigkeit der einzelnen Theile. Der Grad der Selbständigkeit der einzelnen Theile ist aber überaus verschieden. Während gewisse Elemente, z. B. die Ganglienzellen, sich nur im stetigen Zusammenhange mit dem Körper erhalten, können andere, wie die Flimmerzellen, die farblosen Blutkörperchen lange Zeit davon getrennt sein und doch ihre Eigenschaften bewahren. Wandert ein mobilisirtes Bindegewebskörperchen aus und siedelt es sich an einem anderen Orte an, so verhält es sich nahezu, wie ein Entozoon, welches in den Körper eingewandert ist, und es kann seine neue Existenz, wie das Entozoon, nur begründen, indem es sich parasitisch von der Nachbarschaft ernährt. Aus dieser Analogie erklärt es sich, dass ein Entozoon, wie ein Theil des Körpers selbst, sich einem fremden Organismus einfügen kann, und dass die mehr heterologen Neubildungen, deren scheinbare Fremdartigkeit so viele Beobachter irregeführt hat, von Vielen als entozoische Wesen angesprochen worden sind. So lange das Bedürfniss der übrigen Theile die Existenz eines Theiles voraussetzt, so lange dieser Theil in irgend einer Weise den anderen Theilen nützlich ist, so lange spricht man nicht von einem Parasiten; man thut dies aber von dem Augenblicke an, wo der Theil dem übrigen Körper fremd oder schädlich wird. Der Begriff des Parasiten ist daher nicht zu beschränken auf eine einzelne Reihe von Geschwülsten, sondern er gehört allen plastischen (formativen) Erzeugnissen an, vor Allem den heteroplastischen, welche in ihrer weiteren Entwickelung nicht homologe Producte, sondern Neubildungen hervorbringen, welche für die Zusammensetzung des Körpers mehr oder weniger ungehörig sind. Ein jedes ihrer Elemente entzieht dem Körper Stoffe, welche zu anderen Zwecken gebraucht werden könnten, und da das Neoplasma schon von vornherein durch seine Bildung (S. 527) normale Theile zerstört hat, da schon seine erste Entwickelung den Untergang seiner Muttergebilde voraussetzt, so wirkt es sowohl destructiv im Beginne, als auch räuberisch im Verlaufe. Zweiundzwanzigstes Capitel. Form und Wesen der pathologischen Neubildungen. Terminologie und Classification der pathologischen Neubildungen. Die Consistenz als Eintheilungsprinzip. Vergleich mit einzelnen Körpertheilen. Histologische Eintheilung. Die scheinbare Heterologie des Tuberkels, Colloids u. s. f. Verschiedenheit von Form und Wesen: Colloid, Epitheliom, Papillargeschwulst, Tuberkel. Die Papillargeschwülste: einfache (Condylome, Papillome) und specifische (Zottenkrebs, Blumenkohlgeschwulst). Der Tuberkel: Infiltration und Granulation. Tuberkelkörperchen. Der entzündliche Ursprung der Tuberkel. Käsige Pneumonie und Osteomyelitis. Die Granulie. Entstehung der Tuberkel aus Bindegewebe. Das miliare Korn und der solitäre Knoten. Die käsige Metamorphose. Das Colloid: Myxom. Collonema. Schleim- oder Gallertkrebs. Die physiologischen Typen der heterologen Neubildungen: lymphoide Natur des Tuberkels, hämatoide des Eiters, epithelioide des Krebses, des Cancroids, der Perlgeschwulst und des Dermoids, bindegewebige des Sarkoms. Heterotopie der Bildung. Der Streit über die Entstehung des Cancroids und Carcinoms. Infectionsfähigkeit, nach dem Saftgehalt der specifischen Beschaffenheit und der Wanderfähigkeit der Elemente. Erregung der Tuberculose durch regressive Stoffe. Vergleich der pathologischen Neubildung bei Thieren und Pflanzen. Schluss. Der praktische Arzt, welcher mit pathologischen Neubildungen zu thun hat und dieselben diagnosticiren soll, stellt zunächst die Frage an die Pathologen, an welchem Punkte eigentlich die Differenzirung der Neubildungen und damit die Möglichkeit ihrer Diagnose beginne. Mit Recht genügt es ihm nicht, zu wissen, dass die grosse Mehrzahl der Neubildungen aus Bindegewebe oder aus Theilen, welche dem Bindegewebe aequivalent sind, eine kleinere Zahl aus Epithel und lymphatischen Gebilden hervorgeht, dass die ersten Anlagen für viele Neubildungen nahezu gleichartig sind, dass im Besonderen die Theilung der Kerne, ihre Vermehrung, die endliche Theilung der Zellen in fast allen Neubildungen, in den gut- wie bösartigen, in den hyperplastischen wie heteroplastischen sich auf dieselbe Weise darstellt. Glücklicherweise ist aber diese Gleichartigkeit eine vorübergehende; es dauert nicht lange, bis an jedem einzelnen Gebilde irgend eine charakteristische Erscheinung hervortritt, wodurch wir in die Lage gesetzt werden, seine Natur deutlich zu erkennen. In diesem Punkte, wo es sich um die Kriterien der Neubildungen handelt, ist freilich auch gegenwärtig eine Einigkeit der Ansichten keinesweges gewonnen, und auch hier ist es daher meine Aufgabe, zu zeigen, wie ich zu meinen, zum Theil so abweichenden Ansichten gelangt bin, und aus welchen Gründen ich mich von dem ausgetretenen Wege entfernen zu müssen geglaubt habe. Die Namen, mit denen man die einzelnen Neubildungen zu belegen pflegt, haben sich, wie man weiss, oft ziemlich zufällig, zum Theil in sehr willkürlicher Weise gestaltet[302]. Der Versuch, eine regelmässige Terminologie herzustellen, ist in älterer Zeit eigentlich nur in Beziehung auf die Consistenz der Geschwülste gemacht worden, indem man Eintheilungsgründe davon hernahm, dass die Substanz der Neubildung bald hart, bald weich, flüssig, breiig, gallertartig u. s. f. ist, und danach die Steatome, die Skirrhen, die Meliceriden, die Atherome u. s. w. von einander trennte. Es versteht sich von selbst, dass die Begriffe, welche man jetzt an manche dieser Dinge knüpft, abgethan werden müssen, wenn man die ursprüngliche Bedeutung jener Bezeichnungen verstehen will. Wenn man heut zu Tage einen atheromatösen Prozess statuirt, so ist das etwas, was den Alten ganz fern gelegen hat. Wenn die heutigen Geschwulstanatomen sich bemühen, ein Steatom zu entdecken, welches eine feste Fettgeschwulst sein soll, so muss man sich erinnern, dass die Stearin-Fabrikation zur Zeit, als das Steatom aufkam, noch nicht bekannt war, und dass die Alten niemals den Gedanken gehabt haben, welcher den heutigen Geschwulstlehrern nicht aus dem Kopfe will, dass das Steatom eine Stearin- oder überhaupt eine Fettgewebsgeschwulst sei. Gewöhnlich meinte man nur eine etwas derbere, »speckige« Geschwulst (S. 433). In diesem Sinne sprach noch =Bichat= von einem steatomatösen Zustande der skrofulösen Lymphdrüsen, womit er offenbar dasselbe meinte, was ich den käsigen Zustand genannt habe. [302] Geschwülste I. 9. Die besseren Bezeichnungen, welche man im Anfange dieses Jahrhunderts einzuführen begann, stützten sich mehr auf Vergleichungen, welche man zwischen den Neubildungen und einzelnen normalen Theilen oder Geweben des Körpers machte. Der Ausdruck »Markschwamm« ging ja ursprünglich aus der Vorstellung hervor, dass die Markschwämme von den Nerven entständen und sich in ihrer Zusammensetzung wie Nervenmasse verhielten. Diese Vergleiche sind aber bis in die Neuzeit immer sehr willkürlich gewesen, weil man sich auf mehr oder weniger grobe Aehnlichkeiten in der äusseren Erscheinung stützte, ohne die feineren Besonderheiten des Baues und namentlich die wirklich histologische Zusammensetzung zu würdigen. Neuerlich hat man, hier und da sogar mit einer grossen Affectation, angefangen, die normalen Gebilde für eine gewisse Reihe von Neubildungen als terminologische Anhaltspunkte zu benutzen. Manche legen einen gewissen Werth darauf und halten es für mehr wissenschaftlich, Epitheliom zu sagen, wo Andere Cancroid oder Epithelialkrebs sagen. So hat man in Frankreich bekanntlich sehr viel Gewicht darauf gelegt, die Sarkome fibroplastische Geschwülste zu nennen, weil man mit =Schwann= das geschwänzte Körperchen für den Ausgang der Faserbildung im Bindegewebe hielt, was meiner Ansicht nach (S. 41) ein Irrthum ist. Allein trotz dieser Verirrungen ist es nothwendig, den histologischen Gesichtspunkt als den entscheidenden zu betrachten; nur, glaube ich, ist es von vorn herein nicht anzurathen, dass man von diesem Gesichtspunkte aus sofort dazu schreitet, für alle Dinge neue Namen zu machen, und Dinge, welche man seit langer Zeit kennt, durch neue Namen dem allgemeinen Bewusstsein zu entfremden. Selbst Neubildungen, welche ganz evident dem Typus irgend eines bestimmten normalen Gewebes folgen, haben doch meistentheils Eigenthümlichkeiten, wodurch man sie von diesem Gewebe mehr oder weniger unterscheiden kann, so dass man keinesweges, wenigstens bei der Mehrzahl, die ganze Neubildung zu sehen braucht, um zu wissen, dass dies nicht die normale, regelmässige Entwickelung des Gewebes ist, dass vielmehr in derselben, trotzdem dass sie den Typus nicht verliert, doch etwas von dem gewöhnlichen Gange homologer Entwickelung Abweichendes liegt. Auch blieb in der Regel eine gewisse Zahl von Neubildungen übrig, bei denen man, zum Theil aus Mangel an bekannten physiologischen Typen, die äussere Erscheinung oder den klinischen Charakter als Grund der Terminologie beibehielt. Man spricht immer noch von einem Tuberkel, und der altgriechische Name, den =Fuchs= dafür wieder einzuführen versucht hat, Phyma, ist ein so unbestimmter, so leicht auf jedes »Gewächs« anwendbarer[303], dass er keine grosse Zustimmung gefunden hat. Manche andere Namen hat man in der letzten Zeit in einer immer grösseren Ausdehnung gebraucht, welche auch nichts weiter als Lückenbüsser sind, z. B. den des =Colloids=. Dieser Name ist im Anfange unseres Jahrhunderts von =Laennec= erfunden worden für eine Form von Geschwulst, welche er der Consistenz nach als analog dem halberstarrten Tischlerleim (Colla) bezeichnete; in ihrer recht entwickelten Form stellt sie eine halb zitternde Gelatine von farblosem oder leicht gelblichem Aussehen dar, welche im Ganzen den Eindruck einer fast strukturlosen Beschaffenheit macht. Während man sich früherhin vollkommen befriedigt erklärte, wenn man Zustände dieser Art als gallertartige, gelatinöse bezeichnete, so ist es manchen Neueren als ein Beweis höherer Einsicht erschienen, wenn sie statt Gallertgeschwulst oder Gallertmasse Colloidgeschwulst oder Colloidmasse sagten. Aber man muss ja nicht glauben, dass diejenigen, welche diese Bezeichnungen am meisten im Munde führen, damit etwas anderes ausdrücken wollen, als was die meisten Anderen einfach Gallertgeschwulst oder Gallerte oder Sulze kurzweg nennen. Es ist damit gerade wie zu den Zeiten =Homer='s mit dem Kraut [Griechisch: Môly], welches in der Sprache der Götter so genannt ward, anders aber von den Menschen[304]. Es ist daher sehr rathsam, dass man diese eigentlich nichtssagenden und nur hochtönenden Ausdrücke nicht unnöthiger Weise ausbreite, und dass man sich daran gewöhne, mit jedem Ausdrucke etwas Präcises zu sagen. Wenn man also wirklich prätendirt, histologische Eintheilungen zu machen, so darf man nicht mehr für jede Gallertgeschwulst den Ausdruck Colloid in Anwendung bringen, der überhaupt keinen histologischen Werth hat, sondern eben nur ein äusseres Aussehen ausdrückt, welches die allerverschiedenartigsten Gewebe unter Umständen annehmen können. =Laennec= selbst hat in einer etwas verderblichen Weise die Bahn gebrochen, indem er von einer colloiden Umwandlung fibrinöser Exsudate der Pleura gesprochen hat. [303] Archiv XXXIV. 21. Geschwülste I. 9. II. 560. [304] Odyss. X. 305. Anmerkung des Stenographen. Die Hauptschwierigkeit, welche sich hier ergibt, beruht darin, dass man keinen Unterschied zwischen =der blossen Form und dem Wesen= zu finden weiss. Man darf die Form nur da als entscheidendes Kriterium für die Diagnose verschiedener Neubildungen zulassen, wo sie eben auch mit einer wirklichen Eigenartigkeit des Gewebes zusammenhängt und nicht bloss aus zufälligen Eigenthümlichkeiten des Ortes oder der Lagerung resultirt. Will man z. B. den Namen des Colloids anwenden, so kann man zwei Wege einschlagen. Man kann entweder damit nichts weiter als eine besondere Art des Aussehens bezeichnen, und dann wird man allerdings verschiedene Geschwülste bekommen können, welche durch den adjectivischen Zusatz »colloid« von anderen Geschwülsten derselben Art unterschieden werden mögen. Man kann also sagen: Colloidkrebs, Colloidsarkom, Colloidfibrom. Hier bezeichnet colloid weiter nichts, als gallertig oder sulzig. Will man dagegen einen bestimmten Begriff von dem Wesen, der chemischen oder physicalischen Besonderheit der Colloidsubstanz oder der morphologischen Natur des Colloidgewebes haben, so kann man nicht zwei genetisch, chemisch und morphologisch ganz verschiedene Producte, wie das Schilddrüsen-Colloid[305] und den Colloidkrebs, zusammen bringen. [305] Geschwülste III. 27. Eine grosse Menge von Geschwülsten bringt, wenn sie an der Oberfläche sitzen, Wucherungen der Oberfläche mit sich, welche, je nach der Natur der Oberfläche, in Form von Zotten, Papillen oder Warzen hervortreten (Fig. 93, 131). Man kann alle diese Geschwülste unter einem Namen zusammenfassen und sie Papillome nennen, allein die Geschwülste, welche diese Form haben, sind oft toto coelo von einander verschieden[306]. Während der eine Fall eine wahre hyperplastische Entwickelung darstellt[307], so finden wir in einem anderen im Grunde dieser Zotten, da, wo sie auf der Haut oder Schleimhaut aufsitzen, irgend eine besondere Art von Geschwulst. In manchen Fällen sind selbst die Zotten mit dieser Geschwulstmasse gefüllt. Dies ist ein sehr wesentlicher Unterschied. An einem =breiten Condylom= (Schleimtuberkel oder Plaque muqueuse von =Ricord=) findet man unter der an sich noch glatten Oberhaut die Papillen sich vergrössernd und endlich in ästige Figuren auswachsend, so dass sie förmliche Bäume darstellen. Diese Form des Condyloms kann aber verbunden sein mit einer =krebsigen= Entwickelung. An der Haut geschieht das verhältnissmässig weniger häufig, als an manchen Schleimhäuten. Hier kann es kommen, dass wirklicher Krebs in den Zotten sitzt. Es ist dies ja an sich nicht auffällig. Die Papille besteht aus Bindegewebe, wie die Haut, auf welcher sie sitzt; es kann also innerhalb der Papillen vom Bindegewebe (Stroma) aus eine Entwickelung von Krebsmasse stattfinden, wie von dem Bindegewebe der Haut. Nun lässt sich andererseits nicht leugnen, dass diese Besonderheit der Oberflächen-Bildung sehr häufig gewisse Eigenthümlichkeiten des Verlaufes erklärt, wodurch eine Papillärgeschwulst von derselben Art von Geschwulst, welche nicht papillär ist, sich auffallend unterscheidet. Jemand kann einen Blasenkrebs, wenn derselbe einfach in der Wand sitzt, sehr lange tragen, ohne dass in der Art der Absonderung, welche mit dem Harn entleert werden muss, andere Veränderungen zu bestehen brauchen, als die eines einfachen Katarrhs. Sobald dagegen eine Zottenbildung an der Oberfläche stattfindet, so ist nichts gewöhnlicher, als dass sich Hämaturie damit complicirt, aus dem einfachen Grunde, weil jede Zotte auf der Harnblasenwand nicht mit einem festen Epidermisstratum überzogen wird, sondern unter einem losen Epithel fast frei zu Tage liegt. In das Innere der Zotten treten grosse Gefässschlingen ein, welche bis an die äusserste Oberfläche reichen; jede erhebliche mechanische Einwirkung gibt daher ein Moment für Hyperämie und Berstung der Zotten ab. Eine krampfhafte Zusammenziehung der Harnblase treibt, indem die Fläche, auf welcher die Zotten aufsitzen, sich verkürzt, das Blut in die Zottenspitzen, und wenn nun noch die mechanische Friction der Flächen hinzukommt, so ist nichts leichter, als dass eine bald mehr bald weniger beträchtliche Blutung erfolgt. Damit aber eine solche Blutaustretung zu Stande komme, ist es durchaus unnöthig, dass die Papillargeschwulst krebsig ist. Ich habe Fälle gesehen, wo Jahre lang von Zeit zu Zeit heftige und schliesslich unstillbare Blutungen eintraten, unter denen die Kranken endlich anämisch zu Grunde gingen, und wo nicht die Spur von einer krebsigen Infiltration des Grundes oder der Zotten existirte, sondern wo es eine ganz einfache Papillargeschwulst war, eine gutartige Bildung, welche an der Oberfläche der Haut mit Leichtigkeit hätte abgeschnitten oder abgebunden werden können, welche aber bei der Verborgenheit des Sitzes hier eine Reihe von Erscheinungen mit sich brachte, die man bei Lebzeiten nicht anders, als auf eine wirklich bösartige Neubildung zu beziehen wusste. [306] Würzburger Verhandl. I. 107. [307] Geschwülste I. 334. Ganz ähnlich verhält es sich mit den viel besprochenen =Blumenkohl-Geschwülsten=[308], wie sie sowohl an der Oberfläche der Genitalien des Mannes, als auch der Frau vorkommen. Bei dem Manne, wo diese Papillärgeschwülste, ausgehend vom Praeputium, die Corona glandis umkränzen, sind sie meistentheils von einer sehr dicken Epidermis-Lage überzogen, so dass sie auch bei der Ulceration kaum eine erhebliche Absonderung liefern. Bei der Frau dagegen, wo die Geschwulst am Collum uteri, einem sehr gefässreichen, mit einem schwachen Epithelstratum überzogenen, von Natur mit einem reichen Papillarlager versehenen Theile sich findet, bedingt sie meistentheils sehr frühzeitig starke Transsudationen und bei Gelegenheit hämorrhagiscbe Austretungen von fleischwasserartiger oder wirklich rother, cruenter Flüssigkeit. Bei diesen Formen ist man häufig im Zweifel gewesen, um was es sich handelt. Ich habe es erlebt, dass ein renommirter Chirurg in die Klinik von =Dieffenbach= kam, welcher eben einen Penis wegen »Carcinom« amputirte, und dass der fremde Chirurg nachher erklärte, es sei ein einfaches Condylom gewesen. Hinwiederum habe ich Fälle untersucht, wo man Jahre lang an diesen Dingen herumkurirt hat, als ob es syphilitische Condylome wären, weil die äussere Erscheinung so überaus analog und es so überaus schwierig ist, das Kriterium zu ermitteln, welches genau die Entscheidung gibt, ob die Bildung nur der Oberfläche angehört, oder ob sie complicirt ist mit der Erkrankung des unterliegenden Gewebes. Es gibt allerdings heute sehr viele Anatomen und Chirurgen, welche die Vorstellung haben, dass auch an der Oberfläche ähnliche Bildungen wachsen könnten, wie sie im Innern vorkommen, dass z. B. eine Zottengeschwulst krebsig genannt werden müsse, wenn sie von Krebszellen wie von einem Epithel überzogen sei, ohne dass im Innern der Zotten irgend eine Entwickelung von Krebsmasse sich zeigte. In der That findet man zuweilen Zotten, welche ganz dünn sind und kaum so viel Bindegewebe enthalten, dass die in ihnen aufsteigenden Gefässe noch eingehüllt sind, in ein dickes Lager von Zellen eingeschlossen, welche durch die Unregelmässigkeit ihrer Gestalt, die Grösse ihrer Kerne, die Entwickelung der einzelnen Elemente mehr den Habitus des Krebses, als den des Epithels darbieten. Aber ich muss bekennen, dass ich mich bis jetzt nicht habe überzeugen können, dass Krebszellen an der freien Oberfläche von Häuten entstehen könnten, dass sie einfach aus Epithel hervorgingen; vielmehr glaube ich nach Allem, was ich gesehen habe, dass man eine ganz strenge Scheidung machen muss zwischen den Fällen, wo Zellenmassen, sie mögen noch so reichlich und sonderbar gestaltet sein, frei auf einer an sich intacten Grundsubstanz aufsitzen, und denjenigen, wo die Zellen im Parenchym der Theile selbst sich bildeten. [308] Würzb. Verhandl. I. 109. Gesammelte Abhandlungen 1020. [Illustration: =Fig=. 147. Senkrechter Durchschnitt durch ein beginnendes Blumenkohlgewächs des Collum uteri (Cancroid). An der noch intacten Oberfläche sieht man die ziemlich grossen Papillen des Os uteri von einem gleichmässigen geschichteten Epitheliallager umhüllt. Die Erkrankung beginnt erst jenseits der Schleimhaut in dem eigentlichen Parenchym des Cervix, wo grosse, rundliche oder unregelmässige Zelleneinsprengungen (Alveolen) das Gewebe durchsetzen. Vergr. 150.] Immer entscheidet sich, so viel ich wenigstens weiss, der Werth einer Bildung nach dem Verhältnisse des unterliegenden Gewebes oder des Zottengewebes selbst; und nur dann kann man eine Bildung als Cancroid oder Carcinom ansprechen, wenn neben der Entwickelung an der Oberfläche auch in der Tiefe oder in den Zotten selbst die besonderen Veränderungen vorhanden sind, welche eben diese Art von Bildung charakterisiren. Ich glaube daher, dass alle jene äusserlichen Formverschiedenheiten eben nur dazu dienen können, einzelne Arten derselben Geschwulst, aber keinesweges verschiedene Geschwülste von einander zu sondern. Es gibt Bindegewebsgeschwülste (Fibrome) der Oberfläche, die in Form von einfachen Knoten auftreten, andere welche in Form von Warzen und Papillargeschwülsten sich zeigen[309]. Ebenso gibt es Krebs- und Cancroidbildungen, welche die Blumenkohlform annehmen, und andere, die es nicht thun. [309] Geschwülste I. 320, 340. In Beziehung auf das Verhältniss von Form und Wesen gibt es eine andere, ganz cardinale Frage, die im Interesse der Menschheit bald zu einer gewissen Einmüthigkeit geführt werden sollte, nehmlich die: was man eigentlich unter einem =Tuberkel= zu verstehen habe. Dieselben Schwierigkeiten, welche ich eben bei den Papillargeschwülsten schilderte, finden sich beim Tuberkel in noch verstärktem Maasse wieder[310]. Die Alten haben den Namen Tuberkel eingeführt einfach nach der äusseren Form des Gebildes. Man hat jedes Ding Tuberkel genannt, welches in Form eines Knötchens hervortrat. Wie bekannt, ist es gar nicht so lange her, dass man nicht im Mindesten sorgfältig in der Anwendung dieses Ausdruckes war. Man sprach von Tubercula carcinomatosa, scirrhosa, man unterschied Tubercula scrofulosa und syphilitica, eine Sprechweise, welche zum Theil noch jetzt in Frankreich erhalten ist. Es war mit dem Tuberkel, wie mit dem Krebs, bei dem man sich von Alters her ja auch nicht etwa auf die eigentliche Geschwulst beschränkte; vielmehr rechnete man Noma (Cancer aquaticus) eben so gut dahin, wie Schanker (Cancer syphiliticus). [310] Geschwülste II. 621. Von dieser etwas oberflächlichen Anschauung ist man im Laufe unseres Jahrhunderts nach und nach zu tieferen Forschungen fortgeschritten, und es ist auch hier hauptsächlich das Verdienst von =Laennec= gewesen, die Lehre von der Einheit des Tuberkels aufgestellt zu haben. Allein er selbst hat wiederum die Schuld zu tragen, dass auch diese Angelegenheit in eine fast unheilbare Verwirrung gerathen ist. Indem er nehmlich zwei verschiedene Formen von Tuberkeln der Lunge, die sogenannte =Tuberkel-Infiltration= und die =Tuberkel-Granulation= annahm, so war er genöthigt, in Beziehung auf die Infiltration vollständig von dem alten Begriffe des Tuberkels abzuweichen. Denn hier war gar nicht mehr die Rede von Knötchen, sondern es handelte sich um eine gleichmässige Durchdringung des ganzen Parenchyms mit der krankhaften Masse. Damit war die Bahn gebrochen, auf der man sich immer weiter von dem alten Begriffe des Tuberkels entfernte. Nachdem einmal die Tuberkel-Infiltration geschaffen und die Form des Gebildes als diagnostisches Kriterium damit aufgegeben war, so nahm man auch die weitere Schilderung gewöhnlich von der Infiltration als dem Umfangreicheren her und suchte nach den Merkmalen, worin eigentlich die Infiltration mit der früher bekannten Form des Tuberkels übereinstimme. So ist es gekommen, dass allmählich, und zwar eigentlich schon durch =Bayle=, die käsige Beschaffenheit als der gemeinschaftliche Gattungscharakter aller Tuberkelproducte, nicht bloss als nächster Anhaltspunkt für die Unterscheidung, sondern auch als Ausgangspunkt für die Deutung des Vorganges überhaupt gebraucht worden ist. So ist es im Besonderen geschehen, dass man sich vorgestellt hat, der Tuberkel könne einfach in der Weise entstehen, dass ein beliebiges Exsudat seine wässerigen Bestandtheile verliere, sich eindicke, trübe, undurchsichtig, käsig werde, und in diesem Zustande liegen bleibe. Der Ausdruck der Tuberkelkörperchen, der bis vor Kurzem noch recht häufig in Anwendung kam, bezieht sich gerade auf das Stadium des Käsigen, und die genaue Schilderung, welche =Lebert= davon geliefert hat, läuft darauf hinaus, dass es Bildungen seien, welche mit keiner der bekannten organischen Formen übereinstimmen, welche weder Zellen, noch Kerne, noch sonst etwas Analoges seien, sondern kleine, rundliche oder eckige, solide Körperchen, häufig von Fettpartikelchen durchsetzt, darstellten (Fig. 73). Untersucht man aber die Entwickelung dieser Körper, so kann man sich an allen Punkten, wo sie vorkommen, überzeugen, dass sie aus früheren organischen Formelementen hervorgehen, dass sie nicht etwa die ersten missrathenen Producte, gleichsam ein verunglückter Versuch der Organisation sind, sondern dass sie einmal ganz wohlgerathene Elemente waren, die aber durch ein unglückliches Geschick frühzeitig in ihrem weiteren Fortkommen gehindert wurden und einer schnellen Verschrumpfung unterlagen. Immer kann man mit Sicherheit voraussetzen, dass, wo ein grösseres Körperchen dieser Art sich findet, vorher eine Zelle dagewesen ist, wo ein kleineres, vorher ein Kern, vielleicht innerhalb einer Zelle eingeschlossen, existirt hat[311]. Eiterzellen, Lymphdrüsenkörperchen, Krebs- und Sarkomzellen können in solche »Tuberkelkörperchen« ebenso umgewandelt werden, wie wahre Tuberkelzellen. [311] Würzb. Verhandlungen I. 83. Untersucht man denjenigen Punkt, der für die neuere Lehre von der Tuberkulose der maassgebende gewesen ist, nehmlich die Tuberkel-Infiltration der Lunge, so kommt man leicht zu dem Resultate, welches =Reinhardt= als das letzte hingestellt hat, dass die Tuberkulose nichts weiter sei, als eine Form der Umbildung von Entzündungsproducten, und dass eigentlich alle Tuberkelmasse eingedickter Eiter sei. In der That ist das, was man Tuberkel-Infiltration genannt hat, mit wenigen Ausnahmen auf eine ursprünglich entzündliche, eiterige oder katarrhalische Masse zu beziehen, welche nach und nach durch eine unvollständige Resorption in den Verschrumpfungszustand gerathen ist, in welchem sie nachher liegen bleibt[312]. Allein =Reinhardt= hat sich darin getäuscht, dass er glaubte, Tuberkel zu untersuchen. Er ist irre geführt worden durch die grosse Complication der in der Lunge vorkommenden Prozesse[313], besonders aber durch die falsche Richtung, welche die ganze Doctrin von der Tuberkulose von =Laennec= bis auf ihn namentlich durch die Schuld der Wiener genommen hat. Hätte er sich daran gehalten, den alten Begriff des Knötchens zu verfolgen, hätte er die Knotensubstanz in ihren verschiedenen Stadien untersucht, und hätte er die verschiedenen Organe, in welchen der knotige Tuberkel vorkommt, darauf verglichen, so würde er unzweifelhaft zu einem anderen Resultate gekommen sein[314]. Er würde dann zu der Ueberzeugung gelangt sein, welche meinen späteren Darstellungen zu Grunde liegt, dass die Tuberkel-Infiltration in der Lunge eine Form der Hepatisation, hervorgegangen aus dem von mir als =käsige Pneumonie= (skrofulöse Pneumonie) bezeichneten Prozesse[315] und ganz verschieden von der eigentlichen Tuberkelgranulation sei. Nirgends ist diese Verschiedenheit besser zu erkennen, als am Knochenmark, wo es einerseits eine ursprünglich eiterige, später käsige Osteomyelitis, andererseits wahre Tuberkel gibt[316]. [312] Spec. Pathol. u. Ther. I. 337, 341, 346. [313] Wiener Med. Wochenschrift 1856. 396. [314] Würzb. Verhandl. III. 100. [315] Geschwülste II. 600. [316] Ebendas. II. 702. Man kann allerdings sagen, dass der grösste Theil desjenigen, was im Laufe der Tuberkulose nicht in Knotenform erscheint, eingedicktes Entzündungsproduct sei. Allein neben diesem Producte und bis zu einem gewissen Grade unabhängig von demselben gibt es ein Gebilde, welches in die gewöhnliche Classification der Neoplasmen nicht mehr hineinpassen würde, wenn man jene Entzündungs-Producte Tuberkel nennte. In der That ist in Frankreich, wo die Terminologie von =Lebert= die maassgebende geblieben ist, und wo man die Corpuscules tuberculeux als die nothwendigen Begleiter der Tuberkulose anzusehen pflegt, in der neuesten Zeit der Gedanke wirklich ausgesprochen, dass unter den Körnern, die man bisher Tuberkel nannte, noch ein ganz besonderes und bis jetzt noch gar nicht bezeichnetes Gebilde vorkomme. Einer der besten, ja vielleicht der beste Mikrograph, den Frankreich besitzt, =Robin= hat bei Untersuchung der Meningitis tuberculosa die kleinen Knoten in der Pia mater, die alle Welt für Tuberkeln hält, nicht dafür halten zu können geglaubt, weil einmal das Dogma in Frankreich herrscht, dass der Tuberkel aus soliden, unzelligen Körpern bestehe, und weil in den Tuberkeln der Hirnhaut vollständig erhaltene Zellen vorkommen. Ja, einer seiner Schüler, =Empis= hat sich vor der Consequenz nicht gescheut, neben der Tuberkulose noch eine neue Krankheit, die Granulie, in die medicinische Sprache einzuführen[317]. Zu so sonderbaren Verirrungen führt dieser Weg, dass man am Ende den eigentlichen Tuberkel gar nicht mehr bezeichnen kann, weil man so viel zufällige Dinge mit ihm zusammengeworfen hat, dass man über lauter Zufälligem das Gesuchte oder selbst das Gefundene, was man schon besessen, wieder aus der Hand verliert. [317] Archiv XXXIV. 12. [Illustration: =Fig=. 148. Entwickelung von Tuberkel aus Bindegewebe in der Pleura. Man übersieht die ganze Reihenfolge von dem einfachen Bindegewebskörperchen, der Theilung der Kerne und Zellen bis zu der Entstehung des Tuberkelkorns, dessen Zellen in der Mitte wieder zu einem fettig-körnigen Detritus zerfallen. Vergröss. 300.] Ich halte dafür, dass der Tuberkel ein Korn, ein Knötchen sei, und dass dieses Knötchen eine Neubildung darstellt, und zwar eine Neubildung, welche von ihrer ersten Entwickelung an nothwendig zelliger Natur ist, welche in der Regel gerade so, wie viele anderen Neubildungen, aus Bindegewebe hervorgeht, und welche, wenn sie zu einer gewissen Entwickelung gekommen ist, innerhalb dieses Gewebes einen kleinen, wenn er an der Oberfläche sich befindet, in Form eines kugeligen Höckers hervorragenden Knoten darstellt, der in seiner ganzen Masse aus kleinen, ein- oder mehrkernigen Zellen besteht. Das, was diese Bildung charakterisirt, ist der Umstand, dass sie überaus kernreich ist, so dass, wenn man sie im Zusammenhange innerhalb der Fläche des Gewebes betrachtet, auf den ersten Blick fast nichts als Kerne vorhanden zu sein scheinen. Isolirt man die constituirenden Theile, so bekommt man entweder ganz kleine, mit einem Kerne versehene Elemente, oft so klein, dass die Membran sich dicht um den Kern herumlegt, oder grössere Zellen mit vielfacher Theilung der Kerne, so dass 12 bis 24 und 30 Kerne in einer Zelle enthalten sind, wo aber immer die Kerne klein, gleichmässig und etwas glänzend aussehen. Der Tuberkel steht allerdings in seiner Entwickelung dem Eiter am nächsten, insofern er die kleinsten Kerne und die verhältnissmässig kleinsten Zellen hat, und er unterscheidet sich dadurch von allen höher organisirten Formen (Krebs, Sarkom), dass die Elemente dieser letzteren grosse, mächtige, oft colossale Bildungen mit stark entwickelten Kernen und Kernkörperchen darstellen. Er ist immer nur eine ärmliche Production, eine von vornherein kümmerliche Neubildung. Anfangs ist er, wie andere Neubildungen, nicht selten mit Gefässen versehen, allein, wenn er sich vergrössert, so drängen sich seine vielen kleinen Zellen, -- diese wie eine Kinderschaar, immer dichter an einander gehende Masse, -- so eng zusammen, dass nach und nach die feineren Gefässe vollständig unzugänglich werden und sich nur die grösseren, durch den Tuberkel bloss hindurch gehenden noch erhalten. Gewöhnlich tritt im Centrum des Knotens, wo die alten Elemente liegen, sehr bald eine fettige Metamorphose ein (Fig. 148), welche aber in der Regel nicht vollständig wird. Dann verschwindet jede Spur von Flüssigkeit, die Elemente fangen an zu verschrumpfen, das Centrum wird gelb und undurchsichtig, man sieht einen gelblichen Fleck inmitten des grau durchscheinenden Korns. Damit ist die =käsige Metamorphose=[318] angelegt, welche später den Tuberkel charakterisirt. Diese Veränderung schreitet nach aussen immer weiter vorwärts von Zelle zu Zelle, und nicht selten geschieht es, dass der ganze Knoten nach und nach in die Veränderung eingeht. [318] Würzb. Verhandlungen III. 98. Warum ich nun meine, dass man für dieses Gebilde speciell den Namen des Tuberkels als einen äusserst charakteristischen festhalten muss, das ist der Umstand, dass nie ein Tuber daraus wird. Was man als grosse Tuberkeln zu bezeichnen pflegt, was die Grösse einer Wallnuss, eines Borsdorfer Apfels erreicht, z. B. im Gehirn, das sind keine einfachen Tuberkel. Freilich steht gewöhnlich in den Handbüchern, dass der Hirntuberkel solitär sei, aber das ist kein einzelner Knoten; eine solche apfel- oder nur wallnussgrosse Masse enthält viele Tausende von Tuberkeln; das ist ein ganzes Nest, das sich vergrössert, nicht dadurch, dass der ursprüngliche Heerd wächst, sondern vielmehr dadurch, dass an seinem Umfange immer neue Heerde ausgebildet werden[319]. Betrachtet man den vollkommen gelbweissen, trockenen, käsigen Knoten, so erkennt man in seiner nächsten Umgebung eine weiche, gefässreiche Schicht, welche ihn gegen die benachbarte Hirnsubstanz abgrenzt, eine dichte Areola von Bindegewebe und Gefässen. Innerhalb dieser Schicht liegen die kleinen, jungen Knötchen bald in grösserer, bald in kleinerer Zahl. Sie lagern sich aussen an, und der grosse Knoten wächst durch Apposition von immer neuen Heerden, von welchen jeder einzelne käsig wird. Daher kann der ganze Knoten in seinem Zusammenhange nicht als einfacher Tuberkel betrachtet werden. Der eigentliche Tuberkel bleibt wirklich minimal, wie man zu sagen pflegt, =miliar=, genauer ausgedrückt, submiliar. Selbst wenn sich an der Pleura neben ganz kleinen Knoten grosse, wie aufgelagerte gelbe Platten finden, so sind auch diese keine einfachen Tuberkel, sondern Zusammensetzungen aus einer grossen Summe gesonderter Knötchen. Die gewöhnlich als miliare Tuberkel bezeichneten Knoten in der Lunge aber sind entweder miliare Hepatisationen, oder bronchitische oder peribronchitische Heerde, möglicherweise mit Tuberkulose der Bronchialwand verbunden. [319] Geschwülste II. 656. Wie man sieht, hängt bei dem Tuberkel in der That Form und Wesen untrennbar zusammen. Die Form ist bedingt dadurch, dass der Tuberkel von einzelnen Elementen des Bindegewebes aus, durch die degenerative Entwickelung kleinerer Gruppen von Bindegewebskörperchen wächst. So kommt er ohne alles Weitere als Korn hervor. Wenn er einmal eine gewisse Grösse erreicht hat, wenn die Generationen von neuen Elementen, die sich durch immer fortgehende Theilung aus den alten Gewebselementen entwickeln, endlich so dicht liegen, dass sie sich gegenseitig hemmen, die Gefässe des Tuberkels allmählich zum Schwinden bringen und sich dadurch selbst die Zufuhr abschneiden, so zerfallen sie eben, sie sterben ab, und es bleibt nichts weiter zurück, als Detritus, verschrumpftes, zerfallenes, käsiges Material. Die käsige Umbildung ist der regelrechte Ausgang der Tuberkel, aber sie ist einerseits nicht der nothwendige Ausgang, denn es gibt seltene Fälle, wo die Tuberkel durch vollständige fettige Metamorphose resorptionsfähig werden; andererseits kommt dieselbe käsige Metamorphose anderen Formen von zelligen Neubildungen zu: der Eiter kann käsig werden, ebenso der Krebs und das Sarkom, die syphilitische Gummigeschwulst, die Typhusmasse. Diese allgemeine Möglichkeit[320] kann man daher nicht wohl als das Kriterium für die Beurtheilung eines bestimmten Gebildes, wie des Tuberkels hinstellen; vielmehr gibt es gewisse Stadien der Rückbildung desselben, wo man sich sagen muss, dass es nicht immer möglich ist, ein Urtheil zu fällen. Legt einem jemand eine Lunge, mit käsigen Massen durchsprengt, vor, und fragt: ist das Tuberkel oder nicht? so wird man häufig nicht genau sagen können, was die einzelnen Massen ursprünglich gewesen sind. Es gibt Zeiten in der Entwickelung, wo man mit Bestimmtheit das Entzündliche und das Tuberkulöse von einander trennen kann; endlich aber kommt eine Zeit, wo sich beide Producte mit einander vermischen, und wo, wenn man nicht weiss, wie das Ganze entstanden ist, man kein Urtheil mehr abgeben kann über das, was es bedeutet. Auch mitten in Krebsknoten können käsige Stellen vorkommen, welche gerade so aussehen, wie Tuberkel. Noch =Lebert= beschrieb dies als ein Vorkommen von Tuberkel in Krebs. Ich habe dargethan, dass es die Krebs-Elemente sind, welche in diese käsige Masse übergehen[321]. Wenn wir aber nicht mit Bestimmtheit aus der Entwickelungsgeschichte wüssten, dass die Zellen des Krebses sich Schritt für Schritt verändern, und dass in der Mitte des Krebses sich keine Tuberkeln bilden, so würden wir aus dem blossen Befunde in vielen Fällen durchaus nicht ein Urtheil fällen können. [320] Würzb. Verhandl. I. 84. II. 72. III. 99. Spec. Pathologie und Therapie. I. 282, 284. Geschwülste II. 624. [321] Archiv I. 172. Ueberwindet man diese Schwierigkeiten, welche in der äusseren Erscheinung der Bildung liegen, und welche den Beobachter nicht bloss irre führen gegenüber der groben Erscheinung, sondern auch gegenüber der feineren Zusammensetzung, so bleibt für die Orientirung kein anderer Anhaltspunkt, als dass man nachsucht, welchen Typus der Entwickelung die einzelnen Neubildungen während der Stadien ihrer wirklichen Bildung, nicht während der Stadien ihrer Rückbildung zeigen. Man kann das Wesen des Tuberkels nicht studiren von dem Zeitpunkte an, wo er käsig geworden ist, denn von da an gleicht seine Geschichte vollkommen der Geschichte des käsig werdenden Eiters; man muss dies vorher thun, wo er wirklich wuchert. So müssen wir auch für die anderen Neubildungen die Zeit von ihrer ersten Entstehung bis zu ihrer Akme studiren und zusehen, mit welchen normalen physiologischen Typen sie übereinstimmen. Mit anderen Worten, =man muss sie genetisch erforschen=. Dann ist es allerdings möglich, mit den einfachen Principien der histologischen Classification auszukommen, welche ich früher ausgeführt habe (S. 86). =Auch die heterologen Gewebe haben physiologische Typen=[322]. [322] Spec. Pathologie und Therapie. I. 9, 334. Ein Colloid, wenn man wirklich darunter versteht, was =Laennec= gemeint hat, eine gallertartige organisirte Neubildung, muss nothwendig irgend einen Typus der Bildung besitzen, welcher irgendwo oder irgend einmal im gewöhnlichen Körper vorkommt. In der That gibt es eine Reihe von Geschwülsten, die man zum Colloid gerechnet hat, welche vollkommen die Structur des Nabelstranges haben, und welche, wie dieser Theil, in ihrer Intercellularsubstanz wesentlich Schleim enthalten. Nachdem ich das Gewebe des Nabelstranges und der analogen Theile Schleimgewebe genannt hatte, so war es für mich ein sehr einfacher Schritt, diese Geschwülste =Schleimgeschwülste=, Myxome zu nennen[323]. Eine der am meisten ausgezeichneten Myxomformen stellt die sogenannte Blasen- oder Hydatidenmole (Mola vesiculosa s. hydatidosa) dar. Aber das Vorkommen des Myxoms beschränkt sich nicht auf die Zeit der intrauterinen Entwickelung. Indem wir Geschwülste mit dem Gewebstypus des Nabelstranges mitten im erwachsenen Körper nachweisen, so ist das Auffallende der Erscheinung nicht vermindert, aber es ist für dieselben ein im Körper normaler Typus gewonnen. Ein kopfgrosses Myxom des Oberschenkels bleibt immerhin eine sehr merkwürdige Erscheinung. Eine andere Form von Colloid, oder wie unser =Müller= gesagt hat, =Collonema=, stellt sich dar als ödematöses Bindegewebe. Wir finden nichts weiter, als ein sehr weiches Gewebe, welches von einer eiweisshaltigen Flüssigkeit durchtränkt ist. Eine solche Geschwulst können wir nicht von den Bindegewebsgeschwülsten im Ganzen trennen; wir mögen sie als gallertartiges oder ödematöses oder sklerematöses Fibrom bezeichnen, aber es besteht kein Grund, sie unter dem Namen von Collonema für das Denken ganz fremdartig zu gestalten. So finden wir ferner gewisse Formen von Krebs, wo das Stroma, statt einfach aus Bindegewebe zu bestehen, aus demselben Schleimgewebe besteht, welches wir in einer einfachen Schleimgeschwulst antreffen[324]. Dies können wir einfach einen =Schleimkrebs= (Gallert- oder Colloidkrebs) nennen. Damit wissen wir genau, was wir vor uns haben. Wir wissen, es ist ein Krebs, aber sein Grundgewebe ist verschieden durch seinen Schleimgehalt und seine gallertige Beschaffenheit von dem gewöhnlichen Fasergewebe des Krebsgerüstes. [323] Archiv XI. 281. Geschwülste I. 396. [324] Würzb. Verhandlungen II. 318. Fassen wir nun nochmals den Tuberkel in's Auge, so würde derselbe allerdings etwas vollständig Abnormes sein, wenn die Corpuscules tuberculeux ihn ursprünglich und wesentlich constituirten; vergleicht man aber die Zellen, welche, wie ich nachgewiesen habe, die eigentlichen Constituentien des Kornes sind, mit normalen Geweben des Körpers, so ergibt sich die vollständigste Uebereinstimmung zwischen ihnen und den Elementen der =Lymphdrüsen= (S. 210, Fig. 71). Diese Analogie ist nicht zufällig und gleichgültig, denn seit alter Zeit weiss man ja, dass die Lymphdrüsen besonders dazu geneigt sind, eine käsige Veränderung einzugehen, und schon lange hat man davon gesprochen, dass eine lymphatische Constitution zu Prozessen dieser Art disponire[325]. Aus allen diesen Gründen habe ich den Tuberkel nicht als eine, seiner Entwickelung nach dem Körper gänzlich fremdartige Bildung sui generis betrachten können, sondern ihn als eine wesentlich =lymphoide= Neubildung der grösseren Gruppe der Lymphome[326] angereiht. Wenn wir den Eiter betrachten, so brauche ich nur an das zu erinnern, womit ich mich mehrere Capitel hindurch beschäftigt habe, nehmlich an die Frage von der Trennbarkeit der Pyämie von der Leukocytose. In den farblosen Blutkörperchen haben wir so vollständig den Eiterkörperchen analoge Bildungen erkannt, dass Viele geglaubt haben, wenn sie farblose Blutkörperchen im Blute fanden, Eiterkörperchen zu sehen, während Andere vielmehr in den Elementen des Eiters durchweg farblose Blutkörperchen wiederzufinden meinten. Beide Reihen haben den gleichen Typus der Bildung. Man kann daher sagen, dass der Eiter eine =hämatoide= Form habe, ja man kann den alten Satz aufwärmen, dass der Eiter das Blut der Pathologie sei. Will man aber einen Unterschied suchen, will man in den einzelnen Fällen sagen, was Eiter- und was Blutkörperchen sei, so hat man kein anderes Kriterium, als zu entscheiden, ob die Zelle in der gewöhnlichen Weise und an dem natürlichen Orte des farblosen Blutkörperchens entstanden ist, oder auf andere Weise, an einem anderen Orte, wo sie nicht zu entstehen hat. [325] Würzb. Verhandlungen III. 102. Spec. Pathol. und Ther. I. 346. [326] Geschwülste II. 557. Innerhalb der pathologischen Neubildungen gibt es eine grosse Kategorie, deren natürliches Paradigma das Epithel ist, wenn man will, =Epitheliome=. Allein der Ausdruck des Epithelioms, welcher von =Hannover= für einen kleinen Theil dieser Epithel führenden Geschwülste, für die sogenannten Cancroide vorgeschlagen wurde, ist deshalb für die besondere Art von Geschwulst, welche er damit bezeichnen wollte, vollständig unzulässig, weil sie nicht die einzige Geschwulst ist, deren Elemente den epithelialen Habitus an sich tragen. Man kann das Epitheliom =Hannover='s von anderen Geschwülsten nicht dadurch unterscheiden, dass seine Elemente den Habitus von Epithel hätten und andere nicht. Ich will gar nicht davon sprechen, dass es eine grosse Reihe unzweifelhaft epithelialer Geschwulstbildungen gibt, welche nichts als örtliche Wucherungen des präexistirenden Epithels darstellen. Dahin gehören das Atherom, die drüsigen Hyperplasien der Brust, des Magens. Aber auch scheinbar ganz fremdartige Neubildungen besitzen denselben Typus der Elemente. Die Geschwulst, welche =Müller= Cholesteatom, =Cruveilhier= Tumeur perlée genannt hat, was ich durch Perlgeschwulst (Margaritoma) übersetzt habe, diese Geschwulst hat genau denselben epithelialen Bau, wie das Cancroid, welches =Hannover= Epitheliom genannt hat, ja das gewöhnliche Cancroid erzeugt in sich sehr gewöhnlich kleine Perlknoten in oft erstaunlich grosser Menge[327]. Allein beide unterscheiden sich sehr wesentlich. Nie hat man bis jetzt Perlgeschwülste gesehen, welche, nachdem sie an einem Orte bestanden hatten, an entfernten Orten Recidive gemacht und sich wie bösartige Geschwülste verhalten hätten; immer fand nur im nächsten Umfange der Geschwulst eine weitere, aber überaus langsame Entwickelung statt. Das Epitheliom dagegen, oder wie man besser sagt, der Epithelialkrebs oder das Cancroid, besitzt eine sehr ausgesprochene Malignität, nicht nur die Recidivfähigkeit in loco, sondern auch die Vervielfältigung in distans. In manchen Fällen werden fast alle Organe des Körpers metastatisch mit Cancroidmassen erfüllt[328]. [327] Med. Reform 1849. No. 51. S. 271. Archiv III. 221. VIII. 397. [328] Gaz. méd. de Paris. 1855. Avril. No. 14. p. 208. [Illustration: =Fig=. 149. Verschiedene Krebszellen, zum Theil in fettiger Metamorphose, polymorph, mit Kernvermehrung. Vergr. 300.] Versucht man das Cancroid durch den epithelialen Bau seiner Elemente von dem eigentlichen Krebs zu unterscheiden, so wird man sich auch da vergeblich bemühen. Der eigentliche Krebs hat gleichfalls Elemente von epithelialem Habitus (Fig. 149), und man braucht nur solche Punkte im Körper zu suchen, wo sich die Epithelzellen unregelmässig entwickeln, z. B. an den Harnwegen (Fig. 16), so wird man in dem normalen Epithel dieselben sonderbaren, mit grossen Kernen und Kernkörperchen versehenen Bildungen antreffen, welche als die specifischen, polymorphen Krebszellen geschildert werden. Der Krebs, das Cancroid oder Epitheliom, die Perlgeschwulst oder das Cholesteatom, ja auch das Dermoid, welches Haare, Zähne, Talgdrüsen producirt und im Eierstock so häufig vorkommt, alle diese sind Bildungen, welche pathologisch Epithelformen erzeugen; aber sie stellen eine Gradation von verschiedenen Arten vor, die von den ganz örtlichen, dem gewöhnlichen Sinne nach vollkommen gutartigen bis zu solchen von der äussersten Malignität reichen[329]. Die blosse Form der Elemente, welche die Zusammensetzung des Gebildes machen, ist ohne entscheidenden Werth. Es hat sich gezeigt, dass es falsch war, als man annahm, der Krebs habe heterologe (specifische) Elemente und darum sei er bösartig, und das Cancroid habe homologe (hyperplastische) Elemente und darum sei es gutartig. Vielmehr enthält keine von beiden Geschwülsten absolut heterologe Elemente und keine ist gutartig, sondern es besteht zwischen ihnen eine Stufenfolge. [329] Archiv VIII. 414. Man könnte nun leicht in die Furcht gerathen, es sei überhaupt unmöglich, Krebs, Cancroid, Perlgeschwulst, kurz die epithelioiden Neubildungen, sei es von gewöhnlichem Epithel, sei es unter sich zu unterscheiden. Dies wäre ein grosser Irrthum. Sie alle unterscheiden sich durch die Heterologie ihrer Bildung von dem gewöhnlichen Epithel und der gewöhnlichen Epidermis, denn sie entstehen nicht an Oberflächen, sondern im Inneren der Organe aus dem Bindegewebe. Freilich kann es sein, dass die Anhäufungen ihrer Zellen dabei eine überraschende Aehnlichkeit mit bestimmten Oberhautgebilden erlangen, dass sie z. B. wie Drüsen oder Haare aussehen. Aber ein Cancroid erzeugt keine wirklichen Drüsen mit Höhlungen, sondern nur drüsenähnliche, solide Zapfen; in ihm wachsen keine wirklichen Haare, sondern haarähnliche Gebilde, die mehr kranken als gesunden Haaren entsprechen. Häufen sich diese Zapfen und Cylinder in grossen Mengen an, so entsteht dadurch eine breiige Masse von sehr bunter Zusammenordnung, in der jedoch an jedem Punkte immer wieder epidermoidale Gebilde isolirt werden können, so dass die Gesammtbildung die grösste Aehnlichkeit mit dem Atherom zeigen mag. Aber das Atherom ist eine hyperplastische Wucherung normaler Epidermis in einem erweiterten Hautsacke, das Cancroid und die Perlgeschwulst sind heteroplastische Bildungen einer aus Bindegewebe entstandenen Epidermis. Hier entscheidet also die Heterotopie (error loci). [Illustration: =Fig=. 150. Cancroidzapfen aus einer Geschwulst der Unterlippe. Dichtgedrängte Zellenlager mit dem Charakter des Rete Malpighii im Umfange: in dem einen Fortsatze fettartig glänzende Kugeln, in der Mitte des grossen Zapfens eine hornig-epidermoidale, haarartige Abscheidung mit zwiebelartigen Kugeln (Perlen, globes épidermiques). Vergr. 300.] [Illustration: =Fig=. 151. Durchschnitt durch ein Cancroid der Orbita. Grosse Epidermiskugeln (Perlen), zwiebelartig geschichtet, in einer dichtgedrängten Zellenmasse, die theils den Charakter der Epidermis, theils den des Rete Malpighii hat. Vergr. 150.] Dieser Auffassung steht freilich eine andere gegenüber, welche in Beziehung auf das Cancroid schon von =Mayor=, =Ecker= und Anderen ausgesprochen war, nehmlich dass dasselbe aus einer progressiven, nach innen gerichteten Wucherung gewöhnlichen Epithels oder oberflächlicher Epidermis entstehe. Ich habe dem gegenüber immer hervorgehoben, dass genetisch ein Unterschied zwischen Cancroid und eigentlichem Krebs (Carcinom) nicht zu entdecken sei, und dass, wenn das Cancroid als eine nur hyperplastische Neubildung gelten dürfe, auch das Carcinom in gleicher Weise gedeutet werden müsse. Mehrere neuere Beobachter haben kein Bedenken getragen, diesen Satz zu acceptiren und auch das Carcinom als eine Epithelialwucherung darzustellen. Freilich hat sich sehr bald die Schwierigkeit gezeigt, dass das Carcinom primär an Orten vorkommt, wie in Lymphdrüsen, in Knochen und im Gehirn, wo es kein Epithel gewöhnlicher Art gibt. Einige haben sich aus diesem Grunde nicht gescheut, die offenkundige Thatsache primärer Krebse dieser Organe einfach zu leugnen. Andere haben sich damit geholfen, auf das Epithel der Lymphgefässe zurückzugehen. Für diejenigen, welche auch die Bindegewebskörperchen zu den Lymphgefässen rechnen, ist dann freilich der Schritt nicht gross, um auch sie zu den möglichen Matrices der Krebszellen zuzulassen. Ich meinerseits bin durch diese Ausführungen nicht überzeugt; ich halte an der primären Heteroplasie aller Krebse fest. Dagegen erkenne ich vollständig die Schwierigkeit an, zwischen den einzelnen heteroplastischen Gebilden dieser Gruppe beständige Unterschiede zu finden; ja ich hege die Ueberzeugung, dass hier überhaupt keine scharfen Grenzen bestehen, sondern Uebergänge vorkommen. Man könnte daher leicht in Versuchung gerathen, alle diese Arten von Geschwülsten, wie es so oft vorgeschlagen ist, unter dem Collectivnamen der Krebse zusammen zu fassen. Dem wiederstreitet zunächst die praktische (klinische) Erfahrung, welche ergibt, dass die Perlgeschwulst sich nie generalisirt, das Cancroid selten, der Krebs gewöhnlich. Sodann zeigen sich aber auch Verschiedenheiten im Bau, und ich will hier in Beziehung auf den Krebs nur das hervorheben, dass bei dem Krebs im engeren Sinne des Wortes (Carcinoma) die epithelioiden Zellen in den Maschenräumen eines neugebildeten, gefässhaltigen Bindegewebs-Gerüstes (Stroma) enthalten sind[330]. Der Krebs erscheint daher nicht als blosses Gewebe (histioid), sondern als organartige Neubildung (S. 88). [330] Archiv I. 96. Die physiologische Bedeutung der einzelnen Arten aber richtet sich zunächst nach ihrem Saftreichthum[331]. Die Formen, welche trockene, saftarme Massen hervorbringen, sind relativ gutartig. Diejenigen, welche saftreiche Gewebe setzen, haben immer mehr oder weniger einen malignen Habitus (S. 257). Die Perlgeschwulst z. B. liefert vollkommen trockene Epithelmassen, fast ohne eine Spur von Feuchtigkeit: sie steckt nur örtlich an. Das Cancroid bleibt sehr lange örtlich, so dass oft erst nach Jahren die nächsten Lymphdrüsen erkranken, dass dann lange Zeit wiederum der Prozess sich auf diese Erkrankung der Lymphdrüsen beschränkt, und dass erst spät und selten die allgemeine Eruption durch den ganzen Körper erfolgt. Bei dem eigentlichen Krebs ist der örtliche Verlauf oft sehr schnell, und die Krankheit wird früh allgemein; Heilungen, selbst für kurze Zeit, sind so selten, dass man in Frankreich geradezu die vollkommene Unheilbarkeit des eigentlichen Krebses aufgestellt und mit Glück vertheidigt hat. [331] Gesammelte Abhandlungen 53. Archiv XIV. 40. Geschwülste I. 126. Die einzige scheinbare Ausnahme von dieser Regel macht der Tuberkel. Denn gerade bei ihm geschieht die Infection nicht selten in dem käsigen Stadium, welches sich im Allgemeinen durch seine Trockenheit von dem feuchten Zustande des grauen miliaren Korns unterscheidet. Aber die experimentellen Untersuchungen der neuesten Zeit haben, wie ich schon früher (S. 261) erwähnte, die glückliche Lösung gebracht, dass es nicht bloss der aus Tuberkel entstehende Käse ist, welcher wieder Tuberkel erzeugt, sondern dass regressive Substanzen der verschiedensten Art den gleichen Effect hervorbringen. So habe ich schon angeführt (S. 262), dass selbst rückgängiges Carcinom Tuberkel erregen kann. Diese Erfahrungen haben jedoch, soweit bis jetzt bekannt, keinen Werth für die Mehrzahl der infectiösen Neubildungen, welche vielmehr in ihrer Florescenz-Periode die grösste Virulenz besitzen, und hier sind wir entweder auf Wanderzellen, oder auf flüssige Stoffe hingewiesen. Auch unter den Bildungen, welche =den gewöhnlichen Bindegewebssubstanzen analog=, also scheinbar vollkommen homolog und gutartig sind, erweisen sich die saftreichen als viel mehr ansteckungsfähig als die trockenen. Die einfache Fettgeschwulst (=Lipom=) ist immer gutartig. Das =Myxom= (Schleimgeschwulst), welches immer viel Flüssigkeit mit sich führt, ist jedesmal eine verdächtige Geschwulst; in dem Maasse seines Saftreichthums recidivirt es oft[332]. Die Knorpelgeschwulst (=Enchondrom=), welche früher als unzweifelhaft gutartige Geschwulst geschildert wurde, kommt zuweilen in weichen, mehr gallertartigen Formen vor, welche eben solche inneren Metastasen bedingen können, wie der eigentliche Krebs[333]. In noch viel höherem Maasse zeigt das Osteoidchondrom bösartige Eigenschaften[334]. Selbst die Bindegewebsgeschwülste (=Fibrome=) werden unter Umständen reicher an Zellen, vergrössern sich, ihre Zwischensubstanz wird saftreicher, ja in manchen Fällen schwindet sie so vollständig, dass zuletzt fast nur zellige Elemente übrig bleiben. So entstehen Formen, welche meiner Ansicht nach sehr unzweckmässig fibroplastische Geschwülste genannt worden sind und viel besser mit dem alten Namen der =Sarkome= bezeichnet werden[335]. Sie unterscheiden sich von den blossen Fibromen, Myxomen, Chondromen u. s. w. durch die grosse Zahl und die beträchtliche Entwickelungshöhe ihrer Elemente, welche zuweilen geradezu Riesengrösse erreichen (Fig. 30, 31). Genetisch zeigen sie dieselbe Herkunft aus proliferirendem Bindegewebe, wie die gewöhnlichen Fibrome (Fig. 113, II.); sehr bald aber beginnen ihre Zellen einen progressiven Entwickelungsgang, welcher den Fibromen fehlt (Fig. 152). Sie sind zunächst allerdings gutartig, aber nicht selten recidiviren sie, wie die Epithelialkrebse, in loco; unter gewissen Verhältnissen recurriren sie in den Lymphdrüsen, und in manchen Fällen kommen sie in so ausgedehnten Metastasen durch den ganzen Körper vor, dass fast kein Organ davon verschont bleibt. [332] Archiv XI. 281. Geschwülste I. 430. [333] Archiv V. 244. Würzb. Verhandl. I. 137. Geschwülste I. 523. [334] Geschwülste I. 527. [335] Archiv I. 196, 200, 224. Geschwülste II. 175. [Illustration: =Fig=. 152. Schematische Darstellung der Sarkom-Entwickelung, wie sie bei Sarcoma mammae sehr gut zu übersehen ist. Vergr. 350.] In der ganzen Reihe der Neubildungen, von denen jede einem normalen Gewebe mehr oder weniger vollständig entspricht, darf es gar nicht in Frage kommen, ob sie einen physiologischen Typus haben, oder ob sie ein specifisches Gepräge an sich tragen; schliesslich entscheidet vielmehr die Frage, =ob sie an einem Orte entstehen, wo sie hingehören oder nicht, und ob sie Stoffe in sich erzeugen, welche auf Nachbartheile gebracht, dort einen ungünstigen, contagiösen oder reizenden Einfluss ausüben=. Es verhält sich mit ihnen, wie mit pflanzlichen Bildungen. Die Nerven und Gefässe haben gar keinen unmittelbaren Einfluss auf ihre Entwickelung. Nur insofern haben sie Werth, als sie das Mehr oder Weniger von Zufuhr bestimmen können; aber sie sind ganz ausser Stande, die Geschwulst-Entwickelung anzuregen, hervorzubringen oder in einer direkten Weise zu modificiren. Eine pathologische Geschwulst des Menschen bildet sich genau in derselben Weise, wie eine Geschwulst an einem Baume, an der Rinde, an der Oberfläche des Stammes oder des Blattes, wo ein pathologischer Reiz stattgefunden hat. Der Gallapfel, der in Folge des Stiches eines Insectes entsteht, die knolligen Anschwellungen, welche die Stellen eines Baumes zeigen, wo ein Ast abgeschnitten ist, die Umwallung, welche die Wunde eines abgehauenen Baumstammes erfährt, beruhen auf einer ebenso reichlichen, oft ebenso raschen Zellenwucherung, wie die, welche wir an der Geschwulst eines wuchernden Theiles des menschlichen Leibes wahrnehmen. Der pathologische Reiz wirkt in beiden Fällen genau auf dieselbe Art; die Vegetationsverhältnisse gestalten sich vollständig nach demselben Typus, und so wenig als ein Baum an seiner Rinde oder seinem Blatte eine Art von Zellen hervorbringt, welche er sonst nicht hervorbringen könnte, so wenig thut dies der thierische Körper. Aber wenn man die Geschichte einer pflanzlichen Geschwulst betrachtet, so wird man auch da sehen, dass gerade die kranken Stellen es sind, welche ungewöhnlich reich an specifischen Bestandtheilen werden, welche die besonderen Stoffe, die der Baum producirt, in grösserer Menge in sich aufnehmen und ablagern. Die Pflanzenzellen, welche sich an einem Eichenblatt im Umfange des Insectensitzes bilden, haben viel mehr Gerbsäure, als irgend ein anderer Theil des Baumes. Die Geschwulstzellen, welche sich in wuchernder Menge an einer Kiefer da bilden, wo ein Insect sich in den jungen Stamm eingräbt, werden ganz vollgestopft mit Harz. Die besondere Energie der Bildung, welche an diesen Stellen entwickelt wird, bedingt auch eine ungewöhnlich reiche Anhäufung von Säften. Es bedarf keiner Nerven oder Gefässe, um die Zellen zu einer vermehrten Stoff-Aufnahme zu instigiren. Es ist die eigene Action der Zellen, die Anziehung, welche sie auf die benachbarten Flüssigkeiten ausüben, vermöge deren sie die brauchbaren Stoffe an sich reissen und fixiren. Und so sind wir am Schlusse wiederum bei derselben Vergleichung angelangt, von der wir im Anfange ausgingen, bei der Vergleichung des thierischen und besonders des menschlichen Körpers mit dem pflanzlichen. Auch der Patholog gewinnt durch die Kenntniss der botanischen Vorgänge die werthvollsten Anknüpfungspunkte für das Verständniss der Krankheiten; er vor Allen muss sich durch ein solches Verständniss immer mehr von der Wahrheit der cellularen Theorie überzeugen. Es besteht eine innere Uebereinstimmung in der ganzen Reihe der lebendigen Erscheinungen und gerade die niedrigsten Bildungen dienen uns oft als die Erklärungsmittel für die vollkommensten und am meisten zusammengesetzten Theile. Denn gerade in dem Einfachen und Kleinen offenbart sich am deutlichsten das =Gesetz=. Inhalt. Seite Vorreden V Uebersicht der Holzschnitte XIII $Erstes Capitel.$ Die Zelle und die cellulare Theorie 1 Einleitung und Aufgabe. Bedeutung der anatomischen Entdeckungen in der Geschichte der Medicin. Geringer Einfluss der Zellentheorie auf die Pathologie. -- Die Zelle als letztes wirkendes Element des lebenden Körpers. Genauere Bestimmung der Zelle. Die Pflanzenzelle: Membran, Inhalt (Protoplasma), Kern. Die thierische Zelle: die eingekapselte (Knorpel) und die einfache. Der Zellenkern (Nucleus). Das Kernkörperchen (Nucleolus). Die Theorie der Zellenbildung aus freiem Cytoblastem. Constanz des Kerns und Bedeutung desselben für die Erhaltung der lebenden Elemente. Der Zellkörper und das Protoplasma. Verschiedenartigkeit des Zelleninhalts und Bedeutung desselben für die Function der Theile. Die Zellen als vitale Einheiten (Elementarorganismen). Der Körper als sociale Einrichtung. Die Intercellularsubstanz und die Zellenterritorien. -- Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Solidarpathologie. -- Falsche Elementartheile: Fasern, Kügelchen (Elementarkörnchen). Entstehung der Zellen. Umhüllungstheorie. Generatio aequivoca der Zellen. Das Gesetz von der continuirlichen Entwickelung (Omnis cellula e cellula). Pflanzen- und Knorpelwachsthum. $Zweites Capitel.$ Die physiologischen Gewebe 27 Anatomische Classification der Gewebe. Die drei allgemein-histologischen Kategorien. Die speciellen Gewebe. Die Organe und Systeme oder Apparate. -- Die =Epithelialgewebe=. Platten-, Cylinder- und Uebergangsepithel. Epidermis und Rete Malpighii. Nagel und Nagelkrankheiten. Haare. Linse. Pigment. Drüsenzellen. -- Die =Gewebe der Bindesubstanz=. Das Binde- oder Zellgewebe. Die Theorien von =Schwann=, =Henle= und =Reichert=. Meine Theorie. Die Bindegewebskörperchen. Die Fibrillen des Bindegewebes als Intercellularsubstanz. Secretion derselben. Der Knorpel (hyaliner, Faser- und Netzknorpel). Incapsulirte und freie Knorpelkörperchen (Knochenknorpel). Schleimgewebe. Pigmentirtes Bindegewebe. Fettgewebe. Anastomose der Elemente: saftführendes Röhren- oder Kanalsystem. -- Die =höheren Thiergewebe=: Muskeln, Nerven, Gefässe, Blut, Lymphdrüsen. Vorkommen dieser Gewebe in Verbindung mit Interstitialgewebe. -- Muskeln. Quergestreifte. Faserzellen. Herzmuskulatur. Muskelkörperchen. Fibrillen. Disdiaklasten. Glatte Muskelfasern. Muskelatrophie. Die contractile Substanz (Syntonin) und die Contractilität überhaupt. Cutis anserina und Arrectores pilorum. -- Gefässe. Capillaren. Contractile Gefässe. $Drittes Capitel.$ Physiologische Eintheilung der Gewebe 62 Ungenügende Ausbildung der anatomischen Kenntniss der Gewebe. Verschiedenartige Lebenserscheinungen an scheinbar gleichartigen Elementen. Praktisches Bedürfniss einer physiologischen Gruppirung: -- 1) Nach der Function. Motorische Elemente: muskulöse, epitheliale (Flimmerzellen, Samenfäden), bindegewebige (Pigment). Schleimabsonderung: Schleimhäute, Schleimdrüsen, Schleimgewebe. -- 2) Nach der Lebensdauer der Elemente. Dauer- und Zeitgewebe. Pathologische Aenderung der natürlichen Verhältnisse (Heterochronie). Lehre von der Allveränderlichkeit des Körpers durch Stoffwechsel (Mauserung). Unterscheidung von Dauer- und Verbrauchsstoffen in den Elementen. Wechselgewebe (Metaplasie). Abfällige Gewebe: Epidermis (Desquamation), Decidua uterina. Einfache Zeitgewebe. Oertliche Verschiedenheit der Lebensdauer desselben Gewebes. Nothwendigkeit einer Localgeschichte der Gewebe. -- 3) Nach der Zeit der Entstehung und des Absterbens der Gewebe (genetische Eintheilung). Jugendliche und senescirende Gewebe. Allgemeine und locale Chronologie der Gewebe. Embryonale Gewebe; unfertige oder unreife: Matricular- und Uebergangsgewebe. Chorda dorsualis. Schleimgewebe. Bildungsgewebe und Vorgewebe (Anlagen, Keimgewebe) Bildungs- oder Primordialzellen. Allgemeine Gültigkeit der Entwickelungsgesetze. -- 4) Nach der Verwandtschaft und Abstammung. Continuitäts-Gesetz. Heterologe Verbindungen von Gewebselementen. Die histologische Substitution und die histologischen Aequivalente. Abstammung der Elemente (Descendenz). $Viertes Capitel.$ Die pathologischen Gewebe 84 Die pathologischen Gewebe (Neoplasmen) und ihre Classification. Bedeutung der Vascularisation. Die Doctrin von den specifischen Elementen: Krebs, Tuberkel. Die physiologischen Vorbilder (Reproduction). Einfache (histioide) und zusammengesetzte (organoide und teratoide) Neubildungen. Homologie und Heterologie (Heterotopie Heterochronie, Heterometrie). Malignität. Hypertrophie und Hyperplasie. Kriterien der Homologie. Degeneration. Prognostische Gesichtspunkte. -- Ungewöhnliche Analogien der pathologischen Gewebe: Krebs, Sarkom (Spindelzellen. Riesenzellen). Abstammung der pathologischen Gewebe: Continuität der Entwickelung, Discontinuität des Typus. Pathologische Substitutionen und Aequivalente. Homologe und heterologe Substitution. Bildung per primam aut secundam intentionem. Verschiedenartige Entstehung derselben Gewebe unter verschiedenen Bedingungen: Knochen, Bindegewebe. Organisation fibrinöser Blasteme. Metaplasie. Verschiedenartige Abstammung derselben Gewebsart. $Fünftes Capitel.$ Die Ernährung und ihre Wege 100 Selbsterhaltung als Grundlage der Lehre vom Leben. Ernährung und Stoffwechsel. Ernährung im Sinne des Gesammt-Organismus: Nahrungsstoffe. Verdauung. Circulation. Ernährung im cellularen Sinne. Endosmose und Exosmose, todter Stoffwechsel. Intermediärer Stoffwechsel (Transito-Verkehr). Eigentlich nutritiver Stoffwechsel. Ernährungseinheiten und Krankheitsheerde. -- Thätigkeit der Gefässe bei der Ernährung. Verhältniss von Gefäss und Gewebe. Leber. Niere. Gehirn. Muskelhaut des Magens. Knorpel. Knochen. -- Abhängigkeit der Gewebe von den Gefässen. Metastasen. Gefässterritorien (vasculäre Einheiten). -- Die Ernährungsleitung in den Saftkanälen der Gewebe. Knochen. Zahn. Faserknorpel. Hornhaut. Bandscheiben. $Sechstes Capitel.$ Weiteres über Ernährung und Saftleitung 120 Sehnen, Hornhaut, Nabelstrang. -- Weiches Bindegewebe (Zellgewebe). Elastisches Gewebe. Strukturlose Häute: Tunicae propriae, Culicula. Elastische Membranen: Sarkolemm. -- Lederhaut (Derma). Papillarkörper: vasculäre Bezirke. Unterhaut (subcutanes, subseröses, submucöses Gewebe). Tunica dartos. -- Das feinere Kanalsystem des Bindegewebes: Körperchen, Lacunen. Bedeutung der Zellen für die Specialvertheilung der Ernährungssäfte innerhalb der Gewebe. Vegetativer Charakter der Ernährung. Elective Eigenschaften der Zellen. $Siebentes Capitel.$ Circulation und Dyscrasie 143 Arterien. Ihre Zusammensetzung: Epithel, Intima, Media (Muscularis), Adventitia. Capillaren. Capillare Arterien und Venen. Continuität der Gefässwand. Porosität derselben. Hæmorrhagia per diapedesin. Venen. Gefässe in der Schwangerschaft. -- Eigenschaften der Gefässwand: 1. Contractilität. Rhythmische Bewegung. Active oder Reizungs-Hyperämie. Ischämie. Gegenreize. Collaterale Fluxion. 2. Elasticität und Bedeutung derselben für die Schnelligkeit und Gleichmässigkeit des Blutstromes. Erweiterung der Gefässe. 3. Permeabilität. Diffusion. Specifische Affinitäten. Verhältniss von Blutzufuhr und Ernährung. Die Drüsensecretion (Leber). Specifische Thätigkeit der Gewebselemente. -- Dyskrasie. Transitorischer Charakter und localer Ursprung derselben. Säuferdyskrasie. Hämorrhagische Diathese. Syphilis. $Achtes Capitel.$ Das Blut 167 Morphologische (anatomische) und chemische Veränderungen des Blutes (Dyskrasien). -- Faserstoff. Fibrillen desselben. Vergleich mit Schleim und Bindegewebe. Homogener gallertiger Zustand. -- Rothe Blutkörperchen. Kern, Membran und Inhalt derselben. Gestalt bei den verschiedenen Wirbelthieren; diagnostische Schwierigkeiten. Zusammensetzung des Zellkörpers: Hämatin, Hämoglobin. Stroma. Veränderungen der Farbe und der Gestalt. Blutkrystalle (Hämatoidin, Hämin, Hämatokrystallin). -- Farblose Blutkörperchen. Numerisches Verhältniss. Struktur. Vergleich mit Eiterkörperchen. Klebrigkeit und Agglutination derselben. Specifisches Gewicht. Crusta granulosa. Diagnose von Eiter- und farblosen Blutkörperchen. Die Lehren von der Eiterresorption und von der Lymphexsudation. Lebenseigenschaften der farblosen Körperchen: Bewegung, Aufnahme anderer Körper, Auswanderung. Bedeutung dieser Erfahrungen für die cellulare Doctrin. $Neuntes Capitel.$ Blutbildung und Lymphe 191 Wechsel und Ersatz der Blutbestandtheile. =Die rothen Körperchen=. Hinfälligkeit derselben. Theilung derselben bei Embryonen. Zerbröckelung bei ungünstigen Einwirkungen. Ersatz aus der Lymphe. -- Das =Fibrin=. Die Lymphe und ihre Gerinnung. Nichtgerinnung des Capillarblutes in der Leiche. Das lymphatische Exsudat. Fibrinogene Substanz. Speckhautbildung. Lymphatisches Blut, Hyperinose, phlogistische Krase. Locale Fibrinbildung. Fibrintranssudation. Fibrinbildung im Blute. -- Die =farblosen Blutkörperchen= (Lymphkörperchen). Ihre Vermehrung bei Hyperinose und Hypinose (Erysipel, Pseudoerysipel, Typhus). Leukocytose und Leukämie. Die lienale und lymphatische Leukämie. =Milz=- =und Lymphdrüsen= als hämatopoëtische Organe. Structur der Lymphdrüsen. Rinden- und Marksubstanz. Das eigentliche Parenchym derselben: Follikel (Markstränge). Reticulum, Lymphsinus. Parenchymzellen (Lymphdrüsenkörperchen) und ihr Verhältniss zu Lymph- und farblosen Blutkörperchen. Diagnose und Abstammung der letzteren. -- Bau der Milz. Siebförmige Einrichtung der Gefässwände in der Pulpa. -- Umbildung farbloser Blutkörperchen in farbige. Ort derselben. Das rothe Knochenmark. -- =Lymphgefässe=. Zusammenhang mit dem Röhrensysteme des Bindegewebes. Bau der grösseren Lymphgefässe: Contractilität und Klappen derselben. Lymphcapillaren (Lymphgefäss-Wurzeln): einfache Epithel-Wand. Bedeutung der Bindegewebskörperchen und der Lymphe überhaupt. Recrementitielle und plastische Natur der Lymphe. $Zehntes Capitel.$ Pyämie und Leukocytose 217 Vergleich der farblosen Blut- und Eiterkörperchen. Die physiologische Eiterresorption: die unvollständige (Inspissation, käsige Umwandlung) und die vollständige (Fettmetamorphose, milchige Umwandlung). Intravasation von Eiter. -- Eiter in Lymphgefässen. Die Hemmung der Stoffe in den Lymphdrüsen. Mechanische Trennung (Filtration): Tätowirungsfarben. Mögliches Durchkriechen der Eiterkörperchen. Chemische Trennung (Attraction): Krebs, Syphilis. Die Reizung der Lymphdrüsen und ihre Bedeutung für die Leukocytose. Die (physiologische) digestive und puerperale Leukocytose. Die pathologische Leukocytose (Scrofulose. Typhus. Krebs. Erysipel). -- Die lymphoiden Apparate; solitäre und Peyer'sche Follikel des Darms. Tonsillen und Zungenfollikel. Thymus. Milz. -- Völlige Zurückweisung der Pyämie als morphologisch nachweisbarer Dyskrasie. $Eilftes Capitel.$ Infection und Metastase 234 Pyämie und Phlebitis. Capillar-Phlebitis und Stase. Thrombosis: parietale und obstruirende; adhäsive und suppurative. Puriforme Erweichung der Thromben: Detritus des Fibrins. Auflösung der rothen Körperchen. Die wahre und falsche Phlebitis. Eitercysten des Herzens. -- Embolie. Bedeutung der fortgesetzten Thromben. Lungenmetastasen. Zertrümmerung der Emboli. Verschiedener Charakter der Metastasen. Endocarditis und capilläre Embolie. Latente Pyämie. -- Inficirende Flüssigkeiten. Infectiöse Erkrankung der lymphatischen Apparate und der Milz, der Secretionsorgane und der Muskeln. Chemische Substanzen im Blute: Silbersalze, Arthritis, Kalkmetastasen. Ichorrhämie. Fremde Körperchen in der Blutmischung: Zellen, Hämatozoen, Pilze. Körner. Pyämie als Sammelname. $Zwölftes Capitel.$ Theorie der Dyscrasien 256 Abhängigkeit der Dyscrasien und ihrer Dauer von der Zufuhr der Stoffe. Bösartige Geschwülste: Krebs-Dyscrasie. Locale und allgemeine Contagion durch infectiöse Parenchym-Säfte. Bedeutung der Zellen für die Dissemination und Metastase. Natur der virulenten Substanzen. Regressive Stoffe als Mittel der Infection: Rotz, Syphilis, Tuberkel. Impfungen. Wanderung infectiöser Elemente, Homologe und heterologe Infection. -- Melanämie. Beziehung zu melanotischen Geschwülsten und Intermittens. Abhängigkeit von Milzfärbung. -- Die rothen Blutkörperchen. Entstehung. Die melanösen Formen. Chlorose. Lähmung der respiratorischen Substanz: Kohlenoxyd. Blutgifte. Toxicämie. -- Verschiedene Entstehung der Dyscrasien. $Dreizehntes Capitel.$ Das peripherische Nervensystem 271 Der Nervenapparat. Seine prätendirte Einheit. -- Die Nervenfasern. Peripherische Nerven. Fascikel, Primitivfaser. Perineurium und Neurilem. Schwann'sche Scheide. Axencylinder (electrische Substanz). Markstoff (Myelin), Protagon, Phosphor der Nervensubstanz. Marklose und markhaltige Fasern. Uebergang der einen in die anderen: Hypertrophie des Opticus. Verschiedene Breite der Fasern. -- Die peripherischen Nervenendigungen. Vater'sche (Pacini'sche) und Tastkörper. Marklose Fasern der Haut mit Endigung im Rete. Unterscheidung von Gefäss-, Nerven- und Zellenterritorien in der Haut. Endkolben der Schleimhautnerven. Höhere Sinnesorgane: Riech-, Geschmacks- und Hörzellen. Retina: nervöse und bindegewebige Theile. Arbeitsnerven: Muskel-Endplatten, Verbindung der Nerven mit Drüsen- und anderen Zellen. -- Die Theilung der Nervenfasern. Das electrische Organ der Fische. Die Muskelnerven. Weitere Betrachtung über Nerventerritorien. -- Nervenplexus mit ganglioformen Knoten. Darmschleimhaut. Gefässe. Plexus myentericus. -- Irrthümer der Neuropathologen. $Vierzehntes Capitel.$ Rückenmark und Gehirn 300 Die nervösen Centralorgane. Graue Substanz. Pigmentirte Ganglienzellen. Fortsätze der Ganglienzellen: apolare, unipolare und bipolare Zellen. Verschiedene Bedeutung der Fortsätze: Nerven- oder Axencylinderfortsätze. Ganglien- und Reiserfortsätze. Rückenmark: motorische und sensitive Ganglienzellen. Multipolare (polyklone) Formen. Kernkörperchenfäden =und= Kernröhren. Innere Verschiedenheit der Ganglienzellen. Schwierigkeit der Untersuchung. Die Nerven des elektrischen Organs der Fische. Das Gross- und Kleinhirn des Menschen. -- Das Rückenmark. Weisse und graue Substanz. Centralkanal. Gangliöse Gruppen. Weisse Stränge und Commissuren. Medulla oblongata. Rinde des Kleinhirns: Körner- und Stäbchenschicht. Psychische Ganglienzellen des Gehirns. Das Rückenmark des Petromyzon und die marklosen Fasern desselben. -- Die Zwischensubstanz (interstitielles Gewebe). Ependyma ventriculorum. Neuroglia. Corpora amylacea. Graue und gelatinöse Atrophie des Rückenmarks. Sandkörper (corpora arenacea) der Häute des Gehirns und Rückenmarks. $Fünfzehntes Capitel.$ Leben der Elemente. Thätigkeit und 328 Reizbarkeit Das Leben der einzelnen Theile. Die Einheit der Neuristen. Einwände dagegen. Mythologische Natur der neuristischen Lehren. Animismus: Archaeus, Zellenseele. Das Bewusstsein. Die Thätigkeit der einzelnen Theile. Begriff der Reizung: Passion und Action. Die Erregbarkeit (Reizbarkeit) als allgemeines Kriterium des Lebens. Partieller Tod: Nekrobiose und Nekrose. Nichterregbarkeit der Intercellularsubstanz. -- Verrichtung, Ernährung und Bildung als allgemeine Formen der Lebensthätigkeit. Verschiedenheit der Reizbarkeit je nach diesen Formen. -- Functionelle Reizbarkeit. Nerv, Muskel, Flimmerepithel, Drüsen. Ermüdung und functionelle Restitution. Reizmittel. Specifische Beziehung derselben. Muskelirritabilität. Geringer praktischer Werth derselben. -- Nervenirritabilität. Grosse Bedeutung derselben. Falsche Deutung derselben als Empfindlichkeit oder als Contractilität. Innervation. Bewusste und unbewusste Empfindungen. Nervenkraft (Nervenseele, Neurilität). Specifische Unterschiede der constituirenden Theile des Nervensystems. Die Leitung der Electricität als Zubehör der Nervenfasern, die Sammlung (Hemmung, Verstärkung) und Lenkung als Zubehör der Ganglienzellen. Moderations-Einrichtungen. Instinctives und intellectuelles Leben. Bewusstsein. Nothwendigkeit einer histologischen Localisation der nervösen Functionen. Erregung der Ganglienzellen: verschiedene Energie und verschiedene Combination (Synergie) derselben. Spannung und Entladung von Ganglienzellen. Psychologische Auffassung der Affecte und Triebe. Die pathologische Nervenfunction: quantitative Abweichung (Krampf, Lähmung) und combinatorische Abweichung (Epilepsie). -- Drüsen-Irritabilität. Verschiedene Gruppen von Drüsen je nach dem Typus der Secretion. Die Drüsen mit persistenten Zellen: Leber, Nieren. Glykogenie. -- Automatische Elemente. Geschichtliches. Sarkode, Protoplasma. Amöboide Erscheinungen. Bewegliche Zellen. Verwechselungen des Automatismus mit den Wirkungen physikalischer Osmose (Schrumpfung und Schwellung). Aeussere Gestaltveränderungen mit Aussenden und Einziehen von Fortsätzen (Polymorphismus); innere Molecularbewegung, Vacuolenbildung. Abschnürung von Theilen des Zellkörpers. Befestigte (fixe) und bewegliche (mobile) Zellen. Wanderung und Mobilisirung der Zellen. Voracität: Blutkörperchenhaltige Zellen. Mechanisches Eindringen von fremden Körpern in Zellen. Der Automatismus als Merkmal der Irritabilität -- Die pathologischen Abweichungen der Function: Mangel (Defect), Schwächung und Steigerung. Absolute Zurückweisung der Annahme qualitativer Heterologie. $Sechzehntes Capitel.$ Nutritive und formative Reizung. Neubildung und Entzündung 364 Nutritive Reizbarkeit. Genauere Definition der Ernährung. Hypertrophie und Hyperplasie. Atrophie, Aplasie und Nekrobiose als Formen des Schwundes (Phthisis): regressive Prozesse. Wesen der Ernährung: Aufnahme und Aneignung der Stoffe durch eigene Thätigkeit. Crudität und Assimilation. Fixirung der Stoffe: Gegensatz zu todten und schlecht ernährten Theilen: Resorption und Kachexie. Gute Ernährung. Strictum et laxum, Tonus und Atonie, Kraft und Schwäche. Turgor vitalis. Nutritive Reize: trophische Nerven. Krankhafte Hypertrophie: parenchymatöse Entzündung; trübe Schwellung. Niere, Knorpel, Haut. Hornhaut. Die neuropathologische und die humoralpathologische Doctrin. Parenchymatöse Schwellung. Nutritive Restitution und Nekrobiose. Stadien der parenchymatösen Entzündung. Active Natur dieses Prozesses. -- Formative Reizbarkeit. Theilung der Kernkörperchen und Kerne (Nucleation): vielkernige Elemente, Riesenzellen (Knochenmark, Myeloidgeschwulst, lymphatische Neubildungen). Formative Muskelreizung im Vergleich zum Muskelwachsthum. Neubildung der Zellen durch Theilung (fissipare Cellulation): Knorpel, epitheliale und bindegewebige Neubildung. Wucherung (Proliferation). Auswanderung der farblosen Blutkörperchen und aus ihnen hervorgehende Organisation. Die plastischen (histogenetischen) Stoffe; der Bildungstrieb. Negation der extracellulären Neubildung und der Bildungsstoffe. Die Neubildung als Thätigkeit der Zellen. Formative Reize. Die humoralpathologische und neuropathologische Doctrin. -- Entzündliche Reizung, Entzündung. Neuroparalytische Entzündung (Vagus, Trigeminus); Lepra anaesthetica. Prädisposition und neurotische Atrophie. Die Entzündung als Collectivvorgang. $Siebzehntes Capitel.$ Passive Vorgänge. Fettige Degeneration 400 Die passiven Vorgänge in ihren beiden Hauptrichtungen zur Degeneration: Nekrobiose (Erweichung und Zerfall) und Induration. -- Die fettige Degeneration. Histologische Geschichte des Fettes im Thierkörper: das Fett als Gewebsbestandtheil, als transitorische Infiltration und als nekrobiotischer Stoff. -- Das Fettgewebe. Poly-arcie. Fettgeschwülste. Die interstitielle Fettbildung. Fettige Degeneration der Muskeln. -- Die Fettinfiltration und Fettretention. Darm: Structur und Function der Zotten. Resorption und Retention des Chylus. Leber: intermediärer Stoffwechsel durch die Gallengänge. Fettleber. -- Die Fettmetamorphose. Drüsen: Secretion des Hautschmeers und der Milch (Colostrum). Körnchenzellen und Körnchenkugeln. Entzündungskugeln. Fettmetamorphose des Lungenepithels. Gelbe Hirnerweichung. Corpus luteum des Eierstocks. Arcus senilis der Hornhaut. Morbus Brightii. Optisches Verhalten der fettig metamorphosirten Gewebe. -- Muskeln: Fettmetamorphose des Herzfleisches. Fettbildung in den Muskeln bei Verkrümmungen. -- Arterie: fettige Usur und Atherom. Fettiger Detritus. $Achtzehntes Capitel.$ Amyloide Degeneration. Verkalkung 432 Die amyloide (speckige oder wächserne) Degeneration. Regionäres Auftreten derselben. Verschiedene Natur der Amyloidsubstanzen: Glykogen (Leber), Corpora amylacea (Hirn, Lungen, Prostata) und eigentliche Amyloid-Entartung. Verlauf der letzteren. Beginn der Erkrankung an den feinen Arterien. Wachsleber. Knorpel. Dyscrasischer (constitutioneller) Charakter der Krankheit: functionelle Störungen. Darm. Niere: die drei Formen der Bright'schen Krankheit (amyloide Degeneration, parenchymatöse und interstitielle Nephritis). Lymphdrüsen: consecutive Anämie. Gang der Erkrankung. Beziehung zu Knochenkrankheiten und Syphilis. Amyloide Erkrankung der Schilddrüse und der Nebennieren. -- Verkalkung (Versteinerung, Petrification). Unterschied von Verknöcherung, Verkalkung der Arterien, des Bindegewebes, der Knorpel. Haut- oder Knochenknorpel (osteoides Bindegewebe). Concentrisch geschichtete Kalkkörper (Concretionen). Versteinerung: Lithopädion. Verkalkung todter Theile: Eingeweidewürmer, Ganglienzellen des Gehirns bei Commotion, käsige und thrombotische Massen. $Neunzehntes Capitel.$ Gemischte, activ-passive Prozesse. Entzündung 458 Fettmetamorphose als Entzündungs-Ausgang. Unterschied zwischen primärer (einfacher) und secundärer (entzündlicher) Fettmetamorphose. Nieren, Muskeln. -- Atheromatöser Prozess der Arterien. Atheromatie und Ossification als Folgen der Arteriosklerose. Entzündlicher Charakter der letzteren: Endoarteriitis chronica deformans s. nodosa. Bildung der Atheromheerde. Cholestearin-Abscheidung. Ossification. Ulceration. Analogie mit der Endocarditis. -- Die Entzündung. Die vier Cardinalsymptome und deren Vorherrschen in den einzelnen Schulen. Die thermische und vasculäre Theorie, die neuropathologische, die Exsudatlehre. Entzündungsreiz. Functio laesa. Die Entzündung in gefässlosen und in gefässhaltigen Theilen. Das Exsudat als Folge der Gewebsthätigkeit: Schleim und Fibrin. Die Entzündung als zusammengesetzter Reizungsvorgang. Parenchymatöse und exsudative (secretorische) Form. Klinische und anatomische Bedeutung der Entzündung. Irrthum von der einheitlichen Natur der Entzündungs-Vorgänge. Multiplicität der entzündlichen Prozesse. $Zwanzigstes Capitel.$ Die normale und pathologische Neubildung. Geschichte des Knochens 482 Die Theorie der continuirlichen Entwickelung im Gegensatze zu der Blastem- und Exsudattheorie. Das Bindegewebe, seine Aequivalente und seine Adnexen als gemeinster Keimstock der Neubildungen. Die Uebereinstimmung der embryonalen und pathologischen Neubildung. Die Bedeutung der farblosen Blutkörperchen. Die Zellentheilung als gewöhnlicher Anfang der Neubildungen. -- Endogene Bildung. Physaliden. Bruträume. Furchung. -- Wachsthumähnliche und zeugungähnliche Neubildungen. Pflanzliche Analogie. -- Verschiedene Richtung der Neubildung. Hyperplasie, directe und indirecte. Heteroplasie. Die pathologischen Bildungszellen; Granulation. Verschiedene Grösse und Bildungsdauer derselben. -- Darstellung der Knochenentwickelung als einer Musterbildung. Unterschied von Formation, Transformation und Wachsthum. Das appositionelle und das interstitielle Wachsthum. Die Blastemtheorie. Der frische und wachsende Knochen im Gegensatze zu dem macerirten. Natur des Markes. -- Längenwachsthum der Röhrenknochen: Knorpelwucherung. Markbildung als Gewebstransformation: rothes, gelbes und gallertiges, normales, entzündliches und atrophisches Mark. Tela ossea, verkalkter Knorpel, osteoides Gewebe. Rachitis. Ossification des Markes. -- Dickenwachsthum der Röhrenknochen. Struktur und Wucherung des Periostes. Weiches Osteom der Kiefer. Callusbildung nach Fractur. Knochenterritorien: Caries, degenerative Ostitis. Knochengranulation. Knocheneiterung. Maturation des Eiters. -- Die Granulation als Analogon des Knochenmarkes und als Ausgangspunkt heteroplastischer Entwickelung. $Einundzwanzigstes Capitel.$ Die pathologische, besonders die heterologe Neubildung 526 Theorie der substitutiven Neubildung im Gegensatze zu der exsudativen. Zerstörende Natur der Neubildungen. Homologie und Heterologie (Malignität). Ulceration. Osteomalacie. Knochenmark und Eiter. Proliferation und Luxuriation. -- Die Eiterung. Verschiedene Formen derselben: oberflächliche aus Epithel und tiefe aus Bindegewebe, Auswanderung der farblosen Blutkörperchen. Erodirende Eiterung (Haut, Schleimhaut): Eiter- und Schleimkörperchen im Verhältniss zum Epithel. Ulcerirende Eiterung. Lösende Eigenschaften des Eiters. -- Zusammenhang der Destruction mit pathologischem Wachsthum und Wucherung. Uebereinstimmung des Anfanges bei Eiter, Krebs, Sarkom u. s. w. Mögliche Lebensdauer der pathologisch neugebildeten Elemente und der pathologischen Neubildungen als ganzer Theile (Geschwülste). -- Zusammengesetzte Natur der grösseren Geschwulstknoten und miliarer Charakter der eigentlichen Heerde. Bedingungen des Wachsthums und der Recidive: Contagiosität der Neubildungen, Bedeutung der Elementar-Anastomosen und der Wanderzellen. Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Neuropathologie. Allgemeine Infection des Körpers. Parasitismus und Autonomie der Neubildungen. $Zweiundzwanzigstes Capitel.$ Form und Wesen der pathologischen Neubildungen 547 Terminologie und Classification der pathologischen Neubildungen. Die Consistenz als Eintheilungsprincip. Vergleich mit einzelnen Körpertheilen. Histologische Eintheilung. Die scheinbare Hetorologie des Tuberkels, Colloids u. s. f. -- Verschiedenheit von Form und Wesen: Colloid, Epitheliom, Papillargeschwulst, Tuberkel. -- Die Papillargeschwülste: einfache (Condylome, Papillome) und specifische (Zottenkrebs, Blumenkohlgeschwulst). -- Der Tuberkel: Infiltration und Granulation. Tuberkelkörperchen. Der entzündliche Ursprung der Tuberkel. Käsige Pneumonie und Osteomyelitis. Die Granulie. Entstehung der Tuberkel aus Bindegewebe. Das miliare Korn und der solitäre Knoten. Die käsige Metamorphose. -- Das Colloid: Myxom. Collonema. Schleim- oder Gallertkrebs. -- Die physiologischen Typen der heterologen Neubildungen: lymphoide Natur des Tuberkels, hämatoide des Eiters, epithelioide des Krebses, des Cancroids, der Perlgeschwulst und des Dermoids, bindegewebige des Sarkoms. Heterotopie der Bildung. Der Streit über die Entstehung des Cancroids und Carcinoms. Infectionsfähigkeit, nach dem Saftgehalt der specifischen Beschaffenheit und der Wanderfähigkeit der Elemente. Erregung der Tuberculose durch regressive Stoffe. -- Vergleich der pathologischen Neubildung bei Thieren und Pflanzen. Schluss. * * * * * Gedruckt bei Julius Sittenfeld in Berlin. * * * * * Anmerkungen zur Transkription: Die Originalschreibweise und kleinere Inkonsistenzen in der Schreibweise und Formatierung wurden prinzipiell beibehalten. Gesperrter Text wurde mit Gleichheitszeichen (=Text=), kursiver Text mit Unterstrichen (_Text_) und fett gedruckter Text mit Dollarzeichen ($Text$) markiert. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen. S. VII: beeinträchtigt? warum -> Warum S. XIV: 46 -> 46. S. XV: 86 -> 86. S. XVI: 113. -> 113, I. S. XVII: 125 -> 125. S. 1: Bestimmung der Zelle -> Zelle. S. 5: Fig. 1. a. -> Fig. 1, _a_. S. 11: Fig. 5. _d'_ -> Fig. 5, _d_' S. 19: äussere Zwissenmasse -> Zwischenmasse S. 19: was wer weis -> weiss S. 22: characteristischen Ausdruk -> Ausdruck S. 30: regelmässig polygnonale -> polygonale S. 36: an der =Krystalllinse= -> =Krystallinse= S. 40: daraus eigenthümthümliche -> eigenthümliche S. 46: =Faserknorpel= genannt -> genannt. S. 56: Verhätnissmässig -> Verhältnissmässig S. 59: Arterien). _a_, a -> _a_, _a_ S. 94: Fig. 4 _b_, 21. -> Fig. 4, _b_; 21. S. 98: entsteht Bindegewebe -> Knochengewebe S. 104: Fig. 29. -> Fig. 29 S. 109: Fig. 37. -> Fig. 37 S. 112: dass die compakte -> compacte S. 112: Fig. 38 _v_, _v_', -> Fig. 38, _v_, _v_'; S. 112: 39 _a_, _v_ -> 39, _a_, _v_ S. 146: Fig. 4 _c_ -> Fig. 4, _c_ S. 148: Fig. 54 _v_ -> Fig. 54, _v_ S. 150: Mein Archiv. XXVII. -> Mein Archiv XXVII. S. 154: so treffen wie -> wir S. 155: einmal die Wandbebestandtheile -> Wandbestandtheile S. 156: Einfluss nicht läugnen -> leugnen S. 177: Klümpchen in Aggegrate -> Aggregate S. 182: Fig. 61, d. -> Fig. 61, _d_ S. 183: oder Unähnlickeit -> Unähnlichkeit S. 184: 67. _A_ -> 67. _A_. S. 187: =Fig=. 67 -> 69 S. 192: er in senien -> seinen S. 192: lässt sich die Möglickeit -> Möglichkeit S. 198: und des Easerstoffes -> Faserstoffes S. 201: Archiv. 1847. I. 563. -> Archiv 1847. I. 563. S. 202: Archiv. 1853. IV. 43 ff. -> Archiv 1853. IV. 43 ff. S. 204: Archiv. 1847. I. 567. -> Archiv 1847. I. 567. S. 206: Mein Archiv. 1853. Bd. V. -> Mein Archiv 1853. Bd. V. S. 209: bei den Lympdrüsen -> Lymphdrüsen S. 211: (Fig. 71, _B_, _c_) -> (Fig. 71, _B_, _c_). S. 218: Archiv. I. 242. -> Archiv I. 242. S. 222: Archiv. I. 182. -> Archiv I. 182. S. 227: Fig. 67. -> Fig. 67 S. 227: Fig. 69. -> Fig. 69 S. 239: (Fig. 79, B) -> (Fig. 79, _B_) S. 239: hineingelangen -> hineingelangen. S. 240: Fig. 63. _a_, 79. _C_ -> Fig. 63, _a_; 79, _C_ S. 240: Archiv. I. 245, -> Archiv I. 245, S. 247: Fig. 82. _c_ -> Fig. 82, _c_ S. 258: Archiv. I. 112. -> Archiv I. 112. S. 261: Inaug. Diss, Berlin 1869. -> Inaug. Diss. Berlin 1869. S. 263: Archiv. 1853. V. 85. -> Archiv 1853. V. 85. S. 264: =Fig= 85. -> =Fig=. 85. S. 264: Melanämie -> Melanämie. S. 266: Fig. 61 _h_ -> Fig. 61, _h_ S. 273: grössere Scheide _v_ -> _l_' S. 275: Fig. 87 _A_ -> Fig. 87, _A_ S. 278: Archiv. 1845. VI. 562. -> Archiv 1845. VI. 562. S. 280: oder contrifugale -> centrifugale S. 285: Fig. 92. -> Fig. 92 S. 297: liegen. _c_, _v_ -> _v_, _v_ S. 302: Fig. 97, _a_, _b_. -> Fig. 97, _a_, _b_ S. 308: Fig. 99. -> Fig. 99 S. 323: sich noch enie -> eine S. 353: bloss der Bewewegung -> Bewegung S. 354: Fig. 61 _e_-_h_ -> Fig. 61, _e_-_h_ S. 358: mit groser -> grosser S. 367: Berlin 1868. -> Berlin 1868.) S. 368: Fig. 79 _C_ -> Fig. 79, _C_ S. 398: der andere degegen -> dagegen S. 419: =Fig=. 117. -> =Fig=. 119. S. 420: die meisten Fettropfen -> Fetttropfen S. 427: der Stelle, we -> wo S. 428: Veränderung eingehen -> eingehen. S. 435: Fig. 103 _c a_ -> Fig. 103, _c a_ S. 454: des Skelets -> Skeletts S. 456: Verkalkung gewönlich -> gewöhnlich S. 460: Stadium der Brightischen -> Bright'schen S. 461: der Lösung socher -> solcher S. 470: so, dass dei -> bei S. 471: Theile aufteten -> auftreten S. 484: wiederholt eingangen -> eingegangen S. 487: permanente Bruststätte -> Brutstätte S. 490: Achiv VIII. -> Archiv VIII. S. 493: Archiv VIII -> Archiv VIII. S. 495: Blastem und Exudat -> Exsudat S. 497: Veranlassung, wesshalb -> weshalb S. 501: stellt die Kalbablagerung -> Kalkablagerung S. 502: in dem Maase -> Maasse S. 503: Blastem oder Exudat -> Exsudat S. 508: welche die rachtischen -> rachitischen S. 508: Fig. 137 _m_ -> Fig. 137, _m_ S. 519: =Fig= 142. -> =Fig=. 142. S. 522: an der compakten -> compacten S. 523: in der compakten -> compacten S. 530: =Pig=. 144. -> =Fig=. 144. S. 536: =Fig= 145. -> =Fig=. 145. S. 543: wachsen anfängt.. -> anfängt. S. 545: tuberkulösen und sebst -> selbst S. 555: sind, wslche -> welche S. 558: Spec. Pathol. u -> u. S. 569: gezeigt, dass -> dass das S. 577: Haemorrhagia -> Hæmorrhagia S. 580: und Induration -> Induration. End of Project Gutenberg's Die Cellularpathologie, by Rudolf Virchow *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE CELLULARPATHOLOGIE *** ***** This file should be named 44921-8.txt or 44921-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/4/9/2/44921/ Produced by Constanze Hofmann, Jens Nordmann and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (BioLib (www.biolib.de)) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. They may be modified and printed and given away--you may do practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. *** START: FULL LICENSE *** THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License (available with this file or online at http://gutenberg.org/license). Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works even without complying with the full terms of this agreement. See paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic works. See paragraph 1.E below. 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. If an individual work is in the public domain in the United States and you are located in the United States, we do not claim a right to prevent you from copying, distributing, performing, displaying or creating derivative works based on the work as long as all references to Project Gutenberg are removed. 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56475-8
The Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans Küchelgarten, by Nikolaj Gogol This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans Küchelgarten Briefwechsel II / Die Beichte des Dichters / Betrachtungen über die Heilige Liturgie / Jugendschriften / Fragmente / Hans Küchelgarten Author: Nikolaj Gogol Editor: Otto Buek Translator: Ullrich Steindorf Release Date: January 31, 2018 [EBook #56475] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 8: *** Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library Nikolaus Gogol Briefwechsel II Nikolaus Gogol Sämmtliche Werke In 8 Bänden Herausgegeben von Otto Buek Band 8 München und Leipzig bei Georg Müller 1914 Nikolaus Gogol Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden Zweiter Teil Hans Küchelgarten Deutsch von Ulrich Steindorff München und Leipzig bei Georg Müller 1914 An Arkadius Ossipowitsch Rosetti Neapel, im Jahre 1847. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für Ihren Brief und die zahlreichen Mitteilungen danken soll, die er enthält, liebster, bester Arkadij Ossipowitsch. Wenn ich häufiger das Glück hätte, solche Briefe zu erhalten, selbst wenn sie nicht von solch herzlicher Teilnahme und Liebe zu mir erfüllt wären, müßte ich schon längst viel klüger sein, als ich es jetzt bin. Aber was soll ich tun, wenn es mir durchaus nicht gelingen will, jemand in irgendeiner Weise davon zu überzeugen, daß ich wissen muß, was man über mich spricht, daß das die einzige Gelegenheit für mich ist, etwas zu lernen, kurz, daß es einen Menschen gibt, dem man die Wahrheit sagen muß, so hart und bitter sie auch sein mag, und für den selbst die harten und rohen Worte, wie sie nur dem Haß und der Lieblosigkeit entspringen, ein Bedürfnis sind? So war denn auch einer der Gründe, der mich dazu bestimmte, meine Briefe herauszugeben -- das Bedürfnis, zu lernen, und nicht etwa das -- andere zu belehren. Da man jedoch einen Russen nicht anders zum Reden veranlassen kann, als dadurch, daß man ihn erzürnt und ungeduldig macht, so habe ich beinahe mit Vorbedacht eine Reihe von Stellen in den Briefwechsel aufgenommen, die die Menschen durch ihren arroganten Ton verletzen und an ihrer empfindlichsten Stelle treffen mußten. Ich kann Ihnen allen Ernstes versichern: ich leide außerordentlich darunter, daß ich sehr viele Dinge nicht kenne, die ich unter allen Umständen kennen müßte; ich leide darunter, daß ich eigentlich gar nicht weiß, was heutzutage die Menschen aller Berufsarten, Ämter und aller Bildungsstufen in Rußland darstellen. Alles, was ich hierüber bisher unter einem ungeheuren Aufwand von Mühe ermitteln konnte, ist nicht ausreichend, wenn meine »Toten Seelen« das werden sollen, was sie eigentlich sein sollten. Das ist der Grund, weswegen ich so sehr danach dürste, zu erfahren, was die Menschen aller Klassen mit Einschluß der Bedienten und Lakaien über mein gegenwärtiges Buch sagen -- nicht eigentlich im Interesse meines Buches selbst, sondern weil sich der Beurteiler mit seinem Urteil über das Werk am besten charakterisiert. Aus einem solchen Urteil kann ich sofort entnehmen, was er selbst für ein Mensch ist, auf welchem Niveau geistiger Bildung er steht, wie es in seiner Seele aussieht, ob er von Natur ein schlichter und gütiger Mensch oder unwissend und korrumpiert ist. Mein Buch kann mir in gewisser Beziehung als Probierstein dienen, und glauben Sie mir, daß Sie es sich heutzutage an keinem anderen Buche so deutlich zum Bewußtsein bringen können, wie an diesem, was der Russe von heute für ein Mensch ist. Ich kann es nicht leugnen, ich hoffte auf einzelne Leute, die an gewissen Gebrechen leiden, einen wohltätigen Einfluß auszuüben, ich hatte erwartet, daß sich mehr Stimmen zu meinen Gunsten äußern würden, als das wirklich der Fall war, und es war bitter, ja sogar sehr bitter für mich, vieles mitanhören zu müssen. Aber wie danke ich Gott heute dafür, daß es gerade so und nicht anders gekommen ist! Ich sehe mich jetzt unwillkürlich genötigt, viel strenger gegen mich zu sein, ich habe jetzt die Möglichkeit, auch die Menschen weit besser und genauer kennen zu lernen, und bin endlich in der Lage, mir eine richtigere Ansicht von ihnen zu bilden. Was aber den Umstand betrifft, daß meine Persönlichkeit hierbei Schaden gelitten hat (ich muß es Ihnen gestehen; ich brenne noch heute vor Scham, wenn ich daran denke, wie anmaßend ich mich an vielen Stellen ausgedrückt habe: fast à la Chlestakow), so muß man doch immer Opfer bringen. Ich brauchte eine solche öffentliche Ohrfeige, ja ich hatte sie vielleicht nötiger als irgendein anderer. Aber es kommt darauf an, die Gelegenheit zu ergreifen und aus den Umständen Nutzen zu ziehen: Gott hat plötzlich einen ganzen Haufen von Schätzen vor mir ausgeschüttet, so daß ich mit beiden Händen danach greifen muß, wenn ich sie bergen will. Wenn Sie mir etwas wahrhaft Gutes tun wollen, etwas, dessen nur ein Christ fähig ist, dann lesen Sie diese Kostbarkeiten für mich auf, wo Sie sie immer finden mögen. Es wäre Ihnen ein leichtes, sich täglich etwa in Form eines Tagebuches ein paar Aufzeichnungen zu machen wie z. B. die folgenden: »Heute habe ich den und den, die und die Meinung äußern hören; über das Leben dieses Menschen ist folgendes bekannt, er hat einen solchen Charakter« (kurz, Sie könnten mir in flüchtigen Zügen ein Bild von ihm entwerfen). Ist dagegen nichts über ihn bekannt, so schreiben Sie: über sein Leben kann ich nichts in Erfahrung bringen, ich glaube aber, daß er das und das ist; äußerlich macht er einen guten und anständigen (oder unanständigen) Eindruck; er hält seine Hände so; schneuzt sich folgendermaßen; er schnupft Tabak und zwar in folgender Weise; kurz, Sie dürfen keinen Zug vergessen, der Ihnen ins Auge fällt, vielmehr sollen Sie jeden wichtigen ebenso wie jeden geringfügigen Umstand sorgfältig buchen. Glauben Sie mir, das ist keineswegs langweilig. Hierzu bedarf es weder eines bestimmten Planes, noch braucht es in einer bestimmten Ordnung und Reihenfolge zu geschehen: man wirft bloß zwei, drei Zeilen aufs Papier, ehe man daran geht, sich zu waschen. Ich bin sogar überzeugt, daß dies eine angenehme Beschäftigung für Sie sein wird, weil Sie stets das schöne Bewußtsein haben werden, daß Sie das für einen Menschen tun, der Sie inniglich liebt, und dem Sie damit eine Freude bereiten; eine so große Freude, wie sie ein Kind empfindet, das an einem Festtag sein Lieblingsspielzeug zum Geschenk erhält. Was soll ich machen, wenn dies Spielzeug -- das wenigstens von anderen Leuten nur für ein Spielzeug gehalten wird -- in meinen Augen nichts weniger als ein Spielzeug ist; es ist sogar so wenig ein Spielzeug, daß, wenn ich nicht genug von diesen Spielzeugen geschenkt bekomme, aus meinen »Toten Seelen« plötzlich statt lebendiger Menschen meine eigene Nase herausgucken kann und lauter Dinge zum Vorschein kommen können, wie Sie sie in meinem Buche gefunden und die Ihnen so mißfallen haben. Glauben Sie mir: wenn dies Buch nicht erschienen wäre, hätte ich nie jene kunstlose Einfachheit erreicht, die unbedingt in allen weiteren Teilen der »Toten Seelen« herrschen muß, wenn sie jedermann für einen treuen Spiegel des Lebens und nicht für eine Karikatur halten soll. Sie wissen nicht, welch großen Umweg man machen muß, um sich diese Einfachheit anzueignen. Sie wissen nicht, wie hoch diese schlichte Einfachheit steht. Man tut besser, hierüber gar nicht erst zu reden, helfen Sie mir -- das ist alles, was ich zu sagen vermag. Was nun die Veröffentlichung meiner Briefe anbetrifft, so habe ich folgendes beschlossen. Wegen der inhibierten Briefe einen neuen Band herauszugeben -- ist mir unmöglich. Ich habe noch andere Arbeiten vor, die nicht vergessen werden dürfen, und über meine ganze Zeit habe ich schon disponiert; zudem würde ein ganz ähnliches Werk nicht einmal Aufsehen erregen. Ich möchte nur, daß Wjasemski seine Bemerkungen dazu macht und gewisse Korrekturen vornimmt. Dann will ich die Briefe noch einmal durchsehen und verbessern, so daß selbst der schlichteste Zensor, auch ohne daß sie vor eine höhere Instanz zu gelangen brauchten, die Herausgabe gestattet. Glauben Sie mir, man kann alles sagen, wenn man es nur verständig auszudrücken versteht. Der Mißerfolg der besten und hochherzigsten Unternehmungen rührt meist von unserer Ungeschicklichkeit her -- da wir gewöhnlich vergessen, an die kluge Redensart zu denken: »Man muß Wasser in seinen Wein gießen« (Nimm dieselbe Kohlsuppe, aber verdünne sie erst ein wenig). Wenn wir -- statt mit großer Sicherheit und hochmütiger Miene Ratschläge zu erteilen, die wir in dem Tone eines Menschen vorbringen, dem es nie in den Sinn kommt, daß er sich irren könnte -- schlicht und bescheiden unsere Meinung vortragen, können wir sicher sein, daß unsere Gedanken von vielen Lesern beifällig aufgenommen und weiterverbreitet werden. Kurz, was nicht hineingehört, mag fortfallen, das Kluge und Gescheite wird einen anderen Ausdruck finden; wo sich meine eigene Person in aufdringlicher Weise vordrängt, da soll sie nicht nur eins auf die Nase bekommen, sondern da lasse ich auch noch eine solche Stelle einschieben, durch die die vorhergehenden schon gedruckten Sätze einen maßvolleren Ton erhalten. Jedenfalls aber sollen diese Briefe mit in das Buch aufgenommen und nicht besonders veröffentlicht werden. Sie werden dem Buche trotzdem eine höhere Bedeutung verleihen und die Menschen in Rußland an _Rußland_ erinnern und nicht an mich. Dieses Buch darf nicht zum alten Eisen geworfen werden. Obwohl es große Mängel hat, -- es ist nicht auf kurze flüchtige Eindrücke berechnet. Man muß es mehrmals lesen, und das gilt nicht nur für die, die es überhaupt nicht verstanden, sondern auch für die, die es besser verstanden haben als die anderen. In diesem Buche liegen noch Geheimnisse der Seele verborgen, die nicht sofort ergründet werden können. Vieles wird selbst von sehr klugen Leuten gar nicht in dem Sinne genommen, den ich zum Ausdruck bringen wollte. Es wäre sehr schön, wenn die vollständige Ausgabe im September erscheinen könnte. Das Buch wird gekauft werden, man kann nämlich noch einiges hinzufügen, was dazu beitragen könnte, den Leuten (bis zu einem gewissen Grade) eine richtige Ansicht davon beizubringen. Geben Sie diesen Brief auch Pletnew zu lesen. Sie danken mir dafür, daß ich Ihnen (durch die Bemühungen um mein Buch) Gelegenheit gegeben habe, Pletnews herrliche Seele näher kennen zu lernen. Und ich danke Ihnen gleichfalls dafür, daß Sie mir einige Mitteilungen über ihn zukommen ließen, um derentwillen ich ihn heute noch weit mehr liebe und seine Freundschaft noch weit höher schätze als je zuvor. Diese Freundschaft hat mir Gott geschenkt, gleich einem schönen milden Trost, dessen ich in diesen Zeiten so sehr bedarf. Ich kann nicht sagen, mit welcher Freude ich ihn jetzt umarmen, was ich dafür geben würde, wenn ich ihn jetzt sehen, persönlich mit ihm sprechen und ihn an meine Brust drücken könnte. Doch nun umarme ich ihn und Sie aufs herzlichste, mein unschätzbarer Arkadij Ossipowitsch; und indem ich Ihnen vielmals für Ihre lieben Zeilen danke, bleibe ich Ihr Gogol. _P. S._ Ich begreife nicht, warum bisher noch keines von den Büchern eingetroffen ist, die, wie Sie sagen, an mich abgesandt worden sind. Alle andern erhalten durch den Kurier die schönsten Sachen zugestellt; sogar Buchweizengrütze, Wjisiga[1] und Kaviar zu Fischpasteten; nur ich erhalte nichts, nicht einmal ein Zeitungsblättchen. Vergessen Sie nicht, mir den Empfang dieses Briefes zu bestätigen. Senden Sie bitte von nun ab alles nach Frankfurt an Schukowski und zwar senden Sie es durch unsere Botschaft an ihn. [Fußnote 1: Getrocknete Rückensehne vom Stör, die in Rußland zur Füllung von Backwerk verwendet wird. Anm. d. Hersg.] Über den »Zeitgenossen« (Sowremennik) Ein Brief an P. A. Pletnew Den 4. Dez. 1846. Endlich komme ich dazu, mit dir über den »Zeitgenossen« zu sprechen. »Der Zeitgenosse« war eine schlechte Zeitschrift trotz des vortrefflichen Ziels, das du mit ihm im Auge hattest. Selbst dieses schöne Ziel, um dessentwillen du ihn gegründet hast, war aus der Zeitschrift für niemand klar und deutlich zu erkennen; im Gegenteil, alle Leute fragten betroffen: »Erklären Sie mir bitte, warum und zu welchem Zwecke gibt Pletnew seine Zeitschrift heraus? Was will er damit sagen? Was wollen diese Gemeinplätze in seinem Programm bedeuten, diese vielen Wiederholungen über Unparteilichkeit, seine uneigennützige Liebe zur Kunst, sein Streben nach Wahrheit usw., diese Versprechungen, die jeder Journalist macht und doch keiner hält?« Der magere Inhalt dieser dünnen Büchlein, der leblose, gleichgültige, matte, verwaschene Stil, in dem seine Urteile über alles Moderne gehalten sind, gibt allen ein Rätsel auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«? Wir wollen ganz offen miteinander sein. Dir fehlt die journalistische Begabung: weder besitzt du genug lebendige jugendliche Begeisterung für alle modernen Bewegungen, noch jene gespannte Neugierde für alle Fragen, die die große Masse unserer Gesellschaft beschäftigen, noch endlich jenen enzyklopädischen Wissensdrang, jenes Streben, alles mit dem gleichen Interesse zu umfassen, was sich auf den Fortschritt des menschlichen Wissens auf allen Gebieten bezieht. Deiner anthologischen Seele ward nur eine hohe Gabe zuteil -- sich an dem Wohlgeruch der herrlichen Blüten, die im Garten der Poesie wachsen, zu ergötzen und die höchsten Regungen der Menschenseele zu verstehen. Der Sänger des »Münnich« und einiger anderer schöner Elegien, die von der Reinheit des Geschmacks und der stillen bescheidenen Seele des Dichters zeugen, hätte die polemische Arena meiden sollen. »Der Zeitgenosse« war selbst unter Puschkin nicht das, was eine rechte Zeitschrift sein soll, obwohl sich Puschkin ein viel positiveres und leichter zu verwirklichendes Ziel gesteckt hatte. Er wollte eine Vierteljahrsschrift nach Art der englischen Zeitschriften schaffen, in der durchdachtere und gründlichere Abhandlungen zum Abdruck kommen sollten als in den Wochen- und Monatsschriften, wo die Mitarbeiter zur Eile gedrängt werden und nicht einmal soviel Zeit haben, das, was sie selbst geschrieben haben, noch einmal durchzusehen. Übrigens war sein Wunsch, eine solche Zeitschrift herauszugeben, nicht allzu lebhaft, und er selbst versprach sich nicht viel Nutzen davon. Als er die Erlaubnis zur Herausgabe der Zeitschrift erhielt, wollte er zuerst sogar zurücktreten. Die ganze Schuld fällt auf mich: ich flehte ihn an, seinen Plan doch auszuführen. Ich versprach ihm meine dauernde Mitarbeit. In meinen Aufsätzen fand er vieles, was einer periodischen Zeitschrift einen lebendigen journalistischen Charakter verleihen konnte, woran es ihm selbst seiner Meinung nach mangelte. Er hatte zu jener Zeit tatsächlich eine solche Reife erlangt und stand schon zu hoch, als daß er noch ein solch jugendliches Gefühl in sich hätte bergen können: meine Seele aber war damals noch jung; ich konnte mir damals noch vieles stark zu Herzen nehmen, was ihn kalt ließ. Mein hartnäckiges Zureden und mein Versprechen, tätig mitzuwirken, überzeugte ihn; aber ich hätte mein Wort doch nicht halten können, selbst wenn er am Leben geblieben wäre. Ich wußte noch nicht, welche Wege mich die Vorsehung führen würde, ich wußte nicht, daß ich einmal alle Kräfte und Fähigkeiten für jede lebendige literarische Betätigung verlieren und lange Zeit für alles absterben würde, was den Menschen von heute bewegt. Nach Puschkins Tode widmetest du dich, aufs tiefste erschüttert durch diesen für alle so schmerzlichen Verlust, der für dich noch weit schmerzlicher war als für alle anderen, mit Eifer der Herausgabe der Zeitschrift. Die Erkenntnis, daß die moderne Gesellschaft verwaist und des Lichts der Poesie beraubt zurückgeblieben und dazu verurteilt sein sollte, nichts wie törichte und unfruchtbare Diskussionen und Streitereien über die Kunst anzuhören, statt sich an den Werken der Kunst _selbst_ zu erfreuen, machte einen starken Eindruck auf dich; und tief betrübt über diese Vereinsamung und Leere, die sich übrigens schon zu Puschkins Zeiten der Gesellschaft bemächtigt hatte, übernahmst du die Redaktion und nun wolltest du mit Gewalt jenes poetische Hellas errichten, das zu Beginn der Puschkinschen Ära ganz von selbst emporgeblüht war. Im Eifer deiner hochherzigen Begeisterung vergaßt du sogar, daß nicht wir die Dinge und die Ereignisse lenken, sondern daß eine höhere Macht jedem Ding seinen Platz anweist. Du merktest nicht einmal, daß du ein Ziel im Auge hattest, das sich durch die Herausgabe periodisch erscheinender Monatsschriften nie und auf keine Weise erreichen ließ. »Der Zeitgenosse« hätte als Zeitschrift nicht einmal dann einen Erfolg gehabt, wenn du alle Eigenschaften eines guten Journalisten in dir vereinigt hättest. Ich muß gestehen, ich kann es mir nicht einmal vorstellen, was das Erscheinen einer neuen Zeitschrift zu einer Notwendigkeit für unsere Epoche machen sollte. Eine solche enzyklopädische Heranbildung und Erziehung des Publikums mit Hilfe einer Zeitschrift ist heute bei weitem kein so dringendes Bedürfnis mehr wie früher. Das Publikum ist schon weit besser vorbereitet. Heute drängt uns alles zu einem konzentrierten Studium; nicht nur die Bedeutsamkeit der modernen Probleme, nein selbst die Hohlheit der modernen Gesellschaft und die oberflächliche Leichtfertigkeit, mit der sie ihre Angelegenheiten behandelt, scheinen den Menschen von heute dazu aufzufordern, strenge Einkehr in sich selbst zu halten, seine Kräfte und seine Fähigkeiten genauer zu prüfen und sich eine Aufgabe, ein Ziel zu wählen, und zwar kein flüchtiges Augenblicksziel, sondern eine lebensvolle, reiche und große Aufgabe, die allein den Fähigkeiten entspricht, die jedem von uns je nach seiner Wesensart schon bei seiner Geburt geschenkt wurden. Keine einzige Zeitschrift vermag heute dem Publikum eine wirklich nahrhafte und substantielle Kost vorzusetzen. »Der Zeitgenosse« sollte gänzlich auf den Namen einer Zeitschrift verzichten; statt in Heftform sollte er wie ehedem in gedrängter Buchform erscheinen und noch mehr als zu Puschkins Zeiten den Charakter eines Almanachs annehmen; er sollte eher etwas Ähnliches darstellen wie die »Blumen des Nordens« des Barons _Delwig_, dem du durch dein Verständnis für den Wohllaut der Poesie und deine Fähigkeit, dich an ihr zu erfreuen und sie intensiv zu genießen, so sehr gleichst. Es ist weit besser, er erscheint bloß dreimal im Jahr zu ganz bestimmten Terminen: das erstemal zu Ostern, als eine heitere Festgabe, das zweitemal zum ersten Oktober, d. h. zu einer Zeit, wo bei uns alles vom Lande und aus der Sommerfrische in den Städten zusammenströmt, und das drittemal zu Neujahr; kurz -- er sollte stets gerade zu solchen Zeiten erscheinen, wo sich alles mit dem größten Heißhunger auf ein neues Buch stürzt. Alles, was im eigentlichen Sinne dieses Worts den Charakter der Journallektüre trägt, muß wegbleiben: alle Berichte über Tagesneuigkeiten, jegliche politischen Nachrichten oder Anzeigen sämtlicher neuen Bücher; höchstens darf der Band einen ernsten kritischen Bericht über die bedeutsamsten Werke enthalten, die während eines Jahrdrittels erschienen sind, und zwar nur einen solchen Bericht, der selbst einen bedeutsamen literarischen Aufsatz darstellt. Der Leser darf nie daran erinnert werden, daß es irgendwelche Streitigkeiten und Parteiungen in der Literatur und daß es etwas wie eine Zeitschriftenpolemik gibt. Nur ganz konzentrierte Artikel, die eine Frage allseitig behandeln und keinerlei Ähnlichkeit mit den übereilten hastigen und fragmentarischen Produkten unserer Zeitschriftenliteratur haben, dürfen aufgenommen werden. Nur die schönsten Blüten unserer modernen literarischen Produktion dürfen hier vereinigt sein. Das aber läßt sich nur in einer Zeitschrift erreichen, die nicht mehr als dreimal jährlich zur Ausgabe gelangt: denn in drei Monaten kann man ganz gut ein Buch zusammenstellen. Unserer Zeit mangelt es Gott sei Dank nicht an Talenten. Der prosaische Teil des Jahrbuchs kann heute viel bedeutsamer und reichhaltiger gestaltet werden als früher. Ich will hier ausdrücklich _die_ modernen Schriftsteller anführen, deren Aufsätze unserm »Zeitgenossen« zur Zierde gereichen würden. Vor allem müssen wir da den Grafen _Sollogub_ nennen, der heute ohne allen Zweifel unser bester Erzähler ist. Niemand darf sich heute einer solchen korrekten, gewandten und eleganten Sprache rühmen wie er. Sein Stil ist treffend, jeder seiner Ausdrücke und jede seiner Wendungen ist prägnant und von einem feinen Anstandsgefühl erfüllt. Er hat einen großen Scharfsinn, Beobachtungsgabe und ist über alles unterrichtet, was heute unsere höheren Gesellschaftskreise beschäftigt. Nur eins mangelt ihm: die Seele dieses Dichters hat sich noch nicht mit einem strengeren ernsteren Inhalt erfüllt, und er ist durch seine inneren Erlebnisse noch nicht darauf hingeführt worden, sich eine ernstere und klarere Ansicht vom Leben zu erwerben. Käme noch solch ein innerliches Erlebnis bei ihm hinzu, dann könnte er ein treuer Schilderer unserer besten Gesellschaftskreise werden; seine Werke würden um mehr als hundert Prozent an Bedeutsamkeit gewinnen. -- Gleich nach ihm müssen wir einen anderen Schriftsteller nennen, der sich unter dem fingierten Namen: _Kosak Luganski_ verbirgt. Er ist kein Poet, ihm fehlt die Erfindungsgabe, ja er hat nicht einmal den Wunsch, wahrhaft produktive Schöpfungen hervorzubringen: er sieht stets nur die Sache und betrachtet jedes Ding rein sachlich. Ein starker, durchaus solider Verstand spricht aus jedem seiner Worte, und eine scharfe Beobachtungsgabe und ein angeborener Scharfsinn verleihen seinem Stil eine große Lebendigkeit. Bei ihm ist alles wahr und unmittelbar aus der Natur geschöpft. Er braucht keinen Knoten zu schürzen und ihn dann wieder zu lösen, worüber sich die Romanschreiber so sehr die Köpfe zerbrechen, er braucht nur irgendeine Begebenheit herauszugreifen, die sich in russischen Landen ereignet hat, einen beliebigen Vorgang, den er miterlebt hat und dessen Augenzeuge er war, um daraus eine äußerst interessante Erzählung zu gestalten. Meiner Ansicht nach ist er weit bedeutender als sämtliche Erzähler von großer Erfindungsgabe. Vielleicht bin ich parteiisch in meinem Urteil, weil dieser Schriftsteller mehr als irgendein anderer meinem persönlichen Geschmack und den eigentümlichen persönlichen Forderungen, die ich an einen Erzähler stelle, entgegenkommt; aus jeder Zeile von ihm schöpfe ich Belehrung und neue Kenntnisse, da sie mich das russische Leben und das Wesen unseres Volkes besser kennen lehren; jedoch was mir wohl jeder zugeben wird, ist dies, daß ein solcher Schriftsteller uns allen gerade jetzt sehr nützlich sein kann, ja daß er eine Notwendigkeit für uns ist. Seine Werke sind ein lebendiger und getreuer statistischer Bericht über Rußland. Alles, was er aus seinem umfassenden Gedächtnis schöpft und was er uns in seiner wahrheitsgetreuen Sprache erzählt, wird ein wertvoller Beitrag für deinen Almanach sein. Ich weiß nicht, warum _N. Pawlow_ so gänzlich verstummt ist, ein Schriftsteller, der sich durch seine drei ersten Erzählungen sofort ein Anrecht auf einen Ehrenplatz unter unseren Prosaschriftstellern erworben und sich bloß dadurch geschadet bat, daß er es vorzog, nicht mehr _er selbst_ zu sein, sondern auf den Einfall kam, (in seinen drei neuen Erzählungen) jene neuen Novellisten nachzuahmen, die doch so viel tiefer stehen als er. Er brauchte nur, ohne zu irgendwelchen gewaltsamen poetischen Einfällen oder zu künstlichen mosaikartigen Ausschmückungen des Stils, die seine klare edle Sprache so verunstalten, seine Zuflucht zu nehmen, er brauchte statt dessen nur aufs Geratewohl ein beliebiges psychologisches Phänomen unserer Gesellschaft herauszugreifen und es in seiner treffenden und gescheiten Art wiederzuerzählen, um eine Novelle mit allen Eigenschaften jener strengen klassischen Schöpfungen zu schaffen, die zu den ewigen Vorbildern der Literatur gehören. Mancherlei Vorzüge hat meiner Ansicht nach auch ein Schriftsteller, dessen Werke unter dem Namen _Kulisch_ erscheinen. Sein blühender Stil und seine große Kenntnis der Sitten und Bräuche Kleinrußlands sprechen dafür, daß er ganz vorzüglich dafür geeignet wäre, eine Geschichte dieses Landes abzufassen. Auch hätte er sicherlich in noch höherem Grade die Befähigung, frische und lebensvolle Aufsätze für den Almanach zu schreiben und uns schlicht und einfach von den Sitten und Bräuchen der alten Zeiten zu erzählen, ohne diese Schilderungen in den Rahmen einer Novelle oder einer dramatischen Erzählung hineinzustellen, ganz ähnlich wie uns einstmals _Kornilowitsch_ von dem Zeitalter Peters und von der vorhergehenden Epoche erzählt hat. Sein Roman hat recht interessante Partien, als Ganzes ist er jedoch matt und langweilig; die kostbaren Perlen: sein großes historisches Wissen, die gediegenen Kenntnisse, die über alle Seiten des Werkes verstreut sind, gehen gänzlich verloren, ohne irgendeinen Nutzen zu bringen. Man hat mir gesagt, daß die _Novelle_ bei uns in der letzten Zeit im allgemeinen einen großen Erfolg habe und daß einige junge Schriftsteller eine besondere Neigung zur Beobachtung des wirklichen realen Lebens an den Tag legten. In den Werken, die ich zu lesen Gelegenheit hatte, konnte ich in der Tat eine ähnliche Tendenz konstatieren, obwohl der Aufbau dieser Novellen mir außerordentlich primitiv und ungeschickt vorkam; die Form der Erzählung erschien mir übertrieben und allzu wortreich, und dem Stil mangelte es an der rechten Einfachheit. Aber ich bin überzeugt: wenn in jedem dieser Schriftsteller erst einmal der Mensch, die Persönlichkeit -- und zwar noch vor dem Schriftsteller -- zum Durchbruch gekommen ist -- daß sich dann alles andere ganz von selbst ergeben, daß jeder von ihnen eine starke schriftstellerische Eigenart bekunden, und daß keiner dieser Fehler mehr an ihnen zu bemerken sein wird. Ich muß hier noch _des_ Schriftstellers gedenken, der seine literarische Wirksamkeit mit dem Drama »_Der Tod Ljapunows_« begonnen hat. Diesem Drama fehlt es im Aufbau des Ganzen zwar noch an der vollen szenentechnischen und dramatischen Reife, über die nur ein erfahrener Bühnenschriftsteller verfügt, allein es besitzt viele Vorzüge, die in seinem Schöpfer einen Schriftsteller von hervorragender Bedeutung ahnen lassen. Das Vergangene so lebendig miterleben und in einer so lebensvollen Sprache von ihr künden zu können -- das ist eine große Gabe! An seiner Stelle würde ich mich förmlich in die alten Chroniken vergraben, mich ganz an ihnen festsaugen und diese Lektüre keinen Augenblick im Stiche lassen. Ihnen könnte er viele herrliche Stoffe entnehmen. Wer weiß, vielleicht würde ihn eine solche Lektüre auf den vortrefflichen Gedanken bringen, eine wahrheitsgetreue Geschichte der Zeit zu schreiben, die sein Interesse am meisten fesseln würde. Ein echt historisches Werk, aus der Feder eines Schriftstellers, der sich so stark in die historischen Charaktere einzufühlen vermag, ein Werk, das so lebendig und farbig geschrieben ist, ist weit wertvoller als alle historischen Dramen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch etwas von den jungen Schriftstellern sagen, die ihre Laufbahn erst beginnen. Ich wünschte, du suchtest _Prokopowitsch_ auf und könntest ihn dazu veranlassen, doch zur Feder zu greifen und sich im erzählenden Genre zu versuchen. Von allen denen, die mit mir zusammen die Schule besucht haben und zu gleicher Zeit mit mir zu schreiben begannen, zeigte er weit früher als alle anderen ein großes Talent für eine anschauliche Darstellungsweise, getreue Lebensschilderung und eine starke Beobachtungsgabe. Seine Prosa hatte etwas Munteres und Freies; alles kam bei ihm ungezwungen heraus und strömte ihm in reicher Fülle zu; alles gelang ihm ohne große Anstrengung, aus allem schien hervorzugehen, daß er einmal ein äußerst fruchtbarer Romanschriftsteller werden würde. Ich weiß wohl, er ist heute verstummt, er hat den Drang nach einer ausgebreiteten freien Tätigkeit in sich einschlafen lassen, sein Wirkungskreis hat sich verengt, und es liegt kaum noch ein weites Feld für die Beobachtung des Lebens vor ihm. Aber das Leben bleibt überall das gleiche Leben, und je geringer der Raum, je enger der Kreis ist, in dem es sich ausbreiten kann, um so gründlicher und tiefer können wir gerade dies Stück Leben erforschen und durchdringen. Sogar die Geschichte unserer Seele, die unser Erwachen aus einer totenähnlichen Erstarrung zum Gegenstand hat, ein Erwachen, angesichts dessen der Mensch mit Entsetzen auf sein in so tierischer Weise vergeudetes Leben zurückblickt, kann einen herrlichen Stoff für einen Roman abgeben ... Was für ein Festtag wäre das für meine Seele, wenn ich einmal im »Zeitgenossen« eine Novelle fände, unter der sein Name stünde! Was endlich mich selbst angeht, so kann ich nach wie vor kein fleißiger und eifriger Mitarbeiter an deinem »Zeitgenossen« sein. Du hast schon selbst bemerkt, daß man mich nicht einen Schriftsteller im strengen klassischen Sinne nennen kann. Von all den jungen Leuten, die zugleich mit mir und noch während unserer Schulzeit zu schriftstellern begannen, zeigte ich in weit geringerem Grade als alle anderen jene Fähigkeiten, die die notwendigen Vorbedingungen jedes literarischen Schaffens sind. Ich will dir gestehen, daß selbst in meinen frühsten Projekten und in meinen Träumen von einer künftigen Tätigkeit nie der Gedanke an die Schriftstellerlaufbahn auftauchte. Ich wurde fast wie durch einen Zufall darauf gestoßen. Ich hatte einige Beobachtungen über einzelne Seiten des Lebens gemacht, deren ich für meine inneren geistigen Angelegenheiten bedurfte, die mich von jeher aufs lebhafteste beschäftigten, und _sie_ gaben den Anlaß dazu, daß ich zur Feder griff und beschloß, dem Leser voreilig alles das mitzuteilen, was ich ihm erst später, d. h. nach Vollendung meiner eigenen Erziehung hätte mitteilen sollen. Ich mußte mir alles unter großen Mühen erringen, was einem geborenen Schriftsteller mühelos zuteil wird. Bis auf den heutigen Tag will es mir nicht gelingen, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, die rechte Form für meine Sprache und meinen Stil, diese beiden wichtigsten Werkzeuge jedes Schriftstellers, zu finden: bis auf den heutigen Tag sind beide noch so ganz roh und formlos, wie bei keinem Schriftsteller, nicht einmal bei einem von den schlechten, so daß selbst ein Anfänger, ein Schuljunge das Recht hat, sich über mich lustig zu machen. Alles, was ich geschrieben habe, ist nur von psychologischer Bedeutung, kann aber nie als Muster schöner Literatur in Betracht kommen, und ein Lehrer würde sehr unvorsichtig handeln, wenn er seinen Schülern den Rat geben wollte, bei mir zu lernen, wie man schreiben oder wie man die Natur schildern muß: er würde sie dazu anhalten, Karikaturen zu zeichnen. Den Beweis dafür kannst du bei einzelnen jungen und unerfahrenen Nachahmern meiner Manier finden, die gerade durch die Nachahmung weit unter das Niveau ihres eigenen Könnens herabgesunken sind und ihre Selbständigkeit und Eigenart verloren haben. Ich habe nie den Wunsch gehabt, ein Spiegel der Dinge zu sein und die uns umgebende Wirklichkeit, ganz so wie sie ist, in mir widerzuspiegeln -- ein Streben, von dem ein Dichter während seines ganzen Lebens gespornt wird und das nur mit seinem eigenen Tode zur Ruhe kommt. Ich kann auch heute nur von solchen Dingen reden, die in einer nahen Beziehung zu meiner Seele stehen. Wenn ich also einmal das Gefühl habe, daß jemand meiner offenherzigen aufrichtigen Meinung bedarf und daß meine Worte einer Menschenseele den inneren Frieden zu geben vermögen, dann sollst du einen Aufsatz von mir für deinen »Zeitgenossen« erhalten; wenn nicht -- so wirst du keinen bekommen, und deswegen darfst du mir nicht zürnen. Ich habe hier auch keinen von unseren heutigen Prosaschriftstellern erwähnt, die teils selbst mit der Herausgabe von Zeitschriften beschäftigt sind, teils an Schöpfungen abstrakteren Charakters arbeiten, die ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, Schriftsteller, die weder die Möglichkeit noch Muße genug haben, an deinem »Zeitgenossen« mitzuarbeiten. -- Diese sollst du gar nicht erst bemühen. Bei dieser Gelegenheit muß ich dich ein wenig ausschelten. Du bist im Unrecht, wenn du vielen Literaten Verständnislosigkeit und mangelnde Teilnahme für deine Zeitschrift vorgeworfen und dies auf ihre Gleichgültigkeit gegen die gemeinsame Sache, ihre mangelnde Liebe zur Kunst, ihre Geldgier usw. zurückgeführt hast. Ein jeder Mensch ist mit irgendeiner eigenen inneren Angelegenheit beschäftigt; in der Seele eines jeden geht etwas vor, gibt es Erlebnisse, die ihn von der Mitarbeit an der allgemeinen, gemeinsamen Sache abziehen; und man kann absolut nicht verlangen, daß ein anderer sein eigenes Interesse einem Lieblingsgedanken von uns und unseren Zielen zum Opfer bringen soll, denen wir nachzustreben entschlossen sind. Gott weist jeglichem seinen Weg an, der immer ein ganz anderer ist wie der, den ein anderer Mensch zurücklegen muß, und man darf nicht alle Menschen mit derselben Elle messen. Daher mußt du selbst die ablehnende Antwort und die Weigerung eines Menschen respektieren, auch dann noch, wenn er den Grund nicht angeben will, weshalb er keinen Beitrag für den »Zeitgenossen« zu liefern vermag. Sei zufrieden mit dem, was man dir gibt. Wenn bloß die von mir namhaft gemachten Autoren dir Beiträge liefern werden, so würde dies allein schon vollauf genügen. Aber ich weiß, daß auch noch andere, die ich nicht genannt habe, dir welche zur Verfügung stellen werden. Im Gegensatz zu den Menschen, die heute über einen Mangel an talentvollen Schriftstellern klagen, finde ich, daß es gegenwärtig weit mehr Talente gibt als je zuvor. Sie haben nur ihren Weg noch nicht gefunden. Keiner von ihnen hat es bisher verstanden, _er selbst_ zu sein, und das ist der Grund, warum man sie nicht bemerkt; indessen viele von ihnen werden schon von diesem Wunsch gequält, obwohl sie noch nicht wissen, wie sie ihn befriedigen sollen. Das Streben, seine eigene Bestimmung kennen zu lernen, ist heutzutage der wunde Punkt, an dem viele begabte Leute kranken. Das ist der wahre eigentliche Grund der Trägheit und Tatenlosigkeit auf literarischem Gebiet. Der poetische Teil des »Zeitgenossen« kann gleichfalls sehr reichhaltig gestaltet werden, trotzdem im heutigen Publikum der Geschmack an der Poesie erloschen zu sein scheint; Gott sei Dank lebt der Patriarch unserer Poesie noch, -- noch hat uns der Himmel ja _Schukowski_ erhalten. Zum Dank für sein reines, makelloses Leben darf _er_ sich allein unter uns allen noch im Greisenalter einer wahren Jugendfrische erfreuen und jugendliche Kraft zu neuen poetischen Taten in sich fühlen. Seine jetzigen Arbeiten sind weit ernster und bedeutsamer als seine früheren. Man darf ihn nicht nach jenen Verserzählungen und Märchen beurteilen, die in der letzten Zeit im »Zeitgenossen« zum Abdruck gekommen sind. Sie konnten und sollten auch keinen Eindruck auf das Publikum machen, und es ist kein Wunder, daß das Publikum, das jedes neue Werk an seinen eigenen geistigen Bedürfnissen mißt und in ihm eine Antwort auf sein unruhiges Fragen und Sehnen sucht, diese Gedichte für eine »_Kinderei_« von Schukowski erklärt hat. Sie waren tatsächlich für kleine Kinder geschrieben. Diese Märchen und Erzählungen hätten in Form eines besonderen Buches unter dem Titel _»Eine Gabe für die Kinder« von Schukowski_, erscheinen sollen. Es war ein Fehler von ihm, sie einer Zeitschrift einzusenden. Ich habe ihm dies schon damals gesagt und ihm geraten, entweder gar nichts oder doch nur etwas einzusenden, was dem Empfinden eines erwachsenen Menschen entspricht. Jetzt aber weiß ich, daß er dir für den Almanach einige von den Perlen überlassen wird, die tief im Inneren seiner Seele gereift sind, in der sich während der letzten Zeit soviel Herrliches ereignet hat. Noch leben Gott sei Dank zwei andere von unseren erstklassigen Dichtern: Fürst Wjasemski und Jasykow. Sie können den »Zeitgenossen« mit neuen Tönen bereichern, wie man sie von ihnen noch nicht vernommen hat -- mit Tönen, die aus einem gequälten, gepreßten Herzen hervorströmen, mit Liedern, die aus der Seele selbst kommen, einer Seele, die sich bereits mit dem strengen Gehalt der Poesie erfüllt hat. Die jüngeren von unseren Dichtern, die erst in jüngster Zeit aufgetreten sind und die ich hier nicht mit Namen nenne, haben zwar bisher nur eine gewisse Begabung für eine wohllautende, leichte und elegante Verskunst an den Tag gelegt, aber noch nicht gezeigt, daß sie echte und wahre Gefühle besitzen, allein auch sie können poetische Saiten anschlagen, die unserem Empfinden näher liegen. Die Poesie ist die reine Manifestation, die Offenbarung der Seele und nicht ein künstliches Erzeugnis oder Produkt des menschlichen Wollens; die Poesie ist die Wahrheit der Seele und kann daher allen in gleicher Weise zugänglich und verständlich sein. Die Schöpferkraft, die Dichtergabe ist eine sehr hohe Gabe und wird nur den universellen Genies verliehen, die nur ganz selten auf der Erde erscheinen; für einen anderen ist es gefährlich, diesen Weg zu betreten. Selbst von den erstklassigen Talenten sanken viele unter ihr eigenes Niveau herab, wenn sie sich in die Sphäre der reinen Erdichtung wagten, während sogar geringe Talente sich hoch über sich selbst erhoben, wenn sie durch ihre eigenen seelischen Erlebnisse dazu veranlaßt wurden, lediglich die reine nackte Wahrheit ihres geistigen Erlebens darzustellen. Die Zeit rückt immer näher, wo der Drang nach einer inneren Seelenbeichte immer lebhafter und lebhafter werden wird. Selbst die, die nicht einmal daran denken, daß sie Dichter sein könnten, werden Töne wahrer Poesie erklingen lassen; viele herrliche Blumen, viele kostbare Schätze werden dir von allen Seiten für deinen »Zeitgenossen« zufließen. Du selbst, der du die Leier schon längst beiseitegelegt und vergessen, der du es schon lange nicht mehr versucht hast, ihr einen Ton zu entlocken, du selbst wirst von neuem zu ihr greifen. Du hast doch sicherlich in dieser Zeit auch nicht wenig schmerzliche Augenblicke und manchen Kummer erlebt, von dem niemand etwas erfahren hat; auch _deine_ Seele wurde sicherlich von dem Verlangen verzehrt, sich jemand mitzuteilen und sich auszusprechen, sie hat sicherlich nach einem Freunde gesucht, der Verständnis für all ihre Bitternisse hätte; da sie ihn nicht finden konnte, hat sie sich sicherlich an jenes uns allen verwandte und vertraute Wesen gewandt, das es allein versteht, den Trauernden und Bekümmerten liebevoll an seinen Busen zu ziehen, jenes Wesen, an das sich schließlich alles wendet, was da lebt. Nun denn, so denke an alle diese Augenblicke, sowohl an die des Kummers, wie an die der höheren Tröstung, die auf dich herabgesandt wurde; nun denn, so finde einen Ausdruck für sie, stelle sie recht und wahrhaft dar, wie du sie erlebt hast. Die Tränen der Rührung und die innigsten Gefühle eines dankbaren Herzens werden dir dabei zu Hilfe kommen und es dir ermöglichen, sie mit solcher Kraft zum Ausdruck zu bringen, wie dies selbst ein großer, alle Zauberkünste der Dichtung beherrschender Poet, der jedoch den wahren Schmerz noch nicht kennen gelernt hat, nie vermöchte. Dann wird der »Zeitgenosse« seinen Namen rechtfertigen, aber freilich in einem anderen -- höheren Sinne: er wird allen höchsten Augenblicken, allen höchsten Empfindungen der russischen Schriftsteller und Menschen Genüge tun. Dann wird er sich auch dem eigentlichen Ziele weit mehr nähern, das deinem Geiste unklar und entfernt vorschwebte; er wird alle Schriftsteller zu einem ästhetischen Bund voll herrlicher brüderlicher Liebe vereinen. In ganz Rußland vermagst nur du so ein Wagnis zu unternehmen und eine solche Zeitschrift zu schaffen, weil du allein den Gedanken an sie fortwährend in dir genährt hast; nur du hast keine pekuniären Interessen im Auge gehabt und an keinen Lohn für deine Arbeit gedacht; nur du hast ganz unbewußt eine reine, kindliche Liebe zur Kunst in dir gehegt, die dich unseren besten Dichtern entfremdete und die die Kunst zu deiner eigensten, vertrautesten Herzens- und Familienangelegenheit machte. Folglich kann auch nur dir eine solche Zeitschrift anvertraut werden. Sie muß glänzend ausgestattet sein; sie muß eine in jeder Beziehung kostbare und wertvolle Gabe darstellen: der Druck muß so schön und vornehm wie nur möglich, die Bücher müssen mit den schönsten Stichen und Vignetten, die bei uns in Rußland hergestellt werden können, geschmückt sein (damit mußt du russische Graveure beauftragen und keine Ausländer heranziehen). Das Format der Bände mußt du nicht zu groß wählen, es sollte nur ein wenig größer sein als das der »Blüten des Nordens«, kurz, das Werk muß seinem inneren Wert und seiner äußeren Ausstattung nach den Eindruck eines kostbaren Gegenstandes machen. Das alles aber vermagst nur du zu bewerkstelligen; denn da du nicht die Absicht hast, die Einkünfte davon für deine eigenen Bedürfnisse und deinen Unterhalt zu verbrauchen, kannst du alles darauf verwenden, das Werk möglichst schön auszustatten und hierdurch unseren armen Künstlern, die häufig bitteres Elend leiden müssen, Gelegenheit geben, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und nun gehe, wenn alles, was ich dir hier gesagt habe, deinen Beifall hat, in Gottes Namen an die Arbeit, stelle zunächst einmal das erste Buch des »Zeitgenossen« zusammen und sorge dafür, daß es am kommenden Osterfeste des Jahres 1847 erscheinen kann; meinen Brief kannst du als ersten Aufsatz, als Programm oder als Einleitung zu dem Bande abdrucken. Vorher aber gib ihn allen denen zu lesen, von denen du einen Aufsatz haben möchtest. So matt und flüchtig er auch geschrieben sein mag, ich bin trotzdem davon überzeugt, daß ein jeder, der ihn lesen wird, mit dir und mir darin übereinstimmen wird, daß ein solches Werk eine Notwendigkeit für Rußland ist, und er wird dir sicherlich die beste seiner Arbeiten zur Verfügung stellen. In den Zeitungen brauchst du es nur mit wenigen Worten anzukündigen und zwar brauchst du nur zu erwähnen, -- daß vom »Zeitgenossen« dreimal im Jahre, zu den oben angeführten Terminen, je ein Band erscheinen werde; füge nur noch die Namen der Autoren hinzu, deren Aufsätze zum Abdruck kommen sollen -- das wird vollständig genügen. Alles übrige -- der Gehalt und die Bedeutung der Aufsätze sowie die Pracht und Schönheit der Ausstattung -- mag für jeden Leser eine angenehme Überraschung sein. Die Beichte des Dichters Alle sind sich darüber einig, daß noch nie ein Buch soviel Aufsehen gemacht und zu so verschiedenen Meinungen und Deutungen Anlaß gegeben hat, wie die »Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden«. Und was das merkwürdigste ist, was bisher vielleicht in der Literatur noch niemals passiert ist, der Gegenstand dieses Geredes und dieser Kritiken war nicht das Buch selbst, sondern sein Autor. Jedes Wort wurde mit Mißtrauen und Argwohn analysiert, und alle Leute wetteiferten miteinander, die wahre Quelle aufzudecken, aus der es herstammte. An dem lebenden Körper eines noch lebenden Menschen wurde jene furchtbare anatomische Sektion vollzogen, bei der selbst ein Mensch von starker Konstitution in kalten Schweiß ausbricht. So erschütternd und kränkend jedoch für einen vornehm denkenden und anständigen Menschen viele von diesen Schlüssen und Folgerungen auch sein mochten, ich nahm dennoch alle die schwachen Kräfte, über die ich verfügte, zusammen, ich beschloß, alles zu ertragen, mir dies Erlebnis wie einen Wink von oben zunutze zu machen -- und strenge Einkehr in mich selbst zu halten. Auch hierüber habe ich nie eine Meinung, einen Rat, einen Tadel oder einen Vorwurf geringgeachtet und verschmäht, denn ich überzeugte mich mit der Zeit immer mehr, daß, wenn der Mensch einmal alle jene empfindlichen Saiten in sich vernichtet hat, die ihn zum Zorn und Ärger geneigt machen, und wenn er sich erst einmal die Fähigkeit erworben hat, alles ruhig anzuhören, er dann jene Stimme der rechten Mitte vernehmen muß, die sich als Resultat ergibt, wenn man alle einzelnen Stimmen zusammenfügt und die Extreme auf beiden Seiten in Erwägung zieht, kurz, ich meine jene Stimme der rechten Mitte, von der es heißt: »Volkes Stimme -- Gottes Stimme« und nach der alle suchen. Aber obwohl viele Vorwürfe, die gegen mich gerichtet wurden, meiner Seele wirklich heilsam waren, diese Stimme der Mitte konnte ich diesmal nicht vernehmen, und ich vermag nicht zu sagen, welche Wendung die Sache genommen und welches Urteil man über mein Buch zu fällen beschlossen hat. Wenn ich die Summe von alledem ziehe, so sind im ganzen drei verschiedene Meinungen laut geworden: nach der _ersten_ Ansicht ist mein Buch das Produkt eines unerhörten Hochmuts, das Werk eines Menschen, der sich eingebildet hat, er stünde hoch über allen seinen Lesern, habe ein Anrecht, von ganz Rußland gehört und beachtet zu werden, und verfüge über die Kraft und die Fähigkeit, die ganze Gesellschaft zu reformieren; nach der _zweiten_ Ansicht ist dies Buch zwar das Werk eines guten, aber betörten Menschen, der auf Abwege geraten ist und dem das Lob und der Beifall zu Kopfe gestiegen sind; der Autor habe sich gar zu sehr an seinen Vorzügen berauscht, seine Begriffe haben sich verwirrt, und so sei er vom rechten Wege abgekommen; nach der Ansicht der _dritten_ endlich ist dies Buch das Werk eines Christen, der die Dinge im rechten Lichte sieht und jeder Sache ihren richtigen Platz anweist. Unter jeder Partei, die eine dieser Ansichten vertritt, befinden sich gleichermaßen gescheite und aufgeklärte Leute, wie auch gläubige Christen. Folglich kann keine der Ansichten, die sicherlich alle einen Teil der Wahrheit enthalten, -- _völlig_ wahr sein. Am richtigsten wäre es noch, dies Buch einen treuen Spiegel des Menschen zu nennen. Dieses Buch hat das zum Inhalt, was in jedem Menschen verborgen liegt: vor allem das Streben nach dem Guten, dem das Buch selbst entsprungen, und das in jedem Menschen lebendig ist, wenn er erst einmal erfahren hat, was das Gute ist; ferner eine aufrichtige Erkenntnis seiner Fehler und daneben eine hohe Einschätzung seiner Vorzüge; ein ehrliches Verlangen, von andern Menschen zu lernen, und daneben die feste Überzeugung, daß auch die anderen viel von ihm lernen können; Demut und Bescheidenheit, daneben aber auch Stolz, ja vielleicht sogar ein gewisser Demutsstolz; Vorwürfe wider andere Leute wegen solcher Dinge, an denen man selbst zu Fall gekommen ist und für die man noch weit heftigere Vorwürfe verdiente -- kurz alles, was man in der Seele jedes Menschen finden kann, nur mit dem Unterschiede, daß hier alle Formen und Konventionen abgestreift sind, und daß alles, was der Mensch in seinem Inneren verschließt, nach außen gekommen ist, sowie ferner mit dem Unterschied, daß sich dies alles in weit wilderer und lauterer Weise äußert und förmlich zum Himmel schreit, eben wie in einem Schriftsteller, in dem sich alles, was seine Seele erfüllt, nach außen und ans Licht drängt; es tritt allen Leuten viel klarer und deutlicher vor Augen, eben wie bei einem Menschen, dem größere Gaben und Fähigkeiten verliehen sind als anderen Leuten. Kurz, dies Buch ist nur ein Beweis für die ewige Wahrheit der Worte des Apostels Paulus, der da gesagt hat: der ganze Mensch ist eine einzige Lüge. Zu diesem Schluß jedoch, der sich vielleicht der Wahrheit am meisten nähert, ist niemand gekommen, weil der feierliche Ton des Buches und seine ungewohnte Sprache alle mehr oder weniger verwirrt hat und niemand das richtige Verhältnis zu ihm finden ließ. Als ich dies Buch schrieb, stand ich unablässig unter dem Druck einer Todesfurcht, die mich während der ganzen Zeit meines Krankseins verfolgte, selbst dann noch, als ich mich außer jeder Gefahr befand. So kam es, daß ich ganz unmerklich in einen mir sonst ganz fremden Ton verfiel, der einem noch lebenden Menschen durchaus nicht ansteht. In meiner Angst, ich könnte vielleicht das Werk nicht mehr vollenden, das während zehn Jahren alle meine Gedanken beschäftigte, beging ich die Unvorsichtigkeit, schon im voraus von solchen Dingen zu reden, die ich durch das Leben der Helden eines epischen, erzählenden Kunstwerks hätte beweisen sollen. So verwandelten sich meine Gedanken in eine recht unpassende Predigt, die sich im Munde eines Autors sehr seltsam ausnimmt, in eine Anzahl mystischer, unverständlicher Stücke, die keinen Zusammenhang mit den anderen Briefen hatten. Dazu kam schließlich noch der völlig verschiedene Ton dieser Briefe, die an Menschen von ganz verschiedenem Wesen und Charakter gerichtet und zu verschiedenen Zeiten und in ganz entgegengesetzten geistigen und seelischen Stimmungen geschrieben waren. Die einen von ihnen waren in einer Zeit verfaßt, als ich selbst zu meiner Erziehung des Tadels und der Rüge bedurfte, mir solche Rügen von anderen erbat und forderte und sie daher auch anderen erteilte; andere Briefe wieder waren zu einer Zeit geschrieben, als ich die Empfindung hatte, daß ich die Vorwürfe für mich selbst aufsparen und in meinen an andere Leute gerichteten Reden nur die brüderliche Liebe zum Worte kommen lassen sollte: so geschah es, daß häufig Milde und Schärfe fast dicht nebeneinander standen. Ferner sind viele Aufsätze, die für das Buch bestimmt waren, die einen Zusammenhang zwischen einzelnen Stücken herstellen und vieles näher erklären sollten, nicht aufgenommen worden. Dazu kommt schließlich noch meine dunkle Sprache und Unfähigkeit, mich auszudrücken, -- zwei Eigentümlichkeiten eines noch nicht ganz ausgereiften und fertigen Schriftstellers --; das alles trug dazu bei, mehr als einen Leser zu verwirren und zu zahllosen falschen Schlüssen und Folgerungen Anlaß zu geben. Meinen Hochmut glaubte man gerade in solchen Sätzen zu entdecken, die vielleicht ganz anderen Motiven entsprungen waren; wo aber wirklicher Hochmut aus meinen Worten sprach, da bemerkte man ihn nicht; man nannte _das_ Selbstverkleinerung, was nichts weniger als Selbstverkleinerung war. Aber was die Hauptsache ist, es gab keine zwei Menschen, die innerlich übereinstimmten, sowie sie an die Analyse der einzelnen Teile dieses Buches herangingen, was einzelne zu der sehr richtigen Bemerkung veranlaßte, daß ein jeder in der Beurteilung meines Buches mehr seine eigene Denkungsart, als die meine, als den Charakter meines Buches zum Ausdruck brachte. Es versteht sich von selbst, daß die Schuld ganz -- auf meiner Seite ist. So kränkend daher auch all diese Angriffe und Verdächtigungen seiner persönlichen moralischen Qualitäten für einen Menschen sein mögen, in dem noch nicht jedes Ehrgefühl erstorben ist, -- ich habe kein Recht, jemand deswegen anzuklagen. Ich muß hier noch ein paar flüchtige Bemerkungen über eine Frage machen, die nicht mit meinen moralischen Qualitäten zusammenhängt. Ich war äußerst erstaunt, wenn gescheite und kluge Leute Anstoß an Worten nahmen, die doch völlig klar waren, wenn sie sich an zwei, drei Stellen klammerten und Schlüsse aus ihnen zogen, die in absolutem Gegensatz zu dem Geist des ganzen Werkes standen. Aus zwei, drei Worten, die an einen Gutsbesitzer gerichtet waren, dessen sämtliche Bauern Landwirte und von schweren Sorgen und Arbeiten in Anspruch genommen sind, den Schluß zu ziehen, daß ich gegen die Volksbildung zu Felde ziehe -- das erschien mir äußerst sonderbar, um so mehr als ich mich ein halbes Leben lang mit dem Gedanken getragen habe, ein wahrhaft nützliches Buch für das einfache Volk zu schreiben, und nur deswegen davon abstand, weil ich das Gefühl hatte, man müsse sehr klug sein, um zu wissen, was man dem Volk in erster Linie vorsetzen müsse. Solange es jedoch noch keine so gescheiten Bücher gibt, wollte es mir so erscheinen, als ob das lebendige Wort der Diener der Kirche mehr Nutzen bringen könne und ein stärkeres Bedürfnis für die Bauern darstelle, als alles, was ihnen unsereiner, d. h. ein Schriftsteller, zu sagen vermag. Soweit meine Erinnerung reicht, bin ich stets für die Volksbildung eingetreten; aber es schien mir so, als ob es besser wäre, ehe man für die Bildung des Volkes sorgt, erst einmal für die Bildung der Menschen zu sorgen, die in engstem Verkehr mit dem Volke stehen, worunter das Volk oftmals zu leiden hat. Und endlich kam es mir so vor, als ob jener niedere wenig zahlreiche, heute jedoch an Zahl immer zunehmende Stand von Leuten, die aus dem Bauernstande hervorgehen, die allerhand kleine Stellen besetzen, denen es trotz ihrer allerdings geringen Bildung an der rechten moralischen Grundlage fehlt, und die daher überall nur Schaden stiften, weil sie bestrebt sind, auf Kosten der armen Leute zu leben, -- es kam mir so vor, als ob dieser Stand weit mehr Anspruch auf unsere Beachtung hätte als der Bauernstand. Dieser Stand schien mir weit mehr der Bücher zu bedürfen, die der Feder kluger Schriftsteller entstammten, d. h. solcher Schriftsteller, die Verständnis für ihre Pflichten haben und daher imstande sind, sie auch jenen Leuten klarzumachen. Unser mit Ackerbau beschäftigter Bauer dagegen schien mir stets weit sittlicher zu sein als die anderen Leute und weniger als andere der Belehrung durch die Schriftsteller zu bedürfen. Nicht weniger erstaunt war ich, als man aus einer Stelle meines Buches, wo ich sage, daß die gegen mich gerichteten Kritiken viel Wahres enthalten, den Schluß zog, ich spräche meinen Werken jegliche Vorzüge ab und stimmte nicht mit den Kritikern überein, die sich zu meinen Gunsten geäußert haben[2]. Ich erinnere mich sehr gut und habe es keineswegs vergessen, daß meine geringen Vorzüge und Verdienste Anlaß zu sehr bedeutsamen Kritiken gegeben haben, die ewige Denkmäler der Kunstliebe bleiben werden und die dazu beigetragen haben, in den Augen des Publikums den Wert und die Bedeutung dichterischer Werke zu erhöhen. Aber es hätte sich doch nicht geschickt, wenn ich selbst von meinen Vorzügen gesprochen hätte; ja und warum hätte ich das auch tun sollen? Ich habe von den Fehlern gesprochen, die mir als Literaten anhaften, weil eine psychologische Frage, die das Hauptthema meines Buches bildet, Anlaß dazu bot. Wie kann man nur so etwas nicht verstehen! Nicht weniger seltsam berührte es mich -- daß man daraus, daß ich die Grundeigenschaften unseres russischen Wesens so stark betont und hervorgehoben habe, den Schluß zog, ich leugnete die Notwendigkeit der europäischen Bildung und hielt es für überflüssig, daß sich ein Russe über den ganzen schweren Weg, auf dem die Menschheit sich zur Vollkommenheit emporarbeitet, unterrichte. Früher sowohl als auch jetzt war ich immer der Meinung, ein russischer Bürger müsse über die europäischen Angelegenheiten unterrichtet sein. Aber ich war auch immer überzeugt, daß, wenn man über diesem sehr löblichen glühenden Interesse für die Fragen des Auslandes seine eigenen Grundlagen vergißt, eine solche Kenntnis der ausländischen Dinge nicht zu unserem Wohl ausschlagen, unsere Gedanken nur zerstreuen und verwirren, ihnen eine falsche Richtung geben könne, statt sie in sich zu sammeln und zu konzentrieren. Ich war von jeher davon überzeugt und bin es noch heute, daß wir unser russisches Wesen sehr gut und sehr gründlich kennen lernen müssen, und daß wir nur durch eine solche Kenntnis ein Gefühl dafür bekommen können, was wir aus Europa entlehnen und uns aneignen sollen, denn Europa selbst kann uns das nicht sagen. Mir ist es stets vorgekommen, als ob wir, noch ehe wir etwas Neues bei uns einführen, das Alte -- nicht nur oberflächlich sondern gründlich und in seiner Wurzel -- kennen lernen müßten; denn sonst kann selbst die wohltätigste Entdeckung der Wissenschaft nicht mit Erfolg angewendet werden. In dieser Absicht habe ich in erster Linie von dem Alten gesprochen. [Fußnote 2: Auf mein Testament hätte man sich nicht berufen dürfen: in einem solchen beurteilt man sich sehr streng, weil man sich rüstet, vor das Angesicht _Des_ Richters zu treten, vor Dem kein Mensch bestehen kann.] Kurz, alle diese einseitigen Folgerungen gescheiter Leute, die ich überdies gar nicht für einseitig gehalten hatte, dieses Deuteln und am Worte Hängenbleiben, statt sich an den Sinn und Geist des Buches zu halten, beweisen mir nur, daß niemand sich bei der Lektüre meines Buches in einer ruhigen Gemütsstimmung befand; daß sich schon ein bestimmtes Vorurteil herausgebildet hatte, noch ehe das Buch erschienen war, und daß jedermann es bereits von einem festen vorher eingenommenen Standpunkt betrachtete; so kam es, daß alle nur das bemerkten, was sie in ihrem Vorurteil bestärkte und reizte, und an allem vorübergingen, was geeignet war, dies Vorurteil zu zerstören und den Leser zu beruhigen. Diese seltsame Gereiztheit hatte einen so hohen Grad erreicht, daß sie sogar alle Gesetze des Anstandes außer acht ließ, die man bisher einem Schriftsteller gegenüber noch zu beobachten pflegte. Man sagte es dem Verfasser beinahe ins Gesicht, daß er verrückt geworden sei, und man empfahl ihm allerlei Rezepte gegen seine geistige Zerrüttung. Ich kann nicht leugnen, daß es mich noch mehr betrübt hat, wenn ebenfalls gescheite und nicht einmal sehr erregte und gereizte Leute öffentlich in der Presse erklären, mein Buch enthalte nichts Neues, und wenn es etwas Neues darin gäbe, so sei es nicht wahr, sondern unrichtig und unwahr. Das erschien mir sehr hart. Wie es sich auch immer damit verhalten möge, das Buch enthielt meine Seelenbeichte, es war der Erguß meines Herzens und meines Inneren. Noch bin ich nicht öffentlich für einen ehrlosen Menschen erklärt worden, dem man kein Vertrauen schenken darf. Ich kann Fehler machen, ich kann mich irren wie jeder Mensch, ich kann eine Unwahrheit sagen, wie ja der ganze Mensch -- eine einzige Lüge ist; aber alles, was meinem Herzen und meiner Seele entströmt ist, eine Lüge zu nennen -- das ist zu hart. Das ist ebenso ungerecht wie die Behauptung, daß mein Buch nichts Neues enthalte. Die Bekenntnisse eines Menschen, der mehrere Jahre ganz für sein inneres Ich gelebt hat, nur mit sich selbst beschäftigt war, der sich selbst zu erziehen versucht hat wie einen Schüler, um sich einen wenn auch späten Ersatz für die in seiner Jugend verlorene Zeit zu schaffen, der überdies den andern Menschen nicht völlig gleicht, sondern gewisse Eigenschaften besitzt, die ihm allein angehören -- die Bekenntnisse eines solchen Menschen können unmöglich so gar nichts Neues enthalten. Wie dem aber auch sei, in einer Angelegenheit, an der die Seele beteiligt ist, darf man kein so entscheidendes Urteil fällen. Einem solchen Fall gegenüber wird selbst der tiefste Seelenkenner nachdenklich werden müssen. In Angelegenheiten, die die Seele betreffen, ist es sogar schwierig, über einen gewöhnlichen Menschen zu richten. Es gibt Dinge, die sich der kühlen Erwägung, dem Räsonnement eines Menschen entziehen, selbst wenn dieser noch so klug sein sollte, und die man nur in solchen Augenblicken und in einer solchen Seelenstimmung versteht, wo unsere eigene Seele das Bedürfnis zu einer Aussprache, zu einer Beichte hat, wo sie Verlangen trägt, in sich zu gehen und nicht über andere, sondern über sich selbst Gericht zu halten. Kurz, die große Sicherheit, mit der diese Urteile gefällt wurden, schien mir von dem großen Selbstvertrauen des Urteilenden zu zeugen -- von seinem stolzen Vertrauen auf seine Vernunft und die Überlegenheit seiner Ansicht. Ich sage das hier nicht deswegen, um jemand zu tadeln, sondern nur, um darauf hinzuweisen, wie wir bei jedem Schritt Gefahr laufen, in denselben Fehler zu verfallen, den wir soeben erst bei einem unserer Brüder gerügt haben; wie wir, indem wir einem anderen sein hochmütiges Selbstvertrauen zum Vorwurf machen, zugleich durch unsere eigenen Worte einen Beweis für unseren eigenen Hochmut und unser Selbstvertrauen liefern; wie wir, während wir einem anderen Intoleranz vorwerfen, zugleich selbst unduldsam und kleinlich werden. Jedenfalls zeugt es von einer vornehmen Gesinnung, wenn jemand den Mut hat, dies einzugestehen, und sich nicht schämt, öffentlich und vor allen Leuten zu erklären, er habe sich geirrt. Aber genug davon. Nicht um meine moralischen Qualitäten zu verteidigen, erhebe ich hier meine Stimme. Nein, ich halte es lediglich für meine Pflicht, auf eine Frage zu antworten, die fast einstimmig von seiten sämtlicher Leser aller meiner früheren Werke an mich gerichtet worden ist -- auf die Frage nämlich: warum ich jene literarische Gattung und jene Sphäre aufgegeben habe, die ich einmal in Besitz genommen hatte und die ich beherrschte, über die ich fast Herr war, und warum ich mich einem neuen, mir fremden Genre zuwandte. Um auf diese Frage zu antworten, habe ich mich entschlossen, offenherzig und in möglichster Kürze die ganze Geschichte meiner literarischen Tätigkeit zu erzählen, um einem jeden Gelegenheit zu geben, mich gerechter zu beurteilen. Der Leser soll sehen können, ob ich die Sphäre meines Schaffens wirklich gewechselt und ob ich auf eigene Verantwortung zu grübeln und klügeln begonnen habe, in der Absicht, meinem Schaffen eine andere Richtung zu geben; man wird anerkennen müssen, daß sich an meinem Schicksal wie an allen anderen Dingen der Eingriff Dessen offenbart, Der über die Welt gebietet, und zwar nicht immer so, wie _wir_ dies wünschen, und gegen Den der Mensch nicht anzukämpfen vermag. Vielleicht wird meine treuherzige Geschichte wenigstens etwas davon erklären, was vielen in meinem vor kurzem veröffentlichten Buche als ein so unlösliches Rätsel erscheint. Wenn dies der Fall sein sollte, so würde mich das aufrichtig freuen, weil diese ganze merkwürdige Angelegenheit mich sehr mürbe und müde gemacht hat, und weil es mir nach diesem Wirbelsturm von Mißverständnissen sehr schwer ums Herz ist. Ich kann nicht mit voller Bestimmtheit sagen, ob der Schriftstellerberuf mein eigentlicher Beruf ist. Ich weiß nur das eine: daß in den Jahren, als ich über meine Zukunft nachzudenken begann (und ich begann schon sehr früh über meine Zukunft nachzudenken, d. h. zu einer Zeit, als alle meine Altersgenossen nur ans Spielen dachten), daß mir damals der Gedanke, ich könnte Schriftsteller werden, nie in den Sinn kam, obwohl es mir immer so schien, daß ich noch einmal ein berühmter Mann werden könnte, daß mir ein großes weites Wirkungsfeld offen stände und daß ich einmal etwas für das allgemeine Wohl leisten würde. Ich dachte einfach, ich würde mich empordienen und dies alles würde mir durch den Staatsdienst gelingen. Daher hatte ich in meiner Jugend eine sehr starke Neigung für den Staatsdienst. Mein Kopf war beständig davon erfüllt, und alles, was ich tat und womit ich mich beschäftigte, tat ich im Hinblick darauf. Meine ersten Versuche, meine ersten dichterischen Experimente, in denen ich es während der letzten Schuljahre zu einer gewissen Fertigkeit brachte, hatten fast alle einen ernsten und lyrischen Charakter. Weder ich selbst, noch meine Schulkameraden, die sich mit mir in der Schriftstellerei versuchten, dachten je daran, daß ich einmal ein komischer und satirischer Autor werden könnte, obwohl ich trotz meiner melancholischen Naturanlage oft zum Scherzen aufgelegt war und sogar andere Leute mit meinen Späßen belästigte, und obgleich sich schon in meinen frühesten Urteilen über die Menschen eine gewisse Fähigkeit, bestimmte charakteristische Eigenheiten sowie gröbere und feinere und komische Charakterzüge, die von anderen nicht bemerkt werden, zu entdecken, bemerkbar machte. Man sagte, ich verstünde es, -- ich möchte nicht sagen, die Menschen _nachzuäffen_ oder zu parodieren, -- sondern sie zu _erraten_, d. h. zu erraten, was ein Mensch in dieser oder jener Situation sagen würde, unter völliger Wahrung seiner Anschauungsweise, seiner Denkart sowie seiner Art, sich auszudrücken. Aber ich brachte dies alles nicht zu Papier, ja ich dachte gar nicht einmal daran, daß ich diese Fähigkeit noch einmal verwerten würde. Die heitere fröhliche Stimmung, die sich in den ersten Schriften, die von mir im Druck erschienen, bemerkbar machte, hatte ihren Grund in einem gewissen seelischen Bedürfnis. Ich hatte oft unter Anfällen einer mir selbst völlig unerklärlichen Melancholie zu leiden, die vielleicht eine Folge meines krankhaften Zustandes war. Um mich zu zerstreuen, dachte ich mir die komischsten Dinge aus, die sich nur ersinnen lassen. Ich stellte mir komische Personen und Charaktere vor, die ich völlig aus dem Kopfe erfand, und versetzte sie in Gedanken in die komischsten Situationen, ohne mir viele Sorgen zu machen, wozu das gut sei und was für einen Nutzen das haben könne. Es war die Jugend in mir, die mich dazu veranlaßte, die Jugend, der ja noch keinerlei Fragen durch den Kopf gehen. Das ist der Ursprung meiner ersten Werke, die die einen ebensosehr zu einem sorglosen naiven Lachen reizten, wie mich selbst, während sich andere erstaunt fragten, wie einem vernünftigen Menschen nur solche Torheiten einfallen konnten. Vielleicht hätte diese Lustigkeit allmählich und zugleich mit dem Bedürfnis nach Zerstreuung aufgehört, ebenso wie meine schriftstellerische Tätigkeit. Allein Puschkin veranlaßte mich, diese Sache ernster anzusehen. Er hatte mich schon längst dazu zu überreden gesucht, ich sollte ein großes Werk in Angriff nehmen, und als ich ihm einmal den kurzen Entwurf einer kleinen Szene vorlas, der jedoch einen weit stärkeren Eindruck auf ihn machte, als alles, was ich ihm bis dahin vorgelesen hatte, sagte er zu mir: »Wie ist es nur möglich, daß Sie bei dieser Fähigkeit, den Charakter eines Menschen zu erraten und durch wenige Züge ganz vor einem erstehen zu lassen, wie er leibt und lebt, -- wie ist es nur möglich, daß Sie sich bei dieser Fähigkeit nicht entschließen, ein großes Werk zu schreiben! Das ist einfach eine Sünde!« Hierauf hielt er mir meine schwächliche Konstitution und meine körperlichen Gebrechen vor, die meinem Leben früh ein Ziel setzen könnten; er führte das Beispiel des Cervantes an, der zwar bereits früher ein paar ausgezeichnete, vortreffliche Erzählungen verfaßt hatte, jedoch niemals _die_ Stelle unter den Schriftstellern einnehmen würde, die er heute inne hat, wenn er sich nicht entschlossen hätte, den Don Quijote zu schreiben, und schließlich trat er mir sein eigenes Sujet ab, aus dem er eine Art Poem hatte machen wollen und das er, wie er mir sagte, keinem anderen außer mir überlassen hätte. Dieser Stoff waren »Die toten Seelen«. (Die Idee zum »Revisor« stammt gleichfalls von ihm.) Diesmal wurde auch ich ernstlich nachdenklich -- um so mehr, als ich bereits in die Jahre zu kommen begann, wo man sich bei jeder Tat, die man vollbringen will, ganz von selbst die Frage vorlegt: warum und zu welchem Zweck willst du dies tun? Ich erkannte, daß ich in meinen Werken sinnlose Scherze trieb und spottete, ohne eigentlich zu wissen, wozu ich das tat. Wenn man schon spottet, so ist es doch besser, man lacht und spottet kraftvoll und über Dinge, die wirklich den allgemeinen Spott verdienen. Im »Revisor« wollte ich alles Schlechte und Häßliche, das es in Rußland gibt, soweit es mir damals bekannt war, zusammentragen und anhäufen, alle Mißbräuche, die an allen den Stellen und in allen den Fällen vorkommen, wo gerade Gerechtigkeit und Redlichkeit vom Menschen verlangt werden, und dies alles auf einmal verspotten. Die Wirkung war bekanntlich eine furchtbare, erschütternde. Durch das Gelächter hindurch, das sich mir noch nie mit einer solchen Gewalt entrungen hatte, vernahm der Leser etwas wie Kummer und Schmerz. Ich selbst fühlte, daß mein Lachen nicht mehr das Lachen von ehedem war, daß ich in meinen Werken nicht mehr derselbe sein konnte, der ich früher war, und daß das Bedürfnis, mich durch harmlose heitere Szenen zu zerstreuen, zugleich mit meinen jungen Jahren verschwunden war. Nach dem Revisor empfand ich mehr denn je das Bedürfnis, ein umfassendes Werk zu schreiben, das mehr enthielt als lediglich Dinge, über die man lachen mußte. Puschkin fand, daß der Stoff der »Toten Seelen« sich gerade darum so gut für mich eignete, weil er eine vortreffliche Gelegenheit bot, ganz Rußland in Gesellschaft des Helden nach allen Richtungen zu durchqueren und eine ganze Reihe völlig verschiedener Charaktere an uns vorüberziehen zu lassen. Ich ging ans Werk und fing an zu schreiben, ohne mir einen detaillierten Plan ausgearbeitet und ohne mir darüber Rechenschaft gegeben zu haben, was für ein Mensch mein Held eigentlich sein mußte. Ich dachte mir einfach, daß der komische Plan, mit dessen Durchführung Tschitschikow beschäftigt war, mir schon von selbst die Idee zu allerhand verschiedenen Personen und Charakteren eingeben und daß die Spott- und Lachlust, die sich in mir regte, schon von selbst eine Reihe von komischen Momenten und Phänomenen erzeugen würde, die ich mit rührenden Elementen mischen wollte. Aber bei jedem Schritt, den ich tat, mußte ich mir die Frage vorlegen: welchen Sinn? welchen Zweck hat das? was soll dieser Charakter zum Ausdruck bringen? was hat diese Erscheinung zu bedeuten? Es fragt sich nun: was soll man tun, wenn sich einem derartige Fragen aufdrängen? Soll man sie verscheuchen? Ich versuchte es damit; allein da erstanden Fragen vor mir, denen ich mich nicht zu entziehen vermochte. Da ich nichts von einer Nötigung empfand, meinen Helden gerade zu solch einem Menschen und zu keinem anderen zu machen, konnte ich auch keine Liebe für die Aufgabe empfinden, ihn darzustellen. Im Gegenteil, ich empfand etwas wie Ekel davor: alles kam gewaltsam und gezwungen heraus, und sogar das, worüber ich lachte, wirkte traurig und deprimierend. Ich sah mit voller Klarheit ein, daß ich nicht mehr ohne einen ganz bestimmten und klaren Plan zu schreiben vermochte, daß ich mir erst selbst den Zweck meines Werks völlig deutlich machen, mir über seinen wirklichen Nutzen und seine Notwendigkeit klar werden müßte, was erst den Dichter mit einer starken und wahren Liebe für sein Werk erfüllt, die alles belebt und ohne die die Arbeit nicht vorwärtsschreitet -- kurz, daß der Autor das Gefühl und die Überzeugung haben muß: indem er an seinem Werk arbeite, erfülle er gerade _die_ Pflicht, die seine irdische Bestimmung ausmache, und für die ihm alle seine Gaben und Fähigkeiten verliehen seien, und indem er diese Pflicht erfülle, diene er zugleich seinem Staate, wie wenn er tatsächlich im Staatsdienst stünde. Der Gedanke an den Staatsdienst verließ mich nie. Ehe ich den Schriftstellerberuf wählte, wechselte ich mehrmals meine Tätigkeit und meine Stellung, um zu erfahren, für welchen Beruf ich mich am besten eignete, aber ich war weder mit dem Dienst noch mit mir selbst, noch mit denen zufrieden, die meine Vorgesetzten waren. Ich wußte damals noch nicht, wie viel mir dazu fehlte, um dem Staate so dienen zu können, wie ich ihm dienen wollte. Ich wußte damals nicht, daß man dazu jede persönliche Empfindlichkeit, Eitelkeit und Selbstüberhebung in sich besiegen müsse und keinen Augenblick vergessen dürfe, daß man seine Stellung nicht um seines persönlichen Glückes, sondern um des Wohles vieler solcher willen innehat, die da unglücklich werden würden, wenn ein edler Mann seinen Posten im Stiche läßt, und daß man allen persönlichen Kummer und alle Kränkungen vergessen müsse. Ich wußte damals noch nicht, daß der, der Rußland wahrhaft und ehrlich dienen will, sehr viel Liebe für sein Vaterland besitzen muß, eine Liebe, die alle anderen Gefühle in sich aufgesogen hat, daß man sehr viel Liebe für den Menschen im allgemeinen besitzen und ein wahrhafter Christ im vollen Sinn dieses Wortes sein muß. Daher ist es auch kein Wunder, wenn ich, der ich diese Eigenschaften nicht besaß, auch meinen Dienst nicht so ausüben konnte, wie ich es wollte, obwohl ich tatsächlich förmlich darauf brannte, meinem Lande ehrlich zu dienen. Sowie ich jedoch fühlte, daß ich dem Staate auch als Schriftsteller zu dienen vermag, gab ich alles andere auf: meine früheren Stellen, Petersburg, die Gesellschaft, die meinem Herzen nahestehenden Freunde, ja sogar Rußland, um in der Fremde und in der Einsamkeit fern von allen Menschen zu erwägen, wie ich es durchführen, wie ich mein Werk so gestalten, wie ich mit ihm den Beweis liefern könnte, daß ich gleichfalls ein Bürger meines Vaterlandes gewesen bin, und daß ich ihm hatte dienen wollen. Je mehr ich über mein Werk nachdachte, um so mehr fühlte ich, daß ich die Charaktere nicht auf gut Glück wählen durfte, wie sie sich mir gerade darboten, sondern nur solche Menschen darstellen mußte, an denen sich unsere wahren wesenhaften russischen Charakterzüge am stärksten und deutlichsten offenbarten. Ich wollte in meinem Werk vor allem jene höheren Züge der russischen Natur darstellen, die noch nicht von allen richtig eingeschätzt werden, sowie ferner und in erster Linie jene gemeinen und niedrigen Charaktereigenschaften, die von allen noch nicht genügend verlacht und gegeißelt werden. Ich wollte nur die hervorstechendsten charakteristischen psychologischen Phänomene zusammentragen und meine Beobachtungen über die Menschen zusammenfassen, die ich seit langen Jahren insgeheim gemacht hatte und die ich nur noch nicht dem Papier hatte anvertrauen wollen, da ich mir bewußt war, noch nicht die rechte Reife erworben zu haben; denn diese Beobachtungen konnten, richtig dargestellt, viel zur Enträtselung mancher Seiten unseres Lebens beitragen, kurz -- ich wollte, daß dem Leser bei der Lektüre meines Buches der russische Mensch, mit all seinen reichen mannigfaltigen Gaben und Fähigkeiten, die _ihm_ allein im Unterschiede von den anderen Völkern verliehen waren, aber auch mit der ganzen großen Menge von Fehlern, die ihm gleichfalls im Unterschied von den anderen Völkern eigen sind, vor Augen treten sollte. Ich glaubte, die lyrische Kraft, von der ich einen genügenden Vorrat besaß, würde mir helfen, diese Vorzüge so darzustellen, daß der Russe von einer heißen Liebe zu ihnen entbrennen würde, und die Gewalt des Lachens, von der ich gleichfalls einen genügenden Vorrat mein eigen nannte, würde es mir ermöglichen, seine Fehler und Mängel in so leuchtenden Farben zu schildern, daß den Leser ein tiefer Haß gegen sie erfassen würde, selbst wenn er sie in sich selbst entdecken sollte. Aber ich fühlte zugleich, daß ich dies alles nur dann vollbringen könnte, wenn ich mir selbst völlig darüber klar geworden war, was nun die wirklichen Vorzüge unseres Wesens und welches seine wahren Mängel und Fehler sind. Man muß sich beides genau überlegen und es gegeneinander abschätzen, man muß es sich ganz klarmachen, um nicht eine unserer Schwächen in eine Tugend zu verwandeln und nicht zugleich mit unseren Fehlern auch unsere Vorzüge dem Gelächter preiszugeben. Ich wollte meine Kraft nicht unnütz vergeuden. Seitdem man mir vorwarf, ich spottete nicht nur über die Fehler, sondern über die Menschen, die gewisse Schwächen haben, im allgemeinen, und nicht nur über den _ganzen_ Menschen, sondern auch über seine Stellung und das Amt, das er innehat (was mir nie auch nur in Gedanken eingefallen ist), da sah ich ein, daß man sehr vorsichtig mit dem Spott umgehen müsse -- um so mehr, da er ansteckend wirkt; ein witziger Mensch braucht nur irgendeine Seite einer Sache ins Lächerliche zu ziehen, damit die Dümmsten und Stumpfsinnigsten sofort über deren sämtliche Seiten lachen. Kurz, es wurde mir so klar wie der Satz: zwei mal zwei ist vier, daß ich nicht eher an die Arbeit gehen durfte, als bis ich mir ganz genau darüber klar geworden war, worin das Hohe und das Gemeine, worin die Vorzüge und die Mängel unseres russischen Wesens bestehen; um sich jedoch über das russische Wesen klar zu werden, muß man zunächst die menschliche Natur und die Seele des Menschen im allgemeinen kennen lernen: ohne dies wird man nie den richtigen Standpunkt finden, von dem aus einem die Vorzüge und Mängel eines jeden Volkes deutlich sichtbar werden. Seit dieser Zeit wurden der Mensch und die Seele des Menschen mehr denn je Gegenstand meines Studiums. Ich wandte mich für eine Zeitlang gänzlich von der Gegenwart ab: ich hatte vor allem das Interesse, jene ewigen Gesetze kennen zu lernen, die den Menschen und die Menschheit im allgemeinen beherrschen. Die Werke der Gesetzgeber, der Seelenforscher und Erforscher der menschlichen Natur wurden von nun ab meine Lektüre. Mich begann alles zu interessieren, worin sich eine gewisse Menschenkenntnis und eine Kenntnis der Menschenseele offenbarte, von dem Wissen eines Weltmannes bis zu dem eines Anachoreten und Einsiedlers, und auf diesem Wege sah ich mich ganz unmerklich und beinahe ohne daß ich selbst wußte, wie dies geschah, zu Christus geführt, denn ich sah, daß er der Schlüssel zur Seele des Menschen war, und daß noch kein Seelenkenner sich je auf jene Höhe der Seelenkenntnis erhoben hatte, die er erreicht hat. Ich prüfte alles mit dem Verstande nach und überzeugte mich so davon, was anderen durch den Glauben völlig klar ist und was ich bisher nur dunkel und unbestimmt geahnt hatte. Und zu demselben Ergebnis brachte mich die Analyse meiner eigenen Seele: ich sah mit mathematischer Klarheit ein, daß man auf Grund von Vorstellungen unserer Einbildungskraft nicht über die höheren Regungen und Gefühle des Menschen reden und schreiben könne; man muß wenigstens etwas davon in sich selbst tragen -- kurz, man muß zuvor selbst besser werden. Das mag sehr sonderbar erscheinen, besonders denen, die in ihrer Jugend eine gründliche und umfassende Bildung genossen haben. Ich muß jedoch sagen, daß ich in der Schule eine recht schlechte Erziehung erhalten hatte, und daher ist es kein Wunder, daß der Gedanke, ich müßte noch etwas lernen, sich mir erst in reiferem Alter aufdrängte. Ich begann mein Studium mit so elementaren Büchern, daß ich mich geradezu schämte, anderen Menschen zu verraten, womit ich mich beschäftigte, ja, ich suchte es vor ihnen zu verheimlichen. Ich begann nunmehr nicht so sehr beim Studium von Büchern -- als vielmehr bei meinen einfachen sittlichen Übungen auf mich zu achten, wie ein Lehrer auf seinen Schüler, und ich betrachtete mich selbst als Lehrling. Ich habe auch etwas von diesen Experimenten, die ich an mir selbst vollzog, in das Buch meiner Briefe aufgenommen, nicht etwa, um damit zu prahlen (ich wüßte auch nicht, womit man hier prahlen könnte!), sondern in der allerbesten Absicht: vielleicht konnte jemand Nutzen daraus ziehen. Ich war fest davon überzeugt, daß viele gleich mir eine schlechte Schulbildung genossen haben, plötzlich zur Besinnung kommen und den ehrlichen Wunsch fassen konnten, das Verlorene nachzuholen und wieder gutzumachen. Ich hatte oft gehört, daß viele sich darüber beklagten, sie könnten sich nicht mehr von ihren schlechten Gewohnheiten befreien, trotz des heißesten Wunsches, sie loszuwerden. Ich nahm dies also in mein Buch auf, nachdem ich es, so gut es ging, dem übrigen angepaßt hatte, aber ich nahm es erst auf, nachdem ich mich durch die Erfahrung davon überzeugt hatte, daß sich manches davon verschiedenen Personen, die ich kannte, heilsam erwiesen hatte. Denen jedoch, die es mir zum Vorwurf machen, daß ich mein ganzes Innere zur Schau gestellt habe, kann ich erwidern, daß ich immerhin noch kein Mönch, sondern ein Schriftsteller bin. Ich habe in diesem Falle so gehandelt, wie alle Schriftsteller, die ausgesprochen haben, was ihre Seele bedrückte. Wenn Karamsin während seiner schriftstellerischen Tätigkeit ein ähnliches Erlebnis gehabt hätte, er hätte es sicherlich in derselben Weise zum Ausdruck gebracht. Aber Karamsin hatte in der Jugend eine gute Erziehung genossen. Er eignete sich erst die Bildung an, die dazu gehört, um ein Mensch und ein Bürger zu sein, ehe er als Schriftsteller auftrat. Mir ging es anders. Ich konnte mir nicht denken, daß jemand daran Anstoß nehmen könnte, wenn ich öffentlich erklärte, ich strebte danach, besser zu sein als ich bin. Ich finde nichts Anstößiges dabei, daß ein Mensch sich qualvoll danach sehnt und im Angesichte aller Menschen von dem Verlangen, vollkommen zu sein, verzehrt wird, wenn doch selbst Gottes Sohn vom Himmel zu uns herabgestiegen ist, um uns zu sagen: »Seid vollkommen wie unser Vater im Himmel!« Was endlich den Vorwurf anbelangt, daß ich in meinem Buch, nur um mit meiner Demut und Bescheidenheit zu prahlen, eine Selbstverkleinerung an den Tag gelegt hätte, die schlimmer sei als jeder Stolz und Hochmut, so muß ich darauf erwidern, daß bei mir weder von Selbstverkleinerung noch Demut die Rede ist. Wer solches aus meinem Buche herausgelesen hat, hat sich durch die Ähnlichkeit gewisser Kennzeichen und Merkmale täuschen lassen. Ich kam mir in der Tat widerwärtig vor, aber nicht etwa aus Demut, sondern weil sich in meinem Geiste mit der Zeit immer deutlicher das Ideal des schönen Menschen herausarbeitete, jenes herrliche Vorbild des Menschen, wie er sich hier auf Erden darstellen sollte, und wenn ich daran dachte, so ergriff mich jedesmal ein Ekel vor mir selbst. Das aber ist nicht Demut, sondern eher ein Gefühl, das ein neidischer Mensch hat, wenn er sieht, daß ein anderer einen besseren und schöneren Gegenstand in Händen hält, als er selbst, den seinen wegwirft und nichts mehr von ihm wissen will. Dazu hatte ich das Glück gehabt, während meines Lebens, besonders aber während der letzten Zeit, einige Menschen kennen zu lernen, deren geistige und seelische Qualitäten mir so groß erschienen, daß meine eigenen daneben verblaßten, und ich zürnte mir immerfort, weil ich das nicht besaß, was andere besaßen. Man hätte also höchstens das Recht, meinen mißgünstigen und neidischen Charakter im allgemeinen verantwortlich zu machen und anzuklagen. Aber ich will zu meiner Lebensgeschichte zurückkehren. Eine Zeitlang waren also der Gegenstand meiner Studien nicht Rußland und die Menschen in Rußland, sondern der Mensch und die menschliche Seele im allgemeinen. Alles führte mich in dieser Zeit auf die Erforschung der Gesetze unserer Seele hin: mein eigener Seelenzustand und endlich auch die äußeren Verhältnisse, über die wir keine Macht haben und die mich jedesmal gegen meinen Willen veranlaßten, mich wieder meinem Gegenstand zuzuwenden, sowie ich ihn einmal verlassen hatte. Mehrmals griff ich zur Feder, weil man mir den Vorwurf machte, ich täte nichts; ich wollte mich gewaltsam dazu zwingen, etwas zu schreiben, sei es nun eine kleine Erzählung oder irgendeinen literarischen Essay, aber ich vermochte durchaus nichts zu produzieren. Alle meine Anstrengungen endigten meist mit Unwohlsein, schweren Leiden und schließlich sogar mit solchen Anfällen, die mich dazu nötigten, jede Beschäftigung für lange Zeit gänzlich aufzugeben. Was sollte ich tun? War ich etwa schuld daran, daß ich nicht imstande war, nochmals zu wiederholen, was ich schon einmal in jüngeren Jahren gesagt und geschrieben hatte? Als ob es im Menschenleben einen doppelten Frühling gibt! Und wenn jeder Mensch beim Übergang aus einem Lebensalter in das andere unvermeidlich eine solche Verwandlung durchmachen muß, warum soll allein der Schriftsteller eine Ausnahme davon machen? Ist denn der Schriftsteller nicht auch nur ein Mensch? Ich wich nicht von meinem Wege ab. Ich verfolgte meinen Pfad immer weiter. Ich behielt immer denselben Gegenstand im Auge: das Objekt meines Studiums war -- das Leben, und nichts anderes. Ich suchte das Leben, so wie es in Wirklichkeit ist, und nicht etwa so, wie es sich in den Träumen unserer Phantasie darstellt, und so fand ich schließlich Den, Der die Quelle des Lebens ist. Seit meiner frühsten Jugend hatte ich eine leidenschaftliche Vorliebe dafür, den Menschen zu beobachten, seine Seele aus seinen feinsten Zügen und Regungen, die die Menschen nicht beachten, abzulesen, -- und so wurde ich zu Ihm geführt, Der allein die Seele ganz durchschaut und mit Dessen Hilfe allein ich zu einer vollständigen Kenntnis der Seele gelangen konnte. Ich beruhigte mich nicht eher, als bis ich die Lösung einiger eigener Fragen, die sich auf mich selbst bezogen, gefunden hatte; und erst, als ich mir über einige Hauptfragen im klaren war, konnte ich wieder an mein Werk gehen, dessen erstes Buch bis heute noch ein Rätsel darstellt; denn es spiegelt zum Teil noch jenen Übergangszustand, in dem sich meine Seele befand, als sie noch nicht alles von sich abgestoßen hatte, was sich einmal von mir ablösen sollte. Sowie dieser Zustand in mir überwunden und mein Verlangen nach Erkenntnis des Menschen im allgemeinen befriedigt war, begann sich in mir der lebhafte Wunsch zu regen, Rußland näher kennen zu lernen. Ich knüpfte Bekanntschaften mit Menschen an, von denen ich etwas lernen und von denen ich erfahren konnte, was in Rußland vorgeht; ich suchte erfahrene Männer der Praxis aus allen Ständen kennen zu lernen, die alle Mißbräuche und Machenschaften in Rußland kannten. Ich wollte Bekanntschaft mit Menschen aus allen Ständen machen und von jedem etwas erfahren. Jeder Beamte, jeder Mensch, der irgendeine Beschäftigung hatte, erschien mir interessant. Vor allem aber wollte ich mir einen genauen Begriff von jedem Beruf, jedem Stand, jeder Stellung und jedem Amt im Staate bilden. Mir erschien das als eine Notwendigkeit für jeden Schriftsteller, der Menschen aus allen Berufen schildert. Wenn man nicht einen Begriff von der ganzen Pflicht und allen Aufgaben des Menschen, den man schildern will, in seinem Kopfe hat, wird es einem nie gelingen, den Menschen wahrheitsgetreu, richtig und so darzustellen, daß sich die Lebenden daraus eine Lehre ziehen, daß sie daraus etwas lernen können. Deshalb knüpfte ich einen Briefwechsel mit solchen Leuten an, die mir irgendwelche Tatsachen mitteilen konnten. Die übrigen bat ich, flüchtige Porträts und Charakterskizzen von Leuten für mich herzustellen, und zwar von den ersten besten, denen sie auf ihrem Wege begegneten. Das alles brauchte ich nicht deshalb, weil ich keine genügende Anzahl von Charakteren oder keinen Helden im Kopfe gehabt hätte; daran hatte ich keinen Mangel; diese Figuren entsprangen mir in meiner Phantasie aus einer weit vollständigeren und umfassenderen Erkenntnis der menschlichen Natur, als ich sie jemals gehabt hatte; ich brauchte diese Tatsachen ganz einfach, so wie ein Künstler, der ein großes Gemälde, eine eigene Komposition malt, nach der Natur gemalte Skizzen braucht. Er überträgt diese Skizzen nicht auf sein Bild, sondern hängt sie ringsum an den Wänden auf, um sie beständig vor Augen zu haben, und um nie einen Verstoß gegen die Natur, gegen die Zeit oder Epoche zu begehen, die er sich für die Darstellung ausersehen hat. Ich habe nie etwas rein aus der Phantasie geschöpft und erzeugt, ich besaß nie diese Fähigkeit. Mir glückte immer nur das, was ich aus dem wirklichen Leben und aus Tatsachen schöpfte, die mir bekannt waren. Einen Menschen erraten konnte ich nur dann, wenn ich mir seine äußere Gestalt bis auf die feinsten Einzelheiten vorstellen konnte. Ich habe nie ein Porträt im Sinne einer bloßen Kopie entworfen. Ich habe ein solches Porträt stets erschaffen, ich erschuf es durch Nachdenken, mit Überlegung und nicht in der reinen Phantasie. Je mehr Dinge ich in Erwägung zog, um so wahrer und treuer ward das, was ich schuf. Ich mußte weit mehr wissen als jeder andere Schriftsteller, denn ich brauchte nur ein paar Einzelheiten zu übersehen oder nicht zu berücksichtigen -- damit das Unwahre und Unrechte der Darstellung weit deutlicher in die Augen sprang als bei einem anderen. Dies vermochte ich niemand klarzumachen, und daher erhielt ich fast niemals solche Briefe, wie ich sie brauchte. Alle wunderten sich und konnten es nicht begreifen, daß ich all diese Kleinigkeiten und Torheiten wissen wollte, während ich doch eine Phantasie besaß, die selbst schaffen und produzieren konnte. Allein meine Phantasie hat mich bisher noch mit keinem einzigen hervorragenden Charakter beschenkt und kein einziges Ding produziert, das mein Auge nicht irgendwo in der Natur entdeckt hätte. Ich habe ein paar Briefe an einige Gutsbesitzer und an verschiedene Beamte in den Briefwechsel mit meinen Freunden aufgenommen (von diesen Briefen ist die große Mehrzahl nicht zum Abdruck gekommen); das habe ich jedoch nicht etwa deswegen getan, damit alle mir zustimmen, sondern gerade deswegen, damit man mich durch Anführung einzelner anekdotischer Züge widerlegen sollte. Derartige Einwände von praktischen und erfahrenen Leuten sind für mich deswegen so wichtig, weil sie mir die Sache selbst näher bringen und mir einen tieferen Einblick in das innere Wesen Rußlands gewähren. Aber man hatte kein Interesse an den Dingen, die jeden Russen etwas angehen, so wenig wie für die Fragen unseres inneren Lebens, statt dessen beschäftigte man sich mit meiner Persönlichkeit und schrieb ganze Bogen darüber voll, ob ich ein Recht habe, mich in solche Angelegenheiten hineinzumengen. Ich richtete um dieselbe Zeit einen Aufruf an alle Leser der »Toten Seelen« -- der nicht sehr taktvoll und recht ungeschickt war. Ich wußte sehr gut, daß viele sich über ihn lustig machen würden, aber ich war fest entschlossen, jeden Spott zu ertragen, wenn ich bloß mein Ziel erreichte. Ich glaubte, daß vielleicht fünf oder sechs Leser meine Bitte _so_ erfüllen würden, wie ich es wünschte. Ich verlangte gar nicht, daß man die Fehler der »Toten Seelen« verbessern sollte: ich hoffte mich unter diesem Vorwande bloß in den Besitz von einigen privaten Aufzeichnungen oder Erinnerungen an einzelne Charaktere und Personen, mit denen der eine oder der andere während seines Lebens zusammengetroffen war, sowie von Berichten über solche Vorfälle zu setzen, von denen ein Hauch ausgeht, der uns an Rußland gemahnt. Ich weiß, daß wir uns alle schwer aufraffen können und daß wir träge sind und nicht recht arbeiten wollen, daher wird es fast jedem von uns schwer, aus seiner Erinnerung zu schöpfen; ich dachte jedoch, die Lektüre der »Toten Seelen« würde die Menschen aufrütteln, besonders wenn sie dabei immer Papier und Bleistift bei der Hand hätten. Ich gab meine Adresse an und bat darum, daß nur die mir in ihren Briefen solche Fälle mitteilen möchten, die sie selbst nicht in der Presse veröffentlichen wollten, im allgemeinen aber hielt ich es für weit nützlicher, sie überall bekanntzumachen. Es kam mir sogar so vor, als ob eine solche Verbreitung von Kenntnissen über Rußland in Form von lebendigen Tatsachen gerade gegenwärtig eine dringende Notwendigkeit sei, denn in unserer Zeit, die man nicht ohne Grund eine Übergangszeit nennt, macht sich bei allen Menschen und auf allen Gebieten ein Streben bemerkbar, überall zu verbessern, zu reformieren, alles umzugestalten, ja dem Übel mit allen Mitteln energisch zu Leibe zu gehen. Ich glaubte, daß wir heute mehr denn je bemüht sein müssen, alles herauszustellen und ans Licht zu bringen, was im Inneren Rußlands vorgeht, damit wir ein Gefühl dafür bekommen, aus was für einer Menge verschiedener Elemente der Grund und Boden besteht, auf dem wir alle unsere Saat ausstreuen wollen; da aber wäre es wirklich besser, wenn wir uns erst einmal ordentlich umsähen und uns die Sache überlegten, bevor wir so über die Dinge aburteilen, wie dies heute alle Leute tun. Ich hegte die geheime Hoffnung, daß die Lektüre der »Toten Seelen« viele auf die Idee bringen würde, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und daß viele dazu veranlaßt werden könnten, in sich zu gehen, weil auch im Autor während der Zeit, als er die »Toten Seelen« schrieb, eine solche Wendung nach Innen stattgefunden hatte. Ich glaubte, es könnte einem Menschen, der bereits den Gipfel seines Lebens erstiegen hat, von dem der Weg nur noch abwärts gehen kann, und der von dem Gedanken beunruhigt wird, sein Leben sei nutzlos verstrichen und er habe nur wenig für das allgemeine Wohl und sein Land geleistet, lebhafter zum Bewußtsein kommen, daß er durch eine getreue und lebendige Darstellung der Menschen, Charaktere und Ereignisse seiner Zeit die jungen Leute, die erst im Beginn ihrer Wirksamkeit stehen, mit Rußland bekannt machen und sie damit in schöner Weise für seine Untätigkeit entschädigen, ja mehr als entschädigen kann. Ein junger Mann aber, der seine Laufbahn erst eben beginnt, dessen Anteilnahme für alle Dinge noch nicht erkaltet ist, der daher noch einen frischen lebendigen Blick besitzt und der alles mit starkem Interesse verfolgt, könnte die heutige Zeit so darstellen, wie sie dem Auge des Jünglings erscheint. Kurz, ich dachte wie ein Kind; ich täuschte mich in manchen Leuten: ich glaubte, daß in einem Teil meiner Leser noch ein Funke von Liebe lebte. Ich wußte damals noch nicht, daß mein Name nur deshalb so populär ist, weil er einzelnen Leuten die Möglichkeit und das Recht zu geben schien, anderen etwas vorzuwerfen und sich gegenseitig übereinander lustig zu machen. Ich glaubte, daß viele durch mein Gelächter hindurch das Gute in meiner Natur, in meinem Ich erkennen, das ja gar nicht aus böser Absicht lachte oder spottete. Aber ich erhielt keine Aufzeichnungen zugeschickt, trotz meiner Aufforderung, und in den Zeitschriften erwiderte man mir nur mit Hohn und Spott. Ich führe dies alles nur deswegen an, um zu beweisen, daß ich alle meine Kräfte angespannt habe, um meinem Berufe treu zu bleiben, daß ich über alle nur möglichen Mittel nachgesonnen habe, die meine Arbeit fördern könnten, ich ließ es mir keinen Augenblick auch nur einfallen, meinen Schriftstellerberuf aufzugeben. Bei dieser Gelegenheit muß ich übrigens erwähnen, daß viele ihr Erstaunen darüber geäußert haben, daß ich ein solches Bedürfnis nach Daten über Rußland habe und dabei selbst fern von Rußland im Auslande bleibe, diese Leute haben es sich nicht überlegt, daß ich, ganz abgesehen von meinem leidenden Zustand, der für mich einen Aufenthalt in einem warmen Klima nötig machte, gerade eine solche Entfernung von Rußland brauchte, um mit meinen Gedanken um so intensiver in Rußland verweilen zu können. Für die, die mir das nicht nachzufühlen vermögen, will ich mich hier näher erklären, obwohl es mir etwas schwer wird, hier alles darzulegen, was die Eigenheit meines Wesens ausmacht. Fast alle Schriftsteller, denen es nicht an jeglicher _schöpferischen_ Begabung fehlt, besitzen eine Fähigkeit, die ich die Einbildungskraft nennen will -- eine Fähigkeit, die darin besteht, sich Gegenstände, die einem nicht gegenwärtig sind, so lebhaft vorzustellen, wie wenn sie uns unmittelbar vor Augen stünden. Diese Fähigkeit ist nur dann in uns wirksam, wenn wir uns von den Gegenständen entfernen, die wir beschreiben wollen. Das ist der Grund, weswegen die Dichter sich gewöhnlich solche Epochen zum Gegenstand wählen, die bereits hinter uns liegen, und sich in die Vergangenheit versenken. Indem die Vergangenheit uns von allem, was um uns ist, loslöst, versetzt sie unsere Seele in eine stille ruhige Stimmung, wie sie zur Arbeit erforderlich ist. Ich hatte keine Vorliebe für die Vergangenheit. Mein Gegenstand war die Gegenwart und das Leben in unserer heutigen Welt, vielleicht deswegen, weil mein Geist stets eine Vorliebe für das Wesentliche und Faßliche und für einen greifbaren Nutzen hatte. Mit den Jahren wurde mein Wunsch, ein moderner Schriftsteller zu werden, immer lebhafter. Aber ich sah zugleich ein, daß man, wenn man das gegenwärtige Leben schildern will, nicht beständig in jener erhabenen und ruhigen Stimmung verharren konnte, deren man bedarf, um ein großes und formvollendetes Werk hervorzubringen. Das Gegenwärtige ist viel zu lebendig, es bewegt einen und regt einen zu sehr auf; die Feder des Schriftstellers wird ganz unmerklich und ohne daß man es fühlt, von einer satirischen Anwandlung erfaßt. Dazu sieht man, wenn man selbst mitten unter den Leuten weilt und mehr oder weniger mit ihnen zusammenarbeitet, nur _die_ Menschen vor sich, die sich in unserer Nähe befinden: die ganze Masse, die Menge sieht man nicht, denn man kann nicht alles übersehen. Ich fing also an, darüber nachzugrübeln, wie ich mich den anderen Leuten entziehen und einen solchen Standpunkt einnehmen konnte, von dem ich die ganze Masse und nicht nur _die_ Menschen zu sehen vermochte, die neben mir standen -- wie ich mich so vom Gegenwärtigen entfernen konnte, daß es sich für mich gewissermaßen in Vergangenheit verwandelte. Meine erschütterte Gesundheit und einige kleine Unannehmlichkeiten, die noch dazu kamen und die ich heute mit Leichtigkeit ertragen hätte, mit denen ich dagegen damals noch nicht fertig zu werden vermochte, veranlaßten mich dazu, das Ausland aufzusuchen. Ich habe mich nie nach fremden Ländern hingezogen gefühlt, ich habe nie eine leidenschaftliche Vorliebe für sie gehabt. Auch besaß ich nichts von jener dunklen Neugierde, wie sie Menschen verzehrt, die nach starken Eindrücken dürsten. Aber seltsam! schon während meiner Kinderjahre, selbst während meiner Schulzeit und damals, als ich immer nur an den Staatsdienst und keinen Augenblick daran dachte, daß ich Schriftsteller werden könnte, kam es mir immer so vor, als ob ich dazu bestimmt sei, in meinem Leben noch einmal irgendein großes Opfer zu bringen, und daß ich gerade, um meinem Vaterlande zu dienen, gezwungen sein würde, mich in der Ferne darauf vorzubereiten und zu erziehen. Ich wußte nicht, _wie_ das geschehen würde, noch wozu das nötig sei; ich dachte auch gar nicht darüber nach, ich sah mich jedoch so lebendig vor mir, sah, wie ich mich in einem fremden Lande in Sehnsucht nach meinem Vaterlande verzehre, ja dies Bild verfolgte mich so häufig, daß es mich ganz traurig machte. Vielleicht war das nur jene unbegreifliche poetische Sehnsucht, die auch Puschkin manchmal beunruhigte und ihn veranlaßte, fremde Länder aufzusuchen, lediglich um, wie er sich ausdrückt, Mich unterm Himmel Afrikas Nach Rußlands trüben Gaun zu sehnen. Wie dem auch sein mag, dieser unwillkürliche Drang in mir war so stark, daß noch keine fünf Monate seit meiner Ankunft in Petersburg vergangen waren, als ich bereits ein Schiff bestieg, da ich nicht die Kraft hatte, diesem mir selbst so unbegreiflichen Gefühl zu widerstehen. Der Plan und der Zweck meiner Reise waren sehr verschwommen. Ich wußte nur das eine, daß ich sicherlich nicht _deswegen_ auf Reisen ging, um mich an fremden Ländern zu erfreuen, sondern um schwere Leiden durchzukosten, ganz als ob ich ahnte, daß ich erst jenseits von Rußland den wahren Wert meines Vaterlandes erkennen und mich fern von ihm mit Liebe zu ihm erfüllen würde. Kaum befand ich mich auf See, auf einem fremden Schiffe und unter fremden Leuten (das Schiff war ein englischer Dampfer, auf dem sich keine Menschenseele aus Rußland befand), so wurde mir traurig zumute; ich sehnte mich so sehr nach meinen Freunden und den Kameraden meiner Kindheit, die ich verlassen und die ich stets innig geliebt hatte, daß ich, noch ehe ich das feste Land betreten hatte, schon an die Rückreise dachte. Ich blieb nicht länger als drei Tage im Auslande, und obwohl mich die Neuheit der Gegenstände reizte, beeilte ich mich, auf demselben Dampfer nach Hause zurückzukehren, aus Furcht, daß es mir später vielleicht nicht mehr gelingen könnte, den Weg nach Hause zurückzufinden. Von da ab gab ich mir das Wort, überhaupt nicht mehr an fremde Länder zu denken -- und während der ganzen Zeit meines Petersburger Aufenthaltes, d. h. während voller sieben Jahre kam mir nicht der Gedanke an eine Reise in ein fremdes Land, bis der Zustand meiner Gesundheit, einige schmerzliche Erlebnisse und endlich mein Bedürfnis nach Einsamkeit mich dazu nötigten, Rußland zu verlassen. Zweimal bin ich nachher wieder nach Rußland zurückgekehrt, einmal sogar, um für immer dort zu bleiben. Ich glaubte, jetzt, wo mich ein solches Verlangen erfaßt hatte, mir über alles klar zu werden, würde es mir bestimmt gelingen, vieles in Erfahrung zu bringen. Aber, ist es nicht merkwürdig? Mitten im Herzen Rußlands, sah ich beinahe nichts von Rußland selbst. Alle Menschen, denen ich begegnete, sprachen mit großer Vorliebe davon, was in Europa vorgeht, und dagegen redeten sie nie davon, was in Rußland passiert. Ich erfuhr nur, was man im englischen Klub treibt, und noch einiges andere, was ich schon von selbst wußte. Es ist bekannt, daß jeder von uns seinen eigenen Kreis von nahen Bekannten hat, und daher ist es sehr schwer für ihn, andere Leute, die nicht dazu gehören, kennen zu lernen, erstlich schon deswegen, weil er sich verpflichtet fühlt, möglichst häufig mit den ihm nahestehenden Menschen zusammen zu sein, und ferner, weil ein Kreis von Freunden schon an und für sich so viel Angenehmes hat, daß man sehr viel Selbstaufopferung besitzen muß, um sich ihm zu entziehen. Alle Menschen, die ich kennen lernte, teilten mir immer nur fertige Schlüsse und Folgerungen und nicht bloß schlichte Tatsachen mit, auf die es mir gerade ankam. Überhaupt bemerkte ich, daß eine gewisse Veränderung in den Köpfen und in den Gedanken der Leute vorgegangen war. Jedermann betrachtete die Sache mit einem weit philosophischeren Blick, als man dies jemals früher zu tun pflegte; man wollte stets den geheimsten Sinn und die tiefste Bedeutung einer jeden Sache ergründen: ein Motiv, eine Regung, die darauf hindeutete, daß die Gesellschaft einen mächtigen Schritt vorwärts gemacht hatte. Andererseits entsprang hieraus eine gewisse Übereilung, mit der man sogleich die Schlüsse und Konsequenzen zog und nach zwei bis drei Tatsachen über das Ganze urteilte; man übersah völlig, daß damit noch nicht alle Dinge und nicht alle Seiten einer Sache in Betracht und in Erwägung gezogen waren. Ich bemerkte, daß sich beinahe jeder in seinem Kopfe seine eigene Vorstellung über Rußland gebildet hatte, und das war der Anlaß zu fortwährenden Streitigkeiten. Ich aber brauchte etwas ganz anderes: ich brauchte jene einfachen Unterhaltungen, wie sie noch früher in den alten Zeiten üblich waren, wo jeder bloß das erzählte, was er in seinem Leben gesehen und gehört hatte, und wo ein Gespräch mehr einer Anekdotensammlung als einer Diskussion glich. Das brauchte ich gerade deswegen, weil ich unwillkürlich selbst von dieser hastigen Sucht, sofort übereilte Schlüsse und Folgerungen aus allem zu ziehen -- dieser allgemeinen Tendenz unserer Zeit --, angesteckt war. Noch mehr aber mußte ich mich über unsere Provinz wundern. Dort hörte man nicht einmal den Namen »Rußland« aussprechen. Wie mir schien, waren nur solche Dinge in aller Munde und sprach man nur über solche Gegenstände, die man in den neuesten aus dem Französischen übersetzten Romanen gelesen hatte. Kurz -- während meines ganzen Aufenthalts in Rußland zerfiel und zerstob Rußland förmlich in meinem Kopfe. Ich konnte mir durchaus kein Ganzes daraus gestalten, mein Mut sank, und sogar mein Verlangen, es kennen zu lernen, wurde schwächer. Sowie ich es jedoch verließ, formte es sich mir in Gedanken sogleich wieder zu einem Ganzen, der Wunsch, das Land kennen zu lernen, erwachte aufs neue, und die Lust, jeden frischen Menschen, der frisch aus Rußland eingetroffen war, kennen zu lernen, wurde wieder stark und mächtig in mir. Es bildete sich sogar die Fähigkeit in mir heraus, die Leute auszufragen, und oft erfuhr ich in einem Gespräch von der Dauer einer Stunde, was ich während meines Aufenthaltes in Rußland nicht einmal im Laufe einer Woche in Erfahrung zu bringen vermochte. Jedermann weiß, daß man im Ausland viel leichter Bekanntschaft macht, daß sich in den Bädern Deutschlands und in den Winterstationen Italiens Menschen begegnen, die in ihrem eigenen Lande vielleicht nie miteinander zusammengetroffen wären und die sich ihr ganzes Leben lang nicht kennen gelernt hätten. Das war es, was mich veranlaßte, einem Aufenthalt außerhalb Rußlands den Vorzug zu geben, schon im Hinblick darauf, daß ich auf diese Weise mehr von Rußland erfahren konnte. Ich dachte sehr lange darüber nach, wie ich mich in Rußland selbst über vieles unterrichten könnte, was dort vorgeht. Durch Reisen im Lande selbst erreicht man nicht viel: das einzige, was man davon im Kopfe behält, sind die Stationen und die Kneipen. In den Städten und Dörfern Bekanntschaften anzuknüpfen, ist für einen Mann, der nicht gerade im Auftrage der Regierung reist, auch nicht einfach, man wird leicht für einen Spitzel gehalten, und das einzige Ergebnis ist höchstens ein Sujet für eine Komödie, die man: _Der Wirrwarr_ betiteln könnte. Wenn man jedoch erfährt, daß der Reisende noch dazu ein Schriftsteller ist, so wird die Situation noch weit komischer: die Hälfte aller russischen Leser ist fest davon überzeugt, daß ich nur einen einzigen Lebenszweck habe, nämlich diesen, alles am Menschen vom Kopf bis zu den Füßen zu verspotten. Und doch habe ich bisher noch nie ein so lebhaftes Bedürfnis empfunden, die gegenwärtige Lebenslage des Russen von heute kennen zu lernen -- um so mehr, als gerade heute die Gegensätze in der Denkweise so groß geworden sind und alle Welt von einem wahren Wirbel von Mißverständnissen erfaßt ist, so daß kein Mensch mehr imstande ist, seine Nebenmenschen richtig zu beurteilen, und daß man genötigt ist, jedes Ding mit seinen eigenen Händen zu betasten, da man niemand mehr trauen kann. Ich konnte diese Daten nicht entbehren. Die Charaktere und Personen, die ich mir jetzt für mein Werk ausersehen habe, sind viel bedeutender als die, die ich mir früher zum Vorwurf genommen hatte. Je größer die Vorzüge einer bestimmten Persönlichkeit sind, um so greifbarer und plastischer muß man sie vor dem Leser erstehen lassen. Dazu bedarf man all der unendlichen Kleinigkeiten und Details, die dafür sprechen, daß diese bestimmte Person auch wirklich gelebt hat; sonst wird sie zu einem idealen Gebilde, sonst wird sie matt und blaß und trotz aller Tugenden, mit denen man sie ausstatten mag, armselig und nichtssagend ausfallen. Der Russe muß wirklich das Gefühl haben, daß die dargestellte Persönlichkeit aus demselben Leibe herausgeschnitten ist, dem er selbst als ein Bestandteil angehört, daß sie etwas Lebendiges, daß sie Fleisch von seinem Fleisch und Blut von seinem Blute ist. Nur dann wird er mit seinem Helden in eins zusammenfließen und unmerklich jene suggestiven Wirkungen, die von ihm ausgehen, an sich erfahren, die durch kein Räsonnement und keine Predigt hervorgebracht werden können. Eine solche volle Verkörperung, diese letzte in sich geschlossene Vollendung eines Charakters vollzieht sich nur dann in mir, wenn ich meinen Geist mit all diesen prosaischen realen Kleinigkeiten und Nichtigkeiten des Lebens erfülle, wenn ich alle großen Charakterzüge jener Menschen im Kopfe habe, zugleich jedoch auch all die Lumpen und Fetzen bis zur kleinsten Stecknadel, die den Menschen täglich umgeben, zusammentrage und um ihn herum aufstaple, kurz, wenn ich alles, das Große wie das Kleine, berücksichtige und nichts außer acht lasse. In dieser Beziehung habe ich genau so einen Verstand, wie man ihn beim größten Teil aller Russen findet, d. h. ich habe mehr die Fähigkeit, Schlüsse und Folgerungen zu ziehen, als etwas zu erfinden und zu erdichten. Ich mußte immer erst eine große Menge von Menschen anhören, wenn ich mir eine eigene Meinung bilden sollte, und dann erst fanden die Leute meine Meinung gesund und vernünftig. Hörte ich dagegen nicht alle an und zog ich einen übereilten Schluß, so waren meine Ansichten bloß schroff und ungewöhnlich. Selbst in meinem letzten Buch, in meinem »_Briefwechsel mit meinen Freunden_«, kommt vieles vor, das Ähnlichkeit mit einer bloßen Präsumtion oder einer Vermutung hat und doch gar keine Voraussetzung ist. Es enthält nichts als Folgerungen, aber die einen Schlüsse und Folgerungen sind unter Berücksichtigung sämtlicher Seiten einer Sache gezogen und sind daher allen klar, während andere nur Folgerungen aus einigen Tatsachen darstellen, die nicht allen bekannt sind; und daher sind sie auch so oder erscheinen sogar vielen einfach als Torheit. Das ist auch der Grund, weswegen es kaum ein Werk von mir gibt, in dem nicht neben reifen Gedanken auch ganz unreife stehen und in dem nicht der Mann und das Kind, der Lehrer und der Schüler gleichzeitig zu Worte kommen. Es war mir also nicht möglich, mir all das zu verschaffen, was ich brauchte. Und da ich es mir nicht zu verschaffen vermochte -- ist es da wohl ein Wunder, daß ich nicht arbeiten konnte? Wie kann man mit sich selbst kämpfen, wenn man solche Ansprüche an sich selbst zu stellen gelernt hat? Wie soll die Einbildungskraft sich da zum Fluge erheben -- selbst wenn sie vorhanden ist --, wo der Verstand bei jedem Schritt die Frage nach dem »Warum« stellt? Warum mußten eine Reihe von Umständen eintreten, die ich nicht herbeigerufen habe? Warum konnte ich mir erst durch eine strenge Erforschung und Analyse meiner eigenen Seele die Kenntnis der Menschenseele erwerben? Warum wurde ich erst da von dem Verlangen erfaßt, den russischen Menschen darzustellen, als ich das allgemeine Gesetz der menschlichen Handlungen kennen gelernt hatte, und warum lernte ich es erst kennen, nachdem ich den Weg zu Ihm gefunden hatte, Der allein alles menschliche Tun und jedes geringste Geheimnis unserer Seele durchschaut? -- Warum wurde ich so von dem Verlangen gequält, die Seele des Menschen kennen zu lernen? Warum traten endlich solche Umstände ein, von denen ich nicht einmal sprechen kann, die mich jedoch nötigten, gegen meinen Willen tiefer in die Menschenseele hinabzutauchen? Warum blieb für mich die Fähigkeit, mich überall an der Schönheit der Menschenseele zu erfreuen, wo sie mir immer entgegentreten mochte, stets der Gipfel, die Krone aller ästhetischen Genüsse? Warum wurde ich seit den Tagen meiner Kindheit unaufhörlich von dem Verlangen gequält, die menschliche Seele zu ergründen? Erklärt mir vor allem, warum dies so kommen mußte, und dann fragt mich: warum ich nicht mehr so schreiben kann, wie ich früher geschrieben habe. Ich wollte den Umständen und dieser Ordnung, die ja nicht ich eingesetzt hatte, Widerstand leisten. Ich versuchte es mehrmals, so zu schreiben, wie ich es früher getan, wie ich in meiner Jugend geschrieben hatte, das heißt, wie sich's traf, wie es meiner Feder beliebte, aber es wollte mir nichts mehr aus der Feder fließen. Voller Freude, daß ich durch meine an meine Freunde und Bekannten gerichteten Briefe wieder einigermaßen ins Schreiben hineingekommen war, wollte ich sofort Nutzen daraus ziehen, und sowie ich mich von meiner schweren Krankheit erholt hatte, machte ich gleich ein Buch daraus, wobei ich bestrebt war, den Stoff nach Möglichkeit zu ordnen und dem Ganzen einen gewissen Zusammenhang zu geben, damit das Buch den Charakter eines vernünftigen Werkes erhielte; ich bedachte nicht, daß das Publikum vieles davon, was an einzelne Personen gerichtet war, auf sich beziehen würde, besonders nach meinem Testament, das sich an alle meine Landsleute richtete. Ich fürchtete mich davor, die Fehler und Mängel des Buches selbst nachzuprüfen, und verschloß meine Augen, denn ich wußte, daß ich mein Buch, wenn ich es einer strengeren Prüfung unterziehen würde, vielleicht ebenso vernichten könnte, wie ich die »Toten Seelen« und alles, was ich in der letzten Zeit geschrieben hatte, vernichtet habe. Ich glaubte, dies Buch könnte die Leser wenigstens in geringem Maße für mein langes Schweigen entschädigen, ich glaubte, ich könnte darin meine schwierige Lage schildern und darlegen, die mir in der letzten Zeit das Schreiben unmöglich gemacht hatte, und ich würde die Aufmerksamkeit auf die praktischen Fragen und die Fragen des Lebens lenken. Ich beabsichtigte ferner, solche Dinge zu berühren, die mir einen tieferen Einblick in Rußland verschaffen, mich erfrischen und beleben und zwingen würden, zur Feder zu greifen. Aber es geschah nichts von alledem: alle Welt überhäufte mich mit Vorwürfen. Ich bekam nur Worte und Reden über Dinge zu hören, die nicht durch Worte und Reden entschieden werden können. Ich ließ die Hände sinken. Der Trieb, der sich scheinbar schon in mir zu regen begonnen hatte, erlosch, und ich fühlte mich ganz von selbst und ohne daß ich es merkte, vor die Frage gestellt, die mir noch nie in den Sinn gekommen war: soll ich überhaupt noch etwas schreiben? Soll ich noch weiter in diesem Berufe tätig sein, von dem mich in der letzten Zeit alles so offenkundig abzuziehen schien? Angenommen, daß es mir selbst gelingen sollte, mich zu überwinden, angenommen selbst, daß mein Kiel wieder die nötige Leichtigkeit und Beständigkeit erlangen würde, und daß mir eine Seite nach der anderen ganz zwanglos aus der Feder fließen würde -- war meine seelische Verfassung wirklich derartig, daß meine Werke der Gesellschaft von heute tatsächlich von Nutzen sein konnten und heute eine Notwendigkeit für sie darstellten? Werfen wir dazu einmal einen Blick auf den Zustand der Gesellschaft unserer Zeit: begünstigt die Gegenwart den Schriftsteller im allgemeinen? und ferner: ist sie einem Schriftsteller, wie ich einer bin, günstig? Alle sind sich mehr oder weniger darüber einig, daß unsere heutige Zeit eine Übergangszeit genannt werden kann. Alle fühlen heute mehr denn je, daß sich die Welt auf dem Marsche und nicht im Hafen befindet, das ist nicht einmal eine Station, auf der man vorübergehend haltmacht, kein Nachtquartier und kein Rasten während der Reise. Alles sucht etwas, aber es sucht es nicht draußen, sondern in dem eigenen Inneren. Die moralischen Fragen haben ein starkes Übergewicht über die politischen, die Probleme der gelehrten Wissenschaft sowie alle anderen Probleme erlangt. Kein Schwert und kein Kanonendonner vermögen das Interesse der Welt mehr zu fesseln. Überall kommt mehr oder weniger deutlich der Gedanke eines inneren Aufbaus, einer inneren Organisation zum Durchbruch: alles wartet auf das Eintreten einer strengeren harmonischeren Lebensordnung. Der Gedanke der Organisation, des Aufbaus sowohl des eigenen Ichs wie des der anderen wird immer mehr Allgemeingut. Alle bedeutenden Menschen, die an der Spitze marschieren, erleben Krisen und Umwälzungen in ihrem Inneren, manche sogar in den Jahren, wo in der Seele des Menschen bisher noch nie ein innerer Umschwung oder eine innere Besserung und Erhebung möglich zu sein schienen. Ein jeder fühlt mehr oder weniger, daß er sich nicht in der richtigen Verfassung befindet, in der er sich eigentlich befinden sollte, wenn er auch nicht weiß, worin dieser ersehnte Zustand nun eigentlich besteht. Dennoch aber sucht und strebt alles nach diesem ersehnten Zustande; alle Ohren lauschen gespannt und richten sich dorthin, woher sie etwas über die Fragen, die heute alle beschäftigen, zu vernehmen hoffen. Kein Mensch will ein Buch lesen, das nicht wenigstens eine Spur von all jenen Fragen enthält. Bedarf man also wohl in solch einer Zeit der Werke eines Schriftstellers, der über ein gewisses schöpferisches Talent verfügt, der lebendige Bilder von Menschen zu erschaffen vermag, und der die Gabe hat, das Leben eindringlich und plastisch darzustellen, so wie es ihm erscheint, -- der von dem Verlangen verzehrt wird, es kennen zu lernen? Machen wir uns zunächst einmal klar, was das für ein Schriftsteller ist, dessen Hauptbegabung sein schöpferisches Talent ist. Alle Welt stimmt mehr oder weniger darin überein, daß ein produktiver Schriftsteller seine Werke schreibt, um die Menschen zu belehren. Die Ansprüche, die an ihn gestellt werden, sind gewaltig -- und mit Recht: um nichts als eine gute Kopie dessen, was man vor Augen sieht, herzustellen, dazu gibt es auch andere Schriftsteller, die häufig ein außergewöhnliches Talent für das beschreibende, malende Genre besitzen, denen jedoch die _schöpferische_ Gabe völlig mangelt. Wer dagegen _schafft_, wer viel Zeit und Mühe darauf verwendet, dem sein Werk teuer zu stehen kommt, der darf seine Mühe und Arbeit nicht umsonst verschwenden. Die Schöpfungen seiner Kunst müssen für unser Leben einen Fortschritt bedeuten, er muß, wenn er seine Zeit verstanden hat, wenn er auf der Höhe jener Epoche steht, dieser Epoche seine Schuld für die Belehrung, die er aus ihr geschöpft hat, abtragen können, indem er auch sie seinerseits wieder belehrt. So wenigstens bestimmen die Ästhetiker unserer Zeit ebenso wie die früherer Zeiten das Wesen des Dichters oder ganz allgemein das Wesen eines Schriftstellers von schöpferischer Begabung. Die Menschen ganz so zu reproduzieren, wie man sie in sich aufgenommen hat, ist für einen schöpferischen Schriftsteller sogar unmöglich, das wird ein Schriftsteller weit besser machen, der über einen flinken Pinsel verfügt, sofort und jederzeit nachzuahmen vermag, was an seinem Blick vorüberzieht, und der von keinen inneren Skrupeln gequält und beunruhigt wird. Folglich kann in unserer heutigen Zeit, wo alle Menschen so sehr mit den Fragen des Lebens beschäftigt sind, ein solcher Schriftsteller mehr als jemand anderes das lösende Wort in den Fragen der Gegenwart sprechen; aber wann und in welchem Falle? Nur dann und in dem Falle, wenn er sich schon selbst alle Fragen, die ihn beunruhigen, beantwortet hat. Wenn er sich bei allen seinen großen Gaben zu einer plastischen Anschaulichkeit des Stils, zu der Adlerkraft und -schärfe des Blicks, zu dem fortreißenden lyrischen Schwung und der zermalmenden Wucht seines Sarkasmus noch eine umfassende Kenntnis seines Landes und seines Volkes bis hinab in seine Wurzeln und Auszweigungen erworben, wenn er sich zum Bürger seines Landes und zum Bürger der ganzen Menschheit herangebildet hat und überall da, wo dem Menschen geboten ward, hart zu sein wie ein Fels, unerschütterlich dasteht wie ein Stein, dann mag er seine Laufbahn antreten. Wenn er wirklich über solche Mittel und Werkzeuge verfügt, dann wird er dem Publikum solche Menschen vorführen, wie er sie gegenwärtig und in unserem heutigen Zeitalter braucht, und er wird sie mit jener porträthaften Anschaulichkeit ausstatten, die da macht, daß das Bild eines Menschen uns überallhin verfolgt, so daß wir es nicht wieder loswerden können. Bei solchen Mitteln wird es ihm natürlich nicht schwer werden, alle jene Heldengestalten, mit denen die modernen Schriftsteller unsere Köpfe vollgestopft haben, wieder auszutreiben. Man muß nur einmal statt durch heftige leidenschaftliche Reden durch solche lebendige Bilder, die wie die rechtmäßigen Herren in der Seele der Menschen ein und aus gehen, zum Publikum sprechen, -- so werden sich einem die Tore der Herzen von selbst öffnen, um sie aufzunehmen, wenn man nur das Gefühl hat und nur das Geringste davon spürt, daß diese Gestalten und Bilder aus unserem eigenen Wesen geschöpft sind, daß sie unserem eigenen Körper entstammen. Wer könnte in solch einem Falle noch daran zweifeln, daß heutzutage niemand eine so starke Wirkung auszuüben vermöchte, wie solch ein Schriftsteller, und daß niemand unserer Zeit und unserer heutigen Epoche notwendiger ist als er. Wenn er jedoch tatsächlich über einige von diesen Mitteln und Werkzeugen verfügt, sich aber noch nicht zu einem Bürger seines Landes und der Menschheit herangebildet hat, wenn er, dem allgemeinen Zuge der Zeit folgend, selbst noch im Werden und in der Entwicklung begriffen ist, dann wäre es für ihn sogar gefährlich, sich in die Öffentlichkeit hinauszuwagen; dann kann seine Wirkung eher schädlich als nützlich sein. Diese Arbeit an sich selbst wird in allem zum Ausdruck kommen, was seiner Feder entstammt. Je weniger Ähnlichkeit er mit anderen Leuten hat, je ungewöhnlicher er uns erscheint, je mehr er sich von anderen Menschen unterscheidet, je eigenartiger er ist, zu um so mehr Irrtümern und Mißverständnissen kann er überall Anlaß geben. Das, was in ihm lediglich eine natürliche Äußerung, eine normale Funktion seines außergewöhnlichen Organismus, ein vorübergehender Zustand, eine Stimmung seines Geistes ist, kann anderen Menschen als ein Höhepunkt, als Zielpunkt erscheinen, den alle erreichen müssen. Je liebevoller er sich für seine Helden und Charaktere einsetzt, je gründlicher er sie ausführt, und je lebendiger seine Darstellung ist, um so größer wird der Schaden sein. Wir alle haben den Beweis dafür vor Augen. Eine bekannte französische Schriftstellerin, die alle anderen an Begabung überragt, hat in wenigen Jahren eine gewaltigere Umwälzung in den Sitten hervorgerufen als sämtliche Schriftsteller, die sich bemühten, die Menschen zu korrumpieren. Sie hat vielleicht gar nicht einmal daran gedacht, die Unsittlichkeit zu predigen, ihre Schriften waren möglicherweise nur der Ausdruck einer vorübergehenden Verirrung, der sie in einer späteren Epoche ihrer geistigen Entwicklung vielleicht wieder entsagt, von der sie sich wieder losgesagt hat, allein das Wort war bereits gefallen: »_Ein Wort ist wie ein Spatz_,« sagt ein russisches Sprichwort, »_läßt du es aus der Hand, so fängst du es nie mehr ein_.« Ich selbst bin ein Schriftsteller, dem es nicht ganz an schöpferischer Begabung fehlt; ich besitze auch einige von den Gaben und Fähigkeiten, in denen eine suggestiv fortreißende Kraft liegt. Der allgemeinen Zeitströmung folgend, die nicht von uns gemacht wird, sondern dem Willen des Höchsten entspringt, ... strebe auch ich nach Bildung und Organisierung meines Ichs, wie dies auch andere tun, und ich fühle, daß ich noch sehr weit von dem Ziele entfernt bin, dem ich zustrebe, und daß ich daher nicht öffentlich hervortreten sollte. Auch das unlängst veröffentlichte Buch »Briefwechsel mit meinen Freunden« ist ein Beweis dafür. Wenn schon dies Buch, das nicht mehr als eine Abhandlung ist, wie man sagt, durch seine Unbestimmtheit zu Irrtümern Anlaß gibt und sogar zur Verbreitung verkehrter Gedanken beiträgt, wenn schon von diesen Briefen, wie man sagt, einem ganze Sätze und Seiten wie lebendige Bilder im Kopf haften bleiben, was wäre erst dann geschehen, wenn ich, statt mit diesen Briefen, mit einem erzählenden Werk voll lebendiger Anschauungen hervorgetreten wäre? Ich fühle selbst, daß hierin weit mehr meine Stärke liegt als in theoretischen Erörterungen. Jetzt kann die Kritik mich noch angreifen, dann jedoch wäre kaum jemand imstande gewesen, mich zu widerlegen. Meine Bilder hätten etwas Suggestives gehabt und hätten sich so in den Köpfen festgesetzt, daß kein Kritiker sie von dort hätte wieder austreiben können. Man darf nicht außer acht lassen, daß alle dargestellten Personen und Charaktere die Wahrheit meiner eigenen Überzeugungen hätten beweisen müssen und meine Überzeugungen ... Wenn ich dieses Buch mit den von mir vernichteten »Toten Seelen« vergleiche, so kann ich nicht dankbar genug sein für den mir zuteil gewordenen Impuls, sie zu vernichten. Trotzdem aber stehe ich in meinem Briefwerk auf einem höheren Standpunkt als in den vernichteten »Toten Seelen«. Die Dunkelheit des Ausdrucks verwirrt an vielen Stellen den Leser; wenn ich denselben Gedanken etwas deutlicher und klarer ausgedrückt hätte, so hätten viele Leute unterlassen, mir Einwände zu machen. In den von mir vernichteten »Toten Seelen« ist weit mehr von dem Übergangszustand, von dem inneren Umschwung in mir zum Ausdruck gekommen, es steckt noch eine weit größere Unbestimmtheit in den grundlegenden Prinzipien darin, die Gedanken haben mehr bewegende, treibende Kraft, einzelne Teile enthalten schon sehr viel Eindrucksvolles, mit sich Fortreißendes, und die Helden haben etwas Suggestives. Kurz -- als ein ehrlicher Schriftsteller hätte ich die Feder niederlegen müssen, selbst dann, wenn ich wirklich den Drang gefühlt hätte, sie zu ergreifen. Aber so etwas muß mit Besonnenheit betrachtet werden. Alle die, die leichtfertig von mir verlangen, daß ich in meiner schriftstellerischen Arbeit fortfahren soll, und doch zugleich mein letztes [Buch] schlecht machen, sollten sich doch zum mindesten die ganze Sache etwas genauer überlegen und alle Umstände in Betracht ziehen, die kein Richter außer acht läßt, wenn er über jemand zu Gericht sitzt. Ich habe den Eindruck, daß heute nicht nur ein Mensch, der schriftstellerisch tätig ist, sondern jeder Kopf überhaupt sich der Tätigkeit enthalten sollte, wenn er die Neigung hat, Schlüsse und Folgerungen zu ziehen und selbst noch ... Von den klugen Leuten sollten nur solche sich öffentlich betätigen, deren Erziehung vollendet ist und die fertige Bürger ihres Landes sind, und von den Schriftstellern nur solche, die Rußland ebenso glühend lieben wie der, der sich Kosak Luganski nennt, und die es gleich ihm verstehen, die Natur so zu schildern, wie sie wirklich ist, ohne uns das Gute und Böse an der russischen Natur zu unterschlagen, das sollten nur Schriftsteller tun, die sich einzig und allein von dem Wunsche leiten lassen, alle Welt über den wirklichen Zustand aufzuklären, in dem sich heute die Menschen in Rußland befinden. Es wird _mir_ sicherlich viel schwerer als irgend jemand sonst, die schriftstellerische Tätigkeit aufzugeben, wo sie doch der Inhalt aller meiner Gedanken und Wünsche war, wo ich doch allem anderen, allen Lockungen des Lebens entsagt und wie ein Mönch alle Bande, die mich an alles das, was dem Menschen hier auf Erden teuer ist, zerrissen habe, um an nichts mehr zu denken als an meine Arbeit. Es wird mir nicht leicht, der schriftstellerischen Tätigkeit zu entsagen: gehörten doch gerade die Augenblicke zu den schönsten meines Lebens, wo ich das, was ich lange in Gedanken ausgebrütet hatte, zu Papier bringen durfte; bin ich doch auch jetzt noch immer überzeugt, daß es kaum einen höheren Genuß gibt als den des _Schaffens_. Aber -- ich wiederhole dies nochmals -- als ehrlicher Mensch müßte ich meine Feder selbst dann noch niederlegen, wenn ich den inneren Drang fühlte, sie zu ergreifen. Ich weiß nicht, ob ich ehrlich genug gewesen wäre, so zu handeln, wenn ich nicht die Fähigkeit zum Schreiben verloren hätte; denn -- um ganz aufrichtig zu sein -- das Leben hätte dann plötzlich allen Wert für mich eingebüßt; nicht mehr schreiben, nicht schaffen, das hätte für mich ebensoviel bedeutet, wie nicht leben. Aber es gibt keinen Verlust, für den uns nicht ein Ersatz geschaffen wird, was ein Beweis dafür ist, daß der Schöpfer den Menschen keinen Augenblick verläßt. Das Herz bleibt keinen Moment ganz leer und kann nicht ganz ohne Wunsch sein. Wie die Erde, die eine Weile vom Pflug unberührt bleibt, andere und neue Kräuter und Gräser wachsen läßt, bis sie sich in ein neues von ihnen befruchtetes und gedüngtes Ackerfeld verwandelt, so kehrten auch in mir, als ich die Fähigkeit, zu schaffen verloren hatte, meine Gedanken aufs neue zu dem Gegenstand zurück, von dem ich in meiner Kindheit geträumt hatte. Ich wollte wieder dienen; jede, selbst die kleinste und unscheinbarste Stellung hätte mir genügt, wenn ich nur meinem Vaterlande so hätte dienen können, wie ich ihm einstmals hatte dienen wollen, ja ich hätte ihm jetzt noch weit treuer und besser dienen mögen, als ich dies jemals gewünscht hatte. Der Gedanke an einen solchen Dienst hat mich niemals verlassen. Ich söhnte mich auch erst mit meiner schriftstellerischen Tätigkeit aus, als ich mich innerlich überzeugte, daß man auch auf diesem Gebiete seinem Vaterlande dienen könne. Aber auch damals dachte ich noch daran, wenn ich einmal ein großes Werk vollendet haben würde, ganz so wie die anderen Menschen in den Staatsdienst einzutreten und mir eine Stellung zu suchen. Meine Pläne und Absichten hatten bloß etwas Anmaßendes und entsprangen einer hochmütigen Gesinnung. Ich glaubte, wenn ich den Beweis dafür ablegen würde, daß ich den Russen wirklich von Grund aus, in seiner Wurzel und seinen fundamentalsten Zügen kenne, d. h. wenn ich ihn sowohl in den Zügen, die allen erkennbar, als auch in denen, die bisher noch verborgen sind, verstehe, ich glaubte, wenn ich den Beweis liefern würde, daß ich die Seele des Menschen nicht aus Büchern und Erzählungen, sondern aus Erfahrung kenne, da ich schon von frühester Jugend auf von dem Wunsche beseelt war, den Menschen begreifen zu lernen, so würde man mir eine Stellung anweisen, die es mir erlauben würde, mit Menschen aller Stände und mit vielen Leuten in persönliche Berührung zu kommen, nicht erst durch Vermittlung von Akten und Kanzleien: eine Stellung, in der ich meine Menschenkenntnis mit wirklichem Nutzen verwerten, mich vielen Leuten nützlich erweisen und mir selbst noch eine größere Menschenkenntnis erwerben würde. Es schien mir so, als ob Rußland am meisten unter den gegenseitigen Mißverständnissen leidet, und daß wir vor allem solche Menschen brauchen, die bei einiger Kenntnis der Seele und des Herzens und ganz allgemein bei einigem Wissen von dem innigen Wunsche nach Frieden beseelt wären. Ich hatte gesehen und bereits die Erfahrung gemacht, daß man durch persönliche Unterhandlungen und Aufklärungen viele Streitigkeiten beilegen konnte, die niemals auf dem Aktenwege zu erledigen sind. Ich dachte mir, wenn es auch heute keine solche Stellungen gebe, so würde ich doch, wenn mein Werk ganz fertig und bereits erschienen sei, einen solchen Posten erhalten, und ich entwarf in Gedanken bereits einen Plan, ein Projekt, in dem ich darlegen wollte, wie ich mich Rußland durch die Fähigkeiten, die ich besaß, nützlich und notwendig erweisen könnte. Ich schmiedete die kühnsten Pläne, da sie sich jedoch lediglich auf den Erfolg meines Werkes gründeten, zerfielen sie sogleich in sich, als mir die Fähigkeit, dichterische Werke zu schaffen, verloren gegangen war. Jetzt sind in meinen Augen alle Ämter und Stellungen gleichwertig, jeder Posten -- der kleinste wie der größte -- hat die gleiche Bedeutung, wenn man ihn nur mit dem gebührenden Ernst ansieht, und es will mir so scheinen, daß man, wenn man den Menschen nur ein wenig zu schätzen weiß und einen Begriff von seiner Würde hat, die ihm selbst dann noch erhalten bleibt, wenn der Mensch viele Fehler und Mängel hat, daß man, sofern man nur etwas wahrhaft christliche Liebe für ihn hat und endlich von wirklicher Liebe zu Rußland erfüllt ist, wie ich glaube, in jeder Stellung sehr viel Gutes wirken kann. Die Kraft des sittlichen Einflusses übertrifft alles andere. Ein Amt und eine Stellung wären für mich dasselbe wie ein Hafen und das Festland für einen Seefahrer. Ich bin überzeugt, daß heutzutage ein jeder, der von dem heißen Wunsch nach dem Guten verzehrt wird, der ein Russe ist und dem Rußlands Ehre am Herzen liegt ... sich ebenso und mit demselben Eifer zu vielen Ämtern und Stellungen im Staate drängen sollte, wie einstmals jeder von uns in die Reihen trat, um das Vaterland gegen den Feind zu verteidigen; denn das Unrecht und die Zahl der Übel sind groß, und sie haben schon viel Schmach über uns gebracht. Andererseits aber bin ich auch überzeugt, daß wir schon um unserer selbst willen ein Amt und eine Stellung brauchen, um ... So stürmisch und aufgeregt die heutige Zeit ist, so erregt und bewegt auch die Geister um uns herum sind, so sehr uns unser eigener Verstand empört, man kann bei alledem doch ruhig bleiben, wenn man nur zu dem Zweck eine Stellung annimmt, um seine Pflicht so zu erfüllen, daß man dem Himmel Rechenschaft dafür abzulegen vermag und sich dessen nicht zu schämen braucht. Wie dem auch sein mag, das Leben ist für uns kein Rätsel mehr. Es war einmal ein Rätsel, als die klügsten unter den Menschen, die Denker und Dichter, über es nachsannen und zur Überzeugung kamen, daß sie nicht wissen, was das Leben ist. Aber nachdem einmal einer -- der der klügste von ihnen allen war -- es mit voller Sicherheit und ohne zu schwanken oder zu zweifeln ausgesprochen hat, _Er_ wisse, was das Leben sei; seitdem dieser _Eine_ von allen anerkanntermaßen für den größten aller Menschen, die bisher gelebt haben, selbst von denen, die nicht zugeben wollen, daß Er Gott sei, gehalten wird, muß man Ihm aufs Wort glauben, selbst wenn Er nur ein einfacher Mensch gewesen sein sollte. Folglich ist die Frage: Was ist das Leben? gelöst. Das aber genügt noch nicht. Uns ward ein vollständiges und umfassendes Gesetz für alle unsere Handlungen gegeben -- ein Gesetz, das keine Gewalt in seiner Wirkung zu hemmen oder zu beschränken vermag, das man selbst bis in die Mauern des Gefängnisses tragen, das man jedoch nicht erfüllen kann, wenn man in der Luft schwebt; dazu muß man zum mindesten ein festes irdisches Fundament unter den Füßen haben. Wenn man ein Amt und eine Stellung innehat, befindet man sich doch immer auf einem bestimmten Wege; besitzt man dagegen keine bestimmte Stellung und kein Amt, so geht man aufs Geratewohl durch Gestrüpp und Schluchten, wenn man auch das gleiche Ziel im Auge behält. Auf einem Wege geht sich's leichter als dort, wo es keine Wege gibt. Wenn man Amt und Stellung als Mittel zu einem Ziel betrachtet, das nicht auf der Erde liegt, sondern als einen Weg zum himmlischen Ziel -- zur Rettung unserer Seele -- ansieht, so erkennt man, daß das Gesetz, das uns Christus gegeben hat, nur für uns selbst gegeben ward, daß er sich gleichsam an uns selbst wendet, um uns klar und deutlich zu zeigen, wie wir uns an der Stelle, an der wir stehen, und in dem Berufe, den wir uns erwählt haben, verhalten sollen. Es ward dem Christen mit aller Bestimmtheit und Deutlichkeit gesagt, wie er sich gegen Höhergestellte benehmen soll, und wenn er nur einen Teil davon erfüllt, so werden ihn alle, die über ihm stehen, liebgewinnen. Es ward dem Christen in aller Bestimmtheit und Deutlichkeit gesagt, wie er sich gegen die verhalten soll, die unter ihm stehen, und wenn er nur einen Teil hiervon erfüllt, so werden ihm alle unter ihm Stehenden von Herzen ergeben sein. Diese ganze Universalität des menschenfreundlichen Gesetzes Christi, dieses Verhältnis der Menschen untereinander kann von jedem von uns auf seine begrenzte Sphäre angewandt und übertragen werden. Wir brauchen bloß alle Menschen, mit denen wir so häufig in unangenehmster und peinlichster Art zusammenstoßen, zu unseren Nächsten und unseren Brüdern zu machen, zu jenen Nächsten, denen uns Christus am meisten zu vergeben und die Er uns am meisten zu lieben geboten hat. Man braucht bloß nicht darauf zu achten, wie die anderen sich gegen uns verhalten, und nur daran zu denken, wie man selbst gegen andere Leute handelt. Man braucht bloß nicht daran zu denken, wie die anderen uns lieben, sondern bloß darauf zu achten, ob man sie auch _selbst_ liebt. Man braucht nur, ohne sich durch irgend etwas gekränkt zu fühlen, dem ersten, dem man begegnet, die Hand zur Versöhnung entgegenzustrecken. Man braucht bloß eine kurze Zeit lang so zu handeln und man wird bald inne werden, daß der Umgang mit anderen Leuten uns selbst und daß ihnen der Umgang mit uns viel leichter wird; dann wird man wirklich die Kraft in sich fühlen, auch an einer unscheinbaren Stelle manch nützliche Tat zu vollbringen. Am schwersten hat es der in der Welt, der noch nicht irgendwo festen Fuß gefaßt hat, der sich's nicht klarmacht, worin sein Beruf besteht: ihm ist es am schwersten, das Gesetz Christi auf sich anzuwenden, das doch dazu da ist, um auf der Erde und nicht in der Luft verwirklicht zu werden; daher muß auch das Leben ein ewiges Rätsel für ihn sein. Ihm gegenüber ist sogar der Gefangene, der im Kerker schmachtet, noch im Vorteil: er weiß, daß er ein Gefangener ist, und er weiß daher auch, was von dem Gesetz er für sich auswählen muß. Ihm gegenüber ist noch der Bettler im Vorteil, er hat auch ein Amt: er ist ein Bettler und weiß daher, was er für sich aus dem Gesetz Christi schöpfen soll. Ein Mensch jedoch, der nicht weiß, was sein Beruf, wo sein Platz ist, der sich nichts klar, der bei nichts haltmacht und nirgends festen Fuß gefaßt hat, der hat weder in der Welt noch außer der Welt ein Heim; er weiß nicht, wer sein Nächster ist, wer seine Brüder sind, wen er lieben und wem er verzeihen soll (man kann nicht die ganze Welt lieben, wenn man nicht erst einmal die lieben lernt, die einem am nächsten stehen und die Gelegenheit haben, uns Kummer zu bereiten): sein Gemütszustand hat die meiste Ähnlichkeit mit einer trockenen mattherzigen Seelenverfassung. So war ich denn nach vielen Jahren langer Mühe und mancherlei Versuchen und häufigem Nachdenken, auf meinem Wege sichtlich vorwärtsschreitend, endlich zu dem Ergebnis gelangt, von dem ich schon während meiner Kindheit geträumt hatte, daß das Dienen die Bestimmung des Menschen und daß unser ganzes Leben ein einziger Dienst ist. Man darf nur nicht vergessen, daß man ein Amt im irdischen Staate übernimmt, um dadurch dem himmlischen König zu dienen, und daher Sein Gesetz stets im Auge behalten muß. Nur wenn man seinen Dienst in dieser Weise auffaßt, kann man es allen recht machen: dem König, dem Volk und seinem Vaterland. Als ich diese Überzeugung gewonnen hatte, war ich schon bereit, mich voller Eifer jedem Amte zu widmen, obwohl ich natürlich bemüht war, mir mit Rücksicht auf meine Fähigkeiten einen solchen Beruf zu wählen, der mich auch weiter in den Stand setzen würde, die Menschen in Rußland auch in der Praxis kennen zu lernen; damit ich, wenn sich bei mir die Fähigkeit zum dichterischen Schaffen wieder einstellen sollte, über ein ausreichendes Material verfügte. Und so war auch einer der Gründe meiner Reise ins Heilige Land der ehrliche Wunsch, an jener Stelle zu Gott zu beten und mir von Ihm, Der uns in jenen Gegenden, die einst Sein Fuß durchschritten, das Geheimnis des Lebens offenbart hat, den Segen für eine rechtschaffene Erfüllung meiner Pflicht und für meinen Eintritt ins Leben zu erflehen; ich wollte Ihm für alles danken, was sich in meinem Leben ereignet hatte, mir von Ihm eine Tätigkeit erbitten und Ihn um Belebung und Erfrischung für den weiteren Weg und das Werk, für das ich mich herangebildet und vorbereitet hatte, anflehen. Und darin finde ich nichts Merkwürdiges, da doch auch der Schüler nach Beendigung seines Lehrganges sich beeilt, dem Lehrer ein Wort des Dankes zu sagen. Wenn doch auch der Sohn zum Grabe des Vaters eilt, bevor er seine Tätigkeit beginnt, warum sollte _ich_ nicht jenem Grabe Ehre und Anbetung erweisen, das alle verehren, an dem allen Trost und Kräftigung zuteil wird und vor dem alle Menschen -- auch solche, die keine Dichter sind -- von Begeisterung ergriffen werden. Es ist vielleicht recht sonderbar, daß ich in einem gedruckten Buche hierüber geredet habe; aber ich hatte mich damals gerade von einer schweren Krankheit erholt. Ich war noch recht schwach und glaubte gar nicht, daß ich imstande sein würde, diese Reise zu vollenden. Ich wollte, daß _die_ für mich beten sollten, deren ganzes Leben ein einziges Gebet geworden war, wußte nicht, wie ich es anstellen sollte, daß meine Stimme bis in die Tiefe der Klosterzellen und in die Mauern der Einsiedler dränge, und ich dachte, daß vielleicht einer von denen, die mein Buch lesen würden, mein Wort bis an das Ohr jener tragen möchte. Ich bat auch die anderen, für mich zu beten, weil ich nicht wußte, wessen Gebet Ihm wohlgefälliger ist, zu Dem wir alle beten. Ich weiß nur das eine, daß der Geringste und Schlechteste unter uns schon morgen ein besserer Mensch werden kann als wir alle und daß sein Gebet eher bis an Gottes Ohr dringen kann als jedes andere Gebet. Dafür hätte man mich nicht so strenge verurteilen sollen; man hätte lieber an die Worte »_Bittet, so wird euch gegeben_« denken und dies Gebot erfüllen sollen. Wie es geschehen konnte, daß ich nun genötigt bin, dem Leser über dies alles Auskunft zu geben, das kann ich selbst nicht begreifen. Ich weiß nur das eine: daß ich nie den Wunsch hatte, mich über meine geheimsten und innersten Seelenregungen zu äußern -- nicht einmal meinen aufrichtigsten Freunden gegenüber. Ich war fest entschlossen, nichts von meinen Seelenerlebnissen zu verraten und alle Urteile, die über mich gefällt wurden, ruhig über mich ergehen zu lassen, da ich fest davon überzeugt war, daß, wenn erst der zweite und dritte Band der »Toten Seelen« erscheinen würden, sich alles aufklären und niemand mehr die Frage stellen würde: was ist der Autor selbst für ein Mensch? trotzdem der Autor gänzlich hinter seinen Helden verschwinden sollte. Nachdem ich mich jedoch einmal darauf eingelassen hatte, gewisse Erklärungen über meine Werke abzugeben, war es ganz unvermeidlich, daß ich auch von mir selbst reden mußte, weil meine Werke auf das engste mit meinen geistigen und seelischen Angelegenheiten in Zusammenhang stehen. Gott weiß, vielleicht geschah auch dies ohne den Willen Dessen, ohne Den in der Welt nichts geschieht; ja, vielleicht mußte dies gerade deswegen geschehen, damit ich einen Einblick in mein eigenes Innere gewinnen konnte. Die Versuchung, hochmütig zu werden, lag mir sehr nahe, besonders nachdem es mir gelungen war, mich tatsächlich von einigen Fehlern und Mängeln zu befreien. Dieser Hochmut nistete beständig in meiner Seele und niemand hat mich darauf aufmerksam gemacht. Bekanntlich genügt es schon, sich eine gewisse Glätte, ein gewisses Gleichmaß und eine gewisse Nachsicht und Toleranz im Umgang mit den Menschen anzueignen, damit sie unsere Fehler übersehen und nicht beachten. Wenn man sich dagegen vor unbekannten Leuten und vor der ganzen Welt zur Schau stellt, und wenn jede unserer Handlungen und Taten bis ins einzelne zerfasert wird, wenn Menschen der verschiedensten Denkungsart, der verschiedensten Anschauungen und mit den verschiedensten Vorurteilen sich jeder nach seiner Weise ein Bild von uns machen, wenn dann von allen Seiten berechtigte und unberechtigte Vorwürfe auf einen niederhageln und mit Vorbedacht oder auch ohne böse Absicht an die empfindlichsten Seiten unseres Wesens rühren, dann fängt man an -- ob man nun will oder nicht -- sich von solch einer Seite zu sehen, von der man sich noch nie gesehen hat, und man beginnt Fehler und Mängel in sich zu suchen, die man sonst nie in sich gesucht hätte. Das ist eine furchtbare Schule, die einen entweder um den Verstand bringt oder klüger und vernünftiger macht, als man jemals war. Nicht ohne Scham und ohne Erröten lese ich vieles in meinem Buche, trotzdem aber danke ich Gott, daß Er mir die Kraft gegeben hatte, es herauszugeben. Ich brauchte einen Spiegel, in dem ich mich erblicken und besser erkennen konnte, ohne dies Buch aber wäre ich schwerlich in den Besitz eines solchen Spiegels gekommen. Und so hat denn mein Buch, das aus der ehrlichen Absicht entsprungen war, anderen zu nützen, vor allem mir selbst am meisten genützt. Es sei mir erlaubt, an dieser Stelle auch einige Worte über den Nutzen zu sagen, den mein Buch anderen Leuten bringen kann. Ist mein Buch wirklich so ganz wertlos für andere Menschen, besonders aber für die Gesellschaft, wie sie heute ist? Mir scheint, alle, die über dies Buch geurteilt haben, haben es mit zu weit aufgerissenen Augen und gar zu hitzig und heftig betrachtet. Man hätte es weit kaltblütiger beurteilen sollen. Statt als Vorkämpfer der ganzen Gesellschaft aufzutreten und mich im Angesicht des ganzen russischen Vaterlandes vor Gericht zu laden, hätte man die Sache viel einfacher ansehen sollen. Man hätte das Buch analysieren, man hätte feststellen sollen, was es seinem innersten Wesen nach ist, und man hätte nicht eher auf die Einzelheiten und die Teile eingehen dürfen, als bis man sich den inneren Sinn des Ganzen völlig klargemacht hatte. Nun aber hatte das allerhand törichte Wortstreitigkeiten zur Folge, ja vielem wurde ein solcher Sinn untergelegt, von dem ich mir nie hatte etwas träumen lassen. Zunächst hätte ich jederzeit das Recht gehabt, davon zu reden, wovon ich in meinem Buche gesprochen habe, wenn ich mich nur einfacher und schicklicher ausgedrückt hätte. Es ist mir nie eingefallen, die Menschen in der Weise belehren zu wollen, wie mir das einige imputieren wollten. Das _Lehren_ verstand ich in dem einfachen Sinne, den die Kirche im Auge hat, wenn sie gebietet, einander unaufhörlich zu belehren, wobei man es verstehen muß, mit derselben Freude Ratschläge von anderen entgegenzunehmen, mit der man selbst anderen welche erteilt. Ich aber war damals wirklich bereit, Ratschläge von anderen Menschen entgegenzunehmen. Ich stellte mir die Gesellschaft keineswegs als eine Schule vor, die mit Schülern von mir angefüllt ist, deren Lehrer ich bin. Ich bestieg mit meinem Buch kein Katheder und verlangte nicht, daß alle aus diesem Buche lernen sollten. Ich kam zu meinen Mitbrüdern und Mitschülern wie ein ihnen gleichgestellter Schulkamerad; ich brachte einige Hefte mit, in denen ich die Worte des Lehrers nachgeschrieben hatte, von Dem wir alle lernen; ich brachte vielerlei mit; mochte sich jeder das davon wählen, was er brauchen konnte. Es waren Briefe darunter, die an Personen von verschiedenem Charakter und verschiedenen Anlagen und Neigungen gerichtet waren. Viele von diesen Personen standen auf ganz verschiedenen Stufen der geistigen Entwicklung; daher konnten sich diese Briefe unmöglich in gleicher Weise auf alle Menschen beziehen und auf sie alle passen. Ich dachte mir, jeder würde sich nur das davon aneignen, was er brauchte, und das andere nicht beachten. Ich hatte nicht geglaubt, daß so mancher gerade danach greifen würde, dessen ein anderer bedurfte, ausrufen würde: »Das kann ich nicht brauchen!« und mir dann noch zürnen würde. Ich wollte auch keine neue Lehre verkünden. Als ein Schüler, der in einigen Fächern etwas weiter fortgeschritten ist als ein anderer Mitschüler, wollte ich es den übrigen Kameraden bloß klarmachen, wie man die Lektion, die uns von dem besten aller Lehrer aufgegeben wird, am schnellsten und leichtesten lernt. Ich hatte geglaubt, wenn man mein Buch gelesen haben würde, würde man zu mir sagen: »Ich danke dir, Mitbruder!« und nicht: »Ich danke dir, mein Lehrer!« Wenn nur nicht mein »Testament« gewesen wäre, das ich unvorsichtigerweise mitaufgenommen habe und in dem ich auf die Belehrung anspielte, die jeder Autor seinen Mitmenschen mit seinen poetischen Werken erteilen sollte, so wäre es niemand eingefallen, mir solche apostolische Absichten zuzuschreiben, trotz meines ziemlich entschiedenen Tons, ja sogar trotz der lyrischen Feierlichkeit meiner Rede. Dagegen wird ein jeder, der bereits in seine eigene Seele zu blicken vermag, meinem Buche mancherlei entnehmen können, was ihm von Nutzen sein dürfte. Was ferner die Meinung anbetrifft, daß mein Buch schädlich wirken müsse, so kann ich dies unter keinen Umständen zugeben. In dem Buche kommt trotz all seiner Mängel die gute Absicht und die Liebe zum Guten viel zu deutlich zum Ausdruck. Trotz vieler unbestimmter und dunkler Stellen leuchtet der Grundgedanke ganz klar aus ihm hervor; und wenn man das Werk gelesen hat, kommt man zu der gleichen Überzeugung: nämlich daß die höchste Instanz in allen Fragen die Kirche und daß _sie_ der Schlüssel zu allen Fragen des Lebens ist. Folglich wird sich der Leser nach der Lektüre meines Buches auf jeden Fall an die Kirche wenden, _in_ der Kirche aber wird er wiederum nur die Lehrer der Kirche finden, die ihn darüber belehren werden, was er sich aus meinem Buche für seine Zwecke aneignen soll; vielleicht aber werden sie ihm auch andere bedeutsamere Bücher statt des meinen geben, um derentwillen er _mein_ Buch beiseitelegen wird, so wie ein Schüler das Buchstabieren aufgibt, wenn er frei lesen gelernt hat. Zum Schluß muß ich noch folgendes bemerken: die Urteile, die über mein Buch gefällt wurden, waren wirklich gar zu apodiktisch und scharf, und keiner, der mir Mangel an echter Bescheidenheit vorgeworfen hat, hat mir gegenüber die rechte Bescheidenheit an den Tag gelegt. Angenommen selbst, ich hätte mir in meinem Hochmut, der aus dem Glauben an meine Vorzüge entsprang, die mir von allen Leuten zugeschrieben wurden, einbilden können, daß ich höher stehe als alle anderen Menschen und daß ich das Recht habe, über andere Leute zu richten, worauf aber könnte sich der stützen, der mit solcher Sicherheit über mich zu Gericht sitzt und nicht einmal das Gefühl hat, daß er höher steht als ich? Wie dem auch sein mag, um ein allseitiges Urteil über einen Menschen zu fällen, dazu muß man höher stehen als der, über den man richtet. Man kann wohl gewisse Bemerkungen über diese oder jene Einzelheit machen, man kann Meinungen äußern und Ratschläge erteilen, allein über den ganzen Menschen aburteilen, indem man sich auf diese Ratschläge stützt, ihn für völlig verrückt erklären, behaupten, er habe seinen Verstand verloren, er sei ein Lügner und Betrüger, der die Maske der Frömmigkeit angelegt habe, ihm gemeine und niederträchtige Absichten unterlegen -- nein, das sind Beschuldigungen, wie ich sie niemals, nicht einmal gegen einen offenkundigen Schurken, der das Schandmal der öffentlichen Verachtung trägt, vorzubringen imstande wäre. Mir scheint, ehe man solche Beschuldigungen ausspricht, müßte man innerlich erschrecken und erbeben, man sollte erst ein wenig darüber nachdenken, wie uns selbst wohl dabei zumute wäre, wenn öffentlich und vor aller Welt solche Anschuldigungen gegen uns erhoben würden! Es wäre wirklich gut, wenn man sich's erst ein wenig überlegte, ehe man eine solche Beschuldigung erhebt: »Irre ich mich auch selbst nicht? Ich bin doch auch ein Mensch! Es handelt sich hier um die Seele. Die Seele des Menschen ist ein Brunnen, zu dem es nicht für alle einen Zugang gibt, und man darf sich nicht auf die äußere scheinbare Ähnlichkeit gewisser Merkmale verlassen. Oft haben schon die geschicktesten Ärzte eine Krankheit für eine andere gehalten und ihren Fehler erst dann erkannt, als sie bereits den Leichnam des Toten secierten.« Nein, das Buch »Briefwechsel mit meinen Freunden« enthält, so große Mängel es in jeder Hinsicht haben mag, doch auch viel Derartiges, was nicht allen sofort verständlich sein kann. Es nützt nichts, sich darauf zu berufen, daß man das Buch zwei- oder dreimal gelesen hat: manch einer kann es zehnmal lesen, und es wird doch nichts dabei herauskommen. Um dieses Buch nur im mindesten nachzuerleben, muß man entweder eine sehr einfache und gütige Seele haben oder ein sehr vielseitiger Mensch sein, der außer einem Verstande, der die Dinge von allen Seiten zu umfassen vermag, auch noch über ein hohes poetisches Talent und eine Seele verfügt, die einer vollen, großen und tiefen Liebe fähig ist. Ich kann nicht leugnen, daß diese ganzen Wirrnisse und diese Mißverständnisse sehr bitter für mich waren -- um so mehr, als ich geglaubt hatte, daß mein Buch eher den Keim zur Versöhnung als zu Streit und Zwietracht enthalte. Meine Seele wäre unter all den Vorwürfen zusammengebrochen; manche darunter waren so fürchterlich, daß Gott jeden vor solchen Anklagen bewahren möge! Andererseits aber fühle ich mich verpflichtet, denen meinen Dank auszusprechen, die mich auch wegen vieler Verfehlungen hätten mit Vorwürfen überschütten können, die mich aber in dem Gefühl, daß sie bereits das Maß dessen überstiegen, was die schwache Natur des Menschen zu ertragen vermag, mit der Hand eines mitleidigen Bruders erhoben und mir Mut zugesprochen haben. Gott möge es ihnen vergelten! Ich kenne keine größere Tat, als einem Menschen, der den Mut verliert, hilfreich die Hand zu reichen. 1847. An W. A. Schukowski Neapel, den 10. Januar 1848./29. Dezember 1847. Ich bin in deiner Schuld, lieber Freund! Jeden Tag nehme ich mir vor, zu schreiben -- aber eine unbegreifliche _Unlust_ hindert mich immer wieder daran. Wieder liegen Neapel, der Vesuv und das Meer vor mir! Die Tage fliehen in steter Beschäftigung dahin, die Zeit vergeht so schnell, daß man nicht weiß, wie man eine Stunde erübrigen soll. Ich lerne wie ein Schuljunge und hole alles nach, was ich in der Schule zu lernen unterlassen habe. Aber wozu soll ich davon erzählen! Ich möchte davon sprechen, wovon ich mit dir allein sprechen kann: nämlich von unserer lieben _Kunst_, für die ich lebe und um derentwillen ich jetzt arbeite und lerne wie ein Schulknabe. Da ich jetzt vor einer Reise nach Jerusalem stehe, möchte ich dir mein Herz ausschütten; wem gegenüber könnte ich das auch tun, wenn nicht dir gegenüber? Die Literatur hat ja doch fast mein ganzes Leben ausgefüllt, und hier liegen meine Hauptsünden. Nun sind es bald zwanzig Jahre, daß ich, ein Jüngling, der kaum ins Leben getreten war, zum erstenmal zu _dir_ kam, der bereits den halben Weg auf diesem Felde zurückgelegt hatte. Das war im Schlosse von Schepelejow. Das Zimmer, wo diese Begegnung stattfand, existiert bereits nicht mehr; aber ich sehe es noch deutlich und in allen Einzelheiten -- bis auf das kleinste Möbelstück und die geringsten Sachen, die darin standen, vor mir, wie wenn es heute wäre. Du reichtest mir die Hand und warst ganz erfüllt vom Verlangen, dem künftigen Mitkämpfer zu helfen. Wie wohlwollend und liebevoll war dein Blick! ... Was war es, das uns, zwei Menschen von so verschiedenem Alter, zusammenführte? Es war die Kunst! Wir fühlten, daß zwischen uns eine Verwandtschaft bestand, die stärker war als die gewöhnliche Blutsverwandtschaft. Und woher kam das? Weil wir beide etwas von der Heiligkeit der Kunst verspürt hatten. Es ist nicht meine Sache, zu entscheiden, in welchem Maße ich Dichter bin; ich weiß nur das eine, daß ich, noch ehe ich die Bedeutung und das Ziel der Kunst verstehen lernte, schon wie durch einen geheimen Instinkt meiner ganzen Seele empfand, daß sie was Heiliges sein müsse. Und so wurde sie denn, wohl von dieser unserer ersten Begegnung ab, das _Erste_, die _wichtigste Angelegenheit_ meines Lebens, während alles andere an die zweite Stelle rückte. Es schien mir so, als ob ich mich von nun ab durch keine anderen Bande mehr an die Erde fesseln lassen dürfte, weder durch die Familie, noch durch das amtliche Leben des Bürgers, und daß die literarische Laufbahn auch eine Art Dienst sei. Noch gab ich mir keine Rechenschaft (konnte ich sie mir denn damals auch geben?), was der Gegenstand meiner literarischen Tätigkeit sein müsse, aber schon regte sich die schöpferische Kraft in mir und ich wurde durch die näheren Lebensumstände selbst auf bestimmte Gegenstände hingewiesen. Dies alles spielte sich gleichsam unabhängig von meiner eigenen (freien) Willkür ab. So dachte ich zum Beispiel niemals daran, daß ich einmal ein satirischer Schriftsteller werden und meine Leser zum Lachen reizen würde. Allerdings hatte ich schon in der Schule bisweilen eine gewisse Neigung zur Lustigkeit und ich plagte meine Mitschüler mit unpassenden Scherzen. Aber das waren vorübergehende Anwandlungen; im allgemeinen hatte ich eher einen melancholischen Charakter und ein zum Nachdenken neigendes Wesen. Später kamen noch Krankheit und Hypochondrie dazu, und diese Krankheit und Hypochondrie waren die Ursache jener ausgelassenen Lustigkeit, die sich in meinen ersten Werken bemerkbar macht. Um mich selbst zu zerstreuen, pflegte ich mir ohne jede weitere Absicht und ganz planlos gewisse Charaktere auszudenken, die ich dann in komische Situationen versetzte -- und das war der Ursprung meiner Erzählungen! Meine Leidenschaft für die Menschenbeobachtung, die mich schon seit den frühesten Tagen meiner Kindheit erfüllte, verlieh meinen Gestalten etwas Natürliches; man sagte sogar von ihnen, es seien getreue Porträts nach der Natur. Dazu kommt noch ein anderer Umstand: mein Lachen hatte anfänglich etwas Gutmütiges, ich dachte gar nicht daran, irgendein Ding in einer ganz bestimmten Absicht zu verspotten, und ich war aufs höchste erstaunt, wenn ich hörte, es fühle sich jemand gekränkt oder ganze Gesellschaftsklassen und -stände zürnten mir darob, so daß ich schließlich nachdenklich wurde. »Wenn die Macht des Gelächters so groß ist, daß man es fürchtet, so darf man es nicht mißbrauchen.« Ich entschloß mich also, alles Schlechte, das mir bekannt war, zu sammeln, in einem Ganzen zusammenzufassen und dann dieses Ganze dem Gelächter preiszugeben -- so entstand der »Revisor«. Das war mein erstes Werk, das aus der Absicht entsprang, einen heilsamen Einfluß auf die Gesellschaft auszuüben, was mir übrigens nicht gelungen ist: man hat aus der Komödie die Absicht herauserkennen wollen, die gesetzliche Ordnung und unsere Regierungsform zu verspotten, während ich nur die eigenmächtige Übertretung dieser rechtmäßigen und gesetzmäßig sanktionierten Ordnung durch einzelne Personen verspotten wollte. Ich zürnte sowohl meinen Zuschauern, die mich nicht verstanden hatten, als auch mir selbst, der die Schuld daran trug, daß ich nicht verstanden worden war. Ich wollte entfliehen und alles im Stiche lassen. Meine Seele dürstete nach der Einsamkeit, ich hatte das Bedürfnis, aufs ernsthafteste über meinen Beruf und meine Tätigkeit nachzudenken. Schon lange trug ich mich mit dem Gedanken an ein _großes Werk_, in dem alles Gute und Böse, das es im russischen Menschen gibt, dargestellt und in dem die _Eigenart_ unseres russischen Wesens möglichst klar und deutlich sichtbar gemacht werden sollte. Ich sah und konnte wohl viele von den Teilen einzeln erfassen, aber der Plan des Ganzen wollte sich mir nicht zu voller Klarheit gestalten und so bestimmte Formen annehmen, daß ich ans Werk gehen und mit der Niederschrift beginnen konnte. Bei jedem Schritt fühlte ich, daß mir noch vieles fehlte, daß ich es noch nicht verstand, den Knoten der Vorgänge und Begebenheiten zu schürzen und ihn wieder zu lösen, und daß ich erst bei den großen Meistern in die Schule gehen und von ihnen lernen mußte, wie man ein großes Werk aufbauen und komponieren muß. Ich begann also die großen Meister zu studieren und machte zunächst den Anfang mit unserem lieben Homer. Schon kam es mir so vor, als ob ich etwas zu verstehen begann und sogar anfing, mir ihre Methoden und sogar ihre Kunstgriffe zu eigen zu machen, -- allein die schöpferische Fähigkeit wollte sich noch immer nicht einstellen. Mein Kopf tat mir weh von all der Anstrengung. Nur unter Aufwendung großer Mühen gelang es mir, wenigstens den ersten Teil der »Toten Seelen« herauszugeben, gleichsam um hierbei zu erkennen, wie weit ich noch von dem Ziele entfernt war, nach dem ich strebte. Danach aber wurde ich wieder von einer unfruchtbaren Stimmung erfaßt. Ich kaute an meiner Feder, meine Nerven und alle meine Kräfte waren in einem Zustande der Erregung -- und es kam nichts zustande, ich glaubte schon, ich hätte die Fähigkeit zum literarischen Schaffen völlig verloren. Da ließen mich plötzlich Krankheit und schwere seelische Zustände dies alles, ja sogar jeden Gedanken an die Kunst vergessen und lenkten mich wieder auf das hin, wozu ich schon früher, noch ehe ich Schriftsteller geworden war, immer Lust verspürt hatte -- nämlich auf die Beobachtung des inneren Menschen und der _Menschenseele_. Oh, um wieviel tiefer ist die Erkenntnis, die einem aufgeht, wenn man mit seiner eigenen Seele beginnt! Auf diesem Wege trifft man auch ganz unwillkürlich _näher_ mit _Ihm_ zusammen, Der allein unter allen Menschen, die bisher auf Erden wandelten, in Seiner Person eine volle Erkenntnis der Menschenseele an den Tag gelegt hat; selbst wenn die Welt Seine Göttlichkeit leugnen wollte, diese Eigenschaft könnte sie Ihm niemals abstreiten, es sei denn, daß sie nicht bloß _blind_, sondern ganz einfach _dumm_ geworden wäre. Durch diese schroffe Wendung, die nicht mit meinem Willen geschah, wurde ich dazu veranlaßt, überhaupt tiefer in die Seele hinabzublicken, um zu erfahren, daß es höhere Grade und höhere Erscheinungsformen des Seelischen gibt. Von da ab begann die schöpferische Fähigkeit wieder in mir zu erwachen: wieder beginnen lebendige Gestalten in voller Klarheit vor mir aus dem Nebel emporzutauchen, ich fühle, daß die Arbeit mir glücken, ja, daß selbst meine Sprache korrekt und klangvoll werden und daß mein Stil erstarken wird. Vielleicht wird noch einmal ein künftiger Kreisschullehrer unmittelbar nach einer Seite aus einem Werke von dir seinen Schülern eine Seite aus meiner künftigen Prosa vorlesen und erklärend hinzufügen: »Beide Schriftsteller haben richtig geschrieben, obwohl sie einander nicht gleichen.« Die Herausgabe meines Buches »Briefwechsel mit meinen Freunden«, mit der ich mich (aus lauter Freude, daß meine Feder wieder einmal in Schwung gekommen war) so beeilt habe, ohne zu überlegen, daß ich, bevor ich mit diesem Buche jemand zu nützen vermochte, mit ihm vielen Leuten den Kopf verwirren konnte, hat mir selbst manchen Vorteil gebracht. An diesem Buche ist es mir klar geworden, wo und in welchem Punkte ich ein Opfer jener Maßlosigkeit und des Überschwangs geworden bin, dem in dem Übergangszustande, in dem sich die Gesellschaft gegenwärtig befindet, fast jeder vorwärtsschreitende Mensch verfällt. Trotz der Parteilichkeit, mit der dieses Buch beurteilt wurde, und trotz der Widersprüche in der Beurteilung, kam doch schließlich die allgemeine Stimme zur Geltung, die mir meinen Platz anwies und mich auf die Grenzen aufmerksam machte, die ich als Schriftsteller nicht überschreiten durfte. In der Tat, es ist nicht meine Aufgabe, durch Predigen zu belehren. Die Kunst ist auch ohnedies schon eine Lehrmeisterin. Meine Aufgabe ist es, durch _lebendige Bilder_ und nicht in der Form der Beweisführung zu den Menschen zu sprechen. Ich muß das _Leben_ selbst und _als solches_ darstellen und nicht Betrachtungen _über_ das Leben anstellen. Das ist eine völlig evidente Wahrheit. Aber es ist die Frage: hätte ich auch ohne diesen großen Umweg ein würdiger Vertreter der Kunst und ein schöpferischer Künstler werden können? hätte ich das Leben so in seinen Tiefen darstellen können, daß es den Menschen wirklich zur Belehrung dienen konnte? Wie vermöchte man Menschen darzustellen, wenn man nicht vorher erkannt hat, was die _Seele des Menschen_ ist? Ein Schriftsteller muß, wenn er bloß die schöpferische Gabe besitzt, eigene Gestalten und Bilder zu produzieren, erst einen Menschen und Bürger seines Landes aus sich machen; erst dann darf er zur Feder greifen! Sonst wird ihm alles mißlingen. Was hilft's, die Verächtlichen und Lasterhaften zu treffen, indem man sie vor allen Menschen an den Pranger stellt, wenn das Ideal ihres Widerparts, das Ideal des schönen Menschen in uns selbst noch nicht zur Klarheit und Deutlichkeit gediehen ist? Wie soll man die Fehler und das Unwürdige im Menschen darstellen, wenn man sich selbst noch nicht die Frage vorgelegt hat: worin besteht denn eigentlich die Menschenwürde? und so lange man noch keine einigermaßen befriedigende Antwort auf diese Frage gefunden hat? Wie soll man die Ausnahmen verspotten, wenn man sich noch nicht ganz über die Regeln klar ist, deren Ausnahmen die dargestellten Objekte bilden? Das hieße doch das alte Haus einreißen, ehe man die Möglichkeit hat, ein neues an seiner Stelle zu erbauen. Aber Kunst hat nichts gemein mit Zerstörung. In der Kunst liegt ein Keim des Schöpferischen, ein aufbauendes Element und nicht ein Element der Zerstörung. Das hat man stets empfunden, selbst in Zeiten der allgemeinen Finsternis und Unwissenheit. Bei den Klängen der orphischen Leier wurden Städte erbaut. Trotz des noch ungeklärten und ungeläuterten Begriffs, den unsere Gesellschaft von der Kunst hat, hört man doch schon allgemein sagen: »Die Kunst versöhnt mit dem Leben.« Das ist wirklich wahr. Ein echtes Kunstwerk enthält etwas Beruhigendes, Versöhnendes in sich. Während wir es lesen, erfüllt sich unsere Seele mit einer ebenmäßigen Harmonie, und wenn man es zu Ende gelesen hat, fühlt sie sich befriedigt: man wünscht nichts mehr, man verlangt nach nichts, es regt sich kein Zorn und keine Entrüstung wider unseren Bruder in unseren Herzen, eher noch ergießt sich in ihm der Balsam einer alles vergebenden Liebe zu unseren Brüdern; überhaupt regt sich kein _Tadel_ gegen die Handlungsweise der anderen in uns, sondern alles fordert uns zur _Betrachtung_ unseres eigenen Ichs auf. Wenn vom Werk des Künstlers keine solche Wirkung ausgeht, so ist es nichts als die edle Regung einer glühenden Seele, die Frucht einer vorübergehenden Stimmung des Autors. Es wird wohl weiterleben, wie eine beachtenswerte Erscheinung, aber sich nicht den Namen eines Kunstwerks verdienen. Und das mit Recht. Die Kunst ist eine Macht, die mit dem Leben versöhnt. Die Kunst soll unsere Seele mit Harmonie und Ordnung erfüllen und nicht Verwirrung und Verstimmung in sie hineintragen. Die Kunst soll uns die Menschen unserer Erde so darstellen, daß ein jeder das Gefühl hat: das sind _lebendige_ Menschen, die demselben Leibe entstammen und aus demselben Stoffe geschaffen sind wie wir. Die Kunst soll uns alle edlen Züge und Eigenschaften unseres _Volks_charakters vor Augen führen, selbst die nicht ausgenommen, denen es an einem Spielraum für ihre freie Entfaltung fehlte und die daher noch nicht von allen beachtet und in dem Maße gewürdigt sind, daß jeder sie in sich selbst entdeckt und von dem glühenden Wunsche ergriffen wird, das bisher von ihm Vernachlässigte und längst Vergessene zu pflegen und zur Entwicklung zu bringen. Die Kunst muß uns auch alle schlechten Züge und Eigenschaften unseres Volkscharakters so vor Augen führen, daß jeder von uns ihre Keime vor allem in sich selbst wiederfindet und veranlaßt wird, darüber nachzudenken, wie er zunächst einmal in sich selbst alles, was die hohe Würde unseres Wesens verdunkelt, ausrotten könne. Erst dann und erst auf diese Weise wird die Kunst ihre Bestimmung erfüllen und Ordnung und Harmonie in die menschliche Gesellschaft hineintragen. So laß uns denn, nachdem wir zu Gott gebetet und seinen Segen auf uns herabgefleht haben, kraftvoller als je wieder an unsere liebe Kunst gehen. Was mich anbetrifft, so will ich alles andere auf eine künftige Zeit verschieben (wenn ich je durch Gottes Gnade dessen im geringsten würdig werden sollte) und mich in intensivster Weise den »Toten Seelen« widmen. Ich will nach Jerusalem reisen (dies muß ich um jeden Preis tun, denn ich müßte mich schämen, wenn ich es nicht täte). Ich will dort, so gut ich kann, Gott meinen Dank für alles Vergangene aussprechen; ich will dort beten, daß meine Seele gekräftigt werde und meine Fähigkeiten und Geisteskräfte sich sammeln und konzentrieren mögen, und dann mit Gott an die Arbeit gehen. Wie lebhaft und innig wünschte ich, daß Gott uns wieder einmal zusammenführen möge, und daß wir wieder einmal eine Zeitlang in Moskau nahe beieinander leben könnten. Jetzt wäre es noch notwendiger, uns das von uns Geschriebene noch einmal vorzulesen und übereinander zu Gericht zu sitzen. Sodann gratuliere ich dir zum neuen Jahr. Gebe Gott, daß es für uns beide ein recht fruchtbares Jahr werde, weit fruchtbarer als die verflossenen Jahre. Und nun leb' wohl, mein Lieber! Ich küsse dich und umarme dich innig. Schreibe mir. Dein Brief wird mich noch in Neapel erreichen. Vor dem Februar gedenke ich nicht aufzubrechen. Ich umarme deine ganze liebe Familie sowie die Reuterns. Dein G. Wenn du findest, daß dieser Brief einigen Wert hat, so hebe ihn auf. Man könnte ihn in der zweiten Auflage des »Briefwechsels« an die Spitze des Buches, d. h. an die Stelle des »Testaments« stellen, das fortgelassen werden soll, und ihm den Titel geben: »_Die Kunst ist die Macht, die uns mit dem Leben versöhnt._« Ich will dich immer noch etwas fragen und vergesse es jedesmal: besitzt du nicht die lateinische Übersetzung der Odyssee mit untergelegtem Text, die neulich in Paris erschienen ist. Es ist eine sehr schöne Ausgabe. Der ganze Homer in einem Bande Groß-Oktav _editore Ambrosio Firmin Didot Parisiis 1846_. Ich hatte den Eindruck, daß die Übersetzung recht anständig sei, und sie könnte dir weit mehr nützen als alle anderen. Meine Adresse lautet: Neapel, _poste restante_, oder noch besser, _Hôtel de Rome_; damit jedoch der Brief nicht nach der _Stadt_ Rom gesandt wird, muß das Wort Neapel recht deutlich und in die Augen fallend geschrieben werden. Betrachtungen über die Heilige Liturgie 1845-1852. Vom Moskauer Geistlichen Zensur-Komitee zum Druck genehmigt. Moskau, den 9. Februar 1889. Der Zensor: Priester Grigori Djatschenko. Vorrede Der Zweck dieses Buches ist, jungen Leuten und Anfängern, die noch keinen rechten Begriff von der Bedeutung unserer Liturgie haben, zu zeigen, in welcher Vollständigkeit sie bei uns zelebriert wird und welch tiefer Zusammenhang in ihr herrscht. Aus allen den zahlreichen Erklärungen, die von den Kirchenvätern und -lehrern herrühren, sind hier nur die ausgewählt, die wegen ihrer Einfachheit und Verständlichkeit von jedermann begriffen werden können und die in erster Linie dazu dienen, die notwendige und richtige Ordnung, gemäß der eine Handlung aus der anderen hervorgeht, begreiflich zu machen[3]. Der Zweck, den der Autor mit der Herausgabe dieses Buches verfolgte, war der: dazu beizutragen, daß sich der Leser eine Vorstellung von der Ordnung und Reihenfolge des Ganzen bilde. Er ist überzeugt, daß sich jedem, der der Liturgie mit Aufmerksamkeit folgt und jedes Wort bei sich wiederholt, ihre tiefe innere Bedeutung von selbst erschließen wird. [Fußnote 3: Alle anderen Leser, die den Wunsch hegen, auch die geheimnisvolleren und tieferen Erklärungen kennen zu lernen, können solche in den Werken der Patriarchen: Hermann, Jeremias, Nikolaus Kawassil, Simeon von Saloniki, in der Alten und Neuen Tafel, in den Kommentaren Dimitrijews und endlich in einzelnen ... finden.] Einleitung Die Göttliche Liturgie ist die ewige Wiederholung des großen Liebeswerkes, das für uns geschehen ist. Tief bekümmert über ihre Gebrechen und Unvollkommenheiten hatten die Menschen überall und an allen Enden der Welt ihren Schöpfer um Hilfe angefleht -- sowohl die, die in der Finsternis des Heidentums verharrten, als auch die, die keine Gotteserkenntnis besaßen --, fühlten sie doch, daß hier auf Erden Ordnung und Harmonie nur durch Den hergestellt werden könnten, Der die von Ihm selbst erschaffenen Welten geheißen hatte, sich in streng geregelten Bahnen zu bewegen. Überall rief die schmerzbewegte Kreatur ihren Schöpfer herbei. Alles schrie qualvoll zum Urheber seines Daseins empor, und diese Klagen tönten am lautesten und deutlichsten aus dem Munde der Auserwählten und der Propheten. Man hatte ein dunkles Vorgefühl, ja man wußte, daß der Schöpfer, Der sich hinter Seinen Werken versteckt hatte, noch einmal persönlich vor die Menschen treten -- daß Er in Gestalt keines Geringeren als jenes von Ihm selbst nach Seinem Bilde erschaffenen Wesens vor ihnen erscheinen würde. Sowie sich die Begriffe, die man sich von der Gottheit machte, zu reinigen begannen, tauchte überall der Gedanke einer irdischen Menschwerdung Gottes auf. Nirgends aber wurde mit solcher Klarheit und Deutlichkeit davon gesprochen, wie bei den Propheten des von Gott auserwählten Volkes. Seine reine Fleischwerdung durch die reine Jungfrau wurde selbst von den Heiden vorausgeahnt, nirgends jedoch in jener leuchtenden greifbaren Klarheit wie bei den Propheten. Diese Klagen fanden Erhörung: Er kam in die Welt, durch Den die Welt erschaffen ward. Er erschien unter uns in Menschengestalt, wie es die Menschen -- selbst in der finstersten Finsternis des Heidentums vorausgeahnt und dunkel gefühlt hatten -- nur nicht in _der_ Weise, wie man es sich zufolge der noch ungeläuterten Begriffe vorgestellt hatte -- nicht in stolzer Pracht und Majestät, nicht als Richter, der da kommt, um die Verbrecher zu strafen, die einen zu vernichten und die anderen zu belohnen. O nein! Man vernahm nichts als einen sanften Bruderkuß. Er erschien in _der_ Gestalt, wie sie nur Gott allein eigentümlich ist, und wie sie die göttlichen Propheten, an die Gottes Gebot ergangen war, vorgebildet hatten. Das Offertorium (_Proscomidia_) Der Priester, der die Liturgie zelebrieren soll, muß schon am Vorabend auf körperliche und geistige Nüchternheit Wert legen und Enthaltsamkeit üben, er muß sich mit allen Menschen ausgesöhnt haben und sich davor hüten, noch etwas wie Ärger oder Zorn gegen irgend jemand zu hegen. Wenn dann die Stunde gekommen ist, betritt er die Kirche. Der Diakon und er beugen sich anbetend vor der Königspforte, küssen das Bild des Heilands, das Bild der Mutter Gottes, verbeugen sich vor allen Heiligen, verneigen sich nach rechts und links vor allen Anwesenden, indem sie hierdurch alle um Vergebung bitten, und betreten den Altarraum, wobei sie still für sich die Worte des Psalms sprechen. »Ich aber will in Dein Haus gehen und anbeten gegen Deinen heiligen Tempel in Deiner Furcht.« Sodann treten sie vor den Hochaltar, fallen [mit dem Gesicht gen Osten gewandt] dreimal vor ihm nieder und küssen das auf ihm liegende Evangelium, als wäre der auf dem Hochaltar Thronende Gott selbst, sie küssen auch den heiligen Abendmahlstisch und gehen sodann hin, sich in die heiligen Gewänder zu hüllen, um sich hierdurch nicht nur von den anderen Menschen zu unterscheiden, sondern auch um sich von sich selbst zu befreien, damit nichts an ihnen an einen Menschen erinnere, der noch seinen alltäglichen irdischen Geschäften nachgeht. Mit den Worten »Gott! reinige mich armen Sünder und erbarme Dich meiner!« erfassen Priester [und Diakon] die Gewänder. Zuerst zieht sich der Diakon an; er bittet den Priester um seinen Segen und legt das Chorhemd (Sticharion) und ein Untergewand von glänzender, leuchtender Farbe an, das gleichsam zum Symbol des lichten Engelskleides dient und die makellose Herzensreinheit andeuten soll, die unzertrennlich mit dem Priesteramt verbunden sein muß. Daher spricht er auch, während er sich den Rock anzieht, die Worte: »Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott: denn Er hat mich angezogen mit Kleidern des Heils und mit dem Rock der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Schmuck gezieret und wie eine Braut in ihrem Geschmeide.« Hierauf nimmt er die Stola und küßt sie; dies ist ein langes schmales Band, das Kennzeichen des Diakonenamts, mit dem er zu Beginn jeder kirchlichen Handlung das Zeichen gibt, die Gemeinde zum Gebet, die Sänger zum Singen, den Priester zur Verrichtung der heiligen Handlungen und sich selbst zu engelhafter Geschwindigkeit und Bereitschaft zum heiligen Dienste aufruft. Denn der Beruf des Diakons gleicht dem der Engel im Himmel, und durch dies schmale Band, das er an sich trägt, und das gleich einem ätherischen Flügel in der Luft flattert, sowie durch sein schnelles Durcheilen der Kirche stellt er nach dem Wort des Johannes Chrysostomus den Flug der Engel dar. Nachdem er das Band geküßt hat, befestigt er es an der Schulter. Sodann legt er die Armbänder oder Überärmel an, die dicht über dem Handgelenk zusammengebunden werden, um den Händen eine größere Freiheit und Leichtigkeit bei der Verrichtung der bevorstehenden heiligen Handlung zu verleihen. Während er sie anzieht, denkt er über die unablässig alles erschaffende, überall wirksame Kraft Gottes nach, und indem er den rechten Überärmel anzieht, spricht er: »Herr, Deine rechte Hand tut große Wunder. Herr, Deine rechte Hand hat die Feinde zerschlagen, und mit Deiner großen Herrlichkeit hast Du Deine Widerwärtigen gestürzt.« Dann zieht er den linken Überärmel an und denkt dabei an sich selbst, daß er ein Werk von Gottes Hand sei, und er betet zu Ihm, Der ihn erschaffen hat, Er möge ihn lenken und leiten und ihm Seine höchste himmlische Führung zuteil werden lassen, und er spricht: »Deine Hand hat mich gemacht und bereitet. Unterweise mich, daß ich Deine Gebote lerne.« In derselben Weise kleidet sich auch der Priester an. Zuerst segnet er den Priesterrock, den er dann anzieht, indem er diesen Akt mit denselben Worten begleitet wie der Diakon; nach dem Priesterrock aber legt er sich die Stola an, jedoch nicht die einfache, sondern eine solche, die beide Schultern bedeckt, den Hals umschließt und deren beide Enden sich wieder auf der Brust vereinigen und so in eins verbunden bis an den unteren Saum seines Kleides hinabreichen; hiermit soll angedeutet werden, daß sich in seinem Amte zwei Ämter vereinigen -- das des Priesters und das des Diakons. Auch heißt das Kleidungsstück nicht mehr Orarion, sondern Epitrachil, und es symbolisiert, indem es angelegt wird, die Ausgießung der himmlischen Gnade über die Priester; daher wird dieser Akt auch von den erhabenen Worten der Heiligen Schrift begleitet: »Gelobt sei Gott, Der Seine Gnade ausgießet über seine Priester wie das Salböl, das von dem Haupte Aarons herabfließet auf seinen Bart und auf den Saum seines Kleides.« Sodann zieht der Priester beide Überärmel an, indem er diese Handlung mit denselben Worten begleitet wie der Diakon, und umgürtet sich mit einem Gürtel, der Chorrock und Stola umschließt, damit das weite bauschige Gewand ihn nicht bei der Verrichtung der heiligen Handlung behindere und um durch diese Umgürtung seine Dienstbereitschaft anzudeuten, denn der Mensch pflegt den Gürtel anzulegen, wenn er sich reisefertig macht, wenn er ein Werk in Angriff nimmt oder zur Tat schreitet; so legt auch der Priester den Gürtel an, indem er seinen Weg antritt und sich zum himmlischen Dienste vorbereitet. Er betrachtet seinen Gürtel wie eine Feste der göttlichen Macht, die ihn stärkt und kräftigt, und er spricht: »Gelobt sei Gott, Der mich mit Kraft umgürtet und meinen Weg untrüglich macht, meine Füße geschwinder denn die des Hirsches und stellt mich auf die Höhe,« d. h. in das Haus des Herrn. Wenn er jedoch eine höhere priesterliche Würde innehat, so hängt er ein viereckiges Stück Tuch an einer seiner Ecken an seine Lende; es symbolisiert das geistige Schwert, die alles überwindende Kraft des göttlichen Wortes und ist ein Zeichen des ewigen Krieges, der dem Menschen auf Erden bevorsteht -- und kennzeichnet den Sieg über den Tod, den Christus vor aller Welt errungen hat, auf daß der unsterbliche Geist des Menschen mutig den Kampf aufnehme wider die Verwesung. Daher gleicht dies Stück Tuch auch einer starken Streitwaffe, und es wird am Gürtel an der Lende aufgehängt, in der die Kraft des Menschen liegt, und dieser Akt wird von einem Anruf des Herrn selbst begleitet: »Gürte dein Schwert an deiner Seite, du Held, und schmücke dich schön. Es müsse dir gelingen in deinem Schmuck, ziehe einher der Wahrheit zugute, und die Elenden bei Recht zu behalten; so wird deine rechte Hand Wunder beweisen.« Endlich legt der Priester noch das Psalonion, ein Gewand zum Symbol der höchsten alles umfassenden Gerechtigkeit Gottes an, und er begleitet diese Handlung mit den Worten: »Deine Priester laß sich kleiden mit Gerechtigkeit und Deine Heiligen sich freuen.« Also ausgerüstet mit der göttlichen Rüstung steht der Priester nunmehr als ein anderer Mensch da: was er auch selbst und an sich für ein Mensch, so unwürdig er seines Amtes sein mag, alle, die im Tempel weilen, blicken auf ihn [als auf] ein Werkzeug Gottes, das vom Heiligen Geist erfüllt ist. Der Priester und der Diakon waschen sich sodann beide die Hände, indem sie die Worte des Psalms sprechen: »Ich wasche meine Hände in Unschuld und halte mich zu Deinem Altar.« Dann verbeugen sie sich dreimal, indem sie sprechen: »Gott, reinige mich Armen von meinen Sünden und erbarme Dich meiner!« und erheben sich gereinigt und erleuchtet, gleich ihrer leuchtenden Kleidung, in nichts mehr an andere Menschen erinnernd und eher einer strahlenden Vision als einem Menschen gleichend. Der Diakon kündigt den Beginn der heiligen Handlung an, indem er spricht: »Segne uns, o Herr!«, der Priester eröffnet die Feier mit den Worten: »Gelobt sei Gott, jetzt und immerdar, hinfort und in alle Ewigkeit!« und tritt dann an den Seitenaltar. Dieser ganze Teil des Gottesdienstes besteht in der Zubereitung alles dessen, was zu einer heiligen Handlung erforderlich ist: während dieses Teils des Gottesdienstes werden die Stücke Brot von den Prosphoren oder Opfergaben abgesondert, die zu Anfang den Leib Christi repräsentieren und sich sodann in ihn verwandeln sollen. Da das ganze Offertorium nichts anderes ist als eine bloße Vorbereitung auf die Liturgie, hat die Kirche die Erinnerung an die ersten Lebensjahre Christi an sie geknüpft, waren doch diese auch eine Vorbereitung auf seine großen Werke, die er später auf Erden vollbrachte. Das Offertorium spielt sich ganz im Innern des Altarraumes bei geschlossenen Türen und zugezogenem Vorhang ab, ohne daß die Gemeinde etwas davon sieht, wie ja auch Christus seine ersten Lebensjahre ganz im Verborgenen verbrachte, ohne daß das Volk etwas von Ihm erfuhr. Für die andächtige Gemeinde aber werden während dieser Zeit die »Horen«[4] gelesen -- eine Sammlung von Psalmen und Gebeten, die die Christen an den vier wichtigsten Tageszeiten zu lesen pflegten, um die erste Stunde, wenn für die Christen [der Morgen] begann, um die dritte, d. h. um die Stunde, als sich der Heilige Geist herabsenkte, um die sechste, d. h. also um die Stunde, als der Erlöser der Welt ans Kreuz geschlagen wurde, und um die neunte Stunde, als Er Seinen Geist aufgab. Da der Christ von heute aus Mangel an Zeit und wegen der unablässigen Zerstreuungen nicht in der Lage ist, diese Gebete zu den angegebenen Stunden zu verrichten, werden sie allesamt bei dieser Gelegenheit verlesen. [Fußnote 4: Tschassy.] Der Priester tritt nun vor den Seitenaltar oder die Prothesis hin, die sich in einer Wandnische befindet und die alte seitliche Vorratskammer des Tempels symbolisieren soll, und nimmt eines der Weihbrote heraus, um aus ihm den Teil zu gewinnen, der sich später in den Leib Christi verwandeln soll: es ist dies das mit einem Siegel versehene Mittelstück, das den Namen Jesu Christi trägt. Durch die Absonderung eines Teils vom ganzen Brote deutet er auf den Akt der Trennung des Fleisches Christi vom Fleisch der Jungfrau -- deutet er auf die Geburt des Immateriellen aus dem Fleische hin. Und indem er sich vorstellt, daß Er geboren wird, Der Sich für die ganze Welt zum Opfer brachte, verbindet sich für ihn damit erneut und unfehlbar der Gedanke an das Opfer und an die Opfertat selbst, und er erkennt im Brote das Lamm, das geopfert ward, und im Messer, mit dem er das Brot zerteilt, das Opfermesser, das das Aussehen einer Lanze hat, zur Erinnerung an die Lanze, mit der der Leib des Heilands am Kreuze durchstochen ward. Nun aber begleitet er seine Handlung nicht mit den Worten des Heilands, noch mit den Worten derer, die Zeugen der damaligen Vorgänge waren, er versetzt sich nicht in die Vergangenheit, d. h. in die Zeit, da diese Opfertat vollbracht wurde: dies geschieht später im letzten Teile der Liturgie; er erschaut dieses kommende Ereignis von ferne mit ahnender Seele, daher begleitet er auch die ganze heilige Handlung mit den Worten des Jesaias, der aus der fernen Zeit und durch die Finsternis der Jahrhunderte hindurch die künftige wundersame Geburt, die Selbstaufopferung und den Tod des Heilands vorausahnte und dies mit einer schier unbegreiflichen Klarheit vorausverkündigte. Indem der Priester die Lanze in den rechten Teil des Siegels stößt, spricht er die Worte des Propheten Jesaias: »Wie ein Lamm wird Er zur Schlachtbank geführt,« dann stößt er die Lanze in den Teil, der zur Linken liegt, und spricht: »Und wie ein unschuldiges Lamm sich stumm scheren läßt, so öffnet er seinen Mund nicht,« dann versenkt er die Lanze in den oberen Teil des Siegels und spricht: »Um Seiner Demut willen ward Er verdammt,« stößt ihn dann in den unteren Teil, indem er die Worte des Propheten wiederholt, der über die wunderbare Herkunft des Opferlammes nachsinnt: »Wer vermag zu sagen, aus welchem Geschlechte Er stammt?« Endlich hebt er das herausgeschnittene Mittelstück des Brotes auf der Lanze empor und spricht: »Denn Sein Leib ward von der Erde hinweggenommen,« und schneidet hierauf kreuzweise -- den Kreuzestod des Heilands symbolisierend -- das Opferzeichen hinein, gemäß dem es während der kommenden heiligen Handlung gebrochen wird. Dazu spricht er: »Geopfert wird das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, zum Leben und zum Heil der Welt.« Nachdem er sodann das Brot so hingelegt hat, daß das Siegel unten, der herausgeschnittene Teil oben liegt und das geopferte Lamm versinnbildlicht, stößt er die Lanze in die rechte Seite -- wodurch die Hinschlachtung des Opfers symbolisiert, zugleich aber auch darauf hingedeutet werden soll, daß die Seite des Heilands von einem am Kreuze stehenden Krieger mit der Lanze durchstochen ward. Hierbei spricht er: »Der Kriegsknechte einer öffnete Seine Seite mit einem Speer, und alsbald ging Blut und Wasser heraus. Und der das gesehen hat, der hat es bezeuget, und sein Zeugnis ist wahr.« Diese Worte dienen dem Diakon zugleich zum Zeichen, daß nun die Zeit gekommen ist, Wasser und Wein in den heiligen Kelch zu gießen. Der Diakon, der bisher alles, was der Priester getan, ehrfürchtig und andachtsvoll verfolgt hat, indem er ihn bald zum Beginn des heiligen Dienstes aufforderte, bald wieder bei jeder Handlung die Worte: »Lasset uns beten zu dem Herrn!« vor sich hinmurmelte, gießt nun Wein und Wasser in den Kelch, nachdem er beide gemischt und sich den Segen des Priesters dazu erbeten hat. So sind nun Wein und Brot vorbereitet, um sich während der bevorstehenden heiligen Handlung zu transsubstantiieren. Um einen Brauch der alten christlichen Kirche und der heiligen ersten Christen zu erfüllen, die sich, wenn sie an Christus dachten, stets auch an die Menschen erinnerten, die durch strenge Einhaltung Seiner Gebote und durch Heiligkeit ihres Lebenswandels Seinem Herzen am nächsten standen, schreitet der Priester zu den anderen Weihbroten, schneidet ein Stück zum Andenken an jene heraus und legt die Stücke auf dieselbe Patene[5] neben das heilige Brot, das den Herrn selbst darstellt, da ja auch jene von dem glühenden Wunsche verzehrt wurden, stets an der Seite des Herrn zu weilen. Indem er sodann das zweite Brot ergreift, schneidet er ein Stück zum Gedächtnis an die heilige Mutter Gottes heraus und legt es zur Rechten des heiligen Brotes hin, indem er die Worte aus dem Psalm Davids spricht: »Die Königin trat Dir zur Rechten, in ein goldenes Gewand gehüllt und reichlich geschmückt.« Dann nimmt er das dritte Brot, das der Erinnerung der Heiligen geweiht ist, und schneidet mit demselben Speer neun Stücke aus ihm heraus, die er in drei Reihen zu je drei Stücken anordnet. Er schneidet ein Stück zu Ehren Johannes des Täufers, ein zweites zu Ehren der Propheten und ein drittes zu Ehren der Apostel heraus, und damit hat die erste Reihe und die erste Klasse der Heiligen ihren Abschluß erreicht. Sodann schneidet er zu Ehren der heiligen Kirchenväter ein viertes Stück, ein fünftes zu Ehren der Märtyrer und ein sechstes zu Ehren der heiligen gotterleuchteten Väter und Mütter heraus, und damit ist die zweite Reihe und die zweite Klasse der Heiligen vollendet. Und endlich schneidet er noch ein siebentes Stück zu Ehren der Wundertäter und Uneigennützigen, ein achtes zu Ehren der göttlichen Eltern Joachim und Anna und des Heiligen des Tages sowie ein neuntes zu Ehren des Johannes Chrysostomus oder Basilius des Großen heraus, je nachdem, wem zu Ehren an jenem Tage die Messe gelesen wird. Damit ist auch die dritte Reihe und die letzte Klasse der Heiligen vollendet, und der Priester legt nun alle neun Brotstücke, die er herausgeschnitten hat, auf die heilige Patene zur Linken neben das heilige Brot hin. So erscheint Christus inmitten derer, die Ihm am nächsten stehen, Er, der in der Heiligkeit Wohnende, wird sichtbar im Kreise Seiner Heiligen erblickt, als Gott unter Göttern und Mensch unter Menschen. [Fußnote 5: Diskos.] Hierauf ergreift der Priester das vierte Weihbrot, das der Erinnerung an alle Lebendigen geweiht ist, und schneidet aus ihm ein Stück zu Ehren des Kaisers, ein zweites zu Ehren der Synode und der Patriarchen und ferner noch einige weitere zu Ehren aller rechtgläubigen Christen heraus, wo auf Erden sie auch wohnen mögen, und endlich schneidet er auch noch für jeden einzelnen von ihnen, dessen er gedenken will und dessen zu gedenken man ihn gebeten hat, ein Stück heraus. Dann nimmt der Priester das letzte Weihbrot und schneidet Stücke zur Erinnerung an alle Verstorbenen aus ihm heraus, indem er für sie betet und Vergebung der Sünden für sie erfleht; er betet für die Patriarchen, für die Zaren, die Stifter des Tempels, den Erzpriester, der ihm die Priesterweihe erteilt hat, wenn dieser bereits verstorben ist, kurz, er schneidet für alle -- bis auf den letzten Christen -- für den man sich bei ihm verwendet hat oder dem zu Ehren er es selbst tun will, ein Stück heraus. Zum Schluß fleht er selbst um Vergebung aller seiner Sünden, dann schneidet er ein Stück für sich selbst heraus und legt alle Stücke auf die heilige Patene unterhalb des heiligen Brotes nieder. So also ist um dies Brot, d. h. um das Lamm, das Christus in eigener Person darstellt, Seine ganze Kirche versammelt: die triumphierende himmlische, wie die kämpfende irdische. Des Menschen Sohn erscheint inmitten der Menschen, um derentwillen er Fleisch ward und ein Mensch wurde. Sodann nimmt der Priester einen Schwamm und liest alle Krümchen auf der Patene zusammen, auf daß nichts von dem heiligen Brote verloren gehe und auf daß alles erfüllet werde. Dann tritt der Priester vom Altar zurück und fällt vor ihm nieder, als beuge er sich vor dem verkörperten Christus selbst; er begrüßt in dieser Gestalt das auf der Patene liegende Brot, das Erscheinen des himmlischen Brotes auf Erden; er begrüßt es, indem er mit Thymian räuchert, nachdem er das Rauchfaß zuvor gesegnet hat und indem er das Gebet spricht: »Wir bringen Dir Weihrauch dar, Christus unser Gott, auf daß es dufte von geistlichen Wohlgerüchen; nimm ihn an auf Deinen hohen über den Himmeln thronenden Altar und sende auf uns herab die Gnade Deines Heiligen Geistes.« Und der Priester versetzt sich mit allen seinen Gedanken in die Zeit der Geburt Christi, indem er Vergangenes in Gegenwärtiges verwandelt, und er blickt auf diesen Seitenaltar, als wäre er die geheimnisvolle Krippe, darin zu jener Zeit der Himmel zur Erde herabgestiegen war: der Himmel war zur Krippe geworden, und die Krippe hatte sich in den Himmel verwandelt. Nachdem er den Asteriskos, der aus zwei goldenen Bogen mit einem Sterne darüber besteht, umräuchert und auf die Hostienschüssel gestellt hat, blickt er ihn an, wie wenn er der Stern wäre, der einst über dem Kindlein leuchtete, und er spricht: »Er kam, und der Stern stand oben über, da das Kindlein war«: er blickt auf das heilige Brot, das für die Opfer bestimmt ist, als wäre es das neugeborene Kindlein, als wäre die Patene die Krippe, in der das Kindlein lag, und als wären die Decken die Windeln, in die das Kindlein gehüllt war. Nachdem er vor der ersten Decke mit Weihrauch geräuchert hat, bedeckt er das heilige Brot und die Patene mit ihr und spricht die Worte des Psalms: »Der Herr ist König und herrlich geschmückt,« d. h. des Psalms, in dem die wunderbare Größe und Herrlichkeit Gottes besungen wird. Hierauf räuchert er vor der zweiten Decke mit Weihrauch und bedeckt dann den heiligen Kelch mit ihr, indem er spricht: »O Herr Christus, Deine Güte bedeckt die Himmel, und die Erde ist Deines Ruhmes voll«. Er nimmt die große Decke, die der heilige Aër genannt wird, und bedeckt nun beides: die Patene und den Kelch mit ihr, indem er Gott anruft und Ihn bittet, uns mit Seinem schützenden Flügel zu bedecken; indem dann beide von dem Altar zurücktreten, verbeugen sie sich ehrfürchtig vor dem heiligen Brote, ganz so, wie einst die Hirtenkönige das neugeborene Kindlein anbeteten; hierauf räuchert der Priester vor der Krippe, zur Erinnerung an die wohlriechenden Myrrhen und Weihrauch, die die Weisen dem Kindlein zusamt dem kostbaren Golde darbrachten. Der Diakon steht auch während dieser Zeit beständig dem Priester aufmerksam zur Seite, indem er jede Handlung mit den Worten: »Laßt uns beten zu dem Herrn« begleitet oder das Zeichen zum Beginn der heiligen Handlung gibt. Endlich nimmt er das Räucherfaß aus den Händen des Priesters entgegen und fordert ihn zum Gebet auf, das von den für Ihn zubereiteten Gaben handelt und das er nun zu Gott emporsenden soll. »Laßt uns beten zu dem Herrn für die kostbaren Gaben, die wir ihm darbringen.« Nunmehr beginnt der Priester das Gebet. Obwohl diese Gaben zunächst bloß für die Opferhandlung vorbereitet sind, dürfen sie von nun ab zu nichts anderem mehr verwendet werden. Der Priester spricht bei sich selbst ein Gebet, in dem er schon im voraus auf die Annahme der für das bevorstehende Opfer bestimmten Gaben vorbereitet. Dies Gebet lautet folgendermaßen: »Gott, unser Gott, Der Du uns das himmlische Brot, die Nahrung der ganzen Welt, unserm Herrn und Gott, Jesus Christus, unseren Heiland, Erlöser und Wohltäter gesandt hast, Der uns gesegnet und geheiligt hat, segne Du selbst, was wir Dir darbieten, und nimm es entgegen auf Deinem hoch über den Himmeln thronenden Altar: gedenke auch derer in Deiner Güte und Menschenliebe, die Dir dies dargebracht haben, sie, um derentwillen es dargebracht wurde, und unser selbst, und erhalte uns unschuldig in der Verrichtung Deiner göttlichen Sakramente.« Und nach diesem Gebet vollzieht er das Offertorium. Der Diakon räuchert unterdessen vor den Schaubroten und sodann kreuzweise vor dem heiligen Altar. Er gedenkt der irdischen Geburt Dessen, Der geboren ward, ehe denn die Zeit war, der allgegenwärtig und der immerdar überall zugegen war, und er spricht bei sich selbst: »Du warst leibhaftig im Grabe, mit Deinem Geist in der Hölle, als Gott mit dem Übeltäter im Paradiese und auf dem Throne mit dem Vater und dem Heiligen Geiste, alles vollbringend, o Christus, Du Unbeschreiblicher.« Und er tritt mit dem Räucherfaß in der Hand aus dem Altarraum hervor, um die ganze Kirche mit Wohlgerüchen zu erfüllen und alle, die sich zum heiligen Mahl der Liebe versammelt haben, willkommen zu heißen. Diese Räucherung findet stets zu Beginn des Gottesdienstes statt, wie ja auch im häuslichen Leben aller alten Völker des Orients jedem Gast bei seinem Eintritt eine Schüssel zum Waschen und Wohlgerüche dargebracht wurden. Dieser Brauch hat sich auch an dieses himmlische Festmahl geknüpft, an das geheimnisvolle Abendmahl, das den Namen der Liturgie trägt, in der sich der Gottesdienst und die brüderliche Bewirtung und Speisung aller in so wundersamer Weise vereinigt haben, wovon uns der Erlöser selbst, Der selbst allen diente und die Füße wusch, ein Beispiel gegeben hat. Indem dann der Diakon räuchert und sich in gleicher Weise vor allen verbeugt, vor den Reichsten wie vor den Ärmsten, heißt er, der Diener Gottes, sie alle herzlich willkommen als die lieben Gäste des himmlischen Wirtes; er räuchert und verbeugt sich dabei ehrfurchtsvoll vor den Bildern der Heiligen, denn auch sie sind ja Gäste, die zum heiligen Abendmahl erschienen sind: in Christo sind alle lebendig und untrennbar miteinander verbunden. Nachdem er alles vorbereitet und den Tempel mit Wohlgeruch erfüllt hat, kehrt er in den Altarraum zurück, in dem er nochmals räuchert; dann stellt er das Räucherfaß endlich beiseite, nähert sich dem Priester, und beide treten vor den heiligen Hochaltar. Beide treten vor den heiligen Hochaltar hin, beide verneigen sich, sowohl der Priester wie der Diakon, dreimal bis zur Erde und rufen, indem sie sich nun zu der eigentlichen heiligen Handlung der Liturgie anschicken, den Heiligen Geist an, denn ihr ganzer Gottesdienst soll ja ein geistiger Dienst sein. Der Geist ist der Lehrer, der uns im Gebet unterweist. »Wir wissen nicht, um was wir bitten sollen,« sagt der Apostel Paulus, »aber der Heilige Geist selbst tritt für uns ein, mit unaussprechlichen Seufzern.« Der Priester und der Diakon flehen den Heiligen Geist an, in ihnen Wohnung zu nehmen, sie hierdurch zu reinigen und für ihren heiligen Dienst vorzubereiten, wobei sie zweimal nacheinander das Lied singen, mit dem die Engel die Geburt Jesu Christi begrüßten: »Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« Nachdem sie ihren Gesang beendigt haben, wird der Vorhang der Kirche zurückgezogen; dies geschieht immer nur dann, wenn die Gedanken der Betenden auf die höchsten und erhabensten Gegenstände hingelenkt werden sollen. In diesem Falle soll die Öffnung des Tores zum Allerheiligsten nach dem Gesang der Engel andeuten, daß die Geburt Christi ja nicht allen Menschen offenbart ward, daß nur die Engel im Himmel, Maria, Joseph und die Magier, die gekommen waren, um das Kind anzubeten, Kenntnis von ihr besaßen, und daß nur die Propheten sie von ferne geahnt hatten. Der Priester und der Diakon sprechen bei sich: »O Herr, öffne meinen Mund, und mein Mund wird Deinen Ruhm verkünden.« Der Priester küßt das Evangelium, der Diakon küßt den heiligen Hochaltar, senkt das Haupt und gibt das Zeichen für den Beginn der Liturgie, indem er mit drei Fingern seiner Hand die Stola emporhebt und spricht: »Es ist Zeit, zum Herrn zu beten. Segne mich, o Herr!« und der Priester segnet ihn mit den Worten: »Gesegnet sei unser Gott, immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit.« Und indem der Diakon der bevorstehenden heiligen Handlung gedenkt, während der er den Flug des Engels vom Altar zur Gemeinde und von der Gemeinde zum Altar nachahmen, alle in einem Geist und einer Seele vereinigen und gewissermaßen eine heilige, alles erweckende Kraft darstellen soll, und im Gefühl, daß er dieser Aufgabe nicht würdig ist, fleht er den Priester demütig an: »Bete für mich, o Herr!« »Gott lenke deine Schritte!« antwortet ihm der Priester. »Gedenke meiner, heiliger Mann!« »Der Herr gedenke deiner in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Diakon spricht leise, aber mit kräftiger Stimme: »Amen!« und tritt aus der nördlichen Tür vor das Volk hinaus. Er betritt die Kanzel, die der Königspforte gegenüberliegt, wiederholt nochmals bei sich selbst: »Herr, öffne meinen Mund, und mein Mund wird Deinen Ruhm verkünden!« und indem er sich dem Altar zuwendet, fleht er den Priester nochmals an: »Segne mich, o Herr!« Der Priester ruft ihm aus der Tiefe des Tempels die Antwort entgegen: »Gesegnet sei das Reich ...«, und die Liturgie beginnt. Die Liturgie der Katechumenen Der zweite Teil der Liturgie heißt die Liturgie der Katechumenen. Wie der erste Teil, d. h. das Offertorium, den ersten Lebensjahren Christi, Seiner Geburt, die nur den Engeln und wenigen Menschen offenbart war, Seiner Kindheit und Seinem Aufenthalt in tiefster Zurückgezogenheit und Verborgenheit, bis zu Seinem Auftreten in der Welt entspricht, so entspricht der zweite Teil Seinem Leben inmitten der Welt und der Menschen, denen Er das Wort der Wahrheit verkündigt hat. Dieser Teil heißt auch deshalb noch die Liturgie der Katechumenen, weil während der ersten christlichen Zeit auch die zu ihr zugelassen wurden, die erst Christen werden wollten, die sich erst darauf vorbereiteten, noch nicht die heilige Taufe empfangen hatten und zu den Katechumenen gehörten. Dazu kommt noch, daß die heilige Handlung, die aus der Verlesung der Propheten, der Epistel und des heiligen Evangeliums besteht, in erster Linie einen verkündigenden Charakter trägt. Der Priester beginnt die Liturgie, indem er aus dem Inneren des Altarraumes ruft: »Gelobt sei das Reich des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ...« Da durch die Fleischwerdung des Sohnes der Welt das Mysterium der Heiligen Dreieinigkeit deutlich geoffenbart ward, geht und leuchtet die Verkündigung der Heiligen Dreieinigkeit dem Beginn aller heiligen Handlungen voran; der Betende muß daher allem entsagen, sich aller anderen Gedanken entledigen und sich gänzlich in das Reich der Heiligen Dreieinigkeit versetzen. Der Diakon steht auf der Kanzel und hat sein Gesicht der Königspforte zugewendet. So stellt er einen Engel und Erwecker dar, der die Menschen zum Gebet anfeuert; er hebt mit drei Fingern seiner Hand das schmale Band -- das Sinnbild des Engelsflügels -- empor und ruft das ganze versammelte Volk auf, die Gebete zu sprechen, die die Kirche seit den Zeiten der Apostel unablässig zum Himmel emporsendet, deren erstes die Bitte um Frieden ist, ohne die man überhaupt nicht zu beten vermag. Die versammelten Andächtigen bekreuzigen sich, suchen ihre Herzen in harmonisch abgestimmte Saiten eines Instruments umzuwandeln, die bei jedem Wort des Diakons mitschwingen, und rufen im Geiste zugleich mit dem Chor der Sänger aus: »Herr, erbarme Dich unser!« Der Diakon steht auf der Kanzel, er hält die Gebetstola, die den erhobenen Flügel eines Engels darstellt, der die Gemeinde zum Gebet anfeuern soll, empor und ruft die Gemeinde zum Gebet auf: er fordert sie auf, an die höhere Welt und die Rettung unserer Seelen zu denken und zu beten für den Frieden der ganzen Welt, das Wohlergehen der heiligen Kirchen und die Vereinigung ihrer aller, für den heiligen Tempel und die, die ihn gläubig mit Andacht und Ehrfurcht betreten, für den Kaiser, den Synod, die geistliche und weltliche Obrigkeit, den Richterstand und den Militärstand, für die Stadt, für das Haus, darin die Liturgie zelebriert wird, zu bitten um Reinheit und Gesundheit der Luft, um eine reiche Ernte, um friedliche Zeiten, für die Seefahrer und Reisenden, für die Kranken und Leidenden, für die Gefangenen und ihre Errettung; er fordert die Gemeinde auf, Gott zu bitten, daß Er uns vor jeglichem Kummer, Zorn und Not bewahren möge, und indem die Versammlung der Andächtigen alles mit dieser allumschließenden Kette von Gebeten, die die große Ektenia heißt, umschlingt, erwidert sie jedesmal, wenn sie angerufen wird, zusammen mit dem Chor der Sänger: »Herr, erbarme Dich!« Im Bewußtsein der Ohnmacht unserer Gebete, denen es an Seelenweisheit fehlt und denen kein reiner himmlischer Lebenswandel entspricht, fordert der Diakon, derer gedenkend, die da besser zu beten verstanden als wir, die Gemeinde auf, sich selbst, einander und das ganze Leben unserem Gotte Christus zu weihen. In dem aufrichtigen Wunsch, sich selbst, einander und ihr ganzes Leben Christus, unserem Gotte zu weihen, wie dies die heilige Mutter Gottes, die Heiligen und die, die besser waren als wir, verstanden, ruft die ganze Kirche zusammen mit dem Sängerchor: »Dir, o Herr!« Der Diakon beschließt die Kette der Gebete mit einem Lobgesang auf die Dreieinigkeit, die sich wie ein alles zusammenhaltender Faden durch die ganze Liturgie hindurchzieht und jede Handlung einleitet und beschließt. Die Versammlung der Andächtigen antwortet mit einem bestätigenden »Amen! Ja, so geschehe es!« Der Diakon steigt von der Kanzel herab, und es beginnt der Abgesang der Antiphone. Die Antiphone sind Wechselgesänge, d. h. Lieder, die den Psalmen entnommen sind und das Erscheinen des göttlichen Sohnes in der Welt prophetisch ankündigen; sie werden abwechselnd von einem der beiden Sängerchöre, die auf beiden Chören postiert sind, gesungen; sie bilden einen Ersatz für die älteren Psalmodien und sind kürzer als diese. Während des Abgesangs des ersten Antiphons betet der Priester im Inneren des Altarraumes für sich; der Diakon steht unterdessen in betender Stellung vor dem Bilde des Heilands, indem er die Stola mit drei Fingern seiner Hand emporhält. Wenn der Gesang des ersten Antiphons beendet ist, besteigt er aufs neue die Kanzel und wendet sich mit folgenden Worten an die versammelten Andächtigen: »Laßt uns abermals und abermals zu Gott beten!« Die versammelten Andächtigen rufen: »Herr, erbarme Dich unser!« Der Diakon wendet sich nun den Bildern der Heiligen zu und fordert die Gemeinde auf, der Mutter Gottes und aller Heiligen zu gedenken und sich selbst, einander, sowie das ganze Leben unserem Gotte Christus zu weihen. Die Gemeinde ruft aus: »Dir, o Gott!« Der Diakon beschließt diesen Teil mit einer Lobpreisung der Heiligen Dreieinigkeit. Die ganze Kirche ruft bestätigend Amen, und dann folgt der Abgesang des zweiten Antiphons. Während des zweiten Antiphons betet der Priester im Altarraum bei sich selbst. Der Diakon tritt wieder in betender Stellung vor das Heiligenbild des Erlösers, indem er die Gebetstola mit drei Fingern der Hand emporhält; nach Beendigung des Gesanges besteigt er abermals die Kanzel, blickt auf die Bilder der Heiligen und ruft die Gemeinde wie vorhin mit den Worten auf: »Laßt uns in Frieden zu dem Herrn beten!« Die Gemeinde erwidert: »Herr Gott, [erbarme Dich.« Der Diakon ruft aus]: »O Gott, hilf uns, sei uns gnädig, errette uns, behüte uns durch Deine Gnade!« Die Gemeinde erwidert: »Herr Gott, erbarme Dich unser!« Der Diakon blickt auf die Bilder der Heiligen [und ruft aus]: »Laßt uns unserer heiligen, unbefleckten, hochgelobten, herrlichen Gebieterin, der Jungfrau und aller Heiligen gedenken und uns selbst, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gotte weihen!« Die Gemeinde antwortet: »Dir, o Herr!« Das Gebet endet mit einer Lobpreisung der Heiligen Dreieinigkeit. Die ganze Kirche antwortet bestätigend: »Amen,« und der Diakon steigt von der Kanzel herab. Der Priester betet im Inneren des Altarraumes bei sich selbst, indem er spricht: »Du, Der Du uns dies gemeinsame einträchtige Gebet schenktest, Du, Der Du verhießest, wenn zwei oder drei in Deinem Namen versammelt sind, zu gewähren, worum sie bitten! erfülle die Bitten Deiner Knechte zu ihrem eigenen Besten; schenke uns in diesem Leben die Erkenntnis Deiner Wahrheit und schenke uns im künftigen das ewige Leben.« Jetzt werden vom Chor so laut, daß alle es hören können, die Seligpreisungen verkündet, die uns in diesem Leben die Erkenntnis der Wahrheit und im künftigen ein ewiges Leben verheißen. Die andächtige Gemeinde spricht die Worte des weiseren Übeltäters, der Christus am Kreuze anflehte: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst,« und wiederholt nach dem Vorleser die Worte des Heilandes: »_Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihrer_« -- d. h. die, die sich nicht überheben und sich nicht mit ihrem Verstande brüsten. »_Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden_« -- d. h. die, die da noch mehr über ihre eigenen Unvollkommenheiten und Verfehlungen, als über die Beleidigungen und Kränkungen trauern, die ihnen zugefügt werden. »_Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen_« -- d. h. die, die wider niemand Zorn in ihrem Herzen hegen, allen vergeben und von Liebe erfüllet sind, deren Waffe die alles besiegende Güte ist. »_Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden_« -- d. h. die, die nach der himmlischen Gerechtigkeit dürsten und sich vor allem danach sehnen, sie in sich selbst herzustellen. »_Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen_« -- d. h. die, die jeden ihrer Brüder bemitleiden und in jedem, der ihnen bittend naht, Christus selbst erkennen, der für ihn bittet. »_Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen_« -- wie sich in dem reinen Spiegel eines ruhigen Gewässers, das weder durch Sand noch Schlamm getrübt wird, das reine Himmelsgewölbe spiegelt, so gibt es auch in dem Spiegel eines reinen Herzens, das von keinen Leidenschaften aufgewühlt wird, kaum noch etwas Menschliches mehr, und nur Gottes Bildnis spiegelt sich in ihm. »_Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen_« -- gleich dem Sohne Gottes selbst, der auf die Erde herabstieg, um unseren Seelen Frieden zu bringen, so sind auch die, die da Frieden und Versöhnung in unser Heim tragen, wahrhafte Söhne Gottes. »_Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihrer_« -- d. h. die, die verfolgt werden, weil sie die Gerechtigkeit nicht bloß mit dem Munde, sondern durch die Wohlgefälligkeit ihres ganzen Lebens verkündigen. »_Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um Meinetwillen schmähen und verfolgen, und reden allerlei Übels wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden_«; -- ihr Verdienst ist ein dreifaches; erstlich sind sie schon an und für sich rein und unschuldig, zweitens werden sie geschmäht, obwohl sie rein sind, und drittens freuen sie sich, daß sie um Christi willen leiden, obwohl sie unschuldig sind. Die Gemeinde der Andächtigen spricht dem Vorleser mit vor Tränen bebender Stimme diese Worte des Heilandes nach, die da verkündigen, wer in der Zukunft auf ein ewiges Leben hoffen und warten darf, welche die wahren Könige der Welt, die Erben des Himmels sind und am himmlischen Reiche teilhaben. Jetzt öffnet sich feierlich die Königspforte, als wäre sie das Tor zum himmlischen Königreiche, und dem Auge aller Anwesenden bietet sich der schimmernde Hochaltar dar, der den Sitz des göttlichen Ruhms und die höchste Lehrstätte darstellt, aus der wir die Erkenntnis der Wahrheit schöpfen und die uns das _ewige Leben_ verheißt. Der Priester und der Diakon nähern sich dem Altar, nehmen das Evangelium und bringen es dem Volke dar; hierbei gehen sie nicht durch die Königspforte, sondern durch eine Seitentür, die die Tür der Seitenkammer darstellt, der man in der ersten Zeit die Bücher entnahm. Diese wurden dann in die Mitte des Tempels getragen, worauf hier aus ihnen vorgelesen wurde. Die Gemeinde der Andächtigen richtet ihre Blicke auf das Evangelium, das die demütigen Diener der Kirche in den Händen tragen, als wäre es der Heiland selbst, der zum erstenmal hervortritt, um Gottes Wort zu verkündigen; er schreitet durch die schmale nördliche Tür, gleichsam unerkannt, bis in die Mitte der Kirche, um, nachdem er sich allen gezeigt hat, durch die Königspforte wieder ins Allerheiligste zurückzukehren. Die beiden Diener Gottes bleiben mitten in der Kirche stehen; beide beugen ihr Haupt. Der Priester betet bei sich selbst, »Er, Der im Himmel die Heerscharen der Engel und die himmlischen Würden eingesetzt hat, auf daß sie Seinem Ruhm und Seiner Ehre dieneten, möge diesen Engeln und himmlischen Kräften, die Ihm mit uns dienen, gebieten, mit uns zusammen das Allerheiligste zu betreten«. Der Diakon weist mit der Gebetstola auf die Königspforte und spricht zum Priester: »Segne, o Herr den heiligen Eingang!« -- »Gesegnet sei der Eingang Deiner Heiligen immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« erwidert der Priester. Der Diakon reicht ihm das heilige Evangelium zum Kusse hin und trägt es in den Altarraum, bleibt jedoch inmitten der Königspforte stehen, hebt es hoch mit den Händen empor und ruft: »Höchste Weisheit!« wodurch er ausdrücken will, daß das Wort Gottes, Sein Sohn, Seine ewige höchste Weisheit der Welt durch das Evangelium verkündet ward, das er jetzt mit seinen Händen emporhebt. Dann ruft er: »Verzeih!« d. h.: »Erwachet, rafft euch auf, überwindet eure Trägheit und Lässigkeit!« Die Gemeinde der Andächtigen richtet ihren Geist empor und singt zusammen mit dem Chor: »Kommt, laßt uns vor Christus niederfallen und Ihn anbeten! Errette uns, Du Sohn Gottes, uns, die wir Dir >_Halleluja_< singen!« Das hebräische Wort Halleluja bedeutet soviel wie: »Der Herr _kommt gegangen_, lobet den Herrn!« da jedoch das Wort kommt gegangen nach dem Sinn der heiligen Sprache Gegenwart und Zukunft in einem ausdrückt, d. h. es kommt der, der schon gekommen ist und der wiederkommen wird, so begleitet dieses Wort _Halleluja_, das das ewige Wandeln Gottes ankündigt, jedesmal solche heilige Handlungen, bei denen Gott selbst in Gestalt des Evangeliums oder der heiligen Gaben zum Volke hinaustritt. Das Evangelium, das die frohe Botschaft vom Worte des Lebens verkündigt, wird auf den Hochaltar gestellt. Auf dem Chor ertönen jetzt Gesänge zu Ehren des Festtages, oder kurze Lobgesänge und Hymnen zu Ehren des Heiligen, dem der Tag geweiht ist und den die Kirche feiert, weil er denen gleicht, die Christus in den Seligpreisungen aufgezählt hat, und weil Er durch das lebendige Beispiel Seines eigenen Lebens gelehrt hat, wie wir Ihm nachfolgen und ins ewige Leben eingehen sollen. Nachdem die Lobhymnen beendigt sind, beginnen die Trichagien, d. h. der Abgesang des Dreimalheilig. Der Diakon erbittet sich den Segen des Priesters, betritt die Königspforte, schwingt die Stola und gibt den Sängern das Zeichen. Feierlich und mit Donnerlaut dröhnt der Gesang des Dreimalheilig durch die Kirche. Er besteht in folgendem Anrufe Gottes, der dreimal wiederholt wird: »Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser!« Mit dem Ruf: heiliger Gott verkündigt das Trichagion Gott den Vater; mit dem Ruf: heiliger Starker -- Gott den Sohn, Seine Kraft, Sein schaffendes Wort; und mit dem Ruf: heiliger Unsterblicher -- Seinen unsterblichen Gedanken, den ewigen lebendigen Willen Gottes, des Heiligen Geistes. Dreimal stimmen die Sänger diesen Gesang an, damit es bis ans Ohr aller Menschen dringe, daß in dem ewigen Sein Gottes das ewige Sein der Dreieinigkeit mitenthalten ist und daß es keine Zeit gab, wo Gottes Wort nicht bei Ihm gewesen wäre und wo der Heilige Geist Seinem Worte gemangelt hätte. »Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht, und all sein Heer durch den Geist Seines Mundes,« sagt der Prophet David. Jeder in der Gemeinde ist sich dessen bewußt, daß auch in ihm als dem Ebenbilde Gottes jene Dreiheit enthalten ist: Er selbst, Sein Wort und Sein Geist oder der Gedanke, der das Wort bewegt, daß jedoch sein menschliches Wort ohnmächtig ist, vergebens ertönt und nichts schafft, daß sein Geist nicht ihm gehört, da er von allen möglichen fremden Eindrücken beeinflußt wird, und daß nur durch seine Erhebung zu Gott in ihm das eine wie das andere Kraft gewinnt: im Worte spiegelt sich Gottes Wort, im Geiste Gottes Geist; das Bild der Dreieinigkeit des Schöpfers drückt sich im Geschöpfe ab, und das Geschöpf wird seinem Schöpfer ähnlich -- Indem dies jedem bewußt wird, betet er, während er dem Trichagion lauscht, innerlich bei sich selbst, daß der heilige, starke, unsterbliche Gott sein ganzes Ich reinigen und es zu Seinem Tempel und Wohnhaus machen möge, und dabei wiederholt er dreimal bei sich selbst: »Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser!« Der Priester betet im Inneren des Altarraums leise zu Gott, er möge dieses Trichagion gnädig aufnehmen, wirft sich dreimal vor dem Altar nieder und wiederholt dreimal bei sich selbst: »Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher!« Auch der Diakon wiederholt gleich ihm dreimal das Trichagion und wirft sich zusammen mit dem Priester vor dem Altar nieder. Nachdem der Priester den Kniefall getan hat, besteigt er den erhöhten Platz im Allerheiligsten, als dränge er bis in die Tiefe der Gotteserkenntnis ein, daher uns das Mysterium der Allerheiligsten Dreieinigkeit gekommen ist; dieser Platz symbolisiert jenen höchsten erhabensten über allem schwebenden Ort, da der Sohn im Schoße des Vaters und in der Einheit mit dem Heiligen Geiste ruht. Durch dieses Emporsteigen stellt der Priester das Emporsteigen Christi selbst samt dem Fleische in den Schoß des Vaters dar, wodurch der Mensch gleichfalls aufgefordert wird, Ihm in den Schoß des Vaters nachzufolgen -- eine Wiedergeburt, die schon der Prophet Daniel von ferne vorausgeahnt hat, als er in einem erhabenen Gesichte erschaute, wie des Menschen Sohn zu dem »Alten der Tage« kam. Der Priester schreitet nun unerschütterlichen Schrittes voran und spricht: »Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn.« Der Diakon fleht ihn an: »Segne, o Herr den erhabenen Hochaltar!« und der Priester segnet ihn, indem er spricht: »Gelobet seist Du auf dem Throne des Ruhms in der Herrlichkeit Deines Reiches. Du thronest auf Cherubim immerdar, jetzo, hinfort und von Ewigkeit zu Ewigkeit.« Dann nimmt er auf dem erhöhten Orte Platz, der für den Erzpriester bestimmt ist. Von hier aus sucht er wie ein Apostel Gottes und als sein Stellvertreter mit dem Gesicht zum Volke gewandt die Aufmerksamkeit der Gemeinde wach zu halten und die Gemeinde auf die bevorstehende Vorlesung der Epistel vorzubereiten -- er tut dies in sitzender Stellung und deutet hierdurch an, daß er selbst den Aposteln gleichgestellt ist. Der Vorleser tritt mit den Episteln in der Hand in die Mitte des Tempels. Mit dem Ruf: »Laßt uns aufmerken!« fordert der Diakon alle Anwesenden zur Aufmerksamkeit auf. Der Priester fleht vom Inneren des Altarraumes aus Frieden auf den Vorleser und die Anwesenden herab, und die Gemeinde der Andächtigen erwidert diesen Wunsch des Priesters mit dem gleichen Wunsche. Da sein Dienst jedoch ein rein geistlicher Dienst sein muß, gleich dem der Apostel, deren Worte nicht aus ihnen selbst kamen, sondern deren Lippen vom Heiligen Geist bewegt wurden, so sagen sie nicht: »Friede sei mit dir!« sondern »mit deinem Geiste«! Der Diakon ruft aus: »Höchste Weisheit!« Laut und ausdrucksvoll, so daß jedes Wort einem jeden vernehmlich ist, beginnt der Vorleser seine Vorlesung; aufmerksam, empfänglichen Herzens, mit suchender Seele und einem Verständnis, das den inneren Sinn des Vorgelesenen zu erfassen sucht, lauscht die Versammlung, denn die Vorlesung der Epistel ist eine Stufe und Leiter zum besseren Verständnis der Evangelien. Wenn der Vorleser seine Vorlesung beendigt hat, ruft ihm der Priester aus dem Inneren des Altarraumes zu: »Friede sei mit dir!« Der Chor antwortet: »Und mit deinem Geiste!« Der Diakon ruft aus: »Höchste Weisheit!« Der Chor singt ein donnerndes »Halleluja!«, das das Nahen des Herrn ankündigt, Der kommt, um durch den Mund des Evangeliums zum Volke zu sprechen. Nunmehr erscheint der Diakon mit dem Räucherfaß in der Hand, um den Tempel mit Wohlgerüchen zu erfüllen und für den Empfang des Herrn, der da naht, vorzubereiten; dieses Räuchern soll uns an die geistige Reinigung unserer Seelen ermahnen, denn wir sollen die wohltönenden Worte des Evangeliums reinen Herzens anhören. Der Priester betet im Innern des Altarraumes bei sich selbst, er bittet, daß das Licht der göttlichen Weisheit in unseren Herzen aufgehen und daß unsere geistigen Augen sich öffnen mögen, auf daß wir die Predigt des Evangeliums verständnisvoll in uns aufnehmen. Auch die Gemeinde betet leise bei sich selbst, sie bittet, daß das gleiche Licht auch in ihrem Herzen aufgehen möge, und bereitet sich auf die Vorlesung vor. Der Diakon erbittet sich den Segen des Priesters, dieser erwidert ihm mit dem Wunsche: »Gott verleihe auf Fürbitte des hochheiligen, hochgelobten Apostels und Evangelisten [hier folgt sein Name] deiner Stimme große Kraft, daß du die frohe Botschaft machtvoll verkündigest, auf daß erfüllet werde das Evangelium Seines innig geliebten Sohnes, unseres Herrn Jesu Christi!« Hierauf besteigt der Diakon die Kanzel, wobei ihm eine Leuchte vorangetragen wird, die das alles erleuchtende Licht Jesu Christi symbolisiert. Der Priester ruft der Gemeinde aus dem Inneren des Altarraumes zu: »Höchste Weisheit! Vergib! Laßt uns dem heiligen Evangelium lauschen! Friede sei mit euch allen!« Der Chor antwortet: »Und mit deinem Geiste!«, worauf der Diakon seine Vorlesung beginnt. Alle beugen andächtig ihr Haupt, als lauschten sie den Worten Christi selbst, Der von der Kanzel zu ihnen spricht, und als bemühten sie sich, die Saat des heiligen Wortes die der himmlische Säemann selbst durch den Mund Seines Dieners ausstreut, in sich, in ihr Herz, aufzunehmen; -- nicht mit einem Herzen, das der Heiland mit der Erde am Wege vergleicht, auf die zwar auch einige Samenkörner fallen, um jedoch sofort von den Vögeln -- den bösen Gedanken und Absichten -- aufgefressen zu werden; -- auch nicht mit solch einem Herzen, das Er mit dem steinigen Erdreich vergleicht, das nur ganz oberflächlich mit Erde bedeckt ist, sie, die das Wort zwar willig aufnehmen, es aber nicht tief Wurzeln schlagen lassen, da es ihnen an Herzenstiefe fehlt; -- auch nicht mit solch einem Herzen, das Er mit dem verwahrlosten und ungesäuberten Acker vergleicht, der von Dornen überwuchert ist, auf dem die Saat zwar aufgeht, dessen eben aufsprießende Keime jedoch von den schnell emporwachsenden Dornen -- den Dornen zeitlicher Sorgen und Mühen, den Dornen der Versuchungen und der zahllosen Lockungen des ertötenden, weltlichen Lebens mit seinen trügerischen Reizen und Annehmlichkeiten -- sofort erstickt werden, -- so daß die Saat keine Frucht trägt; wohl aber mit jenem hingebungsvollen Herzen, das Er mit gutem Lande vergleicht, welches Frucht trägt -- etliches hundertfältig, etliches sechzigfältig, etliches dreißigfältig --, das alles, was es in sich aufnimmt, beim Verlassen der Kirche, zu Hause, in der Familie, im Dienst, während der Arbeit, während der Mußestunden und Vergnügungen, im Gespräche mit anderen Menschen, und, wenn es mit sich allein ist, wieder zurückerstattet. Kurz, jeder Gläubige bemüht sich, ein Hörer und Täter des Wortes zugleich zu sein, den der Heiland mit dem weisen Manne gleichzumachen verspricht, der sein Haus nicht auf Sand, sondern auf einem Felsen erbaut, so daß sein geistiges Heim, selbst wenn sich, gleich nachdem er die Kirche verlassen hat, Regen, Flüsse und Wirbelstürme, alle möglichen Leiden und Mißgeschick wider ihn erhöben, unerschütterlich dastehen wird, gleich einer auf einem Felsen erbauten Feste. Nachdem die Vorlesung beendigt ist, ruft der Priester dem Diakon aus dem Inneren des Tempels zu: »Friede sei mit dir, der du frohe Botschaft verkündigst!« Alle Anwesenden erheben ihr Haupt und rufen im Gefühl ihrer Dankbarkeit zugleich mit dem Chor: »Ehre sei Dir, unserem Gott, Ehre sei Dir!« Der in der Königspforte stehende Priester nimmt das Evangelium aus den Händen des Diakons entgegen und stellt es auf den Altar, als das Wort, das von Gott ausgegangen ist und nun zu Ihm zurückkehrt. Der Hochaltar, der die höchsten erhabensten Gefilde darstellt, entzieht sich jetzt den Augen der Gemeinde -- die Königspforte schließt sich, und die Tür zum Allerheiligsten wird verhängt zum Zeichen, daß es keine andere Tür zum Himmelreiche gibt als die, die uns Christus geöffnet hat, und daß wir nur mit Ihm durch sie eintreten können, denn es heißt: »Ich bin die Tür.« Hiernach pflegte während der ersten christlichen Zeit die Predigt stattzufinden, worauf die Erklärung und Interpretation der verlesenen Evangelientexte folgte. Da jedoch in unserer Zeit meist über andere Texte gepredigt wird, und da folglich die Predigt nicht zur Erklärung der vorgelesenen Evangelientexte dient, so wird sie, um den Zusammenhang und die strenge harmonische Ordnung der heiligen Liturgie nicht zu stören, ans Ende gestellt. Der Diakon besteigt sodann, den Engel, der die Menschen zum Gebet anfeuert, versinnbildlichend, die Kanzel, um die Gemeinde zu noch inbrünstigerem Gebet aufzurufen. Er ruft: »Lasset uns beten aus ganzem Herzen, ganzer Seele, lasset uns beten aus ganzem Gemüt,« indem er die Gebetstola mit drei Fingern in die Höhe hebt; und während alle aus tiefster Seele inbrünstige Gebete zum Himmel emporrichten, rufen sie aus: »Herr, erbarme Dich!« Der Diakon aber unterstützt und verstärkt seinerseits das Gebet noch, indem er dreimal um Erbarmen fleht, und er fordert die Gemeinde nochmals auf, für alle Menschen zu beten, welchen Rang und welches Amt sie auch immer bekleiden mögen; zunächst und in erster Linie für die in den höchsten Ämtern und Stellungen, wo es der Mensch am schwersten hat, wo er am leichtesten strauchelt und wo er der Hilfe Gottes am meisten bedarf. Jeder von den Versammelten betet, da er weiß, in wie hohem Grade die Wohlfahrt vieler Menschen davon abhängt, daß die Mächtigen redlich ihre Pflicht erfüllen, inbrünstig und bittet Gott, Er möge sie erleuchten und belehren, getreulich ihre Schuldigkeit zu tun, und jedem Kraft verleihen, seine irdische Laufbahn in ehrenhafter Weise zu vollenden. Darum beten alle inniglich, indem sie nun nicht mehr einmal, sondern dreimal nacheinander rufen: »Herr, erbarme Dich!« Die ganze Reihe dieser Gebete heißt: doppelte Ektenia oder die Ektenia des inbrünstigen Gebets, und der Priester bittet im Altar vor dem Gottestisch inniglich um Erhörung dieser allgemeinen verstärkten Gebete, und sein Gebet heißt das Gebet der inbrünstigen Bitte. Wenn an jenem Tage eine Seelenmesse zu Ehren der Toten stattfindet, so wird gleich nach der doppelten Ektenia noch eine Ektenia zu Ehren der Entschlafenen verkündigt. Der Diakon hält die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und fordert die Gemeinde auf, für den Seelenfrieden der Knechte Gottes zu beten, die er alle beim Namen nennt, auf daß Gott ihnen alle ihre Sünden, ihre bewußten und unbewußten Verfehlungen vergeben und ihre Seelen dorthin versetzen möge, wo die Gerechten in Frieden weilen. Bei dieser Gelegenheit gedenkt jeder der Anwesenden aller Verstorbenen, die seinem Herzen nahestanden, und beantwortet jeden Ruf des Diakons mit einem dreimaligen: »Herr, erbarme Dich!« indem er inbrünstig für seine Lieben und für alle entschlafenen Christen betet. »Wir flehen Dich an, Christus, unser Gott, unsterblicher König, gewähre uns Deine göttliche Gnade, das Himmelreich und Vergebung der Sünden!« ruft der Diakon aus. Die Gemeinde erwidert zugleich mit dem Sängerchor: »Gewähre es uns, o Herr!« Der Priester aber betet im Inneren des Altarraums und bittet den Überwinder des Todes, Ihn, der uns das ewige Leben schenkte, Er möge die Seelen Seiner entschlafenen Knechte in Frieden in die friedlichen grünen Gefilde, die von Krankheiten, Kummer und Seufzern gemieden werden, eingehen lassen; er bittet in seinem Herzen, Er möge ihnen alle ihre Sünden erlassen und verkündet laut: »Christus, unser Gott, da Du bist die Auferstehung, das Leben und der Frieden Deiner entschlafenen Knechte, so singen wir Dir Preis und Ruhm samt Deinem ewigen Vater und Deinem allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geist, nun, hinfort und in alle Ewigkeit.« Der Chor ruft bestätigend: »Amen,« worauf der Diakon die Ektenia für die Katechumenen beginnt. Obwohl die Zahl der noch nicht Getauften und derer, die noch zu den Katechumenen zählen, heute nur noch gering ist, denkt doch jeder Anwesende daran, wie weit er durch Glauben und Taten noch hinter den Gläubigen zurücksteht, die gewürdigt wurden, an den Liebesmahlen der ersten christlichen Zeit teilzunehmen, sieht ein, wie er gleichsam bloß bei Christus in die Lehre gegangen ist, jedoch sein Leben noch nicht mit Ihm erfüllt hat, wie er erst die Weisheit Seiner Worte versteht, sie aber in seinem Leben noch nicht verwirklicht, wie kalt sein Glaube noch ist, und wie es ihm noch an dem Feuer einer allesverzeihenden Liebe zu seinem Bruder gebricht, einer Liebe, die alle Herzenskälte und Dürre verzehrt, und wie er, obwohl er mit dem Wasser auf den Namen Christi getauft ward, doch noch der geistigen Wiedergeburt nicht teilhaftig ist, ohne die sein Christentum nach den eigenen Worten des Heilandes nichts ist, Der da spricht: »Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen!« -- Indem also jeder Anwesende dessen eingedenk ist, zählt er sich demutsvoll zu den Katechumenen, und so antwortet er denn auch auf den Ruf des Diakons: »Lasset uns zu Gott beten, Katechumenen!« aus der Tiefe seines Herzens: »Gott, erbarme Dich unser!« Hierauf ruft der Diakon: »Ihr Gläubigen, lasset uns für die Katechumenen beten und Ihn bitten, Er möge ihnen gnädig sein, sie erwecken mit dem Worte der Wahrheit, ihnen das Evangelium der Gerechtigkeit offenbaren, sie vereinigen in Seiner heiligen allgemeinen apostolischen Kirche, Er möge sie erretten, Sich ihrer erbarmen, ihnen beistehen und sie erhalten in Seiner Gnade.« Und die Gläubigen beten, tief durchdrungen von dem Gefühle, wie wenig sie den Namen der Gläubigen verdienen, indem sie für die Katechumenen bitten, auch für sich selbst und beantworten jeden Ruf des Diakons in ihrem Innern, indem sie mit dem Sängerchor die Worte nachsprechen: »Herr, erbarme Dich unser!« Der Diakon ruft: »Katechumenen, beugt euer Haupt vor Gott!«, und alle beugen ihr Haupt, indem sie innerlich ausrufen: »Vor Dir, o Herr!« Der Priester betet leise für die Katechumenen, sowie für die, die sich in ihrer Herzensdemut unter die Katechumenen versetzt haben. Sein Gebet hat folgenden Wortlaut: »Herr, unser Gott, Der Du in der Höhe wohnst und herabsiehst auf die Demütigen, Der Du das Heil herabsandtest dem menschlichen Geschlechte in Gestalt Jesu Christi, Deines Sohnes, unseres Herrn und Gottes! Blicke nieder auf die Katechumenen, Deine Knechte, die ihren Nacken vor Dir beugen! Nimm sie auf in Deine Kirche und in Deine auserwählte Herde, auf daß sie mit uns Deinen hehren, herrlichen Namen loben und preisen den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Chor fällt mit einem donnernden »Amen!« ein. Und in Erinnerung, daß nun der Augenblick gekommen ist, wo ehemals die Katechumenen aus der Kirche herausgeführt wurden, ruft der Diakon mit lauter Stimme: »Tretet heraus, Katechumenen!« Hierauf erhebt er abermals die Stimme und ruft noch einmal: »Tretet heraus, Katechumenen!« Und endlich ruft er noch ein drittes Mal aus: »Tretet heraus, Katechumenen! Keiner von euch Katechumenen, sondern ihr Gläubigen alleine, laßt uns abermals und abermals zu Gott beten!« Bei diesen Worten erbeben alle im Bewußtsein ihrer Unwürdigkeit. Inbrünstig flehen sie in Gedanken Christus selbst um Gnade an, Der die Käufer und die schamlosen Krämer, die Sein Heiligtum zu einer Mördergrube gemacht hatten, aus dem Tempel Gottes jagte, und jeder Anwesende bemüht sich, den Katechumenen, der noch nicht darauf vorbereitet ist, in dem Heiligtume zu weilen, aus dem Tempel seiner Seele zu vertreiben, und er betet zu Christus, Er möge selbst den Gläubigen, der in die auserwählte Herde aufgenommen wird, in ihm erwecken, denn von ihm sagt der Apostel: »Ein heiliges Volk, Menschen der Erneuerung sind die Steine, aus denen der Tempel erbaut wird«; Er möge ihn erwecken ihn, der zu den wahrhaften Gläubigen gehört, die während der Zeit der ersten Christen, deren Gesichter von der Ikonostasis auf den Andächtigen herabblicken, an der Liturgie teilnahmen. Und indem er sie alle mit seinem Blick umfaßt, fleht er sie um Hilfe an, als seine Brüder, die jetzt im Himmel anbeten, denn nunmehr steht die allerheiligste Handlung bevor; es beginnt die Liturgie der Gläubigen. Die Liturgie der Gläubigen Im geschlossenen Altarraum breitet der Priester auf dem heiligen Hochaltar das Antiminsion oder Corporale aus -- ein Tuch, auf dem der Körper des Heilands abgebildet ist --, worauf das von ihm während des Offertoriums zubereitete Brot und der mit Wasser und Wein gefüllte Kelch gestellt werden, die jetzt im Angesicht aller Gläubigen vom Seitenaltar herbeigetragen werden. Das Corporale, das der Priester über den Hochaltar breitet, soll an die Zeiten der Christenverfolgungen erinnern, als die Kirche noch kein ständiges Heim hatte; man bediente sich damals, da der Altar nicht von einem Ort zum anderen getragen werden konnte, dieses Tuches sowie einzelner Stücke von Reliquien; dies Corporale ist noch heute im Gebrauch, um anzudeuten, daß die Kirche auch heute noch nicht an ein einzelnes bestimmtes Haus, an eine Stadt oder an einen Ort gebunden ist, sondern wie ein Schiff noch auf den Wellen dieser Welt schwebt, ohne irgendwo vor Anker zu gehen, denn ihr Anker ruht im Himmel. Nachdem also der Priester das Corporale ausgebreitet hat, tritt er vor den Tisch, wie wenn er das erstemal vor ihn hinträte und als ob er sich erst jetzt für die eigentliche heilige Handlung vorbereite: in der ersten christlichen Zeit wurde nämlich der Altar erst in diesem Augenblick geöffnet, bis dahin blieb er geschlossen und verhängt, weil ja die Katechumenen noch anwesend waren, und erst jetzt begannen die eigentlichen Gebete der Gläubigen. Der Priester fällt in dem noch immer geschlossenen Altarraum vor dem Tische nieder und betet zwei Gebete der Gläubigen, in denen er Gott bittet, seine Seele zu reinigen, und Ihn anfleht, ihn gerecht vor den heiligen Altar treten zu lassen, auf daß er würdig werde, das Opfer reinen Gewissens darzubringen. Der Diakon steht indessen auf der Kanzel inmitten der Kirche, einen Engel darstellend, der die Gemeinde zum Gebet anfeuert; er hält die Gebetstola mit drei Fingern empor und ruft alle Gläubigen zu denselben Gebeten auf, mit denen die Liturgie der Katechumenen begann. Alle Gläubigen sind bemüht, ihre Herzen mit einem einträchtigen, friedlichen, versöhnlichen Gefühl zu erfüllen, das jetzt noch notwendiger ist, und rufen: »Herr, erbarme Dich!«; sie beten noch inbrünstiger und flehen Gott um den höheren Frieden, um Errettung unserer Seelen, um den Frieden der Welt, die Wohlfahrt der Kirchen Gottes und ihre Einigung an; sie beten für diesen heiligen Tempel und für die, die ihn andächtig und gottesfürchtig betreten, und bitten Gott, Er möge sie vor Kummer, Zorn und Not bewahren. Und sie rufen noch inbrünstiger in ihrem Herzen: »Herr, erbarme Dich!« Der Priester ruft aus dem Inneren des Altarraumes: »Höchste Weisheit!«, womit er andeutet, daß dieselbe höchste Weisheit, derselbe ewige Sohn, Der in Gestalt des Evangeliums ausging, das Wort auszusäen, daraus wir Belehrung schöpfen, wie wir leben sollen, Sich jetzt in das heilige Brot verwandeln wird, um Sich für die ganze Welt aufzuopfern. Alle Anwesenden bereiten sich, aufgerüttelt durch diese Vorstellung, begeistert auf den nunmehr bevorstehenden hochheiligen Gottesdienst vor und richten ihre Gedanken auf ihn. Der Priester, der die Liturgie zelebriert, betet leise bei sich, fällt vor dem Tische nieder und spricht folgendes erhabene Gebet: »Keiner, der noch durch fleischliche Lüste und Genüsse gefesselt wird, ist würdig, sich Dir zu nahen, vor Dich hinzutreten oder Dir zu dienen, Herr der Liebe; denn Dein Dienst ist groß und furchtbar, selbst für die himmlischen Mächte. Allein da Du in Deiner unermeßlichen Menschenliebe wahrhaftig und ewiglich Mensch, da Du selbst Hoherpriester wurdest und selbst das Sakrament dieses Gottesdienstes und dieses unblutigen Opfers einsetztest, als Herr unser aller -- denn Du allein, o Gott, herrschst über alle himmlischen und irdischen Geschöpfe und sitzest auf dem Throne, der von Cherubim getragen wird, Gott der Seraphim und König von Israel, Der Du allein heilig bist und in den Heiligen wohnest --, so flehe ich Dich an, Dich, den Einen, Guten, sieh herab auf mich armen Sünder und Deinen unwürdigen Knecht, reinige meine Seele und mein Herz von bösen Gedanken und mache mich würdig, bekleidet mit der priesterlichen Gnade, mache mich würdig durch die Macht Deines Heiligen Geistes, vor Deinen Tisch zu treten und Deinen heiligen reinen Leib und Dein gerechtes Blut zu konsekrieren. Ich trete vor Dich hin, beuge meinen Nacken und bete zu Dir: wende Dein Angesicht nicht von mir ab und verstoße mich nicht aus der Schar Deiner Knechte, sondern laß es geschehen, daß diese Deine Gaben Dir dargebracht werden durch mich Unwürdigen. Denn Du bist der Darbringende und Dargebrachte, der Empfangende und Der, Der sie austeilt, Christus unser Gott, wir singen Dir Ruhm und Preis samt Deinem ewigen Vater und Deinem allerheiligsten, gütigen und lebenspendenden Geiste, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit.« Mitten während des Gebetes öffnet sich die Königspforte, und man sieht den Priester mit ausgebreiteten Armen und in betender Stellung knien. Der Diakon kommt mit dem Räucherfaß in der Hand gegangen, um dem höchsten König den Weg zu bereiten, er räuchert reichlich und läßt Wolken von wohlriechendem Weihrauch aufsteigen, inmitten deren Er erscheinen wird, getragen von Cherubim. So ermahnt er alle daran, ihr Gebet zu reinigen, auf daß es lauter werde wie der Weihrauch vor dem Herrn -- und fordert alle auf, die nach dem Wort des Apostels ein Wohlgeruch vor Christus sind, dessen eingedenk zu sein, daß sie reine Cherubim sein sollen, um den Herrn emportragen zu können. Die Sänger auf beiden Chören stimmen im Angesicht der ganzen Kirche folgenden Cherubimgesang an: »Die wir in geheimnisvoller Weise Cherubim darstellen und das Trichagion zu Ehren der lebenspendenden Dreieinigkeit singen, lasset uns nun alles andere vergessen und den höchsten König emporheben, Der unsichtbar getragen wird von den Heerscharen der Engel und beschattet von Lanzen.« Die alten Römer hatten den Brauch, den neugewählten König auf einem Schilde, begleitet von seinen Legionen und beschattet von zahllosen Lanzen, die über ihn gehalten wurden, vor das Volk hinauszutragen. Diesen Gesang hat jener Kaiser selbst gedichtet, der in aller seiner irdischen Größe vor der Erhabenheit des höchsten Königs in den Staub sank, Der im Schatten der Lanzen von Cherubim und von den Legionen der himmlischen Mächte getragen wird; in der ersten Zeit traten die Kaiser selbst bescheiden in die Reihe der Diener der Kirche, wenn das heilige Brot hinausgetragen wurde. Der Gesang dieses Liedes trägt einen angelischen Charakter und soll daran erinnern, wie die unsichtbaren Heerscharen im Himmel gesungen haben. Der Priester und der Diakon wiederholen diesen Cherubimgesang leise bei sich selbst und treten sodann vor den Seitenaltar, vor dem sich das Offertorium abspielte. Indem nun der Diakon vor die Gaben hintritt, die mit dem Aër bedeckt sind, spricht er: »Nimm hin, o Herr!« Der Priester zieht den Aër hinweg und legt ihn dem Diakon auf die linke Schulter und spricht: »Erhebet eure Hände zu dem Heiligtume und segnet den Herrn!« Sodann nimmt er die Patene samt dem Lamm und stellt sie dem Diakon aufs Haupt; er selbst ergreift den heiligen Kelch und geht hinter einer vorausgetragenen Leuchte oder Lampe zur Seitentür oder durch das nördliche Tor zum Volke hinaus. Wenn jedoch der Gottesdienst im Beisein der ganzen Geistlichkeit d. h. vieler Geistlicher und Diakonen stattfindet, so trägt ein Priester die Patene, ein anderer den Kelch, ein dritter den heiligen Löffel, mit dem der Priester das heilige Abendmahl austeilt, ein vierter die Lanze, die in den heiligen Leib gestoßen wurde. Alle heiligen Geräte werden hinausgetragen, sogar der Schwamm, mit dem die Krümchen des heiligen Brotes auf der Hostienschüssel zusammengelesen wurden und der jenen Schwamm darstellt, welcher mit Essig und Galle gefüllt wurde und mit dem die Knechte ihren Schöpfer tränkten. Diese feierliche Prozession, die der große Ausgang genannt wird und die himmlischen Heerscharen versinnbildlicht, kommt unter dem Absingen des Cherubimgesanges herangeschritten. Bei dem Anblick des höchsten Königs, Der in der bescheidenen Gestalt des Lammes vorausgetragen wird, umgeben von den Werkzeugen irdischer Marter wie von den Lanzen unzählbarer unsichtbarer Heerscharen und Hierarchien, und auf der Patene ruhend wie auf einem Schilde, beugen alle tief ihr Haupt und beten mit den Worten des Übeltäters, der den Herrn vom Kreuze aus anflehte: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.« Mitten im Tempel macht die Prozession halt. Der Priester benutzt diesen großen Augenblick, um in Gegenwart aller derer, die die Gaben tragen, und im Angesichte Gottes der Namen aller Christen zu gedenken, wobei er mit denen beginnt, denen die schwierigsten und heiligsten Pflichten auferlegt sind, von deren Erfüllung die Wohlfahrt aller Menschen und die Rettung ihrer eigenen Seele abhängt, und er schließt mit den Worten: »Gott der Herr gedenke euer und aller [rechtgläubigen] Christen in Seinem Reiche [immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit]!« Die Sänger beschließen den Cherubimgesang mit einem dreimaligen »Halleluja!«, das das ewige Wandeln des Herrn verkündigt. Der Zug betritt nun die Königspforte. Der Diakon nähert sich allen voran dem Altar, bleibt zur Rechten vor der Tür stehen und begrüßt den Priester mit den Worten: »Gott der Herr gedenke deiner Priesterschaft in Seinem Reiche!« Der Priester erwidert: »Gott der Herr gedenke deines heiligen Diakonenamtes in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Und er stellt den heiligen Kelch und das Brot, das den Leib Christi versinnbildlicht, auf den Tisch, als wäre er ein Sarg. Die Königspforte schließt sich, als wäre sie das Tor zum Grabe des Herrn, der Vorhang wird zugezogen, womit auf die Wache hingedeutet wird, die vor dem Grabe aufgestellt wurde. Der Priester nimmt die heilige Patene vom Haupte des Diakons, als nähme er den Leib des Heilands vom Kreuze herunter, und stellt sie auf das ausgebreitete Corporale, als wäre es das Grabtuch Christi, wozu er die Worte spricht: »Der ehrbare Joseph nahm Deinen allerheiligsten Leib vom Kreuze herab, band ihn in ein reines Grabtuch mit Spezereien und legte ihn in ein Grab, darinnen niemand je gelegen war.« Und indem er der Allgegenwart Dessen gedenkt, Der jetzt vor ihm im Grabe liegt, spricht er bei sich selbst: »Im Grabe warst Du leibhaftig, in der Hölle mit der Seele und Gott gleich, im Paradies mit dem Übeltäter und saßest doch zugleich auf dem Throne mit dem Vater und dem Heiligen Geist, o Christe, der Du alles mit Dir erfüllst, Unbeschreiblicher!« Und des Ruhms und der Ehre gedenkend, mit der dieses Grab bedeckt ward, spricht er: »Als Lebenspender, als wahrhaftiglich, herrlicher denn das Paradies und strahlender denn jeder Königspalast erschien uns Dein Grab, o Christus, Quell aller Auferstehung!« Dann zieht er die Decke von der Patene und vom Kelch hinweg, nimmt den Aër von der Schulter des Diakons, der jetzt nicht mehr die Linnen, darin das Kind Jesus gewickelt ward, sondern das Kopftuch und die Grableinwand darstellt, in die Sein toter Leib gehüllt wurde, räuchert mit Thymian und bedeckt hierauf die Patene und den Kelch abermals, indem er spricht: »Der ehrbare Joseph nahm Deinen allerheiligsten Leib vom Kreuze herab, band ihn in ein reines Grabtuch mit Spezereien und legte ihn in ein Grab, darinnen niemand je gelegt war.« Dann nimmt er das Räucherfaß aus den Händen des Diakons entgegen, räuchert vor den heiligen Gaben mit Weihrauch, indem er sich dreimal vor ihnen verneigt, und wiederholt, während er sich zu den bevorstehenden Opferhandlungen rüstet, leise bei sich selbst die Worte des Propheten David: »Tue wohl an Zion nach Deiner Gnade, baue die Mauern zu Jerusalem. Dann werden Dir gefallen die Opfer der Gerechtigkeit, die Brandopfer und die ganzen Opfer, dann wird man Farren auf Deinem Altar opfern,« denn solange Gott selbst uns nicht erhebt und unsere Seelen nicht mit jerusalemischen Mauern wider alle Angriffe des Fleisches schützt, sind wir nicht imstande, Ihm Opfer und Brandopfer darzubringen und wird nie die Flamme eines geistigen Gebetes emporlodern, denn sie wird zerstreut und verweht werden durch fremde nebensächliche Gedanken und Rücksichten, durch den Ansturm der Leidenschaften und den Wirbelwind eines seelischen Aufruhrs. Der Priester bittet Gott, seine Seele für das bevorstehende Opferwerk zu reinigen, legt das Räucherfaß wieder in die Hände des Diakons, läßt das Ornat herabfallen, beugt sein Haupt und spricht zu ihm: »Gedenke meiner, mein Bruder und Amtsgenosse!« »Gott gedenke deiner Priesterschaft in Seinem Reiche!« erwidert der Diakon, beugt seinerseits das Haupt, denkt an seine Unwürdigkeit und spricht, indem er die Stola emporhält: »Bete für mich, heiliger Herr!« Der Priester antwortet: »Der Heilige Geist komme über dich, und die Kraft des Höchsten erleuchte dich!« -- »Derselbige Geist helfe uns alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen Bewußtsein seiner Unwürdigkeit fügt er [der Diakon] hinzu: »Gedenke meiner, o heiliger Herr!« Der Priester erwidert: »Gott gedenke deiner in Seinem Reiche immerdar, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Diakon sagt: »Amen!« küßt dem Priester die Hand und geht durch die nördliche Seitentür hinaus, um alle Anwesenden zum Gebet für die dargebrachten und auf dem Hochaltar stehenden heiligen Gaben aufzufordern. Er besteigt den Altar und richtet, das Gesicht der Königspforte zugewandt und die Stola, gleich dem erhobenen Flügel eines Engels, der zum Gebet erweckt und anfeuert, mit drei Fingern emporhebend, eine ganze Reihe von Gebeten, die schon keine Ähnlichkeit mit den früheren mehr haben, zum Himmel empor. Nachdem er die Gemeinde aufgefordert hat, in ihren Gebeten der auf dem Hochaltar stehenden Gaben zu gedenken, geht er alsbald zu solchen Gebeten über, die nur die Gläubigen, die in Christo leben, an Gott richten. »Wir bitten Gott, daß Er diesen Tag zu einem vollkommenen, heiligen, friedlichen und sündenlosen mache!« fleht der Diakon. Die Gemeinde der Betenden vereinigt ihre Stimme mit dem Chor der Sänger und ruft aus tiefstem Herzen zu Gott empor: »Gewähre ihn uns, o Herr!« »Wir bitten Gott, daß Er uns einen friedlichen Engel, einen treuen Lehrmeister und Beschützer unserer Seelen und unserer Leiber sende!« Die Gemeinde: »Gewähre ihn uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um Vergebung und Erlassung unserer Sünden und Verfehlungen!« Die Gemeinde: »Gewähre sie uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um alles Gute und um alles, was unserer Seele nützlich ist, und um Frieden auf Erden!« Die Gemeinde: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um ein ferneres Leben in Frieden und um ein reumütiges Ende!« Die Gemeinde: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um ein christliches, schmerzloses, ehrbares und friedliches Ende unseres Lebens und darum, daß wir einst gute Rechenschaft ablegen am Jüngsten Gerichte Christi!« Die Gemeinde: »Gewähre uns das, o Herr!« »Wir gedenken unserer hochheiligen, reinen, gesegneten, herrlichen Gebärerin, unserer Heiligen Jungfrau, sowie aller Heiligen und weihen uns selbst, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gott.« Und in dem innigen Wunsche, sich also selbst und einander Christus, ihrem Herrn, zu weihen, rufen alle: »Dir, o Herr!« Die Ektenia wird mit folgendem Gebet beschlossen: »Durch die große Gnade Deines eingeborenen Sohnes, sei gesegnet mit Ihm samt Deinem allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geist, nun, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Chor singt ein donnerndes »Amen!« Noch immer bleibt der Altar geschlossen. Noch immer beginnt der Priester nicht mit dem Opfer; denn noch muß vieles geschehen, ehe das heilige Abendmahl stattfinden kann. Aus der Tiefe des Altarraumes ruft der Priester der Gemeinde den Gruß des Heilands zu: »Friede sei mit euch allen!« Die Gemeinde antwortet: »Und mit deinem Geiste!« Der Diakon steht auf der Kanzel und ermahnt, wie dies bei den ersten Christen Sitte war, alle, einander zu lieben, indem er spricht: »Laßt uns einander lieben und einmütig bekennen ...« Hier fällt der Sängerchor ein, indem er die Schlußworte: »Den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, die alleinige unteilbare Dreieinigkeit!« mitsingt, wodurch wir daran erinnert werden sollen, daß wir, wenn wir einander nicht liebhaben, auch Den nicht liebgewinnen können, Der ganz Liebe, Der die ganze vollkommene Liebe ist und Der in Seiner Heiligen Dreieinigkeit den Liebenden und den Geliebten, sowie die Handlung der Liebe, mit der der Liebende den Geliebten liebt, vereinigt: der Liebende ist Gott der Vater, der Geliebte Gott der Sohn, und die Liebe selbst, die Sie vereinigt, Gott der Heilige Geist. Dreimal verneigt sich der Priester im Inneren des Altarraumes, indem er leise bei sich wiederholt: »Ich will Dich lieben, o Herr, meine Stärke, mein Fels und mein Hort!« Er küßt die mit dem Tuch verdeckte heilige Patene und den heiligen Kelch, küßt den Rand des heiligen Hochaltars und alle Priester, die mit ihm am Gottesdienst teilnehmen, tuen desgleichen; dann küssen sie sich alle untereinander und der Hauptpriester spricht: »Christus ist mitten unter uns!« Man antwortet ihm: »Er ist und wird sein!« Auch alle Diakone, die zugegen sind, küssen zuerst die Stelle ihrer Stola, auf der das Kreuz abgebildet ist, und dann einander, indem sie dieselben Worte sprechen. Früher küßten alle, die in der Kirche waren, einander gleichfalls, die Männer die Männer, die Frauen die Frauen, indem sie sprachen: »Christus ist mitten unter uns!« und gleich darauf die Antwort erhielten: »Er ist und wird sein!« daher stellt sich auch heute ein jeder, der in der Kirche anwesend ist, in Gedanken vor, daß er alle Christen vor sich hat, nicht nur die, die in der Kirche sind, sondern auch die Abwesenden, nicht nur die, die seinem Herzen nahestehen, sondern auch die, die ihm fernstehen, beeilt sich, sich mit denen von ihnen auszusöhnen, gegen die er etwas wie Mißgunst, Haß oder Zorn hegte -- und gibt jedem von ihnen in Gedanken einen Kuß, indem er bei sich spricht: »Christus ist mitten unter uns!« und in ihrem Namen antwortet: »Er ist und wird sein!« denn ohne dies wäre er tot für alle folgenden heiligen Handlungen nach Christi eigenem Wort: »So lasse allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und opfere deine Gabe«; und an einer anderen Stelle heißt es: »Und wer da sagt, ich liebe Gott und hasse meinen Bruder, der lügt; denn wenn er seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, Den er nicht sieht?« Der Diakon steht auf der Kanzel, er wendet sein Gesicht den Anwesenden zu, hält die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und ruft nach altem Brauch: »Die Tore, die Tore!« Ehedem wurde dieser Ruf an die Pförtner gerichtet, die am Toreingang standen, damit sich keiner von den Heiden, die den christlichen Gottesdienst zu stören pflegten, frech und blasphemisch in die Kirche eindrängte; heute wird dieser Ruf an die Anwesenden selbst gerichtet, die hierdurch ermahnt werden sollen, die Tore ihres Herzens zu behüten, in denen die Liebe bereits Eingang gefunden hat, auf daß kein Feind der Liebe sich in die Herzen eindränge, und die Tore ihres Mundes und ihrer Ohren weit aufzutun und für die Verlesung des Glaubenssymbols offen zu halten; zum Zeichen dafür wird der Vorhang vor der Königspforte, oder die »hohe Pforte«, hinweggezogen, die sich nur dann öffnet, wenn die Aufmerksamkeit des Geistes auf die höchsten Mysterien hingelenkt werden soll. Der Diakon fordert die Versammlung mit folgenden Worten zum Zuhören auf: »Laßt uns der höchsten Weisheit lauschen!« Die Sänger stimmen einen kraftvollen mannhaften Gesang an, der mehr einer Art Sprechgesang gleicht, und rufen laut und ausdrucksvoll: »Ich glaube an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden, alles Sichtbaren und Unsichtbaren.« Dann machen sie eine kurze Pause, damit sich alle in Gedanken die erste Person der Heiligen Dreieinigkeit -- Gott den Vater klar und deutlich vorstellen, und fahren dann fort: »Und an Jesum Christum, Gottes eingeborenen Sohn, unseren Herrn, vom Vater in Ewigkeit geboren, Licht vom Licht, wahrhaftigen Gott vom wahrhaftigen Gott, geboren, nicht erschaffen, einerlei Wesens mit dem Vater, durch welchen alle Dinge geworden sind. Um der Menschen und um des Heiles willen vom Himmel Fleisch geworden aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria und Mensch geworden, um unseretwillen gekreuzigt unter Pontius Pilatus, gelitten, gestorben und begraben. Am dritten Tage nach der Schrift wiederauferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel und sitzend zur Rechten des Vaters. Von dannen Er wiederkommen wird in Herrlichkeit, zu richten die Lebendigen und die Toten und Dessen Reiches kein Ende sein wird. Und an den Heiligen Geist, Der da machet lebendig und gehet aus vom Vater, Der da zusammen mit dem Vater und dem Sohne angebetet und verehret wird und durch die Propheten geredet hat.« Dann machen sie wieder eine kurze Pause, damit sich alle in Gedanken die dritte Person der Heiligen Dreieinigkeit -- Gott, den Heiligen Geist klar und deutlich vorstellen, und fahren fort: »Und an eine heilige katholische und apostolische Kirche. Ich glaube an eine Taufe zur Vergebung der Sünden und hoffe auf die Auferstehung der Toten und ein ewiges Leben. Amen!« Mannhaft und kraftvoll ist der Gesang der Sänger und er prägt jedes Wort des Glaubenssymbols den Herzen tief ein. Mit fester Stimme wiederholt hierauf ein jeder die Worte des Symbols. Mutigen Herzens und voll starken Geistes wiederholt auch der Priester vor dem heiligen Hochaltar, der den heiligen Abendmahlstisch darstellen soll, leise bei sich selbst das Glaubensbekenntnis, auch alle Zelebranten, die ihm zur Seite stehen, wiederholen es still bei sich selbst, indem sie den heiligen Aër, der über den heiligen Gaben ruht, hin und her bewegen. Festen Schrittes kommt jetzt der Diakon gegangen und verkündet: »Laßt uns fromm, laßt uns ehrfurchtsvoll dastehen und aufmerken und das heilige Opfer in Frieden darbringen,« d. h. laßt uns würdig vor Gott hintreten, wie es sich für den Menschen geziemt, d. h. mit Zittern und Ehrfurcht, zugleich aber auch tapfer und kühnen Mutes, indem wir Gott loben, mit friedlichem versöhntem, einträchtigem Herzen, denn ohne dies vermag man sich nicht zu Gott zu erheben. Und die ganze Kirche wiederholt, diesen Ruf beantwortend, indem sie den Lobgesang, der aus ihrem Munde emporsteigt, und die Besänftigung der Herzen als Opfergabe darbringt mit dem Sängerchor: »Die Gnade des Friedens, das Opfer des Dankes.« In der Urkirche herrschte die Sitte, bei dieser Gelegenheit etwas Salböl als Opfergabe darzubringen, welches ein Symbol der Besänftigung ist, denn Salböl und Barmherzigkeit bedeuten im Griechischen dasselbe. Unterdessen zieht der Priester im Altarraum den Aër von den heiligen Gaben hinweg, küßt ihn und legt ihn zur Seite, indem er spricht: »Die Gnade unseres Herrn ...« Der Diakon aber betritt den Altarraum, nimmt den Fächer oder das Rhipidion in die Hand und schwingt ihn andachtsvoll über den heiligen Gaben. Indem nun der Priester sich anschickt, das heilige Abendmahl zu zelebrieren, richtet er aus dem Inneren des Altarraums folgenden frohen Ruf an das Volk: »Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!« worauf ihm alle Anwesenden antworten: »Und mit deinem Geiste!« Der Altar, der vorhin die Krippe vorstellte, versinnbildlicht jetzt das Zimmer, in dem das Abendmahl zubereitet wurde; und der Hochaltar, der das Grab versinnbildlichte, stellt jetzt den Abendmahlstisch und nicht mehr das Grab dar. Der Priester gedenkt des Erlösers, Der Seine Augen zum Himmel emporrichtete, ehe Er Seinen Jüngern die göttliche Speise darreichte, und ruft: »Laßt uns unsere Herzen zum Himmel erheben!« Und jeder, der in der Kirche anwesend ist, richtet seine Gedanken auf das, was nun geschehen wird -- und er denkt daran, daß in diesem Augenblick das göttliche Lamm für ihn geschlachtet wird, daß das göttliche Blut des Herrn selbst in den Kelch fließt, um ihn zu entsühnen, und daß alle himmlischen Mächte sich mit dem Priester vereinigen, um für ihn zu beten; und indem er seine Gedanken [hierauf] richtet und seine Seele von der Erde abzieht und zum Himmel und aus der Finsternis zum Lichte erhebt, ruft er zugleich mit allen anderen aus: »Wir wollen uns zu Gott erheben!« Der Priester ruft, des Erlösers gedenkend, Der da dankte, nachdem Er Seine Augen gen Himmel erhoben hatte: »Laßt uns unserem Gotte danken!« Der Chor erwidert: »Geziemend ist es und fromm, anzubeten den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, die Heilige Dreieinigkeit, Die eines Wesens und unfehlbar ist.« Der Priester aber betet im stillen bei sich: »Geziemend ist es und fromm, Dich zu verherrlichen, zu loben, Dir zu danken und Dich anzubeten allerorten in Deinem Reiche, denn Du bist Gott, der Unaussprechliche, Unergründliche, Unsichtbare und Unbegreifliche, denn Du bist ewig Derselbe samt Deinem eingeborenen Sohn und Deinem Heiligen Geist. Du hast uns aus dem Nichtsein zum Sein erweckt, hast uns Abtrünnige wieder aufgerichtet und hast uns nicht verlassen, sondern uns in den Himmel erhoben und uns Dein künftiges Reich geschenkt. Für dieses alles danken wir Dir und Deinem eingeborenen Sohn und Deinem Heiligen Geiste, danken Dir alle, für alle die Wohltaten, die wir kennen und die wir nicht kennen, die offenkundigen und die unbekannten, die Du an uns getan hast. Wir danken Dir auch für diesen Gottesdienst und bitten Dich, ihn aus unserer Hand entgegenzunehmen, obwohl Dir Tausende von Erzengeln und Legionen von Engeln, Cherubim und sechsfach geflügelte Seraphim zur Verfügung stehen, vieläugige, gefiederte, gen Himmel strebend, Dir Siegeslieder singen, rufen, jauchzen und sprechen: »Heilig, heilig, heilig ist der Gott Zebaoth; Himmel und Erde sind Deines Ruhmes voll!« Dieses Siegeslied der Seraphim, das die Propheten in ihren heiligen Gesichten vernahmen, wird von dem ganzen Sängerchor aufgenommen; es trägt die Gedanken der Gläubigen in unsichtbare Himmelsfernen mit sich fort, nötigt alle, mit den Seraphim in den Ruf einzustimmen: »Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth!« und mit ihnen den Thron des göttlichen Ruhmes zu umkreisen. Und da ferner die ganze Kirche in diesem Augenblick erwartungsvoll dessen harrt, daß der Herr selbst herabsteigen und Sich für alle zum Opfer darbringen wird, so vereinigt sich mit dem Gesang der Seraphim, der im Himmel ertönt, noch der Gesang der hebräischen Jünglinge, mit dem Ihn diese bei Seinem Einzug in Jerusalem begrüßten, Zweige auf den Weg streuend: »Hosianna in der Höhe. Gelobt sei, Der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!« Denn der Herr bereitet sich, in den Tempel einzuziehen, wie in das mystische Jerusalem. Der Diakon fährt fort, mit dem Fächer über die heiligen Gaben hinzufächeln, damit kein Insekt auf sie herniederfalle, und symbolisiert mit dieser Bewegung des Fächers das Walten der Gnade. Der Priester aber betet im stillen weiter: »Mit diesen heiligen Mächten, o Herr, Der Du die Menschen liebhast, flehen auch wir zu Dir und sprechen: Heilig und hochheilig bist Du und Dein eingeborener Sohn und Dein Heiliger Geist. Heilig bist Du und hochheilig, und herrlich ist Dein Ruhm, denn also hast Du die Welt geliebt, daß Du Deinen eingeborenen Sohn gabst, auf daß alle, die an Ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben, Der da kam und alles erfüllte, was von uns verkündet ward; in der Nacht, da Er verraten ward, oder besser, da Er Sich selbst dahingab für das Leben der Welt, nahm Er das Brot in Seine reinen unschuldigen Hände, dankte, segnete und heiligte es, brach es und gab es Seinen heiligen Jüngern und Aposteln und sprach ...« Und mit lauter Stimme verkündete der Priester die Worte des Heilandes: »Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird zur Vergebung der Sünden.« Bei diesen Worten fallen die ganze Kirche und der Chor ein und rufen »Amen!« Der Diakon aber weist, die Stola in der Hand haltend und sich zum Priester hinwendend, auf die heilige Patene hin, auf welcher das Brot ruht. Der Priester aber fährt leise fort: »Desselbigengleichen nahm Er auch den Kelch nach dem Abendmahl und sprach ...« und er verkündet laut, nachdem der Diakon auf den Kelch gedeutet hat: »Trinket alle daraus, dies ist Mein Blut des Neuen Testaments, welches vergossen wird für euch und für viele zur Vergebung der Sünden.« Und die ganze Kirche antwortet ebenso laut wie das erstemal: »Amen!« Der Priester fährt fort, leise zu beten: »Und indem wir also gedenken dieses erlösenden Gebotes und alles dessen, das für uns getan ward: des Kreuzes, des Grabes, der Auferstehung am dritten Tage, der Himmelfahrt, des Sitzens zur Rechten Gottes und der zweiten ruhmvollen Wiederkunft« -- und nun, nachdem er dies leise vor sich hingesprochen, erhebt er die Stimme und spricht: »-- bringen wir Dir dar das Deinige von den Deinigen für alle und für alles!« Der Diakon legt nun den Fächer beiseite und hebt die heilige Patene und den heiligen Kelch in die Höhe: in diesem Augenblick stellt der Altar nicht mehr das Zimmer, in dem das heilige Abendmahl stattfand, und der Hochaltar nicht mehr den Abendmahlstisch dar; jetzt ist er der Opferaltar, auf dem das furchtbare Opfer für die ganze Welt dargebracht wird -- das Golgatha, wo die furchtbare Hinschlachtung des göttlichen Opferlamms sich vollzog. Dieser Augenblick stellt den Augenblick des Opfers und den Moment dar, da ein jeder an das dem Schöpfer dargebrachte Opfer gemahnt wird. Wir beugen uns ja auch vor den irdischen Gewalten; wir verehren und achten ja auch die Menschen und gehorchen ihnen, aber wir opfern nur dem alleinigen Gott. Und dies Opfer hat nie aufgehört seit Erschaffung der Welt, in welcher Form es auch immer dargebracht werden mochte, das, worauf es dabei ankam, war nicht das Opfer selbst, sondern ein reumütiger Geist, mit dem es dargebracht wurde. Daher muß jeder der Anwesenden dessen eingedenk sein, daß der Priester in diesem Augenblick alles Gemeine und Diesseitige geringschätzen und alle irdischen Begierden und Gedanken vergessen muß gleichwie Abraham, der, als er zum Berg emporstieg, um das Opfer darzubringen, seine Frau, seinen Knecht und seinen Esel unten ließ und nur das Holz des bitteren Bekenntnisses seiner Sünden mit sich nahm, es im Feuer seiner inneren Reue zu Asche verbrannte und mit der Flamme und dem Schwerte des Geistes in sich jede Begierde nach irdischem Besitz und irdischen Gütern tötete. Was aber sind alle unsere Opfer vor dem Angesichte Gottes, wenn Er durch den Mund des Propheten zu uns spricht. »Wie ein unreines Gewand sind alle unsere Taten.« Tief durchdrungen vom Bewußtsein, daß es auf Erden nichts gibt, das da wert wäre, Gott zum Opfer gebracht zu werden, richtet jeder der Anwesenden seine Gedanken auf den Kelch, den der Diener des Altars im Altarraum emporhebt, und ruft im Inneren seines Herzens aus: »Also sei Dir dargebracht das Deinige von den Deinigen, für alle und für alles!« Der Chor singt: »Dir lobsingen wir, Dich segnen wir, Dir danken wir, o Herr, und wir beten zu Dir, unser Gott!« Und nun folgt der Höhepunkt der ganzen Liturgie: die Transsubstantiation. Im Inneren des Altarraumes wird jetzt der Heilige Geist dreimal angerufen und angefleht, Sich auf die heiligen Gaben herabzusenken -- derselbe Heilige Geist, durch Den die Fleischwerdung Christi, Seine Geburt durch die Jungfrau, Sein Tod und Seine Auferstehung vollzogen ward, und ohne Den sich das Brot und der Wein nicht in den Leib und das Blut Christi verwandeln können. Der Priester fällt vor dem heiligen Hochaltar nieder, und auch der Diakon verbeugt sich dreimal bis zur Erde, indem er bei sich selbst spricht: »Herr Gott, Der Du in der dritten Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.« Und nach diesem Anruf des Heiligen Geistes wiederholen alle bei sich den Vers: »Gib mir, o Gott, ein reines Herz und erneure in meinem Inneren einen gerechten Geist.« Noch einmal wird der Anruf wiederholt: »Herr Gott, Der Du in der dritten Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.« Und die Gemeinde singt den Vers: »Verwirf mich nicht von Deinem Angesicht und nimm Deinen Heiligen Geist nicht von mir!« Und zum drittenmal erfolgt der Anruf: »Herr Gott, Der Du in der dritten Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.« Der Diakon weist gesenkten Hauptes mit der Stola auf das heilige Brot hin und spricht bei sich selbst: »Segne, o Herr, das heilige Brot!« Und der Priester segnet es dreimal mit dem Kreuze und spricht: »Und mache dieses Brot zu dem heiligen Leibe Deines Christus.« Der Diakon sagt: »Amen!« Und damit ist das Brot in den Leib Christi verwandelt. Und abermals weist der Diakon mit der Stola stumm auf den heiligen Kelch und spricht bei sich selbst: »Segne, o Herr, den heiligen Kelch!« Und der Priester segnet ihn und spricht: »Mache, den Inhalt dieses Kelches zum heiligen Blut Deines Christus.« Der Diakon sagt: »Amen!« und spricht, indem er auf die beiden heiligen Gaben hinweist: »Segne sie beide, o Herr!« Der Priester segnet sie und spricht: »Verwandle sie durch Deinen Heiligen Geist!« Der Diakon sagt dreimal: »Amen!« Und auf dem Hochaltar ruhen jetzt der Leib und das Blut Christi selbst: die Transsubstantiation hat sich vollzogen! Ein _Wort_ rief das _ewige Wort_ herbei. Der Priester, dessen Stimme das Schwert vertritt, hat das Opfer vollbracht. Wer es auch sein möge -- ob er Peter oder Iwan heißt --, in seiner Person hat der ewige Hohepriester selbst dies Opfer vollbracht, und Er vollbringt es ewiglich durch die Person Seiner Priester, wie auf das Wort: »Es werde Licht!« das Licht ewiglich leuchtet und wie auf das Wort: »Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut!« die Erde sie ewiglich aufgehen läßt. Und es ist nicht ein Bildnis oder die bloße Erscheinung des Leibes, die sich auf dem Hochaltar befindet, sondern der Leib Christi selbst -- derselbe Leib, der auf Erden Backenstreiche erhalten, bespien, gekreuzigt, begraben ward, auferstand und mit dem Herrn gen Himmel fuhr und nun zur Rechten des Vaters sitzt. Er behält nur deshalb auch weiter die Gestalt des Brotes, um dem Menschen zur Speise zu dienen, und weil der Herr selbst gesagt hat: »Ich bin das Brot.« Vom Kirchturm her ertönt jetzt Glockengeläut, um allen den großen Augenblick zu verkündigen, auf daß der Mensch -- wo er sich in diesem Moment auch befinden mag -- ob er unterwegs, ob er auf Reisen ist oder seinen Acker bestellt, ob er zu Hause sitzt oder einer anderen Beschäftigung nachgeht, ob er auf dem Krankenbett liegt oder in den Mauern eines Gefängnisses schmachtet -- kurz, damit er überall, wo er sich auch aufhält, in diesem furchtbaren Augenblick auch für sich beten könne. Alles stürzt vor dem Leib und Blut Christi nieder und fleht den Herrn mit den Worten des Übeltäters an: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.« Der Diakon beugt sein Haupt vor dem Priester und spricht: »Gedenke an mich, o heiliger Herr!« und der Priester antwortet: »Gott gedenke deiner in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Und nun gedenkt der Priester aller vor dem Angesichte Gottes, indem er die ganze Kirche, die triumphierende wie die kämpfende, mit in sein Gebet einschließt und zwar in derselben Weise und Reihenfolge, wie ihrer aller während des Offertoriums gedacht wurde, wobei er mit der heiligen, reinen, göttlichen Jungfrau und Mutter Gottes beginnt. Ihr zu Ehren, als der Fürsprecherin der ganzen Menschheit und als der einzigen, die für ihre hohe Demut und Bescheidenheit würdig erachtet wurde, Gott in ihrem Schoße zu tragen, stimmt die ganze Kirche zusamt dem Chor einen Lobgesang an, damit ein jeder in diesem Augenblick vernehme, daß die Demut die höchste Tugend und daß in dem Herzen des Demütigen Gott lebendig sei. Nach der Mutter Gottes wird der Propheten, der Apostel und der Kirchenväter gedacht und zwar in derselben Reihenfolge, in der während des Offertoriums die Brotstücke für sie herausgeschnitten wurden; sodann wird aller Entschlafenen gedacht, deren Namen der Diakon verliest, sodann der Lebenden, wobei mit denen begonnen wird, denen die wichtigsten und höchsten Pflichten anvertraut sind, -- d. h. mit denen, die das Wort der Wahrheit gerecht verwalten, der geistlichen und weltlichen Obrigkeit und dem Kaiser; [»Gott helfe ihm und unterstütze ihn in seinem schweren Amt bei jedem Werke, das das allgemeine Wohl betrifft; möge ihm in seinem edlen Streben das ganze Staatsschiff einträchtiglich folgen, zusamt der Regierung und der Militärkammer, auf daß sie getreulich ihre Pflicht erfüllen, und auch uns lasset im Frieden, der von ihnen ausgeht, ein ruhiges Leben führen in aller Frömmigkeit und Reinheit!« Bei dieser Gelegenheit betet der Priester auch für alle anwesenden Christen bis auf den letzten, daß der allgütige Gott Seine Gnade über sie alle ergießen, ihre Schatzkammern mit Gütern füllen, die Eintracht und den Frieden in ihren Ehen walten, ihre Kinder groß werden lassen, die Jugend belehren, das Alter stützen und kräftigen, die Kleinmütigen trösten, die Zerstreuten sammeln, die Verführten zurechtweisen und in Seine heilige allgemeine apostolische Kirche aufnehmen möge. Für alle Christen bis auf den allerletzten, wo sich ein solcher Christ auch immer aufhalten möge, betet bei dieser Gelegenheit der demütige Priester;] ob der Christ unterwegs, auf der Wanderschaft, auf der See oder auf Reisen ist, ob er an einer Krankheit daniederliegt oder in der Verbannung, in Bergwerken oder unterirdischen Schächten schmachtet. Für alle -- bis auf den allerletzten -- betet bei dieser Gelegenheit die Kirche, und jeder Anwesende beteiligt sich nicht allein an diesem gemeinsamen Gebete für alle Menschen, sondern er betet auch für alle die Seinen, die seinem Herzen nahestehen, indem er sie insgesamt im Angesichte des Leibes und Blutes Christi beim Namen nennt. Dann ruft der Priester laut aus dem Altarraum: »Und laß uns preisen und lobsingen wie aus einem Munde und aus einem Herzen Deinen heiligen und herrlichen Namen, den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Die ganze Kirche antwortet mit einem bestätigenden »Amen!« Der Priester ruft: »Die Gnade des großen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi sei mit euch allen!«, und die Gemeinde erwidert: »Und mit deinem Geiste!« Hiermit haben die Gebete für alle, die der Kirche Christi angehören, ihr Ende erreicht, wie sie im Angesicht des Leibes und des Blutes Christi zu Gott emporgerichtet werden. Nun besteigt der Diakon die Kanzel, um zum Gebet für die Gaben selbst aufzufordern, die Gott dargebracht werden und die bereits verwandelt sind, auf daß sie uns nicht zum Gericht und nicht zu einer Strafe für uns werden. Er erhebt die Stola mit drei Fingern seiner rechten Hand und ermuntert alle zum Gebet, indem er spricht: »Laßt uns aller Heiligen gedenken und immer wieder und wieder in Frieden zu Gott beten!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Laßt uns beten für die dargebrachten und geweihten heiligen Gaben!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Laßt uns beten, daß unser Gott, Der die Menschen liebet, sie aufnehmen möge auf Seinem heiligen, über dem Himmel thronenden geistigen Altar, duftend von geistigen Wohlgerüchen, und daß Er uns herabsenden möge Seine göttliche Gnade und die Gabe des Heiligen Geistes!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Laßt uns zu Gott beten, daß Er uns bewahren möge vor Kummer, Zorn und Not!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Hilf, rette, erbarme Dich und erhalte uns durch Deine Gnade, o Gott!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Wir bitten Gott um einen vollkommen ungetrübten, vollkommen heiligen, friedlichen und sündlosen Tag!« Der Chor singt: »Gewähre ihn uns, o Gott!« »Wir bitten Gott um einen Friedensengel, einen treuen Lehrmeister und Beschützer unserer Seelen und Leiber!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um Vergebung und Erlassung unserer Sünden und Verfehlungen!« Der Chor singt: »Gewähre sie uns, o Gott!« »Wir bitten den Herrn um alles Gute, was unserer Seele heilsam ist, und um Frieden auf Erden!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um ein Leben in Frieden und um ein reumütiges Ende!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um ein christliches, schmerzloses, ehrbares und friedliches Ende und darum, daß es uns beschieden sein möge, in Ehren Rechenschaft abzulegen am Jüngsten Tage Christi!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o Herr!« Und nun ruft der Diakon nicht mehr die Heiligen um Hilfe an, sondern er wendet sich direkt an Gott: »Wir bitten Dich um Einheit des Glaubens und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes und weihen uns, einander und unser ganzes Leben Jesus Christus, unserem Gotte!« Und alle singen mit völliger und inniger Hingebung: »Dir, o Herr!« Nun stimmt der Priester statt eines Trichagions folgenden Gesang an: »Würdige uns, o Herr, daß wir Dich, Gott, unseren himmlischen Vater, zuversichtlich und als Gerechtfertigte anrufen und lobsingen.« Und alle Gläubigen beten nicht mehr wie mit Furcht erfüllte Sklaven, sondern wie reine unschuldige Kinder, die sich durch das Gebet, den ganzen Gottesdienst und die stetige Ausführung der heiligen Bräuche in jenen engelhaften Gemütszustand himmlischer Rührung versetzt fühlen, in dem der Mensch unmittelbar mit Gott sprechen kann wie mit seinem Vater, das Gebet des Herrn: »Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel.« Dieses Gebet umfaßt alles und schließt alles in sich ein, was wir brauchen. Die Bitte: »Geheiligt werde Dein Name!« enthält das Erste, worum wir zuerst und vor allem bitten müssen: wo Gottes Name geheiligt wird, da ist allen wohl, da sind folglich alle in Liebe miteinander verbunden, denn nur durch die Liebe wird Gottes Name geheiligt. Mit den Worten: »Dein Reich komme!« flehen wir das Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit auf die Erde herab; ohne Gottes Herabkunft wird es nie eine Gerechtigkeit geben: denn Gott ist die Gerechtigkeit. Bei den Worten: »Dein Wille geschehe!« wird der Mensch durch den Glauben wie durch die Vernunft geführt: denn wessen Wille kann wohl herrlicher sein, als der Wille Gottes? Wer weiß denn besser als der Schöpfer, was Seinen Geschöpfen not tut. Wem soll man also vertrauen, wenn nicht Ihm, Der durch und durch nichts als die ewiglich nur Gutes zeugende Güte und Vollkommenheit ist! Mit dem Worte: »Unser täglich Brot gib uns heute!« bitten wir um alles, dessen wir zu unserem täglichen Lebensunterhalt bedürfen. Unser Brot aber ist die höchste göttliche Weisheit und Christus selbst. Er selbst hat gesagt: »Ich bin das Brot und wer von Mir isset, wird nicht sterben.« Mit den Worten: »Vergib uns unsere Schuld!« bitten wir, daß alle unsere schweren Sünden, die auf uns lasten, von uns genommen werden mögen -- wir bitten, daß uns alles erlassen werden möge, dessen wir uns gegenüber dem Schöpfer selbst schuldig gemacht haben, indem wir uns an unseren Brüdern vergingen; streckt Er uns doch jeden Tag und jede Minute in ihrer Gestalt Seine Hand entgegen, indem Er uns mit herzzerreißendem Klagelaut um Mitleid und Erbarmen anfleht. Mit den Worten: »Und führe uns nicht in Versuchung!« bitten wir Gott, uns vor allem zu behüten, was unser Gemüt verwirrt, uns irre leitet und uns unsere Seelenruhe raubt. Mit den Worten: »Sondern erlöse uns von dem Übel!« bitten wir um die himmlische Seligkeit; denn sowie der Böse von uns weicht, bemächtigt sich sogleich eine hohe Freudigkeit unserer Seele, und wir fühlen uns schon auf Erden wie im Himmel. So umfaßt und schließt dieses Gebet alles in sich ein, was uns die höchste göttliche Weisheit selbst beten gelehrt hat. Und zu wem beten wir? Zum Vater der Weisheit, Der Seine ewige Weisheit vor Beginn aller Zeiten zeugte. Da alle Anwesenden dieses Gebet bei sich wiederholen müssen, nicht mit dem Munde, sondern in der reinsten Unschuld eines kindlichen Herzens, so muß auch der Abgesang des Gebets auf den Chören einen kindlichen Charakter tragen: nicht in rauhen männlichen Tönen, sondern mit kindlicher Stimme, die die Seele selbst zu liebkosen scheint, muß dieses Gebet gesungen werden, auf daß man in ihr den Frühlingshauch des Himmels zu verspüren meine und daß in ihm etwas erklinge, was uns wie die Liebkosungen der Engel selbst berührt, denn in diesem Gebet reden wir ja Den, Der uns erschaffen hat, nicht mehr mit Gott an, sondern ganz schlicht mit den Worten: »Vater unser!« Der Priester begrüßt die Gemeinde aus dem Inneren des Altarraumes mit dem Gruße des Heilands: »Friede sei mit euch allen!« Die Gemeinde erwidert: »Und mit deinem Geiste!« Jetzt fordert der Diakon alle zu einer inneren Herzensbeichte auf, die jeder nunmehr vor sich selbst ablegen muß, indem er ruft: »Beugt eure Häupter vor dem Herrn!« Und indem nun alle Anwesenden bis auf den letzten ihr Haupt beugen, sprechen sie bei sich selbst etwa folgendes Gebet: »Ich beuge mein Haupt vor Dir, mein Herr und Gott, ich bekenne meine Sünden aufrichtig und schreie zu Dir: ich bin sündig, o Herr, und unwert, Dich um Vergebung zu bitten, aber Du bist menschenfreundlich, so erbarme Dich denn meiner, obwohl ich es nicht verdient habe, wie der verlorene Sohn, rechtfertige mich wie den Zöllner und mache mich würdig, gleich dem Übeltäter in Dein himmlisches Reich einzugehen.« Und während so alle gebeugten Hauptes in innerer Herzenszerknirschung verharren, betet der Priester am Altare für alle mit folgenden Worten bei sich selbst: »Wir danken Dir, unsichtbarer König, Der Du in Deiner unermeßlichen Kraft alles erschaffen und durch Deine große Gnade alles aus dem Nichtsein ins Dasein gerufen hast; blicke selbst vom Himmel auf die herab, o Herr, die ihr Haupt vor Dir beugen, denn sie beugen es nicht vor dem Fleische und dem Blute, sondern vor Dir, furchtbarer Gott. Wende alles, was uns bevorsteht, zu unserem Besten, o Herr, so wie es jedem not tut: Laß den Seefahrer den Hafen und den Reisenden sein Ziel erreichen, heile den Kranken, o Arzt der Seele und des Leibes!« Dann stimmt der Priester den herrlichen Lobgesang auf die Dreieinigkeit an, der sich an die himmlische Güte Gottes wendet: »Gesegnet seist Du durch die Gnade, die Milde und die Menschenliebe Deines eingeborenen Sohnes samt Ihm, Deinem Sohne und Deinem Allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geiste, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Chor ruft: »Amen!« Nunmehr rüstet sich der Priester, selbst, und in Gemeinschaft mit allen, den Leib und das Blut Christi in sich aufzunehmen, indem er leise bei sich folgendes Gebet spricht: »Blicke herab, Herr Jesus Christus, unser Gott, aus Deiner heiligen Wohnung und vom ruhmvollen Thron Deines Reiches. Komm und heilige uns, Der Du hoch oben neben dem Vater sitzest und unsichtbar bei uns weilst, und mache uns [Priester] würdig, aus Deiner allmächtigen Hand Deinen reinen Leib und Dein gerechtes Blut zu empfangen und es allen den Deinen darzureichen.« Während der Priester dies Gebet spricht, rüstet sich der Diakon zum heiligen Abendmahl: er tritt vor die Königspforte, umgürtet sich mit der Stola und kreuzt sie auf seiner Brust, gleich den Engeln, die ihre Flügel kreuzweise zusammenlegen und ihr Antlitz mit ihnen verdecken vor dem unnahbaren Lichte der Gottheit. Wie der Priester, verbeugt er sich dreimal und spricht bei sich selbst: »O Gott, reinige mich Sünder und erbarme Dich meiner!« Wenn dann der Priester seine Hand nach der heiligen Patene ausstreckt, fordert er alle, die im Tempel anwesend sind, durch das anfeuernde Wort: »Laßt uns aufmerken!« auf, alle ihre Gedanken auf das, was nun geschieht, hinzulenken. Der Altar entzieht sich dem Anblick des Volkes, der Vorhang wird zugezogen, damit zuerst der Priester das Abendmahl empfange. Nur die Stimme des Priesters, der die Patene in die Höhe hebt und ruft: »Das Heilige den Heiligen!« dringt aus dem Altar hervor. Tief erschüttert von dieser Verkündigung, die da besagt, daß man selbst heilig sein muß, um das Heilige in sich aufzunehmen, erwidert die ganz im Gebet versunkene Gemeinde: »Einer ist heilig, der eine Gott, Jesus Christus, zur Ehre Gottes des Vaters!« worauf eine Lobhymne auf den Heiligen, dem dieser Tag geweiht ist, gesungen wird, um hierdurch anzudeuten, daß auch der Mensch heilig sein kann, so wie auch der Heilige, zu dessen Preis die Hymne gesungen wird, ein Heiliger werden konnte; auch er ward freilich heilig nicht durch seine eigene Heiligkeit, sondern durch die Heiligkeit Christi selbst. Durch sein Leben in Christo wird der Mensch geheiligt und in solchen Augenblicken der Ruhe in Christo ist er heilig wie Christus selbst, gleichwie das Eisen, wenn es im Feuer steckt, selbst zu Feuer wird und sofort erlöscht, sowie man es aus dem Feuer herausnimmt, und wieder gewöhnliches dunkles Eisen wird. Nun bricht der Priester das heilige Brot; zuerst bricht er es gemäß dem Zeichen, das während des Offertoriums auf ihm gemacht wurde, in vier Teile, indem er spricht: »Das Lamm Gottes wird zerlegt und zerteilt, das zerlegt und doch unteilbar ist, das stets gegessen und nie aufgezehrt wird, und das da heiligt, die davon essen.« Er legt eins von den Stücken des heiligen Leibes noch unvermischt mit dem Blute für sich und den Diakon zurück und zerlegt dann das Brot in so viele Teile, als die Zahl der Kommunikanten beträgt; aber durch diese Teilung wird doch der Leib Christi selbst nicht zerteilt, der Leib, dem kein Bein zerbrochen ward, und in dem kleinsten Teil erhält sich der Christus ganz und unversehrt, wie in jedem Gliede unseres Körpers dieselbe ganze und unteilbare Seele zugegen ist, und wie sich in einem Spiegel, auch wenn er in hundert Stücke zerspringt, selbst noch im kleinsten Splitter das Abbild derselben Dinge erhält. Wie in einem Ton, der an unser Ohr dringt, dieselbe Einheit erhalten bleibt oder wie derselbe ganze Ton sich unversehrt erhält, auch wenn tausend Ohren ihn vernehmen. Die Stücke, die während des Offertoriums zu Ehren der Heiligen und der Entschlafenen und im Namen einzelner von den Lebenden herausgeschnitten wurden, werden nicht alle in den Kelch getaucht. Sie bleiben einstweilen noch auf der Patene; nur die Teile, die den Leib und das Blut des Herrn darstellen, werden der Gemeinde während des heiligen Abendmahls dargereicht. In den ersten Zeiten der Kirche wurden sie in getrennter Gestalt dargereicht, wie sie auch heute noch von den Priestern genossen werden; ein jeglicher nahm den Leib des Herrn in die Hand und trank dann selbst aus dem Kelch. Aber da die heiligen Gaben infolge der Zuchtlosigkeit der neubekehrten und noch unwissenden Christen, die bloß dem Namen nach Christen geworden waren, oftmals von ihnen fortgetragen und mit nach Hause genommen wurden, wo man sie zu abergläubischen Zwecken und Zauberkünsten verwendete, oder da man in der Kirche in unwürdiger Weise mit ihnen umging, sich hierbei stieß, Lärm machte und die heiligen Gaben sogar verschüttete, als die Väter vieler Kirchen sich genötigt sahen, dem Volke den Kelch völlig vorzuenthalten und ihn durch die Darreichung der Oblate, als Symbol des Brotes, zu ersetzen, ein Brauch, den die abendländische römisch-katholische Kirche bei sich eingeführt hat, da ordnete der heilige Johannes Chrysostomus an, damit in der morgenländischen Kirche nicht das gleiche geschähe: daß Leib und Blut dem Volke nicht in getrennter und gesonderter, sondern in vereinigter Gestalt dargereicht werden und daß ihm beides nicht in die Hand gegeben, sondern in einem heiligen Löffel gereicht werden solle, der die Form jener Zange haben müsse, mit der der feurige Seraphim die Lippen des Propheten Jesaias berührte. Hierdurch sollen alle daran gemahnt werden, was das für eine Berührung ist, deren ihr Mund gewürdigt wird, und ein jeglicher deutlich erkennen, daß der Priester in diesem heiligen Löffel jene glühende Kohle hält, die der Seraphim mit der geheimnisvollen Zange vom Altar Gottes nahm, also daß bei der bloßen Berührung der Lippen des Propheten alle seine Missetat von ihm genommen wurde. Derselbe Johannes Chrysostomus ordnete ferner, um jeden Gedanken daran fernzuhalten, daß eine solche Vereinigung von Leib und Blut ein Willkürakt des Priesters sein könne, an, daß im Augenblick ihrer Vereinigung warmes Wasser in das Gefäß gegossen werde, was die erwärmende Gnade des Heiligen Geistes symbolisieren soll, der da ausgegossen wird, um diese Vereinigung zu heiligen, woher auch der Diakon dabei die Worte spricht: »Die Wärme des Glaubens, erfüllet vom Heiligen Geiste!« Beim Einschütten des warmen Wassers wird die Gnade des Heiligen Geistes herabgefleht, damit nichts ohne den Segen des Herrn dabei geschehe und auf daß die Wärme zugleich zum Sinnbild der Blutwärme diene und, indem sie sich jedem fühlbar macht, ihm zum Bewußtsein bringe, daß sie nicht aus einem toten Leib, dem ja kein warmes Blut entfließt, sondern aus dem lebendigen, lebenspendenden und lebenzeugenden Leibe des Herrn in ihn einströmt; denn er soll auch hierbei daran erinnert werden, daß auch der tote Leib des Herrn nicht von Seiner göttlichen Seele verlassen, daß er voll der Wirkung des Heiligen Geistes ist, und daß die Gottheit Sich nicht von ihm getrennt hat. Nachdem der Priester zuerst selbst das Abendmahl genommen und es dann dem Diakon gereicht hat, steht der Diener Christi als ein neuer, durch das Sakrament der Kommunion von allen seinen Sünden gereinigter Mensch da; in diesem Augenblick ist er im wahren Sinn des Wortes ein Heiliger und würdig, anderen das Abendmahl zu reichen. Die Königspforte tut sich auf, und der Diakon erhebt feierlich seine Stimme: »Tretet heran mit Gottesfurcht und Glauben!« Nun erscheint der verwandelte Seraphim -- d. h. der in der Königspforte stehende Priester mit dem Kelch in der Hand -- vor der ganzen Gemeinde. Verzehrt von der Sehnsucht nach ihrem Gotte und von der heißen Flamme der Liebe zu Ihm, treten alle Kommunikanten, einer nach dem anderen, die Hände auf der Brust gekreuzt, vor den Priester und sprechen gebeugten Hauptes leise bei sich selbst folgendes Gebet, in dem sie ihren Glauben zu dem Gekreuzigten bekennen: »Ich glaube, o Herr, und bekenne, daß Du in Wahrheit bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, der in die Welt gekommen ist, die Sünder zu erlösen, deren vornehmster ich selbst bin. Ich glaube auch, daß dies Dein heiliger Leib und daß dies Dein gerechtes Blut ist; daher bete ich zu Dir: erbarme Dich meiner und vergib mir meine Sünden, die freiwilligen wie die unfreiwilligen, deren ich mich in Worten oder Taten, wissentlich oder unwissentlich schuldig gemacht habe, und gib, daß ich nicht als Verworfener teilhaftig werde Deines heiligen Sakramentes zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben.« Hier hält der Andächtige einen Augenblick inne, um die Bedeutung dessen, wozu er sich anschickt, in Gedanken zu erfassen, und fährt sodann aus innerstem Herzen fort, indem er folgende Worte spricht: »Laß mich heute Deines heiligen Abendmahls teilhaftig werden, o Sohn Gottes, denn nicht als Dein Feind will ich Dein Geheimnis verraten, noch Dich küssen mit dem Kusse des Judas, sondern ich will Dich bekennen gleich dem Übeltäter, indem ich spreche: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.« Und indem der Betende in seinem Inneren einen Augenblick andächtig innehält, fährt er fort: »Gib, o Herr, daß ich mir aus Deinem heiligen Abendmahl nicht das Gericht und die Verdammnis esse und trinke, sondern daß es mir zum Heil meiner Seele und meines Körpers gereiche.« Nachdem nun ein jeglicher dieses Bekenntnis abgelegt hat, naht er sich dem Geistlichen nicht wie einem gewöhnlichen Priester, sondern wie dem feurigen Seraphim selbst, indem er sich bereit hält, mit offenem Munde die glühende Kohle des heiligen göttlichen Leibes und Blutes, die ihm im Löffel gereicht wird, in sich aufzunehmen, sie, die den ganzen häßlichen Schmutz und Unrat seiner Sünden zu Asche verbrennen soll, wie trockenes Reisig, die ewige Nacht aus seiner Seele verscheuchen und ihn selbst in einen strahlenden Seraph verwandeln soll. Und wenn dann der Priester den heiligen Löffel an seine Lippen führt, den Kommunikanten beim Namen nennt und spricht: »Der Knecht Gottes empfängt das gerechte und heilige Blut des Herrn und Gottes, unseres Heilandes Jesu Christi, zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben,« nimmt er den Leib und das Blut des Herrn in sich auf; so steht er in seinem Inneren einen Augenblick seinem Gott gegenüber, indem er Ihm selbst vor das Angesicht tritt. Dieser Augenblick ist unzeitlich und er unterscheidet sich durch nichts von der Ewigkeit, denn er ist erfüllt von Dem, Der da der Grund aller Ewigkeit ist. Indem der Mensch durch den Genuß des Leibes und des Blutes dieses großen Augenblicks teilhaftig geworden ist, steht er von heiliger Ehrfurcht erfüllt da; nun wird sein Mund mit dem heiligen Aër abgetrocknet, und diese Handlung wird mit den Worten des Seraphs begleitet, die dieser an den Propheten Jesaias richtete: »Siehe, hiermit sind deine Lippen gerühret, daß deine Missetat von dir genommen werde und deine Sünde versöhnet sei.« Nunmehr tritt er selbst als ein Heiliger von dem heiligen Kelche zurück, indem er sich vor den Heiligen verbeugt, sie grüßt und sich vor den Anwesenden verneigt, die seinem Herzen jetzt soviel näher stehen als bis dahin und die nun durch das Band einer heiligen himmlischen Blutsverwandtschaft mit ihm verbunden sind; dann geht er wieder an seinen Platz zurück, ganz erfüllt von dem Gedanken, daß er Christus selbst in sich aufgenommen hat, daß Christus in ihm weilt und in fleischlicher Gestalt in seinen Leib hinabgestiegen ist, wie in ein Grab, um bis in die geheimste Kammer seines Herzens einzudringen und aufzuerstehen in seinem Geiste, denn in ihm selbst vollzieht Er Sein Begräbnis und Seine Auferstehung. Und die ganze Kirche leuchtet auf im Lichte dieser geistigen Auferstehung und jauchzend stimmt der Sängerchor einen Jubelgesang an: »Wir haben gesehen Christi Auferstehung, so lasset uns anbeten den heiligen Herrn Jesum, Ihn, den Einzigen, Sündlosen. Wir beten Dein Kreuz an, o Christus, und lobsingen und preisen Deine heilige Auferstehung, denn Du bist unser Gott, wir kennen keinen, außer Dir, und preisen Deinen Namen. Kommet her, alle ihr Gläubigen, lasset uns anbeten die heilige Auferstehung Christi, denn durch das Kreuz ward der ganzen Welt große Freude zuteil. Wir segnen den Herrn ewiglich und preisen Seine Auferstehung: denn Er erlitt und erduldete den Kreuzestod, und indem er starb, hat Er den Tod überwunden.« Und hierauf singt der Chor gleich den Engeln, die sich zu dieser Zeit versammeln: »Strahle auf und leuchte, neues Jerusalem, denn Gottes Ruhm ist über dir aufgegangen. Jubele und freue dich nun, o Zion. Und du, reine Jungfrau und Mutter Gottes schmücke dich, denn Er, Den du geboren hast, ist auferstanden. O großes, heiligstes Passahfest Christi! O Weisheit, du Wort und Kraft Gottes! laß uns deiner noch in vollkommener Weise teilhaftig werden an dem nie endenden Tage deines Reiches!« Während die frohlockende Kirche also widerhallt von den Auferstehungsliedern, stellt der Priester, im geschlossenen Altarraum, den heiligen Kelch auf den heiligen Hochaltar, der gleich der Patene wieder mit einer Decke zugedeckt wird, und richtet ein Dankgebet an den Herrn und Wohltäter unserer Seelen dafür, daß Er alle durch Seine Gnade teilnehmen ließ an Seinem himmlischen ewigen Sakramente, und er schließt mit der Bitte, Gott möge uns auf den rechten Weg führen, uns alle in der heiligen Ehrfurcht zu Ihm befestigen, unser Leben behüten und unseren Schritten Kraft und Festigkeit verleihen. Und nun öffnet sich die Königspforte zum letztenmal, denn dieses offene Tor soll die offenen Pforten des Himmelreiches versinnbildlichen, das Christus allen zuteil werden ließ, indem Er Sich selbst der ganzen Welt zur Speise darbrachte. Das Hinaustragen des heiligen Kelches, wobei der Diakon die Worte spricht: »Tretet heran mit Gottesfurcht und Glauben,« sowie das Zurücktragen des Kelches soll versinnbildlichen, daß Christus zum Volke hinausgeht, um alle Menschen mit Sich in das Haus Seines Vaters zurückzuführen. Vom Chor ertönt ein donnernder feierlicher Jubelgesang zur Antwort: »Gesegnet sei Der da kommt im Namen des Herrn; unser Herr und Gott erscheine, Der uns erscheint.« Und die ganze Gemeinde vereinigt sich mit dem Chor und stimmt einen donnernden geistlichen Lobgesang an, der aus der Tiefe des gewaltig erstarkten und erhobenen Geistes kommt. Der Priester segnet die Anwesenden mit den Worten: »Errette, o Herr, Deine Menschen und segne Dein Eigentum,« denn er nimmt an, daß in diesem Augenblick alle durch ihre Reinheit zu Gottes eigenstem Eigentum geworden sind -- dann schwingt er sich in Gedanken empor und gedenkt der Himmelfahrt Christi, die den Abschluß Seines Erdenwandels bildete: er tritt zusammen mit dem Diakon vor den heiligen Hochaltar, verneigt sich und räuchert zum letztenmal, indem er spricht: »Aufgefahren zum Himmel bist Du, o Herr, die ganze Erde ist Deines Ruhmes voll,« inzwischen aber begeistert der Chor durch jauchzende Jubelgesänge und Töne, die von strahlender geistiger Freude erfüllt sind, die verklärten Gemüter der Anwesenden zu folgenden Worten, dem höchsten Ausdruck geistiger Freude: »Wir haben das wahre Licht geschaut, wir haben den himmlischen Geist empfangen, wir haben uns mit dem wahrhaften Glauben erfüllt und beten an die Heilige unteilbare Dreieinigkeit, denn Sie hat uns erlöst.« Der Diakon erscheint mit der heiligen Patene auf dem Haupte im heiligen Tor, er spricht kein Wort, blickt stumm auf die ganze Versammlung und entfernt sich hierauf wieder, womit er andeuten will, daß Christus uns verlassen hat und gen Himmel gefahren ist. Nach dem Diakon erscheint der Priester mit dem heiligen Kelch im heiligen Tore und verkündigt, daß der Herr, Der gen Himmel gefahren ist, alle Tage bis zum Ende der Welt bei uns weilet, indem er spricht: »Immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit,« worauf der Kelch und die Patene zurückgetragen und auf den Seitenaltar gestellt werden, auf dem das Offertorium stattfand und der jetzt nicht mehr die Krippe, die eine Zeugin der Geburt Christi war, sondern jenen höchsten Ort des Ruhmes darstellt, auf dem sich die Himmelfahrt Christi in den Schoß des Vaters vollzog. Hier vereinigt sich die ganze Kirche unter Führung des Sängerchors zu einem feierlichen Dankgesang der Seelen, und dies sind die Worte des Lobgesangs: »Laß unseren Mund sich erfüllen mit Deinem Lobe, o Herr, daß wir Deinen Ruhm singen, Der Du uns würdigest, an Deinem heiligen, göttlichen, unvergänglichen, lebenspendenden Sakramente teilzunehmen; behüte uns in Deinem Heiligtume, auf daß wir den ganzen Tag Belehrung schöpfen aus Deiner Weisheit!« Hierauf singt der Sängerchor dreimal ein begeistertes: »Halleluja!«, das allen das ewige Wandeln und die Allgegenwart Gottes in Erinnerung ruft. Der Diakon besteigt die Kanzel, um die Anwesenden zum letztenmal zu Dankgebeten aufzufordern. Er hebt die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und spricht: »Vergib! lasset uns, nachdem wir empfangen haben das göttliche, heilige, reine, unvergängliche, himmlische, lebenspendende und furchtbare Sakrament Christi, würdig danken dem Herrn.« Und alle Anwesenden singen leise und mit dankbarem Herzen: »Herr, erbarme Dich!« »Hilf, rette, erbarme Dich und erhalte uns durch Deine Gnade, o Gott!« ruft der Diakon zum letztenmal. Und alle singen den Gesang: »Herr, erbarme Dich! Wir beten, daß dieser ganze Tag heilig, friedlich und sündlos zu Ende gehe und weihen uns, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gotte!« Und mit der sanften Fügsamkeit eines Kindes und dem himmlischen Vertrauen auf Gott rufen alle aus: »Dir, o Herr!« Der Priester hat währenddessen das Corporale zusammengelegt und verkündigt nun mit dem Evangelium in der Hand ... und stimmt einen Lobgesang auf die Dreieinigkeit an, der bisher gleich einem alles erhellenden Leuchtturm den ganzen Gang des Gottesdienstes erleuchtete und jetzt mit noch hellerem Lichte in den verklärten Seelen aufstrahlt; diesmal aber lautet der Lobgesang auf die Dreieinigkeit folgendermaßen: »Da Du bist unsere Heiligung, so singen wir Dir Ruhm und Preis: dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geiste, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit.« Dann tritt der Priester vor den Seitenaltar, auf dem der Kelch und die Patene stehen. Alle die Stücke, die bisher auf der Patene lagen und die während des Offertoriums zum Gedächtnis der Heiligen, zu Ehren der Entschlafenen und für das geistige Wohlergehen der Lebenden herausgeschnitten wurden, werden jetzt in den heiligen Kelch getaucht, und durch diesen Akt des Eintauchens nimmt die ganze Kirche am Leibe und Blute Christi teil -- sowohl die, die noch auf Erden umherirrt und kämpft, als auch die, die bereits triumphieret im Himmel: die Mutter Gottes, die Propheten, die Apostel, die Kirchenväter, die Priester, die Einsiedler, die Märtyrer, alle Sünder, für die ein Stück aus dem Brote herausgeschnitten wurde, sowohl die, die auf Erden leben, als auch die, die schon dahingegangen sind, nehmen in diesem Augenblick am Leibe und Blute Christi teil. Und der Priester, der in diesem Augenblick als der Vertreter der ganzen Kirche vor Gottes Angesichte steht, trinkt aus dem Kelche diese Kommunion aller und betet, nachdem er die Kommunion in sich aufgenommen hat, für alle, auf daß ihre Sünden weggewaschen werden, denn um der Erlösung aller willen ward dieses Opfer von Christus dargebracht, sowohl für die, die vor Seinem Kommen gelebt haben, als auch für die, die nach seinem Erscheinen leben. Und so sündhaft sein Gebet auch sein mag, der Priester richtet es für alle zu Gott empor, selbst für die heiligsten unter den Menschen, denn Johannes Chrysostomus hat gesagt: »Die ganze Welt muß gereiniget werden.« Die Kirche ordnet ein allgemeines Gebet für alle an, und die hohe Bedeutung eines solchen Gebets und seine strenge Notwendigkeit sind nicht von den Philosophen und nicht von Gelehrten und Weltweisen des Zeitalters, sondern von den erhabensten Menschen erkannt worden, die durch ihre hohe geistige Vollkommenheit und durch ihr himmlisches engelhaftes Leben bis zur Erkenntnis der tiefsten geistigen Geheimnisse durchdrangen und klar einsahen, daß es keine Trennung unter denen, so in Gott leben, gibt, daß ihr Verkehr infolge der momentanen Verweslichkeit unseres Leibes nicht aufhört, daß die Liebe, die hier erblühte und uns verband auf der Erde, im Himmel als in ihrer Heimat noch viel mächtiger wird, und daß ein Bruder, der uns verlassen hat, uns durch die Macht der Liebe noch weit näher gerückt wird. Und alles, was aus Christus hervorgeht, ist ewig, wie die Quelle selbst ewig ist, aus der es entspringt. Sie haben ja auch durch ihre höheren Sinnesorgane erfahren, daß sogar die triumphierende Kirche im Himmel beten muß, und daß sie in der Tat für ihre auf Erden herumirrenden Brüder betet; sie haben auch erkannt, daß Gott uns im Gebet die höchste Seligkeit beschieden hat, denn Gott tut nichts und erweist niemand eine Wohltat, ohne Sein Geschöpf an Seinem Werke mitwirken zu lassen, auf daß es die hohe Wonne des Wohltuns mitgenieße; der Engel, der der Überbringer Seines Befehls ist, versinkt förmlich in Seligkeit, bloß weil er Seine Befehle überbringen darf. Der Heilige betet im Himmel für seine Mitbrüder, die hier auf Erden weilen, und versinkt in lauter Seligkeit, weil er beten darf. Und alles nimmt mit Gott an allen Seinen höchsten Wonnen und an Seiner Seligkeit teil: Millionen der vollkommensten Geschöpfe gehen aus Gottes Hand hervor, um an der höchsten und erhabensten Seligkeit teilzunehmen, und dies nimmt kein Ende, wie Gottes Seligkeit kein Ende nimmt. Nachdem der Priester die Kommunion aller mit Gott aus dem Kelche getrunken hat, verteilt er die Weihbrote, denen die Stücke entnommen und aus denen sie herausgeschnitten wurden, an das Volk und übt damit den alten hohen Brauch des Liebesmahls aus, der bei den ersten Christen herrschte. Obwohl heute zu diesem Zweck kein Tisch mehr gedeckt wird, weil die ungebildeten und noch rohen Christen durch törichte Kundgebungen einer ungestümen Freude und durch Worte des Streits statt durch Worte der Liebe die Heiligkeit dieses rührenden himmlischen Mahles im Hause Gottes entweiht hatten, eines Mahles, bei dem alle Teilnehmer Heilige waren, bei dem alle Teile in eins zusammenflossen und währenddessen sie miteinander sprachen und sich unterhielten wie reine, unschuldige Kindlein, als wenn sie bei Gott im Himmel weilten; obwohl die Kirchen selbst einsahen, daß es unbedingt notwendig sei, diesen Brauch aufzuheben und selbst die Erinnerung an dieses Festmahl in vielen Kirchen zu tilgen, konnte die morgenländische Kirche sich nichtsdestoweniger nicht entschließen, diese Sitte gänzlich abzuschaffen, und so feiert sie auch heute noch in der Verteilung des heiligen Brotes an das gesamte in der Kirche versammelte Volk das alte Liebesmahl. Daher nimmt ein jeder, der das Weihbrot empfängt, dieses statt des Brotes entgegen, das von jenem Mahle herstammt, bei dem der Herr der Welt selbst Sich mit Seinen Jüngern unterredet hat, daher muß er es voller Ehrfurcht genießen und sich vorstellen, er sei von allen Menschen wie von lieben Brüdern umgeben, daher genießt er es denn auch, wie das in der Urkirche Sitte war, vor jeder anderen Speise, nimmt es mit sich nach Hause, oder er bringt es den Kranken, den Armen und solchen, die an jenem Tage aus irgendeinem Grunde nicht in der Kirche sein konnten. Nachdem der Priester die heiligen Brote verteilt hat, schließt er die Liturgie mit einem Gebet und segnet sodann das ganze Volk mit den Worten: »Christus, unser wahrhaftiger Gott, erbarme Sich unser auf die Fürbitte Seiner reinen Mutter, auf Fürbitte unseres Erzbischofs Johannes Chrysostomus (wenn an diesem ebenso wie am vergangenen Tage die Liturgie des Chrysostomus stattfindet), auf Fürbitte des Heiligen (hier nennt er den Heiligen, dem dieser Tag geweiht ist) sowie aller Heiligen; und errette uns, denn Er ist gütig und menschenfreundlich.« Die Gemeinde bekreuzigt sich, fällt auf die Knie und geht auseinander, während der Chor einen lauten Gesang anstimmt und Gebete für das Leben des Kaisers emporrichtet. Nunmehr legt der Priester im Inneren des Altarraumes seine Gewänder ab, indem er spricht: »Nun entläßt Du Deinen Knecht!« und er begleitet diese Handlung mit Lobgesängen und Hymnen zu Ehren des Vaters und Bischofs der Kirche, dem zu Ehren die Liturgie zelebriert wurde, sowie zu Ehren der heiligen reinen Jungfrau, in der sich die Menschenwerdung Dessen vollzog, Dem die ganze Liturgie geweiht ist. Der Diakon verzehrt unterdessen alles, was noch im Kelche enthalten ist, gießt noch etwas Wein und Wasser hinein, spült die inneren Wände des Kelches ab, trinkt sodann den Inhalt des Kelches aus und trocknet ihn sorgfältig mit dem Schwamm ab, damit nichts mehr darin bleibe, dann räumt er die heiligen Gefäße zusammen, bedeckt sie mit Decken, bindet sie zusammen und spricht ebenso wie der Priester: »Nun entläßt Du Deinen Knecht!« worauf er dieselben Gesänge und Gebete wiederholt. Und beide verlassen die Kirche mit frischen, strahlenden Gesichtern, mit einem von jauchzender Freudigkeit erfüllten Geist und Worten des Dankes für den Herrn auf den Lippen. Schluß Die Wirkung, die die heilige Liturgie auf den Geist ausübt, ist gewaltig: sie vollzieht sich sichtbar und vor den Augen der ganzen Welt und bleibt doch verborgen. Und wenn der Kirchenbesucher nur jeder Handlung andächtig und aufmerksam und den Ermahnungen des Diakons gehorsam gefolgt ist, -- so wird seine Seele von einer gehobenen Stimmung ergriffen, Christi Gebote werden für ihn erfüllbar, das Joch Christi wird sanft, und Seine Last wird leicht. Wenn er dann den Tempel verlassen hat, woselbst er an dem göttlichen Liebesmahl teilgenommen hat, sieht er alle Menschen als seine Brüder an. Was er auch tut, ob er wieder an seine gewohnten Geschäfte geht, sich seinem Dienst oder seiner Familie widmet, wo und in welchem -- -- -- es auch sei, stets schwebt ihm ganz unwillkürlich das hohe Ziel eines liebevollen Verhaltens gegen seine Mitmenschen vor der Seele, wie es uns der Gottmensch vom Himmel mitgebracht hat; ohne daß er es selbst merkt, wird er freundlicher und gütiger gegen seine Untergebenen. Wenn er selbst einen Vorgesetzten über sich hat, so ordnet er sich ihm liebevoller unter, als wäre es der Heiland selbst, dem er gehorcht. Wenn er einen Menschen sieht, der um Hilfe bittet, ist sein Herz mehr denn sonst zur Hilfe geneigt, er findet mehr [Freude] daran und schenkt dem Armen aus liebendem Herzen ein Almosen. Ist er dagegen selbst arm, so nimmt er jede kleine Gabe voller Dankbarkeit entgegen; sein Herz ist von Rührung ergriffen und will vor Dank vergehen, und niemals betet er so dankerfüllt für seinen Wohltäter. Und alle, die der göttlichen Liturgie aufmerksam gefolgt sind, verlassen die Kirche sanftmütiger, sind gütiger im Umgang mit dem Menschen und freundlicher und milder in allem, was sie tun. Daher muß ein jeder, der innerlich fortschreiten und besser werden will, die göttliche Liturgie, so oft als nur möglich, besuchen und ihr aufmerksam folgen: sie stimmt den Menschen ganz unmerklich und richtet seine Seele empor. Und wenn sich unsere Gesellschaft noch nicht vollständig aufgelöst hat, wenn die Menschen noch nicht von einem tiefen unversöhnlichen Haß widereinander erfüllt sind, so liegt der letzte tiefste Grund in der göttlichen Liturgie, die den Menschen an das heilige himmlische Gebot der Liebe zu seinen Brüdern mahnt. Wer sich daher in der Liebe stärken will, der sollte dem heiligen Liebesmahl so oft als möglich, voller Furcht, voller Glauben und Liebe beiwohnen. Und wenn er das Gefühl hat, daß er dessen noch nicht würdig ist, mit seinem Munde den Gott in sich aufzunehmen, Der selbst ganz Liebe ist, so soll er wenigstens der Liturgie als Zuschauer beiwohnen, er mag zusehen, wie die anderen das heilige Abendmahl nehmen, um unmerklich und unwillkürlich mit jeder Woche besser und vollkommener zu werden. Gewaltig und unermeßlich könnte die Wirkung der heiligen Liturgie sein, wenn der Mensch ihr beiwohnte, um das, was er gehört hat, in sein Leben aufzunehmen. Indem alle in gleicher Weise aus der Liturgie Belehrung schöpfen und indem sie auf alle Glieder der Gesellschaft vom Zaren herab bis zum letzten Bettler gleichermaßen wirkt, spricht sie zu allen in gleicher Weise, wenngleich nicht in derselben Sprache, und unterweist alle in der Liebe, die da ist das Band der Gesellschaft, die innerste Triebfeder alles dessen, das sich harmonisch bewegt, und die Nahrung und das Leben von allem. Wenn aber die heilige Liturgie schon, während sie zelebriert wird, so stark auf die Anwesenden wirkt, so ist ihre Wirkung auf den Zelebranten oder den Priester noch weit tiefer. Wenn er sie andächtig und mit Ehrfurcht, Glauben und Liebe zelebriert, so reinigt sich sein ganzes Wesen, gleich einem Gefäß, das später zu nichts mehr ...; und mag er nun den ganzen Tag erregt in der Erfüllung seiner zahlreichen seelsorgerischen Pflichten, inmitten seiner Familie, seiner Hausgenossen oder seiner Pfarrkinder zubringen, der Heiland selbst wird sich in ihm verkörpern. Christus wird in allen seinen Handlungen lebendig sein, und der Heiland wird durch seinen Mund zu uns sprechen. Ob er die Streitenden zu versöhnen oder den Starken oder den Zornigen zu bewegen sucht, Gnade gegenüber dem Schwachen zu üben; ob er den Trauernden tröstet und den Bedrückten zur Geduld ermahnt oder ... seine Worte werden von der heilenden Kraft des Balsams erfüllt sein und überall und allerorten zu Worten des Friedens und der Liebe werden. Jugendschriften 1834 Großer, feierlicher Augenblick! Gott, wie rauschen, wie drängen sich in ihm die Wogen der mannigfaltigsten Gefühle zusammen! Nein, das ist kein Traum. Das ist die verhängnisvolle unvermeidliche Grenzscheide zwischen Erinnerung und Hoffnung ... Es gibt schon kein Erinnern mehr, schon schwindet es dahin, schon wird es von der Hoffnung zurückgedrängt. Zu meinen Füßen braust meine Vergangenheit; über mir, durch Nebelschleier hindurch, schimmert geheimnisvoll die Zukunft. Ich flehe dich an, Leben meiner Seele (mein Schutzgeist, mein Engel), mein Genius! Verbirg dich nicht vor mir! Wache in diesem Augenblick über mir und weiche dieses ganze Jahr, das für mich so vielversprechend beginnt, nicht von meiner Seite. Wie wirst du aussehen, du, meine Zukunft? Liegst du glanzvoll, groß vor mir, gärt es in dir von gewaltigen Taten, oder ... O mögest du ruhmvoll, tatenreich und ganz der Arbeit und der Ruhe gewidmet sein! Warum stehst du so geheimnisvoll vor mir, du [Jahr] 1834? Sei auch du mein Schutzengel. Sollten sich Trägheit und Gefühllosigkeit auch nur einen Augenblick erdreisten, sich mir zu nahen, -- oh, dann wecke mich aus dem Schlummer, gib es nicht zu, daß sie Macht über mich gewinnen! Laß deine so vielsagenden Zahlen wie eine nimmer ruhende Uhr, wie mein Gewissen vor mir stehen: laß jede deiner Ziffern lauter denn eine Sturmglocke an mein Ohr tönen, laß sie gleich einem galvanischen Stab meinen ganzen Körper in Zuckungen versetzen und erschüttern. Geheimnisvolles, unbegreifliches Jahr 1834! Wo werde ich dich durch große Werke kennzeichnen? Inmitten dieses Haufens aufeinandergetürmter Häuser, dieser lärmenden Straßen, dieser siedenden Geschäftigkeit -- dieser Menge, dieses Durcheinanders aller möglichen Moden, Paraden, Beamten, dieser seltsamen nordischen Nächte, dieses Glanzes und dieser gemeinen Farblosigkeit? In meinem herrlichen, alten, gelobten, mit fruchtreichen Gärten geschmückten Kiew, das mein prachtvoller, wundersamer, südlicher Himmel überwölbt und das wonneatmende Nächte einhüllen, wo die Berge mit ihren schönen -- man möchte sagen harmonischen -- Hängen, und wo mein klarer, wild dahinstürmender Dnjepr, der es umspült, im Schmuck grünen Buschwerks prangt? -- Wird es dort sein? ... Oh! Ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll, mein Genius! Du, der du schon seit meiner Wiege im Vorüberfliegen mein Ohr mit deinen harmonischen Liedern trafst, der du solch herrliche, mir bis heute noch unbegreifliche Gedanken in mir erwecktest und solch unendliche wonnevolle Träume in mir nährtest! Oh, blicke mich an! Herrlicher, blicke herab auf mich mit deinen himmlischen Augen! Ich knie vor dir. Ich liege zu deinen Füßen! Oh, verlasse mich nicht! Verweile bei mir auf der Erde, wenn auch nur zwei Stunden an jedem Tage, als mein herrlicher Bruder! Ich will es vollbringen. Ja, ich werde es vollbringen. In mir kocht es und siedet's vor Lebenskraft. Meine Werke werden von Begeisterung erfüllt sein. Die erhabene Gottheit, die über dieser Erde thront, wird über ihnen schweben. Ich werde es vollbringen ... Oh, küsse und segne mich! Über eine Geschichte der kleinrussischen Kosaken Es gibt bisher noch keine vollständige und befriedigende Darstellung der Geschichte Kleinrußlands und des kleinrussischen Volkes. Die zahlreichen kompilatorischen Darstellungen, die meist ohne strenge kritische Gesichtspunkte plan- und ziellos aus verschiedenen Chroniken zusammengetragen, dazu noch meist ganz unvollständig sind und durch die bisher diesem Volke sein Platz in der Weltgeschichte noch nicht angewiesen ward, diese Darstellungen nenne ich (trotzdem sie als Material ganz wertvoll sein können) noch keine Geschichte. Ich habe mich entschlossen, diese Arbeit auf mich zu nehmen und möglichst ausführlich darzustellen, wie dieser Teil Rußlands sich loslöste (und selbständig wurde), was für eine politische Verfassung er unter der fremden Herrschaft erhielt, wie sich hier eine kriegerische Bevölkerung heranbildete, die sich durch eine große Originalität des Charakters und durch ihre Taten auszeichnete; wie sich dieses Volk drei Jahrhunderte lang mit der Waffe in der Hand seine Rechte erobern mußte und hartnäckig seine Religion verteidigte, und wie es sich schließlich für immer an Rußland anschloß; wie es seinen kriegerischen Charakter verlor und sich in ein Volk von Ackerbauern verwandelte; wie sich das ganze Land allmählich statt der alten neue Rechte eroberte und endlich mit Rußland völlig zu einem Ganzen verschmolz. Ungefähr fünf Jahre lang habe ich mit großem Eifer Materialien gesammelt, die sich auf die Geschichte dieses Landes beziehen. Die Hälfte meiner Geschichte ist bereits so gut wie fertig, aber ich zögere noch, die ersten Bände herauszugeben, da ich vermute, daß es noch viele Quellen gibt, die mir vielleicht noch nicht bekannt sind, und die sich ohne Zweifel in den Händen von Privatpersonen befinden. Daher wende ich mich an alle die, die irgendwelche Materialien: Chroniken, Memoiren, Lieder, Erzählungen von Bandurenspielern, Aktenstücke (besonders auch solche, die sich auf die ersten Epochen der kleinrussischen Geschichte beziehen), besitzen (es ist unmöglich, daß meine gebildeten und aufgeklärten Landsleute mir diese Bitte abschlagen könnten). Ich bitte sie inniglich, mir diese Materialien zuzuschicken: wenn nicht die Originale, so doch wenigstens Kopien. Zwei Kapitel aus der kleinrussischen Erzählung Der schreckliche Eber I. Der Lehrer Die Ankunft einer neuen Person in dem gesegneten Lande Goltwjan machte mehr Aufsehen als das Gerücht, das vor zwei Jahren durch das Land ging, die Zahl der Rekruten solle vermehrt werden, oder als die plötzliche Erhöhung der Preise auf das Salz, das von den Steppenbewohnern der Ukraine aus der Krim eingeführt wurde. In den Schenken, auf den Straßen, in der Mühle, in der Branntweinbrennerei sprach man von nichts anderem als von dem neu hierher versetzten Lehrer. Die schlauen Politiker in ihren großen Kitteln und Kapuzen suchten, während sie mit höchst phlegmatischen Mienen dichte Rauchwolken unter ihrer Nase emporsteigen ließen, den Einfluß der Persönlichkeit festzustellen, der das Schicksal scheinbar schon bei der Geburt einen so hohen Platz über den Köpfen aller Bewohner der Welt angewiesen hatte, einer Person, die in den herrschaftlichen Gemächern wohnte und an einem Tisch mit der Besitzerin eines Gutes von fünfzig Seelen speiste. Man sprach davon, daß das Lehramt nicht seine ganze Befugnis ausmache, und daß sich sein Einfluß ohne allen Zweifel auch auf die wirtschaftliche Ordnung erstrecken werde; jedenfalls werde die Bemessung der Vorspanndienste, die Verteilung von Mehl, Speck usw. von keinem anderen abhängen als von ihm. Einzelne ließen mit bedeutsamer Miene durchblicken, daß nunmehr womöglich selbst der Verwalter zu einer bloßen Null herabsinken werde. Nur der _Miroschnik_, d. h. der Müller Ssolopi Tschubko, wagte die Behauptung aufzustellen, daß die Dorfältesten nichts von ihm zu befürchten hätten, er sei bereit, eine Wette einzugehen, und setze eine neue Mütze aus grauem reschetilowschem Lammfell zum Pfande --, daß der Lehrer keine Ahnung davon habe, wie man ein Fünfgespann zum Stehen und das stockende Mühlrad wieder in Schwung bringen müsse. Aber seine wichtige Haltung, sein glänzender Triumph über den Kirchensänger und die donnerähnliche Baßstimme, die alle Pfarrkinder in Rührung versetzt hatte, waren noch im Gedächtnis aller lebendig, und so blieb denn die vorteilhafte Meinung, die man von dem neuen Lehrer hatte, bestehen. Und wenn auch zu Ehren des Gastes kein einziges Turnier zwischen den angesehensten Bewohnern des Dorfes stattfand, so ließen sich dafür ihre liebenswürdigen Gattinnen nicht lumpen: begabt mit jener kräftigen Zunge, die so laute und durchdringende Töne hervorzubringen vermag und die sich bei den Weibern nach dem unerforschlichen Ratschluß der Vorsehung beinahe viermal so schnell bewegt wie bei den Männern, ließen sie ihr bei der Widerlegung der Angriffe und bei der Verteidigung der Vorzüge des Lehrers gewandt und behende freien Lauf. Lautes Geschrei und Geplapper, unterbrochen von plötzlichen Aufschreien und Gezänk, erfüllte die friedlichen Winkelgassen des Dorfes Mandrykow. Und da seine ehrenhaften Bewohnerinnen die löbliche Gewohnheit hatten, ihrer Zunge auch noch mit den Händen nachzuhelfen, konnte man in den Straßen fortwährend ein Paar kräftig ineinander verkrallter Gevatterinnen antreffen, die so eng aneinanderhingen, wie ein Schmeichler an einem Günstling des Glücks hängt oder wie ein Geizhals seine Tasche festhält, wenn die Straßen öde werden und eine einsame Laterne ihr erlöschendes Licht auf die gelben Mauern der schlafenden Stadt wirft. Am meisten hatten jedoch die Männer zu leiden, die es versuchten, sie zu trennen: Schnitzel und Scherben hagelten ihnen auf den Kopf herab, und häufig verprügelte eine erregte Gevatterin in der Hitze ihres Zornes statt eines fremden ihren eigenen Gatten. Inzwischen hatte sich unser Pädagoge völlig im Hause Anna Iwanownas eingelebt. Er gehörte zu der Zahl jener Seminaristen, die einen _Schreck vor der abgründigen Weisheit_ bekommen hatten, mit der das ***sche Seminar die nicht allzu wohlhabenden Herren von Kleinrußland gegen etwa hundert Rubel jährlich für ihren Beruf als Hauslehrer ausstattet. -- Übrigens war Iwan Ossipowitsch sogar bis zur Theologie vorgedrungen, und er wäre wohl gar weiß Gott wie weit, ja wahrscheinlich sogar noch weiter gekommen, wenn seine lockeren Kameraden nicht gewesen wären, die sich beständig über seinen Schnurrbart und seinen stacheligen Backenbart lustig machten. Als von Jahr zu Jahr ein Teil die Schule verließ und immer jüngere und jüngere an ihre Stelle traten, ließen sie ihm überhaupt keine Ruhe mehr: bald warfen sie ihm klebrige Disteln in seinen Bart und Schnurrbart, bald hängten sie ihm hinten am Rock Schellen an, bald puderten sie ihm das Haar mit Sand oder schütteten ihm Nieswurz in die Tabaksdose, bis Iwan Ossipowitsch es überdrüssig wurde, der stumme Zeuge dieses ewigen Wechsels leichtsinniger Generationen und ihr Kinderspielzeug zu sein, bis er sich genötigt sah, dem Seminar Lebewohl zu sagen und sich in die »_Vakanz_« schicken zu lassen, d. h. nach dem Sprachgebrauch der kleinrussischen Seminare: Hauslehrer zu werden. Diese Veränderung bildete eine wichtige Epoche und einen Wendepunkt in seinem Leben. An die Stelle der ewigen Spöttereien und Streiche seiner mutwilligen Kameraden trat nun endlich etwas wie Achtung, Anhänglichkeit und Sympathie. Mußte man denn auch nicht unwillkürlich Achtung vor ihm empfinden, wenn er an Festtagen in seinem hellblauen Rock dahergeschritten kam -- wohlgemerkt im hellblauen Rock -- denn das ist von nicht geringer Bedeutung. Ich sehe es als meine Pflicht an, den Leser darüber aufzuklären, daß ein Rock im allgemeinen (gar nicht erst zu reden von einem blauen), wenn er bloß nicht aus grauem Stoff gefertigt ist, in den Dörfern an den gesegneten Ufern der Goltwa einen ganz wundersamen Eindruck macht: wo er sich auch zeigt, da fliegen selbst von den trägsten und unbeweglichsten Köpfen die Mützen herab und begeben sich in die Hände ihrer Besitzer; selbst die würdigen mit schwarzen und grauen Schnurrbärten gezierten, sonnengebräunten Häupter beugen sich tief bis zum Gürtel. Die Zahl aller Röcke im Dorfe betrug -- wenn man auch den Mantel des Kirchensängers mitrechnet -- drei; aber so wie ein majestätischer Kürbis sich stolz aufbläht und alle übrigen Bewohner eines reichbepflanzten Melonenfeldes in den Schatten stellt, also verdunkelte der Rock unseres Freundes seine sämtlichen Mitbrüder. Was ihm den größten Reiz verlieh, das waren die Knochenknöpfe, die von den in Haufen auf der Straße stehenden Straßenjungen mächtig angestaunt wurden. Nicht ohne Vergnügen hörte unser stutzerhafter Erzieher der Jugend, wie die Mütter ihre Säuglinge auf die Knöpfe aufmerksam machten, und wie die Kleinen ihre Händchen ausstreckten und _Zga zga Zga zga_ (d. h. gut, gut) lallten. Beim Mittagessen war es ein Genuß, zuzusehen, wie würdig und mit welcher Rührung unser ehrenwerter Lehrer mit vorgebundener Serviette die allgemeine Verrichtung irdischer Sättigung besorgte. Da gab es kein überflüssiges Wort, keine unnötige Bewegung; er schien sich völlig in seinen Teller zu verfügen und ganz in ihm aufzugehen. Wenn er ihn so gründlich geleert hatte, daß kein gastronomisches Gerät, als da sind Gabel und Messer, noch etwas vorfand, dessen es sich bemächtigen konnte, schnitt er sich ein Stück Brot ab, spießte es auf die Gabel auf und fuhr mit diesem Gerät noch einmal über den Teller, wonach dieser so blank und rein war, als käme er eben aus der Fabrik. Aber dies alles, kann man wohl sagen, waren nur äußere Vorzüge, die seine Kenntnis der Sitten und Formen der feinen Welt bezeugten, und der Leser würde sehr fehlgehen, wenn er hieraus schließen wollte, daß damit alle seine Gaben und Fähigkeiten erschöpft gewesen wären. Der würdige Pädagoge besaß für einen einfachen Mann geradezu unermeßliche Kenntnisse, von denen er einige für sich behielt, wie z. B. die Zubereitung einer Arznei gegen den Biß von tollen Hunden und die Kunst, bloß aus Eichenrinde und Salpetersäure die schönste rote Farbe herzustellen. Außerdem konnte er eigenhändig die herrlichste Stiefelwichse und Tinte herstellen und für den kleinen Enkel Anna Iwanownas Figuren aus Papier ausschneiden; und an Winterabenden wickelte er Garn auf und spann er sogar. Ist es da wohl verwunderlich, wenn er sich bei solchen Gaben im Hause bald unentbehrlich machte, und wenn alle Knechte und Mägde völlig in ihn vernarrt waren, trotzdem sein Gesicht sowohl nach seiner Form wie nach seiner Farbe völlig einer Flasche glich, obwohl sein gewaltiger Mund, dessen dreisten Ansprüchen die abstehenden Ohren nur mit Mühe eine Schranke zu setzen vermochten, sich fortwährend verzog und verzerrte, indem er sich zu einem Lächeln zu zwingen suchte, und obwohl seine Augen eine hellgrüne Farbe hatten -- zwei Augen, wie sie, soviel mir bekannt ist, in den Annalen der Romane noch nie ein Held besessen hat. Aber vielleicht sehen die Frauen mehr als wir? Wer will sie enträtseln? Wie dem auch sein mag, genug, auch die alte Dame, die Frau des Hauses, war sehr befriedigt von den Kenntnissen des Lehrers in den Geheimnissen der Haushaltung und von seiner Kunst, aus Safran und _Herba rhabarbarum_ Schnaps herzustellen, sowie von seiner Geschicklichkeit im Entwirren von Garn und seiner großen Lebenserfahrung. Der Haushälterin gefiel am meisten sein stutzerhafter Rock und seine Kunst, sich zu kleiden; übrigens hatte auch sie bemerkt, daß der Lehrer eine wundersame gerührte Miene machte, wenn er zu schweigen oder zu essen geruhte. Dem kleinen Enkel machten die papierenen Hähne und Männchen außerordentlich viel Spaß. Selbst der zottige _Browko_ pflegte ihm, sobald er ihn auf die Treppe hinaustreten sah, sofort zärtlich mit dem Schweife wedelnd, entgegenzulaufen und ihn ohne alle Förmlichkeit auf die Lippen zu küssen, wenn der Lehrer, die Würde, die seinem Amte gebührte, vergessend, sich unter dem majestätischen Giebel niederzusetzen beliebte. Nur die beiden älteren Enkelkinder und die Jungen, die zum Hause gehörten, mit denen er das A -- _Affe_, _Apfel_, _Be_ -- _Besen_, _Bild_, _Bär_ durchnahm, fürchteten sich vor der beredten, höchst ausdrucksvollen Rute des strengen Pädagogen. Während seines kurzen Aufenthaltes am neuen Orte hatte Iwan Ossipowitsch schon selbst Zeit gefunden, seine Beobachtungen zu machen und sich in seinem Kopfe wie in einem Hohlspiegel ein kleines Abbild der ihn umgebenden Welt zu formen. Die erste Person, an der seine Beobachtungsgabe mit dem gebührenden Respekt haften blieb, war, wie der Leser sich wohl selbst denken wird, die Gutsherrin. In ihrem Gesicht, das der scharfe Pinsel, der das menschliche Geschlecht seit undenklichen Zeiten koloriert und den man, seit Gott weiß wie langer Zeit, mit dem Namen »Falte« zu bezeichnen pflegt, nicht verschont hatte, in ihrer dunkelkaffeefarbenen Kapotte, in der Haube (deren Form in dem Gewirr der Ereignisse, die das achtzehnte Jahrhundert charakterisieren, verloren gegangen ist), in ihrem braunen Wams und den Schuhen ohne Hackenleder, erkannten seine Augen jene Lebensperiode wieder, die eine matte schwächliche Wiederholung der vergangenen, eine kalte farblose Übersetzung der Werke eines feurigen, von ewigen Leidenschaften glühenden Poeten ist, -- jener Periode, wenn den Menschen nichts als die Erinnerung, diese Repräsentantin der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft übrigbleibt, wenn das verhängnisvolle siebente Jahrzehnt einem Kälte durch die einstmals von Feuer durchströmten Adern treibt und das Lebensthermometer unter den Gefrierpunkt sinkt. Übrigens belebten die ewigen Sorgen und die Passion, sich zu beschäftigen und sich zu schaffen zu machen, einigermaßen das schon erloschene Leben in ihren Zügen, und ihre Frische und Gesundheit waren ein sicheres Unterpfand, daß ihr noch weitere dreißig Jahre des Lebens bevorstanden. Die ganze Zeit von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr abends, das heißt bis zur Stunde, wo man sich Ruhe zu gönnen pflegt, bildete eine ununterbrochene Kette der Tätigkeit. Bis sieben Uhr morgens hatte sie bereits alle Räume besucht und den ganzen Haushalt durchmustert: Küche, Keller und Vorratskammern; sie hatte Zeit gefunden, sich mit dem Verwalter zu zanken und die Hühner und Gänse eigener Zucht, für die sie eine große Vorliebe hatte, zu füttern. Vor dem Mittagessen, das nie später als um zwölf Uhr stattfand, blickte sie in die Backstube hinein und half selbst beim Backen von Brot und einer besonderen Art von Brezeln aus Honig und Eierteig, deren bloßer Geruch den Pädagogen in eine unerklärliche Aufregung versetzte; besaß er doch eine leidenschaftliche Sympathie für alles, was der geistigen und physischen Natur der Menschen zur Nahrung dient. In der Zeit zwischen Mittagessen und Abend gibt's für eine Hausfrau genug zu tun. -- Da gibt's Wolle zu färben, Leinwand abzumessen, Gurken einzusalzen, Früchte einzumachen, Liköre zu süßen. Wieviel Methoden, Geheimnisse und Hausrezepte kommen während dieser Zeit zur Anwendung! Dem aufmerksamen Auge unseres Pädagogen konnte es nicht entgehen, daß auch Anna Iwanowna die Eitelkeit nicht ganz fremd war, und daher machte er es sich zur Regel, sich, freilich nur soweit ihm dies seine angeborene Schüchternheit erlaubte, in Lobeserhebungen über ihre außergewöhnlichen wirtschaftlichen Künste und Fähigkeiten zu ergehen, und dies wurde ihm, wie er später erfuhr, von großem Nutzen. Die würdige alte Dame verschloß die süßen Liköre und die Gläser mit Eingemachtem nicht eher, als bis Iwan Ossipowitsch davon gekostet und die außerordentliche Güte des einen wie des anderen gerühmt hatte. Alle übrigen Personen standen im Schatten, verglichen mit diesem leuchtenden Gestirn, so wie alle Gebäude im Hofe vor dem herrlichen Bau mit dem prachtvollen Portal in den Staub zu sinken schienen. Nur dem Auge eines scharfsinnigen Beobachters enthüllten sich ihre gegenseitigen Beziehungen und das besondere Kolorit, das jedem eigentümlich war, und dann erblickte er, fast wie in einem Ameisenhaufen, eine ewige Unruhe und Bewegung und er vernahm ein fortwährendes Geräusch, das keinen Augenblick verstummte. Unser Pädagoge verstand es, wie wir bereits gesehen haben, es jedem recht zu machen und sich gleich einem mächtigen Zauberer dauernd die allgemeine Achtung zu erwerben. Gänzlich unbegreiflich waren allein die Gründe, die ihn veranlaßt hatten, sich dem Küchenmeister anzuschließen. War es die hohe Achtung, die Iwan Ossipowitsch unwillkürlich vor seiner Kunst empfand, oder war es irgendein anderer Umstand -- das wagen wir nicht zu entscheiden. Genug, es vergingen keine zwei Tage, da erstanden Mandrykow zwei Dioskuren, der Orest und Pylades der neuen Welt. Aber noch unbegreiflicher war die Macht, die der Küchenmeister über unseren Pädagogen besaß, so daß der von Natur so bescheidene und schüchterne Lehrer, der nichts in den Mund nahm außer einem medizinischen Dekokt von _Betonica_ und _Herba rhabarbarum_, ihm unwillkürlich in die Schenken und überallhin zu folgen begann, wo der verbummelte Küchenmeister seine Nase hineinsteckte. Iwan Ossipowitsch gefiel die romantische Lage der Gegend, in der er sich aufhielt. Bald hatte er die Küche, die Speicher, die Scheunen, die Ställe und Vorratskammern, die einen unregelmäßigen Kreis um den geräumigen Herrenhof bildeten, besichtigt; mit besonderem Vergnügen verweilte er bei dem Garten, der üppig in die Breite geschossen war und dessen gigantische Bewohner, in ihre dunkelgrünen Mäntel gehüllt und von wundersamen Traumgestalten umschwebt, dastanden und schlummerten oder, sich plötzlich ihren Träumen entreißend, die unbotmäßige Luft wie Windmühlenflügel durchschnitten, und dann ging es wie ein unverständliches Geflüster durch das Blattwerk, und die gemessene majestätische Bewegung ihres ganzen Körpers gemahnte an die alten Mimen, die die großen Schatten der Verstorbenen auf den Gerüsten Melpomenes heraufbeschworen. Aber die Augen unseres Lehrers suchten ihr Objekt und hafteten mehr an den weniger majestätischen Gartenbewohnern, die dafür von unten bis oben mit Birnen und Äpfeln behangen waren, von denen die üppige Ukraine förmlich strotzt. Von hier aus kämpften sie sich bis zur Küche durch, hinter der zogen sich Plantagen von Erbsen, Kohl, Kartoffeln, sowie aller Kräuter hin, die in die Apotheke der Dorfküche gehören. Nicht ohne besonderes Vergnügen betrat er das reine, sauber geweißte und aufgeräumte Zimmer, in dem er nun wohnen sollte, mit dem Fenster, durch das man auf den Teich und die in violette Nebel gehüllte Landschaft hinaussah. Wir hatten bereits Gelegenheit, etwas über den Eindruck, den unser Lehrer auf die Schönen von Mandrykow gemacht hatte, zu bemerken: die gesenkten Augen, das Geflüster und die tiefen Verbeugungen ließen erkennen, daß seine Eroberung einer jeden von ihnen als keine geringe Angelegenheit erschien. Übrigens ist es hier wohl am Platze, den freundlichen Leser daran zu erinnern, daß Iwan Ossipowitsch einen Rock aus blauem Fabrikstoff mit schwarzen Knochenknöpfen von der Größe eines mächtigen Groschens anhatte; und so war es sehr verzeihlich, wenn er sich das Augenblinzeln der schwarzbrauigen Schelminnen zu seinen Gunsten auslegte. Zum Glück oder Unglück jedoch suchte das Gefühl, das der armen Menschheit so gut bekannt ist und ihr seit undenklichen Zeiten ein wahres Meer von unerträglichen Qualen beschert hat, unseren Pädagogen nicht heim. In diesem Punkte war Iwan Ossipowitsch ein echter Stoiker, und obwohl er noch nicht bis zur Philosophie vorgedrungen war, wußte er doch genau, daß keiner der Philosophen von Seneca und Sokrates bis herab zum Lektor des ***er Gymnasiums die wunderliche Hälfte des Menschengeschlechts für nichts achtete: ergo gab es keine Liebe. An solchen Prinzipien, die bei ihm schließlich die Festigkeit von Grundsätzen angenommen hatten, hielt er sehr fest, ja allzu fest ... _Homo proponit, Deus disponit_ pflegte der Lektor des ***er Gymnasiums häufig zu sagen, indem er die Schläge zählte, die er seinen faulen Schülern mit dem Lineal verabreichte; daher werden wir auch im folgenden Kapitel einen kleinen Umstand kennen lernen, der die Philosophie unseres Lehrers heftig erschütterte und seinen Verstand mit einer ganzen Wolke von Mißverständnissen bestürmte, ihn, der bisher unbeugsam in den Fußstapfen seiner großen Lehrmeister gewandelt war und sich mit regelmäßigem Pulsschlag in seiner flaschenförmigen Sphäre bewegt hatte. II. Der Erfolg der Gesandtschaft (Der Küchenmeister entschließt sich trotz der eigenen Herzenswunde, die er sich ganz plötzlich durch den Anblick der sich am Teiche waschenden Katerina zugezogen hat, das Versprechen, das er dem Lehrer gegeben hat, einzulösen und den Gesandten und Fürsprecher seiner Leidenschaft zu spielen. In dieser Absicht begibt er sich in die Hütte des Kosaken Charjka Potyliza.) Nachdem Onißko seine Toilette beendigt hatte, überschritt er nicht ganz ohne Furcht und geheime Freude die Schwelle. Der Böse schien ihn necken zu wollen (er gab dies später selbst zu), indem er ihm fortwährend die schlanken Füßchen seiner Nachbarin vorzauberte: »Ach, wenn doch der Lehrer nicht wäre!« wiederholte er mehrmals bei sich selbst; »was hätte es ihn gekostet, wenn er sich's hätte einfallen lassen, sich nur ein klein wenig später zu verlieben?« Und nachdenklich durchmaß er langsamen Schrittes die große Viehweide, durch die ihn sein Weg hindurchführte. Doch jetzt durchbrach ein vielstimmiges Gebell die nachdenkliche Stimmung, die ihn gleich einer Wolke umfing, und seine Gedanken stoben aufgescheucht wie eine Schar wilder Enten nach allen Richtungen auseinander. Er richtete die Augen empor und sah nun, daß er nicht mehr weiter konnte. Vor ihm erhob sich ein Tor, durch das wie durch ein Transparent der ganze unbewegliche Besitz des Kosaken hindurchschimmerte. Ein blauer Schlitzrock und ein feuerfarbenes Band leuchteten ihm entgegen ... Das Herz hüpfte ihm in dem Busen ... die blonde Schöne öffnete das Tor, trieb die lästigen Hunde mit einer langen Rute auseinander und stand nun vor ihm. Der Hof Charjkas stellte ein großes Quadrat dar, das auf einer Böschung, die sich gegen den Teich hinabsenkte, lag und von allen Seiten mit einem geflochtenen Zaun umgeben war. Wenn das Tor geöffnet war, sah man unmittelbar vor sich eine sauber geweißte Hütte mit mächtigen Fenstern von ungleicher Größe und eine eichene Tür, die schon ganz schwarz vor Alter war; das Häuschen stand auf einem niedrigen Lehmfundament (einer sogenannten Prisba), das nach der in Kleinrußland herrschenden Sitte mit Wäsche, Suppenschüsseln und einem Topf, einem alten Invaliden aus Ton, bedeckt war, dem trotz seiner Wunden und Verletzungen noch kein Abschied bewilligt wird, und den man zum Dank für seine treuen Dienste mit Spülwasser zu füllen pflegt. Zu beiden Seiten der Hütte befanden sich Ställe und Speicher mit struppigen beschädigten Dächern. Hinter der Hütte ragte eine Tenne empor, die ihrerseits von einem Taubenschlag überragt wurde, über den man nur noch die vorüberziehenden Wolken und die in der Luft herumflatternden Tauben erblickte. Weiter unten streckte sich der Gemüsegarten gleich einem kostbaren türkischen Schal bis zum Teiche hinab. Auf dem ganzen Hofe erblickte man überall Strohhaufen, die unordentlich herumlagen. Katerina schien ein wenig verwundert über Onißkos Besuch. Da sie annahm, daß ihn ohne Zweifel lediglich die Not zu ihrem Vater geführt haben konnte, öffnete sie das Tor nur zur Hälfte und sagte ein wenig verlegen: »Vater ist nicht zu Hause; er wird auch kaum bis zum Abend heimkommen.« »_Mag es ihm so leicht aufstoßen, wie es aus seinem Innern aufsteigt!_ Was wär' ich für ein Tölpel vor dem Herrn, wenn ich trockenen Brei fressen wollte, wo mir Quarkkuchen mit saurem Rahm vor der Nase stehen?« Die blonde Schöne blieb überrascht und verblüfft stehen, denn sie wußte nicht, wie sie diese Worte verstehen sollte. Ein Lächeln, das durch sein seltsames Benehmen veranlaßt war, huschte über ihr Gesicht und schien anzudeuten, daß sie auf weitere Aufklärung warte. Der Küchenmeister fühlte selbst, daß er sich nicht ganz deutlich ausgedrückt und dazu ihres Vaters mit etwas rauhen Worten gedacht hatte; er fuhr daher fort: »Da müßte mich doch schon der Böse selbst zum _Alten_ führen, wenn dieser eine so hübsche Tochter hat.« »Ah, ist es das!« sagte Katerina lächelnd und leicht errötend. »Bitte, tretet ein!« und sie schritt voraus und ging auf die Tür der Hütte zu. In Kleinrußland haben die Mädchen viel mehr Freiheit als irgendwo anders, und daher darf es nicht seltsam erscheinen, daß unsere Schöne, ohne daß ihr Vater etwas davon wußte, einen Gast bei sich empfing. »Bist du zu Fuß hierher gekommen, Onißko?« fragte sie ihn, indem sie sich auf der Schwelle an der Tür der Hütte niederließ und eine würdige und ehrbare Haltung anzunehmen suchte, obwohl ihr schelmisches Lächeln, bei dem sie eine lange Reihe schöner Zähne sehen ließ, sie deutlich verriet. -- Wieso zu Fuß? -- Teufel auch! sollte sie über das, was gestern vorgefallen ist, unterrichtet sein? dachte der Küchenmeister. -- »Gewiß doch zu Fuß, meine Schöne. Wahrhaftig, der Teufel müßte mich reiten, wenn ich absichtlich den Braunen meines Herrn angespannt hätte, bloß um von einem Hof zum anderen zu gelangen!« »Aber von der Küche bis zur Vorratskammer ist es doch nicht so weit!« Hier aber konnte sie sich doch nicht mehr halten und lachte laut auf. -- Nein, du Schelmin! Der Böse selbst ist nicht schlauer als dieses Mädel! wiederholte der Küchenmeister mehrmals bei sich selbst und wünschte den Lehrer laut zum Teufel, alle Sympathie und Freundschaft vergessend, die zwischen ihnen bestand. »Übrigens wäre ich damit einverstanden, daß mir die Karauschen samt den frischgesalzenen Eierschwämmen auf der Pfanne anbrennen, wenn du nur noch einmal so lachen wolltest, schönes Mädchen!« Bei diesen Worten konnte der Küchenmeister sich nicht mehr beherrschen und umarmte sie. »Nein, das habe ich nicht gerne!« rief Katerina errötend, wobei sie eine zornige Miene machte. »Bei Gott, Onißko, wenn du noch einmal so etwas tust, so werfe ich dir ohne viel Umstände diesen Topf an den Kopf.« Bei diesen Worten hellte sich ihr zorniges Gesichtchen ein wenig auf, und das Lächeln, das hierbei über ihr Antlitz huschte, schien deutlich sagen zu wollen: »aber ich wäre dessen nicht fähig!« »Nein, nicht doch, nicht doch! _Ich habe dich doch nicht mit dem Lastwagen gestreift._ Als ob das ein Grund ist, so böse zu werden! Als ob das weiß Gott was für ein Verbrechen wäre, -- ein hübsches Mädchen zu umarmen!« »Sieh, Onißko, ich bin ja gar nicht böse,« sagte sie, indem sie ein wenig von ihm abrückte und wieder ein fröhliches Gesicht machte; »übrigens schien es mir so, als hättest du den Lehrer erwähnt.« Da aber machte der Küchenmeister ein recht kümmerliches Gesicht, das mindestens um ein paar Zoll länger wurde als gewöhnlich. »Der Lehrer ... Iwan Ossipowitsch soll das heißen ... Pfui Teufel noch einmal! Ich verschlucke die Worte, noch ehe sie meinem Munde entschlüpfen können, ganz als ob ich Gewürzbranntwein getrunken hätte. Der Lehrer ... Sieh mal, was ich dir sagen will, mein Herz! Iwan Ossipowitsch hat sich so in dich verknallt, daß ... nun ... wie sich's halt nicht wiedergeben läßt. Er grämt und härmt sich ab wie die selige braune Stute, die der Herr dem Juden abgekauft hat und die einen Herzschlag bekam und krepierte. Was soll man da machen? Der arme Mensch tat mir leid, und da bin ich halt aufs Geratewohl hergekommen, um mich für ihn zu verwenden.« »Da hast du einen schönen Auftrag übernommen,« unterbrach ihn Katerina ein wenig ärgerlich. »Bist du etwa sein Brautwerber oder sein Verwandter? Ich würde dir doch raten, alle Landstreicher aus dem Dorfe in die Küche zu laden und selbst betteln zu gehen und vor den Fenstern um Almosen für sie zu bitten.« »Das ist schon ganz richtig; indes, ich weiß wohl, daß es dich freut, und sogar sehr freut, daß der Lehrer auf den Einfall gekommen ist, dir nachzulaufen.« »Das sollte mich freuen? Hör' mal, Onißko: wenn du das sagst, um dich über mich lustig zu machen, so wirst du wenig Nutzen davon haben. Du solltest dich schämen, ein armes Mädchen schlecht zu machen! Wenn du aber _wirklich_ so denkst, so bist du wahrhaftig der dümmste Mensch im ganzen Dorfe. Gottlob, ich bin noch nicht blind, Gott sei Dank, bin ich noch bei Verstande ... Aber das hast du sicherlich nicht umsonst gesagt: ich weiß wohl, etwas anderes hat dich dazu veranlaßt. Du hast wohl geglaubt ... Nein, du bist ein schlechter Mensch.« Bei diesen Worten wischte sie sich mit dem gestickten Hemdärmel eine Träne aus dem Gesicht, die plötzlich in ihrem Auge aufblitzte und ihr über die glühende Wange rollte, wie eine Sternschnuppe den warmen Abendhimmel hinunterschießt. -- Hol' der Teufel alle Lehrer der Welt! dachte Onißko bei sich, indem er das glühende Gesicht Katerinas betrachtete, auf dem das Lächeln von vorhin lange Zeit mit dem Ärger kämpfte, um ihn schließlich gänzlich zu verscheuchen. »Der Donner treffe mich hier auf der Stelle!« rief er endlich aus, da er seine innere Erregung nicht mehr unterdrücken konnte, und umfaßte ihre rundliche Taille. »Der Donner treffe mich, wenn es mich nicht ebenso freut, daß du Iwan Ossipowitsch nicht liebst, wie den alten Browko, wenn ich ihm sein Spülwasser bringe.« »Wirklich, auch ein Grund, sich zu freuen! Du wirst wohl noch mehr grinsen, wenn du erfährst, daß fast alle Mädchen im Dorf dasselbe sagen.« »Nein, sag' das nicht, Katerina. Die Mädchen haben ihn lieb. Neulich gingen wir beide zusammen durch das Dorf, da steckten sie fortwährend ihre Köpfe über den Zaun, wie Frösche aus dem Sumpfe. Wir guckten nach rechts -- da waren sie schon wieder verschwunden, aber zur Linken, da streckte wieder eine andere ihr Köpfchen vor. Doch hol' sie der Teufel alle mitsamt dem Lehrer! Ich gäbe ein Viertel vom besten Branntwein dritter Güte dafür, wenn ich von dir erfahren könnte, Katerina, ob du mich auch nur für einen Groschen liebhast?« »Ich weiß nicht, ob ich dich liebe; ich weiß nur, daß ich um alles in der Welt keinen Trunkenbold heiraten möchte. Wer mag mit so einem zusammenleben? Wie traurig ist das Los einer Familie, aus der solch ein Mensch stammt; man mag gar nicht in die Hütte hineinschauen: da gibt's nichts zu sehen als Armut und Elend, die Kinder hungern und weinen. Nein, nein, nein! Gott behüte! Mich schaudert's schon beim bloßen Gedanken daran! ...« Und Katerina warf ihm einen langen, tiefdringenden Blick zu. Gebeugten Hauptes und wie ein Verdammter saß der Küchenmeister in seine Vergangenheit versunken da. Schwere Gedanken, Ausgeburten geheimer Gewissensnöte, gruben tiefe Spuren in sein Gesicht und bewiesen deutlich, daß ihm nicht allzu heiter zumute war. Der durchbohrende Blick Katerinas schien sein ganzes Innere zu versengen und brachte alle ungestümen, wilden Streiche ans Licht, die in einer langen, nie endenden Reihe an ihm vorüberzogen. »Wahrhaftig, was bin ich für ein Mensch? Wer mag mit mir leben? Ich liege bloß meinem Pan auf dem Halse. Habe ich bisher etwas getan, wofür mir ein guter Mensch gedankt hätte? Ich habe nur immer gebummelt und gebummelt! Und habe ich auch nur einmal so gebummelt, daß Herz und Seele sich dabei wohl fühlten? Man betrinkt sich wie ein Hund und wird wieder nüchtern wie ein Hund, wenn andere einem nicht in noch peinlicherer Weise den Rausch austreiben. Nein, hol's der Teufel ... es ist ein Hundeleben, das ich führe!« Die schöne Katerina schien seine philosophischen Betrachtungen, die er bei sich selbst anstellte, zu erraten; sie legte ihm ihr braunes Händchen auf die Schulter und murmelte halblaut: »Nicht wahr, Onißko, du wirst nie mehr trinken.« »Nie wieder, mein Herzchen, nie wieder! Mag kommen, was da will! Für dich könnte ich alles tun.« Das Mädchen sah ihn gerührt an, und der Küchenmeister schloß sie begeistert in seine Arme und bedachte sie mit einem wahren Hagelschauer von Küssen, wie ihn der ruhige und gemütliche Gemüsegarten schon lange nicht erlebt hatte. Kaum aber hatte der Laut der verliebten Küsse die Luft erschüttert, als eine helle, durchdringende Stimme furchtbarer als das Grollen des Donners das Ohr des sich zärtlich liebkosenden Paares traf. Der Küchenmeister sah auf und erblickte zu seinem Entsetzen die auf dem Zaune stehende Ssimonicha. »Herrlich, vortrefflich! Feine junge Leute das! Bei uns im Dorfe weiß man noch nicht, wie Burschen und Mädel sich küssen, wenn der Vater nicht zu Hause ist! Herrlich! Das ist mir ein nettes Mandrykowsches Lämmchen! Man sage nun noch, das Sprichwort: >Stille Wasser sind tief< lüge. So also treibt man's. Solche Streiche macht ihr! ...« Mit Tränen im Auge mußte sich das schöne Mädchen in die Hütte zurückbegeben, wußte sie doch, daß sie den giftigen Reden der Schenkenbesitzerin nicht anders entgehen konnte. »Wenn dir doch jemand ein Schloß vor den Mund hängte, alte Hexe!« sagte der Küchenmeister. »Was geht denn dich das an?« »Was mich das angeht?« fuhr die unermüdliche Schankwirtin fort. »Das ist noch schöner! Die Burschen machen sich einen Spaß draus, über den Zaun und in fremde Gärten zu klettern, die Mädchen locken die Burschen zu sich herein -- und das sollte mich nichts angehen! Sie liebäugeln und küssen sich -- und das sollte mich nichts kümmern! Hast du's gehört, Karno?« schrie sie plötzlich auf, indem sie sich schnell umdrehte und an einen vorübergehenden Bauern wandte, der, ohne auf etwas zu achten, mit einer langen Rute fuchtelnd, daherkam, gefolgt von einer ebenso langsam einherschreitenden Kuh. »Hast du's gehört? Steh doch einen Augenblick still. Was das für eine Geschichte ist! Charjkas Tochter ...« »Pfui Teufel!« schrie der Küchenmeister, indem er zur Seite spuckte und völlig die Geduld verlor. »Der Teufel selbst hat sich vermummt und die Gestalt dieses Weibes angenommen. Warte nur, Hexe! Ich werde schon Gelegenheit finden, dir's heimzuzahlen!« Und der Küchenmeister setzte seinen Fuß auf den Zaun und war einen Augenblick später im Garten des Herrn. Es war nicht mehr sehr früh, als er in die Küche zurückkehrte und sich an die Zubereitung des Abendessens machte. Allein die große Zerstreutheit, die er bei jeder Gelegenheit an den Tag legte, konnte Jewdocha nicht entgehen. Mehrfach goß der Küchenmeister Essig in den mit sauerem Rahm versetzten Brei oder er spießte mit wichtiger Miene die Mütze auf den Bratenwender und wollte sie an Stelle eines Huhns braten. Während des Abendessens konnte Anna Iwanowna durchaus nicht verstehen, warum der Brei so unglaublich sauer und die Sauce so versalzen war, daß man sie absolut nicht in den Mund nehmen konnte. Nur mit Rücksicht auf die Mühen, denen er sich an jenem Tage unterzogen hatte, ließ man den Küchenmeister in Ruhe; zu einer anderen Zeit wäre unser Held nicht so leichten Kaufes davongekommen. »Nein, Herr Lehrer!« murmelte er, indem er sich auf seine hölzerne Pritsche streckte und sich seinen Kittel unter den Kopf legte, »die Katerina bekommen Sie ebensowenig zu sehen wie Ihre Ohren!« Und nachdem er seinen Kopf in den Kittel vergraben hatte, wie eine Gans eigener Zucht, versank er in Sinnen, um bald darauf einzuschlummern. Das Weib »Ausgeburt der Hölle! Olympier Zeus! Oh, du bist unerbittlich in deinem Zorne. Du wolltest der Welt eine Geisel schicken, du nahmst alles Gift, das unmerklich die Adern deiner herrlichen Welt durchdringt, verdichtetest es zu einem einzigen Tropfen, schleudertest ihn mit deiner lichtspendenden Rechten zürnend hinunter und vergiftetest mit ihm deine wundersame Schöpfung: du schufst das Weib! Du beneidetest uns und unser armseliges Glück: du wolltest nicht, daß der Mensch ewige Segenswünsche aus den Gründen seines dankbaren Herzens zu dir emporsteigen ließ: lieber mochten Flüche aus seinem ruchlosen Munde hervorzucken ... Du schufst das Weib.« So sprach Telekles, ein junger Schüler des Platon, indem er vor seinen Lehrer trat. Seine Augen sprühten Blitze; auf seinen Wangen wütete ein Feuer, und die zitternden Lippen kündeten von wilden Stürmen einer zerrissenen Seele. Seine Hand drängte zornig die purpurnen Wellen seines weichen Gewandes zurück, und die geöffnete Schnalle fiel nachlässig auf die jugendliche Brust des Jünglings herab. »Wie, mein göttlicher Lehrer? Warst du es nicht, der es in einem göttergleichen himmlischen Gewande vor uns erstehen ließ? War es nicht dein Wohllaut ausströmender Mund, der so wunderbare Worte zum Preis ihrer milden Schönheit zu sagen wußte? Hast du uns nicht gelehrt, so glühend, so wesenlos zu verehren? Nein, mein Lehrer, deine göttliche Weisheit ist noch ein Kind, das nichts ahnt von den unendlichen Abgründen des arglistigen Herzens. Nein, nein, nicht einmal der Schatten einer bitteren Erfahrung hat deine heiteren Gedanken gestreift, du kennst das Weib nicht.« Glühende Tränen entströmten seinen Augen; er verhüllte sein Haupt mit dem Mantel, verbarg sein Antlitz in den Händen und lehnte sich an die Marmorsäule mit dem herrlichen, reichverzierten korinthischen Kapitäl, das von flimmernden Strahlen besonnt wurde. Ein tiefer schwerer Seufzer entrang sich der Brust des Jünglings, wie wenn alle verborgenen Nerven seines Wesens, alle Gefühle und alles, was das Innere des Menschen ausfüllt, in schmerzlichen Klagelauten aufstöhnte, und diese Klagelaute gingen wie eine Erschütterung durch seinen ganzen Körper, und seine ganze körperliche Natur, soweit sie den Sinnen erfaßbar ist, verwandelte sich, unfähig die ewigen, nie endenden Qualen der Seele auszusprechen, in eine einzige schmerzliche Klage. Der hohe Lehrer der Weisheit betrachtete ihn stumm, und sein Gesicht spiegelte alle seine erhabenen Gedanken, die er gedacht hatte und die ihre Spuren auf ihm hinterlassen hatten. So will die Erinnerung an ein herrliches Traumbild noch lange nicht weichen und mischt sich mit dem Aufleuchten neuer Gedanken, solange der Mensch noch nicht in die Welt der Wirklichkeit untergetaucht ist. Das Licht floß wie ein mächtiger, wundervoller Wasserfall durch eine kühne Öffnung in der Kuppel auf den Weisen hinab und überschüttete ihn mit seinem strahlenden Glanz, und jeder Zug seines beseelten Angesichts schien von hohen Gedanken und Gefühlen zu künden. »Kannst du denn auch lieben, Telekles?« fragte er ihn mit ruhiger Stimme. »Ob ich lieben kann!« fiel der Jüngling rasch ein, »frag' doch den Zeus, ob er durch ein Runzeln seiner Augenbrauen die Erde zu erschüttern vermag. Frag' Phidias, ob er Gefühle im kalten Marmor entzünden und dem toten Block Leben einhauchen kann. Wenn in meinen Adern kein Blut siedet, sondern eine heiße Flamme wütet, wenn alle meine Gefühle, alle meine Gedanken, wenn ich selbst mich ganz in Töne verwandle, wenn diese Töne in mir glühen und meine Seele nichts wie Liebe tönt, wenn meine Rede ein Sturm und mein Atem -- Feuer ist! Nein, nein, ich verstehe es nicht, zu lieben! So sage mir doch, wo dieser Sterbliche, wo dieser wundersame Mensch zu finden ist, der dies Gefühl sein eigen nennt? Hat am Ende gar die weise Pythia dies Wunder unter den Menschen entdeckt?« »Armer Jüngling! Das also nennen die Menschen Liebe! Das ist das Schicksal, das diesem sanften Geschöpf bereitet wird, in dem die Götter die Schönheit zum Ausdruck bringen, in dem sie der Welt das Gute zum Geschenk machen, durch das sie ihre Anwesenheit hier auf Erden beweisen wollten! Armer Jüngling! Du hättest dieses sanfte Wesen mit deinem glühenden Atem versengt, du hättest dieses reine Leuchten durch einen Sturm von Leidenschaft getrübt und in Aufruhr versetzt! Ich weiß, du willst mit vom Verrat der Alkinoe sprechen. Deine Augen waren selbst Zeugen ... aber waren sie auch Zeugen deiner eigenen wilden Regungen, die deine Seele zu jener Zeit in ihren Tiefen bewegten? Hast du dich auch im voraus geprüft? Glühte vielleicht der ganze wilde Aufruhr deiner Leidenschaften in deinem Auge? Und wann haben je die Leidenschaften die Wahrheit erkannt? Was wollen die Menschen? Sie dürsten nach ewiger Seligkeit, nach einem nie endenden Glück, und ein kurzer, flüchtiger Schmerz genügt schon, damit sie gleich Kindern das ganze, langsam errichtete Gebäude zerstören! Aber mag die Wahrheit selbst mit deinen Augen gesehen haben, mag es doch richtig sein, daß die schöne Alkinoe sich mit arglistigem Verrate befleckt hat. Frage deine Seele: was warst du, und was war _sie_ zu jener Zeit, als du Leben, Glück und ein Meer von Seligkeiten in den Umarmungen Alkinoes fandest? Blättere die flammenden Seiten deines Lebens um, meinst du, du wirst auch nur eine Seite finden, die beredter, die göttlicher ist als jene? Wolltest du alle kostbaren Edelsteine der persischen Könige oder alles Gold Libyens für jene himmlischen Augenblicke eintauschen? Ja, was sind selbst die höchsten Ehren in Athen und die höchste Gewalt im Volke im Vergleich zu ihnen? Und ein Wesen, das wie Prometheus alles Schöne, das es den Göttern raubte, dir zum Geschenk darbrachte, den Himmel mit seinen heiteren Himmelsbewohnern in deine Seele senkte -- willst du mit deinem verbrecherischen Fluche treffen, wo doch dein ganzes Leben ein einziges Gefühl der Dankbarkeit sein sollte, wo du Tränen der Rührung vergießen und dem Lebenspender Zeus zarte Hymnen singen solltest, auf daß er ihr ein langes Leben schenken und die Wolken des Kummers von ihrem heiteren Haupte verscheuchen möge. »Betrachte dich mit prüfendem Auge: was warst du früher und was bist du jetzt, seit du die Ewigkeit in Alkinoes göttlichen Zügen entdeckt hast: wieviel neue Geheimnisse, wieviel neue Offenbarungen fandest und enträtseltest du mit deiner unendlichen Seele und um wieviel näher kamst du dem höchsten Gute! Wir reifen und werden vollkommener; aber wann? Wenn wir das Weib tiefer und gründlicher verstehen lernen. Denk an die üppigen Perser: sie haben ihre Frauen zu Sklavinnen gemacht, und was ist das Ergebnis? Sie haben kein Verständnis für das Gefühl des Schönen -- dieses unendliche Meer geistiger Genüsse. Kein Funke schlägt aus ihrem Herzen empor beim Anblick der Göttin des Praxiteles; ihre Seele spricht nicht begeisterungsvoll mit der unsterblichen Seele des Marmors, und kein verständnisvoller Laut tönt ihr aus ihm entgegen. Was ist das Weib? -- Die Sprache der Götter. Wir wundern uns über das milde heitere Haupt des Mannes; aber wir glauben nicht das Ebenbild der Götter in ihm zu sehen; das sehen wir im Weibe und bewundern es im Weibe, und in ihm erst bewundern wir die Götter. Sie ist die Poesie! sie ist der Gedanke, wir dagegen sind bloß seine Verkörperung in der Wirklichkeit. Der Eindruck von ihr glüht in unserer Seele, und je stärker und je umfassender und größer die Wirkung ist, die er auf uns ausübt, um so edler und schöner werden wir. Solange das Bild noch im Kopfe des Künstlers weilt, sich unkörperlich in ihm formt und gestaltet, ist es -- ein Weib; sobald es sich materialisiert und greifbare Gestalt annimmt, wird es zum -- Manne. Warum strebt aber dann der Künstler mit so unersättlicher Begierde danach, seine unsterbliche Idee in grobe Materie zu verwandeln und sie unseren gemeinen Sinneswerkzeugen zu unterwerfen? Weil er von den hohen Gefühlen geleitet wird -- von dem Wunsche, die Gottheit der Materie einzuverleiben und den Menschen wenigstens einen Teil von der unendlichen Welt seines Inneren zugänglich zu machen, d. h. das Weib im Manne zu verkörpern. Und wenn das Auge eines Jünglings, dessen Herz glühend und verständnisvoll für die Kunst schlägt, zufällig auf das unsterbliche Bild des Künstlers fällt, -- was sucht es, was ergreift es in ihm? Sieht es etwa die Materie in ihm? Nein, sie verschwindet, und er erblickt die grenzenlose, unendliche, unkörperliche Idee des Künstlers vor sich. Wie erklingen da die Saiten seiner Seele, welch lebendige Lieder ertönen in seinem Inneren! Wie deutlich und lebendig spricht, wie auf den Ruf der Heimat, das Vergangene, das unwiederbringlich dahin ist, und die unabwendliche Zukunft in ihm! Wie unkörperlich umarmt seine Seele die göttliche Seele des Künstlers! Wie verschmelzen ihre Geister in einem unaussprechlichen Kusse der Seelen! Was wären die hohen Tugenden des Mannes, wenn sie nicht geschmückt und nicht geformt würden durch die milden sanften Tugenden des Weibes? Sein Mut, seine Festigkeit, seine stolze Verachtung des Lasters würden sich in Barbarei verwandeln. Raube der Welt das Licht -- und die bunte Vielfältigkeit der Farben fällt dahin; Himmel und Erde verschwimmen und gehen in der Finsternis unter, die noch dunkler ist als die Gestade des Hades. Was ist die Liebe? -- Die Heimat der Seele, die hehre Sehnsucht des Menschen nach der Vergangenheit, in der der reine Ursprung seines Lebens verborgen liegt, wo alles noch den unaussprechlichen, unverwischbaren Stempel kindlicher Unschuld trägt und wo uns alles heimatlich berührt. Und wenn die Seele versinkt im ätherischen Schoße der weiblichen Seele, wenn sie in ihr ihren Vater -- den ewigen Gott -- und ihre Brüder, d. h. Gefühle und Erscheinungen, die keines irdischen Ausdruckes fähig sind, findet -- was geschieht dann mit ihr? Dann tönen in ihr die alten Klänge wider, dann gedenkt sie des früheren paradiesischen Lebens am Busen Gottes, und sie setzt es fort bis in die Unendlichkeit.« Das begeisterte Auge des Weisen blickte starr und unbeweglich vor sich hin: vor ihnen stand Alkinoe, die während ihres Gespräches unbemerkt eingetreten war. Auf ein Götterbild gestützt, schien sie völlig in stumme Aufmerksamkeit versunken, und ihr herrliches Gesicht belebte häufig ganz plötzlich der Ausdruck einer göttlichen Seele. Die marmorweiße Hand, durch die die blauen, von himmlischer Ambrosia durchfluteten Adern hindurchschienen, schwebte frei in der Luft; der schlanke, von den purpurroten Bändern des Beinharnischs umschlungene Fuß, den sie einen Schritt vorgesetzt hatte, hatte die neidische Hülle abgestreift und schien kaum die niedrige Erde zu berühren; der hohe göttliche Busen wogte, gespannt von unruhigen Seufzern, auf und ab, und das Gewand, das die beiden durchsichtigen Wolken des Busens nur halb verdeckte, bebte und fiel in herrlichen malerischen Linien auf den Fußboden herab. Es schien, als ob der dünne lichte Äther, in dem sich die Himmelsbewohner baden, durchflutet von einer rosigen und bläulichen Flamme, die sich in unendlichen, in tausend Farben spielenden Strahlen zerstreut, für die es auf Erden keine Namen gibt, und in denen ein duftenden Meer eines unbegreiflichen Wohllautes wogt -- es schien, als ob dieser Äther sichtbare Form angenommen hätte und, indem er nun vor ihnen schwebte, die herrliche Gestalt des Menschen noch verklärte und vergöttlichte. Die nachlässig zurückgeworfenen Locken umdrängten schwarz wie die dunkle beseelte Nacht ihre lilienreine Stirn und fielen in dunklen Kaskaden auf die leuchtenden Schultern herab. Die Blitze, die ihren Augen entsprühten, schienen ihre ganze Seele zu offenbaren. Nein, selbst die Königin der Liebe war nie so schön, nicht einmal in dem Augenblick, als sie so wunderbar dem Schaum der jungfräulichen Wellen entstieg. Erstaunt und in ehrfurchtsvoller Andacht warf sich der Jüngling der stolzen Schönen zu Füßen, und eine heiße Träne, die dem Auge der sich über ihn beugenden Halbgöttin entstieg, tropfte auf seine brennenden Wangen. Fragmente Gedichte und poetische Versuche Sturm »Warum so trüb?« -- »Einst war ich heiter,« Sag' ich zu meiner Lust Genossen. »Ich hab' mein Herz dem Schmerz erschlossen; Die Freude starb: ich lebe weiter. Jung war ich, und mein heller Blick hat Trauer nicht und Mißgeschick Gekannt; jetzt welkt die Jugend hin, Stirbt wie der Herbst, und ich verblute Gleich ihm. Nie wird mir froh zumute. Die Freude lockt nicht meinen Sinn.« Die Freunde lachen: »Was du nur Zu weinen hast! Das Wetter ist So heiter klar, und die Natur Nicht halb so trüb, wie du es bist.« Und ich: »Mir gilt das alles nichts. Ob Tag zu Tag und Jahr sich türmt, Ob's hell, ob's dunkel ist, was ficht's Mich an, wenn mir's im Herzen stürmt.« -- Albumblatt Das Licht verliert im Auge des Träumers schnell seine Wärme. Er findet die Hoffnungen, die ihn belebten, unerfüllt, seine Erwartungen unbefriedigt, und die Glut des Genießens verraucht in seinem Herzen ... Er befindet sich in einem Zustande der Starrheit und Leblosigkeit. Wie glücklich ist er, wenn er den Wert der Erinnerungen vergangener Tage erkennt: der Tage einer glücklichen Kindheit, da er die keimenden Zukunftsträume von sich warf und seine Freunde verließ, die ihm von ganzem Herzen ergeben waren. Hans Küchelgarten Eine Idylle in ** Bildern von W. Alow 1827 Deutsch von Ulrich Steindorff Das vorliegende Werk hätte nie das Licht der Welt erblickt, wenn nicht besondere Umstände, die nur für den Verfasser von Bedeutung sind, die Veranlassung dazu gegeben hätten. Dies Werk ist eine Frucht seiner achtzehnjährigen Jugend. Wir haben nicht die Absicht, hier ein Urteil über die Vorzüge oder Mängel dieser Dichtung abzugeben -- das überlassen wir dem Publikum -- wir wollen nur bemerken, daß viele von den Bildern dieser Idylle leider verloren gegangen sind; sie haben wahrscheinlich das Band zwischen den nun unverbunden dastehenden Teilen gebildet und die Zeichnung des im Mittelpunkt stehenden Charakters vollendet. Wir rechnen es uns indessen zum Verdienst an, daß wir dem Publikum, soweit dies möglich war, Gelegenheit gaben, das Werk eines jungen Talentes kennen zu lernen. Erstes Bild Es tagt. Das Dorf taucht aus dem Dämmerdunst Mit seinen Häusern, seinen Gärten. Alles liegt In hellem Licht. Der Glockenturm erglänzt Wie lauter Gold, und auf dem alten Zaun Tanzt froh ein Sonnenstrahl. Die Silberflut Gleicht einem Zauberspiegel, der getreu Das Konterfei von Zaun und Gärtchen gibt. Und nichts hält Ruhe in dem Silberspiegel. Blau wölbt der Himmel sich; die Wolken ziehn Wie Wellen hin, und flüsternd rauscht der Wald. Dort, wo das Ufer weit ins Meer sich wagt, Da steht behaglich unter Lindenschatten Ein Pfarrhaus, schon jahrzehntelang bewohnt Von seinem greisen Herrn und arg verfallen. Das Dach geworfen und der Schornstein schwarz, Von blüh'ndem Moos bedeckt das Mauerwerk; Die Fenster windschief. Aber immer ist Das Häuschen traulich nett. Um keinen Preis Der Welt wär' es dem Alten feil. -- Dort steht Die Linde, sein geliebter Ruheplatz. Auch sie ist alt. Doch Jugendfrische weht Rings von den Rosenbäumen. Vögel nisten In ihrem Dunkel und erfüllen Garten Und Haus mit ihrer Lieder frohem Schall. -- Weil ihn der Schlaf die ganze Nacht gemieden, Ging schon vorm Morgengraun der Pfarrer, hier Ein wenig in der Frische noch zu schlummern. Im alten Lehnstuhl unterm Lindendach Schläft er. Der sanfte Wind kühlt sein Gesicht Und spielt voll Keckheit mit den grauen Haaren. Wer ist die Schöne, die mit Blicken Ihm naht, in denen alle Glut, Des Morgens ganze Frische ruht, Und vor ihn tritt? Welch ein Entzücken, Wie sie mit lilienweißer Hand Ihn sanft berührt, um ihn zu wecken, Bemüht, ihn ja nicht zu erschrecken. Doch eh' er aus dem Schlaf sich fand Zur Welt, sprach er, die Lider kaum Geöffnet, leise wie im Traum: »Du wunder-, wunderbarer Gast, Der du mein Heim besuchet hast, Warum füllt Kummer mich und schwillt Durch meine Seele. Was bewegt Mich Greisen denn dein Engelsbild So tief, so seltsam tief, und regt Den Sinn mir auf? Sieh mich und schilt, Schilt nicht: mein Leib ist schwach und alt Und allem, was da lebt, längst kalt. Seit ich mich tot in mir verscharrte, Ist's Ruhe nur, auf die ich warte, Die ich begehre immerfort. Ihr gilt mein Denken, gilt mein Wort. Und nun kommst du, du Junge, mir Zu Gaste, lockst mich heiß zu dir? Ach nein, aus deinem lichten Munde Flammt einer neuen Hoffnung Kunde. Rufst du zum Himmel mich? Zur Stunde Bin ich bereit. Allein mir fehlt Die Würde. Meine Sündenlast Ist groß. Ich war in dieser Welt Ein arger Streiter und gehaßt Von Hirt und Herde. Grausamkeit War mir nicht fremd. Allein ich schwor Den Teufel ab, und ich verlor Zur Buße keinen Tag, allzeit Entsühnend die Vergangenheit.« Voll schwerer Sorge und verwirrt Fragt sie sich bang: »Soll ich's ihm sagen, -- Wer weiß, wohin die Träume ihn verschlagen, -- Sag' ich ihm, daß er phantasiert?« Doch Nebel des Vergessens hängt Um ihn, den neuer Schlaf umfängt. Sie neigt sich über ihn, verstohlen. Wie sanft er schläft, wie still er ruht! Kaum merklich hebt beim Atemholen Die Brust sich. Licht in Ätherflut Hält ihn ein Engel in der Hut, Und paradiesisch Lächeln flicht Sich leuchtend um sein Angesicht. Nun öffnet er die Augen: »Wer, Wer ist's? -- Luise? -- Seltsam, ach; Mir träumte -- --, du, wo kommst du her? Bist, Wildfang, du so früh schon wach? Noch liegt der Tau. -- Es nebelt schwer.« -- »Großvater, nein, 's ist hell und klar. Im Walde blitzt das Sonnenlicht. Und schon am frühsten Morgen war Es heiß wie jetzt. Es regt sich nicht Ein Blatt. -- Weißt du, warum ich kam? Es gibt ein Fest. Wir feiern heut. Der alte Geiger Lodelham Und auch der Fritz sind längst bereit. Erst kommt die Kahnfahrt bis zur Mittagszeit Und dann -- --; ach, wenn nur Hans -- --!« Den Greis Umspielt ein weises Lächeln. Still Hört er, was sie erzählen will, Das sorglos junge Blut. »Ich weiß, Großväterchen, nur du hast Macht, Ein bitter großes Weh zu bannen. Mein Hans ist krank. Bald in der Nacht Und bald am Tag schleicht er von dannen Zum dunklen Meer. Nichts ist ihm recht, Nichts freut ihn mehr. Wenn man ihn fragt, Dann hört er gar nicht, was man sagt. Er spricht nur mit sich selbst. So schlecht, So elend sieht er aus. Wenn ihn sein Schmerz Noch lange quält, geht er zugrund. >Zugrund<, wie zittert, wenn mein Mund Das harte Wort gebraucht, mein Herz. Meinst du, daß er vielleicht mit mir Nicht mehr zufrieden ist, daß er Mich nicht mehr liebt? Das träfe schwer Und hart wie Stahl mein Herz. Sag's mir, Du Engelsguter!« -- Und sie schlang Die Arme fest um ihn. Kaum ging Ihr Atem, als sie an ihm hing In ihrer Liebe so verwirrt und bang. Als sich die Träne ihr ins Auge stahl, Wie war sie schön in ihrer Qual. »Gib Ruh', mein Kind, nicht weinen, nein. Schämst du dich nicht?« Der Pfarrer mühte Sich tröstend um sie. »Gottes Güte Wird dir Geduld und Kraft verleihn. Wenn du ihn innig bittest, wirst Du auch bei ihm Erhörung finden. Hans lebt ja nur für dich. Du irrst. Du mußt die Zweifel überwinden. Du darfst dir nicht mit solchen leeren Gedanken deine Ruhe stören.« -- -- Und als er noch der weinenden Luise Zuspricht, die an die welke Brust sich lehnt, Da bringt die alte Gertrud schon den Kaffee, Den heißen, bernsteinklaren, den der Greis So gern im Freien nahm. Er liebte es, Die Weichselpfeife dann dabei zu rauchen. So stieg denn bald der Rauch in klaren Ringen. Luise fütterte gedankenschwer Den Kater, der mit lautem Schnurren, Vom süßen Duft gelockt, sie lang umstrichen. Der Greis erhob sich vom geblümten Sessel Aus Väterzeit, sprach sein Gebet und drückte Der Enkelin die Hand. Dann zog er sich Den sonntäglichen, taftnen Schlafrock an, Den silberschimmernden, und nahm das Käppchen, Das Hans ihm kürzlich aus der Stadt gebracht Und ihm geschenkt. So ging er denn gemächlich, Sich auf Luisens weiße Schulter stützend, -- Hell schlug der Sang der Lerchen himmelwärts -- Ins Feld hinaus. -- Wie herrlich war der Tag! Es ließ ein Wind das Gold der Felder wogen, Das, überragt von dichten, früchteprangenden Laubkronen, in der Sonne flimmerte. Fern dunkelten die grünen Wälder. Dem regenbogenfarbnen Sommerdunst Entströmten Fluten wundersamster Düfte. Die Bienen waren fleißig unterwegs Und sogen Honig aus den jungen Blüten. Die Grillen zirpten froh. Und aus der Weite Klang laut und lauter kräft'ger Rudersang. Und lichter ward der Wald. Das Tal erschien. Das frohe Schrein der Herden scholl herauf. Tief in der Ferne sah man schon das Dach Vom Haus Luisens winken, sah das Rot Der Ziegel schimmern, wenn die Sonnenstrahlen In keckem Tanzspiel blitzend es umhuschten. -- -- Zweites Bild Noch ungeklärt sind die Gedanken, Die Hans bewegen, und sein Blick Sieht wirr die Welt des Lebens wanken Und sucht sein künftiges Geschick. -- In stillem Frieden war die Zeit Dem Tändelnden vorbeigeflossen; Noch hatte keine Bitterkeit Sich in der Seele Unschuld ihm gegossen. Kind dieser Erdenwelt war er. Doch ihrer Leidenschaften Brand War seinem Herzen unbekannt. Ganz sorglos war und leicht bisher In Heiterkeit und Glück und Lust Das Kind beim Spiel der Kinderschar. Das Böse war noch seiner Brust Ganz fremd. Ihm blühte wunderbar Die Welt. -- Schon in der frühsten Zeit Der Kindheit war sein Kamerad Luise, deren Heiterkeit Und Milde seinen Lebenspfad Erhellt. Wenn sie im grünen Kleid Zu tanzen anfing oder sang, Dann schoß durchs blonde Ringelhaar Manch Blitz, der zündend weitersprang. Ihr rosa Miedertüchlein glitt Herab. Man sah bei jedem Schritt Das feine, zarte Füßchenpaar. Sie war ein Kind, und kindlich war Ihr Tun. -- Im Walde spielte sie Mit ihm. Sie fingen sich. Dann lief Sie fort, versteckte sich und schrie Ihm plötzlich zu, daß er erschreckte. Sie schwärzte heimlich, wenn er schlief, Ihm sein Gesicht, und lachend weckte Sie ihn dann aus dem süßen Schlafe. Und er, er küßte sie zur Strafe. -- Und Lenz auf Lenz zog hin ins Land. Die Spiele wollten nicht mehr taugen. Die gegenseit'ge Keckheit schwand. Es schwand das Feuer seiner Augen. Und sie hält Traurigkeit gebannt Und Schüchternheit. -- Ihr, junger Herzen Verliebte, erste Worte, wart Gekommen, und es blieben nicht erspart Die Tage voller süßer Schmerzen. Was blieb ihm denn zu wünschen weiter, Wo er Luise bis zur Nacht, Gefesselt wie von Zaubermacht, Nicht ließ, ihr treuester Begleiter, Ihr Schatten, wo sie ging und stand. Mit innig tiefer Freude sahen Die Eltern, wie das Glück sich fand, Und sahen sich nicht satt. Die nahen, Leidvollen, zweifelvollen Zeiten hielt noch ein Engel sanft verhüllt den beiden. -- Doch allzubald befiel ein Schmerz, Ein tiefer, ihn. Matt ward vor Gram Sein Blick; er starrte himmelwärts Und war ganz unstet, ach, und wundersam. Es schien, als suchte stets sein Geist, Als hegte er geheimen Groll. Die Seele sehnte sich zumeist Gedankenschwer und kummervoll. -- Er sitzt und schaut hinab vom Strand Hinaus aufs Meer wie festgebannt. Und wenn im Takt die Wellen rauschen, Scheint einer Stimme er zu lauschen. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Bald geht er grübelnd durch das Tal, Die Augen feierlich voll Glanz, Wenn bei der Wolken Wirbeltanz Der Donner grollt, ein Feuerstrahl Durchs Dunkel zuckt und wilder Regen Heiß prasselt und mit einemmal In Strömen rauscht auf allen Wegen. Bald sitzt er in der Mitternacht Vor alten Sagen auf und wacht Und hofft, daß sich die Lettern regen In ihrer Stummheit, wenn die Seiten Er wendet, die so tiefe Kunde Ihm bringen von den grauen Zeiten. Ins Buch versunken manche Stunde, Sitzt er und wendet kaum das Haupt. Wer ihn in dieser schweren Not Gesehn, der hätte fest geglaubt, Die Zeit, da er gelebt, sei tot. Gedanken, wunderbare, hatten Mit ihrem Zauber ihn gebannt. Er suchte dunkler Eichen Schatten Auf seinem Weg durchs Sommerland. Aus diesen tiefen Schatten sprach Manch Rätsel, das er nicht verstand, Und träumend streckte er die Hand Liebkosend aus und griff darnach. -- Luise ist die ganze Zeit Allein in ihrem tiefen Kummer. Ihr Herz ist einzig ihm geweiht. Sie findet nächtens keinen Schlummer Und bringt die gleiche Zärtlichkeit Ihm dennoch stets entgegen, hält Die zarten Arme um ihn, küßt Ihn sanft, daß er den Schmerz vergißt, Bis er der Schwermut neu verfällt. Schön sind die Stunden, wunderbar, Wenn ferne Träume ihn umschweben Und der Gesichte lichte Schar Ihn fortträgt in ein andres Leben. Doch, wenn der Seele Land zerstört, Der stille Erdenfleck vergessen, Der Scholle nicht sein Herz gehört, Die schlichten Menschen er vermessen Nicht achtet, werden Traumgestalten Auch dann noch froh im Herzen walten? -- -- Indessen laßt sein unstet Wesen Belauschen uns. Macht euch bereit, Die Rätsel seines Geists zu lösen In ihrer Mannigfaltigkeit. -- Drittes Bild Du klassisch schöner Werke klassisch schönes Land! Des Ruhmes und der Freiheit Land, Athen! An dich, in wundersamer Gluten Wehn, Ist meine Seele festgebannt. Vom Tempel hoch bis hin zu des Piräus Mauern Ergießen sich und wogen feierliche Massen. Äschines' Worte blitzen, donnern und durchschauern, Der Iliß Wassern gleich, und fassen Gebietrisch alle wie der laute Sturm der Welle. Gewaltig ragt empor die Marmorherrlichkeit Der Parthenon, wo Säule sich an Säule reiht; Empor Minerva, von des Phidias Stahl geweiht. Und Zeuxis' wie Parrhasios' Pinsel strahlen Helle. Im Portikus steht göttergleich ein Greis Und redet weise von der andern Welt; Sagt, wer für Tugend einst Unsterblichkeit erhält, Wen Schande trifft und wen der Preis. Horch! Rohes Tosen mischt sich in das Springbrunnrauschen. Der Tag ist wach, und dem Theater voll Verlangen Zu strömt das Volk. Wie Persiens Farben prangen! Sieh, wie die Tuniken sich bauschen! Noch eh' die Leidenschaft des Sophokles verklungen, Schwirrt Kranz auf Kranz, von den Begeisterten geschwungen. Von Epikurens Honigmund, dem liebgewohnten, Enteilt sind Amors Diener, Krieger und Archonten, Daß ihnen sich die hohe Wissenschaft enthülle, Wie man Genüsse schlürft und trinkt des Lebens Fülle. Aspasia kommt! Ihr Blick, vom Wimpernschwarz verbrämt, Trifft einen Jüngling, und sein Atem stockt verschämt. Wie heiß die Lippen sind! Wie loht der Rede Glut! Die schwarzen, losen Locken fallen wie die Nacht Auf ihrer Schultern Marmorpracht, Auf ihre Brüste wie die Flut. -- Und jetzt? -- Tympane tosen und die Becher klirren. Bacchantinnen in wilder Raserei, geschmückt Mit Efeu, stürmen durch den heil'gen Hain in wirren, Gehetzten Haufen. -- Wo? Wohin? -- Entrückt, entrückt. Allein! -- Verschwunden ist der Chor. Und Gram befällt mich neu und Wehe. Stieg' doch vom Tal ein Faun empor; Dräng' aus des Gartens dunkler Nähe Mir einer Nymphe Sang ans Ohr! Ihr Griechen, wunderbarlich habt Die Welt mit Träumen ihr erfüllt, In Zauber alles eingehüllt! Heut ist sie ärmlich, grau, verschabt Und wohl quadriert, mit Nichts begabt. -- -- * * * * * Doch neue Träume kommen und heben Und ziehen ihn lockend himmelan Empor aus der Sorgen Ozean, hinweg von allem kleinlichen Leben. -- Viertes Bild Im Land, wo des Lebens Wunderquellen Entspringen und strahlend rings alles erhellen; Wo schwer die Nächte vom Ambraduft, Von Lotossüße geschwängert die Luft; Wo Räucherwerkwolken die Bläue durchfluten Und Mangostans Früchte golden gluten; Wo Kandahars Wiesengrund samten sich breitet; Wo kühn sich ob allem der Himmel weitet Und Blüten regnet in üppigem Glanz; Wo Schwärme von Faltern auffunkeln im Tanz: Dort sieht mein Blick eine Peri: versunken, Nichts sehend, nichts hörend; traumestrunken. Gleich Sonnen leuchtet ihr Augenpaar, Wie Hemasagara funkelt ihr Haar. Ihr Atem gleicht dem, den die Lilie haucht, Wenn die Nacht den Garten in Schlummer taucht Und im Wind ihre Seufzer von dannen schwingen; Ihre Stimme den nächtlichen Ton von Syringen, Dem silbernen Tone, wenn Israfil Die Flügel schlägt in mutwilligem Spiel; Dem heimlichen Plätschern des Tschindara-Fluß. Und ihr Lächeln erst! Und erst ihr Kuß! Was ist? -- Sie hebt sich, ein Hauch, und entschwindet In Himmeln, wo sie Verwandte findet. Bleib! Blicke dich um! Bleib! -- Taub meinem Schrei, Verrinnt sie im Regenbogen. -- Vorbei! Erinnrung an sie bleibt und hält Sich fest; und Duft erfüllt die Welt. -- * * * * * Bunt war sein Träumen überstrahlt; Vom Drang der Jugend heiß durchflossen. Die Hoheit, die sein Herz genossen, Hat herrlich oft sich abgemalt Auf seinem Angesicht. Allein, Was ihn in seinen Träumerein, Was die erregte Seele quälte, Wonach er schrie, wonach er bangte, In wilder Leidenschaft verlangte, Als gält' es, daß er sich vermählte Der ganzen Welt mit ganzer Lust, Verstand er nicht. -- Voll Staub und Dust, Von Dumpfheit voll und Schwere fand Er diese Welt und wirr. Es flog Sein Herz und schlug und schlug und zog Ihn hin nach fernem, fernem Land. Wer sah ihn so? Sein Atem ächzte. Die Brust ging keuchend auf und nieder. Stolz funkelte durch seine Lider. Ach, wie die Seele darnach lechzte, Am flücht'gen Traum sich festzusaugen. Ach, welche Feuer in ihm brannten, Wie ihn die Tränen übermannten, Das Leben schürend in den heißen Augen. -- Sechstes Bild Zwei Meilen nur von Wismar liegt das Dorf, Wo unserer Geschichte Welt, die Welt, Wo ihre Menschen leben, Grenzen findet. Das heitre Lünensdorf, so hieß es einst; Doch weiß ich nicht, ob es noch heut so ist. -- Weit schimmerte dem Wanderer entgegen Das kleine, weiße Häuschen Wilhelm Bauchs, Des Musikers, das er vor langer Zeit, Als er des Pastors Kind zum Weibe nahm, Erbaut. Es war ein liebes, heitres Haus; Grün war's gestrichen; rote Ziegelplatten Erklirrten hell im Wind. Kastanienbäume Umstanden es und drängten in die Fenster. Durch ihre Stämme sah ein Weidenzaun, Den Wilhelm selbst aus Ruten sich geflochten. Jetzt rankte sich der Hopfen an ihm hoch. Vom Fenster zu dem Zaun lief eine Stange, Behangen mit der Wäsche, die im Glanz Der heißen Mittagssonne lustig blinkte. Durch eine Speicherluke drängte sich Laut girrend eine Taubenschar; es schrien Die Puter, und mit seinen Flügeln schlagend Entbot der Hofhahn seinen Morgengruß Dem Tag und pickte den behäbig bunten Hennen Die Körner fort. Zwei fromme Ziegen rupften Das junge Gras. Schon lange stieg der Rauch In krausen Wolken aus dem Schornstein auf Zum Himmel, um den Morgendunst zu mehren. Dort auf der Seite, wo der Mauerputz Ein wenig abgebröckelt von den grauen Ziegeln, Dort, wo die alten Bäume Schatten geben, Stand schon seit frühstem Morgen säuberlich Gedeckt ein Eichentisch voll guter Dinge: Radieschen, gelber Käse, eine Dose In Entenform mit Butter; Wein und Bier, Der süße Bischof, Zucker, Waffelkuchen Und dann ein Korb mit leuchtend reifen Früchten: Himbeeren voller Duft, glashelle Trauben Und bernsteinfarbne Birnen, blaue Pflaumen Und rote Pfirsiche in buntem Durcheinander. -- Es war so festlich, denn Herr Wilhelm wollte Der lieben Frau Geburtstag in dem Kreise Der Töchter und des alten Pfarrherrn feiern. Luise kam, doch ihre Schwester Fanny, Die Jüngere, war fortgeeilt, um Hans Zu holen, und war noch nicht zurück. Vermutlich irrte er verträumt umher. Luise blickte unverwandt zum dunklen Fenster Im Nachbarhaus empor; lag es doch nur Zwei Schritt von ihr. -- Sie war nicht selbst gegangen, Damit er nicht den Gram von ihrer Stirn, Aus ihren Augen keinen Vorwurf läse. Da wandte Wilhelm sich, Luisens Vater, Zu ihr und sprach: »Du mußt den Hans mal schelten, Daß er so lange nicht mehr bei uns war. Pass' auf, du hast ihn dir zu sehr verwöhnt.« Doch sie war um die Antwort nicht verlegen: »Mir fehlt der Mut, den braven Hans zu tadeln. Er ist schon ohnedies so bleich und elend.« »Was, krank, sagst du?« fiel Mutter Berta ein. »Es ist nicht Krankheit, nur Melancholie, Die ihn jetzt plagt, und die wird sehr bald weichen, Seid ihr einmal vermählt. Ein junger Sproß, Den halbverdorrt ein Sommerregen trifft, Fängt plötzlich an zu blühn. -- Ist denn die Frau Nicht Lichtflut für den Mann?« -- »Ein kluges Wort,« Warf da der Pfarrer ein. »Wenn Gott es will, Glaubt mir, wird alles noch vorübergehn!« Er klopfte wieder seine Pfeife aus. Dann fing er an, mit Wilhelm sich zu streiten; Sie sprachen von den Tagesneuigkeiten, Von schlimmer Ernte, von den Griechen, Türken, Von Missolunghi, von Kolokotroni, Dem großen Führer, und vom argen Krieg, Von Canning sprachen sie, vom Parlament, Vom Elend und vom Aufruhr in Madrid, Als Hans erschien und sich Luise plötzlich Mit einem Aufschrei ihm entgegenstürzte. Der Jüngling schlang den Arm um ihre Hüfte Und küßte sie. Der Pfarrer sprach zu ihm: »Nun schäm' dich, Hans, daß du so ganz vergessen Den alten Freund. Doch wenn du schon Luise Vergißt, wie solltest du der Alten noch Gedenken!« -- »Väterchen, laß sein, laß sein -- Was schiltst du Hans denn immer!« sprach die Mutter. »Laßt uns zu Tisch gehn, sonst wird alles kalt: Der Brei, der Reis, die duft'gen Zuckererbsen, Der Glühwein und nicht minder der Kapaun, Den mit Rosinen ich und Butter briet.« -- So setzten sie sich friedlich an den Tisch Und waren alle bald vom Wein belebt, Die Seelen voller Glück und Heiterkeit. -- Der alte Geiger spielte, Fritz blies Flöte. Es gab ein Stück -- der Feiernden zu Ehren. Bald drehten allesamt im Walzer sich. Selbst Wilhelm wurde lustig, und gerötet Schwang er sich mit der Gattin wie ein Pfau Im Kreise. Wie im Wirbelwinde flog Hans mit Luise toll dahin. Die Welt Flog mit im gleichen, wundervollen Takt. Luise wagte kaum zu atmen, kaum Sich umzuschaun, vom Tanz so ganz gefangen. Der Pfarrer sagte: »Ach, ich sehe mich nicht satt An ihnen, glaubt's mir. Welch ein herrlich Paar. Luise, dieses heitre, liebe Kind, Und Hans so stattlich, klug und doch bescheiden. Sie sind doch füreinander wie geschaffen. Ja, glücklich wird ihr ganzes Leben sein. Ich danke Dir, mein güt'ger Gott, daß Du Im hohen Alter mir die Gnade schenktest Und mir die morsche Lebenskraft erhieltst, Damit ich solche Enkel schauen durfte. Nun kann ich sagen, wenn ich Abschied nehme: Auf Erden hab' ich Herrliches gesehn.« Siebentes Bild Des Abends Kühle senkt sich still hernieder. Die letzten, leisen Sonnenstrahlen küssen Das finstre Meer. Von tausend Flimmerfunken Durchsät, erglüht der Wald, und fern, fern her Erschimmern durch den Meeresdunst die Felsen In bunter Farbenpracht. Rings tiefe Stille. Und nur der Hirtenflöten melanchol'scher Ruf Tönt dann und wann von fernen, heitren Ufern; Und dann und wann ein leises Plätschern, wenn Ein Fisch im spiegelblanken Wasser ruckt, Wenn eine Schwalbe mit den Flügeln, ehe Sie auf zum Himmel steigt, es flüchtig streift. -- Fern zeigt ein Kahn sich wie ein heller Punkt. Wen trägt er wohl? Wer fährt wohl auf dem Meer? Der Pfarrer ist's, der Greis im Silberhaare, Und mit ihm Wilhelm mit der teuren Gattin. Die übermüt'ge Fanny läßt die Hand, Die von der Angelschnur herabgezogen, Im Wasser spielen. Hinten in dem Schiff Sitzt Hans mit seiner Braut. -- Sie sahen alle In stummer Freude einer Welle zu, Die breit dem Schiff gefolgt und unterm Schlag Der Ruder feurig schäumend perlte. Wie sich nun rasch die ros'ge Ferne klärte Und voller Duft ein Hauch von Süden kam, Da sprach der Pfarrer tief gerührt: »Wie schön Ist dieser Abend Gottes doch! So still Und herrlich wie das Leben des Gerechten. Denn es vollendet ebenso voll Frieden Den Weg, und auf den heil'gen Erdenrest Ergießen sich die gleichen schönen Tränen. Ja, auch für mich wird's Zeit. Auch meine Tage Sind bald gezählt. Ich kann nicht lang mehr bleiben. Doch werd' ich auch so herrlich schlafen gehen?« -- Da weinten alle. Hans, der grad ein Lied Auf der Oboe spielte, ließ das Instrument Nachdenklich sinken. Es umspann ein Schlummer Sein Haupt, und weithin schweiften seine Sinne. Und Träume stürmten seltsam auf ihn ein. Luise wandte sich ihm zu: »Sag' mir, sag', Hans, Wenn du mich liebst, wenn ich in deiner Seele Noch Mitleid, Mitgefühl wachrufen kann, Was quälst du mich? Sag' mir einmal, warum Sitzt du bei Nacht einsam bei deinen Büchern? Ich weiß es. Unsre beiden Fenster liegen Doch nicht umsonst einander gegenüber. Warum weichst du uns allen aus und trauerst? Dein trüber Blick, ach, nimmt mir alle Ruh', Und deine Trauer macht mich selber trübe! --« Das rührte Hans. Er wurde ganz verlegen. Er drückte sie im Schmerz an seine Brust, Und eine Träne stahl sich ihm ins Auge. »Luise, frage nicht. Du mehrst doch nur Durch deine Unruh' meinen tiefen Kummer. Denn in Gedanken ich versunken scheine, Glaub' mir, dann denk' ich immer nur an dich Und sinne, wie sich all die schweren Zweifel Von deiner Seele nehmen, wie dein Herz Mit Freude sich und Frieden füllen ließe, Daß deiner Jugend reinen Schlaf nichts störe, Daß Böses dir nicht nahe, nicht der Schatten Von einem Kummer dich berühre, daß Dein Glück in alle Ewigkeiten währe!« Da lehnte sie an seine Brust sich an Und konnte in der Fülle des Gefühls, Des Dankes ihm kein einzig Wort erwidern. -- Still zog das Boot am Ufer hin. -- Man landet Und steigt schnell aus. »Hört,« sprach der Vater Wilhelm, »Hört, Kinder, nehmt euch recht in acht und seht, Daß ihr euch nicht erkältet. Es ist feucht. Der Nebel steigt.« -- Hans ging mit ihr und dachte: Was wird, wenn sie erfährt, was sie doch nicht Erfahren soll? Er sah ihr in die Augen. In seinem Herzen ward ein Vorwurf laut. Ihm war, als wenn er schlecht gehandelt hätte, Als hätte er den ewigen Gott belogen. -- -- Achtes Bild Vom Turme schlägt es Mitternacht. Hans sitzt wie immer auf und wacht. Dem Einsamen gewohnte Zeit. Das Flackerlicht der Lampe leiht Nur spärlich Helligkeit. Es fällt Wie Saat des Zweifels in die Welt Des Schlafs. -- Kein Blick träf' in der Runde Nur eines Menschen Spur. Fern, ferne Rauscht wie Gespräch aus Menschenmunde Die Welle in dem Glanz der Sterne. Die Stille läßt den Atem hören Der Nacht. -- Jetzt wird ihn nicht mehr stören Der laute Tag in seinem Denken, Wo über seine Stirn sich senken Friede und Ruh'. -- Und sie? Sie setzt Sich auf im Bett; im Fenster jetzt: »Er kann's nicht sehen, merkt's ja nicht; Ich seh' mich satt an seinem Bild. Er wacht, daß er mein Glück erfüllt. Gott sei ihm gnädig, sei ihm mild.« -- * * * * * Die Welle rauscht im Mondeslicht. Ein Traum sinkt nieder und umfängt Ihr Haupt und beugt es leis, ganz leis. Um Hans spielt der Gedankenkreis Noch immer, dem er sich versenkt. 1. Entschieden alles! Ist's Gebot, Tiefinnerst jetzt zugrund zu gehn? Gibt's andres Ziel nicht als den Tod? Vermag ich Beßres nicht zu sehn? Soll ich mich hin zum Opfer geben, Tot für die Welt und ruhmlos leben? 2. Soll denn ein Herz, das Ruhm geliebt, Nur Nichtigkeiten lieben dürfen; Kalt jedem Glück sein, das sich gibt, Und niemals Seligkeiten schlürfen? Der Erde Schönheit nie mehr finden, Nie Wahres mehr in ihr ergründen? 3. Was ruft, was lockt ihr mich so bang, Ihr, dieser Erde schönste Lande. Bei Tag und Nacht wie Vogelsang Hör' ich in meiner Träume Bande, Bei Tag und Nacht die süßen Töne, Und bin berückt von eurer Schöne. 4. Euch, euch gehör' ich. Bald, ach bald Such' ich die seligen Gefilde, Ein Pilgrim, der zum Heil'gen wallt. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Hin fliegt umschäumt des Schiffes Bug. Hoch strebt der Sehnsucht froher Flug. 5. Ja, fallen wird der trübe Flor, In den euch stets der Traum gehüllt. Aufschließen wird die Welt das Tor Zur Wunderherrlichkeit, gewillt, Den Jüngling freundlich zu begrüßen Mit unversieglichen Genüssen. 6. Der Schönheit Meister! Meine Augen Bereiten sich, was ihr geschaffen Mit Stift und Meißel, einzusaugen. Mein Herz will eure Glut erraffen. Rausch' hin, mein Meer, von Riff zu Riff! Bring mich an Land, einsames Schiff! 7. Du aber, enger Winkelfrieden, Mein Wald, mein Feld, ihr müßt verzeihn. Himmlischer Regen reich beschieden Sei euch und Blüte und Gedeihn. Das Herz, scheint's, härmt sich, euch zu lassen, Und dürstet, euch noch einmal zu umfassen. 8. Auch du, mein engelstilles Herz, Vergib und geiz' mit deinen Tränen. Gib dich nicht hin dem ersten Schmerz. Verzeih dem armen Hans sein Sehnen. Klag' nicht. Der Weg ist bald gemessen, Und ich zurück. Wie könnt' ich dein vergessen! -- Neuntes Bild Wer kommt noch zu so später Stunde Behutsam durch die Nacht gewallt, Den Wanderstab am Gürtelbunde, Den Rucksack rüstig umgeschnallt? Vor ihm ein Haus zur rechten Hand; Zur linken führt ein Weg ins Weite. Er will den weiten Weg ins Land, Erfleht von Gott Kraft zum Geleite. Allein er wendet, übermannt Von stillem Weh, verzehrt von Gram, Den Schritt zum Haus, woher er kam. * * * * * Vor einem offnen Fenster sitzt, Den Kopf in seine Hand gestützt, Und ruht ein wunderschönes Kind. Mit seinem Flügel streicht sie mild Und gibt ihr Träume ein -- der Wind, Von denen sie nun ganz erfüllt, Ein Lächeln zeigt. Und ihm entquillt, Wie er sich peinvoll naht der Schönen Und bebend ihr ins Antlitz schaut Und kummerschwer, sein Weh in Tränen. Sein Auge schimmert glanzbetaut. Er beugt sich nieder glühend heiß Und küßt sie seufzend, leis, ganz leis. * * * * * Den weiten Weg eilt er dahin. Sein Innerstes durchbebt ein Schauer. Unrast umdüstert seinen Sinn, Und seine Seele tiefe Trauer. Noch einmal wendet er den Blick Zum Abschiedsgruß. -- Ein weißes Band, Zieht schon der Nebel übers Land. Sein stöhnend Herz weist ihn zurück. Ein rauher Wind mit scharfem Tone Stößt Eichenkron' an Eichenkrone. Und grau verschwimmt im fernen Raum Das Haus. Ganz unklar wie im Traum Hat Pförtner Gottlieb nur vernommen, Daß wer durchs Gartentor gekommen Und daß einmal, als wenn er schälte, Der treue Hund im Hofe bellte. Zehntes Bild Spät wird der helle Führer wach, -- Der Morgen ist nicht freundlich. Schwer Wogt übers Feld ein Nebelmeer, Und Regen rauscht und schlägt aufs Dach. Des jungen Morgens Kühle fächelt Die Schöne aus der Ruh'. Benommen Vom Schlaf am Fenster und beklommen, Streicht sie ihr Haar zurecht und lächelt. Doch Ärger schleicht sich ein und feuchtet Das Auge, daß es funkelnd leuchtet: »Wann kommst du, Hans? Wie lang soll's dauern? Du schwurst: beim ersten Tageslicht! Der Tag ist da. Ein Tag zum Trauern, Ein trüber Tag. Die Nebel schauern, Der Sturmwind heult. Was kommst du nicht?« Geängstigt halb und halb verdrossen, Blickt sie zum Fenster ihres Hans. Geschlossen ist's und bleibt geschlossen. Er schläft gewiß, und Traumesglanz Umgaukelt ihm sein Liebstes noch. Lang hat's getagt. Vom Regen sind Durchfurcht die Täler, und vom Wind Gewiegt der Wald. Ach, käm' er doch! * * * * * Der Mittag naht. Unmerklich steigt Der Nebel auf. Ganz matt, gezogen Tönt Donner noch. Der Eichwald schweigt. Auf flammt in siebenfarb'gem Bogen Am Himmel paradiesisch Licht. Mit Funken ist die Eiche übersprüht. Froh klingt vom Dorfe Lied auf Lied. Wo bist du, Hans, was kommst du nicht? * * * * * Warum? -- Die arge Brust umflicht Schwermut. Das Ohr wird müd der Qual, Zu horchen auf die Stundenzahl. Die Türe geht. -- Er ist's! -- Nein, nicht: Herein tritt Berta; wohlig fällt Der rosa Morgenrock, der weiche, Und farbenfroh die kantenreiche, Gestickte Schürze. »Engelgleiche, Was hat die Nachtruh' dir vergällt? Bist bleich und matt. Was ist geschehn? Störte der Regen, der so schwer Herabgerauscht, das wilde Meer, Der Hahn, der wüste Lärmer, den Kein Schlaf nachts ankommt, dich so sehr? Hat dich der Böse überkommen, Dir deinen reinen Schlaf genommen, Ins Herz gesenkt trübselig Trauern? Tust mich von ganzer Seele dauern.« * * * * * »Nein, nicht des Regens Rauschen, ach, Das wilde Meer nicht, nicht der Hahn, Der wüste Lärmer, hat's getan. Ach, was du nennst, hielt mich nicht wach. Nicht solcher Traum hat mich benommen, Bin solcher Trübsal nicht beklommen. Der Traum, der mir zu Sinnen kam, War anders, schwer und wundersam.« -- * * * * * »Mir träumte: Finstre Öde sei Um meinen Weg. Rings Nebel nur Vom Moor, und in der Wüstenei Von trocknem Boden keine Spur. Ein ekler Dunst! Die Erde weicht. Bei jedem Schritt ein neuer Schlund, Bei jedem Schritt ein neuer Grund Zur Herzensangst. Und mich beschleicht Unsäglich Wehe. Da erscheint Urplötzlich Hans vor mir. Blut rinnt Aus einer Wunde. Er beginnt Zu schluchzen über mir und weint. Doch statt der hellen Tränen floß Ein trüber Strom. Ich wachte auf. Und über Brust und Antlitz goß Vom Blondhaar triefend wie der Lauf Von tausend Bächen dummer Regen. Mein Herze schlug in trüben Schlägen, Und Traurigkeit befiel den Sinn. Die Locken blieben feucht. In Sorgen Sitz' ich verhärmt seit frühem Morgen. Wann kommt er heim? Wo ist er hin?« * * * * * Die Mutter steht gedankenvoll Kopfschüttelnd vor ihr, ehe sie Ihr Antwort gibt: »Ach, wüßt' ich, wie Ich deiner Not Herr werden soll, Mein Töchterchen. Komm, laß uns sehn, -- Gott geb' uns Kraft! -- was ihm geschehn.« * * * * * Sie treten in sein Zimmer. Leer, Ganz leer! Im Winkel liegt umher Ein alter Platoband, gar arg Verstaubt, Tieck, Aristophanes, Petrark Und Schillers Werke, die vermeßnen, Bei Winkelmanns, den halb vergeßnen. Und Fetzen von Papier. Es blühn Die Blumen auf der Etagere. Die Feder blinkt, mit der er kühn Entlastet sich der Träume Schwere. Sein Tisch, so tot! Doch nein, was hebt Sich jetzt? Ein Zettel flirrt. Was ist? Luise nimmt ihn auf und bebt. Von wem? An wen? Und als sie liest, Fängt ihre Zunge wie noch nie Zu lallen an. Sie stürzt aufs Knie. Gram, sengend Wehe warf sie nieder. Und Grabeskälte rann durch ihre Glieder. Elftes Bild Schau' her, Grausamer! Sieh, Tyrann, Wie sie verhärmt im Staube kauert; Die einsam Welkende, sieh' an, Wie sie in trüber Öde trauert, Vergessen, ach! Schau' hin einmal Auf dein Geschöpf, in dessen Brust Du Lebensglück und Lebenslust Mit Gram vertauscht und Höllenqual. Durchwühlte Grüfte, siehst du sie? Und wie sie dich geliebt, ja, wie! Mit welch lebend'ger Innigkeit Klang ihrer Rede Melodie, Die schlichte. Wo, wo ist die Zeit, Da du gelauscht? Wie war von Schuld, Von Trübsal rein des Blickes Brand, Der dich versengt. Wie oft entschwand Zu langsam ihrer Ungeduld Der böse Tag, zeigte sich nicht, Der Träumerischen, dein Gesicht. Und du konntst sie verlassen, du? Hast dich von allem abgewandt Und wanderst fremd in fremdem Land? Wem tust du das? Für wen, wozu? Doch schau', Grausamer! Sieh, Tyrann! Am Fenster harrt sie noch, verzehrt Von Sehnsucht, daß er wiederkehrt Zu ihr, er, der geliebte Mann. -- -- Schon sinkt der Tag. Des Abends Helle Liegt wundersam auf allen Dingen. Ein kühler Wind regt seine Schwingen. Kaum hörbar plätschert fern die Welle. Die Nacht entbreitet ihre Schatten. Leis tönt die Syrinx. Es ermatten Im West die letzten Glutenschimmer. Sie sitzt reglos und harrt noch immer. -- Nächtliche Gesichte Allmählich dunkelt und vergeht Des Abends Rot. Schon liegt die Welt In süßem Schlaf, und überm Feld Steigt auf des Mondes Majestät. Das Meer erschimmert wie Kristall. Durchsichtig scheint das ganze All. * * * * * Schatten wachsen auf und ziehen. Wundersam gestaltet fliehen Herrlich sie, weit, immer weiter, Himmelwärts die Sternenleiter. * * * * * Heller wird's: zwei Lichter blitzen. Da: zwei Ritter, zottig, fahl. Zweier schart'ger Schwerter Spitzen, Zweier Panzer Schmiedestahl! Halt! Sie suchen, treten an; Tauschen Platz um Platz jetzt. Hei! Kämpfen, glitzern Mann an Mann. Suchen wieder ... Da, vorbei! Dunkel schwillt und deckt sie schwer. Nur der Mond steht überm Meer. -- * * * * * Ein Lied der Kön'gin Nachtigall durchschallt Den Forst; ein schmetternd Lied, das sacht verrauscht. Die Erde atmet kaum, sie lauscht Verträumt der Sängerin. Der Wald Steht reglos. Alles schläft im Kreise. Es tönt nur die verklärte Weise. * * * * * Luftgebaut ragt der Palast Einer Märchenfee empor. Vor dem Fenster dicht am Tor Singt verklärt ein Minnegast. Sieh, ein Silberteppich glänzt, Ganz durchwebt mit Wolkenringen. Drüber schwebt ein Geist, der grenzt Nord und Süd mit seinen Schwingen. Schlafen sieht der Gast, gebannt Durch ein Gitter aus Koralle, Seine Fee. Die Perlmuttwand Bringt der Trän' Kristall zu Falle. -- Dunkel eint und deckt sie schwer. Nur der Mond steht überm Meer. -- -- * * * * * Kaum schimmert durch den Dunst das Land. Geheime Wünsche ohne Zahl Weckt uns die See. -- Ein Riesenwal, Taucht aus dem Nebel. Übermannt Hat Schlaf den Fischer längst. Er ruht; Und unablässig rauscht die Flut. -- * * * * * Strandwärts schwimmen Meerjungfrauen Herrlich schön. Den leuchtend hellen, Weißen Schaum der glühend blauen Wogen teilen sie. Die Wellen Spielen kosend wie im Traum Um die Schöne mit der weißen Lilienbrust. Sie atmet kaum. Um die zarten Glieder gleißen Tropfen wie ein Funkensaum. Ach, sie lächelt, kichert leise Und schwimmt sinnend hin im Licht. Bald voll Lust, bald wieder nicht. Träumerisch singt sie die Weise, Den Sirenensang der Klagen Des Verrats, den sie ertragen, Sie, die Junge. -- Reglos ruht Mondbeglänzt die blaue Flut. -- * * * * * Ein Friedhof fern in fremder Flur, Von einem alten Zaun umhegt. Rings Steine, Kreuze. Moosbelegt Der stummen Toten Häuser. Nur Der Flug der Eulen und das schrille Schrein zerreißt die Grabesstille. -- * * * * * Langsam steigt aus seinem Bette Jetzt ein Leichnam. Weiß umwallt Ihn sein Mantel. Vom Skelette Klopft den Staub er würdig. Kalt Weht vom Schädel Grabhauch. Feuer, Gelbes Feuer glüht aus seinen Augen. Mit den Knochenbeinen Hält ein Roß, ein ungeheuer Glänzend Roß er, einen Schimmel. Und es wächst, wächst bis zum Himmel. Leiche steht nach Leiche auf. Zug des Grauns! Von seinem Lauf Beben Erde, ach, und Lüfte. -- Endlich schließen sich die Grüfte. -- * * * * * Ein Schrecken packt sie an. Sie schlägt Das Fenster hastig zu. Ihr Blut Von Eiseskälte, bald von Glut Durchschauert, bebt gleichwie die Flut Im Sturm. Ein schweres Wehe legt Sich auf ihr Herz. Ihr Denken ruht. -- Wenn mitleidlos des Schicksals Faust Ein kalter Kieselstein entsaust Und trifft ein armes Herz, wer hält Die Treue, sagt, in aller Welt Noch dem Verstand? Wes Seele ficht Kein Übel an? Und wer verfällt, Sich ewig gleich, im Unglück nicht Dem Aberglauben? Wer erblaßt Nicht, wenn solch Spukbild ihn erfaßt Im Traum? -- Aufs Lager bang Warf sie sich hin voll Schmerz und Kummer. Vergeblich suchte sie den Schlummer. Wenn ein Geräusch durchs Dunkel drang, Ein Mäuslein strich, floh ihre Lider Der Schlaf, der launenhafte, wieder. -- Dreizehntes Bild Ein traurig Bild: Ruinen von Athen! Die Säulenreih'n, die bildwerkreichen, Sind morsch. In öden Tälern stehn Sie traurig, müder Zeiten Zeichen. Zertrümmert halb und halb verwittert Das hehre Denkmal, und zersplittert Selbst der Granit. -- Ein karger Rest. -- Ein morscher Architrav nur prangt Voll Majestät, und Efeu rankt Und hält am Kapitäl sich fest. In Gräben, die man längst verließ, Herabgestürzt ein Giebelkranz; Dort schimmert noch ein prächt'ger Fries Und der Reliefmetopen Glanz. Hier trauert eine reichgeschmückte Korinthsche Säule noch. Und leise Eidechsen schlüpfen scharenweise Darüber hin. Voll Würde blickt Er auf das Elend rings. Gerückt In toter Zeiten dunkle Nacht, Verdrängt, hat er für nichts mehr acht. Athens Ruinen, ach! Trüb gleiten Die Bilder von Vergangenheiten Vorbei. An kaltem Marmor lehnt Der Wanderer. Wie er sich auch sehnt, Er weckt Erstorbnes nicht. Vergebens! Das Bündel des vergangnen Lebens Knüpft er nicht auf. Ohnmächt'ge Qual, Verlorne Müh'! -- Allüberall Liest nur Zerstörung, Schmach und Schande Der trübe Blick. Im Sonnenbrande Blinkt durch die Säulen dann und wann Ein Turban wohl. Quer durch die Blöcke, Durch Pfeiler, Gräber, Mauerstöcke Treibt barsch sein Roß ein Muselmann. -- -- Hufschlag stampft letzte Trümmer nieder. -- -- Unsagbar tiefe Traurigkeit Packt da den Fremden plötzlich wieder. Wie stöhnt sein Herz so laut. Er kann Den Schmerz nicht meistern. Bitter leid, Daß er den weiten Weg gemessen, Ist's ihm. Hat er sein Dach, den stillen, Friedlichen Platz daheim vergessen, Verlassen um der Gräber willen? Ach, wären doch die Traumgespinste, Die schönen, seinem Sinn geblieben. Der reinen Schönheit Spiegelkünste, Ach, hätten sie ihn nicht getrieben! Nun sind die Träume tot und kalt Und abgestreift ihr Zauberflor. -- Mit unbarmherziger Gewalt Habt ihr ihm schonungslos das Tor Zur Glut der Traumeswelt verschlossen, Ihr, öder Wirklichkeiten Sprossen! Langsam verläßt und kummerschwer Der Fremde nun den Trümmerort. Er schwört, des blinden Einst nicht mehr Zu denken, aber immerfort Fliehn seine Opfer vor ihm her. -- -- -- Sechzehntes Bild Zwei Jahre sind dahin. In Lünensdorf Blüht alles noch und prankt wie ehedem. Die gleichen Sorgen, gleichen Freuden stören Den stillen Herzensfrieden der Bewohner. Allein im Haus der Wilhelms hat sich viel Verändert. Lange ist der Pfarrer tot. Er hat den dornenvollen Weg beendet Und schläft den letzten tiefen, tiefen Schlaf. Wohl alle waren seinem Sarg gefolgt, Und alle hatten Tränen in den Augen, Gedenkend seines Lebens, seines Tuns. Er war es, der für unser Seelenheil, Für unser geistig Brot von je gesorgt. Er war es, der so schön das Gute lehrte; Er war der Trauervollen steter Trost, Der feste Schild der Witwen und der Waisen. Wie voller Güte stieg er doch an Feiertagen Auf seine Kanzel, und wie rührend sprach Er von dem reinen Martertum, vom Leiden Des Herrn. Und wir, wie lauschten wir erschüttert Und unter Tränen seinen tiefen Worten. -- Wer seines Wegs von Wismar kommt, der geht Links von der Straße dicht an einem Friedhof Vorbei. Die alten Kreuze stehn gebückt In ihrem Kleid von Moos. Der harte Griffel Der Zeit hat seine Runen eingegraben. In ihrer Mitte leuchtet eine weiße Urne Auf schwarzem Steine, von zwei grünen Erlen Umrauscht und unter ihrem breiten Schatten. Das ist die letzte Ruhestatt des Pfarrherrn. Die braven Bauern waren gern bereit, Auf eigne Kosten ihm als letzte Ehre Dies Grabmal zu errichten. Alle Seiten Verkündeten durch eine Inschrift, wie Er lebte, wieviel stille Jahre er Als Seelensorger zugebracht und endlich Am Ziel des Wegs Gott seinen Geist vertraut. -- Und zu der Stunde, wo der Ost voll Scham Errötend seine Flechten löst, und wo Im Felde sich ein frischer Wind erhebt, Der Tau die blitzend blanken Perlen streut, Rotkehlchen in den dichten Büschen schlagen, Und erst zur Hälfte noch der Sonnenball Sich übers Land hebt, kommen Bäuerinnen Mit Nelken, Rosen in der Hand zum Grab Und schmücken es mit duft'ger Blumen Fülle Und gehen ihres Wegs. -- Nur eine bleibt, Das Haupt in ihre Lilienhand gestützt, Und sitzt gar lange Zeit in tiefem Sinnen, Als wollte sie Unfaßliches begreifen. Wer würde, ach, in dieser kummervollen Gestalt Luise wohl erkennen? Wer? Der frohe Glanz der Augen ist erloschen, Ihr unschuldreines Lächeln ist nicht mehr Auf ihrem Antlitz. Nie und nimmer huscht Das Zeichen einer Freude drüber hin. Und doch, wie schön ist sie in ihrem Harm! Wie königlich ihr Blick trotz allen Wehs! So trauert wohl der strahlende Seraph Dem Sturz des menschlichen Geschlechtes nach. Voll Schönheit war die glückliche Luise, Die trauernde war fast noch herrlicher. Grad achtzehn Jahre war sie alt geworden Im Monat, als der Pfarrer von ihr schied. Mit ihrer ganzen kindlich reinen Seele War sie dem Greise zugetan. Und nun Denkt sie: Nein, deine Hoffnung hat sich nicht Erfüllt. Wie innig hattest du gewünscht, Am heiligen Altare uns zu trauen, Für alle Zeiten unsern Bund zu schließen. Wie hattest du den träumerischen Hans Geliebt -- -- Und er? -- -- -- Ja, wenden wir den Blick zu Wilhelms Hütte. Es ist schon herbstlich kalt. Er sitzt daheim An seiner Drechselbank und schneidet Platten Aus Buchenholz mit feiner Maserung, Die er mit krausem Schnitzwerk dann verziert. Zu seinen Füßen liegt vergnügt geduckt Hektor, sein lieber, treuer Kamerad. Wie immer sorgt die tüchtige Hausfrau Berta Vom frühsten Morgen an schon für sein Wohl. Dicht vor dem Fenster drängt sich eine Schar Von Gänsen, und die Hühner gackern auch Noch unaufhörlich. Ganz wie ehedem Hört man das ew'ge Zwitschern frecher Spatzen, Die Tag für Tag im Küchenabfall picken. -- Der Dompfaff kam, der Geck. Und auf den Feldern Hing lange Zeit der reife Duft des Herbstes. Die grünen Blätter wurden gelb und fielen, Die Schwalben zogen über ferne Meere. -- In ihrer Sorglichkeit rief Hausfrau Berta: »Luise darf nicht mehr so lang ausbleiben. Es dunkelt, und der Sommer ist vorbei. Jetzt wird's früh feucht, und dichte Nebel fallen Und schicken ihre Schauer über uns. Warum irrt sie herum? Sie macht mir Not! Ja, ja, sie kann den Hans mal nicht vergessen. Gott weiß, ob er am Leben ist, ob nicht.« -- Wie anders Fanny denkt als ihre Mutter! Mit ihren sechzehn Jahren sitzt sie still In ihrer Ecke vor dem Rocken, voll Von Sehnsucht und vom Freunde träumend, Und fast unhörbar sagt sie vor sich hin: »Ich hätte ihn nicht minder stark geliebt!« Siebzehntes Bild Wie trüb auch sonst die Tage schleichen Im Herbst, das Heute ist voll Licht. Die Sonne zeigt ein hell Gesicht, Und blanke Silberwellen streichen Am Himmel hin. Den Weg herab Mit Rucksack kommt und Wanderstab Ein Fremder matt und scheu daher. Voll Trauer, wie ein Greis gebeugt, Geht er die Postchaussee. Nichts zeugt Vom alten Hans, fast gar nichts mehr. Sein halberloschner Blick umschweift Das Meer der gelben Ährenwellen, Der Berge bunten Kranz. Es greift Der schöne Traum sein Herz; es schwellen Des Allvergessens Seligkeiten Die Brust. Doch die Gedanken schreiten, Ach, einem andern Ziele zu. Nichts wär' ihm nötiger als Ruh'. Er kommt, so scheint's, von weit, weit her. Sein Atem keucht und schmerzt, und schwer Schmerzt seine Seele ihn und ächzt. Er denkt, doch kein Gedanke lechzt Nach Ruh'. -- Wem gilt sein tiefes Grübeln? Erstaunt, wie er mit allen Übeln Von dem Geschick gemartert ward; Des eitlen Tuns erstaunt, wie er genarrt, Lacht bitter auf er, daß er trunken Die Welt des Wahns, so hassenswert, In seiner Unvernunft begehrt Und ihrem leeren Glanz versunken; Daß er sich in der Menschen Schoß, Von ihrem eklen Tun wie toll Berauscht, bezaubert, -- schwankungslos Geworfen kühn und glaubensvoll. Ach, kalt wie Gräber waren sie, Habgier und Ehrsucht galt allein, Nichts sonst, -- und wie verächtlich Vieh So tierisch, ach, und so gemein. Sie zogen in den Staub, was gut Und hehr. Es schalten ihre Zungen Verächtlich nur Begeisterungen Und Geistestat. Falsch war die Glut; Und wenn sie sich emporgeschwungen, Verderben rings. Wer lauschte schon Der Reden einschläferndem Ton Und bebte nicht? Von Gift wie schwer Ihr Atem, wie voll Lüge ist Ihr Herzschlag und ihr Geist voll List; Wie hohl die Worte und wie leer! * * * * * Ja, tausendfach war ihm die Wahrheit Begegnet und von ihm erkannt. Doch ward zu höherm Glück die Klarheit Ihm in der Seele Träumerland? Wie ferne Sternenhelle zog Verlockend ihn der Ruhm. Allein Sein blinkend Gift war scharf, es trog Der dichte Qualm ihm vor den Schein. * * * * * Der Tag versinkt im West. Die Schatten Des Abends wachsen, und die matten, Hellweißen Wolkenränder glühen In greller Röte auf. Die dunkeln Vergilbten Blätter alle sprühen Von goldnem Strahlenwerk und funkeln. Der Wiesengrund der Heimat tut Sich vor dem Wandrer auf. Es füllt Den matten Blick urplötzlich Glut, Und eine heiße Träne quillt. Die Freuden aus vergangnen Jahren, Harmloser Späße, alter Träume Scharen, Sie engen ihm die Brust und rauben Den Atem ihm. Er will's nicht glauben Und sinnt dem Grund nach und beginnt Zu weinen wie ein schwaches Kind. * * * * * Meditationen Der Augenblick, da wunderbar Ein Auserkorner im Gefühl Der höchsten Kraft und Selbsterkenntnis Erfaßt des Daseins höchstes Ziel, Der sei gesegnet immerdar. Nicht leerer Träume Schattenpracht Und nicht des Ruhmes Flitterglanz Stört ihn und lockt bei Tag und Nacht Ihn in den lauten Wirbeltanz Der Welt. Sein Sinn hat junge Kraft, Ist Ansporn ihm und einz'ger Rat, Reizt ihn und treibt die Leidenschaft Zu Edlem ihn und großer Tat. Für sie setzt er sein Leben ein; Mag auch der Torenpöbel schrein, Er wird lebend'ger Trümmer wegen Nicht wankend, denn er hört allein Der Enkelzeit rauschenden Segen. * * * * * Wenn aber Trug und Traumgestalten Mit Sucht nach Glanz ein Herz beseelen, Dem Willenskraft und Härte fehlen, Im Wirrwarr standhaft sich zu halten, Dann ist es besser, ohne Fülle Das Feld des Lebens zu durchmessen, In der Familie, in der Stille Des Weltenlärmes zu vergessen. -- -- Achtzehntes Bild Die Sterne gehen auf in Harmonie. Mit mildem Blicke schweifen sie Ob all der Schlafversunkenheit Als Wächter leisen Menschenschlummers. Sie senden Ruh' der Guten Leid, Und Bösen -- des Gewissenskummers Todbringend Gift. -- Was schickt ihr nicht Der Trübsal Frieden jetzt? Ihr seid Des Menschen Freude, tröstend Licht. -- Wenn seine Blicke voller Leid Und Kummer flehend an euch haften, Hört er den Streit der Leidenschaften Im Herzen; und er ruft euch laut, Bis er die Schmerzen euch vertraut. -- Noch ist Luise traurig-müd; Und noch entkleidet nicht; sie blickt Verträumt, weil aller Schlaf sie flieht, Noch in die Herbstnacht unverrückt. Ihr Sinn beschwört das alte Bild. Da füllt sie Heiterkeit und weitet Das Herz ihr, dem ein Lied entquillt, Das am Spinett sie froh begleitet. Das Laub fällt raschelnd von den Bäumen, Durch die der Hofzaun blinkt. -- Hans steht In des Vergessens süßen Träumen, Vom Mantel eingehüllt, und späht Und lauscht. -- Soll er noch länger säumen? -- Wie wird es ihm jetzt bei dem Klange Der Stimme, die ihm nicht geklungen Seit seiner Trennung, die ihm lange, So lange, lange nicht gesungen! Das Lied, das heißer Leidenschaft, Das, sangesfrohem Mut entquollen Und all dem Übermaß der Kraft, Begeistert einst und froh erschollen, Sein Lied, es schwillt ihm durch den Regen Der Blätter wonnesam entgegen: Dich rufe ich! Ich rufe dich, Des Lächeln mich bezaubert hat, Mein Lieb! Viel Stunden setze ich Mich zu dir, und es sehen sich Die Augen doch an dir nicht satt. Du singst: -- geheimnisvolle Klänge, Des Herzens reinste Töne hallen Und zittern durch die Luft und schallen Wie Schlag von tausend Nachtigallen, Als ob ein Silberbach mir sänge. Schnell zu mir! Lehn' dich an mich, schnelle, Durchbebt von Gluten, wundersamen. Dein Herz brennt in der Stille helle, Und deine Ruh' strömt Well' auf Welle In mich die heißen Liebesflammen. Bist du mir fern, dann quält mich Wehe. Vergessen gibt es nicht für mich. Wenn ich erwach', zur Ruhe gehe, Stets bete ich und stets erflehe Ich Glück, mein Engel, nur für dich! -- * * * * * War's Täuschung, was sie sah? Es sprühten Zwei Feuer auf; zwei Augen glühten Dicht vor ihr, dicht. Und sie vernahm, Wie jemand seufzend näher kam. Angst packt sie, Zittern fällt sie an; Sie wendet sich und ... Hans! ... wer kann Solch wundersames Wiedersehen, Kann der Gefühle eignen Bann, Der Blicke Flammensprach' verstehen? Wer kann die Feuerworte finden, Zu schildern recht, wie das Empfinden, Aufwogend wild, die Brust durchspült Und unser tiefstes Herz durchwühlt? Man bebt, erblaßt, vor Freude schwach. Gedanken, Worte fehlen; ach, Voll Seligkeit entringt im Überschwang Der Brust sich nur ein heller Klang. * * * * * Hans faßt allmählich sich. Er blickt Durch Tränen ihr ins Angesicht Und denkt: »In Traum bin ich entrückt; Erwachte ich doch ewig nicht! Sie ist noch die, die mich umfaßt Mit kindlich innigem Verlangen. Ach, ihre Jugend starb wohl an der Last Der Trauer. Wie verhärmt, verblaßt Ist jetzt das frische Rot der Wangen. Ich Tor, der ich, um Not und Schmerzen Zu finden, floh von ihrem Herzen.« Des Leidensschlafes Schwere sank Von ihm; gesund und ruhig ward Er wieder, er, den Stürme lang Geschüttelt, wild durchtobt und hart. -- So strahlt die Welt stets sonnenblank Aufs neu. -- In Glut gehärtet Stahl Glänzt stärker, heller tausendmal. -- Die Gäste zechen. Ihre Runde Gehn Glas und Becher und erklingen. Die Alten plaudern manche Stunde. Derweil sich heiß im Tanze schwingen Die Jünglinge, da lärmt und schallt Die heiterste Musik. In Saus und Braus Herrscht Freude über Alt und Jung; Und gastlich ladend lacht das Haus. Der Bäuerinnen junge Schar Bringt blaue Veilchen für die Braut, Dem Bräut'gam Flammenrosen dar. Sie schmücken das verliebte Paar. »Bleibt lang noch jung,« so hallt es laut, »Blüht, wie hier diese Veilchen blühn Vom Felde, frisch und immer grün. Mag euer Herz von Liebe, schaut, Wie dieser Rosen Feuer glühn!« * * * * * Von Zärtlichkeit ganz hingerissen harrt Hans erbebend schon. Sein Blick Ist helle Freude, tiefes Glück. Sein Herz will unverstellt genießen, Nachdem des Zwanges Panzerkleid Gefallen ist, die Seligkeit. Euch, Träume voller Trug und List, Wird nun nicht mehr vergöttern er, Der ird'scher Schönheit Diener ist. -- Doch was umdüstert ihn so schwer? (Unfaßlich ist des Menschen Art!) Von seinen Träumen scheidend, starrt Er ihnen trauernd nach, verloren, Wie einem, dem er Treu' geschworen. -- So harrt der Schüler vor dem Schlage Der Glocke am ersehnten Tage Des letzten Unterrichts. Ganz voll Von Plänen und vor Freude toll, Spinnt er sich Träume. Ohne Klage, Zufrieden mit der Welt und sich in lang Entbehrter Freiheit Überschwang. Doch wenn die Abschiedsstunde naht Von Haus und Freund und Kamerad, Mit denen Arbeit er und Ruh', die Zeit Geteilt und Lust an tollen Streichen, Dann seufzt er wohl und Tränen schleichen Ins Aug' ihm, und er fühlt ein Leid. -- Epilog Es heben in der Öde sich und steigen In meines Tempels Einsamkeit, Die unerkannt und unentweiht Von eines Menschen Fuß, im Schweigen Der Seele Träume auf. Wie weit Dringt wohl hinaus ihr lauter Reigen? Ob wer erregt sein Ohr ihm leiht? Wird einer Jungfrau heißes Herz sich neigen, Wird eines Jünglings Sinn durch sie befreit? Voll ungewollter Rührung singe Mein Lied ich, rätselhaft erregt, Das stille Lied, das mich bewegt Und das ich dir als Loblied bringe, Mein Deutschland! Hoher Pläne Land, Der Feen und Geister Königtum, Mein Herz ist voll von deinem Ruhm! Der große Goethe hält die Hand Als Schutzgeist über dein Gedeihn. Mit seinen hohen Liedern bannt Er jede Not von dir und Pein. -- -- Beilage Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski I. Gogols Brief an Bjelinski Um den 20. Juni 1847 (neuen Stils). Ich habe Ihren Aufsatz über mich im »Sowremennik« mit schmerzlichem Bedauern gelesen -- nicht deshalb, weil mich die Art, wie Sie mich vor allen herabzusetzen suchen, verletzt, sondern weil mir aus diesem Aufsatz die Stimme eines Menschen entgegentönt, der mir zürnt. Ich aber wünsche keinen Menschen, selbst keinen solchen, der mich nicht liebt, gegen mich aufzubringen, am wenigsten Sie, von dem ich geglaubt habe, daß er mich liebt. Ich hatte durchaus nicht die Absicht, Sie durch eine Stelle in meinem Buche zu betrüben. Wie konnte es nur geschehen, daß in Rußland alle Menschen bis auf den letzten so über mich aufgebracht waren? Das ist etwas, was ich bisher noch nicht zu verstehen vermag. Die Östlinge, die Westlinge und die, die eine neutrale Stellung einnehmen, sie alle fühlen sich schmerzlich berührt. Es ist wahr, ich wollte jedem von ihnen einen kleinen Schlag versetzen, ich hielt das für nötig, weil ich es an meiner eigenen Haut gespürt hatte, wie notwendig so etwas ist [wir alle hätten etwas mehr Demut und Bescheidenheit nötig], aber ich habe nicht geglaubt, daß die Schläge, die ich austeilte, so plump, so ungeschickt und so verletzend ausfallen würden. Ich dachte, man würde mir das alles großmütig verzeihen, und mein Buch würde den Grund zu einer allgemeinen Versöhnung und nicht zu Streit und Zwietracht legen. Sie haben mein Buch mit dem Auge eines zornigen, verärgerten Menschen gelesen, und daher haben Sie alles unrichtig ausgelegt. Sehen Sie über alle die Stellen hinweg, die bisher noch für viele, wenn nicht gar für alle ein Rätsel, achten Sie vor allem auf die, die jedem gesunden und einsichtsvollen Menschen verständlich sind, und Sie werden erkennen, daß Sie sich in vielen Punkten geirrt haben. Ich habe nicht vergebens alle meine Leser angefleht, mein Buch mehrmals zu lesen, da ich alle Mißverständnisse, denen es ausgesetzt sein würde, schon vorausahnte. Glauben Sie mir, es ist nicht leicht, ein Buch zu beurteilen, das so eng mit der ganzen geistigen Entwicklung seines Autors zusammenhängt, der lange Zeit im Verborgenen und ganz in sich selbst zurückgezogen lebte und unter seiner Unfähigkeit, sich auszudrücken, litt. Es war ja auch kein leichter Entschluß, sich selbst an den Pranger zu stellen und dem allgemeinen Gespött auszusetzen, indem man einen Teil seiner inneren Entwicklung, deren wahrer Sinn nicht so bald verstanden wird, der Öffentlichkeit preisgab. Schon dieses Wagnis allein hätte einen gescheiten Menschen nachdenklich stimmen und ihn veranlassen müssen, mit der Abgabe seines Urteils über das Buch zu warten und es zu verschiedenen Stunden und in einer ruhigeren, mehr zur aufrichtigen Rechenschaftsablage über sich selbst geeigneten Geistesstimmung aufs neue zu überlesen, denn nur in solchen Augenblicken ist die Seele fähig, eine andere Seele zu verstehen, mein Buch ist aber eine durchaus seelische, geistige Angelegenheit. Sie hätten dann sicherlich nicht diese unüberlegten Folgerungen daraus gezogen, von denen Ihr Aufsatz strotzt. Wie kann man zum Beispiel daraus, daß ich gesagt habe, die Kritiker, die von meinen Fehlern und Mängeln reden, enthielten viel Richtiges, folgern, die Kritiker, die meine Vorzüge hervorgehoben haben, hätten unrecht. Eine solche Logik kann nur dem Kopfe eines zornigen Menschen entspringen, der nur nach etwas sucht, was ihn reizen und ärgern muß, und der einen Gegenstand nicht ruhig von allen Seiten in Betracht zieht. Ich habe es mir in meinem Geiste lange überlegt, wie ich mich über die Kritiker äußern sollte, die meine Vorzüge hervorgehoben und anläßlich meiner Werke viele schöne Gedanken, die die Kunst betrafen, ausgesprochen haben; ich wollte die Vorzüge und die ästhetischen Gefühlsnuancen eines jeden von ihnen unvoreingenommen feststellen und charakterisieren; ich wartete nur auf den Augenblick, wo ich etwas hierüber sagen konnte, oder richtiger, wo es mir anstehen würde, hierüber zu sprechen, damit man nachher nicht erklären sollte, daß ich ein eigennütziges Ziel im Auge gehabt und mich nicht allein und ganz vorurteilslos von meinem Gerechtigkeitsgefühl hätte lenken lassen. Schreiben Sie die unbarmherzigsten Kritiken, wählen Sie die bittersten Worte, über die Sie verfügen, um einen Menschen herabzusetzen, tragen Sie das Ihre dazu bei, mich in den Augen Ihrer Leser lächerlich zu machen, ohne die empfindlichsten Seiten des vielleicht zartfühlendsten Herzens zu schonen -- meine Seele wird dies alles ertragen, wenn auch nicht ohne Schmerz und ohne schmerzliche Erschütterungen; aber es ist bitter, sehr bitter für mich -- dies erkläre ich Ihnen ganz aufrichtig -- zu wissen, daß selbst ein böser Mensch Haß und Zorn gegen mich in seinem Herzen hegt; und Sie habe ich doch für einen guten Menschen gehalten. Dies der aufrichtige Ausdruck meiner Gefühle. N. G. II. Aus einem Briefe Gogols an N. I. Prokopowitsch Frankfurt, den 20. Juni (1847). Du wunderst dich, daß ich so begierig bin, zu hören, was man über mein Buch spricht. Das kommt daher, weil ich sehr begierig bin, die Menschen kennen zu lernen, und aus den Urteilen über mein Buch gewinne ich doch etwas wie eine Vorstellung von den Menschen mit all ihrem Wissen und ihrer Unwissenheit; was jedoch viel wichtiger ist, dadurch gewinne ich einen Einblick in ihre Seelenverfassung, die für mich noch weit bedeutsamer ist, als ihre äußere Charakteristik, und die ich, wie du selbst zugeben wirst, ohne mein Buch nie hätte kennen lernen können. Übrigens, da wir gerade darüber reden: Vor einigen Tagen las ich _Bjelinskis_ Kritik im zweiten Heft des »Zeitgenossen« (Sowremennik). Er scheint zu glauben, daß das ganze Buch auf ihn gemünzt ist, und hat aus ihm einen offenen Angriff gegen alle, die seine Ansicht teilen, herausgelesen. Das ist ganz falsch; in meinem Buche sind, wie du siehst, Angriffe gegen alle und gegen alles enthalten, was sich ins Maßlose verliert. Wahrscheinlich hat er die »Leithämmel«[6] auf sich bezogen, und doch galt diese Bemerkung bloß den Journalisten im allgemeinen. Diese Gereiztheit hat mich sehr betrübt, nicht wegen der harten Worte, die ich angeblich nicht zu ertragen vermag -- du weißt doch, daß ich die härtesten Worte vertragen kann --, sondern weil dieser Mensch doch immerhin während zehn Jahren, trotz aller Übertreibungen und Maßlosigkeiten, mit Teilnahme und Sympathie von mir gesprochen und dabei doch auch in ganz richtiger Weise auf viele Züge in meinen Werken aufmerksam gemacht hat, die die anderen nicht bemerkt haben, obwohl sie glaubten, ein viel besseres Verständnis für diese Dinge zu besitzen als er. Ich müßte undankbar gegen diese Menschen sein, wo ich es doch verstehe, selbst denen gerecht zu werden, die nichts als Mängel und Fehler in mir entdecken und nur auf diese hinweisen! Aber gerade das Gegenteil trifft zu: in diesem Falle habe ich mich nur getäuscht; ich hielt Bjelinski für größer und glaubte nicht, daß er solch einer kurzsichtigen Ansicht und solch kleinlicher Folgerungen fähig sei. Ich weiß nicht, warum es einem so schwer wird, den Vorwurf der Undankbarkeit zu ertragen, aber für mich war dieser Vorwurf schwerer als alle anderen Vorwürfe, weil meine Seele tatsächlich sehr zur Dankbarkeit neigt, und ich bin gerne dankbar, weil mir das selbst Genuß bereitet. Bitte sprich hierüber mit Bjelinski und schreibe mir, welches seine Stimmung gegen mich ist. Wenn ihm die Galle überläuft und er eine Wut gegen mich hat, so mag er sie im »Zeitgenossen« (Sowremennik) an mir auslassen und zwar in jeder Form, die ihm recht ist, nur soll er sie nicht wider mich in seinem Herzen hegen[7]. Wenn sich jedoch sein Unmut gelegt haben sollte, so gib ihm den beifolgenden Brief zu lesen, den du gleichfalls lesen darfst. [Fußnote 6: Vergl. Band 7: Von der Odyssee.] [Fußnote 7: Hierauf erwiderte Prokopowitsch: »Mir scheint, du bist sehr im Irrtum, wenn du glaubst, daß Bjelinski seinen Aufsatz geschrieben hat, weil er deine Ausfälle gegen die Journalisten im allgemeinen auf sich bezogen hat. Ich kenne Bjelinski schon lange und kann nicht anders, als fest davon überzeugt sein, daß er nie eine Zeile geschrieben hat, um sich für eine persönliche Kränkung zu rächen.«] Aus alledem ersehe ich, daß ich genötigt sein werde, einige Erklärungen über mein Buch abzugeben, weil nicht nur Bjelinski, sondern selbst solche Leute, die mich und meine Persönlichkeit doch weit besser kennen könnten als er, so seltsame Schlüsse aus meinem Werke ziehen, daß man einfach starr ist. Offenbar enthält es weit mehr Dunkelheiten und Unklarheiten, als ich selbst darin finde ... III. Bjelinskis Brief an Gogol Sie haben nur teilweise recht, wenn Sie glauben, den Zorn eines _verärgerten_ Menschen aus meinem Aufsatz herauslesen zu können. Dieses Epitheton ist viel zu schwach und matt, um die Stimmung zu charakterisieren, in die mich die Lektüre Ihres Briefes versetzt hat. Aber Sie haben vollkommen unrecht, wenn Sie dies auf Ihr tatsächlich nicht sehr schmeichelhaftes Urteil über die Verehrer Ihres Talentes zurückführen. Nein, das hat einen anderen, weit gewichtigeren Grund. Eine Kränkung, eine Verletzung unseres Selbstgefühls läßt sich noch ertragen, und ich wäre vernünftig genug gewesen, über diesen Gegenstand zu schweigen, wenn es sich bloß darum gehandelt hätte; was der Mensch jedoch nicht ertragen kann, ist eine Verletzung seines Wahrheitsgefühls, seiner Menschenwürde: man kann nicht mehr schweigen, wenn man unter dem Deckmantel der Religion und einer Apologie der Knute Lüge und Unsittlichkeit für Wahrheit und Tugend ausgibt. Ja, ich habe Sie geliebt, ich habe Sie mit der ganzen Leidenschaft geliebt, mit der ein Mensch -- den die Bande des Blutes mit seinem Vaterlande verknüpfen, dessen Hoffnung, dessen Ehre und Ruhm -- einen seiner großen Führer auf dem Wege zum Selbstbewußtsein, zum Fortschritt und zur Entwicklung lieben kann. Und Sie hatten begründeten Anlaß, einen Augenblick Ihre Seelenruhe zu verlieren, als Sie das Recht auf eine solche Liebe einbüßten. Ich sage dies nicht deshalb, weil ich glaube, meine Liebe sei ein würdiger Lohn für ein großes Talent, sondern deshalb, weil ich in dieser Beziehung nicht nur eine einzige, sondern viele Personen darstelle, deren Mehrzahl weder Sie noch ich je gesehen und die Sie ihrerseits auch noch niemals kennen gelernt haben. Ich bin nicht imstande, Ihnen auch nur einen schwachen Begriff von der Empörung zu geben, die Ihr Buch in allen edlen Herzen hervorgerufen hat, noch von dem wilden Freudengeheul, in das alle Ihre Feinde und alle die unliterarischen Tschitschikows, Nosdrjows, Polizeimeister so gut wie alle literarischen, deren Namen Ihnen wohlbekannt sind, ausgebrochen sind. Sie sehen selbst, daß sogar Menschen von derselben Geistesrichtung wie die, die in Ihrem Buche vertreten wird, Ihr Werk fallen lassen. Selbst wenn es das Produkt einer tiefen, aufrichtigen Überzeugung wäre, selbst dann müßte es denselben Eindruck auf das Publikum machen. Und wenn alle (mit Ausnahme weniger Menschen, die man gesehen haben und die man kennen muß, um sich nicht über ihren Beifall zu freuen) das Buch für einen schlauen, aber gar zu ungenierten Trick hielten, um auf dem Umwege über den Himmel einem höchst irdischen Ziel nachzujagen, -- so sind Sie allein schuld daran. Und das ist durchaus nicht verwunderlich, erstaunlich ist nur das, daß Sie sich darüber wundern. Ich glaube, das käme daher, weil Sie Rußland _nur als Künstler_ so tief und gründlich kennen, nicht aber auch als denkender Mensch, dessen Rolle Sie in Ihrem phantastischen Buche mit so wenig Glück auf sich genommen haben. Und das nicht etwa deswegen, weil Sie kein denkender Mensch sind, sondern deshalb, weil Sie sich schon seit vielen Jahren daran gewöhnt haben, Rußland aus einer gewissen lockenden Ferne anzusehen, es ist doch bekannt, daß nichts leichter ist, als die Dinge aus der Ferne genau so zu sehen, wie man sie gerne sehen möchte; denn Sie leben ja auch in dieser _schönen Ferne_ ganz für sich und in sich selbst, bleiben ihr selbst fremd und bewegen sich in dem einförmigen Kreise gleichgestimmter oder doch solcher Menschen, die nicht kräftig genug sind, sich Ihrem Einfluß zu widersetzen. Daher haben Sie auch nicht bemerkt, daß Rußlands Heil nicht im Mystizismus und Asketismus, ebensowenig wie im Pietismus, sondern vielmehr in dem Fortschritt der Zivilisation, der Aufklärung und der Humanität liegt. Was es braucht, sind nicht Predigten (die hat es genug gehört!) und nicht Gebete (die hat es genug gestammelt!), was es braucht, ist, daß das Volk zum Gefühl seiner Menschenwürde erweckt wird, ein Gefühl, das ihm für Jahrhunderte durch den Schmutz und die Unsauberkeit, in denen es lebte, verloren gegangen war; was es braucht, sind Rechte und Gesetze, nicht wie sie den Lehren der Kirche, sondern wie sie der gesunden Vernunft und der Gerechtigkeit entsprechen, und eine möglichst strenge und pünktliche Erfüllung dieser Gesetze. Statt dessen aber bietet Rußland das furchtbare Bild eines Landes dar, in dem Menschen mit Menschen handeln, ohne sich auch nur damit rechtfertigen zu können, womit sich die schlauen amerikanischen Pflanzer entschuldigen, die da behaupten, der Neger sei kein Mensch; das Bild eines Landes, in dem sich die Menschen nicht beim Namen nennen, sondern sich mit plumpen Kosenamen und Diminutiven wie Wanjka, Waßjka, Stjoschka, Palaschka titulieren; eines Landes endlich, in dem es keinerlei Garantien für die Integrität der Persönlichkeit, die Ehre und das Eigentum, ja nicht einmal eine polizeiliche Ordnung, sondern nur gewaltige Korporationen aller möglicher Diebe und Räuber in Ämtern und Würden gibt! Die aktuellsten nationalen Fragen, die das Rußland von heute bewegen, sind folgende: die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Abschaffung der Prügelstrafe und die Sorge für eine möglichst strenge Durchführung zum mindesten _der_ Gesetze, die es heute schon gibt. Das fühlt sogar die Regierung selbst (die sehr gut weiß, wie die Gutsbesitzer ihre Bauern behandeln, und wie viele von den ersten alljährlich durch die Hand der letzten umkommen), was durch die schwächlichen, fruchtlosen und halben Regierungsmaßnahmen zugunsten der weißen Neger und durch die komische Einführung der einschwänzigen Knute an Stelle der dreischwänzigen Peitsche dokumentiert wird. Das sind die Fragen, die ganz Rußland während seines apathischen Schlummers bewegen und beunruhigen! Und in einer solchen Zeit tritt ein großer Schriftsteller, der durch seine wunderbaren, künstlerischen, von tiefer Wahrheit durchdrungenen Werke so machtvoll an der Erweckung Rußlands zum Selbstbewußtsein mitgearbeitet und ihm die Möglichkeit gegeben hat, sich selbst wie in einem Spiegel zu sehen, mit einem Buche auf, in dem er barbarische Gutsbesitzer im Namen Christi und der Kirche unterweist, wie sie ihren Bauern möglichst viel Geld abnehmen können, und sie belehrt, daß sie sie möglichst viel schimpfen sollen ... Und das sollte mich nicht empören? Ja, wenn Sie einen Angriff auf mein Leben unternommen hätten, könnte ich Sie nicht mehr hassen, wie um dieser schmachvollen Zeilen willen ... Und danach wollen Sie, daß man an die Aufrichtigkeit, an die gute Absicht Ihres Buches glauben soll! Nein! Wenn Sie von der wahren Lehre Christi und nicht von einer falschen teuflischen Lehre erfüllt wären, so hätten Sie in Ihrem neuesten Buche etwas ganz anderes geschrieben. Sie hätten zum Gutsbesitzer gesagt: Da seine Bauern seine Brüder in Christus seien, und da ein Bruder nicht der Sklave seines Bruders sein kann, so seien die Gutsherren verpflichtet, ihren Bauern die Freiheit zu schenken oder wenigstens ihre Arbeitskraft möglichst im eigenen Interesse ihrer Bauern zu gebrauchen, da sich die Herren in ihrem Inneren und vor ihrem Gewissen eingestehen müßten, wie unwahrhaftig das zwischen ihnen und ihren Bauern bestehende Verhältnis sei. Und dann der Ausdruck: »_O du ungewaschenes Maul!_« Welchem Nosdrjow, welchem Sabakewitsch haben Sie diesen Ausdruck abgelauscht, um ihn der Welt als eine große Entdeckung zum Nutz und zur Belehrung der Bauern zu überliefern, die sich ja auch ohnedies nur darum nicht waschen, weil sie ihren Brüdern glauben und sich selbst nicht für Menschen halten? Und Ihren Begriff von der nationalen russischen Rechtspflege, deren Ideal Sie in der törichten Redensart erblicken, daß man sowohl den, der recht, wie den, der unrecht hat, auspeitschen solle? Aber das geschieht ja auch ohnedies oft genug bei uns, obwohl man freilich weit häufiger den prügelt, der im Recht ist, wenn er sich durch nichts von der Strafe loszukaufen vermag; sagt doch ein anderes Sprichwort in solch einem Falle: Schuldig ohne Schuld! Und solch ein Buch konnte das Ergebnis eines mühsamen und schwierigen inneren Prozesses, einer erhabenen geistigen Erleuchtung sein! Das ist unmöglich! Entweder Sie sind krank ... dann müssen Sie sich eiligst in Behandlung begeben, oder ... ich wage es nicht, meinen Gedanken auszusprechen ... Apologet der Knute, Apostel der Unwissenheit, Vorkämpfer des Obskurantismus und der finstersten Reaktion, Verherrlicher tatarischer Sitten -- was tuen Sie! Blicken Sie vor sich hin -- Sie stehen vor einem Abgrund. Daß Sie für diese Lehre eine Stütze in der apostolischen Kirche suchen, das verstehe ich noch: sie war ja doch stets die Stütze der Knute und die Bediente des Despotismus: warum aber ziehen Sie Christus in diese Sache hinein? Was haben Sie Gemeinsames zwischen ihm und der Kirche, vor allem aber der griechisch-katholischen Kirche entdeckt? War er es doch, der den Menschen zuerst die Lehre von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkündete und der die Wahrheit seiner Lehre durch sein Martyrium bekräftigte und besiegelte. In dieser Lehre lag ja auch nur so lange das _Heil_ der Menschen, als diese sich nicht zu einer Kirche zusammenschlossen und das Prinzip der Orthodoxie zu ihrer Grundlage machten. Die Kirche aber erschuf eine Hierarchie und wurde demgemäß eine Vorkämpferin der Ungleichheit, die den Machthabern schmeichelte, eine Feindin und Verfolgerin der Brüderlichkeit unter den Menschen -- und das ist sie bis auf die heutige Zeit geblieben. Indessen, der Sinn der Lehre Christi ist durch die philosophische Bewegung des verflossenen Jahrhunderts an den Tag gebracht worden. Und daher ist ein Voltaire, der in Europa mit dem Hauch seines Spottes alle Scheiterhaufen, die Fanatismus und Unwissenheit errichteten, auslöschte, natürlich in weit höherem Sinn ein Sohn Christi, Fleisch von Seinem Fleisch und Bein von Seinem Bein, als alle Ihre Popen, Erzpriester, Metropoliten und Patriarchen zusammen! Sollten Sie das wirklich nicht wissen? Das weiß doch heute bereits jeder Gymnasiast! ... Sollte es daher wirklich möglich sein, daß Sie, der Verfasser des »Revisors« und der »Toten Seelen«, aufrichtigen Herzens einen Hymnus auf die niederträchtige russische Geistlichkeit singen und sie so unendlich hoch über die katholische stellen konnten? Nehmen wir einmal an, Sie wußten nicht, daß diese Kirche einmal etwas bedeutet hat, während die erste nie etwas war, als die Bediente und Sklavin der weltlichen Macht; -- wie --? sollten Sie denn wirklich nicht wissen, daß unsere Geistlichkeit vom ganzen russischen Volke und der russischen Gesellschaft verachtet wird? Von wem erzählt das russische Volk obszöne Anekdoten? Vom Popen, von der Popenfrau, von der Popentochter und vom Knecht des Popen. Ist nicht in Rußland der Pope für jeden Russen der Inbegriff der Gefräßigkeit, des Geizes, der Speichelleckerei, der Schamlosigkeit? Und das sollten Sie alles nicht wissen? Seltsam! Nach Ihrer Meinung ist das russische Volk das religiöseste Volk der Welt. Das ist eine Lüge. Die Grundlage der Religiosität ist der Pietismus, die Ehrfurcht und die Gottesfurcht. Der Russe dagegen kratzt sich den ... wenn er den Namen Gottes ausspricht ... Und von den Heiligenbildern sagt er: sind sie gut -- so betet man zu ihnen; sind sie nicht mehr zu brauchen -- so deckt man die Töpfe mit ihnen zu. Blicken Sie aufmerksamer hin und Sie werden sich überzeugen, daß dies ein seinem innersten Wesen nach von Grund aus atheistisches Volk ist. Es besitzt noch sehr viel Aberglauben, aber keine Spur von Religiosität. Der Aberglaube verschwindet mit dem Fortschritt der Zivilisation, die Religiosität aber erhält sich daneben und verträgt sich häufig mit ihm: ein lebendiges Beispiel dafür ist Frankreich, wo es auch heute noch unter den aufgeklärten und gebildeten Leuten viele aufrichtige Katholiken gibt und wo viele zwar das Christentum aufgegeben haben, dennoch aber noch an einem Gott festhalten. Nicht so das russische Volk: mystische Exaltationen liegen nicht in seiner Natur; dazu besitzt es viel zu viel gesunde Menschenvernunft, Klarheit und positiven Verstand, und darin liegt vielleicht gerade die Gewähr für die Größe seiner künftigen historischen Schicksale. Die Religiosität hat nicht einmal in der Geistlichkeit Wurzel geschlagen, denn die wenigen eximierten Persönlichkeiten, die sich durch eine solche kalte asketische kontemplative Geisteshaltung auszeichneten, beweisen noch nichts. Die Mehrzahl unserer Geistlichen dagegen sind nur durch dicke Bäuche, scholastische Pedanterie und rohe Unwissenheit ausgezeichnet. Man würde ihnen unrecht tun, wenn man ihnen religiöse Intoleranz und Fanatismus vorwerfen wollte, man hätte eher noch Grund, ihren vorbildlichen Indifferentismus in Sachen des Glaubens zu loben. Echte Religiosität findet sich bei uns nur bei den Sektierern und Ketzern, die in einem solchen Gegensatz zu dem Volksgeist stehen und deren Anzahl im Vergleich zu der Masse des Volkes gar nicht ins Gewicht fällt. Ich will nicht näher auf Ihren Dithyrambus auf das Band der Liebe eingehen, das das russische Volk mit seinem Herrscher verknüpft. Ich will es ohne Umschweife aussprechen: dieser Dithyrambus hat bei niemand Sympathie gefunden und hat Ihnen selbst bei solchen Leuten geschadet, die Ihnen in anderer Hinsicht, d. h. in ihren Anschauungen, sehr nahe stehen. Was mich persönlich anbetrifft, so überlasse ich es Ihrem Gewissen, ob Sie sich noch weiter verzückt in die Betrachtung der göttlichen Schönheit des Selbstherrschertums versenken wollen (das ist sehr bequem und daher sehr -- einträglich), nur bitte ich Sie, seien Sie vernünftig und betrachten Sie es aus Ihrer _schönen Ferne_; aus der Nähe gesehen ist es viel weniger schön und auch nicht so ungefährlich. -- Ich will hier nur eins bemerken: wenn ein Europäer, besonders ein Katholik, von dem religiösen Geist ergriffen wird, wird er zum Ankläger, der sich gegen das Unrecht und die Ungerechtigkeit der Machthaber wendet, wie die jüdischen Propheten, die die Ungerechtigkeiten und Missetaten der Mächtigen an den Pranger stellten. Bei uns dagegen ist es umgekehrt: wenn ein Mensch (selbst ein anständiger) von der Krankheit, die bei den Psychiatern unter dem Namen _religiosa mania_ bekannt ist, ergriffen wird, dann fängt er sofort an, dem irdischen Gotte mehr Weihrauch zu spenden als dem himmlischen; dabei aber übertreibt er gleich und wird so maßlos, daß der Gott, selbst wenn er ihn für seinen sklavischen Diensteifer belohnen wollte, sieht, daß er sich damit vor der Gesellschaft kompromittieren würde. -- Wir sind halt dumme Kerle --, wir Russen. Hierbei fällt mir noch ein, daß Sie in Ihrem Buche behaupten und es als eine große Wahrheit hinstellen, daß Lesen und Schreiben dem einfachen Volke nicht nur nicht nützen, sondern sogar geradezu schaden würde. Was soll ich Ihnen darauf sagen? Möge Ihnen Ihr byzantinischer Gott diesen byzantinischen Gedanken verzeihen, wenn Sie nicht gewußt haben sollten, was Sie sagten, indem Sie ihn niederschrieben. -- Aber vielleicht werden Sie entgegnen: »Es ist möglich, daß ich mich geirrt habe und daß alle meine Gedanken falsch sind, warum aber will man mir das Recht nehmen, mich zu irren, und warum will man nicht an die Aufrichtigkeit meiner Irrtümer glauben?« Darauf antworte ich Ihnen folgendes: weil eine solche Anschauung in Rußland schon lange nichts Neues mehr ist. Erst vor kurzem ist sie von Buratschok und Genossen in erschöpfender Weise vertreten worden. Natürlich steckt in Ihrem Buche weit mehr Verstand und sogar Talent, als in ihren Werken, obwohl es nicht allzu reich an beiden ist, dafür aber haben jene die Ihnen gemeinsame Lehre mit viel größerer Energie und mit weit größerer Konsequenz vertreten, sie sind kühn bis zu ihren letzten Ergebnissen vorgedrungen, haben alles dem byzantinischen Gotte geopfert und nichts für den Satan übriggelassen, während Sie jedem von beiden eine Kerze stiften wollten, sich hierdurch in Widersprüche verwickelten und für Puschkin, die Literatur und das Theater eintraten, die von Ihrem Standpunkt aus, wenn Sie nur ehrlich genug gewesen wären, um konsequent zu sein, nichts zum Heil unserer Seele, wohl aber sehr viel zu ihrem Verderben beitragen können ... Wessen Hirn aber hätte den Gedanken von der Identität Gogols und Buratschoks ertragen können? Sie haben sich einen viel zu hohen Platz in der Meinung des russischen Publikums erobert, als daß es Ihnen die Aufrichtigkeit solcher Überzeugungen zu glauben vermöchte. Was uns bei einem Toren natürlich vorkommt, kann uns bei einem genialen Mann nicht so erscheinen. Es gibt Menschen, die auf den Gedanken gekommen sind, Ihr Buch sei die Frucht einer geistigen Störung, die ganz positiv an Wahnsinn grenzt. Aber sie haben diese Folgerung bald wieder fallen gelassen -- denn es ist doch ganz klar, daß dies Buch nicht an einem Tag, auch nicht in einer Woche oder in einem Monat, sondern vielleicht während eines ganzen Jahres geschrieben wurde, oder daß Sie gar zwei oder drei Jahre lang daran gearbeitet haben; alles darin hängt sehr genau zusammen, selbst die nachlässige Darstellung läßt erkennen, daß viel Überlegung darin steckt, daß es wohl durchdacht ist. Ein Hymnus auf die höchsten Machthaber ist ja doch auch sehr geeignet, dem frommen Autor eine angenehme und gesicherte irdische Existenz zu verschaffen. Das war der Grund, weshalb sich in Petersburg das Gerücht verbreitete, Sie hätten dieses Buch geschrieben, um Erzieher bei dem Sohne des Thronfolgers zu werden. Schon früher ist in Petersburg einer Ihrer Briefe an Uwarow bekanntgeworden, in dem Sie mit Schmerz davon sprechen, daß man in Rußland Ihre Werke falsch auslegt, Ihre Unzufriedenheit mit Ihren früheren Schriften äußern und erklären, Ihre Werke würden Sie erst dann befriedigen, wenn Sie den Beifall des Zaren fänden. Und nun urteilen Sie selbst, ob man sich wundern kann, daß Ihr Buch Ihnen beim Publikum sowohl als Schriftsteller, noch viel mehr aber als Mensch geschadet hat. Sie verstehen, wie ich sehe, das russische Publikum nicht recht. Sein Charakter wird durch die Situation bestimmt, in der sich die russische Gesellschaft befindet. In ihr regen sich frische Kräfte, die nach außen drängen, jedoch durch den schweren Druck, der auf ihr lastet, gehemmt werden und, da sie keinen Ausweg finden, nichts wie Trübsinn, Melancholie und Apathie erzeugen. Nur in der Literatur regt sich trotz der tatarischen Zensur noch etwas wie Leben und Fortschritt. Daher ist auch der Schriftstellerberuf bei uns etwas so Edles und Hohes, und daher wird es bei uns selbst dem kleinsten Talent so leicht, einen literarischen Erfolg zu erringen. Der Name des Poeten, der Titel des Literaten haben bei uns schon längst den glänzenden Flitter der Epauletten und der bunten Uniformen verdunkelt. Das ist auch der Grund, weshalb bei uns jede sogenannte literarische Tendenz und Bewegung, selbst bei einem geringen und dürftigen Talent, auf den Lohn der allgemeinen Beachtung rechnen darf, und warum die Popularität der großen Talente so schnell dahinsinkt, die ihre Kräfte aus ehrlicher Überzeugung oder aus unehrlichen Motiven in den Dienst der Orthodoxie, des Absolutismus und des Nationalismus stellen. Das treffendste Beispiel hierfür ist Puschkin, der nur zwei oder drei untertänige Gedichte zu schreiben und die Kammerjunkerlivree anzulegen brauchte, um mit einem Schlage die Liebe seines Volkes zu verlieren! Sie sind in einem großen Irrtum befangen, wenn Sie allen Ernstes glauben, daß der Mißerfolg Ihres Buches nicht seiner schlimmen Tendenz, sondern der Härte der Wahrheiten zuzuschreiben sei, die Sie allen und jedem ins Gesicht gesagt hätten. Das konnten Sie vielleicht von den Literaten glauben, wie aber paßte das Publikum in diese Kategorie? Wäre es wirklich möglich, daß Sie ihm im »Revisor«, in den »Toten Seelen« mit geringerer Schärfe und weniger Wahrheit und Talent weniger bittere Wahrheiten gesagt haben sollten? Die alte Schule zürnte und grollte Ihnen ja auch tatsächlich bis zur Raserei, aber der »Revisor« und die »Toten Seelen« sind darum doch nicht vergessen, während Ihr Buch schmählich vom Orkus verschlungen wurde. Und das Publikum hat in diesem Falle recht: es sieht in den russischen Schriftstellern seine einzigen Führer, seine Beschützer und Erretter aus dem russischen Absolutismus, der Orthodoxie und dem Nationalismus, daher ist es stets bereit, einem Schriftsteller ein _schlechtes_ Buch zu verzeihen, nie aber wird es ihm ein _schädliches_ Buch vergeben. Das beweist, wieviel frische gesunde Instinkte, wenn auch erst keimhaft, in unserer Gesellschaft schlummern, und es beweist auch, daß diese Gesellschaft eine Zukunft hat. Wenn Sie Rußland lieben, so freuen Sie sich über die Niederlage Ihres Buches. Nicht ohne eine gewisse Eitelkeit darf ich Ihnen sagen, daß ich das russische Publikum ein wenig zu kennen glaube. Ihr Buch hat mich erschreckt, weil ich es für möglich hielt, daß es einen schlechten Einfluß auf die Regierung und auf die Zensur ausüben, nicht aber, weil ich daran glaubte, daß es das Publikum in schlechtem Sinne beeinflussen könnte. Als sich in Petersburg das Gerücht verbreitete, die Regierung wolle Ihr Buch in vielen tausend Exemplaren drucken und zu ganz billigem Preise verkaufen lassen -- wurden meine Freunde mutlos; ich sagte ihnen jedoch sogleich, daß das Buch trotz alledem keinen Erfolg haben und daß es bald vergessen sein werde. Und so lebt es ja auch heute tatsächlich mehr in den Aufsätzen, die über es geschrieben wurden, als durch sich selbst in der Erinnerung des Publikums weiter. Ja, der Russe hat einen tiefen, obwohl noch unentwickelten Wahrheitsinstinkt. Ihr Appell mag ja vielleicht ganz aufrichtig gewesen sein, aber Ihr Gedanke, dem Publikum davon Mitteilung zu machen, war äußerst unglücklich. Die Zeiten naiver Frömmigkeit sind selbst für _unsere_ Gesellschaft längst vorüber. Sie begreift schon, daß es ganz gleich ist, wo man betet, und daß nur solche Leute Christus in Jerusalem suchen, die ihn entweder nie in ihrem Busen getragen oder die ihn doch wieder verloren haben. Wer da fähig ist, beim Anblick fremder Leiden selbst zu leiden, wem es schwer wird, mitanzusehen, wie Menschen, die ihm völlig fremd sind, bedrückt werden, -- der trägt Christus in seiner Brust und der braucht nicht zu Fuß nach Jerusalem zu pilgern. Die Demut und Ergebung, die Sie predigen, ist nichts Neues und schmeckt erstlich nach furchtbarer Überhebung und zweitens nach einer höchst schmachvollen Herabsetzung der eigenen Menschenwürde. Der Gedanke, sich in ein abstraktes Vollkommenheitsideal zu verwandeln und sich durch seine Demut über alle anderen Menschen zu erheben, kann nur die Frucht des Hochmuts oder des Schwachsinns sein und führt in beiden Fällen nur zur Heuchelei, zum Pharisäertum und zum Chinesentum. Und dabei haben Sie sich erlaubt, sich nicht nur in unsauberen und zynischen Ausdrücken über andere zu äußern (das wäre schließlich nur eine Unhöflichkeit gewesen), nein, Sie sprechen auch so von sich selbst -- und das ist einfach häßlich; denn wenn ein Mensch, der seinen Nächsten auf die Backe schlägt, uns zur Empörung reizt, so erregt ein Mensch, der sich selbst ohrfeigt, unsere Verachtung. Nein, Ihr Geist ist verfinstert und nicht erleuchtet: Sie haben weder den Geist, noch die Form des Christentums unserer Zeit verstanden. Nicht die Wahrheit der christlichen Liebe, sondern krankhaftes Todesgrauen und Furcht vor Hölle und Teufel spricht aus Ihrem Buch. Und welch eine Sprache, was für Sätze sind das: »Die Menschen sind heute allzumal solch traurige jämmerliche Waschlappen geworden.« Glauben Sie wirklich, daß das heißt, sich biblisch ausdrücken, wenn Sie sagen, die Menschen sind allzumal, statt alle? Welch große Wahrheit ist es doch, daß, wenn der Mensch sich gänzlich der Lüge hingibt, ihn auch Verstand und Talent im Stich lassen. Wenn nicht Ihr Name unter dem Titel Ihres Buches stünde, wer hätte gedacht, daß dieser geschwollene und wirre Wort- und Phrasenflitter -- ein Werk des Verfassers der »Toten Seelen« und des »Revisors« sein könnte! Was endlich mich selbst anbetrifft, so erkläre ich Ihnen nochmals: Sie haben sich geirrt, wenn Sie meinen Aufsatz für eine Frucht der Verärgerung hielten, die durch Ihr Urteil über mich als einen Ihrer Kritiker hervorgerufen sei. Wenn mich nur dies allein empört hätte, dann hätte ich mich auch wirklich nur über dies eine empört und ärgerlich geäußert und über das andere ganz ruhig und unvoreingenommen gesprochen. Freilich ist es ganz richtig, daß Ihr Urteil über Ihre Verehrer in doppelter Hinsicht sehr unschön war. Ich erkenne an, daß es notwendig sein kann, einem Toren zuweilen einen kräftigen Schlag zu versetzen, wenn er uns durch seine Lobeserhebungen und seine Begeisterung lächerlich macht, aber auch das ist eine _bittere_ Notwendigkeit, denn es ist nicht angenehm, nicht ganz menschlich, einem Menschen -- selbst für seine falsche, auf einem Irrtum beruhende Liebe -- mit Haß und Feindschaft zu zahlen. Sie aber hatten, wenn auch nicht gerade Menschen von auserlesenen Verstandesfähigkeiten, zum mindesten solche, die auch keine Toren sind, im Auge. Diese Leute haben voller Bewunderung über Ihre Werke weit mehr Geschrei gemacht, als sie Vernünftiges über sie gesagt haben, immerhin aber stammte ihr Enthusiasmus aus einer so reinen und edlen Quelle, daß Sie sie keinesfalls ihrem gemeinsamen Feinde bedingungslos hätten ausliefern und ihnen noch den Vorwurf machen dürfen, sie strebten danach, Ihren Werken eine falsche Deutung zu geben. Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit getan und, weil Sie sich von dem Grundgedanken Ihres Buches fortreißen ließen, während Wjasemskij, dieser Fürst unter den Aristokraten und dieser Lakai unter den Literaten, Ihren Gedanken weiter ausführte und eine private Denunziation gegen Ihre Verehrer (also in erster Linie gegen mich) veröffentlichte. Er hat dies wahrscheinlich aus Dankbarkeit gegen Sie getan, weil Sie diesen erbärmlichen Reimschmied zu einem großen Dichter gemacht haben, wahrscheinlich, und soviel ich mich erinnere, wegen seines »matten an der Erde klebenden Verses«. Das alles ist nicht schön. Daß Sie jedoch nur auf den Zeitpunkt gewartet haben, wo es Ihnen möglich sein würde, auch den Verehrern Ihres Talents Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (nachdem Sie Ihren Feinden mit stolzer Bescheidenheit gerecht geworden waren) -- das war mir unbekannt; ich konnte es nicht wissen und hätte es, offen gestanden, auch nicht wissen wollen. Vor mir lag Ihr Buch und nicht Ihre Absichten! Ich las es, las es hundertmal nacheinander und konnte dennoch nichts darin finden als das, was darin steht, und das, was darin stand, beleidigte und empörte meine Seele aufs tiefste. Wenn ich meinem Gefühl freien Lauf lassen wollte, würde sich dieser Brief bald in ein dickes Heft verwandeln. Ich habe nie daran gedacht, Ihnen hierüber zu schreiben, obwohl ich vom qualvollen Wunsche danach verzehrt wurde, und obwohl Sie allen und jedem öffentlich das Recht gegeben hatten, Ihnen ganz ungeniert zu schreiben, da Sie keine andere Rücksicht kennten, als die der Wahrheit. In Rußland hätte ich das nicht tun können, da die dortigen »Schpekins« fremde Briefe öffnen, und zwar nicht zu ihrem persönlichen Vergnügen, sondern weil sie dienstlich dazu verpflichtet sind und um andere Leute zu denunzieren. Im Sommer dieses Jahres trieb mich eine beginnende Schwindsucht ins Ausland, und Nekrassow sandte mir Ihren Brief nach Salzbrunn nach, von wo ich heute in Gesellschaft Annenkows über Frankfurt am Main nach Paris weiterreise. Der unerwartete Empfang Ihres Briefes gab mir die Möglichkeit, Ihnen alles zu sagen, was mir auf der Seele lag und was ich gegen Sie und Ihr Buch empfand. Ich kann keine Halbheiten sagen und keine Winkelzüge machen, das liegt nicht in meiner Natur. Mögen Sie oder die Zeit mich belehren, daß ich mich in meinen Schlüssen über Sie geirrt habe. Ich würde der erste sein, der sich hierüber freuen würde, aber ich werde nie bereuen, was ich Ihnen gesagt habe. Hier handelt es sich nicht um meine oder Ihre Person, sondern um etwas weit Größeres und Höheres, als ich und selbst Sie sind, hier handelt es sich um die Wahrheit, um die russische Gesellschaft, um Rußland. Und dies ist mein letztes Wort, mit dem ich schließe: wenn Sie den unglücklichen Einfall hatten, Ihre wahrhaft großen Werke mit stolzer Bescheidenheit zu verleugnen, so müssen Sie nun mit aufrichtiger Demut Ihr letztes Buch abschwören und die schwere Schuld, die Sie durch seine Veröffentlichung auf sich geladen haben, durch neue Schöpfungen wieder gutmachen, die an Ihre früheren Werke erinnern. Salzbrunn, den 15. Juli 1847. IV. Gogol an Bjelinski[8] [Fußnote 8: Von diesem Brief ist nur das ursprüngliche Konzept vorhanden. Es umfaßt zwei auf Briefpapier geschriebene Hefte in Oktavformat. Beide Hefte wurden von Gogol in Stücke gerissen, so daß jedem Heft ungefähr zehn Blätter entsprachen. Der russische Herausgeber hat die einzelnen Stücke wieder aneinander gelegt und den ursprünglichen Wortlaut nach Möglichkeit durch entsprechende Ergänzungen und Einschaltungen wiederherzustellen gesucht. Die fehlenden Stellen sind durch Punkte ersetzt.] Womit sollte ich meine Antwort auf Ihr Schreiben beginnen, wenn nicht mit Ihren eigenen Worten: »Kommen Sie zu sich, Sie stehen am Rande eines Abgrundes!« Wie weit sind Sie vom geraden Weg abgekommen! In welch verzerrter, entstellter Gestalt erscheinen Ihnen die Dinge! Welch rohe, ungebildete Vorstellung haben Sie von meinem Buche gefaßt! Wie haben Sie es ausgelegt! ... Oh, mögen die heiligen Mächte Frieden in Ihre leidende Seele gießen! Wozu mußten Sie den einmal gewählten friedlichen Weg gegen einen anderen vertauschen? Was konnte herrlicher sein, als die Leser auf die Schönheiten in den Werken unserer Schriftsteller hinzuweisen, ihre Seele und ihre Geisteskräfte bis zum Verständnis alles Schönen zu erheben, die Schauer der in ihnen geweckten Sympathie zu genießen und so unmerklich auf ihre Seele einzuwirken? Dieser Weg hätte Sie zur Versöhnung mit dem Leben geführt, Sie gelehrt, alles in der Natur zu segnen. Jetzt dagegen fließt Ihr Mund von Haß und Galle über ... Wozu mußten Sie mit Ihrer feurigen Seele sich in diesen Strudel des politischen Lebens, in diese trüben Tageskämpfe stürzen, bei denen selbst ein vielseitiger Geist seine Festigkeit und Umsicht verlieren muß. Wie sollten Sie mit Ihrem einseitigen Geist, der die Explosivkraft des Pulvers hat und sich schon entzündet, noch ehe Sie sich davon überzeugt haben, was Wahrheit und was Lüge ist, wie sollten Sie da nicht die Orientierung verlieren? Sie werden verbrennen wie eine Kerze und auch andere mit sich in den Flammentod reißen ... Oh, wie tut mir mein Herz in diesem Augenblicke weh um Ihretwillen! Wie, wenn auch ich mitschuldig wäre? Wie, wenn auch meine Werke an Ihren Verirrungen teilhätten? Aber nein, wenn ich alle meine früheren Werke betrachte, so sehe ich, daß _sie_ Sie nicht irreleiten konnten ... Als ich sie schrieb, hatte ich Ehrfurcht vor allem, wovor sich der Mensch beugen muß. Mein Spott und mein Haß galten nicht der Obrigkeit und nicht den _höchsten_ Gesetzen unseres Staates, sondern ihrem Zerrbild, den Abweichungen, ihrer falschen Auslegung und den verkehrten Anwendungen. Nirgends habe ich über den Kern des russischen Charakters und die gewaltigen Kräfte, die in ihm schlummern, gespottet. Ich habe nur über das Kleinliche und Nichtige gespottet, das nicht zu seinen Charakterzügen gehört. Mein Fehler bestand darin, daß ich den Russen noch nicht deutlich genug charakterisiert, sein Wesen nicht völlig entfaltet, daß ich die tiefen Quellen, die in seiner Seele verborgen liegen, nicht aufgedeckt habe. Aber das ist keine leichte Sache. Wenn ich den Russen auch gründlich erforscht habe und wenn mir auch eine gewisse hellseherische Begabung dabei behilflich sein konnte, so war ich doch nicht durch mich selbst geblendet, meine Augen waren klar. Ich sah, daß ich noch nicht reif genug war, um den Kampf mit Ereignissen, die bedeutsamer und von höherer Art waren, als die, die bis dahin in meinen Werken vorkamen, und mit stärkeren Charakteren aufnehmen zu können. Alles konnte übertrieben und gewaltsam erscheinen. Und so geschah es auch mit diesem Buch, über das Sie so hergefallen sind. Sie haben es mit glühenden Augen betrachtet, und alles darin ist Ihnen in ganz anderem Lichte erschienen, als es in Wirklichkeit ist. Sie haben es nicht verstanden. Ich will mein Buch nicht verteidigen. Ich selbst habe es schlecht gemacht und mache es noch schlecht. Ich habe mich bei seiner Veröffentlichung einer Hast und Übereilung schuldig gemacht, die sonst nicht in meinem besonnenen und vorsichtigen Charakter liegt. Aber das Motiv war ehrlich. Ich wollte niemand mit dem Buch schmeicheln oder Weihrauch streuen. Ich wollte nur ein paar allzu stürmische Köpfe zur Besonnenheit mahnen, die im Begriffe waren, sich zu verirren und in diesen Strudel und diese Unordnung zu stürzen, in die plötzlich alle Dinge dieser Welt gestürzt waren, zu einer Zeit, wo der Geist in unserem Innern sich zu umnachten schien und gleichsam erlöschen wollte. Ich bin in Übertreibungen verfallen, aber ich versichere es Ihnen, ich habe es selbst nicht gemerkt. Eigennützige Ziele aber habe ich weder früher gehabt, als mich die Lockungen der Welt anzogen, noch viel weniger aber jetzt, wo es Zeit ist, daß ich an meinen Tod denke ... Ich wollte mir nichts dadurch erbetteln. Das liegt nicht in meiner Art. Gottlob, ich habe meine Armut liebgewonnen und würde sie niemals gegen jene Güter eintauschen, die Ihnen so verlockend erscheinen. Sie hätten doch mindestens daran denken sollen, daß ich keinen Winkel mein eigen nenne, ja ich bin sogar darum bemüht, meinen kleinen Reisekoffer möglichst zu erleichtern, damit mir der Abschied von der Welt nicht zu schwer wird. Sie hätten sich also hüten sollen, solche beleidigende Verdächtigungen gegen mich zu schleudern, die ich offen gestanden nicht einmal gegen den gemeinsten Schuft zu erheben den Mut gehabt hätte ... Sie entschuldigen sich damit, daß der Brief im Zustande heftiger Empörung geschrieben ist. Aber in welch einer Stimmung wagen Sie es, so respektlos von den wichtigsten Dingen zu reden? Wie soll ich mich gegen Ihre Angriffe verteidigen, wenn Ihre Angriffe ihr Ziel verfehlen? -- Nein, ein jeder von uns muß daran erinnert werden, daß sein Beruf heilig ist. -- Er sollte daran denken, welch strenge Rechenschaft von ihm gefordert werden wird ... Aber wenn der Beruf eines jeden von uns heilig ist, so ist es vor allem das Amt dessen, dem die schwere und furchtbare Pflicht zugefallen ist, für Millionen zu sorgen. Ja wir müßten einander sogar an die Heiligkeit unserer Pflichten mahnen. Ohne dies würde der Mensch in rein materiellen Gefühlen versinken. -- Oder glauben Sie, das wisse kein Mensch in Rußland? Sehen wir einmal genauer zu, woher das kommt. Rührt diese Neigung zum Luxus und diese furchtbare Häufung der Laster nicht daher, weil jeder sein _eigenes Steckenpferd_ hat? Der eine guckt nach England, ein anderer nach Preußen, ein dritter nach Frankreich hinüber; der eine schwört auf die einen Prinzipien, ein anderer auf andere; der eine kommt uns mit dem einen Projekt, ein anderer mit einem anderen. Soviel Köpfe soviel Sinne ... Und da sollte es bei einer solchen Uneinigkeit keine Diebe und Gauner und kein Unrecht aller Art geben, wenn ein jeder sieht, daß sich uns überall Hindernisse in den Weg stellen, wo ein jeder nur an sich und daran denkt, wie er sich ein recht warmes Plätzchen verschaffen könnte? ... Sie sagen, Rußlands Heil liege in der europäischen _Zivilisation_; aber was ist das für ein unbestimmtes uferloses Wort? Wenn Sie doch wenigstens klar definiert hätten, was man unter dem Namen der europäischen Zivilisation verstehen soll! Dazu gehören sowohl die Phalanstère, die Roten und alle möglichen Kategorien anderer Leute, die allesamt bereit sind, einander aufzufressen, und die alle solch umstürzlerische destruktive Prinzipien haben, daß in Europa jeder denkende Kopf zittert und sich unwillkürlich fragt: wo ist denn nun unsere Zivilisation? Ein leeres Phantom hat die Gestalt dieser Zivilisation angenommen ... Wo haben Sie ferner die Meinung hergenommen, daß ich einen Hymnus auf unsere Geistlichkeit gedichtet habe? Ich habe gesagt, die Predigt des Priesters der morgenländischen Kirche solle in seinem Leben und in seinen Taten bestehen. Und woher kommt dieser Geist des Hasses bei Ihnen? Ich habe sehr viel schlimme Pfarrer gekannt und kann Ihnen sehr viele komische Anekdoten über sie erzählen, aber dafür bin ich auch solchen Priestern begegnet, über deren heiligen Lebenswandel und über deren hohe Taten ich staunen mußte, und ich sah, daß sie Produkte unserer morgenländischen und nicht solche der abendländischen Kirche waren. Es ist mir also gar nicht eingefallen, einen Hymnus auf unsere Geistlichkeit zu singen, die unsere Kirche schändet, wohl aber auf die Geistlichen, die dazu beitragen, sie zu erhöhen. Wie merkwürdig ist doch meine Lage, daß ich mich gegen Angriffe verteidigen muß, die sich alle gar nicht gegen mich und gegen mein Buch richten! Sie sagen, Sie hätten mein Buch angeblich hundertmal gelesen, während Ihre eigenen Worte davon zeugen, daß Sie es nicht ein einziges Mal gelesen haben. Der Zorn hat Ihre Augen umnebelt und trägt die Schuld, daß Sie nichts in seinem wahren Lichte gesehen haben. Hie und da leuchtet ein Funke von Wahrheit inmitten eines ungeheuren Haufens von Sophismen und unüberlegter jugendlicher schwärmerischer Verirrungen auf. Aber welcher Mangel an Bildung! Wie kann man es wagen, bei so einem geringen Fond von Kenntnissen von so großen Erscheinungen zu sprechen? Sie scheiden die Kirche vom Christentum, dieselbe Kirche und dieselben Priester, die durch ihren Märtyrertod die Wahrheit jedes Wortes, das aus Christi Munde kam, besiegelt haben, von denen Tausende durch das Messer und das Schwert des Mörders umkamen, für den sie beteten, bis sie schließlich ihre Henker ermüdeten, so daß die Sieger den Besiegten zu Füßen fielen und die ganze Welt sich zu ihrer Lehre bekannte. Und diese selben Priester, diese Bischöfe und Märtyrer, die das Heiligtum der Kirche auf ihren Schultern durch alle Fährnisse hindurchgetragen und gerettet haben, wollen Sie von Christus scheiden, indem Sie sie falsche Ausleger der Lehre Christi nennen! Wer kann denn dann heute Ihrer Ansicht nach Christus besser und genauer auslegen? Etwa die heutigen Kommunisten und Sozialisten, die da behaupten, Christus habe geboten, den Menschen ihr Eigentum wegzunehmen und die auszuplündern, die sich ein Vermögen erworben haben? Kommen Sie doch zur Besinnung -- wohin sind Sie geraten? Sie erklären, daß Voltaire dem Christentum einen Dienst geleistet habe, und sagen, das sei jedem Gymnasiasten bekannt. Als ich noch auf dem Gymnasium war, habe ich selbst _damals_ nicht für Voltaire geschwärmt. Ich war schon damals klug genug, um zu sehen, daß Voltaire ein gewandter Witzling, aber keineswegs ein tiefer Mensch war. Für einen Voltaire konnte weder ein Puschkin, noch ein Ssuworow schwärmen, wie überhaupt kein mehr oder weniger umfassender Geist. Voltaire ist trotz aller seiner glänzenden _Aperçus_ immer nur der Franzose geblieben, der davon überzeugt ist, daß man lachend und scherzend von allen hohen Gegenständen sprechen kann. Von ihm kann man sagen, was Puschkin von den Franzosen im allgemeinen gesagt hat: Der Franzos ist ein Kind, Er stürzt geschwind Einen Thron über Nacht, Schafft Gesetz und Macht, Ist schnell -- wie der Blitz Und leer wie der Witz. Er reizt und macht, Daß man staunt und lacht -- -- -- -- -- -- -- Man kann nicht auf Grund einer oberflächlichen journalistischen Bildung über solche Gegenstände urteilen. Dazu muß man die Geschichte der Kirche studiert haben. Dazu muß man die ganze Geschichte der Menschheit verständnisvoll und mit Überlegung aus den Quellen selbst kennen lernen und nicht etwa aus modernen oberflächlichen Broschüren, die Gott weiß wer geschrieben hat. Dieses flache enzyklopädische Wissen zerstreut den Geist nur und konzentriert ihn nicht. Was soll ich Ihnen auf Ihre schroffen Bemerkungen über den russischen Bauern sagen -- Bemerkungen, die Sie mit so viel Selbstvertrauen und Sicherheit vorbringen, als ob Sie Gott weiß wie lange mit den Bauern zu tun gehabt hätten? Was soll ich dazu sagen, wenn doch Tausende von Kirchen und Klöstern, die das russische Land erfüllen und die nicht aus den Mitteln, die von den Reichen gestiftet, sondern aus den armseligen Groschen der Besitzlosen erbaut werden, eine so überzeugende Sprache sprechen! ... Nein, ein Mensch, der sein Leben lang in Petersburg zugebracht hat und es beständig mit leichten Zeitungsaufsätzen französischer Romanschreiber zu tun hat, die sich so in ihre Ideen verrannt haben, und der nicht merkt, in welcher verzerrten Form und wie töricht das Leben bei ihnen dargestellt ist, nein, ein solcher Mensch kann nicht über das Volk urteilen. Gestatten Sie mir auch zu bemerken, daß ich mehr Recht habe, über das russische Volk zu sprechen, _als Sie_. Alle meine Werke zeugen, nach der einstimmigen Überzeugung aller Leute, von einer gründlichen Kenntnis des russischen Wesens; sie sind die Schöpfungen eines Schriftstellers, der das Volk ernsthaft studiert und beobachtet hat und vielleicht schon die Gabe besitzt, sich in seine Lebensgewohnheiten hineinzuversetzen, was auch Sie in Ihren Kritiken zugestanden haben. Was aber wollen _Sie_ zum Beweise Ihrer Kenntnis des russischen Wesens anführen? Was haben Sie geschrieben, woraus eine solche Kenntnis hervorginge? Das ist ein großer Gegenstand, und darüber könnte ich Ihnen ganze Bücher vollschreiben. Sie würden sich schämen, daß Sie den Ratschlägen, die ich einem Gutsbesitzer erteile, solch einen plumpen Sinn untergelegt haben. Diese Ratschläge mögen eine noch so geringe Bedeutung haben, sie enthalten jedenfalls keineswegs einen Protest gegen die Volksbildung ... sondern höchstens einen Protest gegen die Korruption des russischen Volkes durch die Literatur, während doch die Schriftkunde uns gegeben ward, um den Menschen zur höchsten Klarheit zu führen. Überhaupt erinnern Ihre Urteile über die Gutsbesitzer an die Zeiten Von-Wisins. Seit jener Zeit hat sich vieles, sehr vieles in Rußland verändert, und seitdem ist sehr viel Neues entstanden. Daß die Aufsicht und Autorität eines Gutsbesitzers, der die Universität besucht und folglich für vieles ein Gefühl hat, ... weit günstiger und vorteilhafter für die Bauern ist, ... wie es ja auch viele Gegenstände gibt, über die wir rechtzeitig nachdenken sollten, ehe wir mit dem himmelstürmenden Feuer des Jünglings oder Ritters darüber reden ... Überhaupt bemüht man sich bei uns weit mehr um die Änderung der Namen und der Ausdrücke, als um das Wesen der Sache ... Sie sollten sich schämen, in unseren Diminutiven, mit denen wir mitunter sogar unsere Freunde benennen, einen Ausdruck der Knechtung und Unterdrückung zu sehen. Auf solche kindische Folgerungen wird man geführt, wenn man eine falsche Ansicht von den wichtigsten und wesentlichsten Dingen hat. Sodann bin ich auch über das kühne Selbstvertrauen und die Sicherheit erstaunt, mit der Sie erklären: »Ich kenne unsere Gesellschaft und den Geist, der sie beseelt.« Wie kann man für dies sich jeden Augenblick verwandelnde Chamäleon einstehen? Durch welche Tatsachen können Sie beweisen, daß Sie die Gesellschaft kennen? Welche Mittel besitzen Sie dazu? Haben Sie etwa irgendwo in Ihren Werken bewiesen, daß Sie ein tiefer Kenner der menschlichen Seele sind? Sie, der Sie fast nie mit den Menschen und der Welt in Berührung kommen, der Sie das friedliche Leben eines Journalisten führen und stets nur mit Feuilletonartikeln beschäftigt sind, wie sollten Sie einen Begriff von jenem furchtbaren Schreckbilde haben, das uns durch unerwartete Erscheinungen in seine Falle lockt; geraten doch alle jungen Schriftsteller in diese Falle hinein, die über alles in der Welt und die ganze Menschheit reden, während es um uns herum genug Dinge gibt, um die wir uns kümmern sollten. Wir sollten zuerst einmal diese Aufgaben erfüllen, dann würde es der Gesellschaft schon ganz von selbst gut gehen. Wenn wir dagegen unsere Pflichten gegen die uns nahestehenden Menschen vernachlässigen und dem Wohl der Gesellschaft nachjagen, so geraten wir auf Abwege ... ebenso ... Ich bin in der letzten Zeit vielen vortrefflichen Menschen begegnet, die über diese Sache völlig die Orientierung verloren haben. Viele denken, wenn sie sehen, daß die Gesellschaft sich auf einem Abweg befindet und daß die Dinge immer verworrener werden, daß man die Welt durch allerhand Reorganisationen und Reformen oder dadurch, daß man sie in dieser oder jener Weise umgestaltet, verbessern könne. Andere glauben, man könne mit Hilfe einer besonderen, recht mittelmäßigen Literatur, die Sie Belletristik nennen, erzieherisch auf die Gesellschaft wirken. Das sind Träume! Abgesehen davon, daß selbst die gelesensten Bücher daliegen, ohne Nutzen zu bringen ... sind auch die Früchte ... wenn überhaupt welche daraus erwachsen, ganz anderer Art, als der Autor glaubt; vielmehr sind sie häufig so beschaffen, daß er entsetzt vor ihnen zurückweicht ... Die Gesellschaft bildet sich von selbst, sie setzt sich aus Einheiten zusammen. Jede dieser Einheiten muß ihre Pflicht und Schuldigkeit tun ... Der Mensch muß eingedenk sein, daß er nichts weniger als ein Stück Materie, daß er kein Vieh ist, sondern ein hoher Bürger des hohen himmlischen Bürgerreichs, und so lange nicht ein jeder wenigstens zum Teil sein Leben dem Geiste dieses himmlischen Bürgerreichs entsprechend gestalten wird, wird es auch im irdischen Gemeinwesen keine Ordnung geben. Sie sagen, Rußland hätte lange vergeblich gebetet. O nein, Rußland hat im Jahre 1612 gebetet und das Land vor den Polen gerettet; dann hat es 1812 noch einmal gebetet und das Land vor den Franzosen gerettet. Oder nennen Sie das beten, wenn ein Tausendstel aller Menschen betet und alle übrigen vom Morgen bis zum Abend bummeln und zechen ... wenn sie bei jeder Schaustellung dabei sind und ihre letzte Habe verpfänden, um nur allen Komfort zu genießen, den uns die europäische Zivilisation samt all ihren Torheiten beschert hat. Nein, lassen wir diese Träume ... Lassen Sie uns ehrlich unsere Pflicht tun. Wir wollen uns bemühen, unsere Talente nicht in der Erde zu vergraben. Wir wollen unser Handwerk gewissenhaft ausüben. Dann wird alles gut gehen, und die Lage der Gesellschaft wird sich ganz von selbst bessern ... Die Gutsbesitzer werden auf ihre Güter zurückkehren. Die Beamten werden erkennen, daß man kein üppiges, verschwenderisches Leben zu führen braucht, und werden aufhören, Geschenke anzunehmen. Die Ehrgeizigen aber werden sehen, daß eine hohe Stellung weder mit einem hohen Gehalt, noch mit großen Geldeinnahmen verknüpft ist ... weder sie noch ich sind geboren ... Gestatten Sie mir, Sie an Ihre frühere Tätigkeit zu erinnern. Der Literat lebt für die Wahrheit. Er soll der Kunst ehrlich dienen und den Seelen dieser Welt Frieden und nicht Haß und Feindschaft einhauchen. Machen Sie den Anfang und fangen Sie noch einmal an, zu lernen! Studieren Sie die Dichter und Weisheitslehrer, die erzieherisch auf den Geist wirken. Die journalistische Tätigkeit laugt die Seele aus, man entdeckt plötzlich eine innere Leere in sich. Denken Sie daran, daß Sie nur eine oberflächliche Bildung genossen und nicht einmal die Universität beendigt haben. Machen Sie das durch die Lektüre großer Werke und nicht durch Beschäftigung mit modernen Broschüren wieder gut, die aus einem erhitzten Gemüt entspringen, das von der geraden gesunden Ansicht der Dinge ablenkt. V. Fragment aus demselben Brief, das an einer anderen Stelle aufgefunden worden ist Sie haben meine Worte über das Lesen und Schreiben ganz buchstäblich verstanden und ihnen einen zu engen, begrenzten Sinn untergelegt. Diese Worte waren an einen Gutsbesitzer gerichtet, dessen Bauern Landwirte sind. Es kam mir beinahe komisch vor, daß Sie aus diesen Worten den Schluß ziehen konnten, als wollte ich die elementare Volksbildung bekämpfen; als ob jetzt davon die Rede wäre -- wo das doch eine Frage ist, die unsere Väter längst gelöst haben! Unsere Väter und Großväter haben, selbst wenn sie selbst Analphabeten waren, entschieden, daß die Elementarbildung etwas Notwendiges sei. Aber darum handelt es sich ja gar nicht. Der Gedanke, der mein ganzes Buch durchzieht, ist dieser: wie man erst _die_ Menschen aufklären könne, die in nahem Verkehr mit dem Volke stehen, und _dann erst_ das Volk selbst. Alle diese kleinen Beamten und Regierungsvertreter, die alle lesen und schreiben können und sich dabei doch soviel Mißbräuche zuschulden kommen lassen ... Glauben Sie mir, es ist viel notwendiger, daß wir die Bücher, die Ihrer Ansicht nach so nützlich für das Volk sind, für diese Leute herausgeben. Das Volk ist weit weniger verdorben, als diese ganze lese- und schreibkundige Gesellschaft. Dagegen Bücher für diese Leute herauszugeben, Bücher, die ihnen das Geheimnis offenbaren, wie man mit dem Volk und mit den ihnen anvertrauten Untergebenen umgehen muß -- nicht in dem umfassenden Sinne, wie ihn die oft wiederholten Worte ausdrücken: »_Stiehl nicht, sei rechtschaffen und ehrlich_« oder »Denke daran, daß deine Untergebenen ebensolche Menschen sind wie du« -- sondern, die sie belehren, wie man es anfängt, nicht zu stehlen, und daß das Recht wirklich eingehalten werde ... VI. Gogol an W. G. Bjelinski[9] [Fußnote 9: Dieser Brief stellt Gogols Antwort auf Bjelinskis oben mitgeteiltes Schreiben dar. Es ist offenbar ein zweiter Brief, den Gogol an Stelle des oben abgedruckten ersten, später in Stücke gerissenen, geschrieben hat.] Ostende, den 10. August 1847. Ich konnte nicht gleich auf Ihren Brief antworten. Meine Seele ist ganz matt, ich fühle mich in meinem tiefsten Inneren erschüttert. Ich kann wohl sagen, es gibt keine empfindliche Seite in mir, die nicht aufs schwerste getroffen war, noch ehe ich Ihren Brief erhalten hatte. Ich habe Ihren Brief beinahe in einem zustande völliger Gefühllosigkeit gelesen, trotzdem aber war ich nicht imstande, ihn zu beantworten. Und was hätte ich auch antworten sollen! Gott weiß, vielleicht enthalten Ihre Worte wirklich etwas Wahres. Ich will Ihnen nur sagen, daß ich gelegentlich meines Buches ungefähr fünfzig verschiedene Briefe erhalten habe, aber kein einziger gleicht dem anderen, es gibt keine zwei Leute, die dieselbe Ansicht über einen Gegenstand haben: was der eine verwirft, das behauptet der andere. Und doch gibt es auf beiden Seiten gleich edle und gescheite Menschen; die einzige nicht zu bezweifelnde Lehre, die ich aus alledem entnehmen zu können glaubte, war die, daß ich Rußland überhaupt nicht kenne, daß sich sehr vieles verändert hat, seit ich nicht mehr dort war, und daß man heute beinahe alles, was es dort gibt, von neuem kennen lernen muß, und daraus zog ich für meinen Teil folgenden Schluß: daß ich nichts mehr veröffentlichen und vor das Publikum bringen darf; weder lebendige Anschauungen meiner Phantasie, noch selbst zwei Zeilen aus irgendeinem Werk, solange ich nicht in Rußland war, eine Zeitlang dort gelebt und mich mit eigenen Augen von vielem überzeugt und vieles mit eigenen Händen befühlt haben werde. Ich sehe, daß viele, die mich beschuldigt haben, manches nicht zu kennen und manche Seiten des Lebens nicht berücksichtigt zu haben, selbst in vielen Punkten eine große Unkenntnis an den Tag legen und damit beweisen, daß sie selbst viele Seiten des Lebens nicht in Betracht gezogen haben. Nicht alle Klagen sind an unser Ohr gedrungen, und wir haben nicht alle Leiden in ihrer ganzen Schwere ermessen. Mir will es sogar so scheinen, daß nicht jeder von uns die gegenwärtige Zeit versteht, eine Zeit, in der der Geist völliger Disharmonie und Unordnung deutlicher als je zutage tritt. Wie dem auch sein mag, jetzt kommt alles zum Vorschein: jedes Ding will berücksichtigt sein, das Alte und das Neue fordern einander zum Kampfe heraus, und man braucht nur auf der einen Seite in Übertreibungen und Maßlosigkeiten zu verfallen, damit sich auch die andere Seite sofort derselben Übertreibungen und Maßlosigkeiten schuldig macht. Die gegenwärtige Zeit ist das Zeitalter besonnener vernünftiger Überlegung: ohne sich zu erhitzen, wägt sie alles ab und zieht sie alle Seiten der Dinge in Betracht, denn ohne dies ist es unmöglich, die rechte Mitte, das vernünftige Maß der Dinge kennen zu lernen. Sie verlangt von uns, daß wir Umschau halten mit dem vielseitigen Blick des Greises, und daß wir nicht mit dem heißen Draufgängertum der alten Ritter vorgehen. Diesem Zeitalter gegenüber sind wir reine Kinder. Glauben Sie mir, Sie und ich haben beide unsere Pflicht gegen unsere Zeit nicht erfüllt. Ich wenigstens bin mir darüber klar, aber sind auch Sie sich dessen bewußt? Ebenso wie ich die gegenwärtigen Dinge und viele Umstände übersehen habe, die ich hätte berücksichtigen müssen, ebenso haben auch Sie vieles übersehen; wenn ich mich zu sehr in mich selbst zurückgezogen habe, so haben Sie sich zu sehr zerstreut. Wie ich noch vieles kennen lernen muß, was Sie schon wissen und was ich nicht weiß, so müßten Sie wenigstens einen Teil davon kennen lernen, was ich weiß und was Sie zu Unrecht vernachlässigt und übersehen haben. Jetzt aber denken Sie vor allem an Ihre Gesundheit; vergessen Sie die modernen Probleme für eine Weile. Sie werden später mit größerer Frische und also auch mit größerem Nutzen für Sie selbst wie für die Probleme zu diesen zurückkehren. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß Ihnen jener Seelenfriede zuteil werde, der unser höchstes Gut ist, ohne den man nicht wirken und auf keinem Gebiete vernünftig handeln kann. N. Gogol. Nachtrag Band VII und VIII Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden (Die wörtliche Übersetzung des Titels lautet: _Ausgewählte Stellen_ aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden.) Den Plan, eine Auswahl von Stücken aus seinem Briefwechsel herauszugeben, faßte Gogol bereits im Beginn des Jahres 1845; an die Ausführung seiner Idee ging er jedoch erst im April 1846 heran. Ehe er das Manuskript an Pletnjew absandte, unterzog er sämtliche Stücke, die er in Buchform herauszugeben gedachte, einer gründlichen Korrektur und Überarbeitung. Zu allererst wurde das VII. Kapitel: _Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee._ An W. M. Jasykow (Band VII, Seite 55 ff.) für den Druck umgearbeitet, redigiert und dann am 4. Juli 1846 an Pletnjew zur Veröffentlichung in dessen Zeitschrift gesandt. -- Am 30. Juli desselben Jahres erhält Pletnjew von Gogol aus Schwalbach: _Die Vorrede_ (Band VII, Seite 1 ff.) und die ersten sechs Stücke des »Briefwechsels« zugeschickt. Zwischen dem 13. und 24. August folgen aus Ostende weitere sieben Aufsätze (Nr. 8-14, Band VII, Seite 73-149) und am 12. September neuen Stils -- gleichfalls aus Ostende -- nochmals sieben Kapitel (Nr. 15-21, Band VII, Seite 151-253). Am 26. September sendet Gogol Pletnjew aus Ostende ein viertes Heft mit neun Kapiteln (Band VII, Nr. 22-30, Seite 255-367). Am 3. Oktober neuen Stils schickt Gogol aus Frankfurt zwei Korrekturen zu dem Aufsatz: An _einen hochgestellten Mann_ ein (Band VII, Nr. 28, Seite 323). Am 16. Oktober endlich erfolgt von Frankfurt a. M. aus die Absendung der beiden letzten Kapitel und einer Korrektur zum 10. Kapitel: _Über das Lyrische bei unseren Poeten._ An W. A. Schukowski (Band VII, Seite 85 ff.). Die _Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden_ erschien im Dezember des Jahres 1846. Die Unterschrift des Zensors ist vom 18. August 1846 datiert, bezieht sich jedoch wahrscheinlich nur auf das erste Heft; im Oktober ergaben sich Schwierigkeiten bei der Drucklegung: der Zensor wollte den Abdruck einzelner Partien und sogar ganzer Kapitel nicht gestatten; daher mußten fünf Briefe: Nr. 19, 20, 21, 26 und 28 (Band VII, Seite 203, 209, 227, 307 und 323) gänzlich wegfallen. Diese Kapitel, sowie die von der Zensur gestrichenen Partien erschienen später in der »Gesamtausgabe« von Gogols Werken vom Jahre 1867, die von _Tschischow_ veranstaltet wurde. Die von der Zensur beanstandeten Stellen stehen in unserer Ausgabe in eckigen Klammern. Ferner bat Gogol selbst Pletnjew in einem Brief vom 16. Oktober 1846, »die ganze Stelle zu streichen, die von der Bedeutung der monarchischen Gewalt und ihrer weltlichen Erscheinungsform handelt, und durch den Abschnitt auf der letzten Seite des Heftes zu ersetzen«. Die neue veränderte Fassung des Textes beginnt mit den Worten: »Diese Bedeutung des Herrschers wird allmählich auch in Europa ...« (Band VII, Seite 100, Zeile 3 v. o.) und schließt mit dem Satze: »daher nehmen ihre Töne einen biblischen Charakter an« (Band VII, Seite 102, Zeile 3 v. o.). Wir lassen hier die umgearbeitete Stelle folgen, wie sie von Tschischow nach dem Manuskript nachträglich in seiner Gesamtausgabe der Werke Gogols abgedruckt wurde (Band III, Seite 374 bis 376): »Die souveräne Gewalt des Monarchen wird keineswegs an Bedeutung verlieren, sondern in dem Maße, wie die ganze Menschheit an Bildung zunehmen wird, nur noch wachsen. Je mehr jeder Beruf und Stand die ihm gesteckten gesetzlichen Grenzen einhalten wird und die gegenseitigen Beziehungen aller Menschen genauer bestimmt und normiert werden, um so deutlicher wird sich die Notwendigkeit einer höchsten Obergewalt herausstellen, die die ganze Macht der einzelnen Individuen in sich vereinigt und alle höchsten Vorzüge und Tugenden, die den Menschen geradezu Gott ähnlich machen, in Erscheinung treten läßt -- jene höchsten kollektiven Attribute und Eigenschaften, die der einzelne Mensch nicht besitzen kann. Eine ganze Million wie einen Menschen liebgewinnen -- das ist weit schwerer, als nur wenige unter dieser Million lieben; die Leiden aller Menschen so intensiv mitempfinden wie den Schmerz unseres liebsten Freundes und an die Rettung aller Menschen bis auf den letzten denken, wie man wohl auf die Rettung der eigenen Familie hofft, -- das kann nur _der_ in vollem Maße, dem dies zum unerschütterlichen Gebot gemacht ward und der da fühlt, daß er für die Verletzung dieses Gebotes vor Gott ebenso furchtbare Rechenschaft wird ablegen müssen, wie jedes einzelne Individuum für die Verletzung seiner Pflicht in seinem besonderen Wirkungskreis Rechenschaft geben wird. Wenn diese höchste leitende Obergewalt dahinfiele -- so würde der menschliche Geist verarmen. Diese souveräne Herrschergewalt des Monarchen wird heute nur deshalb angezweifelt, weil ihre ganze Bedeutung weder den Herrschern noch den Untertanen aufgegangen ist. Die monarchische Gewalt -- ist eine Torheit, wenn der Monarch nicht fühlt, daß er das Abbild Gottes auf Erden sein soll. Selbst wenn er noch so sehr das Gute will, wird er sich in seinen Handlungen nicht mehr zurechtfinden können, besonders bei der gegenwärtigen Ordnung der Dinge in Europa; sowie er jedoch zur Erkenntnis kommt, daß er die Aufgabe hat, den Menschen ein Abbild Gottes zu sein, wird für ihn alles klar und deutlich werden und wird auch Klarheit in sein Verhältnis zu seinen Untertanen kommen. Dann wird er sich nicht mehr einen Napoleon, einen Friedrich, einen Peter, eine Katharina oder einen Ludwig zum Muster nehmen, wie überhaupt keinen von den Fürsten, denen die Welt den Namen des Großen beilegt, und deren Bestimmung es war, infolge der zeitlichen Verhältnisse und Umstände außer der königlichen Würde auch noch die Rolle eines Feldherrn, Neugestalters oder Reformators auf sich zu nehmen, kurz nur eine einzelne Seite glanzvoll in sich zu verkörpern, was die unbedeutenderen Nachahmer irreleitet und so viele Fürsten in Versuchung führt. Er wird sich vielmehr die Handlungen Gottes selbst zum Vorbild nehmen, die aus der Geschichte der Menschheit so vernehmbar zu uns reden und die noch deutlicher in der Geschichte _des_ Volkes in Erscheinung treten, das Gott dazu auserwählt hatte, von Ihm Selbst regiert zu werden, um den Königen zu zeigen, wie regiert werden muß. Und wie wahrhaft göttlich hat Er regiert! Wie verstand Er es, Sein Volk mehr denn alle anderen Völker zu lieben! Mit welch väterlicher Liebe lehrte und unterwies Er es und mit welch himmlischer Geduld wartete Er auf seine Wandlung und Besserung. Wie ungern erhob Er Seine strafende Geißel wider Sein Volk! Wie beeilte Er Sich Selbst _dann_ noch nicht, als die Gottlosigkeit und die Sünden des Volkes zum Himmel schrien, es zu strafen, sondern sprach: >Ich will Selbst zur Erde hinabsteigen und zusehen, ob das Unrecht und die Sündhaftigkeit wirklich so groß sind!< Und wer war es, der so sprach? Der Allwissende, für alles Sorgende, der die Könige dieser Erde zur Vorsicht und Behutsamkeit mahnt! Wie Er ja auch Seine Strafen nicht deshalb verhängte, um den Menschen zu vernichten, den zu vernichten ja gar nicht schwer ist, sondern um ihn zu erretten, weil es _sehr_ schwer ist, ihn zu erretten, und um seine gefühllose Natur durch eine starke Erschütterung und ein Weckmittel aufzurütteln, ihm die ganzen Schrecken des Zieles, dem er in seiner Unwissenheit zustrebt, vor Augen zu führen und ihn dadurch zu mahnen, daß es noch Zeit wäre, an seine Rettung zu denken! Wie Er ja auch, da Er die unbestechliche sieghafte Macht Seiner unüberwindlichen Wahrheit und Gerechtigkeit kannte, alles tat, auf daß der schwache und ohnmächtige Mensch ihr nicht unterliege: sandte Er ihm doch Seine Propheten, daß sie erfüllt von Liebe zu ihren Brüdern und, nachdem sie eine Sprache gefunden, die den Menschen verständlich war, sie zur Besinnung brächten; Er, der sich entschloß, da Er endlich sah, daß alles vergeblich war, daß nichts sie zur Vernunft bringen könne und daß es kein Mittel gäbe, die Menschen Seiner unabwendlichen Gerechtigkeit zu entziehen, Sich Selbst für alle zum Opfer zu bringen, um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit zu besiegen und den Menschen zu beweisen, daß eine solche Liebe höher ist, denn alles, was es gibt, daß sie an sich selbst die höchste himmlische Gerechtigkeit ist! Alles ward von Gott gesagt für den, der vor den Menschen in sich selbst Sein Abbild zur Darstellung bringen will, hat Er ihn doch gelehrt, wie er handeln soll. Um aber die Könige zu unterweisen, wie sie sich gegen Ihn Selbst, den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren, verhalten sollen, schenkte Er ihnen die Vorbilder der von Ihm Selbst gesalbten Könige David und Salomo, die mit ihrem ganzen Sein in Gott lebten, wie in ihrem eigenen Hause und die in ihrem Königstume das weise Zusammenwirken zweier Mächte -- der geistlichen und weltlichen -- verkörperten, und zwar in der Weise, daß nicht bloß keine von beiden die andere störte und hemmte, sondern daß sie sich gegenseitig noch stärkten und befestigten. So enthält das heilige Buch Gottes eine vollkommene Definition des Monarchen, dieses völlig von uns isolierten Wesens, dem auf Erden eine so schwere Aufgabe zuteil ward: nachdem er alles vollbracht, was jedes Menschen Aufgabe ist, und Christus in seinem ganzen Tun und Handeln bis in die kleinsten Einzelheiten seines Alltagslebens gleichgeworden ist, zu alledem auch noch in den erhabensten Äußerungen seiner Tätigkeit gegenüber allen Menschen Gott Vater gleich zu werden. In diesem Buche ist eine vollkommene Definition des Monarchen enthalten, die man nirgends sonst findet. Auf diese Definition ist noch keiner der europäischen Rechtsgelehrten gekommen, bei uns aber haben die Dichter etwas von ihr geahnt und vernommen, daher nehmen ihre Töne auch einen biblischen Charakter an.« Der ursprüngliche Text der Aufsätze und Privatbriefe Gogols an seine Freunde, die in dem »Briefwechsel« Aufnahme fanden und erst nach einer durchgreifenden Reinigung und Umarbeitung zur Veröffentlichung an Pletnjew gesandt wurden, stammt aus den verschiedensten Zeiten der Periode von 1843-1846, und zwar ist die Zahl der Stücke um so geringer, je mehr wir uns der ersten Hälfte des Jahres 1843 nähern. Von den Briefen dieser Epoche hat Gogol nur sehr wenige der Aufnahme in die Ausgewählten Stellen aus seinem Briefwechsel für würdig erachtet. Aus dem Jahre 1843 stammen die ersten Entwürfe folgender Artikel: 1) _Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen_ (Band VII, Nr. 5, Seite 43) und 2) _Die drei ersten Briefe über die Toten Seelen_ (Band VII, Nr. 18, Seite 175). Aus dem Jahre 1844 stammen folgende Aufsätze und Briefe: 1) _Diskussionen._ Aus einem Briefe an L***. (Band VII, Nr. 11, Seite 111.) 2) _Liebt unser russisches Vaterland._ Aus einem Briefe an den Grafen A. T. (Band VII, Nr. 19, Seite 203.) Dieses Stück stammt aus der zweiten Hälfte des Jahres 1844. 3) _Etwas über die Bedeutung des Worts._ (Band VII, Nr. 4, Seite 35.) Diese Betrachtung ist wahrscheinlich Ende Oktober des Jahres 1844 niedergeschrieben. 4) _Wie man den Armen helfen soll._ Aus einem Briefe an A. O. Sm--rn--wa. (Band VII, Nr. 6, Seite 49.) Ist gegen Ende des Jahres 1844 niedergeschrieben. 5) _Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit._ Zwei Briefe an N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 15, Seite 151.) Der erste Brief ist vom 2. Dezember, der zweite vom 26. Dezember 1844 datiert. 6) _An einen kurzsichtigen Freund._ (Band VII, Nr. 27, Seite 317.) Aus dem Jahre 1845 stammt der erste Entwurf folgender Stücke: 1) _Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee._ An N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 7, Seite 55.) Ein Brief, der zu Beginn des Jahres geschrieben ist. 2) _An einen hochgestellten Mann._ (Band VII, Nr. 28, Seite 323.) Die Idee zu diesem Schreiben rührt vom Ende des Jahres 1844 her. Niedergeschrieben wurde es im Februar und März des Jahres 1845. 3) _Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das Theater und von der Einseitigkeit überhaupt._ An den Grafen A. P. T... (Band VII, Nr. 14, Seite 129) -- ist im März und April 1845 niedergeschrieben. 4) _Lernt Rußland kennen._ Aus einem Briefe an den Grafen P. T. (Band VII, Nr. 20, Seite 209) -- stammt aus derselben Zeit (oder vom Ende des Jahres 1845?). 5) _Mein Testament_ (Band VII, Nr. 1, Seite 9) stammt aus dem Juli(?) 1845. 6) _Über ländliche Pflege und Gerichtsbarkeit_ (Band VII, Nr. 25, Seite 301). 7) _Wessen Los auf Erden das beste ist._ Aus einem Briefe an U. (Band VII, Nr. 29, Seite 359.) Mehr als die Hälfte der Briefe, die in die »Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden« aufgenommen wurden, stammen aus dem Jahre 1846. In einem Brief aus diesem Jahre schreibt Gogol an Schewyrjow: »Während dieser schweren Zeit der Krankheit, zu der sich auch noch schwere seelische Leiden gesellt haben, war ich genötigt, einen so regen Briefwechsel zu unterhalten, wie ich ihn bisher noch nie geführt habe. Und wie mit Absicht war dies beinahe für alle, die meinem Herzen nahestehen, eine Zeit voll innerer Erlebnisse und Erschütterungen. Sie alle wandten sich, wie von einem dunklen Instinkt getrieben, an mich und verlangten Rat und Hilfe von mir« (vgl. Band VII, Seite 163 ff.). »Während der letzten Zeit«, fährt Gogol fort, »kam es sogar vor, daß ich Briefe von Menschen erhielt, die mir fast gänzlich unbekannt waren, und daß ich ihnen Ratschläge erteilen konnte, die ich früher nie hätte erteilen können.« Am meisten von Krankheit gequält war Gogol in den ersten zwei Monaten des Jahres 1846; dies war auch sonst eine sehr schwere Zeit für ihn. Gogol arbeitete während dieser Monate intensiv an der »Auswahl aus dem Briefwechsel«. »Gleichzeitig brauchte er eine Kur, machte er Reisen, war er von schweren Sorgen gequält und mußte sich um Dinge kümmern, von deren Schwierigkeit seine Freunde keine Ahnung hatten.« Zugleich aber mußte er zahlreiche, sehr verschieden geartete Briefe erwidern, die nicht in leichtfertiger, sondern in wohlüberlegter Weise beantwortet sein wollten. Höchstwahrscheinlich erfolgte die Antwort auf einzelne Briefe vor der Öffentlichkeit, d. h. in der »Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden«, und es wäre vergeblich, nach dem ursprünglichen Text der Briefe, die unmittelbar an die Fragesteller gerichtet waren, zu forschen. »Auf Ihren langen Brief«, schreibt Gogol im Jahre 1846 an die Gräfin ***, »... antworte ich ... nicht nur keineswegs in aller Heimlichkeit, sondern wie Sie sehen, _in einem gedruckten Buche_, das vielleicht von der Hälfte aller Menschen in Rußland, die da lesen können, gelesen werden wird« (vgl. Band VII, Seite 309 ff.). Die an Schewyrjow gerichteten Briefe aus der »Auswahl« waren unter den Papieren Schewyrjows nicht zu finden, wahrscheinlich hat er sie auch erst gelesen, als sie bereits gedruckt in Buchform vorlagen. Es ist daher heute noch für den größten Teil der Briefe vom Jahre 1846, die in der »Auswahl« enthalten sind, kaum möglich, die chronologische Reihenfolge genau festzustellen, ebensowenig wie sich zurzeit die Frage beantworten läßt, ob _schriftliche_ Antworten auf die an Gogol gerichteten Fragen vorliegen. In den Papieren Schewyrjows wurde nicht ein Brief Gogols aus dem Jahre 1846 gefunden, der in die Auswahl aus dem Briefwechsel usw. aufgenommen wurde. Aus dem Jahre 1846 stammen folgende Briefe und Aufsätze der »Auswahl«: 1) _Über das Lyrische bei unseren Poeten._ An W. A. Schukowski. (Band VII, Nr. 10, Seite 85.) Dieses Stück wurde 1845 niedergeschrieben und 1846 nochmals umgearbeitet. 2) _Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags und bei den heutigen Zuständen in Rußland sein kann._ (Band VII, Nr. 24, Seite 291.) Dieses Stück stammt etwa aus dem September dieses Jahres und scheint unmittelbar für den Druck bestimmt gewesen zu sein. 3) _Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit._ Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T. (Band VII, Nr. 8, Seite 73) und 4) _Über denselben Gegenstand._ Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T. (Band VII, Nr. 9, Seite 79.) 3 und 4 stammen aus der ersten Hälfte des Jahres 1846. 5) _Der Historienmaler Iwanow._ An M. Ju. Weligurski. (Band VII, Nr. 23, Seite 271.) Dieser Brief, der im Februar oder März dieses Jahres an den Grafen W. abgesandt wurde, wurde nachträglich, d. h. im August oder September, nochmals für den Druck umgearbeitet. 7) _Karamsin._ Aus einem Briefe an N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 13, Seite 123.) Der erste Entwurf dieses Briefes ist am 5. Mai 1846 niedergeschrieben. 8) _Über die Aufklärung._ An W. A. Schukowski. (Band VII, Nr. 17, Seite 167.) Stammt aus dem Juni und Juli dieses Jahres. 9) _Was eine Gouverneursgattin ist._ An Fr. A. O. S. (Band VII, Nr. 21, Seite 227.) Der erste Entwurf dieses Briefes stammt aus der zweiten Juli-Hälfte des Jahres 1845, er wurde am 4. Juli 1846 in neuer verbesserter Fassung an Frau A. O. Smirnowa gesandt und endlich im September 1846 und 1847 für die Drucklegung nochmals umgearbeitet. 10) _Rußlands Schrecken und Grauen._ An die Gräfin *** (Band VII, Nr. 26, Seite 307) ist zu Beginn des August 1846 niedergeschrieben. 11) _Wesen und Eigenart der russischen Poesie._ (Band VII, Nr. 31, Seite 369.) Dieser Aufsatz wurde »während dreier Epochen« geschrieben, er ist 1836 oder 1843 (?) begonnen und im September 1846 für die Drucklegung vollendet. 12) _Die Frau in der vornehmen Welt._ An Frau ***. (Band VII, Nr. 2, Seite 21.) 13) _Der Christ schreitet vorwärts._ An Schtsch--w. (Band VII, Nr. 12, Seite 117.) 14) _Ratschläge._ An S. P. Schewyrew. (Band VII, Nr. 16, Seite 161.) 15) _Der vierte Brief über die Toten Seelen._ (Band VII, Nr. 18, IV, Seite 199.) 16) _Der russische Gutsbesitzer._ An B. N. B. (Band VII, Nr. 22, Seite 255.) Die Originalmanuskripte der letzten fünf Briefe sind unbekannt. Wahrscheinlich sind diese Stücke gleich für die »Auswahl« geschrieben. Der erste Brief wurde am 30. Juli druckfertig abgesandt, der zweite am 13. (25.) August, der dritte und vierte am 12. September neuen Stils, der fünfte am 26. September. Die _Vorrede_ (Band VII, Seite 1 ff.) zur »Auswahl« stammt aus dem August des Jahres 1846. Der Aufsatz: _Auferstehungstag_ (Band VII, Nr. 32, Seite 447) trägt kein Datum. * * * * * Der Brief an _Arkadius Ossipowitsch Rosetti_ (Band VIII, Nr. 1, Seite 1) ist in Neapel geschrieben und wurde am 15. April 1847 abgesandt. _Über den »Zeitgenossen«_; (Sowremennik); (Band VIII, Nr. 2, Seite 11), ein Brief an P. A. Pletnjew, ist vom 4. Dezember 1846 datiert. _Die Beichte des Dichters_ (Band VIII, Nr. 3, Seite 33) ist im Mai 1847 begonnen und noch in demselben Jahre vollendet. Der Brief an _W. A. Schukowski_ (Band VIII, Nr. 4, Seite 101) wurde am 10. Januar 1848 (den 29. Dezember 1847) aus Neapel an Schukowski gesandt. _Die Betrachtungen über die Heilige Liturgie_ (Band VIII, Nr. 5, Seite 115 ff.) wurden im Januar und Februar des Jahres 1845 in Paris konzipiert und in der ersten Fassung noch vor der Abreise nach Jerusalem (d. h. vor dem Januar 1848) vollendet. Nachträglich wurden sie noch bis zum Jahre 1852 mehrfach umgearbeitet[10]. _Hans Küchelgarten._ Dieses Jugendwerk Gogols wurde wahrscheinlich bereits während seiner Schulzeit konzipiert und begonnen. Bald nach Gogols Ankunft in St. Petersburg (1828) ließ er das Werk unter dem Pseudonym _W. Alow_ drucken und gab es den Buchhändlern in Kommission. Es wurde teils gar nicht beachtet teils wie z. B. von Polewoi offenkundig abgelehnt. [Fußnote 10: 1911 ist eine deutsche Übersetzung von K. von Mickwitz in Rendsburg (Heinrich Möller Söhne) erschienen, die dem Herausgeber bei der vorliegenden Ausgabe, besonders für die Ermittlung der Bibelzitate, wertvolle Dienste geleistet hat. Die bibliographischen Anmerkungen und Lesarten zu den bisher aufgeführten Schriften sind der Ausgabe von Tichonrawow und Schenrock entnommen.] _Beilage I-IV. Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski._ (Band VIII, Seite 369.) Dieser Briefwechsel mit dem berühmten russischen Kritiker Wissarion Bjelinski bildet eine wichtige Ergänzung zu der »Auswahl«, da er ein helles Licht auf die Stimmung wirft, aus der dieses Werk entsprungen ist, und weil er geeignet ist, Gogols Ziele und Absichten, die er mit dem Buche verfolgte, schärfer zu beleuchten und ein Bild von der Wirkung zu geben, die der Briefwechsel auf die Zeitgenossen ausübte. Die »Auswahl aus dem Briefwechsel« bezeichnet einen Wendepunkt in Gogols Leben, das von diesem Augenblick an mit unheimlicher Schnelligkeit der Katastrophe zutreibt. Bald nach dem Erscheinen des ersten Bandes der »Toten Seelen« setzt jene innere Krise ein, die so verhängnisvoll für Gogols Schaffen und sein persönliches Schicksal werden sollte. Der Zweifel an dem Zweck und Sinn des Dichterberufs, insbesondere an der Berechtigung seines eigenen dichterischen Stils steigert sich allmählich bis zu einer selbstquälerischen Melancholie, die das ganze menschliche Tun einseitig in den Blickpunkt der religiösen Zielsetzung einstellte. Der religiös-sittliche Zweck allein darf Inhalt und Wesensart der dichterischen Produktion bestimmen. Damit nimmt Gogols Schaffen immer mehr jenen didaktischen Charakter an, wie er so deutlich in dem Briefwerke zum Ausdruck kommt. Das Entwerfen von Mustern sittlicher Größe und Schönheit, Belehrung und Erziehung werden nun zu den höchsten Aufgaben des Dichters. Zugleich aber drängt sich immer kräftiger jener rückwärtsgewandte Zug zu einer passiven, heteronomen sittlichen Lebensauffassung vor, die in der demütigen Unterwerfung unter die gottgewollten Bindungen, in ihrer fügsamen Hinnahme den Sieg der Tugend und damit die Selbsterlösung aus der Wirrnis und den Unzulänglichkeiten der menschlichen Zustände erblickt. Diese Geistesstimmung konnte den »Briefwechsel« zu dem Grundbuch des rückständigen Rußland machen, zu dem Arsenal aller reaktionären Ideologien, die auf alle folgenden Generationen, so z. B. noch auf Dostojewski, bis in die neuere und neueste Epoche fortwirkten. Gegen diese Tendenzen richtete sich schon zu Gogols Zeit der stürmische Protest der europäisch gesinnten russischen Jugend, wie er aus dem von wundervoller Leidenschaft durchpulsten Brief Bjelinskis zu uns spricht. Dieser Brief wird sicherlich Gogol nicht gerecht. In seinem prachtvollen Empörungsausbruch übersieht Bjelinski die radikalen Konsequenzen, die sich aus Gogols Standpunkt ergeben und für die der Zensor ein feineres Verständnis zeigte, als er nicht unbeträchtliche Teile aus dem »Briefwechsel« herausstrich, ebenso wie Bjelinski die tiefen inneren sittlichen Probleme des menschlichen und künstlerischen Gewissens verkennt, die in diesem Werk ihren Ausdruck finden. Und doch liegt in dieser Ungerechtigkeit zugleich eine höhere geschichtliche Gerechtigkeit. In einer von freudigen Hoffnungen kommender großer Ereignisse erfüllten Zeit, die schon den großen Frühlingssturm des Jahres 1848 vorausahnte und sich auf ihn rüstete, mußte Gogols Predigt als ein Produkt dunkelster Reaktion, als das Werk eines finsteren rückwärtsdrängenden Geistes erscheinen. Die Empörung über das Buch war allgemein, nicht allein bei den sogenannten Westlingen und den radikalen Slawophilen, sondern selbst bei Gogols nächsten Freunden, die über den hochmütigen lehrhaften Ton, den Gogol hier angeschlagen hatte, ungehalten waren. 1847 veröffentlichte Bjelinski im zweiten Heft des »Sowremjennik« (Zeitgenossen) eine außerordentlich ungünstige Kritik, die sich zwar aus Zensurrücksichten eines maßvollen Tones befleißigte, aber Gogol, der bisher in Bjelinskis Kritiken nur begeisterter Zustimmung begegnet war, aufs tiefste verletzte. Da er sich den Grund zu Bjelinskis ablehnendem Urteil nicht erklären konnte, war er geneigt, ihn auf persönliche Motive zurückzuführen, wie dies aus Gogols durch die Rezension hervorgerufenem Schreiben an Bjelinski deutlich hervorgeht. Bjelinski befand sich um diese Zeit auf Veranlassung seiner Freunde in Salzbrunn, wo er eine Kur gegen die Schwindsucht brauchte. An einem Julitag des Jahres 1847 setzte er sich hin und verfaßte jenen berühmten Brief (Band VIII, Seite 361), der eine so große Rolle in dem geistigen Freiheitskampf Rußlands gespielt hat. Dieser Brief ist das Manifest des revolutionären Rußland geworden. Zwei weltgeschichtliche Gegensätze stoßen hier in heftigem Zusammenprall aufeinander. Europäertum und konservatives Altrussentum halten hier ihre große Abrechnung. Licht, Sonne, Heiterkeit, Klarheit, freie Selbstbestimmung auf der einen, Dumpfheit, Enge, Gebundenheit, Autorität auf der anderen Seite sind die Losungen, um die in diesem Briefwechsel gekämpft wird. Und es unterliegt keinem Zweifel, auf wessen Seite der Sieg sich neigt. Die Wirkung des Briefes war unbeschreiblich. In tausend Abschriften wanderte er von Hand zu Hand, und bald gab es in den entlegensten Provinzen, wie Asksakow schreibt, keinen Schullehrer, der den Brief nicht auswendig kannte. In allen oppositionellen Konventikeln wurde er mit Begeisterung gelesen und heimlich weiterverbreitet. Bloß der Tod (Bjelinski starb am 28. Mai 1848) rettete den Autor vor der Rache des Despotismus. Mußten doch zahlreiche junge Leute, darunter auch Dostojewski, wegen dieses Schreibens nach Sibirien wandern, lediglich weil sie der Polizei nicht von dessen Existenz Mitteilung gemacht hatten. So kämpfte in diesem Brief der Geist des verstorbenen Bjelinski noch nach seinem Tode tapfer weiter fort, wenn auch zunächst noch mit geschlossenem Visier. Lange war der Brief in Rußland gänzlich verboten. Alexander Herzen veröffentlichte ihn zum erstenmal in seinem in London erscheinenden »Polarstern«. Danach wurde er im Auslande und endlich 1872 auch in Rußland auszugsweise unter Weglassung der schärfsten Stellen nachgedruckt. Der vollständige Abdruck im Jahre 1906 in der Bibliothek Swetotsch (Die Fackel) durch Wengerow bezeichnet einen neuen Abschnitt in der Geschichte des Briefes und zugleich eine neue Epoche in der russischen Revolution. Chronologische Tabelle der Werke Gogols Die Zahl des Bandes, in dem die einzelnen Schriften erschienen sind, steht in eckigen Klammern hinter der Jahreszahl. Hans Küchelgarten (um 1828) [VIII] Abende auf dem Gutshof bei Dikanka I. Teil 1831 [III] Abende auf dem Gutshof bei Dikanka II. Teil 1832 [III] Arabesken 1834 [VI] Mirgorod, Teil I und II 1834 [IV] Über die Strömungen der Zeitschriftenliteratur 1835 [VI] der Jahre 1834-1835 Der Revisor 1836 [V] Die Equipage 1836 [IV] Die Nase 1836 [II] Petersburger Skizzen 1837 [VI] Italienische Sommernächte 1839 [VI] Szenen aus einer unvollendeten Komödie -- Der 1832-1842 [V] Morgen eines vielbeschäftigten Herrn -- Der Prozeß -- Das Vorzimmer -- Fragment Eine Heiratsgeschichte 1833-1842 [V] Die Toten Seelen, I. Teil 1835-1842 [I] Die Spieler 1836-1842 [V] Nach dem Theater 1836-1842 [V] Das Porträt 1837-1842 [II] Der Mantel 1839-1842 [II] Rom 1839-1842 [VI] Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden 1846 [VII u. VIII] Die Beichte des Dichters 1846 [VIII] Betrachtungen über die Heilige Liturgie 1845-1848 [VIII] Brief an Schukowski 1848 [VIII] Die Toten Seelen, II. Teil 1845-1852 [II] Inhalt des siebenten Bandes Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden I Seite Vorrede 1 I Mein Testament 9 II Die Frau in der vornehmen Welt 21 III Die Bestimmung der Krankheiten 30 IV Etwas über die Bedeutung des Wortes 35 V Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen 43 VI Wie man den Armen helfen soll 49 VII Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee 55 VIII Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit 73 IX Über denselben Gegenstand 79 X Über das Lyrische bei unseren Poeten 85 XI Diskussionen 111 XII Der Christ schreitet vorwärts 117 XIII Karamsin 123 XIV Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das 129 Theater und von der Einseitigkeit überhaupt XV Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit 151 XVI Ratschläge 161 XVII Über die Aufklärung 167 XVIII Vier Briefe an verschiedene Personen über die »Toten 175 Seelen« XIX Liebt unser russisches Vaterland 203 XX Lernt Rußland kennen! 209 XXI Was eine Gouverneursgattin ist 227 XXII Der russische Gutsbesitzer 255 XXIII Der Historienmaler Iwanow 271 XXIV Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags 291 und bei den heutigen Zuständen in Rußland sein kann XXV Über ländliche Rechtspflege und Gerichtsbarkeit 301 XXVI Rußlands Schrecken und Grauen 307 XXVII An einen kurzsichtigen Freund 317 XXVIII In einen hochgestellten Mann 323 XXIX Wessen Los auf Erden das beste ist 359 XXX Ein Geleitspruch 363 XXXI Wesen und Eigenart der russischen Poesie 369 XXXII Auferstehungstag 447 Inhalt des achten Bandes Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden II Seite An Arkadius Ossipowitsch Rosetti 1 Über den »Zeitgenossen« (Sowremjennik) 11 Die Beichte des Dichters 33 An W. A. Schukowski 101 Betrachtungen über die Heilige Liturgie 115 Einleitung 121 Das Offertorium (_Proscomidia_) 125 Die Liturgie der Katechumenen 145 Die Liturgie der Gläubigen 169 Schluß 217 Jugendschriften 223 1834 225 Über eine Geschichte der kleinrussischen Kosaken 231 Zwei Kapitel aus der kleinrussischen Erzählung »Der 235 schreckliche Eber« I Der Lehrer 237 II Der Erfolg der Gesandtschaft 251 Das Weib 263 Fragmente Gedichte und poetische Versuche 275 Sturm 277 Albumblatt 279 Hans Küchelgarten 283 Beilage: Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski I Gogol an Bjelinski 349 II Aus einem Briefe Gogols an N. I. Prokopowitsch 355 III Bjelinskis Brief an Gogol 361 IV Gogol an Bjelinski 381 V Fragment aus demselben Brief, das an einer anderen Stelle 395 aufgefunden worden ist VI Gogol an W. S. Bjelinski 399 Nachtrag 405 Berichtigungen Zu Band V, Seite 479, Zeile 5 von unten: Prozeß. Das Bedientenzimmer usw. statt _Bedientenzimmer_ lies _Vorzimmer_ (Die Bedientenstube). Seite 480, Zeile 2 von unten statt _Die Bedientenstube_ lies _Das Vorzimmer_ (Die Bedientenstube). Zu Band VI, Seite 538, Zeile 6 statt 1835 lies 1836. Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt Anmerkungen zur Transkription Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht verändert. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt, teilweise unter Verwendung der russischen Originaltexte (vorher/nachher): ... Deutsch von Ullrich Steindorf ... ... Deutsch von Ulrich Steindorff ... [S. 1]: ... An Arkadius Ossipowitsch Rossetti ... ... An Arkadius Ossipowitsch Rosetti ... [S. 13]: ... auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«. Wir ... ... auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«? Wir ... [S. 15]: ... ließ. Mein hartnäckiges Zureden und mein Verspechen, ... ... ließ. Mein hartnäckiges Zureden und mein Versprechen, ... [S. 37]: ... sowie ferner mit dem Unterschied, das sich dies alles in ... ... sowie ferner mit dem Unterschied, daß sich dies alles in ... [S. 64]: ... würden, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und ... ... würde, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und ... [S. 101]: ... An W. A. Schukkowski ... ... An W. A. Schukowski ... [S. 156]: ... Nachdem die Lobhymmen beendigt sind, beginnen die ... ... Nachdem die Lobhymnen beendigt sind, beginnen die ... [S. 159]: ... ausdrucksvoll, so daß jedes Wort einem jeden vernehmich ... ... ausdrucksvoll, so daß jedes Wort einem jeden vernehmlich ... [S. 179]: ... alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen Bewußsein ... ... alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen Bewußtsein ... [S. 183]: ... an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels ... ... an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels ... [S. 184]: ... dem heiligen Hochalter, der den heiligen Abendmahlstisch ... ... dem heiligen Hochaltar, der den heiligen Abendmahlstisch ... [S. 372]: ... behaupten nnd es als eine große Wahrheit hinstellen, ... ... behaupten und es als eine große Wahrheit hinstellen, ... [S. 378]: ... Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit und getan, ... ... Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit getan und, ... [S. 411]: ... um um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit ... ... um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit ... [S. 417]: ... Über den »Zeitgenossen«; (Sowremjennik); ... ... Über den »Zeitgenossen«; (Sowremennik); ... [S. 427]: ... Das Offertorium (Prosconidia) | 125 ... ... Das Offertorium (Proscomidia) | 125 ... End of the Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans Küchelgarten, by Nikolaj Gogol *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 8: *** ***** This file should be named 56475-8.txt or 56475-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/6/4/7/56475/ Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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The Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans Küchelgarten, by Nikolaj Gogol This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans Küchelgarten Briefwechsel II / Die Beichte des Dichters / Betrachtungen über die Heilige Liturgie / Jugendschriften / Fragmente / Hans Küchelgarten Author: Nikolaj Gogol Editor: Otto Buek Translator: Ullrich Steindorf Release Date: January 31, 2018 [EBook #56475] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 8: *** Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library Nikolaus Gogol Briefwechsel II Nikolaus Gogol Sämmtliche Werke In 8 Bänden Herausgegeben von Otto Buek Band 8 München und Leipzig bei Georg Müller 1914 Nikolaus Gogol Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden Zweiter Teil Hans Küchelgarten Deutsch von Ulrich Steindorff München und Leipzig bei Georg Müller 1914 An Arkadius Ossipowitsch Rosetti Neapel, im Jahre 1847. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für Ihren Brief und die zahlreichen Mitteilungen danken soll, die er enthält, liebster, bester Arkadij Ossipowitsch. Wenn ich häufiger das Glück hätte, solche Briefe zu erhalten, selbst wenn sie nicht von solch herzlicher Teilnahme und Liebe zu mir erfüllt wären, müßte ich schon längst viel klüger sein, als ich es jetzt bin. Aber was soll ich tun, wenn es mir durchaus nicht gelingen will, jemand in irgendeiner Weise davon zu überzeugen, daß ich wissen muß, was man über mich spricht, daß das die einzige Gelegenheit für mich ist, etwas zu lernen, kurz, daß es einen Menschen gibt, dem man die Wahrheit sagen muß, so hart und bitter sie auch sein mag, und für den selbst die harten und rohen Worte, wie sie nur dem Haß und der Lieblosigkeit entspringen, ein Bedürfnis sind? So war denn auch einer der Gründe, der mich dazu bestimmte, meine Briefe herauszugeben -- das Bedürfnis, zu lernen, und nicht etwa das -- andere zu belehren. Da man jedoch einen Russen nicht anders zum Reden veranlassen kann, als dadurch, daß man ihn erzürnt und ungeduldig macht, so habe ich beinahe mit Vorbedacht eine Reihe von Stellen in den Briefwechsel aufgenommen, die die Menschen durch ihren arroganten Ton verletzen und an ihrer empfindlichsten Stelle treffen mußten. Ich kann Ihnen allen Ernstes versichern: ich leide außerordentlich darunter, daß ich sehr viele Dinge nicht kenne, die ich unter allen Umständen kennen müßte; ich leide darunter, daß ich eigentlich gar nicht weiß, was heutzutage die Menschen aller Berufsarten, Ämter und aller Bildungsstufen in Rußland darstellen. Alles, was ich hierüber bisher unter einem ungeheuren Aufwand von Mühe ermitteln konnte, ist nicht ausreichend, wenn meine »Toten Seelen« das werden sollen, was sie eigentlich sein sollten. Das ist der Grund, weswegen ich so sehr danach dürste, zu erfahren, was die Menschen aller Klassen mit Einschluß der Bedienten und Lakaien über mein gegenwärtiges Buch sagen -- nicht eigentlich im Interesse meines Buches selbst, sondern weil sich der Beurteiler mit seinem Urteil über das Werk am besten charakterisiert. Aus einem solchen Urteil kann ich sofort entnehmen, was er selbst für ein Mensch ist, auf welchem Niveau geistiger Bildung er steht, wie es in seiner Seele aussieht, ob er von Natur ein schlichter und gütiger Mensch oder unwissend und korrumpiert ist. Mein Buch kann mir in gewisser Beziehung als Probierstein dienen, und glauben Sie mir, daß Sie es sich heutzutage an keinem anderen Buche so deutlich zum Bewußtsein bringen können, wie an diesem, was der Russe von heute für ein Mensch ist. Ich kann es nicht leugnen, ich hoffte auf einzelne Leute, die an gewissen Gebrechen leiden, einen wohltätigen Einfluß auszuüben, ich hatte erwartet, daß sich mehr Stimmen zu meinen Gunsten äußern würden, als das wirklich der Fall war, und es war bitter, ja sogar sehr bitter für mich, vieles mitanhören zu müssen. Aber wie danke ich Gott heute dafür, daß es gerade so und nicht anders gekommen ist! Ich sehe mich jetzt unwillkürlich genötigt, viel strenger gegen mich zu sein, ich habe jetzt die Möglichkeit, auch die Menschen weit besser und genauer kennen zu lernen, und bin endlich in der Lage, mir eine richtigere Ansicht von ihnen zu bilden. Was aber den Umstand betrifft, daß meine Persönlichkeit hierbei Schaden gelitten hat (ich muß es Ihnen gestehen; ich brenne noch heute vor Scham, wenn ich daran denke, wie anmaßend ich mich an vielen Stellen ausgedrückt habe: fast à la Chlestakow), so muß man doch immer Opfer bringen. Ich brauchte eine solche öffentliche Ohrfeige, ja ich hatte sie vielleicht nötiger als irgendein anderer. Aber es kommt darauf an, die Gelegenheit zu ergreifen und aus den Umständen Nutzen zu ziehen: Gott hat plötzlich einen ganzen Haufen von Schätzen vor mir ausgeschüttet, so daß ich mit beiden Händen danach greifen muß, wenn ich sie bergen will. Wenn Sie mir etwas wahrhaft Gutes tun wollen, etwas, dessen nur ein Christ fähig ist, dann lesen Sie diese Kostbarkeiten für mich auf, wo Sie sie immer finden mögen. Es wäre Ihnen ein leichtes, sich täglich etwa in Form eines Tagebuches ein paar Aufzeichnungen zu machen wie z. B. die folgenden: »Heute habe ich den und den, die und die Meinung äußern hören; über das Leben dieses Menschen ist folgendes bekannt, er hat einen solchen Charakter« (kurz, Sie könnten mir in flüchtigen Zügen ein Bild von ihm entwerfen). Ist dagegen nichts über ihn bekannt, so schreiben Sie: über sein Leben kann ich nichts in Erfahrung bringen, ich glaube aber, daß er das und das ist; äußerlich macht er einen guten und anständigen (oder unanständigen) Eindruck; er hält seine Hände so; schneuzt sich folgendermaßen; er schnupft Tabak und zwar in folgender Weise; kurz, Sie dürfen keinen Zug vergessen, der Ihnen ins Auge fällt, vielmehr sollen Sie jeden wichtigen ebenso wie jeden geringfügigen Umstand sorgfältig buchen. Glauben Sie mir, das ist keineswegs langweilig. Hierzu bedarf es weder eines bestimmten Planes, noch braucht es in einer bestimmten Ordnung und Reihenfolge zu geschehen: man wirft bloß zwei, drei Zeilen aufs Papier, ehe man daran geht, sich zu waschen. Ich bin sogar überzeugt, daß dies eine angenehme Beschäftigung für Sie sein wird, weil Sie stets das schöne Bewußtsein haben werden, daß Sie das für einen Menschen tun, der Sie inniglich liebt, und dem Sie damit eine Freude bereiten; eine so große Freude, wie sie ein Kind empfindet, das an einem Festtag sein Lieblingsspielzeug zum Geschenk erhält. Was soll ich machen, wenn dies Spielzeug -- das wenigstens von anderen Leuten nur für ein Spielzeug gehalten wird -- in meinen Augen nichts weniger als ein Spielzeug ist; es ist sogar so wenig ein Spielzeug, daß, wenn ich nicht genug von diesen Spielzeugen geschenkt bekomme, aus meinen »Toten Seelen« plötzlich statt lebendiger Menschen meine eigene Nase herausgucken kann und lauter Dinge zum Vorschein kommen können, wie Sie sie in meinem Buche gefunden und die Ihnen so mißfallen haben. Glauben Sie mir: wenn dies Buch nicht erschienen wäre, hätte ich nie jene kunstlose Einfachheit erreicht, die unbedingt in allen weiteren Teilen der »Toten Seelen« herrschen muß, wenn sie jedermann für einen treuen Spiegel des Lebens und nicht für eine Karikatur halten soll. Sie wissen nicht, welch großen Umweg man machen muß, um sich diese Einfachheit anzueignen. Sie wissen nicht, wie hoch diese schlichte Einfachheit steht. Man tut besser, hierüber gar nicht erst zu reden, helfen Sie mir -- das ist alles, was ich zu sagen vermag. Was nun die Veröffentlichung meiner Briefe anbetrifft, so habe ich folgendes beschlossen. Wegen der inhibierten Briefe einen neuen Band herauszugeben -- ist mir unmöglich. Ich habe noch andere Arbeiten vor, die nicht vergessen werden dürfen, und über meine ganze Zeit habe ich schon disponiert; zudem würde ein ganz ähnliches Werk nicht einmal Aufsehen erregen. Ich möchte nur, daß Wjasemski seine Bemerkungen dazu macht und gewisse Korrekturen vornimmt. Dann will ich die Briefe noch einmal durchsehen und verbessern, so daß selbst der schlichteste Zensor, auch ohne daß sie vor eine höhere Instanz zu gelangen brauchten, die Herausgabe gestattet. Glauben Sie mir, man kann alles sagen, wenn man es nur verständig auszudrücken versteht. Der Mißerfolg der besten und hochherzigsten Unternehmungen rührt meist von unserer Ungeschicklichkeit her -- da wir gewöhnlich vergessen, an die kluge Redensart zu denken: »Man muß Wasser in seinen Wein gießen« (Nimm dieselbe Kohlsuppe, aber verdünne sie erst ein wenig). Wenn wir -- statt mit großer Sicherheit und hochmütiger Miene Ratschläge zu erteilen, die wir in dem Tone eines Menschen vorbringen, dem es nie in den Sinn kommt, daß er sich irren könnte -- schlicht und bescheiden unsere Meinung vortragen, können wir sicher sein, daß unsere Gedanken von vielen Lesern beifällig aufgenommen und weiterverbreitet werden. Kurz, was nicht hineingehört, mag fortfallen, das Kluge und Gescheite wird einen anderen Ausdruck finden; wo sich meine eigene Person in aufdringlicher Weise vordrängt, da soll sie nicht nur eins auf die Nase bekommen, sondern da lasse ich auch noch eine solche Stelle einschieben, durch die die vorhergehenden schon gedruckten Sätze einen maßvolleren Ton erhalten. Jedenfalls aber sollen diese Briefe mit in das Buch aufgenommen und nicht besonders veröffentlicht werden. Sie werden dem Buche trotzdem eine höhere Bedeutung verleihen und die Menschen in Rußland an _Rußland_ erinnern und nicht an mich. Dieses Buch darf nicht zum alten Eisen geworfen werden. Obwohl es große Mängel hat, -- es ist nicht auf kurze flüchtige Eindrücke berechnet. Man muß es mehrmals lesen, und das gilt nicht nur für die, die es überhaupt nicht verstanden, sondern auch für die, die es besser verstanden haben als die anderen. In diesem Buche liegen noch Geheimnisse der Seele verborgen, die nicht sofort ergründet werden können. Vieles wird selbst von sehr klugen Leuten gar nicht in dem Sinne genommen, den ich zum Ausdruck bringen wollte. Es wäre sehr schön, wenn die vollständige Ausgabe im September erscheinen könnte. Das Buch wird gekauft werden, man kann nämlich noch einiges hinzufügen, was dazu beitragen könnte, den Leuten (bis zu einem gewissen Grade) eine richtige Ansicht davon beizubringen. Geben Sie diesen Brief auch Pletnew zu lesen. Sie danken mir dafür, daß ich Ihnen (durch die Bemühungen um mein Buch) Gelegenheit gegeben habe, Pletnews herrliche Seele näher kennen zu lernen. Und ich danke Ihnen gleichfalls dafür, daß Sie mir einige Mitteilungen über ihn zukommen ließen, um derentwillen ich ihn heute noch weit mehr liebe und seine Freundschaft noch weit höher schätze als je zuvor. Diese Freundschaft hat mir Gott geschenkt, gleich einem schönen milden Trost, dessen ich in diesen Zeiten so sehr bedarf. Ich kann nicht sagen, mit welcher Freude ich ihn jetzt umarmen, was ich dafür geben würde, wenn ich ihn jetzt sehen, persönlich mit ihm sprechen und ihn an meine Brust drücken könnte. Doch nun umarme ich ihn und Sie aufs herzlichste, mein unschätzbarer Arkadij Ossipowitsch; und indem ich Ihnen vielmals für Ihre lieben Zeilen danke, bleibe ich Ihr Gogol. _P. S._ Ich begreife nicht, warum bisher noch keines von den Büchern eingetroffen ist, die, wie Sie sagen, an mich abgesandt worden sind. Alle andern erhalten durch den Kurier die schönsten Sachen zugestellt; sogar Buchweizengrütze, Wjisiga[1] und Kaviar zu Fischpasteten; nur ich erhalte nichts, nicht einmal ein Zeitungsblättchen. Vergessen Sie nicht, mir den Empfang dieses Briefes zu bestätigen. Senden Sie bitte von nun ab alles nach Frankfurt an Schukowski und zwar senden Sie es durch unsere Botschaft an ihn. [Fußnote 1: Getrocknete Rückensehne vom Stör, die in Rußland zur Füllung von Backwerk verwendet wird. Anm. d. Hersg.] Über den »Zeitgenossen« (Sowremennik) Ein Brief an P. A. Pletnew Den 4. Dez. 1846. Endlich komme ich dazu, mit dir über den »Zeitgenossen« zu sprechen. »Der Zeitgenosse« war eine schlechte Zeitschrift trotz des vortrefflichen Ziels, das du mit ihm im Auge hattest. Selbst dieses schöne Ziel, um dessentwillen du ihn gegründet hast, war aus der Zeitschrift für niemand klar und deutlich zu erkennen; im Gegenteil, alle Leute fragten betroffen: »Erklären Sie mir bitte, warum und zu welchem Zwecke gibt Pletnew seine Zeitschrift heraus? Was will er damit sagen? Was wollen diese Gemeinplätze in seinem Programm bedeuten, diese vielen Wiederholungen über Unparteilichkeit, seine uneigennützige Liebe zur Kunst, sein Streben nach Wahrheit usw., diese Versprechungen, die jeder Journalist macht und doch keiner hält?« Der magere Inhalt dieser dünnen Büchlein, der leblose, gleichgültige, matte, verwaschene Stil, in dem seine Urteile über alles Moderne gehalten sind, gibt allen ein Rätsel auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«? Wir wollen ganz offen miteinander sein. Dir fehlt die journalistische Begabung: weder besitzt du genug lebendige jugendliche Begeisterung für alle modernen Bewegungen, noch jene gespannte Neugierde für alle Fragen, die die große Masse unserer Gesellschaft beschäftigen, noch endlich jenen enzyklopädischen Wissensdrang, jenes Streben, alles mit dem gleichen Interesse zu umfassen, was sich auf den Fortschritt des menschlichen Wissens auf allen Gebieten bezieht. Deiner anthologischen Seele ward nur eine hohe Gabe zuteil -- sich an dem Wohlgeruch der herrlichen Blüten, die im Garten der Poesie wachsen, zu ergötzen und die höchsten Regungen der Menschenseele zu verstehen. Der Sänger des »Münnich« und einiger anderer schöner Elegien, die von der Reinheit des Geschmacks und der stillen bescheidenen Seele des Dichters zeugen, hätte die polemische Arena meiden sollen. »Der Zeitgenosse« war selbst unter Puschkin nicht das, was eine rechte Zeitschrift sein soll, obwohl sich Puschkin ein viel positiveres und leichter zu verwirklichendes Ziel gesteckt hatte. Er wollte eine Vierteljahrsschrift nach Art der englischen Zeitschriften schaffen, in der durchdachtere und gründlichere Abhandlungen zum Abdruck kommen sollten als in den Wochen- und Monatsschriften, wo die Mitarbeiter zur Eile gedrängt werden und nicht einmal soviel Zeit haben, das, was sie selbst geschrieben haben, noch einmal durchzusehen. Übrigens war sein Wunsch, eine solche Zeitschrift herauszugeben, nicht allzu lebhaft, und er selbst versprach sich nicht viel Nutzen davon. Als er die Erlaubnis zur Herausgabe der Zeitschrift erhielt, wollte er zuerst sogar zurücktreten. Die ganze Schuld fällt auf mich: ich flehte ihn an, seinen Plan doch auszuführen. Ich versprach ihm meine dauernde Mitarbeit. In meinen Aufsätzen fand er vieles, was einer periodischen Zeitschrift einen lebendigen journalistischen Charakter verleihen konnte, woran es ihm selbst seiner Meinung nach mangelte. Er hatte zu jener Zeit tatsächlich eine solche Reife erlangt und stand schon zu hoch, als daß er noch ein solch jugendliches Gefühl in sich hätte bergen können: meine Seele aber war damals noch jung; ich konnte mir damals noch vieles stark zu Herzen nehmen, was ihn kalt ließ. Mein hartnäckiges Zureden und mein Versprechen, tätig mitzuwirken, überzeugte ihn; aber ich hätte mein Wort doch nicht halten können, selbst wenn er am Leben geblieben wäre. Ich wußte noch nicht, welche Wege mich die Vorsehung führen würde, ich wußte nicht, daß ich einmal alle Kräfte und Fähigkeiten für jede lebendige literarische Betätigung verlieren und lange Zeit für alles absterben würde, was den Menschen von heute bewegt. Nach Puschkins Tode widmetest du dich, aufs tiefste erschüttert durch diesen für alle so schmerzlichen Verlust, der für dich noch weit schmerzlicher war als für alle anderen, mit Eifer der Herausgabe der Zeitschrift. Die Erkenntnis, daß die moderne Gesellschaft verwaist und des Lichts der Poesie beraubt zurückgeblieben und dazu verurteilt sein sollte, nichts wie törichte und unfruchtbare Diskussionen und Streitereien über die Kunst anzuhören, statt sich an den Werken der Kunst _selbst_ zu erfreuen, machte einen starken Eindruck auf dich; und tief betrübt über diese Vereinsamung und Leere, die sich übrigens schon zu Puschkins Zeiten der Gesellschaft bemächtigt hatte, übernahmst du die Redaktion und nun wolltest du mit Gewalt jenes poetische Hellas errichten, das zu Beginn der Puschkinschen Ära ganz von selbst emporgeblüht war. Im Eifer deiner hochherzigen Begeisterung vergaßt du sogar, daß nicht wir die Dinge und die Ereignisse lenken, sondern daß eine höhere Macht jedem Ding seinen Platz anweist. Du merktest nicht einmal, daß du ein Ziel im Auge hattest, das sich durch die Herausgabe periodisch erscheinender Monatsschriften nie und auf keine Weise erreichen ließ. »Der Zeitgenosse« hätte als Zeitschrift nicht einmal dann einen Erfolg gehabt, wenn du alle Eigenschaften eines guten Journalisten in dir vereinigt hättest. Ich muß gestehen, ich kann es mir nicht einmal vorstellen, was das Erscheinen einer neuen Zeitschrift zu einer Notwendigkeit für unsere Epoche machen sollte. Eine solche enzyklopädische Heranbildung und Erziehung des Publikums mit Hilfe einer Zeitschrift ist heute bei weitem kein so dringendes Bedürfnis mehr wie früher. Das Publikum ist schon weit besser vorbereitet. Heute drängt uns alles zu einem konzentrierten Studium; nicht nur die Bedeutsamkeit der modernen Probleme, nein selbst die Hohlheit der modernen Gesellschaft und die oberflächliche Leichtfertigkeit, mit der sie ihre Angelegenheiten behandelt, scheinen den Menschen von heute dazu aufzufordern, strenge Einkehr in sich selbst zu halten, seine Kräfte und seine Fähigkeiten genauer zu prüfen und sich eine Aufgabe, ein Ziel zu wählen, und zwar kein flüchtiges Augenblicksziel, sondern eine lebensvolle, reiche und große Aufgabe, die allein den Fähigkeiten entspricht, die jedem von uns je nach seiner Wesensart schon bei seiner Geburt geschenkt wurden. Keine einzige Zeitschrift vermag heute dem Publikum eine wirklich nahrhafte und substantielle Kost vorzusetzen. »Der Zeitgenosse« sollte gänzlich auf den Namen einer Zeitschrift verzichten; statt in Heftform sollte er wie ehedem in gedrängter Buchform erscheinen und noch mehr als zu Puschkins Zeiten den Charakter eines Almanachs annehmen; er sollte eher etwas Ähnliches darstellen wie die »Blumen des Nordens« des Barons _Delwig_, dem du durch dein Verständnis für den Wohllaut der Poesie und deine Fähigkeit, dich an ihr zu erfreuen und sie intensiv zu genießen, so sehr gleichst. Es ist weit besser, er erscheint bloß dreimal im Jahr zu ganz bestimmten Terminen: das erstemal zu Ostern, als eine heitere Festgabe, das zweitemal zum ersten Oktober, d. h. zu einer Zeit, wo bei uns alles vom Lande und aus der Sommerfrische in den Städten zusammenströmt, und das drittemal zu Neujahr; kurz -- er sollte stets gerade zu solchen Zeiten erscheinen, wo sich alles mit dem größten Heißhunger auf ein neues Buch stürzt. Alles, was im eigentlichen Sinne dieses Worts den Charakter der Journallektüre trägt, muß wegbleiben: alle Berichte über Tagesneuigkeiten, jegliche politischen Nachrichten oder Anzeigen sämtlicher neuen Bücher; höchstens darf der Band einen ernsten kritischen Bericht über die bedeutsamsten Werke enthalten, die während eines Jahrdrittels erschienen sind, und zwar nur einen solchen Bericht, der selbst einen bedeutsamen literarischen Aufsatz darstellt. Der Leser darf nie daran erinnert werden, daß es irgendwelche Streitigkeiten und Parteiungen in der Literatur und daß es etwas wie eine Zeitschriftenpolemik gibt. Nur ganz konzentrierte Artikel, die eine Frage allseitig behandeln und keinerlei Ähnlichkeit mit den übereilten hastigen und fragmentarischen Produkten unserer Zeitschriftenliteratur haben, dürfen aufgenommen werden. Nur die schönsten Blüten unserer modernen literarischen Produktion dürfen hier vereinigt sein. Das aber läßt sich nur in einer Zeitschrift erreichen, die nicht mehr als dreimal jährlich zur Ausgabe gelangt: denn in drei Monaten kann man ganz gut ein Buch zusammenstellen. Unserer Zeit mangelt es Gott sei Dank nicht an Talenten. Der prosaische Teil des Jahrbuchs kann heute viel bedeutsamer und reichhaltiger gestaltet werden als früher. Ich will hier ausdrücklich _die_ modernen Schriftsteller anführen, deren Aufsätze unserm »Zeitgenossen« zur Zierde gereichen würden. Vor allem müssen wir da den Grafen _Sollogub_ nennen, der heute ohne allen Zweifel unser bester Erzähler ist. Niemand darf sich heute einer solchen korrekten, gewandten und eleganten Sprache rühmen wie er. Sein Stil ist treffend, jeder seiner Ausdrücke und jede seiner Wendungen ist prägnant und von einem feinen Anstandsgefühl erfüllt. Er hat einen großen Scharfsinn, Beobachtungsgabe und ist über alles unterrichtet, was heute unsere höheren Gesellschaftskreise beschäftigt. Nur eins mangelt ihm: die Seele dieses Dichters hat sich noch nicht mit einem strengeren ernsteren Inhalt erfüllt, und er ist durch seine inneren Erlebnisse noch nicht darauf hingeführt worden, sich eine ernstere und klarere Ansicht vom Leben zu erwerben. Käme noch solch ein innerliches Erlebnis bei ihm hinzu, dann könnte er ein treuer Schilderer unserer besten Gesellschaftskreise werden; seine Werke würden um mehr als hundert Prozent an Bedeutsamkeit gewinnen. -- Gleich nach ihm müssen wir einen anderen Schriftsteller nennen, der sich unter dem fingierten Namen: _Kosak Luganski_ verbirgt. Er ist kein Poet, ihm fehlt die Erfindungsgabe, ja er hat nicht einmal den Wunsch, wahrhaft produktive Schöpfungen hervorzubringen: er sieht stets nur die Sache und betrachtet jedes Ding rein sachlich. Ein starker, durchaus solider Verstand spricht aus jedem seiner Worte, und eine scharfe Beobachtungsgabe und ein angeborener Scharfsinn verleihen seinem Stil eine große Lebendigkeit. Bei ihm ist alles wahr und unmittelbar aus der Natur geschöpft. Er braucht keinen Knoten zu schürzen und ihn dann wieder zu lösen, worüber sich die Romanschreiber so sehr die Köpfe zerbrechen, er braucht nur irgendeine Begebenheit herauszugreifen, die sich in russischen Landen ereignet hat, einen beliebigen Vorgang, den er miterlebt hat und dessen Augenzeuge er war, um daraus eine äußerst interessante Erzählung zu gestalten. Meiner Ansicht nach ist er weit bedeutender als sämtliche Erzähler von großer Erfindungsgabe. Vielleicht bin ich parteiisch in meinem Urteil, weil dieser Schriftsteller mehr als irgendein anderer meinem persönlichen Geschmack und den eigentümlichen persönlichen Forderungen, die ich an einen Erzähler stelle, entgegenkommt; aus jeder Zeile von ihm schöpfe ich Belehrung und neue Kenntnisse, da sie mich das russische Leben und das Wesen unseres Volkes besser kennen lehren; jedoch was mir wohl jeder zugeben wird, ist dies, daß ein solcher Schriftsteller uns allen gerade jetzt sehr nützlich sein kann, ja daß er eine Notwendigkeit für uns ist. Seine Werke sind ein lebendiger und getreuer statistischer Bericht über Rußland. Alles, was er aus seinem umfassenden Gedächtnis schöpft und was er uns in seiner wahrheitsgetreuen Sprache erzählt, wird ein wertvoller Beitrag für deinen Almanach sein. Ich weiß nicht, warum _N. Pawlow_ so gänzlich verstummt ist, ein Schriftsteller, der sich durch seine drei ersten Erzählungen sofort ein Anrecht auf einen Ehrenplatz unter unseren Prosaschriftstellern erworben und sich bloß dadurch geschadet bat, daß er es vorzog, nicht mehr _er selbst_ zu sein, sondern auf den Einfall kam, (in seinen drei neuen Erzählungen) jene neuen Novellisten nachzuahmen, die doch so viel tiefer stehen als er. Er brauchte nur, ohne zu irgendwelchen gewaltsamen poetischen Einfällen oder zu künstlichen mosaikartigen Ausschmückungen des Stils, die seine klare edle Sprache so verunstalten, seine Zuflucht zu nehmen, er brauchte statt dessen nur aufs Geratewohl ein beliebiges psychologisches Phänomen unserer Gesellschaft herauszugreifen und es in seiner treffenden und gescheiten Art wiederzuerzählen, um eine Novelle mit allen Eigenschaften jener strengen klassischen Schöpfungen zu schaffen, die zu den ewigen Vorbildern der Literatur gehören. Mancherlei Vorzüge hat meiner Ansicht nach auch ein Schriftsteller, dessen Werke unter dem Namen _Kulisch_ erscheinen. Sein blühender Stil und seine große Kenntnis der Sitten und Bräuche Kleinrußlands sprechen dafür, daß er ganz vorzüglich dafür geeignet wäre, eine Geschichte dieses Landes abzufassen. Auch hätte er sicherlich in noch höherem Grade die Befähigung, frische und lebensvolle Aufsätze für den Almanach zu schreiben und uns schlicht und einfach von den Sitten und Bräuchen der alten Zeiten zu erzählen, ohne diese Schilderungen in den Rahmen einer Novelle oder einer dramatischen Erzählung hineinzustellen, ganz ähnlich wie uns einstmals _Kornilowitsch_ von dem Zeitalter Peters und von der vorhergehenden Epoche erzählt hat. Sein Roman hat recht interessante Partien, als Ganzes ist er jedoch matt und langweilig; die kostbaren Perlen: sein großes historisches Wissen, die gediegenen Kenntnisse, die über alle Seiten des Werkes verstreut sind, gehen gänzlich verloren, ohne irgendeinen Nutzen zu bringen. Man hat mir gesagt, daß die _Novelle_ bei uns in der letzten Zeit im allgemeinen einen großen Erfolg habe und daß einige junge Schriftsteller eine besondere Neigung zur Beobachtung des wirklichen realen Lebens an den Tag legten. In den Werken, die ich zu lesen Gelegenheit hatte, konnte ich in der Tat eine ähnliche Tendenz konstatieren, obwohl der Aufbau dieser Novellen mir außerordentlich primitiv und ungeschickt vorkam; die Form der Erzählung erschien mir übertrieben und allzu wortreich, und dem Stil mangelte es an der rechten Einfachheit. Aber ich bin überzeugt: wenn in jedem dieser Schriftsteller erst einmal der Mensch, die Persönlichkeit -- und zwar noch vor dem Schriftsteller -- zum Durchbruch gekommen ist -- daß sich dann alles andere ganz von selbst ergeben, daß jeder von ihnen eine starke schriftstellerische Eigenart bekunden, und daß keiner dieser Fehler mehr an ihnen zu bemerken sein wird. Ich muß hier noch _des_ Schriftstellers gedenken, der seine literarische Wirksamkeit mit dem Drama »_Der Tod Ljapunows_« begonnen hat. Diesem Drama fehlt es im Aufbau des Ganzen zwar noch an der vollen szenentechnischen und dramatischen Reife, über die nur ein erfahrener Bühnenschriftsteller verfügt, allein es besitzt viele Vorzüge, die in seinem Schöpfer einen Schriftsteller von hervorragender Bedeutung ahnen lassen. Das Vergangene so lebendig miterleben und in einer so lebensvollen Sprache von ihr künden zu können -- das ist eine große Gabe! An seiner Stelle würde ich mich förmlich in die alten Chroniken vergraben, mich ganz an ihnen festsaugen und diese Lektüre keinen Augenblick im Stiche lassen. Ihnen könnte er viele herrliche Stoffe entnehmen. Wer weiß, vielleicht würde ihn eine solche Lektüre auf den vortrefflichen Gedanken bringen, eine wahrheitsgetreue Geschichte der Zeit zu schreiben, die sein Interesse am meisten fesseln würde. Ein echt historisches Werk, aus der Feder eines Schriftstellers, der sich so stark in die historischen Charaktere einzufühlen vermag, ein Werk, das so lebendig und farbig geschrieben ist, ist weit wertvoller als alle historischen Dramen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch etwas von den jungen Schriftstellern sagen, die ihre Laufbahn erst beginnen. Ich wünschte, du suchtest _Prokopowitsch_ auf und könntest ihn dazu veranlassen, doch zur Feder zu greifen und sich im erzählenden Genre zu versuchen. Von allen denen, die mit mir zusammen die Schule besucht haben und zu gleicher Zeit mit mir zu schreiben begannen, zeigte er weit früher als alle anderen ein großes Talent für eine anschauliche Darstellungsweise, getreue Lebensschilderung und eine starke Beobachtungsgabe. Seine Prosa hatte etwas Munteres und Freies; alles kam bei ihm ungezwungen heraus und strömte ihm in reicher Fülle zu; alles gelang ihm ohne große Anstrengung, aus allem schien hervorzugehen, daß er einmal ein äußerst fruchtbarer Romanschriftsteller werden würde. Ich weiß wohl, er ist heute verstummt, er hat den Drang nach einer ausgebreiteten freien Tätigkeit in sich einschlafen lassen, sein Wirkungskreis hat sich verengt, und es liegt kaum noch ein weites Feld für die Beobachtung des Lebens vor ihm. Aber das Leben bleibt überall das gleiche Leben, und je geringer der Raum, je enger der Kreis ist, in dem es sich ausbreiten kann, um so gründlicher und tiefer können wir gerade dies Stück Leben erforschen und durchdringen. Sogar die Geschichte unserer Seele, die unser Erwachen aus einer totenähnlichen Erstarrung zum Gegenstand hat, ein Erwachen, angesichts dessen der Mensch mit Entsetzen auf sein in so tierischer Weise vergeudetes Leben zurückblickt, kann einen herrlichen Stoff für einen Roman abgeben ... Was für ein Festtag wäre das für meine Seele, wenn ich einmal im »Zeitgenossen« eine Novelle fände, unter der sein Name stünde! Was endlich mich selbst angeht, so kann ich nach wie vor kein fleißiger und eifriger Mitarbeiter an deinem »Zeitgenossen« sein. Du hast schon selbst bemerkt, daß man mich nicht einen Schriftsteller im strengen klassischen Sinne nennen kann. Von all den jungen Leuten, die zugleich mit mir und noch während unserer Schulzeit zu schriftstellern begannen, zeigte ich in weit geringerem Grade als alle anderen jene Fähigkeiten, die die notwendigen Vorbedingungen jedes literarischen Schaffens sind. Ich will dir gestehen, daß selbst in meinen frühsten Projekten und in meinen Träumen von einer künftigen Tätigkeit nie der Gedanke an die Schriftstellerlaufbahn auftauchte. Ich wurde fast wie durch einen Zufall darauf gestoßen. Ich hatte einige Beobachtungen über einzelne Seiten des Lebens gemacht, deren ich für meine inneren geistigen Angelegenheiten bedurfte, die mich von jeher aufs lebhafteste beschäftigten, und _sie_ gaben den Anlaß dazu, daß ich zur Feder griff und beschloß, dem Leser voreilig alles das mitzuteilen, was ich ihm erst später, d. h. nach Vollendung meiner eigenen Erziehung hätte mitteilen sollen. Ich mußte mir alles unter großen Mühen erringen, was einem geborenen Schriftsteller mühelos zuteil wird. Bis auf den heutigen Tag will es mir nicht gelingen, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, die rechte Form für meine Sprache und meinen Stil, diese beiden wichtigsten Werkzeuge jedes Schriftstellers, zu finden: bis auf den heutigen Tag sind beide noch so ganz roh und formlos, wie bei keinem Schriftsteller, nicht einmal bei einem von den schlechten, so daß selbst ein Anfänger, ein Schuljunge das Recht hat, sich über mich lustig zu machen. Alles, was ich geschrieben habe, ist nur von psychologischer Bedeutung, kann aber nie als Muster schöner Literatur in Betracht kommen, und ein Lehrer würde sehr unvorsichtig handeln, wenn er seinen Schülern den Rat geben wollte, bei mir zu lernen, wie man schreiben oder wie man die Natur schildern muß: er würde sie dazu anhalten, Karikaturen zu zeichnen. Den Beweis dafür kannst du bei einzelnen jungen und unerfahrenen Nachahmern meiner Manier finden, die gerade durch die Nachahmung weit unter das Niveau ihres eigenen Könnens herabgesunken sind und ihre Selbständigkeit und Eigenart verloren haben. Ich habe nie den Wunsch gehabt, ein Spiegel der Dinge zu sein und die uns umgebende Wirklichkeit, ganz so wie sie ist, in mir widerzuspiegeln -- ein Streben, von dem ein Dichter während seines ganzen Lebens gespornt wird und das nur mit seinem eigenen Tode zur Ruhe kommt. Ich kann auch heute nur von solchen Dingen reden, die in einer nahen Beziehung zu meiner Seele stehen. Wenn ich also einmal das Gefühl habe, daß jemand meiner offenherzigen aufrichtigen Meinung bedarf und daß meine Worte einer Menschenseele den inneren Frieden zu geben vermögen, dann sollst du einen Aufsatz von mir für deinen »Zeitgenossen« erhalten; wenn nicht -- so wirst du keinen bekommen, und deswegen darfst du mir nicht zürnen. Ich habe hier auch keinen von unseren heutigen Prosaschriftstellern erwähnt, die teils selbst mit der Herausgabe von Zeitschriften beschäftigt sind, teils an Schöpfungen abstrakteren Charakters arbeiten, die ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, Schriftsteller, die weder die Möglichkeit noch Muße genug haben, an deinem »Zeitgenossen« mitzuarbeiten. -- Diese sollst du gar nicht erst bemühen. Bei dieser Gelegenheit muß ich dich ein wenig ausschelten. Du bist im Unrecht, wenn du vielen Literaten Verständnislosigkeit und mangelnde Teilnahme für deine Zeitschrift vorgeworfen und dies auf ihre Gleichgültigkeit gegen die gemeinsame Sache, ihre mangelnde Liebe zur Kunst, ihre Geldgier usw. zurückgeführt hast. Ein jeder Mensch ist mit irgendeiner eigenen inneren Angelegenheit beschäftigt; in der Seele eines jeden geht etwas vor, gibt es Erlebnisse, die ihn von der Mitarbeit an der allgemeinen, gemeinsamen Sache abziehen; und man kann absolut nicht verlangen, daß ein anderer sein eigenes Interesse einem Lieblingsgedanken von uns und unseren Zielen zum Opfer bringen soll, denen wir nachzustreben entschlossen sind. Gott weist jeglichem seinen Weg an, der immer ein ganz anderer ist wie der, den ein anderer Mensch zurücklegen muß, und man darf nicht alle Menschen mit derselben Elle messen. Daher mußt du selbst die ablehnende Antwort und die Weigerung eines Menschen respektieren, auch dann noch, wenn er den Grund nicht angeben will, weshalb er keinen Beitrag für den »Zeitgenossen« zu liefern vermag. Sei zufrieden mit dem, was man dir gibt. Wenn bloß die von mir namhaft gemachten Autoren dir Beiträge liefern werden, so würde dies allein schon vollauf genügen. Aber ich weiß, daß auch noch andere, die ich nicht genannt habe, dir welche zur Verfügung stellen werden. Im Gegensatz zu den Menschen, die heute über einen Mangel an talentvollen Schriftstellern klagen, finde ich, daß es gegenwärtig weit mehr Talente gibt als je zuvor. Sie haben nur ihren Weg noch nicht gefunden. Keiner von ihnen hat es bisher verstanden, _er selbst_ zu sein, und das ist der Grund, warum man sie nicht bemerkt; indessen viele von ihnen werden schon von diesem Wunsch gequält, obwohl sie noch nicht wissen, wie sie ihn befriedigen sollen. Das Streben, seine eigene Bestimmung kennen zu lernen, ist heutzutage der wunde Punkt, an dem viele begabte Leute kranken. Das ist der wahre eigentliche Grund der Trägheit und Tatenlosigkeit auf literarischem Gebiet. Der poetische Teil des »Zeitgenossen« kann gleichfalls sehr reichhaltig gestaltet werden, trotzdem im heutigen Publikum der Geschmack an der Poesie erloschen zu sein scheint; Gott sei Dank lebt der Patriarch unserer Poesie noch, -- noch hat uns der Himmel ja _Schukowski_ erhalten. Zum Dank für sein reines, makelloses Leben darf _er_ sich allein unter uns allen noch im Greisenalter einer wahren Jugendfrische erfreuen und jugendliche Kraft zu neuen poetischen Taten in sich fühlen. Seine jetzigen Arbeiten sind weit ernster und bedeutsamer als seine früheren. Man darf ihn nicht nach jenen Verserzählungen und Märchen beurteilen, die in der letzten Zeit im »Zeitgenossen« zum Abdruck gekommen sind. Sie konnten und sollten auch keinen Eindruck auf das Publikum machen, und es ist kein Wunder, daß das Publikum, das jedes neue Werk an seinen eigenen geistigen Bedürfnissen mißt und in ihm eine Antwort auf sein unruhiges Fragen und Sehnen sucht, diese Gedichte für eine »_Kinderei_« von Schukowski erklärt hat. Sie waren tatsächlich für kleine Kinder geschrieben. Diese Märchen und Erzählungen hätten in Form eines besonderen Buches unter dem Titel _»Eine Gabe für die Kinder« von Schukowski_, erscheinen sollen. Es war ein Fehler von ihm, sie einer Zeitschrift einzusenden. Ich habe ihm dies schon damals gesagt und ihm geraten, entweder gar nichts oder doch nur etwas einzusenden, was dem Empfinden eines erwachsenen Menschen entspricht. Jetzt aber weiß ich, daß er dir für den Almanach einige von den Perlen überlassen wird, die tief im Inneren seiner Seele gereift sind, in der sich während der letzten Zeit soviel Herrliches ereignet hat. Noch leben Gott sei Dank zwei andere von unseren erstklassigen Dichtern: Fürst Wjasemski und Jasykow. Sie können den »Zeitgenossen« mit neuen Tönen bereichern, wie man sie von ihnen noch nicht vernommen hat -- mit Tönen, die aus einem gequälten, gepreßten Herzen hervorströmen, mit Liedern, die aus der Seele selbst kommen, einer Seele, die sich bereits mit dem strengen Gehalt der Poesie erfüllt hat. Die jüngeren von unseren Dichtern, die erst in jüngster Zeit aufgetreten sind und die ich hier nicht mit Namen nenne, haben zwar bisher nur eine gewisse Begabung für eine wohllautende, leichte und elegante Verskunst an den Tag gelegt, aber noch nicht gezeigt, daß sie echte und wahre Gefühle besitzen, allein auch sie können poetische Saiten anschlagen, die unserem Empfinden näher liegen. Die Poesie ist die reine Manifestation, die Offenbarung der Seele und nicht ein künstliches Erzeugnis oder Produkt des menschlichen Wollens; die Poesie ist die Wahrheit der Seele und kann daher allen in gleicher Weise zugänglich und verständlich sein. Die Schöpferkraft, die Dichtergabe ist eine sehr hohe Gabe und wird nur den universellen Genies verliehen, die nur ganz selten auf der Erde erscheinen; für einen anderen ist es gefährlich, diesen Weg zu betreten. Selbst von den erstklassigen Talenten sanken viele unter ihr eigenes Niveau herab, wenn sie sich in die Sphäre der reinen Erdichtung wagten, während sogar geringe Talente sich hoch über sich selbst erhoben, wenn sie durch ihre eigenen seelischen Erlebnisse dazu veranlaßt wurden, lediglich die reine nackte Wahrheit ihres geistigen Erlebens darzustellen. Die Zeit rückt immer näher, wo der Drang nach einer inneren Seelenbeichte immer lebhafter und lebhafter werden wird. Selbst die, die nicht einmal daran denken, daß sie Dichter sein könnten, werden Töne wahrer Poesie erklingen lassen; viele herrliche Blumen, viele kostbare Schätze werden dir von allen Seiten für deinen »Zeitgenossen« zufließen. Du selbst, der du die Leier schon längst beiseitegelegt und vergessen, der du es schon lange nicht mehr versucht hast, ihr einen Ton zu entlocken, du selbst wirst von neuem zu ihr greifen. Du hast doch sicherlich in dieser Zeit auch nicht wenig schmerzliche Augenblicke und manchen Kummer erlebt, von dem niemand etwas erfahren hat; auch _deine_ Seele wurde sicherlich von dem Verlangen verzehrt, sich jemand mitzuteilen und sich auszusprechen, sie hat sicherlich nach einem Freunde gesucht, der Verständnis für all ihre Bitternisse hätte; da sie ihn nicht finden konnte, hat sie sich sicherlich an jenes uns allen verwandte und vertraute Wesen gewandt, das es allein versteht, den Trauernden und Bekümmerten liebevoll an seinen Busen zu ziehen, jenes Wesen, an das sich schließlich alles wendet, was da lebt. Nun denn, so denke an alle diese Augenblicke, sowohl an die des Kummers, wie an die der höheren Tröstung, die auf dich herabgesandt wurde; nun denn, so finde einen Ausdruck für sie, stelle sie recht und wahrhaft dar, wie du sie erlebt hast. Die Tränen der Rührung und die innigsten Gefühle eines dankbaren Herzens werden dir dabei zu Hilfe kommen und es dir ermöglichen, sie mit solcher Kraft zum Ausdruck zu bringen, wie dies selbst ein großer, alle Zauberkünste der Dichtung beherrschender Poet, der jedoch den wahren Schmerz noch nicht kennen gelernt hat, nie vermöchte. Dann wird der »Zeitgenosse« seinen Namen rechtfertigen, aber freilich in einem anderen -- höheren Sinne: er wird allen höchsten Augenblicken, allen höchsten Empfindungen der russischen Schriftsteller und Menschen Genüge tun. Dann wird er sich auch dem eigentlichen Ziele weit mehr nähern, das deinem Geiste unklar und entfernt vorschwebte; er wird alle Schriftsteller zu einem ästhetischen Bund voll herrlicher brüderlicher Liebe vereinen. In ganz Rußland vermagst nur du so ein Wagnis zu unternehmen und eine solche Zeitschrift zu schaffen, weil du allein den Gedanken an sie fortwährend in dir genährt hast; nur du hast keine pekuniären Interessen im Auge gehabt und an keinen Lohn für deine Arbeit gedacht; nur du hast ganz unbewußt eine reine, kindliche Liebe zur Kunst in dir gehegt, die dich unseren besten Dichtern entfremdete und die die Kunst zu deiner eigensten, vertrautesten Herzens- und Familienangelegenheit machte. Folglich kann auch nur dir eine solche Zeitschrift anvertraut werden. Sie muß glänzend ausgestattet sein; sie muß eine in jeder Beziehung kostbare und wertvolle Gabe darstellen: der Druck muß so schön und vornehm wie nur möglich, die Bücher müssen mit den schönsten Stichen und Vignetten, die bei uns in Rußland hergestellt werden können, geschmückt sein (damit mußt du russische Graveure beauftragen und keine Ausländer heranziehen). Das Format der Bände mußt du nicht zu groß wählen, es sollte nur ein wenig größer sein als das der »Blüten des Nordens«, kurz, das Werk muß seinem inneren Wert und seiner äußeren Ausstattung nach den Eindruck eines kostbaren Gegenstandes machen. Das alles aber vermagst nur du zu bewerkstelligen; denn da du nicht die Absicht hast, die Einkünfte davon für deine eigenen Bedürfnisse und deinen Unterhalt zu verbrauchen, kannst du alles darauf verwenden, das Werk möglichst schön auszustatten und hierdurch unseren armen Künstlern, die häufig bitteres Elend leiden müssen, Gelegenheit geben, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und nun gehe, wenn alles, was ich dir hier gesagt habe, deinen Beifall hat, in Gottes Namen an die Arbeit, stelle zunächst einmal das erste Buch des »Zeitgenossen« zusammen und sorge dafür, daß es am kommenden Osterfeste des Jahres 1847 erscheinen kann; meinen Brief kannst du als ersten Aufsatz, als Programm oder als Einleitung zu dem Bande abdrucken. Vorher aber gib ihn allen denen zu lesen, von denen du einen Aufsatz haben möchtest. So matt und flüchtig er auch geschrieben sein mag, ich bin trotzdem davon überzeugt, daß ein jeder, der ihn lesen wird, mit dir und mir darin übereinstimmen wird, daß ein solches Werk eine Notwendigkeit für Rußland ist, und er wird dir sicherlich die beste seiner Arbeiten zur Verfügung stellen. In den Zeitungen brauchst du es nur mit wenigen Worten anzukündigen und zwar brauchst du nur zu erwähnen, -- daß vom »Zeitgenossen« dreimal im Jahre, zu den oben angeführten Terminen, je ein Band erscheinen werde; füge nur noch die Namen der Autoren hinzu, deren Aufsätze zum Abdruck kommen sollen -- das wird vollständig genügen. Alles übrige -- der Gehalt und die Bedeutung der Aufsätze sowie die Pracht und Schönheit der Ausstattung -- mag für jeden Leser eine angenehme Überraschung sein. Die Beichte des Dichters Alle sind sich darüber einig, daß noch nie ein Buch soviel Aufsehen gemacht und zu so verschiedenen Meinungen und Deutungen Anlaß gegeben hat, wie die »Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden«. Und was das merkwürdigste ist, was bisher vielleicht in der Literatur noch niemals passiert ist, der Gegenstand dieses Geredes und dieser Kritiken war nicht das Buch selbst, sondern sein Autor. Jedes Wort wurde mit Mißtrauen und Argwohn analysiert, und alle Leute wetteiferten miteinander, die wahre Quelle aufzudecken, aus der es herstammte. An dem lebenden Körper eines noch lebenden Menschen wurde jene furchtbare anatomische Sektion vollzogen, bei der selbst ein Mensch von starker Konstitution in kalten Schweiß ausbricht. So erschütternd und kränkend jedoch für einen vornehm denkenden und anständigen Menschen viele von diesen Schlüssen und Folgerungen auch sein mochten, ich nahm dennoch alle die schwachen Kräfte, über die ich verfügte, zusammen, ich beschloß, alles zu ertragen, mir dies Erlebnis wie einen Wink von oben zunutze zu machen -- und strenge Einkehr in mich selbst zu halten. Auch hierüber habe ich nie eine Meinung, einen Rat, einen Tadel oder einen Vorwurf geringgeachtet und verschmäht, denn ich überzeugte mich mit der Zeit immer mehr, daß, wenn der Mensch einmal alle jene empfindlichen Saiten in sich vernichtet hat, die ihn zum Zorn und Ärger geneigt machen, und wenn er sich erst einmal die Fähigkeit erworben hat, alles ruhig anzuhören, er dann jene Stimme der rechten Mitte vernehmen muß, die sich als Resultat ergibt, wenn man alle einzelnen Stimmen zusammenfügt und die Extreme auf beiden Seiten in Erwägung zieht, kurz, ich meine jene Stimme der rechten Mitte, von der es heißt: »Volkes Stimme -- Gottes Stimme« und nach der alle suchen. Aber obwohl viele Vorwürfe, die gegen mich gerichtet wurden, meiner Seele wirklich heilsam waren, diese Stimme der Mitte konnte ich diesmal nicht vernehmen, und ich vermag nicht zu sagen, welche Wendung die Sache genommen und welches Urteil man über mein Buch zu fällen beschlossen hat. Wenn ich die Summe von alledem ziehe, so sind im ganzen drei verschiedene Meinungen laut geworden: nach der _ersten_ Ansicht ist mein Buch das Produkt eines unerhörten Hochmuts, das Werk eines Menschen, der sich eingebildet hat, er stünde hoch über allen seinen Lesern, habe ein Anrecht, von ganz Rußland gehört und beachtet zu werden, und verfüge über die Kraft und die Fähigkeit, die ganze Gesellschaft zu reformieren; nach der _zweiten_ Ansicht ist dies Buch zwar das Werk eines guten, aber betörten Menschen, der auf Abwege geraten ist und dem das Lob und der Beifall zu Kopfe gestiegen sind; der Autor habe sich gar zu sehr an seinen Vorzügen berauscht, seine Begriffe haben sich verwirrt, und so sei er vom rechten Wege abgekommen; nach der Ansicht der _dritten_ endlich ist dies Buch das Werk eines Christen, der die Dinge im rechten Lichte sieht und jeder Sache ihren richtigen Platz anweist. Unter jeder Partei, die eine dieser Ansichten vertritt, befinden sich gleichermaßen gescheite und aufgeklärte Leute, wie auch gläubige Christen. Folglich kann keine der Ansichten, die sicherlich alle einen Teil der Wahrheit enthalten, -- _völlig_ wahr sein. Am richtigsten wäre es noch, dies Buch einen treuen Spiegel des Menschen zu nennen. Dieses Buch hat das zum Inhalt, was in jedem Menschen verborgen liegt: vor allem das Streben nach dem Guten, dem das Buch selbst entsprungen, und das in jedem Menschen lebendig ist, wenn er erst einmal erfahren hat, was das Gute ist; ferner eine aufrichtige Erkenntnis seiner Fehler und daneben eine hohe Einschätzung seiner Vorzüge; ein ehrliches Verlangen, von andern Menschen zu lernen, und daneben die feste Überzeugung, daß auch die anderen viel von ihm lernen können; Demut und Bescheidenheit, daneben aber auch Stolz, ja vielleicht sogar ein gewisser Demutsstolz; Vorwürfe wider andere Leute wegen solcher Dinge, an denen man selbst zu Fall gekommen ist und für die man noch weit heftigere Vorwürfe verdiente -- kurz alles, was man in der Seele jedes Menschen finden kann, nur mit dem Unterschiede, daß hier alle Formen und Konventionen abgestreift sind, und daß alles, was der Mensch in seinem Inneren verschließt, nach außen gekommen ist, sowie ferner mit dem Unterschied, daß sich dies alles in weit wilderer und lauterer Weise äußert und förmlich zum Himmel schreit, eben wie in einem Schriftsteller, in dem sich alles, was seine Seele erfüllt, nach außen und ans Licht drängt; es tritt allen Leuten viel klarer und deutlicher vor Augen, eben wie bei einem Menschen, dem größere Gaben und Fähigkeiten verliehen sind als anderen Leuten. Kurz, dies Buch ist nur ein Beweis für die ewige Wahrheit der Worte des Apostels Paulus, der da gesagt hat: der ganze Mensch ist eine einzige Lüge. Zu diesem Schluß jedoch, der sich vielleicht der Wahrheit am meisten nähert, ist niemand gekommen, weil der feierliche Ton des Buches und seine ungewohnte Sprache alle mehr oder weniger verwirrt hat und niemand das richtige Verhältnis zu ihm finden ließ. Als ich dies Buch schrieb, stand ich unablässig unter dem Druck einer Todesfurcht, die mich während der ganzen Zeit meines Krankseins verfolgte, selbst dann noch, als ich mich außer jeder Gefahr befand. So kam es, daß ich ganz unmerklich in einen mir sonst ganz fremden Ton verfiel, der einem noch lebenden Menschen durchaus nicht ansteht. In meiner Angst, ich könnte vielleicht das Werk nicht mehr vollenden, das während zehn Jahren alle meine Gedanken beschäftigte, beging ich die Unvorsichtigkeit, schon im voraus von solchen Dingen zu reden, die ich durch das Leben der Helden eines epischen, erzählenden Kunstwerks hätte beweisen sollen. So verwandelten sich meine Gedanken in eine recht unpassende Predigt, die sich im Munde eines Autors sehr seltsam ausnimmt, in eine Anzahl mystischer, unverständlicher Stücke, die keinen Zusammenhang mit den anderen Briefen hatten. Dazu kam schließlich noch der völlig verschiedene Ton dieser Briefe, die an Menschen von ganz verschiedenem Wesen und Charakter gerichtet und zu verschiedenen Zeiten und in ganz entgegengesetzten geistigen und seelischen Stimmungen geschrieben waren. Die einen von ihnen waren in einer Zeit verfaßt, als ich selbst zu meiner Erziehung des Tadels und der Rüge bedurfte, mir solche Rügen von anderen erbat und forderte und sie daher auch anderen erteilte; andere Briefe wieder waren zu einer Zeit geschrieben, als ich die Empfindung hatte, daß ich die Vorwürfe für mich selbst aufsparen und in meinen an andere Leute gerichteten Reden nur die brüderliche Liebe zum Worte kommen lassen sollte: so geschah es, daß häufig Milde und Schärfe fast dicht nebeneinander standen. Ferner sind viele Aufsätze, die für das Buch bestimmt waren, die einen Zusammenhang zwischen einzelnen Stücken herstellen und vieles näher erklären sollten, nicht aufgenommen worden. Dazu kommt schließlich noch meine dunkle Sprache und Unfähigkeit, mich auszudrücken, -- zwei Eigentümlichkeiten eines noch nicht ganz ausgereiften und fertigen Schriftstellers --; das alles trug dazu bei, mehr als einen Leser zu verwirren und zu zahllosen falschen Schlüssen und Folgerungen Anlaß zu geben. Meinen Hochmut glaubte man gerade in solchen Sätzen zu entdecken, die vielleicht ganz anderen Motiven entsprungen waren; wo aber wirklicher Hochmut aus meinen Worten sprach, da bemerkte man ihn nicht; man nannte _das_ Selbstverkleinerung, was nichts weniger als Selbstverkleinerung war. Aber was die Hauptsache ist, es gab keine zwei Menschen, die innerlich übereinstimmten, sowie sie an die Analyse der einzelnen Teile dieses Buches herangingen, was einzelne zu der sehr richtigen Bemerkung veranlaßte, daß ein jeder in der Beurteilung meines Buches mehr seine eigene Denkungsart, als die meine, als den Charakter meines Buches zum Ausdruck brachte. Es versteht sich von selbst, daß die Schuld ganz -- auf meiner Seite ist. So kränkend daher auch all diese Angriffe und Verdächtigungen seiner persönlichen moralischen Qualitäten für einen Menschen sein mögen, in dem noch nicht jedes Ehrgefühl erstorben ist, -- ich habe kein Recht, jemand deswegen anzuklagen. Ich muß hier noch ein paar flüchtige Bemerkungen über eine Frage machen, die nicht mit meinen moralischen Qualitäten zusammenhängt. Ich war äußerst erstaunt, wenn gescheite und kluge Leute Anstoß an Worten nahmen, die doch völlig klar waren, wenn sie sich an zwei, drei Stellen klammerten und Schlüsse aus ihnen zogen, die in absolutem Gegensatz zu dem Geist des ganzen Werkes standen. Aus zwei, drei Worten, die an einen Gutsbesitzer gerichtet waren, dessen sämtliche Bauern Landwirte und von schweren Sorgen und Arbeiten in Anspruch genommen sind, den Schluß zu ziehen, daß ich gegen die Volksbildung zu Felde ziehe -- das erschien mir äußerst sonderbar, um so mehr als ich mich ein halbes Leben lang mit dem Gedanken getragen habe, ein wahrhaft nützliches Buch für das einfache Volk zu schreiben, und nur deswegen davon abstand, weil ich das Gefühl hatte, man müsse sehr klug sein, um zu wissen, was man dem Volk in erster Linie vorsetzen müsse. Solange es jedoch noch keine so gescheiten Bücher gibt, wollte es mir so erscheinen, als ob das lebendige Wort der Diener der Kirche mehr Nutzen bringen könne und ein stärkeres Bedürfnis für die Bauern darstelle, als alles, was ihnen unsereiner, d. h. ein Schriftsteller, zu sagen vermag. Soweit meine Erinnerung reicht, bin ich stets für die Volksbildung eingetreten; aber es schien mir so, als ob es besser wäre, ehe man für die Bildung des Volkes sorgt, erst einmal für die Bildung der Menschen zu sorgen, die in engstem Verkehr mit dem Volke stehen, worunter das Volk oftmals zu leiden hat. Und endlich kam es mir so vor, als ob jener niedere wenig zahlreiche, heute jedoch an Zahl immer zunehmende Stand von Leuten, die aus dem Bauernstande hervorgehen, die allerhand kleine Stellen besetzen, denen es trotz ihrer allerdings geringen Bildung an der rechten moralischen Grundlage fehlt, und die daher überall nur Schaden stiften, weil sie bestrebt sind, auf Kosten der armen Leute zu leben, -- es kam mir so vor, als ob dieser Stand weit mehr Anspruch auf unsere Beachtung hätte als der Bauernstand. Dieser Stand schien mir weit mehr der Bücher zu bedürfen, die der Feder kluger Schriftsteller entstammten, d. h. solcher Schriftsteller, die Verständnis für ihre Pflichten haben und daher imstande sind, sie auch jenen Leuten klarzumachen. Unser mit Ackerbau beschäftigter Bauer dagegen schien mir stets weit sittlicher zu sein als die anderen Leute und weniger als andere der Belehrung durch die Schriftsteller zu bedürfen. Nicht weniger erstaunt war ich, als man aus einer Stelle meines Buches, wo ich sage, daß die gegen mich gerichteten Kritiken viel Wahres enthalten, den Schluß zog, ich spräche meinen Werken jegliche Vorzüge ab und stimmte nicht mit den Kritikern überein, die sich zu meinen Gunsten geäußert haben[2]. Ich erinnere mich sehr gut und habe es keineswegs vergessen, daß meine geringen Vorzüge und Verdienste Anlaß zu sehr bedeutsamen Kritiken gegeben haben, die ewige Denkmäler der Kunstliebe bleiben werden und die dazu beigetragen haben, in den Augen des Publikums den Wert und die Bedeutung dichterischer Werke zu erhöhen. Aber es hätte sich doch nicht geschickt, wenn ich selbst von meinen Vorzügen gesprochen hätte; ja und warum hätte ich das auch tun sollen? Ich habe von den Fehlern gesprochen, die mir als Literaten anhaften, weil eine psychologische Frage, die das Hauptthema meines Buches bildet, Anlaß dazu bot. Wie kann man nur so etwas nicht verstehen! Nicht weniger seltsam berührte es mich -- daß man daraus, daß ich die Grundeigenschaften unseres russischen Wesens so stark betont und hervorgehoben habe, den Schluß zog, ich leugnete die Notwendigkeit der europäischen Bildung und hielt es für überflüssig, daß sich ein Russe über den ganzen schweren Weg, auf dem die Menschheit sich zur Vollkommenheit emporarbeitet, unterrichte. Früher sowohl als auch jetzt war ich immer der Meinung, ein russischer Bürger müsse über die europäischen Angelegenheiten unterrichtet sein. Aber ich war auch immer überzeugt, daß, wenn man über diesem sehr löblichen glühenden Interesse für die Fragen des Auslandes seine eigenen Grundlagen vergißt, eine solche Kenntnis der ausländischen Dinge nicht zu unserem Wohl ausschlagen, unsere Gedanken nur zerstreuen und verwirren, ihnen eine falsche Richtung geben könne, statt sie in sich zu sammeln und zu konzentrieren. Ich war von jeher davon überzeugt und bin es noch heute, daß wir unser russisches Wesen sehr gut und sehr gründlich kennen lernen müssen, und daß wir nur durch eine solche Kenntnis ein Gefühl dafür bekommen können, was wir aus Europa entlehnen und uns aneignen sollen, denn Europa selbst kann uns das nicht sagen. Mir ist es stets vorgekommen, als ob wir, noch ehe wir etwas Neues bei uns einführen, das Alte -- nicht nur oberflächlich sondern gründlich und in seiner Wurzel -- kennen lernen müßten; denn sonst kann selbst die wohltätigste Entdeckung der Wissenschaft nicht mit Erfolg angewendet werden. In dieser Absicht habe ich in erster Linie von dem Alten gesprochen. [Fußnote 2: Auf mein Testament hätte man sich nicht berufen dürfen: in einem solchen beurteilt man sich sehr streng, weil man sich rüstet, vor das Angesicht _Des_ Richters zu treten, vor Dem kein Mensch bestehen kann.] Kurz, alle diese einseitigen Folgerungen gescheiter Leute, die ich überdies gar nicht für einseitig gehalten hatte, dieses Deuteln und am Worte Hängenbleiben, statt sich an den Sinn und Geist des Buches zu halten, beweisen mir nur, daß niemand sich bei der Lektüre meines Buches in einer ruhigen Gemütsstimmung befand; daß sich schon ein bestimmtes Vorurteil herausgebildet hatte, noch ehe das Buch erschienen war, und daß jedermann es bereits von einem festen vorher eingenommenen Standpunkt betrachtete; so kam es, daß alle nur das bemerkten, was sie in ihrem Vorurteil bestärkte und reizte, und an allem vorübergingen, was geeignet war, dies Vorurteil zu zerstören und den Leser zu beruhigen. Diese seltsame Gereiztheit hatte einen so hohen Grad erreicht, daß sie sogar alle Gesetze des Anstandes außer acht ließ, die man bisher einem Schriftsteller gegenüber noch zu beobachten pflegte. Man sagte es dem Verfasser beinahe ins Gesicht, daß er verrückt geworden sei, und man empfahl ihm allerlei Rezepte gegen seine geistige Zerrüttung. Ich kann nicht leugnen, daß es mich noch mehr betrübt hat, wenn ebenfalls gescheite und nicht einmal sehr erregte und gereizte Leute öffentlich in der Presse erklären, mein Buch enthalte nichts Neues, und wenn es etwas Neues darin gäbe, so sei es nicht wahr, sondern unrichtig und unwahr. Das erschien mir sehr hart. Wie es sich auch immer damit verhalten möge, das Buch enthielt meine Seelenbeichte, es war der Erguß meines Herzens und meines Inneren. Noch bin ich nicht öffentlich für einen ehrlosen Menschen erklärt worden, dem man kein Vertrauen schenken darf. Ich kann Fehler machen, ich kann mich irren wie jeder Mensch, ich kann eine Unwahrheit sagen, wie ja der ganze Mensch -- eine einzige Lüge ist; aber alles, was meinem Herzen und meiner Seele entströmt ist, eine Lüge zu nennen -- das ist zu hart. Das ist ebenso ungerecht wie die Behauptung, daß mein Buch nichts Neues enthalte. Die Bekenntnisse eines Menschen, der mehrere Jahre ganz für sein inneres Ich gelebt hat, nur mit sich selbst beschäftigt war, der sich selbst zu erziehen versucht hat wie einen Schüler, um sich einen wenn auch späten Ersatz für die in seiner Jugend verlorene Zeit zu schaffen, der überdies den andern Menschen nicht völlig gleicht, sondern gewisse Eigenschaften besitzt, die ihm allein angehören -- die Bekenntnisse eines solchen Menschen können unmöglich so gar nichts Neues enthalten. Wie dem aber auch sei, in einer Angelegenheit, an der die Seele beteiligt ist, darf man kein so entscheidendes Urteil fällen. Einem solchen Fall gegenüber wird selbst der tiefste Seelenkenner nachdenklich werden müssen. In Angelegenheiten, die die Seele betreffen, ist es sogar schwierig, über einen gewöhnlichen Menschen zu richten. Es gibt Dinge, die sich der kühlen Erwägung, dem Räsonnement eines Menschen entziehen, selbst wenn dieser noch so klug sein sollte, und die man nur in solchen Augenblicken und in einer solchen Seelenstimmung versteht, wo unsere eigene Seele das Bedürfnis zu einer Aussprache, zu einer Beichte hat, wo sie Verlangen trägt, in sich zu gehen und nicht über andere, sondern über sich selbst Gericht zu halten. Kurz, die große Sicherheit, mit der diese Urteile gefällt wurden, schien mir von dem großen Selbstvertrauen des Urteilenden zu zeugen -- von seinem stolzen Vertrauen auf seine Vernunft und die Überlegenheit seiner Ansicht. Ich sage das hier nicht deswegen, um jemand zu tadeln, sondern nur, um darauf hinzuweisen, wie wir bei jedem Schritt Gefahr laufen, in denselben Fehler zu verfallen, den wir soeben erst bei einem unserer Brüder gerügt haben; wie wir, indem wir einem anderen sein hochmütiges Selbstvertrauen zum Vorwurf machen, zugleich durch unsere eigenen Worte einen Beweis für unseren eigenen Hochmut und unser Selbstvertrauen liefern; wie wir, während wir einem anderen Intoleranz vorwerfen, zugleich selbst unduldsam und kleinlich werden. Jedenfalls zeugt es von einer vornehmen Gesinnung, wenn jemand den Mut hat, dies einzugestehen, und sich nicht schämt, öffentlich und vor allen Leuten zu erklären, er habe sich geirrt. Aber genug davon. Nicht um meine moralischen Qualitäten zu verteidigen, erhebe ich hier meine Stimme. Nein, ich halte es lediglich für meine Pflicht, auf eine Frage zu antworten, die fast einstimmig von seiten sämtlicher Leser aller meiner früheren Werke an mich gerichtet worden ist -- auf die Frage nämlich: warum ich jene literarische Gattung und jene Sphäre aufgegeben habe, die ich einmal in Besitz genommen hatte und die ich beherrschte, über die ich fast Herr war, und warum ich mich einem neuen, mir fremden Genre zuwandte. Um auf diese Frage zu antworten, habe ich mich entschlossen, offenherzig und in möglichster Kürze die ganze Geschichte meiner literarischen Tätigkeit zu erzählen, um einem jeden Gelegenheit zu geben, mich gerechter zu beurteilen. Der Leser soll sehen können, ob ich die Sphäre meines Schaffens wirklich gewechselt und ob ich auf eigene Verantwortung zu grübeln und klügeln begonnen habe, in der Absicht, meinem Schaffen eine andere Richtung zu geben; man wird anerkennen müssen, daß sich an meinem Schicksal wie an allen anderen Dingen der Eingriff Dessen offenbart, Der über die Welt gebietet, und zwar nicht immer so, wie _wir_ dies wünschen, und gegen Den der Mensch nicht anzukämpfen vermag. Vielleicht wird meine treuherzige Geschichte wenigstens etwas davon erklären, was vielen in meinem vor kurzem veröffentlichten Buche als ein so unlösliches Rätsel erscheint. Wenn dies der Fall sein sollte, so würde mich das aufrichtig freuen, weil diese ganze merkwürdige Angelegenheit mich sehr mürbe und müde gemacht hat, und weil es mir nach diesem Wirbelsturm von Mißverständnissen sehr schwer ums Herz ist. Ich kann nicht mit voller Bestimmtheit sagen, ob der Schriftstellerberuf mein eigentlicher Beruf ist. Ich weiß nur das eine: daß in den Jahren, als ich über meine Zukunft nachzudenken begann (und ich begann schon sehr früh über meine Zukunft nachzudenken, d. h. zu einer Zeit, als alle meine Altersgenossen nur ans Spielen dachten), daß mir damals der Gedanke, ich könnte Schriftsteller werden, nie in den Sinn kam, obwohl es mir immer so schien, daß ich noch einmal ein berühmter Mann werden könnte, daß mir ein großes weites Wirkungsfeld offen stände und daß ich einmal etwas für das allgemeine Wohl leisten würde. Ich dachte einfach, ich würde mich empordienen und dies alles würde mir durch den Staatsdienst gelingen. Daher hatte ich in meiner Jugend eine sehr starke Neigung für den Staatsdienst. Mein Kopf war beständig davon erfüllt, und alles, was ich tat und womit ich mich beschäftigte, tat ich im Hinblick darauf. Meine ersten Versuche, meine ersten dichterischen Experimente, in denen ich es während der letzten Schuljahre zu einer gewissen Fertigkeit brachte, hatten fast alle einen ernsten und lyrischen Charakter. Weder ich selbst, noch meine Schulkameraden, die sich mit mir in der Schriftstellerei versuchten, dachten je daran, daß ich einmal ein komischer und satirischer Autor werden könnte, obwohl ich trotz meiner melancholischen Naturanlage oft zum Scherzen aufgelegt war und sogar andere Leute mit meinen Späßen belästigte, und obgleich sich schon in meinen frühesten Urteilen über die Menschen eine gewisse Fähigkeit, bestimmte charakteristische Eigenheiten sowie gröbere und feinere und komische Charakterzüge, die von anderen nicht bemerkt werden, zu entdecken, bemerkbar machte. Man sagte, ich verstünde es, -- ich möchte nicht sagen, die Menschen _nachzuäffen_ oder zu parodieren, -- sondern sie zu _erraten_, d. h. zu erraten, was ein Mensch in dieser oder jener Situation sagen würde, unter völliger Wahrung seiner Anschauungsweise, seiner Denkart sowie seiner Art, sich auszudrücken. Aber ich brachte dies alles nicht zu Papier, ja ich dachte gar nicht einmal daran, daß ich diese Fähigkeit noch einmal verwerten würde. Die heitere fröhliche Stimmung, die sich in den ersten Schriften, die von mir im Druck erschienen, bemerkbar machte, hatte ihren Grund in einem gewissen seelischen Bedürfnis. Ich hatte oft unter Anfällen einer mir selbst völlig unerklärlichen Melancholie zu leiden, die vielleicht eine Folge meines krankhaften Zustandes war. Um mich zu zerstreuen, dachte ich mir die komischsten Dinge aus, die sich nur ersinnen lassen. Ich stellte mir komische Personen und Charaktere vor, die ich völlig aus dem Kopfe erfand, und versetzte sie in Gedanken in die komischsten Situationen, ohne mir viele Sorgen zu machen, wozu das gut sei und was für einen Nutzen das haben könne. Es war die Jugend in mir, die mich dazu veranlaßte, die Jugend, der ja noch keinerlei Fragen durch den Kopf gehen. Das ist der Ursprung meiner ersten Werke, die die einen ebensosehr zu einem sorglosen naiven Lachen reizten, wie mich selbst, während sich andere erstaunt fragten, wie einem vernünftigen Menschen nur solche Torheiten einfallen konnten. Vielleicht hätte diese Lustigkeit allmählich und zugleich mit dem Bedürfnis nach Zerstreuung aufgehört, ebenso wie meine schriftstellerische Tätigkeit. Allein Puschkin veranlaßte mich, diese Sache ernster anzusehen. Er hatte mich schon längst dazu zu überreden gesucht, ich sollte ein großes Werk in Angriff nehmen, und als ich ihm einmal den kurzen Entwurf einer kleinen Szene vorlas, der jedoch einen weit stärkeren Eindruck auf ihn machte, als alles, was ich ihm bis dahin vorgelesen hatte, sagte er zu mir: »Wie ist es nur möglich, daß Sie bei dieser Fähigkeit, den Charakter eines Menschen zu erraten und durch wenige Züge ganz vor einem erstehen zu lassen, wie er leibt und lebt, -- wie ist es nur möglich, daß Sie sich bei dieser Fähigkeit nicht entschließen, ein großes Werk zu schreiben! Das ist einfach eine Sünde!« Hierauf hielt er mir meine schwächliche Konstitution und meine körperlichen Gebrechen vor, die meinem Leben früh ein Ziel setzen könnten; er führte das Beispiel des Cervantes an, der zwar bereits früher ein paar ausgezeichnete, vortreffliche Erzählungen verfaßt hatte, jedoch niemals _die_ Stelle unter den Schriftstellern einnehmen würde, die er heute inne hat, wenn er sich nicht entschlossen hätte, den Don Quijote zu schreiben, und schließlich trat er mir sein eigenes Sujet ab, aus dem er eine Art Poem hatte machen wollen und das er, wie er mir sagte, keinem anderen außer mir überlassen hätte. Dieser Stoff waren »Die toten Seelen«. (Die Idee zum »Revisor« stammt gleichfalls von ihm.) Diesmal wurde auch ich ernstlich nachdenklich -- um so mehr, als ich bereits in die Jahre zu kommen begann, wo man sich bei jeder Tat, die man vollbringen will, ganz von selbst die Frage vorlegt: warum und zu welchem Zweck willst du dies tun? Ich erkannte, daß ich in meinen Werken sinnlose Scherze trieb und spottete, ohne eigentlich zu wissen, wozu ich das tat. Wenn man schon spottet, so ist es doch besser, man lacht und spottet kraftvoll und über Dinge, die wirklich den allgemeinen Spott verdienen. Im »Revisor« wollte ich alles Schlechte und Häßliche, das es in Rußland gibt, soweit es mir damals bekannt war, zusammentragen und anhäufen, alle Mißbräuche, die an allen den Stellen und in allen den Fällen vorkommen, wo gerade Gerechtigkeit und Redlichkeit vom Menschen verlangt werden, und dies alles auf einmal verspotten. Die Wirkung war bekanntlich eine furchtbare, erschütternde. Durch das Gelächter hindurch, das sich mir noch nie mit einer solchen Gewalt entrungen hatte, vernahm der Leser etwas wie Kummer und Schmerz. Ich selbst fühlte, daß mein Lachen nicht mehr das Lachen von ehedem war, daß ich in meinen Werken nicht mehr derselbe sein konnte, der ich früher war, und daß das Bedürfnis, mich durch harmlose heitere Szenen zu zerstreuen, zugleich mit meinen jungen Jahren verschwunden war. Nach dem Revisor empfand ich mehr denn je das Bedürfnis, ein umfassendes Werk zu schreiben, das mehr enthielt als lediglich Dinge, über die man lachen mußte. Puschkin fand, daß der Stoff der »Toten Seelen« sich gerade darum so gut für mich eignete, weil er eine vortreffliche Gelegenheit bot, ganz Rußland in Gesellschaft des Helden nach allen Richtungen zu durchqueren und eine ganze Reihe völlig verschiedener Charaktere an uns vorüberziehen zu lassen. Ich ging ans Werk und fing an zu schreiben, ohne mir einen detaillierten Plan ausgearbeitet und ohne mir darüber Rechenschaft gegeben zu haben, was für ein Mensch mein Held eigentlich sein mußte. Ich dachte mir einfach, daß der komische Plan, mit dessen Durchführung Tschitschikow beschäftigt war, mir schon von selbst die Idee zu allerhand verschiedenen Personen und Charakteren eingeben und daß die Spott- und Lachlust, die sich in mir regte, schon von selbst eine Reihe von komischen Momenten und Phänomenen erzeugen würde, die ich mit rührenden Elementen mischen wollte. Aber bei jedem Schritt, den ich tat, mußte ich mir die Frage vorlegen: welchen Sinn? welchen Zweck hat das? was soll dieser Charakter zum Ausdruck bringen? was hat diese Erscheinung zu bedeuten? Es fragt sich nun: was soll man tun, wenn sich einem derartige Fragen aufdrängen? Soll man sie verscheuchen? Ich versuchte es damit; allein da erstanden Fragen vor mir, denen ich mich nicht zu entziehen vermochte. Da ich nichts von einer Nötigung empfand, meinen Helden gerade zu solch einem Menschen und zu keinem anderen zu machen, konnte ich auch keine Liebe für die Aufgabe empfinden, ihn darzustellen. Im Gegenteil, ich empfand etwas wie Ekel davor: alles kam gewaltsam und gezwungen heraus, und sogar das, worüber ich lachte, wirkte traurig und deprimierend. Ich sah mit voller Klarheit ein, daß ich nicht mehr ohne einen ganz bestimmten und klaren Plan zu schreiben vermochte, daß ich mir erst selbst den Zweck meines Werks völlig deutlich machen, mir über seinen wirklichen Nutzen und seine Notwendigkeit klar werden müßte, was erst den Dichter mit einer starken und wahren Liebe für sein Werk erfüllt, die alles belebt und ohne die die Arbeit nicht vorwärtsschreitet -- kurz, daß der Autor das Gefühl und die Überzeugung haben muß: indem er an seinem Werk arbeite, erfülle er gerade _die_ Pflicht, die seine irdische Bestimmung ausmache, und für die ihm alle seine Gaben und Fähigkeiten verliehen seien, und indem er diese Pflicht erfülle, diene er zugleich seinem Staate, wie wenn er tatsächlich im Staatsdienst stünde. Der Gedanke an den Staatsdienst verließ mich nie. Ehe ich den Schriftstellerberuf wählte, wechselte ich mehrmals meine Tätigkeit und meine Stellung, um zu erfahren, für welchen Beruf ich mich am besten eignete, aber ich war weder mit dem Dienst noch mit mir selbst, noch mit denen zufrieden, die meine Vorgesetzten waren. Ich wußte damals noch nicht, wie viel mir dazu fehlte, um dem Staate so dienen zu können, wie ich ihm dienen wollte. Ich wußte damals nicht, daß man dazu jede persönliche Empfindlichkeit, Eitelkeit und Selbstüberhebung in sich besiegen müsse und keinen Augenblick vergessen dürfe, daß man seine Stellung nicht um seines persönlichen Glückes, sondern um des Wohles vieler solcher willen innehat, die da unglücklich werden würden, wenn ein edler Mann seinen Posten im Stiche läßt, und daß man allen persönlichen Kummer und alle Kränkungen vergessen müsse. Ich wußte damals noch nicht, daß der, der Rußland wahrhaft und ehrlich dienen will, sehr viel Liebe für sein Vaterland besitzen muß, eine Liebe, die alle anderen Gefühle in sich aufgesogen hat, daß man sehr viel Liebe für den Menschen im allgemeinen besitzen und ein wahrhafter Christ im vollen Sinn dieses Wortes sein muß. Daher ist es auch kein Wunder, wenn ich, der ich diese Eigenschaften nicht besaß, auch meinen Dienst nicht so ausüben konnte, wie ich es wollte, obwohl ich tatsächlich förmlich darauf brannte, meinem Lande ehrlich zu dienen. Sowie ich jedoch fühlte, daß ich dem Staate auch als Schriftsteller zu dienen vermag, gab ich alles andere auf: meine früheren Stellen, Petersburg, die Gesellschaft, die meinem Herzen nahestehenden Freunde, ja sogar Rußland, um in der Fremde und in der Einsamkeit fern von allen Menschen zu erwägen, wie ich es durchführen, wie ich mein Werk so gestalten, wie ich mit ihm den Beweis liefern könnte, daß ich gleichfalls ein Bürger meines Vaterlandes gewesen bin, und daß ich ihm hatte dienen wollen. Je mehr ich über mein Werk nachdachte, um so mehr fühlte ich, daß ich die Charaktere nicht auf gut Glück wählen durfte, wie sie sich mir gerade darboten, sondern nur solche Menschen darstellen mußte, an denen sich unsere wahren wesenhaften russischen Charakterzüge am stärksten und deutlichsten offenbarten. Ich wollte in meinem Werk vor allem jene höheren Züge der russischen Natur darstellen, die noch nicht von allen richtig eingeschätzt werden, sowie ferner und in erster Linie jene gemeinen und niedrigen Charaktereigenschaften, die von allen noch nicht genügend verlacht und gegeißelt werden. Ich wollte nur die hervorstechendsten charakteristischen psychologischen Phänomene zusammentragen und meine Beobachtungen über die Menschen zusammenfassen, die ich seit langen Jahren insgeheim gemacht hatte und die ich nur noch nicht dem Papier hatte anvertrauen wollen, da ich mir bewußt war, noch nicht die rechte Reife erworben zu haben; denn diese Beobachtungen konnten, richtig dargestellt, viel zur Enträtselung mancher Seiten unseres Lebens beitragen, kurz -- ich wollte, daß dem Leser bei der Lektüre meines Buches der russische Mensch, mit all seinen reichen mannigfaltigen Gaben und Fähigkeiten, die _ihm_ allein im Unterschiede von den anderen Völkern verliehen waren, aber auch mit der ganzen großen Menge von Fehlern, die ihm gleichfalls im Unterschied von den anderen Völkern eigen sind, vor Augen treten sollte. Ich glaubte, die lyrische Kraft, von der ich einen genügenden Vorrat besaß, würde mir helfen, diese Vorzüge so darzustellen, daß der Russe von einer heißen Liebe zu ihnen entbrennen würde, und die Gewalt des Lachens, von der ich gleichfalls einen genügenden Vorrat mein eigen nannte, würde es mir ermöglichen, seine Fehler und Mängel in so leuchtenden Farben zu schildern, daß den Leser ein tiefer Haß gegen sie erfassen würde, selbst wenn er sie in sich selbst entdecken sollte. Aber ich fühlte zugleich, daß ich dies alles nur dann vollbringen könnte, wenn ich mir selbst völlig darüber klar geworden war, was nun die wirklichen Vorzüge unseres Wesens und welches seine wahren Mängel und Fehler sind. Man muß sich beides genau überlegen und es gegeneinander abschätzen, man muß es sich ganz klarmachen, um nicht eine unserer Schwächen in eine Tugend zu verwandeln und nicht zugleich mit unseren Fehlern auch unsere Vorzüge dem Gelächter preiszugeben. Ich wollte meine Kraft nicht unnütz vergeuden. Seitdem man mir vorwarf, ich spottete nicht nur über die Fehler, sondern über die Menschen, die gewisse Schwächen haben, im allgemeinen, und nicht nur über den _ganzen_ Menschen, sondern auch über seine Stellung und das Amt, das er innehat (was mir nie auch nur in Gedanken eingefallen ist), da sah ich ein, daß man sehr vorsichtig mit dem Spott umgehen müsse -- um so mehr, da er ansteckend wirkt; ein witziger Mensch braucht nur irgendeine Seite einer Sache ins Lächerliche zu ziehen, damit die Dümmsten und Stumpfsinnigsten sofort über deren sämtliche Seiten lachen. Kurz, es wurde mir so klar wie der Satz: zwei mal zwei ist vier, daß ich nicht eher an die Arbeit gehen durfte, als bis ich mir ganz genau darüber klar geworden war, worin das Hohe und das Gemeine, worin die Vorzüge und die Mängel unseres russischen Wesens bestehen; um sich jedoch über das russische Wesen klar zu werden, muß man zunächst die menschliche Natur und die Seele des Menschen im allgemeinen kennen lernen: ohne dies wird man nie den richtigen Standpunkt finden, von dem aus einem die Vorzüge und Mängel eines jeden Volkes deutlich sichtbar werden. Seit dieser Zeit wurden der Mensch und die Seele des Menschen mehr denn je Gegenstand meines Studiums. Ich wandte mich für eine Zeitlang gänzlich von der Gegenwart ab: ich hatte vor allem das Interesse, jene ewigen Gesetze kennen zu lernen, die den Menschen und die Menschheit im allgemeinen beherrschen. Die Werke der Gesetzgeber, der Seelenforscher und Erforscher der menschlichen Natur wurden von nun ab meine Lektüre. Mich begann alles zu interessieren, worin sich eine gewisse Menschenkenntnis und eine Kenntnis der Menschenseele offenbarte, von dem Wissen eines Weltmannes bis zu dem eines Anachoreten und Einsiedlers, und auf diesem Wege sah ich mich ganz unmerklich und beinahe ohne daß ich selbst wußte, wie dies geschah, zu Christus geführt, denn ich sah, daß er der Schlüssel zur Seele des Menschen war, und daß noch kein Seelenkenner sich je auf jene Höhe der Seelenkenntnis erhoben hatte, die er erreicht hat. Ich prüfte alles mit dem Verstande nach und überzeugte mich so davon, was anderen durch den Glauben völlig klar ist und was ich bisher nur dunkel und unbestimmt geahnt hatte. Und zu demselben Ergebnis brachte mich die Analyse meiner eigenen Seele: ich sah mit mathematischer Klarheit ein, daß man auf Grund von Vorstellungen unserer Einbildungskraft nicht über die höheren Regungen und Gefühle des Menschen reden und schreiben könne; man muß wenigstens etwas davon in sich selbst tragen -- kurz, man muß zuvor selbst besser werden. Das mag sehr sonderbar erscheinen, besonders denen, die in ihrer Jugend eine gründliche und umfassende Bildung genossen haben. Ich muß jedoch sagen, daß ich in der Schule eine recht schlechte Erziehung erhalten hatte, und daher ist es kein Wunder, daß der Gedanke, ich müßte noch etwas lernen, sich mir erst in reiferem Alter aufdrängte. Ich begann mein Studium mit so elementaren Büchern, daß ich mich geradezu schämte, anderen Menschen zu verraten, womit ich mich beschäftigte, ja, ich suchte es vor ihnen zu verheimlichen. Ich begann nunmehr nicht so sehr beim Studium von Büchern -- als vielmehr bei meinen einfachen sittlichen Übungen auf mich zu achten, wie ein Lehrer auf seinen Schüler, und ich betrachtete mich selbst als Lehrling. Ich habe auch etwas von diesen Experimenten, die ich an mir selbst vollzog, in das Buch meiner Briefe aufgenommen, nicht etwa, um damit zu prahlen (ich wüßte auch nicht, womit man hier prahlen könnte!), sondern in der allerbesten Absicht: vielleicht konnte jemand Nutzen daraus ziehen. Ich war fest davon überzeugt, daß viele gleich mir eine schlechte Schulbildung genossen haben, plötzlich zur Besinnung kommen und den ehrlichen Wunsch fassen konnten, das Verlorene nachzuholen und wieder gutzumachen. Ich hatte oft gehört, daß viele sich darüber beklagten, sie könnten sich nicht mehr von ihren schlechten Gewohnheiten befreien, trotz des heißesten Wunsches, sie loszuwerden. Ich nahm dies also in mein Buch auf, nachdem ich es, so gut es ging, dem übrigen angepaßt hatte, aber ich nahm es erst auf, nachdem ich mich durch die Erfahrung davon überzeugt hatte, daß sich manches davon verschiedenen Personen, die ich kannte, heilsam erwiesen hatte. Denen jedoch, die es mir zum Vorwurf machen, daß ich mein ganzes Innere zur Schau gestellt habe, kann ich erwidern, daß ich immerhin noch kein Mönch, sondern ein Schriftsteller bin. Ich habe in diesem Falle so gehandelt, wie alle Schriftsteller, die ausgesprochen haben, was ihre Seele bedrückte. Wenn Karamsin während seiner schriftstellerischen Tätigkeit ein ähnliches Erlebnis gehabt hätte, er hätte es sicherlich in derselben Weise zum Ausdruck gebracht. Aber Karamsin hatte in der Jugend eine gute Erziehung genossen. Er eignete sich erst die Bildung an, die dazu gehört, um ein Mensch und ein Bürger zu sein, ehe er als Schriftsteller auftrat. Mir ging es anders. Ich konnte mir nicht denken, daß jemand daran Anstoß nehmen könnte, wenn ich öffentlich erklärte, ich strebte danach, besser zu sein als ich bin. Ich finde nichts Anstößiges dabei, daß ein Mensch sich qualvoll danach sehnt und im Angesichte aller Menschen von dem Verlangen, vollkommen zu sein, verzehrt wird, wenn doch selbst Gottes Sohn vom Himmel zu uns herabgestiegen ist, um uns zu sagen: »Seid vollkommen wie unser Vater im Himmel!« Was endlich den Vorwurf anbelangt, daß ich in meinem Buch, nur um mit meiner Demut und Bescheidenheit zu prahlen, eine Selbstverkleinerung an den Tag gelegt hätte, die schlimmer sei als jeder Stolz und Hochmut, so muß ich darauf erwidern, daß bei mir weder von Selbstverkleinerung noch Demut die Rede ist. Wer solches aus meinem Buche herausgelesen hat, hat sich durch die Ähnlichkeit gewisser Kennzeichen und Merkmale täuschen lassen. Ich kam mir in der Tat widerwärtig vor, aber nicht etwa aus Demut, sondern weil sich in meinem Geiste mit der Zeit immer deutlicher das Ideal des schönen Menschen herausarbeitete, jenes herrliche Vorbild des Menschen, wie er sich hier auf Erden darstellen sollte, und wenn ich daran dachte, so ergriff mich jedesmal ein Ekel vor mir selbst. Das aber ist nicht Demut, sondern eher ein Gefühl, das ein neidischer Mensch hat, wenn er sieht, daß ein anderer einen besseren und schöneren Gegenstand in Händen hält, als er selbst, den seinen wegwirft und nichts mehr von ihm wissen will. Dazu hatte ich das Glück gehabt, während meines Lebens, besonders aber während der letzten Zeit, einige Menschen kennen zu lernen, deren geistige und seelische Qualitäten mir so groß erschienen, daß meine eigenen daneben verblaßten, und ich zürnte mir immerfort, weil ich das nicht besaß, was andere besaßen. Man hätte also höchstens das Recht, meinen mißgünstigen und neidischen Charakter im allgemeinen verantwortlich zu machen und anzuklagen. Aber ich will zu meiner Lebensgeschichte zurückkehren. Eine Zeitlang waren also der Gegenstand meiner Studien nicht Rußland und die Menschen in Rußland, sondern der Mensch und die menschliche Seele im allgemeinen. Alles führte mich in dieser Zeit auf die Erforschung der Gesetze unserer Seele hin: mein eigener Seelenzustand und endlich auch die äußeren Verhältnisse, über die wir keine Macht haben und die mich jedesmal gegen meinen Willen veranlaßten, mich wieder meinem Gegenstand zuzuwenden, sowie ich ihn einmal verlassen hatte. Mehrmals griff ich zur Feder, weil man mir den Vorwurf machte, ich täte nichts; ich wollte mich gewaltsam dazu zwingen, etwas zu schreiben, sei es nun eine kleine Erzählung oder irgendeinen literarischen Essay, aber ich vermochte durchaus nichts zu produzieren. Alle meine Anstrengungen endigten meist mit Unwohlsein, schweren Leiden und schließlich sogar mit solchen Anfällen, die mich dazu nötigten, jede Beschäftigung für lange Zeit gänzlich aufzugeben. Was sollte ich tun? War ich etwa schuld daran, daß ich nicht imstande war, nochmals zu wiederholen, was ich schon einmal in jüngeren Jahren gesagt und geschrieben hatte? Als ob es im Menschenleben einen doppelten Frühling gibt! Und wenn jeder Mensch beim Übergang aus einem Lebensalter in das andere unvermeidlich eine solche Verwandlung durchmachen muß, warum soll allein der Schriftsteller eine Ausnahme davon machen? Ist denn der Schriftsteller nicht auch nur ein Mensch? Ich wich nicht von meinem Wege ab. Ich verfolgte meinen Pfad immer weiter. Ich behielt immer denselben Gegenstand im Auge: das Objekt meines Studiums war -- das Leben, und nichts anderes. Ich suchte das Leben, so wie es in Wirklichkeit ist, und nicht etwa so, wie es sich in den Träumen unserer Phantasie darstellt, und so fand ich schließlich Den, Der die Quelle des Lebens ist. Seit meiner frühsten Jugend hatte ich eine leidenschaftliche Vorliebe dafür, den Menschen zu beobachten, seine Seele aus seinen feinsten Zügen und Regungen, die die Menschen nicht beachten, abzulesen, -- und so wurde ich zu Ihm geführt, Der allein die Seele ganz durchschaut und mit Dessen Hilfe allein ich zu einer vollständigen Kenntnis der Seele gelangen konnte. Ich beruhigte mich nicht eher, als bis ich die Lösung einiger eigener Fragen, die sich auf mich selbst bezogen, gefunden hatte; und erst, als ich mir über einige Hauptfragen im klaren war, konnte ich wieder an mein Werk gehen, dessen erstes Buch bis heute noch ein Rätsel darstellt; denn es spiegelt zum Teil noch jenen Übergangszustand, in dem sich meine Seele befand, als sie noch nicht alles von sich abgestoßen hatte, was sich einmal von mir ablösen sollte. Sowie dieser Zustand in mir überwunden und mein Verlangen nach Erkenntnis des Menschen im allgemeinen befriedigt war, begann sich in mir der lebhafte Wunsch zu regen, Rußland näher kennen zu lernen. Ich knüpfte Bekanntschaften mit Menschen an, von denen ich etwas lernen und von denen ich erfahren konnte, was in Rußland vorgeht; ich suchte erfahrene Männer der Praxis aus allen Ständen kennen zu lernen, die alle Mißbräuche und Machenschaften in Rußland kannten. Ich wollte Bekanntschaft mit Menschen aus allen Ständen machen und von jedem etwas erfahren. Jeder Beamte, jeder Mensch, der irgendeine Beschäftigung hatte, erschien mir interessant. Vor allem aber wollte ich mir einen genauen Begriff von jedem Beruf, jedem Stand, jeder Stellung und jedem Amt im Staate bilden. Mir erschien das als eine Notwendigkeit für jeden Schriftsteller, der Menschen aus allen Berufen schildert. Wenn man nicht einen Begriff von der ganzen Pflicht und allen Aufgaben des Menschen, den man schildern will, in seinem Kopfe hat, wird es einem nie gelingen, den Menschen wahrheitsgetreu, richtig und so darzustellen, daß sich die Lebenden daraus eine Lehre ziehen, daß sie daraus etwas lernen können. Deshalb knüpfte ich einen Briefwechsel mit solchen Leuten an, die mir irgendwelche Tatsachen mitteilen konnten. Die übrigen bat ich, flüchtige Porträts und Charakterskizzen von Leuten für mich herzustellen, und zwar von den ersten besten, denen sie auf ihrem Wege begegneten. Das alles brauchte ich nicht deshalb, weil ich keine genügende Anzahl von Charakteren oder keinen Helden im Kopfe gehabt hätte; daran hatte ich keinen Mangel; diese Figuren entsprangen mir in meiner Phantasie aus einer weit vollständigeren und umfassenderen Erkenntnis der menschlichen Natur, als ich sie jemals gehabt hatte; ich brauchte diese Tatsachen ganz einfach, so wie ein Künstler, der ein großes Gemälde, eine eigene Komposition malt, nach der Natur gemalte Skizzen braucht. Er überträgt diese Skizzen nicht auf sein Bild, sondern hängt sie ringsum an den Wänden auf, um sie beständig vor Augen zu haben, und um nie einen Verstoß gegen die Natur, gegen die Zeit oder Epoche zu begehen, die er sich für die Darstellung ausersehen hat. Ich habe nie etwas rein aus der Phantasie geschöpft und erzeugt, ich besaß nie diese Fähigkeit. Mir glückte immer nur das, was ich aus dem wirklichen Leben und aus Tatsachen schöpfte, die mir bekannt waren. Einen Menschen erraten konnte ich nur dann, wenn ich mir seine äußere Gestalt bis auf die feinsten Einzelheiten vorstellen konnte. Ich habe nie ein Porträt im Sinne einer bloßen Kopie entworfen. Ich habe ein solches Porträt stets erschaffen, ich erschuf es durch Nachdenken, mit Überlegung und nicht in der reinen Phantasie. Je mehr Dinge ich in Erwägung zog, um so wahrer und treuer ward das, was ich schuf. Ich mußte weit mehr wissen als jeder andere Schriftsteller, denn ich brauchte nur ein paar Einzelheiten zu übersehen oder nicht zu berücksichtigen -- damit das Unwahre und Unrechte der Darstellung weit deutlicher in die Augen sprang als bei einem anderen. Dies vermochte ich niemand klarzumachen, und daher erhielt ich fast niemals solche Briefe, wie ich sie brauchte. Alle wunderten sich und konnten es nicht begreifen, daß ich all diese Kleinigkeiten und Torheiten wissen wollte, während ich doch eine Phantasie besaß, die selbst schaffen und produzieren konnte. Allein meine Phantasie hat mich bisher noch mit keinem einzigen hervorragenden Charakter beschenkt und kein einziges Ding produziert, das mein Auge nicht irgendwo in der Natur entdeckt hätte. Ich habe ein paar Briefe an einige Gutsbesitzer und an verschiedene Beamte in den Briefwechsel mit meinen Freunden aufgenommen (von diesen Briefen ist die große Mehrzahl nicht zum Abdruck gekommen); das habe ich jedoch nicht etwa deswegen getan, damit alle mir zustimmen, sondern gerade deswegen, damit man mich durch Anführung einzelner anekdotischer Züge widerlegen sollte. Derartige Einwände von praktischen und erfahrenen Leuten sind für mich deswegen so wichtig, weil sie mir die Sache selbst näher bringen und mir einen tieferen Einblick in das innere Wesen Rußlands gewähren. Aber man hatte kein Interesse an den Dingen, die jeden Russen etwas angehen, so wenig wie für die Fragen unseres inneren Lebens, statt dessen beschäftigte man sich mit meiner Persönlichkeit und schrieb ganze Bogen darüber voll, ob ich ein Recht habe, mich in solche Angelegenheiten hineinzumengen. Ich richtete um dieselbe Zeit einen Aufruf an alle Leser der »Toten Seelen« -- der nicht sehr taktvoll und recht ungeschickt war. Ich wußte sehr gut, daß viele sich über ihn lustig machen würden, aber ich war fest entschlossen, jeden Spott zu ertragen, wenn ich bloß mein Ziel erreichte. Ich glaubte, daß vielleicht fünf oder sechs Leser meine Bitte _so_ erfüllen würden, wie ich es wünschte. Ich verlangte gar nicht, daß man die Fehler der »Toten Seelen« verbessern sollte: ich hoffte mich unter diesem Vorwande bloß in den Besitz von einigen privaten Aufzeichnungen oder Erinnerungen an einzelne Charaktere und Personen, mit denen der eine oder der andere während seines Lebens zusammengetroffen war, sowie von Berichten über solche Vorfälle zu setzen, von denen ein Hauch ausgeht, der uns an Rußland gemahnt. Ich weiß, daß wir uns alle schwer aufraffen können und daß wir träge sind und nicht recht arbeiten wollen, daher wird es fast jedem von uns schwer, aus seiner Erinnerung zu schöpfen; ich dachte jedoch, die Lektüre der »Toten Seelen« würde die Menschen aufrütteln, besonders wenn sie dabei immer Papier und Bleistift bei der Hand hätten. Ich gab meine Adresse an und bat darum, daß nur die mir in ihren Briefen solche Fälle mitteilen möchten, die sie selbst nicht in der Presse veröffentlichen wollten, im allgemeinen aber hielt ich es für weit nützlicher, sie überall bekanntzumachen. Es kam mir sogar so vor, als ob eine solche Verbreitung von Kenntnissen über Rußland in Form von lebendigen Tatsachen gerade gegenwärtig eine dringende Notwendigkeit sei, denn in unserer Zeit, die man nicht ohne Grund eine Übergangszeit nennt, macht sich bei allen Menschen und auf allen Gebieten ein Streben bemerkbar, überall zu verbessern, zu reformieren, alles umzugestalten, ja dem Übel mit allen Mitteln energisch zu Leibe zu gehen. Ich glaubte, daß wir heute mehr denn je bemüht sein müssen, alles herauszustellen und ans Licht zu bringen, was im Inneren Rußlands vorgeht, damit wir ein Gefühl dafür bekommen, aus was für einer Menge verschiedener Elemente der Grund und Boden besteht, auf dem wir alle unsere Saat ausstreuen wollen; da aber wäre es wirklich besser, wenn wir uns erst einmal ordentlich umsähen und uns die Sache überlegten, bevor wir so über die Dinge aburteilen, wie dies heute alle Leute tun. Ich hegte die geheime Hoffnung, daß die Lektüre der »Toten Seelen« viele auf die Idee bringen würde, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und daß viele dazu veranlaßt werden könnten, in sich zu gehen, weil auch im Autor während der Zeit, als er die »Toten Seelen« schrieb, eine solche Wendung nach Innen stattgefunden hatte. Ich glaubte, es könnte einem Menschen, der bereits den Gipfel seines Lebens erstiegen hat, von dem der Weg nur noch abwärts gehen kann, und der von dem Gedanken beunruhigt wird, sein Leben sei nutzlos verstrichen und er habe nur wenig für das allgemeine Wohl und sein Land geleistet, lebhafter zum Bewußtsein kommen, daß er durch eine getreue und lebendige Darstellung der Menschen, Charaktere und Ereignisse seiner Zeit die jungen Leute, die erst im Beginn ihrer Wirksamkeit stehen, mit Rußland bekannt machen und sie damit in schöner Weise für seine Untätigkeit entschädigen, ja mehr als entschädigen kann. Ein junger Mann aber, der seine Laufbahn erst eben beginnt, dessen Anteilnahme für alle Dinge noch nicht erkaltet ist, der daher noch einen frischen lebendigen Blick besitzt und der alles mit starkem Interesse verfolgt, könnte die heutige Zeit so darstellen, wie sie dem Auge des Jünglings erscheint. Kurz, ich dachte wie ein Kind; ich täuschte mich in manchen Leuten: ich glaubte, daß in einem Teil meiner Leser noch ein Funke von Liebe lebte. Ich wußte damals noch nicht, daß mein Name nur deshalb so populär ist, weil er einzelnen Leuten die Möglichkeit und das Recht zu geben schien, anderen etwas vorzuwerfen und sich gegenseitig übereinander lustig zu machen. Ich glaubte, daß viele durch mein Gelächter hindurch das Gute in meiner Natur, in meinem Ich erkennen, das ja gar nicht aus böser Absicht lachte oder spottete. Aber ich erhielt keine Aufzeichnungen zugeschickt, trotz meiner Aufforderung, und in den Zeitschriften erwiderte man mir nur mit Hohn und Spott. Ich führe dies alles nur deswegen an, um zu beweisen, daß ich alle meine Kräfte angespannt habe, um meinem Berufe treu zu bleiben, daß ich über alle nur möglichen Mittel nachgesonnen habe, die meine Arbeit fördern könnten, ich ließ es mir keinen Augenblick auch nur einfallen, meinen Schriftstellerberuf aufzugeben. Bei dieser Gelegenheit muß ich übrigens erwähnen, daß viele ihr Erstaunen darüber geäußert haben, daß ich ein solches Bedürfnis nach Daten über Rußland habe und dabei selbst fern von Rußland im Auslande bleibe, diese Leute haben es sich nicht überlegt, daß ich, ganz abgesehen von meinem leidenden Zustand, der für mich einen Aufenthalt in einem warmen Klima nötig machte, gerade eine solche Entfernung von Rußland brauchte, um mit meinen Gedanken um so intensiver in Rußland verweilen zu können. Für die, die mir das nicht nachzufühlen vermögen, will ich mich hier näher erklären, obwohl es mir etwas schwer wird, hier alles darzulegen, was die Eigenheit meines Wesens ausmacht. Fast alle Schriftsteller, denen es nicht an jeglicher _schöpferischen_ Begabung fehlt, besitzen eine Fähigkeit, die ich die Einbildungskraft nennen will -- eine Fähigkeit, die darin besteht, sich Gegenstände, die einem nicht gegenwärtig sind, so lebhaft vorzustellen, wie wenn sie uns unmittelbar vor Augen stünden. Diese Fähigkeit ist nur dann in uns wirksam, wenn wir uns von den Gegenständen entfernen, die wir beschreiben wollen. Das ist der Grund, weswegen die Dichter sich gewöhnlich solche Epochen zum Gegenstand wählen, die bereits hinter uns liegen, und sich in die Vergangenheit versenken. Indem die Vergangenheit uns von allem, was um uns ist, loslöst, versetzt sie unsere Seele in eine stille ruhige Stimmung, wie sie zur Arbeit erforderlich ist. Ich hatte keine Vorliebe für die Vergangenheit. Mein Gegenstand war die Gegenwart und das Leben in unserer heutigen Welt, vielleicht deswegen, weil mein Geist stets eine Vorliebe für das Wesentliche und Faßliche und für einen greifbaren Nutzen hatte. Mit den Jahren wurde mein Wunsch, ein moderner Schriftsteller zu werden, immer lebhafter. Aber ich sah zugleich ein, daß man, wenn man das gegenwärtige Leben schildern will, nicht beständig in jener erhabenen und ruhigen Stimmung verharren konnte, deren man bedarf, um ein großes und formvollendetes Werk hervorzubringen. Das Gegenwärtige ist viel zu lebendig, es bewegt einen und regt einen zu sehr auf; die Feder des Schriftstellers wird ganz unmerklich und ohne daß man es fühlt, von einer satirischen Anwandlung erfaßt. Dazu sieht man, wenn man selbst mitten unter den Leuten weilt und mehr oder weniger mit ihnen zusammenarbeitet, nur _die_ Menschen vor sich, die sich in unserer Nähe befinden: die ganze Masse, die Menge sieht man nicht, denn man kann nicht alles übersehen. Ich fing also an, darüber nachzugrübeln, wie ich mich den anderen Leuten entziehen und einen solchen Standpunkt einnehmen konnte, von dem ich die ganze Masse und nicht nur _die_ Menschen zu sehen vermochte, die neben mir standen -- wie ich mich so vom Gegenwärtigen entfernen konnte, daß es sich für mich gewissermaßen in Vergangenheit verwandelte. Meine erschütterte Gesundheit und einige kleine Unannehmlichkeiten, die noch dazu kamen und die ich heute mit Leichtigkeit ertragen hätte, mit denen ich dagegen damals noch nicht fertig zu werden vermochte, veranlaßten mich dazu, das Ausland aufzusuchen. Ich habe mich nie nach fremden Ländern hingezogen gefühlt, ich habe nie eine leidenschaftliche Vorliebe für sie gehabt. Auch besaß ich nichts von jener dunklen Neugierde, wie sie Menschen verzehrt, die nach starken Eindrücken dürsten. Aber seltsam! schon während meiner Kinderjahre, selbst während meiner Schulzeit und damals, als ich immer nur an den Staatsdienst und keinen Augenblick daran dachte, daß ich Schriftsteller werden könnte, kam es mir immer so vor, als ob ich dazu bestimmt sei, in meinem Leben noch einmal irgendein großes Opfer zu bringen, und daß ich gerade, um meinem Vaterlande zu dienen, gezwungen sein würde, mich in der Ferne darauf vorzubereiten und zu erziehen. Ich wußte nicht, _wie_ das geschehen würde, noch wozu das nötig sei; ich dachte auch gar nicht darüber nach, ich sah mich jedoch so lebendig vor mir, sah, wie ich mich in einem fremden Lande in Sehnsucht nach meinem Vaterlande verzehre, ja dies Bild verfolgte mich so häufig, daß es mich ganz traurig machte. Vielleicht war das nur jene unbegreifliche poetische Sehnsucht, die auch Puschkin manchmal beunruhigte und ihn veranlaßte, fremde Länder aufzusuchen, lediglich um, wie er sich ausdrückt, Mich unterm Himmel Afrikas Nach Rußlands trüben Gaun zu sehnen. Wie dem auch sein mag, dieser unwillkürliche Drang in mir war so stark, daß noch keine fünf Monate seit meiner Ankunft in Petersburg vergangen waren, als ich bereits ein Schiff bestieg, da ich nicht die Kraft hatte, diesem mir selbst so unbegreiflichen Gefühl zu widerstehen. Der Plan und der Zweck meiner Reise waren sehr verschwommen. Ich wußte nur das eine, daß ich sicherlich nicht _deswegen_ auf Reisen ging, um mich an fremden Ländern zu erfreuen, sondern um schwere Leiden durchzukosten, ganz als ob ich ahnte, daß ich erst jenseits von Rußland den wahren Wert meines Vaterlandes erkennen und mich fern von ihm mit Liebe zu ihm erfüllen würde. Kaum befand ich mich auf See, auf einem fremden Schiffe und unter fremden Leuten (das Schiff war ein englischer Dampfer, auf dem sich keine Menschenseele aus Rußland befand), so wurde mir traurig zumute; ich sehnte mich so sehr nach meinen Freunden und den Kameraden meiner Kindheit, die ich verlassen und die ich stets innig geliebt hatte, daß ich, noch ehe ich das feste Land betreten hatte, schon an die Rückreise dachte. Ich blieb nicht länger als drei Tage im Auslande, und obwohl mich die Neuheit der Gegenstände reizte, beeilte ich mich, auf demselben Dampfer nach Hause zurückzukehren, aus Furcht, daß es mir später vielleicht nicht mehr gelingen könnte, den Weg nach Hause zurückzufinden. Von da ab gab ich mir das Wort, überhaupt nicht mehr an fremde Länder zu denken -- und während der ganzen Zeit meines Petersburger Aufenthaltes, d. h. während voller sieben Jahre kam mir nicht der Gedanke an eine Reise in ein fremdes Land, bis der Zustand meiner Gesundheit, einige schmerzliche Erlebnisse und endlich mein Bedürfnis nach Einsamkeit mich dazu nötigten, Rußland zu verlassen. Zweimal bin ich nachher wieder nach Rußland zurückgekehrt, einmal sogar, um für immer dort zu bleiben. Ich glaubte, jetzt, wo mich ein solches Verlangen erfaßt hatte, mir über alles klar zu werden, würde es mir bestimmt gelingen, vieles in Erfahrung zu bringen. Aber, ist es nicht merkwürdig? Mitten im Herzen Rußlands, sah ich beinahe nichts von Rußland selbst. Alle Menschen, denen ich begegnete, sprachen mit großer Vorliebe davon, was in Europa vorgeht, und dagegen redeten sie nie davon, was in Rußland passiert. Ich erfuhr nur, was man im englischen Klub treibt, und noch einiges andere, was ich schon von selbst wußte. Es ist bekannt, daß jeder von uns seinen eigenen Kreis von nahen Bekannten hat, und daher ist es sehr schwer für ihn, andere Leute, die nicht dazu gehören, kennen zu lernen, erstlich schon deswegen, weil er sich verpflichtet fühlt, möglichst häufig mit den ihm nahestehenden Menschen zusammen zu sein, und ferner, weil ein Kreis von Freunden schon an und für sich so viel Angenehmes hat, daß man sehr viel Selbstaufopferung besitzen muß, um sich ihm zu entziehen. Alle Menschen, die ich kennen lernte, teilten mir immer nur fertige Schlüsse und Folgerungen und nicht bloß schlichte Tatsachen mit, auf die es mir gerade ankam. Überhaupt bemerkte ich, daß eine gewisse Veränderung in den Köpfen und in den Gedanken der Leute vorgegangen war. Jedermann betrachtete die Sache mit einem weit philosophischeren Blick, als man dies jemals früher zu tun pflegte; man wollte stets den geheimsten Sinn und die tiefste Bedeutung einer jeden Sache ergründen: ein Motiv, eine Regung, die darauf hindeutete, daß die Gesellschaft einen mächtigen Schritt vorwärts gemacht hatte. Andererseits entsprang hieraus eine gewisse Übereilung, mit der man sogleich die Schlüsse und Konsequenzen zog und nach zwei bis drei Tatsachen über das Ganze urteilte; man übersah völlig, daß damit noch nicht alle Dinge und nicht alle Seiten einer Sache in Betracht und in Erwägung gezogen waren. Ich bemerkte, daß sich beinahe jeder in seinem Kopfe seine eigene Vorstellung über Rußland gebildet hatte, und das war der Anlaß zu fortwährenden Streitigkeiten. Ich aber brauchte etwas ganz anderes: ich brauchte jene einfachen Unterhaltungen, wie sie noch früher in den alten Zeiten üblich waren, wo jeder bloß das erzählte, was er in seinem Leben gesehen und gehört hatte, und wo ein Gespräch mehr einer Anekdotensammlung als einer Diskussion glich. Das brauchte ich gerade deswegen, weil ich unwillkürlich selbst von dieser hastigen Sucht, sofort übereilte Schlüsse und Folgerungen aus allem zu ziehen -- dieser allgemeinen Tendenz unserer Zeit --, angesteckt war. Noch mehr aber mußte ich mich über unsere Provinz wundern. Dort hörte man nicht einmal den Namen »Rußland« aussprechen. Wie mir schien, waren nur solche Dinge in aller Munde und sprach man nur über solche Gegenstände, die man in den neuesten aus dem Französischen übersetzten Romanen gelesen hatte. Kurz -- während meines ganzen Aufenthalts in Rußland zerfiel und zerstob Rußland förmlich in meinem Kopfe. Ich konnte mir durchaus kein Ganzes daraus gestalten, mein Mut sank, und sogar mein Verlangen, es kennen zu lernen, wurde schwächer. Sowie ich es jedoch verließ, formte es sich mir in Gedanken sogleich wieder zu einem Ganzen, der Wunsch, das Land kennen zu lernen, erwachte aufs neue, und die Lust, jeden frischen Menschen, der frisch aus Rußland eingetroffen war, kennen zu lernen, wurde wieder stark und mächtig in mir. Es bildete sich sogar die Fähigkeit in mir heraus, die Leute auszufragen, und oft erfuhr ich in einem Gespräch von der Dauer einer Stunde, was ich während meines Aufenthaltes in Rußland nicht einmal im Laufe einer Woche in Erfahrung zu bringen vermochte. Jedermann weiß, daß man im Ausland viel leichter Bekanntschaft macht, daß sich in den Bädern Deutschlands und in den Winterstationen Italiens Menschen begegnen, die in ihrem eigenen Lande vielleicht nie miteinander zusammengetroffen wären und die sich ihr ganzes Leben lang nicht kennen gelernt hätten. Das war es, was mich veranlaßte, einem Aufenthalt außerhalb Rußlands den Vorzug zu geben, schon im Hinblick darauf, daß ich auf diese Weise mehr von Rußland erfahren konnte. Ich dachte sehr lange darüber nach, wie ich mich in Rußland selbst über vieles unterrichten könnte, was dort vorgeht. Durch Reisen im Lande selbst erreicht man nicht viel: das einzige, was man davon im Kopfe behält, sind die Stationen und die Kneipen. In den Städten und Dörfern Bekanntschaften anzuknüpfen, ist für einen Mann, der nicht gerade im Auftrage der Regierung reist, auch nicht einfach, man wird leicht für einen Spitzel gehalten, und das einzige Ergebnis ist höchstens ein Sujet für eine Komödie, die man: _Der Wirrwarr_ betiteln könnte. Wenn man jedoch erfährt, daß der Reisende noch dazu ein Schriftsteller ist, so wird die Situation noch weit komischer: die Hälfte aller russischen Leser ist fest davon überzeugt, daß ich nur einen einzigen Lebenszweck habe, nämlich diesen, alles am Menschen vom Kopf bis zu den Füßen zu verspotten. Und doch habe ich bisher noch nie ein so lebhaftes Bedürfnis empfunden, die gegenwärtige Lebenslage des Russen von heute kennen zu lernen -- um so mehr, als gerade heute die Gegensätze in der Denkweise so groß geworden sind und alle Welt von einem wahren Wirbel von Mißverständnissen erfaßt ist, so daß kein Mensch mehr imstande ist, seine Nebenmenschen richtig zu beurteilen, und daß man genötigt ist, jedes Ding mit seinen eigenen Händen zu betasten, da man niemand mehr trauen kann. Ich konnte diese Daten nicht entbehren. Die Charaktere und Personen, die ich mir jetzt für mein Werk ausersehen habe, sind viel bedeutender als die, die ich mir früher zum Vorwurf genommen hatte. Je größer die Vorzüge einer bestimmten Persönlichkeit sind, um so greifbarer und plastischer muß man sie vor dem Leser erstehen lassen. Dazu bedarf man all der unendlichen Kleinigkeiten und Details, die dafür sprechen, daß diese bestimmte Person auch wirklich gelebt hat; sonst wird sie zu einem idealen Gebilde, sonst wird sie matt und blaß und trotz aller Tugenden, mit denen man sie ausstatten mag, armselig und nichtssagend ausfallen. Der Russe muß wirklich das Gefühl haben, daß die dargestellte Persönlichkeit aus demselben Leibe herausgeschnitten ist, dem er selbst als ein Bestandteil angehört, daß sie etwas Lebendiges, daß sie Fleisch von seinem Fleisch und Blut von seinem Blute ist. Nur dann wird er mit seinem Helden in eins zusammenfließen und unmerklich jene suggestiven Wirkungen, die von ihm ausgehen, an sich erfahren, die durch kein Räsonnement und keine Predigt hervorgebracht werden können. Eine solche volle Verkörperung, diese letzte in sich geschlossene Vollendung eines Charakters vollzieht sich nur dann in mir, wenn ich meinen Geist mit all diesen prosaischen realen Kleinigkeiten und Nichtigkeiten des Lebens erfülle, wenn ich alle großen Charakterzüge jener Menschen im Kopfe habe, zugleich jedoch auch all die Lumpen und Fetzen bis zur kleinsten Stecknadel, die den Menschen täglich umgeben, zusammentrage und um ihn herum aufstaple, kurz, wenn ich alles, das Große wie das Kleine, berücksichtige und nichts außer acht lasse. In dieser Beziehung habe ich genau so einen Verstand, wie man ihn beim größten Teil aller Russen findet, d. h. ich habe mehr die Fähigkeit, Schlüsse und Folgerungen zu ziehen, als etwas zu erfinden und zu erdichten. Ich mußte immer erst eine große Menge von Menschen anhören, wenn ich mir eine eigene Meinung bilden sollte, und dann erst fanden die Leute meine Meinung gesund und vernünftig. Hörte ich dagegen nicht alle an und zog ich einen übereilten Schluß, so waren meine Ansichten bloß schroff und ungewöhnlich. Selbst in meinem letzten Buch, in meinem »_Briefwechsel mit meinen Freunden_«, kommt vieles vor, das Ähnlichkeit mit einer bloßen Präsumtion oder einer Vermutung hat und doch gar keine Voraussetzung ist. Es enthält nichts als Folgerungen, aber die einen Schlüsse und Folgerungen sind unter Berücksichtigung sämtlicher Seiten einer Sache gezogen und sind daher allen klar, während andere nur Folgerungen aus einigen Tatsachen darstellen, die nicht allen bekannt sind; und daher sind sie auch so oder erscheinen sogar vielen einfach als Torheit. Das ist auch der Grund, weswegen es kaum ein Werk von mir gibt, in dem nicht neben reifen Gedanken auch ganz unreife stehen und in dem nicht der Mann und das Kind, der Lehrer und der Schüler gleichzeitig zu Worte kommen. Es war mir also nicht möglich, mir all das zu verschaffen, was ich brauchte. Und da ich es mir nicht zu verschaffen vermochte -- ist es da wohl ein Wunder, daß ich nicht arbeiten konnte? Wie kann man mit sich selbst kämpfen, wenn man solche Ansprüche an sich selbst zu stellen gelernt hat? Wie soll die Einbildungskraft sich da zum Fluge erheben -- selbst wenn sie vorhanden ist --, wo der Verstand bei jedem Schritt die Frage nach dem »Warum« stellt? Warum mußten eine Reihe von Umständen eintreten, die ich nicht herbeigerufen habe? Warum konnte ich mir erst durch eine strenge Erforschung und Analyse meiner eigenen Seele die Kenntnis der Menschenseele erwerben? Warum wurde ich erst da von dem Verlangen erfaßt, den russischen Menschen darzustellen, als ich das allgemeine Gesetz der menschlichen Handlungen kennen gelernt hatte, und warum lernte ich es erst kennen, nachdem ich den Weg zu Ihm gefunden hatte, Der allein alles menschliche Tun und jedes geringste Geheimnis unserer Seele durchschaut? -- Warum wurde ich so von dem Verlangen gequält, die Seele des Menschen kennen zu lernen? Warum traten endlich solche Umstände ein, von denen ich nicht einmal sprechen kann, die mich jedoch nötigten, gegen meinen Willen tiefer in die Menschenseele hinabzutauchen? Warum blieb für mich die Fähigkeit, mich überall an der Schönheit der Menschenseele zu erfreuen, wo sie mir immer entgegentreten mochte, stets der Gipfel, die Krone aller ästhetischen Genüsse? Warum wurde ich seit den Tagen meiner Kindheit unaufhörlich von dem Verlangen gequält, die menschliche Seele zu ergründen? Erklärt mir vor allem, warum dies so kommen mußte, und dann fragt mich: warum ich nicht mehr so schreiben kann, wie ich früher geschrieben habe. Ich wollte den Umständen und dieser Ordnung, die ja nicht ich eingesetzt hatte, Widerstand leisten. Ich versuchte es mehrmals, so zu schreiben, wie ich es früher getan, wie ich in meiner Jugend geschrieben hatte, das heißt, wie sich's traf, wie es meiner Feder beliebte, aber es wollte mir nichts mehr aus der Feder fließen. Voller Freude, daß ich durch meine an meine Freunde und Bekannten gerichteten Briefe wieder einigermaßen ins Schreiben hineingekommen war, wollte ich sofort Nutzen daraus ziehen, und sowie ich mich von meiner schweren Krankheit erholt hatte, machte ich gleich ein Buch daraus, wobei ich bestrebt war, den Stoff nach Möglichkeit zu ordnen und dem Ganzen einen gewissen Zusammenhang zu geben, damit das Buch den Charakter eines vernünftigen Werkes erhielte; ich bedachte nicht, daß das Publikum vieles davon, was an einzelne Personen gerichtet war, auf sich beziehen würde, besonders nach meinem Testament, das sich an alle meine Landsleute richtete. Ich fürchtete mich davor, die Fehler und Mängel des Buches selbst nachzuprüfen, und verschloß meine Augen, denn ich wußte, daß ich mein Buch, wenn ich es einer strengeren Prüfung unterziehen würde, vielleicht ebenso vernichten könnte, wie ich die »Toten Seelen« und alles, was ich in der letzten Zeit geschrieben hatte, vernichtet habe. Ich glaubte, dies Buch könnte die Leser wenigstens in geringem Maße für mein langes Schweigen entschädigen, ich glaubte, ich könnte darin meine schwierige Lage schildern und darlegen, die mir in der letzten Zeit das Schreiben unmöglich gemacht hatte, und ich würde die Aufmerksamkeit auf die praktischen Fragen und die Fragen des Lebens lenken. Ich beabsichtigte ferner, solche Dinge zu berühren, die mir einen tieferen Einblick in Rußland verschaffen, mich erfrischen und beleben und zwingen würden, zur Feder zu greifen. Aber es geschah nichts von alledem: alle Welt überhäufte mich mit Vorwürfen. Ich bekam nur Worte und Reden über Dinge zu hören, die nicht durch Worte und Reden entschieden werden können. Ich ließ die Hände sinken. Der Trieb, der sich scheinbar schon in mir zu regen begonnen hatte, erlosch, und ich fühlte mich ganz von selbst und ohne daß ich es merkte, vor die Frage gestellt, die mir noch nie in den Sinn gekommen war: soll ich überhaupt noch etwas schreiben? Soll ich noch weiter in diesem Berufe tätig sein, von dem mich in der letzten Zeit alles so offenkundig abzuziehen schien? Angenommen, daß es mir selbst gelingen sollte, mich zu überwinden, angenommen selbst, daß mein Kiel wieder die nötige Leichtigkeit und Beständigkeit erlangen würde, und daß mir eine Seite nach der anderen ganz zwanglos aus der Feder fließen würde -- war meine seelische Verfassung wirklich derartig, daß meine Werke der Gesellschaft von heute tatsächlich von Nutzen sein konnten und heute eine Notwendigkeit für sie darstellten? Werfen wir dazu einmal einen Blick auf den Zustand der Gesellschaft unserer Zeit: begünstigt die Gegenwart den Schriftsteller im allgemeinen? und ferner: ist sie einem Schriftsteller, wie ich einer bin, günstig? Alle sind sich mehr oder weniger darüber einig, daß unsere heutige Zeit eine Übergangszeit genannt werden kann. Alle fühlen heute mehr denn je, daß sich die Welt auf dem Marsche und nicht im Hafen befindet, das ist nicht einmal eine Station, auf der man vorübergehend haltmacht, kein Nachtquartier und kein Rasten während der Reise. Alles sucht etwas, aber es sucht es nicht draußen, sondern in dem eigenen Inneren. Die moralischen Fragen haben ein starkes Übergewicht über die politischen, die Probleme der gelehrten Wissenschaft sowie alle anderen Probleme erlangt. Kein Schwert und kein Kanonendonner vermögen das Interesse der Welt mehr zu fesseln. Überall kommt mehr oder weniger deutlich der Gedanke eines inneren Aufbaus, einer inneren Organisation zum Durchbruch: alles wartet auf das Eintreten einer strengeren harmonischeren Lebensordnung. Der Gedanke der Organisation, des Aufbaus sowohl des eigenen Ichs wie des der anderen wird immer mehr Allgemeingut. Alle bedeutenden Menschen, die an der Spitze marschieren, erleben Krisen und Umwälzungen in ihrem Inneren, manche sogar in den Jahren, wo in der Seele des Menschen bisher noch nie ein innerer Umschwung oder eine innere Besserung und Erhebung möglich zu sein schienen. Ein jeder fühlt mehr oder weniger, daß er sich nicht in der richtigen Verfassung befindet, in der er sich eigentlich befinden sollte, wenn er auch nicht weiß, worin dieser ersehnte Zustand nun eigentlich besteht. Dennoch aber sucht und strebt alles nach diesem ersehnten Zustande; alle Ohren lauschen gespannt und richten sich dorthin, woher sie etwas über die Fragen, die heute alle beschäftigen, zu vernehmen hoffen. Kein Mensch will ein Buch lesen, das nicht wenigstens eine Spur von all jenen Fragen enthält. Bedarf man also wohl in solch einer Zeit der Werke eines Schriftstellers, der über ein gewisses schöpferisches Talent verfügt, der lebendige Bilder von Menschen zu erschaffen vermag, und der die Gabe hat, das Leben eindringlich und plastisch darzustellen, so wie es ihm erscheint, -- der von dem Verlangen verzehrt wird, es kennen zu lernen? Machen wir uns zunächst einmal klar, was das für ein Schriftsteller ist, dessen Hauptbegabung sein schöpferisches Talent ist. Alle Welt stimmt mehr oder weniger darin überein, daß ein produktiver Schriftsteller seine Werke schreibt, um die Menschen zu belehren. Die Ansprüche, die an ihn gestellt werden, sind gewaltig -- und mit Recht: um nichts als eine gute Kopie dessen, was man vor Augen sieht, herzustellen, dazu gibt es auch andere Schriftsteller, die häufig ein außergewöhnliches Talent für das beschreibende, malende Genre besitzen, denen jedoch die _schöpferische_ Gabe völlig mangelt. Wer dagegen _schafft_, wer viel Zeit und Mühe darauf verwendet, dem sein Werk teuer zu stehen kommt, der darf seine Mühe und Arbeit nicht umsonst verschwenden. Die Schöpfungen seiner Kunst müssen für unser Leben einen Fortschritt bedeuten, er muß, wenn er seine Zeit verstanden hat, wenn er auf der Höhe jener Epoche steht, dieser Epoche seine Schuld für die Belehrung, die er aus ihr geschöpft hat, abtragen können, indem er auch sie seinerseits wieder belehrt. So wenigstens bestimmen die Ästhetiker unserer Zeit ebenso wie die früherer Zeiten das Wesen des Dichters oder ganz allgemein das Wesen eines Schriftstellers von schöpferischer Begabung. Die Menschen ganz so zu reproduzieren, wie man sie in sich aufgenommen hat, ist für einen schöpferischen Schriftsteller sogar unmöglich, das wird ein Schriftsteller weit besser machen, der über einen flinken Pinsel verfügt, sofort und jederzeit nachzuahmen vermag, was an seinem Blick vorüberzieht, und der von keinen inneren Skrupeln gequält und beunruhigt wird. Folglich kann in unserer heutigen Zeit, wo alle Menschen so sehr mit den Fragen des Lebens beschäftigt sind, ein solcher Schriftsteller mehr als jemand anderes das lösende Wort in den Fragen der Gegenwart sprechen; aber wann und in welchem Falle? Nur dann und in dem Falle, wenn er sich schon selbst alle Fragen, die ihn beunruhigen, beantwortet hat. Wenn er sich bei allen seinen großen Gaben zu einer plastischen Anschaulichkeit des Stils, zu der Adlerkraft und -schärfe des Blicks, zu dem fortreißenden lyrischen Schwung und der zermalmenden Wucht seines Sarkasmus noch eine umfassende Kenntnis seines Landes und seines Volkes bis hinab in seine Wurzeln und Auszweigungen erworben, wenn er sich zum Bürger seines Landes und zum Bürger der ganzen Menschheit herangebildet hat und überall da, wo dem Menschen geboten ward, hart zu sein wie ein Fels, unerschütterlich dasteht wie ein Stein, dann mag er seine Laufbahn antreten. Wenn er wirklich über solche Mittel und Werkzeuge verfügt, dann wird er dem Publikum solche Menschen vorführen, wie er sie gegenwärtig und in unserem heutigen Zeitalter braucht, und er wird sie mit jener porträthaften Anschaulichkeit ausstatten, die da macht, daß das Bild eines Menschen uns überallhin verfolgt, so daß wir es nicht wieder loswerden können. Bei solchen Mitteln wird es ihm natürlich nicht schwer werden, alle jene Heldengestalten, mit denen die modernen Schriftsteller unsere Köpfe vollgestopft haben, wieder auszutreiben. Man muß nur einmal statt durch heftige leidenschaftliche Reden durch solche lebendige Bilder, die wie die rechtmäßigen Herren in der Seele der Menschen ein und aus gehen, zum Publikum sprechen, -- so werden sich einem die Tore der Herzen von selbst öffnen, um sie aufzunehmen, wenn man nur das Gefühl hat und nur das Geringste davon spürt, daß diese Gestalten und Bilder aus unserem eigenen Wesen geschöpft sind, daß sie unserem eigenen Körper entstammen. Wer könnte in solch einem Falle noch daran zweifeln, daß heutzutage niemand eine so starke Wirkung auszuüben vermöchte, wie solch ein Schriftsteller, und daß niemand unserer Zeit und unserer heutigen Epoche notwendiger ist als er. Wenn er jedoch tatsächlich über einige von diesen Mitteln und Werkzeugen verfügt, sich aber noch nicht zu einem Bürger seines Landes und der Menschheit herangebildet hat, wenn er, dem allgemeinen Zuge der Zeit folgend, selbst noch im Werden und in der Entwicklung begriffen ist, dann wäre es für ihn sogar gefährlich, sich in die Öffentlichkeit hinauszuwagen; dann kann seine Wirkung eher schädlich als nützlich sein. Diese Arbeit an sich selbst wird in allem zum Ausdruck kommen, was seiner Feder entstammt. Je weniger Ähnlichkeit er mit anderen Leuten hat, je ungewöhnlicher er uns erscheint, je mehr er sich von anderen Menschen unterscheidet, je eigenartiger er ist, zu um so mehr Irrtümern und Mißverständnissen kann er überall Anlaß geben. Das, was in ihm lediglich eine natürliche Äußerung, eine normale Funktion seines außergewöhnlichen Organismus, ein vorübergehender Zustand, eine Stimmung seines Geistes ist, kann anderen Menschen als ein Höhepunkt, als Zielpunkt erscheinen, den alle erreichen müssen. Je liebevoller er sich für seine Helden und Charaktere einsetzt, je gründlicher er sie ausführt, und je lebendiger seine Darstellung ist, um so größer wird der Schaden sein. Wir alle haben den Beweis dafür vor Augen. Eine bekannte französische Schriftstellerin, die alle anderen an Begabung überragt, hat in wenigen Jahren eine gewaltigere Umwälzung in den Sitten hervorgerufen als sämtliche Schriftsteller, die sich bemühten, die Menschen zu korrumpieren. Sie hat vielleicht gar nicht einmal daran gedacht, die Unsittlichkeit zu predigen, ihre Schriften waren möglicherweise nur der Ausdruck einer vorübergehenden Verirrung, der sie in einer späteren Epoche ihrer geistigen Entwicklung vielleicht wieder entsagt, von der sie sich wieder losgesagt hat, allein das Wort war bereits gefallen: »_Ein Wort ist wie ein Spatz_,« sagt ein russisches Sprichwort, »_läßt du es aus der Hand, so fängst du es nie mehr ein_.« Ich selbst bin ein Schriftsteller, dem es nicht ganz an schöpferischer Begabung fehlt; ich besitze auch einige von den Gaben und Fähigkeiten, in denen eine suggestiv fortreißende Kraft liegt. Der allgemeinen Zeitströmung folgend, die nicht von uns gemacht wird, sondern dem Willen des Höchsten entspringt, ... strebe auch ich nach Bildung und Organisierung meines Ichs, wie dies auch andere tun, und ich fühle, daß ich noch sehr weit von dem Ziele entfernt bin, dem ich zustrebe, und daß ich daher nicht öffentlich hervortreten sollte. Auch das unlängst veröffentlichte Buch »Briefwechsel mit meinen Freunden« ist ein Beweis dafür. Wenn schon dies Buch, das nicht mehr als eine Abhandlung ist, wie man sagt, durch seine Unbestimmtheit zu Irrtümern Anlaß gibt und sogar zur Verbreitung verkehrter Gedanken beiträgt, wenn schon von diesen Briefen, wie man sagt, einem ganze Sätze und Seiten wie lebendige Bilder im Kopf haften bleiben, was wäre erst dann geschehen, wenn ich, statt mit diesen Briefen, mit einem erzählenden Werk voll lebendiger Anschauungen hervorgetreten wäre? Ich fühle selbst, daß hierin weit mehr meine Stärke liegt als in theoretischen Erörterungen. Jetzt kann die Kritik mich noch angreifen, dann jedoch wäre kaum jemand imstande gewesen, mich zu widerlegen. Meine Bilder hätten etwas Suggestives gehabt und hätten sich so in den Köpfen festgesetzt, daß kein Kritiker sie von dort hätte wieder austreiben können. Man darf nicht außer acht lassen, daß alle dargestellten Personen und Charaktere die Wahrheit meiner eigenen Überzeugungen hätten beweisen müssen und meine Überzeugungen ... Wenn ich dieses Buch mit den von mir vernichteten »Toten Seelen« vergleiche, so kann ich nicht dankbar genug sein für den mir zuteil gewordenen Impuls, sie zu vernichten. Trotzdem aber stehe ich in meinem Briefwerk auf einem höheren Standpunkt als in den vernichteten »Toten Seelen«. Die Dunkelheit des Ausdrucks verwirrt an vielen Stellen den Leser; wenn ich denselben Gedanken etwas deutlicher und klarer ausgedrückt hätte, so hätten viele Leute unterlassen, mir Einwände zu machen. In den von mir vernichteten »Toten Seelen« ist weit mehr von dem Übergangszustand, von dem inneren Umschwung in mir zum Ausdruck gekommen, es steckt noch eine weit größere Unbestimmtheit in den grundlegenden Prinzipien darin, die Gedanken haben mehr bewegende, treibende Kraft, einzelne Teile enthalten schon sehr viel Eindrucksvolles, mit sich Fortreißendes, und die Helden haben etwas Suggestives. Kurz -- als ein ehrlicher Schriftsteller hätte ich die Feder niederlegen müssen, selbst dann, wenn ich wirklich den Drang gefühlt hätte, sie zu ergreifen. Aber so etwas muß mit Besonnenheit betrachtet werden. Alle die, die leichtfertig von mir verlangen, daß ich in meiner schriftstellerischen Arbeit fortfahren soll, und doch zugleich mein letztes [Buch] schlecht machen, sollten sich doch zum mindesten die ganze Sache etwas genauer überlegen und alle Umstände in Betracht ziehen, die kein Richter außer acht läßt, wenn er über jemand zu Gericht sitzt. Ich habe den Eindruck, daß heute nicht nur ein Mensch, der schriftstellerisch tätig ist, sondern jeder Kopf überhaupt sich der Tätigkeit enthalten sollte, wenn er die Neigung hat, Schlüsse und Folgerungen zu ziehen und selbst noch ... Von den klugen Leuten sollten nur solche sich öffentlich betätigen, deren Erziehung vollendet ist und die fertige Bürger ihres Landes sind, und von den Schriftstellern nur solche, die Rußland ebenso glühend lieben wie der, der sich Kosak Luganski nennt, und die es gleich ihm verstehen, die Natur so zu schildern, wie sie wirklich ist, ohne uns das Gute und Böse an der russischen Natur zu unterschlagen, das sollten nur Schriftsteller tun, die sich einzig und allein von dem Wunsche leiten lassen, alle Welt über den wirklichen Zustand aufzuklären, in dem sich heute die Menschen in Rußland befinden. Es wird _mir_ sicherlich viel schwerer als irgend jemand sonst, die schriftstellerische Tätigkeit aufzugeben, wo sie doch der Inhalt aller meiner Gedanken und Wünsche war, wo ich doch allem anderen, allen Lockungen des Lebens entsagt und wie ein Mönch alle Bande, die mich an alles das, was dem Menschen hier auf Erden teuer ist, zerrissen habe, um an nichts mehr zu denken als an meine Arbeit. Es wird mir nicht leicht, der schriftstellerischen Tätigkeit zu entsagen: gehörten doch gerade die Augenblicke zu den schönsten meines Lebens, wo ich das, was ich lange in Gedanken ausgebrütet hatte, zu Papier bringen durfte; bin ich doch auch jetzt noch immer überzeugt, daß es kaum einen höheren Genuß gibt als den des _Schaffens_. Aber -- ich wiederhole dies nochmals -- als ehrlicher Mensch müßte ich meine Feder selbst dann noch niederlegen, wenn ich den inneren Drang fühlte, sie zu ergreifen. Ich weiß nicht, ob ich ehrlich genug gewesen wäre, so zu handeln, wenn ich nicht die Fähigkeit zum Schreiben verloren hätte; denn -- um ganz aufrichtig zu sein -- das Leben hätte dann plötzlich allen Wert für mich eingebüßt; nicht mehr schreiben, nicht schaffen, das hätte für mich ebensoviel bedeutet, wie nicht leben. Aber es gibt keinen Verlust, für den uns nicht ein Ersatz geschaffen wird, was ein Beweis dafür ist, daß der Schöpfer den Menschen keinen Augenblick verläßt. Das Herz bleibt keinen Moment ganz leer und kann nicht ganz ohne Wunsch sein. Wie die Erde, die eine Weile vom Pflug unberührt bleibt, andere und neue Kräuter und Gräser wachsen läßt, bis sie sich in ein neues von ihnen befruchtetes und gedüngtes Ackerfeld verwandelt, so kehrten auch in mir, als ich die Fähigkeit, zu schaffen verloren hatte, meine Gedanken aufs neue zu dem Gegenstand zurück, von dem ich in meiner Kindheit geträumt hatte. Ich wollte wieder dienen; jede, selbst die kleinste und unscheinbarste Stellung hätte mir genügt, wenn ich nur meinem Vaterlande so hätte dienen können, wie ich ihm einstmals hatte dienen wollen, ja ich hätte ihm jetzt noch weit treuer und besser dienen mögen, als ich dies jemals gewünscht hatte. Der Gedanke an einen solchen Dienst hat mich niemals verlassen. Ich söhnte mich auch erst mit meiner schriftstellerischen Tätigkeit aus, als ich mich innerlich überzeugte, daß man auch auf diesem Gebiete seinem Vaterlande dienen könne. Aber auch damals dachte ich noch daran, wenn ich einmal ein großes Werk vollendet haben würde, ganz so wie die anderen Menschen in den Staatsdienst einzutreten und mir eine Stellung zu suchen. Meine Pläne und Absichten hatten bloß etwas Anmaßendes und entsprangen einer hochmütigen Gesinnung. Ich glaubte, wenn ich den Beweis dafür ablegen würde, daß ich den Russen wirklich von Grund aus, in seiner Wurzel und seinen fundamentalsten Zügen kenne, d. h. wenn ich ihn sowohl in den Zügen, die allen erkennbar, als auch in denen, die bisher noch verborgen sind, verstehe, ich glaubte, wenn ich den Beweis liefern würde, daß ich die Seele des Menschen nicht aus Büchern und Erzählungen, sondern aus Erfahrung kenne, da ich schon von frühester Jugend auf von dem Wunsche beseelt war, den Menschen begreifen zu lernen, so würde man mir eine Stellung anweisen, die es mir erlauben würde, mit Menschen aller Stände und mit vielen Leuten in persönliche Berührung zu kommen, nicht erst durch Vermittlung von Akten und Kanzleien: eine Stellung, in der ich meine Menschenkenntnis mit wirklichem Nutzen verwerten, mich vielen Leuten nützlich erweisen und mir selbst noch eine größere Menschenkenntnis erwerben würde. Es schien mir so, als ob Rußland am meisten unter den gegenseitigen Mißverständnissen leidet, und daß wir vor allem solche Menschen brauchen, die bei einiger Kenntnis der Seele und des Herzens und ganz allgemein bei einigem Wissen von dem innigen Wunsche nach Frieden beseelt wären. Ich hatte gesehen und bereits die Erfahrung gemacht, daß man durch persönliche Unterhandlungen und Aufklärungen viele Streitigkeiten beilegen konnte, die niemals auf dem Aktenwege zu erledigen sind. Ich dachte mir, wenn es auch heute keine solche Stellungen gebe, so würde ich doch, wenn mein Werk ganz fertig und bereits erschienen sei, einen solchen Posten erhalten, und ich entwarf in Gedanken bereits einen Plan, ein Projekt, in dem ich darlegen wollte, wie ich mich Rußland durch die Fähigkeiten, die ich besaß, nützlich und notwendig erweisen könnte. Ich schmiedete die kühnsten Pläne, da sie sich jedoch lediglich auf den Erfolg meines Werkes gründeten, zerfielen sie sogleich in sich, als mir die Fähigkeit, dichterische Werke zu schaffen, verloren gegangen war. Jetzt sind in meinen Augen alle Ämter und Stellungen gleichwertig, jeder Posten -- der kleinste wie der größte -- hat die gleiche Bedeutung, wenn man ihn nur mit dem gebührenden Ernst ansieht, und es will mir so scheinen, daß man, wenn man den Menschen nur ein wenig zu schätzen weiß und einen Begriff von seiner Würde hat, die ihm selbst dann noch erhalten bleibt, wenn der Mensch viele Fehler und Mängel hat, daß man, sofern man nur etwas wahrhaft christliche Liebe für ihn hat und endlich von wirklicher Liebe zu Rußland erfüllt ist, wie ich glaube, in jeder Stellung sehr viel Gutes wirken kann. Die Kraft des sittlichen Einflusses übertrifft alles andere. Ein Amt und eine Stellung wären für mich dasselbe wie ein Hafen und das Festland für einen Seefahrer. Ich bin überzeugt, daß heutzutage ein jeder, der von dem heißen Wunsch nach dem Guten verzehrt wird, der ein Russe ist und dem Rußlands Ehre am Herzen liegt ... sich ebenso und mit demselben Eifer zu vielen Ämtern und Stellungen im Staate drängen sollte, wie einstmals jeder von uns in die Reihen trat, um das Vaterland gegen den Feind zu verteidigen; denn das Unrecht und die Zahl der Übel sind groß, und sie haben schon viel Schmach über uns gebracht. Andererseits aber bin ich auch überzeugt, daß wir schon um unserer selbst willen ein Amt und eine Stellung brauchen, um ... So stürmisch und aufgeregt die heutige Zeit ist, so erregt und bewegt auch die Geister um uns herum sind, so sehr uns unser eigener Verstand empört, man kann bei alledem doch ruhig bleiben, wenn man nur zu dem Zweck eine Stellung annimmt, um seine Pflicht so zu erfüllen, daß man dem Himmel Rechenschaft dafür abzulegen vermag und sich dessen nicht zu schämen braucht. Wie dem auch sein mag, das Leben ist für uns kein Rätsel mehr. Es war einmal ein Rätsel, als die klügsten unter den Menschen, die Denker und Dichter, über es nachsannen und zur Überzeugung kamen, daß sie nicht wissen, was das Leben ist. Aber nachdem einmal einer -- der der klügste von ihnen allen war -- es mit voller Sicherheit und ohne zu schwanken oder zu zweifeln ausgesprochen hat, _Er_ wisse, was das Leben sei; seitdem dieser _Eine_ von allen anerkanntermaßen für den größten aller Menschen, die bisher gelebt haben, selbst von denen, die nicht zugeben wollen, daß Er Gott sei, gehalten wird, muß man Ihm aufs Wort glauben, selbst wenn Er nur ein einfacher Mensch gewesen sein sollte. Folglich ist die Frage: Was ist das Leben? gelöst. Das aber genügt noch nicht. Uns ward ein vollständiges und umfassendes Gesetz für alle unsere Handlungen gegeben -- ein Gesetz, das keine Gewalt in seiner Wirkung zu hemmen oder zu beschränken vermag, das man selbst bis in die Mauern des Gefängnisses tragen, das man jedoch nicht erfüllen kann, wenn man in der Luft schwebt; dazu muß man zum mindesten ein festes irdisches Fundament unter den Füßen haben. Wenn man ein Amt und eine Stellung innehat, befindet man sich doch immer auf einem bestimmten Wege; besitzt man dagegen keine bestimmte Stellung und kein Amt, so geht man aufs Geratewohl durch Gestrüpp und Schluchten, wenn man auch das gleiche Ziel im Auge behält. Auf einem Wege geht sich's leichter als dort, wo es keine Wege gibt. Wenn man Amt und Stellung als Mittel zu einem Ziel betrachtet, das nicht auf der Erde liegt, sondern als einen Weg zum himmlischen Ziel -- zur Rettung unserer Seele -- ansieht, so erkennt man, daß das Gesetz, das uns Christus gegeben hat, nur für uns selbst gegeben ward, daß er sich gleichsam an uns selbst wendet, um uns klar und deutlich zu zeigen, wie wir uns an der Stelle, an der wir stehen, und in dem Berufe, den wir uns erwählt haben, verhalten sollen. Es ward dem Christen mit aller Bestimmtheit und Deutlichkeit gesagt, wie er sich gegen Höhergestellte benehmen soll, und wenn er nur einen Teil davon erfüllt, so werden ihn alle, die über ihm stehen, liebgewinnen. Es ward dem Christen in aller Bestimmtheit und Deutlichkeit gesagt, wie er sich gegen die verhalten soll, die unter ihm stehen, und wenn er nur einen Teil hiervon erfüllt, so werden ihm alle unter ihm Stehenden von Herzen ergeben sein. Diese ganze Universalität des menschenfreundlichen Gesetzes Christi, dieses Verhältnis der Menschen untereinander kann von jedem von uns auf seine begrenzte Sphäre angewandt und übertragen werden. Wir brauchen bloß alle Menschen, mit denen wir so häufig in unangenehmster und peinlichster Art zusammenstoßen, zu unseren Nächsten und unseren Brüdern zu machen, zu jenen Nächsten, denen uns Christus am meisten zu vergeben und die Er uns am meisten zu lieben geboten hat. Man braucht bloß nicht darauf zu achten, wie die anderen sich gegen uns verhalten, und nur daran zu denken, wie man selbst gegen andere Leute handelt. Man braucht bloß nicht daran zu denken, wie die anderen uns lieben, sondern bloß darauf zu achten, ob man sie auch _selbst_ liebt. Man braucht nur, ohne sich durch irgend etwas gekränkt zu fühlen, dem ersten, dem man begegnet, die Hand zur Versöhnung entgegenzustrecken. Man braucht bloß eine kurze Zeit lang so zu handeln und man wird bald inne werden, daß der Umgang mit anderen Leuten uns selbst und daß ihnen der Umgang mit uns viel leichter wird; dann wird man wirklich die Kraft in sich fühlen, auch an einer unscheinbaren Stelle manch nützliche Tat zu vollbringen. Am schwersten hat es der in der Welt, der noch nicht irgendwo festen Fuß gefaßt hat, der sich's nicht klarmacht, worin sein Beruf besteht: ihm ist es am schwersten, das Gesetz Christi auf sich anzuwenden, das doch dazu da ist, um auf der Erde und nicht in der Luft verwirklicht zu werden; daher muß auch das Leben ein ewiges Rätsel für ihn sein. Ihm gegenüber ist sogar der Gefangene, der im Kerker schmachtet, noch im Vorteil: er weiß, daß er ein Gefangener ist, und er weiß daher auch, was von dem Gesetz er für sich auswählen muß. Ihm gegenüber ist noch der Bettler im Vorteil, er hat auch ein Amt: er ist ein Bettler und weiß daher, was er für sich aus dem Gesetz Christi schöpfen soll. Ein Mensch jedoch, der nicht weiß, was sein Beruf, wo sein Platz ist, der sich nichts klar, der bei nichts haltmacht und nirgends festen Fuß gefaßt hat, der hat weder in der Welt noch außer der Welt ein Heim; er weiß nicht, wer sein Nächster ist, wer seine Brüder sind, wen er lieben und wem er verzeihen soll (man kann nicht die ganze Welt lieben, wenn man nicht erst einmal die lieben lernt, die einem am nächsten stehen und die Gelegenheit haben, uns Kummer zu bereiten): sein Gemütszustand hat die meiste Ähnlichkeit mit einer trockenen mattherzigen Seelenverfassung. So war ich denn nach vielen Jahren langer Mühe und mancherlei Versuchen und häufigem Nachdenken, auf meinem Wege sichtlich vorwärtsschreitend, endlich zu dem Ergebnis gelangt, von dem ich schon während meiner Kindheit geträumt hatte, daß das Dienen die Bestimmung des Menschen und daß unser ganzes Leben ein einziger Dienst ist. Man darf nur nicht vergessen, daß man ein Amt im irdischen Staate übernimmt, um dadurch dem himmlischen König zu dienen, und daher Sein Gesetz stets im Auge behalten muß. Nur wenn man seinen Dienst in dieser Weise auffaßt, kann man es allen recht machen: dem König, dem Volk und seinem Vaterland. Als ich diese Überzeugung gewonnen hatte, war ich schon bereit, mich voller Eifer jedem Amte zu widmen, obwohl ich natürlich bemüht war, mir mit Rücksicht auf meine Fähigkeiten einen solchen Beruf zu wählen, der mich auch weiter in den Stand setzen würde, die Menschen in Rußland auch in der Praxis kennen zu lernen; damit ich, wenn sich bei mir die Fähigkeit zum dichterischen Schaffen wieder einstellen sollte, über ein ausreichendes Material verfügte. Und so war auch einer der Gründe meiner Reise ins Heilige Land der ehrliche Wunsch, an jener Stelle zu Gott zu beten und mir von Ihm, Der uns in jenen Gegenden, die einst Sein Fuß durchschritten, das Geheimnis des Lebens offenbart hat, den Segen für eine rechtschaffene Erfüllung meiner Pflicht und für meinen Eintritt ins Leben zu erflehen; ich wollte Ihm für alles danken, was sich in meinem Leben ereignet hatte, mir von Ihm eine Tätigkeit erbitten und Ihn um Belebung und Erfrischung für den weiteren Weg und das Werk, für das ich mich herangebildet und vorbereitet hatte, anflehen. Und darin finde ich nichts Merkwürdiges, da doch auch der Schüler nach Beendigung seines Lehrganges sich beeilt, dem Lehrer ein Wort des Dankes zu sagen. Wenn doch auch der Sohn zum Grabe des Vaters eilt, bevor er seine Tätigkeit beginnt, warum sollte _ich_ nicht jenem Grabe Ehre und Anbetung erweisen, das alle verehren, an dem allen Trost und Kräftigung zuteil wird und vor dem alle Menschen -- auch solche, die keine Dichter sind -- von Begeisterung ergriffen werden. Es ist vielleicht recht sonderbar, daß ich in einem gedruckten Buche hierüber geredet habe; aber ich hatte mich damals gerade von einer schweren Krankheit erholt. Ich war noch recht schwach und glaubte gar nicht, daß ich imstande sein würde, diese Reise zu vollenden. Ich wollte, daß _die_ für mich beten sollten, deren ganzes Leben ein einziges Gebet geworden war, wußte nicht, wie ich es anstellen sollte, daß meine Stimme bis in die Tiefe der Klosterzellen und in die Mauern der Einsiedler dränge, und ich dachte, daß vielleicht einer von denen, die mein Buch lesen würden, mein Wort bis an das Ohr jener tragen möchte. Ich bat auch die anderen, für mich zu beten, weil ich nicht wußte, wessen Gebet Ihm wohlgefälliger ist, zu Dem wir alle beten. Ich weiß nur das eine, daß der Geringste und Schlechteste unter uns schon morgen ein besserer Mensch werden kann als wir alle und daß sein Gebet eher bis an Gottes Ohr dringen kann als jedes andere Gebet. Dafür hätte man mich nicht so strenge verurteilen sollen; man hätte lieber an die Worte »_Bittet, so wird euch gegeben_« denken und dies Gebot erfüllen sollen. Wie es geschehen konnte, daß ich nun genötigt bin, dem Leser über dies alles Auskunft zu geben, das kann ich selbst nicht begreifen. Ich weiß nur das eine: daß ich nie den Wunsch hatte, mich über meine geheimsten und innersten Seelenregungen zu äußern -- nicht einmal meinen aufrichtigsten Freunden gegenüber. Ich war fest entschlossen, nichts von meinen Seelenerlebnissen zu verraten und alle Urteile, die über mich gefällt wurden, ruhig über mich ergehen zu lassen, da ich fest davon überzeugt war, daß, wenn erst der zweite und dritte Band der »Toten Seelen« erscheinen würden, sich alles aufklären und niemand mehr die Frage stellen würde: was ist der Autor selbst für ein Mensch? trotzdem der Autor gänzlich hinter seinen Helden verschwinden sollte. Nachdem ich mich jedoch einmal darauf eingelassen hatte, gewisse Erklärungen über meine Werke abzugeben, war es ganz unvermeidlich, daß ich auch von mir selbst reden mußte, weil meine Werke auf das engste mit meinen geistigen und seelischen Angelegenheiten in Zusammenhang stehen. Gott weiß, vielleicht geschah auch dies ohne den Willen Dessen, ohne Den in der Welt nichts geschieht; ja, vielleicht mußte dies gerade deswegen geschehen, damit ich einen Einblick in mein eigenes Innere gewinnen konnte. Die Versuchung, hochmütig zu werden, lag mir sehr nahe, besonders nachdem es mir gelungen war, mich tatsächlich von einigen Fehlern und Mängeln zu befreien. Dieser Hochmut nistete beständig in meiner Seele und niemand hat mich darauf aufmerksam gemacht. Bekanntlich genügt es schon, sich eine gewisse Glätte, ein gewisses Gleichmaß und eine gewisse Nachsicht und Toleranz im Umgang mit den Menschen anzueignen, damit sie unsere Fehler übersehen und nicht beachten. Wenn man sich dagegen vor unbekannten Leuten und vor der ganzen Welt zur Schau stellt, und wenn jede unserer Handlungen und Taten bis ins einzelne zerfasert wird, wenn Menschen der verschiedensten Denkungsart, der verschiedensten Anschauungen und mit den verschiedensten Vorurteilen sich jeder nach seiner Weise ein Bild von uns machen, wenn dann von allen Seiten berechtigte und unberechtigte Vorwürfe auf einen niederhageln und mit Vorbedacht oder auch ohne böse Absicht an die empfindlichsten Seiten unseres Wesens rühren, dann fängt man an -- ob man nun will oder nicht -- sich von solch einer Seite zu sehen, von der man sich noch nie gesehen hat, und man beginnt Fehler und Mängel in sich zu suchen, die man sonst nie in sich gesucht hätte. Das ist eine furchtbare Schule, die einen entweder um den Verstand bringt oder klüger und vernünftiger macht, als man jemals war. Nicht ohne Scham und ohne Erröten lese ich vieles in meinem Buche, trotzdem aber danke ich Gott, daß Er mir die Kraft gegeben hatte, es herauszugeben. Ich brauchte einen Spiegel, in dem ich mich erblicken und besser erkennen konnte, ohne dies Buch aber wäre ich schwerlich in den Besitz eines solchen Spiegels gekommen. Und so hat denn mein Buch, das aus der ehrlichen Absicht entsprungen war, anderen zu nützen, vor allem mir selbst am meisten genützt. Es sei mir erlaubt, an dieser Stelle auch einige Worte über den Nutzen zu sagen, den mein Buch anderen Leuten bringen kann. Ist mein Buch wirklich so ganz wertlos für andere Menschen, besonders aber für die Gesellschaft, wie sie heute ist? Mir scheint, alle, die über dies Buch geurteilt haben, haben es mit zu weit aufgerissenen Augen und gar zu hitzig und heftig betrachtet. Man hätte es weit kaltblütiger beurteilen sollen. Statt als Vorkämpfer der ganzen Gesellschaft aufzutreten und mich im Angesicht des ganzen russischen Vaterlandes vor Gericht zu laden, hätte man die Sache viel einfacher ansehen sollen. Man hätte das Buch analysieren, man hätte feststellen sollen, was es seinem innersten Wesen nach ist, und man hätte nicht eher auf die Einzelheiten und die Teile eingehen dürfen, als bis man sich den inneren Sinn des Ganzen völlig klargemacht hatte. Nun aber hatte das allerhand törichte Wortstreitigkeiten zur Folge, ja vielem wurde ein solcher Sinn untergelegt, von dem ich mir nie hatte etwas träumen lassen. Zunächst hätte ich jederzeit das Recht gehabt, davon zu reden, wovon ich in meinem Buche gesprochen habe, wenn ich mich nur einfacher und schicklicher ausgedrückt hätte. Es ist mir nie eingefallen, die Menschen in der Weise belehren zu wollen, wie mir das einige imputieren wollten. Das _Lehren_ verstand ich in dem einfachen Sinne, den die Kirche im Auge hat, wenn sie gebietet, einander unaufhörlich zu belehren, wobei man es verstehen muß, mit derselben Freude Ratschläge von anderen entgegenzunehmen, mit der man selbst anderen welche erteilt. Ich aber war damals wirklich bereit, Ratschläge von anderen Menschen entgegenzunehmen. Ich stellte mir die Gesellschaft keineswegs als eine Schule vor, die mit Schülern von mir angefüllt ist, deren Lehrer ich bin. Ich bestieg mit meinem Buch kein Katheder und verlangte nicht, daß alle aus diesem Buche lernen sollten. Ich kam zu meinen Mitbrüdern und Mitschülern wie ein ihnen gleichgestellter Schulkamerad; ich brachte einige Hefte mit, in denen ich die Worte des Lehrers nachgeschrieben hatte, von Dem wir alle lernen; ich brachte vielerlei mit; mochte sich jeder das davon wählen, was er brauchen konnte. Es waren Briefe darunter, die an Personen von verschiedenem Charakter und verschiedenen Anlagen und Neigungen gerichtet waren. Viele von diesen Personen standen auf ganz verschiedenen Stufen der geistigen Entwicklung; daher konnten sich diese Briefe unmöglich in gleicher Weise auf alle Menschen beziehen und auf sie alle passen. Ich dachte mir, jeder würde sich nur das davon aneignen, was er brauchte, und das andere nicht beachten. Ich hatte nicht geglaubt, daß so mancher gerade danach greifen würde, dessen ein anderer bedurfte, ausrufen würde: »Das kann ich nicht brauchen!« und mir dann noch zürnen würde. Ich wollte auch keine neue Lehre verkünden. Als ein Schüler, der in einigen Fächern etwas weiter fortgeschritten ist als ein anderer Mitschüler, wollte ich es den übrigen Kameraden bloß klarmachen, wie man die Lektion, die uns von dem besten aller Lehrer aufgegeben wird, am schnellsten und leichtesten lernt. Ich hatte geglaubt, wenn man mein Buch gelesen haben würde, würde man zu mir sagen: »Ich danke dir, Mitbruder!« und nicht: »Ich danke dir, mein Lehrer!« Wenn nur nicht mein »Testament« gewesen wäre, das ich unvorsichtigerweise mitaufgenommen habe und in dem ich auf die Belehrung anspielte, die jeder Autor seinen Mitmenschen mit seinen poetischen Werken erteilen sollte, so wäre es niemand eingefallen, mir solche apostolische Absichten zuzuschreiben, trotz meines ziemlich entschiedenen Tons, ja sogar trotz der lyrischen Feierlichkeit meiner Rede. Dagegen wird ein jeder, der bereits in seine eigene Seele zu blicken vermag, meinem Buche mancherlei entnehmen können, was ihm von Nutzen sein dürfte. Was ferner die Meinung anbetrifft, daß mein Buch schädlich wirken müsse, so kann ich dies unter keinen Umständen zugeben. In dem Buche kommt trotz all seiner Mängel die gute Absicht und die Liebe zum Guten viel zu deutlich zum Ausdruck. Trotz vieler unbestimmter und dunkler Stellen leuchtet der Grundgedanke ganz klar aus ihm hervor; und wenn man das Werk gelesen hat, kommt man zu der gleichen Überzeugung: nämlich daß die höchste Instanz in allen Fragen die Kirche und daß _sie_ der Schlüssel zu allen Fragen des Lebens ist. Folglich wird sich der Leser nach der Lektüre meines Buches auf jeden Fall an die Kirche wenden, _in_ der Kirche aber wird er wiederum nur die Lehrer der Kirche finden, die ihn darüber belehren werden, was er sich aus meinem Buche für seine Zwecke aneignen soll; vielleicht aber werden sie ihm auch andere bedeutsamere Bücher statt des meinen geben, um derentwillen er _mein_ Buch beiseitelegen wird, so wie ein Schüler das Buchstabieren aufgibt, wenn er frei lesen gelernt hat. Zum Schluß muß ich noch folgendes bemerken: die Urteile, die über mein Buch gefällt wurden, waren wirklich gar zu apodiktisch und scharf, und keiner, der mir Mangel an echter Bescheidenheit vorgeworfen hat, hat mir gegenüber die rechte Bescheidenheit an den Tag gelegt. Angenommen selbst, ich hätte mir in meinem Hochmut, der aus dem Glauben an meine Vorzüge entsprang, die mir von allen Leuten zugeschrieben wurden, einbilden können, daß ich höher stehe als alle anderen Menschen und daß ich das Recht habe, über andere Leute zu richten, worauf aber könnte sich der stützen, der mit solcher Sicherheit über mich zu Gericht sitzt und nicht einmal das Gefühl hat, daß er höher steht als ich? Wie dem auch sein mag, um ein allseitiges Urteil über einen Menschen zu fällen, dazu muß man höher stehen als der, über den man richtet. Man kann wohl gewisse Bemerkungen über diese oder jene Einzelheit machen, man kann Meinungen äußern und Ratschläge erteilen, allein über den ganzen Menschen aburteilen, indem man sich auf diese Ratschläge stützt, ihn für völlig verrückt erklären, behaupten, er habe seinen Verstand verloren, er sei ein Lügner und Betrüger, der die Maske der Frömmigkeit angelegt habe, ihm gemeine und niederträchtige Absichten unterlegen -- nein, das sind Beschuldigungen, wie ich sie niemals, nicht einmal gegen einen offenkundigen Schurken, der das Schandmal der öffentlichen Verachtung trägt, vorzubringen imstande wäre. Mir scheint, ehe man solche Beschuldigungen ausspricht, müßte man innerlich erschrecken und erbeben, man sollte erst ein wenig darüber nachdenken, wie uns selbst wohl dabei zumute wäre, wenn öffentlich und vor aller Welt solche Anschuldigungen gegen uns erhoben würden! Es wäre wirklich gut, wenn man sich's erst ein wenig überlegte, ehe man eine solche Beschuldigung erhebt: »Irre ich mich auch selbst nicht? Ich bin doch auch ein Mensch! Es handelt sich hier um die Seele. Die Seele des Menschen ist ein Brunnen, zu dem es nicht für alle einen Zugang gibt, und man darf sich nicht auf die äußere scheinbare Ähnlichkeit gewisser Merkmale verlassen. Oft haben schon die geschicktesten Ärzte eine Krankheit für eine andere gehalten und ihren Fehler erst dann erkannt, als sie bereits den Leichnam des Toten secierten.« Nein, das Buch »Briefwechsel mit meinen Freunden« enthält, so große Mängel es in jeder Hinsicht haben mag, doch auch viel Derartiges, was nicht allen sofort verständlich sein kann. Es nützt nichts, sich darauf zu berufen, daß man das Buch zwei- oder dreimal gelesen hat: manch einer kann es zehnmal lesen, und es wird doch nichts dabei herauskommen. Um dieses Buch nur im mindesten nachzuerleben, muß man entweder eine sehr einfache und gütige Seele haben oder ein sehr vielseitiger Mensch sein, der außer einem Verstande, der die Dinge von allen Seiten zu umfassen vermag, auch noch über ein hohes poetisches Talent und eine Seele verfügt, die einer vollen, großen und tiefen Liebe fähig ist. Ich kann nicht leugnen, daß diese ganzen Wirrnisse und diese Mißverständnisse sehr bitter für mich waren -- um so mehr, als ich geglaubt hatte, daß mein Buch eher den Keim zur Versöhnung als zu Streit und Zwietracht enthalte. Meine Seele wäre unter all den Vorwürfen zusammengebrochen; manche darunter waren so fürchterlich, daß Gott jeden vor solchen Anklagen bewahren möge! Andererseits aber fühle ich mich verpflichtet, denen meinen Dank auszusprechen, die mich auch wegen vieler Verfehlungen hätten mit Vorwürfen überschütten können, die mich aber in dem Gefühl, daß sie bereits das Maß dessen überstiegen, was die schwache Natur des Menschen zu ertragen vermag, mit der Hand eines mitleidigen Bruders erhoben und mir Mut zugesprochen haben. Gott möge es ihnen vergelten! Ich kenne keine größere Tat, als einem Menschen, der den Mut verliert, hilfreich die Hand zu reichen. 1847. An W. A. Schukowski Neapel, den 10. Januar 1848./29. Dezember 1847. Ich bin in deiner Schuld, lieber Freund! Jeden Tag nehme ich mir vor, zu schreiben -- aber eine unbegreifliche _Unlust_ hindert mich immer wieder daran. Wieder liegen Neapel, der Vesuv und das Meer vor mir! Die Tage fliehen in steter Beschäftigung dahin, die Zeit vergeht so schnell, daß man nicht weiß, wie man eine Stunde erübrigen soll. Ich lerne wie ein Schuljunge und hole alles nach, was ich in der Schule zu lernen unterlassen habe. Aber wozu soll ich davon erzählen! Ich möchte davon sprechen, wovon ich mit dir allein sprechen kann: nämlich von unserer lieben _Kunst_, für die ich lebe und um derentwillen ich jetzt arbeite und lerne wie ein Schulknabe. Da ich jetzt vor einer Reise nach Jerusalem stehe, möchte ich dir mein Herz ausschütten; wem gegenüber könnte ich das auch tun, wenn nicht dir gegenüber? Die Literatur hat ja doch fast mein ganzes Leben ausgefüllt, und hier liegen meine Hauptsünden. Nun sind es bald zwanzig Jahre, daß ich, ein Jüngling, der kaum ins Leben getreten war, zum erstenmal zu _dir_ kam, der bereits den halben Weg auf diesem Felde zurückgelegt hatte. Das war im Schlosse von Schepelejow. Das Zimmer, wo diese Begegnung stattfand, existiert bereits nicht mehr; aber ich sehe es noch deutlich und in allen Einzelheiten -- bis auf das kleinste Möbelstück und die geringsten Sachen, die darin standen, vor mir, wie wenn es heute wäre. Du reichtest mir die Hand und warst ganz erfüllt vom Verlangen, dem künftigen Mitkämpfer zu helfen. Wie wohlwollend und liebevoll war dein Blick! ... Was war es, das uns, zwei Menschen von so verschiedenem Alter, zusammenführte? Es war die Kunst! Wir fühlten, daß zwischen uns eine Verwandtschaft bestand, die stärker war als die gewöhnliche Blutsverwandtschaft. Und woher kam das? Weil wir beide etwas von der Heiligkeit der Kunst verspürt hatten. Es ist nicht meine Sache, zu entscheiden, in welchem Maße ich Dichter bin; ich weiß nur das eine, daß ich, noch ehe ich die Bedeutung und das Ziel der Kunst verstehen lernte, schon wie durch einen geheimen Instinkt meiner ganzen Seele empfand, daß sie was Heiliges sein müsse. Und so wurde sie denn, wohl von dieser unserer ersten Begegnung ab, das _Erste_, die _wichtigste Angelegenheit_ meines Lebens, während alles andere an die zweite Stelle rückte. Es schien mir so, als ob ich mich von nun ab durch keine anderen Bande mehr an die Erde fesseln lassen dürfte, weder durch die Familie, noch durch das amtliche Leben des Bürgers, und daß die literarische Laufbahn auch eine Art Dienst sei. Noch gab ich mir keine Rechenschaft (konnte ich sie mir denn damals auch geben?), was der Gegenstand meiner literarischen Tätigkeit sein müsse, aber schon regte sich die schöpferische Kraft in mir und ich wurde durch die näheren Lebensumstände selbst auf bestimmte Gegenstände hingewiesen. Dies alles spielte sich gleichsam unabhängig von meiner eigenen (freien) Willkür ab. So dachte ich zum Beispiel niemals daran, daß ich einmal ein satirischer Schriftsteller werden und meine Leser zum Lachen reizen würde. Allerdings hatte ich schon in der Schule bisweilen eine gewisse Neigung zur Lustigkeit und ich plagte meine Mitschüler mit unpassenden Scherzen. Aber das waren vorübergehende Anwandlungen; im allgemeinen hatte ich eher einen melancholischen Charakter und ein zum Nachdenken neigendes Wesen. Später kamen noch Krankheit und Hypochondrie dazu, und diese Krankheit und Hypochondrie waren die Ursache jener ausgelassenen Lustigkeit, die sich in meinen ersten Werken bemerkbar macht. Um mich selbst zu zerstreuen, pflegte ich mir ohne jede weitere Absicht und ganz planlos gewisse Charaktere auszudenken, die ich dann in komische Situationen versetzte -- und das war der Ursprung meiner Erzählungen! Meine Leidenschaft für die Menschenbeobachtung, die mich schon seit den frühesten Tagen meiner Kindheit erfüllte, verlieh meinen Gestalten etwas Natürliches; man sagte sogar von ihnen, es seien getreue Porträts nach der Natur. Dazu kommt noch ein anderer Umstand: mein Lachen hatte anfänglich etwas Gutmütiges, ich dachte gar nicht daran, irgendein Ding in einer ganz bestimmten Absicht zu verspotten, und ich war aufs höchste erstaunt, wenn ich hörte, es fühle sich jemand gekränkt oder ganze Gesellschaftsklassen und -stände zürnten mir darob, so daß ich schließlich nachdenklich wurde. »Wenn die Macht des Gelächters so groß ist, daß man es fürchtet, so darf man es nicht mißbrauchen.« Ich entschloß mich also, alles Schlechte, das mir bekannt war, zu sammeln, in einem Ganzen zusammenzufassen und dann dieses Ganze dem Gelächter preiszugeben -- so entstand der »Revisor«. Das war mein erstes Werk, das aus der Absicht entsprang, einen heilsamen Einfluß auf die Gesellschaft auszuüben, was mir übrigens nicht gelungen ist: man hat aus der Komödie die Absicht herauserkennen wollen, die gesetzliche Ordnung und unsere Regierungsform zu verspotten, während ich nur die eigenmächtige Übertretung dieser rechtmäßigen und gesetzmäßig sanktionierten Ordnung durch einzelne Personen verspotten wollte. Ich zürnte sowohl meinen Zuschauern, die mich nicht verstanden hatten, als auch mir selbst, der die Schuld daran trug, daß ich nicht verstanden worden war. Ich wollte entfliehen und alles im Stiche lassen. Meine Seele dürstete nach der Einsamkeit, ich hatte das Bedürfnis, aufs ernsthafteste über meinen Beruf und meine Tätigkeit nachzudenken. Schon lange trug ich mich mit dem Gedanken an ein _großes Werk_, in dem alles Gute und Böse, das es im russischen Menschen gibt, dargestellt und in dem die _Eigenart_ unseres russischen Wesens möglichst klar und deutlich sichtbar gemacht werden sollte. Ich sah und konnte wohl viele von den Teilen einzeln erfassen, aber der Plan des Ganzen wollte sich mir nicht zu voller Klarheit gestalten und so bestimmte Formen annehmen, daß ich ans Werk gehen und mit der Niederschrift beginnen konnte. Bei jedem Schritt fühlte ich, daß mir noch vieles fehlte, daß ich es noch nicht verstand, den Knoten der Vorgänge und Begebenheiten zu schürzen und ihn wieder zu lösen, und daß ich erst bei den großen Meistern in die Schule gehen und von ihnen lernen mußte, wie man ein großes Werk aufbauen und komponieren muß. Ich begann also die großen Meister zu studieren und machte zunächst den Anfang mit unserem lieben Homer. Schon kam es mir so vor, als ob ich etwas zu verstehen begann und sogar anfing, mir ihre Methoden und sogar ihre Kunstgriffe zu eigen zu machen, -- allein die schöpferische Fähigkeit wollte sich noch immer nicht einstellen. Mein Kopf tat mir weh von all der Anstrengung. Nur unter Aufwendung großer Mühen gelang es mir, wenigstens den ersten Teil der »Toten Seelen« herauszugeben, gleichsam um hierbei zu erkennen, wie weit ich noch von dem Ziele entfernt war, nach dem ich strebte. Danach aber wurde ich wieder von einer unfruchtbaren Stimmung erfaßt. Ich kaute an meiner Feder, meine Nerven und alle meine Kräfte waren in einem Zustande der Erregung -- und es kam nichts zustande, ich glaubte schon, ich hätte die Fähigkeit zum literarischen Schaffen völlig verloren. Da ließen mich plötzlich Krankheit und schwere seelische Zustände dies alles, ja sogar jeden Gedanken an die Kunst vergessen und lenkten mich wieder auf das hin, wozu ich schon früher, noch ehe ich Schriftsteller geworden war, immer Lust verspürt hatte -- nämlich auf die Beobachtung des inneren Menschen und der _Menschenseele_. Oh, um wieviel tiefer ist die Erkenntnis, die einem aufgeht, wenn man mit seiner eigenen Seele beginnt! Auf diesem Wege trifft man auch ganz unwillkürlich _näher_ mit _Ihm_ zusammen, Der allein unter allen Menschen, die bisher auf Erden wandelten, in Seiner Person eine volle Erkenntnis der Menschenseele an den Tag gelegt hat; selbst wenn die Welt Seine Göttlichkeit leugnen wollte, diese Eigenschaft könnte sie Ihm niemals abstreiten, es sei denn, daß sie nicht bloß _blind_, sondern ganz einfach _dumm_ geworden wäre. Durch diese schroffe Wendung, die nicht mit meinem Willen geschah, wurde ich dazu veranlaßt, überhaupt tiefer in die Seele hinabzublicken, um zu erfahren, daß es höhere Grade und höhere Erscheinungsformen des Seelischen gibt. Von da ab begann die schöpferische Fähigkeit wieder in mir zu erwachen: wieder beginnen lebendige Gestalten in voller Klarheit vor mir aus dem Nebel emporzutauchen, ich fühle, daß die Arbeit mir glücken, ja, daß selbst meine Sprache korrekt und klangvoll werden und daß mein Stil erstarken wird. Vielleicht wird noch einmal ein künftiger Kreisschullehrer unmittelbar nach einer Seite aus einem Werke von dir seinen Schülern eine Seite aus meiner künftigen Prosa vorlesen und erklärend hinzufügen: »Beide Schriftsteller haben richtig geschrieben, obwohl sie einander nicht gleichen.« Die Herausgabe meines Buches »Briefwechsel mit meinen Freunden«, mit der ich mich (aus lauter Freude, daß meine Feder wieder einmal in Schwung gekommen war) so beeilt habe, ohne zu überlegen, daß ich, bevor ich mit diesem Buche jemand zu nützen vermochte, mit ihm vielen Leuten den Kopf verwirren konnte, hat mir selbst manchen Vorteil gebracht. An diesem Buche ist es mir klar geworden, wo und in welchem Punkte ich ein Opfer jener Maßlosigkeit und des Überschwangs geworden bin, dem in dem Übergangszustande, in dem sich die Gesellschaft gegenwärtig befindet, fast jeder vorwärtsschreitende Mensch verfällt. Trotz der Parteilichkeit, mit der dieses Buch beurteilt wurde, und trotz der Widersprüche in der Beurteilung, kam doch schließlich die allgemeine Stimme zur Geltung, die mir meinen Platz anwies und mich auf die Grenzen aufmerksam machte, die ich als Schriftsteller nicht überschreiten durfte. In der Tat, es ist nicht meine Aufgabe, durch Predigen zu belehren. Die Kunst ist auch ohnedies schon eine Lehrmeisterin. Meine Aufgabe ist es, durch _lebendige Bilder_ und nicht in der Form der Beweisführung zu den Menschen zu sprechen. Ich muß das _Leben_ selbst und _als solches_ darstellen und nicht Betrachtungen _über_ das Leben anstellen. Das ist eine völlig evidente Wahrheit. Aber es ist die Frage: hätte ich auch ohne diesen großen Umweg ein würdiger Vertreter der Kunst und ein schöpferischer Künstler werden können? hätte ich das Leben so in seinen Tiefen darstellen können, daß es den Menschen wirklich zur Belehrung dienen konnte? Wie vermöchte man Menschen darzustellen, wenn man nicht vorher erkannt hat, was die _Seele des Menschen_ ist? Ein Schriftsteller muß, wenn er bloß die schöpferische Gabe besitzt, eigene Gestalten und Bilder zu produzieren, erst einen Menschen und Bürger seines Landes aus sich machen; erst dann darf er zur Feder greifen! Sonst wird ihm alles mißlingen. Was hilft's, die Verächtlichen und Lasterhaften zu treffen, indem man sie vor allen Menschen an den Pranger stellt, wenn das Ideal ihres Widerparts, das Ideal des schönen Menschen in uns selbst noch nicht zur Klarheit und Deutlichkeit gediehen ist? Wie soll man die Fehler und das Unwürdige im Menschen darstellen, wenn man sich selbst noch nicht die Frage vorgelegt hat: worin besteht denn eigentlich die Menschenwürde? und so lange man noch keine einigermaßen befriedigende Antwort auf diese Frage gefunden hat? Wie soll man die Ausnahmen verspotten, wenn man sich noch nicht ganz über die Regeln klar ist, deren Ausnahmen die dargestellten Objekte bilden? Das hieße doch das alte Haus einreißen, ehe man die Möglichkeit hat, ein neues an seiner Stelle zu erbauen. Aber Kunst hat nichts gemein mit Zerstörung. In der Kunst liegt ein Keim des Schöpferischen, ein aufbauendes Element und nicht ein Element der Zerstörung. Das hat man stets empfunden, selbst in Zeiten der allgemeinen Finsternis und Unwissenheit. Bei den Klängen der orphischen Leier wurden Städte erbaut. Trotz des noch ungeklärten und ungeläuterten Begriffs, den unsere Gesellschaft von der Kunst hat, hört man doch schon allgemein sagen: »Die Kunst versöhnt mit dem Leben.« Das ist wirklich wahr. Ein echtes Kunstwerk enthält etwas Beruhigendes, Versöhnendes in sich. Während wir es lesen, erfüllt sich unsere Seele mit einer ebenmäßigen Harmonie, und wenn man es zu Ende gelesen hat, fühlt sie sich befriedigt: man wünscht nichts mehr, man verlangt nach nichts, es regt sich kein Zorn und keine Entrüstung wider unseren Bruder in unseren Herzen, eher noch ergießt sich in ihm der Balsam einer alles vergebenden Liebe zu unseren Brüdern; überhaupt regt sich kein _Tadel_ gegen die Handlungsweise der anderen in uns, sondern alles fordert uns zur _Betrachtung_ unseres eigenen Ichs auf. Wenn vom Werk des Künstlers keine solche Wirkung ausgeht, so ist es nichts als die edle Regung einer glühenden Seele, die Frucht einer vorübergehenden Stimmung des Autors. Es wird wohl weiterleben, wie eine beachtenswerte Erscheinung, aber sich nicht den Namen eines Kunstwerks verdienen. Und das mit Recht. Die Kunst ist eine Macht, die mit dem Leben versöhnt. Die Kunst soll unsere Seele mit Harmonie und Ordnung erfüllen und nicht Verwirrung und Verstimmung in sie hineintragen. Die Kunst soll uns die Menschen unserer Erde so darstellen, daß ein jeder das Gefühl hat: das sind _lebendige_ Menschen, die demselben Leibe entstammen und aus demselben Stoffe geschaffen sind wie wir. Die Kunst soll uns alle edlen Züge und Eigenschaften unseres _Volks_charakters vor Augen führen, selbst die nicht ausgenommen, denen es an einem Spielraum für ihre freie Entfaltung fehlte und die daher noch nicht von allen beachtet und in dem Maße gewürdigt sind, daß jeder sie in sich selbst entdeckt und von dem glühenden Wunsche ergriffen wird, das bisher von ihm Vernachlässigte und längst Vergessene zu pflegen und zur Entwicklung zu bringen. Die Kunst muß uns auch alle schlechten Züge und Eigenschaften unseres Volkscharakters so vor Augen führen, daß jeder von uns ihre Keime vor allem in sich selbst wiederfindet und veranlaßt wird, darüber nachzudenken, wie er zunächst einmal in sich selbst alles, was die hohe Würde unseres Wesens verdunkelt, ausrotten könne. Erst dann und erst auf diese Weise wird die Kunst ihre Bestimmung erfüllen und Ordnung und Harmonie in die menschliche Gesellschaft hineintragen. So laß uns denn, nachdem wir zu Gott gebetet und seinen Segen auf uns herabgefleht haben, kraftvoller als je wieder an unsere liebe Kunst gehen. Was mich anbetrifft, so will ich alles andere auf eine künftige Zeit verschieben (wenn ich je durch Gottes Gnade dessen im geringsten würdig werden sollte) und mich in intensivster Weise den »Toten Seelen« widmen. Ich will nach Jerusalem reisen (dies muß ich um jeden Preis tun, denn ich müßte mich schämen, wenn ich es nicht täte). Ich will dort, so gut ich kann, Gott meinen Dank für alles Vergangene aussprechen; ich will dort beten, daß meine Seele gekräftigt werde und meine Fähigkeiten und Geisteskräfte sich sammeln und konzentrieren mögen, und dann mit Gott an die Arbeit gehen. Wie lebhaft und innig wünschte ich, daß Gott uns wieder einmal zusammenführen möge, und daß wir wieder einmal eine Zeitlang in Moskau nahe beieinander leben könnten. Jetzt wäre es noch notwendiger, uns das von uns Geschriebene noch einmal vorzulesen und übereinander zu Gericht zu sitzen. Sodann gratuliere ich dir zum neuen Jahr. Gebe Gott, daß es für uns beide ein recht fruchtbares Jahr werde, weit fruchtbarer als die verflossenen Jahre. Und nun leb' wohl, mein Lieber! Ich küsse dich und umarme dich innig. Schreibe mir. Dein Brief wird mich noch in Neapel erreichen. Vor dem Februar gedenke ich nicht aufzubrechen. Ich umarme deine ganze liebe Familie sowie die Reuterns. Dein G. Wenn du findest, daß dieser Brief einigen Wert hat, so hebe ihn auf. Man könnte ihn in der zweiten Auflage des »Briefwechsels« an die Spitze des Buches, d. h. an die Stelle des »Testaments« stellen, das fortgelassen werden soll, und ihm den Titel geben: »_Die Kunst ist die Macht, die uns mit dem Leben versöhnt._« Ich will dich immer noch etwas fragen und vergesse es jedesmal: besitzt du nicht die lateinische Übersetzung der Odyssee mit untergelegtem Text, die neulich in Paris erschienen ist. Es ist eine sehr schöne Ausgabe. Der ganze Homer in einem Bande Groß-Oktav _editore Ambrosio Firmin Didot Parisiis 1846_. Ich hatte den Eindruck, daß die Übersetzung recht anständig sei, und sie könnte dir weit mehr nützen als alle anderen. Meine Adresse lautet: Neapel, _poste restante_, oder noch besser, _Hôtel de Rome_; damit jedoch der Brief nicht nach der _Stadt_ Rom gesandt wird, muß das Wort Neapel recht deutlich und in die Augen fallend geschrieben werden. Betrachtungen über die Heilige Liturgie 1845-1852. Vom Moskauer Geistlichen Zensur-Komitee zum Druck genehmigt. Moskau, den 9. Februar 1889. Der Zensor: Priester Grigori Djatschenko. Vorrede Der Zweck dieses Buches ist, jungen Leuten und Anfängern, die noch keinen rechten Begriff von der Bedeutung unserer Liturgie haben, zu zeigen, in welcher Vollständigkeit sie bei uns zelebriert wird und welch tiefer Zusammenhang in ihr herrscht. Aus allen den zahlreichen Erklärungen, die von den Kirchenvätern und -lehrern herrühren, sind hier nur die ausgewählt, die wegen ihrer Einfachheit und Verständlichkeit von jedermann begriffen werden können und die in erster Linie dazu dienen, die notwendige und richtige Ordnung, gemäß der eine Handlung aus der anderen hervorgeht, begreiflich zu machen[3]. Der Zweck, den der Autor mit der Herausgabe dieses Buches verfolgte, war der: dazu beizutragen, daß sich der Leser eine Vorstellung von der Ordnung und Reihenfolge des Ganzen bilde. Er ist überzeugt, daß sich jedem, der der Liturgie mit Aufmerksamkeit folgt und jedes Wort bei sich wiederholt, ihre tiefe innere Bedeutung von selbst erschließen wird. [Fußnote 3: Alle anderen Leser, die den Wunsch hegen, auch die geheimnisvolleren und tieferen Erklärungen kennen zu lernen, können solche in den Werken der Patriarchen: Hermann, Jeremias, Nikolaus Kawassil, Simeon von Saloniki, in der Alten und Neuen Tafel, in den Kommentaren Dimitrijews und endlich in einzelnen ... finden.] Einleitung Die Göttliche Liturgie ist die ewige Wiederholung des großen Liebeswerkes, das für uns geschehen ist. Tief bekümmert über ihre Gebrechen und Unvollkommenheiten hatten die Menschen überall und an allen Enden der Welt ihren Schöpfer um Hilfe angefleht -- sowohl die, die in der Finsternis des Heidentums verharrten, als auch die, die keine Gotteserkenntnis besaßen --, fühlten sie doch, daß hier auf Erden Ordnung und Harmonie nur durch Den hergestellt werden könnten, Der die von Ihm selbst erschaffenen Welten geheißen hatte, sich in streng geregelten Bahnen zu bewegen. Überall rief die schmerzbewegte Kreatur ihren Schöpfer herbei. Alles schrie qualvoll zum Urheber seines Daseins empor, und diese Klagen tönten am lautesten und deutlichsten aus dem Munde der Auserwählten und der Propheten. Man hatte ein dunkles Vorgefühl, ja man wußte, daß der Schöpfer, Der sich hinter Seinen Werken versteckt hatte, noch einmal persönlich vor die Menschen treten -- daß Er in Gestalt keines Geringeren als jenes von Ihm selbst nach Seinem Bilde erschaffenen Wesens vor ihnen erscheinen würde. Sowie sich die Begriffe, die man sich von der Gottheit machte, zu reinigen begannen, tauchte überall der Gedanke einer irdischen Menschwerdung Gottes auf. Nirgends aber wurde mit solcher Klarheit und Deutlichkeit davon gesprochen, wie bei den Propheten des von Gott auserwählten Volkes. Seine reine Fleischwerdung durch die reine Jungfrau wurde selbst von den Heiden vorausgeahnt, nirgends jedoch in jener leuchtenden greifbaren Klarheit wie bei den Propheten. Diese Klagen fanden Erhörung: Er kam in die Welt, durch Den die Welt erschaffen ward. Er erschien unter uns in Menschengestalt, wie es die Menschen -- selbst in der finstersten Finsternis des Heidentums vorausgeahnt und dunkel gefühlt hatten -- nur nicht in _der_ Weise, wie man es sich zufolge der noch ungeläuterten Begriffe vorgestellt hatte -- nicht in stolzer Pracht und Majestät, nicht als Richter, der da kommt, um die Verbrecher zu strafen, die einen zu vernichten und die anderen zu belohnen. O nein! Man vernahm nichts als einen sanften Bruderkuß. Er erschien in _der_ Gestalt, wie sie nur Gott allein eigentümlich ist, und wie sie die göttlichen Propheten, an die Gottes Gebot ergangen war, vorgebildet hatten. Das Offertorium (_Proscomidia_) Der Priester, der die Liturgie zelebrieren soll, muß schon am Vorabend auf körperliche und geistige Nüchternheit Wert legen und Enthaltsamkeit üben, er muß sich mit allen Menschen ausgesöhnt haben und sich davor hüten, noch etwas wie Ärger oder Zorn gegen irgend jemand zu hegen. Wenn dann die Stunde gekommen ist, betritt er die Kirche. Der Diakon und er beugen sich anbetend vor der Königspforte, küssen das Bild des Heilands, das Bild der Mutter Gottes, verbeugen sich vor allen Heiligen, verneigen sich nach rechts und links vor allen Anwesenden, indem sie hierdurch alle um Vergebung bitten, und betreten den Altarraum, wobei sie still für sich die Worte des Psalms sprechen. »Ich aber will in Dein Haus gehen und anbeten gegen Deinen heiligen Tempel in Deiner Furcht.« Sodann treten sie vor den Hochaltar, fallen [mit dem Gesicht gen Osten gewandt] dreimal vor ihm nieder und küssen das auf ihm liegende Evangelium, als wäre der auf dem Hochaltar Thronende Gott selbst, sie küssen auch den heiligen Abendmahlstisch und gehen sodann hin, sich in die heiligen Gewänder zu hüllen, um sich hierdurch nicht nur von den anderen Menschen zu unterscheiden, sondern auch um sich von sich selbst zu befreien, damit nichts an ihnen an einen Menschen erinnere, der noch seinen alltäglichen irdischen Geschäften nachgeht. Mit den Worten »Gott! reinige mich armen Sünder und erbarme Dich meiner!« erfassen Priester [und Diakon] die Gewänder. Zuerst zieht sich der Diakon an; er bittet den Priester um seinen Segen und legt das Chorhemd (Sticharion) und ein Untergewand von glänzender, leuchtender Farbe an, das gleichsam zum Symbol des lichten Engelskleides dient und die makellose Herzensreinheit andeuten soll, die unzertrennlich mit dem Priesteramt verbunden sein muß. Daher spricht er auch, während er sich den Rock anzieht, die Worte: »Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott: denn Er hat mich angezogen mit Kleidern des Heils und mit dem Rock der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Schmuck gezieret und wie eine Braut in ihrem Geschmeide.« Hierauf nimmt er die Stola und küßt sie; dies ist ein langes schmales Band, das Kennzeichen des Diakonenamts, mit dem er zu Beginn jeder kirchlichen Handlung das Zeichen gibt, die Gemeinde zum Gebet, die Sänger zum Singen, den Priester zur Verrichtung der heiligen Handlungen und sich selbst zu engelhafter Geschwindigkeit und Bereitschaft zum heiligen Dienste aufruft. Denn der Beruf des Diakons gleicht dem der Engel im Himmel, und durch dies schmale Band, das er an sich trägt, und das gleich einem ätherischen Flügel in der Luft flattert, sowie durch sein schnelles Durcheilen der Kirche stellt er nach dem Wort des Johannes Chrysostomus den Flug der Engel dar. Nachdem er das Band geküßt hat, befestigt er es an der Schulter. Sodann legt er die Armbänder oder Überärmel an, die dicht über dem Handgelenk zusammengebunden werden, um den Händen eine größere Freiheit und Leichtigkeit bei der Verrichtung der bevorstehenden heiligen Handlung zu verleihen. Während er sie anzieht, denkt er über die unablässig alles erschaffende, überall wirksame Kraft Gottes nach, und indem er den rechten Überärmel anzieht, spricht er: »Herr, Deine rechte Hand tut große Wunder. Herr, Deine rechte Hand hat die Feinde zerschlagen, und mit Deiner großen Herrlichkeit hast Du Deine Widerwärtigen gestürzt.« Dann zieht er den linken Überärmel an und denkt dabei an sich selbst, daß er ein Werk von Gottes Hand sei, und er betet zu Ihm, Der ihn erschaffen hat, Er möge ihn lenken und leiten und ihm Seine höchste himmlische Führung zuteil werden lassen, und er spricht: »Deine Hand hat mich gemacht und bereitet. Unterweise mich, daß ich Deine Gebote lerne.« In derselben Weise kleidet sich auch der Priester an. Zuerst segnet er den Priesterrock, den er dann anzieht, indem er diesen Akt mit denselben Worten begleitet wie der Diakon; nach dem Priesterrock aber legt er sich die Stola an, jedoch nicht die einfache, sondern eine solche, die beide Schultern bedeckt, den Hals umschließt und deren beide Enden sich wieder auf der Brust vereinigen und so in eins verbunden bis an den unteren Saum seines Kleides hinabreichen; hiermit soll angedeutet werden, daß sich in seinem Amte zwei Ämter vereinigen -- das des Priesters und das des Diakons. Auch heißt das Kleidungsstück nicht mehr Orarion, sondern Epitrachil, und es symbolisiert, indem es angelegt wird, die Ausgießung der himmlischen Gnade über die Priester; daher wird dieser Akt auch von den erhabenen Worten der Heiligen Schrift begleitet: »Gelobt sei Gott, Der Seine Gnade ausgießet über seine Priester wie das Salböl, das von dem Haupte Aarons herabfließet auf seinen Bart und auf den Saum seines Kleides.« Sodann zieht der Priester beide Überärmel an, indem er diese Handlung mit denselben Worten begleitet wie der Diakon, und umgürtet sich mit einem Gürtel, der Chorrock und Stola umschließt, damit das weite bauschige Gewand ihn nicht bei der Verrichtung der heiligen Handlung behindere und um durch diese Umgürtung seine Dienstbereitschaft anzudeuten, denn der Mensch pflegt den Gürtel anzulegen, wenn er sich reisefertig macht, wenn er ein Werk in Angriff nimmt oder zur Tat schreitet; so legt auch der Priester den Gürtel an, indem er seinen Weg antritt und sich zum himmlischen Dienste vorbereitet. Er betrachtet seinen Gürtel wie eine Feste der göttlichen Macht, die ihn stärkt und kräftigt, und er spricht: »Gelobt sei Gott, Der mich mit Kraft umgürtet und meinen Weg untrüglich macht, meine Füße geschwinder denn die des Hirsches und stellt mich auf die Höhe,« d. h. in das Haus des Herrn. Wenn er jedoch eine höhere priesterliche Würde innehat, so hängt er ein viereckiges Stück Tuch an einer seiner Ecken an seine Lende; es symbolisiert das geistige Schwert, die alles überwindende Kraft des göttlichen Wortes und ist ein Zeichen des ewigen Krieges, der dem Menschen auf Erden bevorsteht -- und kennzeichnet den Sieg über den Tod, den Christus vor aller Welt errungen hat, auf daß der unsterbliche Geist des Menschen mutig den Kampf aufnehme wider die Verwesung. Daher gleicht dies Stück Tuch auch einer starken Streitwaffe, und es wird am Gürtel an der Lende aufgehängt, in der die Kraft des Menschen liegt, und dieser Akt wird von einem Anruf des Herrn selbst begleitet: »Gürte dein Schwert an deiner Seite, du Held, und schmücke dich schön. Es müsse dir gelingen in deinem Schmuck, ziehe einher der Wahrheit zugute, und die Elenden bei Recht zu behalten; so wird deine rechte Hand Wunder beweisen.« Endlich legt der Priester noch das Psalonion, ein Gewand zum Symbol der höchsten alles umfassenden Gerechtigkeit Gottes an, und er begleitet diese Handlung mit den Worten: »Deine Priester laß sich kleiden mit Gerechtigkeit und Deine Heiligen sich freuen.« Also ausgerüstet mit der göttlichen Rüstung steht der Priester nunmehr als ein anderer Mensch da: was er auch selbst und an sich für ein Mensch, so unwürdig er seines Amtes sein mag, alle, die im Tempel weilen, blicken auf ihn [als auf] ein Werkzeug Gottes, das vom Heiligen Geist erfüllt ist. Der Priester und der Diakon waschen sich sodann beide die Hände, indem sie die Worte des Psalms sprechen: »Ich wasche meine Hände in Unschuld und halte mich zu Deinem Altar.« Dann verbeugen sie sich dreimal, indem sie sprechen: »Gott, reinige mich Armen von meinen Sünden und erbarme Dich meiner!« und erheben sich gereinigt und erleuchtet, gleich ihrer leuchtenden Kleidung, in nichts mehr an andere Menschen erinnernd und eher einer strahlenden Vision als einem Menschen gleichend. Der Diakon kündigt den Beginn der heiligen Handlung an, indem er spricht: »Segne uns, o Herr!«, der Priester eröffnet die Feier mit den Worten: »Gelobt sei Gott, jetzt und immerdar, hinfort und in alle Ewigkeit!« und tritt dann an den Seitenaltar. Dieser ganze Teil des Gottesdienstes besteht in der Zubereitung alles dessen, was zu einer heiligen Handlung erforderlich ist: während dieses Teils des Gottesdienstes werden die Stücke Brot von den Prosphoren oder Opfergaben abgesondert, die zu Anfang den Leib Christi repräsentieren und sich sodann in ihn verwandeln sollen. Da das ganze Offertorium nichts anderes ist als eine bloße Vorbereitung auf die Liturgie, hat die Kirche die Erinnerung an die ersten Lebensjahre Christi an sie geknüpft, waren doch diese auch eine Vorbereitung auf seine großen Werke, die er später auf Erden vollbrachte. Das Offertorium spielt sich ganz im Innern des Altarraumes bei geschlossenen Türen und zugezogenem Vorhang ab, ohne daß die Gemeinde etwas davon sieht, wie ja auch Christus seine ersten Lebensjahre ganz im Verborgenen verbrachte, ohne daß das Volk etwas von Ihm erfuhr. Für die andächtige Gemeinde aber werden während dieser Zeit die »Horen«[4] gelesen -- eine Sammlung von Psalmen und Gebeten, die die Christen an den vier wichtigsten Tageszeiten zu lesen pflegten, um die erste Stunde, wenn für die Christen [der Morgen] begann, um die dritte, d. h. um die Stunde, als sich der Heilige Geist herabsenkte, um die sechste, d. h. also um die Stunde, als der Erlöser der Welt ans Kreuz geschlagen wurde, und um die neunte Stunde, als Er Seinen Geist aufgab. Da der Christ von heute aus Mangel an Zeit und wegen der unablässigen Zerstreuungen nicht in der Lage ist, diese Gebete zu den angegebenen Stunden zu verrichten, werden sie allesamt bei dieser Gelegenheit verlesen. [Fußnote 4: Tschassy.] Der Priester tritt nun vor den Seitenaltar oder die Prothesis hin, die sich in einer Wandnische befindet und die alte seitliche Vorratskammer des Tempels symbolisieren soll, und nimmt eines der Weihbrote heraus, um aus ihm den Teil zu gewinnen, der sich später in den Leib Christi verwandeln soll: es ist dies das mit einem Siegel versehene Mittelstück, das den Namen Jesu Christi trägt. Durch die Absonderung eines Teils vom ganzen Brote deutet er auf den Akt der Trennung des Fleisches Christi vom Fleisch der Jungfrau -- deutet er auf die Geburt des Immateriellen aus dem Fleische hin. Und indem er sich vorstellt, daß Er geboren wird, Der Sich für die ganze Welt zum Opfer brachte, verbindet sich für ihn damit erneut und unfehlbar der Gedanke an das Opfer und an die Opfertat selbst, und er erkennt im Brote das Lamm, das geopfert ward, und im Messer, mit dem er das Brot zerteilt, das Opfermesser, das das Aussehen einer Lanze hat, zur Erinnerung an die Lanze, mit der der Leib des Heilands am Kreuze durchstochen ward. Nun aber begleitet er seine Handlung nicht mit den Worten des Heilands, noch mit den Worten derer, die Zeugen der damaligen Vorgänge waren, er versetzt sich nicht in die Vergangenheit, d. h. in die Zeit, da diese Opfertat vollbracht wurde: dies geschieht später im letzten Teile der Liturgie; er erschaut dieses kommende Ereignis von ferne mit ahnender Seele, daher begleitet er auch die ganze heilige Handlung mit den Worten des Jesaias, der aus der fernen Zeit und durch die Finsternis der Jahrhunderte hindurch die künftige wundersame Geburt, die Selbstaufopferung und den Tod des Heilands vorausahnte und dies mit einer schier unbegreiflichen Klarheit vorausverkündigte. Indem der Priester die Lanze in den rechten Teil des Siegels stößt, spricht er die Worte des Propheten Jesaias: »Wie ein Lamm wird Er zur Schlachtbank geführt,« dann stößt er die Lanze in den Teil, der zur Linken liegt, und spricht: »Und wie ein unschuldiges Lamm sich stumm scheren läßt, so öffnet er seinen Mund nicht,« dann versenkt er die Lanze in den oberen Teil des Siegels und spricht: »Um Seiner Demut willen ward Er verdammt,« stößt ihn dann in den unteren Teil, indem er die Worte des Propheten wiederholt, der über die wunderbare Herkunft des Opferlammes nachsinnt: »Wer vermag zu sagen, aus welchem Geschlechte Er stammt?« Endlich hebt er das herausgeschnittene Mittelstück des Brotes auf der Lanze empor und spricht: »Denn Sein Leib ward von der Erde hinweggenommen,« und schneidet hierauf kreuzweise -- den Kreuzestod des Heilands symbolisierend -- das Opferzeichen hinein, gemäß dem es während der kommenden heiligen Handlung gebrochen wird. Dazu spricht er: »Geopfert wird das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, zum Leben und zum Heil der Welt.« Nachdem er sodann das Brot so hingelegt hat, daß das Siegel unten, der herausgeschnittene Teil oben liegt und das geopferte Lamm versinnbildlicht, stößt er die Lanze in die rechte Seite -- wodurch die Hinschlachtung des Opfers symbolisiert, zugleich aber auch darauf hingedeutet werden soll, daß die Seite des Heilands von einem am Kreuze stehenden Krieger mit der Lanze durchstochen ward. Hierbei spricht er: »Der Kriegsknechte einer öffnete Seine Seite mit einem Speer, und alsbald ging Blut und Wasser heraus. Und der das gesehen hat, der hat es bezeuget, und sein Zeugnis ist wahr.« Diese Worte dienen dem Diakon zugleich zum Zeichen, daß nun die Zeit gekommen ist, Wasser und Wein in den heiligen Kelch zu gießen. Der Diakon, der bisher alles, was der Priester getan, ehrfürchtig und andachtsvoll verfolgt hat, indem er ihn bald zum Beginn des heiligen Dienstes aufforderte, bald wieder bei jeder Handlung die Worte: »Lasset uns beten zu dem Herrn!« vor sich hinmurmelte, gießt nun Wein und Wasser in den Kelch, nachdem er beide gemischt und sich den Segen des Priesters dazu erbeten hat. So sind nun Wein und Brot vorbereitet, um sich während der bevorstehenden heiligen Handlung zu transsubstantiieren. Um einen Brauch der alten christlichen Kirche und der heiligen ersten Christen zu erfüllen, die sich, wenn sie an Christus dachten, stets auch an die Menschen erinnerten, die durch strenge Einhaltung Seiner Gebote und durch Heiligkeit ihres Lebenswandels Seinem Herzen am nächsten standen, schreitet der Priester zu den anderen Weihbroten, schneidet ein Stück zum Andenken an jene heraus und legt die Stücke auf dieselbe Patene[5] neben das heilige Brot, das den Herrn selbst darstellt, da ja auch jene von dem glühenden Wunsche verzehrt wurden, stets an der Seite des Herrn zu weilen. Indem er sodann das zweite Brot ergreift, schneidet er ein Stück zum Gedächtnis an die heilige Mutter Gottes heraus und legt es zur Rechten des heiligen Brotes hin, indem er die Worte aus dem Psalm Davids spricht: »Die Königin trat Dir zur Rechten, in ein goldenes Gewand gehüllt und reichlich geschmückt.« Dann nimmt er das dritte Brot, das der Erinnerung der Heiligen geweiht ist, und schneidet mit demselben Speer neun Stücke aus ihm heraus, die er in drei Reihen zu je drei Stücken anordnet. Er schneidet ein Stück zu Ehren Johannes des Täufers, ein zweites zu Ehren der Propheten und ein drittes zu Ehren der Apostel heraus, und damit hat die erste Reihe und die erste Klasse der Heiligen ihren Abschluß erreicht. Sodann schneidet er zu Ehren der heiligen Kirchenväter ein viertes Stück, ein fünftes zu Ehren der Märtyrer und ein sechstes zu Ehren der heiligen gotterleuchteten Väter und Mütter heraus, und damit ist die zweite Reihe und die zweite Klasse der Heiligen vollendet. Und endlich schneidet er noch ein siebentes Stück zu Ehren der Wundertäter und Uneigennützigen, ein achtes zu Ehren der göttlichen Eltern Joachim und Anna und des Heiligen des Tages sowie ein neuntes zu Ehren des Johannes Chrysostomus oder Basilius des Großen heraus, je nachdem, wem zu Ehren an jenem Tage die Messe gelesen wird. Damit ist auch die dritte Reihe und die letzte Klasse der Heiligen vollendet, und der Priester legt nun alle neun Brotstücke, die er herausgeschnitten hat, auf die heilige Patene zur Linken neben das heilige Brot hin. So erscheint Christus inmitten derer, die Ihm am nächsten stehen, Er, der in der Heiligkeit Wohnende, wird sichtbar im Kreise Seiner Heiligen erblickt, als Gott unter Göttern und Mensch unter Menschen. [Fußnote 5: Diskos.] Hierauf ergreift der Priester das vierte Weihbrot, das der Erinnerung an alle Lebendigen geweiht ist, und schneidet aus ihm ein Stück zu Ehren des Kaisers, ein zweites zu Ehren der Synode und der Patriarchen und ferner noch einige weitere zu Ehren aller rechtgläubigen Christen heraus, wo auf Erden sie auch wohnen mögen, und endlich schneidet er auch noch für jeden einzelnen von ihnen, dessen er gedenken will und dessen zu gedenken man ihn gebeten hat, ein Stück heraus. Dann nimmt der Priester das letzte Weihbrot und schneidet Stücke zur Erinnerung an alle Verstorbenen aus ihm heraus, indem er für sie betet und Vergebung der Sünden für sie erfleht; er betet für die Patriarchen, für die Zaren, die Stifter des Tempels, den Erzpriester, der ihm die Priesterweihe erteilt hat, wenn dieser bereits verstorben ist, kurz, er schneidet für alle -- bis auf den letzten Christen -- für den man sich bei ihm verwendet hat oder dem zu Ehren er es selbst tun will, ein Stück heraus. Zum Schluß fleht er selbst um Vergebung aller seiner Sünden, dann schneidet er ein Stück für sich selbst heraus und legt alle Stücke auf die heilige Patene unterhalb des heiligen Brotes nieder. So also ist um dies Brot, d. h. um das Lamm, das Christus in eigener Person darstellt, Seine ganze Kirche versammelt: die triumphierende himmlische, wie die kämpfende irdische. Des Menschen Sohn erscheint inmitten der Menschen, um derentwillen er Fleisch ward und ein Mensch wurde. Sodann nimmt der Priester einen Schwamm und liest alle Krümchen auf der Patene zusammen, auf daß nichts von dem heiligen Brote verloren gehe und auf daß alles erfüllet werde. Dann tritt der Priester vom Altar zurück und fällt vor ihm nieder, als beuge er sich vor dem verkörperten Christus selbst; er begrüßt in dieser Gestalt das auf der Patene liegende Brot, das Erscheinen des himmlischen Brotes auf Erden; er begrüßt es, indem er mit Thymian räuchert, nachdem er das Rauchfaß zuvor gesegnet hat und indem er das Gebet spricht: »Wir bringen Dir Weihrauch dar, Christus unser Gott, auf daß es dufte von geistlichen Wohlgerüchen; nimm ihn an auf Deinen hohen über den Himmeln thronenden Altar und sende auf uns herab die Gnade Deines Heiligen Geistes.« Und der Priester versetzt sich mit allen seinen Gedanken in die Zeit der Geburt Christi, indem er Vergangenes in Gegenwärtiges verwandelt, und er blickt auf diesen Seitenaltar, als wäre er die geheimnisvolle Krippe, darin zu jener Zeit der Himmel zur Erde herabgestiegen war: der Himmel war zur Krippe geworden, und die Krippe hatte sich in den Himmel verwandelt. Nachdem er den Asteriskos, der aus zwei goldenen Bogen mit einem Sterne darüber besteht, umräuchert und auf die Hostienschüssel gestellt hat, blickt er ihn an, wie wenn er der Stern wäre, der einst über dem Kindlein leuchtete, und er spricht: »Er kam, und der Stern stand oben über, da das Kindlein war«: er blickt auf das heilige Brot, das für die Opfer bestimmt ist, als wäre es das neugeborene Kindlein, als wäre die Patene die Krippe, in der das Kindlein lag, und als wären die Decken die Windeln, in die das Kindlein gehüllt war. Nachdem er vor der ersten Decke mit Weihrauch geräuchert hat, bedeckt er das heilige Brot und die Patene mit ihr und spricht die Worte des Psalms: »Der Herr ist König und herrlich geschmückt,« d. h. des Psalms, in dem die wunderbare Größe und Herrlichkeit Gottes besungen wird. Hierauf räuchert er vor der zweiten Decke mit Weihrauch und bedeckt dann den heiligen Kelch mit ihr, indem er spricht: »O Herr Christus, Deine Güte bedeckt die Himmel, und die Erde ist Deines Ruhmes voll«. Er nimmt die große Decke, die der heilige Aër genannt wird, und bedeckt nun beides: die Patene und den Kelch mit ihr, indem er Gott anruft und Ihn bittet, uns mit Seinem schützenden Flügel zu bedecken; indem dann beide von dem Altar zurücktreten, verbeugen sie sich ehrfürchtig vor dem heiligen Brote, ganz so, wie einst die Hirtenkönige das neugeborene Kindlein anbeteten; hierauf räuchert der Priester vor der Krippe, zur Erinnerung an die wohlriechenden Myrrhen und Weihrauch, die die Weisen dem Kindlein zusamt dem kostbaren Golde darbrachten. Der Diakon steht auch während dieser Zeit beständig dem Priester aufmerksam zur Seite, indem er jede Handlung mit den Worten: »Laßt uns beten zu dem Herrn« begleitet oder das Zeichen zum Beginn der heiligen Handlung gibt. Endlich nimmt er das Räucherfaß aus den Händen des Priesters entgegen und fordert ihn zum Gebet auf, das von den für Ihn zubereiteten Gaben handelt und das er nun zu Gott emporsenden soll. »Laßt uns beten zu dem Herrn für die kostbaren Gaben, die wir ihm darbringen.« Nunmehr beginnt der Priester das Gebet. Obwohl diese Gaben zunächst bloß für die Opferhandlung vorbereitet sind, dürfen sie von nun ab zu nichts anderem mehr verwendet werden. Der Priester spricht bei sich selbst ein Gebet, in dem er schon im voraus auf die Annahme der für das bevorstehende Opfer bestimmten Gaben vorbereitet. Dies Gebet lautet folgendermaßen: »Gott, unser Gott, Der Du uns das himmlische Brot, die Nahrung der ganzen Welt, unserm Herrn und Gott, Jesus Christus, unseren Heiland, Erlöser und Wohltäter gesandt hast, Der uns gesegnet und geheiligt hat, segne Du selbst, was wir Dir darbieten, und nimm es entgegen auf Deinem hoch über den Himmeln thronenden Altar: gedenke auch derer in Deiner Güte und Menschenliebe, die Dir dies dargebracht haben, sie, um derentwillen es dargebracht wurde, und unser selbst, und erhalte uns unschuldig in der Verrichtung Deiner göttlichen Sakramente.« Und nach diesem Gebet vollzieht er das Offertorium. Der Diakon räuchert unterdessen vor den Schaubroten und sodann kreuzweise vor dem heiligen Altar. Er gedenkt der irdischen Geburt Dessen, Der geboren ward, ehe denn die Zeit war, der allgegenwärtig und der immerdar überall zugegen war, und er spricht bei sich selbst: »Du warst leibhaftig im Grabe, mit Deinem Geist in der Hölle, als Gott mit dem Übeltäter im Paradiese und auf dem Throne mit dem Vater und dem Heiligen Geiste, alles vollbringend, o Christus, Du Unbeschreiblicher.« Und er tritt mit dem Räucherfaß in der Hand aus dem Altarraum hervor, um die ganze Kirche mit Wohlgerüchen zu erfüllen und alle, die sich zum heiligen Mahl der Liebe versammelt haben, willkommen zu heißen. Diese Räucherung findet stets zu Beginn des Gottesdienstes statt, wie ja auch im häuslichen Leben aller alten Völker des Orients jedem Gast bei seinem Eintritt eine Schüssel zum Waschen und Wohlgerüche dargebracht wurden. Dieser Brauch hat sich auch an dieses himmlische Festmahl geknüpft, an das geheimnisvolle Abendmahl, das den Namen der Liturgie trägt, in der sich der Gottesdienst und die brüderliche Bewirtung und Speisung aller in so wundersamer Weise vereinigt haben, wovon uns der Erlöser selbst, Der selbst allen diente und die Füße wusch, ein Beispiel gegeben hat. Indem dann der Diakon räuchert und sich in gleicher Weise vor allen verbeugt, vor den Reichsten wie vor den Ärmsten, heißt er, der Diener Gottes, sie alle herzlich willkommen als die lieben Gäste des himmlischen Wirtes; er räuchert und verbeugt sich dabei ehrfurchtsvoll vor den Bildern der Heiligen, denn auch sie sind ja Gäste, die zum heiligen Abendmahl erschienen sind: in Christo sind alle lebendig und untrennbar miteinander verbunden. Nachdem er alles vorbereitet und den Tempel mit Wohlgeruch erfüllt hat, kehrt er in den Altarraum zurück, in dem er nochmals räuchert; dann stellt er das Räucherfaß endlich beiseite, nähert sich dem Priester, und beide treten vor den heiligen Hochaltar. Beide treten vor den heiligen Hochaltar hin, beide verneigen sich, sowohl der Priester wie der Diakon, dreimal bis zur Erde und rufen, indem sie sich nun zu der eigentlichen heiligen Handlung der Liturgie anschicken, den Heiligen Geist an, denn ihr ganzer Gottesdienst soll ja ein geistiger Dienst sein. Der Geist ist der Lehrer, der uns im Gebet unterweist. »Wir wissen nicht, um was wir bitten sollen,« sagt der Apostel Paulus, »aber der Heilige Geist selbst tritt für uns ein, mit unaussprechlichen Seufzern.« Der Priester und der Diakon flehen den Heiligen Geist an, in ihnen Wohnung zu nehmen, sie hierdurch zu reinigen und für ihren heiligen Dienst vorzubereiten, wobei sie zweimal nacheinander das Lied singen, mit dem die Engel die Geburt Jesu Christi begrüßten: »Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« Nachdem sie ihren Gesang beendigt haben, wird der Vorhang der Kirche zurückgezogen; dies geschieht immer nur dann, wenn die Gedanken der Betenden auf die höchsten und erhabensten Gegenstände hingelenkt werden sollen. In diesem Falle soll die Öffnung des Tores zum Allerheiligsten nach dem Gesang der Engel andeuten, daß die Geburt Christi ja nicht allen Menschen offenbart ward, daß nur die Engel im Himmel, Maria, Joseph und die Magier, die gekommen waren, um das Kind anzubeten, Kenntnis von ihr besaßen, und daß nur die Propheten sie von ferne geahnt hatten. Der Priester und der Diakon sprechen bei sich: »O Herr, öffne meinen Mund, und mein Mund wird Deinen Ruhm verkünden.« Der Priester küßt das Evangelium, der Diakon küßt den heiligen Hochaltar, senkt das Haupt und gibt das Zeichen für den Beginn der Liturgie, indem er mit drei Fingern seiner Hand die Stola emporhebt und spricht: »Es ist Zeit, zum Herrn zu beten. Segne mich, o Herr!« und der Priester segnet ihn mit den Worten: »Gesegnet sei unser Gott, immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit.« Und indem der Diakon der bevorstehenden heiligen Handlung gedenkt, während der er den Flug des Engels vom Altar zur Gemeinde und von der Gemeinde zum Altar nachahmen, alle in einem Geist und einer Seele vereinigen und gewissermaßen eine heilige, alles erweckende Kraft darstellen soll, und im Gefühl, daß er dieser Aufgabe nicht würdig ist, fleht er den Priester demütig an: »Bete für mich, o Herr!« »Gott lenke deine Schritte!« antwortet ihm der Priester. »Gedenke meiner, heiliger Mann!« »Der Herr gedenke deiner in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Diakon spricht leise, aber mit kräftiger Stimme: »Amen!« und tritt aus der nördlichen Tür vor das Volk hinaus. Er betritt die Kanzel, die der Königspforte gegenüberliegt, wiederholt nochmals bei sich selbst: »Herr, öffne meinen Mund, und mein Mund wird Deinen Ruhm verkünden!« und indem er sich dem Altar zuwendet, fleht er den Priester nochmals an: »Segne mich, o Herr!« Der Priester ruft ihm aus der Tiefe des Tempels die Antwort entgegen: »Gesegnet sei das Reich ...«, und die Liturgie beginnt. Die Liturgie der Katechumenen Der zweite Teil der Liturgie heißt die Liturgie der Katechumenen. Wie der erste Teil, d. h. das Offertorium, den ersten Lebensjahren Christi, Seiner Geburt, die nur den Engeln und wenigen Menschen offenbart war, Seiner Kindheit und Seinem Aufenthalt in tiefster Zurückgezogenheit und Verborgenheit, bis zu Seinem Auftreten in der Welt entspricht, so entspricht der zweite Teil Seinem Leben inmitten der Welt und der Menschen, denen Er das Wort der Wahrheit verkündigt hat. Dieser Teil heißt auch deshalb noch die Liturgie der Katechumenen, weil während der ersten christlichen Zeit auch die zu ihr zugelassen wurden, die erst Christen werden wollten, die sich erst darauf vorbereiteten, noch nicht die heilige Taufe empfangen hatten und zu den Katechumenen gehörten. Dazu kommt noch, daß die heilige Handlung, die aus der Verlesung der Propheten, der Epistel und des heiligen Evangeliums besteht, in erster Linie einen verkündigenden Charakter trägt. Der Priester beginnt die Liturgie, indem er aus dem Inneren des Altarraumes ruft: »Gelobt sei das Reich des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ...« Da durch die Fleischwerdung des Sohnes der Welt das Mysterium der Heiligen Dreieinigkeit deutlich geoffenbart ward, geht und leuchtet die Verkündigung der Heiligen Dreieinigkeit dem Beginn aller heiligen Handlungen voran; der Betende muß daher allem entsagen, sich aller anderen Gedanken entledigen und sich gänzlich in das Reich der Heiligen Dreieinigkeit versetzen. Der Diakon steht auf der Kanzel und hat sein Gesicht der Königspforte zugewendet. So stellt er einen Engel und Erwecker dar, der die Menschen zum Gebet anfeuert; er hebt mit drei Fingern seiner Hand das schmale Band -- das Sinnbild des Engelsflügels -- empor und ruft das ganze versammelte Volk auf, die Gebete zu sprechen, die die Kirche seit den Zeiten der Apostel unablässig zum Himmel emporsendet, deren erstes die Bitte um Frieden ist, ohne die man überhaupt nicht zu beten vermag. Die versammelten Andächtigen bekreuzigen sich, suchen ihre Herzen in harmonisch abgestimmte Saiten eines Instruments umzuwandeln, die bei jedem Wort des Diakons mitschwingen, und rufen im Geiste zugleich mit dem Chor der Sänger aus: »Herr, erbarme Dich unser!« Der Diakon steht auf der Kanzel, er hält die Gebetstola, die den erhobenen Flügel eines Engels darstellt, der die Gemeinde zum Gebet anfeuern soll, empor und ruft die Gemeinde zum Gebet auf: er fordert sie auf, an die höhere Welt und die Rettung unserer Seelen zu denken und zu beten für den Frieden der ganzen Welt, das Wohlergehen der heiligen Kirchen und die Vereinigung ihrer aller, für den heiligen Tempel und die, die ihn gläubig mit Andacht und Ehrfurcht betreten, für den Kaiser, den Synod, die geistliche und weltliche Obrigkeit, den Richterstand und den Militärstand, für die Stadt, für das Haus, darin die Liturgie zelebriert wird, zu bitten um Reinheit und Gesundheit der Luft, um eine reiche Ernte, um friedliche Zeiten, für die Seefahrer und Reisenden, für die Kranken und Leidenden, für die Gefangenen und ihre Errettung; er fordert die Gemeinde auf, Gott zu bitten, daß Er uns vor jeglichem Kummer, Zorn und Not bewahren möge, und indem die Versammlung der Andächtigen alles mit dieser allumschließenden Kette von Gebeten, die die große Ektenia heißt, umschlingt, erwidert sie jedesmal, wenn sie angerufen wird, zusammen mit dem Chor der Sänger: »Herr, erbarme Dich!« Im Bewußtsein der Ohnmacht unserer Gebete, denen es an Seelenweisheit fehlt und denen kein reiner himmlischer Lebenswandel entspricht, fordert der Diakon, derer gedenkend, die da besser zu beten verstanden als wir, die Gemeinde auf, sich selbst, einander und das ganze Leben unserem Gotte Christus zu weihen. In dem aufrichtigen Wunsch, sich selbst, einander und ihr ganzes Leben Christus, unserem Gotte zu weihen, wie dies die heilige Mutter Gottes, die Heiligen und die, die besser waren als wir, verstanden, ruft die ganze Kirche zusammen mit dem Sängerchor: »Dir, o Herr!« Der Diakon beschließt die Kette der Gebete mit einem Lobgesang auf die Dreieinigkeit, die sich wie ein alles zusammenhaltender Faden durch die ganze Liturgie hindurchzieht und jede Handlung einleitet und beschließt. Die Versammlung der Andächtigen antwortet mit einem bestätigenden »Amen! Ja, so geschehe es!« Der Diakon steigt von der Kanzel herab, und es beginnt der Abgesang der Antiphone. Die Antiphone sind Wechselgesänge, d. h. Lieder, die den Psalmen entnommen sind und das Erscheinen des göttlichen Sohnes in der Welt prophetisch ankündigen; sie werden abwechselnd von einem der beiden Sängerchöre, die auf beiden Chören postiert sind, gesungen; sie bilden einen Ersatz für die älteren Psalmodien und sind kürzer als diese. Während des Abgesangs des ersten Antiphons betet der Priester im Inneren des Altarraumes für sich; der Diakon steht unterdessen in betender Stellung vor dem Bilde des Heilands, indem er die Stola mit drei Fingern seiner Hand emporhält. Wenn der Gesang des ersten Antiphons beendet ist, besteigt er aufs neue die Kanzel und wendet sich mit folgenden Worten an die versammelten Andächtigen: »Laßt uns abermals und abermals zu Gott beten!« Die versammelten Andächtigen rufen: »Herr, erbarme Dich unser!« Der Diakon wendet sich nun den Bildern der Heiligen zu und fordert die Gemeinde auf, der Mutter Gottes und aller Heiligen zu gedenken und sich selbst, einander, sowie das ganze Leben unserem Gotte Christus zu weihen. Die Gemeinde ruft aus: »Dir, o Gott!« Der Diakon beschließt diesen Teil mit einer Lobpreisung der Heiligen Dreieinigkeit. Die ganze Kirche ruft bestätigend Amen, und dann folgt der Abgesang des zweiten Antiphons. Während des zweiten Antiphons betet der Priester im Altarraum bei sich selbst. Der Diakon tritt wieder in betender Stellung vor das Heiligenbild des Erlösers, indem er die Gebetstola mit drei Fingern der Hand emporhält; nach Beendigung des Gesanges besteigt er abermals die Kanzel, blickt auf die Bilder der Heiligen und ruft die Gemeinde wie vorhin mit den Worten auf: »Laßt uns in Frieden zu dem Herrn beten!« Die Gemeinde erwidert: »Herr Gott, [erbarme Dich.« Der Diakon ruft aus]: »O Gott, hilf uns, sei uns gnädig, errette uns, behüte uns durch Deine Gnade!« Die Gemeinde erwidert: »Herr Gott, erbarme Dich unser!« Der Diakon blickt auf die Bilder der Heiligen [und ruft aus]: »Laßt uns unserer heiligen, unbefleckten, hochgelobten, herrlichen Gebieterin, der Jungfrau und aller Heiligen gedenken und uns selbst, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gotte weihen!« Die Gemeinde antwortet: »Dir, o Herr!« Das Gebet endet mit einer Lobpreisung der Heiligen Dreieinigkeit. Die ganze Kirche antwortet bestätigend: »Amen,« und der Diakon steigt von der Kanzel herab. Der Priester betet im Inneren des Altarraumes bei sich selbst, indem er spricht: »Du, Der Du uns dies gemeinsame einträchtige Gebet schenktest, Du, Der Du verhießest, wenn zwei oder drei in Deinem Namen versammelt sind, zu gewähren, worum sie bitten! erfülle die Bitten Deiner Knechte zu ihrem eigenen Besten; schenke uns in diesem Leben die Erkenntnis Deiner Wahrheit und schenke uns im künftigen das ewige Leben.« Jetzt werden vom Chor so laut, daß alle es hören können, die Seligpreisungen verkündet, die uns in diesem Leben die Erkenntnis der Wahrheit und im künftigen ein ewiges Leben verheißen. Die andächtige Gemeinde spricht die Worte des weiseren Übeltäters, der Christus am Kreuze anflehte: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst,« und wiederholt nach dem Vorleser die Worte des Heilandes: »_Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihrer_« -- d. h. die, die sich nicht überheben und sich nicht mit ihrem Verstande brüsten. »_Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden_« -- d. h. die, die da noch mehr über ihre eigenen Unvollkommenheiten und Verfehlungen, als über die Beleidigungen und Kränkungen trauern, die ihnen zugefügt werden. »_Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen_« -- d. h. die, die wider niemand Zorn in ihrem Herzen hegen, allen vergeben und von Liebe erfüllet sind, deren Waffe die alles besiegende Güte ist. »_Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden_« -- d. h. die, die nach der himmlischen Gerechtigkeit dürsten und sich vor allem danach sehnen, sie in sich selbst herzustellen. »_Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen_« -- d. h. die, die jeden ihrer Brüder bemitleiden und in jedem, der ihnen bittend naht, Christus selbst erkennen, der für ihn bittet. »_Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen_« -- wie sich in dem reinen Spiegel eines ruhigen Gewässers, das weder durch Sand noch Schlamm getrübt wird, das reine Himmelsgewölbe spiegelt, so gibt es auch in dem Spiegel eines reinen Herzens, das von keinen Leidenschaften aufgewühlt wird, kaum noch etwas Menschliches mehr, und nur Gottes Bildnis spiegelt sich in ihm. »_Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen_« -- gleich dem Sohne Gottes selbst, der auf die Erde herabstieg, um unseren Seelen Frieden zu bringen, so sind auch die, die da Frieden und Versöhnung in unser Heim tragen, wahrhafte Söhne Gottes. »_Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihrer_« -- d. h. die, die verfolgt werden, weil sie die Gerechtigkeit nicht bloß mit dem Munde, sondern durch die Wohlgefälligkeit ihres ganzen Lebens verkündigen. »_Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um Meinetwillen schmähen und verfolgen, und reden allerlei Übels wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden_«; -- ihr Verdienst ist ein dreifaches; erstlich sind sie schon an und für sich rein und unschuldig, zweitens werden sie geschmäht, obwohl sie rein sind, und drittens freuen sie sich, daß sie um Christi willen leiden, obwohl sie unschuldig sind. Die Gemeinde der Andächtigen spricht dem Vorleser mit vor Tränen bebender Stimme diese Worte des Heilandes nach, die da verkündigen, wer in der Zukunft auf ein ewiges Leben hoffen und warten darf, welche die wahren Könige der Welt, die Erben des Himmels sind und am himmlischen Reiche teilhaben. Jetzt öffnet sich feierlich die Königspforte, als wäre sie das Tor zum himmlischen Königreiche, und dem Auge aller Anwesenden bietet sich der schimmernde Hochaltar dar, der den Sitz des göttlichen Ruhms und die höchste Lehrstätte darstellt, aus der wir die Erkenntnis der Wahrheit schöpfen und die uns das _ewige Leben_ verheißt. Der Priester und der Diakon nähern sich dem Altar, nehmen das Evangelium und bringen es dem Volke dar; hierbei gehen sie nicht durch die Königspforte, sondern durch eine Seitentür, die die Tür der Seitenkammer darstellt, der man in der ersten Zeit die Bücher entnahm. Diese wurden dann in die Mitte des Tempels getragen, worauf hier aus ihnen vorgelesen wurde. Die Gemeinde der Andächtigen richtet ihre Blicke auf das Evangelium, das die demütigen Diener der Kirche in den Händen tragen, als wäre es der Heiland selbst, der zum erstenmal hervortritt, um Gottes Wort zu verkündigen; er schreitet durch die schmale nördliche Tür, gleichsam unerkannt, bis in die Mitte der Kirche, um, nachdem er sich allen gezeigt hat, durch die Königspforte wieder ins Allerheiligste zurückzukehren. Die beiden Diener Gottes bleiben mitten in der Kirche stehen; beide beugen ihr Haupt. Der Priester betet bei sich selbst, »Er, Der im Himmel die Heerscharen der Engel und die himmlischen Würden eingesetzt hat, auf daß sie Seinem Ruhm und Seiner Ehre dieneten, möge diesen Engeln und himmlischen Kräften, die Ihm mit uns dienen, gebieten, mit uns zusammen das Allerheiligste zu betreten«. Der Diakon weist mit der Gebetstola auf die Königspforte und spricht zum Priester: »Segne, o Herr den heiligen Eingang!« -- »Gesegnet sei der Eingang Deiner Heiligen immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« erwidert der Priester. Der Diakon reicht ihm das heilige Evangelium zum Kusse hin und trägt es in den Altarraum, bleibt jedoch inmitten der Königspforte stehen, hebt es hoch mit den Händen empor und ruft: »Höchste Weisheit!« wodurch er ausdrücken will, daß das Wort Gottes, Sein Sohn, Seine ewige höchste Weisheit der Welt durch das Evangelium verkündet ward, das er jetzt mit seinen Händen emporhebt. Dann ruft er: »Verzeih!« d. h.: »Erwachet, rafft euch auf, überwindet eure Trägheit und Lässigkeit!« Die Gemeinde der Andächtigen richtet ihren Geist empor und singt zusammen mit dem Chor: »Kommt, laßt uns vor Christus niederfallen und Ihn anbeten! Errette uns, Du Sohn Gottes, uns, die wir Dir >_Halleluja_< singen!« Das hebräische Wort Halleluja bedeutet soviel wie: »Der Herr _kommt gegangen_, lobet den Herrn!« da jedoch das Wort kommt gegangen nach dem Sinn der heiligen Sprache Gegenwart und Zukunft in einem ausdrückt, d. h. es kommt der, der schon gekommen ist und der wiederkommen wird, so begleitet dieses Wort _Halleluja_, das das ewige Wandeln Gottes ankündigt, jedesmal solche heilige Handlungen, bei denen Gott selbst in Gestalt des Evangeliums oder der heiligen Gaben zum Volke hinaustritt. Das Evangelium, das die frohe Botschaft vom Worte des Lebens verkündigt, wird auf den Hochaltar gestellt. Auf dem Chor ertönen jetzt Gesänge zu Ehren des Festtages, oder kurze Lobgesänge und Hymnen zu Ehren des Heiligen, dem der Tag geweiht ist und den die Kirche feiert, weil er denen gleicht, die Christus in den Seligpreisungen aufgezählt hat, und weil Er durch das lebendige Beispiel Seines eigenen Lebens gelehrt hat, wie wir Ihm nachfolgen und ins ewige Leben eingehen sollen. Nachdem die Lobhymnen beendigt sind, beginnen die Trichagien, d. h. der Abgesang des Dreimalheilig. Der Diakon erbittet sich den Segen des Priesters, betritt die Königspforte, schwingt die Stola und gibt den Sängern das Zeichen. Feierlich und mit Donnerlaut dröhnt der Gesang des Dreimalheilig durch die Kirche. Er besteht in folgendem Anrufe Gottes, der dreimal wiederholt wird: »Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser!« Mit dem Ruf: heiliger Gott verkündigt das Trichagion Gott den Vater; mit dem Ruf: heiliger Starker -- Gott den Sohn, Seine Kraft, Sein schaffendes Wort; und mit dem Ruf: heiliger Unsterblicher -- Seinen unsterblichen Gedanken, den ewigen lebendigen Willen Gottes, des Heiligen Geistes. Dreimal stimmen die Sänger diesen Gesang an, damit es bis ans Ohr aller Menschen dringe, daß in dem ewigen Sein Gottes das ewige Sein der Dreieinigkeit mitenthalten ist und daß es keine Zeit gab, wo Gottes Wort nicht bei Ihm gewesen wäre und wo der Heilige Geist Seinem Worte gemangelt hätte. »Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht, und all sein Heer durch den Geist Seines Mundes,« sagt der Prophet David. Jeder in der Gemeinde ist sich dessen bewußt, daß auch in ihm als dem Ebenbilde Gottes jene Dreiheit enthalten ist: Er selbst, Sein Wort und Sein Geist oder der Gedanke, der das Wort bewegt, daß jedoch sein menschliches Wort ohnmächtig ist, vergebens ertönt und nichts schafft, daß sein Geist nicht ihm gehört, da er von allen möglichen fremden Eindrücken beeinflußt wird, und daß nur durch seine Erhebung zu Gott in ihm das eine wie das andere Kraft gewinnt: im Worte spiegelt sich Gottes Wort, im Geiste Gottes Geist; das Bild der Dreieinigkeit des Schöpfers drückt sich im Geschöpfe ab, und das Geschöpf wird seinem Schöpfer ähnlich -- Indem dies jedem bewußt wird, betet er, während er dem Trichagion lauscht, innerlich bei sich selbst, daß der heilige, starke, unsterbliche Gott sein ganzes Ich reinigen und es zu Seinem Tempel und Wohnhaus machen möge, und dabei wiederholt er dreimal bei sich selbst: »Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser!« Der Priester betet im Inneren des Altarraums leise zu Gott, er möge dieses Trichagion gnädig aufnehmen, wirft sich dreimal vor dem Altar nieder und wiederholt dreimal bei sich selbst: »Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher!« Auch der Diakon wiederholt gleich ihm dreimal das Trichagion und wirft sich zusammen mit dem Priester vor dem Altar nieder. Nachdem der Priester den Kniefall getan hat, besteigt er den erhöhten Platz im Allerheiligsten, als dränge er bis in die Tiefe der Gotteserkenntnis ein, daher uns das Mysterium der Allerheiligsten Dreieinigkeit gekommen ist; dieser Platz symbolisiert jenen höchsten erhabensten über allem schwebenden Ort, da der Sohn im Schoße des Vaters und in der Einheit mit dem Heiligen Geiste ruht. Durch dieses Emporsteigen stellt der Priester das Emporsteigen Christi selbst samt dem Fleische in den Schoß des Vaters dar, wodurch der Mensch gleichfalls aufgefordert wird, Ihm in den Schoß des Vaters nachzufolgen -- eine Wiedergeburt, die schon der Prophet Daniel von ferne vorausgeahnt hat, als er in einem erhabenen Gesichte erschaute, wie des Menschen Sohn zu dem »Alten der Tage« kam. Der Priester schreitet nun unerschütterlichen Schrittes voran und spricht: »Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn.« Der Diakon fleht ihn an: »Segne, o Herr den erhabenen Hochaltar!« und der Priester segnet ihn, indem er spricht: »Gelobet seist Du auf dem Throne des Ruhms in der Herrlichkeit Deines Reiches. Du thronest auf Cherubim immerdar, jetzo, hinfort und von Ewigkeit zu Ewigkeit.« Dann nimmt er auf dem erhöhten Orte Platz, der für den Erzpriester bestimmt ist. Von hier aus sucht er wie ein Apostel Gottes und als sein Stellvertreter mit dem Gesicht zum Volke gewandt die Aufmerksamkeit der Gemeinde wach zu halten und die Gemeinde auf die bevorstehende Vorlesung der Epistel vorzubereiten -- er tut dies in sitzender Stellung und deutet hierdurch an, daß er selbst den Aposteln gleichgestellt ist. Der Vorleser tritt mit den Episteln in der Hand in die Mitte des Tempels. Mit dem Ruf: »Laßt uns aufmerken!« fordert der Diakon alle Anwesenden zur Aufmerksamkeit auf. Der Priester fleht vom Inneren des Altarraumes aus Frieden auf den Vorleser und die Anwesenden herab, und die Gemeinde der Andächtigen erwidert diesen Wunsch des Priesters mit dem gleichen Wunsche. Da sein Dienst jedoch ein rein geistlicher Dienst sein muß, gleich dem der Apostel, deren Worte nicht aus ihnen selbst kamen, sondern deren Lippen vom Heiligen Geist bewegt wurden, so sagen sie nicht: »Friede sei mit dir!« sondern »mit deinem Geiste«! Der Diakon ruft aus: »Höchste Weisheit!« Laut und ausdrucksvoll, so daß jedes Wort einem jeden vernehmlich ist, beginnt der Vorleser seine Vorlesung; aufmerksam, empfänglichen Herzens, mit suchender Seele und einem Verständnis, das den inneren Sinn des Vorgelesenen zu erfassen sucht, lauscht die Versammlung, denn die Vorlesung der Epistel ist eine Stufe und Leiter zum besseren Verständnis der Evangelien. Wenn der Vorleser seine Vorlesung beendigt hat, ruft ihm der Priester aus dem Inneren des Altarraumes zu: »Friede sei mit dir!« Der Chor antwortet: »Und mit deinem Geiste!« Der Diakon ruft aus: »Höchste Weisheit!« Der Chor singt ein donnerndes »Halleluja!«, das das Nahen des Herrn ankündigt, Der kommt, um durch den Mund des Evangeliums zum Volke zu sprechen. Nunmehr erscheint der Diakon mit dem Räucherfaß in der Hand, um den Tempel mit Wohlgerüchen zu erfüllen und für den Empfang des Herrn, der da naht, vorzubereiten; dieses Räuchern soll uns an die geistige Reinigung unserer Seelen ermahnen, denn wir sollen die wohltönenden Worte des Evangeliums reinen Herzens anhören. Der Priester betet im Innern des Altarraumes bei sich selbst, er bittet, daß das Licht der göttlichen Weisheit in unseren Herzen aufgehen und daß unsere geistigen Augen sich öffnen mögen, auf daß wir die Predigt des Evangeliums verständnisvoll in uns aufnehmen. Auch die Gemeinde betet leise bei sich selbst, sie bittet, daß das gleiche Licht auch in ihrem Herzen aufgehen möge, und bereitet sich auf die Vorlesung vor. Der Diakon erbittet sich den Segen des Priesters, dieser erwidert ihm mit dem Wunsche: »Gott verleihe auf Fürbitte des hochheiligen, hochgelobten Apostels und Evangelisten [hier folgt sein Name] deiner Stimme große Kraft, daß du die frohe Botschaft machtvoll verkündigest, auf daß erfüllet werde das Evangelium Seines innig geliebten Sohnes, unseres Herrn Jesu Christi!« Hierauf besteigt der Diakon die Kanzel, wobei ihm eine Leuchte vorangetragen wird, die das alles erleuchtende Licht Jesu Christi symbolisiert. Der Priester ruft der Gemeinde aus dem Inneren des Altarraumes zu: »Höchste Weisheit! Vergib! Laßt uns dem heiligen Evangelium lauschen! Friede sei mit euch allen!« Der Chor antwortet: »Und mit deinem Geiste!«, worauf der Diakon seine Vorlesung beginnt. Alle beugen andächtig ihr Haupt, als lauschten sie den Worten Christi selbst, Der von der Kanzel zu ihnen spricht, und als bemühten sie sich, die Saat des heiligen Wortes die der himmlische Säemann selbst durch den Mund Seines Dieners ausstreut, in sich, in ihr Herz, aufzunehmen; -- nicht mit einem Herzen, das der Heiland mit der Erde am Wege vergleicht, auf die zwar auch einige Samenkörner fallen, um jedoch sofort von den Vögeln -- den bösen Gedanken und Absichten -- aufgefressen zu werden; -- auch nicht mit solch einem Herzen, das Er mit dem steinigen Erdreich vergleicht, das nur ganz oberflächlich mit Erde bedeckt ist, sie, die das Wort zwar willig aufnehmen, es aber nicht tief Wurzeln schlagen lassen, da es ihnen an Herzenstiefe fehlt; -- auch nicht mit solch einem Herzen, das Er mit dem verwahrlosten und ungesäuberten Acker vergleicht, der von Dornen überwuchert ist, auf dem die Saat zwar aufgeht, dessen eben aufsprießende Keime jedoch von den schnell emporwachsenden Dornen -- den Dornen zeitlicher Sorgen und Mühen, den Dornen der Versuchungen und der zahllosen Lockungen des ertötenden, weltlichen Lebens mit seinen trügerischen Reizen und Annehmlichkeiten -- sofort erstickt werden, -- so daß die Saat keine Frucht trägt; wohl aber mit jenem hingebungsvollen Herzen, das Er mit gutem Lande vergleicht, welches Frucht trägt -- etliches hundertfältig, etliches sechzigfältig, etliches dreißigfältig --, das alles, was es in sich aufnimmt, beim Verlassen der Kirche, zu Hause, in der Familie, im Dienst, während der Arbeit, während der Mußestunden und Vergnügungen, im Gespräche mit anderen Menschen, und, wenn es mit sich allein ist, wieder zurückerstattet. Kurz, jeder Gläubige bemüht sich, ein Hörer und Täter des Wortes zugleich zu sein, den der Heiland mit dem weisen Manne gleichzumachen verspricht, der sein Haus nicht auf Sand, sondern auf einem Felsen erbaut, so daß sein geistiges Heim, selbst wenn sich, gleich nachdem er die Kirche verlassen hat, Regen, Flüsse und Wirbelstürme, alle möglichen Leiden und Mißgeschick wider ihn erhöben, unerschütterlich dastehen wird, gleich einer auf einem Felsen erbauten Feste. Nachdem die Vorlesung beendigt ist, ruft der Priester dem Diakon aus dem Inneren des Tempels zu: »Friede sei mit dir, der du frohe Botschaft verkündigst!« Alle Anwesenden erheben ihr Haupt und rufen im Gefühl ihrer Dankbarkeit zugleich mit dem Chor: »Ehre sei Dir, unserem Gott, Ehre sei Dir!« Der in der Königspforte stehende Priester nimmt das Evangelium aus den Händen des Diakons entgegen und stellt es auf den Altar, als das Wort, das von Gott ausgegangen ist und nun zu Ihm zurückkehrt. Der Hochaltar, der die höchsten erhabensten Gefilde darstellt, entzieht sich jetzt den Augen der Gemeinde -- die Königspforte schließt sich, und die Tür zum Allerheiligsten wird verhängt zum Zeichen, daß es keine andere Tür zum Himmelreiche gibt als die, die uns Christus geöffnet hat, und daß wir nur mit Ihm durch sie eintreten können, denn es heißt: »Ich bin die Tür.« Hiernach pflegte während der ersten christlichen Zeit die Predigt stattzufinden, worauf die Erklärung und Interpretation der verlesenen Evangelientexte folgte. Da jedoch in unserer Zeit meist über andere Texte gepredigt wird, und da folglich die Predigt nicht zur Erklärung der vorgelesenen Evangelientexte dient, so wird sie, um den Zusammenhang und die strenge harmonische Ordnung der heiligen Liturgie nicht zu stören, ans Ende gestellt. Der Diakon besteigt sodann, den Engel, der die Menschen zum Gebet anfeuert, versinnbildlichend, die Kanzel, um die Gemeinde zu noch inbrünstigerem Gebet aufzurufen. Er ruft: »Lasset uns beten aus ganzem Herzen, ganzer Seele, lasset uns beten aus ganzem Gemüt,« indem er die Gebetstola mit drei Fingern in die Höhe hebt; und während alle aus tiefster Seele inbrünstige Gebete zum Himmel emporrichten, rufen sie aus: »Herr, erbarme Dich!« Der Diakon aber unterstützt und verstärkt seinerseits das Gebet noch, indem er dreimal um Erbarmen fleht, und er fordert die Gemeinde nochmals auf, für alle Menschen zu beten, welchen Rang und welches Amt sie auch immer bekleiden mögen; zunächst und in erster Linie für die in den höchsten Ämtern und Stellungen, wo es der Mensch am schwersten hat, wo er am leichtesten strauchelt und wo er der Hilfe Gottes am meisten bedarf. Jeder von den Versammelten betet, da er weiß, in wie hohem Grade die Wohlfahrt vieler Menschen davon abhängt, daß die Mächtigen redlich ihre Pflicht erfüllen, inbrünstig und bittet Gott, Er möge sie erleuchten und belehren, getreulich ihre Schuldigkeit zu tun, und jedem Kraft verleihen, seine irdische Laufbahn in ehrenhafter Weise zu vollenden. Darum beten alle inniglich, indem sie nun nicht mehr einmal, sondern dreimal nacheinander rufen: »Herr, erbarme Dich!« Die ganze Reihe dieser Gebete heißt: doppelte Ektenia oder die Ektenia des inbrünstigen Gebets, und der Priester bittet im Altar vor dem Gottestisch inniglich um Erhörung dieser allgemeinen verstärkten Gebete, und sein Gebet heißt das Gebet der inbrünstigen Bitte. Wenn an jenem Tage eine Seelenmesse zu Ehren der Toten stattfindet, so wird gleich nach der doppelten Ektenia noch eine Ektenia zu Ehren der Entschlafenen verkündigt. Der Diakon hält die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und fordert die Gemeinde auf, für den Seelenfrieden der Knechte Gottes zu beten, die er alle beim Namen nennt, auf daß Gott ihnen alle ihre Sünden, ihre bewußten und unbewußten Verfehlungen vergeben und ihre Seelen dorthin versetzen möge, wo die Gerechten in Frieden weilen. Bei dieser Gelegenheit gedenkt jeder der Anwesenden aller Verstorbenen, die seinem Herzen nahestanden, und beantwortet jeden Ruf des Diakons mit einem dreimaligen: »Herr, erbarme Dich!« indem er inbrünstig für seine Lieben und für alle entschlafenen Christen betet. »Wir flehen Dich an, Christus, unser Gott, unsterblicher König, gewähre uns Deine göttliche Gnade, das Himmelreich und Vergebung der Sünden!« ruft der Diakon aus. Die Gemeinde erwidert zugleich mit dem Sängerchor: »Gewähre es uns, o Herr!« Der Priester aber betet im Inneren des Altarraums und bittet den Überwinder des Todes, Ihn, der uns das ewige Leben schenkte, Er möge die Seelen Seiner entschlafenen Knechte in Frieden in die friedlichen grünen Gefilde, die von Krankheiten, Kummer und Seufzern gemieden werden, eingehen lassen; er bittet in seinem Herzen, Er möge ihnen alle ihre Sünden erlassen und verkündet laut: »Christus, unser Gott, da Du bist die Auferstehung, das Leben und der Frieden Deiner entschlafenen Knechte, so singen wir Dir Preis und Ruhm samt Deinem ewigen Vater und Deinem allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geist, nun, hinfort und in alle Ewigkeit.« Der Chor ruft bestätigend: »Amen,« worauf der Diakon die Ektenia für die Katechumenen beginnt. Obwohl die Zahl der noch nicht Getauften und derer, die noch zu den Katechumenen zählen, heute nur noch gering ist, denkt doch jeder Anwesende daran, wie weit er durch Glauben und Taten noch hinter den Gläubigen zurücksteht, die gewürdigt wurden, an den Liebesmahlen der ersten christlichen Zeit teilzunehmen, sieht ein, wie er gleichsam bloß bei Christus in die Lehre gegangen ist, jedoch sein Leben noch nicht mit Ihm erfüllt hat, wie er erst die Weisheit Seiner Worte versteht, sie aber in seinem Leben noch nicht verwirklicht, wie kalt sein Glaube noch ist, und wie es ihm noch an dem Feuer einer allesverzeihenden Liebe zu seinem Bruder gebricht, einer Liebe, die alle Herzenskälte und Dürre verzehrt, und wie er, obwohl er mit dem Wasser auf den Namen Christi getauft ward, doch noch der geistigen Wiedergeburt nicht teilhaftig ist, ohne die sein Christentum nach den eigenen Worten des Heilandes nichts ist, Der da spricht: »Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen!« -- Indem also jeder Anwesende dessen eingedenk ist, zählt er sich demutsvoll zu den Katechumenen, und so antwortet er denn auch auf den Ruf des Diakons: »Lasset uns zu Gott beten, Katechumenen!« aus der Tiefe seines Herzens: »Gott, erbarme Dich unser!« Hierauf ruft der Diakon: »Ihr Gläubigen, lasset uns für die Katechumenen beten und Ihn bitten, Er möge ihnen gnädig sein, sie erwecken mit dem Worte der Wahrheit, ihnen das Evangelium der Gerechtigkeit offenbaren, sie vereinigen in Seiner heiligen allgemeinen apostolischen Kirche, Er möge sie erretten, Sich ihrer erbarmen, ihnen beistehen und sie erhalten in Seiner Gnade.« Und die Gläubigen beten, tief durchdrungen von dem Gefühle, wie wenig sie den Namen der Gläubigen verdienen, indem sie für die Katechumenen bitten, auch für sich selbst und beantworten jeden Ruf des Diakons in ihrem Innern, indem sie mit dem Sängerchor die Worte nachsprechen: »Herr, erbarme Dich unser!« Der Diakon ruft: »Katechumenen, beugt euer Haupt vor Gott!«, und alle beugen ihr Haupt, indem sie innerlich ausrufen: »Vor Dir, o Herr!« Der Priester betet leise für die Katechumenen, sowie für die, die sich in ihrer Herzensdemut unter die Katechumenen versetzt haben. Sein Gebet hat folgenden Wortlaut: »Herr, unser Gott, Der Du in der Höhe wohnst und herabsiehst auf die Demütigen, Der Du das Heil herabsandtest dem menschlichen Geschlechte in Gestalt Jesu Christi, Deines Sohnes, unseres Herrn und Gottes! Blicke nieder auf die Katechumenen, Deine Knechte, die ihren Nacken vor Dir beugen! Nimm sie auf in Deine Kirche und in Deine auserwählte Herde, auf daß sie mit uns Deinen hehren, herrlichen Namen loben und preisen den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Chor fällt mit einem donnernden »Amen!« ein. Und in Erinnerung, daß nun der Augenblick gekommen ist, wo ehemals die Katechumenen aus der Kirche herausgeführt wurden, ruft der Diakon mit lauter Stimme: »Tretet heraus, Katechumenen!« Hierauf erhebt er abermals die Stimme und ruft noch einmal: »Tretet heraus, Katechumenen!« Und endlich ruft er noch ein drittes Mal aus: »Tretet heraus, Katechumenen! Keiner von euch Katechumenen, sondern ihr Gläubigen alleine, laßt uns abermals und abermals zu Gott beten!« Bei diesen Worten erbeben alle im Bewußtsein ihrer Unwürdigkeit. Inbrünstig flehen sie in Gedanken Christus selbst um Gnade an, Der die Käufer und die schamlosen Krämer, die Sein Heiligtum zu einer Mördergrube gemacht hatten, aus dem Tempel Gottes jagte, und jeder Anwesende bemüht sich, den Katechumenen, der noch nicht darauf vorbereitet ist, in dem Heiligtume zu weilen, aus dem Tempel seiner Seele zu vertreiben, und er betet zu Christus, Er möge selbst den Gläubigen, der in die auserwählte Herde aufgenommen wird, in ihm erwecken, denn von ihm sagt der Apostel: »Ein heiliges Volk, Menschen der Erneuerung sind die Steine, aus denen der Tempel erbaut wird«; Er möge ihn erwecken ihn, der zu den wahrhaften Gläubigen gehört, die während der Zeit der ersten Christen, deren Gesichter von der Ikonostasis auf den Andächtigen herabblicken, an der Liturgie teilnahmen. Und indem er sie alle mit seinem Blick umfaßt, fleht er sie um Hilfe an, als seine Brüder, die jetzt im Himmel anbeten, denn nunmehr steht die allerheiligste Handlung bevor; es beginnt die Liturgie der Gläubigen. Die Liturgie der Gläubigen Im geschlossenen Altarraum breitet der Priester auf dem heiligen Hochaltar das Antiminsion oder Corporale aus -- ein Tuch, auf dem der Körper des Heilands abgebildet ist --, worauf das von ihm während des Offertoriums zubereitete Brot und der mit Wasser und Wein gefüllte Kelch gestellt werden, die jetzt im Angesicht aller Gläubigen vom Seitenaltar herbeigetragen werden. Das Corporale, das der Priester über den Hochaltar breitet, soll an die Zeiten der Christenverfolgungen erinnern, als die Kirche noch kein ständiges Heim hatte; man bediente sich damals, da der Altar nicht von einem Ort zum anderen getragen werden konnte, dieses Tuches sowie einzelner Stücke von Reliquien; dies Corporale ist noch heute im Gebrauch, um anzudeuten, daß die Kirche auch heute noch nicht an ein einzelnes bestimmtes Haus, an eine Stadt oder an einen Ort gebunden ist, sondern wie ein Schiff noch auf den Wellen dieser Welt schwebt, ohne irgendwo vor Anker zu gehen, denn ihr Anker ruht im Himmel. Nachdem also der Priester das Corporale ausgebreitet hat, tritt er vor den Tisch, wie wenn er das erstemal vor ihn hinträte und als ob er sich erst jetzt für die eigentliche heilige Handlung vorbereite: in der ersten christlichen Zeit wurde nämlich der Altar erst in diesem Augenblick geöffnet, bis dahin blieb er geschlossen und verhängt, weil ja die Katechumenen noch anwesend waren, und erst jetzt begannen die eigentlichen Gebete der Gläubigen. Der Priester fällt in dem noch immer geschlossenen Altarraum vor dem Tische nieder und betet zwei Gebete der Gläubigen, in denen er Gott bittet, seine Seele zu reinigen, und Ihn anfleht, ihn gerecht vor den heiligen Altar treten zu lassen, auf daß er würdig werde, das Opfer reinen Gewissens darzubringen. Der Diakon steht indessen auf der Kanzel inmitten der Kirche, einen Engel darstellend, der die Gemeinde zum Gebet anfeuert; er hält die Gebetstola mit drei Fingern empor und ruft alle Gläubigen zu denselben Gebeten auf, mit denen die Liturgie der Katechumenen begann. Alle Gläubigen sind bemüht, ihre Herzen mit einem einträchtigen, friedlichen, versöhnlichen Gefühl zu erfüllen, das jetzt noch notwendiger ist, und rufen: »Herr, erbarme Dich!«; sie beten noch inbrünstiger und flehen Gott um den höheren Frieden, um Errettung unserer Seelen, um den Frieden der Welt, die Wohlfahrt der Kirchen Gottes und ihre Einigung an; sie beten für diesen heiligen Tempel und für die, die ihn andächtig und gottesfürchtig betreten, und bitten Gott, Er möge sie vor Kummer, Zorn und Not bewahren. Und sie rufen noch inbrünstiger in ihrem Herzen: »Herr, erbarme Dich!« Der Priester ruft aus dem Inneren des Altarraumes: »Höchste Weisheit!«, womit er andeutet, daß dieselbe höchste Weisheit, derselbe ewige Sohn, Der in Gestalt des Evangeliums ausging, das Wort auszusäen, daraus wir Belehrung schöpfen, wie wir leben sollen, Sich jetzt in das heilige Brot verwandeln wird, um Sich für die ganze Welt aufzuopfern. Alle Anwesenden bereiten sich, aufgerüttelt durch diese Vorstellung, begeistert auf den nunmehr bevorstehenden hochheiligen Gottesdienst vor und richten ihre Gedanken auf ihn. Der Priester, der die Liturgie zelebriert, betet leise bei sich, fällt vor dem Tische nieder und spricht folgendes erhabene Gebet: »Keiner, der noch durch fleischliche Lüste und Genüsse gefesselt wird, ist würdig, sich Dir zu nahen, vor Dich hinzutreten oder Dir zu dienen, Herr der Liebe; denn Dein Dienst ist groß und furchtbar, selbst für die himmlischen Mächte. Allein da Du in Deiner unermeßlichen Menschenliebe wahrhaftig und ewiglich Mensch, da Du selbst Hoherpriester wurdest und selbst das Sakrament dieses Gottesdienstes und dieses unblutigen Opfers einsetztest, als Herr unser aller -- denn Du allein, o Gott, herrschst über alle himmlischen und irdischen Geschöpfe und sitzest auf dem Throne, der von Cherubim getragen wird, Gott der Seraphim und König von Israel, Der Du allein heilig bist und in den Heiligen wohnest --, so flehe ich Dich an, Dich, den Einen, Guten, sieh herab auf mich armen Sünder und Deinen unwürdigen Knecht, reinige meine Seele und mein Herz von bösen Gedanken und mache mich würdig, bekleidet mit der priesterlichen Gnade, mache mich würdig durch die Macht Deines Heiligen Geistes, vor Deinen Tisch zu treten und Deinen heiligen reinen Leib und Dein gerechtes Blut zu konsekrieren. Ich trete vor Dich hin, beuge meinen Nacken und bete zu Dir: wende Dein Angesicht nicht von mir ab und verstoße mich nicht aus der Schar Deiner Knechte, sondern laß es geschehen, daß diese Deine Gaben Dir dargebracht werden durch mich Unwürdigen. Denn Du bist der Darbringende und Dargebrachte, der Empfangende und Der, Der sie austeilt, Christus unser Gott, wir singen Dir Ruhm und Preis samt Deinem ewigen Vater und Deinem allerheiligsten, gütigen und lebenspendenden Geiste, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit.« Mitten während des Gebetes öffnet sich die Königspforte, und man sieht den Priester mit ausgebreiteten Armen und in betender Stellung knien. Der Diakon kommt mit dem Räucherfaß in der Hand gegangen, um dem höchsten König den Weg zu bereiten, er räuchert reichlich und läßt Wolken von wohlriechendem Weihrauch aufsteigen, inmitten deren Er erscheinen wird, getragen von Cherubim. So ermahnt er alle daran, ihr Gebet zu reinigen, auf daß es lauter werde wie der Weihrauch vor dem Herrn -- und fordert alle auf, die nach dem Wort des Apostels ein Wohlgeruch vor Christus sind, dessen eingedenk zu sein, daß sie reine Cherubim sein sollen, um den Herrn emportragen zu können. Die Sänger auf beiden Chören stimmen im Angesicht der ganzen Kirche folgenden Cherubimgesang an: »Die wir in geheimnisvoller Weise Cherubim darstellen und das Trichagion zu Ehren der lebenspendenden Dreieinigkeit singen, lasset uns nun alles andere vergessen und den höchsten König emporheben, Der unsichtbar getragen wird von den Heerscharen der Engel und beschattet von Lanzen.« Die alten Römer hatten den Brauch, den neugewählten König auf einem Schilde, begleitet von seinen Legionen und beschattet von zahllosen Lanzen, die über ihn gehalten wurden, vor das Volk hinauszutragen. Diesen Gesang hat jener Kaiser selbst gedichtet, der in aller seiner irdischen Größe vor der Erhabenheit des höchsten Königs in den Staub sank, Der im Schatten der Lanzen von Cherubim und von den Legionen der himmlischen Mächte getragen wird; in der ersten Zeit traten die Kaiser selbst bescheiden in die Reihe der Diener der Kirche, wenn das heilige Brot hinausgetragen wurde. Der Gesang dieses Liedes trägt einen angelischen Charakter und soll daran erinnern, wie die unsichtbaren Heerscharen im Himmel gesungen haben. Der Priester und der Diakon wiederholen diesen Cherubimgesang leise bei sich selbst und treten sodann vor den Seitenaltar, vor dem sich das Offertorium abspielte. Indem nun der Diakon vor die Gaben hintritt, die mit dem Aër bedeckt sind, spricht er: »Nimm hin, o Herr!« Der Priester zieht den Aër hinweg und legt ihn dem Diakon auf die linke Schulter und spricht: »Erhebet eure Hände zu dem Heiligtume und segnet den Herrn!« Sodann nimmt er die Patene samt dem Lamm und stellt sie dem Diakon aufs Haupt; er selbst ergreift den heiligen Kelch und geht hinter einer vorausgetragenen Leuchte oder Lampe zur Seitentür oder durch das nördliche Tor zum Volke hinaus. Wenn jedoch der Gottesdienst im Beisein der ganzen Geistlichkeit d. h. vieler Geistlicher und Diakonen stattfindet, so trägt ein Priester die Patene, ein anderer den Kelch, ein dritter den heiligen Löffel, mit dem der Priester das heilige Abendmahl austeilt, ein vierter die Lanze, die in den heiligen Leib gestoßen wurde. Alle heiligen Geräte werden hinausgetragen, sogar der Schwamm, mit dem die Krümchen des heiligen Brotes auf der Hostienschüssel zusammengelesen wurden und der jenen Schwamm darstellt, welcher mit Essig und Galle gefüllt wurde und mit dem die Knechte ihren Schöpfer tränkten. Diese feierliche Prozession, die der große Ausgang genannt wird und die himmlischen Heerscharen versinnbildlicht, kommt unter dem Absingen des Cherubimgesanges herangeschritten. Bei dem Anblick des höchsten Königs, Der in der bescheidenen Gestalt des Lammes vorausgetragen wird, umgeben von den Werkzeugen irdischer Marter wie von den Lanzen unzählbarer unsichtbarer Heerscharen und Hierarchien, und auf der Patene ruhend wie auf einem Schilde, beugen alle tief ihr Haupt und beten mit den Worten des Übeltäters, der den Herrn vom Kreuze aus anflehte: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.« Mitten im Tempel macht die Prozession halt. Der Priester benutzt diesen großen Augenblick, um in Gegenwart aller derer, die die Gaben tragen, und im Angesichte Gottes der Namen aller Christen zu gedenken, wobei er mit denen beginnt, denen die schwierigsten und heiligsten Pflichten auferlegt sind, von deren Erfüllung die Wohlfahrt aller Menschen und die Rettung ihrer eigenen Seele abhängt, und er schließt mit den Worten: »Gott der Herr gedenke euer und aller [rechtgläubigen] Christen in Seinem Reiche [immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit]!« Die Sänger beschließen den Cherubimgesang mit einem dreimaligen »Halleluja!«, das das ewige Wandeln des Herrn verkündigt. Der Zug betritt nun die Königspforte. Der Diakon nähert sich allen voran dem Altar, bleibt zur Rechten vor der Tür stehen und begrüßt den Priester mit den Worten: »Gott der Herr gedenke deiner Priesterschaft in Seinem Reiche!« Der Priester erwidert: »Gott der Herr gedenke deines heiligen Diakonenamtes in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Und er stellt den heiligen Kelch und das Brot, das den Leib Christi versinnbildlicht, auf den Tisch, als wäre er ein Sarg. Die Königspforte schließt sich, als wäre sie das Tor zum Grabe des Herrn, der Vorhang wird zugezogen, womit auf die Wache hingedeutet wird, die vor dem Grabe aufgestellt wurde. Der Priester nimmt die heilige Patene vom Haupte des Diakons, als nähme er den Leib des Heilands vom Kreuze herunter, und stellt sie auf das ausgebreitete Corporale, als wäre es das Grabtuch Christi, wozu er die Worte spricht: »Der ehrbare Joseph nahm Deinen allerheiligsten Leib vom Kreuze herab, band ihn in ein reines Grabtuch mit Spezereien und legte ihn in ein Grab, darinnen niemand je gelegen war.« Und indem er der Allgegenwart Dessen gedenkt, Der jetzt vor ihm im Grabe liegt, spricht er bei sich selbst: »Im Grabe warst Du leibhaftig, in der Hölle mit der Seele und Gott gleich, im Paradies mit dem Übeltäter und saßest doch zugleich auf dem Throne mit dem Vater und dem Heiligen Geist, o Christe, der Du alles mit Dir erfüllst, Unbeschreiblicher!« Und des Ruhms und der Ehre gedenkend, mit der dieses Grab bedeckt ward, spricht er: »Als Lebenspender, als wahrhaftiglich, herrlicher denn das Paradies und strahlender denn jeder Königspalast erschien uns Dein Grab, o Christus, Quell aller Auferstehung!« Dann zieht er die Decke von der Patene und vom Kelch hinweg, nimmt den Aër von der Schulter des Diakons, der jetzt nicht mehr die Linnen, darin das Kind Jesus gewickelt ward, sondern das Kopftuch und die Grableinwand darstellt, in die Sein toter Leib gehüllt wurde, räuchert mit Thymian und bedeckt hierauf die Patene und den Kelch abermals, indem er spricht: »Der ehrbare Joseph nahm Deinen allerheiligsten Leib vom Kreuze herab, band ihn in ein reines Grabtuch mit Spezereien und legte ihn in ein Grab, darinnen niemand je gelegt war.« Dann nimmt er das Räucherfaß aus den Händen des Diakons entgegen, räuchert vor den heiligen Gaben mit Weihrauch, indem er sich dreimal vor ihnen verneigt, und wiederholt, während er sich zu den bevorstehenden Opferhandlungen rüstet, leise bei sich selbst die Worte des Propheten David: »Tue wohl an Zion nach Deiner Gnade, baue die Mauern zu Jerusalem. Dann werden Dir gefallen die Opfer der Gerechtigkeit, die Brandopfer und die ganzen Opfer, dann wird man Farren auf Deinem Altar opfern,« denn solange Gott selbst uns nicht erhebt und unsere Seelen nicht mit jerusalemischen Mauern wider alle Angriffe des Fleisches schützt, sind wir nicht imstande, Ihm Opfer und Brandopfer darzubringen und wird nie die Flamme eines geistigen Gebetes emporlodern, denn sie wird zerstreut und verweht werden durch fremde nebensächliche Gedanken und Rücksichten, durch den Ansturm der Leidenschaften und den Wirbelwind eines seelischen Aufruhrs. Der Priester bittet Gott, seine Seele für das bevorstehende Opferwerk zu reinigen, legt das Räucherfaß wieder in die Hände des Diakons, läßt das Ornat herabfallen, beugt sein Haupt und spricht zu ihm: »Gedenke meiner, mein Bruder und Amtsgenosse!« »Gott gedenke deiner Priesterschaft in Seinem Reiche!« erwidert der Diakon, beugt seinerseits das Haupt, denkt an seine Unwürdigkeit und spricht, indem er die Stola emporhält: »Bete für mich, heiliger Herr!« Der Priester antwortet: »Der Heilige Geist komme über dich, und die Kraft des Höchsten erleuchte dich!« -- »Derselbige Geist helfe uns alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen Bewußtsein seiner Unwürdigkeit fügt er [der Diakon] hinzu: »Gedenke meiner, o heiliger Herr!« Der Priester erwidert: »Gott gedenke deiner in Seinem Reiche immerdar, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Diakon sagt: »Amen!« küßt dem Priester die Hand und geht durch die nördliche Seitentür hinaus, um alle Anwesenden zum Gebet für die dargebrachten und auf dem Hochaltar stehenden heiligen Gaben aufzufordern. Er besteigt den Altar und richtet, das Gesicht der Königspforte zugewandt und die Stola, gleich dem erhobenen Flügel eines Engels, der zum Gebet erweckt und anfeuert, mit drei Fingern emporhebend, eine ganze Reihe von Gebeten, die schon keine Ähnlichkeit mit den früheren mehr haben, zum Himmel empor. Nachdem er die Gemeinde aufgefordert hat, in ihren Gebeten der auf dem Hochaltar stehenden Gaben zu gedenken, geht er alsbald zu solchen Gebeten über, die nur die Gläubigen, die in Christo leben, an Gott richten. »Wir bitten Gott, daß Er diesen Tag zu einem vollkommenen, heiligen, friedlichen und sündenlosen mache!« fleht der Diakon. Die Gemeinde der Betenden vereinigt ihre Stimme mit dem Chor der Sänger und ruft aus tiefstem Herzen zu Gott empor: »Gewähre ihn uns, o Herr!« »Wir bitten Gott, daß Er uns einen friedlichen Engel, einen treuen Lehrmeister und Beschützer unserer Seelen und unserer Leiber sende!« Die Gemeinde: »Gewähre ihn uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um Vergebung und Erlassung unserer Sünden und Verfehlungen!« Die Gemeinde: »Gewähre sie uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um alles Gute und um alles, was unserer Seele nützlich ist, und um Frieden auf Erden!« Die Gemeinde: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um ein ferneres Leben in Frieden und um ein reumütiges Ende!« Die Gemeinde: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um ein christliches, schmerzloses, ehrbares und friedliches Ende unseres Lebens und darum, daß wir einst gute Rechenschaft ablegen am Jüngsten Gerichte Christi!« Die Gemeinde: »Gewähre uns das, o Herr!« »Wir gedenken unserer hochheiligen, reinen, gesegneten, herrlichen Gebärerin, unserer Heiligen Jungfrau, sowie aller Heiligen und weihen uns selbst, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gott.« Und in dem innigen Wunsche, sich also selbst und einander Christus, ihrem Herrn, zu weihen, rufen alle: »Dir, o Herr!« Die Ektenia wird mit folgendem Gebet beschlossen: »Durch die große Gnade Deines eingeborenen Sohnes, sei gesegnet mit Ihm samt Deinem allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geist, nun, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Chor singt ein donnerndes »Amen!« Noch immer bleibt der Altar geschlossen. Noch immer beginnt der Priester nicht mit dem Opfer; denn noch muß vieles geschehen, ehe das heilige Abendmahl stattfinden kann. Aus der Tiefe des Altarraumes ruft der Priester der Gemeinde den Gruß des Heilands zu: »Friede sei mit euch allen!« Die Gemeinde antwortet: »Und mit deinem Geiste!« Der Diakon steht auf der Kanzel und ermahnt, wie dies bei den ersten Christen Sitte war, alle, einander zu lieben, indem er spricht: »Laßt uns einander lieben und einmütig bekennen ...« Hier fällt der Sängerchor ein, indem er die Schlußworte: »Den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, die alleinige unteilbare Dreieinigkeit!« mitsingt, wodurch wir daran erinnert werden sollen, daß wir, wenn wir einander nicht liebhaben, auch Den nicht liebgewinnen können, Der ganz Liebe, Der die ganze vollkommene Liebe ist und Der in Seiner Heiligen Dreieinigkeit den Liebenden und den Geliebten, sowie die Handlung der Liebe, mit der der Liebende den Geliebten liebt, vereinigt: der Liebende ist Gott der Vater, der Geliebte Gott der Sohn, und die Liebe selbst, die Sie vereinigt, Gott der Heilige Geist. Dreimal verneigt sich der Priester im Inneren des Altarraumes, indem er leise bei sich wiederholt: »Ich will Dich lieben, o Herr, meine Stärke, mein Fels und mein Hort!« Er küßt die mit dem Tuch verdeckte heilige Patene und den heiligen Kelch, küßt den Rand des heiligen Hochaltars und alle Priester, die mit ihm am Gottesdienst teilnehmen, tuen desgleichen; dann küssen sie sich alle untereinander und der Hauptpriester spricht: »Christus ist mitten unter uns!« Man antwortet ihm: »Er ist und wird sein!« Auch alle Diakone, die zugegen sind, küssen zuerst die Stelle ihrer Stola, auf der das Kreuz abgebildet ist, und dann einander, indem sie dieselben Worte sprechen. Früher küßten alle, die in der Kirche waren, einander gleichfalls, die Männer die Männer, die Frauen die Frauen, indem sie sprachen: »Christus ist mitten unter uns!« und gleich darauf die Antwort erhielten: »Er ist und wird sein!« daher stellt sich auch heute ein jeder, der in der Kirche anwesend ist, in Gedanken vor, daß er alle Christen vor sich hat, nicht nur die, die in der Kirche sind, sondern auch die Abwesenden, nicht nur die, die seinem Herzen nahestehen, sondern auch die, die ihm fernstehen, beeilt sich, sich mit denen von ihnen auszusöhnen, gegen die er etwas wie Mißgunst, Haß oder Zorn hegte -- und gibt jedem von ihnen in Gedanken einen Kuß, indem er bei sich spricht: »Christus ist mitten unter uns!« und in ihrem Namen antwortet: »Er ist und wird sein!« denn ohne dies wäre er tot für alle folgenden heiligen Handlungen nach Christi eigenem Wort: »So lasse allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und opfere deine Gabe«; und an einer anderen Stelle heißt es: »Und wer da sagt, ich liebe Gott und hasse meinen Bruder, der lügt; denn wenn er seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, Den er nicht sieht?« Der Diakon steht auf der Kanzel, er wendet sein Gesicht den Anwesenden zu, hält die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und ruft nach altem Brauch: »Die Tore, die Tore!« Ehedem wurde dieser Ruf an die Pförtner gerichtet, die am Toreingang standen, damit sich keiner von den Heiden, die den christlichen Gottesdienst zu stören pflegten, frech und blasphemisch in die Kirche eindrängte; heute wird dieser Ruf an die Anwesenden selbst gerichtet, die hierdurch ermahnt werden sollen, die Tore ihres Herzens zu behüten, in denen die Liebe bereits Eingang gefunden hat, auf daß kein Feind der Liebe sich in die Herzen eindränge, und die Tore ihres Mundes und ihrer Ohren weit aufzutun und für die Verlesung des Glaubenssymbols offen zu halten; zum Zeichen dafür wird der Vorhang vor der Königspforte, oder die »hohe Pforte«, hinweggezogen, die sich nur dann öffnet, wenn die Aufmerksamkeit des Geistes auf die höchsten Mysterien hingelenkt werden soll. Der Diakon fordert die Versammlung mit folgenden Worten zum Zuhören auf: »Laßt uns der höchsten Weisheit lauschen!« Die Sänger stimmen einen kraftvollen mannhaften Gesang an, der mehr einer Art Sprechgesang gleicht, und rufen laut und ausdrucksvoll: »Ich glaube an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden, alles Sichtbaren und Unsichtbaren.« Dann machen sie eine kurze Pause, damit sich alle in Gedanken die erste Person der Heiligen Dreieinigkeit -- Gott den Vater klar und deutlich vorstellen, und fahren dann fort: »Und an Jesum Christum, Gottes eingeborenen Sohn, unseren Herrn, vom Vater in Ewigkeit geboren, Licht vom Licht, wahrhaftigen Gott vom wahrhaftigen Gott, geboren, nicht erschaffen, einerlei Wesens mit dem Vater, durch welchen alle Dinge geworden sind. Um der Menschen und um des Heiles willen vom Himmel Fleisch geworden aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria und Mensch geworden, um unseretwillen gekreuzigt unter Pontius Pilatus, gelitten, gestorben und begraben. Am dritten Tage nach der Schrift wiederauferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel und sitzend zur Rechten des Vaters. Von dannen Er wiederkommen wird in Herrlichkeit, zu richten die Lebendigen und die Toten und Dessen Reiches kein Ende sein wird. Und an den Heiligen Geist, Der da machet lebendig und gehet aus vom Vater, Der da zusammen mit dem Vater und dem Sohne angebetet und verehret wird und durch die Propheten geredet hat.« Dann machen sie wieder eine kurze Pause, damit sich alle in Gedanken die dritte Person der Heiligen Dreieinigkeit -- Gott, den Heiligen Geist klar und deutlich vorstellen, und fahren fort: »Und an eine heilige katholische und apostolische Kirche. Ich glaube an eine Taufe zur Vergebung der Sünden und hoffe auf die Auferstehung der Toten und ein ewiges Leben. Amen!« Mannhaft und kraftvoll ist der Gesang der Sänger und er prägt jedes Wort des Glaubenssymbols den Herzen tief ein. Mit fester Stimme wiederholt hierauf ein jeder die Worte des Symbols. Mutigen Herzens und voll starken Geistes wiederholt auch der Priester vor dem heiligen Hochaltar, der den heiligen Abendmahlstisch darstellen soll, leise bei sich selbst das Glaubensbekenntnis, auch alle Zelebranten, die ihm zur Seite stehen, wiederholen es still bei sich selbst, indem sie den heiligen Aër, der über den heiligen Gaben ruht, hin und her bewegen. Festen Schrittes kommt jetzt der Diakon gegangen und verkündet: »Laßt uns fromm, laßt uns ehrfurchtsvoll dastehen und aufmerken und das heilige Opfer in Frieden darbringen,« d. h. laßt uns würdig vor Gott hintreten, wie es sich für den Menschen geziemt, d. h. mit Zittern und Ehrfurcht, zugleich aber auch tapfer und kühnen Mutes, indem wir Gott loben, mit friedlichem versöhntem, einträchtigem Herzen, denn ohne dies vermag man sich nicht zu Gott zu erheben. Und die ganze Kirche wiederholt, diesen Ruf beantwortend, indem sie den Lobgesang, der aus ihrem Munde emporsteigt, und die Besänftigung der Herzen als Opfergabe darbringt mit dem Sängerchor: »Die Gnade des Friedens, das Opfer des Dankes.« In der Urkirche herrschte die Sitte, bei dieser Gelegenheit etwas Salböl als Opfergabe darzubringen, welches ein Symbol der Besänftigung ist, denn Salböl und Barmherzigkeit bedeuten im Griechischen dasselbe. Unterdessen zieht der Priester im Altarraum den Aër von den heiligen Gaben hinweg, küßt ihn und legt ihn zur Seite, indem er spricht: »Die Gnade unseres Herrn ...« Der Diakon aber betritt den Altarraum, nimmt den Fächer oder das Rhipidion in die Hand und schwingt ihn andachtsvoll über den heiligen Gaben. Indem nun der Priester sich anschickt, das heilige Abendmahl zu zelebrieren, richtet er aus dem Inneren des Altarraums folgenden frohen Ruf an das Volk: »Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!« worauf ihm alle Anwesenden antworten: »Und mit deinem Geiste!« Der Altar, der vorhin die Krippe vorstellte, versinnbildlicht jetzt das Zimmer, in dem das Abendmahl zubereitet wurde; und der Hochaltar, der das Grab versinnbildlichte, stellt jetzt den Abendmahlstisch und nicht mehr das Grab dar. Der Priester gedenkt des Erlösers, Der Seine Augen zum Himmel emporrichtete, ehe Er Seinen Jüngern die göttliche Speise darreichte, und ruft: »Laßt uns unsere Herzen zum Himmel erheben!« Und jeder, der in der Kirche anwesend ist, richtet seine Gedanken auf das, was nun geschehen wird -- und er denkt daran, daß in diesem Augenblick das göttliche Lamm für ihn geschlachtet wird, daß das göttliche Blut des Herrn selbst in den Kelch fließt, um ihn zu entsühnen, und daß alle himmlischen Mächte sich mit dem Priester vereinigen, um für ihn zu beten; und indem er seine Gedanken [hierauf] richtet und seine Seele von der Erde abzieht und zum Himmel und aus der Finsternis zum Lichte erhebt, ruft er zugleich mit allen anderen aus: »Wir wollen uns zu Gott erheben!« Der Priester ruft, des Erlösers gedenkend, Der da dankte, nachdem Er Seine Augen gen Himmel erhoben hatte: »Laßt uns unserem Gotte danken!« Der Chor erwidert: »Geziemend ist es und fromm, anzubeten den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, die Heilige Dreieinigkeit, Die eines Wesens und unfehlbar ist.« Der Priester aber betet im stillen bei sich: »Geziemend ist es und fromm, Dich zu verherrlichen, zu loben, Dir zu danken und Dich anzubeten allerorten in Deinem Reiche, denn Du bist Gott, der Unaussprechliche, Unergründliche, Unsichtbare und Unbegreifliche, denn Du bist ewig Derselbe samt Deinem eingeborenen Sohn und Deinem Heiligen Geist. Du hast uns aus dem Nichtsein zum Sein erweckt, hast uns Abtrünnige wieder aufgerichtet und hast uns nicht verlassen, sondern uns in den Himmel erhoben und uns Dein künftiges Reich geschenkt. Für dieses alles danken wir Dir und Deinem eingeborenen Sohn und Deinem Heiligen Geiste, danken Dir alle, für alle die Wohltaten, die wir kennen und die wir nicht kennen, die offenkundigen und die unbekannten, die Du an uns getan hast. Wir danken Dir auch für diesen Gottesdienst und bitten Dich, ihn aus unserer Hand entgegenzunehmen, obwohl Dir Tausende von Erzengeln und Legionen von Engeln, Cherubim und sechsfach geflügelte Seraphim zur Verfügung stehen, vieläugige, gefiederte, gen Himmel strebend, Dir Siegeslieder singen, rufen, jauchzen und sprechen: »Heilig, heilig, heilig ist der Gott Zebaoth; Himmel und Erde sind Deines Ruhmes voll!« Dieses Siegeslied der Seraphim, das die Propheten in ihren heiligen Gesichten vernahmen, wird von dem ganzen Sängerchor aufgenommen; es trägt die Gedanken der Gläubigen in unsichtbare Himmelsfernen mit sich fort, nötigt alle, mit den Seraphim in den Ruf einzustimmen: »Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth!« und mit ihnen den Thron des göttlichen Ruhmes zu umkreisen. Und da ferner die ganze Kirche in diesem Augenblick erwartungsvoll dessen harrt, daß der Herr selbst herabsteigen und Sich für alle zum Opfer darbringen wird, so vereinigt sich mit dem Gesang der Seraphim, der im Himmel ertönt, noch der Gesang der hebräischen Jünglinge, mit dem Ihn diese bei Seinem Einzug in Jerusalem begrüßten, Zweige auf den Weg streuend: »Hosianna in der Höhe. Gelobt sei, Der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!« Denn der Herr bereitet sich, in den Tempel einzuziehen, wie in das mystische Jerusalem. Der Diakon fährt fort, mit dem Fächer über die heiligen Gaben hinzufächeln, damit kein Insekt auf sie herniederfalle, und symbolisiert mit dieser Bewegung des Fächers das Walten der Gnade. Der Priester aber betet im stillen weiter: »Mit diesen heiligen Mächten, o Herr, Der Du die Menschen liebhast, flehen auch wir zu Dir und sprechen: Heilig und hochheilig bist Du und Dein eingeborener Sohn und Dein Heiliger Geist. Heilig bist Du und hochheilig, und herrlich ist Dein Ruhm, denn also hast Du die Welt geliebt, daß Du Deinen eingeborenen Sohn gabst, auf daß alle, die an Ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben, Der da kam und alles erfüllte, was von uns verkündet ward; in der Nacht, da Er verraten ward, oder besser, da Er Sich selbst dahingab für das Leben der Welt, nahm Er das Brot in Seine reinen unschuldigen Hände, dankte, segnete und heiligte es, brach es und gab es Seinen heiligen Jüngern und Aposteln und sprach ...« Und mit lauter Stimme verkündete der Priester die Worte des Heilandes: »Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird zur Vergebung der Sünden.« Bei diesen Worten fallen die ganze Kirche und der Chor ein und rufen »Amen!« Der Diakon aber weist, die Stola in der Hand haltend und sich zum Priester hinwendend, auf die heilige Patene hin, auf welcher das Brot ruht. Der Priester aber fährt leise fort: »Desselbigengleichen nahm Er auch den Kelch nach dem Abendmahl und sprach ...« und er verkündet laut, nachdem der Diakon auf den Kelch gedeutet hat: »Trinket alle daraus, dies ist Mein Blut des Neuen Testaments, welches vergossen wird für euch und für viele zur Vergebung der Sünden.« Und die ganze Kirche antwortet ebenso laut wie das erstemal: »Amen!« Der Priester fährt fort, leise zu beten: »Und indem wir also gedenken dieses erlösenden Gebotes und alles dessen, das für uns getan ward: des Kreuzes, des Grabes, der Auferstehung am dritten Tage, der Himmelfahrt, des Sitzens zur Rechten Gottes und der zweiten ruhmvollen Wiederkunft« -- und nun, nachdem er dies leise vor sich hingesprochen, erhebt er die Stimme und spricht: »-- bringen wir Dir dar das Deinige von den Deinigen für alle und für alles!« Der Diakon legt nun den Fächer beiseite und hebt die heilige Patene und den heiligen Kelch in die Höhe: in diesem Augenblick stellt der Altar nicht mehr das Zimmer, in dem das heilige Abendmahl stattfand, und der Hochaltar nicht mehr den Abendmahlstisch dar; jetzt ist er der Opferaltar, auf dem das furchtbare Opfer für die ganze Welt dargebracht wird -- das Golgatha, wo die furchtbare Hinschlachtung des göttlichen Opferlamms sich vollzog. Dieser Augenblick stellt den Augenblick des Opfers und den Moment dar, da ein jeder an das dem Schöpfer dargebrachte Opfer gemahnt wird. Wir beugen uns ja auch vor den irdischen Gewalten; wir verehren und achten ja auch die Menschen und gehorchen ihnen, aber wir opfern nur dem alleinigen Gott. Und dies Opfer hat nie aufgehört seit Erschaffung der Welt, in welcher Form es auch immer dargebracht werden mochte, das, worauf es dabei ankam, war nicht das Opfer selbst, sondern ein reumütiger Geist, mit dem es dargebracht wurde. Daher muß jeder der Anwesenden dessen eingedenk sein, daß der Priester in diesem Augenblick alles Gemeine und Diesseitige geringschätzen und alle irdischen Begierden und Gedanken vergessen muß gleichwie Abraham, der, als er zum Berg emporstieg, um das Opfer darzubringen, seine Frau, seinen Knecht und seinen Esel unten ließ und nur das Holz des bitteren Bekenntnisses seiner Sünden mit sich nahm, es im Feuer seiner inneren Reue zu Asche verbrannte und mit der Flamme und dem Schwerte des Geistes in sich jede Begierde nach irdischem Besitz und irdischen Gütern tötete. Was aber sind alle unsere Opfer vor dem Angesichte Gottes, wenn Er durch den Mund des Propheten zu uns spricht. »Wie ein unreines Gewand sind alle unsere Taten.« Tief durchdrungen vom Bewußtsein, daß es auf Erden nichts gibt, das da wert wäre, Gott zum Opfer gebracht zu werden, richtet jeder der Anwesenden seine Gedanken auf den Kelch, den der Diener des Altars im Altarraum emporhebt, und ruft im Inneren seines Herzens aus: »Also sei Dir dargebracht das Deinige von den Deinigen, für alle und für alles!« Der Chor singt: »Dir lobsingen wir, Dich segnen wir, Dir danken wir, o Herr, und wir beten zu Dir, unser Gott!« Und nun folgt der Höhepunkt der ganzen Liturgie: die Transsubstantiation. Im Inneren des Altarraumes wird jetzt der Heilige Geist dreimal angerufen und angefleht, Sich auf die heiligen Gaben herabzusenken -- derselbe Heilige Geist, durch Den die Fleischwerdung Christi, Seine Geburt durch die Jungfrau, Sein Tod und Seine Auferstehung vollzogen ward, und ohne Den sich das Brot und der Wein nicht in den Leib und das Blut Christi verwandeln können. Der Priester fällt vor dem heiligen Hochaltar nieder, und auch der Diakon verbeugt sich dreimal bis zur Erde, indem er bei sich selbst spricht: »Herr Gott, Der Du in der dritten Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.« Und nach diesem Anruf des Heiligen Geistes wiederholen alle bei sich den Vers: »Gib mir, o Gott, ein reines Herz und erneure in meinem Inneren einen gerechten Geist.« Noch einmal wird der Anruf wiederholt: »Herr Gott, Der Du in der dritten Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.« Und die Gemeinde singt den Vers: »Verwirf mich nicht von Deinem Angesicht und nimm Deinen Heiligen Geist nicht von mir!« Und zum drittenmal erfolgt der Anruf: »Herr Gott, Der Du in der dritten Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.« Der Diakon weist gesenkten Hauptes mit der Stola auf das heilige Brot hin und spricht bei sich selbst: »Segne, o Herr, das heilige Brot!« Und der Priester segnet es dreimal mit dem Kreuze und spricht: »Und mache dieses Brot zu dem heiligen Leibe Deines Christus.« Der Diakon sagt: »Amen!« Und damit ist das Brot in den Leib Christi verwandelt. Und abermals weist der Diakon mit der Stola stumm auf den heiligen Kelch und spricht bei sich selbst: »Segne, o Herr, den heiligen Kelch!« Und der Priester segnet ihn und spricht: »Mache, den Inhalt dieses Kelches zum heiligen Blut Deines Christus.« Der Diakon sagt: »Amen!« und spricht, indem er auf die beiden heiligen Gaben hinweist: »Segne sie beide, o Herr!« Der Priester segnet sie und spricht: »Verwandle sie durch Deinen Heiligen Geist!« Der Diakon sagt dreimal: »Amen!« Und auf dem Hochaltar ruhen jetzt der Leib und das Blut Christi selbst: die Transsubstantiation hat sich vollzogen! Ein _Wort_ rief das _ewige Wort_ herbei. Der Priester, dessen Stimme das Schwert vertritt, hat das Opfer vollbracht. Wer es auch sein möge -- ob er Peter oder Iwan heißt --, in seiner Person hat der ewige Hohepriester selbst dies Opfer vollbracht, und Er vollbringt es ewiglich durch die Person Seiner Priester, wie auf das Wort: »Es werde Licht!« das Licht ewiglich leuchtet und wie auf das Wort: »Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut!« die Erde sie ewiglich aufgehen läßt. Und es ist nicht ein Bildnis oder die bloße Erscheinung des Leibes, die sich auf dem Hochaltar befindet, sondern der Leib Christi selbst -- derselbe Leib, der auf Erden Backenstreiche erhalten, bespien, gekreuzigt, begraben ward, auferstand und mit dem Herrn gen Himmel fuhr und nun zur Rechten des Vaters sitzt. Er behält nur deshalb auch weiter die Gestalt des Brotes, um dem Menschen zur Speise zu dienen, und weil der Herr selbst gesagt hat: »Ich bin das Brot.« Vom Kirchturm her ertönt jetzt Glockengeläut, um allen den großen Augenblick zu verkündigen, auf daß der Mensch -- wo er sich in diesem Moment auch befinden mag -- ob er unterwegs, ob er auf Reisen ist oder seinen Acker bestellt, ob er zu Hause sitzt oder einer anderen Beschäftigung nachgeht, ob er auf dem Krankenbett liegt oder in den Mauern eines Gefängnisses schmachtet -- kurz, damit er überall, wo er sich auch aufhält, in diesem furchtbaren Augenblick auch für sich beten könne. Alles stürzt vor dem Leib und Blut Christi nieder und fleht den Herrn mit den Worten des Übeltäters an: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.« Der Diakon beugt sein Haupt vor dem Priester und spricht: »Gedenke an mich, o heiliger Herr!« und der Priester antwortet: »Gott gedenke deiner in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Und nun gedenkt der Priester aller vor dem Angesichte Gottes, indem er die ganze Kirche, die triumphierende wie die kämpfende, mit in sein Gebet einschließt und zwar in derselben Weise und Reihenfolge, wie ihrer aller während des Offertoriums gedacht wurde, wobei er mit der heiligen, reinen, göttlichen Jungfrau und Mutter Gottes beginnt. Ihr zu Ehren, als der Fürsprecherin der ganzen Menschheit und als der einzigen, die für ihre hohe Demut und Bescheidenheit würdig erachtet wurde, Gott in ihrem Schoße zu tragen, stimmt die ganze Kirche zusamt dem Chor einen Lobgesang an, damit ein jeder in diesem Augenblick vernehme, daß die Demut die höchste Tugend und daß in dem Herzen des Demütigen Gott lebendig sei. Nach der Mutter Gottes wird der Propheten, der Apostel und der Kirchenväter gedacht und zwar in derselben Reihenfolge, in der während des Offertoriums die Brotstücke für sie herausgeschnitten wurden; sodann wird aller Entschlafenen gedacht, deren Namen der Diakon verliest, sodann der Lebenden, wobei mit denen begonnen wird, denen die wichtigsten und höchsten Pflichten anvertraut sind, -- d. h. mit denen, die das Wort der Wahrheit gerecht verwalten, der geistlichen und weltlichen Obrigkeit und dem Kaiser; [»Gott helfe ihm und unterstütze ihn in seinem schweren Amt bei jedem Werke, das das allgemeine Wohl betrifft; möge ihm in seinem edlen Streben das ganze Staatsschiff einträchtiglich folgen, zusamt der Regierung und der Militärkammer, auf daß sie getreulich ihre Pflicht erfüllen, und auch uns lasset im Frieden, der von ihnen ausgeht, ein ruhiges Leben führen in aller Frömmigkeit und Reinheit!« Bei dieser Gelegenheit betet der Priester auch für alle anwesenden Christen bis auf den letzten, daß der allgütige Gott Seine Gnade über sie alle ergießen, ihre Schatzkammern mit Gütern füllen, die Eintracht und den Frieden in ihren Ehen walten, ihre Kinder groß werden lassen, die Jugend belehren, das Alter stützen und kräftigen, die Kleinmütigen trösten, die Zerstreuten sammeln, die Verführten zurechtweisen und in Seine heilige allgemeine apostolische Kirche aufnehmen möge. Für alle Christen bis auf den allerletzten, wo sich ein solcher Christ auch immer aufhalten möge, betet bei dieser Gelegenheit der demütige Priester;] ob der Christ unterwegs, auf der Wanderschaft, auf der See oder auf Reisen ist, ob er an einer Krankheit daniederliegt oder in der Verbannung, in Bergwerken oder unterirdischen Schächten schmachtet. Für alle -- bis auf den allerletzten -- betet bei dieser Gelegenheit die Kirche, und jeder Anwesende beteiligt sich nicht allein an diesem gemeinsamen Gebete für alle Menschen, sondern er betet auch für alle die Seinen, die seinem Herzen nahestehen, indem er sie insgesamt im Angesichte des Leibes und Blutes Christi beim Namen nennt. Dann ruft der Priester laut aus dem Altarraum: »Und laß uns preisen und lobsingen wie aus einem Munde und aus einem Herzen Deinen heiligen und herrlichen Namen, den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Die ganze Kirche antwortet mit einem bestätigenden »Amen!« Der Priester ruft: »Die Gnade des großen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi sei mit euch allen!«, und die Gemeinde erwidert: »Und mit deinem Geiste!« Hiermit haben die Gebete für alle, die der Kirche Christi angehören, ihr Ende erreicht, wie sie im Angesicht des Leibes und des Blutes Christi zu Gott emporgerichtet werden. Nun besteigt der Diakon die Kanzel, um zum Gebet für die Gaben selbst aufzufordern, die Gott dargebracht werden und die bereits verwandelt sind, auf daß sie uns nicht zum Gericht und nicht zu einer Strafe für uns werden. Er erhebt die Stola mit drei Fingern seiner rechten Hand und ermuntert alle zum Gebet, indem er spricht: »Laßt uns aller Heiligen gedenken und immer wieder und wieder in Frieden zu Gott beten!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Laßt uns beten für die dargebrachten und geweihten heiligen Gaben!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Laßt uns beten, daß unser Gott, Der die Menschen liebet, sie aufnehmen möge auf Seinem heiligen, über dem Himmel thronenden geistigen Altar, duftend von geistigen Wohlgerüchen, und daß Er uns herabsenden möge Seine göttliche Gnade und die Gabe des Heiligen Geistes!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Laßt uns zu Gott beten, daß Er uns bewahren möge vor Kummer, Zorn und Not!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Hilf, rette, erbarme Dich und erhalte uns durch Deine Gnade, o Gott!« Der Chor singt: »Herr, erbarme Dich!« »Wir bitten Gott um einen vollkommen ungetrübten, vollkommen heiligen, friedlichen und sündlosen Tag!« Der Chor singt: »Gewähre ihn uns, o Gott!« »Wir bitten Gott um einen Friedensengel, einen treuen Lehrmeister und Beschützer unserer Seelen und Leiber!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um Vergebung und Erlassung unserer Sünden und Verfehlungen!« Der Chor singt: »Gewähre sie uns, o Gott!« »Wir bitten den Herrn um alles Gute, was unserer Seele heilsam ist, und um Frieden auf Erden!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um ein Leben in Frieden und um ein reumütiges Ende!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o Herr!« »Wir bitten Gott um ein christliches, schmerzloses, ehrbares und friedliches Ende und darum, daß es uns beschieden sein möge, in Ehren Rechenschaft abzulegen am Jüngsten Tage Christi!« Der Chor singt: »Gewähre es uns, o Herr!« Und nun ruft der Diakon nicht mehr die Heiligen um Hilfe an, sondern er wendet sich direkt an Gott: »Wir bitten Dich um Einheit des Glaubens und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes und weihen uns, einander und unser ganzes Leben Jesus Christus, unserem Gotte!« Und alle singen mit völliger und inniger Hingebung: »Dir, o Herr!« Nun stimmt der Priester statt eines Trichagions folgenden Gesang an: »Würdige uns, o Herr, daß wir Dich, Gott, unseren himmlischen Vater, zuversichtlich und als Gerechtfertigte anrufen und lobsingen.« Und alle Gläubigen beten nicht mehr wie mit Furcht erfüllte Sklaven, sondern wie reine unschuldige Kinder, die sich durch das Gebet, den ganzen Gottesdienst und die stetige Ausführung der heiligen Bräuche in jenen engelhaften Gemütszustand himmlischer Rührung versetzt fühlen, in dem der Mensch unmittelbar mit Gott sprechen kann wie mit seinem Vater, das Gebet des Herrn: »Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel.« Dieses Gebet umfaßt alles und schließt alles in sich ein, was wir brauchen. Die Bitte: »Geheiligt werde Dein Name!« enthält das Erste, worum wir zuerst und vor allem bitten müssen: wo Gottes Name geheiligt wird, da ist allen wohl, da sind folglich alle in Liebe miteinander verbunden, denn nur durch die Liebe wird Gottes Name geheiligt. Mit den Worten: »Dein Reich komme!« flehen wir das Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit auf die Erde herab; ohne Gottes Herabkunft wird es nie eine Gerechtigkeit geben: denn Gott ist die Gerechtigkeit. Bei den Worten: »Dein Wille geschehe!« wird der Mensch durch den Glauben wie durch die Vernunft geführt: denn wessen Wille kann wohl herrlicher sein, als der Wille Gottes? Wer weiß denn besser als der Schöpfer, was Seinen Geschöpfen not tut. Wem soll man also vertrauen, wenn nicht Ihm, Der durch und durch nichts als die ewiglich nur Gutes zeugende Güte und Vollkommenheit ist! Mit dem Worte: »Unser täglich Brot gib uns heute!« bitten wir um alles, dessen wir zu unserem täglichen Lebensunterhalt bedürfen. Unser Brot aber ist die höchste göttliche Weisheit und Christus selbst. Er selbst hat gesagt: »Ich bin das Brot und wer von Mir isset, wird nicht sterben.« Mit den Worten: »Vergib uns unsere Schuld!« bitten wir, daß alle unsere schweren Sünden, die auf uns lasten, von uns genommen werden mögen -- wir bitten, daß uns alles erlassen werden möge, dessen wir uns gegenüber dem Schöpfer selbst schuldig gemacht haben, indem wir uns an unseren Brüdern vergingen; streckt Er uns doch jeden Tag und jede Minute in ihrer Gestalt Seine Hand entgegen, indem Er uns mit herzzerreißendem Klagelaut um Mitleid und Erbarmen anfleht. Mit den Worten: »Und führe uns nicht in Versuchung!« bitten wir Gott, uns vor allem zu behüten, was unser Gemüt verwirrt, uns irre leitet und uns unsere Seelenruhe raubt. Mit den Worten: »Sondern erlöse uns von dem Übel!« bitten wir um die himmlische Seligkeit; denn sowie der Böse von uns weicht, bemächtigt sich sogleich eine hohe Freudigkeit unserer Seele, und wir fühlen uns schon auf Erden wie im Himmel. So umfaßt und schließt dieses Gebet alles in sich ein, was uns die höchste göttliche Weisheit selbst beten gelehrt hat. Und zu wem beten wir? Zum Vater der Weisheit, Der Seine ewige Weisheit vor Beginn aller Zeiten zeugte. Da alle Anwesenden dieses Gebet bei sich wiederholen müssen, nicht mit dem Munde, sondern in der reinsten Unschuld eines kindlichen Herzens, so muß auch der Abgesang des Gebets auf den Chören einen kindlichen Charakter tragen: nicht in rauhen männlichen Tönen, sondern mit kindlicher Stimme, die die Seele selbst zu liebkosen scheint, muß dieses Gebet gesungen werden, auf daß man in ihr den Frühlingshauch des Himmels zu verspüren meine und daß in ihm etwas erklinge, was uns wie die Liebkosungen der Engel selbst berührt, denn in diesem Gebet reden wir ja Den, Der uns erschaffen hat, nicht mehr mit Gott an, sondern ganz schlicht mit den Worten: »Vater unser!« Der Priester begrüßt die Gemeinde aus dem Inneren des Altarraumes mit dem Gruße des Heilands: »Friede sei mit euch allen!« Die Gemeinde erwidert: »Und mit deinem Geiste!« Jetzt fordert der Diakon alle zu einer inneren Herzensbeichte auf, die jeder nunmehr vor sich selbst ablegen muß, indem er ruft: »Beugt eure Häupter vor dem Herrn!« Und indem nun alle Anwesenden bis auf den letzten ihr Haupt beugen, sprechen sie bei sich selbst etwa folgendes Gebet: »Ich beuge mein Haupt vor Dir, mein Herr und Gott, ich bekenne meine Sünden aufrichtig und schreie zu Dir: ich bin sündig, o Herr, und unwert, Dich um Vergebung zu bitten, aber Du bist menschenfreundlich, so erbarme Dich denn meiner, obwohl ich es nicht verdient habe, wie der verlorene Sohn, rechtfertige mich wie den Zöllner und mache mich würdig, gleich dem Übeltäter in Dein himmlisches Reich einzugehen.« Und während so alle gebeugten Hauptes in innerer Herzenszerknirschung verharren, betet der Priester am Altare für alle mit folgenden Worten bei sich selbst: »Wir danken Dir, unsichtbarer König, Der Du in Deiner unermeßlichen Kraft alles erschaffen und durch Deine große Gnade alles aus dem Nichtsein ins Dasein gerufen hast; blicke selbst vom Himmel auf die herab, o Herr, die ihr Haupt vor Dir beugen, denn sie beugen es nicht vor dem Fleische und dem Blute, sondern vor Dir, furchtbarer Gott. Wende alles, was uns bevorsteht, zu unserem Besten, o Herr, so wie es jedem not tut: Laß den Seefahrer den Hafen und den Reisenden sein Ziel erreichen, heile den Kranken, o Arzt der Seele und des Leibes!« Dann stimmt der Priester den herrlichen Lobgesang auf die Dreieinigkeit an, der sich an die himmlische Güte Gottes wendet: »Gesegnet seist Du durch die Gnade, die Milde und die Menschenliebe Deines eingeborenen Sohnes samt Ihm, Deinem Sohne und Deinem Allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geiste, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!« Der Chor ruft: »Amen!« Nunmehr rüstet sich der Priester, selbst, und in Gemeinschaft mit allen, den Leib und das Blut Christi in sich aufzunehmen, indem er leise bei sich folgendes Gebet spricht: »Blicke herab, Herr Jesus Christus, unser Gott, aus Deiner heiligen Wohnung und vom ruhmvollen Thron Deines Reiches. Komm und heilige uns, Der Du hoch oben neben dem Vater sitzest und unsichtbar bei uns weilst, und mache uns [Priester] würdig, aus Deiner allmächtigen Hand Deinen reinen Leib und Dein gerechtes Blut zu empfangen und es allen den Deinen darzureichen.« Während der Priester dies Gebet spricht, rüstet sich der Diakon zum heiligen Abendmahl: er tritt vor die Königspforte, umgürtet sich mit der Stola und kreuzt sie auf seiner Brust, gleich den Engeln, die ihre Flügel kreuzweise zusammenlegen und ihr Antlitz mit ihnen verdecken vor dem unnahbaren Lichte der Gottheit. Wie der Priester, verbeugt er sich dreimal und spricht bei sich selbst: »O Gott, reinige mich Sünder und erbarme Dich meiner!« Wenn dann der Priester seine Hand nach der heiligen Patene ausstreckt, fordert er alle, die im Tempel anwesend sind, durch das anfeuernde Wort: »Laßt uns aufmerken!« auf, alle ihre Gedanken auf das, was nun geschieht, hinzulenken. Der Altar entzieht sich dem Anblick des Volkes, der Vorhang wird zugezogen, damit zuerst der Priester das Abendmahl empfange. Nur die Stimme des Priesters, der die Patene in die Höhe hebt und ruft: »Das Heilige den Heiligen!« dringt aus dem Altar hervor. Tief erschüttert von dieser Verkündigung, die da besagt, daß man selbst heilig sein muß, um das Heilige in sich aufzunehmen, erwidert die ganz im Gebet versunkene Gemeinde: »Einer ist heilig, der eine Gott, Jesus Christus, zur Ehre Gottes des Vaters!« worauf eine Lobhymne auf den Heiligen, dem dieser Tag geweiht ist, gesungen wird, um hierdurch anzudeuten, daß auch der Mensch heilig sein kann, so wie auch der Heilige, zu dessen Preis die Hymne gesungen wird, ein Heiliger werden konnte; auch er ward freilich heilig nicht durch seine eigene Heiligkeit, sondern durch die Heiligkeit Christi selbst. Durch sein Leben in Christo wird der Mensch geheiligt und in solchen Augenblicken der Ruhe in Christo ist er heilig wie Christus selbst, gleichwie das Eisen, wenn es im Feuer steckt, selbst zu Feuer wird und sofort erlöscht, sowie man es aus dem Feuer herausnimmt, und wieder gewöhnliches dunkles Eisen wird. Nun bricht der Priester das heilige Brot; zuerst bricht er es gemäß dem Zeichen, das während des Offertoriums auf ihm gemacht wurde, in vier Teile, indem er spricht: »Das Lamm Gottes wird zerlegt und zerteilt, das zerlegt und doch unteilbar ist, das stets gegessen und nie aufgezehrt wird, und das da heiligt, die davon essen.« Er legt eins von den Stücken des heiligen Leibes noch unvermischt mit dem Blute für sich und den Diakon zurück und zerlegt dann das Brot in so viele Teile, als die Zahl der Kommunikanten beträgt; aber durch diese Teilung wird doch der Leib Christi selbst nicht zerteilt, der Leib, dem kein Bein zerbrochen ward, und in dem kleinsten Teil erhält sich der Christus ganz und unversehrt, wie in jedem Gliede unseres Körpers dieselbe ganze und unteilbare Seele zugegen ist, und wie sich in einem Spiegel, auch wenn er in hundert Stücke zerspringt, selbst noch im kleinsten Splitter das Abbild derselben Dinge erhält. Wie in einem Ton, der an unser Ohr dringt, dieselbe Einheit erhalten bleibt oder wie derselbe ganze Ton sich unversehrt erhält, auch wenn tausend Ohren ihn vernehmen. Die Stücke, die während des Offertoriums zu Ehren der Heiligen und der Entschlafenen und im Namen einzelner von den Lebenden herausgeschnitten wurden, werden nicht alle in den Kelch getaucht. Sie bleiben einstweilen noch auf der Patene; nur die Teile, die den Leib und das Blut des Herrn darstellen, werden der Gemeinde während des heiligen Abendmahls dargereicht. In den ersten Zeiten der Kirche wurden sie in getrennter Gestalt dargereicht, wie sie auch heute noch von den Priestern genossen werden; ein jeglicher nahm den Leib des Herrn in die Hand und trank dann selbst aus dem Kelch. Aber da die heiligen Gaben infolge der Zuchtlosigkeit der neubekehrten und noch unwissenden Christen, die bloß dem Namen nach Christen geworden waren, oftmals von ihnen fortgetragen und mit nach Hause genommen wurden, wo man sie zu abergläubischen Zwecken und Zauberkünsten verwendete, oder da man in der Kirche in unwürdiger Weise mit ihnen umging, sich hierbei stieß, Lärm machte und die heiligen Gaben sogar verschüttete, als die Väter vieler Kirchen sich genötigt sahen, dem Volke den Kelch völlig vorzuenthalten und ihn durch die Darreichung der Oblate, als Symbol des Brotes, zu ersetzen, ein Brauch, den die abendländische römisch-katholische Kirche bei sich eingeführt hat, da ordnete der heilige Johannes Chrysostomus an, damit in der morgenländischen Kirche nicht das gleiche geschähe: daß Leib und Blut dem Volke nicht in getrennter und gesonderter, sondern in vereinigter Gestalt dargereicht werden und daß ihm beides nicht in die Hand gegeben, sondern in einem heiligen Löffel gereicht werden solle, der die Form jener Zange haben müsse, mit der der feurige Seraphim die Lippen des Propheten Jesaias berührte. Hierdurch sollen alle daran gemahnt werden, was das für eine Berührung ist, deren ihr Mund gewürdigt wird, und ein jeglicher deutlich erkennen, daß der Priester in diesem heiligen Löffel jene glühende Kohle hält, die der Seraphim mit der geheimnisvollen Zange vom Altar Gottes nahm, also daß bei der bloßen Berührung der Lippen des Propheten alle seine Missetat von ihm genommen wurde. Derselbe Johannes Chrysostomus ordnete ferner, um jeden Gedanken daran fernzuhalten, daß eine solche Vereinigung von Leib und Blut ein Willkürakt des Priesters sein könne, an, daß im Augenblick ihrer Vereinigung warmes Wasser in das Gefäß gegossen werde, was die erwärmende Gnade des Heiligen Geistes symbolisieren soll, der da ausgegossen wird, um diese Vereinigung zu heiligen, woher auch der Diakon dabei die Worte spricht: »Die Wärme des Glaubens, erfüllet vom Heiligen Geiste!« Beim Einschütten des warmen Wassers wird die Gnade des Heiligen Geistes herabgefleht, damit nichts ohne den Segen des Herrn dabei geschehe und auf daß die Wärme zugleich zum Sinnbild der Blutwärme diene und, indem sie sich jedem fühlbar macht, ihm zum Bewußtsein bringe, daß sie nicht aus einem toten Leib, dem ja kein warmes Blut entfließt, sondern aus dem lebendigen, lebenspendenden und lebenzeugenden Leibe des Herrn in ihn einströmt; denn er soll auch hierbei daran erinnert werden, daß auch der tote Leib des Herrn nicht von Seiner göttlichen Seele verlassen, daß er voll der Wirkung des Heiligen Geistes ist, und daß die Gottheit Sich nicht von ihm getrennt hat. Nachdem der Priester zuerst selbst das Abendmahl genommen und es dann dem Diakon gereicht hat, steht der Diener Christi als ein neuer, durch das Sakrament der Kommunion von allen seinen Sünden gereinigter Mensch da; in diesem Augenblick ist er im wahren Sinn des Wortes ein Heiliger und würdig, anderen das Abendmahl zu reichen. Die Königspforte tut sich auf, und der Diakon erhebt feierlich seine Stimme: »Tretet heran mit Gottesfurcht und Glauben!« Nun erscheint der verwandelte Seraphim -- d. h. der in der Königspforte stehende Priester mit dem Kelch in der Hand -- vor der ganzen Gemeinde. Verzehrt von der Sehnsucht nach ihrem Gotte und von der heißen Flamme der Liebe zu Ihm, treten alle Kommunikanten, einer nach dem anderen, die Hände auf der Brust gekreuzt, vor den Priester und sprechen gebeugten Hauptes leise bei sich selbst folgendes Gebet, in dem sie ihren Glauben zu dem Gekreuzigten bekennen: »Ich glaube, o Herr, und bekenne, daß Du in Wahrheit bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, der in die Welt gekommen ist, die Sünder zu erlösen, deren vornehmster ich selbst bin. Ich glaube auch, daß dies Dein heiliger Leib und daß dies Dein gerechtes Blut ist; daher bete ich zu Dir: erbarme Dich meiner und vergib mir meine Sünden, die freiwilligen wie die unfreiwilligen, deren ich mich in Worten oder Taten, wissentlich oder unwissentlich schuldig gemacht habe, und gib, daß ich nicht als Verworfener teilhaftig werde Deines heiligen Sakramentes zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben.« Hier hält der Andächtige einen Augenblick inne, um die Bedeutung dessen, wozu er sich anschickt, in Gedanken zu erfassen, und fährt sodann aus innerstem Herzen fort, indem er folgende Worte spricht: »Laß mich heute Deines heiligen Abendmahls teilhaftig werden, o Sohn Gottes, denn nicht als Dein Feind will ich Dein Geheimnis verraten, noch Dich küssen mit dem Kusse des Judas, sondern ich will Dich bekennen gleich dem Übeltäter, indem ich spreche: »Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.« Und indem der Betende in seinem Inneren einen Augenblick andächtig innehält, fährt er fort: »Gib, o Herr, daß ich mir aus Deinem heiligen Abendmahl nicht das Gericht und die Verdammnis esse und trinke, sondern daß es mir zum Heil meiner Seele und meines Körpers gereiche.« Nachdem nun ein jeglicher dieses Bekenntnis abgelegt hat, naht er sich dem Geistlichen nicht wie einem gewöhnlichen Priester, sondern wie dem feurigen Seraphim selbst, indem er sich bereit hält, mit offenem Munde die glühende Kohle des heiligen göttlichen Leibes und Blutes, die ihm im Löffel gereicht wird, in sich aufzunehmen, sie, die den ganzen häßlichen Schmutz und Unrat seiner Sünden zu Asche verbrennen soll, wie trockenes Reisig, die ewige Nacht aus seiner Seele verscheuchen und ihn selbst in einen strahlenden Seraph verwandeln soll. Und wenn dann der Priester den heiligen Löffel an seine Lippen führt, den Kommunikanten beim Namen nennt und spricht: »Der Knecht Gottes empfängt das gerechte und heilige Blut des Herrn und Gottes, unseres Heilandes Jesu Christi, zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben,« nimmt er den Leib und das Blut des Herrn in sich auf; so steht er in seinem Inneren einen Augenblick seinem Gott gegenüber, indem er Ihm selbst vor das Angesicht tritt. Dieser Augenblick ist unzeitlich und er unterscheidet sich durch nichts von der Ewigkeit, denn er ist erfüllt von Dem, Der da der Grund aller Ewigkeit ist. Indem der Mensch durch den Genuß des Leibes und des Blutes dieses großen Augenblicks teilhaftig geworden ist, steht er von heiliger Ehrfurcht erfüllt da; nun wird sein Mund mit dem heiligen Aër abgetrocknet, und diese Handlung wird mit den Worten des Seraphs begleitet, die dieser an den Propheten Jesaias richtete: »Siehe, hiermit sind deine Lippen gerühret, daß deine Missetat von dir genommen werde und deine Sünde versöhnet sei.« Nunmehr tritt er selbst als ein Heiliger von dem heiligen Kelche zurück, indem er sich vor den Heiligen verbeugt, sie grüßt und sich vor den Anwesenden verneigt, die seinem Herzen jetzt soviel näher stehen als bis dahin und die nun durch das Band einer heiligen himmlischen Blutsverwandtschaft mit ihm verbunden sind; dann geht er wieder an seinen Platz zurück, ganz erfüllt von dem Gedanken, daß er Christus selbst in sich aufgenommen hat, daß Christus in ihm weilt und in fleischlicher Gestalt in seinen Leib hinabgestiegen ist, wie in ein Grab, um bis in die geheimste Kammer seines Herzens einzudringen und aufzuerstehen in seinem Geiste, denn in ihm selbst vollzieht Er Sein Begräbnis und Seine Auferstehung. Und die ganze Kirche leuchtet auf im Lichte dieser geistigen Auferstehung und jauchzend stimmt der Sängerchor einen Jubelgesang an: »Wir haben gesehen Christi Auferstehung, so lasset uns anbeten den heiligen Herrn Jesum, Ihn, den Einzigen, Sündlosen. Wir beten Dein Kreuz an, o Christus, und lobsingen und preisen Deine heilige Auferstehung, denn Du bist unser Gott, wir kennen keinen, außer Dir, und preisen Deinen Namen. Kommet her, alle ihr Gläubigen, lasset uns anbeten die heilige Auferstehung Christi, denn durch das Kreuz ward der ganzen Welt große Freude zuteil. Wir segnen den Herrn ewiglich und preisen Seine Auferstehung: denn Er erlitt und erduldete den Kreuzestod, und indem er starb, hat Er den Tod überwunden.« Und hierauf singt der Chor gleich den Engeln, die sich zu dieser Zeit versammeln: »Strahle auf und leuchte, neues Jerusalem, denn Gottes Ruhm ist über dir aufgegangen. Jubele und freue dich nun, o Zion. Und du, reine Jungfrau und Mutter Gottes schmücke dich, denn Er, Den du geboren hast, ist auferstanden. O großes, heiligstes Passahfest Christi! O Weisheit, du Wort und Kraft Gottes! laß uns deiner noch in vollkommener Weise teilhaftig werden an dem nie endenden Tage deines Reiches!« Während die frohlockende Kirche also widerhallt von den Auferstehungsliedern, stellt der Priester, im geschlossenen Altarraum, den heiligen Kelch auf den heiligen Hochaltar, der gleich der Patene wieder mit einer Decke zugedeckt wird, und richtet ein Dankgebet an den Herrn und Wohltäter unserer Seelen dafür, daß Er alle durch Seine Gnade teilnehmen ließ an Seinem himmlischen ewigen Sakramente, und er schließt mit der Bitte, Gott möge uns auf den rechten Weg führen, uns alle in der heiligen Ehrfurcht zu Ihm befestigen, unser Leben behüten und unseren Schritten Kraft und Festigkeit verleihen. Und nun öffnet sich die Königspforte zum letztenmal, denn dieses offene Tor soll die offenen Pforten des Himmelreiches versinnbildlichen, das Christus allen zuteil werden ließ, indem Er Sich selbst der ganzen Welt zur Speise darbrachte. Das Hinaustragen des heiligen Kelches, wobei der Diakon die Worte spricht: »Tretet heran mit Gottesfurcht und Glauben,« sowie das Zurücktragen des Kelches soll versinnbildlichen, daß Christus zum Volke hinausgeht, um alle Menschen mit Sich in das Haus Seines Vaters zurückzuführen. Vom Chor ertönt ein donnernder feierlicher Jubelgesang zur Antwort: »Gesegnet sei Der da kommt im Namen des Herrn; unser Herr und Gott erscheine, Der uns erscheint.« Und die ganze Gemeinde vereinigt sich mit dem Chor und stimmt einen donnernden geistlichen Lobgesang an, der aus der Tiefe des gewaltig erstarkten und erhobenen Geistes kommt. Der Priester segnet die Anwesenden mit den Worten: »Errette, o Herr, Deine Menschen und segne Dein Eigentum,« denn er nimmt an, daß in diesem Augenblick alle durch ihre Reinheit zu Gottes eigenstem Eigentum geworden sind -- dann schwingt er sich in Gedanken empor und gedenkt der Himmelfahrt Christi, die den Abschluß Seines Erdenwandels bildete: er tritt zusammen mit dem Diakon vor den heiligen Hochaltar, verneigt sich und räuchert zum letztenmal, indem er spricht: »Aufgefahren zum Himmel bist Du, o Herr, die ganze Erde ist Deines Ruhmes voll,« inzwischen aber begeistert der Chor durch jauchzende Jubelgesänge und Töne, die von strahlender geistiger Freude erfüllt sind, die verklärten Gemüter der Anwesenden zu folgenden Worten, dem höchsten Ausdruck geistiger Freude: »Wir haben das wahre Licht geschaut, wir haben den himmlischen Geist empfangen, wir haben uns mit dem wahrhaften Glauben erfüllt und beten an die Heilige unteilbare Dreieinigkeit, denn Sie hat uns erlöst.« Der Diakon erscheint mit der heiligen Patene auf dem Haupte im heiligen Tor, er spricht kein Wort, blickt stumm auf die ganze Versammlung und entfernt sich hierauf wieder, womit er andeuten will, daß Christus uns verlassen hat und gen Himmel gefahren ist. Nach dem Diakon erscheint der Priester mit dem heiligen Kelch im heiligen Tore und verkündigt, daß der Herr, Der gen Himmel gefahren ist, alle Tage bis zum Ende der Welt bei uns weilet, indem er spricht: »Immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit,« worauf der Kelch und die Patene zurückgetragen und auf den Seitenaltar gestellt werden, auf dem das Offertorium stattfand und der jetzt nicht mehr die Krippe, die eine Zeugin der Geburt Christi war, sondern jenen höchsten Ort des Ruhmes darstellt, auf dem sich die Himmelfahrt Christi in den Schoß des Vaters vollzog. Hier vereinigt sich die ganze Kirche unter Führung des Sängerchors zu einem feierlichen Dankgesang der Seelen, und dies sind die Worte des Lobgesangs: »Laß unseren Mund sich erfüllen mit Deinem Lobe, o Herr, daß wir Deinen Ruhm singen, Der Du uns würdigest, an Deinem heiligen, göttlichen, unvergänglichen, lebenspendenden Sakramente teilzunehmen; behüte uns in Deinem Heiligtume, auf daß wir den ganzen Tag Belehrung schöpfen aus Deiner Weisheit!« Hierauf singt der Sängerchor dreimal ein begeistertes: »Halleluja!«, das allen das ewige Wandeln und die Allgegenwart Gottes in Erinnerung ruft. Der Diakon besteigt die Kanzel, um die Anwesenden zum letztenmal zu Dankgebeten aufzufordern. Er hebt die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und spricht: »Vergib! lasset uns, nachdem wir empfangen haben das göttliche, heilige, reine, unvergängliche, himmlische, lebenspendende und furchtbare Sakrament Christi, würdig danken dem Herrn.« Und alle Anwesenden singen leise und mit dankbarem Herzen: »Herr, erbarme Dich!« »Hilf, rette, erbarme Dich und erhalte uns durch Deine Gnade, o Gott!« ruft der Diakon zum letztenmal. Und alle singen den Gesang: »Herr, erbarme Dich! Wir beten, daß dieser ganze Tag heilig, friedlich und sündlos zu Ende gehe und weihen uns, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gotte!« Und mit der sanften Fügsamkeit eines Kindes und dem himmlischen Vertrauen auf Gott rufen alle aus: »Dir, o Herr!« Der Priester hat währenddessen das Corporale zusammengelegt und verkündigt nun mit dem Evangelium in der Hand ... und stimmt einen Lobgesang auf die Dreieinigkeit an, der bisher gleich einem alles erhellenden Leuchtturm den ganzen Gang des Gottesdienstes erleuchtete und jetzt mit noch hellerem Lichte in den verklärten Seelen aufstrahlt; diesmal aber lautet der Lobgesang auf die Dreieinigkeit folgendermaßen: »Da Du bist unsere Heiligung, so singen wir Dir Ruhm und Preis: dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geiste, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit.« Dann tritt der Priester vor den Seitenaltar, auf dem der Kelch und die Patene stehen. Alle die Stücke, die bisher auf der Patene lagen und die während des Offertoriums zum Gedächtnis der Heiligen, zu Ehren der Entschlafenen und für das geistige Wohlergehen der Lebenden herausgeschnitten wurden, werden jetzt in den heiligen Kelch getaucht, und durch diesen Akt des Eintauchens nimmt die ganze Kirche am Leibe und Blute Christi teil -- sowohl die, die noch auf Erden umherirrt und kämpft, als auch die, die bereits triumphieret im Himmel: die Mutter Gottes, die Propheten, die Apostel, die Kirchenväter, die Priester, die Einsiedler, die Märtyrer, alle Sünder, für die ein Stück aus dem Brote herausgeschnitten wurde, sowohl die, die auf Erden leben, als auch die, die schon dahingegangen sind, nehmen in diesem Augenblick am Leibe und Blute Christi teil. Und der Priester, der in diesem Augenblick als der Vertreter der ganzen Kirche vor Gottes Angesichte steht, trinkt aus dem Kelche diese Kommunion aller und betet, nachdem er die Kommunion in sich aufgenommen hat, für alle, auf daß ihre Sünden weggewaschen werden, denn um der Erlösung aller willen ward dieses Opfer von Christus dargebracht, sowohl für die, die vor Seinem Kommen gelebt haben, als auch für die, die nach seinem Erscheinen leben. Und so sündhaft sein Gebet auch sein mag, der Priester richtet es für alle zu Gott empor, selbst für die heiligsten unter den Menschen, denn Johannes Chrysostomus hat gesagt: »Die ganze Welt muß gereiniget werden.« Die Kirche ordnet ein allgemeines Gebet für alle an, und die hohe Bedeutung eines solchen Gebets und seine strenge Notwendigkeit sind nicht von den Philosophen und nicht von Gelehrten und Weltweisen des Zeitalters, sondern von den erhabensten Menschen erkannt worden, die durch ihre hohe geistige Vollkommenheit und durch ihr himmlisches engelhaftes Leben bis zur Erkenntnis der tiefsten geistigen Geheimnisse durchdrangen und klar einsahen, daß es keine Trennung unter denen, so in Gott leben, gibt, daß ihr Verkehr infolge der momentanen Verweslichkeit unseres Leibes nicht aufhört, daß die Liebe, die hier erblühte und uns verband auf der Erde, im Himmel als in ihrer Heimat noch viel mächtiger wird, und daß ein Bruder, der uns verlassen hat, uns durch die Macht der Liebe noch weit näher gerückt wird. Und alles, was aus Christus hervorgeht, ist ewig, wie die Quelle selbst ewig ist, aus der es entspringt. Sie haben ja auch durch ihre höheren Sinnesorgane erfahren, daß sogar die triumphierende Kirche im Himmel beten muß, und daß sie in der Tat für ihre auf Erden herumirrenden Brüder betet; sie haben auch erkannt, daß Gott uns im Gebet die höchste Seligkeit beschieden hat, denn Gott tut nichts und erweist niemand eine Wohltat, ohne Sein Geschöpf an Seinem Werke mitwirken zu lassen, auf daß es die hohe Wonne des Wohltuns mitgenieße; der Engel, der der Überbringer Seines Befehls ist, versinkt förmlich in Seligkeit, bloß weil er Seine Befehle überbringen darf. Der Heilige betet im Himmel für seine Mitbrüder, die hier auf Erden weilen, und versinkt in lauter Seligkeit, weil er beten darf. Und alles nimmt mit Gott an allen Seinen höchsten Wonnen und an Seiner Seligkeit teil: Millionen der vollkommensten Geschöpfe gehen aus Gottes Hand hervor, um an der höchsten und erhabensten Seligkeit teilzunehmen, und dies nimmt kein Ende, wie Gottes Seligkeit kein Ende nimmt. Nachdem der Priester die Kommunion aller mit Gott aus dem Kelche getrunken hat, verteilt er die Weihbrote, denen die Stücke entnommen und aus denen sie herausgeschnitten wurden, an das Volk und übt damit den alten hohen Brauch des Liebesmahls aus, der bei den ersten Christen herrschte. Obwohl heute zu diesem Zweck kein Tisch mehr gedeckt wird, weil die ungebildeten und noch rohen Christen durch törichte Kundgebungen einer ungestümen Freude und durch Worte des Streits statt durch Worte der Liebe die Heiligkeit dieses rührenden himmlischen Mahles im Hause Gottes entweiht hatten, eines Mahles, bei dem alle Teilnehmer Heilige waren, bei dem alle Teile in eins zusammenflossen und währenddessen sie miteinander sprachen und sich unterhielten wie reine, unschuldige Kindlein, als wenn sie bei Gott im Himmel weilten; obwohl die Kirchen selbst einsahen, daß es unbedingt notwendig sei, diesen Brauch aufzuheben und selbst die Erinnerung an dieses Festmahl in vielen Kirchen zu tilgen, konnte die morgenländische Kirche sich nichtsdestoweniger nicht entschließen, diese Sitte gänzlich abzuschaffen, und so feiert sie auch heute noch in der Verteilung des heiligen Brotes an das gesamte in der Kirche versammelte Volk das alte Liebesmahl. Daher nimmt ein jeder, der das Weihbrot empfängt, dieses statt des Brotes entgegen, das von jenem Mahle herstammt, bei dem der Herr der Welt selbst Sich mit Seinen Jüngern unterredet hat, daher muß er es voller Ehrfurcht genießen und sich vorstellen, er sei von allen Menschen wie von lieben Brüdern umgeben, daher genießt er es denn auch, wie das in der Urkirche Sitte war, vor jeder anderen Speise, nimmt es mit sich nach Hause, oder er bringt es den Kranken, den Armen und solchen, die an jenem Tage aus irgendeinem Grunde nicht in der Kirche sein konnten. Nachdem der Priester die heiligen Brote verteilt hat, schließt er die Liturgie mit einem Gebet und segnet sodann das ganze Volk mit den Worten: »Christus, unser wahrhaftiger Gott, erbarme Sich unser auf die Fürbitte Seiner reinen Mutter, auf Fürbitte unseres Erzbischofs Johannes Chrysostomus (wenn an diesem ebenso wie am vergangenen Tage die Liturgie des Chrysostomus stattfindet), auf Fürbitte des Heiligen (hier nennt er den Heiligen, dem dieser Tag geweiht ist) sowie aller Heiligen; und errette uns, denn Er ist gütig und menschenfreundlich.« Die Gemeinde bekreuzigt sich, fällt auf die Knie und geht auseinander, während der Chor einen lauten Gesang anstimmt und Gebete für das Leben des Kaisers emporrichtet. Nunmehr legt der Priester im Inneren des Altarraumes seine Gewänder ab, indem er spricht: »Nun entläßt Du Deinen Knecht!« und er begleitet diese Handlung mit Lobgesängen und Hymnen zu Ehren des Vaters und Bischofs der Kirche, dem zu Ehren die Liturgie zelebriert wurde, sowie zu Ehren der heiligen reinen Jungfrau, in der sich die Menschenwerdung Dessen vollzog, Dem die ganze Liturgie geweiht ist. Der Diakon verzehrt unterdessen alles, was noch im Kelche enthalten ist, gießt noch etwas Wein und Wasser hinein, spült die inneren Wände des Kelches ab, trinkt sodann den Inhalt des Kelches aus und trocknet ihn sorgfältig mit dem Schwamm ab, damit nichts mehr darin bleibe, dann räumt er die heiligen Gefäße zusammen, bedeckt sie mit Decken, bindet sie zusammen und spricht ebenso wie der Priester: »Nun entläßt Du Deinen Knecht!« worauf er dieselben Gesänge und Gebete wiederholt. Und beide verlassen die Kirche mit frischen, strahlenden Gesichtern, mit einem von jauchzender Freudigkeit erfüllten Geist und Worten des Dankes für den Herrn auf den Lippen. Schluß Die Wirkung, die die heilige Liturgie auf den Geist ausübt, ist gewaltig: sie vollzieht sich sichtbar und vor den Augen der ganzen Welt und bleibt doch verborgen. Und wenn der Kirchenbesucher nur jeder Handlung andächtig und aufmerksam und den Ermahnungen des Diakons gehorsam gefolgt ist, -- so wird seine Seele von einer gehobenen Stimmung ergriffen, Christi Gebote werden für ihn erfüllbar, das Joch Christi wird sanft, und Seine Last wird leicht. Wenn er dann den Tempel verlassen hat, woselbst er an dem göttlichen Liebesmahl teilgenommen hat, sieht er alle Menschen als seine Brüder an. Was er auch tut, ob er wieder an seine gewohnten Geschäfte geht, sich seinem Dienst oder seiner Familie widmet, wo und in welchem -- -- -- es auch sei, stets schwebt ihm ganz unwillkürlich das hohe Ziel eines liebevollen Verhaltens gegen seine Mitmenschen vor der Seele, wie es uns der Gottmensch vom Himmel mitgebracht hat; ohne daß er es selbst merkt, wird er freundlicher und gütiger gegen seine Untergebenen. Wenn er selbst einen Vorgesetzten über sich hat, so ordnet er sich ihm liebevoller unter, als wäre es der Heiland selbst, dem er gehorcht. Wenn er einen Menschen sieht, der um Hilfe bittet, ist sein Herz mehr denn sonst zur Hilfe geneigt, er findet mehr [Freude] daran und schenkt dem Armen aus liebendem Herzen ein Almosen. Ist er dagegen selbst arm, so nimmt er jede kleine Gabe voller Dankbarkeit entgegen; sein Herz ist von Rührung ergriffen und will vor Dank vergehen, und niemals betet er so dankerfüllt für seinen Wohltäter. Und alle, die der göttlichen Liturgie aufmerksam gefolgt sind, verlassen die Kirche sanftmütiger, sind gütiger im Umgang mit dem Menschen und freundlicher und milder in allem, was sie tun. Daher muß ein jeder, der innerlich fortschreiten und besser werden will, die göttliche Liturgie, so oft als nur möglich, besuchen und ihr aufmerksam folgen: sie stimmt den Menschen ganz unmerklich und richtet seine Seele empor. Und wenn sich unsere Gesellschaft noch nicht vollständig aufgelöst hat, wenn die Menschen noch nicht von einem tiefen unversöhnlichen Haß widereinander erfüllt sind, so liegt der letzte tiefste Grund in der göttlichen Liturgie, die den Menschen an das heilige himmlische Gebot der Liebe zu seinen Brüdern mahnt. Wer sich daher in der Liebe stärken will, der sollte dem heiligen Liebesmahl so oft als möglich, voller Furcht, voller Glauben und Liebe beiwohnen. Und wenn er das Gefühl hat, daß er dessen noch nicht würdig ist, mit seinem Munde den Gott in sich aufzunehmen, Der selbst ganz Liebe ist, so soll er wenigstens der Liturgie als Zuschauer beiwohnen, er mag zusehen, wie die anderen das heilige Abendmahl nehmen, um unmerklich und unwillkürlich mit jeder Woche besser und vollkommener zu werden. Gewaltig und unermeßlich könnte die Wirkung der heiligen Liturgie sein, wenn der Mensch ihr beiwohnte, um das, was er gehört hat, in sein Leben aufzunehmen. Indem alle in gleicher Weise aus der Liturgie Belehrung schöpfen und indem sie auf alle Glieder der Gesellschaft vom Zaren herab bis zum letzten Bettler gleichermaßen wirkt, spricht sie zu allen in gleicher Weise, wenngleich nicht in derselben Sprache, und unterweist alle in der Liebe, die da ist das Band der Gesellschaft, die innerste Triebfeder alles dessen, das sich harmonisch bewegt, und die Nahrung und das Leben von allem. Wenn aber die heilige Liturgie schon, während sie zelebriert wird, so stark auf die Anwesenden wirkt, so ist ihre Wirkung auf den Zelebranten oder den Priester noch weit tiefer. Wenn er sie andächtig und mit Ehrfurcht, Glauben und Liebe zelebriert, so reinigt sich sein ganzes Wesen, gleich einem Gefäß, das später zu nichts mehr ...; und mag er nun den ganzen Tag erregt in der Erfüllung seiner zahlreichen seelsorgerischen Pflichten, inmitten seiner Familie, seiner Hausgenossen oder seiner Pfarrkinder zubringen, der Heiland selbst wird sich in ihm verkörpern. Christus wird in allen seinen Handlungen lebendig sein, und der Heiland wird durch seinen Mund zu uns sprechen. Ob er die Streitenden zu versöhnen oder den Starken oder den Zornigen zu bewegen sucht, Gnade gegenüber dem Schwachen zu üben; ob er den Trauernden tröstet und den Bedrückten zur Geduld ermahnt oder ... seine Worte werden von der heilenden Kraft des Balsams erfüllt sein und überall und allerorten zu Worten des Friedens und der Liebe werden. Jugendschriften 1834 Großer, feierlicher Augenblick! Gott, wie rauschen, wie drängen sich in ihm die Wogen der mannigfaltigsten Gefühle zusammen! Nein, das ist kein Traum. Das ist die verhängnisvolle unvermeidliche Grenzscheide zwischen Erinnerung und Hoffnung ... Es gibt schon kein Erinnern mehr, schon schwindet es dahin, schon wird es von der Hoffnung zurückgedrängt. Zu meinen Füßen braust meine Vergangenheit; über mir, durch Nebelschleier hindurch, schimmert geheimnisvoll die Zukunft. Ich flehe dich an, Leben meiner Seele (mein Schutzgeist, mein Engel), mein Genius! Verbirg dich nicht vor mir! Wache in diesem Augenblick über mir und weiche dieses ganze Jahr, das für mich so vielversprechend beginnt, nicht von meiner Seite. Wie wirst du aussehen, du, meine Zukunft? Liegst du glanzvoll, groß vor mir, gärt es in dir von gewaltigen Taten, oder ... O mögest du ruhmvoll, tatenreich und ganz der Arbeit und der Ruhe gewidmet sein! Warum stehst du so geheimnisvoll vor mir, du [Jahr] 1834? Sei auch du mein Schutzengel. Sollten sich Trägheit und Gefühllosigkeit auch nur einen Augenblick erdreisten, sich mir zu nahen, -- oh, dann wecke mich aus dem Schlummer, gib es nicht zu, daß sie Macht über mich gewinnen! Laß deine so vielsagenden Zahlen wie eine nimmer ruhende Uhr, wie mein Gewissen vor mir stehen: laß jede deiner Ziffern lauter denn eine Sturmglocke an mein Ohr tönen, laß sie gleich einem galvanischen Stab meinen ganzen Körper in Zuckungen versetzen und erschüttern. Geheimnisvolles, unbegreifliches Jahr 1834! Wo werde ich dich durch große Werke kennzeichnen? Inmitten dieses Haufens aufeinandergetürmter Häuser, dieser lärmenden Straßen, dieser siedenden Geschäftigkeit -- dieser Menge, dieses Durcheinanders aller möglichen Moden, Paraden, Beamten, dieser seltsamen nordischen Nächte, dieses Glanzes und dieser gemeinen Farblosigkeit? In meinem herrlichen, alten, gelobten, mit fruchtreichen Gärten geschmückten Kiew, das mein prachtvoller, wundersamer, südlicher Himmel überwölbt und das wonneatmende Nächte einhüllen, wo die Berge mit ihren schönen -- man möchte sagen harmonischen -- Hängen, und wo mein klarer, wild dahinstürmender Dnjepr, der es umspült, im Schmuck grünen Buschwerks prangt? -- Wird es dort sein? ... Oh! Ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll, mein Genius! Du, der du schon seit meiner Wiege im Vorüberfliegen mein Ohr mit deinen harmonischen Liedern trafst, der du solch herrliche, mir bis heute noch unbegreifliche Gedanken in mir erwecktest und solch unendliche wonnevolle Träume in mir nährtest! Oh, blicke mich an! Herrlicher, blicke herab auf mich mit deinen himmlischen Augen! Ich knie vor dir. Ich liege zu deinen Füßen! Oh, verlasse mich nicht! Verweile bei mir auf der Erde, wenn auch nur zwei Stunden an jedem Tage, als mein herrlicher Bruder! Ich will es vollbringen. Ja, ich werde es vollbringen. In mir kocht es und siedet's vor Lebenskraft. Meine Werke werden von Begeisterung erfüllt sein. Die erhabene Gottheit, die über dieser Erde thront, wird über ihnen schweben. Ich werde es vollbringen ... Oh, küsse und segne mich! Über eine Geschichte der kleinrussischen Kosaken Es gibt bisher noch keine vollständige und befriedigende Darstellung der Geschichte Kleinrußlands und des kleinrussischen Volkes. Die zahlreichen kompilatorischen Darstellungen, die meist ohne strenge kritische Gesichtspunkte plan- und ziellos aus verschiedenen Chroniken zusammengetragen, dazu noch meist ganz unvollständig sind und durch die bisher diesem Volke sein Platz in der Weltgeschichte noch nicht angewiesen ward, diese Darstellungen nenne ich (trotzdem sie als Material ganz wertvoll sein können) noch keine Geschichte. Ich habe mich entschlossen, diese Arbeit auf mich zu nehmen und möglichst ausführlich darzustellen, wie dieser Teil Rußlands sich loslöste (und selbständig wurde), was für eine politische Verfassung er unter der fremden Herrschaft erhielt, wie sich hier eine kriegerische Bevölkerung heranbildete, die sich durch eine große Originalität des Charakters und durch ihre Taten auszeichnete; wie sich dieses Volk drei Jahrhunderte lang mit der Waffe in der Hand seine Rechte erobern mußte und hartnäckig seine Religion verteidigte, und wie es sich schließlich für immer an Rußland anschloß; wie es seinen kriegerischen Charakter verlor und sich in ein Volk von Ackerbauern verwandelte; wie sich das ganze Land allmählich statt der alten neue Rechte eroberte und endlich mit Rußland völlig zu einem Ganzen verschmolz. Ungefähr fünf Jahre lang habe ich mit großem Eifer Materialien gesammelt, die sich auf die Geschichte dieses Landes beziehen. Die Hälfte meiner Geschichte ist bereits so gut wie fertig, aber ich zögere noch, die ersten Bände herauszugeben, da ich vermute, daß es noch viele Quellen gibt, die mir vielleicht noch nicht bekannt sind, und die sich ohne Zweifel in den Händen von Privatpersonen befinden. Daher wende ich mich an alle die, die irgendwelche Materialien: Chroniken, Memoiren, Lieder, Erzählungen von Bandurenspielern, Aktenstücke (besonders auch solche, die sich auf die ersten Epochen der kleinrussischen Geschichte beziehen), besitzen (es ist unmöglich, daß meine gebildeten und aufgeklärten Landsleute mir diese Bitte abschlagen könnten). Ich bitte sie inniglich, mir diese Materialien zuzuschicken: wenn nicht die Originale, so doch wenigstens Kopien. Zwei Kapitel aus der kleinrussischen Erzählung Der schreckliche Eber I. Der Lehrer Die Ankunft einer neuen Person in dem gesegneten Lande Goltwjan machte mehr Aufsehen als das Gerücht, das vor zwei Jahren durch das Land ging, die Zahl der Rekruten solle vermehrt werden, oder als die plötzliche Erhöhung der Preise auf das Salz, das von den Steppenbewohnern der Ukraine aus der Krim eingeführt wurde. In den Schenken, auf den Straßen, in der Mühle, in der Branntweinbrennerei sprach man von nichts anderem als von dem neu hierher versetzten Lehrer. Die schlauen Politiker in ihren großen Kitteln und Kapuzen suchten, während sie mit höchst phlegmatischen Mienen dichte Rauchwolken unter ihrer Nase emporsteigen ließen, den Einfluß der Persönlichkeit festzustellen, der das Schicksal scheinbar schon bei der Geburt einen so hohen Platz über den Köpfen aller Bewohner der Welt angewiesen hatte, einer Person, die in den herrschaftlichen Gemächern wohnte und an einem Tisch mit der Besitzerin eines Gutes von fünfzig Seelen speiste. Man sprach davon, daß das Lehramt nicht seine ganze Befugnis ausmache, und daß sich sein Einfluß ohne allen Zweifel auch auf die wirtschaftliche Ordnung erstrecken werde; jedenfalls werde die Bemessung der Vorspanndienste, die Verteilung von Mehl, Speck usw. von keinem anderen abhängen als von ihm. Einzelne ließen mit bedeutsamer Miene durchblicken, daß nunmehr womöglich selbst der Verwalter zu einer bloßen Null herabsinken werde. Nur der _Miroschnik_, d. h. der Müller Ssolopi Tschubko, wagte die Behauptung aufzustellen, daß die Dorfältesten nichts von ihm zu befürchten hätten, er sei bereit, eine Wette einzugehen, und setze eine neue Mütze aus grauem reschetilowschem Lammfell zum Pfande --, daß der Lehrer keine Ahnung davon habe, wie man ein Fünfgespann zum Stehen und das stockende Mühlrad wieder in Schwung bringen müsse. Aber seine wichtige Haltung, sein glänzender Triumph über den Kirchensänger und die donnerähnliche Baßstimme, die alle Pfarrkinder in Rührung versetzt hatte, waren noch im Gedächtnis aller lebendig, und so blieb denn die vorteilhafte Meinung, die man von dem neuen Lehrer hatte, bestehen. Und wenn auch zu Ehren des Gastes kein einziges Turnier zwischen den angesehensten Bewohnern des Dorfes stattfand, so ließen sich dafür ihre liebenswürdigen Gattinnen nicht lumpen: begabt mit jener kräftigen Zunge, die so laute und durchdringende Töne hervorzubringen vermag und die sich bei den Weibern nach dem unerforschlichen Ratschluß der Vorsehung beinahe viermal so schnell bewegt wie bei den Männern, ließen sie ihr bei der Widerlegung der Angriffe und bei der Verteidigung der Vorzüge des Lehrers gewandt und behende freien Lauf. Lautes Geschrei und Geplapper, unterbrochen von plötzlichen Aufschreien und Gezänk, erfüllte die friedlichen Winkelgassen des Dorfes Mandrykow. Und da seine ehrenhaften Bewohnerinnen die löbliche Gewohnheit hatten, ihrer Zunge auch noch mit den Händen nachzuhelfen, konnte man in den Straßen fortwährend ein Paar kräftig ineinander verkrallter Gevatterinnen antreffen, die so eng aneinanderhingen, wie ein Schmeichler an einem Günstling des Glücks hängt oder wie ein Geizhals seine Tasche festhält, wenn die Straßen öde werden und eine einsame Laterne ihr erlöschendes Licht auf die gelben Mauern der schlafenden Stadt wirft. Am meisten hatten jedoch die Männer zu leiden, die es versuchten, sie zu trennen: Schnitzel und Scherben hagelten ihnen auf den Kopf herab, und häufig verprügelte eine erregte Gevatterin in der Hitze ihres Zornes statt eines fremden ihren eigenen Gatten. Inzwischen hatte sich unser Pädagoge völlig im Hause Anna Iwanownas eingelebt. Er gehörte zu der Zahl jener Seminaristen, die einen _Schreck vor der abgründigen Weisheit_ bekommen hatten, mit der das ***sche Seminar die nicht allzu wohlhabenden Herren von Kleinrußland gegen etwa hundert Rubel jährlich für ihren Beruf als Hauslehrer ausstattet. -- Übrigens war Iwan Ossipowitsch sogar bis zur Theologie vorgedrungen, und er wäre wohl gar weiß Gott wie weit, ja wahrscheinlich sogar noch weiter gekommen, wenn seine lockeren Kameraden nicht gewesen wären, die sich beständig über seinen Schnurrbart und seinen stacheligen Backenbart lustig machten. Als von Jahr zu Jahr ein Teil die Schule verließ und immer jüngere und jüngere an ihre Stelle traten, ließen sie ihm überhaupt keine Ruhe mehr: bald warfen sie ihm klebrige Disteln in seinen Bart und Schnurrbart, bald hängten sie ihm hinten am Rock Schellen an, bald puderten sie ihm das Haar mit Sand oder schütteten ihm Nieswurz in die Tabaksdose, bis Iwan Ossipowitsch es überdrüssig wurde, der stumme Zeuge dieses ewigen Wechsels leichtsinniger Generationen und ihr Kinderspielzeug zu sein, bis er sich genötigt sah, dem Seminar Lebewohl zu sagen und sich in die »_Vakanz_« schicken zu lassen, d. h. nach dem Sprachgebrauch der kleinrussischen Seminare: Hauslehrer zu werden. Diese Veränderung bildete eine wichtige Epoche und einen Wendepunkt in seinem Leben. An die Stelle der ewigen Spöttereien und Streiche seiner mutwilligen Kameraden trat nun endlich etwas wie Achtung, Anhänglichkeit und Sympathie. Mußte man denn auch nicht unwillkürlich Achtung vor ihm empfinden, wenn er an Festtagen in seinem hellblauen Rock dahergeschritten kam -- wohlgemerkt im hellblauen Rock -- denn das ist von nicht geringer Bedeutung. Ich sehe es als meine Pflicht an, den Leser darüber aufzuklären, daß ein Rock im allgemeinen (gar nicht erst zu reden von einem blauen), wenn er bloß nicht aus grauem Stoff gefertigt ist, in den Dörfern an den gesegneten Ufern der Goltwa einen ganz wundersamen Eindruck macht: wo er sich auch zeigt, da fliegen selbst von den trägsten und unbeweglichsten Köpfen die Mützen herab und begeben sich in die Hände ihrer Besitzer; selbst die würdigen mit schwarzen und grauen Schnurrbärten gezierten, sonnengebräunten Häupter beugen sich tief bis zum Gürtel. Die Zahl aller Röcke im Dorfe betrug -- wenn man auch den Mantel des Kirchensängers mitrechnet -- drei; aber so wie ein majestätischer Kürbis sich stolz aufbläht und alle übrigen Bewohner eines reichbepflanzten Melonenfeldes in den Schatten stellt, also verdunkelte der Rock unseres Freundes seine sämtlichen Mitbrüder. Was ihm den größten Reiz verlieh, das waren die Knochenknöpfe, die von den in Haufen auf der Straße stehenden Straßenjungen mächtig angestaunt wurden. Nicht ohne Vergnügen hörte unser stutzerhafter Erzieher der Jugend, wie die Mütter ihre Säuglinge auf die Knöpfe aufmerksam machten, und wie die Kleinen ihre Händchen ausstreckten und _Zga zga Zga zga_ (d. h. gut, gut) lallten. Beim Mittagessen war es ein Genuß, zuzusehen, wie würdig und mit welcher Rührung unser ehrenwerter Lehrer mit vorgebundener Serviette die allgemeine Verrichtung irdischer Sättigung besorgte. Da gab es kein überflüssiges Wort, keine unnötige Bewegung; er schien sich völlig in seinen Teller zu verfügen und ganz in ihm aufzugehen. Wenn er ihn so gründlich geleert hatte, daß kein gastronomisches Gerät, als da sind Gabel und Messer, noch etwas vorfand, dessen es sich bemächtigen konnte, schnitt er sich ein Stück Brot ab, spießte es auf die Gabel auf und fuhr mit diesem Gerät noch einmal über den Teller, wonach dieser so blank und rein war, als käme er eben aus der Fabrik. Aber dies alles, kann man wohl sagen, waren nur äußere Vorzüge, die seine Kenntnis der Sitten und Formen der feinen Welt bezeugten, und der Leser würde sehr fehlgehen, wenn er hieraus schließen wollte, daß damit alle seine Gaben und Fähigkeiten erschöpft gewesen wären. Der würdige Pädagoge besaß für einen einfachen Mann geradezu unermeßliche Kenntnisse, von denen er einige für sich behielt, wie z. B. die Zubereitung einer Arznei gegen den Biß von tollen Hunden und die Kunst, bloß aus Eichenrinde und Salpetersäure die schönste rote Farbe herzustellen. Außerdem konnte er eigenhändig die herrlichste Stiefelwichse und Tinte herstellen und für den kleinen Enkel Anna Iwanownas Figuren aus Papier ausschneiden; und an Winterabenden wickelte er Garn auf und spann er sogar. Ist es da wohl verwunderlich, wenn er sich bei solchen Gaben im Hause bald unentbehrlich machte, und wenn alle Knechte und Mägde völlig in ihn vernarrt waren, trotzdem sein Gesicht sowohl nach seiner Form wie nach seiner Farbe völlig einer Flasche glich, obwohl sein gewaltiger Mund, dessen dreisten Ansprüchen die abstehenden Ohren nur mit Mühe eine Schranke zu setzen vermochten, sich fortwährend verzog und verzerrte, indem er sich zu einem Lächeln zu zwingen suchte, und obwohl seine Augen eine hellgrüne Farbe hatten -- zwei Augen, wie sie, soviel mir bekannt ist, in den Annalen der Romane noch nie ein Held besessen hat. Aber vielleicht sehen die Frauen mehr als wir? Wer will sie enträtseln? Wie dem auch sein mag, genug, auch die alte Dame, die Frau des Hauses, war sehr befriedigt von den Kenntnissen des Lehrers in den Geheimnissen der Haushaltung und von seiner Kunst, aus Safran und _Herba rhabarbarum_ Schnaps herzustellen, sowie von seiner Geschicklichkeit im Entwirren von Garn und seiner großen Lebenserfahrung. Der Haushälterin gefiel am meisten sein stutzerhafter Rock und seine Kunst, sich zu kleiden; übrigens hatte auch sie bemerkt, daß der Lehrer eine wundersame gerührte Miene machte, wenn er zu schweigen oder zu essen geruhte. Dem kleinen Enkel machten die papierenen Hähne und Männchen außerordentlich viel Spaß. Selbst der zottige _Browko_ pflegte ihm, sobald er ihn auf die Treppe hinaustreten sah, sofort zärtlich mit dem Schweife wedelnd, entgegenzulaufen und ihn ohne alle Förmlichkeit auf die Lippen zu küssen, wenn der Lehrer, die Würde, die seinem Amte gebührte, vergessend, sich unter dem majestätischen Giebel niederzusetzen beliebte. Nur die beiden älteren Enkelkinder und die Jungen, die zum Hause gehörten, mit denen er das A -- _Affe_, _Apfel_, _Be_ -- _Besen_, _Bild_, _Bär_ durchnahm, fürchteten sich vor der beredten, höchst ausdrucksvollen Rute des strengen Pädagogen. Während seines kurzen Aufenthaltes am neuen Orte hatte Iwan Ossipowitsch schon selbst Zeit gefunden, seine Beobachtungen zu machen und sich in seinem Kopfe wie in einem Hohlspiegel ein kleines Abbild der ihn umgebenden Welt zu formen. Die erste Person, an der seine Beobachtungsgabe mit dem gebührenden Respekt haften blieb, war, wie der Leser sich wohl selbst denken wird, die Gutsherrin. In ihrem Gesicht, das der scharfe Pinsel, der das menschliche Geschlecht seit undenklichen Zeiten koloriert und den man, seit Gott weiß wie langer Zeit, mit dem Namen »Falte« zu bezeichnen pflegt, nicht verschont hatte, in ihrer dunkelkaffeefarbenen Kapotte, in der Haube (deren Form in dem Gewirr der Ereignisse, die das achtzehnte Jahrhundert charakterisieren, verloren gegangen ist), in ihrem braunen Wams und den Schuhen ohne Hackenleder, erkannten seine Augen jene Lebensperiode wieder, die eine matte schwächliche Wiederholung der vergangenen, eine kalte farblose Übersetzung der Werke eines feurigen, von ewigen Leidenschaften glühenden Poeten ist, -- jener Periode, wenn den Menschen nichts als die Erinnerung, diese Repräsentantin der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft übrigbleibt, wenn das verhängnisvolle siebente Jahrzehnt einem Kälte durch die einstmals von Feuer durchströmten Adern treibt und das Lebensthermometer unter den Gefrierpunkt sinkt. Übrigens belebten die ewigen Sorgen und die Passion, sich zu beschäftigen und sich zu schaffen zu machen, einigermaßen das schon erloschene Leben in ihren Zügen, und ihre Frische und Gesundheit waren ein sicheres Unterpfand, daß ihr noch weitere dreißig Jahre des Lebens bevorstanden. Die ganze Zeit von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr abends, das heißt bis zur Stunde, wo man sich Ruhe zu gönnen pflegt, bildete eine ununterbrochene Kette der Tätigkeit. Bis sieben Uhr morgens hatte sie bereits alle Räume besucht und den ganzen Haushalt durchmustert: Küche, Keller und Vorratskammern; sie hatte Zeit gefunden, sich mit dem Verwalter zu zanken und die Hühner und Gänse eigener Zucht, für die sie eine große Vorliebe hatte, zu füttern. Vor dem Mittagessen, das nie später als um zwölf Uhr stattfand, blickte sie in die Backstube hinein und half selbst beim Backen von Brot und einer besonderen Art von Brezeln aus Honig und Eierteig, deren bloßer Geruch den Pädagogen in eine unerklärliche Aufregung versetzte; besaß er doch eine leidenschaftliche Sympathie für alles, was der geistigen und physischen Natur der Menschen zur Nahrung dient. In der Zeit zwischen Mittagessen und Abend gibt's für eine Hausfrau genug zu tun. -- Da gibt's Wolle zu färben, Leinwand abzumessen, Gurken einzusalzen, Früchte einzumachen, Liköre zu süßen. Wieviel Methoden, Geheimnisse und Hausrezepte kommen während dieser Zeit zur Anwendung! Dem aufmerksamen Auge unseres Pädagogen konnte es nicht entgehen, daß auch Anna Iwanowna die Eitelkeit nicht ganz fremd war, und daher machte er es sich zur Regel, sich, freilich nur soweit ihm dies seine angeborene Schüchternheit erlaubte, in Lobeserhebungen über ihre außergewöhnlichen wirtschaftlichen Künste und Fähigkeiten zu ergehen, und dies wurde ihm, wie er später erfuhr, von großem Nutzen. Die würdige alte Dame verschloß die süßen Liköre und die Gläser mit Eingemachtem nicht eher, als bis Iwan Ossipowitsch davon gekostet und die außerordentliche Güte des einen wie des anderen gerühmt hatte. Alle übrigen Personen standen im Schatten, verglichen mit diesem leuchtenden Gestirn, so wie alle Gebäude im Hofe vor dem herrlichen Bau mit dem prachtvollen Portal in den Staub zu sinken schienen. Nur dem Auge eines scharfsinnigen Beobachters enthüllten sich ihre gegenseitigen Beziehungen und das besondere Kolorit, das jedem eigentümlich war, und dann erblickte er, fast wie in einem Ameisenhaufen, eine ewige Unruhe und Bewegung und er vernahm ein fortwährendes Geräusch, das keinen Augenblick verstummte. Unser Pädagoge verstand es, wie wir bereits gesehen haben, es jedem recht zu machen und sich gleich einem mächtigen Zauberer dauernd die allgemeine Achtung zu erwerben. Gänzlich unbegreiflich waren allein die Gründe, die ihn veranlaßt hatten, sich dem Küchenmeister anzuschließen. War es die hohe Achtung, die Iwan Ossipowitsch unwillkürlich vor seiner Kunst empfand, oder war es irgendein anderer Umstand -- das wagen wir nicht zu entscheiden. Genug, es vergingen keine zwei Tage, da erstanden Mandrykow zwei Dioskuren, der Orest und Pylades der neuen Welt. Aber noch unbegreiflicher war die Macht, die der Küchenmeister über unseren Pädagogen besaß, so daß der von Natur so bescheidene und schüchterne Lehrer, der nichts in den Mund nahm außer einem medizinischen Dekokt von _Betonica_ und _Herba rhabarbarum_, ihm unwillkürlich in die Schenken und überallhin zu folgen begann, wo der verbummelte Küchenmeister seine Nase hineinsteckte. Iwan Ossipowitsch gefiel die romantische Lage der Gegend, in der er sich aufhielt. Bald hatte er die Küche, die Speicher, die Scheunen, die Ställe und Vorratskammern, die einen unregelmäßigen Kreis um den geräumigen Herrenhof bildeten, besichtigt; mit besonderem Vergnügen verweilte er bei dem Garten, der üppig in die Breite geschossen war und dessen gigantische Bewohner, in ihre dunkelgrünen Mäntel gehüllt und von wundersamen Traumgestalten umschwebt, dastanden und schlummerten oder, sich plötzlich ihren Träumen entreißend, die unbotmäßige Luft wie Windmühlenflügel durchschnitten, und dann ging es wie ein unverständliches Geflüster durch das Blattwerk, und die gemessene majestätische Bewegung ihres ganzen Körpers gemahnte an die alten Mimen, die die großen Schatten der Verstorbenen auf den Gerüsten Melpomenes heraufbeschworen. Aber die Augen unseres Lehrers suchten ihr Objekt und hafteten mehr an den weniger majestätischen Gartenbewohnern, die dafür von unten bis oben mit Birnen und Äpfeln behangen waren, von denen die üppige Ukraine förmlich strotzt. Von hier aus kämpften sie sich bis zur Küche durch, hinter der zogen sich Plantagen von Erbsen, Kohl, Kartoffeln, sowie aller Kräuter hin, die in die Apotheke der Dorfküche gehören. Nicht ohne besonderes Vergnügen betrat er das reine, sauber geweißte und aufgeräumte Zimmer, in dem er nun wohnen sollte, mit dem Fenster, durch das man auf den Teich und die in violette Nebel gehüllte Landschaft hinaussah. Wir hatten bereits Gelegenheit, etwas über den Eindruck, den unser Lehrer auf die Schönen von Mandrykow gemacht hatte, zu bemerken: die gesenkten Augen, das Geflüster und die tiefen Verbeugungen ließen erkennen, daß seine Eroberung einer jeden von ihnen als keine geringe Angelegenheit erschien. Übrigens ist es hier wohl am Platze, den freundlichen Leser daran zu erinnern, daß Iwan Ossipowitsch einen Rock aus blauem Fabrikstoff mit schwarzen Knochenknöpfen von der Größe eines mächtigen Groschens anhatte; und so war es sehr verzeihlich, wenn er sich das Augenblinzeln der schwarzbrauigen Schelminnen zu seinen Gunsten auslegte. Zum Glück oder Unglück jedoch suchte das Gefühl, das der armen Menschheit so gut bekannt ist und ihr seit undenklichen Zeiten ein wahres Meer von unerträglichen Qualen beschert hat, unseren Pädagogen nicht heim. In diesem Punkte war Iwan Ossipowitsch ein echter Stoiker, und obwohl er noch nicht bis zur Philosophie vorgedrungen war, wußte er doch genau, daß keiner der Philosophen von Seneca und Sokrates bis herab zum Lektor des ***er Gymnasiums die wunderliche Hälfte des Menschengeschlechts für nichts achtete: ergo gab es keine Liebe. An solchen Prinzipien, die bei ihm schließlich die Festigkeit von Grundsätzen angenommen hatten, hielt er sehr fest, ja allzu fest ... _Homo proponit, Deus disponit_ pflegte der Lektor des ***er Gymnasiums häufig zu sagen, indem er die Schläge zählte, die er seinen faulen Schülern mit dem Lineal verabreichte; daher werden wir auch im folgenden Kapitel einen kleinen Umstand kennen lernen, der die Philosophie unseres Lehrers heftig erschütterte und seinen Verstand mit einer ganzen Wolke von Mißverständnissen bestürmte, ihn, der bisher unbeugsam in den Fußstapfen seiner großen Lehrmeister gewandelt war und sich mit regelmäßigem Pulsschlag in seiner flaschenförmigen Sphäre bewegt hatte. II. Der Erfolg der Gesandtschaft (Der Küchenmeister entschließt sich trotz der eigenen Herzenswunde, die er sich ganz plötzlich durch den Anblick der sich am Teiche waschenden Katerina zugezogen hat, das Versprechen, das er dem Lehrer gegeben hat, einzulösen und den Gesandten und Fürsprecher seiner Leidenschaft zu spielen. In dieser Absicht begibt er sich in die Hütte des Kosaken Charjka Potyliza.) Nachdem Onißko seine Toilette beendigt hatte, überschritt er nicht ganz ohne Furcht und geheime Freude die Schwelle. Der Böse schien ihn necken zu wollen (er gab dies später selbst zu), indem er ihm fortwährend die schlanken Füßchen seiner Nachbarin vorzauberte: »Ach, wenn doch der Lehrer nicht wäre!« wiederholte er mehrmals bei sich selbst; »was hätte es ihn gekostet, wenn er sich's hätte einfallen lassen, sich nur ein klein wenig später zu verlieben?« Und nachdenklich durchmaß er langsamen Schrittes die große Viehweide, durch die ihn sein Weg hindurchführte. Doch jetzt durchbrach ein vielstimmiges Gebell die nachdenkliche Stimmung, die ihn gleich einer Wolke umfing, und seine Gedanken stoben aufgescheucht wie eine Schar wilder Enten nach allen Richtungen auseinander. Er richtete die Augen empor und sah nun, daß er nicht mehr weiter konnte. Vor ihm erhob sich ein Tor, durch das wie durch ein Transparent der ganze unbewegliche Besitz des Kosaken hindurchschimmerte. Ein blauer Schlitzrock und ein feuerfarbenes Band leuchteten ihm entgegen ... Das Herz hüpfte ihm in dem Busen ... die blonde Schöne öffnete das Tor, trieb die lästigen Hunde mit einer langen Rute auseinander und stand nun vor ihm. Der Hof Charjkas stellte ein großes Quadrat dar, das auf einer Böschung, die sich gegen den Teich hinabsenkte, lag und von allen Seiten mit einem geflochtenen Zaun umgeben war. Wenn das Tor geöffnet war, sah man unmittelbar vor sich eine sauber geweißte Hütte mit mächtigen Fenstern von ungleicher Größe und eine eichene Tür, die schon ganz schwarz vor Alter war; das Häuschen stand auf einem niedrigen Lehmfundament (einer sogenannten Prisba), das nach der in Kleinrußland herrschenden Sitte mit Wäsche, Suppenschüsseln und einem Topf, einem alten Invaliden aus Ton, bedeckt war, dem trotz seiner Wunden und Verletzungen noch kein Abschied bewilligt wird, und den man zum Dank für seine treuen Dienste mit Spülwasser zu füllen pflegt. Zu beiden Seiten der Hütte befanden sich Ställe und Speicher mit struppigen beschädigten Dächern. Hinter der Hütte ragte eine Tenne empor, die ihrerseits von einem Taubenschlag überragt wurde, über den man nur noch die vorüberziehenden Wolken und die in der Luft herumflatternden Tauben erblickte. Weiter unten streckte sich der Gemüsegarten gleich einem kostbaren türkischen Schal bis zum Teiche hinab. Auf dem ganzen Hofe erblickte man überall Strohhaufen, die unordentlich herumlagen. Katerina schien ein wenig verwundert über Onißkos Besuch. Da sie annahm, daß ihn ohne Zweifel lediglich die Not zu ihrem Vater geführt haben konnte, öffnete sie das Tor nur zur Hälfte und sagte ein wenig verlegen: »Vater ist nicht zu Hause; er wird auch kaum bis zum Abend heimkommen.« »_Mag es ihm so leicht aufstoßen, wie es aus seinem Innern aufsteigt!_ Was wär' ich für ein Tölpel vor dem Herrn, wenn ich trockenen Brei fressen wollte, wo mir Quarkkuchen mit saurem Rahm vor der Nase stehen?« Die blonde Schöne blieb überrascht und verblüfft stehen, denn sie wußte nicht, wie sie diese Worte verstehen sollte. Ein Lächeln, das durch sein seltsames Benehmen veranlaßt war, huschte über ihr Gesicht und schien anzudeuten, daß sie auf weitere Aufklärung warte. Der Küchenmeister fühlte selbst, daß er sich nicht ganz deutlich ausgedrückt und dazu ihres Vaters mit etwas rauhen Worten gedacht hatte; er fuhr daher fort: »Da müßte mich doch schon der Böse selbst zum _Alten_ führen, wenn dieser eine so hübsche Tochter hat.« »Ah, ist es das!« sagte Katerina lächelnd und leicht errötend. »Bitte, tretet ein!« und sie schritt voraus und ging auf die Tür der Hütte zu. In Kleinrußland haben die Mädchen viel mehr Freiheit als irgendwo anders, und daher darf es nicht seltsam erscheinen, daß unsere Schöne, ohne daß ihr Vater etwas davon wußte, einen Gast bei sich empfing. »Bist du zu Fuß hierher gekommen, Onißko?« fragte sie ihn, indem sie sich auf der Schwelle an der Tür der Hütte niederließ und eine würdige und ehrbare Haltung anzunehmen suchte, obwohl ihr schelmisches Lächeln, bei dem sie eine lange Reihe schöner Zähne sehen ließ, sie deutlich verriet. -- Wieso zu Fuß? -- Teufel auch! sollte sie über das, was gestern vorgefallen ist, unterrichtet sein? dachte der Küchenmeister. -- »Gewiß doch zu Fuß, meine Schöne. Wahrhaftig, der Teufel müßte mich reiten, wenn ich absichtlich den Braunen meines Herrn angespannt hätte, bloß um von einem Hof zum anderen zu gelangen!« »Aber von der Küche bis zur Vorratskammer ist es doch nicht so weit!« Hier aber konnte sie sich doch nicht mehr halten und lachte laut auf. -- Nein, du Schelmin! Der Böse selbst ist nicht schlauer als dieses Mädel! wiederholte der Küchenmeister mehrmals bei sich selbst und wünschte den Lehrer laut zum Teufel, alle Sympathie und Freundschaft vergessend, die zwischen ihnen bestand. »Übrigens wäre ich damit einverstanden, daß mir die Karauschen samt den frischgesalzenen Eierschwämmen auf der Pfanne anbrennen, wenn du nur noch einmal so lachen wolltest, schönes Mädchen!« Bei diesen Worten konnte der Küchenmeister sich nicht mehr beherrschen und umarmte sie. »Nein, das habe ich nicht gerne!« rief Katerina errötend, wobei sie eine zornige Miene machte. »Bei Gott, Onißko, wenn du noch einmal so etwas tust, so werfe ich dir ohne viel Umstände diesen Topf an den Kopf.« Bei diesen Worten hellte sich ihr zorniges Gesichtchen ein wenig auf, und das Lächeln, das hierbei über ihr Antlitz huschte, schien deutlich sagen zu wollen: »aber ich wäre dessen nicht fähig!« »Nein, nicht doch, nicht doch! _Ich habe dich doch nicht mit dem Lastwagen gestreift._ Als ob das ein Grund ist, so böse zu werden! Als ob das weiß Gott was für ein Verbrechen wäre, -- ein hübsches Mädchen zu umarmen!« »Sieh, Onißko, ich bin ja gar nicht böse,« sagte sie, indem sie ein wenig von ihm abrückte und wieder ein fröhliches Gesicht machte; »übrigens schien es mir so, als hättest du den Lehrer erwähnt.« Da aber machte der Küchenmeister ein recht kümmerliches Gesicht, das mindestens um ein paar Zoll länger wurde als gewöhnlich. »Der Lehrer ... Iwan Ossipowitsch soll das heißen ... Pfui Teufel noch einmal! Ich verschlucke die Worte, noch ehe sie meinem Munde entschlüpfen können, ganz als ob ich Gewürzbranntwein getrunken hätte. Der Lehrer ... Sieh mal, was ich dir sagen will, mein Herz! Iwan Ossipowitsch hat sich so in dich verknallt, daß ... nun ... wie sich's halt nicht wiedergeben läßt. Er grämt und härmt sich ab wie die selige braune Stute, die der Herr dem Juden abgekauft hat und die einen Herzschlag bekam und krepierte. Was soll man da machen? Der arme Mensch tat mir leid, und da bin ich halt aufs Geratewohl hergekommen, um mich für ihn zu verwenden.« »Da hast du einen schönen Auftrag übernommen,« unterbrach ihn Katerina ein wenig ärgerlich. »Bist du etwa sein Brautwerber oder sein Verwandter? Ich würde dir doch raten, alle Landstreicher aus dem Dorfe in die Küche zu laden und selbst betteln zu gehen und vor den Fenstern um Almosen für sie zu bitten.« »Das ist schon ganz richtig; indes, ich weiß wohl, daß es dich freut, und sogar sehr freut, daß der Lehrer auf den Einfall gekommen ist, dir nachzulaufen.« »Das sollte mich freuen? Hör' mal, Onißko: wenn du das sagst, um dich über mich lustig zu machen, so wirst du wenig Nutzen davon haben. Du solltest dich schämen, ein armes Mädchen schlecht zu machen! Wenn du aber _wirklich_ so denkst, so bist du wahrhaftig der dümmste Mensch im ganzen Dorfe. Gottlob, ich bin noch nicht blind, Gott sei Dank, bin ich noch bei Verstande ... Aber das hast du sicherlich nicht umsonst gesagt: ich weiß wohl, etwas anderes hat dich dazu veranlaßt. Du hast wohl geglaubt ... Nein, du bist ein schlechter Mensch.« Bei diesen Worten wischte sie sich mit dem gestickten Hemdärmel eine Träne aus dem Gesicht, die plötzlich in ihrem Auge aufblitzte und ihr über die glühende Wange rollte, wie eine Sternschnuppe den warmen Abendhimmel hinunterschießt. -- Hol' der Teufel alle Lehrer der Welt! dachte Onißko bei sich, indem er das glühende Gesicht Katerinas betrachtete, auf dem das Lächeln von vorhin lange Zeit mit dem Ärger kämpfte, um ihn schließlich gänzlich zu verscheuchen. »Der Donner treffe mich hier auf der Stelle!« rief er endlich aus, da er seine innere Erregung nicht mehr unterdrücken konnte, und umfaßte ihre rundliche Taille. »Der Donner treffe mich, wenn es mich nicht ebenso freut, daß du Iwan Ossipowitsch nicht liebst, wie den alten Browko, wenn ich ihm sein Spülwasser bringe.« »Wirklich, auch ein Grund, sich zu freuen! Du wirst wohl noch mehr grinsen, wenn du erfährst, daß fast alle Mädchen im Dorf dasselbe sagen.« »Nein, sag' das nicht, Katerina. Die Mädchen haben ihn lieb. Neulich gingen wir beide zusammen durch das Dorf, da steckten sie fortwährend ihre Köpfe über den Zaun, wie Frösche aus dem Sumpfe. Wir guckten nach rechts -- da waren sie schon wieder verschwunden, aber zur Linken, da streckte wieder eine andere ihr Köpfchen vor. Doch hol' sie der Teufel alle mitsamt dem Lehrer! Ich gäbe ein Viertel vom besten Branntwein dritter Güte dafür, wenn ich von dir erfahren könnte, Katerina, ob du mich auch nur für einen Groschen liebhast?« »Ich weiß nicht, ob ich dich liebe; ich weiß nur, daß ich um alles in der Welt keinen Trunkenbold heiraten möchte. Wer mag mit so einem zusammenleben? Wie traurig ist das Los einer Familie, aus der solch ein Mensch stammt; man mag gar nicht in die Hütte hineinschauen: da gibt's nichts zu sehen als Armut und Elend, die Kinder hungern und weinen. Nein, nein, nein! Gott behüte! Mich schaudert's schon beim bloßen Gedanken daran! ...« Und Katerina warf ihm einen langen, tiefdringenden Blick zu. Gebeugten Hauptes und wie ein Verdammter saß der Küchenmeister in seine Vergangenheit versunken da. Schwere Gedanken, Ausgeburten geheimer Gewissensnöte, gruben tiefe Spuren in sein Gesicht und bewiesen deutlich, daß ihm nicht allzu heiter zumute war. Der durchbohrende Blick Katerinas schien sein ganzes Innere zu versengen und brachte alle ungestümen, wilden Streiche ans Licht, die in einer langen, nie endenden Reihe an ihm vorüberzogen. »Wahrhaftig, was bin ich für ein Mensch? Wer mag mit mir leben? Ich liege bloß meinem Pan auf dem Halse. Habe ich bisher etwas getan, wofür mir ein guter Mensch gedankt hätte? Ich habe nur immer gebummelt und gebummelt! Und habe ich auch nur einmal so gebummelt, daß Herz und Seele sich dabei wohl fühlten? Man betrinkt sich wie ein Hund und wird wieder nüchtern wie ein Hund, wenn andere einem nicht in noch peinlicherer Weise den Rausch austreiben. Nein, hol's der Teufel ... es ist ein Hundeleben, das ich führe!« Die schöne Katerina schien seine philosophischen Betrachtungen, die er bei sich selbst anstellte, zu erraten; sie legte ihm ihr braunes Händchen auf die Schulter und murmelte halblaut: »Nicht wahr, Onißko, du wirst nie mehr trinken.« »Nie wieder, mein Herzchen, nie wieder! Mag kommen, was da will! Für dich könnte ich alles tun.« Das Mädchen sah ihn gerührt an, und der Küchenmeister schloß sie begeistert in seine Arme und bedachte sie mit einem wahren Hagelschauer von Küssen, wie ihn der ruhige und gemütliche Gemüsegarten schon lange nicht erlebt hatte. Kaum aber hatte der Laut der verliebten Küsse die Luft erschüttert, als eine helle, durchdringende Stimme furchtbarer als das Grollen des Donners das Ohr des sich zärtlich liebkosenden Paares traf. Der Küchenmeister sah auf und erblickte zu seinem Entsetzen die auf dem Zaune stehende Ssimonicha. »Herrlich, vortrefflich! Feine junge Leute das! Bei uns im Dorfe weiß man noch nicht, wie Burschen und Mädel sich küssen, wenn der Vater nicht zu Hause ist! Herrlich! Das ist mir ein nettes Mandrykowsches Lämmchen! Man sage nun noch, das Sprichwort: >Stille Wasser sind tief< lüge. So also treibt man's. Solche Streiche macht ihr! ...« Mit Tränen im Auge mußte sich das schöne Mädchen in die Hütte zurückbegeben, wußte sie doch, daß sie den giftigen Reden der Schenkenbesitzerin nicht anders entgehen konnte. »Wenn dir doch jemand ein Schloß vor den Mund hängte, alte Hexe!« sagte der Küchenmeister. »Was geht denn dich das an?« »Was mich das angeht?« fuhr die unermüdliche Schankwirtin fort. »Das ist noch schöner! Die Burschen machen sich einen Spaß draus, über den Zaun und in fremde Gärten zu klettern, die Mädchen locken die Burschen zu sich herein -- und das sollte mich nichts angehen! Sie liebäugeln und küssen sich -- und das sollte mich nichts kümmern! Hast du's gehört, Karno?« schrie sie plötzlich auf, indem sie sich schnell umdrehte und an einen vorübergehenden Bauern wandte, der, ohne auf etwas zu achten, mit einer langen Rute fuchtelnd, daherkam, gefolgt von einer ebenso langsam einherschreitenden Kuh. »Hast du's gehört? Steh doch einen Augenblick still. Was das für eine Geschichte ist! Charjkas Tochter ...« »Pfui Teufel!« schrie der Küchenmeister, indem er zur Seite spuckte und völlig die Geduld verlor. »Der Teufel selbst hat sich vermummt und die Gestalt dieses Weibes angenommen. Warte nur, Hexe! Ich werde schon Gelegenheit finden, dir's heimzuzahlen!« Und der Küchenmeister setzte seinen Fuß auf den Zaun und war einen Augenblick später im Garten des Herrn. Es war nicht mehr sehr früh, als er in die Küche zurückkehrte und sich an die Zubereitung des Abendessens machte. Allein die große Zerstreutheit, die er bei jeder Gelegenheit an den Tag legte, konnte Jewdocha nicht entgehen. Mehrfach goß der Küchenmeister Essig in den mit sauerem Rahm versetzten Brei oder er spießte mit wichtiger Miene die Mütze auf den Bratenwender und wollte sie an Stelle eines Huhns braten. Während des Abendessens konnte Anna Iwanowna durchaus nicht verstehen, warum der Brei so unglaublich sauer und die Sauce so versalzen war, daß man sie absolut nicht in den Mund nehmen konnte. Nur mit Rücksicht auf die Mühen, denen er sich an jenem Tage unterzogen hatte, ließ man den Küchenmeister in Ruhe; zu einer anderen Zeit wäre unser Held nicht so leichten Kaufes davongekommen. »Nein, Herr Lehrer!« murmelte er, indem er sich auf seine hölzerne Pritsche streckte und sich seinen Kittel unter den Kopf legte, »die Katerina bekommen Sie ebensowenig zu sehen wie Ihre Ohren!« Und nachdem er seinen Kopf in den Kittel vergraben hatte, wie eine Gans eigener Zucht, versank er in Sinnen, um bald darauf einzuschlummern. Das Weib »Ausgeburt der Hölle! Olympier Zeus! Oh, du bist unerbittlich in deinem Zorne. Du wolltest der Welt eine Geisel schicken, du nahmst alles Gift, das unmerklich die Adern deiner herrlichen Welt durchdringt, verdichtetest es zu einem einzigen Tropfen, schleudertest ihn mit deiner lichtspendenden Rechten zürnend hinunter und vergiftetest mit ihm deine wundersame Schöpfung: du schufst das Weib! Du beneidetest uns und unser armseliges Glück: du wolltest nicht, daß der Mensch ewige Segenswünsche aus den Gründen seines dankbaren Herzens zu dir emporsteigen ließ: lieber mochten Flüche aus seinem ruchlosen Munde hervorzucken ... Du schufst das Weib.« So sprach Telekles, ein junger Schüler des Platon, indem er vor seinen Lehrer trat. Seine Augen sprühten Blitze; auf seinen Wangen wütete ein Feuer, und die zitternden Lippen kündeten von wilden Stürmen einer zerrissenen Seele. Seine Hand drängte zornig die purpurnen Wellen seines weichen Gewandes zurück, und die geöffnete Schnalle fiel nachlässig auf die jugendliche Brust des Jünglings herab. »Wie, mein göttlicher Lehrer? Warst du es nicht, der es in einem göttergleichen himmlischen Gewande vor uns erstehen ließ? War es nicht dein Wohllaut ausströmender Mund, der so wunderbare Worte zum Preis ihrer milden Schönheit zu sagen wußte? Hast du uns nicht gelehrt, so glühend, so wesenlos zu verehren? Nein, mein Lehrer, deine göttliche Weisheit ist noch ein Kind, das nichts ahnt von den unendlichen Abgründen des arglistigen Herzens. Nein, nein, nicht einmal der Schatten einer bitteren Erfahrung hat deine heiteren Gedanken gestreift, du kennst das Weib nicht.« Glühende Tränen entströmten seinen Augen; er verhüllte sein Haupt mit dem Mantel, verbarg sein Antlitz in den Händen und lehnte sich an die Marmorsäule mit dem herrlichen, reichverzierten korinthischen Kapitäl, das von flimmernden Strahlen besonnt wurde. Ein tiefer schwerer Seufzer entrang sich der Brust des Jünglings, wie wenn alle verborgenen Nerven seines Wesens, alle Gefühle und alles, was das Innere des Menschen ausfüllt, in schmerzlichen Klagelauten aufstöhnte, und diese Klagelaute gingen wie eine Erschütterung durch seinen ganzen Körper, und seine ganze körperliche Natur, soweit sie den Sinnen erfaßbar ist, verwandelte sich, unfähig die ewigen, nie endenden Qualen der Seele auszusprechen, in eine einzige schmerzliche Klage. Der hohe Lehrer der Weisheit betrachtete ihn stumm, und sein Gesicht spiegelte alle seine erhabenen Gedanken, die er gedacht hatte und die ihre Spuren auf ihm hinterlassen hatten. So will die Erinnerung an ein herrliches Traumbild noch lange nicht weichen und mischt sich mit dem Aufleuchten neuer Gedanken, solange der Mensch noch nicht in die Welt der Wirklichkeit untergetaucht ist. Das Licht floß wie ein mächtiger, wundervoller Wasserfall durch eine kühne Öffnung in der Kuppel auf den Weisen hinab und überschüttete ihn mit seinem strahlenden Glanz, und jeder Zug seines beseelten Angesichts schien von hohen Gedanken und Gefühlen zu künden. »Kannst du denn auch lieben, Telekles?« fragte er ihn mit ruhiger Stimme. »Ob ich lieben kann!« fiel der Jüngling rasch ein, »frag' doch den Zeus, ob er durch ein Runzeln seiner Augenbrauen die Erde zu erschüttern vermag. Frag' Phidias, ob er Gefühle im kalten Marmor entzünden und dem toten Block Leben einhauchen kann. Wenn in meinen Adern kein Blut siedet, sondern eine heiße Flamme wütet, wenn alle meine Gefühle, alle meine Gedanken, wenn ich selbst mich ganz in Töne verwandle, wenn diese Töne in mir glühen und meine Seele nichts wie Liebe tönt, wenn meine Rede ein Sturm und mein Atem -- Feuer ist! Nein, nein, ich verstehe es nicht, zu lieben! So sage mir doch, wo dieser Sterbliche, wo dieser wundersame Mensch zu finden ist, der dies Gefühl sein eigen nennt? Hat am Ende gar die weise Pythia dies Wunder unter den Menschen entdeckt?« »Armer Jüngling! Das also nennen die Menschen Liebe! Das ist das Schicksal, das diesem sanften Geschöpf bereitet wird, in dem die Götter die Schönheit zum Ausdruck bringen, in dem sie der Welt das Gute zum Geschenk machen, durch das sie ihre Anwesenheit hier auf Erden beweisen wollten! Armer Jüngling! Du hättest dieses sanfte Wesen mit deinem glühenden Atem versengt, du hättest dieses reine Leuchten durch einen Sturm von Leidenschaft getrübt und in Aufruhr versetzt! Ich weiß, du willst mit vom Verrat der Alkinoe sprechen. Deine Augen waren selbst Zeugen ... aber waren sie auch Zeugen deiner eigenen wilden Regungen, die deine Seele zu jener Zeit in ihren Tiefen bewegten? Hast du dich auch im voraus geprüft? Glühte vielleicht der ganze wilde Aufruhr deiner Leidenschaften in deinem Auge? Und wann haben je die Leidenschaften die Wahrheit erkannt? Was wollen die Menschen? Sie dürsten nach ewiger Seligkeit, nach einem nie endenden Glück, und ein kurzer, flüchtiger Schmerz genügt schon, damit sie gleich Kindern das ganze, langsam errichtete Gebäude zerstören! Aber mag die Wahrheit selbst mit deinen Augen gesehen haben, mag es doch richtig sein, daß die schöne Alkinoe sich mit arglistigem Verrate befleckt hat. Frage deine Seele: was warst du, und was war _sie_ zu jener Zeit, als du Leben, Glück und ein Meer von Seligkeiten in den Umarmungen Alkinoes fandest? Blättere die flammenden Seiten deines Lebens um, meinst du, du wirst auch nur eine Seite finden, die beredter, die göttlicher ist als jene? Wolltest du alle kostbaren Edelsteine der persischen Könige oder alles Gold Libyens für jene himmlischen Augenblicke eintauschen? Ja, was sind selbst die höchsten Ehren in Athen und die höchste Gewalt im Volke im Vergleich zu ihnen? Und ein Wesen, das wie Prometheus alles Schöne, das es den Göttern raubte, dir zum Geschenk darbrachte, den Himmel mit seinen heiteren Himmelsbewohnern in deine Seele senkte -- willst du mit deinem verbrecherischen Fluche treffen, wo doch dein ganzes Leben ein einziges Gefühl der Dankbarkeit sein sollte, wo du Tränen der Rührung vergießen und dem Lebenspender Zeus zarte Hymnen singen solltest, auf daß er ihr ein langes Leben schenken und die Wolken des Kummers von ihrem heiteren Haupte verscheuchen möge. »Betrachte dich mit prüfendem Auge: was warst du früher und was bist du jetzt, seit du die Ewigkeit in Alkinoes göttlichen Zügen entdeckt hast: wieviel neue Geheimnisse, wieviel neue Offenbarungen fandest und enträtseltest du mit deiner unendlichen Seele und um wieviel näher kamst du dem höchsten Gute! Wir reifen und werden vollkommener; aber wann? Wenn wir das Weib tiefer und gründlicher verstehen lernen. Denk an die üppigen Perser: sie haben ihre Frauen zu Sklavinnen gemacht, und was ist das Ergebnis? Sie haben kein Verständnis für das Gefühl des Schönen -- dieses unendliche Meer geistiger Genüsse. Kein Funke schlägt aus ihrem Herzen empor beim Anblick der Göttin des Praxiteles; ihre Seele spricht nicht begeisterungsvoll mit der unsterblichen Seele des Marmors, und kein verständnisvoller Laut tönt ihr aus ihm entgegen. Was ist das Weib? -- Die Sprache der Götter. Wir wundern uns über das milde heitere Haupt des Mannes; aber wir glauben nicht das Ebenbild der Götter in ihm zu sehen; das sehen wir im Weibe und bewundern es im Weibe, und in ihm erst bewundern wir die Götter. Sie ist die Poesie! sie ist der Gedanke, wir dagegen sind bloß seine Verkörperung in der Wirklichkeit. Der Eindruck von ihr glüht in unserer Seele, und je stärker und je umfassender und größer die Wirkung ist, die er auf uns ausübt, um so edler und schöner werden wir. Solange das Bild noch im Kopfe des Künstlers weilt, sich unkörperlich in ihm formt und gestaltet, ist es -- ein Weib; sobald es sich materialisiert und greifbare Gestalt annimmt, wird es zum -- Manne. Warum strebt aber dann der Künstler mit so unersättlicher Begierde danach, seine unsterbliche Idee in grobe Materie zu verwandeln und sie unseren gemeinen Sinneswerkzeugen zu unterwerfen? Weil er von den hohen Gefühlen geleitet wird -- von dem Wunsche, die Gottheit der Materie einzuverleiben und den Menschen wenigstens einen Teil von der unendlichen Welt seines Inneren zugänglich zu machen, d. h. das Weib im Manne zu verkörpern. Und wenn das Auge eines Jünglings, dessen Herz glühend und verständnisvoll für die Kunst schlägt, zufällig auf das unsterbliche Bild des Künstlers fällt, -- was sucht es, was ergreift es in ihm? Sieht es etwa die Materie in ihm? Nein, sie verschwindet, und er erblickt die grenzenlose, unendliche, unkörperliche Idee des Künstlers vor sich. Wie erklingen da die Saiten seiner Seele, welch lebendige Lieder ertönen in seinem Inneren! Wie deutlich und lebendig spricht, wie auf den Ruf der Heimat, das Vergangene, das unwiederbringlich dahin ist, und die unabwendliche Zukunft in ihm! Wie unkörperlich umarmt seine Seele die göttliche Seele des Künstlers! Wie verschmelzen ihre Geister in einem unaussprechlichen Kusse der Seelen! Was wären die hohen Tugenden des Mannes, wenn sie nicht geschmückt und nicht geformt würden durch die milden sanften Tugenden des Weibes? Sein Mut, seine Festigkeit, seine stolze Verachtung des Lasters würden sich in Barbarei verwandeln. Raube der Welt das Licht -- und die bunte Vielfältigkeit der Farben fällt dahin; Himmel und Erde verschwimmen und gehen in der Finsternis unter, die noch dunkler ist als die Gestade des Hades. Was ist die Liebe? -- Die Heimat der Seele, die hehre Sehnsucht des Menschen nach der Vergangenheit, in der der reine Ursprung seines Lebens verborgen liegt, wo alles noch den unaussprechlichen, unverwischbaren Stempel kindlicher Unschuld trägt und wo uns alles heimatlich berührt. Und wenn die Seele versinkt im ätherischen Schoße der weiblichen Seele, wenn sie in ihr ihren Vater -- den ewigen Gott -- und ihre Brüder, d. h. Gefühle und Erscheinungen, die keines irdischen Ausdruckes fähig sind, findet -- was geschieht dann mit ihr? Dann tönen in ihr die alten Klänge wider, dann gedenkt sie des früheren paradiesischen Lebens am Busen Gottes, und sie setzt es fort bis in die Unendlichkeit.« Das begeisterte Auge des Weisen blickte starr und unbeweglich vor sich hin: vor ihnen stand Alkinoe, die während ihres Gespräches unbemerkt eingetreten war. Auf ein Götterbild gestützt, schien sie völlig in stumme Aufmerksamkeit versunken, und ihr herrliches Gesicht belebte häufig ganz plötzlich der Ausdruck einer göttlichen Seele. Die marmorweiße Hand, durch die die blauen, von himmlischer Ambrosia durchfluteten Adern hindurchschienen, schwebte frei in der Luft; der schlanke, von den purpurroten Bändern des Beinharnischs umschlungene Fuß, den sie einen Schritt vorgesetzt hatte, hatte die neidische Hülle abgestreift und schien kaum die niedrige Erde zu berühren; der hohe göttliche Busen wogte, gespannt von unruhigen Seufzern, auf und ab, und das Gewand, das die beiden durchsichtigen Wolken des Busens nur halb verdeckte, bebte und fiel in herrlichen malerischen Linien auf den Fußboden herab. Es schien, als ob der dünne lichte Äther, in dem sich die Himmelsbewohner baden, durchflutet von einer rosigen und bläulichen Flamme, die sich in unendlichen, in tausend Farben spielenden Strahlen zerstreut, für die es auf Erden keine Namen gibt, und in denen ein duftenden Meer eines unbegreiflichen Wohllautes wogt -- es schien, als ob dieser Äther sichtbare Form angenommen hätte und, indem er nun vor ihnen schwebte, die herrliche Gestalt des Menschen noch verklärte und vergöttlichte. Die nachlässig zurückgeworfenen Locken umdrängten schwarz wie die dunkle beseelte Nacht ihre lilienreine Stirn und fielen in dunklen Kaskaden auf die leuchtenden Schultern herab. Die Blitze, die ihren Augen entsprühten, schienen ihre ganze Seele zu offenbaren. Nein, selbst die Königin der Liebe war nie so schön, nicht einmal in dem Augenblick, als sie so wunderbar dem Schaum der jungfräulichen Wellen entstieg. Erstaunt und in ehrfurchtsvoller Andacht warf sich der Jüngling der stolzen Schönen zu Füßen, und eine heiße Träne, die dem Auge der sich über ihn beugenden Halbgöttin entstieg, tropfte auf seine brennenden Wangen. Fragmente Gedichte und poetische Versuche Sturm »Warum so trüb?« -- »Einst war ich heiter,« Sag' ich zu meiner Lust Genossen. »Ich hab' mein Herz dem Schmerz erschlossen; Die Freude starb: ich lebe weiter. Jung war ich, und mein heller Blick hat Trauer nicht und Mißgeschick Gekannt; jetzt welkt die Jugend hin, Stirbt wie der Herbst, und ich verblute Gleich ihm. Nie wird mir froh zumute. Die Freude lockt nicht meinen Sinn.« Die Freunde lachen: »Was du nur Zu weinen hast! Das Wetter ist So heiter klar, und die Natur Nicht halb so trüb, wie du es bist.« Und ich: »Mir gilt das alles nichts. Ob Tag zu Tag und Jahr sich türmt, Ob's hell, ob's dunkel ist, was ficht's Mich an, wenn mir's im Herzen stürmt.« -- Albumblatt Das Licht verliert im Auge des Träumers schnell seine Wärme. Er findet die Hoffnungen, die ihn belebten, unerfüllt, seine Erwartungen unbefriedigt, und die Glut des Genießens verraucht in seinem Herzen ... Er befindet sich in einem Zustande der Starrheit und Leblosigkeit. Wie glücklich ist er, wenn er den Wert der Erinnerungen vergangener Tage erkennt: der Tage einer glücklichen Kindheit, da er die keimenden Zukunftsträume von sich warf und seine Freunde verließ, die ihm von ganzem Herzen ergeben waren. Hans Küchelgarten Eine Idylle in ** Bildern von W. Alow 1827 Deutsch von Ulrich Steindorff Das vorliegende Werk hätte nie das Licht der Welt erblickt, wenn nicht besondere Umstände, die nur für den Verfasser von Bedeutung sind, die Veranlassung dazu gegeben hätten. Dies Werk ist eine Frucht seiner achtzehnjährigen Jugend. Wir haben nicht die Absicht, hier ein Urteil über die Vorzüge oder Mängel dieser Dichtung abzugeben -- das überlassen wir dem Publikum -- wir wollen nur bemerken, daß viele von den Bildern dieser Idylle leider verloren gegangen sind; sie haben wahrscheinlich das Band zwischen den nun unverbunden dastehenden Teilen gebildet und die Zeichnung des im Mittelpunkt stehenden Charakters vollendet. Wir rechnen es uns indessen zum Verdienst an, daß wir dem Publikum, soweit dies möglich war, Gelegenheit gaben, das Werk eines jungen Talentes kennen zu lernen. Erstes Bild Es tagt. Das Dorf taucht aus dem Dämmerdunst Mit seinen Häusern, seinen Gärten. Alles liegt In hellem Licht. Der Glockenturm erglänzt Wie lauter Gold, und auf dem alten Zaun Tanzt froh ein Sonnenstrahl. Die Silberflut Gleicht einem Zauberspiegel, der getreu Das Konterfei von Zaun und Gärtchen gibt. Und nichts hält Ruhe in dem Silberspiegel. Blau wölbt der Himmel sich; die Wolken ziehn Wie Wellen hin, und flüsternd rauscht der Wald. Dort, wo das Ufer weit ins Meer sich wagt, Da steht behaglich unter Lindenschatten Ein Pfarrhaus, schon jahrzehntelang bewohnt Von seinem greisen Herrn und arg verfallen. Das Dach geworfen und der Schornstein schwarz, Von blüh'ndem Moos bedeckt das Mauerwerk; Die Fenster windschief. Aber immer ist Das Häuschen traulich nett. Um keinen Preis Der Welt wär' es dem Alten feil. -- Dort steht Die Linde, sein geliebter Ruheplatz. Auch sie ist alt. Doch Jugendfrische weht Rings von den Rosenbäumen. Vögel nisten In ihrem Dunkel und erfüllen Garten Und Haus mit ihrer Lieder frohem Schall. -- Weil ihn der Schlaf die ganze Nacht gemieden, Ging schon vorm Morgengraun der Pfarrer, hier Ein wenig in der Frische noch zu schlummern. Im alten Lehnstuhl unterm Lindendach Schläft er. Der sanfte Wind kühlt sein Gesicht Und spielt voll Keckheit mit den grauen Haaren. Wer ist die Schöne, die mit Blicken Ihm naht, in denen alle Glut, Des Morgens ganze Frische ruht, Und vor ihn tritt? Welch ein Entzücken, Wie sie mit lilienweißer Hand Ihn sanft berührt, um ihn zu wecken, Bemüht, ihn ja nicht zu erschrecken. Doch eh' er aus dem Schlaf sich fand Zur Welt, sprach er, die Lider kaum Geöffnet, leise wie im Traum: »Du wunder-, wunderbarer Gast, Der du mein Heim besuchet hast, Warum füllt Kummer mich und schwillt Durch meine Seele. Was bewegt Mich Greisen denn dein Engelsbild So tief, so seltsam tief, und regt Den Sinn mir auf? Sieh mich und schilt, Schilt nicht: mein Leib ist schwach und alt Und allem, was da lebt, längst kalt. Seit ich mich tot in mir verscharrte, Ist's Ruhe nur, auf die ich warte, Die ich begehre immerfort. Ihr gilt mein Denken, gilt mein Wort. Und nun kommst du, du Junge, mir Zu Gaste, lockst mich heiß zu dir? Ach nein, aus deinem lichten Munde Flammt einer neuen Hoffnung Kunde. Rufst du zum Himmel mich? Zur Stunde Bin ich bereit. Allein mir fehlt Die Würde. Meine Sündenlast Ist groß. Ich war in dieser Welt Ein arger Streiter und gehaßt Von Hirt und Herde. Grausamkeit War mir nicht fremd. Allein ich schwor Den Teufel ab, und ich verlor Zur Buße keinen Tag, allzeit Entsühnend die Vergangenheit.« Voll schwerer Sorge und verwirrt Fragt sie sich bang: »Soll ich's ihm sagen, -- Wer weiß, wohin die Träume ihn verschlagen, -- Sag' ich ihm, daß er phantasiert?« Doch Nebel des Vergessens hängt Um ihn, den neuer Schlaf umfängt. Sie neigt sich über ihn, verstohlen. Wie sanft er schläft, wie still er ruht! Kaum merklich hebt beim Atemholen Die Brust sich. Licht in Ätherflut Hält ihn ein Engel in der Hut, Und paradiesisch Lächeln flicht Sich leuchtend um sein Angesicht. Nun öffnet er die Augen: »Wer, Wer ist's? -- Luise? -- Seltsam, ach; Mir träumte -- --, du, wo kommst du her? Bist, Wildfang, du so früh schon wach? Noch liegt der Tau. -- Es nebelt schwer.« -- »Großvater, nein, 's ist hell und klar. Im Walde blitzt das Sonnenlicht. Und schon am frühsten Morgen war Es heiß wie jetzt. Es regt sich nicht Ein Blatt. -- Weißt du, warum ich kam? Es gibt ein Fest. Wir feiern heut. Der alte Geiger Lodelham Und auch der Fritz sind längst bereit. Erst kommt die Kahnfahrt bis zur Mittagszeit Und dann -- --; ach, wenn nur Hans -- --!« Den Greis Umspielt ein weises Lächeln. Still Hört er, was sie erzählen will, Das sorglos junge Blut. »Ich weiß, Großväterchen, nur du hast Macht, Ein bitter großes Weh zu bannen. Mein Hans ist krank. Bald in der Nacht Und bald am Tag schleicht er von dannen Zum dunklen Meer. Nichts ist ihm recht, Nichts freut ihn mehr. Wenn man ihn fragt, Dann hört er gar nicht, was man sagt. Er spricht nur mit sich selbst. So schlecht, So elend sieht er aus. Wenn ihn sein Schmerz Noch lange quält, geht er zugrund. >Zugrund<, wie zittert, wenn mein Mund Das harte Wort gebraucht, mein Herz. Meinst du, daß er vielleicht mit mir Nicht mehr zufrieden ist, daß er Mich nicht mehr liebt? Das träfe schwer Und hart wie Stahl mein Herz. Sag's mir, Du Engelsguter!« -- Und sie schlang Die Arme fest um ihn. Kaum ging Ihr Atem, als sie an ihm hing In ihrer Liebe so verwirrt und bang. Als sich die Träne ihr ins Auge stahl, Wie war sie schön in ihrer Qual. »Gib Ruh', mein Kind, nicht weinen, nein. Schämst du dich nicht?« Der Pfarrer mühte Sich tröstend um sie. »Gottes Güte Wird dir Geduld und Kraft verleihn. Wenn du ihn innig bittest, wirst Du auch bei ihm Erhörung finden. Hans lebt ja nur für dich. Du irrst. Du mußt die Zweifel überwinden. Du darfst dir nicht mit solchen leeren Gedanken deine Ruhe stören.« -- -- Und als er noch der weinenden Luise Zuspricht, die an die welke Brust sich lehnt, Da bringt die alte Gertrud schon den Kaffee, Den heißen, bernsteinklaren, den der Greis So gern im Freien nahm. Er liebte es, Die Weichselpfeife dann dabei zu rauchen. So stieg denn bald der Rauch in klaren Ringen. Luise fütterte gedankenschwer Den Kater, der mit lautem Schnurren, Vom süßen Duft gelockt, sie lang umstrichen. Der Greis erhob sich vom geblümten Sessel Aus Väterzeit, sprach sein Gebet und drückte Der Enkelin die Hand. Dann zog er sich Den sonntäglichen, taftnen Schlafrock an, Den silberschimmernden, und nahm das Käppchen, Das Hans ihm kürzlich aus der Stadt gebracht Und ihm geschenkt. So ging er denn gemächlich, Sich auf Luisens weiße Schulter stützend, -- Hell schlug der Sang der Lerchen himmelwärts -- Ins Feld hinaus. -- Wie herrlich war der Tag! Es ließ ein Wind das Gold der Felder wogen, Das, überragt von dichten, früchteprangenden Laubkronen, in der Sonne flimmerte. Fern dunkelten die grünen Wälder. Dem regenbogenfarbnen Sommerdunst Entströmten Fluten wundersamster Düfte. Die Bienen waren fleißig unterwegs Und sogen Honig aus den jungen Blüten. Die Grillen zirpten froh. Und aus der Weite Klang laut und lauter kräft'ger Rudersang. Und lichter ward der Wald. Das Tal erschien. Das frohe Schrein der Herden scholl herauf. Tief in der Ferne sah man schon das Dach Vom Haus Luisens winken, sah das Rot Der Ziegel schimmern, wenn die Sonnenstrahlen In keckem Tanzspiel blitzend es umhuschten. -- -- Zweites Bild Noch ungeklärt sind die Gedanken, Die Hans bewegen, und sein Blick Sieht wirr die Welt des Lebens wanken Und sucht sein künftiges Geschick. -- In stillem Frieden war die Zeit Dem Tändelnden vorbeigeflossen; Noch hatte keine Bitterkeit Sich in der Seele Unschuld ihm gegossen. Kind dieser Erdenwelt war er. Doch ihrer Leidenschaften Brand War seinem Herzen unbekannt. Ganz sorglos war und leicht bisher In Heiterkeit und Glück und Lust Das Kind beim Spiel der Kinderschar. Das Böse war noch seiner Brust Ganz fremd. Ihm blühte wunderbar Die Welt. -- Schon in der frühsten Zeit Der Kindheit war sein Kamerad Luise, deren Heiterkeit Und Milde seinen Lebenspfad Erhellt. Wenn sie im grünen Kleid Zu tanzen anfing oder sang, Dann schoß durchs blonde Ringelhaar Manch Blitz, der zündend weitersprang. Ihr rosa Miedertüchlein glitt Herab. Man sah bei jedem Schritt Das feine, zarte Füßchenpaar. Sie war ein Kind, und kindlich war Ihr Tun. -- Im Walde spielte sie Mit ihm. Sie fingen sich. Dann lief Sie fort, versteckte sich und schrie Ihm plötzlich zu, daß er erschreckte. Sie schwärzte heimlich, wenn er schlief, Ihm sein Gesicht, und lachend weckte Sie ihn dann aus dem süßen Schlafe. Und er, er küßte sie zur Strafe. -- Und Lenz auf Lenz zog hin ins Land. Die Spiele wollten nicht mehr taugen. Die gegenseit'ge Keckheit schwand. Es schwand das Feuer seiner Augen. Und sie hält Traurigkeit gebannt Und Schüchternheit. -- Ihr, junger Herzen Verliebte, erste Worte, wart Gekommen, und es blieben nicht erspart Die Tage voller süßer Schmerzen. Was blieb ihm denn zu wünschen weiter, Wo er Luise bis zur Nacht, Gefesselt wie von Zaubermacht, Nicht ließ, ihr treuester Begleiter, Ihr Schatten, wo sie ging und stand. Mit innig tiefer Freude sahen Die Eltern, wie das Glück sich fand, Und sahen sich nicht satt. Die nahen, Leidvollen, zweifelvollen Zeiten hielt noch ein Engel sanft verhüllt den beiden. -- Doch allzubald befiel ein Schmerz, Ein tiefer, ihn. Matt ward vor Gram Sein Blick; er starrte himmelwärts Und war ganz unstet, ach, und wundersam. Es schien, als suchte stets sein Geist, Als hegte er geheimen Groll. Die Seele sehnte sich zumeist Gedankenschwer und kummervoll. -- Er sitzt und schaut hinab vom Strand Hinaus aufs Meer wie festgebannt. Und wenn im Takt die Wellen rauschen, Scheint einer Stimme er zu lauschen. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Bald geht er grübelnd durch das Tal, Die Augen feierlich voll Glanz, Wenn bei der Wolken Wirbeltanz Der Donner grollt, ein Feuerstrahl Durchs Dunkel zuckt und wilder Regen Heiß prasselt und mit einemmal In Strömen rauscht auf allen Wegen. Bald sitzt er in der Mitternacht Vor alten Sagen auf und wacht Und hofft, daß sich die Lettern regen In ihrer Stummheit, wenn die Seiten Er wendet, die so tiefe Kunde Ihm bringen von den grauen Zeiten. Ins Buch versunken manche Stunde, Sitzt er und wendet kaum das Haupt. Wer ihn in dieser schweren Not Gesehn, der hätte fest geglaubt, Die Zeit, da er gelebt, sei tot. Gedanken, wunderbare, hatten Mit ihrem Zauber ihn gebannt. Er suchte dunkler Eichen Schatten Auf seinem Weg durchs Sommerland. Aus diesen tiefen Schatten sprach Manch Rätsel, das er nicht verstand, Und träumend streckte er die Hand Liebkosend aus und griff darnach. -- Luise ist die ganze Zeit Allein in ihrem tiefen Kummer. Ihr Herz ist einzig ihm geweiht. Sie findet nächtens keinen Schlummer Und bringt die gleiche Zärtlichkeit Ihm dennoch stets entgegen, hält Die zarten Arme um ihn, küßt Ihn sanft, daß er den Schmerz vergißt, Bis er der Schwermut neu verfällt. Schön sind die Stunden, wunderbar, Wenn ferne Träume ihn umschweben Und der Gesichte lichte Schar Ihn fortträgt in ein andres Leben. Doch, wenn der Seele Land zerstört, Der stille Erdenfleck vergessen, Der Scholle nicht sein Herz gehört, Die schlichten Menschen er vermessen Nicht achtet, werden Traumgestalten Auch dann noch froh im Herzen walten? -- -- Indessen laßt sein unstet Wesen Belauschen uns. Macht euch bereit, Die Rätsel seines Geists zu lösen In ihrer Mannigfaltigkeit. -- Drittes Bild Du klassisch schöner Werke klassisch schönes Land! Des Ruhmes und der Freiheit Land, Athen! An dich, in wundersamer Gluten Wehn, Ist meine Seele festgebannt. Vom Tempel hoch bis hin zu des Piräus Mauern Ergießen sich und wogen feierliche Massen. Äschines' Worte blitzen, donnern und durchschauern, Der Iliß Wassern gleich, und fassen Gebietrisch alle wie der laute Sturm der Welle. Gewaltig ragt empor die Marmorherrlichkeit Der Parthenon, wo Säule sich an Säule reiht; Empor Minerva, von des Phidias Stahl geweiht. Und Zeuxis' wie Parrhasios' Pinsel strahlen Helle. Im Portikus steht göttergleich ein Greis Und redet weise von der andern Welt; Sagt, wer für Tugend einst Unsterblichkeit erhält, Wen Schande trifft und wen der Preis. Horch! Rohes Tosen mischt sich in das Springbrunnrauschen. Der Tag ist wach, und dem Theater voll Verlangen Zu strömt das Volk. Wie Persiens Farben prangen! Sieh, wie die Tuniken sich bauschen! Noch eh' die Leidenschaft des Sophokles verklungen, Schwirrt Kranz auf Kranz, von den Begeisterten geschwungen. Von Epikurens Honigmund, dem liebgewohnten, Enteilt sind Amors Diener, Krieger und Archonten, Daß ihnen sich die hohe Wissenschaft enthülle, Wie man Genüsse schlürft und trinkt des Lebens Fülle. Aspasia kommt! Ihr Blick, vom Wimpernschwarz verbrämt, Trifft einen Jüngling, und sein Atem stockt verschämt. Wie heiß die Lippen sind! Wie loht der Rede Glut! Die schwarzen, losen Locken fallen wie die Nacht Auf ihrer Schultern Marmorpracht, Auf ihre Brüste wie die Flut. -- Und jetzt? -- Tympane tosen und die Becher klirren. Bacchantinnen in wilder Raserei, geschmückt Mit Efeu, stürmen durch den heil'gen Hain in wirren, Gehetzten Haufen. -- Wo? Wohin? -- Entrückt, entrückt. Allein! -- Verschwunden ist der Chor. Und Gram befällt mich neu und Wehe. Stieg' doch vom Tal ein Faun empor; Dräng' aus des Gartens dunkler Nähe Mir einer Nymphe Sang ans Ohr! Ihr Griechen, wunderbarlich habt Die Welt mit Träumen ihr erfüllt, In Zauber alles eingehüllt! Heut ist sie ärmlich, grau, verschabt Und wohl quadriert, mit Nichts begabt. -- -- * * * * * Doch neue Träume kommen und heben Und ziehen ihn lockend himmelan Empor aus der Sorgen Ozean, hinweg von allem kleinlichen Leben. -- Viertes Bild Im Land, wo des Lebens Wunderquellen Entspringen und strahlend rings alles erhellen; Wo schwer die Nächte vom Ambraduft, Von Lotossüße geschwängert die Luft; Wo Räucherwerkwolken die Bläue durchfluten Und Mangostans Früchte golden gluten; Wo Kandahars Wiesengrund samten sich breitet; Wo kühn sich ob allem der Himmel weitet Und Blüten regnet in üppigem Glanz; Wo Schwärme von Faltern auffunkeln im Tanz: Dort sieht mein Blick eine Peri: versunken, Nichts sehend, nichts hörend; traumestrunken. Gleich Sonnen leuchtet ihr Augenpaar, Wie Hemasagara funkelt ihr Haar. Ihr Atem gleicht dem, den die Lilie haucht, Wenn die Nacht den Garten in Schlummer taucht Und im Wind ihre Seufzer von dannen schwingen; Ihre Stimme den nächtlichen Ton von Syringen, Dem silbernen Tone, wenn Israfil Die Flügel schlägt in mutwilligem Spiel; Dem heimlichen Plätschern des Tschindara-Fluß. Und ihr Lächeln erst! Und erst ihr Kuß! Was ist? -- Sie hebt sich, ein Hauch, und entschwindet In Himmeln, wo sie Verwandte findet. Bleib! Blicke dich um! Bleib! -- Taub meinem Schrei, Verrinnt sie im Regenbogen. -- Vorbei! Erinnrung an sie bleibt und hält Sich fest; und Duft erfüllt die Welt. -- * * * * * Bunt war sein Träumen überstrahlt; Vom Drang der Jugend heiß durchflossen. Die Hoheit, die sein Herz genossen, Hat herrlich oft sich abgemalt Auf seinem Angesicht. Allein, Was ihn in seinen Träumerein, Was die erregte Seele quälte, Wonach er schrie, wonach er bangte, In wilder Leidenschaft verlangte, Als gält' es, daß er sich vermählte Der ganzen Welt mit ganzer Lust, Verstand er nicht. -- Voll Staub und Dust, Von Dumpfheit voll und Schwere fand Er diese Welt und wirr. Es flog Sein Herz und schlug und schlug und zog Ihn hin nach fernem, fernem Land. Wer sah ihn so? Sein Atem ächzte. Die Brust ging keuchend auf und nieder. Stolz funkelte durch seine Lider. Ach, wie die Seele darnach lechzte, Am flücht'gen Traum sich festzusaugen. Ach, welche Feuer in ihm brannten, Wie ihn die Tränen übermannten, Das Leben schürend in den heißen Augen. -- Sechstes Bild Zwei Meilen nur von Wismar liegt das Dorf, Wo unserer Geschichte Welt, die Welt, Wo ihre Menschen leben, Grenzen findet. Das heitre Lünensdorf, so hieß es einst; Doch weiß ich nicht, ob es noch heut so ist. -- Weit schimmerte dem Wanderer entgegen Das kleine, weiße Häuschen Wilhelm Bauchs, Des Musikers, das er vor langer Zeit, Als er des Pastors Kind zum Weibe nahm, Erbaut. Es war ein liebes, heitres Haus; Grün war's gestrichen; rote Ziegelplatten Erklirrten hell im Wind. Kastanienbäume Umstanden es und drängten in die Fenster. Durch ihre Stämme sah ein Weidenzaun, Den Wilhelm selbst aus Ruten sich geflochten. Jetzt rankte sich der Hopfen an ihm hoch. Vom Fenster zu dem Zaun lief eine Stange, Behangen mit der Wäsche, die im Glanz Der heißen Mittagssonne lustig blinkte. Durch eine Speicherluke drängte sich Laut girrend eine Taubenschar; es schrien Die Puter, und mit seinen Flügeln schlagend Entbot der Hofhahn seinen Morgengruß Dem Tag und pickte den behäbig bunten Hennen Die Körner fort. Zwei fromme Ziegen rupften Das junge Gras. Schon lange stieg der Rauch In krausen Wolken aus dem Schornstein auf Zum Himmel, um den Morgendunst zu mehren. Dort auf der Seite, wo der Mauerputz Ein wenig abgebröckelt von den grauen Ziegeln, Dort, wo die alten Bäume Schatten geben, Stand schon seit frühstem Morgen säuberlich Gedeckt ein Eichentisch voll guter Dinge: Radieschen, gelber Käse, eine Dose In Entenform mit Butter; Wein und Bier, Der süße Bischof, Zucker, Waffelkuchen Und dann ein Korb mit leuchtend reifen Früchten: Himbeeren voller Duft, glashelle Trauben Und bernsteinfarbne Birnen, blaue Pflaumen Und rote Pfirsiche in buntem Durcheinander. -- Es war so festlich, denn Herr Wilhelm wollte Der lieben Frau Geburtstag in dem Kreise Der Töchter und des alten Pfarrherrn feiern. Luise kam, doch ihre Schwester Fanny, Die Jüngere, war fortgeeilt, um Hans Zu holen, und war noch nicht zurück. Vermutlich irrte er verträumt umher. Luise blickte unverwandt zum dunklen Fenster Im Nachbarhaus empor; lag es doch nur Zwei Schritt von ihr. -- Sie war nicht selbst gegangen, Damit er nicht den Gram von ihrer Stirn, Aus ihren Augen keinen Vorwurf läse. Da wandte Wilhelm sich, Luisens Vater, Zu ihr und sprach: »Du mußt den Hans mal schelten, Daß er so lange nicht mehr bei uns war. Pass' auf, du hast ihn dir zu sehr verwöhnt.« Doch sie war um die Antwort nicht verlegen: »Mir fehlt der Mut, den braven Hans zu tadeln. Er ist schon ohnedies so bleich und elend.« »Was, krank, sagst du?« fiel Mutter Berta ein. »Es ist nicht Krankheit, nur Melancholie, Die ihn jetzt plagt, und die wird sehr bald weichen, Seid ihr einmal vermählt. Ein junger Sproß, Den halbverdorrt ein Sommerregen trifft, Fängt plötzlich an zu blühn. -- Ist denn die Frau Nicht Lichtflut für den Mann?« -- »Ein kluges Wort,« Warf da der Pfarrer ein. »Wenn Gott es will, Glaubt mir, wird alles noch vorübergehn!« Er klopfte wieder seine Pfeife aus. Dann fing er an, mit Wilhelm sich zu streiten; Sie sprachen von den Tagesneuigkeiten, Von schlimmer Ernte, von den Griechen, Türken, Von Missolunghi, von Kolokotroni, Dem großen Führer, und vom argen Krieg, Von Canning sprachen sie, vom Parlament, Vom Elend und vom Aufruhr in Madrid, Als Hans erschien und sich Luise plötzlich Mit einem Aufschrei ihm entgegenstürzte. Der Jüngling schlang den Arm um ihre Hüfte Und küßte sie. Der Pfarrer sprach zu ihm: »Nun schäm' dich, Hans, daß du so ganz vergessen Den alten Freund. Doch wenn du schon Luise Vergißt, wie solltest du der Alten noch Gedenken!« -- »Väterchen, laß sein, laß sein -- Was schiltst du Hans denn immer!« sprach die Mutter. »Laßt uns zu Tisch gehn, sonst wird alles kalt: Der Brei, der Reis, die duft'gen Zuckererbsen, Der Glühwein und nicht minder der Kapaun, Den mit Rosinen ich und Butter briet.« -- So setzten sie sich friedlich an den Tisch Und waren alle bald vom Wein belebt, Die Seelen voller Glück und Heiterkeit. -- Der alte Geiger spielte, Fritz blies Flöte. Es gab ein Stück -- der Feiernden zu Ehren. Bald drehten allesamt im Walzer sich. Selbst Wilhelm wurde lustig, und gerötet Schwang er sich mit der Gattin wie ein Pfau Im Kreise. Wie im Wirbelwinde flog Hans mit Luise toll dahin. Die Welt Flog mit im gleichen, wundervollen Takt. Luise wagte kaum zu atmen, kaum Sich umzuschaun, vom Tanz so ganz gefangen. Der Pfarrer sagte: »Ach, ich sehe mich nicht satt An ihnen, glaubt's mir. Welch ein herrlich Paar. Luise, dieses heitre, liebe Kind, Und Hans so stattlich, klug und doch bescheiden. Sie sind doch füreinander wie geschaffen. Ja, glücklich wird ihr ganzes Leben sein. Ich danke Dir, mein güt'ger Gott, daß Du Im hohen Alter mir die Gnade schenktest Und mir die morsche Lebenskraft erhieltst, Damit ich solche Enkel schauen durfte. Nun kann ich sagen, wenn ich Abschied nehme: Auf Erden hab' ich Herrliches gesehn.« Siebentes Bild Des Abends Kühle senkt sich still hernieder. Die letzten, leisen Sonnenstrahlen küssen Das finstre Meer. Von tausend Flimmerfunken Durchsät, erglüht der Wald, und fern, fern her Erschimmern durch den Meeresdunst die Felsen In bunter Farbenpracht. Rings tiefe Stille. Und nur der Hirtenflöten melanchol'scher Ruf Tönt dann und wann von fernen, heitren Ufern; Und dann und wann ein leises Plätschern, wenn Ein Fisch im spiegelblanken Wasser ruckt, Wenn eine Schwalbe mit den Flügeln, ehe Sie auf zum Himmel steigt, es flüchtig streift. -- Fern zeigt ein Kahn sich wie ein heller Punkt. Wen trägt er wohl? Wer fährt wohl auf dem Meer? Der Pfarrer ist's, der Greis im Silberhaare, Und mit ihm Wilhelm mit der teuren Gattin. Die übermüt'ge Fanny läßt die Hand, Die von der Angelschnur herabgezogen, Im Wasser spielen. Hinten in dem Schiff Sitzt Hans mit seiner Braut. -- Sie sahen alle In stummer Freude einer Welle zu, Die breit dem Schiff gefolgt und unterm Schlag Der Ruder feurig schäumend perlte. Wie sich nun rasch die ros'ge Ferne klärte Und voller Duft ein Hauch von Süden kam, Da sprach der Pfarrer tief gerührt: »Wie schön Ist dieser Abend Gottes doch! So still Und herrlich wie das Leben des Gerechten. Denn es vollendet ebenso voll Frieden Den Weg, und auf den heil'gen Erdenrest Ergießen sich die gleichen schönen Tränen. Ja, auch für mich wird's Zeit. Auch meine Tage Sind bald gezählt. Ich kann nicht lang mehr bleiben. Doch werd' ich auch so herrlich schlafen gehen?« -- Da weinten alle. Hans, der grad ein Lied Auf der Oboe spielte, ließ das Instrument Nachdenklich sinken. Es umspann ein Schlummer Sein Haupt, und weithin schweiften seine Sinne. Und Träume stürmten seltsam auf ihn ein. Luise wandte sich ihm zu: »Sag' mir, sag', Hans, Wenn du mich liebst, wenn ich in deiner Seele Noch Mitleid, Mitgefühl wachrufen kann, Was quälst du mich? Sag' mir einmal, warum Sitzt du bei Nacht einsam bei deinen Büchern? Ich weiß es. Unsre beiden Fenster liegen Doch nicht umsonst einander gegenüber. Warum weichst du uns allen aus und trauerst? Dein trüber Blick, ach, nimmt mir alle Ruh', Und deine Trauer macht mich selber trübe! --« Das rührte Hans. Er wurde ganz verlegen. Er drückte sie im Schmerz an seine Brust, Und eine Träne stahl sich ihm ins Auge. »Luise, frage nicht. Du mehrst doch nur Durch deine Unruh' meinen tiefen Kummer. Denn in Gedanken ich versunken scheine, Glaub' mir, dann denk' ich immer nur an dich Und sinne, wie sich all die schweren Zweifel Von deiner Seele nehmen, wie dein Herz Mit Freude sich und Frieden füllen ließe, Daß deiner Jugend reinen Schlaf nichts störe, Daß Böses dir nicht nahe, nicht der Schatten Von einem Kummer dich berühre, daß Dein Glück in alle Ewigkeiten währe!« Da lehnte sie an seine Brust sich an Und konnte in der Fülle des Gefühls, Des Dankes ihm kein einzig Wort erwidern. -- Still zog das Boot am Ufer hin. -- Man landet Und steigt schnell aus. »Hört,« sprach der Vater Wilhelm, »Hört, Kinder, nehmt euch recht in acht und seht, Daß ihr euch nicht erkältet. Es ist feucht. Der Nebel steigt.« -- Hans ging mit ihr und dachte: Was wird, wenn sie erfährt, was sie doch nicht Erfahren soll? Er sah ihr in die Augen. In seinem Herzen ward ein Vorwurf laut. Ihm war, als wenn er schlecht gehandelt hätte, Als hätte er den ewigen Gott belogen. -- -- Achtes Bild Vom Turme schlägt es Mitternacht. Hans sitzt wie immer auf und wacht. Dem Einsamen gewohnte Zeit. Das Flackerlicht der Lampe leiht Nur spärlich Helligkeit. Es fällt Wie Saat des Zweifels in die Welt Des Schlafs. -- Kein Blick träf' in der Runde Nur eines Menschen Spur. Fern, ferne Rauscht wie Gespräch aus Menschenmunde Die Welle in dem Glanz der Sterne. Die Stille läßt den Atem hören Der Nacht. -- Jetzt wird ihn nicht mehr stören Der laute Tag in seinem Denken, Wo über seine Stirn sich senken Friede und Ruh'. -- Und sie? Sie setzt Sich auf im Bett; im Fenster jetzt: »Er kann's nicht sehen, merkt's ja nicht; Ich seh' mich satt an seinem Bild. Er wacht, daß er mein Glück erfüllt. Gott sei ihm gnädig, sei ihm mild.« -- * * * * * Die Welle rauscht im Mondeslicht. Ein Traum sinkt nieder und umfängt Ihr Haupt und beugt es leis, ganz leis. Um Hans spielt der Gedankenkreis Noch immer, dem er sich versenkt. 1. Entschieden alles! Ist's Gebot, Tiefinnerst jetzt zugrund zu gehn? Gibt's andres Ziel nicht als den Tod? Vermag ich Beßres nicht zu sehn? Soll ich mich hin zum Opfer geben, Tot für die Welt und ruhmlos leben? 2. Soll denn ein Herz, das Ruhm geliebt, Nur Nichtigkeiten lieben dürfen; Kalt jedem Glück sein, das sich gibt, Und niemals Seligkeiten schlürfen? Der Erde Schönheit nie mehr finden, Nie Wahres mehr in ihr ergründen? 3. Was ruft, was lockt ihr mich so bang, Ihr, dieser Erde schönste Lande. Bei Tag und Nacht wie Vogelsang Hör' ich in meiner Träume Bande, Bei Tag und Nacht die süßen Töne, Und bin berückt von eurer Schöne. 4. Euch, euch gehör' ich. Bald, ach bald Such' ich die seligen Gefilde, Ein Pilgrim, der zum Heil'gen wallt. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Hin fliegt umschäumt des Schiffes Bug. Hoch strebt der Sehnsucht froher Flug. 5. Ja, fallen wird der trübe Flor, In den euch stets der Traum gehüllt. Aufschließen wird die Welt das Tor Zur Wunderherrlichkeit, gewillt, Den Jüngling freundlich zu begrüßen Mit unversieglichen Genüssen. 6. Der Schönheit Meister! Meine Augen Bereiten sich, was ihr geschaffen Mit Stift und Meißel, einzusaugen. Mein Herz will eure Glut erraffen. Rausch' hin, mein Meer, von Riff zu Riff! Bring mich an Land, einsames Schiff! 7. Du aber, enger Winkelfrieden, Mein Wald, mein Feld, ihr müßt verzeihn. Himmlischer Regen reich beschieden Sei euch und Blüte und Gedeihn. Das Herz, scheint's, härmt sich, euch zu lassen, Und dürstet, euch noch einmal zu umfassen. 8. Auch du, mein engelstilles Herz, Vergib und geiz' mit deinen Tränen. Gib dich nicht hin dem ersten Schmerz. Verzeih dem armen Hans sein Sehnen. Klag' nicht. Der Weg ist bald gemessen, Und ich zurück. Wie könnt' ich dein vergessen! -- Neuntes Bild Wer kommt noch zu so später Stunde Behutsam durch die Nacht gewallt, Den Wanderstab am Gürtelbunde, Den Rucksack rüstig umgeschnallt? Vor ihm ein Haus zur rechten Hand; Zur linken führt ein Weg ins Weite. Er will den weiten Weg ins Land, Erfleht von Gott Kraft zum Geleite. Allein er wendet, übermannt Von stillem Weh, verzehrt von Gram, Den Schritt zum Haus, woher er kam. * * * * * Vor einem offnen Fenster sitzt, Den Kopf in seine Hand gestützt, Und ruht ein wunderschönes Kind. Mit seinem Flügel streicht sie mild Und gibt ihr Träume ein -- der Wind, Von denen sie nun ganz erfüllt, Ein Lächeln zeigt. Und ihm entquillt, Wie er sich peinvoll naht der Schönen Und bebend ihr ins Antlitz schaut Und kummerschwer, sein Weh in Tränen. Sein Auge schimmert glanzbetaut. Er beugt sich nieder glühend heiß Und küßt sie seufzend, leis, ganz leis. * * * * * Den weiten Weg eilt er dahin. Sein Innerstes durchbebt ein Schauer. Unrast umdüstert seinen Sinn, Und seine Seele tiefe Trauer. Noch einmal wendet er den Blick Zum Abschiedsgruß. -- Ein weißes Band, Zieht schon der Nebel übers Land. Sein stöhnend Herz weist ihn zurück. Ein rauher Wind mit scharfem Tone Stößt Eichenkron' an Eichenkrone. Und grau verschwimmt im fernen Raum Das Haus. Ganz unklar wie im Traum Hat Pförtner Gottlieb nur vernommen, Daß wer durchs Gartentor gekommen Und daß einmal, als wenn er schälte, Der treue Hund im Hofe bellte. Zehntes Bild Spät wird der helle Führer wach, -- Der Morgen ist nicht freundlich. Schwer Wogt übers Feld ein Nebelmeer, Und Regen rauscht und schlägt aufs Dach. Des jungen Morgens Kühle fächelt Die Schöne aus der Ruh'. Benommen Vom Schlaf am Fenster und beklommen, Streicht sie ihr Haar zurecht und lächelt. Doch Ärger schleicht sich ein und feuchtet Das Auge, daß es funkelnd leuchtet: »Wann kommst du, Hans? Wie lang soll's dauern? Du schwurst: beim ersten Tageslicht! Der Tag ist da. Ein Tag zum Trauern, Ein trüber Tag. Die Nebel schauern, Der Sturmwind heult. Was kommst du nicht?« Geängstigt halb und halb verdrossen, Blickt sie zum Fenster ihres Hans. Geschlossen ist's und bleibt geschlossen. Er schläft gewiß, und Traumesglanz Umgaukelt ihm sein Liebstes noch. Lang hat's getagt. Vom Regen sind Durchfurcht die Täler, und vom Wind Gewiegt der Wald. Ach, käm' er doch! * * * * * Der Mittag naht. Unmerklich steigt Der Nebel auf. Ganz matt, gezogen Tönt Donner noch. Der Eichwald schweigt. Auf flammt in siebenfarb'gem Bogen Am Himmel paradiesisch Licht. Mit Funken ist die Eiche übersprüht. Froh klingt vom Dorfe Lied auf Lied. Wo bist du, Hans, was kommst du nicht? * * * * * Warum? -- Die arge Brust umflicht Schwermut. Das Ohr wird müd der Qual, Zu horchen auf die Stundenzahl. Die Türe geht. -- Er ist's! -- Nein, nicht: Herein tritt Berta; wohlig fällt Der rosa Morgenrock, der weiche, Und farbenfroh die kantenreiche, Gestickte Schürze. »Engelgleiche, Was hat die Nachtruh' dir vergällt? Bist bleich und matt. Was ist geschehn? Störte der Regen, der so schwer Herabgerauscht, das wilde Meer, Der Hahn, der wüste Lärmer, den Kein Schlaf nachts ankommt, dich so sehr? Hat dich der Böse überkommen, Dir deinen reinen Schlaf genommen, Ins Herz gesenkt trübselig Trauern? Tust mich von ganzer Seele dauern.« * * * * * »Nein, nicht des Regens Rauschen, ach, Das wilde Meer nicht, nicht der Hahn, Der wüste Lärmer, hat's getan. Ach, was du nennst, hielt mich nicht wach. Nicht solcher Traum hat mich benommen, Bin solcher Trübsal nicht beklommen. Der Traum, der mir zu Sinnen kam, War anders, schwer und wundersam.« -- * * * * * »Mir träumte: Finstre Öde sei Um meinen Weg. Rings Nebel nur Vom Moor, und in der Wüstenei Von trocknem Boden keine Spur. Ein ekler Dunst! Die Erde weicht. Bei jedem Schritt ein neuer Schlund, Bei jedem Schritt ein neuer Grund Zur Herzensangst. Und mich beschleicht Unsäglich Wehe. Da erscheint Urplötzlich Hans vor mir. Blut rinnt Aus einer Wunde. Er beginnt Zu schluchzen über mir und weint. Doch statt der hellen Tränen floß Ein trüber Strom. Ich wachte auf. Und über Brust und Antlitz goß Vom Blondhaar triefend wie der Lauf Von tausend Bächen dummer Regen. Mein Herze schlug in trüben Schlägen, Und Traurigkeit befiel den Sinn. Die Locken blieben feucht. In Sorgen Sitz' ich verhärmt seit frühem Morgen. Wann kommt er heim? Wo ist er hin?« * * * * * Die Mutter steht gedankenvoll Kopfschüttelnd vor ihr, ehe sie Ihr Antwort gibt: »Ach, wüßt' ich, wie Ich deiner Not Herr werden soll, Mein Töchterchen. Komm, laß uns sehn, -- Gott geb' uns Kraft! -- was ihm geschehn.« * * * * * Sie treten in sein Zimmer. Leer, Ganz leer! Im Winkel liegt umher Ein alter Platoband, gar arg Verstaubt, Tieck, Aristophanes, Petrark Und Schillers Werke, die vermeßnen, Bei Winkelmanns, den halb vergeßnen. Und Fetzen von Papier. Es blühn Die Blumen auf der Etagere. Die Feder blinkt, mit der er kühn Entlastet sich der Träume Schwere. Sein Tisch, so tot! Doch nein, was hebt Sich jetzt? Ein Zettel flirrt. Was ist? Luise nimmt ihn auf und bebt. Von wem? An wen? Und als sie liest, Fängt ihre Zunge wie noch nie Zu lallen an. Sie stürzt aufs Knie. Gram, sengend Wehe warf sie nieder. Und Grabeskälte rann durch ihre Glieder. Elftes Bild Schau' her, Grausamer! Sieh, Tyrann, Wie sie verhärmt im Staube kauert; Die einsam Welkende, sieh' an, Wie sie in trüber Öde trauert, Vergessen, ach! Schau' hin einmal Auf dein Geschöpf, in dessen Brust Du Lebensglück und Lebenslust Mit Gram vertauscht und Höllenqual. Durchwühlte Grüfte, siehst du sie? Und wie sie dich geliebt, ja, wie! Mit welch lebend'ger Innigkeit Klang ihrer Rede Melodie, Die schlichte. Wo, wo ist die Zeit, Da du gelauscht? Wie war von Schuld, Von Trübsal rein des Blickes Brand, Der dich versengt. Wie oft entschwand Zu langsam ihrer Ungeduld Der böse Tag, zeigte sich nicht, Der Träumerischen, dein Gesicht. Und du konntst sie verlassen, du? Hast dich von allem abgewandt Und wanderst fremd in fremdem Land? Wem tust du das? Für wen, wozu? Doch schau', Grausamer! Sieh, Tyrann! Am Fenster harrt sie noch, verzehrt Von Sehnsucht, daß er wiederkehrt Zu ihr, er, der geliebte Mann. -- -- Schon sinkt der Tag. Des Abends Helle Liegt wundersam auf allen Dingen. Ein kühler Wind regt seine Schwingen. Kaum hörbar plätschert fern die Welle. Die Nacht entbreitet ihre Schatten. Leis tönt die Syrinx. Es ermatten Im West die letzten Glutenschimmer. Sie sitzt reglos und harrt noch immer. -- Nächtliche Gesichte Allmählich dunkelt und vergeht Des Abends Rot. Schon liegt die Welt In süßem Schlaf, und überm Feld Steigt auf des Mondes Majestät. Das Meer erschimmert wie Kristall. Durchsichtig scheint das ganze All. * * * * * Schatten wachsen auf und ziehen. Wundersam gestaltet fliehen Herrlich sie, weit, immer weiter, Himmelwärts die Sternenleiter. * * * * * Heller wird's: zwei Lichter blitzen. Da: zwei Ritter, zottig, fahl. Zweier schart'ger Schwerter Spitzen, Zweier Panzer Schmiedestahl! Halt! Sie suchen, treten an; Tauschen Platz um Platz jetzt. Hei! Kämpfen, glitzern Mann an Mann. Suchen wieder ... Da, vorbei! Dunkel schwillt und deckt sie schwer. Nur der Mond steht überm Meer. -- * * * * * Ein Lied der Kön'gin Nachtigall durchschallt Den Forst; ein schmetternd Lied, das sacht verrauscht. Die Erde atmet kaum, sie lauscht Verträumt der Sängerin. Der Wald Steht reglos. Alles schläft im Kreise. Es tönt nur die verklärte Weise. * * * * * Luftgebaut ragt der Palast Einer Märchenfee empor. Vor dem Fenster dicht am Tor Singt verklärt ein Minnegast. Sieh, ein Silberteppich glänzt, Ganz durchwebt mit Wolkenringen. Drüber schwebt ein Geist, der grenzt Nord und Süd mit seinen Schwingen. Schlafen sieht der Gast, gebannt Durch ein Gitter aus Koralle, Seine Fee. Die Perlmuttwand Bringt der Trän' Kristall zu Falle. -- Dunkel eint und deckt sie schwer. Nur der Mond steht überm Meer. -- -- * * * * * Kaum schimmert durch den Dunst das Land. Geheime Wünsche ohne Zahl Weckt uns die See. -- Ein Riesenwal, Taucht aus dem Nebel. Übermannt Hat Schlaf den Fischer längst. Er ruht; Und unablässig rauscht die Flut. -- * * * * * Strandwärts schwimmen Meerjungfrauen Herrlich schön. Den leuchtend hellen, Weißen Schaum der glühend blauen Wogen teilen sie. Die Wellen Spielen kosend wie im Traum Um die Schöne mit der weißen Lilienbrust. Sie atmet kaum. Um die zarten Glieder gleißen Tropfen wie ein Funkensaum. Ach, sie lächelt, kichert leise Und schwimmt sinnend hin im Licht. Bald voll Lust, bald wieder nicht. Träumerisch singt sie die Weise, Den Sirenensang der Klagen Des Verrats, den sie ertragen, Sie, die Junge. -- Reglos ruht Mondbeglänzt die blaue Flut. -- * * * * * Ein Friedhof fern in fremder Flur, Von einem alten Zaun umhegt. Rings Steine, Kreuze. Moosbelegt Der stummen Toten Häuser. Nur Der Flug der Eulen und das schrille Schrein zerreißt die Grabesstille. -- * * * * * Langsam steigt aus seinem Bette Jetzt ein Leichnam. Weiß umwallt Ihn sein Mantel. Vom Skelette Klopft den Staub er würdig. Kalt Weht vom Schädel Grabhauch. Feuer, Gelbes Feuer glüht aus seinen Augen. Mit den Knochenbeinen Hält ein Roß, ein ungeheuer Glänzend Roß er, einen Schimmel. Und es wächst, wächst bis zum Himmel. Leiche steht nach Leiche auf. Zug des Grauns! Von seinem Lauf Beben Erde, ach, und Lüfte. -- Endlich schließen sich die Grüfte. -- * * * * * Ein Schrecken packt sie an. Sie schlägt Das Fenster hastig zu. Ihr Blut Von Eiseskälte, bald von Glut Durchschauert, bebt gleichwie die Flut Im Sturm. Ein schweres Wehe legt Sich auf ihr Herz. Ihr Denken ruht. -- Wenn mitleidlos des Schicksals Faust Ein kalter Kieselstein entsaust Und trifft ein armes Herz, wer hält Die Treue, sagt, in aller Welt Noch dem Verstand? Wes Seele ficht Kein Übel an? Und wer verfällt, Sich ewig gleich, im Unglück nicht Dem Aberglauben? Wer erblaßt Nicht, wenn solch Spukbild ihn erfaßt Im Traum? -- Aufs Lager bang Warf sie sich hin voll Schmerz und Kummer. Vergeblich suchte sie den Schlummer. Wenn ein Geräusch durchs Dunkel drang, Ein Mäuslein strich, floh ihre Lider Der Schlaf, der launenhafte, wieder. -- Dreizehntes Bild Ein traurig Bild: Ruinen von Athen! Die Säulenreih'n, die bildwerkreichen, Sind morsch. In öden Tälern stehn Sie traurig, müder Zeiten Zeichen. Zertrümmert halb und halb verwittert Das hehre Denkmal, und zersplittert Selbst der Granit. -- Ein karger Rest. -- Ein morscher Architrav nur prangt Voll Majestät, und Efeu rankt Und hält am Kapitäl sich fest. In Gräben, die man längst verließ, Herabgestürzt ein Giebelkranz; Dort schimmert noch ein prächt'ger Fries Und der Reliefmetopen Glanz. Hier trauert eine reichgeschmückte Korinthsche Säule noch. Und leise Eidechsen schlüpfen scharenweise Darüber hin. Voll Würde blickt Er auf das Elend rings. Gerückt In toter Zeiten dunkle Nacht, Verdrängt, hat er für nichts mehr acht. Athens Ruinen, ach! Trüb gleiten Die Bilder von Vergangenheiten Vorbei. An kaltem Marmor lehnt Der Wanderer. Wie er sich auch sehnt, Er weckt Erstorbnes nicht. Vergebens! Das Bündel des vergangnen Lebens Knüpft er nicht auf. Ohnmächt'ge Qual, Verlorne Müh'! -- Allüberall Liest nur Zerstörung, Schmach und Schande Der trübe Blick. Im Sonnenbrande Blinkt durch die Säulen dann und wann Ein Turban wohl. Quer durch die Blöcke, Durch Pfeiler, Gräber, Mauerstöcke Treibt barsch sein Roß ein Muselmann. -- -- Hufschlag stampft letzte Trümmer nieder. -- -- Unsagbar tiefe Traurigkeit Packt da den Fremden plötzlich wieder. Wie stöhnt sein Herz so laut. Er kann Den Schmerz nicht meistern. Bitter leid, Daß er den weiten Weg gemessen, Ist's ihm. Hat er sein Dach, den stillen, Friedlichen Platz daheim vergessen, Verlassen um der Gräber willen? Ach, wären doch die Traumgespinste, Die schönen, seinem Sinn geblieben. Der reinen Schönheit Spiegelkünste, Ach, hätten sie ihn nicht getrieben! Nun sind die Träume tot und kalt Und abgestreift ihr Zauberflor. -- Mit unbarmherziger Gewalt Habt ihr ihm schonungslos das Tor Zur Glut der Traumeswelt verschlossen, Ihr, öder Wirklichkeiten Sprossen! Langsam verläßt und kummerschwer Der Fremde nun den Trümmerort. Er schwört, des blinden Einst nicht mehr Zu denken, aber immerfort Fliehn seine Opfer vor ihm her. -- -- -- Sechzehntes Bild Zwei Jahre sind dahin. In Lünensdorf Blüht alles noch und prankt wie ehedem. Die gleichen Sorgen, gleichen Freuden stören Den stillen Herzensfrieden der Bewohner. Allein im Haus der Wilhelms hat sich viel Verändert. Lange ist der Pfarrer tot. Er hat den dornenvollen Weg beendet Und schläft den letzten tiefen, tiefen Schlaf. Wohl alle waren seinem Sarg gefolgt, Und alle hatten Tränen in den Augen, Gedenkend seines Lebens, seines Tuns. Er war es, der für unser Seelenheil, Für unser geistig Brot von je gesorgt. Er war es, der so schön das Gute lehrte; Er war der Trauervollen steter Trost, Der feste Schild der Witwen und der Waisen. Wie voller Güte stieg er doch an Feiertagen Auf seine Kanzel, und wie rührend sprach Er von dem reinen Martertum, vom Leiden Des Herrn. Und wir, wie lauschten wir erschüttert Und unter Tränen seinen tiefen Worten. -- Wer seines Wegs von Wismar kommt, der geht Links von der Straße dicht an einem Friedhof Vorbei. Die alten Kreuze stehn gebückt In ihrem Kleid von Moos. Der harte Griffel Der Zeit hat seine Runen eingegraben. In ihrer Mitte leuchtet eine weiße Urne Auf schwarzem Steine, von zwei grünen Erlen Umrauscht und unter ihrem breiten Schatten. Das ist die letzte Ruhestatt des Pfarrherrn. Die braven Bauern waren gern bereit, Auf eigne Kosten ihm als letzte Ehre Dies Grabmal zu errichten. Alle Seiten Verkündeten durch eine Inschrift, wie Er lebte, wieviel stille Jahre er Als Seelensorger zugebracht und endlich Am Ziel des Wegs Gott seinen Geist vertraut. -- Und zu der Stunde, wo der Ost voll Scham Errötend seine Flechten löst, und wo Im Felde sich ein frischer Wind erhebt, Der Tau die blitzend blanken Perlen streut, Rotkehlchen in den dichten Büschen schlagen, Und erst zur Hälfte noch der Sonnenball Sich übers Land hebt, kommen Bäuerinnen Mit Nelken, Rosen in der Hand zum Grab Und schmücken es mit duft'ger Blumen Fülle Und gehen ihres Wegs. -- Nur eine bleibt, Das Haupt in ihre Lilienhand gestützt, Und sitzt gar lange Zeit in tiefem Sinnen, Als wollte sie Unfaßliches begreifen. Wer würde, ach, in dieser kummervollen Gestalt Luise wohl erkennen? Wer? Der frohe Glanz der Augen ist erloschen, Ihr unschuldreines Lächeln ist nicht mehr Auf ihrem Antlitz. Nie und nimmer huscht Das Zeichen einer Freude drüber hin. Und doch, wie schön ist sie in ihrem Harm! Wie königlich ihr Blick trotz allen Wehs! So trauert wohl der strahlende Seraph Dem Sturz des menschlichen Geschlechtes nach. Voll Schönheit war die glückliche Luise, Die trauernde war fast noch herrlicher. Grad achtzehn Jahre war sie alt geworden Im Monat, als der Pfarrer von ihr schied. Mit ihrer ganzen kindlich reinen Seele War sie dem Greise zugetan. Und nun Denkt sie: Nein, deine Hoffnung hat sich nicht Erfüllt. Wie innig hattest du gewünscht, Am heiligen Altare uns zu trauen, Für alle Zeiten unsern Bund zu schließen. Wie hattest du den träumerischen Hans Geliebt -- -- Und er? -- -- -- Ja, wenden wir den Blick zu Wilhelms Hütte. Es ist schon herbstlich kalt. Er sitzt daheim An seiner Drechselbank und schneidet Platten Aus Buchenholz mit feiner Maserung, Die er mit krausem Schnitzwerk dann verziert. Zu seinen Füßen liegt vergnügt geduckt Hektor, sein lieber, treuer Kamerad. Wie immer sorgt die tüchtige Hausfrau Berta Vom frühsten Morgen an schon für sein Wohl. Dicht vor dem Fenster drängt sich eine Schar Von Gänsen, und die Hühner gackern auch Noch unaufhörlich. Ganz wie ehedem Hört man das ew'ge Zwitschern frecher Spatzen, Die Tag für Tag im Küchenabfall picken. -- Der Dompfaff kam, der Geck. Und auf den Feldern Hing lange Zeit der reife Duft des Herbstes. Die grünen Blätter wurden gelb und fielen, Die Schwalben zogen über ferne Meere. -- In ihrer Sorglichkeit rief Hausfrau Berta: »Luise darf nicht mehr so lang ausbleiben. Es dunkelt, und der Sommer ist vorbei. Jetzt wird's früh feucht, und dichte Nebel fallen Und schicken ihre Schauer über uns. Warum irrt sie herum? Sie macht mir Not! Ja, ja, sie kann den Hans mal nicht vergessen. Gott weiß, ob er am Leben ist, ob nicht.« -- Wie anders Fanny denkt als ihre Mutter! Mit ihren sechzehn Jahren sitzt sie still In ihrer Ecke vor dem Rocken, voll Von Sehnsucht und vom Freunde träumend, Und fast unhörbar sagt sie vor sich hin: »Ich hätte ihn nicht minder stark geliebt!« Siebzehntes Bild Wie trüb auch sonst die Tage schleichen Im Herbst, das Heute ist voll Licht. Die Sonne zeigt ein hell Gesicht, Und blanke Silberwellen streichen Am Himmel hin. Den Weg herab Mit Rucksack kommt und Wanderstab Ein Fremder matt und scheu daher. Voll Trauer, wie ein Greis gebeugt, Geht er die Postchaussee. Nichts zeugt Vom alten Hans, fast gar nichts mehr. Sein halberloschner Blick umschweift Das Meer der gelben Ährenwellen, Der Berge bunten Kranz. Es greift Der schöne Traum sein Herz; es schwellen Des Allvergessens Seligkeiten Die Brust. Doch die Gedanken schreiten, Ach, einem andern Ziele zu. Nichts wär' ihm nötiger als Ruh'. Er kommt, so scheint's, von weit, weit her. Sein Atem keucht und schmerzt, und schwer Schmerzt seine Seele ihn und ächzt. Er denkt, doch kein Gedanke lechzt Nach Ruh'. -- Wem gilt sein tiefes Grübeln? Erstaunt, wie er mit allen Übeln Von dem Geschick gemartert ward; Des eitlen Tuns erstaunt, wie er genarrt, Lacht bitter auf er, daß er trunken Die Welt des Wahns, so hassenswert, In seiner Unvernunft begehrt Und ihrem leeren Glanz versunken; Daß er sich in der Menschen Schoß, Von ihrem eklen Tun wie toll Berauscht, bezaubert, -- schwankungslos Geworfen kühn und glaubensvoll. Ach, kalt wie Gräber waren sie, Habgier und Ehrsucht galt allein, Nichts sonst, -- und wie verächtlich Vieh So tierisch, ach, und so gemein. Sie zogen in den Staub, was gut Und hehr. Es schalten ihre Zungen Verächtlich nur Begeisterungen Und Geistestat. Falsch war die Glut; Und wenn sie sich emporgeschwungen, Verderben rings. Wer lauschte schon Der Reden einschläferndem Ton Und bebte nicht? Von Gift wie schwer Ihr Atem, wie voll Lüge ist Ihr Herzschlag und ihr Geist voll List; Wie hohl die Worte und wie leer! * * * * * Ja, tausendfach war ihm die Wahrheit Begegnet und von ihm erkannt. Doch ward zu höherm Glück die Klarheit Ihm in der Seele Träumerland? Wie ferne Sternenhelle zog Verlockend ihn der Ruhm. Allein Sein blinkend Gift war scharf, es trog Der dichte Qualm ihm vor den Schein. * * * * * Der Tag versinkt im West. Die Schatten Des Abends wachsen, und die matten, Hellweißen Wolkenränder glühen In greller Röte auf. Die dunkeln Vergilbten Blätter alle sprühen Von goldnem Strahlenwerk und funkeln. Der Wiesengrund der Heimat tut Sich vor dem Wandrer auf. Es füllt Den matten Blick urplötzlich Glut, Und eine heiße Träne quillt. Die Freuden aus vergangnen Jahren, Harmloser Späße, alter Träume Scharen, Sie engen ihm die Brust und rauben Den Atem ihm. Er will's nicht glauben Und sinnt dem Grund nach und beginnt Zu weinen wie ein schwaches Kind. * * * * * Meditationen Der Augenblick, da wunderbar Ein Auserkorner im Gefühl Der höchsten Kraft und Selbsterkenntnis Erfaßt des Daseins höchstes Ziel, Der sei gesegnet immerdar. Nicht leerer Träume Schattenpracht Und nicht des Ruhmes Flitterglanz Stört ihn und lockt bei Tag und Nacht Ihn in den lauten Wirbeltanz Der Welt. Sein Sinn hat junge Kraft, Ist Ansporn ihm und einz'ger Rat, Reizt ihn und treibt die Leidenschaft Zu Edlem ihn und großer Tat. Für sie setzt er sein Leben ein; Mag auch der Torenpöbel schrein, Er wird lebend'ger Trümmer wegen Nicht wankend, denn er hört allein Der Enkelzeit rauschenden Segen. * * * * * Wenn aber Trug und Traumgestalten Mit Sucht nach Glanz ein Herz beseelen, Dem Willenskraft und Härte fehlen, Im Wirrwarr standhaft sich zu halten, Dann ist es besser, ohne Fülle Das Feld des Lebens zu durchmessen, In der Familie, in der Stille Des Weltenlärmes zu vergessen. -- -- Achtzehntes Bild Die Sterne gehen auf in Harmonie. Mit mildem Blicke schweifen sie Ob all der Schlafversunkenheit Als Wächter leisen Menschenschlummers. Sie senden Ruh' der Guten Leid, Und Bösen -- des Gewissenskummers Todbringend Gift. -- Was schickt ihr nicht Der Trübsal Frieden jetzt? Ihr seid Des Menschen Freude, tröstend Licht. -- Wenn seine Blicke voller Leid Und Kummer flehend an euch haften, Hört er den Streit der Leidenschaften Im Herzen; und er ruft euch laut, Bis er die Schmerzen euch vertraut. -- Noch ist Luise traurig-müd; Und noch entkleidet nicht; sie blickt Verträumt, weil aller Schlaf sie flieht, Noch in die Herbstnacht unverrückt. Ihr Sinn beschwört das alte Bild. Da füllt sie Heiterkeit und weitet Das Herz ihr, dem ein Lied entquillt, Das am Spinett sie froh begleitet. Das Laub fällt raschelnd von den Bäumen, Durch die der Hofzaun blinkt. -- Hans steht In des Vergessens süßen Träumen, Vom Mantel eingehüllt, und späht Und lauscht. -- Soll er noch länger säumen? -- Wie wird es ihm jetzt bei dem Klange Der Stimme, die ihm nicht geklungen Seit seiner Trennung, die ihm lange, So lange, lange nicht gesungen! Das Lied, das heißer Leidenschaft, Das, sangesfrohem Mut entquollen Und all dem Übermaß der Kraft, Begeistert einst und froh erschollen, Sein Lied, es schwillt ihm durch den Regen Der Blätter wonnesam entgegen: Dich rufe ich! Ich rufe dich, Des Lächeln mich bezaubert hat, Mein Lieb! Viel Stunden setze ich Mich zu dir, und es sehen sich Die Augen doch an dir nicht satt. Du singst: -- geheimnisvolle Klänge, Des Herzens reinste Töne hallen Und zittern durch die Luft und schallen Wie Schlag von tausend Nachtigallen, Als ob ein Silberbach mir sänge. Schnell zu mir! Lehn' dich an mich, schnelle, Durchbebt von Gluten, wundersamen. Dein Herz brennt in der Stille helle, Und deine Ruh' strömt Well' auf Welle In mich die heißen Liebesflammen. Bist du mir fern, dann quält mich Wehe. Vergessen gibt es nicht für mich. Wenn ich erwach', zur Ruhe gehe, Stets bete ich und stets erflehe Ich Glück, mein Engel, nur für dich! -- * * * * * War's Täuschung, was sie sah? Es sprühten Zwei Feuer auf; zwei Augen glühten Dicht vor ihr, dicht. Und sie vernahm, Wie jemand seufzend näher kam. Angst packt sie, Zittern fällt sie an; Sie wendet sich und ... Hans! ... wer kann Solch wundersames Wiedersehen, Kann der Gefühle eignen Bann, Der Blicke Flammensprach' verstehen? Wer kann die Feuerworte finden, Zu schildern recht, wie das Empfinden, Aufwogend wild, die Brust durchspült Und unser tiefstes Herz durchwühlt? Man bebt, erblaßt, vor Freude schwach. Gedanken, Worte fehlen; ach, Voll Seligkeit entringt im Überschwang Der Brust sich nur ein heller Klang. * * * * * Hans faßt allmählich sich. Er blickt Durch Tränen ihr ins Angesicht Und denkt: »In Traum bin ich entrückt; Erwachte ich doch ewig nicht! Sie ist noch die, die mich umfaßt Mit kindlich innigem Verlangen. Ach, ihre Jugend starb wohl an der Last Der Trauer. Wie verhärmt, verblaßt Ist jetzt das frische Rot der Wangen. Ich Tor, der ich, um Not und Schmerzen Zu finden, floh von ihrem Herzen.« Des Leidensschlafes Schwere sank Von ihm; gesund und ruhig ward Er wieder, er, den Stürme lang Geschüttelt, wild durchtobt und hart. -- So strahlt die Welt stets sonnenblank Aufs neu. -- In Glut gehärtet Stahl Glänzt stärker, heller tausendmal. -- Die Gäste zechen. Ihre Runde Gehn Glas und Becher und erklingen. Die Alten plaudern manche Stunde. Derweil sich heiß im Tanze schwingen Die Jünglinge, da lärmt und schallt Die heiterste Musik. In Saus und Braus Herrscht Freude über Alt und Jung; Und gastlich ladend lacht das Haus. Der Bäuerinnen junge Schar Bringt blaue Veilchen für die Braut, Dem Bräut'gam Flammenrosen dar. Sie schmücken das verliebte Paar. »Bleibt lang noch jung,« so hallt es laut, »Blüht, wie hier diese Veilchen blühn Vom Felde, frisch und immer grün. Mag euer Herz von Liebe, schaut, Wie dieser Rosen Feuer glühn!« * * * * * Von Zärtlichkeit ganz hingerissen harrt Hans erbebend schon. Sein Blick Ist helle Freude, tiefes Glück. Sein Herz will unverstellt genießen, Nachdem des Zwanges Panzerkleid Gefallen ist, die Seligkeit. Euch, Träume voller Trug und List, Wird nun nicht mehr vergöttern er, Der ird'scher Schönheit Diener ist. -- Doch was umdüstert ihn so schwer? (Unfaßlich ist des Menschen Art!) Von seinen Träumen scheidend, starrt Er ihnen trauernd nach, verloren, Wie einem, dem er Treu' geschworen. -- So harrt der Schüler vor dem Schlage Der Glocke am ersehnten Tage Des letzten Unterrichts. Ganz voll Von Plänen und vor Freude toll, Spinnt er sich Träume. Ohne Klage, Zufrieden mit der Welt und sich in lang Entbehrter Freiheit Überschwang. Doch wenn die Abschiedsstunde naht Von Haus und Freund und Kamerad, Mit denen Arbeit er und Ruh', die Zeit Geteilt und Lust an tollen Streichen, Dann seufzt er wohl und Tränen schleichen Ins Aug' ihm, und er fühlt ein Leid. -- Epilog Es heben in der Öde sich und steigen In meines Tempels Einsamkeit, Die unerkannt und unentweiht Von eines Menschen Fuß, im Schweigen Der Seele Träume auf. Wie weit Dringt wohl hinaus ihr lauter Reigen? Ob wer erregt sein Ohr ihm leiht? Wird einer Jungfrau heißes Herz sich neigen, Wird eines Jünglings Sinn durch sie befreit? Voll ungewollter Rührung singe Mein Lied ich, rätselhaft erregt, Das stille Lied, das mich bewegt Und das ich dir als Loblied bringe, Mein Deutschland! Hoher Pläne Land, Der Feen und Geister Königtum, Mein Herz ist voll von deinem Ruhm! Der große Goethe hält die Hand Als Schutzgeist über dein Gedeihn. Mit seinen hohen Liedern bannt Er jede Not von dir und Pein. -- -- Beilage Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski I. Gogols Brief an Bjelinski Um den 20. Juni 1847 (neuen Stils). Ich habe Ihren Aufsatz über mich im »Sowremennik« mit schmerzlichem Bedauern gelesen -- nicht deshalb, weil mich die Art, wie Sie mich vor allen herabzusetzen suchen, verletzt, sondern weil mir aus diesem Aufsatz die Stimme eines Menschen entgegentönt, der mir zürnt. Ich aber wünsche keinen Menschen, selbst keinen solchen, der mich nicht liebt, gegen mich aufzubringen, am wenigsten Sie, von dem ich geglaubt habe, daß er mich liebt. Ich hatte durchaus nicht die Absicht, Sie durch eine Stelle in meinem Buche zu betrüben. Wie konnte es nur geschehen, daß in Rußland alle Menschen bis auf den letzten so über mich aufgebracht waren? Das ist etwas, was ich bisher noch nicht zu verstehen vermag. Die Östlinge, die Westlinge und die, die eine neutrale Stellung einnehmen, sie alle fühlen sich schmerzlich berührt. Es ist wahr, ich wollte jedem von ihnen einen kleinen Schlag versetzen, ich hielt das für nötig, weil ich es an meiner eigenen Haut gespürt hatte, wie notwendig so etwas ist [wir alle hätten etwas mehr Demut und Bescheidenheit nötig], aber ich habe nicht geglaubt, daß die Schläge, die ich austeilte, so plump, so ungeschickt und so verletzend ausfallen würden. Ich dachte, man würde mir das alles großmütig verzeihen, und mein Buch würde den Grund zu einer allgemeinen Versöhnung und nicht zu Streit und Zwietracht legen. Sie haben mein Buch mit dem Auge eines zornigen, verärgerten Menschen gelesen, und daher haben Sie alles unrichtig ausgelegt. Sehen Sie über alle die Stellen hinweg, die bisher noch für viele, wenn nicht gar für alle ein Rätsel, achten Sie vor allem auf die, die jedem gesunden und einsichtsvollen Menschen verständlich sind, und Sie werden erkennen, daß Sie sich in vielen Punkten geirrt haben. Ich habe nicht vergebens alle meine Leser angefleht, mein Buch mehrmals zu lesen, da ich alle Mißverständnisse, denen es ausgesetzt sein würde, schon vorausahnte. Glauben Sie mir, es ist nicht leicht, ein Buch zu beurteilen, das so eng mit der ganzen geistigen Entwicklung seines Autors zusammenhängt, der lange Zeit im Verborgenen und ganz in sich selbst zurückgezogen lebte und unter seiner Unfähigkeit, sich auszudrücken, litt. Es war ja auch kein leichter Entschluß, sich selbst an den Pranger zu stellen und dem allgemeinen Gespött auszusetzen, indem man einen Teil seiner inneren Entwicklung, deren wahrer Sinn nicht so bald verstanden wird, der Öffentlichkeit preisgab. Schon dieses Wagnis allein hätte einen gescheiten Menschen nachdenklich stimmen und ihn veranlassen müssen, mit der Abgabe seines Urteils über das Buch zu warten und es zu verschiedenen Stunden und in einer ruhigeren, mehr zur aufrichtigen Rechenschaftsablage über sich selbst geeigneten Geistesstimmung aufs neue zu überlesen, denn nur in solchen Augenblicken ist die Seele fähig, eine andere Seele zu verstehen, mein Buch ist aber eine durchaus seelische, geistige Angelegenheit. Sie hätten dann sicherlich nicht diese unüberlegten Folgerungen daraus gezogen, von denen Ihr Aufsatz strotzt. Wie kann man zum Beispiel daraus, daß ich gesagt habe, die Kritiker, die von meinen Fehlern und Mängeln reden, enthielten viel Richtiges, folgern, die Kritiker, die meine Vorzüge hervorgehoben haben, hätten unrecht. Eine solche Logik kann nur dem Kopfe eines zornigen Menschen entspringen, der nur nach etwas sucht, was ihn reizen und ärgern muß, und der einen Gegenstand nicht ruhig von allen Seiten in Betracht zieht. Ich habe es mir in meinem Geiste lange überlegt, wie ich mich über die Kritiker äußern sollte, die meine Vorzüge hervorgehoben und anläßlich meiner Werke viele schöne Gedanken, die die Kunst betrafen, ausgesprochen haben; ich wollte die Vorzüge und die ästhetischen Gefühlsnuancen eines jeden von ihnen unvoreingenommen feststellen und charakterisieren; ich wartete nur auf den Augenblick, wo ich etwas hierüber sagen konnte, oder richtiger, wo es mir anstehen würde, hierüber zu sprechen, damit man nachher nicht erklären sollte, daß ich ein eigennütziges Ziel im Auge gehabt und mich nicht allein und ganz vorurteilslos von meinem Gerechtigkeitsgefühl hätte lenken lassen. Schreiben Sie die unbarmherzigsten Kritiken, wählen Sie die bittersten Worte, über die Sie verfügen, um einen Menschen herabzusetzen, tragen Sie das Ihre dazu bei, mich in den Augen Ihrer Leser lächerlich zu machen, ohne die empfindlichsten Seiten des vielleicht zartfühlendsten Herzens zu schonen -- meine Seele wird dies alles ertragen, wenn auch nicht ohne Schmerz und ohne schmerzliche Erschütterungen; aber es ist bitter, sehr bitter für mich -- dies erkläre ich Ihnen ganz aufrichtig -- zu wissen, daß selbst ein böser Mensch Haß und Zorn gegen mich in seinem Herzen hegt; und Sie habe ich doch für einen guten Menschen gehalten. Dies der aufrichtige Ausdruck meiner Gefühle. N. G. II. Aus einem Briefe Gogols an N. I. Prokopowitsch Frankfurt, den 20. Juni (1847). Du wunderst dich, daß ich so begierig bin, zu hören, was man über mein Buch spricht. Das kommt daher, weil ich sehr begierig bin, die Menschen kennen zu lernen, und aus den Urteilen über mein Buch gewinne ich doch etwas wie eine Vorstellung von den Menschen mit all ihrem Wissen und ihrer Unwissenheit; was jedoch viel wichtiger ist, dadurch gewinne ich einen Einblick in ihre Seelenverfassung, die für mich noch weit bedeutsamer ist, als ihre äußere Charakteristik, und die ich, wie du selbst zugeben wirst, ohne mein Buch nie hätte kennen lernen können. Übrigens, da wir gerade darüber reden: Vor einigen Tagen las ich _Bjelinskis_ Kritik im zweiten Heft des »Zeitgenossen« (Sowremennik). Er scheint zu glauben, daß das ganze Buch auf ihn gemünzt ist, und hat aus ihm einen offenen Angriff gegen alle, die seine Ansicht teilen, herausgelesen. Das ist ganz falsch; in meinem Buche sind, wie du siehst, Angriffe gegen alle und gegen alles enthalten, was sich ins Maßlose verliert. Wahrscheinlich hat er die »Leithämmel«[6] auf sich bezogen, und doch galt diese Bemerkung bloß den Journalisten im allgemeinen. Diese Gereiztheit hat mich sehr betrübt, nicht wegen der harten Worte, die ich angeblich nicht zu ertragen vermag -- du weißt doch, daß ich die härtesten Worte vertragen kann --, sondern weil dieser Mensch doch immerhin während zehn Jahren, trotz aller Übertreibungen und Maßlosigkeiten, mit Teilnahme und Sympathie von mir gesprochen und dabei doch auch in ganz richtiger Weise auf viele Züge in meinen Werken aufmerksam gemacht hat, die die anderen nicht bemerkt haben, obwohl sie glaubten, ein viel besseres Verständnis für diese Dinge zu besitzen als er. Ich müßte undankbar gegen diese Menschen sein, wo ich es doch verstehe, selbst denen gerecht zu werden, die nichts als Mängel und Fehler in mir entdecken und nur auf diese hinweisen! Aber gerade das Gegenteil trifft zu: in diesem Falle habe ich mich nur getäuscht; ich hielt Bjelinski für größer und glaubte nicht, daß er solch einer kurzsichtigen Ansicht und solch kleinlicher Folgerungen fähig sei. Ich weiß nicht, warum es einem so schwer wird, den Vorwurf der Undankbarkeit zu ertragen, aber für mich war dieser Vorwurf schwerer als alle anderen Vorwürfe, weil meine Seele tatsächlich sehr zur Dankbarkeit neigt, und ich bin gerne dankbar, weil mir das selbst Genuß bereitet. Bitte sprich hierüber mit Bjelinski und schreibe mir, welches seine Stimmung gegen mich ist. Wenn ihm die Galle überläuft und er eine Wut gegen mich hat, so mag er sie im »Zeitgenossen« (Sowremennik) an mir auslassen und zwar in jeder Form, die ihm recht ist, nur soll er sie nicht wider mich in seinem Herzen hegen[7]. Wenn sich jedoch sein Unmut gelegt haben sollte, so gib ihm den beifolgenden Brief zu lesen, den du gleichfalls lesen darfst. [Fußnote 6: Vergl. Band 7: Von der Odyssee.] [Fußnote 7: Hierauf erwiderte Prokopowitsch: »Mir scheint, du bist sehr im Irrtum, wenn du glaubst, daß Bjelinski seinen Aufsatz geschrieben hat, weil er deine Ausfälle gegen die Journalisten im allgemeinen auf sich bezogen hat. Ich kenne Bjelinski schon lange und kann nicht anders, als fest davon überzeugt sein, daß er nie eine Zeile geschrieben hat, um sich für eine persönliche Kränkung zu rächen.«] Aus alledem ersehe ich, daß ich genötigt sein werde, einige Erklärungen über mein Buch abzugeben, weil nicht nur Bjelinski, sondern selbst solche Leute, die mich und meine Persönlichkeit doch weit besser kennen könnten als er, so seltsame Schlüsse aus meinem Werke ziehen, daß man einfach starr ist. Offenbar enthält es weit mehr Dunkelheiten und Unklarheiten, als ich selbst darin finde ... III. Bjelinskis Brief an Gogol Sie haben nur teilweise recht, wenn Sie glauben, den Zorn eines _verärgerten_ Menschen aus meinem Aufsatz herauslesen zu können. Dieses Epitheton ist viel zu schwach und matt, um die Stimmung zu charakterisieren, in die mich die Lektüre Ihres Briefes versetzt hat. Aber Sie haben vollkommen unrecht, wenn Sie dies auf Ihr tatsächlich nicht sehr schmeichelhaftes Urteil über die Verehrer Ihres Talentes zurückführen. Nein, das hat einen anderen, weit gewichtigeren Grund. Eine Kränkung, eine Verletzung unseres Selbstgefühls läßt sich noch ertragen, und ich wäre vernünftig genug gewesen, über diesen Gegenstand zu schweigen, wenn es sich bloß darum gehandelt hätte; was der Mensch jedoch nicht ertragen kann, ist eine Verletzung seines Wahrheitsgefühls, seiner Menschenwürde: man kann nicht mehr schweigen, wenn man unter dem Deckmantel der Religion und einer Apologie der Knute Lüge und Unsittlichkeit für Wahrheit und Tugend ausgibt. Ja, ich habe Sie geliebt, ich habe Sie mit der ganzen Leidenschaft geliebt, mit der ein Mensch -- den die Bande des Blutes mit seinem Vaterlande verknüpfen, dessen Hoffnung, dessen Ehre und Ruhm -- einen seiner großen Führer auf dem Wege zum Selbstbewußtsein, zum Fortschritt und zur Entwicklung lieben kann. Und Sie hatten begründeten Anlaß, einen Augenblick Ihre Seelenruhe zu verlieren, als Sie das Recht auf eine solche Liebe einbüßten. Ich sage dies nicht deshalb, weil ich glaube, meine Liebe sei ein würdiger Lohn für ein großes Talent, sondern deshalb, weil ich in dieser Beziehung nicht nur eine einzige, sondern viele Personen darstelle, deren Mehrzahl weder Sie noch ich je gesehen und die Sie ihrerseits auch noch niemals kennen gelernt haben. Ich bin nicht imstande, Ihnen auch nur einen schwachen Begriff von der Empörung zu geben, die Ihr Buch in allen edlen Herzen hervorgerufen hat, noch von dem wilden Freudengeheul, in das alle Ihre Feinde und alle die unliterarischen Tschitschikows, Nosdrjows, Polizeimeister so gut wie alle literarischen, deren Namen Ihnen wohlbekannt sind, ausgebrochen sind. Sie sehen selbst, daß sogar Menschen von derselben Geistesrichtung wie die, die in Ihrem Buche vertreten wird, Ihr Werk fallen lassen. Selbst wenn es das Produkt einer tiefen, aufrichtigen Überzeugung wäre, selbst dann müßte es denselben Eindruck auf das Publikum machen. Und wenn alle (mit Ausnahme weniger Menschen, die man gesehen haben und die man kennen muß, um sich nicht über ihren Beifall zu freuen) das Buch für einen schlauen, aber gar zu ungenierten Trick hielten, um auf dem Umwege über den Himmel einem höchst irdischen Ziel nachzujagen, -- so sind Sie allein schuld daran. Und das ist durchaus nicht verwunderlich, erstaunlich ist nur das, daß Sie sich darüber wundern. Ich glaube, das käme daher, weil Sie Rußland _nur als Künstler_ so tief und gründlich kennen, nicht aber auch als denkender Mensch, dessen Rolle Sie in Ihrem phantastischen Buche mit so wenig Glück auf sich genommen haben. Und das nicht etwa deswegen, weil Sie kein denkender Mensch sind, sondern deshalb, weil Sie sich schon seit vielen Jahren daran gewöhnt haben, Rußland aus einer gewissen lockenden Ferne anzusehen, es ist doch bekannt, daß nichts leichter ist, als die Dinge aus der Ferne genau so zu sehen, wie man sie gerne sehen möchte; denn Sie leben ja auch in dieser _schönen Ferne_ ganz für sich und in sich selbst, bleiben ihr selbst fremd und bewegen sich in dem einförmigen Kreise gleichgestimmter oder doch solcher Menschen, die nicht kräftig genug sind, sich Ihrem Einfluß zu widersetzen. Daher haben Sie auch nicht bemerkt, daß Rußlands Heil nicht im Mystizismus und Asketismus, ebensowenig wie im Pietismus, sondern vielmehr in dem Fortschritt der Zivilisation, der Aufklärung und der Humanität liegt. Was es braucht, sind nicht Predigten (die hat es genug gehört!) und nicht Gebete (die hat es genug gestammelt!), was es braucht, ist, daß das Volk zum Gefühl seiner Menschenwürde erweckt wird, ein Gefühl, das ihm für Jahrhunderte durch den Schmutz und die Unsauberkeit, in denen es lebte, verloren gegangen war; was es braucht, sind Rechte und Gesetze, nicht wie sie den Lehren der Kirche, sondern wie sie der gesunden Vernunft und der Gerechtigkeit entsprechen, und eine möglichst strenge und pünktliche Erfüllung dieser Gesetze. Statt dessen aber bietet Rußland das furchtbare Bild eines Landes dar, in dem Menschen mit Menschen handeln, ohne sich auch nur damit rechtfertigen zu können, womit sich die schlauen amerikanischen Pflanzer entschuldigen, die da behaupten, der Neger sei kein Mensch; das Bild eines Landes, in dem sich die Menschen nicht beim Namen nennen, sondern sich mit plumpen Kosenamen und Diminutiven wie Wanjka, Waßjka, Stjoschka, Palaschka titulieren; eines Landes endlich, in dem es keinerlei Garantien für die Integrität der Persönlichkeit, die Ehre und das Eigentum, ja nicht einmal eine polizeiliche Ordnung, sondern nur gewaltige Korporationen aller möglicher Diebe und Räuber in Ämtern und Würden gibt! Die aktuellsten nationalen Fragen, die das Rußland von heute bewegen, sind folgende: die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Abschaffung der Prügelstrafe und die Sorge für eine möglichst strenge Durchführung zum mindesten _der_ Gesetze, die es heute schon gibt. Das fühlt sogar die Regierung selbst (die sehr gut weiß, wie die Gutsbesitzer ihre Bauern behandeln, und wie viele von den ersten alljährlich durch die Hand der letzten umkommen), was durch die schwächlichen, fruchtlosen und halben Regierungsmaßnahmen zugunsten der weißen Neger und durch die komische Einführung der einschwänzigen Knute an Stelle der dreischwänzigen Peitsche dokumentiert wird. Das sind die Fragen, die ganz Rußland während seines apathischen Schlummers bewegen und beunruhigen! Und in einer solchen Zeit tritt ein großer Schriftsteller, der durch seine wunderbaren, künstlerischen, von tiefer Wahrheit durchdrungenen Werke so machtvoll an der Erweckung Rußlands zum Selbstbewußtsein mitgearbeitet und ihm die Möglichkeit gegeben hat, sich selbst wie in einem Spiegel zu sehen, mit einem Buche auf, in dem er barbarische Gutsbesitzer im Namen Christi und der Kirche unterweist, wie sie ihren Bauern möglichst viel Geld abnehmen können, und sie belehrt, daß sie sie möglichst viel schimpfen sollen ... Und das sollte mich nicht empören? Ja, wenn Sie einen Angriff auf mein Leben unternommen hätten, könnte ich Sie nicht mehr hassen, wie um dieser schmachvollen Zeilen willen ... Und danach wollen Sie, daß man an die Aufrichtigkeit, an die gute Absicht Ihres Buches glauben soll! Nein! Wenn Sie von der wahren Lehre Christi und nicht von einer falschen teuflischen Lehre erfüllt wären, so hätten Sie in Ihrem neuesten Buche etwas ganz anderes geschrieben. Sie hätten zum Gutsbesitzer gesagt: Da seine Bauern seine Brüder in Christus seien, und da ein Bruder nicht der Sklave seines Bruders sein kann, so seien die Gutsherren verpflichtet, ihren Bauern die Freiheit zu schenken oder wenigstens ihre Arbeitskraft möglichst im eigenen Interesse ihrer Bauern zu gebrauchen, da sich die Herren in ihrem Inneren und vor ihrem Gewissen eingestehen müßten, wie unwahrhaftig das zwischen ihnen und ihren Bauern bestehende Verhältnis sei. Und dann der Ausdruck: »_O du ungewaschenes Maul!_« Welchem Nosdrjow, welchem Sabakewitsch haben Sie diesen Ausdruck abgelauscht, um ihn der Welt als eine große Entdeckung zum Nutz und zur Belehrung der Bauern zu überliefern, die sich ja auch ohnedies nur darum nicht waschen, weil sie ihren Brüdern glauben und sich selbst nicht für Menschen halten? Und Ihren Begriff von der nationalen russischen Rechtspflege, deren Ideal Sie in der törichten Redensart erblicken, daß man sowohl den, der recht, wie den, der unrecht hat, auspeitschen solle? Aber das geschieht ja auch ohnedies oft genug bei uns, obwohl man freilich weit häufiger den prügelt, der im Recht ist, wenn er sich durch nichts von der Strafe loszukaufen vermag; sagt doch ein anderes Sprichwort in solch einem Falle: Schuldig ohne Schuld! Und solch ein Buch konnte das Ergebnis eines mühsamen und schwierigen inneren Prozesses, einer erhabenen geistigen Erleuchtung sein! Das ist unmöglich! Entweder Sie sind krank ... dann müssen Sie sich eiligst in Behandlung begeben, oder ... ich wage es nicht, meinen Gedanken auszusprechen ... Apologet der Knute, Apostel der Unwissenheit, Vorkämpfer des Obskurantismus und der finstersten Reaktion, Verherrlicher tatarischer Sitten -- was tuen Sie! Blicken Sie vor sich hin -- Sie stehen vor einem Abgrund. Daß Sie für diese Lehre eine Stütze in der apostolischen Kirche suchen, das verstehe ich noch: sie war ja doch stets die Stütze der Knute und die Bediente des Despotismus: warum aber ziehen Sie Christus in diese Sache hinein? Was haben Sie Gemeinsames zwischen ihm und der Kirche, vor allem aber der griechisch-katholischen Kirche entdeckt? War er es doch, der den Menschen zuerst die Lehre von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkündete und der die Wahrheit seiner Lehre durch sein Martyrium bekräftigte und besiegelte. In dieser Lehre lag ja auch nur so lange das _Heil_ der Menschen, als diese sich nicht zu einer Kirche zusammenschlossen und das Prinzip der Orthodoxie zu ihrer Grundlage machten. Die Kirche aber erschuf eine Hierarchie und wurde demgemäß eine Vorkämpferin der Ungleichheit, die den Machthabern schmeichelte, eine Feindin und Verfolgerin der Brüderlichkeit unter den Menschen -- und das ist sie bis auf die heutige Zeit geblieben. Indessen, der Sinn der Lehre Christi ist durch die philosophische Bewegung des verflossenen Jahrhunderts an den Tag gebracht worden. Und daher ist ein Voltaire, der in Europa mit dem Hauch seines Spottes alle Scheiterhaufen, die Fanatismus und Unwissenheit errichteten, auslöschte, natürlich in weit höherem Sinn ein Sohn Christi, Fleisch von Seinem Fleisch und Bein von Seinem Bein, als alle Ihre Popen, Erzpriester, Metropoliten und Patriarchen zusammen! Sollten Sie das wirklich nicht wissen? Das weiß doch heute bereits jeder Gymnasiast! ... Sollte es daher wirklich möglich sein, daß Sie, der Verfasser des »Revisors« und der »Toten Seelen«, aufrichtigen Herzens einen Hymnus auf die niederträchtige russische Geistlichkeit singen und sie so unendlich hoch über die katholische stellen konnten? Nehmen wir einmal an, Sie wußten nicht, daß diese Kirche einmal etwas bedeutet hat, während die erste nie etwas war, als die Bediente und Sklavin der weltlichen Macht; -- wie --? sollten Sie denn wirklich nicht wissen, daß unsere Geistlichkeit vom ganzen russischen Volke und der russischen Gesellschaft verachtet wird? Von wem erzählt das russische Volk obszöne Anekdoten? Vom Popen, von der Popenfrau, von der Popentochter und vom Knecht des Popen. Ist nicht in Rußland der Pope für jeden Russen der Inbegriff der Gefräßigkeit, des Geizes, der Speichelleckerei, der Schamlosigkeit? Und das sollten Sie alles nicht wissen? Seltsam! Nach Ihrer Meinung ist das russische Volk das religiöseste Volk der Welt. Das ist eine Lüge. Die Grundlage der Religiosität ist der Pietismus, die Ehrfurcht und die Gottesfurcht. Der Russe dagegen kratzt sich den ... wenn er den Namen Gottes ausspricht ... Und von den Heiligenbildern sagt er: sind sie gut -- so betet man zu ihnen; sind sie nicht mehr zu brauchen -- so deckt man die Töpfe mit ihnen zu. Blicken Sie aufmerksamer hin und Sie werden sich überzeugen, daß dies ein seinem innersten Wesen nach von Grund aus atheistisches Volk ist. Es besitzt noch sehr viel Aberglauben, aber keine Spur von Religiosität. Der Aberglaube verschwindet mit dem Fortschritt der Zivilisation, die Religiosität aber erhält sich daneben und verträgt sich häufig mit ihm: ein lebendiges Beispiel dafür ist Frankreich, wo es auch heute noch unter den aufgeklärten und gebildeten Leuten viele aufrichtige Katholiken gibt und wo viele zwar das Christentum aufgegeben haben, dennoch aber noch an einem Gott festhalten. Nicht so das russische Volk: mystische Exaltationen liegen nicht in seiner Natur; dazu besitzt es viel zu viel gesunde Menschenvernunft, Klarheit und positiven Verstand, und darin liegt vielleicht gerade die Gewähr für die Größe seiner künftigen historischen Schicksale. Die Religiosität hat nicht einmal in der Geistlichkeit Wurzel geschlagen, denn die wenigen eximierten Persönlichkeiten, die sich durch eine solche kalte asketische kontemplative Geisteshaltung auszeichneten, beweisen noch nichts. Die Mehrzahl unserer Geistlichen dagegen sind nur durch dicke Bäuche, scholastische Pedanterie und rohe Unwissenheit ausgezeichnet. Man würde ihnen unrecht tun, wenn man ihnen religiöse Intoleranz und Fanatismus vorwerfen wollte, man hätte eher noch Grund, ihren vorbildlichen Indifferentismus in Sachen des Glaubens zu loben. Echte Religiosität findet sich bei uns nur bei den Sektierern und Ketzern, die in einem solchen Gegensatz zu dem Volksgeist stehen und deren Anzahl im Vergleich zu der Masse des Volkes gar nicht ins Gewicht fällt. Ich will nicht näher auf Ihren Dithyrambus auf das Band der Liebe eingehen, das das russische Volk mit seinem Herrscher verknüpft. Ich will es ohne Umschweife aussprechen: dieser Dithyrambus hat bei niemand Sympathie gefunden und hat Ihnen selbst bei solchen Leuten geschadet, die Ihnen in anderer Hinsicht, d. h. in ihren Anschauungen, sehr nahe stehen. Was mich persönlich anbetrifft, so überlasse ich es Ihrem Gewissen, ob Sie sich noch weiter verzückt in die Betrachtung der göttlichen Schönheit des Selbstherrschertums versenken wollen (das ist sehr bequem und daher sehr -- einträglich), nur bitte ich Sie, seien Sie vernünftig und betrachten Sie es aus Ihrer _schönen Ferne_; aus der Nähe gesehen ist es viel weniger schön und auch nicht so ungefährlich. -- Ich will hier nur eins bemerken: wenn ein Europäer, besonders ein Katholik, von dem religiösen Geist ergriffen wird, wird er zum Ankläger, der sich gegen das Unrecht und die Ungerechtigkeit der Machthaber wendet, wie die jüdischen Propheten, die die Ungerechtigkeiten und Missetaten der Mächtigen an den Pranger stellten. Bei uns dagegen ist es umgekehrt: wenn ein Mensch (selbst ein anständiger) von der Krankheit, die bei den Psychiatern unter dem Namen _religiosa mania_ bekannt ist, ergriffen wird, dann fängt er sofort an, dem irdischen Gotte mehr Weihrauch zu spenden als dem himmlischen; dabei aber übertreibt er gleich und wird so maßlos, daß der Gott, selbst wenn er ihn für seinen sklavischen Diensteifer belohnen wollte, sieht, daß er sich damit vor der Gesellschaft kompromittieren würde. -- Wir sind halt dumme Kerle --, wir Russen. Hierbei fällt mir noch ein, daß Sie in Ihrem Buche behaupten und es als eine große Wahrheit hinstellen, daß Lesen und Schreiben dem einfachen Volke nicht nur nicht nützen, sondern sogar geradezu schaden würde. Was soll ich Ihnen darauf sagen? Möge Ihnen Ihr byzantinischer Gott diesen byzantinischen Gedanken verzeihen, wenn Sie nicht gewußt haben sollten, was Sie sagten, indem Sie ihn niederschrieben. -- Aber vielleicht werden Sie entgegnen: »Es ist möglich, daß ich mich geirrt habe und daß alle meine Gedanken falsch sind, warum aber will man mir das Recht nehmen, mich zu irren, und warum will man nicht an die Aufrichtigkeit meiner Irrtümer glauben?« Darauf antworte ich Ihnen folgendes: weil eine solche Anschauung in Rußland schon lange nichts Neues mehr ist. Erst vor kurzem ist sie von Buratschok und Genossen in erschöpfender Weise vertreten worden. Natürlich steckt in Ihrem Buche weit mehr Verstand und sogar Talent, als in ihren Werken, obwohl es nicht allzu reich an beiden ist, dafür aber haben jene die Ihnen gemeinsame Lehre mit viel größerer Energie und mit weit größerer Konsequenz vertreten, sie sind kühn bis zu ihren letzten Ergebnissen vorgedrungen, haben alles dem byzantinischen Gotte geopfert und nichts für den Satan übriggelassen, während Sie jedem von beiden eine Kerze stiften wollten, sich hierdurch in Widersprüche verwickelten und für Puschkin, die Literatur und das Theater eintraten, die von Ihrem Standpunkt aus, wenn Sie nur ehrlich genug gewesen wären, um konsequent zu sein, nichts zum Heil unserer Seele, wohl aber sehr viel zu ihrem Verderben beitragen können ... Wessen Hirn aber hätte den Gedanken von der Identität Gogols und Buratschoks ertragen können? Sie haben sich einen viel zu hohen Platz in der Meinung des russischen Publikums erobert, als daß es Ihnen die Aufrichtigkeit solcher Überzeugungen zu glauben vermöchte. Was uns bei einem Toren natürlich vorkommt, kann uns bei einem genialen Mann nicht so erscheinen. Es gibt Menschen, die auf den Gedanken gekommen sind, Ihr Buch sei die Frucht einer geistigen Störung, die ganz positiv an Wahnsinn grenzt. Aber sie haben diese Folgerung bald wieder fallen gelassen -- denn es ist doch ganz klar, daß dies Buch nicht an einem Tag, auch nicht in einer Woche oder in einem Monat, sondern vielleicht während eines ganzen Jahres geschrieben wurde, oder daß Sie gar zwei oder drei Jahre lang daran gearbeitet haben; alles darin hängt sehr genau zusammen, selbst die nachlässige Darstellung läßt erkennen, daß viel Überlegung darin steckt, daß es wohl durchdacht ist. Ein Hymnus auf die höchsten Machthaber ist ja doch auch sehr geeignet, dem frommen Autor eine angenehme und gesicherte irdische Existenz zu verschaffen. Das war der Grund, weshalb sich in Petersburg das Gerücht verbreitete, Sie hätten dieses Buch geschrieben, um Erzieher bei dem Sohne des Thronfolgers zu werden. Schon früher ist in Petersburg einer Ihrer Briefe an Uwarow bekanntgeworden, in dem Sie mit Schmerz davon sprechen, daß man in Rußland Ihre Werke falsch auslegt, Ihre Unzufriedenheit mit Ihren früheren Schriften äußern und erklären, Ihre Werke würden Sie erst dann befriedigen, wenn Sie den Beifall des Zaren fänden. Und nun urteilen Sie selbst, ob man sich wundern kann, daß Ihr Buch Ihnen beim Publikum sowohl als Schriftsteller, noch viel mehr aber als Mensch geschadet hat. Sie verstehen, wie ich sehe, das russische Publikum nicht recht. Sein Charakter wird durch die Situation bestimmt, in der sich die russische Gesellschaft befindet. In ihr regen sich frische Kräfte, die nach außen drängen, jedoch durch den schweren Druck, der auf ihr lastet, gehemmt werden und, da sie keinen Ausweg finden, nichts wie Trübsinn, Melancholie und Apathie erzeugen. Nur in der Literatur regt sich trotz der tatarischen Zensur noch etwas wie Leben und Fortschritt. Daher ist auch der Schriftstellerberuf bei uns etwas so Edles und Hohes, und daher wird es bei uns selbst dem kleinsten Talent so leicht, einen literarischen Erfolg zu erringen. Der Name des Poeten, der Titel des Literaten haben bei uns schon längst den glänzenden Flitter der Epauletten und der bunten Uniformen verdunkelt. Das ist auch der Grund, weshalb bei uns jede sogenannte literarische Tendenz und Bewegung, selbst bei einem geringen und dürftigen Talent, auf den Lohn der allgemeinen Beachtung rechnen darf, und warum die Popularität der großen Talente so schnell dahinsinkt, die ihre Kräfte aus ehrlicher Überzeugung oder aus unehrlichen Motiven in den Dienst der Orthodoxie, des Absolutismus und des Nationalismus stellen. Das treffendste Beispiel hierfür ist Puschkin, der nur zwei oder drei untertänige Gedichte zu schreiben und die Kammerjunkerlivree anzulegen brauchte, um mit einem Schlage die Liebe seines Volkes zu verlieren! Sie sind in einem großen Irrtum befangen, wenn Sie allen Ernstes glauben, daß der Mißerfolg Ihres Buches nicht seiner schlimmen Tendenz, sondern der Härte der Wahrheiten zuzuschreiben sei, die Sie allen und jedem ins Gesicht gesagt hätten. Das konnten Sie vielleicht von den Literaten glauben, wie aber paßte das Publikum in diese Kategorie? Wäre es wirklich möglich, daß Sie ihm im »Revisor«, in den »Toten Seelen« mit geringerer Schärfe und weniger Wahrheit und Talent weniger bittere Wahrheiten gesagt haben sollten? Die alte Schule zürnte und grollte Ihnen ja auch tatsächlich bis zur Raserei, aber der »Revisor« und die »Toten Seelen« sind darum doch nicht vergessen, während Ihr Buch schmählich vom Orkus verschlungen wurde. Und das Publikum hat in diesem Falle recht: es sieht in den russischen Schriftstellern seine einzigen Führer, seine Beschützer und Erretter aus dem russischen Absolutismus, der Orthodoxie und dem Nationalismus, daher ist es stets bereit, einem Schriftsteller ein _schlechtes_ Buch zu verzeihen, nie aber wird es ihm ein _schädliches_ Buch vergeben. Das beweist, wieviel frische gesunde Instinkte, wenn auch erst keimhaft, in unserer Gesellschaft schlummern, und es beweist auch, daß diese Gesellschaft eine Zukunft hat. Wenn Sie Rußland lieben, so freuen Sie sich über die Niederlage Ihres Buches. Nicht ohne eine gewisse Eitelkeit darf ich Ihnen sagen, daß ich das russische Publikum ein wenig zu kennen glaube. Ihr Buch hat mich erschreckt, weil ich es für möglich hielt, daß es einen schlechten Einfluß auf die Regierung und auf die Zensur ausüben, nicht aber, weil ich daran glaubte, daß es das Publikum in schlechtem Sinne beeinflussen könnte. Als sich in Petersburg das Gerücht verbreitete, die Regierung wolle Ihr Buch in vielen tausend Exemplaren drucken und zu ganz billigem Preise verkaufen lassen -- wurden meine Freunde mutlos; ich sagte ihnen jedoch sogleich, daß das Buch trotz alledem keinen Erfolg haben und daß es bald vergessen sein werde. Und so lebt es ja auch heute tatsächlich mehr in den Aufsätzen, die über es geschrieben wurden, als durch sich selbst in der Erinnerung des Publikums weiter. Ja, der Russe hat einen tiefen, obwohl noch unentwickelten Wahrheitsinstinkt. Ihr Appell mag ja vielleicht ganz aufrichtig gewesen sein, aber Ihr Gedanke, dem Publikum davon Mitteilung zu machen, war äußerst unglücklich. Die Zeiten naiver Frömmigkeit sind selbst für _unsere_ Gesellschaft längst vorüber. Sie begreift schon, daß es ganz gleich ist, wo man betet, und daß nur solche Leute Christus in Jerusalem suchen, die ihn entweder nie in ihrem Busen getragen oder die ihn doch wieder verloren haben. Wer da fähig ist, beim Anblick fremder Leiden selbst zu leiden, wem es schwer wird, mitanzusehen, wie Menschen, die ihm völlig fremd sind, bedrückt werden, -- der trägt Christus in seiner Brust und der braucht nicht zu Fuß nach Jerusalem zu pilgern. Die Demut und Ergebung, die Sie predigen, ist nichts Neues und schmeckt erstlich nach furchtbarer Überhebung und zweitens nach einer höchst schmachvollen Herabsetzung der eigenen Menschenwürde. Der Gedanke, sich in ein abstraktes Vollkommenheitsideal zu verwandeln und sich durch seine Demut über alle anderen Menschen zu erheben, kann nur die Frucht des Hochmuts oder des Schwachsinns sein und führt in beiden Fällen nur zur Heuchelei, zum Pharisäertum und zum Chinesentum. Und dabei haben Sie sich erlaubt, sich nicht nur in unsauberen und zynischen Ausdrücken über andere zu äußern (das wäre schließlich nur eine Unhöflichkeit gewesen), nein, Sie sprechen auch so von sich selbst -- und das ist einfach häßlich; denn wenn ein Mensch, der seinen Nächsten auf die Backe schlägt, uns zur Empörung reizt, so erregt ein Mensch, der sich selbst ohrfeigt, unsere Verachtung. Nein, Ihr Geist ist verfinstert und nicht erleuchtet: Sie haben weder den Geist, noch die Form des Christentums unserer Zeit verstanden. Nicht die Wahrheit der christlichen Liebe, sondern krankhaftes Todesgrauen und Furcht vor Hölle und Teufel spricht aus Ihrem Buch. Und welch eine Sprache, was für Sätze sind das: »Die Menschen sind heute allzumal solch traurige jämmerliche Waschlappen geworden.« Glauben Sie wirklich, daß das heißt, sich biblisch ausdrücken, wenn Sie sagen, die Menschen sind allzumal, statt alle? Welch große Wahrheit ist es doch, daß, wenn der Mensch sich gänzlich der Lüge hingibt, ihn auch Verstand und Talent im Stich lassen. Wenn nicht Ihr Name unter dem Titel Ihres Buches stünde, wer hätte gedacht, daß dieser geschwollene und wirre Wort- und Phrasenflitter -- ein Werk des Verfassers der »Toten Seelen« und des »Revisors« sein könnte! Was endlich mich selbst anbetrifft, so erkläre ich Ihnen nochmals: Sie haben sich geirrt, wenn Sie meinen Aufsatz für eine Frucht der Verärgerung hielten, die durch Ihr Urteil über mich als einen Ihrer Kritiker hervorgerufen sei. Wenn mich nur dies allein empört hätte, dann hätte ich mich auch wirklich nur über dies eine empört und ärgerlich geäußert und über das andere ganz ruhig und unvoreingenommen gesprochen. Freilich ist es ganz richtig, daß Ihr Urteil über Ihre Verehrer in doppelter Hinsicht sehr unschön war. Ich erkenne an, daß es notwendig sein kann, einem Toren zuweilen einen kräftigen Schlag zu versetzen, wenn er uns durch seine Lobeserhebungen und seine Begeisterung lächerlich macht, aber auch das ist eine _bittere_ Notwendigkeit, denn es ist nicht angenehm, nicht ganz menschlich, einem Menschen -- selbst für seine falsche, auf einem Irrtum beruhende Liebe -- mit Haß und Feindschaft zu zahlen. Sie aber hatten, wenn auch nicht gerade Menschen von auserlesenen Verstandesfähigkeiten, zum mindesten solche, die auch keine Toren sind, im Auge. Diese Leute haben voller Bewunderung über Ihre Werke weit mehr Geschrei gemacht, als sie Vernünftiges über sie gesagt haben, immerhin aber stammte ihr Enthusiasmus aus einer so reinen und edlen Quelle, daß Sie sie keinesfalls ihrem gemeinsamen Feinde bedingungslos hätten ausliefern und ihnen noch den Vorwurf machen dürfen, sie strebten danach, Ihren Werken eine falsche Deutung zu geben. Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit getan und, weil Sie sich von dem Grundgedanken Ihres Buches fortreißen ließen, während Wjasemskij, dieser Fürst unter den Aristokraten und dieser Lakai unter den Literaten, Ihren Gedanken weiter ausführte und eine private Denunziation gegen Ihre Verehrer (also in erster Linie gegen mich) veröffentlichte. Er hat dies wahrscheinlich aus Dankbarkeit gegen Sie getan, weil Sie diesen erbärmlichen Reimschmied zu einem großen Dichter gemacht haben, wahrscheinlich, und soviel ich mich erinnere, wegen seines »matten an der Erde klebenden Verses«. Das alles ist nicht schön. Daß Sie jedoch nur auf den Zeitpunkt gewartet haben, wo es Ihnen möglich sein würde, auch den Verehrern Ihres Talents Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (nachdem Sie Ihren Feinden mit stolzer Bescheidenheit gerecht geworden waren) -- das war mir unbekannt; ich konnte es nicht wissen und hätte es, offen gestanden, auch nicht wissen wollen. Vor mir lag Ihr Buch und nicht Ihre Absichten! Ich las es, las es hundertmal nacheinander und konnte dennoch nichts darin finden als das, was darin steht, und das, was darin stand, beleidigte und empörte meine Seele aufs tiefste. Wenn ich meinem Gefühl freien Lauf lassen wollte, würde sich dieser Brief bald in ein dickes Heft verwandeln. Ich habe nie daran gedacht, Ihnen hierüber zu schreiben, obwohl ich vom qualvollen Wunsche danach verzehrt wurde, und obwohl Sie allen und jedem öffentlich das Recht gegeben hatten, Ihnen ganz ungeniert zu schreiben, da Sie keine andere Rücksicht kennten, als die der Wahrheit. In Rußland hätte ich das nicht tun können, da die dortigen »Schpekins« fremde Briefe öffnen, und zwar nicht zu ihrem persönlichen Vergnügen, sondern weil sie dienstlich dazu verpflichtet sind und um andere Leute zu denunzieren. Im Sommer dieses Jahres trieb mich eine beginnende Schwindsucht ins Ausland, und Nekrassow sandte mir Ihren Brief nach Salzbrunn nach, von wo ich heute in Gesellschaft Annenkows über Frankfurt am Main nach Paris weiterreise. Der unerwartete Empfang Ihres Briefes gab mir die Möglichkeit, Ihnen alles zu sagen, was mir auf der Seele lag und was ich gegen Sie und Ihr Buch empfand. Ich kann keine Halbheiten sagen und keine Winkelzüge machen, das liegt nicht in meiner Natur. Mögen Sie oder die Zeit mich belehren, daß ich mich in meinen Schlüssen über Sie geirrt habe. Ich würde der erste sein, der sich hierüber freuen würde, aber ich werde nie bereuen, was ich Ihnen gesagt habe. Hier handelt es sich nicht um meine oder Ihre Person, sondern um etwas weit Größeres und Höheres, als ich und selbst Sie sind, hier handelt es sich um die Wahrheit, um die russische Gesellschaft, um Rußland. Und dies ist mein letztes Wort, mit dem ich schließe: wenn Sie den unglücklichen Einfall hatten, Ihre wahrhaft großen Werke mit stolzer Bescheidenheit zu verleugnen, so müssen Sie nun mit aufrichtiger Demut Ihr letztes Buch abschwören und die schwere Schuld, die Sie durch seine Veröffentlichung auf sich geladen haben, durch neue Schöpfungen wieder gutmachen, die an Ihre früheren Werke erinnern. Salzbrunn, den 15. Juli 1847. IV. Gogol an Bjelinski[8] [Fußnote 8: Von diesem Brief ist nur das ursprüngliche Konzept vorhanden. Es umfaßt zwei auf Briefpapier geschriebene Hefte in Oktavformat. Beide Hefte wurden von Gogol in Stücke gerissen, so daß jedem Heft ungefähr zehn Blätter entsprachen. Der russische Herausgeber hat die einzelnen Stücke wieder aneinander gelegt und den ursprünglichen Wortlaut nach Möglichkeit durch entsprechende Ergänzungen und Einschaltungen wiederherzustellen gesucht. Die fehlenden Stellen sind durch Punkte ersetzt.] Womit sollte ich meine Antwort auf Ihr Schreiben beginnen, wenn nicht mit Ihren eigenen Worten: »Kommen Sie zu sich, Sie stehen am Rande eines Abgrundes!« Wie weit sind Sie vom geraden Weg abgekommen! In welch verzerrter, entstellter Gestalt erscheinen Ihnen die Dinge! Welch rohe, ungebildete Vorstellung haben Sie von meinem Buche gefaßt! Wie haben Sie es ausgelegt! ... Oh, mögen die heiligen Mächte Frieden in Ihre leidende Seele gießen! Wozu mußten Sie den einmal gewählten friedlichen Weg gegen einen anderen vertauschen? Was konnte herrlicher sein, als die Leser auf die Schönheiten in den Werken unserer Schriftsteller hinzuweisen, ihre Seele und ihre Geisteskräfte bis zum Verständnis alles Schönen zu erheben, die Schauer der in ihnen geweckten Sympathie zu genießen und so unmerklich auf ihre Seele einzuwirken? Dieser Weg hätte Sie zur Versöhnung mit dem Leben geführt, Sie gelehrt, alles in der Natur zu segnen. Jetzt dagegen fließt Ihr Mund von Haß und Galle über ... Wozu mußten Sie mit Ihrer feurigen Seele sich in diesen Strudel des politischen Lebens, in diese trüben Tageskämpfe stürzen, bei denen selbst ein vielseitiger Geist seine Festigkeit und Umsicht verlieren muß. Wie sollten Sie mit Ihrem einseitigen Geist, der die Explosivkraft des Pulvers hat und sich schon entzündet, noch ehe Sie sich davon überzeugt haben, was Wahrheit und was Lüge ist, wie sollten Sie da nicht die Orientierung verlieren? Sie werden verbrennen wie eine Kerze und auch andere mit sich in den Flammentod reißen ... Oh, wie tut mir mein Herz in diesem Augenblicke weh um Ihretwillen! Wie, wenn auch ich mitschuldig wäre? Wie, wenn auch meine Werke an Ihren Verirrungen teilhätten? Aber nein, wenn ich alle meine früheren Werke betrachte, so sehe ich, daß _sie_ Sie nicht irreleiten konnten ... Als ich sie schrieb, hatte ich Ehrfurcht vor allem, wovor sich der Mensch beugen muß. Mein Spott und mein Haß galten nicht der Obrigkeit und nicht den _höchsten_ Gesetzen unseres Staates, sondern ihrem Zerrbild, den Abweichungen, ihrer falschen Auslegung und den verkehrten Anwendungen. Nirgends habe ich über den Kern des russischen Charakters und die gewaltigen Kräfte, die in ihm schlummern, gespottet. Ich habe nur über das Kleinliche und Nichtige gespottet, das nicht zu seinen Charakterzügen gehört. Mein Fehler bestand darin, daß ich den Russen noch nicht deutlich genug charakterisiert, sein Wesen nicht völlig entfaltet, daß ich die tiefen Quellen, die in seiner Seele verborgen liegen, nicht aufgedeckt habe. Aber das ist keine leichte Sache. Wenn ich den Russen auch gründlich erforscht habe und wenn mir auch eine gewisse hellseherische Begabung dabei behilflich sein konnte, so war ich doch nicht durch mich selbst geblendet, meine Augen waren klar. Ich sah, daß ich noch nicht reif genug war, um den Kampf mit Ereignissen, die bedeutsamer und von höherer Art waren, als die, die bis dahin in meinen Werken vorkamen, und mit stärkeren Charakteren aufnehmen zu können. Alles konnte übertrieben und gewaltsam erscheinen. Und so geschah es auch mit diesem Buch, über das Sie so hergefallen sind. Sie haben es mit glühenden Augen betrachtet, und alles darin ist Ihnen in ganz anderem Lichte erschienen, als es in Wirklichkeit ist. Sie haben es nicht verstanden. Ich will mein Buch nicht verteidigen. Ich selbst habe es schlecht gemacht und mache es noch schlecht. Ich habe mich bei seiner Veröffentlichung einer Hast und Übereilung schuldig gemacht, die sonst nicht in meinem besonnenen und vorsichtigen Charakter liegt. Aber das Motiv war ehrlich. Ich wollte niemand mit dem Buch schmeicheln oder Weihrauch streuen. Ich wollte nur ein paar allzu stürmische Köpfe zur Besonnenheit mahnen, die im Begriffe waren, sich zu verirren und in diesen Strudel und diese Unordnung zu stürzen, in die plötzlich alle Dinge dieser Welt gestürzt waren, zu einer Zeit, wo der Geist in unserem Innern sich zu umnachten schien und gleichsam erlöschen wollte. Ich bin in Übertreibungen verfallen, aber ich versichere es Ihnen, ich habe es selbst nicht gemerkt. Eigennützige Ziele aber habe ich weder früher gehabt, als mich die Lockungen der Welt anzogen, noch viel weniger aber jetzt, wo es Zeit ist, daß ich an meinen Tod denke ... Ich wollte mir nichts dadurch erbetteln. Das liegt nicht in meiner Art. Gottlob, ich habe meine Armut liebgewonnen und würde sie niemals gegen jene Güter eintauschen, die Ihnen so verlockend erscheinen. Sie hätten doch mindestens daran denken sollen, daß ich keinen Winkel mein eigen nenne, ja ich bin sogar darum bemüht, meinen kleinen Reisekoffer möglichst zu erleichtern, damit mir der Abschied von der Welt nicht zu schwer wird. Sie hätten sich also hüten sollen, solche beleidigende Verdächtigungen gegen mich zu schleudern, die ich offen gestanden nicht einmal gegen den gemeinsten Schuft zu erheben den Mut gehabt hätte ... Sie entschuldigen sich damit, daß der Brief im Zustande heftiger Empörung geschrieben ist. Aber in welch einer Stimmung wagen Sie es, so respektlos von den wichtigsten Dingen zu reden? Wie soll ich mich gegen Ihre Angriffe verteidigen, wenn Ihre Angriffe ihr Ziel verfehlen? -- Nein, ein jeder von uns muß daran erinnert werden, daß sein Beruf heilig ist. -- Er sollte daran denken, welch strenge Rechenschaft von ihm gefordert werden wird ... Aber wenn der Beruf eines jeden von uns heilig ist, so ist es vor allem das Amt dessen, dem die schwere und furchtbare Pflicht zugefallen ist, für Millionen zu sorgen. Ja wir müßten einander sogar an die Heiligkeit unserer Pflichten mahnen. Ohne dies würde der Mensch in rein materiellen Gefühlen versinken. -- Oder glauben Sie, das wisse kein Mensch in Rußland? Sehen wir einmal genauer zu, woher das kommt. Rührt diese Neigung zum Luxus und diese furchtbare Häufung der Laster nicht daher, weil jeder sein _eigenes Steckenpferd_ hat? Der eine guckt nach England, ein anderer nach Preußen, ein dritter nach Frankreich hinüber; der eine schwört auf die einen Prinzipien, ein anderer auf andere; der eine kommt uns mit dem einen Projekt, ein anderer mit einem anderen. Soviel Köpfe soviel Sinne ... Und da sollte es bei einer solchen Uneinigkeit keine Diebe und Gauner und kein Unrecht aller Art geben, wenn ein jeder sieht, daß sich uns überall Hindernisse in den Weg stellen, wo ein jeder nur an sich und daran denkt, wie er sich ein recht warmes Plätzchen verschaffen könnte? ... Sie sagen, Rußlands Heil liege in der europäischen _Zivilisation_; aber was ist das für ein unbestimmtes uferloses Wort? Wenn Sie doch wenigstens klar definiert hätten, was man unter dem Namen der europäischen Zivilisation verstehen soll! Dazu gehören sowohl die Phalanstère, die Roten und alle möglichen Kategorien anderer Leute, die allesamt bereit sind, einander aufzufressen, und die alle solch umstürzlerische destruktive Prinzipien haben, daß in Europa jeder denkende Kopf zittert und sich unwillkürlich fragt: wo ist denn nun unsere Zivilisation? Ein leeres Phantom hat die Gestalt dieser Zivilisation angenommen ... Wo haben Sie ferner die Meinung hergenommen, daß ich einen Hymnus auf unsere Geistlichkeit gedichtet habe? Ich habe gesagt, die Predigt des Priesters der morgenländischen Kirche solle in seinem Leben und in seinen Taten bestehen. Und woher kommt dieser Geist des Hasses bei Ihnen? Ich habe sehr viel schlimme Pfarrer gekannt und kann Ihnen sehr viele komische Anekdoten über sie erzählen, aber dafür bin ich auch solchen Priestern begegnet, über deren heiligen Lebenswandel und über deren hohe Taten ich staunen mußte, und ich sah, daß sie Produkte unserer morgenländischen und nicht solche der abendländischen Kirche waren. Es ist mir also gar nicht eingefallen, einen Hymnus auf unsere Geistlichkeit zu singen, die unsere Kirche schändet, wohl aber auf die Geistlichen, die dazu beitragen, sie zu erhöhen. Wie merkwürdig ist doch meine Lage, daß ich mich gegen Angriffe verteidigen muß, die sich alle gar nicht gegen mich und gegen mein Buch richten! Sie sagen, Sie hätten mein Buch angeblich hundertmal gelesen, während Ihre eigenen Worte davon zeugen, daß Sie es nicht ein einziges Mal gelesen haben. Der Zorn hat Ihre Augen umnebelt und trägt die Schuld, daß Sie nichts in seinem wahren Lichte gesehen haben. Hie und da leuchtet ein Funke von Wahrheit inmitten eines ungeheuren Haufens von Sophismen und unüberlegter jugendlicher schwärmerischer Verirrungen auf. Aber welcher Mangel an Bildung! Wie kann man es wagen, bei so einem geringen Fond von Kenntnissen von so großen Erscheinungen zu sprechen? Sie scheiden die Kirche vom Christentum, dieselbe Kirche und dieselben Priester, die durch ihren Märtyrertod die Wahrheit jedes Wortes, das aus Christi Munde kam, besiegelt haben, von denen Tausende durch das Messer und das Schwert des Mörders umkamen, für den sie beteten, bis sie schließlich ihre Henker ermüdeten, so daß die Sieger den Besiegten zu Füßen fielen und die ganze Welt sich zu ihrer Lehre bekannte. Und diese selben Priester, diese Bischöfe und Märtyrer, die das Heiligtum der Kirche auf ihren Schultern durch alle Fährnisse hindurchgetragen und gerettet haben, wollen Sie von Christus scheiden, indem Sie sie falsche Ausleger der Lehre Christi nennen! Wer kann denn dann heute Ihrer Ansicht nach Christus besser und genauer auslegen? Etwa die heutigen Kommunisten und Sozialisten, die da behaupten, Christus habe geboten, den Menschen ihr Eigentum wegzunehmen und die auszuplündern, die sich ein Vermögen erworben haben? Kommen Sie doch zur Besinnung -- wohin sind Sie geraten? Sie erklären, daß Voltaire dem Christentum einen Dienst geleistet habe, und sagen, das sei jedem Gymnasiasten bekannt. Als ich noch auf dem Gymnasium war, habe ich selbst _damals_ nicht für Voltaire geschwärmt. Ich war schon damals klug genug, um zu sehen, daß Voltaire ein gewandter Witzling, aber keineswegs ein tiefer Mensch war. Für einen Voltaire konnte weder ein Puschkin, noch ein Ssuworow schwärmen, wie überhaupt kein mehr oder weniger umfassender Geist. Voltaire ist trotz aller seiner glänzenden _Aperçus_ immer nur der Franzose geblieben, der davon überzeugt ist, daß man lachend und scherzend von allen hohen Gegenständen sprechen kann. Von ihm kann man sagen, was Puschkin von den Franzosen im allgemeinen gesagt hat: Der Franzos ist ein Kind, Er stürzt geschwind Einen Thron über Nacht, Schafft Gesetz und Macht, Ist schnell -- wie der Blitz Und leer wie der Witz. Er reizt und macht, Daß man staunt und lacht -- -- -- -- -- -- -- Man kann nicht auf Grund einer oberflächlichen journalistischen Bildung über solche Gegenstände urteilen. Dazu muß man die Geschichte der Kirche studiert haben. Dazu muß man die ganze Geschichte der Menschheit verständnisvoll und mit Überlegung aus den Quellen selbst kennen lernen und nicht etwa aus modernen oberflächlichen Broschüren, die Gott weiß wer geschrieben hat. Dieses flache enzyklopädische Wissen zerstreut den Geist nur und konzentriert ihn nicht. Was soll ich Ihnen auf Ihre schroffen Bemerkungen über den russischen Bauern sagen -- Bemerkungen, die Sie mit so viel Selbstvertrauen und Sicherheit vorbringen, als ob Sie Gott weiß wie lange mit den Bauern zu tun gehabt hätten? Was soll ich dazu sagen, wenn doch Tausende von Kirchen und Klöstern, die das russische Land erfüllen und die nicht aus den Mitteln, die von den Reichen gestiftet, sondern aus den armseligen Groschen der Besitzlosen erbaut werden, eine so überzeugende Sprache sprechen! ... Nein, ein Mensch, der sein Leben lang in Petersburg zugebracht hat und es beständig mit leichten Zeitungsaufsätzen französischer Romanschreiber zu tun hat, die sich so in ihre Ideen verrannt haben, und der nicht merkt, in welcher verzerrten Form und wie töricht das Leben bei ihnen dargestellt ist, nein, ein solcher Mensch kann nicht über das Volk urteilen. Gestatten Sie mir auch zu bemerken, daß ich mehr Recht habe, über das russische Volk zu sprechen, _als Sie_. Alle meine Werke zeugen, nach der einstimmigen Überzeugung aller Leute, von einer gründlichen Kenntnis des russischen Wesens; sie sind die Schöpfungen eines Schriftstellers, der das Volk ernsthaft studiert und beobachtet hat und vielleicht schon die Gabe besitzt, sich in seine Lebensgewohnheiten hineinzuversetzen, was auch Sie in Ihren Kritiken zugestanden haben. Was aber wollen _Sie_ zum Beweise Ihrer Kenntnis des russischen Wesens anführen? Was haben Sie geschrieben, woraus eine solche Kenntnis hervorginge? Das ist ein großer Gegenstand, und darüber könnte ich Ihnen ganze Bücher vollschreiben. Sie würden sich schämen, daß Sie den Ratschlägen, die ich einem Gutsbesitzer erteile, solch einen plumpen Sinn untergelegt haben. Diese Ratschläge mögen eine noch so geringe Bedeutung haben, sie enthalten jedenfalls keineswegs einen Protest gegen die Volksbildung ... sondern höchstens einen Protest gegen die Korruption des russischen Volkes durch die Literatur, während doch die Schriftkunde uns gegeben ward, um den Menschen zur höchsten Klarheit zu führen. Überhaupt erinnern Ihre Urteile über die Gutsbesitzer an die Zeiten Von-Wisins. Seit jener Zeit hat sich vieles, sehr vieles in Rußland verändert, und seitdem ist sehr viel Neues entstanden. Daß die Aufsicht und Autorität eines Gutsbesitzers, der die Universität besucht und folglich für vieles ein Gefühl hat, ... weit günstiger und vorteilhafter für die Bauern ist, ... wie es ja auch viele Gegenstände gibt, über die wir rechtzeitig nachdenken sollten, ehe wir mit dem himmelstürmenden Feuer des Jünglings oder Ritters darüber reden ... Überhaupt bemüht man sich bei uns weit mehr um die Änderung der Namen und der Ausdrücke, als um das Wesen der Sache ... Sie sollten sich schämen, in unseren Diminutiven, mit denen wir mitunter sogar unsere Freunde benennen, einen Ausdruck der Knechtung und Unterdrückung zu sehen. Auf solche kindische Folgerungen wird man geführt, wenn man eine falsche Ansicht von den wichtigsten und wesentlichsten Dingen hat. Sodann bin ich auch über das kühne Selbstvertrauen und die Sicherheit erstaunt, mit der Sie erklären: »Ich kenne unsere Gesellschaft und den Geist, der sie beseelt.« Wie kann man für dies sich jeden Augenblick verwandelnde Chamäleon einstehen? Durch welche Tatsachen können Sie beweisen, daß Sie die Gesellschaft kennen? Welche Mittel besitzen Sie dazu? Haben Sie etwa irgendwo in Ihren Werken bewiesen, daß Sie ein tiefer Kenner der menschlichen Seele sind? Sie, der Sie fast nie mit den Menschen und der Welt in Berührung kommen, der Sie das friedliche Leben eines Journalisten führen und stets nur mit Feuilletonartikeln beschäftigt sind, wie sollten Sie einen Begriff von jenem furchtbaren Schreckbilde haben, das uns durch unerwartete Erscheinungen in seine Falle lockt; geraten doch alle jungen Schriftsteller in diese Falle hinein, die über alles in der Welt und die ganze Menschheit reden, während es um uns herum genug Dinge gibt, um die wir uns kümmern sollten. Wir sollten zuerst einmal diese Aufgaben erfüllen, dann würde es der Gesellschaft schon ganz von selbst gut gehen. Wenn wir dagegen unsere Pflichten gegen die uns nahestehenden Menschen vernachlässigen und dem Wohl der Gesellschaft nachjagen, so geraten wir auf Abwege ... ebenso ... Ich bin in der letzten Zeit vielen vortrefflichen Menschen begegnet, die über diese Sache völlig die Orientierung verloren haben. Viele denken, wenn sie sehen, daß die Gesellschaft sich auf einem Abweg befindet und daß die Dinge immer verworrener werden, daß man die Welt durch allerhand Reorganisationen und Reformen oder dadurch, daß man sie in dieser oder jener Weise umgestaltet, verbessern könne. Andere glauben, man könne mit Hilfe einer besonderen, recht mittelmäßigen Literatur, die Sie Belletristik nennen, erzieherisch auf die Gesellschaft wirken. Das sind Träume! Abgesehen davon, daß selbst die gelesensten Bücher daliegen, ohne Nutzen zu bringen ... sind auch die Früchte ... wenn überhaupt welche daraus erwachsen, ganz anderer Art, als der Autor glaubt; vielmehr sind sie häufig so beschaffen, daß er entsetzt vor ihnen zurückweicht ... Die Gesellschaft bildet sich von selbst, sie setzt sich aus Einheiten zusammen. Jede dieser Einheiten muß ihre Pflicht und Schuldigkeit tun ... Der Mensch muß eingedenk sein, daß er nichts weniger als ein Stück Materie, daß er kein Vieh ist, sondern ein hoher Bürger des hohen himmlischen Bürgerreichs, und so lange nicht ein jeder wenigstens zum Teil sein Leben dem Geiste dieses himmlischen Bürgerreichs entsprechend gestalten wird, wird es auch im irdischen Gemeinwesen keine Ordnung geben. Sie sagen, Rußland hätte lange vergeblich gebetet. O nein, Rußland hat im Jahre 1612 gebetet und das Land vor den Polen gerettet; dann hat es 1812 noch einmal gebetet und das Land vor den Franzosen gerettet. Oder nennen Sie das beten, wenn ein Tausendstel aller Menschen betet und alle übrigen vom Morgen bis zum Abend bummeln und zechen ... wenn sie bei jeder Schaustellung dabei sind und ihre letzte Habe verpfänden, um nur allen Komfort zu genießen, den uns die europäische Zivilisation samt all ihren Torheiten beschert hat. Nein, lassen wir diese Träume ... Lassen Sie uns ehrlich unsere Pflicht tun. Wir wollen uns bemühen, unsere Talente nicht in der Erde zu vergraben. Wir wollen unser Handwerk gewissenhaft ausüben. Dann wird alles gut gehen, und die Lage der Gesellschaft wird sich ganz von selbst bessern ... Die Gutsbesitzer werden auf ihre Güter zurückkehren. Die Beamten werden erkennen, daß man kein üppiges, verschwenderisches Leben zu führen braucht, und werden aufhören, Geschenke anzunehmen. Die Ehrgeizigen aber werden sehen, daß eine hohe Stellung weder mit einem hohen Gehalt, noch mit großen Geldeinnahmen verknüpft ist ... weder sie noch ich sind geboren ... Gestatten Sie mir, Sie an Ihre frühere Tätigkeit zu erinnern. Der Literat lebt für die Wahrheit. Er soll der Kunst ehrlich dienen und den Seelen dieser Welt Frieden und nicht Haß und Feindschaft einhauchen. Machen Sie den Anfang und fangen Sie noch einmal an, zu lernen! Studieren Sie die Dichter und Weisheitslehrer, die erzieherisch auf den Geist wirken. Die journalistische Tätigkeit laugt die Seele aus, man entdeckt plötzlich eine innere Leere in sich. Denken Sie daran, daß Sie nur eine oberflächliche Bildung genossen und nicht einmal die Universität beendigt haben. Machen Sie das durch die Lektüre großer Werke und nicht durch Beschäftigung mit modernen Broschüren wieder gut, die aus einem erhitzten Gemüt entspringen, das von der geraden gesunden Ansicht der Dinge ablenkt. V. Fragment aus demselben Brief, das an einer anderen Stelle aufgefunden worden ist Sie haben meine Worte über das Lesen und Schreiben ganz buchstäblich verstanden und ihnen einen zu engen, begrenzten Sinn untergelegt. Diese Worte waren an einen Gutsbesitzer gerichtet, dessen Bauern Landwirte sind. Es kam mir beinahe komisch vor, daß Sie aus diesen Worten den Schluß ziehen konnten, als wollte ich die elementare Volksbildung bekämpfen; als ob jetzt davon die Rede wäre -- wo das doch eine Frage ist, die unsere Väter längst gelöst haben! Unsere Väter und Großväter haben, selbst wenn sie selbst Analphabeten waren, entschieden, daß die Elementarbildung etwas Notwendiges sei. Aber darum handelt es sich ja gar nicht. Der Gedanke, der mein ganzes Buch durchzieht, ist dieser: wie man erst _die_ Menschen aufklären könne, die in nahem Verkehr mit dem Volke stehen, und _dann erst_ das Volk selbst. Alle diese kleinen Beamten und Regierungsvertreter, die alle lesen und schreiben können und sich dabei doch soviel Mißbräuche zuschulden kommen lassen ... Glauben Sie mir, es ist viel notwendiger, daß wir die Bücher, die Ihrer Ansicht nach so nützlich für das Volk sind, für diese Leute herausgeben. Das Volk ist weit weniger verdorben, als diese ganze lese- und schreibkundige Gesellschaft. Dagegen Bücher für diese Leute herauszugeben, Bücher, die ihnen das Geheimnis offenbaren, wie man mit dem Volk und mit den ihnen anvertrauten Untergebenen umgehen muß -- nicht in dem umfassenden Sinne, wie ihn die oft wiederholten Worte ausdrücken: »_Stiehl nicht, sei rechtschaffen und ehrlich_« oder »Denke daran, daß deine Untergebenen ebensolche Menschen sind wie du« -- sondern, die sie belehren, wie man es anfängt, nicht zu stehlen, und daß das Recht wirklich eingehalten werde ... VI. Gogol an W. G. Bjelinski[9] [Fußnote 9: Dieser Brief stellt Gogols Antwort auf Bjelinskis oben mitgeteiltes Schreiben dar. Es ist offenbar ein zweiter Brief, den Gogol an Stelle des oben abgedruckten ersten, später in Stücke gerissenen, geschrieben hat.] Ostende, den 10. August 1847. Ich konnte nicht gleich auf Ihren Brief antworten. Meine Seele ist ganz matt, ich fühle mich in meinem tiefsten Inneren erschüttert. Ich kann wohl sagen, es gibt keine empfindliche Seite in mir, die nicht aufs schwerste getroffen war, noch ehe ich Ihren Brief erhalten hatte. Ich habe Ihren Brief beinahe in einem zustande völliger Gefühllosigkeit gelesen, trotzdem aber war ich nicht imstande, ihn zu beantworten. Und was hätte ich auch antworten sollen! Gott weiß, vielleicht enthalten Ihre Worte wirklich etwas Wahres. Ich will Ihnen nur sagen, daß ich gelegentlich meines Buches ungefähr fünfzig verschiedene Briefe erhalten habe, aber kein einziger gleicht dem anderen, es gibt keine zwei Leute, die dieselbe Ansicht über einen Gegenstand haben: was der eine verwirft, das behauptet der andere. Und doch gibt es auf beiden Seiten gleich edle und gescheite Menschen; die einzige nicht zu bezweifelnde Lehre, die ich aus alledem entnehmen zu können glaubte, war die, daß ich Rußland überhaupt nicht kenne, daß sich sehr vieles verändert hat, seit ich nicht mehr dort war, und daß man heute beinahe alles, was es dort gibt, von neuem kennen lernen muß, und daraus zog ich für meinen Teil folgenden Schluß: daß ich nichts mehr veröffentlichen und vor das Publikum bringen darf; weder lebendige Anschauungen meiner Phantasie, noch selbst zwei Zeilen aus irgendeinem Werk, solange ich nicht in Rußland war, eine Zeitlang dort gelebt und mich mit eigenen Augen von vielem überzeugt und vieles mit eigenen Händen befühlt haben werde. Ich sehe, daß viele, die mich beschuldigt haben, manches nicht zu kennen und manche Seiten des Lebens nicht berücksichtigt zu haben, selbst in vielen Punkten eine große Unkenntnis an den Tag legen und damit beweisen, daß sie selbst viele Seiten des Lebens nicht in Betracht gezogen haben. Nicht alle Klagen sind an unser Ohr gedrungen, und wir haben nicht alle Leiden in ihrer ganzen Schwere ermessen. Mir will es sogar so scheinen, daß nicht jeder von uns die gegenwärtige Zeit versteht, eine Zeit, in der der Geist völliger Disharmonie und Unordnung deutlicher als je zutage tritt. Wie dem auch sein mag, jetzt kommt alles zum Vorschein: jedes Ding will berücksichtigt sein, das Alte und das Neue fordern einander zum Kampfe heraus, und man braucht nur auf der einen Seite in Übertreibungen und Maßlosigkeiten zu verfallen, damit sich auch die andere Seite sofort derselben Übertreibungen und Maßlosigkeiten schuldig macht. Die gegenwärtige Zeit ist das Zeitalter besonnener vernünftiger Überlegung: ohne sich zu erhitzen, wägt sie alles ab und zieht sie alle Seiten der Dinge in Betracht, denn ohne dies ist es unmöglich, die rechte Mitte, das vernünftige Maß der Dinge kennen zu lernen. Sie verlangt von uns, daß wir Umschau halten mit dem vielseitigen Blick des Greises, und daß wir nicht mit dem heißen Draufgängertum der alten Ritter vorgehen. Diesem Zeitalter gegenüber sind wir reine Kinder. Glauben Sie mir, Sie und ich haben beide unsere Pflicht gegen unsere Zeit nicht erfüllt. Ich wenigstens bin mir darüber klar, aber sind auch Sie sich dessen bewußt? Ebenso wie ich die gegenwärtigen Dinge und viele Umstände übersehen habe, die ich hätte berücksichtigen müssen, ebenso haben auch Sie vieles übersehen; wenn ich mich zu sehr in mich selbst zurückgezogen habe, so haben Sie sich zu sehr zerstreut. Wie ich noch vieles kennen lernen muß, was Sie schon wissen und was ich nicht weiß, so müßten Sie wenigstens einen Teil davon kennen lernen, was ich weiß und was Sie zu Unrecht vernachlässigt und übersehen haben. Jetzt aber denken Sie vor allem an Ihre Gesundheit; vergessen Sie die modernen Probleme für eine Weile. Sie werden später mit größerer Frische und also auch mit größerem Nutzen für Sie selbst wie für die Probleme zu diesen zurückkehren. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß Ihnen jener Seelenfriede zuteil werde, der unser höchstes Gut ist, ohne den man nicht wirken und auf keinem Gebiete vernünftig handeln kann. N. Gogol. Nachtrag Band VII und VIII Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden (Die wörtliche Übersetzung des Titels lautet: _Ausgewählte Stellen_ aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden.) Den Plan, eine Auswahl von Stücken aus seinem Briefwechsel herauszugeben, faßte Gogol bereits im Beginn des Jahres 1845; an die Ausführung seiner Idee ging er jedoch erst im April 1846 heran. Ehe er das Manuskript an Pletnjew absandte, unterzog er sämtliche Stücke, die er in Buchform herauszugeben gedachte, einer gründlichen Korrektur und Überarbeitung. Zu allererst wurde das VII. Kapitel: _Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee._ An W. M. Jasykow (Band VII, Seite 55 ff.) für den Druck umgearbeitet, redigiert und dann am 4. Juli 1846 an Pletnjew zur Veröffentlichung in dessen Zeitschrift gesandt. -- Am 30. Juli desselben Jahres erhält Pletnjew von Gogol aus Schwalbach: _Die Vorrede_ (Band VII, Seite 1 ff.) und die ersten sechs Stücke des »Briefwechsels« zugeschickt. Zwischen dem 13. und 24. August folgen aus Ostende weitere sieben Aufsätze (Nr. 8-14, Band VII, Seite 73-149) und am 12. September neuen Stils -- gleichfalls aus Ostende -- nochmals sieben Kapitel (Nr. 15-21, Band VII, Seite 151-253). Am 26. September sendet Gogol Pletnjew aus Ostende ein viertes Heft mit neun Kapiteln (Band VII, Nr. 22-30, Seite 255-367). Am 3. Oktober neuen Stils schickt Gogol aus Frankfurt zwei Korrekturen zu dem Aufsatz: An _einen hochgestellten Mann_ ein (Band VII, Nr. 28, Seite 323). Am 16. Oktober endlich erfolgt von Frankfurt a. M. aus die Absendung der beiden letzten Kapitel und einer Korrektur zum 10. Kapitel: _Über das Lyrische bei unseren Poeten._ An W. A. Schukowski (Band VII, Seite 85 ff.). Die _Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden_ erschien im Dezember des Jahres 1846. Die Unterschrift des Zensors ist vom 18. August 1846 datiert, bezieht sich jedoch wahrscheinlich nur auf das erste Heft; im Oktober ergaben sich Schwierigkeiten bei der Drucklegung: der Zensor wollte den Abdruck einzelner Partien und sogar ganzer Kapitel nicht gestatten; daher mußten fünf Briefe: Nr. 19, 20, 21, 26 und 28 (Band VII, Seite 203, 209, 227, 307 und 323) gänzlich wegfallen. Diese Kapitel, sowie die von der Zensur gestrichenen Partien erschienen später in der »Gesamtausgabe« von Gogols Werken vom Jahre 1867, die von _Tschischow_ veranstaltet wurde. Die von der Zensur beanstandeten Stellen stehen in unserer Ausgabe in eckigen Klammern. Ferner bat Gogol selbst Pletnjew in einem Brief vom 16. Oktober 1846, »die ganze Stelle zu streichen, die von der Bedeutung der monarchischen Gewalt und ihrer weltlichen Erscheinungsform handelt, und durch den Abschnitt auf der letzten Seite des Heftes zu ersetzen«. Die neue veränderte Fassung des Textes beginnt mit den Worten: »Diese Bedeutung des Herrschers wird allmählich auch in Europa ...« (Band VII, Seite 100, Zeile 3 v. o.) und schließt mit dem Satze: »daher nehmen ihre Töne einen biblischen Charakter an« (Band VII, Seite 102, Zeile 3 v. o.). Wir lassen hier die umgearbeitete Stelle folgen, wie sie von Tschischow nach dem Manuskript nachträglich in seiner Gesamtausgabe der Werke Gogols abgedruckt wurde (Band III, Seite 374 bis 376): »Die souveräne Gewalt des Monarchen wird keineswegs an Bedeutung verlieren, sondern in dem Maße, wie die ganze Menschheit an Bildung zunehmen wird, nur noch wachsen. Je mehr jeder Beruf und Stand die ihm gesteckten gesetzlichen Grenzen einhalten wird und die gegenseitigen Beziehungen aller Menschen genauer bestimmt und normiert werden, um so deutlicher wird sich die Notwendigkeit einer höchsten Obergewalt herausstellen, die die ganze Macht der einzelnen Individuen in sich vereinigt und alle höchsten Vorzüge und Tugenden, die den Menschen geradezu Gott ähnlich machen, in Erscheinung treten läßt -- jene höchsten kollektiven Attribute und Eigenschaften, die der einzelne Mensch nicht besitzen kann. Eine ganze Million wie einen Menschen liebgewinnen -- das ist weit schwerer, als nur wenige unter dieser Million lieben; die Leiden aller Menschen so intensiv mitempfinden wie den Schmerz unseres liebsten Freundes und an die Rettung aller Menschen bis auf den letzten denken, wie man wohl auf die Rettung der eigenen Familie hofft, -- das kann nur _der_ in vollem Maße, dem dies zum unerschütterlichen Gebot gemacht ward und der da fühlt, daß er für die Verletzung dieses Gebotes vor Gott ebenso furchtbare Rechenschaft wird ablegen müssen, wie jedes einzelne Individuum für die Verletzung seiner Pflicht in seinem besonderen Wirkungskreis Rechenschaft geben wird. Wenn diese höchste leitende Obergewalt dahinfiele -- so würde der menschliche Geist verarmen. Diese souveräne Herrschergewalt des Monarchen wird heute nur deshalb angezweifelt, weil ihre ganze Bedeutung weder den Herrschern noch den Untertanen aufgegangen ist. Die monarchische Gewalt -- ist eine Torheit, wenn der Monarch nicht fühlt, daß er das Abbild Gottes auf Erden sein soll. Selbst wenn er noch so sehr das Gute will, wird er sich in seinen Handlungen nicht mehr zurechtfinden können, besonders bei der gegenwärtigen Ordnung der Dinge in Europa; sowie er jedoch zur Erkenntnis kommt, daß er die Aufgabe hat, den Menschen ein Abbild Gottes zu sein, wird für ihn alles klar und deutlich werden und wird auch Klarheit in sein Verhältnis zu seinen Untertanen kommen. Dann wird er sich nicht mehr einen Napoleon, einen Friedrich, einen Peter, eine Katharina oder einen Ludwig zum Muster nehmen, wie überhaupt keinen von den Fürsten, denen die Welt den Namen des Großen beilegt, und deren Bestimmung es war, infolge der zeitlichen Verhältnisse und Umstände außer der königlichen Würde auch noch die Rolle eines Feldherrn, Neugestalters oder Reformators auf sich zu nehmen, kurz nur eine einzelne Seite glanzvoll in sich zu verkörpern, was die unbedeutenderen Nachahmer irreleitet und so viele Fürsten in Versuchung führt. Er wird sich vielmehr die Handlungen Gottes selbst zum Vorbild nehmen, die aus der Geschichte der Menschheit so vernehmbar zu uns reden und die noch deutlicher in der Geschichte _des_ Volkes in Erscheinung treten, das Gott dazu auserwählt hatte, von Ihm Selbst regiert zu werden, um den Königen zu zeigen, wie regiert werden muß. Und wie wahrhaft göttlich hat Er regiert! Wie verstand Er es, Sein Volk mehr denn alle anderen Völker zu lieben! Mit welch väterlicher Liebe lehrte und unterwies Er es und mit welch himmlischer Geduld wartete Er auf seine Wandlung und Besserung. Wie ungern erhob Er Seine strafende Geißel wider Sein Volk! Wie beeilte Er Sich Selbst _dann_ noch nicht, als die Gottlosigkeit und die Sünden des Volkes zum Himmel schrien, es zu strafen, sondern sprach: >Ich will Selbst zur Erde hinabsteigen und zusehen, ob das Unrecht und die Sündhaftigkeit wirklich so groß sind!< Und wer war es, der so sprach? Der Allwissende, für alles Sorgende, der die Könige dieser Erde zur Vorsicht und Behutsamkeit mahnt! Wie Er ja auch Seine Strafen nicht deshalb verhängte, um den Menschen zu vernichten, den zu vernichten ja gar nicht schwer ist, sondern um ihn zu erretten, weil es _sehr_ schwer ist, ihn zu erretten, und um seine gefühllose Natur durch eine starke Erschütterung und ein Weckmittel aufzurütteln, ihm die ganzen Schrecken des Zieles, dem er in seiner Unwissenheit zustrebt, vor Augen zu führen und ihn dadurch zu mahnen, daß es noch Zeit wäre, an seine Rettung zu denken! Wie Er ja auch, da Er die unbestechliche sieghafte Macht Seiner unüberwindlichen Wahrheit und Gerechtigkeit kannte, alles tat, auf daß der schwache und ohnmächtige Mensch ihr nicht unterliege: sandte Er ihm doch Seine Propheten, daß sie erfüllt von Liebe zu ihren Brüdern und, nachdem sie eine Sprache gefunden, die den Menschen verständlich war, sie zur Besinnung brächten; Er, der sich entschloß, da Er endlich sah, daß alles vergeblich war, daß nichts sie zur Vernunft bringen könne und daß es kein Mittel gäbe, die Menschen Seiner unabwendlichen Gerechtigkeit zu entziehen, Sich Selbst für alle zum Opfer zu bringen, um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit zu besiegen und den Menschen zu beweisen, daß eine solche Liebe höher ist, denn alles, was es gibt, daß sie an sich selbst die höchste himmlische Gerechtigkeit ist! Alles ward von Gott gesagt für den, der vor den Menschen in sich selbst Sein Abbild zur Darstellung bringen will, hat Er ihn doch gelehrt, wie er handeln soll. Um aber die Könige zu unterweisen, wie sie sich gegen Ihn Selbst, den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren, verhalten sollen, schenkte Er ihnen die Vorbilder der von Ihm Selbst gesalbten Könige David und Salomo, die mit ihrem ganzen Sein in Gott lebten, wie in ihrem eigenen Hause und die in ihrem Königstume das weise Zusammenwirken zweier Mächte -- der geistlichen und weltlichen -- verkörperten, und zwar in der Weise, daß nicht bloß keine von beiden die andere störte und hemmte, sondern daß sie sich gegenseitig noch stärkten und befestigten. So enthält das heilige Buch Gottes eine vollkommene Definition des Monarchen, dieses völlig von uns isolierten Wesens, dem auf Erden eine so schwere Aufgabe zuteil ward: nachdem er alles vollbracht, was jedes Menschen Aufgabe ist, und Christus in seinem ganzen Tun und Handeln bis in die kleinsten Einzelheiten seines Alltagslebens gleichgeworden ist, zu alledem auch noch in den erhabensten Äußerungen seiner Tätigkeit gegenüber allen Menschen Gott Vater gleich zu werden. In diesem Buche ist eine vollkommene Definition des Monarchen enthalten, die man nirgends sonst findet. Auf diese Definition ist noch keiner der europäischen Rechtsgelehrten gekommen, bei uns aber haben die Dichter etwas von ihr geahnt und vernommen, daher nehmen ihre Töne auch einen biblischen Charakter an.« Der ursprüngliche Text der Aufsätze und Privatbriefe Gogols an seine Freunde, die in dem »Briefwechsel« Aufnahme fanden und erst nach einer durchgreifenden Reinigung und Umarbeitung zur Veröffentlichung an Pletnjew gesandt wurden, stammt aus den verschiedensten Zeiten der Periode von 1843-1846, und zwar ist die Zahl der Stücke um so geringer, je mehr wir uns der ersten Hälfte des Jahres 1843 nähern. Von den Briefen dieser Epoche hat Gogol nur sehr wenige der Aufnahme in die Ausgewählten Stellen aus seinem Briefwechsel für würdig erachtet. Aus dem Jahre 1843 stammen die ersten Entwürfe folgender Artikel: 1) _Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen_ (Band VII, Nr. 5, Seite 43) und 2) _Die drei ersten Briefe über die Toten Seelen_ (Band VII, Nr. 18, Seite 175). Aus dem Jahre 1844 stammen folgende Aufsätze und Briefe: 1) _Diskussionen._ Aus einem Briefe an L***. (Band VII, Nr. 11, Seite 111.) 2) _Liebt unser russisches Vaterland._ Aus einem Briefe an den Grafen A. T. (Band VII, Nr. 19, Seite 203.) Dieses Stück stammt aus der zweiten Hälfte des Jahres 1844. 3) _Etwas über die Bedeutung des Worts._ (Band VII, Nr. 4, Seite 35.) Diese Betrachtung ist wahrscheinlich Ende Oktober des Jahres 1844 niedergeschrieben. 4) _Wie man den Armen helfen soll._ Aus einem Briefe an A. O. Sm--rn--wa. (Band VII, Nr. 6, Seite 49.) Ist gegen Ende des Jahres 1844 niedergeschrieben. 5) _Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit._ Zwei Briefe an N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 15, Seite 151.) Der erste Brief ist vom 2. Dezember, der zweite vom 26. Dezember 1844 datiert. 6) _An einen kurzsichtigen Freund._ (Band VII, Nr. 27, Seite 317.) Aus dem Jahre 1845 stammt der erste Entwurf folgender Stücke: 1) _Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee._ An N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 7, Seite 55.) Ein Brief, der zu Beginn des Jahres geschrieben ist. 2) _An einen hochgestellten Mann._ (Band VII, Nr. 28, Seite 323.) Die Idee zu diesem Schreiben rührt vom Ende des Jahres 1844 her. Niedergeschrieben wurde es im Februar und März des Jahres 1845. 3) _Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das Theater und von der Einseitigkeit überhaupt._ An den Grafen A. P. T... (Band VII, Nr. 14, Seite 129) -- ist im März und April 1845 niedergeschrieben. 4) _Lernt Rußland kennen._ Aus einem Briefe an den Grafen P. T. (Band VII, Nr. 20, Seite 209) -- stammt aus derselben Zeit (oder vom Ende des Jahres 1845?). 5) _Mein Testament_ (Band VII, Nr. 1, Seite 9) stammt aus dem Juli(?) 1845. 6) _Über ländliche Pflege und Gerichtsbarkeit_ (Band VII, Nr. 25, Seite 301). 7) _Wessen Los auf Erden das beste ist._ Aus einem Briefe an U. (Band VII, Nr. 29, Seite 359.) Mehr als die Hälfte der Briefe, die in die »Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden« aufgenommen wurden, stammen aus dem Jahre 1846. In einem Brief aus diesem Jahre schreibt Gogol an Schewyrjow: »Während dieser schweren Zeit der Krankheit, zu der sich auch noch schwere seelische Leiden gesellt haben, war ich genötigt, einen so regen Briefwechsel zu unterhalten, wie ich ihn bisher noch nie geführt habe. Und wie mit Absicht war dies beinahe für alle, die meinem Herzen nahestehen, eine Zeit voll innerer Erlebnisse und Erschütterungen. Sie alle wandten sich, wie von einem dunklen Instinkt getrieben, an mich und verlangten Rat und Hilfe von mir« (vgl. Band VII, Seite 163 ff.). »Während der letzten Zeit«, fährt Gogol fort, »kam es sogar vor, daß ich Briefe von Menschen erhielt, die mir fast gänzlich unbekannt waren, und daß ich ihnen Ratschläge erteilen konnte, die ich früher nie hätte erteilen können.« Am meisten von Krankheit gequält war Gogol in den ersten zwei Monaten des Jahres 1846; dies war auch sonst eine sehr schwere Zeit für ihn. Gogol arbeitete während dieser Monate intensiv an der »Auswahl aus dem Briefwechsel«. »Gleichzeitig brauchte er eine Kur, machte er Reisen, war er von schweren Sorgen gequält und mußte sich um Dinge kümmern, von deren Schwierigkeit seine Freunde keine Ahnung hatten.« Zugleich aber mußte er zahlreiche, sehr verschieden geartete Briefe erwidern, die nicht in leichtfertiger, sondern in wohlüberlegter Weise beantwortet sein wollten. Höchstwahrscheinlich erfolgte die Antwort auf einzelne Briefe vor der Öffentlichkeit, d. h. in der »Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden«, und es wäre vergeblich, nach dem ursprünglichen Text der Briefe, die unmittelbar an die Fragesteller gerichtet waren, zu forschen. »Auf Ihren langen Brief«, schreibt Gogol im Jahre 1846 an die Gräfin ***, »... antworte ich ... nicht nur keineswegs in aller Heimlichkeit, sondern wie Sie sehen, _in einem gedruckten Buche_, das vielleicht von der Hälfte aller Menschen in Rußland, die da lesen können, gelesen werden wird« (vgl. Band VII, Seite 309 ff.). Die an Schewyrjow gerichteten Briefe aus der »Auswahl« waren unter den Papieren Schewyrjows nicht zu finden, wahrscheinlich hat er sie auch erst gelesen, als sie bereits gedruckt in Buchform vorlagen. Es ist daher heute noch für den größten Teil der Briefe vom Jahre 1846, die in der »Auswahl« enthalten sind, kaum möglich, die chronologische Reihenfolge genau festzustellen, ebensowenig wie sich zurzeit die Frage beantworten läßt, ob _schriftliche_ Antworten auf die an Gogol gerichteten Fragen vorliegen. In den Papieren Schewyrjows wurde nicht ein Brief Gogols aus dem Jahre 1846 gefunden, der in die Auswahl aus dem Briefwechsel usw. aufgenommen wurde. Aus dem Jahre 1846 stammen folgende Briefe und Aufsätze der »Auswahl«: 1) _Über das Lyrische bei unseren Poeten._ An W. A. Schukowski. (Band VII, Nr. 10, Seite 85.) Dieses Stück wurde 1845 niedergeschrieben und 1846 nochmals umgearbeitet. 2) _Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags und bei den heutigen Zuständen in Rußland sein kann._ (Band VII, Nr. 24, Seite 291.) Dieses Stück stammt etwa aus dem September dieses Jahres und scheint unmittelbar für den Druck bestimmt gewesen zu sein. 3) _Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit._ Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T. (Band VII, Nr. 8, Seite 73) und 4) _Über denselben Gegenstand._ Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T. (Band VII, Nr. 9, Seite 79.) 3 und 4 stammen aus der ersten Hälfte des Jahres 1846. 5) _Der Historienmaler Iwanow._ An M. Ju. Weligurski. (Band VII, Nr. 23, Seite 271.) Dieser Brief, der im Februar oder März dieses Jahres an den Grafen W. abgesandt wurde, wurde nachträglich, d. h. im August oder September, nochmals für den Druck umgearbeitet. 7) _Karamsin._ Aus einem Briefe an N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 13, Seite 123.) Der erste Entwurf dieses Briefes ist am 5. Mai 1846 niedergeschrieben. 8) _Über die Aufklärung._ An W. A. Schukowski. (Band VII, Nr. 17, Seite 167.) Stammt aus dem Juni und Juli dieses Jahres. 9) _Was eine Gouverneursgattin ist._ An Fr. A. O. S. (Band VII, Nr. 21, Seite 227.) Der erste Entwurf dieses Briefes stammt aus der zweiten Juli-Hälfte des Jahres 1845, er wurde am 4. Juli 1846 in neuer verbesserter Fassung an Frau A. O. Smirnowa gesandt und endlich im September 1846 und 1847 für die Drucklegung nochmals umgearbeitet. 10) _Rußlands Schrecken und Grauen._ An die Gräfin *** (Band VII, Nr. 26, Seite 307) ist zu Beginn des August 1846 niedergeschrieben. 11) _Wesen und Eigenart der russischen Poesie._ (Band VII, Nr. 31, Seite 369.) Dieser Aufsatz wurde »während dreier Epochen« geschrieben, er ist 1836 oder 1843 (?) begonnen und im September 1846 für die Drucklegung vollendet. 12) _Die Frau in der vornehmen Welt._ An Frau ***. (Band VII, Nr. 2, Seite 21.) 13) _Der Christ schreitet vorwärts._ An Schtsch--w. (Band VII, Nr. 12, Seite 117.) 14) _Ratschläge._ An S. P. Schewyrew. (Band VII, Nr. 16, Seite 161.) 15) _Der vierte Brief über die Toten Seelen._ (Band VII, Nr. 18, IV, Seite 199.) 16) _Der russische Gutsbesitzer._ An B. N. B. (Band VII, Nr. 22, Seite 255.) Die Originalmanuskripte der letzten fünf Briefe sind unbekannt. Wahrscheinlich sind diese Stücke gleich für die »Auswahl« geschrieben. Der erste Brief wurde am 30. Juli druckfertig abgesandt, der zweite am 13. (25.) August, der dritte und vierte am 12. September neuen Stils, der fünfte am 26. September. Die _Vorrede_ (Band VII, Seite 1 ff.) zur »Auswahl« stammt aus dem August des Jahres 1846. Der Aufsatz: _Auferstehungstag_ (Band VII, Nr. 32, Seite 447) trägt kein Datum. * * * * * Der Brief an _Arkadius Ossipowitsch Rosetti_ (Band VIII, Nr. 1, Seite 1) ist in Neapel geschrieben und wurde am 15. April 1847 abgesandt. _Über den »Zeitgenossen«_; (Sowremennik); (Band VIII, Nr. 2, Seite 11), ein Brief an P. A. Pletnjew, ist vom 4. Dezember 1846 datiert. _Die Beichte des Dichters_ (Band VIII, Nr. 3, Seite 33) ist im Mai 1847 begonnen und noch in demselben Jahre vollendet. Der Brief an _W. A. Schukowski_ (Band VIII, Nr. 4, Seite 101) wurde am 10. Januar 1848 (den 29. Dezember 1847) aus Neapel an Schukowski gesandt. _Die Betrachtungen über die Heilige Liturgie_ (Band VIII, Nr. 5, Seite 115 ff.) wurden im Januar und Februar des Jahres 1845 in Paris konzipiert und in der ersten Fassung noch vor der Abreise nach Jerusalem (d. h. vor dem Januar 1848) vollendet. Nachträglich wurden sie noch bis zum Jahre 1852 mehrfach umgearbeitet[10]. _Hans Küchelgarten._ Dieses Jugendwerk Gogols wurde wahrscheinlich bereits während seiner Schulzeit konzipiert und begonnen. Bald nach Gogols Ankunft in St. Petersburg (1828) ließ er das Werk unter dem Pseudonym _W. Alow_ drucken und gab es den Buchhändlern in Kommission. Es wurde teils gar nicht beachtet teils wie z. B. von Polewoi offenkundig abgelehnt. [Fußnote 10: 1911 ist eine deutsche Übersetzung von K. von Mickwitz in Rendsburg (Heinrich Möller Söhne) erschienen, die dem Herausgeber bei der vorliegenden Ausgabe, besonders für die Ermittlung der Bibelzitate, wertvolle Dienste geleistet hat. Die bibliographischen Anmerkungen und Lesarten zu den bisher aufgeführten Schriften sind der Ausgabe von Tichonrawow und Schenrock entnommen.] _Beilage I-IV. Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski._ (Band VIII, Seite 369.) Dieser Briefwechsel mit dem berühmten russischen Kritiker Wissarion Bjelinski bildet eine wichtige Ergänzung zu der »Auswahl«, da er ein helles Licht auf die Stimmung wirft, aus der dieses Werk entsprungen ist, und weil er geeignet ist, Gogols Ziele und Absichten, die er mit dem Buche verfolgte, schärfer zu beleuchten und ein Bild von der Wirkung zu geben, die der Briefwechsel auf die Zeitgenossen ausübte. Die »Auswahl aus dem Briefwechsel« bezeichnet einen Wendepunkt in Gogols Leben, das von diesem Augenblick an mit unheimlicher Schnelligkeit der Katastrophe zutreibt. Bald nach dem Erscheinen des ersten Bandes der »Toten Seelen« setzt jene innere Krise ein, die so verhängnisvoll für Gogols Schaffen und sein persönliches Schicksal werden sollte. Der Zweifel an dem Zweck und Sinn des Dichterberufs, insbesondere an der Berechtigung seines eigenen dichterischen Stils steigert sich allmählich bis zu einer selbstquälerischen Melancholie, die das ganze menschliche Tun einseitig in den Blickpunkt der religiösen Zielsetzung einstellte. Der religiös-sittliche Zweck allein darf Inhalt und Wesensart der dichterischen Produktion bestimmen. Damit nimmt Gogols Schaffen immer mehr jenen didaktischen Charakter an, wie er so deutlich in dem Briefwerke zum Ausdruck kommt. Das Entwerfen von Mustern sittlicher Größe und Schönheit, Belehrung und Erziehung werden nun zu den höchsten Aufgaben des Dichters. Zugleich aber drängt sich immer kräftiger jener rückwärtsgewandte Zug zu einer passiven, heteronomen sittlichen Lebensauffassung vor, die in der demütigen Unterwerfung unter die gottgewollten Bindungen, in ihrer fügsamen Hinnahme den Sieg der Tugend und damit die Selbsterlösung aus der Wirrnis und den Unzulänglichkeiten der menschlichen Zustände erblickt. Diese Geistesstimmung konnte den »Briefwechsel« zu dem Grundbuch des rückständigen Rußland machen, zu dem Arsenal aller reaktionären Ideologien, die auf alle folgenden Generationen, so z. B. noch auf Dostojewski, bis in die neuere und neueste Epoche fortwirkten. Gegen diese Tendenzen richtete sich schon zu Gogols Zeit der stürmische Protest der europäisch gesinnten russischen Jugend, wie er aus dem von wundervoller Leidenschaft durchpulsten Brief Bjelinskis zu uns spricht. Dieser Brief wird sicherlich Gogol nicht gerecht. In seinem prachtvollen Empörungsausbruch übersieht Bjelinski die radikalen Konsequenzen, die sich aus Gogols Standpunkt ergeben und für die der Zensor ein feineres Verständnis zeigte, als er nicht unbeträchtliche Teile aus dem »Briefwechsel« herausstrich, ebenso wie Bjelinski die tiefen inneren sittlichen Probleme des menschlichen und künstlerischen Gewissens verkennt, die in diesem Werk ihren Ausdruck finden. Und doch liegt in dieser Ungerechtigkeit zugleich eine höhere geschichtliche Gerechtigkeit. In einer von freudigen Hoffnungen kommender großer Ereignisse erfüllten Zeit, die schon den großen Frühlingssturm des Jahres 1848 vorausahnte und sich auf ihn rüstete, mußte Gogols Predigt als ein Produkt dunkelster Reaktion, als das Werk eines finsteren rückwärtsdrängenden Geistes erscheinen. Die Empörung über das Buch war allgemein, nicht allein bei den sogenannten Westlingen und den radikalen Slawophilen, sondern selbst bei Gogols nächsten Freunden, die über den hochmütigen lehrhaften Ton, den Gogol hier angeschlagen hatte, ungehalten waren. 1847 veröffentlichte Bjelinski im zweiten Heft des »Sowremjennik« (Zeitgenossen) eine außerordentlich ungünstige Kritik, die sich zwar aus Zensurrücksichten eines maßvollen Tones befleißigte, aber Gogol, der bisher in Bjelinskis Kritiken nur begeisterter Zustimmung begegnet war, aufs tiefste verletzte. Da er sich den Grund zu Bjelinskis ablehnendem Urteil nicht erklären konnte, war er geneigt, ihn auf persönliche Motive zurückzuführen, wie dies aus Gogols durch die Rezension hervorgerufenem Schreiben an Bjelinski deutlich hervorgeht. Bjelinski befand sich um diese Zeit auf Veranlassung seiner Freunde in Salzbrunn, wo er eine Kur gegen die Schwindsucht brauchte. An einem Julitag des Jahres 1847 setzte er sich hin und verfaßte jenen berühmten Brief (Band VIII, Seite 361), der eine so große Rolle in dem geistigen Freiheitskampf Rußlands gespielt hat. Dieser Brief ist das Manifest des revolutionären Rußland geworden. Zwei weltgeschichtliche Gegensätze stoßen hier in heftigem Zusammenprall aufeinander. Europäertum und konservatives Altrussentum halten hier ihre große Abrechnung. Licht, Sonne, Heiterkeit, Klarheit, freie Selbstbestimmung auf der einen, Dumpfheit, Enge, Gebundenheit, Autorität auf der anderen Seite sind die Losungen, um die in diesem Briefwechsel gekämpft wird. Und es unterliegt keinem Zweifel, auf wessen Seite der Sieg sich neigt. Die Wirkung des Briefes war unbeschreiblich. In tausend Abschriften wanderte er von Hand zu Hand, und bald gab es in den entlegensten Provinzen, wie Asksakow schreibt, keinen Schullehrer, der den Brief nicht auswendig kannte. In allen oppositionellen Konventikeln wurde er mit Begeisterung gelesen und heimlich weiterverbreitet. Bloß der Tod (Bjelinski starb am 28. Mai 1848) rettete den Autor vor der Rache des Despotismus. Mußten doch zahlreiche junge Leute, darunter auch Dostojewski, wegen dieses Schreibens nach Sibirien wandern, lediglich weil sie der Polizei nicht von dessen Existenz Mitteilung gemacht hatten. So kämpfte in diesem Brief der Geist des verstorbenen Bjelinski noch nach seinem Tode tapfer weiter fort, wenn auch zunächst noch mit geschlossenem Visier. Lange war der Brief in Rußland gänzlich verboten. Alexander Herzen veröffentlichte ihn zum erstenmal in seinem in London erscheinenden »Polarstern«. Danach wurde er im Auslande und endlich 1872 auch in Rußland auszugsweise unter Weglassung der schärfsten Stellen nachgedruckt. Der vollständige Abdruck im Jahre 1906 in der Bibliothek Swetotsch (Die Fackel) durch Wengerow bezeichnet einen neuen Abschnitt in der Geschichte des Briefes und zugleich eine neue Epoche in der russischen Revolution. Chronologische Tabelle der Werke Gogols Die Zahl des Bandes, in dem die einzelnen Schriften erschienen sind, steht in eckigen Klammern hinter der Jahreszahl. Hans Küchelgarten (um 1828) [VIII] Abende auf dem Gutshof bei Dikanka I. Teil 1831 [III] Abende auf dem Gutshof bei Dikanka II. Teil 1832 [III] Arabesken 1834 [VI] Mirgorod, Teil I und II 1834 [IV] Über die Strömungen der Zeitschriftenliteratur 1835 [VI] der Jahre 1834-1835 Der Revisor 1836 [V] Die Equipage 1836 [IV] Die Nase 1836 [II] Petersburger Skizzen 1837 [VI] Italienische Sommernächte 1839 [VI] Szenen aus einer unvollendeten Komödie -- Der 1832-1842 [V] Morgen eines vielbeschäftigten Herrn -- Der Prozeß -- Das Vorzimmer -- Fragment Eine Heiratsgeschichte 1833-1842 [V] Die Toten Seelen, I. Teil 1835-1842 [I] Die Spieler 1836-1842 [V] Nach dem Theater 1836-1842 [V] Das Porträt 1837-1842 [II] Der Mantel 1839-1842 [II] Rom 1839-1842 [VI] Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden 1846 [VII u. VIII] Die Beichte des Dichters 1846 [VIII] Betrachtungen über die Heilige Liturgie 1845-1848 [VIII] Brief an Schukowski 1848 [VIII] Die Toten Seelen, II. Teil 1845-1852 [II] Inhalt des siebenten Bandes Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden I Seite Vorrede 1 I Mein Testament 9 II Die Frau in der vornehmen Welt 21 III Die Bestimmung der Krankheiten 30 IV Etwas über die Bedeutung des Wortes 35 V Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen 43 VI Wie man den Armen helfen soll 49 VII Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee 55 VIII Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit 73 IX Über denselben Gegenstand 79 X Über das Lyrische bei unseren Poeten 85 XI Diskussionen 111 XII Der Christ schreitet vorwärts 117 XIII Karamsin 123 XIV Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das 129 Theater und von der Einseitigkeit überhaupt XV Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit 151 XVI Ratschläge 161 XVII Über die Aufklärung 167 XVIII Vier Briefe an verschiedene Personen über die »Toten 175 Seelen« XIX Liebt unser russisches Vaterland 203 XX Lernt Rußland kennen! 209 XXI Was eine Gouverneursgattin ist 227 XXII Der russische Gutsbesitzer 255 XXIII Der Historienmaler Iwanow 271 XXIV Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags 291 und bei den heutigen Zuständen in Rußland sein kann XXV Über ländliche Rechtspflege und Gerichtsbarkeit 301 XXVI Rußlands Schrecken und Grauen 307 XXVII An einen kurzsichtigen Freund 317 XXVIII In einen hochgestellten Mann 323 XXIX Wessen Los auf Erden das beste ist 359 XXX Ein Geleitspruch 363 XXXI Wesen und Eigenart der russischen Poesie 369 XXXII Auferstehungstag 447 Inhalt des achten Bandes Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden II Seite An Arkadius Ossipowitsch Rosetti 1 Über den »Zeitgenossen« (Sowremjennik) 11 Die Beichte des Dichters 33 An W. A. Schukowski 101 Betrachtungen über die Heilige Liturgie 115 Einleitung 121 Das Offertorium (_Proscomidia_) 125 Die Liturgie der Katechumenen 145 Die Liturgie der Gläubigen 169 Schluß 217 Jugendschriften 223 1834 225 Über eine Geschichte der kleinrussischen Kosaken 231 Zwei Kapitel aus der kleinrussischen Erzählung »Der 235 schreckliche Eber« I Der Lehrer 237 II Der Erfolg der Gesandtschaft 251 Das Weib 263 Fragmente Gedichte und poetische Versuche 275 Sturm 277 Albumblatt 279 Hans Küchelgarten 283 Beilage: Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski I Gogol an Bjelinski 349 II Aus einem Briefe Gogols an N. I. Prokopowitsch 355 III Bjelinskis Brief an Gogol 361 IV Gogol an Bjelinski 381 V Fragment aus demselben Brief, das an einer anderen Stelle 395 aufgefunden worden ist VI Gogol an W. S. Bjelinski 399 Nachtrag 405 Berichtigungen Zu Band V, Seite 479, Zeile 5 von unten: Prozeß. Das Bedientenzimmer usw. statt _Bedientenzimmer_ lies _Vorzimmer_ (Die Bedientenstube). Seite 480, Zeile 2 von unten statt _Die Bedientenstube_ lies _Das Vorzimmer_ (Die Bedientenstube). Zu Band VI, Seite 538, Zeile 6 statt 1835 lies 1836. Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt Anmerkungen zur Transkription Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht verändert. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt, teilweise unter Verwendung der russischen Originaltexte (vorher/nachher): ... Deutsch von Ullrich Steindorf ... ... Deutsch von Ulrich Steindorff ... [S. 1]: ... An Arkadius Ossipowitsch Rossetti ... ... An Arkadius Ossipowitsch Rosetti ... [S. 13]: ... auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«. Wir ... ... auf: warum heißt die Zeitschrift »Der Zeitgenosse«? Wir ... [S. 15]: ... ließ. Mein hartnäckiges Zureden und mein Verspechen, ... ... ließ. Mein hartnäckiges Zureden und mein Versprechen, ... [S. 37]: ... sowie ferner mit dem Unterschied, das sich dies alles in ... ... sowie ferner mit dem Unterschied, daß sich dies alles in ... [S. 64]: ... würden, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und ... ... würde, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und ... [S. 101]: ... An W. A. Schukkowski ... ... An W. A. Schukowski ... [S. 156]: ... Nachdem die Lobhymmen beendigt sind, beginnen die ... ... Nachdem die Lobhymnen beendigt sind, beginnen die ... [S. 159]: ... ausdrucksvoll, so daß jedes Wort einem jeden vernehmich ... ... ausdrucksvoll, so daß jedes Wort einem jeden vernehmlich ... [S. 179]: ... alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen Bewußsein ... ... alle Tage unseres Lebens.« Und im vollen Bewußtsein ... [S. 183]: ... an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels ... ... an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels ... [S. 184]: ... dem heiligen Hochalter, der den heiligen Abendmahlstisch ... ... dem heiligen Hochaltar, der den heiligen Abendmahlstisch ... [S. 372]: ... behaupten nnd es als eine große Wahrheit hinstellen, ... ... behaupten und es als eine große Wahrheit hinstellen, ... [S. 378]: ... Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit und getan, ... ... Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit getan und, ... [S. 411]: ... um um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit ... ... um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit ... [S. 417]: ... Über den »Zeitgenossen«; (Sowremjennik); ... ... Über den »Zeitgenossen«; (Sowremennik); ... [S. 427]: ... Das Offertorium (Prosconidia) | 125 ... ... Das Offertorium (Proscomidia) | 125 ... End of the Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans Küchelgarten, by Nikolaj Gogol *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 8: *** ***** This file should be named 56475-8.txt or 56475-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/6/4/7/56475/ Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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